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Full text of "Biologisches Zentralblatt"

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Begründet von J. Rosenthal 


Unter Mitwirkung von 


Dr.:R. Goebel und®\ Dr. .R./Hiertwig 


Prof. der Botanik Prof. der Zoologie 
in München 


herausgegeben von 


Dr. E. Weinland 


Professor der Physiologie in Erlangen 


. Neununddreissigster Band 


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Mit ı20o Abbildungen u. 37 Tabellen 


ee — CH 


Leipzig 1919 


Verlag von Georg Thieme. 









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B. Hof- & Universitäts-Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen 
















Inhaltsübersicht 
des 
neununddreissigsten Bandes. 


0 = Original; nd — Referat. 


2 Seite 
Alverdes, F. Die gleichgerichtete stammesgeschichtliche Entwicklung der 
Vögel und Säugetiere. OÖ . SIEBEN. HEN U) RS HR RO ner 

Arnhart, L. Das Puppenhäuschen an Hocsbiene IT A I 


Bi. Bücher, H., Bauer, V., Bredemann, G., Fickendey, E, la Baume, 
/ W., und Loag, J. Die Heuschreckenplage und ihre Bekämpfung. R 528 
Buchner, P. Zur Kenntnis der Symbiose niederer en Organismen 


mit Pedikuliden. 0 . BAER TERN N RN ONE a JA UN ES 53 
Börner, ©. Srergrchichib der Hantfüster RR TER ET LA 
Bresslau, E. Systylis Hoffi n. gen. n. spec., eine neue VoReTkdd ON NER 


R Bresslau, E. u. Buschkiel, M. Die Parasiten der Stechmückenlarven. O0 325 
Correns, C. Die Absterbeordnung der beiden Geschlechter einer getrennt- 


geschlechtigen Doldenpflanze (Trinia glauca). O . EL ROH 

Demoll, R. Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock. wi I: 4266 
De al R. Die Bedeutung der Elytren der Käfer für den Flug. o Ne 
 Dries ch, H. Studien über Anpassung und Rhythmus. O0... ....2...433 
Duncker, G. Joh. Schmidt’s Rassenuntersuchungen an Fischen. O0. . . 371 
7  Emmelius, C Beiträge zur Biologie einiger Ameisenarten. O0. . . ....308 
EEorel, A.‘ Entgesnung. ,O . ... a". RGESRHEO TE SB MAR N ANN DET VE MR 160 
Frangu&, ©. v. Innere Sekretion des Biertoske 0 RR ERENTO RER RAN NEN 3" 
Franz, V. Lichtsinnversuche an Schnecken. 0 . . ... SE De RN 
Frisch, K v. Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Biäneh! 0% 122 
lei. S. Über die Entstehung von Variationen bei Anemone PER 0 529 
 @oetsch, W. Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. O. . 289 
Goetsch, Wilh. Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 2. Teil. 0 544 
- Goldschmidt, R. Intersexualität und Geschlechtsbestimmung. O0 . . . 498 
_ Günther, H. Das Schraubungsprinzip in der Natur. O . . 513 


 Heikertinger, F. Versuche und Freilandforschungen zur Ahr hg Do 
| Thesen OA BEE EN BON A ENTE LE N Dis DE 


Y 
Bi Heikertinger, Fr. 3#Die nette Mahekacker RE RUN AL RL N 6D 
N Heller, H. Über die Geruchstheorie von Teud. O0... 2 .2..2..2.2...864 
enning, H, Forel’s Zugeständnisse an die Tierpsychologie. 0. . . .. 3 
Henning, H. Mnemelehre oder Tierpsychologgie? O0 . . . IS EEG 
 Heribert- Nilsson, N. Experimentelle Studien über Narabiktät ba, 
tung, Artbildung und Evolution in der Gattung Salix. R. 479 


! 6388 


IV Inhaltsübersicht. 


Hesse, E. Lueilia als Schmarotzer. O BEE, ; ib 

Jordan, H. Die Phylogenese der Leistungen des een Rn. ER 0 

Kathariner, L Das Vitamin ein Mikroorganismus? A \ 

Klatt, B. Zur Methodik  vergleichender metrischer a 2 onders 
des Herzgewichtes” O0. 

Kohlbrugge, J. H. F. Der Akademstfeik im Jahre 1830, de as 
enden wird. O 

Küster, E. Über weißrandige Blätter und under Hormen dr Buntblättrig- 
a ON; : : 

Batzin »PhH. ‚Die Rolle = A na in der Theorie des hans 0) 

Lundegärdh, H. Die Ursachen der Plagiotropie und die Reizbewegungen 
der Nebenwurzeln. Derselbe. Das geotropische Verhalten der Seiten- 
sprosse. BR. a RER AN a URS A EN Eee 

Luther, A. Über Entwicklungskorrelationen und Lokalrassen bei Rana 
fusca. R RE SR ET 

Mohr, E. Nochmals über dir "lKhpekenk Main Rener. 0. 

Naumann, E. Beiträge zur Kenntnis des Teichnannoplanktons. O 

Patschovsky, N. Über eine Möglichkeit des außernormalen Entstehens von 
pflanzlichem Kalziumoxalat. O BORE, SR: 

Poche, F. Über das Definieren der ai hstehin Aruppeci (0) BRD 

Rabl, ©. Über die bilaterale oder nasotemporale Symmetrie des Wirbel- 
tierauges. R NEUN SSH DERSEL AUT WEG RAU LG DER EL Namen Ges rnhlen 

Schiefferdecker, P. Über die Differenzierung der tierischen Kaumuskeln 
zu nn kchen Sprachmuskeln. ©. k 

Schmid, Bastian. Deutsche Naturwissenschaft, Technik Ad Erfindung 
im Weltkriege. R 5 

Schmidt, W. J. Vollzieht ch Ball nd ron de ee in 
den Melanophoren von Kana nach Art amöboider Beweguugen oder 
durch intrazelluläre Körnchenströmung? O0 SL A 

Sikora, H. Vorläufige Mitteilung über Mycetome bei Pedienlinen, 0) 

Spek, J. Studien über den Mechanismus der Gastrulainvagination. O0 

Spek, J. Experimentelle Beiträge zur Physiologie der Zellteilung. O. 


Steiner, G. Bemerkungen über die sogenannte Verpuppung der Rhabditis 


coaretata Leuckart und das Bilden von Zysten bei Nematoden über- 
haupt. O r 
Szymanski, J. S. Über eh Aisch; o Bun Mn 
Toldt, K. jun. Neuere Arbeiten über das Integument des Einpierdes, 0. 
Wachs, H. Über Längsteilung bei Hydra. O. k 
Wh el J. Die angewandte Zoologie als wirtachaeihiohe SR 
hygienischer und kultureller Faktor. & 










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| oSisches Zentralblatt 
3 Begründet von J. Rosenthal 
je Unter Mitwirkung von 
DIR. Goebel und Dr. R. Hertwig 
‚Professor der Botanik Professor der Zoologie 


in München 


e herausgegeben von 


® | Dr. EEE Weinland 
































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= Professor der Physiologie in Erlangen 
B- Verlag von Georg Thieme in Re 
Br ANETTE ar] rn 
39. Band Januar 1919. Nr. 1 
$ Bee am 15. Februar 
2 : 2 ser N 
2 Der ahliche Reaper (12 Hefte). beträgt 20 Mark 
B:.- Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten 
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an 
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15. Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, 
- vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschiechte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, 
5 alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physioiog. Institut, 
5 einsenden zu wollen. 
k Inhalt; H. Wachs, Über Längsteilung bei Hydra. 8.1. 
2 ' J. Spek, Studien über den Mechanismus der Gastrulainvagination. S. 13. 
Zu J. Spek, Experimentelle Beiträge zur Physiologie der Zeilteilung. Seuaı 
B>: H. Renninz, Forels Zugeständnisse an die Tierpsychologie. S. 35. 
8 Referate: €. Rabl, Über die bilaterale oder nasotemporale Symmetrie des Wirbeltierauges. 8. 37, 
4 e A. Luther, Über Entwieklungskorrelationen und Lokalrassen bei Rana fusca. 8. 40. 
4 Über Längsteilung bei Hydra. 
Ke Von Dr. Horst Wachs, 
£ Assistent am Zool. Institut der Universität Rostock. 


Mit 9 Abbildungen. 


Über Längsteilung bei den verschiedenen Hydra-Arten ist schon 
von Trembley und Roesel von Rosenhof berichtet worden. 
Seitdem sind eine ganze Anzahl weiterer diesbezüglicher Beobach- 
tungen mitgeteilt worden. Bei kritischer Sichtung zeigte sich jedoch, 
daß zum mindesten einige solcher Fälle „spontaner Längsteilung“ 
anders zu deuten sind als von den diesbezüglichen Beobachtern 
geschehen: mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich in den 
betrefienden Fällen nicht um die Längsaufspaltung eines ursprüng- 
lich einzigen Individuums, sondern vielmehr um die Wiedertrennung 
zweier, verschmolzener Individuen. 

Ich schicke diese Bemerkung, auf die icham Schluß noch kurz 
zurückkomme, als Mahnung zu Vorsicht in der Beurteilung voraus 
und lasse die Beschreibung eines kürzlich von mir an der Hand 

39. Band 1 








) H. Wachs, Über Längsteilung bei Hydra. 


genauer Notizen, einiger Zeichnungen und sehr zahlreicher Mıkro- 


photographien beobachteten Falles folgen, der mir mitteilenswert 
erscheint, weil er in bezug auf die schließliche Trennung der beiden 
Teiltiere einen anderen Verlauf nahm als ın den bislang mitgeteilten 
Fällen. 

Am 29. Mai dieses Jahres fand ich unter einer größeren An- 
zahl frisch gesammelter Hydren der Spezies Hydra fusca — oder, 
nach Paul Schulze: „Pelmatohydra oligactis“ — ein Exemplar, 
dessen Kopfpartie geteilt war, dergestalt, daß dem gemeinsamen 
Stiele und Körper zwei, nur durch eine verhältnismäßig seichte 
Kerbe getrennte Köpfchen aufsaßen. Jedes dieser Köpfchen besaß 
nur je drei gleichlange Tentakel, so daß die für die Spezies nor- 





Abb. 1. Abb. 2. Abb. 3. 


male Tentakelzahl von sechs als Summe beider Köpfchen vorhanden 
war (Abb. 1). Gefüttert, fraß der eine Kopf eine, der andere zwei 
Daphnien. 

Nach zwei Tagen hatte sich das Bild insofern geändert, als 
einerseits die Trennen be der beiden Köpfchen tiefer einge- 
schnitten war, andererseits die Anzahl der Tentakel sich vermehrte. 
Der eine Kopf (4) bekam zwei neue Tentakel, die nebeneinander 
in etwa gleicher Größe hervorwuchsen, der andere Kopf (3) bekam 
ebenfalls einen neuen vierten Tentakel zwischen den drei alten, 
außerdem aber noch einen fünften kleineren an anormaler Stelle, 
unterhalb des Tentakelkranzes, an der Trennungsfläche (Abb. 2). 

Während nach abermals zwei Tagen die normal entstandenen 
neuen Tentakel beider Köpfchen beträchtlich gewachsen waren, 


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H. Wachs, Über Längsteilung bei Hydra. BI 


zeigte dieser kleine Tentakel nur geringes Wachstum und ließ sein 
Ende wie eingeknickt nach unten hängen. Die Trennung der Köpfchen 
war jetzt beträchtlich fortgeschritten, fast bis zur Hälfte der Körper- 
partie (unter Abrechnung des „Stieles“); das Köpfchen A war etwas 
größer und kräftiger als B (Abb. 3). Von diesem Tage an wurde 
das Tier mikrophotographiert; leider verbietet der Raum die Wieder- 
gabe aller dieser sehr charakteristischen Bilder: das Tier neigte 
mitunter den ganzen oberen Körperteil mit beiden Köpfen, öfter 
aber nur die Köpfe und dann mit Vorliebe nach der gleichen Seite, 
wobei es, umspielt von den neun langen Tentakeln, einen außer- 
ordentlich zierlichen und eleganten 
Eindruck machte. Wenn man 
bei Betrachtung des ausgestreck- 
ten Tieres infolge der stärkeren 
Ausbildung des einen Kopfes viel- 
leicht (ohne Kenntnis des Voran- 
gegangenen) den kleineren Kopf 
für eine Knospe an abnormer 
Stelle halten könnte, so war im 
Gegensatz hierzu beim kontra- 
hierten Tiere die Gleichwertigkeit 
der Köpfe deutlich: das Tier war 
ın diesem Zustande nicht unähn- 
lich einem winzigen Aleyonium 
in Teilung. 

Bei der immer weiter fort- 
schreitenden Trennung gewannen 
die Köpfchen imnmier größere Be- 
wegungsfreiheit; jetzt neigten sıe 
sich mit Vorliebe gekreuzt über- 
einander (Abb. 4), das kleine 
rudımentäre Tentakelchen hing 
schlaff herab, die langen spielten Abbe‘ 
als feine Fäden ım Wasser. 

Am 8. Tage der Beobachtung trat an dem Köpfchen A ein 
kleines Gebilde auf, das, an entsprechender Stelle wie das rudi- 
mentäre Tentakelchen von B stehend, zunächst für ein ebensolches, 
vielleicht gar symmetrisch gebildetes gehalten wurde (Abb. 5). Im 
weiteren Verlaufe zeigte sich jedoch, daß sich dieses kleine Gebilde, 
während besagter Tentakel von 3 der Degeneration verfiel, weiter 
ausbildete und schließlich zu einem funktionsfähigen Füßchen wurde, 
wie Abb. 8 u. 9 zeigen. Bevor die Entwicklung jedoch so weit ge- 
diehen war, bildete sich, am il. Tage, eine Knospe (Abb. 6). An 
den bisher in der Literatur beschriebenen Hydren ın Längsteilung 
traten solche Knospen an den Teiltieren selbst auf, m meinem 

1% 





A H. Wachs, Über Längsteilung bei Hydra. 


Falle saß die erste Knospe fast genau an der Stelle, bis zu der 
die Teilung fortgeschritten war, wenngleich man sie, vor allem beı 
Verfolgung der weiteren Entwicklung, mit einigem Rechte dem 
Kopf B zusprechen kann. 

Zwei Tage später, zur Zeit der fast beendeten Degeneration 
des kleinen abnormen Tentakels von DB, besaß die Knospe zwei 
lange Tentakel und eın dritter kleiner war ın Bildung begriffen. 
Jetzt war die Trennung der beiden Köpfe fast bis zum „Stiele* 
hin fortgeschritten, und nun schienen auf eben diesem einen Stiele 
drei Hydren aufzusitzen; das Tier gewährte den höchst absonder- 


lichen Eindruck, wie ıhn Abb. 7 zeigt. Wenn ein Beobachter eine 








Abb. 5. Abb. 6. 


solche Hydra gerade auf diesem Stadium erstmals zu Gesicht be- 
käme, so dürfte eine richtige Auslegung ihres Zustandekommens 
wohl kaum gelingen. 

Nach abermals zwei Tagen, am 15. Tage der Beobachtung, 
hatte sich, der Basis von A ansitzend, abermals eine Knospe ge- 
bildet, die auch schon zwei Tentakel besaß; jetzt stellte das Tier 
eine wirkliche „Yydra“ dar, insofern es nicht nur zahlreiche Arme, 
sondern wie sein Urbild der griechischen Mythologie, zahlreiche 
Köpfe, und zwar vier an der Zahl, besaß. Der Kopf A hatte zur 
Zeit der Beobachtung eine große Daphnie gefressen; nach der ersten 
mikrophot. Aufnahme stieß er die Hülle der Daphnie wieder aus, 
und nachdem mir gerade in diesem Moment eine zweite Aufnahme 
geglückt war, streckte sich die erste Knospe in die Länge und .löste 
sich los. Die Daphnie resp. ıhre Hülle war jetzt vollends ausge- 






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H. Wachs, Über Längsteilung bei Hydra. 5 


stoßen, das Ganze wurde auf einer dritten Aufnahme festgehalten. 
Nun heftete sich das Tier A mit seinem, wie oben erwähnt, neu 
gebildeten kleinen Füßchen am Glase fest und das ganze Tier nahm 
die Stellung ein, wie sie eine vierte Aufnahme, die beigefügte 
Abb. S, zeigt. Das an A neu gebildete Füßchen, dessen Haftscheibe 
deutlich ist, zeigt das charakteristische hellere Aussehen des Stiel- 
gewebes; dies glasig durchscheinende Aussehen hat, wie bekannt, 
seine Ursache in der vom Magenentoderm abweichenden, mehr 
blasigen Struktur der Stielentodermzellen. 








Abb. 8. 





Abb. 7. Abb. 9. 


