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Begründet von J. Rosenthal
Unter Mitwirkung von
Dr.:R. Goebel und®\ Dr. .R./Hiertwig
Prof. der Botanik Prof. der Zoologie
in München
herausgegeben von
Dr. E. Weinland
Professor der Physiologie in Erlangen
. Neununddreissigster Band
IgIQ
Mit ı20o Abbildungen u. 37 Tabellen
ee — CH
Leipzig 1919
Verlag von Georg Thieme.
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B. Hof- & Universitäts-Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen
Inhaltsübersicht
des
neununddreissigsten Bandes.
0 = Original; nd — Referat.
2 Seite
Alverdes, F. Die gleichgerichtete stammesgeschichtliche Entwicklung der
Vögel und Säugetiere. OÖ . SIEBEN. HEN U) RS HR RO ner
Arnhart, L. Das Puppenhäuschen an Hocsbiene IT A I
Bi. Bücher, H., Bauer, V., Bredemann, G., Fickendey, E, la Baume,
/ W., und Loag, J. Die Heuschreckenplage und ihre Bekämpfung. R 528
Buchner, P. Zur Kenntnis der Symbiose niederer en Organismen
mit Pedikuliden. 0 . BAER TERN N RN ONE a JA UN ES 53
Börner, ©. Srergrchichib der Hantfüster RR TER ET LA
Bresslau, E. Systylis Hoffi n. gen. n. spec., eine neue VoReTkdd ON NER
R Bresslau, E. u. Buschkiel, M. Die Parasiten der Stechmückenlarven. O0 325
Correns, C. Die Absterbeordnung der beiden Geschlechter einer getrennt-
geschlechtigen Doldenpflanze (Trinia glauca). O . EL ROH
Demoll, R. Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock. wi I: 4266
De al R. Die Bedeutung der Elytren der Käfer für den Flug. o Ne
Dries ch, H. Studien über Anpassung und Rhythmus. O0... ....2...433
Duncker, G. Joh. Schmidt’s Rassenuntersuchungen an Fischen. O0. . . 371
7 Emmelius, C Beiträge zur Biologie einiger Ameisenarten. O0. . . ....308
EEorel, A.‘ Entgesnung. ,O . ... a". RGESRHEO TE SB MAR N ANN DET VE MR 160
Frangu&, ©. v. Innere Sekretion des Biertoske 0 RR ERENTO RER RAN NEN 3"
Franz, V. Lichtsinnversuche an Schnecken. 0 . . ... SE De RN
Frisch, K v. Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Biäneh! 0% 122
lei. S. Über die Entstehung von Variationen bei Anemone PER 0 529
@oetsch, W. Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. O. . 289
Goetsch, Wilh. Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 2. Teil. 0 544
- Goldschmidt, R. Intersexualität und Geschlechtsbestimmung. O0 . . . 498
_ Günther, H. Das Schraubungsprinzip in der Natur. O . . 513
Heikertinger, F. Versuche und Freilandforschungen zur Ahr hg Do
| Thesen OA BEE EN BON A ENTE LE N Dis DE
Y
Bi Heikertinger, Fr. 3#Die nette Mahekacker RE RUN AL RL N 6D
N Heller, H. Über die Geruchstheorie von Teud. O0... 2 .2..2..2.2...864
enning, H, Forel’s Zugeständnisse an die Tierpsychologie. 0. . . .. 3
Henning, H. Mnemelehre oder Tierpsychologgie? O0 . . . IS EEG
Heribert- Nilsson, N. Experimentelle Studien über Narabiktät ba,
tung, Artbildung und Evolution in der Gattung Salix. R. 479
! 6388
IV Inhaltsübersicht.
Hesse, E. Lueilia als Schmarotzer. O BEE, ; ib
Jordan, H. Die Phylogenese der Leistungen des een Rn. ER 0
Kathariner, L Das Vitamin ein Mikroorganismus? A \
Klatt, B. Zur Methodik vergleichender metrischer a 2 onders
des Herzgewichtes” O0.
Kohlbrugge, J. H. F. Der Akademstfeik im Jahre 1830, de as
enden wird. O
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a ON; : :
Batzin »PhH. ‚Die Rolle = A na in der Theorie des hans 0)
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der Nebenwurzeln. Derselbe. Das geotropische Verhalten der Seiten-
sprosse. BR. a RER AN a URS A EN Eee
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pflanzlichem Kalziumoxalat. O BORE, SR:
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tierauges. R NEUN SSH DERSEL AUT WEG RAU LG DER EL Namen Ges rnhlen
Schiefferdecker, P. Über die Differenzierung der tierischen Kaumuskeln
zu nn kchen Sprachmuskeln. ©. k
Schmid, Bastian. Deutsche Naturwissenschaft, Technik Ad Erfindung
im Weltkriege. R 5
Schmidt, W. J. Vollzieht ch Ball nd ron de ee in
den Melanophoren von Kana nach Art amöboider Beweguugen oder
durch intrazelluläre Körnchenströmung? O0 SL A
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Spek, J. Experimentelle Beiträge zur Physiologie der Zellteilung. O.
Steiner, G. Bemerkungen über die sogenannte Verpuppung der Rhabditis
coaretata Leuckart und das Bilden von Zysten bei Nematoden über-
haupt. O r
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Toldt, K. jun. Neuere Arbeiten über das Integument des Einpierdes, 0.
Wachs, H. Über Längsteilung bei Hydra. O. k
Wh el J. Die angewandte Zoologie als wirtachaeihiohe SR
hygienischer und kultureller Faktor. &
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| oSisches Zentralblatt
3 Begründet von J. Rosenthal
je Unter Mitwirkung von
DIR. Goebel und Dr. R. Hertwig
‚Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München
e herausgegeben von
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= Professor der Physiologie in Erlangen
B- Verlag von Georg Thieme in Re
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39. Band Januar 1919. Nr. 1
$ Bee am 15. Februar
2 : 2 ser N
2 Der ahliche Reaper (12 Hefte). beträgt 20 Mark
B:.- Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15. Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
- vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschiechte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
5 alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physioiog. Institut,
5 einsenden zu wollen.
k Inhalt; H. Wachs, Über Längsteilung bei Hydra. 8.1.
2 ' J. Spek, Studien über den Mechanismus der Gastrulainvagination. S. 13.
Zu J. Spek, Experimentelle Beiträge zur Physiologie der Zeilteilung. Seuaı
B>: H. Renninz, Forels Zugeständnisse an die Tierpsychologie. S. 35.
8 Referate: €. Rabl, Über die bilaterale oder nasotemporale Symmetrie des Wirbeltierauges. 8. 37,
4 e A. Luther, Über Entwieklungskorrelationen und Lokalrassen bei Rana fusca. 8. 40.
4 Über Längsteilung bei Hydra.
Ke Von Dr. Horst Wachs,
£ Assistent am Zool. Institut der Universität Rostock.
Mit 9 Abbildungen.
Über Längsteilung bei den verschiedenen Hydra-Arten ist schon
von Trembley und Roesel von Rosenhof berichtet worden.
Seitdem sind eine ganze Anzahl weiterer diesbezüglicher Beobach-
tungen mitgeteilt worden. Bei kritischer Sichtung zeigte sich jedoch,
daß zum mindesten einige solcher Fälle „spontaner Längsteilung“
anders zu deuten sind als von den diesbezüglichen Beobachtern
geschehen: mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich in den
betrefienden Fällen nicht um die Längsaufspaltung eines ursprüng-
lich einzigen Individuums, sondern vielmehr um die Wiedertrennung
zweier, verschmolzener Individuen.
Ich schicke diese Bemerkung, auf die icham Schluß noch kurz
zurückkomme, als Mahnung zu Vorsicht in der Beurteilung voraus
und lasse die Beschreibung eines kürzlich von mir an der Hand
39. Band 1
) H. Wachs, Über Längsteilung bei Hydra.
genauer Notizen, einiger Zeichnungen und sehr zahlreicher Mıkro-
photographien beobachteten Falles folgen, der mir mitteilenswert
erscheint, weil er in bezug auf die schließliche Trennung der beiden
Teiltiere einen anderen Verlauf nahm als ın den bislang mitgeteilten
Fällen.
Am 29. Mai dieses Jahres fand ich unter einer größeren An-
zahl frisch gesammelter Hydren der Spezies Hydra fusca — oder,
nach Paul Schulze: „Pelmatohydra oligactis“ — ein Exemplar,
dessen Kopfpartie geteilt war, dergestalt, daß dem gemeinsamen
Stiele und Körper zwei, nur durch eine verhältnismäßig seichte
Kerbe getrennte Köpfchen aufsaßen. Jedes dieser Köpfchen besaß
nur je drei gleichlange Tentakel, so daß die für die Spezies nor-
Abb. 1. Abb. 2. Abb. 3.
male Tentakelzahl von sechs als Summe beider Köpfchen vorhanden
war (Abb. 1). Gefüttert, fraß der eine Kopf eine, der andere zwei
Daphnien.
Nach zwei Tagen hatte sich das Bild insofern geändert, als
einerseits die Trennen be der beiden Köpfchen tiefer einge-
schnitten war, andererseits die Anzahl der Tentakel sich vermehrte.
Der eine Kopf (4) bekam zwei neue Tentakel, die nebeneinander
in etwa gleicher Größe hervorwuchsen, der andere Kopf (3) bekam
ebenfalls einen neuen vierten Tentakel zwischen den drei alten,
außerdem aber noch einen fünften kleineren an anormaler Stelle,
unterhalb des Tentakelkranzes, an der Trennungsfläche (Abb. 2).
Während nach abermals zwei Tagen die normal entstandenen
neuen Tentakel beider Köpfchen beträchtlich gewachsen waren,
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H. Wachs, Über Längsteilung bei Hydra. BI
zeigte dieser kleine Tentakel nur geringes Wachstum und ließ sein
Ende wie eingeknickt nach unten hängen. Die Trennung der Köpfchen
war jetzt beträchtlich fortgeschritten, fast bis zur Hälfte der Körper-
partie (unter Abrechnung des „Stieles“); das Köpfchen A war etwas
größer und kräftiger als B (Abb. 3). Von diesem Tage an wurde
das Tier mikrophotographiert; leider verbietet der Raum die Wieder-
gabe aller dieser sehr charakteristischen Bilder: das Tier neigte
mitunter den ganzen oberen Körperteil mit beiden Köpfen, öfter
aber nur die Köpfe und dann mit Vorliebe nach der gleichen Seite,
wobei es, umspielt von den neun langen Tentakeln, einen außer-
ordentlich zierlichen und eleganten
Eindruck machte. Wenn man
bei Betrachtung des ausgestreck-
ten Tieres infolge der stärkeren
Ausbildung des einen Kopfes viel-
leicht (ohne Kenntnis des Voran-
gegangenen) den kleineren Kopf
für eine Knospe an abnormer
Stelle halten könnte, so war im
Gegensatz hierzu beim kontra-
hierten Tiere die Gleichwertigkeit
der Köpfe deutlich: das Tier war
ın diesem Zustande nicht unähn-
lich einem winzigen Aleyonium
in Teilung.
Bei der immer weiter fort-
schreitenden Trennung gewannen
die Köpfchen imnmier größere Be-
wegungsfreiheit; jetzt neigten sıe
sich mit Vorliebe gekreuzt über-
einander (Abb. 4), das kleine
rudımentäre Tentakelchen hing
schlaff herab, die langen spielten Abbe‘
als feine Fäden ım Wasser.
Am 8. Tage der Beobachtung trat an dem Köpfchen A ein
kleines Gebilde auf, das, an entsprechender Stelle wie das rudi-
mentäre Tentakelchen von B stehend, zunächst für ein ebensolches,
vielleicht gar symmetrisch gebildetes gehalten wurde (Abb. 5). Im
weiteren Verlaufe zeigte sich jedoch, daß sich dieses kleine Gebilde,
während besagter Tentakel von 3 der Degeneration verfiel, weiter
ausbildete und schließlich zu einem funktionsfähigen Füßchen wurde,
wie Abb. 8 u. 9 zeigen. Bevor die Entwicklung jedoch so weit ge-
diehen war, bildete sich, am il. Tage, eine Knospe (Abb. 6). An
den bisher in der Literatur beschriebenen Hydren ın Längsteilung
traten solche Knospen an den Teiltieren selbst auf, m meinem
1%
A H. Wachs, Über Längsteilung bei Hydra.
Falle saß die erste Knospe fast genau an der Stelle, bis zu der
die Teilung fortgeschritten war, wenngleich man sie, vor allem beı
Verfolgung der weiteren Entwicklung, mit einigem Rechte dem
Kopf B zusprechen kann.
Zwei Tage später, zur Zeit der fast beendeten Degeneration
des kleinen abnormen Tentakels von DB, besaß die Knospe zwei
lange Tentakel und eın dritter kleiner war ın Bildung begriffen.
Jetzt war die Trennung der beiden Köpfe fast bis zum „Stiele*
hin fortgeschritten, und nun schienen auf eben diesem einen Stiele
drei Hydren aufzusitzen; das Tier gewährte den höchst absonder-
lichen Eindruck, wie ıhn Abb. 7 zeigt. Wenn ein Beobachter eine
Abb. 5. Abb. 6.
solche Hydra gerade auf diesem Stadium erstmals zu Gesicht be-
käme, so dürfte eine richtige Auslegung ihres Zustandekommens
wohl kaum gelingen.
Nach abermals zwei Tagen, am 15. Tage der Beobachtung,
hatte sich, der Basis von A ansitzend, abermals eine Knospe ge-
bildet, die auch schon zwei Tentakel besaß; jetzt stellte das Tier
eine wirkliche „Yydra“ dar, insofern es nicht nur zahlreiche Arme,
sondern wie sein Urbild der griechischen Mythologie, zahlreiche
Köpfe, und zwar vier an der Zahl, besaß. Der Kopf A hatte zur
Zeit der Beobachtung eine große Daphnie gefressen; nach der ersten
mikrophot. Aufnahme stieß er die Hülle der Daphnie wieder aus,
und nachdem mir gerade in diesem Moment eine zweite Aufnahme
geglückt war, streckte sich die erste Knospe in die Länge und .löste
sich los. Die Daphnie resp. ıhre Hülle war jetzt vollends ausge-
Bl a en a
Da ar = Bat in, et nee A
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a dr a nu a =
EL EN,
Ei
H. Wachs, Über Längsteilung bei Hydra. 5
stoßen, das Ganze wurde auf einer dritten Aufnahme festgehalten.
Nun heftete sich das Tier A mit seinem, wie oben erwähnt, neu
gebildeten kleinen Füßchen am Glase fest und das ganze Tier nahm
die Stellung ein, wie sie eine vierte Aufnahme, die beigefügte
Abb. S, zeigt. Das an A neu gebildete Füßchen, dessen Haftscheibe
deutlich ist, zeigt das charakteristische hellere Aussehen des Stiel-
gewebes; dies glasig durchscheinende Aussehen hat, wie bekannt,
seine Ursache in der vom Magenentoderm abweichenden, mehr
blasigen Struktur der Stielentodermzellen.
Abb. 8.
Abb. 7. Abb. 9.
Die weitere Entwicklung resp. Umbildung, in. deren Verlauf
sich die zweite Knospe an A sowie noch eine dritte an B ausbildete
und loslöste, steht unter dem Zeichen einer von dem neuen Füßchen
ausgehenden (?) Umdifferenzierung von A. Schon die am 13. Juni
gefertigte mikrophotogr. Abb. 8 zeigt eine leichte Aufhellung des
Körpergewebes von A an der Ursprungsstelle des Füßchens. - Die
am 17. und 21. Juni angefertigten Aufnahmen lassen erkennen,
ähnlich wie die in Abb. 9 wiedergegebene Aufnahme vom 24. Juni,
wie in dem Körper von A die Aufhellung der Gewebe sowohl nach
dem Kopf als auch nach der ehemaligen Basis zu fortschreitet.
Nor in
VEN
Ni 7 i N
6 H. Wachs, Über Längsteilung bei Hydra.
Dabei streckt sich dieser ganze Teil bedeutend in die Länge, der
neue Fuß wird dauernd mit zur Anheftung benutzt und das Tier
sitzt meist in einer Stellung, wie die Abbildung sie zeigt: der alte
ehedem gemeinsame Fuß dient 3 zur Festheftung, Tier A (das
ebenso wie B eine Daphnie gefressen hat) sitzt mit seinem neuen,
kurzen Füßchen fest und ist mit 3 gleichsam durch eine Brücke
verbunden. Vergleichen wir Abb. 3 u. 9 unter Beiseitelassung der
Knospe, so ist unschwer zu erkernen, daß diese „Brücke“ nichts
anderes ıst als die untere Körperhälfte von A. Während das Ge-
webe dieser „Brücke“ nur wenig umdifferenziert ıst, hat sich nach
dem Kopf von A zu ein deutlicher „Stiel“ ausgebildet. Wir haben
hier den eigentümlichen und, so viel ich sehe, noch nicht beob-
achteten Fall vor uns, daß die Umbildung von Körpergewebe in
Stielgewebe nicht, wie normal, an der Übergangsstelle von Körper
ın Stiel und unter dem Einlluß sich entwickelnder Knospen und
den hierdurch verursachten Verbrauch der ınterstitiellen Zellen vor
sich geht, sondern vielmehr an der Mitte des Körpers einsetzt im
Anschluß an ein dort gebildetes Füßchen. Wenn wir nun nach
einer Ursache für diese Umdifferenzierung suchen, so scheint mir,
daß wir sie in dem Vorhandensein eben dieses Füßchens finden
können. Und da durch direkte Beobachtung das räumliche Fort-
schreiten der Umdifferenzierung vom Füßchen. aus nach beiden
Seiten zu verfolgt und im photogr. Bilde festgelegt wurde, so scheint
mir, daß man, wie oben vorausnehmend getan, von einer von dem
neuen Füßchen ausgehenden Umdifferenzierung sprechen
kann.
Damit gewinnt diese Beobachtung ein allgemeineres Interesse.
Spemann zeigte unlängst!) durch eine Reihe genialer Transplan-
tations- und Konkreszensversuche, daß die Determinierung des Ekto-
derms zu Medullarplatte beim Amphibienembryo zuerst ın der oberen
Urmundlippe vorhanden ist und sich von da nach vorn ausbreitet
(S. 485); d. h., allgemeiner ausgedrückt, daß ein Teil eines Orga-
nismus imstande ist, auf seine Umgebung, auf Material, das, wie
ebenda gezeigt, unter anderen Einflüssen andere Organe resp. Ge-
webe gebildet haben würde, ın bestimmtem Sinne determinierend
einzuwirken, sie differenzierend resp. umdifferenzierend zu beein-
flussen. Wenngleich die dort mitgeteilten Ergebnisse keiner Be-
stätigung von anderer Seite bedürfen, so scheint es mir doch
zum mindesten anziehend, in den eben mitgeteilten Beobachtungen
gleichsam eine Parallele an ganz anderem Material und durch ein
Naturexperiment zu finden. In unserem Falle handelt es sich
um die Umbildung von Körperentoderm in Stielento-
1) Spemann, H. Über die Determination der ersten Organanlagen des
Amphibienembryo 1—6. Arch, Entw.-Mech. Bd. 43, 1918.
/
H: Wachs, Über Längsteilung bei Hydra. 7
derm, nach meiner Deutung veranlaßt durch das neu ent-
standene Füßchen, das somit gleichsam als eın neu ge-
bildetes Determinationszentrum betrachtet wird.
Was aber, ist logischerweise zu fragen, veranlaßte die Bildung
eines solchen neuen Dee Da rein äußere Kin
flüsse, wie etwa dauernde Berührung der betreffenden Stelle mit
einer Unterlage, nach meiner Beobachtung nicht in Frage kommen,
es sich nicht um eine „Thigmomorphose“ handelt, muß die Veran-
lassung direkt ım Tier selbst liegen. Diese Annahme gewinnt an
Wahrscheinlichkeit, wenn wir bedenken, daß wir es ja mit einer in
Längsspaltung begriffenen Hydra, d. h. mit einem Individuum zu
tun haben, das sich in organisch-anormalen Verhältnissen befindet,
das durch einen vom normalen Geschehen abweichenden Lebens-
prozeß aus seinem organischen Gleichgewicht gebracht ist. Natür-
lich ıst hiermit, wie ich mir wohl bewußt bin, noch keineswegs
eine Erklärung für das Auftreten des neuen Füßchens gegeben!
Wir ahnen aber, wie diese Störung des normalen Geschehens in
dem Organısmus Vorgänge auslöst, die sich für den Beobachter in
der Bildung von Organen an abnormer Stelle äußern, erst eines
kleinen Tentakels, dann des Füßchens.
Dieser Vergleich eröffnet eine neue Perspektive: der Tentakel
wurde wieder rückgebildet, das Füßchen blieb bestehen und wurde
weiter ausgebildet! Ob die direkte Ursache dieses verschiedenen
Geschickes der Nichtgebrauch im einen, der Gebrauch im anderen
Falle war, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls haben wir es hier
mit einem eigenartigen Versuchen und Sichirren, Probieren und
Wiederverwerfen zu tun, das ım Falle der Anlage des Füßchens
zum Ziele führte. Und, wie wir gleich sehen werden, zum Ziele
führte auf einem Wege, der um vieles umständlicher war als der-
jenige, den andere Hydren unter den gleichen Bedingungen einge-
schlagen haben.
Denn in den bisher mitgeteilten Fällen und einem, wie noch
zu erwähnen, auch mir selbst vorliegenden Falle, geschah die schließ-
liche Trennung der Teiltiere dadurch, daß die vom Kopf abwärts
vorrückende Durchtrennung allmählich den Körper und danach den
Stiel längsteilte, bis die Tiere nur noch an der Fußscheibe zusammen-
hingen. Schließlich teilte sich auch diese und zwei Hydren wurden
frei. Wesentlich anders verhält sich das hier beobachtete Tier!
Nachdem sich die Aydra länger als 14 Tage mit ihren beiden
Füßchen festhaltend ernährt und oftmals ım Zuchtglase ihren Platz
gewechselt hatte, indem sie sich gelegentlich auch mit beiden
Köpfen, mit Hilfe der Tentakel, zwecks Ortsänderung anheftete und
nun mit.den Fußscheiben nach einer neuen Anheftungsstelle tastete,
geschah am 1. Juli. die Durchtrennung: durch Querdurchschnürung
der „Brücke“ nahe am Tier B wurden die Tiere frei! Tier B
BSR
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| END
N I 3 3 x
S H. Wachs, Über Längsteilung bei Hydra.
stellte nun eine normale Aydra dar, an deren Stiel ein kleiner
Höcker noch einige Tage von dem früheren Zusammenhange zeugte,
Tier A haftete mit seiner eigenen Fußscheibe der Unterlage an
und hatte die „Brücke“, den unteren Peil seines ehemaligen Körpers,
wie einen ‚Stumpft nn Dieser Stumpf din. gleichsam
tastende Bewegungen, konnte sich jedoch nicht anheften mangels
einer Fußscheibe. Das Cölenteron des Stumpfes war noch beträcht-
lich weiter, d. h. im Querschnitt von größerem Durchmesser im
lichten, als das Cölenteron des Stieles.
So war nun zwar auch Tier A frei, unterschied sich jedoch
von einer normal gestalteten Aydra noch sehr wesentlich durch
den Besitz dieses vorerst höchst unnützen Anhanges. Dem Orga-
nısmus des Tieres, der soeben die teilweise Längsspaltung und die
Querdurchtrennung glücklich bewerkstelligt hatte, war eine neue
Aufgabe gestellt in der Beseitigung oder anderweitigen Verwendung
dieses „Stumpfes“, Auch diese Aufgabe wurde vom Organismus
gelöst: eine Woche nach der Durchtrennung, am 7. Juli, hatte sich
am Ende dieses Stumpfes eine Fußscheibe gebildet, und das Tier
besaß jetzt seinerseits zwei Fußscheiben, wie ehedem das Doppel-
tier. Doch schon ım Laufe der nächsten Tage verkürzte sich der
Stumpfteil (durch Einschmelzung der Gewebe?), beide Haftscheiben
kamen näher aneinander zu lesen und am 13. Juli, am 45. Tage
der Beobachtung, haftete die Eudra mit nur einer Stelle des Stieles,
mit nur einem sehr gut fassenden Fuße, der jedoch noch nicht
vollkommen normal war. Im Laufe der nächsten Tage bildete sich die
Fußscheibe zu einer vollkommen normalen um. Beide Hydren stellten
nun normale, selbständige Tiere dar, nur besaß Tier A noch immer nur
5 Tentakel, während BD durch Neubildung von zweien, kurz vor der
Trennung der Tiere, die normale Tentakelzahl 6 wieder erlangt hatte.
Heute, am 18. August, dem 82. Tage der Beobachtung, haben
beide Tiere je 6 normale Tentakel und unterscheiden sich in nichts
von normalen Tieren. Nach vollendeter Durchtrennung bildeten
beide Tiere Knospen, und zwar, bis zum 28. Juli, Tier A 6, Tier 5
5 an der Zahl. Diese Töchter sowie die drei während der Teilung
gebildeten Tochter-Hydren hatten bis 28. Juli, dem 60. Tage der
Beobachtung, zusammen 43 Tochtertiere gebildet. Alle diese Indi-
viduen wurden unter dauernder Beobachtung isoliert aufgezogen,
wobei weder an ihnen noch an den Mutterkiereh eine in:
Längsteilung auftrat. Die Anzahl der Tentakel, die anfänglich br
den Tochtertieren verringert war, stellte sich bei den späteren
Nachkommen und, durch verspätetes Nachwachsen, auch bei jenen
wieder zur Normalzahl her. Die erste Tochter der allerersten, während
der Teilung gebildeten Knospe, war vollkommen tentakellos,
während sie schon frei war und, gefüttert, Nahrung aufnahm. Hier-
über vielleicht gelegentlich mehr.
BE ak ee en
ET
H. Wachs, Über Längsteilung bei Hydra. 9
Wenn ich diese Beobachtungen so eingehend mitteile, so ge-
schieht dies außer aus den oben erwähnten Gründen für ein allge-
meineres Interesse auch deshalb, weil dieser Fall sehr hübsch zeigt,
wie schwierig resp. unmöglich es ist, aus dem augenblick-
lichen Befunde einer Anormalität richtig auf ihre Ent-
stehung zu schließen. Wäre dies schon, wie erwähnt, bei der
„dreiköpfigen“ und „vierköpfigen“ Hydra kaum gelungen, so wäre
es mit Sieherheit mißglückt bei einem Zustande des Tieres, wıe
Abb. 9 ıhn zeigt ?).
Aus eben diesem Grunde aber ist es in einigen in der Literatur
mitgeteilten Fällen nicht möglich, sie mit Sicherheit als „spontane
Längsteilung“ anzusprechen. Wir wissen durch die Mitteilungen
von Krapfenbauer, Koelitz und Koch, daß an Hungerkulturen
eine Knospe mit dem Muttertiere verbunden und schließlich durch
Umbildung ihrer Basis dergestalt mit ihm vereinigt bleiben kann,
„daß man nicht mehr unterscheiden kann, was Knospe, was Mutter-
tier ist“. Demgemäß sind alle Fälle, bei denen die beiden Köpfe
schon zur Zeit der ersten Beobachtung ein beträchtliches Stück frei
sind, als nicht sicher definierbar auszuschalten. Hierher gehört,
ich möchte fast sagen „leider“, auch der hübsche, von Leiber be-
fo) p>] r) I
schriebene Fall. Aber gerade an dem von Leiber gehaltenen
Tiere, einer Hydra viridis, das schließlich durch allmähliche Durch-
trennung bis zur Fußscheibe zwei Individuen ergab, und, wie ge?
sagt, wegen der „noch etwas tiefer, bis etwa in die Mitte“ reichen-
den Spaltung ausschaltet. zeigte sich im weiteren Verlaufe der
Beobachtung abermals an dem einen Kopfe eine Spaltung und
Aufteilung in zwei Köpfchen mit je einer Mundöffnung und 5 resp.
6 Tentakeln! Diese Beobachtung zeigt einwandfrei, daß einheit-
liche Hydren in Längsteilung gehen können — leider entzog sich
natürlich gerade dies wertvolle Beweisobjekt durch Tod einer wei-
teren Beobachtung!
Schalten, wie gezeigt, Fälle mit tiefer Spaltung als unsicher aus,
so sind doch leider auch die Fälle, die, wie der meinige, von Beginn der
2) Um die Verdienste der alten Beobachter nicht zu vergessen, sei hier er-
wähnt, daß Trembly und Roesel vielköpfige Polypen durch wiederholte Längs-
zerschneidung erzeugten. Roesel bildet auf Tafel 76, Fig. 5 seinen ersten so
erzeugten Polypen mit drei Köpfen ab, auf Tafel SI Monstra mit 5 und 8 Köpfen
und mit mehreren Füßen, ebenfalls erzeugt durch Zerschneiden. Trembley, sein
Vorgänger in diesen Versuchen. erzeugte auf. die gleiche Weise Tiere mit 7 und
8 Köpfen (Taf. 11, Fig. 11). Einem dieser Tiere schnitt er nun abermals alle 7 Köpfe
ab. Hierüber berichtet er (S. 246): „J’ai coupe les tetes de celui qui en avoit sept;
et, au bout de quelques jours, j’ai vu en lui un prodige qui ne le c&ede gueres au.
prodige fabuleux de l’IIydre de Lerne. Il lui est venu sept nouvelles tetes: et si
j’avois continu6 A les couper ä mesure qu’elles poussoient, il n’y a pas ä douter que
je n’en eusse vu pousser d’autres. Mais, voici plus que la Fable n’a öse inventer.
Les sept tetes, que j’ai coupdes ä cette Hydre, ayant &t& nourries, sont devenues
des Animaux parfaits, de chacun desquels il ne tenoit qu’ä moi de faire une Hydre.‘‘
10 H. Wachs, Über Längsteilung bei Hydra.
Spaltung beobachtet wurden, nicht ohne weiteres zweifelsfrei. Lau-
rent und Boecker teilen mit, daß mitunter zwei benachbarte
Knospen am Muttertiere miteinander verschmelzen und dann nach
ihrer Loslösung den Beginn einer spontanen Längsspaltung vor-
täuschen, einer Längsspaltung, die sie dann im Verlaufe der Beob-
achtung auch vollziehen, die aber nach dem eben Gesagten nur eine
„Wiedertrennung“ ist.
Doch möchte ich, bei aller Skepsis, nicht so weit gehen wie
Paul Müller, der hierüber sagt (S. 102): „Ob überhaupt eine
Fortpflanzung durch Längsteilung vorkommt, ist nach alledem sehr
zweifelhaft; bei den meisten anscheinenden Längsteilungen dürfte
es sich um Regulationserscheinungen zum Zwecke der Trennung
resp, Wiedertrennung von ursprünglich zwei Individuen handeln.
In anderen Fällen könnten äußere Verletzungen den Anlaß bilden,
wie mir z. B. sehr wahrscheinlich scheint, das Einreißen des oralen
Poles beim Verschlingen ungewöhnlich großer Beute, wie z. B. großer
Chironomus-Larven. Gegen die Annahme der Längsteilung als nor-
male, wenn auch seltene Fortpflanzungsart spricht die von den
verschiedenen Beobachtern übereinstimmend hervorgehobene lange
Zeit, die für die Durchspaltung benötigt wird, und daß die Tiere
meist vor der völligen Abspaltung starben.“ — Wenngleich auch
ich die Längsspaltung bei Hydra nicht als eine normale, selten vor-
kommende Fortpflanzungsart betrachten möchte’), so glaube ich
doch, betreffs des ersten Punktes der Schulz’schen Darlegung,
daß ein Fall wie der hier von mir mitgeteilte wirklich als Längs-
teilung einer ursprünglich als ein Tier gebildeten Hydra
anzusprechen ist, da ın meinem Falle die normale Tentakelzahl
von 6 bei nur seichter Trennungskerbe zur Zeit der ersten Beob-
achtung vorhanden war! Bei der strengen Gesetzmäßigkeit, mit
der, wie bekannt und wie mir auch durch sehr zahlreiche eigene
Beobachtungen bestätigt, gerade bei Hydra fusca die Tentakelanlagen
gebildet werden, würden ım Falle emer Knospenverschmelzung
sicherlich mehr als 6 Tentakel gebildet worden sein.
»
3) Anders steht es vielleicht mit der schon von Roesel von Rosenhof und
nach ihm wohl am eingehendsten von Koelitz (Zool. Anz. Bd. 33, 1908) beob-
achteten Querteilung von Hydra. Schon Roesel faßt die Querteilung als eine
normalerweise vorkommende Form der Vermehrung auf und sagt darüber (S. 525):
„Nun komme ich auf die zweyte sonderbare Vermehrung unseres braunen Polyps,
welche zu beschreiben ich etwas aufgeschoben habe. Es geschiehet solche durch
die bereits von mir von dem oraniengelben Polyp angezeigte Theilung seines Körpers;
gleichwie ich aber von dıesem Polyp bemerket, daß er sich nur einmal getheilet,
so habe hingegen an gegenwärtiger braunen Sorte gesehen, daß sich solche auch
zwey bis dreymal zugleich theile, ja, daß sich nicht nur der alte Polyp, sondern
auch die an ihm hangende Junge von einander sondern.‘ — Es ist interessant, daß
diese von namhaften späteren Autoren angezweifelte Deutung seiner Beobachtungen
durch die sehr eingehenden Untersuchungen von Koelitz in vollem Umfange
H. Wachs, Über Längsteilung bei Hydra. 17
Boecker beobachtete (1914, S. 300) auch direkt in 4 Fällen
„fortschreitende Verwachsung der beiden Köpfe“, wobei Tentakel-
zahlen von 10 resp. 11 Tentakeln resultierten. Übrigens ist, nach
der Beschreibung und den Abbildungen von Boecker zu schließen,
die Trennungskerbe zwischen den beiden Köpfchen ın allen: diesen
durch Konkreszenz entstandenen Doppelbildungen eine tiefer ein-
schneidende als in meinem Falle (Fig. 1). Dabei führten diese
Fälle, die etwa meiner Fig. 2 entsprechen würden, zur vollkommenen
Konkreszenz des Doppeltieres, — ın den zu einer vollkommenen
Trennung führenden Fällen hingegen waren die beiden Knospen
nur etwa so weit verwachsen, daß sie dem Zustande meines Tieres
ım Stadium der Abb. 3 glichen! ®)
So möchte ıch den von mir mitgeteilten Fall als wirkliche
Längsteilung ansprechen — der Anlaß zum Einsetzen des Vorganges
bleibt natürlich auch hier unbekannt. Ganz einwandfreie Resultate
würde man erst erhalten, wenn man, wie ich es versuchte, Hydren
unter dauernder Kontrolle in Einzelkultur züchtet, die Knospung
jedes Individuums verfolgt — und dann das Glück hätte, an einem
so ab origine beobachteten Tiere Einsetzen und Verlauf einer Längs-
spaltung zu sehen. Leider blieb mir dies Glück bis jetzt versagt.
Außer diesem beobachtete ich noch kurze Zeit später zwei
Hydren, „auf dem letzten Stadium normaler Längsteilung“, d.h.
nur noch mit einem kurzen Fußstück zusammenhängend — nach
dem oben Gesagten verzichte ich natürlich (trotz gut gelungener
photogr. Aufnahmen) auf diesbezügliche nähere Mitteilung.
Den Abschluß mag eine andere Warnung bilden. die die mit-
geteilte Beobachtung gibt. Nur zu gern wird bei Interpretation
physiologischer wie psychologischer Beobachtungen der scheinbar
einfachste Weg resp. die scheinbar einfachste Kombination als die
tatsächliche, als von der Natur eingeschlagen oder als Triebfeder
tierischen Handelns wirksam angesehen; vielleicht illustriert der
oben mitgeteilte, doch zum Ziele führende Umweg der sich teilen-
den Boldra die Irı igkeit dieser Art der Naturbetrachtung, auf die
schon Roux mit etwa den folgenden Worten hinwies: „Sehen wir
rehabilitiert wurde, indem dieser Autor zu dem Schlusse kommt, daß „Nach meinen
Beobachtungen anzunehmen ist, daß die Hydren sich der Querteilung als natür-
licher Vermehrungsart bedienen“ (S. 535) — und, in einem Nachtrag (8. 783)
„Daraus ist zu schließen, was auch schon von Nusbaum ausgesprochen wurde,
daß nämlich Querteilung bei Hydra das ganze Jahr hindurch als ungeschlecht-
liche. Vermehrungsart neben der Knospung eine gewisse Rolle spielt“. Über äußere
oder innere Anlässe zum Einsetzen dieser Erscheinung vermag auch dieser Autor
nichts zu eruieren. Ist es nicht eigenartig, daß über einen seit mehr als 150 Jahren
bekannten Prozeß an einem so häufigen Laboratoriumstiere so wenig bekannt ist ?
4) Vgl. hierzu auch Boecker 1915, 8. 608.
17 vr) I ER a es NA a oe RT: NR FR ee Et | ie
/ 3 4 le: REN HN LTR RE RNNDT “ a
12 H. Wachs, Über Längsteilung bei Hydra.
in einem Falle für die ursächliche Bildung mehrere Möglichkeiten,
so werden wir geneigt sein, die uns am einfachsten erscheinende
Wirkungsweise als die tatsächlich wirksame anzusehen. Diese
durchaus verbreitete Anschauung, daß das Einfachste auch das
Wahrscheinlichste ist, muß sich jedoch bei der Erforschung des
Organischen schon deshalb als falsch erweisen, weil wir die orga-
nischen Gestaltungsprinzipien nicht genügend kennen, um zu beur-
teilen, was für sie das Einfachste ist.“
Literatur.
Obgleich ich zurzeit noch nicht alle nachstehend angeführten Arbeiten im
Original einsehen konnte, möchte ich doch eine vollkomm«ne Zusammenstellung
aller Literaturstellen über Längsteilung bei Hydra geben, da eine solche bisher
noch nichr vorliegt. Nur in dem. Literaturverzeichnis der schönen Arbeit von
Paul Schulze sind unter den anderen auch die nachstehenden Arbeiten alle auf-
geführt — doch verlieren sie sich hier zwischen den anderen (174!) Nummern des
Literaturverzeichnisses.
1744. Trembley, A., M&m., pour servir & l’Histoire d’un genre de Polypes d’eau
; douce, Leiden (S. 201; Taf. 10, Fig. 5).
1755. Roesel von Rosenhof, A. J., Insektenbelustigurgen. 3. Teil, Nürnberg
(S. 499 u. 538; Taf. 82, Fig. 8).
1842. Laurent, L., Recherches sur les trois sortes ete. de ’ Hydra vulgaire. C.R.
Ac. Se Paris. Siehe den Bericht in: Froriep’s „Neue Notizen“ 1842,
Bd: 28-.N1.27,,8:3192;
1883. Jennings, T. B., Curious Process of Division of Hydra, The Amer. Mier.
Journ. 4.
1890. Zoja, R., Aleune Richerche morfologishe e fisiologishe sull Hydra. Bolle-
tino Scientifieo XII, 3 u. 4, Pavia.
1900. Parke, H.H., Variation and Regolation of Abnormalities in Hydra. Arch.
Entw.-Mech. Bd. 10.
1906. Hertwig,R., Über Knospung und Geschlechtsentwicklung von Hydra fusca.
Biöl, Zentr.-Bl. Bd. 26 (S. 494).
1906. Annandale, N., The Common Hydra of Bengal. Mem. As. Soc. of
Bengal 1, Nr. 16.
1908. Krapfenbauer, A., Einwirkung der Existenzbedingungen auf die Fort-
pflanzung von Hydra. Diss. Phil. Fak. Univ. München,
1909. Frischholz._E., Zur Biologie von Hydra. Biol. Zentr.-Bl. Bd. 29.
1909. Leiber, A., Über einen Fall spontaner Längsteilung bei Hydra viridis L.
Zool. Anz Bd. 34.
1909. Korschelt, E., Über Längsteilung bei Hydra. Ibidem.
1910. Koelitz, W., Über Längsteilung und Doppelbildungen bei Hydra. Ibidem,
Bd. 35,
1911. Steche, O., Hydra und die Hydroiden. Monogr. einheim. Tiere, Bd. 3
(8. 43).
1911. Koch, W., Über die geschlechtliche Differenzierung ete. Biol. Zentr.-Bl.
Ba. 31 ($. 573).
1912. Ders., Mißbildungen bei Hydra. Zool. Anz. Bd. 39.
1913. Müller, Herbert C., Einige Fälle von Doppelbildungen und Konkreszenz
bei Hydroiden. Zool. Anz. Bd. 42.
1913. Joseph, H., Zur Frage der Längsteilung beim Süßwasserpolyj en. Zool.
Anz. Bd. 43.
1914. Boecker, Ed., Depression und Mißbildungen bei Hydra. Zool. Anz.
Bd. 44.
1914. Ders., Mißbildungen bei Hydra. Ibidem.
1915. Ders., Über eine dreiköpfige Hydra ete. Ihidem Bd. 4.
1917. Schulze, Paul, Neue Beiträge zu einer Monographie der Gattung Hydra
Arch. f. Biontologie Bd. 4, Heft 2 (8. 9Sff.).
m, 1.7 1 -_
J. Spek, Studien über den Mechanismus der Gastrulainvagination. 13
Studien über den Mechanismus der
Gastrulainvagination.
Von Dr. Josef Spek.
Mit 2 Abbildungen.
Vorliegende Publikation 'ist ein Auszug aus dem ausführlichen
Bericht über die Studien, die ich über den obengenannten Gegenstand
im vergangenen Jahr (1917) gemacht habe. Da der ausführliche Be-
richt in einer nicht-zoologischen Zeitschrift, nämlich den kolloid-
chemischen Beiheften Prof. W olfg. Ostwald’s (Bd. IX, H. 10—12,
S. 259-400) erschienen ist!) und auch eingehende Betrachtungen
über spezielle kolloid-chemische Fragen, die vielleicht manchem Bio-
logen weniger geläufig sind, enthält, erschien es mir zweckmäßig,
auch an dieser Stelle einen kurzen und einfacheren Bericht zu ver-
öffentlichen. :
Meine Studien nahmen ihren Ausgang von den Anschauungen,
welche sich ©. Bütschli?) über den Mechanismus der Gastrula-
einstülpung gebildet hatte. Bütschli nimmt an, dab die Gastrula-
einstülpung auf die Weise zustande kommt, daß sich die innere
Fläche der späteren Entodermpartie der Blastulawand etwas stärker
ausdehnt als die äußere, und sich infolgedessen die Entodermplatte
nach innen einkrümmen, e:nstülpen muß, so, wie jede dünne Lamelle,
deren eine Fläche sich stärker ausdehnt, sich so einkrümmen muß,
dab die sich stärker ausdehnende Fläche zur konvexen wird. Von
den Erscheinungen, die schon Bütschli zur Erklärung einer ver-
schieden starken Ausdehnung der beiden Flächen an der Entoderm-
partie der Blastula heranzos, nämlich einem stärkeren Wachstum
der Innenhälfte der späteren Entodermzellen, einer aktiven Verände-
rung der Entodermzellen im Sinne der Anschauungen L. Rhumb-
ler’s°), einem Aufquellen der Innenfläche der Entodermzellen u. a.,
wandte ich besonders dem letztgenannten Vorgang meine Aufmerksam-
keit zu. Ich fragte mich, wie.weit eine an den beiden Flächen ver-
schieden starke Wasserabsorption der Zellen der Entodermplatte an
1) Es sei mir hier gestattet, auch weitere zoologische Kreise, auf die kolloid-
chemische Zeitschrift und die kolloidehemischen Beihefte derselben (herausgegeben
von Prof. Wolfg. Ostwald) aufmerksam zu machen. Abgesehen von einer großen
Anzahl von Neuarbeiten auf dem Gebiet der reinen Kolloidchemie, hat die junge
Zeitschrift auch schon viele kolloidehemische Studien über wichtige zoologisch-
botanische Fragen veröffentlicht. Besonders wertvoll sind auch ihre regelmäßig
erscheinenden Literaturverzeichnisse über die neuesten biologischen Arbeiten, die
physikalisch-chemische Erscheinungen zur Erklärung heranziehen. Die in den
kolloidehem Beiheften publizierten größeren Arbeiten sind auch einzeln im Buch-
handel erhältlich.
2) O. Bütschli, Sitzungsber. der Heidelberger* Akad. d. Wiss., 2. Abhand-
lung (1915).
3) L. Rhumbler, Arch. f. Entwmech. 14, 401—476 (1902).
44 J. Spek, Studien über den Mechanismus der Gastrulainvagination.
der Entstehung der Gastrulaeinstülpung beteiligt ist und ob dieser
Faktor mutatis mutandis auch beim Entstehen anderer Einstülpungs-
und Faltungsprozesse von Zellplatten eine Rolle spielt.
Zur Grundlage der Untersuchungen wurden Versuche an Mo-
dellen, die selbsttätig, einfach durch stärkere Wasserabsorption im
oben erörterten Sinne, eine Gastrulainvasination und ähnliche Pro-
zesse zustande brachten. Mein vollkommenstes. Modell der Gastrula-
einstülpung sei z. B. im folgenden etwas genauer beschrieben.
Das Modell der Blastula stellt eine Hohlkugel aus Agar:Gelatine
von 45 ccm Durchmesser und ca. 4 mm Wanddicke dar. Die Ento-
dermpartie derselben ist auf besondere Weise aufgebaut. Sie ist
nämlich etwas dicker und doppelschichtig. Ihre äußere Schicht be-
steht so, wie alle übrigen Teile der Blastulawand aus einer schwächer
quellbaren Mischung aus 20 % Gelatine + 3% Agar im Verhältnis
von 3:1, ihre innere Lamelle jedoch besteht aus reiner und daher
stärker quellbarer 20 %iger Gelatine.
Die meiner Hauptarbeit entnommene Fig. 1 stellt mein Blastula-
modell im Querschnitt dar. Gel. bedeutet darin Gelatinelamelle, Ag.
— Agar + Gelatine-Schicht, Rg. = Ringzone Ss. w. u.
Die obere und die untere Hälfte der Blastula wurden gesondert,
für sich hergestellt, dann aufeinandergesetzt und zusammengekittet.
Ganz exakte Halbkugeln aus Gelatine oder Agar-Gelatine kann man auf
die Weise ohne besondere Mühe herstellen, daß man zwei halbkugelige
Blechschalen, eine größere und eine kleinere, in überall gleichem
Abstand ineinanderschachtelt — man läßt am besten die kleinere
innere mittels Holzklötzchen, die ihr am Rande von außen angekittet
werden, auf der äußeren ruhen —, den Zwischenraum mit heißer
Agar-Gelatine ausfüllt und diese erkalten läßt. Nach dem Erkalten
läßt sich die Gallertkugel bei nötiger Vorsicht von den Blechschalen
ablösen. (Einzelheiten der Technik müssen in der Hauptarbeit nach-
gelesen werden.)
Um in die Entodermhalbkugel die doppelschichtige Platte einzu-
setzen, setzt man sie nach dem Herauslösen aus der Gußform wieder
in die äußere Blechschale, schneidet eine ziemlich große Kugelchalotte
aus ihr heraus, so daß nur ein äquatorialer Ring (Ag. Fig. 1) übrig-
bleibt, gießt in das Loch innerhalb des Ringes zunächst wieder etwas
Agar-Gelatine ein und läßt sie durch entsprechendes Herumdrehen
in möglichst gleichmäßiger Ausbreitung erstarren. Hierauf wird dann
auf diese äußere Lamelle der Doppelschicht auf dieselbe Weise noch
eine innere aus reiner Gelatine aufgegossen. — Die fertige Blastula
wird durch ein eingeführtes Kapillarrohr mit Wasser gefüllt, ins
Wasser gesetzt und sich selbst überlassen.
Schon nach einigen Stunden ist an ihr eine schwache Abflachung
der „Entodermpartie“ zu bemerken. Daß diese Formveränderung wirk-
lich auch schon ausschließlich den besonderen Aufbau der Entoderm-
J. Spek, Studien über den Mechanismus der Gastrulainvagination. 45
partie aus verschieden quellbaren Substanzen zur Ursache hat, und
nicht etwa nur durch das Aufliesen der schwereren Entodermhälfte
auf dem Boden des Gefäßes hervorgerufen wird, läßt sich am besten
dadurch beweisen, daß man die Blastula an einem eingeschmolzenen
Kapillarrohr aus Glas frei im Wasser aufhängt. Bei dieser Ver-
suchsanordnung läßt sich dann auch die weitere Formveränderung
der Entodermhälfte gut verfolgen. Allmählich beginnt sich diese in
der Tat gegen das Blastocoel einzustülpen und die Einstülpung
schreitet schließlich bis zu dem in Fig. 2 abgebildeten Endstadium
‘fort. Bedenkt man, dab die Entodermplatte in gequollenem Zustand
eine Dicke von S-—-10 mm hatte und Ja auch die Quellungsdifferenzen
zwischen Außen- und Innenfläche nicht sehr große waren (auch
die Außenfläche des Entoderms enthielt ja bei meinen Modellen
75 % Gelatine!), so muß man das Resultat als sehr befriedigend be-
zeichnen. Je dünner die Gallertlamellen sind, bei um so geringeren
Figur 1. Figur 2.
Quellungsdifferenzen krümmen sie sich ein. Man denke an die Tier-
bilder, Heiligenbilder etc. aus ganz dünner farbiger Gelatine, die sich
schon vollständig aufrollen, wenn man sie auf die Hand legt, und
sie Spuren von Feuchtigkeit aus der Handfläche aufnehmen. Übrigens
ließen sich die .Quellungsdifferenzen an meinen Gastrulamodellen noch
dadurch etwas vergrößern, dab man das „Entoderm“ von außen mit
einer dünnen Schicht geschmolzener Öl-Vaseline überzog und die Innen-
fläche der Doppelschicht vor dem Zusammensetzen der Halbkugeln
mit schwachem Alkali überpinselte. Alkalien fördern die Quellung.
In analoger Weise wie die Gastrulaeinstülpung wurde dann auch
eine Aus- oder Einstülpung von Längsfalten an einem Hohlzylinder
aus Agar-Gelatine in hübscher Weise nachgeahmt. Das wäre also
etwa die Modellierung der Kinfaltung eines Nenralrohres, die- Aus-
stülpung einer Chordafalte oder der mittleren Keimblätter ete. Auch
runde kuppenförmige Ausstülpungen, etwa einer Leberausstülpung
aus dem Darmrohr entsprechend, kann man an dem Agar-Gelatine-
rohr entstehen lassen. Bei allen Versuchen waren die sich einkrümmen-
den Partien doppelschichtig, und stets wurde die stärker quellbare
Gelatinetläche zur konvexen Seite der Einstülpung.
46 J. Spek, Studien über den Mechanismus der Gastrulainvagination.
Durch besondere Versuchsanordnungen konnten durch die Modell-
versuche auch eine Reihe von speziellen Fragen über die Mechanik
der Ausstülpungs- und Faltungsprozesse eindeutig entschieden wer-
den. So konnte für die Gastrulainvagination klargelegt werden, daß
ein stärkeres Wachstum des Ektoderms nicht, wie dies früher
wiederholt angenommen wurde, eine Erleichterung der Urdarmein-
stülpung mit sich bringen würde. Stellt man das ganze ‚„Ektoderm“
des Blastulamodelles aus reiner stark quellender Gelatine her, die
doppelschichtige Entodermplatte aber wie bei den oben beschriebenen
Versuchen, so erhält man überhaupt nur eine schwache Abflachung
des Entoderms. Bezüglich dieser Frage und weiterhin auch in der
Frage nach etwaigen Krümmungen von Längsfalten in der Längsrich-
tung, nach der Entstehung von Spiral- und Ringfalten etc. verweise
ich den Leser auf die Hauptarbeit.
Durch die Modellversuche wurde der Beweis erbracht, dab an
all den Gallertlamellen, die in der Form den betreffenden Bildungen
der lebenden Larvenkörper glichen, eine Einkrümmung (KEinstülpung
oder Einfaltung) im erwarteten Sinne eintreten mub, ‚wenn die
Wasseraufnahme auf der einen Seite stärker ist als auf der anderen.
Dieselben Folgeerscheinungen werden sich somit auch an den Orga-
nismen abspielen müssen, wenn die einzige Bedingung der einseitig
stärkeren Wasseraufnahme in die Zellplatten gegeben ist. Dab nun in
der Tat auch bei den in Frage stehenden organischen Bildungen
Quellungserscheinungen eine ausschlaggebende Rolle spielen, wird
durch folgende zwei Hauptargumente wahrscheinlich gemacht.
Die durch Faltenbildung etc. hervorgehenden -Anlagen von Or-
sanen zeichnen sich sozusagen in allen Fällen durch einen ganz spezi-
tischen Chemismus aus, der von dem des umgebenden Mutterbodens
ganz abweicht. Es ist nun ganz auffällig, eine wie große Rolle in
den durch Faltung sich absondernden Organanlagen spezifischer che-
mischer Beschaffenheit einerseits Stolfe spielen, die ein hohes Quel-
lungsvermögen besitzen, andererseits Stoffe, die die Quellung der
Kolloide in hohem Maße steigern. Einige Beispiele seien hier auch
angeführt: Unter den Hauptbausteinen der Zelle zeichnen sich einige
Lipoide, Stoffe, welche in vielen anderen physikalischen Eigenschaf-
ten den gewöhnlichen Fetten nahestehen, durch besonders hohes Quel-
lungsvermögen aus, so Lecithin und einige Cerebroside. Das Organ
der Wirbeltiere, welches gerade an diesen Lipoiden den größten Reich-
tum aufweist, ist das Zentralnervensystem. Es entsteht durch Falten-
bildung !
Ziemlich reich an Lecithin ist auch die Leber. In ihr spielen
aber auch andere Stoffe, die wiederum entweder gut quellbar sind
oder die Quellung anderer Kolloide beträchtlich fördern, nämlich
J. Spek, Studien über den@Mechanismus der Gastrulainvagination. 1\
Kohlehydrate, Gallensäuren, Harnstoff und andere eine grobe Rolle
im Stoifwechsel. Glykogen wurde schon in ganz Jungen Leberanlagen
nachgewiesen. Seir reich an Glykogen, außerdem aber auch wieder
an gewissen Lipoiden (Myelin) ist auch die fötale Wirbeltierlunge.
Die Zellen der ebenfalls durch Faltung entstandenen Ohorda
verraten inren Reichtum an stark quellbaren Kolloiden schon in sehr
frühen Stadien durch starke Vakuolenbildung, und von dem einen
Hauptprodukt des mittleren Keimblattes, der Muskulatur läßt sich
bezüglich ihres Unemismus wieder als Besonderheit angeben: Hoher
Wassergehalt, Vorkommen von Stoilen, welche die Quellung am aller-
stärksten fördern, und Vorkommen quellbarer Stoffe. Für den Wasser-
gehalt der Muskulatur ganz junger Embryonalstadien wird sogar
die enorme Prozentzahl von über 99 angegeben. Milchsäure, ein kon-
stantes Stoffwechselprodukt des Muskels, fördert, wie alle Säuren.
die Quellung ganz bedeutend, Kalisalze, von denen die Muskeln fünf-
bis sechsmal so viel enthalten wie Natriumsalze, wirken wesentlich
besser quellungsfördernd als Natriumsalze. _
Damit will ich die Reihe der Beispiele beschließen. Die ange-
führten Angaben über den Chemismus der betreffenden Organe sind
nun an diesen freilich nicht schon in dem Entwicklungsstadium,
wenn sie sich von ihrem Mutterboden ausstülpen oder eintalten, ge-
macht worden. Es ist aber kaum denkbar, daß ihre Zellen, bei ihrer
Sonderung vom Mutterboden, noch vollständig indifferent, von den
Zellen des Mutterbodens gar nicht verschieden sein sollen. Sie sind
ja übrigens auch schon histologisch von den Zellen der Umgebung
meistens zu unterscheiden. Jener spezifische Chemismus wird eben
schon in den ersten Anfängen der Organdiiferenzierung vorhanden
sein, er wird die Ursache bestimmter Wasserabsorptionsvorgänge
werden, die dann zur Einfaltung der betreffenden Organanlagen, zu
ihrer Sonderung vom indifferenten Mutterboden führen. Speziellere
histologische Untersuchungen haben mich in einem Falle, nämlich bei
der Ausstülpung der Leberanlage der Gastropoden (Paludina fasciata)
aus dem Urdarm hievon überzeugt. Im Stadium der Leberausstülpung
haben die Leberzellen eigentlich schon eine spezifische Funktion.
Sie sind dicht gefüllt mit Tröpfchen, die sich mit Eosin intensiv
färben, und wenn man ungefärbte Schnitte mit Millon’s Reagenz auf
Eiweiß behandelt, gelblich werden. Es dürfte sich um einen Eiweib-
körper handeln, den die Leberzellen wohl aus der Urdarmhöhle auf-
nehmen und vielleicht chemisch verändern. Diese Eiweißtröpfchen
sind nun an der Innenseite der Zellen erstens einmal viel intensiver
rot gefärbt und zweitens von kleinerem Umfange als in der äußeren,
der Leibeshöhle zugewendeten Hälfte. Hier sind sie nur ganz blab
rosa, und so groß und breit, dab sie die seitlichen Zellwände ganz
auseinanderdrängen. Die Leberzellen scheinen entweder von der
Außenseite mehr Wasser zu absorbieren als von der mit dem viskosen
39. Band 2
418 J. Spek, Studien über den Mechanismus der Gastrulainvagination.
Eiweißkörper erfüllten Urdarmhöhle, oder aber erfahren die. Eiweiß-
tröpfchen in den Leberzellen eine allmähliche chemische Veränderung,
so dab sie erst am Grunde der Zellen so stark quellbar werden, daß
sie die von der Theorie erwartete stärkere Ausdehnung der konvex
werdenden Fläche der Leberanlage mit sich bringen. — Die Annahme,
daß in diesem wie in ähnlichen Fällen die Wasseraufnahme in Epithel-
zellen von der äußeren und der inneren Fläche nicht gleich groß ist,
selbst wenn im ganzen Zelleib gut quellbare Kolloide gleichmäßig
verteilt sind, ist gar nicht unwahrscheinlich. Sind doch die meisten
Epithelzellen schon morphologisch erkennbar, noch viel mehr aber
physiologisch bipolar differenziert, so daß z. B. der eine Pol nur sezer-
nieren, der andere nur absorbieren kann.
Der Reichtum der Organanlagen, die in vielen Fällen eine ty-
pische Ausstülpung, Einfaltung etc. erfahren, an besonders quell-
baren Substanzen macht uns mit Hinblick auf Erscheinungen, die
ich in der folgenden Publikation genauer besprechen will, noch eine
weitere bekannte Erscheinung verständlich. Wir werden nämlich weiter
unten erfahren, dab man durch jede Steigerung der Wasserabsorption
(ohne schädliche Nebenwirkungen) experimentell Zellteilungen an-
regen kann. Dasselbe werden wir aber auch für alle die Fälle mehr
oder weniger erwarten müssen, in denen das Neuauftreten von gut
quellbaren Substanzen im Stoffwechsel eine stärkere Wasseraufnahme
mit sich bringen muß. Und in der Tat sehen wir in sehr vielen Fällen
am den in Frage stehenden Organbildungen lokal begrenzt starke Zell-
vermehrungen auftreten, die den Einstülpungsprozeß sehr verschleiern
können, aber auch in extremen Fällen nicht allein, d. h. ohne Be-
teiligung der oben besprochenen mechanischen Faktoren, die Absonde-
rung der Organanlagen vom Mutterboden herbeiführen dürften. —
Interessanterweise sind auch durch starke Zellwucherungen entstan-
dene pathologische Neubildungen wie Carcinome, Sarcome etc. reich
an stark quellbaren oder quellungsfördernden Stoffen. —
Das wichtigste Argument zum Beweise der Richtigkeit der vor-
gebrachten Theorie des Einstülpungsmechanismus ist das, daß es uns
möglich ist, die normalerweise stattfindenden Quellungserscheinungen
an den sich einkrümmenden Zellamellen experimentell zu verändern
und neue, anormale Quellungsprozesse herbeizuführen, und daß dieser
Beeinflussung der Quellungserscheinungen stets eine bis in die klein-
sten Einzelheiten der theoretischen Erwartungen entsprechende Modi-
fikation des Einstülpungsprozesses selbst folgt.
Die Quellung läßt sich in hohem Grade beeinflussen durch Zusätze
iöslicher Stoffe zum Wasser. Die neuere Kolloidehemie hat da eine
sroße Reihe von Gesetzmäßigkeiten aufgedeckt, von denen einige für
uns besonders wichtige hier mitgeteilt seien.
J. Spek, Studien über den Mechanismus der Gastrulainvagination. 49
Die Kolloide quellen in verdünnten Säuren und Alkalien vie
' stärker als in reinem Wasser. Für biologische Verhältnisse viel wich-
tiger ist aber, dab auch die Neutralsalze einen starken Einfluß auf die
Quellung ausüben. Die Salze lassen sich in eine in den meisten Fällen
übereinstimmende Reihe bezüglich der Quellungsbeeinflussung einord-
nen. Man spricht da von einer Quellungsreihe der Salze, oder da sich
die Wirkung der Salze stets aus den Einzelwirkungen ihrer Ionen
addiert, von einer Quellungsreihe der Ionen. Von den Alkalisalzen
wirken z. B. am stärksten quellend die Lithiumsalze, etwas weniger
die Kalisalze und am wenigsten die Natriumsalze. Erdalkalisalze
wirken noch schwächer quellend bezw. stärker entquellend als die
Natriumsalze. Magnesiumsalze können in absolut neutralem Medium
auf die Quellung gewisser Kolloide auch recht fördernd wirken. Die
Quellungsreihe der positiven Ionen oder Kationen lautet also:
112> Ko> Na > Ca;
Von den Salzen desselben Kations wirken am stärksten quellungs-
fördernd die Rhodanide; es folgen die Jodide und Bromide, in der
Mitte stehen die Chloride, und Sulfate wirken in nicht allzu mini-
malen Konzentrationen stets beträchtlich entquellend. Die Anionen-
reihe lautet also: SEUN > I >Br > C1>S0,. — Jeweils müssen ge-
wisse Nebenumstände, so besonders die Reaktion des Mediums noch
berücksichtigt werden, doch von der Besprechung dieser z. T. sehr
komplizierten Verhältnisse können wir hier absehen.
Verändert man nun z.B. die Zusammensetzung des Seewassers, das
etwa Seeigellarven enthält, indem man — sagen wir — noch stark quel-
lungsfördernde Lithiumionen hineinbringt, so wird sich eine Steige-
rung der Wasserabsorption in denjenigen Zellen geltend machen, in
welche das Lithium überhaupt eindringt. An Blastulen des Seeigels
ist die Durchlässigkeit der zukünftigen Entodermzellen größer als die
der Ektodermzellen, wir werden also auch in ihnen in erster Linie
die Lithiumwirkung zu erwarten haben. Ist uns nun auch ein Mittel
gegeben die Wirkung des Lithiums (oder anderer Salze) mehr oder
weniger auf die Außenhälfte der späteren Entodermzellen zu lokali-
sieren, so wäre gerade im Falle des Lithiums ein seltsamer Zustand
gegeben. Weil nämlich dieäußere Fläche der Entodermzellen stär-
ker aufquellen würde als die innere, müßte, wenn unsere Einstülpungs-
theorie richtig ist, die Urdarmeinstülpung in verkehrter Richtung
stattfinden.
Eine Lokalisation der Salzwirkungen auf die äußere Hälfte der
Zellen muß nun in der Tat in allen den- Fällen eintreten, wenn die
Salze auf die Eiweißkörper und Lipoide der Zellen fällend wirken.
Lassen nämlich die Salze in den Zellen einen oberflächlichen Nieder-
schlag entstehen, so verhindert dieser oder erschwert doch wenigstens
das weitere Eindringen aller im Außenmedium gelösten Substanzen
also auch der Ionen des betreffenden Salzes selbst. Die Ausflockungen
Pi
30 J. Spek, Studien über den Mechanismus der Gastrulainvagination.
der Zellkoloide dürfen hiebei natürlich nicht allzu stark werden, sonst
würden sie ja die Zellen töten. Daß eine solch feine sich noch in physio-
logischen Grenzen bewegende Fällung der Zellkolloide in der Tat durch-
lässigkeitsvermindernd wirkt, wird durch eine große Reihe experimen-
teller Befunde aus dem Gebiet der physikalischen Chemie der Zellen
und der Gewebe wahrscheinlich gemacht. Fällungs- und Quellunes-
erscheinungen sind überhaupt zwei sehr wichtige Faktoren bei den
physiologischen Veränderungen des lebenden Plasmas, — das ist eine
Erkenntnis, die fast durch jede neue experimentelle Arbeit auf diesem
Gebiete gestärkt wird. —
Auch ein genaueres Studium der Fällung der Kolloide durch
Salze, Säuren und Basen hat interessante Gesetzmäßigkeiten ergeben.
Die ‚„Fällungsreihen“ der Ionen haben viel Ähnlichkeiten mit den
oben besprochenen ‚„Quellungsreihen“. Für die Anionen gilt unter
Umständen sogar dieselbe Fällungsreihe SCN <1< Br<Cl<SO,.
Wichtig ist für uns dann aber, daß auch die Rhodanide stark fällend
wirken, wenn Calcium mit im Medium enthalten ist, was ja in physio-
logischen Salzlösungen stets der Fall ist. Für die Kationen gilt die
Reihe: K<Na<Li<cCa. — Säuren wirken auch fällend, doch
dringen nur die organischen für gewöhnlich in die Zellen ein. —
Der Kernpunkt der ganzen Erörterungen ist nun folgender. Fin-
den wir bei einem Salze die beiden Eigenschaften quellungsför-
dernd und fällend vereinigt, so müssen wir ihm die Fähigkeit
zuschreiben, dem Meerwasser, in dem sich Larven entwickeln, zuge-
setzt an diesen unter geeigneten Umständen eine Umkehrung von
Einstülpungsprozessen hervorzurufen. (Im unveränderten Seewasser
sind solche Salze nicht enthalten.) In extremer Weise müssen wir
eine solche Wirkung von den Lithiumsalzen®) und den Rhodaniden er-
warten. -—- Gleichsinnig mit dem Zusatz eines fällend und quellend
wirkenden Salzes muß natürlich die Entfernung eines im Meerwasser
enthaltenen Salzes, welches fällend und entquellend wirkt, also z. B.
der Sulfate, sein.
In den neunziger Jahren hat C. Herbst’) sehr eingehende
Untersuchungen über die Wirkung verschiedener Salzlösungen auf
die Entwicklung der Seeigellarven angestellt. Ihre Resultate ent-
halten in sämtlichen Punkten eine vorzügliche Bestätigung aller
unserer obigen Kalkulationen.
So erhielt ©. Herbst durch Zusatz irgendeines Lithiumsalzes
zum Meerwasser Seeigellarven mit nach außen angelegtem Urdarm,
4) Selbst Lithiumsulfat wirkt in den geringen Konzentrationen, in denen es
die Zellen noch gut vertragen, quellungsfördernd. Erst von etwas höheren Konzen-
trationen angefangen wirkt es dann quellungshemmend.
5) C. Herbst, Zeitschr. f. wissensch. Zool. 55, 446—518 (1892), Mitteil. der
zool. Stat. Neapel 11 (1893), Arch. f. Entwmech. 2 (1896); 5 (1897); 9 (1900);
Habilitationsschrift (Leipzig 1901); Arch. f. Entwmech. 17 (1904).
J. Spek, Studien über den Mechanismus der Gastrulainvagination. 1
typische ‚„Exogastrulae“. Ebenso wird im Rhodankaliumseewasser
jede Einstülpung des Urdarmes von Asterias-Larven unterdrückt.
(Bezüglich meiner Deutung dieser „Mesenchymblastulen“ aus den
Rhodankaliumlösungen verweise ich den Leser auf die Hauptarbeit,
S. 384.) Rhodanlithium wirkt offenbar wegen seiner zu starken Fäl-
lungskraft tödlich, Rhodannatrium wurde nicht untersucht.
Exogastrulen erhielt ©. Herbst noch durch einen Zusatz von
Natriumbutyrat zum Seewasser und durch Weelassen des Maene-
siums aus dem Seewasser. Die Wirkung des Natriumbutyrates ist
so zu erklären, daß es sich hydrolytisch in freie Buttersäure und
Natronlauge spaltet. Natronlauge dringt nicht in die Zellen ein, die
lipoidlösliche Buttersäure hingegen -ja. Bei ihr finden wir wieder
die beiden Eigenschaften fällend und quellend vereinigt.
Die Wirkung des Magnesiummangels ist etwas komplizierter.
Sie beruht auf dem Vermögen von Magnesinmchlorid in nicht zu
hohen Konzentrationen die Fällung von Eiweißkörpern durch andere
Salze zu verhindern. Maenesiummangel muß daher eine allgemeine
Steigerung der Fällungswirkung der Seewassersalze bewirken. An
einer solchen Fällung müßten natürlich die an Menge weit über-
legenen quellungsfördernden Chloride den Hauptanteil haben. Es
wird also an der Außenfläche der Entodermplatte der Seeigellarve
ein Niederschlag von vorwiegend quellungsfördernden Ionen entstehen,
der dann eben wie in den obigen Fällen die Exogastrulation (bisweilen
auch ein Exostomadaeum) veranlaßt. Auch durch eine Temperatur-
erhöhung läßt sich eine solche allgemeine Fällungssteigerung und da-
mit auch Exogastrulation erreichen (H. Driesch)®).
Im normalen Seewasser scheinen vorwiegend die Sulfate, die ja
auch im Reagenzglas schon bei viel geringerer Konzentration zu
fällen beginnen, eine Niederschlagsbildung in den äußeren Hälften
der Blastulazellen der Entodermresion zu veranlassen und so eine
Entquellung derselben zu bedingen. Bei 'Sulfatmangel bleibt diese
aus und die Urdarmeinstülpung wird dadurch erschwert oder sogar
Exogastrulation hervorgerufen. (Es geht hieraus hervor, daß auch
die Anwesenheit der Me-Ionen des normalen Seewassers die Sulfat-
fällung nicht verhindert. Magnesiummangel wird ja dann zwar auch
die Sulfatfällung stärker werden lassen, doch kann diese Steigerung
bei dem geringen Gehalt des Meerwassers an Sulfaten nur gering-
fügig sein.)
Außer der Urdarmbildung werden auch andere Einstülpungsprozesse
durch bestimmte Salzwirkungen beeinflußt. So gibt W. Schimke-
witsch?) an, daß sich die Statocyste der Cephalopodenembryonen in
Li-Seewasser nach außen, statt nach innen anlegt und Ch. Stock-
6) H. Driesch, Mitt. d. zool. Station Neapel 11, 222 (1895).
7)3W. Schimkewitsch, Zeitschr. f. wissensch. Zool. 67, 491 (1900).
929 , J. Spek, Studien über den Mechanismus der Gastrulainvagination.
ard8) fand, daß an Fundulus-Embryonen im Lithium-Seewasser
—- vorausgesetzt, daß sie sich überhaupt bis zu diesem Stadium ent-
wickeln —, jede Einstülpung von Augenlinsen unterbleibt. —
Es bleibt mir jetzt nur noch übrig, aus der Fülle von Einzelbeob-
achtungen, welche C. Herbst an seinem Versuchsmaterial gemacht
hat, und welche auch in meiner Hauptarbeit zur Besprechung gelangt
sind, einige Beispiele anzuführen, die geeignet sind, zu beweisen,
dab die hier besprochenen Salze wirklich in der angenommenen Weise
wirken.
Die starke Quellungssteigerung bei Lithiumbehandlung äußert
sich an den Seeigel-Exogastrulen schon in der beträchtlichen Dick°
des Exodarmes. Dasselbe gilt auch für die Rhodankaliumlarven und
schließlich auch für die Larven aus dem sulfatfreien Meerwasser, dem
also ein entquellendes Ion fehlt. Daß auch in anderen Fällen eine
starke Quellungsförderung der Hauptfaktor bei spezifischen Wir-
kungen der Lithiumsalze und der Rhodanide ist, werde ich auch ın
der nächstfolgenden Publikation zeigen können. Für die Lithium-
salze geht sie in unzweifelhafter Weise auch aus den oben zitierten
Untersuchungen Stockard’s an Fundulus-Embryonen hervor. an
denen eine ganz beträchtliche Vergrößerung der jedenfalls irgend-
welche Eiweißkörper enthaltenden Furchungshöhle, eine starke Auf-
blähung derselben, stattfindet, wenn das Seewasser Li-Salze enthält.
Wie schon erwähnt wurde, sprechen viele Beobachtungstatsachen
dafür, dab durch oberflächliche Ausfällung der Zellkolloide durch
Salze die Zellen undurchlässiger werden für die im Aubenmedium
gelösten Stoffe. Reagenzelasversuche haben dann auch gelehrt, daß
bei Zusatz eines Salzes, das wie Lithiumsalze selbst stark fällend
wirkt, zu einer anderen Salzlösung, also etwa Meerwasser, auch das
Fällungsvermögen der anderen Salze gesteigert wird. Das wäre nun
bei den Zellen ein weiterer Faktor, der bewirken würde, daß bei Lithium-
zusatz die anderen Salze des Meerwassers schwer in die Blastula-
zellen oder durch die Zellen in das Blastocoel gelangen können. Dies
macht sich nun bei den Calciumsalzen an den Seeigellarven sogleich
in auffälliger Weise bemerkbar. Gelangen nämlich zu wenig Calcium-
salze in das Blastocoel und die Mesenchymzellen, sd reicht der Kalk-
vorrat nicht mehr aus zur Anlage eines normalen Skelettes; und ın
der Tat ergab sich in Herbst’s Versuchen, daß den Lithiumlarven
jede Spur eines Kalkskelettes fehlt.
Bringt man Larven, die eine Zeitlang im Lithiumseewasser g2-
halten wurden, noch vor der Urdarmbildung in reines Seewasser Zu-
rück, so entwickeln sie sich auch zu Exogastrulen. Das Lithium
wirkt nach, denn es kann aus der Niederschlagsbildung in den Zellen
nicht so leicht wieder herausdiffundieren. Es übt seine quellungs-
8) Ch, Stockard, Journ, exp. Zool, 3, S, 107 (1906),
J. Spek, Experimentelle Beiträge zur Physiologie der Zellteilung. 35
fördernde Wirkung auch weiter aus. Zu neuen Niederschlagsbil-
dungen kann es aber nicht mehr kommen.
Jetzt werden die anderen Salze des Meerwassers nicht mehr
schwerer als normalerweise in und durch die Zellen eindringen. Ja
durch die gequollenen Zellkolloide werden sie sogar leichter durch-
diffundieren, so wie auch im Reagenzglas gelöste Stoffe um so rascher
durch eine Gallerte diffundieren, je wasserhaltiger diese ist. ©.
Herbst fand auch wirklich in den ins Seewasser zurückgebrachten
Li-Larven häufig ein ganz bedeutend entwickeltes Kalkgerüst. Jetzt
war also sogar mehr Kalk als normalerweise in die Mesenchymzellen
gelangt! |
Eine Verminderung der Permeabilität der Blastulazellen kann
“unter Umständen auch bewirken, daß osmotisch wirksame Substanzen
des Blastocoels aus diesem schwerer entweichen können und somit
der osmotische Druck im Blastocoel noch höher wird. Andererseits
wird dann eine Permeabilitätssteigerung zu einer Verminderung des
osmotischen Druckes des Blastocoels führen. Bei Entfernung des
stark fällend wirkenden Sulfations aus dem Meerwasser ist im Sinne
der obigen Ausführungen eine solche Steigerung der Permeabilität
und damit eine Verminderung des osmotischen Druckes zu erwarten,
und wir sehen auch, daß in den SO,-freien Zuchten von Asterias-
Larven mehr oder weniger auffallend faltige, schlaffe Larven ent-
stehen. Magnesiummangel hingegen bewirkt durch die allgemeine
Fällungssteigerung eine Erhöhung des osmotischen Druckes im Blasto-
coel, so daß die Blastulae stets eine straff gespannte Wandung haben.
Experimentelle Beiträge zur Physiologie der Zellteilung.
Vorläufiger Bericht.
Von Dr. Josef Spek.
(Aus dem zoologischen Institut der Universität Heidelberg.)
In der Literatur ist schon wiederholt — freilich nur ganz neben-
bei und mit nicht gerade sehr präzisen Begründungen — die Vermutung
ausgesprochen worden, daß eine gesteigerte Aufnahme von Wasser
in die Zellen diese zu regeren Zellteilungen veranlaßt. Es hat dann
aber auch an Vertretern der entgegengesetzten Ansicht nicht gefehlt,
die sagten, daß gerade eine Wasserentziehung bei den meisten An-
regungen von Zellteilungen der ausschlaggebende Faktor sei.
In meiner im vorhergehenden Aufsatz zitierten Arbeit über die
Ursachen der Gastrulainvagination hatte ich auch schon Gelegenheit
dieses Problem theoretisch zu erörtern!) und ich zählte dort die
1) Josef Spek, Kolloidchem. Beihefte, 9, S. 316ff. (1918).
DA J Spek, Experimentelle Beiträge zur Physiologie der Zellteilung.
experimentellen Befunde anderer Autoren auf, die meiner Ansicht
nach dafür sprachen, daß eine Steigerung der Wasserabsorption, eine
gesteigerte Aufquellung der Zellkolloide, Zellteilungen eintreten lasse,
und daß auch normalerweise die Zellteilung von diesen Veränderungen
der Plasmakolloide begleitet sei. Was mir hiefür sprach, war — kurz
rekapituliert — folgendes:
1. Nach der Befruchtung und bei jedem elle äheien bei der
Furchung findet eine beträchtliche Steigerung der Durchlässigkeit
der Zellen statt, die sich bei Berücksichtisung aller Nebenumstände
am einfachsten- durch eine in diesen Stadien gesteigerte Wasser-
absorption der Zellen erklären ließe?). 2. Bei der Zellteilung findet
bisweilen (leicht nachweisbar bei beschalten Rhizopoden ; große Volum-
unterschiede auch bei gewissen Endothelzellen) eine ganz beträcht-
liche Volumvergrößerung der Zellen statt, die so rasch erfolgt, daß sie
nicht durch Vermehrung organischer Substanz verursacht worden
sein kann. Auch für Furchungszellen liegen Beobachtungen vor, die
für einen während der Zellteilung vorübergehend erhöhten Innendruck
(Quellungsdruck) sprechen und 3. fällt es auf, eine wie große Ro!ls
unter den parthenogenetisch wirkenden Substanzen Stoffe spielen,
welche die Quellung der Kolloide mächtig zu fördern vermögen. Be-
sonders wichtig ist diesbezüglich eine Arbeit von R. Lillie?), die
beweist, daß auch eine Parthenogenese mit reinen Salzlösunzen
(Natrium- und Kalinmsalzen), um so besser und leichter gelingt, je
stärker diese Salze die Quellung begünstigen ®).
Absolut beweisend und ganz eindeutig waren diese Beobachtungen
noch nicht, und ieh versuchte daher dureh eingehende experimentell»
Untersuchungen, die Beweisführung auf eine sichere Basis zu stellen.
Über die Hauptergebnisse meiner Untersuchungen will ich hier in
aller Kürze berichten. Die Hauptarbeit wird in den kolloidehemisch®n
Beiheften Prof. Wolfe. Ostwald’s erscheinen.
Der leitende Grundeedanke bei meinen Arbeiten war folgender:
Wie wir in der vorigen Publikation S. 18u. 19 schon sahen, läßt sich die
Quellung der Kolloide in hohem Grade sowohl fördernd, als auch
hemmend durch Salze beeinflussen. Die Wirkune der Salze auf die
Quellung addiert sich aus den Einzelwirkungen ihrer Ionen. Sowohl
die Kationen als auch die Anionen ordnen sich ganz gesetzmäßig in
bestimmte „Quellungsreihen“ ein (s. o. das Genauere). Diese Reihen
lauten: Li>K > Na > Ca und Rhodanid > Jodid > Bromid > Chlo-
rid > Sulfat. Am vorderen Ende der’ Reihe stehen die stark quel-
lungsfördernden Ionen, am hinteren die entquellend wirkenden. Es
ließ sich nın erwarten, daß sich auch die Zellteilungen nach diesen
9) Dan auch über die folgenden Punkte siehe in der zit. Gastrulaarbeit.
3) R. Lillie, Amer. Journ. of Physiol. 26, 106 (1910).
4) Diese Deutung wurde diesen Befunden von R. Lillie selbst noch nicht
gegeben. Siehe J. Spek, I. c, S. 320.
re
Ne
J. Spek, Experimentelle Beiträge zur Physiologie der Zellteilung. 95
Ionenreihen durch Salzzusätze zum natürlichen Medium der Zellen
beeinflussen lassen, wenn wirklich eine gesteigerte Wasserabsorption
der Zellen Zellteilungen anregte. Diese Erwartung hat sich in über-
zeugender Weise bestätigt.
Die Versuche wurden mit Kulturen von Paramaecium caudatum
ausgeführt. Das Kulturmedium waren Heuinfusionen, die durch
10 Minuten langes Aufkochen alten Heues erhalten wurden. Die Kul-
turen wurden stets mit einzelnen Schwestertieren angesetzt, d. h. ein
Schwestertier wurde in Heuinfusion —- Salzzusatz gesetzt und ein
zweites zur Kontrolle in reine Infusion. Die Kulturen wurden min-
destens jeden zweiten Tags, oft aber auch jeden Tag gewechselt und
dabei mit Hilfe langer feiner Glaskapillaren unter der Präparierlupe ge-
zählt. Es wurden immer alle Tiere weitergeführt und die Kulturen,
je nach dem, wie rasch sie sich entwickelten, am vierten bis siebenten
Tag abgebrochen. Ich legte größeres Gewicht darauf die Versuche
auch mit möglichst verschiedenem Material auszuführen und damit
die gewonnenen Resultate auf ihre Allgemeingültigkeit zu prüfen,
als eine oder wenige Linien monatelang zu züchten und etwaige perio-
dische Schwankungen in ihrem physiologischem Verhalten festzu-.
stellen, so wie das einige amerikanische Forscher (Woodruf, Cal-
kins u. a.) gemacht haben, die auch schon einige Salze auf ihre Ein-
wirkung auf die Teilungsgeschwindigkeit von Infusorien (besonders
Paramaecium und @Gastrostyla) untersuchten. Solche periodische
oder „rythmische* Schwankungen, die dann physiologischen Gesetz-
mäßigkeiten der Versuchszellen zugeschrieben werden. könnten
nach meinen Erfahrungen unter Umständen doch nur (wenig-
stens zum Teil) durch allmähliche, wenn auch noch so gering-
fügise Änderungen in der Beschaffenheit der verwendeten Kultur-
medien, die auch bei noch so genau eingehaltener Gleichheit der Her-
stellungsmethode eben doch nicht immer gleich ausfallen können, her-
vorgerufen werden.
Auch gegen die Methode der genannten Forscher, die Salze in
ihren reinen Lösungen kurze Zeit auf die Infusorien einwirken zu
lassen (eine längere Einwirkungsdauer vertragen die Tiere meist nicht),
und sie dann in reine Infusion zu übertracen, habe ich meine Be-
denken. Zwar ist ja natürlich auch das von Interesse, zu wissen, wie
ein soleher kurzer Aufenthalt in’ Salzlösungen nachwirkt, aber ein-
fache Versuchsbedingungen werden durch diese Versuchsanordnung
nicht geschaffen. 1. Kann nämlich das Fehlen der Salze der normalen
Umgebung des Infusors in der betreffenden reinen Salzlösung schon
allein eventuell einen ebenso großen Einfluß auf die Zellteilung aus-
üben wie das Hinzukommen neuer Ionen. 2. Kann das betreffende
Salz, wenn es in reiner Lösune wirkt, in der nach vielseitigen Erfah-
rungen die Durchlässigkeit der Zellen eine viel höhere ist als in
Lösungen mehrerer Salze, auch viel stärkere Zustandsänderungen in
36 J. Spek, Experimentelle Beiträge zur Physiologie der Zellteilung.
den Zellen hervorrufen, die leicht die Grenze des physiologisch Nor-
malen überschreiten und hiedurch schon zu negativen Resultaten
führen können. Es ist somit kein Wunder, dab Woodruff?) bei
öfters wiederholter kurzer Einwirkung seiner Lösungen von Kalium-
phosphat Kaliumchlorid, Kaliumbromid, Natriumchlorid und Kalium-
sulfat überall negative Teilungszahlen gegenüber der Kontrolle (Ver-
suchstier: Gastrostyla) erhielt, während er bei einmaliger Behand-
lung der Tiere mit diesen Salzen bei bestimmten Konzentrationen als
Nachwirkung einen schwachen positiven Ausschlag bekam. Auch schon
die Übertragung der Tiere aus der reinen Salzlösung in die Infusion
könnte übrigens irgendwie als „Reiz“ auf die Teilungsgeschwindigkeit
einwirken. — Schließlich muß bedacht werden, dab schwer eindringende
Salze bei kurzer Einwirkung vielleicht überhaupt nicht in die Zellen
selangen.
In meinen Versuchen ließ ich die zur Infusion zugefügten Salze
dauernd einwirken. Sie wurden in einer Menge von 0,6—-1,5 cem (in
den meisten Versuchen 1.0 ccm) einer 0,3 m Lösung zu 19 ccm Heu-
infusion zugefügt. Da eine Heuinfusion (nach Angaben von Esta-
brook®), wenn nach dessen Methode hergestellt) einen osmotischen
Druck von 0,44 Atmosph. hat, waren alle meine Salzinfusionen gegen-
über der Kontrolle schwach hypertonisch.
Salze, die wie Phosphate auch chemisch auf den Stoffwechsel
der Zellen einwirken dürften, habe ich in meine Versuchsreihen nicht
einbezogen. —
Wenden wir uns nun der Besprechung der Hauptresultate der
Versuche zu! Nach meiner oben bespröchenen Arbeitshypothese waren
die stärksten und entscheidendsten Resultate von Salzen zu erwarten,
deren Ionen (oder doch wenizstens ein Ion) am einen oder am anderen
Ende der Quellungsreihe stehen. Für eine starke Teilungsförderung
kamen also in erster Linie in Betracht Lithiumsalze einerseits und
Rhodanide andererseits. Ich berann meine Versuche mit Lithium-
Gh. lo:r1d}
Tabelle 1 gibt die Zählungsergebnisse von fünf Lithiumchlorid-
versuchen wieder, die beliebig aus einer Serie von 23 Versuchen mit
diesem Salze, die alle im Winter 1917 ausgeführt wurden, ausgewählt
sind. In allen Tabellen werden die Zahlen der ersten, zweiten, dritten
u.s.w. Rubrik (von links nach rechts) die Zahl der Tiere in den Kul-
turen am 1., 2., 3., u.s.w. Tag bedeuten.: A bedeutet stets die behan-
delte, a die unbehardelte Kultur. Werden unter der gleichen Nummer,
also z. Be KSCNT7T A und a. B und b, C und e angeführt, so heißt das,
daß alle diese Versuche mit Schwestertieren ausgeführt wurden. Die
Zahl unter der Versuchsnummer gibt an, wie viele ccm einer 0,3 m
Salzlösunge zu 19 ccm Heuinfusion zugesetzt wurden.
5) L. L. Woodruff, Journ. exp. Zoology, 2, 585 (1905).
6) A. H. Estabrook, Ibidem, 8, 489 (1910).
Syn. ae A rs a 5
nn
0. 0 ni
\
J. Spek, Experimentelle Beiträge zur Physiologie der Zellteilung. 27
Tab. 1. Lithiumchlorid.
5
4
4
4
Wir ersehen aus den angeführten Zahlen, dab sich für Lithium-
chloria in sehr überzeugender Weise eine starke Förderung der Zell-
teilungen ergab, die öfters das Zwanziglache der Kontrolle erreichte.
Alle die erwähnten 23 Winterversuche mit LiCl stimmten in ihrem
Endresultat ohne Ausnahme überein, alle waren stark positiv. Alle
Tiere der Lithiamkulturen sahen vollständig normal aus, unter-
schieden sich aber in den meisten Kulturen dadurch von den Kontroll-
tieren, daß sie vom zweiten oder dritten Tag an deutlich dicker waren.
Da die Salzkulturen nicht mehr Bakterien enthielten als die Kon-
trollen, kann der erwähnte Volumunterschied nur auf die von der
Theorie erwartete stärkere Wasseraufnahme der Lithiumtiere zurück-
geführt werden. Sie erfolgt also auch in den schwach hypertonischen
Salzlösungen, ein Beweis dafür, daß sie nicht oder doch nicht aus-
schließlich durch osmotische Verhältnisse bedingt wird, sondern durch
die Gesetze der Quellung der Kolloide.
Nach Erfahrungen, die an anderem Material gemacht wurden,
dringt das Lithiumion ziemlich schwer in die Zellen ein. Ich habe
das vor allem auch auf seine stark fällende Wirkung zurückgeführt ?).
Eine oberflächliche Ausfällung der Zellkolloide muß ein weiteres Ein-
dringen der Salzionen natürlich erschweren und das Bestehenbleiben
des stärkeren osmotischen Druckes im Außenmedium begünstigen, bis
schließlich die in so schwachen Konzentrationen etwas langsam erfolgende
Quellungsförderung durch die Lithiumionen alle anderen Wirkungen
an Stärke absolut übertrifft. Ich erwähne nochmals, dab die bedeu-
tende Volumzunahme meist erst am zweiten oder gar dritten Tag ein-
trat, und, wie auch Versuch 2 und 5 zeigen, trat öfters in den ersten
Tagen sogar eine Verminderung der Teilungszahl gegenüber der Kon-
trolle ein, was sich auch aus den erwähnten physikalischen Eigen-
schaften des Lithiums erklärt.
7) J. Spek, Kolloidchem. Beihefte 9, 259 (1918).
g f ir ER N A A
. j NN San Tl,
28 'J. Spek, Experimentelle Beiträge zur Physiologie der Zellteilung.
Es erscheint mir zweckmäßig hier gleich einige Versuche mit
Rhodankalium anzuschließen, um zu zeigen, daß ein Salz, das
dieselben oder doch sehr ähnliche physikalische Eigenschaften hat wie
LiCl, auch dieselben physiologischen Wirkungen ausübt.
Tab. 2. A. Rhodankalium.
KSCN1 A 4 67 373 958
0.4 iS 30 41 89
KSCN2 | A 5 63 307 1830
09 | a 4 33 58 39
KSCN3 | A 8 68 83 512 1012
065. a 4 92 95 7081206128
KSCN4 I A 4 54 342 1315
101280028 81 EEE
KSON 5 A 46 407 600 |
08| a Nraez 125 198
Dasselbe Resultat, wie die mitgeteilten fünf Rhodankaliumver-
suche, hatten noch 17 weitere, die im Winter 1917/18 angesetzt wur-
den. Überhaupt kein einziger Versuch mit Tieren aus den damaligen
Stammkulturen, die aus Tümpelwasser mit Algen bestanden, und in
die Stückchen von Steckrüben als Nährstoff für Bakterien. eingelegt
wurden, ergab ein negatives Resultat, alle waren absolut positiv. Auch
die Rbodankali-Tiere zeichneten sich durch größere Dieke vor den
Kontrolltieren aus, ohne daß die Salzkulturen bakterienreicher ge-
wesen wären. Interessanterweise waren auch die Rhodankali-Kul-
turen oft, so wie das Versuch 4 und 5 zeigen, bis zum zweiten Tag
negativ, um dann eine rapide Vermehrung einzugehen, genau so, wie
wir das für das Lithiumehlorid feststellten und theoretisch erwar-
teten, hat doch auch Rhodankalium ein starkes Fällungsvermögen
(bei Gerenwart von Kalksalzen) einerseits und übt andererseits einen
starken fördernden Einfluß auf die Quellung aus, wobei, wie wir.sehen
werden, das SCN-Ion den Ausschlag gibt.
Bei einer Nachprüfung dieser Befunde über die Wirkung der
Lithiumsalze und Rhodanide im Frühjahr 1918 mit Tieren aus neu-
angesetzten Steckrüben-Stammkulturen ergab sich, daß nur ca. 40 %o
der zahlreichen neuen KSCON-Kulturen die starke Vermehrung im
KSCN zeigten. War das der Fall, so war auch immer die Aufquellung
der Tiere wahrnehmbar. Ein hoher Prozentsatz zeigte aber nichts
von einer solchen Aufquellung und Volumzunahme und die Versuche
fielen dann meist sogar schwach negativ aus und blieben auch nega-
tiv. Tiere einer Linie verhielten sich, so oft auch neue Versuche mit
ihnen angesetzt wurden, immer gleich, d. h. immer stark positiv oder
1
\
J. Spek, Experimentelle Beiträge zur Physiologie der Zellteilung. 2)
immer: negativ; es liegt also nicht etwa bloß eine Vortäuschung
falscher Tatsachen durch zufällige Verschiedenheiten der Ausgangs-
tiere vor. Einige Stichproben mit LiCl ergaben immer dasselbe Re-
sultat wie die KSON-Versuche, waren also zum Teil auch negativ. Ein-
gehende Untersuchungen ergaben, dal nicht äußere Bedingungen die
Ursache der negativen Resultate waren. Es scheint vielmehr ein
verschieden hoher Gehalt der Zellen oder vielleicht auch nur der Zell-
membranen an nicht quellbaren Substanzen lipoider (fettähnlicher)
Natur die verschiedene Empfindlichkeit der Paramaecien quellend
wirkenden Salzen gegenüber zu bedingen. Sind sie in größerer Menge
vorhanden, so verhindern oder erschweren sie eine stärkere Wasser-
aufnahme über ein gewisses Mab hinaus, außerdem aber wohl auch
das Eindringen des betreffenden Salzes, so dab es dann in der hyper-
tonischen Lösung sogar teilungshemmend wirkt. Durch eine Vorbe-
handlung mit Äther, durch den dann offenbar jene Lipoide teilweis.
herausgelöst werden (die Tiere werden glashell), gelang es mir in
vielen (aber nicht allen) Fällen auch mit Tieren negativer Linien
positive Rhodankali-Resultate zu erhalten.
Die Beschaffenheit des Paramaecienplasmas und damit auch
dessen physikalische Eigenschaften scheinen mit den Jahreszeiten
zu variieren®). Im Sommer (Juli) erwiesen sich nämlich die Para-
maecien noch viel weniger quellbar als im Frühjahr, während aus An-
fang September angesetzten Stammkulturen wieder 100% der Tiere
in Lithium- und Rnodankalium-Kulturen positive Versuchsergebnisse
lieferten. Übrigens ist auch die Nahrung in dieser Hinsicht nicht ohne:
Einfluß. Aufquellung und Vermehrung dieser Herbsttiere war dabei
zum Teil noch nicht besonders stark (aber doch stets positiv), zum
Teil aber ganz außerordentlich. Kleine, unter der Lupe leicht überseh-
bare Rassen wuchsen im LiCl zu den stattlichsten Exemplaren heran.
Auch wurden bei neuen LiCl- sowie auch KSON-Versuchen wiederholt
in den ersten 48 Stunden aus 1 Ausgangstier 230—260 erhalten, wäh-
rend die Kontrolle gerade in diesen Fällen sehr wenige, nämlich
16—25 Tiere enthielt. — Bei dieser Gelegenheit soll noch erwähnt.
werden, dab sehr bakterienreiche Intusionen kein günstiges Medium
für Lithiumversuche sind. —
Von anderen Lithiumsalzen wurden bis jetzt Lithiumbro-
mid und Lithiumsulfat untersucht. Das Bromid wirkt — ceben-
falls in 0,015 m Konzentration (auf das Gesamtvolum bezogen) zuge-
setzt — bisweilen auf die Tiere etwas schädigend. Man findet hie und
da anormale Formen in den Kulturen. In der Regel sind aber keine
solche Anzeichen einer Schädigung vorhanden und dann erfolgt auch
in den LiBr-Kulturen eine starke Wasserabsorption (Größenunter-
*) Zusatz bei der Korrektur: Diese Vermutung wurde „urch spätere Erfah-
rungen nicht bestätigt.
HUN. ER
vn Kr A el
ER hy
30 J. Spek, Experimentelle Beiträge zur Physiologie der Zellteilung.
schied!) und Steigerung der Teilungsgeschwindigkeit wie in LiCl-
Kulturen, bisweilen werden diese sogar übertroffen. Die Versuche
wurden am Septembermaterial ausgeführt.
Lithiumsulfat ist nun ein Lithiumsalz, das in höheren Konzen-
trationen auf Kolloide entquellend wirken kann. Es übertrifft dann die
Wirkung des Anions die des stark quellungsfördernden Kations. In
geringen Konzentrationen aber ist (auch bei anderen Sulfaten) noch
gar keine entquellende Wirkung des SO,-Ions (z. B. auch in Gelatine-
versuchen) zu konstatieren und beim Lithiumsulfat kann dann sogar
der fördernde Einfluß des Li-Ions auf die Quellung deutlich zum Vor-
schein kommen. Meine Versuche mit Lithiumsulfat, zu denen immer
auch eine Kontrolle mit LiCl angesetzt wurde, ergaben für Sulfatkul-
turen one Ausnahme eine geringere Zahl als für die Chloridkulturen.
Die Sulfatkulturen waren oft auch gegen die Kontrollen ohne Salz-
zusatz stark negativ. Waren aber die Paramaecien im LiCl besonders
stark quellbar, so trat auch im Li,SO, eine beträchtliche Teilungs-
steigerung und Aufquellung ein. Ich lasse in Tabelle 3. einige Zäh-
lungsresultate folgen.
Tab. 3. Lithiumsulfat.
Tab. 3a. Lithiumsulfat.
1808. 1223194301 1797
ER 577
Li,So, 3
1,2
Zu diesen Tabellen muß noch ein besonderer Kommentar gegeben
werden. Die Versuche Li,SO, 1—3 waren nämlich mit Tieren ange-
stellt, die eine stufenweise zunehmende Empfindlichkeit gegen die
J. Spek, Experimentelle Beiträge zur Physiologie der Zellteilung. By
Lithium-Ionen zeigten. Die des ersten Versuches zeigten im LiCl
kaum einen Volumunterschied gegenüber der Kontrolle und auch die
Zahlenunterschiede zwischen LiC] © und ce sind noch nicht sehr grob.
Wesentlich größer waren sie in LiC12, und schließlich LiC13C zeigte
sowohl eine starke Vermehrung als auch eine ganz bedeutende Dicken-
zunahme. Diesem Verhalten der Chloridkulturen läuft das der Sulfat-
kulturen vollständig parallel: L,SO,1 war absolut negativ, LiSO,2
ungefähr gleich mit seiner Kontrolle und LiSO,3 positiv. In diesen
letzten Versuch waren am 4. Tag die LiCl C-Kultur und die Kontrollen
in den reinen Heuinfusionen fast ganz bakterienleer, die Bakterien
hatten sich am Boden abgesetzt. In den Suliatkulturen hingegen er-
folgte dieses Absetzen erst einen Tag später, so dab ihre starke Ver-
mehrung zum Teil auch hiedurch gefördert wurde. So hohe Zahlen
erreichten aber die Li,SO,-Kulturen anderer Versuche überhaupt nie. —
Ich wende mich nun zur Besprechung der Versuche mit den Chlo-
riden der übrigen Alkalimetalle, also Kaliumchlorid und Na-
triumchlorid. Um die Resultate dieser Versuche richtig zu ver-
stehen, müssen wir meiner Ansicht nach außer der Quellungsbeein-
flussung durch diese Salze hauptsächlich noch einen Faktor in Be-
tracht ziehen, das Fällungsvermögen. Lithiumsalze und Rhodanide
besitzen eine ganz beträchtliche Fällungswirkung. Diese bedingt
meiner Ansicht nach®), dab diese Salze nur schwer in die Zellen
eindringen und mehr oder weniger in den oberflächlichen Partien
des Plasmas verbleiben. NaUl wirkt schon wesentlich schwächer fäl-
lend als LiCl, und KCi noch viel weniger; um so ungehinderter
werden also diese Salze in das Zellinnere gelangen. Dies aber dürfte
kaum ohne Folgen für die Beschaffenheit der Zellkolloide und auf
Lebensäubßerungen der Zelle wie z. B. die Zellteilung bleiben. Manches
spricht mir jetzt schon dafür (soll aber später noch experimentell
geprüft werden), daß die Zellteilungen um so mehr erschwert
werden, je höher der Gehalt des Plasmas und vor allem auch
des Zellinnern an Salzen wird. So könnte denn auch in unseren
Salzversuchen dieser Faktor die Oberhand gewinnen, den Ausschlag
geben, wenn die Quellungsbeeinflussung nicht allzu groß ist. Kalium
wirkt auf die meisten toten und lebenden Kolloide ziemlich quellungs-
fördernd ein. Es fehlt aber auch nicht an Angaben, wonach in ge-
wissen Fällen die Quellungsbegünstigung durch Kalisalze die durch
Natriumsalze kaum übertrifft. Die des Natriumchlorids ist recht
gering.
Das Resultat meiner KÜOl- und NaCl-Versuche war nun folgendes:
Eine Volumzunahme (durch stärkere Wasserabsorption) wie an den
Tieren der Lithium-Kulturen war an KCl-Tieren nie zu beobachten.
Eine stärkere (aber nie bedeutende) Vermehrung der KÜUl-Kulturen
8) J. Spek, Il. c.
EI TRER
32 J. Spek, Experimentelle Beiträge zur Physiologie der Zellteilung.
als in ihren reinen Kontrollen fand überhaupt nur in ganz wenigen
Fällen einer größeren Reihe von Versuchen statt. Die weitaus über-
wiegende Mehrzahl der KÜUl-Versuche fiel negativ aus.
NaCl ist ziemlich indifferent. Die Zahlen der behandelten und
unbehandelten Kulturen schwanken in den ersten Tagen ohne wesent-
liche Abweichung um die Durchschnittszahl. Früher oder später wer-
den dann aber fast sämtliche NaÜl-Versuche schwach negativ. Der
negative Ausschlag der KCl-Kulturen war im Durchschnitt größer
als der der NaCl-Kulturen. Ob die selten erhaltenen positiven KOl-
und NaÜUl-Kulturen durch eine Begünstigung der Wasseraufnahme
des in diesen Fällen besser quellbaren Paramaecienplasmas herbeige-
führt wurden, oder ob in diesen Fällen bloß zufällig die Tiere der
Salzkulturen in besseren inneren Bedingungen waren, ließ sich nicht
entscheiden. Tabelle 4 gibt einige Zählungsergebnisse von KÜl- und
NaCl-Kulturen wieder.
Tab. 4& Kaliumchlorid und Natriumchlorid.
kcaıı IA ı6 | 40 | 102 || nacııla 20 |ı08 | 300.
0,8] a_ 16 | 114 | 335 ee 32 | 180 | 686 _
Kos. 1A. 08 12 40 | 4122 NaCl2[ A 1 101 | 443
12] a 6 40 | 200 | 520 12la| 29 | 120 | 580
Kcl3 IA 8 14 90 ca. 18Uj| NaCl 3 Ä 16 90 | 198
12] a 8 51 | 375 ea. 60 10a 32 | 112 | 340
KOLAF AU GES 22 2 | Na0l4| A 91 | 1695
E.01,.a. 1A 57 | 330 1,0l a 60 | 1010
Das negative Ausfallen der KOl- und NaÜCl-Versuche führe ich,
wie erwähnt, auf eine allmähliche Anreicherung der Salze im
Innern der Infusorienzelle zurück. Diese dürfte nach allen diesbezüg-
lichen Erfahrungen beim KÜOl größer sein als beim NaCl.
Den Kochsalzversuchen schließe ich noch einige Mitteilungen
über Natriumsulfatversuche an. Wir haben da ein Salz vor uns
mit ziemlich indifferentem Kation und entquellend wirkendem An-
ion. Es soll hier nochmals wiederholt werden, daß Sulfate auf viele
tote Kolloide in ganz geringen Konzentrationen schwach quellungs-
fördernd wirken können, und daß dann erst bei steigender Konzen-
tration sich eine starke entquellende Wirkung einstellt. Genau die-
selbe, d. h. gleichsinnige Wirkung, übte das Natriumsulfat auch auf
die Teilung der Paramaecien aus. Wenige Versuche, wurden mit einem
Zusatz von 1,0 ccm einer 0,3 m Lösung von Na,SO, zu 19 ccm Heu-
infusion ausgeführt. Sie fielen schwach positiv oder mit der Kontrolle
gleich aus. Dann wurden eine große Anzahl von Versuchen mit etwas
höherer Konzentration (1,2 cem der gleichen Lösung) angesetzt (LiC]
wirkt in dieser Konzentration noch stark teilungsfördernd). 16 von
J. Spek, Experimentelle Beiträge zur Physiologie der Zellteilung. 33
18 dieser Versuche fielen stark negativ aus, 2 positiv. Tabelle 5 gibt
den Zahlenbeleg für das Gesagte.
In älteren Infusionen, denen Sulfalt zugesetzt ist, setzen sich
bisweilen die Bakterien rascher auf den Boden ab, als in den reinen
Kontrollen. Versuche mit einem solchen Bakterienunterschied wurden
ausgeschieden. In Na5SO,3 war die Kontrolle sogar bakterienärmer.
Zum Schluß führe ich hier noch einige Chlorcalcium ver-
suche an. Die Vermehrung des Gehaltes der Infusionen an den stark
Tab. 5. Natriumsulfat.
Na,So, 1 A 5 90 502
LOSE Da Te 230
Na,So, 2 A 7 De |
BOT. a 27 158 1700
Na,So, 3 A ee 167 675
Dal a 16 282 1505
Na,So, 4 A 8 110 398
a 1257 1920
Na,So, 5 A 16.4] 650
1 33 | 1847
dehydrierend wirkenden Calciumionen hatte in 100 % der Versuche
eine bedeutende Verzögerung der Teilungen zur Folge. Ein Umstand
muß aber bei den Versuchen berücksichtigt werden. Das Chlorcalcium
fällt die Bakterien der Infusion oft (aber nicht immer, oder doch
häufig nur unwesentlich) aus. Es kann sich ein dicker Bakterien-
niederschlag am Grunde des Gefäßes sammeln; die Paramascien krie-
chen mit Vorliebe in diesen hinein und können sich hier ganz besonders
gut herausfüttern. Auf diese Weise wird dann der Versuch inexakt,
denn so wohlgenährte Tiere teilen sich ja rascher. Kulturen mit stark
agglutinierten Bakterien wurden ausgeschieden.
Die hemmende Wirkung des Ca0l, macht sich schon bei sehr ge-
ringen Zusätzen (0,3 ccm einer 0,3 m Lösung zu 19 ccm Infusion) gel-
tend. Die in der letzten Reihe angeführte Kaliumrhodanidkontrolle
läßt den kolossalen, diametral entgegengesetzten Einfluß des quel-
lungsfördernden und des entquellend wirkenden Salzes schön zutage
treten.
DieHauptergebnisse der beschriebenen Versuche lassen sich in
folgende Sätze zusammenfassen: Die Teilungsgeschwindigkeit der
Paramaecien läßt sich in hohem Grade durch Salze, die in ziemlich
geringen Mengen dem normalen Medium zugesetzt werden, beein-
flussen. Diese Beeinflussung erfolgt im Sinne der Quellungsreihe der
Ionen. Den stärksten Einfluß üben solche Salze entweder im einen
oder im anderen Sinne aus, welche ein Ion besitzen, das an einem
Band 39, 3
34 J. Spek, Experimentelle Beiträge zur Physiologie der Zellteilung.
Ende der Quellungsreihe steht, also stark quellungsfördernd oder
stark quellungshemmend wirkt, und deren zweites Ion nicht entgegen-
gesetzte Eigenschaften hat. Es wirkt also z. B. LiCl stark begün-
stigend auf die Teilung der Paramaecien infolge der stark quellungs-
fördernden Wirkung des Li-Ions, KSCN wegen der gleichen Wirkung
des SCN-Ions. Andererseits sind z. B. CaCl, und Na,SO, Salze, die stark
teilungshemmend wirken, da beim ersten Salz das Kation, beim zweiten
Tab. 6. Caleciumchlorid.
29.1 34
CaQl, 1 As | 21
0,7 30
CaCl, 4
0,9
das Anion am negativen Ende der Quellungsreihen der Ionen steht.
Salze, deren Ionen auf die Quellung keinen großen Einfluß aus-
üben, sind auch in ihrer Wirkung auf die Zahl der Teilungen ziemlich
indifferent. Zum Teil dürften auch andere Faktoren von größerem
Einfluß werden als die in diesem Falle schwache Veränderung der
Wasserabsorption. -- Eine gesteigerte Wasserabsorption macht sich
auch in einer Volumzunahme geltend. Trotz der wesentlich rascher
aufeinanderfolgenden Teilungen kann ein bedeutender Dickenunter-
schied erhalten bleiben. In den dehydrierend wirkenden Salzinfusionen
sind die Tiere nur in dem Fall dünner als die Kontrollen, wenn sehr
bakterienarme Infusionen verwendet werden. Sind die Infusionen
bakterienreich, so wird die Volumabnahme bei der ständigen Nal-
rungsaufnahme durch die geringere Zahl der Teilungen ausgeglichen.
-— Bezüglich der Beeinflussung der Zellteilungen ließ sich in voll-
ständiger Parallelität mit den Quellungsreihen die Kationenreihe Li >
Na > Ca und die Anionenreihe SCN > Cl > SO, ermitteln. Bromide
dürfen wir nicht ohne weiteres mit den übrigen Anionen vergleichen, weil
sie schädigend wirken können, dieser Faktor also der Quellungs-
förderung entgegenarbeitet. Die Stellung des Kaliums in der Kationen-
reihe soll noch durch weitere Versuche genauer ermittelt werden.
ba Dr Tan A SE ALTE bet Ze Are Fr, Dr 2
a ea
H. Henning, Forels Zugeständnisse an die Tierpsychologie. 35
Forels Zugeständnisse an die Tierpsychologie.
Von Privatdozent Dr. Hans Henning, Frankfurt a. M.
Ganz meine Person und meine etwaigen Vorlieben ausschaltend
kann ich sagen, daß Forel’s „Abwehr“ an dieser Stelle (Bd. 38,
Nr. 8, S. 355£., 1915) eine Brücke zur experimentellen Psychologie
schlägt.
1. Forel hatte früher geruchlich einen „Ferngeruch“ (ana-
log wie wenn wir rotes Bromgas in der Ferne sehen) von einem
„Nahgeruch“ unterschieden; wogegen ich zeigte, daß die Riech-
partikel bei jedem Geruchserlebnis an die Riechschleimhaut gelangen
müssen, und daß es eine geruchliche Fern- oder Nahakkommodation
analog dem Auge nicht gebe, sondern daß Nah und Fern sekundär ge-
sehen, erschlossen, gewußt oder erinnert sein müsse. Selbst wenn
die Fährte so gepinselt ist, daß der Geruch mit der Entfernung ab-
nimmt, kann man das Nahe riechend nicht zugleich riechen, daß in
der Ferne geringere Konzentrationen sind. Darin gibt mir Forel
recht; man benötige in der Tat, wie ich dies einwandte, zur Erklärung
von Nah und Fern andere als geruchliche Mechanismen. So gehört
also dies der Vergangenheit an.
2. Ich hatte behauptet, daß es die neurologische Stufen-
folge übersehen und gesicherte Tatsachen nicht achten heißt,
wenn man mit Forel annimmt, die neurologisch primitiven Ameisen
denken logisch, lieben und hassen, fühlen sozial, ja sozialer als
der Mensch mit seinem gewaltigen Großhirn. Darauf erwidert
Forel,in der Annahme sozialer Instinkte läge keine Vernachlässigung
der neurologischen Stufenfolge. Gewiß nicht, das hat auch niemand
behauptet; es war vielmehr gesagt, daß das Ameisenhirn nicht die-
selben Leistungen des logischen Denkens und Fühlens vollführen
könne wie das menschliche Großhirn. Forel scheint mir nun darin
zuzustimmen, denn er verteidigt diese der menschlichen analoge, ja
überlegene Ameisenlogik und Gefühlswelt nicht mit einem Wort.
3. Ich hatte darauf hingewiesen, daß Forelbei Insekten ohne
weiteres ein dem menschlichen analoges Sehen annahm. Hier
stimmt Forel mir nichtzu. So weise ich von meiner Person absehend
auf die Darstellung von C. Hess (in Winterstein’s Handb. d.
vergl. Physiologie Bd. 4, S. 652), der ausführlich zeigt, wie bei Forel
„der Irrtum wiederkehrt, daß man auf Farbensinn schließt, weil die
Tiere sich verschieden gefärbten Gegenständen gegenüber verschieden
verhalten“. Ob man der Hess’schen Theorie vom Sehen der Insekten
nach Art der Totalfarbenblinden zustimmt, oder v. Frisch (dessen
Versuche übrigens nicht für ‚relativ blausichtige‘“, sondern für „rela-
tiv gelbsichtige“ Rotgrünblindheit sprechen, ein bisher übersehener
Lapsus), das ist eine andere Frage. Bei den zahllosen photochemisck
3:
36 H. Henning, Forels Zugeständnisse an die Tierpsychologie.
möglichen Sehprozessen darf jedenfalls keine menschliche Analogie
vorausgesetzt werden, sondern es sind zwingende Versuche nötig.
4. Beim Wahrnehmungsprozeß hatte Forel darauf hingewiesen,
daß die Ameisen sich infolge aufgespeicherter Vorgänge assoziativer
Art orientieren ; ich hatte gesagt, daß bei der Wahrnehmung zunächst
die Sinnesorgane und der äußere Reiz maßgebend sind. Hierüber hat
sich einigermaßen eine Verständigung gebildet. Doch meint Forel,
die peripheren (im Endapparat durch Reize ausgelösten) und die
zentralen (im Großhirn ausgelösten) Prozesse wären ein wildes
Durcheinander. Gewiß. Ebendeshalb verlangte ich ihre Analyse beim
Tiere, wie die laufende Preisaufgabe der preußischen Akademie sie
beim Menschen fordert, wie die Psychologie sie allerorten erarbeitet,
wie die Neurologie und Erforschung der Gehirnlokalisation (auch der
Psychiater, Ophthalmologen, Otologen, Physiologen u.s.f.) sie inten-
siv erforscht, wie sie jetzt in zahlreichen Kopfschußstationen geprüft
wird. Denn auf den Unterschied zwischen peripheren und zentralen
Faktoren baut alles auf: die Theorien des räumlichen Sehens von
Helmholtz wie von Hering, die neueren Arbeiten über die Lo-
kalisation des Kontrastes, wie über die Rhythmik, die Gestalterlebnisse
und zahllose Kapitel. Seit 1879 besitzen wir bereits schöne Zusammen-
fassungen und Bücher über den Unterschied peripherer und zentraler
Faktoren; die Spezialarbeiten gehen schon in die Tausende. Das
„Durcheinander“ beider Faktoren ist deshalb heute nicht mehr so arg
für den Kenner. Da gibt es heute keine Diskussion mehr darüber,
ob man nicht auf die Analyse verzichten und die verwickelten Pro-
zesse beliebig deduktiv deuten könne.
5. Zum Schlusse empfiehlt Forel mir die Lektüre seiner philo-
sophischen Grundauffassung, daß Erlebnis und Gehirn-
materie ein gleiches reelles Ding sind, nur auf zweierlei
Weise betrachtet. Diese Empfehlung kommt freilich an di> falsche
Adresse; es ist Forel entgangen, daß ich diese Schriften in führen-
den Zeitschriften rezensierte, und daß ich seine sämtlichen Unter-
suchungen in meinen Arbeiten berücksichtigte. Abgesehen davon liest
in der Empfehlung ein großes Zugeständnis: alle jene Kapitel Fo-
rel’s behandeln nicht experimentalpsychologische Fragen, sondern
wesentlich seine philosophische Identitätslehre von Materie und Seele.
Gang und Wahl der Beispiele zeigen in seinen verschiedenen Ver-
öffentlichungen dasselbe Gepräge. Nur die mir empfohlene Schrift
(T. Kapitel des Hypnotismus) bezeichnet es als müßig, von einer Seele
des Atoms (mithin seiner Konstituentien, der Elektronen und Kraft-
linien) zu reden, während alle späteren Schriften diesen Punkt aus-
drücklich zurücknehmen und im psychologischen Laboratorium nicht
nur Menschen und Tiere als Versuchspersonen sehen wollen, sondern
auch die beseelten Atome. Es ist recht bedeutsam, daß er mir jetzt g”-
rade diejenige Schrift unter den sonst inhaltlich gleichen empfiehlt,
C. Rabl, Über die bilaterale oder nasotemporale Symmetrie des Wirbeltierauges. 37
in der allein die Atomseele geleugnet wird. Das ist ein beachtens-
wertes Moment; wenn es sich auch nur um philosophische Bestim-
mungen handelt, so wird Forel sich viele Freunde damit unter den
Psychologen erwerben.
Die andere mir empfohlene Schrift- unterscheidet sich von den
früheren Fassungen (unter anderem Titel) nur dadurch, dab die
Mnemelehre, jene Übersetzung wissenschaftlich eingebürgerter Fach-
worte in neugebildete Fremdworte, hier angehängt ist. Daß noch kein
einziger Psychologe (auch Semon selbst experimentell nicht) mit
der Mnemelehre arbeiten konnte, daß so verschiedene Richtungen wie
diejenige von Wasmann und Verworn (der die Mnemelehre in
einem eigenen Kapitel seiner Monographie „Erregung und Lähmung“
abweist) ebenso der Vererbungsforscher Johannsen, Teichmann
u. s. f. sie verurteilen, das ist zur Genüge bekannt. Ich selbst
weise nur auf die schönen Worte von Forel selber über solche
Umtaufen der Fachworte, über solche Versuche, welche nach Forel
vergeblich „die ganze Sprache umkrempeln, die ganze Kultur und
Geschichte auslöschen und sie neu schreiben“ ; denn das trifft ja nicht
nur die Terminologie von Beer, Bethe und v. Uexküll, sowie
von Loeb und Ziegler — gegen die alle Forel sich da wandte —,
sondern ebenso Semon’s Versuch, die bestehende wissenschaftliche
Sprache ohne Not und Anwendbarkeit in neue Kunstworte zu über-
setzen. Alle diese Versuche stehen ja auf genau dem gleichen Brett.
Mit seinen Zugeständnissen, die meine Stellungnahme
auch nicht in einem einzigen Punkt antasteten, sind
wesentliche Streitpunkte und hoffentlich auch die dem Turmbau zu
Babel ähnliche Sprachverwirrung in der Tierpsychologie aus der Welt
geschafft. Es muß aber gefordert werden. daß die Fachausdrücke
der maßgebenden Wissenschaft fürderhin erst dann geändert werden,
wenn sie zuvor widerlegt sind.
Referate.
Carl Rabl: Über die bilaterale oder nasotemporale
Symmetrie des Wirbeltierauges.
Archiv für mikroskopische Anatomie, Bd. 90, Abt. I, S. 261-444, 5 Textabbild.
und 4 Tafeln. 1917.
Die Entwicklung des Wirbeltierauges ist bisher vorwiegend
an Querschnitten durch den Kopf betrachtet worden. Wichtige
neue Tatsachen fand Carl Rabl an Aquatorialschnitten der
Augenanlage von Säugetierembryonen. Bevor die geringste Eıin-
stülpung des primären Augenbläschens erfolgt, wuchert ventral
die Wandung, wie Aquatorialschnitte zeigen, ın Gestalt zweier
mächtiger gegen die Ventrikelhöhle vorspringender Wülste. Da
diese Wülste den später zum Netzhautinnenblatt werdenden Teil
Th 1a BE IT ENT bien 41 fa 06 ERS GE NET N A Ri ek aa a a a A Mr
' 3 DER RR Se # a na er)
38 €. Rabl. Über die bilaterale oder nasotemporale Symmetrie des Wirbeltierauges.
der ventralen Bläschenwand einnehmen, ist, wie Rabl es ausdrückt,
die retinale Wand der Augenblase schon auf diesem Stadium zwei-
lappig, die Augenanlage somit bilateral oder nasotemporal sym-
metrisch. „Man staunt, daß diese Beobachtung nicht längst ge-
macht wurde.“ Nach Vollendung der fötalen Augenspalte sind die
beiden jetzt temporal- und nasalwärts gedrückten, als Verdiekungen
auffallenden Lappen der Retina auf der ventrikulären Fläche durch
eine Furche getrennt, der auf der vitrealen oder Einstülpungsfläche
eine Leiste, die „primäre Leiste“, entspricht. Nach Verschluß der
fötalen Augenspalte bemerkt man an der Verschmelzungsstelle, der
nunmehr dorsalen Leiste gegenüber, eine gleichartige ventrale, die
„sekundäre Leiste“, gleich jener in den Glaskörperraum vorspringend,
und ihr entsprechend an der Außenseite des Innenblattes wiederum
eine Furche. Die beiden Leisten teilen den Glaskörperraum .un-
vollständig ın eine nasale und temporale Hälfte. Zwischen Außen-
blatt und dorsaler und ventraler Falte des Innenblattes bleibt nach
Aneinanderlegung beider Blätter je ein im Äquatorialschnitt drei-
eckiger Raum, am längsten dorsal, als letzter Rest der Ventrikel-
höhle. Der Umriß des Augenbechers ıst jetzt nahezu horizontal-
rechteckig geworden. Alle diese am 13 Tage alten Kaninchen-
embryo sehr deutlichen Merkzeichen bilateraler oder nasotemporaler
Symmetrie der Retina sind beim 17tägigen Embryo bereits ge-
schwunden, geblieben ist fast nur eine Horizontalelliptizität des
Augenbechers als Nachklang der vorherigen fast horizontal-recht-
eckigen Form.
Während dieser Entwicklungsvorgänge betätigt der embryonale
Augenbecher bilaterale Symmetrie auch in seinen vorübergehend
erscheinenden Randkerben. Diese, vor einigen Jahren von See-
felder beschrieben, wahrscheinlich Breschen für Venen, die das
Blut aus der Arteria ophthalmica abführen, bevor die Vena ophthal-
mica sich gebildet hat, liegen nämlich nicht an beliebiger Stelle,
wie angegeben wurde, sondern an genau bestimmter, und zwar
findet sich dorsal und ventral je eine nasale und temporale. Diese
vier Randkerben und die fötale Augenspalte teilen vorübergehend
am Becherrande fünf Randlappen der Retina ab.
Alle diese Erscheinungen kehren ‚mit höchstens geringen und
jedenfalls nicht grundsätzlichen Abweichungen in allen Wirbel-
tierklassen bei Embryonalstadien wieder.
Auch an den erwachsenen Wirbeltieraugen zeigt sich ın
vielem nasotemporale Symmetrie, wenn auch nicht mehr an der
Retina selbst. So im Ciliarring allgemein in der Anordnung und
Verteilung der Ciliarfortsätze, im Auftreten eines dorsalen und
ventralen Papillarknotens bei "Amphibien, ın der ventralen Papille
des Ciliarrings bei Selachiern, die den rudimentären Linsenmuskel
trägt. Diese morphologische Symmetr’e kann nicht verdeckt werden
durch häufige Abweichungen, zu denen unter. vielen anderen die
nicht genau zentrale Stellung der Pupille des Menschen gehört.
Übrigens kommt genau dieselbe Symmetrie auch dem Cephalopoden-
auge zu, ein Fall von Konvergenz. Das System der Netzhaut-
gefäße läßt sich bei allen holangischen Säugetiernetzhäuten durch
a N ET
art E
C. Rabl, Über die bilaterale oder nasotemporale Symmetrie des Wirbeltierauges. 30
eine der entwicklungsgeschichtlichen Grenzlinie zwischen temporaler
und nasıler Netzhauthälfte entsprechende senkrechte Linie in zwei
symmetrische Hälften zerlegen. Auf die Symmetrie der Cho-
rıoidealgefäße hat 1900 Hans Virchow aufmerksam gemacht:
es gibt allgemein im horizontalen Meridian eine nasale und eine
temporale Arterie, im vertikalen Meridian eine dorsale und ventrale
Vene. Schließlich nımmt die Region des scharfen Sehens
der Netzhaut meist deren horizontalen Meridian ein. Bei
Salamandra fand Rabl die bislang bei diesem Tier vermißte hori-
zontale Area auf. Darin, daß bei den meisten Wirbeltieren das
Sehen in der Horizontalebene weitaus das wichtigste ist, sucht Rab]
die physiologische Bedeutung der morphologischen nasotemporalen
Symmetrie: die entwicklungsgeschichtliche vertikale Grenze zwischen
nasalem und temporalem Sehlappen ıst die Grenzebene zwischen
steigender und fallender Bildgröße bei. horizontaler Bewegung.
Im Verlauf der Untersuchung wurden auch mancherlei Ergeb-
nisse zur Histogenese gewonnen. Das Pigment des Außenblattes
und des Innenblattes, soweit dieses in der Pars caeca pigmentiert ist,
bildet sich stets in dem Zellentei] zwischen Kern und ventrikulärer
oder ursprünglich freier Fläche. — Zeitweilig treten im ÖOpticus
und ım Innenblatt der Pars optica retinae zahlreiche stark färbbare
Körnchen auf, wie sie Rabl früher auch an den Rändern der Of-
nung des Linsenbläschens beschrieben hat. Sie sind nach Rabl
nicht, wie v. Szily meinte, Produkte einer Kerndegeneration, son-
dern wahrscheinlich Stoffwechselprodukte der Zellen in Gebieten
besonders lebhafter Zellproliferation. — Die Zellproliferation und
Zahl der Mitosen ist im den beiden Lappen der Retinä zur Zeit
ihrer Bildung so groß wie vielleicht nur noch bei der Bildung der
Neuromeren des Diencephalon und Rhombencephalon. Die Aus-
differenzierung der Netzhaut erfolgt vom Augengrunde aus nach
der Peripherie hin. Ihr Beginn an der Stelle des scharfen Sehens
ist eine Art Zielstrebigkeit, ein Fall unter vielen solchen. Die Zell-
kerne bilden eine Zeitlang deutliche Reihen senkrecht zur Fläche:
jede Reihe bildet gewissermaßen eine Zellfamilie, deren älteste
Glieder am weitesten basal liegen. Dasselbe fand Rab] vor langer
Zeit bereits am Zentralnervensystem während der lebhaftesten Zell-
vermehrung, und es läßt dies auf ein allgemeines Gerichtetsein der
zelligen Elemente eines Organismus schließen, ein Thema, das Rab]
in einiger Zeit zu behandeln beabsichtigte, um zugleich Angriffen
‘zu begegnen. Beim Menschen sind schon in der embryonalen Retina
die Zellen viel zahlreicher und kleiner als beim Kaninchen. —
Zonulafasern gehen auch von der basalen Seite von Irisepithelzellen
aus. — Der Opticus verjüngt sich zeitweilig von vorn nach hinten,
vermutlich infolge des Wachstums und der Ausbildung der Nerven-
fasern in dieser Richtung. — Genauere Angaben werden über die
Genese der Opticusfaserbündel, deren Zusammenfassung teils durch
Gliazellenfortsätze, teils — später — durch Bindegewebe, und so
noch über manches andere gemacht.
Den aus dem Arabischen $tammenden Namen Retina, der auf
deutsch nicht Netzhaut, sondern so viel wie Umhang, Hülle oder
40 A. Luther, „Über Entwicklungskorrelationen u. Lokalrassen bei Rana fusca.“
hier Umhüllung des Glaskörpers heißt, schlägt Rabl vor, für den
ganzen ektodermalen Augenbecher anzuwenden Demnach hat die
Retina überall zwei Blätter und zerfällt in eine Pars optica und
Pars caeca, letztere ın Pars ciliarıs und Pars iridıaca. Das Innen-
blatt der Pars optica ist die Retina im engeren Sinne. — Der Aus-
druck Colobom sollte auf getrennten oder unregelmäßigen Ver-
schluß der fötalen Augenspalte beschränkt bleiben, also weder auf
sogenannte Maculacolobome und das Coloboma traumaticum noch
auf etwaige atypische Colobome, die auf Öffenbleiben von Rand-
kerben beruhen könnten, angewendet werden.
Es ist nicht wahrscheinlich, sagt Rabl, daß mit der naso-
temporalen Symmetrie des Auges die Erscheinung der Hemianopsie
zusammenhinge.
Es ist ein großes Glück für die Wissenschaft, daß es Rab]
vergönnt war, diese Arbeit, deren hauptsächlichsten Inhalt er seit
etwa 15 Jahren in seinen Vorlesungen vortrug, kurz vor seinem
Ableben fertigzustellen. Die aufs sorgfältigste gezeichneten Abbil-
dungen lassen auf den ersten Blick die Meisterhand wiedererkennen,
die vor dreißig Jahren auch die Abbildungen zu der großen, drei-
teiligen Linsenmonographie selbst zeichnete, an deren vergleichend-
anatomischen und entwicklungsgeschichtlichen. Ergebnissen die
spätere Forschung nicht im kleinsten Punkte hat rütteln können.
V. Franz.
„Über Entwicklungskorrelationen und Lokalrassen
bei Rana fusca.“
Infolge des Krieges ist mir ein schon im März 1917 mit obiger Überschrift
in dieser Zeitschrift erschienener Aufsatz von Bernhard Dürken erst kürzlich
bekannt geworden. Derselbe enthält eine Polemik gegen eine meiner Arbeiten').
Die Notwendigkeit sich eben bei Veröffentlichungen auf das Unerläßliche zu be-
schränken veranlaßt mich auf eine Antwort zu verzichten, um so mehr als die
letztere nicht kurz werden könnte, da ich Dürken’s Arbeit sowohl wie die meinige
mehrfach zitieren müßte. Ich bitte nur denjenigen, der sich in der Sache ein Urteil
bilden will, auch meine Arbeit im Original zu lesen. R
Helsingfors, den 3. November 1918. Alex. Luther.
1) Über die angebliche „echte Entwicklungskorrelation* zwischen Auge und
Extremitäten bei den Anuren und über einen Fall von Beinmißbildung und Poly-
daktylie beim Frosch. — Öfversigt af Finska Vet. Soeietet. Förhandl. Bd. LVIII,
1915—1916, Afd. A, Nr. 18, Helsingfors 1916, 40 S., 1 Taf., 10 Textfig.
Verlag von Georg "Thieme i in n Leipzig } Antonstraße 15. — Druck der Universitäts-
Buchdruckerei von Junge & Sohn in ‚Erlangen.
Biologisches Zentralblatt
Begründet von J. Rosenthal
Unter Mitwirkung von
DE. RSGoebel und Dr.R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München
herausgegeben von
Dr. E. Weinland
Professor der Physiologie in Erlangen
Verlag von Georg Thieme in DEIBnE
39. Band _ Februar I‘ 1919 BR: Nr. 2
ausgegeben am 2° ‚Februar 1219,
Fer jährliche eeelepenig (12 Hefte) besagt 20 aan
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und VPostanstalten
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physiolog. Institut,
einsenden zu wollen.
Inhalt: E. Bresslau, Systylis lotfi n. gen. n. spec., eine neue Vortieellide. 8 41,
&. Steiner, Bemerkungen über die se Verpuppung der Rhabditis coaretata Leuckart
und das Bilden von Zysten bei Nematoden überhaupt. S. 59.
Fr. Heikertinger, Die metöke Myrmek«idie. S. 65.
Referate: L. Kathariner, Das Vitamin ein Mikroorganismus? S. 103.
Systylis Hoffi n. gen. n. spec., eine neue Vorticellide.
1. Mitteilune über die Tierwelt kurzfristiger Wasser-
ansammlungen („Rasenaufgüsse*).
(Mit 7 Figuren.)
Von E. Bresslau.
Vorbemerkung.
Von den Tagen Leeuwenhoek's (1676) an bis zu Ehren-
berg (1838) und auch später noch sind zahllose Substanzen durch-
probiert worden, um zu sehen, wie weit sich das Reich der Aufgul-
tierchen erstreckt. In Ehrenbergs großem Werk „Die Infusions-
tierchen als vollkommene Organismen“ ist der Aufzählung dieser
Substanzen ein besonderes Kapitel (1838, S. 520--526) gewidmet.
Wenn man auf jenen Großfolioseiten liest, was alles zur Herstellung
von Aufeüssen benutzt worden ist, könnte es allerdings scheinen, als
ob hier nicht viel neue Möglichkeiten mehr zu .erschließen wären. So
erklärt es sich vielleicht, daß das Studium der aus Infusionen zu
züchtenden Tierformen als faunistisches Problem seit Ianzem Kaum
39. Band 4
49 E. Bresslau, Systylis Hoffi n. gen. ih. spec., eine neue Vorticellide.
eine Rolle mehr spielt; nur die aus Moospolsteraufgüssen zu erhal-
tenden Organismen sind in den letzten Jahrzehnten noch Gegenstand
besonderer Forschung gewesen.
Und doch läßt sich diesem faunistischen Problem noch eine neue
Seite abgewinnen, die ganz besonderes Interesse verdient. Denn sie
vermittelt uns zugleich die Bekanntschaft mit einem neuen Lebens-
semeinschaftstypus, der in der freien Natur vermutlich weite
Verbreitung besitzt.
Auf unseren Fluren schaften Ereignisse wie stärkere Regengüsse,
Steigen des Grundwasserspiegels, Überschwemmungen u.s. w. vielerorts
regelmäßig ephemere Wasseransammlungen, welche nichts anderes dar-
stellen als Infusionen, durchaus vergleichbar den Aufgüssen, die wir
in unseren Zuchtgläsern künstlich ansetzen. Von den Organismen, die
sich in diesen „Naturinfusionen oder „Rasenaufgüssen‘,
wie ich sie nennen möchte, entwickeln, wissen wir aber bisher, so-
weit ich das übersehe, nur sehr wenigt). Wohl kennt man seit langem
einzelne besonders auffallende Vorkommnisse, — so z. B. das plötzliche
Auftreten von Dranchripus, Apus u. dgl. —, aber von einem syste-
matischen Studium der Biocönosen dieser kurzfristigen Wasseran-
sammlungen. mit ihren besonderen Existenzbedingungen ist bisher
keine hede gewesen.
Meine Untersuchungen über die Biologie unserer Stechmücken
haben mir nun zu gleicher Zeit das reiche tierische Leben vor Augen
seführt, das sich in jenen ephemeren Wasseransammlungen entwickelt.
Um die Larven unserer A&dinenarten, die ihre Eier auf den trocken-
selaufenen Boden von Überschwemmungswiesen ablegen, zu züchten,
ließ ich mir Rasenstücke dieser Wiesen ausstechen und
setzte siein Aquarien unter Wasser. Über die Beobach-
tungen an den in diesen Kulturen ausschlüpfenden Schnakenlarven
habe ich bereits an anderer Stelle dieser Zeitschrift berichtet (Bress-
lau, 1917). Gleichzeitig entwickelte sich aber in vielen dieser
Rasenaufgüsse eine Organismenweltt deren Formen-
reichtum ebensosehr zum Studium einlud, wie die Neuheit vieler
der Erscheinungen, die mir dabei vor Augen traten. Es ist mir
schmerzlich, daß meine dienstliche Gebundenheit mir immer nur vorüber-
gehend gestattete, in die Fülle und Manniefaltigkeit der Formen aus
allen möglichen Tierkreisen, die in den verschiedenen
Rasenaufgüssen zum Leben erwachten, Einblick zu tun, und dab ich
keine der beobachteten Erscheinungen erschöpfend studieren konnte.
Dennoch möchte ich nicht länger damit warten, einige Bruchstücke
des Neuen, was ich dabei fand, jetzt der Öffentlichkeit vorzulegen.
1) Ein Hinweis darauf, daß sich „solche Gegenstände, welche notorisch eine
Zeitlang unter Wasser standen und durch Austrocknung desselben freigelegt wurden,
so z. B. eingetrockneter Bodenschlamm, Moose ausgetrockneter Sümpfe, Gräser,
trockene Blätter sowie Schilf und anderes mehr“ besonders gut zu Infusionen eignen,
findet sich bei Schewiakoff (1892).
E. Bresslau, Systylis Hoffi n. gen. n. spec., eine neue Vorticellide. 3
yst, g
1. Systylis Hoffi n. gen. n. spec.. eine neue Vorticellide.
Gleich als ich Anfang 1917 die ersten Aufgüsse mit Rasenstücken
von den Überschwemmungswiesen bei Wolfisheim ansetzte, entwickelten
sich in den Aquarien unzählige große Vorticellidenkolonien, die sich
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Fig. 1. An einem Grashalm festsitzendes Stöckchen von Systylis Hoffi, nach dem
Leben. Die Zeichnung gibt die Lage der Köpfchen wieder, die diese nach Ver-
bringen der Kolonie auf einen Objektträger einnahmen. Im freien Wasser breitet
sich die Stielverzweigung mit den daran sitzenden Köpfchen etwa in einer Ebene
aus, die senkrecht zu dem Hauptstiel verläuft. X 37.
auf den ersten Blick als etwas vollkommen Neües erwiesen. Es waren
Stöckchen mit nicht kontraktilen Stielen, ähnlich denen der Gat-
tung Epistylis, jedoch mit dem grundlegenden Unterschiede, dab an
jedem Stielende statt eines Individuums stets eine ganze Gruppe
4*
En:
von Individuen saß (Fig. 1), etwa so wie bei Anthophysa vegetans
0. F.M. unter den Flagellaten. Ein derartiges Verhalten ist bisher
unter den Vorticelliden nur ein einziges Mal beschrieben worden, bei
Zoothamnium simplex Sav. Kent (1882), einer englischen Süßwasser-
form, bei der etwa ein halbes Dutzend gleichartiger Zooide auf dem Ende
eines einfachen, unverzweigten, sich selten und langsam kontrahieren-
den Stieles sitzen soll. Bütschli bemerkt bei Anführung dieser
Spezies?) in dem Infusorienbande seines großen Protozoenwerks (1889,
S. 1765): „sie unterscheide sich durch die Art ihrer Koloniebil-
dung von den übrigen Zoothamnien, doch auch von den anderen
kolonialen Vorticellinen so wesentlich, dab die Aufstellung einer
besonderen Gattung wohl angezeigt wäre, wenn die Schilderung richtig
ist.“ Da Kent’s Abbildungen von Zoothamnium simplex deutlich den
kontraktilen Stiel erkennen lassen, auch andere beträchtliche Unter-
schiede, vor allem in der Größe der Zooide, zwischen den von Kent
und mir beobachteten Organismen vorliegen, kommt eine Identität
zwischen ihnen nicht in Frage. Im übrigen aber stimmen die Gründe
Bütschlis für die Aufstellung einer neuen Gattung auch voll-
ständig für die im folgenden zu beschreibende neue Form, deren Gat-
tungsname Systylis einmal die Ähnlichkeit mit der Stielbildung bei
Epistylis, zum anderen aber den gemeinsamen Sitz mehrerer Individuen
auf ein- und demselben Stielende andeuten soll?).
Bei Betrachtung der neuen Art wollen wir von einem Stöckchen
mittlerer Größe ausgehen, wie es Fig. 1 veranschaulicht. Derartige
Stöckchen erreichen einen Durchmesser von 2—3 mm. Ungefähr die
gleiche Länge hat auch der Stiel, mit dem die Kolonien auf der Unter-
lage, einem Grashalm, Mooszweiglein, oder an der Wand des Aquariums
festgeheftet sind. Der Stiel ist glasklar, durchsichtig; bei starker
Vergrößerung erkennt man an ihm eine Anzahl feiner Längs-, verein-
zelt auch feine Querstreifen. An dem festgehefteten Ende ist er am
dünnsten, während er sich nach dem anderen Ende zu ansehnlich
verbreitert und sich schließlich mehrfach dichotomisch verzweigt. Auf
den freien Enden der Stielverzweigungen sitzen die Individuen, und
zwar jeweils auf dem nach außen gewölbten Apex eines Stielendes
eine Gruppe von etwa 40-65 Zooiden, wie die Blüten einer Distel
zusammen ein Köpfchen bildend. :
Bemerkenswert ist nun, dab die Individuen jedes dieser Köpf-
chen unter sich nicht gleich sind, sondern daß sich in jeder Gruppe
immer ein, bisweilen zwei Zooide vor den anderen durch besondere
Größe und abweichendes Verhalten auszeichnen (Fig. 1).
2) Bütschli verzeichnet sie versehentlich unter dem Namen Zoothamnium
pietum.
3) Ihren Artnamen trägt die neue Spezies zu Ehren meines Schwiegervaters
Carl Ernst Hoff, der um die Zeit ihrer Entdeckung seinen 70. Geburtstag feierte.
in en BE ee An
E. Bresslau, Systylis Hoffi n. gen. n. spec., eine neue Vorticellide. 45
Die gewöhnlichen Individuen, die ich Mikronten (Fig. 2,3 mi)
nennen möchte, erreichen eine Länge von 200-265 u, sind also etwa
doppelt so groß wie die Individuen unserer gewöhnlichen Epistylis
plicatilis. Ihr Körper ist in ausgestrecktem Zustande etwa drei- bis
viermal so lang als breit, kegelförmig, am Vorderende am breitesten.
Nach hinten zu nimmt er in den ersten Dreivierteln der Körperlänge
an Breite verhältnismäßig wenig ab. Dann folgt im letzten Viertel
vor dem Ansatz auf dem Stammende eine etwas stärkere Verschmäle-
Figur 2. Figur 3.
Fig 2. Jugendliche Kolonie von Systylis Hoffi, nach dem Leben. Es ist erst. ein
Köpfchen gebildet, von dem nur ein Teil der Mikronten, und diese nur in ihren
Umrissen gezeichnet sind. Von dem Stiel ist nur der apicale Abschnitt dargestellt.
Der Makront (ma) ist etwas weiter differenziert als der in Fig. 3 abgebildete. 52 120.
Fig. 3. ma jugendlicher Makront, mi Mikront von Systylis Hoff. X 240.
rung, die diesen Körperabschnitt, der sich zugleich durch größere
Kontraktilität auszeichnet, gewissermaßen als Ersatz für den dem
einzelnen Individuum fehlenden Stiel erscheinen läßt (Fig. 3,5 mz).
Es handelt sich hier um eine besonders starke Ausbildung des Korti-
kalplasmas, das bei vielen Vorticelliden im Basalabschnitt der Tiere
mächtig entwickelt ist ®).
Die adorale Wimperzone beschreibt etwa eineinhalb Windungen,
der Peristomrand ist nur schwach wulstig entwickelt, der Diskus da-
gegen gewölbt und beträchtlich vorstreckbar. Das weite Vestibulum
besitzt an der dem Zytostom gegenüberliegenden Seite eine Ausbuch-
4) Vgl. O. Schroeder, 1996, 8. 77 und 92,
46 E. Bresslau, Systylis Hoffi n. gen. n. spec., eine neue Vorticellide.
tung, in welche die unmittelbar danebenliegende pulsierende Vakuole
mündet. Das Entoplasma ist nur in den vorderen Dreivierteln des
Individuums entwickelt und reich von Nahrungsvakuolen durchsetzt
(Fig. 3 mi). Der hintere, stielartige Absatz ist frei von Entoplasma und
dementsprechend auch von Vakuolen. Der wurstförmige Makronukleus
ist bei einer Größe von 90-120 u nur wenig gekrümmt und stets
dem Körper in seiner Längsrichtung eingelagert. Er tritt schon bei
geringer Quetschung der Individuen deutlich hervor. Den Mikro-
nukleus konnte ich bei den lebenden Individuen nicht sehen.
Den eben beschriebenen Zooiden gegenüber erreichen die groben
Individuen oder Makronten (Fig. 2,3 ma), die sich in Ein- oder
Z/weizahl in jedem Köpfchen finden, etwa das Vierfache an Masse. In der
Längserstreckung übertreffen sie zwar die kleineren Zooide nur un-
wesentlich, dafür beträgt aber ihre Breite die Hälfte bis drei, ja
vier Fünftel der Länge. Ihre Gestalt ist birnen- oder eiförmig und nähert
sich inkontrahiertem Zustande einer Kugel. Das Peristom ist schmal, die
Wimperzone bei älteren Individuen kaum ausgebildet, der Diskus
flach, der an das Vestibulum sich anschließende Zytopharynx sehr
klein. Das Entoplasma kann anfangs einige Nahrungsvakuolen. ent-
halten und erscheint zunächst feinkörnig und klar. Nach einiger Zeit
aber verschwinden die Vakuolen, und je älter die Individuen werden,
desto undurchsichtiger wird ihr Plasma, bis es schließlich fast bräun-
liche Farbe annimmt. Das Kortikalplasma zeigt im Basalabschnitt nicht
jene mächtige Entwicklung wie bei den Mikronten, ein ausgesprochen
stielartiger Ansatz wie bei jenen ist daher nicht vorhanden. Gewaltig
ist dagegen der Makronukleus entfaltet. der, im Entoplasma zu mehr-
fachen Schleifen. Schlingen oder Spiralen aufgerollt, eine Länge von 350
bis 450 u erreichen kann. Er ist fast stets im lebenden Individnum mit
erößter Deutlichkeit sichtbar und fällt dank seiner bedeutenden Größe
schon bei schwacher Vergrößerung ins Auge. Es dürfte wenige Objekte
schen, die sich so ausgezeichnet zur Untersuchung der lebenden Kern-
substanz eignen wie diese großen Zooide von Systylis Hoffi. Für ge-
wöhnlich sind in seinem Innern eine Anzahl feiner, aus aneinanderge-
reihten Körnchen bestehender Fäden zu erkennen. Auf andere Erschei-
nungen werde ich später zurückkommen (s. Anm. 5).
Diese großen Individuen sind nun nichts anderes als «ie schon
von Trembley (1747) bei Zoothamnium arbuscula beobachteten
„Bulbi“, die später Ehrenberg (1838) als „knollenförmige Indivi-
duen“ beschrieben hat. Im der neueren Literatur pflegen sie als
Makrogonidien bezeichnet zu werden. Was über sie bekannt
ist, hat zuletzt Bütschli in seinem Protozoenwerk 8. 1629 ausführ-
lich zusammengestellt. Seither ist meines Wissens nichts weiter darüber
veröffentlicht worden.
An tatsächlichen Beobachtungen über die Bedeutung der Makrogonidien liegt
nicht viel anderes vor, als was bereits Trembley über sie berichtet hat. Er sah
Ta
E. Bresslau, Systylis Hoffi n. gen. n. spec., eine neue Vorticellide. 47
einmal, wie sich die Bulbi von den Stöcken ablösten, ferner wie frei umher-
schwimmende Individuen dieser Art sich nach einiger Zeit festhefteten und durch
äußerst rasch aufeinanderfolgende Teilungen neue Kolonien erzeugten. Dagegen be-
obachtete er nie die Gründung einer Kolonie durch eines der kleinen, gewöhnlichen
Zooide und vermutete daher, daß letztere nach ihrer Ablösung zugrunde gingen.
Mit diesen später von verschiedenen Autoren im wesentlichen bestätigten Angaben
kombiniert dann Bütschli eine Bemerkung Stein’s (1867, S. 132), der bei
Zoothamnium arbuscula zwar nie die größeren knollenförmigen Tiere Ehrenberg’s
finden konnte, andererseits aber auf den Stöcken das Vorkommen vereinzelter kontra-
hierter Tiere beschreibt. die „merklich dieker und größer als die gewöhnlichen Tiere
sind und beständig kugelig kontrahiert bleiben“, sich schließlich ablösen und zu Grün-
dern neuer Kolonien werden. Bütschli schließt daraus, daß eben diese kontrahierten
Tiere dennoch mit den von Stein vermißten knollenförmigen Individuen identisch
sind, obwohl sie nicht das außerordentliche Volumen jener erreichen. Es unterliegt
daher für ihn keinem Zweifel. daß „diese großen Individuen tatsächlich echte, zur
Konjugation bestimmte Makrogonidien sind“. Allerdings, fügt er hinzu, „ist die
Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß die Makrogonidien auch gelegentlich ohne
Konjugation zu Gründern neuer Kolonien werden, sich auch parthenogenetisch ent-
wickeln können“.
Demgegenüber lehrten nun die Beobachtungen an Systylis Hoffi,
daß die Makronten hier, für gewöhnlich wenigstens, eine ganz andere
Bedeutung haben.
Verfolgt man das Schicksal eines Stöckchens wie jenes, das Fig. 1
zeigt, so geht die Entwicklung bei günstigen Existenzverhältnissen
unter fortgesetzten Teilungen weiter, bis schließlich soviel Stielenden
und auf diesen wieder soviel Individuengruppen gebildet sind, als
zuletzt Makronten vorhanden waren. DieZahl der Köpfchen kann 20
bıs 30, in besonders glücklichen, allerdings seltenen Fällen aber auch
viel mehr, 50, ja 60, der Durchmesser der ganzen Kolonie bei ausge-
streekten Individuen alsdann bis I cm betragen. Diese Entfaltung
wird in der Regel am fünften oder sechsten Tage nach Ansetzen der
Kultur erreicht. Dann beginnt der absteigende Ast der Lebenskurve
der Kolonien. Eine weitere Zunahme der Köpfchenzahl findet nicht
mehr statt, die Teilungen hören auf, Degenerationszeichen stellen
sich ein, auf die weiter unten noch zurückzukommen sein wird.
Auch die Makronten haben um diese Zeit die Grenze ihres Wachs-
tums erreicht. Sie kugeln sich vollkommen ab, so daß der Ausdruck
„Knollen“ für sie durchaus berechtigt ist. Das Peristom ist völlig
geschlossen, Wimperbewegungen daran sind nicht mehr $ichtbar, nur
die dicht neben dem Zytostom gelegene pulsierende Vakuole arbeitet
lebhaft. Ihre unaufhörlich aufeinanderfoleenden Zusammenziehungen
deuten auf energische Stoffwechselvorgänge hin, die zu einer starken
Kondensierung des Plasmas führen. Diese verrät sich auch in der
-diehten feinkörnigen Beschatftenheit des Zellleibes und in dem bräun-
lichen Aussehen, das er bei durchfallendem Lichte zeigt.
Alsdann beginnen höchst eigenartige Vorgänge, die zur Enzy-
stierung der Makronten führen. Das völlig abgekugelte Indivi-
duum zieht sich in der Richtung seiner Längsachse noch etwas stärker
ale
AS E. Bresslau, Systylis Hoffi n. gen. n. spee., eine neue Vorticellide.
zusammen, so daß diese etwas kürzer wird als di@ Breitenachse (Fig. 4).
Das Verhältnis zwischen Längs- und Querdurchmesser stellt sich daher
schließlich auf etwa 8:9. Gleichzeitig scheidet der Makront eine feine,
glasklar durchsichtige Hülle um sich aus, die einen getreuen Abeuh
seiner Oberfläche darstellt und also an der Seite der Mundscheibe den
Abdruck der Peristomlippen deutlich erkennen läßt (Fig. 4). Nicht in
diese Ektozyste miteinbezogen wird
der zugespitzte Basalabschnitt. mit
dem der Makront vorher auf dem
Stammende befestigt war. Er wird
vielmehr zu einem 60 bis 70 «langen,
dünnen Stiel ausgezogen, der die Ver-
bindung zwischen der Zyste und dem
Stamm des Stöckehens vermittelt.
Kurz — etwa 10 u — vor dem An-
satz der Zyste wird in diesem Ver-
bindungsstiel schon frühzeitig eine
doppelt kontourierte, stark licht-
{ brechende Lamelle sichtbar, die An-
a lage eines Gelenks, indem sich
Bildung der Ektozyste; nach dem Später die /yste von dem Stiel ab-
Leben. x 200. löst (Fig. 4, 5e).
Ist die Ektozyste gebildet, so zieht sich der Makront in der Peri-
stomgegend ein wenig zurück. Das vorher schon rege Spiel der pul-
sierenden Vakuole wird noch lebhafter, ihre Pulsationen folgen sich
alle 2bis2Ys Sekunden. Sie behält dabei immer ihren Platz in un-
mittelbarer Nähe des Zytostoms und entleert anscheinend durch dessen
Vermittlung bei der Kontraktion ihren Inhalt in dem freien Raum
zwischen dem Peristom und der Ektozyste (Fig. 4). Gleichzeitig sind
im Zellleib des Makronten sehr intensive Plasmaströmungen zu beob-
achten, die sich auch darin kundgeben, daß der lange, in mehrere
Schlingen zusammengelegte Makronukleus fortwährend seine Lage ver-
ändert. Scheint anfangs das ganze Plasma mehr gleichmäßig zu ro-
tieren, so treten nach einiger Zeit innerhalb desselben verschieden
gerichtete Wirbelströmungen auf, welche die Protoplasmakörnchen bald
hierhin, bald Aorthin bewegen. Man hat den Eindruck eines fortwähren-
den Hin- und Her- und ‘Durcheinanderwoegens der kleinsten Plasma-
teilchen.
Ohne daß eine besondere Ursache hierfür erkennbar wäre Ich
habe wenigstens vergeblich danach geforscht ‚ tritt derweilen im
Äquator der Ektozyste eine Furche auf, die das ganze Gebilde ım
Kreise umzieht (Fig. 4).
Das soeben beschriebene Spiel der durcheinanderfliehenden
Wirbelströmungen dauert 2bis3 Stunden lang. Infolge der fortwähren-
den Ausscheidungen der pulsierenden Vakuole wird allmählich das
E. Bresslau, Systylis Hoffi n. gen. n. spec., eine neue Vorticellide. 4)
Plasma immer dichter, stärker lichtbrechend und anscheinend zäh-
flüssiger, statt aus Körnchen erscheint es jetzt fädie zusammengesetzt.
Die Fäden und Stränge werden gleichfalls in Wirbelströmen gegen-
und durcheinander gebogen. Dann treten im äußeren Kontur des Ma-
kronten Einbuchtungen und Vorwölbungen auf und im Zusammen-
hang damit beginnt die Ausscheidung einer dicken, gelbbräunlichen
Entozyste, die eines der zierlichsten Gebilde darstellt, die man sich
denken kann (Fig. 5 ma). Stärkere Rippen umgrenzen zahlreiche, etwas
tiefer liegende, polygonale Felder: außerdem wird entsprechend der äqua-
torialen Furche in der Ektozyste eine kreisförmige Naht ausgebildet, die
st
Fig. 5. mi, Mikront von Systylis Hoffi in kontrahiertem Zustande: ma fertig aus-
gebildete Zyste des Makronten; g Gelenk im Stielchen der Zyste; ek Ektozyste:
st Ende der Stielverzweigung. Nach dem Leben. x. 240.
die Entozyste in eine obere und eine untere Schalenhälfte sondert. In-
folge der Ausscheidung des Entozystenbildungsmaterials nimmt das
Volumen des Makronten meßbar ab: Längs- und Querdurchmesser der
fertigen Entozyste, dersich alsdann die zarte Ektozyste (Fig.5ek) dicht
anschmiegt, sind um etwa 4—5 %, kleiner als die entsprechenden Durch-
messer der frisch gebildeten Ektozyste. Die Maße schwanken bei den
verschiedenen fertig gebildeten Zysten zwischen 210 und 225 u für den
Quer-, und zwischen 175 und 190. für den Höhendurchmesser.
In die soeben beschriebenen, hochinteressanten, protoplasmatischen
Vorgänge, die sich schon bei Betrachtung mit mittlerer Vererößerune
dem Auge eindrucksvoll darstellen, noch tiefer einzudringen, war mir
leider bisher aus Zeitmangel nicht möglich. Aus dem gleichen Grunde
mußte ich auch davon absehen, die Kernverhältnisse in den Makronten
”
50 E. Bresslau, Systylis Hoffi n gen. n. spec., eine neue Vorticellide.
bei ihrer Vorbereitung zur Enzystierung und während dieses Prozesses
genauer zu studieren >).
Die Bildung der Zysten geht bei den Makronten einer Kolonie
ungefähr gleichzeitig vor sich, am Ende des sechsten Tages nach An-
satz der Kulturen sind fast immer sämtliche Makronten aller Stöck-
chen enzystiert. Dann lösen sich allmählich die Mikronten von den
Stöckchen ab und gehen zugrunde. Schon vorher findet man oftmals
Zeichen verminderter Lebenskraft, die erkennen lassen, dab die Stöck-
chen bei Beginn der Enzystierungsvorgänge den Höhepunkt ihrer Ent-
wicklung hinter sich haben. Die Kolonien dienen zahlreichen anderen
Organismen, vor allem kleineren Vorticelliden, als Ansiedelungsort.
Acineten setzen sich in Massen auf ihnen fest, oftmals sind in jedem
Köpfchen mehrere Mikronten von Sphaerophryen befallen. Dazu
kommen zahlreiche Infusorien, vor allem Amphileptvs, Trachelürs
u.s.w., die, während sie an den jungen Stöckchen gewöhnlich nicht
zu beobachten sind, jetzt die Systylis Hoffi-Kolonien als willkommene
Weide betrachten. Ihre Beute sind aber fast stets nur die Mikronten.
Die Makronten bleiben in der Regel verschont, auch wenn die meisten
Mikronten der Köpfchen bereits Opfer ihrer Feinde geworden sind:
Eine Zeitlang bleiben dann noch die fertigen Zysten an den sonst
leeren Stammverzweigungen der Kolonien hängen. Wird das Wasser
der Kulturen aber bewegt, so fallen sie ab, indem ihre Stielchen in
den dazu präparierten Gelenken durchbrechen. Sie sinken ‚zu Boden
und bleiben hier irgendwo im Detritus oder zwischen den Fieder-
büscheln der Moospflänzchen oder in den Blattscheiden der Gras-
stengel liegen.
Die Ausbildung dieser Zysten bedeutet also ein?
glänzende Anpassungan die Daseinsbedingungephe,
merer Wasseransammlungen. 5 bis 6 Tage dürfte das Wasser
an den tiefsten Stellen der Überschwemmungswiesen wohl immer
stehen bleiben. Das genügt. um die Fxistenz der Systylis Hoffi zu
sichern. Sind die Zysten gebildet, so können lange Trockenperioden
folgen. Ja, sie müssen sogar folgen, denn in dauernd unter Wasser
»ehaltenen Kulturen sah ich bei noch so langem Liegen der Zysten nie-
mals ihren Inhalt ausschlüpfen. Wurde dagegen nach längerem Aus-
trocknen das Rasenstück wieder unter Wasser gebracht, so erfolgte
5) So erwähne ich nur, daß ein Teil der eigenartigen Veränderungen, die
Greeff (1870) an den Kernen von Epistylis flavicans beobachtet und abgebildet
hat, die aber bis heute noch keine hinreichende Erklärung gefunden haben, auch
an den lebenden Kernen der Systylis Hoffi-Makronten mit Leichtigkeit zu sehen
sind. Besonders auffällig tritt bei den in Enzystierung begriffenen Makronten
bisweilen jener zentrale, den mehrfach gewundenen Kern in seiner ganzen Länge
eleichmäßig durchziehende Achsenstrang auf, den Greeff (1870) auf Tafel VII
Fig 12 abbildet und auf dessen eigentümliche Bildung auch Bütschli 185)
(S. 1511) ausdrücklich aufmerksam macht.
aha RR
E. Bresslau, Systylis Hoffi n. gen. n. spec., eine neue Vorticellide, 51
bei bestimmten jahreszeitlichen bezw. Temperaturverhältnissen, von
denen weiter unten noch zu sprechen sein wird. binnen kurzem das
Ausschlüpfen der Makronten und die Entwicklung neuer Stöckchen.
Die Gunst des Materials gestattete mir, auch diese Vorgänge
etwas zu verfolgen.
Das Aufspringen der Zysten geschieht längs der vorhin beschrie-
benen, kreisförmigen Quernaht. Die beiden Schalenhälften klappen
auseinander, und der bis dahin zwischen ihnen eingeschlossene Ma-
kront tritt aus. Welche Gestalt er beim Ausschlüpfen zeist, ist mir
nicht bekannt, da ich diesen Moment selbst nicht beobachten konnte.
Einige Zeit nachdem zystenhaltiger Rasen unter Wasser gesetzt ist,
fmdet man aber sowohl die aufgeplatzteu Zysten am Boden, wie frei-
schwimmende, große, ungestielte Systyks-Individuen im Wasser.
Die aus den Zysten hervorgehenden Individuen zeigen noch das
bräunliche, feinkörnige, undurchsichtige Plasma, das oben von den Ma-
kronten vor ihrer Enzystierung beschrieben worden ist. Nach dem
Ausschlüpfen schwimmen sie zunächst einige Stunden rastlos in den
Kulturen umher. Auch wenn man sie herausfängt, und zur weiteren
Beobachtung in auf dem Objektträger aufgekittete Mikroaqnarien
bringt, setzen sie das Spiel weiter fort, 10. 12, 15 Stunden lang. Nach
einiger Zeit kommen sie dann zur Ruhe, nicht immer alle gleichzeitig.
bei der Mehrzahl der in einer Infusion aus den Zysten ausgeschlüpften
Individuen dauert jedoch die Periode des freien Umherschwimmens
ungefähr gleich lang. Eine Abhängigkeit des Anheftens von der Tages-
zeit konnte ich nicht beobachten. In einem Versuch fand das Fest-
setzen gegen Abend statt, in einem anderen gegen Morgen.
Ich habe es leider versäumt, Zeichnungen der freischwimmenden
Individuen anzufertigen und bin daher nicht in der Lage, über die
Ausbildung ihrer Wimperkränze Näheres zu sagen. Bei den eben zum
Festsetzen sich anschickenden Individuen ist nur der vordere Wimper-
kranz sichtbar (Fig. 6a), der hintere dagegen verschwunden. Statt
dessen zeigt sich am hinteren Ende eine periphere, wallerabsnartie
Einziehung, aus der sich ein Plasmazapfen stielartig vorwölbt. Außer-
dem ist die sonst stets in der Nähe der Peristomscheibe gelegene pul-
sierende Vakuole jetzt in die Nähe des Hinterendes gerückt und kon-
trahiert sich fortgesetzt. Gleichzeitig werden hier kleine Sekrettröpf-
chen nach außen abgeschieden, die in dem Wallgraben neben dem
Stielzapfen zum Vorschein kommen. Es scheint mir nicht zweifelbaft.
daß diese Vorgänge zur Bildung des Stiels. des Makronten führen:
das lebhafte Spiel der pulsierenden Vakuole deutet dabei auf ihr» Be-
teiligung an diesem Prozesse hin, ebenso wie seinerzeit bei Erzeueung
der Zyste.
An dem Makronukleus der sich festsetzenden Tiere habe ich Be-
sonderheiten nicht feststellen können, er zeigt immer noch die Iung-
gestreckte, gewundene Gestalt wie vor der Enzystierung. Die Maße
52 E. Bresslau, Systylis Hoffi n gen. n. spec., eine neue Vorticellide.
des in Fig. 6a abgebildeten Makronten sind 270. Längs- bei 200 u
(Juerdurchmesser.
e 7743 12
ig. 6. a Aus einer Zyste ausgeschlüpfter Makront kurz vor dem Festsetzeu, in
Seitenansicht; b—m Teilungen des festgesetzten Makronten zum Zweck der Kolonie-
bildung, nach dem Leben; nähere Erläuterung s. im Text. 109.
Hat sich das Tier mit seinem Stiel auf dem Boden des Mikro-
aanariums festgeheftet, so wandert die pulsierende Vakuole wieder in
die Peristomgegend. Der ganze Makront richtet sich auf, so dab man
NR a a fe Balz Zur Re N a SE
le 02 ar Garde FRA
-F. Bresslau, Systylis Hoffi n. gen. n. spec., eine neue Vorticellide. 53
von oben her auf seine Wimperscheibe sieht. Nach einiger Zeit be-
einnen dann Teilungsvorgänge, die sich in aller Gemächlichkeit zeich-
ven und photographieren lassen. Ich gebe hier nur eine Serie von
Zeichnungen nach einem am 24. April 1917 in der Zeit von 9-1 Uhr
nachts beobachteten Objekte wieder (Fig. 6b—m). Die Vorführung
der Photogramme, die ich von einem anderen, in Koloniebildung be-
griffenen Makronten aufgenommen habe, spare ich für spätere Zei-
ten auf.
Als erstes Zeichen der beginnenden Teilung bemerkt man, dab
sich der bis dahin kugelige Makront in einem Querdurchmesser ın
die Breite streckt. Gleichzeitig wird die adorale Wimperzone undeut-
lich, das ganze Tier ist so weit wie möglich kontrahiert. Nur die
pulsierende Vakuole setzt ihr Spiel fort. Bei fortdauernder
Streckung der Querachse findet schließlich eine Teilung der Peristom-
scheibe statt, das Individuum gleicht dabei, von oben gesehen, voll-
kommen einer in inäqualer Teilung begriffenen Eizelle (Fig. 6b).
Demgemäß entstehen durch den Teilungsprozeß nicht etwa zwei gleich-
große Zooide, sondern ein kleines (AB) und ein großes Individuum
(€ D). deren Querdurchmesser sich etwa wie 2:3 verhalten (Fig. 6c).
Die Kernteilung scheint dabei, soweit sich etwas davon an dem leben-
den Objekt im Mikroaquarium beobachten läßt, in der für die Vorti-
cellen typischen Weise unter Konzentrierung des Makronukleus zu
einem kurzen, dicken Strang zu verlaufen.
Die inäquale Teilung des Makronten ist in etwa einer halben
Stunde beendet. Dann zucken beide Individuen mehrmals zusammen
und strecken sich jedesmal danach etwas mehr in die Länge. Das
während der Teilung etwas verlangsamte Spiel der pulsierenden Va-
kuole wird lebhafter, etwa 5-10 Minuten später beginnen die adoralen
Wimperzonen wieder deutlich sichtbar zu werden. Die Peristom-
scheiben und ihr Lippenrand treten hervor. Im Verlaufe der nächsten
Viertelstunde erscheinen im Plasma der Tiere zahlreiche Vakuolen
(Fig. 6d).
Damit ist um 9 Uhr 50 Minuten die erste koloniale Stufe erreicht:
Ein Stöckchen von zwei auf kurzem, gemeinsamem, hyalinem Stiel be-
festigten Glockentierchen von allerdings sehr verschiedener Größe.
Ihr Vorticellendasein dauert jedoch nur kurze Zeit, etwa eine Viertel-
stunde. Dann beginnen die Vorbereitungen zum zweiten Teilungs-
schritt. Die Vorgänge hierbei entsprechen wiederum in sehr bemerkens-
werter Weise den Geschehnissen bei inäqualer Eifurchung: einmal steht
die zweite Teilungsebene senkrecht zur ersten, sodann besteht eine er-
hebliche Phasendifferenz. Wie bei inäqualer Furchung das größere
Blastomer dem kleineren, so geht hier das größere Individuum U’ D
dem kleineren AB in der Teilung voran.
Im einzelnen gestaltete sich der Verlauf folgendermaßen. Um
10 Uhr 5 Min. stellte das Individuum ÜUD sein Wimperspiel ein,
D4 E. Bresslau, Systylis Hoffi n. gen. n. spec., eine neue Vorticellide
kugelte sich ab und die Vakuolen im Endoplasma verschwanden, bis
auf die pulsierende. Erst um 10 Uhr 11 Min. geschah das gleiche
auch bei dem Individuum AB. Inzwischen hatte sich bei OD der
senkrecht zur ersten Teilungsebene stehende Querdurchmesser zu
strecken begonnen. Um 10 Uhr 14 Min. war das in Fig. 6e abgebildete
Aussehen erreicht. Um 10 Uhr 20 Min. war bei ÜD der Mund durch-
geschnürt, bei AB seine Durchschnürung eingeleitet (Fig. 6f). Um
10 Uhr 29 Min. war die Teilung bei € D beendet und zwar wiederum
inäqual in ein größeres Individuum D und ein kleineres € (Fig. 6 g)).
Auck bei AB war die Teilung bereits im Gange, der Größenunter-
schied zwischen den aus ihm hervorgehenden Individuen, einem klei-
neren A und einem größeren 5, war Jedoch wesentlich geringer. Wenige
Minuten darauf war der Vierer-Koloniezustand erreicht (Fig. 6h).
Alle vier Zooide zeigten lebhaftes Wimperspiel und augenscheinlich
regen Stoffwechsel, wie die zahlreichen, äußerst rasch in ihnen auf-
getretenen Vakuolen bekundeten.
Hatte die Pause zwischen dem ersten und zweiten Teilungs-
schritt nur etwa 15 Minuten betragen, so konnte sich das Vierer-
stadium ungefähr eine Stunde lang seines Daseins erfreuen. Dann
leitete der dritte Teilungsschritt zur Bildung der achtzähligen Kolonie
über, und zwar stand die Teilungsebene mehr oder minder senkrecht
zu denen der beiden ersten Teilungsschritte, verlief also in Fig. 6 1m
ungefähr parallel zur Ebene des Papiers. Entsprechend den Größen-
unterschieden zeigten die Teilungen Phasendifferenzen, indem sich zu-
nächst das Zooid D (Fig. 61), dann das Zooid € (Fig. 6k), dann das
Zooid A (Fig. 61) und zuletzt das Zooid B (Fig. 6m) teilte.
Im ganzen liefert so der dritte Teilungsschritt ein Quartett von
vier Individuen: la, 1b, lc, 1d, die ähnlich wie das erste Mikro-
inerenquartett bei der Eifurchung über den Zooiden 1A, 1B, 10, 1D und
oleichzeitig etwas zwischenraumwärts zu ihnen verschoben liegen.
Von den einzelnen Teilungen selbst verläuft 1D--1d noch deutlich
inäqual (Fig. 6k, I). Auch bei der Teilung 1 Ü—1e scheint noch ein
Größenunterschied zwischen den beiden Schwesterzooiden erkennbar
(Fig. 61). Die Teilung 1A—la und 1B—1b läßt dagegen von In-
äqualität kaum noch etwas bemerken.
Infolge der Phasendifferenzen kommt es jedoch nicht zum vege-
tativen Bestehen einer Kolonie von 8 Individuen. Zwar zeigt jedes
Zooild sofort nach erfolgter Teilung reges Wimper- und Vakuolenspiel,
aber eines oder das andere der Individuen ist während des ganzen, etwa
drei Viertelstunden in Anspruch nehmenden dritten Teilungsschrittes
stets in Durchschnürung begriffen. Und noch vor vollständigem
Abschluß des letzten, zum dritten Teilungsschritt gehörenden Teilungs-
aktes werden bereits die ersten Vorbereitungen zum vierten Teilungs-
schritt erkennbar, indem sich das den übrigen Individuen sowohl an
Größe wie an Teilungsgeschwindigkeit überlegene Individuum 1 D be-
reits wieder zu diesem Zwecke abkugelt (Fig. 6m).
7;
E. Bresslau, Systylis Hoffi n. gen. n. spee., eine neue Vorticellide. 55
Diesen vierten Teilungsschritt habe ich in seinem vollen Verlauf
nicht mehr zu Ende beobachtet. Um 12 Uhr 50 Min. war die Durch-
schnürung von 1D in 2D--2d, die in der gleichen Ebene wie die vor-
hergehende dritte Teilung, diesmal aber nicht mehr deutlich inäqual
verlief, nahezu vollendet. Gleichzeitig hatte 1UÜ durch Abkugelung
seine Teilung eingeleitet. Da sich aber das Tempo der Teilung erheb-
lich verlangsamt zu haben schien, brach ich an dieser Stelle die Be-
obachtung ab. Am nächsten Morgen waren im ganzen 12 Zooide vor-
handen, alle in vegetativem Zustande, mit ausgestreckter Wimper-
spirale, das Plasma von zahlreichen Vakuolen durchsetzt. Auf diesem
zwölfzähligen Stadium verblieb das Stöckchen auch noch den ganzen
Tag und die nächste Nacht hindurch, bis es sich am folgenden Tage
auflöste.
Die Verhältnisse gestatteten mir leider nicht, die Entwicklung
der Stöckchen über das Stadium von 12 Zooiden hinaus systematisch
zu verfolgen. Was ich über die weitere Ausbildung der Kolonien zu
sagen habe, bezieht sich daher auf Beobachtungen an den ohne isolierte
Aufzucht in meinen Rasenaufgüssen entstandenen Systylis Hoffi-
Stöckchen.
Danach schreitet die Entwicklung zunächst in der Weise fort,
daß sich durch immer neu aufeinanderfolgende Teilungen die Zahl der
Individuen ständig vermehrt, während gleichzeitig der gemeinsame
Stiel, auf dem sie sitzen, wächst und in der Richtung von dem an die
Unterlage angehefteten zum freien Ende hin allmählich an Dicke zu-
nimmt. So entstehen langgestielte Kolonien (Fig. 2) mit einem aus
einigen 40-60 Zooiden bestehenden Köpfchen, in dem bisweilen noch
alle Individuen völlig gleichartig sind, bisweilen aber auch bereits
ein Individuum als Makront differenziert ist.
Wie dieser Makront entsteht, Kann ich im einzelnen nicht sagen.
Es spricht jedoch alles dafür, dab seine Differenzierung dadurch
herbeigeführt wird, dab ein Zooid®) aufhört, sich zu teilen und von
nun an lediglich weiter wächst und wächst. Jugendliche Makronten,
die ich oft beobachten konnte, sehen demgemäß den gewöhnlichen
Mikronten sehr ähnlich. Nur erscheint ihr Plasma klarer und fein-
körniger und enthält viel weniger Vakuolen als das der Mikronten.
Allmählich verändert sich mit ‘zunehmender Größe ihr Habitus,
Peristom und Wimperspirale werden im Verhältnis zur Körpermasse
kleiner (Fig. 3ma), der Kern wächst bedeutend (Fig. 2ma), die
Nahrungsvakuolen verschwinden, so daß es den Anschein hat, als
ob die Makronten überhaupt die aktive Nahrungsaufnahme einstellen.
6) Es wäre selbstverständlich von großem Interesse gewesen festzustellen, ob
sich der Makront auf eines der ersten Zooide zurückführen läßt und auf welches,
d.h. ob aus den inäqualen ersten Teilungen des die Kolonien bildenden Individuums
ein determiniertes Verhalten der Tochterzooide zu erschließen ist. Auch diese Frage
muß einstweilen offen bleiben.
a
56 E. Bresslau, Systylis Hoffi n. gen. n. spec, eine neue Vorticellide.
Allerdings wäre dann ihr gewaltiges Wachstum schwer zu verstehen,
wenn man nicht etwa annehmen will, daß sie irgendwie von
den Mikronten ernährt werden, ähnlich wie die der Propagation
(dienenden Individuen der Hydrozoen- und Siphonophorenstöckchen
von den Nährpolypen.
Hat die Mikrontenzahl- des Köpfchens einige 60 überschritten,
so bereitet sich im allgemeinen seine Teilung vor. In der Regel geht
dies so vor sich, daß sich neben dem bereits vorhandenen ein zweiter
Makront differenziert und zu gleicher Größe wie ersterer heranwächst.
Dann gabelt sich der Stiel in zwei zunächst kurze, allmählich aber an
Länge zunehmende Äste. ‚Jedes Astende trägt einen Makronten mit
ungefähr der Hälfte der Mikronten. So wird eime neue, höhere
Ausbildungsstufe des kolonialen Zustandes erreicht. Der Stock trägt
jetzt zwei Köpfchen.
Diese Vorgänge kennzeichnen zugleich das Prinzip, nach dem auch
die ganze weitere Entwicklung der Kolonien verläuft. Immer wird
typischerweise in den Köpfchen, deren Mikronten sich durch fortge-
setzte Teilungen vermehren, neben dem bereits vorhandenen Makron-
ten ein zweiter gesondert und dann das ganze Köpfchen geteilt. Bei
einigermaßen regelmäßigem Verlauf kommen dadurch Stöckchen mit
schön dichotomischer Verästelung, wie bei der Fig. 1 zugrunde liegen-
den Kolonie, zustande.
Nicht immer nimmt aber die Entwicklung diesen vollkommen
regelmäßigen Gang. Vielmehr kommen allerhand Abweichungen vor,
die entsprechend modifizierte Kolonien zur Folge haben. Häufig
zeigen einzelne Köpfchen eine geringere Wachstumsenergie, ihr Stiel
bleibt kürzer, ihre Mikronten teilen sich langsamer und dementspre-
chend besitzt auch das Köpfchen als Ganzes eine geringere Teilungs-
eeschwindigkeit. Das äußert sich dann in Störungen des dichoto-
mischen Baus von mannigfaltiger Art. Bleibt z. B., nachdem das Zwei-
Köpfchen-Stadium erreicht ist, das eine der beiden Köpfchen mit der
Teilung im Rückstand, so wird, wie ich ab und zu beobachten Konnte,
eine dreiästige Kolonie die Folge sein. In anderen Fällen kann schon
die Teilung des ersten Köpfchens verzögert werden: so fand ich einmal
ein Stöckchen mit nur einem Köpfchen auf. oben sehr verdicktem
Stiel, obwohl bereits vier Makronten differenziert waren. Eine wei-
tere Abweichung besteht darin, daß die Sonderung der Makronten
längere Zeit auf sich warten läßt, während die Teilung der Köpfchen
ruhig ihren Gang nimmt. Es zeigte sich dies einige Male bei sämt-
licher Kolonien desselben Rasenaufgusses: Die Stöckchen hatten be-
reits 4,6 und mehr Köpfchen entwickelt, und diese setzten sich scheinbar
nur aus Mikronten zusammen. Weitere Beobachtung ergab aber, dab
sich auch in diesen Kolonien schließlich Makronten differenzierten,
die sich .uletzt in ganz normaler Weise enzystierten. Ferner kommen
bisweilen Zuchten vor, in denen der Hauptstiel sämtlicher Kolonien
er Br y
vr Dr 5 F
|
E. Bresslau, Systylis Hoffi n. gen. n. spec,, eine neue Vorticellide. 57
)
nicht die gewöhnliche Länge von 1—2 mm erreicht, sondern ganz
kurz bleibt. Vereinzelt sind endlich Stöckchen zu beobachten, die ver-
krüppelten oder anormalen Wuchs zeigen und daher wohl als Miß-
bildungen zu bezeichnen sind.
Aus dem geschilderten Entwicklungsgang ergibt sich, daß
Trembley vor 171 Jahren die Bedeutung der Makronten
richtig erkannt hat, wenn er in ihnen — im Gegensatz zu den Mikron-
ten dieGründer neuer Kolonien sah. Dagegen ist Bütschli
wohlentschieden zu weit gegangen, wenn er die oben zitierte Beobachtung
Stern’s über das Vorkommen konjugierter Tiere bei Zoothamnium
arbuser!a dahin ausdeutet, dab die Makronten „echte, zur Konju-
gation bestimmte Makrogonidien“ sind. Davon kann bei Systylis
Hoffi, für gewöhnlich wenigstens, nicht die Rede sein. In der Regel.
die ich aus der Beobachtung vieler Tausende in meinen Rasenauf-
süssen zur Entwicklung gelangter Systylis-Stöckchen ableite, ist
nichts von geschlechtlichen Vorgängen an den Makronten zu sehen:
für gewöhnlich sind sie ‘vielmehr lediglich Dauerformen, die
durch ihre Enzystierung die Erhaltung der Art in den ihr als Wohn-
sitz dienenden kurzfristigen Wasseransammlungen sichern.
Allerdings besteht eine große und wohl die schmerzlichste Lücke
in meinen Beobachtungen an der schönen, neuen Form darin, daß ich
über die doch zweifellos auch bei ihr vorkommenden Konjugations-
erscheinungen nichts ermitteln konnte. Ein unglücklicher Zufall muß
es gefügt haben, daß ın den zahlreichen Rasenaufgüssen mit Systylis-
Stöckchen, die ich ansetzte, niemals die zum Auftreten einer Kon-
jugationsepidemie führenden Bedingungen sich einstellten. Systema-
tische Versuche zur Herbeiführung solcher Bedingungen waren nach
Lage der Verhältnisse, unter denen ich arbeitete, ausgeschlossen. So
muß die Frage offen bleiben, ob und welche Rolle etwa die Makronten
bei der Konjugation spielen.
Die einzige in das Kapitel der Konjugationserscheinungen
fallende Beobachtung, dieich an Systylis Hoffi anstellen konnte, bezieht
sich auf die Mikronten. In einem am 15. Mai 1917 angesetzten Rasen-
aufguß hatte sich am 17. Mai ein einziges Sysiylis-Stöckchen ent-
wickelt, das mir schon bei Betrachtung mit der Lupe durch sein anders-
artiges Aussehen auffiel. Es handelte sich um eine relativ kurzstielige
Kolonie mit sechs Köpfchen, in denen keine Makronten differenziert
waren. Dagegen zeigten die Mikronten alle Stadien rapidester Tei-
lungen, die zur Herstellung außerordentlich kleiner Individuen führ-
ten. Ein Teil der Zooide der Köpfchen zeigte noch die gewöhnliche
Größe, alle Übergänge leiteten von ihnen zu kleinen Schwärmern,
die z. T. bereits in Ablösung begriffen waren, den hinteren Wimper-
kranz entwickelt hatten (Fig. 7) und mit 20--25 u, Länge gerade nur
Band 39. 5
58 E. Bresslau, Systylis Hoffi n. gen. n. spee., eine neue Vorticellide.
1/0 der Durchschnittsgröße der normalen Individuen erreichten. Das
Peristom dieser wohl sicher als Mikrogonidien anzusprechen-
den Zooide ist sehr klein, fast bei allen war in seiner Nähe
die pulsierende Vakuole sichtbar, der rundliche Makronukleus lag
bald in dem vorderen (Fig. 7b,d), bald in
dem von diesem durch eine Einschnürung
mit dem mächtig entwickelten, hinteren
Wimperkranz abgesetzten, hinteren Körper-
abschnitt (Fig. 7a, c), an dessen Hinterende
ich in einem Falle eine kurze Borste, ähn-
lich wie bei Astyloxoon, wahrzunehmen glaubte
(Fig. 7d). Von den Mikronuklei war auch
in dem gut fixierten und gefärbten Präparat,
das ich von dem Stöckchen anfertigte, nichts
zu sehen. |
Fig, 7. Mikrogonidien von Ich habe selbstverständlich seinerzeit so-
Systylis Hofji. X. 600. fort nach dieser Beobachtung zahlreiche, neue
Aufgüsse mit Stücken des gleichen Rasens an-
gesetzt, um zu schen, ob nicht in diesen Kulturen nunmehr Systylis-
Kolonien mit Konjugationszuständen auftreten würden, aber vergebens.
In Anbetracht der vorgerückten Jahreszeit kam es nur zu wenig er-
siebiger Entwicklung von Systylis-Stöckchen, und diese zeigten, so-
weit ich sie kontrollierte, sämtlich nur das gewöhnliche Verhalten mit
Ausbildung von Makronten, die sich schließlich enzystierten. -
Damit komme ich zur Besprechung des jahreszeitlichen Ver-
haltens der neuen Art. Es läßt sich dies kurz dahin charakterisieren,
dab Systylis Hojfi bei Straßburg eine ausgesprochene Frühjahrs-
form ist. Entsprechend der ersten Wiesenwässerung, die bei Straß-
burg in der zweiten Aprilhälfte zu beginnen pflegt, stellte sich stets
im April die stärkste Entwicklung von Sysiylis-Kolonien in den Rasen-
aufgüssen ein. Auch schon im März konnte ich Kolonien zur Aufzucht
bringen. Die üppige Entfaltung der Stöckchen dauerte bis in den
Mai hinein, vom zweiten Drittel dieses Monats an zeigte sich jedoch
immer schwächeres Wachstum, wohl infolge der höheren Temperaturen,
die in während des Sommers angesetzten Aufgüssen entweder über-
haupt die Entwicklung von Systylis-Kolonien verhindern oder nur ver-
einzelt kümmerliche Stöckchen entstehen lassen. Dagegen ergaben Kul-
turen im Oktober und November 1917 wieder schöne Resultate. In der
Natur kommt es aber bei Straßburg wenigstens — normalerweise
nicht zur Entwicklung einer Herbstgeneration von Systylis, da die
Wiesen dort um diese Jahreszeit nicht gewässert werden, sondern
trocken dazuliegen pflegen.
Es wird von Interesse sein, festzustellen, wie sich Systyles Hoffi
in dieser Beziehung andernorts verhält. Denn ich bin überzeugt,
dab diese schöne Art, die bei Straßburg so massenhaft vorkommt,
G. Steiner, Bemerkungen über die sogenannte Verpuppung der Rhabditis ete. 59
auch in anderen Gegenden. wo Überschwemmungswiesen geeignete
Lebensbedingungen darbieten, zu finden sein wird. Um ihrer hab-
haft zu werden, hat man nicht nötie, im Freien danach zu suchen,
zumal da die festsitzenden Kolonien durch Abfischen der Wiıesen-
tümpel ja doch nicht zu erbeuten sind. Weit zweckmäßiger ist viel-
mehr das eingangs geschilderte Verfahren der Herstellung von
Rasenaufgüssen. Ich hoffe, daß auf diese Weise recht viele
'Kollegen in der Lage sein werden, neue Fundorte von Systylis
Hoffi, diesem so schönen und dankbaren Untersuchungsobjekt, zu
ermitteln.
Literatur.
l. Bresslau. E., Beiträge zur Kenntnis der Lebensweise unserer Stechmücken I.
Über die Eiablage der Schnaken. Biol. Zentralbl. 37, 1917. 8. 507—521.
Bütschli, ©., Protozoa. Bronn’s Klassen und Ordnungen Abt. 3. Infusoria 1589.
Ehrenberg, Chr. G., Die Infusionstierchen als vollkommene Organismen.
Leipzig 1858.
4. Greeff, R., Untersuchungen über den Bau und die Naturgeschichte der Vorti-
cellen. Arch. f. Naturgesch. 1870, Bd. I, S. 353— 384 und 1871, Bd. I,
S. 185—222.
5. Kent, Sav., A manual of the Infusoria. Including a description of all known
Flagellate, Ciliate and Tentaculiferous Protozoa. London, III 2. Bd. 1882.
6. Sechewiakoff, W., Uber die geögraphische Verbreitung der Süßwasser-Proto-
zoen. Verh. Nat. Med. Ver. Heidelberg (2) 4, 1892, S. 544—592.
‘. Schroeder, O., a) Beiträge zur Kenntnis von (ampanella umbellaria (Epistylis
flavicans + grandis Ehrbg.) Arch. f. Protistenk. 7, 1906, S. 75—105
b) Beiträge zur Kenntnis von KEpistylis plicatitis (Ehrbg.). Ebenda
S. 173—185.
8. Stein, Fr., Der Organismus der Infusionstiere nach eigenen Untersuchungen in
systematischer Reihenfolge bearbeitet II. Abt. 1567.
. Trembley, A., Observations upon several species of small water Insects of the
Polypous kind. Philos. Transact. 44, 1747, S. 627 — 659.
ww m
9)
Bemerkungen über die sogenannte Verpuppung der
Rhabditis coarctata Leuckart und das Bilden von
Zysten bei Nematoden überhaupt.
Von Dr. G. Steiner, Thalwil-Zürich.
(Vorläufige Mitteilung.)
Die Zystenbildung bei Nematoden ist eine seit langem bekannte
Erscheinung, aber durchaus kein Attribut sämtlicher Vertreter der
Klasse. Sehen wir von den Parasiten ab, so finden wir auch unter
den sogenannten freilebenden Formen die Fähigkeit zum Zystenbilden
nur auf einige Ökologische Gruppen beschränkt. So ist für die große
Zahl mariner Nematoden heute noch in keinem Falle Zystenbildung
beobachtet worden; auch bei typischen, ausschließlichen Süßwasser-
formen scheint sie zu fehlen. Nur die große Gruppe der Terricolen
5%
60 G. Steiner, Bemerkungen über die sogenannte Verpuppung der Rhabditis etc.
hat diese Fähigkeit als Anpassung an besondere Lebensbedingungen
erworben. Vermutlich kommt dieses Vermögen nicht allen Terricolen
zu. Wir wissen heute, daß jene Formen, die die Fähigkeit dazu
haben, sie in sehr verschiedenem Grade besitzen. Es gibt da eine lange
Reihe von Abstufungen. Am ausgebildetsten und in vollendetster Form
treffen wir sie bei zwei ökologischen Gruppen, den Fäulnis- und Kot-
bewohnern einerseits und den Bewohnern von Pflanzenpolstern,
namentlich Moos- und Flechtenrasen andererseits.
Die Bedeutung der Zysten bei Nematoden wurde hauptsächlich
darin gesehen, dab es mit ihrer Hilfe einer Form ermöglicht wird,
ungünstige Außenverhältnisse zu überdauern und erst bei Eintritt
besserer Umstände ihren Lebenszyklus fortzusetzen. Halten wir uns
an ein Beispiel. Bei moosbewohnenden Aphelenchus-, Tylenchus-,
Plecetus-Arten u. s. w. wird die Zeit des Austrocknens der Moosrasen
im Zystenstadium überdauert; ein frischer Regen weckt all diese
Tiere wieder aus ihrer Asphyxie, die Zysten werden gesprengt und
die individuelle Entwicklung der Tiere geht weiter. Ähnlich wirkt
bei Fäulnis- und Kotbewohnern der Nahrungsmangel.
Die Zyste ist also eine zweckmäßige, eine erhaltungsmäßige Ein-
richtung, die den Tieren, hier also einigen Nematodenformen, ermög-
licht, ungünstigen Außenverhältnissen ihren vernichtenden Charakter
zu nehmen.
Damit ist aber die Bedeutung der Zysten noch nicht erschöpft.
Wie bei den Einzelligen und vielen anderen niederen Metazoen er-
weisen sie sich auch bei den Nematoden als vorzügliche Einrichtung
zur Verbreitung der Arten. Nicht umsonst sind gerade die moosbe-
wohnenden und auch die saprozooischen Nematoden weltweit ver-
breitet. Als Zyste konnten sie durch Winde, Wasser, Strömungen,
Mensch und Tier nach allen Seiten verschleppt werden. Auf die
Modalitäten unter denen dies geschehen kann, wollen wir hier nicht
eintreten. Es soll nur betont werden, daß der Zystenbildner und auch
die Zyste sich dabei fast immer völlig passiv verhalten und dem Zu-
fall alles überlassen wird.
Nun gibt es auch hier einzelne Ausnahmefälle. Auf einen solchen
möchten wir an dieser Stelle verweisen. Er ist eigentlich nicht neu,
sondern schon von Leuckart zu Beginn der neunziger Jahre des
verflossenen Jahrhunderts entdeckt worden. Er hat aber trotz des
Interesses das er verdient, kaum Beachtung gefunden. Der Grund
mag darin liegen, daß Leuckart selbst den eigentlichen Charakter
der Erscheinung und namentlich ihre Bedeutung nicht deutlich erkannt
hat oder wenigstens nicht genügend klar und scharf hervorhebt.
Es handelt sich um die. Enzystierung der Rhabditis coarctata
Leuckart. Der erwähnte Forscher hat sie als Verpuppung be-
zeichnet und sah eben die interessante Seite des Falles wie es scheint
nur darin, daß damit zum ersten Male für Nematoden das Vorkommen
einer Verpuppung nachgewiesen sei.
G. Steiner, Bemerkungen über die sogenannte Verpuppung der Rhabditis ete. 61
Wir werden gleich sehen, wie er zu dieser Annahme kam. Über
seine Beobachtungen hat er an der ersten Jahresversammlung der
Deutschen Zoologischen Gesellschaft im Jahre 1891 in Leipzig be-
richtet 1). Er schildert ın dieser Mitteilung in kurzen Zügen, wie
an den Mundteilen und Beinen, namentlich an den Tarsen des weit-
verbreiteten und gemeinen Dungkäfers Aphodius fimetarius L. gegen
den Herbst hin oft Hunderte kleiner weißlicher Schläuche zu beob-
achten seien. Es sind die „Puppen“ einer sich an diesen Stellen fest-
heftenden Rhabditis, deren Lebensgang der Forscher kurz zeichnet.
Die Larven dieses Nematoden heften sich vor ihrer dritten Häutung
fest; ihre Haut wird verdickt, es bildet sich eine tönnchenförmigo
Puppe, deren Gestalt nur mehr entfernt an die frühere Körperform
erinnert. Werden diese Puppen in feuchte Umgebung gebracht, so
treten die in ihnen enthaltenen Larven wieder aus, machen ihre letzte
Häutung durch und erreichen das geschlechtsreife Stadium, das aller-
dings ziemlich wenig an die frühere Larvenform erinnere.
Leuckart hat dieser Mitteilung keine Ergänzung folgen lassen
und auch keine Abbildungen veröffentlicht. Dies wird mit ein Grund
gewesen sein, daß der interessante Fall so wenig beachtet und fast
vergessen wurde.
Im Sommer 1917 lenkte Herr Geh. Regierungsrat Prof.
Dr. J. W. Müller in Greifswald meine Aufmerksamkeit auf den
interessanten Nematoden. Er übermachte mir in liebenswürdiger Weise
das erste Untersuchungsmaterial. So wurde es mir möglich die eigen-
artigen Zysten, denn um solche handelt es sich, näher zu untersuchen.
Über die Lebensgeschichte des Tieres wie über einige andere Einmieter
des Aphodius fimetarius hoffe ich später ausführlich berichten zu
können. ö un
Eine einzelne Zyste ist auf Abbild. I dargestellt. Mit dem Vorder-
ende ist sie am Käferbein oder an einem Mundteil des Käfers fest-
geheftet; dieser vorderste Teil ist stielartig verengt, zeigt aber auf
der Oberfläche ganz die Beschaffenheit, die wir auch am Mittel- und
Hinterkörper finden. Auf diesen stielartigen Abschnitt folet der
Hauptteil der Zyste, der ganz zylindrische bis leicht tönnchenförmige
Gestalt hat. An seinem Hinterende faltet sich die Zystenhaut ein, es
folet ein kürzerer engerer Abschnitt, dann wieder eine Falte und
darauf der Zystenschwanz, dessen Basis leicht angeschwollen ist.
Der Schwanz selbst ist stark verlängert, läuft fadenförmig spitz aus
und erreicht ungefähr ein Drittel der ganzen Länge der Zyste. Die
Oberfläche derselben ist regelmäßig skulpturiert; quere, stäbchen-
bis plättchenartige Verdiekungen der Zystenhaut sind zu 22 Längs-
reihen geordnet. Zwischen diesen gerundeten, insgesamt wulstartig
vorspringenden Längsreihen sind verhältnismäßig tiefe trennende
I) Verhandlung. Deutsch. Zoolog. Ges., Bd. 1 8. 54—46.
62 6. Steiner, Bemerkungen über die sogenannte Verpuppung der Rhabditis ete.
Längsfurchen. Die Zystenhaut zeigt bis auf den Schwanz überall die-
selbe Beschaffenheit. Schon an der Schwanzbasis werden aber die
stäbehenartigen Verdickungen kleiner; je mehr der Schwanz faden-
förmig wird, um so kleiner werden sie, bis sie zule'zt als strich-
förmige Gebilde ganz verschwinden.
Abb. 1. Zyste der Rhabditis
eoarctata Leuckart. « Stil der Abb. >. in Bein des Aphodius fimetarius
7yste, b zylindrischer Mittelab- mit mehreren festgehefteten Büscheln und
schnitt der Zyste, e vordere Gruppen von Zysten (bei a). Man beachte wie
Schwanzfalte, dd hintere Schwanz- die Zysten stets an Stellen festgeheftet sind,
falte; K.Ok.. S u. Apochr. Imm. die von Borsten und Zähnen des Kätferbeines
2 mm. überragt und geschützt werden. H.Ok. 2 Obj A.
Im Innern der Zyvste findet sich in enge Windungen gelegt, die
Larve:; sie bildet einen im zylindrischen Zystenabschnitt liegenden
längsovalen Körper (vel. Abb. 2 bei D). Das Sprengen der Zyste er-
[olot immer an derselben Stelle, nämlich am ersten Schwanzwulst; die
Schwanzkappe -wird dabei völlig abgeworfen, der Wulst bezw. die
vr
G, Steiner, Bemerkungen über die sogenannte Verpuppung der Rhabditis etc. 63
Ringfalte ringsum gerissen (vgl. Abb. 2 bei ©). Die leere Zystenhülle
bleibt dann weiter am Insekt hängen.
Die Zysten sitzen, wie schon Leuckart hervorgehoben hat, an
den Beinen, hier auch an den Tarsen und an den Mundteilen des
Käfers. Nie habe ich sie an anderen Stellen desselben beobachtet.
Auch an den erwähnten Gliedmaßen haben sie stets ihre besondere
Anordnung, von der kaum abgewichen wird. Sie stehen nämlich immer.
Abb. 2. Ein einzelnes am Käferbein festsitzendes Büschel von Zysten; bei e ge-
sprengte Zysten; die Schwanzkappe ist abgeworfen. H.Ok. 2 Obj. II.
nach hinten und außen ab. Weiter begeben sie sich immer in den
Schutz der an diesen Gliedmaßen vorhandenen Borsten- und Zahn-
reihen, was die Abb. 2 und 3 sehr deutlich zeigen. Erst wenn alle
diese geschützten Stellen völlig besetzt sind, werden auch andere zum
Festheften benutzt. So trifft man die weißen Schläuche an den er-
wähnten Stellen zu ganzen Büscheln und Säumen geordnet, die schon
mit blobem Auge gut sichtbar sind. In Abb. 2 ist ein solches Zysten-
büschel stärker vergrößert dargestellt,
ee
64 GG. Steiner, Bemerkungen über die sogenannte Verpuppung der Rhabditis ete.
Welche Bedeutung haben nun diese Zysten, d. h. was für eine
Rolle spielen sie im Leben ihrer Bildner. Leuckart ist auf diese
Frage eigentlich nicht eingetreten und doch lag sie auf der Hand. Er
hat die Zysten auch nicht als solche bezeichnet, sondern als Puppen.
Man wird fragen warum. Er scheint die ganze Erscheinung, den
sanzen Vorgang als eine Art Verwandlungsakt angesehen zu haben,
deshalb seine Bezeichnung der Zyste als Puppe. Zu dieser Ansicht
scheint er irrtümlicherweise dadurch gekommen zu sein, dab er aus
den Zysten ganz anders beschaffene Tiere ausschlüpfen gesehen haben
will, als jene Larven waren, die sie bildeten. Soweit ich die Sache
heute überblicke, hat der berühmte Parasitenforscher hier zwei ver-
schiedene Rhabditis-Formen in ein und denselben Entwicklungszyklus
gebracht. Es ist dies ein Irrtum, der nicht einzig dasteht und bei
den Schwierigkeiten artreiner Rhabditis-Kulturen auch begreifbar ist.
Zur Straßen?) und Fuchs?) haben übrigens schon auf einige
solcher Verwechslungen hingewiesen. Sie waren bei unserer Form um
so leichter möglich, weil auch Aphodius fimetarius erstens verschie-
dene Nematodenparasiten beherbergt, zweitens unter den Flügeldecken
wie es scheint sogar mehrere Rhabditis-Arten in Form von Dauer-
larven oft zu Hunderten als Einmieter mit sich führt und drittens
der Kuhmist, in dem sich der Käfer herumtreibt, ja ohnehin nament-
lich Rhabditiden enthält. Was dann jeweilen zusammengehört, ist
recht schwer zu entscheiden und Irrtümer sind leicht möglich. Man
braucht nur nachzulesen was Fuchs hierüber schreibt. Er fand. bei
seinen Studien über die Parasiten der beiden Borkenkäferarten Ips
/ypographus L. und Hylobius abietis L. Verhältnisse, die denen des
Aphodius fimelarius völlig gleichen.
Die Zysten der Rhabditis coaretata Leuckart spielen natürlich
für die Ausbreitung der Art die größte Rollet). Dadurch, dab das
Tier sich vor dem Einzysten an den Käferbeinen u. s. w. festheftet,
sorgt es selbsttätig für diese Ausbreitung. Der Käfer geht mit den
vielen Zysten nach neuen Misthaufen, nach neuen Kuhfladen ; dort
wird die Zyste gesprengt, die Tiere treten aus und vollenden ihre
Entwicklung u. s. w.
Das Eigentümliche am ganzen Vorgang bleibt natürlich, dab nur
die Gliedmaßen des Käfers zum Festsetzen der Larven benutzt wer-
2) Zur Strassen, Otto, Bradynema rigidum. Zeitschr. f. wiss. Zoologie,
Bd. 54, 1892.
3) Fuchs, Gilbert, Die Naturgeschichte der Nematoden und einiger anderer
Parasiten, 1. des Ips typographus \., 2. des Hylobins abietis , 7ool. Jahrh.
Syst., Bd. 38.
4) Fuchs äußert übrigens S. 115 seiner Arbeit bezüglich unserer Rhabditis
dieselbe Ansicht und auch Prof. Dr. J. W. Müller vertrat sie schon in seiner ersten
brieflichen Mitteilung ohne Kenntnis jener Stelle bei Fuchs und jener Mitteilung
Leuekarts zu haben,
F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 65
den. Die Vermutung liegt nahe, anzunehmen, dab das Bewegen dieser
Glieder die Rhabditis-Larven zum Festheften reize, dab unbewegliche
Körper, auch wenn sie chitiniger Art sind, nicht den nötigen Anreiz
ausüben. Diese Annahme scheint sich auch durch eine briefliche Mit-
teilung von Herrn Prof. Dr. J. A. Müller zu bestätigen. Er war
nämlich, ohne Kenntnis von der Leuckart'schen Beobachtung zu
haben, zuerst bei Studien an Dipteren-Larven auf die Zysten der vor-
liegenden Rhabditis aufmerksam geworden. Dieselben sollen an einer
solchen Dipterenlarve oft bis zu hundert Exemplaren am Kopfe fest-
sitzen. Leider ist es mir bis jetzt nicht gelungen, derartige Fliegen-
larven aufzufinden. Wir müssen aber annehmen, daß der lebhaft be-
wegte Kopf der Fliegenlarven hier auf die Rhabditis-Larven denselben
Anreiz ausübte, wie dort die Gliedmaßen des Käfers. Aber, und hier
ist für die Auffassung der ganzen Erscheinung als zweckmäßiger
Einrichtung ein springender Punkt. die Dipterenlarven können für
die Ausbreitung der Zysten nicht die Bedeutung haben, wie jener
Käfer. Die Dipterenlarven werden ja ledielich im schon bewohnten
Dunghaufen bleiben, hier höchstens immer wieder die feuchten Stellen
aufsuchen, aber beim Vertrocknen oder Schwinden des Dunghaufens
nicht an eine örtlich entfernte neue Nahrungsstelle zu gehen ver-
mögen. Ja. bei der Verwandlung zur Imago*wird die Larvenhaut abge-
worfen und damit bleiben auch die an dieser festsitzenden Zysten
liegen und die Einrichtung scheint uns wenn nicht völlig nutzlos so
doch von weit weniger förderndem Charakter für die Rhabditis als
die Festheftung der Zysten am Käfer. Es liegt nahe, anzunehmen.
der Vorgang des Festheftens dieser Zysten sei hier noch unvollkommen
ausgebildet. Die Rhabditis-Larven sind in ihren Instinkthand-
lungen noch nicht genügend scharf nur auf den weit vorteilhafteren
Käfer eingestellt. Wenn hier Selektion einsetzt, was uns möglich
scheint, könnte schließlich eine völlige Einstellung nur anf den Käfer
erfolgen. Dies sind Probleme, die sich uns aufdrängen beim
Betrachten der merkwürdigen Zystenanheftung, wie die Rhab-
ditis coarctata Leuckart sie ausübt. Wir glaubten einen weiteren
Kreis hier auf diese interessante Erscheinung aufmerksam machen
zu müssen.
Die metöke Myrmekoidie.
Tatsachenmaterial zur Lösung des Mimikryvproblems.
(Mit 13 Textfiguren.)
Von Franz Heikertinger, Wien.
Das Mimikryproblem kann nur streng kritisch-empirisch, nur
an der Hand von Tatsachenreihen gelöst werden. Hypothetische
Erörterungen über die größere oder geringere Wahrscheinlichkeit
66 F. Heikertinger. Die metöke Myrmekoidie.
dieser oder jener Möglichkeit —- eine heute noch vielfach beliebte
Methode der Problembehandlunge —- sind müßie und führen zu keinem
realen Ergebnis.
Die folgenden Erörterungen gelten der tatsachengemäßen Untrr-
suchung der metöken Myrmekoidie, d.i. der insekten-
fressertäuschenden Nachäffune von Ameisen dureh
wehrlose Arthropoden.
Diese Erörterungen zerfallen in drei Abschnitte. Im ersten soll
das objektiv gegebene Tatsachenmaterial der Ähnlichkeiten an sich
vorgeführt werden. Im zweiten Abschnitt sollen die heut> geltenden
Meinungen der biologischen Forscher über die vor Feinden schützende
Bedeutung dieser Ähnlichkeiten und über die natürlichen Feinde
der Ameisennachahmer Darstellung finden. Im dritten Abschnitt
endlich sollen exakt erforschte Erfahrungstatsachen über die natürliche
Nahrung dieser Feinde als Prüfune der fundamentalen Voraus-
setzungen der Ameisenmimikry, zusammengestellt werden. aus wel-
chen zahlenmäßig ein Urteil zu gewinnen sein wird, ob eine metöke
Myrmekoidie als Selektionsergebnis wahrscheinlich oder möglich ist.
Die Untersuchung wird demnach hier ausschließlich nach der öko-
logischen Methode erfoleen!).
In allen drei Teilen legen mir Raumesrücksichten Knappheit und
Beschränkung auf. Immerhin soll eine hinreichend eroße Anzahl
von Fällen dargelegt werden, um dem unbefangenen Leser das allen
Tatsachen gemeinsam zugrunde liegende Prinzipielle ohne Zweifels-
möslichkeit erkennen zu lassen. Die Untersuchungen sollen sich nur
auf Tatsachen beschränken, damit das Urteil ein zwinsendes und
die Lösung der Frage eine endgültige sei.
*
Begriff und Wort „Myrmekoidie‘, primär ledielich im Sinne
von „Ameisenähnlichkeit“, rühren von E. Wasmann her. Er unter-
scheidet 2): „Es gibt eine Myrmekoidie, die bloß eine morphologische
Familieneigentümlichkeit ist, ohne nachweisbare biologische Bedeu-
tung; es eibt ferner eine andere Myrmekoidie, welche zum Schutze
segen insektenfressende Wirbeltiere dient; es gibt endlich eine Mvr-
mekoidie, welche auf Täuschung der Ameisen hinzielt und einen An-
1) In einer anderen Arbeit habe ich ähnliche Untersuchungen ausschließlich
nach der morphologisch-analytischen Methode, nach der vergleichenden
Beurteilung der Ähnlichkeiten in morphogenetischer Hinsicht, die hier völlig außer
Betracht gelassen ist, geführt (Die morphologisch-analytische Methode in
der Kritik der Mimikryhypothese, dargelegt an der Wespenmimikry
|Sphekoidie]) der Bockkäfer. Zoolog. Jahrbücher v. Spengel [in Vorberei-
tung]). Beide Methoden führen in wissenschaftlicher Durchführung zu überein-
stimmenden Ergebnissen.
2) Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen. Zoologica, Heft 26,
Stuttgart 1899, 8. 41.
F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 67
passungscharakter an die myrmekophile Lebensweise bildet.“ Er be-
zeichnet diese letztere als „Mimikry der Ameisengäste, deren Zweck
die Täuschung der eigenen Wirte ist" und teilt sie in eine „passive
Mimikry“, welche täuschende Ähnlichkeit der äußeren Erscheinung,
und in eine „aktive Mimikry“, welche Nachahmung des Benehmens
der Wirte ist.
Hieraus möchte ich hervorheben, dab Wasmann erstens das
Dasein einer biologisch wertlosen Ameisenähnlichkeit
ausdrücklich feststellt und daß er zweitens die täuschende Ähnlich-
keit der Gäste mit ihren Wirten eine „Mimikry“ nennt. Mit letzterem
Vorgehen steht er allerdings im Einklang mit allen Autoren vor ılım
und nach ihm. Dennoch scheint mir dieses Vorgehen nicht zweckmäßig.
A. Jacobi, der ‚Verfasser des neuesten zusammenfassenden
Mimikrywerkes >), folgt ihm hierin und führt zwei neue Termini ein.
Er bezeichnet die gegen Insektenfresser schützende Ameisenähnlich-
keit als „metöke Myrmekoidie‘“ oder „Metökie“. die gegen
die Wirtsameisen schützende Ähnlichkeit als „synöke Myrme-
koidie“ oder „Synökie“
Wenn aber Jacobi den Begriff „Mimikry" in zeitgemäbem.,
klarem, engem Sinne als „schützende Nachäffung gemie-
dener Tiere durch andere Tiere desselben Wohnge-
bietes“ definiert), dann ist die von ihm als Mimikry aufgeführte
Synökie gar keine Mimikry. Dann fehlt ihr ja das für den Mimikry-
begriff Typische, die auffällige, gewissermaßen drohende.
warnende Ähnlichkeit mit einem von dem Feinde gemiedenen
Tiere.
Der nachahmende Ameisengast will garnichtauffallen, will
gar nicht drohen, nieht warnen; und das Modell ist kein von
dem Feinde, d. i. von der Wirtsameise, gefürchtetes oder gemiede-
nes Tier, sondern der eigene, wohlwollend behandelte oder unbeach-
tete Artgenosse desselben. Der Nachahmer will nur unbeachtet,
nur verborgen bleiben. Das Prinzip seiner Nachahmung ist ein
kryptisches; das Prinzip jeder Warntracht (Warnfärbung und Warn-
form) und Mimikry welch” letztere ja lediglich nachgeahmte Warn-
tracht ist — aber bleibt das Auffallen, Drohen, Warnen. So kann
Synökie dem Prinzip nach nur ein Fall jener Erscheinungen sein, die
Jacobi als „schützende Ähnlichkeit‘. bezeichnet), wobei
diese Kategorie allerdings vom unbeweglich verharrenden Modell auf
das sich bewegende auszudehnen sein wird ®).
3) Mimikry und verwandte Erscheinungen. Braunschweig 1913, Verl.
Friedr. Vieweg & Sohn. 8. 95ft.
R. Puschnig (Carinthia II, Mitt. Verein Naturhist. Landesmus. Kärnt,,
106.—107.,1917,8.50)hat für Jacob i’s „Schützende Ähnlichkeit“ das Wort „Mimese,*
68 F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie.
Von der synöken Myrmekoidie, die somit —- was bislang über-
sehen wurde — keine Mimikry ist, wird in den folgenden Ausfüh-
rungen nicht mehr die Rede sein.
Mit voller logischer Strenge beurteilt, entspricht allerdings auch
(die metöke Myrmekoidie dem Mimikrybegriffe nicht. Mimikry oder
Scheinwarntracht ist vorgetäuschte Warntracht. Warntracht aber ist
ein grelles, auffälliges Kleid, das durch Grellheit, Auffälliekeit
warnend wirkt. Nur zur selektionistischen Erklärung der Daseins-
möglichkeit grellbunter Trachten wurde der Warntrachtbegriff („Trutz-
tracht*) von A. R. Wallace aufgestellt; eine nicht auffällige Warn-
tracht wäre widersinnig. Nun tragen aber die Ameisen kein grell-
bunt auffälliges, sondern weit eher ein unauffälliges, verbergendes
Kleid. Ihre Tracht kann logisch keine Warntracht, deren „Nach-
ahmung“ keine Scheinwarntracht oder Mimikry sein (Näheres hierüber .
in meinem Artikel Exakte Begriffsfassung usw.). Lediglich die
außerhalb des Rahmens dieser Arbeit fallende „Mutilloidie“, die Ahn-
lichkeit mit grellbunten Mutillen wäre eine Mimikry genauen Sinnes.
Im folgenden soll indes der Mimikrybegrift noch im alten, die unauf-
fälligen Ameisen umfassenden Sinne Anwendung finden.
I. Ähnliehkeitstatsachen.
Für eine Ameisenähnlichkeit kommen naturgemäß fast aus-
schließlich aptere Arthropoden in Betracht. Der Hauptsache nach sind
es drei Gruppen, die typische Mimetiker stellen:
Arachniden,
Hemipteren,
Orthopteren.
Bei Koleopteren und Lepidopterenraupen ist die metöke Myrme-
koidie nur unvollkommen entwickelt. Unter den Ameisen selbst sollen
einige besonders wehrhafte Arten durch minder wehrhafte „nachge-
ahmt‘ werden. Hier wie bei den ameisenähnlichen EHoymenopteren
überhaupt ist indes der Begriff der Mimikry kaum mehr gegeben und
(die Ähnlichkeit findet ihre Erklärung in der natürlichen Verwandt-
schaft der Tiere untereinander.
geprägt. Ich möchte die Annahme dieses gut klingenden Terminus befürworten
und den auch auf die Ähnlichkeit mit lebenden Tieren — sofern Unbeachtetbleiben
das wirkende Prinzip ist — ausgedehnten Begriff unterteilen in eine Zoomimese,
eine Phytomimese und eine Allomimese, je nachdem das Modell ein Tier,
eine Pflanze (Pflanzenteil) oder irgend ein anderer Gegenstand ist. (Näheres hier-
iiber in meinen Aufsätzen: Exakte Begriffsfassung und Terminologie im
Problem der Mimikry und verwandter Erscheinungen. Zeitschr. f.
wissensch. Insektenbiologie 1919 (im Erscheinen). — Versuch einer kritischen
Übersicht der Form- und Färbungsanpassungen der Organis men
(in Vorbereitung).)
F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 649
Die Myrmekoidie der Spinnen wurde eingehender zuerst von
E. G. Peckham behandelt”). Auf Peckham’s Darlegungen fußen
die Angaben E. Haase's in seinem großen Mimikrywerke 8). Spätere
Angaben hat R. J. Pocock°) und nach ihm Jacobi zusammenge-
stellt. Nachstehend eine Anzahl Einzelheiten.
Die südamerikanische Clubionide Myrmesium nigum ähnelt täu-
schend der Ameise Pachyeondyla villosa. Die Clubionide Micaria
scintillans ist nicht nur in Gestalt, sondern auch im Gebahren der
schwarzen Waldameise Formica »ufibarbis, zu der sie sich gesellt, ähn-
lich. Die nordamerikanischen Salticiden (Attiden) Peckhamia picata
und Synemosyna formica!®) ähneln gleichfalls in Gestalt (Fie. 1-2)
Fig. 1—3. Myrmekoide Spinnen.
( Fig. 1. Fig. 2. Fig. 3.
Synageles (Peckhamia) picata. Synemosynaformica. Myrmarachne formosana,
Fig. 1—2. Nordamerikanische Springspinnen, nach G. W. u. E. G. Peckham,
Occasional Papers of Nat. Hist. Soc. Wisconsin. I. p 110—112; 1889. — Fig 3.
Asiatische Springspinne, nach A. Jacobi, Mimikry und verwandte Erscheinungen.
Braunschweig 1913, p. 99.)
wie Bewegungen auffällig Ameisen. Einzelne Forscher betonen sogar.
dab ım allgemeinen das ameisenhafte Gebahren einer Spinne das an
der Täuschung wirksamere sei und selbst dann Verwechslungen her-
7) Protective Resemblance in Spiders. Occas. Papers of Nat. Hist.
Soc. Wisconsin. Vol. 1/2, Milwaukee 1889. — Ant-like Spiders of the Family
Attidae. Ibid., Vol. II/l1, 1892.
8) Untersuchungen über die Mimikry auf Grundlage eines natürlichen
Systems der Papilioniden. II. Teil: Untersuchungen über die Mimikry. Mit 8 Taf.
Bibliotheca Zoologica VIII. Stuttgart 1893.
9) Mimiery in Spiders. Journ. Linn. Soc. Zool. Bd. 30, p. 256—270,
Taf. 32.
10) Beide Arten abgebildet bei Peckham und reproduziert bei: E. B. Poulton,
Natural Selection the Cause of Mimetic Resemblance and Common
Warning Colours. Journ. Soc. Zool., Bd. 24, 1898, p. 589.
0 F. Heikertinger, Die metöke Mvrmekoidie.
vorrufe, wenn die Gestalt der Spinne kaum etwas Myrmekoides an
sich habe.
Auf Ceylon lebt Myrmarachne plataleoiles in Gremeinschaft mit
der ihr Nest aus Blättern zusammenspinnenden Ameise Oecophylla
smaragtliva, ihr ähnlich. F. Doflein!!) bildet diese Art, Ja-
cobi1!2) bildet Myrmarachne formosana ab (Fig. 3). Das Bild einer
ameisenähnlichen Salticide (Salticus ichneumon?) aus Ostafrika bringt
J. Vosseler!#). Bei den amerikanischen Argiopiden /ldibaha mu-
lloiles und myrmicaeformis findet sich sogar mimetischer Sexual-
dimorphismus: die verborgener lebenden Weibchen sind dornbewaffnet.
die — angeblich mehr Gefahren ausgesetzten Männchen dagegen
myrmekoid 14).
Die letzte Zusammenfassung myrmekoider Spinnen (nebst cha-
rakteristischen Habitusbildern von 7 Arten und einem reichen Lite-
raturverzeichnis) bietet F. Dahl!’). Ich zitiere die Darlegungen
dieses Spinnenkenners etwas ausführlicher.
„Die Ameisenähnlichkeit kommt bei den Spinnen dadurch zu-
stande, daß erstens der Körper: gestreckt und mehr oder weniger
mit Quereinschnürungen bezw. mit Querzeichnungen, welche Einschnü-
rungen vortäuschen, versehen ist, dab zweitens die Vorderfübe ge-
bogen vorgestreckt und tastend bewegt werden wie die Fühler der
Ameisen, daß drittens der Körper oft, wie der gewisser Ameisen.
mit Stacheln versehen ist, daß viertens die Taster der Spinnen oft
verbreitert sind und die Mandibeln der Ameisen vortäuschen und
dab fünftens auch die Farbe bezw. der Seidenhaarelanz der Ameisen
bei den Spinnen sich wiederholt. Ameisenähnlichkeit kommt in ver-
schiedenen Spinnenfamilien vor, besonders allerdings in denjenigen
Familien, die schon ohnedies einen gestreckten Körper besitzen, wie
die Clubioniden und Salticiden; dann aber auch bei den T'heridiiden
(Laseola), den Micryphantiden, den Araneiden und sogar bei den
Krabbenspinnen oder Laterigraden, bei denen eine gestreckte Körper-
form geradezu Ausnahme von der Regel ist. Unter den Clubioniden
sind es besonders die Gattungen Sphecolypus, Myrmecium 16), Mecaria,
11) Ostasienfahrt. Leipzig 1906. — Auch: Hesse-Doflein, Tierbau
und Tierleben. Bd. II: Das Tier als Glied des Naturganzen. Leipzig 1914,
S. 400.
12, 17ePR9%
13) Die Gattung Myrmecophana Br. Zool. Jahrb. (Spengel), Abt. f.
Syst., Bd. 27, 1908, S. 196.
14) In der Regel soll bei geschlechtlich verschieden gestalteten Tieren das für
die Fortpflanzung bedeutungsvollere Weibehen mehr Schutz benötigen und auch
besitzen.
15) Vergleichende Physiologie und Morphologie der Spinnentiere
mit bes. Berücksichtigung der Lebensweise. I. Teil: Die Beziehungen des Körper-
baues und der Farben zur Umgebung. Jena 1913, S. 885—90. Literaturverzeichnis
Ss. 111—112,
16) Abbildungen von Sphecotypus niger und Myrmecium fuseum bringt
R. Heymons in Brehm’s Tierleben (4. Aufl., Bd. II, 1915, S. 668).
WAT
F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 7
Phrurolithus, Castaneira, Thargalia u.s.w., welche man mehr oder
weniger/leicht mit Ameisen verwechseln. kann. So gleicht der süd-
amerikanische Sphecotypus niger (Fig. bei Dahl) einer dortigen
Ameise Neoponera unidentata, wie Viehmeyer hervorhebt, in über-
ruschender Weise. Die Myrmeeium-Arten (Fig. bei Dahl) gleichen
Eeiton-Arten. Unter den Salticiden sind es besonders die Gattungen
Saltieus, Synageles, Synemosyna, Peckhamia, Tutelina u. s. w., die
sich durch Ameisenähnlichkeit auszeichnen. Am meisten fallen einige
Tropentormen, zZ. B. Salticus contracius von Ueylon (Kigur beı
Dahl) durch ihre Ameisenähnlichkeit auf. Aber auch unser eim-
heimischer Salticus formicarius ist, wenn man ihn am Boden kriechen
sieht. von einer Ameise kaum zu unterscheiden. Derartige ameisen-
ähnliche Spinnen erscheinen uns allerdings namentlich dann als
ameisenähnlich, wenn Ameisen nicht zum Vergleich zur Stelle sind.
Zu den interessantesten ameisenförmigen Spinnen gehört eine Krabben-
spinnengattung Aphantochilus (Fig. bei Dahl), weil sie gewissen
stacheligen Ameisen täuschend ähnlich ist. Eine zweite Krabben-
spinne von eigenartiger Form Ampyciaea lineatipes (Fig. b.D.) soll
nach Angabe der Forscher, welche sie lebend beobachteten, der ım
Orient so häufigen Papierameise, Oecophylla smaragtlula sehr ähn-
lich sein, und zwar soli der Körper in umgekehrter Form wiederge-
geben werden: Die schwarzen Flecke auf dem Abdomen sollen die
Augen darstellen. Aus der Familie der Miceryphantiden ist es be-
sonders die südeuropäische Formicina mutinensis (Fig. b. D.), welche
einer Ameise recht ähnlich ist und welche auch, wie diese am Boden
laufend gefunden wird. Aus der Familie der Radnetzspinnen besitzt
die südamerikanische /ldibaha mutilloides Ameisenform (Fig. b. D.)
Über die ameisenähnlichen Wanzen lieferte zuerst O. M. Reu-
ter eine übersichtliche Arbeit !?). Auf seinen Angaben fußen jene
Haase’s. Später hat G. Bred din eine Reihe von Fällen zusammen-
gestellt 18) und einen letzten Überblick gibt Jacobi. Literatur-
angaben bei diesen Autoren. Reuter kennt etwa hundert myrme-
koide Wanzenarten 19).
Es handelt sich zumeist um die flügellosen Larven und Nymphen
von Arten der Heteropteren, hauptsächlich aus den Familien
der Capsiden (Miriden), Alydiden und Lygaeiden. So gleicht die
Larve von Alydus calcaratus den Arbeitern von Formica rufa, mit
denen sie oft zusammenlebt!?®). Das brachyptere Weibchen von Memo-
17) Til kännedomen om mimiska Hemiptera ete. Öfvers. Finsk.
Vetensk. Soc. Förh. Bd. 21, 1879, p. 140—198.
18) Nachahmungserscheinungen bei Rhynehoten. Zeitschr. f. Natur-
wiss., Leipzig, Bd. 69, 1896, S. 31—35.
19) O.M. Reuter, Lebensgewohnheiten und Instinkte der Insekten.
Berlin 1913, S. 138.
19a) Abbildung bei H. Stitz in Ch. Schroeder’s Insekten Mittel-
eüuropas, Bd. II, 1914, Taf. II, Fig. 34.