Die weitere Entwicklung resp. Umbildung, in. deren Verlauf 
sich die zweite Knospe an A sowie noch eine dritte an B ausbildete 
und loslöste, steht unter dem Zeichen einer von dem neuen Füßchen 
ausgehenden (?) Umdifferenzierung von A. Schon die am 13. Juni 
gefertigte mikrophotogr. Abb. 8 zeigt eine leichte Aufhellung des 
Körpergewebes von A an der Ursprungsstelle des Füßchens. - Die 
am 17. und 21. Juni angefertigten Aufnahmen lassen erkennen, 
ähnlich wie die in Abb. 9 wiedergegebene Aufnahme vom 24. Juni, 
wie in dem Körper von A die Aufhellung der Gewebe sowohl nach 
dem Kopf als auch nach der ehemaligen Basis zu fortschreitet. 


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6 H. Wachs, Über Längsteilung bei Hydra. 


Dabei streckt sich dieser ganze Teil bedeutend in die Länge, der 
neue Fuß wird dauernd mit zur Anheftung benutzt und das Tier 
sitzt meist in einer Stellung, wie die Abbildung sie zeigt: der alte 
ehedem gemeinsame Fuß dient 3 zur Festheftung, Tier A (das 
ebenso wie B eine Daphnie gefressen hat) sitzt mit seinem neuen, 
kurzen Füßchen fest und ist mit 3 gleichsam durch eine Brücke 
verbunden. Vergleichen wir Abb. 3 u. 9 unter Beiseitelassung der 
Knospe, so ist unschwer zu erkernen, daß diese „Brücke“ nichts 
anderes ıst als die untere Körperhälfte von A. Während das Ge- 
 webe dieser „Brücke“ nur wenig umdifferenziert ıst, hat sich nach 
dem Kopf von A zu ein deutlicher „Stiel“ ausgebildet. Wir haben 
hier den eigentümlichen und, so viel ich sehe, noch nicht beob- 
achteten Fall vor uns, daß die Umbildung von Körpergewebe in 
Stielgewebe nicht, wie normal, an der Übergangsstelle von Körper 
ın Stiel und unter dem Einlluß sich entwickelnder Knospen und 
den hierdurch verursachten Verbrauch der ınterstitiellen Zellen vor 
sich geht, sondern vielmehr an der Mitte des Körpers einsetzt im 
Anschluß an ein dort gebildetes Füßchen. Wenn wir nun nach 
einer Ursache für diese Umdifferenzierung suchen, so scheint mir, 
daß wir sie in dem Vorhandensein eben dieses Füßchens finden 
können. Und da durch direkte Beobachtung das räumliche Fort- 
schreiten der Umdifferenzierung vom Füßchen. aus nach beiden 
Seiten zu verfolgt und im photogr. Bilde festgelegt wurde, so scheint 
mir, daß man, wie oben vorausnehmend getan, von einer von dem 
neuen Füßchen ausgehenden Umdifferenzierung sprechen 
kann. 

Damit gewinnt diese Beobachtung ein allgemeineres Interesse. 
Spemann zeigte unlängst!) durch eine Reihe genialer Transplan- 
tations- und Konkreszensversuche, daß die Determinierung des Ekto- 
derms zu Medullarplatte beim Amphibienembryo zuerst ın der oberen 
Urmundlippe vorhanden ist und sich von da nach vorn ausbreitet 
(S. 485); d. h., allgemeiner ausgedrückt, daß ein Teil eines Orga- 
nismus imstande ist, auf seine Umgebung, auf Material, das, wie 
ebenda gezeigt, unter anderen Einflüssen andere Organe resp. Ge- 
webe gebildet haben würde, ın bestimmtem Sinne determinierend 
einzuwirken, sie differenzierend resp. umdifferenzierend zu beein- 
flussen. Wenngleich die dort mitgeteilten Ergebnisse keiner Be- 
stätigung von anderer Seite bedürfen, so scheint es mir doch 
zum mindesten anziehend, in den eben mitgeteilten Beobachtungen 
gleichsam eine Parallele an ganz anderem Material und durch ein 
Naturexperiment zu finden. In unserem Falle handelt es sich 
um die Umbildung von Körperentoderm in Stielento- 


1) Spemann, H. Über die Determination der ersten Organanlagen des 
Amphibienembryo 1—6. Arch, Entw.-Mech. Bd. 43, 1918. 





/ 


H: Wachs, Über Längsteilung bei Hydra. 7 


derm, nach meiner Deutung veranlaßt durch das neu ent- 
standene Füßchen, das somit gleichsam als eın neu ge- 
bildetes Determinationszentrum betrachtet wird. 

Was aber, ist logischerweise zu fragen, veranlaßte die Bildung 
eines solchen neuen Dee Da rein äußere Kin 
flüsse, wie etwa dauernde Berührung der betreffenden Stelle mit 
einer Unterlage, nach meiner Beobachtung nicht in Frage kommen, 
es sich nicht um eine „Thigmomorphose“ handelt, muß die Veran- 
lassung direkt ım Tier selbst liegen. Diese Annahme gewinnt an 
Wahrscheinlichkeit, wenn wir bedenken, daß wir es ja mit einer in 
Längsspaltung begriffenen Hydra, d. h. mit einem Individuum zu 
tun haben, das sich in organisch-anormalen Verhältnissen befindet, 
das durch einen vom normalen Geschehen abweichenden Lebens- 
prozeß aus seinem organischen Gleichgewicht gebracht ist. Natür- 
lich ıst hiermit, wie ich mir wohl bewußt bin, noch keineswegs 
eine Erklärung für das Auftreten des neuen Füßchens gegeben! 
Wir ahnen aber, wie diese Störung des normalen Geschehens in 
dem Organısmus Vorgänge auslöst, die sich für den Beobachter in 
der Bildung von Organen an abnormer Stelle äußern, erst eines 
kleinen Tentakels, dann des Füßchens. 

Dieser Vergleich eröffnet eine neue Perspektive: der Tentakel 
wurde wieder rückgebildet, das Füßchen blieb bestehen und wurde 
weiter ausgebildet! Ob die direkte Ursache dieses verschiedenen 
Geschickes der Nichtgebrauch im einen, der Gebrauch im anderen 
Falle war, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls haben wir es hier 
mit einem eigenartigen Versuchen und Sichirren, Probieren und 
Wiederverwerfen zu tun, das ım Falle der Anlage des Füßchens 
zum Ziele führte. Und, wie wir gleich sehen werden, zum Ziele 
führte auf einem Wege, der um vieles umständlicher war als der- 
jenige, den andere Hydren unter den gleichen Bedingungen einge- 
schlagen haben. 

Denn in den bisher mitgeteilten Fällen und einem, wie noch 
zu erwähnen, auch mir selbst vorliegenden Falle, geschah die schließ- 
liche Trennung der Teiltiere dadurch, daß die vom Kopf abwärts 
vorrückende Durchtrennung allmählich den Körper und danach den 
Stiel längsteilte, bis die Tiere nur noch an der Fußscheibe zusammen- 
hingen. Schließlich teilte sich auch diese und zwei Hydren wurden 
frei. Wesentlich anders verhält sich das hier beobachtete Tier! 

Nachdem sich die Aydra länger als 14 Tage mit ihren beiden 
Füßchen festhaltend ernährt und oftmals ım Zuchtglase ihren Platz 
gewechselt hatte, indem sie sich gelegentlich auch mit beiden 
Köpfen, mit Hilfe der Tentakel, zwecks Ortsänderung anheftete und 
nun mit.den Fußscheiben nach einer neuen Anheftungsstelle tastete, 
geschah am 1. Juli. die Durchtrennung: durch Querdurchschnürung 
der „Brücke“ nahe am Tier B wurden die Tiere frei! Tier B 





BSR 


nr 


| END 
N I 3 3 x 


S H. Wachs, Über Längsteilung bei Hydra. 


stellte nun eine normale Aydra dar, an deren Stiel ein kleiner 
Höcker noch einige Tage von dem früheren Zusammenhange zeugte, 
Tier A haftete mit seiner eigenen Fußscheibe der Unterlage an 
und hatte die „Brücke“, den unteren Peil seines ehemaligen Körpers, 
wie einen ‚Stumpft nn Dieser Stumpf din. gleichsam 
tastende Bewegungen, konnte sich jedoch nicht anheften mangels 
einer Fußscheibe. Das Cölenteron des Stumpfes war noch beträcht- 
lich weiter, d. h. im Querschnitt von größerem Durchmesser im 
lichten, als das Cölenteron des Stieles. 

So war nun zwar auch Tier A frei, unterschied sich jedoch 
von einer normal gestalteten Aydra noch sehr wesentlich durch 
den Besitz dieses vorerst höchst unnützen Anhanges. Dem Orga- 
nısmus des Tieres, der soeben die teilweise Längsspaltung und die 
Querdurchtrennung glücklich bewerkstelligt hatte, war eine neue 
Aufgabe gestellt in der Beseitigung oder anderweitigen Verwendung 
dieses „Stumpfes“, Auch diese Aufgabe wurde vom Organismus 
gelöst: eine Woche nach der Durchtrennung, am 7. Juli, hatte sich 
am Ende dieses Stumpfes eine Fußscheibe gebildet, und das Tier 
besaß jetzt seinerseits zwei Fußscheiben, wie ehedem das Doppel- 
tier. Doch schon ım Laufe der nächsten Tage verkürzte sich der 
Stumpfteil (durch Einschmelzung der Gewebe?), beide Haftscheiben 
kamen näher aneinander zu lesen und am 13. Juli, am 45. Tage 
der Beobachtung, haftete die Eudra mit nur einer Stelle des Stieles, 
mit nur einem sehr gut fassenden Fuße, der jedoch noch nicht 
vollkommen normal war. Im Laufe der nächsten Tage bildete sich die 
Fußscheibe zu einer vollkommen normalen um. Beide Hydren stellten 
nun normale, selbständige Tiere dar, nur besaß Tier A noch immer nur 
5 Tentakel, während BD durch Neubildung von zweien, kurz vor der 
Trennung der Tiere, die normale Tentakelzahl 6 wieder erlangt hatte. 

Heute, am 18. August, dem 82. Tage der Beobachtung, haben 
beide Tiere je 6 normale Tentakel und unterscheiden sich in nichts 
von normalen Tieren. Nach vollendeter Durchtrennung bildeten 
beide Tiere Knospen, und zwar, bis zum 28. Juli, Tier A 6, Tier 5 
5 an der Zahl. Diese Töchter sowie die drei während der Teilung 
gebildeten Tochter-Hydren hatten bis 28. Juli, dem 60. Tage der 
Beobachtung, zusammen 43 Tochtertiere gebildet. Alle diese Indi- 
viduen wurden unter dauernder Beobachtung isoliert aufgezogen, 
wobei weder an ihnen noch an den Mutterkiereh eine in: 
Längsteilung auftrat. Die Anzahl der Tentakel, die anfänglich br 
den Tochtertieren verringert war, stellte sich bei den späteren 
Nachkommen und, durch verspätetes Nachwachsen, auch bei jenen 
wieder zur Normalzahl her. Die erste Tochter der allerersten, während 
der Teilung gebildeten Knospe, war vollkommen tentakellos, 
während sie schon frei war und, gefüttert, Nahrung aufnahm. Hier- 
über vielleicht gelegentlich mehr. 








BE ak ee en 


ET 


H. Wachs, Über Längsteilung bei Hydra. 9 


Wenn ich diese Beobachtungen so eingehend mitteile, so ge- 
schieht dies außer aus den oben erwähnten Gründen für ein allge- 
meineres Interesse auch deshalb, weil dieser Fall sehr hübsch zeigt, 
wie schwierig resp. unmöglich es ist, aus dem augenblick- 
lichen Befunde einer Anormalität richtig auf ihre Ent- 
stehung zu schließen. Wäre dies schon, wie erwähnt, bei der 
„dreiköpfigen“ und „vierköpfigen“ Hydra kaum gelungen, so wäre 
es mit Sieherheit mißglückt bei einem Zustande des Tieres, wıe 
Abb. 9 ıhn zeigt ?). 

Aus eben diesem Grunde aber ist es in einigen in der Literatur 
mitgeteilten Fällen nicht möglich, sie mit Sicherheit als „spontane 
Längsteilung“ anzusprechen. Wir wissen durch die Mitteilungen 
von Krapfenbauer, Koelitz und Koch, daß an Hungerkulturen 
eine Knospe mit dem Muttertiere verbunden und schließlich durch 
Umbildung ihrer Basis dergestalt mit ihm vereinigt bleiben kann, 
„daß man nicht mehr unterscheiden kann, was Knospe, was Mutter- 
tier ist“. Demgemäß sind alle Fälle, bei denen die beiden Köpfe 
schon zur Zeit der ersten Beobachtung ein beträchtliches Stück frei 
sind, als nicht sicher definierbar auszuschalten. Hierher gehört, 


ich möchte fast sagen „leider“, auch der hübsche, von Leiber be- 
fo) p>] r) I 


schriebene Fall. Aber gerade an dem von Leiber gehaltenen 
Tiere, einer Hydra viridis, das schließlich durch allmähliche Durch- 
trennung bis zur Fußscheibe zwei Individuen ergab, und, wie ge? 
sagt, wegen der „noch etwas tiefer, bis etwa in die Mitte“ reichen- 
den Spaltung ausschaltet. zeigte sich im weiteren Verlaufe der 


Beobachtung abermals an dem einen Kopfe eine Spaltung und 


Aufteilung in zwei Köpfchen mit je einer Mundöffnung und 5 resp. 
6 Tentakeln! Diese Beobachtung zeigt einwandfrei, daß einheit- 
liche Hydren in Längsteilung gehen können — leider entzog sich 
natürlich gerade dies wertvolle Beweisobjekt durch Tod einer wei- 
teren Beobachtung! 

Schalten, wie gezeigt, Fälle mit tiefer Spaltung als unsicher aus, 
so sind doch leider auch die Fälle, die, wie der meinige, von Beginn der 


2) Um die Verdienste der alten Beobachter nicht zu vergessen, sei hier er- 
wähnt, daß Trembly und Roesel vielköpfige Polypen durch wiederholte Längs- 
zerschneidung erzeugten. Roesel bildet auf Tafel 76, Fig. 5 seinen ersten so 
erzeugten Polypen mit drei Köpfen ab, auf Tafel SI Monstra mit 5 und 8 Köpfen 
und mit mehreren Füßen, ebenfalls erzeugt durch Zerschneiden. Trembley, sein 
Vorgänger in diesen Versuchen. erzeugte auf. die gleiche Weise Tiere mit 7 und 
8 Köpfen (Taf. 11, Fig. 11). Einem dieser Tiere schnitt er nun abermals alle 7 Köpfe 
ab. Hierüber berichtet er (S. 246): „J’ai coupe les tetes de celui qui en avoit sept; 
et, au bout de quelques jours, j’ai vu en lui un prodige qui ne le c&ede gueres au. 
prodige fabuleux de l’IIydre de Lerne. Il lui est venu sept nouvelles tetes: et si 
j’avois continu6 A les couper ä mesure qu’elles poussoient, il n’y a pas ä douter que 
je n’en eusse vu pousser d’autres. Mais, voici plus que la Fable n’a öse inventer. 
Les sept tetes, que j’ai coupdes ä cette Hydre, ayant &t& nourries, sont devenues 
des Animaux parfaits, de chacun desquels il ne tenoit qu’ä moi de faire une Hydre.‘‘ 


10 H. Wachs, Über Längsteilung bei Hydra. 


Spaltung beobachtet wurden, nicht ohne weiteres zweifelsfrei. Lau- 
rent und Boecker teilen mit, daß mitunter zwei benachbarte 
Knospen am Muttertiere miteinander verschmelzen und dann nach 
ihrer Loslösung den Beginn einer spontanen Längsspaltung vor- 
täuschen, einer Längsspaltung, die sie dann im Verlaufe der Beob- 
achtung auch vollziehen, die aber nach dem eben Gesagten nur eine 
„Wiedertrennung“ ist. 

Doch möchte ich, bei aller Skepsis, nicht so weit gehen wie 
Paul Müller, der hierüber sagt (S. 102): „Ob überhaupt eine 
Fortpflanzung durch Längsteilung vorkommt, ist nach alledem sehr 
zweifelhaft; bei den meisten anscheinenden Längsteilungen dürfte 
es sich um Regulationserscheinungen zum Zwecke der Trennung 
resp, Wiedertrennung von ursprünglich zwei Individuen handeln. 
In anderen Fällen könnten äußere Verletzungen den Anlaß bilden, 
wie mir z. B. sehr wahrscheinlich scheint, das Einreißen des oralen 
Poles beim Verschlingen ungewöhnlich großer Beute, wie z. B. großer 
Chironomus-Larven. Gegen die Annahme der Längsteilung als nor- 
male, wenn auch seltene Fortpflanzungsart spricht die von den 
verschiedenen Beobachtern übereinstimmend hervorgehobene lange 
Zeit, die für die Durchspaltung benötigt wird, und daß die Tiere 
meist vor der völligen Abspaltung starben.“ — Wenngleich auch 
ich die Längsspaltung bei Hydra nicht als eine normale, selten vor- 
kommende Fortpflanzungsart betrachten möchte’), so glaube ich 
doch, betreffs des ersten Punktes der Schulz’schen Darlegung, 
daß ein Fall wie der hier von mir mitgeteilte wirklich als Längs- 
teilung einer ursprünglich als ein Tier gebildeten Hydra 
anzusprechen ist, da ın meinem Falle die normale Tentakelzahl 
von 6 bei nur seichter Trennungskerbe zur Zeit der ersten Beob- 
achtung vorhanden war! Bei der strengen Gesetzmäßigkeit, mit 
der, wie bekannt und wie mir auch durch sehr zahlreiche eigene 
Beobachtungen bestätigt, gerade bei Hydra fusca die Tentakelanlagen 
gebildet werden, würden ım Falle emer Knospenverschmelzung 
sicherlich mehr als 6 Tentakel gebildet worden sein. 


» 

3) Anders steht es vielleicht mit der schon von Roesel von Rosenhof und 
nach ihm wohl am eingehendsten von Koelitz (Zool. Anz. Bd. 33, 1908) beob- 
achteten Querteilung von Hydra. Schon Roesel faßt die Querteilung als eine 
normalerweise vorkommende Form der Vermehrung auf und sagt darüber (S. 525): 
„Nun komme ich auf die zweyte sonderbare Vermehrung unseres braunen Polyps, 
welche zu beschreiben ich etwas aufgeschoben habe. Es geschiehet solche durch 
die bereits von mir von dem oraniengelben Polyp angezeigte Theilung seines Körpers; 
gleichwie ich aber von dıesem Polyp bemerket, daß er sich nur einmal getheilet, 
so habe hingegen an gegenwärtiger braunen Sorte gesehen, daß sich solche auch 
zwey bis dreymal zugleich theile, ja, daß sich nicht nur der alte Polyp, sondern 
auch die an ihm hangende Junge von einander sondern.‘ — Es ist interessant, daß 
diese von namhaften späteren Autoren angezweifelte Deutung seiner Beobachtungen 
durch die sehr eingehenden Untersuchungen von Koelitz in vollem Umfange 









H. Wachs, Über Längsteilung bei Hydra. 17 


Boecker beobachtete (1914, S. 300) auch direkt in 4 Fällen 
„fortschreitende Verwachsung der beiden Köpfe“, wobei Tentakel- 
zahlen von 10 resp. 11 Tentakeln resultierten. Übrigens ist, nach 
der Beschreibung und den Abbildungen von Boecker zu schließen, 
die Trennungskerbe zwischen den beiden Köpfchen ın allen: diesen 
durch Konkreszenz entstandenen Doppelbildungen eine tiefer ein- 
schneidende als in meinem Falle (Fig. 1). Dabei führten diese 
Fälle, die etwa meiner Fig. 2 entsprechen würden, zur vollkommenen 
Konkreszenz des Doppeltieres, — ın den zu einer vollkommenen 
Trennung führenden Fällen hingegen waren die beiden Knospen 
nur etwa so weit verwachsen, daß sie dem Zustande meines Tieres 
ım Stadium der Abb. 3 glichen! ®) 

So möchte ıch den von mir mitgeteilten Fall als wirkliche 
Längsteilung ansprechen — der Anlaß zum Einsetzen des Vorganges 
bleibt natürlich auch hier unbekannt. Ganz einwandfreie Resultate 
würde man erst erhalten, wenn man, wie ich es versuchte, Hydren 
unter dauernder Kontrolle in Einzelkultur züchtet, die Knospung 
jedes Individuums verfolgt — und dann das Glück hätte, an einem 
so ab origine beobachteten Tiere Einsetzen und Verlauf einer Längs- 
spaltung zu sehen. Leider blieb mir dies Glück bis jetzt versagt. 

Außer diesem beobachtete ich noch kurze Zeit später zwei 
Hydren, „auf dem letzten Stadium normaler Längsteilung“, d.h. 
nur noch mit einem kurzen Fußstück zusammenhängend — nach 
dem oben Gesagten verzichte ich natürlich (trotz gut gelungener 
photogr. Aufnahmen) auf diesbezügliche nähere Mitteilung. 


Den Abschluß mag eine andere Warnung bilden. die die mit- 
geteilte Beobachtung gibt. Nur zu gern wird bei Interpretation 
physiologischer wie psychologischer Beobachtungen der scheinbar 
einfachste Weg resp. die scheinbar einfachste Kombination als die 
tatsächliche, als von der Natur eingeschlagen oder als Triebfeder 
tierischen Handelns wirksam angesehen; vielleicht illustriert der 
oben mitgeteilte, doch zum Ziele führende Umweg der sich teilen- 
den Boldra die Irı igkeit dieser Art der Naturbetrachtung, auf die 
schon Roux mit etwa den folgenden Worten hinwies: „Sehen wir 





rehabilitiert wurde, indem dieser Autor zu dem Schlusse kommt, daß „Nach meinen 
Beobachtungen anzunehmen ist, daß die Hydren sich der Querteilung als natür- 
licher Vermehrungsart bedienen“ (S. 535) — und, in einem Nachtrag (8. 783) 
„Daraus ist zu schließen, was auch schon von Nusbaum ausgesprochen wurde, 
daß nämlich Querteilung bei Hydra das ganze Jahr hindurch als ungeschlecht- 
liche. Vermehrungsart neben der Knospung eine gewisse Rolle spielt“. Über äußere 
oder innere Anlässe zum Einsetzen dieser Erscheinung vermag auch dieser Autor 
nichts zu eruieren. Ist es nicht eigenartig, daß über einen seit mehr als 150 Jahren 
bekannten Prozeß an einem so häufigen Laboratoriumstiere so wenig bekannt ist ? 
4) Vgl. hierzu auch Boecker 1915, 8. 608. 


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12 H. Wachs, Über Längsteilung bei Hydra. 


in einem Falle für die ursächliche Bildung mehrere Möglichkeiten, 
so werden wir geneigt sein, die uns am einfachsten erscheinende 
Wirkungsweise als die tatsächlich wirksame anzusehen. Diese 
durchaus verbreitete Anschauung, daß das Einfachste auch das 
Wahrscheinlichste ist, muß sich jedoch bei der Erforschung des 
Organischen schon deshalb als falsch erweisen, weil wir die orga- 
nischen Gestaltungsprinzipien nicht genügend kennen, um zu beur- 
teilen, was für sie das Einfachste ist.“ 


Literatur. 


Obgleich ich zurzeit noch nicht alle nachstehend angeführten Arbeiten im 
Original einsehen konnte, möchte ich doch eine vollkomm«ne Zusammenstellung 
aller Literaturstellen über Längsteilung bei Hydra geben, da eine solche bisher 
noch nichr vorliegt. Nur in dem. Literaturverzeichnis der schönen Arbeit von 
Paul Schulze sind unter den anderen auch die nachstehenden Arbeiten alle auf- 
geführt — doch verlieren sie sich hier zwischen den anderen (174!) Nummern des 
Literaturverzeichnisses. 

1744. Trembley, A., M&m., pour servir & l’Histoire d’un genre de Polypes d’eau 

; douce, Leiden (S. 201; Taf. 10, Fig. 5). 

1755. Roesel von Rosenhof, A. J., Insektenbelustigurgen. 3. Teil, Nürnberg 
(S. 499 u. 538; Taf. 82, Fig. 8). 

1842. Laurent, L., Recherches sur les trois sortes ete. de ’ Hydra vulgaire. C.R. 
Ac. Se Paris. Siehe den Bericht in: Froriep’s „Neue Notizen“ 1842, 
Bd: 28-.N1.27,,8:3192; 

1883. Jennings, T. B., Curious Process of Division of Hydra, The Amer. Mier. 
Journ. 4. 

1890. Zoja, R., Aleune Richerche morfologishe e fisiologishe sull Hydra. Bolle- 
tino Scientifieo XII, 3 u. 4, Pavia. 

1900. Parke, H.H., Variation and Regolation of Abnormalities in Hydra. Arch. 
Entw.-Mech. Bd. 10. 

1906. Hertwig,R., Über Knospung und Geschlechtsentwicklung von Hydra fusca. 
Biöl, Zentr.-Bl. Bd. 26 (S. 494). 

1906. Annandale, N., The Common Hydra of Bengal. Mem. As. Soc. of 
Bengal 1, Nr. 16. 

1908. Krapfenbauer, A., Einwirkung der Existenzbedingungen auf die Fort- 
pflanzung von Hydra. Diss. Phil. Fak. Univ. München, 

1909. Frischholz._E., Zur Biologie von Hydra. Biol. Zentr.-Bl. Bd. 29. 

1909. Leiber, A., Über einen Fall spontaner Längsteilung bei Hydra viridis L. 
Zool. Anz Bd. 34. 

1909. Korschelt, E., Über Längsteilung bei Hydra. Ibidem. 

1910. Koelitz, W., Über Längsteilung und Doppelbildungen bei Hydra. Ibidem, 
Bd. 35, 

1911. Steche, O., Hydra und die Hydroiden. Monogr. einheim. Tiere, Bd. 3 
(8. 43). 

1911. Koch, W., Über die geschlechtliche Differenzierung ete. Biol. Zentr.-Bl. 
Ba. 31 ($. 573). 

1912. Ders., Mißbildungen bei Hydra. Zool. Anz. Bd. 39. 

1913. Müller, Herbert C., Einige Fälle von Doppelbildungen und Konkreszenz 
bei Hydroiden. Zool. Anz. Bd. 42. 

1913. Joseph, H., Zur Frage der Längsteilung beim Süßwasserpolyj en. Zool. 
Anz. Bd. 43. 

1914. Boecker, Ed., Depression und Mißbildungen bei Hydra. Zool. Anz. 
Bd. 44. 

1914. Ders., Mißbildungen bei Hydra. Ibidem. 

1915. Ders., Über eine dreiköpfige Hydra ete. Ihidem Bd. 4. 

1917. Schulze, Paul, Neue Beiträge zu einer Monographie der Gattung Hydra 
Arch. f. Biontologie Bd. 4, Heft 2 (8. 9Sff.). 








m, 1.7 1 -_ 





J. Spek, Studien über den Mechanismus der Gastrulainvagination. 13 


Studien über den Mechanismus der 
Gastrulainvagination. 
Von Dr. Josef Spek. 
Mit 2 Abbildungen. 

Vorliegende Publikation 'ist ein Auszug aus dem ausführlichen 
Bericht über die Studien, die ich über den obengenannten Gegenstand 
im vergangenen Jahr (1917) gemacht habe. Da der ausführliche Be- 
richt in einer nicht-zoologischen Zeitschrift, nämlich den kolloid- 
chemischen Beiheften Prof. W olfg. Ostwald’s (Bd. IX, H. 10—12, 
S. 259-400) erschienen ist!) und auch eingehende Betrachtungen 
über spezielle kolloid-chemische Fragen, die vielleicht manchem Bio- 
logen weniger geläufig sind, enthält, erschien es mir zweckmäßig, 
auch an dieser Stelle einen kurzen und einfacheren Bericht zu ver- 
öffentlichen. : 

Meine Studien nahmen ihren Ausgang von den Anschauungen, 
welche sich ©. Bütschli?) über den Mechanismus der Gastrula- 
einstülpung gebildet hatte. Bütschli nimmt an, dab die Gastrula- 
einstülpung auf die Weise zustande kommt, daß sich die innere 
Fläche der späteren Entodermpartie der Blastulawand etwas stärker 
ausdehnt als die äußere, und sich infolgedessen die Entodermplatte 
nach innen einkrümmen, e:nstülpen muß, so, wie jede dünne Lamelle, 
deren eine Fläche sich stärker ausdehnt, sich so einkrümmen muß, 
dab die sich stärker ausdehnende Fläche zur konvexen wird. Von 
den Erscheinungen, die schon Bütschli zur Erklärung einer ver- 
schieden starken Ausdehnung der beiden Flächen an der Entoderm- 
partie der Blastula heranzos, nämlich einem stärkeren Wachstum 
der Innenhälfte der späteren Entodermzellen, einer aktiven Verände- 
rung der Entodermzellen im Sinne der Anschauungen L. Rhumb- 
ler’s°), einem Aufquellen der Innenfläche der Entodermzellen u. a., 
wandte ich besonders dem letztgenannten Vorgang meine Aufmerksam- 
keit zu. Ich fragte mich, wie.weit eine an den beiden Flächen ver- 
schieden starke Wasserabsorption der Zellen der Entodermplatte an 


1) Es sei mir hier gestattet, auch weitere zoologische Kreise, auf die kolloid- 
chemische Zeitschrift und die kolloidehemischen Beihefte derselben (herausgegeben 
von Prof. Wolfg. Ostwald) aufmerksam zu machen. Abgesehen von einer großen 
Anzahl von Neuarbeiten auf dem Gebiet der reinen Kolloidchemie, hat die junge 
Zeitschrift auch schon viele kolloidehemische Studien über wichtige zoologisch- 
botanische Fragen veröffentlicht. Besonders wertvoll sind auch ihre regelmäßig 
erscheinenden Literaturverzeichnisse über die neuesten biologischen Arbeiten, die 
physikalisch-chemische Erscheinungen zur Erklärung heranziehen. Die in den 


kolloidehem Beiheften publizierten größeren Arbeiten sind auch einzeln im Buch- 


handel erhältlich. 

2) O. Bütschli, Sitzungsber. der Heidelberger* Akad. d. Wiss., 2. Abhand- 
lung (1915). 

3) L. Rhumbler, Arch. f. Entwmech. 14, 401—476 (1902). 


44 J. Spek, Studien über den Mechanismus der Gastrulainvagination. 


der Entstehung der Gastrulaeinstülpung beteiligt ist und ob dieser 
Faktor mutatis mutandis auch beim Entstehen anderer Einstülpungs- 
und Faltungsprozesse von Zellplatten eine Rolle spielt. 

Zur Grundlage der Untersuchungen wurden Versuche an Mo- 
dellen, die selbsttätig, einfach durch stärkere Wasserabsorption im 
oben erörterten Sinne, eine Gastrulainvasination und ähnliche Pro- 
zesse zustande brachten. Mein vollkommenstes. Modell der Gastrula- 
einstülpung sei z. B. im folgenden etwas genauer beschrieben. 

Das Modell der Blastula stellt eine Hohlkugel aus Agar:Gelatine 
von 45 ccm Durchmesser und ca. 4 mm Wanddicke dar. Die Ento- 
dermpartie derselben ist auf besondere Weise aufgebaut. Sie ist 
nämlich etwas dicker und doppelschichtig. Ihre äußere Schicht be- 
steht so, wie alle übrigen Teile der Blastulawand aus einer schwächer 
quellbaren Mischung aus 20 % Gelatine + 3% Agar im Verhältnis 
von 3:1, ihre innere Lamelle jedoch besteht aus reiner und daher 
stärker quellbarer 20 %iger Gelatine. 

Die meiner Hauptarbeit entnommene Fig. 1 stellt mein Blastula- 
modell im Querschnitt dar. Gel. bedeutet darin Gelatinelamelle, Ag. 

— Agar + Gelatine-Schicht, Rg. = Ringzone Ss. w. u. 

Die obere und die untere Hälfte der Blastula wurden gesondert, 
für sich hergestellt, dann aufeinandergesetzt und zusammengekittet. 
Ganz exakte Halbkugeln aus Gelatine oder Agar-Gelatine kann man auf 
die Weise ohne besondere Mühe herstellen, daß man zwei halbkugelige 
Blechschalen, eine größere und eine kleinere, in überall gleichem 
Abstand ineinanderschachtelt — man läßt am besten die kleinere 
innere mittels Holzklötzchen, die ihr am Rande von außen angekittet 
werden, auf der äußeren ruhen —, den Zwischenraum mit heißer 
Agar-Gelatine ausfüllt und diese erkalten läßt. Nach dem Erkalten 
läßt sich die Gallertkugel bei nötiger Vorsicht von den Blechschalen 
ablösen. (Einzelheiten der Technik müssen in der Hauptarbeit nach- 
gelesen werden.) 

Um in die Entodermhalbkugel die doppelschichtige Platte einzu- 
setzen, setzt man sie nach dem Herauslösen aus der Gußform wieder 
in die äußere Blechschale, schneidet eine ziemlich große Kugelchalotte 
aus ihr heraus, so daß nur ein äquatorialer Ring (Ag. Fig. 1) übrig- 
bleibt, gießt in das Loch innerhalb des Ringes zunächst wieder etwas 
Agar-Gelatine ein und läßt sie durch entsprechendes Herumdrehen 
in möglichst gleichmäßiger Ausbreitung erstarren. Hierauf wird dann 
auf diese äußere Lamelle der Doppelschicht auf dieselbe Weise noch 
eine innere aus reiner Gelatine aufgegossen. — Die fertige Blastula 
wird durch ein eingeführtes Kapillarrohr mit Wasser gefüllt, ins 
Wasser gesetzt und sich selbst überlassen. 