E
BEN DEM GERN GE NERRR:
72 F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie,
coris coarclalus ist myrmekoid, desgleichen das Weibchen von Systel-
lonotus trigultatus?V), das in den Kolonien von Formica fusca und
Lasius niger lebt. Ameisenähnlich sind weiters etliche andere Capsiden
(Miriden) wie Pilophorus bifasciatus (cinnamopterus), der zusammen
mit Formica congerens auf Kiefern, Pilophorus (Cammaronotus) cla-
valus, der mit Lasius Juliginosus auf Birken, Weiden u.s.w. und
Pil. confusus, der mit Lasius niger an Weiden gefunden wurde.
Groß soll die Ameisenähnlichkeit der nordischen Myrmecoris
gracelis?!) sein; diese Art bildet nach Reuter sogar zwei Formen,
deren eine, die mehr gelbrote var. rufuscula, unter der entsprechend
gefärbten Formica rufa, deren andere, die mehr schwarzbraune var.
/usca, unter der gleichfarbigen Formica fusca lebt. Eine andere nor-
dische ameisenähnliche Capside ist Myrmecophyes alboornatus, die
unter einer schwarzen Lasius-Art lebt. Auch Diplacus und Campono-
!idea sollen myrmekoid sein.
„Durch einen wahren Geniestreich der Natur“, wie sich Breddin
ausdrückt, wird die Larve unseres Nabrs lativentris (Reduviolus latı-
ventris), die in ihren Körperumrissen nichts Ameisenähnliches hat,
zuv Ameise verkleidet ??). An der Basıs des Hinterleibs tritt näm-
lich ein weißlicher Fleck auf, der die dunkle Grundfärbung einengt
und so die Körpereinschnürung einer Ameise vortäuscht (Fig. 4)°?*).
Nach E. Wasmann?®) scheint diese Wanze zu den Myrmeko-
phägen zu gehören. (Nichtsdestoweniger kann die genial erdachte
Ähnlichkeit derselben mit Ameisen nicht zur Täuschung der letzteren
dienen, denn die Ameisen schweben nicht über der Wanze in der
Luft.)
Die ostafrikanische Pyrrhocor.de Myrmoplasia myra°*) ähnelt
dev Ameise Polyrhachis gagates (Fig. 5 6); der Ameisengattung
Polyrhachis ähnelt auch die Coreidengattung Dulichius (Formicoris)
20) Abbildung bei Reuter, 1913, S. 138. — Nach Mjöberg saugt es die
Larven und Nymphen der Ameisen, in deren Bauten es lebt, aus (synöke Myrme-
koidie? —= Zoomimese; protektiv und aggressiv ?).
21) Abbildung bei Breddin, a. a. O., Taf. I, Fig. 11. — Auch bei Stitz,
aa: °O.,. Dar. IL Bag. 39:
22) Abb. gleichfalls bei Breddin, Fig. 10. — Auch in Brehm’s Tierleben,
Insekten. 4. Aufl., Bd. II, Farbentafel bei S. 142.
22a) Es sei erwähnt, daß ähnliche Abdominalzeichnungen auch bei geflügelten
Hemipteren vorkommeu, wo sie funktionslos sein müssen (vgl. z.B. Mietis tenebrosa,
Bild bei Distant, Fauna of Brit. Ind., Rhynch I, p. 349.
23) Kritisches Verzeichnis der myrmekophilen und termitophilen Arthropoden.
Berlin 1894, S. 179.
24) Abb. nach Gerstaecker bei E. B. Poulton, Journ. Linn. Soc. Zool.,
1898, p. 591. — Reproduziert in: K.Kraepelin, Einführung in die Biologie.
Leipzig 1909, S. 121; und: K. Kraepelin, Die Beziehungen der Tiere und
Pflanzen zueinander. Bd. I (Aus Natur und Geisteswelt, Nr. 426), Leipzig
1913, 8.70:
BB LEEREN a a a
x r EN Rus IR “| Fb ee vr .
F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 7:
h)
mit der indischen Art örflatus**®). Vosseler?’) bildet eine ameisenähn-
liche, vermutlich in die Nähe der Gattung Mirperus zu stellende Wan-
zenlarve ab. G. A. K. Marshall?) bringt die Bilder von südafri-
kanischen Camponotus-Arten und der diesen ähnlichen Wanze Mega-
petus atratus. Die chinesische Randwanze Riptortus linearis gleicht
im Larvenzustande zuerst einer kleinen, gelben Ameise, dann als
Nymphe einer größeren. schwarz-weiben.
Fig. 5—6.
2 Myrmekoide Wanze. Myrmoplasta myra,
Fig. 4. Ostafrika. (Nach Gerstäcker, Fr. Stuhlmann’s
Myrmekoide Wanze. Larve der Zoolog. Ergebnisse einer Reise in Ostafrika.
Reduvide Nabis lativentris. I. Art. 6, Hemiptera, p. 9; Berlin 1895. [Poulton
(Original.) 1898, p. 591].)
Mehr als bei den Spinnen noch betonen die Forscher bei den
Wanzen, daß die Ameisenähnlichkeit nicht bloß durch die Ähnlich-
keit der Gestalt, sondern in wirksamerer Weise noch durch die Ähn-
lichkeit der Bewegungen veranlaßt werde.
24a) Bild bei W. L. Distant, The Fauna of British India inel.
Ceylon and Burma. Rhynch. I, London 1902, p. 408.
25) Die Gattung Myrmecophana. S. 194, 196.
26) Five Years Observations and Experiments (1896-1901) on
the Bionomics of South African Insects ete. Trans. Ent. Soe. Lond. 1902,
p. 535, Taf. XIX.
Band 39, 6
AR a ee WAHR re I A A
7 N ' A BD, HUREN IH Ä A u ol UN a Yucın
. Klar, en > BUN ARE ARTEN HE
). N mu y m DB
N
74 . Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie.
Fälle von Ameisenähnlichkeit bei Homopteren (Zikaden)
führt E. B. Poulton in Wort und Bild vor 7).
Unter den Membraciden (Buckelzirpen), deren Pronotum in phan-
tastischer Überentwicklung abenteuerliche Formen annimmt, finden
sich Gestalten, deren Halsschildauswüchse, von oben betrachtet, eine
gewisse Ähnlichkeit mit einem Ameisenkörper besitzen, so bei den
Gattungen Heteronotus23) (Fig. 7—8) und Hemiconotus.
Eine Mimikry, von der ich nie gewußt habe, ob ihre Vorführung
so recht ernst gemeint sei, ist die von Poulton®) dargestellte
angebliche Ähnlichkeit einer aus Britisch-Guiana stammenden Mem-
Fig. 7—8. Myrmekoide Buckelzirpe (Mcmbracide). Heteronotus trinodosus, Zentral-
amerika. (Nach W. W. Fowler, Biologia Centrali-Americana, Rhynch., Homopt. IT.,
21. 6 [Poulton 1898, p. 593].)
bracidenlarve, deren Körper seitlich flachgedrückt und deren Pro-
notum noch ungeformt ist, mit einer blattstücktragenden Blattschnei-
derameise, Oecodoma cephalotes (Fig. 9I—10). —
‘Was die myrmekoiden Geradflügler anbelangt, so stellen
hiezu die Gruppen der Fangheuschrecken, der Grillen und der Laub-
heuschrecken Vertreter. Die vorwiegend jüngere Literatur hierüber
findet sich bei Jacobi zusammengestellt.
Von den Mantiden sind es nur junge Larven exotischer Arten,
die an Ameisen erinnern.
27) Journ. Linn. Soc. Zool., 1898, p. 593-595. — Ferner: Suggestions as to
the meaning of the shapes and colours of the Membracidae, in the struggle for
existence. In: Buckton, A monograph of the Membracidae, p. 275, 281.
28) Bild bei Poulton nach W. W. Fowler, Biologia Centr. Amer,,
Rhynch. Homopt. II, t. 6 {
29) Nach W. L. Scelater; erwähnt bei G. J. Romanes, Darwin und
nach Darwin. TI, 1892, p. 382.
|
j
L
” F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 7»
Unter den Grylloden fand K. Fiebrig in Paraguay eine ameisen-
ähnliche Form, Phylloseirtus macilentus (Fig. 11), die in Gemeinschaft
mit Camponotus rufipes Renggeri auf einer Mimose lebte ?%). Auch
Myrmegryllus diplterus ist myrmekoid.
Fig. 9--10. Südamerikanische Membraeidenlarve (rechts), eine blattragende Blatt-
schneiderameise (Oecodoma cephalotes, links) nachahmend. (Nach Poulton, Linn.
Jour. Zool. 26, 1898, p. 594.)
Fig. 11.
MyrmekoideGryllide. Fig. 12—13. Myrmekoide Laubheuschrecke.
Phylloseirtus maci- Larve von Eurycorypha (Myrmecophana) fallax,
lentus 3, Paraguay. Ostafrika. (Nach €. Brunner v. Wattenwyl,
(Nach K. Fiebrig, Verhandl. d. k. k. zool.-botan. Ges., Wien 1883,
Zeitschr. f. wissen- Taf. XV, Fig. tab. Fühlerlänge korrigiert nach
schaftl. Insektenbio- J. Vosseler, Zool. Jahrb. Abt. f. Syst. 27,
logie III,1907,p.101.) 1908, Taf. 8.)
Vielleicht zum bekanntesten Ameisenmimetiker aber ist durch
J.Vosseler's ausführliche Arbeit 31) die Larve der Phaneropteride
30) Nach den Abbildungen, die Fiebrig gibt (Zeitschr. f. wissensch. Insekten-
biologie, III, 1907, S. 101—106) scheint ‘mir die Ameisenähnlichkeit eine geringe.
Die Arten der Gattung Phylloseirtus sind durch ihre „Nachahmung“ von Cieindelen
bekannt. Ein unbefangener Blick in die Bearbeitung der Gattung durch H. Bur-
meister (Cephalocoema und Phylloseirtus, zwei merkwürdige Orthopterengattungen
der Fauna Argentina. Abh. Nat. Ges. Halle, XV, 1880) und auf die derselben
beigegebene Tafel zeigt lediglich kleine Grillen mit etwas vortretenden Augen und
etwas verschmälerten Halsschilden, von denen Fiebrig’s Art nicht nennenswert
abweicht.
31) Die Gattung Myrmecophana Br. Zool. Jahrb. (Spengel), Bd. 27,
1908, 157— 210, Taf. 8.
6*
ERBEN TORRENT FRE
76 F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie.
Eurycorypha fallax geworden. Ü.Brunner v. Wattenwyl erhielt
sie aus dem Sudan und beschrieb sie in der Meinung, ein reifes Tier
vor sich zu haben, unter Hinweis auf ihre Ameisenähnlichkeit als
Myrmecophana fallax. Vosseler fand sie in Deutsch-Ostafrika wie-
der, beobachtete und schilderte ihre Entwicklung zur Eurycorypha,
die eine blattähnliche grüne Laubheuschrecke ist. Das Bild dieser
Heuschreckenlarve, das zuerst Brunner??), dann Vosseler gab,
ist in zahlreichen Werken reproduziert worden 3%) (Fig. 12—13). Bis
zur vierten Häutungsstufe trägt das Tier mimetische Ameisentracht
und zeigt Ameisenbetragen; sodann tauscht es hiefür kryptische Blatt-
ähnlichkeit und eine dieser entsprechende träge Ruhe ein. Dieser
Fall gilt als gut untersuchtes Musterbeispiel schützender Myrmekoidie.
Kaum erwähnenswert ist der Fall der angeblichen Ameisenähn-
lichkeit junger Schmetterlings-Raupen, von Stauropus fagi,
den Poulton#) nach Portschinski in Wort und Bild vorführt.
‚Die langsame Bewegungsart der Raupe sowie der Umstand, daß der
Kopf der Larve als Hinterleib der Ameise gelten soll, dürfte diese
„Mimikry* wohl von ernsthaiter Erwägung ausschließen.
Unter den Käfern führt Olerus formicarius den Beinamen des
„Ameisenartigen“ ; er ist indes eher mutilloid. als myrmekoid. Die
Familie der Anthiciden weist einen Formicomus auf; dessen Myrme-
koidie ist aber kaum eine nennenswerte ®?). (Die synöke Myrmekoidie
mancher Staphyliniden fällt nicht in den Rahmen unserer Betrach-
tungen.) An dem angeblich ameisenähnlichen nordamerikanischen
Cerambyciden Euderces picipes, den Poulton abbildet, kann ich
auch bei nachsichtigster Beurteilung kaum etwas Ameisenhaftes finden.
Die ,„Mimikry“ zwischen Ameisen untereinander — der furcht-
same, in Nord- und Mitteleuropa glänzend schwarze (’amponotus late-
ralis soll sich daselbst an andere,-streitbare, gleichfalls ganz schwarze
Arten anschließen, wogegen er im Süden mit dem zweifarbigen Cr.-
maslogaster scutellaris lebt und ihm zuliebe einen roten.Kopf annimmt
ist, wenigstens vom Mimikrystandpunkt aus, keiner ernsten Be-
achtung wert. Nach der Definition von Wallace kann ja von mime-
tischer Anpassung nur dort gesprochen werden, wo der „Nachahmer“
von dem normalen Bilde seiner natürlichen Verwandtschaft abweicht,
was hier keineswegs der Fall ist.
Aus gleichem Grunde kann von „Mimikry“ in jenen Fällen kaum
gesprochen werden, da Hymenopteren anderer Familien Ameisen mehr
32) Über hypertelische Nachahmungen bei den Orthopteren. Verh.
zool.-bot. Ges. Wien, 1883, Taf. XV.
33) Poulton, 1898, p. 593; Jacobi, p. 109; Hesse-Doflein, II, 5.413;
u. s. w. — Ein selbständiges Bild bringt Marshall, 1902, Taf. XIX.
34) 1898, p. 589; u. Taf. 40, Fig. 1.
35) Dasselbe gilt von den Käfern, die H. St. Donisthorpe (Trans. Ent.
Soe. Lond. 1901, p. 376) als „ant-like* aufführt: Olwvina, Dyschirius, Brachynus
crepitans, Atemeles, Myrmedonia, Astilbus canaliceulatus, Stilicus fragilis, Anthicus.
F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. IN
oder minder ähnlich werden. Die Gestalt der Ameisenarbeiterinnen
ist ja schließlich nichts anderes als eben die Gestalt eines flügellosen
Hymenopterons ziemlich typischer Prägung.
So ähneln unter den Schlupfwespen 36) besonders manche Procto-
trupiden, deren es zahlreiche im Wald- und Wiesenbodenslebende
flügellose Arten gibt, Ameisen. Sie mögen leicht in Ameisenbauten
gelangen oder doch beim Aussieben solcher gefunden werden. Beson-
ders groß ist die Ähnlichkeit bei Tetramopria und Solenopsia.
Bemerkenswert ist die Tatsache, daß jene Schlupfwespen, die als
Ameisenparasiten nachgewiesen sind (siehe weiter unten), keinerlei
Ameisenähnlichkeit zeigen, sondern sehr sonderbare Formen mit Dorn-
und Gabelbildungen am Skutellum aufweisen, wodurch sie eher an
‚gewisse Zikaden erinnern. Dagegen findet sich Ameisenähnlichkeit
zahlreich bei nicht myrmekophilen Formen 3°). Unter den Chaleididen
sind die Weibchen von Kupelmus vesicularis (Degeeri), einem Gallen-
parasiten, ferner von Eupelminus excavatus, EricyInus aeneiventris
und Mira macrocera, sämtlich im Grase lebend, ameisenähnlich. Unter
den Bethyliden sind die Gonatopus-Arten im flügellosen weiblichen
Geschlecht besonders durch den knotigeen Thorax außerordentlich
ameisenähnlich ; sie sind indes, soweit bekannt, nur Zikadenparasiten.
“ „Die meisten echten gallenerzeugenden Cynipiden sehen bei flüch-
tigem Hinsehen den Ameisen außerordentlich ähnlich, die geflügelten
den Geschlechtstieren. Da die Gallwespen selbst durch ein unange-
nehm riechendes Drüsensekret gegen Vogelfraß ziemlich ‚geschützt‘
sind, könnte man vielleicht gar die Ameisen als die ‚Nachahmer‘
ansehen ?“
In hohem Maße ameisenähnlich sind die apteren Weibchen der
Ichneumonidengattung Pezomachus, Parasiten von Spinneneiern und
Kokons von Apanteles, Lophyrus und Mikrolepidopteren.
II. Die den Ähnlichkeitstatsachen beigelegte Bedeutung.
Gegen die Erfahrungstatsache, daß eine Reihe von Arthropoden
in den Augen des oberflächlich hinblickenden Men-
schen eine gewisse, in allen Graden — bis zur allmählichen Unähn-
lichkeit hin — vertretene Ähnlichkeit mit Ameisen besitzt, wird
von keinem Forscher ein Einwand erhoben werden können, wenngleich
der Unbefangene zugeben wird, daß mancher anpassungsfreudige Bio-
loge das ‚„Ameisensehen“ etwas zu weit getrieben hat und mancher
angebliche Mimetiker auch in den Augen des Menschen kaum noch
36) Ich verdanke die folgenden Angaben über die Myrmekoidie der Schlupf-
wespen einer liebenswürdigen brieflichen Mitteilung des bekannten Chalcididen-
forschers Dr. Franz Ruschka, Weyer (Ober-Österreich).
37) Die sehr ameisenähnlichen Pezomachus-Arten wurden allerdings in Ameisen-
nestern gefunden, doch hält Wasmann (Kritisches Verzeichnis der myrme-
kophilen und termitophilen Arthropoden. Berlin 1894, S. 167) sie kaum
für gesetzmäßige Parasiten der Ameisen (vgl. weiter unten).
an Amen Me een
IS F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie.
etwas Ameisenhaftes an sich hat, sofern nicht der gute Wille des
Beobachters kräftig nachhilft. Doch dies sind Belanglosigkeiten,
die das Prinzip nicht berühren. Ähnlichkeiten für das Auge des
Menschen sind gegeben und die Biologie erachtete sich damit ein
Problem gestellt: Welchen Nutzen gewährt diese Ähnlich-
keit, wie hat sie sich'im Kampfe um's Dasein, in der
steten Auslese, des Bestausgestatteten) herausge-
bildet?
Es lag nahe, an gewisse dem Menschen unangenehme Eigen-
schaften der Ameisen zu denken, aus diesen hypothetisch zu folgern,
diese Eigenschaften dürften auch insektenfressenden Tieren unan-
senehm sein, hieraus hypothetisch zu folgern, dab diese Tiere keine
Ameisen fräßen; sodann aus der Tatsache, daß manche Arthropoden
dem Menschen ameisenähnlich erscheinen, hypothetisch zu folgern.
sie dürften auch insektenjagenden, mit anderen Sinnesfunktionen als
der Mensch ausgerüsteten Tieren ameisenähnlich erscheinen, dürften
von diesen tatsächlich für Ameisen gehalten und (nach obiger hypo-
thetischer Annahme) verschmäht werden. Man darf das in allen
Teilen Hypothetische, auf keinerlei Erfahrungstatsachen Ge-
gründete dieser luftigen Folgerungskette nicht übersehen.
Hinsichtlich der — vom menschlichen Standpunkte aus gewer-
teten — abwehrenden Eigenschaften der Ameisen zitiere, ich Ja-
cobi?8), dessen Worte wohl die Meinung der Mehrzahl der Biologen
sut zum Ausdruck bringen.
„Der Vorteil der Nachäffung besteht hier in der Möglichkeit,
mit Insekten verwechselt zu werden, die sehr wehrhaft sind und’durch
massenweises Vorkommen ihre Kräfte vervielfachen. Was die Waffen
der Ameisen anbelangt, so bestehen diese zunächst in den starken
Kiefern, die durch ihre oft kolossal entwickelten Kaumuskeln als
Beißzangen benutzt werden, und in einem Giftapparate. Dieser be-
steht aus einer, das eigenartige Ameisengift absondernden Drüse,
deren Saft bei mehreren Familien durch einen Stachel in den Körper
des Feindes eingeführt, bei anderen mit verkümmertem Stachel ın
eine mit den Beißzangen erzeugte Wunde gespritzt wird. Aber auch
ohne den Feind selber zu verwunden, können ihn Ameisen sich vom
Leibe halten, indem sie ihm die Absonderune der eigentlichen Gift-
drüse oder ——- bei der Unterfamilie Dolichoderinae — diejenige zweier
beim After ausmündenden Analdrüsen auf den Leib spritzen.“
Dieser protektiven, vor Feinden schützenden Bedeutung der
Ameisenähnlichkeit stellen andere Forscher eine aggressive Aus-
nutzung der Ähnlichkeit gegenüber. Die letztere soll den räuberisch
lebenden Nachahmern, z. B. Spinnen, dazu dienen, sich ihren Beute-
tieren — welche gegebenenfalls eben die nachgeahmten Ameisen selbst
38) 1. c. p. 96.
F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoöidie, 79
sein können, welche aber jedenfalls Ameisen nicht fürchten — un-
beachtet zu nähern. Einen Fall, in dem ameisennachahmende Spinnen
unter dem Schutze der Ähnlichkeit ihre eigenen Modelle überfallen,
ist dem Spinnenkenner F. Dahl nicht bekannt. „Lasaeola procax
frißt freilich Ameisen ; aber nur das reife Männchen ist ameisenförmig
und gerade dieses nimmt, nachdem es Ameisenform angenommen hat,
keine Nahrung mehr zu sich.“
Dennoch führt R. Shelford?°®) einen solchen Fall an: Er beob-
achtete auf Borneo die Thomiside Amyeiaea lineatipes, wie sie ihr
Modell, die Ameise Oecophylla smaragdina, aussaugte.
Für uns kommen alle Fälle aggressiver Anpassung nicht in Be-
tracht. Sie entsprechen ebenso wie die Synökie dem Prinzipe der
echten Mimikry, der warnenden Auffälligkeit, nicht; sie be-
ruhen auf dem Prinzip des Unbeachtet-, Verborgenbleibens, der
„schützenden Ähnlichkeit‘ mit unbeachteten Gestalten der Umwelt des
zu Täuschungen. Sie sind — dies blieb bisher unbeaächtet — Mimese
und keine Mimikry. —
Die Uneinigkeit der Forscher in der prinzipiellen Bewertung von
Ähnlichkeitstatsachen erhellt aus folgendem.
„In China gleicht die Randwanze Riptortus linearis im Larven-
zustande zuerst erheblich einer dortigen kleinen, gelben Ameise, als
Nymphe einer größeren Art, die schwarz und weiß gefärbt und sehr
gemein ist*). Da aber die auf Legsuminosen lebende Wanze keinerlei
Gemeinschaft mit diesen Ameisen unterhält, so kann man nicht von
Mimikry sprechen.“
So Jacobi. Meines Erachtens mit Unrecht. Für die Wirksam-
keit einer metöken Mimikry kann es doch wohl nicht Bedingung sein,
daß sich der „Nachahmer“ stets mitten unter den Modellen aufhalte.
Die Feinde haben die Warngestalt ja gelernt, ihrem Gedächtnis fest
eingeprägt. und man dürfe wohl eher in Übereinstimmung mit einer
oben angeführten Äußerung Dahl’s der Meinung sein, daß die Täu-
schung gerade dann leichter gelingen müsse, wenn Ameisen nicht
zum Vergleich zur Stelle seien. Denn ein unmittelbares Nebeneinander-
stellen könnte immerhin Verschiedenheiten im einzelnen hervortreten
lassen.
Hinsichtlich aller Gruppen von Myrmekoiden aber stimmen die
Forscher darin überein, daß ‚durchaus nicht immer ein genaues
Übereinstimmen in Form und Farbe nötig ist, sondern daß dasselbe
Ziel, bei sich sehr schnell bewegenden Tieren, durch ein ge-
naues Kopieren der Bewegungen ihres Modells in Verbindung mit einer
ungefähren Übereinstimmung der Grundfarben vollkommen erreicht
werden kann“ (Breddin)*t).
39) Proc. Zool. Soc. Lond. 1902, p. 266,
40) Kershaw und Kirkaldy, Trans. Ent. Soc. 1908, 8. 59—62,
41) Von Jacobi zustimmend zitiert (S. 105).
Re KT a Een
A SER Et a et
80 F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie.
(Ich kann nicht umhin, auf den hierin liegenden logischen Wider-
spruch hinzuweisen. Wenn Ähnlichkeit der Bewegung und der
ungefähren Färbung zur Täuschung vollauf genügt, wozu sollten
dann weitgehende Betrachtungen über eine größere oder geringere
— jedenfalls aber überflüssige — Ähnlichkeit der Form und der
Färbungseinzelheiten dienlich sein? Daß irgendeine schmal-
gebaute und ziemlich langbeinige Wanze irgendeiner ähnlich schmal-
gebauten und langbeinigen Ameise in der Bewegungsart mehr oder
minder ähnlich sein wird, ist eher eine in der ähnlichen Bauart -be-
gründete Selbstverständliehkeit als eine bemerkenswerte Verwunder-
lichkeit. Im übrigen sind auch Wanzen, .die nicht im mindesten an
Ameisen erinnern, diesen in der Bewegungsart äußerst ähnlich. So
läuft Pyrrhocoris apterus, die bekannte Feuerwanze, in beunruhigtem
Zustande, besonders als Larve, genau so hastig wie eine Ameise.
Die ungefähre Ameisenfärbung aber — gelbbräunlich, rötlich,
schwärzlich u.s.w. —— ist identisch mit einer sehr sewöhnlichen
Wanzenfärbung. Die ganze Lage der Tatsachen entbehrt des Problem-
haften. Unter Hunderttausenden von Landarthropoden erinnert eben
eine kleine Anzahl zufällig mehr oder minder an die Ameisengestalt.
Die Verwandten dieser „Mimetiker“ tragen in der Regel noch die
charakteristischen Züge letzterer, sehen aber schon nicht mehr Ameisen
ähnlich.)
Aus der Wichtigkeit der ameisenähnlichen Bewegung heraus
hat denn auch Jacobi mit Recht die Ameisenähnlichkeit der Mem-
braciden als eine biologisch wertlose Erscheinung, als eine „Pseudo-
mimikry“, gekennzeichnet. Das Benehmen der Buckelzirpen läßt keinen
Vergleich, keine Verwechslung mit Ameisen zu; sie sitzen wie all»
Z/Zikaden zumeist still und retten sich bei Gefahr durch einen Sprung.
Die Wertlosigkeit einer großen, durch das Benehmen aber nicht
unterstützten Ameisenähnlichkeit hebt auch Vosseler#?) hervor.
„Wiederholt begegnete ich auch Spinnen aus anderen Familien mit
sroßer Ameisenähnlichkeit ... Keine trug aber das Gepräge wirk-
licher Mimikry ...., im Wesen und in ihren Bewegungen verrieten
sie ihre wahre Natur sehr schnell.“
(Die Tatsache des Bestehens einer „Pseudomimikry“, einer großen,
aber dennoch wertlosen täuschenden Ähnlichkeit muß uns vorsichtie
machen. Wenn für diese kein Nutzen da ist, wenn diese nicht durch
Auslese des Bestausgestatteten entstanden ist, was berechtigt uns, von
den anderen Ähnlichkeiten anzunehmen, sie seien allein aus dem Nutzen
durch Auslese entstanden? Wenn dort „Zufall“ waltet. sollte
er hier undenkbar sein?)
Was die Feinde anbelangt, denen gegenüber die Ameisenähnlich-
keit von existenzerhaltender Bedeutung sein soll, so bedürfen die ein-
zelnen Gruppen der Mimetiker einer gesonderten Betrachtung.
42) Die Gattung Myrmecophana. SS, 19.
F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 81
Spinnen werden in reichstem Mabe von wohl allen insekten-
fressenden Vögeln — in den Tropen besonders gern von Kolibris —
verfolgt. Dennoch vermeint schon Peckham die Hauptfeinde der
Spinnen nicht in den Vögeln, sondern in den spinneneintragenden
Weg- und Grabwespen (Pompilus, Priocnemis, Agenia, Pelopoens,
Trypoxylon u.s.w.) suchen zu müssen. Pocock und Jacobi schlie-
ben sich dieser Auffassung an. Weder den Schlapfwespen noch den
spinnenfressenden Wirbeltieren soll so viel Beteiligung „an dieser
Naturauslese“ zukommen wie den Raubwespen.
Auch gegen Springspinnen selbst, die nach Peckham nie
Ameisen nehmen sollen, soll der Schutz wirksam sein. Mit der
Annahme, die Spinnen verschmähten Ameisen, stehen allerdings die
Beobachtungen anderer Forscher (siehe oben Shelford und Dahl.
weiters auch Jacobi?) in Widerspruch:
Was die Art des Nutzens der Ameisenähnlichkeit bei den Wanzen
anbelangt, so vermutet Haase sie im Schutz vor Mordwespen, welche
sich von Wanzen nähren, z. B. Tachytes. Dafür soll eine Beobach-
tung von Belt sprechen, dab Spiniger Iuleicornis, mit schwärzlichen
Flügeln und gelben kurzen Antennen, „mit beiden genau wie eine
Wespe (Priocnemis) vibriert.“
Neuere Vertreter der Mimikryhypothesen sind über die Frage des
Nutzens der Ameisenähnlichkeit der Insekten nicht einige. R. )J.
Pocock, der auf Grund von Experimenten zur Einsicht gelangte,
daß Säugetiere und Vögel Ameisen in beliebiger Zahl gerne fressen +),
schiebt die wirksame Auslese Pompiliden zu. Andere Forscher hin-
gegen, von der kritischen Einsicht ausgehend, daß die Annahme,
eine Raubwespe mit ihren ganz anders gearteten Sinnesorganen würde
eine Ameisenähnlichkeit ähnlich sehen und beurteilen wie ein Mensch,
doch als eine etwas allzumenschliche Betrachtungsweise kaum An-
spruch auf exakt wissenschaftliche Berücksichtigung erheben dürfe #),
nehmen an, dab die Myrmekoidie, wie jede mimetische Nachäffung;
wesentlich vor „Augentieren“ als Feinden schützen soll und daß als
solche hauptsächlich Landwirbeltiere in Betracht kommen. Ihnen stehen
eben keine Erfahrungen im Wege, wie sie Pocock gemacht hat.
Hierdurch wäre der Schwerpunkt der Myrmekoidiefrage, soweit cs
sich um Insekten als Mimetiker handelt, wieder auf Amphibien, Rep-
tilien, Säugetiere und Vögel verlegt.
43) l.c. p. 111.
44) Proc. Zool. Soc. Lond., 1911, p. 849.
45) G. Entz sen. (Die Farben der Tiere und die Mimikry. Math.
u. naturw. Berichte aus Ungarn. XXV, 1908, S. 58) weist mit Recht darauf hin,
daß alle Kleintiere die Ameisen und ihre Nachahmer aus großer Nähe schen und
dann ebenso sicher unterscheiden, wie wir in einem Saal unter hundert Europäern
einen Japaner in tadelloser europäischer Kleidung sofort erkennen Tiere mit
ungenügendem Gesichtssinn aber besitzen stets einen feinen Witterungssinn.
82 F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. -
Hier gibt Jacobi — und seine Meinung kann als Ausdruck
© to)
der zumeist angenommenen Anschauungen gelten — zu, dab es eine
ganze Reihe von Tierarten gibt, die Ameisen in ungeheuren Mengen
vertilgen (unter den Säugetieren die Zahnarmen,| wie die Ameisen-
bären, Gürteltiere, Schuppentiere, Ameisenbeutler, Schnabeligel, unter
den Vögeln die Ameisendrosseln und Glanzdrosseln, die Spechte u. s. w.
u.S.w.), es scheint ihm indes, daß ‚„hiebei augenscheinlich die ge-
flügelten, das will heißen wehrlosen, Stufen vorwiegen, während die
den eigentlichen großen Verkehr auf der Erde, an Stämmen und im
Blattwerk stellenden Arbeiter in den Hintergrund zu treten scheinen.“
Jacobi schließt: „Außerhalb der Bauten dürften namentlich
die geflügelten Geschlechtstiere von Vögeln weggeschnappt werden.
Was aber die unausgesetzt in Heeressäulen hin- und herziehenden
Arbeiter anbelangt, so scheinen räuberische Gliederfüßer sie durch-
aus zu meiden. und Vögel im Durchschnitt wenig darauf zu geben.
Diese Stufe ist es aber gerade, die von einigen Spinnen und Insckten
nachgeäfft wird, so daß die Annahme einer wirklichen Schutzan-
passung bis auf weiteres Berechtigung hat.“
Jacobi ist bis zu einem gewissen Punkte kritischer Vertreter
der Mimikryhypothese. Seine mit etlichen vorsichtigen „scheinen“
und einem „bis auf weiteres“ verbrämte Fassung ist gemäßigt im
Vergleiche zu der Sicherheit, mit welcher von manchen Biologen die
Immunität der Ameisen gleich einer erwiesenen Tatsache verkündet
wird.
Hier ist der Angelpunkt des Myrmekoidieproblems, hier hat
Tatsachenforschung endgültig klärend und Sicherheit schaffend ein-
zugreifen. Das soll Gegenstand des folgenden Abschnittes sein.
IH. Die Nahrung der Arthropodenfeinde.
Die Arthropodenfeinde, soweit sie für das Mimikryproblem in
Betracht kommen, umfassen Angehörige folgender Tiergruppen:
Halbparasitische Arthropoden (Raubwespen, Schlupfwespen,
Schmarotzerfliegen u.s. w.);
Räuberische Arthropoden (Spinnen, Raubfliegen, Libellen
US Wu)G
Amphibien ;
Reptilien ;
Vögel;
Säugetiere.
Was die halbparasitischen Arthropoden, die Sphegiden, Pompi-
liden, solitären Vespiden, die Ichneumoniden, Braconiden, Chalcididen,
Tachiniden u. s. w. u. s. w. anbelangt, so findet die Annahme,
sie würden durch eine beiläufige, äußerliche, nur auf eine relativ be-
trächtliche Entfernung und nur bei ungenauem Hinsehen für den
Menschen gültige Ameisenähnlichkeit effektiv getäuscht, ihre
F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. j 83
Widerlegung in sinnesphysiologischen Tatsachen. Wer je die für
menschliche Sinnesorgane ganz unverständlichen Leistungen des Witte-
rungssinnes dieser Insekten zur Kenntnis genommen hat, ihre geradezu
unglaubliche Geschicklichkeit im Auffinden und Erkennen ihrer spe-
ziellen Nahrung, für den hat die Verbindung dieser Tiere mit einer
naiven Sehmimikry etwas völlige Undenkbares.
O. M. Reuter#%) sagt von ihnen: „...Ällen gemeinsam ist
die Fähigkeit, die Beute zu wittern, auf der das Ei angebracht werden
soll...“ — „Man kann sich überhaupt keinen so verborgenen Ort
denken, der nicht von der unendlich feinen Witterung der Schma-
rotzerwespe entdeckt würde; selbst nicht im Holzinnern der Bäume
oder ın der Tiefe der Erde lebende Larven entgehen derselben; und
in solchen Fällen sind die Wespen mitunter mit Eilegeröhren von
ungeheurer Länge ausgerüstet.“
„Die Scolia-Arten... suchen ihre Beute in Verstecken auf. Um
sie zu erreichen, sind sie oft genötigt, sich einige Zentimeter tief in
die Erde zu graben. Hier, tief im Innern der Erde, gerade unter
dem Punkte, wo’sie das Graben beginnt, findet z. B. Scolia bifasciata
die Larve eines Blatthornkäfers der Gattung Cetonia, von deren An-
wesenheit hier unten sie durch die äußerst empfindlichen Sinnes-
apparate unterrichtet wird, die ihren Sitz in den Antennen haben.
Man sieht sie nämlich hin- und herwandern, die Erde mit diesen be-
rührend, bis sie plötzlich stehen bleibt und zu graben beeinnt....“*) —
„Nicht selten geschieht es aber, daß eine andere Wespe, eine Art der
(rattung Mutilla, etwas später hier vorüberkömmt, durch die dicke
Erdschicht hindurch den Geruch der Scolia-Larve empfindet, sich
hinuntergräbt und jetzt ihr Ei auf diese legt #8). „... Die in faulem
Holz minierenden Larven des Hirschkäfers, Lucanus cervus, fallen
einer Seolia ... zum Opfer.“
Und R. Demoll#) schreibt: „Zu Spezialisten sind auch jene
Schlupfwespen zu zählen, die uns durch die Fähigkeit in Staunen
setzen, durch dickes Holz hindurch die Anwesenheit einer Holzwespen-
larve zu riechen. Die Fühler dieser Tiere sind über und über mit
eigentümlichen Sinnesorganen bedeckt...“ -— „Hat die Schlupfwespe
sich auf einen Baumstumpf niedergelassen, so wird die Fläche intensiv
mit den ständig zitternden Antennen abgetastet. Ist eine Beute im
Innern des Stammes festgestellt, so wird die Scheide des Legebohrers
genau an die betreffende Stelle gebracht... und der Legebohrer ein-
gesetzt 50). Das ständige zitternde Hin- und Herwischen der An-
46) Lebensgewohnheiten u.s.w. 8. 41, 42.
47) Ebenda S. 239.
45) Die Mutilliden spüren hauptsächlich die Nester anderer Akuleaten auf
und bringen dort ihre Eier unter.
. 49) Die Sinnesorgane der Arthropoden, ihr Bau und ihre Funk-
tion. Braunschweig 1917, Verl. Friedr. Vieweg & Sohn. 8. 32.
50) FE. Doflein (Hesse-Doflein, Tierbau und Tierleben, II, S. 286)
gibt eine Abbildung dieser Szene, die R. Heymons (Brehm’s Tierleben, II, S. 538)
reproduziert.
84 F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie._
tennen läßt nicht daran denken, daß die Tiere ihre Beute hören...“
—— ....umd ich gestehe, daß ich dadurch immer wieder veranlaßt
wurde, mir die Frage vorzulegen, ob dieser Umstand... vielleicht
(doch seine Erklärung darin finden wird, daß es sich hier um ein
unserem Sinnesleben vollkommen fremdes Element handelt.“
Und ein solches Tier sollte durch plumpe, oberflächliche Mvr-
mekoidie, die kaum einen flüchtig hinblickenden Menschen irreführt,
nur ein einzigesmal getäuscht werden?!
Noch eine andere Tatsache zerstört die Mimikryannahme. Die
Raubwespen sind Spezialisten. Ich zitiere wieder Reuter.
„... Es ist für die Raubwespen und die solitären Faltenwespen
charakteristisch, daß bis auf wenige Ausnahmen jede Art ihren Rauh
in einer gewissen Ordnung, oft in einer gewissen Familie, mitunter
nur in einer einzigen Gattung, ja manchmal einer einzigen Art
wählt... So greifen die Seoba- und Tiphia-Arten nur die Larven der
Blatthornkäfer (Lamellicornes) an, alle zur Familie Pompilidae ge-
hörenden Arten fangen nur Spinnen, die Ammophila-Arten nur
Schmetterlingslarven, die meisten ('erceris entwickelte Käfer (Pracht-
oder Rüsselkäfer), nur einige Arten sammeln Immen, Sphex und
ihre Verwandten Geradflügler, Bembex und Oxybelus Fliegen, P>m-
phrelon und die meisten Psen-Arten Blattläuse u. s. w.
“ Der Instinkt, der hiebei die Raubwespen leitet, grenzt in manchen
Fäller an das Wunderbare. So z. B. fängt Cerceris bupresticida nur
Käfer aus der Familie der Prachtkäfer (Buprestidae), aber nicht
bloß eine, sondern mehrere Arten derselben, die doch in Farbe, Größe
und äußerer Gestalt so sehr voneinander abweichen, daß nur ein
Entomologe versteht, daß sie wirklich miteinander verwandt sind.“ °t)
Erkennende Fähiekeiten solcher Art schließen die Möglichkeit
eines Getäuschtwerdens durch Mimikry bedingungslos aus.
Doch noch von anderer Seite aus wird die Mimikryannahme
durch Tatsachen zerstört.
Die Hypothese nimmt an, die Ameisen seien ihrer Wehrhaftie-
keit halber von Raub- und Schlupfwespen gemieden. So sagt Ja-
0ob152): „„Jene Wespen (es ist die Rede von Pompiliden. Sphegiden
und solitären Vespiden) meiden Ameisen fast durchweg, ja sie fürch-
ten sich vor ihnen.“
51) Der angeführte Fall bildet ein Analogon zu Erfahrungen, die ich mit
phytophagen Käfern aus der Chrysomelidengruppe der Halticinen gemacht habe.
Auch sie sind Spezialisten und verfügen über einen eigenartigen Sinn, der sie.ihre
Nahrungspflanzen erkennen läßt, auch wenn dieselben habituell einander völlig un-
ähnlich sind. So leben die Arten der Käfergattung Epithrix ausschließlich auf
Solanaceen; Epithrix atropae lebt auf Atropa belladonna, Huoscvamus niger und
Lyeium halimifolium (barbarum auect,), drei einander unähnlichen Solanaceen, die
der Käfer mit dem Gesichtssinn auf Grund ihrer Gestalt nie und nimmer als nächste
‚Verwandte erkennen würde.
52) 1.6, :pX.10%
ln A Aa HL Done m A = u a 2
F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 8
Jacobi bringt keine Tatsachenbelege für diese Meinung. Dab
die wilden, kampflustigen, starken Raubwespen die zumeist kleineren,
ihnen gegenüber viel wehrloseren Ameisen fürchten sollten, ist um so
weniger wahrscheinlich, als sich diese selben Raubwespen furchtlos
an weit größere akuleate Hymenopteren wagen. Die Arten der Gat-
tung Philanthus, z. B. apivorus, tragen als Spezialisten Honigbiene:i
und Sandbienen ein, die ihnen zuweilen an Größe überlegen sind.
Auch unter den Cerceris-Arten finden sich spezialisierte Bienenjäger.
Alfken fand in dem Wall, der die Nester von Üerceris rubiensis
umgibt, ganze Niederlagen stichgelähmter Bienen ®®). Wenn sich die
Raubwespen tatsächlich um Ameisen nicht kümmern würden — ich werde
weiter unten das Gegenteil nachweisen und eine auf Ameisen speziali-
sierte Raubwespe vorführen -—- dann wäre diese Tatsache unschwer ver-
ständlich schon dadurch, daß an den Ameisen wenig Lockendes ist
— es sind magere Bissen — und dab jede Raubwespe eben ihr Spe-
zialgebiet bereits besitzt. Es gibt eine sehr große Zahl von Insekten,
die gar nichts Wehrhaftes an sich haben und die dennoch nicht ın
den Spezialnahrungskreis einer Raubwespenart fallen. Die Meinung,
dab die kühnen Räuber aus den Gruppen der Pompiliden, Sphegiden,
Vespiden u.s.w. sich vor den Ameisen „fürchten“, entbehrt jeder
Tatsachengrundlage. Dab die meisten von ihnen Ameisen nicht
beachten, liegt in ihrer engen Geschmacksspezialisation, die sie
nur eine ganz bestimmte, zuweilen sehr wehrhafte Beute suchen,
finden und überwältigen, alles übrige, und läge es noch so lockend
wehrlos vor ihnen, aber völlig unbeachtet lassen heißt.
Die Mimikryhypothese hat hier bedauerlicherweise ihre Sätze
unter völliger Nichtbeachtung der Sinnesphysiologie der Räuber und
der Tatsache der strengen Geschmacksspezialisation derselben auf-
gestellt. Und.dieser Fehler in den tiefsten Grundlagen rächt sich.
Es ist nun ein eigenartiger, seltsamer Zufall, dab es gelingt,
in der so beschränkten Zahl der bekannten Geschmacksspezialisationen
an einer positiven Tatsache nachzuweisen, daß „Ameisennachahmung‘
vor Raubwespen effektiv nicht schützt. Breldin und mit ihm
Jacobi#) haben den „Geniestreich‘ bewundert. mit dem die Natur
der Larve der Raubwanze Nabis lativentris Ameisenähnlichkeit ver-
lieh. Nun, dieser Geniestreich der Natur ist — zumindest den Raub-
wespen gegenüber — leider fehlgegangen: Eben diese Larve von Nabis
lativentris wird als Spezialnahrung der Raubwespengattung Dineturs
angegeben 5). Dies ist sogar die einzige Wanze, die ich — bei
einem allerdings nur flüchtigen Einblick in die Literatur — als Raub-
wespenbeute mit dem Artnamen angeführt fand. Das ist Zufall.
53) Reuter, Lebensgewohnheiten u. s. w. S. 310.
54) l. c. p. 104.
- 55) O. Schmiedeknecht, Die Hymenopteren Mitteleuropas. Jena
1907, 8. 212.
Sb F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie.
Aber gerade dieser seltsame Zufall sollte uns lehren, dab es eben
seltsame Zufälle gibt. Die leichte Ähnlichkeit einiger Arthropoden
mit Ameisen, um derentwillen sich die heutige Biologie abquält, ist
weit minder verwunderlich als dieser Zufall, den niemand anders als
mit seinem wahren Namen Zufall nennen wird. —
Daß es aber endlich auch Raubwespen gibt, die spezielle
Ameisenjäger sind, erweist der Einblick in die Literatur. Ich zitiere
Reuter-P):
„Fertonius, eine kleine Crabronine, welche in Algier ihre Nester
mit gegen 40 Stück einer dort gemeinen Ameise, Tapinoma rraticum,
versieht, befestigt das Ei auf der Brust hinter dem ersten Beinpaare.
Der lähmende Stich ist so appliziert, daß die vier hinteren Beine und
der Hinterkörper völlig gelähmt sind, ‚während die Antennen und
die kräftigen Kiefer beweglich bleiben. Aber das Ei liegt, wie gesagt,
außer ihrem Bereich, und wenn die junge Larve ausgekrochen und
gewachsen ist, hat sich die Lähmung... auch auf diese Körperteile
erstreckt.“
Und der Ameisenkenner E. Wasmann?”) schreibt:
„Unter den Grabwespen finden sich manche Ameisenfeinde, die
ihre Brut mit Ameisen versorgen. Nach Ferton macht Ürossocerus
(Fertonius) Iuteicollis?8) Jagd auf Tapinoma erraticum in Algier,
und nach Emery raubt ®rabro (Brachymerus) curvitarsis in Italien
die Arbeiterinnen von Liomelopum mierocephalum °?). Schon Degeer
berichtet über den Raub von Myrmica rubra durch Wespen. Einen .
rätselhaften Kampf zwischen Ampulex compressus und Sima rufonigra
berichtet Rothney. Zur Erklärung desselben dürfte eine ähnliche
Beobachtung von Belt dienen 60).
Hiermit ist die Annahme, die Raubwespen „fürchteten‘ Ameisen
und könnten das Instrument der selektiven Entwicklung einer
Ameisenmimikry sein, tatsachengemäß ihrer letzten Stütze beraubt.
Als Ameisenfeinde kommen weiters Ameisen selbst in Betracht.
Diese Feindschaft wird von den Forschern für außerordentlich be-
deutsam erklärt; jedes Tier mit fremdem Nestgeruch soll angefallen
56). 1. cp. 306.
57) Kritisches Verzeichnis der myrmekophilen und termito-
philen Arthropoden. Berlin 1894, S. 166.
58) = Crabro (Tracheliodes) quinguenotatus (vergl. auch F. F. Kohl, Die
Crabronen der paläarktischen Region. Ann, Nat. Hist. Hofmus. Wien,
XXIX, 8. 322ff., 1915).
59) Daß es sich hier keineswegs um friedfertige Ameisen handelt, geht aus
der Tatsache hervor, daß sowohl Zapinoma als auch Liometopum fleischfressende,
sich schnell bewegende und durch Ausspritzen ihres übelriechenden Drüsensekrets
verteidigende Ameisen sind. H. Stitz nennt Liometopum „sehr kriegerisch und
angriffslustig“ (Chr. Schroeder, Die Insekten Mitteleuropas. Bd. II. Die
Ameisen. S. 79).
60) Literaturzitate bei Wasmann,
F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 87
und getötet werden. Zahlreiche Arten unternehmen regelmäßig Raub-
züge und Überfälle auf fremde Nester. Da die überfallenen Ameisen
doch sicherlich auch „ameisenähnlich“ sind, dürfte man wohl nicht
behaupten können, eine ungefähre Nachahmung der äußeren Ameisen-
sestalt sei feindlichen Ameisen gegenüber irgendwie von Wert. Im
übrigen sind die Ameisen ja in höchstem Maße Tiere mit Geruchs-
orientierung.
Von den Schlupfwespen erwähnen E. Wasmann®e!) und
H. Stitz62) Arten aus den. Gruppen der Braconiden, Chalcididen
und Proctotrupiden, die ihre Eier an Ameisen oder deren Larven ab-
legen; ebenso treten gewisse Dipteren (Phoriden) als Schmarotzer
von Ameisen auf. Die Braconide Elasınosoma berolinense legt nach
Pierre ihre Eier in die Ameisen selbst‘?); Pachylonma eremieri legt
ihre Eier in Larven von Lasius niger während des Transportes der-
selben 6%),
Nach F. Ruschka®°) sind sichere Ameisenparasiten unter den
Schlupfwespen speziell die Eucharinen (Chalcididen), von denen Eu-
charis alscendens aus den Kokons von Aphaenogaster barbara und
Stilbula eynipiformis aus denen von (amponotus marginatus zweifellos
nachgewiesen sind 66). Ferner Chalcura Bedelii aus Myrmecocystus
viaticus #7). Aus Indien ist Eucharis myrmiciae aus Myrmecia forfi-
cata 3) gemeldet, aus Nordamerika Orasema viridis aus der Ameise
Pheidole instabilis®?). Die Eucharinen dürften durchwegs Ameisen-
parasiten sein. Eine Reihe weiterer parasitischer Hymenopteren wurde
mit Ameisen vergesellschaftet gefunden; der Nachweis indes, daß
sie bei diesen Ameisen parasitieren, fehlt.
Etwas anders als bei den halbschmarotzenden Raub- und Schlupf-
wespen, die für ihre Nachkommenschaft jagen, liegen die Dinge bei
den eigentlichen Raubarthropoden, die ihre Beute auf der Stelle selbst
verzehren. Während wir dort einen für uns unfaßbar feinen Witte-
rungssinn feststellten, finden wir hier, wenigstens soweit es sich
nicht um Erdräuber und Fallensteller, sondern um fliegende Räuber
handelt, vielfach auch eine Jagd nach dem Gesichtssinn.
Die Spinnen sollen mit Hilfe ihrer mäßig gut entwickelten Augen,
wobei vielen ihr Tastsinn, bezw. Erschütterungssinn, wesentliche
al l.;e.) p2167;
62) Die Beziehungen der Ameisen zum Menschen und ihre wirt-
schaftliche Bedeutung. Zeitschr. f. angewandte Entomologie. IV, 1918, S. 110,
63) Wasmann, |. c. p. 167.
64) Stitz, Insekten Mitteleuropas. II, S. 46.
65) Laut freundlicher brieflicher Mitteilung.
66) J. Fahringer und F. Tölg, Verhandl. naturf. Ver. Brünn. Bd. 50,
S. 249—250, 1912.
67) Cameron, Mem. & Proc. Manchester Soc., IV, p. 188, 1891.
68) A. Forel, Ann. Soc. Ent. Belg. XX, C©.R., p. VIII—X, 1890 — und
&ameronz.L ce. p. 187.
69) Wheeler, Bull. Am. Mus. Nat. Hist., XXIII, p. 1—93, 1907,
Sg f°. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidıe.
Dienste leistet, jagen. Auch sie sind vielfach stark spezialisiert, auch
unter ihnen finden sich Ameisenfresser®a) und die ameisenverschmähen-
den Arten sind durch anderweitige Spezialisation gebunden.
Für die fallenstellende Larve von Myrmeleon, den „Ameisen-
löwen‘, genüge der einfache Hinweis auf jedermann Bekanntes. Nach
F. Brauer kommen, wohl mit denselben räuberischen Absichten, die
Larven von Panorpa und Bittacus in der Nähe von Ameisen-
iestern Vor.
Was die räuberischen Insektenimagines anbelangt, so hat E. B,
Poulton, bekannt dureh seine warme, weitgehende Verteidigung
der Mimikryhypothese, eine außerordentlich verdienstvolle, mühsame
Zusammenstellung der bis nun vorliegenden exakten Daten über die
Beute der räuberischen Diptera, Neuroptera, Hemiptera, Orthoptera
und Coleoptera gegeben 9).
Diese Untersuchungen zeitigten das eigenartige Ergebnis, dah
alcjenigen Eigenschaften, die im Sinne der Mimikryhypothese als
schützend galten, den Raubinsekten gegenüber sich nicht nur als
nicht wirksam erwiesen, sondern dab vielmehr gerade die als am ge-
schütztesten geltenden Formen in besonders hohem Ausmaße den
sechsbeinigen Räubern zur Beute fielen. Speziell die stechenden Haut-
flügler stellen ein Hauptkontingent zur Nahrung der Asiliden, Odo-
naten, Reduviiden u.s.w. So fanden sich beispielsweise unter 225
Exemplaren Asilidenbeute 67 Hymenopteren, darunter 53 Akuleate,
hierunter 9 Ameisen. (Für das hier behandelte Problem sind letztere
allerdings kaum von Bedeutung, da die Asiliden fast nur fliegende
Beute jagen und es sich daher um geflügelte Stücke der: Ameisen
handelt. Die große Zahl der Akuleaten — Bienen, Wespen und
Grabwespen — erweist indes die allgemeine Wertlosigkeit der Wespen-
waffen gegenüber diesen Raubinsekten.) Unter den. in geringer Zahl
angeführten Beutestücken von Libellen finden sich Arten der wehr-
haften Gattung Vespa; in Raubwanzenbeute sind Halietus-Arten
vertreten.
Die typischen Raubinsekten scheuen somit bestachelte Haut-
flügler nicht und eine Ameisenähnlichkeit wird ihnen gegenüber zu-
verlässig die schützende Wirkung versagen.
Daß sich Ameisenarbeiter nicht in der nachgewiesenen Beute
vertreten finden, hat seinen Grund in der Jagdweise der Mehrzahl
dieser Räuber, die sich zumeist nur auf Fliegendes stürzen, und in
69a) „Arten von Enyo (Zodarium), Phrurolithus, Leptorchestes und Hahnia,
die zum Teil ameisenähnlich sind, lauern den Ameisen am Eingang ihrer Nester auf.
Theridium-Arten überfallen einzelne Ameisen von einem Grashalm oder Pflanzen-
stengel aus und umspinnen sie, um dann die Beute an einem Faden zu sich empor-
zuziehen,*. .xH. Stitz, l.« p, 45, Taf. TL7Rie 36.u. 37,
70) Predaceous Insecets and their Prey. Part. I. Trans. Ent. Soe.
Lond. 1906, p. 323-409.
.
F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 89
der wenig verlockenden Kleinheit der Ameisenarbeiter. Irgendein
Grund zur Annahme eines Geschütztseins der Ameisen ist nicht ge-
geben, da größere Akuleaten rücksichtslos angegriffen werden.
Hiemit erledigen sich die Arthropoden als Feinde von Arthro-
poden. Sie scheiden aus der Konkurrenz für die auslesende Heraus-
bildung der hier in Besprechung stehenden metöken Myrmekoidie end-
gültig aus und zwar aus folgenden Gründen:
1. Ihre eigenartigen, feinen Sinnesorgane lassen eine Täuschung
durch eine plump-primitive, oberflächliche Gestaltähnlichkeit als aus-
geschlossen erscheinen.
2. Sie scheuen die Waffen der akuleaten Hymenopteren nicht.
Es gibt unter ihnen nicht nur zahlreiche Arten, die die weit wehr-
hafteren ?1) Bienen, Wespen und Raubwespen anfallen, sondern auch
typische Feinde von Ameisen.
*
Wir gelangen zu den Wirbeltieren. Die Amphibien und Rep-
tilien gestatten eine kurz gefaßte Erledigung. - Sie wurden meines
Wissens von keinem Forscher als wesentliche Auslesefaktoren
in der Frage der Myrmekoidie angesprochen.
Die häufigeren erdlebenden, einheimischen Amphibien — Kröten.
Frösche, Unken — werfen ihre Zunge so ziemlich nach allem sich
. Bewegenden aus. Sie scheuen — wie mir eigene Versuche mit der
Wespe Polistes gallicus und der Biene Apis mellifica mit Bufo vul-
garis, Rana esculenta, temporaria, arvalis und Bombinator pachypus
(ebenso mit Hyla arborea) erwiesen — den Akuleatenstachel nicht.
Brunet hat Kröten vor dem Bienenstande auf Bienenfang beob-
achtet’?). Jacobi erwähnt Kröten, die vor Wespennestern lauerten
und deren Bewohner wegfingen ?3). Sofern ihnen größeres Getier zur
Verfügung steht, beachten diese Lurche Insekten von Ameisengröße
in der Regel kaum. Daß es sich tatsächlich nur um ein Vernach-
lässigen handelt und die Ameisen nicht geschützt sind, sondern bei
Bedarf in Mengen verzehrt werden, ergibt sich aus der Mitteilung
von J. H. Fabre, der Kotwürstchen von Erdkröten „fast ausschließ-
lich aus Hunderten von Ameisenköpfen“ bestehend fand ’#).
Unter den exotischen Amphibien sind die Engystomiden als
Ameisenfeinde bekannt.
Von Reptilien kommen in Mitteleuropa nur die Eidechsen in Be-
tracht. Nach meinen Erfahrungen an gefangenen Lacerta agilis und
71) Es ist mir bekannt, daß der Stich einzelner großer, tropischer Ameisen, z. B.
gewisser Ponerinen, Myrmeeia-Arten u. a., an Schmerz- und Giftwirkung dem Stiche
von Wespen nicht nachsteht! Doch sind dies Ausnahmen; im allgemeinen sind die
Ameisen minder wehrhaft und mehr lästig als gefürchtet.
72) F. Knauer, Naturgeschichte.der Lurche. Wien 1878, S, 287.
73) Jacobi, l.c. p. 81.
74) Souvenirs Entomologiques. (Deutsch in: Ein Blick ins Käfer-
leben. Stuttgart, Kosmosverlag, S. 20.)
Band 39. 2
90 F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie,
serpa verschmähen diese Arten nicht nur Ameisen, sondern auch Käfer,
Wanzen u.s.w. von der in Betracht kommenden Größe, nehmen da-
gegen begierig Heuschrecken, Käferlarven, nackte Raupen u.s.w.
an ’5). Gegebenenfalls gehen sie wehrhafte Hautflügler, sofern sie
sie nicht gänzlich unbeachtet lassen, ohne Furcht und ungestraft an.
Man hat Eidechsen, Lacerta viridis und 2 auf der Lauer vor
Bienenständen angetroffen 6).
Ameisen bilden nach W.D. Hunter’’”) die gewöhnliche Nahrung
der nordamerikanischen Krötenechse Phrynosoma cornutum; außerdem
sind Zonuriden und Amphisbaenen Ameisenfresser. In Südeuropa
jagen die Geckonen in Häusern nach Ameisen. Von den Schlangen
sind die Typhlopiden Termitenjäger; J. Vosseler‘8) fand Typhlops
punclatus im Bau ostafrikanischer Treiberameisen ”°). —
Die wissenschaftlich genaue und sichere Feststellung der Art der
Nahrung insektenfressender Vögel kann auf dreierlei Wegen in An-
griff genommen werden:
1. Durch Freilandbeobachtungen.
2. Durch Versuche mit gefangen gehaltenen Vögeln.
3. Durch Magen- und Kropfinhaltsuntersuchungen erlegter Vögel
(gegebenenfalls auch durch Untersuchung von Gewöllen und
Exkrementen).
Was die Freilandbeobachtungen anbetrifft so sind sie
nach dem übereinstimmenden Urteile der Forscher außerordentlich
schwierig und nicht in größerem Ausmaße durchführbar 8°). Der scheue
Wildvogel gestattet dem Beobachter nicht, so nahe heranzukommen,
um zu unterscheiden, welche Insektenarten der Vogel aufnimmt. Ledig-
lich, die Jagd eines Vogels nach weithin sichtbaren und kenntlichen
Schmetterlingen, Libellen u. s. w. läßt eine erfolgreiche Beobachtung
zu. Nur wenn sich der Vogel augenscheinlich mit einer größeren
Ansammlung artgleicher Insekten, beispielsweise mit einer Ameisen-
kolonie oder einem Ameisenzuge beschäftigt, können Schlüsse auf
seine Nahrung gezogen werden. Doch es bleiben, wie Jacobi im Be-
streben, die Grundlagen der mimetischen Myrmekoidie aufrecht zu
erhalten, hervorhebt, auch hier nur unsichere Schlüsse. Er weist 1)
75) Auch bei den Versuchen von J. Jenner Weir (Trans. Ent. Soc. Lond.
1869) blieben die Ameisenarbeiter von Eidechsen unbeachtet; dagegen wurden die
ansehnlicheren, gleichfalls wehrhaften geflügelten Weibchen von den Bergeidechsen
(Zootoca vivipara) gefressen. In Pocock’s Versuchen verschmähten Mauereidechsen
(Lacerta muralis) Formica rufa.
76) Levandovsky, Versuche und Beobachtungen auf meinem
Bienenstande. (Russ.) St. Petersburg 1908.
77) Bullet. U.S. Dept. Agrie., Entom., Nr. 148, 1912.
78) Die ostafrikanische Treiberameise. Pflanzer I, 1905.
79) Vergl. Stitz, 1. «, 110.
80) Vergl. z. B. A. Seitz, Betrachtungen über die Schutzvorrich-
tungen der Tiere. Zoolog. Jahrb. (Spengel), III. Abt. f. Syst. 1887, S. 80.
81) 1. c. p. 112—113.
a a
F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 91
darauf hin, daß die Ameisendrosseln (Formicariiden) als Ameisen-
fresser gelten, daß aber über ihre Lebensweise und Ernährung kaum
Exaktes bekannt ist. Nach v. Kittlitz soll eine brasilianische Art,
Pyriglena leucoptera, zwar den Wanderzügen von Ameisen eifrig folgen,
im Magen geschossener Stücke sollen aber diese Insekten „fast völlig
fehlen“. ‚Es scheint also, daß die Ameisen mehr Leckerbissen als
regelmäßige Nahrung für diese Vögel bilden 82).“ Nun, schließlich
wäre auch ein „Leckerbissen“ nichts Gemiedenes oder Gefürchtetes.
B. Altum3?) berichtet vom Schwarzspecht und Grünspecht,
daß sie im Sommer, besonders aber im Winter bei hart gefrorenem
Boden, die Hügel der Waldameisen zerhacken. Wasmann sah Buch-
finken (Fringilla coelebs) beim Aufpicken von Lasius niger. Stitz®#)
erwähnt nach M. Lund®?), daß den Zügen brasilianischer Wander-
ameisen Dendrocolaptes, Tanagra, Drymophila, Lanius u. a. folgen;
den Zügen altweltlicher Treiberameisen folgen Timalien. „Arten der
Gattungen Alathe und Turdirostris in Afrika nähren sich ebenfalls
von Ameisen. In Rio Grande du Sul sah H. v. Jhering®6), wie die
Perlhühner Atta (Acromyrmex) nigra {raben,... Hühner und auch
Enten können im Garten beim Auflesen von Ameisen beobachtet wer-
den... Pogonomyrmex-Arten in Texas verzehrt Megagquiscalus major
maerurus (Hunter$®°)). Eine Ammer (Colaptes auratus) wurde be-
sonders bei der Vernichtung der argentinischen Ameise beobachtet...
(W. Newell und T. C. Barber°®)).*
Von den Blattschneiderameisen (Atta), die samt einem von ihnen
getragenen Blattstück durch eine Membracidenlarve nachgeahmt wer-
den sollen (Sclater, Romanes, Poulton) — eine Ähnlichkeit,
die Jacobi der fehlenden Übereinstimmung in den Bewegungen
halber als „Pseudomimikry“ stigmatisierte — sagt Entz nach
H. W. Bates®’), „daß diese stachellosen Ameisen beim Blätter-
sammeln von den Insektenfressern arg dezimiert werden.“
Daß freigehende Haushühner sich mit Eifer und Ausdauer der
Ameisenjagd widmeten, habe ich selbst mehrfach zu beobachten Ge-
legenheit gehabt.
82) Jacobi entnimmt diese Angaben Brehm’s Tierleben. Was ich dort über
Formieivora domicella finde, scheint mir die Wendung, die Jacobi der Auffassung
der Dinge zu geben sucht, keineswegs voll zu rechtfertigen. Frh. v. Kittlitz ist
überzeugt, daß die „Feueraugen“ den Ameisen „mit großer Gier und Behendigkeit
nachstellten“ und „daß ihre Begierde nach den Ameisen so groß war, daß selbst
das Schießen sie nur augenblicklich verscheuchte“.
83) Forstzoologie II. S. 90.
SA). Lye.'p. 111.
85) Lettre sur les habitudes de quelques fourmis du Br&@sil. Ann.
Sci. Nat. 1831.
86) Berl. Ent. Zeitschr. Bd. 39, 1894.
87) Bull. U. S. Dept. Agric. Bur. Entom. Nr. 148, 1912.
88) Ibid. Nr. 122, 1913.
89) Der ee N am a man nsteeh. 1863, S. 17.
m%k
7’
MAP bau NRERENTETRINN
92 F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie.
Durch Freilandbeobachtungen kann in unsere Kenntnis von dem
Umfange des Ameisenfraßes der Vögel keine Sicherheit gebracht
werden.
Gleiches gilt von den Versuchen mit eingezwingerten
Vögeln. Die Forscher, die sich eingehender mit solchen Versuchen
befaßt haben, betonen einstimmig die Unzulässigkeit, nach Versuchs-
ergebnissen am Käfigvogel bindende Schlüsse für das gleiche Ver-
halten eines Wildvogels derselben Art im Freileben zu ziehen ?®).
Zu derselben Überzeugung haben mich eigene Versuche geführt. Der
frischgefangene Vogel ist in der Regel zu scheu, um für Versuche
dieser Art verwendbar zu sein. Der im Käfig eingewöhnte Vogel hat
seine Freilandgewohnheiten bereits abgetan. Er führt ein relativ träges
Leben, er hat sich völlig an eine ihm ursprünglich mehr oder minder
fremde, zuerst vielleicht nicht oder nur zögernd angenommene Nah-
rung gewöhnt. Er hat von Insekten außer Ameisenpuppen und Mehl-
würmern nichts mehr zu Gesichte bekommen. Er hat sich einerseits
vielleicht daran gewöhnt, aus der Hand seines Pflegers nur Lecker-
bissen, zumindest nur Genießbares zu erhalten und nimmt vertrauens-
voll von ihm fast alles; er hat weiters vielleicht eine Sehnsucht nach
Abwechslung, die ihn für alle Fälle zum Angriff drängt. Anderseits
kann es aber auch sein, daß er die Formen der draußen lebenden In-
sekten vergessen hat und sich nunmehr vor den ihm seinerzeit viel-
leicht vertrauten, nun aber fremd gewordenen Gestalten scheut oder
sogar fürchtet. Scheu- und Furchtäußerungen vor allem Unbekannten
sind allen Vogelpflegern bekannt. Ich erinnere mich an einen Kana-
rienvogel meiner Jugendzeit, der über eine an seinen Käfig gesteckte
rote Kirsche vorerst außer Rand und Band geriet, dann sich beruhigte,
sie zögernd versuchte, sich dann über sie hermachte und sie schließ-
lich gegen alle Versuche, sie ihm wegzunehmen, mit aufgesperrtem
Schnabel eifrig verteidigte.
Seitz91l) sah eingefangene Vögel im Käfig vor Fliegen und
Insekten retirieren, von denen ihm bekannt war, daß sie im Freien
anstandslos verzehrt worden wären. Obgleich er im Freien wieder-
holt sah, wie eine Pyrrhula Raupen verschlang, so geriet ein zahmes
Männchen dieser Vogelart vor einer Schwärmerraupe in große Furcht.
Derselbe Vogel, der gewöhnlich am Fenster saß und Fliegen fing, zeigte
zuweilen vor einer kräftigen vomitoria das äußerste Entsetzen. Ein
aufgezogenes Exemplar von Upupa benahm sich einigen Insektenlarven
gegenüber so komisch reserviert, daß es im Freien zuverlässig ver-
hungern hätte müssen, wenn es auch dort die Kerbtiere so behan-
delt hätte.
90) Vergl. Seitz, l.c. p. 81; weiters R. J. Pocock, On the Palatability
of some British Insects, with Notes on the Significance of Mimetic Resem-
blances. Proc. Zool. Soc. Lond. 1911, p. 809—812.
9). ce. p. 81.
F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 93
In Handbüchern für Stubenvogelliebhaberei wird empfohlen,
Wildfängen, welche Ameisenpuppen nicht annehmen, diese Puppen in
das Trinkwasser zu werfen. Der Vogel wird gelegentlich des Trinkens
durch die auf dem Wasser auf und ab tanzenden Puppen gereizt,
versucht sie, lernt sie als Nahrung kennen.
Es ist die Tatsache des Scheuens vor der Ungewohnttracht
(Ungewohntfärbung oder Ungewohntform), das hier klar und eindeutig
in Erscheinung tritt 22).
Dies alles objektiv vorausgesandt, darf ich ohne Schein von Partei-
lichkeit darlegen, daß die Ameisen von Käfigvögeln fast in allen
Fällen gerne und in beliebiger Zahl verspeist werden, daß die Mimi-
kryhypothese im Verhalten gefangener Vögel keine Stütze findet. Ich
darf darauf hinweisen, daß das Hauptfutter für gefangen gehaltene
Insektenfresser Ameisen im Puppenstadium sind. Jeder Vogellieb-
haber kann sich überzeugen, daß die aus den Puppen ausgekrochenen
reifen Ameisen gerade so von den Vögeln aufgepickt werden wie die
Puppen. Ich habe dies selbst verschiedene Male bei Sylvia atricapilla.
Hypolais hypolais, Turdus sp. u. a. beobachtet.
R. J. Pocock, der, von mimikryüberzeugter Seite kommend,
Versuche mit einheimischen Insekten und ausländischen Insekten-
fressern unternahm 93) — Versuche, die selektionshypothetisch wertlos
sind, da sie mit Tierarten unternommen wurden, die nie in der gleichen
natürlichen Lebensgemeinschaft (Biozönose) leben, deren eine die andere
somit nie auslesen kann — stellte erstaunt fest, daß eine Reihe exotischer
Vögel, denen er britische Ameisen (Formica rufa) vorlegte, diese „mit
Begierde‘, so viel sie davon erhielten, verzehrten. Es waren: die afri-
kanische Eule Glaueidium perlatum, die asiatische Bodendrossel Geo-
cichla eitrina, der indische Copsychus saularis, die gleichfalls indischen
Oittocincla macrura und Sibia capistrata, der nordamerikanisehe „Blau-
vogel“ Sialia sialis, der indische Liothrix luteus, die australische Col-
lyriocincla harmonica, der hinterindische Oriolus maculatus, die
indische Gracula intermedia, die javanische Graculipica melanoptera,
der südamerikanische /eterus chrysocephalus, und schließlich der
europäische Große Buntspecht Dendrocopus major. Einen Vogel, der
Ameisen nicht fraß, fand Pocock nicht).
92) Vergl. meine Abhandlung: Zur Lösung des Trutzfärbungspro-
blems: Der Fall Pyrrhocoris apterus und das Prinzip der Ungewohnt-
färbung. Wien. Entom. Zeitg. 1919 (im Erscheinen).
93) Pocock, 1. c. p. 849.
94) Angesichts dieser Tatsachen schreibt er: „Der unvermeidliche Schluß, daß
diese Insekten schmackhaft seien, ist sehr überraschend im Hinblick auf die zahl-
reichen Fälle, in denen Ameisen verschiedener Arten in den Tropen von Orthop-
teren, Coleopteren und anderen Insekten ebensowohl als von Spinnen nachgeahmt
werden. Indessen bestätigt er die von MeCook vorgebrachte und von mir 1909
vertretene und erweiterte Meinung, ... daß Ameisenmimikry hauptsächlich als
Schutz gegen räuberische Hymenopteren der Familie der Pompiliden ,... dient,“
TR RER ENT
94 F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie.
Als letztes, exaktes Hilfsmittel der Forschung über die Nah-
rungsmittellehre der Vögel verbleibt nun noch die Untersuchung der
Magen- und Kropfinhalte, bezw. der Gewölle und Exkre-
mente der Vögel. Der Inhalt eines Vogelmagens allein spiegelt natur-
treu wieder, was der Wildvogel im Freileben freiwillig zu sich ge-
nommen hat; die vergleichende Untersuchung von Mageninhaltsreihen
allein wird ein richtiges Bild der Normalnahrung jeder Vogelart
geben. i
Doch auch hier warnt die Erfahrung vor voreiligen Schlüssen.
Die Arten der Insekten sind hinsichtlich der Härte ihrer Chitinbe-
deckung außerordentlich verschieden; demgemäß wird auch der
Widerstand, den sie der Verdauung im Vogelmagen entgegensetzen,
ein sehr verschiedener sein. Wenn sich von den harten Chitindecken
eines Käfers noch nach zwei oder drei Stunden Reste im Vogelmagen
finden 9), so wird eine Fliegenmade oder eine Stechmücke schon
in viel weniger als einer Stunde restlos verschwunden sein. Der
Mageninhalt wird also zumeist ein Bild geben, das nicht ohne wei-
teres als Ausdruck der wirklichen Zusammenstellung der Nahrung
in ihren relativ-quantitativen Verhältnissen gelten darf. Bei gleicher
Anzahl von aufgenommenen harten und weichen Insekten werden die
zahlreichen Reste der harten eine mehrfache Überzahl der letzteren
vortäuschen und eine Statistik fälschen. Auch eine Individuenzahlen-
statistik der Insektenreste täuscht, insbesondere dort, wo es sich um
die wirtschaftliche Beurteilung eines Vogels handelt, sobald die Größe
der Insektenart nicht in Betracht gezogen wird. Bei Vorfinden der
Reste von zwei Melolontha vulgaris und 50 Lasius niger, spielen die
in Minderzahl vorhandenen Maikäfer eine weit bedeutsamere Rolle
als die fünfzig Ameisen.
Für die Frage nach der Ameisenmimikry indes kommen die an-
geführten kritischen Bedenken nicht in Betracht. Für diese Frage
handelt es sich lediglich um den Nachweis, daß Ameisen in reich-
lichem Ausmaße überhaupt von Vögeln verzehrt werden, daß die
Ameisen vor Vögeln keinerlei Schutz genießen. Und dieser Nachweis
ist mit einwandfreier Exaktheit leicht zu führen.
Für die Erforschung der Insekten-Nahrung der Vogelwelt des
mittleren Europa nach Mageninhalten liegt eine mustergültige, um-
fangreiche Arbeit von E. Csiki vor %).
95) Ich weise auf die Untersuchungen G. Rörig’s an Krähen hin (Unter-
suchungen über die Verdauung verschiedener Nahrungsstoffe im
Krähenmagen. Ormithol. Monatsschr. 1903, S. 470—477. Auch in: Arb, Kais.
Biol. Anst. f. Land- u. Forstwirtsch., V, 1907).
96) Positive Daten über die Nahrung unserer Vögel. Aquila, Buda-
pest 1904—1914. — Ergänzend hiezu: Neuere Daten über die Nahrung des
Dorndrehers. 1. c. 1911. — Die Insektennahrung des Rebhuhns.
1”c.1. 1912,
4
2 a Sad SER fe se Friede ZB
a , (
F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 95
Nach seinen genauen Listen, die das Material von 2523 Magen-
inhalten umfassen, welche von 60 Vogelarten stammen, fanden sich
Ameisen in 51 Vogelarten, die ich nachfolgend anführe:
Erithacus rubecula,
Rutieilla phoenicurus,
- Turdus musiceus, iliaeus, viscivorus, piaris, ‘merula, torquatus,
Phylloscopus trochilus, sibilator, acredula,
Hypolais hypolais,
Acrocephalus arundinaceus,
Sylvia atricapilla, curruca, sylvia,
Troglodytes troglodytes,
Regulus regulus,
Remiza pendulina,
Aegithalus caudatus,
Parus cristatus, coeruleus, palustris, ater, major,
Sitta caesia,
Certhia familiaris,
Nucifraga caryocatactes und subsp. macrorhyncha,
Garrulus glandarius,
Corvus corniz,
Lanius collurio, minor, excubitor,
Museicapa atricapilla, collaris, grisola,
Hirundo rustica,
Upupa epops, Coracias garrula,
Pieus viridis?"), canus®),
Dendrocopus major, medius, minor,
‚Picoides tridactylus,
Dryocopus martius,
Jynx torguilla 9),
Cuculus canorus,
Cerchneis vespertinus, tinnunculus,
Perdix perdix 100),
Diese Vögel gehören den verschiedensten Familien an.
Die Ameisenarten umfassen Formiciden (Camponotus ligniperda,
pubescens, sylvaticus, lateralis, Formica sanguinea, rufa, pratensis,
fusca etc., Lasius fuliginosus, niger, alienus, flavus) und Myrmiciden
(Myrmica laevinodis, Tetramorium caespitum). Sie sind zuweilen
in großen Mengen in den Magen vertreten.
Dem etwaigen Einwand, es handle sich wohl vorwiegend
um geflügelte, also „wehrlose“ (?) Formen, begegne ich durch die
97) Mageninhalt je eines Vogels: Formica pratensis ca. 700; Lasius niger
400, 400, 500, 500, 600; Myrmica laevinodis 600 Stück u. s. w.
98) Formica rufibarbis ca. 150; Lasius alienus 250 Stück u. s. w.
99) Lasius alienus ca. 100, 100, 200, 300, 300 Stück u. s. w.
100) Lasius niger ca. 250, 250 Stück u. s. w.
96 F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie.
Mitteilung, daß mir Herr Kustos E. Csiki (Budapest) über meine
Anfrage hin die Versicherung gab, geflügelte Formen kämen nur
ausnahmsweise in Betracht und die Hauptmasse bestünde aus flügel-
losen, wehrhaften Arbeitern. |
Ergebnisse ähnlicher, wenn auch minder ausgeprägter Art liefern
die Mageninhaltsuntersuchungen, die E. Rey und A. Reichert !0t),
und weiters W. Baer1!0) hinsichtlich heimatlicher Vögel veröffent-
lichten. Auch die Arbeiten von G. Rörig1®), K. Loos und anderen
Forschern bestätigen den Ameisenfraß unserer Vögel.
W. Schuster stellte — wie er versichert, unter Zugrunde-
legung der Magenuntersuchungsergebnisse — eine „Wertschätz-
ung unserer Vögel“ zusammen10%) und schreibt (S. 52):
„Ameisen: Fast alle Kerbtierfreser, vor allem Haselhuhn, Birk-
huhn, Auerhuhn, Wachtel, Rebhuhn, Segler, Schwalben,
Buntspecht, Schwarzspecht, Grünspecht (lebt teilweise von Amei-
sen...), Grauspecht, Wiedehopf, Drosseln, Ufer- und Wasser-
läufer.‘“
Die Gesamtheit dieser Angaben erweist: Ameisen werden
wohl von fast allen insektenfressenden Vögeln der
Heimat gerne und in großer Zahl verzehrt. Von einem
wirksamen Geschütztsein auch in kleinem Umfange kann nicht die
Rede sein; sie sind- vielmehr ein Hauptbestandteil normaler Vogel-
nahrung.
Hinsichtlich der Avifauna Nordamerikas liegen uns genaue Unter-
suchungen über Mageninhalte hauptsächlich in den Arbeiten von
F. E. L. Beal und W..L. McAtee, ausgeführt im U. S. Depart-
ment of Agriculture und veröffentlicht in dessen Bulletins, vor.
Hauptfeinde der Ameisen sind auch hier die Spechte, die ‚„wood-
peckers“ und „sapsuckers“. Die Spechtuntersuchungen Beal’st®)
basieren auf 3453 Mageninhalten von 16 nearktischen Spechtarten.
Beal stellt fest: „Ameisen bilden den größten Teil der animalischen
101) Mageninhalt einiger Vögel. Ormithol. Monatsschr. 1903—1910.
102) Untersuchungsergebnisse von Mageninhalten verschiedener
Vogelarten. Ornithol. Monatsschr. 1903. — Untersuchungsergebnisse von
Mageninhalten sächsischer Vögel. 1. e., 1909. — Ornithol. Miszellen.
17er 1910,
103) Magenuntersuchungen land- und forstwirtschaftl. wichtiger
Vögel (mit Literaturverzeichnis). Arb. Kais. Biol. Anst. f. Forst- u. Landwirt-
schaft I, 1900. — Studien über die wirtschaftliche Bedeutung der in-
sektenfressenden Vögel. Ebenda, IV, 1905. — Die wirtschaftliche Be-
deutung der Vogelwelt als Grundlage des Vogelschutzes. Mitt. a. d.
Kais. Biol. Anst. f. F.- u. L.-W., H. 9, 1910.
104) Gera-Untermhaus, 1906 (bezw. Kosmos-Verlag, Stuttgart).
105) Food of the Woodpeckers of the United States. U,S.D. Agr.
Biol, Surv. Bull. Nr. 37, 1911, p. 10.
F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 97
Nahrung — 28,41 % im Durchschnitt, alle 16 Spechtarten zusammen-
genommen 10%) — und die Hauptnahrung von 8 Arten.“
Die Arten, nach der Höhe des prozentualen Anteils der Ameisen
in den Mageninhalten gereiht, sind:
0 Ameisen
Sphyrapieus thyroideus 85,94
Dryobates borealis 56,75
Colaptes cafer 53,82
Colaptes auratus 49,75
Sphyrapicus ruber 42,49
Phloeotomus. peleatus 39,91
Sphyrapicus varius 34,31
Dryobates pubescens 21,36
Dryobates villosus 17,10
Asyndesmus lewisi 11,87
Picoides americanus 8,29
Dryobates nuttalli 8,19
Melanerpes f. bairdi 8,09
Centurus carolinus 6,45
Picoides arcticus 6,35
Melanerpes erythrocephalus 5,17
Die Ameisen gehören vorwiegend den Gattungen Camponotus
und Oremastogaster an; doch finden sich auch Formica, Lasius, Myr-
mica, Aphaenogaster, Prenolepis, Pheidole, Solenopsis, Tetramorium,
Messor. In einem Mageninhalte von Colaptes auratus wurden rund
5000 Exemplare einer kleinen C’remastogaster-Art gefunden; in ande-
ren je etwa 3000. Diese Anzahl entspricht also einer Mahlzeit dieser
Vogelart.
Beal hat weiters Spezialuntersuchungen über die Nahrung ein-
zelner anderer nordamerikanischer Vogelgruppen nach Reihen von
Mageninhalten geliefert 107). Von den drei Kuckucken teilt er mit,
dab Ameisen „frequently eaten‘ seien. Jwdd nennt Ameisen als
hrs der Ware Von den Stärlingen (Dolichonyx, Molothrus,
106) Unter diesen 16 Spechtarten sind auch solche, bei denen der Anteil vege-
tabilischer Nahrung — zumeist Früchte und Kambium (!) — bis 77,41°/, beträgt.
— Diese Tatsachen werfen zugleiche in eigenartiges Licht auf die so viel er-
wähnte hohe Anpassung des Spechtschnabels und der Spechtzunge. Zweifellos
wären die Spechte ohne diese Anpassungen — die ja tatsächlich den andern Vögeln
fehlen — auch erhaltungsfähig. Da sie indes einmal eine lang vorstreckbare, klebrige
Zunge besitzen, ist es für sie das Bequemste, sie zum Massenfang von Ameisen aus-
zunutzen.
107) Some Common Birds in their Relation to Agriculture. Far-
mers Bull. Nr. 54, 1897. — (Mit S. D. Judd) Cuckoos and Shrikes in their
Relation to Agriculture. Biol. Surv. Bull. Nr. 9, 1898. — Food of the
Bobolink, Blackbirds and Grackles. Bull. Nr. 13, 1900. — Food of our
more important Flycatchers. Bull. Nr. 44, 1912.
VI: Aa AN MPSFEN I FETTE, ERTL TE RR IS RE ERLET U GERNE
BSH AN RE Me EBENE NR EN NET, 1)
fe) F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie.
Xanthocephalus, Agelaius, Scolecophagus, Quiscalis) gibt Bealgleich-
falls Ameisen und Wespen unter der Nahrung an. Ebenso sind Amei-
sen in der Nahrung der .nordamerikanischen Fliegenfänger (Muscivora,
Tyrannus, Myiarchus, Sayornis, Nuttallornis, Myiochanes, Empidonax)
—- obgleich diese Vögel vorwiegend ‚Jäger fliegender Insekten sind —
neben Wespen und Bienen verhältnismäßig reich vertreten. Des-
gleichen finden sich Ameisen im Mageninhalt der ‚Wiesenlerche‘,
Sturnella magna, des „Katzenvogels“, Galeoscoptes carolinensis, U. a.
Vögel zahlreich.
In der sehr ausführlichen Arbeit von McAtee über die Dick-
schnäbler 108) (Oardinalis, Pyrrhuloxia, Zamelodia, Guiraca) werden
Pogonomyrmex und Lasius aus dem Kardinal, Wespen und For-
miciden aus dem Grauen Dickschnäbler, Camponotus aus dem Rosen-
brüstigen, Honigbienen und Myrmiciden aus dem Schwarzköpfigen,
und Formiciden aus dem Blauen Dickschnäbler aufgeführt.
Über die Nahrung der Vögel Indiens geben C. W. Mason und
H.Maxwell-Lefroy eingehende, auf Mageninhaltsuntersuchungen
basierte Daten 109). Nach ihnen bilden die Ameisen gleich den Heu-
schrecken ‚einen sehr großen Anteil an der Insektennahrung der
indischen Vögel. Sie sind wohl die Lieblingsnahrung der Spechte,
Wendehälse, Roller (Coracias) und einiger Fasanen. Die meisten
Vögel, welche überhaupt Insekten fressen, verzehren auch Ameisen
dieser oder jener Art.“ (Folgt Liste der in den Magen erkennbaren
Ameisenarten.)
Eine Arbeit F. Dahl’s gewährt uns einigen Einblick in “die
Nahrung der Vögel der Bismarckinseln 110). Von 63 zumeist insekti-
voren Vogelarten fanden sich in 28 Ameisen vor, und zwar ebenso-
wohl geflügelte wie ungeflügelte 111).
Eine Untersuchung von Mageninhalten australischer Vögel ver-
danken wir J. B. Cleland!!l2). Von ..257 Magen, die Insektenreste
enthielten, wiesen 55 Ameisen auf, wobei die Ameisen vielfach in
sroßer Stückzahl vertreten waren.
In einer kurzen Liste, die G. L. Bates113) über Mageninhalte
von Vögeln Südkameruns gibt, finden sich die Ameisen unter den
108) Food Habits of the Grosbeaks. Bull. Nr. 32, 1908.
109) The Food of Birds in India. Mem. Dept. Agrie. Caleutta III, 1912,
9. 1—371.
110) Das Leben der Vögel auf den Bismarckinseln. Mittlg. Zool.
Sammlg. Mus. Naturk. Berlin I, 1899.
111) Jacobi betont (l. c. p. 113) das Vorkommen der geflügelten, „das will
heißen wehrlosen“ Formen. Er vergißt hiebei, daß es nicht nur geflügelte Männ-
chen, sondern auch geflügelte Weibchen gibt. .
112) Examination of Contents of Stomachs and Crops of Some
Australian Birds. Emu, IX, XI, XII, 1909—1913.
113) ’Ibis,'V, 1911, p. 631
F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 99
Insekten an dritter Stelle genannt; allerdings fügt Bates hinzu
„mostly in stomachs of birds of the genus Dendromus‘‘ 114),
.G. A. K. Marshall, der über J. B. Poulton’s Anregung
auszog, Mimikry zu beweisen, gibt im umfangreichen Berichte über
seine diesbezüglichen Forschungen in Südafrika eine kurze Tabelle
von Insekten, die er in Vogelmagen fand 415). Diese Tabelle umfaßt
nur 13 Insektenformen, zu denen die Namen der Vogelarten genannt
sind, in denen die bezügliche Insektenform gefunden wurde. Bei
den einzelnen Insektenformen sind im Höchstfalle 5 Vogelarten als
nachgewiesene Feinde genannt; allein bei den Ameisen sind
10 Vogelarten(Bradyornis mariquensis, Pratincola torquata, Mon-
ticola amgolensis, Sazxicola pileata, Buchanga assimilis, Thamnolaea
cinnamomeiventris, Orateropus kirkii, Lophoceros leucomelas, Campo-
thera bennetti, C'recopsis egregia) aufgeführt. Ameisen erscheinen
somit als das Meistbegehrte in dem kleinen Kreise des Beobachteten.
Damit reimt sich wohl auch für das äthiopische Gebiet die Annahme
irgendeines Grades von Gemiedensein der Ameisen nicht mehr.
Hiemit ist die Tatsache, daß Ameisen nicht nur
nicht gemieden sind, sondern vielmehr einen bevor-
zugten,jaeinen Hauptbestandteilder Vogelnahrung
ausmachen, fürallefünfFErdteileziffernmäßignach-
gewiesen.
Was die wenigen insektivoren Säugetiere der Heimat anbelangt,
so ist kein Grund zur Annahme gegeben, daß dieselben Ameisen ver-
schmähen. Unter der Nahrung des Igels (Erinacens europaeus) nennt
K. Escherich!16) Ameisen. Die Spitzmäuse, die als Wespen-
feinde genannt werden 117), dürften wohl auch Ameisen nicht fürchten.
Auch Dachs und Fuchs, die gleichfalls Wespen nicht scheuen, werden
gelegentlich, falls ihnen die Beute nicht allzu gering ist, Ameisen
nicht verschmähen. In den Tropen, wo die Ameisen eine unvergleich-
lich größere Rolle spielen als bei uns, ist eine Reihe von Tierformen
sogar fast ausschließlich der Ameisen- (und Termiten-)Nahrung an-
gepaßt. Jacobit18) nennt die am Boden spürenden Zahnarmen,
wie Ameisenbären (Myrmecophaga), Gürteltiere (Dasypodidae),
Schuppentiere (Manis), Ameisenbeutler (Myrmecobius) und Schnabel-
igel (Echidna). Stitz119) erwähnt, Orycteropus, der Termiten auf-
114) Jacobi (p. 113) übersetzt falsch: „so gut wie allein“ von Dendromus
verzehrt.
115) Five Years Observations and Experiments (1896—1901) on
the Bionomies of South African Insects etc. Trans. Ent. Soc. Lond.,
1902, p. 351.
116) Die Forstinsekten Mitteleuropas. I, S. 226.
117) E. Andr&, Species des Hymenopttres d’Europe et d’Alg£rie
II, 1881, p. 502.
118) 1. c. p. 112.
Hg. Ep. 11],
4100 F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie.
sucht, werde auch Ameisen verfolgen. „Nächstdem kommen wohl in
erster Linie Insektivoren in Betracht, sicher solche, von welchen
bekannt ist, daß sie Termiten verzehren, wie die ostafrikanischen
Petrodromus, ferner unter den Carnivoren Mangusten-Arten, unter
ihnen der ostafrikanische Crossarchus. Von dem südafrikanischen,
grabenden Erdwolf (Proteles lalandi) ist eine ähnliche Nahrung be-
kannt, und auch Affen, besonders Paviane, werden Ameisen fressen.“
Daß Affen tatsächlich auf Ameisen geradezu erpicht sein können,
zeigen die Versuche R. J. Pocock’s120), bei welchen ein aus Süd-
amerika, der Heimat der Mimikry und der Ameisenherrschaft 121),
stammender Kapuzineraffe (Cebus sp.) eine Formica rufa nach der
anderen, soviel ihm immer gereicht wurden, mit Behagen fraß.
Schließlich hat sich sogar das höchststehende Säugetier, der
Mensch, der Ameisen als Nahrung bemächtigt. Nach den Berichten
von Reisenden werden Ameisen von Naturvölkern vielfach gegessen.
Humboldt, Rengger, Schomburgk u. a. berichten solches
von Indianern Südamerikas, Burchell von den Buschmännern Süd-
afrikas, Mjöberg von Eingeborenen Australiens u.s.f. (Einzel-
heiten und Literatur bei Stitz, l.c. p. 72—73).
Ich glaube mit der im Voranstehenden gegebenen reichen Tat-
sachenfülle den Nachweis, daß die Ameisen keiner insektenfressen-
den Tiergruppe gegenüber effektiv geschützt sind, daß mithin auch
ameisenähnliche Tiere keinen Schutz genießen können, in einer jeden
Unbefangenen völlig überzeugenden Weise erbracht zu haben. Die
metöke Myrmekoidie im Sinne einer durch Selektion herausgebil-
deten Anpassung stellt sich somit als ein bedauerlicher Irrtum der
Forschung dar, der in vollem Umfange bedingungslos aufgegeben .
werden muß. —
Man könnte nach diesen negativen Darlegungen mit Recht die
Frage aufwerfen: Wie nun soll sich die exakte Biologie
den Erscheinungen der metöken Myrmekoidie gegen-
über verhalten?
‘Ich denke, die Antwort ist einfach: unbefangen.
Die Ameisengestalt ist eine der typischen Arthropodengestalten.
Mäßig langgestreckt, um die Körpermitte eingeschnürt, Kopf und
Abdomen ziemlich groß und von ziemlich breit gerundeter Form,
Beine und Fühler mäßig lang -—— das ist ihr wesentliches Charak-
teristikum. Eine Kombination weniger, alltäglicher Eigenschaften
des Arthropodenkörpers.
Angesichts der Tatsache nun, daß in der ungeheuren Fülle von
möglichen Gestaltungseinzelheiten, die die Grundzüge des Arthro-
podenkörpers zulassen, in zahlreichen, einander fernstehenden Grup-
120) Proc.®Zool.+Soc. Lond. 1911, p. 849.
121) In Brasilien sollen ja nach einem geflügelten Wort „nicht die Menschen,
sondern die Ameisen Herren des Landes sein“ (Forel, Stitz.)
F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 4101
pen Ähnlichkeiten auftreten, die wir nicht anders als „zufällig“ be-
zeichnen können und tatsächlich so bezeichnen, angesichts dieser
unleugbaren Tatsache kann die Tatsache, daß unter Hunderttausen-
den von Kombinationen und Abstufungen der wenigen Merkmale eine
kleine Anzahl zufällig jenem Kombinationsbilde ähnelt, das uns von
den Ameisen her so gut bekannt ist, nicht das mindeste Verwunder-
liche an sich haben. Es wäre vielmehr im Gegenteile verwunderlich
und den Regeln mathematischer Wahrscheinlichkeit zuwiderlaufend,
wenn gerade die einfache Kombination von fünf, sechs Merkmalen,
die den Ameisentyp charakterisiert, unter den vielen Hunderttausen-
den von Kombinationen nicht mehr wiederkehren sollte. Man führe
. mathematisch die Wahrscheinlichkeitsrechnung durch und man wird
mir recht geben müssen. Es ist kein Grund zum Staunen gegeben,
von dieser Seite her steht kein Problem.
Man scheut das Wort „Zufall“ in der Biologie. Mit Unrecht.
Es gibt Fälle, in denen es für den Unbefangenen von kristallklarer
Bedeutung ist. Ein solcher Fall liegt hier vor. Der Einwand von der
gesetzmäßigen Bedingtheit alles Naturgeschehens ist hier nicht an-
gebracht. Jeder Forscher weiß ja, daß „Zufall“ ein relativer Begriff
ist. Innerhalb unseres ökologisch-schutzmittelhypo-
thetischen Problems fehlt offenkundig der kausale Zusammen-
hang zwischen den Ähnlichkeiten, in phylaktisch-ökologi-
scher Hinsicht liegt daher Beziehungslosigkeit, d. h. Zu-
fall, vor. Entwicklungsmechanisch, morphologisch hingegen ist
jede einzelne Ähnlichkeit zweifellos das Ergebnis gesetzmäßiger Be-
dingtheiten, also kein ‚‚Zufall“. Die Experimentalzoologie müßte sich
dem Studium der Werdebedingungen jeder einzelnen myrmekoiden
Form widmen, müßte die festgestellten Werdebedingungen aller dieser
Formen schließlich kritisch miteinander vergleichen und ermitteln,
ob Ähnlichkeit der Gestalt mit Ähnlichkeit der Werdebedingungen
in nachweislichem Kausalnexus steht oder ob es sich um Wachstums-
erscheinungen handelt, welche, unbekannten Anstößen entsprungen.
unabhängig von den Umweltfaktoren auftreten und welche Kombi-
nationen von Merkmalen darstellen, die einander „zufällig* — im
vollen Wortsinne — ähnlich sein können, und die, nach mathema-
tischer Wahrscheinlichkeit, in einer bestimmten mutmaßlichen An-
zahl auch als wirkliche Ähnlichkeiten in der Natur verkörpert sein
werden.
Das ist der Weg, auf dem die Biologie exakt das Problem der
Ähnlichkeiten anzufassen vermag. Der einzige. Damit ist die Stel-
lung der exakten Biologie zum Myrmekoidieproblem gekennzeichnet:
Experimentell forschend, im übrigen kritisch zuwartend, hypothesen-
los, dem bisher Gebotenen gegenüber skeptisch. —
Man mag mir den Vorwurf machen, ich habe den an sich wenig
belangreichen Fall der Ameisenmimikry hier zu eingehend behandelt.
ENTER, TERN? 1
2 ‘ er STE De
409 F. Heikertinger, Die metöke Myrmekotdie.
Wiewohl ich nun darauf hinweisen könnte, daß die Ameisenmimikry
heute immer noch einer der als bestfundiert geltenden Glanzpunkte
der Hypothese ist 122) und wiewohl es nicht zuviel sein kann, wenn
zur endgültigen Widerlegung eines Irrtums ein Hundertstel von dem
geschrieben wird, was über den Irrtum selbst geschrieben wurde
und noch geschrieben worden wäre — so will ich dem Einwande doch
recht geben.
Gewiß, es ist zuviel der Widerlegung. Allein ich habe alle diese
eingehenden Erörterungen nicht geschrieben um des Gegenstandes
willen, dessen Belanglosigkeit kaum von jemandem geringer geschätzt
werden könnte, als eben von mir — ich wollte gewiß nicht den Spatzen
der Ameisenmimikry gegenüber unnötiges wissenschaftliches Schwer-
geschütz aufführen, ich wollte lediglich ein bis in Einzelheiten aus-
gearbeitetes Bild der einzigen Methode geben, mit der meines Fr-
achtens in Problemen solcher Art in unvoreingenommener, zahlen-
mäßig-exakter Tatsachenforschung vorgegangen werden muß, ja allein
vorgegangen werden kann, soferne die moderne Ökologie dauernd
auf den Rang einer nach wissenschaftlichen Methoden arbeitenden
Disziplin Anspruch erhebt.
122) Man vergleiche die ausführliche Behandlung der Ameisenmimikry bei
Jacobi, der in der Einleitung (S. VI) schreibt: „Bei der Stoffeinteilung hielt ich
es für angebracht... der Ameisennachäffung reichlichen Raum zu gönnen, weil sie
mir im ganzen ee und der unmittelbaren Nachprüfung zugänglicher scheint
als die blendende, aber oft auf lockeren Stützen ruhende Mimikry der Lepidopteren.“
Und ein anderer Verfechter der Mimikryhypothese, ©. Prochnow (Zeitschr. f.
wissensch. Insektenbiologie IX, 1913, S. 65) schreibt unabhängig von ihm: „Auf
dem Gebiete der eigentlichen Mimikry ...sind die Neuentdeckungen natürlich sehr
zahlreich. Das Verfahren... ist ja so sehr bequem... Man nimmt sich seine
Schmetterlingskästen vor und sucht bunte, leidlich gut übereinstimmende Falter ver-
schiedener Familien heraus und schon hat man der Wissenschaft einen Dienst ge-
leistet... Einen rühmlichen Gegensatz zu diesen... Mimikry-Arbeiten von Poul-
ton, Dixey u.a. bildet eine kritische Arbeit von Vosseler über die Ameisen-
ähnlichkeit der... Myrmecophana.... Heute kann man mit gutem Rechte nur
die Mimikry bewehrter Hymenopteren durch Käfer, Schmetterlinge, Fliegen und
Örthopteren — namentlich soweit eine ausgeprägte Formmimikry vorliegt — und
die Übereinstimmung der Ameisengäste mit ihren Wirten als Fälle von Mimikry
gelten lassen.“
Über die Wespennachahmung durch Käfer und Schmetterlinge und über die
Bienennachahmung durch die Schlammfliege habe ich an anderen Orten gesprochen
(Die morphologisch-analytische Methode in der Kritik der Mimikry-
hypothese, dargelegt an der Wespenmimikry [Sphekoidie] der Bock-
käfer. Zoolog. Jahrb. v. Spengel [in Druck). — Die Wespenmimikry
der Lepidopteren [zugleich eine Darstellung des Mimikryproblems im allgemeinen].
Verhandl. Zool.-botan. Ges. Wien, 68. Bd., 8. (164)—(194), 1918. — Die
Bienenmimikry von Eristalis. Eine kritische Untersuchung. Zeitschr. f.
wissensch. Insektenbiologie. XIV, 1918, S. 1-5, 73—79.)
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L. Kathariner, Das Vitamin ein Mikroorganismus ? 103
Referate.
Das Vitamin ein Mikroorganismus?
Bis in die neueste Zeit glaubte man, daß für die Unterhaltung des Stoff-
wechsels, also als Energiequelle, die Kohlehydrate, die Fette und die Eiweißkörper
der Nahrung ausreichend wären, bis man in steigendem Maße darauf hingewiesen
wurde, daß noch etwas weiteres unentbehrlich ist, so daß bei seinem Fehlen in der
Nahrung der Organismus mehr und mehr entkräftet wird und schließlich zugrunde
geht. Entsprechende Krankheiten sind schon lange bekannt (Skorbut der Seefahrer
und der Gefangenen, Pellagra der Maisbauern in Italien und die Beriberikrankheit
der Seeleute im indischen Ozean). Man wußte, daß die durch die Kost bedingten
Krankheiten sicher durch einen Nahrungswechsel, so beim Skorbut durch frisches
Gemüse oder Obst und Fleisch, statt der bisher genommenen Konserven und Rauch-
oder Salzfleisch geheilt werden können. Der fehlende rätselhafte Körper erhielt
wegen seiner Bedeutung für das Leben den Namen Vitamin (Eykman, Gryns,
Funk). Die durch das Fehlen_des Vitamins in der Nahrung bedingten Krankheits-
formen werden als Avitaminosen zusammengefaßt. Man fand, daß das Vitamin in ge-
wissen Teilen der Nahrung vorhanden ist, so in der Aleuronschicht der Getreide-, Reis-
und Maiskörner, in frischem Fleisch, Gemüse u. dgl. Wurde das Mehl nicht ganz
kleiefrei ausgebeutelt und der Reis nicht in der Form verwendet, wie er in
den Handel kommt, so blieb auch die Beriberikrankheit aus; besonders reich-
lich ist die Verbreitung der Beriberikrankheit im indischen Archipel. Die
höheren Bevölkerungsschichten, welche das Reismehl aus „poliertem“ Reis gewinnen,
erkranken, während die ärmere Bevölkerung verschont bleibt, für welche der Reis
samt der Kleieschicht vermahlen wird. So wie man weiß, wo das Vitamin zu suchen
ist, ist es auch schon längere Zeit bekannt, daß es sehr leicht wirkungslos gemacht,
etwa durch Erhitzen zerstört wird. Man glaubte bisher es mit einer labilen äußerst
komplexen chemischen Verbindung zu tun zu haben.
In der Sitzung der Pariser Akademie der Wissenschaften (10. Juni 1918)
wurde mitgeteilt, daß es gelungen sei, einen im Gewebe des Tieres und der Pflanze
weitverbreiteten Mikroorganismus, ein symbiontisches Bakterium, als das „Vita-
min“ nachzuweisen '’). Das Bakterium wurde ohne weiteres vom Körper aufgenommen.
Durch experimentelle Avitaminose hervorgerufene Krankheitserscheinungen bildeten
sich nach Einverleibung der Bakterien äußerst rasch zurück, und der kranke Orga-
nismus genas in kurzem völlig. Die mit der weißen Maus und der Taube ange-
stellten Versuche verliefen folgendermaßen: Die Futterkörner waren geschält und
sterilisiert, während die Kontrolltiere nicht sterilisiertes Futter bekamen. Alle be-
reits bekannten Symptome, wie: Appetitlosigkeit, Abmagerung, Gleichgewichts-
störungen, Lähmungen etc. verschwanden bei normaler Ernährung in einigen
Tagen, während bei längerer Versuchsdauer die Tiere unter Ernährungsstörung an
Schwäche eingingen. Wenn das Tier wieder normales Futter bekam, setzte sich die
Abmagerung noch einige Tage weiter fort, aber unter dem Einfluß vitaminhaltiger
Nahrung bildeten sich die Krankheitssymptome zurück, um schließlich ganz zu ver-
schwinden. Bei einem Tier, das schon stark die Symptome einer Avitaminose zeigte,
trat nach Injektion einer Kultur der Symbionten unter die Haut oder in die Leibes-
höhle schon nach 1—2 Tagen eine ganz überraschende Besserung ein. Die statischen
und taktischen Störungen verschwanden und bald war das vorige Körpergewicht
1) Vitamines et symbiotes, Note de M. M. Henri Bierry et Paul Portier, pre-
sentee par M. Y. Selage ©.R. Tome 166, Nr. 23, 1918.
4104 L. Kathariner, Das Vitamin ein Mikroorganismus?
wieder erreicht. Am auffallendsten war dies bei der Taube, die schon nach einigen
Stunden wieder normal laufen und fliegen konnte. Mehrmals wiederholte Injek-
tionen von lcem Kultur hätten stets die gleich guten Resultate gehabt; man könne
also durch Einverleiben von Symbionten die Avitaminosen heilen. Die zu Beginn
der Versuche aufgestellte Hypothese hätte sich im weiteren Verlauf vollauf bestätigt.
Der einzige Einwand, den man, wie es scheine, machen könnte, sei der, daß man
sagte, dıe eingeführten Bakterien wären als lebende Organismen selbst Vitamine und
man hätte mit jedem andern selbst nicht aktiven Bakterium das gleich gute
Resultat erzielen können. In der Tat enthielten ja manche Mikroorganismen, wie
der Hefepilz, Vitamine; die Darmbakterien aber schienen keine Vitamine abzugeben,
da bei den an Avitaminosen eingegangenen Tieren eine reiche Darmflora gefunden
wurde. |
Darauf äußerte sich Delage”folgendermaßen: Die Voraussetzung der Sym-
bionten im Körperplasma stände mit den’ schon jahrelang bewährten Leitsätzen
Pasteur’s in schroffem Widerspruch. Es sei ja eine alltägliche Erscheinung, daß
Bakterien die Darmwand durchsetzten und sich im Körper verbreiteten. Die hohe
Thermostabilität der Symbionten nach vielen Untersuchungen etwa 120°C. hätte
man erst nach Aufstellung der Hypothese hervorgehoben. Die neue Lehre wäre so
paradox, daß es erst noch zahlreicher genau unter denselben Bedingungen ange-
stellter Versuche bedürfte, bis sie in der Wissenschaft festen Fuß fassen könnte.
Wenn den Symbionten in der Tat alle den Vitaminen eigenen Eigenschaften zu-
kämen, müßte man sie im Körpergewebe eines jeden Organismus finden. Die Taube
und die weiße Maus würden ja von den Folgen einer Avitaminose sofort geheilt, wenn
eine sehr kleine Menge Symbionten einverleibt würde. Wenn alles richtig wäre,
müßten die Symbionten ständig durch die Aufnahme von Nahrung erneuert werden,
da sie ja allmählich aufhörten wirksam zu sein. Die injizierten Symbionten bestanden
in letzter Linie aus den Geweben der aufgenommenen Nahrungskörper; da sie nun
ihre Wirksamkeit allmählich verlören und ständig bei der Nahrungsaufnahme er-
neuert würden, müßten sie sich offenbar in der aufgenommenen Nahrung ständig
vermehren: Dieser Punkt müßte nun weiter aufgeklärt werden. Er wollte nur darauf
hinweisen, ohne damit gegen die sehr interessanten Ausführungen Einspruch zu er-
heben. Dr. phil. et med. L. Kathariner, Freiburg (Schweiz).
Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der Universitäts-
Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen.
Biologisches Zentralblatt
Begründet von J. Rosenthal
Unter Mitwirkung von
Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München
herausgegeben von
Dr. EEE Weinland
Professor der Physiologie in Erlangen
ee von Be Thieme in er
39. Band Re _ März 1919. DENE 3
ausgegeben am 31. März 1919
Der ährliche Abonnementspreis a2 Hefte) beträgt 20 Mark.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physiolog. Institut,
einsenden zu wollen.
Inhalt: €. Correns, Die Absterbeordnung der beiden Geschlechter einer getrenntgeschlechtigen
Doldenpflanze (Trinia glaura). S. 105.
K v. Frisch, Zur Streittrage naclı dem Farbensinn der Bienen. 8. 122. °
W. J. Schmidt, Vollzieht sich Ballung und Expansion des Pigmentes in den Melanophoren
von Rana nach Art amöboider Bewegungen oder durch intrazelulläre Körnehenströmung ?
S. 140.
Die Absterbeordnung der beiden Geschlechter einer
getrenntgeschlechtigen Doldenpflanze (Trinia glauca).
Von €. Correns, Berlin-Dahlem.
(Mit 3 Kurven im Text.)
Seit den Untersuchungen Struycks (1740) ist bekannt, daß
beim Menschen die Sterblichkeit des männlichen Geschlechtes ım
allgemeinen größer ist, als die des weiblichen, so daß der Knaben-
überschuß, der bei der Geburt noch besteht, allmählich schwindet
und sogar einem Überschuß an Mädchen Platz macht!). Nur
die Zeiträume vom 9. bis 15. und vom 27. bis 35. Lebensjahre
machen eine Ausnahme; ın ihnen ist, a in den meisten
Ländern, die Sterbenswahrscheinlichkeit des weiblichen Geschlechtes
etwas größer als die des männlichen.
)ı Man vergleiche dazu z. B. bei H. Westergaard (1901) das Kapitel über
die Anfänge der Mortalitäts- und Morbiditätsstatistik, speziell S. 47 u. f. und das
Kapitel: Alter, Geschlecht und Zivilstand, S. 206 u. f. oder E. Czuber, 1910,
Bd.-Hl, S:-121.
39. Band fe)
Der hier mögliche Maßstab ist wenig geeignet, den Unterschied
beider Geschlechter in der Kurve der Überlebenden oder in der
Kurve der Sterbenswahrscheinlichkeit zum Ausdruck zu bringen
(vgl. dazu Czuber, II. S. 121). In der folgenden Figur 1 ist
versuchsweise eine andere Darstellungsweise gewählt, um das
wechselnde Verhalten der beiden Geschlechter zu zeigen. Die
Sterbenswahrscheinlichkeit des weiblichen Geschlechtes ist gleich
+351 N
— a —— dp — gg pn
10 20 30 40 50 60 7o 80 g90 Z00
JSTRFEe
Fig. 1. Kurve der Sterbenswahrscheinlichkeit des männlichen Geschlechtes beim
Menschen, die des weiblichen gleich 100 gesetzt. Näheres im Text.
100 gesetzt, und die Sterbenswahrscheinlichkeit des männlichen für
die einzelnen Lebensjahre nach der deutschen Sterbetafel (Ozuber,
II, S. 444—447) berechnet. Die Differenzen von 100 sind, je nach-
dem sie positiv oder negativ ausfielen, als Ordinaten über oder
2) Die einzige graphische Darstellung, die ich kenne, rührt von Longstaff
her und ist bei Havelock Ellis (1909, S. 511) reproduziert. Er benützte die -
Bevölkerung Englands und Wales 1870—18S0 und zwar die Sterbeziffern auf 1000
Lebende beider Geschlechter. Die Kurve des weiblichen Geschlechtes zeigt nur ein
abnehmendes Zurückbleiben hinter der des männlichen Geschlechtes bis zum
2. Lebensjahr und ein zunehmendes Zurückbleiben nach dem 35., und nichts von
dem wiederholten Übereinandergreifen der Kurven.
Ne ARE RETR T 2 AHEAD ara ale BEE TN n u N 2 ed
E DE EV EU KRETA A SEK 1 a AN ) » ; u
u BR r ’ y \ bh; } e
Ale u BER t
ERO, Correns, Die Absterbeordnung der beiden Geschlechter ete. 107
unter der Abszissenachse aufgetragen, und die Endpunkte dann
verbunden worden. | | |
Die Kurve zeigt sehr schön die zwei Einsattlungen unter die
Abszissenachse, hervorgerufen durch die größere Sterblichkeit des
weiblichen Geschlechtes zwischen 9 und 15 und 27 und 35 Jahren,
mit den Minima bei 14 und 30 Jahren, und die drei Berge mit
den Maxima bei 0, 21 und 47 Jahren, bedingt durch die größere
Sterblichkeit des männlichen Geschlechtes, mit auffällig regel-
mäßıgem Ansteigen und Abfallen.
Die Sterbenswahrscheinlichkeit des weiblichen Geschlechtes, die
bei dieser Darstellung eine gerade Linie ist und mit der Abszissen-
achse zusammenfällt, folgt in Wirklichkeit einer Kurve, die zuerst
sehr steil, dann allmählich fällt, bei 13 Jahren ihr Minimum hat
und dann wieder, erst sehr allmählich, später immer steiler ansteigt.
Vom Verständnis der Kurve der Fig. 1 sind wir wohl noch
weit entfernt. Es ist sicher, daß an ihrem Verlauf nur zum Teil
die ungleich große äußere Lebensgefährdung der beiden Geschlechter
schuld ist, sondern daß es sich auch, und wohl überwiegend, um
innere, konstitutionelle Ursachen handelt.
Ich habe mir erlaubt, soweit auf das Verhalten des Menschen -
einzugehen, weil ich es später mit dem Verhalten unserer Ver-
suchspflanze vergleichen möchte. Andere dazu brauchbare Angaben
kenne ich nicht. Bei manchen Tieren (Rädertieren, Dinophilus
u.s. w.) ist die Lebensdauer der Männchen und Weibchen sehr
auffällig verschieden (Korschelt, 1917, S. 123 u. f., bes. S. 128).
Zweifellos wird sich auch sonst im Tierreich eine ungleiche Sterbens-
wahrscheinlichkeit der beiden Geschlechter finden; Genaueres
darüber ist mir aber nicht bekannt. Auch aus dem Pflanzenreich
.weiß ich keine eingehenden Untersuchungen anzuführen, sondern
nur einige mehr gelegentlich gemachte Beobachtungen. Manche
Angabe mag mir freilich unbekannt geblieben sein.
Noch die meiste Literatur liegt für den Hanf vor. Fr.
Haberlandt (1877) hält es für sehr wahrscheinlich, daß beı ıhm
die Sterblichkeit des männlichen Geschlechtes größer sei, als die
‘des weiblichen, und möchte so das bekannte zahlenmäßige Über-
wiegen der Hanfweibchen erklären. Er stützt sich dabei auf das
Ergebnis folgenden Versuches. Hanfkörner wurden am 30. Mai
zwischen fenchte Flanellappen gebracht, und die Keimlinge, sobald
sich das Würzelchen zeigte, vom 1. bis 4. Juni jeden Tag für sich
getrennt in ein Beet ausgelegt. Leider wurde der Versuch abge-
brochen, als das 1000ste Korn gekeimt hatte. Da die Arbeit an
einer schwer zugänglichen Stelle erschienen ıst, darf ich wohl die
Tabelle, ın der Fr. Haberlandt das Ergebnis zusammengefaßt
hat, hier wiedergeben; sie ıst um drei Spalten vermehrt, die Be-
ee
EN IELR ir ELTERN Yo PRREINSENT on Yab IE x Er Ne E
108 C. Correns, Die Absterbeordnung der beiden Geschlechter etc.
rechnungen enthalten, die zur Beurteilung der Sicherheit der Er-
gebnisse dienen sollen"
Man wird danach den Beweis für die größere Sterblichkeit der
Hanfmännchen nicht für sicher echt. ansehen. Zunächst ist
nicht ausgeschlossen, daß die Männchen rascher keimen als die
Weibehen. In diesem Fall würde der Versuch bei gleicher, von
Tag zu Tag zunehmender Sterblichkeit beider Geschlechter das-
selbe Resultat ergeben. Außerdem sind die Zahlen zu klein, wie
schon Sprecher (1913, S. 281 u. f.) auf etwas andere Weise aus-
gerechnet hat. Zieht man alle vier Tage zusammen, so erhält man
395 Weibchen und 387, also 49,49%, Männchen. Legt man diesen
>
Tabelle 1.
Das Aus- | Zahl, | Prozent- an gen Differenz Dr
lesen der | der | Davon ent- | satz der ae der Pro- Ri
> : | ö bliebenen net für
Hanf- |ausge-' wickelten | zugrunde zentzahl
keimlinge |legten sich gegange- Keimlingen vom den 2m
folete |Keim 5 ne n Keim- entwickelten "Mittelwert Mittel-
re ee Ir sich zu Wen, wert
am linge; jr. > Je “linge Zee ll derag 19,5°]
IS ER RR Niro 2 SEN »> lo
1. Juni || 595. | 273 | 243 | 1327 % |\529 \azı ! + 34 |+ 20 |+ 61
2. Juni 320 | 102:1.130%1 27,622 1148:9 1, D@K. 9,0 Je 3,8 2,
3. Juni 68 || 11 18.1638 % |. 37,9.\.62,2..| —11,6,.)+:93) 4279
4 Juni 17 1 4 | 705 % || 200 | 800 | — 295 |#22,4 | #672
zusammen | 1000 || 387 | 395 || 218 % \ 49,49 | 50,51
Mittelwert zugrunde und berechnet die mittleren Fehler der vier
Einzelversuche, so ist, wie die letzten Spalten der Tabelle zeigen,
ihr Dreifaches stets größer, etwa doppelt so groß, als die beobach-
teten Abweichungen vom Mittelwert, die + 3,4 bis — 29,5 %, be-
tragen. Die Abweichungen sind also ganz unsicher. Nur das
gleichmäßige Ansteigen der Prozentzahlen für die Weibchen
vom ersten bis vierten Versuch spricht dafür, daß tatsächlich eine
Gesetzmäßigkeit zugrunde liegt. Sie kann aber, wie schon be-
merkt, ebensognt darin liegen, daß die Hanfmännchen rascher
keimen, wie darin, daß sie leichter absterben,
Dasselbe gilt auch für die entsprechende Angabe Heyer’'s
(S. 139 u. £.; vgl. die rechnerische Nachprüfung Sprecher’s,
1913, S. 283). Aber auch hier haben wir vom 1. bis zum 4. Tage
der Keimung — der 5. und der 6. Tag umfassen gar zu kleine
Zahlen — eine Abnahme der ‚Lebensfähigkeit der Keimlinge von
90 auf 32%, parallel gehend einer Zunahme der Weibchen von
106,4 auf 150%. — Auch eine Versuchsreihe von Muth (1906,
S. 116), ebenfails mit viel zu kleinen Zahlen, gab doch wieder um
so mehr Weibchen, je schlechter die Früchtchen gekeimt hatten.
C. Correns, Die Absterbeordnung der beiden Geschlechter ete. 109
Der gleichsinnige Ausfall der Versuche spricht, trotz der im
Einzelnen zu kleinen Zahlen, dafür, daß irgendeine Gesetzmäßig-
keit zugrunde liegt. Dagegen, daß die männlichen Frücht-
chen rascher keimen, würden zwei weitere Versuche Heyer’s
(S. 139) sprechen, freilich wieder nur insofern, als in beiden
die Prozentzahl der Weibchen um so mehr sank, je später die
Früchtchen keimten; die Zahlen selbst sind zu klein, wenigstens
in der einen Versuchsreihe. Etwa 36 Stunden nach der Aussaat
waren die kräftigsten und schwächeren Keimlinge und die unge-
keimten Körner getrennt worden. Fisch (1837, S. 141) hat aber
das umgekehrte Resultat erhalten, freilich an sehr kleinem Material,
und die Versuche Sprecher’s (S. 287) fielen im selben Sinn wie
jene Fischs aus, wenn sie auch nicht streng beweisend sind.
Für Melandrium gab Strasburger (1900, S. 759) an, daß die
Männchen im Winter nachweislich stärker leiden als die Weib-
chen, und erklärte so damals das starke Überwiegen der letzteren
in einer Versuchsreihe, während er später (1910, $. 452) eine
„Schwächung der männlichen Tendenz der (männchenbestimmenden)
Pollenkörner als Ganzes genommen“ dafür verantwortlich machte.
Weitere Angaben fehlen, so daß sich gar nicht beurteilen läßt, ob
die Zahlen unseren heutigen Anforderungen genügt hätten. Eigene,
zu andern Zwecken angestellte Versuche ergaben nichts Sicheres
über eine solche Benachteiligung der Männchen.
Eine größere Anzahl von Versuchspflanzen — Bastarde zwischen
Melandrium album und rubrum und die reinen Stammarten —, die
einer Reihe von 18 Einzelversuchen angehörten, wurden im ersten
und zweiten Jahr (1915 und 1916) in bestimmter Reihenfolge auf
ihr Geschlecht untersucht, und im dritten (1917) die bis dahin ab-
gestorbenen aufgenommen. Es waren mehr als die Hälfte, etwa
70%, tot. Die kleine Tabelle 2 gibt das Resultat für die beiden
(seschlechter.
Tabelle 2.
samt - ? ;
San | ® 9in% d an | 6 | m
insgesamt | 3484 | 2176 | 623 1318. | 37,7 | 485 | +0,821
davon tot || 2452 1463 -| 59,7 || 988 40,3 49,0 +0,99 -:
Die Differenz beträgt 2,6 %,, und ıhr mittlerer Fehler
(+V 0,82? 0,992) ist +1,29 %,;
er ist also genau halb so groß, und die Differenz selbst nicht sicher
gestellt.
110 ©. Correns, Die Absterbeordnung der beiden Geschlechter ete..
Eine zweite, viel kleinere Reihe von 10 Versuchen mit Sämlingen
des Jahres 1916, ‘ebenfalls nach dem Uberwintern 1917 aufge-
nommen, gab eine noch größere Sterblichkeit:
Tabelle 3.
lo mid |. m
== \ | 1 l
insgesamt 677 | 468 69,1 || .209 30,9 46,2 1,76
davon tot, 589 | 395 67,1. | 194 BrA 47,0 1,93
Die Differenz ist 2,0%, also ähnlich wie bei der vorigen Ver-
suchsreihe; ihr mittlerer Fehler 2,8%, ıst aber größer, wie sie selbst.
Dafür, daß bei Melandrium die Männchen den Winter schlechter
überstehen als die Weibchen, läßt sich also nur anführen, daß beide
Versuchsreihen ein gleichsinniges Ergebnis aufweisen, durch
das Verhalten der einzelnen Reihen selbst ist es nicht sichergestellt.
In all diesen Fällen handelt es sich eigentlich. nur um das End-
ergebnis, ob das eine oder andere Geschlecht eine größere Sterb-
lichkeit besitzt, nicht um die Absterbeordnung, die zeigen würde,
wie sich das Absterben über die ganze Entwicklungszeit verteilt,
und ob es beide Geschlechter stets im gleichen Verhältnis trifft,
oder ob die beiden Geschlechter in einem veränderlichen Verhältnis
zur Totenliste beitragen.
Bei einjährigen oder überhaupt nur einmal blühenden Gewächsen
läßt sich die Sterbenswahrscheinlichkeit eines Geschlechtes über-
haupt nicht, wie beim Menschen, während eines fast das ganze
Leben umfassenden Zeitabschnittes direkt feststellen, weil sich das
Geschlecht erst sehr spät, wenn die Blüten gebildet werden, fest-
stellen läßt — wenigstens einstweilen. Günstiger liegen die Ver-
hältnisse bei ausdauernden Gewächsen, weil der unbestimmbare
Abschnitt der Entwicklung gegenüber dem bestimmbaren zurück-
tritt, ihm freilich physiologisch auch nicht gleichwertig ıst. Aber
auch hier ist die Untersuchung aus technischen Gründen, auf die
ich jetzt nicht eingehen will, nicht so einfach, wie sie auf den ersten
Blick vielleicht erscheint. Ich habe einige Versuchsreihen begonnen.
Hier möchte ich einstweilen nur über das Verhalten der einmal
blühenden, zweijährigen?) Doldenpflanze Trinia glauca berichten.
3) Briquet (Schinz und Keller, 1900, S. 358) bezeichnet Zrinia glawca
als einjährige Winterpflanze «3 und als ausdauernd 3; meine Sippe ist streng zwei-
jährig © ©.
rn >
a
Kr
Ferne BEL SEEN sa Fa a DB Ban aa ET Va a
C. Correns, Die Absterbeordnung der beiden Geschlechter etc. 411
Die Versuche hatten eigentlich den Zweck, das erbliche Ver-
halten der zwittrigen Individuen zu verfolgen, die bei dieser sonst
getrenntgeschlechtigen Art nach den Angaben in der Literatur vor-
kommen (A. Schulz, 1890, S. 90, 189; Henslow, 1888, S. 227).
Dabei stellte sich die merkwürdig geringere Widerstandsfähigkeit
der Männchen kurz vor und während der Blütezeit heraus. Sie
soll im folgenden nach der letzten, umfangreichsten Versuchsreihe
beschrieben werden *).
Von der Ernte des Jahres 1916 wurden noch im gleichen
Jahre, am 24. August und 5.. September, acht Aussaaten als Versuch
5 bis 12 gemacht, jede von einem andern Weibchen. (Durch die
frühe Aussaat sollte versucht werden, die Entwicklungszeit der
sonst streng zweijährigen Pflanze abzukürzen, was aber nicht ge-
lang; obschon die Keimung schon nach vierzehn Tagen begann,
kamen die Sämlinge ausnahmslos erst 1918 zur Blüte, wie es
bei der Aussaat im Frühjahr 1917 auch geschehen wäre.) Die
Saatschalen wurden den Herbst und Winter über ım Kalthaus ge-
halten, und die Keimlinge von Zeit zu Zeit in Kisten pikiert —
im ganzen nahezu 5500 — und weiterhin ebenfalls im Kalthaus
gehalten. Viele gingen dabei ein, so daß Anfang Mai 1917 nur
noch 3319 ins Freie ausgepflanzt werden konnten, auf Beete von
1 m Breite in Querreihen zu 5 und 4 ım Verband, mit Abständen
der Reihen von 20 cm, und die Pflanzen einer Reihe ebenfalls
20 cm voneinander entfernt. Solche Reihen gab es 736. Von
diesen Sämlingen, die beim Auspflanzen sehr schlecht Ballen ge-
halten hatten, starben im Laufe eines Jahres noch nahezu tausend
ab, so daß ich schließlich bei der ersten Aufnahme am 3. Mai 1918
nur noch 2367 untersuchen konnte.
Ziemlich viel Pflanzen zeigten Zwangsdrehungen und andere
Anomalıen, waren aber ohne weiteres als männlich oder weiblich
zu bestimmen. Männlich und dazu etwas zwittrig waren nur vier (je
eine bei Versuch 5 und 7, und zwei bei Versuch 6); sie sind im
folgenden unter die Männchen gerechnet.
Die Beete wurden viermal revidiert: am 3. Mai, vom 13. bis
15. Mai, am 28. Mai und am 16. Juni. Bei dieser letzten Revision
waren die Pflanzen schon stark ineinander gewachsen. Infolge-
dessen wurde versehentlich das Verhalten von 17, die bei der vor-
hergehenden Revision noch ganz oder doch teilweis lebendig ge-
. funden worden waren, nicht bestimmt. Die vierte Aufnahme umfaßt
4) Das Saatgut verdanke ich der Güte des Herrn Professor Geisenheyner
in Kreuznach; es stammt von einer wildgewachsenen weiblichen Pflanze. Was ich
aus botanischen Gärten des In- und Auslandes als „Trinia“ erhalten habe, war,
mit Ausnahme einer Probe aus dem botanischen Garten in Bremen, alles Andere,
nur keine Trinia.
VE RR NIE Ba ORT N RN RT TANZ
N Si ’ uk EM }
e R de a N
142 ©. Correns, Die Absterbeordnung der beiden Geschlechter ete.
deshalb nur 2350 statt 2367 Pflanzen. 91 waren überhaupt nicht
zur Blüte gekommen.
Schon bei der ersten Aufnahme zu Beginn der Blütezeit zeigte
sich wieder das Absterben vorwiegend der Männchen, wie ich es
1913 in Münster i. W. und 1915 in Dahlem beobachtet hatte. Es
ist im wesentlichen ein Abfaulen, das am Wurzelkopf, zwischen
den grundständigen Blättern, beginnt, die rübenförmige Wurzel
selbst ergreift und das Vertrocknen des blühenden Haupttriebes
und der Seitentriebe zur Folge hat, die zwischen den grundstän-
digen Blättern entspringen. Zuweilen bleibt ein Teil der Seiten-
sprosse am Leben; gewöhnlich kann man aber bald die ganze ver-
welkende oder schon dürre Pflanze ohne Kraftanwendung vom
Boden abheben.
Daß es sich um eine Infektionskrankheit handelt, ist wohl
sicher, wenn der Erreger auch noch unbekannt ist. Sie hat mit
dem Absterben der männlichen Pflanzen nach Erfüllung ihrer
Funktion direkt nichts zu tun. Denn es gingen sehr oft Pflanzen
ein, die eben erst mit dem Blühen begonnen hatten, und solche,
deren Geschlecht nur durch Untersuchung der Blütenknospen mit
dem Mikroskop bei schwacher Vergrößerung bestimmt werden konnte,
und auch bei diesen kamen auf viel Männchen nur einzelne
Weibchen. Es kam ferner vor, wenn auch nur sehr selten, daß
ein Männchen bei allen vier Revisionen — also vom 3. Mai bis
zum 16. Juni — blühend und am Leben gefunden wurde und
anfing, von oben her, mit gesundem Wurzelkopf, zu vertrocknen.
Häufiger war schon, daß bei drei Aufnahmen lebend
waren.
Es ist auch keine geschlechtsbegrenzte Krankheit, denn es
werden ja auch die Weibchen, wenngleich viel seltener, befallen,
auch schon vor dem Aufblühen, im Knospenzustand, und bei der
Fruchtreife werden sie offenbar sogar stark ergriffen.
In der Tabelle 4 ist das Ergebnis der vier Aufnahmen zusammen-
gestellt. Der Raumersparnis wegen sind außer den Gesamtzahlen
nur noch die Prozentzahlen der Abgestorbenen aufgenommen,
Es genügt das ja zur Beurteilung der Sicherheit vollkommen.
Pflanzen, die erst teilweis welk oder verdorrt waren, sind zu den
lebenden gezählt, ganz oder stark welke als abgestorben gerechnet
worden.
Zunächst interessiert uns das Geschlechtsverhältnis der Pflanzen,
die überhaupt zum Blühen kamen. Zwischen der zweiten und
dritten Aufnahme blühten nur noch einzelne Pflanzen neu auf;
die vierte zeigte keine weitere Zunahme mehr, Wir können also
von der dritten Aufnahme ausgehen.
C. Correns, Die Absterbeordnung der beiden Geschlechter ete. 113
Tabelle 4.
| Von 100 &' sind tot Von 100 © sind tot
Versuchs- q BIRNEN 9 \ am ”
I |
Nr. | | 3. V. | 14. V. |28. V. 16. VI. 3. V. |14. V. |28. V.|16. VI.
a b [0 d a b ct 1 SO
5 87 ' 3,5 | 43,7 | 67,8 | 98,8 sg 10 Eu WR ©
6 287 | 2,1 | 21,9 | 648 194,7 || .279.|0 0,4 0,7 1,8
7 215 1,9. | 26,5 | 66,5 194,8 || 213 |0 0,9 0,9 1,4
8 gan, 117.497 21°70,6° 191,5 95 2,1 5,3 6,3 9,5
9 153%) 5,22.392. 1562 .1188,6. 11.157 0,6 2 4,5 5,1
10 146 | 23.3: | 56,8 21.74,0° 193,8 11.2145°12,1 N 5,5 6,9
11 96 [14,6 1438 | 76,8 ı 97,9 117.10 v7 2,6 5,1
12 5412 9:991:20,95. 197,5... 98,1 49 |0 2,0 6,0 |10,6
zusammen | 1132-742 35,34 | 66,96 | 94,04 1144 |0,5245| 1,749 | 2,885 | 4,283
Tabelle 5 bringt das Verhältnis (in Prozenten) für die einzelnen
Versuche getrennt und für alle acht zusammen, wie es sich aus den
Angaben der Tabelle 4, speziell der Spalte c, ergibt.
Tabelle 5.
| | | | Differenz der
Versuehe Ge- | | | m für Prozent-
Nr samt- 9 Se n% | 10% join. % 1° = 50,0 , zahlen vom
j I zahl | | | % , Mittelwert
| | | | | 49,74
| | J
| | | | |
5 21269135895 14 87:4 1.50,57.49,43:%] 250,00. 18 1.3577 ne
6 |. 566 | 279 | 287. | 49,20 | 50,71 | 49,99 | 2,10 | +0,97
7 428 | 213.| 215 | 49,77 | 50,23 | 5000 | 242 | +0,49
8 189 | 95 | 94 | 50,267 49,74 | 50,00. .| 3,72 :| +0,00
9 310‘) /157 | 153 | 50,65 | 49,35 | 50,00 | 282 | —.0,89
10 291 | 145 | 146 | 49,83 | 50,17 | 50,00 | 2,98 | +0,43
BL. 7a130| 12 298 52:98. 45,07. 1149,76.1,..3,43 Vs
12. | 103 | 49 | 54 |araz | 52.43 | 4994 | 493 +2,69
zusammen | 2276 |1144 | 1132 | 50,26 49,74 | 49,999 | 1,05 |
Es sind also vor Beginn der Zählungen ım ganzen fast ge-
nau gleich vielMännchen und Weibchen: 49,74 und 50,26%,
vorhanden gewesen. Die Differenz, 0,52%, macht eben die Hälfte
des mittleren Fehlers (1,05 %,) aus. Der geringe Vorteil der Weib-
chen kann sehr gut rein zufälliger Natur sein. Aber auch die
einzelnen acht Nachkommenschaften, aus denen sich die Gesamtzahl
zusammensetzt, stimmen ganz auffallend damit und unter sich über-
ein. Nur einmal, bei Versuch 11, ist die Abweichung von dem
Mittelwert größer (— 4,67%), als der einmal genommene mittlere
414 C. Correns, Die Absterbeordnung der beiden Geschlechter ete.
Fehler (+ 3,43%), sonst ıst sie geringer und bleibt fast immer
unter seiner Hälfte.
Ich kenne keine andere diöziısche Blütenpflanze, bei der das
(eschlechtsverhältnis (zu Beginn der Blütezeit) so nahe dem „me-
chanischen“, 1:1, kommt, und kein Geschlecht einen deutlichen
Vorteil vor dem andern zeigt.
In der Tabelle 6 ist nun zusammengestellt, wieviel weibliche
und männliche Pflanzen bei den vier aufeinanderfolgenden Aufnahmen
lebend und abgestorben, oder doch absterbend, gefunden wurden.
Tabelle 6.
Insgesamt |
Von An- 2076 1122 9 | 1132
|
Er lebend | Abge- lebend abgestorben Bei lebend abgestorben
storben in % lin %| Iin% nv
l l
bis 3. V.| 2186 | 90 | 1136 |9948 | 6 | 0,52 | 1048 192,58 | 84 | 7,42
bis 14, V. 1856 | 420 | 1122 97,72 | 20 | 2,28 || 732 | 64,66 | 400 | 35,34
bis 28. V.|| 1485 | 791 || 1109 [97,11 | 33. | 2,89 | 374 133,04 | 758 | 66,96
bis 16. V.)| 1176 | 1100 | 1093 [95,71 | 49 | 4,29 | sı | 7,16 | 1051 | 92,84
Bei der letzten Aufnahme waren fast alle Männchen tot (93%),
aber nur wenige Weibchen (etwas über 4%).
Noch deutlicher als die Tabelle 6 zeigt Fig. 2 an den Kurven
der Überlebenden das ungleiche Verhalten der beiden Geschlechter.
Auf der Abszissenachse sind die Tage a,b, c, d abgetragen, an denen die
Beete untersucht wurden. Auf ihnen wurden Ordinaten errichtet,
deren Länge angıbt, wieviel Prozent männlicher und weiblicher
Pflanzen zu dem betreffenden Zeitpunkt am Leben gefunden wurden.
Dann wurden die Endpunkte verbunden.
Die Kurve der Weibchen bleibt hoch über der der Männchen.
Beide Kurven verlaufen ferner fast gerade; die Zahl der Über-
lebenden sinkt also bei beiden Geschlechtern sehr gleichmäßig.
Bei den einzelnen acht Versuchen ist der Verlauf der Kurven unregel-
mäßiger, was teils an der geringeren Individuenzahl, teils wohl
auch daran liegt, daß die Chancen, zu erkranken und abzusterben,
ungleich verteilt waren.
Wie gleichmäßig die Zahl der überlebenden Männchen und
Weibchen abnimmt, geht auch aus Tabelle 7 hervor. Sie gibt
an, wie sich die beiden Geschlechter auf die Pflanzen verteilen,
die bei jeder einzelnen Revision neu abgestorben gefunden worden
waren.
Da A
C. Correns, Die Absterbeordnung der beiden Geschlechter etc. 115
700 %
75%
30%
235%
RG 2% re 10,
Fig. 2. Trinia glauca. Kurve der Überlebenden des männlichen und weiblichen
Geschlechtes zwischen dem 3. Mai und 16. Juni.
Die Männchen machen stets annähernd gleich viel aus, zwischen
93,3 und 96,5%. Die Tabelle enthält auch die mittleren Fehler
der einzelnen Aufnahmen, für den Mittelwert 95,5%, berechnet;
Tabelle 7
| davon Differenz
| Ab- x vom N
Aufnahme! gestorben N Mittelwert (WA | m
| ER 2 |
3.v. |...90 6 84: | 933 —22 | 2500 | +2,19
14. V. 330 14 316 | 98 203 ).2007. | 1.14
98. V. Ä 37] 13 58 | 0o5 to | 11838 | 1.08
16. VL. |: 309 16 293 1.948. | —o7 | as | #118
Ben) ‚1100 49 1051 95,5 +0 2073. ,|
man sieht, die Differenzen zwischen den Ergebnissen der einzelnen
Aufnahmen und diesem Mittelwert sind etwa so groß wie ihre
mittleren Fehler. Diese geringen Unterschiede können demnach
sehr gut rein zufälliger Natur sein. —- Auf ein Weibchen, das ab-
stirbt, kommen also, während der Beobachtungszeit, jedesmal unge-
fähr 19 zugrunde gehende Männchen.
a NEN. ARE ae I a RR I EL A NE un BE te AN
8 ‘+ IT % a PIE EN,
E A Er FR TNE
116 C. Correns, Die Absterbevrdnung der beiden Geschlechter etc.
Wollte man für Trönia eine Figur zeichnen, die der als Fig. 1
für den Menschen gegebenen entspräche und die Sterbenswahrschein-
lichkeit der Männchen darstellte, bezogen auf die gleich 100 gesetzte -
der Weibchen, so erhielte man eine Linie die gerade und nahezu
parallel der Abszissenachse verliefe. Es ist das wichtig, weil es
nochmals beweist, daß es sich bei der hohen Sterblichkeit der
Männchen nicht um das Eingehen handelt, das man bei den Männ-
chen nach Erfüllung ihrer Funktion vor allem im Tierreich
so oft beobachtet, aber auch bei einmalfruchtenden Gewächsen, wie
es unsere Trinia ist, erwarten wird. Denn dafür muß charakteri-
stisch sein, daß sich das Zahlenverhältnis der abgestorbenen Männ-
chen zu dem der abgestorbenen Weibchen in jedem der aufeinander-
folgenden Zeitabschnitte immer mehr zuungunsten der Männchen
verschiebt, statt, wie es der. Fall ıst, annähernd konstant zu bleiben.
Es liegt eben eine Todesursache vor, die beide Geschlechter trifft,
nur daß das männliche viel härter mitgenommen wird.
®
Die Tabelle 6 und die Kurven der Fig. 2 geben nur das kurze
Stück der Absterbeordnung der Trinia glauca wieder, das, zwischen
dem Anfang Mai und der Mitte Juni liegend, die Blütezeit umfaßt
und bei Herbstaussaat etwa !/,,, bei Frühjahrsaussaat etwa !/,, der
gesamten Lebenszeit ausmacht.
Das weitere Verhalten ıst klar: Die letzten 6% Männchen
gehen auch noch zugrunde, und mit dem Reifen der Früchte
sterben auch die Weibchen ab. Immerhin sinkt ihre Kurve nicht
plötzlich, infolge der deutlich individuell ungleichzeitigen Reife.
Genauer wurde das nicht verfolgt, um das sonst unvermeidliche
starke Aussamen zu vermeiden.
Nicht so einfach ist der Verlauf der Kurven vor der ersten
Aufnahme am 3. Mai anzugeben.’ Eine direkte Bestimmung für
den ganzen Abschnitt ist ausgeschlossen, da das Geschlecht ja noch
nicht erkennbar ist. Immerhin hätten sich die Kurven wohl noch
ein kleines Stück weit rückwärts mit Hilfe der mikroskopischen
Untersuchung der Knospen verfolgen lassen.
Sicher ist zunächst, daß die Kurven vor der ersten Aufnahme
noch eine Zeitlang in der gleichen Richtung verlaufen und zusam-
menstoßen. Denn wir konnten am 3. Mai ja für die lebenden und
toten Pflanzen zusammen das Geschlechtsverhältnis 1:1 feststellen
(S. 113). Es läge nahe, anzunehmen, daß auch schon vorher, vor
Beginn der Blütezeit, die Sterblichkeit der Männchen größer. ge-
wesen sei, als die der Weibchen, daß sich also die Kurve der
Männchen nach links wenigstens eine Zeitlang auch noch über
den Schnittpunkt hinaus in derselben ansteigenden Richtung fort-
_
©. Correns, Die Absterbeordnung der beiden Geschlechter etc. 117
setze. Das würde dann zu der Annahme zwingen, das Geschlechts-
verhältnis sei vor der Blütezeit zugunsten der Männchen ver-
schoben. Mit Hilfe der räumlich ungleich verteilten Sterblichkeit
läßt sich jedoch zeigen, daß das nicht der Fall ist.
Wir können die Zeit vor der ersten Aufnahme in zwei Ab-
schnitte zerlegen, einen ersten, vom Pikieren der Sämlinge in die
Kisten bis zum Auspflanzen ins Freie, und einen zweiten, vom
Auspflanzen bis kurz vor der ersten Aufnahme.
Was zunächst diesen zweiten Abschnitt angeht, so läßt sich
sicher zeigen, daß in ihm, als Ganzes genommen, männliche und
weibliche Pflanzen gleichmäßig eingegangen sein müssen. Ermög-
licht wird das dadurch, daß sich das Absterben nicht gleichmäßig
über die einzelnen Versuche und Beete erstreckte, sondern daß
hier mehr, dort weniger Pflanzen eingegangen waren. Würde das
männliche Geschlecht auch in diesem Abschnitt der Entwicklung
eine größere Sterbeziffer besessen haben, als das weibliche, so
müßten an den Stellen der Beete, die viel Lücken aufweisen, relativ
mehr Weibchen vorhanden sein, als an den noch dicht besetzten
Stellen.
Es ıst das eigentlich ohne weiteres klar; doch will ich ein
fingiertes Zahlenbeispiel geben. Wir nehmen zwei gleichgroße
Gruppen, A und B, von zunächst gleich viel Männchen und Weib-
chen an. Jede mag aus 2000 Individuen bestehen. Die Sterblich-
keit der Männchen soll größer sein, als die der Weibchen, so
daß auf ein Weibchen immer vier Männchen eingehen; außerdem
soll die Sterblichkeit überhaupt aber auch in den beiden Gruppen
ungleich sein und in der Gruppe A nur 10%, in der Gruppe B
dagegen 50% betragen. Dann sind nach Ablauf der Zeiteinheit
in der Gruppe A noch 1800 Individuen am Leben; die 200 abge-
storbenen setzen sich aus 40 Weibehen und 160 Männchen zu-
sammen. Es leben also noch (1000—40=)960 Weibchen und
1000-—160—=)8340 Männchen; das direkt bestimmbare Geschlechts-
verhältnis ist 960 0:840g oder 55%, 9:47%,d. In der zweiten
Gruppe, B, sind nach der gleichen Zeit nur noch 1000 Individuen
am Leben; die 1000 abgestorbenen bestehen aus 200 Weibchen
und 800 Männchen. Folglich sind noch (1000—200=)800 Weibchen
und 1000—800=)200 Männchen vorhanden; das direkt bestimm-
bare Geschlechtsverhältnis ist 800 0:200 9 oder 0% 2:20 %d.
Wie schon erwähnt waren bei unseren Versuchen die Säm-
linge in Reihen zu 5 und 4 ım Verband ausgepflanzt worden. Von
diesen Reihen wurden nun zunächst immer je 10 aufeinanderfol-
sende zusammengefaßt. Jede dieser Dekaden hatte beim Aus-
pflanzen 45 Individuen enthalten (5-4—4+-5-5); durch das Absterben
waren aber 42 bis 18 Pflanzen daraus geworden. Die verhältnis
mäßig wenigen Trotzer (etwa 4%) sind nicht mit gezählt. Die
% 12 DE AL MEIN. a ” j
148 ©. Correns, Die Absterbeordnung der beiden Geschlechter etc.
letzten sechs Reihen sind weggelassen; die Gesamtzahl, 2259, ist des-
halb um 17 kleiner als in Tabelle 5.
Ich habe nun die 73 Dekaden nach der Tu an-
steigend geordnet und sie dann in acht Gruppen zusammengefaßt,
von denen die erste die 10 ärmsten Dekaden umfaßt, die folgenden,
immer individuenreicheren Gruppen je 9 Dekaden. Auf die einzelnen
Versuche ist dabei keine Rücksicht genommen worden, was ja er-
laubt ıst, da sich, wie wir schon sahen, bei allen dasselbe Ge-
schlechtsverhältnis herausgestellt hatte (S. 113, Tabelle 5).
In Tabelle 8 ist nun das Geschlechtsverhältnis der einzelnen
Dekadengruppen zusammengestellt, wie es sich aus den Original-
aufnahmen ergibt.
Tabelle 8.
Tag | = em
| Ss © O5 ü
ER EEE Diffe- | 388
Dekaden = 58 ES e eek; Ve ae
a8 Sesam y| Oo | SZ (ging BE
Gruppe ag sag as 0 °| von |88%
=: | = ._
as Boss: oe] nme3 | 49,58 =
rs ES gro
air Sa Il H =
I 18—23| 450 ı 210 | 46,7 | 101 | 109 151,41 |+1,83| 3,45
II 23-24| 405 | 211 | 53,0 50,24 |-+.0,67| 3,44
III 25-226 |:.405 1. 230.1.56,8. 1..1184..112.|48,70 | 2.088). 3,37
IV 127—30| 405 | 256 | 632 | 126 | 130 150,78 |+-1,20| 3,12
I—IV |18—30| 1665 | 907 | 55,99] 450 | 457.| 50,39 |-+ 0,81 | 1,66
-
oO
oO
—
SS
(op)
Arme
Reihen-Dekaden Reihen-Dekaden!
| .v..131-85| 405 | 298 | 73,6. | 146 | 152 [51,01 +1,43 | :2,90
| VIE 185-381 405 | 328 | 81,0 | 177 | 151.|46,04 | 3,00 2,76
| VII 1/3841). 405 | 351 186,7.| 173.| 178 |50,71|41,18| 2,67
VII |41-42| 405 | 375 | 928,6 | 193 | 182 |48,53 |—1,05| 2,58
v—vıı 3142| 1620 | 1352 | 83,46] 689 | 663 [49,04 | 0,54| 1,36
zusammen | 3285 | 2259 Br 1139 | 1120 4958 | +0 | 1,11
|
I
Reiche
Man sieht, daß es gar keinen merklichen Einfluß auf das Ge-
schlechtsverhältnis der Überlebenden hat, ob von den ausgepflanzten
Sämlingen mehr als die Hälfte (I, 53,3 %,) oder noch nicht ein Zehntel
(VIII, 7,4%) zugrunde gegangen sind. Die Abweichungen, die die
einzelnen Dekadengruppen von dem Mittelwerte — 49,58%, Männ-
chen — zeigen, liegen stets innerhalb’ der Fehlergrenzen; meist
sind sie sogar auffallend gering.
Für den vorangehenden Zeitraum, zwischen dem Pikieren und
dem Auspflanzen der Sämlinge, gilt zweifellos das gleiche, wenn
man ıhn als Ganzes nimmt; auch hier war die Sterblichkeit der
beiden Geschlechter annähernd gleich groß. Leider sind durch
einen Zufall die genauen Zahlen der Sämlinge, die bei den einzelnen
acht Versuchen pikiert wurden, zum Teil verloren gegangen. Es
RN RR EN IR: RE RUE TORE
Ö. Öorrens, Die Absterbeordnung der beiden Geschlechter etc. 119
waren aber von allen soweit möglich gleichviel Sämlinge aus den
Saatschalen genommen worden, durchschnittlich 700. Wenn nun
von Versueh 5 nur 338 und von Versuch 8 nur 352 Individuen
ausgepflanzt werden konnten, von Versuch 7 dagegen 600 und von
Versuch 6 sogar 663, und das Geschlechtsverhältnis später doch
bei allen gleich gefunden wurde, so geht daraus eben hervor, daß
auch auf diesem frühen Stadium Männchen und Weibchen den
Schädigungen gegenüber gleich resistent waren.
Die Ursachen, die das Absterben der ausgepflanzten Sämlinge
vor der Blütezeit bedingten, trafen also die beiden Ge-
schleehter ganz gleichmäßig; die Männchen erwiesen sich
ihnen gegenüber nicht empfindlicher als die Weibchen. (Es kann
das natürlich nur für den Zeitraum als Ganzes gelten; in seinen
einzelnen Abschnitten mag ein verschiedenes Verhalten der Ge-
schlechter vorgekommen sein, das sich dann aber gerade gegen-
_ seitig kompensiert haben müßte).
Das Verhalten steht ım auffallendsten Gegensatz zu dem kurz
vor und während der Blütezeit. Er könnte entweder darauf be-
ruhen, daß in den beiden Lebensabschnitten die äußeren Ursachen
andere sind, oder darauf, daß sich mit dem Eintritt der Blütezeit
bei gleichen äußeren Eingriffen die höhere Empfindlichkeit der
Männchen erst einstellt, vielleicht im Zusammenhang mit den stoff-
lichen Änderungen, die mit dem Herannahen des natürlichen Ab-
sterbens nach Erfüllung der Funktion als Pollenlieferanten ver-
bunden sind.
Jede dieser Annahmen hat etwas für sich; eine Entscheidung
kann ich zurzeit nicht treffen. Am wahrscheinlichsten ist, daß die
Hauptrolle den Altersveränderungen zuzuschreiben ist. Nach den
wenigen Beobachtungen, die mir für das Absterben der Weibchen
vorliegen, hört ja auch bei ihnen mit der Fruchtreife die bisherige
starke Resistenz gegen die Erkrankung auf und macht einer min-
destens sehr deutlich gesteigerten Empfänglichkeit Platz.
In Fig. 3 sind versuchsweise die Kurven der Überlebenden
beiderlei Geschlechts für Trinia gezeichnet. Genau bestimmt in
ihrem Verlauf sind immer qur die kurzen, voll ausgezogenen Stücke;
von den langen Abschnitten vorher sind ja nur je zwei Punkte
festgelegt, und der geradlinige Verlauf dazwischen bloß angenommen
und deshalb nicht voll ausgezogen. Noch unsicherer sind die nur
punktiert angegebenen Enden der Kurven. Zum Vergleich ist die
Kurve der Überlebenden für das weibliche Geschlecht beim Men-
schen eingezeichnet, um ihren ganz abweichenden Verlauf zu zeigen.
Auch die ganze Kurve der Sterbenswahrscheinlichkeit der Trinza-
Männchen, bezogen auf die gleich 100 gesetzte der Weibchen, unter-
scheidet sich, wie die Teilkurve für die Blütezeit, wesentlich von
der für das männliche Geschlecht beim Menschen, wie sie in Fig. 1
ee SI ea N > ee El SEN BIER N, er
120 ©. Correns, Die Absterbeordnung der beiden Geschlechter ete.
dargestellt wurde. Für Trinia verläuft sie stets annähernd parallel
der Abszissenachse, mit der sie sich zunächst ungefähr deckt, und
macht nur mit Beginn der Blütezeit einen großen Sprung nach
oben, schneidet sie dagegen, so viel wir wissen, nicht oder höchstens
ganz am Ende der Entwicklung, sieht also etwa so
aus. Schuld an diesem verschiedenen Verhalten ist gewiß die un-
gleich hohe Organisation der verglichenen Organismen, und die
damit zusammenhängende verschiedene, ungleich starke und un-
gleich komplizierte Reaktionsfähigkeit.
TOO =
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1916 21917, 1918
Fig. 3. Trinia glauca. Kurve der Überlebenden des männlichen. und weiblichen
(teschlechtes während des ganzen Lebens. Zum Vergleich ist auch die Absterbe-
ordnung (Kurve der Uberlebenden) für das weibliche Geschlecht beim Menschen
gegeben; von 5 zu 5 Jahren ist ein Punkt eingetragen. Näheres im Text.
Meine Ergebnisse gewann ich an Material, das von einem
Weibchen stammte. Wie sich andere Populationen, und wie sich
vor allem Freilandpflanzen verhalten, muß ich dahingestellt sein
lassen. Der Fäulniserreger ist jedenfalls weit verbreitet und nicht
auf Trinia spezialisiert, da er sich ın Münster ı. W. und ın Dahlem
eingestellt hat, an zwei Orten, wo Trinia weder wild vorkommt
noch kultiviert wurde. Daß er irgendwie mit den Früchten über-
tragen wird, halte ich für ausgeschlossen. A. Schulz gibt an, daß
Männchen und Weibchen in ungefähr gleicher Zahl vorkommen,
was mit unserem Ergebnis für die Zeit vor Beginn der Blüte
stimmt. Die Beobachtungen wurden bei Bozen gemacht; die ge-
nauen Zahlen sind, wie mir Herr Kollege Schulz freundlichst mit-
teilte, nicht mehr vorhanden. Möglich, daß die Krankheit und da-
mit das vorzeitige Absterben der Männchen nur an manchen Stand-
orten auftritt. Der Boden ıst in Münster und ın Dahlem kalkarm,
während Trinia ım Freien Kalkboden entschieden bevorzugt (J. Bri-
quet, in Schinz und Keller, 1900, S. 359).
121
Es sınd das Fragen, deren Beantwortung ich anderen über-
lassen muß, die die Pflanze in größerer Menge im Freien beob-
achten können.
Zusammenfassung.
Das Geschlechtsverhältnis der zweijährigen, getrenntgeschlech-
tigen Doldenpflanze Trinia ylauca ist kurz vor Beginn der Blüte-
zeit fast genau 1:1. Vorher ist die Sterblichkeit der Männchen
und Weibchen gleichgroß, wie sich mit Hilfe der räumlich un-
gleichen Verteilung des Absterbens zeigen läßt.
Mit Beginn der Blütezeit gehen nach und nach fast alle Männ-
chen durch Abfaulen am Wurzelkopf ein, meist lange vor dem
Abblühen, oft schon ım Knospenzustand, während nur einzelne
Weibchen ergriffen werden. Auf ein Weibchen, das zugrunde geht,
kommen ungefähr 19 absterbende Männchen; dies Verhältnis, 19:19,
bleibt während der ganzen Blütezeit sehr annähernd das gleiche.
Das Eingehen hängt nur insoweit mit der Erfüllung der Funktion
der Männchen zusammen, als die damit verbundenen stofflichen
Veränderungen eine große Empfänglichkeit gegen die Infektion be-
dingen, wie sie zur Zeit der Fruchtreife auch die Weibchen auf
einmal, zum mindesten wesentlich gesteigert, zeigen.
Es ıst kein Anzeichen vorhanden, daß bei Trinia die Sterbens-
wahrscheinlichkeit beim weiblichen Geschlecht, wie beim Menschen,
auf bestimmten Entwicklungsstadien größer ist als beim männlichen.
Eine auffallend größere Sterblichkeit der Männchen läßt sich
weder beim Hanf (nach fremden Beobachtungen) noch bei Melan-
drium (nach eigenen) sicher nachweisen. Bei ersterer Pflanze ist
vielleicht rascheres Keimen der Männchen an den gemachten An-
gaben schuld.
4. Dezember 1918. |
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‚Jena. /
Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen.
Von K. v. Frisch, München.
In einer kürzlich erschienenen Abhandlung hat C. v. Heß (12)
meine Versuche über den Farbensinn der Bienen in einer- Weise
angegriffen, die ich nicht stillschweigend hinnehmen kann.
Sehr ungern entschließe ich mich zu dieser Auseinandersetzung
rein polemischer Natur. Neue Versuche habe ich nicht mitzu-
teilen. Zu solchen liegt kein Anlaß vor. Denn v. Heß bringt
keinen einzigen Einwand, der durch eine gewisse Berechtigung
zu einer Wiederholung oder Modifikation meiner Versuche her-
ausfordern würde. Und doch kann ein Leser seiner Schrift, wenn
er nicht gleichzeitig meine Arbeit über den Farbensinn und Formen-
sinn der Biene (6) vornimmt und Seite für Seite vergleicht, was
ich tatsächlich gefunden habe und wie es v. Heß darstellt, den
Eindruck gewinnen, als wären mir grobe Versuchsfehler u
laufen und als wären meine Schlußfolgerungen nicht gerechtfertigt.
Wie es ihm gelingen kann, diesen Eindruck zu erwecken, sollen
die folgenden Zeilen klar machen.
Ich weiß, daß ich v. Heß nicht überzeugen werde. Ich habe
es schon bei irnherer Gelegenheit erfahren, daß er Tatsachen, die
mit seiner Überzeugung eh vereinbar Sad, einfach in Abrede
stellt. Aber vielleicht kann ich durch meine Ausführungen manchen
Leser, der die Frage nach einem Farbensinn der Biene noch für.
unentschieden hält, dazu veranlassen, daß er die von C. v. Heß
und von mir publizierten Versuche: aufmerksam vergleicht. Er
wird dann finden, daß nicht das tatsächliche Ergebnis, zu welchem
v. Heß in seinen langjährigen Untersuchungen immer wieder ge-
führt wurde, sondern nur seine Deutung desselben mit den von
.mir gefundenen Tatsachen in schroffem Widerspruche steht.
PORT HERRG ERNNEENIE EIN 0 RENDITEN TEN 227 DRDAND SET RT ER LE ET TREE nt
K. v. Frisch, Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen. 125
Um das Folgende verständlich zu machen, wird es gut sein,
wenn ich zunächst das Wesentliche der v. Heß’schen und meiner
Beweisführung in Erinnerung bringe.
v. Heß knüpft an die Tatsache an, daß die Helligkeitsver-
teilung im Spektrum für das normale, farbentüchtige Menschen-
auge eine andere ist als für das total farbenblinde Menschenauge.
Während dem farbentüchtigen Menschenauge das Spektrum ım
Gelb am hellsten erscheint, ist für den total Farbenblinden die
hellste Stelle nach dem Gelbgrün bis Grün verschoben, ferner
ist für den total farbenblinden Menschen das Spektrum an seinem
langwelligen Ende verkürzt. Man kann die relativen Helligkeiten
aller Farben messend bestimmen und erhält so für das farben-
tüchtige Menschenauge eine Kurve der Helligkeitsverteillung ım
Spektrum, die von der entsprechenden Kurve für das total farben-
blinde Menschenauge in charakteristischer Weise verschieden ist.
v. Heß trachtete an zahlreichen Tierarten durch sinnreiche Ver-
suchsanordnungen, insbesondere unter Benützung der phototak-
tischen Reaktionen, die Helligkeitsverteilung im Spektrum festzu-
stellen und fand bei den Fischen und bei allen von ihm untersuchten
wirbellosen Tieren (darunter Bienen) die für den total farben-
blinden Menschen charakteristische Verkürzung des Spektrums am
langwelligen Ende und die Verschiebung der hellsten Stelle nach
dem Gelbgrün bis Grün. Durch messende Bestimmungen gelangte
er für die genannten Tiere zu einer Kurve der Helligkeitsverteilung
in Spektrum, welche mit der entsprechenden Kurve für das total
farbenblinde Menschenauge auffällig übereinstimmt. Er schloß
daraus, daß diese Tiere total farbenblind seien.
Ich habe die Überzeugung geäußert, daß der Schluß nicht
zwingend sei. Wenn für den total farbenblinden Menschen eine
bestimmte Helligkeitsverteilung im Spektrum charakteristisch ist,
muß nicht jedes Wesen, für welches die gieiche Kurve der
. Helligkeitsverteilung gilt, total farbenblind sein. v. Heß sucht
zwar diese Ansicht bloßzustellen, indem er sagt, ich hätte es als
unzulässigen Analogieschluß bezeichnet, daß er „ein Wesen, das
die Merkmale der totalen Farbenblindheit zeigt, als total farben-
blind betrachte“ (12, p. 345). v. Heß hat aber nicht gefunden, daß
die betreffenden Wesen die Merkmale der totalen Farbenblind-
heit, sondern daß sie ein Merkmal der totalen Farbenblind-
heit des Menschen zeigen, nämlich die für den total farbenblinden
Menschen charakteristische Helligkeitsverteilung ım Spektrum!).
1) v. Heß betont besonders das Fehlen des Purkinje’schen Phänomenes
bei den Bienen und anderen wirbellosen Tieren. Dies kann aber nur als spezielles
Beispiel für die Übereinstimmung des Helligkeitssinnes jener Tiere mit dem des
total farbenblinden Menschen, und nicht als gesondertes Argument betrachtet werden.
9%
194 K. v. Frisch, Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen.
Als das wesentliche Merkmal totaler Farbenblindheit kann nicht
gelten, daß die Farben in einer bestimmten relativen Helligkeit
erscheinen, sondern daß die Farben nur nach ihrer Helligkeit,
nicht nach ihrer Qualität unterschieden werden (vgl. meine Aus-
führungen [6] p. 8).
Es ist bemerkenswert, daß v. Heß in seiner ersten Mitteilung
über den Lichtsinn bei Fischen (7) seine Schlußfolgerungen wesent-
lich vorsichtiger formuliert hat als später. Er schreibt dort (p. 35):
„Alle von uns bisher ermittelten Tatsachen würden gut in Einklang
stehen mit der Annahme, daß die untersuchten Fische total farben-
blind seien, ja, nach einer solehen Annahme hätte man das tat-
sächlich gefundene Verhalten in allen Einzelheiten voraussagen
können. Ein bei ihnen etwa doch vorhandener Farbensinn müßte
jedenfalls mindestens hinsichtlich der Helligkeitsverhältnisse der
von ihnen gesehenen Farben wesentlich anders geartet sein als
der menschliche.“ In seinen zahlreichen späteren Arbeiten hat er
seine Versuche auf wirbellose Tiere ausgedehnt und die Unter-
suchungsmethoden vervollkommnet. Die tatsächliche Grundlage
seiner Schlußfolgerungen aber bleibt dieselbe?): Die UÜbereinstim-
mung des Helligkeitssinnes jener Tiere mit dem des total farben-
blinden Menschen. Trotzdem weist er später jene Möglichkeit schroff
zurück, die er selbst ın den oben zitierten Sätzen zugegeben hat:
daß jene Tiere einen Farbensinn haben, der hinsichtlich der Hellig-
keitsverhältnisse anders geartet ist als der menschliche. Er meint
jetzt den „objektiven Nachweis der totalen Farbenblindheit der
Bienen“ erbracht zu haben, indem er zeigt, daß die Helligkeits-
werte der Farben für die Bienen die gleichen sind wie für den
total farbenblinden Menschen (10, p. 307 ff.).
Da für mich diese Schlußfolgerung nicht überzeugend war,
suchte ich die Frage nach einem Farbensinn der Biene auf andere
Weise zu entscheiden. Ich ging von folgender Überlegung aus:
„Ist ein Tier total farbenblind, so sieht es eine Farbe, sagen wir
ein Gelb, genau so wie ein Grau von bestimmter Helligkeit. In
einer Serie grauer Papiere, welche in hinreichend feinen Hellig-
keitsabstufungen von Weiß bis zu Schwarz führt, muß also ein
Grau enthalten sein, welches für das Tier mit dem Gelb identisch
ist. Wenn man ihm nun ein gelbes. Blatt in einer solchen Serie
grauer Blätter von gleicher Form, Größe und Oberflächenbeschaffen-
heit vorlegt, so kann es das gelbe Blatt nicht mit Sicherheit her-
ausfinden, es muß dasselbe mindestens mit einem der grauen
Denn wenn für ein Tier, so wie für den total farbenblinden Menschen, die Farben
bei jedem Adaptationszustand denselben relativen Helligkeitswert haben, können wir
kein Purkinje’sches Phänomen erwarten.
2) Von seinen mißglückten Dressurversuchen sehe ich hier ab, Ich komme
später auf sie zu sprechen.
a a A I a
et a A ee Pe 4
hr IR HP an
K. v. Frisch, Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen. 125
' Blätter verwechseln. Man muß nur das Tier veranlassen, nach
der gewünschten Farbe zu suchen, und dies geschieht am ein-
fachsten durch Dressur mit Hilfe von Futter“ (6, p. 10).
Ich habe nun Bienen auf verschiedentliche Farben dressiert
und nachgewiesen, daß sie Orangerot, Gelb, ‘ein gelbliches Grün,
Blau, Violett, Purpurrot mit Sicherheit von allen Grauabstufungen
unterscheiden. Sie haben somit Farbensinn.
Ich konnte aber auch zeigen, daß sie ein Rot, wie es auf
Taf. 5 meiner Arbeit (6) unter Nr. 1 aufgeklebt ıst, mit Schwarz,
daß sıe Blaugrün (Taf. 5, Nr. 10 und 11) mit Grau verwechseln;
daß sie ferner innerhalb der „warmen“ und „kalten“ Farben zu
einer Unterscheidung der Farbenabstufungen nicht befähigt sind,
daß sie einerseits Orangerot mit Gelb und Grün, anderseits Blau
mit Violett und Purpurrot verwechseln. „Das Verhalten der
Bienen ..... erinnert sehr an die Symptome, die für rot-grünblinde
Menschen, und zwar für die Protanopen .... charakteristisch sind“
(6, p. 42).
Dies mag genügen, um die Art meiner Versuche in Erinnerung
zu bringen. Alles Nähere, insbesondere die Einzelheiten der Ver-
suchsanordnung und die Widerlegung verschiedener Einwände,
findet man in meiner Abhandlung (6) ausführlich dargestellt.
Ich habe nicht die Absicht, auf all die Wendungen und Redens-
arten der v. Heß’schen Schrift einzugehen, die mein Verhalten
und meine Äußerungen in ein falsches Licht setzen. Ich will mich
vielmehr, um diese Auseinandersetzung nicht länger zu gestalten,
als im Interesse der Sache notwendig ist, auf die für die Beweis-
“führung wesentlichen Punkte beschränken. Eines möchte ich aber
doch richtigstellen, bevor ich auf die sachlichen Einwände zu
sprechen komme. v. Heß schrieb von mir schon 1913 (9, p. 85):
„Er schließt sich zwar hinsichtlich des Rot bereits durchaus meiner
Darstellung an...“ und gebraucht in seinen neuesten Publi-
kationen (12, p. 347; vgl. auch 11, p. 411) die Wendung, daß ich
für die Bienen „bereits Rot-Grünblindheit zugegeben“ hätte. Es
erweckt dies den Eindruck, als hätte ich einen Teil meiner früheren
Angaben zurückgezogen. Das trifft nicht zu. Ich habe niemals
behauptet oder auch nur als wahrscheinlich hingestellt, daß der
Farbensinn der Biene mit dem des normalen, farbentüchtigen
Menschen übereinstimme.
Seine sachlichen Einwände beginnt v. Heß mit der über-
raschenden Behauptung, meine Protokolle zeigen, daß die Bienen
„sattes Blau und Gelb nicht von Grau, also auch Blau nicht
von Gelb unterscheiden können“ (12, p. 347).
TURION, 1 20 EN TS Meat ae aha Me dB ds ALT alas an Ca an El Ah 2
EL KERN BG 2 h
{ r } t v; Nm FERN ar,
126 K. v. Frisch, Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen.
Ich frage v. Heß zunächst, wie er diese Behauptung aufstellen
kann, nachdem er aus meinen Protokollen ersehen mußte, daß die
auf Gelb dressierten Bienen bei allen 7 Versuchen?), bei welchen
ihnen ein gelbes Papier in der gesamten Grauserie vorgelegt wurde,
das Gelb herausgefunden und von allen Grauabstufungen unter-
schieden haben, daß ferner die auf Blau dressierten Bienen beı
allen15 Versuchen), bei welchen ihnen ein blaues Papier in
der gesamten Grauserie vorgelegt wurde, das Blau herausgefunden
und von allen Grauabstufungen unterschieden haben, daß ferner |
die auf Gelb dressierten Bienen bei allen 8 Versuchen’), bei
welchen ihnen die gesamte Farbenserie vorgelegt wurde, die
gelben Papiere gegenüber den blauen und purpurfarbigen in über-
wältigender Mehrheit besuchten, daß schließlich die auf Blau dres-
sierten Bienen bei den 26 Versuchen®), bei welchen, ıhnen die
gesamte Farben-Serie vorgelegt wurde, ın 25 Fällen die blauen
und purpurfarbigen Papiere ebenso entschieden gegenüber den
gelben bevorzugten (nur in einem Falle wurde ein gelbes Papier
relatıv stark besucht, diese Ausnahme war durch dıe näheren Um-
stände leicht erklärlich, vgl. unten S. 132)?).
v. Heß übergeht denn auch diese Tatsachen mit Stillschweigen
und schlägt einen beträchtlichen Umweg ein, um seine Behauptung
zu begründen. Um aus meinen Protokollen nachzuweisen, daß die
Bienen Blau und Gelb nicht von Grau unterschieden hätten, sieht
3) Vel. (6), p- 12—14 (3 Versuche), p. 26 (1 Versuch), ferner Tabelle 36—38.
4) Vgl. (6), p. 14 (1 Vers.), p. 23ff. (2°”Vers.), p. 26ff. (2. Vers), ferner
Tabelle 84, 88—91, 96, 102, 104, 111, 112.
5) Vel. (6), Tabelle 36—43.
6) Vgl. (6), Tabelle 81—83, 85 —94, 105—110, 113—119. +
7) v. Heß will, wie aus seiner Anm. 2, p. 353 (12) hervorgeht, alle jene
Versuche nieht gelten lassen, bei welchen die Farben nicht unter Glas dargeboten
wurden und bei welchen daher ein etwaiger Einfluß eines (für uns nicht währnehm-
baren) Duftes der farbigen Papiere nicht ausgeschaltet war. Dazu ist zu be-
merken: Erstens: Bei den oben erwähnten Versuchen wurden — eben mit Rück-
sicht auf die Möglichkeit eines solchen Einflusses — in 18 Fällen die Papiere unter
Glas dargeboten. Die eindeutigen Resultate dieser 13 Versuche allein würden ge-
nügen, um das zu beweisen, was v. Heß nicht zugeben will. Zweitens: Sehr
häufig, z. B. auch bei meiner Freiburger und Münchner Demonstration der Versuche
(vgl. [5]. ferner [6] p. 22#f., p. 27 ff. ete.) bin ich so vorgegangen, daß ich die Bienen
auf ein unbedecektes farbiges Papier dressierte und dann unmittelbar vor
Versuchsbeginn alle Papiere mit einer Glasplatte bedeckte. Wenn der Dressur-
erfolg bei Verwendung unbedeckter Papiere auf einen Duft der Dressurfarbe zurück-
zuführen ist, so muß dieser Erfolg natürlich ausbleiben, sobald vor Versuchsbeginn
eine Glasplatte über die Papiere gedeckt wird. Der Erfolg ist aber unter diesen
Umständen genau derselbe wie in jenen Fällen, wo keine Glasplatte über die Papiere
gedeckt wird. Das Erkennen der Dressurfarbe von seiten der Bienen
ist daher nicht auf einen dem farbigen Papier anhaftenden Duft
zurückzuführen, und darum sind auch die ohne Anwendung von Glas
durchgeführten Versuche verwertbar. Ich dachte, daß dies aus meiner
früheren Darstellung (6, p. 22—27) deutlich genug hervorgeht,
427
er nicht in den Protokollen nach, ob die Bienen tatsächlich Blau
und Gelb von ‚Grau unterschieden haben, sondern macht Versuche
am rotblinden Menschen nach der Methode der Kreiselgleich-
ungen. Er trägt dadurch Verwirrung in an sich klare Fragen und
es ist nicht meine Schuld, wenn ich nun einen beträchtlichen Raum
beanspruchen muss, um seine Ausführungen zu widerlegen.
v. Hess macht die Versuche am Rotblinden in Hinblick auf
meine Angabe, der Farbensinn der Biene zeige in allen wesentlichen
Punkten Übereinstimmung mit dem eines rotblinden (protanopen)
Menschen.
‚ Er befestigt auf einem Farbenkreisel eine kleine Scheibe des
purpurroten Papieres, welches die Bienen mit Blau verwechselt
haben. Dahinter bringt er drei größere, radıär aufgeschlitzte und
ineinandergesteckte Scheiben von mattschwarzem, mattweißem und
sattblauem Papier an und variiert die Größe der Sektoren dieser
Scheiben solange, bis beim Rotieren des Kreisels für den rotblinden
Menschen eine genaue Gleichung zwischen dem Purpurrot der
inneren Scheibe und dem weißlichen Blau des äußeren Ringes ent-
steht. Er findet:
360° Bläulichrot — 27° Blau + 28° Weiß — 305° Schwarz.
Dann wählt er zu einem analogen Versuch statt des purpur-
roten Papieres das blaugrüne Papier, welches den Bienen nach
meinen Versuchen farblos grau erscheint®). Er findet:
360° Blaugrün — 82° Blau + 89° Weiß + 189° Schwarz.
Resultat: Während dıe Bienen ein gewisses Blaugrün mit
‚Grau, Purpurrot aber mit Blau verwechselt haben, sieht der rot-
blinde Mensch das betreffende Blaugrün gesättigter blau als das
Purpurrot, |
„Die Bienen sollen also ein sehr ungesättigtes, weißliches bezw.
grauliches Blau’) von Grau scharf unterscheiden, während sie es
mit einem sehr gesättigten Blau „völlig verwechseln“; dagegen soll
ein gesättigteres, schöneres Blau!) für sie mit diesem Blau keine
Ähnlichkeit haben, obschon sie es mit dem ihm viel weniger ähn-
lichen Grau verwechseln. Das ist natürlich ein Unding.“
Durch weitere entsprechende Versuche findet er, daß jenes.Rot,
welches die Bienen mit Schwarz verwechselt haben, dem rotblinden
Menschen deutlicher gelb erscheint als jenes grasgrüne Papier,
welches die Bienen mit Gelb verwechselt haben.
„Auch hier haben also in v. Frisch’s „Dressur“versuchen
8) Ich habe für die zwei blaugrünen Papiere Nr. 10 und Nr. 11 der Hering'-
schen Farbenserie angegeben, daß sie die Bienen von Grau nicht unterscheiden lernen.
v. Hess sagt nicht, welches‘ der beiden Papiere er benützt hat.
9) NB.: Gemeint ist das Purpurrot.
10) NB.: Gemeint ist das Blaugrün.
BR RE FE TEL ER RT LEN N Naa Bt 3 T A E e
Ba a N as
128 K. v. Frisch, Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen.
die Bienen ein sehr ungesättigtes Gelb mit sattem Gelb, dagegen
ein beträchtlich gesättigteres Gelb mit Grau verwechselt.
„Wenn aber die Bienen einerseits ein weißliches Blau und Gelb
mit Grau und anderseits ein noch weißlicheres Blau bezw. Gelb
mit gesättigtem Blau bezw. Gelb verwechseln, so ist damit der
Beweis erbracht, daß sie auch sattes Blau und Gelb mit Grau und
somit auch sattes Blau mit sattem Gelb verwechseln“ (12, p. 348
bis 351).
Ich wıll im folgenden voraussetzen, daß die obigen Kreisel-
gleichungen für alle rotblinden (protanopen) Menschen zutreffen !!).
v. Heß scheint nicht zu bemerken, daß seine „Beweisführung“
nur dann berechtigt wäre, wenn ich behauptet hätte, daß der Farben-
sinn der Biene in allen Einzelheiten mit dem Farbensinn des
rotblinden Menschen übereinstimmt. Tatsächlich habe ıch mich
aber folgendermaßen ausgedrückt: „Das Verhalten der Bienen bei
den in diesem Kapitel geschilderten Versuchen erinnert sehr an
die Symptome, die für rot-grün-blinde Menschen, und zwar für die
Protanopen . ... charakteristisch sind“ (6, p. 42). Ich machte weiter-
11) Ich will aber auch nicht verhehlen, daß ich an einem rotblinden Menschen
zum Teil wesentlich andere Werte erhalten habe.
Herr Dr. J. Rosmanit in Wien, Chefarzt der Südbahn, gab mir Gelegen-
heit, den betreffenden Rotblinden zu untersuchen. Es sei ihm auch an dieser Stelle
bestens gedankt. Er hatte persönlich seinen Farbensinn geprüft und typische Prot-
anopie gefunden. i
Für das blaugrüne Papier (Blaugrün Nr. 11 der Hering’schen Farbenserie)
erhielt ich eine Gleichung, die mit jener, die v. Heß an seinem Rotblinden gefunden
hat, angenähert übereinstimmt. Die Blau-Anteile stimmen sogar genau überein.
Ich fand: f
360° Blaugrün — 82° Blau + 77° Weiß —+ 201° Schwarz.
Als ich aber neben dem purpurroten Papier auf dem Farbenkreisel, ent-
sprechend den Angaben von v. Heß, 27° Blau + 28° Weiß + 305° Schwarz mischte,
erklärte der Rotblinde, daß diese Mischung zu wenig blau sei (ich nehme an,
daß v. Heß bei diesem Versuch. ebenso wie ich, das Purpurrot Nr. 15 der Hering'-
schen Serie benützte, denn auf dieses bezieht sich meine von v. Heß zitierte
Angabe, daß es die Bienen mit Blau völlig verwechseln [6], p. 39). Ich erhielt bei
meinem Rotblinden die Gleichung:
360° Purpurrot = 106° Blau + 10° Weiß — 244° Schwarz.
Für das Rot Nr. 1 fand ich die Gleichung:
360° Rot = 24° Gelb + 336° Schwarz.
Hier stimmt wieder der Gelb- Anteil mit dem von v. Heß angegebenen Wert
genau überein. Das „grasgrüne“ Papier aber sah der von Heß untersuchte Rot-
blinde weniger deutlich gelb als das Rot (die Zahlenwerte gibt v. Heß nicht an),
während ich bei meinem Rotblinden die Gleichung erhielt:
360° „Grasgrün“ = 45° Gelb + 20° Weiß + 295° Schwarz.
Der von mir untersuchte Rotblinde sah also, im Gegensatze zu dem von
©. v. Heß untersuchten Rotblinden, das purpurrote Papier deutlicher blau als das
blaugrüne Papier, und er sah das „Grasgrün“ deutlicher gelb als das Rot. Schon
daraus geht hervor, wie wenig solche Untersuchungen die Frage nach dem Farben-
sinn der Bienen fördern können.
A N a A er Fe Er na
ELITE RS NR NETT,
RE RE 2 \
7}
K. v. Frisch, Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen. 129
hin darauf aufmerksam, daß die Untersuchung eines rotblinden
Menschen, dem ich die farbigen Papiere vorlegte, gewisse Unter-
schiede zwischen seinem Farbensinn und dem der Biene erkennen
ließ. „Es bestehen also wohl gewisse Differenzen zwischen dem
Farbensinn der Biene und dem eines Protanopen; in allen wesent-
lichen Punkten aber herrscht, wie man sieht, Übereinstimmung“
(6, p- 43).
Nur die zweite Hälfte des letzten Satzes erwähnt v. Heß
(i2, p. 348), die erste Hälfte und den vorher zitierten Satz erwähnt
er nicht.
Er verschweigt also, daß ich selbst das Bestehen gewisser
Differenzen zwischen dem Farbensinn der Biene und dem des rot-
blinden Menschen ausdrücklich betont habe. Er verschweigt, daß
ich auf die Differenzen eben der Art hingewiesen habe, wie er
sie durch die Methode der Kreiselgleichungen findet. Ich habe er-
wähnt, daß jenes Rot, welches die Bienen mit Schwarz verwechselt
haben, von einem rotblinden Menschen unter den gleichen Bedin-
gungen als „Rot“ erkannt und von Schwarz unterschieden zu werden
pflegt (6, p. 43, Anm.). Ich habe ferner erwähnt, daß das Blau-
grün Nr. 11, welches von den Bienen mit Grau verwechelt wurde,
dem rotblinden Menschen deutlich bläulich erschien (6, p. 43).
Ich habe mich in meiner Abhandlung auf die Deutung dieser
Verhältnisse nicht eingelassen, sondern mich damit begnügt, auf
das Bestehen gewisser Differenzen hinzuweisen. Nun sei aber doch
erwähnt, daß sie eine einfache Erklärung. finden, wenn man an-
nımmt, daß für die Bienen das Spektrum am langwelligen Ende
stärker verkürzt ist als für den rotblinden Menschen und daß für
die Biene die „neutrale Zone“ im Blaugrün etwas näher dem Blau
liegt als beim rotblinden Menschen. Dann werden die Differenzen,
auf die v. Heß so großes Gewicht legt, ohne weiteres verständlich.
Ein Rot, welches für die Bienen von Schwarz nicht zu unterscheiden
ist, kann für den rotblinden Menschen schon deutlich gelblich sein.
Das „Grasgrün*, welches die Biene mit Gelb verwechselt, erscheint
dem rotblinden Menschen weniger deutlich gelb, wenn dieser Farb-
ton für ihn näher dem neutralen Grau liegt als für die Biene, und
das Blaugrün, welches für die Bienen dem neutralen Grau ent-
spricht, hat für den rotblinden Menschen bereits einen blauen Ton.
Meine Angabe, daß zwischen dem Farbensinn der Biene und
dem des rotblinden Menschen in allen wesentlichen Punkten
Übereinstimmung herrscht, wird dadurch nicht berührt.
Es sei gestattet, hier nochmals anzuführen, wodurch die Rot-
blindheit im wesentlichen charakterisiert ist (vgl. 6, p. 42): „Für
den Protanopen ist das Spektrum am langwelligen Ende verkürzt;
rote Lichter erscheinen ihm sehr dunkel, dunkelrote Gegenstände
so gut wie schwarz; im Spektrum besteht für ihn in der Gegend
130°.’ K. v. Frisch, Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen.
des Blaugrün eine „neutrale Stelle“, die er farblos grau sieht; ge-
wisse blaugrüne Pigmentfarben sieht er wie ein Grau von mittlerer
Helligkeit; purpurrote Farben verwechselt er mit blauen; am Spek-
trum sieht er an Stelle der etwa 160 Farbentöne, welche der Nor-
male unterscheidet, nur noch zwei, nämlich eine „warme“ Farbe,
wahrscheinlich Gelb, entsprechend der langwelligen Hälfte des
Spektrums, welche der Normale Rot bis Grün sieht, und eine „kalte“,
wahrscheinlich blaue, entsprechend der kurzwelligen Spektralhälfte,
dort, wo der Normale grünblau bis violett sieht.“
„All diese, für den Farbensinn des protanopen Menschen cha-
rakteristischen Merkmale sind uns auch bei der Analyse des Farben-
sinnes der Bienen entgegengetreten.“
Ob nun etwa die neutrale Zone ım Blaugrün um ein geringes
näher dem Blau oder dem Grün liegt, ob das Spektrum am lang-
welligen Ende etwas mehr oder weniger verkürzt ist, kann dem-
gegenüber nicht entscheidend in die Wagschale fallen.
Am allerwenigsten aber kann man aus einer solchen Abweichung
den Beweis konstruieren, daß die Bienen überhaupt keinen Haben.
sinn hätten.
Weiter stellt v. Heß die Behauptung auf, es sei das Ver-
halten der dressierten Bienen gegenüber den farbigen Flächen
„nach v. Frisch’s Dressurprotokollen unberechenbar: auf Hell-
srau dressierte Bienen gingen stark auf Dunkelgrau. blaue und
purpurfarbige Flächen wurden nicht nur von blaudressierten.
sondern auch von graudressierten Bienen in sehr großen Mengen
besucht; auf Blau dressierte Tiere gingen besonders zahlreich
auf Purpur, besuchten aber gelegentlich auch sehr dunkles Grau.
sehr helles Grau und Gelb, „offenbar zufällig* auch Grün in
sroßen Mengen; auf Grasgrün dressierte Bienen gingen „aus
unbekanntem Grunde“ in großen Mengen auf Blau‘ (12, p. 352).
Ich werde die einzelnen Sätze nun der Reihe nach vornehmen
und nebeneinanderstellen, was v. Heß aus meinen Versuchsproto-'
kollen herausliest und was tatsächlich aus ihnen zu entnehmen ist.
„Auf Hellgrau dressierte Bienen gingen stark auf
Dunkelgrau.“
Es ist aus dieser Angabe nicht zu ersehen, auf welche Versuche
sich v. Heß bezieht.
Meint er mit dem „Hellgrau* das mittlere Grau
‘Nr. 15 meiner aus 30 Nummern bestehenden Grauserie,
so ist sein Satz eine unvollständige Wiedergabe meiner
Resultate. Die Bienen beflogen in angenähert gleichem
Maße\Papiere, die heller waren, und solche, die dunkler waren
als das mittlere Grau, auf welches sie dressiert waren. Mit anderen
BERN i
K. v. Frisch, Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen. 131
Worten: die Grauserie war so fein abgestuft, daß eine Dressur
auf ein bestimmtes mittleres Grau dieser Serie und dessen sichere
Unterscheidung von den übrigen grauen Papieren nicht zu erzielen
war (vgl. 6, p. 19#E.).
Meint er die Dressur auf Weiß (6, p. 22), so ist seine
Behauptung falsch, denn bei diesen Versuchen gingen die
Bienen niemals stark auf dunkelgraue Papiere.
Die Dressur auf das Grau Nr. 1 meiner aus 15 Nummern
bestehenden Grauserie kann er wohl nicht meinen, denn er be-
zieht sich ja auf meine „Dressurprotokolle*, und die Protokolle
dieser Versuche habe ich aus Gründen, die aus meinen Mitteilungen
(6) p. 21 ersichtlich sind, gar nicht veröffentlicht.
2. „Blaue und purpurfarbige Flächen wurden nicht
nur von blaudressierten, sondern auch von graudres-
sierten Bienen in sehr großen Mengen besucht.“
Auf diese Behauptung komme ich später (p. 136) zu sprechen.
3. „Auf Blau dressierte Tiere gingen besonders zahl-
reich auf Purpur, besuchten aber gelegentlich auch sehr
dunkles Grau, sehr helles Grau und Gelb, „offenbar zu-
fällig“ auch Grün in großen Mengen.“
Daß die auf Blau dressierten Bienen besonders zahlreich auch
auf Purpurrot gehen, ist ja eines der wesentlichen Resultate
meiner Untersuchung und ist eine Stütze meiner Annahme, daß
der Farbensinn der Biene mit dem des rotblinden Menschen weit-
‚gehend übereinstimmt.
Daß die auf Blau dressierten Bienen gelegentlich auch sehr
dunkles Grau, sehr helles Grau und Grün in großen Mengen
besuchten, geschah in einer Versuchsreihe, bei welcher ich eine
Anordnung getroffen hatte, die von meiner sonstigen Versuchs-
anordnung in einem wesentlichen Punkte verschieden war; dies
verschweigt v. Heß, obwohl es für die Beurteilung der
Sache von ausschlaggebender Bedeutung ist. Während ich
nämlich sonst, wenn ich das Verhalten der auf Blau dressierten
Bienen‘ gegenüber den anderen Farben prüfen wollte, das Dressur-
blau und die anderen Farben gleichzeitig auflegte, habe ich dies-
mal das Verhalten der Bienen gegenüber einer Reihe von Farben
nacheinander geprüft, indem ich bei jedem Versuche die Grau-
serie und eine Farbe auflegte. Hierbei entstand bei den 5 Ver-
suchen mit den blaudressierten Bienen, bei welchen als Farbe ein
Blau oder Purpurrot aufgelegt wurde, stets auf der Farbe und
niemals auf einem grauen Papier eine Bienenansammlung. Bei den
5 Versuchen mit den gleichen blaudressierten Bienen aber, bei
welchen als Farbe ein Gelb oder Grün: aufgelegt wurde und die
Dressurfarbe auf dem Versuchstisch fehlte, entstand ein-
mal auf einem dunkelgrauen, zweimal auf einem hellgrauen Papier,
WENN NER ELSE ONE DONE RES FIRE
Ds a %r
139 K. v. Frisch, Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen.
einmal auf einem mittleren Grau und einmal auf Grün eine große
Bienenansammlung. Diese großen Ansammilungen auf manchen
Papieren erklären sich durch die Anziehungskraft, welche einzelne
sich setzende Bienen auf die anderen ausüben. Diese Anziehungs-
kraft macht sich geltend, wenn die Bienen auf dem Versuchstisch
durch keines der Papiere besonders angezogen werden, wenn also
z. B., wie in diesen Fällen, die Dressurfarbe auf dem Versuchstisch
fehlt; sie macht sich nicht geltend, wenn die blaudressierten Bienen
etwa zwischen Grau und Blau die Wahl haben, weil sie dann von
der Dressurfarbe, auch wenn keine Biene darauf sitzt, weit mehr
angelockt werden als von einem Grau, auf dem Bienen sitzen !?), —
Meine Annahme, daß die einmalige Bienenansammlung auf dem
Grün „offenbar zufällig“ war, ist wohl berechtigt und begründet:
1. durch das Benehmen der Bienen bei diesem Versuche (vgl. 6,
p. 160); 2. dadurch, daß bei den 27 anderen Versuchen, bei
welchen blaudressierten Bienen gleichfalls das betreffende Grün
dargeboten wurde, in keinem Falle auf dem Grün eine Bienen-
ansammlung entstand??): 3. dadurch, daß die Bienen das betreffende
Grün (Nr. 10 der Hering’schen Farbenserie) von grauen Eapieren
nicht unterscheiden sn (6, p- 143 ff.).
Daß die auf Blau dressierten Bienen gelegentlich auch Gelb
in großen Mengen besuchten, ist eine Angabe, die den Versuch
Tabelle 117, p. 169 meiner Abhandlung zur Grundlage hat; es
wurde in diesem Falle außer den blauen Papieren auch eines der
gelben Papiere von zahlreichen Bienen beflogen. Wieder ver-
schweigt v. Heß jenen Umstand, der diese Ausnahme er-
klärt. Ich habe vor die betreffende Versuchsreihe die Worte ge-
setzt (p. 167): „Für die Verwechslungsversuche war es am 3. Tage
der Dressur insofern noch zu früh,, als nach meinen sonstigen Er-
fahrungen!*) (vgl. S. 74, 75) noch eine Nachwirkung der voran-
gegangenen Dressur auf das Orangerot Nr. 3 zu erwarten
war. Dies findet man in den Tabellen bestätigt; die „warmen“
Farben wurden noch relativ stark besucht. Ich wollte die Ver-
suche nicht länger hinausschieben, da ich noch andere Experimente
mit den Bienen vorhatte. Daß diese von den blauen und purpur-
roten Papieren am stärksten angezogen wurden, geht trotz des er-
wähnten Umstandes aus den Tabellen deutlich hervor.“ Es wurden
nämlich auch bei jenem Versuche, bei welchem ein gelbes Papier
so stark beflogen wurde, durchschnittlich die „kalten“ Farben noch
12) Ich habe diese Verhältnisse in meiner Abhandlung (6) auf p. 16—18
erörtert,
13) Vgl. die Tabellen meiner Abhandlung Nr. 81 —S3, S5—94, 101, 105—110,
113—119.
14) Es handelt sich um Versuche über das Erinnerungsvermögen der Bienen.
K. v. Frisch, Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen. 135
beträchtlich stärker besucht als die „warmen“, und bei den sechs
anderen, am gleichen Tage, bei der gleichen Versuchsanordnung
durchgeführten Experimenten war dies noch in unvergleichlich
höherem Maße der Fall.
Von den soeben besprochenen Fällen abgesehen,
haben die blaudressierten Bienen bei keinem meiner 44
einschlägigen Versuche?’) graue, gelbe oder grüne Pa-
piere in größerer Menge beflogen, hingegen jedesmal '°)
die blauen oder purpurroten Papiere in großen Mengen
(meist zu Hunderten) aufgesucht.
Es muß ein schlechter Rechenmeister sein, wer das Verhalten
der Bienen in diesen Versuchen „unberechenbar“ findet.
4. „Auf Grasgrün dressierte Bienen gingen „aus un-
bekanntem Grunde“ in großen Mengen auf Blau.“
Die auf „Grasgrün“ dressierten Bienen haben bei den 5 Ver-
suchen, bei welchen ihnen die Farbenserie vorgelegt wurde, die
„warmen“ Farben zu Hunderten beflogen, die „kalten“ Farben da-
gegen kaum besucht. Nur einmal (Tab. 53) wurde ein blaues
Papier stark beflogen, wobei die Art, wie dieser starke Besuch zu-
stande kam, deutlich das Zufällige des Geschehnisses erkennen ließ
(„plötzliche Klumpenbildung gegen Ende des Versuches“); auch ın
diesem Falle wurden übrigens die „warmen“ Farben noch doppelt
so stark besucht wıe die „kalten“.
Auf die sonderbare Angabe, daß „.dressierte Bienen nicht
imstande sind, auf Helligkeits- bezw. Farbenunterschiede zu
reagieren. die von nichtdressierten Tieren augenblicklich mit
voller Sicherheit wahrgenommen werden“ (12, p. 352), brauche
ich wohl kaum ausführlich einzugehen.
v. Heß sucht dies zu begründen, indem er darauf hinweist,
daß bei seinen Versuchen die Bienen, wenn er ihnen zwischen
einem Blau und einem (für den total farbenblinden Menschen dunk-
leren) Purpurrot die Wahl läßt, stets nach der blauen Fläche eilen,
während meine dressierten Bienen Blau und Purpurrot ver-
wechseln, daß ferner die Bienen bei seinen Versuchen auf sehr
kleine Helligkeitsunterschiede farblos grauer Flächen reagierten,
während meine dressierten Tiere bei viel größeren Helligkeits-
unterschieden grauer Papiere versagten.
Für jeden, der seine und meine Versuche kennt, muß klar sein,
daß dies auf die verschiedenen Versuchsbedingungen zu-
15) Vgl. meine Abhandlung p. 14 (1 Vers.), p. 24 (2 Vers.), p. 27 (2 Vers.),
Tab. 81—119.
16) Abgesehen von den 5 Versuchen, bei welchen ihnen kein blaues oder pur-
purrotes Papier dargeboten wurde (vgl. oben).
EN Te ET AAN ee
154 K. v. Frisch, Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen.
rückzuführen ist. v. Heß experimentiert mit frisch vom Stocke
geholten, in einem Behälter eingesperrten und unter diesen Be-
dingungen positiv phototaktischen Bienen; sie zeigen das Be-
streben, von zwei ihnen gleichzeitig sichtbar "gemachten Flächen
jener Fläche zuzulaufen, die ihnen heller erscheint. Bei meinen
Versuchen sind die Bienen nicht positiv phototaktisch und
die Helligkeit der Papiere ist innerhalb weiter Grenzen ohne Ein-
fluß auf ihre Reaktionen; als ich sie auf ein Grau von bestimmter
Helligkeit zu dressieren versuchte, wurde von ihnen verlangt,
daß sie sich ein bestimmtes Grau der fein abgestuften, in buntem
Durcheinander aufgelegten Grauserie merken und nach dem
Gedächtnis wiederfindensollten. Daß sie hierbei das Dressurgrau
von anderen Grauabstufungen nicht unterscheiden lernten, wird
selbstverständlich von niemandem als Beweis dafür angesehen wer-
den, daß sie die betreffenden Helligkeitsunterschiede nicht wahr-
nehmen können.
Überdies sind die oben zitierten Sätze wieder eine ganz ein-
seitige Darstellung der tatsächlichen Verhältnisse. v. Heß hätte
hinzufügen müssen, daß unter gewissen Bedingungen gerade umge-
kehrt meine dressierten Bienen Farbenunterschiede, bei welchen
seine nicht dressierten Tiere vollständig versagen, mit voller
Sicherheit unterscheiden. Dies ist z. B. der Fall, wenn man blau-
dressierten Bienen — wie ich es auf dem F keiburger Zoologentag
demonstriert habe (5, p. 57) — ein blaues und ein graues Papier
von gleichem farblosen Helligkeitswerte vorlegt. Sie be-
fliegen dann ausschließlich das blaue Papier, während die positiv
phototaktischen Tiere unter den v, Heß’schen Versuchsbedingungen
nach seinen Angaben zwischen einem Blau und einem Grau von
gleichem en Helligkeitswerte keinen Unterschied machen.
Dressurversuche nach v. Heß (12, p. 553ff.). v. Heß ıst es
geglückt, eine weitere. Versuchsanordnung zu finden, bei‘ welcher
die Dressur auf Farben nicht gelingt.
Er hat bisher — soweit es aus seinen Publikationen zu ent-
nehmen ist — meine Versuche niemals ın der Form nach-
geprüft, wie ich sie angegeben habe, obwohl ich mich doch,
wie er sagt, nunmehr der von ihm „entwickelten Methoden“ be-
diene und damit Ergebnisse erzielt habe (v. Heß, 12, p. 353).
Er hat bereits ın einer früheren Arbeit (9) mißlungene Dressur-
versuche mitgeteilt. Welche Umstände man — soweit sie aus
seinen Mitteilungen ersichtlich sind — für das Mißlingen der Dressur
nach seinen Methoden verantwortlich machen kann, habe ich ın
meiner Arbeit (6, p. 28ff.) besprochen. v. Heß kommt jetzt (12
p. 359 ff.) auf meine dort vorgebrachten Einwände zurück, wobei
er diese unvollständig zitiert und es im übrigen geschickt ver-
EL umgnaı Sa SB ed BI DC
K. v. Frisch, Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen. 135
meidet, auf ihren wesentlichen Inhalt einzugehen. Es wäre ver-
lockend, dies ım einzelnen darzulegen; doch würde es viel Raum
beanspruchen und eine Förderung des Problemes ist von einer
solchen Auseinandersetzung nicht zu erwarten.
Es scheint mir nach diesen Erfahrungen auch eine Diskussion
seiner neuen Dressurversuche wenig erfolgversprechend. Ich sehe
von einer solchen auch deshalb ab, weil uns die Mitteilungen, die
v. Heß über seine Versuchsanordnung macht, über wesentliche
Punkte im Unklaren lassen. Ich könnte über die Ursachen des
Mißlingens seiner neuen Versuche nur Vermutungen äußern. Es
genügt, daß wir eine Methode kennen, nach welcher die Dressur
auf Farben mühelos und zuverlässig gelingt.
In der Auseinandersetzung (12) p. 354, Anm., hat v. Heß, wie so oft, einen
wesentlichen Teil meiner Ausführungen bei der Wiedergabe derselben weggelassen
und bei der Entgegnung nicht berücksichtigt. Ich verweise diesbezüglich auf das,
was ich in meiner Arbeit (6), p. 23, Anm., tatsächlich gesagt habe.
„Die Vorführung dressierter Bienen beim Freiburger Zoo-
logentag.*“ — Mit seinen „Freiburger Vorführungen hat v. Frisch
selbst der Annahme eines Farbensinnes bei Bienen die letzte
Stütze genommen“ (12, p. 364, 365, 366).
Einige jener Versuche, die nach den Anschauungen von ©. v. Heß
nicht gelingen dürfen und die ja auch nach seiner Angabe „sämt-
lich -unrichtig“ sind, habe ich der Versammlung der deutschen zoo-
logischen Gesellschaft zu Freiburg i. B. zu Pfingsten 1914 demon-
striert (5).
Ich habe dort u. a. gezeigt, daß Bienen, die 2 Tage lang auf
Blau dressiert worden waren, ein blaues Papier —— welches sie
nach v. Heß als ein farbloses Grau von bestimmter Helligkeit
sehen — von grauen Papieren jeder beliebigen Helligkeit (genügend
fein abgestufte Grauserie) mit Sicherheit unterscheiden. Zur Wider-
legung Es schon oben erwähnten Einwandes, daß sich dıe Bienen
hierbei nach einem für uns nicht wahrnehmbaren Duft des blauen
Papieres richten, war bei den Versuchen über alle Papiere eine
Glasplatte gedeckt. Brachte ich die über dem Blau entstandene
Bienenansammlung durch Verschieben der Glasplatte auf ein graues
Papier, so löste sich binnen !/,—!/, Minute der alte Bienenknäuel
vollständig auf und auf dem Blau entstand ein neuer !”).
‚ Auch habe ich dort oftmals folgenden Versuch vorgeführt:
bietet man den blaudressierten Bienen „nebeneinander das blaue
und das entsprechende graue Originalpapier der Hering’schen Zu-
17) Wie sich v. Heß vorstellt, daß die mit dem Verschieben der Glasplatte
verbundene „Erschütterung“ die Bienen veranlassen soll, vom Grau weg immer
just wieder zum Blau zu fliegen, ist mir nicht klar geworden (v. Heß [12],
p. 355, 356).
PL“
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N IR .
136 K. v. Frisch, Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen.
sammenstellung !°), also zwei Papiere, welche für einen total farben-
blinden Menschen den gleichen farblosen Helligkeitswert besaßen,
und deckt die Glasplatte darüber, so entsteht prompt auf dem Blau
der Bienenknäuel, während das Grau unbeachtet bleibt. Verschiebt
man nun die Glasplatte, sodaß der Bienenknäuel auf das Grau
kommt, so löst er sich auf und bildet sich von neuem auf dem
Blau“ (5, p. 57).
Es ist interessant, zu welchem Erklärungsversuch v. Heß in
Anbetracht dieser Tatsachen seine Zuflucht nimmt.
Er behauptet (12, p. 365), ich hätte schon 1912 ermittelt, „daß
Bienen, selbst wenn sie niemals auf Blau gefüttert waren, sogar
"nach 8 Tage langer Dressur auf graue Papiere trotzdem
vorwiegend blaue und purpurfarbige Papiere befliegen und sich hier
in viel größeren Mengen sammeln als auf den grauen, auf die sie
dressiert waren“, der Blaubesuch sei also nach meiner eigenen Fest-
stellung keine Folge der Blaudressur. -Hätten die Teilnehmer an
den Versuchen dies gewußt, „so würde niemand mehr an eine
Farbendressur der Bienen glauben“. ’
Abgesehen davon, daß ıch mir wirklich nicht bewußt
bin, diese merkwürdige Sache ermittelt zuhaben'”), über-
sieht v. Heß sonderbarerweise, daß es für die Beweis-
kraft meiner Versuche ganz gleichgültig ist, aus welchem
15) Es handelt sich um eine Zusammenstellung farbiger und grauer Papiere,
die Hering von einem total farbenblinden Menschen hatte machen lassen ; sie ent-
hält neben jedem farbigen Papier das graue Papier, welches dem total farbenblinden
Menschen mit dem farbigen Papier gleich erscheint.
19) Die objektive Grundlage für den Heß’schen Einwand bilden zwei Ver-
suche (vgl. meine Abhandlung [6], Tabelle 4 und 5, p. 106), bei welchen ich den
auf ein Grau von mittlerer Helligkeit dressierten Bienen gleichzeitig die aus
30 Nummern bestehende Grauserie und die aus 16 Nummern bestehende Farben-
serie vorlegte. Die Dressur auf jenes Grau war vollständig mißlungen, die Bienen
hatten infolge der feinen Abstufung der Grauserie nicht gelernt, daß ein bestimmtes
Grau im Gegensatze zu den anderen Grauabstufungen die Anwesenheit von Futter
bedeute, sie richteten sich also bei der Dressur nicht nach dem Grau, sondern
suchten direkt das Zuckerwasser oder flogen einfach den zufällig zum Zuckerwasser
gelangten Bienen zu. Bei den Versuchen, wo alle Papiere der Grauserie mit
reinen, leeren Uhrschälchen versehen waren, äußerte sich das Mißlingen der Dressur
darin, daß die Bienen völlig ziellos über dem Tisch herumschwärmten und daß ein-
zelne, sich auf beliebige Papiere niedersetzende Tiere leicht zahlreiche andere zu
sich zogen. So kam es regellos bald‘ da, bald dort zu größeren Bienenansamm-
lungen. In zwei Fällen habe ich nun, wie schon erwähnt, außer der Grauserie
auch die Farbenserie aufgelegt. In einem Falle erhielt den stärksten Besuch ein
purpurrotes Papier (Nr 16 der Serie), doch war seine Frequenz nur wenig höher
als die Frequenz mehrerer grauer Papiere, nämlich binnen '/, Stunde 25 Bienen auf
dem Purpurrot, 16, 13, 11 ete. auf verschiedenen grauen Papieren; das andere,
dem Blau näherstehende Purpurrot (Nr. 15) und die drei blauen Pa-
piere wurden schwächer besucht als viele graue Papiere (8, 5, 2 und
1 Besucher). Beim zweiten Versuch entstand auf dem Purpurrot Nr. 16 gleich
K. v. Frisch, Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen. 137
Grunde die Bienen nach dem Blau suchen. Die Experimente
sollten zeigen, daß die Bienen ein blaues Papier, welches ihnen
nach v. Heß genau so erscheint wie ein graues Papier von be-
stimmter Helligkeit, tatsächlich von grauen Papieren jeder Hellig-
keit mit Sicherheit unterscheiden können. Um sie zu veranlassen,
nach dem Blau zu suchen, habe ich sie auf Blau dressiert, da
ich — im Gegensatze zu der von C.v. Heß geäußerten Meinung —
bislang nicht überzeugt bin, daß die Bienen auch ohnedem auf Blau
losfliegen. Wäre dies der Fall, so hätte ich mir die Dressur er-
sparen und der Versammlung auch so zeigen können, daß die
Bienen das Blau nach seinem Farbwert von grauen Papieren
unterscheiden.
v. Heß übergeht deu zweiten oben (erwähnten, ‚in Freiburg
demonstrierten Versuch, der direkt auf seine Theorie zugeschnitten
ist, mit Stillschweigen: daß nämlich die blaudressierten Bienen ein
unter Glas dargebotenes blaues Papier von einem grauen Papier,
welches dem total farbenblinden Menschen mit dem Blau gleich
erscheint, wohl !unterscheiden. Dies kann, wenn seine Ansicht
richtig ist, nicht der Fall sein. Es war aber der Fall und es ge-
schah in allen Versuchen mit einer Schnelligkeit und Sicherheit,
die den Teilnehmern an jenem Kongreß noch in Erinnerung sein
wird.
Ich hätte mich ja auch schwerlich entschlossen, dressierte Bienen,
deren Verhalten „unberechenbar“ ist, auf öffentlichen Versamm-
lungen vorzuführen.
In einer, Fußnote der vorliegenden Arbeit kommt v. Heß auf
den Farbensinn der Fische zurück.
zu Anfang eine große Bienenansammlung, von den blauen Papieren wurde eines
etwas stärker besucht als graue Papiere (39 Bienen gegenüber 29, 29, 17, 16 etc.
auf verschiedenen grauen Papieren binnen '/, Stunde), die beiden anderen
blauen und das dem Blau näherstehende purpurrote Papier wurden
von 8, 13 und 14 Bienen besucht, Frequenzzahlen, wie sie in diesem
Versuche auch viele graue Papiere aufzuweisen hatten. Wenn man
diese Zahlen mit jenen vergleicht, wie sie an blaudressierten Bienen erhalten wur-
den, wird man gar nicht auf den Gedanken verfallen, daß hier ein der Blaudressur
ähnlicher Effekt vorliegen könnte. Niemals haben blaudressierte Bienen das Blau
und das Purpurrot Nr. 15 relativ so spärlich,. die grauen Papiere so zahlreich be-
flogen.
v. Heß hätte also aus den Versuchen höchstens entnehmen können, daß die
auf Grau dressierten Bienen vorwiegend das eine purpurrote Papier (Nr. 16) be-
flogen haben. Wie dies zu erklären war, habe ich nicht verfolgt. Es kann auch
«Zufall gewesen sein. Meine „Ermittlungen“ pflege ich nicht auf zwei, noch
dazu nicht eindeutige Versuche zu gründen.
Band 39. 10
138 K. v. Frisch, Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen. .
Ich habe an anderer Stelle gezeigt (1,2, 3), wie sich die Farben-
anpassung an den Untergrund bei der Pfrille (Ellritze) zum Nach-
weise ihres Farbensinnes verwerten läßt. v. Heß hat die Richtig-
keit der betreffenden Versuche bestritten und in direktem Wider-
spruch zu meinen Angaben behauptet, „daß gelber Untergrund auf
die Färbung der Pfrillen keinerlei nachweislichen Einfluß hat“
(8, p. 407).
In Anbetracht dessen hatte Prof. Richard v. Hertwig die
Freundlichkeit, solche Versuche und die Protokollführung über die-
selben mit mir gemeinsam vorzunehmen. Er bestätigte ıhre Rich-
tigkeit. Die Protokolle sınd in meiner Arbeit „Weitere Unter-
suchungen über den Farbensinn der Fische“ (4, p. 53ff.) ver-
öffentlicht.
Nun schreibt v. Heß ın der erwähnten Fußnote (12, p. 361),
er habe schon früher betont, daß man nur durch eine große Anzahl
von lange fortgesetzten Beobachtungsreihen ein klares Bild von
diesen Verhältnissen bekommen und durch Zufälligkeiten bedingte
Täuschungen vermeiden könne. „Trotzdem hat R. v. Hertwig
auf Grund der Teilnahme an einem einzigen (!) verwertbaren und
an zwei weiteren, infolge zugestandener Versuchsfehler wertlosen
Versuchen v. Frisch’s die Richtigkeit jener Angaben bestätigt,
deren Unrichtigkeit für den aufmerksamen Beobachter so leicht
und eindringlich festzustellen ist.“
Hierzu bemerke ich: Erstens: Die zwei „infolge zugestandener.
Versuchsfehler wertlosen Versuche* kann ich in unserem Protokoll
nicht finden. Zweitens: R. v. Hertwig hat, wie aus unserem
Protokoll ersichtlich ist, nicht „an einem einzigen verwertbaren und
an zwei weiteren... wertlosen Versuchen“ teilgenommen, sondern
an zwei Versuchsreihen, ber’ welchen insgesamt zweiund-
zwanzig Pfrillen auf ihre Reaktionsfähigkeit auf gelben
Untergrund durch mehrmaliges Wechseln des Unter-
gsrundes geprüft wurden. Hierbei haben sich zwei, nach-
gsewiesenermaßenabnorme Tiere nıcht verändert, bei den.
zwanzig anderen Tieren ist die Gelbfärbung beim Ver-
setzen auf gelben Untergrund jedesmal eingetreten.
Die Einzelheiten sind aus unseren Protokollen (l. ec.) zu er-
sehen. Diese wenigen Worte aber dürften genügen, um zu zeigen,
wie weit sich die Darstellung, die v. Heß gibt, von der Wirklich-
keit entfernt.
Anmerkung des Herausgebers Wie aus den von
Dr. v. Frisch gemachten Mitteilungen hervorgeht, hat Herr Prof.
v. Heß in seiner neuesten Streitschrift gegen Dr. v. Frisch sich
bemüßigt gesehen auch mich anzugreifen. Es geschieht dies in
a Sa are EN NE ER rk a TE RD Ber EI EA TRR
en: Wer IRRE ES ER m old x R> ET
- K. v. Frisch, Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen. 139
einer Weise, welche darauf ausgeht mich ın den Augen von Fach-
genossen zu diskreditieren. Da v. Frisch schon auseinandergesetzt
‘ hat, wie unrichtig die Darstellung des Sachverhalts ist, auf Grund
deren Herr Prof. v. Heß seine Angriffe gegen mich gerichtet hat,
könnte ich mich darauf beschränken, gegen das von C. v. Heß
beliebte Verfahren Verwahrung einzulegen. Ich möchte aber noch
einen weiteren Punkt richtig stellen. v. Heß sagt, ich hätte die
„Richtigkeit der Angaben bestätigt“, „alle Ellritzen färbten sich
auf gelbem Grunde gelb, diese Gelbfärbung gehe auf farblosem
Grund wieder zurück“. Das ist nicht richtig. Ich habe mich viel-
mehr darauf beschränkt, worum ich auch allein gebeten worden
war, festzustellen, daß die Protokolle, welche Dr. v. Frisch üker
seine an 22 Ellritzen ausgeführten Versuche aufgenommen hatte,
den Sachverhalt richtig wiedergaben. Richard Hertwig.
Zitierte Literatur.
1. Frisch, K. v., Über den Farbensinn der Fische. — In: Verhandl. d. deutsch.
zoolog. Gesellsch., 1911, p. 220—225.
2, — Über farbige Anpassung bei Fischen. — In: Zoolog. Jahrb. Abt. f. allgem.
Zoolog. u. Physiol. d. Tiere, Bd. 32, 1912, p. 171—230.
3. — Sind die Fische farbenblind? — In: Zoolog. Jahrb., Abt. f. allgem.
Zoolog. u. Physiol. d. Tiere, Bd. 33, 1912, p. 107—126.
4. — Weitere Untersuchungen über den Farbensinn der Fische. — In: Zoolog.
Jahrb., Abt. f. allgem. Zoolog. u. Physiol. d. Tiere, Bd. 34, 1913, p.43—68.
-—- Demonstration von Versuchen zum Nachweis des Farbensinnes bei an-
geblich total farbenblinden Tieren. — In: Verhandl. d. deutschen zoolog.
Gesellsch., 1914, p. 50—58. : -
6.. — Der Farbensinn und Formensinn der Biene. — Zool. Jahrb., Abt. f.
allgem. Zoolog. u. Physiol. d. Tiere, Bd. 35, 1915, p. 1—188. Auch
separat erschienen, Jena 1914.
oO.
7. Heß, C., v., Untersuchungen über den Lichtsinn bei Fischen. — In: Archiv f.
Augenheilkunde, Bd. 64, Ergänzungsheft, 1909.
8. — Neue Untersuchungen zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes.
— In: Zoolog. Jahrb., Abt. f. allgem. Zoolog. u. Physiol. d. Tiere, Bd. 33,
1913, p. 387— 440.
9. — Experimentelle Untersuchungen über den angeblichen Farbensinn der
Bienen. — In: Zool. Jahrb., Abt. f. allgem. Zoolog u. Physiol. d. Tiere,
Bd. 34, 1913, p. 81--106.
10. —- Messende Untersuchung des Lichtsinnes der Biene, — In: Arch. f. d. ges.
Physiol., Bd. 163, 1916, p. 289—320.
‚11. —- Der Farbensinn der Vögel und die Lehre von den Schmuckfarben. —
In: Arch. f. d. ges. Physiol., Bd. 166, 1917, p. 381—426.
12. -—- Beiträge zur Frage nach einem Farbensinne bei Bienen. — In: Arch. f.
d. ges. Physiol., Bd. 170, 1918, p. 337—366.
10°
440 W. J. Schmidt, Vollzieht sich Ballung und Expansion des Sa ete.
Vollzieht sich Ballung und Expansion des Pigmentes
in den Melanophoren von Rana nach Art amöboider
Bewegungen oder durch intrazelulläre Körnchen-
strömung?
Von Prof. W. J. Schmidt in Bonn.
(Mit 2 Abbildungen.)
Bekanntlich standen sich lange Zeit zwei Anschauungen über die
Tätigkeit der Melanophoren gegenüber. Ein Teil der Forscher nahm an,
die Ballung und Expansion des Pigmentes vollziehe sich nach Art
amöboider Bewegungen, d.h. die Pıgmentzellen vermöchten pseudo-
podienartige Fortsätze auszusenden und einzuziehen, so daß die Zelle
bei der Ausbreitung des Melanins verästelt, bei der Ballung da-
gegen ohne Ausläufer, mehr oder minder kugelig abgerundet sei.
Der andere dagegen elaubte, daß die Zellen ihre ale Form
dauernd beibehielten, gleichgültig ob das Pigment geballt oder ex-
pandiert sei, daß nur im Expansionszustand die Pennterallien
Fortsätze leicht, bei der Ballung dagegen infolge der Entleerung
vom Melanin schwer oder gar nicht zu sehen seien. Die letzte
Auffassung nötigte dann weiter zur Annahme, daß die Verlagerungen
der Pigmentgranula in der formkonstanten Zelle als intrazelluläre
Körnchenströmungen ablaufen.
Alle neueren Untersucher stimmen für die schwarzen Chroma-
tophoren der Fische und Reptilien der zweiten Deutung zu und
zwar vornehmlich aus folgenden Gründen. Zunächst hat man beim
Ballungszustand des -Melanins pigmentfreie Ausläufer tatsäch-
lich nachgewiesen und damit dargetan, daß die Ballung des Pig-
ments ohne Einziehen der Zellfortsätze vor sich gehen kann. "Ferner
erscheinen bei stark geballtem Pigment die Kerne außerhalb
der Pıgmentmasse gelegen; da nun weiter durch Beobachtungen
am lebenden Objekt (Fische) gezeigt werden konnte, daß die Kerne
beı der Tätigkeit der Zellen ihre Lage nicht verändern, muß not-
wendigerweise der Zelleib nicht nur weiter reichen als das leicht
sichtbare Melanın, sondern es wird äußerst wahrscheinlich, daß er
in seinen Umrissen überhaupt unverändert geblieben ist. Schließ-
lich hat man beobachtet, daß der Verästelungszustand einer Zelle
vor und nach einer Ballung bis in die Einzelheiten hinein derselbe
war, was kaum denkbar ist, wenn es sich um amöboide Tätigkeit
handelte — es sei denn, daß die Pseudopodien sich in einem prä-
formierten Lückensystem im Gewebe bewegten.
Bei den Amphibien ist eine Einigung über die Art der Me-
lanophorentätigkeit noch nicht erzielt, wie man der nn
lung von Fuchs (1914, Handb. d vgl. Physiol. v. Winterstein
Bd, III, 1. Hälfte, 2. Teil) entnehmen mag, auf die ich auch hin-
W. J. Schmidt, Vollzieht sich Ballung und Expansion des Pigmentes ete. 141
sichtlich der vorhin gemachten Angaben verweise. Zwar neigt die
Mehrzahl der neueren Autoren auch hier der Annahme intrazellu-
lärer Körnchenströmungen zu, aber vor einiger Zeit hat sich Daven-
port Hooker (The reactions of melanophores of Rana fusca in
the absence of nervous control, Z. f. allg. Physiol. 14, 1913 p. 93—104
und: Ameboid movement in the .corial melanophores of frogs,
Anat. Record 8, 1914, p. 103) wiederum ganz bestimmt für amöboıde
Tätigkeit bei den Kutismelanophoren des Frosches ausgesprochen.
Sınd die Anschauungen Hooker’s richtig, dann klafft ein schwer
verständlicher Gegensatz zwischen den Melanophoren der Fische
und Reptilien einerseits, denen der Amphibien andererseits.
Hooker’s Befunde sind kurz zusammengefaßt folgende: An
Schnitten durch die Haut von Aana fusca erschienen die in Ballungs-
zustand versetzten Chromatophoren gut abgegrenzt und von braun-
schwarzer Farbe; nur in einigen Fällen gingen von ihnen feine
pigmenthaltige Fortsätze aus Hier und da war zu erkennen, daß
die Zellen in Höhlen lagen, die vielleicht endothelial ausgekleidet
seien. In diesen Höhlen sollen die Chromatophoren sich als ganzes,
nach Art von Amöben ausdehnen und zusammenziehen. Die Tat-
sache, daß die Expansionsphasen ein und derselben Zelle stets gleich
sind, soll durch die konstante Form der vorgebildeten Lücken be-
dingt sein. Waren die Farbzellen expandiert, so erschienen die
Fortsätze von röhrenartigen Räumen umgeben. Daß diese Röhren
nicht überall sichtbar sind, erklärt Hooker durch den Gewebsdruck,
der sie mehr oder minder schließt. In Hautstücken, die in Blut-
plasma drei Tage lebend erhalten wurden, zeigten sich die ge-
schilderten Lymphräume sehr klar, was der Autor auf das Fehlen
des Gewebsdruckes zurückführt. Wie Hooker einen deutlichen
Hinweis, daß die Zellen sich als ganzes expandieren und zusammen-
ziehen, darin sieht, daß die Verteilung des Pigments in der Expan-
sıon gleichmässig im ganzen Zelleib sei, aber so, daß bei dem ver-
ringerten Durchmesser des Zellkörpers und der Fortsätze die einzelnen
Körnchen gut sichtbar seien, während die im geballten Zustand eben-
falls gleichmäßig verteilten Körnchen nicht zu unterscheiden seien,
verstehe ich nicht recht. Hooker kommt so zu dem Ergebnis:
die Melanophoren liegen in vorgebildeten Spalten und ihre Tätigkeit
beruht auf dem Einziehen und Aussenden von Pseudopodien.
Bei der Untersuchung verschieden fixierter (Sublimat und
Flemming’s Gemisch) und gefärbter (Eisenhämatoxylin, Thionin-
Eosin, polychromes Methylenblau-Eosin, zum Teil mit Chlor ge-
bleichter) Schnitte der Rückenhaut von Rana esculenta (und bei
einigen Stichproben an Rana fusca) finde ich Hooker’s Angaben
über präformierte Lücken um die Chromatophoren herum nicht
bestätigt. Die Melanophoren verhalten sich in diesem Punkte nicht
anders wie irgendwelche Zellformen der Kutis, seien es nun Fibro-
142 W. J. Schmidt, Vollzieht sich Ballung und Expansion des Pigmentes etc.
blasten, Mastzellen u.s. w., d. h. sie liegen zwischen den Binde-
gewebsfasern, ohne daß irgendeine besondere (endotheliale) Ab-
srenzung des Bindegewebes gegen den Leib der Chromatophoren
vorhanden wäre. Wie jede größere interfibrilläre Einlagerung
bleibt natürlich die Gegenwart der Melanophoren nicht ganz ohne
Einfluß auf den Verlauf der benachbarten Bindegewebsfibrillen, oder
auch umgekehrt. Die Melanophoren passen sich eben in ihrer Form
der Umgebung an. Das sind aber Beziehungen, die alle Zellformen
der Kutis zu ihrer Umgebung zeigen, und wenn man die Räume,
welche für die Zellen im Gewebe ausgespart bleiben müssen, als
Lymphräume bezeichnen will — die aber einer besonderen Abgren-
zung entbehren —, so ist das zwar nicht üblich, aber immerhin
verständlich.