Schon nach einigen Stunden ist an ihr eine schwache Abflachung 
der „Entodermpartie“ zu bemerken. Daß diese Formveränderung wirk- 
lich auch schon ausschließlich den besonderen Aufbau der Entoderm- 








J. Spek, Studien über den Mechanismus der Gastrulainvagination. 45 


partie aus verschieden quellbaren Substanzen zur Ursache hat, und 
nicht etwa nur durch das Aufliesen der schwereren Entodermhälfte 
auf dem Boden des Gefäßes hervorgerufen wird, läßt sich am besten 
dadurch beweisen, daß man die Blastula an einem eingeschmolzenen 
Kapillarrohr aus Glas frei im Wasser aufhängt. Bei dieser Ver- 
suchsanordnung läßt sich dann auch die weitere Formveränderung 
der Entodermhälfte gut verfolgen. Allmählich beginnt sich diese in 
der Tat gegen das Blastocoel einzustülpen und die Einstülpung 
schreitet schließlich bis zu dem in Fig. 2 abgebildeten Endstadium 
‘fort. Bedenkt man, dab die Entodermplatte in gequollenem Zustand 
eine Dicke von S-—-10 mm hatte und Ja auch die Quellungsdifferenzen 
zwischen Außen- und Innenfläche nicht sehr große waren (auch 
die Außenfläche des Entoderms enthielt ja bei meinen Modellen 
75 % Gelatine!), so muß man das Resultat als sehr befriedigend be- 
zeichnen. Je dünner die Gallertlamellen sind, bei um so geringeren 





Figur 1. Figur 2. 


Quellungsdifferenzen krümmen sie sich ein. Man denke an die Tier- 
bilder, Heiligenbilder etc. aus ganz dünner farbiger Gelatine, die sich 
schon vollständig aufrollen, wenn man sie auf die Hand legt, und 
sie Spuren von Feuchtigkeit aus der Handfläche aufnehmen. Übrigens 
ließen sich die .Quellungsdifferenzen an meinen Gastrulamodellen noch 
dadurch etwas vergrößern, dab man das „Entoderm“ von außen mit 
einer dünnen Schicht geschmolzener Öl-Vaseline überzog und die Innen- 
fläche der Doppelschicht vor dem Zusammensetzen der Halbkugeln 
mit schwachem Alkali überpinselte. Alkalien fördern die Quellung. 

In analoger Weise wie die Gastrulaeinstülpung wurde dann auch 
eine Aus- oder Einstülpung von Längsfalten an einem Hohlzylinder 
aus Agar-Gelatine in hübscher Weise nachgeahmt. Das wäre also 
etwa die Modellierung der Kinfaltung eines Nenralrohres, die- Aus- 
stülpung einer Chordafalte oder der mittleren Keimblätter ete. Auch 
runde kuppenförmige Ausstülpungen, etwa einer Leberausstülpung 
aus dem Darmrohr entsprechend, kann man an dem Agar-Gelatine- 
rohr entstehen lassen. Bei allen Versuchen waren die sich einkrümmen- 
den Partien doppelschichtig, und stets wurde die stärker quellbare 
Gelatinetläche zur konvexen Seite der Einstülpung. 








46 J. Spek, Studien über den Mechanismus der Gastrulainvagination. 


Durch besondere Versuchsanordnungen konnten durch die Modell- 
versuche auch eine Reihe von speziellen Fragen über die Mechanik 
der Ausstülpungs- und Faltungsprozesse eindeutig entschieden wer- 
den. So konnte für die Gastrulainvagination klargelegt werden, daß 
ein stärkeres Wachstum des Ektoderms nicht, wie dies früher 
wiederholt angenommen wurde, eine Erleichterung der Urdarmein- 
stülpung mit sich bringen würde. Stellt man das ganze ‚„Ektoderm“ 
des Blastulamodelles aus reiner stark quellender Gelatine her, die 
doppelschichtige Entodermplatte aber wie bei den oben beschriebenen 
Versuchen, so erhält man überhaupt nur eine schwache Abflachung 
des Entoderms. Bezüglich dieser Frage und weiterhin auch in der 
Frage nach etwaigen Krümmungen von Längsfalten in der Längsrich- 
tung, nach der Entstehung von Spiral- und Ringfalten etc. verweise 
ich den Leser auf die Hauptarbeit. 


Durch die Modellversuche wurde der Beweis erbracht, dab an 
all den Gallertlamellen, die in der Form den betreffenden Bildungen 
der lebenden Larvenkörper glichen, eine Einkrümmung (KEinstülpung 
oder Einfaltung) im erwarteten Sinne eintreten mub, ‚wenn die 
Wasseraufnahme auf der einen Seite stärker ist als auf der anderen. 
Dieselben Folgeerscheinungen werden sich somit auch an den Orga- 
nismen abspielen müssen, wenn die einzige Bedingung der einseitig 
stärkeren Wasseraufnahme in die Zellplatten gegeben ist. Dab nun in 
der Tat auch bei den in Frage stehenden organischen Bildungen 
Quellungserscheinungen eine ausschlaggebende Rolle spielen, wird 
durch folgende zwei Hauptargumente wahrscheinlich gemacht. 

Die durch Faltenbildung etc. hervorgehenden -Anlagen von Or- 
sanen zeichnen sich sozusagen in allen Fällen durch einen ganz spezi- 
tischen Chemismus aus, der von dem des umgebenden Mutterbodens 
ganz abweicht. Es ist nun ganz auffällig, eine wie große Rolle in 
den durch Faltung sich absondernden Organanlagen spezifischer che- 
mischer Beschaffenheit einerseits Stolfe spielen, die ein hohes Quel- 
lungsvermögen besitzen, andererseits Stoffe, die die Quellung der 
Kolloide in hohem Maße steigern. Einige Beispiele seien hier auch 
angeführt: Unter den Hauptbausteinen der Zelle zeichnen sich einige 
Lipoide, Stoffe, welche in vielen anderen physikalischen Eigenschaf- 
ten den gewöhnlichen Fetten nahestehen, durch besonders hohes Quel- 
lungsvermögen aus, so Lecithin und einige Cerebroside. Das Organ 
der Wirbeltiere, welches gerade an diesen Lipoiden den größten Reich- 
tum aufweist, ist das Zentralnervensystem. Es entsteht durch Falten- 
bildung ! 

Ziemlich reich an Lecithin ist auch die Leber. In ihr spielen 
aber auch andere Stoffe, die wiederum entweder gut quellbar sind 
oder die Quellung anderer Kolloide beträchtlich fördern, nämlich 






J. Spek, Studien über den@Mechanismus der Gastrulainvagination. 1\ 


Kohlehydrate, Gallensäuren, Harnstoff und andere eine grobe Rolle 
im Stoifwechsel. Glykogen wurde schon in ganz Jungen Leberanlagen 
nachgewiesen. Seir reich an Glykogen, außerdem aber auch wieder 
an gewissen Lipoiden (Myelin) ist auch die fötale Wirbeltierlunge. 

Die Zellen der ebenfalls durch Faltung entstandenen Ohorda 
verraten inren Reichtum an stark quellbaren Kolloiden schon in sehr 
frühen Stadien durch starke Vakuolenbildung, und von dem einen 
Hauptprodukt des mittleren Keimblattes, der Muskulatur läßt sich 
bezüglich ihres Unemismus wieder als Besonderheit angeben: Hoher 
Wassergehalt, Vorkommen von Stoilen, welche die Quellung am aller- 
stärksten fördern, und Vorkommen quellbarer Stoffe. Für den Wasser- 
gehalt der Muskulatur ganz junger Embryonalstadien wird sogar 
die enorme Prozentzahl von über 99 angegeben. Milchsäure, ein kon- 
stantes Stoffwechselprodukt des Muskels, fördert, wie alle Säuren. 
die Quellung ganz bedeutend, Kalisalze, von denen die Muskeln fünf- 
bis sechsmal so viel enthalten wie Natriumsalze, wirken wesentlich 
besser quellungsfördernd als Natriumsalze. _ 

Damit will ich die Reihe der Beispiele beschließen. Die ange- 
führten Angaben über den Chemismus der betreffenden Organe sind 
nun an diesen freilich nicht schon in dem Entwicklungsstadium, 
wenn sie sich von ihrem Mutterboden ausstülpen oder eintalten, ge- 
macht worden. Es ist aber kaum denkbar, daß ihre Zellen, bei ihrer 
Sonderung vom Mutterboden, noch vollständig indifferent, von den 
Zellen des Mutterbodens gar nicht verschieden sein sollen. Sie sind 
ja übrigens auch schon histologisch von den Zellen der Umgebung 
meistens zu unterscheiden. Jener spezifische Chemismus wird eben 
schon in den ersten Anfängen der Organdiiferenzierung vorhanden 
sein, er wird die Ursache bestimmter Wasserabsorptionsvorgänge 
werden, die dann zur Einfaltung der betreffenden Organanlagen, zu 
ihrer Sonderung vom indifferenten Mutterboden führen. Speziellere 
histologische Untersuchungen haben mich in einem Falle, nämlich bei 
der Ausstülpung der Leberanlage der Gastropoden (Paludina fasciata) 
aus dem Urdarm hievon überzeugt. Im Stadium der Leberausstülpung 
haben die Leberzellen eigentlich schon eine spezifische Funktion. 
Sie sind dicht gefüllt mit Tröpfchen, die sich mit Eosin intensiv 
färben, und wenn man ungefärbte Schnitte mit Millon’s Reagenz auf 
Eiweiß behandelt, gelblich werden. Es dürfte sich um einen Eiweib- 
körper handeln, den die Leberzellen wohl aus der Urdarmhöhle auf- 
nehmen und vielleicht chemisch verändern. Diese Eiweißtröpfchen 
sind nun an der Innenseite der Zellen erstens einmal viel intensiver 
rot gefärbt und zweitens von kleinerem Umfange als in der äußeren, 
der Leibeshöhle zugewendeten Hälfte. Hier sind sie nur ganz blab 
rosa, und so groß und breit, dab sie die seitlichen Zellwände ganz 
auseinanderdrängen. Die Leberzellen scheinen entweder von der 


Außenseite mehr Wasser zu absorbieren als von der mit dem viskosen 
39. Band 2 





418 J. Spek, Studien über den Mechanismus der Gastrulainvagination. 


Eiweißkörper erfüllten Urdarmhöhle, oder aber erfahren die. Eiweiß- 
tröpfchen in den Leberzellen eine allmähliche chemische Veränderung, 
so dab sie erst am Grunde der Zellen so stark quellbar werden, daß 
sie die von der Theorie erwartete stärkere Ausdehnung der konvex 
werdenden Fläche der Leberanlage mit sich bringen. — Die Annahme, 
daß in diesem wie in ähnlichen Fällen die Wasseraufnahme in Epithel- 
zellen von der äußeren und der inneren Fläche nicht gleich groß ist, 
selbst wenn im ganzen Zelleib gut quellbare Kolloide gleichmäßig 
verteilt sind, ist gar nicht unwahrscheinlich. Sind doch die meisten 
Epithelzellen schon morphologisch erkennbar, noch viel mehr aber 
physiologisch bipolar differenziert, so daß z. B. der eine Pol nur sezer- 
nieren, der andere nur absorbieren kann. 

Der Reichtum der Organanlagen, die in vielen Fällen eine ty- 
pische Ausstülpung, Einfaltung etc. erfahren, an besonders quell- 
baren Substanzen macht uns mit Hinblick auf Erscheinungen, die 
ich in der folgenden Publikation genauer besprechen will, noch eine 
weitere bekannte Erscheinung verständlich. Wir werden nämlich weiter 
unten erfahren, dab man durch jede Steigerung der Wasserabsorption 
(ohne schädliche Nebenwirkungen) experimentell Zellteilungen an- 
regen kann. Dasselbe werden wir aber auch für alle die Fälle mehr 
oder weniger erwarten müssen, in denen das Neuauftreten von gut 
quellbaren Substanzen im Stoffwechsel eine stärkere Wasseraufnahme 
mit sich bringen muß. Und in der Tat sehen wir in sehr vielen Fällen 
am den in Frage stehenden Organbildungen lokal begrenzt starke Zell- 
vermehrungen auftreten, die den Einstülpungsprozeß sehr verschleiern 
können, aber auch in extremen Fällen nicht allein, d. h. ohne Be- 
teiligung der oben besprochenen mechanischen Faktoren, die Absonde- 
rung der Organanlagen vom Mutterboden herbeiführen dürften. — 
Interessanterweise sind auch durch starke Zellwucherungen entstan- 
dene pathologische Neubildungen wie Carcinome, Sarcome etc. reich 
an stark quellbaren oder quellungsfördernden Stoffen. — 


Das wichtigste Argument zum Beweise der Richtigkeit der vor- 
gebrachten Theorie des Einstülpungsmechanismus ist das, daß es uns 
möglich ist, die normalerweise stattfindenden Quellungserscheinungen 
an den sich einkrümmenden Zellamellen experimentell zu verändern 
und neue, anormale Quellungsprozesse herbeizuführen, und daß dieser 
Beeinflussung der Quellungserscheinungen stets eine bis in die klein- 
sten Einzelheiten der theoretischen Erwartungen entsprechende Modi- 
fikation des Einstülpungsprozesses selbst folgt. 

Die Quellung läßt sich in hohem Grade beeinflussen durch Zusätze 
iöslicher Stoffe zum Wasser. Die neuere Kolloidehemie hat da eine 
sroße Reihe von Gesetzmäßigkeiten aufgedeckt, von denen einige für 
uns besonders wichtige hier mitgeteilt seien. 








J. Spek, Studien über den Mechanismus der Gastrulainvagination. 49 


Die Kolloide quellen in verdünnten Säuren und Alkalien vie 
' stärker als in reinem Wasser. Für biologische Verhältnisse viel wich- 
tiger ist aber, dab auch die Neutralsalze einen starken Einfluß auf die 
Quellung ausüben. Die Salze lassen sich in eine in den meisten Fällen 
übereinstimmende Reihe bezüglich der Quellungsbeeinflussung einord- 
nen. Man spricht da von einer Quellungsreihe der Salze, oder da sich 
die Wirkung der Salze stets aus den Einzelwirkungen ihrer Ionen 
addiert, von einer Quellungsreihe der Ionen. Von den Alkalisalzen 
wirken z. B. am stärksten quellend die Lithiumsalze, etwas weniger 
die Kalisalze und am wenigsten die Natriumsalze. Erdalkalisalze 
wirken noch schwächer quellend bezw. stärker entquellend als die 
Natriumsalze. Magnesiumsalze können in absolut neutralem Medium 
auf die Quellung gewisser Kolloide auch recht fördernd wirken. Die 
Quellungsreihe der positiven Ionen oder Kationen lautet also: 
112> Ko> Na > Ca; 

Von den Salzen desselben Kations wirken am stärksten quellungs- 
fördernd die Rhodanide; es folgen die Jodide und Bromide, in der 
Mitte stehen die Chloride, und Sulfate wirken in nicht allzu mini- 
malen Konzentrationen stets beträchtlich entquellend. Die Anionen- 
reihe lautet also: SEUN > I >Br > C1>S0,. — Jeweils müssen ge- 
wisse Nebenumstände, so besonders die Reaktion des Mediums noch 
berücksichtigt werden, doch von der Besprechung dieser z. T. sehr 
komplizierten Verhältnisse können wir hier absehen. 

Verändert man nun z.B. die Zusammensetzung des Seewassers, das 
etwa Seeigellarven enthält, indem man — sagen wir — noch stark quel- 
lungsfördernde Lithiumionen hineinbringt, so wird sich eine Steige- 
rung der Wasserabsorption in denjenigen Zellen geltend machen, in 
welche das Lithium überhaupt eindringt. An Blastulen des Seeigels 
ist die Durchlässigkeit der zukünftigen Entodermzellen größer als die 
der Ektodermzellen, wir werden also auch in ihnen in erster Linie 
die Lithiumwirkung zu erwarten haben. Ist uns nun auch ein Mittel 
gegeben die Wirkung des Lithiums (oder anderer Salze) mehr oder 
weniger auf die Außenhälfte der späteren Entodermzellen zu lokali- 
sieren, so wäre gerade im Falle des Lithiums ein seltsamer Zustand 
gegeben. Weil nämlich dieäußere Fläche der Entodermzellen stär- 
ker aufquellen würde als die innere, müßte, wenn unsere Einstülpungs- 
theorie richtig ist, die Urdarmeinstülpung in verkehrter Richtung 
stattfinden. 

Eine Lokalisation der Salzwirkungen auf die äußere Hälfte der 
Zellen muß nun in der Tat in allen den- Fällen eintreten, wenn die 
Salze auf die Eiweißkörper und Lipoide der Zellen fällend wirken. 
Lassen nämlich die Salze in den Zellen einen oberflächlichen Nieder- 
schlag entstehen, so verhindert dieser oder erschwert doch wenigstens 
das weitere Eindringen aller im Außenmedium gelösten Substanzen 
also auch der Ionen des betreffenden Salzes selbst. Die Ausflockungen 

Pi 


30 J. Spek, Studien über den Mechanismus der Gastrulainvagination. 


der Zellkoloide dürfen hiebei natürlich nicht allzu stark werden, sonst 
würden sie ja die Zellen töten. Daß eine solch feine sich noch in physio- 
logischen Grenzen bewegende Fällung der Zellkolloide in der Tat durch- 
lässigkeitsvermindernd wirkt, wird durch eine große Reihe experimen- 
teller Befunde aus dem Gebiet der physikalischen Chemie der Zellen 
und der Gewebe wahrscheinlich gemacht. Fällungs- und Quellunes- 
erscheinungen sind überhaupt zwei sehr wichtige Faktoren bei den 
physiologischen Veränderungen des lebenden Plasmas, — das ist eine 
Erkenntnis, die fast durch jede neue experimentelle Arbeit auf diesem 
Gebiete gestärkt wird. — 

Auch ein genaueres Studium der Fällung der Kolloide durch 
Salze, Säuren und Basen hat interessante Gesetzmäßigkeiten ergeben. 
Die ‚„Fällungsreihen“ der Ionen haben viel Ähnlichkeiten mit den 
oben besprochenen ‚„Quellungsreihen“. Für die Anionen gilt unter 
Umständen sogar dieselbe Fällungsreihe SCN <1< Br<Cl<SO,. 
Wichtig ist für uns dann aber, daß auch die Rhodanide stark fällend 
wirken, wenn Calcium mit im Medium enthalten ist, was ja in physio- 
logischen Salzlösungen stets der Fall ist. Für die Kationen gilt die 
Reihe: K<Na<Li<cCa. — Säuren wirken auch fällend, doch 
dringen nur die organischen für gewöhnlich in die Zellen ein. — 

Der Kernpunkt der ganzen Erörterungen ist nun folgender. Fin- 
den wir bei einem Salze die beiden Eigenschaften quellungsför- 
dernd und fällend vereinigt, so müssen wir ihm die Fähigkeit 
zuschreiben, dem Meerwasser, in dem sich Larven entwickeln, zuge- 
setzt an diesen unter geeigneten Umständen eine Umkehrung von 
Einstülpungsprozessen hervorzurufen. (Im unveränderten Seewasser 
sind solche Salze nicht enthalten.) In extremer Weise müssen wir 
eine solche Wirkung von den Lithiumsalzen®) und den Rhodaniden er- 
warten. -—- Gleichsinnig mit dem Zusatz eines fällend und quellend 
wirkenden Salzes muß natürlich die Entfernung eines im Meerwasser 
enthaltenen Salzes, welches fällend und entquellend wirkt, also z. B. 
der Sulfate, sein. 

In den neunziger Jahren hat C. Herbst’) sehr eingehende 
Untersuchungen über die Wirkung verschiedener Salzlösungen auf 
die Entwicklung der Seeigellarven angestellt. Ihre Resultate ent- 
halten in sämtlichen Punkten eine vorzügliche Bestätigung aller 
unserer obigen Kalkulationen. 

So erhielt ©. Herbst durch Zusatz irgendeines Lithiumsalzes 
zum Meerwasser Seeigellarven mit nach außen angelegtem Urdarm, 

4) Selbst Lithiumsulfat wirkt in den geringen Konzentrationen, in denen es 
die Zellen noch gut vertragen, quellungsfördernd. Erst von etwas höheren Konzen- 
trationen angefangen wirkt es dann quellungshemmend. 

5) C. Herbst, Zeitschr. f. wissensch. Zool. 55, 446—518 (1892), Mitteil. der 
zool. Stat. Neapel 11 (1893), Arch. f. Entwmech. 2 (1896); 5 (1897); 9 (1900); 
Habilitationsschrift (Leipzig 1901); Arch. f. Entwmech. 17 (1904). 








J. Spek, Studien über den Mechanismus der Gastrulainvagination. 1 


typische ‚„Exogastrulae“. Ebenso wird im Rhodankaliumseewasser 
jede Einstülpung des Urdarmes von Asterias-Larven unterdrückt. 
(Bezüglich meiner Deutung dieser „Mesenchymblastulen“ aus den 
Rhodankaliumlösungen verweise ich den Leser auf die Hauptarbeit, 
S. 384.) Rhodanlithium wirkt offenbar wegen seiner zu starken Fäl- 
lungskraft tödlich, Rhodannatrium wurde nicht untersucht. 

Exogastrulen erhielt ©. Herbst noch durch einen Zusatz von 
Natriumbutyrat zum Seewasser und durch Weelassen des Maene- 
siums aus dem Seewasser. Die Wirkung des Natriumbutyrates ist 
so zu erklären, daß es sich hydrolytisch in freie Buttersäure und 
Natronlauge spaltet. Natronlauge dringt nicht in die Zellen ein, die 
lipoidlösliche Buttersäure hingegen -ja. Bei ihr finden wir wieder 
die beiden Eigenschaften fällend und quellend vereinigt. 

Die Wirkung des Magnesiummangels ist etwas komplizierter. 
Sie beruht auf dem Vermögen von Magnesinmchlorid in nicht zu 
hohen Konzentrationen die Fällung von Eiweißkörpern durch andere 
Salze zu verhindern. Maenesiummangel muß daher eine allgemeine 
Steigerung der Fällungswirkung der Seewassersalze bewirken. An 
einer solchen Fällung müßten natürlich die an Menge weit über- 
legenen quellungsfördernden Chloride den Hauptanteil haben. Es 
wird also an der Außenfläche der Entodermplatte der Seeigellarve 
ein Niederschlag von vorwiegend quellungsfördernden Ionen entstehen, 
der dann eben wie in den obigen Fällen die Exogastrulation (bisweilen 
auch ein Exostomadaeum) veranlaßt. Auch durch eine Temperatur- 
erhöhung läßt sich eine solche allgemeine Fällungssteigerung und da- 
mit auch Exogastrulation erreichen (H. Driesch)®). 

Im normalen Seewasser scheinen vorwiegend die Sulfate, die ja 
auch im Reagenzglas schon bei viel geringerer Konzentration zu 
fällen beginnen, eine Niederschlagsbildung in den äußeren Hälften 
der Blastulazellen der Entodermresion zu veranlassen und so eine 
Entquellung derselben zu bedingen. Bei 'Sulfatmangel bleibt diese 
aus und die Urdarmeinstülpung wird dadurch erschwert oder sogar 
Exogastrulation hervorgerufen. (Es geht hieraus hervor, daß auch 
die Anwesenheit der Me-Ionen des normalen Seewassers die Sulfat- 
fällung nicht verhindert. Magnesiummangel wird ja dann zwar auch 
die Sulfatfällung stärker werden lassen, doch kann diese Steigerung 
bei dem geringen Gehalt des Meerwassers an Sulfaten nur gering- 
fügig sein.) 

Außer der Urdarmbildung werden auch andere Einstülpungsprozesse 
durch bestimmte Salzwirkungen beeinflußt. So gibt W. Schimke- 
witsch?) an, daß sich die Statocyste der Cephalopodenembryonen in 
Li-Seewasser nach außen, statt nach innen anlegt und Ch. Stock- 


6) H. Driesch, Mitt. d. zool. Station Neapel 11, 222 (1895). 
7)3W. Schimkewitsch, Zeitschr. f. wissensch. Zool. 67, 491 (1900). 


929 ,  J. Spek, Studien über den Mechanismus der Gastrulainvagination. 


ard8) fand, daß an Fundulus-Embryonen im Lithium-Seewasser 
—- vorausgesetzt, daß sie sich überhaupt bis zu diesem Stadium ent- 
wickeln —, jede Einstülpung von Augenlinsen unterbleibt. — 

Es bleibt mir jetzt nur noch übrig, aus der Fülle von Einzelbeob- 
achtungen, welche C. Herbst an seinem Versuchsmaterial gemacht 
hat, und welche auch in meiner Hauptarbeit zur Besprechung gelangt 
sind, einige Beispiele anzuführen, die geeignet sind, zu beweisen, 
dab die hier besprochenen Salze wirklich in der angenommenen Weise 
wirken. 

Die starke Quellungssteigerung bei Lithiumbehandlung äußert 
sich an den Seeigel-Exogastrulen schon in der beträchtlichen Dick° 
des Exodarmes. Dasselbe gilt auch für die Rhodankaliumlarven und 
schließlich auch für die Larven aus dem sulfatfreien Meerwasser, dem 
also ein entquellendes Ion fehlt. Daß auch in anderen Fällen eine 
starke Quellungsförderung der Hauptfaktor bei spezifischen Wir- 
kungen der Lithiumsalze und der Rhodanide ist, werde ich auch ın 
der nächstfolgenden Publikation zeigen können. Für die Lithium- 
salze geht sie in unzweifelhafter Weise auch aus den oben zitierten 
Untersuchungen Stockard’s an Fundulus-Embryonen hervor. an 
denen eine ganz beträchtliche Vergrößerung der jedenfalls irgend- 
welche Eiweißkörper enthaltenden Furchungshöhle, eine starke Auf- 
blähung derselben, stattfindet, wenn das Seewasser Li-Salze enthält. 
Wie schon erwähnt wurde, sprechen viele Beobachtungstatsachen 
dafür, dab durch oberflächliche Ausfällung der Zellkolloide durch 
Salze die Zellen undurchlässiger werden für die im Aubenmedium 
gelösten Stoffe. Reagenzelasversuche haben dann auch gelehrt, daß 
bei Zusatz eines Salzes, das wie Lithiumsalze selbst stark fällend 
wirkt, zu einer anderen Salzlösung, also etwa Meerwasser, auch das 
Fällungsvermögen der anderen Salze gesteigert wird. Das wäre nun 
bei den Zellen ein weiterer Faktor, der bewirken würde, daß bei Lithium- 
zusatz die anderen Salze des Meerwassers schwer in die Blastula- 
zellen oder durch die Zellen in das Blastocoel gelangen können. Dies 
macht sich nun bei den Calciumsalzen an den Seeigellarven sogleich 
in auffälliger Weise bemerkbar. Gelangen nämlich zu wenig Calcium- 
salze in das Blastocoel und die Mesenchymzellen, sd reicht der Kalk- 
vorrat nicht mehr aus zur Anlage eines normalen Skelettes; und ın 
der Tat ergab sich in Herbst’s Versuchen, daß den Lithiumlarven 
jede Spur eines Kalkskelettes fehlt. 

Bringt man Larven, die eine Zeitlang im Lithiumseewasser g2- 
halten wurden, noch vor der Urdarmbildung in reines Seewasser Zu- 
rück, so entwickeln sie sich auch zu Exogastrulen. Das Lithium 
wirkt nach, denn es kann aus der Niederschlagsbildung in den Zellen 
nicht so leicht wieder herausdiffundieren. Es übt seine quellungs- 


8) Ch, Stockard, Journ, exp. Zool, 3, S, 107 (1906), 








J. Spek, Experimentelle Beiträge zur Physiologie der Zellteilung. 35 


fördernde Wirkung auch weiter aus. Zu neuen Niederschlagsbil- 
dungen kann es aber nicht mehr kommen. 

Jetzt werden die anderen Salze des Meerwassers nicht mehr 
schwerer als normalerweise in und durch die Zellen eindringen. Ja 
durch die gequollenen Zellkolloide werden sie sogar leichter durch- 
diffundieren, so wie auch im Reagenzglas gelöste Stoffe um so rascher 
durch eine Gallerte diffundieren, je wasserhaltiger diese ist. ©. 
Herbst fand auch wirklich in den ins Seewasser zurückgebrachten 
Li-Larven häufig ein ganz bedeutend entwickeltes Kalkgerüst. Jetzt 
war also sogar mehr Kalk als normalerweise in die Mesenchymzellen 
gelangt! | 
Eine Verminderung der Permeabilität der Blastulazellen kann 
“unter Umständen auch bewirken, daß osmotisch wirksame Substanzen 
des Blastocoels aus diesem schwerer entweichen können und somit 
der osmotische Druck im Blastocoel noch höher wird. Andererseits 
wird dann eine Permeabilitätssteigerung zu einer Verminderung des 
osmotischen Druckes des Blastocoels führen. Bei Entfernung des 
stark fällend wirkenden Sulfations aus dem Meerwasser ist im Sinne 
der obigen Ausführungen eine solche Steigerung der Permeabilität 
und damit eine Verminderung des osmotischen Druckes zu erwarten, 
und wir sehen auch, daß in den SO,-freien Zuchten von Asterias- 
Larven mehr oder weniger auffallend faltige, schlaffe Larven ent- 
stehen. Magnesiummangel hingegen bewirkt durch die allgemeine 
Fällungssteigerung eine Erhöhung des osmotischen Druckes im Blasto- 
coel, so daß die Blastulae stets eine straff gespannte Wandung haben. 


Experimentelle Beiträge zur Physiologie der Zellteilung. 
Vorläufiger Bericht. 
Von Dr. Josef Spek. 


(Aus dem zoologischen Institut der Universität Heidelberg.) 


In der Literatur ist schon wiederholt — freilich nur ganz neben- 
bei und mit nicht gerade sehr präzisen Begründungen — die Vermutung 
ausgesprochen worden, daß eine gesteigerte Aufnahme von Wasser 
in die Zellen diese zu regeren Zellteilungen veranlaßt. Es hat dann 
aber auch an Vertretern der entgegengesetzten Ansicht nicht gefehlt, 
die sagten, daß gerade eine Wasserentziehung bei den meisten An- 
regungen von Zellteilungen der ausschlaggebende Faktor sei. 

In meiner im vorhergehenden Aufsatz zitierten Arbeit über die 
Ursachen der Gastrulainvagination hatte ich auch schon Gelegenheit 
dieses Problem theoretisch zu erörtern!) und ich zählte dort die 


1) Josef Spek, Kolloidchem. Beihefte, 9, S. 316ff. (1918). 


DA J Spek, Experimentelle Beiträge zur Physiologie der Zellteilung. 


experimentellen Befunde anderer Autoren auf, die meiner Ansicht 
nach dafür sprachen, daß eine Steigerung der Wasserabsorption, eine 
gesteigerte Aufquellung der Zellkolloide, Zellteilungen eintreten lasse, 
und daß auch normalerweise die Zellteilung von diesen Veränderungen 
der Plasmakolloide begleitet sei. Was mir hiefür sprach, war — kurz 
rekapituliert — folgendes: 

1. Nach der Befruchtung und bei jedem elle äheien bei der 
Furchung findet eine beträchtliche Steigerung der Durchlässigkeit 
der Zellen statt, die sich bei Berücksichtisung aller Nebenumstände 
am einfachsten- durch eine in diesen Stadien gesteigerte Wasser- 
absorption der Zellen erklären ließe?). 2. Bei der Zellteilung findet 
bisweilen (leicht nachweisbar bei beschalten Rhizopoden ; große Volum- 
unterschiede auch bei gewissen Endothelzellen) eine ganz beträcht- 
liche Volumvergrößerung der Zellen statt, die so rasch erfolgt, daß sie 
nicht durch Vermehrung organischer Substanz verursacht worden 
sein kann. Auch für Furchungszellen liegen Beobachtungen vor, die 
für einen während der Zellteilung vorübergehend erhöhten Innendruck 
(Quellungsdruck) sprechen und 3. fällt es auf, eine wie große Ro!ls 
unter den parthenogenetisch wirkenden Substanzen Stoffe spielen, 
welche die Quellung der Kolloide mächtig zu fördern vermögen. Be- 
sonders wichtig ist diesbezüglich eine Arbeit von R. Lillie?), die 
beweist, daß auch eine Parthenogenese mit reinen Salzlösunzen 
(Natrium- und Kalinmsalzen), um so besser und leichter gelingt, je 
stärker diese Salze die Quellung begünstigen ®). 

Absolut beweisend und ganz eindeutig waren diese Beobachtungen 
noch nicht, und ieh versuchte daher dureh eingehende experimentell» 
Untersuchungen, die Beweisführung auf eine sichere Basis zu stellen. 
Über die Hauptergebnisse meiner Untersuchungen will ich hier in 
aller Kürze berichten. Die Hauptarbeit wird in den kolloidehemisch®n 
Beiheften Prof. Wolfe. Ostwald’s erscheinen. 