Während ich nun die Angaben Hooker’s nicht bestätigen
kann, sehe ich dagegen mit der größten Deutlichkeit pigment-
freie Ausläufer an Melanophoren ım Ballungszustand. Fig. 1 u. 2
Fig. 1. Fig. 2.
stellen derartige Melanophoren nach einem Flachschnitt durch die
Rückenhaut von Rana eseulent« dar. In Fig. 1 bildet das Melanın
eine tief dunkle, etwas unregelmäßig geformte Masse mit kugeligen
Vorwölbungen; von ihr gehen an zwei Stellen pigmentfreie Aus-
läufer ab, die mit etwas verbreiterter Basis an den Zelleib an-
setzen, bald aber sich fadenartig verschmälern; an einer dritten
Stelle ragt der Kern aus der. geballten Pigmentmasse zum Teil
hervor. Fig. 2 bietet ım wesentlichen dasselbe Bild dar, nur ist
die Zahl der im Schnitt’ gelegenen Ausläufer größer, und der auch
hier zum Teil sichtbare Kern liegt an der Basis. eines pigment-
freien Ausläufers, wie es oft der Fall ist. Solche Bilder, die in
den Präparaten dutzendweise zu beobachten sind, »bestätigen durch-
aus die Angaben früherer Autoren (Lister, Biedermann vgl. bei
Fuchs 1914), die bei Fröschen pigmentfreie Ausläufer festgestellt
haben; sie zeigen, daß bei vollkommen geballtem Melanın
die Ausläufer bestehen bleiben können. Schon Bieder-
mann hat seinerzeit in vorsichtiger Beschränkung auf das, was mit
Sicherheit aus diesem Befund geschlossen werden kann, die Mög-
Kö er ARDHR N SB a Pe BP ie ae
9
W. J. Schmidt. Vollzieht sich Ballung und Expansion des Pigmentes ete. 145
lichkeit offen gelassen, daß vielleicht noch ein nachträgliches Einziehen
der pigmentfreien Fortsätze stattfinden könne. Aber selbst wenn das
zutreffen sollte, was deshalb nicht wahrscheinlich ist, weil die be-
schriebenen Fortsätze an Zellen mit vollkommener Ballung des
Melanıns zu beobachten sind, handelt es sich beim Ballungs- und
Expansionsvorgang selbst um intrazelluläre Körnchenströ-
mungen.
Übrigens erinnern die Bilder in allen wesentlichen Punkten an
die entsprechenden von Fischen und Reptilien (vgl. W.J. Schmidt,
Die COhromatophoren der Reptilienhaut, Arch. f. mikr. Anat. 90,
1917, Taf. IX); das gilt auch für die Lage des Kernes, der sich
wenigstens zum Teil außerhalb des geballten Melanins befindet
(s. 0.). Auffallend ist die mit großer Regelmäßigkeit, wenn auch
nicht ohne jede Ausnahme zu beobachtende Erscheinung, daß die
pigmententleerten Ausläufer so sehr viel feiner sind als die pigment-
erfüllten. Daß ein Verschmälern der Ausläufer beim Abströmen
des Pigments stattfinden muß, ist selbstverständlich; dem entspricht
ja auch, daß der zentrale Zellteil bei der Ballung umfangreicher
und mehr kugelig wird. Gewisse Formveränderungen der Zellen
finden also auch bei der intrazellulären Körnchenströmung statt;
sie haben aber nichts mit amöboıden Erscheinungen zu schaffen.
Darauf habe ich schon vor einer Reihe von Jahren hingewiesen
(Beobachtungen an der Haut von @Geckolepis und einigen anderen
Geckoniden 1911, in: Voeltzkow, Reise ın Ostafrika in den Jahren
1903— 1905, Bd. IV). Doch war ich einigermaßen überrascht, daß
die pigmentfreien Ausläufer bei Rana von so geringem Kaliber
sind. Es wird aber auch bei der Ballung mit dem Pigment Plasma
abströmen müssen und vielleicht hat Biedermann nicht Unrecht,
wenn er annehmen möchte, die pigmentfreien Ausläufer beständen
aus einem festeren Plasma. Im übrigen muß ich Hooker (1914)
beistimmen, wenn er für den Frosch das Vorkommen intrazellu-
lärer Kanälchen (Ballowitz bei Fischen), stabartiger Strukturen
im Zelleib oder überhaupt das Vorhandensein eines spezialisierten
Plasmas, ferner eine bestimmte Ordnung der Granula zueinander
oder zum Kern ablehnt. Es kommt aber den Melanophoren des
Frosches gleich denen der Fische und Reptilien ein zelluläres Zen-
trum zu, das wie dort genau die Mitte des geballten Pigments ein-
nimmt. KRadiärstrahlige Bildungen sind aber um dieses Zentrum
herum so gut wie gar nicht zu beobachten und damit mag die un-
geordnete Bewegung der Pigmentgranula im Gegensatz zur Reihen-
bewegung bei den Fischen zusammenhängen (vgl. W. J. Schmidt
1917, Die Chromatophoren u. s. w., S. 0.). Genaueres über dieses
Gebilde, ebenso über die pigmentfreien Ausläufer und die Kern-
verhältnisse der Melanophoren beim Frosch bringe ich in einer
Arbeit, die im Arch. f. Zellforschung in Druck gegeben ist.
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7 2 ar
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444 W. J. Schmidt, Vollzieht sich Ballung und Expansion des Pigmentes “ig
Hooker hat seine Behauptung, die Tätigkeit der Melanophoren
beim Frosch vollziehe sich wie jene der Amöben, auch auf die
Larven ausgedehnt. Nun kommen in der Epidermis von Frosch-
larven pigmentbeladene Zellen vor, die ausgesprochen amöboıde
Bewegungen zeigen (vgl. meinen ım Zool. Anz. erscheinenden Auf-
satz: Einige Beobachtungen an melaninhaltigen Zellformen des
Froschlarvenschwanzes); ob diese Zellen aber später zu den im
Epithel gelegenen Melanophoren werden, ist noch fraglich. Bei’
den Kutis-Melanophoren der Froschlarven dagegen konnte ich mich
nach Beobachtungen am überlebenden Material nicht vom Vor-
handensein amöboider Bewegungen überzeugen; vielmehr entsprach
die Art der Verlagerung der Granula viel mehr ıintrazellulären
Körnchenströmungen (s. am letztgenannten. Ort), allerdings konnte
ich pigmentfreie Ausläufer bei den kutanen Melanophoren (im über-
lebenden Zustand) nicht feststellen. So wıll ich denn die Möglıch-
keit amöboider Bewegungen bei jugendlichen Chromatophoren der
Froschlarven nicht bestreiten, zumal auch Holmes (1913, Univ.
Calıf. Publ., Zoology, Vol. 11, p. 143—154 Observations on isolated
living pigment cells from the larvae of amphibiens) derartige Be-
wegungen beobachtet hat. Anscheinend hat derselbe Autor (ibidem
Vol. 13 p. 167—174, The movements and reactions of the isolated
melanophores of the frog) amöboıde Bewegungen bei isolierten
Chromatophoren des erwachsenen Frosches beobachtet. Beide
Arbeiten von Holmes sind mir bislang nur durch den kurzen Hin-
weis auf ihren Inhalt in der Bibliographia zoologica zugänglich ge-
worden. Jedenfalls aber liefert das Auftreten amöboider Be-
wegungen an Melanophoren unter so ganz anders gearteten Be-
dingungen keinerlei Beweis gegen die von mir vertretene An-
schauung, daß unter normalen Verhältnissen die Tätigkeit der
Melanophoren des erwachsenen Frosches auf intrazellulärer Körn-
chenströmung beruht.
Verlag von Georg Thieme in 1 Leipzig, Antönstraße 15. — Druck der Universitäts-
Suchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen.
Biologisches Zentralblat
Begründet von J. Rosenthal
Unter Mitwirkung von ,
Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München
°
herausgegeben von
Dr. E. Weinland
Professor der Physiologie in Erlangen
Me von Georg Thieme in Leipzig
39. Band April 1919 N
ah am 30. April 1919
Der jährliche Krsnsmeltehreik (12 Hefte) Beet 20 Ta,
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physiolog. Institut,
einsenden zu wollen.
Inhalt: BE a lenened der Hautflügler. S. 145,
H. Henning. Mnemelehre oder Tierpsychologie? S. 187.
Stammesgeschichte der Hautflügler.
Von Carl Börner.
Vorl. Mitteilung aus der Biologischen Reichsanstalt für Land- und Forstwirtschaft.
(Mit 6 Textabbildungen und einem Verw.'ndtschaftsschema.)
Von meinem Freunde Herrn J. D. Alfken, unserem best-
bekannten Bremer Bienenforscher, zu einer vergleichend-morpho-
logischen Studie über die Mundwerkzeuge der Bienen angeregt und
- von ihm in reichem Maße mit wertvollem Untersuchungsmatersal
unterstützt, begann ich im Herbst vorvergangenen Jahres eine ein-
gehende Bearbeitung der Unterkiefer und der Unterlippe der Bienen.
Ich hoffte auf diesem Wege zunächst zu neuen Einblicken in die Phylo-
genie der Bienen zu gelangen, erkannte aber bald, daß dieser bıs-
her nur unzureichend behandelte Teil der Anatomie der Hyme-
nopteren für deren Phylogenese ganz allgemein ausschlaggebende
Bedeutung gewinnen mußte, sobald er wenigstens in großen Zügen
klargestellt sein würde. Nach und nach dehnte ich meine Unter-
suchungen über sämtliche Stechimmenfamilien, schließlich auch über
die Schmarotzerimmen und die Blatt- und Holzwespen aus, nach-
39. Band. | 11
446 Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler.
dem mir die Herren Prof. Dr. Schmiedeknecht- Blankenburg
ı. Th. und Dr. Enslin-Fürth ı. B., späterhn auch noch Herr
Dr. Bischoff-Berlin ın liebenswürdigster Weise zum Teil recht
wertvolles Material zur Verfügung gestellt hatten. Ihnen wie auch
Herrn Alfken spreche ich an dieser Stelle meinen herzlichsten
Dank für ihre Hilfe aus, ohne die ich nicht in der Lage gewesen
wäre, meine Arbeit in so kurzer Zeit zum vorläufigen Abschluß
zu bringen. y
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Verwandtschaftsschema der Hautflüglerfamilien.
Wegen der Möglichkeit anderer Auffassung der verwandtschaftlichen Beziehungen
der Grabwespen (Psamm. — Philanth.) und Ameisenartigen (Sap.-Form.) vergl.
S. 161. Statt Podal. lies Nomadiden.
Das Ziel meiner Untersuchungen war von einer Phylogenese
der Bienen zur Hymenopterenphylogenese erweitert worden, und
dies erforderte die Berücksichtigung möglichst aller stammes-
geschichtlich verwertbaren Familienunterschiede der äußeren Mor-
phologie. Sie sind ın der weiter hinten mitgeteilten Familien-
übersicht zusammengestellt worden, zu deren besserem Verständnis
ich unter Hinweis auf das beigefügte Verwandtschaftsschema einige
einleitende Worte voranschicke.
1. Symphyta und Apoerita,
Wir sehen zunächst die Gerstaecker’schen!) Unterordnungen
der Symphyta und Apocrita beibehalten. Indessen ıst das zur
Namengebung verwertete Merkmal der Verbindung von Brust und
Hinterleib durch Unterschiede, die zwischen den Symphyten und
|) Gerstaecker: Über die Gattung Oxybelus Latr. und die bei Berlin vor-
kommenden ‘Arten derselben. Arch. f. Naturgesch,, Halle, Bd. 30, 1867.
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Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 147
Apoceriten im Bau des Labıums und des Putzkammes der
Vorderbeine ausgeprägt sind, abgelöst worden. Orysseus, der
bis jetzt als Holzwespe aufgefaßt worden ist, ıst danach eine
echte Schlupfwespe und hat mit den Holzwespen nur den Mangel
der Tailleneinschnärung zwischen dem 1. und 2. Hinterleibsringe
gemein. Nach freundlicher Mitteilung von Herrn Dr. Enslin hat
Rohwer?) es auch schon biologisch wahrscheinlich gemacht, daß
Oryssus der Schmarotzer holzbewohnender Käferlarven und nicht
selbst ein Holzbohrer ıst. Und wie Oryss«s durch Mangel der Taille
von allen „Apocriten“ abweicht, sınd auf der anderen Seite manche
„Symphyten“ durch eine mehr oder minder innige Verschmelzung
des 1. Hinterleibstergits mit der Hinterbrust ausgezeichnet (z. B.
Oimbex, Cephus u. a.), womit schon hier die zur Ausbildung der
„Taille“ notwendige Vorstufe erreicht erscheint, ohne daß aller-
dings die Tailleneinschnürung selbst vorhanden ist. Deswegen aber
die @erstaecker’schen Bezeichnungen der beiden Unterordnungen
durch andere?:) zu ersetzen, schien mir nicht geraten zu sein.
Der Putzkamm der Vorderbeine ist allen Apocriten gemeinsam;
an seiner Bildung ist eine Reihe besonderer Borsten an der Ferse
und der dieser Borstenreihe als Daumen opponierbare, stets nur
ın der Einzahl vorhandene Schiensporn beteiligt. Die Kammborsten
sind verschieden gestaltet, bald fein und lang, bald breit und
niedrig, und zeigen bei verschiedenen Familien auch Unterschiede
in der Anordnung. Bei den Symphyten treffen wir niemals den
Putzkamm der Apoeriten in seiner typischen Gestaltung an: die
Mehrzahl der Symphyten ist aber ım Besitz einer emfachen (oder
doppelten) Reihe eigenartiger bandförmiger oder am Ende spatel-
förmig verbreiterter Borsten an Schiene und Ferse der Vorder-
beine, die wir als Vorläufer der Kammborsten der Apocriten auf-
fassen dürfen. Wır brauchen nur anzunehmen, daß bei diesen
allein die Band- oder Spatelborsten der Ferse erhalten geblieben
und ihrem neuen Zweck ın vollkommenerer Weise angepaßt worden
sind; das Bild, das sie beispielsweise bei den Cephiden oder Xye-
liden gewähren, erinnert schon lebhaft an die bei manchen Schlupf-
oder Gallwespen zu beobachtenden Verhältnisse: Innerhalb der
Symphyten erweisen sich die‘ eigentlichen Tenthrediniden durch
den völligen Mangel dieser Band-. oder Spatelborsten an den Vorder-
beinen in dieser Hinsicht als ursprünglichste Vertreter.
2) Rohwer: In: Proc. U. S. Nat. Mus. 43.:1912. p. 142.
2a) Latreille stellt in seinen „Familles naturelles du regne animal, Paris
1825 für die späteren Symphyta Gerstaecker’s den Begriff der Securifera
auf, dem die heutigen Parasitica als Pupivora gegenüberstehen. Diese Namen
sind indessen heute nicht gebräuchlich.
3) Latreille: Histoire naturelle gänerale et partieuliere des Urustacds et des
Insectes. 14 vol. Paris 1802—5. — Genera Crustaceorum et Insectorum. 4 vol.
Paris u. Straßburg 1506-9.
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148 Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. -
Die Symphyten nach Latreille’s®) und Hartig’s*) Vorgange
mit den Schlupf- und Gallwespen als Terebrantia oder. Ditrocha zu
vereinigen und diesen die Aculeaten gegenüberzustellen, ließ sich
wegen der angeführten Merkmale der Imagines sowohl wie wegen
der Organisation der Larven nicht rechtfertigen.
2, Die Familien der Symphyta.
Die Symphyten wurden bisher entweder in Blatt- und Holzwespen
eingeteilt, oder man vereinigte die Pamphiliden (Lydiden) mit den
Oephiden und räumte ihnen gemeinsam eine Sonderstellung neben
‘den Tenthrediniden und Sırieciden ein. Es ist nun bemerkenswert,
daß die noch von Enslin°) abgelehnte Vereinigung oder Annähe-
rung der Pamphiliden an die Cephiden, die Konow*) verfochten
hat, in der feineren Struktur der Unterkieferaußenlade eine wichtige
Stütze erhält. Die Lagerung der Sinnespapillen oder Grubenkegel
an der Außenlade des Unterkiefers ıst nämlich deshalb von Be-
deutung, weil sie bei meinen Pamphilina und Cephina überein-
stimmt mit der bei allen Apocriten zu beobachtenden, ihre ab-
weichende Lagerung bei den Tenthrediniden und Cimbiciden also
um so auffälliger ist. Und wenn wir ın der Ahnenreihe der Hy-
menopteren zu altertümlicheren Insekten, zu Blattiden oder Phas-
miden, herabsteigen, so erweisen sich die beiden letztgenannten
Blattwespenfamilien darın von der hypothetischen Ahnenform,
welche die orthopteroiden Verhältnisse des Maxillenbaues kaum ver-
ändert übernommen hatte, ebenso sehr abgewichen wie im Bau ihrer
mit abdominalen Stummelfüßen versehenen Larven. Deshalb habe
ich sie als Sektion der Etropoden den übrigen, als Anetropoden
zusammengefaßten Symphyten gegenübergestellt, indem ich durch
Schaffung von überfamiliären Begriffen zugleich die höhere Wer-
tigkeit der gekennzeichneten Merkmale andeuten wollte. Nach Sonder-
stellung der Etropoden kommen als relativ altertümlichste Blatt-
wespen nunmehr nur noch die Pamphilinen®) in Betracht, da ihre
Larven unter allen Hymenopterenlarven die ursprünglichste Bauart
bewahrt haben, ja unter allen Holometabolenlarven trotz mancher
Sonderanpassungen cum grano salıs als altertümlichste gelten können.
Bell wir uns aber ein Bild/von der hypothetischen
J
4) Hartig: Die ns Deutschlands. Die Familien der Blatt- und
Holzwespen. Berlin 18:
5) Enslin: Die B latt- und Holzwespen. In: Die Insekten Mitteleuropas,
insbesondere Deutschlands von Sehröder. Band 3. 1914.
6) Konow: Systematische Zusammenstellung der bisher bekannt gewordenen
Chalastogastra. In: Zeitschr. f. Hym. u. Dipt. 1901— 5.
6a) Die Familie der Pamphiliden selbst schaltet indessen wegen des Baues der
Kopfkapsel aus, der sie zu den übrigen Symphyten in denselben Gegensatz bringt,
wie z. B. die Seolien und Mutillen zu Sapygen und Ameisen.
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Abb. 2.
Abb. 3. er «Ahr: 4,
Unterkieferaußenlade von Uroesus (Tenthredinide), Vorderansicht. Lage der
Grubenkugel ( yk) abweichend von den Anetropoden und Apocriten (Fig. 2—5).
Dasselbe von Cepkus, Hinteransicht. Das hintere Blatt oder Velulum (ab)
ist reich beborstet, ein eigentliches Velum ist nieht differenziert.
Dasselbe von Gasteruption (Evanide). Das Velulum ist in der Grund-
hälfte zerstreut kurzborstig und medianwärts ‚durch eine bärtige Fläche (b)
begrenzt, die auch bei den meisten Aculeaten wiederkehrt (Fig. 4 u. 5): der
Borstenkamm der Aculeaten fehlt. Ein zart bewimpertes Velum (v) ist vor-
handen.
Dasselbe von Pemphredon (Sphegide). Das Velulum ist auf der Fläche
nicht beborstet, trägt aber den charakteristischen Borstenkamm (bk) und grund-
wärts die bärtige Fläche #. Das Velum (v) ist glattrandig. Die beiden ge-
strichelten Linien deuten die vorderseitige Querteilung der Außenlade an,
4150 Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler.
Ahnenform der Symphyten und damit aller Hymeno-
pteren entwerfen, so müssen wir die ımaginalen Merk-
male der Tenthrediniden (Fehlen der Bandborsten der Vorder-
schiene und -ferse, Fehlen mittelständiger Schiensporne) vereinen
mit denoben erwähnten altertümlichen Merkmalen der
Pamphilinen-Imagines (Bau des Unterkiefers), womit wir die
rezenten Blattwespen alsAhnenformen des ganzen Stam-
mes ausgeschaltet haben.
Durch Vereinigung der Cephiden mit den Siriciden zur Unter-
gruppe der Oephina ıst der Begriff der alten Uroceriden oder Holz-
wespen wieder zur Geltung gebracht. Außer den längst bekannten
übereinstimmenden Merkmalen dieser Gruppe ist der Besitz des
von Demoll’) bei Sirer entdeckten grubenförmigen Riechorgans
im Endglied der imaginalen Lippentaster nn dessen Phylo-
genese re von Demdl gegebene Deutung als Stiboreflexor aller-
dings kaum bestätigen dürfte. Die Cephiden (und Xiphydriiden)
sind im Bau der Mundteile recht altertümlich und zeigen wichtige
Anklänge an die bei den Apocriten obwaltenden Vere so-
wohl ın der Struktur der Unterkieferaußenlade wie ın der Bebors-
tung des Paraglossensockels. Die Unterkieferaußenlade läßt bei den
Gephiden (Abb. 2) schon die für alle Apocriten charakteristische Gliede-
rung der Hinterfläche ın einen lateralen (ab) und einen medianen (gk)
Abschnitt erkennen. Die seitliche Begrenzung des letzteren durch
einen verbreiterten Randsaum ın Form des Velums der apocriten
Hymenopteren ist allerdings noch kaum angedeutet, aber bemerkens-
wert ist die Beborstung des lateralen Abschnittes, aus der wir den
Borstenkamm der Aculeaten ableiten können, wenn wir uns von
den über diesen (etwa als „hinteres Innenblatt“ *) zu bezeichnenden)
Absehnitt verteilten Borsten nur dıe randständigen erhalten denken.
In dieser Hinsicht bietet die Hinterseite der Unterkieferaußenlade
gewisser tropischer Pompiliden, deren „hinteres Blatt“ außer dem
randständigen Borstenkamm auch flächenständige Borsten trägt, be-
sonderes Interesse. Die Übereinstimmung mit der Aculeaten-Unter-
kieferaußenlade wırd bei manchen Cephiden (z. B. Janus) noch da-
durch erhöht, daß das hintere Innenblatt grundwärts weichhäutig
wird und starke Wimperung zeigt und die Vorderseite der Außen-
lade durch eine Querfurche in zwei Teile gegliedert erscheint. In-
wieweit Nöphydria ım Bau des Unterkiefers von den Cephiden ab-
‘) Demoll: Die Mundteile der Wespen, Tenthrediniden und Uroceriden, so-
wie über einen Stiboreceptor der Uroceriden. Z. wiss. Zool. Band 92. 1909.
7a) Weiter hinten (siehe Übersicht über die Sphegiden) wird hiefür der kürzere
Terminus „Velulum“ eingeführt. Das ..Velum“ bildet, wenn man sich den Kiefer-
fuß quer zur‘ Körperlängsachse gestellt denkt (also nach Art eines Laufbeines), die
Vorderkante der Kieferfußaußenlade, das „Velulum‘ ihre Hinterkante. Letzteres
ist bisweilen in einen auf der Innenseite der Außenlade frei herabhängenden Lappen
erweitert (vgl. z. B. die Sphegini).
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Carl Börner. Stammesgeschichte der Hautflügler. 151
weicht, lasse ich hier unberücksichtigt, bemerke nur, daß auch hier
die als Vorläufer des Borstenkammes aufgefaßten Borsten des
hinteren Blattes der Außenlade vorhanden sind. — Die für viele
apocrite Hymenopteren charakteristische bürstenartige Beborstung
des Paraglossensockels zeichnet in gleicher Weise Xiphydria und
die Cephiden vor den Pamphilinen und Etropoden aus. — Die
Siriciden aber verdanken ihre eigenartige Mundbildung einer hoch-
gradigen Rudimentation der Unterkiefer und der Unterlippe, die
der mächtig vergrößerten terminalen Riechgrube des Unterlippen-
tasters zugute gekommen ist; ursprüngliche Verhältnisse vermag
ich im Bau der Siricidenmundteile im Sinne Demoll’s nicht zu
erkennen. Ob übrigens diese Rudimentation in Korrelation zu der
schon bei Xiphydria erreichten Verschließung der Afteröffnung steht,
sei hiermit zur Diskussion gestellt.
Xiphydria (and seine nächsten Verwandten) als Familie so-
wohl von den Cephiden wie von den Sirieiden zu trennen, erscheint
mir auf Grund der in den vorstehenden Diagnosen mitgeteilten
Merkmale unerläßlich. Ebenso weichen m. E. die Xyeliden so sehr
von den eigentlichen Pamphiliiden ab, daß für sie der Rang einer
Familie gerechtfertigt erscheint. Blasticotoma hatte ich leider keine
Gelegenheit zu untersuchen, seine Zugehörigkeit zu den Pamphi-
liiden i. e. S. bleibt nachzuprüfen. Die Cimbieiden habe ich von den
Tenthrediniden s. str. als Familie abgezweigt, da sie diesen gegen-
über nicht nur durch die Form der Fühler und der Sohlenbläschen
wohlcharakterisiert sind, sondern durch den Besitz der Bandborsten
an Schiene und Ferse der Vorderbeine zu den Anetropoden über-
leiten. Unter den Tenthrediniden endlich sind die Lophyrinen
enger mit den Tenthredininen als mit den Arginen verwandt und
deshalb nur als Tribus bewertet. Die von Enslin°) aufgeführten
Tribus seiner Tenthredininae wären demnach als Subtriben meinen
Tenthredinini einzugliedern.
3. Jculeata und Parasitica.
Die Hauptvertreter der Aculeata und Parasitica hatte schon
Latreille°), der den ersten der beiden Namen schuf, zutreffend
geschieden, die Parasitica aber als Unterabteilung seiner Legimmen
oder Terebrantia aufgefaßt. Ihm folgte Hartig*), nur ersetzte er die
guten Bezeichnungen Latreille’s durch die sachlich unzutreffen-
den Namen Mono- und Ditrocha, ın der Annahme, daß nur die
Legimmen durch sogenannte zweigliedrige Schenkelringe oder besser
gesagt durch den Besitz einesSchenkelgrundringes ausgezeichnet
seien. Hartig’s Irrtum ist dann von den meisten Hymenoptero-
logen unbeanstandet übernommen worden, woran selbst Gerst-
aecker°) nichts zu ändern vermocht hat, der 1867 das Vorhanden-
8) Gerstaecker; Archiv f. Naturgesch., Berlin, Jahrg. 33, 2. Band, S. 307,
MAAS 0 Val PR Be 03 nee ea Bar a vera A di
Y ” er N MR NEE I
152 Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler.
sein des Schenkelgrundringes bei vielen Wespen nachwies. Heute
sollte eine .Gegenüberstellung der Hymenopterenfamilien nach Vor-
handensein oder Fehlen des Schenkelgrundringes nur mit Vorsicht
geübt werden, hiernach aber größere Immengruppen zu unter-
scheiden, ist unzulässig. Stech- und Legimmen anders als durch
den Genitalapparat der Weibehen zu unterscheiden, ist seither nicht
gelungen und dies mag der Grund gewesen sein, weshalb über
die Zugehörigkeit einiger Wespenfamilien zur einen oder andern
Gruppe noch keine Einigkeit erzielt worden ist. Uhrysididen,
Bethyliden, Trigonaliden, Peleziniden und Proctotrupiden sind bald
als Stech-, bald als Legimmen aufgefaßt worden.
Die Legimmen gebrauchen ihren Stachelapparat bekanntlich als
Legeröhre; das Ei wandert bei ihnen durch diese in den Pflanzen-
oder Tierkörper eingeführte Legeröhre hindurch und gelangt so ins
Innere der Wirtspfianze oder des Wirtstieres.
Bei den Stechimmen wird aber das Eı ohne Zuhilfenahme
des Stachels und frei abgelegt, und der Stachel, seiner ursprüng-
lichen Funktion als Legeröhre verlustig gegangen, wurde zum
Wehrstachel vervollkommnet. Wenn es nun statthaft ıst, aus der
Entwicklungsweise der Immen auf die Art der Eiablage der Mutter-
tiere zu schließen, so sind die genannten vier umstrittenen Immien-
gruppen sämtlich den Legimmen oder Parasıten zuzuzählen. Denn
sie sind echte Schmarotzer mit ekto- oder entoparasitischen Larven-
formen und bauen für ihre Brut weder ‚selbst Nester, noch be-
nutzen sie die Nester anderer Immen nach Art der Kuckucksimmen.
Und wenn wir uns dieser Deutung anschließen, gewinnt die Gruppe
der Stechimmen einen einheitlich geschlossenen Charakter nicht
nur in der Bauart des Anogenitalapparates der Weibchen und der
Mundwerkzeuge, sondern auch ın biologischer Hinsicht.
Der Stachelapparat bleibt das wichtigste Erkennungszeichen
der Stechimmenweibehen und ihre stammesgeschichtlich jüngste
(sruppeneigentümlichkeit. Er ist so gebaut, daß er ebensowohl von
einem Phytophagenstachel wie von einem kurzen Schlupfwespen-
stachel abgeleitet werden kann, während sich die langen, besonderen
Lebenszwecken angepaßten Legstachel gewisser Blatt-, Holz- und
Schlupfwespen von der Urform des Immenstachels mehr entfernt
zu haben scheinen. Ob die Giftdrüse des Acnleatenstachels aus
gewissen Drüsenorganen des Legimmenstachels entstanden ıst, die
teilweise wohl (zumal bei Pflanzengewebe durchbohrenden Leginmen)
eine den Stich erleichternde gewebsauflösende Funktion haben
könnten, läßt sich auf dem Wege vergleichender Forschung vielleicht
ermitteln. Merkwürdigerweise haben die letzten Hinterleibsringe
der Stechimmenweibchen (nämlich das 8. und 9. — ein zehntes
gibt es bei den Imagines auch der altertümlichsten Hautflügler-
weibehen nicht, wenn man in Anbetracht der Lage der (er; nicht
an ee ee ee
Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 155
das 9. als aus dem 9. und 10. larvalen Hinterleibsring verwachsen
annehmen will—) eine ähnlich weitgehende Umformung erfahren, wie
bei manchen kurzstacheligen Schmarotzerimmen (Proctotru REN
Peleziniden, Bethyliden). Da aber die letzteren nicht als alter-
tümliche Formen in Frage kommen können, . ıst vielleicht die An-
nahme berechtigt, daß die angedeutete Übereinstimmung nur der
Ausdruck konvergenter Entwicklung ist. Eine gewisse Stütze er-
hält diese Auffassung bei Berücksichtigung der Mund werkzeuge.
Denn diese deuten bei den darın altertümlicher organisierten Stech-
immen unmittelbar. auf phytophagenähnliche Ahnenformen hin,
während wir bei den Schmarotzerimmen keine einzige derart primitiv
verbliebene Form kennen. Als altertümlich fasse ıch dabei den
Besitz des Borstenkammes auf der Hinter- (bezw. Innen-)seite der
Unterkieferaußenlade beı gleichzeitigem Vorhandensein wohlent-
wickelter Paraglossenanhänge auf. Letztere sind ein altererbtes
orthopteroides Merkmal, die Vorstufe der Unterkieferaußenlade der
Stechimmen aber hatten wır bereits bei Besprechung der beı den
Phytophagen obwaltenden Verhältnisse (Abschnitt 2) kennen ge-
lernt. Nun treffen wir allerdings auch bei gewissen Selmarolzer-
wespen eine derart gebaute Unterkieferaußenlade an (bei Bethy-
liden, Chrysididen und Stephaniden). bei diesen Formen sind
aber dıe Paraglossenanhänge verkümmert. Trigonalys andererseits
entbehrt als einzige Schlupfwespe mit primitivem Paraglossenanhang
des Borstenkammes des Unterkiefers.. Wir müßten also auf eine
hypothetische Ausgangsform zurückgreifen, wenn wir die Mundteile
der Stechimmen von denen der Schmarotzerimmen ableiten wollten;
diese Ausgangsforın wäre aber im Bau der Mundteile schon durch-
aus stechimmenartig und vermittelte ihrerseits den Anschluß an die
Phytophagen.
Ähnlich liegen die Verhältnisse, ‚wenn wir die von den Syste-
matikern gern benutzte Flügelbildung zu Rate ziehen. Es unter-
liegt keinem Zweifel, daß die Phytophagen das ursprünglichste
Geäder sowohl der Vorderflügel, wie namentlich auch der Hinter-
flügel aufzuweisen haben. Und wenn auch manche Schlupfwespen
(z. B. die Ichneumoniden) in der Gliederung des Adernetzes
beider Flügelpaare noch erfolgreich mit den Stechimmen wetteifern,
so haben sie doch gerade am Hinterflügel dieselbe weitgehende
Rückbildung des Analfeldes erfahren, die die Mehrzahl der Schlupf-
wespen von der zu fordernden Ausgangsform des Immenhinter-
flügels am weitesten entfernt erscheinen läßt. Das Analfeld des
Phytophagen-Hinterflügels ist ziemlich breit und erinnert darin an
das altertümbche Verhalten niederer Fluginsekten: die bei fast allen
Stechimmen festzustellende lappenartige Begrenzung des Analfeldes
ist bei ıhnen aber noch nicht in Drehung getreten. Merk-
würdigerweise besitzen nun einige Schlupfwespenfamilien (Bethy-
Ir f N
154 Carl Börner, Stanımesgeschiehte der Hautflügler.
o
liden und Chrysididen) Hinterflügel mit abgeschnürtem Anal-
oder Basallappen, so daß man versucht sein könnte anzunehmen,
daß die Verkümmerung des Analfeldes der Hinterflügel der übrigen
Schmarotzerimmen ud dem Umwege über den gelappten Hinter-
Hügel stattgefunden habe, wie ein Gleiches auch für die Entstehung
der en Hinterflügel einiger Stechiımmen (Mutilla und
Ameisen) der Fall sein könnte. Die hypothetische Ausgangsform
der Schmarotzerimmen hätte also wiederum eine weitgehende Über-
einstimmung mit den Stechimmen aufzuweisen, welche die Ableitung
der letzteren von rezenten Schlupfwespen ausschließt.
Die Frage der Verwandtschaft und des relativen Alters der
beiden Sektionen der Stech- und der Schmarotzerimmen, an deren
Trennung wir festhalten, werden wir demnach‘ am besten dahin be-
antworten, daß Vertreter beider Gruppen Anklänge an die symphyten
Hymenopteren bewahrt haben und es wohl möglich ist, die
heutigen Stech- und Legimmen über eine gemeinsame
hypothetische Alınenkorm auf blatt- oder holzwespen-
ähnliche Urimmen zurückzuführen, daß aber dierezenten
Stech-undLegimmen Dichrneimandonahe Ten cı werden
können. Ich erwähne dies hier, weilHandlirsch’) den Gedanken
ausgesprochen hat, daß die Stechimmen Abkömmlinge von Schma-
rotzerimmen sein könnten. Aber dıe Tatsache, daß der Bau des
Hinterleibes bei vielen Schmarotzerimmen recht ursprünglich geblieben
und unschwer aus den bei den Symphyten len Verhält-
nissen zu erklären ist, hilft nicht die mitgeteilten Schwierigkeiten
überwinden, die einer Ableitung der neh Stechimmen-
formen aus Schmarotzerimmen entgegenstehen. Im gleichen Sinne
ist auch die nicht parasitäre Entwicklungsweise der Stechinnmen
sehr wohl aus der phytophagen Lebensweise der Symphyten und
ihrer Ahnen, nıcht aber aus. dem Parasitismus der Schmarotzer-
ımmen herzuleiten. Aber mögen Stech- und Schmarotzerimmen auch
frühzeitig getrennte Entwicklungsrichtungen eingeschlagen haben,
gemeinsam bleiben ihnen die in der Diagnose der Unterordnung
mitgeteilten Charaktere, die es kaum gerechtfertigt erscheinen
lassen, für beide getrennte Entwicklungsherde in der Urzeit der
Immen anzunehmen. Von untergeordneter Bedeutung ist die Frage,
ob man in der Reihenfolge der Familien die Stech- oder die
Schmarotzeriımmen voranstellt.
4. Die Familien der Parasitica.
Die neueren Autoren trennen die Familien der Schmarotzer-
immen nach dem Flügelgeäder, ziehen aber zwecks Einordnung
flügelloser Formen auch andere Merkmale mehr oder weniger ein-
9) Handlirsch: Die fossileu Insekten. Leipzig 1905.
Dan Su Dar Fa ae 25
LE
Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 155
gehend zur Untersuchung heran. Ashmead!") geht sogar so weit,
daß er nach Abzweigung Wer den Stechimmen eingeordneten Proc-
totrupiden (und Pelezinuiden) das große Heer der Schmarotzerimmen
nach dem Besitz oder Fehlen des Vorderflügelstigmas in zwei
Lager, die Sienopili und die Meyaspili, eimteilt. Zu ersteren rechnet
er die Cynipiden, Chaleididen und Mymariden, zu letzteren die
Evaniiden, Trigonaliden, Stephaniden, Braconiden, Ichneumoniden
und Agriotypiden. Dieser Einteilung vermochte ich ‚nicht Folge
zu leisten. Die Schmarotzerwespen sind allerdings von so sehr
verschiedenartiger Gestalt, daß wir, welches Merkmal wir auch in
den Vordergrund stellen, immer wieder auf große Schwierigkeiten
beim Versuch der Abgrenzung einigermaßen natürlicher Verwandt-
schaftsgruppen stoßen. Die bei den Phytophagen und bei den
Stechimmen mit Erfolg verwerteten Mundwerkzeuge, führen uns
bei den Schlupfwespen kaum viel weiter als das Flügelgeäder;
ebenso sind die Ausstattung der Fühler mit Riechorganen oder die
Lagerung und Gestalt des Stachelschlitzes . oder der Ausbildungs-
grad der Analraife des Weibehens nur mit Vorsicht zur Aufstellung
von Gruppen heranzuziehen.
Einigermaßen isoliert steht nur Trrigonalys, den Schmiede-
knecht!') sogar zu den Stechimmen, und zwar im die Nähe der
Mutillen, stellen möchte, der aber biologisch nach Bischoff!?) eme
echte Schlupfwespe, und sogar eine solche zweiten Grades (z. B.
bei Ophion und Tachinen) ist. Trigonalys ist die einzige Schlupf-
wespe mit wohlentwickelten Paraglossenanhängen, entbehrt aber
des bereits mehrfach erwähnten Borstenkammes der Unterkiefer-
außenlade. Sie ist auch die einzige Schlupfwespe mit Sohlen-
bläschen, die bei den Phytophagen und den Stechimmen weit ver-
breitet sind. Der Stachelapparat des Weibchens ıst auffallend klein,
aber kaum hoch spezialisiert, wofür auch das Erhaltensein der Cerei
spricht. Der Errichtung einer besonderen Schlupfwespengruppe für
diese Gattung stehen also kaum Bedenken entgegen, und wır dürfen
sie mit einigem Recht als ziemlich altertümlich auffassen, womit
auch das reichverzweigte Adernetz - der Flügel und die Form der
grundwärtigen Beinglieder in Einklang stehen. Deshalb findet sich
Trigonalys in dem hier entwickelten System den sogen. metaglossaten
Schlupfwespen als archıglossate Form gegenübergestellt.
Unter den metaglossaten Schlupfwespen, die eines wohlent-
wickelten Paraglossenanhanges stets entbehren, haben wir nun
10) Ashmead: The Phylogeny of the Hymenoptera. Proceed. Ent. Society of
Washington. Vol. III. Nr. 5. 1896.
11) Schmiedeknecht: Die Hymenopteren Mitteleuropas nach ihren Grat-
tungen und zum groben Teil auch nach ihren Arten analytisch bearbeitet. Jena 1907.
12) Neue Beiträge zur Lebensweise der Trigonaliden. Berl. Ent. Zeitschrift 1908.
456 Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler.
mehrere Formen, deren Unterkieferaußenlade im Besitz des Borsten-
kammes ursprünglichere Verhältnisse bewahrt haben als Trigonalys.
Dies sind auf der einen Seite die Bethyliden und Chrysididen, auf
der anderen die Stephaniden. Letztere zeigen so weitgehende Über-
einstimmuug mit den Evaniiden, insbesondere auch in der Glieder-
zahl der Kiefer- und Lippentaster, sowie in der Form der Unter-
kieferaußenlade, daß es irrtümlich erscheint, sie mıt den Bethyliden
und Chrysididen nur des Borstenkammes wegen zu vereinigen. Wir
werden vielmehr der Ansicht zuneigen, daß dieser Borstenkamm
der Unterkieferaußenlade wohl ein altererbtes Merkmal aus der
Zeit der ältesten Apocriten vorstellt, aber bei fortschreitender Eigen-
entwicklung mancher Zweige und Zweiglein des Apoeritenbaumes
— wie wir es bei Besprechung der Bienenphylogenese abermals
dargelegt finden werden — nicht immer erhalten geblieben ist. So
a es sich auch erklären lassen, warum Bethyliden und Chrysi-
diden trotz dieses Borstenkammes- in anderer Hinsicht eine hohe
Stufe gestaltlicher Umformung erreichen konnten.
Überblieken wir nunmehr nochmals die gesamten metaglossaten
Schlupfwespen, aber ohne Rücksicht auf den „Borstenkamm“, so
erkennen wir zwei große Lager, die sich durch den Stachelapparat
sowohl wie durch die Ausstattung der Fühler mit Riechorganen
unterscheiden. Im einen Lager (Superfamilie Ichneumonina) stehen
die Stephaniden, Evaniiden, Ohaleididen, Oryssiden, Braconiden,
Cynipiden und Ichneumoniden, im andern (Superfamilie Procto-
trupina) die Proctotrupiden, Peleziniden, Bethyliden und Chrysididen.
Jene besitzen im weiblichen Geschlecht in der Regel Analreife,
diese meines Wissens nie; bei jenen entspringt — um mit Ash-
mead!?) zu reden — der Stachel vor, bei diesen aus der Hinter-
leibsspitze;; bei jenen sind fast immer sogen. streifenförmige Rhinarien
vorhanden, die diesen fehlen. Bei dieser Familienordnung nehmen
aber die Stephaniden wieder eine gewisse Ausnahmestellung insofern
ein, als ihre Rhinarien nicht streifen-, sondern eiförmig sind wie
bei den Peleziniden und gewissen Bethyliden. Wir können unsere
Einteilung aber rechtfertigen, wenn wir annehmen, daß die ın
mehrfacher Hinsicht (Mindieile Hinterleibsgliederung, Plügeladerung)
altertümlichen Stephaniden hinsichtlich rer Rhinarıen auf früherer
Entwicklungsstufe stehen geblieben sind; denn die eiförmigen Rhı-
narien sind sehr wahrscheinlich als Vorstufe für die streifenförmigen
Rhinarien anzusehen und ihrerseits mit den sogen. glockenförmigen
oder mit den plattenförmigen Organen anderer Hautflügler in
genetische Beziehung zu bringen.
Die Schlupfwespen mit streifenförmigen Rhinarıen kann man
nun nach dem feineren Bau der Rhinarien abermals in zwei Gruppen
(Ichneumonina a und b) zerlegen. Die Chitinhaut zeigt im Be-
reich des Rhinariums einen schmalen, durch einen Porus mit
E-
5
2
KG,
Öarl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 457
der Hypodermis in Verbindung stehenden, nach außen durch
eine, zarte, bisweilen über das angrenzende Chitin leistenartig her-
vorragende Membran abgeschlossenen Hohlraum, der ım Leben mit
Teilen der zugehörigen Zellelemente ausgefüllt sein dürfte. Unter
den Blattwespen finden wir bei den Xyeliden am 3. Fühlergliede
ähnliche Rhinarien, bei NXyela ın der für Braconiden und Ichneu-
moniden typischen Ausbildung, bei Pieroneura ın Gestalt glocken-
förmiger Rhinarien . von kreisrundlichem Umriß. Bei den Stech-
immen sind die streifenförmigen Rhinarien auf die Faltenwespen
und (in weniger charakteristischer Ausbildung) verwandte Gruppen
(Pompiliden) beschränkt.
Der Porus der streifenförmigen Rhinarien liegt nun entweder
zentral oder proximal, d.h. an dem der Fühlerwurzel zugekehrten
Ende. Bei Oryssus ist der Porus fast von der Länge des Rhina-
rıums und schmal, nicht einseitig verlagert. Bei den Faltenwespen
ist er Ähnlich wie bei Oryssus von der Länge des Rhinariums,
aber rundlich, nicht schmal. Bei den Ichneumoniden (einschließlich
der Agriotypiden), Braconiden und Cynipiden ist er mittelständig
urd klein ım Vergleich zur Länge des Rhinariums. Bei Chalei-
diern, Evaniiden und Stephaniden liegt der Porus proximal und ist
bald kreisrundlich, bald mehr langgestreckt; bei den Stephaniden
ist der äußere Umriß des Rhinarıums überdies oval und nicht
strichförmig. In den erstgenannten Fällen ist das Rhinarıum also
symmetrisch oder gleichseitig, in den letztgenannten asymmetrisch
oder schief entwickelt.
Der nach Abtrennung der Trigonaliden und der mit streifen-
_förmigen Rhinarien ausgestatteten Familien verbleibende Rest der
Schlupfwespen (Superfamilie Proctotrupina) umfaßt die Peleziniden,
Proctotrupiden, Bethyliden und Chrysididen. Peleziniden und Procto-
.trupiden einerseits, und andererseits die Bethyliden und Chrysididen
finden sich in der neuzeitlichen Systematik bereits paarweise ge-
nähert, ob sie aber untereinander wirklich stammverwandt sind,
blieb ungewiß, obwohl die Bethyliden jahrzehntelang den eigent-
lichen Proctotrupiden eingeordnet waren. Da man als Hauptgrund
zur Abtrennung der Bethyliden von den Proctotrupiden die Gestalt
der Hinterflügel ins Feld führte, darin aber die Bethyliden mit den
; Stechimmen übereinstimmen, hielt man!"!!) die Verwandtschaft
letzter beiden Formenkreise für möglich. » Zu dieser. Frage habe ich
mich weiter vorn bereits geäußert und für meinen Teil an der
engeren Zusammengehörigkeit aller vier in Frage stehenden Familien
festgehalten, und zwar in erster Linie wegen der Bauart des weib-
lichen Anogenitalapparates sowohl wie im Hinblick auf ihre para-
sitäre Lebensweise. Am altertümlichsten erscheinen unter ihnen
"gewisse Bethyliden, an die sich auf der einen Seite die Cleptiden
und Chrysididen,; auf der anderen Seite die Proetotrupiden und
2
158 Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler.
Peleziniden anschließen lassen. Altertümlich ıst an diesen Bethy-
liden die sehr ursprüngliche Gliederung des Hinterleibes derWeibchen,
die Gestalt ‚des Unterkiefers und die Lappung der ‘Hinterflügel,
Merkmale, welche die Chrysididen nur wenig abgeändert beibe-
halten haben. während Proetotrupiden und Peleziniden nicht nur
die Lappung der Hinterflügel, sondern auch den Borstenkamm der
Unterkieferaußenlade verloren haben und die beiden letzten Hinter-
leibstergite (das 8. u. 9.) ihrer Weibchen in der Regel in eins ver-
schmolzen sind. In der Auffassung der Cleptiden als einer Bethy-
liden und Chrysididen verbindenden Mittelgruppe stimme ich
Schmiedeknecht!!) und Bischoff!”*) bei und rechne zu den
Oleptiden nach Ashmead’s'?») und Bischoff’s Vorschlag auch
Amisega und Pseudepyris. Die Gruppeneinteilung der eigentlichen
Chrysididen habe ich aber nach anderen Merkmalen, als sie im
System Bischoff’s gegeben sind, vorgenommen.
5. Haplocenemata und Diplocenemata.
Die Stechimmen, deren Umfang im 3. Abschnitt bestimmt
worden ist, teilt der deutsche Sprachgebrauch seit altersher in
Ameisen, Wespen und Bienen ein. Aber hiermit waren keine
gleichwertigen systematischen Begriffe geschaffen, diese vielgestaltige
Gesellschaft widerstrebte vielmehr hartnäckig einer Gliederung in
natürliche Familiengruppen, so leicht es auch war, ihrer einzelne
gut umgrenzt von den übrigen abzusondern.
Fragen wır hierfür nach einem Grunde, so liegt er meines
Erachtens in einer übermäßigen Bewertung der Form des Vorder-
brustrückens, dessen Seiten bei den einen Stechimmen die Flügel-
schuppen berühren, bei anderen nicht. Nach diesem Merkmal teilte
Ashmead?) die Aculeaten ın seine Gruppen l*a und l*aa ein,
deren erste die Bienen und Grabwespen (Sphegiden s. l.), deren
zweite den Rest der Stechimmen “einschließlich der Proctotrupiden
und Peleziniden) umfaßte. So wurden Bienen und Grabwespen in
ein engeres verwandtschaftliches, stammesgeschichtliches Verhältnis
gebracht, über das alle neueren Spekulationen über die Herkunft
der Bienen zu berichten wußten, das aber nichtsdestoweniger jeg-
licher wissenschaftlichen Begründung ermangelte.
Es ist nicht schwer, für diese Behauptung Beispiele zu geben.
Die Psammochariden (Pompiliden) sollen nach Ansicht der Autoren
näher mit den Sapygiden, Scoliiden und Mutillen verwandt sem
als mit den Sphegiden (s. 1.), weıl bei jenen die Seitenecken des
124) Die Chrysididen des Königlichen Zoologischen Museums zu Berlin. Mitt.
7.001. Mus. Berlin, IV. Band, 1910.
12b) Classification of the fossorial, predacevus and parasitic wasps, or the
superfamily Vespoidea. Paper Nr. S, Can, Entomol. Vol. 34, Nr. 9, 1902,
ne
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I ET NN Ti
; 5 ’ i rra =
Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. ol)
Pronotums die Flügelschuppen berühren, bei den Sphegiden nicht.
Aber man hatte übersehen, daß Psammochariden und Sphegiden
ım Besitz der Hinterbeinputzbürste sind und die Sohlenbläschen
der ersteren auch bei vielen Sphegiden vorhanden sind. Umge-
kehrt zweifelte niemand an der engeren Blutsverwandtschaft aller
Goldwespen, obwohl die einen Gattungen derselben in der Schulter-
bildung mit den Psammochariden oder Scoliiden übereinstimmen,
bei anderen die Flügelschuppen von den Seitenecken desPronotums
weit getrennt sind. Nach K ohl!?) ıst aber auch beı den Sphegiden
die seitliche Ausdehnung des Vorderrückens wechselnd, under erwähnt
dies bereits im ersten Gegensatz seiner großen Bestimmungstabellen.
Ähnlich verhalten sich die Bienen, die allerdings mit den Grab-
wespen gemein haben, daß die Schulterbeulen, wenn überhaupt,
dann von unten her und nicht von vorn an die Flügelschuppen
herantreten. Wir werden diesem Merkmal folglich keine entschei-
dende Bedeutung mehr beimessen, ohne es etwa bei der Familien-
diagnose zu vergessen.
Die hier durchgeführte neue Einteilung der Stechımmen ın
Haplo- und Diplocnemata beruht auf dem Fehlen oder Vor-
handensein einer Hinterbein-Putzbürste (Abb. 5), die ein Analogon
zum Vorderbein-Putzkamm vorstellt. Das Vorhandensein dieser
Bürste ıst unschwer an der zunehmenden Länge der Borsten
am Fersengrunde zu erkennen, während die Borsten dort, wo die
Putzbürste fehlt, wıe ebenso an den Mittelfersen, in der Regel
deutlich an Größe abnehmen. Die Anordnung der Bürstenborsten
ist in der Diagnose der Diplocnematen eingehend geschildert worden.
Wenn bei manchen Vertretern der Haplocnematen die Sohle der
Ferse in ganzer Länge mehr oder weniger dicht behaart ist, so ist
die Anordnung der Borsten und ihr Größenverhältnis am Hinter-
fersengrunde doch stets von jener der Diplocnematen abweichend.
Bienen, Ameisen und die mit den Scoliiden verwandten Immen
sind nicht!?®) im Besitze der Putzbürste, und es ist nicht anzunehmen,
daß sie ihrer wieder verlustig gegangen sein würden, wenn sie sie
je besessen hätten. Damit ist aber auch die Grabwespenabstammung
der Bienen widerlegt, während andererseits die Faltenwespen und
die Psammochariden den Anschluß an die Grabwespen wiederge-
wonnen haben.
13) Kohl: Die Gattungen der Sphegiden. Annal. d. K. K. naturhist. Hof-
museums. Band XI. Nr.3—4. 1897. — Siehe auch: Die Gattungen und Arten
der Larriden. Verh. zool. bot. Ges. Wien 1854, p. 175.
132) Scholz, der in seinen „Bienen ‘und Wespen, ihre Lebensgewohnheiten
und Bauten‘ (bei Quelle & Meyer, Leipzig 1913, S. 50) auf die Hinterbeinputz-
bürste hinweist, nimmt irrtümlicherweise an, daß sie nur den Bienen fehle, aber
bei den Grabwespen im weiteren Sinne (also auch bei den Scolien) vorhanden sei,
NE OR PIRTRONRNENRRTURATER
160 Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler.
Dies Ergebnis wird gestützt durch einen weiteren Unterschied
zwischen Diplo- und Haplocnematen, der das Vorhandensein oder
Fehlen einer Leiste feinster oder gröberer Bürstenbörst-
chen auf der Hinterseite (Innenseite) der Hinterschiene
betrifft. Diese Bürstenleiste, die sich am Schienenende verbreitert
und sich ein kleines Stück auf die Ferse (1. Fußglied) fortsetzt,
kommt allen Vertretern der Diplocnematen zu. Leicht zu erkennen
ist sie u.a. bei Astatus, den Sphegiden, Bembeeiden, Pompilus und
Abb. 5.
5. Hinterbein-Putzbürste von Psammophila (Sphegide), Vorderansicht. ® = vor-
derer, % — hinterer Schiensporn, t{ — Tibia, ta — Metatarsus, p = längste
Borstenreihe der Putzbürste. Die distale Begrenzung der Putzbürste wie hier
bei Psammophila ist selten; meist gehen die Bürstenborsten mehr weniger
allmählich in die Sohlenborsten der Ferse über.
Vespa. In anderen Fällen trıtt sie, namentlich im männlichen Ge-
schlecht, kaum ın Erscheinung, wenn die fraglichen Beinglieder
ringsum pubesziert sind, und das Vorhandensein der Bürstenleiste
wird dann nur aus einer abweichenden Richtung der Börstchen
erschlossen. Bienen, Ameisen und die ameisenähnlichen Stechinnen
besitzen meines Wissens keine solche Bürstenleiste an der Hinter-
schiene.
6. Die Familien der Haplocnemata.
Die Stechimmen dieses Verwandtschaftskreises erscheinen in
zwei wesentlich verschiedenen Grundformen, die in der systemati-
schen Übersicht als Formicina oder Ameisen und als Apidina oder
Bienen bezeichnet worden sind.
Br
un 0 Mt a En rn Se nL=
Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 161
a) Formicina oder Ameisen im weiteren Sinne.
Wie eingangs erwähnt, bilden die Ameisen eine wohlumgrenzte
altbekannte Stechimmenfamilie. Mit der Erkenntnis ihrer Eigen-
art ist aber weder ihre mutmaßliche Herkunft, noch die Frage ent-
schieden, ob ihnen der Wert einer Familie oder, wie Ashmead?)
meint, einer Superfamilie zuzuerkennen ist. Nach den in der
Diagnose der Formieiden genannten Merkmalen zu urteilen, ist
ihre Organisation sehr einheitlich und wenig ursprünglich, aber mit
derjenigen anderer Vertreter dieses Verwandtschaftskreises in engere
Beziehung zu bringen. Dies gilt indessen nur im anatomischen
Sinne; biologisch haben gerade die Ameisen die altertümlicheren
Verhältnisse bewahrt, und wır sınd, dies zu erklären, zu der An-
nahme genötigt, daß von den übrigen Formieinen nur die an ein
Schmarotzerleben angepaßten Formen erhalten geblieben, die bio-
logisch ursprünglicheren Glieder aber ausgestorben (oder noch nicht
entdeckt)sind. Die nächsten Verwandten der Ameisen erblicken wirin
den Mutilliden, denn beide sind durch verkümmerte Paraglossenanhänge
ausgezeichnet. In anderer Hinsicht sind aber die Mutilliden noch
recht vielgestaltig. Wir gelangen zu einer hypothetischen
Ameisenahnenform, wenn wir beispielsweise die Hinter-
flügelform von Mutfilla vereinen mit dem Unterkiefer
einer Myrmosa und den Schienspornen einer Methoca,
um nur die auffälligsten Charakterzüge zu erwähnen. Daß Tiphia
den Mutilliden und nicht den Scoliiden unterzuordnen ist, ver-
steht sich nach Einsichtnahme der hinten neu aufgestellten
Diagnosen von selbst, ebenso die völlige Neugruppierung der bis-
her wesentlich anders umgrenzten Sapysen, Scolien, Myzinen und
Thynniden. Es leuchtet ohne weiteres ein, daß gegenüber den
ım Bau der Mundteile ausgeprägten tiefgreifenden Unterschieden
die bisher verwerteten Merkmale der Stellung der Mittelhüften,
der Form des 2. Hinterleibsringes, der Flügeladerung und Augen-
form entschieden zurücktreten, und dies um so mehr, als darin
Männchen und Weibchen einiger Vertreter erheblich vonemander
abweichen. Dieser Unterschied der Geschlechter, der bei den
Thynniden wohl den Höhepunkt erreicht hat, ıst es auch, der mich
vorläufig von einer Bewertung der Unterfamilien der Scoliiden und
Tbynniden als Familien Abstand nehmen ließ.
Das von mır erst später berücksichtigte Merkmal der altertüm-
lichen Bauart der Ameisenkopfkapsel, deren Mundloch mit
der Oberkieferbucht breit verbunden ist, stellt die Ameisen
in deutlichen Gegensatz zu den Mutillen. Man Ele daraus den
Schluß herleiten, daß die Ameisen so wenig wie die Sapy-
giden die Umformung der Kopfkapsel in die bei den Scolien,
Thynniden und Mutillen bestehende jüngere Form miterlebt haben.
39. Band. 13
DE Ge Be N m Sei a a
y « - en f . Ir
7
162 Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler.
Und wenn diese ältere Kopfkapselform allen Ameisen eigentümlich
ist und unter ihnen wirklich keine Vertreter der Mutillenform vor-
kommen, so könnte man wohl eine Anordnung der Familien der
Formicina nach dem Bau der Kopfkapsel verteidigen. Die Über-
einstimmungen im Mundbau der Ameisen und Mutillen wären dann
auf dem Wege der Parallelentwicklung entstanden zu denken, wie
ähnlich auch unter den Bienen und den Grabwespen die Gattungen
mit verkümmerten Nebenzungen auf verschiedene Ausgangsformen
zurückgeführt werden konnten. Nach der Form der Kopfkapsel
stelle ich auch dıe problematische Konovviella zu den Ameisen, denen
sie aber immerhin wegen des altertümlicher gebauten Hinterleibes
als Familie gegenübergestellt bleiben könnte. Fetschenkia gehört
nach Bischoff zu den Myrmosinen, ob aber Bischoff’s Myrme-
copterina (= Archihymen Enderlein) diesen oder den Konowiellen
zuzuzählen sein wird, ist noch ungewiß, da über den Bau ihrer
Kopfkapsel nichts bekannt ist.
Es ist bemerkenswert, daß auch unter den Bienen (die Colle-
tıden) und unter den Grabwespen (die Psammochariden, Bembeeiden
und Nyssoninen) die altertümlicheren Formen die ältere, von jener
der Symphyten und Orthopteren herzuleitende Kopfkapselform be-
wahrt haben. Bei den Grabwespen scheint aber die Annahme einer
polyphyletischen Entwicklung der jüngeren Kopfkapselform (mit
getrennten Oberkieferlöchern) berechtigt zu sein, da die ın Frage
kommenden Gruppen Beziehungen zu verschiedenen Vertretern der
älteren Kopfkapselform aufzuweisen haben (so die Spheginen zu den
Nyssoninen, speziell Astatus; desgleichen die Philanthinen, doch
wohl mehr zu Gorytes-artigen Formen; die Orabroninen vielleicht
zu den Alyssonen). Indessen liegen hier die Verwandtschaftsver-
hältnisse sehr verschleiert, da fast alle verwertbaren Gruppenmerk-
male zunächst wahllos über das Heer der heutigen -Grabwespen
verteilt erscheinen.
b) Apidina oder Bienen im weiteren Sınne.
Wie die Ameisen und Faltenwespen sind auch die Bienen eine
wohlumgrenzte, natürliche Immengruppe. Sie zeigen aber so große
Unterschiede ın der Bildung der Mundwerkzeuge und in äußeren
Merkmalen, daß sie mit Fug und Recht in mehrere Familien zer-
legt werden können, ein Standpunkt. dem die Bienenforscher be-
reits seit einigen Dezennien Rechnung getragen haben. Indessen
ist über die Gesichtspunkte, nach denen die Abgrenzung der Bienen-
familien zu erfolgen hat, noch keine Einigkeit erzielt worden, da
bald den gestaltlichen, bald den biologischen Unterschieden der
Vorzug gegeben worden ist. Es liegt nicht in meiner Absicht, hier
die Entwicklung der Bienensystematik historisch zu verfolgen; ich
beschränke mich vielmehr auf eine kurze Begründung der hier ge-
°
»
Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 165
.gebenen Einteilung der Bienen in die sechs Familien der Colletidae,
Andrenidae, Halietidae, Nomadidae, Apidae und Megachilidae. Die
drei ersten dieser Familien entsprechen der alten Kirby’schen Gat-
tung Andrena, die letzten drei seiner Gattung Apes. Kirby '*) legte
den Hauptwert auf die Gestaltung der Zunge und so konnte ihm
der große Gegensatz zwischen den kurzrüsseligen niederen Bienen
(Andrena s. ].) und den langrüsseligen höheren Bienen (Apis s. 1.)
nicht verborgen bleiben ; und unsere heutige Aufgabe ıst es, dieser
Einteilung Kirby’s erneut Geltung zu verschaffen, nachdem schon
Ashmead?’) ähnliche Wege gegangen ist. Es wird gewiß nie-
mand leugnen, daß biologische Eigentümlichkeiten bei Ergründung
verwandtschaftlicher Beziehungen mit Erfolg verwertet werden
können. Hat man aber die Wahl zwischen verschiedenen bıologi-
‚schen Charakteren, so wird eine Entscheidung im der Regel noch
schwieriger zu treffen sein, als wenn zwischen verschiedenen ge-
staltlichen Gegensätzen zu wählen ıst. Bei den Bienen können wir
beispielsweise einerseits soziale und solitäre, andererseits Kunst-
bienen und Kuckucke und unter den Kunstbienen Bein- und Bauch-
sammler unterscheiden. Nun durfte man von vornherein annehmen,
daß verwandten Gattungen auch die gleiche Art des Pollensammelns
zukommen würde, da diese von bestimmten morphologischen Ein-
richtungen abhängig, also schließlich auch ein morphologisches Merk-
mal ist, Als man aber erkannt hatte, daß die der Pollensammel-
apparate entbehrenden Kuckucksbienen von verschiedenen Kunst-
bienen abzuleiten sind, stand man vor der Schwierigkeit, die Zu-
teilung der Kuckucksbienen zu den ihnen verwandten Kunstbienen
ohne Rücksicht auf die Pollensammelapparate vorzunehmen, die
dadurch erheblich an systematischem Wert eingebüßt zu haben
schienen. Dies indessen mit Unrecht, da sıch bald herausstellte,
daß die verschiedenen Gruppen der Kunstbienen ihre eigenen, von
denen der anderen deutlich unterscheidbaren Kuckucksbienen be-
sitzen. Wie die polyphyletische Herkunft der Kuckucksbienen, war
eine solche auch für die sozialen Bienen denkbar, nachdem die
ersten Anfänge geselligen Zusammenlebens beı verschiedenen So-
litärbienen (Halictus, Panurgus, Euglossa) festgestellt worden waren.
Und v. Buttel-Reepen'), der am tiefgründigsten dem Problem
der Entstehung des Bienenstaates nachgegangen ist, hält eine ge-
trennte Entwicklung des Meliponen- und Apis-Staates auf Grund
wichtiger biologischer Unterschiede zwischen beiden Bienenstaaten-
formen für wahrscheinlich. Es wird nicht ohne Interesse sein,
14) Kirby: Monographia apum Angliae. 2 Bände 1802.
15) Ashmead: Classification of the bees, or the Superfamily Apoidea.
Transaet. Am. Ent. Soc. XXVI. May 1899.
16) v. Buttel- Reepen: Leben und Wesen der Bienen. Bei Vieweg, Braun-
schweig 1915.
12%
164 Carl Börner, Stam mesgeschichte der Hautflügler.
daß die im systematischen Teil dieses Aufsatzes mitgeteilten
Diagnosen der Untergruppen der Körbcehensammler (Apididae) diese
Auffassung bestätigen und es gelungen ist, den sozialen Bienen
die ihnen im System zukommende stammesgeschichtliche Stellung
anzuweisen,
In der Verwertung der feineren Strukturyerhältnisse der Mund-
werkzeuge, insbesondere der Zunge und des Unterkiefers, bın ich
noch weiter gegangen als Demoll'), dem wir den Nachweis
engster Zusammengehörigkeit der Gattungen Halictus, Sphecodes
und Nomia verdanken. Wie bei anderen Immen scheint mir auch
bei den Bienen die Entwicklungsstufe der Paraglossen wichtig zu
sein, obwohl ihr Anhang nie so weitgehend rückgebildet wird wie
bei den Goldwespen und einigen anderen Hymenopteren. Wie bei
den Formicina und den Diplocnematen ist auch bei den Bienen der
Paraglossenanhang ursprünglich außer mit Wimpern und Tast-
borsten mit besonderen Geschmacksborsten ausgestattet (so bei
den Colletiden, Andreniden, Halictinen, Megachiliden und manchen
Podaliriinen und Apidinen). Aber schon bei manchen Andreniden
ist die Zahl der Geschmacksborsten auf eins vermindert und den
Halietoidinen, einer Unterfamilie der Halictiden, fehlen sie vollends
ganz ; sie fehlen auch bei vielen Podaliriinen und den jüngeren Apiden.
Um so interessanter ist es, daß sie bei den ursprünglicheren
Gliedern dieser beiden Familien erhalten geblieben sind. Die
eigenartig gestalteten Lippentaster der höheren Bienen finden sich
bereits bei einigen niederen Bienen (Systropha, Rhophites, Melitturgus),
deren Zugehörigkeit zu diesen aus dem Bau anderer systematisch
wichtiger Organe zu beweisen ist. Die Tendenz zur Verlängerung
und Abflachung der Grundglieder der Lippentaster trat offenbar
wit zunehmender Verlängerung der Zunge allmählich m Erschei-
nung und ist erst bei den höheren Bienen als allgemeines Erbgut
festgehalten.
Die isolierte Stellung der Halictiden ıst morphologisch im
Bau der Unterkiefer-Innenlade begründet, biologisch !*) ın ihrer
besonderen heterogenetischen Fortpflanzungsweise. Merkwürdiger-
weise sind allein ın dieser Familie quergegliederte und gleichzeitig
mit Borstenkamm versehene Unterkieferaußenladen (Abb. 6) erhalten
geblieben (Nomiini), die damit die meiste Ähnlichkeit mit der hypo-
thetischen Ausgangsform der Außenlade des Aculeaten-Unterkiefers
bewahrt haben. Umgekehrt bleibt bei den Andreniden und Col-
letiden die Gestalt der Unterkiefer-Innenlade ursprünglicher und
der Borstenkamm der Außenlade in der Regel vorhanden, während
17) Demoll: Die Mundteile der solitären Bienen. Z. wiss. Zool. Band 91.
1908.
18) Siehe Armbruster: Zur Phylogenie der Geschlechtsbestimmungsweise
bei Bienen. Zool. Jahıb. Band 40. Heft5. 1916.
ELTERN ADDEN WENRENIOR RUN. a HER.
Jarl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 165
die Quergliederung der letzteren vermißt wird. Im Borstenkamm
eine Neuerwerbung dieser Bienenformen und eine Anpassung an
besondere biologische Eigentümlichkeiten zu erblicken und ihn als
Pollensammelapparat zu deuten, wie es Demoll getan hat, will
mir nicht recht einleuchten. Denn dieser Borstenkamm der
Bienenmaxille ist ein Homologon des bei fast allen Stechimmen
vorkommenden gleichnamigen Organes und dient in der Regel
wohl eher als eine Reuse zur Verhinderung des Eindringens von
Pollen in den Schlund beim Aufsaugen des Blumennektars oder
anderer flüssiger Nahrungssäfte, als zum Sammeln von Pollen.
Abb. 6.
0. Unterkieferaußenlade (Hinteransicht) von Corynura (Halictide). Die sonst
quere Basis der Außenlade ist hier zufolge der eigenartigen Verlagerung der
Innenlade in schräger Richtung sehr verlängert. Das Velulum (ab) trägt außer
dem Borstenkamm keine Haare; die bärtige Fläche (b) ist an der Übergangs-
stelle zur Innenlade erkennbar geblieben. das Velum (v) ist elattrandig.
Colletiden und Andreniden habe ich getrennt, um dadurch
Nachdruck auf die Bauart der Zunge zu legen. die bei jenen mehr
oder weniger ausgesprochen zweilappig bis tief zweiteilig, bei diesen
stets einspitzig ist. Jene erinnern dadurch an viele Wespen und
an die Sapygiden, diese an die Scoliiden, und wahrscheinlich ist
es berechtigt, die Zunge der höheren Bienenformen auf die An-
LE
EN
EN A ra u Sr
166 Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler.
drenidenzunge zurückzuführen, um so eher, als die ersten Anfänge
zur Bildung des die höheren Bienen auszeichnenden Zungenlöffels
schon in dieser Familie zu beobachten sind. Der Besitz des Außen-
ladenborstenkammes bei gleichzeitigem Fehlen des Rückenkammes
des Unterkieferstammes, welch’ letzterer ein wichtiges Merkmal aller
Apididen ist, weist solchen Gattungen (wie Melitturgus) ıhren Platz
unter den Andreniden an. .
Prosopis als Familie von den Colletiden abzutrennen, dürfte
nicht hinreichend zu begründen sein. Wenn sie im System der
Bienen an erster Stelle erscheint, so ıst damit micht gesagt, daß
sie die ursprünglichste rezente Biene sei. Um diesen Ehren-
platz wetteifern mit ıhr dieColletinen so gut wie manche
Andreninen und Halictinen, und wir gelangen zu einem
annähernden Bild der Urbiene nur durch geeignete Ver-
bindung der altertümlichen Merkmale der drei genann-
ten Gruppen (lappıg vortretende Innenlade, mit Borstenkamm
versehene und quergegliederte Außenlade des Unterkiefers; wohl-
entwickelte, mıt Geschmacksborsten versehene Paraglossenanhänge :
Zunge mit offener Speichelrinne'?), breit zweilappig; mit dem
Mundloch verbundene Oberkieferbucht der Kopfkapsel; keine hoch-
entwickelten Pollensammelapparate).
Die Unterschiede der Andreniden und Halictiden beruhen in
erster Linie auf dem verschiedenen Bau der Unterkiefer-Innenlade,
der es unmöglich macht, Ashmead’s'’) Einteilung der hierher
gehörenden Bienengattungen in Panurgidae und Andrenidae beizu-
behalten. Bei einem Vergleich des hier gegebenen Systemes mit
demjenigen von Ashmead erkennt man leicht, daß die Gruppie-
rung der ın Frage kommenden Bienengattungen nach dem Flügel-
geäder ihre natürliche Verwandtschaft nicht erkennen läßt. Dak
dem Sammler und Museologen das Flügelgeäder hervorragende
Dienste leistet, daß es vielfach auch mit anderen Eigentümlich-
keiten Hand ın Hand geht und dann stammesgeschichtlich eindeutig
erscheint, ist eine unbestreitbare Tatsache. Verliert man sich aber
in die feineren Einzelheiten des Flügelgeäders, so wird es !m all-
gemeinen immer schwieriger, hierbei phylogenetische Entwicklungs-
reihen aufzustellen und sie eindeutig zu interpretieren; gar zu
leicht ıst man der Gefahr ausgesetzt, Konvergenzerscheinungen als
Ausdruck engerer Blutsverwandtschaft aufzufassen.
19) Als Speichelrinne bezeichne ich die auf der. Hinter- bezw. Unterseite
der Zunge gelegene Rinne, die sich am Zungengrunde verbreitert und dort den
zwischen Zungengrund und Paraglossen auf die Zungenhinter- bezw. -unterseite hin-
abfließenden Speichel aufnimmt und zur Zungenspitze leitet. Diese Rinne ist ge-
wiß nicht als Saugrohr zu betrachten, durch das die Biene (oder andere langrüsselige
Hymenopteren) die letzten Spuren ihrer Nahrung aufsauge, wie es noch neuerdings
u. a. auch Zander (Der Bau der Biene, Stuttgart, 1911) darstellt.
.
-_
Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 167
Je vielseitiger aber ein Organismus untersucht wird, je mehr
Einzelheiten der verschiedenen Organe man vergleichend berück-
sichtigt, um so leichter wird man diese gefährlichste Klippe aller
systematisch-phylogenetischen Forschung umfahren können. Ich
gebe zu, daß es in unserem Falle nicht weniger verfehlt wäre,
irgend eine hervorstechende Eigenschaft der Mundwerkzeuge ein-
seitig einem System zugrunde zu legen. So wichtig beispielsweise
der Borstenkamm der Unterkieferaußenlade ist, so darf es uns
doch nicht Wunder nehmen, daß er als altererbtes Stechimmenorgan
bei der Anpassung an neue biologische Verhältnisse unterdrückt
werden konnte. Dient er wirklich dazu, beim Saugakt einer Verstop-
fung des Schlundes durch Blütenpollen entgegenzuwirken, so leuchtet
es ein, daß er überflüssig wurde, sobald die Saugwerkzeuge (Zunge
und Unterkiefer) verlängert waren und nun der Kopf der Biene
nicht mehr so tief in die nektargebende Blume versenkt zu werden
brauchte; sehen wir sich doch denselben Vorgang bei langrüsseligen
Grabwespen, Faltenwespen und Goldwespen wiederholen. Demnach
ist der Besitz des Borstenkammes der Unterkieferaußenlade kein
untrüglicher Beweis für die Zusammengehörigkeit seiner Träger,
sein Vorhandensein deutet vielmehr nur auf ein stammesgeschicht-
lich höheres Alter im Vergleich zu Formen hin, die ihn nicht mehr
besitzen. Ähnlich verfehlt wäre es ja auch, alle jene Bienen zu-
sammenzufassen, deren Paraglossenanhänge die Geschmacksborsten
verloren haben. Wenn aber an den Mundteilen neue Einrichtungen
ın Erscheinung treten, wie beispielsweise der bei den Habletini und
Nomioidini erwähnte Wimperkamm der Maxillenaußenlade, oder wenn
die Paraglossen eine eigenartige, vom Urtyp abweichende Gestalt an-
nehmen, wie.bei den Panurginae, Dasypodinae und Halictoidinae, dann
wird man sich berechtigt halten dürfen, die derart gekennzeichneten
Gattungen auch dann für stammesverwandt zu halten, wenn das
Flügelgeäder dagegen zu sprechen scheint. Inwieweit die vorge-
schlagene Tribuseinteilung der Halietinae bei Vergleich aller in
Frage kommenden Bienengattungen beibehalten bleiben kann, ist
abzuwarten.
Die alte Einteilung der Bienen in Bein- und Bauchsamnler
und der ersteren ın Bürstensammler und Körbehensamnler ließ
‘sich bei den höheren Bienen aufrecht erhalten und durch Merk-
male ım Bau der Mundwerkzeuge ergänzen. Fassen wir zunächst
den Hauptgegensatz der Bein- und Bauchsammler ins Auge, so
sind jene durch eine freiliegende, diese durch eine von den Man-
dibeln überdachte Oberlippe, letztere ferner durch eine eigenartige
doppelte Ringelung der verlängerten Unterkieferaußenladen, auf
die schon Dem oll!”) aufmerksam gemacht hat, gekennzeichnet.
Die Bauchsammler und die von ihnen abzuleitenden Kuckucksbienen
sind überhaupt sehr einheitlich gebaut. Wegen der durchweg ur;
168 Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler.
sprünglich beborsteten Paraglossen müssen wır übrigens annehmen,
daß sie sich schon frühzeitig vom Heer der höheren Bienen abge-
zweigt haben. Dem Bau der Fußklauen nach zu urteilen, dürften
die Stelinen mit den Osmien, die Coelioxinen mit den Megachilen
ın Verbindung zu bringen sein.
Im Vergleich mit den Bauchsammlern und ihren Kuckucken
sınd die Beinsammler recht vielgestaltig und bilden, wie bereits
angedeutet, zwei große Lager, die Bürsten- und die Körbchen-
sammler. Ob und wie sich die letzteren aus den Bürstensammlern
entwickelt haben, wird nicht leicht zu entscheiden sein, vielleicht
bietet die Gattung Canephorula-Friese einen Hinweis zur Klärung
dieser Frage; sicher aber ist, daß die mit Tast- und Geschmacks-
borsten versehenen Paraglossen mehrerer Körbcehensammler (wie
der Mehrzahl der Bombinen und der Meliponen) nur mehr deren
Anschluß an die niederen Bürstensammler zulassen, die wır unter
den Eucerini zu suchen haben. Nun besitzen fast alle Sammel-
bienen (einschließlich Psithyrus) einen Rückenkamm am Stipes
des Unterkiefers, und man könnte ım Sinne dieses Merkmales die
Bürsten- und Körbehensammler als Einheit den Nomadinen gegen-
überstellen. In solchem Vorgehen würde man durch die ver-
schiedene Art der Behaarung der Unterkieferinnenlade noch be-
stärkt werden. Aber die Nomadinen, die zunächst ganz isoliert zu
stehen scheinen, lassen sich den Üeratinen unschwer anschließen,
mit denen sie nicht: nur die haarlosen Paraglossen, sondern auch
den mit Geschmacksborsten besetzten. vom Zungenrohr oft kaum
abgesetzten Zungenlöffel teilen. Deshalb habe ich diese beiden
Gruppen zu einer Familie zusammengefaßt, zumal sich die Oera-
tinen den Nomadinen nicht nur in den bereits “mitgeteilten
Merkmalen, sondern auch in der schlanken Gestalt der sonst
bei Bienen so auffällig verbreiterten Hinterschienen und -fersen
nähern. Die eigentlichen Podalirsinen zerfallen ın die natürlichen
Tribus der Bucerini, Podaliriini und Xylocopini, deren erster der
formenreichste und altertümlichere ıst und dessen Vertreter hin-
sichtlich der Unterkieferaußenlade gestaltlich ähnliche Verschieden-
heiten aufweisen wie die Andreniden und Nomadinen. Die Paraglossen
sind bei ihnen, soweit die bis jetzt vorgenommenen Untersuchungen
einen Schluß zulassen, stets mit Tast- und Geschmacksborsten ver-
sehen, während die durch die eigentümliche Gestalt des Zungenlöffels
charakterisierten Podaliriinen ebensolche (Habropoda) oder nur be-
wımperte (Alykenella)?®) oder ganz kahle, grundwärts mehr oder
weniger schuppige Paraglossen (P odalriik s. str.) aufweisen; bei
20). Als Typus dieser neuen, meinem Freunde Alfken gewidmeten Bienengat-
tung Alfwenella bezeichne ich Podalirius quadrifasciatus. Weitere Zugehörige
dieser Gattung sind Podal. zonatus, eirculatus und albigena, während Pachymelus
und Paramegilla im Paraglossenbau mit Habropoda übereinstimmen.
Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 169
den Xylocopen kommen ursprünglich behaarte Paraglossen m. W.
nicht mehr vor, im übrigen ist die Übereinstimmung im Maxillenbau
zwischen ihnen und den Podalirien sehr auffällig.
Die Körbehensammler, deren höchstentwickelte Vertreter be-
kanntlich Apis und die Meliponen sind, leben fast alle ın Staaten
oder Familienverbänden. Morphologisch sind ihrer drei Gruppen
zu unterscheiden, deren erste die Hummeln mit zweispornigen
Hinterschienen, deren zweite die Bienen mit spornlosen Hinterschienen
und bestachelten Weibchen, deren dritte die Meliponen mit eben-
falls spornlosen Hinterschienen aber stachellosen Weibchen umfaßt.
Die Hummeln wie die Meliponen enthalten Gattungen mit ursprüng-
lich beborsteten Paraglossen, die Paraglossen der Honigbienen ent-
behren aber — wie jene der Hummelgattung Eulema”!) — sowohl
der Tast- wie der Geschmacksborsten. Man könnte demnach
Apis vielleicht an Errlema-ähnliche Körbehensammler anschließen,
muß sich aber bewußt bleiben, daß die Euglossen mit bombus
(und Psithyrus) die stark verlängerten, eng geringelten Unter-
kieferaußenladen teilen, Organe, die bei Apis (und den Melı-
ponen) ursprünglicheren Bau bewahrt haben. Damit schalten
die Bombinen als unmittelbare Vorläufer der Apinen
und Meliponinen aus. -Und da die Meliponen der bei
ihren altertümlicheren Vertretern mit Tast- und Ge-
schmacksborsten versehenen Paraglossen wegen, wie
auch wegen der grobborstigen Behaarung der beı Apis
zart- und wimperhäutigen, bläschenartigen Unterkiefer-
innenlade (um von den bei den Meliponen erhaltenen Resten des
Borstenkammes der Unterkieferaußenlade und anderen morpho-
logischen und biologischen Unterschieden zu schweigen) nicht
von Apis abgeleitet werden können, so bleibt uns nur
die Möglichkeit, eine hypothetische Ahnenform für die
heutigenGruppenderKörbchensammler zu konstruieren.
7. Die Familien der Diplocnemata,
Wie aus der Familienübersicht hervorgeht, gehören hierher
außer den Grab- und Sandwespen auch die eigentlichen oder
Faltenwespen, jene die Superfamilie der Sphegidina oder Ento-
mophila, diese die Superfamilie der Vespina oder Diplopteryga bil-
dend. Daß die bisher den Scoliiden genäherten Psammochariden
(Pompiliden) hier einzureihen sind, ergibt sich daraus, daß sıe die
Putzbürste der Hinterbeine besitzen; ım übrigen schließen sie sıch
21) Die bisher in einer Sammelgattung Kuglossa zusammengefaßten Hummeln
sind nach dem Paraglossenbau wenigstens auf 2 Gattungen zu verteilen: Kuglossa
s. str. umfaßt mit smaragdina als Typus die pelzigen Arten mit Paraglossen, deren
Anhang auf der ganzen Fläche bewimpert ist und auch eine Geschmacksborste
trägt. Die Paraglossen der Eulema-Arten sind dagegen nur am unteren Rande be-
wimpert und entbehren der Geschmacksborsten (z. B. eordata und (dimidiata).
4
IR: Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler.
in der Mundbildung “und mit den Sohlenbläschen der vier ersten
Fußglieder eng an die eigentlichen Grabwespen an.
a) Sphegidina oder Grabwespen im weiteren Sinne.
Die Vielgestaltigkeit der Grab- und Sandwespen betrifft den
feineren Bau der Mundwerkzeuge und andere Merkmale der all-
gemeinen Erscheinung (Körpergestalt, Habitus) wie einzelner Körper-
teile (Sohlenbläschen, Schiensporne, Flügeladerung). Es gibt Formen
mit glattrandigem und mit wimperrandigem Velum, Formen mit
wohlentwickelten und mit verkümmerten Paraglossen, Formen mit
kurzen und mit verlängerten Mundteilen, Formen mit freier und
mit verdeckter Oberlippe und Kopfkapselformen nach Art der
Sapygen oder anderer niederer Hautflügler sowohl wie nach Art
der Scolien und Mutillen. Rechnet man die im Besitz oder Fehlen
der Sohlenbläschen nachweisbaren Unterschiede hinzu, so ergibt
sich auch ohne Berücksichtigung weiterer Eigentümlichkeiten (Augen-
form, Gestalt des 2. Hinterleibsringes, Schenkelgrundring) eine
größere Anzahl scharf getrennter Gattungsgruppen, denen ich teils
Familien- teils Unterfamilienrang zuerkannt habe.
Vergleicht man nun die Grabwespenfamilien Ash mead’s W222)
oder die Gattungsgruppen von Kohl") und Handlirsch??) mit
den Gruppen meines Systemes, so fallen große Unterschiede ın
ihrer Zusammensetzung auf. Die Ansicht Kohl’s. daß zu einer Auf-
lösung der alten Sphegiden in mehrere selbständige Familien jede
Berechtigung fehle und selbst eine Einteilung m Subfamilien durch
isoliert stehende Gattungen erschwert werde —eine Anschauung, die
andere Forscher, wie z. B. Ducke?), auch auf die Bienen über-
tragen zu müssengeglaubt haben — dürfte durch die hier neu auf-
gestellten Diagnosen widerlegt sein. In Zweifel könnte man allenfalls
sein, ob nicht gar sämtliche von mir unterschiedenen Unterfamilien
besser als Familien zu bewerten sind. Die Natürlichkeit dieser letz-
teren steht nach unseren heutigen Kenntnissen außer Zweifel, und es
dürfte ein Leichtes sein, die von mir noch nicht untersuchten Grab-
wespengattungen des K ohl’schen Systemes dem meinigen einzufügen.
DiePsammochariden finden mit ıhrem glattrandigen Velum
und den mit Sohlenbläschen versehenen Fußgliedern ungezwungen
Anschluß an die Astaten, aus deren hypothetischen Ahnenformen
sie hervorgegangen gedacht werden können. Sie für phylogenetisch
älter zu halten, liegt kein Grund vor: sowohl die Verlängerung
22) Handlirsch: Monographienreihe der mit Nysson und Bembex verwandten
(rabwespen. Sitzber. kais. Akad. d. Wissensch. Wien 1887—1895.
22a) Olassification of the entomophilous wasps, or the superfamily Sphegoidea.
Canad. Entomol. Vol. 31, 1899, Nr. 6—9, 11,12.
23) Ducke: Die natürlichen Bienengenera Südamerikas. Zool. Jahrb. Bd. 34.
Heft 1. 1912.
Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. A
der Hinterbeine, wie die an die Formicina erinnernde Form des
Vorderbrustrückens können als Eigenschaften jüngeren Alters ge-
deutet werden. Ihre Selbständigkeit als Familie bleibt indessen
unberührt; die Stammesgeschichte ihrer Gattungen wird aber unter
eingehender Berücksichtigung der feineren Struktur der Mund-
werkzeuge — ich erinnere hier an das Vorkommen reichlicher Be-
borstung des vom Borstenkamm begrenzten Seitenfeldes auf der
Hinterseite der Unterkieferaußenlade bei afrikanischen, nicht näher
bestimmten Formen, die ich bei unseren europäischen Vertretern
dieser Familie nicht bemerkt habe -— einer erneuten Prüfung zu
unterwerfen sein.
b) Vespina oder Faltenwespen im weiteren Sinne.
Die Faltenwespen zerlegt man nach biologischen Gesichts-
punkten in drei Gruppen, die man bald als Familien, bald als Unter-
familien bewertet findet. Die eine umfaßt die gesellig oder in Staaten
lebenden (Vespinen), die zweite die solitären, ihre Brut mit In-
sekten fütternden (Eumeninen), die dritte die solitären honig-
sammelnden (Masarinen) Faltenwespen. Wie man die sozialen
Bienen von Solitärbienen ableitet, so sollen auch die sozialen
Wespen Abkömmlinge einsam lebender Wespen sein, und es hat
nicht an Forschern (Handlirsch°®), Ducke::)) gefehlt. die die
raubenden Eumeniden als Vorläufer namhaft gemacht haben. Ducke
geht sogar so weit, daß er einen Teil der sozialen Wespen mit
Eumenes-, einen anderen mit Odyner«s-ähnlichen Ahnenformen in
Verbindung bringt. Nun liegen aber die Verhältnisse bei den
Wespen wesentlich anders als bei den Bienen, bei denen wir in
der Tat von altertümlich organisierten Urbienen (Colletidae) über
kurzzungige Beinsammler ( Andrenidae) morphologisch wie biologisch
zu den staatenbildenden Körbchensammlern und damit auch zur
Honigbiene stammesgeschichtlich emporsteigen können. Bei den
Wespen ist dieser Weg phylogenetischer Forschung nicht gangbar
geblieben, es sei denn, daß unter den Solitärwespen noch solche
Formen festgestellt werden, welche morphologisch den Anschluß
der sozialen Wespen an sie ermöglichen. Vertreter der Zethus-
Gruppe, die ähnlich wie die Kuglossa-Bienen gesellig leben ohne
eigentliche Staaten zu bilden, habe ich leider zu untersuchen keine Ge-
legenheit gehabt”). Die mir bekannten sozialen Faltenwespen (Vespa.
Charterginus, Polistes, Nectarina, Polybia) haben sämtlich einfache
24) Über Phylogenie und Klassifikation der sozialen Vespiden. Zool. Jahrb.
Band 36, 2. und 3. Heft. 1914.
25) Wie ich nachträglich festzustellen Gelegenheit hatte, hat Zethus Unter-
kiefer von Eumenidentyp. könnte also als biologische Zwischenform zwischen den
solitären Eumeniden und /schnogaster bezw. Ischnogasteroides auch vom morpho-
logischen Standpunkt aus sehr wohl in Frage kommen, wenn letztere nicht etwa
doch echte Vespinen sein sollten.
a 3 SRH ET PRO WRRRE LES NS
R ; Me BE ya"
2 Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler.
Fußklauen, doppelte Schiensporne der Mittelbeine und ursprünglich
gebaute Mundwerkzeuge, insbesondere den Borstenkamm der Unter-
kieferaußenlade und kurze, bis schwach verlängerte Zungenanhänge.
Sie erweisen sich in den genannten Merkmalen als altertümlich
organisiert im Vergleich zu den Eumeninen (untersucht sind Bu-
menes, Discoelius, Alastor, Odynerus, Symmorphus, Hoplomerus, Ptero-
chilus), denen sowohl der charakteristische Borstenkamm der Unter-
kieferaußenlade wie meist auch der eine Mittelschiensporn fehlt,
während sie durch gezähnte Fußklauen und geriefte Mandibeln
ausgezeichnet sind. Es sınd demnach morphologisch eher
die Eumeninen von den Vespinen als diese von jenen heı-
zuleiten, unter Berücksichtigung der Biologie werden wir aber für
beide eine mehr den Vespinen genäherte hypothetische Stamm-
form annehmen, die die Lebensweise der heutigen Eumeninen führte.
Sollten übrigens Ischnogaster und Ischnogasteroides. soziale Wespen,
welche nach Ducke gezähnte Fußklauen und eigenartige Man-
dibeln besitzen, auch im Maxillenbau den Eumeninen ähneln, so
würden wır damit tatsächlich, wenn auch nicht in dem von Duck e
angenommenen Umfange, eine polyphyletische Entstehung der
soziälen Wespen nachweisen und in der Lage sein, wenigstens '
diese letztgenannten Sozialen an Eumeninen anzuschließen ?).
Die Masariden. welche manche Forscher ihrer angeblich nicht
faltbaren Vorderflügel wegen für altertümliche Wespen zu halten
geneigt sind, können ebensowenig wie die Vespinen von Eumeninen
abgeleitet werden. Denn ihre Unterkieferaußenlade besitzt den
Borstenkamm und die Fußklauen sind ungezähnt. Als Vorläufer
der Vespinen können sie aber nicht gelten, da letzere ım Zungen-
bau die ursprünglicheren Verhältnisse bewahrt haben. Sie besitzen
wie diese einfache Klauen und die mit Borstenkamm versehene
Unterkieferaußenlade, und die Rhinarien der keulenförmigen Fühler
‚sind noch nicht so langgestreckt streifenförmig wie bei den Vespinen
und Eumeninen. Aber die stark verlängerte tief gespaltene Zunge,
ihre hochentwickelte Einstülpbarkeit, die anscheinend zur Verküm-
merung oder gar zum Verlust des Paraglossenanhanges führte, läßt
die Masınden nur als hoch spezialisierten Seitenzweig hypothe-
tischer Solitärwespen erscheinen, deren Hauptstamm zu Vespinen
und Eumeninen führte. Künftige, auf morphologisch-biologischer
(Grundlage durchzuführende Forschungen werden wohl den Ausbau
des hier kurz skizzierten natürlichen Systemes der Faltenwespen
ermöglichen,
Eu
Dh a in ur
Carl Börner, Stammesgeschiehte der Hautflügler. 0.475
8. Systematische Übersicht über die Familien der Hautflügler.
Ordo Hymenoptera.
Subordo I: Symphyta Gerstaecker.
Syn. Terebrantia Latr. partim.
Securifera Latr.
Ditrocha Hartig partim.
Sessiliventres Haliday.
Chalastogastra Konow.
Phytophaga Gerstaecker, Ashmead.
Imago: Labium (in der ursprünglichen Bauart) primitiv, seine Laden nicht ins
Mundinnere zurückzuziehen; Glossa nicht breiter, meist schmäler als die stets mit
Geschmacksborsten versehenen Paraglossen. Putzkamm der Vorderbeine fehlend oder
doch nicht in der für die Apocrita charakteristischen Ausgestaltung vorhanden.
Fußglieder 1—4 meist mit Sohlenbläschen. Hinterleib dem Thorax breit ansitzend,
1. Hinterleibssegment am Hinterrande nie taillenartig eingeschnürt. Flügel reich
seadert.
j Larve: Stets mit Brustbeinen, oft auch mit Üercis, mit Reetalöffnung und
defaezierend (immer?).
Larven und Imagines phytophag.
Sectio A: Etropoda CB.
Imago: Außenlade des Unterkiefers mit Grubenkegeln grundwärts an der der
Innenlade zugekehrten Schmalseite (nicht auf der Hinterfläche endwärts, Fig. 1).
‘ Endglied der Lippentaster ohne Sinnesgrube. Basalnerv mündet im Vorderflügel
vor oder in den Ursprung des Cubitus. Keine Supraapikalsporne. Vorderschienen
mit 2 Endspornen. Mundloch der Kopfkapsel mit der Oberkieferbucht breit ver-
bunden.
Larve: Mit gegliederten Brustbeinen und stummelförmigen Bauchfüßen, meist
von Blättern lebend.
l. Familie: Tenthredinidae.
Vorderbeine ohne Bandborsten an Schiene und Ferse Fühler nicht keulen-
förmig. Sohlenbläschen am Eudrand der Fußglieder befestigt, einstülpbar.
Unterfamilie: Tenthredininae.
Sohlenbläschen wenigstens teilweise mit Schüppehen oder Haaren besetzt.
Fühler mit 5 oder mehr Gliedern.
Tribus Tenthredinini.
Fühler mit 5—15 Gliedern. — Hierher die Tenthredinen, Dolerinen, Selandriinen
Hoplocampinen, Blennocampinen, Nematinen.
Tribus Lophyrini.
Fühler mit mehr als 20 Gliedern. — Hierher Lophyrus und Monoctonus.
Unterfamilie: Arginae.
Sohlenbläschen kahl. Fühler dreigliedrig. —
Aprosthema.
Hierher Arge, Schizocera,
2. Familie: Cimbicidae.
Vorderbeine am Unterrande von Schiene und Ferse mit bandförmig oder
spatelförmig verbreiterten Borsten (wie bei den Anetropoden, Vorläufer des Vorder-
bein-Putzkammes der Apocrita). Fühler keulenförmig. Sohlenbläschen eroß, dem
Fußgliede breit aufsitzend, nicht einstülpbar.
Tribus Abiini.
1. Adominaltergit mehr weniger frei, hinten ohne „Blöße“. — Hierher Abia,
Amasis, Trichiosoma, Praia, Pseudoclavellaria.
RE Ed
FMH N KA Kr Ei TE
174 Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler.
Tribus Cimbieini.
1. Abdominaltergit in ganzer Breite fest mit der Hinterbrust verwachsen, hinten
mit „Blöße“. — Hierher Cimbex.
Sectio B: Anetropoda CB.
Imago: Außenlade des Unterkiefers (bei den ursprünglicheren Vertretern) mit
Grubenkegeln auf der endwärtigen Hälfte ihrer Hinterfläche (wie bei den Apocrita,
Fig. 2). Schiene und Ferse der Vorderbeine stets mit Bandborsten.
Larve: Ohne Bauchfüße, in Gespinsten oder im Pflanzeninnern lebend.
Subsectio: Pamphiliina.
Brustbeine der Larve gegliedert. Endglied der Lippentaster ohne Riechgrube.
Schienen mit Supraapicalspornen, Vorderschienen mit 2 Endspornen.
3. Familie: Pamphiliidae.
Sohlenbläschen herzförmig, breit angewachsen. Legeapparat des @ nicht oder
wenig vorragend. Grundglieder der Unterkiefertaster nicht auffällige verstärkt.
Fühler ohne glocken- oder streifenförmige Rhinarien. Ansatzstelle der Mandibeln
vom Mundloch der Kopfkapsel vollständig getrennt (wie bei Scolien, Mutillen, Cra-
broninen). — Hierher als Unterfamilien die Pamphiliinae und Blasticotominae.
4. Familie: Xyelidae.
Sohlenbläschen verkümmert. Legeapparat des 2 weit vorragend. Grund-
glieder der Unterkiefertaster auffallend kräftig. Fühler mit auffallend langem
3. Glied, das glocken- oder streifenförmige Rhinarien trägt. Kopfkapsel wie bei den
übrigen Symphyten. — Hierher Xyela, Pleroneura.
Subsectio: Cephina.
Brustbeine der Larven ungegliedert. Endglied der imaginalen Lippentaster
mit Riechgrube (Demoll’s Stiboreflexor). Vorderschienen mit 1 Endsporn. —
Entwicklung im Innern von Halmen oder holzigen Pflanzenteilen.
5. Familie: Cephidae.
Sohlenbläschen nackt, einfach, am Endrande der Fußglieder. Supraapical-
sporne vorhanden. Mundteile ursprünglich. Paraglossensockel vorderseits mit bürsten-
artig angeordneten Borsten. Innenlade der Unterkiefer mit Basallappen, Außenlade
(Fig. 2) hinterseits grobborstig behaart. After offen. Cerei vorhanden. — Typische‘
(rattung Cephus.
6. Familie: Xiphydriidae.
Sohlenbläschen nackt, doppelt, am Endrande der Fußglieder. Keine Supra-
apicalsporne. Mundteile ursprünglich. Innenlade der Unterkiefer ohne Basallappen.
After geschlossen. Cerci vorhanden. — Typische Gattung Xiphydria.
7. Familie: Sirieidae.
Sohlenbläschen verkümmert, die borstenfreie Mittellinie der Fußglieder auf ihr
einstiges Vorhandensein hindeutend. Keine Supraapicalsporne. Mundteile weit-
gehend rückgebildet, Riechgrube des Lippentasterendgliedes aber groß, terminal.
After geschlossen. ÜOerci fehlen. — Typische Gattung Sirex.
Subordo Il: Apocrita Gerstaecker.
Syn. Terebrantia Latr. partim (= Pupivora Latr.) — Aculeata Latr.
Ditrocha Hartig partim — Monotrocha Hte.
Petioliventres Haliday.
Clistogastra Konow.
Entomophaga und, Aculeata Gerst.
Heterophaga Ashmead.
Imago: Labium mit ins Mundinnere zurückziehbaren Laden, Glossa stets breiter
und meist auch länger als die, vielfach weitgehend rückgebildeten, Paraglossen.
Carl Börner, Stammesgeschichte der Hauttlügler. j 175
Vorderbeine stets mit Putzkamm, der von einer differenzierten Borstenreihe der
Ferse und dem einzigen, als Daumen opponierbaren Schiensporn gebildet wird (vgl.
die Notiz bei den Cimbiciden). Hinterleib meist mit Tailleneinschnürung zwischen
dem 1. und 2. Segment (Ausnahme Oryssiden).
Larven: Ohne Brust- und ohne Bauchfüße, afterlos und nicht defaezierend.
Phytophag oder carnivor.
Sectio C: Parasitica.
, Q mit Legestachel, die Eier ins Innere von Pflanzen oder Tieren ablegend.
7. Abdominalsternit beim ® nie die — oft verschmolzenen — Tergite des 8. und
). Segmentes umschließend. Hinterleibsringe nicht selten teilweise verschmolzen.
Hinterbeine nieht mit Putzbürste. Entwicklung ekto- oder entoparasitisch, an oder
in von @ nicht paralysierten Arthropoden, meist Insektenlarven oder deren Eiern.
Mundloch der Kopfkapsel anscheinend stets mit der Oberkieferbucht breit verbunden
(wie bei den meisten Symphyten).
Subsectio: Archiglossata CB. (Diplomorpha Förster).
Paraglossen mit breitem, mit Geschmacksborsten versehenem ‚Anhang. Fuß-
glieder mit nackten Sohlenbläschen. Hinterflügel ungelappt.
8. Familie: Trigonalidae.
Innenlade des Unterkiefers (wie bei Cephiden) mit Basallappen; Außenlade
quergeteilt. Trochanter mit obsoleter Querteilung; Schenkelgrundring abgeschnürt.
3 Labial-, 6 Maxillartasterglieder. Fühler ohne streifenförmige Rhinarien. Flügel
reich geadert. Tailleneinschnitt zwischen 1. und 2. Hinterleibsring. — Typische
Gattung Trigonalys.
Subsectio: Metaglossata CB.
Paraglossen mit mehr weniger verkümmertem Anhang, dem Geschmacksborsten
stets fehlen. Fußglieder ohne Sohlenbläschen.
Superfamilie: Ichneumonina.
Geißelglieder der Fühler mit strich- oder (selten) eiförmigen Rhinarien.
Hinterleibsgliederung der Weibchen im Anogenitalkomplex in der Regel insofern
ursprünglich, als S. und 9. Tergit getrennt und Cerci erhalten geblieben sind.. Der
Stachelapparat ragt vor der Hinterleibsspitze (also mehr oder weniger ähnlich wie
den Symphyten) heraus. Hinterflügel stets ungelappt. Maxillaraußenlade meist ohne
„Borstenkamm“ (Ausnahme Stephaniden). ;
a) Porus der Rhinarien in der basalen Hälfte gelegen.
9 Familie: Stephanidae.
Ähnlich der folgenden Familie, auch mit 4 Labial- und 6 Maxillartaster-
gliedern, aber die quergeteilte Maxillaraußenlade mit „Borstenkamm“ und die
Rhinarien der Fühlergeißel von eiförmigem Umriß (ähnlich denen der Peleziniden).
Flügeladerung altertümlich. — Typische Gattung Stephanus.
10. Familie: EKvaniidae.
Fühler nicht gekniet, keine Annelli. Seitenecken des Pronotums berühren die
Tegulae. Rhinarien strichförmig (immer?). Femur mit oder ohne Schenkelgrundring.
-4 Labial-, 6 Maxillartasterglieder. -- Hierher 1. die Evanünae, 2. die Gasteruptioninae
mit. den Triben der Gasteruptionini und Aulaeini.
11. Familie: Chaleididae.
Fühler gekniet, am Grunde der Geißel mit 1 oder mehreren Annellis. Rhinarien
strichförmig. Seitenecken des Pronotums berühren die Tegulae nicht. 3 Labial-,
4—5 Maxillartasterglieder. Mit oder ohne Schenkelgrundring. — Mehrere Unter-
familien und Tribus, einschließlich der Mymarinae,
176 Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler.
.
b) Porus «der Rhinarien mittelständig oder von der Länge des Rhinariums (bei
Oryssiden).
12. Familie: Oryssidae.
Körperform ähnlich wie bei den Symphyten, keine Tailleneinschnürung zwischen
dem 1. und 2. Abdominalsesment. Strichförmige Rhinarien mit schmalem, fast die
Länge des ‚Rhinariums erreichendem Porus. Fühler nahe dem. Clypeus eingelenkt.
3 Labial-, 5 Maxillartasterglieder. Außenlade des Unterkiefers quergeteilt, mit
breitem Velum ; Innenlade breit. Schenkelgrundringe an allen 3 Beinpaaren. Stachel
lang, ins Leibesinnere eingezogen, Stachelscheide (Styli) kurz. Bauchplatte des,
7. Hinterleibsringes beim @ mit einem den Stachelschlitz deckenden Lappenanhang.
— Typische Gattung Oryssus.
13. Familie: Braconidae.
Tailleneinschnürung zwischen dem 1. und 2. Hinterleibsring mehr minder
deutlich. Strichförmige Rhinarien langgestreckt, mit elliptischem, bisweilen undeut-
liehem Porus. Fühler zwischen den Augen eingelenkt. Taster und Bauchplatte des
7. Hinterleibsringes beim Q wie bei den Oryssiden. Stachel frei oder mehr weniger
eingestülpt, Stachelscheide meist lang. Außenlade des Unterkiefers nicht quergeteilt,
mit meist breitem, wimperrandigem Velum. Bauchplatten der vorderen Hinterleibs-
ringe nicht verkürzt. Schenkel mit oder ohne Grundring. 3 Labial-, 4 oder 5
Maxillartasterglieder. — Mehrere Unterfamilien und Tribus, einschließlich der
Megalyriden.
14. Familie: Cynipidae.
Tailleneinschnürung zwischen dem 1. und 2. Hinterleibsring. Strichförmige
Rhinarien langgestreckt mit kleinem, ei- bis kreistörmigem Porus. Fühlereinlenkung
wie bei den Braconiden. Bauchplatte des 7. Hinterleibsringes beim 2 ähnlich wie
bei Oryssiden und Braconiden verlängert, Bauchplatten des 2.—5. Hinterleibsringes
meist stark verkürzt (Ausnahme Anacharitinen). Stachel eingestülpt, Stachelscheide
kurz. Außenlade des Unterkiefers quergeteilt, auf dem Grundabschnitt vorderseits
mit auffallend langen Borsten. Velum bewimpert, meist schmal. #3 Labial-, 3—5
Maxillartasterglieder. Schenkelgrundring oft nicht abgeschnürt. — Mehrere Unter-
familien und Tribhs.
15. Familie: Jchneumonidae.
Rhinarien mit ziemlich großem elliptischen Porus, meist in Anzahl auf den
Fühlergeißelgliedern (bei Agriotypus spärlich). Fühlereinlenkung wie bei Braco-
niden und Oynipiden. Bauchplatte des 7. Hinterleibsringes beim Q ohne Fortsatz,
Stachelscheide meist frei, wie der Stachel kürzer oder länger, Stachel nicht tief in
den Leib eingesenkt. Querteilung der Unterkieferaußenlade undeutlich. Kein
Velum, Schenkelgrundring meist abgeschnürt. 4 Labial-, meist 5 Maxillartaster-
glieder. — Mehrere Unterfamilien und Tribus, einschließlich der Agriotypinae.
Superfamilie: Proctotrupina.
Fühlergeißel ohne strichförmige Rhinarien (eiförmige Rhinarien bei einigen
Formen vorhanden). Der Stachelapparat des Weibchens liegt meist versteckt, der
Stachel tritt scheinbar aus der Hinterleibspitze heraus; Cerei fehlen dem 2 (immer?).
a) Hinterflügel ungelappt. 8. und 9. Abdominaltergit der Weibchen ver-
schmolzen. Unterkieferaußenlade ohne Borstenkamm, quergeteilt, mit Velum.
Fühler ungekniet. Seitenecken des Pronotums berühren die Tegulae. Fühler
zwischen den Augen eingelenkt.
16. Familie: Pelezinidae.
Fühlergeißelglieder mit eiförmigen Rhinarien mit basalem Porus (ähnlich wie
bei den Stephaniden). Große Formen, die 5 mit libellenartig verlängertem Hinter-
Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautftügler. 17%
leib. 3 Labial-, 5 Maxillartasterglieder. Kein Schenkelgrundring. — Typische
Gattung Pelezinus.
17. Familie: Proetotrupidae.
Fühlergeißelglieder ohne ei- oder strichförmige Rhinarien, aber meist mit
wohlentwickelten Riechhaaren. Meist kleine Formen. Schenkel mit oder ohne abge-
schnürten Grundring. 3 Labial-, 4—5 Maxillartasterglieder. Flügeladerung meist
mehr oder weniger vereinfacht. — Mehrere Unterfamilien und Tribus, ausschließlich
der Bethyliden und Mymarinen, einschließlich der Diaprisden und Calliceratiden.
b) Hinterflügel mit Anal- oder Basallappen. 8. und 9. Abdominaltergit der
Weibchen nicht verschmolzen. Unterkieferaußenlade meist mit Borstenkamm und
quergeteilt (Ausnahme Hedychrinae). Innenlade des Unterkiefers hinterseits mit
einigen ringförmigen Sinnesgrübchen. Kein Schenkelgrundring.
18. Familie: Bethylidae.
Hinterleib normal gegliedert, mit S—9 äußerlich erkennbaren Ringen. 8 ab-
dominale Stigmenpaare. Seitenecken des Pronotums bei geflügelten Formen die
Flügelschuppen berührend. Kleine, meist nicht metallschimmernde, z. T. flügellose
Immen. — 2 oder 3 Unterfamilien.
19. Familie: Cleptidae.
Hinterleibsringe ähnlich wie bei den Bethyliden, d. h. Rückenplatten der
vorderen Ringe ohne Randwulst, Bauchplatten ungeteilt. Hintere Hinterleibsringe
beim ' wenig verändert, bis zum 8. Segment mit Stigmen; beim 2 hintere Leibes-
ringe fernrohrartig eingestülpt, stigmenlos, wie in der folgenden Familie. Glossa
kurz, gerundet. Unterkieferaußenlade hinterseits mit mehrreihigem Borstenkamm,
vorderseits quergeteilt. 5 Maxillar-, 3 Labialtasterglieder. — Hierher Cleptes, Ami-
sega und Pseudepyris.
20. Familie: Chrysididae.
Rückenplatten der vorderen Hinterleibsringe mit Randleiste und -furche,
Bauchplatten zweiteilig.. Die hinteren Hinterleibsringe bei g' u. 2 fernrohrartig
ineinander geschoben und in der Ruhe versteckt, so daß äußerlich nur 2—4 Ringe
(d.h. der 2.—3., 4. oder 5.) sichtbar sind. Die eingestülpten Ringe entbehren meist
der Stigmen. Seitenecken des Pronotums meist etwas, bisweilen beträchtlich von
den Flügelschuppen getrennt. Kleine bis mittelgroße, meist metallschimmernde
geflügelte Immen. Hypognath, Fühler dicht über dem Clypeus eingelenkt.
Unterfamilie: Chrysidinae.
Glossa kurz, gerundet. Umterkieferaußenlade vorderseits quergeteilt Taster-
glieder wie bei COleptes.
Tribus Ellampini.
Beborstung der Unterkieferaußenlade hinterseits wie bei Cleptes, mehrreihig. —
Hierher Ellampus, Notozus.
Tribus Chrysidini.
Hinterseits auf der Unterkieferaußenlade nur der einreihige Borstenkamm. —
Hierher Ohrysis, Stilbum, Hedychridium, Holopyga.
} Unterfamilie: Hedychrinae.
Wie die Chrysidinae, aber Unterkieferaußenlade nicht quergeteilt und hinte-
‚seits ohne Borstenkamm, dafür aber mit zahlreichen freien flächenständigen Börst-
chen. Glossa zweilappie.
Tribus Hedycehrini.
. Zunge und Unterkieferaußenlade kaum verlängert. 5 Maxillar-, 3 Labialtaster-
glieder. f u. © mit 3 großen Hinterleibsringen. — Hierher Hedyehrum.
39. Band. 13
178 Carl Börner, Stammesgeschichte der H autflügler.
a Tribus Parnopini.
Zunge und Unterkieferaußenlade bisweilen stark verlängert. Maxillartaster
und Labialtaster bisweilen armgliedrig. / mit 3 oder 4, 2 mit 3 großen Hinter-
leibsringen. — Hierher Parnopes.
Sectio D: Aculeata Latr.
2 mit Wehrstachel (der bisweilen verkümmert) und meist verkümmerten Cereis.
Beim @ bilden Rücken- und Bauchplatte des 7. Hinterleibssegments die scheinbare
Austrittsöffnung für den Stachel, die 7. Bauchplatte halbrinnenförmig meist den
Anogenitalapparat umschließend. Die Eier werden frei (nicht ins Innere von Pflanzen
oder Tieren) abgelegt. Hinterleibsringe nie untereinander verschmolzen. Außenlade
des Unterkiefers bei den ursprünglicheren Formen aller Familien hinterseits mit
Borstenkamm (vgl. Fig. 4 u.5). Am Hinterflügel meist Basal- oder Anallappen oder
beide abgeschnürt (Ausnahmen: einige Wespen, Mutilla, Ameisen). Entwicklung,
soweit bekannt, nicht parasitisch, meist in dem vom 2 gebauten Nest, bisweilen nach
Kuckucksart in fremden Nestern.
Subsectio: Haplocnemata CB.
Hinterbeine ohne Putzbürste. Fühler nicht mit streifenförmigen Rhinarien.
Hinterschienen in der Regel ohne Streifenbürste (siehe bei den Diplocnematen).
Superfamilie: Formicina CB.
Bauchplatte des 2. Hinterleibssegmentes in der Hinterhälfte derart abgeschrägt,
daß der Hinterleib zwischen dem 2. und 3. Segment bauchseits mehr weniger tief
eingeschnitten efscheint (Ausnahme Sapygidae); niemals greift die Bauchplatte des
2. Segmentes mit ihrem Hinterrande dachziegelartig über den Vorderrand der
nächstfolgenden Bauchplatte. Seitenecken des Pronotums die Tegulae von vorn be-
rührend. Schenkel mit oder ohne Grundring. Hinterschiene und -ferse nicht ver-
breitert.
21. Familie: Sapygidae.
Zwischen dem 2. und 3. Hinterleibsring kein tiefer Einschnitt. Mittelschienen
mit 2 Endspornen. Laden der Unterlippe kurz, feinborstig. (Glossa zweilappig,
länger als die Paraglossen. Fazettenaugen nicht nierenförmig. Körperbehaarung
nicht struppig. Sonst ähnlich \der folgenden Familie, namentlich auch im Bau
des: Unterkiefers. Mundloch der Kopfkapsel (wie bei den meisten Symphyten und
den Parasiten) breit mit der Oberkieferbucht verbunden. — Typische Gattung Sapyga.
22. Familie: Scoliidae.
Labium mit wohlentwickelten Paraglossen, deren Anhang außer Wimpern oder
Papillen auch Geschmacksborsten trägt und in der feineren Struktur der ungeteilten
(Glossa mehr weniger ähnlich ist. Innenlade des Unterkiefers stark verlängert, mit
Basallappen ; Außenlade quergeteilt, mit rudimentärem Borstenkamm und glattrandigem
Velum. Taster ursprünglich. Keine Sohlenbläschen. Hinterschienen mit 2 End-
spornen. dg und ® geflügelt. Bauchplatte des 2. Hinterleibssegmentes wie bei der
Superfamilie angegeben. Mittelschienen mit 1 Endsporn (immer?). Unterlippen-
"laden lang, mit schlauchförmigen Haaren oder Papillen; Glossa und Para-
glossen ziemlich gleichlang, erstere ungeteilt. Fazettenaugen nierenförmig. Körper-
behaarung meist struppig. Ansatzstellen der Öberkiefer vom Mundloch der Kopf-
kapsel durch eine Chitinspange vollständig getrennt (wie bei den Pamphiliiden). —
Typische Gattung Scolia, ob auch Oosila”?
23. Familie: Thynnidae.
Paraglossen wie bei den Scoliiden wohlentwickelt, am breiten Anhange mit
Geschmacksborsten und wie die breite gelappte Glossa fein beborstet. Innenlade
des breiten Unterkiefers nicht auffällig verlängert, ohne Basallappen ; Außenlade
Carl Bömer, Stammesgeschiehte der Hautflügler. 179
quergeteilt, mit Borstenkamm und glattrandigem Velum. Taster ursprünglich.
Bauchplatte des 2. Hinterleibssegmentes und Kopfkapsel wie bei den Seoliiden.
2 Mittel-, 2 Hinterschiensporne.
Y Unterfamilie: Myzininae,
‘ und @ ohne Sohlenbläschen, geflügelt. Behaarung und Fazettenaugen wie
bei den Seoliiden. — Typische Gattung Myzine.
Unterfamilie: Thynninae.
g mit Sohlenbläschen und dichter Beinbehaarung, geflügelt. Q ohne Sohlen-
bläschen und mit struppiger, mehr lockerer Beinbebaarung, flügellos. Fazettenaugen
nicht nierenförmig. — Typische Gattung T’hynnus.
24. Familie: Mutillidae.
Paraglossen mit verkümmertem Anhang, dem Geschmacksborsten fehlen; Glossa
kurz, breit, normal entwickelt, feinborstig. Bauchplatte des 2. Hinterleibssegmentes
abgeschrägt. Innenlade des Unterkiefers ähnlich wie bei den Thynniden. Taster
ursprünglich. Keine Sohlenbläschen. Keine Nierenaugen. Kopfkapsel wie bei den
Seoliiden.
Unterfamilie: Mutillinae.
Unterkieferaußenlade quergeteilt, mit glattrandigem Velum. Mittel- und
Hinterschienen mit 2 Endspornen. g meist, @ nicht geflügelt.
Tribus Mutillini.
Unterkieferaußenlade ohne Borstenkamm. Hinterflügel (des &) ohne Basal-
oder Anallappen. — Hierher Mutilla.
Tribus Myrmosini.
Unterkieferaußenlade mit Borstenkamm. Hinterflügel (des 5) mit abge-
schnürtem Basallappen. — Hierher Myrmosa, nach Bischoff zufolge mündlicher
Mitteilung auch Fetschenkia. Ob auch Myrmecopterina Bischoff (= Archihymen
Edln.) ?
Unterfamilie: Tiphiinae.
Unterkieferaußenlade nicht quergeteilt, mit Borstenkamm und wimperrandigem
Velum. Hinterflügel mit abgeschnürtem Basallappen.
Tribus Tiphiini.
g und 2 geflügelt, beide mit je 2 Mittel- und Hinterschienspornen. — Hier-
her Trphra.
Tribus Methocini.
g mit, 2 ohne Flügel; £ mit je 2, @ mit je 1 Mittel- und Hinterschienen-
spornen. — Hierher Methoca.
25. Familie: Formicidae.
Paraglossen und Glossa wie bei den Mutilliden. Unterkieferinnenlade in der
Form ebenfalls ähnlich wie bei den Mutilliden, oft mit dornförmigen Borsten am
Innenrande. Unterkieferaußenlade mit oder ohne Querteilung, stets mit dicht-
borstigem Borstenkamm und (immer?) glattrandigem Velum. Taster meist mehr
weniger verkümmert. Keine Sohlenbläschen. Bei vorhandenen Flügeln Hinterflügel
wie bei Mutilla. Selten je2, meist nur je 1 Mittel- und Hinterschiensporn. @ meist
pleomorph. Keine Niereniaugen. Kopfkapsel wie bei den Sapygiden, Oberkieferbucht
mit dem Mundloch breit verbunden. — Mehrere Unterfamilien und Tribus. Hier-
her gehört auch als eigene Unterfamilie die vielleicht als altertümlichste Ameisen -
form aufzufassende Konowiella Andre.
Superfamilie: Apidina (Anthophila Latr.).
Bauchplatte des 2. Hinterleibssegmentes mit ihrem Hinterrande den Vorder-
rand der folgenden dachziegelartig überlagernd, daher kein Kerbeinschnitt zwischen
13*
180 Carl Börner, Stamimesgeschichte der Hautflügler.
beiden bemerkbar. Seiteneecken des Pronotums die Tegulae meist nicht und wenn,
dann von unten her berührend. Paraglossen meist mit Anhang, dieser oft ver-
längert. Unterkieferinnenlade klein, ohne Basallappen. Unterkieferaußenlade mit
glattrandigem Velum (Fig. 5). Hinterschiene und -ferse meist auffällig verbreitert.
Kein Schenkelgrundring, keine Nierenaugen. — Ihre Brut mit Pollen oder mit
Pollen und Nektar oder Honig versorgend, Imagines meist Nektar, sehr selten ani-
malische Kost zu sich nehmend.
26. Familie: Colletidae.
Zunge zweilappig bis zweiteilig, unterseits mit offener Speichelrinne. Para-
glossen archaistisch, am Anhang stets mit Gesehmacksborsten. Unterkieferinnenlade
archaistisch (ähnlich wie bei Andreniden); Außenlade stets mit Borstenkamm, nie
quergeteilt, ungeringelt. Stipes ohne Rückenkamm. Taster ursprünglich. Sammel-
bienen, die angeblich ihre Brutzellen mit Speichel oder Honigbrei ausstreichen. Larven
sich nicht einspinnend. Kopfkapsel wie bei Sapygiden und Formiciden.
Unterfamilie: Prosopinae. ER
Unterkieferinnenlade lappenartig vortretend. Paraglossen kurz löffeltörmig.
Mentum mit einem durch eigenartige Hautstruktur (3 mit Schuppung, 2 mit Wim-
perung) ausgezeichneten Mittelfeld (vgl. Mutilliden!). Auch die Zunge zeigt Sexual-
dimorphismus. Mundpollensammler. — Typische Gattung Prosopıs.
Unterfamilie: Colletinae.
Unterkieferinnenlade nicht vortretend. Paraglossen mehr weniger verlängert,
reich und lang bewimpert. Mentum ohne Mittelfeld. Zunge — wie bei allen anderen
Bienen — ohne auffälligen Sexualdimorphismus. Beinpollensammler. — Typische
Gattung Colletes (untersucht ferner Caupolicana und Diphaglossa).
27. Familie: Andrenidae.
Zunge lanzettlich bis bandförmig; Speichelrinne durch Einrollung der Zungen-
ränder mehr weniger rinnenförmig geschlossen (die Speichelrinne bisher irrtüm-
licherweise als kapillares Saugrohr für Reste flüssiger Nahrung aufgefaßt!). Zungen-
spitze nicht löffelförmig, meist überhaupt nicht vom Zungenkörper abgegrenzt. - Unter-
kieferinnenlade meist knopfförmig vortretend und grob beborstet; Außenlade meist
mit Borstenkamm, nicht quergeteilt, kurz oder selten verlängert und dann nur end-
wärts unvollkommen geringelt. Stipes ohne Rückenkamm. Paraglossenanhang mit
wenigstens 1 Geschmacksborste. Taster meist ursprünglich gebaut. Beinsammler.
den Pollen meist trocken, selten (Macropis, Melitturgus) befeuchtet einsammelnd
Puppen wie bei den Colletiden ohne Kokon. Ansatzstellen der ÖOberkiefer vom
Mundloch der Kopfkapsel durch eine Spange teilweise oder vollständig abgeschnürt
(so auch bei den folgenden Bienenfamilien). ji
Unterfamilie: Andreninae.
Paraglossen kurz und breit, mit mehreren Geschmacksborsten (ähnlich wie bei
Prosopis). — Hierher Andrena.
Unterfamilie: Panurginae.
Paraglossenanhang mehr weniger verlängert, aber am Ende nicht keilförmig
verbreitert, reich bewimpert, mit wenigen bis nur 1 Geschmacksborste. Außenladen-
borstenkamm selten fehlend. Hierher aus der deutschen Bienenfauna: Macroprs,
Melitta, Melitturgus, Panurgus, Camptopoeum.
Unterfamilie: Dasypodinae.
Paraglossenanhang winzig, schuppig (nicht bewimpert ), mit wenigen Geschmacks-
borsten. — Hierher Dasypoda.
25 Familie: Halietidae.
Zunge wie bei den Andreniden. Unterkieferinnenlade spangenförmig verlängert
und den Zungenstäbehen (d. i. den „Segelhaltern“ der Bienenforscher) angelagert.
Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 481
Stipes ohne Rückenkamm. Taster meist ursprünglich gebaut. Beinsammler und
Kuckucke (Sphecodes), erstere Pollen trocken einsammelnd. Puppen ohne Kokon-
gespinst.
Unterfamilie: Halictinae.
Paraglossenanhang mit wenigen Geschmacksborsten, am Ende nicht verbreitert.
Unterkieferaußenlade quergeteilt (wie bei vielen Formicarien und Diplocnematen).
Tribus Nomiini.
Unterkieferaußenlade an dem dem Velum gegenüberliegenden Rande mit
größeren oder kleineren Borsten, aber ohne Wimperkamm (Fig. 6); Borstenkamm
vorhanden oder fehlend. — Hierher u. a. Nomia, Augochlora. Corynura, Aga-
postemon, Paranomia.
Tribus Halictini/
Unterkieferaußenlade an dem dem Velum gegenüberliegenden Rande mit zier-
lichem Wimperkamm, der von größeren Borsten unterbrochen scheint. Borstenkamm
fehlt. — Hierher u. a. Halietus, Sphecodes, Paragapostemon.
Tribus Nomioidini.
Wimperkamm der Außenlade des Unterkiefers auf ihrer Hinterfläche einen
grundwärts offenen Winkel bildend. — Hierher Nomioides,
‚Unterfamilie: Halietoidinae.
Paraglossenanhang ohne Geschmacksborsten, mehr weniger verlängert und am
Ende etwas keilförmig verbreitert. Unterkieferaußenlade nicht quergeteilt, lanzett-
lich. Borstenkamm fehlt. — Hierher Halictoides, Dufourca, Systropha, Rhophites.
29. Familie: Apididae.
Zunge stets bandförmig, mit geschlossen-rinnenförmiger Speichelrinne. Zungen-
spitze löffelförmig, selten zerschlitzt. Oberlippe frei. Stipes des Unterkiefers oft
mit Rückenkamm; Borstenkamm der Außenlade nur noch selten vorhanden und
dann rudimentär (Xenoglossa), Grundglieder der Lippentaster abgeflacht und meist
auch verbreitert. Hinterschiene und -ferse verbreitert. Der Pollen wird angefeuchtet
eingesammelt. Puppen (immer?) ohne Kokongespinst. Geschmackspapillen am
Zungenlöffelgrunde oder vor dem Löffel, nicht an dessen Ende.
Unterfamilie: Podaliriinae.
Stipes mit Rückenkamm. Pollensammelapparat bei Sammelbienen eine Schien-
und Fersenbürste der Hinterbeine, kein Körbchen. Unterkieferinnenlade mit Grob-
borsten, außer denen auch Feinborsten vorhanden sein können. Solitärbienen.
Tribus Eucerini.
Zungenlöffel wohlentwickelt, vorderseits behaart. Paraglossen bewimpert, mit
Tast- und Geschmacksborsten. Pollenbürste auf der vorderen Beinseite besonders
mächtig entwickelt. Galea meist ungeringelt, seltener (Tetrapedia, Oentris) geringelt.
-— Hierher u. a. Eucera, Xenoglossa, Melissodes, Uentris, Tetrapedia, Exomalopsis.
Tribus Podaliriini.
Pollenbürste wie bei den Eucerin‘. Zungenlöffel auch vorderseits unbehaart,
oft unregelmäßig gestaltet oder fächerförmig zerschlitzt. Galea ungeringelt. Para-
glossen wie bei den Hucerini (Habropoda) oder nur bewimpert (Alfkenella) oder
ganz kahl (Podalirius s. str.).
Tribus X ylocopini.
Zungenlöffel wie bei den Eucerini, Galea wie bei den Podaliriini. Paraglossen
stets kahl. Pollenbürstenhaare auch auf der Beinhinterseite lang. — Typische Gat-
tung Xylocopa.
Unterfamilie: Apidinae.
Oberlippe, Zunge und Lippentaster wie bei den Podaliriinen. Stipes allermeist
mit Rückenkamm. Anußenlade nur selten noch mit verkümmertem Borstenkamm
189 Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler.
(Meliponen, Euglossen), meist ohne ihn. Pollensammelapparat bei Sammelbienen
das sogen. Körbchen an der Hinterschiene, mit dem Pollenschieber (Fersenhenkel) an
der Hinterferse (letzterer bei den Meliponen noch unvollkommen entwickelt, jedoch
nicht ganz fehlend!). Meist-in Gesellschaften oder Staaten lebend.
Tribus Bombini.
Mittel- und Hinterschiene wie bei den meisten übrigen Bienen mit je 1 bezw.
2 Endspornen. Unterkieferaußenlade stark verlängert und eng geringelt. Unter-
kiefertaster zweigliedrig. Weibchen mit Stachel. Innenlade des Unterkiefers klein,
mit Grobborsten. — Zunge vor dem Löffel mit einer Quaste. Paraglossen mit
Tast- und Geschmacksborsten (Bombus und Psithyrus). oder Zunge vor dem Löffel
ohne Quaste. Paraglossen mit oder ohne Geschmacksborsten (Kuglossa und Eulema).
‘Tribus Apidini.
Hinterschienen ohne Endsporn. Unterkieferaußenlade wenig verlängert und
spärlicher geringelt. Grundglied des zweigliedrigen Unterkiefertasters sockelartig ab-
geflacht. Zunge vor dem Löffel ohne (uaste. Paraglossen wie bei Eulema. —
Hierher Apis.
' Tribus Meliponini.
Paraglossenanhang mit oder ohne Geschmacksborsten (diese Bienen sind darauf-
hin noch zu systematisieren!). Ringelung der Unterkieferaußenlade spärlich, Unter-
kiefertaster ungegliedert (knopfförmig). Zunge wie bei Apis. Wehrstachel der 2
verkümmert. Hinterschienen ohne Endsporn. —- Typische Gattung Melipona.
30. Familie: Nomadidae,
Zunge, Oberlippe und Lippentaster wie bei den Apididae. Geschmackspapillen
im Gegensatz zu dieser Familie auf der Vorderseite des Zungenlöffels selbst. Para-
glossen kahl. Hinterschiene und -ferse nicht oder kaum verbreitert. Sammelapparat
bei Sammelbienen eine Schien- und Fersenbürste der Hinterbeine, ähnlich jener der
Antreniden und Halictiden. Rudimente des Außenladenborstenkammes bisweilen
vorhanden (Allodape, Melecta). Puppeu und Pollengewinnung wie bei den Api-
diden. Solitärbienen.
Unterfamilie: Ceratininae.
Stipes mit oder ohne Rückenkamm. Sammelbienen, Pollenbürste (der Hinter-
beine) meist wenig auffällig. Unterkieferinnenlade mit Fein- und Grobborsten, letz-
tere in einer Reihe dichtstehend angeordnet. Galea unvollkommen geringelt. —
Hierher Ceratina, Manuelia und Allodape.
Unterfamilie: Nomadinae.
Stipes ohne Rückenkamm. Kuckucksbienen; Hinterschiene und -ferse ohne
Sammelbürste. Innenlade des Unterkiefers nicht vortretend, fein- und kurzborstig
behaart. Galea ohne oder mit unvollkommener Ringelung. — Typische Gattung
Nomada.
31. Familie: Megachilidae.
Zunge und Lippentaster wie bei den beiden vorhergehenden Familien. Ober-
lippe von den Mandibeln überdacht. Stipes meist ohne, seltener mit Rückenkamm.
Außenlade ohne Borstenkamm, stets mehr weniger verlängert und doppelt geringelt.
Innenlade mehr weniger grobborstig. Geschmacksborsten am Zungenende vor dem
Löffel, dieser sehr klein. Paraglossen am Anhang stets mit Tast- und Geschmacks-
borsten. Bauchsammler oder Kuckucksbienen, einzeln lebend. Der Pollen wird
trocken eingesammelt. Die Larven spinnen zur Verpuppung einen Kokon.
Unterfamilie: Osmiinae.
Zwischen den Klauen ein wohlentwickelter Pulvillus. — Hierher die Osmeinae
und Stelidinae des Ashmead’schen Systems.
Unterfamilie: Megachilinae.
Pulvillus zwischen den Klauen rudimentär. — Hierher gehören Ashmead's
Megachilinae, Anthidiinae und Üoeliowinae.
Carl Börner. Stammesgeschichte der Hauttlügler. 185
Subsectio: Diploenemata CB.
Hinterbeine mit einer dem Putzkamm der Vorderbeine analogen und gleich
gelagerten Putzbürste (Fig. 5); die Bürstenborsten sind am längsten in der Kiellinie
zwischen den beiden Schienspornen und nehmen auf der Seite des größeren Schien-
spornes allmählich an Größe ab; auf der Seite des kleineren Schienspornes grenzen
(sofern Pubeszenz vorhanden ist) an die Bürstenborsten nur kleinere, nicht zur Putz-
bürste gehörende Haare. Unterkieferaußenlade meist quergeteilt. Bauchplatte des
2, Hinterleibsringes meist wie bei den Formieina. Hinterschienen auf der Hinter-
seite (Innenseite) mit einem Längsstreifen kürzerer oder längerer Bürstenbörstchen,
der bei feiner Pubeszenz bisweilen kaum differenziert erscheint (gute Beispiele:
Astatus, Sphex, Pompilus, Bembex, Vespa).
_ Superfamilie Sphegidina.
Flügel in der Ruhe nicht längsgefaltet. Seitenecken des Pronotums nicht mit
einer an die Innenseite des Tegulums herantretenden Ecke. Keine Löffelbildungen
an Zunge und Nebenzungen. Streifenförmige Rhinarien fehlen an den Fühlern
(immer?). Fazettenaugen oval oder nierenförmig. -— Für ihre Brut paralysierte
Gliedertiere eintragend.
32. Familie: Bembecidae.
Seitenecken des Pronotums die Tegulae nicht oder nur von unten her berührend.
Knie der Hinterbeine das Hinterleibsende nicht erreichend. Unterkieferinnenlade
hinterseits ohne ringförmige Sinnesgrübchen (immer?). Paraglossen archaistisch, am
Anhang mit mehreren Geschmacksborsten. Unterkieferaußenlade mit Borstenkamm.
Schenkelgrundring oft an allen 3 Beinpaaren abgeschnürt. Labrum ziemlich groß,
frei, weder vom COlypeus noch von den Mandibeln (in Ruhelage) verdeckt. Mund-
loch der Kopfkapsel nicht von der Oberkieferbucht (der Ansatzstelle
der Mandibel) getrennt. Keine Sohlenbläschen. Kein Pterostigma im Vorder-
flügel; 3 Cubitalzellen.
Unterfamilie: Stizinae.
Mundteile kurz, archaistisch. Velum der Unterkieferaußenlade borsten- oder
glattrandig. Velulum (d. i. das „hintere Innenblatt“ der Unterkieferaußenlade) mit
einem freien Endlappen. 2 Mittelschiensporne. — Hierher Stizus, Sphecius.
Unterfamilie: Bembecinae.
Mundteile, namentlich Maxillaraußenlade und Labialladen, verlängert. Velum
glattrandig, Velulum ohne freien Endlappen. 1 Mittelschiensporn. — Hierher
Bembex, Steniola.
33. Familie: Sphegidae.
Von der vorigen Familie unterschieden durch das unter dem Olypeus und
meist auch unter den Mandibeln (wenn diese in Ruhelage) mehr weniger ver-
steckte Labrum. 2 Mittelschiensporne. Paraglossen mit wohlentwickeltem, mit Ge-
schmacksborsten versehenem Anhang. Vorderflügel mit 3 Cubitalzellen und Ptero-
stigma.
Unterfamilie: Nyssoninae.
Öberkieferbucht wie bei der vorigen Familie mit dem Mundloch der Kopf-
kapsel mehr weniger breit verbunden. Velum borsten- oder glattrandig. Unter-
kieferinnenlade altertümlich, bisweilen mit einem inneren Lappen.
Tribus Nyssonini.
Hinterleib mit gewöhnlicher Gliederung. Füße mit Sohlenbläschen. Velulum
ohne freien Endlappen. — Hierher u. a. Gorytes, Mellinus, Nysson, Astatus.
Tribus Dolichurini.
2.—4. Hinterleibsring sehr groß, die folgenden bei Ruhelage in den 4. einge -
zogen. Sohlenbläschen vorhanden oder fehlend. Velulum ohne oder mit freiem
Endlappen. — Hierher Dolichurus, Trirogma, Aphelotoma.
.
A wa FRE INFTT I TR
i a np,
184 Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler.
Unterfamilie: Spheginae.
Oberkieferansatzstelle vom Mundloch durch eine, bis zum Clypeus reichende
oder mit ihm verwachsene, Spange der Kopfkapsel getrennt. Velum mit glattem
Rande. Unterkieferinnenlade schmal, flach.
‘ Tribus Sphegini.
Tarsen und Pulvillus von gewöhnlicher Bildung. Meist Sohlenbläschen vor-
handen. Mundteile kurz bis halblang, in letzterem Falle mit einem Mentum ähn-
lich dem der Philanthinen. Velulum mit freiem Endlappen. — Hierher Sceliphron,
Podium, Sphex, Chlorion.
Tribus Ammophilini.
Ahnlich den Sphegini, Mundteile stark verlängert, Velulum ohne freien
Endlappen Keine Sohlenbläschen. — Hierher Ammophila, Psammophila.
Tribus Ampulieini.
4. Tarsenglied unterseits haftsohlenartig, das 5. Glied oberseits nahe dem Grunde
des 4. angeheftet. Pulvillus sehr klein. Mundteile kurz, archaistisch, Keine Sohlen-.
bläschen. — Typische Gattung Ampulex.
34. Familie: Crabronidae.
Im Gegensatz zu den Sphegiden nur mit 1 Mittelschiensporn. Sonst wie jene,
aber Paraglossen oft verkümmert, desgleichen die Zahl der Zellen im Vorderflügel
vermindert. Velulum nicht mit freiem Endlappen.
Unterfamilie: Trypoxylinae.
Oberkieferbucht der Kopfkapsel meist wie bei den Nyssoninae (selten durch
eine Spange vom Mundloch + BDE Mir bei Mimesa). Mandibeln von gewöhn-
licher Bauart, wie in der 32. und 33. Familie. Velum glatt- oder borstenrandig.
Ocellen wohlentwickelt.
Tribus Alysonini. \ı
Mentum in der Seitenansicht schief birnförmig, bisweilen mit einer inneren
Bogenspange jederseits, nicht auffallend langgestreckt. Augen von gewöhnlicher
Gestalt. 3 Cubitalzellen im Vorderflügel. Mit oder ohne Sohlenbläschen. Para-
glossenanhang mit oder ohne Geschmacksborsten. — Hierher Alyson, Mimesa,
Psenulus.
Tribus Trypoxylini.
Wie vorige, aber Augen nierenförmig. Keine Sohlenbläschen. Paraglossen-
anhang klein, ohne Geschmacksborsten. Cubitalzellenzahl normal (3) oder ver-
mindert. — Hierher Pison, Trypoxylon.
e
Tribus Oxybelini.
Mentum ähnlich wie bei den Philanthinen. Augen wie bei den Alysoninen.
Sohlenbläschen und Paraglossenanhang wie bei den Trypoxylinen. Die inneren
(einzigen) Diskoidal- und Cubitalzellen der Vorderflügel (meist) verschmolzen. —
Typische Gattung Oxybelus.
Unterfamilie: Larrinae. !
Oberkieferbucht wie bei den Trypoxylinae mit dem Mundloch der Kopfkapsel
verbunden. Mandibeln an der unteren (hinteren) Kante mit einer Kerbe (die grund-
wärts von einem Zahnvorsprung begrenzt sein kann). ÖOcellen meist teilweise ver-
kümmert. 5 oder 2 Cubitalzellen im Vorderflügel,
Tribus Larrini.
Mentum wie bei den Alysoninen und Trypoxylinen, Velum borstenrandig.
Paraglossenanhang ohne Geschmacksborsten. Keine Sohlenbläschen. — Hierher
Larra, Tachytes, Tachysphex. BEN
13 03 A Soil a a Ba FERN
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Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 185
Tribus Palarini.
Mentum wie bei den Philanthinen und Oxybelinen. Velumrand glatt oder
behaart. Paraglossenanhang mit oder Geschmacksborsten. Sohlenbläschen vorhanden
oder fehlend. — Hierher Falarus, Dinetus.
Unterfamilie: Philanthinae.
Oberkieferansatzstelle von dem Mundloch der Kopfkapsel durch eine bis zum
Clypeus reichende, mit ihm aber nicht verwachsene Spange getrennt. Maxillar-
stipes und Mentum lang und schmal, letzteres mit einem mittelständigen Lappen
jederseits (dieser dem Mundinnern zugekehrt). Mandibel wie bei den Trypoxylinen.
Velum borstenrandig. 3 Cubitalzellen im WVorderflügel. Fühleransatzstelle nur
wenig unter Stirnmitte.
Tribus Cerceridini.
Ohne Sohlenbläschen. Paraglossenanhang mit Geschmacksborsten. — Typische
Gattung Üerceris.
Tribus Philanthini.
Mit Sohlenbläschen Paraglossenanhang winzig, ohne Geschmacksborsten. g mit
bärtigem Clypeusrand. — Hierher Philanthus, Trachypus.
»
Unterfamilie: Crabroninae.
Oberkieferansatzstelle vom Mundloch der Kopfkapsel vollständig getrennt.
Mandibeln und Augen von gewöhnlicher Gestalt. Fühler nahe dem Clypeus ange-
heftet. Vorderflügel mit 1—2 Cubitalzellen.
Tribus Pemphredonini.
Paraglossen von ursprünglichem Bau (wie bei Nyssoninen oder Aly en): Velum
glattrandig. Sohlenbläschen vorhanden. 2 Cubitalzellen im Vorderflügel. — Hierher
Pemphredon, Passaloecus, Diodontus, Stigmus.
Tribus Crabronini. >
Paraglossen winzig, ohne Geschmacksborsten. Velum borstenrandig. Sohlen -
bläschen fehlen. 1 Cubitalzelle im Vorderflügel. Mentum wie bei den Larrini oder
Palarini. — Typische Gattung Crabro.
>35. Familie: Psammocharidae (Pompilidae).
Seitenecken des Pronotums die Tegulae vorn berührend. Knie der Hinter-
beine das Hinterleibsende erreichend oder überragend. Imnenlade des Unterkiefers
hinterseits mit feinen (schwer sichtbaren) ringförmigen Sinnesgrübchen; Außenlade
quergeteilt mit Borstenkamm. Velum glattrandig. Glossa und Paraglossen ursprüng-
lich gebaut, Anhang der letzteren mit Tast- und Geschmacksborsten. Fußglieder
mit nackten Sohlenbläschen. — Eine Anzahl Gattungen, deren Gruppierung noch
eingehender Studien über die feinere Struktur der Mundwerkzeuge hedarf. Ober-
kieferbucht mit dem Mundloch der Kopfkapsel breit verbanden. -
Superfamilie Vespina (Diplopteryga Latr.).
Seitenecken des Pronotums mit einer Ecke an die Innenseite der Tegulae
herantretend. Am vorderen Zungenrande, bezw. an den beiden getrennten Zungen-
lappen, ein paar löffelartiger Bildungen. Keine Sohlenbläschen. Fazettenaugen
nierenförmig. Vorderflügel meist in Ruhelage einmal längsgefaltet. Oberkieferbucht
mit dem Mundloch der Kopfkapsel breit verbunden.
>36. Familie: Vespidae.
Vorderflügel mit 3 Uubitalzellen. Maxillartaster mehrgliedrig. Paraglossen
mit wohlentwickeltem Anhang. Fühlerglieder mit streifenförmigen Rhinarien.
Schenkelgrundring wenigstens an den Mittelbeinen, oft auch an den Vorderbeinen,
seltener an allen drei Beinpaaren abgeschnürt. < mit 13, @ mit 12 Fühlergliedern.
Ihre Brut mit tierischer Nahrung fütternd.
186 Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler.
Unterfamilie: Vespinae.
Fußklauen ungezähnt. . Unterkieferaußenlade mit Borstenkamm. Mittelbeine
mit 2 Schienspornen. Mandibeln auf der Außenfläche nicht gerieft. Sozial lebend.
Tribus Polistini.
Labialtasterglieder mit kurzen Borsten mehr weniger gleichmäßig besetzt. —
Hierher u. a. Chartoteuchium, Neetarinia, Polybia und Polistes.
Tribus Vespini.
Drittes Labialtasterglied am Ende mit einer auffällig langen gekrümmten
Borste, an den drei ersten Gliedern oftmals noch weitere kräftige Borsten. — Hierher
Vespa.
Unterfamilie: Eumeninae.
Fußklauen gezähnt. Unterkieferaußenlade ohne Borstenkamm, bisweilen mehr
wen’ger verlängert. Mittelbeine meist nur mit ] Schiensporn. ‚Mandibeln auf der
Rückenfläche gerieft, oft verlängert oder sonst eigenartig gestaltet. Die europäischen
Gattungen solitär lebend, ihre Brut mit Insekten versorgend. Von sozialen Wespen
vielleicht Ischnogaster und Ischnogasteroides hierher gehörend.
Tribus Eumenini.
Paraglossenanhang mit löffelförmigem Ende, mit Tast- und Cieehnaekehursien
ausgestattet (wie bei allen Vespinae). Beborstung der Labialtasterglieder meist wie
bei den Vespini. — Hierher Discoelius, Eumenes, Alastor, Odynerus, Zethus.
Tribus Pterochilini.
Paraglossenanhang ohne Tast- und ohne Geschmacksborsten, endwärts allmäh-
lich verjüngt. Labialtaster mit sehr langen Wimperborsten. — Typische Gattung
Pterochilus.
37. Familie: Masaridae.
Vorderflügel mit, 2—3 Cubitalzellen. Maxillartaster 1 ie (Grlossa sehr
lang, tief gespalten, in einen hinter dem Mentum mehr weniger frei vorragenden
Sack einstülpbar. Fühler in beiden Geschlechtern zwölfgliedrig, keulenförmig, nicht
gekniet, ohne langgestreckte streifenförmige Rhinarien. Kein Schenkel-
grundring abgeschnürt. Unterkieferaußenlade und Mandibeln wie bei den Vespinae,
desgleichen 2 Mittelbeinschiensporne. — Solitäre, honigsammelnde Wespen.
Unterfamilie: Masarinae.
Paraglossen mit löffelförmigem Anhang, klein. Labialtaster mehrgliedrig, wie
bei den Vespini. Typische Gattung Masaris.
Unterfamilie: Celonitinae. '
Paraelossen anhangslos. Labialtaster eingliedrig. Typische Gattung Üelonites.
Metz-St. Julien im März 1918, Berlin-Dahlem im Januar und März 1919.
H. Henning, Mnemelehre oder Tierpsychologie. ö 187
Mnemelehre oder Tierpsychologie?
Eın Schlußwort zu den Angriffen auf die Tierpsychologie.
Von Privatdozent Dr. Hans Henning, Frankfurt a. M.
In seinem neuesten Artikel stellt Herr Dr. Brun!) einige neue
Fragen zur Diskussion, deren Erörterung ein allgemeines Interesse
beanspruchen darf, weıl die wissenschaftliche Lage dadurch be-
trächtlich geklärt wird. Auf die frühere persönliche Polemik des
Herrn Dr. Brun’) gegen mich brauche ich nicht mehr einzugehen,
denn nachdem ich alle Einwürfe und Irrtümer des Herrn Dr. Brun
zurückgewiesen hatte°®), konnte Herr Dr. Brun ın seiner jüngsten
Veröffentlichung auch keinen einzigen Punkt seiner ehe-
maligen heftigen Angriffe mehr aufrecht erhalten, wobei
ich selbst gar en zurückzunehmen brauchte. So gehe
ich denn auf die neuen Punkte ein.
1. Herr Dr. Brun schneidet die wichtigste Frage an, was die
Gegenüberstellung der psychologischen Forschungsmethoden gegen
diejenige der Mnemelehre eigentlich bedeute. Der große Vererbungs-
forscher Johannsen zeigte, daß die Bedeutung der Mneme „bis
jetzt anerkannterweise niemals experimentell züchterisch nachge-
wiesen ist“. Der Physiologe Verworn bemerkt, daß „durch die neuen
Semon’schen Wortbildungen die physiologische Analyse der be-
kannten Tatsachen, die damit bezeichnet werden, um keinen Schritt
weiter gefördert“ wurde. Der Biologe OÖ. Hertwig will „die Ver-
erbungs- und Gedächtnisphänomene als analog. aber nicht als
identisch“ bezeichnen, weıl „auch vielerlei Unterschiede bestehen“.
Der Tierforscher Wasmann „kann es nur für einen Mißgriff halten,
wenn man die moderne Ameisenpsychologie mit dieser (Semon’-
schen) Theorie verquickt; denn sie ıst in sıch selber philosophisch
falsch, weil sie das Individualgedächtnis als wesentlich gleichartig
mit der Vererbung hinstellt, während doch tatsächlich zwischen
beiden bloß eine entfernte Analogie besteht“. Teichmann lehnte
in seinem Nachruf auf Semon dessen ganze Hypothese ab u. s. f.
Und eine psychologische Facharbeit konnte noch nie mit dieser
Terminologie, auch nicht von ihrem Urheber, angefertigt werden,
weil die Mnemelehre, jene Übersetzung psychologischer Fachaus-
drücke ın eine neue Fremdsprache, überhaupt nur einige psycho-
logische Grundbegriffe berücksichtigt. denen sie zudem eine schiefe
Bedeutung beilasr, |
1) Rudolf Brun, Nochmals die Grundlagen der Ameisenpsychologie. Biol.
Zentralbl. 38 (11), S. 499—504, 1919.
2) Rudolf Brun, Die moderne Ameisenpsychologie — ein anthropomor-
pbistischer Irrtum? Ebenda 537 (7), S. 357—372, 1917.
3) Hans Henning, Zur Ameisenpsychologie. Eine kritische Erörterung über
die Grundlagen der Tierpsychologie. Ebenda 38 (5), S. 208-220, 1918. — Forel’s
Zugeständnisse an die Tierpsvchologie. Ebenda 38 (12), S. 35-37, 1919.
E.
a a3 RE FRRER SR SCh Era Man RE Se ah a a ae
188 H. Henning, Mnemelehre oder Tierpsychologie.
Daß die zur Erklärung der tierischen Handlung unterlegten
mnemischen Elemente rein spekulativ sind, möge ein Bei-
spiel zeigen. Herr Dr. Brun erklärt das gegenseitige Erkennen
der Ameisen als Koloniegenossen und Fremde mit „Erscheinungen
komplizierter psychoplastischer assoziativer Gehirntätigkeit, wobei
die normale automatische Kampfbereitschaft der Tiere unterbrochen
oder gehemmt werden kann; teils durch die Ekphorie gewisser
anderer übermächtiger Automatismen (Brutpflegeinstinkt, Königin-
instinkt), teils aber auch durch momentane kombinierte Assoziationen
neuer Engramme unter sich mit früheren mnemischen Kom-
plexen“.
Hier fragen wir: woher weiß der Anhänger der Mnemelehre
denn, daß eine Kampfbereitschaft überhaupt da war, daß sie unter-
brochen und gehemmt wurde? Bisher ist das nur spekulativ be-
hauptet, aber nie experimentell bewiesen worden. Und woher weiß
er, daß Automatismen auftraten. daß sie übermächtig wurden? Wo
ist das Experiment, welches Art und Stärke der Automatismen
belegt? Woher weiß er, daß das Begegnen der Tiere einen Brut-
pflege- und Königininstinkt auslöst? Auch das ist lediglich eine
Spekulation: nirgends ist bewiesen, daß der Erkennungsvorgang
eine Kampfbereitschaft, deren Hemmung, Automatismen und Brut-
pflegeinstinkte einschließt. — Was bedeutet endlich: neue En-
gramme assozueren sich mit früheren mnemischen Komplexen ?
Das ist eine arge Oontradietio ın adjecto, denn die Assoziation ist
durch alle Jahrhunderte hindurch definiert als die „Verknüpfung
gleichzeitiger Elemente“. Diese Unkenntnis über den haupt-
sächlichsten einschlägigen Grundbegriff wird Fernstehenden die
Augen darüber öffnen, mit welcher Sinnlosigkeit wissenschaftliche
Termini in der mnemischen Spekulation benutzt werden, Der Führer
der experimentellen Psychologie G. E. Müller hat einmal ausge-
führt, wohm die Physik geriete, wenn deren Vertreter die ein-
fachsten Grundbegriffe ın dieser Weise zu behandeln beliebten.
Was soll da eine „assoziative Psychoplastik* besagen? Es ıst nur
ein dunkles Bild. Schließlich ıst im Gegenteil doch das Eine klar,
daß der Erkennungsvorgang mit solchen Spekulationen nicht er-
klärt ıst, denn zum Erkennungsvorgang gehören doch wohl Er-
kennungsvorgänge, von denen wir aber bei Brun gar nichts hören.
Daß diese geruchlicher und optischer Art sind, wurde in Experi-
menten schlagend gezeigt. In dieser Weise lassen sich alle mne-
mischen Aufstellungen als Spekulationen kritisch-experimentell zurück-
weisen.
Die Tierpsychologie ihrerseits verurteilt solche spekulative
Deutungen, sie fordert eine Strukturanalyse, die Prüfung des Be-
haviors, und sie nimmt nur experimentell aufgezeigte Faktoren als
Erklärung an. Wenn das mit Ameisensäure bepinselte Tier als Art-
et TEE ie
y IN Me cl
. H. Henning, Mnemelehre oder 'Tierpsychologie. 1489
genosse, das mit Ananasöl bepinselte gleiche Tier als Fremder ge-
nommen wird, so ist z. B. die Rolle des Geruchs bewiesen.
Die Mnemelehre glaubt, das Individualgedächtnis sei bei Insekten
seit hundert Jahren erhärtet, wie auch Herr Brun gegen mich an-
merkt. Allein die Analyse Fabre’s zeigte dann, daß die heim-
kehrende Wespe siclı den Weg gar nicht individuell merkt: man
kann derbe Eingriffe ın die en vornehmen (Bäume
entfernen, Sträucher anpflanzen, Kräuter oder Steine auf das Nest
anbringen, das Nest selbst mit dem Spaten abheben u. s. f.), und
das Tier sucht die verschwundene Türe doch am alten Ort, ohne
dıe offen. liegende Larve zu erkennen; ja diese wird in der ver-
änderten Situation als Feind behandelt; die Orientierung stützt sich
also nicht auf die individuell gemerkte Umgebung, wie man früher
noch annehmen mochte. In andern Fällen genügt ein winziger
Eingriff in die Gesamtsituation (wie vergleichsweise bei manchen
modernen Gemälden), um eine grundsätzlich veränderte Lage zu
schaffen. Da das Individualgedächtnis das Tier also nicht orientiert,
bat die Analyse zu fragen, wo der auslösende Schwerpunkt der
Gesamtsituation liegt. Volkelt sah ihn bekanntlich in der Ge:
staltsqualität, ich selbst in der Bekanntheit der Gesamtsituation.
Allein das ist eine sekundäre Frage gegenüber der Gewißheit, daß
hier kein einfaches Individualgedächtnis mitspielt. — Wer gute Bei-
spiele der tierpsychologischen Methodik lesen will, der nehme die
Untersuchungen der Anthropoidenstation auf Teneriffa (erschienen
in der preuß. Akad. d. Wiss.) zur Hand.
2. Das Wesentliche der neueren tierpsychologischen Richtung
liegt zweitens darin, daß wir die Selbstaussage und die Selbst-
beobachtung ebensowenig brauchen, wie sie in zahlreichen Labo-
ratoriumsversuchen (Arbeit und Ermüdung, Reaktions- und Erfolgs-
versuche und zahlreiche andere Kapitel, über welche jedes Lehrbuch
unterrichtet,) überflüssig ist, und wie sie von Kindern, Verbrechern,
Irren und Naturvölkern im psychologischen Experiment bekannt-
lich nieht gefordert wird. Oder man denke an die Testprüfungen
der Be nr, an die sogenannten unwissentlichen Anordnungen,
in denen der Experimentator im Unklaren gelassen wird. So kann
die experimentelle Tierpsychologie nicht in psychische Anthropo-
morphismen fallen, ihre Versuche binden den Anhänger wie den
Leugner der Tierseele. Dazu bemerkt Herr Dr. Brun, die Psycho-
logie könne „der philosophischen Definition zufolge“ nur intro-
spektive Bewußtseinsphänomene untersuchen. Allein diese Definition
steht auf derselben Stufe wie sein Assoziationsbegriff. Jedes be-
liebige Lehrbuch der experimentellen Psychologie nennt ihm zahl-
lose Experimente ohne Selbstbeobachtung, mu von den
frühesten psychophysischen Versuchen Fechner’s und aufgehört
mit den jüngsten Forschungen an Kriegsverletzten. Über dererlei
,
4196 H. Henning, Mnemelehre oder Tierpsychologie.
gibt es heute keine Diskussion mehr, sondern nur eine Kenntnis-
nahme aus einer Einführung ın die psychologische Wissenschaft,
oder N Kenntnisnehmen.
’. Ist nun die Mnemelehre einer wissenschaftlichen Analyse
der en fähig? Die eingangs genannten Autoren be-
streiten es, und im psychologischen Felde wäre eine mnemische
Erklärung keine Erklärung. Denn die Mneme selbst ist einmal
laut Definition ıhres Begründers eine Unbekannte. Zweitens sind
Prozesse der Pflanzen, niederen und mittleren Tiere, endlich im
menschlichen Großhirn verschiedenerlei, während die Muemelehre
überall dasselbe sieht. Drittens kann ein erblicher Faktor, der wie
die Mneme Gedächtnis und Vererbung identifiziert, überhatipt nur
dasjenige berühren, was eben a wird. Als individuelles
psychisches Leben erhalten wir aber nicht einfach eine Erbmasse
auf den Lebensweg, sondern das Gros des Gedächtnisstoffes; weit
entfernt vererbt zu werden, geht bekanntlich schon dem Individuum
mit der Zeit wieder verloren, wie auch das Gedächtnis und die
Verhaltungsweisen größtenteils individuell erworben werden mußten.
Mit der mnemischen Vererbung läßt sich also ın der Hauptsache
gar nichts anfangen.
Das ee en dıe Seelenblindheiten und die
Kopfschußverletzungen gaben uns einen Einblick ın die Struktur
der Gehirnresiduen, in den verwickelten Aufbau der Residuen-
systeme von Buchstaben, Ziffern, Objekten, Klängen u. s. f.; aber
irgend etwas, was sich auch bei Pflanzen oder Tieren niederer
Stufen offenbaren könnte, kam dabei nicht zutage: etwas gemein-
sam Mnemisches hat da noch kein Psychiater, Psycholog, Physiolog,
Neurolog, Ophthalmolog gefunden. Mit der Mnemelehre waren die
Ausfallserscheinungen bei Kopfschußverletzten nie und nımmer zu
begreifen. So ıst dem heutigen wıssenschaftlichen Stande gemäß
die Großhirnresidue etwas anderes als die auch Pflanzen und
nıederen Tieren zukommende Mneme. Nun meint Herr Dr. Brun,
wenn ich die Mneme mit Johannsen, Verworn, Hertwig,
Wasmann und vielen andern leugnete, dann würde ıch zugleich
die Residuen leugnen, indem er nämlich von sich aus die allgemeine
Mneme mit der Großhirnresidue identifiziert, und wobei er es
seinen Lesern so darstellt, als rühre diese Gleichsetzung von mir
her. Es wäre aber ein unstatthafter Anthropomorphismus, wollte
man die Großhirnresiduen mit der allgemeinen, auch beı Pflanzen
und niederen Tieren vorkommenden (zudem ıhrer Natur nach gänz-
lich unbestimmten und hypothetischen) Mneme in dieser Weise
gleichsetzen: die beim Menschen isolierten Partialresiduen sind
nıemals bei niederen Tieren und Pflanzen möglich, und sie werden
auch beim Menschen nicht als Mneme vererbt.
4. In dem hauptsächlichsten Streitpunkte macht Herr Dr. Brun
neh Ba a a le
A N ei Ka, f LEN
H. Henning, Mnemelehre oder Tierpsychologie. 491
mir nun Zugeständnisse: sein ältester Artikel tadelte mich in
schärfster Weise, weil ich Bethe’sche Reflexphysiologie triebe (ob-
wohl ich mich tatsächlich ausführlich dagegen gewandt hatte!), und
weil ich angeblich Empfindungen, Wahrnehmungen, Assoziation,
Gedächtnis u. s. f. leugne (während ich sie tatsächlich festgestellt
hatte!). Im neuesten Artikel schreibt Herr Dr. Brun von sich
nun: „ich berühre in, meinem polemischen Aufsatz diese Frage
(d. h. die Frage des Bewußtseins, d. h. der Empfindungen, Wahr-
nehmungen u. s. f.) mit keinem Wort“. Nun er berührte das sogar
auf mehreren Seiten (z. B. S. 357-359 u. ö.) ganz ausführlich, wie
jeder nachlesen kann, und Wasmann übernahm diese irrtümlıche
Unterschiebung auch (dieses Zentralbl. 38, S. 127) von Brun, bis
er nachträglich in meinen gegensätzlich lautenden Text Einsicht
nahm. Auf alle Fälle steht also meine Position in der Bewußt-
seinsfrage nun auch ausdrücklich unangetastet da, und die von
Brun mir in seiner Polemik zugedachten Prädikate entfallen.
5. Die moderne Psychologie analysiert überall die peripher
ausgelösten Faktoren des Erlebnisses von den zentral ausgelösten
und dazu tretenden, wie ich an der Hand der Oberflächenfarbe,
der Gestalt u. s. w. schon erörterte, wobei ich auch auf Hering'’s
Ausführungen wies. Herr Brun meint nun, ich ließe ın der Tier-
“ psychologie nur „wesentlich periphere Reizkomplexe“ zu. Hierüber
bin ich wieder starr, hatte ich doch geschrieben: „die Wirksamkeit
solcher zentraler, nicht aus der gegenwärtigen Reizung stam-
mender Vorgänge ist auf alle Fälle erwiesen“, und drückte ich
mich doch überall in diesem Sinne (z. B. „Bekanntheit“) aus. Hier
kann also nur ein Mißverständnis von Herrn Dr. Brun vorliegen,
das sich nach einem Einblick ın ein Lehrbuch der Psychologie ohne
weiteres verflüchtigt hätte.
6. Ihm erscheinen meine Versuche belanglos, welche Gerüche die
natürliche Fährte sperren können. Da Brun selbst (mit Wasmann)
den Fingerversuch durch Sperrung „mit einem für die Ameisen neutral
riechenden Gegenstand“ vorzunehmen empfiehlt, dürfte die Unter-
suchung nicht belanglos sein, welche Gerüche denn eigentlich neutral
sind. Um so mehr lohnten diese Reihen sich, als zugleich ein für
die Tierpsychologie wichtiges Ergebuis, das sich auf das Geruchs-
prisma bezieht, dabei herauskam. Jedenfalls wirkt hier noch der
alte Irrtum Brun’s nach, das Geruchsprisma sei nicht von mir,
sondern schon früher von andern gefunden, und andere Irrtümer
Brun’s, auf deren Berichtigung er nichts mehr entgegnen konnte.
7. In ganz voreiliger Weise hatte Herr Dr. Brun mich eines
Plagiates an Cornetz bezichtigt. Ich zeigte ihm dann, daß ich
alle Arbeiten von Cornetz sogar zitiert hatte, was Brun übersah,
so daß der böse Vorwurf des Plagiates nur eine flüchtige Lektüre
meines Gegners darstellte. Er sucht sich nun mit dem neuen Vor-
199 H. Henning, Mnemelehre oder Tierpsychologie.
wurf aus der peinlichen Situation zu retten, ich hätte Cornetz
nur an einer Stelle genannt und Forschungsergebnisse übergangen.
Das ist nieht der Fall. Denn CGornetz kam zeitlich nach meinem
Geruchsbuch erst mit dem nicht berücksichtigten Artikel heraus,
über den Brun selbst übrigens urteilt, daß seine Gründe „keines-
wegs stichhaltig* seien. Die ungerechte Beschuldigung auf Plagiat
bleibt also auf Herrn Dr. Brun und seiner flüchtigen Lektüre sitzen.
Ss. Während Forel behauptete, die „Atome besitzen Bewußt-
sein“, ebenso die Pflanzen, und während Herr Dr. Brun sich ur-
sprünglich ganz mit Forel identifizierte, tritt er nun auf meine
Seite und wendet sich gegen Forel, indem er die Pflanzenseele
als „naiven Anthropomorphismus“ mißbilligt. Damit gibt er selber
der Mnemelehre den Todesstoß, denn nun sind die Reaktionen der
Pflanzen natürlich ganz etwas anderes als die psychophysischen
Großhirnprozesse. So hat die ganze Polemik dazu geführt, daß
Herr Dr. Brun schließlich meine Position annimmt. Übrigens hat
Forel selbst seine durch sein ganzes Leben und unlängst auch auch
an dieser Stelle gegen mich verfochtene Grundauffassung über
Physisches und Psychisches inzwischen umgeworfen, indem er
neuerdings energisch für die Telepathie eintritt (Journ. f. Psychol.
u. Neurol. 24, S. 77, 1918). Freilich übersah er, daß dieses von
ihm selbst nicht geprüfte Medium in psychologischen Untersuch-
ungen, welche alle Nebenwirkungen und Betrugsmöglichkeiten aus-
schlossen, plötzlich seine Leistungsfähigkeit verloren hatte.- Auch
hier rächt sich die Vernachlässigung der experimentellen Psycho-
logie, welche jede Verständigung auf einer solchen Basıs ablehnen
muß.
Ich komme nun, nachdem alle scharfen Ausdrücke, alle An-
griffe und Anschuldigungen auf meine Person in nichts zusammen-
gefallen sind, auf das Wesentlichste meines ersten Artikels zurück:
es ist nötig, daß der Tierpsycholog die experimentelle Tier-
psychologie beherrscht. Solche Fehler über die Assoziation
und andere Grundbegriffe, wie wir sie feststellen mußten, dürfen
nicht vorkommen, weil sie die wissenschaftlichen Ergebnisse ver-
nichten, an denen wir alle interessiert sind. Nur die Berück-
sichtigung aller Methoden und Gesichtspunkte, auch derer’der Nach-
barwissenschaften, führt zum Ziel.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. -— Druck der Universitäts-
juchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen.
Biologisches Zentralblatt
Begründet von J. Rosenthal
Unter Mitwirkung von
Dr. K. Goebel und DIR, Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München
herausgegeben von
Dr. E Weinland
Professor der Physiologie in Erlangen
en von ee Thieme in Be
39. Band Mai 1919 Nr. 5
ausgegeben am 31. Mai 1219
Ink jährliche Ks nennen: (12 Hefte) beträgt 20 a
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physiolog. Institut,
einsenden zu wollen.
Inhalt: O. v. Frangue, Innere Sekretion des Eierstocks. S. 193.
E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättviekeit. S. 212.
E. Mohr, Nochmals über das „Knacken* beim Rentier. S. 251-
.
Innere Sekretion des Eierstocks.
Von Otto von Franque.
Die Erkenntnis, daß die normale Beeinflussung der Gebär-
mutter von seiten des Eierstocks auf dem Wege der inneren Se-
kretion stattfindet, ist ziemlich jung. Früher herrschte Jahrzehnte-
lang die geistvolle Hypothese Pflüger’s; nach ihm sollte durch die
allmähliche Vergrößerung der Graaf’schen Follikel ein zunehmen-
der Druck auf die im Eierstock befindlichen Nervenendigungen
ausgeübt werden. Diese andauernden, aber sehr geringen Reize
sollten nach dem Rückenmark fortgeleitet und dort in einem nervösen
Zentrum nach einem auch sonst in der Physiologie beobachteten
„Gesetz der Summation der Reize“ aufgespeichert werden, bis sie
eine bestimmte Höhe erreicht hätten; dann sollte reflektorisch eine
Reizung des Gefäßnervenzentrums eintreten, welche eine starke
Erweiterung der Blutgefäße der Gebärmutter und des Eierstocks
hervorruft, wodurch einerseits die Blutung aus den übermäßig ge-
füllten und daher zerreißenden Gefäßen der Gebärmutterschleimhaut
als Periode, andererseits im: Eierstock das Platzen eines eihaltigen
Band 39. 14
DER
194 Ö. v. Franque, Innere Sekretion des Bierstocks.
Follikels und Freiwerden eines befruchtungsfähigen Eichens her-
vorgerufen werden solltee Nervenbahnen und -Reize waren
also das Ausschlaggebende bei dem ganzen Vorgang.
Die Abhängigkeit der menstruellen Blutung, ja der Entwick-
lung und Erhaltung der übrigen Geschlechtsorgane vom Eierstock
ist natürlich schon seit langen Jahren bekannt. Denn seitdem die
Eierstöcke wegen bestimmter Erkrankungen operativ entfernt wurden,
wußte man, daß danach die Periode ganz ausbleibt und daß die
Gebärmutter eine fortschreitende Schrumpfung und Rückbildung
erfährt, geradeso wie zur Zeit des natürlichen Auftretens der Meno-
pause, in welcher die Eierstöcke ihre Tätigkeit einstellen und sich
bei der mikroskopischen Untersuchung nurmehr aus Bindegewebe
zusammengesetzt erweisen, während die Eier und die in ihrer Um-
gebung auftretenden absondernden Gewebsteile vollständig fehlen.
Wurden aber die Eierstöcke bei ganz jugendlichen Menschen oder
Tieren entfernt, so kam es überhaupt nicht zur vollen Ausbildung
der inneren und oft auch der äußeren (feschlechtsorgane.
Doch erst die im Jahre 1895 von Knauer!) an Kaninchen
angestellten Versuche zeigten den Weg der Beeinflussung. Denn
er fand, daß die Funktion ausgewachsener und die weitere Ent-
wicklung kindlicher Geschlechtsorgane in keiner Weise gestört
wurde, wenn die herausgenommenen Eierstöcke sofort wieder an
einer anderen Stelle des Körpers eingepflanzt wurden, sei es nun
in der Bauchhöhle, oder wie andere Autoren dann zeigten, irgendwo
unter der äußeren Haut, im Fettgewebe oder in der Milz. In
allen diesen Fällen war der Zusammenhang der Nerverbahnen voll-
ständig zerstört, nicht sie also konnten die Beeinflussung über-
mitteln, sondern es blieb nur die Wirkung durch chemische Stoffe
übrig, welche in den Blutkreislauf übergingen und durch diesen zu
den weit entfernten Stätten ihrer Wirkung gelangten. Zu diesen
gehören nicht nur die Unterleibsorgange, sondern auch die Brust-
drüse, welche zwar nach Kastration bei Ausgewachsenen nicht
verkümmert, bei Jugendlichen aber nicht zur vollen Entwicklung
kommt. Voraussetzung des Erfolges ist aber, daß die Eierstöcke
an ihrem neuen Standort auch einheilen und wirklich weiter tätıg
sind; das ist keineswegs immer derFall. Es hängt ganz davon ab,
ob von der Umgebung rasch genug neue Blutgefäße in das über-
pflanzte Organ eindringen und dessen Ernährung übernehmen?).
Dies geschieht erst nach 5 bis 8 Tagen; bis dahin ist regelmäßig
ein Teil des wirksamen Eierstocksgewebes zugrunde gegangen, und
ein anderer fällt noch der entzündlichen Reaktion zum Opfer, welche
durch die als Fremdkörper wirkende, z. T. rasch absterbende Ge-
1) Archiv f. Gynäkol. 60.
2) Ribbert, Arch. für Entwieklungsmechanik Band 7; Tscher Nische
Ziegler's Beiträge 59.
N
a a LS Er oe ae ee a Dee
Ö. v. Franque, Innere Sekretion des Eierstocks. 495
e&
websmasse in der Umgebung ausgelöst wird. Die schon ausge-
bildeten oder heranwachsenden Follikel gehen dabei am schnellsten
zugrunde, die Ureier sind am widerstandsfähigsten. Daß sie nach
erfolgter neuer Gefäßversorgung vollkommen unversehrt sich weiter
entwickeln können, wird dadurch bewiesen, daß sogar Schwanger-
schaft eintreten kann, wenn die Wiedereinpflanzung an irgend einer
Stelle der Bauchhöhle erfolgte, so daß die beim Platzen der reifen
Follikel wie in der Norm in die Bauchhöhle gelangenden Eier in
die Eileiter und. die Gebärmutter befördert werden können. Ja
die Schwängerung ist nicht nur bei der Autoplastik möglich, d.h.
der Überpflanzung der Eierstöcke an eine andere Stelle desselben
Tieres, sondern auch bei der Homoioplastik wie die Überpflanzung
von Geweben eines Tiers auf ein anderes Tier derselben Gattung
genannt wird. Auch die Folgen der nach gelungener Transplan-
tatıon wiedereinsetzenden inneren Sekretion zeigen sich bei der
Homoioplastik wıe bei Autoplastik, aber die überpflanzten Eierstöcke
anderer Tiere erfahren eine sehr viel stärkere Schädigung und
gehen in viel kürzerer Zeit häufig zugrunde. Dies hängt mit der
Bildung von sogenannten Abwehrfermenten zusammen, die sich,
wie Abderhalden’s berühmte Untersuchungen gezeigt haben, jedes-
mal ım Körper bilden, wenn demselben irgendwelche fremde Eı-
weißstoffe — und aus solchen bestehen ja auch die Eierstöcke —
einverleibt werden. Geschieht die Einfuhr auf dem gewöhnlichen
Wege durch den Magen und Darm, so findet dort ın der Ver-
dauung der Abbau und Wiederaufbau der fremden Eiweißstoffe
statt. Erfolgt die Zufuhr außerhalb des Eingeweideschlauches,
dann entstehen im Blute und den Gewebssäften die verdauenden,
zur Assımilierung der fremden Körperstoffe dienenden chemischen
Stoffe, eben die erwähnten Abwehrfermente. Bei der „Hetero-
plastik“, d. h. der Überpflanzung vom Gewebe von einer Tierart
auf die andere, z. B. von Katzen auf Kaninchen, sınd diese parenteralen
Verdauungsvorgänge so stark, daß das fremde Organ auf die Dauer
sich nicht erhalten kann, sondern über kurz oder lang, manchmal
allerdings erst nach 2—3 Jahren, spurlos verschwindet. Dagegen
gelingt es etwas leichter, etwa ın 45%, der Versuche, dıe Kierstöcke
und Hoden auf andersgeschlechtige Tiere derselben Art zu über-
pflanzen. Hierher gehören die Aufsehen erregenden Versuche
Steinach’s?), welche z.T. erst den allerletzten Jahren entstammen,
und wohl den überzeugendsten Beweis für dıe Wirksamkeit der
inneren Sekretion der Keimdrüsen erbracht haben. Steinach ent-
fernte bei ganz jungen Tieren die Hoden oder die Eierstöcke und
pflanzte dafür den Männchen Eierstöcke, den Weibchen Hoden ein.
Er erreichte dadurch, daß sich bei den Männchen Warzenhöfe, Zitzen
i
3) Münchener med. Wochenschrift 1918, Nr. 6 (dort die früheren Arbeiten),
: 14*
d Der | ie TER, Vu ET) FILE U 27
A hei Re by ori NuhBL
ERSTEN CSARANTON
196 ©. v. Franqud, Innere Sekretion des Bierstocks.
und Brustdrüsen entwickelten, die ein wiederholtes Säugen erlaubten:
das Wachstum der männlichen Genitalien blieb zurück und der
ganze Körper entwickelte sich in mehr weiblicher Richtung, bekam
z. B. einen’ grazileren Knochenbau und ein geschmeidigeres Haar-
kleid. Ja es fand auch eine Umstimmung des Zentralnervensystems
statt, indem die feminierten Männchen gegenüber ihnen anver-
trauten Jungen mütterliche Gewohnheiten ausübten, bei normalen
Männchen starke Geschlechtslust erregten und sich von ihnen be-
springen ließen. Das Umgekehrte fand bei maskulierten Weibchen
statt. Durch die UÜberpflanzung je eines Hodens und eines Eier-
stocks auf vorher kastrierte ganz junge Tiere, gelang es Steinach
bei denselben die Erscheinung eines somatischen und psychischen
Hermaphroditismus hervorzurufen. Er zieht daraus die Schluß-
folgerung, daß ın den außerordentlich mannigfaltig gestalteten
Fällen menschlicher Hermaphrodisie, bei welcher in einer Person
männliche und weibliche Merkmale in verschiedenster Abstufung
zusammen auftreten, die vorhandenen Keimdrüsen vonvorneher-
ein in ihrem sekretorischen Abschnitt zwittrig ange-
lest sind, d.h. sowohl spezifisch männliche als auch spezifisch
weibliche Sekretionsstoffe liefern, wenn auch ıhre für die Fort-
pflanzung bestimmten Produkte eingeschlechtig, entweder nur
Samen oder nur Eier sind; dies ist nämlich die Regel beim Men-
schen, von der bisher keine Ausnahme beobachtet worden ist. Trotz .
der ungeheuer großen Zahl von Beobachtungen über Hermaphro-
disıe — Neugebauer*) hat 1908 fast 1900 Fälle zusammengestellt
— ıst bislang noch niemals bei einem Menschen gleichzeitig ein
Hoden und ein Ovarıum gefunden worden und auch bei den Säuge-
tieren gibt es nur drei mikroskopisch sicher gestellte Fälle, ın
denen auf der einen Seite ein Hoden, auf der anderen Seite ein
Eierstock gefunden wurde. Dagegen gibt es acht Fälle bei Säuge-
tieren und zwei Fälle von Menschen mit einer freilich nicht doppelt
funktionsfähigen Zwitterdrüse, Ovotestis. In den betreffenden
Organen waren die charakteristischen Bestandteile eines Eierstockes
und eines Hodens, einer derselben, meist der Hoden, aber in un-
vollkommener Entwicklung, räumlich voneinander getrennt, mikro-
skopisch nachweisbar. Dabei waren die übrigen Genitalien auch
nicht normal entwickelt. In dem einen Fall handelte es sich um
einen männlichen Hypospadiaeus, im anderen Fall um eine Frau mit
rudımentärer Entwicklung der Scheide. Hier hatte anscheinend
die innere Sekretion des abnormerweise vorhandenen andersge-
schlechtlichen Anteils der Keimdrüse einen hemmenden Einfluß auf
die normale Entwicklung des Individuums ım Sinne eines Ge-
schlechts gehabt; doch ist, wie wir noch sehen werden, auch eine
4) Der Hermaphroditismus beim Menschen, Leipzig 1908.
EEE ne nn um nn
x
O. v. Franque, Innere Sekretion des Eierstocks. 197
andere Deutung möglich und wahrscheinlich richtig. Die Schlüsse,
welche Steinach aus seinen Versuchen für die normale Entwick-
lung der Genitalien und der sekundären Geschlechtsmerkmale zieht,
nämlich daß dieselben allein von der inneren Sekretion des von
ihm Pubertätsdrüse genannten sekretorischen Abschnitts der Keim-
drüse abhängig sei, scheinen jedoch für den Menschen wenigstens,
viel zu weitgehend zu sein. Wohl üben die vorhandenen und se-
zernierenden Geschlechtsdrüsen einen sehr weitgehenden protek-
tiven Einfluß auf die Entwicklung der übrigen Genitalien und der
sekundären Geschlechtsmerkmale aus, und mit ihrem Fortfall treten
starke Hemmungen und Rückbildungen auf. Aber die Entwicklung
ist auch bei vollständigem Fehlen der Keimdrüse möglich und die
Bestimmung, ob sie in männlicher oder weiblicher Richtung statt-
findet, erfolgt, ehe überhaupt die Keimdrüse ausgebildet ist und
sezerniert. Halban°) hat in ausfürlicher Beweisfürung dargetan,
daß bei Menschen und höheren Tieren nicht nur die Anlage der
Keimdrüse, ob sie männlich oder weiblich werden wird, sondern
auch die der übrigen Genitalien und der sekundären Geschlechts-
merkmale von vornherein in dem betreffenden Ei gegeben ist, und
zwar voneinander unabhängig, wenn auch fast immer in gleichem
Sinne. So daß also meist das gesamte Ei entweder männlich oder
weiblich oder hermaphroditisch angelegt ist, daß aber ausnahms-
weise, ohne daß wir die Ursache kennen, die Entwicklung dieser
drei Dinge in verschiedener Richtung verlaufen kann. Fällt dann
ın einem Ovulum, in dem abnormerweise z. B. die sekundären
Geschlechtsmerkmäle hermaphroditisch angelegt sind, die protektive
Beeinflussung durch eine normale Keimdrüse fort, oder wird sie
gestört durch das gleichzeitige Vorhandensein eines anders geschlech-
tigen Drüsenanteils, dann können die heterosexuellen Merkmale zur
Ausbidung kommen. Nur durch die Annahme einer von vorneher-
ein gegebenen hermaphroditischen Anlage auch der sekundären
Geschlechtsorgane läßt sich der extremste und berühmteste der-
artige Fall erklären, der von Weber beschriebene Finke, welcher
auf der linken Seite ein Ovarıum und weibliches Gefieder, auf der
rechten Seite einen Hoden und männliches Gefieder besaß. Der
Hinweis auf dieses Tier genügte vielen Autoren sogar, die ganze
Theorie der inneren Sekretion der Keimdrüse in Frage zu stellen,
weil es ja selbstverständlich nicht einleuchten konnte, wie die
Keimdrüse bei einer inneren Sekretion gerade diejenige Seite be-
einflussen sollte, auf der sie liegt, wie also das links gelegene
Ovarıum imstande wäre, das Gefieder auf der linken Seite weiblich
zu gestalten, der Hoden auf der rechten Seite männlich, da doch
die Stoffe gemeinschaftlich im ganzen Körper zirkulieren. Da aber
9) Archiv f. Gynäkol. 70,
4198 0. v. Frangue, Innere Sekretion des Eierstocks.
nun die innere Sekretion, wie besprochen, eine feststehende Tat-
sache ıst, so bleibt nichts übrig, ‘als anzunehmen, daß die ganze
Anlage bei diesem Tiere auf der einen Seite dem: männlichen, auf
der anderen Seite dem weiblichen Geschlechte zuneigt, und wir
müssen das Tier als Hermaphroditen bezeichnen und zwar nicht nur
in Rücksicht auf die Keimdrüse. Es war auch das Gefieder von
Haus aus auf der einen Seite männlich, auf der anderen Seite weıb-
lich angelegt und hat sich dementsprechend weiter entwickelt
(Halban).
Die Versuchsergebnisse Steinach’s sind wohl so zu erklären,
daß bei nieder stehenden Tieren die bisexuelle Anlage der sekun-
dären Geschlechtscharaktere sehr viel weiter verbreitet, ja vielleicht
bei manchen Arten allgemein vorhanden ıst, so daß ın der Tat
ihre Entwicklungsrichtung ausschließlich davon abhängt, ob die
innere Sekretion einer weiblichen oder einer männlichen Keimdrüse
hinzukommt. Eine Übertragung auf höhere Tiere und Menschen
ist keineswegs ohne weiteres angängig. Wir wissen beispielsweise
ja auch, daß bei vielen wirbellosen Tieren dasselbe Individuum
weibliche und männliche Keimzellen liefert, und auch einzelne
Fische, z. B. der Seebarsch, sollen diese Fähigkeit haben. Beim
Maulwurf ıst nach Tourneux“) der oben als äußerst seltene Miß-
bildung erwähnte Ovetestis cın physiologischer Zustand, indem
neben dem funktionierenden Ovarıum eın 2—4 mal größerer Hoden
mit vermehrten Zwischenzellen und rudimentären Samenkanälchen
sich findet. Da gerade diese Zwischenzellen der nach Steinach
Ausschlag gebenden Pubertätsdrüse entsprechen, müßten alle weib-
lichen Maulwürfe hermaphroditische Kennzeichen an sich tragen,
wenn es wirklich auf dıe Keimdrüsen allein ankäme. Davon ıst
aber nichts mitgeteilt worden. Die Erfahrungen beim Menschen
sprechen aber ganz direkt gegen die eimfache Übertragung der
Steinach’schen Versuchsergebnisse und ım Sinne der Halban'-
schen Schlußfolgerungen und zwar nicht nur in ‘klinischer, sondern
auch ın anatomischer Beziehung. Denn bei den Untersuchungen
der inneren (seschlechtsorgane weiblicher oder männlicher Pseudo-
Hermaphroditen und zwar sowohl somatischer als psychischer Art,
wurde bisher immer eine auch bei mikroskopischer Untersuchung
einsinnig entwickelte. wenn auch mitunter hypoplastische Keim-
drüse gefunden. Vor allem aber wurde gerade an den von Stei-
nach angenommenen ıinnersekretorischen Abschnitten keine Ab-
weichung von der Norm, keine Entwicklung nach der Richtung
des anderen Geschlechtes hin festgestellt. Seine Angaben über die
innersekretorischen Bestandteile sind überhaupt für den Menschen
nicht zutreffend. Denn bei diesem hat die ınterstitielle Drüse bei
6) L. Kermanner, in Schwalbe’s Morphologie der Misbildungen Bd. 3, 190%.
O. v. Franque, Innere Sekretion des Eierstocks. 499
weitem "nicht die Entwicklung und Unabhängigkeit, wie bei niede-
ren Tieren, sondern sie ist ein meist recht unscheinbares Über-
bleibsel geplatzter oder atretisch gewordener Follikel, das sehr bald
nach dem Eingehen des letzten Follikels ebenfalls schwindet. Aus
Steinach’s eigenen Angaben geht übrigens hervor, daß er selbst
.bei den feminierten Männchen 3—4 Jahre nach der Ovarıalımplan-
tation nicht nur seine „Pubertätsdrüse“, sondern auch zystische
Follikel fand. Auch bei seinen Versuchstieren muß es also unent-
schieden bleiben, ob wirklich die Pubertätsdrüse die selbständige
Funktion gehabt hat, die er ihr zuschreibt.
Klinisch aber wissen wır, daß bei sehr vielen Herma-
phroditen und Homosexuellen die Keimdrüsen ganz normal
funktioniert haben, soweit, daß sogar normale Kinder geboren oder
gezeugt wurden, sogar bei Hermaphroditismus externus und sekun-
darıus, der soweit ging, daß infolge der heterosexuellen Entwick-
lung der äußeren Genitalien und der sekundären Geschlechtsmerk-
male ursprünglich das andere Geschlecht angenommen und die
Betreffenden fälschlich als Knaben oder Mädchen gezogen wurden,
obwohl sie das Gegenteil waren.
Eine Beobachtung Albertis’) spricht ebenfalls für die Beein-
flussung der sekundären Geschlechtscharaktere durch die innere
Sekretion des Eierstocks oder vielmehr durch eine Störung der-
selben im Sinne Halban’s und nicht Steinach’s. Es handelt sich
um ein 23jähriges Mädchen, welches wegen einer rechtsseitigen Eier-
stockgeschwulst operiert wurde. Biszum 19. Lebensjahr war sie ein
blühendes kräftiges und angeblich ganz normal entwickeltes Mäd-
chen gewesen. Vom 20. Lebensjahre ab blieb die Periode aus, und
es scheint sich allmählich der Tumor entwickelt zu haben, wegen
dessen sie schließlich operiert werden mußte. Von da ab wurde
ihre Stimme tiefer, ıhr ganzer Habitus ein männlicher und es ent-
wickelte sich ein mächtiger Voll- und Schnurrbart. Bei der Ope-
ration zeigte sich eine durchaus männliche Behaarung des ganzen
Körpers, auch Knochenbau, Muskulatur, Kehlkopf, Brustdrüse
zeigten männliche Bildung. Die inneren Genitalien waren abge-
sehen von der Geschwulst normal, an den äußeren Genitalien war
nur eine besonders starke Entwicklung des Kitzlers, wie sie sich
beim Hermaphroditismus häufig findet, auffallend. Bei der mikro-
skopischen Untersuchung war das eine Ovarıum vollständig normal,
das andere war wohlin einen Tumor verwandelt, aber dieser entsprach
der häufigsten Form der Eierstocksgeschwülste, dem Kystoma mul-
tıloculare pseudomucinosum, wie wir es tausende von Malen be-
obachten, ohne daß vor oder nach der Entfernung eine Änderung
der Geschlechtsmerkmale einsetzt. Will man hier nicht etwa ein
’) Hegar's Beiträge Bd. 9, 1905,
200 O0. v. Frangue, Innere Sekretion des Eierstocks.
zufälliges Zusammentreffen annehmen, so kann man diese Beobach-
tung kaum anders als ım Sinne Halban’s erklären. Es bestand
von vornherein unabhängig von der: einsinnigen Anlage der Ge-
schlechtsdrüse eine hermaphroditische Anlage der äußeren Genitalien
und der sekundären Geschlechtsmerkmale, welche aber durch den
mächtigen protektiren homosexuellen Einfluß des Eierstocks ım
/aume gehalten und überwunden wurde. Die durch die Geschwulst-
entwicklung herbeigeführte Änderung, vermutlich nur quantitative
Herabsetzung der inneren Sekretion des Ovarıums genügte in diesem
Falle, um noch nachträglich am Ende des zweiten Jahrzehnts des
Lebens die hermaphroditische Anlage des übrigen Körpers zum
Ausbruche kommen zu lassen. Doch ıst hervorzuheben, daß der
Bericht über den Zustand vor der Geschwulstbildung nicht auf zu-
verlässiger ärztlicher Beobachtung beruht, ferner, daß die voll-
ständige Ausbildung des weiblichen Körpers erst im 24. Lebensjahr
erfolgt, und daß die Entwicklung der stärkeren Behaarung auch
beim Manne erst nach erreichter Geschlechtsreife und später ein-
tritt.
Bei vollständig ausgebildetein Körper hat die Schädigung oder
Entfernung der Keimdrüse keinen Einfluß mehr auf die sekundären
Geschlechtsmerkmale. Alle dahin gehenden Berichte gehören ın
das Reich der Fabel und beruhen auf oberflächlicher Beobachtung,
besonders auf der Nichtbeachtung schon vorher vorhandener hetero-
sexueller Merkmale, Aus dem Tierreich wird als Beispiel immer
wieder die Hahnenfederigkeit kastrierter Hennen angeführt, die
körperlich und geistig Hahnen ganz ähnlich werden sollen. Sell-
heım°) hat diese Angaben widerlegt, indem er zeigte, daß die Ent-
fernung der Eierstöcke beim Huhn außerordentlich schwierig, fast
stets tödlich, oder nur unvollkommen ausführbar ıst. Und daß
andererseits nach Ausführung der fälschlich als Kastration be-
zeichneten Operation der Unterbindung der Legröhre kein Einfluß
auf die sekundären Geschlechtscharaktere sich bemerkar macht.
Kastrierte Hähne zeigen zwar eine ausgesprochene Änderung des
Wachstums und des äußeren Habitus, werden aber keineswegs be-
sonders hennenähnlich.
Doch kehren wir zur normalen inneren Sekretion der Ovarien
zurück. Daß auch die normale Periode von einer inneren Sekretion
des Eierstocks abhängig ıst, hat zuerst Halban 1399 durch Trans-
plantationsversuche bei Pavianen gezeigt, welche eine regelmäßige
Menstruation wie die Menschen haben, die unbeeinflußt blieb, wenn
nach der Kastration die Eierstöcke an einer anderen Körperstelle
zur Einheilung gebracht wurden. Für den Menschen wurde dieser
/usammenhang sehr bald durch auto- oder homoioplastische EBier-
8) Heger's Beiträge 1901, 1898.
O. v. Frauqgue, Innere Sekretion des Eierstocks. If
stocksverpflanzungen bestätigt, welche in therapeutischer Absicht
ausgeführt wurden. Schon Knauer war von Chrobak zu seinen
Versuchen angeregt worden, um ausfindig zu machen, ob es möglich
sei, die im Gefolge der Kastration auftretenden sogenannten Aus-
fallserscheinungen durch Transplantation zu vermeiden oder zu be-
seitigen. Außer dem Ausbleiben der Menses und der sekundären
Atrophie der Geschlechtsorgane zeigt sich bei kastrierten Frauen
nämlich nicht selten eine gewisse Neigung: zu Fettansatz und Stö-
rungen auf dem Gebiete des Gefäßnervensystems, dieselben Stö-
rungen, welche sich auch bei dem von selbst eintretenden Stillstand
der Eierstocktätigkeit am Ende der Fortpflanzungsfähigkeit gelegent-
lich geltend machen. Diese Ausfallserscheinungen, wie Anfälle von
Herzklopfen, plötzlicher Blutandrang zum Kopf, Angstgefühle,
Schwindel, plötzliche heftige Schweißausbrüche, Störungen des
Schlafes und mancherleiı andere nervöse Erscheinungen können
manchmal recht lästig sein. Sie wurden ın ihrer Bedeutung eine
Zeitlang gewaltig überschätzt. Es hat sıch schließlich gezeigt, daß
sie bei Frauen mit normalen Nervensystem meist rasch, ım Ver-
laufe einiger Monate vorübergehen, wenn sie auch bei operativ her-
vorgerufener vorzeitiger Menopause oft stärker in die Erscheinung
treten als bei den Matronen, beı denen die Eierstockstätigkeit ganz
allmählich erlischt und der Organısmus daher Zeit hat, sich an den
Fortfall der inneren Sekretion zu gewöhnen. Je jünger die Frauen
sind, desto stärkere Ausfallserscheinungen werden naturgemäß nach
der Kastration auftreten, wirklich ernsthafte und quälende Störungen
treten aber nur bei Personen mit labilem Nervensystem, bei Hyste-
rischen oder sonst neurepathisch veranlagten Frauen auf. Da aber
diese krankhaften Anlagen ın unserer heutigen Frauenwelt ganz
außerordentlich verbreitet sind, wird man natürlich die Eierstöcke.
wo dies möglich ist, wenigstens zum Teil erhalten. Denn es hat
sich gezeigt, daß ein ganz kleiner Rest normalen Eierstocksgewebes
genügt, um die Ausfallserscheinungen zu vermeiden. Bei gutartigen
Geschwülsten wird eine, wenigstens teilweise Erhaltung meist mög-
lich sein, bei bösartigen Geschwülsten aber nicht und ebenso auch
nicht bei schweren entzündlichen Veränderungen oder eitrigen Ein-
schmelzungen beider Eierstöcke. Handelt es sich ın diesen Fällen
immer um Erkrankungen der Eierstöcke selbst, so wurde die eigent-
liche Kastration, d. h. die Entfernung gesunder Eierstöcke, früher
vielfach auch zu Heilzwecken ausgeführt, und zwar gerade um die
innere Sekretion derselben auszuschalten und so die abnorm starke
gelegentlich lebensbedrohliche periodische Blutung aus’ dem durch
(Geschwülste vergrößerten Uterus zu beseitigen und die Gesch wülste
zur Schrumpfung zu bringen. Heutzutage entfernt man, wenn man
überhaupt operiert, lieber den kranken Uterus und läßt die ge-
sunden Ovarien zurück. Häufiger aber verzichten wir ganz auf
NEIN. DR RE PR STD ee tn: an Wh;
202 ©. v. Franque, Innere Sekretion des Eierstocks.
die Operation und beseitigen die innere Sekretion der Ovarien und
damit die krankhaften Blutungen dadurch, daß wir die sezernieren-
den Teile der Eierstöcke mit Röntgenstrahlen zerstören. Wie bei
Greisinnen bleiben schließlich nur noch die bindegewebigen Be-
standteile des Eierstocks ın narbenähnlichem Zustande zurück. Aus-
fallserscheinungen treten auch hier auf, aber da die Ausschaltung
der Eierstöcke ganz ähnlich wie bei der natürlichen Klimax ganz
allmählich im Verlaufe von Monaten erfolgt, sind sie meist mild und
geben höchstens zur Darreichung innerer Mittel Anlaß.
Umgekehrt ist es gelungen, bei jungen Frauen, die infolge
Operation, Krankheit oder mangelhafter Anlage fehlende Ovarial-
sekretion durch Einpflanzung gesunder Eierstöcke gesunder Frauen
herzustellen und so auch beim Menschen den experimentellen
Nachweis dieser Sekretion zu erbringen. Morris?) pflanzte 1899
in derselben Sitzung, in’ welcher er die erkrankten Eierstöcke ent-
fernte, Stücke gesunder Eierstöcke einer anderen Frau ein, und
erreichte dadurch, daß die Periode bestehen blieb und keine Ausfalls-
erscheinungen auftraten. Da diese aber lange nicht in jedem Falle
eintreten, ist diese Beobachtng nicht so beweisend, wie diejenige
von Glaß, der 2 Jahre nach Kastration bei starken Ausfallserschei-
nungen einer 29jährigen Frau den Eierstock einer 17jährigen über-
trug und Wiedereintreten der Periode und Verschwinden der Aus-
fallserscheinungen beobachtete. Morris erreichte noch mehr. Bei
einer Patientin von 21 Jahren, welche nach einer vermutlich mit
Infektion einhergehenden Frühgeburt 2 Jahre lang keine Periode
und schwere Ausfallserscheinungen gehabt hatte, trat nach Entfer-
nung der eigenen und Einpflanzung fremder Eierstöcke nicht nur
die regelmäßige Periode, sondern sogar Schwängerung und Geburt
eines lebenden, reifen Kindes ein. Die betreffende Frau hatte also
ein von einem fremden Stamme aus dem Körper einer anderen Frau
herrührendes Kind getragen. Dies ıst der einzige bisher bekannte
derartige Fall, und da er mit allen sonstigen Erfahrungen in Wider-
spruch steht, wurde er wohl mit Recht selbst in seinem Ursprungs-
lande Amerika bezweifelt. Unterberger!®) hebt besonders hervor,
daß im Tierexperiment Schwängerung nur innerhalb der ersten
2 Jahre nach Homoioplastik möglich war, während später die
transplantierten Ovarien zugrunde gingen. In Morris’ und ın
eimem andern angeblich von Dixon beobachteten, aber im Original
nicht auffindbaren Fall soll die Schwängerung aber erst 4 und 5
Jahre später eingetreten sein. Wahrscheinlich sind die eigenen
Ovarien der Operierten doch nicht vollständig entfernt worden, wie
auch in den beiden höchst belangreichen Beobachtungen Cramers!!)
9) E. Pankow, Hegar's Beiträge 12, 1908. Zentralblatt f. G. 1908, Nr. 32.
10) Archiv f. Geb. u. Gyn. Bd. 110, Nov. 1918.
I1) Gynäkologische Rundschau 1909.
©. v. Frangue, Innere Sekretion des Bierstocks. 205
die bis dahin nicht oder nicht mehr funktionierenden eigenen
Ovarien absichtlich zurückgelassen wurden. Unterberger glaubt
daher, daß ın allen diesen Fällen die überpflanzten Eierstöcke nur
eine Zeitlang chemische Stoffe an den Körper abgaben und so die
eigenen Ovarien der Trägerinnen entlasteten; diese konnten sich
dann weiter entwickeln und später voll funktionstüchtig werden.
An dem schönen Erfolge und der Berechtigung dieser Operationen
ändert diese Auffassung natürlich nichts.
Cramers Fälle verliefen folgendermaßen:
Bei einer 22jährigen Frau war nach der ersten Geburt eine Atrophie
der Eierstöcke und des Uterus und Wegfall der Periode eingetreten.
Nach der 2 Jahre später ausgeführten Überpflanzung der Eierstöcke
einer osteomalakischen Frau auf die gespaltenen, zurückgelassenen
atrophischen Ovarien trat nicht nur eine regelmäßige, 3 Jahre lang
beobachtete Periode ein, sondern auch eine Vergrößerung des Uterus
von 4!/, auf 7 cm Länge, wie es der Norm entspricht. Ein zweites
Mal gelang es. bei einem 21jährıgen Mädchen mit angeborener
Aplasıe der Eierstöcke, das nie menstruiert hatte, und einen Uterus
von nur 4cm Länge aufwies, durch Überpflanzung anderer ebenfalls
einer an Knochenerweichung erkrankten Frau entnommenen Ovarien
die Periode hervorzurufen und den Uterus zu einem Wachstum
bis zu 6 cm Länge ebenso die vorher sehr kleinen Mamillen zur
Vergrößerung zu veranlassen. Durch diese Beobachtungen am
Menschen ist ın sehr willkommener Weise die durch das Tier-
experiment schon bekannte, Ausschlag gebende Rolle bestätigt,
welche der “Eierstock beim Wachstum, Ernährung und Erhaltung
der Gebärmutter innehat.
Weniger erfolgreich war man mit der therapeutischen Ver-
wendung der Autotransplantation der Ovarien. Es gibt Fälle von
außerordentlich hartnäckigen, durch keinerlei innere Mittel und
auch nicht durch dıe sonst wirksame Ausschabung der Gebärmutter-
schleimhaut beeinflußbaren Blutungen aus der Gebärmutter. Wenn
man in solchen Fällen auch bei genauester Untersuchung weder an
der Gebärmutter noch in ihrer Umgebung, an Eileitern und Eier-
stöcken, auch nach der Herausnahme der Organe, etwas Krankhaftes
auffinden kann, so liegt es nahe, eine rein funktionelle Störung an-
zunehmen, deren Sitz die einen ın der Uterusmuskulatur, viele ım
Eierstock annehmen und zwar in einer übermäßigen oder krankhaft
veränderten inneren Sekretion des anatomisch und. histologischh
nicht nachweislich veränderten Organes, also m einer Hyperfunk-
tion oder einer Dysfunktion. In solchen Fällen hat man die Auto-
transplantation versucht in der Annahme, daß durch den vollstän-
digen Wachstums- und Ernährungsumschwung, der damit verbunden
ist, vielleicht auch eine Änderung des funktionellen Einflusses auf
die Periode bedingt sein könnte (Pankow). Der Erfolg war meistens
04 O0. v. Frangue, Innere Sekretion des Eierstocks.
der, daß eine Zeitlang die Blutungen aufhörten oder schwächer
wurden, dann aber ın alter oder noch vermehrter Stärke zurück-
kehrten, was eigentlich ganz verständlich ist. In der Zeit der mangel-
haften Ernährung und teilweisen Rückbildung der überpflanzten
Eierstöcke sonderten sıe nichts ins Blut ab, sobald aber die neuen
(efäßverbindungen wieder hergestellt waren, begannen die Eier-
stöcke ihre Tätigkeit wieder, auf die ım allgemeinen die Größe des
funktionierenden ‚Eierstocksgewebes keinen Einfluß hat. Die ge-
legentliche Verstärkung dieser Blutungen erklärt sich daraus, daß
der normale Ablauf der Follikelreifung, Entleerung und Rückbildung
an dem neuen Einpflanzungsorte leicht Störungen unterliegt, und
mit diesen Vorgängen hängt die Entwicklung der sezernierenden
Bestandteile zusammen. Behält Aschner!?) mit seiner Auffassung,
die ıch allerdings nicht teile, Recht, daß nämlich die ovariellen
Funktionsstörungen auf konstitutioneller, also angeborener Grundlage
beruhen, dann wäre ja von solchen autoplastischen Heilungsversuchen
von vorneherein nichts zu erwarten. Denselben Mißerfolg hatte
Pankow bei Knochenerweichung, einer Erkrankung, die, wie wir
noch hören werden, innige Beziehungen zur Eierstocksfunktion hat
und in etwa 87%, der Fälle durch Kastration geheilt wırd. Pankow
entfernte bei einer 3 Jahre osteomalakıschen Patientin die Eierstöcke
und versenkte sie sofort wieder zwischen Blase und Uterus unter
das Bauchfell. Nach dreimonatlicher erheblicher Besserung traten
mit den Menses zugleich wieder osteomalakische Beschwerden ein,
und schließlich mußten nach 3 Jahren die Ovarien wieder entfernt
werden, worauf Heilung eintrat.
Wir haben in diesen Beobachtungen am Menschen außer den
Wirkungen der inneren Sekretion des Ovarıums auf die Geschlechts-
organe drei neue, den Genitalien nicht angehörige Wirkungsbereiche
derselben kennen gelernt, nämlich den Stoffwechsel, das Gefäß-
nervensystem und die Knochen. Daß nach der Kastration in vielen
Fällen eine Vermehrung des Fettansatzes stattfindet, ist eine nicht
‚u bestreitende Tatsache, wenn sie auch bei den zu Heilzwecken
kastrierten Frauen keineswegs so regelmäßig eintrifft, wie gemein-
hin angenommen wird, nämlich nur in 50—40°%, der Fälle’). In
den wenigen bekannten Fällen von Kastration weiblicher Kinder
ist es nicht zu der bei jugendlichen männlichen Kastraten als Regel
geltenden Fettbildung gekommen. Es ist daher zweifelhaft, ob die
innere Sekretion des Ovarıums die Oxydationsvorgänge in Körper
wirklich direkt beeinflußt. Es wäre möglich, daß die in der Fett-
leibigkeit zum Ausdruck kommende Herabsetzung der Verbrennungs-
vorgänge im Körper nicht die unmittelbare Wirkung des Kem-
12) Aschner, Die Blutdrüsenerkraukungen des Weibes, Wiesbaden 191,
13) Alterthum, Hegar's Beiträge 2, 1599.
O. v. Franque, Innere Sekretion des Eierstocks. 205
drüsenausfalls ist, sondern bloß einer verminderten Lebhaftigkeit
und Beweglichkeit der Kastrierten ihre Entstehung verdankt. Es
werden ja auch, nicht alle Matronen fettreich, sondern mindestens
ebensoviele erfreuen sich einer besonders ausgeprägten Magerkeit.
Dagegen haben die auf dem Gebiete des Gefäßnervensystems
liegenden Ausfallserscheinungen experimentell eine befriedigende
Erklärung erfahren. Oristofoletti!*) hat durch Tierversuch und
durch Untersuchungen von Frauen vor und nach der Kastration
nachgewiesen, daß nach dem Ausfall der Ovarıen die Wirkung
einer anderen Blutdrüse, der Nebenniere sehr erheblich verstärkt
ıst. Das Sekret derselben, das Adrenalin, bewirkt aber eine starke
Blutdrucksteigerung, auf welche normalerweise das Ovarialsekret
hemmend einwirkt. Wir haben hier ein sehr schönes Beispiel des
Ineinandergreifens und der häufig auftretenden antagonistischen
Wirkung verschiedener Blutdrüsen vor uns. Es ist wahrscheinlich,
daß eine ganze Reihe von Krankheiten gerade auf eine Störung im
Gleichgewicht zwischen der Funktion zweier oder auch mehrerer
Blutdrüsen, wie z. B. Schilddrüse, Nebenniere, Eierstock, Neben-
schilddrüse, Hypophyse beruht. In unserem besonderen Fall ist
es verständlich, daß nach Wegfall der Eierstocksekretion, sei es
nun durch die natürliche Klımax oder durch Kastration, die Neben-
niere nunmehr ungehemmt übermäßig wirkt, wodurch die Blut-
drucksteigerung, die Wallungen und Schwindelgefühle bei den Be-
troffenen hervorgerufen werden. Schickele®?) gelang es dann,
durch Auspressen aus frischen menschlichen und tierischen Eier-
stöcken Säfte zu gewinnen, welche bei Injektion blutdruckherab-
setzend und gefäßerweiternd wirkten, deren Wirkung aber durch
gleichzeitige Anwendung von Adrenalin wieder aufgehoben wurden.
Damit waren Cristofoletti’s Ergebnisse auf einem anderen Wege
bestätigt. Dieselben Säfte wirkten aber auch gerinnungshemmend,
und sie konnten außer im Ovarıum auch aus der Uterusschleimhaut
gewonnen werden, nicht aber aus anderen Körperorganen. So ist
das Auftreten der Menstruationsblutung durch chemische Einflüsse
erklärbar. Die im Eierstock entstehenden Stoffe werden in der Uterus-
schleimhaut verankert und aufgespeichert, bis sie zur Auslösung
der Periode genügen, d.h. bis sie eine‘’so starke Erweiterung der
Gefäße und Stagnation des Blutes in denselben herbeigeführt haben,
daß diese zerreißen. Dann ist die Periode ausgelöst und da die
gerinnungshemmende Komponente die sofortige Blutstillung trotz
der kapillaren.. Beschaffenheit der zerrissenen Gefäße verhindert,
hält sie an, bis die betreffenden Stoffe aus der Schleimhaut aus-
geschwemmt sind. Auch ım Menstrualblut sind diese Stoffe nach-
14) Gynäkologische Rundschau 5, 1911.
15) Archiv f. Gyn. 97, 1912. Biol. chemische Zeitschrift 35, 1012.
206 O. v. Frangue, Innere Sekretion des Eierstocks,
weisbar, nicht ım übrigen Körperblut. Da sie sich schon im
jugendlichen Eierstock finden, nicht aber ım senilen, der seine
Tätigkeit eingestellt hat, so müssen sie in dem die wachsenden
Eier begleitenden charakteristischen Gewebe ihre Ursprungsstätten
haben.
Endlich wurde die Anwesenheit und spezifische Wirksamkeit
soleher Stoffe in den Eierstöcken von Schicksele, Seitz!‘) und ar-
deren dadurch nachgewiesen, daß die Preßsäfte oder verschieden
hergestellte Extrakte bei jugendlichen oder kastrierten Tieren, Hunden
und Kaninchen, unter die Haut oder in die Blutbahn eingespritzt,
starke Hyperämie der äußeren Genitalien, Schwellungen der Binde-
haut, Nasen-, und Rachenschleimhaut wie bei der natürlichen Brunst
und Wachstumssteigerungen des Uterus hervorriefen. Einzelne der
enthaltenen Stoffe wurden sogar schon chemisch‘ rein dargestellt
und wie die Gesamtextrakte oder Säfte selbst zu Heilzwecken an-
gewandt. So konnte Seitz einige Male bei amenorrhoischen Mädchen
die Periode durch fortgesetzte Darreichung solcher Substanzen her-
vorrufen. Oft wurden sıe freilich auch vergeblich angewandt und
auch bei Ausfallserscheinungen sind die Erfolge wechselnd. Wir
können eben nur von Tieren gewonnene Präparate benützen und
daß diese bei einer fremden Gattung, dem Menschen angewandt
nicht so sicher und regelmäßig wirken können ıst eigentlich selbst-
verständlich nach dem, was über den Abbau körperfremden Materials
ım lebenden Organısmus früher gesagt wurde.
Praktisch recht erhebliches Interesse hat endlich der Einfluß
der Eierstockssekrete auf die Knochenbildung. Bei wachsenden
jugendlichen Individuen üben sıe, wie Sellheim!’”) gezeigt hat, einen
hemmenden Einfluß auf die Knochenbildung aus. Die Verknöcherung
der knorpeligen Skelettabschnitte insbesondere der sogenannten
Epiphysenscheiben an den Gliedmaßen und der Knochennähte
wird nach der Kastration junger Tiere erheblich verzögert. An
diesen Stellen findet das normale Wachstum statt, so daß dieses
also bei Kastrierten länger anhält als in der Norm. Die Folgen
sind beträchtliche Veränderungen ın den Maßverhältnissen der
Gliedmaßen, des Schädels und des Beckens. Auch bei weiblichen
Kastraten in jungen Jahren scheint das verstärkte Längenwachstum
zu bestehen, das von jugendlichen männlichen Kastraten von alters
her bekannt ıst. Aus dem Tierkreis ıst dies für die Kühe, Schafe und
Hündinnen festgestellt. Dafür, daß die Sekrete des Ovariums eine
Hemmung der Kalkablagerung und daher der Knochenbildung be-
wirken, sprechen auch Versuche Tanıguchi's!*), welcher Kanın-
chenweibchen zu ihren schon vorhandenen Ovarien solche schwester-
16) Münchener med. Wochenschrift 1914, Nr.30 u. 31.
17) Hegar's Beiträge 2, 1899.
18) Archiv f. Gyn, 1914 (ohne Namen veröffentlicht s. Aschner).
OÖ. v. Franque. Innere Sekretion des* Eierstocks. 207
licher Tiere hinzu überpflanzte; die Folge war eine beträchtliche Ver-
minderung des Kalkgehalts der Knochen. Auch bei Zufuhr von Eier-
stocksextrakten wurde vonNeumann!’)und Vas ein gesteigerter Ver-
lust an Phosphor und Calcium festgestellt. Die vergleichenden Stoff-
wechseluntersuchungen bei Kastrierten und Nichtkastrierten haben
allerdings bis jetzt zu ganz eindeutigen Ergebnissen nicht geführt,
doch fand Matthes?) eine Verminderung der Kalk-Magnesia und
Phosphorausfuhr im Harn nach Entfernung der Eierstöcke und
durch Zufuhr getrockneter Ovarıalsubstanz konnte er die Ausfuhr
dieser für die Knochenbildung wichtigsten Mineralien steigern, deren
Stoffwechsel also stark durch die innere Sekretion die Eierstöcke
beeinflußt wird. In überraschender und oft geradezu wunderbar
anmutender Weise wird aber die Beziehung des Eierstockes zum
Knochensystem vor Augen geführt, durch die von Febling ent-
deckte Heilung der Osteomalakie durch die Kastration, welche wie
bereits erwähnt, in nicht zu weit fortgeschrittenen Fällen in 87%,
der Fälle von Erfolg begleitet ist. Das Charakteristische der
Knochenerweichung ist aber, daß die Knochen ihre Kalksalze ver-
lieren, während die Markräume stark an Ausdehnung zunehmen, so
daß die Knochen ganz weich und biegsam oder brüchig werden.
Für uns Geburtshelfer wird sie besonders wichtig, weil sie am aller-
häufigsten bei schwangeren Frauen auftritt und zu weitgehender
Verunstaltung und Verengung des Beckens führt, so daß häufig der
Kaiserschnitt ausgeführt werden muß. Es ist sicher, daß für ihre
Entstehung bei den Schwangeren die nötige Kalkabgabe an die
wachsende Frucht ausschlaggebend ıst, aber sie kommt ausnahms-
weise auch bei Jungfrauen vor, und schreitet bei einmal erkrankten
Müttern oft auch nach der Geburt unaufhaltsam fort. In beiden
Fällen wirkt die Kastration heilend. Die oft außerordentlich hoch-
gradige Schmerzhaftigkeit bei jeder Bewegung schwindet oft inner-
halb weniger Tage, die Knochen werden in verhältnismäßig kurzer
Zeit wieder fest und die vorher vollständig bettlägerigen Kranken
werden vollständig arbeitsfähig und gesund. Der Fortfall der Rier-
stockshormone — so werde die von einem Körperorgan gelieferten
chemischen Stoffe genannt, welche an anderen Körperstellen eine
Wirkung ausüben — ermöglicht also die heilende Wiederablage-
rung von Phosphor, Kalk und Magnesiumsalzen zur Neubildung des
Knochengewebes. Kein Wunder, daß man die Ursache der Er-
krankung im Eierstock sucht.
Fehling nahm ursprünglich an, daß es infolge krankhafter
Veränderungen der Eierstöcke zu einer Reizung der dort befind-
lichen Nervenendigungen komme, welche reflektorisch zu einer Er-
weiterung der Blutgefäße im Knochen führen sollte, so daß hier
19) Monatsschrift 15, 1902.
20) Monatsschrift 18, 1903,
a Fe ll np ne ee
308 OÖ. v. Franque, Innere Sekretion des Eierstocks.
eine Stagnation des Blutes und eine vermehrte Auflösung der
Knochensalze durch die Kohlensäure oder andere Säuren im Blute
stattfindet. Die Osteomalakie wäre also eine reflektorische Angio-
nenrose des Knochens. Geradeso wie die Pflüger’sche Theorie
der Menstruation mußte diese Auffassung hinfällig werden durch
den von Pankow erbrachten Nachweis, daß auch nach vollstän-
diger Unterbrechung der Nervenbahnen durch Transplantation der
Eierstöcke die Einwirkung auf die Knochen bestehen blieb. Ein
meiner Meinung nach Sehr schwerwiegendes Hindernis für die An-
erkennung der Fehling’schen Auffassung ist der Umstand, daß
charakteristische Veränderungen an den Eierstöcken osteomalakischer
Frauen, die in großer Anzahl untersucht wurden, niemals gefunden
werden konnten. Da aber die heilende Wirkung bei Eierstocks-
entfernung feststeht, mußte man in erster Linie an ein Übermaß
ihrer inneren Sekretion denken und eine solche Hyperfunktion
als Grundursache der Osteomalakie nehmen in der Tat viele, auch
die neuesten Autoren an. Aber abgesehen von den anatomischen
Befunden sprechen auch die klinischen Erfahrungen nicht dafür.
Die Ovarien werden selten hypertrophisch, ım Gegenteil meist
atrophisch gefunden und der Mangel der sezernierenden Elemente
und der Eier ıst sogar ın sehr vielen Fällen das Auffallendste.
Umgekehrt wurde bei einer anderen Erkrankung, der Blasenmole,
oft die Bildung fast faustgroßer Geschwülste der Eierstöcke be-
obachtet, welche durch eine ungeheure Vermehrung gerade der als
die Quelle der inneren Sekretion ın Betracht kommenden Gewebs-
bestandteile zustande kommt. Und doch hat man bei Blasenmole
und bei dem mit denselben Wucherungen im Eierstock einhergehenden
Chorioepitheliom malignum, einer bösartigen Geschwulst des Uterus,
niemals Osteomalakie gesehen. Bei einer von mir selbst?!) während
der Schwangerschaft mit Erfolg operierten Frau fand sich keinerlei
Abweichung von der Norm im histologischen Bilde des Eierstocks,
auch nicht an den von anderer Seite beschuldigten Thekalutein-
zellen.
Will man also eine primäre Erkrankung des Eierstocks an-
nehmen, so muß man schon eine Dysfunktion annehmen, die Liefe-
rung eines krankhaften, oder krankhaft wirkenden Sekretes durch
eine anatomisch und histologisch normale Drüse, eine Annahme,
die entschieden etwas gezwungenes an sich bat, die aber auch durch
die oben erwähnten Versuche Cramer’s widerlegt wird. Denn die
Frauen, denen er die osteomalakischen Eierstöcke einpflanzte, er-
krankten nicht an Osteomalakie, obwohl die verpflanzten Organe bei
jahrelanger Beobachtung funktionierten. Die Beseitigung einer
Hyperfunktion durch die Transplantation könnte man sich allen-
21) Verhandlungen der 15. Versammlung der deutschen Gesellsch. f. Gynäk.,
Halle 1913,
Ö. v. Frangue, Innere Sekretion des Eierstocks. 209
falls noch vorstellen, obwohl die oben erwähnten Verrsuche Pan-
kow’s auch dnbepan sprechen. Aber wie eine Zellart, die ein
abnormes Sekret absondert, durch die Überpflanzung so umgestimmt
werden sollte, daß sie unmiehr normale Sekrete liefert, das können
wir uns nicht vorstellen und das würde auch allen unseren Rr-
fahrungen in der Pathologie widersprechen. So sprechen also die
Transplantationsversuche gegen die Schuld der Ovarien überhaupt
und auch der Pankow’sche Versuch mit der Autoplastik osteo-
malakischer Ovarien ändert daran nichts, wie wir noch sehen werden.
Der neueste Bearbeiter, Nägeliz), stellte allerdings erst vor
wenigen Wochen die Osteomalakie wieder als eine Eiyperfünktion
der re hin. Durch die in abnormer Masse gelieferten Eierstocks-
hormone soll das Knochenmark zu einer krankhaften Wucherung
gereizt werden, welche die Schmerzhaftigkeit. die abnorme Resorp-
tion der Knochensalze und die Erweichung herbeiführt. Freilich
nimmt er auch eine Mitwirkung anderer innerer Drüsen an, nament-
lich der Nebenniere. Da es gelungen ist, in einem gewissen, aller-
dings viel geringeren Prozentsatz, nämlich 24%, durch Injektion
des Nebennierenextraktes die Osteomalakie auch ohne Kastration
zu heilen, so kann man auch eine Hypofunktion der Nebenniere
beschuldigen, was in der Tat auch geschehen ist. Wenn wir uns
erinnern, daß die Ovarialextrakte eine gefäßerweiternde, das Adre-
nalın eine gefäßverengernde Wirkung hat, so können wir ihren
entgegengesetzten Einfluß auf die ostesmalakischen Knochen wohl
verstehen und eine Störung in der normalen Wechselwirkung zwischen
beiden, vielleicht auch noch anderer endokriner Drüsen könnte sehr
wohl Ursache der Östeomalakie sen. Daß dabei das Ovarium
primär erkrankt, daß überhaupt eine Hyper- oder Dysfunktion
desselben vorliegt, scheint mir aber noch keineswegs erwiesen, ja,
wie schon angedeutet, mit vielen in der Gynäkologie festgelegten
Tatsachen in Widerspruch zu stehen, welche der Internist Nägeli
bei Aufstellung seiner Hypothese nicht berücksichtigt hat. ° Die
Heilung der Osteomalakie durch die Kastration, die einzig wirklich
feststehende Tatsache, auf welche Nägeli und andere Verfechter
einer primären Erkrankung der Ovarien bauen können, ist auch
bei vollständig normaler Funktion der Eierstöcke denkbar. Ihre
der normalen Knochenbildung und Erhaltung abträgige Wirkung
könnte sich in durchaus normalen Grenzen bewegen und trotzdem
ihre Ausschaltung zur Heilung der Osteomalakie führen, indem in-
folge Wegfalls der Ovarialsekrete die antagonistisch wirkenden,
vielleicht primär in ihrer Menge und Wirkung herabgesetzten Hor-
mone-anderer Organe, z. B. der Nebenniere, die Oberherrschaft ge-
Re und wieder zu genügender, zur Heilung führender Wirk-
22) Münchener med. Wochenschrift 1917, 47; 1918, Nr. 21, 22, 23.
39. Band 15
310 ©. v. Franque, Innere Sekretion des Eierstocks.
samkeit kommen könnten. Ja die Heilwirkung der Kastration wäre
sogar denkbar, wenn Knochen und Knochenmark selbst primär er-
krankt wären, — womit nebenbei bemerkt vieles von den sehr be-
achtenswerten Mitteilungen Nägeli’s wohl vereinbar wäre — oder
infolge einer allgemeinen Stoffwechselstörung nicht genügend mit,
den Knochenmineralien versehen werden könnten. Und, gerade
darauf deuten viele von Nägeli und anderen ebenfalls vernach-
lässigte Tatsachen ım Krankheitsbilde der Osteomalakie hin. So
vor allem das vorwiegende Vorkommen in der Schwangerschaft.
Nichts spricht dafür, daß bei den Schwangeren, die an Osteomalakie
erkranken, die Sekretion der Eierstöcke während der Schwanger-
schaft sich anders verhält, als bei der ungeheuren Mehrzahl ge-
sunder Schwangerer und in der höchsten Blütezeit der Osteoma-
lakie, gegen Ende der Schwangerschaft, sind :die Ovarien meist zu
ganz unscheinbaren, fast atrophischen Gebilden herabgesunken, wie
ich aus zahlreichen eigenen Beobachtungen bei Kaiserschnitten weiß
und zwar bei Osteomalakischen noch mehr als sonst. Hierher ge-
hört ferner die eigentümliche regionale Verteilung der Osteomalakie,
die in manchen Gegenden, wie in den Seitentälern des Rheins, im
Olonatal bei Mailand, in manchen Gegenden Japans endemisch, in
anderen Gegenden, wıe z. B. der ganzen norddeutschen Tiefebene
so gut wie unbekannt ist. Auch die Ernährung hat einen gewissen
Einfluß; so war die Osteomalakie z. B. in Gummersbach in früheren
Zeiten häufig, jetzt ist sie mit der sozialen Hebung und besseren
Ernährung der ganzen Bevölkerung so gut wie verschwunden. Ich
habe zurzeit ‘eine Frau in Beobachtung, welche in ihrer letzten
Schwangerschaft an Osteomalakie erkrankte, nach der Entbindung
genaß und jetzt ohne erneute Schwangerschaft nur infolge ihrer
stark herabgesetzten Ernährung an einem Rückfall litt. Die bei
ihr entfernten Ovarien waren klein, enthielten kein Corpus luteum
und nur Andeutungen von Thekaluteinzellen. Auch bei Tieren
kommt die Osteomalakie endemisch vor und man konnte sie bei
Rindvieh experimentell erzeugen durch Fütterung mit Heu, das
ungewöhnlich arm an phosphorsauren Salzen war; wie auf der Insel
Schütt in der Donau?). Nach künstlichem Zusatz von phosphor-
saurem Kalk trat Heilung ein, wie auch viele Fälle bei Frauen
allein durch die Darreichung von Phosphorsäure geheilt werden.