Der leitende Grundeedanke bei meinen Arbeiten war folgender: 
Wie wir in der vorigen Publikation S. 18u. 19 schon sahen, läßt sich die 
Quellung der Kolloide in hohem Grade sowohl fördernd, als auch 
hemmend durch Salze beeinflussen. Die Wirkune der Salze auf die 
Quellung addiert sich aus den Einzelwirkungen ihrer Ionen. Sowohl 
die Kationen als auch die Anionen ordnen sich ganz gesetzmäßig in 
bestimmte „Quellungsreihen“ ein (s. o. das Genauere). Diese Reihen 
lauten: Li>K > Na > Ca und Rhodanid > Jodid > Bromid > Chlo- 
rid > Sulfat. Am vorderen Ende der’ Reihe stehen die stark quel- 
lungsfördernden Ionen, am hinteren die entquellend wirkenden. Es 
ließ sich nın erwarten, daß sich auch die Zellteilungen nach diesen 


9) Dan auch über die folgenden Punkte siehe in der zit. Gastrulaarbeit. 

3) R. Lillie, Amer. Journ. of Physiol. 26, 106 (1910). 

4) Diese Deutung wurde diesen Befunden von R. Lillie selbst noch nicht 
gegeben. Siehe J. Spek, I. c, S. 320. 


re 


Ne 


J. Spek, Experimentelle Beiträge zur Physiologie der Zellteilung. 95 


Ionenreihen durch Salzzusätze zum natürlichen Medium der Zellen 
beeinflussen lassen, wenn wirklich eine gesteigerte Wasserabsorption 
der Zellen Zellteilungen anregte. Diese Erwartung hat sich in über- 
zeugender Weise bestätigt. 

Die Versuche wurden mit Kulturen von Paramaecium caudatum 
ausgeführt. Das Kulturmedium waren Heuinfusionen, die durch 
10 Minuten langes Aufkochen alten Heues erhalten wurden. Die Kul- 
turen wurden stets mit einzelnen Schwestertieren angesetzt, d. h. ein 
Schwestertier wurde in Heuinfusion —- Salzzusatz gesetzt und ein 
zweites zur Kontrolle in reine Infusion. Die Kulturen wurden min- 
destens jeden zweiten Tags, oft aber auch jeden Tag gewechselt und 
dabei mit Hilfe langer feiner Glaskapillaren unter der Präparierlupe ge- 
zählt. Es wurden immer alle Tiere weitergeführt und die Kulturen, 
je nach dem, wie rasch sie sich entwickelten, am vierten bis siebenten 
Tag abgebrochen. Ich legte größeres Gewicht darauf die Versuche 
auch mit möglichst verschiedenem Material auszuführen und damit 
die gewonnenen Resultate auf ihre Allgemeingültigkeit zu prüfen, 
als eine oder wenige Linien monatelang zu züchten und etwaige perio- 
dische Schwankungen in ihrem physiologischem Verhalten festzu-. 
stellen, so wie das einige amerikanische Forscher (Woodruf, Cal- 
kins u. a.) gemacht haben, die auch schon einige Salze auf ihre Ein- 
wirkung auf die Teilungsgeschwindigkeit von Infusorien (besonders 
Paramaecium und @Gastrostyla) untersuchten. Solche periodische 
oder „rythmische* Schwankungen, die dann physiologischen Gesetz- 
mäßigkeiten der Versuchszellen zugeschrieben werden. könnten 
nach meinen Erfahrungen unter Umständen doch nur (wenig- 
stens zum Teil) durch allmähliche, wenn auch noch so gering- 
fügise Änderungen in der Beschaffenheit der verwendeten Kultur- 
medien, die auch bei noch so genau eingehaltener Gleichheit der Her- 
stellungsmethode eben doch nicht immer gleich ausfallen können, her- 
vorgerufen werden. 

Auch gegen die Methode der genannten Forscher, die Salze in 
ihren reinen Lösungen kurze Zeit auf die Infusorien einwirken zu 
lassen (eine längere Einwirkungsdauer vertragen die Tiere meist nicht), 
und sie dann in reine Infusion zu übertracen, habe ich meine Be- 
denken. Zwar ist ja natürlich auch das von Interesse, zu wissen, wie 
ein soleher kurzer Aufenthalt in’ Salzlösungen nachwirkt, aber ein- 
fache Versuchsbedingungen werden durch diese Versuchsanordnung 
nicht geschaffen. 1. Kann nämlich das Fehlen der Salze der normalen 
Umgebung des Infusors in der betreffenden reinen Salzlösung schon 
allein eventuell einen ebenso großen Einfluß auf die Zellteilung aus- 
üben wie das Hinzukommen neuer Ionen. 2. Kann das betreffende 
Salz, wenn es in reiner Lösune wirkt, in der nach vielseitigen Erfah- 
rungen die Durchlässigkeit der Zellen eine viel höhere ist als in 
Lösungen mehrerer Salze, auch viel stärkere Zustandsänderungen in 





36 J. Spek, Experimentelle Beiträge zur Physiologie der Zellteilung. 


den Zellen hervorrufen, die leicht die Grenze des physiologisch Nor- 
malen überschreiten und hiedurch schon zu negativen Resultaten 
führen können. Es ist somit kein Wunder, dab Woodruff?) bei 
öfters wiederholter kurzer Einwirkung seiner Lösungen von Kalium- 
phosphat Kaliumchlorid, Kaliumbromid, Natriumchlorid und Kalium- 
sulfat überall negative Teilungszahlen gegenüber der Kontrolle (Ver- 
suchstier: Gastrostyla) erhielt, während er bei einmaliger Behand- 
lung der Tiere mit diesen Salzen bei bestimmten Konzentrationen als 
Nachwirkung einen schwachen positiven Ausschlag bekam. Auch schon 
die Übertragung der Tiere aus der reinen Salzlösung in die Infusion 
könnte übrigens irgendwie als „Reiz“ auf die Teilungsgeschwindigkeit 
einwirken. — Schließlich muß bedacht werden, dab schwer eindringende 
Salze bei kurzer Einwirkung vielleicht überhaupt nicht in die Zellen 
selangen. 

In meinen Versuchen ließ ich die zur Infusion zugefügten Salze 
dauernd einwirken. Sie wurden in einer Menge von 0,6—-1,5 cem (in 
den meisten Versuchen 1.0 ccm) einer 0,3 m Lösung zu 19 ccm Heu- 
infusion zugefügt. Da eine Heuinfusion (nach Angaben von Esta- 
brook®), wenn nach dessen Methode hergestellt) einen osmotischen 
Druck von 0,44 Atmosph. hat, waren alle meine Salzinfusionen gegen- 
über der Kontrolle schwach hypertonisch. 

Salze, die wie Phosphate auch chemisch auf den Stoffwechsel 
der Zellen einwirken dürften, habe ich in meine Versuchsreihen nicht 
einbezogen. — 

Wenden wir uns nun der Besprechung der Hauptresultate der 
Versuche zu! Nach meiner oben bespröchenen Arbeitshypothese waren 
die stärksten und entscheidendsten Resultate von Salzen zu erwarten, 
deren Ionen (oder doch wenizstens ein Ion) am einen oder am anderen 
Ende der Quellungsreihe stehen. Für eine starke Teilungsförderung 
kamen also in erster Linie in Betracht Lithiumsalze einerseits und 
Rhodanide andererseits. Ich berann meine Versuche mit Lithium- 
Gh. lo:r1d} 

Tabelle 1 gibt die Zählungsergebnisse von fünf Lithiumchlorid- 
versuchen wieder, die beliebig aus einer Serie von 23 Versuchen mit 
diesem Salze, die alle im Winter 1917 ausgeführt wurden, ausgewählt 
sind. In allen Tabellen werden die Zahlen der ersten, zweiten, dritten 
u.s.w. Rubrik (von links nach rechts) die Zahl der Tiere in den Kul- 
turen am 1., 2., 3., u.s.w. Tag bedeuten.: A bedeutet stets die behan- 
delte, a die unbehardelte Kultur. Werden unter der gleichen Nummer, 
also z. Be KSCNT7T A und a. B und b, C und e angeführt, so heißt das, 
daß alle diese Versuche mit Schwestertieren ausgeführt wurden. Die 
Zahl unter der Versuchsnummer gibt an, wie viele ccm einer 0,3 m 
Salzlösunge zu 19 ccm Heuinfusion zugesetzt wurden. 


5) L. L. Woodruff, Journ. exp. Zoology, 2, 585 (1905). 
6) A. H. Estabrook, Ibidem, 8, 489 (1910). 













Syn. ae A rs a 5 


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J. Spek, Experimentelle Beiträge zur Physiologie der Zellteilung. 27 


Tab. 1. Lithiumchlorid. 











5 
4 
4 
4 





























Wir ersehen aus den angeführten Zahlen, dab sich für Lithium- 
chloria in sehr überzeugender Weise eine starke Förderung der Zell- 
teilungen ergab, die öfters das Zwanziglache der Kontrolle erreichte. 
Alle die erwähnten 23 Winterversuche mit LiCl stimmten in ihrem 
Endresultat ohne Ausnahme überein, alle waren stark positiv. Alle 
Tiere der Lithiamkulturen sahen vollständig normal aus, unter- 
schieden sich aber in den meisten Kulturen dadurch von den Kontroll- 
tieren, daß sie vom zweiten oder dritten Tag an deutlich dicker waren. 

Da die Salzkulturen nicht mehr Bakterien enthielten als die Kon- 
trollen, kann der erwähnte Volumunterschied nur auf die von der 
Theorie erwartete stärkere Wasseraufnahme der Lithiumtiere zurück- 
geführt werden. Sie erfolgt also auch in den schwach hypertonischen 
Salzlösungen, ein Beweis dafür, daß sie nicht oder doch nicht aus- 
schließlich durch osmotische Verhältnisse bedingt wird, sondern durch 
die Gesetze der Quellung der Kolloide. 

Nach Erfahrungen, die an anderem Material gemacht wurden, 
dringt das Lithiumion ziemlich schwer in die Zellen ein. Ich habe 
das vor allem auch auf seine stark fällende Wirkung zurückgeführt ?). 
Eine oberflächliche Ausfällung der Zellkolloide muß ein weiteres Ein- 
dringen der Salzionen natürlich erschweren und das Bestehenbleiben 
des stärkeren osmotischen Druckes im Außenmedium begünstigen, bis 
schließlich die in so schwachen Konzentrationen etwas langsam erfolgende 
Quellungsförderung durch die Lithiumionen alle anderen Wirkungen 
an Stärke absolut übertrifft. Ich erwähne nochmals, dab die bedeu- 
tende Volumzunahme meist erst am zweiten oder gar dritten Tag ein- 
trat, und, wie auch Versuch 2 und 5 zeigen, trat öfters in den ersten 
Tagen sogar eine Verminderung der Teilungszahl gegenüber der Kon- 
trolle ein, was sich auch aus den erwähnten physikalischen Eigen- 
schaften des Lithiums erklärt. 


7) J. Spek, Kolloidchem. Beihefte 9, 259 (1918). 


g f ir ER N A A 
. j NN San Tl, 


28 'J. Spek, Experimentelle Beiträge zur Physiologie der Zellteilung. 


Es erscheint mir zweckmäßig hier gleich einige Versuche mit 
Rhodankalium anzuschließen, um zu zeigen, daß ein Salz, das 
dieselben oder doch sehr ähnliche physikalische Eigenschaften hat wie 
LiCl, auch dieselben physiologischen Wirkungen ausübt. 


Tab. 2. A. Rhodankalium. 


















































KSCN1 A 4 67 373 958 

0.4 iS 30 41 89 
KSCN2 | A 5 63 307 1830 

09 | a 4 33 58 39 
KSCN3 | A 8 68 83 512 1012 

065. a 4 92 95 7081206128 

KSCN4 I A 4 54 342 1315 

101280028 81 EEE 
KSON 5 A 46 407 600 | 

08| a Nraez 125 198 


Dasselbe Resultat, wie die mitgeteilten fünf Rhodankaliumver- 
suche, hatten noch 17 weitere, die im Winter 1917/18 angesetzt wur- 
den. Überhaupt kein einziger Versuch mit Tieren aus den damaligen 
Stammkulturen, die aus Tümpelwasser mit Algen bestanden, und in 
die Stückchen von Steckrüben als Nährstoff für Bakterien. eingelegt 
wurden, ergab ein negatives Resultat, alle waren absolut positiv. Auch 
die Rbodankali-Tiere zeichneten sich durch größere Dieke vor den 
Kontrolltieren aus, ohne daß die Salzkulturen bakterienreicher ge- 
wesen wären. Interessanterweise waren auch die Rhodankali-Kul- 
turen oft, so wie das Versuch 4 und 5 zeigen, bis zum zweiten Tag 
negativ, um dann eine rapide Vermehrung einzugehen, genau so, wie 
wir das für das Lithiumehlorid feststellten und theoretisch erwar- 
teten, hat doch auch Rhodankalium ein starkes Fällungsvermögen 
(bei Gerenwart von Kalksalzen) einerseits und übt andererseits einen 
starken fördernden Einfluß auf die Quellung aus, wobei, wie wir.sehen 
werden, das SCN-Ion den Ausschlag gibt. 

Bei einer Nachprüfung dieser Befunde über die Wirkung der 
Lithiumsalze und Rhodanide im Frühjahr 1918 mit Tieren aus neu- 
angesetzten Steckrüben-Stammkulturen ergab sich, daß nur ca. 40 %o 
der zahlreichen neuen KSCON-Kulturen die starke Vermehrung im 
KSCN zeigten. War das der Fall, so war auch immer die Aufquellung 
der Tiere wahrnehmbar. Ein hoher Prozentsatz zeigte aber nichts 
von einer solchen Aufquellung und Volumzunahme und die Versuche 
fielen dann meist sogar schwach negativ aus und blieben auch nega- 
tiv. Tiere einer Linie verhielten sich, so oft auch neue Versuche mit 
ihnen angesetzt wurden, immer gleich, d. h. immer stark positiv oder 


1 


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J. Spek, Experimentelle Beiträge zur Physiologie der Zellteilung. 2) 


immer: negativ; es liegt also nicht etwa bloß eine Vortäuschung 
falscher Tatsachen durch zufällige Verschiedenheiten der Ausgangs- 
tiere vor. Einige Stichproben mit LiCl ergaben immer dasselbe Re- 
sultat wie die KSON-Versuche, waren also zum Teil auch negativ. Ein- 
gehende Untersuchungen ergaben, dal nicht äußere Bedingungen die 
Ursache der negativen Resultate waren. Es scheint vielmehr ein 
verschieden hoher Gehalt der Zellen oder vielleicht auch nur der Zell- 
membranen an nicht quellbaren Substanzen lipoider (fettähnlicher) 
Natur die verschiedene Empfindlichkeit der Paramaecien quellend 
wirkenden Salzen gegenüber zu bedingen. Sind sie in größerer Menge 
vorhanden, so verhindern oder erschweren sie eine stärkere Wasser- 
aufnahme über ein gewisses Mab hinaus, außerdem aber wohl auch 
das Eindringen des betreffenden Salzes, so dab es dann in der hyper- 
tonischen Lösung sogar teilungshemmend wirkt. Durch eine Vorbe- 
handlung mit Äther, durch den dann offenbar jene Lipoide teilweis. 
herausgelöst werden (die Tiere werden glashell), gelang es mir in 
vielen (aber nicht allen) Fällen auch mit Tieren negativer Linien 
positive Rhodankali-Resultate zu erhalten. 

Die Beschaffenheit des Paramaecienplasmas und damit auch 
dessen physikalische Eigenschaften scheinen mit den Jahreszeiten 
zu variieren®). Im Sommer (Juli) erwiesen sich nämlich die Para- 
maecien noch viel weniger quellbar als im Frühjahr, während aus An- 
fang September angesetzten Stammkulturen wieder 100% der Tiere 
in Lithium- und Rnodankalium-Kulturen positive Versuchsergebnisse 
lieferten. Übrigens ist auch die Nahrung in dieser Hinsicht nicht ohne: 
Einfluß. Aufquellung und Vermehrung dieser Herbsttiere war dabei 
zum Teil noch nicht besonders stark (aber doch stets positiv), zum 
Teil aber ganz außerordentlich. Kleine, unter der Lupe leicht überseh- 
bare Rassen wuchsen im LiCl zu den stattlichsten Exemplaren heran. 
Auch wurden bei neuen LiCl- sowie auch KSON-Versuchen wiederholt 
in den ersten 48 Stunden aus 1 Ausgangstier 230—260 erhalten, wäh- 
rend die Kontrolle gerade in diesen Fällen sehr wenige, nämlich 
16—25 Tiere enthielt. — Bei dieser Gelegenheit soll noch erwähnt. 
werden, dab sehr bakterienreiche Intusionen kein günstiges Medium 
für Lithiumversuche sind. — 

Von anderen Lithiumsalzen wurden bis jetzt Lithiumbro- 
mid und Lithiumsulfat untersucht. Das Bromid wirkt — ceben- 
falls in 0,015 m Konzentration (auf das Gesamtvolum bezogen) zuge- 
setzt — bisweilen auf die Tiere etwas schädigend. Man findet hie und 
da anormale Formen in den Kulturen. In der Regel sind aber keine 
solche Anzeichen einer Schädigung vorhanden und dann erfolgt auch 
in den LiBr-Kulturen eine starke Wasserabsorption (Größenunter- 

*) Zusatz bei der Korrektur: Diese Vermutung wurde „urch spätere Erfah- 
rungen nicht bestätigt. 