Alle diese Tatsachen sind mit der Annahme einer primären Er-
krankung des Eierstocks kaum vereinbar, wohl aber mit der An-
nahme einer vonG elpke°*) schon 1891 in Betracht gezogenen mangel-
haften Fixierung der Knochensalze und geringeren Widerstands-
fähigkeit der Knochen, so daß diese der Wirkung der normalen
. Velitz, Ungarisches Archiv f. Medizin, 1895.
relpke, Die Osteomalakie im Ergolztale, Basel 1891,
AG
Be
iu
4
Ö. v. Franque, Innere Sekretion des Rierstocks. DIE
Eierstockssekrete nicht standhalten, besonders bei besonderer Anspan-
nung des Kalkstoffwechsels wie in der Schwangerschaft, nach Weg-
fall der Eierstockssekrete aber in der Norm verharren oder zu ihr
zurückkehren könnten.
Auf ebenso schwachen Füßen, wie die Annahme, daß die
Östeomalakie einer primären Hyperfunktion der Ovarien ihre Ent-
stehung verdanke, scheint mir die von namhaften Internisten,
wie von Noorden und Nägeli, vertretene Hypothese zu stehen,
daß die Chlorose auf einer Hyperfunktion der Ovarien beruhe. Doch
soll hierauf nicht mehr eingegangen werden.
Als Quelle der ınneren Sekretion des Eierstocks kommen im
wesentlichen in Betracht der Follikelapparat und seine Abkömm-
linge, das Corpus luteum und die aus der Theka interna geplatzter
und nicht geplatzter Follikel hervorgehenden Thekaluteinzellen, deren
Gesamtheit man neuerdings als interstitielle Eierstocksdrüse oder
Pubertätsdrüse (Steinach) bezeichnet hat. Diese beiden letzteren
Bestandteile scheinen sich in der Tierreihe und in den verschiedenen
Lebensabschnitten einer Gattung, besonders auch des Menschen zeit-
lich und funktionell weitgehend abzulösen und zu vertreten. Ihre
Wirkung ist wohl identisch. und es ist nicht wahrscheinlich, daß
sich ihre Produkte voneinander trennen lassen. Wohl aber ist es
denkbar, daß das wachsende, das Ei noch enthaltende Graaf’sche
Follikel andere Stoffe absondert, als das ausgebildete Corpus luteum,
oder das junge, wachsende Corpus luteum andere, als das in Rück-
bildung begriffene. In der Tat wollen Seitz und seine Mitarbeiter
aus dem ersteren eine die Blutung verstärkende, aus letzterem eine
die Blutung hemmende Substanz dargestellt haben. Andere
wieder nehmen an, daß der Graaf’sche Follikel die Substanzen
hervorbringt, welche die Periode hervorrufen, das Corpus luteum
solche, welche sie aufhören machen. Als klinischer Beweis hierfür
wurde der Umstand herangezogen, daß man mitunter bei prota-
hierten Blutungen aus dem Uterus, die man auf den Eierstock zu-
rückführen zu müssen glaubte und deshalb mit Entfernung oder
Resektion desselben behandelte, die Ovarien im Zustande der klein-
eystischen Degeneration fand, d. h. durchsetzt von vergrößerten
Follikeln, welche nicht zu rechter Zeit geplatzt waren, so dass die
Bildung von Corporibus luteis unterblieben war. Da man jedoch
den gleichen Zustand der Ovarien sehr häufig auch ohne Blutungen,
ja sogar bei vollständiger Amenorrhoe, z. B. der bekannten Kriegs-
amenorrhoe, gefunden hat, so können diese Befunde nicht als be-
weisend anerkannt werden und muß die Klärung dieser Fragen
weiterer Forschung überlassen bleiben.
15*
u
KURT IE
912 E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit.
Über weilsrandige Blätter und andere Formen
der Buntblättrigkeit.
Von Ernst Küster in Bonn.
Mit 27 Abbildungen im Text.
Die große Schar von Gewächsen, die der Gartenliebhaber ihres
„bunten“ Laubes wegen schätzt und als panaschiert zu bezeichnen
pflegt, stellt eine in jeder Beziehung höchst ungleichartige Genossen-
schaft von Pflanzen dar: die panaschierten Pflanzen unterscheiden
sich voneinander nicht nur hinsichtlich der Farbentöne, die an ihrem
Laub mosaikartig nebeneinander gestellt erscheinen, nicht nur durch
die Verteilung der ihnen eigenen Farben auf die Sprosse und
Blätter, sondern auch — und diese Punkte beschäftigen den an
dem Panaschierungsphänomen wissenschaftlich Interessierten in erster .
Linie — hinsichtlich der Entwicklungsgeschichte und der Atiologie
der Buntblättriekeit.
Eine Einteilung der verschiedenen Formen der Panaschierung
habe ich 1916 zu geben versucht ?).
In zwei Hauptgruppen habe ich diejenigen Fälle vereinigt, welche
entweder Grün und Blaß in scharf abgegrenzten Feldern nebeneinander
zeigen — oder welche zwischen normal ergrünten und blassen An-
teilen nur unscharfe Grenzen erkennen lassen.
Wir werden uns in den nachfolgenden Erörterungen fast aus-
schließlich mit Panaschierungen der ersten Gruppe beschäftigen.
Bei ihnen werden nach der Verteilung der grünen und blassen
Spreitenanteile folgende Untergruppen zu unterscheiden sein:
1. Marginate Panaschierung, d. h. diejenige Form der
Buntblättrigkeit, bei welcher normal grüne Blätter weiße oder gelbe
Ränder aufweisen,
2. sektoriale Panaschierung, bei der die weiße und grüne
Farbe sektorenweise über Blätter oder Sprosse sich verteilt zeigen, und
3. marmorierte und pulverulente Panaschierung: eine
Blattspreite erscheint als mehr oder minder unregelmäßig zusammen-
gesetztes Mosaik grüner und weißer Areale. Sind diese verhältnis-
mäßig groß, so liegt marmorierte Panaschierung vor; sind sie klein,
und geben sie der Spreite das Aussehen einer in Grün ausgeführten
„Spritzarbeit“, so liegt pulverulente Panaschierung vor.
Die nachfolgenden Betrachtungen gelten in erster Linie den
marginaten Panaschierungen: „Albomarginate* Kräuter und Holz-
pflanzen, d.h. solche, deren Blätter einen mehr oder minder breiten,
regelmäßig oder unregelmäßig geformten, weißen oder gelben Rand
aufweisen („varietates foliis argenteo- vel aureo-marginatis“), werden
I) Küster, E. Pathologische Pflanzenanatomie. 2. Aufl., 1916, Pr, OL,
E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 213
in unseren Gärten gern kultiviert. Nur selten sieht man in der
freien Natur spontan ein albomarginates Exemplar auftreten. Wir
werden uns daher hauptsächlich mit den aus Ziergärten und Baum-
schulen bekannten Panaschierungen zu beschäftigen haben.
I. Vier Typen der marginaten Panaschierung.
Auch dann, wenn wir gemäß unserer Aufgabe diejenigen weiß-
randigen Spielarten, die wegen der unscharfen Grenze ihres blassen
Spreitenrandes zu der ersten Hauptgruppe der Panaschierungserschei-
nungen gehören, unberücksichtigt lassen, bleiben innerhalb der Gruppe
der albomarginaten Gewächse noch viele Mannigfaltigkeiten zu unter-
scheiden: die Unterschiede sind einerseits morphologischer Art und
beziehen sich auf die Verteilung grüner und blasser Areale über die
Blattspreite — andererseits kommen sie in der anatomischen Struktur
der Blattquerschnittsbilder zum Ausdruck.
Folgende Typen sind zu unterscheiden:
1. Typus des Pelargontum zonale.
Wir beginnen mit demjenigen Gewächs, dessen albomarginaten
Formen durch die Untersuchungen Baur’s besonderes Interesse ge-
sichert worden ist?).
Die weißrandigen Spielarten des Pelargonium zonale sind unter-
einander sehr verschieden, und selbst an den Sprossen eines Indi-
viduums und an den Blättern des nämlichen Sprosses lassen sich
allerhand Unterschiede feststellen. Im großen und ganzen wieder-
holt sich immer folgendes Bild: ein weißer Rand wechselnder Breite
umrahmt die ganze Spreite. Die weiße Zone dringt stellenweise in
‚Form schmaler Keile, die der Richtung der Hauptnerven des Blattes
folgen, mehr oder minder tief in sein Inneres ein. Auch dann, wenn
solche Keile fehlen, ist die Grenze zwischen den grünen und weißen
Anteilen des Blattes eine sehr unregelmäßig gekerbte oder gebuchtete
Linie, deren Verlauf keine -Gesetzmäßigkeit erkennen läßt, niemals
aber äquidistant zum Blattrand streicht.
An der Grenze der grünen und weißen Anteile bemerkt man
sehr häufig Areale von mattgrüner Färbung: die mikroskopische
Untersuchung ergibt, daß die normal grünen Anteile des Mesophylis
an der Peripherie des grünen Spreitenteils in treppenförmig gebil-
detem, oft recht kompliziert sich abstufendem Profil ihr Ende nehmen
(Fig. 1): je mehr farblose Mesophylischichten die grünen Anteile
überlagern, um so matter erscheint das betreffende Areal. Zu dieser
am Rand der grünen Spreitenteile wahrnehmbaren Abstufung kommt
als weitere Komplikation hinzu, daß auch die mattgrünen Partien
2) Baur, E. Das Wesen und die Erblichkeitsverhältnisse der „varietates
albomarginatae hort.“ von Pelargonium zonale (Zeitschr. f. induktive Abstammungs-
und Vererbungslehre 1909, Bd. 1, p. 330).
a TA Nr
N LE UEFA
\ ß
4 . =
914 E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit.
als schmale Sektoren bis ins Innere der Spreite, bis zum Anhef-
tungspunkt des Stieles vordringen können. und daß ferner inmitten
dunkelgrüner Flächen inselförmige Einsprengsel mattgrüner Färbung
erscheinen — und umgekehrt relativ dunkel gefärbte grüne Inseln
auf hellerem mattgrünem Feld sich zeigen können. Solche Varianten
in der Verteilung der Farben und Farbtöne finden sich zwar nicht
an jedem Blatte, aber doch fast an jedem Sprosse kräftig grünender
Individuen. :
Von weiteren Varianten wird später noch zu sprechen sein.
Baur hat in seiner zitierten Abhandlung über die albomarginaten
Spielarten des Pelargonium über die Anatomie der panaschierten
Blätter eingehend berichtet und vor allem festgestellt, „daß nicht
bloß der Blattrand aus Zellen mit farblosen Uhromatophoren aufge-
baut ist, sondern die ganze Pflanze, Blatt. Blattstiel und
Stamm stecken quasi in einer farblosen Haut... Die peri-
pheren zwei bis drei Zellagen, die sonst, bei rein erünblätterigen
Fig. 1. Verschiedenartige Abstufungen des grünen Gewebes am Blatt-
rand albomarginater Blätter von Pelargonium zonal.e — Vgl. Anm. 4.
auf S. 003.
Pflanzen (natürlich mit Ausnahme der Epidermiszellen) grüne,
chlorophyllhaltige Chromatophoren führen, sind bei diesen Weißrand-
pflanzen überall, auch in den scheinbar grünen Teilen farblos“?).
Diese Verhältnisse sind auch in den schematischen Darstellungen
von Fig. 1 zum Ausdruck gebracht ‘®).
Schon in sehr jugendlichen Blättern läßt sich die chlorophyli-
arme oder chlorophylifreie „Haut“, in der der normal-grüne Kern
der Pflanze steckt, leicht erkennen. Baur nimmt an, daß ein solcher
Unterschied auch am Vegetationspunkt selbst schon besteht, wenn
er auch der unmittelbaren Beobachtung nicht zugänglich ist; der
Vegetationspunkt bestehe also aus zweierlei Gewebesorten: der äußere
Mantel liefert albikate, der innere Anteil liefert lauter normal-
grüne Mesophylizellen.
Wie Baur bereits beschrieben und abgebildet hat?), treten hie
und da Anomalien auf, die dem bisher Mitgeteilten sich ‚schlecht ein-
zuordnen scheinen: an weißrandigen Exemplaren findet man gelegent-
lieh Blätter, welche besonders dunkelgrün gefärbte Teile aufweisen.
hi Baur. 1909, a. a. O., p. 334.
) In diesen und ähnlichen Darstellungen im folgenden ist nur has farblose
und das grüne Mesophyll, nicht die Epidermis zur Anschauung gebracht.
5) Baur. 1909, a. a. O., p. 345 und Fig. 18.
E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 215
Diese reichen meist bis an den Rand der Spreite, so daß dieser
stellenweiße der weiße Saum abgeht. Fig. 2 zeigt zwei panaschierte
Fig. 2b. Fig. 2c.
Fig. 2. Marginate Blätter mit tiefgrünen, nicht gerandeten Anteilen
(Pelargonium peltatum). a: Oberseite eines Blattes: der tiefgrüne Anteil umfaßt
1'/, Blattzipfel. Die gestrichelte Linie (rechts unten) zeigt den Verlauf der Grenze
Grün-Weiß auf der Blattunterseite. b: Profil der Grenze Grün-Weiß an der mit *
bezeichneten Stelle von a (keine farblose subepidermale Mesophylischicht!). e: Ahn-
liches Blatt mit größerem tiefgrünem Areal. Beide Blätter stark asymmetrisch ;
die grüne Hälfte ist stets die geförderte. a u. e °/, d. nat. Gr.
Blätter von P. peltatum, deren Grün-Weiß-Verteilung otenbar dem
von Baur abgebildeten Fall im wesentlichen entspricht.
Die nächste Figur (Fig. 3) zeigt ein mit tiefgrünem bis zum
Blattrand durchgehenden Sektor ausgestattetes Blatt von seiner Unter-
Fig.3. Marginates Blatt mit tiefgrünem Sektor; die Unterseite des Blattes
ist dargestellt. Die Grenze des weißen Randes ist durch punktierte Linien erkenn-
bar gemacht (Pelargonium zonale),
m
946 E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit.
seite: die Form des Sektors ist auf beiden Seiten der Spreite ver-
schieden; auf der Unterseite hebt sie sich mit stärkerem Farben-
kontrast von der Nachbarschaft ab als auf der Oberseite.
Schließlich stellt Fig. 4 einige ausgewählte Fälle tiefgrüner
Flecken auf den Spreiten von „Mme Salleray“* zusammen: Lage,
le |
N En
==
f]
’
er
=
Ss
N
Fig. 4b.
[})
Fig. &c. Fig. 4c.
Fig. 4. Tiefgrüne Randflecken an albomarginaten Blättern (Pelar-
gaonium zonale). Dazu schematische Profilbilder. Erklärung im Text.
a und.b'2/,..d; nat. Gr!, e: nat. Gr:
(Größe und Form der tiefgrünen Areale wechseln, desgleichen ihre
anatomische Struktur, von der später noch zu sprechen sein. wird.
Sind die tiefgrünen Flecke ansehnlich groß, oder liegen sie am
Blattrand oder gar an diesem inmitten farblosen Gewebes, so sind
sie leicht aufzufinden. Seltener als solche vermochte ich diejenigen
tiefgrünen Anteile aufzuspüren, die als kleine Einsprengsel inmitten
der mattgrünen inneren Teile der Spreite liegen.
Überall da, wo sich dem Auge tiefgrüne Blattfärbung . zeigt.
reicht die normal ergrünte Mesophylimasse bis zur Epidermis, wird
also von dieser nicht durch die vorhin erwähnte farblose Mesophyll-
E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen ‘der Buntblättrigkeit. 247
schicht getrennt®). Nicht immer aber reicht das tiefgrüne Gewebe
auf beiden Seiten bis zur Epidermis. Bei Fig. ta ist ein Fall dar-
gestellt, in welchem — wie das (uerschnittschema klar macht —
am Rand- des Blattes allerdings sämtliche Schichten des Mesophylis
normal grün sind; an der Grenze von Grün und Weiß macht sich
eine Profilierung bemerkbar, wie sie auch an der Grenze des üblichen
mattgrünen Binnenfeldes der Pelargonienblätter häufig ist. Fig. 4b
zeigt ein tiefgrünes Randfeld, das nur blattoberseits die denkbar
dunkelste Schattierung der erünen Laubfarbe erreicht; denn blatt-
unterseits liegen — vom äußersten Rande abgesehen — zwei Schichten
farblosen Mesophylis. Bei dem dritten Fall schließlich (Fig. 4) be-
schränkt sich die grüne Farbe auf die beiden unter der oberen Epi-
dermis liegenden Zellenschichten; der schematische Querschnitt zeigt
ferner, daß nicht weit von der grünen randständigen Zone noch ein
allseits von blassem Gewebe umgebenes grünes Einsprengsel liegt,
es ist eine Gruppe von zwei grünen, der subepidermalen Mesophyll-
schicht angehörigen Zellen und ist seiner Kleinheit wegen auf dem
Blatte (Fig. 4c) nicht eingetragen worden. —
Mit der. Feststellung. daß bei den weißrandigen Pelargonien ein
normal grüner Gewebekern von einer blassen Gewebehülle überzogen
ist, bringt Baur die von ihm a a. 0. erwähnten Anomalien durch
die Vermutung in Einklang, daß bei diesen gleichsam „der grüne
innere Komponent der Chimäre durch ein Loch in der weißen äußeren
Haut hinausschaut“. Wir werden uns mit dieser Auffassung später
noch zu beschäftigen und sie an der Hand weiterer Beobachtungen an
panaschierten Pelargonien und anderen Gewächsen zu prüfen haben.
Ähnliche Verhältnisse wie bei den Pelargonien liegen bei zahl-
reichen andern in albomarginater Form. bekannten Arten vor. die
wir hinsichtlich des Charakters ihrer Randpanaschierung mit jenen
gleichstellen dürfen.
Nur eine von ihnen soll noch eingehender beschrieben werden.
Neben den durch ihre Flecekenpanaschierung”) interessanten
Formen enthält die Gattung Abutilon auch marginat-panaschierte
Spielarten: ein elfenbeinweißer Rand umzieht in wechselnder Breite
ein mattgrünes Binnenfeld (Fig.5a). Mustert man eine größere Zahl
von Blättern, so findet man wohl hie und da solche, die an dem
weißen Rand noch ein grünes Blattzähnchen oder einen größeren
grünen Anteil besitzen. Oft stellt sich erst bei genauerer Unter-
suchung heraus, daß die grünen Anteile verschiedene Nuancen auf-
weisen. In Fig. 5 ist mit beabsichtigter Übertreibung des Unter-
schiedes auf die ungleiche Farbe der tiefgrünen Randflecken und
6) Spreitenareale, deren grünes Mesophyll bis zur Epidermis reicht, will ich
im folgenden „tiefgrün“ nennen.
7) Lindemuth, Studien über die sogenannte Panaschüre und einige beglei-
tende Erscheinungen (Landwirtsch. Jahrb. 1907, Bd. 36, p. 807).
18 E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättriekeit.
der etwas matteren Binnenfelder hingewiesen. Die grünen Rand-
partien machen ein auffallend starkes Flächenwachstum durch; oft
bekommen die Laubblätter dadurch groteske asymmetrische Formen.
Das mattgrüne Binnenfeld kann sich auf eine der beiden Blattspreiten
(Fig. 5b) oder auf spärliche Streifen, die am Grund der Nerven
liegen, beschränkt zeigen (ec).
Fig. 5a. Kissdie
Fig. 5. Albomarginate Blätter von Abutilon mit mattgrünen Binnenfeldern und
stark wachsenden tiefgrünen Randflecken (?/, d. nat. Gr.). Darunter
schematische Darstellung des tiefgrünen Blattrandes und des mattgrünen Binnenfeldes.
In den mattgrünen Binnenfeldern liegen an der ober- und unter-
seitigen Epidermis je eine Schicht farblosen Mesophylis. An den
tiefgrünen Arealen fehlt eine solche Schicht. —
Zum Pelargonium-Typus rechne ich wegen der die Epidermis
begleitenden farblosen Lage Mesophylizellen noch die marginaten
’'anaschuren von Brassica oleracea, Acer negundo, Buxus marginatus,
Fuchsia globosa, Farfugium „argenteum marginatum“, Cornus alba
und verschiedenen Solanaceen wie Nzcotiana gigantea, Solanum dul-
camara u. a. Auch bei den Monokotyledonen gibt es marginate
’anaschierungen. bei welchen die: grünen Blattanteile von farblosem
Mesophyll über- und unterlagert erscheinen (Dracaena Santeri, Ol-
via Sp.).
Selbstverständlich soll mit vorliegenden Blättern nicht eine Klassi-
fikation der albomarginaten buntblättrigen Pflanzen gegeben werden,
E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 219
die alle bisher gezüchteten Formen der Randpanaschüre berück-
sichtigt und zwischen mehreren scharf umgrenzbaren Typen unter-
scheidet. Von scharfen Grenzen der hier aufgestellten Gruppen Kann
nicht die Rede sein; vielmehr leiten sich die einen von den andern
ab, und sind die besonders charakteristisch entwickelten Formen
durch Übereänge aller Art miteinander verbunden. Die beiden im
folgenden genannten Typen gleichen in mehreren Merkmalen dem
Pelargonientypus, unterscheiden sich aber habituell hinreichend von
diesem, um als eigene Typen gelten zu dürfen.
Fig. 6b. Fig. 6.c.
Fig. 6. Grünsprenkel von dem farblosen Rand albomarginater
Blätter. a) schematischer Querschnitt von Saxifraga sarmentosa, b und e Quer-
schnitt durch die Blätter von Solanum Balbisii. Die chlorophylihaltigen Zellen
sind durch Punktierung kenntlich gemacht.
2. Typus der Saxifraga sarmentosa.
Die genannte Spezies wird in einer panaschierten, ziemlich lang-
sam wachsenden Spielart gezogen, deren Blätter einen ansehnlich
breiten blassen Rand und ein mattgrünes Binnenfeld unterscheiden
lassen (f. tröcolor hort.). Letzteres zeigt auf Querschnitten an. der
oberen und unteren Epidermis eine oder mehrere Schichten farblosen
Mesophylis. Besonders matt gefärbte Inseln entstehen im grünen
Binnenfeld dann, wenn zwei farblose Palissadenschichten übereinander
liegen. d
Was den albomarginaten Blättern der 8. sarmentosa ihren be-
sonderen Charakter gibt, ist die Grünsprenkelung des blassen
Randes: schon bei Betrachtung mit unbewatfnetem Ange läßt sich
erkennen, daß in’dem Rande hunderte feinster Grünsprenkel liegen.
Bei Untersuchung mikroskopischer Querschnitte stellt sich heraus, dab
990 E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit.
die grünen Inseln der ersten, im übrigen farblosen Palissadenschicht.
häufiger der zweiten oder der zweiten und dritten oder noch tiefer
liegenden Gewebelagen angehören (Fig. 6a). Je tiefer sie liegen, um
so heller erscheinen sie natürlich bei makroskopischer Betrachtung
des Blattes. Irgendwelche Gesetzmäßiekeit in ihrer Verteilung habe
ich nicht bemerken können.
Die kleinsten Grünsprenkel, die ich finden konnte, waren Gruppen
von vier Zellen. Vermutlich entstehen gelegentlich auch Sprenkel
von noch geringerem Umfang. —
Zu demselben Typus rechne ich die Panaschierung. die ich an
Solanum Balbisii 1915 und 1916 im botanischen Garten zu Bonn
kultivieren konnte, nachdem sie im Sommer 1915 aus einem normal
grünen Individuum spontan entstanden war.
Die Blätter hatten einen gelblich-weißen Rand von wechselnder
Breite, der in allen seinen Teilen grüne pulverulente Sprenkelung
aufwies. Dem unbewaffneten Auge erschienen die Grünsprenkel zum
Teil als polygonal umrissene Areale, zum größeren Teil als punkt-
förmige kleinste Spritzer. Das mattgrüne Binnenfeld, mit dem die
Spreitenhälften oft sehr ungleich bedacht sind (Fig. 7), entspricht hin-
sichtlich des grünen und des subepidermalen farblosen Mesophylis
durchaus den für Pelargonium geschilderten Verhältnissen; Fig. Te
zeigt den Querschnitt durch ein Blatt, das auf der Oberseite in der
rechten Hälfte zwei farblose Schichten. in der linken nur eine solche
aufweist.
Fig. 6 erklärt die Struktur der auf dem farblosen Rand der
Blätter sichtbaren Grünsprenkel. Bei b sehen wir einen Grünsprenkel,
der in der zweiten und dritten Mesophylischicht liegt und aus vielen
Zellen besteht: bei e sind mehrere kleinste, aus nur je einer Zelle
bestehende Sprenkel dargestellt, die in der obersten oder der zweiten
Zellenschicht liegen. In noch anderen Fällen gehören die Sprenkel
allein der dritten Lage an.
Wir haben oben festgestellt, daß auch an den blassen Rändern
der Pelargonienblätter grüne Flecke und Sprenkel auftreten; kKenn-
zeichnend für den hier behandelten Typus sind die Reichlichkeit, mit
der die Sprenkel auftreten, und ihr dadurch bedingter Einfluß auf die
(Gesamterscheinung des Blattes.
3. Typus der Spiraea Burmalda.
Bei den Rosaceen ist die „Neigung“ zur Produktion panaschierter
Formen beträchtlich.
Großer Beliebtheit erfreut sich der in Ziergärten viel gezogene
niedrige Dumalda-Spierstrauch (Spiraea Bumalda hort. = Sp. pumtla
Zabel).
Die Panaschierung der Spiraeen ist insofern eine sehr unregel-
mäßige, als normal grüne Sprosse neben bunten zu entstehen pflegen,
£
I
I. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 221
und diese ihrerseits meist neben normal grünen Blättern panaschierte
entwickeln, auf deren Spreiten sich Grün und Weiß in sehr ver-
schiedenartiger Weise kombinieren können. Gar nicht selten ist der
Fall. daß eine kleine Gruppe panaschierter Blätter zwischen normal
Fig. 7 c.
Fig. 7. Albomarginate Blätter mit gesprenkeltem Spreitenrand (sSola-
num Balbisö). a und b zwei Blätter in °/, d. nat. Gr., ce schematischer Quer-
schnitt durch ein ähnliches Blatt; die Grünsprenkel sind nicht eingetragen.
grünen stehen, ja daß nur ein einziges panaschiertes Blatt an einem
Sprosse gefunden wird: der nämliche Vegetationspunkt kann pana-
schierte Blätter, nach diesen normal grüne, später wieder panaschierte,
schließlich wieder normal grüne liefern.
Die Panaschierung ist eine deutlich sektoriale. Werden mehrere
panaschierte Blätter an demselben Sproß erzeugt, so bedeutet ent-
weder das Auftreten der Buntheit einen an demselben Vegetations-
punkt mehrfach sich wiederholenden Prozeß anomaler Gewebeproduktion
999 E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit.
(diesen Fall deuteten wir bereits vorhin an), oder die panaschierten
Blätter stehen in Orthostichen übereinander: ein Sektor des Sprosses
ist also albikat, zu dessen Erklärung die Annahme einmaliger Ent-
stehung albikaten Gewebes am Vegetationspunkt genügt. Seine Lage
und seine Breite wechseln, so daß entweder nur Blätter entstehen.
die zum Teil noch normal grün sind, oder auch solche, die nirgends
mehr normales Grün aufweisen.
Auch dann wenn die Buntfarbiekeit nur an einzelnen Blättern
erscheint oder mehrere Blätter bunt werden, ohne in ihrer Zeichnung
Beziehungen zu einander zu verraten, die zur Annahme eines albi-
katen Sproßsektors nötigten, muß die Panaschierung eine sektoriale
genannt werden, da alsdann die einzelnen Spreiten normal grüne
Sektoren und albikate aufzuweisen pflegen (Fig. 8).
/
Fie. Sa. Fig. Sb.
Fig. Sd. Fig Se.
Fig. 8. Sektoriale Panaschierung von Spiraea Bumalda. a, b und ce ver-
schiedenartige Verteilung der tiefgrünen und mattgrünen-marginaten Blattareale ;
bei d schematischer Querschnitt durch den mattgrünen Sektor des Blattes c.
a, b und ce ?/, d. nat. Gr.
Die Zeichnung der panaschierten Blätter ist verschieden: neben
rein weißen Blättern — solche sind namentlich an den obersten
Internodien blühender Sprosse und an den der aus den Achseln bunter
Blätter sich entwickelnden Trieben häufig — erscheinen solche, die
Reinweiß und Normalerün unvermittelt nebeneinander zeigen — oft
derart, daß je eine Längshälfte der Spreite weiß und grün ausfällt —
und marginat-panaschierte Spreiten, die uns hier besonders inter-
essieren. Bei ihnen sehen wir einen mehr oder minder breiten weißen
tand und neben diesem eine mattgrüne Zone wechselnder Breite.
Fig. 8 gibt hierüber Aufschluß: der weiße Rand wird nur da ge-
- _E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 295
funden, wo ein albikater, mattgrüner Spreitensektor vorliegt; die
normalgrünen Sektoren haben keinen weißen Rand, sondern gehen
bis zum Rand der Spreite durch. Fig. Sa zeigt weiterhin, daß der
reinweiße Saum ansehnlich breit werden und die mattgrünen Anteile
gleichsam zurückdrängen kann. Ist ein Blatt ringsum weißgerandet,
so ist der innere mattgrüne Bezirk meist sehr schmal. |
Die anatomische Untersuchung lehrt, daß an den mattgrünen
Spreitenteilen unter der Epidermis mindestens eine farblose Meso-
phylischicht liest. Sie lehrt außerdem, daß die an bunten Blättern
auftretenden albikaten Sektoren dreierlei Art sein können: entweder
es treten auf beiden Seiten farblose subepidermale Zellen auf,
oder es beschränken sich diese auf die Ober- oder auf die Unter-
seite (vol. die Schemata in Fig 9); entwickelt ein Spreitensektor
nur blattunterseits farbloses Mesophvll, so ist er bei makroskopischer
Fig. 9. Marginate Panaschierung bei sektorial geteilten Blättern
von Spiraea Bumalda: a farbloses Mesophyll auf beiden Blattseiten, der mattgrüne
Blattsektor „geht durch“, b farbloses Gewebe (vom äußersten Rand abgesehen) nur
auf der Blattunterseite; der mattgrüne Blattsektor ist nur auf dieser erkennbar, —
Ein nur auf der Oberseite sichtbarer Sektor in Fig. Se und d.
Untersuchung der Oberseite‘ nur da wahrzunehmen, wo er den ihm
entsprechenden weißen Blattrand noch als schmales Streifehen auf
der Blattoberseite erscheinen läßt.
Vom zuerst geschilderten Pelargonium-Typus unterscheidet sich
der Speraea-Typus vor allem durch die Mischung panaschierter und
gleichmäßig grüner Blätter, die wir fast an jedem Sproß konstatieren
können, — ferner dureh die große Verbreitung der an den Blättern
auftretenden Sektorenteilung, bei welcher tiefgrüne Anteile neben
mattgrüne zu liegen kommen; bei den Pelareonien fehlte zwar diese
(liederung nicht, war aber selten.
Zu demselben Typus wie Spiraea Bumalda ist ein beliebter gelb-
bunter Zierstrauch aus der Familie der Oleaceen zu stellen. das albo-
marginate Ligustrum ovalifolium.
Seine Zeichnung ist sehr mannigfaltig: außer gleichmäßig blassen
und gleichmäßig grünen Blättern entstehen marginat-panaschierte, die
einen blassen Rand von wechselnder Breite und Form und ein matt-
grünes Binnenfeld aufweisen. Außerdem entstehen nicht gerade selten
an panaschierten Zweigen Blätter, die außer blassem Rand und matt-
grünem Binnenfeld noch tiefgrüne Areale von meist deutlicher Sektor-
form erkennen lassen (Fig. 10). Seltener erscheinen an den Blatt-
rändern dunkelgrüne isolierte Partien,
ar Be ER nt LE ) 2 m a 2.
2994 E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit.
Dunkelgrüne Sektoren können auf der Ober- wie auf der Unter-
seite der Spreiten sichtbar werden. Fig. 11 zeigt vier aufeinander-
folgende Blattpaare eines panaschierten Zweiges von der Ober- und
Unterseite: bei dem untersten Blattpaar ist der auftretende tiefgrüne
Sektor auf der Oberseite noch von einem mattgrünen Sektor unter-
brochen, auf der Unterseite ist er zusammenhängend; das zweite
Blattpaar weist nur auf der Unterseite einen tiefgrünen Sektor auf. Ahn-.
liches wiederholt sich bei dem dritten Blattpaar, dessen tiefgrüner
Sektor am Rande gerade noch auf die Blattoberseite „herumreicht* —
ebenso wie es vorhin für die Sektoren der Spiraen zu beschreiben
war (Fig. 9b).
Fig. 10.- Albomarginate Blätter mit dunkelgrünen Sektoren; vier auf-
einanderfolgende Blattpaare von Ligustrum ovalifolium. *°), d. nat. Gr. Rechts
ein verstümmeltes Blatt.
Die Anatomie der panaschierten Ligusterblätter zeigt insofern
Übereinstimmung mit den albomarginaten Pelargonien u. s. w., als an
den matten Arealen das grüne Mesophyli von farblosen Schichten
über- bezw. unterlagert wird. Auf manche beachtenswerte Einzel-
heiten einzugehen, welche die Struktur der tiefgrünen und mattgrünen
Blattareale auszeichnet, darf wohl unterlassen werden, da die Schilde-
rung ihrer Mannigfaltiekeit zu weit führen würde. —
Weiterhin rechne ieh die panaschierte Form des Hebiseus Coopert
in die Gruppe der Spiraea-Panaschierune.
Br
BR FE. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 995
4. Typus der Sambucus nigra.
Die Panaschierung des albomarginaten Holunders (Sambueus
nigra) ist durch einen weißen Blattrand, ein tiefgrünes Binnenfeld
und eine zwischen beiden vermittelnde mattgrüne Stufe von wech-
selnder Breite gekennzeichnet. Abweichungen von diesem Ausbil-
dunestypus sind nicht selten: hie und da reicht der tiefgrüne Teil
bis zum Blattrand, so daß der helle Saum streckenweise unterbrochen
wird, — außerdem erscheinen am Rand oder in seiner unmittelbaren
Fig. 11a. Fig. 11 b.
Fig. 11. Panaschierter Zweig von Ligustrum ovalifolium: Vergleich der
Ober- und Unterseite der Blätter. Vgl. den Text. a Oberseite, b Unter-
seite. Bei b sind nur diejenigen Blätter voll gezeichnet, auf deren Spreiten tief-
grüne Sektoren auftreten. ?[, d. nat. Gr.
Nähe dunkelgrüne „Inseln“ auf hellem Grund. Andererseits können
auch mattgrüne Felder inselartig auf dunkler gefärbtem Grund sich
zeigen.
Überdies treten Erscheinungen auf, die die Panaschierung des
Holunders als sektoriale zu bezeichnen gestatten: zuweilen entstehen
tiefgrüne oder eleichmäßig blasse Anteile größeren Umfangs, die
mehrere Blätter oder sektorenartige Teile eines Blattes oder eines
Foliolum in Anspruch nehmen (Fig. 12).
Die mikroskopische Untersuchung des weißen Randes macht mit
dem in Fig. 13a dargestellten Bilde bekannt: die farblosen subepi-
dermalen Schichten fehlen dem grünen Binnenfeld; nur da wo matt-
grüne Zwischenzonen sichtbar sind, erscheint das grüne Binnenfeld
eine Strecke weit von farblosem Mesophyll .über- oder unterlagert
(Fig. 13b). Der schematisierte Querschnitt durch eine auf tieigrünem
Grund sich zeigende matterine Insel ist in Fig. 13 e wiedergegeben.
39. Band. 16
/
996 E. Küster. Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättriekeit.
Von Ilex aquifolium werden verschiedenartige panaschierte Zier-
formen kultiviert. Die albomarginate Spielart (s. u. pag. 229) dürfte
dem Sambucus-Typus näher stehen als den andern. EEE
Auch bei den Monokotyledonen treten Randpanaschierungen
auf (weißrandiges Chlorophytum capense, weißrandige Agave- und
Funkia-Arten, von welchen weiter unten noch die Rede sein wird)
welche hinsichtlich der Verteilung des grünen und blassen Mesophylls
der beschriebenen Buntblättrigekeit der Sambueus ähnlich sind.
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Fie. 12a.
II. Reinweiße Sprosse.
An vielen panaschierten Kräutern und Holzpflanzen treten rein-
weiße Triebe in„wechselnder Häufigkeit auf — sowohl bei marginaten
wie sektorialen oder marmorierten Panaschierungen kann man sie
beobachten. Handelt es sich um Holzpflanzen, so läßt sich zuweilen
feststellen, daß vorzugsweise das „alte Holz“ imstande ist, reinweiße
Triebe zu produzieren. |
Der Umstand, daß reinweiße Sprosse an der Photosynthese nicht
teilnehmen können, wird die Annahme rechtfertigen, daß jene von
den grünen oder bunten Sprossen desselben Individuums hier nicht
immer ausreichend ernährt werden, und wird es erklären, daß nicht immer
den reinweißen Sprossen eine lange Lebensdauer beschieden und eine
reiche Blattproduktion möglich ist; freilich fehlt es auch nicht an
Fällen, in welchen kräftige panaschierte Baumindividuen ihre weißen
Triebe jahraus jahrein üppig ihr Wachstum fortsetzen lassen (UImus
s. u.). Weiterhin wäre zu berücksichtigen, daß nicht nur weiße
Sprosse, sondern auch einzelne weiße Blätter oder Blatteile allerhand
schädigenden Einflüssen gegenüber sich erheblich weniger widerstands-
fähig erweisen als die grünen (aus Gründen ihrer „enzymatischen“
REITEN 7
Pe
E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 927
Qualitikation?). Auch dieser Umstand macht es verständlich, daß
‘weiße Triebe oft früher zugrunde gehen als grüne und bunte.
Trotz diesen Schwierigkeiten gelingt es bei einer Reihe pana-
schierter Gewächse verhältnismäßig leicht, sich reinweißes Material
in ausreichender Menge zu beschatten.
An einigen der von mir untersuchten albomarginaten Gewächse
soll im folgenden die Frage eeprüft werden. inwieweit die „rein-
weißen“ Zweige ihren Namen verdienen.
Fig. 12 b.
Fig.12. Sektoriale Teilung eines marginaten Blattes von Sambucus nigra.
Bei a ein zur Hälfte blasses Blatt; das oberste Foliolum mit mattgrüner Insel auf
tiefgrünem Grund. (vgl. Fig. 13e), der weiße Blattrand von wechselnder Breite
und mehrfach unterbrochen: die Blattspindel sektorial geteilt (',+!/,). Bei b
sektoriale Teilung in tiefgrüne Foliola (das oberste, die beiden untersten), zwei
spärlich gerandete (rechts), ein- Foliolum ohne tiefgrüne Anteile (links) und ein sektorial
geteiltes Foliolum (links). ?/,d. nat. Gr.
l. Pelargonium xonale.
Reinweiße Äste sind an albomarginaten Individuen nicht selten.
Sie wachsen eine Zeitlang kräftige, produzieren zahlreiche Blätter,
die allerdings bei den von mir untersuchten Spielarten — an
16:
ae AB "rn
y id
398 E.Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit.
Größe hinter den weißrandigen merklich zurückbleiben, stellen aber
dann ihr Wachstum ein. Die Achsen der weißen Triebe sind eben-
falls chlorophylifrei; sie haben einen elfenbeingelben Ton und sind
durchscheinend.
Verdienen die weißen Teile der Pelargonien die Bezeichnung
„reinweiß“? Sie haben insofern Anspruch auf diese, als in der Tat
sehr oft nur weiße Blätter an ihnen entstehen, als auch ihre Seiten-
triebe alle blaß sein und keinerlei Rückschläge zum Normalgrünen
wahrnehmbar werden können. Es fragt sich, ob die weißen Triebe
auch dann reinweiß bleiben würden, wenn es gelänge, das Wachs-
tum ihrer Vegetationspunkte beliebig lange anhalten zu lassen.
Von Bedeutung ist es, daß auch unter den üblichen Kultur-
bedingungen gelegentlich „Rückschläge* auftreten: die „rein-
weißen“ Zweige produzieren bunte Blätter. Die Neigung
zur Produktion der letzteren scheint bei verschiedenen Spielarten
Fig. 13. Panaschierte Blätter von Sambucus nigra. a weißer Rand ohne
mattgrüne Stufe, b dasselbe mit mattgrüner Stufe, ce mattgrüne Insel auf tiefgrünem
} Grund (vgl. Fig. 12 a).
ungleich groß zu sein. „Madame Salleray“* ist eine Spielart, an der
ich wiederholt bunte Blätter an Sprossen nachweisen konnte, deren
Laub im übrigen durch viele Internodien blaß war, und deren trans-
parente Achsen — weder äußerlich noch bei Durchmusterung der
@Quer- und Längsschnitte — grüne Anteile erkennen ließen. Die
bunten Blätter erschienen vereinzelt im farblosen Laub der blassen
Triebe und zeigten bald ansehnlich breite, normalgrüne Sektoren, die
bis zum Rand der Spreite durchgingen und das ganze Mesophyll
gleichmäßig gefärbt zeigten, — bald kleine Sprenkelungen, die erst
bei Lupenuntersuchung sich erkennen ließen, und die mitten im weißen
(sewebe liegen können. Ich habe bei „Mme Salleray“ bisher nur
blattoberseits Grünsprenkel finden können.
Viel häufiger als an den Laubblattspreiten zeigt „Mme Salleray*
an den Stipeln Grünsprenkel: ein Nebenblatt zeigt deren manchmal
8—10 — freilich erst bei Lupenbetrachtung. Die Grünsprenkel liegen
(ausschließlich?) am Rande der Nebenblätter; ihr Mesophyll ist bis
zur Epidermis normalgrün.
j
Fi E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 229
Hierzu wäre zu bemerken, daß grüne Randsprenkel auch auf
den weißen (oder weißrandigen) Nebenblättern der typischen albo-
marginaten Sprosse bei „Mme Salleray“ häufig sind.
An den Blattstielen der farblosen Triebe habe ich bisher
ebensowenig grüne Anteile gefunden wie an den farblosen Achsen.
2. Ilex aquwifolium.
An kräftig wachsenden albomarginaten Individuen von Ilexr aque-
fokum treten — vorzugsweise am alten Holz — sehr kräftige, schön
belaubte Zweige „reinweißer“ Qualität in nicht geringer Zahl auf,
Auch sie täuschen nur bei makroskopischer Prüfung dem Auge völlig
reinweiße Beschaffenheit vor: bei Durchmusterung zahlreicher weißer
Blätter mit der Lupe wird man auf einigen grüne Sprenkelungen
finden, die ganz unregelmäßig auftreten und vielen Blättern und
vielen Trieben eänzlich fehlen. Ich habe nicht selten Blätter vor
a b C
Fig. 14. Grünsprenkel auf weißen Blättern von Ilex aquifolium. a Grün-
sprenkel unter der oberen Epidermis, b liegt an der unteren Epidermis, e Grün-
sprenkel von komplizierter Form. Schematisiert.
mir gehabt, die 20—30 feinste Grünsprenkel erkennen lieben, deren
Verteilung über die Spreite ebensowenig Gesetzmäßiges erkennen
ließ wie die Form der -einzelnen Fleckchen. Randständige Grün-
sprenkel scheinen selten zu sein, nervenständige häufiger; noch häufiger
liegen sie zwischen Blattrand und Mittelrippe, ohne an diese oder
jenen zu grenzen. Nur die nervenständigen sind — soweit meine
Erfahrungen reichen — zuweilen ansehnlich groß und nehmen sogar
die Form 1—2 cm langer Streifen an.
Hinsichtlich ihrer Lage im Mesophyli unterscheiden sich die
'erünen Inseln voneinander so stark wie nur denkbar: entweder sie
liegen an der Ober- oder an der Unterseite der Blätter — oder in-
mitten des farblosen Mesophylis (vgl. die Schemata Fig. 14).
3. Acer negundo.
. Daß panaschierte Ahornbäume (Acer negundo fol. var.) reinweibe
Aste produzieren, ist eine häufige Erscheinung: sie entstehen be-
sonders zahlreich am alten Holz und wachsen oft mit bemerkens-
werter Gradheit nach oben — gar nicht selten mehrere Jahre hin-
durch, gehen .aber schließlich zugrunde.
Die blassen Anteile mancher Gartenformen des genannten Ahorns
zeichnen sich durch besonders reines Weiß aus, — bei andern
sind die blassen Areale kräftig gelb und oft unregelmäßig grün
930 E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit.
gefleckt. Die Kontrastreichen Gartenformen mit weißer, ja blen-
dend weißer Albikatur eignen sich besonders gut dazu, um sie auf
versprengte grüne Anteile zu untersuchen. Solche treten in der
Tat auf, — allerdings selten. Gleichwohl war es mir in langjähriger
Beobachtung eines Bonner Exemplars möglich. eine stattliche An-
zahl von Beobachtungen über das Auftreten grüner Sprenkel auf
sonst völlig weißen, sehr laubreichen Ästen zu sammeln. Es handelt
sich bei solchen Sprenkelungen um sehr kleine, nur wenige mm?
messende grüne Areale, die in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle
am Rand des Blattes sich finden; vereinzelt fand ich Gruppen von
grünen Sprenkeln, von welchen wenigstens eines .bis an den Rand
)
a b \
d C
Fig. 15. Grünsprenkel und Grünsektor an weißen Blättern von Evo-
nymus rvadicans. a und b schematische Darstellung verschieden gelegener Grün-
sprenkel, ce randläufiger Grünsektor mit mattgrüner Stufe. 2%‘ nat. Gr., d schema-
tische Querschnittszeichnung des bei e abgebildeten Sektors.
reichte, noch seltener fand ich vereinzelte grüne Fleckchen, die nicht
am Rande, doch in seiner Nähe lagen, oder gar Sprenkelgruppen.
die mit keinem ihrer Anteile bis zum Rande reichten.
Die Anatomie der Grünsprenkel zeigt verschiedene Bilder. Im
allgemeinen scheint die oberste Palissadenschicht die bevorzugte zu
sein; nur ihre Zellen sind normalgrün. Am Rand der Blätter sind
meist alle Mesophylischichten grün.
4. Eronymus radicans.
Die in panaschierter Form besonders beliebte Kronymus radicans
produziert neben bunten Zweigen auch reingrüne und reinweiße.
Sieht man letztere in größerer Anzahl dureh, so erkennt man, dab
die Produktion zahlreicher reinweißer Blätter nicht unbedingt das
spätere Auftreten grüner Anteile ausschließt. Es ist nicht schwer,
bei Kronymus, deren weiße Triebe sehr stattlich werden, 50— 60 cm
oder noch größere Länge erreichen und entsprechend zahlreiche Blatt-
A a Tu
«
E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 231
paare entwickeln, Albinozweige ausfindig zu machen, an welchen
‚auf viele Internodien mit reinweißen Blättern ein oder mehrere bunte
Blätter folgen, die dann wieder von vielen reinweißen abgelöst werden.
a) Verhältnismäßig häufig ist der Fall, daß die versprengt auf-
tretenden bunten Blätter in der Nähe der Mittelrippe einen schmalen
Streifen mattgrünen Gewebes aufweisen. Wie Fig. 15a zeigt, liegt
hier zwischen 4—5 farblosen Schichten oberseits und 2 farblosen
Lagen unterseits eine aus 3—4 Schichten gebildete grüne Zellen-
platte.
b) Mustert man die „reinweißen“ Zweige mit der Lupe. so ent-
deckt man an manchen von ihnen Blätter mit unterseitiger grüner
Sprenkelung: auf weißem Grunde heben sich grüne Spritzer kleinsten
Formates ab. Sie sind zuweilen Gruppen nur weniger Zellen. Oft
liegen sie am Blattrand, nicht viel seltener im Inneren der Spreite.
Bei ihnen fand ich die unterste Schwammschicht grün, alle andern
weiß (Fig. 15).
ce) Selten ist der Fall, daß an weißen Zweigen ansehnlich große
grüne Sektoren auftreten. Das in Fig. 15c und d dargestellte Blatt ent-
nahm ich einem Albinosproß; 16 weiße Blätter -— reimweiße und einige,
die bei Lupenprüfung sich sehr spärlich gesprenkelt erwiesen, gingen
ihm voraus; vier reinweiße, noch nicht ausgewachsene Blätter (Sprenke-
lung war an ihnen nicht, vielleicht noch nieht sichtbar) folgten ihm.
Am Rand dieses Blattes war das ganze Mesophyll grün; über die
treppenförmige Abstufung des grünen eibt Fig. 15d Aufschluß.
Sehr üppige sind zuweilen die weißen Triebe der albomarginaten
Cornus alba;;auch an ihnen fand ich zwischen zahlreichen reinweißen
Blättern vereinzelte bunte mit ansehnlich großen Grünsprenkeln.
„Reinweiße* Sprosse und Sproßsysteme zeigen sich nicht nur
an albomarginaten Individuen, sondern auch bei Gewächsen, deren
Buntblättrigkeit sie zu andern Gruppen der panaschierten Pflanzen
stellt. ‘Wenigstens an einem Beispiel möchte ich in diesem Zu-
sammenhang auch auf die zu sektorialer, marmorierter oder pulverulenter
Panaschierung neigenden Pflanzen eingehen.
5. Ulmus campestris.
An den Ulmenbäumen unserer einheimischen Parkanlagen u. s. w.
fallen nicht selten reinweiße Sprosse von mächtigem Umfange neben
marmoriert panaschierten auf.
Die weißen Sprosse verhalten sich untereinander recht verschie-
den. Entweder wir sehen an ihnen während der ganzen Vegetations-
periode ausschließlich weiße Blätter entstehen — oder es erscheinen
nach Produktion mehr oder minder zahlreicher weißer Blätter pana--
schierte. Diese Panaschierung folgt manchmal den Kennzeichen der
sektorialen, derart, daß übereinanderstehende Blätter hinsichtlich ihrer
(rün-Weißzeichnune in allen Einzelheiten sich ähneln; in andern
939 E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit.
Fällen ist nichts von sektorialer Bildung zu erkennen und jedes Blatt
individuell gezeichnet marmoriert oder pulverulent (Beobachtungen
an dem panaschierten Exemplar des Botanischen Gartens in Halle a. S.
und den Bäumen der Bonner Anlagen).
Die reinweißen Blattfolgen verdienen ihren Namen insofern nicht,
als auch auf ihnen — und gar nicht selten — noch Spuren normal-
grüner Gewebebildung sich zeigen können. Allerdings sind diese
sehr klein und entziehen sich auch einem guten Auge, so lange es
Fig. 16. Inversion der Panaschierung bei Hostia japonica. a weißrandige
Forn mit grünem Binnenfeld, b grünrandige Form mit weißem Binnenfeld. Die
mattgrünen Stufen sind durch Punktierung angedeutet. '/, d. nat. Gr.
unbewafinet bleibt. Auf vielen weißen Blättern sucht man umsonst
nach ihnen: selbst ansehnlich gliederreiche Blattfolgen scheinen frei
von ihnen bleiben zu können Anderwärts trifft man auf einer
Spreite mehrere oder viele (10-20) winzige Grünsprenkel. Ich habe
diese kleinsten Areale grünen Gewebes stets auf der Blattunterseite
gefunden; ob auch oberseits solche anftreten können. mag dahinge-
stellt bleiben. Besonders oft liegen die Grünsprenkel in der Nähe
der Spreitenmittelrippe. sch selten fand ich sie am Blattrand. Oft
liegen sie zu kleinen Gruppen vereinigt nebeneinander.
FE EURE EIERN
=
x en
E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Bundblättrigkeit. 255
Außerhalb der Gartenanlagen beobachtete ich Analoges nur an
Rubus sp., deren Zweige oft marmorierte Panaschierung zeigen und
gelegentlich auch rein weiß ausfallen. Auch bei Rubas können Grün-
sprenkel auftreten. —
Bei der eroßen Verbreitung der auf weißen Sprossen nachweis-
baren Grünsprenkelungen gewinnt die Frage Interesse, ob es über-
haupt Pflanzen gibt, die neben panaschierten ‚Sprossen rein weiße
— völlig reimweiße und sprenkelfreie — Triebe entwickeln können.
Vermutlich werden alle panaschierten Arten. auch an ihren blassen
Sprossen grüne Anteile entwickeln können, wenn sie nur lange genug
leben und überhaupt die zur Entwicklung grüner Areale erforder-
lichen Lebensbedingungen — über die vorläufig nichts bekannt ist —
finden.
re
Bu SB
Fig. 17. Grünrandiges buntes Blatt von EZvonymus ‚japonica (tiefgrüner
Rand, hellgrünes Binnenfeld). a der grüne Rand reicht bis zu einem Gefäßbündel:
- b drei Schichten grüner (sewebe, die oberste mit einer Lücke. ce Stück aus der
Mitte des Blattes; die subepider.nale Grünschicht der Blattunterseite mit Lücke.
Ill. Inversion der Panaschierung.
Unter den in Gärten gern gezogenen Hostien oder Funkien be-
finden sich verschiedene buntblättrige Spielarten.
Von Hostia japonica Voss (= Funkia ‚lancıfolia Spr.) sind
mehrere randpanaschierte Formen bekannt: die forına albo- marginata
Voss (= F. cucullata f. albo-marginata hort.) hat weißen Rand und
. grünes Binnenfeld, die forma undulata Voss (= F. undulata Otto
et Dietr.) hat erünen Rand und weißes Binnenfeld: die eine der
beiden Panaschierungen stellt die Inversion der andern dar (Fig. 16).
Beiderlei bunte Formen sind ferner für Cklorophytum u. a. bekannt.
Auch bei Dikotyledonen tritt ähnliches auf.
Unter den sehr zahlreichen bunten Formen, die von Iler aqur-
fokum gezogen werden. gibt es solche mit weißem Rand und grünem
Binnenfeld und andere mit inverser Panaschierune d, h. tiefgrünem
Rand und heller gefärbtem Binnenfeld.
'
934 E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit.
1
Ähnliches hatte ich weiterhin bei Spielarten der Eronymus japo-
ntca zu untersuchen Gelegenheit. Die schematischen Darstellungen in
Fig. 17 geben ohne weiteres über die Verteilung der grünen und.
der blassen Gewebeanteile Aufschluß und zeigen, daß hier der blasse
(sewebekern gleichsam in einer grünen Haut steckt, die stellenweise
ebenso unterbrochen sein kann, wie es früher bei albomarginater
Panaschierung für die weiße Gewebehülle zu schildern war.
Ebenso wie bei Hostia entspricht bei
Evonymus die Form des grünen Randes
im Flächenbild des Blattes durchaus der
Form des weißen Randes, wie er die
albo marginaten Blätter kennzeichnet
(Fig. 18).
Inversion der Randzeichnung be-
schreibt Baur‘) für Pelargonium
‚onale?),
Besonderes Interesse „ewinnt die
inverse Panaschierune in denjenigen
Fällen. in welchen man beide Formen
an einem Individuum vereinigt findet und
die eine Form nach Art einer Knospen-
mutation aus und an der anderen entstehen
sieht.
Trotz eifrigem Bemühen habe ich
Fig. 15. Grünrandiges bisher dergleichen Bildungen nur an zwei
ae N Arten panaschierter Holzpflanzen entdecken
RN können.
Der erste Fall betrifit. das früher schon eingehend behandelte
albomarginate Zigustrum -oralifoium. Ausnahmsweise eutstehen an
den panaschierten Sträuchern Zweige mit tiefgrünem Blattrand und
hellem grünem Spreitenmittelfeld (Fig. 19a): der Farbenunterschied
zwischen Rand und Binnenfeld ist gering und trägt zu der schlechten
Anffindbarkeit der invers marginaten Zweige bei. Fie. 19b zeigt
den Querschnitt durch ein Blatt dieser Art: auch die mittleren Meso-
S) Vgl. Baur, 1909, a. a. Ö., p. 345 und Fig. 19.
9) Vorgetäuscht wird eine Inversion der Randpauaschierung in denjenigen
Fällen, in welchen zwar auch ein grüner Blattrand mit hellerem oder weißem
Binnenfeld sich kombiniert, aber das letztere durch Verbleichen zustande kommt,
also eine zur Kategorie der Fleckenpanaschüre gehörigen Form der Buntblättrigkeit
zustande bringt (s. o., und Pathol. Pflanzenanat, 2. Aufl., 1916, p. 22): Die Grenze
zwischen grünem Rand und blassem Mittelfeld ist nicht scharf, sondern verwaschen.
Auch diese Form der Panaschierung tritt bei Pelargonium zonale, bei der Spielart
„Boule de neige* auf, — überhaupt produziert die oftgenannte Spezies verschiedene
Formen der Fleckenpanaschierung. Weiterhin tritt — neben der im Text erläu-
terten und in Fig. 15 dargestellten Buntblättrigkeit — eine grünrandige Form mit
unscharfen Grenzen ihrer Farbenfelder bei Hvonymus japonica auf.
E. Küster. Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 235
phylischichten enthalten Chloroplasten: diese sind aber kleiner und
ein wenig heller als die der oberen und unteren Schicht. Wie Fig. 19
zeigt, entspricht die Verteilung der tiefgrünen und der helleren Ge-
webeschichten dem in Fig. 17a gezeigten Schema.
Der zweite von mir beobachtete Fall bezieht sich auf den Ahorn.
Bei panaschierten weißrandigen Spielformen von Acer negundo
treten neben bunten Zweigen auch solche auf, deren Blätter reinweiß
sind, und solche, deren Spreiten durchweg grün sind. Es fehlt nicht
an Mischungen der Charaktere in dem Sinne, daß auch an grünen
Ästen hie und da wieder Buntheit sich bemerkbar machen kann.
fa
Fig. 19a. Fig. 19 b
Fig. 19. Inversion der Panaschierung; grünrandige Blätter von Ligu-
strum ovalifolium. a 2 Blattpaare; °*/, nat Gr.; b Querschnitt durch ein Blatt
mit tiefgrünem Rand.
Weiterhin fällt an den grünen Zweigen auf, daß die Spreiten oft an
der Mittelrippe mehr oder minder große Areale von mattgrüner Be-
schaffenheit aufweisen: im durchfallenden Lichte betrachtet weisen
diese etwas schwächer gefärbten Anteile eine Transparenz auf, die
einigermaßen an die der auf Papier entstandenen Fettflecke erinnert.
Die hellen Binnenfelder zeigen dieselbe Anordnung wie alle tief-
grünen Felder bei den weißrandigen Blättern (Fig. 2a), pflegen
aber an Ausdehnung hinter ihnen zurückzubleiben.
Auf mikroskopischen Präparaten erkennt man, daß an den matt-
grünen Teilen normalgrüne und völlig chlorophylifreie Schichten am
Aufbau des Mesophylis teilnehmen: auf eine grüne Palissadenschicht
folet eine oder folgen zwei Lagen farbloser kugeliger Zellen, schließ-
lich kommt wieder eine Schicht normalgrüner Zellen. An den tief-
grünen Spreitenteilen ist das Mesophyli in seiner ganzen Tiefe normal-
grün (Fig. 20 b).
Das Bonner Exemplar, an dem meine Untersuchungen angestellt
worden sind, trägt demnach ständig vier Blattsorten nebeneinander:
936 E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit.
]. einfarbige:
a) reinweibße,
b) reingrüne;
II. bunte:
a) Blätter mit weißem Rand und grünem Binnenfeld,
b) Blätter mit tiefgrünem Rand und mattem Binnenfeld.
Fig. 20a.
Fig. 20. Inversion der Panaschierung bei Acer negundo. a weißrandiges
Blatt mit mattgrüner Stufe; '/, d. nat. Gr, b Querschnitt durch das mattgrüne
Binnenfeld eines grünrandigen Foliolum; die beiden mittleren Zellenlagen sind
durchaus chlorophylifrei.
IV. Entstehung albomarginater Formen.
Über die Entstehung albomarginater Formen hat Baur auf Grund
seiner Beobachtungen an Pelargonium xonale Vermutungen aufgestellt.
Baur geht bei seinen Erklärungsversuchen von der Schilderung
sektorial panaschierter Individuen aus und stellt fest, daß in ihren
Achsen die Grenzflächen der grünen und. blassen Zylindersektoren
keineswegs immer genau den Radien folgen, sondern allerhand Un-
vegelmäßigkeiten im Verlauf aufweisen können, sogar so weitgehende,
wie es Fig. 21 veranschaulicht: bei b sieht man den weißen Gewebe-
anteil den grünen eine Strecke weit überlagern. Blätter, die an dem
der Stelle b entsprechenden Sektor der panaschierten Achse ent-
stehen, werden — wenn auch die vom blassen Gewebe überlagerten
erünen- Schichten der Achse am Aufbau des Blattes teilnehmen, albo-
märginate Panaschierung aufweisen; Sprosse, die aus den Achseln
solcher Blätter entstehen, werden durchweg derartige Zeichnung auf-
weisen.
Ich habe mich bemüht, an andern Arten als den Baur’schen
Versuchspflanzen die Entstehung marginater Panaschierung zu beob-
achten.
E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formeı. der Buntblättrigkeit. 937
Trotz langjährigen Bemühungen, in Gärten und in der freien
Natur geeignetes Material zu ermitteln, ist die Zahl der von mir ge-
fundenen Fälle bisher eine beschränkte geblieben. Ich werde sie im
folgenden kurz beschreiben.
1. Ein aus der Umgegend von Bonn stammendes Weißkohl-
exemplar war dadurch ausgezeichnet, daß auf einige normalgrüne
Blätter albomarginate folgten. Die randpanaschierten Blätter bildeten
zusammen eine Gruppe, die die Hälfte des Achsenumfanges ausmachte,
also einem Sektor von 180° Breite entsprach. Sämtliche Blätter,
die in diesem Raum standen, waren albomarginat panaschiert; die-
b
Fig. 21.
Fig. 21. Sektoriale Panaschierung bei Pelargonium zonale und die Ent-
stehung marginater Panaschierung (nach Baur): Querschnitt durch eine
sektorial panaschierte Achse; bei a regelmäßig radialer Verlauf der Grenze zwischen
grünen und blassen Anteilen, bei D unregelmäßiger Verlauf.
jenigen, welche an der Grenze des Sektors standen, ließen auf ihrer
Spreite eine deutliche Scheidelinie erkennen, die von dem normal-
grünen Teil einen randpanaschierten von wechselnder Breite — ent-
sprechend der Stellung des betreffenden Blattes — trennte; an Blättern
dieser Art war also der weiße Rand nur streckenweise entwickelt
(Fig. 22).
Hinsichtlich ihrer anatomischen Struktur entsprechen die albo-
marginaten Blätter dem Pelargonium-Typus: das mattgrüne Binnen-
feld weist unter der oberseitigen Epidermis zwei Lagen farbloses
Palissadengewebe, an der unteren Epidermis eine Schicht farbloses
Schwammparenchym auf.
2. In den Jahren 1915 und 1916 beobachtete ich im Botanischen
Garten zu Bonn das schon oben erwähnte randpanaschierte Exem-
938 E. Küster, Über weißrandige Blätter uud andere Formen der Buntblättriekeit.
plar von Solanum Balbisti. Auch hier entstanden albomarginate
Blätter an einer Pflanze, die bis dahin normalgrüne Blätter in
großer Zahl produziert hatte. Auch hier bildeten die panaschierten
Blätter zusammen einen Sektor, der wiederum die Breite von 180°
aufwies. Auch hier entstanden an den Grenzen des Achsensektors
Blätter, die sektorenweise normalgrün und randpanaschiert waren.
Von der anatomischen Struktur der Blätter war oben bereits
die Rede (vel. Fig. 6).
Fig. 22. Sektorial geteiltes Blatt von Bras-
sieca oleracea: ein Teil ist tiefgrün, der andere
mattgrün und weißgerandet.
Die am Panaschierungssektor entstehenden Achseltriebe waren
durchweg von vollkommen panaschierten Blättern, belaubt.
3. Ein von mir 1915 aufgefundenes Exemplar der Spelle (Moeh-
ringia trinerria) war dadurch ausgezeichnet, daß ein» Sektor des
Sprosses, der anfangs nur reingrüne Blätter produziert hatte, albo-
marginate Blätter entwickelte; aus ihren Achseln entstanden Sprosse
mit durchweg weißbrandiger Beblätterung.
4. Komplizierte Verhältnisse fand ich bei einer Arabes sp. vor.
Die panaschierte Blattrosette ist in Fig. 25 wiedergegeben.
Die Verteilung der beiden Qualitäten — normalgrün und bunt —
ist deutlich sektorial: der Sektor, zu welchem die Blätter 8-13 ge-
hören, umfaßt (etwas mehr als) 5!/, normalgrüne Spreiten. Die
übrigen Blätter (1—7) zeigen reichhaltige Buntheit: es befinden sich
NN?..
K. = . * . 4 = a ’ ST
E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 239
unter ihnen zwei Blätter, welche keine normalerünen Anteile aufzu-
weisen haben (2 und 7), ein normalgrünes Blatt (3) und vier Blätter
(1, 4, 5 und 6), die — ähnlich wie Blatt 8 — in sektorialer Ver-
teilung nebeneinander beide Ausbildungsformen zeigen. Besonders
kompliziert ist Blatt 1 ausgefallen, das inmitten des randpanaschierten
Teiles einen mittleren Sektor tiefgrünen Gewebes erkennen läßt.
Übrigens entsprechen die in Fig. 23 gezeichneten Umrisse des weißen
Randes stellenweise nicht mit Sicherheit der Wirklichkeit, da die
Blätter des von mir untersuchten Exemplars stellenweise schon zer-
13 1
eo)
11
Fig. 235. Mehrere Sektorenalbomarginater Panaschierung am Sproß von
Arabis sp. Vgl. den Text.
stört waren. Aus demselben Grunde vermag ich auch nicht mit
Sicherheit anzugeben, ob die Pflanze vor den panaschierten Blättern
auf dem ganzen Umfang ihrer Achse normalgrüne entwickelt hat: daß
solche normale Produktion vorgelegen hat, halte ich für wahrscheinlich.
Von den beiden zuerst geschilderten Fällen unterscheidet sich
der vorliegende dadurch, daß die randpanaschierten Blätter hier
mehreren Sektoren von geringer Breite angehören.
Hinsichtlich ihrer anatomischen Struktur sind die albomareinaten
Blätter der Arabis-Pflanze zum Pelargomium-Nyp zu stellen.
Sehen wir zunächst von der Arabis-Panaschierung — wegen der
dem beobachteten Falle anhaftenden Unsicherheiten -—- ab. so läßt
940 E. Küster. Über weißrandige Blätter und andere Fornien der Buntblättrigkeit.
sich auf Grund der an brassica, Solanum und Moehringia gewon-
nenen Befunde feststellen, daß die Randpanaschierung auftritt, ohne
daß eine sektoriale Teilung der Achse in Grün und Weiß voraus-
gegangen wäre. Die Beobachtungen lehren, daß albomarginate Bunt-
blättrigkeit auch ohne die von Baur beschriebene Vermittlung‘ sek-
torialer Panaschierung spontan auftreten kann. Zu sektorialer Tei-
lung des Sprosses steht aber die Randpanaschierung insofern in Be-
ziehung, als sie selbst sektorenweise auftritt.
Sektorialbildungen der für Drassica und Solanum beschriebenen
Art entsprechen den von Beyerinck!°) erwähnten bunten Pelargonien,
den von Buder!!) erörterten hypothetischen „einseitigen“ Periklinal-
chimären!!) und einem der von Winkler!?) experimentell erzeugten
Mischgebilde. —
Flg. 24. Albomarginates Blatt von Ligustrum ovalifolium: lokale Ver-
drängung der farblosen subepidermalen Mesophyllschichten.
Wie bei dem geschilderten Weißkohlexemplar die ganze Pflanze
aus einem normalgrünen und einem marginaten Sektor besteht, so
bei Spöraea Bunnalda (s. vo.) jedes einzelne panaschierte Blatt: hier
wiederholen sich im kleinen an jeder sektorial geteilten Spreite die-
selben Spaltungserscheinungen. wie sie bei Brassica und Solanum
Balbisii u.s. w. sich am Veeetationspunkt eines Sprosses abspielen.
V. Über inäquale Zellenteilungen und ihre Bedeutung für die
Entstehung bunter Blätter.
Bei denjenigen Panaschierungen. die durch scharfe Grenzen der
grünen und blassen Mesophyllanteile gekennzeichnet sind, besteht
das Mesophyligewebe — auf seine Färbung hin betrachtet — aus
10) Beyerinck, M. W,, Über die Entstehung von Knospen und Knospen-
varianten bei CUytisus Adami (Botan. Zeitg., 2. Abt., Bd. 59, 1901, p. 113, 118).
11) Buder, 1911, Studien an Laburnum Adami Zeitschr. f. indukt. Ab-
stammu:gs- und Vererbungslehre 1911, Bd. 5, p. 209, 283, Anm. 3).
12) Winkler, H., Weitere Mitteilungen über Pfropfbastarde (Zeitschr. f. Bot.
1909, Bd..1, p. 315.
E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättriekeit. 241
Zellen zweierlei Art: grünen und blassen; beide Zellensorten stehen
nebeneinander, ohne durch Überganesformen miteinander verbunden
zu werden.
Namentlich die sektoriale Panaschierung, welche z. B. bei Tra-
descantia zebrina u. a. sehr oft internodienreiche Sprosse in der
regelmäßigsten Weise zur Hälfte aus grünem, zur andern Hälfte aus
weißem Gewebe sich aufbauen läßt, führt zu der Annahme, daß schon
am Vegetationspunkt Zellen zweierlei Art entstehen — und zwar
gesetzmäßig derart, daß an einer Seite des Vegetationspunktes lauter
blasse, an der andern lauter grüne Zellen entstehen bezw. solche.
deren Deszendenz grün zu werden und erün zu bleiben imstande ist.
während die Nachkommenschaft der an der andern Hälfte des
Vegetationskegels entstehenden Zellen jene Fähigkeiten abgehen.
Da nun jede Pflanze aus einer Eizelle entstanden ist und als
solche einmal ein einzelliges Wesen dargestellt hat, muß naturnot-
wendig die Differenzierung in zwei Sorten von Zellen bei einer der
späteren Zellenteilungen erfolgt sein. Diese Betrachtungen hat Baur
bereits bei der Behandlung des Panaschierungsproblems angestellt !?),
Baur hat ferner hervorgehoben, daß kritische Zellenteilungen, bei
welchen die Qualitäten der Geschwisterzellen in der angeführten
Weise sich ungleich verteilen, sich auch noch in sehr späten Phasen der
Entwicklung vollziehen können. .Je später die kritische Zellenteilung
— wir wollen sie als inäquale Teilung bezeichnen — erfolgt, um
so geringer wird die Zahl der Deszendenten sein, die nach Tren-
nung der beiden ungleich begabten Schwesterzellen entstehen; um
so kleiner wird das aus gleichartigen Zellen aufgebaute Areal aus-
fallen, das sich irgendwie von seiner Nachbarschaft unterscheidet:
handelt es sich um eine sektoriale Panaschierung eines Sprosses, so
wird angenommen werden dürfen, dab die inäquale Teilung am Vege-
tationspunkt stattgefunden hat. Die marmorierten und pulverulenten
Panaschierungen dagegen setzen inäquale Teilungen voraus, die sich
in dem jugendlichen Blatt abgespielt haben — vielleicht kurz bevor
die letzten Zellenteilungen in dem heranwachsenden Blatt sich voll-
zogen haben: in der Tat fehlt es nicht an Panaschierungsformen.
bei welchen die grünen und farblosen Areale nur aus wenigen Zellen
bestehen (Fig. 6a und e).
Leider ist es nicht möglich, die inäqualen Teilungen, die zur
Panaschierung führen, unmittelbar zu beobachten oder auf Schnitten
durch den Vegetationspunkt die bei jenen kritischen Teilungen ent-
standenen Schwesterzellen als ungleich begabt zu erkennen: selbst
für sehr viel spätere Stadien der Entwicklung gibt uns das Mikroskop
über die Ungleichartigkeit der Zellen, aus welehen normal ergrünende
135) Vgl. Baur. a. a. O., p. 348. Küster, Pathol. Pflanzenanat., 2. Aufl.,
1916, p. 17.
39. Band. 17
942 E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit.
bezw. blasse Gewebe werden sollen, keine befriedigende Auskunft.
Wir sind daher für alles, was die inäquale Zellenteilung betrifft, auf
Vermutungen angewiesen.
Offenbar kann man sich von der ungleichartigen Befähigung der
bei einer inäqualen Teilung resultierenden Schwesterzellen und der
Ursachen jener Ungleichartigkeit verschiedene Vorstellungen machen.
Entweder geht die unterschiedliche Befähigung auf ungleiche Ver-
teilung bestimmter Zellenorgane zurück, deren Neubildung den Zellen
nicht möglich ist; dadurch daß etwa bestimmte Kernanteile, Chro-
matophoren oder plasmatische Gebilde anderer Art, welche im Zellen-
leben besondere Funktionen haben und hinsichtlich ihrer Wirkung auf
dieses nicht durch andere — bereits vorhandene oder durch Neu-
bildung entstehende — Anteile ersetzt werden können, bei der
inäqualen Zellenteilung nur einer Tochterzelle zufallen, würde es
sich erklären lassen, daß auch die Deszendentenmassen jener beiden
Schwesterzellen verschiedene Charaktere entwickeln und dauernd
beibehalten — oder es bleiben beiden Tochterzellen alle Zellen-
organe erhalten und die gleichen Gestaltungs- und Differenzierungs-
möglichkeiten zugänglich, durch irgendwelche hypothetischen — viel-
leicht chemischen -—— Unterschiede der beiden Zellen werden aber
ihre Reaktionsfähigkeiten verschieden — in dem Sinne, daß die eine
der beiden Zellen ein bestimmtes Entwicklungsschicksal unter anderen
äußeren Einwirkungen erfährt als ihre Schwesterzelle — oder unter
eleichen Bedingungen die beiden Zellen sich ungleich verhalten und
ungleichartige Gruppen von Deszendenten liefern '?).
Diese beiden Arten der inäqualen Teilung unterscheiden sich
nicht nur hinsichtlich der Zellenmorphologie voneinander, ‘sondern
auch in ihrer Bedeutung für die Ontogenie der betreffenden Pflanzen-
organe dadurch, daß der erste Modus inäqualer Teilung irreversible
Veränderungen in der Folge der Zellengenerationen einleitet, wäh-
rend nach Teilungen, die dem zweiten Modus angehören, eine Reversion
im Bereich des Möglichen liest.
Welcher Art mögen die inäqualen Teilungen sein, die der Theorie
nach — bei der Ontogenese panaschierter Organe sich abspielen ?
Aus den oben angeführten Gründen bleiben wir auf Hypothesen
angewiesen, deren Brauchbarkeit wir an der Struktur der pana-
schierten Organe zu prüfen haben.
Baur hat sich zu der Frage nach der Qualität der inäqualen
Teilungen dahin geäußert, daß bei den panaschierten Pflanzen zweierlei
Uhromatophoren in den Zellen zu vermuten wären —- ergrünungs-
fähige und -unfähige: wenn bei der inäqualen Teilung eine Tochter-
zelle nur Chromatophoren der zweiten Art auf ihren Lebensweg mit-
14) Küster, Über Mosaikpanaschierung und vergleichbare Erscheinungen
(Ber. d. D. bot. Ges. 1918, Bd. 36, p. 54).
FE. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 943
bekommt, so wird sieh aus ihr nur blasse Zellendeszendenz ent-
wickeln können; Zellen, welche nur grüne Chromatophoren erben,
liefern nur grüne Deszendenz; diejenigen Zellen aber, welche beiderlei
Chromatophoren enthalten, können normal ergrünende und — nach
inäqualer Teilung — blasse Nachkommen haben.
Ich will auf eine Kritik der Theorie um so weniger eingehen.
als Baur selbst erwähnt, daß er keinen großen Wert auf sie lege’),
Hervorzuheben bleibt. daß nach Baur’s Annahme die Entstehung
blasser Zellen einen irreversiblen Vorgang der Qualitätentrennung
bedeutet.
Baur hätte die Theorie nicht aufgestellt, wenn sie nicht den
Habitus der von ihm studierten marginat-panaschierten Pelargonien
so gut zu erklären imstande wäre.
Es fragt sich, ob sie auch den Abweichuneen vom Habitus
gegenüber immer befriedigt.
Bei den albomarginaten Pelargonien steckt — nach Baur’s anschau-
lichem Bild — ein grüner Gewebekern in einer farblosen Gewebehaut. Hie
wa da fehlt aber der es Mantel, und das grüne Mesophyll reicht bis
r Epidermis.
Hie und da habe ich wiederholt auf dem mattgrünen Binnenfeld
der Pelargonienblätter oberseits kleine tiefgrüne Sprenkel gefunden,
an welchen auch die der obersten Palissadenreihe angehörigen Zellen
normal ergrünt waren. Man kann annehmen, daß diese Zellen sich
von den tiefer liegenden Mesophylischichten herleiten und nur des-
wegen die Epidermis erreichen, weil durch irgendeine Beschädigung
an jener Stelle das subepidermale Gewebe geschwunden und durch
Abkömmlinge der tiefer liegenden Mesophylischichten ersetzt worden
ist. Es ist in der Tat bei. panaschierten Pflanzen z._B. bei Liguster.
keine Seltenheit, daß die subepidermale Schicht — zumal auf der Blatt-
unterseite — stellenweise verdrängt wird und nicht mehr erkennbar
ist; dann stoßen die grünen Palissaden unmittelbar an die Epidermis.
. Ein solcher Fall ist in Fig. 24 gezeigt.
Auch bei Pelargonien tritt dergleichen ein — wenigstens dann.
wenn infolge schwacher Intumeszenzbildung die normale Gewebs-
struktur gestört wird!%). Ich habe derartige Gewebeschädigungen
an albomarginaten Pelargonien 1916 in ‚großer Reichlichkeit beob-
achten können. Die in Rede stehenden tiefgrünen Gewebesprenkel
unterscheiden sich aber von jenen so auffällig durch die große Regel-
mäßigkeit ihrer Mesophyllschichtenfolge, daß sie mit den genannten
hyperhydrischen Anomalien kaum noch Ähnlichkeit haben.
Man weiß, daß bei Periklinalchimären, die aus spezifisch ver-
schiedenen Komponenten sich aufbauen, eine Schädigung der äußeren
15) Vol. Küster, Pathol. Pflanzenanat., 2. Aufl., 1916. p. 18.
16) Küster, a. a. 0., p- 44ff. Lingelsheim, Eine neue a
nung an Kulturpelargonien (Zeitschr. f. Pflanzenkrankh. 1916, Bd. 26, p.. 375).
17
Mae NP v Ze: © 4 Ö er ae a N. | ARD: NT ROTEN NN I
944 E. Küster, Über weißrandige Blätter und Dr Formen der Buntblättiiekeit.
Schichten den inneren Anteil an die Oberfläche bringen kann!”). Es
wäre vorstellbar, daß auch bei den periklinalen Panaschierungen der-
artiges aufträte.
Die in Fig. 2 dargestellten halbgrünen Blätter der panaschierten
Pelargonien entstehen nicht nur da, wo in sektorial geteilten Achsen
die Grenze der grünen und blassen Sektoren verläuft (Baur, a.a.0.,
s. o. Fig. 21), sondern auch als unerwartete Anomalien zwischen dem
weißrandigen Laub eines marginaten Exemplars. Vielleicht ließe sich
die Annahme äußern, daß solche Blätter aus Anlagen hervorgehen,
die in frühen Stadien ihrer Entwicklung gröblich verstümmelt worden
sind; bei der großen Regenerationskraft, die sehr jugendlichen Blättern
zukommt, wäre es vorstellbar, daß die durch das Trauma beseitigten
Anteile ergänzt — und zwar ausschließlich unter Beteiligung des
grünen Gewebekerns ergänzt worden wären.
Form und Größe der tiefgrünen Blattanteile lassen mir aller-
dings diese Annahme nicht gerade befriedigend erscheinen.
Völlig versagen wird sie aber dann, wenn die an albomarginaten
Blättern auftretenden grünen Areale als isolierte grüne Inseln — am
Rand des Blattes oder in seiner nächsten Nähe — und durch breite
farblose Spreitenanteile von dem grünen Binnenfeld getrennt sich zeigen.
Wollten wir die grünen Randpartien, wie sie z. B. in Fig. 5 (Abutlon)
dargestellt sind, entwicklungsgeschichtlich auf den grünen Gewebe-
kern, der im mattgrünen Binnenfeld normalerweise sichtbar ist, zu-
rückführen, so bliebe nichts anderes übrig, als eine Zerreißung der
grünen zentralen Gewebemasse anzunehmen. Wohl ist bekannt, daß
wucherndes Wundgewebe irgendwelche Zellengruppen aus ihrem natür-
lichen Verband losreißen und von diesem eine Strecke weit forttragen
kann; die Bildung der randständigen Grünsprenkel in ähnlicher
Weise zu erklären, wäre m. E. ohne gewagte Hilfshypothesen nich?
möglich.
(Große Schwierigkeiten macht schließlich die Erklärung der Grün-
sprenkel an sogenannten farblosen Zweigen. Ich habe oben gezeigt,
daß das Auftreten solcher Grünsprenkel an panaschierten Pflanzen
verschiedenster Art nicht gerade eine Seltenheit ist. Zu beachten
ist, daß sie auch an Sprossen auftreten, deren Achsen nirgends einen
grünen Gewebekern aufzuweisen haben, und daß die Grünsprenkel
erscheinen, nachdem schon zahlreiche reinweiße Blätter gebildet
worden sind. Zwar ließe sich die Möglichkeit erwägen, daß auch
die Vegetationspunkte der sogenannten reinweißen Triebe Zellen
beiderlei Art produzieren oder in ähnlicher oder gleicher Weise zu pro-
duzieren fähig wären wie die Vegetationspunkte grüner Triebe der-
selben Spezies; der Unterschied der reinweißen und der andern
17) Buder, Studien an Laburnum Adami (Zeitschr. f. induktive Abstam-
mungs- und re llpslehre, 1911, Bd. 5, p. 209); vgl. auch Joh. Meyer; Die
Crataegomesptli von Bronvaux (ibid. Bd. 13, 1915, p. 193).
E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 945
Triebe Käme dann eben dadurch zustande, daß die inäqualen Zell-
teilungen bei jenen besonders häufig sich wiederholten, und nur
gleichsam kleinen Residuis der Zellendeszendenz die Fähigkeit zum
normalen Ergrünen erhalten bliebe. Diese Annahme würde eine
Ablehnung der Periklinaltheorie Baur’s in sich schließen. Sie würde
weiterhin voraussetzen. daß zwischen den Vegetationspunkten weißer
Zweige und den der bunten Triebe wichtige Unterschiede bestehen,
indem jene fortwährend inäquale Teilungen vollziehen müßten, wäh-
rend an den Vegetationspunkten bunter Zweige eine oder wenige
inäquale Teilungen genügen, um das charakteristische Panaschierungs-
bild zustande zu bringen.
Diese und andere Schwierigkeiten führen mich zu der Forderung,
die Lehre von der Spezifizität der blassen und grünen Zellen aufzugeben:
die geschilderten Panaschierungsphänomene können am einfachsten
und widerspruchslos durch die Annahme erklärt werden, daß nicht
nur von. grünen (bezw. zum normalen Ergrünen befähigten) Zellen
sich blasse (bezw. zum normalen Ergrünen und Grünbleiben nicht
befähigte) abspalten, sondern auch von blassen wieder grüne hervor-
gehen können. Die Veränderung der Qualitäten, welche bei inäqualen
Teilungsschritten erfolgt, bedeutet demnach keine unwiderrnfliche
des nach ihr sich bildenden Zellenmaterials, sondern ist ein
. reversibler Vorgang. Sie steht hierin in prinzipiellem Gegen-
satz zu denjenigen inäqualen Teilungen, bei welchen Zellenorgane,
die niemals und unter keinen Umständen aus anderen Bestandteilen
der Zellen neu gebildet werden können, nicht auf beide Schwester-
zellen sich verteilen, sondern einer von diesen vorenthalten bleiben.
Der Vorgang, daß bei einem in Vermehrung begriffenen Zellen-
material inäquale Teilungen sich vollziehen, „neue“ Charaktere auf-
treten und „Mutationen“ wahrnehmbar werden können, und die not-
wendig gewordene Folgerung, daß die neuartigen Zellenformen in
ihrer Deszendenz wieder Rückschläge erfahren und neben den blassen
„Mutanten“ wieder grüne „Atavisten“ erscheinen lassen Können,
erinnert an gewisse Erfahrungen der Mikrobiologie.
Seit den Untersuchungen Massini’s und seiner Entdeckung der
Laktosevereärung durch Bacterium col mutabile‘?) ist die Frage
nach sprunghaft auftretenden Veränderungen der Mikroorganismen,
nach ihren „Mutationen“ oft und erfolgreich behandelt worden.
An Mikroorganismen der verschiedensten Art hat sich zeigen
lassen, daß bei ihrer Züchtung auf geeigneten Nährböden in größerer
oder geringerer Anzahl Individuen nachweisbar werden, welche andere
Eigenschaften als das Ausgangsmaterial haben, und deren neue Quali-
tätenmischung bei ihrer Deszendenz konstant bleibt. Es hat sich
18) Massini, Über einen in biologischer Hinsicht interessanten Coli-Stamm
(Bacterium coli mutabile). Ein Beitrag zur Variation der Bakterien. (Arch. f,
Hygiene 1907, Bd. 61, p. 250).
946 E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit.
ferner zeigen lassen, daß die nenen „Mutanten“ zur Stammform zu-
rückschlagen, aus den Mutanten „Atavisten“ werden können !?).
Auch in diesen Fällen scheint es sich um Qualitätenverände-
rungen zu handeln. welche unvermittelt bei einer Zellenteilung auf-
treten. Dadurch werden die von den Bakteriologen studierten Fälle
den uns interessierenden an bunten Pflanzen sich abspielenden Vor-
sängen der inäqualen Teilung vergleichbar. Der wissenschaftlichen
uf
Fig. 25
Erforschung sind letztere wegen der Größe der in Betracht kommen-
den Zellen besser zugänglich als die an Mikroben auftretenden Pro-
zesse, — anderseits eröffnet die Möglichkeit. bei Kultur der Mikro-
organismen die Zellen der von einem Individuum sich ableitenden
Deszendenz voneinander zu trennen und auf der Kulturplatte jede
einzelne zu beliebig vielen weiteren Teilungen zu bringen, Wege
zur Erforschung der Zellmutation, die gegenüber dem Zellenmaterial
der höheren Pflanzen verschlossen bleiben. Die von Beyerinck
studierte panaschierte C'hlorella vermittelt als Kultivierbarer „bunter
Mikrobe“, der normalgrüne und blasse Zellen zu produzieren vermag ?®).
zwischen den buntblättrigen Zierpflanzen einerseits, dem Forschungs-
er der Mikrobiologen anderseits.
19) Vgl. z. B. Beyerinck, M. W. Mutationen bei Mikroben (Folia micro-
biologica Bd. 1.1101 2, Opal. Baershlern, Über Mutationserscheinungen bei
Bakterien (Arb. k. Gesundheitsamt, 1912, Bd. 40, p. 4335—536).
20) Beyerinck, M. W.. Chlorella variegata, ein bunter Mikrobe (Rec. trav.
bot, neerland. 1904, Bd. 1, p. 14; vgl. Zentralbl. f. Bakteriol., Abt. Il, 1905. Bd. 14,
p. 338), Beyerinck, 1912, a. a. O.
E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 947
Namentlich aus den Ergebnissen Beyerinck’s ist bekannt, daß
bei der Mutation der Bakterien aus einer Stammform Mutanten der
verschiedensten Art sich ableiten, bei den hypothetischen inäqualen Tei-
lungen die Trennnung der Qualitäten also in der verschiedensten Weise
erfolgen kann?!). Ich halte es für wahrscheinlich, daß auch bei den
en u
er
\
| \
Fig. 25b. Fig. 25 c.
Fig. 25. Ungleichartige Panaschierung an den Blättern des nämlichen
Jahrestriebes (Acer pseudo-platanus var. Leopoldü). a Blatt mit sektorialer
Teilung, ein Sektor ist pulverulent gezeichnet, der Rest des Blattes ist blaß; b Blatt
mit grober Sprenkelung; c Blätter mit normal-grünen, pulverulenten und blassen
Sektoren. *°/, d. nat. Gr.
inäqualen Teilungen der höheren Pflanzen nicht nur immer die Fähig-
keit zum normalen Ergrünen das Unterscheidungsmerkmal zweier
ungleich begabter Schwesterzellen ausmacht, sondern daß auch Auf-
- spaltungen anderer Art sich vollziehen können —- auch bei Material
und Arten, bei welchen heterozygotischen Charakter vorauszusetzen
al) Vgl. z. B. Beyerinck, 1912, a, a. O., p. 35,
TE N ARERPTETR ER /
NEUEN N CERETE
948 E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit.
kein Grund vorliegt??). Vielleicht treten auch bei den höheren
Pflanzen Zellmutationen auf, die sich sehr viel schwerer nachweisen
lassen als die durch unterschiedliche Pigmentierung ausgezeichneten
Mutanten der panaschierten Pflanzen. Offenbar lassen sich bei den
Mikroben — durch Kultur auf verschiedenen Nährböden und auf
anderen Wegen — die Qualitäten vieler Mutanten besser prüfen und
diese leichter als solche erkennen als analoge Mutanten im Zellen-
verband höherer Pflanzen. —
Auch darin scheint das Forschungsmaterial der Mikrobiologen
eünstigere Aussichten zu gewähren als das uns beschäftigende, dab
die Frage nach den Ursachen, welche zu inäqualen Teilungen
führen, bei den Mikroben leichter in Angriff zu nehmen sein dürfte
als bei den höheren Pflanzen. i
Einigermaßen entmutigend muß es wirken, daß auch den Bak-
terien gegenüber die Frage nach den Lebensbedingungen, unter
welchen die Mutationen auftreten. noch wenig erforscht ist. Beye-
rinck gibt allerdings einige Anhaltspunkte zu ihrer Beurteilung und
stellt namentlich fest. daß in alternden Kulturen sich Mutanten sehen
lassen, daß man andererseits durch fortgesetztes Überimpfen das
Mutieren der Mikroben verhindern kann.
Über die Bedingungen, welehe bei den höheren Pflanzen zu
abnormen imäqualen Teilungen und insbesondere zur Panaschierung
führen, sind wir noch völlige im unklaren. Vier Kategorien von Be-
obachtungen glaube ich hier anführen zu sollen, die vielleicht Finger-
zeige für die künftige entwicklungsmechanische Erforschung
des Panaschierungsproblems abzugeben imstande sind.
1. Die Neigung zur inäqualen Teilung und zur Entwicklung der
von solchen sich herleitenden Buntblättrigkeit ist bei verschiedenen
Familien und Gattungen verschieden. In den verschiedensten Teilen
Deutschlands habe ich bestätigt gefunden, daß man an frendig grünen-
den Kleefeldern nur ausnahmsweise nach panaschierten Exemplaren
vergeblich sucht; Kartoffelfelder geben nur sehr selten positiven Be-
fund, obwohl, wie wir früher hörten, für die Gattung Solanum Pana-
schierungen der verschiedensten Art bereits bekannt sind. Die ver-
schiedenen Arten der Gattung Rumezx fallen sehr oft bunt aus, Kohl-
felder liefern buntblättrige Pflanzen der allerverschiedensten Art
— mit sektorialer, marmorierter, pulverulenter und marginater Pana-
schierung — und unter den Holzgewächsen der einheimischen Flora
übertrifft Acer campestre alle anderen durch die Häufigkeit, mit der
er bunte Zweige und Blätter liefert. Auch an Ulmen und Buchen
22) Küster, E., Die Verteilung des Anthoeyans bei Coleus-Spielarten (Flora,
1917, Bd. 110, p. 1), Uber Mosaikpanaschierung und vergleichbare Erscheinungen
(Ber. d. D. bot. Ges. 1918, p. 36, Bd. 54). Über sektoriale Panaschierung und andere
Formen der sektorialen Differenzierung (Naturw. Monatshefte f. d. biol. u. s. w.
Unterricht 1919, p, 37).
E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 249
sind bunte Zweige nicht gerade selten, während an der Linde und
Eiche ich noch niemals spontan auftretende Buntheit entdeckt habe.
2. In verschiedenen Entwicklungsphasen eines Sprosses bezw.
eines Vegetationspunktes ist die Neigung zur inäqualen Zellenteilung
Fig. 27 c.
Fig. 26. Marmoriertes Blatt von Ulmus campestris. Die mattgrünen punktier
eingetragenen Areale liegen vorzugsweise an der Mittelrippe. ''. d. nat. Gr.
Fig. 27. Grünrandige Blätter von Hydrangea (H. nivalis?). a unsym-
metrisches Binnenfeld; b dichotom gespaltenes Binnenfeld; bei durchfallendem Licht
gezeichnet, so daß die mattgrünen Stufen erkennbar werden; ce kompliziertere Zeich-
nung, sektoriale Gliederung und pulverulente Mosaikzeichnung. ?/, d. nat. Gr.
nicht immer die gleiche. Besonders auffällig ist der Wechsel der
’anaschierung, der sich an den Zweigspitzen emes von mir jahre-
lang beobachteten Ahorns (Acer pseudo-platanus var. Leopoldii) ‚be-
a a! .
'
50 E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit.
merkbar macht: die ersten Blattpaare eines Jahrestriebes sind. meist
sektorial geteilt und regelmäßig pulverulent gezeichnet (Fig. 25a),
die letzten erheblich kleineren Blätter desselben Triebes zeigen nicht
grüne Sprenkelung, sondern zusammenhängende normalgrüne Felder
von ansehnlicher Ansdehnung (Fig..25c). Zwischen jenen und diesen
vermitteln zuweilen Blätter mit grober Sprenkelung (Fig. 25b). Nach
unserer oben erörterten Annahme entstehen um so kleinere Grün-
felder oder Grünsprenkel, je später im Entwieklungslauf eines Organs
die letzten inäqualen Teilungen sich vollziehen. Bei genannter Ahorn-
form spielen sich demnach in den jugendlichen Blättern an der Basis
des Jahrestriebs länger inäquale Teilungen ab als m den später
foleenden Blättern.
3. Nicht alle Teile einer Spreite lassen die Wirkungen inäqualer
Teilungen mit gleicher Häufiekeit erkennen.
bevorzugte Stellen für Zellenmutation sind vor allem die Blatt-
ränder. An ihnen erfolgen Abspaltung blasser Deszendenten in großer
Zahl —- vor allem wäre an die für Sambucus geschilderte albomargi-
nate Panaschierung zu erinnern; ob die weißen Ränder der Pelar-®
gonien nur aus Deszendenten der nach Baur schon am Vegetations-
punkt durch besondere Qualifikation ausgezeichneten beiden änßeren
Zellenlaxen *abstammen, oder ob auch die Abkömmlinge tiefer legen-
der Schichten durch Produktion blasser Mutanten den weißen Rand
noch verbreitern helfen. mag dahingestellt bleiben. Ferner ist an
die tiefgrünen Randareale von Abutilon zu erinnern (Fig. 5) und die,
Grünsprenkel weißer Zweige, die bei vielen Arten (Acer negundo u. a.)
sich mit Vorliebe oder sogar ausschließlich am Blattrand sich finden.
hinzuweisen.
Weiterhin wäre der panaschierten Ulmen hier zu gedenken. Es
scheint, daß in ihren Blättern zuweilen in der Nachbarschaft der
Mittelrippen besonders günstige Bedingungen für das Auftreten
inäqualer Teilungen verwirklicht sind; wenigstens finden sieh die
Grünsprenkel weißer Ulmensprosse mit deutlich erkennbarer Bevor-
zugung in nächster Nähe der Mittelrippen. Die Marmorierung der
in den Gärten kultivierten Ulmen zeigt im allgemeinen völlig gleich-
mäßige bezw. gesetzlose Verteilung der grünen oder blassen Areale
über die Spreitenfläche; ein von mir gefundenes wildwachsendes
Exemplar der Ulmus campestris war dadurch ausgezeichnet, daß
sich die mattgerünen Felder seiner Spreiten vorzugsweise den Mittel-
rippen anschlossen (vgl. Fig. 26).
Kine sehr schöne kontrastreiche Panaschierung, die ich an einer
Hortensie beobachten konnte (Aydrangea nivalis?), wird in Fig. 27
dargestellt; die Spreiten haben ein schneeweißes Binnenfeld, das be-
merkenswerterweise den Mittelrippen oder stärkeren Seitennerven
des Blattes folet.
E. Mohr, Nochmals über das .‚Knacken‘“ beim Rentier. IH]
Auch die Häufigkeit, mit der grüne Sprenkel bei manchen Pelar-
yonium-Spielarten gerade die Nebenblätter bevorzugen, gewinnt in
diesem Zusammenhang an Interesse.
4. Durch Zurückschneiden panaschierter Holzgewächse gelingt
es in manchen Fällen. die Buntblättriekeit besonders reich werden
zu lassen, oder Exemplare, die „träge* geworden waren, wieder zur
Bildung panaschierter Blätter und Sprosse anzuregen. Daß an altem
Holz sich nicht selten „remweiße* Sprosse zeigen, war schon früher
zu erwähnen. Auf Beobachtungen, die ich an zurückgeschnittenen
Exemplaren und über ihre gesteigerte Buntblättriekeit sammeln konnte,
wird in anderem Zusammenhange zurückzukommen sein. Über die
Faktoren, die in Knospen des alten Holzes wirksam zu sein und auf
die inäqualen Teilungen und das Auftreten von Panaschierungen Ein-
tluß zu haben scheinen, lassen sich zurzeit keine näheren Angaben
machen.
Bonn, Juli 1918.
Nochmals über das „Knacken‘ beim Rentier.
Von E. Mohr. Hamburg.
Vor emiger Zeit veröffentlichte ıch in dieser Zeitschrift (9) einen
kleinen Aufsatz, in dem ich sagte. daß die Literatur über das
Knacken beim Rentier recht spärlich sei und ich selbst nur bei
Brehm gefunden hätte, daß er sich mit der Frage nach der Ur-
sache dieser Erscheinungen befaßt. Es ist jedoch eine kleine, wenn
auch spärliche Literatur darüber vorhanden, und es sind schwe-
dische Forscher gewesen, die sich damit befaßt haben, die ja er-
klärlicherweise leichter zur Beobachtung von Rentieren kommen
können als solche südlicherer Gegenden, die nur auf die Insassen
von zoologischen Gärten angewiesen sind.
In einer laut Umfrage auf deutschen Büchereien nicht vor-
handenen schwedischen Zeitschrift findet sich ein kleiner Aufsatz von
Erik Bergström (7), der nicht nur eine erfreuliche Zusammen-
stellung der schwedischen Literatur über unseren Gegenstand bringt,
sondern auch über neue, eigene Versuche berichtet. Da nun einer-
seits schwedisch geschriebene Arbeiten — zumal die älteren — ın
Deutschland leicht übersehen werden und es andererseits ganz
wünschenswert ist, die Literatur über ein so spezielles Kapitel mög-
lichst beieinander zu haben, halte ich es für ganz nützlich, eine
kurze Besprechung der schwedischen Arbeiten vorzunehmen, die
mir nun bis auf Nilsson (3) entweder selbst oder ın vollständigem
Zutat zugänglich sind.
Linne (1) war anfangs der Ansicht, das Knacken entstünde
weder in den Hufen noch im untersten Gelenk. Doch später meinte
", a iu, A rTRR N n To
NAT RS TAN
NER >
; SEN
959 E. Mohr, Nochmals über das „Knacken‘‘ beim Rentier.
er, daß es von’den Hufen selbst herrührte, die innen ausgehöhlt
seien!). Wenn nun das Tier auf dem Fuße steht, sind die Klauen
gespreizt: aber sobald der Fuß aufgehoben wird, sollten die Spitzen
der Hufe zusammenfallen und dadurch das knarrende Geräusch her-
vorbringen. Dies meinte er durch Anlegen seiner Hand an den
Rentierfuß bestätigt zu finden.
Linne fand jedoch bald Widersacher. Hollsten (2) verlegt
den Laut in das Innere der Zehenglieder und sagt (in der Über-
setzung von Ekman) (6): „Unterhalb des En Knochens des
ee Zehengliedes sitzt ein kleiner Bohn ?), welcher, wenn
das Ren geht, so laut EN daß es auf 100 Schritt a
gut Behr ade kann.“
Aa Nilsson (3) war anderer Ansicht als Linne, <chlok
sich aber weder diesem noch Hollsten an, sondern meinte?), das
Knacken habe äußere Ursachen, aber nicht im Zusammenschlagen
der großen Hufe des gleichen Fußes, sondern zwischen den inneren
Alterklauen der Nebenfüße (der beiden Vorderfüße oder der beiden
Hinterfüße), die er miteinander in Berührung kommen sah, wenn
die Rener gingen oder sprangen.
Der ee Autor, der sich mit unserer Frage befaßt, ist
von Düben (4). Durch ihn wird zum ersten Male der später nur
von Bergström beachtete und wiederholte Versuch gemacht, den
Entstehungsort des Lautes höher als in die Zehenglieder, das Fessel-
gelenk, zu verlegen, denn er sagt, das Knacken müßte seine Ur-
sache haben in den Sehnen für den Musculus tibialıs postieus oder
für andere Streckmuskeln des Fußes, die in ihren Furchen gleiten.
Bald darauf veröffentlichte Brehm (5) die von mir (9, p. 178)
wörtlich zitierten Überlegungen und Versuche, nach denen er zu
der Überzeugung en daß das Knacken unmöglich äußere Ur-
sachen Di an en ım Inneren der Gelenke entsteht, wenn
er auch aus dem bekannten Versuch des Umwickelns mit Leine-
wand irrige Schlüsse zieht.
Viele Jahre später beschäftigte Ekman (6) sich mit dieser
Frage. Er beleuchtet zunächst die Ansichten von Linne, Nilsson,
Hollsten und von Düben, wobei er aber die von v. Düben
ganz offenbar und die von Nilsson, soviel Bergström’s Referat
zu entnehmen ist, wahrscheinlich nicht im Sinne der Autoren selbst
wiedergibt. Dann sagt er weiter (p. 31): „Sehr gute Gelegenheit
zu einer näheren Untersuchung boten diejenigen Rene dar, welche
als Lasttiere benutzt wurden ah durch das täglıche Umgehen mit
1) Offenbar ist damit gemeint, daß die inneren Ränder der beiden Haupthufe
auch in der Ruhelage meist nicht genau aufeinander passen, sondern sich nur die
Hnufspitzen berühren.
2) Offenbar der Sesamoidknochen (Ekman).
>
3) Nach Bergström.
|
’
E. Mohr, Nochmals über das „Knacken“ beim Rentier. 2353
den Menschen völlig zahm waren, während bekanntlich die übrigen
„zahme Renen“ ihrem Gemüt nach mehr wild als zahm sind. Mehr-
mals lag ıch am Boden, das Ohr dicht an den Füßen der Tiere,
und konnte natürlich in dieser Weise die näheren Umstände sehr
genau beobachten, und immer machte ich dieselbe Wahrnehmung:
der Laut entsteht nicht, wenn der Fuß aufgehoben wird, sondern
immer nachdem er niedergesetzt worden ist, und zwar ir dem
Augenblick, wo das Tier das Körpergewicht auf das betreffende
Bein hinüber verlegt. Dies war mit aller wünschenswerten Deut-
lichkeit festzustellen, wenn das Tier weiden ging und die Füße
sehr langsam hob und niedersetzte. Beı solchen langsamen Be-
wegungen ist es ja übrigens undenkbar, daß die Hufe hinreichend
stark aneinander schlagen könnten, um ein auf viele Meter Ab-
stand deutlich hörbares Knacken hervorzubringen. Schon bevor
der Laut gehört wird, sind die beiden Hufe beim Niedersetzen
ziemlich weit voneinander entfernt worden, und daß die oben ge-
äußerte Ansicht richtig ıst, kann somit keinem Zweifel unterliegen.‘
Ich selbst sagte über die zeitliche Entstehung des Lautes
(9, p. 179): „Es ist mühsam zu beobachten, ob das Knacken der
Rentierfüße beim Aufsetzen oder beim Aufheben geschieht; aber
ich glaube doch, nachdem ich monatelang mehrere Tiere daraufhin
beobachtet habe, mit Sicherheit das Letztere annehmen zu müssen.“
Wenn Ekman nun sagt: „Der Laut entsteht nicht, wenn der
Fuß aufgehoben wird, sondern immer nachdem er niedergesetzt
worden ist,“ so sieht das auf den ersten Blick aus, als ob wir ge-
rade entgegengesetzter Meinung seien.: Aber wenn man den Nach-
satz „und zwar ın dem Augenblick, wo das Tier das Körpergewicht
auf das betreffende Bein hinüberverlegt“, mit in Betracht zieht.
zeigt sich, daß wır doch der gleichen Ansicht sind, und nur Ekman
sich offenbar in der Zeitform vergriffen hat. Es handelt sich näm-
lich nicht darum, wann der Fuß den Boden berührt, also im land-
läufigen Sinne der Fuß niedergesetzt ist, sondern darum, wann er
seine tiefste Stellung erreicht hat. Solange das Tier das Körper-
gewicht noch nicht endgültig auf das betreffende Bein hinüber-
verlegt hat, klaffen die ur noch nicht am weitesten, kann der
Fuß also och fester aufgesetzt werden. Ekman müßte also nicht
sagen: „In dem Augenblick, wo das Tier das Körpergewicht auf
das betreffende Bein hinüberverlegt,“ sondern „hinüberverlegt hat“
Ist das geschehen, so wird der Fuß nicht weiter gesenkt, sondern
durch die allgemeine Vorwärtsbewegung des Körpers hebt er sich
von dem Momente an, da nun die Gelenke sich wieder lockern,
entspannen können. Das habe ich gemeint, wenn ich sagte (p. 179):
„In dem Augenblick, in dem das Teer den Fuß ieder zu heben
beginnt, entspannt sich die Synovialhaut... also bei der Ent-
spannung tritt das Geräusch ein.“ Ich glaube, Ekman hat das-
Pd FL NG ER
354 E. Mohr, Nochmals über das „Knacken“ beim Rentier.
selbe gemeint, nur ıst bei ıhm besonders durch den Satz: „Der
Laut entsteht nicht, wenn der Fuß aufgehoben wird,“ etwas anderes
ausgedrückt als beabsichtigt war.
Bergström (7) unterzog die Frage des Knackens mit Thore
Fries zusammen einer neuen Kritik, als er im Winter 1909 mit
ihm gleichzeitig in Karesuando weilte (p. 85). Ein Ren wurde für
diese Beobachtungszwecke geschlachtet, und unmittelbar nach dem
Tode des Tieres wurden Biegungsversuche mit den Gliedmaßen
angestellt, die ein höchst überraschendes Ergebnis zeitigten. Trotz
der eifrigsten Versuche mit den Zehengliedern konnte nichts dem
Knacken ähnlich Klingendes hervorgebracht werden. Aber als man
dann Fersen- und Handgelenke bog und streckte, hörte man den
Laut scharf und deutlich. Bei Versuchen mit anderen Gelenken,
die noch höher am Bein lagen, also mit Knie- und Ellbogengelenken,
blieb das Geräusch ebenfalls aus. Leider konnte man dem Problem
nicht noch näher kommen, da das Knacken aufhörte, als die Toten-
starre eintrat. ;
Ich muß gestehen, daß ıch nach der Lektüre dieser Feststel-
. lungen zunächst einigermaßen ratlos war, denn an der Richtigkeit
der Beobachtung von Bergström kann man sich nicht gut zu
zweifeln erlauben. Den Versuch zu wiederholen, fehlt es uns zu
Lande an Material, und wenn man auch sofort benachrichtigt wird,
wenn in einem Tiergarten ein Ren eingeht, ist doch stets die Toten-
starre bereits eingetreten, ehe man zur Stelle sein kann. Da außer-
dem unser einziges noch lebendes Ren in Hamburg einen erfreu-
lich lebenslustigen Eindruck macht, hat es auch keinen Zweck zu
warten, bis es als Objekt für derartige Versuche verfügbar ist. So
besuchte ıch das Tier also wıeder fleißig. Ich habe oft neben ıhm
gestanden, auch neben ıhm auf der Erde gehockt mit der festen
Absicht, das Knacken ın den Hand- und Fersengelenken zu hören,
aber es war mir trotz redlicher Bemühung nicht möglich: für mich
kam der Laut immer aus dem Fesselgelenk, wie ich auch stets
durch das Gehör unterscheiden kann, ob ein vor mir stehender
oder sitzender Mensch ın den Knien oder in einem der Fuß- oder
Zehengelenke knackt. Ich glaube nicht, daß ich mich um die Länge
des Metacarpus in der Lokalisierung des Lautes täuschen könnte.
Bergström allerdings sagt von sich (p. 86, übersetzt): „Zum Be-
weis dafür, daß die Gehörwahrnehmung auf vorgefaßter Meinung
beruht, will ich hervorheben, daß ich nach dem genannten Experi-
ment nicht länger den Laut als von den Zehen ausgehend wahr-
nehmen kann. Für mich hört er sich nunmehr an als ım Hand-
oder Fersengelenk lokalisiert.“
Da die Schweden, wie Ekman’s Ausführungen zu entnehmen
ist, die Möglichkeit haben, mit vollkommen zahmen Renern umzu-
gehen, dürfte die Frage nach dem Entstehungsort des Knackens
I, 2.27. Zube a
a ER
E. Mohr, Nochmals über das „Knaeken“ beim Rentier. 2)
leicht gelöst werden können mit Hilfe des modernen Stethoskop
nach Snoften. Hierbei muß das untere Ende des Apparates an
den. betreffenden Teil des Fußes angeschnallt werden, während der
Beobachter an den oberen Enden hört. Die Verbindung ist lang
genug, um dem Tiere Bewegung zu gestatten, ohne den Beobachter
dabei zu belästigen. Wenn der Apparat einmal am Fesselgelenk
und einmal am Hand- oder Fersengelenk angeschnallt würde, muß
sich ja ohne weiteres das Resultat zeigen. Es ist dies aber ein
Versuch, den wir bei uns in Deutschland nicht machen können, da
unsere Rene zwar die übliche Tiergartenzahmheit besitzen, sich
aber nur ungern anfassen lassen und bei solchen Versuchen wie
dem beschriebenen vollends nervös und unbrauchbar werden würden.
Damit, daß ein späterer Beobachter Bergström’s Wahr-
nehmung vorläufig nicht zu machen imstande ist, ist aber die Tat-
sache nicht aus der Welt geschafft, daß sich hier etwas Neues
nicht erklären läßt. Ich bin einstweilen geneigt, das beobachtete
Knacken in den Hand- und Fersengelenken nach dem Tode, das
vielleicht nach Aufhören der Totenstarre wieder hätte beobachtet
werden können, für etwas anderes zu halten als das Kuacken beim
lebenden Tier. Vielleicht handelt es sich um die Wirkungen
etwaiger postmortaler Veränderungen, die die Funktion der Ge-
lenke beeinflußt haben könnten, die allerdings sehr schnell hätten
eingetreten seir müssen. Mir ist sonst nicht klar, weshalb das
Knacken aufhören sollte, wenn dem lebenden Tiere Leinewand um
die Zehen gewickelt wırd und wenn es ım Schnee und Schlamm
mit den Hufspitzen vorweg einsinkt. Dadurch werden Hand- und
Fersengelenke ın keiner Weise behindert, hätten also durchaus
keinen Grund, das Knacken einzustellen. Ebensowenig kann ich
damit die Tatsache in Einklang bringen, daß die Kälber erst nach
Verringerung des Phalangenwinkels anfangen zu knacken. Den
Winkel zwischen Mittelfußknochen und Unterschenkel kann man
nämlich keineswegs dafür verantwortlich machen. Dieser ist zwar
bei verschiedenen Tierarten sehr verschieden, wie leicht ein Ver-
gleich z. B. zwischen den Hinterbeinen — die Vorderbeine zeigen
erklärlicherweise solche Unterschiede nicht — vom Bison und dem
viel steiler gestellten Zebu zeigt, ıst bei derselben Tierart aber in
der Jugend wie im Alter gleich. So interessant also Bergström's
Untersuchungen an sich auch sind, können sie mich vorläufig in meiner
Auffassung über den Ort und die Art des Zustandekommens vom
Knacken nicht schwankend machen.
Man hat mir inzwischen mehrfach vorgehalten, daß ein relativ so
kleiner Raum, um den es sich im Gelenk ja nur handelt, unmöglich
ausreichen könnte, um einen Laut von der Stärke des Knackens her-
vorzubringen. Anfänglich war ich selbst einigermaßen zweifelhaft,
aber wenige Versuche mit dem sogenannten Wasserhammer über-
m RE PTR USDERER
as) Be BER, Br en
zeugten mich bald von der Möglichkeit. Durch diesen einfachen
Apparat wird ein außerordentlich scharfer, metallisch harter Laut
hervorgebracht, der die Stärke im Knacken des Rentierfußes noch
um vieles übertrifft. Daß mit der von mir (9, p. 179) gegebenen
Erklärung das Problem endgültig gelöst sei, habe ich nie behauptet,
aber nach den bisherigen Überlegungen und dem augenblicklichen
Stand unserer Kenntnisse von den Gelenkgeräuschen überhaupt,
scheint sie mir zum mindesten als Provisorium lebensfähig zu sein.
Die Liste der knackenden Tiere kann ich inzwischen noch um
einige vermehren, wenn ich auch seit Erscheinen des ersten Auf-
satzes nicht in viele fremde Tiergärten gekommen bin. So be-
sinne ich mich darauf, daß der Steinbock ım Düsseldorfer Garten
und die afrıkanischen Zwergziegen ın Leipzig deutlich knacken.
Literatur.
1. 1732. Linne, ©. v. Iter lapponieum. In Carl von Linne’s ungdomskrifter,
utgifna af K. Vetensk. Akad. II. Stockholm 1889.
2.1774. Hollsten, J. Afhandling om Renen. K. Vet. Ak handl. Stockholm
3.1847. Nilsson. S. Skandinavisk Fauna I. Däggdjuren. Lund.
4. 1873. Düben, @. v. Om Lappland och lapparna. Stockholm.
5.1873. Brehm, A. E. Tierleben, ‚Die Säugetiere. Bd. 3. Leipzig.
6. 1907. Ekman, S. Die Wirbeltiere der arktischen und subarktischen Hoch-
vebirgszone im nördlichsten Schweden. In: Nattrw. Unters. d. Sarek-
gebirges in Schwedisch-Lappland. Stockholm.
7. 1911. Bergström, E. En iakttagelse öfver renens knäppning. Fauna och
Flora. Uppsala.
Ss. 1916. Hilzheimer, M In Brehm’s Tierleben, Säugetiere. Bd. 4. Leipzig.
9. 1917, Mohr, E. Über das „Knacken“ bei einigen Paarhufern, besonders beim
Renntier, Biolog. Zentralbl., Bd. 37. Leipzig.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der Universitäts-
suchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen.
E;
B
2:
In u) ak 2.7
s% $) Et . nr
Biolagsches Zentral
Begründet von J. Rosenthal
Unter Mitwirkung von
Dr..&. Goebel und Dr. R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München
herausgegeben von
Dr. E Weinland
Professor der Physiologie in Erlangen
Verlag von Georg Thieme in Leipzig
39. Band Juni 1919 KENT.
ausgegeben am 30. Juni 1919
Der jährliche Abonnementspreis (12 Hefte) beträgt 20 Mark
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menziugerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R.:Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physiolog. Institut.
einsenden zu wollen.
Inhalt: J.S Szymanski, Über den Antrieb. S. 257.
R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock. 8. 266.
H. Sik6ora, Vorläufige Mittejlung über Mycetscme bei Pediculinen, S: 237.
Über den Antrieb,
Von J. S. Szymanski, Wien.
| (Mit 2 Figuren.)
Die Ausdehnung des Gesetzes der Kontinuität des Geschehens
auf die Lebensvorgänge führte zur Erkenntnis der Bedingtheit der
motorischen Reaktion durch den auslösenden Reız.
Die theoretisch abgeleitete methodische Formel — keine Re-
aktion ohne auslösenden Reiz -— vermochte indes nicht, die Mannig-
faltigkeit der zu erklärenden Erscheinungen restlos zu umfassen.
Es wurden nur zu oft Fälle bekannt, ın welchen der gleiche
auslösende Reiz einmal eine prompte, dann wieder gar keine bezw.
abweichende Reaktion hervorrief. Diese Variabilität des Verhaltens
empfand man zunächst als störend für den erwarteten Versuchs-
verlauf. Erst allmählich ıst aus der unangenehm empfundenen
Störung ein Problem geworden; man prägte für die Abweichungen
von den als Norm angesehenen Verhaltungsweisen die Hilfsbegriffe
der Umstimmung, der Reflexumkehr und Ähnliches.
39. Band 15
258 J. 8. Szymanski, Über den Antrieb.
Diese Begriffe blieben einstweilen ziemlich. inhaltsleer; sie
harrten einer weiteren Präzisierung und Unterordnung unter einem
allgemeineren, physiologisch genauer definierbaren Oberbegriff. Den
letzteren aufzustellen, war eine Denkforderung, der sich kaum ein
Forscher, der sich je mit diesen Fragen befaßt hatte, entziehen
konnte. Die fehlende Einförmigkeit des Reaktionsablaufes trotz
des gleich bleibenden auslösenden Außenreizes kann man mit gutem
Recht auf die in ıhrer Qualität und Intensität wechselnden Er-
regungszustände des Organısmus zurückzuführen versuchen. Der
Zustand der gesteigerten Erregbarkeit bewirkt eine bestimmte Ein-
stellung der Rezeptionssphäre auf die Reize der Außenwelt, sensi-
bilisiert die Rezeptoren im Sinne einer selektiven Auslese und der
Auswertung der Reize und schreibt infolgedessen die Richtung der
motorischen Reaktion vor.
Die Gesamtheit der Merkmale eines Erregungszustandes in
seiner Wirksamkeit auf das Zustandekommen einer motorischen
Reaktion läßt sich ım Begriffe des Antriebes zu einem logischen
Gebilde zusammenfassen.
Wenn man von diesem Begriff das ıhm von altersher an-
haftende transzendente Gepräge einer causa sui wegdenkt, so be-
deutet der Antrieb nichts weiter als eine Steigerung der spezifischen
Erregung, die das Individuum zur Stiftung bestimmter sensomoto-
rıschen Verknüpfungen disponiert.
Der Reizkomplex, der den Antrieb sich geltend machen läßt,
kann sıch sowohl aus den äußeren wie auch den inneren Reizen
zusammensetzen.
Als Paradigma antreibender Innenreize seien Hungerreiz, Ge-
schlechtsreiz u. dgl. mehr erwähnt; Beispiele für die antreiben-
den äußeren Reize liefern die überoptimale Temperatursteigerung
des Leberaumes, die überoptimalen Lichtverhältnisse (insb. in ihrer
Wirkung auf die in Dunkelheit lebenden Tiere), Durchnässung des
Körpers bei vielen Insekten!) u.s. f.
Die motorische Äußerung des Antriebes macht sich zunächst
in einer gesteigerten, ziel- und planlosen Beweglichkeit (Such-
bewegungen) kund. Die Suchbewegungen werden erst durch die
Einwirkung eines neuen Reizes (effektiver Reiz), auf dessen Rezeption
der Organismus im gegebenen Momente besonders eingestellt ist,
zu geordneten motorischen Reaktionen (Aneignungs- bezw. "Ab-
weisungshandlung) erhoben.
Die effektiven Reize gehören in der Regel der Außenwelt
(Futter, Weibchen u.s.f.) und bloß in den Ausnahmsfällen der
Innenwelt des Tieres selbst an (z. B. die Putzreflexe der Insekten
unter der Einwirkung von zentralen Reizen).
1) Vgl. meinen Aufsatz über „Das Verhalten der Landinsekten dem Wasser
gegenüber“- (Biol. Zentralbl. 1918, S. 342).
J. S. Szymanski, Über den Antrieb. 259
Das Verhältnis zwischen den antreibenden und effektiven Reizen
kann sich zweierlei gestalten. Das weitaus häufigste Verhältnis ist
das oben erwähnte, d. h. die antreibenden Reize fallen nieht mit
den effektiven zusammen; so können z. B. die Vorgänge im Darm-
kanal als antreibender, das Futter als effektiver Reiz dienen. Es
kann jedoch in anderen Fällen der antreibende Reiz sich mit dem
effektiven decken; die Rezeption des Feindes wirkt z. B. gleich-
zeitig als antreibender, d. h. den Zustand der spezifischen Erregung
herbeiführender, und effektiver, d. h. die Bewegungsrichtung be-
stimmender Reiz. Für die feinere Analyse des Antriebes kommt
die Prüfung einiger Bedingungen, die für die Entstehung und die
nachträgliche Ausführung neuer Gewohnheitshandlungen voraus-
gesetzt sein müssen,besonders in Betracht.
Es lassen sich durch diese Prüfung drei Fragen dem Ver-
ständnis näher bringen. Und zwar läßt sich zunächst die unbe-
dingte Notwendigkeit des Antriebes zur Ausführung einer Hand-
lung demonstrieren; dann läßt sich ein Einblick in die abnehmende
Wirksamkeit eines Antriebes in Abhängigkeit von der abnehmenden
Intensität desselben gewinnen. Schließlich läßt sich die ver-
schiedene Valenz verschiedener Antriebsqualitäten nachweisen.
Die Notwendigkeit eines Antriebes von genügender Intensität
für die Ausbildung einer Gewohnheitshandlung demonstrieren» am
eklatantesten jene Fälle, in denen einerseits das gleiche Tier außer-
stande war, bei einem geringeren Antrieb eine Gewohnheitshand-
lung auszubilden, andererseits aber bei Eingreifen eines stärkeren
Antriebes und sonst gleich bleibenden übrigen Bedingungen die
gleiche Handlung prompt und schnell zu erlernen vermochte. So
z. B. konnten weiße Ratten nicht erlernen ein einfaches Labyrinth
auf dem kürzesten Wege zu durchlaufen, wenn bloß der Erregungs-
zustand, der das Entfernen aus dem Nest herbeiführt, als Antrieb
diente; es ließ sich jedoch die gleiche Handlung in kurzer Zeit
ausbilden, nachdem der Hunger als Antrieb gewirkt hatte. Gleich-
falls erlernten Katzen bei einem ungenügenden Antrieb (schwacher
Hunger) nicht — wohl aber bei einem solchen von starker Intensität
(starker Hunger) —, den Futterkäfig auf dem kürzesten Wege zu
finden (Fig. 1Au.B).
Die Tatsache, daß die Wirksamkeit eines Antriebes sich mit
abnehmender Intensität desselben verringert, wurde besonders deut-
lich durch jene Fälle nachgewiesen, in welchen die fehlerlose Aus-
führung einer bereits perfekt ausgebildeten Gewohnheitshandlung
infolge der Abnahme der Antriebsintensität verhindert wurde.
So zeigten Versuche an weißen Ratten, daß die Tiere, die be-
reits perfekt erlernt hatten, ein Labyrinth auf dem kürzesten Wege
zu durchlaufen, diese Handlung nicht fehlerlos auszuführen ver-
mochten, falls der Antrieb. der bei dem Lernvorgang wirkte, sich
18°
TERN Hr ON EEE RN
1 «
60 J. J. Szymanski, Über den Antrieb.
nicht mehr geltend machte. Es stellte sich weiter heraus, daß die
Ausführung der perfekt erlernten Handlung um so ungenügender
Figur 1, Abb. A.
A 00 ' |
4
i
2900
erreiche Su
339
Ze DE a
20 an ELLI 50 u 30 80 ET]
Notwendigkeit eines Antriebes von genügender Intensität für die Ausbildung einer
Gewohnheitshandlung.
A. Lernvorgang bei weißen Ratten:
I = Zeitkurve, IT = Wegkurve, III = Fehlerkurve. Auf der Ordinate sind einge-
tragen: In I Sekunden, in II Zentimeter, in III die Anzahl der Fehler; auf der Ab-
szisse sind in sämtlichen Fällen die Versuchstage eingetragen. Die gestrichelte Linie
trennt die Versuche, in denen das „Zum-Wohnkäfig-gelangen“ als Antrieb diente,
von den Versuchen ab, bei denen Hunger als Antrieb diente.
Zur Kurve II: 339 cm betrug der kürzeste Weg, auf dem das Tier den Wohn-
käfig, bezw. das Futter (in Versuchen 62 bis 88) erreichen konnte.
J. S. Szymanski, Über den Antrieb. 261
war, eine je schwächere Antriebsintensität zur Wirkung gelangte ?)
(Fig. 2, Abb. B).
Als ein anderes Beispiel der Abhängigkeitsbeziehung zwischen
der. Antriebsintensität und Ausführung einer Gewohnheitshandlung
‚sei noch der Fall angeführt, in dem ein Rattenweibchen, das seine
Jungen säugte, erlernen sollte. das Labyrinth unter der Wirkung
des spezifischen Erregungszustandes, der die Mutterpflege kenn-
zeichnet und der als Antrieb diente, auf dem kürzesten Wege zu
durchlaufen. Diese Handlung konnte sich ausbilden; die fehlerlose
Ausführung derselben dauerte jedoch bloß so lange, als das Weib-
chen die Jungen säugte (Fig. 2, Abb. A).
Figur 1, Abb. B.
1 29130 - 40
B. Lernvorgang bei zwei Katzen:
Auf der Abszisse sind die Versuchstage, auf der + Ordinate die richtige, auf der
— Ördinate die falsche Richtung eingetragen. Die gestrichelte Linie trennt die
Versuchstage, während welchen die Versuchstiere im Zustande eines ganz geringen
Hungers gehalten wurden, von den Versuchstagen ab, während welchen die Tiere
stark hungern mußten.
Die Untersuchung der Bedingungen, die für die Entstehung
einer Gewohnheitshandlung notwendig vorauszusetzen sind, gewährt
schließlich einen Einblick in die Frage über die Valenz verschiede-
ner Antriebsqualitäten.
Es gibt einige Möglichkeiten, dieser Frage näherzukommen.
Eine dieser Möglichkeiten besteht darin, daß man eine Anzahl
Individuen, die eine gleiche Gewohnheitshandlung jedoch bei der
Wirkung von verschiedenen Antriebsqualitäten erlernt bezw. nicht
erlernt haben, miteinander vergleicht.
Wenn alle untersuchten Individuen eine gleiche Handlung bei
einer Antriebsqualität erlernten, bei einer andeien aber bloß wenige
oder keines, so liegt es nahe, daß jene Antriebsqualität sich im
allgemeinen von einer bedeutenderen Stärke als diese für die ge-
geprüfte Tierart erweist.
2) Die gleichen Versuche an Ratten ließen weiter vermuten, daß ausschließlich
jene Antriebsart, unter deren Wirkung die Ausbildung der Gewohnheitshandlung
zustande gekommen ist, die nachträgliche fehlerlose Ausführung der gleichen Hand-
lung bedingt; andere Antriebsarten scheinen unwirksam zu sein.
262
J. 8. Szymanski, Über den Antrieb.
So erlernten z. B. alle untersuchten weißen Ratten, das Laby-
rınth auf dem kürzesten Wege zu durchlaufen, wenn Hunger als
Antrieb diente; von drei nn Ratten- Weihehen, welche die
Figur 2, Abb. A.
A
750
1508
1000+
9 2
*C 20 Jo vo 50 ‚wo
Abhängigkeitsbeziehung zwischen dem Antrieb und Fortbestehen von
Gewohnheitshandlungen.
. Der Lernvorgang eines Ratten-Weibchens:
I = Zeitkurve, II= Wegkurve, III = Fehlerkurve Auf der Ordinate sind ein-
getragen: In I Sekunden, in II Zentimeter, in III die Anzahl der Fehler; auf
der Abszisse sind in sämtlichen Kurven die Versuchsnummern eingetragen.
Zur Kurve II: 339 cm betrug der kürzeste Weg, auf dem das Tier den Wohn-
käfig mit den Jungen erreichen konnte. Vom 35. Versuche an säugte die Ratte
die Jungen entweder gar nicht mehr oder bedeutend seltener.
Jungen säugten, erlernte bloß ein Tier, das gleiche Labyrınih auf
dem kürzesten Wege zu durchlaufen, wenn der Erregungszustand,
der mit der Mutterpflege einhergeht, als Antrieb diente; schließlich
vermochte kein einziges Individuum, die gleiche G ewohnheitshand-
L
J. 8. Szymanski, Über den Antrieb. 263
lung auszubilden, wenn der Erregungszustand, der das Entfernen
aus dem Nest bewirkt, als Antrieb wirkte.
Diese Ergebnisse lassen annehmen, daß der Hunger bei weißen
Figur 2, Abb. B.
N /B
700:
30
[0]
05 4 22
B. Verhalten der weißen Ratten, die bereits früher fest erlernten, das Labyrinth
unter dem Einfluß des Hungers auf dem kürzesten Wege zu durchlaufen.
I — Zeitkurve, IT= Wegkurve, III= Fehlerkurve. Auf der Abszisse sind in
‚sämtlichen Kurven die Stunden eingetragen, in denen vor den diesbezüglichen
Versuchen die letzte Fütterung stattgefunden hatte; auf der Ordinate sind die
gleichen Werte wie in der Abbildung A eingetragen.
Ratten im allgemeinen von größerer Wirksamkeit als die Mutter-
pflege für das Verhalten der Tiere gelten darf; und eine noch ge-
geringere Wirksamkeit kommt der Nestgewohnheit (wenigstens in
der Gefangenschaft) zu.
BAR DRS (SE SEE BE NER ER 3 ES BEE Se aan a a a N N su
964 J. S. Szymanski, Über den Antrieb.
Vielleicht noch exakter läßt sich die Stärke von verschiedenen
Antriebsqualitäten auf Grund der Untersuchung der Lernge-
schwindigkeit klassifizieren.
Wenn einige Vertreter einer Tierart bei einem Antrieb schneller
als die anderen Individuen der gleichen Art bei einer anderen
Antriebsqualität eine gleiche Handlung erlernen, so liegt der Gedanke
nahe, daß der erste Antrieb wirksamer als der letztere sein dürfte.
Die Abhängigkeit der Lerngeschwindigkeit von den verschiede-
nen Antriebsqualitäten wurde an weißen Mäusen untersucht 3).
Je eine Gruppe von Mäusen mußte erlernen, das gleiche Laby-
rınth, aber unter der Wirkung von verschiedenen Antriebsqualitäten,
auf dem kürzesten Wege zu durchlaufen.
Als Antrieb diente bei einer Gruppe der Erregungszustand, der
durch die Einwirkung des erhitzten Bodens, auf dem das Labyrinth
aufgestellt war, auf SE, Hautsinnesorgane er Pfoten herbeigeführt
wurde; bei dor anderen Gruppe ee als Antrieb der ee
zustand, der durch die Einwirkung des feuchten Bodens, auf dem,
das Labyrinth aufgestellt war, auf die Hautsinnesorgane der Pfoten,
hervorgerufen wurde.
Diese Versuche führten zum Ergebnis, daß die Lerngeschwindig-
keit der Mäuse, die bei der Wirkung des stärkeren Antriebes („der
erhitzte Boden“) das Labyrinth erlernen mußten, mehr als zweimal
größer war als die Lerngeschwindigkeit der Mäuse, deren Unter-
suchung bei der Wirkung des schwächeren Antriebes („der feuchte
Boden“) erfolgte. N
Schließlich ergibt sich noch eine Möglichkeit, sich über die
Stärke von verschiedenen Antriebsqualitäten Rechenschaft zu geben.
Man läßt nämlich auf ein Tier gleichzeitig zweierlei Reiz-
komplexe einwirken, von denen der eine, eine von Geburt an wirk-
same, d. h. die Bewegungsrichtung obligatorisch bestimmende Re-
zeption, der andere eine uneffektive Rezeption erweckt. Die un-
effektive Rezeption, falls dieselbe durch die Übung zum Rang einer
wirksamen erhoben sein könnte, würde eine Handlung auslösen,
die zum Abflauen einer der zu untersuchende# Antriebsqualitäten
führen würde; die wirksame hingegen, falls dieselbe für die Be-
wegungsrichtung auch weiter ausschlaggebend bleiben sollte, würde
5) Hier möchte ich die Frage aufwerfen, ob diese Methode sich nicht als
überhaupt tauglich für die Klassifikation der Antriebe nach ihrer motorischen Wirksam-
keit erweisen könnte. Daß ein Zusammenhang zwischen der Antriebsstärke und
Lernfähigkeit auch bei den Menschen zu bestehen scheint, beweist eine von Katz
gefundene Tatsache, daß ein Kind von 2!/, Jahren zwar nicht aus einer Reihe
gleichfarbiger Spielmarken, wohl aber aus einer Reihe Schokoladestückchen, von
denen wie bei den Spielmarken jedes zweite festgeklebt war, jedes zweite Stück nach
kurzer Übung richtig fortnahm (zit. nach K. Bühler, Die geistige Entwicklung
des Kindes 1918, S. 92).
J. S. Szymanski, Über den Antrieb. 265
eine Handlung bewirken, die zwar nicht das Abflauen dieses An-
triebes, wohl aber der anderen zu untersuchenden Antriebsquah-
täten herbeiführen müßte.
Wenn das Tier allmählich durch wiederholte Übung erlernt hätte,
die Bewegungsrichtung nach der zunächst uneftektiven Rezeption
zu richten, so müßte man schließen, daß der Antrieb, der durch die
von Geburt an wirksame Rezeption bewirkt war, sich als schwächer
als der Antrieb, der zum Wirksamwerden der uneffektiven Rezeption
führte, erwiesen hat. In der Tat erwies sich z. B. der Hunger bei einer
positiv phototaktischen Fischart (Ellritze) stärker als die erregende
Wirkung des Lichtes und bei den negativ phototaktischen Schaben
zeigte sich der Schmerz (die Wirkung des elektrischen Schlages)
wirksamer als ebenfalls die erregende Wirkung des Lichtes.
Nachdem ich auf Grund dieser Tatsachen die prinzipielle
Wichtigkeit des Antriebes für die Ausführung einer Handlung zu
zeigen versucht hatte, komme ich auf die anfangs erwähnte all-
gemeine methodische Formel — keine Reaktion ohne auslösenden
Reiz -— zurück.
Nach allen vorhergegangenen Auseinandersetzungen bedarf
diese Formel einer Vervollständigung und Erweiterung.
Es unterliegt keinem Zweifel — wenigstens nach unseren
heutigen erkenntnistheoretischen Anschauungen —, daß es keine
Reaktion ohne auslösenden Reiz gibt; es ist aber ebenso wahr,
daß der Reiz bloß ın dem Falle zum Hervorrufen einer wirksamen,
d. h. die Bewegungsrichtung bestimmenden Rezeption, die erst den
motorischen Mechanismus in Gang setzt, führen kann, wenn dies
der ım gegebenen Moment im Organismus vorwaltende Antrieb
erfordert.
Demnach wäre es angezeigt, die oben erwähnte Formel in
dem Sinne zu erweitern, daß auch der Begriff des Antriebes darin
berücksichtigt wäre. -
Der erweiterte methodische Satz müßte etwa besagen, daß es
ohne auslösenden Reiz keine Reaktion, jedoch ohne genügenden
Antrieb keine wirksame Rezeption gibt.
266 R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock.
Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock.
Von R. Demoll.
In dem 38. Band dieser Zeitschrift hat v. Buddenbrock
mein Buch über „Die Sinnesorgane der Arthropoden, ihr Bau und
ihre Funktion“ einer Kritik unterzogen, in der er in der Haupt-
sache auf einige Punkte hinweist, die in diesem Buch nach seiner An-
sicht eine zu geringe Beachtung gefunden haben oder überhaupt
einer Besprechung nicht gewürdigt wurden.
Ich nehme an, daß er hierbei alle die Fehler erwähnt hat,
die ihm die bedenklichsten zu sein schienen und da all die von
ihm gerügten Unterlassungen von mir beabsichtigt und wohl über-
legt waren, so ist es um so mehr angebracht, daß ich die Momente
hier anführe, die mich in meinem Verhalten bestimmten, als ich
aus der Abhandlung v. Buddenbrock’s ersehe, daß man auch unter
den physiologisch durchgebildeten Zoologen nicht immer annehmen
darf, daß sie zur richtigen Einschätzung der hier zur Sprache
gebrachten Vorwürfe gelangen können.
Als Erstes wirft er mir vor, daß der Thigmotropismus und
weiter dann, daß der Phototropismus keine Erwähnung darin findet.
v. Bu ddenbr ock sagt damit, daß die Behandlung der Tropismen
von dem Übertitel "Funktion der Sinnesorgane* notwendig ge-
fordert wird.
Hierzu ist zu bemerken, daß er mit diesem Standpunkt wohl
sehr isoliert stehen mag. Ich will gar nicht darauf hinweisen, daß
in den Physiologie-Büchern, die nur die Wirbeltiere bebann
ein Kapitel über die Tropismen häufig ganz fehlt. Ich bitte nur
v. Buddenbrock sich darüber zu orientieren, daß ın allen Büchern,
in denen die Tropismen behandelt sind, diese nicht unter dem
Obertitel „Physiologie der Sinnesorgane“ erscheinen, sondern ein
völlig hiervon abgetrenntes Gebiet darstellen. So auch in Winter-
stein’s Handbuch, wo die Tropismen und die Physiologie der Sinnes-
organe, ferner die Reflexe etc. als einander koordinierte Abhand-
lungen unter dem Übertitel „Physiologie der Reizaufnahme, Reiz-
leitung und Reizbeantwortung“* zusammengefaßt sind. Und dies
mit vollem Recht. Man ist sich heute noch nicht einig, wie die
Tropismen aufzufassen sind. Aber ganz gleichgültig, ob man sie
durchweg als Reflexe auffaßt, oder ob man in ihnen zum Teil ein
dem Protoplasma ureigenes Geschehen sieht, so oder so, in keinem
der beiden Fälle kann es motiviert werden, die Tropismen unter
den Titel „Die Funktion der Sinnesorgane“ zu stellen.
Würde man also schon in einer Abhandlung, die sich auf die
Sinnesorgane sämtlicher Tiere bezieht, eine Mitbetrachtung der
u '
R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock. ‘ 267
Tropismen ım Titel ausführlich zu erwähnen haben, so hat diese
in einer abgegrenzten Darstellung der Funktion der Sinnesorgane
eines einzigen Tierkreises erst recht nichts zu suchen, falls man
‚ nicht willkürlich dem Buch einen aus zwei Teilen zusammenge-
Pr
setzten Inhalt geben will.
Welche Beziehungen bestehen denn zwischen der Spezifität
der Sinnesorgane und den Tropismen? Haben die Arthropoden
irgendwelche durch den Charakter ihrer Sinnesorgane besonders
gekennzeichnete Tropismen?. Ist der Heliotropismus ein anderer,
wenn er vom Fazettenauge, und ein anderer, wenn er vom Linsen-
auge ausgelöst wird? Ist derjenige der Mollusken und der Krebse,
da wo er verschieden ist, deshalb verschieden, weil die Augen ver-
schieden gebaut sind? und da, wo er gleich ist, deshalb gleich,
weil die Augen gleich sınd? Was hat es mit den Sinnesorganen
zu tun, daß, um ein Beispiel aufzustellen, bei gewissen Copepoden
nur die Weibchen einen deutlichen Phototropismus zeigen, daß
ferner bei den Larven der Stomatopoden und mancher Macruren
die Lichtstimmung mit dem Lebensalter mehrmals wechselt?
Die Tropismen haben mit der Eigenart der Sinnesorgane nur
einen lockeren Zusammenhang. Dagegen sind sie etwas so allgemein
dem Leben zukommendes, daß es wohl nie jemand einfallen würde,
eine selbständige zusammenfassende Abhandlung über die Tropis-
men eines einzigen Tierkreises zu schreiben. Man überlege sich
doch nur, daß die Tropismen mit den Sinnesorganen nicht enger
verknüpft sind und von ihrer Spezifität nicht mehr beeinflußt
werden, als jeder beliebige Reflex. Warum also nicht auch fordern,
daß ich ebenso z. B. alle dem Beuteerwerb dienenden Reflexe zu
beschreiben habe. Derartige Reflexe sind in dem Buch genau so
wie die Tropismen eben nur da beigezogen, wo sie über die Phy-
sıologie der betreffenden Sinnesorgane etwas auszusagen vermögen.
Ein „Mehr“ schien mir nicht angebracht, und die Ausführung von
Buddenbrock vermochte nichts wesentliches zu bringen, was
mich von diesem Standpunkt hätte abwenden können. Auch seine
Originalarbeiten über den Phototropismus der Arthropoden, deren
Erwähnung er ja wohl in meinem Buch vermißt, vermochten mir
nicht das Wesen des Photoprotismus in ein anderes Licht zu setzen.
Wohl sehe ich ein, es wäre besser gewesen, wenn ich alles dies
schon im Vorwort des Buches gesagt hätte; ich glaubte aber an-
nehmen zu dürfen, es sei dies zu geläufig, um erwähnenswert zu
sein. Dies war ein Irrtum, denn v. Buddenbrock schreibt:
„Es ıst schwer zu begreifen, was Demoll unter „Funktion der
Sinnesorgane“ versteht, wenn er dies alles zu bringen für über-
flüssig erachtet.* Damit meint v. Buddenbrock weiter, die Be-
trachtung der tonuserregenden Wirkungen mancher Tastsinnes-
268 ; R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock.
organe; ja er geht noch viel weiter und verlangt, daß die Reflex-
wirkungen auf die Chromotaphoren ebenfalls hier zu besprechen
wären. Vielleicht nımmt er das Handbuch von Winterstein zur
Hand, um dort zu finden, daß dieser Gegenstand ın den Bänden
über Energie und Formenwechsel zur Sprache gebracht wird,
während die Sinnesorgane natürlich nur unter dem oben erwähnten
Übertitel gefunden w ih
Gestik: es dürfte mır wohl kaum ein For wurf daraus gemacht
worden sein, wenn ich unter dem Öbertitel, wie ıhn das Buch
führt, auch die Tropismen gestreift hätte. Der Umfang des Buches
war jedoch in enger Grenze festgelegt. Ich erhielt zunächst die
Aufforderung für den Verlag ein Buch über die Sinnesorgane der
Arthropoden im Umfang von 10 Bogen zu schreiben. Ich ant-
wortete, daß ich gerne diese Anregung aufnehmen würde, daß ich
aber darauf bestehen müsse, daß mir 15 Bogen zugebilligt werden.
In diesem Sinne wurde dann der Vertrag abgeschlossen. ' Wollte
ıch das was der Titel des Buches zu behandeln verlangt, einiger-
maßen eingehend darstellen, so durfte ıch nicht auf dessen Kosten
vom Wege abliegende Gebiete betreten. Wurde es mir doch schön
schwer genug, die große Zahl der Sinnesorgane mit bisher unbe-
kannter Funktion, wie sie einzelnen Oruppen der Arthropoden
vielfach zukommen, gänzlich unbesprochen lassen zu müssen. So
mußte denn zunächst alles ausscheiden, was nicht direkt zu „Bau
und Funktion“ der Sinnesorgane gehört. Und dazu zählen die
Tropismen und natürlich auch die Abhängigkeit der Hauptpigment-
stellen von Sinnesorganen.
Der nächste Vorwurf, den mir v. Buddenbrock macht und
der darin besteht, daß ıch die Funktion der Halteren, über die er
selbst gearbeitet hat, nicht erwähnt habe, kann ıhm so sehr nicht
verübelt werden. Ich gestehe, daß mir selbst zunächst vorschwebte,
daß auch dieser Gegenstand zu berücksichtigen wäre und daß ich
erst davon absah, als ıch in die Betrachtung näher eintrat und als
mir klar wurde, daß der Stabilisierungs- und Bewegungsmechanis-
mus, der in den. Halteren voraussichtlich gegeben ist, mit einer
Sınnesfunktion nicht mehr zu tun hat, als der Steuerungs- und
Stabilisierungsmechanismus, der für den Vogelflug in den Schwanz-
federn gegeben ist. Zu beschreiben waren also nur die Sinnes-
organe auf den Halteren, und hierbei wurde ıch durch die Funktion
der Sinnesorgane, die sich auf der schnellen Schwingung der
Halteren aufzubauen scheint, auch zu der Frage nach der Be-
ziehung dieser Sinnesorgane zu den Halterenschwingungen gebracht.
Eine Verkennung der Sachlage ist hier allerdings um so leichter
möglich, als die Halteren dadurch, daß sie mit Binndahiernn an
der Basis übersät sind, leicht selbst in ihrer Gesamtheit als Sinnes-
organe aufgefaßt werden. Mit wohlüberlegter Absicht habe ich
-
R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock. 369
diese Funktion der Halteren nicht erwähnt, weil durchaus nicht
‚in den Rahmen gehörig. Dagegen wird v. Buddenbrock in meiner
Arbeit „Über den Flug der Insekten und der Vögel“, die ich gleich-
zeitig mit der Herstellung des Buches in Gang hatte, die von ihm
aufgestellte Hypothese hinsichtlich der Funktion der Halteren ge-
würdigt finden. Dort war eine‘ Heranziehung dieser Arbeit am
Platze, hier aber nicht und daher unterblieb sie auch. Erstaunlich
ist mir allerdings doch, daß v. Buddenbrock nie selbst auf diesen
Gedanken kam, nachdem er folgende zwei Fragen als besonders
schwerwiegend und als mit „keinem Wort“ erwähnt aufstellt,
die ihm Heutlich genug das Gesagte hätten klar werden een
können.
f
’
3
;
BT u
Er schreibt: „Ich schicke voraus, daß sich z. Z. unsere ganze
Kenntnis von der Funktion‘ der Halteren auf zwei schon sehr lange
bekanten Versuchen aufbaut. 1. Können die Dipteren nach Heraus-
reißen der Halteren nicht mehr oder nur sehr schlecht fliegen
und 2. tritt der gleiche Effekt ein, wenn man die Halteren fest-
klebt. Jede zukünftige Behandlung dieses Problems muß not-
wendigerweise von diesen zwei Grundversuchen ausgehen. Trotz-
dem steht in Demoll’s Buch kein Wort von ihnen, sei es, daß
er sie für bekannt voraussetzt oder aus sonst einem mir unerfind-
liehen Grunde.“
Hierzu zwei weitere Fragen, die ich v. Buddenbrock vor-
legen möchte. 1. Können die Vögel nach Herausreißen der Schwanz-
federn nicht mehr oder nur sehr schlecht fliegen? und 2. hat diese
' Frage etwas mit Sinnesorganen zu tun? es sei denn mit dem
Schmerzsinn. v. Buddenbrock wird mir vielleicht antworten,
daß ein Vergleich hier insofern nicht möglich ist, als die Hal.
teren mit nahen dicht besetzt sind, daß also mit dem
Ausreißken der Halteren auch die Sinhsbraane entfernt werden.
Nun wird ‚man aber doch kaum fehl gehen, wenn man von den
- »Sınnesorganen, die die Basis der Halteren umgeben, annimmt, daß
- ihre Funktion mit der Bewegung der Schwinger selbst in Zu-
> sammenhang steht, daß sie sozusagen für die Schwinger da sind.
- Ist dies aber der Fall, so kann ein Ausreißen der Halteren oder
ein Festlegen derselben nur etwas aussagen über die Bedeutung
der Bewegungen der Halteren, aber nichts über‘ die Bedeutung
der Sinnesorgane für die Halteren. Dies wäre nur möglich, wollte
man ihnen eine Funktion zuschreiben, dıe nicht dıe Halteren, son-
dern sonst einen Teil des Körpers trifft. v. Buddenbrock wird
also kaum beı dieser Behauptung stehen bleiben können, wenn er
nicht in diesen Sinnesorganen selbst statische Organe oder etwas
Derartiges sieht.
I70 R. Demoll. Antwort auf die Kritik von v. Buddenbiock.
Den Vorwurf von v. Buddenbrock muß ich also entschieden
zurück weisen.
Ich nehme hier gern die Gelegenheit wahr, auf die Kritik von
Weinland zurückzukommen, die ich als zu Recht bestehend an-
erkennen muß. Weinland war der Erste, der mit der Ansicht
aufräumte, daß die Sinnesorgane an der Basis der Halteren Geruchs-
oder Gehörsorgane sind. Ich bedauere, dies nicht hervorgehoben
und einen Passus folgender Art eingefügt zu haben: Weinland,
der zum erstenmal darauf hinwies, daß die Sinnesorgane auf den
Halteren auch für die Halteren sind, nimmt an, daß die federnden
Kuppeln durch die Zentrifugalkraft nach Maßgabe der Geschwindig-
keit der Halteren eine verschieden starke Schleuderbewegung aus-
führen und auf diese Weise die Bewegung der Halteren zu regi-
strieren imstande sind.
Meine eigene Auffassung lehnt sich an diese Weinland’s an;
doch vermute ich, daß es nicht Scheuderbewegungen der Kuppeln
sind, die den Funktionsreiz liefern, sondern. Dehnungen und Zu-
sammenpressungen der Kuppeln an ıhrer Basıs. Diese Auffassung
scheint mir insofern den Vorzug zu verdienen, als einmal die Masse
dieser Kuppeln so minimal ist, daß an der postulierten Zentrifugal-
wirkung gezweifelt werden kann; wichtiger aber als dies scheint
mir, daß die Drucksinneskuppeln auf dem Schmetterlingsflügel ihrem
Bau nach eine Schleuderbewegung der Kuppeln nicht zulassen.
Und doch scheint für beide Gruppen dieselbe Funktion vorzuliegen.
Auch wäre zu erwarten, daß eine Häufung dieser Sinnesorgane
nicht an der Basis stattfindet, sondern da, wo die Zentrifugalkraft
am stärksten wirkt, an den distalen Enden. (Die Erklärung, die
Weinland für diese Lage gibt, kann jedenfalls nicht auch für die
Schmetterlinge gelten, scheint mir aber auch für die Halteren
keineswegs zwingend.)
Weiter kritisiert v. Buddenbrock, daß ıch wohl ausführlich
die Funktion der statischen Organe derjenigen Krebse besprochen
habe, deren Statocysten einander entgegenarbeiten hinsichtlich der
Reflexe, die von ihnen ausgelöst werden, daß ich aber nur mit
einem Satz auf diejenigen eingegangen bin, bei denen die gleichen
Reflexe von der rechten und linken Statocyste ausgehen, und daß
ich hier das Wort „sollen“ als Fragezeichen eingefügt habe. Wenn
ich diesen Vorwurf auch insofern anerkenne, als ıch gut getan hätte,
mich über das „sollen“ näher auszusprechen so muß ich doch hin-
zufügen, daß wir eben dank der schönen Arbeit von Kühn über
die Reflexe der 1. Gruppe sehr genau orientiert sind. Dagegen
scheinen mir bei der 2. Gruppe immer noch Momente vorhanden
zu sein, die es mir fraglich werden lassen, ob erneute eindringliche
Untersuchungen hier nicht doch zu etwas anderen Resultaten führen
würden.
- ae 21, 28 be a A ER er!
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Base Fa) a re a
R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock. 971
. Ich schrieb:- „Bei den schwimmenden Dekapoden sollen nach
Beobachtungen, die schon von Delage gemacht wurden und nach
solchen neueren Datums beide Statocysten in jeder Körperlage
genau gleiche Reflexe auslösen. Die Schrägstellung der Sinnes-
fläche läßt das Verhalten schwer verständlich erscheinen.“ Die
Schrägstellung bewirkt, daß bei einer Neigung des Tieres nach
der Seite, die eine Fläche in Horizontallage kommt, während die
andere in diesem Moment (z. B. bei Mysideen nach Bethe’s Ab-
bildung) nicht nur schon senkrecht steht, sondern bereits über-
hängt. Dort ruht also der Stein auf der horizontalen Unterlage,
hier hängt er frei an der Wand. Trotzdem können zweifellos Re-
flexe gleicher Qualität von den beiden verschieden gereizten Stato-
‚cysten ausgehen. Wird doch die Erregung in ihrer Qualität nicht
von dem Reiz bestimmt, und es kann dies auch weiter für alle
Lagen derart durchgeführt sein, daß die gleichen Reflexe von den
stets verschiedenartigen (mit Ausnahme der zwei Normallagen),
aber zusammengehörigen Reizen ausgelöst werden. Das aber, woran
ich zweifle, ist, daß „genau gleiche Reflexe“, d.h. auch hinsichtlich
der Intensität gleiche Reflexe, ausgelöst werden können; gilt doch
die Regel, daß ein intensiverer Reiz auch die stärkere Erregung
auslöst und die Reize muß man doch wohl als verschieden stark an-
nehmen bei einem auf der Unterlage ruhenden und bei einem mit
seinem ganzen Gewicht an den Haaren hängenden Stein. Weil
ich hier erwarten muß, daß erneute eingehende Untersuchungen
doch noch Differenzen, wenigstens hinsichtlich der Intensität auf-
decken werden, deshalb habe ich das Wort „sollen“ eingefügt.
Dies sollte zu neuen Erwägungen und Untersuchungen des vor-
liegenden Problems anregen.
Wie auch das Resultat solcher neuen Untersuchungen sein
mag, sei es, daß meine Vermutung bestätigt wird, sei es, daß in
der Tat genau gleiche Reflexe ausgelöst werden, immer liegt eine‘
Bereicherung unserer Erkenntnis vor. Auch ım letzten Fall. Denn
vorderhand kann man es noch nicht wagen, aus den Beobachtungen
von Delage u.a. den weittragenden Schluß zu ziehen, daß hier
ein Organ vorliegt, dessen Erregungen hinsichtlich ihrer Intensität
gänzlich unabhängig sind von der Intensität des Reizes!). Das
„Sollen“ ist also nach meiner Ansicht ganz und gar berechtigt.
1) Nur beim Sehen und zwar bei dem des Menschen und auch bei dem des
Schinpansen und Haushuhns (Köhler) konnte bisher für bestimmte Fälle der
Mangel einer Beziehung zwischen Reizintensität und Wirkung festgestellt werden,
Es gilt dies für das vergleichende Sehen von Oberflächenfarben, das in weitgehendem
(sehr stark bei schwarz-weiß) Maße von der Beleuchtungsintensität unabhängig bleibt.
Hier liegen psychologische Faktoren zu Grunde.
Ob sonst noch Ähnliches beobachtet wurde, ist mir nicht bekannt.
ee
379 R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock.
Und wenn v. Budllenbebel: die Anregung zum erneuten Über-
denken dieser hier auftauchenden Fragen nicht aufgenommen hat,
sie sogar energisch zurückweist, so kann ich nur hoffen, daß ich
nicht bei allen Lesern dieses Buches hier den Zweck so verfehlt
haben möge,
Der nächste Vorwurf lautet: „Die fundamentale Tatsache,
daß die Statocysten zum Balancieren nicht nur um die Längsachse,
sondern auch um die horizontale Querache dienen, wird dem Leser
ebensowenig mitgeteilt, wie die gleichfalls nicht unwichtige, daß
bei den schwimmenden Dekapoden die Abdominalfüße die wich-
tigsten Erfolgsorgane der Statocysten darstellen.“
Der zweite Teil dieses Satzes ist ja. bereits bei Behandlung
der Tropismen, Reflexe etc. besprochen.
Was die erste Hälfte anlangt, so hatte ich hier allerdings den
Fehler begangen, etwas für zu selbstverständlich zu halten, näm-
lich, daß der Statolith durch Verschiebung auf der plattenartigen
Unterlage nach jeder Richtung hin entsprechende Sensationen der
Sinneshaare ergibt. Doch habe ich ausgeführt, wie die Tiere mit
Hilfe der Statocysten ganz allgemein und in jeder Lage oben und
unten zu unterscheiden vermögen. Von Drehungen nur um die
Längsachse ist nichts gesagt. Die Regulationsfähigkeit bei Dreh-
ungen um die horizontale Querachse ist somit eingeschlossen. Daß
ich hier mit einer Selbstverständlichkeit rechnete, ist auch aus der
Fußnote zu ersehen. Doch will ich damit nicht abstreiten, daß eine
Ausführung am Platze gewesen wäre. Übertrieben ist es aber, hier
von fundamentalen Tatsachen zu reden. |
Weiter schreibt v. Buddenbrock, „daß es bei den Krebsen
statische Reflexe gibt, die nicht an Statocysten gebunden sind, wird
in ganz willkürlicher Weise nur für die Stomatopoden angegeben,
obgleich diese Reflexe auch bei den Krebsen mit Statocysten (Palae-
mon, Mysis) neben diesen Organen in .einwandfreier Weise nach-
gewiesen sind.“
Die Arbeiten, die v. Buddenbrock wohl hier ım Auge hat,
nämlich von Rädl, Ewald, Me. Ginnis, v. Buddenbrock han-
deln alle von Tropismen, d. h. von der Orientierung statocysten-
loser und statocystenbesitzender Krebse nach dem Licht. Hier
liegt vermutlich bei den statocystenlosen Tieren überhaupt kein
statischer Sinn vor; jedenfalls läßt sich darüber nichts ermitteln.
Die rein phototropischen Bewegungen aber gehören nicht hierher.
Bei den Stomatopoden dagegen handelt es sich um ein Reagieren
lediglich nach Maßgabe der Schwerkraftrichtung. Daher ist bei
diesen ein statischer Sinn anzunehmen, wenn er auch bisher nicht
lokalisiert zu werden vermochte. Dies hat auch v. Buddenbrock
1914 anerkannt. v. Buddenbrock verweist aber besonders auf
-
R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock. 373
Palaemon und Mysideen. Die Arbeiten, die hier vorliegen, sind
die von Steiner (1887) über Palaemon u.a. und die von v. Budden-
brock selbst über Leptomysis (1914). Die erstgenannte Arbeit
wurde nicht berücksichtigt, da sie kein klares Resultat lieferte und
weil sie nicht sehr zuverlässigen Eindruck macht. Steiner schreibt:
nach Entfernung der Augen und der Statocysten bei Palaemon
„L’animale roule encore souvent autoure de son axe lorsqu’il com-
mence A nager A l’aide de ses pattes abdominales; mais on constate
que, meme dans ce cas, l’anımal conserve quelquefois son &equi-
libre“. Ich habe es nicht gewagt, daraufhin außerhalb der Stato-
cysten des Palaemon noch einen anderen statischen Sinn anzunehmen,
nur weil die Tiere „quelquefois“ das Gleichgewicht behalten. Außer-
dem erwähnt Steiner, daß er allen Krebsen, mit denen er ope-
rierte, auch Sqwlla!, die Statocysten entfernte. Dies klingt nicht
sehr zuverlässig. v. Buddenbrock selbst hat an Leptomysis
mediterraneo gearbeitet: Eine Anzahl ihrer Statocysten beraubter
Tiere wurden horizontal beleuchtet. Es zeigte sich nun, daß sie
nicht, wie es dem Lichtrückenreflex entsprochen hätte, in einer
Ebene umherschwammen, die senkrecht stand, sondern in dieser
vertikalen Ebene führten sie nur Bewegungen aus in senkrechter
Linie. v. Buddenbrock schließt hieraus: „Es kann dies nur er-
klärt werden durch die Annahme eines weiteren, an der Erhaltung
des Gleichgewichts beteiligten Faktors, den ich, wie gesagt, als den
allgemeinen Lagereflex bezeichnen will.“ 1914, S. 507.
Diese Ergebnisse - über einen außerhalb der Statocysten vor-
handenen statischen Sinn habe ich deshalb nicht angeführt, weil ich
den Beweis durchaus nicht für geglückt halte. Ich vermute, daß die
Mysideen in diesem Falle lediglich deshalb nur in der Vertikalen,
nach oben und nach unten schwimmen, weil ihnen jedes andere
Schwimmen unmöglich oder mindestens außerordentlich beschwer-
lich sein würde, wenn sie dabei ın Orientierung nach horizontal
einfallendem Licht ihren Rücken diesen zukehren wollten. So lange
das Gegenteil nicht peinlichst genau bewiesen ist, darf man ver-
muten, daß der Schwerpunkt des schwimmenden, entstateten Tieres
nicht zusammenfällt mit dem Auftriebsmittelpunkt. In diesem Falle
aber wird es den Tieren unmöglich sein in Seitenlage zu schwimmen,
da so das Drehmoment, das aus der gegenseitigen Lage von Schwer-
punkt und Auftriebspunkt resultiert, seinen größten Wert, und
andererseits die Drehung selbst (um die Längsachse) den geringsten
Widerstand bietet. Es würde ein solches Schwimmen in Seitenlage
ständige, stets gleich gerichtete, energische Belancebewegungen der
Beine fordern. Bei einem Schwimmen in der Vertikalen dagegen
werden nur unbedeutende regulatorische Bewegungen dann und
wann nötig sein, und diese werden mit dem Schwanzsteuer aus-
geführt werden können. Hierin sehe ich, solange andere Tatsachen
Band 59. 19
U ee 3 OR (ehr a A RR EN Zi, “ a! ü Be dar tar
374 R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock.
nicht vorliegen, dıe Erklärung, weshalb die Tiere nur in der Verti-
kalen schwimmen. Für. die Annahme eines zweiten statischen
Sinnes liegt vorderhand jedenfalls keine Ursache vor. Den „ein-
wandfreien“ Beweiß vermisse ich durchaus.
v. Buddenbrock fährt in seiner Kritik dann weiter fort:
„Wenn der Verfasser aber von den ‚sicher vorhandenen dynamischen
Funktionen‘ der Statocysten der Mysideen spricht, so hätte er
immerhin dazusetzen müssen, daß sich diese ‚Sicherheit‘ bisher nur
auf theoretische Erwägungen und nicht auf irgendeinen Versuch
stützt.“ Über diese Auslegung von v. Buddenbrock bin ich um‘
so erstaunter, als er doch selbst über den von mir in dem Buch
ausführlich besprochenen von Bauer entdeckten Springreflex der
Mysideen gearbeitet hat. Er schrieb damals: „Die Statocysten der
Mysideen dienen bekanntlich auch zur Perzeption von Erschütte-
rungen, auf welche diese Krebse mit dem sogen. Springreflex ant-
worten — ein einzig dastehender Fall —.“ Weiterhin vermag er
diese Beobachtung von Bauer voll und ganz zu bestätigen. Und
nun frage ich ihn, was -für eine Funktion er in diesem Falle den
statischen Organen zuspricht? Es würde mich interessieren zu er-
fahren, was anders als eine dynamische Funktion hierin gesehen
den kann, es sei denn, daß er auf die längst überwundene Hör-
funktion zurückgreift. Ei fühle mich daher trotz der Kritik von
v. Buddenbrock im Recht, wenn ich von sicher vorhandenen
dynamischen Funktionen spreche.
Der nächste Vorwurf v. Buddenbrock’s lautet: „Hätte sıch
Demoll ein wenig näher mit Räd!’s gehaltvollem Werk beschäf-
tigt, so wäre ihm auch vermutlich das Versehen nicht unterlaufen,
daß er einen Versuch als neu beschreibt, den Rädl bereits vor
15 Jahren gebracht hat.“ Die Sachlage folgende: In einer An-
merkung habe ich darauf hingewiesen, daß Käfer auf der Dreh-
scheibe kein verändertes Verhalten zeigen, wenn man ihnen die
Fühler und — worauf es mir ankam — damit die Johnston’schen
Organe entfernt. Rädl andererseits machte folgenden Versuch:
Er ließ Käfer auf der Drehscheibe laufen und versuchte nun fest-
zustellen, ob die eigene Richtung, die sie hier immer verfolgen,
durch eine optische Orientierung gewährleistet wird. Er stülpte
daher über die schwarz bezogene Drehscheibe eine !/;, m hohe und
40 cm breite mit schwarzmattem Tuch ausgekleidete Röhre, um
jede Orientierung nach dem Fenster auszuschließen. Der Effekt
ist (Rädl 1903, p. 31): „Nach sehr oft wiederholten Versuchen
habe ich höchstens undeutliche Spuren einer Kompensation gefunden.
. je besser das seitlich einfallende Licht abgeblendet war, desto
undeutlicher waren die Kompensationen des Käfers.*“
Zunächst liegen hier zwei ganz verschiedene Versuche vor.
Man könnte aber oh sagen, wenn Rädl nachweist, daß die kom-
ER ENT
R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock. 375
pensatorischen Bewegungen nur durch die optischen Eindrücke
hervorgerufen werden, so sind meine Versuche von vornherein schon
negativ beantwortet. Ich habe aber gerade deshalb Rädl hier
zitiert, weil, wie man sieht, eine eindeutige Antwort hier keines-
wegs vorliegt. Wenn nur noch feinste Spuren der Kompensation
nach Ausschluß optischer Orientierung übrig bleiben, so ist es ge-
rechtfertigt genug, noch nach anderen Sinnesorganen zu suchen,
die hier verantwortlich zu machen sind. Ja, ich gehe noch weiter,
selbst wenn Rädl’s Versuche eindeutig ausgefallen wären, würde
immer noch die Möglichkeit bestehen, daß auch andere Sinnes-
organe Kompensationen hervorrufen, die aber normalerweise an
die Führung durch die Augen so gewohnt sind, daß sie auch bei
Ausschalten der Augen zunächst mit diesen versagen. Der Fall
liegt aber hier so, daß man nach Rädl!’s Angabe doch wohl an-
nehmen darf, daß die Kompensation in erster Linie zwar von den
Augen, zum Teil aber noch von einem anderen Sinnesorgan be-
dingt wird.
j Ich stelle daher fest: Mein Versuch war insofern neu, als Rädl
sich nicht um die Frage bemühte, ob speziell den Johnston’schen
Organen irgendwelcher Einfluß zuzuschreiben ist. Zweitens stelle
ich fest, daß durch die ganzen derartigen Versuche von Rädl mein
Versuch keineswegs überflüssig wurde. Schließlich aber möchte ich
noch betonen, daß, selbst wenn dies alles nicht so zuträfe, ich
es selbst dann mir nicht zum großen Vorwurf machen würde, wenn
ich mal in einem ganz unbedeutenden, sozusagen nebenher ange-
stellten Versuch, der auch nebenher — in der Anmerkung — er-
wähnt wurde, einen Autor zu zitieren vergesse, der dasselbe schon
früher ausgeführt hat. Auch einem anderen gegenüber habe ich
es nie als großes Verbrechen anrechnen können, wenn er irgend-
eine Angabe brachte, die in einer meiner früheren Arbeiten bereits
enthalten war. Denn schließlich ist der Zweck die Wissenschaft
zu fördern und nicht, sich gegenseitig zu zitieren; doch sehe ich
darin nicht etwa für mich ein Leitmotiv, das mich zu Bequemlich-
- keit und Lässigkeit in Autorenangaben verleiden könnte.
3 Hier möchte ich gerne noch eine Kritik des wichtigsten Be-
fundes einfügen, den wir bisher v. Buddenbrock verdanken. Er
hat in den verschiedensten Tiergruppen den von ihm sogen. „Licht-
- rückenreflex* nachgewiesen. Ich habe ihn auch in meinem Buch
| an mehreren Stellen erwähnt, ohne ıhn einer näheren Kritik zu
unterziehen. Ich würde es heute nicht mehr tun. Denn die Be-
denken gegen diesen Begriff, die mir früher bei der Lektüre zu-
nächst in schwächerer Form entgegentraten, haben sich immer mehr
zu einer kompakteren Form kristallisiert, so daß ich heute auf dem
' Standpunkt stehe, daß dieser Begriff zu verwerfen ist, da er nicht
das Wesen der Sache trifft. Wenn ich nun dies nachzuweisen ver-
198
rk
u
376 R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock.
suche, so möchte ich vorweg betonen, daß ich damit durchaus nicht
die Experimente von v. Buddenbrock und deren Durchführung
angreifen oder gar herabsetzen möchte und ferner, daß ich voll
anerkenne, daß die Erscheinungen, die seinem „Lichtrückenreflex“
zugrunde liegen, uns wesentliche Hilfe in der Analyse der Funktion
mancher Sinnesorgane leisten können.
Man stelle sich vor, daß ein höheres Wesen mit dem Menschen
experimentiert und daß es es ın der Hand hätte, einem guten
Schwimmer, der etwa unter Wasser getaucht ist u der gewohnt
ist, sich unter Wasser mit den Augen zu orientieren, plötzlich alles
Licht nicht von oben, sondern von unten zuzuschicken; oder man
denke sich einen Flieger, der über den Wolken fliegt, dem dieses
experimentierende Wesen plötzlich dieselben Wolken, die er eben
unter sich sah, nach oben versetzt und ebenso die Sonne, die er
über sıch sah, von unten her scheinen läßt. Es ist hier schon
recht wahrscheinlich, daß die optische Orientierung so stark wirken
würde, daß sie die statische vollständig übertäubt, daß also der
Flieger glaubt, auf dem Rücken zu fliegen und dementsprechend
Vorkehrungen trifft; noch mehr würde dies der Fall sein bei einem
Menschen, der sein ganzes Leben, so lange die Sonne scheint, im
Flugapparat zwischen Sonne und Wolken zubringt. Wenn dieses
experimentierende Wesen im Anschluß daran einen Lichtrücken-
reflex oder Lichtkopfreflex bei den Menschen beschreiben würde,
so würde man vom menschlichen Standpunkt diese Beschreibung
für schematisiert und unangebracht halten. Hierin liegt aber ledig-
lich eine Warnung vor Übertreibung, dagegen noch nichts von
einer Irreführung durch diesen Begriff. Dies wird uns erst durch
folgendes klar.
Es gibt auf Jahrmärkten bewegliche Zimmer, die so einge-
richtet sind, daß das ganze Zimmer um eine quer durchlaufende
horizontale Achse vollständig drehbar ist. An dieser Achse wird
ferner eine große Schaukel aufgehängt. Das Publikum nimmt in
dieser Schaukel Platz, dann wird sie leicht angestoßen und der
Diener verläßt den Raum. Was nun wirklich passiert, ist fol-
gendes: Die Schaukel schwingt sich allmählich aus und kommt
zur Ruhe., Im selben Maße wie dies stattfindet, beginnt aber das
Zimmer in Schwingungen zu geraten um dıe erwähnte Achse, so
daß das Publikum den Eindruck hat, daß die Schaukel immer
stärker schwingt, auch dann noch, nachdem sie in die Ruhelage
zurückgekehrt ist. Der Ausschlag des Zimmers wird nun immer
weiter vergrößert, bis schließlich der Boden nach oben, die Decke
nach unten sieht. Der Witz bei der Sache ist der, daß jetzt das
Publikum den Eindruck hat auf dem Kopf zu stehen und ängstlich
den Moment erwartet, wo es von oben herabfällt. Hier sehen wir
zweierlei. Einmal, daß auch beim Menschen die optische Orien-
*
R Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock. ° 2377
.tierung die statische in den Hintergrund drängt unter diesen ab-
normen Umständen, die denen entsprechen, wie sie im Experiment
v. Buddenbrock’s gesetzt wurden. Obwohl hierdurch unser Bei-
spiel vom Flieger noch mehr den Charakter des Hypothetischen
verliert, hat dennoch noch niemand von einem Lichtkopfreflex der
Menschen gesprochen. Das Beispiel von der Schaukel zeigt aber
zweitens, daß es bei dieser Orientierung überhaupt nicht auf den
Einfall des Lichts ankommt, sondern lediglich auf das optische
- Bild. Hier liegt nicht die Wirkung von einer vertauschten Ein-
fallsrichtung des Lichts vor, sondern lediglich von einer Vertau-
schung des dargebotenen Bildes von oben und unten. Stellt man
das Bild auf den Kopf, so fühlt sich auch der Mensch auf den
Kopf gestellt.
Und nun kehren wir nochmals zu dem Flieger zurück. Wenn
der Flieger: bei dem erwähnten Experiment sofort Rückenlage ein-
zunehmen bestrebt sein würde, so müßte nach Analogie der
v. Buddenbrock’schen Experimente, der Experimentator auch
dort schließen, daß die Strahlenwirkung der Lichtquelle das Maß-
gebende ist. Er würde einen Lichtrückenreflex beschreiben. Bringt
er dann den Flieger auf die Schaukel in dem drehbaren Zimmer,
so würde ihn dieser Versuch über seinen Irrtum aufklären.
Entscheidende Experimente liegen bei Krebsen schon seit 1908
vor. Hadley beschreibt die Wirkung des einfallenden Lichts auf
Krebslarven auf Grund ausgedehntester Untersuchungen. p. 300
kommt er zu der „Summary“: „The larvae orient to screens and
backgrounds of black and of white by reflex movements identical
with those by which they reaect to direkt illumination and shadıing.*
Also die gleiche Wirkung, wie einfallendes Licht haben auch
helle und dunkle Schirme seitlich oder unten angebracht. Nicht
die direkte Bestrahlung ist demnach das Maßgebende, sondern die
Konstanz des Reizes verbunden mit der Möglichkeit durch genügende
Markierung (Kontrast, Größe, Intensität) Orientierungsobjekt =
Kompaß für das Tier zu werden.
Die im Lichtrückenreflex zutage tretende Orientierung der
Krebse ist also weiter nichts, als ein spezieller Fall
der Orientierung nach einem gewohnten Bild. Befindet
man sich in einer so gleichmäßigen Umgebung wie die Krebse,
so wird man selbstverständlich auf die markantesten Richtlinien,
nämlich die Sonne besonders achten. Damit ist aber gar nicht
gesagt, daß auch die ganze Umgebung das übrige Unten und Oben,
Rechts und Links dieselbe Wirkung hervorzurufen vermag, wenn
den Tieren eine Gewöhnung an diesen markanten Wegweiser, die
Sonne genommen wird.
Hier liegt ein ähnlicher Irrtum vor, wie ich ihn vor kurzem
(in dieser Zeitschrift) hinsichtlich des Heliotropismus der nach dem
Ra NN ra ul BE u ER 2 an DR a a he
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378 R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock.
Licht fliegenden Insekten aufgedeckt habe. Auch in diesem Falle
sind es nicht die Lichtquellen oder die Lichtstrahlen, die das Tier
anziehen; diese allein vermögen es gar nicht zu beeinflussen; nötig
ist, daß außerdem die Umgebung dunkel erscheint, der sie dann
zu entgehen trachten. Bietet man dem Tier bei gleicher Licht-
stärke durch helle Zimmerwände eine erkennbare Umgebung dar,
so „interessiert“ es sich nicht mehr für das Licht, von dem es in
der Dunkelkammer so sehr beeinflußt wurde. Hier wie dort liegt
nicht das Wesen in einer Anziehung des Lichtes, sondern es wirkt
auf das Tier wie übrigens auch auf den Menschen, die Gesamt-
heit des optischen Komplexes. Dieser erst bestimmt, ob der
eine Wegweiser Bedeutung gewinnen kann oder nicht.
Die ganze Auffassung der Tropismen der mit Gehirnzentren
begabten Tiere scheint mir daran zu kranken, daß man in ihnen
ein Unveränderliches, ein Vererbtes, eine einfachste Verkettung
zwischen Reiz und Reaktion sieht. Man sagt: Der Krebs wirft
sich bei plötzlicher Beleuchtung von unten auf den Rücken, weil ihm
der Lichtrückenreflex dazu zwingt. Man sagt weiter: Der Schmetter-
ling fliegt in das Licht, weil ıhn der Lichtstrahl dazu zwingt, der
Krebs drückt sich ın die Ecke, weil ihn seine Tastsensationen
infolge eines festgelegten Reflexbogens dazu zwingen. Könnte man
die Tiere fragen, so würden sie vielleicht antworten, daß sie sich
auf den Rücken werfen, weil sie von unserem Planeten gewöhnt
sind, daß die Sonne zuverlässig niemals da steht, wo unten ıst;
daß sie eben gewöhnt sind, das Licht von oben zu bekommen.
Und der Schmetterling würde dasselbe antworten wie ein Kind,
das im dunklen Wald ein Licht sieht; nämlich daß es auf das
Licht zugelaufen ist, „weil es hell macht“ und ‚weil es ım Wald
so dunkel war“; nicht weil es — wie manche gar meinen — von den
Lichtstrahlen wie aufgespießt, diesen zustreben mußte. Auch bei
dem Menschen muß erst die Umgebung verschwinden, soll er In-
teresse für eine Laterne gewinnen. Der Krebs aber, der sich in
die Ecke drückt, würde wohl antworten: nieht weil mich ein Re-
flex willenlos in die Ecke treibt, sondern weil ich gern alles sehe,
was vor sich geht und weil ich mich nicht gern immer umdrehe,
um zu kontrollieren, was hinter mir passiert; darum setze ich
mich, sowie die Menschen ım Cafe zu tun pflegen, mit dem Rücken
gegen die Wand.
Die Auffassung der Nervenphysiologie und. Psychologie der
niederen Tiere pendelt immer noch zwischen den beiden Extremen
und hält sich zu wenig in der Mitte. Die Tropismen bei den höheren
Tieren, auch bei den Arthropoden sind nicht mehr die primitiven
Reflexbogen, sondern sie sind zum Teil sicher schon auf die, die
Eindrücke verarbeitende und miteinander ın Beziehung bringende
Tätigkeit der Nervenzentren zurückzuführen. {
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24
R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock. 979
Bei einem primitivsten Bahnhof, wo ein gegenseitiger Aus-
tausch der verschiedenen (Reflex-) Bahnen mit Hilfe von Weichen
nicht vorgesehen ist, wo das Wesen des Zenirums nur in einer
Überkreuzung mit Hilfe von Überführungen besteht, braucht es
keinen Weichenwärter, keine Intelligenz. Gehen aber die für den
Außenstehenden gleich schematisiert aussehenden (Reflex-) Bahnen
durch ein großes Bahnzentrum (und der Weg Auge—Bein z. B.
führt beim Krebs durch das Gehirn), das unzählige Verbindungen
der Weichen enthält, so greift hier überall die Intelligenz, der
Weichensteller ein und muß hier eingreifen, auch wenn ein ebenso
stereotyper Kurs für einen bestimmten Zug gefordert wird wie im
ersten Fall. ;
Durch ein kompliziertes Zentrum — dieser Eindruck hat
sich in letzten Jahren immer mehr bei mir verstärkt — kann ein
Reflexbogen überhaupt nicht hindurchlaufen, ohne Typi-
sches dieses höheren Zentrums im geringeren oder stär-
kerem Maße ın Mitleidenschaft zu ziehen.
Im Anschluß an die oben besprochenen Ergebnisse der
v. Buddenbrock’schen Arbeiten, deren Nichtbeachtung er direkt
rügt, möchte ich nun noch die übrigen, die er in seiner Arbeit aus
dem Jahre 1915 publiziert hat, einer kurzen Kritik unterziehen, da
er vielleicht auch über die Ignorierung dieser Resultate Schmerz
empfunden hat.
Um das Vorhandensein eines Lichtrückenreflexes beı fliegenden
Insekten zu prüfen, befestigte er einer Fliege ein Stäbchen auf dem
Rücken des Thorax, das etwa 2 Thoraxdurehmesser lang war.
Dieses Stäbchen war am anderen Ende drehbar um eine Achse auf-
gehängt. Gewichte, die in Verlängerung des Stäbchens über seine
drehbare Achse hinaus angebracht wurden, kompensierten das Ge-
wicht der Fliege, so daß diese nun schon durch einen geringen
Anstoß in eine Drehung versetzt werden konnte, andererseits ın
jeder Lage auch im Gleichgewicht war. Die Drehungen, die die
Fliege bei dieser Vorrichtung ausführen konnte, waren die einer
Perpendikelscheibe um den außerhalb der Scheibe liegenden Dreh-
punkt. Das Pendel, in dem die Fliege befestigt war, wurde nun
in horizontale Lage gebracht. Die Fliege hing also in Seitenlage
in der Luft; und nun begann v. Buddenbrock mit Lichteinfall
zu arbeiten und vermißte trotz lebhafter Flügeltätigkeit des Insekts
eine entsprechende Drehung um seine Längsachse. Zu dem nega-
tiven Resultat, das er erhielt, bemerkt er: „Da ich außerstande bin,
einen Fehler in dieser Versuchsanordnung zu entdecken, ziehe ich
hieraus den Schluß ... .“ p. 7, 1915.
Man darf wohl mit Sicherheit erwarten, daß das Tierchen das
lebhafteste Bestreben hatte, aus dieser unnatürlichen Seitenlage
herauszukommen, durch welche Reize dies Bestreben auch ver-
ISO R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock.
mittelt sein möge. Man darf es sicher erwarten, wenn man sieht,
daß jedes Insekt, das man in irgendeiner Schräglage abfliegen läßt,
sofort ın Bauchlage übergeht. Man darf es aber sicher nicht er-
warten bei der verunglückten Versuchsanordnung v. Buddenbrock’s,
die dem Tier jede Möglichkeit nimmt, sich um die Längsachse zu
drehen. Muß doch die Fliege unter normalen Verhältnissen, wenn
sie von Seiten- in Bauchlage überzugehen strebt, diese Bewegung
damit einleiten und damit fortsetzen, daß die eine Seite gehoben,
die andere gesenkt wird. Was aber mutet v.Buddenbrock dem
Tier zu! Hier soll sich die Fliege in Seitenlage nach abwärts be-
wegen; statt einer Drehung, eine seitliche Verschiebung. v. Budden-
brock „weiß“, daß das Tier auf diesem Wege schließlich auch zum
Ziel, nämlich in Bauchlage kommen könnte, aber die Fliege ist doch
nicht auch so schlau dieses zu „wissen“; sie will sich eben drehen
und bemüht sich nicht, die sinnige Anordnung v. Buddenbrock’s
zu durchschauen.
Auf der nächsten Seite berichtet er über Branckipus und führt
hier aus, daß Tiere, denen er die Fazettenaugen weggenommen
hatte, den Lichtrückenreflex beinahe normal zeigen, daß aber solche,
denen er nur das Naupliusauge entfernte, nur noch sehr schwach
den Lichtrückenreflex erkennen lassen und er faßt dies als eine
spezifische Leistung resp. Nichtleistung dieser beiden Arten von
Augen auf. Hierbei habe ich das große Bedenken, daß das Versagen
der Tiere bei der Entfernung des Naupliusauges vielleicht gar
nicht darauf zurückzuführen ist, daß das Naupliusauge mit diesem
Lichtrückenreflex besonders zu tun hat; möglicherweise ist die Ur-
sache nur darin zu sehen, daß bei einer Entfernung des Nauplius-
auges das Gehirn in viel stärkerer Weise in Mitleidenschaft ge-
zogen werden muß (wenn auch nicht direkt geschädigt, so doch
durch das Eindringen von Wasser), als bei Abschneiden der Augen-
stiele dies der Fall sein mag.
Noch ein letztes Wort über dieselbe Publikation. Wie bei den
eben und schon weiter vorn besprochenen Versuchen über Fliege,
über Branchypus und Leptomysis, so finde ich ın meinen Separatab-
zügen seiner Arbeiten auch an verschiedenen anderen Stellen Rand-
bemerkungen beigefügt, die ich bei der ersten Lektüre hingeschrieben
habe und die mindestens ein Fragezeichen, häufig aber mehr als
dies bedeuten und die alle ebenso berechtigt sind wie die hier aus-
geführten Randbemerkungen, über deren Berechtigung der Leser
selbst entscheiden mag. Ich verzichte darauf, sie alle hier anzu-
reihen. Nur da habe ich nicht geschwiegen, wo mir v. Budden-
brock Nichtbeachtung der (= seiner) neuesten Ergebnisse vorwirft.
Wollte man seine Arbeiten kritisch erschöpfen, es dürfte von
manchen, z. B. von der erwähnten aus d, J. 1915 kein Punkt un-
berührt bleiben.
|
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me
ZB r-
R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock. 381
Auf Seite 388 glaubt v. Buddenbrock weiter für Heß noch
‚eine Lanze brechen zu müssen, indem er schreibt: „Ebensowenig
Gnade wie Rädl hat auch C. v. Heß vor den Augen des Ver-
fassers gefunden, wovon wir uns ım Kapitel über das Farbensehen
hinreichend überzeugen können. Demoll stellt es so dar, als ob
das einzige Resultat von Heß dies eine wäre, ‚daß die Helligkeits-
kurve der verschiedenen Lichter bei den wirbellosen Tieren zu-
sammenfällt mit der Helligkeitskurve des total farbenblinden Men-
schen‘. Den hieraus von Heß gezogenen Schluß, daß auch bei
den wirbellosen Tieren totale Farbenblindheit vorliege, erkennt
Demoll nicht als zwingend an, und mit dieser rein negativen Fest-
stellung ist die ganze große Arbeit von Heß für ıhn erledigt. Es
erscheint mir nötig, den sehr verdienstvollen Münchner Forscher
gegen diese nicht ganz korrekte Art der Beurteilung ein wenig ın
Schutz zu nehmen.“ ,
Was ich von Heß aufgeführt habe ist folgendes: Seite 198 seine
Beobachtungen über Entfernungssehen der Fliegen. Seite 205 werden
ausführlich besprochen und voll und ganz anerkannt die Versuche
über Adaptation und Unterschiedsempfindlichkeit. In einer Anmerkung
ist allerdings ausgeführt, daß man nıcht übersehen darf, daß „ein
zwingender Beweis“ für die eine Experimentserie von ıhm noch
nicht gegeben ıst. Dagegen ıst ın dem 2. Absatz des Haupttextes
hervorgehoben: „Wir verdanken Heß (1912) noch andere Unter-
suchungen, die eindeutig die Frage nach der Adaptationsfähigkeit
des Fazettenauges bejahen.“
— Hinsichtlich des Farbensehens wurde festgestellt, daß Heß in
seinen zahlreichen Untersuchungen den Nachweis geführt hat, daß
die Wirbellosen sich den verschiedenen Lichtern gegenüber so ver-
halten, wie ein total farbenblinder Mensch sich in entsprechender
Lage verhalten würde. Er wies also nach, daß die Helligkeitswerte
eines Spektrums für diese Tiere gleich oder nahezu gleich sind wie
für einen total farbenblinden Menschen. Nachdem diese Ergebnisse
anerkannt wurden, weise ich dann darauf hin, daß der Schluß, daß
den gleichen Helligkeitskurven gleiches Farbensehen entspricht, an
sich nicht einwandfrei ist, daß er aber völlıg zu verwerfen war ın
dem Moment, wo in anderer Weise, nämlich von v. Frisch nach-
gewiesen wurde, daß bei den Bienen eine Dressur auf bestimmte
Farben möglich ist, die durch keinen farblosen Helligkeitswert er-
setzt werden können, und ferner, daß eine Dressur auf nur Hellig-
keitswerte nicht gelingt.
v. Buddenbrock schließt nun so: „Wenn einzelne hochent-
wickelte Insekten wie die Bienen nach v. Frisch Farbensinn be-
sitzen, so ändert dies gar nichts an der Richtigkeit der Heß’schen
Auffassung, daß die große Überzahl der Arthropoden wie der
289 R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock.
übrigen Wirbellosen in ihren erkennbaren Reaktionen sich vollig
wie farbenblind verhalten.“
Ich leugne durchaus nicht die Möglichkeit, daß es auch Insekten
gibt, besonders vielleicht solche, die keine Fazettenaugen haben,
nöitllich die Larvenformen, auf ae die Resultate von v. Dee
nicht ausgedehnt werden dürfen. Aber noch voreiliger wäre es,
wollte man hier eine Farbenblindheit annehmen auf Grund der
Versuche von Heß, nachdem diese bei den Bienen als nicht ent-
scheidend, ja als irreführend sich haben erkennen lassen. Eine .
derartige Annahme wäre um so bedenklicher, als Heß selbst nach-
weisen konnte, daß all den untersuchten Insekten gleiches Hellig-
keitssehen zukommt. Ist für eine der Gruppen aber ein Farben-
sehen erwiesen, so wird man für die übrigen nur das sagen können,
daß die gleiche Helligkeitskurve eine gewisse Verwandtschaft hin-
sichtlich der Gesamtfunktion nicht von der Hand weisen läßt, so-
lange Tatsachen fehlen, um hierüber definitiv zu urteilen. Wenn
ich daher von diesen Möglichkeiten, über die nichts Bestimmtes aus-
gesagt werden kann, völlig geschwiegen habe, so schien mir dies um so
mehr berechtigt, als auf der andern Seite über diejeuigen Formen
Positives gebracht werden durfte, bei denen die Frage nach dem
Farbensehen ım Zusammenhang mit der Frage nach der Bedeutung
der Blumenfarben immer das regste Interesse wach gehalten haben.
Seite 209 habe ich ausdrücklich festgestellt, daß von Heß vor
Frisch bereits die Verkürzung der Sichtbarkeit des Spektrums
ım Rot für die Insekten erkannt hat.
Auf Seite 211 schließlich habe ıch ausführlich etwa eine ganze
Seite über die Untersuchungen von Heß über die Einwirkung ultra-
violetten Lichtes gesprochen.
In der Behandlung der so heiß umkämpften Frage über das
Farbensehen der Insekten war ich eifrigst bestrebt, den beiden so
hoch verdienten Männern Heß und Frisch volle Gerechtigkeit
werden zu lassen. Ich habe rückhaltlos anerkannt, wo ich anerkennen
zu dürfen glaubte und habe andererseits objektiv kritisiert und
zurückgewiesen, wo es mir nötig schien, so daß ich auch heute
noch jedes Wort, was ich ın dieser Angelegenheit geschrieben habe,
vor meinem wissenschaftlichen Gewissen vertreten kann. So wie
ich früher mehr zu der Auffassung von Heß neigte und dem Wahr-
scheinlichkeitsbeweis, den er anführte, eine höhere Bedeutung zu-
maß und so wie ich damals in einem Referat versuchte, auch den
Arbeiten von v. Frisch gerecht zu werden, so habe ich auch jetzt,
wo mich die positive Beweisführung von v. Frisch erkennen ließ,
daß die negative von Heß aufzugeben ist, in derselben Weise nur
das Bestreben gehabt, anzuerkennen, was anzuerkennen ist. Und
ich glaube nicht, daß Heß mir einen anderen Vorwurf machen
könnte und würde, als den, daß ich einen anderen Standpunkt ein-
nehme.
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-R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock 285
Schließlich kommt v. Buddenbrock noch auf die von Demoll-
Scheuring aufgestellte Auffassung der Tätigkeit der Ocellen zu
sprechen und meint, daß es nicht möglich ist, in den Ocellen ein
Mittel für binokulare Entfernungsiokalisation (im Verein mit dem
Fazettenauge) zu sehen. Er schreibt darüber: „Gegen diese ganze
Deduktion ist der folgende Einwand zu machen:
‚Das binokulare Entfernungsmessen hat in erster Linie die
Kongruenz der Bilder zur Voraussetzung, die durch beide Augen
dem Gehirn vermittelt werden. In unserem Falle existiert eine
solche Kongruenz nicht, vielmehr muß bei dem grundverschiedenen
Bau von Ocellus und Fazettenauge von vornherein angenommen
werden, daß jedes Objekt in beiden Organen zwei ganz verschiedene
Bilder entwirft. Hieran knüpft sich die Frage: Woher weiß das
Insekt, daß das Bild a ım Ocellus und das total verschiedene Bild A
im Fazettenauge zu einem und demselben Gegenstand gehören?‘
An dieser Überlegung scheitert die Dem oll-Scheuring’sche
Auffassung der Ocellen vollständig.“
Wenn v. Buddenbrock glaubt, hier ın diese Frage besonders
tief eingediungen zu sein, so mrt ersich. „Woher weiß das Insekt,
daß das Bild a im Ocellus und das total verschiedene Bild A ım
Fazettenauge zu einem und demselben Gegenstand gehören ?*
Zunächst antworte ich ihm: Das Insekt „weiß es“, weıl ıhm
diese Beziehungen zum Ocellus und Fazettenauge fest vererbt sind;
und dann frage ıch ihn weiter:
Woher „weiß“ die Kreuzspinne. daß sie eine Eristalisfliege mit
Erfolg und ohne Gefahr. attackieren kann, mit einer Biene oder
Wespe aber sehr vorsichtig umzugehen hat, woher „weiß“ sie dies,
auch wenn sie nie gestochen wurde? Tatsache ıst, daß sie bei der
Wespe anders zu Werke geht als bei der Fliege. Tatsache ist also,
daß hier etwas vererbt werden muß, was mindestens ebenso kompliziert
ist wie das, was unsere Auffassung der Ocellen fordert. Und, um
auf ein gleiches zu sprechen zu kommen, auf etwas, was sich dırekt
der hier aufgeworfenen Frage anschließt, frage ich ihn weiter: Wo-
her kommt es, daß ein Schwärmer, der als Raupe und als Puppe
im Dunkeln gehalten wurde und auch bis zu dem Moment des Ab-
fludes in dunkler Schachtel verhindert wurde, irgendwelche Raum-
orientierungen. mit Ausnahme über den Tastraum (tastbare nächste
Umgebung) zu gewinnen, woher kommt es, daß dieses Tier ım
Moment des Abflugs sich vollständig orientiert im Raume zeigt.
nicht anstößt, ausweicht, wo es auszuweichen gilt, und so deutlich
dokumentiert, daß ihm eine Raumorientierung mitvererbt ist und
dies anscheinend in höherem Maße als es bei uns Menschen der
Fall ıst 2).
= 2) Ich habe diese Beobachtung gelegentlich vor zwei-Jahren gemacht, da mich
diese Fragen von jeher interessierten und da mir ihre positive Beantwortung, d.h.
die Beobachtung, daß derartig vererbtes Material in der Tat vorliegt, am meisten für
eine Vererbung erworbener Eigenschaften zu sprechen schien.
984 R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock.
Hier wird vererbt, was v. Buddenbrock als ausgeschlossen
erklärt, „eine Raumorientierung“. Ob diese mangelhaft ist und
nur durch 2 Fazettenaugen 'vermittelt wird, oder ob auch die
Ocellen mit in Betracht kommen, spielt für das Prinzipielle dieser
Frage keine Rolle. Für das Zusammenarbeiten der beiden Fa-
zettenaugen allein ıst ebenso entweder Erfahrung nötig, oder aber
ein vererbtes Etwas, das die Erfahrung zu ersetzen vermag; und
daß eine derartige Vererbung vorliegen muß, ist durch meine Ver-
suche an den Schwärmern erwiesen). Im übrigen hat uns (Demoll-
Scheuring) die histologische Untersuchung den direkten Zusammen-
hang des Ocellarnervs mit dem 2. Ganglion des Fazettenauges fest-
stellen lassen, so daß man keineswegs sagen kann, daß die morpho-
logischen Vorbedingungen für ein In-Beziehung-Treten der Ocellaren
— mit den Fazettenaugeneindrücken ungünstiger sei, als für ein
solches der beiden Fazettenaugen.
An anderer Stelle — um dies gleich hier mitzubesprechen —
hat v. Buddenbrock (1915) diese Theorie aus einem andern
Grunde abgelehnt. Dort schreibt er: „Denn, wenn das Zusammen-
arbeiten beider Augensorten zum Entfernungssehen nötig ist, dann muß
den zweitgenannten Insekten — gemeint sind diejenigen die keine
Ocellen besitzen — diese Fähigkeit notwendigerweise völlig abgehen.“
Mit Hilfe der zitierten Arbeit über das binokulare Sehen hätte
sich v. Buddenbrock leicht belehren lassen können, daß so wie
beim Menschen auch bei den Insekten eine ganze Reihe von Fak-
toren für die Entfernungslokalisation in Betracht kommen können,
die zum Teil ein relatives, zum Teil ein absolutes Entfernungs-
maß geben, die ferner zum Teil nur für solche Objekte gelten,
die nach vorn, d. h. innerhalb des binokularen Sehraums der
Fazettenaugen liegen, teils wieder nur für solche, die seitlich von
der Flugrichtung gelegen sind. Alle diese Möglichkeiten sind
p. 552, 53 u. 54 genau besprochen und es ist auch soweit als mög-
lich auf ıhre größere oder geringere Bedeutung hingewiesen.
Ausdrücklich wird darın betont, daß auch ohne Öcellen eine
relative Entfernungslokalisation, ebenso eine absolute für nach
'vornliegende Gegenstände in erheblichem Maße vorliegen kann.
Nur das Gewinnen von absoluten Entfernungsdaten für die Objekte,
die nicht in dem meist. kleinen Bereich des binokularen Sehfeldes .
3) Auch beim Menschen scheinen manche Wahrnehmungen fundamentale
Bestandteile zu enthalten, deren ererbte Natur kaum mehr zweifelhaft erscheint.
=.59 schreibt Bühler in seinem Buch „die geistige Entwicklung des Kindes“ (1918):
„Den ersten Licht- und Tastempfindungen des Kindes muß man darum gewisse
primäre Bestimmtheiten des Ortes und der Ausdehnung ebenso zuschreiben, wie man
ihnen Qualitäten und Intensitäten beilegt.“
S. 62 lesen wir: „unwahrscheinlich aber ist es, daß das feinste und zwingenste
Motiv zu Tiefeneindrücken, das wir Erwachsene an uns finden, nämlich die Quer-
disparation der Netzhautbilder beider Augen, seine Wirkung ganz der Erfahrung
R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock. 2385
der Fazettenaugen liegen, ist ohne Mittätigkeit der Ozellen wohl
nahezu gleich Null. Ich zitiere nur den einen Satz Seite 554 der
Öriginalarbeit: „Wir glauben... daß das stereoskopische Sehen
und die Querdisparation erst da die Stelle der Ocellen vertritt,
wo diese. vollständig rückgebildet sind, wie z. B. bei den Tag-
schmetterlingen.“ Im Anschluß an diesen Satz wird noch ein
weiteres, die ocellenlosen Insekten unterstützendes Entfernungs-
kriterıum, nämlich die gegenseitige Verschiebung der Objekte
während des Flugs erwähnt.
Diese drei Seiten, die von dem Entfernungssehen ohne Ocellen
handeln, stehen nun nicht etwa in der Einleitung oder sonst irgendwo
an leicht übersehbarer Stelle, sondern zu Anfang des Hauptteiles,
der. besonders überschrieben ist mit „Eigene Auffassung“. v. Bud-
denbrock hat also entweder die Arbeit, über die er so emsig zu
kritisieren beliebt, gar nicht gelesen, oder er hat sich als Eklek-
tiker nur an die wenigen gesperrt gedruckten Sätze gehalten.
v. Buddenbrock hat aber weder die Arbeit gelesen, noch hat
er irgend welche Kenntnis davon, daß hier mehrere Faktoren zu-
sammenwirken, Faktoren, wie sie auch bei dem Sehen der Wirbel-
tiere bekanntlich in gleicher oder ähnlicher Weise eine Rolle spielen.
Die Kritik fließt allerdings um so leichter dahin, je weniger auf
Sachkenntnis beruhende Bedenken sich ihr entgegenstellen.
Ein Versehen, daß mir in dem Buch wirklich bei der Be-
sprechung dieser Theorie passiert ist, hat v. Buddenbrock frei-
lich nicht bemerkt. Becher hat mich darauf aufmerksam gemacht.
Ich hatte die oben erwähnte in der Originalarbeit ausgeführte
Hilfe, die für die Entfernungslokalisation in der gegenseitigen Ver-
schiebung der Objekte (= sukzessive Parallaxe) gegeben ist, anzu-
führen vergessen. Ferner wurde noch nicht berücksichtigt eine
von Bühler neuerdings gemachte Beobachtung, die hier Erwähnung
verdiente.
Die Kritik über mein Buch resümiert v. Buddenbrock etwa
mit dem Satz: „Bei einer solchen zusammenfassenden
Darstellung, die doch dem Leser als Wegweiser durch
das ganze Gebiet dienen soll, ist Vollständigkeit das
o,berste und erste Erfordernis, so gut wie bei einem
verdanken sollte, es liegt da wohl eine in der Struktur der Sehsubstanz vorgebildete
Einrichtung, die nur nicht gleich funktioniert, sondern des Anstoßes von außen
bedarf.“
Es spricht ferner immer mehr dafür, daß sogar die relative Unabhängigkeit
des Sehens der Größe eines Objekts von dem zugehörigen Retinabildehen und ebenso
die Unabhängigkeit des Sehens der Oberflächenfarben von der Beleuchtungsintensität
nicht auf Erfahrung beruht, sondern diese Art des Sehens ein dem Auge der Säuge-
tiere und Vögel -— nur diese sind bisher daraufhin von Köhler untersucht — von
vornherein Inhärentes, Ererbtes darstellt.
-
286 R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock.
Fahrplan, der wertlos ist, wenn er nicht alle Züge ent-
hält.“ | i
Ich würde mich schämen, ein Buch geschrieben zu haben, das
den Vergleich mit einem Fahrplan aushält, das in fahrplanmäßiger
Weise einzelne Tatsachen mit peinlichster Gewissenhaftigkeit auf-
zählt, dabei aber jedes geistige Band vermissen läßt.
Aber auch, wenn man diesen Vorwurf dahin mildern wollte,
daß das Buch die einzelnen Kapitel in zu ungleicher Weise behandelt,
einige Fragen zu intensiv, andere zu wenig, so verweise ich nur
auf das, was ich in meinem Vorwort gesagt habe, worin ich deut-
lich eine Grenze zwischen diesem Buch und einem Lehrbuch in
dieser Hinsicht zog und gezogen haben wollte: „Man wird wohl
bemerken, daß dann und wann einer Frage vermehrte Aufmerk-
samkeit geschenkt und ihr intensiver nachgegangen wurde. Der-
artige Exkurse müssen in einem Lehrbuche unmotiviert erscheinen
und daher einen Vorwurf einschließen. In Darstellungen jedoch,
die immer wieder über den gesicherten Bestand unseres Wissens
hinausgreifen müssen und in dem Maße, als sie dies zu tun ge-
zwungen sind, die Individualität des Schreibenden deutlicher er-
kennen lassen, in solchen Büchern finde ich Abschweifungen in
Gebiete, die den Verfasser besonders beschäftigen, nur begrüßens-
wert. Ich glaube daher, mir eine volle Zurückhaltung nach dieser
Richtung hin nicht auferlegen zu müssen.“
Wenn ich hier die Vorwürfe von v. Buddenbrock zurück-
gewiesen habe, so tue ich es nicht, weil ich der Überzeugung bin,
daß an dem Buch nıchts mehr zu bessern wäre, So wie ich aus der
früheren Besprechung von Weinland manches entnahm, das mir
durchaus beachtenswert erschien, so muß ich andererseits be-
tonen, daß gerade die Fehler, die mir seit der Herausgabe des
Buches am dringlichsten vor Augen traten, von v. Budden-
brock nicht erkannt wurden; wenigstens muß ich . dies ver-
muten, weil er sie nirgends erwähnte und weil ich wohl nach dem
Stil seiner Kritik nicht annehmen darf, daß er es aus Schonung
für mich unterlassen hatte darauf hinzuweisen. Ich nehme zu
jederzeit gern jede Belehrung an. Ich würde auch heute schon
manches Kapitel, wie z. B. das über Geruch und Geschmack unter
dem Einfluß der Lektüre von Henning’s Buch und anderen wesent-
lich umschreiben. Ich fühle mich aber nur belehrt von Solchen,
die über der Sache stehen,
Vo 5 RR 0 ip San Bart ABS IE
Te)
H. Sikora, Vorläufige Mitteilung über Mycetome bei Pediculinen. 287
(Aus dem Institut für Schiffs- und Tropenkrankheiten Hamburg,
Direktor Prof. Dr. Nocht.)
Vorläufige Mitteilung über Mycetome bei Pediculinen.
Von H. Sikora.
Die Kleiderlaus, die Kopflaus, die Filzlaus und auch die Ratten-
laus Polyplax besitzen ventral am Magen, zwischen Epithel und
Muskelschicht, ein rätselhaftes Organ, die Magenscheibe oder „Leber“.
Es besteht aus radıär angeordneten Kammern, die von .einer Hülle
umschlossen werden und beim erwachsenen Tier einen sich wie
Protoplasma färbenden, unregelmäßig scholligen körnigen Inhalt
besitzen, der mit Pilzfäden nicht die entfernteste Ähnlichkeit auf-
weist. Cholodovsky beschrieb die Entstehung der Magenscheibe
aus einem rundlichen, anfangs vor der Umstülpung des Embryo
über dessen Kopf im Dotter liegenden Körper. Dies würde für
die Auffassung sprechen, daß es sich um ein pilzführendes Organ
handelt. Jedoch war mit dieser Auffassung die Tatsache nur
schwer zu vereinen, daß die Magenscheibe, wie ich es durch Skizzen
von Magenscheiben lebender Tiere nachwies, bei den erwachsenen
Tieren kleiner wird und allmählich eine unregelmäßige, verzerrte
Form annımmt, kurzum: atrophiert. Bei ganz jungen Läusen ist
der Inhalt der Kammern ein Fadenkonvolut, dessen Verwandlung
ın eine Masse unregelmäßiger Schollen um die Zeit der 3-Häutung
herum zu erfolgen scheint.
Bei der Schweinelaus Haematopinus fand ich während des
Larvenlebens über den Magen verstreut eine Menge kleiner und
einige größere, zuweilen rosettenförmig angeordnete Kammern,
mit meist fadenförmigem Inhalt. Bei erwachsenen Schweineläusen
war von diesen Fadenkammern keine Spur mehr aufzufinden, so
daß es etwas gewagt schien, diese Kammern der Schweinelauslarve
mit der Pedikulusmagenscheibe zu homologisieren. Die Kleider-
laus und die Schweinelaus besitzt zwischen Eileiter und Eiröhren
ein halbkugeliges Organ, dessen sehr dicke Wände in viele un-
deutliche Fächer mit Kernen und dicken radıär gestellten Stäb-
chen von etwa 50 a Länge geteilt sind. Diese diekwandigen
Halbkugeln, die Müller „Ovarialampullen“ nennt, konnten Re-
ceptacula seminis sein. Da ich aber ın ihnen selten etwas als
Samenfäden deutbares fand, hielt ich sie für eine Art phagozy-
tierendes Organ, das die Einschmelzung des ihm zunächst liegenden
Eifollikels nach Ausstoßung des Eies zu besorgen hat. Anderseits
scheinen sie mir pilzführenden Organen weit ähnlicher als die
Magenscheibe.
Ich vermute, daß die Magenscheibe ein provisorisches Mycetom
ist, das die Aufgabe hat, die Pilze zu beherbergen, bis das Ovarıum
88 H. Sikora, Vorläufige Mitteilung über Mycetoim& bei Pediculinen.
fertig ausgebildet ıst, dessen Entwicklung durch ihre frühere An-
wesenheit geschädigt werden würde, während der Magen im Laufe
des Larvenlebens keiner wesentlichen Umwandlung unterliegt.
Bei der Schweinelauslarve beschrieb ich chromatinarme Kerne
mit großem Nukleolus, von gleich dicken, langen, ziemlich regel-
mäßig angeordneten Fäden umgeben, und chromatinreichere, vielfach
eingebuchtete Kerne, denen eine Masse zusammengeklunipter, Hohl-
räume enthaltender Kugeln anlag: ‚vermutlich unter Mitwirkung
der Kerne entstehende Fäden.“ Nun scheint die umgekehrte Deu-
tung — Zerfall der Pilzfäden in Schwärmformen, die das Ovarıum
aufzusuchen haben — befriedigender. Die provisorischen Mycetome
verschwinden bei der Schweinelaus, und verkümmern beı den an-
deren Arten zu dem rätselhaften Organ, das Landois, „Magenscheibe“
benannte und das er für eine Verdauungsdrüse hielt, da die da-
maligen Untersuchungsmethoden nicht erkennen ließen, daß keine
Verbindung mit dem Innern des Magens vorhanden ist.
Ein der Aufklärung besonders bedürfender Punkt ist das Schicksal
der Pilze nach Verlassen der Magenkammern in männlichen Tieren;
wahrscheinlich gehen sie in diesen zugrunde.
Ich werde auf dieses ungewöhnlich verwickelte Symbiosever-
hältnis in einer größeren Arbeit mit Abbildungen zurückkommen,
sobald mir die Zucht des Pilzes gelingt. Bisher blieben die Kul-
turen mit Magenscheiben, Ovarien und Eiern steril, was möglicher-
weise auf zu gründliches Desinfizieren der Läuse vor der Präparation
zurückzuführen ist.
Es scheint, daß auch andere Läuse, z. B. Haematopinus eury-
sternus, Mycetome im Ovarium haben. Sicherheit darüber wird
sich erst durch Anwendung geeigneter Färbmethoden gewinnen
lassen. Die Versilberung nach Levaditti scheint zu einer Kontrast-
färbung der Pilze und des sie umgebenden Gewebes zweckmäßig
zu sein, denn in einem Kleiderlauspräparat färbten sich die rund-
lichen Pilzmassen in den Eiern und die Stäbchen in den Wand-
kammern des Ovarienmycetoms hell grausepia wie sonst nichts
anderes in der Laus.
Literatur.
Landois, Z. f. wiss. Zool. 1864, 1865.
Graber, Z. f. wiss. Zool. 1872.
Cholodovsky, Zool. Anz. 1904.
Müller, Zur Naturgeschichte der Kleiderläuse, Hölder 1915.
Buchner, Studien über intracellulare Symbionten, Archiv f. Protistenkunde 1912.
der Universitäts-
Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck
Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen.
Biologisches Zentralblatt
Unter Mitwirkung von
Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München
herausgegeben von
Dr. E. Weinland
Professor der Physiologie in ErEuEe
Merle von Eee Thieme in Re
39. Band Juli 1919 IN Nr. 7
ausgreeben am 3. Juli 1919
Der jährliche Abonnementspreis a2 Heite) beträgt 20 Mark
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physiolog. Institut,
einsenden zu wollen.
Inhalt: W. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. S. 289.
€. Emmelius, Beiträge zur Biologie einiger Ameisen rten. S. 303.
F. Poche, Über das Definieren der systematischen Gruppen. S. 311.
Ph. H. Latzin, Die Rolle der Ausgleichsprinzipe in der Theorie des Lebens. $. 318.
E. Bresslau u. M. Buschkiel, Die Parasiten der Stechmückenlarven. 8. 325.
Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra.
Von Dr. Wilh. Goetsch, Assistent des Zoolog. Instituts Strafsburg.
Im 37. Band des Biolog. Zentralblattes habe ich eine vorläufige
Mitteilung veröffentlicht über Versuche und Beobachtungen an
Hydren, bei denen Regeneration und Fortpflanzung zusammenfielen.
Diese Mitteilung möchte ich nunmehr in einigen Aufsätzen er-
weitern und näher ausführen. Ich werde mich dabei, der Zeit ge-
horehend, in der wir leben, so kurz wie möglich fassen und nur
einzelne meiner in zahlreichen Protokollen niedergelegten Be-
obachtungen genauer beschreiben, die übrigen dagegen mehr allge-
mein darstellen.
. Das Untersuchungsmaterial bestand wiederum aus Hydra fusca,
den braunen Süßwasserpolypen, die nach manchen Autoren, in ver-
schiedene Spezies ' eingeteilt werden. Ich behalte jedoch, R. Hert-
wig und seinen Schülern folgend, den Namen fasca bei, besonders
da es für diese Untersuchungen gleichgültig ist, welche spezielle
Art oder Unterart vorliegt.
Diese erste Mitteilung hier wird hauptsächlich von der
39. Band. 20
I90 W. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche ar Hydra.
Bildung und Rückbildung der Hoden
und den damit ın Zusammenhang stehenden Vorgängen handeln,
an die ich dann noch einige Beobachtungen anfügen werde, die
sıch an die gewonnenen Resultate anschließen lassen.
Zunächst seien über die Abhängigkeit der Hodenentwicklung
von der Witterung, auf die ich schon in der früheren Arbeit hin-
wies, noch einige Beobachtungen mitgeteilt.
Die zu den Untersuchungen im Sommer 1918 benutzten Tiere ent-
stammten fast alle einem Aquarium, ın das die Reste früherer unter
den verschiedensten Bedingungen gehaltenen Kulturen überführt
waren und dort den Winter überdauerten. Ende Juni 1918 setzten
fast alle Tiere dieses Aquariums plötzlich Hoden an, Zählungen
ergaben 90% mit und nur 10% ohne Hoden. Wie bei früheren
Beobachtungen ließ sich auch hier feststellen, daß nach längerer
wärmerer Zeit kurz vorher, am 15. Juni, ein Witterungsunischlag
eingetreten war, mit Kälte und Regen, so daß wohl sicher hierin
die einsetzende Hodenproduktion zu suchen ist. Die Tiere, welche
ich für diese Untersuchungen benützte, erhielten reichlich Futter,
bildeten aber trotzdem keine Knospen. Am 2. Juli waren die
Hoden bei fast allen Hydren verschwunden, nur wenige besaßen
noch wohlentwickelte, mit beweglichen Spermien gefüllte männliche
Geschlechtsorgane. Die Witterung war seit dem 29. Juni wieder
wärmer geworden und hatte wohl so die Hodenbildung ungünstig
beeinflußt. Hierzu ıst noch zu bemerken, daß auch die Tiere, mit
denen ich experimentierte, plötzlich rascher als zu erwarten war
die Hoden rückbildeten, so daß ich für die ferneren Versuche: be-
sondere Vorsichtsmaßregeln mit gleichmäßig bleibenden Bedingungen
anwenden mußte.
Am 28. Juli begannen die Hydren desselben Aquariums von
neuem mit der Hodenbildung, und wiederum war nach einer
größeren Anzahl warmer Tage kälteres Wetter eingetreten. Und
nicht nur in diesem Aquarium bildeten die Tiere männliche Ge-
schlechtsorgane, sondern auch ın allen Behältern, die zu den ver-
schiedensten Zeiten besetzt waren. Es zeigte sich auch durch
Kontrollbeobachtungen, daß nicht nur bei der Zimmertemperatur
der Umschlag der Witterung sich bemerkbar machte, sondern auch
in den Teichen ließen sich jetzt Hydren mit Geschlechtsorganen
finden, so daß wohl sicher der Witterungsumschlag von wärmerer
zu kälterer Temperatur einen Einfluß auf die Hodenentwicklung hat
und ihren Beginn verursacht.
Nach diesen Bemerkungen über das zeitliche Auftreten der
Hoden noch einige neue Beobachtungen über ihre Entwicklung.
Nach Kleinenberg, Nußbaum u.a. werden die Hoden vor
den Ovarien angelegt, und entstehen aus den intermediären Zellen
des Ektoderms unmittelbar unter dem Tentakelkranz. Im reifen
a
W. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 39}
Zustand bilden die Hoden mehrere, „einer Mamma ähnliche weiße
Erhebungen“ (Nußbaum) oder „hohe Zylinder“ (Kleinenberg), an
deren Außenseite die Ektodermzellen nur mehr als plattgedrückte,
einschichtige Zellage zu finden sind, ohne daß in ihnen noch Nessel-
zellen angetroffen werden können. Im Zustand der Entwicklung
soll nach Kleinenberg „die Bildung der Fie. 1.
samenbereitenden Organe eingeleitet werden
durch auf rundlich umschriebene Stellen be-
schränktes Wachstum von Ektodermzellen, so
daß sich die Hoden äußerlich zuerst nur als
flache beulenartige Erhebung und durch ihre
weißliche Farbe markieren“. Diesen Aus-
führungen kann ich nur in der Beschreibung
der Farbe beistimmen. Nach meinen Beobach-
tungen beginnt die Entwicklung der männlichen
Geschlechtsorgane äußerlich sich in nicht fest-
umgrenzten Vorbuchtungen des Ektoderms zu
zeigen, die häufig den ganzen Körper des Tiers
einnehmen. Die Abbildung 1 gibt ein Bild
von derartigen jugendlichen Stadien der männ-
lichen Geschlechtsdrüsen, das mit den sonst
gezeigten und gezeichneten so wenig überein-
stimmt, daß ich selbst zunächst zweifelhaft
war, ob hier überhaupt Hoden vorlägen oder
irgendeine Mißbildung und Krankheit, die das
Ektoderm auftrieb. Erst nach und nach ent-
standen dann aus diesen den Körper des Tiers
manchmal ganz umziehenden Auftreibungen
örtlich umgrenzte Stellen; es trat aus dem
einheitlichen Gürtel bald hier, bald da eine h
stärkere Erhebung zutage (Fig. 1a rechts), die
sich dann nach und nach mehr ausbreitet.
Nach Verebbung der dazwischen liegenden
Partien entstehen hieraus dann die typischen,
: - BENRG an a: Hydra fusca mit
zipfel- oder zitzenförmigen Hoden, die jedoch <crsten Hodenanlaven, die
manchmal bis zu einem sehr späten Stadium das ganze Tier umziehen.
noch mit ihren Basen zusammenhängen b: Reife Hoden an der
(Fig 1b) Ä k Basis verwachsen.
a
Abweichend von den bisher beschriebenen Beobachtungen ist
demnach sowohl das gleichzeitige Auftreten der Hoden wie auch
das Fehlen eines begrenzten Bezirks. Diese Erscheinung hat viel-
leicht ıhre Ursache in der allzu stürmischen Hodenproduktion, die
nach Hertwig eintreten kann, wenn die Tiere aus wärmerer Tempe-
ratur ins Kalte gestellt werden.
Auf die speziellen Verhältnisse bei der Hoden- und Sperma-
208
399 W. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra,
entwicklung will ich hier nicht näher eingehen, da von den ver-
schiedensten Autoren hierüber ausführliche Beschreibungen vor-
liegen. Das Endprodukt dieser Entwicklung ist die zipfel- oder
zitzenförmige Erhebung, abgeschlossen nach außen durch die platten
Ektodermpartien, deren Zellgrenzen häufig verwischt sind. Inner-
halb dieser Ektodermumhüllung finden sich, suspendiert in einer
Flüssigkeit, die Entwicklungsstadien der Spermien, bei ganz reifen
Hoden an der Spitze die ausgewachsenen Spermatozoen, mit stark
färbbarem Köpfchen und den Schwanzteilen, deren wimmelnde Be-
wegung schon bei schwächerer Vergrößerung sichtbar ist, besonders
an der Spitze der Hoden. Das Aufhören dieser Bewegung zeigt
rein äußerlich die eintretende Degeneration und Rückbildung der
Hoden an, der wir uns nun zuwenden wollen.
Wie ich in einer früheren Mitteilung in Bd. 37 dieser Zeit-
schrift schon beschrieb, tritt eine Rückbildung der Geschlechts-
organe, sofern sie noch nicht allzuweit ausgebildet sind, in dem
Moment ein, in welchem die Hydren zur Regeneration der ver-
loren gegangenen oder amputierten Körperteile schreiten. Beiden
Hoden wird äußerlich diese Rückbildung dadurch sichtbar, daß, wie
soeben erwähnt, die Spermabewegung geringer wird und nach und
nach aufhört; dann beginnen die einzelnen Hodengebilde ihre straffe
Form zu verlieren, sie fangen an etwas zu schrumpfen, wodurch
die einzelnen Zellen des Ektoderms auch äußerlich als kugelige
Gebilde sichtbar werden (Fig. 2a). Auf einem weiteren Stadium
der Rückbildung sind dann die Hodenreste nur mehr als flache
Erhebungen über der Körperoberfläche sichtbar (Fig. 2b); allmählich
verstreicht auch diese geringe Ausbuchtung, und zu allerletzt sind
die Hoden dann nur noch als kleine weißliche Gebilde zwischen
Ektoderm und Entoderm zu sehen, die häufig auch äußerlich eine
Vorbuchtung des inneren Blattes verursachen. Dann’ verschwinden
sie restlos und sind an lebenden Tieren nicht mehr nachweisbar.
Die Zeitspanne, in welcher diese bis zum völligen Verschwinden
der Hoden führenden Vorgänge sich abspielen, ist verschieden.
Es hängt die Schnelligkeit des Verlaufs einmal ab von der Witte-
rung; bei wärmerer Temperatur geht die Reduktion bedeutend
rascher vor sich als bei niederer. Nach 5—6 Tagen ist im all-
gemeinen auch bei kälterer Umgebung die Rückwärtsentwicklung
soweit vorgeschritten, daß bei lebenden Tieren und Totalpräparaten
nichts mehr von Hoden und Spermaresten gesehen werden kann,
bei wärmerer Temperatur kann die Rückbildung schon nach 2—3
Tagen vollendet sein. Dies geschieht jedoch nur unter ganz be-
sonderen Bedingungen. Beschleunigt wird die Reduktion nämlich
außerdem noch durch den Ernährungszustand, in dem sich die Tiere
befinden. Je schlechter dieser ist, um so schneller verschwinden
die Hoden, während ein guter Ernährungszustand, der sich meist
u a nn an alu un nu dm nn nn
a 23 a aa A UN. FIELEN BER ZA Ea A E
W. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 295
in der dunkleren Färbung der Tiere kundtut, die Rückbildung ver-
langsamt. Endlich kommt es noch auf die Lage der Hoden an.
In nächster Nähe der Schnittfläche, an der die Regeneration an-
setzt, verkleinern sich die Hoden bedeutend schnelier als an Stellen,
die von dieser Regenerationszone entfernter sind. Auch hier ist
noch ein Unterschied zwischen den einzelnen Teilstücken der
Tiere zu machen. Ein Kopfteil, der nur den Fuß’ zu ergänzen hat,
reduziert die Hoden weniger rasch als ein unteres Stück, bei welchem
der ganze Kopfteil mit den Tentakeln neu zu entstehen beginnt.
An der Abb. 2, welche Teilstücke ein und desselben Tieres zu der-
selben Zeit darstellt (nach 2 Tagen), kann man sich von dem
Unterschiede der Hodenreduktion an den verschiedenen Teilen ein
Bild machen. Stücke endlich, die aus der Mitte herausgeschnitten
sind und Kopf und Fußscheibe entbehren, reduzieren unter den-
selben Bedingungen die Hoden am schnellsten.
Fig. 2. Fig. 3.
Fig. 2. a:,oberes, b: unteres Teilstück einer Hydra, 2 Tage nach der Operation.
H = Hoden.
>
Fig. 3. Regenerierendes unteres Teilstück von Hydra mit Hoden unmittelbar an den
Tentakelanlagen.
Diese hier angeführten Tatsachen geben uns schon einen Hin-
weis dafür, was als Ursache der Reduktion von den. Geschlechts-
organen anzusehen ist. Der Grund der Rückbildung ist stets darın
zu suchen, daß bei der eintretenden Regeneration viel Material
gebraucht wird, sodaß sofort die Weiterentwicklung der nahe ge-
legenen Hoden unterbleiben muß. Es ist möglich und sogar wahr-
scheinlich, daß die ganz reifen Spermatozoen noch ausgestoßen
werden und ins Freie gelangen ; die übrigen nicht völlig zur Reife
gelangten dagegen bleiben in der Entwicklung zurück und dienen
als Material zum Wiederaufbau des Tiers. Bei der Neubildung
der Fußscheibe, die sich ja äußerlich als keine besonders hervor-
tretende Organbildung zeigt, läßt sich der Verbrauch der Ge-
[80]
94 W. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra.
schlechtsorgane nicht so ohne weiteres makroskopisch beobachten;
man muß sich darauf beschränken, die Rückbildung der Hoden
sukzessive bis zu ihrem Verschwinden zu kontrollieren und kann
dann 1—2 Tage später feststellen, daß das Tier die Möglichkeit
der Anheftung nunmehr wieder erlangt hat.
Bei der Bildung der Tentakeln dagegen läßt sich auch äußerlich
beobachten, daß ae Abbau der Hoden: mit dem Aufbau der kleinen
Tentakeln Hand in Hand geht. Die Tentakeln entstehen nämlich
vorzugsweise da, wo Hoden in Rückbildung sich befinden. Sie
bilden sich stets im allernächsten Umkreis der reduzierten Hoden,
in manchen Fällen sogar aus den Hodenresten selbst. Die in den
Abbildungen 3, 4 und 5 gezeichneten Verhältnisse waren besonders
instruktiv.
Das in der Figur 3 gezeichnete untere Stück einer Hydra zeigt
die Regenerationszone, an der sich gerade kleine Tentakelanlagen
bilden; bei der warmen Temperatur, in der das Tier gehalten wurde,
geschah dies schon am zweiten Tag, nachdem der Kopfteil entfernt
war. Wie man an der Abbildung sieht, liegen die schon stark
rückgebildeten Hoden immer ganz in der Nähe der Tentakelanlagen,
links auf dem Bilde unmittelbar an der Basis der kleinen Tentakel-
knospe. Bei der mit Nr. 73 in meinen Protokollen bezeichneten
Hydra war ähnliches zu beobachten. Am 12. V]. 1918, dem zweiten
Tag nach der Operation, waren die drei Hoden des unteren Teil-
stücks bereits stark degeneriert, die oberen mehr als die unteren
(Fig. 4a). Eine Bewegung von Sperma war nicht mehr sichtbar.
Am 13. VI. frühmorgens waren an den Stellen der Hoden drei
Vorstülpungen sichtbar, die oberste war die größte und ließ sich
deshalb sowohl wie wegen ihrer Lage als Tentakelanlage identifi-
zieren; bei der in Abb. Ab links gezeichneten Vorwölbung dagegen
war es zweifelhaft, ebenso bei der ein Stück unter der ersten
liegenden dritten Ausbuchtung, ob man einen Hoden vor sich hatte
oder einen jungen Tentakel. Ich war zunächst geneigt, das erstere
anzunehmen, zumal wegen der Lage, an der man doch keinen
Tentakel erwarten konnte. Es zeigte sich jedoch bald, daß hier
trotz der ungewöhnlichen Lage ein junger Tentakel sich bildete,
denn bereits am Nachmittag desselben Tages wuchs sich die Vor-
wölbung zu einem wirklichen kleinen Fangarm aus, und auch der
dritte Auswuchs auf der entgegengesetzten Seite bildete sich zu
einem Tentakel um, so daß am Abend, als ich das Tier abtötete,
sich ein Bild ergab, wie es die Figur 4c zeigt: einen kleinen und
einen etwas größeren Tentakel an der obersten Spitze, und unter-
halb des größeren, also an einer Stelle, wo normalerweise niemals
ein Fangarm zu finden ist, ein dritter hervorwachsender Tentakel.
Noch demonstrativer gestalteten sich die Beobachtungen an
einem anderen Tier, bei dem die Umbildung eines Hodenrestes in
|
|
W. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an "Hydra. 295
einen Tentakel unter meinen Augen vor sich ging. Die Figur 5a
zeigt den unteren Stumpf einer Hydra, der bei niederer Temperatur
das Köpfchen zwei Tage vorher abgeschnitten war. Man sieht an
dem Bild noch deutlich zwei große Hoden, die dicht an der Schnitt-
stelle sich befinden, während der dritte Hoden, der sich auf der
hinteren Seite befand, deshalb natürlich nicht sichtbar. ist. Alle
Hoden zeigten zu dieser Zeit (12. Vll. 1918) noch lebhafte, Sperma-
bewegung. Am Tage danach waren in den frühen Morgenstunden
die Hoden in beginnender Degeneration; an der äußersten Spitze
- des eanzen Stumpfes erhob sich eine ganz leichte Vorwölbung, die
fo) Oo 8)
erste Anlage eines Tentakels, wie sich später herausstellte. Am
14. VII. waren 4 Uhr morgens außer dem ersten, im Wachstum
‚Fig. 4,
a
®
Fig. 4. a—c Fortschreitende Umbildung von Hoden in Tentakel.
begriffenen Tentakel an der Spitze noch unzweifelhaft als Hoden
zu bezeichnende Erhebungen festzustellen, die von Stunde zu Stunde
jedoch sich immer mehr rückbildeten. Dafür begannen nunmehr
die Tentakelanlagen hervorzusprießen, zunächst zwei weitere, die
etwas oberhalb der Hodenreste entstanden, und zwar so, daß sie
sich immer zwischen je zwei Hoden befanden. Am Abend des-
selben Tages zeigte das Tier das Bild der Figur 5e; d.h. es waren
drei große Tentakel vorhanden, und eine kleinere Anlage zu einem
vierten; der eine Hoden war ganz verschwunden, ein anderer, auf
der Abbildung nicht sichtbar, in starker Degeneration, der dritte,
in der Figur unterhalb des einen Tentakels zu sehen, ebenfalls
bereits stark geschrumpft, aber noch deutlich als Hoden erkennbar.
An diesem zuletzt erwähnten Hoden hieß sich nun unzweifel-
haft die Umbildung in einen Tentakel feststellen. Am 15. VII. ganz
früh morgens nämlich konnte man an dem Tier neben vier wohl-
ausgebildeten Tentakeln und einem in Abb. 5d unten links sicht-
baren ganz geringen Restehen des zweiten Hodens noch den dritten
Hoden in sehr weit fortgeschrittener Degeneration erkennen; am
Vormittag begann die Umbildung in einen Tentakel, d. h. an der
Stelle, an welcher der Hoden sich befand, konnte man eine ganz
minimale Vorstülpung erkennen, die ein Mittelding zwischen einem
Hodenrest und einer jungen Tentakelanlage darstellte (Fig. 5d).
pl uf Dr a Cube VBA ER area BE AST
296 W. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra.
Am Nachmittag des 15. VII. war es dann nach und nach unzweifel-
haft geworden, daß hier ein fünfter Tentakel hervorzusprießen be-
gann, und zwar, wie es Figur 5d und e' zeigt, an einer Stelle, die
etwas unterhalb der übrigen Tentakel sich befand; wıe bei dem ın
der Abb. 4 gezeichneten Tier an einer Stelle also, an welcher sich
für gewöhnlich keine Tentakel finden.
Die Frage, wie diese Umwandlung vor sich geht und wie solche
Unisetzungen zu erklären sind, konnten die Beobachtungen an
lebenden Tieren nicht beantworten. Schnitte dagegen gaben guten
Fig. 5.
e
Fig. 5. Umbildung von Hoden in Tentakeln bei Hydra fusca. -- Hodenreste.
Aufschluß darüber und konnten auch die Resultate der an lebenden
Tieren gemachten Untersuchungen bestätigen. Es zeigte sich
nämlich auch an den Schnitten, daß die der Operationswunde näher
liegenden Hoden stets weiter rückgebildet waren als die, welche
ihr entfernter lagen. Die größere oder geringere Degeneration
macht sich in den Schnitten in der Weise geltend, daß ın den
Hoden und Hodenresten mehr oder weniger Spermatozoen sichtbar
sind; sie treten in den Serien als kleine, lebhaft und kräftig ge-
färbte länglichrunde Körperchen hervor, teils einzeln, teils zu Klumpen
geballt, und können mit anderen Organen und Organteilen gar
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W. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra, 27
nicht verwechselt werden (Fig. 6—8). Was wird nun aus diesen
Körperchen, wenn die durch eintretende Regeneration bedingte
Rückbildung der Hoden eintritt? Bilden sie sich um oder werden
sie aufgelöst? Beides konnte theoretisch angenommen werden.
Die Untersuchungen der Schnittserien ergaben jedoch ein anderes
Resultat; sie zeigten. daß die Spermatozoen verdaut werden,
und zwar in ganz normaler Weise von den Entodermzellen, als
ob sie Nahrungskörper, wären.
Fig 6. Schnitt durch H. f. mit Hoden, die in Reduktion sich befinden. Über-
wandern der Spermien nach Auflösung der Stützlamelle. HR Hoden-Reste.
Obj.. V:’Oe. 1.
Fig. 7. Längsschnitt durch H. fusca. Vorbuchtung der Entodermzellen, die mit
Sperma-Resten angefüllt sind Obj. V. Oc I.
Jeder Schnitt durch eine Hydra, deren Hoden einige Zeit in
Reduktion sich befanden, zeigte die eigenartige Tatsache, daß die
typischen unverkennbaren Spermien auch im Entoderm zu finden
waren. Systematische Versuche und Schnittserien von Tieren, die
in den verschiedensten Reduktionsstadien abgetötet wurden, ließen
dann auch erkennen, wie eine solche Erscheinung zustande kommt.
Beı Tieren, die kurz nach der Operation geschnitten wurden, sind
die Spermatozoen natürlich nur im Ektoderm anzutreffen. Nach
kwzer Zeit jedoch beginnen sie auch im Entoderm aufzutreten.
Es war zunächst unklar, wie. das möglich ist, da ja zwischen beiden
Schichten eine Stützlamelle sich befindet, die ein einfaches Über-
BED aa a RE Fr
B08.. W. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra.
treten von einer Schicht zur andern verhindert. Es zeigte sich
nun, daß diese Stützlamelle bei solchen Stücken, die Hoden in
Reduktion besaßen, an manchen Stellen eine Strecke weit durch-
brochen und aufgelöst war; meist nur ein !kleines Stück weit, so
daß auf Schnittserien von 10 « nur an einem einzelnen Schnitt
die Durchbrechung mit aller Deutlichkeit sichtbar war, während
an den vorhergehenden und folgenden. Schnitten die Lamelle ın
ununterbrochener Linie verlief- und die beiden Schichten trennte.
Abb. 6 zeigt eine solche Durchbrechung der Stützlamelle, und zeigt
auch, wie die Spermatozoen mit der Überwanderung vom Ektoderm
ıns Entoderm beginnen.
Fig. 8.
Fig. 8. Schnitt (längs) durch Hydra fusca ‚mit degenerierten Hoden (H) und
hervorwachsenden Tentakeln (T). Rechts Sperma nur im Entoderm.
Obj. III. Oe. II.
Je weiter die Reduktion der Hoden fortschreitet, um so we-
niger Spermien sind ım Ektoderm anzutreffen, während sich die
Entodermzellen immer mehr mit ihnen füllen. Sie werden dann
dort in Vakuolen eingeschlossen und intrazellulär verdaut, wie es
die Abb. 7 demonstriert, die einige solcher Nahrungsvakuolen mit
Spermaresten aufweist. Nach und nach verschwinden die Sperma-
tozoen immer mehr aus dem Ektoderm (Abb. 8 rechts); sie füllen
nunmehr nur das Entoderm, das auf diese Weise an bestimmten
Partien unter sehr günstigen Ernährungsbedingungen steht. Die
Folge davon ist ein Größer- und Kräftigerwerden der Entoderm-
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W. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 249
zellen an diesen Stellen, so sehr meıst, daß das Entoderm hier
große Vorbuchtungen bildet (Abb. 7)
Dieses an bestimmten Bezirken lokalısierte Wachstum und die
dadurch bewirkte Vermehrung der Zellen, hervorgerufen durch die
fortwährende Fütterung mit immer nachdringenden Spernuen, er-
klärt es nun, daß gerade an diesen Stellen die Regeneration und
Neubildung von Organen besonders rasch eintritt. Das vorhandene
Nährmaterial begünstigt die Wachstumsbedingungen natürlich sehr,
so daß schon ım allgemeinen an solchen Punkten das Hervor-
wachsen der Tentakeln verständlich ist. Es läßt sich aber auch
noch ein direkter Einfluß von den in Rückbildung begriffenen
Hoden an der Neuentstehung der Fangarme feststellen. Die Ver-
größerung und das Wachstum der Entodermzelien verursacht näm-
lich nicht nur eine Vorwölbung nach innen, sondern auch häufig
eine Ausbuchtung nach außen (Fig. 8 links), und drängt dann das
Ektoderm ebenfalls nach außen, besonders da diese Zellen, welche
die Hodenbedeckung dort bildeten, sehr dünn sind. Sie bilden
sich erst nach und nach wieder zu den typischen Ektodermzellen
um, sind also ihrerseits ebenfalls ın Entwicklung und Wachstum
begriffen. Und so kommt es, daß unmittelbar aus den Hodenresten
so leicht Tentakel hervorgehen, auch an Stellen, die unterhalb des
normalen Tentakelkranzes liegen.
Die Abb. 8 zeigt einen derartigen Fall. Der Längsschnitt
durch einen regenerierenden Hydra-Stumpf weist am äußersten
Ende zweı etwas größere Tentakel auf. Unterhalb der auf der
Abbildung nach links liegenden Tentakelknospe befand sich ein
Hoden, dessen Samenelemente bis auf geringe Reste aus dem Ekto-
derm verschwunden sınd. Das Entoderm enthält dagegen noch
reichlich in Verdauungsvakuolen eingeschlossene Spermien, auf dem
Schnitt selbst sind allerdings nur geringe Reste getroffen, die ın
großen, nach dem Ektoderm zu vorgebuchteten Zellen liegen. Die
Zellen der äußeren Schicht, welche die Umhüllung der beinahe
ganz verschwundenen Hoden bildeten, sind ihrerseits in Regeneration
und Wachstum begriffen, und so ist es unzweifelhaft, daß aus
dieser Hervorwucherung ebenfalls ein Tentakel herausgewachsen
wäre, wenn ich das Tier nicht abgetötet hätte. Verschiedene andere
Schnitte durch größere Tentakelanlagen mit Hodenresten scwie die
Beobachtungen an lebenden Objekten liefern dafür den Beweis.
Die zunächst so auffallende Erscheinung, daß so verschiedene
Organe wie Hoden und Tentakel sich unmittelbar ineinander ver-
wandeln können, ist ım Grunde genommen also nur auf die Tat-
sache zurückzuführen, daß da, wo viel Nahrung vorhanden ist, auch
zunächst eine Entwicklung, eine Regeneration erfolgt. Die negative
Seite dieser Erscheinung ließ sich ebenfalls an meinen Unter-
suchungsobjekten beobachten: es traten Hemmungen da ein, wo
300 W. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra.
eine Art Kampf der Teile um das Nahrungsmaterial stattfand.
Eine //ydra mit Kuospe, welcher der Kopfteil oberhalb der Knospe
abgeschnitten war, bildete stets neue Tentakel zunächst an der
von der Knospe abgewandten Seite; war die Knospe selbst noch
ın Entwicklung und besaß noch keine Fangarme, so entstanden,
immer zunächst nur an der unteren Seite Tentakelanlagen, d. h.
ebenfalls an der Stelle, an welcher keine Konkurrenz mit anderen
Teilen vorliegt, die ihrerseits Regenerations- und Nahrungsstoffe
brauchen (Abb. 10). Bei den Ovarien, die schon zu differenziert
sind, als daß sie rückgebildet werden können, läßt sich dasselbe
beobachten. In der früheren Arbeit habe ich eine solche Hydra
abgebildet, die auf der einen Seite ein in der- Weiterentwicklung be-
‚griffenes Ovar trägt, während auf der diesem abgewandten Seite
Fig. 9. Fig. 10.
Fig. 9. Kopf von Hydra fusea mit zuvielen bei der Regeneration entstandenen
Tentakeln, die mit der Verschmelzung beginnen.
Fig. 10. Regenerierender Stumpf von Hydra fusca mit wachsender Knospe; an
den einander zugewandten Seiten Wachstumshemmung der Tentakeln.
Tentakel hervorzusprießen beginnen. In allen solchen Fällen sind
immer dıe Tentakel am weitesten in der Entwicklung fortgeschritten,
welche dem konkurrierenden Teil am weitesten abgewandt sind.
Besonders schön läßt sich dies an einem knospenden Tier sehen,
wo dann wie in der Figur 10 dem großen Tentakel der Knospe der
größte Fangarm des Regenerationsstumpfs gegenübersteht, jeder
flankiert von zweı kleineren.
Es sucht demnach, wie es sich aus dem vorhergehenden ergibt,
immer zunächst ein jeder Teil unabhängig von dem anderen zu
wachsen; die Knospe oder die Geschlechtsorgane wollen sich weiter-
entwickeln, der verletzte Teil das Verlorengegangene ersetzen.
Dieser Kampf reguliert sich indes bald; es tritt eine Harmonie der
Teile ein, wobei dann die eime Kraft die andere überwiegt.
Und zwar ist dabei eine gewisse Reihenfolge festzustellen, auf die
ich schon früher hinwies. Jede Knospe, sei sie auch noch so klein,
hat immer den Vorzug vor dem Regenerationsstumpf und wächst
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W. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 301
‚auf seine Kosten, ihn nach und nach ganz in sich aufnehmend.
Der abgeschnittene Stumpf dagegen regeneriert und rangiert vor
den Geschlechtsorganen, und er braucht sie auf, sofern sie nicht
schon zusehr spezialisiert und differenziert sind. Ist dies der Fall,
so kann die Rückentwicklung unterbleiben; es zeigt sich dies gut
bei den Ovarien, weniger deutlich bei den Hoden, da hier ja eine
ganze Zeit lang immer neue Spermien gebildet werden. Diese
Neubildung unterbleibt dann bei einsetzender Regeneration, und
aus den Hodenresten wird das Material für den Neuaufbau des
Tiers gewonnen und direkt oder indirekt für die zu bildenden Teile
verbraucht.
Eigenartig ist auch bei solchen Regenerationsprozessen, die
viel Nahrungsmaterial zur Verfügung haben, die zu beobachtende
UÜberproduktion von Teilen oder Organen. Sie ist auf dieselben
Gründe zurückzuführen wie die vorhergehenden Erscheinungen und
zeigt ebenfalls dıe merkwürdige Tatsache, daß die einzelnen Re-
gionen, zunächst wenigstens, sich unabhängig voneinander ent-
wickeln. An unteren Teilstücken, besonders an solchen mit breiter
Schnittfläche, wachsen fast regelmäßig eine sehr große Anzahl von
Tentakeln hervor, viel mehr, als ein normales Tier besitzt. Die
in Abb. 9 gezeichnete Hydra zeigte z. B. zunächst die Zahl von
13 Tentakeln, andere manchmal noch mehr. Eine derartige Über-
produktion bleibt jedoch nicht bestehen, es tritt vielmehr stets
eine Regulation ein. Im einfachsten Fall geschieht dies derart,
daß eine Reduktion der Tentakel eingeleitet wird: verschiedene
Fangarme verschmelzen miteinander zu einem einzigen. Die Basen
zweier nebeneinander liegenden Tentakeln nähern sich immer mehr
und vereinigen sich zuerst unten. Die Verschmelzungsstelle rückt
dann immer weiter nach der Spitze zu, so daß sich gegabelte Arme
beobachten lassen, bis dann allmählich eine totale Verschmelzung
eingetreten ist. Die Textfigur 9. zeigt eine derartige Hydra, die
am 3. Tag mit der Tentakelbildung begann und am 5. Tag 13 wohl-
entwickelte, wirr durcheinander liegende Tentakel gebildet hatte,
im Begriff, am 7. Tag nach der Operation ihre Arme zu vereinigen.
Rechts neben dem senkrecht nach oben gerichteten Tentakel ist
ein Paar sichtbar, das mit seinen Basen sich aneinandergelegt hat
und dort verschmolzen ist; auf der linken Seite sieht man zwei
weitere Paare in verschiedenen weiter fortgeschrittenen Verschmel-
zungsstadien, während der mittlere, dicke Tentakel das Endprodukt
eines solchen Vereinigungsprozesses ist.
Die Regulation kann sich jedoch auch komplizierter gestalten,
nämlich derart, daß an diesen für das Tier viel zu vielen Tentakeln
sich mehrere Gruppen bilden, die untereinander eine größere Zu-
sammengehörigkeit besitzen als mit anderen. Auf diese Weise
entstehen dann zwei oder mehrköpfige Hydren, da innerhalb einer
(% gan
309 W. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra.
enger zusammengehörigen Gruppe sich Mundöffnungen bilden.
Werden solche mehrköpfige Tiere gefüttert, so kann eine Längs-
teilung eintreten; d. h. jeder Kopf wırd dadurch, daß der Zwischen-
raum zwischen ihm und dem anderen sich immerwährend vergrößert,
mehr und mehr von dem Nachbarn getrennt, so daß nach einiger
Zeit nur noch die Stielteile vereinigt sind, ein Zusammenhang, der
sich zuletzt auch noch löst. Wird dem Tier dagegen kein Futter
gereicht, so finden wir das Gegenteil; die Köpfe nähern sich ein-
ander immer mehr und verschmelzen schließlich wiederum zu einer
Einheit, wie es auch Kıng bei gepfropften Köpfen von Hydra
viridis beobachtete; dann wird hier ebenfalls in derselben Weise
wie ın dem ersten Fall durch Verschmelzung eine Reduktion der
Tentakel eingeleitet.
Die ın diesem und dem früheren Aufsatz mitgeteilten Beobach-
tungen lassen sich alle auf ein gemeinsames Prinzip zurückführen.
Überall bestimmt das Vorhandensein von Nahrungsmaterial das
Wachstum und die Regeneration, die in der Hauptsache ja eben-
falls ein Wachstum ist. Fehlt das Material überhaupt, 50 kann
keine Regeneration eintreten; dies zeigen kurze Stümpfe oder Stücke
von unteren Teilen, die, wie ich früher beschrieb, nicht regenerieren,
sondern der Auflösung verfallen. Ist jedoch Material vorhanden,
so bestrebt sich jedes Teilstück des Tiers zu einem vollständigen
Tier wieder zu ergänzen, und zwar kann bei Materialüberfluß die
Regeneration dann an vielen Stellen zu gleicher Zeit unabhängig
voneinander einsetzen. Erst nach und nach tritt dann eine Regu-
lation ein; der kräftigste Bezirk ınit dem energischsten Wachstum
vergrößert sich allein; er nımmt, wenn ıhm nicht von außen Nah-
rung zugeführt wird, zunächst alle vorhandenen Nahrungsmaterialien
für sich ın Anspruch und unterdrückt so die Weiterentwicklung
an anderen Stellen. Nach Aufbrauch des Materials greift er dann
auch auf die schon ausgebildeten Teile über und schmilzt sie für
seinen Bedarf ein, wie eine wachsende Knospe stets den mütter-
lichen Stumpf zu ihrem Aufbau verbraucht und ein in regenerativem
Wachstum befindlicher Stumpf seinerseits die Geschlechtsorgane,
sofern sie nicht schon zu weit differenziert sind, daß sie nun die
Oberhand bei diesem Materialkampf gewinnen.
Literatur.
Brauer, A. Über die Entwicklung von Hydra. Zeitschr. f. wiss. Zoologie
Bd. 52, 1891.
Frischholz, E. Zur Biologie von Hydra. Biolog. Zentralbl. Bd. 29, 1909.
Goetsch, W. Beobachtungen und Versuche an Hydra. Biolog. Zentralbl.
Bd. 187,:1917.
Hertwig, R. v. Die Knospung u. Geschlechtsentwicklung v. Hydra fusca. Biolog.
Zentralbl. Bd. 26, 1906.
King, H. D. Further Studies on Regeneration in Hydra viridis. Arch. f. Ent-
wickl.-Mech. Bd. 16.
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©. Emmelius, Beiträge zur Biologie einiger Ameisenarten. 2303
Kleinenberg, N. Hydra. Leipzig 1872.
Krapfenbauer. Einwirkung der Existenzbed. auf die Fortpflanzung von Hydra.
Dissertation München 1908.
Nußbaum, M. Über die Teilbarkeit der lebendigen Materie. Arch. f. mikrosk.
Anatomie Bd. 29, 1887.
— Zur Knospung u. Hodenbildung bei Hydra. Biolog. Zentralbl. Bd. 27, 1907.
Beiträge zur Biologie einiger Ameisenarten.
Von Carl Emmelius.
(Gefallen als Unteroffizier einer Feldbatterie im April 1918 bei Albert (Nordfrankreich).)
Zusammengefaßt und ergänzt von Heinrich Kutter (Zürich).
Die folgenden Ausführungen beziehen sich sämtliche auf Be-
obachtungen in der freien Natur und Experimente im künstlichen
Beobachtungsapparate, welche mein Schulkamerad, Studiengenosse
und Freund Carl Emmelius, in seinem Tagebuch vor seiner Ein-
berufung in den Heeresdienst zurückgelassen hat, und das nun im
Original vor mir liegt. Es konnte nicht allein nur der Gedanke
sein, der mich bewog, diese kurzen Notizen meines Freundes zu
veröffentlichen, um seine Beobachtungen und Entdeckungen der
Wissenschaft zu retten, sondern auch das Pflichtgefühl des Freundes
dem toten Freunde den Lohn für seine eifrigen Forschungen zu
erringen. Wer wollte sich auch daran stoßen, daß einmal nicht
nur erworbenen Ruhmes, sondern eines wohl noch unbekannten
jungen Mannes gedacht wird, dessen wissenschaftliche Tätigkeit
durch jahrelanges Kriegshandwerk auf grausame Art lahmgelegt
wurde; eine Tätigkeit, die er vor seiner Einberufung in so hoff-
nungsvoller Weise entfaltet hatte.
Nach der Erwerbung seines Maturitätszeugnisses wurde er im
Herbst 1915 zum blutigen Waffendienst für sein Vaterland einbe-
rufen. Es wäre unnütz, wollte man alle die Mühsale und Strapazen
aufzählen, die er während seiner schwersten Tage der Pflichter-
füllung durchkosten mußte — die Worte Somme und Ypern reden
für sıch selbst. Ende April 1918 erlag er bei Albert ın Nord-
frankreich einer schweren Granatverletzung, die er während eines
Artilleriegefechtes erhalten hatte.
Eigener langer Grenzdienst und Krankheit verhinderten mich
leider bis heute diese Arbeit anzugreifen.
Obwohl ın den kurzen Aufzeichnungen meines Freundes für
die Wissenschaft absolut neue Forschungsresultate nicht zahlreich
zu finden sind, so verlieren seine Beobachtungen, die er schriftlich
hinterlassen hat, trotzdem nicht an ihrem Wert; sie bestätigen und
ergänzen vielmehr, oft aufs trefflichste, schon bekannte Tatsachen
und Theorien, und erweisen dadurch ihre volle Berechtigung der
Allgemeinheit bekannt gemacht zu werden. Durch Einzelbeobach-
NEE SR 2 Bear va al a Sa re BEER BE Ta Er ER Bla Lea a a a a res
> De Ira, 5 ‘ Kr MR EWR
304 ©. Emmelius, Beiträge zur Biologie einiger Ameisenarten.
tungen, und wenn sie noch so unscheinbar sind, wird die Wissen-
schaft oft viel mehr gefördert, als durch gewagte Hypothesen.
Ein großer Teil der Beobachtungen von Emmelius sind schon
von verschiedenen Forschern in entsprechendem Zusammenhange
verwertet worden. Um jedoch eın möglichst vollständiges Bild
der wissenschaftlichen Tätigkeit meines Freundes auf dem Gebiet
der Ameisenkunde zu geben, werde ich die schon bekannten Re-
sultate seiner Forschungen hier nochmals kurz erwähnen. Es soll‘
meine Aufgabe sein, soweit dies die kurzen Notizen zulassen, mich
möglichst an den Text der Aufzeichnungen zu halten, um dann zu
versuchen durch eigene Zusätze und Bemerkungen den Zusammen-
hang derselben mit andern, schon bekannten Tatsachen klarzulegen.
1. Über Pleometrose und die Überwinterung unbefruchteter
Königinnen. |
Es kommt nicht selten vor, daß das Ausfliegen der Geschlechts-
tiere einer Kolonie durch besonders ungünstige Witterungsverhält-
nisse etc. in dem einen oder andern Jahr ganz oder doch teilweise
unterdrückt wird. Die Folge hiervon ist wohl die „Hochzeit zu
Hause“, die Inzucht. Die Paarung der Geschlechter erfolgt auch
oft nahe beim Neste, so daß junge, eben befruchtete Weibchen
in ıhr Mutternest zurückgelangen können. Dies erklärt zum Teil
die große Anzahl entflügelter, d. h. befruchteter Weibchen in ein
und demselben Nestverbande. Von Wasmann wurde diese Er-
scheinung als Pleometrose bezeichnet, worunter also das Vor-
kommen mehrerer Königinnen dergleichen Art ın einem Staate ver-
standen wird.
In seinem Tagebuche erwähnt nun Emmelius mehrere, von
ihm festgestellte, interessante Fälle von Pleometrose bei drei ver-
schiedenen Arten.
a) Pleometrose bei Formica fusca L.
Wasmann gibt in seinem Werke „Zur Kenntnis der Ameisen
und Ameisengäste von Luxemburg“, Ill. Teil, p. 76 an, daß er in
den meisten der zahlreichen fasca-Kolonien, welche er untersuchte,
durchschnittlich 2—5 befruchtete Weibchen nachweisen konnte.
In einem fusca-Staate vermochte er sogar 10 Königinnen zu zählen.
Emmelius erwähnt unter dem Datum vom 5. August 1912 zwei
Nester mit je 7 und eine Kolonie mit sogar 13 Königinnen. Ich
selbst fand im September 1918 bei Arosa (Graubünden) eine Menge
fusca-Kolonien, von denen einige mindestens 100 Weibchen be-
saßen! Nur in einem der Nester besaß eines dieser Weibchen noch
Flügel. Von Männchen ließ sich nichts mehr nachweisen. Erinnert
man sich des außerordentlich kühlen und feuchten Sommers 1918,
vor allem auch des Monats August, so ist die Erklärung für solch
abnorme Verhältnisse nicht schwer zu finden,
BT
Dr
©. Emmelius, Beiträge zur Biologie einiger Ameisenarten. 305
b) Pleometrose bei Formica rufibarbis.
„Am 3. April 1913 fand ich in Chardonne (am Genfersee) ein
rufibarbis-Nest mit 6 Königinnen !“
c) Pleometrose bei Plagiolepis pygmaea.
„Heute den 10. April fand ıch bei Saillon (Wallis) ein Pla-
giolepis-Nest mit 23 Königinnen!“
Dieser letztere Fall ıst besonders interessant, da, meines Wissens,
bis heute noch nirgends in der Literatur Pleometrose bei unserer
winzigen Plagiolepis pygmaea erwähnt wurde. Es ist schade, daß
Emmelius nur eine so kurze Notiz über ‚diesen Fall zurückge-
lassen hat.
Es trıtt nun aber auch recht häufig der Fall ein, daß nicht
sämtliche Weibchen bei Unterbleiben des Hochzeitsfluges ım
Mutterneste befruchtet werden. Hieraus erklären sich die Funde
geflügelter, d. h. unbefruchteter Weibchen unter den Arbeitern zu
ganz ungewöhnlichen ‚ Jahreszeiten. So erwähnt Emmelius in
seinem Tagebuch, daß er am 2. März 1913 in einem ZLasius ful-
ginosus-Nest geflügelte Königinnen gefunden habe! Am 30. März
desselben Jahres fand er ın Chardonne in einem ZLasius umbratus-
Nest ebenfalls „viele geflügelte Weibchen“, dasselbe am 6. April,
am gleichen Orte, in einer Formica fusca-Kolonie, während die
Schwärmezeit dieser 3 Arten zwischen Mai und August fällt.
Interessant ist auch folgende Notiz: „30. Oktober 1912. Heute
beobachtete ich‘ noch einen „Hochzeitsflug“ von ZLasius umbratus.
Derselbe bestand nur aus Weibchen. Es war eine ungeheure
Menge; der ganze Zeltweg (eine Straße von ca. 700 m Länge) war
damit bedeckt.“
Ein ähnlicher Hochzeitsflug, wenn man von einem solchen in
unserm Falle überhaupt noch sprechen darf, überraschte mich, an-
läßlıch eines Ausfluges nach den Ruinen der Küssaburg (Baden
am Rhein). Dort war nämlich ein Teil des alten Gemäuers ganz
übersäht von lauter Myrmica scabrinodis-Männchen, ohne daß ein
einziges Weibchen unter den Tierchen zu finden war; das ganze
stellte vielmehr eine großartige „Junggesellenveranstaltung“ dar.
Aus dem Umstande, daß in einer Kolonie meist in demselben
Jahre entweder in großer Überzahl nur Männchen oder nur Weib-
chen aufgezogen werden, lassen sich auch diese eigenartigen, ver-
späteten „Hochzeitsflüge“ erklären. Durch ıhr Auftreten zu gänz-
lich ungewohnter Jahreszeit bleiben sie isoliert und „hoffen“ ver-
geblich auf Schwärme anderer, benachbarter Kolonien.
2. Beiträge zur Frage der Koloniegründung einiger
Formica-Arten.
Die folgenden wertvollen Funde und Beobachtungen von
Emmelius bereichern aufs trefflichste das schon heute stark an-
39. Band. 21
Pr
306 ©. Emmelius, Beiträge zur Biologie einiger Ameisenarten.
gewachsene Tatsachenmaterial, welches uns zur Erkenntnis und
Lösung des in Frage stehenden Problems zur Verfügung steht;
und faktisch ist heute dieses Tatsachenmaterial schon so reich-
haltig, daß von einem eigentlichen Probleme nicht mehr gesprochen
werden kann, wenigstens in bezug auf die Frage: In welchem
Zusammenhange stehen die vielen merkwürdig gemischten Staaten
rufa-fusea ete. mit der Koloniegründung der einen oder andern
Art. Heute ist es eine, den Myrmecologen allgemein bekannte
Tatsache, daß die Weibchen unserer gewöhnlichen Arten der rufa-
und execta-Gruppe die Fähigkeit zum allergrößten Teile verloren
haben, selbständig, ohne Hilfe von Arbeitern der eigenen oder
einer fremden Art, nach der Befruchtung neue Kolonien zu gründen,
und daß diese jungen Königinnen zur Erfüllung ihrer größten und
wichtigsten .Lebensaufgabe sich nicht scheuen, bei Ermangelung
von Hilfskorps arteigener Arbeiter ihres Mutternestes oder einer
fremden Kolonie, sich ın Staaten gänzlich artverschiedener Ameisen,
vor allem bei fuseca und ihren Rassen, einzuschleichen, um deren
Völker zur Aufziehung der eigenen Brut zu gewinnen. Es muß
nun gänzlich im Interesse der Erreichung der Absicht solch junger
Eindringlinge liegen, wenn die von ihnen ausgesuchte, fremde
Ameisengemeinschaft weisellos ist, denn dann kommt ihnen der
bei Ameisen stets stark entwickelte Instinkt unbedingt eine Königin
zu besitzen zu gute. Die Wahrscheinlichkeit ın einer solchen
weisellosen, artfremden Kolonie an Königinnen Statt adoptiert
zu werden, wächst um so mehr u. a. je länger diese Staaten einer
Stammutter entbehren mußten, wobei allerdings die Zahl der
hinterlassenen Arbeiter ete. noch mit entscheidet. Findet nun
solch ein umherstreifendes junges, befruchtetes Weibchen keine
weisellose Kolonie, in welche es sich einschleichen könnte, um
die Bewohner dieses mutterlosen Nestes für seine eigenen Zwecke
auszunützen, so versucht es vielfach ihre Nebenbuhlerin, die Königin
des von ihr auserwählten Volkes zu töten, um so das größte
Hindernis auf dem gefahrvollen Wege zur Adoption hinweg zu
räumen.
In seinen Exkursionsberichten beschreibt nun Emmelius ver-
schiedene Beobachtungen, welche auf die eben kurz skizierten
Lebensgewohnheiten zurückzuführen sind. Schon 1910 kann Brun
in seiner Arbeit: Weitere Beiträge zur Frage der Koloniegründung
bei den Ameisen |Biologisches Zentralblatt Bd. 32, Nr. 3, p. 178]
eine Beobachtung meines Freundes mitteilen, welche ich nun in
den Originalaufzeichnungen vor mir habe. Es sei mir gestattet,
dieselben hier wiederzugeben:
„Etwa 500 m von der Kittenmühle, einem Restaurant ım
Erlenbachertobel bei Zürich, sah ich Sonntag, den 26. Juni um
5 Uhr bei schönem Wetter an einem bemoosten Straßenbord eine
C. Emmelius, Beiträge zur Biologie einiger Ameisenarten. 307
Formica pratensis-Königin. Sie rannte sehr aufgeregt auf dem
Moose hin und her, ohne scheinbar ein bestimmtes Ziel zu ver-
folgen. Als ich näher hinsah, gewahrte ıch 4 fusca-Arbeiter, welche
das Weibchen immer von hinten attackierten. Dieses drehte sich
jedoch stets schnell herum und jagte die Arbeiterinnen fort. Ich
suchte nach dem fusca-Nest und fand es auch unter dem Moos
versteckt. Die fusca stürzten heraus. Es mochten ca. 100 Stück
sein. Sie waren alle sehr erregt und liefen in allen Richtungen
davon. Das Nest war ungefähr 2 m von dem pratensis-W eibchen
entfernt. Im fasca-Neste ließ sich keine Königin finden; ich habe
das ganze Nest mit dem Messer ausgekratzt “
Das pratensis-Weibchen strich offenbar absichtlich in der Nähe
der fusca-Kolonie herum, um durch allmähliche Annäherung vorerst
die fremden Arbeiter mit sich vertraut zu machen und dann schließ-
lich als Nestmutter aufgenommen zu werden.
Ferner erwähnt Emmelıus eine execta-fusca- und eine rufa-
fusca-Kolonie 1. Stadiums (d. h. eine /usca-Kolonie, mit eventuell
noch eigener Brut und einer erst kürzlich frisch adoptierten rufa-
Königin), zwei Kolonien, die er am 10. Juli 1912 bei Näfels im
Kanton Glarus gefunden hatte.
Hier wäre auch ein pratensis-rufibarbis-Nest zu erwähnen,
welches wir auf einem gemeinsamen Ausflug auf die Lägern bei
Baden am 21. Mai 1914 an dem Bord eines steinigen Feldweges
entdeckten.
Am weitaus interessantesten in dieser Beziehung ist wohl die
folgende Bemerkung, welche Emmelius am 26. Juli 1914, während
seines Sommeraufenthaltes in Sıls (Engadin) niedergeschrieben hatte:
„Heute fing ich in Sils in einem fusca-Neste eine rufa und
eine fusca-Königin zusammen. Es war noch keine rufa-Brut vor-
handen, und ich glaube, daß das rufa-Weibchen erst seit einigen
Tagen bei den fusca war.“
Es ist äußerst schade, daß von diesem Funde keine weitere
schriftliche Hinterlassung zu finden ist. Bis jetzt ist nur Was-
mann’s!) viel zitierte Beobachtung bekannt, daß nämlich die junge
rufa-Königin eigenmächtig die Stammutter einer fusca-Kolonie
tötet, um selbst an deren Stelle zu treten. Wasmann, welcher
dies zwar im künstlichen Beobachtungsapparate verfolgen konnte,
sieht wohl mit Recht den Grund des positiven Ergebnisses seines
Versuchs darin, daß die betreffende junge rufa-Königin draußen,
in freier Natur, bei ihrem Versuche in jenes fusca-Nest einzudringen
in flagrantı abgefangen wurde. Der Versuch im Beobachtungs-
neste war somit eigentlich nur die Fortsetzung eines und des-
1) Über den Ursprung des sozialen Parasitismus, der Sklaverei und der Myr-
mecophilie bei den Ameisen. Biol. Zentralblatt Bd. 29, 1909, p. 663 u. 683 ff.
26
308 ©. Emmelius, Beiträge zur Biologie einiger Ameisenarten.
selben Vorganges. Noch nie war es, trotz der sorgfältigsten
Versuchsanordnupgen bisher gelungen den Versuch von Anfang an
künstlich soweit durchzuführen, wie ıhın Wasmann beschrieb!
Stets wurden die r«fa-Weibchen von den fusca-Arbeitern ä froid
getötet, bevor die ersteren nur ernstlich versuchen konnten ihre
Rivalinnen aus dem Wege zu schaffen. Nur einmal war es mir
gelungen fasca- und pratensis-Weibchen in ein und derselben fusca-
Kolonie friedlich beieinander zu halten?). Es wäre deshalb von
großem Werte gewesen, wenn Emmelius seinen Fund weiter ver-
folgt und beschrieben hätte. Sicherlich ist es doch sehr interessant,
daß ein rufa-Weibchen, nach Wasmann’s Feststellung, plötzlich
die Eigenschaft zeigt in vollkommenster und raffiniertester Weise
ihre Rivalın durch Enthauptung umzubringen, und daß damit ein ganz
eigentümliches, unnatürliches Verhalten des Opfers, in unserm Falle
also der fusca-Königin, parallel geht.
Ä
3. Folgen von Pseudogynenzucht.
In einer kleinen Arbeit: Beiträge zur Ameisenbiologie (Biol.
Zentralbl. 1918, Bd. 38, Nr. 3, p. 110ff.) beschrieb ich die Schick-
sale einer großen rufa-Kolonie, welche plötzlich eine riesige Menge
von Mesopseudogynen, jenen krüppelhaften Mittelformen zwischen
Weibehen und Arbeiter, aufwies. Ich sehe ein, daß ich damals bei
dem Versuch diese unerwartet schnell auftretende Massenpseudo-
gynenerzeugung zu erklären die zahlreichen Beobachtungen Was-
mann’s?) diesbezüglich zu wenig berücksichtigt hatte, und aus diesem
Grunde die Lösung des Problems in gewissen Beziehungen zu
weit suchte.
Es ist mir wertvoll, daß Emmelius nun in seinem Tagebuch
ebenfalls auf jene Kolonie zu sprechen kommt. Nach der Bestäti-
gung meiner eigenen Beobachtungen beschreibt er noch u. a. eine
Exkursion zu diesem verseuchten Neste, an welcher ich ihn nicht
begleitete, und deren Ergebnis ich erst heute erfahre. Es heikt da:
„13. September 1913. Heute untersuchte ich noch einmal die
Pseudogynennester. Trotz genauer Durchsuchung konnte ich keine
Ameisengäste finden; ich sah aber große Mengen Schimmel in dem
Haufen, es waren manchmal ganze Schichten verschimmelt. Viel-
leicht ist während des nassen Sommers den Ameisen ein Teil ihrer
Brut verschimmelt.“
Diese bösartige Verschimmelung wird jedoch wohl eine sekun-
däre Erscheinung sein, verursacht durch das Massenauftreten von
2) Siehe hierzu meine Versuche in Myrmecologische Beobachtungen Biol.
Zentralblatt Bd. 37, Nr. 9, p. 429 ff.
3) Siehe vor allem in Wasmann’s prächtiger Arbeit: Neue Beiträge zur
Biologie von Lomechusa und Atemeles. Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie.
Bd. CXIV, H. 2, p. 233ff., 1915.
en kn a nr
309
Pseudogynen, welche sich ja entweder gar nicht oder doch nur
sehr wenig an den häuslichen Geschäften beteiligen, so daß auch
auf diese Weise, ganz mechanisch, eine große Vernachlässigung
des ganzen Haushaltbetriebes eintreten mußte; eine Vernachlässigung,
welche dem Umsichgreifen des Schimmels nur Vorschub leisten
konnte. |
4. Exceutions A froid.
„Seit 2!/, Wochen halte ich 9 Formica sanguinea-Arbeiter ohne
Königin allein. Am 26. Mai 1912 setzte ich zu denselben nach-
mittags 3 Uhr ein rufa-Weibchen direkt aus seinem Nestverbande.
Es wurde gar nicht beachtet. Ich setzte zu den sanguwinea noch
30 weitere Arbeiter mit zwei fausca-Sklaven. Die rufa-Königin
wurde auch jetzt nicht beachtet. '/,10 Uhr wurde sie von einem
großen sanguinea-Arbeiter flüchtig gefüttert und an den Kiefern
umbergezogen und schließlich von einer andern sangwinea an den
Fühlern in einen Haufen ihrer Genossinnen geschleppt.. Diese, so-
wie die fusca beachteten die rufa jedoch immer noch nicht.
NB. Die sanguinea-Arbeiter hatten vor 3 Wochen über 150
rufa-Arbeiter und 6 ihrer Weibchen getötet.
27. Mai 8 Uhr. Die Königin spaziert im Neste umher; wird
nicht angefeindet. Ich habe ein r«fa-Weibchen aus ihrer Puppen-
hülle gezogen und sie gestern den sanguinea gegeben. Dieselbe
wurde gestern nicht beachtet, heute wird sie eifrig beleckt. Die
Puppe.war schon lange bei den sangwinea. 8° Uhr. Die 1. Königin
wird vom gleichen Arbeiter (erkenntlich an seinem hellen Thorax),
der sie gestern an den Fühlern gezogen, am Bein gepackt, jedoch
bald wieder losgelassen. Das rufa-Weibchen verhält sich passiv.
1/,10 Uhr. Die rufa-Königin wird von einer sanguinea anderthalb
Minuten lang gefüttert. Darauf von dem hellen Arbeiter am Petiolus
‚gepackt, gleich darauf aber wieder losgelassen. Noch ein anderer
Arbeiter packt sie 5 Minuten lang am Fühler, ein vierter beleckt
sie. Ein fünfter pakt sie wiederum am Bein etc.
28. Mai. Das rufa-Weibehen ist ziemlich matt und bewegt
sich nur ganz wenig. Die Arbeiter beachten sie nicht.
29. Mai. Die Königin ist tot, jedoch unverletzt.“
Emmelius beschreibt hier ein weiteres Beispiel jener be-
kannten „ex6cutions A froid“, d.h. Tötung eines Individuums durch
fortwährende Schikanierereien und kaltblütige Mißhandlungen ohne
Anwendung von Gift. Jedes Tier liefert seimen Beitrag, gewisser-
maßen beim Vorbeigehen, durch irgendeinen Rupf an den Fühlern
oder einen Zwack in Rücken und Beine, während andere durch
Belecken ihren Pflegedrang zu befriedigen suchen.
5. Messor barbarus r. struector Latr.
„Seit dem 9. März habe ich Messor structor (aus Gandria am
Luganersee) im Torfapparate. Die großen Arbeiter werden von
310 C. Emmelius, Beiträge zur Biologie einiger Ameisenarten.
den kleinen immer beleckt, überhaupt reingehalten. Dann sah ich
auch, daß sie den Torf, bevor sie ihn wegtragen, mit dem vor-
gebogenen Hinterleib festdrücken, um möglichst viel mitnehmen
zu können. Neben den sonderbaren Stellungen, die meine Messor
bei allen möglichen Verrichtungen einnehmen, ist wohl diejenige
die lustigste, wenn sie ihre Hinter- und Mittelbeine putzen. Sie
legen sich nämlich auf den Rücken und putzen so. Zu große Hanf-
körner werden nicht mit den Mandibeln gefaßt, sondern mit dem
großen Kopfe gerollt.“
Meines Wissens wurden diese eigenartigen Gewohnheiten der
Ernteameise bis heute noch nirgends beschrieben.
6. Myrmica rubida Latr.
Daß Tiere aus verschiedenen Kolonien dieser Art sich meist
sehr schnell \befreunden, ein Verhalten, das sonst bei Ameisen
nicht häufig zu konstatieren ist, bestätigt eine kleine Notiz vom
23. Juni 1912: |
„Ich setzte Myrmica rubida aus verschiedenen Kolonien mit
3 Königinnen zusammen. Die Ameisen vertragen sich ım allge-
meinen gut, die Weibchen werden jedoch oft angefeindet.“
Ein solches Verhalten ist um so auffallender, da ja diese Art
sonst keineswegs gutmütig genannt werden kann, wie Ponera,
Myrmecina, Leptothorax etc., sondern, wenn gereizt zu den gefähr-
lichsten der europäischen Ameisen zählt. Forel*) bezeichnet sie
als: la plus redoutable des fourmis d’Europe.
Übrigens zeigt Myrmica rubida offenbar ein solch „unameisisches“
Betragen sogar oft Tieren anderer Myrmica-Arten gegenüber, welche
als Larven oder Puppen auf einem „Kriegsentschädigungsraubzug*
nach der Schlacht von den siegreichen rubida geraubt und heini-
getragen wurden, und welche ım feindlichen Neste vergeblich auf
ihre Ermordung „warteten“, so daß sie sich fertig entwickeln und
ausschlüpfen konnten’). |
7. Harpagoxenus sublaevis Nyl.
Auf unserer Reise Ende Julı 1914 durch Norditalien war es
stets der stille Wunsch von Prof. Forel und mir gewesen, doch
endlich auch dieses so interessante Tierchen, wie den räuberischen
Harpagoxenus zu finden, vor allem da derselbe bis zu jener Zeit
weder in der Schweiz, noch in Italien gefunden worden war, und
doch absolut vorhanden sein mußte. Es half alles Sehnen nichts,
und wir mußten unsere Hoffnung zu Grabe tragen, als uns plötz-
4) Fourmis de la Suisse p. 379.
5) Siehe hierzu E.u. R. Brun, Beobachtungen im Kemptthaler Ameisengebiete.
Biol Zentralbl, Bd. 33, Nr. 1, p. 23—29, 1913.
F. Poche, Über das Definieren der systematischen Gruppen. 3
lich Emmelius die freudige Mitteilung machte, unser Wunsch sei
doch ın Erfüllung gegangen; er selbst habe das Tierchen zum ersten
Male für die Schweiz ın Sıls ım Engadin, auf dem Landrücken
zwischen Silser See und Fex-tobel aufgestöbert. Was seit langem
erwartet war, war endlich eingetreten, und wir dürfen wieder ein
durch seine Lebensweise im höchsten Grade interessantes und be-
wunderungswürdiges Tierchen zu den Schweizer Ameisen zählen.
So hat sich sein Verbreitungsgebiet vom hohen Norden Europas
über Dresden, Erzgebirge, Böhmerwald und Kärnten bis in die
hohen Gebirgstäler der Schweiz erweitert.
Dies was der letzte Dienst, welchen Emmelius seiner Lieb-
lingswissenschaft, der Ameisenkunde, erweisen konnte. Im Jahre
darauf wurde er in den grausamen Waffendienst einberufen, von
dem er nicht mehr zurückkehren sollte. Mit ıhm ging wieder einer
jener Hunderttausende verloren, welche einst berufen sein sollten,
jeder auf seinem Gebiete, sein Ganzes herzugeben zum weitern Aus-
bau menschlichen Wissens, menschlichen Könnens, und zum Auf-
bau einer neuen Menschengemeinschaft, die wir Übriggebliebenen
so sehr suchen und so schwer uns erringen müssen.
Über das Definieren der systematischen Gruppen. ı
Von Dr. Franz Poche, Wien.
Wohl viele Autoren haben sich bei der Aufstellung von Defi-
nitionen von Einheiten des Systems, zumal wenn es sich um super-
generische und umfangreiche Gruppen handelte, schon der Schwierig-
keit gegenüber gesehen, daß Merkmale, die für eine Gruppe in
hohem Maße charakteristisch sınd und oft eine hervorragende Rolle
bei ıhrer Abgrenzung gegenüber den nächstverwandten Gruppen
spielen, jeweils nicht allen ihren Angehörigen zukommen. Und
dazu stellen diejenigen Merkmale, die wirklich allen Formen einer
Einheit gemeinsam sind, sehr oft keine durchgreifenden Unterschiede
gegenüber verwandten Gruppen dar, so daß gar manche Einheit
überhaupt keinen Charakter besitzt, der allen ihren Angehörigen
zukommt und zugleich einen durchgreifenden Unterschied gegen-
über den verwandten Gruppen bildet.
Je nach ihrer individuellen Veranlagung und — aber ın viel
geringerem Grade — je nach der speziellen Lage des Falles haben
die einzelnen Autoren sich jener Schwierigkeit gegenüber sehr ver-
schieden verhalten.
1. Sehr oft wird ein Merkmal, das zwar den meisten, aber,
wie auch dem betreffenden Autor sehr wohl bekannt ıst [denn von
den prinzipiell durchaus verschiedenen Fällen, wo dies ihm nicht
bekannt war oder von ihm einfach übersehen wurde, sehe ich hier
312 F. Poche, Über das Definieren der systematischen Gruppen.
natürlich ganz ab], nicht allen Mitgliedern einer Gruppe zukommt,
ın der Definition dieser doch ohne jede Einschränkung oder sonstige
Bemerkung angeführt. Dies geschieht insbesondere, aber bei weitem
nicht ausschließlich, in Lehrbüchern, und auch in den neuesten und
besten von diesen, die wır überhaupt besitzen. — Dieses Verfahren
hat den großen Nachteil, der seine Anwendung meiner An-
sicht nach von vornherein durchaus verbietet, daß die
betreffenden Angaben in ihrer Allgemeinheit direkt unrichtig,
sind. Demgegenüber kann der dadurch erzielte Vorteil der Kürze
und der scharfen Hervorhebung der typischen und daher wichtigsten
Verhältnisse, der offenbar der leitende Gedanke der betreffenden
Autoren ist (soweit sie nicht etwa einfach aus Bequemlichkeit so
gehandelt oder blindlings aus, einer andern Arbeit abgeschrieben
haben), vom wissenschaftlichen Standpunkt aus gar nicht in die
Wagschale fallen. Jene Unrichtigkeit wird als solche natürlich auch
nicht dadurch aufgehoben, wenn im sonstigen Texte darauf hin-
gewiesen wird, daß manche Formen der gegebenen Definition in
dieser oder jener Hinsicht nicht entsprechen. Und wenn ein Autor
etwa ausdrücklich sagen wollte, daß seine Definitionen nur darauf
Anspruch machen, die für die einzelnen Gruppen typischen Ver-
hältnisse anzugeben, so hätte dies wieder den großen Nachteil, daß
man dann im Einzelfalle aus ihnen nıe entnehmen könnte, ob ein
bestimmter Charakter allen Angehörigen einer Einheit zukommt
oder nicht.
2. In sehr vielen anderen Fällen wird ein Charakter, der nicht
allen Formen einer Einheit zukommt, ın der Definition dieser mit
dem Zusatze »fast stets«, »meist«, »ıin der Regel«, »gewöhnlich:
u. 5. w. angeführt. — Dieses Verfahren ist dem soeben besprochenen
bei weitem vorzuziehen. Denn es vermeidet vor allem die Un-
richtigkeit, an der das letztere leidet, während es in Bezug auf
Kürze und Hervorhebung des Typischen wohl auch kaum etwas
zu wünschen übrig läßt. Andererseits haften aber auch ıhm große
Nachteile an. Denn erstens soll eine Definition bekanntlich doch
den Inhalt eines Begriffes angeben; und dieser Inhalt kann selbst-
verständlich nie Merkmale enthalten, die einem Teile der in den
Umfang des Begriffes fallenden Dinge nicht zukommen — abge-
sehen natürlich von den einzelnen Gliedern von Paaren oder Reihen
disjunktiv angeführter Charaktere (.... oder ....oder....) —,
da letzteres ja eben der schlagendste Beweis dafür ist, daß die ge-
dachten Merkmale nıcht zum Inhalt desselben gehören. Zweitens
sind alle mit jenen Zusätzen angeführten Charaktere bei der Klassı-
fizierung einer gegebenen Form an der Hand solcher Definitionen
so gut wie unverwendbar, da man es einem Tier natürlich nicht
ansehen kann, ob die Gruppe, zu der es gehört, ein Merkmal »meist«
besitzt, oder nicht. Und dadurch wird es drittens angesichts des
F. Poche, Über das Definieren der systematischen Gruppen. 319
am Ende des ersten Absatzes angeführten Sachverhaltes nicht selten
überhaupt unmöglich, Einheiten vermittelst solcher Definitionen
durchgreifend gegeneinander abzugrenzen.
3. Einzelne Autoren, insbesondere nach möglichster formaler
Exaktheit strebende Systematiker, haben offenbar diesen letzteren
Übelstand besonders- lebhaft empfunden und vertreten den Stand-
punkt, daß man nur solche Gruppen unterscheiden dürfe, die durch
eine Definition von allen andern abgegrenzt werden können. So
sagt Ridgway (1901, p. VIID: Auf Grund der Descendenztheorie
gibt es ın der Kette der existierenden Tierformen keine Lücken
außer denen, die durch das Aussterben intermediärer Typen ver-
ursacht sind; „daher kann es keine solche Gruppe wie eine Familie
oder Gattung (noch irgend eine andere was das betrifft) geben
wenn sie nicht von ‘andern Gruppen durch die Existenz einer
solchen Lücke abgetrennt ist; weil, wenn nicht so isoliert sie nicht
definiert werden kann, und daher keine Existenz in der Wirklich-
keit hat.... Kurzum, keine Gruppe, ob von generischem, Fami-
lien- oder höherem Range, kann giltig sein außer sie kann durch
Charaktere definiert werden, die genügen sie von jeder andern zu
unterscheiden.“ — Das die gedachten Autoren leitende Streben
nach Exaktheit ıst sehr anerkennenswert; und auch darin hat
Ridgway durchaus Recht, daß eine systematische Einheit nur dann
unterschieden werden darf, wenn sie von jeder andern durch eine
Lücke getrennt ist. In dem Vorhandensein einer solchen Lücke
selbst liegt aber auch das in formaler Hinsicht (also abgesehen
von der jeweiligen fachwissenschaftlichen Prüfung des Wertes der
trennenden Charaktere) maßgebende Kriterium dafür, ob die Unter-
scheidung einer Gruppe berechtigt ist oder nicht, und nicht etwa,
wie Ridgway anscheinend meint, darin, ob wir imstande sind, sie
durch eine Definition von allen andern Gruppen zu unter-
scheiden. Gewiß ist es sehr wünschenswert und soll den Gegen-
stand ernstlichen Strebens bilden, für jede unterschiedene Gruppe
eine solche Definition zu geben, und wird dies bei wirklich natür-
lichen Gruppen mit Hilfe des weiter unten vorgeschlagenen Ver-
fahrens auch in allen Fällen möglich sein. Sollte es aber auch in
diesem oder jenem Falle nicht gelingen, so dürfte uns das nicht
im geringsten daran hindern, eine Einheit, die wir als natürlich
erkannt haben, auch tatsächlich aufzustellen — ein Standpunkt,
den schon OQdhner ausdrücklich vertreten hat (s. unten sub 4).
(Ein solcher Fall wäre noch am ehesten möglich bei einer Gruppe,
welche neben andern auch z. B. durch Parasitismus hochgradig
veränderte Formen enthält, deren Zugehörigkeit zu ihr durch das
Vorhandensein von Übergangsformen ganz zweifellos ist, die aber
die speziellen, die typischen Mitglieder der Gruppe von denen der
verwandten Einheiten unterscheidenden Merkmale nicht aufweisen,
314 F. Poche, Über das Definieren der systematischen Gruppen.
oder bei einer sehr formenreichen Gruppe, die sowohl ursprüng-
liche als [und vielleicht sogar nach verschiedenen Richtungen hin]
viel höher entwickelte und dazu eventuell noch stark rückgebildete
Formen umfaßt. und deren Natürlichkeit ebenfalls durch die Exi-
stenz von Übergangsgliedern bewiesen wird, die aber außer den
ihr mit den verwandten Gruppen gemeinsamen keine Charaktere
besitzt, die gleichzeitig allen ıhren Mitgliedern zukommen.)
4. In direktem Gegensatz zu der oben besprochenen Ansicht
Ridgway’s sagt Odhner (1911a, p. 107): „Es ist ein großer Irr-
tum, zu glauben, wenn es sich um höhere systematische Gruppen
handelt, daß die Schwierigkeit oder Unmöglichkeit, eine präzise
Diagnose zu geben, ein Kriterium der mangelnden Natürlichkeit der
betreffenden Gruppe sein muß. Würde man im vorlfegenden Falle
Proctoeces und Tergestia in der Familiendiagnose mit berücksichtigen,
so würde wahrhaftig nicht viel Gemeinsames übrig bleiben.“ Anderer-
seits sagt er aber unmittelbar vorher auch selbst: Die Beziehungen
der Gattung Proctoeces „zu den Steringophoriden sind so völlig über
jeden Zweifel erhoben, daß sie von diesem Gesichtspunkt aus sehr
wohl ın die Familie eingereiht werden könnte. Wenn man sie aber
statt dessen als ein aberrantes Genus der Familie am Ende an-
hängt, gewinnt man dadurch, wie in andern Ähnlichen Fällen, den
großen Vorteil, daß man sie ın der Familiendiagnose nicht zu be-
rücksichtigen braucht und diese deshalb klarer und schärfer ab-
fassen kann.“ Und ebenso sagt er 1911 b, p. 526, nachdem er die
Hauptcharaktere der Hemiuridae angeführt hat: „Daß fast von allen
diesen Merkmalen hier und da Ausnahmen vorhanden sind, die das
Aufstellen einer präzisen Diagnose schwierig machen, hat meiner
Ansicht nach nichts zu bedeuten und kann in einer großen Gruppe
kaum anders sein, da ja jedes Organ a priori ebensowohl wie das
andre Veränderungen unterliegen kann. Die Diagnose muß sich
deshalb auf das, was die Regel ist, beziehen, und die Ausnahmen
können ıhr dann im Noten angehängt werden.“ Letzteres tut
Odhner auch tatsächlich vielfach in den von ihm gegebenen Defi-
nitionen (1911a, p. 97£.; 1911b, p. 527 u. s. w.), indem er, wie es
auch Ridgway bisweilen tut (siehe z. B. 1901, p. 12), bei der An-
führung des betreffenden Charakters in einer Fußnote oder auch
im laufenden Text der Definition selbst diejenigen Formen, denen
jener nicht zukommt, als solche nennt. Daneben führt er aber auch
einzelne Merkmale als »in der Regel« u.s. w. vorhanden an (s. 1911 b,
p. 527f.; 1911c., p. 22f. u.s. w.). — Dem am Anfang dieses Ab-
satzes angeführten prinzipiellen Standpunkt Odhner’s stimme ich
durchaus bei, wie schon aus dem sub 3 Gesagten erhellt. Auch
das von ihm bevorzugte Verfahren, bei nicht allgemein gültigen
Charakteren die Ausnahmen einzeln anzuführen, ist meiner Mei-
nung nach das Beste bis dahin von irgend einem Autor angewen-
F. Poche, Über das Definieren der systematischen Gruppen. >15
dete. Es hat jedoch mit dem sub 2 Besprochenen immer noch
den einen Nachteil gemein, daß dabei — ganz abgesehen natürlich
von etwaigen disjunktiv angeführten Charakteren — in die Defi-
nition der betreffenden Gruppe Merkmale aufgenommen werden,
die einem Teil ihrer Angehörigen nicht zukommen und daher
nicht zum Inhalt des betreffenden Begriffes gehören können. Über-
dies würden die Definitionen durch dieses Verfahren bei umfang-
reichen Gruppen oft sehr schleppend und unübersichtlich werden.
So ist es gewiß für die Turbellaren, zum Teil speziell gegenüber
den nächstverwandten koordinierten Gruppen der Trematoden, bezw.
Cestoden in hohem Maße charakteristisch, daß sie am ganzen Körper
von der Epidermis bekleidet sind, daß sie wenigstens auf dem
größeren Teil desselben Wimpern tragen, daß sie stäbchenförmige
Körper erzeugen, daß ihre Körperbedeckung keine .chitinigen*
Anhänge aufweist, daß sie einen Mitteldarm besitzen, daß sie
hermaphroditisch sind und daß sie sich ohne Generationswechsel
fortpflanzen. Wenn man aber alle jene Arten oder Gruppen,
die einzelne dieser Charaktere nicht besitzen, in der Definition der
Turbellaren jeweils einzeln als Ausnahmen anführen muß, so wird
diese recht schleppend werden und an Übersichtlichkeit sehr ver-
lieren. Und außerdem ist es oft überhaupt nicht möglich, jeweils
alle Ausnahmen von den in der Definition angeführten Charakteren
einzeln aufzuführen, weil oft bei einer ganzen Anzahl von Formen
über das bezügliche Verhalten nichts bekannt ist.
Alle die vorstehend angeführten Nachteile vermeidet das von
mir ım Nachfolgenden dargelegte (und ähnlich auch schon 1915,
p. 15 angewandte) Verfahren.
Dieses besteht darin, daß ich eine Einheit gegebenen
Falles definiere als diese und diese Merkmale besitzend
(wobei ich zuerst die allen ihren Angehörigen zukommen-
den anführe und dann die zwar nicht allen diesen zu-
kommenden, aber für die Einheit in hohem Maße cha-
vrakteristischen) oder alle die genannten Merkmale bis auf
höchstens » der n' letztangeführten derselben [bezw. bis
auf höchstens die w letztangeführten derselben] be-
sitzend. Die nicht allen Formen der Gruppe zukommenden
Merkmale führe ich dabeı deshalb jeweils zuletzt an, damit die Defi-
nition durch die Angabe jener Zahl »' ersichtlich macht, welche
Charaktere allen Angehörigen der Einheit zukommen und welche
nicht. (S. das untenstehende Beispiel.)
Durch dieses Verfahren wird vermieden, daß die Definition
unzutreffende Verallgemeinerungen und somit unrichtige An-
gaben enthält, daß sie — abgesehen natürlich von disjunktiv an-
geführten solchen -— Merkmale enthält, die einem Teile der unter
ihr begriffenen Gruppe nicht zukommen, und daß sämtliche ‘
316 F. Poche, Über das Definieren der systematischen Gruppen.
nicht als allgemeingültig angeführten Charaktere bei der Klassifi-
zierung einer gegebenen Form an der Hand der Definition so
gut wie unverwendbar sind, indem bei einer der betreffenden Gruppe
zugehörigen Form höchstens » derselben fehlen können, während
wenigstens n'’—n -derselben ihr zukommen müssen. Ebenso wird
durch jenes Verfahren vermieden, daß es nicht selten überhaupt
unmöglich wird, Einheiten vermittelst der für sie gegebenen Defi-
nitionen durchgreifend gegeneinander abzugrenzen, oder daß anderer-
seits natürliche Gruppen nicht unterschieden werden, weil man nicht
imstande ıst, sie vermittelst Definitionen durehgreifend gegeneinander
abzugrenzen, oder daß die Definitionen bei umfangreichen Gruppen
durch die einzelne Anführung aller Ausnahmen oft sehr schleppend
und unübersichtlich werden.
Überdies hat das in Rede stehende Verfahren den
Vorteil, daß es scharf zum Ausdruck bringt, daß für die
Unterscheidung und Abgrenzung von Gruppen im natür-
lichen System durchaus nicht immer nur ein oder einige
durchgreifende Merkmale maßgebend sind, wie es 5
künstlichen Systemen der Fall ist, sondern oft vielmehr
ein ganzer Komplex von Charakteren, von denen bei einer
gegebenen Form jeweils einer oder mehrere fehlen
können, wie es sich aus der im natürlichen System ge-
botenen Berücksichtigung der Gesamtorganisation der
zu klassifizierenden Tiere geradezu*mit Notwendigkeit
ergibt.
Da bei dem besprochenen Verfahren die allen Formen einer
Gruppe zukommenden Charaktere jeweils gesondert von jenen an-
geführt werden, bei denen dies nicht der Fall ist, so kann es da-
bei natürlich sehr wohl vorkommen, daß über dasselbe Organi-
sationsverhältnis an 2 verschiedenen Stellen der Definition etwas
ausgesagt wird, nämlich bei den allgemeingiltigen und bei den nicht
Men Charakteren. Und zwar wird dieser Fall dann
eintreten, wenn sich über ein Organisationsverhältnis einer Gruppe
eine weniger weitgehende, aber ausnahmslos zutreffende, und eine
weitergehende für die meisten, aber nicht für alle Angehörigen
dieser geltende Angabe machen, läßt und es wünschenswert erscheint,
sowohl erstere wie letztere in die Definition aufzunehmen. So ist
es ein durchgreifendes und sie von allen andern Platoden unter-
scheidendes Merkmal der Turbellaren, daß wenigstens der größte
Teil des Körpers von der Epidermis bekleidet ist, während das
Vorhandensein derselben am ganzen Körper für diese Gruppe zwar
sehr charakteristisch ist, aber nicht ausnahmslos allen ihren Ange-
hörigen zukommt (s. Plehn, 1896, p. 141f.). Ich halte es daher
für angezeigt, in der Dei das Turbellaren (s. unten) sowohl
dieses wie jenes Organisationsverhältnis an der entsprechenden
Stelle anzuführen.
ie 5 N i R
F. Poche, Über das Definieren der systematischen Gruppen. 347
Um eine praktische Illustration für das Gesagte zu geben, defi-
niere ich beispielsweise die Turbellaren als Piatodes, die unsegmen-
tiert und zeitlebens wenigstens am größten Teil des Körpers von
der Epidermis: bekleidet sind, deren Parenchym keine „Outicula*
abscheidet und keine „Subcuticularzellen“ enthält, die wenigstens
in der Jugend einen Mund, aber nie einen gegabelten Mitteldarm
noch einen Laurer’schen Kanal besitzen, deren Jugendformen keine
Embryonalhäckchen tragen, die nie stark voneinander abweichende
- Generationen und nie Heterogonie aufweisen, am ganzen Körper
von der Epidermis bekleidet und wenigstens auf dem größeren Teile
desselben bewimpert sind, mit stäbchenförmigen Körpern, ohne
„ehitinige“ Anhänge der Körperbedeckung, mit emem Mitteldarm,
hermaphroditisch und sich ohne Generationswechsel fortpflanzend,
oder mit allen diesen Charakteren bis auf höchstens 3 der 7 letzt-
angeführten.
Ferner möchte ich — ganz unabhängig von dem vorhergehen-
den — bei dieser Gelegenheit auch darauf hinweisen, daß man in
der Definition von Gruppen, bei denen ein Generations-
wechsel vorkommt, entweder die Charaktere sämtlicher
Generationen (gemeinsam oder gesondert) berücksich-
tigen oder ausdrücklich angeben muß, für welche von
diesen die ‚angeführten Merkmale Geltung beanspruchen.
Denn da ja eine Einheit als solche und nicht etwa nur
eine bestimmte Generation derselben definiert wird und
jene aus der Gesamtheit der Zeugungskreise ihrer Ange-
hörigen besteht, so beansprucht ohne eine solche An-
gabe die Definition wenigstens dem Wortlaute nach für
sämtliche Generationen dieser letzteren Gültigkeit und
ist daher, wenn in ihr nicht die Charaktere aller dieser
Generationen berücksichtigt sind, zu eng, indem sie für
einen Teil derselben dann nicht zutrifft.
Literatur.
Odhner, T. (1911a), Zum natürlichen System der digenen Trematoden. III. (Ein
weiterer Fall von sekundärem Anus.) (Zool. Anz. 38, p. 97—117.)
— (1911 b), Zum natürlichen System der digenen Trematoden IV. (Zool. Anz. 35,
p. 513—531.)
— (1911e), Nordostafrikanische Trematoden, größtenteils vom Weißen Nil (von
der schwedischen zoologischen Expedition gesammelt). (In: Results of the
Swedish Zoological Expedition to Egypt and the White Nile 1901 under the
Direetion of L. A. Jägerskiöld, T. IV.)
Plehn, M. (1896), Neue Polycladen, gesammelt von Herrn Kapitän Chierchia bei
der Erdumschiffung der Korvette Vettor Pisani, von Herrn Prof. Dr. Küken-
thal im nördlichen Eismeer und von Herrn Prof. Dr. Semon in ‚Java. (Jen.
Zeitschr. Natwiss. 30, p. 137—176, tab. VIII—XIII.)
Poche, F. (1915), Über das System der Anthozoa und einige allgemeine Fragen
der zoologischen Systematik. (Zool. Anz. 46, p. 6—16, 33—43.)
bir f = 4 DOREEN GT SAE TI Der SEE Te BE 3 ES A an a a na a
„ 2.
er >
518 Ph. H. Latzin, Die Rolle der Anseleichsprinzipe in der Theorie des Lebens. ®
Ridgway, R. (1901), The Birds of North and Middle America: A deseriptive
Catalogue of the Higher Groups, Genera, Species, and Subspecies of Birds
known to oceur in North America, from the Arctie Lands to the Isthmus
of Panama, the West Indies and other Islands of the Caribbean Sea, and
the Galapagos Archipelago, 1. (Bull. United States Nat. Mus., Nr. 50, [1|.)
Die Rolle der Ausgleichsprinzipe in der Theorie
des Lebens.
Von Mr Ph. Hermann Latzin, Wien (Atzgersdorf).
Vor Beginn der wissenschaftlichen Forschung wurde gemeinig-
lich alles in Bewegung Befindliche als lebend er bis sich
langsam, ohne dem naiven Beobachter recht Beh zu werden,
die Unterschiede beider Tatsachen aufdrängten. Zuerst mehr
instinktiv gefühlt, wurden diese Verschiedenheiten im Verlaufe der
geistigen Entwicklung einer begrifflichen Fassung unterworfen. So
wurde allmählich eine Summe von Erkenntnissen über das Leben
angehäuft, die zwar ohne Zusammenhang und Erklärung dastanden,
aber doch zur genauen Abgrenzung des Gebietes „lebend — tot“
gute Dienste leisteten. Diese Begriffe wurden dereh‘ die neuere
a Durcharbeitung des biologischen Tatsachenmaterials
scharf präzisiert, und durch die bekannte Lebensdefihition W.Roux’
zu möglichster Vollendung gebracht. Er unterscheidet 9 Selbst-
tätigkeiten, die durch die 10., die Selbstregulafion, zusammengehalten
werden. Diese 9 Autergasien sind: 1. Selbstaufnahme von Fremd-
stoffen, 2. Selbstassimilation, 3. Selbstdissimilation, 4. Selbstaus-
scheidung, 5. Selbstersatz, 6. Selbstwachstum, 7. Selbstbewegung,
8. Selbstvermehrung, 9. Vererbung.
Diese neun Begriffe sind dem Universalbegriff des Lebens
untergeordnet, setzten ıhn zusammen.
Um zu einer Erklärung des Lebens zu gelangen, d. h., um den
unbekannten Komplex der Lebenserscheinungen auf Bekanntes zu-
rückführen, müssen also zuerst die zehn Unterbegriffe des Lebens
auf ihren Gehalt an schon erkannten Dingen untersucht werden.
Es lag nahe, nach Erleichterungen auf diesem Wege der Er-
kenntnis zu suchen. Man hob deshalb den einen oder den andern
der obigen Begriffe, der dem jeweiligen Beobachter am meisten von
denen der anorganischen Natur abweichen mochte, hervor und
wollte dessen Aufklärung als Aufklärung des Lebens überhaupt: ver-
standen wissen.
Besonders günstig für diesen Endzweck schien der letzte zu-
sammenfassende Begriff zu sein, die Selbstregulation oder der Aus-
gleich, wie wir ıhn nennen wollen.
Ausgleichsprinzip deswegen, um eine möglichst allgemeine
Fassung dieser anfänglich nur dem Leben zugesprochenen Eigen-
Ph. H. Latzin, Die Rolle der Ausgleichsprinzipe in der Theorie des Lebens. 310
schaft zu haben, weil wir im folgenden besonders von Theorien reden
wollen, die GB Gegenteil ch nachzuweisen suchen.
Wins definiert der Begriff des Ausgleichs?
Jedes System irgendwelcher Art ist im Gleichgewichte an Be-
dingungen geknüpft, die teils seinen eigenen Kräften und Konfigu-
rationen entstammen, sogenannte innere Bedingungen, teils den
mit ihnen in Wechselwirkung begriffenen anderen Systemen, äußere
Bedingungen. Diese Bedingungen können auch als gesetzmäßige
Zusammenhänge der Systemteile untereinander und mit der Außen-
welt bezeichnet werden.
Auf eine Veränderung dieser Zusammenhänge kann zweierlei
eintreten. Entweder vermag das gestörte Gleichgewicht nicht wieder
hergestellt werden, dann geht es alte System zugrunde, oder dieses
strebt einem neuen Gleichgewichtszustande zu, es gleicht sich mit
den veränderten Umständen aus. Der N alenlan wird da-
nach definiert:als ein Prozeß, durch den das Erhaltenbleiben
eines Systems trotz Änderung seiner Zusammenhänge
bedingt wird.
. Dieser Ausgleich ist an lebenden und toten Objekten zu beob-
achten, qualitativ und quantitativ aber herrschen große Differenzen.
Wir wollen uns an einem einfachen Beispiele klar machen,
worauf es hier ankommt.
Ein Stahldraht kann eine sehr große Last tragen, ein gleich
dicker Kautschukfaden nur eine viel kleinere, ohne zu zerreißen.
Aber der Draht wird bis zur Aufhebung seiner Individualität, dem
Riß, nur wenig gedehnt, die Länge 6 Kautschuks dagegen oft
mehr als ok ohne daß ur System zugrunde geht.
Danach ist nicht allein die Größe der Elastizität als maßgebend
für die Fähigkeit zum Ausgleich mit äußeren Kräften anzusehen.
Wir messen die Ausgleichsfähigkeit durch die Summe aller
möglichen Zustandsänderungen, die das System erleiden kann, ohne
seine charakteristischen Zusammenhänge einzubüßen, und durch die
Arbeit, die dazu aufgewendet werden muß.
Cohen Kysper (Die mechanischen Grundgesetze des Lebens.
Leipzig 1914) prägte hierfür den Begriff „Ausgleichsbreite*.
Die Ausgleichsbreite ist also proportional der Verschiedenartig-
keit der Konstellationsänderungen, mit denen sich das System aus-
gleichen kann und sie ist auch zugleich das unterscheidende Merk-
mal lebender von toter Substanz, groß bei ersterer, relativ klein
bei den Anorganismen.
Diese enorme Ausgleichsfähigkeit der Lebewesen gegenüber den
wechselnden Kräften der Umwelt ist eine der primitivsten wissen-
schaftlichen Erkenntnisse über das Leben. Und frühzeitig erwachte
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390 Ph. H. Latzin, Die Rolle der Ausgleichsprinzipe in der Theorie d
\
auch der Wunsch nach tieferer Einsicht in diese merkwürdige Er-
scheinung.
Dem früheren Stande der Naturwissenschaft war eine rein
physikalische Erklärung (Physik als empirische Naturwissenschaft
im weitesten Sinne genommen) nicht möglıch.
Philosophische Prinzipien tauchen darum zuerst auf.
Man bezeichnete einfach die zu erklärenden Vorgänge als die
Folge bestimmter Tendenzen, die in die lebende oder auch in
jegliche Substanz verlegt wurden. _
Je nachdem diese Tendenzen jenseits aller Erkenntnis gesucht
wurden, oder nur als derzeit nıcht weiter auflösbar angesehen, ent-
standen vitalistische oder mehr weniger positivistische Hypothesen.
Da die ersteren von speziell philosophischem Interesse sind,
wollen wir uns den letzteren zuwenden.
Hier ıst zuerst Gustav Theodor Fechner zu nennen. Er
versuchte zu zeigen, wie durch sein Prinzip der Tendenz zur
Stabilität (Einige Ideen zur Schöpfung und Entwicklungsgeschichte
der Organismen 1873) jegliches organisches Geschehen bestimmt ist.
Zweı Fälle von Stabilität sind nach ihm zu unterscheiden: Die
Stabilität der Ruhe und die der Veränderung. Sind die Teilchen
des Systems bewegungslos, so haben wir den ersten Fall, die abso-
lute Stabilität. Wenn aber die Teilchen des Systems solche
Bewegungen ausführen, daß das System periodisch in frühere Zu-
stände, wenn auch nur angenähert, zurückkehrt, so nennt dies
Fechner volle, resp. approximative Stabilität.
-Und diese ist nach ihm für das Weltgeschehen maßgebend.
Nicht zur Ruhe, sondern zur periodischen Wiederholung strebe die
Natur. Der Lauf der Planeten um die Sonne, der Kreislauf des
Lebens sind Beispiele dafür.
Das organische Beharrungsvermögen ıst unter diese Ten-
denz zur approximativen Stabilität zu rechnen.
Das Streben nach einem solchen Zustand entspricht dem, was
oben als Ausgleich bezeichnet wurde.
Herbert Spencer, der bekannte englische Philosoph, ent-
wickelte seine empirische Lebensdefinition aus dem Phänomen der
lebenden Ausgleichsprozesse. „Leben ist beständige Anpas-
sung (hier Ausgleich) innerer an äußere Beziehungen.“
Dies ist übrigens eine der besten, die bis jetzt gegeben wurden.
Und zwar deshalb, weil sie keine Erklärung sein will, sondern nur
eine begriffliche Zusammenfassung unserer bisherigen Kenntnisse
über das Leben in kurzen Worten vorstellt.
Nachdem einmal die Wichtigkeit der Ausgleichserscheinungen
erkannt war, konnte es nicht verfehlen, daß physikalisch-chemische
es Lebens.
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3 LE No AA a Eva all 32 73 a BI” Pl A IE SET Ai ER N Sn
u r* NEN r f > N 7 u ;
Ph. H. Latzin, Die Rolle der Ansgleichsprinzipe in der Theorie,des Lebens. 391
Deutungsversuche auftraten. Die metaphysischen Theorien wollen
‚wir, wie schon gesagt, nicht in den Kreis unserer Betrachtungen
ziehen.
Ich will im folgenden eine Auswahl aus den bisherigen Er-
klärungsversuchen des Ausgleichsprozesses geben, ohne die ver-
schiedenartigen Anpassungshypothesen zu erwähnen, und dabei zwei
Theorien vorführen, welche von dem charakterisierten-Prinzip aus-
gehend eine Totalansicht der Lebenserscheinungen aufbauen wollen.
Nur einige Worte noch über den Zusammenhang von Ausgleich
und Anpassung. Nach der oben gegebenen Definition. des Aus-
gleichsbegriffes bezeichnet dieser den Prozeß schlechtweg, während
die Bezeichnung Anpassung auch auf die Finalität des Vorganges
hinweist.
Wir wollen uns zuerst der chemisch-physikalischen Theorie von
H. Lundegärdh (Grundzüge einer chemisch-physikalischen Theorie
des Lebens. Jena 1914) zuwenden, einerseits weil sie sich aufs
engste an den bisherigen Aufbau der allgemeinen Physiologie an-
schließt, ‚andererseits auch infolge der fast allgemeinen Anerken-
nung ihrer Grundlage, der Anwendung des Massenwirkungsgesetzes
auf die Selbstregulation des Plasmas.
Das Grundgesetz der chemischen Kinetik besagt, daß
die Geschwindigkeit einer Reaktion proportional der noch vorhan-
denen, nicht umgesetzten Substanz ist; also wenn Stoff A ın B
umgesetzt wird
dx
1. RT k(a—x)
d
a die anfänglich vorhandene Menge des Stoffes A,
x = die jeweilig in B umgesetzte Menge von A.
Ist die Reaktion A>B umkehrbar (A = B); so besteht Gleich-
gewicht, wenn die Reaktionsgeschwindigkeit in beiden Richtungen =
gleich ist.
WU BE 5
De dx
5: mtU-9= ko
(A—x) 5 k —=(C (Konstante).
x k
Wächst also ım Gleichgewichte die Menge B(=x), so muß A
(= a—.x) ebenfalls zunehmen und umgekehrt. Die Quantitäten von
A und B gleichen einander aus.
Die einfacheren Stoffwechselregulationen sind wohl mit Sicher-
heit auf dieses Schema zurückzuführen (siehe dazu auch Verworn:
39. Band. 22
A RN RER A N NG vn VER Wr
LE
399 Ph. H. Latzin, Die Rolle der Ausgleichsprinzipe in der Theorie des Lebens.
Allgemeine Physiologie, Jena 1915, p. 613f.). Die überragende Aus-
gleichsfähigkeit des lebenden Organismus beruht nach dieser Theorie
auf den zahlreichen, untereinander zusammenhängenden Reaktions-
ketten des Plasma.
Wir kennen aber noch eine zweite Möglichkeit des chemischen
Ausgleichs. Der Chemiker nennt eine Variation der Konstante ©
eine Gleichgewichtsverschiebung. Le Chatelier und van’t
Hoff konnten darüber folgende Sätze nachweisen: Erstens ist eine
Gleichgewichtsverschiebung nur durch Energiezufuhr möglich. En-
zyme vermögen deshalb eine solche Wirkung nicht hervorzubringen.
Zweitens stellten sie das sogenannte Prinzip des „beweglichen Gleich-
gewichtes auf. Wird einem chemischen Systeme irgendeine Energie
zugeführt, so verschiebt sich das Gleichgewicht auf die Seite des-
jenigen Stoffes, der unter Absorption dieser Energie entsteht.
Die einwirkende Kraft wird also dadurch aufgehoben, „aus-
geglichen“. Zahlreiche Plasmaregulationen mögen auf diese Weise
ihre Erklärung finden.
Wir können uns eine lebende Zelle auf folgende Weise ver-
sinnbildlichen:
CE (a — x) SE) a)
ka een —k
&—x, 2) al 5 ; (ae nn) nn
Reaktionskettel „ IE: RR ER te
(a —x,) (a— x)
entspricht unserem obigen ——— —-, x setzt sich eben
(X —%ı) x
sofort in x, um. Für die umgekehrte Reaktion B> A kommt des-
halb nur die Menge (x, — x,) in Betracht.
Die Totalformel wäre also (alle Reaktionsketten 1—|n— 1]
als eine aufgefaßt)
AmxX
3. ns et SE k
(Jedes einzelne Reaktionskettenglied der Einfachheit halber uni-
molekular und nur an zwei andere anschließend, sonst würden die
Verhältnisse zu unübersichtlich, etwa:
an Constante.
A=ZB-+6
RE u. 8. w.).
D E-+F.
Lundegärdh stellt nun weiterhin die Hypothese auf, daß
während der Ontogenese keine neuen Reaktionsketten entstehen
oder alte aufgelassen werden, sondern nur die Gleichgewichte der
vorhandenen auf eine der beiden beschriebenen Arten varuiert werden.
Die „Artzelle“ (O.Hertwig) besitzt also eine charakteristische
Reaktionskette, die sie von jeder anderen unterscheidet. Die Varia-
tionsmöglichkeiten von © stellen ihre „Potenz“ vor.
u N
PRFIR
"Ph. H. Latzin, Die Rolle der Ausgleichsprinzipe in der Theorie des Lebens. 323
Über die Größe der prospektiven Potenz emer Eizelle kann
man sich ein Bild machen, wenn man bedenkt, daß die beiden
oben beschriebenen Variationen der einzelnen k auf die verschie-
denste Weise untereinander kombiniert werden können.
Auf analoge Art will unser Autor die Regeneration verstanden
wissen, doch kann darauf nicht näher eingegangen werden.
Was aber den gesetzmäßigen Wechsel der Reaktionskon-
stanten veranlaßt, darüber können nur-vage Vermutungen aufgestellt
werden. Lundegärdh vertritt stufenweise Determination der
Ontogenese durch äußere und innere, skalare oder vektorielle Kräfte,
wobei die letzteren für die räumliche Ausbildung der Organismen
verantwortlich gemacht werden.
Wir wollen uns jetzt den Anschauungen Öohen Kyspers’ zu-
wenden. Sie weichen in beträchtlichem Maße von denen der bis-
herigen Physiologie ab und verwenden ausschließlich analytisch-
mechanische Begriffe statt der gewöhnlichen physikalisch-chemischen.
Dadurch erhalten sie zwar eine ungewöhnliche Allgemeinheit, teilen
aber auch den Nachteil aller allzu allgemeinen Begriffe, bei der
Anwendung auf Spezialprobleme sich ins Nebelhafte zu verziehen.
Da die Ausführungen des Autors (siehe b. l.c. III. Abschnitt)
etwas unklar sind, wozu noch die ungewohnte Hertz’sche Nomen-
klatur kommt, so will ich versuchen, das rein mechanische Er-
klärungsprinzip des Ausgleichs auf eine etwas andere Art zu formu-
lieren.
Wir bezeichnen als mechanisches System eine Summe von
materiellen Punkten m, +m,..... m„, ‘zwischen denen a fixe Be-
dingungsgleichungen von der Form (x, Y,2,....Zu) = 0 bestehen,
worin xyz die Koordinaten der Punkte m vorstellen. Diese Be-
dingungen sind identisch mit den sogenannten inneren Kräften
des Systems, durch sie wird die freie Bewegungsform der einzelnen
Punkte abgeändert. Diese Variation ist gerade so groß, daß die
davon hervorgerufenen Gegenkräfte den inneren das Gleichgewicht
halten.
Die Summe der. Quadrate der Abweichungen der einzelnen
Punkte bezeichnen wır nach Gauß als Zwang des Systems. Es
gilt der Satz, daß der Zwang eines Systems unter den gegebenen
Umständen ein Minimum ist.
Führen wir jetzt b neue Bedingungsgleichungen y(x, y,2,.... Zu) — 0
ein, sei es durch äußere Kräfte „Reize“, sei es durch innere Zu-
ständsänderungen, so werden die ursprünglichen Bewegungsformen
abermals.geändert, der Zwang nımmt zu, immer natürlich mit dem
Minimumprinzip verträglich. Bis die absolute Größe des Zuwachses
des Zwanges den durch die neuen Bedingungen dargestellten Zu-
satzkräften entspricht. Damit ist ein neues Gleichgewicht, der Aus-
gleich, gegeben. Werden die neuen Kräfte entfernt, so kehrt das
2
Ne. NER TE Say ES he
394 Ph. H. Latzin, Die Rolle der Ausgleichsprinzipe in der Theorie des Lebens.
System wieder infolge der Bedingungen (...)=0 in den alten Zu-
stand zurück. Ist unser System ein vitales, die Zusatzkräfte die
Außenwelt, so entsprechen sich gegenseitig Ausgleich und An-
passung. Nur ist die Ausgleichsbreite eines vitalen Systems unver-
gleichlich größer als die eines mechanischen.
Diese allgemeinsten Betrachtungen über mechanische Systeme
werden zum Aufbau einer Vitalmechanik verwendet.
Oskar Kysper will die lebende Substanz als ein einheitliches,
mit charakteristischer Dynamik versehenes System auffassen. Nicht
die einzelnen Teile der lebenden Zelle kämen für die verschiedenen
vitalen Verrichtungen in Betracht, sondern nur die gesamten Zu-
sammenhänge, die Zelle an sich als letzte unteilbare Lebenseinheit.
Von diesem Standpunkte aus wird jede Theorie lebender Mole-
keln oder Micellen (Naegeli) abgelehnt.
Jedes System, das ohne Veränderung seiner spezifischen Wir-
kungen nicht weiter geteilt werden kann, heißt eine dynamische
Einheit. Seine spezifischen dynamischen Leistungen sind
seine Funktionen.
Zur Einreihung der Onto- und Phylogenese unter sein Prinzip
muß Cohen Kysper zwei neue Hypothesen aufstellen, die „Inte-
gration“ und das „Gesetz der Einstellung“.
Integration bedeutet den Übergang eines oder mehrerer Systeme
zu einem System höherer Ordnung. Und diese höheren Zusammen-
hänge sollen zugleich den Ausgleich der niederen bedingen.
Das zweite „Gesetz“ beinhaltet die Phänomene der Anpassung.
Wir nannten die Abweichungen eines Systems von der eigenen
Bewegung durch neue Zusammenhänge Zwang. Dieser Zwang soll
nun nach Cohen Kysper bei langdauernder Einwirkung der ver-
änderten Umstände auf unser System immer kleiner werden, indem
die inneren, alten Bedingungen des Systems sich mit den neuen
auszugleichen streben, „konstruktiver Ausgleich“.
Auch die Psychologie will Cohen Kysper dem Ausgleichs-
begriff unterordnen. Näheres darüber und über die Entwicklungs-
prozesse mag in dem oben genannten Werke nachgelesen werden.
So viel über die Grundlagen dieser Theorie.
Durch ihren exakten Aufbau auf der analytischen Mechanik
und ihrer umfassenden Begriffsbestimmung hat sie etwas ungemein
Bestechendes an sich. Auch verhindert diese feste Fundamentierung
jeden Angriff auf ıhre Grundlagen.
Vermag sie aber auch wirklich das Rätsel des Lebens zu lösen?
Wir dürfen uns darüber nicht täuschen. Was sind denn jetzt
eigentlich die kennzeichnenden Merkmale vitaler Systeme?
Wieder die von jeglicher toter Materie unterschiedlichen Er-
scheinungen. Die Unterschiede der Erscheinungen beruhen aber
auf den besonderen Systembedingungen.
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ERETEER
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E. Bresslau und M. Buschkiel, Die Parasiten der Stechmückenlarven. 325
Und diese spezifisch vitalen Systembedingungen sind nach wie
vor unbekannt.
Wie die Maxwell’sche 'Theorie die Erscheinungen der Elek-
trizität und des Lichtes auf gemeinsamer Grundlage aufs einfachste
und genaueste beschreibt, ohne das Wesen der behandelten Dinge
im geringsten aufzuklären, so auch hier.
Das Ausgleichsprinzip mechanischer Fassung führt die Dynamik
lebender und toter Systeme auf gemeinsame Grundlagen, dieSystem-
bedingungen, zurück, von denen aus sie beide Erscheinungsreihen
exakt zu beschreiben vermag.
Die Konstitution vitaler Systeme zu erkennen, ist aber noch
immer der Zukunft überlassen.
Die Parasiten der Stechmückenlarven.
ı[V. Mitteilung der Beiträge zur Kenntnis der Lebensweise unserer Stechmücken ').)
- Von E. Bresslau und M. Buschkiel.
(Mit 3 Textfiguren.)
a) Allgemeines.
Von E. Bresslau, Frankfurt a. M.
Während die erwachsenen Stechmücken wegen ihrer Rolle als
Krankheitsüberträger oft und genau auf Parasiten untersucht worden
sind, scheint weniger bekannt zu sein, daß auch ihre Larven eine
wahre Fundgrube für Schmarotzer darstellen. Es dürfte sich lohnen,
diesem ausgezeichneten und vielerorts leicht zu beschaffenden Unter-
suchungsmaterial bei uns in Zukunft mehr Aufmerksamkeit zuzu-
wenden, als bisher geschehen ist. Als Vorarbeit für derartige Unter-
suchungen stelle ich im folgenden zusammen, was ich in der Literatur
an Angaben über die Parasiten der Schnakenlarven habe ausfindig
machen können ?), indem ich jeweils kurz anfüge, was ich selbst mit
meinen Mitarbeitern bei den Straßburger Stechmückenstudien darüber
beobachtet habe.
Ich beginne mit den Entoparasiten und unter diesen mit
den parasitischen Würmern. Aus der Gruppe der Trematoden
sind verschiedentlich junge, eingekapselte „Distomeen“ in den Larven
von Anopheles-Arten beschrieben worden (Ruge 1903, Alessan-
drini 1909). Nach Alessandrini soll das von Ruge gefundene
Distomum die Larve von Distomum globiporum sein, das von
1) I. und II. Mitteilung s. diese Zeitschr. 37, 1917, S. 507—533, III. Mit-
teilung ebenda 38, 1919, 8. 530—56. a
2) Vgl. dazu besonders die Arbeit von Dy& (1905), ferner die Übersicht im
1. Bande der Monographie von Howard, Dyar und/Knab (1912) und die Zu-
sammenstellung von Eysell (1915).
7
326 E. Bresslau und M. Buschkiel, Die Parasiten der Stechmückenlarven.
v. Linstow auch in Zymnaea ovata beobachtet wurde und als er-
wachsene Form im Darm von Fischen lebt. Die von ihm selbst
gesehenen Trematoden hält Alessandrinı für die Larven von
Leeithodendrium ascidia (van Beneden), einem häufigen Parasiten
unserer Fledermäuse. Die Fledermäuse infizieren sich, indem
sie Schnaken fressen, die den Trematoden im Ösophagus oder
in der Magenwand enzystiert oder frei in der Leibeshöhle be-
herbergen. Die Schnaken wiederum erhalten den Parasiten,
indem die Eier mit den Fäces der Fledermäuse ins Wasser
gelangen, wo die Larven ausschlüpfen und als Cercarien in
die Anopheles-Brut eindringen. Wir haben in Straßburg nicht
selten in Anopheles-Larven kleine enzystierte Trematoden gefunden.
Weder Dr. Eckstein, der sie zuerst beobachtete, noch ich hatten
indessen Zeit, über ihre Artzugehörigkeit nähere Untersuchungen
anzustellen.
Auch Nematoden sind verschiedentlich in Schnakenlarven
gefunden worden. Es handelt sich nach Stiles (1903) dabei um
die Jugendstadien eines Rundwurms (Agamomermis), der erwachsen
in den Imagines lebt und schon von Leuckart dort beobachtet
wurde. Die Nematoden finden sich sowohl in den Larven unserer
einheimischen Crlicada nemoralis, wie bei der nordamerikanischen
Oulicada sollicitans, möglicherweise auch in Anopheles-Larven. — Mer-
mis-Larven, und zwar immer paarweise eine größere und eine kleinere
zusammengerollt in der Thoraxgegend der Leibeshöhle liegend, sah
Gendre (1909) m den Larven der Gelbfiebermücke (Stegomyyia
calopus) von Französisch-Guinea.
Von parasitischen Protozoen in Stechmückenlarven sei zuerst
Nosema stegomyiae genannt, ‚das Marchoux, Salimbeni und
Sımond (1903, 1906) in der Gelbfiebermücke (Stegomyia calopus)
entdeckten. Sind 9 Imagines dieser Stechmückenart stark in-
fizıert, so dringen nach den Angaben der französischen Forscher
die Microsporidien auch in die Ovarien und Eier ein, woraus
dann infizierte Larven hervorgehen. Eine unmittelbare Infektion
der Larven durch Zufuhr der Nosema-Sporen mit der Nahrung ge-
lang den Autoren nicht. Sie beschreiben einmal gewöhnliche, farb-
lose Sporen von 4—7 u Länge und 2-3 u Breite, aus denen
Amöboidkeime hervorgehen, außerdem aber noch braune Sporen,
die mehr fadenförmig gestaltete Keime entstehen lassen. Ob es sich
bei diesen Parasiten wirklich um Angehörige der ‘Gattung Nosema
handelt, läßt sich allerdings weder aus dem Text noch aus den
Abbildungen mit Sicherheit erkennen. Immerhin kann ich be-
stätigen, daß tatsächlich echte Vertreter des Genus Nosema in
Schnakenlarven vorkommen. Ich besitze ein Ausstrichpräparat von
dem Leibeshöhleninhalt einer Oylex piptens-Larve, . das gewaltige
Massen von Nosema-Sporen enthält, die in ihrem Aussehen (Fig. 1)
ee re et Se an
Panda
re Zeugen = Fin
WERTE
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Ze Luz
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PET RE ET IREE U EEE REE
2 kn 5 Aus a Ze
“ mit allen Entwicklungsstadien einer augenschein-
E. Bresslau und M. Buschkiel, Die Parasiten der Stechmückenlarven. 527
an die typischen, von Stempell (1904, Fig. 99—102) abgebildeten
Sporen von Nosema anomalum oder an die Sporen des Nosema
pulieis Nöller (1912, 1914, Textfig. 8) erinnern. Die Länge der
Sporen beträgt 4,5—5,5 a, ihre Breite 1,5—2,4 «. Zur Artbezeich-
nung schlage ich den Namen Nosema culieis vor.
Außer Nosema-Arten kommen in den ein-
heimischen Schnakenlarven aber auch noch andere
Microsporidien vor. So fand ich einmal eine
Larve von Culiseta (Theobaldia) annulata, die ganz
lich in die Nähe von Thelohania gehörigen Form
erfüllt war. Ich hoffe - auf diesen Parasiten,
in dessen Kernen bei den Sporulationsteilungen
sehr schöne Chromosomen ausgebildet werden,
andernorts ausführlicher zurückkommen zukönnen. Kar Prlening
Die gleichen französischen Autoren (1903) be- pu;,be Hei he
schreiben ferner aus Stegomyia calopus und ıhren x 150%.
Larven eine Gregarinen-Art mit recht eigen-
artigem lebenszyklus.. Die Imagines enthalten niemals vege-
tative Stadien, sondern nur Sporocysten innerhalb der Mal-
pighischen Gefäße. Von hier sollen die Sporen teils nach ihrer
Ausstoßung mit den Fäces des Insekts, teils nach dessen Tode
und Zerfall ins Wasser gelangen und dort von den Larven mit
ihrer Nahrung aufgenommen werden. Im Darmkanal der Larven
kriechen die Sporozoiten aus und dringen in Zellen des Darm-
epithels oder des subkutanen Fettgewebes ein, wo sie sich abkugeln
Fig. I. .Nosema cu-
lieis n. sp., Sporen,
und allmählich zu Gregarinen ohne Proto- und Epimerit von birn-
förmiger Gestalt und 15--30 u Länge heranwachsen°). Bei wei-
terem Wachstum fallen sie aus den Zellen heraus, in das Cölom
oder Darmlumen, und bewegen sich hier lebhaft. Sie messen als-
dann 25—50 u. Während der letzten Zeit des Larvenlebens oder
auch erst im Puppenstadium treten die Parasiten zu Syzygien zu-
sammen. Wenn sich dann in der Puppe der Darmkanal des fer-
tigen Insekts ausbildet, wandern die Syzygien in diesen über und
gelangen von hier aus in die Malpighischen Gefäße, wo sie sich
festsetzen und mit der Sporogonie beginnen. Diese verläuft sehr
rasch, so daß die Sporocysten im allgemeinen fertig ausgebildet
sind, wenn die Imago ausschlüpft.
Auch von anderen Autoren sind Gregarinen in Stechmücken-
larven gesehen, jedoch stets nur ganz kurz beschrieben worden.
So teilt Ross 1906 in Ergänzung schon 1895 und 1898 in indischen
3) Möglicherweise sind diese Formen auch von Pressat (1905) gesehen worden,
der im Darm von Stegomyia-Larven birnförmige Elemente fand, die sehr langsame
amöboide Bewegungen zeigten,
398 E. Bresslau und M. Buschkiel, Die Parasiten der Stechmückenlarven.
Zeitschriften von ıhm publizierter Angaben über das Vorkommen
einer Gregarina culicis ın Stegomyia-Larven, -Puppen und -Imagines
mit, daß die von ıhm beobachteten Formen wahrscheinlich ver-
schiedenen Spezies angehörten, von denen eine wohl sicher mit
der von Marchoux, Salimbeni und Simond beschriebenen
Gregarine identisch ist. Ferner beobachteten Leger und Duboseq
(1902) bei einer in Korsika gesammelten COulex-Larve eine in das
Cölom vorspringende Oyste der Darmwand, die sie auf eine Gre-
garine vom Diploeystis-Typus beziehen. Endlich beschreibt Guenther
(1914) eine nach seiner Meinung wahrscheinlich zu den Monocystiden
gehörige Gregarine aus der Leibeshöhle von Larven der indischen
Stechmückenart Frealbia dofleini.
Es ıst also nur sehr wenig, was über die Gregarinen der
Stechmückenlarven bekannt geworden ist. Die einheimischen Arten
scheinen überhaupt noch nicht daraufhin untersucht worden zu
‚sein, obwohl gerade die Insektenlarven stets dankbare Objekte zum
Studium von Gregarinen gebildet haben‘). In der Tat ist Infektion
mit Gregarinen etwas ganz Gewöhnliches bei unseren Schnaken-
larven.
Es gilt dies in erster Linie für die Larven von Oulex pipiens L.
Schon ım Sommer 1916, als ich mich aus systematischen Gründen
etwas näher mit den Larven der verschiedenen Stechmückenarten
beschäftigte ’), fiel mir auf, daß die piöpiens-Larven vielfach — an
manchen Fundorten zu 50%, und mehr — mit Gregarinen infiziert
waren. ‚Diese erwiesen sich bei näherem Zusehen als Angehörige
einer neuen Art, die zu der erst vor kurzem durch Keilin (1914)
entdeckten Schizogregarinenfamilie der Oaulleryellidae gestellt werden
mußte. Ihre genauere Untersuchung war mir selbst aus Zeitmangel
nicht möglich; ich konnte diese Arbeit jedoch im Sommersemester
1918, als ich ın Vertretung von Prof. Doflein das Freiburger
Zoologische Institut leitete, Frl. M. Buschkiel übergeben, die ım
Anschluß an meine Ausführungen hier kurz selbst über ihre Beob-
achtungen berichten wird.
Außer den Cklex piüpiens-Larven sind aber auch die Larven
verschiedener anderer einheimischer Schnakenarten Träger von
Gregarinen. Als Beispiel möchte ıch hier nur kurz eine in (ul-
seta annulata nicht seltene, neue Schizogregarinenform beschreiben,
deren Lebenszyklus, soweit meine Beobachtungen reichen, dem von
Frl. Buschkiel für die Singschnakengregarine ermittelten sehr
ähnlich ıst. Das Aussehen der frei im Darm der annulata-Larven
lebenden erwachsenen, vegetativen Stadien dieser Art, die ich
4) Vgl. z. B. das umfangreiche Verzeichnis der untersuchten Arten in der
Arbeit von Wellmer (191]).
5) Uber das Ergebnis dieser später von Dr. Eckstein übernommenen Unter-
suchungen s. dessen gleichzeitig erscheinende Arbeit (Eckstein 1919).
E. Bresslau und M. Buschkiel, Die Parasiten der Stechmückenlarven. 329
Caulleryella annulatae benenne, zeigt Fig. II. Man kann an ihnen
. zwei Körperabschnitte unterscheiden, einen hinteren, der den großen
Kern mit einem im Leben stark lichtbrechenden Karyosom enthält, und
einen vorderen, den ich als Pseudomeriten bezeichnen möchte, da
‚er aus gleich zu erörternden Gründen weder als echter Proto- noch
als echter Epimerit aufgefaßt werden kann. Der hintere Körper-
abschnitt ist mehr oder minder zylindrisch, hinten abgerundet und
von einer dünnen Ektoplasmaschicht umhüllt, der Pseudomerit zeigt
wechselnde Gestalt und eine auffällig dicke, im Leben stark lıcht-
brechende Pellicula. Stets beginnt der Pseudomerit der annulata-
Gregarinen mit einer beträchtlichen Verbreiterung gegenüber dem
hinteren Körperabschnitt, nach vorn zu ist er bald abgerundet
(Fig. Ha), bald mehr oder minder spitz zulaufend (Fig. IIb, c). Auch
sein fein granuliertes Plasma erscheint von anderer Beschaffenheit als
das mehr grobkernige des anschließenden, hinteren Körperabschnitts.
Dadurch, sowie durch die Anschwellung, mit der er beginnt, ferner
durch die stärkere Ausbildung seiner Pellicula hebt sich der Pseudomerit
sehr deutlich von dem den Kern führen-
den hinteren Körperabschnitt ab, ‚ohne
doch wie ein typischer Protomerit von
dem Deutomeriten durch eine Ekto-
plasmalamelle getrennt zu sein oder die
für einen Epimeriten charakteristischen
Eigenschaften — vorwiegend ektoplas-
matische Beschaffenheit und Hinfällig-
keit während des freien vegetativen Pu
Lebens — zu besitzen. Die Länge Fig. II. Caulleryella annulatae
der ausgewachsenen vegetativen Indi- "- SP ne a ne
viduen beträgt 23-33 u, ihre Breite am De
Ansatz des Pseudomeriten 9-13 u°).
Auch Flagellaten sind unter den Parasiten der Stechmücken-
larven recht häufig vertreten, die Kenntnis der Systematik, Mor-
phologie und Biologie dieser Formen liegt aber noch ganz im argen.
Kurze Angaben darüber machte als erster Ross (1898, 1906); sie
beziehen sich auf indische Schnakenarten. 1902 berichteten sodann
Leger und Dubosegq über eine Herpetomonas-Art aus dem Darm
korsischer Anopheles-Larven, die Leger (1902) kurz zuvor im Darm
weiblicher Imagines von Anopheles maculipennis entdeckt und als
Crithidia fasciculata beschrieben hatte. Die Parasiten haben bald
die langgestreckte Gestalt typischer Herpetomonaden, wobei sie
zugleich durch Verschmälerung und welligen, eine undulierende
Membran andeutenden Kontour der einen Seite des Zelleibes an
°) Anmerkung bei der Korrektur: Inzwischen ist auch eine verwandte Schizo-
gregarınenart in Anopheles-Larven beschrieben worden; vgl. E. Hesse, Caulleryella
anophelis, Compt. Rend. Acad, Se, Paris, 166, 1918, S. 569-572.
330 E. Bresslau und M. Buschkiel, Die Parasiten der Stechmückenlarven.
Trypanosomen erinnern können, bald erscheinen sie als mehr oder
minder ovoide bis abgekugelte Formen. Ich habe nicht selten ähn- |
liche Flagellaten im Darm von Cuwlex pipiens-Larven gefunden, an
denen sich der Übergang aus dem Herpetomonas-Stadium in einen
gregarinenähnlichen, oftmals zum Schluß völlig abgekugelten Zu-
stand leicht beobachten ließ. Außer diesen Flagellaten traf ich bis-
weilen aber auch ZLeptomonas-Formen, ohne jede Andeutung einer
undulierenden Membran, ähnlich der von Novy, Mac Neal und
Torrey (1907) aus dem Darm erwachsener Stechmücken beschrie-
benen Leptomonas fasciculata, die nicht mit der Orithidia faseieulata
Leger verwechselt werden darf (vgl. Woodecock 1914, Nöller
1917). Eine genaue Bearbeitung dieser Schnakenlarven-Flagellaten
ist dringend erforderlich, schon um eine gefährliche Fehlerquelle
bei Infektionsversuchen mit erwachsenen Stechmücken auszu-
schalten. Solange nicht eine scharfe Charakterisierung der ın den
Schnakenlarven vorkommenden Flagellaten möglich ıst, können
Übertragungsversuche von Blutflagellaten, bei denen Stechmücken
zur Verwendung kommen, nicht als völlig einwandfrei gelten. Denn
bei der Möglichkeit einer direkten Übermittlung der Flagellaten
von Schnake zu Schnake ohne Zwischenwirt, auf dem Wege über
die Eier, Larven und Puppen, läßt sich selbst durch alleinige Ver-
wendung von Imagines, die im Laboratorıum aus Eiern aufgezogen
wurden, nicht ausschließen, daß die Insekten bereits von vornherein
mit Flagellaten infiziert sind (vgl. auch Novy, Mac Neal und
Torrey 1907, Patton, 1912).
Als letzte entoparasitische Form sei endlich noch die Spiro-
chaela culicis erwähnt, die Jaffe (1907) bei Berlin massenhaft ın
den Larven einer nicht näher bestimmten Schnakenart fand. Ähn-
liche Organismen beschreiben Edmond und Etienne Sergent
(1906) aus den Larven algerischer Anopheles maculipennis. Nach
meinen Beobachtungen kann ich bestätigen, daß vor allem Oulew
pipiens-Larven sehr häufig Spirochaeten beherbergen.
Als Ektoparasiten kommen an Schnakenlarven bisweilen
Milben vor. Es handelt sich dabei um die Jugendformen von
Hydrachniden, die wahrscheinlich zu den Gattungen Eylais, Hydro-
droma, Hydryphantes oder Diplodontus gehören, deren Larven durch
ihre parasitische Lebensweise bekannt sind. Nach den Beobachtungen
amerikanischer Entomologen (Howard, Dyar und Knab 1912)
und der Gebrüder Sergent (1904) an algerischem Material geht
die Infektion so vor sich, daß sich die Hydrachnidenlarven im
Wasser an das Abdomen der Schnakenlarven anhängen. Dadurch
werden die Schnakenlarven indessen in keiner Weise geschädigt,
denn ihre Entwicklung geht ruhig weiter. Bei der Verwandlung
zur Puppe wandern die Milben von der Schnakenlarvenhaut auf
die Puppe über und setzen sich hier am Rücken fest, nahe dem
E. Bresslau und M. Buschkiel, Die Parasiten der Stechmückenlarven. 35|
Punkt, wo die Haut beim Schlüpfen der Imago einreißt. Dies er-
möglieht ihnen dann, sich während des Ausschlüpfens an dem Hinter-
leib des fertigen Insekts zu befestigen, sodaß sie mit diesem den
Übergang vom Wasser- zum Luftleben mitmachen. Nach den An-
gaben von Howard. Dyar und Knab scheint es, als ob beson-
ders afrikanische Hydrachnidenlarven die Gewohnheit haben, Stech-
mückenlarven zu befallen, während die nordischen Wassermilben
andere Wasserinsekten bevorzugen. Vielleicht erklärt sich
daraus, daß mir bisher keine mit Milben behafteten Stechmücken-
larven zu Gesicht gekommen sind. Wohl tragen auch bei uns die
Stechmücken-Imagines nicht selten Milben, aber wohl keine Hydrach-
niden, sondern Gamasusarten (Eysell 1913), die sich den In-
sekten anhängen, wenn sie irgendwo auf dem Lande ausruhen.
Als harmlose Ektokommensalen gleichfalls völlig unschädlich sind
die Vorticelliden, die sich oft in ungeheuren Massen auf den Schna-
kenlarven ansiedeln. Bisweilen trifft man Brutstellen, besonders von
Culex pipiens, wo der größte Teil der Larven am ganzen Körper,
den Kopf mit een mit einem dichten eben Überzug
aus lauter Individuen von Vorticella mierostoma oder einer verwandten
Art bedeckt ist, so daß es aussieht, als ob die Tiere vollständig ver-
pilzt wären. Nichtsdestoweniger habe ı h niemals eine Beeinträch-
tigung der Tiere bemerken können; ihre Entwicklung vollzog sich
stets so, wie bei Larven, die frei von Vorticellen waren. Der bei
Howard, Dyar und Knab (1912) erwähnte Fall einer Anopheles-
Larve, die so mit Glockentierchen beladen ‚war, daß sie ihren Kopf
nicht mehr recht bewegen konnte, daher bei der Nahrungsaufnahme
notlitt und demzufolge einging, wird auch von den amerikanischen
Autoren als Ausnahme bezeichnet.
Auch die Entoparasiten haben im allgemeinen wohl keine patho-
gene Bedeutung für die von ihnen Bealenen Schnakenlarven. Nur
in ganz wenigen Fällen, so bei der Infektion mit Mermis (Gendre
1909) oder mit Msn (Marchoux, Salimbeni und Simond
1906) nehmen die betreffenden Autoren eine schädigende Wirkung
als möglich an. Ich selbst habe, soweit meine Beobachtungen
reichen, niemals eine Schädigung der infizierten Larven feststellen
können. Als Helfer bei der Bekämpfung der Schnakenbrut können
ihre Parasiten jedenfalls nieht in Frage kommen,
b) Caulleryella pipientis n. Sp.,
eine Schizogregarine aus dem Darm der Larven von Culex pipiens L.
Von Marianne Buschkiel, Freiburg i. B.
In einer eingehenderen, bisher noch nicht veröffentlichten Arbeit,
zu der ich durch Herin Prof. Bresslau angeregt wurde, beschäl-
tigte ich mich mit der Untersuchung einer Schizogregarine, die
339 E. Bresslau und M. Buschkiel, Die Parasiten der Stechmückenlarven.
im Darme von Culex pipiens-Larven parasitiert. Die Ergebnisse
meiner Beobachtungen sollen in kurzer Zusammenfassung hier folgen.
Es handelt sich um eine Schizogregarine, die als Produkt ihrer
geschlechtlichen Entwicklung 8 Sporen zu je 8 Sporozoiten liefert.
Sie erweist sich dadurch zu der von Keilin (1914) aufgestellten
Gruppe der Octosporea gehörig. Weitere Untersuchungen ergaben
die nahe Verwandtschaft mit der von diesem Autor beschriebenen
Caulleryella aphiochaetae, einem Parasiten aus dem Darm von Aphio-
chaeta rufipes Meig., eines zyklorhaphen Dipters. . = neue Species
sei daher Caulleryella pipientis genannt.
Im‘Lumen der der Sekretion. dienenden Aussackungen des
Mitteldarmes der Culex pipiens-Larven, wie im Darme selbst, finden
sich alle Entwicklungsstadien des Parasiten. Während im allge-
meinen entweder die Sporogonie oder die Schizogonie vorwiegt,
findet man auch häufig Stadien beider Entwicklungsmodi neben-
einander im gleichen Wirtstier. |
Die jungen, entweder aus der geschlechtlichen oder unge-
schlechtlichen Vermehrung hervorgegangenen Keimlinge dringen
mit ihren spitzen Vorderenden in die mit einem Stäbchensaum ver-
sehenen „Leberzellen“ der Mitteldarmdivertikel ein. Fig. Ill, 1 des
Zeugungskreises zeigt eine solche Zelle, die sich aus dem Verbande des
Epithels gelöst hat und von einer größeren Zahl der Parasiten be-
fallen ist. So befestigt wachsen sie heran zu der typischen keulen-
artigen Gestalt der vegetativen Caulleryella pipientis. In diesem
Stadium kann man einen länglichen, beim ausgewachsenen Tier
rundlich ovalen hinteren Körperabschnitt, der den großen, bläschen-
förmigen Kern enthält, von dem stielartig verlängerten Vorderende,
unterscheiden, das gewisse Übereinstimmung mit dem Epimeriten
der polycystiden Eugregarinen zeigt. Da dieser Stielfortsatz jedoch
durch keine Scheidewand vom Körper getrennt und zweifellos entoplas-
matischer Natur ist, zugleich aber die Fähigkeit der Rückbildung besitzt,
nimmt er unter den Meriten der Gregarinen eine Sonderstellung
ein. Er wurde von Bresslau als Pseudomerit bezeichnet. Beim
Jugendlichen Individuum geht der Pseudomerit gleichmäßig ın das
Körperplasma über, während die reifen vegetativen Parasiten so-
wohl eine deutliche äußere Abgrenzung, wie Differenz von Körper-
und Stielplasma aufweisen. Im Leben erscheint das Körperplasma
stärker von lichtbrechenden Körnern erfüllt als das Plasma des
Pseudomeriten, das sich im fixierten Präparat feinmaschiger zeigt.
Das Ende des vegetativen Wachstums wird im allgemeinen erst
nach Ablösung des Parasiten aus der Epithelzelle erreicht, in freier
Lage innerhalb des Lumens der Lebersäckchen, bezw. des Darmes.
Die Größe der erwachsenen Individuen schwankt zwischen 35
und 60 u, je nach dem Ernährungszustande des Wirtstieres.
Der Kern enthält einen großen, kompakt kugeligen Binnen-
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399
der Stechmückenlarven.
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. Bresslau und M. Buschkiel, Die Para
334 E. Bresslau und M. Buschkiel, Die Parasiten der Stechmückenlarven.
körper. Außerdem erkennt man bei Anwendung stärkerer Ver-
größerungen ein kleines, im Leben stark lichtbrechendes, mit Eisen-
Hämatoxylin dunkel färbbares Körnchen, über dessen Bedeutung
und etwaige Beziehung zu den Vorgängen im Kern ich vorläufig
nichts aussagen möchte. Ich werde es daher im folgenden mit
dem indifferenten Namen „zweites Körnchen“ bezeichnen.
Betrachten wir die ungeschlechtliche Vermehrung, so sehen
wir, wie sich der Körper des Parasiten zunächst einheitlich ab-
kugelt, indem sich das Plasma aus dem Pseudomeriten zurückzieht
und mit dem Körperplasma einheitlich verschmilzt (Fig. Ill, 2u. 5).
Die Pellicula, welche das Stielende überzog, bleibt entweder als
leere, kegelförmige Hülle funktionslos an der ursprünglichen Stelle
haften, oder wird ın ihrer Form unverändert abgestoßen.
Der Kern beginnt sich nun auf mitotischem Wege unter
typischer Spindelbildung zu teilen, wobei die Kernmembran schwindet
und der Binnenkörper frei in das Cytoplasma austritt (Fig. IIL, 5).
In fortgesetzten Teilungen werden eine größere Anzahl Kerne ge-
liefert, die sich peripher ım Schizonten anordnen, während der Binnen-
körper des ersten Kernes, noch lange Zeit sichtbar (Fig. III, 4),
schließlich im Plasma unter allseitiger Größenabnahme resorbiert
wird. Die Endzahl der Kerne beträgt 32—38. Es schnüren sich
um die Kerne Plasmaportionen ab, die unter Aufbrauchen des Rest-
körpers zu den endgültigen Merozoitenkörpern heranwachsen (Fig.
Ill, 5). Sind die Merozoiten fertig ausgebildet und weisen den
charakteristischen mit Binnenkörper und zweitem Körnchen ver-
sehenen Kern auf, dann ıst das Restplasma nahezu verbraucht
(Fig. III, 6). Nach Loslösung der Merozoiten kann die Autoinfektion
vor sich gehen.
Die Sporogonie wird eingeleitet durch Aneinanderlagerung
zweier ausgewachsener Individuen zur Bildung einer Syzygie, welche
sich nach erfolgter Abkugelung mit einer dünnen, einfachen Oysten-
membran umgibt (Fig. Ill, 7). Auch hier wird die den Pseudo-
meriten überziehende Pellicula als leere Hülle abgestoßen oder
bleibt an der entstandenen Cyste haften. Die Kernteilung geht in
beiden Syzygiten gleichfalls auf mitotischem Wege vor sich. Der
aus dem ersten Ker ne ausgestoßene Binnenkörper bleibt; wie bei der
Schizogonie, einige Zeit zwischen den neuentstandenen Kernen liegen
(Fig. III, 8), um schließlich resorbiert zu werden.
Ist in beiden Syzygiten eine bestimmte Anzahl Kerne gebildet,
so lassen sich im Leben wogende Bewegungen des ne enplee
beobachten, die zur schließlichen Absehnürung der Gametenkörper
führen (Fig. III, 9u. 10). Es entstehen in heiden Syzygiten mehr
Kerne, als Gameten bei der Kopulation Verwendung finden. Im all-
gemeinen kopulieren je 8 Gameten miteinander zur Bildung von
3 Zygoten (Fig. UI, 11). Die überschüssigen 6—10 somatischen
E. Bresslau und M. Buschkiel, Die Parasiten der Steehmückenlarven 5335
Kerne umgeben sich mit unregelmäßigen Plasmaportionen, welche
sich als Restkörper der Cystenmembran anlagern.
Die aus der Kernverschmelzung der kopulierenden Gameten
hervorgegangenen Syncarien teilen sich aufs neue und liefern je
$S Kerne, welche sich an der Peripherie, meist an einem Pole der
Sporoblasten anordnen (Fig. Ill, 12). Durch Abgrenzung sichel-
förmiger Plasmakörper werden so 8 Sporozoiten gebildet, zwischen
Hören. verjüngten Vorderenden ein kugeliger, im en stark licht-
brechender Restkörper lagert (Fig. IIl, 13).
Die Cystenmembran umgibt 8 Sporen zu je 8 Sporo-
zoiten, die von einer äußerst zarten Sporenhülle eingeschlossen
sind, und einige Restkörper in wechselnder Anzahl, welche schließ-
lich durch Quellung die Sprengung der Cyste veranlassen.
Die Sporen (Fig. Ill, 14) werden mit dem Darminhalt der
Cwlex-Larven in das umgebende Wasser entleert und können von
neuen Larven gefressen werden. Im Darme des frischinfizierten
Wirtstieres wird die Sporenhülle gesprengt und das Bündelchen der
Keimlinge fällt, wahrscheinlich unter Quellungswirkung des Sporo-
blastenrestkörpers, auseinander.
Die Infektion findet in den Puppenstadien des Wirtes ihren
Abschluß, indem der infizierte Larvendarm in den Darm der Puppe
aufgenommen, hier resorbiert und die Reste schließlich ausgestoßen
werden. Die aus infizierten Larven bezw. Puppen hervorgegangenen
Imagines wurden stets frei von Caulleryella gefunden.
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EEE WET URN DUB?
jologisches Zentralblatt
Begründet von J. Rosenthal
Unter Mitwirkung von
Dr. RKrGöocbel und Dr. R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München
herausgegeben von
Dr. E. Weinland
Professor der Physiologie in Erlangen
Verlag von Georg Thieme in Leipzig
August 1919 Nr. 8
ausgegeben am 31. August 1919
39. Band
Der jährliche Abonnementspreis (12 Hefte) beträgt 20 Mark
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem (esamtgebiete der Botanik an
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physiolog. Institut,
einsenden zu wollen.
Inhalt: E. Naumann, Beiträge zur Kenntnis des Teiehnannoplanktons. S. 337.
K. Toldt, jun., Neuere Arbeiten über das Integument des Flußpferdes 8. 316.
F. Heikertinger, Versuche und Freilandforschungen zur Mimikryhypthese. S.
H. Heller, Über die Geruchstheorie von Teudt. 8. 364.
G. Dunktr, Jolı. Schmidt’s Rassenuntersuchungen an Fischen. S. 371
332.
Beiträge zur Kenntnis des Teichnannoplanktons.
III}. Einige Gesichtspunkte zur Beurteilung des biologiı-
schen Effekts der vegetationsfärbendenHochproduktieonen.
Von Einar Naumann in Lund, Schweden.
[XNXIV. Mitteilung aus dem Limnologischen Laboratorium Aneboda b. Lamhult?.|
Die Untersuchungen der letzten Jahre haben gezeigt, um welche
oft beträchtliche Hochproduktionen es sich beim Eintreten der
Vegetationsfärbung handelt?). Während sich nämlich die Produk-
tion von Algen und Flagellaten in mäßig hahrungsreichen Teichen
— übrigens gilt das auch für die Seen — für gewöhnlich auf höch-
1) Der erste dieser Beiträge erschien in dieser Zeitschrift 1914, der zweite 1917.
2) Die XXIII. Mitt. erschien in den Publikationen der Schwedischen Geo-
logischen Landesanstalt 1917. ;
3) Die meisten Mitteilungen hierüber sind in den folgenden Arbeiten mitgeteilt:
Kolkwitz, R., Die Beziehungen des Kleinplanktons zum Chemismus der
Gewässer. — Mitt. aus der Kgl. Prüfungsanstalt für Wasser und Abwasser 1911.
Naumann, E., Beiträge zur Kenntnis der Vegetationsfärbungen des Süß-
wassers I—XII. — Botaniska Notiser, Lund 1912— 1919.
Band 39. 23
Le U a a aaa KA ne ee a
VRR PN ENSSIRANE ROLE CRERS
n I ala ENTE CH!
338 E. Naumann, Beiträge zur Kenntnis des Teichnannoplanktons.
stens einige Tausende pro ccm hält, steigt sie beim Eintreten der
Vegetationsfärbung mindestens Zehn-, oftmals auch auf Hun-
derttausende von Zellen pro eem. Ja, sogar Produktionen auf
Millionen von Zellen pro ccm sind für kleinere Süßwässer ein-
registriert*), und zwar beträgt das bisherige mehrmals. beobachtete
Maximum nicht weniger als 10000000. Was die Ursache dieser
Hochproduktionen betrifft, so dürfte sie stets von dem Chemismus
des Wassers abhängen — d. h., die vegetationsfärbende Hochpro-
duktion indiziert stets einen übernormal gesteigerten Zugang auf
ausnützbare Nährstoffe, sei es, daß dieser schon unter den natür-
lichen Verhältnissen entweder stets oder periodisch ermöglicht wird
oder daß er ganz oder teilweis von kulturellen Einflüssen bedingt
wird. Der erstgenannte Fall tritt uns besonders in gewissen Seen
entgegen, wo der sogen. baltische Seentypus eben durch lang an-
dauernde Vor sich in Vergleich mit anderen Typen
als übermäßig nahrungsreich zu Bee Milieu ohne weiteres
indiziert. Für den letztgenannten Fall bietet vor allem die intensive
Wasserkultur der Teichwirtschaft lehrreiche Beispiele’), die gewiß
übrigens auch für die gesamte Limnologie eine prinzipielle Bedeu-
tung zuerkennen werden müssen.
Über die Bedeutung dieser Hochproduktionen im Leben des
Süßwassers sind wır aber noch in mehreren Hinsichten sehr wenig
unterrichtet. Zwar läßt es sich ganz allgemein sagen, daß sie in
dem biochemischen Betrieb eine sehr wichtige Rolle spielen —
gewissermaßen als Sicherheitsventile gegen eine übermäßige An-
reicherung des Wassers an Faulstoffen, sowohl durch das partielle
Aufzehren von einem Teil derselben, welche durch die teilweise
Heterotrophie der meisten dieser Formen ermöglicht wird, wie auch
durch ihre respiratorische Tätigkeit. Daß sie Bar als Produzenten
der Tiernahrung von einer oft hervorragenden Bedeutung sind,
mehrmals erwiesen. \
Aber wie sollte man ein anschauliches Maß für diesen bio-
chemischen Effekt der steigernden Produktionen erhalten? Diese
Frage ıst bis jetzt niemals erörtert, dürfte aber von einer ein-
schneidenden Bedeutung sein, wenn wir dahin kommen, die Pro-
bleme der Hochproduktionen in einer mehr vielseitigeren Weise ex-
perimentell angreifen zu können‘). Sie dürfte deshalb hier ın aller
Kürze eine einführende Auseinandersetzung wohl verdienen.
4) 8. hierzu meinen Aufsatz: Über einige besonders auffallende Hochproduk-
tionen aus Nannoplankton im Süßwasser. — Berichte der Deutschen Botan. Ges.
3erlin 1919,
5) D. z. B. meine Zusammenstellung in dieser Zeitschrift 1914, S. 581-594.
6) Selbstverständlich müssen derartige Studien mit eh eden über den
löffekt na »nischer Eingriffe in dem natürlichen Lebensmilieu des Wassers ihren An-
fang nehmen. Über eine Reihe derartige Versuche habe ich selbst, in den
De des Fischereivereins für Südschweden, Lund 1917, eine erste Übersicht
veechen.
u A? a A age le ln En 1 A an Be
Kir kn Op a Shah a a aba A Re
E. Naumann, Beiträge zur Kenntnis des Teichnannoplanktons. 359
Ein anschauliches Maß für den biologischen Effekt der Hoch-
produktionen ist also als sehr erwünscht zu bezeichnen. Es dürfte
wohl dabeı nichts näher liegen, als hierfür eben die Reaktions-
fläche der Produktion vorzuschlagen, worunter demnach die
gesamte von den Pflanzen auf einem gegebenen Volumen
entfaltete Oberfläche verstanden wird.
Versuchen wir jetzt eine rein schematische Darstellung dieser
Verhältnisse. Wır gehen dabei von Algen eines sphärischen Bau-
typus aus, was ja eine besonders im Teichplankton sehr gewöhnliche
Gestaltungsform darstellt. Von derartigen Voraussetzungen kann
2. B. eine tabellarische Darstellung wie die beistehende gegeben
werden. Um den Umfang derselben zu begrenzen, habe ich nur
einige repräsentative Produktionstypen des Bautypus 5 bezw. 10 u
— was auch als der allgemeinste anzusehen ist — herausgegriffen.
Die Reaktionsflächen, welche den angeführten Produktionen
(pro cem) entsprechen, sind um Vergleiche leicht zu ermöglichen
als mm? pro 1001 angegeben.
Tabelle.
| Entsprechende Oberflächenentfaltung
Produktion pro cem. in mm? pro 1001
Für den Größentypus
} | i > A & | ü 10 u Fer
I. Relative Geringproduktionen. |
1.000 | 7 854 31416
2 500 | 19 635 | 78 540
5 000 39270 157.080
IT. Hoch- bis Überproduktionen, |
A. Hochproduktionen. |
25 000 196 350 | 785 400
50 000 392.700 | 1 570 S00
B. Überproduktionen. I
100 000 | 785 410 3 141 600
1 000 000 7854000 .. 31416 000
10 000 000 78 540 000 314 160 000
Die Tabelle dürfte von der gewaltigen Öberflächenentwick-
lung der vegetationsfärbenden Hochproduktionen einen sehr an-
schaulichen Überblick geben und somit schon an und für sich eine
zahlenmäßige Illustration zu dem schon oben über die Bedeutung
derselben als biochemische Milieuregulatoren angeführten
geben. Es sind ja nämlich dies alles Verhältnisse, die eben von
der reaktionsfähigen Fläche abhängen. Auch die Bedeutung der
planktonischen Pflanzenformen in dem ernährungsphysiologischen
System des Wassers dürfte hiervon abhängen. In dem folgenden
+
23
340 E. Naumann, Beiträge zur Kenntnis des Teichnannoplanktons.
werden wir einigen von diesen Fragen, soweit dies auf dem jetzigen
Standpunkt der Limnologie ermöglicht wird, eine orientierende
Auseinandersetzung in aller Kürze widmen.
1. Die produktive Fläche in ihrem Verhältnis zu der
Entwicklung der Produzenten.
Pütter’) hat es zuerst versucht, den Stoffwechsel des Wassers
von allgemeinen Gesichtspunkten aus zu beleuchten. Als Maß des
Stoffumsatzes wurde dabei natürlich die Oberfläche gewählt, wobei
aber Pütter die Auffassung entwickelt, daß die konsumierende
Fläche im Idealfall gleich der produzierenden gesetzt werden könnte.
Ganz abgesehen von den neuen Vorstellungen über die Ernährungs-
physiologie der aquatischen Tierwelt, welche Pütter hierauf be-
gründet, ist es ja allerdings ziemlich wahrscheinlich, daß eine
Korrelation zwischen der produzierenden Fläche und der Entwick-
lung der Tierwelt vorhanden sein muß. Pütter hat dies u. a.
durch eine auf Grund von Lohmann’s Untersuchungen ım Meer
bei Kıel®) berechnete Tabelle gezeigt, woraus es sich allerdings
ergibt, daß die produzierende Fläche ım allgemeinen beträchtlich
die konsumierende übertrifft, und daß nur ın Ausnahmefällen eine
direkte Proportionalität festgestellt werden könnte.
Die von Pütter (l. e. 1909, S. 133) mitgeteilte Tabelle. ist
indessen als Vergleichsmaterial zu den Verhältnissen in Süßwasser
bei eintretender Vegetationsfärbung von einem beträchtlichen In-
teresse. Einige Hinweise hierauf sind deshalb hier am Platze.
Sehen wir zuerst die produzierende Fläche an, so ergibt
sich, daß dieselbe in dem untersuchten Meeresteil niemals über
einen Wert von ca. 55000 qmm pro 1001 steigt; das Minimum liegt
sogar bei nur etwa 1500 qmm pro 100 1. Vergleichen wir diese
Werte mit den für unsere Teichgewässer von uns nachgewiesenen,
so ergibt sich — vgl. die Tabelle S. 339 — daß nur die kleinsten
unserer alltäglichen Produktionen eine Reaktionsfläche
dieser relativ unbedeutlichen Größe aufzuweisen haben.
Beim Eintreten der vegetationsfärbenden Hochproduktionen steigt
sie aber gewaltig. So liegt sie schon bei einer an und für sich
so geringen Produktion wie die des Größentypus von 10 u auf
5000 pro cem bei dem 3fachen des mit dem angeführten Meeres-
teil beobachteten Maximums, für eine übermäßige Hochproduktion
wie die der Frequenz 10000000 pro ecm aber bei dem’ 4000 fachen
dieser Zahl u. s. w.
‘) Pütter, H., Die Ernährung der Wassertiere und der Stoffhausbalt der
(tewässer. Jena 1909.
S) Wiss. Meeresunters, N. F., Bd. 10, Kiel 1908. ‚&
- E. Naumann, Beiträge zur Kenntnis des Teichnannoplanktons. 341
Es fragt sich aber nun, inwieweit diese Steigerung der
produktiven Fläche mit der Entwicklung der Tierwelt
korreliert. Wıe Pütter nachgewiesen hat, kann jedenfalls eine
direkte Proportionalität zwischen der produktiven und der konsu-
mierenden Fläche existieren. Gehen wir von dieser Annahme
aus um einige jedenfalls unter sich vergleichbare Haltepunkte in
dieser a zu gewinnen.
Eine piuduktive Fläche des Typus 55000 qmm pro 1001 wird
somit einer konsumierenden von derselben Größe gleich ange-
nommen. Oder, um ein konkretes Beispiel zu nehmen, sie ent-
spricht z. B. einer Frequenz von etwa 10000 größeren Kopepoden
— d. h. 1 Exemplar für jeden !/,, eem. Dies sollte somit unge-
fähr der Minimalproduktion eines nieht besonders nahrungsreichen
Teichwassers entsprechen, was tatsächlich auch der Fall sein dürfte.
Nehmen wir danach, wie oben, ein zweites Beispiel im Bereich der
vegetationsführenden Hochproduktionen der Gruppe A unserer
Tabelle und zwar wie früher der Frequenz 50000 auf 1 ccm — was
z. B. für eine vegetationsfärbende Ohlamydomonas-Assoziation
als ein Minimalwert bezeichnet werden kann — entsprechen, so
sollte ja diese Fläche a 1575000 qmm pro 100 1 als tierisches
Äquivalent nicht weniger als 315000 größere Zooplanktonformen —
d.h. 3 pro cem! — geben. Derartige Hochproduktionen
aus Tieren sind tatsächlich auch in einem sozusagen mäßıg
vegetationsgefärbten Teichwasser oft genug anzutreffen.
Soweit entspricht gewiß die zunehmende Produktionsfläche auch
einer überhaupt gesteigerten Produktion des Gesamtwassers.
Gehen wir Br nun weiter im Bereich der von mir als Über-
produktionen bezeichneten und der Gruppe B der Tabelle ein-
gereihten Produktionstypen. Ein hier oft beobachtetes Maxımum
ist das der Produktionsfläche auf 78000000 qmm pro 100 1. Theo-
retisch entspricht dies einem Tieräquivalent auf etwa 15000000 —
d. h. etwa 150 pro cem! Das ist ein höchst erstaunliches Er-
gebnis, das ungeahnte Möglichkeiten für den Aufschwung der
Teichwirtschaft zu bedeuten scheint. Aber ın der Natur liegen
die Verhältnisse ganz anders als es hier rechnerisch ermittelt wurde.
Es hat sich nämlich bei meinen experimentellen Untersuckungen über
die Vegetationsfärbungen kleinster Wasseransammlungen gezeigt,
daß dieÜberproduktion an pflanzlichem Nannoplankton
stets mıt einem Rückgang der höheren Tierwelt des
Planktons verbunden ıst ın den Fällen, wo man theore-
tisch ihre höchste Entwicklung erwarten sollte. Dies geht
soweit, daß die pelagische Tierwelt eben bis auf ein äußer-
stes Minimum, ja bisweilen sogar auf Null reduziert
wird. Wie in dem folgenden näher gezeigt werden soll, dürfte
dies nicht nur aus den ursprünglichen chemischen Verhältnissen
Hin
et
349 E. Naumann, Beiträge zur Kenntnis des Teichnannoplanktons.
des Wassers erklärt werden können, sondern scheint vielmehr direkt
bezw. indirekt von der all zu üppigen Entwicklung der Algen ab-
hängen. Die Überproduktion an Algen wirkt somit auf
das höhere Zooplankton gerade produktionshemmend ein.
Es ergibt sich somit hieraus, daß die Korrelation zwischen der
Entwicklung der Produktionsfläche und der Entwicklung der Tier-
welt in Bereich der geringeren Produktionen bezw. der mäßigen
Hochproduktionen eine (vielleicht ganz) direkte Proportionalität
aufzuweisen hat, während sie beim Eintreten der Überproduktion
ganz gleitend in eine umgekehrte umschlägt. Selbstverständlich
sind’ diese Verhältnisse auch für die Praxis der Teichwirtschaft
von einer hervorragenden Bedeutung. Es gilt ja nämlich hier
zwischen Produktion und Überprodaktion mit Rücksicht auf die
Urnahrung des Wassers den „goldenen Mittelweg“ zu betreten, um
mit dem geringsten Aufwand von Dungstoffen Sn besten Effekt
zu en Wahrscheinlich ist aber hier — in beiderlei Richtung
— vieles gesündigt worden. Die angewandte Biologie hat gewiß
auf diesem Gebiet große Werte zu schützen.
2. Einige Gesichtspunkte betreffs der Ernährungsverhältnisse
des Zooplanktons.
Die alte Auffassung — die übrigens noch die gangbare ıst —
sieht bekanntlich ohne weiteres in den Algen und Flagellaten die
direkte Urnahrung des Wassers. Die Produzenten werden somit
von den Konsumenten ganz einfach verzehrt, digeriert und ausge-
nutzt. Das ganze Problem der gegenseitigen Verhältnisse dieser
rn. Typen sollte somit einfach durch eine
Berechnung der im Organısmenkörper produzierten organischen
Substanz ae werden können: somit ein reines Gewicht-
Problem. a
Pütter war der erste, der gegen diese beim ersten Anblick
allerdings doch so ziemlich plausibel erscheinende Auffassung einen
Einwand erhob. Von rein theoretischen Gesichtspunkten wies er
nach, daß es den Produzenten überhaupt niemals ermöglicht werden
könnte, ın dieser Weise die Anforderungen der Produktion zu
decken. Die alte Auffassung könnte somit nicht richtig sein.
Pütter versuchte es deshalb auch, eine neue ernährungsphysiolo-
gische Theorie der Wasserorganismen zu begründen®), die besser
den tatsächlichen Verhältnissen entsprechen sollte. Nach Pütter
ist die ganze Frage als ein Problem der reagierenden Ober-
fläche zu betrachten, und die Hauptpunkte seiner Theorie dürften
9) Vgl. vor allem seine oben angeführte zusammenfassende Darstellung aus
dem Jahre 1909,
tg. TI En Tan. IN ES ER de 3 An Eu ARTNET
'E. Naumann, Beiträge zur Kenntnis des Teichnannoplanktons. 343
folgendermaßen kurz resumiert werden können: Die Produktion
auf wirksame Oberfläche bezogen ıst der Konsumtion direkt pro-
portional; die Produzenten übergeben gelöste organische Stoffe
— ihre Assımilate — dem Wasser; die Nahrung der Tierwelt
erfolgt vor allem durch eine Resorption gelöster organischer Stoffe
durch die Oberfläche.
Diese Theorie bricht ja völlig mit einigen der anscheinend
meist wohlbegründeten Sätzen der Physiologie. Sie ist deshalb
auch Gegenstand eines sehr lebhaften Streits gewesen, der wohl
auch noch nicht als erledigt betrachtet werden kann !P).
Das ohne weiteres herausfordernde Moment der Pütter’schen
Theorie liegt selbstverständlich ın ıhrer Auffassung über die Er-
nährung der Wassertiere durch eine Resorption gelöster Stoffe
durch die Haut. Tatsächlich scheint dies auch von den Gesichts-
punkten der komparativen Anatomie sehr wenig begründet.
Es ist indessen u. E. sehr zu bedauern, daß die Kritik sıch hierbei
gar zu viel aufgehalten hat, was gewiß ein sonst unbefangenes Be-
urteilen der Gesamttheorie sehr beeinträchtigt hat.
Gesetzt aber, daß diese Annahme wirklich als falsch zu be-
trachten ist, wird dies dann die prinzipielle Bedeutung der Pütter’-
schen Theorie bedenklich erschüttern ? Selbstverständlich in diesem
Punkt. Aber in den andern? Kaum. Unter allen Umständen
bleibt sein Verdienst, die Unzulänglichkeit der- Nahrung im alten
Sinne in rein theoretischer Weise: nachgewiesen zu haben, immer
bestehen. Wo sind aber die neuen Nährquellen, und wıe werden
sie ausgenutzt?
In einer früheren Arbeit!!) habe ich schon einigen der hierher-
gehörigen Fragen eine eingehende Auseinandersetzung gewidmet.
Vor allem wurde dabei die Frage über die Ausnützung der Nähr-
algen in experimenteller Weise behandelt. Sıe zeigte sich fast
überhaupt als sehr minimal, — einzelne Gruppen, die aber
nicht in jedem Wasser auftreten, allerdings ausgenommen. An der
Unzulänglichkeit der gebotenen Nahrung im alten Sinne ist: deshalb
sehr oft nicht zu zweifeln. Als eine neue, und gewiß weit mehr
ausgiebige, bisher aber von den Planktologen eigentlich völlig über-
sehene Nahrungsquelle wurde aber auf den feinsten, überall m dem
Wasser vorhandenen Detritus hingewiesen. Er ist teils limnoalloch-
thon, teils aber im Wasser selbst — vor allem von den Algen —
produziert und demnach autochthon. {
N
10) Eine Zusammenstellung ist von H. Lipschütz gegeben unter dem Titel:
Die Ernährung der Wassertiere durch die gelösten organischen Verbindungen der
Gewässer. Eine Kritik. — Erg. der Physiologie, Wiesbaden 1913.
11) E. Naumann, Über die Ernährungsverhältnisse des tierischen Limno-
planktons. Ein Beitrag zur Kenntnis des Stoffhaushalts im Süßwasser. — Lunds
Universität. Jahresschrift 1918.
NE Er de
“
J.
344 E. Naumann, Beiträge zur Kenntnis des Teichnannoplanktons.
Und hier möchte ich nun an Pütter anknüpfen. Gewiß rührt
nämlich dieser letztgenannte Detritus nicht nur von den Überresten,
abgestorbener Algenzellen her. Es muß vielmehr als sehr
wahrscheinlich betrachtet werden, daß ein beträcht-
licher Teil desselben auch von den von der produzieren-
den Fläche der Algen und Flagellaten ausgeschiedenen
Assimilaten herrührt, indem sie später im Wasser in-
folge chemischer Vorgänge ausgeflockt werden und somit
in eine Form übergeführt werden, die mit Sicherheit von dem
höheren Zooplankton ausgenützt werden kann. Mit einer derartigen
Erweiterung dürfte sich u. E. auch die Pütter’sche Theorie viel
besser als früher in Übereinstimmung mit sonstigen Tatsachen
bringen lassen. Und, ich möchte es nochmals hervorheben, in ihren
wichtigsten prinzipiellen Grundlagen wird dadurch die Theorie
m. E. kaum beeinträchtigt. Die von Pütter rechnerisch erwiesene
Unzulänglichkeit der Nahrung im alten Sinne ist vielmehr experi-
mentell noch mehr pointiert worden, nur die Weise, worin die
Produktion wahrscheinlich der Konsumtion zugute kommt, ist einer
Revision in Übereinstimmung mit den tatsächlichen Befunden der
komparativen Anatomie und Physiologie unterzogen worden. Auch
experimentelle Erfahrungen — die ich wiederum bei meinen Ar-
beiten mit den vegetationsgefärbten Kleingewässern gemacht habe
und die in dem folgenden kurz angedeutet werden sollen — sprechen
aber für das Berechtigte dieser Revision der vorliegenden Theorie.
3 Die Reaktionsfläche der Urnahrung als Exkretproduzent.
Eigentlich sind wir schon durch die soeben vorgeführten Aus-
eimandersetzungen gerade an diesen Punkt gelangt. Denn wenn
die Produktion den Anforderungen der Konsumtion als Nahrung
nicht in einer direkten Weise entsprechen kann, so ist dies selbst-
verständlich auch nicht durch einen Detritus, der nur durch ıhr
Kollabieren hervorgeht, ermöglicht. Wır müssen deshalb hier ge-
wiß mit einer exkretorischen Tätigkeit der produzierenden Fläche
rechnen. Sie dürfte von den Gesichtspunkten der Nützlich-
keit in zweierlei Weise näher beurteilt werden können: einerseits
von dem Standpunkt der Pflanze selbst, anderseits von dem der
Tierwelt.
Pütter hat selbstverständlich besonders auf den letztgenannten
Fall hingewiesen. Der erstgenannte ist allen fast völlig unbeachtet
geblieben. Er ist aber wahrscheinlich nichtsdestoweniger von einer
hervorragenden ökologischen Bedeutung. Wenn nämlich die
)f P Z E P 2 Fee £f b r
Pflanze ausnutzbare Nährstoffe — und zwar vor allem Kohlen-
hydrate — an. das Wasser abgibt, so muß ja daraus ein
mehr oder minder eingreifender biochemischer Milieu-
wechsel resultieren, der selbstverständlich eben in den vege-
Eh Ta BE a ze ao *
E. Naumann, Beiträge zur Kenntnis des Teichnannoplanktons. 345
-tationsgefärbten Wasser mit der dort vorhandenen großen Pro-
duktionsfläche ein Maximum erreichen muß. Es liegt ohne weiteres
auf der Hand, welch eine große Bedeutung dies vor allem für das
Bakterienleben des Wassers darstellen muß. Nicht nur quantı-
tatıv muß es eine beträchtliche Steigerung aufweisen können, son-
dern dazu gewiß auch in einer qualitativ spezialisierten Form
— man denke z. B. nur an die stickstoffsammelnden Bakterien, die in
einem elektrolytenreicheren Gewässer bekanntlich beim Vorhanden-
sein von Kohlenhydraten stets wuchern! —, die wiederum den Ur-
produktionen zugute kommen kann. Auf Grund derartiger Ver-
hältnisse dürfte man wohl berechtigt sein, von einer sehr kompli-
zierten gegenseitigen Abhängigkeit der verschiedenen Assoziationen
dieser Biocönosen zu sprechen. — Was aber diese exkretorische
Wirksamkeit der produzierenden Fläche im übrigen für das Leben
der in Hochproduktion stehenden Pflanzenwelt bedeutet, läßt sich
allerdings noch nicht näher auseinandersetzen. Vielleicht legt
aber hier auch die Lösung des Rätsels, daß so viele Hochproduk-
tionen eine ausgesprochene Speziesreinheit längere Zeiten hindurch
aufweisen können: vielleicht hängt es auch hiervon ab aller-
dings neben einer Reihe anderer Verhältnisse —, daß die Über-
produktion der produzierenden Fläche nicht mit einer dement-
sprechenden Produktion an höheres Tierplankton korreliert. Hier
müßte es sich dann allerdings z. T. um ganz spezialisierte Exkret-
stoffe handeln, um die Alleinherrschaft der Algen im Wasser zu
sichern.
Auf Grund des Gesagten ist somit die Exkretion
auch von den als Nährstoffe brauchbaren Verbindungen
als für die Pflanze unbedingt nützlich anzusehen. Es
ist dann später eine ganz andere Frage, daß sie auch der
Tierwelt zugute kommen. Daß die Menge derselben mit der
produzierenden Oberfläche steigt, muß als eine erwiesene Tatsache
gelten; und daß dies z. T. eben von der Tätigkeit der pflanzlichen
Oberfläche als Produzent verwertbarer Exkrete abhängen muß, geht
ohne weiteres aus der in geeigneten Versuchen erwiesenen Unzu-
länglichkeit der Algennahrung au und für sich hervor, Da nun
diese Exkrete gewiß zum großen Teil in dem Wasser ausgeflockt
werden, so muß selbstverständlich auch der Gehalt an dem staub-
‘feinen Detritus in Proportion mit der vorhandenen Produktions-
fläche zunehmen. Leider ist der Nachweis dieser Körper sehr schwer
in einer quantitativen Weise zu erbringen. Ich bin aber eben
. mit den Vorarbeiten hierzu beschäftigt. Rein qualitativ kann
aber der Gehalt verschiedener Gewässer an dem aktuellen, viel-
leicht z. T. auch potentiellen staubfeinen Detritus nach meinen
Erfahrungen sehr einfach z. B. durch das Hinzufügen von etwas
in destilliertem Wasser gelöstem Gentianaviollet demonstriert wer-
br a a
unsere Augen treten.
346 K. Toldt jun., Neuere Arbeiten über das Integument des Flußpferdes.
den können. Der staubfeine Detritus tritt dann beim Beobachten
einer dirckt geschöpften Wasserprobe in einer geeigneten Kammer
als intensiv gefärbte, oft feın granulierte Flöckehen von denı Aus-
sehen koagulierender Kolloide hervor. Man kann sich in dieser
Weise leicht von dem verschiedenen Gehalt der Gewässer an diesem
staubfeinen Detritus überzeugen. Daß dies hierbei eben in den vege-
tationsgefärbten Gewässern den schärfsten Ausschlag geben wird,
ıst nach dem oben Angeführten ja nur was man theoretisch er-
warten könnte. Es existiert somitinnerhalb gewisser Gren-
zen eine ganz auffallende Proportionalität zwischen pro-
duktiver Fläche, Gehalt des Wassers an staubfeinem
Detritus und der Frequenz der höheren planktonischen
Tierwelt. Vor allem bieten aber die vegetationsgefärbten Gewässer
in diesen Beziehungen hierzu lehrreiche Beispiele und eben in dem
Stadium der Hochproduktion dürfte das produktionsbiologische
Problem der Limnologie ın seiner schärfsten Gestaltung vor
*
Die oben angeführten Gesichtspunkte zum Beurteilen des bio-
logischen Effekts der vegetationsfärbenden Hochproduktionen bezw.
die allgemein-limnologischen Fragen. deren Entwicklung u. E. von
einer derartigen Auseinandersetzung gefördert werden könnten,
müßten wir hier ailerdings in erster Linie in einer rein theore-
retischen Weise behandeln. Schon hierdurch dürfte indessen mehreres
an Klarheit gewonnen haben, wenn auch das hier Dargestellte in
mehreren Hinsichten sich diskutieren läßt. Selbstverständlich kann
auch nur eine experimentelle Forschung auf diese überhaupt sehr
neue Frage die endgültige Beantwortung geben. Ich bin deshalb
auch seit einiger Zeit mit derartigen Arbeiten ın der hier ange-
zeigten Richtung beschäftigt und hoffe deshalb, auch selbst einmal
das hier theoretisch Entwickelte durch das empirisch Gefundene er-
setzen zu können.
Lund, Bot. Inst. d. Universität, im Dezember 1918.
Neuere Arbeiten über das Integument des Flufspferdes.
Von K. Toldt jun., Wien.
In der Menagerie zu Schönbrunn befindet sich seit mehreren
Jahren eine Anzahl Flußpferde (Hippopotamus amphibius L.), die
dank der Fürsorge der Menagerieverwaltung vorzüglich gedeihen
und bereits zweimal eine erfolgreiche Aufzucht aufzuweisen haben.
Das gelingt in den Tiergärten nur selten, obgleich Geburten von
Flußpferden verhältnismäßig häufig stattfinden. Die Jungen gehen
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K. Toldt jun., Neuere Arbeiten über das Integument des Flußpferdes.. 347
aber meistens*sofort oder nach wenigen Tagen ein. Auch bei den
Schönbrunner Flußpferden wurde einmal nach einem unbeobachteten
Wurf ein reifes Neugeborenes tot aufgefunden und ein anderes
Mal kam es zu einer frühzeitigen Totgeburt. Beide Früchte dieses
infolge der vornehmlich amphibiotischen Lebensweise besonders
interessanten Säugetiers wurden zwecks eingehender morphologisch-
anatomischer Studien konserviert. Bis jetzt liegen einige Arbeiten
über die äußere Körperform und namentlich über die Haut abge-
schlossen vor; die makroskopischen Untersuchungen wurden vom
Berichterstatter!), die mikroskopischen von S. v. Schumacher
(Innsbruck)?) ausgeführt. Nachstehend seien die wichtigsten Be-
funde, insoweit sie sich auf bisher wenig bekannte Verhältnisse be-
ziehen oder von biologischem Interesse sind, kurz zusammengefaßt.
Das Frühgeborene, das einen normal gebildeten Fetus dar-
stellt, ıst ungefähr um die Hälfte Jünger (4'/, Monate alt) als das
Neugeborene (Trächtigkeitsdauer beim Flußpferde etwa 8 Monate)
und auch annähernd halb so groß wie dieses (Scheitel-Steißlänge
40 bezw. 84 cm). Beide sind d.
Der Fetus zeigt bereits im allgemeinen den äußeren Habitus
des Erwachsenen. Von einzelnen Formdetails seien zunächst die
der Lippen erwähnt... Diese haben beim Flußpferd wie bei anderen
wasserbewohnenden Säugetieren (namentlich bei den Sirenen) eine
auffällige, spezifische Form, die ein besonders festes Aneinander-
schließen ihrer harten Ränder ermöglicht und zum dichten Abschluß
der Mundhöhle unter dem Wasser und zum Ergreifen der aus
Wasserpflanzen bestehenden Nahrung geeignet erscheint. Beim
Fetus ist diese feste Abschlußmöglichkeit noch nicht vollkommen
erreicht, da die Wangenteile der Unterlippe vom Kinnteil derselben
jederseits durch einen scharfen Einschnitt abgegrenzt sind; dieser
dürfte, worauf Herr Prof. Friedenthal privatim aufmerksam
machte, mit der bereits ın diesem Stadium hohen Lage der Mund-
winkel in Beziehung stehen. Beim Neonatus haben sıch die einzelnen
Unterlippenteile bereits zu einem dem Oberlippenrand entsprechenden
kontinuierlichen Rand vereinigt; strukturell sind sie aber noch er-
kennbar. — Die Penisscheide öffnet sich nach hinten, bekanntlich.
1) K. Toldt jun., Äußerliche Untersuchung eines neugebornen Hippopotamus
anıphibius L. mit besonderer Berücksichtigung des Integuments und Bemerkungen
über die fetalen Formen der Zehenspitzenbekleidung bei Säugetieren. Denkschr.
Akad. Wissensch. Wien, 92. Bd., S. 653— 707, 1915.
Derselbe. Bemerkungen über einen Fetus von Hippopotamus amphibius L.
und über einen 9 Monate alten Zlephas maxin.us L. Zool. Anz. Bd. 50, S. 65—91, 1918.
2) Siegmund von Schumacher, Über eigentümliche Verhältnisse an den
Venen der Ohrmuschel eines neugebornen Nilpferdes. Anat. Anz. Bd. 49,S.72—81,1916.
Derselbe. Histologische Untersuchung der äußeren Haut eines neugebornen
Hippopotamus amyphibiusL. Denkschr. Akad. Wissensch. Wien, 94. Bd.,S.1—52, 1917.
Derselbe. Bau der äußeren Hant eines Fetusvon Hippopotamus amphibius L.
Anat. Anz. Bd. 51, S. 165—173, 1918.
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5 . en: ie
348 K. Toldt jun., Neuere Arbeiten über das Integument des Flußpferdes.
ein bei den Säugetieren primitiver Zustand. Die’ Hoden liegen
subintegumental. An der Basis der Penisscheide befindet sich jeder-
seits eine rudimentäre aber deutlich erkennbare Zitze. Beim Fetus
liegt außerdem nahe vor diesem Zitzenpaar noch ein zweites,
schwächeres. - Eine ähnliche Lage der Zitzen ım Bereiche des Penis
kommt z. B. auch beim Nashornhengst, bei manchen Cetaceen, beim
Esel und Maultier vor, bei g' Pferdeembryonen sind sie sogar nahe
an den Rand des Präputiums verlegt. Beim g Rind, beim Schaf
und Ziegenbock, bei g Hirschfeten sowie bei einigen Marsupialiern
liegen die Zitzen nahe der Basis des Skrotums. Derartige, zunächst
im Vergleich zur Zitzenlage bei den 9 bemerkenswerte Verhältnisse
wurden in der zahlreichen Literatur über den Mammarapparat bisher
wenig beachtet. — Die Nabelschnur ist beim Flußpferd wie z. B.
auch beim Pferd, Rind, Hirsch u. a. mit für die einzelnen Arten
charakteristisch geformten epithelialen Wucherungen bedeckt. Beim
Flußpferd (vgl. bes. Keibel) sind sie von kugelförmiger Gestalt
und von verschiedener Größe, beim Neugeborenen aber durch-
schnittlich nicht größer als beim Fetus. — Bei letzterem befindet
sich am Ende des kurzen, ım apikalen Teil seitlich kompressen
Plätscherschwanzes ein kleines Schwanzfadenrudiment, eine Bildung,
wie sie bei verschiedenen Säugetieren vorkommt und auf eine Reduktion
des Schwanzes hin weist (vgl. bes. Bonnet, Anat. Anz. Ill, 1888). — Die
Hufe zeigen in diesen Entwicklungsstadien eine eigenartige, wesent-
lich andere Form als die des erwachsenen Tieres. In mehr weniger
auffallender Weise kommt dies auch in der Entwicklung der anderen
Säugetiere vor, ist aber bisher noch wenig bekannt. An Stelle des
definitiven Hufes findet sich zunächst eine mit mehr weniger ver-
hornten Lederhautpapillen (Hornsäulchen) durchsetzte Masse, die
den ersten Epithellagen der Körperhaut (dem Epitrichium) ent-
spricht und der Zehe im weiteren Entwicklungsverlauf ein be-
trächtlich verlängertes Aussehen gibt. Dieser als Schutz für
die Embryonalhüllen angesehene Erstlingshuf hat beim Fluß-
pferdfetus eine birnförmige Gestalt mit nach vorne umge-
bogener Spitze. In seinem Innern bildet sich, von dem Zehen-
endglied ausgehend und apikal fortwachsend, der definitive Huf;
dieser schiebt dabei die Hauptmasse des Peronychiums vor sich
hin. Die Hufe des Neugeborenen erscheinen sehr lang, weil die
definitive Hufform nun bereits ausgebildet, aber noch vom Perony-
chium bedeckt ist. Dieses wird bald nach der Geburt abgestoßen.
Die Körperhaut des Flußpferdes hat bereits M. Weber ım
Jahre 1586 eingehend behandelt; die hier zu besprechenden Arbeiten
ergaben auf Grund günstigen Materials weitere interessante Be-
funde. Die kräftigen und annähernd konstanten Faltenbildungen
namentlich am Nacken und Hals des Erwachsenen, welche z. T.
durch Bewegungen des Tieres, z. T. durch die Formbeschaffenheit
5
- N LER IR Lu nn a
K. Toldt jun, Neuere Arbeiten über das Integument des Flußpferdes. 349
der darunter befindlichen Weichteile bedingt werden, sind im all-
gemeinen bereits beim Fetus vorhanden und zeigen im Zusammen-
hang mit den Verhältnissen beim Neugeborenen die Art ihrer all-
mählichen Ausbildung und ihrer mechanischen Beanspruchung. Außer-
dem befinden sich beim Neugeborenen allenthalben an der Haut-
oberfläche Runzelbildungen, die stellenweise regelmäßige Ornamente
bilden und größtenteils’ gleichfalls auf Körperbewegungen zurück-
zuführen sind. Beim Fetus sind sie noch nieht vorhanden, da die
Haut noch wenig gefestigt erscheint. Anderseits sind sie beim
Erwachsenen nicht so deutlich wie beim Neugeborenen, weil sie
durch die starke Oberflächenverhornung der Haut mehr weniger
verwischt werden; beim Neonatus ist die Hornschicht dagegen, ab-
gesehen vom mittleren Teile der Sohlen, noch nicht ausgebildet.
Das frühzeitige Auftreten der Bewegungsfalten und -runzeln in der
ÖOntogenie spricht, wie es auch bezüglich der Fußsohlenhaut des
Menschen, für gewisse Furchenbildungen der Elefantenhaut u. s. f.
gilt, dafür, daß sie bereits erblich fixiert sind. — Die hauptsächlich die
große Stärke und Dicke der Flußpferdhaut bedingende Lederhaut zeigt
ähnlich wie bei Manatus in ihrem größten Anteil eine so regelmäßige
Durchflechtung der Faserbündel. daß sie in dieser Beziehung einem
künstlichen Gewebe kaum nachsteht. — Bezüglich der vornehmlich
auf das Wasserleben zurückzuführenden Spärlichkeit der Behaarung
läßt eine Stelle jederseits im Mundwinkel, wo noch feine Härchen
mit stärkeren untermischt dicht beisammen stehen, erkennen, wie
die Reduktion des Haarkleides allmählich vor sich gegangen ist.
Die im Mundwinkel von den Wasserströmungen geschützte dichte
Behaarung löst sich beim Übertritt auf die freie Wange zunächst
in größere, dann in kleinere Haargruppen auf und schließlich
bleiben nur die einzelnen verhältnismäßig weit voneinander stehenden
Haare erhalten, ein Zustand, wie er auch an der übrigen Körper-
haut besteht. Diese Haare sind beim neugeborenen Flußpferd nicht
einfache Fellhaare (ohne Blutsinusse im Balge), wie sie am Lande
hauptsächlich als Wärmeschutz dienen, sondern, wie bereits Weber
feststellte, Haare mit mehr weniger deutlich entwickelten Blut-
räumen, also Tasthaare. Das wurde in neuerer Zeit auch für die
wasserbewohnenden Üetaceen und Sirenen nachgewiesen; gleich-
zeitig fehlen die Talgdrüsen oder sind (bei den Sirenen) eine rudi-
mentäre vorübergehende Erscheinung in der Entwicklung. Beim
Flußpferdfetus sind diese Haare noch nicht sinuös. Als eine Folge
des Ausfalles der Schutzhaare dürfte, wıe auch beim Elefanten, bei
den Cetaceen, Sirenen u. a., die mächtige Ausbildung der Epidermis
anzusehen sein. Zu ihrer Ernährung und zum besseren Zusammen-
halt mit der Lederhaut, dem auch infolge der Mangelhaftigkeit der
Behaarung ein wesentlicher Faktor abgeht, sind die Lederhaut-
‚papillen sehr reichlich und lang entwickelt. Ihre Länge steht im
350 K. Toldt jun., Neuere Arbeiten über das Interument des Flußpferdes.
direkten Verhältnis zur Dicke der Epidermis. An Stelle der sonst
hauptsächlich als Pigmentspeicher dienenden dichten Behaarung
ist, wie z. T. auch bei den eben genannten Tieren, die Epidermis
reich pigmentiert. — Bezüglich det Behaarung sei noch bemerkt,
daß die zahlreichen kräftigen Haare an dem auffallend breiten
(hohen), größtenteils nach vorne gerichteten Oberlippenteil zwischen
Nasenregion und Oberlippenrand bei genauerer Betrachtung eine
streng bilateral-symmetrische Anordnung zeigen, ein Beweis, daß
dieser Behaarungsbereich den Oberlippenvibrissenfeldern anderer
Säugetiere entspricht; das kommt hier nur infolge der eigenartigen
Lippenform nicht deutlich zum Ausdruck. — Eine weitere An-
passung an das Wasserleben bedeuten die unabhängig von den
Haaren allenthalben am Körper verstreuten Hautdrüsen, die früher
vielfach als „blutschwitzende“ Schweißdrüsen gedeutet wurden. Es
handelt sich hier um eine für die äußere Haut ganz neue Drüsen-
form vom Bau der mukösen Speicheldrüsen, wie sie sonst nur an
Schleimhäuten vorkommen. Bei dem vorzugsweisen Aufenthalt des
Flußpferdes im Wasser ist eine Schweißsekretion überflüssig ge-
worden und statt ihrer wird von den genannten eigenartigen Drüsen
ein rotes, schleimiges Sekret ausgeschieden, das die Haut vermut-
lich vor dem wechselnden Einfluß von Wasser und Luft schützt
(vgl. a. Weber). — Gegenüber diesen an das Wasserleben ange-
paßten Verhältnissen der allgemeinen Körperhaut hat die Haut der
Ohrmuscheln bemerkenswerterweise den Charakter der Haut von
Landbewohnern noch nahezu bewahrt. Denn hier kommen auch
Knäueldrüsen (Schweißdrüsen) und Fellhaare mit Talgdrüsen
vor; an der schwach behaarten Außenseite fehlen: die Schleim-
drüsen. Außerdem finden sich noch um die Basis der Ohr-
muscheln herum Haargruppen. Diese Unterschiede gegenüber
der allgemeinen Körperhaut sind vielleicht darauf zurückzu-
führen, daß das Flußpferd im Wasser die Ohrmuscheln ge-
wöhnlich über den Wasserspjegel herausstehen läßt; die Ein-
wirkung des Wassers ist daher hier noch nicht recht in Erschei-
nung getreten. — Außerdem weisen in der Ohrmuschel des Fluß-
pferdes (in der Nähe des freien Randes) auch die Venen eigen-
artige Verhältnisse auf, die, wie bei anderen Säugetieren andere
Einrichtungen daselbst, wohl zur Verhinderung von Stauungen im
Venensystem dienen. — Die histologische Untersuchung der Fluß-
pferdhaut gab vielfach auch Gelegenheit zur Stellungnahme gegen-
über allgemeinen, das Säugetierintegument betreffende Fragen.
Anschließend sei hier noch erwähnt, daß die Oberfläche der
Haut der, jungen und erwachsenen Flußpferde in unseren Tier-
gärten vielfach dunkle Flecke sowie Warzen oder Sprünge mit
wuchernden Rändern aufweist; über diese Bildungen herrscht, wie
sich aus der Literatur ergibt, vielfach noch Unklarheit, obgleich
al m a 6
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K..Toldt jun., Neuere Arbeiten über das Integument des Flußpferdes. 351
sie von einzelnen Autoren gelegentlich richtig gedeutet wurden.
In beiden Fällen handelt es sich keineswegs um typische Erschei-
nungen, sondern in ersterem Falle um lokale Niederschläge des
roten Sekretes rings um die Mündungen der Schleimdrüsen, ım
zweiten Falle um pathologische, akanthomähnliche Wucherungen
der Epidermis ın verschiedenem Ausbildungsgrade. Diese scheinen
hauptsächlich dann aufzutreten, wenn die Tiere zu wenig Gelegen-
heit haben, ins Wasser zu gehen, also aus Feuchtigkeitsmangel,
vermutlich auch durch Unreinlichkeit begünstigt. In solchen Warzen
wurden Nematoden eingebohrt gefunden; sie dürften nur als sekun-
däre Eindringlinge an rissigen Stellen der Haut und nicht als die
Erreger der Wucherungen anzusehen sein, Die Untersuchungen
über diese Verhältnisse sind noch nicht abgeschlossen.
Bei dieser Gelegenheit sei noch die eigenartige Anordnung
der Haare am Rüssel des indischen Elefanten erwähnt, über die
auch in einer dieser Arbeiten berichtet wurde. Entlang de Ränder
der Rüsselunterseite stehen die Haare, wie besonders deutlich beim
Fetus zu sehen ıst, in einer Reihe von einzelnen hintereinander-
liegenden kleinen Gruppen. Im apıkalen, ın der Ruhe eingerollt
gehaltenen Teile des Rüssels hört diese Behaarung jedoch auf,
während die Umgebung des Rüsselendes wieder, und zwar ziemlich
stark behaart ıst. Das hängt vermutlich damit zusammen, daß der
apıkale Teil der Küsselunterseite bei der mannıgfachen Betätigung
des Rüssels als Greiforgan besonders stark ın Anspruch genommen
ist, weshalb die Haarentwicklung hier unterdrückt wurde und be-
reits beim Fetus nicht mehr zur Ausbildung gelangt. Vielleicht
kommt dabei auch der Druck infolge der Einrollung in Betracht.
Daß anderseits das Rüsselende stark behaart ıst, dürfte darauf
zurückzuführen sein, daß hier die Tastfunktion von besonderer
Wichtigkeit ist.
Von den beiden Flußpferdfrüchten wurden auch Röntgenauf-
nahmen hergestellt und mit einer solchen eines Elefantenfetus ver-
glichen. Sie zeigen namentlich den Entwicklungsgrad und die
topographischen Verhältnisse des Skeletts. Am Elefantenfetus
fällt besonders auch die noch relatıv beträchtliche Größe der Ge-
hirnkapsel auf; die Pneumatizıtät des Schädeldaches ist a nicht
ausgeprägt.
5 ENTE
359 F. Heikertinger, Versuche und Freilandforschungen zur Mimikryhypothese.
Versuche und Freilandforschungen zur
Mimikryhypothese.
Von Franz Heikertinger, Wien.
—
I. Akuleate Hymenopteren als Spinnenbeute.
Unter den Fällen von Mimikry ist die „Nachahmung“ von
stechenden Hautflüglern, von Wespen und Bienen, eine allbekannte
Erscheinung. Der Giftstachel der akuleaten Hymenopteren gilt als
gefährliche Walfe, um dessentwillen seine Träger von den Insekten-
Feinden de werden. Die täuschende Ahnlichkort mit diesen
enudenen läßt — der Hypothese nach — auch den Bee
Schutz genießen.
Es ist selbstverständlich, daß eine een nur dann
gerechtfertigt sein kann, wenn das nachgeahmte Modell selbst
Schutz genießt, selbst von den Feinden seiner Sıppe gemieden wird.
Läßt sich dieser Schutz nicht nachweisen, dann fehlt für eine
Mimikryannahme die wissenschaftliche Begründung. Läßt sich
nachweisen, daß die Modelle selbst schutzlos sind und den Feinden
zur Beute fallen, dann ist die Mimikryannahme als Irrtum erwiesen.
Ich will ein Kapitel aus dem Problem der schützenden Nach-
äffung stechender Hautflügler, der Sphekoidie, . wie A. Jacobı
in seinem zusammenfassenden Werke über die Mimikry !) die Er-
scheinung genannt hat, herausgreifen und das Verhältnis der stechen-
den Hautflügler zu den Arachniden untersuchen. Zur Beleuchtung
der in der zeitgemäßen Biologie gangbaren Anschauungen gebe ich °
Jacobı das Wort.
(S. 81.) „Für die erwachsenen Weibchen dieser Familien (d.
i. der Aculeata oder Stechimmen, nämlich der Apiden, Vespiden,
Sphegiden, Pompiliden, Seoluden u. s. w.) kommen als Feinde im
ganzen nur die Radspmnen und einige wenige Vögel in Betracht;
erstere wagen sich aber nicht an die ın ıhre Netze geratenen
heran, sondern lassen sie schleunigst durch Abbeißen von Fäden
me1).283)
1) Mimikry und verwandte Erscheinungen. Braunschweig 1913, Fr.
Vieweg & Sohn.
2) Vgl. auch F. Doflein, Das Tier als Glied des Naturganzen (Hesse
und Doflein, Tierbau und Tierleben. Bd.1Il, Leipzig, 1914), S.174: „Wenn
Tiere in das Netz geraten, welche als Beute für die Spinnen zu groß und stark sind,
so eilt die Spinne geschäftig herbei und beißt selbst die Fäden ab, in welchen das
Tier hängen blieb. So beschleunigt sie selber die Befreiung der unwillkommenen
Beute. Das ist stets der Fall, wenn solehe Insekten in das Netz geraten sind,
welche über Giftstacheln oder mit Giftdrüsen versehene Beißwerkzeuge verfügen.“
Diese Angabe findet sich übrigens bereits bei OÖ. Herman (Ungarns Spinnen-
fauna. Bd. I, Budapest 1876, S. 78). auch hier aber nur als unbelegte Behaup-
tung. Eine Schilderung konkreter Einzelfälle fand ich nicht.
ns
F. Heikertinger, Versuche und Freilandforschungen- zur Mimikryhypothese. 353
Über die „wenigen Vögel“ gedenke ich andernorts zu sprechen?).
Hier mag Jacobi’s Behauptung bezüglich des Benehmens der
Spinnen gegenüber Stechimmen an Tatsachenmaterial beleuchtet
werden.
Die Behauptung ist nicht zutreffend.
Ich führe im Folgenden Sätze aus einem Buche vor, das einen
Spinnenkenner, der den Mimikrylehren zustimmend gegenübersteht,
zum Verfasser hat/®).
(S. 49.) „Oft kann man hören, wenn eine Wespe oder Biene
sich im Netze fange, so suche die Spinne die Fäden zu lösen, und
lasse sie frei. Dem ist aber nicht so. Manchmal töten sie sich
im wilden Kampfe gegenseitig... Mehr als einmal war ich Zeuge,
wenn sich eine Wespe gefangen hatte, daß die Spinne den Sıeg
davontrug; das Schauspiel ıst sehenswert. Das einemal schien
sich die Spinne der Gefährlichkeit der Lage wohl bewußt zu sein:
sie hielt sich vorsichtig von beiden Enden der Wespe fern und
faßte ıhre Beute am Flügel, den sie unten befestigte. Dann näherte
sie sich dem Körper des Opfers immer mehr, obwohl die Gefangene
beständig mit ıhrem dolchartigen Stachel drohte. Aber das half
der Wespe nichts; die Todfeindin kroch wie ein schleichender
Panther noch näher heran, bis sie ıhre Fänge ım Wespenleib, da
wo dıe Flügel angewachsen sind, versenken konnte. Von dem
Gift der überlegenen Feindin gelähmt, gab dıe Wespe nach einigen
Zuckungen den Kampf auf. Darauf schleppte die Spinne die Wehr-
lose in den verstecktesten Winkel ihrer Höhlung, um sie dort un-
gestört verspeisen zu können S
Soweit Ellis.
Ein französischer Beobachter, H. du Buysson°), berichtet
über das Verhalten einer „grosse araignee* — den Namen nennt
er nicht — folgendes:
„Eine große Spinne hatte zwischen zwei Gitterpfählen ıhr Netz
gespannt... Einige Augenblicke später (d. I. nachdem sie eine
3) Vorläufige Angaben hierüber finden sich in meinen Abhandlungen: Die
Bienenmimikry von Eristalis. Zeitschr. f. wissensch. Insektenbiologie. Bd. XIV.,
1918, S. 1—5, 73—79. — Die Wespenmimikry der Lepidopteren. (Zugleich
eine Darstellung des Mimikryproblems im allgemeinen.) Verhandlgn. d. zool.-bot.
Gesellsch. Wien, 68. Bd., 1918, S. (164)—(194). — Die metöke Myrmekoidie.
Tatsachenmaterial zur Lösung des Mimikryproblems. Biolog. Zentralbl., Bd. 39,
1919, 5. 65. — Die Insektennahrung des Grauen Fliegenfängers Musci-
eapa grisola) im Lichte der Schutzmittelhypothese. Österr. Monatschrift
f. naturwissensch. Fortbildung. XIV. Jhrg., 1919.
4) R. A. Ellis, Im Spinnenland. Aus dem Englischen deutsch von
M. Pannwitz. Verlag d. Deutschen Lehrervereins f Naturkunde (K. G. Lutz).
Stuttgart 1913.
5) Les chasses d’une Araignde. Revue scientif. du Bourbonnais. XVII.
1904, p. 135.
39. Band. 24
354 °F. Heikertinger, Versuche und Freilandforschungen zur Mimikryhypothese.
kleine Fliege ausgesaugt hatte) gab ich ihr eine lebende Biene;
die Spinne stürzte sich sofort auf sie, aber, bis auf etliche Zenti-
meter nahe gekommen, hielt sie erachrebkh inne: sie hatte in ihrer
Gefangenen eine Feindin erkannt, die fähig war, sich mit ihrem furcht-
baren Stachel zu verteidigen. Nun mußte sie mıt Klugheit handeln.
Sie wartete einen günstigen Augenblick ab, um die Biene auf dem
Rücken zu packen und durchbohrte sie mit ıhren Kieferklauen.
Der Druck veranlaßte das Einfließen des Giftes in die Wunde, die
verwundete Biene starb augenblicklich. Die Spinne versuchte sie
in ihren Schlupfwinkel zu schleppen, aber die Beute hatte sich so.
verstrickt, daß die Fäden sie überall zurückhielten. Die Spinne
zögerte nicht, die Fäden abzubeißen, kam aber gleich zurück (re-
viendra), um den Schaden auszubessern.“
In dieser gegen Ende etwas unklaren Schilderung ist allerdings
von einem Abbeißen der Fäden die Rede. Aber dieses Abbeißen
erfolgte offenbar lediglich zu dem Zwecke, um die Beute loszube-
kommen und in den Schlupfwinkel schleppen zu können. Der
Beobachter erwähnt nirgends, daß die Beute aus dem Netz geworfen
worden wäre — wie dies seitens derselben Spinne mit anderen
Tieren, einer Baumwanze und einer Raupe, geschah und vom Be-
riehterstatter ausdrücklich erwähnt wird —, sein „reviendra* besagt
vielmehr, daß die Spinne —- offenbar nach Deus der Beute
in ıhrem Schlupfwinkel — „wiedergekehrt*“
Ich selbst habe mit Honigbienen, Apis mellifica, und Kreuz-
spinnen, Araneus diadematus (Epeira diademata) Versuche ange-
stellt. Nachstehend ein kurzgefaßter Bericht über zwei derselben.
Mitte September, Spätnachmittag. Eine Kreuzspinne hat an
einer nischenartig vertieften Mauer ein Netz gesponnen. Ich fange
eine blütenumschwärmende Biene, betäube sie durch einen schwachen
Druck (von dem sie sich übrigens bald erholt) und hänge sie der
Spinne ins Netz. Die Manipulation gelingt nicht sofort und mein
Hantieren veranlaßt die Spinne zur Flucht an die Mauer. Wie
die Biene festhängt, jage ich die Spinne zurück. Sie bleibt eine
kurze Weile ruhig nahe der Biene stehen, dann geht sie auf die
sich schwach Bewegende zu, berührt sie mit den Vorderbeinen,
befestigt mit dem Hinterleibe Fäden an ıhr, dreht sie herum, so
daß die Biene bald in Fäden eingewickelt wie in einer Hängematte
hängt, stellt sich hochbeinig über die Biene, läßt unablässig das
breite Bündel Fäden aus ihren Spinnwarzen treten, dreht die Biene
herum, bis diese einem umsponnenen Bündel ähnelt, schlägt ıhre
Kiefer in die Biene und beginnt sie auszusaugen. Kein Zeichen
von Furcht ist im Benehmen-der Spinne, kein Versuch eines Fäden-
abbeißens und Befreiens der Biene. Die letztere wurde in der-
selben Weise als Beute behandelt wie etwa eine große Fliege und
wurde in gewohnter Weise bezwungen.
;
{
ask 2 de Mr mn u a
F. Heikertinger, Versuche und Freilandforschungen zur Mimikryhypothese. 355
Vielleicht war dieser Versuch wenig beweisend, da ja die
Biene leicht betäubt war. Da es mir an Ort und Stelle nicht ge-
lang, eine von den unbetäubten, fahrigen Bienen im Netze zu be-
festigen, nahm ich Kreuzspinnen — und zwar andere Exemplare
als das in obgeschilderter Beobachtung erwähnte Tier — mit nach
Hause. Sie spannen in großen Zuchtgläsern Gewebe und wurden
mit Fliegen ernährt. Nach etlichen Tagen reiche ich einer der
Spinnen eine eben gefangene Arbeitsbiene. Die Biene, von mir
mit der Pinzette an einem Hinterbein gehalten, summt laut und
schlägt mit den Flügeln. Ich fühle die starke Zugluft des Flügel-
schlags sehr deutlich, sobald ich sie meinem Gesicht nähere. Die
Spinne weicht vor der ihr genäherten Biene nicht zurück.
Sie schlägt mit den Vorderbeinen nach ıhr. Ich lasse die Biene
los. Diese verhängt sich leicht in den Fäden. Im nächsten Augen-
blicke ist die Spinne auf sie losgestürzt und schlägt ihre Kiefer
in die Seiten des Thorax der Biene. Die Biene summt, strampelt
verzweifelt, sucht zu stechen. Doch die Spinne hat sie geschickt so
gefaßt, daß ihr Hinterleib die Spinne nicht erreichen kann. Ein
Augenblick genügt, Fäden an der Biene zu befestigen. Die Spinne
läßt einen breiten Strom derselben aus ihrem Hinterleib quellen.
Die Bewegungen der Biene werden matter. Nach etwa einer
Minute läßt die Spinne ihr Opfer los, dreht es mit den Beinen um
eine wagrechte Achse und wickelt es in die Seide ıhrer Spinndrüsen.
Nach einer Anzahl von Umdrehungen ist die Biene eine reglose,
umwickelte Puppe, und die Spinne beginnt sie auszusaugen.
Um festzustellen, ob dieser Vorgang Regel sei, nehme ich der
Spinne die Biene, an der sie etwa eine Viertelstunde gesaugt hat,
sachte weg, nehme eine frische, ebenso ärgerlich summende, flügel-
schlagende Biene an einem Hinterbein an die Pinzette und reiche
sie der Spinne. Diese flieht nicht, sondern sucht sich sofort der
Biene zu bemächtigen. Ich lasse letztere los. Die Spinne faßt
sie, behängt sie rasch mit Fäden, wobei sie die Biene mit den
Beinen von. ihrem Leibe entfernt hält. Während der Hinterleib der
Biene von der Spinne weg nach außen steht, behängt diese ihr
Opfer unablässig mit Fäden. Dann wickelt sie die hängende Biene
einige Male herum, wobei der Körper der letzteren stets weit genug
vom Spinnenleibe entfernt bleibt. Nach etwa zehn Sekunden ist die
Biene eingehüllt. Nun schlägt die Spinne ihre Kiefer in den Hals-
schild des Opfers. Die Abwehr der Biene wird schwächer und
schwächer. Nach etwa fünf Minuten hängt sie regungslos einge-
hüllt ın Fäden.
Und wieder nehme ich der Spinne die Biene weg und halte
ihr eine dritte, frische, summende Biene vor. Sie schlägt ihre
Kiefer sofort hinter dem Kopf in die Biene, behängt sie mit Fäden,
948
356 F. Heikertinger, Versuche und Freilandforschungen zur Mimikryhypothese,
wirbelt sie etlichemale herum. Nach etwa zehn Sekunden ist auch
diese Biene ein hilfloser Knäuel, der sich nach etwa einer Minute
nicht mehr regt und über den sich die Spinne zum Mahle hermacht.
Das Versuchsergebnis ist beweisend: Ein Tier, dasin einem
Zeitraum von nicht ganz dreißig Minuten nacheinander
drei völlig frische Arbeitsbienen mit Leichtigkeit in je
etwa zehn Sekunden überwältigte, das weder Furcht
noch besondere Vorsicht, sondern lediglich eine selbst-
sichere Geschicklichkeit zeigte — ein solches Tier ent-
spricht in keiner Weise dem Bilde, das uns Jacobi von
der Immenfurcht der Spinnen zeichnet, ein solches Tier
kann nicht das Werkzeug der Herausbildung einer aku-
leatennachahmenden Mimikry durch natürliche Auslese
gewesen sein.
Die Abwehr eines möglichen Einwandes sei hier eingeschaltet.
Es mag bei einem Versuche vorkommen, daß eine Spinne vor einer
vorgehaltenen Biene oder Wespe die Flucht ergreift. Dieses Er-
gebnis hat für denjenigen, der Experimente solcher Art öfter durch-
geführt hat, weder etwas Verwunderliches noch etwas .Beweisendes.
(ar nicht selten ergreifen nämlich Spinnen aus unerkennbaren Ur-
sachen die Flucht vor einer ihnen vorgehaltenen Schmeißfliege, ja
einer kleinen Stubenfliege. Eingezwingerte Versuchstiere sind un-
berechenbar; sie lehnen aus unerfindlichen Gründen zuweilen Tiere
ab, dıe erfahrungsgemäß ansonsten ihre Normalnahrung bilden.
Gleichsinnige Ergebnisse lieferten Beobachtungen und Versuche,
die mein verehrter Freund Prof. Dr, Josef Fahringer unternahm.
Seinen Notizen, für deren freundliche Überlassung ich ihm auch
an dieser Stelle herzlich Dank sage, entnehme ich folgende
Daten:
1. Beobachtungen und Versuche mit Araneus diadematus 9,
durchgeführt vom 2. bis 16. September 1912 bei Melk in Nieder-
österreich. Die Spinne bewältigte folgende Hymenopteren:
Apis mellifica 9,
Bombus lapidarius 9,
bombus terrester g'9,
Bombus variabilis 9,
Vespa silwestris 59,
Vespa germanica 99,
Vespa rufa 9,
Odynerus parietum 9,
Pompilus viahleus 9.
Die Auswahl umfaßt u. a. sehr kräftige Tiere (z. B. die Bom-
bus-Arten). Von besonderem Interesse ist der Fang der Wee-
|
|
F. Heikertinger, Versuche und Freilandforschungen zur Mimikryhypothese. 357
wespe Jompilus viaticus, die, selbst ein Spinnentöter‘), der
Kreuzspinne ins Netz geraten, eingewickelt und ausgesaugt wor-
den war.
2. Beobachtungen und Versuche mit Argiope Bruenichüi 9, durch-
geführt im Juli 1915 bei Pola in Istrien. Die Spinne überwältigte:
Apis mellifica 9,
Bombus vartabilis 9,
Bombus confusus 9,
bombus agrorum 9,
Vespa rufa g,
Polistes gallicus 9.
3. Beobachtungen an Argiope lobata 9, am 25. August 1916
beı Pola in Istrien. Die Spinne fing und tötete:
Vespa crabro d',
Vespa vulgaris 9.
Daß eine Spinne ein ins Netz geratenes Hymenopteron durch
Abbeißen der Fäden befreit hätte, hat der Beobachter nie gesehen,
obgleich viele der genannten Hautflügler ‚hinsichtlich Größe und
Kräftigkeit wenig zu wünschen übrig Be
Auch in der Literatur — in Et ich allerdings nicht mit
Gründlichkeit eindrang — ist mir ein Fall von Befrdiune eines
Akuleaten um der Furcht vor seinem Stachel willen nicht aufge-
stoßen. R. Shelford’) berichtet allerdings über etliche Versuche,
die er mit der Radspinne Nephila maculata auf Borneo unternahm
und bei welchen diese Spinne fünf Exemplare der kleinen Biene
Trigona apicalis und ein Exemplar von Triyona lacteifascia kurzer-
hand aus dem Netze warf. Aber dieselbe Spinne warf auch unbe-
stachelte Hemiptera und Lepidoptera aus dem Netz und bewies durch
längeres Versuchen einer Trig. lacteifascia, daß sie die Bienchen
nicht fürchtete, sondern daß ihr dieselben aus einem anderen Grunde
nicht zusagten.
Die bis nun vorgeführten Tatsachen betrafen Netze bauende
Spinnen. Man könnte bezüglich dieser geltend machen, diese Spinnen
besäßen in ihren Netzen und Spinndrüsen, die eine rasche Fesse-
lung und Wehrlosmachung des gefangenen Opfers ermöglichen,
wirksame Werkzeuge zur ne = Beute, Werkzeuge, die
ihnen erlaubten, nah den Kampf mit Seiehonden Hautflüglern
aufzunehmen.
Indes lehrt die Erfahrung, daß auch Spinnen, die ohne Netz
jagen, den Kampf mit Hautflüglern durchaus nicht scheuen, ja daß
gewisse, insbesonders blütenbewohnende Gruppen sogar der Immen-
6) Die Pom pilus-Arten versorgen bekanntlich ihre Nachkommenschaft aus-
schließlich mit stichgelähmten Spinnen.
7) Trans. Ent. Soc. Lond. 1906, p. LXIV.
358 F. Heikertinger, Versuche und Freilandforschungen zur Mimikryhypothese.
und Fliegenjagd angepaßt sind. Ich gebe einem der besten deut-
schen Spinnenkenner, zugleich einem überzeugtem Verfechter der
Mimikrylehre, Prof. Friedrich Dahl, das Wort?). |
(5. 84.) „Als Blütenbesucher spielen die Hymenopteren eine
wichtige Rolle und da diese z. T. durch einen gefährlichen Gift-
stachel ausgezeichnet sind, können nur kräftige Spinnen diese ge-
fährliche Jagd betreiben. Nur Krabbenspinnen sınd es, und zwar
fast nur Verwandte von Misımena, da besonders die Arten dieser
Familie an ‚der Unterseite der Vorderbeine mit Reihen kräftiger
Stacheln versehen sind und deshalb die Fähigkeit besitzen Bienen
zu bewältigen. Sie wissen den Hinterleib der Biene immer so zu
halten, daß der Stachel nach außen sticht und den Angreifer nıcht
LrIEb
Prof. Fahringer°) schildert den Vorgang einer solchen Jagd,
die er im Belgrader Wald bei Konstantinopel beobachtete, näher.
„Bunte Fliegen ..... senken ihre Rüssel in die weißen Blüten
(von Sambucus ebulus) . .., auf einzelnen dieser Blüten sitzt die
erbsenkorngroße, weißgefärbte Spinne Thomisus albus, die selbst ein
scharfes Auge kaum wahrnimmt ... Hier beobachtete ich auch,
wie diese kleine Spinne eine große, kräftige Pelzbiene (Antophora
maynilabris) überwältigte. Während die Biene ihren Rüssel in die
Blüte senkte, faßte die Spinne mit den beiden vorderen Beinen
den Kopf der Biene und bewegte sich langsam nach rückwärts.
Die Biene leistete, ohne sich in ihrer Arbeit stören zu lassen, durch
Anstemmen mit den Beinen Widerstand. Zwischen Kopf und Hals-
schild wurde, infolge der Anstrengung beider, einen Augenblick
die zarte weiße Verbindungshaut sichtbar, die diese Körperteile
verbindet. Blitzschnell senkt die Spinne ihre Kieferklauen an
dieser Stelle ein und ein Zucken des großen Körpers verrät den
Tod des Opfers.“
Den. mir freundlichst zur Verfügung gestellten Notizen des
genannten Beobachters entnehme ich folgende weitere Angaben über
Blütenspinnen:
1. Beobachtungen an Thomisus albus; die ersten vier Beobach-
tungen im Juli 1912 im Belgrader Wald bei Konstantinopel, die
fünfte ım August 1912 bei Eski-Chehir in Kleinasien. Die Spinne
fing und tötete:
Antophora (Podalirius) magnilabris 9 (siehe die
vorangehende Schilderung),
8) Vergleichende Physiologie und Morphologie der Spinnentiere
unter besonderer Berücksichtig. d. Lebensweise. I. Jena, 1913.
3) Eine wissenschaftliche Studienreise nach der europäischen
Türkei und nach Kleinasien. Jahresbericht d. k. k. II. deutschen Staats-
realschule, Brünn, 1912, S. 15.
u a ae Lu Sn Der Hrn a nd Te m a a
Pr
x
F. Heikertinger, Versuche und Freilandforschungen zur Mimikryhypothese. 359
Bombus pratorum 9,
‚Andrena Hattorfiana g',
Apis mellifica 9,
(rabro pellarius 9.
Die Arten sind durchwegs ansehnliche Tiere.
2. Beobachtungen an Misumena vatia, ım August 1913, Acdos
Dagh am Bosporus. Die Spinne erbeutete:
Andrena flavipes 9,
Halietus calceatus d',
Halictus tumulorum 9,
Apis mellifica 9,
Megachile centuncularıs d'.
Apis und Megachile sind kräftige Arten.
L. Bir6!°) erwähnt gelegentlich, daß er eines Augustnach-
mittags die Spinne Misumena vatia Cl. auf einer Umbellifere eine
Honigbiene verzehren sah.
Ich selbst beobachtete auf xerothermen Kalkhügeln nächst
Mödling bei Wien schon in den ersten sonnigen Apriltagen die
gelbe Misumena calyeina (vatia) auf den gelben Blüten von Poten-
tilla incana {arenaria), wie sie Apiden (Halietus, Andrena) aussog.
Was erdlebende Spinnen — die allerdings für den Fang von
Hautflüglern und ihren Mimetikern weniger in Betracht kommen —
anbelangt, so hat der französische Forscher J. H. Fabre belang-
Teiche Versuche über ihr Verhalten gegenüber Akuleaten angestellt
und in seiner provencalisch lebendigen Weise hierüber berichtet.
Ich entnehme seinen Darstellungen Folgendes.
Fabre bespricht die Erdlöcher, die eine Wolfsspinne, die schwarz-
bäuchige Tarantel (Zycosa narbonensis), im dürren, steinigen Ge-
lände Südfrankreichs baut. Er schildert den Fang dieser Wollfs-
spinne!!).
„Ich versehe mich mit einem Vorrat lebender Hummeln und
setze jedesmal eine davon in ein Fläschchen, dessen Hals weit
genug ist, um die Mündung der Erdröhre zu umschließen. Nun
stülpe ich das Gefäß mit der Mündung nach unten über das Loch.
Der kräftige Hautflügler. fliegt zunächst unter lebhaftem Summen
in seinem gläsernen Gefängnis umher ; dann gewahrt er den Erdbau,
der dem von seiner eigenen Familie benutzten ähnelt, und begibt sich
ohne langes Zögern hinein. Dies bekommt ihm übel: während er
hinunterseigt, kommt die Tarantel nach oben, und in dem senk-
rechten Schacht treffen beide zusammen. Ein paar Sekunden lang
vernimmt das Ohr des Beobachters eine Art Todesgesang: es ist
10) Kommensalismus bei Fliegen. Termeszetrajzi Füzetek. XXII.
1899, S. 203.
11) Souvenirs entomologiques. Deutsch in „Bilder aus der Insekten-
welt“, 1. Reihe („Der Biß der Tarantel“). Stuttgart, Kosmos-Verlag, S. 114—117.
360 F. Heikertinger, Versuche und Freilandforschungen zur Mimikryhypothese.
das Sausen der Hummel, die sich gegen den ihr zuteil werdenden
Empfang verwahrt. Hierauf plötzliche Stille. Das Fläschchen
wird nun weggenommen und die Hummel mit einer Pinzette mit
langen Armen herausgezogen. Aber sie ist unbeweglich, tot, mit
heraushängendem Saugrüssel; irgendein schreckliches Boa muß
sich abgespielt haben. Die Tarantel, die eine so reiche Beute nicht
fahren lassen will, folgt... Mißtrauisch macht die Zycosa mit-
unter kehrt, Ella es genügt, die Hummel vor ihrer Schwelle oder
sogar ein paar Zoll weit entfernt davon liegen zu lassen, um sie
bald wieder erscheinen zu sehen. Dann verläßt sie a Festung
und kommt kühn hervor, um ihre Beute wieder zu ergreifen.“
Die Tarantel ist ein geschickter Jäger; sie führt so rasch als
möglich den Tod des Opfers herbei, der die Angreiferin vor der
Gegenwehr der Angegriffenen sicherstellt. Denn ıhr Wild ist
kräftig und nicht immer besonders friedfertig.
„Die großen Heuschreekenarten mit starken Kiefern, Wespen,
on een und andere Träger vergifteter Dolche geraten
von Zeit zu Zeit in ihren Hinterhalt. Dann entspinnt sich ein
Zweikampf mit beinahe gleichen Waffen... Der Kampf findet
Körper an Körper statt und die Tarantel verfügt über kein Ver-
teidigungsmittel zur Nachhilfe: keine Schlinge, um das Opfer zu
fesseln, keine Falle, um es zu bändigen.... Ihr stehen bloß ıhre
in, und ae Giftklauen zu Gebote; sie muß sich auf das
al Wild stürzen, es durch ihre Gewandtheit meistern und
es dann auf irgendeine Ww eise blitzartig töten.
„Blitzartig töten ist, das rechte Wort: die Hummeln, die ıch
aus dem verhängnisvollen Loch hervorziehe, beweisen es. Wenn
das scharfe en das ich den Todesgesang nannte, aufhört, so
mag ich noch so eh meine Pinzette hineinstecken — stets ziehe
ich das Insekt bereits tot, mit herausgestrecktem Saugrüssel und
schlaffen Beinen hervor. Der Tod muß sofort eingetreten sein.
Wie kommt es nun, daß die Tarantel selbst den größten Hummel-
arten (Bombus hortorum und B.terrestris) gegenüber, jedesmal den
Sieg davonträgt und noch dazu in so überaus kurzer Zeit?
Man müßte den Kampf der berden Gegner direkt beobachten, und
ich bringe zu diesem Zweck je eine Tarantel und eine Hummel
zuerst in einer Flasche und dann in einem kleinen Reagensglas,
das eigentlich nur für eines der beiden Tiere Platz gewährt, unter,
allein in keinem Fall kommt es zu einer Entscheidung. Die außer-
halb ihres Erdloches furchtsame Tarantel verweigert den Kampf,
und die sonst so unbesonnene Hummel erdreistet sich doch nicht,
ıhn anzufangen... Es ist nötig, an die Stelle der Hummel, die
in die Erdröhre eindringt und dadurch ihr Ende meinen Blicken
entzieht, einen anderen Gegner zu bringen, der nicht geneigt ist,
sich unter die Erde zu begeben. Augenblicklich ist im Garten,
Me nn rn arme ar BER, > >> Su den 1 Zalid all Bann Bl nn dl u en
F. Heikertinger, Versuche und Freilandforschungen zur Mimikryhypothese 361
_ auf den Blüten des Muskateller-Salbeis (Salvia sclarea), massenhaft
einer der stärksten und größten Hautflügler meiner Gegend zu
finden: die violettflügelige ee: (Xylocopa violacea). Sie über-
trifft die Hummel an Größe, ihr Stich ist abscheulich und ruft
beim Menschen eine noch lange schmerzende Geschwulst hervor,
wie ich ans eigener Erfahrung versichern kann... Ich setze immer
je eine Holzbiene in ein Blaschehen mit so großer Öffnung, daß
diese die Mündung der Erdröhre zu lenbeen vermag... Das
Fläschehen mit einer Holzbiene als Köder wird über die Röhren-
öffnung der auserwählten Tarantel gestülpt . . .*
Die meisten Taranteln greifen nicht an.
„Endlich wird meine Geduld durch einen Erfolg belöhnt: eine
sah, durch verlängertes Fasten besonders ae gewordene
Tarantel kommt mit einem Satze aus ihrem Loch hervor, und in
einem Augenblick ist das, hierauf ın der Flasche sich abspielende
Drama beendet. Die starke Holzbiene ist tot, und die Stelle, wo
der Mörder sie traf, läßt sich leicht feststellen, da die Tarantel sıe
nicht losläßt: ihre Hacken sind hinter dem Nacken, da, wo der
Hals anfängt, eingeschlagen... Doch einmal ist keinmal; war es
Zufall oder ein überlegter Stich, was ich gesehen habe? Nach
vielen vergeblichen Versuchen bringe ich noch zwei weitere Ta-
ranteln dazu, ıhr Loch zu verlassen und über die Xylocopa herzu-
fallen, und jedesmal wiederholt sich vor meinen Augen dieselbe
Mordszene. Die Beute wird wieder ın den Nacken gebissen, und
zwar nur dorthin, und stirbt auf der Stelle.“
Mit Fabre’s Darstellung steht in Übereinstimmung die Beob-
achtung Fahringer’s, der im August 1911 bei Skutarı in Albanıen
die Wolfsspinne Zyeosa radiata die kräftigen Hymenopteren Bom-
bus lapidarius 9 und Psithyrus rupestris 9 überwältigen sah.
Der gleiche Beobachter sah ın Kleimasien die große Walzen-
spinne Galeodes araneoides 9 eine Mutilla maura 9 töten, und in
den nachgelassenen Notizen unseres verewigten Freundes Prof.
Dr. F. Tölg fand Fahringer Aufzeichnungen, wonach Tölg bei
Belemedik in Kleinasien dieselbe Walzenspinne beim Töten von
Bombus terrester 9 und Scolia flavifrons v. haemorrhoidalis Q beob-
achtete.
Die Beispiele, die ich ohne gründliches Eingehen in die ein-
schlägige Literatur zusammengestellt habe, ließen sich leicht ver-
mehren. Sie liefern den Nachweis von der Unzulässigkeit der
Behauptung, daß sich Spinnen vor bestachelten Haut-
flüglern fürchten und daßdiese vor ihnen geschützt sind.
Sowohl radbauende als frei jagende Spinnen wagen sich furchtlos
an akuleate Hymenopteren heran und bezwingen sie, ja sie sind
zuweilen der Jagd auf solche Insekten geradezu angepaßt.
362 F. Heikertinger, Versuche und Freilandforschungen zur Mimikryhypothese. _
Damit soll nicht gesagt sein, daß es nicht Spinnenarten gibt,
welche Stechimmen nicht angreifen, welche sie aus dem Netz
werfen oder scheu vor ihnen zurückweichen. Auch in der Arthro-
podenklasse der Arachnoideen wird Geschmacksspezialisation in
engerem oder weiterem Grade Regel sein, sie wird jeder Spinnen-
art ihre ganz bestimmte Normalnahrung — die zuweilen recht ge-
fährlich sein kann — zuteilen, und es wird von dieser angeborenen
Eigenschaft der eingeschränkten Nahrungswahl abhängen, ob ein
Tier als Beute angenommen wird oder nicht. Aber diese Tat-
sache der Nahrungsspezialisation muß genau bekannt sein, ehe man
Furcht vor dem Stachel als wirksames Abwehrprinzip betrachten
darf.
Aus dem Dargelegten ergibt sich die Tatsache, daß auch die
„Nachahmer“ von Stechimmen keinen Nutzen aus ihrer „Nach-
ahmung“ ziehen können. Wenn das Modell nicht geschützt ist,
dann kann auch die Kopie nicht geschützt sein, auch ın jenem
Falle nicht, da eine Spinne durch eine oberflächliche Ähnlichkeit
genau so getäuscht würde wie ein Mensch — eine Annahme, die
beı der fundamentalen Verschiedenheit der Sinnesorgane beider
Wesen nicht ohne weiteres zulässig ist.
Als vollendete Mimetikerin der Honigbiene gilt die Schlamn-
fliege, Eristalis tenax. Das zitierte Buch von Ellis gibt (S. 60)
die Wiedergabe eines photographischen Bildes, auf dem die Spinne
Triaranea eine Schlammfliege verzehrt, und (S. 59) Bild und Schil-
derung, wie dıe kleine Triaranea diese ıhr an Körpergröße mehr-
fach überlegene Beute überwältigt.
Im ersten Bande von „Ungarns Spinnenfauna* (S. 78)
schildert OÖ. Herman den Fang eines Eristalis durch eine Stea-
toda. ,„.... Ich hatte ım Klausenburg Gelegenheit, den Kampf
einer halbentwickelten Steatoda castanea mit einer Erisialis, welche
an Größe und Stärke die Spinne um das Dreifache übertraf, zu
beobachten. Die Eristalis blieb mit einem Fuße im Netze hängen,
zerriß dasselbe; aber das zum Seile zusammengerollte Netz hielt
nun die Beute um so sicherer fest. Da aber nur ein Fuß festhing,
schlug die Fliege mit den Flügeln sowohl als auch mit dem Leibe
schrecklich um sich; während dessen beobachtete die Spinne. Er-
müdet unterbrach die Fliege ihr Ringen und diesen Augenblick be-
nützte die kleine Spinne sofort auf die Art, daß sie sich ebenso
schnell als geschickt zur Fliege hinabließ, mit dem vierten Fuß-
paare aus den Spinnwarzen einen Faden herauszog und diesen,
nach Art eines Lasso, mit demselben Fußpaare auf einen der frei-
gebliebenen Füße der Fliege mit Blitzesschnelligkeit warf. Die
Fliege begann augenblicklich wieder zu schlagen. Die Szene wieder-
holte sich noch viermal, endlich geriet die Fliege doch in die Ge-
EEE WET WERBEN,
a 0 re nf IETSALESC EEE BEE EDEL WED EEE EEE EDER
2
++
F. Heikertivger, Versuche und Freilandforschungen zur Mimikryhypothese. 363
walt des geschickten Feindes und es stellte sich heraus, daß alle
sechs Füße gebunden waren.“
Ich selbst hatte Gelegenheit, die Überwältigung eines Eristalis
durch eine Kreuzspinne zu beobachten. Zwischen den Ästen einer
Hecke saß eine große Kreuzspinne mitten in ıhrem Netze, das mit
winzigen Mückenbälgen übersät war. Ich nahm eine frisch ge-
fangene Schlammfliege und reichte sie der Spinne. Die Fliege
verfing sich etwas in den Fäden, ich ließ sıe los, die Spinne ergriff
sie und in kaum zehn Sekunden hing sie reg- und hilflos als eın
in weiße Fäden gehülltes Bündel im Gespinst. Sie hatte den
gleichen Tod gefunden wie ihr angebliches Modell, die Honigbiene
bei den im Vorangehenden geschilderten Versuchen.
Ich fasse das Ergebnis der Untersuchungen zusammen:
Die Behauptung, der Wehrstachel der Akuleaten wirke
Spinnen gegenüber als Schutz, findet ın Erfahrungstat-
sachen keine Bestätigung und ist wissenschaftlich nicht
zulässig. Damit ist zugleich erwiesen, daß eine „Nach-
ahmung“* von Wespen (Sphekoidie) den Spinnen gegen-
über wirkungslos sein muß.
Gleiches gilt für die in der heutigen Literatur eine besondere
Rolle spielende Myrmekoidie oder Ameisennachahmung. Ich
habe dem Gegenstande bereits eine eingehende Erörterung ge-
widmet!?) und darf mich an dieser Stelle auf den Hinweis be-
schränken.
Daß sich die Spinnen nicht vor Ameisen scheuen, erweist ein
Blick auf die Theridium-Arten, die, auf Pflanzenstengeln sitzend,
klebrige Fäden nach Ameisen werfen und die Beute zu sich empor-
ziehen. Auch andere Spinnenarten sind als Ameisenfeinde be-
kannt '?). |
Daß die Ameisen mit ihren schwächeren Waffen keinen Schutz
vor Spinnen genießen, erscheint übrigens angesichts der Erfahrungen
mit Wespen und Bienen als Selbstverständlichkeit.
Hiermit erledigt sich die Frage nach der Mitwirkung
der Spinnen bei Herausbildung einer Wespen-, Bienen-
oder Ameisenmimikry endgültig in verneinendem Sinne.
12) Die metöke Myrmekoidie. Tatsachenmaterial zur Lösung des Mimikry-
problems. Biolog. Zentralblatt, Bd. 39, 1919, S. 65.
13) Vgl.E. Wasmann, Kritisches Verzeichnis der myrmekophilen
und termitophilen Arthropoden. Berlin, 1894, S. 193—197.
364 H. Heller, Über die Geruchstheorie von Teudt.
Über die Geruchstheorie von Teudt.
Von Hans Heller.
Über die Art und Weise, auf die Duftstoffe eine Geruchs-
empfindung in uns hervorrufen, hat H. Teudt!) vor einiger Zeit
eine neue Theorie aufgestellt, die angeblich „alle beim Riechen
auftretenden Erscheinungen ohne Schwierigkeit zu erklären“ ge-
stattet. Insbesondere seit dem grundsätzlich neuen und sehr be-
deutsamen Buche von Hans Henning?) steht die Theorie des
Duftes sowohl wie die des Geruches im Vordergrund der Erörte-
rung. Da die Frage nach der inneren Natur des Geruchsvorgangs
auch praktisch wichtig ist (worauf insbesondere Teudt mit Recht
hinweist), so ist eine Kritik der neuen Theorie um so dringender
geworden.
Ohne auf die älteren Vorstellungen über den Riechprozeß
einzugehen, soll die Teudt’sche Theorie kurz skizziert sein. Nach
ihr kommt jede Geruchsempfindung zustande durch die Schwin-
gungen von Elektronen zwischen den Atomen eines Moleküls
des jeweils vorliegenden Duftstoffes. Diese Elektronenschwingungen
üben, „wenn sie mit der Atmungsluft in die Nase eingezogen werden
und sich dabei den Rıiechnerven nähern“, eine Induktionswirkung
auf diese aus, dıe als Geruchserlebnis in unserem Bewußtsein er-
scheint. In den verschiedenen Nervensträngen nımmt Teudt ver-
schieden großeElektronenschwingungenan, diedurch dieSchwingungen
ım Duftstoffmolekül oder auch von an sich duftlosen Stoffen,
sofernihnen die Elektronenschwingungen irgend eines
Duftes induziert worden sind, nach Art einer Resonanz-
wirkung „erregt“ werden und dadurch das sinnliche Erlebnis Duft
hervorrufen. — Die Elektronen, die „Atome der Elektrizität“, spielen
heute dank einer Unzahl hervorragender physikalischer Erkennt-
nisse im Bereich dieser kleinsten Teilchen eine sehr große Rolle°).
Man sieht in ihnen die Grundbedingung durchaus nicht nur der
elektrischen Erscheinungen, sondern aller atomaren Vorgänge. Ob
die Atome, die kleinsten chemischen Masseteilchen, selbst nun nur
Aggregate von Elektronen sind (was wahrscheinlich ist) oder diesen
als bis zu gewissem Grade im Wesen verschieden gegenüber stehen,
fest steht jedenfalls, daß innerhalb eines chemischen Moleküls die
Atome als solche neben den einer ganz anderen Größenordnung
zugehörenden Elektronen agieren und reagieren. Und wenn ein Atom
auch nur ein Ringsystem aus Elektronen ist, es ist doch ein wohl-
1) Biol. Zentralblatt XXXIIL, Nr 12 (1913); Prometheus XXV,
Nr. 34 (1914); Wochenschr. für Brauerei 1918, Nr. 15—17.
2) Der Geruch. Leipzig 1916. (J. A. Barth.)
3) Vgl. J. Stark, Prinzipien der Atomdynamik. Leipzig 1915 (Hirzel).
H. Heller, Über die Geruchstheorie von Tendt. 365
definiertes und in sich geschlossenes Individuum ®), von bestimmten
nur ihm zukommenden Eigenschaften (seinen chemischen und physi-
kalischen Konstanten), die ohne ihren atomaren Träger verschwin-
den. Teudt geht darum von einer mißverstandenen Grundan-
schauung aus, wenn er sagt: „in jedem Molekül sind Elektronen
vorhanden, die nicht zu einem Atomkern gehören, sondern sıch
zwischen zwei Atomen des Moleküls befinden.“ Gewiß gibt es
solche Elektronen von verschiedenem Lockerungsgrade, also unter-
schiedlichen Schwingungsfreiheiten, aber gehören sie auch nicht zum
„Atomkern“, so doch zum gesamten Atombereich als ihm inte-
srierende Bestandteile! Im Molekül übernehmen sie selbstverständ-
lich zwischenmolekulare Aufgaben, tragen sozusagen auf mehreren
Schultern, denn sie werden in ihren Schwingungen von sämtlichen
ihnen benachbarten Kraftfeldern beeinflußt. Wäre es anders, müßte
jedes Molekül ungleichartiger Atome die additiven Eigenschaften
seiner Bestandteile haben. Das ıst bekanntlich nicht der Fall; ım
Molekül ıst also das Atom-Individuum zum mindesten in seiner
äußeren Sphäre versehrt, aber auch nur in dieser. Eine Existenz
unabhängig von den Atomen wirksamer Elektronen kann nicht
anerkannt werden.
Da Teudt nun eine solche Existenz zur Voraussetzung macht,
den Geruch durch Elektronen bedingt sein läßt, die nıcht einer
bestimmten Stoffart und nur dieser zugehören müssen, wenn
überhaupt Geruch erlebt werden soll, so fällt mit dieser Haupt-
stütze und Grundlage seiner Theorie sie selbst. Es ist m. E. nicht
schwer, die Unwahrscheinlichkeit der Teudt’schen Annahme bezw.
ihre teilweise erfahrungsgemäße Unrichtigkeit zu erweisen. Es ıst
. Tatsache, daß nach unseren heutigen, durch mannigfaltigste Er-
fahrungen experimenteller Art gestützten Bildern vom Bau chemi-
scher Verbindungen allen konstitutiv bekannten Duftstoffen eıin-
deutige und recht vielsagende Formeln zukommen. Formeln, die
nicht nur dem Chemismus der durch sie versinnbildlichten Stoffe,
sondern auch ihrem optischen und — physiologischen Verhalten
Rechnung tragen. Schon älteren Forschern (z. B. Zwaardemaker)
ist die Verknüpfung der verschiedenen Düfte mit gewissen für
jeden Duft jeweils kennzeichnenden „Atomgruppen“ aufgefallen.
Am schlagendsten aber und im Grundgedanken überzeugendsten ist
der Zusammenhang zwischen Duft und chemischer Konstitution
nachgewiesen und durch zahlreiche Beispiele belegt bei Henning’).
- Muß seinen Ergebnissen im einzelnen auch widersprochen werden
(eine eingehende Würdigung gebe ich anderswo), so ıst doch
4) Von seiner sehr eindeutigen Körperlichkeit, die nach den neuen Auffassungen
über Teilbarkeit der Valenz u. s. w. etwas ins Wanken gekommen war, macht z.B.
die Theorie von F. Wenzel (Journ. f. prakt. Chemie 98, 155, 1919) wieder
eindringliche Vorstellungen.
5) a..2 0. 8.'2818E,
Lak ı ET N ET LE TLMREE A SSENER nl IE UE:
v A 2‘
366 H. Heller, Über die Geruchstheorie von Teudt.
Henning'’s für die Theorie des Geruches wichtiger Nachweis un-
bedingt anzunehmen, daß jedem Duft’eine ihm (und nur ihm) eigene
„Geruchsbindung* einiger Atome ım Molekül zugrunde liegt. Wo
immer eine derartige Bindungsart auftritt, ıst der damit verknüpfte
Duft vorhanden. Ändere ich das Atomgerüst durch Reaktionen,
die die darin vorliegenden „Geruchsbindungen“ auflösen, so ändere
bezw. vernichte ich auch den Duft des Moleküls. Im Sinne der
Teudt’schen Theorie läßt sich nun scheinbar schließen: jede Mole-
külstruktur beruht (vgl. Stark’s grundlegende Arbeit) auf atomarer
Verknüpfung durch Elektronen. Der „osmophore“*) Charakter ge-
wisser Atomgruppen ist letzten Endes also doch die Resultante
der zwischen ihnen befindlichen Elektronenschwingungen, deren
Felder beim Abbau der betr. Atomgruppen reißen, womit auch der
Duft schwindet. Der Schluß ist falsch. Henning beweist den
osmophoren Uharakter einer Bindung, deren Vorhandensein per
se an eine gemäße Atomkonstellation gebunden ist. Mehr noch
und entscheidend: die Bindung an sich (also das Kraftfeld der
intermolekular schwingenden Elektronen) ist bezw. erregt noch
keinen Duft! Hinzutreten muß erst noch ein molekularer „Rest“
(dessen Struktur hier gleichgültig ist) um Duft zu erzeugen. Also
zum Osmophor muß noch ein „OÖsmogen“ ın der charakte-
ristischen Bindungsart treten: dann ist ein Duft bedingt, nur dann
ist er möglich. So wie ein Farbstoff durch Chromogen und Chromo-
phor (und auxochrome Gruppen) bedingt ist.
In Teudt’s Auffassung hingegen kommt jegliches atomare —
soll man sagen: materielle? — Substrat in Wegfall und die Elek-
tronenschwingung ist das einzig Wirksame.
Die von Teudt angeführten „Stützen“ seiner Theorie sind
alles andre denn geeignet, seine Anschauungen zu bekräftigen.
Beruht das Riechen auf elektrischen Vorgängen, so müssen irgend-
wie unmittelbare Beziehungen zwischen elektrischem Strom und
Geruchserlebnis nachweisbar sein. Das ist nicht möglich. Alle
Versuche, z. B. von Volta, Pfaff, Fowler, v. Humboldt und
andern, durch elektrische Ströme Geruchsempfindungen hervorzu-
rufen fielen negativ aus. „Bei Reizung der Riechschleimhaut durch
Elektrizität stellt sich kein Geruchserlebnis ein ’).“ Der von Teudt
einzig genannte Versuch Aronsohn’s ıst wertlos, vielmehr gehört
er in die negative Reihe der genannten Forscher. Was man beim
Stromschluß nämlich empfindet ist ein Stich, kein Duft. Der
Stechreiz hat physiologisch mit dem Geruchserleben jedoch gar nichts
zu tun.
Wie erwähnt ist das Wesentliche der Teudt’schen Theorie
die Induktionswirkung von dufterzeugenden Elektronen-
6) „odoriphor“ bei Zwaardemaker, „odophor“ bei Krais (Deutsche
Parfüm.-Zte. I, 343, 1915).
7)stkennanessa a. 0,8337. EN
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H. Heller, Über die Geruchstheorie von Teudt. 367
schwingungen. Sieht man von der Unmöglichkeit des Nachweises
elektrischer Beziehungen beim Riechen ab, so scheint anderseits
eine starke Stütze der Theorie zu sein, „daß die in die Nase ge-
zogenen riechenden Körperchen gar nicht mit den Riechnerven in
Berührung kommen.“ Diese von älteren Autoren übernommene
Behauptung ist irreführend. Unmittelbar zwar gelangen die Duft-
partikel nicht an den Nerven, wohl aber mittelbar (durch ihre Ab-
sorption durch das Nasensekret) an die Riechschleimhant. Und in
dieser sind die Riechzellen eingebettet. Von einer Nichtberührung
von Duftstoff und Nerv kann also nicht die Rede sein, im Gegen-
teil baut gerade auf der Kontaktwirkung zwischen Duftmolekül und
Neuron Henning seine Theorie auf. Aber gibt man selbst Teudt's
Voraussetzung zu, so ist zwar das Geruchserlebnis beim Einatmen
erklärt: mit jedem Atemzuge tritt eine Schwingungsverstärkung auf,
die eine Resonanz im Riechnerven hervorruft. Dementsprechend
sollte nun auch beim Ausatmen eine Geruchsempfindung auf-
treten, denn die duftgebenden Moleküle bleiben völlig unversehrt,
ihre Schwingungen werden durch die beim Ausatmen stattfindende
Verminderung der Duftpartikel schwächer, es müßte also (zum
mindesten bei sehr ausgeprägten Düften) ein abermaliges Geruchs-
erlebnis stattfinden. Die Erfahrung weiß nichts vos Es ist
weiterhin schwer einzusehen, wie z. B. ein Schnupfen die Geruchs-
fähigkeit größtenteils oder ganz aufzuheben vermag. „Induktions-
wirkungen* sind auch dann nicht unmöglich gemacht. Die Tat-
sache daß beim Schnupfen der Nasenschleim weitgehend verändert
ist spricht jedoch dafür, daß ihm eine wesentliche Rolle beim
Riechen zukommt; um so mehr als im oberen Teile der Nasen-
gruben, wo die Fasern des Geruchsnerven am zahlreichsten sind,
auch die reichlichste Schleimabsonderung statthat.
Zur Bekräftigung seiner Ansicht zieht Teudt schließlich auch
Behauptungen heran, die erstaunen müssen ob ihrer geringen
Stichhaltigkeit. Es ist vor allem die Fortpflanzung des Duftes
durch Luft auf oft sehr große Entfernungen, die er nur durch die
Annahme erklären zu können glaubt, „daß auch bei den Luftmole-
külen ein Teil der Elektronen verschiedenartige Schwingungen aus-
führen und daher die den verschiedenen Gerüchen der eigentlichen
Riechkörper entsprechenden Schwingungen annehmen kann“. So
wie Eisen, an einem starken Magneten vorbeigeführt, magnetisch
wird, One daß der Magnet dabei an Gewicht N so el Luft,
über einen duftenden Stoff streichend, duftend durch sone
von Elektronenschwingungen, ohne due der Stoff „etwas von
seinem Gewichte oder Geruch verliert“. Erstaunlich, daß
noch immer diese (a priori unwahrscheinliche) falsche Behauptung
nachgesprochen wird, ein Duftstoff verliere nicht an Gewicht, nach-
dem vor Zeiten bereits Boyle das Gegenteil, eine sehr wohl nach-
AN]
368 | H. Heller, Über die Geruchstheorie von Teudt.
weisbare Abnahme, festgestellt hat! Was für jeden Stoff als selbst-
verständlich gilt, daß er nämlich mehr oder weniger langsam ver-
dampft, soll für Duftstoffe nicht gelten?! Wenn Zwaardemaker
beim Moschus keine Gewichakn feststellen konnte, so be-
weist das, von der Hygroskopizität ganz abgesehen, bei den metho-
disch recht ungenauen Messungen Zwaardemaker’s gar nichts,
Die Versuche von Fischer und Penzoldt und anderer ergaben,
welch lächerlich geringe Mengen stark duftender Stoffe auch beim
Menschen Geruchserleben zu erregen vermögen, immer aber war
der Duft doch an die Anwesenheit des Stoffes selbst gebunden!