HUN. ER 


vn Kr A el 
ER hy 


30 J. Spek, Experimentelle Beiträge zur Physiologie der Zellteilung. 


schied!) und Steigerung der Teilungsgeschwindigkeit wie in LiCl- 
Kulturen, bisweilen werden diese sogar übertroffen. Die Versuche 
wurden am Septembermaterial ausgeführt. 

Lithiumsulfat ist nun ein Lithiumsalz, das in höheren Konzen- 
trationen auf Kolloide entquellend wirken kann. Es übertrifft dann die 
Wirkung des Anions die des stark quellungsfördernden Kations. In 
geringen Konzentrationen aber ist (auch bei anderen Sulfaten) noch 
gar keine entquellende Wirkung des SO,-Ions (z. B. auch in Gelatine- 
versuchen) zu konstatieren und beim Lithiumsulfat kann dann sogar 
der fördernde Einfluß des Li-Ions auf die Quellung deutlich zum Vor- 
schein kommen. Meine Versuche mit Lithiumsulfat, zu denen immer 
auch eine Kontrolle mit LiCl angesetzt wurde, ergaben für Sulfatkul- 
turen one Ausnahme eine geringere Zahl als für die Chloridkulturen. 
Die Sulfatkulturen waren oft auch gegen die Kontrollen ohne Salz- 
zusatz stark negativ. Waren aber die Paramaecien im LiCl besonders 
stark quellbar, so trat auch im Li,SO, eine beträchtliche Teilungs- 
steigerung und Aufquellung ein. Ich lasse in Tabelle 3. einige Zäh- 
lungsresultate folgen. 


Tab. 3. Lithiumsulfat. 












































Tab. 3a. Lithiumsulfat. 




















1808. 1223194301 1797 
ER 577 
Li,So, 3 








1,2 

















Zu diesen Tabellen muß noch ein besonderer Kommentar gegeben 
werden. Die Versuche Li,SO, 1—3 waren nämlich mit Tieren ange- 
stellt, die eine stufenweise zunehmende Empfindlichkeit gegen die 








J. Spek, Experimentelle Beiträge zur Physiologie der Zellteilung. By 
Lithium-Ionen zeigten. Die des ersten Versuches zeigten im LiCl 
kaum einen Volumunterschied gegenüber der Kontrolle und auch die 
Zahlenunterschiede zwischen LiC] © und ce sind noch nicht sehr grob. 
Wesentlich größer waren sie in LiC12, und schließlich LiC13C zeigte 
sowohl eine starke Vermehrung als auch eine ganz bedeutende Dicken- 
zunahme. Diesem Verhalten der Chloridkulturen läuft das der Sulfat- 
kulturen vollständig parallel: L,SO,1 war absolut negativ, LiSO,2 
ungefähr gleich mit seiner Kontrolle und LiSO,3 positiv. In diesen 
letzten Versuch waren am 4. Tag die LiCl C-Kultur und die Kontrollen 
in den reinen Heuinfusionen fast ganz bakterienleer, die Bakterien 
hatten sich am Boden abgesetzt. In den Suliatkulturen hingegen er- 
folgte dieses Absetzen erst einen Tag später, so dab ihre starke Ver- 
mehrung zum Teil auch hiedurch gefördert wurde. So hohe Zahlen 
erreichten aber die Li,SO,-Kulturen anderer Versuche überhaupt nie. — 

Ich wende mich nun zur Besprechung der Versuche mit den Chlo- 
riden der übrigen Alkalimetalle, also Kaliumchlorid und Na- 
triumchlorid. Um die Resultate dieser Versuche richtig zu ver- 
stehen, müssen wir meiner Ansicht nach außer der Quellungsbeein- 
flussung durch diese Salze hauptsächlich noch einen Faktor in Be- 
tracht ziehen, das Fällungsvermögen. Lithiumsalze und Rhodanide 
besitzen eine ganz beträchtliche Fällungswirkung. Diese bedingt 
meiner Ansicht nach®), dab diese Salze nur schwer in die Zellen 
eindringen und mehr oder weniger in den oberflächlichen Partien 
des Plasmas verbleiben. NaUl wirkt schon wesentlich schwächer fäl- 
lend als LiCl, und KCi noch viel weniger; um so ungehinderter 
werden also diese Salze in das Zellinnere gelangen. Dies aber dürfte 
kaum ohne Folgen für die Beschaffenheit der Zellkolloide und auf 
Lebensäubßerungen der Zelle wie z. B. die Zellteilung bleiben. Manches 
spricht mir jetzt schon dafür (soll aber später noch experimentell 
geprüft werden), daß die Zellteilungen um so mehr erschwert 
werden, je höher der Gehalt des Plasmas und vor allem auch 
des Zellinnern an Salzen wird. So könnte denn auch in unseren 
Salzversuchen dieser Faktor die Oberhand gewinnen, den Ausschlag 
geben, wenn die Quellungsbeeinflussung nicht allzu groß ist. Kalium 
wirkt auf die meisten toten und lebenden Kolloide ziemlich quellungs- 
fördernd ein. Es fehlt aber auch nicht an Angaben, wonach in ge- 
wissen Fällen die Quellungsbegünstigung durch Kalisalze die durch 
Natriumsalze kaum übertrifft. Die des Natriumchlorids ist recht 
gering. 

Das Resultat meiner KÜOl- und NaCl-Versuche war nun folgendes: 
Eine Volumzunahme (durch stärkere Wasserabsorption) wie an den 
Tieren der Lithium-Kulturen war an KCl-Tieren nie zu beobachten. 
Eine stärkere (aber nie bedeutende) Vermehrung der KÜUl-Kulturen 


8) J. Spek, Il. c. 


EI TRER 


32 J. Spek, Experimentelle Beiträge zur Physiologie der Zellteilung. 


als in ihren reinen Kontrollen fand überhaupt nur in ganz wenigen 
Fällen einer größeren Reihe von Versuchen statt. Die weitaus über- 
wiegende Mehrzahl der KÜUl-Versuche fiel negativ aus. 

NaCl ist ziemlich indifferent. Die Zahlen der behandelten und 
unbehandelten Kulturen schwanken in den ersten Tagen ohne wesent- 
liche Abweichung um die Durchschnittszahl. Früher oder später wer- 
den dann aber fast sämtliche NaÜl-Versuche schwach negativ. Der 
negative Ausschlag der KCl-Kulturen war im Durchschnitt größer 
als der der NaCl-Kulturen. Ob die selten erhaltenen positiven KOl- 
und NaÜUl-Kulturen durch eine Begünstigung der Wasseraufnahme 
des in diesen Fällen besser quellbaren Paramaecienplasmas herbeige- 
führt wurden, oder ob in diesen Fällen bloß zufällig die Tiere der 
Salzkulturen in besseren inneren Bedingungen waren, ließ sich nicht 
entscheiden. Tabelle 4 gibt einige Zählungsergebnisse von KÜl- und 
NaCl-Kulturen wieder. 


Tab. 4& Kaliumchlorid und Natriumchlorid. 

























































































kcaıı IA ı6 | 40 | 102 || nacııla 20 |ı08 | 300. 
0,8] a_ 16 | 114 | 335 ee 32 | 180 | 686 _ 
Kos. 1A. 08 12 40 | 4122 NaCl2[ A 1 101 | 443 
12] a 6 40 | 200 | 520 12la| 29 | 120 | 580 
Kcl3 IA 8 14 90 ca. 18Uj| NaCl 3 Ä 16 90 | 198 
12] a 8 51 | 375 ea. 60 10a 32 | 112 | 340 
KOLAF AU GES 22 2 | Na0l4| A 91 | 1695 
E.01,.a. 1A 57 | 330 1,0l a 60 | 1010 














Das negative Ausfallen der KOl- und NaÜCl-Versuche führe ich, 
wie erwähnt, auf eine allmähliche Anreicherung der Salze im 
Innern der Infusorienzelle zurück. Diese dürfte nach allen diesbezüg- 
lichen Erfahrungen beim KÜOl größer sein als beim NaCl. 

Den Kochsalzversuchen schließe ich noch einige Mitteilungen 
über Natriumsulfatversuche an. Wir haben da ein Salz vor uns 
mit ziemlich indifferentem Kation und entquellend wirkendem An- 
ion. Es soll hier nochmals wiederholt werden, daß Sulfate auf viele 
tote Kolloide in ganz geringen Konzentrationen schwach quellungs- 
fördernd wirken können, und daß dann erst bei steigender Konzen- 
tration sich eine starke entquellende Wirkung einstellt. Genau die- 
selbe, d. h. gleichsinnige Wirkung, übte das Natriumsulfat auch auf 
die Teilung der Paramaecien aus. Wenige Versuche, wurden mit einem 
Zusatz von 1,0 ccm einer 0,3 m Lösung von Na,SO, zu 19 ccm Heu- 
infusion ausgeführt. Sie fielen schwach positiv oder mit der Kontrolle 
gleich aus. Dann wurden eine große Anzahl von Versuchen mit etwas 
höherer Konzentration (1,2 cem der gleichen Lösung) angesetzt (LiC] 
wirkt in dieser Konzentration noch stark teilungsfördernd). 16 von 


J. Spek, Experimentelle Beiträge zur Physiologie der Zellteilung. 33 
18 dieser Versuche fielen stark negativ aus, 2 positiv. Tabelle 5 gibt 
den Zahlenbeleg für das Gesagte. 

In älteren Infusionen, denen Sulfalt zugesetzt ist, setzen sich 
bisweilen die Bakterien rascher auf den Boden ab, als in den reinen 
Kontrollen. Versuche mit einem solchen Bakterienunterschied wurden 
ausgeschieden. In Na5SO,3 war die Kontrolle sogar bakterienärmer. 

Zum Schluß führe ich hier noch einige Chlorcalcium ver- 
suche an. Die Vermehrung des Gehaltes der Infusionen an den stark 


Tab. 5. Natriumsulfat. 




































































Na,So, 1 A 5 90 502 
LOSE Da Te 230 
Na,So, 2 A 7 De | 
BOT. a 27 158 1700 
Na,So, 3 A ee 167 675 
Dal a 16 282 1505 
Na,So, 4 A 8 110 398 
a 1257 1920 
Na,So, 5 A 16.4] 650 
1 33 | 1847 





dehydrierend wirkenden Calciumionen hatte in 100 % der Versuche 
eine bedeutende Verzögerung der Teilungen zur Folge. Ein Umstand 
muß aber bei den Versuchen berücksichtigt werden. Das Chlorcalcium 
fällt die Bakterien der Infusion oft (aber nicht immer, oder doch 
häufig nur unwesentlich) aus. Es kann sich ein dicker Bakterien- 
niederschlag am Grunde des Gefäßes sammeln; die Paramascien krie- 
chen mit Vorliebe in diesen hinein und können sich hier ganz besonders 
gut herausfüttern. Auf diese Weise wird dann der Versuch inexakt, 
denn so wohlgenährte Tiere teilen sich ja rascher. Kulturen mit stark 
agglutinierten Bakterien wurden ausgeschieden. 

Die hemmende Wirkung des Ca0l, macht sich schon bei sehr ge- 
ringen Zusätzen (0,3 ccm einer 0,3 m Lösung zu 19 ccm Infusion) gel- 
tend. Die in der letzten Reihe angeführte Kaliumrhodanidkontrolle 
läßt den kolossalen, diametral entgegengesetzten Einfluß des quel- 
lungsfördernden und des entquellend wirkenden Salzes schön zutage 
treten. 

DieHauptergebnisse der beschriebenen Versuche lassen sich in 
folgende Sätze zusammenfassen: Die Teilungsgeschwindigkeit der 
Paramaecien läßt sich in hohem Grade durch Salze, die in ziemlich 
geringen Mengen dem normalen Medium zugesetzt werden, beein- 
flussen. Diese Beeinflussung erfolgt im Sinne der Quellungsreihe der 
Ionen. Den stärksten Einfluß üben solche Salze entweder im einen 
oder im anderen Sinne aus, welche ein Ion besitzen, das an einem 

Band 39, 3 


34 J. Spek, Experimentelle Beiträge zur Physiologie der Zellteilung. 


Ende der Quellungsreihe steht, also stark quellungsfördernd oder 
stark quellungshemmend wirkt, und deren zweites Ion nicht entgegen- 
gesetzte Eigenschaften hat. Es wirkt also z. B. LiCl stark begün- 
stigend auf die Teilung der Paramaecien infolge der stark quellungs- 
fördernden Wirkung des Li-Ions, KSCN wegen der gleichen Wirkung 
des SCN-Ions. Andererseits sind z. B. CaCl, und Na,SO, Salze, die stark 
teilungshemmend wirken, da beim ersten Salz das Kation, beim zweiten 


Tab. 6. Caleciumchlorid. 











29.1 34 


CaQl, 1 As | 21 
0,7 30 




















CaCl, 4 
0,9 




















das Anion am negativen Ende der Quellungsreihen der Ionen steht. 
Salze, deren Ionen auf die Quellung keinen großen Einfluß aus- 
üben, sind auch in ihrer Wirkung auf die Zahl der Teilungen ziemlich 
indifferent. Zum Teil dürften auch andere Faktoren von größerem 
Einfluß werden als die in diesem Falle schwache Veränderung der 
Wasserabsorption. -- Eine gesteigerte Wasserabsorption macht sich 
auch in einer Volumzunahme geltend. Trotz der wesentlich rascher 
aufeinanderfolgenden Teilungen kann ein bedeutender Dickenunter- 
schied erhalten bleiben. In den dehydrierend wirkenden Salzinfusionen 
sind die Tiere nur in dem Fall dünner als die Kontrollen, wenn sehr 
bakterienarme Infusionen verwendet werden. Sind die Infusionen 
bakterienreich, so wird die Volumabnahme bei der ständigen Nal- 
rungsaufnahme durch die geringere Zahl der Teilungen ausgeglichen. 
-— Bezüglich der Beeinflussung der Zellteilungen ließ sich in voll- 
ständiger Parallelität mit den Quellungsreihen die Kationenreihe Li > 
Na > Ca und die Anionenreihe SCN > Cl > SO, ermitteln. Bromide 
dürfen wir nicht ohne weiteres mit den übrigen Anionen vergleichen, weil 
sie schädigend wirken können, dieser Faktor also der Quellungs- 
förderung entgegenarbeitet. Die Stellung des Kaliums in der Kationen- 
reihe soll noch durch weitere Versuche genauer ermittelt werden. 









ba Dr Tan A SE ALTE bet Ze Are Fr, Dr 2 
a ea 


H. Henning, Forels Zugeständnisse an die Tierpsychologie. 35 


Forels Zugeständnisse an die Tierpsychologie. 
Von Privatdozent Dr. Hans Henning, Frankfurt a. M. 


Ganz meine Person und meine etwaigen Vorlieben ausschaltend 
kann ich sagen, daß Forel’s „Abwehr“ an dieser Stelle (Bd. 38, 
Nr. 8, S. 355£., 1915) eine Brücke zur experimentellen Psychologie 
schlägt. 

1. Forel hatte früher geruchlich einen „Ferngeruch“ (ana- 
log wie wenn wir rotes Bromgas in der Ferne sehen) von einem 
„Nahgeruch“ unterschieden; wogegen ich zeigte, daß die Riech- 
partikel bei jedem Geruchserlebnis an die Riechschleimhaut gelangen 
müssen, und daß es eine geruchliche Fern- oder Nahakkommodation 
analog dem Auge nicht gebe, sondern daß Nah und Fern sekundär ge- 
sehen, erschlossen, gewußt oder erinnert sein müsse. Selbst wenn 
die Fährte so gepinselt ist, daß der Geruch mit der Entfernung ab- 
nimmt, kann man das Nahe riechend nicht zugleich riechen, daß in 
der Ferne geringere Konzentrationen sind. Darin gibt mir Forel 
recht; man benötige in der Tat, wie ich dies einwandte, zur Erklärung 
von Nah und Fern andere als geruchliche Mechanismen. So gehört 
also dies der Vergangenheit an. 


2. Ich hatte behauptet, daß es die neurologische Stufen- 
folge übersehen und gesicherte Tatsachen nicht achten heißt, 
wenn man mit Forel annimmt, die neurologisch primitiven Ameisen 
denken logisch, lieben und hassen, fühlen sozial, ja sozialer als 
der Mensch mit seinem gewaltigen Großhirn. Darauf erwidert 
Forel,in der Annahme sozialer Instinkte läge keine Vernachlässigung 
der neurologischen Stufenfolge. Gewiß nicht, das hat auch niemand 
behauptet; es war vielmehr gesagt, daß das Ameisenhirn nicht die- 
selben Leistungen des logischen Denkens und Fühlens vollführen 
könne wie das menschliche Großhirn. Forel scheint mir nun darin 
zuzustimmen, denn er verteidigt diese der menschlichen analoge, ja 
überlegene Ameisenlogik und Gefühlswelt nicht mit einem Wort. 