Mit Recht bemerkt Henning, es fiele wohl keinem Menschen ein,
sich mit einem Korn Moschus sein Leben lang parfümiert zu
wähnen — was nach Teudt ja gar nicht unmöglich sein würde.
Sehr instruktiv sind ın dieser Beziehung Versuche von A. Durand?°).
Wurde durch Watte filtrierte sorgfältig inaktivierte Luft über einen
Duftstoff (z. B. Moschus oder Kampfer) geleitet, so erwarb sie mit
dem Duft die Fähigkeit Wasserdampf zu kondensieren. Es müssen
also „Kerne“ für die Kondensation durch den Duftstoff gebildet
worden sein. Die Kondensation geschah um so leichter, je größer
das Molekül des duftenden Stoffes war. Beim Duften liegt also
stets eine wenn zunächst auch nicht notwendig meßbare Ver-
dampfung vor. Dagegen sprechen selbst die von Teudt heran-
gezogenen Versuche Tyndall’s über die Absorption von strahlen-
der Wärme durch duftgeschwängerte Luft nicht. Die z. T. aller-
dings recht großen Absorptionszahlen treten ebenso bei duftlosen
Chemikalien auf.
Lediglich die Fortpflanzungsgeschwindigkeit von Duftstoffen
scheint nach einer zahlenmäßigen Angabe Teudt’s nicht mit ihrer
Flüchtigkeit zusammenzustimmen, so daß die Duftmoleküle danach
nicht die Ursache der Fernübertragung des Duftes wären. Hierzu
gebe ich zu bedenken, wie außerordentlich zahlreichen und schwer-
wiegenden Fehlern alle Bestimmungen von Diffusionskoeffizienten
ausgesetzt sind, wie vorsichtig man infolgedessen bei deren Aus-
wertung im Sinne einer immerhin schwer demonstrierbaren Theorie
sen muß. So finden sich z. B. bei dem sonst sehr kritischen
Henning’) auf derselben Seite seines Buches zwei Tabellen von
Diffusionsgeschwindigkeiten, die einige geradezu entgegengesetzte
Zahlenverhältnisse aufweisen. Das sollte zu größtem Mißtrauen in
die Zahlen vor allem einzelner älterer Forscher veranlassen. —
Aus der Praxis glaubt Teudt weitere Stützen seiner Theorie
beibringen zu können. Er nimmt an, daß das Aroma eines Weines
oder Bieres nicht nur durch die chemische Zusammensetzung be-
stimmt sei, sondern „auch von den Bewegungen abhängig sein kann,
S) Comptes rendus 166, 129,
ga a OEBBl2:
H. Heller, Über die Geruchstheorie von Teudt. 369
welche die Elektronen in den Molekülen oder an den Außenseiten
der Moleküle einzelner der Bestandteile des Bieres oder Weines
ausführen“. Ja, er schreibt diesen Schwingungen eine ausschlag-
gebende Rolle zu. Bisher befriedigte die vergleichsweise unge-
zwungene Erklärung, das Aroma des Weines sei durch chemische
Verschiedenheiten, die auf Boden, Pflege, Temperatur seines
Wuchsortes und auf nachherige Behandlung zurückzuführen seien,
bedingt. Und beim Bier, das ja doch auch recht mannigfaltigen
Prozessen seinen Endzustand verdankt, war es ebenso. Aus denk-
ökonomischen Gründen allein müßte man eine Theorie ablehnen,
die mittels Elektronenschwingungen, von denen man sich keine,
aber auch .nicht die ungefährste Vorstellung machen kann (weil sie
in ihrer postulierten Art bisher einzig dastehen), etwas erklären
will, was mit einfacheren Mitteln weit klarer ausgedrückt werden
kann. Alle Geruchsforscher stimmen überein in der hohen psy-
- chischen Wirksamkeit selbst kleiner Duftmengen. Es ist gar nicht
einzusehen weshalb nicht auch das Aroma von Bier und Wein der
Anwesenheit gewisser Aromatıka, deren Entstehen von mannig-
fachen, an den verschiedenen Erzeugerstellen aber wechselnden Be-
dingungen abhängt, zuzuschreiben sein solle Teudt hingegen läßt
in den verschiedenen Brauereien verschiedene Elektronenschwin-
gungen „eingebürgert“ sein, die den jeweiligen Gebränuen ihren
Duft induzieren. Zugeben wird jedoch auch er, daß man während
des Krieges von spezifischen Wirkungen jener Schwingungen nichts
gemerkt hat: die gegen Friedenszeit verschiedene chemische
Zusammensetzung ließ die meisten Biere gleich — schlecht schmecken.
Kaltes Bier schmeckt „anders“ als warmes, und das Aroma des
Rotweins entwickelt sich am besten in der Wärme (und wie sehr!).
Wer wird in Ansehung der hohen Wirksamkeit solch scheinbar
äußerlicher Umstände noch die Annahme physikalisch recht merk-
würdiger Elektronenschwingungen machen wollen?
Endlich sei ein letztes Hauptargument Teudt's erwähnt: der
Individualduft, der ‚jedem Menschen anhaftet und ıhn z, B. für
seinen Hund von allen Mitmenschen unterscheidet. Auch dieser
Duft soll auf individuellen Schwingungen beruhen. Auch hier kann
ich nur zugeben, daß solche Schwingungen sehr wohl bestehen
können, ja wahrscheinlich sind wie bei allen Duftstoffen, daß sie
aber stets integrierende Bestandteile gewisser Moleküle sind,
die in den schweißigen Absonderungen des Menschen am ganzen
Körper auftreten. Nur wenn selbst sehr geringe Mengen solcher
Moleküle sich irgendwo niederschlagen, wird eine Spur und eine
Witterungsmöglichkeit (nieht nur für den Hund!) geboten. Das
scheint mir daraus hervorzugehen, daß es bestimmte Rassendüfte
von sehr großer Lebhaftigkeit gibt. Hier geht also morphologischen
Unterschieden die Variation einer physiologischen Qualität parallel.
Band 39. 25
370 H. Heller, Über die Geruchstheorie von Tendt.
Der Grund ist zweiffellos verschiedenartige chemische Konstitution.
Wiederum ziehe ich es der Einfachheit halber vor, diese Ursache
auch auf individuelle Duftverschiedenheit zu übertragen. Das sehr
komplizierte Eiweißmolekül ist millionenfacher Konfigurationen
(durch Isomerie und Stereoisomerie) fähig, so daß jedes Individuum
sein nur ihm zukommendes Eiweiß mit charakteristischen intra-
molekularen Geruchsbindungen (Eigenduft) haben mag. Die kann
ein feinnasiger Hund sehr wohl von unbekannten unterscheiden.
Gerade der Hund ist im Sinne Zell’s '’ein ausgesprochenes Nasen-
tier. Eine ganz besondere Begabung in der Witterung ist bei ihm
also nicht verwunderlich, verlangt jedenfalls nicht nach einer be-
sonderen Theorie, die ım ganzen nicht mehr zu erklären vermag
als bisherige Annahmen. Im Gegenteil versagt sie in folgendem
Fall: ein Hund erkennt seinen Herrn in einer Badeanstalt bedeutend
schwieriger als auf der Straße am Duft seiner Spur. Obwohl die
Möglichkeit der, „Induktion“ die gleiche ist, müßten die Fliesen
der Badeanstalt ‘bezw. die adhärierende Luft demnach weniger
Schwingungen oder schwächere empfangen haben. Unbegreiflicher
Umstand; wahrscheinlicher ist doch da die Annahme, daß Duft-
moleküle vom Körper des Herren sich zwar im Bad. reichlicher
niederschlagen, daß sie daselbst aber auch weit reichlicher von
andern Personen beim Darübergehen adsorbiert, also weggeführt
werden. Oder auch, daß der vermehrte Duft einzelner Individuen
den vielleicht schwächeren Duft des Herrn übertönt, was bei der
Annahme Teudt’scher Schwingungen nicht möglich erscheint.
Auf die Ausdehnung der Teudt’schen Theorie auf das Ge-
ruchsvermögen der Tierwelt allgemein wie auch auf ihre Aus-
nutzung zur Erklärung vererbungsbiologischer Fragen gehe ich als
zu weitführend nicht ein. Nur zwei Bemerkungen: Teudt über-
schätzt die geruchlichen Fähigkeiten der Tiere teilweise ganz er-
heblich. Und wenn er ferner mit dem einleitenden Satz seiner
Hauptabhandlung, „Der Geruch ist nach Professor G. Jaeger der
Hauptsinn des Instinkts, mit dem Mensch und Tier erkennt, was
ihm nützlich oder schädlich ist“, sich auf den Boden der An-
schauungen jenes sonderbaren Geruchsforschers stellt, so ist das
m. E. eine ziemlich anfechtbare Kritiklosigkeit. Geruch und Ge-
schmack geben sehr oft einen höchst unvollkommenen Beitrag zur
Erkenntnis der Gegenstände, der bei allen „Augentieren“ (in der
Z,ell’schen Terminologie) gleich Null wird. —
Zusammenfassend ist also zu sagen: die Geruchstheorie von
Teudt in ihrer vorliegenden Fassung ist aus chemischen und
physiologischen Erwägungen heraus unhaltbar. Gelingt es ihrem
Urheber, sie in einer oder anderer Richtung auszubauen, was je-
doch umfangreicher experimenteller Vorarbeiten bedarf, so ist das
natürlich zu begrüßen.
G. Duncker, Joh. Schmidt’s Rassenuntersuchungen an Fischen. 31
Joh. Schmidt’s Rassenuntersuchungen an Fischen.
Von Georg Duncker.
1. Im Tier- wie im Pflanzenreich besteht die weitverbreitete
Erscheinung, daß ein und dieselbe Art an ihren verschiedenen
Fundorten körperliche Verschiedenheiten aufweist, so daß man nach
diesen an ihr verschiedene „Rassen“, „Lokalformen“ oder „Stämme*
unterscheiden kann. Derartige Lokalformen sind u. a. an einer
ganzen Reihe der Nutzfischarten nachgewiesen worden, bei denen
ihre Kenntnis oft praktische Bedeutung gewonnen hat, wie bei der
Scholle, der Flunder, dem Hering und der Sprott.
So wohlbekannt nun diese Erscheinung auch ist, so wenig hat
sie bisher eine ursächliche Erklärung gefunden. Man beschränkte
sich auf Vermutungen über ihre Ursachen, als welche man z. B.
bei den Lokalformen der marinen Nutzfische die Verschiedenheiten
des Salzgehaltes und der Temperatur des Wassers, der Tiefe und
der Grundbeschaffenheit ihres Aufenthaltsortes ansah, da es der
besonderen Lebensbedingungen dieser Tiere wegen technisch un-
möglich geblieben ist, experimentelle Zuchtversuche über die Art
des direkten oder indirekten Einflusses der Lebensbedingungen beı
ihnen anzustellen. Aber selbst Fragen nicht experimenteller Natur,
wie nach der räumlichen Ausdehnung der Lokalformen, ihrer geo-
graphischen Abgrenzung gegeneinander und ihrer Formbeständig-
keit im Laufe der Zeit konnten .auf Grund der vorliegenden Unter-
suchungen nicht mit genügender Genauigkeit beantwortet werden.
Ausgehend von seinen klassischen Aalforschungen hat Joh.
Schmidt sich die Aufgabe gestellt, zur Aufklärung der oben ge-
nannten Probleme beizutragen. Seine bisherigen Ergebnisse sind
in den Arbeiten [1]—[4] veröffentlicht; bei ihrer Wichtigkeit dürfte
ein Berickt darüber auch die Leser dieser Zeitschrift interessieren.
Als Material diente dem Verf. hauptsächlich die an den nord-
europäischen Küsten sehr häufige Aalmutter, Zoarces viviparus L.,
neben Sebastes marinus L. der einzige lebendgebärende Knochen-
fisch dieses Gebiets. Zoarces ist ein nicht wandernder Standfisch
der Flachwasserregion, der nur ausnahmsweise die 10 m-Tiefenlinie
überschreitet. Er findet sich daher überall in Strandnähe und dringt
weit in selbst enge Buchten und Föhrden ein. In nord-südlicher
Richtung ist er vom Eismeer bis zum Ärmelkanal, in ost-westlicher
von der Tscheschkaja-Bucht des nördlichen Eismeers sowie von
der bottnischen und finnischen Bucht der Ostsee bis zur irischen
See verbreitet. In letzterer ist er selten und fehlt an der West-
küste Irlands. Das Zentrum seiner Verbreitung sind die dänischen
Küsten.
Zoarces viriparus erreicht eine Länge von höchstens 40 cm.
Eine zweite, aber bedeutend größere, bis über i m lange Art der-
Or%k
In
372 G. Duncker, Joh. Schmidt’s Rassenuntersuchungen an Fischen.
selben Gattung (Z. ang ‚guillaris Peck.) kommt an der Labradorküste
Nord-Amerikas vor, eine dritte, wenig bekannte (Z. elongatus a
im Ochotskischen Meer an der asiatischen Ostküste.
Für die vorliegenden Untersuchungen wichtig ist, daß Zoarces
viviparus vom zweiten Lebensjahr ab lebende und zwar sehr voll-
kommen entwickelte Junge in großer Anzahl (bis zu 400) zur Welt
bringt. Die Paarung findet im Spätsommer statt und die Jungen
werden im Winter (etwa Januar) mit 4—5 cm Länge geboren. Sie
sind dann bereits vollkommen entwickelt, so daß Merkmale, wie
die Anzahl der Wirbel, der Flossenstrahlen und selbst der Farb-
binden bei ihnen ohne weiteres mit denen ausgewachsener Tiere
verglichen werden dürfen. Entnimmt man die Jungen eben vor
ihrer Geburt hochträchtigen Weibchen, so ist ihre Abkunft wenig-
stens von mütterlicher Seite bekannt.
Sein Material an mehr oder minder ausgewachsenen Tieren
verschaffte sich der Verf. von über 80 Fundorten, die größtenteils
auf den Karten I und II in |1] angegeben sind und sich fast über
das gesamte Verbreitungsgebiet der Art erstrecken. Ganz besonders
zahlreich und oft nur wenige Kilometer voneinander entfernt sind
dabei die Fundorte der dänischen Küsten und ıhrer Fjorde. Kon-
servierung und sonstige Präparation des Materials sind ın [1]
p- 236—287 mitgeteilt. Nachdem durch Voruntersuchungen fest-
gestellt war, daß die sogleich aufzuzählenden Merkmale sowohl vom
Lebensalter, wie vom Geschlecht. der Tiere unbeeinflußt bleiben,
wurden von jedem Fundort durchschnittlich etwa 200 Exemplare
auf folgende Merkmale hin untersucht:
Wirbelsumme („Vert.“ — DBeobachtete Variationsextreme:
101—126).
2. Stachelzahl im hinteren Abschnitt!) der sonst gliederstrahligen
Rückenflosse („D,.* — 0—17).
3. Zahl der dunkelfarbigen Querbinden auf dem vorderen weich-
strahligen Abschnitt der Rückenflosse, rechtsseitig gezählt
(„Pigm. D,.“ — 7—21).
4. Strahlzahl der rechten Brustflosse („Pd.“ — 16-22).
Die meisten der untersuchten Tiere waren 2—4 (3), vereinzelte
1 und 5 Jahre alt; die Altersbestimmung erfolgte mittelst der Jahres-
ringe der Gehörsteine und der Schuppen. Das höchste mit Sicher-
heit nachweisbare Lebensalter betrug 9 Jahre. Die Größe der Tiere
eines Fanges hängt wesentlich von dem benutzten Fanggerät ab.
Für Den Fundort wurden aus den an den einzelnen Exem-
I) Das Auftreten ungegliederter Stachelstrahlen im hinteren Abschnitt einer
sliederstrahligen Flosse steht bei Zoarces unter den Knochenfischen vereinzelt da.
Den Stachelstrahlen gehen etwa SO Gliederstrahlen voran, während etwa 20 ihnen
folgen
gen.
2a
G. Duncker, Joh. Schmidt’s Rassenuntersuchungen an Fischen. 375
plaren desselben beobachteten Zahlenwerten, den Varianten (NV),
der vier Merkmale ihre arithmetischen Mittel (A) berechnet, die
zur Kennzeichnung der Lokalform dienen. Das Maß der Variabilität
eines Merkmals bei der Lokalform, seine Hauptabweichung (s), ist
die sogen. mittlere quadratische Abweichung, d.h. die Wurzel aus
dem Mittel der ins Quadrat erhobenen Abweichungen der einzelnen
beobachteten Varianten vom Mittel der Gesamtheit. In herkömm-
licher Weise wurde ferner der „wahrscheinliche Fehler“ von A,
E (A), aus s und der Gesamtzahl » der untersuchten Individuen
bestimmt; dann bezeichnet Schmidt den fünffachen Betrag des
letzteren als „wahrscheinliche Fluktuation“ (w. Fl.), d. ı. diejenige
Fehlergrenze des gefundenen arithmetischen Mittels, die mit einer
Wahrscheinlichkeit von 1341:1 weder nach unten noch nach oben
hin mehr überschritten wird. Die Formeln zur Berechnung der
angeführten Werte lauten:
4A=-2M ng
N
_ je I ll (A 5HfA)
R
2. Über Lokalformen von Zoarees. — Die vier Tabellen |1]
p. 361-388 enthalten die detaillierten Befunde von 66 Fundorten.
An dieser Stelle seien daraus nur die extremen Mittelwerte und
Hauptabweichungen der vier Merkmale wiedergegeben, um die große
Verschiedenheit der Lokalformen zu veranschaulichen:
Tabelle 1.
Zahl der
« 5 Fundorte
1. Vert. 107,984— 119,200 / 1,225-— 3,194 66
22 D> 0,968 — 11,500 0,583—2,255 56
3. Pigm. D.- 11.4752 .14,531 0,867 — 1,985 62
4. Pd. 18,338 — 19,727 0,458—0,757 66
Schon aus diesen Zahlen ergibt sich, daß Zoarces viviparus ın
hohem Grade zur Bildung von Lokalformen neigt, ganz im Gegen-
satz zum Flußaal (Anguilla vulgaris Flem.), dessen Wirbelzahlen,
an Individuengruppen weit auseinanderliegender Fundorte unter-
sucht, zum Vergleich angeführt seien ([3] p. 113, Fig. 7):
2) Der Verf. gibt ([1] p- 294, Fußnote) irrtümlich
Biken;
N Pr
an; die Unterschiede beider Rechnungsweisen machen sich jedoch nur bei kleinen
Werten von » störend geltend, bei welchen Schmidts Ausdruck zu große und für
verschiedene » nicht streng vergleichbare Werte ergibt.
904 G. Duncker, Joh. Schmidt’s Rassenuntersuchungen an Fischen.
1 Tabelle 2.
Wirbel 111°. 2:4113: 7 12 IH OT PS ern 4A s
Fundorte:
Island — 45710,6 26,3 84,6% 10/8003,06.. 1,1: 0,6% MIR TE 75821963
Kopenhagen 2,4 3,9 13,4 20,5 33;8,.°14,3: 7.41 1,6 —r. 127:,11468 1,402
Bayonne -—04,8.,145. 25,4.02892.18.956.6. 51.33 1.0228, 21207277,319
Azoren 0,8: 3,8. .13,7. 26,0: 83,6: 71602.61.. =, — 131. 114,60°771,234
Comacchio.\:0,5'. 2,5. 14,2:,21,3235,9 16827762 55) —, 1920 212777 210284
Total 0,6. »3,9''.13,3..24,0.1 32,9 14,39:0,0N 1,2: 0,1 '862:711420271.302
Hier stimmen nicht nur Mittelwerte und Hauptabweichungen,
sondern selbst die prozentualen Frequenzen der einzelnen Varianten
an sämtlichen Fundorten fast vollkommen überein. Ähnlich ver-
hielten sich die Befunde an den Strahlzahlen der rechten Brust-
flosse des Aals. — Besonders beachtenswert erscheinen dem Ref.
die außergewöhnlich starken Schwankungen der Hauptabweichungen (s)
in der Tab. 1, da ıhm solche bei anderem Material noch nicht be-
gegnet sind.
Teilt man den gesamten beobachteten Variationsumfang der
Wirbelzahl, der Stachelzahl der Rückenflosse und der Zahl der dor-
salen Farbbinden in je eine obere und eine untere Hälfte und be-
zeichnet diese Hälften beziehungsweise mit A und a, B und b,
C und ce, so lassen sich die Kombinationen der Mittel dieser drei
Merkmale bei den einzelnen Lokalformen durch eine der acht mög-
lichen Kombinationen ABC, ABc, AbCu.s.w. bis abe charak-
terisieren. Man erhält dann für die vier Hauptregionen des Unter- -
suchungsgebietes die nachstehenden Symbole und Mittelwerte (s. [1]
‘p. 298—301 und Karte III, [3] p. 109—111):
Tabelle 3.
Region Symbol Mittelwerte
Vert. ID Pigm.D, (Pd)
Westl. Nordsee Abe 116,2 2,2 12,7 18,71
Östl. Nordsee abe 111,2 6,0 12,3 18,41
Westl. Ostsee ABC 112,2 8,0 14,3 19,35
Östl. Ostsee ABe 117,2 11,1 12,3 18,66
Stellt man jedoch die Symbole der einzelnen Lokalformen
nach ihrer geographischen Verteilung zusammen, so findet man
zahlreiche Unregelmäßigkeiten ihres Auftretens. Die Größe der
Mittelwerte eines Merkmals bei den verschiedenen Lokalformen
hängt offenbar nicht wesentlich von der geographischen Lage ihrer
Fundorte zueinander ab. Man findet oft bedeutende Unterschiede
nahe beieinander lebender und fast völlige Übereinstimmung weit
getrennter Lokalformen (s. weiter unten Tab. 11, III), und zwar
nicht allein bei Zoarces, soudern z. B. auch beim Hering, bei dem
nach Heincke die Lokalform, welche der des weißen Meeres nächst-
X
'G. Duncker. Joh. Schmidt’s Rassenuntersuchungen an Fischen. 3%
-
verwandt ist, nicht in den nordeuropäischen Gewässern, sondern
an der Ostküste Japans vorkommt. Man kann also nicht füglich
von einer geographischen Abänderung der Arten sprechen.
Dagegen stellten sich charakteristische und unter sich über-
einstimmende Befunde beim Vergleich der Lokalformen einzelner
dänischer und schleswigscher Föhrden, d.h. schmaler, untiefer Meer-
buchten, die oft tief ins Land eindringen und in der Regel in
ihrem inneren Winkel brackisch sind, heraus (vergl. [1] p. 301—310).
An der Ostküste Jütlands mündet der Limfjord, etwa 30 km
südlicher der Mariager Fjord. Von der Mündung landeinwärts
gehend findet man an den verschiedenen Fangorten der beiden
Fjorde:
Tabelle 4.
I. Östlicher Limfjord®) ([1] p. 304—305, [3] p. 110), A+ w. Fl.
Vert. D, Pigm. D, Pd.
St. 2. 117,10 + 0,62 922 +0,33 '- 1320 +0,41 19,06 + 0,14
S.3. 112114059 741#+037 12,73+048 19,34+0,16
St. 4. 109,69 + 0,45 6,84 + 0,34 12,52 +0,37 19,19 # 0,14
II. Mariager Fjord ([1] p. 302—303, [3] p. 111), Atw. Fl.
Vert. D, Pigm. D, Pd.
St. 15. 115,43 +0,65 8,74 +0,39 13,06 + 0,49 19,04 0,13
St. 16. 110,99 +0,84 7,21 #.0,38 12,32 + 0,54 19,14 + 0,16
St. 17. 110,18 40,43 6,87 +0,33 11,80 + 0,44 19,30 + 0,15
St. 19. 109,30 + 0,40 6,40 + 0,30 11,83 + 0,46 19,46 + 0,16
In der Mitte zwischen den beiden Fjord-Mündungen liegt an
der offenen Küste des Kattegats St. 14 (Hurup), deren Lokalform
die Mittelwerte
Vert. 117,37 + 0,48, D, 9,21 + 0,37, Pigm. D; 13,30 + 0,42,
Pd. 19,06 + 0,14
aufweist. Von der Küste ins Binnenland hinein findet also in beiden
Fjorden eine deutliche Abnahme der Wirbelzahl, der Stachelzahl
der RKückenflosse und der Anzahl der dorsalen Pigmentbinden, da-
gegen eine geringfügige Zunahme der Strahlzahl der Brustflossen
statt. Ubereinstimmende Verhältnisse ergeben sich auf dem Fest-
land in der Schlei ([1] p.305) und im Koldingfjord, sowie auf See-
land im Skjelskoerfjord ([1] p. 306) am großen Belt und in den ge-
meinschaftlich bei Lynaes (St. 30) ins Kattegat mündenden Isefjord
und Roskildefjord. Die Werte der Lokalformen der beiden letzt-
genannten Regionen, von ihrer Mündungsstelle an aufwärts, sind:
3) Einschließlich des Nibe-Bredning. Die Lokalformen des westlichen, mit
der Nordsee zusammenhängenden Limfjords ähneln denen des angrenzenden Nord-
seegebiets.
N SE a Mr
ER REIN RE ARE
4
376 G. Duncker, Joh. Schmidt’s Rassenuntersuchungen an Fischen.
Tabelle 5.
. Isefjord, A + w. Fl.
Vert. D; Pigm. D, Pd.
St. 30. 114,01 # 0,46 5,97. 0,31 13,89 +0, 36 1930#0,11
St. 3 113224043 6324034 13,50+0,34 °1926+0,13
St. 32. . 112,94 0,22 5,89 # 0,16 13,47 + 0,19 19,30 # 0,06
II. Roskildefjord ([1]) p. 307—308), A-+ w. Fl.
Vert. D,; Pigm.D, Pd.
St. 30. 114,01 + 0,46 5,97. 4.0,31 13,89 + 0,36 19,30 &0,11
St. 33. 109,46 + 0,49 5,79 + 0,44 12,63 + 0,42 19,09 £ 0,16
St. 34. 107,98 + 0,36 5,74 + 0,27 12,34 + 0,36 19,20 +0,12
Es ergeben sich also übereinstimmende Befunde an vergleich-
baren Fundorten von nicht weniger als sieben verschiedenen Re-
gionen, die eine deutliche und bestimmt gerichtete Abänderung der
Lokalformen mit dem Eindringen der Art in geschützte, salzärmere
Gewässer von dem offenen Seestrand her erkennen lassen. Diese
findet einen sichtbaren Ausdruck auch im Gesamthabitus der Tiere,
von denen die schlanken, ın der freien See lebenden sehr ver-
schieden von den gedrungenen der inneren Fjordwinkel erscheinen,
wie es bei der Gegenüberstellung zweier etwa gleichgroßer Exenı-
plare aus dem Öresund und aus dem Roskildefjord in [1] p.. 309,
Fig. 16 und 17 oder in |3] pl.-VII, Fig. 1 und 2 hervortritt.
In den erwähnten Fjordformen liegen typische Beispiele lokaler
Variation vor, die dadurch besonders eelene werden, daß die
verschiedenen Lokalformen oft in nächster Nachbarschaft miteinander
leben.
3. Untersuchung der Konstanz der Lokalformen. —
Nachdem nun festsichn, daß Zoarces viviparus ın hohem Grade zur
Bildung von Lokalformen neigt, ist es in erster Linie wichtig zu
wissen, wie weit die einzelne Lokalform sich als beständig erweist.
Konstanz einer Lokalform kann nur angenommen werden, wenn
sowohl ihre einzelnen Fangproben, als auch ihre einzelnen Gene-
rationen und ihre einzelnen Zuchtstämme immer wieder die gleichen
Mittelwerte der untersuchten Merkmale ergeben.
Von einigen ausgeprägten Lokalformen, wie der St. 22 (Snoghöj),
St.31 (Nakkehage am Isefjord) und St. 38 (Vordingborg) hatte der
Verf. zu verschiedenen Zeiten größere Individuenmengen (150— 250
Exemplare). erhalten, deren Mittelwerte (4 + w. Fl.) miteinander
verglichen werden konnten (|1] p. 289, 294—298):
Tabelle 6.
St. 38 Vert. Berne St. 22 Vert.
15. IL, 15 116,10 + 0,49 19,22 +0,17 April 1915 117,69 + 0,52
24. III. 15 115,97 + 0,41 19212. 0,14 Mai 1915 117,65 + 0,29
Oktober 1915 117,44 + 0,34
Oktober 1916 117,44 # 0,44
&
NT
G. Duncker, Joh. Schmidt’s Rassenuntersuchungen an Fischen. 37
X
St. 31 Vert. D, Pigm. D, Pd.
1914 113,42 +0,49 5 1 +0,39 = 19,43 +0,15
1915 113,92 +0,43 324 0,340 18,50, 0,34 .' 19,26-#:0,43
1916 113,40 & 0,44 se +0,31 13,67 + 0,38 19,26 + 0,14
Die Durchschnittswerte der einzelnen Fangproben stimmen, zu-
mal in der Wirbelzahl, sehr genau miteinander überein, sprechen
also für Konstanz der betreffenden Lokalformen in den untersuchten
Merkmalen.
Da sich jede Fangprobe aus Individuen ungleichen Alters zu-
sammensetzt, so erschien nicht ausgeschlossen, daß zwar die Mittel-
werte der Fangproben konstant, dagegen die ıhrer einzelnen Jahr-
gänge verschieden sein könnter. Deshalb wurde das sehr umfang-
reiche Material der St. 34 (Langholm am Roskildefjord) nach der
Beschaffenheit der Schuppenringe sortiert und die Mittelwerte
zweier der so bestimmten Jahrgänge, der 1915 (über 400) und der
1916 geborenen (ca. 300) Individuen, miteinander verglichen. Es
ergab sich (|2] p. 2—7): |
Tabelle 7.
St. 34 Vert. D, Pigm. D, Pd: Ps.
1915 108,22 +0,32 6,271 +#0,21 '12,34+ 0,33 .18,98 +0,10. 19,01 +0,10
1916. 108,08+.0,39 .5,83 +0,23 12,45 +0,40 1941+0,11 19,45 +0,12
In diesen beiden Jahrgängen verhalten sich zwar die Wirbel-
summe und die Zahl der dorsalen Querbinden konstant, nicht da-
gegen die Stachelzahl der Rücken- und die Strahlzahlen der rechten
und der linken Brustflosse.
Die Verschiedenheiten der beiden Jahrgänge können nicht etwa
durch die Annahme erklärt werden, es handle sich bei ihnen um
zwei ihrem Geburtsort nach verschiedene Lokalformen, die erst
durch Wanderung an den gemeinsamen Fangort Belaneı seien.
St. 34 liegt im innersten Winkel des FOSKHldE ah und die dort
lebenden Tiere weisen die niedrigste Wirbelzahl des gesamten
Fjordgebiets auf, können also nicht wohl von irgendeinem anderen
Punkt des letzteren hergewandert sein, an welchem ja stets eine
höhere Wirbelzahl bestehen würde.
Somit ergibt die Untersuchung zweier Jahrgänge desselben
Fundorts die Möglichkeit ungleicher Durcheann. were einiger ihrer
individuell ee Merkmale. In diesen verhält sh die
Lokalform nicht konstant.
Die weitere Zerlegung der Jahrgänge einer Lokalform führt
auf ihre Zusammensetzung aus Geschwisterschaften, die verschie-
denen Müttern entstammen; man hat also die Abkunft der Indi-
viduen verschiedener Jahrgänge einer Lokalform im Hinblick auf
ihre Konstanz oder Nichtkonstanz zu berücksichtigen. Die Ge-
schwisterschaften von Zoarces sind oft recht zahlreich (bis zu 400
Individuen); sie ergeben daher Mittelwerte, die mit denen: der Ge-
378 G. Duncker, Joh. Schmidt’s Rassenuntersuchungen an Fischen.
samtheit verglichen werden können. Der Verf. untersuchte Ge-
schwisterschaften, die er hochträchtigen Weibchen entnahm, die
also unmittelbar vor ihrer Geburt standen und ın den hier berück-
sichtigten Merkmalen bereits vollständig entwickelt waren.
Besonders lehrreich ist der Befund an 11 vollständig unter-
suchten Geschwisterschaften bekannter Mütter der St. 31 (Nakkehage
am Isefjord) auf ihre Wirbelsumme hin ([1] p.318—319, Fig. 24—27):
Tabelle 8.
? iuv. Lokalform (erwachsene Tiere).
jr ————— \an m
V n A $ Fang n A $
108 149 109,48 1,62 1914 166 113,42 1,87
110 uns) 111,11 1,12 1915 233 113,22 1,96
110 79 111,33 1,20 a) 239 113,40 2,07
12 211. 11236 1,37 1914—16 638 113,34 1,96
115 159 112,36 2,06
114 184 114,27 1,87
115 205 115,17 1,40 Mütter:
117 52 113,92 1,53
Il: 113,82 3,30
ER ua unker ne a
118: 6711512 108 a a
118 f 80 116,34 1,41
Summe 1459 113,25 2,73
Mittel 113,25 1,53
Zunächst fallen an dieser Tabelle die Abhängigkeit der Durch-
schnittswerte der Geschwisterschaften von den Varianten ıhrer
Mütter und die geringe Variabilität der Geschwisterschaften im
Vergleich zu der der gesamten Lokalform auf. Die erstere Erschei-
nung ist der Ausdruck der Vererbung, die offenbar eine weit
größere Einwirkung auf die Geschwisterschaften ausübt als die un-
bekannt wirkenden Einflüsse der Außenwelt. Die Mittelwerte der
elf Geschwisterschaften dieses einen Fundortes schwanken in nur
wenig engeren Grenzen, als die der (erwachsenen) Lokalformen
von 66 Fundorten, nämlich zwischen 109,5 —117,8 statt zwischen
108,0— 119,2. Trotzdem aber vereinigen sich die gesamten Beob-
achtungen an den elf Geschwisterschaften zu einem Mittel, das mit
dem Durchschnittswert ihrer Lokalform fast genau zusammenfällt
(113,25 gegenüber 113,34).
Die Variabilität der elf Geschwisterschaften ist in zehn Fällen,
zum Teil recht erheblich, kleiner als die der Lokalform und über-
steigt die letztere nur in einem Fall ein wenig; das korrekt be-
rechnete?) Mittel der elf Hauptabweichungen bleibt daher beträcht-
4) Varianten der Mütter mit der Zahl ihrer Jungen multipliziert.
9) Eh, In s°)
Na, 33 (n) .
’ ar u a N AUGEN, RG ern Zu. e" N ap ech rd 2 u t
2 z -
G. Duncker, Joh. Schmidt’s Rassenuntersuchungen an Fischen. 319
lich hinter der Hauptabweichung der erwachsenen Gesamtbevölkerung
zurück (1,53 gegen 1,96). Dagegen ergibt die Gesamtheit der zu den
elf Geschwisterschaften gehörigen 1459 Embryonen eine sehr große
Hauptabweichung, die etwa das 1'/,fache jener der erwachsenen
Gesamtbevölkerung beträgt und nur noch von der der elf auser-
lesenen Mütter übertroffen wird. Die hohe Variabilität der letzteren
erklärt sich einfach daraus, daß bei ihnen infolge der Auslese ge-
rade extreme Varianten relativ viel häufiger sind als bei der Lokal-
form, der sie angehören. — Ähnliche Resultate ergab die Unter-
suchung je dreier vollständiger Geschwisterschaften der St. 31 auf
die Strahlzahlen der After-, der Rücken- und der rechten Brust-
flosse, sowie der St. 17 auf die Zahl der dorsalen Farbbinden
([1] p- 321-324).
Untersucht man statt der sämtlichen Jungen einzelner auser-
lesener Weibchen eine kleinere feste Anzahl (etwa 10) Junger sämt-
licher trächtigen Weibchen eines einheitlichen Fangmaterials, so er-
hält man Resultate wie die der auf die Wirbelsumme bezüglichen
Tabellen XII A bis © in [1] p. 390— 392, aus denen hier im Auszug
wiedergegeben sei:
Tabelle 9.
Dekadische Gesamtmittel
Einzelmittel € Lokal
; iuv.
der iuv. form-
St.31(Nakkehage, Isefjord, 1914) 1382 ° 109,3—118,9 113,18. 113,42
St. 33 (Frederiksund, Roskildefjord, 1915) 1242 106,6—115,9 110,17 109,46
St. 22 (Snoghöj, Kl. Belt, 1915) 162 2 193-1208 11.726 Nat AA
Die einzelnen „dekadischen* Geschwisterschaften einer Lokal-
form ergeben wiederum unter sich außerordentlich verschiedene
Mittelwerte, die sich aber stets zu einem Gesamtmittel ergänzen,
das von dem ihrer Lokalform nur wenig abweicht.
Außer für die Wirbelzahl wurden entsprechende ehuneen
auch für die Strahlzahl der rechten Brustflosse vorgenommen, mit
dem Ergebnis, daß das Mittel der Embryonen bei diesem Merkmal
ın einem Fall etwas größer, ım andern etwas kleiner war als das
ihrer Mütter.
Tabelle 10.
St. 38, St. 40.
1289 19,070 1412 “19,241
1280 iuv. 19,343 400 iuv. 18,870
128 iuv. 19,351 134 iuv. 18,836
Von St.33 wurden je 10 bezw. je1l, von St. 40 nur je 3 bezw.
je 1 Embryo jedes Weibchens bei der Mittelbildung berücksichtigt;
von dem letzteren Material fielen einzelne lädierte Exemplare aus.
Die eben dargestellten Abkunftuntersuchungen ergeben also,
daß die einzelnen Jahrgänge einer Lokalform aus zahlreichen, unter
380 G. Duncker, Joh. Schmidt’s Rassenuntersuchungen an Fischen.
sich verschiedenen Geschwisterschaften zusammengesetzt sind. Erst
diese kann man als ın sich einheitliche, nicht weiter zerlegbare
Individuengruppen betrachten, vorausgesetzt, daß die sämtlichen
Geschwister einer Geburt auch demselben Vater entstammen. —
Die ım Anfang dieses Abschnitts gefundene Konstanz der Lokal:
formen ist daher nur eine scheinbare, mehr oder minder zufällig
hervorgerufen durch eine ıhr günstige Kombination der Geschwister-
schaften desselben Jahrgangs. Schmidt faßt seine Ergebnisse
hinsichtlich dieser Frage in die Worte zusammen ([3] p. 117): „Eine
‚Fischrasse‘ ıst wesentlich ein statistischer Begriff. Er bedeutet
eine Mischung verschiedener Genotypen, und die Mittelwerte, die
die Rasse charakterisieren, hängen in erster Linie von dem quanti-
tativen Verhältnis dieser Genotypen zueinander, nur in zweiter von
den äußeren Lebensbedingungen ab.“
4. Über den Einfluß äußerer Lebensbedingungen. —
Von den äußeren für die Entstehung von Lokalformen mariner
Fischarten ın Betracht kommenden Bedingungen galten der Mehr-
zahl der Forscher als besonders wichtig der Salzgehalt und die
Temperatur des Aufenthalts-Gewässers. Den Einfluß des Salzgehalts
untersuchte der Verf. mittelst Vergleichs der Lokalformen verschie-
dener Fischarten, den der Temperatur durch besondere Zuchtver-
suche an Lebistes reticulatus Pet., einem von Aquarienliebhabern
viel gehaltenen, lebendgebärenden Cyprinodonten.
Was den Einfluß des Salzgehalts anlangt, so ergeben die
nachstehenden, aus [1] p. 351—338 und [3] p. 115—117 entnommenen
Mittelwert-Tabellen außerordentlich widerspruchsvolle Resultate.
Tabelle 11.
I. Wirbelzahlen nach Heincke ([1] p. 332—333).
Fundort Salzgehalt Scholle Hering
Ostsee 205 425 . 55,2
Weißes Meer 252160 43,5 53,6
Südl. Nordsee 23.30 0],. 43,0 59.3
Nordwestl. Nordsee ca. 349] o 43,0 56,3
Island >35 oo > 43,0 >.97,0
II. Seenadel (Syngnathus typhle L.) nach Duncker (|l] p. 334).
Fundort Salzgehalt Vert. D. Pd.
Südwestl. Ostsee ilteuat, 52,8 34,9 13,4
Plymouth 33— 35,5 oo 55,5 37,8 14,8
Neapel 37—38 oo 54,8 34,4 16,0
III. Zoarces, Wirbelzahlen (|1] p. 337, [3] p. 116—117).
Fundort Salzgeh. A+ w. Fl. Fundort Salzgeh. At+tw.Fl.
St.57. Schottland 34°/,, 116,40 + 0,47 St.1: Laesöo +» 30%... 114,25 #.0,43
St.52. Bottn. Bucht 5°, 116,10+ 0,45 St.8. Limfjord 30 °/,, 111,21 +0,38
G. Duncker, Joh. Schmidt’s Rassenuntersuchungen ‚an Fischen. 381
Fundort Salzgeh. A+twFEl
Kjelds Nor, Langeland °) 12 0: 119,44 + 0,75
St. 34. Roskildefjord (1916) 12%, 108,06 + 0,69
Scholle und Hering des Weißen Meeres fallen beide hinsicht-
lich der Wirbelsumme aus der sonst regelmäßigen Reihenfolge der
übrigen, dem Salzgehalt nach geordneten Fundorte heraus, jedoch
in entgegengesetztem Sinne, indem die Scholle des Weißen Meeres
eine zu hohe, der Hering desselben eine zu niedrige Wirbelzahl
aufweist. Bei der Seenadel entsprechen die Mittelwerte weder der
Wirbelsumme, noch der Strahlzahl der Rückenflosse den Verschie-
denheiten des Salzgehalts der aufgeführten Fundorte, während die
Strahlzahl der Brustflossen mit seinem Steigen eine deutliche Zu-
nahme erfährt. Endlich stimmen die Mittel der Wirbelsummen
von Zoarces an zwei Fundorten extrem verschiedenen Salzgehalts
(Schottland und Bottnische Bucht) völlig überein, weisen dagegen
an je zwei anderen, unweit voneinander gelegenen Fundorten unter
sich gleichen Salzgehalts fast spezifische Unterschiede auf. — Die
Gesamtheit dieser Befunde läßt also überhaupt keinen bestimmt
gerichteten Einfluß des Salzgehalts auf die hier berücksichtigten
Merkmale erkennen.
Den Einfluß der Temperatur untersuchte der Verf. an
Lebistes reticulatus in der Weise, daß er Zuchtpaare mit bekannter
Strahlzahl der Rückenflosse während verschiedener Trächtigkeits-
perioden des Weibchens in verschiedenen Temperaturen hielt, so
daß er von einem und demselben Paar verschiedene Temperatur-
Bruten erzielte. Die einzelne Brut brachte 9—57, ım Durchschnitt
28 Junge, an denen die Strahlzahl der Rückenflosse und deren Mittel-
wert bestimmt wurde. Anfänglich konnte die Temperatur der
Aquarien nur annähernd konstant gehalten werden; bei einem spä-
teren Versuch (1918; VI) gelang es, dies genau durchzuführen. Die
Elterntiere der einzelnen Zuchtpaare sind mit ıhrer Strahlzahl be-
zeichnet; die mittleren Ergebnisse der Zuchten waren ([2] p. 13—14,
[4] p. 3):
Tabelle 12.
Temperatur: Niedrig Mittel Hoch
Zuchtpaar tc19.°) (ea. 25,9) (ca. 28%
a AT 3. 6, 658° 2.7, 000 1. 7, 600
4. 6, 921 5. 7, 200
HA 3x2 3 1. 6, 844 2.7,341
IE 8 8:X 27 2. 6, 838 1.7,140
IN I EEIER6 3. 6,417 1. 6, 867
2.6, 868
Vers ek 0°xX-:9-6 2. 6, 500 1.7, 000
3. 6, 660
6) Etwas südlich von St. 43.
Nu
382 G. Duncker, Joh. Schmidt’s Rassenuntersuchungen an Fischen.
Konstante Temperatur: 18%C. 20
Zuchtpaar
VL, Sax 25 4. 6.250 1. 6. 889
2. 6. 867
3.6. 906
5.— 17.6. 927
(Mittel: 6. 910)
In Tabelle 12 sind die einzelnen Zuchtpaare mit römischen,
die von ihnen unter verschiedenen Temperaturbedingungen erzielten
Bruten nach ihrer zeitlichen Folge mit arabischen Nummern be-
zeichnet. Die mittlere Strahlzahl der einzelnen Bruten entsprach
also gänzlich unabhängig von der Aufeinanderfolge des Wechsels
der Temperaturen stets derjenigen Temperatur, welcher das Weib-
chen während seiner Trächtigkeit ausgesetzt war: je höher die
letztere, desto höher auch die Strahlzahl seiner Nachkommenschaft.
Neben dem Einfluß der Temperatur auf diese machte sich aller-
dings auch stets der der Vererbung bei den Nachkommen verschie-
dener Zuchtpaare geltend. — Die Dauer der Trächtigkeit währte
bei hoher Temperatur nur einen, bei niedriger mehr als 2!/, Monat.
Bei Zebistes übt demnach die Temperatur während der Em-
bryonalentwicklung der Jungen einen mit Sicherheit nachweisbaren,
positiv gerichteten Einfluß auf die Strahlzahl ıhrer Rückenflosse aus.
5. Vererbungsversuche. — Endlich wandte sich der Verf.
demjenigen inneren Faktor zu, der bereits wiederholt bei der Be-
trachtung der Geschwisterschaften von Zoarces und Lebistes hervor-
trat, der Vererbung. Er stellte neuerdings (1918) sehr sorgfältige
Zuchtversuche über den Einfluß der Vererbung auf die Strahlzahl
der Flossen von Lebistes reticulatus an.
Bei dieser Art hat die Rückenflosse 5—-8, in der Regel 7 Strahlen.
Seit 1915 waren zwei Stämme derselben auf möglichst hohe und
auf möglichst niedrige Strahlzahlen hin gezüchtet worden. Der
Verf. richtete nun zwei Aquarien, A und B, ohne Pflanzenwuchs,
mit Durchlüftung und mit bis auf 0,1° ©. konstanter Wassertempe-
ratur von 25° ein, zerlegte jedes derselben durch ein Gitter aus
dünnen Glasröhren in zwei Abteilungen, so daß die Wassermassen
in diesen beiden Abteilungen in jeder Hinsicht gleichartig blieben,
und besetzte jedes der beiden Aquarien in seiner einen Abteilung
mit einem Zuchtpaar mit acht-, in seiner andern mit einem solchen
mit sechsstrahliger Rückenflosse. Es wurden also ım ganzen vier
Zuchtpaare verwendet, von welchen die beiden mit hoher Strahl-
zahl dem auf diese hin, die mit niedriger dem auf letztere hin ge-
züchteten Stamm entnommen waren. Pflege und Fütterung der ın
beiden, Seite an Seite stehenden Aquarien gehaltenen Tiere war
gleich. Eine ungleichartige Einwirkung der äußeren Bedingungen
war somit bei dıesen Versuchen ausgeschlossen; ungleiche Ergeb-
1 03, Bl a SR AARBRN ERe Dall va an Vak
G&. Duncker, Johs. Schmidt’s Rassenuntersuchungen an Fischen. 383
nisse der Zuchtversuche konnten nur auf der Verschiedenheit der
Zuchtpaare beruhen. Die Nachkommen derselben verhielten sich
wie folgt (s. [4] p. 4—6):
Tabelle 13.
Aquarium: A B
Zuchtpaar: "1.86X26 IL.38X2PS TIL.Z36XP6 IV.J38XPS Total
Strahlz.d.Nachk. (4Bruten) (4Bruten) (4 Bruten) (3Bruten) (15 Bruten)
6 25 — 23 ._ 48
Ü 62 10 51 3 126
8 — 54 — 40 94
Summed.Nachk. 57 64 74 3 268
A 6,713 7,844 6,689 7,930 72
Ss 0,453 ‚363 0,463 0,255 0,707:
Verschiedene unter sich gleichartige Weibchen (I und III,
II und IV) bringen also unter gleichen äußeren Bedingungen in
bezug auf Mittel und Variabilität ähnliche Nachkommenschaft her-
vor, während nach Tab. 12 identische Weibchen unter ungleichen
äußeren Bedingungen verschiedenartige Nachkommenschaft zur
Welt brachten. Bei den Nachkommen findet von beiden elterlichen
Extremen her eine Regression nach dem Mittel der Gesamtheit
(etwa 7) hin statt.
Den Schluß der ersten Arbeit Schmidt’s ([1] p. 340— 345) bilden
Erwägungen im Sinne W. Johannsen’s über die genotypische und
phänotypische Natur der Ursachen der Differenzierung von Lokal-
formen. Da der Verf. weitere experimentelle Untersuchungen betr.
dieser Frage in Aussicht stellt, hält der Ref. es für angezeigt, erst
deren Resultate abzuwarten, ehe er auf jene Erwägungen eingeht.
6. Zusammenfassung. — Zoarces vivriparus L. ist eine ın
zahlreiche Lokalformen zerfallende, weil sehr seßhaft lebende Art.
Die Verschiedenheiten dieser Lokalformen entsprechen nicht der
geographischen Lage ihrer Fundorte; nahe beieinander lebende können
in den untersuchten Merkmalen verschiedener sein, als weit von-
einander entfernte. Übereinstimmend aber verhalten sich die ein-
zelnen Lokalformen der verschiedenen dänischen Fjorde darin, daß
sie gleichgerichtete Abänderungen mit dem Eindringen der Art von
der offenen Seeküste her ın die inneren geschützten und mehr
braekischen Fjordwinkel erkennen lassen.
Untersucht man von einer und derselben Lokalform größere
Fangproben, so stimmen diese untereinander im wesentlichen über-
ein. Zerlegt man nun diese Fangproben nach dem individuellen
Lebensalter der Tiere in Jahresklassen, so findet man nur noch in
einigen Merkmalen Übereinstimmung, in anderen dagegen eine
merkliche Verschiedenheit derselben. Teilt man endlich diese Jahr-
384 G. Duncker, Johs. Schmidt's Rassenuntersuchungen an Fischen.
gänge in Greschwisterschaften auf, so zeigen sich überraschend
große Unterschiede der letzteren in sämtlichen Merkmalen, welche
die zwischen verschiedenen Lokalformen bestehenden; oft weit über-'
treffen und in erster Linie durch die individuelle Abkunft der Ge-
schwisterschaften, also durch Vererbung, bedingt erscheinen. Die
durchschnittliche Variabilität der Geschwisterschaften einer Lokal-
form aber ist kleiner als die der letzteren selbst.
Eine Lokalform ist demnach nur scheinbar konstant. Sie stellt
eine Mischung sehr verschiedenartiger Geschwisterschaften ver-
schiedener Jahrgänge dar, und die Mittelwerte ıhrer Merkmale
hängen in erster Linie von dem quantitativen Verhältnis der Ge-
schwisterschaften, nur ın zweiter von den äußeren Lebensbe-
dingungen ab.
Von äußeren Lebensbedingungen wurden der Einfluß des Salz-
gehalts und der der Temperatur untersucht. Ein Vergleich von
Lokalformen verschiedener Fischarten, die in‘Meeresgebieten un-
gleichen Salzgehalts leben, ließ keinen bestimmt gerichteten Ein-
fluß desselben auf die untersuchten Merkmale erkennen. Dagegen
ergaben sehr präzise Versuche an einem lebendgebärenden Cyprino-
donten (Lebistes) eine deutlich nachweisbare, positiv gerichtete
Wirkung der Temperaturhöhe, welcher die Jungen der verschiedenen
Bruten eines und desselben Weibchens während ihrer Embryonal-
entwicklung ausgesetzt waren, auf die Strahlzahl der Rückenflosse.
Zuchtpaare von Lebistes mit entweder hoher oder niedriger
Strahlzahl der Rückenflosse, welche unter genau gleichen äußeren
Bedingungen gehalten wurden, ergaben in je einem Doppelversuch
Nachkommen, die ausgeprägte regressive Erblichkeit dieses Merk-
mals erkennen ließen. Die Vererbung ıst demnach ein weiterer
wichtiger Faktor der Differenzierung von Lokalformen.
Literatur.
1] Johs. Schmidt, Racial Investigations. — I. Zoareces viviparus L. and local
raees of the same. Compt. Rend. Trav. Labor. Carlsberg Vol. XI 3. Livr.
p. 277 —397, pl. I-Il. 1917.
[2] Johs. Schmidt, Racial oa te — II. Constancy investigations eontinued.
Ibid. Vol. XIV, Nr. 1, p. 1—19. 1917.
[3] Johs. Schmidt, Racial Studies in Fishes. I. Statistical investigations with
Zoarces viviparus L. Journ. of Geneties, Vol. II, Nr. 2, p. 105-118,
pl. VII. 1918.
|4| Johs. Schmidt, Race-Unders@gelser. — Ill. Experimentelle Konstans- og
Arveligshedsundersggelser med’ Lebistes reticulatus (Peters) Regan. Meddelels.
Carlsberg Lab. Bd. XIV, Nr. 5. 1919.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der Universitäts-
3uchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen.
Biologisches Zentralblatt
Begründet von J. Rosenthal
Unter Mitwirkung von
Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München
herausgegeben von
Dr. E. Weinland
Professor der Physiologie in Erlangen
Verlag von Georg Thieme in Leipzig
39. Band September 1919 Nr. 9
ausgegeben am 30. September 1919
Der jährliche Abonnementspreis (12 Heite) beträgt 20 Mark
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physiolog. Institut,
einsenden zu wollen.
Inhalt: F. Alverdes, Die gleichgerichtete stammesgeschichtliche Entwicklung der Vögel und
Säugetiere. S. 385.
E. Hesse, Lueilia als Schmarotzer. S. 401.
B. Klatt, Zur Methodik vergleichender metrischer Untersuchungen, besonders des Herz-
gewichtes. S. 406.
P. Schieffer deeker, Über die Differenzierung der tierischen Kaumuskeln zu menschlichen
Sprachmuskeln. 8. 421.
Die gleichgerichtete stammesgeschichtliche Entwicklung
der Vögel und Säugetiere.
Von Dr. Friedrich Alverdes, Halle a. S., Zoolog. Institut.
Unter „unabhängiger Entwicklungsgleichheit“ oder „Homöo-
genesis“ versteht Eimer die Erscheinung, daß im Verlaufe der
Phylogenese bei verschiedenen Tier- oder Pflanzengruppen die
gleichen Charaktere selbständig zur Ausbildung gelangen können;
die betreffenden systematischen Einheiten haben während ihrer
Stammesgeschichte eine in gleicher oder ähnlicher Richtung ver-
laufende Entwicklung durchgemacht. Auf diese Weise erklärt
Eimer bei Schmetterlingen eine Reihe von Vorkommnissen, die
früher als Mimikry gedeutet wurden !').
1) In einer nach Fertigstellung vorliegender Zeilen erschienenen Arbeit: „Der
Generationswechsel bei Pflanzen und Tieren als Wechsel verschiedener Morphoden“
(Bd. 38 dieser Zeitschrift) belegt Fr. J. Meyer mit dem Namen „Homoiogenesis“
den Wechsel von getrenntgeschlechtlichen und hermaphroditen Morphoden. Nach-
39. Band 26
386 F. Alverdes, Die gleichgerichtete stammesgeschichtl. Entwicklung d. Vögel ete.
Auch Steinmann spricht in seinen „geologischen Grundlagen
der Abstammungslehre“ von einem parallelen Verlauf des phylo-
genetischen Entwicklungsganges; doch ıst hierunter etwas ganz
anderes zu verstehen als unter der Homöogenesis Eimer’s. Stein-
mann glaubt, die heute lebende Tier- und Pflanzenwelt polyphy-
letisch von den ausgestorbenen Formen herleiten zu können, und
zwar in der Weise, daß aus einzelnen Gruppen der einen Klasse
auf Grund einer Parallelentwicklung ebensoviele jüngere Gruppen
hervorgehen, die dann von den Systematikern ihren gemeinsamen
Charakteren nach wieder einer anderen Klasse zugerechnet werden.
Die Homöogenesis Eimer’s ıst demgegenüber ein Ahnlichwerden
verschiedener Arten von einander unähnlichen Ahnentypen aus.
Wohl einmütig ist die Ablehnung, die seitens der Zoologen
und Anatomen Steinmann’s Theorie erfahren hat. Denn bei einer
gründlicheren morphologischen Betrachtungsweise ist dieselbe wenig-
stens in der Form, wie sie von Steinmann und seinen Schülern
verfochten wird, unhaltbar.
Es war der große Fehler Steinmann’s, daß er Konvergenz-
erscheinungen als den Ausdruck stammesgeschichtlicher Zusammen-
gehörigkeit hinnahm. So führt er beispielsweise die Waltiere poly-
phyletisch auf mesozoische Meeressaurier zurück und zwar die
Bartenwale auf die Thalattosaurier, die Physeteriden auf die Plesio-
saurier und die Delphiniden auf die Ichthyosaurier. Er stützt sich
dabei lediglich auf ein ‘paar äußere Merkmale dieser Tiergruppen
wie Körpergröße, Profil des Hinterhauptes, Verlauf der Nasengänge
sowie Zahl der Zähne, Finger und Fingerglieder u. dgl.; die grund-
legenden morphologischen Verschiedenheiten läßt er wie stets, so
auch hier, ganz außer acht.
Wenn ich ım folgenden von einer gleichgerichteten stammes-
geschichtlichen Entwicklung der Vögel und Säuger spreche, so habe
ich dabei nicht etwa eine Parallelität nach Steinmann, sondern
eine „unabhängige Entwicklungsgleichheit“ im Auge, welche beim
Vergleich der beiden Klassen miteinander hervortritt.
Angaben über Homöogenesis finden sich häufig in der zoolo-
gischen, botanischen und paläontologischen Literatur. Allerdings
denkt heutzutage der Paläontologe, wenn er von paralleler Ent-
wicklung spricht, meist weniger an eine solche im Eimer’schen.
als vielmehr an eine solche im Sinne Steinmann’s. Schon Darwin
kannte das selbständige Auftreten des gleichen Charakters bei ver-
schiedenen Arten, eine Erscheinung, die er „analogous or parallel
Variation“ nannte.
dem aber dieser Terminus durch Eimer bereits für die „unabhängige Entwicklungs-
gleichheit* festgelegt wurde, halte ich die durch Meyer vorgeschlagene Anwendung
desselbeu für unzweekmäßig.
F. Alverdes, Die gleichgerichtete stammesgeschichtl. Entwicklung d. Vögel ete. 387
Gräfin Linden stellt in den verschiedensten Gastropodenfamilien
das Wiederkehren nicht nur derselben Skulptur und Zeichnung,
sondern auch der äußeren Gestalt der Schneckengehäuse fest, ohne
daß die Träger der letzteren in irgendwelcher verwandtschaftlicher
oder biologischer Beziehung zueinander ständen.
In systematischen Arbeiten sind Hinweise auf eine unabhängige
Entwicklungsgleichheit nicht selten. Nach Sarasın zeigen eine
ganze Reihe von Vogelarten auf den Loyalty-Inseln melanotische
Tendenzen. Stresemanun deutet im Sinne Eimer’s als Resultat
unabhängiger Konvergenz der Eutwicklungsrichtung bei Vögeln eine
Erscheinung, die seit Wallace als Schulbeispiel der Mimikry galt,
Der auf Buru lebende Vertreter der Gattung Philemon ıst von
demjenigen auf Seran sehr verschieden, ebenso wie die Angehörigen
der Gattung Oriohıs auf diesen beiden Inseln untereinander erheb-
liche Unterschiede zeigen. Auffallend ist nun, daß sich auf Buru
Oriolus bouruensis und Philemon moluccensis sehr ähnlich sind,
ebenso wie sich auf Seran die Vertreter dieser beiden Gattungen
untereinander gleichen. Nach Wallace soll Plxlemon das Vorbild,
Oriolus der nachahmende Vogel sein, wodurch der letztere vor
seinen Feinden geschützt sei. Nach Stresemann wäre dagegen
die gegenwärtige Färbung auch dann erreicht worden, wenn nur
der Meliphagide oder nur der Pirol auf Buru resp. Seran gelebt
hätte. Es sollen auf den genannten Inseln jeweils die gleichen
von der Außenwelt ausgehenden Reize bei den beiden Gattungen
die gleichen Charaktere hervorgerufen haben.
Über Konvergenz bei Muscheln berichtet Stromer in seiner
Paläozoologie. Semper stellt an fossilen Brachiopoden „in einer
Fauna parallele Modifizierungen bei mehreren unter sich durchaus
nicht nahe verwandten Arten“ fest und „daß die gleichen Modı-
fizierungen sich zu allen Zeiten gelegentlich einstellen, ohne daß
ein genetisch‘ engerer Zusammenhang zwischen den modifizierten
Arten besteht“. Den umgestaltenden Einfluß kennen wir nicht;
wenn wir die Abänderung als Anpassung deuten, so ist sie damit
auf äußere Einflüsse zurückgeführt.
Hanstein weist in seiner „Biologie der Tiere“ auf das Auf-
treten ähnlich gestalteter Arten in ganz verschiedenen, durchaus
nicht näher verwandten Tiergruppen hin, die eine ähnliche Lebens-
weise führen. Er vergleicht dabei Spitzmäuse und echte Mäuse,
die amerikanischen Maulwurfmäuse mit den echten Maulwürfen, die
Spitzhörnchen mit den Eichhörnchen, Ameisenbeutler und Erdferkel,
Kängurus und Springmäuse u. Ss. w.
Klinghardt wird demnächst in einer Arbeit über „Vergleichende
Anatomie und Biologie der Rudisten“ (Verlag der Gesellsch. natur-
forsch. Freunde, Berlin) Untersuchungen über Konvergenz ver-
öffentlichen. . -
26*
388 F. Alverdes, Die gleichgerichtete stammesgeschichtl. Entwicklung d. Vögel etc.
Dacque spricht davon, „daß zu gleichen geologischen Zeiten
unter den Tiergruppen ein gewisser gleichartiger Baustil herrscht“.
„Gewisse Eigentümlichkeiten kehren dann bei einer ganzen Anzahl
nicht unmittelbar verwandter Gattungen und Arten wieder, gerade
als würden die Lebensumstände Formenerscheinungen fordern, denen
alle Typen nachzukommen streben.“ „Heterogene Formen bilden
also zur selben Zeit gleiche Typen aus, die bei nicht allzu entfernter
Stammeszugehörigkeit geradezu konvergent identisch werden können.“
Mit anderen Worten: die neuen Typen, welche ım Laufe der
Erdgeschichte unablässıg aus den alten Formen hervorgehen, er-
scheinen in ein und derselben geologischen Zeit oft untereinander
ähnlich, so daß gewisse Merkmale geradezu für bestimmte Erd-
perioden charakteristisch genannt werden können.
Ob nun das Auftreten neuer Formen ganz unabhängig von erd-
geschichtlichen Ereignissen sich vollzieht, wie Dacque& will, er-
scheint mir sehr fraglich, denn dann wäre eine Parallelität in der
Ausbildung dieser Variationen ganz unverständlich. Viel wahr-
scheinlicher ist es, daß ganz bestimmte Veränderungen der Außen-
bedingungen dafür verantwortlich zu machen sind, wenn jeweils
bei einander fernstehenden Formen die gleichen oder ähnliche Merk-
male hervortreten.
Mit den Eimer’schen Anschauungen decken sich z. T. die Aus-
führungen von Abel, der im Anschluß an Osborn den Versuch
einer genaueren Begriffsscheidung gemacht hat. Abel unterscheidet
scharf zwei verschiedene Arten gleichgerichteter Abänderung und
zwar 1. die parallele und 2. die konvergente Adaptationsform. Letz-
tere setzt er den „analogen Ähnlichkeiten“ Darwin’s gleich. Der
wesentliche Unterschied zwischen diesen beiden Gruppen ist der,
daß bei den miteinander verglichenen Tiergruppen im ersteren Falle
der morphologische Bau der betreffenden Organe gleich, im letzteren
Falle mehr oder weniger verschieden ist.
Die parallele Adaption spricht sich in einer homodynamen
Funktion homologer Organe aus. Die gleiche Umformungsursache
— sei es das Vorhandensein oder Fehlen eines Reizes — hat bei
gleichem morphologischem Bau die gleichen Umformungsresultate
hervorgerufen, so bei Balaenoptera und Halitherium eine Reduktion
des Beckens. Dies trifft auch in den Fällen zu, wo die Lebens-
weise der betreffenden Tiere eine verschiedene ist, wie bei der
Ausbildung der Zwischenfingerhaut von Chironectes und Galeo-
pithecus.
Die konvergente Anpassung charakterisiert sich in homodynamer
Funktion heterogener Organe. Auch hier kann die Lebensweise
verschieden sein, wenn nur die Umformungsursache die gleiche ist.
Der morphologische Bau des Organs und die von ihm durchlaufenen
BE DEN RENTEN S
fra le JE
Ha
A
f
{
3
F. Alverdes, Die gleichgerichtete stammesgeschichtl. Entwicklung d. Vögel ete. 389
Entwicklungsstufen sind in jedem Falle mehr oder minder ver-
schieden (vgl. die Reduktion der Seitenzehen von Dipus und Macropus
und die Verkümmerung der Augen bei Tiefsee-, Grab- und Höhlen-
tieren). Selbst dort, wo sowohl Lebensweise wie Umformungs-
ursache verschieden ist, kann unter Umständen ein ähnliches Um-
formungsresultat entstehen. Es ergibt sich somit, daß sich die
„konvergente“ Entwicklung Abel’s mit der „unabhängigen Ent-
wicklungsgleichheit“ Eimer’s im wesentlichen deckt. Abel nennt
als Beispiel für diese Unterabteilung unter anderem Haarlosigkeit
bei Walen, Sirenen, Elefanten ete. und bei Hund und Mensch.
Hinsichtlich des Menschen ist es zweifelhaft, ob er die gelegentlich
als Abnormität auftretende Atrichie oder die normale, im Vergleich
zu anderen Säugetieren geringe Behaarung meint; beim Hund denkt
er zweifellos an Atrichie. Nun sind aber die Haarlosigkeit der
Wale und die gelegentliche Atrichie beim Hund unbedingt zwei
ganz verschiedene Dinge. Haecker nennt regressive Mutationen
wie Albinismus, Atrichie etc. „generelle oder universelle Variationen“;
dieselben sind zuweilen neue Rassenmerkmale und verdanken ver-
hältnismäßig einfachen Ursachen, ın der Regel einer Entwicklungs-
hemmung, ihre Entstehung und können spontan bei einzelnen Indi-
viduen der verschiedensten Gruppen auftreten, ohne im allgemeinen
einen Einfluß auf die Phylogenese zu gewinnen. Der Verlust der
Haare bei Walen und beim Menschen müssen wir uns im Gegen-
satz zu diesen generellen Variationen als durch allmähliche An-
passung erworben denken; wie diese letztere im einzelnen vor sich
ging und inwieweit vielleicht auch hier Mutationen eine Rolle
spielten, wissen wir allerdings vorerst nicht.
Ich muß hier noch auf eine weitere Reihe von Begriffen ein-
gehen, die mit den vorhergehenden in gewissem Zusammenhang
stehen. Haecker (1909) versteht unter „Überschlägen“ oder
„Transversionen“ ein „partielles aberratives Übergreifen oder Über-
springen einer Spezies auf die normalen Formverhältnisse und Merk-
malskomplexe eines benachbarten, aber in der Gegenwart scharf
abgegrenzten Verwandtschaftskreises“. Teilweise decken sich die
Transversionen mit dem Begriff: „analogous or parallel Variation“,
den Darwın schuf.
Ein Beispiel für Transversionen ist der weiße Halsring, welcher
bei 8 einheimischen Vogelarten als gelegentliche Aberration ge-
funden wird, während er bei 3 einheimischen Vogelspezies (Eimberixa
schoenielus, Phasianus torguatus und Anas boschas) ein Artmerkmal
darstellt. Die Anlage zur Ausbildung eines weißen Halsringes steckt
also offenbar in vielen Vogelspezies, wird aber normalerweise bei
den wenigsten Arten geweckt und tritt deshalb bei den übrigen
Formen in der Regel nicht in die Erscheinung. Haecker (1915)
erklärt dies Verhalten durch die „Pluripotenz“,
390 F. Alverdes, Die eleichgerichtete stammesgeschichtl. Entwicklung d. Vögel ete.
Hierunter ist zu verstehen „die in jedem Organısmus — nicht
bloß der Art und Rasse, sondern in jedem einzelnen Individuum —
vorhandene virtuelle Fähigkeit, unter besonderen, die Lebensfähig-
keit nicht berührenden Bedingungen bestimmte, vom Typischen ab-
weichende Entwicklungsrichtungen einzuschlagen, also das Vorhanden-
sein einer größeren, aber nicht unbegrenzten Zahl von Potenzen
oder Entwieklungsmöglichkeiten . . .*
Auch ein von Haecker zitierter Satz Zederbauer’s sei wieder-
gegeben: „Die Variabilität ist eine Eigenschaft der Organismen wie
die Wachstums- und Fortpflanzungsfähigkeit. Wie diese bei ähn-
lichen Arten, Gattungen und Familien ähnlich ist, so auch die
Variabilität.“ Also: die Variation schlägt bei den Individuen der
gleichen Rasse und Art sowie bei verschiedenen Arten, Gattungen
und Familien vielfach die gleiche Richtung ein; die Zahl der
Variationsmöglichkeiten ist eine begrenzte.
In seinen Ausführungen stellt Haecker zunächst die Frage
beiseite, ob es sich bei diesen Variationen um solche erblicher oder
nicht erblicher Natur handelt, ob also Mutationen oder Modifikationen
im Sinne Baur'’s vorliegen.
Wir sehen also, es gibt Merkmale, die bei der einen Art als
individuell sich herausbildende Variation, bei der anderen Art aber
als spezifischer Charakter auftreten. Nun handelt es sich bei Trans-
versionen Immer um solche Eigenschaften, die neben den anderen
für das Leben bedeutungsvollen, durch Anpassung erworbenen
Charakteren herlaufen, ohne anscheinend für den Bestand der Art
von ‚Wichtigkeit zu sein, Dies geht ja auch schon daraus hervor,
daß die betreffenden Merkmale ohne Schaden für die ın Frage
kommenden Individuen anwesend sein oder fehlen können. Es wäre
denkbar, daß ım Verlauf der Phylogenese unter Umständen aus
einer Transversion ein Artmerkmal werden kann; z. B. könnte der
weiße Halsring außer bei den 3 obengenannten einheimischen Arten
durch Häufung der Fälle noch bei einer vierten zu einer für die
Art charakteristischen Merkmal werden. Andererseits wieder könnte
künftighin aus irgendwelchen Gründen bei einer der 3 Arten der
weiße Halsring als Artcharakter verschwinden und nur mehr ge-
legentlich bei einzelnen Individuen auftreten; dann wäre umgekehrt
aus einem Artmerkmal eine Transversion geworden.
Ich halte es nicht für müßig, noch auf eine letzte Art „ähn-
licher Entwicklung“ aufmerksam zu machen. Wir finden bei den
Nashornkäfern ın ähnlicher Weise wie bei den Nashörnern auf dem
Vorderende des Kopfes ein spitzes Horn aufgesetzt. Nun ist es
aber nichts als eine rein äußerliche Ähnlichkeit, wenn sich bei
diesen beiden Tieren an dem in der Bewegungsrichtung liegenden
Körperende und zwar auf der dem Erdboden abgewandten Körper-
seite ein Horn erhebt; denn morphologisch und funktionell haben
a u BET IR RN a I FE ee LE NEN RT ir y
F. Alverdes, Die gleichgerichtete stammesgeschichtl. Entwicklung d. Vögel ete. 391
die beiden Gebilde miteinander gar nichts zu tun. Anders ist die
Grabschaufel des Maulwurfs und der Maulwurfsgrille einzuschätzen ;
diese beiden Bildungen stehen zwar nicht morphologisch, wohl aber
funktionell miteinander in Beziehung und fallen daher unter den
Begriff der „konvergenten Adaptation“. Fürden Fall der Hornbildung
bei Nashörnern und Nashornkäfern schlage ich einen besonderen
Terminus: „äußerliche Ähnlichkeit“ vor, um hervorzuheben, daß in
diesem Falle keinerlei Beziehungen zwischen den beiden miteinander
verglichenen Gebilden bestehen. Hier noch von einer Analogie
Sprechen hieße diese Bezeichnung des letzten Restes von begriff-
licher Schärfe entkleiden. Überhaupt wäre es meines Erachtens am
Platze, das durch verschiedenartige Anwendung recht vieldeutig ge-
ne Wort „Analogie“ anzhch auszuschalten. Die von Ben
und Abel geprägte Nomenklatur zusammen mit der Haecker’schen
läßt eine hinreichend präzise Bezeichnungsweise zu.
Unter gewissen Umständen werden sich im Verlaufe der Phylo-
genese die Erscheinungen der Parallelität und Konvergenz derart
häufen, daß man sagen kann, die betreffenden Gruppen seien auf
Grund einer Anzahl gleichartiger Eigenschaften, die sie unabhängig
voneinander erwarben, gemeinsam in eine andere Organisationsstufe
eingetreten. Diese letztere wird sich vielfach als eine vollkommenere
darstellen; die betreffenden Formen wären dann also auf Grund der
durchlaufenen Entwicklung nebeneinander in eine höhere Stufe der
Organisation aufgerückt.
Vögel und Säuger haben im Sinne dieser Formulierung eine
gleichgerichtete Entwicklung durchgemacht (im Abel’schen Sinne
in bezug auf einzelne Organe eine parallele, in bezug auf andere
Organe eine konvergente Entwicklung). Um dies zu erläutern, muß
ich auf einige allbekannte Tatsachen eingehen, die sich in jedem
Lehrbuche vorfinden.
Stammesgeschichtlich leitet sich weder die eine Klasse von der
anderen her, noch lassen sie sich direkt auf die gleiche Wurzel
zurückführen. Daher müssen die übereinstimmenden Merkmale,
welche sie gemeinsam vor allen anderen Klassen auszeichnen, sich
notwendigerweise in beiden Gruppen unabhängig voneinander aus-
gebildet haben. Die anatomische Betrachtung zeigt eine nicht un-
bedeutende Kluft zwischen Säugern und Vögeln und weist den
letzteren einen Platz in der Nähe der Reptilien zu. Bekanntlich
vereinigt Huxley sogar Vögel und Reptilien unter dem Namen
Sauropsiden.
Charakteristisch für Vögel und Säuger ist die Art der Körper-
bedeckung durch Federn resp. durch Haare. Wenn nun aber auch
diese beiden Bildungen in gleicher Weise als Wärmeschutz funktio-
nieren, so hat man sie darum doch noch nicht als homolog an-
zusehen (siehe Brandt, Emery, Maurer, de Meijere, Römer
399 F. Alverdes, Die gleichgerichtete stammesgeschichtl. Entwicklung d. Vögel ete.
u. a.); die Federn sind als umgewandelte Reptilienschuppen auf-
zufassen.
Schuppen kommen auch bei manchen Säugetieren vor; dieselben
sind zwar nach Weber denen der Reptilien nicht völlig homolog,
unterscheiden sich von ıhnen aber nur in untergeordneten Punkten;
jedenfalls entstammen beide phylogenetisch einem gemeinsamen
Boden. Bei Anwesenheit von Schuppen sind die Haare in regel-
mäßiger Weise zwischen diesen angeordnet (Weber). Eine der-
artige Stellung der Haare läßt sich ebenfalls bei schuppenlosen
Säugetieren nachweisen (Weber, de Meijere, Stöhr); Haare sind
also Bildungen, die neben den Schuppen entstanden ‚sind; nach der
vielumstrittenen Theorie von Maurer sollen sie sich aus Nerven-
endhügeln von Wasserbewohnern herleiten.
Neuerdings haben sich freilich mehrere Forscher auf den Stand-
punkt gestellt, daß Haar und Feder in naher phylogenetischer Be-
ziehung stehen (siehe Wiedersheim). Der Ursprungsort des
Haares soll sich in der Mitte der Schuppenfläche finden. Dieser
Ansicht gegenüber scheint mir jedoch die ältere oben dargestellte
Auffassung größere Wahrscheinlichkeit zu besitzen.
Aber selbst angenommen, die letztgenannten Angaben würden
sich bestätigen, so sind Haare und Federn immer noch nicht homolog
im strengsten Sinne, denn die Feder entspricht einer ganzen Rep-
tilienschuppe oder doch dem größten Teile einer solchen, die Haare
repräsentieren dagegen nur jeweils einen kleinen Teil des Schuppen-
gebietes. Ferner ist mit Rücksicht auf die Verschiedenheiten in Bau-
art und Entwicklung eine Herleitung der beiden Epidermoidal-
bildungen aus einer gemeinsamen Urform, die sich bereits über
die Reptilienschuppe hinausentwickelt hatte, auszuschließen; viel-
mehr müssen die beiden Klassen ihr charakteristisches Kleid un-
abhängig voneinander erworben haben.
Verschiedenartige Anhänge der Epidermis stellten also die
Vorfahren der Vögel und der Säuger aus der Notwendigkeit her-
aus, ihren Körper mit einer wärmenden Hülle zu umgeben, in
Dienst. Ein Bedürfnis nach solchem Schutz ergab sich wohl in
dem Augenblick, als die Warmblütigkeit ausgebildet wurde. Rep-
tilienschuppen waren nicht imstande, denselben in genügendem
Maße zu gewähren; es mußte daher eine neue Bekleidung geschaffen
werden, welche sich hierfür in höherem Maße eignetee Wenn nun
bei Vögeln und Säugetieren nichthomologe Bildungen dem gleichen
Zwecke dienstbar gemacht sind, dann ist es zum mindesten sehr
wahrscheinlich, daß die beiden Klassen ihre Warmblütigkeit unab-
hängig voneinander erwarben.
In einem gewissen Zusammenhang mit der Homöothermie steht
vielleicht eine BE underheit im Bau des Herzens. Übereinstimmend
ıst bei Vögeln und Säugern eine vollständige Teilung in eine rechte
F. Alverdes, Die gleichgerichtete stammesgeschichtl. Entwicklung d. Vögel etc. 3953
und linke Hälfte erfolgt. Die Tendenz zu einer derartigen Trennung
zeigt sich bereits bei Amphibien und Reptilien, durchgeführt ist
dieselbe aber nur bei den Warmblütern.
Die höheren Anforderungen, die die Warmblütigkeit an den
gesamten Stoffwechsel stellte, machte offenbar eine gänzliche Schei-
dung von Körper- und Lungenkreislauf zur Notwendigkeit. Da
diese Scheidung bei allen niederen Formen nur eine mehr oder
minder unvollkommene ist, so steht zu vermuten, daß sie sich
‘ — vielleicht Hand in Hand mit der Homöothermie — bei Vögeln
und Säugern selbständig entwickelte.
Interessant ist das Verhalten der Aortenbögen. Die Vögel be-
sitzen bekanntlich nur mehr den rechten, die Säugetiere den linken.
Bei den Warmblütern schwand offenbar ım Verlaufe der Phylo-
genese die Notwendigkeit, zwei Aortenbögen auszubilden. Einer
mußte der Rückbildung verfallen; bei den Vögeln wurde der linke,
bei den Säugetieren der rechte ausgeschaltet ?).
Was Vögel und Säuger ganz besonders vor allen anderen Wirbel-
tieren auszeichnet, das ist ihre höhere Intelligenz. Wir finden bei
den meisten Vertretern der beiden Klassen ein ausgesprochenes
Familienleben; die Eltern pfiegen und verteidigen, wenn es nötig
ist, die junge Brut. Ähnliche Verhältnisse liegen nur selten bei
niederen Vertebraten vor. Auch die Beziehungen der Geschlechter
zueinander gestalten sich bei den Warmblütern reicher, sei es, daß
die Männchen durch Balzen, Gesang und zur Schau Tragen eines
prächtigen Gefieders die Gunst der Weibchen zu erringen suchen
(Vögel), sei es, daß die Männchen um den Besitz der Weibchen
lebhafte Kämpfe ausfechten (Säugetiere). Die gehobene Intelligenz
spricht sich fernerhin in der Gelehrigkeit aus, wie wir sie bei Vögeln
und ganz besonders bei Säugern antreffen.
Eine interessante Gleichartigkeit in der psychischen Entwicklung,
auf die mich hinzuweisen Herr Professor Haecker die Liebens-
würdigkeit besaß, spricht sich auch in folgendem aus. Blau und
Rot sind nach Haecker (siehe Haecker und Meyer) bei Vögeln
exquisite Schmuckfarben; es finden sich stets nur rote und blaue
2) Ähnliche Entwicklungstendenzen, bei welchen ein Organsystem durch Rück-
bildung eines seiner Teile eine Vereinfachung erfährt, sehen wir vielfach im Tier-
reich. Es soll ein Beispiel aus einer ganz anderen Tierklasse herausgegriffen werden,
deren Vertreter eine Vereinfachung ebenfalls auf zwei verschiedenen Wegen erreicht
haben. Aus der Tatsache, daß der Ovidukt bei der überwiegenden Mehrzahl der
rezenten Ögopsiden und Octopoden paarig auftritt, darf man wohl schließen, daß
dies für alle Cephalopoden das ursprüngliche Verhalten darstellt. ‚Bei manchen
Formen scheint nun im Laufe der Entwicklung das Bedürfnis, zwei Ovidukte aus-
zubilden, abhanden gekommen zu sein; bei den Nautiliden rudimentierte daher der
linke soweit, daß er funktionsunfähig wurde; bei anderen Cephalopoden schwand
dagegen der rechte und zwar vollständig. Auch hier sehen wir, wie die Verein-
fachung bei den verschiedenen Formen auf verschiedene Weise erzielt wird.
En N N a
594 F. Alverdes, Die gleichgerichtete stammesgeschichtl. Entwicklung d. Vögel etc.
Farbenflecke auf andersfarbenem Untergrunde aufgesetzt, niemals
ist das Umgekehrte der Fall. Augenscheinlich handelt es sich also
um besondess wirksame Schmuckfarben, die die Augen der Vögel
in höherem Maße reizen als andere Farben. Nach Haecker sınd
Braun, Schwarz und Weiß die ältesten Vogelfarben; aus dem Braun
entwickelte sich das Grün, aus diesem das Gelb; die phylogenetisch
jüngsten Farben sind Orange, Rot und Blau. „Die modernere,
neuer erworbene Farbe steht zur ältern im Verhältnis vom Abzeichen
zur Grundfärbung.“ Rot und Blau sind auf dem Gefieder zahl-
reicher Vögel, insbesondere bei Papageien vertreten; wir treffen
diese Farben am Schnabel des Papageitauchers, an Kopf und Hals
des Truthahns und am Halse des Kasuars.
Die gleichen Farben Rot und Blau finden sich aber auch als
Z1erfarben bei dem buntesten der Säugetiere, dem Mandrill, an
einigen „Prädilektionsstellen“ des Körpers. Das Gesicht, nament-
lich des alten Männchens zeigt blaue Leisten, die mit Purpur ab-
wechseln. Die Gesäßschwielen sind mit violetter, Genital- und
Analgegend mit roter nackter Haut bedeckt. Offenbar kommt also
der blauen und der roten Farbe sowohl im Liebesleben gewisser
Vögel wie in demjenigen des Mandrills die gleiche wichtige Rolle
als Anreizungsmittel zu.
Der Fortschritt in den psychischen Eigenschaften steht ım
engsten Zusammenhang mit der Entwicklung des Gehirns. Das-
selbe hat sich bei Vögeln und bei Säugern gegenüber dem der
anderen Wirbeltiere erheblich vergrößert und dadurch auch die
Schädelkapsel zu einer nicht unbedeutenden Erweiterung genötigt.
In beiden Fällen sind es sowohl Großhirnhemisphären wie Klein-
hirn, die an Umfang zugenommen haben.
Das Großhirn der Vögel hat begonnen, den Lobus olfactorius.
und das Mittelhirn zu bedecken. Ähnliches gilt für die primitiven
Säugetiere, wogegen bei den Primaten die Großhirnhemisphären,
von oben her gesehen, die übrigen Hirnteile verdecken. Andere
Säuger-Ordnungen zeigen alle Übergänge zwischen diesen zwei
Extremen.
Nächst dem Großhirn besitzt bei Vögeln und Säugern das Klein-
hırn das größte Volumen. In der Ausbildung desselben findet sich
eine interessante Verschiedenheit zwischen beiden Klassen. Bei den
Säugetieren ist dasselbe in seitliche Hemisphären und den medianen
Wurm gegliedert; bei den Vögeln weist es — ähnlich wie bei den
Reptilien — ein großes Mittelstück, das dem Wurm der Säuger
entspricht, und kleinere seitliche Anhänge auf. Die an das Klein-
hirn gestellten gesteigerten Ansprüche ließen also bei den Vögeln
hauptsächlich den mittleren Teil, bei den Säugetieren neben diesem
auch die Seitenteile heranwachsen,
F. Alverdes, Die gleichgerichtete stammesgeschichtl. Entwicklung d. Vögel ete. 395
Die höhere Intelligenz der Vögel und Säuger ist vielleicht als
mittelbare Folge der von ihnen erworbenen Warmblatiekei aufzu-
fassen. Vermutlich begünstigte die letztere einen erhöhten Stoff-
wechsel im ganzen Organismus und also auch innerhalb des Ge-
hirns, wodurch eine lebhaftere Funktion desselben ermöglicht wurde.
Diese verstärkte Beanspruchung verursachte dann durch die von
ihr ausgehende trophische Wirkung und durch Vererbung der ein-
mal erreichten funktionellen Anpassung im Sinne von Roux bei
den Angehörigen beider Klassen eine allmähliche Vergrößerung des
Gehirns.
Mit dem sich fortentwickelnden Zentralnervensystem hielten
die Sinnesorgane der Warmblüter gleichen Schritt. Bei den Vögeln
und den meisten Säugern spielt das Auge dieselbe wichtige Rolle.
Das Gehörorgan ıst überall vorzüglich ausgebildet. Dies gilt auch
für den Fall, daß, wie bei den Waltieren der äußere Gehörgang in
Anpassung an das Wasserleben einer Rückbildung an
(Kükenthal). Denn der eigentliche schallperzipierende Apparat
ist von dieser Rudimentierung nicht ergriffen worden, sondern in
vollem Umfang funktionsfähig geblieben, da der Körper des Tieres
selbst die Vermittlung der Geräusche übernahm.
Bei den Vögeln ist im Bau des Gehörorgans den Reptilien
gegenüber insofern ein Fortschritt festzustellen, als die Lagena eine
erhebliche Vergrößerung erfahren hat. Bei Säugern ist dieselbe
sogar spiral zur Schnecke eingerollt. Bei den Vögeln findet sich,
in Nachahmung der Verhältnisse bei Säugern, Ohrmuschel und
äußerer Gehörgang angedeutet, indem das Trommelfell in die Tiefe
rückte. Also auch die Fortentwicklung des Gehörorgans ist bei Vögeln
und Säugern in parallelen Bahnen erfolgt; die großen Verschieden-
heiten, welche die beiden Klassen allein schon bezüglich der Gehör-
knöchelchen zeigen, lassen mit Sicherheit darauf schließen, daß
Vögel und Säuger diese Vervollkommnung unabhängig voneinander
erwarben.
Mannigfach sind innerhalb des Tierreiches die Apparate zur
Tonerzeugung. Bei den höheren Wirbeltieren dient als solcher der
in gewissen Teilen modifizierte Zuleitungsweg der Lungen. Gerade
die Luftröhre erscheint zur Angliederung eines Stimmorgans_ her-
vorragend geeignet, da die ein- und ausströmende Luft bei Ein-
schaltung passender Zwischenstücke kräftige Töne zu erzeugen ver-
mag. So ist bereits bei den Fröschen und in Piekardenerer
Weise bei den stimmbegabten Reptilien, namentlich bei den Geckos
und beim Chamäleon, die Luftröhre kehlkopfähnlich ausgestaltet.
Bemerkenswert ist es, daß sich bei Vögeln und Säugern ganz
verschiedene Abschnitte des Luftweges zum Stimmapparat umge-
formt haben. Bei Säugetieren dient der eigentliche Kehlkopf (Lar yax)
als tonerzeugendes De bei den Vögeln hat sich dagegen ein
Br — ni A, “ ner “
396 F. Alverdes, Die gleichgerichtete stammesgeschichtl. Entwicklung d. Vögel etc.
solches an der Stelle entwickelt, wo sich die Luftröhre in die
Bronchien teilt. Meist bilden die letzten Tracheal- und die ersten
Bronchialringe gemeinsam diesen sogenannten unteren Kehlkopf
(Syrinx); seltener ist es der Fall, daß die Trachea oder die Bronchien
allein denselben liefern. Offenbar machte die erhöhte Intelligenz
der Warmblüter die Möglichkeit einer wenn auch vielfach nur
primitiven Verständigung wünschenswert und so bildeten Vögel
und Säuger unabhängig voneinander einen Abschnitt ihrer Luft-
röhre zum -Stimmapparat um. Näheres insbesondere bezüglich der
Physiologie der Stimmerzeugung siehe bei Haecker „Der Gesang
der Vögel*.
Ein weiterer gemeinsamer Charakter der Warmblüter ist die Art
des Ganges. Während bei Amphibien und Reptilien die Extremi-
täten eine mehr seitwärts gerichtete Stellung ‘besitzen, sind die
Beine der Warmblüter dem Körper in der Regel so angefügt, daß
sie senkrecht nach abwärts weisen. Die Streitfrage, ob die großen
mesozoischen Landsaurier in bezug auf ihre Beinstellung richtig
rekonstruiert worden sind, ob also die Montierung ihrer Skelette
mit säugerähnlicher Haltung der Extremitäten ın den Museen zu
Recht besteht, kann hier außer Betracht gelassen werden. (Näheres
siehe beı Torniıer.) ’
Die verschiedene Einlenkung und Stellung der Extremitäten
bedingt bei wechselwarmen und warmblütigen Landwirbeltieren .eine
ganz verschiedene Art desGanges. Sehen wir ab von extremitätenlosen
Formen, so besteht die Fortbewegung der Amphibien und Reptilien
im Vergleich zu der der meisten Warmblüter mehr in einem Da-
hingleiten über den Erdboden, bei dem sich die Bauchfläche nicht
wesentlich über die Unterlage erhebt; nach Tornier sind bei
Amphibien und Reptilien „die Gliedmassen nicht richtige Fortträger
des Körpers, sondern wie Ruder an ıhm wirkende Am-Boden-Ent-
langschieber“. Man heißt die Reptilien deshalb wohl auch Kriech-
tiere.
Der Gang der Warmblüter stellt im Gegensatz zu dem der
anderen Klassen fast allgemein ein Schreiten dar. Vielleicht, daß
erst die Homöothermie den Warmblütern die ihnen eigentümliche
Gangweise ermöglichte, indem der vermehrte Stoffumsatz eine er-
höhte Beanspruchung der Beinmuskulatur ausglich.
Im Bau der Hinterextremität haben die Vögel eine ganz ähn-
liche Entwicklung wie die Huftiere durchgemacht. In beiden Fällen
ist die Vielzahl der Knochen erheblich reduziert worden. Bei
Vögeln verschmilzt der distale Teil des Tarsus mit den Metatarsen
zum Tarsometatarsus, der proximale Teil mit der Tibia zum Ti-
biotarsus; die Fibula verschwindet bis auf unbedeutende Reste. So
sind bei Vögeln nur mehr Femur, Tibiotarsus mit anhängendem
Fibula-Rudiment, Tarsometatarsus und die Phalangen der Zehen
F. Alverdes, Die gleichgerichtete stammesgeschichtl. Entwicklung d. Vögel eete. 397
vorhanden. Bei Anwesenheit einer vierten Zehe findet sich eın zu
dieser gehöriges kleines Metatarsale.
Die Huftiere bieten in bezug auf die Verschmelzung ihrer
Extremitätenknochen kein so einheitliches Bild wie die Vögel. Beı
den Condylarthren, den ursprünglichsten Huftieren aus dem Alt-
tertiär, zeigt sich eben erst der Beginn einer in der angegebenem
Richtung orientierten Entwicklung, indem an jeder Extremität die
‘äußerste der vorhandenen fünf Zehen bedeutend kleiner ist als die
übrigen. Von diesem Verhalten bis zu demjenigen des rezenten
Pferdes, bei welchem sich nur mehr die mittlere Zehe vollständig er-
halten hat, während die zweite und vierte als stark rückgebildete
sogenannte „Griffelbeine“ auftreten, finden sich innerhalb der Ord-
nung alle Übergänge.
Von verschiedenen Ahnentypen ausgehend, haben also Vögel
und Säuger während ihrer phylogenetischen Vergangenheit eine in
mancher Hinsicht gemeinsame Entwicklung durchlaufen, so daß
sie sich heutzutage in vielen Punkten gleichen. Oder, gemäß der
eingangs gewählten Formulierung, es sind die beiden Klassen neben-
einander und unabhängig voneinander in eine höhere Organisations-
stufe aufgestiegen. Zeugnis für ihre verschiedene Abstammung
legen die großen morphologischen Unterschiede ab, welche von
dieser parallel gerichteten Fortentwicklung nicht verwischt werden
konnten.
Offenbar stehen in der ÖOrganismenwelt niemals unendlich
viele Möglichkeiten für die Weiterentwicklung zur Verfügung; viel-
fach ist die Zahl der letzteren wohl nur eine recht beschränkte
(vgl. Eimer, Gräfin Linden). Wird die für die Gesamtheit der
Tiere in Betracht kommende Zahl der Variationsmöglichkeiten er-
wogen, so mag dieselbe zwar unendlich erscheinen; für die einzelne
systematische Gruppe ist sie dagegen meist nur gering.
Wenn dann ersteinmal von seiten zweier Gruppen ein gemein-
samer Schritt in gleicher Richtung geschah, so sind sie bei allen
sonstigen Verschiedenheiten anscheinend oftmals gezwungen, auch
weiterhin in ihrer Entwicklung gleichlaufende Wege einzuhalten.
Im Falle der Vögel und Säugetiere ist ein solcher erster gemein-
samer Schritt im Übergang zur Warmblütigkeit zu erblicken. Was
zu ihrem Auftreten den Anstoß lieferte, wird sich wohl schwer
entscheiden lassen. Wir sahen, daß sich dieselbe bei den beiden
Klassen wahrscheinlich selbständig ausbildete. Durch die gemein-
same Abänderung eines so lebenswichtigen Charakters, wie ıhn die
Körpertemperatur darstellt, wurde bei Vögeln und Säugern im
wesentlichen der fernere Verlauf der Phylogenese bestimmt. Ge-
wissermaßen zwangsläufig nahm dieselbe einen durch weitere ge-
meinsame Umwälzungen gekennzeichnete Richtung.
BE N an ET a a LER ir A Er
4 BR u? RE HT z
398 F. Alverdes, Die gleichgerichtete stammesgeschichtl. Entwicklung d. Vögel etec.
Es bildete sich ein Kleid aus Federn und aus Haaren, welches
eine Steigerung der Körpertemperatur bis zu den von rezenten
Formen erreichten Wärmegraden wohl überhaupt erst ermöglichte.
Bei den Vögeln lieferten umgewandelte Schuppen, bei den Säuge-
tieren zwischen solchen hervorsprossende Haare die wärmende
Decke.
Die höhere Temperatur hatte eine vermehrte Tätigkeit aller
Organe zur Folge; nicht nur die Muskulatur, sondern auch Gehirn
und Sinnesorgane wurden zu größeren Leistungen befähigt. Diese
gesteigerte Funktion bedingte im Verlauf der Phylogenese eine
Vervollkommnung und zum Teil Vergrößerung der betreffenden
Organe. Interessant ist es dabei, zu beobachten, wie die beiden
Klassen der stärkeren Beanspruchung unter Umständen auf ver-
schiedene Weise gerecht wurden.
Die Vergrößerung des Gehirns kam in einer Hebung der
Intelligenz zum Ausdruck; durch Ausbildung eines Stimmorgans
wurde dem auftretenden Bedürfnis nach Verständigung Rechnung
getragen.
Vielleicht steht auch die vollständige Trennung der rechten
und linken Herzhälfte mit der Warmblütigkeit in Zusammenhang,
indem die Anforderungen, dıe bei erhöhtem Stoffumsatz an alle
Kreislaufsorgane gestellt wurden, die unrationelle Vermischung des
aus Körper und Lunge stammenden Blutes nicht mehr gestatteten,
selbst wenn es sich, ähnlich wie bei Reptilien, nur mehr um geringe
Mengen gehandelt hätte.
Nach der hier vertretenen Auffassung war also die Ausbil:
dung eines ersten gemeinsamen Charakters, der Warmblütigkeit,
Anstoß zu einer Zahl weiterer gleichgerichteter Schritte in der
phylogenetischen Entwicklung, die dazu führten, daß Vögel und
Säuger eine in vielen Punkten ähnliche Organisation erreichten.
Eine derartige Entwicklungsgleichheit wird für uns am leichtesten
bei denjenigen Gruppen nachzuweisen sein, die aus irgendwelchen
Gründen unter die gleichen Lebensbedingungen traten.
Ein Beispiel bilden die Tiefseeorganismen. Vielleicht wurden
die Vorfahren der hierher gehörigen Tiere durch irgendwelche
äußere Umstände genötigt, in die tieferen Regionen des Meeres
hinabzusteigen; vielleicht aber eigneten sie sich auf Grund beson-
derer Eigenschaften bereits bis zu 'einem gewissen Grade für ein
Leben in dieser Umgebung.
Als sich ihre Anpassung an die neuen Bedingungen späterhin
allmählich vervollkommnete, schlug die Entwicklung bei Formen,
die sich systematisch außerordentlich fern stehen, zuweilen die
gleichen oder doch sehr ähnliche Wege ein. So bildete eine An-
zahl von Fischen, Cephalopoden und Crustaceen neben anderen
gemeinsamen Charakteren Leuchtorgane aus, die von den ver-
F. Alverdes, Die gleichgerichtete stammesgeschichtl. Entwicklung d. Vögel ete. 99
schiedenen Gruppen natürlicherweise selbständig erworben sein
müssen. Meist wird sich allerdings die Ursache eines bei mehreren
Gruppen ähnlichen Entwicklungsganges nicht so leicht aufzeigen
lassen wie in diesem Falle, und man wird sich daher oft mit der
Konstatierung, daß eine Parallelität oder Konvergenz der Stammes-
geschichte offenbar vorliegt, zunächst begnügen müssen.
Im allgemeinen sind Übereinstimmungen um so häufiger, je
näher sich die betreffenden Formen stehen, und um so seltener,
je geringer der Grad der Verwandtschaft ist (vgl. hierzu auch
Zederbauer).
Baur und andere Forscher erblicken in den äußeren Eigen-
schalten lediglich eine nach ererbten Normen erfolgende Reaktion
des Körperplasmas auf die verschiedenartigen zur Wirkung ge-
langenden Einflüsse Wenn nun bei mehreren Gruppen unabhängig
übereinstimmende Charaktere auftreten, so wird man unter Um-
ständen folgern dürfen, daß hier die gleichen Ursachen äußere
oder innere — am Werke waren. Man wird sich allerdings hüten
müssen, allzu weitgehende Schlüsse zu ziehen; denn es können die
gleichen äußeren Eigenschaften auch von ganz verschiedenartigen
Ursachen herstanımen. So muß, um ein Beispiel aus der Botanik
anzuführen, die weiße Blütenfarbe bei den verschiedenen Pflanzen
durchaus nicht immer von den gleichen Bedingungen her ihren Ur-
sprung nehmen (vgl. hierzu Baur).
Tritt eine Variation aus inneren Ursachen auf, so hat sich
irgend etwas in der spezifischen inneren Struktur der betreffenden
Formen verändert; hieraus resultiert eine neuartige Reaktionsweise
auf die unverändert gebliebenen Einflüsse der Umgebung. Wandelten
sich dagegen die Außenbedingungen, während die innere Struktu-
rierung die alte blieb, so kann dann eine Veränderung in die Er-
scheinung treten, wenn der Körper auf diese neuen Außeneinflüsse
anders reagiert als auf die vorher wirksamen. Unter Umständen
werden äußere und innere Ursachen in komplizierter Weise zu-
sammenspielen, indem Veränderungen der Außenwelt mit inneren
Umwandlungen zusammentreffen und gemeinsam einen Einfluß auf
die Merkmale der betreffenden Form ausüben.
Bei Beurteilung aller dieser Verhältnisse dürfen wir das eine
nie außer acht lassen, daß wir bei dem jetzigen Stand unseres
Wissens unter den Eigenschaften der Organismen gemeinhin die-
jenigen verstehen, die sich. als Form, Farbe, Umfang und als die
allereinfachsten physiologischen und chemischen Erscheinungen
manifestieren. Eine sich anbahnende Veränderung werden wir in
den seltensten Fällen in ihren eigentlichen Anfängen zu bemerken
vermögen; meist stehen wir bei unseren Beobachtungen vor bereits
vollzogenen Tatsachen.
400 F. Alverdes, Die gleichgerichtete stammesgeschichtl. Entwicklung d. Vögel ete.
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E. Hesse, Lucilia als Schmarotzer. 401 -
Lucilia als Schmarotzer.
(Dritter Beitrag.)
Von Dr. Erich Hesse.
Im Biologischen Zentralblatt Bd. 26, 1906, S. 633—640, Taf. I
und Bd. 28, 1908, S. 753—758 veröffentlichte ich einige "Mitteilungen
über Schmarotzertum von Lucilia; zehn Fälle davon betrafen Lu-
cilia splendida Zett. und Meig. mit Bufo vulgaris Laur. als Wirt,
einer Zueilia caesar L. mit Turdus viscivorus L. als Wirt, alle auf das
Leipziger Gebiet als Vorkommen entfallend. Im folgenden möchte ich
vier weitere Fälle anführen, die sich auf die erstgenannte Fliegen-
art mit der gleichen Krötenart als Wirt beziehen, und deren Vor-
kommen zweimal der Mark Brandenburg und zweimal abermals dem
Leipziger Gebiet angehören. Diese vier Fälle belege ich wieder mit
fortlaufenden Nummern, die sich an die der ersten beiden Berichte
anschließen sollen. Bezüglich des Benehmens der Kröten und ihrer
fortschreitenden Zerstörung durch die Parasiten fasse ich mich ganz
kurz und verweise auf meine früheren Darlegungen. Der Boden der
Behälter wurde wieder ein paar Zentimeter hoch mit schwach ange-
feuchteter Erde bedeckt. —
Fall XI Am 14. August 1910 auf Wiesenweg bei Vehlefanz
(ca. 4 Meilen nordwestlich Berlin) eine fast erwachsene Kröte gefun-
den; Fliegenlarven in den erweiterten Nasenlöchern; abends rechtes
Auge bereits zerstört. — 15. August: Fraßhöhlen bedeutend erwei-
tert; eine Larve auf der Erde kriechend; Kröte in der Erde wüh-
lend. — 16. August: Kröte tot, vordere Schädelpartie zerstört. —
17. August: Larven in die Leibeshöhle vorgedrungen, vordere Körper-
partie zerstört. — 18. August: Inneres der Kröte ausgefressen; Lar-
ven in die Erde gehend. — 19. August: Alle Larven in der Erde. —
17. September: Revision der Erde: Im ganzen 39 Larven, alle noch
unverpuppt, 37 abgestorben, 2 noch lebend. — 15. Oktober: Revision
der Erde: Alles wie am 17. September. — 19. November: Revision
der Erde: 38 abgestorbene, 1 lebende Larve. — 3. Dezember: Revision
der Erde: 38 abgestorbene Larven, 1 abgestorbene Puppe.
FallXII. Am 18. August 1912 am Grimnitz-See bei Joachims-
tal 1. d. Mark eine halberwachsene' Kröte gefunden; Larven durch
die ausgehöhlte Nasenregion schon tief in den Kopf vorgedrungen,
linkes Auge bereits zerstört; Kröte schon ganz matt und halb tot. —
19. August: Kröte tot; Larven in die Leibeshöhle vordringend. —
20. August: Larven im Innern der Leibeshöhle. — 21. August:
Inneres der Kröte ausgefressen, Larven in die Erde gehend. —
22. August: Alle Larven in der Erde. — Um tunlichst wenig störend
einzugreifen, nahm ich nur zwei Revisionen der Erde in großen
Pausen vor: 7. Oktober: Im ganzen 50 Larven, alle noch unver-
puppt, 22.abgestorben, 28 noch lebend; 12. Februar 1913: 49 abge-
storbene Larven, 1 abgestorbene Puppe.
39, Band 27
409 E. Hesse, Lucrlia als Schmarotzer
Fall XIII. Am 1. August 1916 eine erwachsene Kröte in
einem der Terrarien des Zoologischen Instituts der Universität Leipzig
befallen gefunden; sie befand sich schon lange in Gefangenschaft.
Vordere Schädelhälfte bis an die Augen bereits ausgefressen, Kröte
noch ziemlich lebhaft. — 2. August: Kröte tot; Larven im Kopf
weiter fressend. — 3. August: Fraß nur wenig fortgeschritten. —
4. August: Kopf fast ganz ausgefressen; Larven in die Erde gehend.
— 5. August: Alle Larven in der Erde. Es waren nur etwa 1 Dutzend
Larven vorhanden (s. u.), daher die verhältnismäßig langsam fort-
schreitende und nicht weiter über den Kopf hinaus um sich greifende
Zerstörung des Wirtes. — 1. September: 1 9 geschlüpft. — Am
24, September wurde mein Institutzimmer, in dem ich die Be-
hälter stehen hatte, zum ersten Male geheizt; daraufhin bis zum
27. September wieder einige Larven oben auf der Erde herumkrie-
chend. — 3. Oktober: 1 © geschlüpft. — 19. Oktober: 1 & geschlüpft.
Im Dezember und Januar stellte ich den Behälter, nach vorheriger
allmählicher Überführung in immer kältere Räume, vor das Fenster,
um Larven oder Puppen der Kälte auszusetzen; darauf in entsprechen-
der Weise Überführung in das geheizte Zimmer zurück. — 21. April
1917: Revision der Erde: 8 abgestorbene Larven. Insgesamt also
nur 11 Larven, von denen sich nur 3 verpuppten und Imagines er-
gaben, und zwar 2 5, 1 ©. Weiteres siehe unten.
Der vorliegende Fall ist noch besonders bemerkenswert, da er be-
weist, daß selbst in engem Gewahrsam gehaltene Kröten nicht vor
diesen Schmarotzern gefeit sind; auch im Häusermeer der Großb-
stadt wissen die Parasiten ihren Wirt ausfindig zu machen, dringen
in die Räumlichkeiten und schließlich den Käfig selbst ein, um ihre
Eier an jenem abzulegen. Die Kröte befand sich schon mehrere Mo-
nate in Gefangenschaft (s. 0.), so daß sie beim Einfangen natürlich
noch nicht behaftet gewesen war.
Fall XIV. Am 3. August 1916 im Universitätsholz (ca.
2 Meilen südöstlich Leipzig) eine erwachsene Kröte gefunden; Lar-
ven in den erweiterten Nasenhöhlen. — 4. August: Larven bis zu _
den Augen vorgedrungen, Kröte sich einseitig krümmend. — 5. August:
Kröte tot; Larven den Kopf ausfressend. — 6. August: Larven in
die Leibeshöhle vorgedrungen. — 7. August: Larven in der Leibes-
höhle. — 8. August: Leibeshöhle. ausgefressen; Larven in die Erde
gehend. — 9. August: Alle Larven in der Erde. — 22. August: 1 9-
geschlüpft. — 23. August! 3 © geschlüpft. — Nach Heizung des
Zimmers am 24. September auch in diesem Fall wieder einige Larven
bis zum 10. Oktober oben auf der Erde umherkriechend. — 30. Sep-
tember: 1 .@ geschlüpft. — 11. November: 1 © geschlüpft. —
19. November: 1 © geschlüpft. — 22. November: 1.0 geschlüpft.
29. November: 1 ©, 1 © geschlüpft. — Im Dezember und Januar
wurde der Behälter unter genau gleicher Behandlung der Kälte aus-
DR MEI SRH,
E. Hesse, Lucilia als Schmarotzer. 405
gesetzt wie in Fall XIII. — 21. April 1917: Revision der Erde:
91 abgestorbene Larven. Insgesamt also 101 Larven, von denen sich
nur 10 verpuppten und Imagines. ergaben, und zwar 4 9,69.
Aus den Fällen XIII und XIV, die vom August an datieren,
würde somit hervorgehen, daß nur ein kleiner Teil der Larven sich
noch im selben Herbst zu Imagines entwickelte, die Mehrzahl da-
gegen zu überwintern trachtete. Dabei scheinen die meisten Larven
auch wirklich in diesem Stadium überwintern und sich erst im Früh-
jahr in die Puppe verwandeln zu wollen. Als normal geschlüpft kön-
nen wohl nur in Fall XIII das Weibchen vom 1. September, in Fall
XIV die 4 Weibchen vom 22. und 23. August angesehen werden;
die Zeit zwischen dem Einwandern aller Larven in die Erde und
dem Schlüpfen der letzten Imagines, also der Dauer der Puppenruhe
etwa entsprechend, betrug mithin in ersterem Fall 26, in letzterem
13 Tage, in den ehedem mitgeteilten Fällen 10—20 Tage, so daß sich
demnach im ganzen eine Pendelweite von 10—26 Tagen ergibt. Da-
gegen dürfte bei den in Fall XIII am 3. und 19. Oktober und in
Fall XIV am 11., 19., 22. und 29. November geschlüpften Männchen
und Weibchen ein Reiz durch die Temperaturerhöhung des geheizten
Zimmers stattgefunden haben, wie wir es ja in ähnlicher Weise nach
vorangegangener Kälteeinwirkung mit Vorliebe bei Schmetterlings-
zuchten zur Beschleunigung des Schlüpfens anzuwenden pflegen. Ver-
mutlich hat sich aber auch im Entwicklungsstadium des in Fall XIV
am. 30. September, also 5 Tage nach dem erstmaligen Heizen ge-
schlüpften Weibchen diese Reizwirkung geltend gemacht und eine
vorzeitige Verwandlung herbeigeführt. Alle die Larven oder Puppen
in letzteren Fällen wollten ursprünglich wohl überwintern.
Da augenscheinlich auch in den Fällen IV, XI und XII die Mehr-
zahl der Larven oder z. T. Puppen überwintern wollten, würde sich
aus den bisherigen Befunden der Fälle IV und XI—XIV ergeben,
daß die im August und September zur Entwicklung gelangenden Lar-
ven zum größten Teil als Larven oder Puppen überwintern und sich erst
im nächsten Frühjahr zu Fliegen verwandeln wollen. Desgleichen be-
richtet Mortensen in seinem früher von mir zitierten Artikel,
Zoolog. Anzeiger 1892, S. 193—195, in zwei Fällen, die ebenfalls
dem August und September angehören, von Überwintern; er erhielt
die Imagines erst im April und Mai des kommenden Jahres, die
ersten am 17. April, die letzten am 3. Mai. Auffällig ist, daß in allen
den fünf Fällen IV und XI—XIV der größte Teil der Larven oder
auch Puppen abstarb; es dürfte dies aber wohl auf ungünstige Ein-
wırkungen der Gefangenschaft zurückzuführen sein, in der freien
Natur jedoch ein derartiges Massenabsterben wohl kaum stattfinden,
Höchst bemerkenswert ist nun ferner die Jahreszeit des Auf-
tretens. Alle die von mir bisher festgestellten 14 Fälle umfassen nur
die Monate Juni, Juli, August und September; dabei sind die Fälle
27*
404 E. Hesse, Lucila als Schmarotzer.
VIII, IX und X nur einfach gerechnet, obwohl, wie bereits bei Be-
sprechung derselben erwähnt, ihre Zahl leicht beliebig hätte ver-
mehrt werden können, da an jenem 20. Juni 1908 noch eine größere
Anzahl befallener Kröten konstatiert, aber nur ein Teil von ihnen
mitgenommen wurde. Weiter führen z. B. Meinert, Entomolog.
Meddelels. 1889, S. 89—96, einen Fall für Juli, Dunker, Zoolog.
Anzeiger 1891, S. 453—455, zwei Fälle für Juli, Mortensen, wie
soeben vermerkt, zwei Fälle für August und September, Klun-
zinger, Jahreshefte d. Vereins f. vaterländ. Naturkunde i. Würt-
temberg 1902, S. 371—379, zwei Fälle für Juli und September an;
ferner schreibt v. Adelung in einem Referat über die in russischer
Sprache erschienene Arbeit von Portschinsky (Hor. Soc. Entom.
Rossicae 1398, S. 225—297) im Zoolog. Zentralblatt 1898 (S. 855
— 859), 8. 858: „...; die Fliege tritt (in der Umgebung von St.
Petersburg) in zwei Generationen auf (Juni und Ende Juli oder
August).“ Ich will an dieser Stelle nicht noch mehr auf anderweite
Literatur eingehen, jedoch die folgenden interessanten Parallelvor-
kommen noch anführen. Heinroth legte 1915 in der Jahresver-
sammlung der Deutsch. Ornitholog. Gesellschaft in Berlin eine jetzt
im Berliner Zoolog. Museum befindliche Kollektion der sonst in den
Sammlungen seltenen Diptere Protocalliphora azurea Fall. vor, ge-
züchtet aus Larven, die er im Berliner Gebiet Anfang Juli 1915
an Nestjungen der Gartengrasmücke, Sylvia borin Bodd., und An-
fang August desselben Jahres an Nestjungen der weißen Bachstelze,
Motacilla alba L., schmarotzend gefunden hatte. Im Protokoll, Journ.
f. Ornithol. 1916, S. 158/159, bemerkt er, daß es sich auch bei allen
übrigen in der Literatur veröffentlichten Fällen schmarotzender
Fliegenlarven bei Vögeln, soweit überhaupt eine Zeit angegeben, stets
um späte, in die obigen Monate entfallende Bruten handele, und fährt
schließlich fort: ‚Auffallend ist, daß die in den späteren Sommer-
monaten der Puppe entschlüpfte Fliege bis zum Frühjahr offenbar
keine Gelegenheit hat, sich zu vermehren. Bei der dann vorhandenen
sroßen Menge von Vogelnestern und der wohl immerhin großen Sel-
tenheit der Fliegen ist es wohl nicht verwunderlich, daß bisher mit
Maden besetzte Vogeljunge bei den ersten Bruten noch nicht ge-
funden worden sind. Zum Sommer hin werden dann die Fliegen häufiger
und die Nester seltener, so daß die Wahrscheinlichkeit des Auffindens
größer wird“. Er erhielt in beiden Fällen die Imagines „nach drei
Wochen‘, wasalso deroben abgegrenzten normalen Dauer der Puppenruhe
wieder durchaus entsprechen würde, und es bleibt nur noch hervorzu-
heben, daß sich bei der Protocalliphora in diesem Fall auch die August-
generation noch im selben Herbst vollzählig zu Imagines entwickelte,
mithin nicht überwinterte wie die genannten Luecilia-Generationen glei-
chen Monats. — Da nun auch noch das früher von mir mitgeteilte
Schmarotzen von Lucilia caesar L. an Nestjungen von Turdus visci-
Tu ae Baar
E. Hesse, Zueilia als Schmarotzer. 405
vorus L. auf den Juli entfällt, würden also alle die angeführten Bei-
spiele als Befallzeit immer nur die Monate Juni, Juli, August, Sep-
tember umfassen. Es drängt sich daher die Frage auf: Wie verhalten
sich die Fliegen in ihrem Auftreten vom Frühjahr bis zum Juni?
Für die an Nestjungen der Vögel schmarotzenden Arten hat Hein-
roth in seinen zitierten Darlegungen eine Möglichkeit angedeutet,
und diese könnte auch für den Parasitismus an Kröten zutreffend
sein. Diese Lurche sind ja schon im zeitigen Frühjahr stellenweise
geradezu in Masse vorhanden, wenn sie sich zum Laichen an und
in die stehenden Gewässer begeben, nach vollzogenem Akt das Wasser
wieder verlassen und sich. nun an den Ufern und in deren Nähe um-
hertreiben. Die im Frühjahr aus den überwinternden Generationen
schlüpfenden Fliegen würden also nicht unter Wirtsmangel zu leiden
haben. Es ist daher nicht unwahrscheinlich, daß ein größerer Pro-
zentsatz der überwinternden Larven und Puppen zugrunde geht, wenn
auch, worauf schon oben hingewiesen, die Verlustziffer in der freien
Natur natürlich nicht die außerordentliche, einer Vernichtung fast
gleichkommende Höhe der Gefangenschaftszuchten zu erreichen
braucht. Die verhältnismäßig wenigen geschlüpften Fliegen könnten
somit trotz der großen Zahl der vorhandenen Wirte zunächst nur
einen sehr kleinen Teil derselben befallen; in den nächsten Monaten
würden sich dann die Fliegen unter den günstigen sommerlichen
Existenzbedingungen fortschreitend vermehren, bis sie schließlich in
den eigentlichen Sommermonaten selbst ihr Maximum -und zugleich
Optimum erreichen und um so mehr Kröten befallen könnten. Auf
diese Weise würde sich die verhältnismäßig auffällige Häufigkeit
des Vorkommens im Sommer und demzufolge auch das öftere Auffinden
um diese Zeit erklären lassen. Mir scheinen aber auch noch andere
Möglichkeiten _nicht ausgeschlossen, daß beispielsweise die Fliegen
im Frühjahr überhaupt nicht oder nur teilweise schmarotzen, oder
aber, daß irgendein Wirtswechsel stattfindet, wobei es beidemal we-
niger von Belang wäre, ob im Frühjahr eine große oder kleine Zahl
zur Entwicklung gelangte. Doch dies alles kann nur durch weitere
Untersuchungen klargestellt werden. Es würde auch erforderlich sein,
einmal eine zusammenfassende Darstellung aller bisher schmarotzend
sefundenen Dipteren zu geben, unter Beifügung aller Literaturbe-
lege und der dort gegebenenfalls enthaltenen Zeitangaben des Vor-
kommens, um eine möglichst genaue vergleichende Übersicht über
das jahreszeitliche Auftreten der einzelnen Arten zu haben.
Außer der gleichen Jahreszeit konnte in den Fällen XI—XIV
sleichwie in den früheren noch folgendes übereinstimmend konsta-
tiert werden: In allen Fällen handelte es sich wieder um Bufo vulgaris
Laur. als Wirt; stets waren es halb bis ganz erwachsene Indivi-
duen; immer erfolgte das Eindringen der Parasiten vom Vorderkopf,
sewöhnlich von den Nasenlöchern aus, —
406 B. Klatt, Zur Methodik vergleichender metrischer Untersuchungen etc.
Man ersieht aus obigen Darlegungen, dab im jährlichen Ent-
wicklungszyklus der Lucilien und auch ihrer Verwandten noch
mancherlei zu klären übrig bleibt, und ich hoffe, späterhin auch noch
einige experimentelle Untersuchungen ausführen zu können.
Zoolog. Museum Berlin, den 12. Mai 1919.
Zur Methodik vergleichender metrischer
Untersuchungen, besonders des Herzgewichtes.
Von Berthold Klatt.
(Landwirtsch. Hochschule, Berlin.)
Das Bestreben, morphologische Dinge metrisch zu erfassen, ist
alt, und, um die Unterschiede genaw dem Grade nach zu bestimmen,
eine unumgängliche Notwendigkeit; zumal wenn man, über die bloße
Feststellung von Tatsachen hinausgehend, auch über die Ursachen der
Formverschiedenheiten ins Klare kommen will, die doch meist auf
irgendein zahlenmäßig fixierbares Plus oder Minus irgend welcher
Teilfunktionen im komplizierten Getriebe des Gesamtorganismus
— sei es auch oft auf großen Umwegen — zurückführbar sein dürften.
Aber nicht die Feststellung der absoluten Höhe eines solchen Plus
oder Minus kann stets zu der gewünschten Auskunft verhelfen,
sondern nur dann, wenn die verglichenen Organismen neben mög-
'lichster Ähnlichkeit in anderen Punkten vor allem auch gleiche Ge-
samtgröße besitzen. Ist dies letztere nicht der Fall, so kann nur Ver-
gleichung der Werte bezogen auf die Gesamtgröße vor falschen Schlüs-
sen bewahren, und so vergleicht man denn bei metrischen Unter-
suchungen schon seit langem vorzugsweise die relativen Werte,
und zwar weniger gern direkt auf das Ganze bezogen (z. B. „ein Drittel
des Körpergewichtes“ oder „viermal so lang als die Körperlänge‘),
sondern lieber indirekt auf 100 oder 1000 Einheiten des Ganzen (als
0/0 oder 9/,u Werte).
Aber auch Unterschiede in solchen einander entsprechenden Ver-
hältniszahlen (,Proportionalwerten‘) zweier zu vergleichender Orga-
nismen verschiedener Gesamtgröße berechtigen keineswegs unter allen
Umständen zu dem Schluß, daß dem zahlenmäßigen Plus oder Minus
auch wirklich eine genau entsprechende Verschiedenheit hinsicht-
lich der Leistung des betreffenden Teiles entspricht. Denn es gibt
im Organismus bestimmte 'Teilwerte, die nicht im gleichen Verhältnis
wie die Gesamtgröße ab- und zunehmen, sondern langsamer oder, was
seltener ist, schneller als diese, so daß also für eine jede Größenstufe
. eine andere Verhältniszahl die Norm bedeutet. Der Grund hierfür
dürfte bei den meisten sich so verhaltenden Teilwerten letzten Endes
zu suchen sein in dem bei verschieden großen Körpern sonst gleicher
Bauart notwendig verschiedenen mathematischen Verhältnis von Ober-
/
B. Klatt, Zur Methodik vergleichender metrischer Untersuchungen etc. 407
fläche und Maße zueinander, das im Organismus ja zugleich physio-
logische Bedeutung bekommt und bei verschiedener Größe nur durch
entsprechende Abänderung einzelner Teile gleich erhalten werden
kann.
Hirn und Auge sind die bekanntesten Beispiele für solche in
einem anderen „Tempo“ als die Gesamtgröße sich verändernden Teil-
werte des Organismus, die damit zugleich auch ihrer Umgebung,
z. B. einzelnen Maßen am Schädel ein ganz charakteristisches Ver-
halten der Proportionalwerte aufzwingen. Ähnlich verhält sich aber
z. B. auch das Herzgewicht der Warmblüter. Hesse hat für das-
selbe auf die Zunahme der °/,,-Zahlen mit sinkendem Körper-
gewicht aufmerksam gemacht und wie schon vor ihm W. Müller
den Grund dafür gesucht in dem intensiveren Stoffwechsel, der Klei-
neren Tieren infolge ihrer größeren relativen Flächenentwicklung
und dementsprechend auch größeren Wärmeabgabe eigen ist. Neuer-
dings hat dann weiter Hasebroek auf die gleiche Tatsache hinge-
wiesen, die sich nach ihm gleichfalls erklärt aus den Beziehungen
des Herzgewichtes zum Stoffwechsel. Er findet ein völlig paralleles
Verhalten der Gewichte der Vorhöfe und des rechten Ventrikels mit
den Stoffwechselindizes, die er ihrerseits als von der Körperober-
fläche abhängig errechnet. Pütter, welcher an der Allgemeingültig-
keit dieser auf Rubner zurückgehenden Auffassung zweifelt, dab
die Stoffwechselintensität proportional der Körperoberfläche und pro
Einheit der Körperoberfläche bei den verschiedenen Tierarten kon-
stant sei, bestätigt dennoch, von theoretischen Erwägungen ausgehend,
den rein tatsächlichen Teil der Hesse’schen Feststellung, das all-
mähliche Zunehmen der °/yo-Zahlen mit sinkendem Körpergewicht,
wenigstens für ‚Tiere von der Größe eines Maulwurfes bis zu der des
Menschen“, also so ziemlich für die Mehrzahl der meist zur Unter-
suchung gelangenden Warmblüter.
Gestattet nun aber die Methode der Vergleichung von Du -Werten
genauere Schlüsse auf den Grad der Verschiedenheit des Herzgewich-
tes zu ziehen? Nach dem oben Gesagten offenbar nicht, wenn es sich
um den Vergleich verschieden. großer Formen handelt. Man kann
wohl in solchen Fällen z. B., wo das kleinere Tier einen geringeren
oder gleichen %/,9-Wert aufweist wie das größere, so ganz allgemein
sagen, daß es wirklich ein niedrigeres Herzgewicht besitzt als ihm
zukommt; denn als kleineres Tier müßte es ja, wie gesagt, die größere
0/yo-Zahl aufweisen. Aber um wieviel genau größer gerade für den
betreffenden Grad der Kleinheit der °/90-Wert des kleineren Tieres
sein müßte, um ein in Wahrheit dem des größeren gleichwertiges
Herzgewicht zu bedeuten, das ist aus der bloßen °/,.-Berechnung
nicht zu ersehen, und es wird diese Feststellung nur durch eine Ver-
sleichsmethode ermöglicht, die Aufklärung darüber schafft, ob ein
etwaiges Plus im °%/,0-Wert des kleineren Tieres seinen zureichenden
408 B. Klatt, Zur Methodik vergleichender metrischer Untersuchungen etc. |
Grund restlos in dem gerade vorhandenen Unterschied der Gesamt-
größen findet, oder inwieweit der %/,.-Wert noch darüber hinaus größer
resp. kleiner ist. Pütter, in dem jetzt endlich ein Vertreter der
zu dieser Aufgabe in erster Linie berufenen physiologischen Wissen-
schaft die eben so notwendige wie aussichtsreiche Analyse des Ein-
flusses der Gesamtgröße auf die einzelnen Teile des Organismus vor-
zunehmen beginnt, hat für das Herzgewicht eine solche Normalskala.
aufgestellt, aus der ersichtlich wird, wie hoch für jede einzelne Größen-
stufe das Herzgewicht unter im übrigen ähnlichen Bedingungen sein '
muß. Obwohl also damit von einer viel berufeneren Seite und in einer
theoretisch weit exakteren Weise dem methodologischen Mangel des
Vergleichs bloßer 0/y0-Werte abgeholfen wird, möchte ich dennoch im
folgenden einen anderen Weg zu zeigen versuchen, der zum gleichen
Ziele strebt, wenn er auch eine weit kunstlosere und, wie man gleich
sehen wird, nicht einmal originelle Gedankenstraße darstellt. Als
Entschuldigung für dieses anscheinend überflüssige Beginnen möchte
ich in erster Linie den mehr induktiven Charakter dieses gleich zu
erörternden Verfahrens anführen. :
Wie gesagt, ist dasselbe nicht einmal völlig neu, sondern für die
ähnlich liegenden Verhältnisse des Hirngewichtes bereits 18397 von
Dubois und Lapicque gleichzeitig, doch unabhängig voneinander
eingeführt worden, nachdem Ansätze zu dem Gedankengange bereits
bei früheren Autoren zu finden waren. Daß diese bisher nur für den
einen Spezialfall des Hirngewichtes ausgearbeitete Methode darüber
hinaus allgemeinere Bedeutung und großen heuristischen Wert besitzt
und mit entsprechenden Modifikationen im weitesten Sinne für die Ver-
gleichung von Teilwerten verschieden großer Tiere benutzt werden kann,
gedenke ich bald an anderer Stelle zu zeigen. Hier soll nur ihre
Wirksamkeit am Beispiele des Herzgewichtes dargelegt werden. —
Der zugrunde liegende Gedankengang ist der folgende: Das Herzge-
wicht (H) wird bestimmt durch verschiedene Faktoren, wie Lebens-
weise, systematische Stellung, Alter, Geschlecht u. s. w., darunter
aber auch vor allem eben durch die Größe (ausgedrückt durch das
Körpergewicht). Nennen wir diese Beziehung zum Körpergewicht
(K) x, die übrigen Faktoren zusammen p, so besteht die Gleichung
PAHSpEKr
Haben wir nun zwei verschieden große Tiere gleicher Art, bei denen
auch noch Geschlecht, Alter, Lebensweise u. s. w., d. h. die Summe
der übrigen Faktoren, p, als gleich angesehen werden kann, so be-
steht die Beziehung
HH;
Krk,
Daraus läßt sich x ohne weiteres berechnen als
log H, — logH,,
log K, — log K,
ie dee
N
B. Klatt, Zur Methodik vergleichender metrischer Untersuchungen ete. 409
Dieser „somatische Exponent“ x gibt uns also genau das „Lempo“
an, in welchem mit sinkender Körpergröße das Herzgewicht sich ver-
ändern muß, vorausgesetzt, daß nicht noch andere Faktoren mit
hereinspielen. Haben wir zwei verschieden große Tiere und wollen
wir prüfen, ob das z. B. größere relative Herzgewicht des Kleineren
schon in dem bloßen Unterschied der Körpergrößen seinen zureichen-
den Grund findet, so brauchen wir nur in Formel 1. die Werte für
H, K ‘und x einsetzen und p berechnen. Ist der Wert für p bei beiden
Tieren gleich, so ist der Unterschied im relativen Herzgewicht nur
durch die verschiedene Größe bedingt, andernfalls bestehen den be-
treffenden Zahlen entsprechende, graduelle Unterschiede. i
Die Aufgabe ist also nur die, den somatischen Exponenten zahlen-
mäßig genau festzustellen .Das kann nur geschehen durch eine mög-
lichst große Zahl von Berechnungen an gut ausgewählten Beispiels-
paaren. An und für sich wäre es wohl denkbar, daß in verschiedenen
systematischen Gruppen der Exponent verschieden hoch ist; wie
mir aber aus den gleich zu gebenden Beispielen hervorzugehen scheint,
dürfte er für Warmblüter (Vögel und Säugetiere) etwa gleich hoch
sein.
Als Grundlage für die folgende Berechnung des Exponenten dien-
ten mir außer einigen Angaben von Parrot ausschließlich die Er-
gebnisse von Untersuchungen, die nach Prof. Hesse’s Anleitung von
mir selbst und einigen Doktoranden im damaligen zoologischen.Institut
der Landwirtschaftlichen Hochschule gemacht wurden. Gerade bei
Herzuntersuchungen kommt es ja sehr darauf an, daß dem Vergleich
nach einer einheitlichen Methode!) genommene Maße zugrunde liegen.
Zudem liegen größere Reihen von anderer Seite auch kaum vor?).
Die verglichenen Wertpaare sollten ferner nach Möglichkeit Durch-
schnittswerte von mehreren ausgewachsenen unter gleichen Verhält-
nissen lebenden Individuen gleichen Geschlechtes sein und paarweise
Tierformen von möglichst naher Verwandtschaft (systematischer Stel-
lung), doch dabei zugleich starkem Größenunterschiede entstammen.
Besonders letztgenannter Punkt ist wichtig, worauf schon Dubois
bei der erneuten Berechnung seines somatischen Hirnexponenten hin-
wies: Gehen die Variationsbreiten der beiden Reihen von Werten,
von welchen die Durchschnittswerte verglichen werden sollen, in-
einander über, so kann man kein sicheres Resultat erwärten. Je
stärker der Größenunterschied zwischen den zwei verglichenen For-
men, desto klarere Resultate. Daß ich bei diesen vielfachen Anfor-
1) Es ist das die von W. Müller angewandte Methode.
2) Die im Gegensatz zu den sorgfältigen Parrot’schen Untersuchungen höchst
oberflächlichen Angaben von Löer (Pflüger’s Archiv Bd. 140), dem einzigen, der
noch eine größere Sammlung von Herzgewichten veröffentlicht hat, sind völlig un-
brauchbar, wie jeder auf den ersten Blick erkennen muß, der nur etwas Praxis in
metrischen Untersuchungen hat,
De
A EN Ta a este
410 B. Klatt, Zur Methodik vergleichender metrischer Untersuchungen etc.
Tabelle 1.
Berechnung des somatischen Exponenten.
a) Arten verglichen.
Zahl
der
Indi-
viduen
mw rw
Do De De
Hua
ei ed
Do ww
Körper-
N gewicht
Art GR m
schlecht | Durch-
schnitt
Wölfe 2 d 12| 33000
Füchse d 6570
Schakale 7700
Wüstenfuchs ? 1470
Iltisse 1191,5
Wiesel d 252
Iltis 9 1268
Wiesel ; 139,5
Arvicola terrestr. 9 83,5
A. arvalis h 28,5
Ratte 9 391
Maus ! 20,3
Vesp. murinus 9 21
Vesp. pipistr. ; 3,173
Stockenten 1037
Krickenten d 287,5,
Stockenten ®) 852
Kricekenten 233,5
Col. v»alumb, d 479,5
Col. oenas 258
Uhu 9 | 1875
Steinkauz ; 170
Uhu 9 1875
Waldkauz h 441
Tetr. urogallus d 4225
Tetr. tetrix 1256
Habicht d 1182
Sperber 123,5
Tringa canuta y 104
Tringa minuta 21,12
Wanderfalk ) 850
Baumfalk gu.9 217
Bar
Bach Ex. Untersucher
im resp.
Durch- PORT Literatur
schnitt
270°
D2a
109 0,9340 Z
>, | 0,9368 | Betheke
’ l
Hesse
>29 | 0,7761. |(n.d."/ Angaben
% berechnet)
0,295 ; #
014 0,6934 Klatt
1,571 Hesse
0,139 Bei (n.d.°/, Angaben)
0,21 ia
0.0535| 97913 i
10,46
3,32 0,8890 Timmann
7,9
259 0,8615 N
5.75 Klatt
ons 0,8355 (n. Hesse u.
: Parrot)
8,812 Hesse
1,40 Onae (n.d.°/, Angaben)
8,812 \
2.036 0,9475 N
Bee 0,7918 Parrot
10,22
1.46 0,8614 a
1,63
0.378 0,9168 A
12,61 |
338 | 0,9643 {
TERROR EL
1 LH Ar A 9 zu Ba Hd FE N ee?
b) Individuen einer Art verglichen.
B. Klatt, Zur Methodik vergleichender metrischer Untersuchungen ete. 411
Körper-
Zahl Herz-
der Ge gewicht | gewicht | n,. Untersucher
Indi- a schlecht ie Bi t Aeoee
{ R n J
viduen rn ar N Rn PN Literatur
Dar ma Er ae Holsaan Klatt
2 Füchse 6550 70
1 Ä d 5110 | 5825 | 97401 ”
2 ‚ Hasen je 4358 39,06 ‘
2 ; " 3914 .|. 35,77 | OB »
2 Br Re g I aa 0,7963 E. Müller
o1w
&
Gruppe I
IV
I
1II
fi
II
Er
IV
II
III
III
IV
Haushunde
(4 Größengruppen)
nach Angaben von H. Vorsteher‘)
d
g
6)
47000
3534
9240
23300
332
37,4
86,3
200
0,5438
0,8258
0,7223
0,9087
0,8700
Durchschnitt der Werte für den Hund: 0,8430
Durchschnitt aller 26 Werte:
0,8433
0,3890
derungen nicht mit sehr vielen Vergleichspaaren aufwarten kann,
wird verständlich sein, ebenso bei der starken Beeinflußbarkeit ge-
rade des Herzgewichtes durch individuelle Besonderheiten, daß die
Ergebnisse der Berechnung im allgemeinen stärker variieren als die
Dubois’schen Hirnexponenten-Berechnungen.
Das sind 26 Einzelberechnungen des Exponenten, die in nicht
gerade idealer Weise den oben gestellten Forderungen genügen: so stam-
*) Ich bin Herrn H. Vorsteher zu großem Dank verpflichtet für die
Liebenswürdigkeit mir seine bisher noch unveröffentlichten Untersuchungsergebnisse
zur Verfügung zu stellen.
412 B. Klatt, Zur Methodik vergleichender metrischer Untersuchungen etc.
men die Wölfe z. B. aus Lappland, die mit ihnen verglichenen Füchse
aus Norddeutschland; die großen Schakale aus dem kühlen Hoch-
land, die kleinen aus dem heißen Tiefland, so daß also keineswegs
die äußeren Lebensbedingungen für beide Teile dieser Vergleiche völlig
gleichartige sind. Ebenso sind Thooiden (Wölfe und Schakale) und
Alopeciden (Fuchs, Wüstenfuchs) doch systematisch einander schon
fernerstehend, so daß da wohl erbliche Differenzen mit hereinspielen
können, die eigentlich ausgeschaltet werden müßten. Vor allem aber
sind es in den meisten Fällen recht wenige Individuen, die den Durch-
schnittswerten zugrunde liegen. Nur für den Haushund liegt mir
durch die Liebenswürdigkeit des Herrn Vorsteher ein Material
vor, bei dem alle diese Einwände erheblich reduziert sind und zu-
gleich auch eine vierte sehr wesentliche Forderung, die oben gestellt
wurde, nämlich möglichster Kontrast in den Größenunterschieden der
zum Vergleich benutzten Wertpaare, erfüllt ist. Wenn ich also beson-
ders im Hinblick auf diese nur wenig differierenden Berechnungen
beim Hunde und in Anlehnung an den aus sämtlichen 26 Berech-
nungen ermittelten Durchschnittswert den somatischen Exponenten
des Herzgewichtes für Warmblüter auf 0,83 beziffern möchte, so ge-
schieht das nicht, weil ich diese Zahl für die genau den tatsächlichen
Verhältnissen entsprechende halte. Aber einen bestimmten Wert muß
ich für die späteren Ausführungen annehmen, und ungefähr dürfte
diese Zahl auch der Wahrheit nahe kommen.
Von besonderem Interesse wäre die Feststellung des Exponenten
beim Menschen, und die umfangreichen Wägungen W. Müllers
gestatten auch eine mehrfache Berechnung. Ich habe von den Größen-
Tabelle 2.
(Durchschnittswerte von Herz- und Körpergewicht des Menschen nach W. Müller.)
kei 22
Zahl Dune, Körper-ı Herz- Zahl ur Körper-, Herz-
Gruppe | der 4. | gew. | gewicht | Gruppe || der “| gew. | gewicht
| Alter) =. E 1. Alten) > .
Nr. Indi- | x. in in Nr. Tadi- | =, in in
viduen Jahien kg g viduen Tahren kg g
1 42 51 62,5 312,4 I 21 47 974D 270,7
II 59 51 57,5 301,6 II 34 50 52,5 234,4
III 69 49 52,5 252 III. 62 53 47,5 23177
IV 192... 54 47,5 243,2 IV 75 48 42,5 220,6
v| os | 4 | a5 | 2279 v| 8 | 55 | 375 |.199,1
VI 65 5l 31:0 217,3 vI 59 52 32,5 174,9
VII 33 45 32,5 181,9 vil 32 5l 27,5 153,9
|
B. Klatt, Zur Methodik vergleichender metrischer Untersuchungen etc. 413
gruppen, in die Müller sein Material getrennt hat, diejenigen aus-
gewählt, die aus möglichst vielen und nur ausgewachsenen Personen
bestehen, und die von W. Müller berechneten Durchschnittswerte
in Tabelle 2 zusammengestellt (s. S. 412).
Aus diesen Angaben habe ich für jedes der beiden Geschlechter
den Exponenten zehnmal berechnet.
Tabelle 3.
(Werte des somatischen Herzexponenten beim Menschen.)
schnitt ohne
III IV Im [die abnormen
und und |Durch- Werte
I VII hnitt
V schni III VIG
II/V 9
| | Im Durch-
I I il I Il II II III
und | und | und | und | und | und | und | und
VIE VI V VER ESNETE EVER Vz VII
Ä Ä |
dd . 0,7132/0,8178|0,8952|0,8862|0,7652\0,9270|0,7626 |0,4403 0,7761 0,7803 | 0,8181
29 0,7656 0,7656 0,7187[0,6770|0,6507|0,61060,4840!0,7559 [0,7515 |0,8271 1,7007 | 0,7247
Berücksichtigt man die große Variabilität des Menschen, welche
bei diesem Material noch besonders erhöht sein muß, da es sich
durchweg um Personen handelt, die an z. T. langwierigen Krank-
heiten zugrunde gingen, zieht man ferner in Rechnung, daß gerade
beim Menschen mit seinen geringen Größenunterschieden die oben
gestellte Forderung möglichst starken Kontrastes der Glieder eines
Vergleichspaares in nur wenig genügender Weise erfüllt werden kann,
so wird man in diesen Rechnungsergebnissen durchaus eine Bestäti-
gung der vorhergehenden Ausführungen erblicken können.
Gerade die Tatsache übrigens, daß beim Hunde und beim Men-
schen sowie auch sonst beim Vergleich von Individuen innerhalb
der Art der Wert des Herzexponenten nicht wesentlich von dem
beim Vergleich von Arten gefundenen Wert sich unterscheidet, ist
von Interesse im Hinblick auf die von Dubois und Lapiceque für
| den Hirnexponenten gefundenen Tatsachen. Bei dem Verhältnis von
Hirngewicht zu Körpergewicht besteht nämlich ein Unterschied in der
Höhe der Exponenten, wenn man Arten vergleicht und wenn man
> Individuen in einer Art vergleicht. Im ersteren Falle beträgt der
Exponent 0,56, im zweiten 0,22. Ob letzteres allerdings für Indi-
viduen einer wilden Tierart stimmt, scheint mir bisher noch nicht
bewiesen. Für Mensch und Hund dagegen ist es durch zahlreiche
Daten sichergestellt, und speziell für den Hund habe ich diesen
Lapieque’schen Befund voll bestätigen Können?). Beim Herzexpo-
3) Leider sind meine „Domestikationsstudien am Hundehirn“, in denen dies
geschieht, und die Dubois-Lapicque’schen Theorien erörtert werden, infolge des
Krieges noch immer nicht im Druck erschienen.
444 B. Klatt, Zur Methodik vergleichender metrischer Untersuchungen etc.
nenten besteht nun, wie gesagt, diese Differenz der Werte ebenso
sicher nicht. Hirngröße und Herzgröße werden eben trotz gewisser
Ähnlichkeit in der Herrschernatur dieser beiden Lebenszentren durch
ganz verschiedene Faktoren bestimmt. Das Herz, als Muskel ein
relativ einfaches Gebilde und in weitgehendem Maße funktioneller
Anpassung fähig, ist mehr ein Maßstab der Quantität des Lebens-
prozesses und mehr von der bloßen Masse des Organismus ab-
hängig. Das Hirn, als gleichsam verkleinertes, kunstvoll durch mehr
oder minder komplizierte Sekundärverbindungen zusammengefaßtes
Abbild aller verschiedenen Organe und Teile des Ganzen, und in
weit beschränkterem Maße funktionellen Einflüssen zugänglich, spie-
gelt zugleich die Qualität des betreffenden Lebensprozesses wieder,
wird also in höherem Maße auch von der Form des Organismus
beeinflußt. So sucht jaDubois auch den Grund für den Unterschied
des interspeziellen und des interindividuellen Hirnexponenten in
erster Linie in einem verschiedenen Verhalten der Längendimen-
sionen des. Körpers bei groß und klein beim Vergleich verschieden
sroßer Arten einerseits und großer und kleiner Individuen einer Art
andererseits. Bei großen und kleinen Arten naher Verwandtschaft
sollen die Körperdimensionen im großen und ganzen dieselben, eher
die kleinen Formen noch etwas langgliedriger sein; innerhalb der
Art sollen die kleineren Individuen dagegen durch relativ kürzere
Dimensionen von den großen sich unterscheiden. Wie weit die theo-
retischen Erwägungen richtig sind, durch welche Dubois aus diesem
verschiedenen Verhalten der Körperdimensionen genau die Höhe der
verschiedenen Exponentenwerte herleiten will, kann hier nicht dis-
kutiert werden. Daß eine solche Verschiedenheit der Dimensionen-
ausbildung bei Arten einerseits und Individuen andererseits tatsäch-
lich besteht, davon habe ich mich inzwischen für mein spezielles Unter-
suchungsobjekt, die Caniden, überzeugen können und gedenke, die
Tatsachen bald in einer ausführlichen Arbeit zu veröffentlichen. Wenn
also, wie mir jetzt scheint, die verschiedene Höhe des Hirnexponenten
tatsächlich zum guten Teil sich aus dem verschiedenen Verhalten der
Körperform bei Änderung der Gesamtgröße herschreibt, so ist die
Tatsache, daß der Herzexponent eine solche Verschiedenheit nicht
aufweist, eben ein Zeichen, daß es weniger die Form als die bloße
Masse des Körpers ist, welche das Verhältnis , des Herzgewichtes
zum Körpergewicht regelt.
Einen Versuch, die Höhe des Exponenten genau der Zahl (0,85)
nach als notwendige Folge bestimmter physiologischer Beziehungen
im Organismus zu erweisen, in ähnlicher Art wie Dubois dies für
die Hirnexponenten unternimmt, halte ich für verfrüht, so lange
nicht weit umfassendere metrische Untersuchungen eine endgültige
Feststellung dieses Wertes, genauer als es mir.bisher möglich war,
gestatten, und auch eben solche Daten für die übrigen Teile des
.B. Klatt, Zur Methodik vergleichender metrischer Untersuchungen etc. 415
Organismus vorliegen. Nur ganz allgemein könnte man vielleicht die
Tatsache, daß der Wert ziemlich in der Mitte zwischen 0,66 und ]
zu liegen scheint, erklären, in derselben Weise wie Snell, ein Vor-
läufer Dubois, dies für den irrtümlich von ihm zu hoch ange-
setzten Hirnexponenten tat. Snell hatte nämlich behauptet, der
Hirnexponent müsse höher als 0,66 sein, weil das Hirngewicht von
der Oberflächenentwicklung des Körpers (die sich mathematisch ja
IR
- darstellt als (vr): oder K3 oder K), daneben aber auch
von der Masse des Körpers (Exponent natürlich = 1) bestimmt
sei. Für das Herz könnte diese Argumentation tatsächlich zu-
treffen. Wie oben schon erwähnt, hat Hasebroek im gewichts-
mäßigen Verhalten der Vorhöfe und des rechten Ventrikels eine
weitgehende Ubereinstimmung mit den im wesentlichen aus der
Oberfläche berechneten Stoffwechselindizes nachgewiesen, während der
linke Ventrikel schneller mit der Größe zunimmt. Hier wird ein
Weg gewiesen, auf dem die Anschauungen von Parrot, Grober,,
Strohl, Magnan, die hauptsächlich die Beziehungen des Herz-
gewichtes zur Leistung der Fortbewegung der Körpermasse betonen,
mit ‘denen Hesse’s, der die Wichtigkeit der Stoffwechselintensität
in den Vordergrund stellt, einerseits verschmolzen, andererseits durch
die Methode. der Teilwägung genauer geprüft werden können.
In analoger Weise nun wie Dubois unter Einsetzen des Wertes
für den Hirnexponenten aus den Daten des Hirngewichtes und des
Körpergewichtes den Faktor p berechnet und damit ein Mab für die
„Cephalisation‘ der betreffenden Tierart gewinnt, kann man auch für
das Herzgewicht zahlenmäßige Werte finden, welche einen. genauen
Vergleich der Herzgröße unabhängig von der Körpergröße, deren
Einfluß ja eben durch das Verfahren ausgeschaltet wird, gestatten.
Damit also ist dem Mangel, der dem Vergleich von °/o0-Werten- an-
haftet, abgeholfen. An Hand der Parrot’schen Tafel wird sich
am besten zeigen lassen, daß mit Hilfe,;der hier angegebenen Methode
eine zum Teil recht erhebliche Änderung der Wertfolge sich ergibt,
die zugleich den Tatsachen besser gerecht werden dürfte.
Ich habe 24 Vögel der Parrot’schen Tafel nach dem relativen
Herzgewicht in 6 Gruppen angeordnet, für dieselben Tiere nach den
Pärrot’schen Daten dann mit Hilfe des Exponenten 0,83 die Werte
berechnet und nun gleichfalls in 6 Gruppen geodnet. Die zu jedem
Tiere beigesetzten Kennummern der Parrot’schen Reihenfolge lassen
rasch die Umordnung für jede einzelne Art erkennen. So rückt der
Auerhahn vom Anfang in die Mitte, dicht neben den ähnlichen Birk-
hahn, ebenso die bei Parrot weit auseinanderstehenden Sperber
und Habicht mit ihrer ähnlichen Lebensweise und nur verschiedenen
Größe eng zusammen in Gruppe 2, wo ihnen der Turmfalke sich
zugesellt, während die vielfliegenden Baum- und Wanderfalke ähn-
446 B. Klatt, Zur Methodik vergleichender metrischer Untersuchungen etc,
lich der Parrot’schen Anordnung sich viel weiter unten wieder-
finden. Der Buchfink, der bei Parrot das letzte Drittel der Reihe
beginnt, rückt ganz an den Anfang, ebenso Häher und Elster, die
gleichfalls Standvögel sind, also geringere Bewegungsleistung aufzu-
weisen haben als z. B. der Storch, der bei Parrot ganz unberech-
tigterweise in der ersten Hälfte der Reihe sich findet und bei mir
als drittletzter steht. Die Singdrossel, bei Parrot die letzte, wird
nach der Exponentenberechnung noch übertroffen vom Singschwan,
der bei Parrot in der Mitte der Tabelle figuriert.
Tabelle 4.
(Die Herzgröße bei den Vögeln nach Angaben von Parrot.)
a) nach d. °/,, Methode angeordnet. b) n. d. Exponenten-Methode angeordnet.
An-
ord-
nung Art
nach
b)
2. 14! Auerhahn | Dei| 1 1 0,0228 1 Elster | RB
1. 5 | Mäusebussard' 83 | 2 2 0,0232 2 d Eichelhäher | I. 6
2. 9 | Habicht 8,65 | 3 L; 3 10,0240|3 J2 Buchfink |ITI. 16
4. 17 | Seeadler 8,98| 4 L. 410,0245|1 8 Wiedehopf | II. 14
1. 1 | Elster 9,34| 5 5 ‚0,0249|4 © Bussard Say
1. 2 | Eichelhäher 37-6
3. 15 | Birkhahn 9.77|\.7 6 0,0268 12 S Sperber 11.13
7 \0,0269[6 2 Möve 1. 8
2. 7 | Lachmöve 10,35 | 8 o 8 [0,0271|4 & Ohreule II. 9
2. 8 | Ohreule 10,86 | 9 ” 9 |0,028812 d Habicht 1: #3
5. 22 | Storch 11,49 |10 N 10 [0,0292)4 S2 Kuckuck [ITI. 15
6. 24 | Singschwan 11,78111| I. 11 0,0299 5 Z Turmfalk 11.12
2. 11 | Turmfalk 11,91 |12
2. 6 | Sperber 11.931113 12 0,0300 |4 Zwergstrandlfr.| V. 21
1. 4 | Wiedehopf 12,04 | 14 13 [0,0308 /6 JP Turmschw. |IV. 19
3. |1410,0322|3 g Auerhahn . 1.91
2. 10 | Kuckuck 13,16 | 15 15 |0,0336 3 d Birkhahn 1 RN
1. 3 | Buchfink 14,16|16 | III. 16 |0,0345 |3 Isl. Strandläufer[ IV. 18
5. 20 | Wanderfalk | 14,91 |17
17 |0,0382|2 JQ Seeadler I. 4
3. 16 | Isl.Strandläuf.| 15,75 | 18 4. /18/0,0402|3 8 Baumfalk IV. 20
3. 13 | Turmschwalb.| 16,46 |19| IV. 19 |0,0425 |3 & Pirol V. 22
4. 18 | Baumfalk 16,98 | 20
20 |0,0467 11 2 Wanderfalk |III. 17
3. 12 | Zwergstrandl.| 19,18 | 21 v 5. 21 0,0467 |1 Z Flußuferläuf.|VI. 23
4. 19 | Pirol 21,73 | 22 N 22 0,0469 |1 Q Storch II. 10
5. 21 | Flußuferläuf. | 24,39 | 23 VI 6 23 |0,0528|1 Z Singdrossel |VI. 24
6. 23 | Singdrossel | 25,64 | 24 ‘ “124 [0,0550 2 Singschwan 11..11
Auch für eine Anzahl Säuger gebe ich die entsprechenden Be-
rechnungen. Wie zu erwarten, sind sie im allgemeinen niedriger als
bei den Vögeln.
Bad: Na
F “ir
' a
N
B. Klatt, Zur Methodik vergleichender metrischer Untersuchungen etc. 417
Tabelle 5.
(Herzgröße europäischer Säuger.)
1. Brandmaus 2 Klatt 0,01090
2. Ratte Hesse 0,01108
3. Waldmaus g' Welcker 0,01130
4. Hausmaus Hesse 0,01142
a) Wildkaninchen 19 2 E. Müller 0,01151
6. Hauskaninchen 152 2 0,00939
de Maulwurf g' Welcker 0,01518
8. Igel 29 = 0,01584
9. Mopsfledermaus 2 N 0,01595
10. Eichhorn Parrot 0,01641
11; Gemeine Fledermaus Klatt 0,01709
12, Zwergfledermaus Hesse 0,01794
13. Gemeine Spitzmaus 2 2 Welcker 0,01814
14. Ohrfledermaus & 0,01822
15. Gemeine Fledermaus 4 2 Strohl 0,01926
16. Wühlmaus 2 2 Klatt 0,02129
17. Wiesel g' Betheke 0,02133
18. Its 7 5 0,02436
19, Ra 057 = 0,02019
20. Frettchen 4. d & 0.02105
21. Frettchen 7% . 0,01879
22. Steinmarder g' = 0,02618
23. a 42 5 0,02284
24. Hase 25,29 Klatt 0,03724
25. Mensch 32 g', gesund Bergmann 0,03783
26. Mensch 42, gesund ® 0,03436
27. Fuchs 4 Klatt 0,04462
28. 2 5 0,04235
29. Wolf 24,12 E 0,04797
30. Hund 2248 Vorsteher 0,04322
31. Reh 5 Bergmann 0,06253
Ich möchte besonders aufmerksam machen auf die bisher nur
wenigen Fälle, wo für Männchen und Weibchen derselben Art die
Herzgewichte bekannt sind. Dieselben sind ja häufig verschieden
hoch, aber da zugleich oftmals eine erhebliche Körpergrößendifferenz
zwischen den Geschlechtern besteht, wird aus dem relativen Herz-
sewicht nicht die genaue Höhe der Differenz ersichtlich. Die Be-
rechnung nach der Exponentenmethode gestattet ohne weiteres klare,
zahlenmäßige Angaben. Die Differenz scheint im allgemeinen zwi-
schen 0,002 und 0,004 zu liegen:
Iltis 0,0042, Steinmarder 0,0033, Mensch 0,0035, Fuchs 0,0023.
Frettchen 0,0022. Auch bei den Enten, bei denen Männchen und
Weibchen zu vergleichen möglich ist, liegt die Differenz in ähnlicher
Höhe:
Tabelle 6.
(Die Herzgröße bei Enten nach Angaben von ©. Timmann.)
2 Kriekenten de 0,03023 \ 0.0022 2 Stockenten fe 0,03241 0.0032
2
» = 0,02803 „ 2 0,02920
6 Hausenten & 0,02570 0,0032
39. Band ® ” a 28
N
5 ESTER RN a
\ . h
418 B. Rlatt, Zur Methodik vergleichender metrischer Untersuchungen etc,
Durch schrägen Druck sind die Haustiere, die neben ihren Wild-
formen stehen, hervorgehoben. Auch hier, wo durch die Domesti-
kation so erhebliche Größenunterschiede hervorgerufen sind, wird erst
durch die Exponentenmethode es möglich, genaue zahlenmäßige Ver-
gleiche anzustellen. Gegenüber den Wildformen zeigen sie eine er-
hebliche Herabminderung der Werte, die beim Kaninchen z. B. noch
unter 0,01 hinuntergehen, was bei keiner der deutschen Wildtierarten
sich findet.
Auch verwandte Tiere aus verschiedenen Klimaten sind häufig
verschieden groß, so daß die einfache Berechnung der °/gn-Werte
keine genauen zahlenmäßigen Vergleiche gestattet. Zwar die allge-
meine Folgerung, daß in den Tropen das Herz kleiner ist als bej
nahe verwandten Arten in unserem Klima oder gar im Norden Euro-
pas, habe ich 1913 in meinem Reisebericht schon durch Vergleiche
der °/g0-Werte oder in manchen Fällen durch direkten Vergleich
der absoluten Zahlen feststellen können. Eine genaue zahlenmäßige
Feststellung des Unterschiedsgrades gestattet die Exponentenmethode,
Rechnet man mit ihrer Hilfe die Werte für p aus, so erhält man,
um nur einige der Säugetiere hier anzuführen, folgende Werte:
Tabelle 7
(Herzgröße abessinischer Säuger nach Angaben von Klatt.)
1. Arvicola abyssinica 9 0,00510 | 7. Lepus sp. 5. g' 0,02540
2. Gerbillus murinus & 0,00696 8. Oynalopex pallidus 2 0,02562
3. Procavia sp. 3. & 0,00965 9. Madoqua saltiana JR 0,02597
4. Nyetinommus pumilus Q _ 0,01558 10. Grauschakal 69 . 0,03042
5. Hysirix sp. d 0,02137 10. ” So 0,03104
6. Herpestes albicauda 2 8 0,02330 12. Gazelia isabella 2% 0,03591
Wenn auch die Reihenfolge im großen und ganzen dieselbe ist
wie bei den europäischen Säugern (zuerst Muriden, dann Fledermäuse,
kleine Carnivoren, große Carnivoren, Huftiere), so sind doch durch-
gängig die Werte erheblich tiefer als bei den europäischen Verwandten.
Man vergleiche z. B. die Hasen miteinander, den Schakal mit Wolf
und Fuchs, vollends die Mäuse, die hier sogar Werte weit unter 0,01
liefern, was bei keiner der europäischen Wildarten der Fall ist. Das
Bild ist ein viel klareres als der Vergleich nach %/,9-Werten von 1913.
Alle diese letzten Gegenüberstellungen zeigen so recht, daß die
Herzgröße in weit höherem Grade modifizierbar ist als die Hirn-
größe. So ist der Herzexponent mehr ein Mittel, die biologische und
individuelle Eigenart eines Tieres zahlenmäßig auszudrücken, wäh-
rend der Hirnexponent mehr die systematische Verwandtschaft der
Spezies zu ergründen gestattet. !
Einige Worte noch zu der Frage, was wird denn nun eigentlich
durch die mit Hilfe des Exponenten ausgerechnete Zahl bewertet?
B. Klatt, Zur Methodik vergleichender metrischer Untersuchungen etc. 4149
Oben wurde gesagt, daß der Faktor p — denn dieser ist es ja, der
hier in Zahlen gefaßt wird — die Summe aller der Faktoren aus-
drückt, welche abgesehen von der Körpergröße das Herzgewicht sonst
noch bestimmen, und es wurde andererseits das Herz als ein Lebens-
zentrum bezeichnet, die Zahl dieser Faktoren also sehr weit gefaßt.
Es entspricht das der Hesse’schen ‘Auffassung, welcher sagt: „Das
Herz ist das wahre Punktum saliens im Getriebe des Tierkörpers“,
der ‚‚Lebensmaßstab“. Neuerdings hat sich besonders Pütter gegen
diese hohe Einschätzung des Herzgewichtes gewendet. Nach ihm
kommt es mehr auf „die Güte der Durchblutung‘ des Organismus
an, die ihrerseits in Beziehung zur Intensität des Stoffwechsels
(Maßstab: Der in der Zeiteinheit verbrauchte Sauerstoff) gesetzt.
werden muß. Aus: dem Herzgewicht aber könne man keineswegs
auf die Güte der Durchblutung schließen. Ein Herz, das etwa gegen
einen Blutdruck von besonderer Höhe zu arbeiten hat, muß schwerer
werden, ohne daß die Durchblutung im geringsten besser zu werden
braucht, so daß hier also der Schluß auf eine höhere Lebensinten-
sität aus dem bloßen Herzgewicht zu falschen Anschauungen führen
müßte. „Es kann bei unähnlichen Herzgewichten ähnliche Durch-
blutung bestehen... Nur wenn die Widerstände gleich sind, be-
deutet eine größere Leistung des Herzmuskels auch eine größere Lei-
stung des Herzens für den ganzen Körper.‘ Damit wird der Wert
physiologisch-anatomischer Schlüsse aus dem bloßen Herzgewicht stark
herabgemindert, je mehr, je ferner die verglichenen Formen sich
systematisch stehen. Gerade für Überlegungen aber wie die es sind,
von denen ich eigentlich zu dieser Untersuchung geführt wurde,
nämlich Domestikationsstudien an Haustieren und ihren wilden Ver-
wandten oder vergleichende Untersuchungen an verschiedenen Haus-
tierrassen dürfte der Betrachtung der Herzgröße und der in diesem
Aufsatz befürworteten Methode ihrer Vergleichung ihr Wert bleiben.
Freilich bin ich mir auch darüber klar, daß man zum Ziel der physio-
logisch-anatomischen Forschung, nämlich der Zurückführung der Form-
verhältnisse der Organismen auf bestimmte physiologisch-ökologische
Teilgeschehnisse an denselben um so sicherer gelangen wird, je weiter
man den Kreis der metrischen Feststellungen zieht. Hätten wir
auch nur bei der Hälfte der Formen, für welche das Herzgewicht.
genau bekannt ist, auch metrische Feststellungen über Pulszahl, Blut-
druck u. s. w., so wäre dadurch eine weit gründlichere Erkenntnis
der allgemeinen Beziehungen, wie die Erklärung besonderer von der
Norm abweichender Fälle möglich. Bei allen solehen metrischen Unter-
suchungen aber ist Berücksichtigung der Gesamtgröße unerläßlich.
Ihr Einfluß muß genau erkannt werden, um keine Fehler aufkommen
zu lassen. Aber die Erkenntnis des Größeneinflusses ist
nicht bloß unerläßliche Vorbedingung einer klaren Erfassung der Tat-
sachen, sondern, was noch weit wertvoller ist, das beste Hilfs-
28*
490 B. Klatt, Zur Methodik vergleichender metrischer Untersuchungen etc.
mittel, eine tiefere Einsicht zu gewinnen in die ge-
setzmäßigen BeziehungensowohldesOrganismuszur
Umwelt wie auch der physiologischen Teilgescheh-
nisse in ihm selbst. Die Gesamtgröße ist gewissermaßen das
Skelett, durch das alle einzelnen Teilwerte genau fixiert und zu einem
harmonischen Ganzen zusammengehalten werden.
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Über die Differenzierung der tierischen Kaumuskeln
zu menschlichen Sprachmuskeln.
Von Prof. P. Schiefferdecker, Bonn.
In einer vor kurzem erschienenen Arbeit”), in der ich mensch-
liche und tierische Kaumuskeln nach meiner Methode der Ausmessung
der Muskelfaser- und Kernquerschnitte untersucht habe, bin ich zu
dem Ergebnisse gekommen, daß die menschlichen Kaumuskeln sich
aus den tierischen derartig differenziert haben, daß sie beim Men-
schen nicht nur dem Kauakte, sondern auch dem Mechanismus der
Sprache zu dienen imstande sind. Diese Differenzierung ist in der
Weise eingetreten, daß die bei den Tieren in ihrer Dicke nur sehr
wenig verschiedenen Muskelfasern beim Menschen sehr große Dicken-
unterschiede zeigen, daß also bei ihm sehr verschiedene Arten
von Muskelfasern in den Kaumuskeln bunt durcheinander gemischt
liegen. Sehr verschiedene „Arten“, denn diese Fasern unterscheiden
sich nicht nur nach ihrer Dicke, sondern auch nach dem Verhalten ihrer
Kerne. Ich habe schon in früheren Muskelarbeiten immer wieder
zeigen können, daß ein Muskel stets ein mehr oder weniger kompliziert
gebautes Organ ist, da er stets aus verschieden dicken Fasern sich
aufbaut, die sich ihrem ganzen Wesen nach verschieden verhalten.
Es wird dies bewiesen durch die Kernfaserverhältnisse. Je größer die
Verschiedenheiten der Fasern in einem Muskel sind und je mehr
Arten von verschiedenen Fasern in ihm auftreten, um so komplizierter
ist der Bau des Muskels, und um so kompliziertere Leistungen ver-
mag er auszuführen. Die von mir bisher untersuchten menschlichen
Kaumuskeln, der Masseter, Pterygoideus internus und Temporalis,
zeigen nun alle drei eine höhere Differenzierung als die entsprechenden
tierischen Muskeln, besonders hochgradig differenziert ist aber der
Masseter, der die beiden anderen genannten Muskeln in dieser Be-
ziehung bei weitem übertrifft. Welches die Ursache hierfür ist, läßt
sich vorläufig noch nicht angeben: entweder müßte der Masseter bei
den Sprachbewegungen weitaus stärker beteiligt sein als die beiden
anderen Muskeln, oder sein Bau muß schon vor der Einwirkung der
Ursache, welche die drei Muskeln verändert hat, nach dieser späteren
Richtung hin abgewichen sein von den beiden anderen Muskeln, oder
endlich der Masseter ist infolge seiner früheren Entwicklungsgeschichte
leichter umbildungsfähig gewesen als die beiden anderen Muskeln, so
daß er infolgedessen in stärkerem Grade hat umgewandelt werden
BER ANNE NE DENE RT RS SD aha En,
x y EAN ek NER
4292 P. Schiefferdecker, Über die Differenzierung der tierischen Kaumuskeln ete.
können. Welche von diesen dreien die wirkliche Ursache gewesen ist,
läßt sich zurzeit noch nicht feststellen, es geht aber aus der hier mög-
lichen Fragestellung schon die wichtige Tatsache hervor, dab der
h re
phylogenetisch. frühere Bauw/’eines .Muskels ven
wesentlichem Einfluß sein kann auf den gegenwärti-
sen Aufbau, wie er sich bei meiner Untersuchungsmethode heraus-
stellt. Hieraus folgt dann weiter, daß man mit dieser Methode nicht
nur die gegenwärtigen Eigentümlichkeiten in dem Baue eines Muskels
aufzufinden vermag, sondern bis zu einem gewissen Grade auch die
der früheren Entwicklungsstadien. Dadurch wird die Methode einerseits
weit leistungsfähiger, als ich selbst früher angenommen habe, anderer-
seits wird es aber auch weit schwerer, die aufgefundenen Eigentüm-
lichkeiten richtig zu deuten, da diese nicht mehr einfach sämtlich auf
die gegenwärtige Tätigkeit des Muskels bezug haben, sondern auf alle
früheren, die der Muskel stammesgeschichtlich jemals ausgeübt hat.
Nun wissen wir aber schon aus der Arbeit von Lubosch?), dab
unsere Kaumuskeln sich aus ganz verschiedenen Muskeln herausge-
bildet haben. Wenn sie jetzt bei uns in bezug auf ihren Aufbau eine
gewisse, charakteristische Ähnlichkeit bekommen haben, so beruht
das also auf einer allmählichen Umänderung, die bei allen dreien
durch die Einwirkung derselben Ursachen eingetreten ist, als
diese Ursachen sind aber nur anzusehen: diebesondere Art des
Kauens und Beißens und die allmähliche Ausbildung
der Sprache. Da die Sprachtätigkeit die bei weitem komplizier-
teste Tätigkeit ist, die ein Muskel überhaupt auszuüben vermag, so
wird sie speziell als Ursache in Betracht kommen für den auffallend
komplizierten Aufbau, den wir bei den menschlichen Kaumuskeln
und namentlich bei dem Masseter finden. Es gilt das bisher Gesagte
natürlich für jedes Organ des Körpers: ein jedes hat seine Stammes-
geschichte, während deren es sich allmählich umgebildet hat zu der
Form, die es jetzt bei uns erreicht hat. Bei den Muskeln läßt sich
diese Umänderung aber jetzt schon mit Hilfe meiner Methode bequem
nachweisen. Ich habe bei meiner Untersuchung weiter feststellen kön-
nen, daß auch zwischen dem Aufbaue der Kaumuskeln — namentlich
des Masseters, der hauptsächlich untersucht worden ist — der ver-
schiedenen Tierarten, selbst innerhalb derselben Ordnung, sich wesent-
liche Unterschiede auffinden lassen, die aber vorläufig nicht gedeutet:
werden können. Sie sind vermutlich auf die verschiedene stammes-
geschichtliche Entwicklung der Tierarten zurückzuführen. Im ganzen
aber waren die tierischen Muskeln einander doch wieder recht ähnlich
im Gegensatze zu denen des Menschen. Auch der Masseter des Man-
drill stimmte hierin mit den tierischen Muskeln durchaus überein,
stand also, ebenso wie diese, in vollem Gegensatze zu dem mensch-
lichen Muskel. Es zeigte sich also kein allmählicher Übergang durch
die Primaten zum Menschen hin, und das war ja auch durchaus ver-
+
“ A He HE RE WERTE PIE PEREDE Ar, 7. A| Wen BT BRT,
UL GT Ko DENE av KLEE Ede BE a an nn una NENNE “
S
P. Schiefferdecker, Über die Differenzierung der tierischen Kaumuskeln ete. 493
ständlich, wenn die Sprache die Hauptursache der Umänderung war.
Hieraus war dann weiter zu schließen, daß diese Umänderung
in der Stammesgeschichte des Menschen erst sehr
spät eingetreten sein konnte. Dieser Schluß fand seine Be-
stätigung darin, daß auch bei menschlichen Embryonen diese Um-
änderung erst spät hervortritt: bei einem Embryo aus dem 6.—-7. Mo-
nate zeigten sich zuerst deutlicher verschieden dicke Fasern, noch deut-
licher war die Mischung bei dem Neugeborenen, doch muß die eigent-
lich charakteristische Ausbildung erst während der Kindheit eintreten.
Es mußte eben während der menschlichen Stammesgeschichte erst.
ein Zustand erreicht werden, in dem das menschliche Gehirn so weit
entwickelt war, daß die ersten deutlicheren Anfänge der Sprache auf-
zutreten vermochten. Mit der allmählich immer weiter fortschreiten-
den Gehirnentwicklung konnte sich die Sprache mehr und mehr ver-
vollkommnen und dementsprechend die Differenzierung der Kaumus-
keln mehr und mehr zunehmen, bis dann schließlich unsere jetzige
Sprache und damit der jetzt vorhandene feinere Aufbau der Muskeln
entstanden waren. Dieser Umbildung der Muskeln mußte parallel
gehen eine allmähliche Umbildung und Ausbildung des nervösen Appa-
rates für die Mechanik des Sprechens, In dieser Hinsicht ist eine
Arbeit von Jelgersma!) von großem Interesse, die ebenfalls vor
kurzem erschienen ist. Jelgersma weist in dieser nach, daß die
starke Entwicklung des menschlichen Kleinhirns mit auf die Entwick-
lung der Sprache zurückzuführen ist.
Die Sprache ist nach Jelgersma die komplizierteste Koordi-
nation, die überhaupt vorkommt, bei etwas näherer Betrachtung ist
sie unübersehbar kompliziert. Die kleinsten und am meisten zusammen-
gesetzten Bewegungen folgen in geschwindester und verschiedenster
Reihenfolge und Kombination aufeinander. Das Auffallendste dabei
ist, daß wir von den einzelnen Bewegungen und den Muskeln, die da-
bei in Tätigkeit treten, subjektiv nichts wissen. Es scheint uns, als
‚ob das Sprechen von selbst geht und als ob ein Willensimpuls für den
Ablauf der Sprechbewegungen genügte. Nichts geschieht aber von
selbst und die Kontrolle der Sprechbewegungen ist wohl da, sie ent-
geht aber unserer subjektiven Beobachtung. Das Sprechen geht vie)
zu geschwind vor sich, um eine Korrektion vom Gehöre aus möglich
zu machen. Wir hören wohl, was von uns selbst und anderen ge-
sprochen wird, aber die Korrektion der Sprechbewegungen beim er-
wachsenen Menschen verläuft ganz außerhalb des Bewußtseins. Für
diese Korrektion bleibt nur ein Sinnesorgan übrig: die Tiefensensi-
bilität. Da aber die tiefen Gefühle ihre zentrale Endigung im Klein-
hirne finden, so wird die Innervation der Sprechbewegungen zu einer
zerebellaren Funktion. Große Redner brauchen nicht nur ein hochent-
wickeltes Broca’sches Zentrum, sondern für die richtige Koordi-
nation ihrer Sprechbewegungen auch ein fein ausgebildetes Cerebel-
NN
Giri
ee
424 P. Schiefferdecker, Über die Differenzierung der tierischen Kaumuskeln ete.
lum. Das Sprechen bleibt ziemlich normal, wenn Taubheit nach dem
12. Jahre eintritt. Stummheit tritt ein, wenn das Kind taub geboren
ist oder Taubheit in früherer Jugend entsteht. Das Gehör ist also
hauptsächlich wichtig für die Erlernung des Sprechens. Es dient
hierbei auch zur Korrektion, später geht diese ganz über auf die Tiefen-
sensibilität und entzieht sich damit dem Bewußtsein. Der zerebrale
Prozeß hat sich damit in einen zerebellaren umgewandelt. Ein der-
artiger Mechanismus beherrscht aber überhaupt alle unsere höheren
Koordinationen.
Wenn das Sprechen ziemlich normal bleibt, falls die Taubheif.
erst nach dem 12. Jahre eintritt, so wird man annehmen dürfen,
daß um diese Zeit der komplizierte Bau der Kaumuskeln vollständig
oder fast vollständig zur Entwicklung gelangt ist, nachdem er in den
letzten Embryonalmonaten sich angefangen hatte zu entwickeln, ebenso
wie auch der gesamte nervöse Apparat für den Mechanismus des
Sprechens um diese Zeit eine Entwicklung erreicht haben wird, die
den gewöhnlichen Ansprüchen genügt. Ich sage ausdrücklich „den
gewöhnlichen Ansprüchen“, denn selbstverständlich wird sich nament-
lich der nervöse Apparat späterhin noch viel weiter auszubilden
imstande sein, falls das Individuum sprachlich sich weiter vervoll-
kommnet, durch Übung in der Muttersprache sowohl, wie namentlich
auch durch die Erlernung fremder Sprachen, deren abweichende Laute
natürlich eine ganz erhebliche Vermehrung in der Kompliziertheit
hauptsächlich des nervösen Apparates verlangen und damit infolge
der Übung bewirken werden. Es ist wohl fraglich, ob der muskuläre
Apparat zu dieser Zeit des Lebens noch so weit umwandelbar ist, daß
ein komplizierterer Bau in ihm durch Auftreten weiterer Dicken-
klassen von Muskelfasern zu entstehen vermag. Ich möchte das so-
gar für ausgeschlossen halten, wohl aber ist es denkbar, daß in den
Kernfaserverhältnissen sich unter dem Einflusse der Nerven noch
weitere Verschiedenheiten herauszubilden vermögen. Wie schwierig
aber auch die Umbildung des nervösen Apparates, namentlich in
höherem Lebensalter geworden ist, das weiß ja jeder, der es um diese
Zeit noch unternimmt, eine neue Sprache zu lernen. Ebenso merkt
man dabei auch, wie schwer später Fehler zu korrigieren sind, die
man früher bei der Erlernung einer Sprache mitgelernt hat, als man
jung war. Der einmal gebildete nervöse Apparat ist sehr schwer wieder
umzubilden. Es müssen dazu eben erst die in der Großhirnrinde nieder-
gelegten Erinnerungsbilder wieder verändert oder ganz ausgelöscht.
werden, was augenscheinlich gar nicht so einfach ist. Die neu ent-
standenen Bilder müssen dann erst wieder auf das Kleinhirn einwirken.
Zu dieser Zeit ist aber sicher jede in Betracht kommende Nervenzelle
schon mit einer ganzen Anzahl von Eindrücken versehen, die einer
Umänderung einen gewissen Widerstand entgegensetzen.
Die Sprache wird beim Menschen ganz allmählich entstanden
P. Schiefferdecker, Über die Differenzierung der tierischen Kaumuskeln etc. 425
sein. Die einzelnen Laute, durch die sich der tierische Vorfahre des
Menschen verständlich machte, ähnlich wie es jetzt die Affen tun,
werden allmählich komplizierter geworden sein und dabei wird gleich-
zeitig ihre Anzahl immer mehr zugenommen haben. Bei diesem all-
mählichen Übergange der tierischen Lautsprache in die immer kom-
plizierter werdende menschliche wird die Umbildung der muskulösen
und nervösen Apparate sehr langsam und allmählich vor sich gegangen
sein, in sehr langen Zeiträumen. Diese stehen uns ja auch zu gebote,
wenn wir die ersten Menschen, von denen wir Kunde haben, in das
Ende des Miocäns oder den Beginn des Pliocäns verlegen. Die
Grenze zwischen dem tierischen Vorfahren des Menschen und diesem
selbst ist ja schwer festzulegen. Es scheint mir ganz richtig, sie
nach der geistigen Entwicklung zu bemessen, und sie also da anzu-
nehmen, als der Mensch zuerst fähig war, sich Geräte herzustellen.
Ein Wesen, welches dies zu tun vermochte, stand höher als jedes
Tier, auch selbst noch als die heutigen Tiere. Aus dem Ende des
Miocäns oder dem Beginne des Plioeäns finden wir aber bekanntlich die
ersten vom Menschen künstlich hergestellten Werkzeuge, die Eolithen
oder Archäolithen des Cantalien. Da die Menschen dieser Zeit also
geistig jedenfalls höher standen als alle sonstigen Tiere, auch sogar
als die Affen der Jetztzeit, so werden sie voraussichtlich auch schon
eine fortgeschrittenere Art der lautlichen Verständigung besessen
haben. Welcher Art diese gewesen ist, darüber wissen wir freilich
gar nichts und werden hierüber wohl auch nie etwas erfahren. ‚Jeden-
falls sind wir aber berechtigt, anzunehmen, daß von dieser Zeit an
oder auch schon früher bei den Menschen sicher eine Verständigungs-
weise existiert hat, die höher stand als die tierische und daher als
der erste Anfang der menschlichen Sprache zu bezeichnen sein würde.
Das können wir nach unseren jetzigen Kenntnissen sagen, jeden
Augenblick kann aber ein neuer Fund gemacht werden, der den Zeit-
punkt der Menschwerdung noch früher anzusetzen erlaubt. Wir sind
sogar auch jetzt schon gezwungen, einen solchen weit früheren Zeit-
punkt anzunehmen, da die Menschen des Cantalien schon verhältnis-
mäßig hoch standen. Von jener Zeit an bis zur Jetztzeit hin haben
also die muskulösen und nervösen Apparate Zeit gehabt, sich zu dem
Zustande auszubilden, den wir heute finden. Wenn sich solche Zeit-
räume bekanntlich zurzeit auch nur sehr ungenau in Jahren ausdrücken
lassen, so wird es sich dabei doch jedenfalls um ein paar Millionen
Jahre handeln. Nach den vorliegenden Angaben vielleicht um 2—4
Millionen. Also jedenfalls um Zeiträume, die für unsere menschliche
Auffassung ungeheuer groß, für die ganze Zeitdauer der Entwicklung
der Tierwelt auf der Erde aber außerordentlich "klein sind, und auch
gegenüber der Zeit der Entwicklung der Säugetiere recht klein sind.
So ist es durchaus verständlich, daß man die Spuren dieser Umbil-
dung embryonal erst sehr spät findet.
es
496 P. Schiefferdecker, Über die Differenzierung der tierischen Kaumuskeln ete.
Man kann den „Grad“ der Kompliziertheit des Muskelauf-
baues aus dicken und dünnen Fasern einigermaßen klarstellen durch
das Verhältnis der für die Maxima und Minima der Querschnitte der
Muskelfasern gefundenen Werte. Da ergibt sich nun, daß bei dem
Masseter der untersuchten Tiere die Maxima etwa 5—6 mal
sröber sind als die Minima, bei dem dererwachsenen Menschen
dagegen 50—80 mal. Bei den menschlichen Embryonen von
5 Monaten, 6—7 Monaten und dem Neugeborenen sind die Ma-
xima des Masseters ebenfalls etwa 5—6 mal größer. Diese Muskeln
entsprechen also in dieser Hinsicht noch den tierischen, während in
bezug auf die Anordnung der Fasern schon der menschliche Typus
mehr und mehr hervortritt. Die Hauptdifferenzierung muß
also erst nach der Geburt während der Kindheit ein-
treten. Sie scheint dann nach der oben angeführten Angabe von
Jelgersma im 12. Jahre der Hauptsache nach beendigt zu sein.
Wie weit sie nach diesem Jahre noch weiter geht, wissen wir nicht.
Selbstverständlich würde es sehr erwünscht sein, über diese kindliche
Entwicklung direkte Untersuchungen zu besitzen, doch dürfte das mit
großen Schwierigkeiten verbunden sein, da das Material sehr schwer
zu beschaffen sein würde. Außer dem Masseter habe ich je einen
menschlichen Pterygoideus internus und Temporalis untersucht. Das
ist sehr wenig, ließ sich aber jetzt nicht anders machen. Bei diesen
Muskeln war das Maximum etwa um das 12—-15fache größer als
das Minimum. Auch diese Muskeln sind also erheblich stärker diffe-
renziert als die tierischen, aber doch bei weitem nicht in dem Grade
wie der Masseter. Für den Temporalis von Hund und Eichhörnchen
ergab sich das 4—5fache. Diese Muskeln standen also in dieser Hin-
sicht den entsprechenden Massetern gleich (ebenfalls das 4—5 fache),
während beim Menschen zwischen dem Temporalis und dem Masseter
eine bedeutende Kluft lag.
Es ist selbstverständlich, daß so wichtige Untersuchungen an
einem weit größeren Materiale ausgeführt werden müßten, um einiger-
maben sichere Ergebnisse zu erhalten, das war aber für mich ganz
ausgeschlossen, ich mußte froh sein, das vorliegende Material bear-
beiten zu können. Auch so sind die Ergebnisse ja schon sehr wich-
tige geworden, nur sind sie noch nicht sicher genug und noch nicht
genau genug, sie können nur als allgemeinste Grundzüge gelten, und das
ist schade. Allerdings bin ich zurzeit damit beschäftigt, noch mehrere
Pterygoidei interni und externi zu untersuchen, und weiter Genio-
hyoidei, die ja als Sprachmuskeln auch in Betracht kommen,
aber bis diese Untersuchungen abgeschlossen sein werden, kann
noch lange Zeit vergehen. Unter den Verhältnissen, unter denen
ich zu arbeiten gezwungen bin, kann ich solche Untersuchungen nur
sehr langsam ausführen. Ich bin natürlich selbst sehr gespannt, was
diese neuen Untersuchungen ergeben werden.
gg y RE Be oh MR Br a ar Ay RE Be
Kr
P. Schiefferdecker, Über die Differenzierung der tierischen Kaumuskeln ete. 497
Sehr auffallend und merkwürdig ist der eben erwähnte ver-
schieden hohe Grad der Umbildung der drei menschlichen Kau-
muskeln, hierfür müßte der Grund noch gefunden werden.
Der von mir untersuchte Masseter des Mandrill stimmt durch-
aus überein mit denen der übrigen Tiere (Maximum knapp 4mal
größer als Minimum), also zeigt der Mandrill, obwohl Primat- und
Ostaffe, in dieser Hinsicht keine Spur von Annäherung an den Men-
schen, da eben die Sprache fehlt.
Nun ist ja sicher nicht die Sprache allein die Ursache für die
beschriebene Differenzierung, auch die Kautätigkeit des Men-
schen ist eine andere als die der Tiere. Auch sie ist es erst allmäh-
lich geworden. Wie weit die doppelte Art der Kautätigkeit des
Menschen — die Scherenbewegung und die Mahlbewegung — als
erworben anzusehen ist oder vielleicht gerade als Urgut und somit
als die Bewahrung eines ursprünglichen Zustandes, muß man wohl
zunächst als unsicher ansehen und noch nicht entscheidbar. Aber
abgesehen hiervon hat sich die Kautätigkeit des Menschen gegenüber
der tierischen dadurch verändert, daß er infolge seiner immer zu-
nehmenden geistigen Begabung sich die Nahrung weit besser auszu-
suchen und die ausgesuchte sich in. der nötigen Menge zu verschaffen
wußte, daß er schneidende Werkzeuge besaß und dann — und das
ist ein sehr wichtiger Punkt — dadurch, daß er mit Hilfe des
Feuers seine Nahrung zu kochen und dadurch zu erweichen
vermochte. Hierdurch wurden seine Kiefer erheblich entlastet
und konnten sich nach der nötigen Richtung hin weiter aus-
bilden. Auch beim Kauen verwendet der Mensch nicht mehr die
rohe, gewalttätige Art der meisten Tiere, er kaut mit mehr Verschie-
denheiten je nach der Art der Nahrung, braucht bald mehr Kraft,
bald weniger, die Bewegungen sind bald schneller, bald langsamer und
bei der Mahlbewegung wesentlich andere als bei der Scherenbewegung.
Immerhin ist die Mannigfaltigkeit der Sprachbewegungen natürlich
außerordentlich viel größer als die der Kaubewegungen. Dazu kommt
dann endlich noch, daß für den Menschen der „Biß“ als „Waffe“ in
Wegfall gekommen ist, er wurde durch künstlich hergestellte Waffen
ersetzt dank der fortgeschrittönen Gehirnausbildung. Daß die mensch-
lichen Kaumuskeln trotz ihrer feinen Differenzierung einer sehr großen
Kraftleistung fähig sind, können wir staunend wahrnehmen, wenn
wir Artisten beobachten, welche mit ihren Kaumuskeln nicht nur
ihre eigene Last, sondern auch noch die anderer Menschen zu tragen
imstande sind. Es ist eigentlich sehr auffallend, daß solche plumpe,
mächtige Muskeln solch zarter Bewegungen, wie sie für das Sprechen
notwendig sind, fähig sind.
Die Benutzung des Feuers gehört mit zu den charakte-
ristischen Eigentümlichkeiten, die den Menschen vom Tiere unter-
scheiden. Wann sie zuerst in die Erscheinung getreten ist, läßt
ns 7 De ae > 7, SD Aa Pa er
498 P Schiefferdecker, Über die Differenzierung der tierischen Kaumuskeln ete.
sich mit einiger Sicherheit nicht mehr nachweisen, da man auf
Feuerspuren angewiesen ist, deren Auffindung natürlich ganz dem
Zufalle überlassen ist. Rutot hat behauptet, Spuren von Feuer im
unteren Acheul&en, ja schon im Chelleen gefunden zu haben, sogar
in dem noch älteren Strepyien. Allerdings stützen sich diese
Annahmen nicht auf den Fund von Herdplätzen, sondern nur auf den
von gebleichten und oberflächlich zerplatzten Feuersteinen. Noch
unsicherer waren die Befunde aus dem Reutelien. Unter den tertiären
Eolithen ist gar nichts derartiges gefunden worden. Alle diese Befunde
sind also wohl im ganzen noch nicht sicher und .sprechen vor allen
Dingen nicht im geringsten für eine Verwendung des Feuers zur Be-
reitung der Nahrung. Ob der wohl noch früher oder zur Zeit des
Reutelien anzusetzende Heidelbergmensch schon das Feuer gekannt
hat, ist daher unbekannt, und dasselbe gilt natürlich von den mio-
cänen Menschen. Der gewaltige Kiefer des Heidelbergmenschen war
freilich mächtig genug, um die Nahrung auch ohne Zubereitung durch
Feuer zu zerkleinern, und doch sind seine Zähne schon durchaus
menschlich, und er ist sowohl für die Scherenbewegung wie für die
Mahlbewegung eingerichtet.
Es ist übrigens nicht nur möglich, sondern durchaus wahrschein-
lich, daß die Menschen das Feuer nicht gleich zur Bereitung der
Nahrung verwandt haben, sondern weit eher zum Schutze gegen wilde
Tiere, zur Erwärmung und vielleicht auch zur Zerspaltung von großen
Feuersteinknollen, deren Spaltprodukte sie ja nötig brauchten. Wie
weit sie es zuerst zur Erwärmung gebraucht haben, ist auch noch
fraglich, denn das Chelleen und auch das Acheuleen fallen in eine
Zwischeneiszeit mit warmem Klima, in der noch Elefanten lebten.
Die Menschen waren an die natürliche, nicht weiter zuberei-
tete Nahrung so gewöhnt, dab gar kein Grund für sie vorlag, diese
noch erst dem Feuer auszusetzen. Wahrscheinlich wird ein zufälliger
Befund die erste Anregung dazu gegeben haben. Fleisch, das zufällig
mit dem Feuer in Berührung gekommen war, wird den Appetit an-
reizende Düfte verbreitet haben und beim Genusse besser geschmeckt.
haben als rohes, und so wird aus diesem Grunde das Braten und
Rösten des Fleisches in Aufnahme gekommen sein. Vielleicht hat
man dann auf diese Anregung hin auch pflanzliche Früchte zuzu-
bereiten versucht, so durch Rösten. Das „Kochen“ der Nahrungs-
mittel ist sicher erst sehr viel später aufgekommen, zu einer Zeit,
da man schon Töpfe besaß. Man braucht ja allerdings, wie die vor-
liegenden Beobachtungen lehren, nicht notwendig „Töpfe“ dazu, man
kann sich auch mit dichtgeflochtenen Körben oder noch einfacher mit
dem Magen der getöteten Tiere behelfen, aber es lag zunächst für die
Menschen überhaupt kein Grund vor, Fleisch oder Pflanzenfrüchte
mit Wasser in Berührung zu bringen, beide hatten für sie gar nichts
miteinander zu tun. Erst weit später, als man schon Töpfe hatte,
"
EN
ai
P. Schiefferdeeker, Über die Differenzierung der tierischen Kaumuskeln ete. 429
wird man überhaupt zuerst dazu übergegangen sein, Wasser zu er-
hitzen und eventuell kochen zu lassen, und dann wird es wohl wieder
erst ein Zufall oder ein vorwitziger Versuch gelehrt haben, dab
man auch die Nahrung vorteilhaft mit heißem Wasser herzustellen
vermochte. Hiernach würde dann sehr spät erst ein Einfluß von
regelmäßig gekochter Nahrung auf die Kaumuskeln wahrscheinlich
sein.
Nach dem Gesagten läßt es sich nicht feststellen, in welcher
zeitlichen Beziehung die Benutzung des Feuers zu der Ent-
stehung der. Sprache steht. Jedenfalls werden wir aber annehmen
können, daß die ersten Anfänge einer menschlichen
Sprachesehr vielfrüher liegen als die Benutzung des
Feuers zur Bereitung der Nahrung. Wir können also be-
treffs der Differenzierung der Kaumuskeln nur sagen, dab zu
irgendeiner Zeit der Entwicklung der Sprache die
durch Feuer zubereitete Nahrung aufgetreten ist,
durch welche dann ebenfalls eine Änderung in dem
feineren Aufbaue der Kaumuskulatur eintrat, zu-
gleich mit der durch die Sprache bedingten. Man darf
wohl mit Sicherheit annehmen, daß die durch die Sprache bedingten
Änderungen weit erheblicher waren als die durch die Änderung im
Kauen bedingten, aber beide haben sich, für uns jetzt untrennbar,
miteinander vermischt.
Hält man diese Betrachtungen zusammen mit der oben mitge-
teilten Feststellung, daß bei dem Pterygoideus internus und Temporalis
desMenschen dieMaxima nur das 12- und löfache der Minima der
Faserquerschnittsgröße betragen, während sie bei dem Masseter das
50-—-80fache sind, bei Tieren dagegen nur das 4—b6fache, so kann
man auf den Gedanken kommen, daß der Masseter der haupt-
sächlichste Sprachmuskel ist, während die beiden
anderen hauptsächlich für den Kauakt dienen. Natür-
lich würde der Masseter auch als Kaumuskel mitwirken, aber seine ihm
besonders zufallende Aufgabe würde die Sprache sein, während bei den
beiden anderen die Sache umgekehrt liegen würde. Wie weit diese An-
nahme sonst noch zu begründen sein wird, läßt sich vorläufig nicht sagen,
sie stützt sich zunächst nur auf den anatomischen Bau. Erfahrungsgemäß
findet man aber bei einer Gruppe von Muskeln mit scheinbar gleicher
oder wenigstens sehr ähnlicher Funktion gewöhnlich eine feinere
Differenzierung der einzelnen Muskeln, durch welche jeder einzelne
Muskel wieder seine besondere Funktion erhält. Von den hier in
Betracht kommenden drei Muskeln ist der Temporalis wohl
alsder Hauptkraftmuskel anzusehen, da er sich an den Mus-
kelfortsatz des Unterkiefers ansetzt und infolgedessen eine größere
Hebelkraft zu entwickeln vermag. Das würde für die Kaufunktion
sehr wichtig, für die Sprachfunktion ohne Bedeutung sein. Er ist
u a EEE. 7) u
Br en REN N
430 P. Schiefferdecker, Über die Differenzierung d«r tierischen Kaumuskeln ete.
außerdem weit feinfaseriger als die beiden anderen Muskeln, die in
dieser Hinsieht etwa gleich sind, wird also eine reichere Inner-
vation besitzen. Wir haben ja auch feststellen können, daß die
Größe des Temporalis mit der zunehmenden Entwicklung des
Menschen mehr und mehr abgenommen hat, zusammen mit der Re-
duktion der Zähne und des ganzen Kiefers, was ebenfalls für seine
starke Beteiligung am Kauakte sprechen würde. Allerdings haben auch
die beiden anderen Muskeln an Größe abgenommen; das Verhältnis läßt
sich bis jetzt nicht genauer feststellen. Wenn ich sage, daß der Masseter
und der Pterygoideus internus in bezug auf ihre Faserdicke fast gleich sind,
so ist das insoweit richtig, als die „Durchschnittsgröße* der Fasern
in Frage kommt. Der Masseter besitzt aber eine große Anzahl weit
feinerer Fasern als der Pterygoideus, dafür dann aber auch einige
weit dicker. Er ist eben in weit höherem Maße differenziert.
So sind also die Muskeln alle deutlich voneinander verschie-
den und hierzu kommen dann noch die Verschiedenheiten der
Kerne. Schon aus dieser Verschiedenheit im Baue geht hervor, daß
jeder von diesen drei Muskeln auch eine etwas andere Funktion be-
sitzen wird. Welches nun die Unterschiede zwischen dem Masseter
und dem Pterygoideus internus in dieser Hinsicht sein werden, läßt.
sich aus der Lage kaum ableiten, dem feineren Baue nach könnte der
erstere aber, wie schon gesagt, hauptsächlich der Sprachmuskel sein.
Das würde dann allerdings ein sehr wesentlicher funktioneller Unter-
schied sein.
Hier seinoch erwähnt, daß derMasseter eines Chinesen
sich in bezug auf seine Faserverhältnisse ganz ebenso verhielt, wie
die Muskeln der Deutschen, daß er aber erheblich mehr Kernmasse
besaß, so daß seine „relative Kernmasse‘“, d. h. das prozentuale Ver-
hältnis zwischen Kernmasse und Fasermasse, eine sehr wichtige
Größe, bei ihm 1,09 %% betrug, während es bei den Deutschen etwa
0,70 % betrug, ein sehr wesentlicher Unterschied, der wahrschein-
lich als ein Rassenunterschied anzusehen sein wird. Allerdings müßten
erst noch mehr Chinesen hieraufhin untersucht werden, um festzu-
stellen, wie weit diese Größe sich als konstant erweist. Noch in
einer anderen Beziehung lieferte der Masseter dieses Chinesen inter-
essante Ergebnisse. Ich hatte in meiner Herzarbeit*) nachweisen
können, daß es Menschen mit großen und solche mit kleinen Muskel-
kernen gibt, und zwar machte ich einen Unterschied dabei zwischen
„individuellen“ und „urrassigen“ Verschiedenheiten, die letzteren
waren weit größer und meiner Deutung nach auf zwei Urrassen zu-
rückzuführen. Derselbe Chinese war auch bei der Herzarbeit unter-
sucht worden und hatte sich dort als deutlich „großkernig‘ erwiesen.
Ich habe über diese Dinge auch berichtet in „Die Naturwissenschaf-
ten“ Bd. 5, H. 19, 1917, S. 309—316. Ganz ebenso wie der Herz-
muskel verhielt sich nun auch der Masseter dieses Chinesen, seine Kerne
REN a Sn Tr a Boos Seh br Fa u DR EBENE ZZ er BB Er
P. Schiefferdecker, Über die Differenzierung der tierischen Kaumuskeln ete. 431
besaßen ein Volumen von 75 ku, während die der Deutschen Muskeln
nur ein solches von etwa 50 ku aufwiesen, also ein sehr bedeutender
Unterschied, aus dem hervorging, daß die hier untersuchten Deut-
schen ‚‚kleinkernig‘ waren, während der Chinese sich wieder als
„großkernig“ erwies.
Ich habe seit einigen Jahren versucht, die Anthropologie
durch vergleichend-mikroskopische Untersuchungen
zu fördern, und wie ich wohl sagen darf, mit Erfolg. Die erste
dieser Arbeiten behandelte die Wangenhaut des Menschen°), eine
Fortsetzung dieser ist jetzt fast abgeschlossen, die zweite den mensch-
lichen: Herzmuskel®), eine dritte beschäftigte sich mit den Hautdrüsen
des Menschen und der Säugetiere), die vierte ist die hier bespro-
chene Arbeit?) über die Kaumuskeln. Die Ergebnisse dieser letz-
teren, die ich hier angeführt habe, sind natürlich nur ein Teil der
im ganzen von mir erhaltenen. In der Hautdrüsenarbeit®) konnte
ich nachweisen, daß die Primaten sich von den übrigen Säugetieren,
so weit mir das bekannt geworden war, unterscheiden dadurch, dab
bei ihnen bestimmte Hautdrüsen über andere mehr und mehr das
Übergewicht gewinnen, und daß dieser Vorgang beim Menschen, der
an der Spitze der Primaten steht, seinen höchsten Grad erreicht:
Während bei den sonstigenSäugetieren die apokrinen Drüsen
(auch als große Schweißdrüsen bezeichnet) bei weitem am meisten
verbreitet sind, sind beim Menschen die ekkrinen Drüsen (auch
als kleine Schweißdrüsen bezeichnet) auf dem bei weitem größten
Teile des Körpers ausschließlich vorhanden, nur an einigen wenigen
beschränkten Teilen befinden sich auch mit ihnen zusammen die
anderen. Die Affen, welche beide Drüsenarten in weiterer Ver-
breitung zu besitzen scheinen, würden einen Übergang bilden, sie
würden „gemischtdrüsig‘“ sein. Auch für diese Arbeit war leider
das untersuchte Material notgedrungen recht klein, so daß ich nur
einige Hauptsachen feststellen konnte. Die Untersuchung mensch-
licher Embryonen ergibt nun, wie das Carrossini auch schon ge-
funden hat, daß ursprünglich weit mehr apokrine Drüsen angelegt
werden, als später zur Entwicklung kommen, daß also der größte Teil
dieser Drüsen während der embryonalen und wahrscheinlich auch
noch der kindlichen Entwicklung zugrunde geht. Der Mensch stammt.
also zweifellos von Vorfahren ab, die weit mehr apokrine Drüsen
besaßen, sich also den sonstigen Säugetieren in dieser Hinsicht weit
mehr näherten. Aus irgendeinem uns noch unbekannten Grunde, der
natürlich mit seiner ganzen Entwicklung auf das engste zusammen-
hängt, hat der Mensch nun später diese Drüsen zum größten Teile
eingebüßt. Wegen des Näheren verweise ich auf die Arbeit. Wir
werden weiter annehmen können, daß dieser Vorgang der Drüsen-
reduktion beim Menschen stammesgeschichtlich erst spät aufgetreten
ist, da wir ihn ontogenetisch erst in den späteren Embryonalmonaten
a a el he EEE a Dana an
nn / I.
&
432 P. Schiefferdecker, Über die Differenzierung der tierischen Kaumuskeln ete.
finden. Immerhin tritt er früher auf als die Umbildung
der Kaumuskeln und es ist auch ganz verständlich, daß er früher
eingetreten sein wird in der Phylogenese, wahrscheinlich zu einer
mehr oder weniger langen Zeit nach der Abtrennung des Menschen-
stammes von dem Ostaffenstamme oder von dem der Anthropoiden,
darüber weiß man ja noch nichts. Jedenfalls aber wohl zu einer Zeit,
da die Vorfahren des Menschen noch rein tierisch waren.
Diese beiden Vorgänge, sowohl die Umbildung der Kaumuskeln
wie die der Drüsen, sind nur zu verstehen, wenn man eine Verer-
bung erworbener Eigenschaften annimmt, und hierzu ge-
hört dann wieder die Annahme einer Beeinflussung der
Keimzellen durch den gesamten übrigen Körper. Ich
habe mich über eine solche auch in einer vor kurzem erschienenen
Arbeit®) über die „Konstitution“ ausgesprochen, nachdem ich diese
Annahme im Prinzipe schon vor einer Reihe von Jahren vertreten
hatte Ohne eine solche Annahme ist unsere gesamte
Stammesentwicklung unverständlich, da sie nun
aberdoch unleugbar vorhandenist,so wirdmaneben
auch jene Beeinflussung der Keimzellen durch den
Körper annehmen müssen.
Literatur.
1. Jelgersma, G., Die Funktion des Kleinhirns. Journ. f. Psychol. u. Neurol.
Bd. 23, H. 5/6, S. 137—162, 1918.
2. Lubosch, W., Vergleichende Anatomie der Kaumuskeln der Wirbeltiere, in
5 Teilen. Jenaische Zeitschr. f. Naturwiss. Bd. 53, S. 51—188, 1914, mit
5 Taf. u. 28 Abb. im Text.
3. Schiefferdecker, Paul, Der histologische und mikroskopisch-topographische
Bau der Wangenhaut des Menschen. Arch. f. Anat. u. Physiol. Jahrg. 1913,
Anat. Abt. S. 191—224, mit 3 Taf.
4. — Untersuchung des menschlichen Herzens in verschiedenen Lebensaltern in
bezug auf die Größenverhältnisse der Fasern und Kerne. Arch, f. die ge-
samte Physiol Bd. 165, S. 499—564, 1916.
5. — Die Hautdrüsen des Menschen und der Säugetiere, ihre biologische und
rassenanatomische Bedeutung sowie die Muscularis sexualis. (Vorläufige
Mitteilung.) Biol. Zentralbl. Bd. 37, Nr. 11, S. 534-562, ausgegeben am
30. Nov. 1917.
6. — Betrachtungen über die „Konstitution“. Zeitschr. f. angewandte Anatomie
u. Konstitutionslehre Bd. 4, H. 4, S. 200-224, 1918.
— Untersuchung einer Anzahl von Kaumuskeln des Menschen und einiger
Säugetiere in bezug auf ihren Bau und ihre Kernverhältnisse nebst einer Kor-
rektur meiner Herzarbeit (1916). Arch. f. d. gesamte Physiol. Bd. 173, H. 4—6,
1919, mit 36 Textabbildungen.
[I
Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der Universitäts-
Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen.
h
ey
Biologische Zentralblatt
Begründet von J. Rosenthal
Unter Mitwirkung von
Dr.R Goebel und Dr. R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München
herausgegeben von
Dr. E. Weinland
Professor der Physiologie in Erlangen
Verlag von Georg Thieme in Leipzig
39. Band Oktober 1919 .\# #Nr. 10
ges her am 15. N oyember 2
Der Fahren "Abonnemenfepreis (12 Hefte) beträgt 20 Mark
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physiolog. Institut,
einsenden zu wollen.
Inhalt: H. Driesch, Studien über Dane und Rhythmus. S. 435.
; H. Jordan, Die Phylogenese «der Leistungen des zentralen Nervensystems. S$. 462.
R. Demoll, Dfe Bedeutung der Elytren der Käfer für den Flug. S. 474.
5: A. Forel, Entgegnung. 8. 478. ”
Referate: O. Renner, N. Heribert-Nilsson, Experimentelle Studien über Variabilität, Spaltung, Art-
bildung und Evolution in der Gattung Salix. S. 479.
Studien über Anpassung und Rhythmus.
Von Hans Driesch, Heidelberg.
Gewisse schwierige Probleme aus der Philosophie des Or-
ganıschen werden in diesen Studien aufs Neue behandelt, in der
Hoffnung, daß dadurch die Einsicht ın sie erweitert und vertieft
werde. Die zweite Studie befaßt sich fast ausschließlich mit Ge-
dankengängen von Georg Klebs. Als er diese Studie schrieb,
ahnte der Verfasser nicht, daß er damit in der Diskussion mit seinem
Freunde und Arbeitsgenossen das „letzte Wort“ haben werde; er
hätte es sich wahrlich anders gewünscht.
I. Zur Lehre von der Anpassung.
1. Grundbegriffe.
Wir gehen aus von drei Begriffspaaren, welche in meinen natur-
philosophischen Schriften eingeführt worden sind: Anpassung und
Angepaßtheit, Eigenfunktion und harmonische Funktion,
primäre und sekundäre Regulation.
39, Band. 29
434 H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus.
a) Anpassung ist ein Vorgang, Angepaßtheit ist ein Zu-
stand rein als Zustand betrachtet, das heißt so, daß nach seiner
Herkunft nicht gefragt wird.
Der Vorgang der Anpassung gehört zu den Regulationen.
„Regulation ıst ein am lebenden Organismen geschehender Vor-
gang oder die Änderung eines solchen Vorganges, durch welchen
oder durch welche eine ırgendwie gesetzte Störung seines vorher
bestandenen ‚normalen‘ Zustandes ganz oder teilweise, direkt oder
indirekt, kompensiert und so der ‚normale‘ Zustand oder wenigstens
eine Annäherung an ihn wieder herbeigeführt wird.“ (Org. Reg. 1901,
S. 92, ähnlich Phil. d. Org. I, 1909, S. 167). Es gibt zwei Klassen
von Regulationen: Restitutionen und Anpassungen, die ersten
stellen die gestörte Organisation, die zweiten den gestörten Funktions-
zustand wieder her; Restitutionen und Anpassungen greifen inein-
ander, denn „jede Entfernung von Teilen verändert auch den
Funktionszustand des Organismus“ (Ph. d. ©. 1. c.).
Angepaßtheit bedeutet eine besondere gegebene Einrichtung
des ÖOrganısmus, welche typisches ‚normales‘ Funktionieren im
weitesten Sinne des Wortes bedingt (Ph.d. 0. I, S. 187f., wo frei-
lich keine strenge Definition, sondern nur eine Erläuterung des
Begriffs gegeben ist).
b) Eigenfunktionr leistet ein Teil des Organısmus, wenn er
die für ihn typische Art spezifischen Stoff- und Energiewechsels
leistet (Ph. d. ©. I, S. 191f.; zuerst in Ergebn. d. Anat. u. Entw.-
gesch. 8, 1899, S.793). Die harmonische Funktion bezieht sich
nicht auf die unmittelbare Leistung eines bestimmten Teiles als
solche, „sondern auf den Effekt dieser Leistung auf andere Teile
desselben Individuums oder sogar auf das Ganze“; sie ist „har-
monisch“ „auf Grund der Kompositions- und Funktionalharmonie des
Individuums“ (l.e.). Es besteht nämlich eine statische Harmonie
im Organismus, die sich dreifach, nämlich in Kausalharmonie,
Konstellationsharmonie und Funktionalharmonie gliedern läßt: Kau-
salharmonie ist gegeben in dem Zueinanderpassen „zwischen for-
mativen Ursachen und Ursachsempfängern“!), Konstellations-
harmonie äußert sich darın, „daß ein ganzer Organismus den Ab-
schluß der Entwicklung bildet, trotz der relativen Unabhängigkeit
der zu ihm führenden Prozesse“?), Funktionalharmonie ist „ein
Ausdruck für die Einheit und das Ineinandergreifen der organischen
Funktionen“?) (Ph. d. ©. I, S. 109; zuerst Analyt. Theorie d. org.
1) Beispiel: Der Augenbecher reizt die Haut zur Linsenbildung und sie kann
dem Reiz entsprechen.
2) Darm und Mund der Seeigellarven entstehen ganz unabhängig voneinander,
„passen“ dann aber zueinander.
3) Die Funktionen der einzelnen Darmteile sind aufeinander „abgestimmt“,
jede spätere setzt die frühere voraus,
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dx 7°
H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus.
Entw. 1894, S. 92—94; für Konstellationsharmonie habe ich gelegent-
lich auch „Kompositionsharmonie* gesagt).
c) Primär-regulatorisch ist „jede morphogenetische oder
funktionale Leistung, welche in ihrer inneren Natur einen regula-
torischen Zug trägt, d.h. von sich selbst aus dahinstrebt, das Ganze
der Organisation und des Funktionszustandes normal zu erhalten“;
sekundär-regulatorisch dagegen sind „alle Geschehnisse im Ge-
bıet der Formbildung und des Funktionierens, welche dazu dienen,
den gestörten Zustand auf Bahnen, die außerhalb des Bereiches
sogenannter Normalität liegen, wiederherzustellen“ (Ph. d. ©. I,
S. 189; zuerst Arch. f. Entwicklungsmechanik 3, 1896, S. 378).
2. Beispiele von Angepaßtheit und primärer Anpassung‘*)..
Im Anschluß an die hier noch einmal festgelegten drei Begriffs-
paare sollen nun eine Reihe von organischen Geschehnissen auf ihr
begriffliches Wesen hin geprüft werden. Es handelt sich zunächst
nur um eine strenge begriffliche Klassifizierung der Geschehnisse.
Eine solche strenge Klassifizierung ist notwendig, da mit der An-
wendung der Begriffe „Anpassung“ und „Funktion“ außerordentlich
lässig vorgegangen zu werden pflegt: Anpassung und Angepaßtheit,
Eigen- und harmonische Funktion werden fortwährend durcheinander
geworfen,
. a) Vorgänge als Ausdruck von Angepafstheit, nicht von Anpassung.
v.
.. Nicht weil ein Vorgang im Organismus nun eben ein: zur
Wahrung des strukturellen und funktionellen normalen‘ Ganzen
dienender „Vorgang“ ist, ist er deswegen allein schon eine „An-
passung“. Vorgänge rein als Vorgänge ergeben sich aus den Be-
ziehungen der Organisation zum Medium; und weil die Organisation
einschließlich ihrer Funktionen eben harmonisch ist mit Rücksicht
auf Bildung und Erhaltung des Ganzen, deshalb sind die einzelnen
aus ihr fließenden Vorgänge ohne weiteres ganzheitsfördernd oder
ganzheitserhaltend, also, um einmal das übliche, allzu psycholo-
gisch klingende Wort zu gebrauchen, „teleologisch“ im rein des-
kriptiven Sinne dieses Wortes. ‘Die Ganzheit ist da und ihr Er-
halten- und Gefördertwerden durch die Vorgänge ıst auch da;
von „Theorie“ ist hier gar nicht die Rede, bloß von der scharfen
Formung eines beziehlichen reinen Sachverhaltes.
Nicht „Anpassungen“ sind also die seltsam „elektiven“ Vorgänge,
die sich an den Wurzeln der Pflanzen und am Epithel der Niere
zeigen, wenigstens, soweit bloß ıhre „auswählende* Seite in Frage
kommt. Die Nierenepithelien lassen alles aus dem Blute heraus
durchtreten, was nicht zur normalen Zusammensetzung des Blutes
gehört; die Wurzel der Pflanzen läßt nur bestimmte Stoffe jeweils
4) Ausführlicheres in unserer Phil. d. Organ. I, S. 193 ff.
29*
.
456 H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus.
in bestimmter Konzentration ein-, beziehungsweise durchtreten.
Alles ıst verständlich als bloßes Angepaßtsein, d.h. auf Grund der
Annahme eines ganz bestimmten gegebenen physikalisch- chemischen
Baues, dessen bloßes Dasein dıe Vorgänge, so wie sie sind, bedingt.
Ein ame ablaufender Vorgang ist also zunächst nur der Aus-
druck von Angepaßtheit.
b) Einfache Fälle von Anpassung.
Wie nun steht es bei Änderungen von funktionellen Vor-.
gängen, welche Änderungen des Mediums entsprechen? Sind. sie
ohne weiteres „Anpassungen“? Wir müssen die quantitativen Ände-
rungen jedenfalls von qualitativen scheiden und wollen zunächst nur
quantitative Änderungen betrachten. Ein gutes Beispiel bietet
die sogenannte Wärmeregulation der warmblütigen Wirbeltiere: die
Körpertemperatur dieser Organismen erhält sich konstant, gleich-
gültig ob die Außentemperatur steigt oder fällt. Was liegt dem
letzhin zugrunde? Man weiß es nicht. Wir mögen hier, da uns
nur am Grundsätzlichen liegt, das oft gebrauchte Wort „Wärme-
zentrum“ heranziehen und so tun, als sei sicher erwiesen, daß ein
bestimmter Hirnort zu allen Wärmeregulationen ın Beziehung steht.
Das Funktionieren des Wärmezentrums würde also bei Abkühlung
stärkere Verbrennung und Verengung der Kapillaren der Haut, bei
Erwärmung Herabsetzung der Verbrennung, Erweiterung der Kapil-
laren und Schweißabsonderung bewirken. Das Wärmezentrum wäre
hier das eigentlich „Reagierende“. In der geschilderten Weise zu
reagieren wäre seine Eigenfunktion; seine harmonische Funk-
tion wäre der Effekt seiner Eigenfunktion, d. h. die Erhaltung
gleicher Temperatur in allen Teilen des Organismus; im Wege
harmonischer Funktion, so können wir auch sagen, bewirkt dıe (im
einzelnen unbekannte) Eigenfunktion des Zentrums, daß andere Teile
des Organismus, z. B. die Kapillaren, ihre Eigenfunktion ändern,
alles in quantitativem Sinne. Ist das „Anpassung“? Fraglos. Aber
so, wie es geschieht, zu reagieren, das ist überhaupt die Eigen-
funktion des hypothetischen Wärmezentrums: also handelt es sich
um primäre Regulation, beziehungsweise Anpassung im Sinne
unserer Definition. Das Wärmezentrum vermittelt Anpassung, weil
es ist, was es ist. Und ganz ähnliches liegt wohl bei Erhaltung
der verschiedenen Stoffgleichgewichte, des Stickstofigleichgewichts
7. B., vor, obwohl man hier das „Zentrum“ erst recht nicht kennt.
Gewisse primäre Anpassungen, nämlich solche bei
denen nur Quantitatives in Frage kommt, sind also un-
mittelbar die Folge von Angepaßtheit.
H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus. 497
c) Das Problem der Durchlässigkeitsanpassungen’).
Wenn die Oberhaut der Pflanzenwurzel oder das Epithel der
Niere aus „normaler“ Umgebung Stoffe nur ın quantitativ und qualı-
tatıv „elektiver“ Weise durchtreten läßt, so haben wir das oben
(2a) Angepaßtheit genannt. Hier kam überhaupt keine eigentliche
Regulation, keine Vorgangsäriderung, ın Frage.
Wir wollen nun ein anderes, viel erörtertes Problem aus der
Lehre von der Durchlässigkeit organischer Oberflächen untersuchen.
Es gibt jedenfalls Anpassungen der Durchlässigkeit. Fragen wir
zuerst, mit bezug auf was hier „angepaßt“ werden soll.
Es kommen zwei Ziele der Durchlässigkeitsanpassung in Frage:
erstens soll die „normale“ Zusammensetzung der Säfte des
Organismus gewahrt bleiben, zweitens soll der Organismus oder
ein bestimmter Teil des Organismus in bestimmtem Maße „turgescent“,
d. h. gespannt bleiben; anders gesagt: er soll nicht schrumpfen,
aber auch nicht platzen. Der Organismus soll also, kurz gesagt,
ım Wechsel der Außenbedingungen seine Säftezusammensetzung
und, einen bestimmten Grad von Turgescenz bewahren?).
In bezug auf Durchlässigkeit überhaupt sind nun folgende
Fälle aprıorı denkbar:
1. Die Oberfläche des Organismus ist absolut undurchlässig für
Wasser und für gelöste Substanzen, d.h. absolut impermeabel
(abgesehen von ihrer Permeabilität für Gase); in diesem Falle be-
wahrt der Organismus seine gegebene Säftezusammensetzung und
Turgescenz ohne weiteres.
2. Die Oberfläche des Organismus ist absolut permeabel.
Alsdann untersteht er völlig den Diffusions-Ausgleichsgesetzen. Er
bleibt in diesem Falle stets turgeseent, wenn er es einmal war,
aber er bewahrt offenbar nicht in jedem Wechsel des Mediums
seine Säftezusammensetzung.
3. Die Oberfläche des Organismus ist semipermeabel, d. h.
permeabel für Wasser, impermeabel für gelöste Substanzen. In
diesem Falle bewahrt er seine Säftezusammensetzung in jedem Falle,
aber nicht seine Turgescenz: er schrumpft in hypertonischem Medium,
er kann bis zum Platzen sich ausdehnen in hypotonischem, beides
nach Maßgabe der osmotischen Druckdifferenzen und der durch sie
bedingten Wasserbewegungen.
5) Hierzu vgl. die guten (Gesamtdarstellungen von OÖ. Cohnheim, Physiologie
der Verdauung und Ernährung, 1908, 17. Vorlesung, zumal Seite 306 ff., und von
R. Höber, Physikal. Chemie der Zelle und der Gewebe, 3. Aufl. 1911, Kapitel 2,
6,7,13. Gesamtdarstellung des botanischen Materials bei Ungerer, Die Regulationen
der Pflanzen, 1919, 8. 222 ff.
. 6) Turgescenz stammt durchaus nicht nur von osmotischer Hypertonie
(Uberdruck) im Innern der Zellen, sondern wahrscheinlich in weit höherem Grade
von kolloidaler Quellung; sie wird aber durch Änderung der osmotischen Verhält-
nisse geändert. |
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438 H. Driesch, Studien über. Anpassung und Rhythmus.
Das sind die allgemeinsten apriori denkbaren Fälle. In ihnen
wird, soweit überhaupt Durchlässigkeit in Frage kommt, also bei
2. und 3., die Permeabilität alsın beiden Richtungen, von innen
nach außen und von außen nach innen, gleich möglich aufgefaßt.
Es sind nun aber auch nöch folgende Fälle denkbar:
4. Am Organismus oder an einem Organ sind die aufnehmen-
den Oberflächen nur von außen nach innen absolut permeabel
oder semipermeabel, von innen nach außen dagegen impermeabel,
es sind aber die abgebenden Oberflächen von innen nach außen
absolut permeabel oder semipermeabel, von außen nach innen
dagegen impermeabel. In diesem Fall würde unter gewissen Um-
ständen einseitig ein Wasserstrom (bei Semipermeabilität) oder
ein Lösungsstrom (bei völliger Permeabihtät) durch den Organismus,
beziehungsweise das Organ, hindurchgehen können; seine Turgescenz
würde er in diesen beiden Fällen bewahren können, seine Säfte-
zusammensetzung nur, wenn bloß ein Wasserstrom durch ihn hin-
durchgeht.
In welchen der genannten vier Fälle nun ist ohne weiteres,
d.h. ohne daß es einer Regulation bedarf, Säftezusammensetzung
und Turgescenz des Organismus oder Organs in jedem Falle, d.h.
beijedem Wechsel des Mediums gewährleistet? Offenbar, wie schon
angedeutet, nur ke
1. bei Fall 1, der absoluten Impermeabilität für alles;
2. bei Fall 4, falls (zweimal einseitige) Semipermeabilität, d.h.
die Durchlässigkeit nur für Wasser besteht, so daß ein Wasser-
\ strom in einseitiger Richtung möglich ist.
Der erste dieser Fälle ıst bei der menschlichen Haut, der Haut
(einschließlich der Kiemen) der Knochenfische und noch in einigen
anderen Fällen verwirklicht; der zweite für die Haut der Frösche
und die Kiemen der Knorpelfische, bei denen eine besondere Ein-
richtung zur Unterhaltung eines dauernden Wasserstromes besteht.
Das alles aber ist bloßes Angepaßtsein. |
(Kommt es nur auf ein Durchlassen von Wasser und Gelöstem
[aber nicht auf Erhaltung von Turgescenz und Säfteerhaltung], über-
haupt an, so genügt natürlich auch die Fähigkeit zu völliger Per-
meabilität im Sinne bloßen Angepaßtseins diesem Ziele; doch soll
‚ dieser Fall uns nicht beschäftigen.)
Ist Fall 2 oder 3, d. h. absolute Permeabilität oder Semiper-
meabilität, oder aber Fall 4 im Sinne des einseitigen Lösungs- (nicht
Wasser-)stroms verwirklicht, so muß, auf daß Turgescenz und
Säftezusammensetzung erhalten bleiben, :noch etwas anderes ver-
wirklicht sein, und zwar im Sinne einer Möglichkeit der Regulation,
der echten Anpassung. Mit anderen Worten, es muß das, was
die Fälle 2, 3 und (zum Teil) 4 ausdrücken, zwar geschehen können,
aber nicht geschehen müssen. Wir untersuchen die Sachlage nur
H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus. 439
unter der Voraussetzung, daß es sich um semipermeable Oberflächen
handle (Fall 3).
Es sind hier aber die folgenden Fälle von Anpassung denkbar
und, wie es scheint, auch verwirklicht:
Erstens: Die Säfte des Organismus oder Organs regulieren
ihren osmotischen Druck rein physikalisch durch lonisierung (falls
das Medium hypertonisch ist), oder durch Zusammentreten von
Ionen zu Molekülen (falls das Medium hypotonisch ist). Durch das
erste wird ein Schrumpfen vermieden, durch das zweite ein Platzen.
Zweitens: Die Säfte des Organismus fällen gelöste Stoffe in
fester Form aus im hypotonischen und lösen feste Stoffe im hyper-
tonischen Medium; die Wirkung ist die des ersten Falles.
Drittens: Die Oberfläche des Organismus oder des Organs
ändern ihre Durchlässigkeit für alle oder für einige der gelösten
Bestandteile des Mediums, jeweils bis zur Erreichung normaler
Turgescenz.
In den beiden ersten Fällen bleibt die Zusammensetzung der
Säfte des Organismus ohne weiteres grundsätzlich gewahrt, d. h.
sie bleibt dieselbe, die sie vor der Regulation war, der ganze Vor-
gang betrifft die Säftezusammensetzung überhaupt gar nicht, wenig-
stens dem eigentlich Chemischen nach.
Im dritten Fall handelt es sich um die Aufgabe echter Semi-
permeabilität, d. h. einer Permeabilität nur für Wasser, zugunsten
einer relativen Permeabilität auch für Gelöstes. Über diesen Fall
herrscht noch große Uneinigkeit unter den Forschern im einzelnen.
Nach den neuesten Untersuchungen (Fitting) vermindert bei Pflanzen-
zellen die Plasmahaut ihre spezifische, für jedes Salz verschiedene
Permeabilität unter dem Einfluß bestimmter Salze für eben diese
bestimmten Salze, wenn es wegen der Hyper- oder Hypotonie des
Mediums erforderlich ist, um die Turgescenz normal zu erhalten.
Die Tendenz auf Erhaltung der Turgescenz und der normalen Säfte-
zusammensetzung greifen ineinander. Eine Regulation für den
Durchtritt des Wassers spielt mit hinein; ohne sie würde auch
wohl kaum die Turgescenz auf der normalen Höhe bleiben können. —
Es handelt sich für uns nun um die wichtige Frage, was An-
passung in allen hier geschilderten Fällen bedeutet.
Daß es sich ın den Fällen, in welchen durch lonisierung ge-
löster Substanzen oder Lösung fester Stoffe (oder durch das Gegen-
teil) das osmotische Verhältnis zwischen Medium und Saft bewahrt
bleibt, um die bloße Folge eines Angepaßtseins handelt, ist
klar. Es ist sozusagen ein Osmostat gegeben, ebenso wie bei der
Wärmeregulation eine Art von Thermostat gegeben ist. Wenigstens
läßt sich grundsätzlich die Sachlage so auffassen. Alles geht rein
und einfach im Sinne physikalischer Öhemie vor sich, geradeso wie
etwa der Transport der Nahrungsstoffe nach den Verbrauchsorten,
’
dr
440 H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus.
Schwieriger liegen die Dinge im dritten Fall, d.h. da, wo die
Durchlässigkeit als solche geändert wird. Aber auch hier kann eine
Einrichtung gedacht werden, welche, für jeden gelösten Stoff be-
sonders, das Verhältnis zwischen seiner Innen- und seiner Außen-
konzentration gleichsam durch das Öffnen und Schließen eines -
Ventils konstant erhält. Lägen die Dinge so, dann wäre die An-
passung durchaus primär, ja, sie wäre die deutliche Folge eines
Angepaßtseins. Wir wissen zwar im eigentlichen Sinne nichts
von den „Einrichtungen“, die hier in Frage kommen müßten, aber
sie sind denkbar, und nur darauf soll es hier ankommen.
Wenn wir, etwa für eine Pflanzenzelle, annehmen, es seien in
ihrer Plasmahaut verschiedene bestimmt lokalisierte Einrichtungen
für osmotische Regulation vorhanden, so würde also die Eigen-
funktion dieser Zellteile primär-regulatorischen Charakter haben;
ihr harmonisches Funktionieren aber, in erster Linie die Tur-
gescenz der Zelle als eines Ganzen, würde wegen ihrer primär-
regulatorischen Eigenfunktion ebenfalls regulierbar sein.
Das Bestehen angepaßter, primär-regulatorisch wirkender „Ein-
richtungen“ an Zellen mit regulabler Durchlässigkeit ist freilich durch-
aus nicht erwiesen. Man darf also auch.das in der Durchlässig-
keit zutage tretende Regulationsgetriebe vitalistisch auffassen (ob-
schon auch das Nichtbestehen maschineller Einrichtungen hier nicht
aus der bloßen Sachlage selbst heraus, wie bei der Embryo-
genese, zu beweisen ist)”). Auch dann würde es sich um primäre
Regulationen handeln: der die Durchlässigkeit im „Normalen“
lenkende Faktor wäre ein solcher, daß_er auch Störungen von
seiten des Mediums regulatorisch gerecht werden kann.
d) Morphologische Anpassungen.
Morphologische Anpassungen kommen. auch durch Eigenfunk-
tionen von Zellen oder Zellteilen, d.h. durch ihren Stoff- und Energie-
wechsel, zustande. Der Unterschied von „rein“ physiologischen
Furiktionseffekten ist nur der, daß die Funktion sich in Form
äußert, d. h. in Stoff- und Energiewechselprodukten, welche in
irgendwelchem Sinne und aus irgendwelchem Grunde eine Form
besitzen, die mehr oder weniger beständig ist.
Die sogenannte Transpiration der Pflanzen, d.h. die Verwand-
lung von Wasser in Wasserdampf erfolgt an den Oberflächen nach
Maßgabe eines fortwährenden Wassernachschubs von den inneren
Geweben her. In sehr trockener Luft nun kann, wenigstens wenn
der Boden feucht ist, die Transpiration so stark werden, daß ihre
harmonische Funktion gestört wird, so daß die Pflanze „welkt“; in
7) Es 'wird allerdings wahrscheinlich angesichts des Nichtnachgewiesenseins
maschineller Einrichtungen, wenn man sich erinnert, daß der erwachsene Organismus
aus seiner Ontogenese herstammt, und daß für diese allerdings vitalistische Kausalität
erwiesen ist,
H. Driesbh, Studien über Anpassung und Rhythmus. 441
sehr feuchter Luft kann sie andererseits so schwach werden, daß
der Nachschub von Wasser, damit aber auch weiterwirkend die für
die Ernährung notwendige Wasseraufnahme seitens der Wurzeln
gestört wird, was ebenfalls eine Störung der harmonischen Funktion
des Transpirirens bedeutet.
Die Pflanze vollbringt gegen beide Schäden eine morphologische
Anpassung: sie verstärkt oder vermindert die Kutikularbildungen
an den oberflächlichen Zellschicehten, vermindert oder vermehrt Größe
und Zahl der leitenden Gewebszellen u. s. w.
Nun gehört die Bildung von Kutikularsubstanz überhaupt zur
Eigenfunktion der Oberflächenzellen. Die Intensität dieser Eigen-
funktion ist es also lediglich, die der adaptiven Regulation unter-
steht: eine deutliche Angepaßtheit mit primär-adaptiver Wirkung.
Dasselbe scheint auf den ersten Blick für die morphologische Aus-
‚gestaltung der Leitungszellen vorzuliegen. Davon reden wir später
unter anderem Gesichtspunkt.
Ähnlich läßt sich die Verstärkung der Festigkeitsgewebe von
aufs Land versetzten Wasserpflanzen, ihre Verminderung in unter
Wasser gesetzten Landpflanzen auffassen: das Protoplasma der
Stützgewebe ıst darauf eingerichtet auf bestimmte Intensitäten
mechanischer Inanspruchnahme mit Leistungen von bestimmten In-
tensitäten zu reagieren.
In allen diesen Fällen handelt es sich nicht um den Unter-
schied eines „Abnormen“ von einem „Normalen“, Alles ist „nor-
mal“: unter diesen Umständen im Medium Dieses, unter jenen
Jenes; daß den „formativen Reizen“ (Herbst) jeweils adaptıv ent-
sprochen werden kann, gehört zur „Normalität“ der Pflanze, Der
Begriff des Adaptiven freilich wird durch Heranziehung des Be-
griffes „formativer Reiz“ keinen Augenblick beeinträchtigt; im Ge-
schehen liegt zugleich die Adaptatıon, die eben deshalb primär
ist. Freilich gilt das nur für die Abhängigkeit funktioneller
Strukturen von formativen Reizen und ich habe früher‘) ausdrück-
lich betont, daß notwendige „Mittel“ für das bloße Dasein orga-
nischer Gebilde nicht mit formativen Reizen, auf die adaptıv rea-
giert wird, verwechselt werden dürfen; ein bloßes notwendiges
Mittel ist z. B. das Licht für die Bildung vieler Blüten.
Dem Ausgeführten entsprechend läßt sich wohl die von Roux
so genannte funktionelle Anpassung der Knochen, Muskeln,
Sehnen deuten: Angepaßt ıst das Vermögen, in Zuordnung zur
Intensität gewisser Reize mit Formeflekten reagieren zu können: was
unter normalen Verhältnissen die normale Knochenstruktur im
Stoffwechsel dauernd neu schafft?) und so erhält, das schafft unter
8) Phil. d. Org. 1,8. 169 ff.
9) Embryologisch wird die Knocheustruktur bekanntlich nicht durch funk-
tionelle Anpassung, sondern rein evolutiv geschaffen.
u BT RENT RE TER RO PRENE N ITRRREREN) PERLE wo Ai
x
44) H. Driesch, Studien über Aupassung und Rhythmus.
abnormen Umständen, z. B. nach Knochenbrüchen, eine für diese
Verhältnisse adaptive statische Struktur. Das’Vermögen zur Bildung
der mechanisch wirkenden Substanzen war eben von vornherein so
angepaßt eingerichtet — (sei es maschinal oder vital) — daß
jeweils ein adaptiver Vorgang herauskommt.
Viele weitere Fälle ähnlicher primärer Adaptationen lassen
sich beibringen. Genannt seien noch: die der Art der Ernährung
entsprechende Länge des Darmes bei Froschlarven, die verschiedene
Art der Ausbildung des Epithels von Salamanderlarven, je nach-
dem sie im Mutterleibe oder im Wasser aufwachsen u. s. w. Auch
Farbanpassungen gehören wohl hierher,
(Der Text dieser Studie ist schon vor etwa drei Jahren geschrieben
worden. Ich ließ ıhn liegen, da mir bekannt war, daß Ungerer mit
einer größeren begriffsanalytischen Arbeit über Die Regulationen
der Pflanzen (Roux’ Vorträge zur Entw. Mech., Heft 22, 1919) her-
vortreten würde. Nachdem ich durch die Freundlichkeit des Ver-
fassers die Korrekturbogen seiner Arbeit lesen konnte, bemerke ich
zu allem Vorstehenden, das ich absichtlich unverändert ließ, dieses:
Ungerer hat den von mir im Jahre 1894 in der Analytischen
Theorie eingeführten Begriff der Harmonie in sehr scharfsinniger
Weise weiter ausgebaut. Er faßt den Begriff weiter als ich. „Alle
ganzheitserhaltenden Vorgänge am Organismus, die unter „normalen“
äußeren und inneren Bedingungen verlaufen, sollen harmonisch
heißen, das einzelne telokline Geschehen eine Harmonie.“ Neben
den Harmonien stehen die auf Störungen hin erfolgenden Regu-
lationen; diese sind „Ganzheitswiederherstellungen“, die Harmonien
„Ganzheitserhaltungen“, „Ganzheitsherstellungen“. Echt amphibische
Pflanzen z. B. zeigen in ihren respektiven Umgestaltungen Har-
monien, Landpflanzen, die, abnormerweise unter Wasser gesetzt,
dort weiter leben, Regulationen, bezw. Adaptationen (l. c. S. 56).
Es ist klar, daß Ungerer alles, was im Text primäre An-
passung auf Grund von Angepaßtheit heißt, Harmonie nennen
würde. Mir selbst sagt die Ungerer’sche Terminologie sehr zu
(man lese bei ihm zu dieser Frage zumal S. 71ff.) Von meinen
Adaptationen würden bei ihrer Annahme nur die sekundären als
„Adaptationen“ übrig bleiben.
Wer die Schriften von uns beiden kannte, wird übrigens, wie
schon angedeutet, bemerken, daß wir das eigentliche Grundwort
Harmonie in verschiedener Weise einführen. Bei mir (s. Phil. d.
Org. 1, S. 107 ff.) bezeichnet es gewisse sehr allgemeine Sachverhalte,
bei Ungerer bezeichnet es konkrete Vorgänge im Rahmen jener
Sachverhalte. Auch entspricht Ungerer’s allgemeine Darstellung
in Sachen der Ganzheitslehre meinem jetzigen philosophischen
Standpunkte besser als meine eigene Darstellung von 1909 oder
gar 1894. Denn Ungerer hat meine Ordnungslehre (1912) und
UT a Te a 0 a hardy,
BERUFE RR 9 LO ER SEN NRZ LT IRRTN HR RR
ae PR N % au]
H. Drieseh, Studien über Anpassung und Rhythmus. 443
anderes von mir mit sehr tief dringendem Verständnis benutzt, und
ich mußte sie 1909 erst noch schreiben.)
3. Sekundäre Anpassungen.
Wir haben bis jetzt nur solche Vorgänge betrachtet, welche,
wie die Stoffdurchgänge durch :die Niere, entweder der reine Aus-
druck eines Angepaßtseins waren ohne überhaupt einen eigentlich
adaptiven Zug zu besitzen, oder aber primäre Anpassungen dar-
stellten, die sich unschwer auf Angepaßtheiten zurückführen heßen.
Gewisse besondere Schwierigkeiten der Sachlage ließen wir dabei
absichtlich einstweilen außer acht.
Es stehen nun aber neben den primären Anpassungen die
‘sekundären, welche nicht bloße Variationen des normalen Eigen-
funktionierens sind. Wie stehen sie zum Begriff der harmonischen
Angepaßtheit?
a) Die Abwehrfermente.
Unter den rein physiologischen Geschehnissen gehört zu-
mal die Bildung der von Abderhalden so genannten „Abwehr-
fermente“ hierher. In engster Zuordnung zu spezifischen orga-
nischen „Giften“, zu denen auch jedes artfremde Eiweiß gehört,
kann der Organismus Stoffe, wohl meist Fermente, bilden, welche
die fremden, das Funktionsgetriebe schädigenden Stoffe ausfällen
oder sie in anderer Weise ihrer Wirkung berauben.
Auch wenn Pilze in „elektiver“ Weise abnorm dargebotene
organische Nährstoffe für ıhren Stoffwechsel verwerten können,
müssen sie wohl außerhalb der Bahnen ihres normalen Funktionierens
tätig gewesen sein, und auch wenn es sich bestätigen sollte — (die
Ansichten weichen zurzeit voneinander ab) —, daß erwachsene
Hunde, die wieder ausschließlich mit Milch gefüttert werden, wieder
Lactase bilden, würde eine wenigstens relativ-sekundäre Adaptation
vorliegen.
Dagegen gehört nicht hierher das wunderbare harmonische
Ineinandergreifen aller einzelnen normalen Verdauungssekrete, wie
es in neuester Zeit vonPawlow und seinen Nachfolgern entdeckt
worden ist. Das ist nicht einmal primäre Adaptatıon, sondern nur
Angepaßtheit: die Eigenfunktion jedes einzelnen Teiles des Ver-
dauungsapparates ıst so geartet, daß sie zugleich harmonisch funk-
tioniert mit Rücksicht auf die Ermöglichung der Eigenfunktion der
anderen Teile.
b) Morphologische Anpassungen,
Unter den morphologisch ausgeprägten Adaptivregulationen
gehört eine große Menge hierher, ist aber schwer von solchen Regu-
lationen, welche die gestörte Form als Form wiederherstellen, also
von Restitutionen, zu scheiden.
444 H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus,
Besonders wichtig sind die Ermittlungen Vöchting’s!%): Er
zwang Knollen von Pflanzen, abnormerweise Bestandteile des Stengels
zu werden, und er zwang, andererseits, Teile des Stengels oder den
Blattstiel, abnormerweise Knollen zu bilden. In beiden Fällen bil-
deten sich Gewebsformen — zumal Leitungsgewebe und mechanische
Gewebe im ersten, Speicherungsgewebe im zweiten Fall —, welche
ım normalen Verlauf der Dinge von eben den Teilen, die sie jetzt
bildeten, nicht gebildet worden wären.
Die Zellen, welche hier Ausgang der adaptiven Bildungen ge-
. worden sind, müssen zunächst einmal die prospektiven Potenzen,
d. h. die Bildungsmöglichkeiten, gehabt haben für das, was sie
leisteten. Sie müssen zweitens die Fähigkeit gehabt haben auf be-
stimmte Reize hin jeweils so zu antworten, wie sie es ın jedem
Falle taten. Das ıst selbstverständlich. Es fragt sich nur, was es
bedeutet.
In erster Linie aber fragt es sich: Was ist hier eigentlich der
„Reiz“? Ist es da, wo die Knolle, weil sie Teil des Stengels ge-
worden ist, abnormerweise Leitungsgewebe bildet, das Vorhanden-
sein des Säftestromes, der gleichsam „weiter wıll“? Ist es da, wo
der Stengel abnormerweise Speicherungsgewebe bildet, das Vor-
handensein der Stoffe, die sonst in den normalen Knollen ge-
speichert werden?
Es scheint auf den ersten Blick so zu sein, und wır wollen es
' einstweilen annehmen, abgesehen davon freilich, daß, wie gesagt,
die Adaptivleistung mit einer Restitutionsleistung sich paart!!).
Die Zellen, welche die Adaptation leisten, würden, wenn es so wäre,
das Vermögen besitzen, auf das durch den Versuch neu geschaffene
Funktionsgetriebe, also auf das Dasein des abnormen Säftestroms
oder auf das Dasein zu speichernden Stoffe hin, so zu antworten,
daß sie ihre Eigenfunktion derart ändern, daß ihre Beteiligung an
der Neuordnung des gesamten Funktionsgetriebes möglich ist, wo-
bei diese Änderung der Eigenfunktion morphologische Ausprägung
gewinnt.
Ist das nun wirklich „sekundäre“ Anpassung, d.h. Anpassung,
die nicht in den Rahmen der normalen Funktionsfaktoren fällt?
Oder ıst es etwa doch „primäre“ Anpassung (nach Ungerer aiso
Harmonie), die weiterhin auf Angepaktsein, wenn auch nur mit
Rücksicht auf ein „Vermögen“ zurückgeht?
Die Antwort muß hier wohl lauten wie folgt:
10) H. Vöchting, Zur Physiologie der Knollengewächse, ‚Jahrb. wiss. Bot.
34, 1899; s. a. H. Winkler, Über die Umwandlung des Blattstieles zum Stengel,
ebenda 45, 1907, und S. Simon, Exp. Unt. über die Differenzierungsvorgänge im
Callusgewebe von Holzgewächsen, ebenda 45. 1908.
11) Vöchting hat die Bildung von Speicherungszellen im Stamm auch ge-
sehen, wenn keine Stärke, die gespeichert werden sollte, vorhanden war.
? H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus. 445
Die Anpassung ist insofern sekundär, als sie eine Leistung
zeitigt, welche ım normalen Verlauf der Dinge nie gezeitigt worden
wäre. Sie ist aber trotz allem primär, ınsofern eben das „Ver-
mögen“ der sich betätigenden Zellen oflenbar gegeben sein muß
— werde es vitalistisch oder als Einrichtung gedacht.
Legt man den Nachdruck auf das zweite, auf das Gegebensein
des Vermögens, so gibt es nun freilich ganz offenbar überhaupt
keine „sekundären“ Regulationen? Denn ohne „Vermögen“ dazu
geschieht überhaupt nichts. Ist doch auch eine gänzlich atypische
Regeneration insofern nicht eine sekundäre Regulation, als sie auf
dem „Vermögen“ des Reagierenden ruht.
Man verzichtet aber, meine ıch, auf eın trotz allem wertvolles
Begriffspaar, wenn man in dieser Weise den Begriff der sekun-
dären Regulation ganz streicht, bloß weil auch jede sekundäre Regu-
lation auf vorhandenen Potenzen ruht.
Es bleibt der Unterschied zwischen dem „sich ım normalen
Verlauf betätigen“ und dem „sich nicht ım normalen Verlauf be-
tätigen“, wo „normaler Verlauf“ heißt: normale Ontogenese und nor-
male Variationsbreite des Mediums, und wobei „Medium“ für jede
Zelle auch die Gesamtheit aller anderen Zellen einschließlich ihres
Funktionsgetriebes ıst. Und legt man nun auf diesen Unterschied
(sewicht, so bleibt auch der Unterschied zwischen primären und
sekundären Regulationen und insonderheit Adaptationen. Er mag
gelegentlich schwankend sein, aber er’bleibt für die meisten Fälle
deutlich bestehen: wie denn z. B. im Gebiet des rein physiologisch-
adaptiven die Anpassung an „Gifte“ deutlich sekundär-adaptiv bleibt,
während man im Bereich der oben erörterten Durchlässigkeits-
adaptationen gelegentlich schwanken möchte, ob die „normale
Varıationsbreite des Mediums“ noch gewahrt oder überschritten ist.
Wir halten also den Begriff der sekundären Adaptation auf-
recht, obwohl auch sie auf gegebenen Potenzen und insofern auf
Angepaßtheit geradezu logisch beruhen muß.
Das Problem des Vitalısmus aber, das wır hier kurz in die
Frage kleiden können: „Sind die Potenzen ‚Einrichtungen‘
oder nicht*?, soll an dieser Stelle unberührt bleiben. —
4. Die drei möglichen Wege aller Anpassung.
Es soll jetzt die Gesamtheit der Adaptationen unter einem
neuen Gesichtspunkt betrachtet werden.
Wir werfen die Frage auf: Wie kann überhaupt grundsätzlich
eine Anpassung an ein durch Änderungen des Mediums be-
wirktes Funktionsgetriebe erfolgen, wo doch das bestehende Funk-
tionsgetriebe durch die Änderung des Mediums zunächst jedenfalls
einmal gestört ist?
446 H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus.
Offenbar kann die Zuordnung der Adaptatıon zur ur-
sprünglichen Störung von dreierlei Art sein!?):
Erstens: Die störende Ursache wird als Ursache beseitigt.
Zweitens: Die störende Ursache wird in ihrer Wirkung ge-
hemmt.
Drittens: Die durch die störende Ursache gesetzte Störungs-
wirkung wird durch eine Gegenwirkung ausgeglichen.
Der erste Fall liegt wohl nur bei der sogenannten Antikörper-
bildung vor: die Gifte“ werden als Gifte beseitigt. ‘
> zweite Fall liegt vor bei allen Durchlässigkeitsadaptationen,
Transpirationsadaptationen u. s. f. Die geänderte störende Ursäch-
lichkeit des Salzgehaltes des Mediums, des Wassergehaltes der Luft
bleibt bestehen, kann sich aber nicht mehr schädigend äußern.
Der dritte Fall liegt vor bei den morphologischen Gewebs-
adaptationen, die Vöchting und seine Nachfolger entdeckt haben.
Die störende Ursache hat a: Wirkung getan, und diese Wirkung
bleibt auch bestehen; aber es geschieht a was trotzdem das
harmonische Funktionsgetriebe herstellt: Speicherzellen sind fort,
der Säftestrom ıst gestört, d. h. gesättigt mit Produkten, welche
der Speicherung bedürfen; es bilden sich Speicherzellen.
5. Reizort und Anpassungsort.
Selbstverständlich ist, daß nur adaptıv (und ebenso restitutiv)
reagieren kann, was einen Reiz zum Reagieren empfing. Aber der
Reiz, welcher das Reagierende trifft und zur Reaktion veranlaßt,
braucht nicht die erste Veränderung zu sein, welche von der-
jenigen Änderung des Mediums, welche überhaupt die Anpassung
bedingte, am Organısmus gesetzt worden ist. Wir nennen pri-
mären Reiz De als erste von der Änderung des Mediums gesetzte
Veränderung am Organısmus; den das eigentlich Reagierende treffen-
den Reiz nennen wir Endreiz; zwischen primärem Reiz und End-
reiz besteht eine Reizvermittlung'?).
Primärer Reiz und Endreiz haben eine jeweils bestimmte Ört-
lichkeit; beide Örtlichkeiten können zusammenfallen, alsdann fallen
auch primärer Reiz und Endreiz zusammen. Das wird z. B. der
Fall sein, wenn Adaptationen isolierter Zellen mit Rücksicht auf
ihre Durchlässigkeit in Frage kommen, obwohl auch hier verschiedene
Teile der Zelle für primären Reiz und Endreiz (nebst Reaktion)
in Frage kommen mögen.
Im ällgemeinen wird folgender Sachverhalt verwirklicht sein:
Eine Änderung des Mediums, im weitesten Sinne des Wortes,
stört eine harmonische Funktion, d. h. eine Wirkung irgendeines
12) s. Organische Regulationen S. 127f. Die dort gegebene Analyse ist hier
schärfer gefaßt.
13) s. Organische Regulationen B, Kapitel III u. IV.
Äh le Tale, 1
H.| Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus. AAT
eigenfunktionierenden Teiles. Die Störung wird berichtigt in irgend-
einer der drei möglichen im vorigen Abschnitt aufgezählten Formen.
Das kann offenbar jeweils in zwei verschiedenen Formen geschehen:
entweder so, daß eben die Eigenfunktion des Teiles, welcher
jetzt sozusagen „falsch“, d. h. mit Rücksicht auf das harmonische
Ganze falsch, funktioniert, abgeändert wird,
“ oder so, daß irgendwo anders eine Eigenfunktionsänderung
eintritt, welche die Wirkungen jenes jetzt „falsch“ funktionierenden
Teiles aufhebt. '
Im ersten Fall, der z. B. bei adaptiven Durchlässigkeitsände-
rungen von Oberflächen und wohl auch bei funktioneller Anpassung
an mechanische Inanspruchnahme verwirklicht ist, wird meist
primärer Reiz, Endreiz und Reaktion zusammenfailen. Im zweiten
Fall wird das nicht der Fall sein, wie denn z. B. bei zu starker
Transpiration in sehr troekener Luft die jetzt im harmonischen
Sinne „falschen“ Funktionen des inneren Flüssigkeitstransportes
ungestört weiter laufen, ihre die Harmonie schädigenden Wirkungen
aber dadurch berichtigt werden, daß die Oberflächen der Pflanze
eine stärkere Outicula bilden.
Beide Fälle kombinieren sich mit den drei im vorigen Ab-
schnitt unter anderem Gesichtspunkt gewonnenen möglichen Adap-
tationsmannigfaltigkeiten, so daß, wer will, hier sechs verschiedene
Fälle des Adaptationsgetriebes unterscheiden mag.
Wenn eine Störung des harmonischen Funktionsgetriebes da-
durch kompensiert wird, daß die jetzt „falsche“ Eigenfunktion des
eigentlich bedeutsamsten Teiles ruhig weiter läuft, ihre schädliche
Wirkung aber durch Eigenfunktionsänderung eines anderen Teiles
kompensiert wird, so liegt es eben in der allgemeinen Konstellations-
und Funktionalharmonie des Organismus begründet, daß auf diese
Weise Abhilfe geschaffen werden kann: Oberflächen reagieren nun
einmal auf eine gewisse Stärke des Transpirationsstromes mit
Cuticulabildung, das ist ihre „Potenz“, ıhr „Vermögen“, und wegen
der Konstellation des Ganzen bedeutet dieses Vermögen ein An-
gepaßtsein, aus dem primäre Anpassungen („Harmonien“ nach
Ungerer) fließen.
Bei der Bildung der Abwehrfermente („Antikörper“) können auch
nur gewisse Teile des Organısmus sekundär-adaptiv reagieren; ihre
Wirkung schützt aber, wegen der Konstellation des Ganzen, die
eigentlich geschädigten Teile, welche selbst nicht reagieren können.
Alle diese Dinge bieten keine besonderen Schwierigkeiten: daß
alles letzthın auf das konstellatorisch-harmonische Dasein, sei es
(mechanistisch) von Einrichtungen oder (vitalistisch) von Vermögen
zurückgeht, ist die wesentlichste Einsicht. Viel bedeutsamer wird
die Frage nach dem Ort des primären Reizes, dem Ort des End-
reizes und der Reaktion, und der Vermittlung zwischen beiden im
EUREN DEN r) iR 1. “ Y A a N I NE SE ER I a unse N uf
“ 4 > . 3 ” . ui Win. a;
448 H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus.
Gebiet der Restitutionslehre. Hierüber sind meme „Organı-
schen Regulationen“ (S. 110 ff.) und meine Schrift „Der Resti-
tutionsreiz“ (1909) zu vergleichen.
6. Der Zustand der die Anpassung leistenden Zellen.
Wir kommen zu den seltsamsten Erscheinungen, welche die
Lehre von der Anpassung kennt. Es handelt sich da ganz vor-
nehmlich um morphologische Anpassungen, wenigstens soweit die
Sachlage näher erforscht ist.
Nur in seltenen Fällen vermögen sich, bei Tieren sowohl wie
bei Pflanzen, histologisch voll ausdifferenzierte Zellen noch zu teilen.
Wie wird nun Anpassung geleistet, wenn es dabei auf eine quan-
titative Zunahme eines Organs ankommt, bei der die Zahl der das
Organ zusammensetzenden spezifischen Zellen vermehrt werden soll,
ohne daß die vorhandenen ausdifferenzierten Zellen des Organs noch
leistungsfähig sind, oder wenn Gewebe gebildet werden sollen, die
an den betreffenden Orten im Normalen weder vorhanden sind
noch waren?
Da bilden, so heißt es, „indifferente“ oder „embryonale* Zellen
den Ausgang des adaptiven Geschehens. Entweder sie sind von
vorneherein da, wie z. B. im Cambiun der Pflanzen, oder sie werden
durch eine Art Rückbildung seitens schon ein wenig differenzierter,
aber noch teilungsfähiger Zellen, wie z. B. der sogenannten Paren-
chymzellen, erst gebildet, ein Vorgang, der einigermaßen an die
Furchung des Eies erinnert. Winkler'*) hat bei seinen Unter-
suchungen, in denen er Blattstiele zwang, die Organisation eines
Stengels, also einer Hauptachse, anzunehmen, solche Fälle in be-
sonderer Deutlichkeit aufgedeckt, ebenso Vöchting und Simon;
sie kommen aber bei fast allen morphologischen Anpassungen, auch
im Tierreich, vor; auch z. B. da, wo, ohne daß Teile entnommen
worden wären, Anpassungen der Leitungs- und der mechanischen Ge-
webe an neue Erfordernisse der Transpiration oder der mechanischen
Beanspruchung in Frage stehen.
Die „indifferente“ Zelle, sei sie vorhanden gewesen oder erst
neu gebildet, hat hier eine ungeheuer reiche prospektive Potenz,
d.h. sie „kann“ alles im Rahmen der Organisation der betreffenden
Art nur irgendwie Erdenkbare leisten: sie kann zu jeder beliebigen
Art von einzelner Gewebezelle werden, zu Holz-, Bast-, Leitungs-
faser, sie kann aber auch zu einem ganzen Vegetationspunkt werden,
d. h. einen ganzen Sproß oder eine ganze Wurzel aus sich hervor-
gehen lassen. Ihr letztgenanntes Vermögen geht die restitutiven
Leistungen des Organısmus an und kommt für unsere Betrachtungen,
die sich ja nur mit Anpassungen beschäftigen, nicht in Frage. Um
so mehr kommt für unsere Untersuchungen das Vermögen „in- .
14) 5. 0. 8. 444, Anm. 10.
40
uns.
H. Driesch, Studien üher Anpassung und Rhythmus.
ditferenter“ Zellen in Frage, zu Einzelgebilden jeder erdenk-
baren Art ım Dienste morphologischer Anpassung sich auszu-
gestalten.
Das eigentlich Seltsame bei diesen Geschehnissen ist zunächst
einmal dieses: Es handelt sich ausgesprochenermaßen um eine An-
passung zugunsten eines neuen Funktionsvermögens, das eben durch
die gestörte Harmonie des Ganzen benötigt ist. Aber um eigent-
liche „funktionelle Anpassung“ im Sinne Roux’ handelt es sich
doch nicht. Bei dieser wird schon Funktionierendes durch sein
erhöhtes Funktionieren zu noch besserem Funktionieren in seiner
Ausbildung gesteigert: schon funktionierende Zellen vergrößern
sich (Hypertrophie) oder teilen sich (Hyperplasie). Aber in den
Fällen, an welche wir denken, wird gar nicht „schon“ funktioniert;
ja, auch bei vielem, was kurzerhand „funktionelle Anpassung“ ge-
nannt wird, beteiligen sıch Zellen, welche nicht „schon“ funktionieren,
sondern „indifferent*“ sind, so daß sich also auch ein gutes Teil
von dem, was unter dem Titel einer funktionellen Anpassung im
Roux’schen Sinne geht, unserm Probleme eingliedert. Die eigent-
lieh echte funktionelle Anpassung, an der sich nur bereits funktio-
nierende Zellen beteiligen, ist sogar wahrscheinlich sehr selten.
Wo indifferente Zellen, ob schon vorhanden oder neu ge-
bildet, zu morphologischen Anpassungen dienen, da geschieht also
nicht etwas durch Funktion für „bessere“ Funktion, sondern da ge-
schieht nur etwas für Funktion. Und es kann, je nach Um-
'ständen, an einer beliebig herausgegriffenen indifferenten Zelle
das Allerverschiedenste für künftiges Funktionieren geschehen ®°).
Die prospektive Potenz einer indifferenten Adaptionszelle ist
außerordentlich reich. Aber doch in ganz anderem Sinne, als etwa
die Potenz echter enıbryonaler Zellen sehr reich ist: Die Gesamt-
heit echt embryonaler Zellen, z. B. der Blastulazellen des Seeigel-
keims, bildet bekanntlich ein „harmonisch-äquipotentielles System“:
jede Teilgesamtheit dieser Zellen, wie sie durch das Experiment ın
beliebiger Weise hergestellt ıst, kann „das Ganze“ durch Zusammen-
wirken der Teile leisten, woraus, angesichts der Beliebigkeit der
Operation, folgt, daß „Jedes jedes Einzelne kann“ und mit jedem
Anderen zusammen ın Harmonie arbeitet — daher eben der Name
„harmonisch-äquipotential“. Bei adaptiıven Zellen mit reicher Potenz
kommt nicht das Formganze als solches in Frage, sondern eben die
Anpassung an neu geschaffene Umstände des Funktionierens. Da
besteht ein ganz besonderer „formativer“, d.h. zu spezifischer mor-
phologischer Ausbildung führender, Reiz für jede einzelne Zelle, ein
Reiz, der sich aus der durch das gestörte Funktionsgetriebe ge-
schaffenen Sachlage in jedem Falle ergibt.
15) Zuerst aufgerollt ist dieses Problem Phil. d. Organ. I, S. 1831.
Band 39. 30
450 H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus.
Was ıst nun der „Reiz“ ın jedem Falle, und was ist der
letzte Grund dafür, daß jedem in Frage kommenden Reiz
seitens der indiffer a Zelle adaptıv entsprochen wer-
den kann?
Es ist, wie oben gesagt wurde, bei allen morphologischen
Adaptationen, bei denen die gestörte Funktion und die Adaptation
an sie durch :Entnahme. von Teilen hervorgerufen wurde, wie also
z. B. in den Versuchen Vöchting’s und Winkler’s, restitutives
Geschehen eng mit adaptivem verwoben. Aber es ist eben doch
auch adaptiv-morphologisches Geschehen da. Soweit nun dieses
da ist, geht es nicht an, wie es für die eigentliche Embryogenese
notwendig ist, einer formbildenden Entelechie, als einer sozusagen
intensiven Mannigfaltigkeit, in Ermangelung nachweisbarer forma-
tiver Einzelursachen alles aufzubürden. Das „System“ indifferenter
Zellen, was bald in diesem, bald ın jenem Sinne Adaptation leistet,
ist also nicht ein harmonisch-äquipotentielles System ım Sinne der
Embryologie !°) und der echten Umdifferenzierungsrestitutionen. „Har-
monisch“ ist gewiß auch alles, was adaptıv geschieht, aber doch ganz
anders: auf das harmonische Ineinandergreifen der Funktionen
kommt es an, nicht darauf, daß „Form“ der Ganzheit da seı.
Es muß also von einzelnen Funktionsänderungen als von ein-
zelnen Reizen ‘geredet werden. Aber wie das?
Wasser und Nahrungsstoffe sollen geleitet werden, Festigkeit
soll erzielt werden, Stoffe sollen gespeichert werden. Und es ge-
schieht; die „indifferenten“ Zellen machen, daß es geschehen kann.
Ja, sie bilden sich wohl gar erst aus einer halbdifferenzierten Zelle,
um alsdann zu machen, daß es geschehen kann. Und die eine in-
differente Zelle formt sıch so, die andere formt sich anders, obwohl
jede sich nach jeder der überhaupt möglichen Richtungen hin for-
men könnte.
Handelt es sich, wie z. B. in den Versuchen von Kohl’), nur
darum, daß je nach dem Feuchtigkeitsgrad des Mediums neue lei-
tende und mechanische Gewebe, ja, wohl gar von normalerweise
nicht vorkommender Art ''®), Kebildet en so liegt die Sache
noch relativ einfach. Hier darf hypothetisch gesagt werden, daß
16) Ein echtes harmonisch-äquipotentielles System auf botanischem Gebiet hat
K. Linsbauer nachgewiesen (Denkschr. Ak. Wien 93, 1915, S. 108): Sproßvege-
tationspunkte gestalten sich nach Quer- oder Längsoperationen in echt harmonisch-
äquipotentieller Weise um (Wurzelvegetationspunkte dagegen „regenerieren“ sich
nach Verletzungen, d. h. sie ersetzen das fehlende durch Sprossung). Das neue
Plerom entsteht bei dieser „morphollaktischen“ Umgestaltung (T. H. Morgan) aus
inneren Schichten des Periblems. Nur der äußerste Teil des Urmeristems ist der
harmonischen Regulation fähig.
17) Die Transpiration der Pflanzen und ihre Einwirkung auf die Ausbildung
pflanzlicher Gewebe. 1586. Weiteres bei Ungerer ]. c, S. 190 ff.
18) z. B. Sklerenchym in den Versuchen von Kohl, sogenanntes Aerenchym
bei den Wasserformen der ‚Jussiala.
2 ah ZN HE a
IN
H. Driesch. Studien über Anpassung und Rhythmus, 451
es sich um f[ormative Reize!'’) handele, welche auf bestimmte Ein-
richtungen der gereizten Zellen auslösend wirken, die dann eben
mit „Mechanomorphosen“, „Hydromorphosen* u. s. w. reagieren.
Das Ganze wird zu primärer Anpassung auf Grund von Angepaßt-
heit. Das ist grundsätzlich denkbar, wenn es auch eine starke Zu-
mutung ist, bloß quantitative Unterschiede, etwa in der Wasser-
verteilung, als Reize für qualitative Verschiedenheiten ansehen zu
sollen ?°).
-Für die Versuche von Winkler und Vöchting, bei denen
das Anpassungsgetriebe auf gänzlich abnorme Störungen hin, die
mit der Entnahme oder Verlagerung von Teilen verknüpft sind,
ins Spiel tritt, liegt aber alles denn doch wesentlich anders, und
auch in jenen anderen Fällen bietet die Entstehung normalerweise
nicht vorkommender Gewebe denn doch auch eine besondere
neue Schwierigkeit für die Hypothese der „Einrichtungen“.
Es müßte „Einrichtungen“ geben, die sich im normalen Lebens-
lauf des Organismus nie äußern! Und was für welche? Ganz un-
geheuer mannigfaltige in ein und derselben „embryonalen* Zelle.
Und dabei ist die Gesamtheit dessen, was herauskommt, zwar
nicht eine eigentliche morphologische Einheit, aber doch ein Ganzes
seinem Funktionieren nach. Kann das in lauter Einzelreizwirkungen
aufgelöst werden ? \
| Man denkt hier an die Gallen, welche ja auch in ganz selt-
samer Weise „Einheiten“ sind, freilich nicht, wie die rein morpho-
logischen Ausprägungen, in sich selbst ruhende und auch nicht
funktionelle, sondern „fremddienlich-zweckmäßige* (BE. Becher).
Über die „Reize“, welche Gallen hervorrufen, weiß man nun
auch — nichts. Sicher genügt als Reiz nicht ein spezifischer
chemischer Stoff. W.Magnus°!) hat ein destruktives und ein kon-
struktives Stadium bei der Gallbildung unterschieden und für die
Ausbildung des zweiten den dauernden von der Larve ausgehenden
Wundreiz, aber auch stoffliche Reize (enzymatische Hemmungen,
Antienzyme) verantwortlich gemacht, freilich nicht im Sinne eigent-
licher einfacher „Morphosen“, sondern durch Vermittlung einer Be-
einflussung der allgemeinen Stoffwechselverkettungen. Das sagt
wenig und soll auch, wie Magnus offen zugibt, wenig sagen.
Küster?) ist etwas optimistischer bezüglich der Auflösung der zu
den Gallbildungen führenden Ursachen in Faktorenkombinationen;
aber Positives kann er auch nicht bringen, und wenn er sagt, daß
„aus jedem Gewebe alles werden kann“ (l. c. S. 325), so rollt, er
damit im Grunde eine ungeheure Schwierigkeit auf, die dadurch
19) 8. Herbst, Biol. Zentralblatt 15, 1595 und format. Reize in d. tier.
Ontogenese, 1901.
20) s. z. B. Simon, Ber. Deutsch. Bot. Ges. 26, 1908, S. 392 f.
21) Die Entstehung der Pflanzenzellen, Jena 1914.
22) Pathol. Pflanzenanatomie 2. Aufl. 1916, zumal S. 319ff. u. 3ö4f.
30*
452 H. Driesch, Stndien über Anpassung und Rhythmus,
wenig gemildert wird, daß bei Gallbildung vielleicht gar nicht oder
doch nur in sehr seltenen (alsdann phylogenetisch verständlichen?)
Fällen artfremde Gewebssorten auftreten sollen, während alles gut
Gesicherte sich nur als, nach Größe, Form und innerer Ausgestaltung
freilich den Rahmen des Normalen überschreitende, Konstruktionen
aus den arteignen Gewebsformen darstellt.
Was weıß man überhaupt (und was „vermutet“ man nicht
nur) über das Bestehen innerer Reizverkettungen bei Pflanzen,
wie sie doch für das Verständnis der sekundären Adaptationen so-
wohl wie der Gallen anzunehmen wären? Soviel ich sehe, be-
schränkt sich ein wirklicher Nachweis hier auf eine Ermittlung von
Haberlandt?°): Isolierte Gewebsplatten aus dem Mark der Kar-
toffelknolle und einige andere Objekte zeigten nur dann Zellteilungen,
wenn sie ein Fragment der Leitbündel enthielten; bündelfreie Platten
konnten andererseits durch Anlegen bündelhaltiger zu Teilungen
gebracht werden.
Man sieht: das Nichtwissen ist groß, —
Das, um was es sich bei der Frage der morphologischen Adap-
tationen sowohl wie bei der Frage der Gallen handelt, ıst doch ganz
offenbar die Lokalisation dessen, was geschieht; es ist die Ort-
und Zeitfrage, die in den Vordergrund tritt, ebenso, nur in an-
derer Form, wie bei dem embryologischen Problem, und zwar die
Ort- und Zeitfrage mit Rücksicht auf das zur Einheit Bei-
einandersein von all dem Einzelnen, was da ist. Warum ist
Solches jetzt hier, in Verbindung mit jener Gesamtheit des an-
deren Solchen? — Das ist das Problem.
Eine zum Beweise des Vıtalısmus führende Diskussion des
Sachverhalts, wie sie beim harmonisch-äquipotentiellen System mög-
lich ıst?*), ist nun hier freilich nicht möglich; als außerordentlich
unwahrscheinlich darf es aber wohl gelten, daß eine Einrich-
tung den echten („sekundären“) Adaptationen zugrunde liege.
II. Zur Lehre vom Rhythmus.
Alle Formbildungsvorgänge, in der Ontogenese sowohl wie bei
Restitutionen, geschehen in vielen einzelnen wohl geordneten Phasen;
nicht entsteht der Organismus aus dem Keim durch einen einzigen
Werdeakt, gleichsam auf einen Schlag. Auch ım Leben des Er-
wachsenen setzt sich auf gewissen Gebieten des Geschehens diese
Rhythmik fort, z. B. bei der Reifung der Sexualprodukte, beim
Treiben und Blühen, beim Laubfall der Bäume.
23) Sitz.-Ber. Akad. Berlin Nr. 16, 1913 und Nr. 46, 1914.
24) Vgl. außer meinen früheren Darstellungen meine neue Formung der
Theorie der Äquipotentialitätin Logische Studien über Entwicklung‘ I und II
(Sitz.-Ber! Ak. Wiss, Heidelberg, phil, hist. Kl. 1918 Nr. 3 und 1919), sowie die
Anhänge zu meiner Schrift Der Begriff der organischen Form (Abh. z. theor.
Biol. herausgeg. von Schaxel Nr. 3).
ba a Zn ad
2a
H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus. 459
Klebs?°) hat in einer Reihe sehr wertvoller Untersuchungen
den Nachweis geführt, daß pflanzliche Rhythmik, wie sie sich bei
dem eben genannten Treiben und Blühen sowie beim Laubfall der
höheren Pflanzen, wie sie sich auch bei der Abfolge der vegetativen
und der sexuellen Ausgestaltungen der Pilze und Algen zeigt, von
äußeren Bedingungen, unmittelbar oder mittelbar, abhängt, daß
sie nıcht „ımmanent“ oder „autonom“ ist?®). Jede Phase erscheint
als Reaktion auf eine besondere Bedingungskonstellation, und zwar
letzthin auf eine Konstellation „innerer Bedingungen“, welche aber
auf vorangegangene „äußere“ Bedingungskonstellationen zurückgeht:
„Erblich fixiert ist die spezifische Struktur mit allen ihren zahl-
losen Potenzen; alles was sich tatsächlich entwickelt, d. h. ver-
wirklicht wird, geschieht unter der notwendigen unmittelbaren oder
mittelbaren Einwirkung der Außenwelt“ (Biol. Zentr. 37, 413).
Die Rhythmik der Formbildung ist also nach Klebs nicht
„erblich fixiert“; sie ıst es nach seiner Ansicht nicht nur nicht für
die Fälle, für welche er, wie uns scheint, allerdings ihr Nichtfixiert-
sein experimentell zwingend nachgewiesen hat, für Austreiben und
Blühen der höheren Pflanzen, Blattfall der Bäume, Fortpflanzung
der Thallophyten, sie ist es nach seiner Ansicht nie: „Es wäre
denkbar, daß die Bildung von Wurzel und Sproß oder von Kotyle-
donen des Embryö auf Grund der in der Eizelle vorbereiteten
inneren Bedingungen geschähe. Es würde sich dabei nicht um
eine ‚erbliche Fixierung‘ handeln... Vielmehr würde es sich um
eine gewisse Fixierung der inneren Bedingungen durch die
vorbereitende Außenwelt handeln. Der Nachweis würde damit
zu liefern sein, daß man durch geeignete Vorbehandlung die Ent-
wicklung des Embryo in andere Bahnen leitet“ (l. c. 403).
Hier überträgt, wie man sieht, Klebs seine Auffassung auf
ein anderes Gebiet des Formbildungsgeschehens, auf die Ontogenese
oder Embryologie im engeren Sinne.
Gewiß, Blühen und Sprossen, Laubfall und Blattaustrieb, Wachsen
und Sporenbildung der Algen und Pilze sind auch Formbildungs-
25) Vgl. vor allem: a) Die Bedingungen der Fortpflanzung bei
einigen Algen und Pilzen, Jena 1896; b) Jahrb. wiss. Bot. 35, 1900; e) Will-
kürliche Entw.-Anderungen bei Pflanzen, Jena 1903; d) Biol. Zentr. 24, 1904;
e) Sitz.-Ber. Akad. Heidelberg 1911 und 1913; f) Biol. Zentr. 32, 1912; g) Jahrb.
wiss. Bot. 1915; h) Biol. Zentr. 37, 1917.
26) Klebs will bekanntlich den Begriff des „Reizes“, wie er in neuerer Zeit
namentlich von Pfeffer (Pflanzenphysiologie) und Herbst (Biol. Zentr. 14
und 15) erörtert worden ist, abschaffen und nur gleichwertige äußere Bedingungen
gelten lassen. Vgl. hierzu zumal Biol. Zentr. 24, 1904, S. 450, sowie die sehr klare
zusammenfassende Darstellung der Klebs’schen Forschungs- und Denkergebnisse
von Ungerer (Naturwissenschaften 6, 1918, S. 683). Ich glaube nicht, daß
man mit der Lehre von der „Gleiehwertigkeit“ auskommt, auch dann nicht, wenn
man zugibt, daß für den Begriff des Reizes seine Quantität nicht bedeutungslos sei.
Man vergleiche in meiner Phil. d. Organ. I, 8. 99f#f. Übrigens sind diese Dinge
für das, was in diesem Aufsatz erörtert werden soll, ohne unmittelbare Bedeutung.
Fi, EEE ES RN ss Rn a Kart a TEN R
454 H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus,
vorgänge. Aber sie geschehen an solchen Formen, welche ich
früher?”) als offene bezeichnet habe ım Gegensatz zu den ge-
schlossenen Formen, wie alle Tiere mit Ausnahme der stock-
bildenden es sind. Anders gesagt: die soeben genannten Form-
bildungen betreffen Organismen, insofern sie offene Formen sind —
(daß sie nicht nur „offen“ sind, werden wir alsbald sehen). Eine
offene Form ist nun aber, wıe der Name besagt, gar nichts eigent-
lich’ zur Einheit geschlossenes, jedenfalls besitzt sie keine klare
höchste Einheit. Sie besteht aus Teileinheiten (Blattsprosse, Blüh-
sprosse, Mycelsprosse, Sporangien), und zwar aus Teileinheiten ver-
schiedener Sonderart, und setzt diese in ungeschlossener Weise zu
ihrer Übereinheit, die eben deshalb eine offene Übereinheit ist, zu-
sammen. Daß dieses „offene“ Zusammensetzen der Teileinheiten
zur Übereinheit durchaus von letzthin äußeren Bedingungskonstel-
lationen abhängt, daß hier kein immanenter Rhythmus waltet, das
hat Klebs wirklich nachgewiesen.
Aber sind die pflanzlichen Teileinheiten auch „offen“ und mit
Rücksicht auf die Verwirklichung ihrer Bestandteile durchaus ohne
inneren Rhythmus. Klebs meint es, wie gesagt. Es ıst klar, daß
er damit seinen früheren Untersuchungen gegenüber Neues meint.
Das Werden der pflanzlichen Teileinheiten, gehe es von Ei, Spore,
Vegetationspunkt oder Adventivzelle aus, galt bisher als eigentliche
geschlossene Öntogenese, der Ontogenese der Tiere vergleichbar,
Klebs möchte nachweisen, daß auch hier von „immanentem Rhyth-
mus“ des Geschehens nicht die Rede seı.,
Für die Entwicklung der Prothallien der Farne aus der Spore,
meint Klebs, sei ihm ein solcher Nachweis in gewissem Rahmen
geglückt. Durch Einwirkung verschiedener Lichtarten und ver-
schiedener Lichtintensität konnte er Wachstum und Zellteilung in
den drei Achsen des Raumes geradezu beherrschen ın ihrem Auf-
treten, ebenso die Bildung Be Antheridien und Oogonien. Jede
Wachstum skor des Prothalliums soll einem bestimmten verwickelten
Faktorengleichgewicht entsprechen °®). Freilich handelt es sich ex-
perimentell im Grunde doch nur um ein zeitliches Hinausziehen der
einzelnen Bildungsphasen: im roten Licht kam es schließlich doch
zur Teilung in der dritten Dimension und zur Archegonienbildung,
es dauerte nur sehr lange. Nie werden die einzelnen Phasen der
Formbildung miteinander vertauscht.
Das scheint uns wichtig zu sein; doch wollen wir es zunächst
nicht weiter erörtern.
Wie nun steht es mit tierischer BorahMinee Da liegen eigent-
lich nur die Versuche von Herbst vor, denn alle Versuche an
Amphibieneiern haben bloß recht: unbestimmte Hemmungen durch
27) Phil. d. Org. 1, S. 18; dasselbe schon Analyt. Theorie d. org. Entw,
1594, S. 105.
28) Sitz.-Ber, Heidelberg. 1916, Nr. &, 1917 Nr. 3 u 7,
H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus. 455
Einwirkung abnormer Medien erzielt. Herbst hat an Echinodermen-
keimen bekanntlich (neben vielem anderen Wichtigen, das uns hier
nicht angeht) festgestellt:
1. daß Mangel von Schwefel im Seewasser dıe Ausbildung der
Bilateralität verhindert zugunsten eines radıären Körperbaues der
Larven ®°);
2. daß Rhodankalıum und buttersaures Natrium bei Asterias
die Gastrulation unterdrückt °°), so daß die Mesenchymbildung ab-
normerweise an der Blastula erfolgt;. freilich liegt die für die Gastru-
lation bestimmte Zellenplatte ın ıhr und ist nur nicht ausgewachsen;
3. daß Zusatz von Lithiumsalzen zum Meerwasser die Bilateralität
unterdrückt, die Darmzellenzone ungeheuer erweitert und das Aus-
wachsen des Darmes nach außen anstatt nach innen bedingt?!).
Um eine Umkehr von Formbildungsphasen handelt es sich
auch hier nicht.
Klebs nennt das im letzten Grunde Verantwortliche beı aller
Formbildung „spezifische Struktur“, ich nenne es „Entelechie“. Ich
glaube gezeigt zu haben, daß es etwas grundsätzlich Unmaschinelles,
also keine „Struktur“ ist. Klebs behauptet aber auch nicht etwa,
zu wissen, daß seine spezifische Struktur eine „Struktur“ sei; die
Annahme, daß es sich um eine „Struktur“ handle, ıstihm nur eine
heuristische Hypothese, welche er aufstellt, da er (zu Unrecht)®?)
meint, der Vitalismus hemme den Fortgang positiver Forschung.
Ich meine also, wir können uns trotz allem verständigen. Und
so möchte ich denn .mit Klebs°?) die folgende wichtige Frage
erörtern:
Muß das für die Formbildung Maßgebende (nach Kleba
Struktur, nach mır Ertelechie) so gedacht werden, daß
es nur den Inbegriff des morphogenetisch Möglichen über-
haupt darstellt ohne Rücksicht auf seine Verwirklichung,
welche vielmehr in jeder Beziehung, auch mit Rücksicht
auf alle Rhythmik, alle Phasen, von außen kommt? Oder
muß jenes Maßgebende so sedacht werden, daß es nıcht
nur Möglichkeitsinbegriff ist, sondern auch wenigstens
gewisse auf die Verw irklichung in Phasen gerichtete
Benizeichen an sich trägt?
Nach Klebs ist, ohne Rücksicht auf die Frage des Vitalısmus,
die erste Frage zu bejahen, die zweite zu verneinen.
29) Arch. Entw. Mech. Nasa 1904, S. 317.
30) Arch. Entw. Mech. 2, 1896, S. 482.
31) Zeitschr. wiss. Zool. 55, 1892 nd Mitt. Station ‚Neapel 11, 1892.
32) 8. hierzu meine Schrift Die Biologie als selbständige Grund-
wissenschaft, 2. Aufl., 1911, S. 24.
33) Dieser Aufsatz war geschrieben, ehe der verdiente Forscher einer tückischen
Krankheit erlag. ‘So muß ich mich denn jetzt mit ihm unterhalten, wie man sich
mit einer fest umschriebenen historischen Persönliehkeit unterhält und muß die Ver-
teidigung seinen Anhängern überlassen.
4556 H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus,
Konsequent zu Ende gedacht heißt das: Ein Hühnerei müßte
auch unter entsprechenden „Bedingungen“ gleich nach der Furchung
ein Auge bilden können, eine jüngste Pflanze an Stelle der Kotyle-
donen sofort die Blüte u. s. w., und zwar ohne daß eine deutliche
Unterdrückung des normal Dazwischenliegenden von außen statthtat.
Wir kennen nun nichts, was dafür spräche. In Klebs’ eigenen
Versuchen an Farnprothallien gab es lange Phasenverzögerung, in
den Versuchen von Herbst gab es Hemmungen und Modifikationen;
aber es gab keine Umkehr, auch keinen eigentlichen Phasenausfall.
Aber trotzdem könnte Klebs recht haben.
Ich selbst habe nie gesagt, daß die Entelechie allein für oR
Zustandekommen der Formbildung genügt: mindestens drei polare
Achsen im Protoplasma des Eies nehme ich als materiell gegeben
an?‘), auf daß es zu dreidimensional ausgeprägter Formbildung
komme. Denn die Entelechie, als ein Unraumhaftes, kann ja doch
nicht „dreidimensional“ sein. Klebs’ „Struktur“ könnte das: da-
mit hätte er aber mindestens einen „autonomen“ Faktor in seiner
Struktur (freilich nicht im: Sinne dessen, was dieses Wort für den
Vitalisten heißt), welcher ausdrücklich nicht nur auf Formbildungs-
möglichkeit, sondern auf die Verwirklichung der Formbildung
gerichtet wäre. Aber das Rhythmische, das Phasenhafte ginge auch
er nichts an.
Kommt das nun wirklich immer und lediglich von außen?
Wenn es immer und lediglich von außen gesetzt wäre, so würde
das heißen, daß „das Maßgebende“, um neutral zu sprechen, stets
seinerseits gleichermaßen bereit wäre, jede seiner Möglichkeits-
seiten in die Verwirklichung treten zu lassen. Daß tatsächlich, zu-
mal bei Tieren, der feste Rhythmus der Formbildungsabfolgen zum
Ausdruck kommt, würde nur an den „Bedingungen“ liegen. Diese
nun werden ja freilich durch die schon geschehenen Abfolgen für
die künftigen produziert; aber der in bestimmten Bedingungen für
die folgenden sich äußernde Effekt früherer Abfolgen könnte grund-
sätzlich als von außen künstlich ersetzbar gedacht werden. Nicht
wäre das bloße „Schon getan haben“ maßgebend für das
folgende Tun oder Reagieren des Maßgebenden.
Hier treffen wir wohl auf den Kernpunkt der Frage, die uns
angeht: Ist bloßes Reagierthaben selbst „Bedingung“ für fol-
gendes Reagieren? Solche „Bedingung“ wäre dann nıcht von
außen künstlich ersetzbar! Oder etwa doch?
Wir müssen uns zunächst klar machen, daß der Ausdruck
„Reagierthaben“ noch doppelsinnig ist. Soll gemeint sein, daß das
Reagierthaben bloß als überhaupt „reagiert“-haben zum Ausdruck
kommt, oder soll gemeint sein, daß das Reagierthaben deshalb selbst
34) Zuerst in Lokalisation morphogenetischer Vorgänge, 1899, 5.45;
. Philöd. Orten. 65 ff,
Be \.
H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus. 4A
, $ h t
sozusagen „Bedingung“ für folgendes ist, weil das Reaktions-
ergebnis da ıst? Das letzte habe ich in der „Philosophie des
Organischen“ angenommen’°?), in den von keinem beachteten Ab-
schnitten „Die Affektion der Entelechie“ und „Einiges über das
Problem der Zeit“. -
. Bei dieser letzten Annahme sind nun offenbar die durch das
Reagierthaben gesetzten „Bedingungen“ für das Folgende als von
außen ersetzbar wenigstens grundsätzlich zu denken. Fassen wir
einmal einen besonderen Fall ins Auge: Amputation mit folgender
Wiederaufpfropfung des entnommenen Teiles, der aber von einem
anderen Individuum stammt. Die bloße Amputation würde bier
— (wie, das wird noch zu erörtern sein) — die Entelechie „affizieren“
und zur Neubildung bestimmen; nun ist aber trotz der Entnahme
das alte Leistungsergebnis der Entelechie der Wiederaufpfropfung
wegen vorhanden, zwar von einem anderen Individuum stammend,
und geleistet wırd daher, was ohne die Amputation geleistet wäre
— nämlich nichts.
Vielleicht erklärt man dieses Beispiel für gekünstelt; es handelte
Ja in der Tat von „Nicht“affektion und „Nicht“leistung.
Befriedigender erscheint vielleicht die Erwägung, daß doch
offenbar alle Restitutionen lehren, wie nur ein bloßes Schon-
geleistethaben das Verhalten des für die Formbildung „Maßgebenden“
in diesen Fällen sicherlich nicht bestimmt; wäre das der Fall, so
gäbe es nämlich überhaupt keine Restitution; denn „Restituieren“
heißt: ein schon geleistet Gewesenes ersetzen, wenn es ge-
nommen war.
Aber wie steht es bei der reinen Ontogenese? Besteht für
diese vielleicht doch eine immanente Auanolie des Rhythmus ?
Mit dieser Frage wollen wir uns zuerst beschäftigen, uns vorbe-
haltend auf das Restitutionsproblem zurückzukommen.
Wir formen uns die folgende Frage: Gesetzt, die Onto-
genese habe das Stadium n erreicht, wovon hängt es ab,
daß sie zum Stadium n + 1 übergeht°*)?
Klebs meint, daß das Maßgebende durch das bis zum Stadium
n hin von ihm Geleistete, welches in seinem bloßen Dasein bestimmte
„Bedingungen“ darstellt, zu dem Schritt n 4 1 veranlaßt wird, daß
das Daseiende das Maßgebende „affiziere“. Dabei muß also das
35) Bd. II, S. 230ff. und 341 ff.
36) In logisch derselben Form tritt das Problem auf erstens bei allen zu-
sammengesetzten Bewegungserscheinungen der Organismen N zweitens bei physio-
Ioßischen Sekretions- Oder. allgemeiner, Stoffw N Der erste Fall führt auf
den Begriff des „Kettenreflexes“ und auf die Frage, ob alle Bewegungskombinationen
der Organismen auf Kettenreflexe zurückführbar seien oder nicht (s. Philos. d.
Organ, II 8, 1—125); der zweite ist jüngst für die Verdauungsdrüsen von G. Chr.
Hirsch eingehend, aber zunächst ohne Bun: zum vitalistischen Problem, be-
handelt worden (Biel. Zentralblatt 38, 1918, s. 4),
458 H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus.
Daseiende auf das Maßgebende wirken können, und zwar „normal“
wirken können, auf daß Normales, insonderheit Einheitliches her-
auskomme. Embryologische teilweise Doppelbildungen (und, auf
anderem Gebiet des Geschehens, Doppelrestitutionen, z. B. bei
Planaria) würden zeigen, daß das nicht immer der Fall ist. Aber
wo es der Fall ıst, da stellt das Daseiende eben ganz besondere
„Bedingungen“ für das Maßgebende dar. Diese Bedingungen, so
könnte man wohl sagen, wären im Falle der Doppelbildungen
gleichsam zweimal vorhanden: Das Maßgebende wird hier sozusagen
irre geführt durch Verdoppelung oder besser Teilung gewisser Be-
dingungskomplexe bei Einheitlichkeit anderer Bedingungen, und so
kommt es zur Einheitlichkeit etwa der ektodermalen, zur Doppel-
heit der entodermalen Organe. Alle Bedingungen aber sind als
künstlich ersetzbar wenigstens zu denken, und zwar als ganz be-
stimmte physiko-chemische Bedingungskomplexe. Es kommt nur
darauf an, daß eın und dieselbe Bedingungsresultante da
ist, gleichgültig nicht nur, ob diese vom normal Geliefer-
ten oder vom künstlich Ersetzten herstammt, sondern
gleichgültig auch im Grunde, ob das Ersetzte in allen
seinen Einzelheiten dasselbe wie das Normale ist; nur
dieselbe Resultante des Ganzen an Bedingungen muß sich ergeben.
Bei solcher Auffassung ist das für normale Ontogenese Not-
wendige und Hinreichende: erstens das „Maßgebende“ als
bloßer Inbegriff der möglichen Reaktionen, sei es als Struktur
(Klebs) oder Entelechie gefaßt, und zweitens die allerersten ım
Eı gegebenen Bedingungen. Alle künftigen Bedingungen
werden durch diese Grundfaktoren geschaffen, aber eben
durch beide, nicht durch das Eigenwesen des Maßgebenden allein.
Jeder einzelne embryologische Akt stamnıt also aus einem Affi-
zıertwerden des Maßgebenden durch daseiende Bedingungen, welche
freilich aus früheren Leistungen des Maßgebenden resultierten,
welche früheren Leistungen ebenso durch daseiende, aus noch
früheren Leistungen resultierte Bedingungen hervorgerufen waren
und so fort — bis zu den Urbedingungen im Ei, welche durch
Leistungen des Maßgebenden im der Ontogenese der Mutter ge-
schaffen waren. Da ist wirklich alles „aitionom*, wenigstens in-
soweit das Verhältnis von Bedingungen zum reagierenden Mabß-
gebenden in Frage kommt: ohne Bedingungen wird nichts ver-
wirklicht, und daß aus der im Maßgebenden gegebenen Fülle des
Möglichen nun eben .Dieses verwirklicht wird, das hängt nur am
Dasein eben dieser und keiner anderen Bedingungen. Nicht also
wird das Maßgebende durch sein bloßes „Reagierthaben“ affiziert.
Daß diese Lehre richtig ist, ist sicherlich nicht entschieden.
Bedenklich muß erscheinen, daß bis jetzt so wenige über bloße
Hemmungen hinausgehende typische Abnormitäten des Entwicklungs-
Br
H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus 459
verlaufs durch künstliche, zumal chemische, Eingriffe erreicht sind.
Und auch die partiellen Doppelbildungen nach Zerrungen des Keimes
oder die partiellen Doppelrestitutionen nach Zufügung komplizierter
Wunden sind ja eben nur Verdoppelungen von Teilen, aber nichts
eigentlich Abnormes dem Rhythmus nach. Bedenklich erscheint
weiter, daß sehr starke Deformationen von Keimen, durch Pres-
sung unter Platten, Aufsaugung in Kapillaren, Entnahme von Zellen,
die Normalität des typischen Entwicklungsverlaufes oft gar nicht
stören.
Trotz allem scheint mir die Lehre von Klebs logisch zu-
lässig zu sein; ja, ich gehe soweit zu sagen, daß wir sie hypo-
thetisch zulassen müßten, bis sie geradezu widerlegt wäre; denn
sie rettet das Prinzip der eindeutigen Bestimmtheit in hohem Grade.
Bei der Lehre von der reinen „Autonomie“ des ontogenetischen
Rhythmus — (das Wort „Autonomie“ immer lediglich im Gegen-
satz zu Aitionomie, also nicht ım vitalistischen Sinne verstanden) —
würde noch mehr, als es schon ohnehin der Fall ist, der eigent-
lichen Wissensmöglichkeit entzogen. Freilich — woher die ersten,
die im Ei gelegenen „Bedingungen“ kommen, das erfahren wir auch
von Klebs nicht.
So scheint denn die Ontogenese zu einem äußerst zusammen-
gesetzten Wechselspiel zwischen „Bedingungen“ oder vielmehr Be-
dingungsresultanten und Antworten seitens des „Maßgebenden*
geworden zu sein — ohne das Eingreifen „intraentelechialer Kau-
salıtät“ ?”).
Aber so einfach erledigt ist die Angelegenheit doch wohl noch
nicht, selbst wenn man den Boden der Lehre vom Wechselspiel
nicht, verläßt.
Wir reden hier von der eigentlichen Embryologie. Nun ist
diese ein Sonderfall von Morphogenese, von Formbildung überhaupt.
Zur Formbildung überhaupt gehören aber auch alle Restitutionen,
die echten Regenerationen zum Beispiel.
Eine aufs letzte gehende Theorie vom Rhythmus muß nun
doch wohl auf alle Formbildung un also auch auf die „Be-
dingungen“ für Restitutionen.
Schon oben haben wir die Tatsache der Restitution heran-
gezogen um zu zeigen, daß hier jedenfalls das Maßgebende nicht
nur deshalb mit Phase B reagiert, weil es mit Phase A reagiert
„hat“. Das war ein gewisses Zugeständnis an die Lehre vom
Wechselspiel. Jetzt sollen uns die Restitutionen helfen, die Lehre
vem Wechselspiel zu vertiefen, d. h. zu zeigen, das sie jedenfalls
keine so ganz einfache Angelegenheit ist.
Welches sind denn die „Bedingungen“ für irgendeine Resti-
tution, z. B. eine echte Regeneration? Doch wohl nicht das
37) Phil, d. Ore IL, S. 234,
vw a ET, a EEE ie A TTS
- . ar a ei
460 H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus.
im Wege der Formbildung gelieferte Daseiende, sondern gerade
das Nichtdaseiende in seiner Spezifizität! Gewiß ist das auch eine
„Bedingung“, aber keine, die als chemisch-physikalische Bedingung
auch nur gedacht werden kann. Kann sie aber nicht so gedacht
werden, so könnte auch die „Bedingung“ für jede einzelne onto-
genetische Leistung zwar als „Bedingung“, aber doch nicht als eine
solche, die nur in einem „Daseienden“ besteht, gedacht werden.
Dann würde das Maßgebende also zwar ganz im allgemeinen durch
„Bedingungen“ zu seiner jeweiligen Leistung affıziert, aber durch
daseiende Bedingungen nur der allgemeinen Verwirkliehungemög.
lichkeit überhaupt En: durch Nichtd aseiendes als „Bedingung“
aber der Qualität seiner Leistung nach. Weil etwas nicht da
ist, nämlich der verwirklichte Organismus, deshalb wird es produ-
ziert. Die ganze ÖOntogenese erscheint bei dieser Stellungnahme
als Restitution!
Und so kommt denn doch wohl ein „autonomer“ Rhythmus
wenigstens in gewissem Sinne in Frage, trotz aller „Aitionomie“
Nicht zwar, als brauche das Maßgebende gar keine „daseienden“
Bedingungen. Es muß Bedingungen z. B. für die Gastrulation vor-
finden; aber es „will“, wenn der bildliche Ausdruck erlaubt ist,
doch jetzt eben die Bedingungen nur gerade für die Gastrulation;
es leistet gar nichts (also nicht etwa ein beliebiges Anderes aus
dem Bereiche des ihm Möglichen), wenn nicht eben die Gastrulation,
als das erste Daseinsollende und Nochnichtdaseiende, geleistet
werden kann; es leistet dann nicht etwa irgendeine normal spätere
Einzelleistung °®).
Die Tatsache der Restitutionen von atypischem Ausgange aus
läßt gar keine andere Deutung zu als eben diese®®), daß Nicht-
vorhandenes im Sinne einer „Bedingung“ wirkt; und eben, weil
hier keine andere Deutung möglich ist, ist auch eine andere Deutung
auf dem Gebiete der Ontogenese zum mindesten wenig wahr-
scheinlich.
(Und jetzt treten die Beweise des Vitalismus auf das Feld, der
eine auf die Genese komplex-äquipotentieller Systeme, der andere
auf die Differenzierung harmonisch-äquipotentieller Systeme ge-
gründet. Sie haben mit der Frage nach dem Wechselspiel zwischen
Bedingungen und Antworten eines „Maßgebenden“ an und für sich
gar nichts zu tun; sie.lassen diese Lehre (in ihrer großen, soeben von
uns dargelegten Kompliziertheit!) unangetastet. Aber sie zeigen:
eine „Struktur“ kann das „Maßgebende“ nicht sein: Eine drei-
dimensional verschieden typisch gebaute Struktur bleibt nicht ganz,
38) Es spricht natürlich nicht gegen diese Auffassung, wenn scheinbar
spätere Einzelleistungen „zu früh“ produziert werden deswegen, weil Zwischenleistungen
zwar „angelegt“, aber von außen unterdrückt sind.
39) Vgl. meinen Vortrag Der Restitutionsreiz, 1909,
|
|
=, at da
EM
x*
H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus. “ 461
wenn sie sich teilt; eine dreidimensionale „Struktur“- und Be-
dingungskonstellation, die dasselbe leistet, wie ım Normalen, wenn
man ihr beliebig viele Teile nimmt oder ihre Teile beliebig ver-
lagert, kann keine „Maschine“ sein.)
Die sogenannten „Bedingungen“ der Formbildung, welche in
der Tat auch nach unserer Auffassung einen gewissen aitionomen
Zug in alles Formbildungsgeschehen tragen, sind also bloße schlichte
Bedingungen, nicht aber etwas, was auf das Sosein des Effektes
geht. Sie mögen immerhin für die einzelnen Formbildungsphasen
spezifisch verschieden sein. Im normalen Verlaufe werden sie, so-
weit nicht die allgemeinen Bedingungen des Mediums ın Frage
kommen, durch den vorangegangenen Verlauf produziert; sie mögen
teilweise oder ganz künstlich ersetzbar sein; ohne sie geschieht
nichts. Die wesentliche Soseinsbedingung aber dafür, daß
jeweils, wenn etwas geschieht, ein Bestimmtes geschieht, ıst das
Fehlen dieses Bestimmten, wobei. die Abfolge der einzelnen
Realisationen der Teile des Fehlenden „autonom“ ın dem zugleich,
den Inbegriff alles Leistungsmöglichen darstellenden nicht-
strukturellen „Maßgebenden“, der Entelechie, mit gelegen ist,
ohne daß doch „intraentelechiale Kausalıtät“ in Frage käme, ohne
daß also bloßes Reagierthaben mit A der volle Grund für das
Reagieren mit B wäre, Übrigens könnte auch wohl eine „Struktur“
so gedacht werden, daß sie immer nur „das Nächste“ leisten kann
und, wenn für dieses die „Bedingungen“ fehlen, gar nichts leistet.
Einen „autonomen Rhythmus“ der Formbildung vertreten wir
also, ebenso wie Klebs, nicht ın dem Sinne, daß ın dem Maß-
gebenden (seiner „Struktur“, unserer „Entelechie“) der eine Vor-
gang den anderen ohne weiteres seinem Sosein und seiner Ver-
wirklichung nach bestimme. Alle organischen Verwirklichungen
sind nach uns insofern „aitionom“, als sie ın bezug auf ihre Ver-
wirklichung von Bedingungen abhängig sind, welche, wenigstens
grundsätzlich, als physiko-chemische Bedingungen gedacht werden
können.
Aber es gibt noch andere „Bedingnngen“ für die Leistungen
des Maßgebenden, Bedingungen, welche das Sosein des jeweils
Einzelnen, was es aus der Fülle seiner Vermögen heraus leistet,
betreffen. Diese Bedingungen bestehen in dem Nichtdasein oder
Nichtmehrdasein von Etwas. Und mit Rücksicht auf diese Be-
dingungen besteht nun eine „Autonomie“ und „immanente Rhyth-
mik“ in dem Sinne, daß jeweils nur ein Einzelnes im Maßgebenden
zur Verwirklichung sozusagen reif ist.
Die Tatsachen der Restitution von atypischem Ausgange aus
zwingen für dieses beschränkte Feld zu der hier dargelegten Auf-
fassung. Für die tierische Embryogenese und für die eigentliche
„Embryologie“ der Pflanzen ist sie sehr wahrscheinlich. Für nicht
TER 59548, Bar
462 H. Jordan, Die Phylogenese der Leistungen des zentralen Nervensystems.
„geschlossene“, sondern „olfene“ Formenbildung, wie sie im Sprossen,
Blühen, Treiben u. Ss. w. der Pflanzen und in den Fortpilanzungs-
verhältnissen der Pilze und Algen vorliegt, gilt dagegen, wie im
Eingange dieser Studie gesagt ist, unsere Auffassung nicht: hier
treten die Soseinsbedingungen, welche ja sozusagen negative Be-
dingungen (Nicht-dasein !)sind, gegenüber den eigentlichen positiven,
den reinen Verwirklichungsbedingungen ganz zurück. Liegt es doch
im Wesen der „offenen“ Form, daß ihr eine ganz feste Tektonik
mit Rücksicht auf das, ın bezug auf was sie „offen“ ıst, mangelt.
Die offene Form reagiert auf die Bedingungsresultante a mit A, auf
die Bedingungsresultante b mit B; sıe tut das (im Rahmen ihres
„Offenseins“) stets und beliebig oft hintereinander, und auch in
umgekehrter Reihenfolge. Die „geschlossene“ Form reagiert auch
auf a mit A, auf b mit B; aber wenn A geleistet war, reagiert
sie nun eben nur auf b (mit B); bleibt die Bedingungsresultante b
aus — so reagiert sie auf irgendeine andere Bedingungsresultante
gar nicht. Von außen gesetzte Verkümmerungen bestimmter
Bildungen dürfen hier natürlich nicht als echtes Ausbleiben ge-
deutet werden.
Die Phylogenese der Leistungen des zentralen
Nervensystems.
Von Hermann Jordan, Utrecht.
Die Aufgabe des Zentralnervensystems ist die Verteilung der
Erregung auf die Erfolgsorgane. Die Gesetze, welche diese Ver-
teilung beherrschen, sind bei den verschiedenen Tiergruppen sehr
verschieden. Sie hängen ab vom Organisationstypus und der Um-
welt der Tiere. In nichts äußert sich die Gesamtheit der Organi-
sation auf so deutliche Weise als in den Leistungen des Zentral-
nervensystems.
Das Zentralnervensystem ist bei dieser seiner Arbeit nicht
autonom. Die Verteilung der Erregung hängt nicht nur ab vom
Bau und den spezifischen Arbeitsgesetzen des Zentralorgans, sondern
auch von folgenden Umständen: 1. Von den äußeren Sinnesorganen,
2. vom Zustande der Erfolgsorgane (zumal der Muskeln), 3. von
der Wechselwirkung zwischen niederen und höheren Zentren. Ich
habe mir für diesen Aufsatz vorgenommen vornehmlich über die
Bedeutung des Zustandes der Erfolgsorgane zu sprechen. Die Be-
deutung der übergeordneten Zentra beschäftigt uns nur in zweiter
Linie und dann noch größtenteils deshalb, weil wir aus den Leistungen
dieser übergeordneten Zentren manches ableiten können, dessen wir
für das angedeutete Hauptproblem bedürfen. .
Wir können nach ihrem physiologischen Verhalten die Metazoen
in zwei Gruppen einteilen: eine niedrige, zu denen vornehmlich
ER a Gy a u na Ka a A a a A
Er, ” ‘ 8 e F -
H. Jordan, Die Phylogenese der Leistungen des zentralen Nervensystems. 465
die Coelenteraten, Plattwürmer, Echinodermen, Schnecken, Muscheln
und Aseidien gehören, neben einer höheren, zu der ıch die Anneliden,
Arthropoden und Wirbeltiere rechne.
I. Die Wirbeltiere.
Als Vertreter der „höheren“ Gruppe besprechen wir zuerst die
Wirbeltiere. Die Invertebraten dieser Gruppe kommen später an
die Reihe.
Der Bewegungsapparat der Wirbeltiere zeichnet sich aus durch
den festen Antagonismus, in welchem die einzelnen Muskeln und
Muskelgruppen zueinander stehen. Die Bewegung der Antagonisten-
paare wird geregelt durch das ganz besonders für diesen Antagonis-
mus eingerichtete Nervensystem. Dies gilt sowohl für feste Reflexe,
die uns hier ihrer einförmigen Phylogenese wegen nicht interessieren,
als für diejenigen Fälle, in denen sich die Muskelerregung zu
richten hat nach dem Zustande bestimmter Muskelgruppen. Dieser
Fall tritt z. B. ein bei rhythmischen (etwa lokomotorischen) Be-
wegungen, bei denen die Erregung stets zu denjenigen Muskel-
gruppen gelangen muß, die gedehnt und daher an der Reihe sind,
sich zu verkürzen, während gleichzeitig die Erregung, der Tonus
in den Antagonisten vernichtet werden muß. Hierbei wiederum
sind es nicht die präformierten zentralen Steuerungen des Erregungs-
ablaufes die uns beschäftigen sollen, sondern der Einfluß, den die
in Frage kommenden Muskeln selbst durch ihren Zustand auf diese
Steuerung ausüben, mit Hilfe des Muskelsinnes, d. h. also von proprio-
zeptiven Reflexen.
Der Besitz eines außerordentlich feinen Muskelsinnes ist eines
der Hauptcharakteristika der Wirbeltierorganisation. Über die Art,
- wie der Muskelsinn die Bewegung regelt, steuert. sind wır durch
Sherrington und Magnus unterrichtet).
Von den zahlreichen Reflexen, von denen jeder einzelne den
erwarteten Erfolg zu gewährleisten ımstande ıst, geben wir hier
einige wenige Beispiele.
1. Der nervöse Impuls trifft stets die Muskeln, die sich ın ge-
dehntem Zustande befinden und demzufolge an der Reihe sind sich
zu verkürzen. Das gilt für zweierlei Erregungen, nämlich für solche
Erregung, die durch einen willkürlichen Reiz auf der Haut des
Tieres hervorgerufen wırd (Magnus), des weiteren für solche, deren
Entstehung Reizen zu danken ist, die in antagonistischen (oder ge-
kreuzten) Muskeln „gesetzt“ werden und zwar durch ihre Ver-
1) Sherrington, The Integrative Action of the Nervous System, London 1906.
On Plastie Tonus and Proprioceptive Reflexes (uart. Journ. exper. Physiol. London
Vol. 2. 1909. p. 109; Flexion-reflex of the Limb, Crossed Extension Reflex of the
Limb, and Reflex Stepping and Standing. Journ. Physiol. London Vol. 40 p. 28.
1910. — Magnus, R., Zur Regelung der Bewegung durch das Zentralnervensystem.
1—4 Arch. ges. Physiol. Bd. 130. 1909, p. 219, p. 253; Bd. 134. 1910. p. 545, 584
Ar IR
RN
Kor
464 HM. Jordan, Die Phylogenese der Leistungen des zentralen Nervensystems.
kürzung; dieselbe Verkürzung, durch welche jener Dehnungszustand
des in Frage stehenden Muskels hervorgerufen wurde (Sherrington).
Wir wollen uns auf den ersten Fall, den Magnus mitteilt, be-
schränken.
Magnus arbeitet mit dem Schwanze der Rückenmarkskatze. Er
faßt 1. ec. Bd. 130 S. 267 seine Resultate wie folgt zusammen: „Am
Schwanze der Rückenmarkskatze läßt sich zeigen, daß bei einer
mittleren Lage, bei welcher das Glied weder an seiner Wurzel noch
in seinem weiteren Verlauf abgebogen oder gekrümmt ist, ganz
regellose Bewegungen auftreten, ohne daß dem Reizort ein ein-
deutig bestimmender Einfluß ak Sowie aber der Schwanz
nach irgendeiner Seite hin abgebogen wird, so tritt an Stelle dieser
Regellosigkeit ein einfaches Gesetz: Der Schwanz schlägt immer
nach der gedehnten Seite.“ S. 268 „Die Versuche lassen keine
andere Deutung zu, als daß durch die veränderte Lage des Schwanzes
eine veränderte Schaltung in den zugehörigen motorischen Zentren
des Rückenmarks bewirkt wird. Reizt man z. B. die Schwanzspitze,
so kann die durch die sensiblen Bahnen ins Rückenmark ein-
strömende Erregung die verschiedensten Bahnen einschlagen und tut
dies auch tatsächlich bei Mittelstellung des Schwanzes. Sowie dieser
letztere aber nach einer Seite gekrümmt wird, so erfolgt eine
Schaltung, welche die Erregung zwingt, nunmehr von den ver-
schiedenen möglichen Bahnen nur eine einzige einzuschlagen. Die
Erregung strömt unter diesen Umständen immer zu den Zentren
der Muskeln, welche am stärksten gedehnt sind.“
In seiner Mitteilung Nr. 3 (Bd. 134, 1910, S. 545) untersucht
Magnus die Mechanik u Schaltung‘,
Keinerlei Schaltung ist mehr nachzuweisen, sobald die hinteren
(dorsalen) Wurzeln der entsprechenden Rückenmarkssegmente durch-
schnitten sind. Dagegen bleibt sie erhalten, wenn (bei intakten
dorsalen Wurzeln) die Haut- oder Gelenksensibilität vernichtet ist
(Bein des Rückenmarkhundes S. 572). Die Schaltung wird also aus-
gelöst durch den afferenten Einfluß der Muskeln selbst, d. h.
durch den Muskelsinn. Der Einfluß der Lage und Stellung der
Glieder auf die Erregbarkeitsverteilung ım Zentralorgan ist ein
dauernder (tonischer) (S. 583), während die Auslösung der Be-
wegung des Agonisten durch die vorhergehende Bewegung des
Antagonisten zwar gleichfalls auf einen Muskelsinnesreflex zurück-
zuführen ist, aber sich nur zu bestimmten Augenblicken geltend
macht (Sherrington) 2),
2) Es sei nochmals darauf hingewiesen, daß wir nur einzelne Reflexe hier be-
sprechen aus einer ‘ganzen Reihe von Einrichtungen, welche die Regelmäßigkeit des
Geschehens etwa bei der Lokomotion sicherstellen. Magnus (1910, S. 579) sagt:
„Sherrington (Journ. Physiol. London Vol. 40 p. 28 1910) ... ist zu dem
Schlusse gelangt, daß die Schaltung ... nur als ein Hilfsmoment in Betracht
kommen kann, und daß reine zentrale Vorgänge in Verbindung mit gleichseitigen
und gekreuzten propriozeptiven Reflexen die alternierenden Gehbewegungen bedingen.“
NÜRte holt ip, an ga Be DB ET EA 2 SEE ae HR ZU
HM. Jordan, Die Phylogenese der Leistungen des zentralen Nervensystems. 465
2. Reflexe die den Tonus beeinflussen (Sherrington,
On Plastie Tonus ete. 1. e.). Durch Muskelsinnesreflexe kann auch
der Tonus in einer Muskelgruppe vernichtet werden. Ein solcher Re-
flex wird ausgelöst durch den Zug, der auf die betreffenden tonischen
Muskeln selbst ausgeübt wird, wobei dieser Muskel zugleich
Empfangs- und Erfolgsorgan des Reflexes ist. Der Erfolg dieser
Reflexerregung ist eine unmittelbare Beseitigung des tonischen Wider-
standes (Streckmuskeln der Säugetierextremitäten).
Aus diesen Ergebnissen läßt sich folgendes Schema ableiten:
An sich besteht das Rückenmark aus zahlreichen Bahnen, die der
Erregung offenstehen. (Versuch von Magnus mit dem ausgestreckten
Katzenschwanz: Die Erregung erreicht die Muskeln nicht auf be-
‘stimmten Bahnen.)
| Jede Bahn jedoch ist mit einer „Weiche“ versehen. Zahlreiche
Einrichtungen sorgen dafür, daß durch entsprechende Stellung, der
Erregung der richtige Weg (zum gestreckten Muskel im Versuche
von Magnus) gewiesen wird; während gleichzeitig der Zugang zu
anderen Bahnen versperrt wird. Dies führt nicht nur zur Be-
schränkung der Wirkung auf bestimmte Muskelgruppen, sondern
zur Abblendung oder Vernichtung einer Erregung, die zuvor bestand
(Tonusvernichtung Sherrington’s). Das Stellen der Weichen wird
unter anderem erzielt durch afferente Einflüsse, die vom Muskel-
sinne ausgehen.
11. Niedere Tiere.
Ganz anders liegen die Dinge bei unserer niedrigsten Tiergruppe.
‚Hier finden wir an Stelle des Rückenmarkes der Vertebraten, d.h.
als niedrigstes nervöses Zentralorgan ein Netz von Ganglienzellen
und Nervenfasern, das mıt den Hautsinnesorganen und den Muskeln
in Verbindung steht. Auch solche Netze haben die Aufgabe die
Erregung auf die Erfolgsorgane zu verteilen. Allein die Verteilung
geschieht auf Grund ganz anderer Gesetze, als bei den Wirbeltieren,
Die Erregung die von den Hautsinnesorganen kommend ın dieses
Netz tritt, verteilt sich ın ıhm zunächst nach allen Seiten völlig
‘gleichmäßig; sie wird hierbei lediglich beschränkt durch das Gesetz
vom „Dekrement“. Das bedeutet, daß je weiter entfernt vom Orte
der Reizung, desto geringer deren Wirkung ist, soweit man sie durch
‘ die Muskelbewegung messen kann. Das bekannteste Beispiel für
die Gültigkeit dieses Gesetzes bei einer biologisch wichtigen Reaktion
ist der Versuch von Romanes.
Wenn man eine Meduse am Schirmrande reizt, so neigt sich
das Manubrium dem Reizorte zu. Dies wırd erreicht durch eine Ver-
kürzung derjenigen Längsmuskeln des Manubrium, die dem Reiz-
orte zugekehrt, auf dem kürzesten Wege die Erregung durch die
subepithelialen Nervennetze erhalten. Wenn der Reiz, der diesen
Reflex. auslöst, die Nahrung ist, welche durch die Randtentakeln ge-
Band 39, 21
466 HH. Jordan, Die Phylogenese der Leistungen des zentralen Nervensystems.
fangen wurde, dann ıst diese Bewegung des Mundes nach dem Reiz-
orte zu ohne weiteres in seiner Bedeutung verständlich.
In solchen Nervennetzen ist niehts von jenen „Weichen“ zu
finden, die im Rückenmark der Wirbeltiere „gestellt“ oder „blockiert“
werden können. Müssen bei manchen Vertretern unserer Gruppe
bei bestimmten Reizen ganz bestimmte Muskeln sich bewegen, trotz-
dem ihre Entfernung vom Reizorte größer ıst als bei anderen, dann
muß die anatomische Verbindung dieser Muskeln mit den reiz-
aufnehmenden Zellen besonders geartet sein, oder die Reizschwelle
dieser Muskeln muß besonders niedrig sein. Aber dann trıtt auch
bei jeder entsprechenden Reizung stets mit Notwendigkeit nur die
eine Reaktion auf, von einer verstellbaren Weiche ıst keine Rede°).
Weder Muskelsinn, noch propriozeptive Reflexe hat man bisher beı
Vertretern unserer Gruppe nachweisen können: In einem Leitungs-
system ohne Weichen ist kein Platz für Weichensteller. Hierdurch
aber ist echter Antagonismus bestimmter Muskelgruppen aus-
geschlossen. Nur selten finden wir bei den ın Frage stehenden
Tieren überhaupt eine Anordnung der Muskeln bei der Muskelpaare
rhythmisch alternierend gegeneinander arbeiten. Und wo dies doch
der Fall ist, da untersteht dieses Zusammenarbeiten nicht den Ge-
setzen des echten Antagonismus, d.h. dann regelt der Agonist nicht
auf dem Wege der Reflexerregung den Zustand ‘und die Arbeit des
Antagonisten. Meist fehlt aber anatomisch schon jegliche Möglıch-
keit eines Antagonismus, es fehlen in der Regel Hebelgliedmassen
und häufig arbeitet eine Muskelgruppe gegen rein elastischen Wider-
stand (Schirmgallerte der Medusen, Schloßband der Muscheln).
Wie können nun bei solchen Tieren überhaupt rhythmische
Bewegungen zustande kommen? Am Arme des Schlangensternes
Ophioglypha lacertosa, also einem Objekte mit äußerlich antagoni-
stischer Anordnung der Muskeln, und scheinbar großer Ähnlichkeit
mit dem Schwanze der Katze*) findet v. Uexküll sein bekanntes
Gesetz: „Es fließt die Erregung immer zu den verlängerten Muskeln“ °).
v. Uexküll will hiermit folgendes sagen: Die Verteilung der Er-
regung in den Nervennetzen (das radiäre Nervensystem wird von
ihm für ein „Nervennetz* angesehen) geschieht nach Maßgabe
des Zustandes der Leitungsendpunkte. Er vergleicht dieses
nervöse Zentralorgan mit einem Leitungssystem rein physikalischer
Energieformen, für die ja das gleiche Gesetz gilt: Vom Orte der
größten Wärme erfolgt ein Ausgleichstrom nach dem Orte der ge-
ringsten Wärme. Dem gedehnten Muskel entspricht ın den zuge-
3) Jordan, Zeitschr. allg. Physiol. Bd. 8. 1908. S. 22. ‘
4). Magnus wählte den Schwanz der Katze, gerade wegen dieser Ähnlichkeit
mit dem Objekte v. Uexkülls.
5) v. VUexküll, J. Zeitschr. Biol. Bd. 46. S. 1 (auf S. 25); siehe auch Erg.
Physiol. Jahrg. 3 Abt. 2. 1904. S. 1.
H. Jordan, Die Phylogenese der Leistungen des zentralen Nervensystems. 46\
hörigen nervösen Elementen ein Erregungsminimum; darum muß
die Erregung dem gedehnten Muskel zufließen. Wir wollen die
bekannten Versuche v. Uexküll’s hier kurz wiedergeben. Eın
Schlangenstern, bis auf einen, aller Arme beraubt, wird auf einer
Korkplatte befestigt. Der Ringnerv ist gegenüber der Einmündungs-
stelle des Radiärnerven des intakten Armes durchschnitten. Der
Ringnerv wird gereizt. Wenn nun das Präparat horizontal liegt,
so daß der Arm in radiärer Richtung ausgestreckt ıst, dann schlägt
der Arm stets nach der Seite, wo v. Uexküll den Ringnerven mit
den Platinelektroden reizt (Gesetz vom „Dekrement“). Wird das
Präparat dahingegen vertikal aufgehängt, so daß der Arm gekrümmt
nach unten hängt, so schlägt — auf welcher von den beiden Seiten
des Armes auch immer der Ringnery gereizt wird — der Arm stets
nach oben.
Die Übereinstimmung dieser Resultate mit denjenigen von
Magnus ist deutlich. Trotzdem kommen beide Forscher zu den
oben angedeuteten grundsätzlich verschiedenen Erklärungen dieser
Erscheinungen. Die Meinung, als handle es sich beim Schlangen-
stern nicht um eine reflektorische Regelung der Erregungsverteilung,
wie dies bei der Katze der Fall ist, ıst leider bei diesen Tieren
nicht einwandfrei zu beweisen; denn bei Ophiuriden kann man die
afferenten Bahnen nicht getrennt von den efferenten durchschneiden.
Für den Beweis, daß die Erregungsverteilung nun ın der Tat nach
Maßgabe des Zustandes der Leitungsendpunkte bei unseren niederen
Tieren stattfindet, eignen sich am besten die Schnecken, über deren
Nervensystem ich seit dem Jahre 1901 eine Reihe von Mitteilungen
veröffentlicht habe®). Als solche Leitungsendpunkte treten hier
nämlich, neben den Muskeln, die Zentralganglien auf, die man ex- .
perimentell beeinflussen kann, ohne zugleich die Bedingungen für
mögliche regulierende Reflexe zu schaffen, wie dies bei Beeinflussungen,
die sich auf die Muskulatur beschränken (z. B. in v. Uexküll’s Ver-
suchen) der Fall ist.
Die Versuchsergebnisse, auf die sich meine Deduktionen stützen,
sind verschiedentlich mitgeteilt worden und sollen daher hier nur
kurz wiederholt werden.
Das Cerebralganglion beherrscht, reguliert die Bewegung und
zwar dadurch, daß es dauernd die Erregbarkeit hemmt. Entfernung
des Cerebralganglions hat zur Folge ausgesprochene Erniedrigung
der Reizschwelle und bei Aplysıa dauernde lokomotorische Be-
er (Schwimmbewegungen mit den Parapodien) die das Tier
6) Jordan, Zeitschr. Biol. Bd. 41, 1901. S. 196 (Aplysia). Arch. ges. Physiol,
Bd. 106. 1905. 8.189. Bd. 110. 1905. 8. 533 ee pomatia); Zeitschr. allg. Physiol.
Bd. 7. 1907. S.85 (Ciona intestinalis); Zool. Tahrb, Abt. allg. Zool. Physiol. Bd. 34
1914. S. 365; Bd. 36. 1916. S. 109 (Holothurien); Erg. Physiol. Jahrg. 16. 1918.
S. 87 (Aplysia, Helix) ete.
.. 468 H. Jordan, Die Phylogenese der Leistungen des zentralen Nervensystems.
wochenlang, bis zu seinem Tode, nicht imstande ist zu inhibieren.
Einseitige Durchschneidung des Üerebropedalkonnektifs hat bei -
Aplysia Kreisbewegungen nach der’ normalen Seite hin zur Folge:
die enthirnte Seite kriecht, wenn die normale Seite in Ruhe oder
doch in einem geringeren Bewegungszustande verkehrt.
Auch die Schneckenmuskeln haben die Fähigkeit durch dauernde
relative Verkürzung dem Tiere die nötige Fertigkeit zu verleihen
(Turgor). Wegen des Fehlens von jeglichem vorbestimmten Anta-
gonismus’) und jeglicher antagonistischer Innervierung, muß dieser.
„Tonus“ von ganz anderer Beschaffenheit sein als derjenige, den
wir beim Skelettmuskel des Wirbeltieres kennen lernten. Wenn
man diesen tonischen Muskel dehnt (unter Ausschaltung tonuslösender
Reflexe), so verhält er sich wie ein elastisches Band: Eine gewaltige
Spannungszunahme behindert mehr und mehr die Arbeit des Anta-
gonisten. Solch ein Tonus muß durch Nerveneinfluß aufgehoben
werden. Bei Schnecken (und anderen Angehörigen unserer Gruppe)
finden wir eine Dauerverkürzung, in welcher der Muskel gewalt-
samer Dehnung nicht den Widerstand elastischer, sondern visköser
Körper entgegensetzt. Gleich einer plastischen Masse lassen sich
diese Muskeln 'ohne Spannungszunahme dehnen. Es versteht sich
von selbst, daß diese Eigenschaft nicht in den eigentlichen kon-
traktilen Bestandteilen der Muskelfaser zu suchen ist. Denn wenn
diese auf Grund von Erregung tetanisch verkürzt sind, dann ist ihr
Widerstand gegen Dehnung elastisch, -
)
Wahrscheinlich leisten besondere Bestandteile der Muskelfasern
die „Tonusfunktion bei den Holothurien aber besondere muskel-
ähnliche Fasern die (fast) nicht kontraktil sind. Auch auf solche
„Lonusmuskeln“ (oder. Tonusbestandteile von Muskeln) übt das
Nervensystem einen Einfluß aus, jedoch im Gegensatze zu kontraktilen
Elementen nicht auf die Länge, sondern auf den Viskositätsgrad.
Diesen Einfluß beobachten wir durch Untersuchung der Dehnungs-
kurve (Zeit-Längenkurve) des belasteten ruhenden Muskels. Der
Grad der Steilheit dieser Kurve ist der Ausdruck für die Viskosität. —
Bei den Schnecken sind die Pedalganglien die Beherrscher, die
Regulatoren des viskosoiden Tonus. Sind sie vorhanden, so üben
sie dauernd einen hemmenden Einfluß auf den Viskositätsgrad
aus. Entfernt man sie, so nimmt der Widerstand gegen passive
Dehnung zu. Auf diese Weise sorgen die Ganglien dafür, daß,
wenn der Druck des Blutes, erzeugt etwa durch Verkürzung einer
Muskelgruppe, die anderen Muskeln zwingt, nachzugeben, sich zu
dehnen, dies ohne großen Widerstand geschehen kann, obwohl der
an sich gebotene Widerstand (im Gegensatze zum Wirbeltiermuskel)
7) Gänzlich unbestimmte Muskelpartien müssen dem Drucke des Blutes nach-
geben, den irgendeine andere Muskelpartie durch ihre Verkürzung erzeugt!
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H. Jordan, Die Phylogenese der Leistungen des zentralen Nervensystems. 469
niemals aufgehoben wird. Die Wirkung der Pedalganglıen ist
dauernd und nicht gelegentlich, reflektorisch °). |
Nun gilt es für unsere Zwecke den aktiven Zustand der Leitungs-
endpunkte, nämlich des Zerebralganglions und der Pedalganglien
irgendwie quantitativ zu beeinflussen und die Wirkung dieser Be-
einflussung auf den Erregungsablauf festzustellen. Wir beschränken
uns zunächst auf die Ganglien als Leitungsendpunkte, weil es bei
ihnen ausgeschlossen ıst, daß wir die Bedingungen eines regulierenden
Reflexes verwirklichen, wie dies an sich stets möglich ist, wenn
wir die Muskulatur als Leitungsendpunkt wählen. Ganglien kann
man erfahrungsgemäß am besten durch chemische Mittel in der
von uns gewünschten Weise beeinflussen. Durch Auflegen von
einem Kochsalzkristall oder Bepinselung mit Kochsalzlösung kann
man solche Zentren ın Erregungszustand versetzen, während vor-
sichtige Bepinselung mit schwacher Kokainlösung dıe umgekehrte
Wirkung erzielt (Verminderung des „aktiven Zustandes“).
Wir erhalten folgende Ergebnisse: Verminderung des aktiven
Zustandes (Kokain) bedeutet Steigerung der normalerweise von den
Ganglien ausgeübten Hemmung; Steigerung des aktiven Zustandes
(durch Kochsalz) bedeutet Verminderung der normalerweise von
den Ganglien ausgeübten Hemmung. Also:
Kochsalz auf das G. cerebrale .. . . die Erregbarkeit nimmt zu,
Kokain auf das G. cerebrale ... . . die Erregbarkeit nımmt ab.
Kochsalz. auf das G. pedale ... . der viskosoide Muskelwiderstand
nımmt zu.
Kokain auf das G. pedale .... .. der Widerstand nımmt ab?).
Wir haben also auch hier den Zustand in Leitungsendpunkten
verändert und dadurch eine Änderung erzielt in der Hemmung durch
die Ganglien. Diese Änderung ıst nicht durch interferierende Re-
flexe — wie ın den Versuchen von Sherrington und Magnus —
zu erklären: Die Ganglien können — ım Gegensatz zum Säugetier-
muskel — nicht der Ort einer Reflexerregung (eines Reflexempfanges)
sein. Sie sind vielmehr Hemmungszentra. Allein sie hemmen nicht
durch Impuls, nicht durch zentrifugale Einwirkung auf den Reflex-
bogen, von dem sie ja selbst kein Bestandteil sind. Dies konnte
durch verschiedene Versuche mit aller Sicherheit bewiesen werden!")
8) Doch glaube ich, daß, wenn eine Schnecke oder Holothurie kriecht, der
Viskositätsgrad der Muskeln allgemein noch weitergehend herabgesetzt wird, als dies
an sich der Fall ist!
9) Die Wirkung der genannten Stoffe auf die Ganglien ist durchaus spezifisch. '
Dies beweist, daß z. B. die erhöhte Reizbarkeit nach Bepinselung des G. cerebrale
mit Kochsalz keine direkte Reizwirkung (Summierung) ıst. Eine solche müßte sich
noch viel mehr geltend machen bei Behandlung der Gg. pedalia mit Kochsalz; das
ist nicht der Fall.
10) Reizt man echte Hemmungszentra, so kann man die Hemmung demon-
strieren, siehe weiter unten bezüglich der Crustaceen.
BB ae N A u ya a a N nad
3 \ Da ’ R
470 H. Jordan, Die Phylogenese der Leistungen des zentralen Nervensystems.
uud geht ja schon mit Deutlichkeit daraus hervor, daß durch Kokain
die Hemmung verstärkt, durch Kochsalz vermindert wird.
Hemmung ohne Impuls, Hemmung, die durch teilweise Lähmung
vergrößert, durch dauernde Erregung vermindert wird, kann nur
durch Erregungsvernichtung zustande kommen. Die Ganglien stehen
mit dem in sich geschlossenen ‚Reflexbogen als nebengeschaltete
Leitungsenden, durch besondere Bahnen und Connective in Ver-
bindung. Sie können also nur denjenigen Teil der Erregung ver-
nichten, der, in sie gelangend, dem eigentlichen Refiexbogen ent-
zogen wird. Je größer dieser Teil, desto größer die Hemmung.
Die Hemmung hängt also von der Verteilung der Erregung auf
Reflexbogen und Zentra ab. Die Hemmung findet statt nach Maß-
gabe des aktiven Zustandes der Zentra, d.h. der Leitungsendpunkte;
also findet auch die Verteilung der Erregung in den
Zentralorganen unserer Tiere statt nach Maßgabe des
aktiven Zustandes der Leitungsendpunkte. Und das nahmen
wir uns vor zu beweisen. Bei Helix (und Ciona inteslinalis) können
wir diesen für die Ganglien gewonnenen Satz auch für die Muskeln,
und zwar für den viskosoiden Muskeltonus, beweisen. Wir müssen
annehmen, daß der Dehnungsgrad der Muskeln gleichbedeutend ist
mit geringem „aktiven Zustande“ der zugehörigen Zentra in den
Nervennetzen. Daß dies zulässig ist, ergibt sich aus dem Umstande,
daß ın manchen Versuchen das nämliche Resultat durch Muskel-
dehnung oder Kokainvergiftung der Muskeln erzielt werden kann.
Die Verminderung des viskosoiden Widerstandes durch die Pedal-
ganglien können wir durch solche Veränderung des aktiven Zu-
standes in der Peripherie in ähnlicher Weise beeinflussen, wie wir
dies bei den Ganglien taten. Übermäßige Dehnung der Muskeln
vermindert die Tonushemmung zunächst, um späterhin zu bewirken,
daß der Muskel weiterer Dehnung sogar mehr Widerstand bietet,
als ein ganglienloser Muskel unter gleichen Bedingungen.. Tonus-
erzeugende Erregung strömt also auch hier nach demjenigen Leitungs-
endpunkte, in welchem wir den aktiven Zustand künstlich herab-
‚setzten. Daß wir durch unsere Dehnung keinerlei Muskelsinnes-
reflex erzeugt haben, konnte hier (im Gegensatz zum Schlangenstern)
wie folgt gezeigt werden. Ein Helixfuß wird durch einen Längs-
schnitt in zwei Hälften zerlegt, die nur mehr durch die Zentral-
ganglien miteinander in Verbindung stehen. Starke Dehnung der
einen Hälfte verursacht in der anderen nunmehr keine Zunahme,
sondern eine Abnahme des tonischen Widerstandes. Das würde für
die Auffassung als Reflex folgenden Widerspruch bedeuten: gleicher
Reiz in beiden Dehnungsversuchen erzielen entgegengesetzten Erfolg.
Nach unserm Gesetze der Erregungsverteilung hingegen erklärt sich
jenes gegensätzliche Verhalten ohne weiteres. Für die bewegungs-
auslösende Erregung konnte ich aus dargetanen Gründen unseren
Satz noch nicht beweisen. |
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H. Jordan, Die Phylogenese der Leistungen des zentralen Nervensystems. 471
Zusammenfassend können wir sagen: Im Nervensystem unserer
„niederen“ Tiere fehlen in der Tat individualisierte Bahnen, die
durch bestimmte Weichen und weichenstellende Muskelsinnreflexe
geöffnet und blockiert werden können. Die Erregung verteilt sich
in diesen Systemen nach einfachen Gesetzen: An sich stehen ihr
alle Wege offen und nur das Gesetz vom Dekrement hindert die
Ailgemeinausbreitung. Speziellen Anforderungen wird diese Art
der Erregungsverteilung gerecht durch das Gesetz, daß der Zustand
der Leitungsendpunkte für diese Verteilung maßgebend ist. So er-
halten wir ohne weiteres eine Anpassung dieser Verteilung an die
Bedürfnisse der Erfolgsorgane und verstehen es zugleich, daß die
Zentralganglien als nebengeschaltete Leitungsendpunkte auftreten,
die hemmend den Erfolgsorganen einen Teil der Erregung streitig
machen. Ihr „aktiver Zustand“, von dem Verteilung und daher
Regulierung abhängt, kann als physiologische Umschreibung der
Spontaneität („Wille“) aufgefaßt werden.
Die Erregung verhält sich wie eine beliebige leitbare Energie-
form, d.h. sie verteilt sich entsprechend dem Energiegefälle. Dies
ist natürlich kein Beweis dafür, daß das einfache Gesetz vom Ge-
fälle für die beschriebene Erregungsverteilung verantwortlich ist.
Wir wissen noch zu wenig über die Erregung, um über die Gesetze,
die ihre Verteilung in den leitenden Systemen beherrschen, mehr
als Hypothesen aufstellen zu können.
Ill. Wirbellose. die zu unserer höheren Tiergruppe gehören
(Arthropoden und Anneliden).
Arthropoden und Anneliden besitzen Muskeln, die ın bestimmten
antagonistischen Gruppen oder Paaren zusammenarbeiten. So kann
stets dafür gesorgt werden, daß dem Agonisten der Antagonıst folgt,
und daß während der Arbeit des Agonisten der Tonus im Anta-
gonisten aufgehoben wird. In der Tat kommt bei den Bewegungs-
muskeln beider Gruppen kein viskosoider, sondern ein elastischer
Tonus vor, wie bei den Wirbeltieren. Auf alle Fälle muß solch
ein elastischer Tonus durch einen besonderen hemmenden Impuls
aufgehoben werden. Seine Überwindung ohne Zuhilfenahme hem-
mender Einwirkung von Seiten des en ensystems bedeutete
wachsenden Widerstand!
Bei den Crustaceen (Astacus, Cancer pagurus) hat bislang
noch kein Muskelsinnesreflex zur Regelung des Antagonismus ge-
funden werden können. Wir können die Haupterscheinungen ohne
Zuhilfenahme solcher Reflexe erklären. Auch eine Individualisierung
der Bahnen hat hier noch nicht stattgefunden.
Ch. Richet und andere Untersucher!!) fanden folgende Ge-
11) Richet, Ch., Arch. Physiol. Paris 1879. Physiologie des muscles et des
nerfs. Paris 1582, Luchsinger, Arch. ges. Physiol, Bd. 28, 1882, p. 60. Bieder-
472 HH. Jordan, Die Phylogenese der Leistungen des zentralen Nervensystems,
setze: Wenn ıman die Extremitäten von Krebsen mit „schwachen“
Strömen reizt, so erfolgt Streckung (Öffnung der Schere), während
„starke“ Ströme Beugung (Scherenschluß) zur Folge haben.
Schwache Ströme, welche die Streckmuskeln zur Verkürzung
bringen, hemmen etwaigen Tonus in den Beugemuskeln. Starke
Ströme hingegen vernichten den Tonus in den Streckmuskeln.
Endlich konnte ich'!?) zeigen, daß die Regelung dieser Bewegung
durch das Cerebralganglion sich den dargetanen Gesetzen anpaßt.
Reizt man das Cerebralganglion, so erhält man durchaus den um-
gekehrten Erfolg wie bei Reizung des Extremitätennerven (oder des
Bauchmarkes). D.h. starke Reize rufen eine Verkürzung der Streck-
muskeln hervor, während schwache die Bewegung der Beuge-(Schließ)-
Muskeln verursachen. Hirnreizung und periphere Reizung können
miteinander interferieren. D. h. wenn wir die Peripherie mit „starken“
Strömen dauernd reizen, dann können wir die Verkürzung der
Beugemuskeln aufheben durch eine Reizung des G. cerebrale, und
zwar ebenfalls mit starken Strömen. Durch diese Einrichtung kann
das Hirnganglion die Peripherie beherrschen, wie aus folgenden Ver-
suchen hervorgeht: Es ıst eine altbekannte Tatsache, daß ein Krebs,
dem man (einseitig) ein Schlundkonnektif durchschnitten hat, Kreis-
bewegungen nach der normalen Seite hin ausführt. Meine Erklärung
hierfür ıst folgende: Jeder Schritt des Tieres beginnt mit einer
Verkürzung der Beugemuskeln, hierdurch greifen die Beine (1—3)
nach vorn. Fehlt nun dieser Bewegung der regulierend, inter-
ferierende Impuls vom Oerebralganglion, dann wird sie übertrieben;
die Beine der operierten Seite greifen zu weit nach vorn-innen und
hierdurch entstehen die Kreisbewegungen. Daß die Erklärung richtig
und die Erscheinung ein Ausdruck für das Steuervermögen des G.
cerebrale ist, ergibt sich aus folgenden Versuchen, die ich bei
Cancer pagurus ausführte: Auf einer Seite wird das Schlundkonnektif
durchtrennt und der periphere Stumpf auf Platinelektroden gelegt,
die durch die künstlich geschlossene Operationswunde herausragen.
Man läßt das Tier sich erholen und wartet bis es spontan läuft
(und zwar wie gesagt im Kreise). Nun verbindet man durch ein
langes Stück Leitungsschnur die beiden Platinadrähte mit einem
Induktionsapparat. Während das Tier spontan im Kreise läuft,
setzt man das Induktorium in Bewegung: sofort nehmen die Beine
(bei richtiger Stromstärke) die normale Haltung an und die Richtung
des Ganges wird normal. Durch Abstufung der Reizstärke können
wir nunmehr das Tier zwingen in jeder gewünschten Richtung zu
gehen, wir können es steuern, wie es normalerweise durch das G.
mann, W., Sitz.-Ber. math. nat. kl. Akad. Wiss. Wien Bd. 95, Abt. 3, 1887,
p. 7; Bd. 97, Abt.3, 1889, p. 49. Piotrowski, G., Journ. Physiol. London T, 14.
1893, p. 165.
12) Jordan, H., Arch. ges. Physiol. Bd. 131, 1910, p. 317,
Du ak TE RR Ze Zn ha
H. Jordan, Die Phylogenese der Leistungen des zentralen Nervensystems. 4793
cerebrale gesteuert wird. Ich glaube, daß dies das einzige Beispiel
ist für den Ersatz einer Zentrenfunktion durch elektrische Reizung
und gerade dadurch wird dasjenige bewiesen, was für die Beurteilung
der Crustaceen als „phylogenetisches Stadium“ in der Entwicklungs-
reihe, die uns beschäftigt, am wichtigsten ist: Die Beherrschung und
Steuerung eines antagonistischen Muskelsystems ohne individualı-
sierte Bahnen, daher ohne Weichen und weichenstellende Reflexe!
Wir wissen nicht was in den Zentren des Bauchmarks die Folge
von starker und schwacher Erregung hervorruft??). Die Abstufung
der Erregung jedoch genügt um alles zu erklären, was bei der Orts-
bewegung dieser Tiere, bei der Erregungsverteilung in ihren Zentren,
einer Erklärung bedarf: sind nämlich die abgestuften Erregungen
einmal gegeben, dann ist eine Verteilung auf besondere Nerven-
bahnen '*) oder besondere Muskelgruppen nicht mehr notwendig.
Die primitive Art der Erregungsverteilung wird ausgeglichen durch
die besondere Art der Erregungsausnützung von Seiten der Muskeln.
Der Regenwurm.
Dies alles ist beim Regenwurm anders. Hier zum ersten Male
trıtt uns der Muskelsinn als entscheidender Faktor bei der Er-
regungsverteilung entgegen. Die antagonistischen Muskelgruppen
sind Längs- und Ringmuskeln, die ın strengem Antagonismus zu-
sammenarbeiten, und hierbei die bekannten Kriech- und Bohr-
bewegungen dieser Tiere zustande bringen.
Aus den bekannten Versuchen Friedländer’s'?) ergibt sich
folgendes: zieht man an den Längsmuskeln, so hat dies, nicht wie
bei den Schnecken etc. eine passive, sondern eine aktive Dehnung
des Wurmes zur Folge: die Delmung der Längsmuskeln hat einen
Reflex zur Folge, dessen Resultat eine Verkürzung der Ringmuskeln
und eine Dehnung des. Tieres ist. Die Bedeutung dieses antagonı-
stischen Reflexes für die Bewegung des Tieres haben Friedländer
und Biedermann!) gezeigt.
Neben diesem und anderen antagonistischen Reflexen, welche
die Bewegung einer Muskelgruppe als Folge der Bewegung der
Antagonisten bezwecken, beschreibt Biedermann einen Reflex,
der gleichzeitig im Antagonisten den Tonus vernichtet. Unter be-
sonderen Versuchsbedingungen nämlich erhält man durch Haut-
13) Ich übergehe absichtlich die in der Literatur vorliegenden Erklärungs-
versuche des Impulsrhythmus. — Der Verzicht auf Benützung individueller peripherer
Bahnen macht Vergleichung mit analogem, jedoch rein zentralem Geschehen bei Verte-
braten zunächst für uns unnötig.
14) Man beachte, daß wir stets die ganzen Bahnen oder Ganglien reizen und
je nach Abstufung des Reizes doch den differenzierten Erfolg erzielen.
15) Friedländer, B., Biol. Zeniralbl. Bd. 8, 1888; Arch. ges. Physiol. Bd. 58,
834,7
16) Biedermann, W,, Arch. ges. Physiol. Bd. 102, 1904, p. 475,
WRITER
474 R. Demoll, Die Bedeutung der Elytren der Käfer für den Flug.
reizung gleichzeitig Verkürzung der Längsmuskeln und Verschwinden
eines deutlich vorhandenen go in.den Ringmuskeln.
So einfach diese Erscheinungen beim Regenwurm auch sein
mögen, sie setzen individualisierte Leitungsbahnen mit „Weichen“
voraus, dıe geöffnet und blockiert werden können. Einwirkungen
der Zentren auf die Peripherie „en bloc“ sind hier nicht mehr
möglich. Damit ist im Prinzip die Einrichtung gegeben, welche
wir in viel größerer Kompliziertheit bei den Säugetieren‘ durch
Sherrington und Magnus kennen gelernt haben. Ein System
ist hierdurch für die höchsten Tiere angenommen worden, bei
welchem höhere Differenzierung des Bewegungsapparates eine un-
geheure Zunahme der Leitungsbahnen ım Zentralnervensystem
fordert. So erklärt sich der Reichtum an Fasern, an Bahnen ın
diesen Zentren, ein Reichtum, der seinerseits wieder die Basis wird
für die feine Veen: der Leistungen dieses Systems, zumal
auch der psychischen Leistungen.
Die Bedeutung der Elytren der Käfer für den Flug.
Von R. Demoll.
In meiner Schrift „Über den Flug der Insekten Ad der Vögel*
(Fischer 1918) bin ich hinsichtlich der Bedeutung der Elytren der
Käfer zu folgendem Resultat gekommen (Seite 53): „Die Käfer werden
demnach durch die Tätigkeit der Elytren lediglich gehoben; die
Vorwärtsbewegung wird nur durch die Hinterflügel ermöglicht.“
Zu diesem Ergebnis wurde ich geführt durch die Beobachtung
1. daß die Elytren Flugbewegungen ausführen,
2. daß eine Verkürzung der Vorderflügel eine Zunahme der
Fluggeschwindigkeit zur Folge hat, während andererseits
eine Verkürzung der Hinterflügel zu einer schnellen Ver-
minderung der horizontalen Fluggeschwindigkeit führt.
In seiner ausführlichen Kritik über diese Arbeit hat Stellwaag
betont, daß diese Auffassung nicht möglich sei, in der Ba
weil die anatomischen Befunde eine Beielieing der Elytren beim
Flug als Hebeorgane nicht möglich erscheinen lassen. Er schreibt
hierüber in „Die Naturwissenschaften“ 1919, Heft 10, Seite 164:
„Es sei gestattet hier nur auf die Frage der Bedeutung der Käfer-
deckflügel einzugehen, da der Verfasser seine Ansicht von deren
Wirksamkeit als echte Flügel noch an anderer Stelle betont hat.
(Die Auffassung des Fliegens der Käfer — eine zoologische Irrlehre,
ım Zool. Anzeiger 1918, S. 285.) Er geht hier noch weiter wie ın
seinem Buche. »Die Elytren beteiligen sich am Fluge in derselben
Weise wie die häutigen Flügel.- Mit dieser Ansicht stimmt er nur
mit einem einzigen der vielen Autoren überein, die über diese
R. Demoll, Die Bedeutung der Elytren der Käfer für den Flug. 45
Frage nachgedacht haben, nämlich mit Chabrier aus dem Jahre 1821,
dem die anatomischen Verhältnisse des Käferthorax noch nicht be-
kannt waren. Aus dem Bau der Flügelachsel, der Größe und Lage
der ansetzenden Muskeln, der schwächlichen Beschaffenheit des
Mesothorax und dem mechanischen Verhalten der Deckflügel folgt
jedoch, daß diese Ansicht nicht haltbar ist. Der Referent hat dies
eingehend begründet (Zeitschrift für wissensch. Zoologie 1914, siehe
auch Naturw. Wochenschrift 1914, S. 97): Ein wirksamer Flügel
muß neben anderen Eigenschaften notwendigerweise einen steifen
Vorderrand und eine nachgiebige Fläche besitzen, wenn er den Luft-
widerstand wirksam ausnützen soll. Außerdem muß er energische
und wirksame Schläge und ganz bestimmte Drehbewegungen aus-
führen. Aber der Deckflügel stellt eine gleichmäßig dicke, un-
elastische Platte vor, die nur geringe Ausschläge machen kann und
vertikal beweglich ist. Die Analyse des Flugapparates und zahl-
reiche verschiedenartige Versuche führen zu dem Ergebnis, daß die
Elytren weder als wirksame Flügel noch etwa als Tragflächen oder
Gewichtssteuer, sondern wohl nur als Stabilisierungsflächen auf-
zufassen sind. Sie wirken durch ihre Fläche und die bei schneller
Fortbewegung des Tieres sekundär erzeugte lebendige Kraft des
Luftwiderstandes, die den Körper beim Flug aus der mehr vertikalen
Lage in eine mehr horizontale Lage bringt.“
Ich habe nun trotz dieser Einwände von Stellwaag, deren
Bedeutung mir schon zuvor bekannt war, da ich seine Arbeit vor
Niederschrift meiner Untersuchungen gelesen hatte, mein Augen-
merk nicht darauf gerichtet, ob die anatomischen Verhältnisse uns
eine Wirksamkeit ohne weiteres verstehen lassen; ich habe weiter
darauf verzichtet, in theoretische Betrachtungen mich zu verlieren,
ob — wie Stellwaag meint —, ein wirksamer Flügel „notwendiger-
weise einen steifen Vorderrand und eine nachgiebige Fläche be-
sitzen muß“, sondern ich bin wieder, wie in meiner ersten Arbeit,
direkt an das Experiment gegangen, um dieses entscheiden Zu
lassen, ob zwingendere Beweise, als die, die ich bisher erbracht
habe, die Bedeutung der Elytren nach der einen oder anderen
Richtung hin außer Frage stellen.
Die ausschlaggebenden, kaum noch Einwände zulassenden Be-
obachtungen hätte übrigens Stellwaag leicht selbst bei seinen
Experimenten machen können, wenn er bei seinen Versuchen mit
Maikäfern die Männchen und Weibchen streng miteinander ver-
glichen hätte. Er hatte den hier zu beobachtenden Differenzen
ebensowenig Bedeutung zugemessen, wie ich selbst in meiner
früheren Untersuchung. Er schreibt zwar zunächst, daß er mit
männlichen und weiblichen Tieren gearbeitet hat, gibt aber dann
bei Schilderung seiner Experimente nicht mehr an, ob es sich um
Weibchen oder Männchen handelte, Auffallend schemt mir an
476 R. Demoll, Die Bedeutung der Elytren der Käfer für den Flug.
seinen Beobachtungen, daß er durchweg beı Elytrenverkürzung von
einer Verminderung der Fluggeschwindigkeit. spricht, während ich
stets das Gegenteil finden konnte. Ich habe auch in diesem Jahre
wieder mehrere Männchen beobachtet, die auch nach vollständiger
Entfernung der Elytren noch zu fliegen vermochten. Zunächst
konnte ich durchweg feststellen, daß die Fluggeschwindigkeit bei
diesen Tieren weit über die Norm hinausging. Es wurden 4 bis 5
und selbst 6,5 m in der Sekunde erreicht, während das Normaltier
bei 2m etwa bleibt. Ferner konnte ich nie den Eindruck gewinnen,
daß die Käfer unbeholfener und schwankender fliegen, sondern im
Gegenteil eher in geringerem Maße das Gaukelnde des Maikäfer-
fluges zeigen, was eben durch die hohe Geschwindigkeit verursacht
sein mag.
Die neuen Beobachtungen, die mir die Bedeutung der Elytren
definitiv klarzustellen scheinen, sınd folgende:
1. Kleine Teile der Elytren Me der Hinterflügel ver-
mögen sich physiologisch zu vertreten. Werden einem Käfer
die El so weit gestutzt, daß er auch nach einigen Übungs-
flügen noch erkennen läßt, daß er nahe an der Ge eines ch
möglichen horizontalen Fluges angelangt ist, so wird ein solches
Tier vollständig unfähig zu fliegen, dadurch, daß man ihm entweder
noch die Hinterflügel weiter um ein kleines Stückchen kürzt, oder
daß man von den Elytren die Spitze wegnimmt. Es zeigt sich also
hier, daß eine Entfernung eines solch kleinen Teiles, etwa !/,o bis
las a. Elytren, eine ee herberufulyen vermag, ‚Ner-
kürzungen, die bei intakten Hinterflügeln vollständig belanglos sind
für den Flug.
Die 2. Versuchsreihe führe ich hier an, nicht deshalb, weil
ich sie für sehr beweiskräftig halte, sondern deshalb, weil das
Resultat ein verschiedenes ist und weil ich daher verhindern möchte,
daß irgendeine gelegentliche Beobachtung als allgemein gültig an-
gesehen und gedeutet würde. Ich arbeitete bei dieser Serie nur
mit Weibehen. Diesen darf man die Elytren durchschnittlich nur
bis zur Hälfte oder bis zu ?/, entfernen, um an die Grenze der
Flugfähigkeit zu gelangen.
Ich ging nun so vor, daß ich einem Tier die linke Elytre etwa
um */, kürzte, die rechte dagegen etwa nur um !/,. Es zeigte sich
nun in den ne meisten Fällen, daß solche Tiere sehr Schlacht
oder überhaupt nicht mehr fliegen. Dies würde sowohl im Sinne
tellwaags, als auch im Sinne meiner Auffassung verwertbar sein.
Ich hatte aber doch unter den vielen Weibehen auch zwei be-
obachten können, die gleich zu Anfang mit den sehr ungleich ge-
stutzten Elytren noch recht gut zu fliegen vermochten. Wurde diesen
Tieren dann die weniger gestutzte Elytre nun auf dasselbe Maß
veduziert wie die kürzere, so daß beide gleich kurz waren, so war
rl Ken kn RR Dia e DM Ta AH 7 1 2 LESE IE ara Dot Da DE
R. Demoll, Die Bedeutung der Elytren der Käfer für den Flug. ATI
ein Flug überhaupt nieht mehr möglich. Es zeigte sich also ın
diesen beiden Fällen, daß der Flug noch ermöglicht wird, wenn nur
die Summe der Flächen des rechten und linken Flügels die un-
bedingt notwendige minimale Ausdehnung der Elytren erreicht,
gleichgültig, ob die Flächenverteilung symmetrisch oder asymmetrisch
ist. Würde es sich hier um ein Balanzeorgan handeln, so wäre zu
erwarten, daß die gleich kurzen Elytren dem Fluge dienlicher sind.
Die besonders schwerwiegenden Argumente nenne ich zuletzt.
3. Ich habe in diesem Monat eine Reihe von Männchen be-
obachtet, die ihrer Elytren beraubt, gleich beim ersten Flug tadel-
los zu fliegen vermochten, wenn sie auch meist bei den ersten
beiden Flügen auf 2 m, 2—3 dem an Höhe verloren. Einige von
ihnen vermochten schon beim zweiten Flug nach oben zu fliegen
und hießen in keiner Weise einen Unterschied gegenüber normalen
Männchen erkennen. Eine solche Stabilität ohne Elytren
muß die Wichtigkeit dieser Gebilde als Stabilisierungs-
apparate recht fraglich erscheinen lassen.
Man kann wohl sagen, daß es aul alle Fälle erstaunlich ist,
daß die Tiere so schnell sich den ungewohnten Verhältnissen an-
passen, denn ungewohnt ist die Situation nicht nur dadurch, daß
die Hinterflügel schneller arbeiten müssen, um die Tätigkeit der
Vorderflügel zu ersetzen, sondern auch dadurch, daß der Angriffs-
punkt der hebenden Kraft nennenswert nach hinten rückt. Aus-
schlaggebend für die ganze Frage scheint mir aber folgende Be-
obachtung zu sein.
Je geringer das Gewicht des Tieres, desto weiter darf
ohne Beeinträchtigung des Fluges eine Verkürzung der
Elytren stattfinden. Daher kommt es, daß man nur bei Männ-
chen hoffen darf, noch nach völliger Entfernung der Elytren eine
Flugfähigkeit anzutreffen. Ich gebe hier eine Tabelle, die das Ge-
wicht von 12 männlichen und 12 weiblichen Käfern wiedergibt, die
. mir einer meiner Doktoranden zur Verfügung gestellt hat, der von
ganz anderen Fragen ausgehend, sich für das Gewicht der Tiere
interessierte. Er hat hierbei aus 200 Exemplaren außer Durch-
schnittstieren auch möglichst große und möglichst kleine Männchen
und Weibchen herausgenommen und man sieht, daß erst etwa die
schwersten Männchen im Gewicht die leichtesten Weibchen erreichen.
Dies erklärt uns, weshalb man nur unter den Männchen Tiere findet,
die auch noch ohne Elytren zu fliegen vermögen.
Melolontha mgr Melolontha mgr
Männchen: 1. = 1081,02 Weibchen: 1. = 1505,2
2. — 906,8 2. — 1482,8
3, — 946,8 3. — 13576
4. — 882,2 4. = 13492
5. —= 8452 5. — 1254,0
ATS A. Forel, Entgegnung.
Melolontha mer Melolontha mgr
Männchen: 6. = 854,8 Weibehen: 6, = 1354,2
7.— 1,8952 1. 138.0
8.9 142,2 2
u 153,9 9. 10413
302 —..:685;9 IR ITL
hr ,029,2 11. =! "886,4
22,0 ‚58058 12.2 500.0
Ich hatte ferner bei einer Reihe von Weibchen die Elytren
ganz allmählich verkürzt, um möglichst genau die Grenze fest-
zustellen, bei der die Tiere noch zu fliegen vermögen. Und da hat
sich nun stets gezeigt, daß eine Einordnung der Weibchen nach
dem Gewicht vollständig sich deckte mit einer Einordnung nach
den ihnen noch verbliebenen Elytrenstummeln. Je‘ schwerer das
Weibchen, eine desto größere Fläche bedurfte es zum Fliegen. Bis-
weilen glaubte ich Ausnahmen zu finden. Ich hatte einem Weib-
chen die Elytren bis auf !/, gestutzt und zwar einem Weibchen, das
mir schwerer zu sein schien als ein anderes, bei dem die Grenze
bei einer Entfernung der Hälfte der Elytren lag; legte ich aber die
Tiere auf die Wage, so zeigte sich jedesmal wieder, daß diese
Proportionalität eine ganze strenge blieb. Hier muß jeder Versuch,
die Elytren als Gleichgewichtsorgane zu deuten, scheitern; es sei
denn, man wolle annehmen, daß das etwas schwerere Weibchen
eine um ein entsprechendes größere Balanzestange nötig habe als
das kleinere, und daß die noch leichteren Männchen infolge des
geringeren Gewichts, im übrigen aber aus unerfindlichen Gründen
dieses Balanzierapparates ganz entbehren könnten.
Ich habe daher nach wie vor die Ansicht, daß es ın erster
Linie geboten erscheint, die Anschauungen über die anatomischen
Verhältnisse zu modifizieren. Denn, da mir das Experiment ein-
deutig die Antwort gibt, daß die Elytren zum Heben dienen, so
wird man versuchen müssen, die anatomischen Verhältnisse diesen
Resultaten anzupassen und nicht umgekehrt.
Entgegnung
von Dr. A. Forel,
vormals Professor in Zürich.
Mit zwei Worten muß ich gegen die Art, wie Herr Dr. Henning
(Biolog. Zentralbl. vom 30. April 1919, S. 192) meine Worte und
Ansichten entstellt, protestieren, die Pflanzen oder gar die Atome
besäßen ein Bewußtsein. Über die nachfolgenden Auseinander-
setzungen, die Henning gegen mich, Dr. Brun und Semon’s
Mneme anführt, ist es nicht der Mühe wert ein weiteres Wort zu
verlieren, ebensowenig über die vorausgehenden,
N Ba an a a ea ae a din Her N ra N BE Re
OÖ. Renner, Experimentelle Studien über Variabilität ete. - 479
Referate.
N. Heribert-Nilsson, Experimentelle Studien über
Variabilität, Spaltung, Artbildung und Evolution in der
Gattung Salix.
Lunds Universitets Arsskrift, 1918, N. F. Bd. 14 Nr. 28. Festschrift der Univer-
sität Lund zu ihrem 250jährigen Bestehen. 145 Seiten, 65 Bilder im Text.
Die Floristik wird im Lande Linnes, im (Gedenken an die glorreiche Zeit der
schwedischen Führerschaft, noch heute so tatkräftig gepflegt wie sonst kaum irgendwo,
und aus den Bedürfnissen des Sammlers sind die Versuche hervorgegangen, deren
imponierende Ergebnisse der Verf. nach 12jähriger Arbeit vorlegt. Die große Arten-
zahl in der Gattung Salix, die Variabilität der Linn&’schen Weidenarten und die
Häufigkeit unzweifelhafter spontaner Bastardbildung sind für den Floristen eine
(JQuelle der Freuden und des Kummers, des Kummers insofern, als es auch dem
guten Kenner oft nicht gelingen will einem gefundenen Individuum mit einiger
Sicherheit seinen Platz im System anzuweisen. Die Rolle der Bastardierung beim
Zustandekommen dieser Vielförmigkeit experimentell zu studieren war das erste Ziel
des Verf., und unter den Händen ist ihm aus der ursprünglich floristisch gerichteten
Arbeit ein höchst bedeutsamer Beitrag zur allgemeinen Vererbungslehre geworden.
Auch der Mutter, die es duldet, daß in ihrem Dorfgarten die Gemüsebeete mit Weiden-
gestrüpp statt mit Blumen gesäumt werden, ist ein Ehrenplatz in der Geschichte
der Weiden- und der Vererbungsforschung sicher.
Die erste (teneration der Kreuzung zweier Arten ist einförmig und intermediär.
Dabei halten entweder fast alle Einzelmerkmale in ihrer Ausprägung die Mitte
zwischen den Eltern, oder aber es wird das eine Merkmal vom einen und das andere
vom andern Eltern ziemlich unverändert übernommen, so daß nur das „Mosaik“ der
Charaktere als ganzes intermediär wirkt. Im zweiten Fall kann ein und dasselbe
morphologische Merkmal in der einen Kreuzung dominieren und in einer anderen
rezessiv sein; so dominiert die Behaarung der Blätter von $. aurita über die Kahl-
heit des Laubgs von $. purpurea, dagegen ist die Behaarung der $. caprea gegen-
über der Kahlheit der $. purpurea rezessiv; und ähnliches ist von dem Verhältnis
zwischen langen und kurzen Narben beobachtet. In beiden Fällen werden solche
Bastarde vom Kenner mit ziemlicher Sicherheit richtig bestimmt. Viel wichtiger ist
aber das Verhalten der F,-Generationen. Die Mehrzahl der Individuen ähnelt wohl
mehr oder weniger der F,, aber in geringerer Zahl treten auch Pflanzen auf, die
teils den Eltern nahe kommen, teils von beiden Eltern in den verschiedensten Eigen-
tümlichkeiten sich so weit entfernen, daß auch der beste Spezialist die Genese nicht
erraten würde. Das auffälligste Beispiel einer solchen „extravaganten“ Kombination
ist der aus der Kreuzung Salix (repens X viminalis) X repens gewonnene Bastard
„amerinoides“, so genannt, weil er allerhand Merkmale zur Schau trägt, die der
Gruppe der Amerinae (S. alba, babylonica) eigen sind, aber weder den Elternarten
noch ihren Verwandten zukommen.
Am eingehendsten ist die F, der Kreuzung 9. caprea X viminalis studiert,
und die beträchtliche Anzahl der Individuen (157 Stück) erlaubt einen Schluß auf
die Zahl der beteiligten mendelnden Faktoren. Es wird wahrscheinlich gemacht, daß
S. caprea, mit breiten kurzen Blättern, vor der sehr lang- und schmalblätterigen
S. viminalis zwei Faktoren für Blattbreite „voraus“ hat, während S. viminalis einen
Faktor für Blattlänge „mehr“ besitzt, und daß diese Faktoren außer der Blattgröße .
und -gestalt auch die meisten übrigen artunterscheidenden Habitusmerkmale ebenso
wie die physiologischen Charaktere beeinflussen, z. B. die Blattfarbe, die Höhe des
Strauchs, die ganze Periodizität der Entwicklung. Diese „pleiotropen“, „diffus
wirkenden“ Faktoren dürften allerdings nicht den letzten Erbeinheiten entsprechen,
ku he a OR q
; ar NR 7-
\
480 0. Renner, Experimentelle Studien über Variabilität eh
sondern die großen Komplexe von Genen repräsentieren, die je im einem Chromosom
lokalisiert sind (Ref.); die eigentlichen BEinzelfaktoren werden eben streng gekoppelt
sein, weil kein erossing over stattfindet. Verhältnismäßig kompliziert scheinen die
Grundunterschiede zu spalten, «die die Behaarung der beiden Arten bedingen, d. h.
die betreffenden Gene werden in einer größeren Zahl von Chromosomen lokalisiert
sein. Unabhängig voneinander spalten die Länge der Kätzchenspindel und die
Länge der Staubblätter. Wenn die faktorielle Analyse hier auch noch nicht ganz
durchgeführt ist. so besteht doch kein Zweifel daß alle diese Charaktere, geradeso
wie die für die Habitusunterschiede der beiden Arten besonders wesentlichen Merk-
male der Blattgestalt, auf mendelnden Grundunterschieden beruhen, daß also „Art-
merkmale“ durchweg keine andere Vererbungsweise besitzen als „Varietätmerkmale*“.
Bei Rückkreuzung eines Bastardes mit einem der Eltern liegt die Variabilität,
wie zu erwarten, zwischen dem Phänotypus der F, und dem der Art, die zur Rück-
kreuzung verwendet wurde. Auch die Kreuzung eines Bastardes mit einer dritten
Art liefert ein Ergebnis, das nach Mendel’schen Schemata ungefähr vorauszusehen
ist. Ganz besonders polymorph fällt natürlich die Nachkommenschaft einer Kreuzung
zweier Bastarde aus. — Von der ganzen Fülle der Variation und von den über-
raschenden Zügen der extravaganten Kombinationen geben die zahlreichen Ab-
bildungen von Zweigen und ganzen Sträuchern eine anschauliche Vorstellung.
Die wenigen exakten Studien über Artkreuzungen, die bis jetzt vorliegen, bringen
es klar an den Tag, daß die Kreuzung mindestens einer der allerwichtigsten Wege
der Entstehung neuer Biotypen, neuer „Arten“ ist. Der Verf. zieht aus seinen Er-
fahrungen den Schluß, daß auch die Variabilität der „Großarten“ eine befriedigende
Erklärung findet, wenn die Genese der Arten auf Kreuzung zurückgeführt wird:
die „Varietäten“ können gleichzeitig mit der „Hauptart“ entstehen, brauchen sich
nicht nachträglich yom „Typus“ abzuspalten, da aus der F, einer einzigen Kreuzung
ein Schwarm von Formen hervorgehen kann. Viele dieser Kreuzungsprodukte sind
aber ausgesprochen minderw ertig, unfähig sich in der ae renz mit den auf weiten .
Wohngebieten ansässigen’ Arten zu behaupten, wie z. B. F,-Kombinationen, deren
. Achselknospen regelmäßig als Johannistriebe Re so daß Blütenbildung un-
möglich ist, oder solche mit leicht berstender Zweigrinde oder mit: hoher Anfälligkeit
für Pilzbefall. Es ist also recht wohl möglich, daß die gegenwärtig existierenden
Arten die an die gegenwärtigen Lebensbedingungen ihrer Wohngebiete am besten
angepaßten Biotypen darstellen, daß die Natur alle möglichen Kombinationen schon
durchgeprüft und das Beste behalten hat. Erst mit der Übersiedelung einer Art in
ein neues, ihr vorher nicht zugängliehes Gebiet, das andere Artengruppen beherbergt,
oder mit der Verschiebung der klimatischen Faktoren in einem gegebenen geogra-
phischen Bezirk könnte der Vorgang der Artbildung von neuem in Fluß kommen.
Über die Konstruktion von „Entwieklungsreihen‘“ aus äußeren Ähnlichkeiten
sprechen die experimentellen Ergebnisse des Verf. ein vernichtendes Urteil. Aus
einer einzigen F,-Generation können Formengruppen hervorgehen, die der mit den
Methoden der vergleichenden Morphologie arbeitende Systematiker, ohne Kenntnis
der Genese, in eine Entwieklungsreihe oder in mehrere solche Reihen ordnen würde.
Und gelegentlich tritt infolge von Kreuzung mit einem Schlag ein absolutes Novum
auf, das seine Abstammung ganz und gar verleugnet, wie die Salz amerinoides.
Daß alle unsere systematischen, phylogenetischen Stammbäume Dichtung sind, ist
eine bittere Einsicht, aber eine unabweisbare, O. Renner, München.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der Universitäts-
Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen,
Biologisches Zentralblatt
Begründet von J. Rosenthal
Unter Mitwirkung von
Dr..K. Goebel und Dr. R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München ;
herausgegeben von
Dr. E. Weinland
Professor der Physiologie in Erlangen
Nee von Georg Thieme in Leipzig
'39. Band November 919 Nr u
Ahr am 10. Dezember 1919
Der jährliche "Abohnementspreis (12 Hefte) beträgt 3 en) Mark
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwiekelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physiolog. Institut
einsenden zu wollen.
Inhalt: N. Patschovsky, Über eine Möglichkeit des außernormalen Entstehens von pflanzlichem
Kalziumoxalat. 8. 481.
J. H. F. Kohlbrugge, Der Akademiestreit im Jahre 1530, der niemals enden wird. S. 489,
L. Arnhart, Das Puppenhäuschen der Ilonigbiene. S. 494.
R. Goldschmidt, Intersexualität und Geschlechtsbestimmung. S. 493.
H. Günther, Das Schraubungsprinzip in der Natur. S. 513.
Referate: J. Wilhelmi, Die angewandte Zoologie als wirtschaftlicher, medizinisch-hygienischer und
. kultureller Faktor. S. 527. — H. Bücher, V. Bauer, G. Bredemann, E, Fickendey,
W, 1a Baume und J. Loag, Die Ileuschreckenplage und ihre Bekämpfung, S. 528.
Über eine Möglichkeit des aussernormalen Entstehens
von pflanzlichem Kalziumoxalat.
Von Dr. Norbert Patschovsky,
Assistent am Botanischen Institut zu Halle a. S.
A. Fragestellung und Versuehsanordnung.
In einer früheren Mitteilung (1919) habe ich darauf hingewiesen,
daß Pflanzen ohne Ablagerung von oxalsaurem Kalk zugleich auch
im Zellsaft gelöste Oxalate vermissen lassen. Diese Feststel-
lung legt den Gedanken nahe, daß jener Mangel an Kalkoxalat
vielleicht auf einem Unvermögen zur Oxalsäurebildung überhaupt
beruhe. Dies ist wahrscheinlich dann der Fall, wenn sich in den
betreffenden Geweben durch äußere Zuführung von Oxa-
latlösungen experimentell Kalziumoxalatbildung hervorrufen läßt.
Die im folgenden wiedergegebenen Untersuchungen sollen zur
Entscheidung der mit dem Letztgesagten umschriebenen Frage bei-
39. Band. 32
EN WE DR RER SE BR DNE RER a ra 2 Malen ae VS RER
482 N. Patschovsky, Über eine Möglichkeit des außernormalen Entstehens etc. _
tragen. Im Falle von Spirogyra (Objekt VI) handelt es sich um die
Möglichkeit der Aufgabe, schon unter natürlichen Bedingungen Kal-
ziumoxalat führende Zellen durch die Oxalatlösung zu einer Ver-
änderung dieses Kristallgehaltes zu veranlassen. Diese Versuche er-
gaben ferner Aufschlüsse über die Giftwirkung der Oxalate, die j
in verschiedenen Konzentrationen auf ein ungleichartiges Pflanzen-
material zur Wirkung kamen.
Geschichtliches. Erfolgreiche Bemühungen, den Kristall-
gehalt von Pflanzenzellen durch äußerlich zugeführte Säurelösungen
zu beeinflussen, gehen auf Migula (1888) zurück. Dieser Forscher
arbeitete mit Spirogyren (orbicularis Kg. u. a.), die in ihrem Plasma
sekreuzte Kristalle von quadratischem Kalziumoxalat bergen. Als
Kulturflüssigkeit dienten sehr verdünnte Säurelösungen, teils mit
teils ohne Kalkgehalt. Es zeigte sich, daß nur organische Säuren,
mit Ausnahme von Karbol- uud Essigsäure, dagegen nichf die Mineral-
säuren einen Einfluß auf den Kristallgehalt haben. Diese Wirkung
besteht in einer meist sehr beträchtlichen Anhäufung des Kalkoxa-
lats in den behandelten Zellen, die je nach dem Kalkreichtum des
säurehaltigen Wassers größer oder geringer ausfiel. Wurden Spiro-
syren in Lösungen organischer Säuren unter Ausschluß des Kal-
ziums kultiviert, so bildeten sich in den Zellen keine neuen Kristalle;
solche wurden aber binnen weniger Stunden in großen Mengen abge-
schieden, wenn die Fäden nachher in kalkreiches Wasser übertragen
worden waren. Migula nimmt an, daß die verwendeten organi-
schen Säuren (Weins., Zitronens.) in der Zelle im Oxalsäure umge-
wandelt werden und diese an den mit dem Wasser aufgenommenen
Kalk gebunden wird. Bei Ausschluß von Kalksalzen gingen die Zellen
selbst in sehr schwachen Säurelösungen nach 5 bis 6 Tagen zugrunde,
während sie sich ohne Kalzium und ohne Säure bis 14 Tage am
Leben erhalten ließen. Migula erblickt die Aufgabe des Kalziums
hierbei darin, die in der Zelle gebildete Oxalsäure unschädlich zu
machen.
Eine Steigerung des Gehaltes an Kalziumoxalat erzielte auch
Loew (1891) bei Spirogyra nitida durch Kultur in sehr schwacher
Lösung von Monokaliumphosphat.
Benecke (1903) vermochte den Gehalt seines Spirogyra-Ma-
terials an Kalziumoxalat nicht zu beeinflussen. Bei Vaucheria erzielte
er dadurch massenhafte Ausfällung von Kalkoxalat, daß er die Ob-
jekte zunächst in ihrem Wachstum hemmte (Entziehen der Stick-
stoffnahrung oder Übertragen in destilliertes Wasser) und darauf in
Kalziumlösungen überführte.
In welchem Maße bei den Pilzen die Bildung des Kalziumoxa-
lats von der Kalkmenge der Kulturflüssigkeit abhängig ist, haben
bekannte Untersuchungen de Bary’s (1886) und Wehmer’s (1891)
gezeigt. Die Oxalsäure wird hier geradezu im Verhältnis des. fäll-
N RN
N. Patschovsky, Über eine Möglichkeit des außernormalen Entstehens etc. 483
baren Kalkquantums und im Bedarfsfalle kontinuierlich erzeugt. Der
Kalk verhält sich hier wie ein Gift, auf dessen Beseitigung der
Organismus. in spezifischer Weise hinzuarbeiten scheint.
| Für die chlorophyllführenden Gewächse ist umgekehrt die Gift-
wirkung der Oxalsäure eine geläufige Tatsache. Dieses unterschied-
liche Verhalten der grünen und nichtgrünen Pflanzen hat Loew
(1893, 123£.) hervorgehoben. Bassalik (1914) fand im Bacillus ex-
torguens einen Organismus, der Oxalate sogar verarbeitet und in die
Karbonate überführt.
Die sehr eingehenden Untersuchungen O. Loew’s (1892, 93)
betreffend die Giftwirkung der Oxalsäure und ihrer Salze auf grüne
Pflanzen, lehrten zunächst, daß die freie Oxalsäure ungleich gif-
tiger ist als die neutralen Salze. Von diesen verwendete er das
neutrale Kaliumsalz. Fäden von Spirogyra majuscula, in 2 %oige
Lösung neutralen Kaliumoxalats versetzt, zeigen nach etwa 5 Minuten
eine Kontraktion des: Zellkerns. Nach 30-40 Minuten verquillt der
Chlorophylikörper. Trotz der Verletzung des Kerns besteht der Tur-
gor der Zellen noch nach 10 Minuten; indes erholen sich die Fäden,
zu dieser Zeit in kalkreiches Quellwasser übertragen, nicht, wieder.
In einer 0,1 Yoigen Lösung geht die Giftwirkung auf Spirogyra aber
bereits so langsam vor sich, daß die Zellen erst nach einer Reihe
von-Tagen in allen Teilen abgestorben sind (1892, 375). Die Gift-
wirkung der Oxalate nimmt also mit der Verdünnung sehr rasch ab
(1893; 122, 124). Weiter schließt Loew aus seinen Beobachtungen,
daß diese Giftwirkung in erster Linie Zellkern und Chloroplasten er-
greift und das Cytoplasma erst mittelbar durch jene affiziert
(1892, 376). Im Zellkern und Chloroplast, so argumentiert Loew,
müssen Kalziumverbindungen eine wichtige Rolle spielen, und dadurch,
dab diese, in oxalsauren Kalk übergeführt, der lebenden Materie ent-
rissen werden, stellt sich die Giftwirkung der Oxalate letzten Endes
als Strukturstörung der lebenden Substanz durch chemische Um-
lagerung dar (1892, 376; 1893, 124).
Dab die Oxalsäure auch auf phanerogame Gewebe eiftig wirkt,
zeigte Loew an Blättern von Elodea und Vallisneria, die in einer
1 opigen Lösung des Kaliumoxalats nach 36 Stunden ihren Turgor
gänzlich verloren hatten, während sie in gleichstarken Lösungen
von weinsaurem bezw. schwefelsaurem Kali noch gänzlich unbeschädigt
waren (1893, 123). Schimper (1890, 249) beobachtete, daß Zweige
von Tradescantia Sello‘ in Lösungen von neutralem und saurem
Kaliumoxalat von 1, 2 und 3 % zugrunde gingen. Auch ihm erwiesen
sich die sauren Lösungen giftiger als die neutralen.
Versuchsanordnung. Für die eigenen Versuche verwendete
ich neutrales Kaliumoxalat oder Ammoniumoxalat, vorzugsweise das
Kalisalz.. Es wurden immer schwache Lösungen verwendet, wech-
selnd zwischen 1°/,, und 5°/yo, nie darüber hinaus. Das in diesen Kon-
OO
32°
A84 N. Patschovsky, Über eine Möglichkeit des außernormalen Entstehens etc.
zentrationen schon giftigere Ammonoxalat wurde stets nur als 109/y9-
und 2%/,0- Lösung gebraucht. Zur Kultur benutzte ich Glasdosen
mit übergreifendem Deckel, in die je 20 ccm der betreffenden Lösung
gefüllt wurden. Ich nahm die Versuche während der Wintermonate
vor, so daß die Assimilationstätigkeit der Objekte einer besonderen
Unterstützung bedurfte. Deshalb erhielten die Lösungen einen Zu-
satz von Rohrzucker, von dem sie dann meistens. 5 % enthielten.
Zu Parallelkulturen ohne Oxalat dienten reine Rohrzuckerlösungen.
Höhere Gaben von Rohrzucker bezweckten gleichzeitige Plasmolyse
der Zellen, wodurch sich Zellwand und Protoplast gesondert über-
sehen ließen. Die Glasdosen mit den Objekten wurden in eine am
Boden mit weißem Fließpapier ausgelegte Glasschale gebracht und
diese im Warmhaus an einem sehr hellen Ort aufgestellt.
Die Glasdosen und Versuchspflanzen sind vor Beginn der Kultur
mit destilliertem Wasser sorgfältig gewaschen worden. Es kamen nur
chlorophyllhaltige Pflanzen zur Untersuchung. Als Material dienten:
Mooszweiglein (-Blättchen), Moosprotonemen; Algenfäden; Blatt- und
andere Schnitte von Blütenpflanzen. Die Dauer der Einwirkung ist
bei der Wiedergabe der Ergebnisse in jedem Einzelfalle vermerkt
worden.
B. Ergebnisse.
Il. Mnium und Funaria (Blätter).
Mnium. Verträgt ohne Schädigung K-Oxatlösungen von 19/og
2/0; 3°/oo mit einem Rohrzuckergehalt von 5°/, nach Beobachtungen
während 8 Tagen. 5°/,, war nach 6tägiger Einwirkung tötlich: Der
Protoplast war zusammengefallen; dabei hatten die Chlorophylikörner
intensiv grüne Farbe. Äußerlich war indes die Schädigung an der
blassen, grünlichgelben Färbung. der Pflänzchen bemerkbar. Auch
409/00 schädigt die Pflänzchen. Am besten eignen sich zur Kultur
Lösungen von 20/99 K-Oxalat (+5 % Rohrzucker); doch sind auch
Lösungen von 1°/,, brauchbar. Objekte, die in diesen Lösungen bis
zu 8 Tagen verblieben waren, zeigten folgendes. Auf den ersten Blick
erscheinen die Zellen der Blättchen erfüllt von dicht gedrängten
Kriställchen, die beim Erwärmen und in Essigsäure nicht verschwin-
den, wohl aber in Salzsäure vergehen und solchen Blättchen, die
in 7,5 Yoiger Rohrzuckerlösung (ohne K-Oxalat) gehalten waren,
fehlen. Zwischen gekreuzten Nicols leuchten sie weißlich auf. Wir
sehen sie in Anbetracht ihres Aussehens und chemischen Verhaltens
als Kalziumoxalat an. Bei genauem Einstellen erkennt man, daß die
Kriställchen nicht im Mittelpunkt des Zellinneren liegen Können,
da sie beim Einstellen auf die Mitte bereits undeutlich werden. Beim
Falten des Moosblattes und beim Einstellen auf den Faltenbug sieht
man viele Kriställchen dem Blatt außen aufsitzen. Ein Teil oder
alle Kriställchen liegen also nicht in den Zellen des Moosblattes, son-
1 0 & ER 2 IB hi j B v 4 ng fi
N. Patschovsky, Über eine Möglichkeit des außernormalen Entstehens etc. 485
dern sitzen diesem außen auf. Die Flächenansicht lehrt aber, daß
sie stets in deutlich umschriebenen Ansammlungen über dem Lumen
der Zellen liegen, nie über den vertikalen Zellwänden oder regellos
an der Blattoberfläche verteilt. Man kann sich vorstellen, daß aus
dem Zellinhalt Kalksalze der umgebenden Oxalatlösung entgegendiffun-
dieren und bei Berührung mit dieser die Kristallhäufchen an
Mnium-Pflänzchen, die während 6—8 Tagen in einer 7,5 Yoigen
Rohrzuckerlösung (ohne K-Oxalat) verblieben waren, besaßen SESUn-
des Aussehen. Mit Jod ließ sich reichlich Stärke nachweisen. Plas-
molyse war nicht eingetreten; sie ließ sich aber an 3 Tage hindurch
in der Lösung gehaltenen Blättchen mit 10 Yoiger K-Salpeterlösung
vornehmen. Nach l14tägigem Aufenthalt in dieser Zuckerlösung star-
ben die älteren Blätter unter Bräunung ab, währenddessen die Gipfel-
knospe austrieb und grüne Blättchen bildete; auch neue Rhizoide
wuchsen hervor. Kriställchen sind an den Objekten in reiner Zucker-
lösung nie gesehen worden.
Funaria. Die Widerstandsfähigkeit gegen die Giftwirkung des
K-Oxalats ist weit größer als bei Mnium. Ich sah Pflänzchen, die
8, 13 und 15 Tage lang in 5 %/gu K-Oxalat (+5 % Rohrzucker) ver-
weilt hatten und lebendig waren; nach 15tägiger Einwirkung war
zwar der Inhalt einzelner Zellen kontrahiert, und ein ähnliches Bild
zeigten’ Blättchen, die 21 Tage hindurch einer 2°/,.-Lösung ausge-
setzt waren und jedenfalls lebende Zellen aufwiesen.
Kalziumoxalatkristalle fehlten diesen Objekten oder waren doch
viel spärlicher vertreten als bei Mnrium; wo vorhanden sitzen sie
den Blättchen außen auf, sie sind nicht in den Zellen anzutreffen.
Solche Kriställchen Be ich an Objekten, die 8 Tage lang in K-
Oxalat von 1%, 2 lo (3°, Rohrz.) verweilt hatten.
II. Elodea densa.
Blätter in Lösungen von 1°/,, und 2°/,, K-Oxalat (+ 5°/, Rohrz.)
wurden 7 Tage hindurch beobachtet. Eine Schädigung der Blättchen
war nicht zu bemerken; Plasmarotation konnte festgestellt werden.
3°%/,, und 4°/,, wurden nach 2 Tagen der Einwirkung noch ertragen;
darüber hinaus dürften diese Lösungen die Zellen schädigen und den
Tod herbeiführen. 5%/,, tötet die meisten Zellen schon nach 1 Tag:
der Zellinhalt kontrahiert sich; nach 2, 4 und 6 Tagen war alles
abgestorben. Bei Verwendung der Lösungen 3%yg, oo; I°/oo wurde
niemals Plasmarotation beobachtet.
Blättchen, die einen Tag in einer 20/,0-Lösung von Ammonoxalat.
(+ 5% Rohrzucker) zugebracht hatten, lebten; nach 4 Tagen waren
sie ohne Turgor und abgestorben. 1°/,, wird nach 4tägiger Einwir-
kung vertragen: der Turgor bleibt bestehen. Plasmarotation konnte
aber in NH,-Oxalat nie gesehen werden.
Blättchen, die 2 Tage hindurch in 7,5 % Rohrzucker (ohne Oxa-
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486 N. Patschovsky, Über eine Möglichkeit des außernormalen Entstehens ete.
lat) verweilt hatten, zeigten sehr lebhafte Plasmarotation und keine
Kristallbildung. .
Das Kalziumoxalat tritt bei Zlodea infolge der Behandlung mit
gelösten Oxalaten in zwei Formen auf: 1. als aus winzigen Kriställ-
chen, die bei gekreuzten Nicols aufleuchten, bestehender Kristall- "
sand und 2. als sehr deutlich ausgebildete Oktaäder (,Brief-Kou-
verts“). Beide Modifikationen sind an den Objekten nebeneinander
vorhanden. Nur Spuren von Kristallbildung zeigten sich bei 5%/oo
K-Oxalat. An den Objekten der anderen Lösungen ließ sich ein bald
größerer bald geringerer Reichtum an Kalziumoxalat feststellen.
Die ‚„Brief-Kouverts“ liegen immer an der Oberfläche der .
Blättchen, nie im Inneren der Zellen. Bevorzugt ist hierbei entschie- |
den die großzellige Oberseite, wie das übereinstimmende Verhalten
der Objekte in 1°%,, (bis 7 Tage), 3%. (2. Tage), 4°), (2 Tage) be-
weist. Die Brief-Kouverts treten oft in großer Menge nebeneinander
auf, so mitunter in’der Nähe der Blattspitze. Sie waren an den mit
Ammonoxalat behandelten Objekten nicht auffindbar.
Der Kristallsand verschwindet nicht beim Erhitzen und in Essig-
säure, wohl aber in Salzsäure. Er ist in einzelnen Fällen sicherlich
in den Zellen eingeschlossen, so z. B. in den Zellen der Blattober-
seite von Objekten mit einer Ttägigen Einwirkung von 2°/, K-
Oxalat. — Größere Kriställchen sind in anderen Fällen auf oder in
den Zellen der Blattunterseite (kleinzellig) zu sehen. — Diese Form
des Kalziumoxalats wurde noch beobachtet bei Elodea-Blättchen der
Lösungen: K-Oxalat 19,55 3), A/n0; NH,-Oxalat 2%), (1 Tag).
11. Nasturtium (und Ceratophyllum).
Lösungen des K-Oxalats von 1°/,, und 2%/,, (+ 53°], Rohrz.) wurden
bei Nastırtium von den unzerschnittenen Fliederblättchen sowie von
Schnitten (Blatt quer; Blattstiel längs und Epidermis, davon abge-
zogen) gut ertragen während 3 tägiger Beobachtung. Gleichprozentige
NH,-Oxalatlösungen können in derselben Zeit töten: Die Flieder-
blättchen waren ohne Turgor, doch noch grün; in reinem Leitungs-
wasser erholten sie sich nicht wieder. Indes sind auch lebende unzer-
schnittene Fiedern gesehen worden, die 7 Tage lang in 10/90 NH;-
Oxalat gelegen hatten; die Schnitte hatte diese Lösung dagegen
getötet.
Die Empfindlichkeit von Ceralophyllum, das denselben K-Oxa-
latlösungen ausgesetzt war (intakte Blättchen und Querschnitte da-
von) dürfte der von Nasturtium gleichkommen.
Höher konzentrierte Lösungen sind nicht versucht worden.
Kriställchen von Kalziumoxalat waren in den mit K-Oxalat behandel-
ten Objekten wahrnehmbar. Sie sind, ähnlich den an früheren Objekten
sesehenen, von ovalem Umriß und leuchten zwischen gekreuzten Nicols
weiblich ‚und gelblich auf, Besonders günstig dafür ist die Blatt-
*
% N. Patschovsky, Über eine Möglichkeit des außernormalen Entstehens etc. 487
stielepidermis. Doch treten sie auch im Assimilationsgewebe der
Schnitte auf. — Ceratophyllum verhält sich analog: Schnitte, die
11 Tage lang in 2%/,u K-Oxalat verblieben waren, ließen außen viele
Kriställchen erkennen:
IV. Moosprotonema.
Die mit NH,-Oxalat von 1°/,, und 2°%%0 (+ 5°, Rohrzucker)
behandelten Protonemen erwiesen sich als sehr widerstandsfähig: Sie
zeigten in beiden Lösungen während einer Beobachtungsdauer von
14 Tagen kein Anzeichen der Schädigung, waren von frischgrüner
Farbe und turgeszent.
Kristallbildung war an den Protonomen niemals erfolgt.
V. Vaucheria.
Die untersuchte Spezies scheint gegen K-Oxalat sehr resistent
zu sein: Ich fand lebende Schläuche in 2%/y0-Lösung (+20 % Rohr-
zucker), worin sie 31 Tage hindurch zugebracht hatten. Der hohe
Zuckergehalt der Lösung rief in einigen Schläuchen Plasmolyse hervor.
In 1°/,, (ohne Zuckerzusatz) und 2°/,, K-Oxalat (+ 20°, Rohr-
zucker) gehaltene Schläuche führten Oktaöder (,Brief-Kouverts‘),
die jenen außen aufsitzen, doch vielleicht auch im Protoplasma zu
finden sind. (Einzelbeobachtungen am Material nach 1, 3, 4, 31 Tagen
der Kultur.)
Vl. Spirogyra.
Die untersuchte Spezies zeigte bereits am unbehandelten Material
kreuzförmige Kristalle von Kalziumoxalat. Gelingt es, diesen Kri-
stallgehalt durch Kultur in Kaliumoxalatlösung zu beeinflussen? —
Es wurde dazu eine Lösung von 1°/,o mit 10 % Rohrzucker ver-
wendet. 4
In einem Falle, nach 1tägiger Einwirkung, sahen die Zellen
teilweise normal aus und zeigten bisweilen Plasmolyse; in anderen
Zellen war der Protoplast pathologisch verändert. Dabei waren die
Kristallkreuze in allen Fäden zumeist verschwunden. Eine andere
Beobachtung an 3 tägig behandelten Fäden ergab als Befund: Schwache
Plasmolyse; im Protoplasten viele kreuzförmige Kristalle, viel mehr
als an unbehandelten Objekten. Es dürfte eine Anhäufung, Vermeh-
rung des. Kalziumoxalats vorliegen, wie sie auch von Migula und
Loew (l. ec.) bei Spirogyra erzielt wurde. — Die Untersuchung von
4tägig behandeltem Material ergab dieselbe wie die des 3tägigen.
Die Kristallkreuze liegen in den plasmolysierten Zellen stets im Proto-
plasten, nie außerhalb von diesem und nie an der Membran.
C. Zusammenfassung der Ergebnisse und Erklärungsversuch.
Empfindlichkeit gegen Oxalatlösungen. Ammon-
oxalat hat, wo es verwendet wurde, giftiger gewirkt als Kaliumoxalat,
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ASS N. Patschovsky, Über eine Möglichkeit des außernormalen Entstehens etc
wie dies zu erwarten war, da gleichprozentige Lösungen dieser Salze,
was ihren Oxalatgehalt betrifft, nicht äquivalent sind. Die Objekte
sind deutlich verschieden hinsichtlich ihrer Resistenz gegen die gif-
tigen Oxalate: Vaucheria, Moosprotonema, Funaria (Blatt) sind we-
sentlich resistenter als Spirogyra, Mnium, Elodea, Ceratophyllum, Na-
sturtium.
Kristallbildung. Es gelingt, einige Objekte zur Bildung
von normalerweise nicht vorhandenem Kalziumoxalat zu veranlassen,
das entweder den Objekten äußerlich aufsitzt oder innerhalb der Zellen
erscheint. Hierher gehören: Mnium, Funaria, Elodea, Nasturtium,
Ceratophyllum, Vaucheria. Kristallbildung ließ sich nicht erzielen
bei Moosprötonemen. — Eine Anreicherung von primär vorhandenem
Kalziumoxalat kann bei Spirogyra erfolgt sein.
In allen Fällen, wo durch die Behandlung mit gelöstem Oxalat
die Objekte zur Bildung oder Anreicherung von Kalziumoxalat ver-
anlaßt werden, ist vorauszusetzen, dab Kalziumsalze gelöst in den
Zellen der Pflanze vorhanden sind; sie müssen sich mit dem gelösten
Oxalat entweder innerhalb der. Zelle oder außerhalb an der Membran
umsetzen. Das Auftreten der Kriställchen an der Oberfläche der Ob-
jekte ist durch die Annahme der Sekretion von Kalziumsalzen aus
dem Zellinnern wohl zu begreifen. Die regelmäßige Lagerung der Kri-
ställchen streng über der Mitte jeder einzelnen Zelle (Mnium) würde
jedenfalls damit im Einklang stehen. Dieser Vorgang hat gewisse
Ähnlichkeit mit der Kalziumoxalatbildung, wie sie de Bary (l. c.)
an Hyphen von Peziza selerotiorum beobachtet hat. Der Unterschied
liegt darin, daß die Kalksalze und die Oxalatlöung in beiden Fällen
auf entgegengesetzten Seiten der Zellmembran gegeben sind.
Das normale Fehlen von Kristallen des Kalziumoxalats beruht
also in den untersuchten Fällen auf dem Nichtvorhandensein der Oxal-
säure, nicht dem des Kalziumst). Die gelösten Kalksalze der Zellen
scheinen in den Versuchen die Aufgabe zu erfüllen, das giftige Oxalat
in unlöslicher Form festzulegen. In diesem Sinne sagt Pfeffer all-
gemein über die Neutralisation von Giftwirkungen durch die Zelle:
„In Hinsicht auf das gesamte selbstregulatorische Walten im Orga-
nismus ist aber nicht zu bezweifeln, daß in bestimmten Fällen auch
Reaktionen erweckt werden, die auf die Festlegung oder Beseitigung
des Giftes abzielen“ (1904, 347).
Unter diesem Gesichtspunkt wird es vielleicht verständlich, dab
Moosprotonomen und Funaria-Blättchen, die sich lange Zeit hindurch
als sehr resistent erwiesen haben, nicht oder nur zu schwacher Kal-
ziumoxalatbildung zu bringen sind. Für diese kann das Oxalat an
1) Kalksalze ließen sich im herausgepreßten Zellinhalt von Vaucheria und
Phycomyces mittels 2°/,iger Lösung von Ammonoxalat als Kalziumoxalat ausfällen
und durch nachfolgende Behandlung desselben mit Schwefelsäure bei Zusatz eines
Tropfens Alkohol an dem Aufschießen charakteristischer Gipsnadeln erkennen,
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J. H. F. Kohlbrugge, Der Akademiestreit im Jahre 1830 ete. 489
und für sich weniger giftig sein als für die anderen Objekte, — oder
sie schützen sich gegen das Eindringen des Giftes in die Zellen auf
eine nicht näher angebbare Weise (eventuell impermeable Plasma-
haut). Die Anreicherung des Kalziumoxalats in der sehr empfind-
lichen Spirogyra wäre umgekehrt durch jene Vorstellung ebenfalls
begreiflich gemacht.
- Daß in diesen Versuchen di& Bildung des kristallinen Kalzium-
oxalats ein mit dem lebenden Zustand der Zelle verknüpfter Vorgang
ist, geht deutlich daraus hervor, daß Objekte, die durch Giftwirkung
sichtlich geschädigt waren, nur unbedeutende oder keine Kristall-
bildung aufzuweisen hatten.
Literatur.
Bassalik, K., Jahrb. f. wiss. Bot. Bd. 53. 1914/
Benecke, W., Botan. Zeitung 61. 1903.
De Bary, A., Botan. Zeitung 44. 1886.
Loew, O, Biolog. Zentralblatt Bd. 11. 1891.
— Flora 1892. .
— Ein natürliches System der Giftwirkungen. München 1893.
Migula, W., Über den Einfluß stark verdünnter Säurelösungen auf Algenzellen.
Diss. Breslau 1888.
Patschovsky.N., Ber.d. Deutschen Botan. Gesellschaft. Bd. XXX VI, H.9. 1919.
Pfeffer, W., Pflanzenphysiologie. Bd. II, 2. Aufl. 1904.
Schimper, A. F. W., Flora 1890.
Wehmer, C., Botan. Zeitung 49. 1891.
Der Akademiestreit im Jahre 1830,
der niemals enden wird.
Berichtigungen zur Arbeit von Prof. Dr. W. Lubosch,
Biol. Zentralbl. Bd 38 Nr. 9 und 10.
Von J. H. F. Kohlbrugge.
Aus der Einleitung zu meiner Arbeit über Goethe!) als Natur-
forscher geht deutlich hervor, daß ich mich seit Jahren mit der
Geschichte der Evolutionstheorie befasse und daß genannte Schrift
als ein daraus losgelöstes, weiter ausgearbeites Kapitel zu betrachten
sei. Die Gründe, welche mich zu dieser Loslösung bestimmt hatten,
wurden dort näher angegeben. Ein Hauptgrund mich speziell mit
Goethe zu beschäftigen, war dieser, daß in vielen deutschen histori-
schen Arbeiten Goethe eine Stellung in der Geschichte der Natur-
wissenschaft zugewiesen wird, die, wenn sie richtig ist, ıhn als Ur-
quell moderner Auffassung erweist. Ist dies richtig, dann wird
die historische Forschung dadurch sehr vereinfacht, ist sie unrichtig,
‘ dann wird dadurch das Verdienst anderer Forscher, Goethe zu Liebe,
geschmälert oder verkannt.: Darum hatte ich mich nicht mit Goethe
1) Historisch-Kritische Studien über Goethe als Naturforscher. Würzburg 1913.
490 J. H. F. Kohlbrugge, Der Akademiestreit im Jahre 1830 etc.
ın erster Linie sondern mit seinen Bewunderern auseinander zu
setzen und das ist in der genannten Schrift geschehen.
Meine historischen Studien brachten mir die Überzeugung, daß
obengenannte deutsche Auffassung (man findet sie niemals bei nicht
Deutschen) unrichtig sei und so wurde-ich in eine Oppositions-
stellung gedrängt und dann geschieht es allerdings leicht, daß man
zu weit geht, ganz wie Cuvier (im Akademiestreit von 1830) in
seiner Opposition gegen Geoffroy zu weit ging, so daß Geofiroy
schließlich Cuvier durch einen Hinweis auf seine eigenen Arbeiten
hätte zurückweisen können. Da mir nun wohl bewußt: war,
daß man Goethe, den man so gern als den „Genius, den Heros,
den Olympier“ auffaßt, in Deutschland nur zu bewundern wünscht,
so konnte ich auch nichts anderes erwarten, als daß meine Schrift
auf Widerstand stoßen würde.
Diesen brachte nun die inhaltsreiche, tief durchdachte Arbeit
von Lubosch, die in den Augen des neutralen Ausländers eben
wieder den Fehler einer unumschränkten Goetheverehrung zeigt.
Man findet sie namentlich auf den Seiten 371—376. Sie kulminiert
in dem Satze, der zur Verteidigung Goethes verfaßt wurde: „Wann
wäre es je die Pflicht des Genius gewesen, die Mitwelt ın ıhren
törıchten Mißverständnissen zu korrigieren“.
Besonders feiert Lubosch Goethe als Begründer der Homologie-
lehre, die er schon 1790 aufgestellt haben soll (S. 361, 377.). Ich
würde mich nun, in ähnlicher Weise, wie ich dies für das Os inter-
maxillare getan habe, daran machen müssen, die ganze V or-Goethesche
Literatur zu durchforschen um festzustellen ob dies richtig ıst und
es wäre sehr wohl möglich, daß sich bei Buffon, Vieq d’Azyr,
Daubenton, Camper u. a. Äußerungen fänden, die den gleichen
Sinn haben als Goethe’s hierauf sich beziehende Worte. So viel
steht jedenfalls jetzt schon fest, daß die Arbeiten von den genannten
Forschern schließlich zum Homologiebegriff führen mußten. Ich
will mich aber nicht noch einmal in die Oppositionsstellung drängen
lassen, deren schwache Seite mir besonders in diesem Falle (in Be-
zug auf Goethe) nicht nur wohl bewußt, sondern außerdem schmerz-
lich ıst. Lieber beschränke ich mich auf folgende Bemerkungen:
Wenn man bei einem Schriftsteller alter Zeit (in der man das
Philosophieren so liebte) Gedanken ausgräbt, die den neuen Ähnlich
sind, hat man dann das Recht, solchen Autor als Begründer der
neuen Lehre zu feiern? Erstens könnte es doch sein, daß sich beı
einem noch älteren Forscher auch ähnliches findet. Zweitens ge-
nügt es doch nıcht, einen glücklichen Gedanken zu haben, sondern
man soll ihn durchführen, anwenden, mit vielen Beispielen belegen.
Drittens, und das ist die Hauptsache, soll man nachweisen, daß dieser
glückliche Gedanke nun auch von den Zeitgenossen anerkannt wurde,
daß er also die Wissenschaft befruchtete und außerdem, daß
J. H. F. Kohlbrugge, Der Akademiestreit im Jahre 1830 ete. 491
die Befruchtung auch nur von dem betreffenden Autor aus-
ging. Angenommen es sei richtig, daß Goethe viele moderne An-
schauungen auf vergleichend anatomischem, botanischem und geologı-
schem Gebiet, aus sich heraus bildete, so hat doch noch keiner seiner
Bewunderer der letzt genannten Forderung genügt, keiner hat die
Auffassung widerlegt, daß Goethe’s naturwissenschaftliche Arbeiten
nur wenig Einfluß auf die Entwicklung der Naturwissenschaft ım
modernen Sinne gehabt haben. Die Bewunderung Goethe’s als
Naturforscher hat, soweit ich sehe, erst gegen 1860 oder noch später
eingesetzt. So hat auch niemand, so weit ich weiß, sich auf ıhn
bei der Ausbildung des Homologiebegriffs berufen.
Die Beschuldigung, daß ich in der Opposition zu weit ging,
scheint besonders berechtigt in meiner Beurteilung Geoffroy’'s
trotzdem muß ich sie hier zurück weisen. Meine Schrift war eben
nur ein losgelöstes Kapitel und darum war ich nicht verpflichtet,
den ganzen Geoffroy zu betrachten. Da aus nichts hervorging,
daß Goethe die vor 1820 erschienenen Arbeiten Geoffroy’s kannte
(sie finden sich weder in Goethe’s Bibliothek noch in seinem Ver-
zeichnis entliehener Bücher), da weiter Cuvier und Geoffroy
früher immer als Freunde zusammengearbeitet hatten, sodaß deren
Antagonismus nicht auf älteren Arbeiten beruhen konnte, so durfte
ich diese zur Seite lassen. Natürlich gehört zu meiner Sammlung
ein apartes Portefeuille Geoffroy’s, in dem alles über diesen Autor
zusammengetragen wurde, und wenn ich je dazu komme auch diese
auszuarbeiten, werde ich ihm als Forscher vielleicht nicht weniger
Lob spenden wie Lubosch. In meiner Schrift über Goethe brauchte
ich darauf nicht einzugehen.
Geoffroy zeigt nämlich um 1818—1819 eine Änderung seiner
Arbeitsmethode, aus dem früher hochstehenden Forscher wurde
ein Phantast. Darüber liest man in der Isis 1819 (S. 1353): „Wir
wissen nicht recht woran wir mit Geoffroy sind. Dieser geist-
volle Naturforscher Frankreichs, der in allen bisherigen Arbeiten
so kurz und bestimmt sprach, nimmt den französischen plauder-
haften Stil an und will durch Wortschwall die anatomischen Teile
beweisen, die für sich so kurz und bündig sprechen und nur klar
sind durch Kürze. Durch das viele Reden hat sich Geoffro y selbst
manche sonderbare Meinung angeredet, die er vergeblich durch die
vielen neuen Zeichnunger zu stützen sucht“. Bojanus schrieb dann
(1819 S 1360). „Und wenn ich erwäge, daß von Geoffroy’s
Verfahren (das man dem Drehen eines Glücksrades vergleichen
darf) wenig zu hoffen ist“. In meiner Goethe-Arbeit wies ich dann
darauf hin, daß die Umwandlung bei Geoffroy wohl dem Einfluß
der Naturphilosophie zuzuschreiben sei. Nur mit dem umgewandelten
Geoffroy hatte ich mich zu befassen. Da nun Lubosch, um ihn
gegen meine Auffassung zu verteidigen, besonders auf die Arheiten
492 J. H. F. Kohlbrugge, Der Akademiestreit im Jahre 1830 ete.
vor dieser Umwandlung eingeht, so mußte daraus natürlich ein un-
geheurer Gegensatz entstehen. Weiter habe ich mich in meiner
Arbeit im Text und in den Noten mit dem Charakter Geoffroy’s
befaßt und wer die dort gebrachten Tatsachen zusammenstellt, wird
wohl, wie ich einen ungünstigen, widerwärtigen Eindruck vom Cha-
rakter dieses Gelehrten bekommen. Lubosch geht darauf einfach
nicht ein, ich ging unwillkürlich immer von dem Bilde aus, welches
ich mir aus diesen Tatsachen entworfen hatte. Beweisen läßt sich
dann nicht jeder Satz (auch Lubosch tut dies für Goethe nicht),
aber es fragt sich, stimmt meine Auffassung zu dem Charakter des
Mannes? Schließlich will ich noch hinzufügen, daß wer Geoffroy
als Ganzes studieren will, im Jardin des plantes in Paris arbeiten
muß, denn nur dort findet man seine unzähligen Arbeiten. Da ich
viel in der Richtung tat, so kann ich versichern, daß die Arbeit
sich lohnen würde, wenn nicht für die Naturwissenschaft, so doch
für die Nemo ol
Geradezu ungerecht wird Lubosch, wenn er behauptet, daß
ich der ne sei, daß Geoifroy sich „lediglich“ (Anm. 363)
oder „nur“ (S. 399) Cuvier’scher Forschungen zu seinen Speku-
lationen bedient habe. Das ıst mir niemals eingefallen. Wie
Lubosch durch seine Opposition in Bezug auf Geoffroy gegen
mich zu weit geht, so gilt allerdings gleiches von den mündlichen
Äußerungen Cuvier’s während des Streites. Wenn man aber
Cuvier’s Stellung zu den von Geoffroy aufgestellten Theorien
vichtig beurteilen will, dann muß man im Institut de France den
Fonds Cuvier durcharbeiten. Denn da Uuvier bald nach dem
Streite starb, so kam er nicht dazu sein darüber handelndes Buch
zu vollenden, während Geoffroy noch viele Jahre weiter
publizieren konnte und dabei immer wieder auf den Streit zurück-
kam. Das hat Lubosch nicht beachtet und außerdem kehrt
Lubosch zu einer alten, ungerechtfertigten Beschuldigung zurück,
wenn er behauptete, daß Ouvier auf die Kombination der Tatsachen
verzichtete (S. 363). Ich wies dies in meiner Anm. 37 85.101 zurück.
Weil ich mich kurz fassen muß, erwähne ich hier nur Cuvier’s
„principe de la subordination des characteres“ als Beweis wie er
kombinierte. Lubosch scheint allerdings von Cuvier’s Gesetzen
nur das der Erdkatastrophen und Tierwanderungen zu kennen,
wobei er unbeachtet läßt, daß Cuvier sich zwar wohl gelegentlich
für die Erdkatastrophen ausgesprochen hat, daß diese Lehre aber
von ganz anderen Forschern ausging und in anderen ihre wirklichen
prinzipiellen Verteidiger fand. Leider kann ıch an dieser Stelle
nicht weiter darauf eingehen, da die Redaktion verlangt, daß ıch
mich kurz fassen soll. Ebenso unberechtigt ist es auch, Cuvier’s
Typenlehre als abgetan zu betrachten (S. 442), darüber möge
man Rädl (S. 232 und 338) nachlesen. Da Lubosch so tief
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J. B. Ri a Der Akademiestreit im jahre 1830 etc. 493
auf Geoffroy und sein Verdienst eingeht und Cuvier nur in
Bezug auf den Streit in Betracht nimmt, so wird er schon hier-
durch uugerecht gegen Cuvier. In Bezug auf Lamarck wieder-
„holt er die längst wiederlegte Behauptung?) daß dessen Theorie
in seiner Zeit und später völlig vergessen worden sei (S. 367).
Die Differenz beruht aber besonders darauf, daß Lubosch auf
einem ganz anderen Standpunkt steht wie ich und dann sieht man die
Dinge eben anders. Dies ist der Fall erstens in der Wertschätzung
Goethe’s als Naturforscher, was schon erwähnt wurde, zweitensin Bezug
auf den Streit in der Akademie. Von diesem behauptet er (S. 381):
„Denn der vergleichend-anatomischen Methode, d.h. der Vergleichen-
den Anatomie selbst als Wissenschaft ihr Recht zu erkämpfen, darum
handelte es sich letzten Endes in dem Akadamiestreit im Jahre 1830*.
Ich glaube wer Cu vier’s vergl. anat. Arbeiten und die der deutschen
ee vor dem Jahre 1830 studiert hat. der wird zugeben müssen,
dass es gar nicht mehr nötig war, der vergleichenden Anatomie als
Wissenschaft ihr Recht zu erkämpfen. Der Streit in der Akademie
drehte sich einfach um die Frage, ob die Naturphilosophie mit ihren
uferlosen Vergleichungen und Vergeistlichungen die vergleichende
Anatomie beherrschen solle oder nicht. Goethe (Geoffroy) wollte
sie eben in den Dienst der Naturphilosophie stellen, wie seine von
mir (S. 94) zitierten Worte an Soret zeigen, die seine Methode zu
der Zeit charakterisieren. Der Gedanke, daß sich der Streit ein-
fach um die Frage dreht, ob die Tunikaten gefaltete Wirbeltiere
seien (den Lubosch mir zuschreibt) (S. 382), ist damit gleichzeitig
zurückgewiesen. Wenn ich von Geoffroy behauptete, daß sein Stand-
punkt von niemand mehr geteilt werde, so meine ich natürlich nicht
seine Homologienlehre u. s. w. sondern seine naturphilosophischen
Spekulationen und sprungartigen Vergleichungen. Drittens: Lubosch
verhält sich ganz anders zu Hypothesen und philosophischen Speku-
lationen im allgemeinen. Das zeigt sich, wenn er Lamarck’s Ein-
teilung in wirbellose und Wirbeltiere schädlich nennt (S. 426), wenn
er die Gastraeatheorie bewundert (S. 365), durch welche die Lehre
von der Unite de plan bewiesen sei, in seinen Betrachtungen über
die Archipterygiumtheorie (S. 466 ff.) und an anderen Stellen.
Natürlich sehe ich ein, daß wir ohne Arbeitshypothesen nicht weiter
kommen, sie sind also nötig. Soweit sie sich nıcht zu weit von
den Tatsachen entfernen, sympathisiere ich mit ihnen. Werden sie
aber wilde Spekulationen oder werden sie aufandere Theorien auf-
gebaut, etwa auf Spinozistische, Darwinistische und andere, sodaß die
eine Hypothese sich immerfort auf die andere häuft, wodurch das
Bild der umgekehrten Pyramide entsteht, die nur mit einer kleinen
Spitze auf festem Boden ruht, während das Ganze in der Luft
2) J. B.deLamarck und der Einfluß seiner Deszendenztheorie von 1809—1859,
. Zeitschrift für Morphologie und Anthropologie 1914 8, 191—206,
ah MEN a AB RN. PR EINEN
E
494 L. Arnhart, Das Puppenhäuschen der Honigbiene.
schwebt, dann fühle ich mich abgestoßen. Darum sympathisiere
ich mit Cuvier oder OÖ. Hertwig und stößt die Naturphilosophie
und der Darwinismus mich zurück. Ebenso arbeitet der eine lieber
induktiv, der andere deduktiv, wenn auch ein jeder beides tut. Das
ist eben Charaktersache. Nun ist eine Grenzlinie zwischen berech-
tigter Hypothese und Spekulation nicht zu ziehen, darum ist es
eben so schwer, wo solche Gegensätze aufeinanderstoßen wie im
Jahre 1830, ein Urteil zu fällen. Weil es Charaktersache ist, weil
es wie Oswald sagt, Romantiker und Klassiker in der Naturwissen-
schaft giebt, darum wird die Beurteilung je nach dem eigenen
Charakter eine andere sein müssen. Darum wird der Streit von
1830 niemals enden, das hat Goethe schon richtig erkannt und
hier schloß und schließe ich mich ganz an ihn an. Die in vieler
Hinsicht so schöne Arbeit von Lubosch hat diese Wahrheit aufs
neue illustriert.
Utrecht, 10. April 1919.
Das Puppenhäuschen der Honigbiene.
Von Ludwig Arnhart.
(Aus dem Laboratorium der ersten Österreichischen Imkerschule in Wien.)
„Zeitschrift für angewandte Entomologie“. Bd. 5. S. 231.
Es ist allgemein bekannt, daß die „Waben“ des Bienenstockes
nicht nur zum Aufbewahren des Honigs und des Blütenstaubes,
sondern auch zum Ausbrüten der Bienenlarven dienen. Während
in den dicht aneinanderliegenden sechsseitigen Zellen die Arbeiter
und Drohnen — erstere in den engeren, letztere in den weiteren —
erbrütet werden, werden die Königinnen in noch größeren, birn-
förmigen, meist an den Rändern der Waben stehenden sogenannten
„Weiselwiegen* erbrütet. In der natürlichen Lage liegen die er-
steren Zellen horizontal, die letzteren vertikal. Letztere werden nur
zeitweilig erbaut und, nachdem sie leer geworden, wieder abgetragen;
der Laie bekommt sie demnach selten zu sehen.
Gestützt auf Swammerdam hat man nun bisher angenommen,
daß die Bienen sich vor dem Verpuppen in einem in einem Zuge
gesponnenen „Kokon“ einspinnen. Allerdings war es schon diesem
Forscher aufgefallen, daß der Kokon aus zwei augenfällig ver-
schiedenen Substanzen, einer strukturlosen, farblosen, durchsichtigen
Haut und einem gelben, seidenartigen, wirklichen Gespinst be-
stehe. Die Haut liegt so eng an den Zellwänden, die sie auskleidet,
an, daß sie mechanisch nur schwer und nie ganz von denselben zu
trennen ist; das Gespinst liegt nur an der Mündung der Zelle, so-
zusagen nur als Deckel der Zellhöhle unter einem porösen Deckel
aus Wachs, Pollen und abgebissenen Häuten alter Zellauskleidungen
DR AN Se My SE TEE RL DER Se BL 70 Fe REN
L. Arnhart, Das Puppenhäuschen der Honigbiene. 495
gemengt, den die Arbeitsbienen des Stockes vor dem Kokonspinnen
über die Zellöffnung legen. Das Kokonspinnen ist also von außen
nicht zu beobachten. V. Buttel-Reepen fand, daß man es wenig-
stens teilweise, beim Abheben beider Deckel, wenn der Gespinst-
deckel noch nicht vollendet ist, sehen kann. Swammerdam wußte
sich da zu helfen. Er erklärte: Wenn die Bienenlarve die Wachs-
zellenwände auskleide, ist das Spinndrüsensekret mehr leimigt,
dagegen beim Spinnen des Deckels mehr drähtig. Wäre dem so,
so müßte die Haut eben auch gelb und nicht farblos sein. V. Buttel-
Reepen, der sich ın letzterer Zeit mit der Sache eingehender be-
schäftigt, war mit den bisherigen Ergebnissen auch nicht mehr zu-
frieden. In seiner letzten Arbeit „Beiträge zur Physiologie, Biologie
und Psychologie der Honigbiene“ („Apis“ mellifica L.) Naturw.
Wochenschr. 1918 bezeichnet er den Sachverhalt als „noch nicht
sichergestellt“. -
Zu alledem kam nun noch die Entdeckung Fr. Huber’s, daß
die Königin nur einen ihre Zellöffnung abschließenden „Halbkokon“
spinne; derselbe ist Gespinstdeckel und läuft dann an der Seiten-
wand die Zellverjüngung herab. Die Fäden dieses Gespinstes
sind viel dicker als die des Gespinstes der Arbeitsbiene und Drohne
und dann sind sie braun und nicht gelb wie diese.
Meine diesbezüglichen Untersuchungen führten zu folgenden
Ergebnissen:
1. Die Bienenlarven sondern an ihrer Hautoberfläche in der
Jugend mehr, im Alter weniger dickflüssiges Chitin ab. Da die
Larven der Arbeitsbienen und Drohnen ayf dem Zellboden kipfel-
förmig gekrümmt liegen und sich fortwährend mit dem Kopfe vor-
aus in einem Kreise, dessen Peripherie durch ıhren eignen Körper
geht, bewegen, wird dieses Chitin auf den Boden und die inneren
Teile der Seitenwände der Zellen gestrichen. Hier erhärtet es sich
zu Häuten. Während der ersten Larvenzeit erreicht der Rücken
der Larve die Seitenwände nicht. Es wird demnach die am Boden
abgeschmierte Chitinmenge reichlicher sein als die an den Seiten.
Vor dem Verpuppen richten sich diese Larven in ihren Zellen auf
und kommen so mit den äußeren Teilen der Seitenwände in Be-
rührung, die zur Öffnung zu liegen. Zu dieser Zeit ist aber — es
geht gegen das Ende der Larvenzeit! — die Chitinabsonderung schon
eine geringe. Wir finden so noch vor dem Verpuppen und auch
noch vor dem „Spinnen“ die Auskleidung der Wachszellen mit einer
strukturlosen Haut, die am Boden dick, gegen die Deckfläche zu
dünn ist, fertig. Will man sich davon überzeugen, so wähle man
Waben, die zum ersten Male bebrütet sind, denn die Bienen ver-
wenden die Wachszellen mehrere Male — bis 30 mal — zum Brüten
und lassen dabei dıe Häute, die sie schwer abtragen können, in den
Zellen. Je öfter eine Wabe bebrütet wurde, mit um so mehr dicht
aneinanderliegenden Häuten ist sie ausgekleidet.
i96 L. Arnhart, Das a der Honigbiene;
Die strukturlose Haut des Puppenhäuschens der Ho:
nigbiene ist demnach ein Produkt der Chitinabsonderung
ihres Körpers.
2. Nach dem Aufrichten in den Zellen, das erst nach dem
Verdeckeln durch die Arbeitsbienen stattfindet, entleeren die Larven
ihren Darm und spinnen die Deckel über ıhren Zellen. Zu dieser
Zeit erst ist, wie schon Swammerdam nachwies, in den Spinn-
drüsen das fadenziehende Sekret zu finden. Es sieht auch unter
dem Mikroskop gelb aus und ist in der sonst ziemlich farblosen
Drüse leicht festzustellen. Die Hauptmasse des Gespinstes ist vor-
wiegend Deckel; es greift aber auch auf die Seitenwände über
und einzelne Fäden gehen, wie schon v. Buttel-Reepen gefunden,
bis tief an denselben herab. Trotz neuerlicher Untersuchung konnte
ich die Larven wohl um gebogen, den Rücken der Zellöffnung zu-
gekehrt, aber niemals so wie es v. Buttel-Reepen gesehen, daß
Ei After der Zellöffnung zugekehrt ist, beobachten.
Aus dem Vorstehenden ergibt sich demnach, daß der soge-
nannte Kokon nur zum Teil ein Produkt der Spinndrüsen
ist. Deshalb nenne ich diese äußere Puppenhülle — als innere
wäre die zu bezeichnen, die die ausschlüpfenden Insekten sprengen
müssen, die ihnen enge angelegen sind, das oft sogenannte Puppen-
hemd — Puppenhäuschen.
3. Während des Spinnens drehen sich die Larven in den
Zellen und schmieren dabei ihre vorher abgegebenen Exkremene in
die Ecken und Kanten des Zellbodens und in die unteren Teile der'
Seitenkanten. Man findet sie da mit einer sehr dünnen Chitin-
schicht überzogen; sie erzeugen, wie schon Leuckart wußte, eine
braune Färbung der Haut; diese Färbung geht auch auf das Wachs
der Waben über und wird durch oftes Bebrüten der Zellen fast
ganz schwarz.
4. Nach dem Spinnen legen die Larven die letzte Larvenhäutung
ab und werden zu Puppen. Diese Larvenhaut enthält auch die
Haupttracheen der Larve und liegt als weißes Häutchen, an dem
man die Tracheen sehr schön als weiße Fäden sieht, am Zellboden.
Nun können wir auch das eigentümliche Verhalten des Königin-
puppenhäuschens erklären. Die Larven der Königinnen liegen nicht
direkt am Zellboden, sondern auf einer dieken Schicht Futtersaft,
den die Arbeitsbienen vor der Entwicklung des Eies auf den Zell-
boden getragen hatten. Die Zelle selbst ist von so großem Durch-
messser, daß die Larve gar nicht mit der Zellwand in Berührung
kommen und deshalb auch nicht das von ihrer Körperhaut abge-
sonderte Chitin an dieser abstreifen kann. Erst beim Aufrichten,
also unmittelbar vor dem Spinnen, ist dies möglich. Man sieht also:
Bei der Königin kann der gegen den Boden der Zelle zu liegende
Teil des Puppenhäuschens (die strukturlose Haut) gar nicht zu-
standekommen. Es kommt eben nur zum Halbkokon.
Sn JE A EA ee A
nl VE 25 RE 5 47
- R j
L. Arnhart, Das Puppenhäuschen der Honigbiene. 497
5. Interessant ist auch das Puppenhäuschen in den „Nach-
schaffungszellen“. So nennt man die Weiselwiegen, die die
Arbeitsbienen über noch unverdeckelter Arbeiterbrut, also auf der
breiten Wabenfläche aufbauen. Geht nämlich die Königin zugrunde
oder wird sıe aus irgendeinem Grunde unbrauchbar, so füttern die
Bienen noch nicht verdeckelte Arbeiterbrut ın den Nachschaffungs-
zellen mit königlichem Futterbrei und erhalten so Königinnen. In
diesem Falle ist der schon vor dem Anbau der Nachschaffungszellen
gebildete Teil der Haut des Puppenhäuschens mit dem später er-
zeugten Halbkokon vorhanden. Je nach dem Zeitpunkte des An-
setzens der Nachschaffungszellen sind diese unteren Teile größer
oder kleiner. So wurden sie auch in Jungfern-Nachschaffungszellen
vorgefunden. Es entsteht nun die Frage: Hat nur die Honigbiene
ein derartiges Puppenhäuschen und entsteht es auch nur bei ihr auf
die vorstehend geschilderte Art?
6. Ich habe zur Beantwortung dieser Frage zunächst die Puppen-
häuschen der nächsten Verwandten der Honigbiene untersucht:
Bombus, Melipona und Crabro. Bei allen konnte ich die struktur-
lose Haut und das Gespinst sehr leicht nachweisen. Die Honigbiene
ist aber allen gegenüber dadurch diesbezüglich ausgezeichnet, daß
bei ihr das Gespinst nur den Deckel des Puppenhäuschens
bildet, während es bei den übrigen um das ganze Häus-
chen reicht.
Es scheint aber, daß diese Art des Puppenhäuschens, wie wir
es bei den Apidae finden, auch bei anderen Hymenopteren zu finden
ist. So zum Beispiel fand ich es so bei Polstes.
Sehr interessant wäre es, diesbezüglich auch bei den anderen
sich einspinnenden Insekten, insbesonderes bei den Schmetterlingen
Nachschau zu halten.
Über weitere Einzelheiten vergleiche meine Arbeit selbst. An
derselben Stelle sind auch noch andere Eigentümlichkeiten der Biene
behandelt.
39. Band: 33
REDNER SC ER FR
x \ N Ele
498 R. Goldschmidt, Intersexualität und Geschlechtsbestimmung.
Intersexualität und Geschlechtsbestimmung.
(Vorläufige Mitteilung.)
Von Richard Goldschmidt.
(Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie, Berlin- -Dahler.)
Die Untersuchungen über Intersexualität und Geschlechts-
bestimmung, die ich in den letzten 10 Jahren zum Teil unter Mit-
arbeit der Herın Dr. Dr. Seiler, Poppelbaum und Machida
ausgeführt habe, und über die wir bereits eine Anzahl von Mit-
teilungen veröffentlichten, sind nunmehr so weit gediehen, daß die
behandelten Probleme im wesentlichen als gelöst betrachtet werden
können, wenn auch noch manche Einzelheit nachzutragen sein wird,
die, hauptsächlich infolge der Zeitumstände, noch nicht ausgearbeitet
werden konnte. Da die monographische Veröffentlichung der Re-
sultate wohl noch einige Zeit beanspruchen wird, so seien die
Hauptpunkte im voraus in dieser Mitteilung zusammengefaßt. Sie
beruhen auf der Zucht von mehr als 75000 Individuen. Die Haupt-
tatsachen sind die folgenden:
Durch Kreuzung verschiedener geographischer Rassen des
Schwammspinners Lymantria dispar L. kann in völlig regelmäßiger
Weise Intersexualität erzielt werden. Als Intersexualität (früher
fälschlich dem Gynandromorphismus eingereiht) bezeichnen wir die
Erscheinung, daß Individuen eines Geschlechts in bestimmter Weise
und Reihenfolge Charaktere des anderen Geschlechts annehmen;
je nach dem genetischen Geschlecht, das dem Individuum eigent-
lich zukommt, reden wir von weiblicher und männlicher Inter-
sexualität. Bei beiden Typen gibt es vollständige Serien, die von
gerade beginnender Intersexualität durch alle Stufen hindurch bis
zu völliger Umwandlung in das andere Geschlecht führen. Jede
Stufe ist typisch und scharf charakterisiert. Die Umwandlung be-
trifft sämtliche Organe in bestimmter Reihenfolge, sekundäre wie
primäre Geschlechtscharaktere. Die Kombination genetischer und
entwicklungsphysiologischer Analyse hat die völlige Erklärung des
Phänomens wie seine experimentelle Beherrschung ergeben.
1. @enetische Analyse.
AA. Versuche über weibliche Intersexualität. \
I. Nach dem Verhalten in Kreuzungen können wir zwei Gruppen
von Schwammspinnerrassen unterscheiden, die wir als schwache und
starke bezeichnen. Schwache Rassen sind solche, deren Eier, wenn
von dem Sperma einer starken Rasse befruchtet, normale Männchen
und nur intersexuelle Weibchen irgend einer Stufe liefern. Starke
Rassen sind solche, deren Sperma sich wie eben genannt verhält,
deren Eier.aber, wenn von dem Sperma einer schwachen Rasse
befruchtet, normale Nachkommenschaft ergeben. Als schwache
BR EAN TB: NEAR ERBE ER NRSENE SONNE IE NE. dan \
R. Goldschmidt, Intersexualität und Geschlechtsbestimmung. 499
Rassen erwiesen sich bisher alle europäischen und. amerikanischen
Rassen, sowie die japanischen Rassen, die wir als Rassen Kuma-
moto, Fukuoka, Kyoto, Hokkaido, Jap Br bezeichnen; als stark er-
wiesen sich die japanischen Rassen Gifu, Ogi, Saitama, Tokyo,
Aomori, jap. x und Jap. y.
A. Sämtliche benützten Rassen sind, wenn reingezüchtet, sexuell
völlig normal.
B. Sämtliche schwachen Rassen in irgendeiner Richtung unter-
einander gekreuzt, ergeben niemals blile Intersexualitäl,
C. Sämtliche starken Rassen in irgendeiner Richtung untereinander
gekreuzt, ergeben niemals Intersexualität.
D. Sämtliche Kreuzungen von Weibchen der starken Rassen mit
Männchen der schwachen Rassen, also die reziproke F, der
gleich zu nennenden Tntersexunbriätskreizungen, ergeben aus-
nahmslos normale Weibchen.
E. In sämtlichen!) Kreuzungen von Weibchen der schwachen Rassen
‘mit Männchen der starken Rassen besteht F, aus normalen
Männchen und ausschließlich intersexuellen Weibchen irgend-
einer Stufe. Als typische Stufen werden unterschieden: 1. Be-
ginnende I. Nur an Fühlern, Flügeln und Kopulationsapparat
ist der männliche Einschlag zu merken. Noch fruchtbar.
2. Schwache I. Die gleichen Organe in verstärkter Weise be-
troffen, aber nicht. mehr fähig, Eier zu legen. 3. Mittlere 1.
desgl. fortschreitend. Ovarien nicht mehr ganz vollständig.
4. Starke I. Alle Organe mehr oder minder betroffen, teils
schon ganz männlich. Ovar rudimentär und in Rückbildung.
5. Höchstgradige I. Äußerlich fast männchengleich. Gonade in
allen Umwandlungsstadien von Ovar zu Hoden. 6. Geschlechts-
umkehr. Alle genetischen Weibchen in Männchen umgewandelt.
Folgende Gesetzmäßigkeiten gelten für diese Kreuzungen:
a) Das Resultat einer bestimmten Rassenkombination ist inner-
halb gewisser Variationsgrenzen konstant.
b) Wenn in F, weibliche Intersexualität erzielt wird, betrifft sie
sämtliche Individuen, die genetisch Weibchen sein sollten.
(Nur bei Geschlechtsumkehr kommt eine später zu nennende
Ausnahme vor).
c) Innerhalb der Nachkommenschaft eines Elternpaares zeigen
die intersexuellen Individuen eine gewisse Fluktuation um
ein Mittel herum, die zu den Grenzen der vorhergehenden
oder nächstfolgenden Klasse führt.
d) Die extremen Fälle der Intersexualität, sowohl nach der
weiblichen wie nach der männlichen Seite hin fluktuieren ins
Normale hinüber.
1) Siehe später.
a a Ne ern,
\
2
e) Die Konstanz des Resultats schließt nicht aus, daß kleine
Variationen des Mittelwerts der Intersexualität bei mehreren
Zuchten derselben Kombination, auch bei Verwendung von
Geschwistern, vorkommen.
f) Ein und dieselbe Rasse von Weibchen ergibt, wenn mit ver-
schiedenen Rassen von Männchen gekreuzt, typisch verschie-
dene Resultate in F,, die es erlauben, eine Serie der Männ-
chen, in bezug auf ihre Intersexualität produzierende Stärke
aufzustellen. Z. B. gibt Rasse Mass 9 mit Gil g' gerade be-
ginnende, mit Gill d schwache, mit Ogg mittlere, mit Aog
starke Intersexualität u. s. w.
g) Ein und dieselbe Rasse von Männchen, ergibt, wenn mit ver-
schiedenen Rassen von Weibchen gekreuzt, verschiedene Re-
sultate in F,, die es erlauben, eine Serie von Weibchen in
bezug auf ihre bei der Produktion von Intersexualität be-
teiligte „Schwäche“ aufzustellen. Z. B. J Gil ergibt mit 9
der Rasse Kum noch teilweise normale Tiere, mit 9 Mass be-
ginnende, mit 9 Ho schwache, mit 9 Schnei schwache his
mittlere, mit 9 Fiu starke Intersexualität u. s. w.
h) Die so gewonnene Kenntnis der relativen „Stärke“ der Rassen
läßt sich an Intersexualitätsgleichungen prüfen, die ein be-
sonders wichtiges Glied in der Ableitung der Erklärung bilden.
Beispiel: Kum 9 X Gil g' = beginnende I. Kum o X Aod =
mittel bis stark . Wenn Fiuo X Gil stark I., dann Fiu 9
x Ao d = Geschlechtsumkehr u. s. w.
i) Wie zu erwarten geben die stärksten „schwachen“ o mit den
schwächsten „starken“ Z zum Teil normale Nachkommen, ein
wichtiger Grenzfall.
Aus all dem folgt: Weibliche Intersexualität kommt zustande,
wenn Weibchen einer schwachen Rasse mit Männchen einer
starken Rasse gekreuzt werden. Der spezifische Grad der
Intersexualität einer gegebenen Kreuzung ist eine Funktion
zweier Variabeln, nämlich des Grades der „Schwäche“ der
Mutter und der „Stärke“ der Väter. Das besagt ferner, daß
das Entscheidende eine quantitative Relation der beiden
Variabeln ist.
Il. Das, was als Schwäche und Stärke bezeichnet wurde, ist
ein physiologischer Zustand zweier selbständiger, in jedem Indi-
viduum gleichzeitig vorhandener Sätze von Geschlechtsfaktoren.
Das eine sind die im x-Ohromosom vererbten Geschlechtsfaktoren.
(weibliche Heterozygotie, xy=9, xx= d) und zwar ist es der
Männlichkeitsbestimmer M. (Mm = 9, MM =). Der andere Faktor
wird ausschließlich mütterlich vererbt, von Mutter zu Ei, und ist
daher entweder im Eiplasma oder dem y-Öhromosom lokalisiert.
Es ist der Weiblichkeitsbestimmer [F. Wenn wir die Suffixe f
- 500 R. Goldschmidt, Tntersexualität und Geschlechtsbestimmung.
k
u
R. Goldschmidt, Intersexualität und Geschlechtsbestimmung. 501
für stark und d für schwach benutzen, so ist die Formel einer
starken Rasse IF] M;m — S[FIM:-M:=G, einer schwachen Rasse
[FJMım = g [FJ] MıMı = SG. M:m ist ein intersexuelles 9.
Die mütterliche Vererbung von F und die Vererbung von M als
Mendelfaktor im x-Chromosom wird durch folgende Tatsachen be-
wiesen:
A. Ebenso wie F, sind auch alle Rückkreuzungen, F, etc. von
€ schwachen Rassen inter se und ebenso starken Rassen inter se
normal in bezug auf die Weibchen.
B. Sämtliche F,-Zuchten aus der Kreuzung starke 9 X schwache
(also der reziproken der Intersexualitätsproduzierenden) ergeben
‚ausschließlich normale Weibchen’).
C. In F,—F,-Zuchten aus solchen F,, deren ursprüngliche Bastard-
mutter der starken Rasse angehörte, bleibt weibliche Inter-
sexualität dauernd ausgeschlossen.
D. In allen Rückkreuzungen, bei denen F,-Bastarde von starken
Müttern und schwachen Vätern verwendet werden, erscheinen
nur normale Weibchen, wenn dieser Bastard als Mutter dient,
d. h. die mütterliche Linie der starken Rasse angehört.
E. Dient der Bastard stark 9 X schwach Z als Vater einer Rück-
kreuzung, sind die resultierenden 2 normal, wenn die Mutter
einer starken Rasse angehört.
F. Nachkommenschaft von noch fruchtbaren intersexuellen Weib-
chen aus der Kreuzung schwach 2 X stark S spaltet (F,) in ?/,
normale !/, intersexuelle 20 neben normalen Männchen. Die
intersexuellen Weibchen sind vom gleichen Typus wie in F,
und bleibep so in weitern Generationen. In F, etc. verhält sich
die Nachkommenschaft normaler und intersexueller Weibchen
identisch. Sie besteht von F, ab entweder aus nur intersexuellen
99, oder aus !/, normalen, !/, intersexualen 09. Von F, ab sind
auch Zuchten mit nur normalen 99 möglich.
G. Intersexuelle Weibchen von F, verhalten sich der starken väter-
lichen Rasse gegenüber wie normale Weibchen, geben also in
dieser Kombination nur intersexuell-weibliche Nachkommenschaft
vom gleichen Typ.
H. Intersexuelle F,-Weibchen verhalten sich $S der schwachen
Elternrasse gegenüber wie normale Weibchen; sie geben ın
dieser Rückkreuzung normale Nachkommenschaft.
I. F,-Männchen, welche Brüder der intersexuellen 99 sind, er-
zeugen in der Rückkreuzung mit 99 der starken Elternrasse
ausschließlich normale Nachkommenschaft in bezug auf die 99.
. Die gleichen Jg wıe ın I erzeugen ın der Rückkreuzung mit
99 der schwachen Elternrasse '/, normale, ?/, intersexuelle 99.
>=
2) In unserer Publikation von 1912 falsch berichtet, ebenso wie die korre-
spondierende Rückkreuzung. Erklärung des Irrtums erfolgt in der Hauptarbeit,
502 R. Goldschmidt, Intersexualität und Geschlechtsbestimmung.
L. F,-7g aus der reziproken, normale Weibchen produzieren-
den Kreuzung stark 9 X schwach g‘ produzieren in der Rück-
kreuzung mit schwachen Weibchen ebenfalls die Spaltung in
!/, normale, ?/, intersexuelle 99.
M. Diese Tatsachen beweisen völlıg den unter II. aufgestellten
Satz. Sıe können schematisch so zusammengefaßt werden:
a Ze
Mütterliche Linie Die beiden x-Chromosomen Weihliche NOCHE
(Plasma oder gleich Geschlechtsfaktoren en
y-Chromosom) | des Vaters
| stark stark + stark normal
stark stark + schwach normal
[a schwach + schwach normal
| schwach stark —+ stark alle O2 intersexuell
schwach stark + schwach O9 !/, normal, ?/, intersexuell
a schwach + schwach | normal
Ill. Die Richtigkeit aller vorhergehenden Sätze wird, außer
durch die später zu nennenden Tatsachen der männlichen Inter-
sexualität durch weitere Proben bewiesen, nämlich:
A. Normale und intersexuelle Geschwister-99, die also das gleiche
Plasma resp. y-Chromosom besitzen, geben mit dem gleichen
homo- oder heterozygoten Männchen oder mit verschiedenen
homozygoten Männchen das gleiche Kreuzungsresultat, nämlich
das nach der resp. Beschaffenheit der Sg aus yoriger Tabelle
zu erwartende.
B. Männchen, die aus völliger Geschlechtsumwandlung genetischer
Weibchen entstanden sind, dürfen nur einen starken Geschlechts-
faktor = x-Ohromosom besitzen. Soweit bisher möglich, wurde
dies nachgewiesen.
©. Eine außerordentlich bedeutungsvolle Probe wurde durch Tripel-
und Quadrupelkreuzungen geliefert, d. h. durch alle möglichen
Kreuzungskombinationen von drei oder mehr Rassen. Das
Resultat darf nach Vorhergehendem nur bedingt werden von
der mütterlichen Linie einerseits, d. h. der Beschaffenheit der
ursprünglichen Bastardmutter (stark oder schwach) und den beı-
den Geschlechtschromosomen des Vaters. Der Typus der Inter-
sexualität, wenn erzeugt, muß dem der F,-Kreuzung aus solchen
oo und Jg von der Rasse der betreffenden Geschlechtschromo-
somen entsprechen, unabhängig davon, was sonst noch ın die Kombi-
nation gekreuzt wurde. Z.B. diene der Bastard [(A X B)X (BxX A)]
x|[C x DJ]: die Mutter (Inhalt der eckigen Klammer) ist der
doppelreziproke F,-Bastard aus den Rassen A und B, erhalten
BT ENG in Dan DE REN ARMEE Br ea va En
R. Goldschmidt, Intersexualität und Geschlechtsbestimmung. 503
aus dem F,-9 der ursprünglichen Kreuzung Ag xX Bd mit dem
F,g der reziproken Kreuzung. (In der Formel steht immer
das 9 an erster Stelle, das X-Zeichen trennt die beiden Eltern).
Der Vater (die andere eckige Klammer rechts vom \X-Zeichen)
ist ein F,-Bastard (das Potenzzeichen) aus der KreuzungC og X DG.
Das Plasma (oder y-Chromosom) dieser Kreuzung ist das der
Rasse A (der erste Buchstabe der Formel bei dieser Schreib-
weise). Die x-Chromosomen (Geschlechtsfaktoren) des Vaters
sind entweder D+Ü oder D+D. Das Resultat muß also das
gleiche sein, wie wenn die reine Rasse A kombiniert wird mit
Geschlechtsfaktoren D und © oder nur D. Ist A eine schwache
Rasse, C und D zwei verschiedene starke, so kann das Resultat
nur sein entweder a) !/, inters. © vom Typus der Kombination
AxX.C, !/, inters. 9 vom Typus der Kombination AxXD oder
b) alle 9 intersexuell vom Typus AXDu.s.w. Alle solchen
noch so verwickelten Kombinationen ergaben das erwartete
Resultat.
IV. Unsere frühere Annahme der Inzuchtsintersexualität inner-
halb genetisch reiner Rassen erwies sich als unrichtig. Der Fall
wurde befriedigend aufgeklärt und liefert weiteres Material für
alle vorhergehenden Tatsachen.
V. Bei den intersexuellen Kombinationen, die völlige Geschlechts-
umkehr von 2 in Zd' bedingen, kommen gelegentlich vereinzelte
.Weibehen vor (im Durchschnitt weniger als 1%). Ihre Unter-
suchung macht es wahrscheinlich, daß ein Fall sogenannten Nicht-
auseinanderweichens (Non-disjunction nach Bridges) vorliegt und
die Analyse deutet in die Richtung der Annahme, daß die „Schwäche“
nicht im Plasma, sondern im y-Chromosom vererbt wird.
BB. Versuche über männliche Intersexualität.
Die in Kreuzungen mit den gleichen Rassen nach bestimmten
Gesetzen erhaltene männliche Intersexualität, also die Reihe inter-
sexueller Umwandlungen von Männchen in Weibchen, ist schwerer
zu analysieren als die weibliche Intersexualität und, hauptsächlich
infolge der aus den Zeitverhältnissen entspringenden Schwierig-
keiten, noch nicht so vollständig durchgeführt. Männliche Inter-
sexualität wurde bisher auf drei Arten erzielt:
I. In der ersten Serie trıtt männliche Intersexualität in allen
-F,-Männchen auf. Sie ist bisher beschränkt, aber absolut typisch
für die Kombinationen der beiden japanischen Rassen Fukuoka und
Hokkaido.
A. Weibehen Fuk gekreuzt mit Männchen Hok ergeben ın F, nur‘
normale Weibchen und intersexuelle Männchen. Die 99 sind
beträchtlich in der Überzahl. Die intersexuellen dd zeigen
außerordentliche Variabilität von vereinzelten normalen Jd als
Minusindividuen bis hinauf zu starker Intersexualität; das Mittel
liegt mehr bei letzterer, .
—.
504 R. Goldschmidt, Intersexualität und Geschlechtsbestimmung.
B.
C.
G.
SH.
Die reziproke Kreuzung ist normal (beides sind ja „schwache“
Rassen).
Die Rasse Fuk ergibt mit europäischen Rassen, die sich in
bezug auf weibliche Intersexualität genau wie Hok verhalten,
nur normale Nachkommenschaft. Das Resultat A ist somit bis-
her spezifisch für die Kombination mit Hok.
. F, aus Fuk 9 x Hokg mit intersexuellem F, d‘ ergibt wieder
normale 99 und intersexuelle d‘Z' mit noch stärkerem Über-
wiegen der 09.
Die Rückkreuzung von F, 9 aus Fuk 9 x Hok Z mit reinen dd
der Hok-hasse ergibt ausschließlich (100 %,) 29.
F, oder Rückkreuzungen mit intersexuellen F, Sf auf Weibchen
der reinen Hok-Masse oder solche, deren Mutter dieser Rasse
angehörte, ergibt nur normale Nachkommenschaft.
Diese Tatsachen zeigen, daß männliche Intersexualität in dieser
Serie entsteht, wenn sich Fuk-Protoplasma (oder y-Chromosom)
mit einem Fuk- und einem Hok-Geschlechtsfaktor kombinieren..
Bei der Kombination Fuk-Plasma mit zwei Geschlechtsfaktoren
Hok werden alle SS in 99 umgewandelt.
In gleicher Weise wie bei weiblicher Intersexualität wurde der
Schluß vollgültig durch Tripel- und Quadrupelbastardierungen
bewiesen.
Il. In der zweiten Serie tritt männliche Intersexualität niederer
Grade ın F,-Zuchten der Kombinationen stark 9 X schwach d auf.
Q
. In allen F, aus der Kreuzung von 29 der stärksten japanischen
Rassen mit $d europäischer Rassen ist ein gewisser Prozent-
satz der gg‘ mäßig intersexuell. Genau so verhält sich die
Rückkreuzung (stark X schwach) 0 X schwach d..
. In F,, F, ete., aus derartigen Zuchten treten in den meisten
Einzelzuchten wieder intersexuelle 5 auf, in anderen fehlen sie
jedoch.
Rückkreuzungen, außer den in A genannten, in denen der Bastard
stark 9 X schwach d als Vater oder Mutter dient, liefern keine
intersexuellen d..
. Irgendwelche andere Kombinationen zwischen einer starken
und einer schwachen Rasse lieferten nie intersexuelle dJ.
Wie bei der ersten Serie verhält sich die schwache Rasse
Hokkaido different, obwohl sie in bezug auf weibliche Inter-
sexualität den andern schwachen gleich ist.
a) F, aus einem 9 starker japanischer Rasse mit d Hokkaido
gibt typischerweise keine männliche Intersexualität, sondern
nur auffallenden Weibchenüberschuß.
b) Die Rückkreuzung des genannten F,-Bastards mit Hokkaido
liefert ausschließlich Weibchen, nur gelegentlich ein paar
Ausnahmsmännchen. (Genau wie die parallele (Fuk X Hok)
x Hok-Kombination).
Bi
BR,
R. Goldschmidt, Intersexualität und Geschlechtsbestimmung. . 505
c) Alle andern Kombinationen der beiden Rassen liefern keine
Resultate, die mit männlicher Intersexualität zu tun haben.
d) Als gelegentliche Ausnahme kommen in F, der in a) ge-
nannten Kreuzung vereinzelte 9‘ gerade beginnender Inter-
sexualität vor. In diesem Fall erscheinen sie. auch in F,
wieder neben der Erscheinung der hohen Weibchenzahl.
G. Diese Befunde zeigen für männliche Intersexualität in dieser
Serie.
1. Sie entsteht nur, wenn die mütterliche Linie „stark“ ist.
2. Wenn mit dem „starken Protoplasma“ sich in F, oder
Rückkreuzung ein schwacher und ein starker Geschlechts-
faktor kombinieren, entstehen normale Männchen.
3. Wenn mit dem starken Protoplasma in F, oder Rück-
kreuzung zwei schwache Geschlechtsfaktoren kombinieren,
werden alle genetischen 5 in 9 verwandelt.
4. Die gleiche Kombination wie in Nr. 2 liefert, wenn in F,
oder Rückkreuzung (A) vorhanden, einen bestimmten Prozent-
satz intersexueller S; das zeigt, daß hier die Rekombination
weiterer Mendelfaktoren hinzukommt. Dieser Punkt gilt
nicht für die Hokkaido-Rasse.
III. Die dritte Serie enthält ein paar unvollständige Daten
über Auftreten einiger weniger Individuen männlicher Intersexualıtät
in F, und F, bei Kreuzung bestimmter schwacher Rassen inter se.
Die Rassen sind mit der Fukuoka-Rasse verwandt, sämtlich Süd-
Japaner.
IV. Wie bei der weiblichen Intersexualität werden alle Gesetz-
mäßigkeiten durch komplizierte Tripel- und Quadrupelbastarde in
wunderbarster Weise bewiesen. Hierher gehören einige der glän-
zendsten Belege für die Gesamtinterpretation.
CC. Die Interpretation der Befunde.
Das gesamte Experimentalmaterial wurde vererbungstheoretisch
analysiert. Die in unsern früheren Publikationen bereits verschiedent-
lich durchgeführte Interpretation hat sich glänzend bewährt und ist
zum Teil so weit bewiesen worden, wie es überhaupt in solchen
Experimenten möglich ıst. Das Prinzip ist, daß „Stärke“ und
„Schwäche“ der Geschlechtsfaktoren ete. quantitative Zustände oder
Potenzen dieser sind, die bei den einzelnen Rassen typisch verschieden
sind. Da ıhre quantitative Relation für das Resultat entscheidend
ist, so erklärt sich die Intersexualität durch abnorme Kombination
m ihren absoluten Werten nicht zusammenpassender Quanten der
beiden Variabeln. Wir verweisen auf die Durchführung des Prinzips
in unseren früheren Publikationen und die genauere Analyse in der
folgenden Monographie. Im einzelnen hat es sich bewährt und er-
klärt spielend und ohne Hilfsannahmen auch die verwickelsten und
ENTE Ren. BR ER Alle N, HALLSIRT SINE TR
‘ - N \ a, 2% Y
*
HH R. Goldschmidt, Intersexualität und Geschlechtsbestimmung.
unerwartetsten Resultate. Wie alle mendelistische Analyse liefert
aber auch dies bloß eine formale Erklärung. Dem Mendel’schen
Faktor, dessen Definition ja nur der Mechanismus seiner Verteilung
ist, wird noch hinzugefügt das physiologische Attribut der Quantität
und dadurch ermöglicht, die Resultate vererbungsmechanisch zu er-
klären. Das Problem kann aber erst als gelöst betrachtet werden,
wenn es auch vererbungsphysiologisch erklärt ist: d.h. wenn fest-
steht was die Quantität eines Faktors physiologisch bedeutet und
wieso diese Quantitäten in ihren relativen Proportionen Inter-
sexualität hervorrufen, somit, was Intersexualität physiologisch ist.
Diese Lösung hat die entwicklungsmechanische Analyse, wie wir
glauben, vollständig gebracht.
2. Entwicklungsphysiologische Analyse.
A. Das Studium der intersexuellen Individuen hat folgende ein-
fache Gesetzmäßigkeit ergeben, deren Analyse die Erklärung
des ganzen Problems liefert:
Die Reihenfolge, in der die Organe intersexueller Individuen
sich in der Richtung auf das andere Geschlecht hin verändern,
ist die Umkehr der Reihenfolge der embryonalen resp. larvalen
Differenzierung.
Daraus folgt die entwicklungsphysiologische Pirklähung der
Tntareerualts 5
Ein Intersex ist ein Individuum, das sich bis zu einem be-
stimmten Punkt mit einem Geschlecht, seinem genetischen
(hetero- oder homozygoten — xy oder xx) Geschlecht ent-
wickelt und von diesem Punkt an trotz unveränderter gene-
tischer Beschaffenheit, seine Entwicklung mit dem anderen Ge-
schlecht beendet. Ein intersexuelles Weibchen ist ein gene-
tisches Weibchen (Mm = xy), das an einem bestimmten Punkt
seiner Entwicklung plötzlich aufhört ein Weibchen zu sein und
seine Entwicklung als Männchen vollendet. Ein intersexuelles
Männchen ist ein genetisches Männchen (MM = xx), das sich
bis zu einem bestimmten Punkt seiner Entwicklung als Männ-
chen differenziert, von da an aber plötzlich seine Entwicklung
als Weibchen vollendet. Das Maß der Intersexualität ist somit
nichts als ein Ausdruck für die späte (schwache Intersexualität)
oder frühe (hohe Intersexualität) Lage dieses Drehpunktes inner-
halb der Entwicklung. Alle Organe, die sich vor dem Dreh-
punkt differenzieren, zeigen die Charaktere des genetischen Ge-
schlechts, alle, die sich nachher differenzieren, die des entgegen-
gesetzten Geschlechts. Alle zur Zeit des Drehpunkts_ differen-
zierten Organe, für die physiologisch die Möglichkeit der De-
oder Umdifferenzierung gegeben ist, tun es; ist es physiologisch
unmöglich, so verbleiben sie.
sch m
0
aa VE N ap BEE 1 ara rk ar SR ZERvan Z ver KU De er Pr Ze Tea
R. Goldschmidt, Intersexualität und Geschlechtsbestimmung. 507
B. Dies Zeitgesetz der Intersexualität ist abgeleitet aus dem Einzel-
studium aller Organe; die Beweiskraft des Materials ist eine
überwältigende. Hier seien nur ein paar Punkte angedeutet:
a)
b)
Die Antennen sind beim 5 langgefiedert, beim Weibchen nicht.
Die Differenzierung erfolgt in den ersten Tagen der Puppen-
ruhe. Wird ein 9 intersexuell, so wachsen die Fiedern in
männlicher: Richtung aus, bis die Chitinisierung das Wachs-
tum endet. Je früher der „Drehpunkt“ liegt, um so mehr
Zeit steht für diesen Prozeß zur Verfügung, die Länge der
Fiedern ist also eine Funktion der zeitlichen Lage des Dreh-
punkts, was im einzelnen genau zutrifft.
Bei männlicher Intersexualität ist zu erwarten, daß Ver-:
änderungen an den Antennen nur möglich sind, wenn der
Drehpunkt in die ersten Tage der Puppenruhe fällt. Dies
trifft zu.
Flügelform und Abdomen demonstrieren schön das gleiche
Gesetz. Es sei nur erwähnt der Fall starker Intersexualität,
bei dem die Analyse die Lage des Drehpunkts für etwa zur
Zeit der Verpuppung fixiert. Die Raupe hat somit eine weib-
liche Entwicklung abgeschlossen, zu der die Aufspeicherung
großer Fettmassen gehört, auf deren Kosten die Entwicklung
des Ovars in der Puppe stattfindet. Mit dem Drehpunkt
hört die Weiterentwicklung des Eierstocks auf und die
Reservestoffe werden nicht verbraucht. Das intersexuelle
Weibchen dieser Art hat dementsprechend ein Abdomen von
weiblicher Dicke und männlicher Form, in dem sich das
winzige Ovar der erwachsenen Raupe findet. Die Reserve-
stoffe sind teilweise aufgelöst und füllen dadurch den Leib
zum Platzen an, so daß .das Tier nicht aus seiner Puppen-
hülle kann und bei leichter Berührung platzt.
Die Geschlechtsdrüsen liefern ein Beispiel für das Gesetz,
dessen Beweiskraft uns unwiderleglich erscheint. Wird ein
Q intersexuell, so hört sofort die Weiterdifferenzierung des
Ovars auf und eine Dedifferenzierung mit Histolyse und
Phagozytose beginnt. Abgesehen von letzterem muß also
eine Serie intersexueller Weibchen beginnen mit solchen,
die normale Ovarien haben und fortschreitend Eierstöcke
zeigen, die allen Stufen der embryonalen und larvalen Ent-
wicklung entsprechen. Der Vergleich mit der normalen Ent-
wicklung erlaubt dann, genau die Lage des Drehpunkts fest-
zustellen, die mit der aus der Analyse anderer Organe
gewonnenen übereinstimmt. Liegt dieser Drehpunkt nun
früh in der Puppenzeit, so bleibt noch genügend Zeit, die
Dedifferenzierung soweit zu führen, daß die morphologische
Umgestaltung der Eiröhren in Hodenfollikel beginnen kann.
.
»08
R. Goldschmidt, Intersexualität und Geschlechtsbestimmung.
Liegt der Drehpunkt aber noch früher, so kann dieser Prozeß
weiterschreiten und wir erhalten ın den höchsten Inter-
sexualitätsstufen die lückenlose Serie der Dedifferenzierung
des Eierstocks und seiner Umwandlung in einen Hoden.
Dasselbe Gesetz zeigt sich bei den intersexuellen %. Bei
den g’ ist der Hoden schon in der älteren Raupe fertig und
mit Sperma gefüllt. Um die Zeit der Verpuppung : verwachsen
dann die paarıgen Drüsen zu einer unpaaren. Entsprechend
dieser Entwicklung zeigen intersexuelle 5 keine großen Ver-
änderungen der Hodenstruktur, wenn der Drehpunkt nach
der Verpuppung liegt. Nur bilden sich eventuell noch übrige
Urgeschlechtszellen in Eizellen um, die sich in die typischen
Ei-Nährzellgruppen der Insekten differenzieren. Liegt aber
der Drehpunkt um- die Zeit der Verpuppung (Starke Inter-
sexualität), so bleiben die Hoden paarig und beginnen inner-
lich zu degenerieren und die ersten Schritte in der Richtung
auf einen Eierstock durchzumachen. Die vielen Einzelheiten
all dieser Dinge sind von größtem Interesse.
Die Kopulationsapparate liefern das beweisendste Material
für das Zeitgesetz. Denn sie bestehen aus verschiedenartigen
homologen Teilen in beiden Geschlechtern und außerdem
solchen, deren Anlagen nur einem Geschlecht zukommen
und die sich zu verschiedenen Zeiten entwickeln. Die Serie
intersexueller Veränderungen dieser Organe erscheint auf
den ersten Blick von einer hoffnungslosen Komplikation zu
sein. Die Entdeckung ıdes Zeitgesetzes der Intersexualität
gibt eine geradezu verblüffend einfache Lösung. Die Tat-
sachen selbst sind aber so kompliziert, daß sie nicht ohne
Abbildungen beschrieben werden können. Es sei wieder nur
ein illustrativer Einzelpunkt herausgegriffen:
Beim Männchen entwickelt sich bereits in frühen Raupen-
stadien eine Einstülpung am Hinterrand des 9. Segments,
das Herold’sche Organ, das kein Homologen beim Weibchen
besitzt. ‘In ihr differenzieren sich dann 2 Paare von Zapfen,
aus denen sich später Valven und Penis des männlichen Kopu-
lationsapparats ausbilden. Wird ein Weibchen intersexuell,
so hören die Segmente, die den Kopulationsapparat bilden,
mit dem Einsetzen des Drehpunkts auf dem erreichten Punkt
mit weiblicher Entwicklung auf und beenden ihre Entwick-
lung ın männlicher Differenzierung. Das läßt sich dann
Schritt für Schritt an den homologen Teilen beider Apparate
verfolgen. Mit dem Drehpunkt aber beginnt sich alsbald
auch das dem Weibchen fehlende Herold’sche Organ zu
bilden und in normaler Weise seine Entwicklung anzutreten,
die natürlich eine bestimmte Zeit erfordert. Je nach der
a N
R. Goldschmidt, Intersexualität und Geschlechtsbestimmung. 509
Lage des Drehpunkts (gleich Grad der Intersexualität) ver-
bleibt nun nur eine kurze oder graduell längere Zeit, bis
die allgemeine Chitinisierung derartige Entwicklungsvorgänge
beendigt. Mit ansteigenden Stufen weiblicher Intersexualität
hat somit Herold’s Organ verschiedene Stufen der Ent-
wicklung von der Einstülpung bis zu fertigen Valven und
Penis erreicht und diese Entwicklungsstufen werden dann
chitinisiert und sind im intersexuellen Kopulationsapparat
vorhanden, wo sie das Zeitgesetz direkt ad oculos demon-
strieren.
e) Geschlechtsausführwege und Puppenhülle illustrieren das
gleiche Gesetz in Übereinstimmung mit den übrigen Daten.
f) Der Beweis, daß die Flügelfärbung intersexueller Tiere das
gleiche Gesetz zeigt, läßt en Bat kurz wiedergeben. Für
den Haupttypus der intersexuellen Färbung (es gibt noch
einen anderen Typus) läßt sich der folgende Satz beweisen:
Die Quantität des Pigments auf dem intersexuellen Flügel
ist ein Ausdruck der früheren oder späteren Lage des Dreh-
punkts,; oder, anders ausgedrückt, eine Funktion der Zeit,
die dem Individuum für die Ohromogen bildenden Spaltungs-
prozesse vom männlichen Typ zur Verfügung standen.
g) Die Resultate in bezug auf die Bestimmung der zeitlichen
Lage des Drehpunkts bei der Entwicklung der verschiedenen
intersexuellen Typen, die das Studium der Einzelorgane er-
gibt, stimmen miteinander überein.
Vergleich der genetischen und entwieklungsphysiologischen
Tatsachen.
. Die genetische Analyse zeigt, daß bei der Determination des
Geschlechts weibliche wie männliche Geschlechtsfaktoren im
Spiel sind; ferner, daß beiden eine gewisse Quantität der
Aktivität zukommt, die Stärke und Schwäche, allgemein Potenz;
schließlich daß das Endresultat in bezug auf das Geschlecht durch
eine quantitative Relation beider bedingt wird. Ist sie quan-
titativ abnorm zugunsten einer Gruppe, so entsteht Inter-
sexualität.
. Die entwicklungsphysiologische Analyse zeigte, daß das Maß
der Intersexualität ein Ausdruck ist für die zeitliche Lage des
Drehpunkts.
Daraus ergibt sich folgende Situation:
a) Intersexualität ist das Phänomen, daß an einem bestimmten
Zeitpunkt der Entwicklung des Individuums, dem Drehpunkt,
eine Reaktion stattfindet, die Umschlagsreaktion, deren physio-
logischer Effekt darin besteht, daß sie die alternativen Differen-
zierungsvorgänge zwingt, im Zeichen des entgegengesetzten
oe a
510 R. Goldschmidt, Intersexualität und Geschlechieben ne.”
Geschlechts zu verlaufen: die weibliche Differenzierung springt
in die männliche um und umgekehrt.
b) Der Zeitpunkt des Einsetzens der Umschlagsreaktion ist maß-
gebend für das Maß der Intersexualität; je früher er liegt,
um so höher der Grad.
c) Das Auftreten der Umschlagsreaktion während der Entwick-
lung ist genetisch bedingt durch erbliche Eigenschaften der
zur Kreuzung benützten Rassen.
d) Die in Betracht kommenden Erbfaktoren der geschlechtlichen
Differenzierung unterscheiden sich in ihrer Quantität.
e) Intersexualität wird genetisch produziert, wenn die Faktoren
der männlichen und weiblichen Differenzierung quantitativ
nicht richtig aufeinander abgestimmt sind. Das Maß der Inter-
sexualität ist proportional der Höhe dieser Unstimmigkeit.
D. Aus © folgt die folgende Lösung des Problems:
a) Das normale Geschlecht wird dadurch bedingt, daß die ge-
samten Differenzierungsprozesse im Zeichen de physiologi-
schen Einflusses verlaufen, der von dem oder den Faktoren
des betreffenden Geschlechts hervorgerufen wird.
Da in verschiedenen Individuen entweder der männliche oder
weibliche Differenzierungseinfluß herrschend ist, beim Inter-
sex aber beide Einflüsse im gleichen Individuum aufeinander-
folgen können, so besteht der normale Geschlechtsvererbungs-
mechanismus darin, dem einen Einfluß die Oberhand zu geben.
Da Intersexualität durch das Eintreten der Umschlagsreaktion
während der Differenzierung bedingt ist und dies Ereignis
durch abnorme quantitative Kombination der Faktoren herbei-
geführt wird, so muß normalerweise die Reaktion, die den
differenzierungsbeherrschenden physiologischen Zustand her-
vorbringt, für das aktuelle Geschlecht schneller verlaufen
als für das nicht erscheinende Geschlecht. Weibliche Inter-
sexualität kommt aber zustande, wenn die neben der herr-
schenden weiblichen Reaktion verlaufende männliche Reaktion
schneller verläuft als sie normalerweise sollte (umgekehrt
bei männlicher Intersexualität) und noch während der Ent-
wicklung die Oberhand gewinnt. Je schneller sie verläuft,
je früher die Lage des Drehpunkts, je höher das Maß der
Intersexualıtät.
Somit sind koordiniert Quantität der Erbfaktoren und Ge-
schwindigkeit einer Reaktion; wir stehen vor dem Massen-
gesetz der Reaktionsgeschwindigkeiten.
e) Das Wesen der von den Faktoren erzeugten Reaktion läßt
sich nicht aus Versuchen von der Art der unseren erschließen.
Eine vergleichende Betrachtung des Geschlechtsproblems lehrt,
daß es sein muß die Produktion der spezifischen Hormone
fo
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[e)
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1 a SR a 7a A A
Y 4 B x hr 2
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R. Goldschmidt, Intersexualität und Geschlechtsbestimmung. Sl
der geschlechtlichen Differenzierung (die aber bei den In-
sekten nicht lokalisiert produziert werden, sondern wohl in
jeder Körperzelle).
f) Die Geschlechtsfaktoren selbst müssen Substanzen sein, die
eine Reaktion proportional ihrer Quantität beschleunigen, also
Enzyme oder ihnen ähnliches.
. Somit ist die Lösung des Problems der Intersexualität und des
Geschlechtsproblems überhaupt, zu der wir vordringen können,
die: j
Jedes befruchtete Ei besitzt normalerweise die beiderlei
Erbfaktoren, deren Aktivität für die Differenzierung des einen
oder anderen Geschlechts erforderlich ist. Diese Geschlechts-
faktoren sind Enzyme oder Körper von ähnlichem physikalisch-
chemischem Charakter. Jedes dieser Enzyme, das der männ-
lichen wie das der weiblichen Differenzierung ist notwendig für
die Ausführung (Beschleunigung) einer Reaktion, deren Produkt
die spezifischen Hormone der geschlechtlichen Differenzierung
sind. . Bei Formen mit weiblicher Heterozygotie, wie es der
Schwammspinner ist, wird das weibliche Enzym, wie wir kurz
sagen wollen, rein mütterlich vererbt. Ob dies plasmatische
Vererbung oder solche im y-Chromosom bedeutet, jedenfalls
ist jedes Ei identisch in bezug auf den Weiblichkeitsfaktor
oder seine Produkte. Das männliche Enzym ist der nach dem
bekannten Heterozygotie-Homozygotie-Schema mit dem x-Chro-
mosom der Hälfte der Eier aber allen Spermatozoen überlieferte
Geschlechtsfaktor. Absolute wie relative Quantität der beiden
Enzyme ist ein festgelegter Erbcharakter jeder Rasse. Der
Mechanismus der Geschlechtsvererbung, der darin besteht, daß
die zu Männchen bestimmten Eier zwei x-Chromosomen, = zwei
Faktoren M, = zwei Dosen männliches Enzym erhalten, die zu.
Weibchen bestimmten Eier aber nur eines, einen, eine, ist so-
mit ein Mechanismus der dafür sorgt, daß zu Anfang der Ent-
wicklung einer bestimmten, stets gleichen Quantität weiblichen
Enzyms entweder n, oder 2n-Maßeinheiten des männlichen
Enzyms gegenüberstehen. Diese Quanten sind so dosiert, daß
die Quantität q des weiblichen Enzyms größer ist als n des
männlichen: die Produktion der Hormone der weiblichen Diffe-
renzierung eilt somit bei dieser Kombination voraus, die Ent-
wicklung ist weiblich. Umgekehrt ergeben 2 n des männlichen
Enzyms eine höhere Konzentration als q des weiblichen, die
Hormone der männlichen Differenzierung werden schneller
produziert und ein Männchen entsteht. Der x-Chromosomen-
Heterozygotie-Homozygotie-Mechanismus erweist sich somit als
eine ideale Methode des‘ Ausgleichs der Relation zweier Re-
aktionsgeschwindigkeiten.
512 R. Goldschmidt, Intersexualität und Geschlechtsbestimmung.
Da das Entscheidende die Relation zweier Quantitäten ist,
so können die absoluten Quantitäten sehr verschieden sein, so-'
lange nur die richtige Relation gewahrt ist und die resultieren-
den Reaktionsgeschwindigkeiten in Harmonie sind mit den Zeit-
verhältnissen der Entwicklung. In der Tat erweisen sich
verschiedene Rassen verschieden in bezug auf die absoluten
Quanten der Enzyme. Werden solche Rassen gekreuzt, so
wird die notwendige quantitative Relation gestört und das
männliche Enzym kann relativ zu konzentriert sein für. das
weibliche Quantum, selbst im n-Zustand. Umgekehrt mag das
weibliche Enzym zu konzentriert sein im Verhältnis zum männ-
lichen, selbst ım 2n-Zustand. Dann werden die Produkte des
zu konzentrierten Enzyms zu schnell gebildet; ihre wirksame
Quantität wird noch innerhalb der Entwicklungsperiode erreicht,
(der Drehpunkt), Intersexualität tritt ein.
F. Die Resultate der Untersuchung erlauben eine neuartige Be-
trachtung des ganzen Geschlechtsproblems, die in einem be-
sonderen Buch durchgeführt ist, das bald erscheinen soll.
4. Die Vererbung sekundärer Geschlechtseharaktere.
Die Untersuchungen über die Intersexualität haben auch eine
einfache Lösung des Problems der sekundären Geschlechtscharaktere
gebracht, die sich von den früheren Anschauungen des Verfassers
entfernt und sich mehr der von Baur und Tandler vertretenen
nähert.
5. Cytologie.
Die eytologische Untersuchung konnte bisher nichts Wesent-
liches zu unserem Problem beitragen und wird es auch wahrschein-
lich nie können, wie in der Hauptarbeit ausgeführt werden wird.
6. Die biologische Bedeutung der Potenzvariation.
Die Tatsache, daß es geographische Rassen sind, die sich in
der Quantität der Geschlechtsfaktoren unterscheiden, bietet ein
bedeutungvolles Problem dar. Seine wahrscheinliche Lösung ist,
daß diese Quanten eine Anpassung an die Zeitverhältnisse des
Lebenszyklus sind. Der Beweis wird im Zusammenhang mit einer
anderen Untersuchung über geographische Variation erbracht und
zur Basis neuer evolutionistischer Ableitungen gemacht, die dem-
nächst in Buchform veröffentlicht werden.
h RE RER N ZT
ICH
515
Das Schraubungsprinzip in der Natur.
Von Dr. Hans Günther, Leipzig.
$ 1. In das an der organisierten Substanz ausgeprägte biosta-
tisch begründete Prinzip der Symmetrie bringt der Begriff des
materiellen Geschehens einen Dualismus, indem er den Begriff der
Richtung und den damit verbundenen der Gegenrichtung einschließt.
Mit der Vorstellung der reinen Form einer symmetrischen ebenen
Figur (z. B. Kreis), oder eines symmetrischen Körpers (Würfel,
Kugel) ist primär der Begriff „Rechts — Links“ (indem nach Study
„ein axiomatischer Bestandteil“ liege) nieht verbunden. Letzterer
erscheint erst in der Begleitung einer Bewegungsvorstellung oder
bei der physiologischen Vorstellung einer organisierten Substanz
oder bei der physiologischen Orientierung im Raume (welche, wie
E. Mach sagt, eine Ungleichwertigkeit — Anisotropie — der
Dimensionen des physiologischen Raumes fordert) nach einem be-
stimmten Koordinatensystem (dessen 0-Punkt z. B. auf einer Sym-
metrieachse in der „Medianebene“ liegen möge).
Selbst das rektanguläre Koordinatensystem ist aber nicht ein-
deutig bestimmt, wenn es sich um Drehungen handelt. Denn wir
unterscheiden das bei uns gewöhnlich verwendete rechtsseitige
(englische) und das linksseitige (franz. Koordinatensystem.
Im rechtsseitigen Koordinatensystem soll die Drehung eines
Radiusvektors von der „+ X“ zur „+ Y“ Achse, resp. „+ Y* zur
„+Z* und „+Z” zur „+X* Achse den Sinn der positiven
Drehung angeben. Diese Drehung erfolgt dann im Sinne der Rechts-
drehung und im Sinne der Uhrzeigerbewegung, wenn man die
Drehung von der dazu normalen negativen Koordinate (Drehungs-
achse) aus betrachtet. Positiv orientiert im Raume sind ferner die
Drehungen dann, wenn außerdemjeine Drehung aus der Koordinaten-
ebene heraus durch Drehung der Drehungsachse im positiven
Sinne (Drehzentrum im Ursprung) erfolgt.
Ein gegebenes rotierendes System läßt sich aber willkürlich
verschieden im Raume orientieren. Eine eindeutige Bestimmung
des Drehungssinnes ist erst möglich, wenn gleichzeitig eine be-
stimmte Bewegungsrichtung des Systems gegeben ist. Der ein-
fachste Fall ist der, daß ein Punkt, der eine Kreisbewegung macht,
gleichzeitig eine Beschleunigung in der Richtung der Drehungsachse
_ erfährt, so daß er eine gewöhnliche Schraubenlinie beschreibt.
Den Drehungssinn der Schraubenlinie wollen wir nun stets so
bestimmen, daß wir die Bewegung in der Richtung der Drehungs-
achse so betrachten, daß der rotierende Punkt sich von uns fort
bewegt. Die eindeutige Bezeichnung des Drehungssinnes entspricht
dann der üblichen, auf die Uhrzeigerdrehung bezogenen Ausdrucks-
weise,
Allgemeiner bestimmen wir den Drehungssinn irgend
Band 39. 34
514 H. Günther, Das Schraubungsprinzip in der Natur.
eines Systems, indem wir dieses in der dem ganzen
System eigenen Bewegungsrichtung (so daß dieses sich
von uns fortbewegt) betrachten. Bei dieser Bestimmungsmethode
entspricht also die positive Drehung der Rechtsdrehung. |
Einen ähnlichen Sinn hat die von Study gegebene Definition:
„Wenn eine Schraubung um eine orientierte Gerade der positiven
Richtung dieser Geraden ihren positiven Drehungssinn zuordnet, so
ist die Schraubung rechtsgewunden.“
Eine oberflächliche Orientierung ermöglicht die anschauliche Bestimmung:
„Auf einen Rotationszylinder mit senkrechter Achse sei eine gemeine Schrauben-
linie verzeichnet. Wenn diese für den außenstehenden Beschauer von links unten
nach rechts oben verläuft, so soll sie rechtsgewunden, im entgegengesetzten Falle
linksgewunden heißen“ (Study), oder die Vorstellung einer Wendeltreppe, die
rechtsgewunden ist, wenn beim Hinabsteigen die Achse zur Rechten ist. Defini-
tionen, wie: „Eine Bewegung heißt rechtsgewunden, wenn sie in zwei Umwendungen
um Gerade zerlegt werden kann, die ein rechtsgewundenes Paar bilden“ oder:
„Eine Kurve heißt dort linksgewunden, wo ihre Tangentenfläche rechtsgewunden ist
und umgekehrt“ bezeichnet Study selbst als gewaltsam und nur aus praktischen
Gründen gebildet.
Wird eine Dimension der Schraubenbewegung gleich 0, so entsteht einerseits
(Ausschaltung von Beschleunigung in Richtung der Drehungsachse) die ebene Dreh-
ung, anderseits (Ausschaltung einer Komponente der Kreisbewegung) eine wellen-
förmige ebene Kurve.
Der Rhythmus der Schraube wird durch die Ganghöhe repräsentiert.
Eine Umkehr des Schraubenssinnes erhält man durch Spiegelung. In
gleicher Weise gibt rein geometrisch die Spiegelung einer zentral-symmetrischen Form
(z. B. Rechtsform) die entsprechende Linksform, während die lateral-symmetrische
Form dem Spiegelbilde gleicht. Eine R.- und L.-Form lassen sich zu einer lateral-
symmetrischen Form konjugieren (konjugierte Form), z. B. auch eine R.- und L.-
Schraube so ineinander legen, daß ein lateral-symmetrisches Gebilde entsteht. Es
besteht eine gewisse Analogie zwischen den aus physiologischen Vorstellungen ent-
sprungenen R.- und L.-Formen und den mathematischen „Originalfunktionen“ und
„inversen Funktionen“.
$& 2. Die meisten „absoluten“ (im Sinne der erweiterten Rela-
tivität) Bewegungen im Raume stellen Schraubungen dar. Jede
unendlich kleine Bewegung ist eine Schraubung.
Als Herschel bei der Untersuchung der Drehung der Polari-
sationsebene des Lichtes .im Quarze eine Schraubenstruktur des
letzteren annahm, sprach er von einer „helikoidalen Dyssymmetrie*“.
Durch die Einführung des Begriffes der Asymmetrie wird hier nichts
gewonnen; wir könnten ebensogut unter Erweiterung des Begriffes
der Symmetrie von einer besonderen Form der Symmetrie („heli-
koidalen Symmetrie“) sprechen, denn auch an einer gewöhnlichen
Schraube lassen sich Symmetrieverhältnisse nachweisen, auch läßt
sich ein völlig symmetrischer, biegsamer Körper (Wurm, Schlange)
in schraubenartige Lage bringen, resp. kann sich in Schrauben-
richtung bewegen.
Symmetrie und Schraubung schließen sich also gegenseitig
nicht aus, sondern die Schraubung stellt eine besondere Art der
Symmetrie dar.
I ar ne Le ‘ sr "
H. Günther, Das Schraubungsprinzip in der Natur. 515
$ 3. Um den Drehungssinn der in der Natur vorkommenden
Rotationen und Schraubungen wissenschaftlich festzustellen, ist die
allgemeine Anwendung einer Definition, wie etwa der oben ge-
gebenen, unbedingt nötig, um Widersprüche zu vermeiden. Leider
finden sich in der Naturwissenschaft und selbst in der Mathematik,
wie auch Vertreter verschiedener Disziplinen (van Iterson, R. Fick,
Study) besonders betonen, häufige Widersprüche und Verwirrung.
So entsprechen im allgemeinen die Bezeichnungen von Zoologen
und Technikern der hier gegebenen Definition, während Botaniker
u. a. dieselben Ausdrücke im entgegengesetzten Smne brauchen.
Besonders in der Botanik ist seit Listing und Linne& dieser
Brauch üblich geworden, wie man aus Lehrbüchern von Pfeffer,
Jost, etc. sehen kann. van Iterson benutzte selbst bei der mathe-
matischen Behandlung botanischen Materials die gegensinnige, ın
der Botanik übliche Definition.
Zoologen verwenden außerdem die Ausdrücke: „dexiotrop und
„läotrop“, welche aber fälschlich auch im entgegengesetzten Sinne
gebraucht werden. Ein Botaniker sprach sogar von „südöstlichen“ und
„südwestlichen“ Gewinden. In allen naturwissenschaftlichen Fächern
begegnen wir dem Prinzip der Schraubung. Bevor in den folgen-
den Paragraphen näher darauf eingegangen wird, sei betont, daß
mitunter die Schraubungsriehtung ohne die Möglichkeit einer Nach-
prüfung mit der von den betreffenden Autoren stammenden Be-
zeichnung wiedergegeben werden mußte und daß in einzelnen Fällen
eventuell noch Korrekturen gemäß einer einheitlichen Definition
nötig sind.
Der Schraubungssinn wird bei Betrachtung durch das Mikro-
skop nicht verändert; eine Umkehrung findet aber z.B. bei Ver-
wendung des alten Sömmering’schen Zeichnungsapparates statt.
Nach Nägeli und Schwendener (Das Mikroskop, Leipzig 1867)
„haben schon manche Mikroskopiker den Beweis geliefert, daß sie
über dergleichen Dinge noch ganz ım Unklaren sind“.
$ 4. Unter den physikalischen Erscheinungen sei zunächst
die elektromagnetische Rechtsschraubung genannt. Ferner ist be-
kannt, daß ein Drahtleiter im Magnetfelde rechtsgeschraubte Torsion
erleidet, wenn er in der Nordsüdrichtung von einem elektrischen
Strome durchflossen wird. (Matteuci-Wiedemann.)
Besondere Beachtung verdient hier die optische Drehung
der Polarisationsebene des Lichtes, welche in dem „optisch
aktiven“ Medium im Sinne der R.- oder L.-Drehung erfolgt. Pasteur
hat zuerst den Zusammenhang zwischen dieser optischen Aktıvität
und der Kristallform der betreffenden Substanz klargestellt. Der
enantiomorphe Bau dieser Kristallformen, welche die Stereochemie
als „asymmetrisch* bezeichnet, läßt schon äußerlich eine Schrauben-
struktur erkennen.
Bei der Polarisation des Lichtstrahles erfolgt nach Fresnel
34*
BE KOT RS RERTRER € 3 aa EB a BE ae Ra a
516 H. Günther, Das Schraubungsprinzip in der Natur.
eine Spaltung in einen r.- und l.-geschraubten Strahl; der normal
gegen die Schraubenstruktur des Körpers verlaufende Strahl er-
langt die größere Geschwindigkeit und bestimmt somit die „Dreh-
ung der Polarisationsebene“. Also z. B. im Rechtsquarz erzeugt
der linksgeschraubte Strahl für den in entgegengesetzter Richtung
Beobachtenden die „Rechtsdrehung“ der Polarisationsebene. Dem-
entsprechend gilt die Definition von Kohlrausch, daß „Rechts-
drehung“ dann stattfindet, „wenn die Schwingungsebene des Lichtes
sich im umgekehrten Sinne des Korkziehers verschiebt, d.h wenn
dieselbe dem empfangenden Auge in der Richtung des Uhrzeigers
gedreht erscheint“. Herr Geh.-Rat Prof. Dr. Wiener gab mir
die gütige Auskunft, daß diese Definition in der Physik jetzt all-
gemein gilt. Rechtsschraubung des Lichtes wird aber als „Links-
drehung“ bezeichnet und ist auf Linksstruktur zu beziehen. Die von
Lummer (in Müller-Pouillet 1909, 11I. 3. p. 999) gegebene
Definition: „Eine Drehung der Polarisationsebene nach der rechten
Seite erfolgt, wenn der rechtsrotierende Strahl sich schneller durch
die Quarzplatte fortpflanzt“, steht hierzu im Widerspruch (Rechts-
rotation ist dabei als Rechtsschraubung abgebildet). Die Entstehung
der optischen Drehung durch Schraubenstruktur läßt sich auch
experimentell verwirklichen. Werden z. B. dünne Glimmerblätt-
chen der Struktur des Rechtsquarzes entsprechend in R.-Schrauben-
anordnung übereinandergeschichtet, so zeigt ein in der Richtung der
Schraubenachse einfallender Lichtstrahl für den dem Strahle entgegen-
blickenden Beobachter „Rechtsdrehung“ (Reusch).
Manche Stoffe drehen nur 1. im kristallinischen, manche nur
2. im amorphen, flüssigen oder gelösten, andere 3. in beiden Zu-
ständen. Die R.- und L.-Kristalle gewisser Substanzen können
übrigens verschiedene Löslichkeit zeigen. Bei Stoffen der 1. Klasse
ist nach Sommerfeld eine spiegelbildliche Symmetrie der Mole-
küle nicht ausgeschlossen. Bei den übrigen Klassen neigt die Chemie
zu der Ansicht, daß die physikalischen Vorgänge im Molekül, resp.
der „Bau“ der Moleküle denselben Drehungssinn aufweisen. Die
biologische Tatsache ist zu beachten, daß die Eiweißkörper meist
eine Rechtsschraubung des Lichtstrahles verursachen, also nach
der üblichen Bestimmungsmethode „linksdrehend“ sind; die wichtige
Gruppe aber der Nucleoproteide und des Hämoglobins sind „rechts-
drehend“. Die optische Aktivität ist eine wesentliche Eigenschaft
der biologischen, synthetischen Produkte, welche im Gegensatz zu
den artifiziellen Produkten des Laboratoriums als wichtiges Cha-
rakteristikum der lebenden Substanz eine. spezifische Schrau-
bungsrichtung zeigen. Schon Pasteur fragte sich, was wohl für
Lebensgebilde entstehen würden bei einer Inversion des Schrau-
bungssinnes der Zellulose und der Eiweißkörper. „If such cir-
cumstances could be realised in the living tissues, investigations
of inlimited range would be open to the future, and at present
aa go ee Fk aa N RE a a Fran 2 une sy) way
H. Günther, Das Schraubungsprinzip in der Natur. 517
such questions are worthy of the most careful attention of scien-
tists“‘ (F. M. Jaeger). A. Byk sucht diese spezifische Einseitigkeit
des Schraubungssinnes der organischen Synthese auf die Wirkung
des an Wasseroberflächen reflektierten, zirkular polarisierten, unter
dem Einfluß des terrestrischen Magnetismus stehenden Lichtes zurück-
zuführen.
Nach Sommerfeld kann man bei alleiniger Anwendung der
Punktsysteme ohne Berücksichtigung der räumlichen Ausdehnung
der Formelemente das Drehungsvermögen lediglich im regulären,
tetragonalen und hexagonalen System erklären; „wenn man aber
körperliche Formelemente im Raume gruppiert, so genügen schon
die Raumgitter, um auch in den niedriger symmetrischen Systemen
die Verschiedenheit der Rechts- und Linksstrukturen zu erkennen‘.
Bei Raumgittern kommt es nach Sommerfeld weniger auf
Symmetrieeigenschaften an. Teilflächige Symmetrie sei durch
„alternierende Gitter“ zu erklären. Je nachdem die Teilgitter im
rechten oder linken Schraubensinne aufeinander folgen, lassen sich
rechts- oder linksgewendete Kristallstrukturen erzeugen. Das op-
tische Drehungsvermögen läßt sich also danach nicht nur durch
eine entsprechende Eigenschaft der Moleküle, sondern auch durch
eine schraubenförmige Anordnung der Moleküle im Raume er-
klären.
Bedeutsame Ergebnisse hatten die Studien der flüssigen Kri-
stalle, durch die noch weitere tiefgreifende Umgestaltungen unserer
Theorien über Kristallographie und Molekularphysik zu erwarten
sind. Die Kristallenergien äußern sich durch die verschiedenartigsten
Phänomene, von denen hier besonders die Schraubungsphänomene
interessieren.
Durch Wallerant’s Untersuchungen war bereits bekannt, daß
durch Aufnahme fremder Moleküle, besonders optisch aktiver
Stoffe, in das Raumgitter eines Kristalls schraubenförmige Ver-
drehungen erzeugt werden, welche nach ©. Lehmann’s Meinung
auf den spiralen Bau dieser Moleküle zurückzuführen sind.
Bei flüssigen Kristallen hat besonders das Kolophonium die
Wirkung, Schraubenstruktur und Zirkularpolarisation hervorzu-
bringen, speziell dessen Abietinsäure (Vorländer und Janecke),
von der schon sehr geringe Mengen zur „zirkularen Infektion“ ge-
nügen.
Bei Paraazoxyphenetol erzeugen Olivenöl oder Cholesteryl-
benzoat entgegengesetzte Drehung wie Kolophonium und Abietin-
säure, und zwar scheint nach Abbildungen OÖ. Lehmann’s Cho-
lesterylbenzoat Rechtsschraubung hervorzurufen.
Diese Phänomene treten besonders deutlich an Kapillarsäulen
des tropfbar-flüssig-kristallinischen Paraazoxyphenetols hervor. Die
Ganghöhe war von der Konzentration des Zusatzes abhängig, durch
Zusatz beider autogonistischer Substanzen trat Kompensation ein.
Y
548 H. Günther, Das Schraubungsprinzip in der Natur.
Zuweilen entstanden ‚auch bei homogenen Säulen kristallini-
scher Flüssigkeiten Spiralstrukturen, wenn das Temperaturgefälle
zwischen Unter- und Oberseite verstärkt wurde. Ebenso war eine
scheinbare Rotation der Tropfen in Olivenöl als Lösungsmittel
und in entgegengesetztem Sinne bei Kolophonzusatz bemerkbar.
Bei Tropfen, die Olivenöl und sehr wenig Kolophonium enthalten,
lassen sich Oszillationen verbunden. mit regelmäßigem Wechsel
der Struktur nachweisen.
Ferner sah O. Lehmann beim Zusammenfließen zweier ange-
schmiegter, gleichförmig grau erscheinender Tropfen flüssiger
Kristalle in beiden Tropfenhälften entgegengesetzte Schrauben-
struktur; es fand also ein symmetrischer Ausgleich statt.
$ 5. Auch im Makrokosmus erkennen wir das Schraubungs-
prinzip. Die Bestimmung der Drehungsrichtung unseres isoliert
gedachten Planetensystems würde nicht eindeutig möglich sein, da
wir ja die Bewegung einem bestimmten Weltpole, aber ebensogut
auch dem anderen Weltpole zuordnen können. Diese doppelsinnige
Deutung vermeiden wir, wenn wir definitionsgemäß berücksichtigen,
daß das ganze System eine Bewegung in der Richtung nach einem
Punkte ım Sternbilde des Herkules ausführt. Die Bewegungsrich-
tung entspricht dabei einer Deklination plus 28° (Rektaszension
ca. 269 bis 277°)'). Dann können wir eindeutig z. B. die Drehung
unserer Erde als Rechtsdrehung, die aus der Erdbahnbewegung
und Bewegung des- Sonnensystems zusammengesetzte Bewegung
als Rechtsschraubung bezeichnen.
Allen Planeten kommt bemerkenswerterweise der gleiche Dreh-
ungssinn zu. (Eine ähnliche Konstanz findet sich auch bei Wirbel-
winden.)
Berücksichtigt man außer der Bahn des Planeten dessen Eigen-
rotation, so bildet die Bahn eines Punktes der Erdoberfläche eine
superponierte Schraubung. II. Ordnung; eine ähnliche Kurve finden
wir (s. u.) bei der en von gewissen Spirochaeten.
Theoretisch ist dıe Annahme sehon als Analogieschluß aus den
Befunden im Mikrokosmos berechtigt, daß es auch linksdrehende
Systeme gibt.
$ 6. Das in der allgemeinen Physik herrschende Schraubungs-
prinzip muß auch in der Morphologie und Physiologie der
Örganısmen in irgendwelchen Formen zum Ausdruck kommen,
sowohl in der Wache A einzelner Teile, als auch in
der Bewegung des gesamten Organismus.
Wie die Ortsbewegung einerseits nach biostatischen Gesetzen
die bilaterale Symmetrie des Organismus begründet, führen anderer-
seits Bewegungstendenzen beim Wachstum und gewisse Bewegungen
des ganzen Organismus zur Unterordnung ‘unter das dualistische
1) Herrn Geheimrat Galle-Potsdam bin ich für gütige Auskunft in. astro-
nomischen Fragen zu großem Danke verpflichtet,
H. Günther, Das Schraubungsprinzip in der Natur. 519
Schraubungsprinzip. Bilaterale Symmetrie und Schraubung sind
daher, allerdings ın verschiedenartigem Sinne, Funktionen der Be-
wegung. Um hier eine Übereinstimmung in ‚der Bezeichnung des
Drehungssinnes zu erzielen, muß definitionsgemäß die Bestimmung
bei Organismen immer beim Anblick in der Richtung der Bewegung
(von uns fort), resp. des Längenwachstums oder Höhenwachstums
(negative Gravitationsrichtung) erfolgen.
Einen allmählichen Übergang von einem Drehungssinn in den
anderen im Sinne einer Variation gibt es hier nicht, sondern nur
ein Entweder — oder. Es werden daher die vonder Norm abweichen-
den Formen hier zunächst nicht als Varianten (z. B. Linksvarianten)
bezeichnet, sondern als Heterotypen oder inverse Formen.
$ 7. Schon bei den niedersten einzelligen Organismen
findet man Schraubungssymptome, so bei den wellenförmigen
Vibrionen und schraubenförmigen starren Spirillen. Diese erregen
nach Nägeli-Schwendener und Ferd. Cohn bei Drehung um
ihre Achse die Sinnestäuschung der Schlangenbewegung trotz der
starren, unveränderlichen Form. Besonders ausgeprägt ist die
Schraubung bei Spirochaeten mit korkzieherartig fixierter, fast
starr erscheinender Gestalt mit mehr oder weniger zahlreichen,
meist gegeneinander symmetrischen Windungen („welche unter-
einander meist den gleichen Radius besitzen“ Doflein). Die relativ
große, im Süßwasser lebende Spirochaeta plicatilis Ehrenberg zeigt
eine doppelte Schraubung, indem sich außer den kleinen Schrau-
benwindungen noch eine superponierte Schraubung zweiter Ord-
nung findet. Die Rotation findet nach Doflein in der Richtung
des Uhrzeigers und auch in entgegengesetzter Richtung statt; es
fehlt hier die Angabe, ob sich dabei auch die Bewegungsrichtung
umkehrt. Speziell bei Spirochaeta pallida sind die Windungen
konstant mit bestimmtem Schraubenwinkel, die Spirale ist nach
Schaudinn „präformiert“; bei S. pallida läßt sich der Schrau-
bungssinn wegen der Kleinheit des Objektes nicht mit Sicherheit
bestimmen. Jaffe bildet bei Spirochaeta culicis Linksschraubungab.
Schraubungsphänomene sind ferner bei Trypanosomen ange-
deutet, bei Radiolarien u. a. deutlich ausgeprägt.
$ 8. UnterdenPflanzen kommt das Schraubungsprinzip beson-
ders deutlich bei Schlingpflanzen zum Ausdruck. Als fast gesetzmäßige
Erscheinungen sind dabei hervorzuheben die Prävalenz der
Rechtswindung und die Unveränderlichkeit des Schraubungs-
sıinnes innerhalb der Age Man findet konstante Rechtsschrau-
bung bei Phaseolus multifl., Convoln. sep., Aristolochia, Ipomoea purp.,
Menispermum can. ete., Linksschraubung dagegen u. a. bei Humulus
lup., Lonicera caprif., da convolv., Testudinaria eleph. Bei
einzelnen Pflanzen, z..B. Polygonum N und Solanum dulc. finden
sich allerdings Sinzelne Individuen und selbst einzelne Sprosse des-
selben Individuums mit gegensinniger Windung. Es kommen auch
520 H. Günther, Das Schraubungsprinzip in der Natur.
freie Windungen vor, besonders unter ungünstigen Wachstums-
bedingungen.
male Anordnung findet sich bei Blattanlagen; bedeutsam ist
die von van Iterson festgestellte Übereinstimmung in den Ge-
setzen der Anlegung neuer Blätter und der Ka von Fora-
miniferen. Eine morphologische Schraubungserscheinung läßt sich
in der Blattordnung z. B. von Blüten nachweisen („spirotrophes
Wachstum“). So kann man nach Brenner bei der oberflächlich
betrachtet symmetrisch erscheinenden Sazifraga granul, eine R.-
und L.-Form analysieren. Ein anderes ätiologisches Moment spielt
wohl bei der Rollung des ersten Blattes von Sämlingen, da man
nach Compton bei der zweireihigen Gerste R.- und L.-Schraubung
in annähernd gleichem Verhältnisse (42:58) findet. Nur muß die
Bezeichnung Comptons: „linkshändige Faltung“ im Sinne der
Einrollung des Blattes als Rechtsschraubung bezeichnet werden.
Schraubungserscheinungen zeigen besonders auch verschiedene
Früchte; bei Fruchtständen mit raumgitterartig angeordneten
Früchten (Pinus, Helianthus, Ananassa ete.) finden sich beide
Schraubenrichtungen an demselben Körper (Parastichien).
Interessant sind die von GOompton aufgedeckten Beziehungen
„wischen der Lage des Samens im Fruchtstand und der späteren
Rollung des ersten Blattes. Danach gehen aus den Körnern der
jedesmaligen linken Reihe der paarigen Fruchtreihen linksgeschraubte
(im obigen Sinne) erste Blätter hervor; doch handelt es sich nach
Compton dabei nicht um erbliche Anlagen. Die Samenanlagen-
fächer der Fruchtknoten von Aesculus zeigen R.-. und L.-Formen,
für deren Zusammensetzung im ganzen Fruchtknoten nach Löwi
die Wahrscheinlichkeitsrechnung sich anwenden läßt.
Die Zelle der Fadenalge. Spirogyra enthält nach Abbildung ın
Verworn’s Allg. Physiologie eine rechtsgeschraubte Chlorophy I-
bandspirale, Nägeli und Sc Ewendkaee dagegen eine lınks-
geschraubte. :
Die Schraubenstruktur kommt bei Pflanzen oft durch Quel-
lungzum Vorschein, Bei Schachtelhalmsporen erfolgen die schnellen
Bewegungen der Zellulosemembranen (Elateren) unter schrauben-
förmiger Anlagerung an den Sporenkörper infolge Quellung. Anderer-
seits erfolgt beim Storchschnabel (Krodium eieut.) die Rechtsschrau-
bung der en Fahne des Samens durch E ‚Entquellung (Verworn).
® 9. Bei den Tieren ist ebenfalls ein Vorwiegen der Rechts-
schraubung feststellbar.
Metyrksfür dieSchraubenerscheinungen können dieSchnecken
gelten. Auch bei diesen ist neben der Pr ävalenz der Rechts-
schraubung (Fischer und Bouvier) noch die Bedeutung des Win-
dungssinnes als konstantes Gattungssymptom zu erwähnen.
Es kommen aber auch Heterotypen einer Gattung vor, z. B.
die „aberratio sinistrorsa* der Weinbergschnecke; diese Linksform
kan ad Lana Dias U RRERBENE au br a a 1 be Dr BER USD BE aa a En
H. Günther, Das Schraubungsprinzip in der Natur. 521
ist aber selten und nach Lang nicht erblich. Bei Helix pom. fand
de Mortillet unter 18000 Exemplaren 6mal (= 0,03°/,) Links-
formen (zit. Fischer-Bouvier). Die örtliche Häufung der Linkstypen
soll allerdings nach Haecker für einen Einfiuß der Vererbung
sprechen. (Bei den Schnecken Amphridromus und Achatinella sollen
ungefähr ebensoviele R.- und L.-formen vorkommen). Nach P. Hesse
sınd Linksschnecken meist zum Oölibat verurteilt.
Es gibt auch „falsch“ gewundene (hyperstropheund heterostrophe)
Gehäuse bei gegensinnig gewundenen, Schnecken, sowie plötzliche
ontogenetische Umkehr des Windungssinnes.
Die Schraubungsrichtung ist hier nicht so zu deuten, daß das
Wachstum vom Ursprung aus in Richtung einer Abwärtsschrau-
bung erfolgt, denn das Wachstum kann nicht ohne Unterstützungs-
punkt quasi in der Luft beginnen. Sondern das Gehäuse wird im
Sinne der Aufwärtsschraubung (besonders bei Wassertieren ın der
Riehtung des Auftriebes) verschoben.
Bei Muscheln, z. B. Isocardia, ist der Wirbel der rechten Schalenhälfte links-,
der anderen. rechts gewunden. Auch unter Kephalopoden und Pteropoden gibt es
regelmäßig (links) geschraubte Formen (Turrzlites, Sipirialis).
Im indischen Volke scheint eig ‚besonderes Interesse für den Windungssinn
der Schnecken wohl infolge der Verwendung als Münze verbreitet zu sein. Die
Statue des Wischnu trägt immer in der linken Hand eine linksgewundene Tur-
binella; ein Inder zahlte für eine solche Linksturbinella (Tjanko genannt) 1000
Franken (Fischer-Bouvier).
Zur Feststellung des ätiologischen strophogenen Faktors ist die
retrograde morphologische Erforschung des embryonalen Wachs-
tumsprozesses erforderlich. Es gelang so, nachzuweisen, daß der
Schraubungssinn schon am Spiraltypus der Furchung mit Schräg-
stellung der Kernspindel erkennbar ist (Compton).
Crampton und Kofoid fanden 1894, daß sich bei den Links-
schnecken Physa und Planorbis die Schraubung schon vor der
2. Teilung nachweisen läßt. Bei Crepidula beginnt die Rechts-
schraubung nach Conklin schon mit der: 1. Teilung und wird
sichtbar, wenn die vier am vegetativen Pole gelegenen Makromeren
zur Bildung des fünften „Mikromerenquartetts“ schreiten. Daß
schon beim Reifungsprozeß an der Kernspindel eine Schraubungs-
richtung zu erkennen sei (Merk, Kostanecki und Wierzejski), konnte
Conklin nicht bestätigen. Conklin sieht den ätiologischen Faktor
in der Umkehrung der Polarität des Eies.
Eine Schraubenstruktur läßt sich aber schon ım Zellkern nach-
weisen. K.C. Schneider fand nämlich in jedem Tochterchro-
mosom bei der Salamanderlarve zwei aneinandergelegte Spiralen,
auf die allein sich die chromatische Substanz beschränkt und die
auch während der Kernruhe als farblose Fäden bestehen bleiben.
Es wäre wichtig, festzustellen, ob sich hier schon Gesetzmäßigkeiten
bezüglich des Schraubungssinnes ergeben.
Auch an der kontraktilen Substanz findet man Schraubungs-
vorgänge, 2; B. bei der Geiselbewegung. Der sogenannte Muskel-
522 H. Günther, Das Schraubungsprinzip in der Natur.
faden im Stile der Vorticella ım Zustande der „Kontraktion“
Rechtsschraubung, könnte man hier nicht, ähnlich wie es Pütter
für die Stäbehen der anisotropen Schicht der quergestreiften
Muskulatur annimmt, vermuten, daß ım Zustande der „Kontrak-
tion“ eine Entspannung stattfindet, und daß die die Schrauben-
form bewirkende Substanz des Vortizellenfadens im „Ruhezu-
stande“* gleich einer Feder gespannt ist? Die Spannungsände-
rung wird dann eventuell durch osmotische Vorgänge durch
die Stilscheide bewirkt. Die Struktur der „doppeltschräggestreif-
ten“ Muskulatur der Mollusken und einiger Würmer ist vielleicht
durch eine Schar von Spiralbändern bedingt; diese ist nach Ab-
bildungen (Ballowitz) bei Sepia rondel. links geschraubt.
Ein eigentümliches Phänomen ist die alternierende Drehung von Organen bei
Cestodenproglottiden ; bei Taenia solium finden sich die Genitalpapillen abwechselnd
an der rechten Seite einer Proglottide und an der linken der folgenden etc. Bei
Würmern findet sich auch die Prävalenz eines Schraubungssinnes. Zur Straßen
fand unter 125 Individuen von Ascaris megal. nur 4 inverse Formen. Spiralwin-
dung des Darmes findet sich bei vielen festsitzenden Tieren, z. B. Crinoiden.
Völlie symmetrische Formen können, wie bereits in $2 erwähnt, Bewegung
und Lagerung in Schraubenrichtung zeigen. Bei der Enzystierung (z. B. Trichina
spiralis) dürfte dabei das Prinzip der miıfmalen Oberfläche der Kapsel maß-
gebend sein. Viele Ortsbewegungen sind schraubenartig, wobei aber infolge des
Körperbaues oder der ebenen Bewegungsbasis (Kriechtiere) eine Dimension ver-
schwinden kann, so daß eine wellenähnliche Bewegung resultiert. Beim Borsten-
wurm Tubifex ist die Grundform der Bewegung des Hinterleibes nach Szymanski
die Spiralenform (nach Abbildung Linksschraubung).
Bei Vertebraten seien zunächst die gesetzmäßigen embryo-
logischen Drehungsprozesse am Intestinaltraktus nebst Anhängen,
des Herzens etc. erwähnt, Conklin weist darauf hin, daß bei
bilateral vorhandenen Organen die Inversion der Wahrnehmung
entgehen kann. Die Nabelschnurarterien verlaufen in Links-
schraubung zur Plazenta. Die am Muskel nachgewiesenen „Nonius-
perioden“ führen Heidenhain zu der Theorie der Schraubengänge,
daß also z. B. die Telophragmen eine Wendeltreppe mit sehr ge-
ringer Steigung bilden.
Das Schraubungsprinzip kann besonders deutlich an epithelialen
Körperanhängen, wie Haaren, Hörnern, Geweihen zum _Aus-
druck kommen.
Bei der Geweihbildung findet sich häufig die Tendenz zur Schraubung;
in hohem Grade tritt dies bei den „Korkziehergeweihen“ hervor. V. Haecker
glaubt, daß bei diesen nicht nur mechanische Faktoren, wie Verletzung der Stirn-
zapfen und Hinterextremitäten oder Stoffwechselstörungen, wie Lungenseuche
(Strongylosis), sondern auch eine „Keimesvariation“ in Betracht komme. Der
Schraubungssinn entspricht zuweilen nicht der Körperseite So haben manche Schafe
oder /Ziegen das rechte Horn rechts-, andere linksgewunden. Der „genetische
Gabelpunkt“* (V. Haecker) ist hier vielleicht in der Anlage der Blutgefäße in dem
das präostale Bildungsgewebe umhüllenden, wachstumsleitenden Periost zu suchen,
da diese hier am „Wachstumsscheitel“ wirbelartig angeordnet sind (Rhumbler).
Die beim Menschen selten beobachtete Hornbildung an der Stirn zeigt nach einer
Abbildung von Heurtaux an der rechten Seite Rechtsschraubung.
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2 4 = A ER TE 7 url 8 X N ' Pa 4
H. Günther, Das Schraubungsprinzip in der Natur. 523
Manche Gelenkflächen zeigen Schraubenform. Dabei ist her-
vorzuheben, daß der Drehungssinn meist der Körperseite entspricht,
also Gelenkflächen der rechten Körperhälfte rechtsgewunden sind
(R. Fick). Boegle sucht diese Tatsache zu verallgemeinern und
glaubt, daß die Grundform der Bewegungsorgane eine schnecken-
förmige sei, deren Charakter. besonders deutlich an den Gelenk-
flächen hervortrete.
Als wesentlich ist nochmals hervorzuheben, daß bei bilateral-
symmetrischen Organismen Schraubungsprinzip und Symmetriever-
hältnis gewöhnlich einander entsprechen (Rechtseite — Rechts-
schraubung). Dieser Umstand kann zu der Anschauung einer
feineren' gegensinnigen Differenzierung des rechts- und Iinksseitigen
Gewebes führen, welche schon in älterer Zeit ausartete in die ge-
sonderte physiologische Betrachtung der beiden Tierhälften, in die
Unterscheidung des rechten und linken Menschen.
Wenn Bewegungen und Handlungen infolge besonderer Spe-
zialisierung einseitig ausgeführt werden müssen, so ist es wahr-
scheinlich, daß diejenige Seite bevorzugt wird, welche auch bei der
artspezifischen Schraubungsrichtung den Vortritt hat, also das heißt,
bei der Rechtsschraubung die rechte Flanke. Und andererseits
können wir aus einer funktionellen Spezialisierung auf die Artspe-
zıfität des Schraubungssinnes schließen
Das stärker beanspruchte Organ zeigt gewöhnlich auch ein
morphologisches Übergewicht. Als Beispiel für derartige morpho-
logische oder funktionelle Heteroplasien sei besonders die
Heterochelie der Krebse und die Rechtshändigkeit des Menschen
erwähnt.
Rechts- und Linkshändigkeit des Menschen hat nach V. Haecker mit der
Heterochelie der Decapoden, speziell der poterochieren Krebse gewisse Ähnlich-
keit. Wie beim Menschen nach Ausfall der rechten Hand die andere allmählich
die Funktion übernehmen kann, so findet sich auch bei Knackscheren von Krebsen
eine Funktionsübernahme durch das symmetrische, Organ, welche mit morpho-
logischer Umkehr verbunden ist („Scherenumkehr“).
Nach Marschall sei bei Landkrabben häufiger die linke, bei nicht schwim-
menden Seekrabben die rechte Schere größer. Bei einer Hesperidenart ist die
linke Geschlechtszange meist stärker entwickelt.
Beim Menschen bildet bekanntlich die Linkshändigkeit eine Ausnahme (etwa
4%). Sie zeigt regionale Unterschiede und kann sogar an einzelnen Orten, z. B.
auf Celebes, dominieren. Ferner wird sie durch beide Geschlechter übertragen und
häufiger bei Männern manifest.
Da die Differenzierung erst im Laufe der ersten Lebensjahre allmählich er-
folgt, tritt sie erst später hervor, nach Baldwin etwa im 6. oder 7. Lebensjahre.
Eine Angabe von Delaunay, daß Primaten, Carnivoren, Uneulaten, und die
meisten Vögel Rechtser seien, bedarf der Revision. Auf die morphogenetischen
Erklärungsversuche (Gefäßentwicklung, Herzlagerung, a irniekeit etc.) sei hier
nicht näher eingegangen.
Eine Rechtsschraubung ist jede ungezwungene Bewegung des
herabhängenden rechten Armes, z. B. beim grüßenden Handreichen
(H. Weber, Encyel. d. Matlıem.). Folgt dieser Bewegungsintention
der ganze Körper, so resultiert eine Rechtsdrehung des ganzen
NEN IN OSTEN,
524 H. Günther, Das Schraubungsprinzip in der Natur.
Körpers (definitionsgemäß ist eine Bewegung des Systems in der
Richtung vom aboralen zum oralen Pol anzunehmen), welche im
gewöhnlichen Sprachgebrauch als „linksum“! bezeichnet wird. Die
logisch richtigere Bezeichnung „Rechtsdrehung“ ergibt sich in diesem
Falle auch ee daß eine Drehung der rechten Körperhälfte
um eine durch den linken Fuß gehende Drehungsachse erfolgt. Ü
Diese Drehung wird bei der Kehrtwendung bevorzugt. Es ist
wohl nur eine Folge der Anlernung, daß beim Tanz der andere
Drehungssinn beliebter ist, nämlich die Linksdrehung, welche wir
aber z. B. als „Rechts“walzer zu benennen gewohnt sind.
Im Zusammenhang mit der Dextromanie sind die gewöhnlichen
Handwerksgegenstände) (Schraube, Korkzieher) rechsgewunden.
Eine Schraubbewegung wird mit der rechten Hand gewöhnlich im
Sinne der Rechtsschraubung ausgeführt.
Es wird zweifellos von mancher Seite beanstandet werden, daß
die der vorliegenden Aphandlung zugrunde liegende Definition gegen
Volksempfinden und Volkssprachgebrauch verstößt. Ich habe diesen
Mißstand auch unangenehm empfunden und eine Abänderung der
Definition durch Uinkehrung der Schraubungsrichtung, welche
ja mathematisch gleichberechtigt ist, ernstlich erwogen. Bei physio-
logischen Betrachtungen ergeben sich aber dann unüberwindbare
Widersprüche, so daß also ein Festhalten an der hier gegebenen
Definition zweckmäßig ist.
$ 10. Ein Überblick über die geschilderten Tatsachen legt die
ein nahe, daß das Sehraubun ss prinzip, welches ber den
verschiedenartigsten Naturereignissen in unserem Planetensystem
zur Geltung kommt, sich in einer einheitlichen Weise verwirklicht,
wie es die häufige Übereinstimmung und Konstanz zeigt.
Eine Prävalenz der Rechtsschraubung, welche vielleicht ihren
tieferen Grund in der Rechtsschraubung des ganzen Planeten-
systems hat, ist bei den Organismen unverkennbar.
Diese kommt auch bei morphologischen Studien der Symmetrie-
verhältnisse durch Störungen der bilateralen Symmetrie zugunsten
der rechten Seite zum Ausdruck. wie besonders die systematischen
Untersuchungen Dunkers zeigen.
Dunker bestimmte die variable Differenzreihe DI=V„— V.), welche ent-
steht, wenn zwei variable bilateral-homologe Merkmale in unvollkommener Relation
zueinander stehen. Vollkommene Symmetrie bestand bei einer Individuengemein-
schaft hinsichtlich eines Merkmalpaares dann, wenn dessen Differenzreihe gleich-
förmig um Null als Mittel variiert. Als Maß der „Kollektivasymmetrie“ eines Merk-
malpaares bei einer Ra verwendete Dunker den ‚„Asymmetrie-
(NN) If) N
index‘ a = = AN) zb, al , wobei I(D,) die absolute Summe der negativen
n[2(D") + 2(D,)]
Differenzen, &(f,) die Summe ihrer Frequenzen ist. Dieser Index wird null bei
vollkommener Symmetrie, -F 1 bei vollkommener „Asymmetrie‘“ und ein positiver
oder negativer echter Bruch bei unvollkommener Symmetrie. Als Maß des indivi-
duellen (Grades der „Asymmetrie“ eines bilateral-homologen Merkmalpaares gilt die
Vamv
P A 2 ° g 3
relative Differenz seiner Varianten ____”°_ mit den Grenzwerten 0 und + 1.
VarV;
H. Günther, Das Schraubungsprinzip in der Natur. 595
Diese Berechnungen ergeben, daß fast !/, aller Individuen selbst bei fast voll-
kommener Kollektivsymmetrie des Merkmalpaares sich „asymmetrisch‘“ verhalten
und daß ein Überwiegen der rechten Seite erkennbar ist. Es ergibt sich also
wieder eine Prävalenz der Rechtsschraubung.
Für die plötzliche ontogenetische Umkehr des Windungssinnes
bei Schlingpflanzen und Schnecken müssen wohl äußere besondere
Faktoren verantwortlich gemacht werden.
Zur Feststellung des Zeitpunktes, wo das Schraubungsprinzip
an einem morphologischen oder biologischen Merkmal des Orga-
nismus manifest wird, sind entwicklungsgeschichtliche Studien nötig,
die bereits in einzelnen Fällen, wie oben erwähnt, bis zum ersten
Furchungsstadium als dem „scheinbaren Gabelpunkte*“ fort-
geschritten sind. Diese Phänokrise ist nach V. Haecker die-
jenige Phase, von der aus „der äußere Entwicklungsverlauf in den
beiden ‚miteinander zu vergleichenden Reihen ein verschiedener ist“.
Hier sind wir wohl zur Grenze des Erkennbaren, aber noch
nicht zum wirklichen Gabelpunkte gelangt, der vielleicht in intra-
molekulären Vorgängen zu suchen ist.
Und damit kommen wir ın das Gebiet der Hypothesen über
bekannte Erscheinungen, die wır auf besondere, innere, „konsti-
tutionelle“ Zustände beziehen, deren eigentliches Wesen uns
noch unbekannt geblieben ist.
Kerner v. Marılaun sucht bereits die Schraubungskonstanz
bei Windungspflanzen durch „eigentümliche Konstitution des
Protoplasmas“ zu deuten. Auch bei der oben erwähnten Be-
ziehung des Schraubungssinnes zur gleichsinnigen; Lage des
Samens im Fruchtstande ist wieder gerade die betreffende Lage
des Samens vielleicht von demselben konstitutionellen Momente
abhängig. Aber auch die Umkehr des Drehungssinnes muß als
(innere) Konstitutionsanomalie aufgefaßt werden, die durch äußere
mechanische Einflüsse nıcht zu erklären ist, wie es Przibram
versucht. („Es scheint demnach die Rechtswindung von vornherein
den Embryonen zuzukommen und nur infolge mechanischer Störungen
gelegentlich in einzelnen Exemplaren umgekehrt zu werden.“)
Zur Straßen wagte sich gelegentlich seiner Askaridenstudien
nur zu der Annahme vor, daß die „asymmetrische Verteilung von
Anlagen“ „schon im Ei oder in dessen Kern entschieden“ ist.
E. Mach gelangt auf deduktivem Wege bei Erörterung des
physiologischen Raumes zu der Annahme: „Möglicherweise liegt
diese Anisotropiesschon 'in den Elementarorganen, aus welchen
sich unser Leib zusammensetzt.“
Bezüglich entwicklungsgeschichtlicher Schraubungserscheinungen
wirft Haecker die Frage auf, ob hier schon eine „Asymmetrie“
der Molekularstruktur maßgebend sei. Diese molekuläre Konstitu-
tion muß dann ım ganzen Zellstaate vorhanden sein.
Mag also das Schraubungsphänomen der Organismen der Aus-
druck einer besonderen intramolekularen oder intrazellularen Kon-
” “ 12 N EN A E E
z
526 H. Günther, Das Schraubuugsprinzip in der Natnr.
stitution sein, so ergibt sich die Frage, auf welche Weise die
heterotypen (inversen) Formen zustande kommen, deren Verwirk-
lichung zunächst nicht durch allmähliche Variation, sondern durch
plötzliche, kryptogenetische Mutation möglich erscheint (cf. & 6).
Unter Bezugnahme auf die bei flüssigen Kristallen festge-
stellten Tatsachen können wir auch bei Organismen analoge Ver-
hältnisse vermuten. Es muß in der lebenden Substanz ein Medium
vorhänden sein, welches gewissermaßen der materielle Träger des
Schraubungsphänomens ist, eine Substanz, deren vielleicht selbst
schraubenfömige Moleküle sich in Schraubenform aneinanderfügen
und das formbestimmende Gerüst der lebenden Materie darstellen.
Dieses Medium möge Strophoplast heißen. Die Verwirklichung
(Aktivierung) der Schraubenformung erfolge durch strophogene
Komplemente, welche auf den Strophoplasten wirken. Es mögen
ein die Rechtsschraubung des Strophoplasten bestimmendes Rechts-
komplement und ein entsprechendes Linkskomplement in der leben-
den Materie in der Konstellation vorhanden sein, daß das Rechts-
komplement überwiegt und daher den strophogenen Ausschlag gibt;
das organische lebende System gestaltet sich dann in R.-Schrau-
bungssinn. Die hier beschriebene Zusammensetzung bestimme die
normale Konstitution des Systems, in komplizierterer Weise des
ganzen Organismus, Nun kann die Menge der strophogenen Kom-
plemente variieren und bei verschiedenen Varianten einer Spezies
z. B. das Linkskomplement eine relative Zunahme erfahren. Es
kann dann schließlich der kritische Punkt erreicht werden, an dem
das Linkskomplement das Übergewicht über das Rechtskomplement
hat, so daß die Krise durch Inversion des Schraubungssinnes, durch
Entstehen von Heterotypen in Erscheinung tritt. In diesem Sinne
können also die Heterotypen als Varianten einer Spezies aufgefaßt
werden, während ohne die hier gegebene morphogenetische Theorie
die Heterotypenbildung sich nicht als Variation deuten ließ. Es
ergibt sich die weitere interessante Kombination, daß bei einer in
der Nähe des kritischen Punktes liegenden chemischen Konstella-
tion nur eine geringe quantitative Änderung eines Faktors genügt,
um eine wesentliche Änderung der Konstitution zu bedingen.
So bestechend diese Theorie zunächst erscheint, vermag sie doch
nicht die heterotypen Kombinationen bei bilateral-symmetrischen
Formen (also L.- und R.-Form bei demselben Individuum) zu er-
klären. Es sind wohl hier außerdem rein physikalische Kräfte, z.B.
Spannungen, als örtliche Faktoren wirksam; so können ja auch
entsprechende (cf. $4) symmetrische Erscheinungen bei flüssigen
Kristallen gefunden werden.
Je einfacher die Fragestellung, desto eher können wir eine
Lösung erwarten. Wir bleiben aber bei der Untersuchung dieses
scheinbar einfachen Phänomens vor vielen Rätseln stehen, deren
Dunkel sich vielleicht allmählich lichten wird.
Be ie
H. W. Friekhinger, Die angewandte Zoologie etc. 597
Referate.
J. Wilhelmi, Dieangewandte Zoologie als wirtschaftlicher,
medizinisch-hygienischer und kultureller Faktor.
Berlin 1919, Julius Springer. 88 S. geh. 5 Mk.
Es ist in den letzten Jahren des öfteren darauf hingewiesen worden, wie sehr
die angewandte Zoologie lange Zeit in Deutschland als Stiefkind der Wissenschaft
vernachlässigt worden ist. So berechtigt diese Feststellung bis vor kurzem war, im
Verlaufe der Kriegsjahre wurde stetig mehr die wirtschaftliche Bedeutung der prak-
tischen Tierkunde nach ihrem wahren Werte erkannt, und mit dieser Erkenntnis
wuchs auch in gleichem Maße ihr Ansehen in wissenschaftlichen Kreisen. Man er-
kannte in ihr ein Betätigungsfeld, auf dem noch reiche Früchte abzuernten waren.
Zahlreiche Kräfte stellten sich in ihren Dienst und im Laufe weniger Jahre sind eine
ganze Reihe hochwichtiger Forschungen mit bestem Erfolge durchgeführt worden,
die an ihrem Teile mithalfen, unserem Vaterlande die schwere Kriegszeit zu er-
leichtern.
Wenn nun auch in wenigen Jahren die Versäumnisse von Jahrzehnten nicht
nachgeholt werden konnten, so ist es doch heute schon möglich, über die hohe
wirtschaftliche und hygienische Bedeutung der angewandten Zoologie einen Über-
' bliek zu geben, eine Aufgabe, die sich Verfasser in vorliegendem Büchlein ge-
stellt hat und die zu lösen, ihm wohl gelang. Prof. Wilhelmi, der seit Jahren
‘in seinem Spezialarbeitsgebiet, ‚der Wasserhygiene, für die vollgültige Anerkennung
der wasserwirtschaftlichen Zoologie, die bisher nur als Hilfsdisziplin der Chemie
aufgefaßt wurde, eintrat, hat während der letzten Kriegsjahre auch als angewandter
Entomologe grundlegende Untersuchungen, wie z. B. über den Wadenstecher oder
die kleine Stubenfliege anstellen können. Er ist also als Mitstreiter sehr wohl be-
rufen, über die angewandte Zoologie als wirtschaftlichen Faktor ein Urteil zu fällen.,
Wilhelmi bespricht zuerst die wirtschaftliche Zoologie, die er in wasserwirt-
schaftliche und landwirtschaftliche Zoologie trennt. (Leider ist letztere auf Kosten
der ersteren stark in den Hintergrund geschoben worden.) Ebenso wie über diese
beiden Unterabteilungen der angewandten Zoologie ist wohl auch über den Wert
der medizinisch-hygienischen Zoologie kein Wort der Erklärung vonnöten. Dagegen
wird der Begriff der kulturellen Zoologie, wie ihn Wilhelmi prägt, manchem Leser
einer Erklärung bedürfen. Verfasser geht von der Ansicht aus, daß der kulturelle
Wert der gesamten Zoologie erst durch die Ausbreitung ihrer wissenschaftlichen,
wirtschaftlichen und medizinisch bezw. hygienischen Errungenschaften unter weiteren
Kreisen des Volkes wirklich zur Geltung kommt, er faßt deshalb, besonders dieser
Ausbreitung dienstbar, „gewissermaßen als angewandte Gebiete der kulturellen Zoo-
logie“ die populär-wissenschaftliche und Schul-Zoologie, das zoologische Schau-
stellungswesen, die praktische Liebhaberzoologie und das zoologische ne, erbe auf.
Das anregend geschriebene Büchlein, das Prof. Korschelt in Marburg zum
60. Geburtstag gewidmet ist, stellt eine treffliche Übersicht dar über das Wesen
und den Wert der angewandten Zoologie. Es verdient einen großen Leserkreis.
H. W. Friekhinger, München.
598 H.W. Frieckhunger? Die en, und Er Bekimpting.
Die Heuschreckenplage und ihre Bekämpfung.
Auf Grund der in Anatolien und Syrien während der Jahre 1916 und 1917
gesammelten Erfahrungen dargestellt und im Auftrag des Kaiserlich-Osmanischen
Landwirtschaftsministeriums unter Mitwirkung von Dr. V. Bauer, Dr. G. Brede-
mann, Dr. E. Fiekendey, Dr. W. la Baume und J. Loag herausgegeben von
Dr. H. Bücher, kaiserl. Regierungsrat. Mit 11 Karten, 33 Textabbildungen und
Abbildungen auf 20 Tafeln. Monographien zur angewandten Entomologie. Bei-
hefte zur Zeitschrift für. angewandte Entomologie Nr. 3 (Beiheft 1 zu Bd. V),
Berlin 1918, Paul Parey. 274 S. geh. 10 Mk.
Die Heuschreckenplage in Anatolien, Syrien und Palästina ist uralt. Wenn
es nun auch zu jeder Zeit in irgendeinem Teile des Landes Heuschreckenschäden
gibt, so ist das Auftreten der Heuschrecken in großem Umfange doch an bestimmte
Perioden gebunden, die wegen ihres außerordentlichen Eingriffes in die Wirtschaft
großer Teile des Landes der Bevölkerung als Heuschreckenjahre, d.h. als Hunger-
jahre in der Erinnerung bleiben. Auch in die Kriegszeit fiel ein solches Hungerjahr.
Im Jahre 1915 waren zwei Arten von Wanderheuschrecken in Türkisch-Kleinasien
in ungeheuren Mengen aufgetreten, die marokkanische Wanderheuschrecke
(Stauronotus maroccanus) und die ägyptische Wanderheuschrecke (Schisto-
cerca pereg,ina). Durch diese Heuschreckenplage war die Ernte weiter fruchtbarer
Gebiete vernichtet worden. Um derartige Gefahren der Erpährungswirtschaft für
die Zukunft auszuschließen, entschloß sich die türkische Regierung die Bekämpfung
der Heuschrecken einem Stabe deutscher Gelehrter unter der Leitung von Regie-
rungsrat Bücher zu übertragen. Die Aufgabe der Kommission bestand vor allen
Dingen darin, eine Organisation zu schaffen, mit-der es gelingen konnte, der Heu-
schreckenplage Herr zu werden. Dies Ziel konnte nur dann erreicht werden, wenn
die gesamten bisher versuchten Methoden systematisch durchgeprüft, die bestbewährte
nach Möglichkeit ausgebaut und verbessert und vor allem die Bevölkerung selbst
allmählich zu immer intensiverer Mitarbeit herangezogen wurde. Diese ihre Aufgabe
haben die deutschen Gelehrten, man darf wohl sagen, in glänzender Weise gelöst,
Die Bekämpfung der Heuschreckenschwärme gelang am besten durch den
Bücher’schen Zinkapparat, eine einfache Abfangmethode, die den Wander-
trieb der Schädlinge mit Nutzen verwertet. War es für die Abfangmethoden schon
zu spät, so erzielten die Forscher durch Anwendung von chemischen Mitteln, vor
allem mit Urania-Grün die besten Erfolge. Zugleich mit den Maßnahmen der besten
Bekämpfung wurde von den Zoologen der Expedition, zuerst von Dr. V. Bauer
und dann von Dr. W. la Baume die biologischen Verhältnisse der Heuschrecken
genau studiert. Letzterer berichtet in dem Sammelwerk ausführlich über die Er-
fahrungen bei seinen Untersuchungen über Morphologie und Entwicklung, über
Physiologie und Tebenigewohnheiten und endlich über die natürlichen F einde der
Schädlinge.
Die Bü cher’sche he kon gibt eine gr uralte Darstellung
der gesamten Heuschreckenfrage und zeugt von dem unermüdlichen Tatendrang,
mit dem die deutsche Wissenschaft während des Weltkrieges in der Heimat und im
tebiet unserer ehemaligengBundasgenossen sich unvergängliche Lorbeeren erworben
hat. H. W. Friekhinger, München.
Verlag von Georg. Thieme in ı Leipzie, , Antonstraße 15. — Druck der Universitäts-
"Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen.
-
Bilgschs Zentral
Begründet von J. Rosenthal
Unter Mitwirkung von
Dr. R,Gocbel und Dr. R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München
herausgegeben von
Dr. E. Weinland
Professor der Physiologie in Erlangen
Verlag von Georg Thieme in Leipzig
Dezember 1919. Nr. 12
auseeeeben am 28. Januar 1920
Oo
39. Band
Der jährliche Abonnementspreis (12 Hefte) beträgt 20 Mark
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und P’ostanstalten
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physiolog. Institut,
: einsenden zu wollen.
Inhalt: S. Galant, Über die Entstehung von Variationen bei Anemone hıepatiea, S. 529.
P. Buchner, Zur Kenntnis der Symbiose niederer pflanzlicher Organismen mit Pedikuliden
S.. 535.
V. Franz, Lichtsinnversuche an Schnecken. S. 540.
Wilh. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 2. Teil. S. 544,
Referate: H. Lundegardh, Die Ursachen der Plagiotropie und die Reizbewegungen der Nebenwurzeln.
Derselbe: Das geotropische Vorhalten der Seitensprosse. S. 557.
Bastian Schmid, Deutsche Naturwissenschaft, Technik und Erfindung im Weltkriege.
S. 559
Über die Entstehung von Variationen bei Anemone
! hepatica.
(Mit 2 Tab. u. 2 Fig. im Text.)
Von Dr. S. Galant, Bern-Belp.
I.
Bohn!) stellt die Formel: La nature a horreur de la varıatıon,
auf und verleiht ihr die Kraft eines Gesetzes, indem er überall in der
Natur den Streit dieser letzteren gegen das Auftreten von Varia-
tionen sieht. Gelingt es z. B. auf künstlichem Wege Variationen
hervorzurufen, so kann man konstatieren, daß die Abweichungen
vom Typus nach einiger Zeit nicht nur nicht weiter fortschreiten,
sondern sogar ein Stillstehen, also eine Tendenz zur Norm zurück-
zukehren, aufweisen: L’effet d’une variation s’oppose A cette varia-
tion, sagt Bohn.
39. Band. 35
530 8. Galant, Über die Entstehung von Variationen bei Anemone hepatica. |
Das mag für die Beispiele künstlicher Herbeiführung von Varia-
tionen, die Bohn anführt, sowie für manche pathologische Fälle
(Tuberkulose) gelten. Ob man aber jede Variation als Krankheit
anzuschauen im Rechte sei und so dem „Gesetze“: La nature a horreur
de la varıation Allgemeingültigkeit verleihen könne ist doch nicht
ohne weiteres zuzulassen. „Un individu qui subit une varia-
tion est un malade?). Or,. un malade, ou bien meurt, ou bien
lutte contre la maladie.“ Auf dieser Behauptung — eine Variation
sei eine Krankheit — baut Bohn sein Gesetz und die sich an
dieses anschließende Theorie. Aber Bohn versucht es nicht ein-
mal zu beweisen, daß jede Variation wirklich eine Krankheit sei,
was er doch unbedingt begründen sollte, bevor er sein Gesetz auf-
stellte. Ohne diese Begründung entbehrt seine Theorie jede feste
Stütze und läßt Tür und Tor für die Kritik offen.
Nun aber braucht man nicht Kritik zu treiben, um die Ansicht
Bohn’s von der Variation als einer Krankheit für den Tatsachen
nicht entsprechend zu erklären. Die Natur spricht für sich allein.
Sehen wir uns in der Natur um, so überzeugen wir uns leicht, daß
sie von Variationen strotzt, die als krank aufzufassen kein Grund
vorliegt. Von dem Typus abweichende Variationen weisen keine
Spur irgendwelcher verminderter Lebensfähigkeit auf und gedeihen
ebensogut wıe der Typus. Wir können es nicht für alle Lebewesen
mit derselben Gewißheit, wıe für die Pflanzenwelt, wo die Variationen
außerordentlich häufig sind und wo die Individuen, die mit: der
Variation behaftet sind, sich sonst kaum von dem Typus unter-
scheiden, behaupten. Als Beispiel wollen wir hier unsere Unter-
suchungen über die Variationen der Anemone hepatica anführen.
Wir lasen unsere Leberblümchen zusammen auf dem Belp-
berg (985 m). Die Anemone hepatica ıst auf diesem Berge ziem-
lich verbreitet und man findet sie auf vielen Abhängen des Berges.
Besonders häufig ist aber das Leberblümchen auf jenem Abhang
des Belpberges, wo die Ruine Hohburg sich befindet. Dieser Ab-
hang ıst ganz blau von Leberblümcehen und die meisten unserer
Exemplare stammen von der Hohburg her.
Unsere Statistik betrifft 1729 Exemplare. Die Absicht, die Zahl
der Exemplare auf 2000 zu erhöhen, war durch die Witterung ver-
eitelt. Am 30. März fing es an zu schneien. Der Schneefall dauerte
ununterbrochen bis zum 3. April. Unterdessen mußten wir Bern
verlassen und blieben bei der Zahl 1729 stehen. Die Resultate
unserer Untersuchungen leiden darunter nicht, denn. die 271 Exem-
plare, die wir noch zusammenlesen sollten, hätten uns kaum etwas
neues gebracht.
1) Bohn, La naissance de l’intelligence. Bibliothöque de philosophie scienti-
phique. Paris 1909.
2) Von Bohn gesperrt.
8. Galant, Über die Entstehung von Variationen bei Anemone hepatica. 531
Wir lenkten unsere besondere Aufmerksamkeit bei der Be-
trachtung der Variationen der Anemone hepatica nur auf die Zahl
der Kronen- und Kelchblätter°) jedes Exemplars. Die verschiedenen
anderen Variationen (Länge des Stengels, Form der Kronen- und
Kelchblätter, Farbe u. s. w.) ließen wir außer acht, da eine Berück-
sichtigung aller dieser Umstände unsere Arbeit zu kompliziert
machen würde und sich auf eine größere Zahl von Blumen nicht
ausdehnen könnte. Wir haben uns nur im allgemeinen alle möglichen
vorkommenden Variationen gemerkt, ohne eine genaue Statistik für
sie aufzustellen, wie für die Zahl der Kelch- und Kronenblätter.
Für gewöhnlich hat die Anemone hepatica 6 Kronenblätter und
3 Kelchblätter. Nun aber kann die Zahl der Kronenblätter in den
Variationen des Leberblümchens zwischen 5—11, diejenige der Kelch-
blätter zwischen 2—5 schwanken. In unseren 1729 Exemplaren ver-
teilen sich die Leberblümchen nach der Zahl der Kronen- und Kelch-
blätter folgendermaßen:
Tabelle 1.
Zahl der Kronenblätter Zahl der Blumen
5 7
6 1180
7 436
8 82
9 16
10 6
11 | 2
Tabelle 2
Zahl der Kelchbklätter Zahl der Blumen
DR 9)
3 1665
4 51
5 4
Wenn wir nun die zwei Tabellen vergleichen, so merken wir,
daß die Variationsmöglichkeiten der Kronenblätter größer als die
der Kelchblätter und daß die Kelchblätterzahl sich durch eine größere
Beständigkeit als die der Kronenblätter sich auszeichnet. Während
bei den Kronenblättern auf 1729 Exemplare 549 für die Variationen
abgehen, so fallen auf dieselbe Zahl von Individuen für die Varıa-
tionen der Kelchblätter nur 64 Exemplare. Dieser Unterschied ın
der Variationsmöglichkeit hängt mit der normalen Zahl der Kelch-
3) Was wir da Kelchblätter nennen, sind keine eigentlichen Kelchblätter. Wir
nennen sie dennoch Kelchblätter bequemlichkeitshalber und weil, wie wir bald hören
werden, die Blätter, die wir als Kelchblätter bezeichnen, in Kronenblätter sich um-
wandeln können.
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I)
WERE ERDERD ER AU AN SR SIVREE ARE RE N
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53% 8. Galant, Über die Entstehung von Variationen bei Anemone hepatieu.
und Kronenblätter der Blume zusammen. Die doppelte Zahl der
Kronenblätter verschafft mehr Spielraum für Variationen, als es die
Kelchblätter tun könnten. N
Die Tabellen zeigen auch, daß es kaum gerechtfertigt ist, Varia-
tionen als Krankheit aufzufassen. Die Variationen sorgen mehr
für das Weitergedeihen einer Art als für seine Degeneration. Auf
1729 Individuen kommen nur 7 Individuen vor, die eine unter der
Norm stehende Zahl von Kronenblättern aufweisen, während die
Exemplare, die einen Überschuß aufzuweisen haben, 542 sind.
Es handelt sich aber in vorliegender Arbeit nicht darum, über
die Bohn’sche Theorie zu diskutieren. Für die Entstehung der
Variationen ist es ganz gleichgültig, wie man diese letzteren auf-
faßt. Leider ist aber über diese Entstehung selbst nicht viel zu
berichten, wenn wir auch manche Tatsache auf diesem Gebiet mit
Bestimmtheit bei unseren Untersuchungen herausfinden konnten.
sc
_
5A NET ErEO,
N 2 asmAun5
Fig. 1. Kurvendarstellung der Tabellen 1 u. 2.
In den meisten Fällen standen wir sozusagen vor einer voll-
zogenen Tatsache. Da ist ein Exemplar von Anemone hepatica, das
8 oder 9 und 11 Kronenblätter besitzt, die sich kaum voneinander
und von den Blättern anderer mit normaler Zahl von Kronenblättern
versehenen Blümchen unterscheiden. In vielen Fällen konnte man
deutlich sehen, woher ein Überschuß an Kronenblättern herkommen
kann.
Ein Überschuß an Kronenblättern kann von einer
Umwandlung von Staubgefäßen oder Kelchblättern in
Kronenblätter herrühren. Viele Blümchen mit 7, 8 u. s. w.
Kronenblätter hatten ein recht merkwürdiges Kronenblatt auf-
zuweisen. So ein Kronenblatt hatte eine hornartig gekrümmte Form
bei einer verhältnismäßig bedeutend verkleinerten Größe. Der kon-
kave Rand des Blattes wies einen weißen Streifen auf von un-
?
EAN I I RER RI SR NEE RE RE SLR TEE WEL EL EA RR N ETRNE T N , u el?
S. Galant, Über die Entstehung von Variationen bei Anemone hepatica. 533
gefähr der Tänge des Fadens eines Staubgefäßes, und der weiße
Streifen endete mit einem Köpfchen von derselben Farbe, das dem
Köpfehen der Staubgefäße ganz und gar ähnelte (s. Zeichnung).
In anderen Fällen entsprang das überschüssige Kronenblatt an
derselben Stelle, wo einmangelndes Kelchblatt entspringen
sollte (im solchen Falle fehlte ein drittes Kelchblatt) und seine
"Außenfläche war grünlich, an den Rändern intensiv grün verfärbt,
während für gewöhnlich die Außenfläche der Kronenblätter weißlich-
lila verfärbt sind.
Fig. 2. Hornartiges Kronenblatt einer Anemone hepatica mit dem weißen Streifen
und der Verdiekung -an seinem oberen Ende (fett gedruckt), die den Bestand-
teilen des Staubgefäßes entsprechen, dem das Blatt entwachsen ist, an dem konkaven
Rand des Blattes (natürliche Größe).
In ähnlichen Fällen kann kein Zweifel bestehen, daß das über-
schüssige Kronenblatt durch eine Unwandlung, die, wir nicht
päher schildern können, von einem Staubgefäß oder einem Kelch-
blatt herrührt. Es läge nahe anzunehmen, daß es immer so vor
sich geht, und daß ein Mehr an irgend welchem Bestandteile des
Blümchens der Anemone hepatica auf Rechnung irgend eines anderen
Bestandteiles entsteht. Ex nihilo nil fit. In den meisten Fällen
geschieht diese Umwandlung im embryonalen Zustande und wir
sehen an dem Blümchen keine Spuren einer solchen Metamorphose.
In selteneren Fällen tritt eine solche Unwandlung erstpostembryonal(?)
auf und sie kann ihre Spuren nicht mehr ganz verschwinden lassen.
Was wir da zuletzt ausgesprochen haben ıst natürlich eine
Hypothese und beansprucht für sich nicht mehr Wahrheit als
es eine Hypothese beanspruchen kann. Eins ist sicher: In’ vielen
Fällen entsteht bei der Anemone hepatica ein Überschuß
an Kronenblättern infolge einer Metamorphose eines
Staubgefäßes oder Kelchblattes ın ein Kronenblatt. Ob
alle möglichen Variationen am Blümchen der Anemone hepatica auf
solchem Wege entstehen, ıst schwer auf anderer Weise, als durch
eine Hypothese, abgeleitet von der Tatsache eines solchen Vor-
kommens, zu behaupten. —
Wir wollen schließen mit einer Bemerkung über die Farbe der
Anemone hepatica. Bekanntlich hat das Leberblümchen eine hell-
blaue, lila oder blaß-rosa Farbe. Zwischen den 1729 Exemplaren, die
wir gesammelt haben, sind zwei, die ganz weiß sind, vorhanden. Wie
diese seltene Variation zu erklären sei ist schwer bestimmt zu sagen.
Wir nahmen eine bleichende Wirkung der Sonne an. Ganz junge
Leberblümehen, die sich kaum noch von der Knospe entwickelt
1 a I a a ae
534 8. Galant, Über die Entstehung der Variationen bei- Anemone hepatica.
haben, haben eine schöne dunkelblaue Farbe. Ältere Individuen weisen
meist eine Farbe, die zwischen Iila und blaß-rosa schwankt, auf, .
und Kronenblätter, die dem Verwelken und Abfallen nahe sind,
ganz blaß-,rosa* und stellenweise „farblos“ aussehen. Um unserer
Vermutung, einen Schein von Wirklichkeit zu verleihen, stellten wir
folgendes Experiment an: Wir hielten ein weißes Exemplar im
dunkeln, bis die Kronenblätter abgefallen sind. Wir konnten fest-
stellen, daß die Kronenblätter der so aufbewahrten Blume einen
lilaähnlichen (kaum merkbaren) Schimmer bekommen haben. Dieser
Schimmer aber war weit davon, auch nur eine Erinnerung an das
„rosa“ des welkenden blauen Leberblümchens zu haben. Wir sind
also im Zweifel, ob die Farbe der zwei weißen Anemonen der
bleichenden Wirkung der Sonne zuzuschreiben sei. Im solchen
Falle wäre die Zahl der weißen Leberblümchen gewiß größer. Es
muß noch dabei ein anderer, wichtigerer Faktor mitwirken. Was
für einer wissen wir nicht zu berichten.
I.
Eine Umschau in der biometrischen Literatur, sowie einige neue
Erfahrungen geben uns Anlaß, den ersten Abschnitt der vorliegen-
den Mitteilung durch diesen zweiten zu erweitern. Diese unsere
biometrische Forschung über die Anemone hepatica ist als solche in
der Literatur die erste, wenn auch unsere Betrachtungsweise nicht
ganz neu ist. Die Angabe, daß bei der Anemone hepatica Staub-
blätter sich in Kronenblätter umwandeln können, hat schon Goebel
in seinem Buche: Organographie der Pflanzen 1. Aufl. 1898 ge-
gemacht. Seite 152 des ebenerwähnten Buches ist zu lesen: „Ane-
mone hepatica hat ın ihren Blüten meist sechs Perigonblätter, aber
die Zahl schwankt. Bei 75 aufs geradewohl herausgegriffenen
Blüten fanden sich folgende Zahlen für die Perigonblätter: 35
hatten 6; 29 — 7; 10 — 8; 1 — 9 und in 4 der untersuchten Blüten
waren Mittelbildungen zwischen Perigonblättern und Stammblättern
vorhanden, welche darauf hindeuten, daß die Überzahl von Perigon-
blättern ae kommt durch mehr oder minder frühzeitige Um-
wandlung von Staubblattanlagen in Blumenblätter.“
Im allgemeinen wird aber in der biometrischen Literatur der
Faktor der Metamorphose ‘der verschiedenen Bestandteile der
Blume ineinander nicht berücksichtigt. Sollte unsere Arbeit eine
Anregung in dieser Richtung sein, so hat sie ihr Ziel nicht verfehlt.
Was wir noch besonders hervorheben möchten ist jene Tat-
sache, daß die so seltene Variation der weißen Anemone hepatica
auf dem Belpberg im Wallıs eine überaus häufige Erscheinung ist.
Bei einer Wanderung durch den Wallis, die ich Ende Mai vorge-
nommen habe, bin ich am 29. Mai in einem Lärchenwald bei
Zermatt weißen Leberblümchen in großer Menge begegnet, so
P. Buchner, Zur Kenntnis der Symbiose niederer Mönslicher a. etc. 535
daß stellenweise die weißen Leberblümchen die blauen an Zahl
überragten. Auch teilte mir Herr Prof. Chodat mit, daß in seinen
Kulturversuchen die weiße Anemone hepatica vom Wallıs ihren
Charakter rein bewahrt, sowie auch die Hepatica, die aus dem
Jura stammt, so daß es sehr leicht sei, nach dem Leberblümchen
über die Region, aus der es stammt, zu urteilen. Unter anderem
haben Chodat’s Kulturversuche ein reiches Material an Variationen
der Blätter der Anemone hepatica aufgewiesen, unter denen eine
matte glanzlose und ein glänzige Variation hervorzuheben sei®).
Zur Kenntnis der Symbiose niederer pflanzlicher
Organismen mit Pedikuliden.
Von Paul Buchner, München.
Das bisher völlig rätselhafte, schon von Hooke und Swam-
merdam gesehene und abgebildete Bauchorgan der Pedikuliden,
auch die Magerischeibe oder Bauchdrüse genannt, ein scheiben-
förmiges in eine Nische des Magens eingefügtes, aus radiär ge-
stellten Zellen aufgebautes Gebilde, entwickelt sich auf ganz eigen-
tümliche Weise. Chlodovsky beschrieb 1904, daß sich am Embryo
in der Nähe des invaginierten Schwanzendes, aber völlig unab-
hängig vom Keimstreif ein rundliches Häufchen von Zellen befände,
das bei der Umrollung desselben in seine Mitte gelange, und zwar
dicht unter den Magen und hier zur Magenscheibe des erwachsenen
Tieres würde. Daß ım Bereich des Mesoderms gelegene Organe
eines Insekts ihr Zellmaterial nicht vom Keimstreif beziehen, son-
‘dern sich gewissermaßen extra-embryonal entwickeln, ist bisher
nur für Wohnstätten im Insektenkörper symbiontisch lebender Pilze
bekannt geworden und die Vermutung, es möge sich hier um ähn-
liches lag nahe, zumal wenn man noch in Betracht zog
daß die Ba des fraglichen Organes eine so dunkle war og
die älteren Autoren nur von einem en körneligen Inhalt
seiner Zellen zu sprechen wußten. Die überraschende Ähnlichkeit
ın der Entwicklung beider Organe ist daher auch schon Strind-
berg (1919) aufgefallen, wie er in einer Fußnote gelegentlich
einer Untersuchung über die Entwicklung der Cocciden und ihrer
Mycetocyten mitteilt.
Aus den gleichen Überlegungen heraus entschloß auch ich mich,
das Bauchorgan der Pedikuliden genauer zu untersuchen und ich
konnte mich alsbald von der Berechtigung derselben überzeugen.
*) Diejenigen Leser, die sich für die biometrische Forschung besonders inter-
essieren, verweisen wir auf die Arbeiten von P. Vogel, besonders auf seine Arbeit:
Probleme und Resultate variationsstatistischer Untersuchungen an Blüten und
Blütenständen im Jahrbuch der St. Gallischen naturforschenden Gesellschaft 1911,
wo auch ein ausführliches Literaturverzeichnis zu finden ist.
N ei RS a
536 P. Buchner, Zur Kenntnis der Symbiose niederer pflanzlicher Organismen ete.
Das Bauchorgan der Pedikuliden stellte sich als ein unzweifelhaftes,
Be hlauche beherbergendes Mycetom dar und die Übertragung
der Pilze ın das Ei, stets das beste Kriterium für die Richtigkeit
einer solchen Deutung, hieß sich schon am lebenden Material dar-
tun. Nach den in der Literatur vorliegenden Angaben lassen die
Haematopinus-Arten im Gegensatz zu den Pediculus- und Phthyrius-
Arten die Magenscheibe vermissen, die bei diesen schon mit bloßem
Auge als gelblicher Fleck zu erkennen ist. Ich zog trotzdem auch
solche in den Kreis meiner Untersuchung!) und hierbei stellte sich
heraus, daß hier die Wohnstätte der Pilze nur eine weniger aul-
fällige ist, indem diese an Stelle eines geschlossenen Organes
einzelne über den Magen zerstreute Zellen, bewohnen, die zwischen
Muskelschicht und Epithiel gelegen, sich so tief ın das letztere ein-
drücken, daß es auf den ersten Blick scheint, als ob einzelne Zellen
des Darmepithels selbst infiziert seien°). Tatsächlich trennen aber
stets schmale Brücken der deformierten benachbarten Epithelzellen
die großen Mycetocyten vom Darmlumen (Haematopinus wurius;
u Die hier lebenden Pilzschläuche sind schlanker als bei
Pediculus capitis und erinnern in Anordnung und Gestalt lebhaft an
den Inhalt der bei den Camponotus-Arten stets im Bereich des Mittel-
darmes sich findenden Mycetocyten. Bei genauerem Zusehen wird die
Ähnlichkeit der Verhältnisse bei Ameisen und Läusen sogar noch
größer, denn die bisherigen Angaben, daß bei (umponotus das
Mitteldarmepithel selbst infiziert seı, stellen sich dann als irrig heraus.
Tatsächlich ist ım Bereich des gesamten Mitteldarmes eine zu-
sammenhängende Schicht a like: mesodermaler oder richtiger
ee Zellen vorhanden, die dicht unter und zwischen
die Epithelzellen sich einfügt. Die Entwicklungsgeschichte des
Camponotus-Eies, mit der ich mich zurzeit befasse, ergibt dies in
einwandfreier Weise?). Dazu kommt noch, daß nach Blochmann
bei Formica fusca die Pilze’ in einer beschränkten Zellgruppe beider-
seits im Fettgewebe, also ohne enge Beziehung zum Darmepithel
zu finden sind. Das Vikariieren beider Wohnstätten der Symbi-
onten bei nahestehenden Formen läßt auch einige Schlüsse bezüg-
lich der Art der Funktion zu, insofern ein möglichst inniger Kon-
takt mit dem Darmepithel offenbar erstrebt wird, aber nicht un-
bedingt nötig ist. Die Zustände des Zusammenlebens bei Oamponotus
1) Herrn Dr Hobmaier, Assistent am tierpathologischen Institut der hiesigen
Universität, bin ich für seine stete Bereitwilligkeit, mich mit Material zu versorgen,
zu großem Dank verpflichtet.
2) Inzwischen fand sich auch bei Haematop. piliferus ein Mycetom (Zusatz
bei Korrektur).
3) Das. Wesentliche hierzu ist übrigens bereits der Strindberg’schen Unter-
suchung: Embryologische Studien an Insekten 1913, zu entnehmen; der Autor hält
die Pilze allerdings für Mitochondrien, und man muß seine Angaben deshalb erst
den wirklichen Verhältnissen entsprechend umdeuten,
P. Buchner, Zur Kenntnis der Symbiose niederer pflanzlicher Organismen ete. 537
und Haematopinus sind zweifellos die weniger ursprünglichen und
größere entwicklungsgeschichtliche Komplikationen erfordernden ®).
Unabhängig von mir und gleichzeitig entdeckte Sikora die
Symbiose der Pedikuliden mit niederen Pilzen. Eine soeben in
dieser Zeitschrift erschienene kurze vorläufige Mitteilung sicherte
ıhm die Priorität und veranlaßte mich zu den vorliegenden Be-
merkungen. Er erkannte die Mycetomnatur des Bauchorganes beı
den Ne chen und bei Polyplax und fand ebenfalls ee diffusen
Mycetocyten bei Haematopinus urius (Schwein). Hinsichtlich der
Art der Übertragung der Pilze auf die Eier scheint er jedoch
keinerlei Klarheit gewonnen zu haben. Ich habe sie bis jetzt vor
allem bei Pedieulus capitis und Haematopinus piliferus lückenlos
verfolgen können; sie ıst recht interessant, da sie in wesent-
‚lichen Punkten ganz anders verläuft, als bei den übrigen In-
sekten. Vergleicht man die Übertragungsweisen bei deren ein-
zelnen Familien, so ergibt sich, daß sie jeweils ihr spezifisches
Gepräge haben: bei Hemipteren polare Infektion meist ziem-
lich alter Eier, gewöhnlich am hinteren Pol, seltener am
vorderen, ım Gefolge einer lokalen Durchsetzung des Follikels
(Pierantoni, Buchner u.a.), bei den Hymenopteren (Camponotus)
allseitige Infiltration des Follikels sehr junger Eier und anfänglıch
4) Echte Darmepithelbewohner unter den Insektensymbionten sind offenbar
sehr selten. Nachdem (’amponotus zu streichen ist, bleiben nur noch die Hefe-
pilze, die die Aussackungen am Anfang des Mitteldarmes bei Anobium und Sito-
drepa (Coleopteren) bewohnen. Ich vermute, daß diese an sich so nahe liegende
Wohnstätte sich infolge entwicklungsgeschichtlicher Schwierigkeiten nicht einbürgern
konnte. Damit stimmt überein, daß in diesem Falle als dem einzigen unter den
Insekten die Übertragung überhaupt nicht durch eine Infektion des. Eies gewähr-
leistet wird. Schon früher habe ich mitgeteilt, daß das ausgewachsene Anobium-Ei
pilzfrei bleibt, und daß Anhaltspunkte vorhanden sind, daß sich die Larve hier
ausnahmsweise jedesmal durch den Mund neu infizieren muß. Inzwischen habe
ich diese Verhältnisse weiter untersucht und meine Annahme bestätigt gefunden.
In geschlechtsreifen Weibchen verläßt ein Teil der Pilze die Epithelzellen und
wandert im Darmlumen nach rückwärts. In die Vagina aber münden zwei schlauch-
förmige Säcke, die nun mit Pilzen vollgepfropft werden; schon Stein bildet diese
- „Anhangsdrüsen‘“ ab, die verwandten Formen fehlen und offenbar eine spezifische,
der Symbiose dienende Einrichtung darstellen. Von hier aus werden die austreten-
den Eier oberflächlich mit den Hefezellen beschmiert, die zwischen den Höckern
der Schale gut haften. Die abgelegten Eier zeigen sich stets reichlich damit be-
haftet Daß die ausschlüpfende Larve beim Zernagen der Eihülle sich jedesmal
neu infiziert, konnte ich nun neuerdings auch anatomisch feststellen; auch sind
Untersuchungen im Gange, hier die Infektion künstlich zu verhindern.
Die Anobien verhalten sich bezüglich der Übertragungsweise demnach ganz
wie Convoluta (Turbellarien), bei der die symbiontischen Algen die abgelegten
Kokons äußerlich und innerlich verunreinigen und von dem ausschlüpfenden Würmchen
durch den Mund aufgenommen werden, und es ist zu hoffen, daß Experimente an
Anobien ähnliche Resultate zeitigen wie dort angestellte, die ergaben, daß künstlich
algenfrei gemachte Tiere dahinsiechen und dem Tode verfallen, durch eine recht-
zeitige Fütterung mit Algen aber gerettet werden können.
völlige Durchdringung des ganzen Eiplasmas (Buchner), bei Blat-
tiden frühzeitig beginnende Bildung einer die ganze Eioberfläche
überziehenden Bakterienschichte (Buchner, Fränkel), bei Oole-
opteren (Anobien) Infektion durch den Mund. Die Menschenläuse
aber und die Haematopinus-Arten bilden jederseits ein eigenes
voluminöses Pilzorgan im Anfangsteil der beiderseits in den
Uterus mündenden Tuben, das bereits von Müller als „Ovarial-
ampulle“ bezeichnet, aber nicht in seiner wahren Natur‘ er-
kannt worden ist. Es stellt etwa eine halbe, dickwandige Kugel-
schale dar, die dem an die Eiröhren angrenzenden Teil des
Oviduktes innen anliegt und als eine lokale ringförmige Falte
entstanden sein muß, die es erklärt, daß hier das Epithel in
drei Lagen übereinander liegt, zuäußerst das unveränderte Epithel,
das in den Follikel einerseits, die Tubenwandung andererseits
sich fortsetzt, hierauf eine hohe, reichlich mit sehr deutlichen wurst-
förmigen, mehr oder weniger gekrümmten Pilzen erfüllte Schicht,
die am Rand der Kugelschale umschlägt im eine zurücklaufende
dritte Zone, die aus flachen pilzfreien Zellen bestehend den pilz-
führenden Abschnitt nach dem Lumen zu bedeckt. Die Entwick-
lung dieser eigentümlichen, sonst nirgends vorkommenden Einrich-
tung und die Art, wie die Pilze dorthin gelangen, bleibt noch zu
untersuchen. An sehr jungen Ovarien der Schweinelaus habe ich
sie schon vollendet gefunden. Von hier aus, also gewissermaßen
von einem Filialmycetom aus, werden nun die Eizellen infiziert
und zwar jeweils nur das letzte, an die Tube angrenzende Ei,
sobald es ein gewisses Alter erreicht hat, während bei Hemipteren
gewöhnlich mehrere hintereinander liegende Eizellen einer Röhre
infiziert sind, bei Cumponotus und: den Blattiden sogar nahezu sämt-
liche Eier einer solchen.
Aus der Region des Filialmycetoins, die dem zu infisierenden
Ei zunächst liegt, trıtt eine Anzahl Pilze, mehrere in einer gemein-
samen Vakuole vereint, in den Pfropf von Follikelzellen über, der das
Eı von der Tubenhöhlung trennt; bald gelangen einige zwischen das
Eı und den Follikel und wenn sich allmählich eine größere Menge
derselben hier sammelt, buchten sie das Ei selbst genau in der
Mitte des hinteren Poles tief ein. Schließlich wird diese pilzerfüllte
Einstülpung völlig geschlossen und ein rundlicher Haufen der
Symbionten liegt völlig in den Dotter eingesenkt. Die Verlötungs-
stelle aber ist noch in ganz alten Eiern, um die die komplizierte
Eischale mit dem nach der Infektion hier gebildeten rätselhaften
„Stigma“ schon fertig ıst, deutlich zu erkennen. Der Ort der In-
fektion gestattet zusammen mit dem frühesten entwicklungsgeschicht-
lichen Stadium Chlodovsky’s den Schluß, daß diese Pilzmasse
ganz wie bei den Hemipteren durch den von der Infektionsstelle
P. Buchner, Zur Kenntnis der Symbiose niederer pflanzlicher Organismen ete. 559
aus allmählich sich in den Dotter einsenkenden Keimstreif sekundär
an den oberen Eipol verschoben wird.
Sikora wagt sich über diese Ovarialampullen Müller’s nicht
eindeutig zu äußern, wenn er von ihnen schreibt: „Diese dick wan-
digen Halbkugeln . . . konnten Receptacula seminis sein. Da ich
aber in ihnen selten etwas als Samenfaden Deutbares fand, hielt
ich sie für eine Art phagocytierendes Organ, das die Einschmelzung
des ihm zunächst liegenden Eifollikels nach Ausstoßung des Eies
zu besorgen hat. Andererseits scheinen sie mir pilzführenden Or-
ganen weit ähnlicher zu sein als die Magenscheibe.“ Jedenfalls
aber erwähnt er kein Wort über dıe Rolle, die das Organ bei der
Infektion zu-spielen hat.
Sikora und mir ist es aufgefallen, daß die Pilze im Bauchorgan
nur sehr undeutlich zu unterscheiden sind; sie sind auf Schnitten
schlecht gegeneinander abgrenzbar und man würde hier ihre Natur nur
schwer erkennen, wenn nicht auch andere Zustände vorlägen.
Sikora teilt ferner mit, daß sich dagegen bei ganz jungen Läusen
noch ein deutliches Fadenkonvolut findet, das sich erst um die
Zeit der 3. Häutung. „in eine Masse unregelmäßiger Schollen“ zu
verwandeln scheint. Bei Haematopinus urius sollen die verstreuten
Mycetocyten sogar völlig schwinden. Seiner Deutung einer Atrophie
der Mycetome vermag ich mich jedoch’ nicht anzuschließen, wenn
er vermutet, „daß die Magenscheibe ein provisorisches Mycetom
ist, das die Aufgabe hat, die Pilze zu beherbergen, bis das Ovarıum
fertig ausgebildet ist, dessen Entwicklung durch ihre frühere An-
wesenheit geschädigt werden würde, während der Magen ım Laufe
des Larvenlebens keiner wesentlichen Umwandlung unterliegt“.
Die . Filalmycetome sind vielmehr schon sehr frühe ange-
legte sekundäre Einrichtungen, die ausschließlich im Dienste
der Infektion stehen und die Pilze, die so innige topo-
graphische Beziehungen zum blutgefüllten Magen aufweisen, sind
hier nicht nur provisorisch untergebracht, sondern spielen hier
irgendeine unbekannte, den Läusen vorteilhafte Rolle bei der
Verdauung. Wenn hierbei Degenerationserscheinungen an ıhnen
auftreten sollten, so-spricht das keineswegs gegen eine solche An-
nahme. Ich habe selbst bei genauerem Studium der eigenartigen
Mycetome mancher Oocciden regelmäßig auftretende Zustände offen-
barer Entartung der Pilze beobachtet, die an Stelle kurzer läng-
licher Schläuche große, scheinbar gequollene rundliche Bläschen
darstellten und dem Botaniker sind ja schon seit langem die merk-
würdigen Degenerationsformen der Bakterien in den Leguminosen-
'knöllehen bekannt, die ebenfalls beträchtlich angeschwollenen Bak-
teroiden.
Sikora verspricht noch eine ausführlichere Arbeit, auch ich
gedenke meine Untersuchung weiterhin zum Abschluß zu bringen.
NEWS
ana
IR
540 V. Franz, Liehtsinnversuche an Schnecken.
Da noch mancher Punkt der Symbiose der Pedikuliden der Klärung
harrt, wird es die restlose Erkenntnis der merkwürdigen Verhält-
nisse nur fördern, wenn von zwei Seiten an ihrer Klärung ge-
arbeitet wird.
Literatur.
Buchner, P., Studien am ivtrazellulären Symbionten 1., 2. Arch. f. Protistenk.
19121948.
— Vergleichende Eistudien I. Die akzessorischen Kerne des Hymenoptereneies.
Arch. f. mikr. Anatomie 1918.
Chlodovsky, Zur Morphologie der Pedikuliden. Zool. Anz. Bd. 27. 1914.
Müller, Zur Naturgeschichte der Kleiderläuse. Hölder 1915.
Sikora, H., Vorläufige Mitteilung über Mycetome bei Pedieulinen. Biol. Zentralbl.
39. .Bd..1919.
Strindberg, H., Embryologische Studien an Insekten. Z. f. wiss. Zool. Bd. 106,
1913.
— Zur Entwicklungsgeschichte der oviparen Cocciden. Zool. Anz. Bd. 50. 1919.
Lichtsinnversuche an Schnecken.
Von Professor V. Franz, Jena.
Ein kurzer Bericht über meine Feststellungen zur Frage des
Liehtsinns bei Heliciden sei mir hier gestattet. Das Erscheinen
der ausführlichen Mitteilung in den Zoologischen Jahrbüchern dürfte
noch längere Zeit auf sich warten lassen.
Angeregt wurde ich zu den Versuchen unter anderem durch
die Angabe Yungs, die Weinbergschnecke sei vollständig blind
und entbehre auch jeglichen Hautlichtsinnes?).. Diese Angabe steht
ja, was den Hautlichtsinn betrifft, zu den Angaben Nagels im
Widerspruch’), und was den Augenlichtsinn betrifft, so mußte sie
im Hinblick auf die gut ausgebildeten und an exponierter Stelle
stehenden Augen der Schnecke unwahrscheinlich erscheinen. Die
Angaben Yungs haben auch W.v. Buddenbrock zu seinen schon
vor einigen Jahren veröffentlichten Versuchen, die ungefähr gleich-
zeitig mit den meinigen begonnen wurden, angeregt ?). Auf eigenen
und im Wesentlichen anderen Wegen kam ich zu Ergebnissen, die
diejenigen Früherer und v. Buddenbrocks in manchem bestätigen,
in manchem ergänzen dürften. Den neueren Feststellungen v. Budden-
brocks über die von ıhm so genannten Lichtkompaßbewegungen
der Tiere bin ich indessen nicht nachgegangen.
1) E. Yung, De l’insensibilite ä la lumiere et de la c£eite de l’escargot (Helix
pomatia). Archives de Psycholog e, Tome XI, No. 44, Nov. 1911. 26 Seiten.
2) W. A. Nagel, Der Lichtsinn augenloser Tiere. Eine biologische Studie.
Jena, G. Fischer 1896. 26 Seiten.
3) W. v. Buddenbrock, Einige Bemerkungen über den Lichtsinn der Pul-
monaten. Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, mathe-
matisch-naturwissenschaftliche Klasse, Ableilung B, Jahrgang 1916, 1. Abhandlung.
23 Seiten. 1916.
V. Franz, Liehtsinnversuche an Schnecken. 541
Es zeigte sich, daß es nicht ganz leicht ist, von Anderen be-
schriebene Lichtsinnversuche an Schnecken nachzuprüfen, wegen
der auch früher schon manchmal erwähnten Undeutlichkeit vieler -
- Reaktionen und der anscheinend zum Teil individuellen, zum Teil
wohl von Zuständen der Individuen und rascher Gewöhnung ab-
hängigen Schwankungen im Verhalten der Tiere.
een konnte eh längeren Bemühungen festgestellt werden,
daß die Nagelsche Beschattungsreaktion der Schnecken,
das auf Beschattung hin eintretende Zusammenzucken
des Tieres, wesentlich auf dem Hautlichtsinn beruht, wie
schon Nagel angab. Der Hautlichtsinn der Heliciden ist damit
bestätigt. Allerdings gelang diese Bestätigung nicht an den Ver-
suchsobjekten Nagels, wie Helix pomatia und hortensis, an denen
ich nämlich die Beschattungsreaktion überhaupt nicht wahrnahm,
sondern erst bei der im August 1918 ostwärts Peronne in Frank-
reich von mir ın Massen gefundenen, eigentlich mediterranen Helix
(Xerophila) varibelis Drap., die auf Dlörheke Beschattung sehr
deutlich durch Heraufrollen des Gehäuses auf den sich zusammen-
ziehenden Körper reagiert und dies auch im Falle der Blendung
durch Augenträgeramputation nach mehrtägiger Wundverheilung tut.
Ferner wurde die — wie ich sie nenne — v. Buddenbrock-
sche Beschattungsreaktion oder die auf Beschattung hin ein-
tretende Aufbäumebewegung der Schnecken sowie ıhr Zu-
standekommen durch den Augenlichtsinn bestätigt. Die
Reaktion selber ıst bei allen Arten leicht darzustellen. Bei Helix
variabilis tritt sie erst dann ein, wenn nach etwa halbstündigem
Arbeiten mit den Tieren die Nagelsche Beschattungsreaktion nicht
mehr eintritt. Daß sie auf den Augen beruht, schließe ich aus
ıhrem im Laufe der Versuche hinlänglich deutlich gewordenen,
wenn auch im Einzelversuch nicht unbedingt sicher erkennbaren
Aufhören nach Amputation der Augenträger und Wundverheilung,
während v. Buddenbrock es aus der von ihm beobachteten
manchmal geradezu unaufhörlichen Fortdauer der Reaktion nach
Blendung schließen zu können meint: die Augen zeigten dem Tiere
die Helligkeit an.
Eine wenn auch- selten deutlich zum Ausdruck kommende
positive Phototaxis war bei den Heliciden nachweisbar. Daß
sie auf den Augen beruht, wurde mir wahrscheinlich, aber nicht
ganz gewiß.
Während nun ım Vorstehenden schon gesagt ist, daß die
Schnecke auch über Lichtreaktionen, die durchs Auge vermittelt
werden, verfügt, scheint sie sich doch zunächst ım Freileben
kriechend in Vielem wıe blind zu verhalten, indem sie hundertmal
mit ihren Augenträgern und auch mit deren die Äuglein. tragenden
Kuppen an Hindernisse anstößt, worauf jedesmal der Augenträger
a
549 V. Franz, Lichtsinnversuche an Schnecken. -
2
sich teilweise einzieht oder auch einstülpt. Über die Frage, ob
‘bei diesem Verlalten das Auge wirklich keinerlei Funktion ausübe,
gibt der durch zahlreiche Versuchsreihen erbrachte Nachweis Auf-
schluß, daß nach Anstoßen der Augenträgerkuppe an sicht-
baren Hindernissen eine durchschnittlich geringere
Retraktion des Augenträgers erfolgt als nach Anstoßen
an einem unsichtbaren Hindernis, nämlich einer Glas-
scheibe.
Ich übergehe hier alle Einzelheiten dieser den Hauptinhalt
"meiner Arbeit ausmachenden Versuche und erwähne nur das Haupt-
ergebnis und Einiges aus den Erörterungen darüber.
Das Hauptergebnis läßt sich offenbar in den Satz zusammen-
fassen: von sichtbaren Körpern ausgehende optische
Eindrücke, die das Schneckenauge beim Anstoßen oder
unmittelbar vorher treffen, hemmen die Retraktion des
Augenträgers.
Die biologische Bedeutung dieses -Hemmungsreflexes liegt eben-
so auf der Hand wie die des bloßen Rückziehreflexes. Unvorher-
sehbare Berührungsreize, wie sie in der Natur etwa ein kleiner
plötzlicher Wasserguß, ein herabfallender Stein oder ein zustoßen-
der Vogel darstellen können, müssen unbedingt eine starke Zurück-
ziehung der ganzen Schnecke oder mindestens zunächst des Augen-
trägers zur Folge haben; dieser Reflex ist also eine Lebensnot-
wendigkeit.. Bei der hohen Bedeutung des Tastsinnes
des Augenträgers für die Kriechbewegung der Schnecke ist es
aber auch wichtig, daß der Augenträger kleine, nicht plötzlich
kommende, wenig störende Hindernisse in der Natur, wie nament-
lich ganz dünne Ästchen, von jenen plötzlichen Einwirkungen
unterscheiden kann, und hierzu hat er das Auge; es erfolgt dann
nach dem Anstoßen nur die geringe Retraktion, die eben ge-
nügt, um die offenbar sehr zarte Haut des Augenträgers und be-
sonders seiner Kuppe hinreichend zu schützen, manchmal übrigens
auch gar keine,
Wenn hierbei ene'hohe Bedeutung des Tastsınns des
Augenträgers für die Kriechbewegung der Schnecke angenommen
wird, so steht mir eine Reihe von Versuchen zur Verfügung, welche
diese tatsächlich beweisen. Es zeigte sich nämlich — um es hier
nur in Kürze anzudeuten — daß Berührung des Augenträgers mit
einem feinen Stäbchen von oben, unten, rechts oder links, wenn
sie nicht zu schwach ist und nicht stark genug, um den Rückzieh-
reflex des ganzen Tieres auszulösen, zur Folge hat, daß die
Schnecke entweder auf das „Hindernis“ herauf- oder
seitlich an ihm vorbeikriecht.
Hiernach könnte man etwa sagen, die Schnecke wird von dem
Augenträger oder Fühler geführt wie ein Blinder. Diese Ausdrucks-
V. Franz, Lichtsinnversuche an Schnecken. ' 545
weise würde allerdings nur dann ganz zutreffend sein, wenn keinerlei
optische Reize vom Sehorgan über den Augenträger hinaus in den
übrigen Körper der Schnecke gingen. Dem scheint nun zwar nicht
ganz so zu sein mit Rücksicht auf die mitunter zu beobachtende
Phototaxis und gewisse Feststellungen v. Buddenbrocks. Immer-
hin dürfte jenes Zusammenarbeiten von Auge und Augenträger die
Hauptfunktion des Auges darstellen, im Wesentlichen oder
„cum grano salis gesprochen“ gehört dieses Organ nur dem Augen-
träger an, der seinerseits für die Schnecke hauptsächlich ein Organ
des Tastsinnes ist; dem entspricht ja auch die winzige Größe des
Auges, die nämlich im Verhältnis zur ganzen Schnecke winzig, im
Verhältnis zum Augenträger aber etwa die ist wie sonst die eines
Auges zum ganzen Tier. Es war also, wenn man vom dermat-
optischen Sinn absieht, nicht so ganz verfehlt, wenn Yung die
Schnecke als blind bezeichnete; wenn Yung das Sehvermögen des
Helixauges nicht feststellen konnte, so war er nicht nur keinem
größeren Irrtum verfallen als wohl manche früheren Forscher, die,
wie zum Beispiel wahrscheinlich Willem®), hierin zu viel be-
hauptet hatten, vielmehr entspricht der Organısmus der Schnecke
seiner Angabe nahezu.
Zum Schluß erwähne ich, daß unter den oben erwähnten Be-
rührungsreizen, die man auf den Augenträger mit der Wirkung
darauf folgender Körperbewegungen der Schnecke ausüben kann,
diejenigen, welche den Augenträger von oben oder unten und mit-
hin die vorwärts kriechende Schnecke von vorn treffen, die-
selben Körperbewegungen der Schnecke hervorrufen wie ein
gegebenenfalls nicht zu kräftiger Schattenreiz ohne gleichzeitigen
Berührungsreiz. Denn die auf jenem Wege zu erzielenden Fühler-
und Kopfbewegungen und das Heraufkriechen der Schnecke auf
das Hindernis sind ganz dieselben Bewegungen wie die v. Budden-
brocksche Aufbäumebewegung der Schnecke nach Beschattung.
So können also die optischen und taktischen Reize aufs beste zu-
sammenarbeiten, und aus diesem Grunde „muß“ die Aufbäume-
bewegung, soweit photisch bedingt, nur auf dem Auge Beruhen
und nichts mit dem Hautlichtsinn zu tun haben, wie es die oben
erwähnten Versuche über diese Bewegung der Schnecke auch tat-
sächlich ergeben haben.
/
4) V. Willem, La vision.chez les Gastropodes Pulmon&s. Archives de Bio-
logie, Tome XI, Seite 57 bis 184, 1892.
Derselbe, La vision chez les Gastropodes Pulmones. Note. Comptes rendus
de l’Acad&mie des Sciences, Tome 112, 1891, I, Seite 247 bis 248.
Burge
544 Wilh. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra.
Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra.
1I. Teil.
Von Dr. Wilhelm 6Goetsch.
Die hier vorliegende II. Abteilung der Versuche und Beobach-
tungen an Hydra werden die in dieser Zeitschrift vor. einiger Zeit
erschienenen Mitteilungen fortsetzen und im Anschluß an die dort
besprochenen Vorgänge bei der Reduktion der männlichen Ge.
schlechtsorgane
die Bildung und Rückbildung der Ovarien
behandeln und hauptsächlich die Erscheinungen beschreiben, die
bei gleichzeitig einsetzender Regeneration anzutreffen sind.
Das Material zu diesen Untersuchungen bestand diesmal haupt-
sächlich aus Hydra viridis, von der in der Zeit von Mitte Juni
bis Anfang Juli in Würzburg viele Tiere gefunden wurden, die
Hoden, Ovarien und Knospen gleichzeitig in reichlicher Ausbil-
dung besaßen. Die Witterung war zu dieser Zeit zunächst sehr
warm und schlug dann ins Gegenteil um, ohne daß dadurch sich
eine Änderung im Verhalten der Hydren feststellen ließ. Ähnlich
verhielt sich Hydra grisea, die zum Vergleich herangezogen wurde.
Die mit zur Untersuchung benützten Exemplare von Aydra
fusca scheinen wiederum meine früheren Beobachtungen zu be-
stätigen, daß nach einem Witterungsumschlag von warmen zu
kaltem Wetter Fortpflanzungsorgane zu finden sind: Es waren nur
in der zweiten, kälteren Periode geschlechtsreife Tiere anzutreffen.
Doch wurden Hydra fusca nur in so geringer Anzahl erbeutet, daß
ich einen definitiven Schluß nicht zu ziehen wage. Die braunen
Hydren waren getrenntgeschlechtlich, gehörten also der von Brauer
als Hydra oligactis' beschriebenen Form an. Wie in den früheren
Abhandlungen behalte ich auch hier, Hertwig u. a. folgend, den
Namen Hydra fusca für die braunen Polypen bei. Außer dem
Material, das in Würzburg gesammelt wurde, standen mir noch
einige Aufzeichnungen und etwas Material zu Gebote, das aus
Straßburg mitgenommen werden durfte.
Über die Entstehung der Ovarien und Eier ist bereits früher
viel gearbeitet worden, so daß eine genauere Beschreibung aller
Einzelheiten sich erübrigt. Ich werde über den normalen Verlauf
der Entwicklung daher nur kurz berichten und auch auf bestimmte
Streitfragen, deren Erörterung zu weit ab vom eigentlichen Thema
führen würde, mich nicht einlassen.
Der Ausgangspunkt für die Bildung der weiblichen Geschlechts-
produkte ist derselbe, der sich auch für die Hoden feststellen ließ;
die interstitiellen Zellen nämlich, die sich unmittelbar unter dem
Wilh. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 545
eigentlichen Ektoderm befinden. Diese interstitiellen Zellen be-
ginnen sich an den Stellen, an denen dann später das Ovar mit
dem in ihm entstehenden Ei anzutreffen ist, stark zu vermehren
und dadurch eine Platte zu bilden, die sich am lebenden Ei als
eine undurchsichtige, weißliche Verdickung beobachten läßt. Sie
nimmt nach und nach an Ausdehnung zu und bildet so das Ovar,
in dessen Mitte dann nach einiger Zeit das Ei zu finden ist.
Über die Art und Weise, wie die Vermehrung der intersti-
tiellen Zellen vor sich geht, sind die Ansichten geteilt. Manche
Autoren behaupteten, die Anhäufung der Zellen fände durch Ein-
‘wanderung statt, während andere (Kleinenber g, Downing u.a.)
ein Wh um ne eine Vermehrung der interstitiellen Zellen. an Ort
und Stelle annehmen. Ich schließe mich dieser Ansicht an, da man
auf den Schnitten durch junge Ovarien die Zellen meist in Teilung
antreffen kann.
Inmitten dieser Ovarzellen trıtt nun das Ei auf, zunächst als
eine Zelle kenntlich, die die umgebenden Ovarzellen an Größe
übertrifft. Auch über die Entstehung des Eis sind dıe Ansichten
geteilt, und es ist noch nicht las festgestellt, ob es als eine
vorher prädestinierte Zelle aufzufassen ist, die von den interstitiell
entstehenden Ovarzellen prinzipiell verschieden ist — wie es z. B.
Downing behauptet —, oder ob es wohl interstitiellen Ursprungs,
aber schon vor dem Auftreten des Eierstocks von den Ovarzellen
unterscheidbar ist-— wie es Tannreuther angıbt —, oder aber
ob es einfach dadurch entsteht. daß eine Ovarzelle die anderen
durch irgendeine sekundäre Ursache an Größe übertrifft und nun
die Oberhand behält, — wie Kleinenberg, Steche u. a. an-
nehmen. Für unsere Untersuchungen hier ist diese an sich sehr
wichtige Frage über die Kontinuität der Keimzellen von Hydra be-
langlos; ich selbst neige mich auf Grund dieser meiner Experimente
und Beobachtungen, die an anderer Stelle veröffentlicht werden
sollen, der Ansicht Steche’s zu, für den es unzweifelhaft ist, daß
alle Ovarzellen ursprünglich gleichwertig waren und zu Eiern werden
konnten. Es findet also hier, wie auch bei anderen Tieren, unter
den Eiern eine Art Kampf ums Dasein statt. „Welche Zellen zur
definitiven Eizelle werden, ist nicht von vornherein bestimmt. Die-
jenige Zelle, die aus irgendwelchen Gründen einen zunächst gering-
fügigen Wachstumsvorsprung vor ihren Nachbarn hat, wird in der
‚Lage sein, auch weiterhin kräftiger zu assimilieren, dadurch ihren
Vorsprung allmählich zu vergrößern und endlich ıhre Nachbarn
völlig zugrunde zu richten.“ |
Ist das Ei inmitten der es umgebenden Ovarzellen deutlich zu
unterscheiden, so kommt es in ihm zur Anhäufung von Nahrungs-
‚material. Wir haben dabei zu unterscheiden zwischen einfachen
Dotterkügelchen und den eigenartigen größeren Gebilden, die für
39. Band. 36
546 Wilh. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra.
die Untersuchungen hier sich als wichtig herausstellen werden, den
Pseudozellen nämlich, wie Kleinenberg sie nennt. Es sind. dies
rundlich oder oval geformte, in sich abgeschlossene Bestandteile
des reifenden und reifen Eis, bestehend aus einem mit mehr oder
weniger Hervorbuchtungen versehenen Plasmaring und zentraler
Vakuole; sie fallen auf jedem Schnitt durch eine Hydra mit reiferen
weiblichen Geschlechtsprodukten sofort in die Augen (Fig. 3).
Schon die ältesten Beobacher der Entwicklungsgeschichte unserer
Süßwasserpolypen kannten diese Pseudozellen; sie deuteten sie
indes meist falsch, so z. B. Ecker, der sie für wirkliche Zellen, für
Furchungszellen, hielt. Aber schon Kleinenberg korrigierte diesen
Irrtum. Er erkannte auch die Funktion dieser Gebilde und be-
schrieb sie richtig als Nahrungsreservoire für das wachsende Ei.
Spätere Untersucher stellten dann ihre Entstehungsweise, über
die bereits Kleinenberg einige Angaben macht, sowie ihren Ur-
sprung näher fest. Nach Downing entstehen sie entweder durch
Vereinigung von kleinen Dotterkügelchen im Ei oder durch Auf-
nahme ganzer interstitieller Zellen. Wager unterscheidet Pseudo-
zellen, die von ganzen Zellen, solche, die von Kernen und endlich
solche, die von Kernkörperchen herrühren. Meine Untersuchungen
konnten immer nur solche Pseudozellen feststellen, die aus ganzen
interstitiellen Elementen ihren Ursprung ableiteten; wir werden
später noch darauf zurückzukommen haben.
Das Ei nımmt indes immer mehr an Größe zu, und diese Ver-
größerung hält mit der Reduktion und dem Kleinerwerden des
Ovars gleichen Schritt. Man kann schon daraus schließen, daß das
Ovar auf Kosten der Eizelle an Größe abnımmt; direkte Beobach-
tungen, daß die Ovarzellen an den dem Ei zugewandten Seiten
ihre Zellgrenzen einbüßen und aufgesaugt werden, bestätigen diese
Vermutung. In Fig. 3 findet man verschiedene derartige Fälle an-
gegeben. Inzwischen ist auch die zunächst rundliche Eiform einer
amöboiden Gestalt gewichen, welche sich auf Schnitten in der Art
und Weise repräsentiert, wie es Fig. 3 darstellt. Die lappenartigen
Pseudopodien reichen tief in die Haufen der Ovarzellen hinein und
nehmen immermehr von ihnen in sich auf, was ebenfalls ın der
Fig. 3 links zu sehen ist.
Der Endeffekt all dieser Vorgänge ist der, daß das fertige Ei,
welches inzwischen den Kern aufgelöst und dann durch Abschnüren
der Riehtungkörperchen seine Reife erlangt hat, vollgestopft ist von
Pseudozellen, während von dem Ovar nichts mehr übrig bleibt.
Ist dieser Zustand erreicht, dann durchbricht das Ei die Epidermis
und ist nun zur Befruchtung reif.
Dieser normale Entwicklungsgang der Eier wird durch das
gleichzeitige Auftreten von regenerativen Prozessen wesentlich ge-
stört. Um das Ergebnis, das entsteht, wenn man eiertragende
1
vu ) NR
Wilh. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra.
Hydren zerschneidet, gleich vorwegzunehmen: Die Weiterbildung
der Eier und auch des Ovars unterbleibt, sofern die Operation,
welche die Regeneration veranlaßt, nicht an Tieren gemacht wird,
‘ deren Eier bereits so entwickelt waren, daß sie unmittelbar vor der
Durchbrechung der Epidermis standen. Hat man dagegen einen
Schnitt geführt oberhalb oder unterhalb einer jüngeren Ovaranlage,
so tritt eine rückläufige Entwicklung ein und die weiblichen Ge-
schlechtsorgane verschwinden.
Die Zeitdauer, die für derartige Rückbildungsprozesse nötig ist,
beträgt bei Hydra grisea und Hydra fusca 3—5 Tage, bei Hydra
viridis A—-7 Tage. Wie bei der Hodenreduktion ist die Schnellig-
keit des Verlanfs einmal von der Witterung abhängig: wie alle
Lebensprozesse bei Hydra geht sie bei warmen Wetter schneller
vor sich als bei kälteren. Zweitens spielt die Lage des Ovars eine
Rolle, da Ovarteile, die der Schnittfläche näher liegen, etwas rascher
degenerieren als die, welche weiter abseits liegen. Drittens kommt
es noch auf den Ernährungszustand an; je schlechter er ıst desto
rascher werden die Ovarteile eingeschmolzen. Die Lage des Ovars
ist zum Unterschied von den Hoden gleichgültig, und untere wie
obere Teile einer Hydra zeigen dieselben Verhältnisse.
Ob die etwas längere Zeitdauer der Rückbildungsprozesse bei
Hydra viridis in den Artcharakteren beruht, ist ungewiß. Die
Tiere, mit denen ich arbeitete, hatten wie bereits erwähnt, meist
Knospen, waren also in gutem Ernährungszustand. Außerdem ver-
anlaßt vielleicht noch die durch den Hermaphroditismus bedingte
gleichzeitige Anwesenheit von Hoden eine Verlangsamung der Rück-
entwicklung sowie das Vorhandensein der symbiotischen Algen.
Bei einer Beschreibung der Vorgänge, die bei einem Zusammen-
treffen von Regeneration und Eibildung zu beobachten sind, hat
man drei Fälle zu unterscheiden; je nachdem man kleine, mittlere
oder große Ovaranlagen vor sich hat, verlaufen die Bildungs-
prozesse anders. An lebenden Tieren ist nicht allzuviel vom Be-
ginn der Reduktionsvorgänge sowie von den verschiedenen Ent-
wicklungsphasen zu sehen, im Gegensatz zu den Hoden, bei denen
das Aufhören der Spermabewegung die eintretende Degeneration
anzeigt, das Schlaffwerden und die allmähliche Schrumpfung das
Weiterfortschreiten kundtut. Besonders bei den kleinen, jungen
Stadien der weiblichen Geschlechtsorgane, dıe sich am leichtesten
zurückbilden, ist die äußerliche Beobachtung sehr erschwert, da
sich diese kleinen Hervorwölbungen bei lebenden Tieren, die sich
einmal lang ausstrecken, ein anderes Mal ganz zusammenziehen,
nicht leicht auf geringe Größenschwankungen kontrollieren lassen.
Bei Hydra fusca und grisea hat im allgemeinen ein kleines
ÖOvar bereits am Tage nach der Operation an Größe etwas abge-
genommen; am zweiten Tage danach hat es sich noch weiter ver-
| 36*
548 Wilh. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra.
kleinert, manchmal bis zur äußerlichen Unkenntlichkeit, und ist
am dritten Tage meist völlig geschwunden. Am vierten Tage be-
ginnen dann die Tentakel zu entstehen, und noch einen Tag später
hat dann das Tier seine normale Ausbildung erlangt.
Von Hydra viridis sei an einem speziellen Beispiel, das gleich-
zeitig auch noch andere Vorgänge demonstriert, die Ovarrückbil-
dung gezeichnet und beschrieben. Abbildung 1 a zeigt den unteren
Teil einer Hydra viridis, wie ich ihn am 18. Juni 1919 frühmorgens
beobachten konnte, mit Hoden unmittelbar an der Schnittstelle und
zwei Ovarien darunter; männliche und weibliche Fortpflanzungs-
organe bereits in beginnender Degeneration, da am Tage vorher
(17. Juni 1919) der obere, ebenfalls Hoden enthaltende Kopfteil ab-
geschnitten worden war. Am Nachmittag des 18. Juni begannen
bereits Tentakel zu entstehen, und zwar wie ich es in der früheren
Fig. 1. a—c Fortschreitende Reduktion von Hoden (4) und Övarien (0) bei Re-
generation der Tentakel, die sich z. T. unmittelbar aus den Hoden bilden.
Mitteilung an Hydra fusca bereits beschrieb, unmittelbar aus dem
Hoden heraus. Besonders deutlich sehen wir es rechts, wie sich
in die Hodenreste Entoderm hineinschiebt, auf diese Weise das
Material des einen Organs zum Aufbau des anderen benützend.
Die Ovarıen haben an Größe abgenommen und sind zu kleinen
Erhebungen zusammengefallen, Erhebungen, die am 19. Juni noch
geringer geworden und am 20. Juli äußerlich ganz geschwunden
sind (Fig. 16), Statt dessen haben sich die Tentakel mächtig. ent-
wickelt. Am 19. Juni waren zehn kleinere vorhanden, also mehr
als eine Hydra viridis normalerweise zu besitzen pflegt. An der
Basis des einen Tentakels sah man noch deutlich die Reste des
Hodens, der zum Aufbau mit verwandt war, und diese Reste waren
auch am 20. Juni noch sichtbar, nur etwas kleiner geworden und
etwas weiter nach oben gerückt (Fig. 1c). Die Überzahl der Ten-
takel begann mit diesem Tage normaleren Verhältnissen Platz zu
machen, indem mehrere miteinander zu verschmelzen anfingen,
wie wir es gleichfalls an der Abbildung 1c sehen.
Re Mala RES
Be er > R Mn ZN Een 7
in > u 4 oe
Wilh. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydıa. 549
Ovarien mittlerer Größe, d. h. solche, die bereits äußerlich un-
zweifelhaft als solche erkennbar sind, verhalten sich etwas anders.
Auch hierfür sei ein bestimmtes Beispiel gegeben.
| Eine Hydra wiridis mit vielen Hoden am oberen Ende und
deutlich erkennbaren Ovar am unteren Teil wurde am 17, Juni so
durchschnitten, daß der Kopfteil alle Hoden und, wie erst die
Schnitte zeigten, ein äußerlich noch nicht erkennbares Ovar, das
untere Stück nur das mittelgroße Ovar enthielt. Die Figur 2a
zeigt diese untere Hälfte, die uns hier allein angeht, sechs Stunden
nach der Operation; das Ovar, das unmittelbar nach der Operation
‚seitlich von der Schnittfläche lag, hat sich auf diese darauf ge-
schoben und bedeckt so zum Teil die Wunde haubenförmig. Am
18. Juni war diese Haube etwas mehr nach der Seite gerückt, da-
durch, daß der Stumpf über das Ovar hinaus zu wachsen begann;
das Ovar selbst war unverändert (Fig. 2b). Am 19. Juni war inner-
halb desOvars deutlich das Ei sichtbar geworden (Fig. 2c), es hatte
sich also weiterentwickelt und schien auch in der Entwicklung fort-
„Fig. 2. a—d Fortschreitende Umbildung eines Ovars (O) bei der Regeneration.
fahren zu wollen, es begann sich auch schon durch die einwandern-
den Algen leicht grünlich zu färben. Am Abend desselben Tages
wurde nun das Ei, das noch keinesfalls reif sein konnte, da rings-
herum noch viel unverbrauchte Ovarzellen vorhander waren, plötz-
lich ausgestoßen. Die ausgetretene Masse stellte sich als leicht
grün gefärbte Kugel dar, die sofort jeden Zusammenhang mit
dem Muttertier aufgab und sich bald auflöste. Die stehen ge-
bliebenen Övarteile waren als weißliche Ausbuchtung sichtbar ge-
blieben. E
Am. 20. Juni früh morgens zeigte der Stumpf noch äußerlich
erkennbare Ovarteile, er begann aber auch bereits mit der Re-
generation. Am Nachmittag erhoben sich die ersten Tentakel-
knospen, die am 21. Juni schon eine ziemliche Länge erreicht hatten.
Övarreste waren an diesem Tag noch vorhanden (Fig. 2 d). Eine
Hemmung der Tentakelbildung auf der Seite des Ovars, die immer
eintritt, solange dort das Ei noch in Entwicklung ist, trat nicht
ein, sondern im Gegenteil, es ließ sich an der Seite, an der das
Ovar lag, eine stärkere Ausbildung der Tentakel erkennen, ein
550 Wilh. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra.
N |
Zeichen dafür, daß hier Materialüberschuß vorhanden war, vener
durch die Rückbildune des Ovars.
‘ Die an diesem Beispiel dargelegten Verhältnisse zeigen, daß
ein schon etwas spezialisierteres, differenzierteres Ei nicht rück-
gebildet wird, daß es sıch aber trotzdem nicht weiter entwickeln
kann, da die Regeneration das Übergewicht besitzt und das Material,
das für die Weiterentwicklung noch nötig wäre, für sich bean-
sprucht. Der Kampf der einzelnen Teile und Kräfte hat sich gegen
das Ei entschieden, und es wird, da es weder resorbiert werden noch
in der Entwicklung fortschreiten kann, ausgestoßen und kann sein
Ziel nicht erreichen.
Nur ın dem Fall, daß ein Ei beinahe vor der Durchbreehung
der Epidermis steht, kann es seine Bestimmung erfüllen und zur
Befruchtung kommen. Es ist dann bereits zu sehr in der Ent-
wicklung voran gekommen und hat sich genügend mit Reserve-
Fig. 3. Schnitt durch das Ovar einer Hydra viridis. E=Ei mit Kern. PsZ =
Pseudozellen; OZ = ÖOvarzellen. Ekt = Ektoderm, Ent = Entoderm mit
Algen; & Aufnahme von Entodermzellen in das Ei.
material gefüllt, so daß es das, was etwa die Regeneration davon
in Anspruch nimmt, entbehren kann. Daß auch bei einem solchen
großen Eı ein Kampf um die Nahrung stattfindet, zeigt sich darin,
daß auf der Seite, auf welcher sich ein solches Ei befindet, die
Tentakelentwicklung gehemmt ist und erst dann mit voller Kraft
einsetzt, wenn das Eisich ganz losgelöst hat, ein Vorgang, den ich
ja bereite früher beschrieb und abbildete.
Schnitte durch fixierte Tiere müssen auch hier die an lebenden
Objekten gewonnenen Beobachtungen ergänzen und geben über-
haupt erst den richtigen Aufschluß über die Vorgänge, die sieh
heim a eesireffen von Regeneration und Eibildung feststellen
lassen.
Die Textfigur 4 führt nur den mittelgroßen Eierstock eines
Tieres vor Augen; das einen Tag, nachdem der Kopfteil oberhalb des
Ovars abgeschnitten war, getötet wurde. Wir sehen an dem Schnitt
rechts und links zwischen dem blasigen Ektoderm und dem mit
Algen gefüllten Entoderm die typischen Ovarzellen, wie wir sie
von Fig. 3 bereits kennen; eng nebeneinander liegende runde oder
Wilh. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 551
polygonale Gebilde, hervorgegangen aus Teilungen. Nach der
Mitte zu löst sich die kompakte Zellmasse mehr in einzelne Teile
auf, und in der Mitte selbst, an der Stelle der stärksten Erhebung
und Ausbuchtung, erblicken wir bei x einen leeren Raum unter
dem hier etwas verdünnten Ektoderm. ‘ Es ist dies die Stelle, an
der sich das Ei befand; dasselbe war kurz vor der Fixierung aus-
gestoßen worden, da es bei den jetzt einsetzenden Regenerations-
vorgängen sich nieht weiterentwickeln konnte, zur Rückbildung
aber bereits zu diffenziert war. Von Regenerationsprozessen selbst
Fig. 4. Schnitt durch das Ovar von H.viridis, einen Tag nach der Operation. Be-
zeichnungen wie beii3 z= Stelle an welcher das unreife Ei ausge-
stoßen wurde. .
or
Fig. Schnitt durch Ovar von H. veridis, 2 Tage nach der Operation. Umwand-
lung der Ovarzellen OZ° in Pseudozellen PsZ, — Links verschiedene Um-
wandlungsstadien in stärkerer Vergrößerung.
Fig. 6. Schnitt durch Ovar von H.viridis, 2!/, Tage nach der Operation. Pseudo-
zellen (PsZ) auch im Entoderm (Ent). — Unten Pseudozellen, größer ge-
zeichnet; keine Chromatinbrocken mehr wie bei 5.
erblicken wir auf diesen Schnitten noch nichts, wir können nur
überall regelmäßige Ovarzellen sehen, noch ohne Auflösungserschei-
nungen. Das ändert sich, wenn wir den Durchschnitt durch eın
Tier betrachten, das einen Tag später, am zweiten* Tag nach der
Operation abgetötet wurde, wie ihn Fig. 5 zeigt. Da es sich um
ein Tier mit kleinerer Ovaranlage handelt, sind die Ovarzellen
nicht so dichtgedrängt wie in Fig. 3 und 4, sondern liegen noch
weiter auseinander und sind auch nicht so zahlreich, Wir sehen
E}
559 Wilh. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra.
aber auf dem Bild, daß diese typischen Eierstockzellen sich nur an
den Seiten finden; in der Mitte. sehen wir große rundlich-ovale
Gebilde, die als Umwandlungsprodukte von Ovarzellen aufzufassen
sind. Wir können auf den einzelnen Schnitten der Serie, der die
Abbildung 5 entnommen ist, alle Übergänge von typischen Ovar-
zellen bis zu diesen Degenerationsprodukten feststellen ; seitlich von
Fig. 5 habe ich eine Reihe von Umwandlungsformen etwas größer
gezeichnet. Die Ovarzellen werden zuerst größer, behalten aber
ihren Kern. Dann tritt eine Vakuole in ihnen auf, die sich
immer stärker ausdehnt und das Plasma mehr und mehr an den
Rand zurückdrängt, so daß es entweder ringförmig als gleich-
mäßige Masse an der Peripherie zu finden ist oder aber an einer
Stelle zusammengedrängt wird. Der Kern hat sich auf diesem
Stadium in Chromatinbrocken aufgelöst, die sich ın den Plasma-
resten nachweisen lassen.
Die Chromatinbrocken verschwinden nach und nach. Dies ge-
schieht jedoch erst am Ende des zweiten oder am dritten Tag
nach der Schnittführung, und ist daher auf der Bilder-Serie, der
Fig. 5 entnommen ist, nicht mehr zu beobachten. Die Textabbil-
dung 6 dagegen läßt die weiteren Umwandlungen erkennen, in
deren wol die degenerierten Ovarzellen schließlich zu ah.
tigen Kugeln werden, mit großer Vakuole und einem peripheren
Ring, von dem aus sich beim letzten Stadium, das in dieser Periode
zu beobachten ist, meist eine größere Vorwölbung oder ein zapfen-
artiges Gebilde ins Innere hineinzieht, wie es sowohl die seitlich
von Fig. 6 gezeichneten Einzelelemente wie auch die no 6 selbst
übermittelt.
Vergleichen wir diese bei der Fresenerahion usewohhlellen
Ovarzellen auf dieser Entwicklungsphase mit den Ei-Einschlüssen
der Fig. 3, mit den Pseudozellen, so wird man sofort sehen, daß
hier eine große Ähnlichkeit zwischen beiden Gebilden herrscht, so
sehr, daß ein morphologischer Unterschied nicht gemacht werden
kann. Aber auch ihrer Entstehungsweise nach ist kein Unterschied
anzugeben; beide sind entstanden aus umgewandelten Ovarzellen,
bei normalen Tieren allerdings erst dann, wenn sie vom wachsen-
den Ei aufgenommen sind. Trotz dieses Unterschieds werde ich
diese degenerierten Ovarzellen von nun an mit dem Namen Pseudo-
zellen bezeichnen, zumal da ıhre physiologische Funktion beim
Weiterfortschreiten der Regeneration dieselbe ist wie bei der Eireife:
sie dienen nämlich, wie wir gleich sehen werden, auch hier als
Nahrung.
Wenn wir ihr Schicksal weiter verfolgen und uns zu diesem
Zwecke das Übersichtsbild der Fig. 6 betrachten, so fällt uns bei
diesem Stadium sofort eine Ehrentimlichlen in die Augen, die
sich von dem vorhergehenden Stadium abhebt: es sind solche
ET ET THERE NUT EN en
KIE E, "Yin RR . \ 7 st =
\
.
Wilh. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 553
Pseudozellen nicht nur im Ektoderm zu finden, sondern auch ım
Entoderm. Wie ist dies Vorkommen zu erklären ?
Schon bei früheren Stadien sieht man, daß beinahe regelmäßig
in der Mitte des Ovars die beiden Blätter sich genähert haben,
wie es z. B. die Figuren 5 und 4 zeigen; auf letzterem Bild ist
die Annäherung so weit gegangen; daß man keine’deutliche Grenze -
erkennt und die Stützlamelle ganz undeutlich wird. An derartigen
Stellen kommt es dann zur Überwanderung der Pseudozellen, was
vielleicht zunächst sehr verwunderlich erscheinen mag. Aber wir
wissen auch von anderen Hydroiden, daß Geschlechtszellen im
Laufe der Entwicklung die Stützlamellen mehrfach überschreiten
können. Es muß auch normalerweise in dieser Zeit eine Durch-
brechung leicht sein, da gerade in demselben Stadium die Algen
bei Hydra viridis im Ei aufzutreten beginnen, demnach auch beim
nicht regenerierenden Tier zu dieser Periode ein Materialaustausch
stattfindet.
Fig. 7. Schnitt durch H. viridis am 4. Tage nach der Öperation. Keine Ovar-
zellen mehr; Pseudozellen (PsZ) im Ektoderm (Zkt) und Entoderm (Ent),
wo sie z. T. schon verdaut sind.
Den Vorgang der Überwanderung selbst sehen wir in Fig. 7.
Die Stützlamelle, die an den übrigen Stellen rings herum deutlich
als ununterbrochener Strich hervortritt, wird immer undeutlicher,
je mehr sie sich dem in Auflösung begriffenen Ovar nähert, und
- ist an manchen Punkten so völlig zerstört, daß die Pseudozellen
ohne Hindernis vom Ektoderm ins ‚Entoderm einpassieren können.
Einige Pseudozellen sind gerade auf der Überwanderung begriffen,
viele vom Entoderm bereits aufgenommen und in normaler Weise
intrazellulär verdaut, so daß die Magenzellen an manchen Stellen
ganz vollgestopft sind von Pseudozellen selbst oder von ihren
Resten. Im Ektoderm finden sich bei diesem Tier noch eine
ziemliche Anzahl von ihnen; typische Ovarzellen sind hier, am
vierten Tage nach der Operation, nicht mehr anzutreffen, da alle
ihre Umwandlung bereits durchgemacht haben.
(|
554 Wilh. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra.
Dieser regelmäßige Verlauf der Ovar-Reduktion bei regenera-
tiven Prozessen kann manchmal etwas verändert erscheinen. Bei
Hydra grisea treten meist die Pseudozellen im Ektoderm sowohl
wie ım Entoderm auf, bevor bei einem mittelgroßen Ovar die Ei-
teile, die nicht mehr rückbildungsfähig sind, ausgestoßen worden
sind. Ferner traf ich auch bei Hydra viridis manchmal auf
späten Stadien der Degeneration noch Ovarzellen im Ektoderm an,
aber keine Pseudozellen, von denen dagegen im Entoderm eine
größere Anzahl zu finden war. Die Ovarzellen liegen dann un-
mittelbar am Entoderm; sie scheinen dann in derselben Weise von
ihm aufgenommen zu werden wie durch das Ei, da die Zellgrenzen
an der dem Entoderm zugelagerten Seite unsichtbar sind, und sich
danach in Pseudozellen umzuwandeln. |
Es sind dies einige Modifikationen, die ganz interessant er-
scheinen. Der erste Fall illustriert am klarsten die zur Beurteilung
der Ursache all’ dieser Rückbildungserscheinungen dienenden Mo-
mente: Für die Regeneration werden hier die Ovarzellen in An-
spruch genommen; dadurch wird das Ei seiner notwendigen Er-
nährungsbedingungen beraubt und so geschädigt, daß es sich nicht
weiterentwickeln kann und zugrunde geht. Der zweite Fall da-
‚gegen stellt eine Übergangsform dar zwischen den normalen Vor-
gängen bei der Eientwicklung und den durch die Regeneration
beeinflußten oder hervorgerufenen Entwicklungsmodus. Die Ovar-
zellen — Eizellen also, die aus Materialmangel ihre eigentliche
Bestimmung nicht erfüllen können — werden hier in genau der-
selben Weise durch Aufsaugung aufgenommen wie beim Ei und
entwickeln sich dann erst zu Pseudozellen; hierdurch wird die
Ähnlichkeit mit ihrer normalen Umbildungsweise bei unverletzten
Tieren noch größer als bei den gewöhnlichen Regenerationsprozessen,
wo die Aufsaugung durch das Ektoderm fehlt und die Ovarzellen
sich vor dem Übergang in die andere Schicht in Pseudozellen
umwandeln.
Der Erfolg und Zweck aller dieser Umwandlungsmethoden ist
aber in jedem Fall der gleiche; die Ovarzellen verschwinden
nach und nach vollständig aus dem Ektoderm und smd dann noch
eine Zeitlang als Pseudozellen oder Reste davon ım Entoderm zu
erkennen, bis sie dort nach und nach völlig aufgezehrt und ver-
daut worden sind.
Im großen Umriß betrachtet verhalten sich also die Ovarien
genau wie die Hoden. Die schon zu stark spezialisierten Elemente,
werden ausgestoßen; bei den Hoden geschieht dies allerdings nur
mit den wirklich reifen Spermien, bei den Ovarien auch schon bei
unreifen Eiern, sofern sie nur eine gewisse Größe erlangt haben,
d. h. als wirkliche Eier erkennbar sind. In allen anderen Fällen
tritt eine Rückbildung der Geschlechtsorgane ein. Die unreifen
|
|
a ga NER > I DEN un IR I U RN PO
Y
.-
Wilh. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 555
Spermien und ihre Bildungszellen wandern von dem äußeren in
das innere Keimblatt, und die Ovarzellen oder ihre Umwandlungs-
produkte werden gleichfalls vom Entoderm aufgenommen; entweder
in ihrer Gesamtheit, sofern sich noch keine Zelle von ihnen als
- Eizelle ausgesondert hat, oder nach Ausstoßung des nicht mehr
rückbildungsfähigen Eis. Im Entoderm werden dann alle diese
Reduktionsprodukte von den Magenzellen verdaut, als ob es sich
um Nahrung handele, die durch de Mundöffnung aufgenommen wäre.
Daß bei der Huekbildung der Ovarzellen Find K Aufnahme
ins Entoderm aus dem dereneriere en Organ unmittelbar ein neu-
entstehendes hervorwächst wie bei den Hoden habe ich nicht fest-
stellen können. Die Verhältnisse liegen ja auch hier etwas anders
als bei den männlichen Geschlechtsorganen. Ein Ovar umgibt einen
größeren Bezirk einer Hydra, so daß nicht an einer kleinen Körper-
partie ein solch’ lokalisiertes Wachstum möglich ist wie bei den
Hoden, wo an eng umgrenzter Stelle durch die allmähliche Rück-
bildung und Überwanderung der Spermien eine und dieselbe Zell-
gruppe fortgesetzt mit Nahrung versorgt wird, so daß Hervor-
wölbungen entstehen, die dann zu Tentakeln sich umbilden. Daß
etwa eine Knospe an dieser Stelle entstünde, dazu liegt auch keine
Veranlassung vor, da ja das gesamte Tier keinen Nahrungsüber-
‚schuß besitzt; und eine schon vorbestimmte Stelle, eine Art
„Vegetationspunkt“, die, wie ich früher feststellte, eine Knospe auf
Kosten des mütterlichen Stumpfes entstehen ließe, ıst an dieser
für das Ei vorgesehenen Stelle natürlich nicht vorhanden. So tritt
denn die Nahrungsmenge, die durch das Einschmelzen der Ovar-
zellen aufgenommen wird, sofort mehr in den Dienst der Gesamt-
heit als es. bei den Hoden geschieht, die zum Teil für ein einzelnes
Organ verbraucht : werden. Daß trotzdem die Seite, an der
das Ovar liegt, durch die reichhaltige Nahrungsmenge bevorzugt
ist, habe ich schon früher erwähnt, ebenso wie das Gegenteil, daß
dıe Hälfte einer Hydra, an welcher der Kampf um das Material
noch nicht zugunsten der Regeneration entschieden ist, benach-
teiligt erscheint und nicht so rasch die Organe wiederhersteller
kann wie die gegenüberliegende Seite.
Wir können danach auch bei der Bildung der Övarien und
Bier die Selbständigkeit der einzelnen Organe und Bezirke am
Hydra-Körper beobachten, sowie ihre Unabhängigkeit voneinander
und den Kampf, den sie gegeneinander zu führen haben.
Zunächst gibt es einen Kampf der Ovarzellen untereinander;
die größte und kräftigste wird zum Ei, das nun für sich innerhalb
des Ovars die Klaus beansprucht. Die Folge ist eine Unter-
drückung der übrigen On die nun es dem Ei zum
Aufbau dienen müssen. Hat das Ei erst eine gewisse Größe. er-
langt und genügend Nahrungsmittel aufgespeichert, so führt es ein
Zt Pe Up Sy ac RER
556 Wilh. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra.
ziemlich unabhängiges Leben und sitzt nur wie eine Art Parasit
auf dem Muttertier, von dem es bis zu seiner Loslösung noch
Nahrungssäfte erhält und dazu noch die in Auflösung befindlichen
Ovarzellen „frißt“. Daß nur durch solch reichliche Ernährung die
Entwicklung des Eis möglich ist, zeigen die Verhältnisse der ein-
‚tretenden Regeneration; das Ei kann sich dann nicht weiter ent-
wickeln und wird ausgestoßen und verkommt. Ebenso müssen die
Ovarzellen, welche den richtigen Augenblick verpaßt haben, von
einer gewissen Zeit an degenerieren; es ist dabei gleichgültig, ob
sie durch das differenzierte Ei unterdrückt werden oder wegen
Regeneration an Nahrungsmangel leiden. So kommt es auch, daß
bei jüngeren Ovarien alle Zellen beim Eintreten von regenerätiven
Vorgängen rückgebildet und in Pseudozellen umgewandelt werden.
Erwähnenswert ist noch, daß beı gleichzeitiger Anwesenheit
von Hoden und Ovarien zunächst die Ovarıen verschwinden.
Die hermaphroditische Hydra viridis bietet dafür ein gutes Beispiel,
und in Fig. 7 können wir auch sehen, daß die Spermien noch
nicht ins Entoderm übergewandert sind, während das Ovar schon
beinahe ganz aufgelöst ıst und seine Elemente z. T. schon ver-
daut sind.
Fassen wir zum Schluß noch einmal die Hauptergebnisse dieser
Untersuchung zusammen.
Es konnte zunächst festgestellt werden, daß die Pseudozellen
umgewandelte Ovarzellen sind, die normalerweise im Ei entstehen,
aber sich auch außerhalb des Eis bilden können. In beiden Fällen
dienen sie zur Nahrung; bei der Entwicklung dem wachsenden EHı,
in anderem Falle, bei der Regeneration, zum Aufbau der dem Tier
fehlenden Teile. Weiterhin konnte festgestellt werden, daß auch
bei Hydra viridis die im I. Abschnitt bereits gemachten Beobach-
tungen Gültigkeit haben. Auch hier ist Nahrungsmangel und
-Überschuß das Maßgebende. Die einzelnen Bezirke und Organe
entwickeln sich zunächst für sich, so daß bei Überschuß von
Material auch Überzähliges entstehen kann, z. B. zuviel Tentakel
oder zuviel Mundöffnungen, die aber bald wieder verschwinden.
Bei Nahrungsmangel dagegen kommt es zu Einschmelzungen und
Rückbildungen, so daß auch hier, nach anfänglichem Kampf der
Teile untereinander, die Harmonie und Einheit des Tiers auf Kosten
der Fortpflanzung wieder hergestellt wird.
Übersicht über die zitierte Literatur.
Brauer, A., Über die Entwicklung von Hydra. Zeitschr. f. wiss. Zoologie.
Bd. 52, 1891.
Downing, E. R., Oogenesis of Hydra. Zool. Jahrb. Abt. Morph. Bd. 28.
Ders., The Oogenesis of Hydra a preliminary paper Biol. Bull. Woads Hole Vol. 15.
Goetsch, W., Beobachtungen und Versuche an Hydra. Biolog, Zentralbl. Bd. 37,
1917.
j
5
|
O. Renner, Die Ursachen der Plagiotropie und die Reitzbewegungen ete. 557
Ders., Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. Biol. Zentralbl. Bd 39,
1919.
Hertwig, R. v., Die Knospung und Geschlechtsentwicklung von Hydra. Biol.
Zentralbl. Bd. 26, 1906.
Kleinenberg, N. Hydra. Leipzig 1872,
Steche, O., Hydra und Hydroiden. Monogr. einheimischer Tiere. Bd. III. Ver-
lag W. Klinkhardt. Leipzig 1911.
Tannreuther, G. W., Observation on the Germ-Cells of Hydra. Biol. Bull.
Woads Höle Vol. 16. i
Ders., Budding in Hydra ibid.
Wager, Th., Oogenensis and early Develop. of Hydra. Biol. Bull. Woads
Hole Vol. 17.
Referate.
H. Lundegärdh. Die Ursachen der Plagiotropie und die
| Reizbewegungen der Nebenwurzeln.
I u. II. Lunds Universitets Ärsskrift, TITTEN SR. Bdr13. NE.16, 6 15 Nr.e1:
I: 75 Seiten, 13 Textfiguren. II: 68 Seiten, 5 Textfiguren.
Derselbe: Das geotropische Verhalten der Seitensprosse,
Zugleich ein Beitrag zum Epinastieproblem und zur kausalen Morphologie.
Ebenda, 1918, Bd. 14 Nr. 27 (Festschrift der Universität Lund).
93 Seiten, 16 Textfiguren.
Neben dem positiven Geotropismus der Hauptwurzeln und dem negativen
Geotropismus der aufrechten Hauptsprosse soll nach der geltenden Schulmeinung
noch ein spezifischer Geotropismus andrer Organe existieren, nämlich der Trans-
versal- oder Diageotropismus z. B. der wagrecht wachsenden Rhizome und der
Plagiogeotropismus der schief orientierten Seitenwurzeln erster Ordnung. Der plagio-
trope Wuchs der Seitenzweige ist dagegen seit längerer Zeit als die Resultante einer
negativ geotropischen Bestrebung und einer entgegengesetzt gerichteten, ebenfalls
durch den Schwerkraftreiz induzierten „epinastischen“ Krümmungstendenz aufgefaßt
worden. Der Verf. hat diese Verhältnisse an Seitenwurzeln und Seitensprossen mit
den modernsten Mitteln automatisch-photographischer Registrierung und unter sorg-
fältiger Konstanthaltung der Temperatur studiert — man spürt die wirtschaftliche
Umschichtung Europas — und ist dabei zu bemerkenswerten Ergebnissen gekommen.
Was die Seitensprosse betrifft, so bestätigen die neuen Untersuchungen die
auf Grund der Baranetzky’schen Experimente von Pfeffer vertretene Auffassung.
Doch inauguriert der Verf. eine Vereinfachung der Bezeichnungsweise, indem er
das, was Pfeffer durch Schwerkraft induzierte Epinastie nennt, als positiven Geo-
tropismus definiert. Wie schen Pfeffer angibt, hat die positive Reaktion eine viel
längere Induktionszeit als die negative — nach dem Verf. beträgt die Präsentations-
zeit für die positive Reaktion 1—2 Tage, für die negative 1 Stunde —, und die
positiv geotropische Induktion klingt auch viel langsamer ab als die negative. Bei
Drehung an der horizontalen Klinostatenachse, also bei Ausschluß dauernd gleich-
sinniger Beeinflussung des Organs durch die Schwerkraft, kommt die Epinastie oder
die positiv geotropische Induktion darin zum Ausdruck, daß die morphologische
Oberseite der Seitensprosse konvex wird ; die positive Reaktion überwindet die negative,
weil die negative Reizung rascher abklingt. Bis auch die positive Induktion am
Klinostaten verschwunden ist, können 14 Tage vergehen. Die antängliche Krümmung
558° O. Renner, Die Ursachen der Na ad R Be ete.
der Seitensprosse ist jetzt durch Autotropismus ausgeglichen, und bei horizontaler 2
Exposition krümmen sich nun die Seitensprosse negativ; geotropisch auf — gleich-
gültig wie der Hauptsproß orientiert ist —, weil die negative Reaktion so viel rascher
induziert wird als die positive. Besonders heftig ist die Aufkrümmung der Seiten-
sprosse, wenn der ganze normal gewachsene Sproß invers gestellt wird, so daß die
Seitensprosse schräg abwärts schauen, mit abwärts gekehrter morphologischer Ober-
seite; denn jetzt wirken der in der Normallage induzierte positive und der aktuell
induzierte negative Geotropismus gleichsinnig zusammen. Kräftig ist auch die Kon-
vexkrümmung der morphologischen Oberseite, wenn ein normal gewachsener Seiten-
sproß senkrecht aufwärts gestellt, also in geotropisch reizlose Lage gebracht wird;
die Krümmung verläuft sogar rascher als am Klinostaten, und der Verf. glaubt
daraus schließen zu dürfen, daß in vertikaler Lage die negative, aber nicht die
positive Reaktion gehemmt ist, was auch durch besondere Versuche — z. B. kurz
dauernde Reizung in horizontaler Lage, dann erst Vertikalstellung — bestätigt wird.
Nun ist durch Frl. Riß für positiv geotropische Hauptwurzeln nachgewiesen, daß
die spitzenwärts gerichtete Längskomponente der Schwerkraft auf die von der quer
angreifenden Komponente induzierte Krümmung hemmend wirkt; so ist es z.B. zu
verstehen, daß die Proportionalität zwischen dem Reizerfolg und dem Sinus des
Ablenkungswinkels nicht streng gilt, weil die Längskomponente des Schwerereizes
um so größer wird, je mehr sich die Lage der Wurzel der Vertikalen nähert, und
ganz verschwindet, wenn die Wurzel horizontal gelegt wird. In derselben Weise
soll nach dem Verf. die negativ geotropische Krümmung durch die basiskope Längs-
komponente der Erdschwere gehemmt werden. Die Gleichgewichtslage, in die ein
Seitensproß nach jeder Ablenkung zurückkehrt, wäre also die Resultante aus drei
Reizwirkungen der Schwerkraft: negativem Geotropismus, positivem Geotropismus
(mit längerer Induktions- und Abklangszeit, also in der Nachwirkung dem negativen
überlegen, bei aktueller Reizung hinter dem negativen zurückstehend), und tonischem
Längsreiz.
Daß den Seitenwurzeln ein spezifischer Geotropismus in Form von Plagio-
oder Diageotropismus zukomme, bestreitet der Verf. Nach längerer Rotation an der
horizontalen Klinostatenachse zeigen die Seitenwurzeln 1. Ordnung nämlich aus-
gesprochen positiv geotropische Reaktion, wobei die Horizontallage wie bei den
orthotropen Organen die optimale Reizlage darstellt, während in der vertikalen Lage
keine Krümmung eintritt. Daß die positiv geotropische Krümmung aus der Hori-
zontalen nicht bis zur Einstellung in die Vertikale führt, hat nach dem Verf. wieder
seine Ursache in der tonischen, und zwar hemmenden Wirkung der längs angreifenden
Komponente der Schwerkraft. Auf dem Klinostaten führen normal gewachsene
Seitenwurzeln Krümmungen aus, die als Nachwirkung der in der Normallage perzi-
pierten positiv geotropischen Reizung zu verstehen sind; die. Krümmung kann jetzt
ausgeführt werden, weil die einseitige Wirkung der Längskraft wegfällt. Der Unter-
schied zwischen dem geotropischen Verhalten der Hauptwurzeln und dem der Seiten-
wurzeln soll also im wesentlichen darauf beruhen, daß die tonische Wirkung des
Längsreizes bei den Seitenorganen viel stärker ist als bei der Hauptwurzel. Dazu
soll bei den Seitenwurzeln noch negativer Geotropismus kommen, der aber viel
schwächer ausgeprägt ist als der damit zu vergleichende positive Geotropismus der
Seitensprosse. Dieser negative Geotropismus, genauer gesagt die Nachwirkung der
in der Normallage erfolgten negativ geotropischen Induktion, tritt dann in Tätigkeit,
wenn eine Seitenwurzel aus Ah Grenzwinkel nach unten, bis zur Vertikalen,
abgelenkt wird; der positive Geotropismus besorgt die Wiedereinstellung nach einer
Ablenkung nach oben. Inder Vertikallage (mit abwärts gekehrter Spitze) und in be-
nachbarten Stellungen kann die negative Reaktion deshalb zur Ausführung kommen,
weil die positive Krümmung durch die mit maximaler Stärke angreifende akroskope
Komponente der Schwerkraft gehemmt wird:
Von den + genau horizontal wachsenden Rhizomen und Ausläufern nimmt
der Verf. an, daß sie wie die Seitenwurzeln positiven und negativen Geotropismus
a
R. Demoll, Deutsche Naturwissenschaft, Technik und Erfindung ete. 559
> mit sehr starker Hemmungswirkung der Längskomponente besitzen. Doch ist dem
Ref. nicht verständlich, wie in horizontaler Lage eine Längskomponente der Schwer-
kraft auftreten solle —
Die Gleichgewichtslagen der plagiotropen Organe sind nach dem Verf. dyna-
mischer Art. Sie sollen auf dem Weg dauernder Oszillationen zustandekommen,
dadurch daß dieReaktion, die Krümmung, infolge der durch die Längskraft be-
wtrkten Reizung fortwährend ausgeglichen wird. Die Perzeption der Querkompo-
nente wird durch den Längsreiz nicht aufgehoben, sondern es findet in der Normal-
lage dauernd geotropische Reizaufnahme statt, dieam Klinostaten, nach Ausschaltung
der Längskraft, auch zur Reaktion führt. O. Renner, München.
Deutsche Naturwissenschaft, Technik und Erfindung
im Weltkriege.
Herausgegeben von Prof. Dr. Bastian Schmid-München, Verlag von Otto Nemnich,
München-Leipzig 1919. Preis 30.— M., Prachtausgabe 60.— M.
Prof. Dr. Bastian Schmid ist es gelungen noch während des Krieges ein
Werk in Druck zu bringen, das sämtliche Errungenschaften auf wissenschaftlichem
und technischem Gebiete umfaßt, soweit sie zu dem Weltkrieg Beziehung gewonnen
. haben. An der Bearbeitung der einzelnen Artikel haben sich namhafte Forscher be-
teiligt. Ich lasse hier die Überschriften der einzelnen in dem Buch behandelten
Materien folgen:
Krieg und Kultur. Von Prof. Dr. Rudolf Stübe-Leipzieg.
Zur Psychiologie des Krieges und der Erfindungen. Von Geh. Medizinal-
rat Prof. Dr. Robert Sommer-Gießen.
Die Physik im Kriege. Von Prof. Dr. Paul Eversheim-Bonn.
Die Meteorologie im Kriege. Von Geheimrat Prof. Dr. Siegmund Günther-
München.
Die Aeronautik im Kriege. Von Prof. Dr. Reinhard Süring-Potsdam.
Die Photographie im Kriege. Von Dr. Walter Block-Berlin.
Die Chemie im Kriege. Von Prof. Dr. Bastian Schmid-München.
Die Waffen im Kriege. Von Hauptmann a. D. Oefele-Würzburg.
Die Ballistik im Kriege. Von Hauptmann Franz Külp r
Die Technik im Kriege. Von Dr. M. Blaschke-Berlin-Charlottenburg.
Verkehrs- und Nachrichtenmittel. Von Hauptmann a. D. Oefele-Würzburg.
Die Geologie im Kriege. Von Major Dr. W. Kranz-Straßburg.
Der Krieg und die erdkundliche Wissenschaft. Von Prof. Dr. Felix
. Lam pe-Berlin.
Krieg und Völkerkunde Von Prof. Dr. Rudolf Stübe-Leipzig.
Die Botanik im Kriege. Von Prof. Dr. Ernst Lehmann-Tübingen.
Zoologie im Kriege. Von Dr. Gerhard Wülker-Heidelberg.
Die Bakteriologie im Kriege. Von Prof. Dr. Ernst Behmann-Tübingen.
Die Hygieneim Kriege. Von Prof. Dr. Emil Küster-Köln.
Die Medizin im Kriege. Von Geheimrat Prof. Dr. Robert Sommer-Gießen.
Die Chirurgie im Kriege. Von Privatdozent Dr. Wilhelm Gundermann-
Gießen.
Die Orthopädie im Kriege. Von Privatdozent Dr. Philipp Erlacher-Graz.
Die Lichttherapie im Kriege. Von Geheimrat Dr. Hugo Bach-Bad Elster.
Die Röntgentechnik im Kriege. Von Direktor Dr. Friedrich Dessauer-
Frankfurt a.M.
Psyehiatrie und Nervenkrankheiten. Von Geheimrat Prof. Dr. Robert
Sommer-Gießen.
560 R. Demoll, Deutsche Naturwissenschaft, Technik und Erfindung etc. -
Die Augenheilkunde. Von Stabsarzt Dr. W. Klingelhöffer-Offenbach a. M.
Die Zahnheilkunde. Von Prof. Dr. Alfred Kantorowitz-Bonn.
Die Tiermedizin, Von Prof. Dr. von Sußdorf-Stuttgart.
Die Landwirtschaft und der Krieg. Von Prof. Dr. H. Krämer-Hohenheim- _
Stuttgart.
Die Forstwirtschaft im Kriege. Von Prof. Dr. Wilhelm Borgmann-Gießen.
Der naturwissenschaftliche Unterricht und der Krieg. Von Prof. Dr.
Bastian Schmid-München.
Die Schulmathematik und der Krieg. Von Prof. Dr. Timerding-Braun-
schweig.
Krieg und Wirtschaftsleben. Von Dr. G. Buetz-Dessau.
Täglich beinahe hörte man während des Krieges von Neuerungen und von
großen Entdeckungen auf allen diesen Gebieten oder man las davon in Zeitungen;
selten aber bot sich Gelegenheit, wirklich mit diesen Errungenschaften vertraut zu
werden, einen Sachverständigen darüber zu hören oder durch einen Aufsatz aus
berufener Feder näher in den Gegenstand eingeweiht zu werden. Man darf daher
erwarten, daß das vorliegende Buch allen denen hochwillkommen sein wird, welche
das Bedürfnis fühlen, in präziser einwandfreier Form über das Wesen derjenigen
Fortschritte der Wissenschaft und Technik orientiert zu werden, die in den letzten
Jahren das allgemeine Interesse auf sich gelenkt ‚haben. Selbstverständlich kann
es sich bei all diesen Aufsätzen nicht um eine eindringliche, spezielle fachwissen-
schaftliche Kenntnisse voraussetzende Darstellung handeln. Häufig, so besonders
bei Besprechung der Sprengmittel, bei Erörterungen von Waffen mancher Art, bei
der Darstellung der Geheimnisse eines U-Bootes etc. mußten die Referenten not-
gedrungen an den Grenzen der militärischen Geheimnisse haltmachen. Es bleibt
erstaunlich genug, wie es dem Herausgeber möglich war, während des Krieges ein
Werk zu fördern und in Druck zu bringen, das sich doch beinahe ausschließlich
mit Dingen befaßt, deren Veröffentlichung von den militärischen Stellen nicht ohne
weiteres genehmigt wurde.
Als besonderes Verdienst darf es dem Herausgeber ferner angerechnet werden,
daß er es verstanden hat, die Einteilung des Stoffes so zu treffen und die einzelnen
Kapitel so zu begrenzen, daß in den Darstellungen der verschiedenen Autoren, da
wo sie dasselbe Objekt behandeln, keine Wiederholungen auftreten. So wird man
z.B. unterrichtet über Flugzeuge in dem Kapitel „Die Physik im Kriege“, dann in
dem über „Aeronautik“; wir finden es wieder erwähnt bei der Besprechung der
„Verkehrs- und Nachrichtenmittel“, bei „Waffen“ u.s.w. Obwohl diese einzelnen
Aufsätze der Feder verschiedener Verfasser entstammen, könnte man doch das über
das Flugzeug in den einzelnen Kapiteln Gesagte hintereinander fügen, ohne daß es
deutlich den Charakter des Zusammengetragenen zeigen würde.
Eine ganz besondere Erwähnung verdienen die zahlreichen, zum Teil aus-
erlesenen Abbildungen, die auch trotz der Papierqualität, die das Buch als Kind
des Jahres 1919 erkennen lassen, doch vorzüglich sind.
\ Der Preis des Buches (30 Mk.) ist trotz der ungezählten Abbildungen und des
erheblichen Umfanges (1000 Seiten) doch so niedrig gehalten, wie es nur bei einem
Werk möglich ist, das auf Absatz in weitesten Kreisen rechnet. Man kann nur
hoffen, daß der Herausgeber und der Verleger sich in diesen Erwartungen nicht
getäuscht haben mögen, und daß das Buch die ihm gebührende allgemeine Ver-
breitung findet. R. Demoll.
Dick‘ der B. Hof- &
eye,
Alphabetisches Namenregister.
Abderhalden 195. 143.
Abel 388. 389. 391. 400
Adelung 404.
Albertis 199.
Alessandrini 325. 326. 335.
Alfken 85. 145.
Alterthum 204.
Altum, R. 91.
Alverdes, F. 385.
Andre 99.
Annandale, N. 12.
Armbruster 164.
Arnhart, L. 494.
Aronsohn 366.
Aschner 204, 206
Ashmead 155. 156. 158. 161.
163. 166. 170. 182.
Bach 559.
Baer, W. 96.
Baerthlein 246.
Baldwin 523.
Ballowitz 143. 522.
Barber, T. C. 91.
Barth, J. A. 364.
de Bary 482, 488, 489.
Bassalik 483. 489.
Bates, G. L. 98, 99.
Bates, H. W. 91.
Bauer 274.
Bauer, V. 528.
la Baume, W. 528.
Baurn2198 2127215.2 2171
234. 236. 237. 240. 241.
242. 243, 244. 245. 250.
. 390. 399. 400. 512.
Beal, F: E. L. 96. 97. 98.
Becher 285.
Becher, E. 451. ı
Beer 37.
Belt 81. 86.
Benecke 482. 489.
Beneden, van 326.
Bergmann 420.
Bergström 251, 252, 254,
255, 256.
Betheke 420.
Bethe 37. 191. 27!.
Beyerinck 240. 246. 247.
DIS RR
Biedermann 142. 143. 472.
473.
Bierry 103.
39. Band.
Biro. L. 359.
Bischoff 146. 155. 158. 161.
Blaschke 559.
Blochmann 536.
Block 559.
Boecker 10.
Boecker, Ed. 12.
Boegle 523.
Börner, ©. 145.
Bohn 529. 530.
Bojanus, 491.
Bonnet 348.
Borgmann 560.
Bouvier 520. 521.
Boyle. 367.
Brandt 391. 400.
Brauer, A. 302.
Brauer, F. 88.
Brauer 544. 556
Breddin, G. 71. 79. 85.
Bredemann, G. 528.
Brehm 251. 252. 256.
Brenner 520.
Bresslau, E. 41. 325. 331.
Sr
Briquet, J. 110. 120.
Brun 187. 188. 189. 190.
191- 192. 306. 478.
Brun, E. u. R. 310.
Brunet 89.
Brunner v. Wattenwyl 75.
Buchner 258.
Buchner, P. 535. 537. 540.
Buddenbrock, W. v. 266
bis 286. 540. 541. 543
Buder 240. 244.
Bücher 528.
Bühler 284. 285.
Bütschli, ©. 13. 44. 46. 50.
57. 59.
Buetz 560.
Buffon 490.
Burchell 109.
Burmeister 75.
Buschka, Franz 77. 87.
Buschkiel, M. 325. 328.
v. Buttel-Reepen 163. 495.
496.
du-Buysson, H 353.
Byk, A. 517.
Calkins 2.
Cameran 97.
Camper 490.
Chatelier, Le 322.
Chlodovsky 535. 538. 540.
Chodat 535.
Cholodovsky 287. 288.
Chroback 201.
Cleland, J. B 98.
Cohen Kysper 310. 323.
324, E
Cohn, F. 519.
Cohnheim, OÖ. 437.
Compton 520. 521.
Conklin 521. 522.
Cornetz 191. 192,
Correns, C. 105.
Cramer 202. 208.
Crampton 521.
Cristofoletti 205
Osiki, E. 94. 96.
Cuvier 490. 491. 492. 493.
494.
Czuber, E. 105. 106. 121.
Dacque 358. 400.
Dahl; ‚E70479,.3198.
Dahl, Fr 358.
Darwin 386. 388. 389. 400.
Daubenton 490.
Degeer 86.
Delage 104. 271.
Delaunay 523.
Demoll, R. 83. 150. 164,
165. 167.,174. 266. 474.
559. 560.
Dessauer 559.
Distant 72.
Dixey 102.
Dixon 2:2,
Doflein, F. 7}. 83. 328. 352.
519.
Downing 545. 546. 556.
Driesch, H. 21. 433.
Dubois 408, 409. 411. 413
414. 415. 420.
Duboscp 328 329. 335.
Ducke 170. 171. 172.
Düben, v. 252, 256.
Dürken, Bernhard 40.
Duncker, G. 371. 404.
Dunker 524.
Durand, A. 368.
Dyar 325. 330. 331. 335.
Dye 3257 335.
37
562
Kicker 546.
Eekstein 326. 328. 335. -
Edmond 330.
Ehrenberg Chr.G. 41.46. 59.
385. 386. 387. 388.
Eimer
389. 397. 400.
Ekmann 252. 253. 254. 256.
Ellis, Havelock 121.
Ellis, R. A. 353. 362.
Emery 86. 391. 400.
Emmelius, ©. 303.
Enslin 146. 147. 148. 151
Entz, G. sen. 81. 91.
Erlacher 559.
Escherich, K. 99.
Estabrook, A. H. 26.
Etienne Sergent 330.
Eversheim 559.
Ewald 272.
Eykmann 103
Eysell 325. 335.
Fabre, J. H. 89. 189. 359.
361.
Fahringer, J. 87. 356. 358.
361.
Fatton W. S. 336.
Fechner, Th. 189. 329
Fehling 207. 208.
Ferton 86.
Fick, R.:519..523.
Fickendey, E. 528.
Fiebrig, K. 75.
'Fisch, ©. 109. 121.
Fischer 368. 520. 521.
Forel, A. 35. 87. 100. 187.
192. 310. 478.
Fowler 366.
Fränkel 537.
Franque, O. v. 193.
Franz, V. 37. 540.
Fresnel 515.
Friekhinger, H. W. 527.
Friedenthal 347.
Friedländer 475.
Fries 254.
Frisch, Carl v. 35.
281. 282.
Frischholz, E. 12. 302.
Fuchs, Gilbert 64. 140. 142.
Funk 103.
@alanth, S. 529.
Galle 518.
Gauß 323.
Geisenheyner 111.
Gelpke 210.
Gendre 326. 331. 335.
(seoffroy 490. 491. 492. 493.
In.
Gerstaecker 146. 147.
Me. Ginnis 272.
Goebel 534.
1222139.
Alphabetisches Namenregistet‘.
Goethe 489. 490. 491. 492.
Goetsch, W. 289. 302. 544,
556. 557.
Goldschmidt, R. 497.
Graaf 193. 211.
Graber 288.
Greef, R. 50. 59.
Grober 415. 420.
Gryns 103.
Günther 328. 335.
Günther, H. 513. 559.
. Gundermann 559.
Haase, E. 69. 71.
Haase 81.
Haberlandt, Fr. 107. 452.
Hadley 277.
Haecker 389. 390. 391. 393.
394. 396. 400. 521. 522.
523. 525.
Halban 197. 198. 199. 200.
Handlirsch 154, 170. 171.
Hanstein 387. 400.
Hartig 148. 151.
Hasebroek 407. 415. 420.
Hegar 199. 200. 206.
Heidenhain 522.
Heikertinger, Fr.
Heincke 374.
Heinroth 404. 405.
Heller, H. 364.
Helmholtz 36.
Henning, Hans 35. 187. 286.
364. 365. 366.
478.
Henslow 111. 121.
Herbst, ©. 20.
Herbst, S. 451. 453. 454.
455. 456.
Hering 36. 136. 191.
Hermann, OÖ 352. 302.
Herschel 514.
367. 368
Hertwig, v.R. 12. 138. 187.
190. 291. 302. 322. 544.
Il.
Hertwig, ©. 491.
Hertz 323.
Hess,. ‚Carl 392 122.723:
24.2109 120.8127.0128:
1293.2120713151324.133;
1344713532 136,,.137:%138,
139. 281. 282:
Hesse, E. 329. 352.. 401.
407. 409. 415. 419. 420.
Hesse, P. 521.
Heurtaux 522.
Heyer 108. 121.
Heymons, R. 83.
Hilzheimer 256.
Hirsch, G. Chr.
Hobmaier 536.
Höber, R. 437,
457.
69., 892:
van’t Hoff 322.
Hollsten 252. 256.
Holmes 144.
Hooke 535.
Hooker, Davenport 141. 142.
143, 144.
Howard 325. 330. 331. 335.
Huber, Fr. 495.
Humboldt v. 100. 366.
Hunter, W. D. 90.
Huxley 391. 400.
Jhering, H., v. 91.
Iterson, van 515. 520.
Jacobi, A. 67. 70. 74. 78.
80. .81.. 82.84.89. 91:
985, 99:1102. BIER 933
356.
Jaeger, F. M. 517.
Jaeger, G. 370.
Jaffe 330. 335.519.
Janecke 517.
Jelgersma 423. 426. 432.
Jennings, T. B. 12.
Johannsen 37. 187. 190. 383.
Jordan, H. 462. 466. 467.
472.
Joseph, H. 12.
Jost 515.
Judd 97.
Kantorowitz 560.
Kathariner, L. 103. 104.
Keibel 348.
Keilin 335. 328. 332.
Keller 110. 120. 122.
Kent 44
Kent, Sav. 59.
Kerner v. Marilaun 525.
Kershaw 79.
King 302.
Kirby 163.
Kirkaldy 79.
Kittlitz, v. 91. ı
Klatt, B. 406. 420.
Klebs 433. 453. 454. 455.
456. 457. 458. 459. 461.
Kleinenberg 290. 291. 308.
545 546. 557.
Klingelhöffer 560.
Klinghardt 387.
Klunzinger 404.
Krnab) 32528302831: 339:
Knauer, F. 89. 194. 201.
Koch, W. 9. 12.
Köhler 271. 285.
Koelitz, W. 9. 12.
Kofoid 521.
Kohl 159. 170. 450.
Kohlbrugge, J. H. F. 489.
Kohlrausch 516.
Kolkwitz, R. 338.
Alphabetisches Namenregister.
Konow 148.
Korschelt, E. 12.
Korschelt 107. 121. 527.
Kostanecki 521.
Krämer 560.
Kranz 559.
Krapfenbauer 9.
Krapfenbauer, A. 12. 303.
Kükenthal 395. 400.
Külp 559.
Küster 212.
243.
248. 451. 559.
Kutter 303.
241. . 242.
Baamarck 493.
Lampe 559.
Landois 288.
Lang 521.
Lapieque 408. 413 420,
Latreille 147. 148. 151.
Latzin, Ph.. H. 318.
Laurent, L..10. 12.
Leeuwenhoek 41.
Leger 328. 329. 330.
Lehmann, ©. 517. 5
Lehmann 559.
Leiber, A. 9. 12
Leuckart, R. 60. 64.
Leuckart 326. 496.
Levadititi 288.
Levandovsky 90.
Lillie, R. 24.
Lindemuth 217.
Linden 387. 397, 400.
Lingelskeim 243,
Linne 251/252, 253, 256.
515:
Linsbauer, R. 450. *
v. Linstow 326.
Lipschütz, H. 343.
Lister 142.
Listing 515.
Loag, J. 528.
Loeb 37.
Löe: 409.
Loew 482, 483, 489,
Löwi 520.
Lohmann 340.
Longstaff 106.
Loos, K. 96.
Lubosch 422. 432. 490. 491,
492, 493. 494.
Luchsinger 471.
Lummer 516.
Lund, M. 91.
Lundegardh, H. 321. 322.
323.
Luther, A. 40.
33D.
18.
Mach, E. 513. 525.
Machida 498.
Mac Neal, W.J. 330.
Magnan 415. 420.
Magnus, W.451. 463. 464.
465. 466. 467. 469. 474.
Marchoux 326. 328. 331.
336.
Marschall, G. A. K. 73. 9.
Marshall, 523.
Mason, C. W. 98.
Massini 245.
Matthes 207.
Maurer 391. 392. 400.
Maxwell-Lefroy H. 98.
Maxwell 325.
MeAtee W. L. 96. 98.
MeCook 93.
de Meijere 391, 400.
Meinert 404.
Mendel 480.
Merk 521.
Meyer, Joh. 244.
Meyer, Fr. J. 385.
Meyer 395. 400.
Migula 482. 489.
Mjöberg 100.
Mohr, E. 251. 256.
Morris 202.
Mortensen 403. 404.
de Mortillet 521.
Müller, E. 420.
Müller, G. E. 188.
Müller, Herbert ©. 12.
Müller, J, W. 61. 64. 65.
Müller, Paul 10.
Müller 287. 288. :
Müller, W. 407. 409. 412.
420.
Müller 537. 539. 540.
Müller-Pouillet 516.
Muth 108. 121.
Nägeli 209. 210. 211. 324.
515. 519. 520.
Nagel 540. 541.
Naumann, E. 338.
Neugebauer 196.
Neumann 207.
Newell, W. 91.
Nilsson 251. 252. 256.
Nocht 287.
Nöller, W. 327. 330. 336.
Noorden 211.
Novy, F. G. 330. 336.
Nusbaum 11.
Nußbaum 290, 291, 303.
Odhner 313. 314.
Oefele 559.
Osborn 388. 391. 400.
Ostwald, Wolfgang 13.
Oswald 494.
32.
396.
Pankow 202. 203.204. 208.
209.
Parrot
420.
Pasteur 104, 516.
Patschovsky 481. 489,
Patton 330.
Pawlow 443.
Peckham 69. 81,
Penzoldt 368.
Pfaff 366.
Pfeffer 453. 488. 489. :
557.
Pflüger 193. 208.
Pierantoni 537.
Piotrowski 472.
Plehn 316. 317.
Poche, FE. 311. 317.
Poeoek;; R.7J;.;81...90. 91.
93. 100.
Poppelbaum 498.
Portier, Paul 103.
Portschinski 76. 404.
Poulton, E. B. 74. 76. 88.
Poulton 91.
Poulton, J. B. 99. 102.
Pressat 327.
Pressat, A. 336.
Prochnow, ©. 102.
Przibram 525.
Puschnig, R. 67.
Pütter 340. 341.
344. 407. 408.
522.
409. 415.
Rabl, Carl 37.
Radk?ar2 Dr;
Reichert, A. 96.
Rengger 100.
Renner, O. 479. !
Renning, H. 35.
Reusch 516.
Reuter, M. ©. 71. 83. 84. S6.
Rey, E. 96.
Rhumbler, L. 13. 522.
Ribbert 194.
Richet, Ch. 471.
Ridgway 313. 314. 318.
Rıß 558.
Römer 391. 400.
Rörig, G. 94. 96.
Roesel von Rosenhof 1. 12,
Rohwer 147.
Romanes 91. 465.
Rosmanil 128.
Ross, R. 329. 336.
Rothney St.
Roux 11. 318. 395. 400.
441. 442, 449.
Rubner 407. 420.
Ruge, R. 325. 336.
Rutot 428.
5. 49.
39%
Salimbeni 326. 328. 331.
336.
Sarasin. 387. 400.
Sehaudinn 519,
Schaxel 452.
Scheuring 283. 284.
Schewiakoff 42.
Schewiakoff, W. 59.
Schicekele 205. 206.
Schiefferdecker, P. 421. 432.
Schimkewitsch, W. 21.
Schimper 483. 489.
Schinz 110. 120.122.
Schmid, B. 559. 560.
Schmidt, Joh. 371. 373. 380.
383. 384.
Schmidt, W. J. 140. 143.
Schmiedeknecht, ©. 85. 146.
155. 158.
Schneider, K. ©. 521.
Seholz 159.
Schomburgk 100.
Schroeder, O. 45. 59.
Schuhmacher, S. v. 347.
Schulz, A. 111. 120.. 122.
Schulze, Paul 2.
Schuster, W. 96.
Schwendener 515. 519. 520.
Selater 91.
Seefelder 38.
Seiler 498.
Seitz, A; 90, ‚92,206. 211.
Sellheim 200. 206.
Semon 37. 187. 478.
Semper, M. 387. 400.
Sergent E.. 330. 336.
Shelford, R. 79. 81. 357.
Sherrington 463. 464. 465.
469. 474.
Sikora, H. 287: 537.
540.
Simon. S..444. 448. 451.
Simond 326. 328. 331.
Simond. P. L. 336.
Snell 415. 420.
Snoften 255.
Sommer 559.
Sommerfeld 516. 517.
Soret 493.
Spek, Josef 13. 23. 35.
Spemann, H. 6.
Spencer, Herbert 320.
Spengel 102.
- Sprecher 108. 109. 122.
Stark, J. 364. 366.
Steche, ©. 12.545.557.
Stein 47.
539:
Alphabetisches Namenregister.
Stein, Fr. 57. 59. 538.
Steinach 195. 196. 197. 198.
199. |
Steinach 211.
Steiner, G. 59. 273.
Steinmann 386.
Steinmann, G. 400.
Stellwaag 474. 475
Stempell, W. 327. 336.
Stiles, Ch. W.: 326. 336.
Stitz,.H. 71.86.87. 91.99,
100.
Stockard, Ch. 21.
Stöhr 392. 400.
Straßburger 109. 122.
Stresemann 387. 400.
Strindberg 535. 540.
Strohl 415. 420.
Stromer, E. v. 387. 400.
Struyks 105.
Stübe 559.
Study 513 514. 515.
Süring 559.
Sußdorf 560.
Swammerdamm 494.
496. 535.
Szily, v. 39.
Szymanski, J. S. 257. !
—
Tandler 512.
Taniguchi 206.
Tannreuther 545. 557.
Teiehmann 37. 187.
Teudt, H. 364. 365. 366.
‚367. 368. 369. 370.
Thore 254.
Timerding 560.
Timmann 421.
Tölg, F. 87. 361.
Toldt, K. 346. 347.
Tornier 396. 400.
Torrey, H. N.'330.
Tourneux 198.
Trembley, A. 1. 12. 46.59.
Tschernischoff 194.
Tyndall 368.
336.
Wexküll, v. 37. 466. 467.
Ungerer 437. 442. 444. 447.
450. 453.
Unterberger 202. 203.
Vas 207.
Velitz, v. 210.
Vertebraten 522.
Verworn 37. 187. 190. 321.
Viequ d’Azyr 490.
Viehmeyer 71.
Virchow, Hans 39.
Vöchting 444, 446, 448, 450.
451. f
Voeltzkow 143.
Vogel:'B. 339.
Volkelt 189.
Volta 366.
Vorländer 517.
Vorsteher 411. 412.
Vosseler, J. 70. 75. 80. 90.
102.
Wachs, Horst 1
Wager 546.
Wager, Th. 557.
Wallace, A. R 68.
Wallace 387. 400.
Wallerant 517.
Wasmann, E. 37. 6b. 72.77.
86. 87. 91. 187. 190. 191.
304. 307.:308. 363.
Weber 197.
Weber, H. 523.
Weber, M. 348. 350.
400 \
Wehmer 482. 489.
Weinland 270. 286.
Weir J. Jenner 90.
Welcker-Brandt 421.
Wellmer 328. 336.
Wenzel, F. 365.
Westergaard, Ü.
Wheeler 87.
Wiedersheim 392. 400.
Wiener 516.
Wierzejski 521.
Wilhelmi, J. 527.
Willem 543.
Winkler 240.
Winkler H. 444. 448.
451.
Winterstein 140. 266.
Woodeock, H. M. 330.
Woodruff 25.
Wülker 559.
Wung 540. 543.
Zander 166.
Zıederbauer
Zell 370.
Ziegler 37.
Zoja, R. 12.
Zur Straßen, Otto 64. 522
525. ;
Zwaardemaker
368.
392.
122.
105.
450.
os
390. 399. 400.
365. 366.
Alphabetisches Sachregister.
Aal 371.
Aalmutter 371.
Abdomen, Geschlechtsdifferenzierung 507.
Abstammung, polyphyletische 386..
Absterbeordnung 109. >
Abutilon 217. 244 250.
Abwehrfermente 443.
Acer eompestre 248.
Acer negundo 218. 229. 235
Acer pseudoplatanus var.
247..249.
Acheuleen 428.
Acineten 50
Aeculeata 151.
Adaptation 281.
Adrenalin 205.
Affen 100.
Afteröffnung, Verschließung der 151
Agamomermis 326.
Ayave 226.
Agenia 81.
Agriotypiden 159.
Ahnlichkeit, äußerliche 391.
Akademiestreit von 1830 489.
Algen 337.
Alytiden 71.
Ameisen 66. 158. 161.
Ameisenbiologie 303.
Ameisendrosseln 91.
Ameisenfeinde 85.
Ameisenfressende Wirbeltiere 89.
Ameisenmimikry 65.
Ameisenpsychologie 35. 187.
Ameisen in Vogelmägen 95.
Amphibienembry yo 6.
Amphibien, Nahrung 89.
Amphileptus 50.
Ammophila 94.
Amyciaea 71. 79.
Andrena 359.
Andrenidae 163. 166. 180.
Anemone hepatica 529.
Angepaßtheit 433
Anobium, Pilze in 537.
Anopheles 325.
Anpassung 433.
Anpassung, convergente 388.
Anpassungen, morphologische 440.
Anpassung, parallele 388.
250.
Antennen, Geschlechtsdifferenzierung 507.
Anthiciden 76.
Anthophora 358.
Anthophysa 44.
Anthropologie 431.
Antrieb 257.
Apanteles 77.
Leopoldii
Aphaenogaster 87.
Aphantochilus 1.
Aphelenchus 60
Aphiochaeta 332.
Aphodıus 61.
Apidae 169.
Apididae 181.
Apidina 160. 162.
Apoerita 146. 174.
Apuxs 42.
Arabis 238.
Arachniden (Mimikry) 68. 69.
Araneiden 70.
Araneus 356.
Argiope 357.
Argiopiden 70.
Artbildung, bei Salix 479.
Arthbropoden, Sinnesorgane 266.
Artzelle 322.
Asiliden, Nahrung 88.
Asterias-Larven 23.
Astylozoon 58.
Atombeseelung 36.
Attiden 6).
Aufgußtierchen 41.
Auge, Entwicklung 57.
Ausgleichpripzipe 318.
Ausstülpurgen, Entstehung von 15.
Avitaminosen 103.
Beacillus extorquens, Oxolate 483.
Bachstelze 44.
Bacterium coli mutabile 245.
Balaenoptera 388.
Befruchtung 24.
Bembeciden 160.
Bembecidae 159.
Bembex 84.
Bethylidae 117.
Bethyliden 77, 156,
Bienen 158. 354.
Bienen, Brutwaben 95.
Biene, Farbensinn 122. 281.
Bienenlarve, Chitinabsonderung 95.
Bienenlarven, Spinndrüsen 496.
Biene, als Nahrung 89.
Bienen. Phylogenie 145.
Biene, Puppenhäuschen 494.
Bienenstaat 169.
Bittacus SB.
Blasenmole 208.
Blastula-Modell 14.
Blattiden, Symbionten 537.
Blütenfarbenvariationen 533. 534.
Blätter, Schraubungserscheinung 520.
Blätter, weißrandige 212.
EN RLSEN PORBEN | a 2 eh bh: Rn a
»66 Alphabetisches Sachregister.
Blattwespen 148.
Blumenfarben 282.
Bockkäter 66.
Bombus 356. 497.
Braconidae 176.
Braconiden 155.
Branchipus 42. 280.
Brassica oleracea 218. 237.
Brustdrüse 194.
Bufo 401.
Buntblättrigkeit. 212.
Buprestidae 84.
Buxus marginatus 218.
Caleiumsalze bei Lithiumlarven 22.
(amponotidea 72.
Camponotus 73. 76. 87.
Camponotus, Mycetocyten 536.
(Cancer, Ganglion cerebrale 472.
Canephorula 168.
Cantalien 425.
Capsiden 71.
Castaneira 71.
Caulleryella 331.
Caulleryellidae 328.
Centralnervensystem 462.
Cephalisation 415.
Cephalocoema 75.
Cephalopodenauge 38.
Cephidae 174.
Cephiden 148.
Ceratophyllum, Oxalsäurewirkung 486.
Oerceris 84.
Cerebroside 16.
Cetonia 83.
Chaleididae 175.
Chaleididen 77. 155.
Chaleura 87.
Chironectes 388.
Chsronomus 10.
Chlamylomonas 341.
Chlorella 246.
Chlorkalzium und Zellteilung 33
Chlorophytum 233.
Chlorophytum capense 226.
Chlorose 211.
Chorda, quellende Stoffe 17.
Chorioidealgefäße 39.
CUhromatophoren 140.
Chrysididae 177.
Chrysididen 156:
Chrysomeliden 84.
Cieindela 75.
Ciliarkörper des Auges 38.
Uimbıicidae 173.
Ciona 470.
Oleptidae 177.
Cleptiden 157.
Olerus 76.
Clivia 218.
Clubioniden 69.
Colletidae 163. 180.
Colloide, Quellung 13.
Colobom 40.
Condytarthren 397.
Oonvoluta, symbiotische Algen 538.
Coreiden 72.
Cornus alba 218. 231.
Corpus luteum 211.
Convergenz 397.
Corynura 165.
Crabronidae 184.
Crabroniden 85.
Cremastogaster 76.
Crithidia 329.
Urabro 497.
Crustaceen, Wirkung der Granglien 471.
Culex 326.
Oulicada 326.
Ouliseta 327.
Cynipidae nr
Cynipiden. 77..155. 156.
Lytisus Am 240.
Dauerformen 57.
Detritus 343.
Diffusionskoeffizienten 368.
Dinetus 85.
Dinophrlus 107.
Diplacus 72.
Diploeystis 328.
Diplocnemata 158. 169.
Dipus 389.
Distoma 325. !
Dolichoderinae 78.
Dracarna Santeri 218.
Drehpunkt bei der Entwicklung der
Intersexualität 506.
Dressur auf Farben 281.
Drüse, interstitielle 198.
Drüsen mit innerer Sekretion 205.
Duftstoffe 369.
Dulichius 72.
Durchlässigkeitsanpassungen 437.
Echinodermenkeime unter abnormen Be-
dingungen 455.
Eeiton 71.
Edentaten 82.
Eidechsen, Nahrung 89.
Eierstock 193.
Eierstockdrüse, interstitielle 211.
Eierstock, Einfluß aufdieGebärmutter 203.
Eierstock, gerinnungshemmende Wirkung
208.
Eierstock, Transplantation 194.
Eierstocktätigkeit, Ausfall der 201.-
Eierstock, Umwandlung in Hoden 50.
Eierstock, Wirkung auf Blutdruck 205.
Eierstock, Wirkung auf die Knochen-
bildung 216.
Eigenduft 370.
Eigenfunktion 434.
- Einrichtungen, fremddienlich-zweck-
mäßige 451,
nl ah ı 0 Ir Fat u u a5 ne Chen nun nn a Co u n
REN TEUER
Meraketlcher Sachregister. | 567
Einstülpungen, Entstehung von 15.
Elasmosoma 87.
Electronen 364.
Elefant, indischer,
Ellritze 138. 265.
Elodea, Oxalsäurewirkung 5. 483.
Elytren (der Käfer) 474.
Enzystierung 47.
Enzystierung (bei Vorticelliden) 47.
Engystomiden, Nahrung 59.
Entelechie 455.
Entfernungslokalisation 283.
Entwicklung, gleichgerichtete 385.
Entwicklung, Schrauubngserscheinungen
520:
Entwicklungskorrelatiönen 40.
Enzyme und Erbfaktoren 511.
Eolithen 425.
Epeira 354.
Epistylis 43. 50.
Erfolgsorgane 462.
Erieydnus 7%.
Eristalis 102.
Eristalis, Mimikry 353. 362.
Eucerini 168.
Eucharis 87.
Eumenes, 171.
Eupelminus 77.
Eupelmus 77.
Euryecorypha 76.
Evanvidae 175.
Evaniiden 149. 155.
Evonymus japonica 234.
Evonymus radicans 230.
Exogastrulation 21.
Rüsselbehaarung 351.
Kaltenwespen 84. 171.
Fangheuschrecken 74.
Farbenblindheit 281.
Farbenblindheit, totale 123.
Farbensehen 122.
Farbensehen der Tiere 281.
Farfugium argenteum marginatum 218.
Farnprothallien 454.
Federn 391.
Fermente, proteolytische 195.
Ferngeruch 35.
Fertonius S6.
Ficalbia 328.
Filzlaus 287.
Fische 371.
Fische, Chromatophoren 140.
Fische, Farbensinn 137.
Fischrasse 380.
Flagellaten 329. 342.
Fledermäuse, Parasiten der 326.
Fliege268. 279.
Flügelgeäder (bei Hymenopteren) 166.
Flug, der Käfer 474.
Flunder 371.
Flußpferd, Haare 349.
Flußpferd, Hautdrüsen 350.
Flußpferd, Integument 346.
Flußpferd, Körperhaut 348.
Flußpferd, Lippen 347.
Flußpferd, Zitzen 348.
Formica 69.
Formica fusca L. 304. 305.
Formica fusca, Pilze im Fettgewebe 536.
Formica, Koloniegründung 305.
Formica pratensis 307.
Formica rufibarbis 305.
Formica sanguwinea 309.
Formicidae 179.
Formicina 71. 160.
Formicomus 76.
Formiecoris 72.
Forschung, biometrische 534
Fruchtstände, Schraubungserscheinungen
520.
Fuchsia globosa 218.
Funaria, Oxalsäurewirkung 484.
Fundulus-Entwicklung in Lithiumsee-
wasser 22.
Funktion, harmonische 434.
Funkia 226.
Funkia lancifolia 233.
@aleodes 361.
Galeopithecus 388.
Gartengrasmücke 404.
Gastropoden, Leberanlage 17.
Gastrostyla 25.
Gastrulainvagination 19.
- Gebärmutter 193.
Gehirn bei Vögel und Säuger 393.
Gehirnresiduen 190.
Gehörsteine, Jahresringe der 372.
Geiselbewegung, Schraubungserschei-
nungen 521.
Gelbfiebermücke 326.
Gelenkflächen,Schraubungserscheinungen
523.
(Generationswechsel 317.
Geruchstheorie 364.
Geschlechter, Absterbeordnung 105.
Geschlechtscharaktere, sekundäre 512.
Geschlechtsbestimmung 498.
Geschlechtsdrüsen, Dedifferenzierung 507.
Geschlechtsfaktoren, Wesen der 511.
Gewebsadaptationen 444.
Geweihe, Schraubungserscheinungen 522.
Gonatopus 77.
Grabwespen 81. 158. 169.
* Gregarinen 327.
Grillen 74.
Gynandromorphismus 498.
Haare 391.
Haematopinus 287.
Haematopinus-Mycetom 536.
Hahnenfederigkeit 200.
Halietidae 165. 180.
Halietiden 165.
568 Alphabetisches Sachregister.
Halietus 359.
Halitherium 388.
Halteren 268.
Haltieinen 84.
Halsring, weißer bei Vögeln 389.
Hanf 121.
Hanf, Sterblichkeit der beiden Geschlechter
107.
Haplocnemata 158.
Harmonie 442.
Harpagoxenus sublaevis >10.
Hautdrüsen 431.
Hautflügler 145.
Hautlichtsinn- 540.
Hel x 470.
Helix, Lichtsinn 540.
Hemianopsie 40.
Hemipteren, Mimikry 68.
Hemipteren, Symbionten 537.
Hemiuıidae 314. |
Hemmungszentren 469.
Hering 371. 380.
Hermaphroditismus 196.
Herold’sches Organ 508.
Herpetomonas 329.
Herzgewichte 406.
Herz bei Warmblütern 392.
Heteronotus 74.
Heterotrophie 338.
Heuinfus 26.
Heuschreckenplage 528.
Hibiscus Cooperi 224.
Hippopotamus 346.
Hirngewicht 408. 413.
Hirschkäfer 83.
Hochzeitsflüge 305.
Holothurien, Tonus 468.
Holzwespen 148,
Homo heidelbergensis 428.
Homologielehre 490.
‚Homopteren 74.
. Homöogenesis 385.
Homöothermie 392.
Hortensia 250.
Hostia japonica 233.
Hufe (Flußpferd) 348.
Hummeln 169.
Hydra, Abnormitäten 9.
Hydra, Eibildung 545.
Hydra, Entodermale Verdauung 553.
Hydra fusca 2. 289.
Hydra, Hoden 290.
Hydra, Längsteilung 1.
Hydra, Ovarien 544,
Hydra, Pseudozeilen 546. 552.
Hydra, Querteilung 10.
Hydra, Regeneration 292.
Hydra, Regeneration und Eibildung 546.
Hydra, Selbstverdauung 297.
Hydra viridis 9.
Hydra, zweiköpfig 301.
Hydrachniden 330.
Hydrangea 249, 250.
Hylobius 64.
Hymenopteren 145.
Hymenoptera 173.
Hymenopteren, Flügelbildung 153.
Hymenopteren, stechende 352.
Ichneumonidae 176.
Ichneumoniden 77. 151. 155.
Ildibaha 70.
Ilex aquifolium 226. 229. 233.
Individualgedächtnis 189.
Infusorien, Teilungsgeschwindigkeit 25.
Insektensymbionten 535.
Intersexualität 498.
Intersexualität, Zeitgesetz der 506.
Inzucht 304. |
Ips 64.
Johnston’sches Organ 274.
Käfer 76. 274. ,
Käfer, Elytren und Flug 474.
Kaliumchlorid und Zellteilung 31.
Kaliumsalze 17.
Kalziumoxalat 481.
Kastration 194.
Kastration, Wirkung auf Fettansatz 204.
Kastration, Wirkung auf das Gefäß-
nervensystem 205.
Katze 259.
Kaumuskeln 421.
Keimdrüsen, innere Sekretion 195.
Kephalopoden Schraubungserscheinungen
521.
Kernmasse, relative bei Muskelfasern 430.
Kleintiere 423.
Knollengewächse 444.
Kolibri 31.
Kolloide, Quellung, Wirkung von Säuren
und Alkalien dabei 19.
Konowiella 162.
Konstitution 432.
Kopflaus 287.
Kopulationsorgane,
änderungen 508.
Krabbenspinnen 358.
Krebse 270.
Krebse, Heterochelie 523.
Küchenschabe 265.
Kukuksbienen 163.
intersexuelle Ver-
Lactosevergärung 245.
Lasaeola 79.
Laseola XV.
Lasius 72, 87.
Lasius fuliginosus 305.
Lasius umbratus 305.
Läusearten 287.
Laterigraden 70.
Laubheuschrecken 74.
Lautsprache der Tiere 425.
u er et
EUER EU WEN
hen. Theorie des 318.
Lebensbedingungen, äußere, Einfluß der
380.
Lebensdauer
Tieren 107,
Leber, quellende Stoffe 16.
Lebistes 380.
Leeithin 16.
Leeithodendrium 326.
Legimmen 152.
Leptomonas 330.
Leptomysis 273.
beider Geschlechter bei
. Lerngeschwindigkeit 264.
Libellen, Nahrung 85.
Lichtrückenreflex 275.
Lichtsinn der Heliciden 540.
Ligustrum ovalıfolium 223. 234.
Lımnaeus 326.
Linkshändigkeit 523.
Liometopum 86
Lipoidgehalt der Zellmembranen 29.
Lithiumbromid 29.
Lithiumchlorid 26.
Lithiumion u. Zellteilung 26.
Lithiumlarven 20.
Lithiumsulfat 29.
Lokalformen 371. 373. 384.
Lokalformen, Konstanz der 376.
Lophyrus 77.
Lucanus! 83.
Lucilia, als Parasit 401.
Lycosa 359.
Lygaeiden 71.
Lymantria 498.
Macropus 389.
' Magenscheibe 287.
Magnesiummangel im Seewasser 23.
Maikäfer, Flug 475
Maikäfer, Gewichte 477.
Makronten 46.
Manatus 349.
Mandrill, M. masseter 427.
Masaridae 171. 180.
Maulwurf 198.
Maus, weiße 103. 264.
Medullarplatte 6:
Meersaurier 386.
Megachile 359.
Megachilidae 165. 182.
Megapetus 73.
Melandrium 109. 121.
Melanophoren 140.
Melipona 169, 497.
Membraeiden SO.
Menopause 194.
Mensch, Ameisenverzehrer 100.
Menstruation 193.
Menstruationsblutungen 203.
Menstruation u. Eierstöcke 200.
Mesophyll 213.
Mermis 326.
Alphabetisches Sachregister. 569
Messor barbarus 309.
Methoca 161.
Micaria 69.
Mictis 72.
Mikrogonidien 58.
Mikronten 45.
Mikryphantiden 70.
Milben 330.
Mimikry 65. 352. 385.
Mimocoris 71.
Mira \%.
Misumena 358.
Mneme 37. 187.
Mninm, Oxalsäurewirkung 484.
Moehringia trinervia 238.
Moose, Oxalsäurewirkung 484.
Moosprotonema Oxalsäurewirkung 487.
Motacilla 404.
Muscheln, Schraubungserscheinungen
521.
Musculus masseter 421.
Museulus temporalis 429.
Muskelfaserarten 421.
Muskel, quellende Stoffe 17.
Muskelsinn 463.
Mutation 245.
Mutilla 83. 361.
Mutillen 158.
Mutillidae 179.
Mutilliden 161.
Mycetom bei Pedikuliden 536.
Mycetome 287.
Myelin 17.
Myrmarachne 69.
Mymariden 155.
Myrmecia 87.
Myrmecium 69.
Myrmecoeystus 87.
Myrmecophana 75.
Myrmecophyes 22,
Myrmecoris 72.
Myrmegryllus 75.
Myrmekoidie metöke, synöke 65. 67.
Myrmeleon 88.
Myrmica 86.
Myrmica rubida 310.
Myrmica scabrinodis 305.
Myrmoplasta 72.
Myrmosa 161.
Myzinen 161.
Nabelschnur 348.
Nabelschnurarterien,
Nabis 72.
scheinungen 522.
Nahgeruch 35.
Nährpolyp (bei Hydrozoen und RUND:
phoren) 56.
Nashoın 390.
Nashornkäfer 390.
Nasturtium, Oxalsäurewirkung 486.
Natriumchlorid und Zellteilung 31,
Schraubungser-
570
Natriumsalze 17.
Natriumsulfat und Zellteilung 32.
Nebenwurzeln, Plagiotropie 557.
Nebenwurzein, Reizbewegungen 557.
Nematoden 326.
Nematoden, Oystenbildung 59.
Nematoden, in der Haut des Flußpferdes
aa
Neoponera 71.
Nephila 357.
Niedere Tiere, Nervennetze 465.
Neubildungen, pathologische Quellende
Substanzen in 18.
Neutralsalze, Wirkung auf
Quellung 19.
Nicotiana gigantea 218.
Nomadidae 163. 182.
Nomiini 164.
Nosema 326.
Kolloid-
Oberflächengesetz 406.
Ocellenfunktion 283.
Odynerus 356.
Oeeodoma 74.
Oecophylla 71. 79.
Ophioglypha 466.
Orasema 87.
Orientierung 277.
Oriolus 387.
Orthopteren 74. 148.
Orthopteren (Mimikry) 68.
Oryssidae 176.
Oryssiden 156.
Osmose 438.
Osteomalacie 204. 206.
Ovarienreduktion bei Hydra 547.
Ovidukt bei Cephalopoden 393.
Ovotestis 196. 148.
Oxalsäurebildung in der Pflanze 481.
Oxybelus 84.
Pachycondyla 69.
Pachylomma 87.
Pa'aemon 273.
Paludina fasciata 17.
Pamphiliidae 174.
Pamphiliden 148.
Panaschierung 212.
Panaschierung, Inversion der 233.
Panorpa 88.
Panurgidae 166.
Papierameise 71.
Paramaecıum caudatum, Zellteilung 25.
Parasitica 151.
Parasitismus 313.
Parthenogenese, künstliche 24.
Peckhamia 69.
Pedalganglien bei Schnecken 468.
Pedieuliden, Magenscheibe 535.
Pedieuliden, Symbiose mit
Pflanzen 535,
niederen
Alphabetisches Sachregister.
EN A I
Pediculinen 287.
Pelaryonium zonale, Panaschierung 213.
227. 234, 236.
Peleziniden 156.
Pelezinidae 176.
Pelmatohydra oligactis 2.
Pelopoeus 81.
Pemphredon 84.
Periklinalchimären 240.
Peziza, Kalziumoxalatbildung 488.
Pezomachus 77.
Pflanzen-Gallen 451.
Pflanzen, Kalziumoxalat 481.
Pflanzen, niedere, Symbiose mit Pedi-
euliden 535. i
Pfrille 138.
Pheidole 87.
Philanthus 55.
Philenion 387.
Phototropismus 266.
Phrurolithus 71.
Phthyrius, Mycetom 536.
Phylloseirtus 75.
Physa, Schraubungserscheinung 521.
Phytoptagen 151.
Pigmentzellen 140.
Pilophorus 72.
Plagiolepis pygmaea 305.
Planorbis, Schraubungserscheinungen
521.
Plectus 60.
Pleometrose 304.
Pluripotenz 389.
Podaliriini 168.
Polistes 357.
Polyplax 287.
Polyplax, Symbionten 537.
Polyrhachis 72.
Pompilidae 84.
Pompiliden 158.
Pompilus 81. 356.
Prioenemis 81.
Protoeces 314.
Protocalliphora 404.
Proctotrupidae 177.
Proctotrupiden 77. 156.
Prosopis 166.
Protanope 125.
Protozoen parasitische 326.
Psammocharidae 185.
Psammochariden 158. 170.
Psammophila. 160.
Psen 84
Pseudogynen 308.
Pseudomimikry 80.
Psithyrus 361.
Pteropoden, Schraubungserscheinungen
521.
Pubertätsdrüse 197. 211.
Pyriglena 91.
Pyrrhocoriden 72.
Pyrrhocoris 80. 93.
°
@uellung der Kolloide 24.
Quellungsreihe der Ionen 19.
Quellungsreihen 24.
Rana fusca, Lokalrassen 40.
Rana, Pigment 140.
Rasenaufgüsse 41.
Rassendüfte 369.
Rassenuntersuchungen 371.
Ratte, weiße 259.
Raubinsekten 88.
Raubwespen 81. 84.
Räumliches Sehen 36.
Raumorientierung 283.
Rechtsdrehung 514.
Rechtshändigkeit 523.
Reduviolus 72.
Reflexumkehr 257.
Regeneration und Nahrungsmaterial 302.
Regenwurm, zentrales Nervensystem 473.
Regulationen 454.
Reize, formative 441. 451.
Rentier, Knacken beim 231.
Reptilien, Nahrung 9.
Reptilien, Chromatophoren 140.
Restitution 434.
Retina 39.
Retinaanlage 37.
Rhabditis, Verpuppung 59.
Rhodanion und Zellteilung 28.
Rhythmik, pflanzliche und äußere Be-
dingungen 453.
Rhythmus 433. 452.
Riptortus 73. 79.
Rotgrünblindheit 125.
Rubus 233.
Rückbildung 7.
Rumex 248.
SO,-Ion 30.
Salamandra, Retina 39.
Salix, Evolution 479.
Salix, Variabilität 479.
Saltieiden 69.
Salticus 70.
Salzgehalt des Meerwassers, Einfluß auf
Lokalrassen 380.
Sambueus 250.
Sambuceus nigra 225.
Sandwespen 169.
Sapyga 161.
Sabygidae 178.
Sapygiden 158.
Säuger 385.
Säugerherzgewichte 410.
Säugetiere, ameisenfressende 99.
Sauropsiden 391.
Saxifraga sarmentosa 219.
Schizogregarinen 331.
Schlingpflanzen, Schraubenbewegung 519.
Schlupfwespen 77. 87. 155.
Schmetterlingsraupen 76.
Alphabetisches Sachregister.
K ze
Schnecken, Ganglien 467.
Schnecken, Schraubungserscheinungen
520. j
Scholle 371. 380.
Schraubungsprinzip 519.
Schuppen 392.
Schwammspinner, Rassen 49S.
Schweinelaus 287.
Schwinger 268.
Scolia. 83 361.
Seoliidae 178.
Seoliiden 158. 161.
Sebastes 371.
Sekretion, Innere 193.
Seebarsch 198.
Seeigellarvenentwicklung bei verschiede-
nen Salzlösungen 20.
Seeigellarven, Lithiumwirkung 19.
Sehen der Insekten 35.
Seitensprosse, geotropisches
der 557.
Selbstregulation 318.
Selbsttätigkeiten 318.
Sinne, innere 423.
Sinnesorgane 266.
Sirene 347.
Sirieidae 174.
Sirieiden 150.
Sitodrepa, Pilze in 537.
Solaneen besuchende Käfer 84.
Solanum Balbisii 220. 238.
Solanum duleamara 218.
Solenopsia 77.
Spektrum, Helligkeitsverteilung darin 123.
Spelle 238.
Siphaerophrya 50.
Siphecotypus 70.
Sphegidae 183.
Sphegiden 149. 158.
Sphegidina 169.
Sphekoidie 66. 352.
Sphex 84.
Spiniger 81.
Spinne gegen Biene 283.
Spinnen 81. 352.
Spiraea Bumalda 220. 240.
Spirillen, Schraubenbewegung 519.
Spirochaeta 330.
Spirochaete, Schraubenbewegung 519.
Spirogyra, Oxolatgehalt 482.
Spirogyra, Oxalsäurewirkung 487.
Sprache, menschliche 425.
Sprachmuskeln 421.
Springreflex 274.
Sprott 371.
Stammesgeschichte 145.
Statistische Organe 270.
Stauropus 76.
Steatoda 362.
Stechimmen 152. 352.
Stechmückenlarven, Parasiten der 325.
Verhalten
Stegomyia 326.
572
Stephaniden 155. 156.
Stephanidae 175.
Sterblichkeit der beiden Geschlechter 105.
Stilbula 87.
Stoffe, quellbare 16.
Statocystenentwicklung bei Cephalopoden
>31:
Strophoplast 526.
Struktur 455.
Sulfatmangel im Seewasser 23.
Sylvia 404.
Symbiose 535.
Symphyta 146. 173.
Synageles 69.
Synemosyna 69.
Syngnathus 380.
Systellonotus 72.
Systematische Gruppen, Definieren der311..
System, harmonisch-äquipotentielles 449.
Systylis 41.
Tachytes 81.
Tapinoma 86.
Taube 103.
Teichnannoplankton 337.
Teilung, inäquale 53. 241.
Telepathie 192
Temperatur, Einfluß auf Lokalrassen 381.
Tenthredinidae 173.
Tenthrediniden 150.
Tergestia 314.
Tetramopria 77,
Thargalia 71.
Thekaluteinzellen 211.
Thelohania 327.
Theridiiden 70.
Theridium 363.
Thigmomorphose 7.
Thigmotropismus 260.
Thomisiden 79.
Thomisus 358.
Thynnidae 178.
Thynniden 161.
Tiefseetiere 398.
Tierpsychologie 35. 187.
Tiphia 84,
Tonus 465. 468.
Tonus, viskosoider 468.
Tonwerkzeuge bei Vogel und Säuger 395.
Trachelius 50.
Tradescantia, Oxalsäurewirkung 483.
Tradescantia zebrina 241.
Transspiration (der Pflanzen) 440.
Transversion 389.
Trematoden 325.
Triaranea 362.
Trigona »57.
Trigonalidae 175.
Trigonaliden 155.
Trinia glauca 105.
Tropismen 266. 278
Trupoxylon S1.
Turbellaren 317.
Turdus 401.
Alphabetisches Sachregister. | x
- Turgescenz 457.
" Tylenchus 60.
Tutelina 71.
Überschläge 389.
Ulmus 226.
Ulmus campestris 231. 249. 250.
ee tion bei der Intersexualität
Umstimmung 257.
Urbiene 166.
Vallisneria, Oxalsäurewirkung 483.
Variabilität 390.
Variationen 529.
Vaucheria, Oxalate 482.
Vaucheria, Oxalsäurewirkung 487.
Vegetationspunkt 214.
Vererbung 187. 378. 382. 479.
Vererbung erworbener Eigenschaften 432.
Verpuppung, bei Nematoden 59.
V De Schraubungserscheinungen
522.
Vespa 356.
Vespidae 185.
Vespina 169.
Vibrionen, Schraubenbewegung 519.
Vitalismus 440. 445. 455. 460
Vitamin 103.
Vögel 385.
Vögel, ameisenfressende 90. 95.
Vögel, Magen- und Kropfinhalte 94.
Vogelherzgewichte 410.
Vorticelliden 41. 331.
Waltiere 386.
Walzenspinnen 361.
Wanderheuschrecke 528.
Wanzen, ameisenähnliche 71.
Warmblütigkeit 392.
Weberscher Finkenhermaphrodit 197.
Weinbergschnecke, Lichtsinn 540.
Weißkohl, panaschiert 237.
Wespen 158.
Wespenmimikry 66.
Willkürliche Entw icklungsänderungen
453.
Wirbeltierauge 37.
Wirbeltiere, Bewegungsapparat 463.
Wolfsspinne 359.
Xiphydriidae 174.
Xyelidae 174.
Xylocopa 361.
Xylocopini 168.
Zellkern, Schraubungserscheinung 521.
Zellteilung 23.
Zellteilung abhängig von Wasserabsorp-
tion 25.
Zellteilung und Volumvergrößerung 24.
Zikaden 74. 77
Zoarces 371. 380. 383.
Zoologie, angewandte 527.
Zoopl ankton 342.
Zoothamnium 44. 46. 57.
Zystenbildung, bei Nematoden 5).
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