3. Ich hatte darauf hingewiesen, daß Forelbei Insekten ohne 
weiteres ein dem menschlichen analoges Sehen annahm. Hier 
stimmt Forel mir nichtzu. So weise ich von meiner Person absehend 
auf die Darstellung von C. Hess (in Winterstein’s Handb. d. 
vergl. Physiologie Bd. 4, S. 652), der ausführlich zeigt, wie bei Forel 
„der Irrtum wiederkehrt, daß man auf Farbensinn schließt, weil die 
Tiere sich verschieden gefärbten Gegenständen gegenüber verschieden 
verhalten“. Ob man der Hess’schen Theorie vom Sehen der Insekten 
nach Art der Totalfarbenblinden zustimmt, oder v. Frisch (dessen 
Versuche übrigens nicht für ‚relativ blausichtige‘“, sondern für „rela- 
tiv gelbsichtige“ Rotgrünblindheit sprechen, ein bisher übersehener 
Lapsus), das ist eine andere Frage. Bei den zahllosen photochemisck 

3: 





36 H. Henning, Forels Zugeständnisse an die Tierpsychologie. 


möglichen Sehprozessen darf jedenfalls keine menschliche Analogie 
vorausgesetzt werden, sondern es sind zwingende Versuche nötig. 

4. Beim Wahrnehmungsprozeß hatte Forel darauf hingewiesen, 
daß die Ameisen sich infolge aufgespeicherter Vorgänge assoziativer 
Art orientieren ; ich hatte gesagt, daß bei der Wahrnehmung zunächst 
die Sinnesorgane und der äußere Reiz maßgebend sind. Hierüber hat 
sich einigermaßen eine Verständigung gebildet. Doch meint Forel, 
die peripheren (im Endapparat durch Reize ausgelösten) und die 
zentralen (im Großhirn ausgelösten) Prozesse wären ein wildes 
Durcheinander. Gewiß. Ebendeshalb verlangte ich ihre Analyse beim 
Tiere, wie die laufende Preisaufgabe der preußischen Akademie sie 
beim Menschen fordert, wie die Psychologie sie allerorten erarbeitet, 
wie die Neurologie und Erforschung der Gehirnlokalisation (auch der 
Psychiater, Ophthalmologen, Otologen, Physiologen u.s.f.) sie inten- 
siv erforscht, wie sie jetzt in zahlreichen Kopfschußstationen geprüft 
wird. Denn auf den Unterschied zwischen peripheren und zentralen 
Faktoren baut alles auf: die Theorien des räumlichen Sehens von 
Helmholtz wie von Hering, die neueren Arbeiten über die Lo- 
kalisation des Kontrastes, wie über die Rhythmik, die Gestalterlebnisse 
und zahllose Kapitel. Seit 1879 besitzen wir bereits schöne Zusammen- 
fassungen und Bücher über den Unterschied peripherer und zentraler 
Faktoren; die Spezialarbeiten gehen schon in die Tausende. Das 
„Durcheinander“ beider Faktoren ist deshalb heute nicht mehr so arg 
für den Kenner. Da gibt es heute keine Diskussion mehr darüber, 
ob man nicht auf die Analyse verzichten und die verwickelten Pro- 
zesse beliebig deduktiv deuten könne. 

5. Zum Schlusse empfiehlt Forel mir die Lektüre seiner philo- 
sophischen Grundauffassung, daß Erlebnis und Gehirn- 
materie ein gleiches reelles Ding sind, nur auf zweierlei 
Weise betrachtet. Diese Empfehlung kommt freilich an di> falsche 
Adresse; es ist Forel entgangen, daß ich diese Schriften in führen- 
den Zeitschriften rezensierte, und daß ich seine sämtlichen Unter- 
suchungen in meinen Arbeiten berücksichtigte. Abgesehen davon liest 
in der Empfehlung ein großes Zugeständnis: alle jene Kapitel Fo- 
rel’s behandeln nicht experimentalpsychologische Fragen, sondern 
wesentlich seine philosophische Identitätslehre von Materie und Seele. 
Gang und Wahl der Beispiele zeigen in seinen verschiedenen Ver- 
öffentlichungen dasselbe Gepräge. Nur die mir empfohlene Schrift 
(T. Kapitel des Hypnotismus) bezeichnet es als müßig, von einer Seele 
des Atoms (mithin seiner Konstituentien, der Elektronen und Kraft- 
linien) zu reden, während alle späteren Schriften diesen Punkt aus- 
drücklich zurücknehmen und im psychologischen Laboratorium nicht 
nur Menschen und Tiere als Versuchspersonen sehen wollen, sondern 
auch die beseelten Atome. Es ist recht bedeutsam, daß er mir jetzt g”- 
rade diejenige Schrift unter den sonst inhaltlich gleichen empfiehlt, 





C. Rabl, Über die bilaterale oder nasotemporale Symmetrie des Wirbeltierauges. 37 


in der allein die Atomseele geleugnet wird. Das ist ein beachtens- 
wertes Moment; wenn es sich auch nur um philosophische Bestim- 
mungen handelt, so wird Forel sich viele Freunde damit unter den 
Psychologen erwerben. 

Die andere mir empfohlene Schrift- unterscheidet sich von den 
früheren Fassungen (unter anderem Titel) nur dadurch, dab die 
Mnemelehre, jene Übersetzung wissenschaftlich eingebürgerter Fach- 
worte in neugebildete Fremdworte, hier angehängt ist. Daß noch kein 
einziger Psychologe (auch Semon selbst experimentell nicht) mit 
der Mnemelehre arbeiten konnte, daß so verschiedene Richtungen wie 
diejenige von Wasmann und Verworn (der die Mnemelehre in 
einem eigenen Kapitel seiner Monographie „Erregung und Lähmung“ 
abweist) ebenso der Vererbungsforscher Johannsen, Teichmann 
u. s. f. sie verurteilen, das ist zur Genüge bekannt. Ich selbst 
weise nur auf die schönen Worte von Forel selber über solche 
Umtaufen der Fachworte, über solche Versuche, welche nach Forel 
vergeblich „die ganze Sprache umkrempeln, die ganze Kultur und 
Geschichte auslöschen und sie neu schreiben“ ; denn das trifft ja nicht 
nur die Terminologie von Beer, Bethe und v. Uexküll, sowie 
von Loeb und Ziegler — gegen die alle Forel sich da wandte —, 
sondern ebenso Semon’s Versuch, die bestehende wissenschaftliche 
Sprache ohne Not und Anwendbarkeit in neue Kunstworte zu über- 
setzen. Alle diese Versuche stehen ja auf genau dem gleichen Brett. 

Mit seinen Zugeständnissen, die meine Stellungnahme 
auch nicht in einem einzigen Punkt antasteten, sind 
wesentliche Streitpunkte und hoffentlich auch die dem Turmbau zu 
Babel ähnliche Sprachverwirrung in der Tierpsychologie aus der Welt 
geschafft. Es muß aber gefordert werden. daß die Fachausdrücke 
der maßgebenden Wissenschaft fürderhin erst dann geändert werden, 
wenn sie zuvor widerlegt sind. 


Referate. 


Carl Rabl: Über die bilaterale oder nasotemporale 
Symmetrie des Wirbeltierauges. 


Archiv für mikroskopische Anatomie, Bd. 90, Abt. I, S. 261-444, 5 Textabbild. 
und 4 Tafeln. 1917. 


Die Entwicklung des Wirbeltierauges ist bisher vorwiegend 
an Querschnitten durch den Kopf betrachtet worden. Wichtige 
neue Tatsachen fand Carl Rabl an Aquatorialschnitten der 
Augenanlage von Säugetierembryonen. Bevor die geringste Eıin- 
stülpung des primären Augenbläschens erfolgt, wuchert ventral 
die Wandung, wie Aquatorialschnitte zeigen, ın Gestalt zweier 
mächtiger gegen die Ventrikelhöhle vorspringender Wülste. Da 
diese Wülste den später zum Netzhautinnenblatt werdenden Teil 


Th 1a BE IT ENT bien 41 fa 06 ERS GE NET N A Ri ek aa a a a A Mr 
' 3 DER RR Se # a na er) 


38 €. Rabl. Über die bilaterale oder nasotemporale Symmetrie des Wirbeltierauges. 


der ventralen Bläschenwand einnehmen, ist, wie Rabl es ausdrückt, 
die retinale Wand der Augenblase schon auf diesem Stadium zwei- 
lappig, die Augenanlage somit bilateral oder nasotemporal sym- 
metrisch. „Man staunt, daß diese Beobachtung nicht längst ge- 
macht wurde.“ Nach Vollendung der fötalen Augenspalte sind die 
beiden jetzt temporal- und nasalwärts gedrückten, als Verdiekungen 
auffallenden Lappen der Retina auf der ventrikulären Fläche durch 
eine Furche getrennt, der auf der vitrealen oder Einstülpungsfläche 
eine Leiste, die „primäre Leiste“, entspricht. Nach Verschluß der 
fötalen Augenspalte bemerkt man an der Verschmelzungsstelle, der 
nunmehr dorsalen Leiste gegenüber, eine gleichartige ventrale, die 
„sekundäre Leiste“, gleich jener in den Glaskörperraum vorspringend, 
und ihr entsprechend an der Außenseite des Innenblattes wiederum 
eine Furche. Die beiden Leisten teilen den Glaskörperraum .un- 
vollständig ın eine nasale und temporale Hälfte. Zwischen Außen- 
blatt und dorsaler und ventraler Falte des Innenblattes bleibt nach 
Aneinanderlegung beider Blätter je ein im Äquatorialschnitt drei- 
eckiger Raum, am längsten dorsal, als letzter Rest der Ventrikel- 
höhle. Der Umriß des Augenbechers ıst jetzt nahezu horizontal- 
rechteckig geworden. Alle diese am 13 Tage alten Kaninchen- 
embryo sehr deutlichen Merkzeichen bilateraler oder nasotemporaler 
Symmetrie der Retina sind beim 17tägigen Embryo bereits ge- 
schwunden, geblieben ist fast nur eine Horizontalelliptizität des 
Augenbechers als Nachklang der vorherigen fast horizontal-recht- 
eckigen Form. 

Während dieser Entwicklungsvorgänge betätigt der embryonale 
Augenbecher bilaterale Symmetrie auch in seinen vorübergehend 
erscheinenden Randkerben. Diese, vor einigen Jahren von See- 
felder beschrieben, wahrscheinlich Breschen für Venen, die das 
Blut aus der Arteria ophthalmica abführen, bevor die Vena ophthal- 
mica sich gebildet hat, liegen nämlich nicht an beliebiger Stelle, 
wie angegeben wurde, sondern an genau bestimmter, und zwar 
findet sich dorsal und ventral je eine nasale und temporale. Diese 
vier Randkerben und die fötale Augenspalte teilen vorübergehend 
am Becherrande fünf Randlappen der Retina ab. 

Alle diese Erscheinungen kehren ‚mit höchstens geringen und 
jedenfalls nicht grundsätzlichen Abweichungen in allen Wirbel- 
tierklassen bei Embryonalstadien wieder. 

Auch an den erwachsenen Wirbeltieraugen zeigt sich ın 
vielem nasotemporale Symmetrie, wenn auch nicht mehr an der 
Retina selbst. So im Ciliarring allgemein in der Anordnung und 
Verteilung der Ciliarfortsätze, im Auftreten eines dorsalen und 
ventralen Papillarknotens bei "Amphibien, ın der ventralen Papille 
des Ciliarrings bei Selachiern, die den rudimentären Linsenmuskel 
trägt. Diese morphologische Symmetr’e kann nicht verdeckt werden 
durch häufige Abweichungen, zu denen unter. vielen anderen die 
nicht genau zentrale Stellung der Pupille des Menschen gehört. 
Übrigens kommt genau dieselbe Symmetrie auch dem Cephalopoden- 
auge zu, ein Fall von Konvergenz. Das System der Netzhaut- 
gefäße läßt sich bei allen holangischen Säugetiernetzhäuten durch 











a N ET 
art E 


C. Rabl, Über die bilaterale oder nasotemporale Symmetrie des Wirbeltierauges. 30 


eine der entwicklungsgeschichtlichen Grenzlinie zwischen temporaler 
und nasıler Netzhauthälfte entsprechende senkrechte Linie in zwei 
symmetrische Hälften zerlegen. Auf die Symmetrie der Cho- 
rıoidealgefäße hat 1900 Hans Virchow aufmerksam gemacht: 
es gibt allgemein im horizontalen Meridian eine nasale und eine 
temporale Arterie, im vertikalen Meridian eine dorsale und ventrale 
Vene. Schließlich nımmt die Region des scharfen Sehens 
der Netzhaut meist deren horizontalen Meridian ein. Bei 
Salamandra fand Rabl die bislang bei diesem Tier vermißte hori- 
zontale Area auf. Darin, daß bei den meisten Wirbeltieren das 
Sehen in der Horizontalebene weitaus das wichtigste ist, sucht Rab] 
die physiologische Bedeutung der morphologischen nasotemporalen 
Symmetrie: die entwicklungsgeschichtliche vertikale Grenze zwischen 
nasalem und temporalem Sehlappen ıst die Grenzebene zwischen 
steigender und fallender Bildgröße bei. horizontaler Bewegung. 

Im Verlauf der Untersuchung wurden auch mancherlei Ergeb- 
nisse zur Histogenese gewonnen. Das Pigment des Außenblattes 
und des Innenblattes, soweit dieses in der Pars caeca pigmentiert ist, 
bildet sich stets in dem Zellentei] zwischen Kern und ventrikulärer 
oder ursprünglich freier Fläche. — Zeitweilig treten im ÖOpticus 
und ım Innenblatt der Pars optica retinae zahlreiche stark färbbare 
Körnchen auf, wie sie Rabl früher auch an den Rändern der Of- 
nung des Linsenbläschens beschrieben hat. Sie sind nach Rabl 
nicht, wie v. Szily meinte, Produkte einer Kerndegeneration, son- 
dern wahrscheinlich Stoffwechselprodukte der Zellen in Gebieten 
besonders lebhafter Zellproliferation. — Die Zellproliferation und 
Zahl der Mitosen ist im den beiden Lappen der Retinä zur Zeit 
ihrer Bildung so groß wie vielleicht nur noch bei der Bildung der 
Neuromeren des Diencephalon und Rhombencephalon. Die Aus- 
differenzierung der Netzhaut erfolgt vom Augengrunde aus nach 
der Peripherie hin. Ihr Beginn an der Stelle des scharfen Sehens 
ist eine Art Zielstrebigkeit, ein Fall unter vielen solchen. Die Zell- 
kerne bilden eine Zeitlang deutliche Reihen senkrecht zur Fläche: 
jede Reihe bildet gewissermaßen eine Zellfamilie, deren älteste 
Glieder am weitesten basal liegen. Dasselbe fand Rab] vor langer 
Zeit bereits am Zentralnervensystem während der lebhaftesten Zell- 
vermehrung, und es läßt dies auf ein allgemeines Gerichtetsein der 
zelligen Elemente eines Organismus schließen, ein Thema, das Rab] 
in einiger Zeit zu behandeln beabsichtigte, um zugleich Angriffen 
‘zu begegnen. Beim Menschen sind schon in der embryonalen Retina 
die Zellen viel zahlreicher und kleiner als beim Kaninchen. — 
Zonulafasern gehen auch von der basalen Seite von Irisepithelzellen 
aus. — Der Opticus verjüngt sich zeitweilig von vorn nach hinten, 
vermutlich infolge des Wachstums und der Ausbildung der Nerven- 
fasern in dieser Richtung. — Genauere Angaben werden über die 
Genese der Opticusfaserbündel, deren Zusammenfassung teils durch 
Gliazellenfortsätze, teils — später — durch Bindegewebe, und so 
noch über manches andere gemacht. 

Den aus dem Arabischen $tammenden Namen Retina, der auf 
deutsch nicht Netzhaut, sondern so viel wie Umhang, Hülle oder 


40 A. Luther, „Über Entwicklungskorrelationen u. Lokalrassen bei Rana fusca.“ 


hier Umhüllung des Glaskörpers heißt, schlägt Rabl vor, für den 
ganzen ektodermalen Augenbecher anzuwenden Demnach hat die 
Retina überall zwei Blätter und zerfällt in eine Pars optica und 
Pars caeca, letztere ın Pars ciliarıs und Pars iridıaca. Das Innen- 
blatt der Pars optica ist die Retina im engeren Sinne. — Der Aus- 
druck Colobom sollte auf getrennten oder unregelmäßigen Ver- 
schluß der fötalen Augenspalte beschränkt bleiben, also weder auf 
sogenannte Maculacolobome und das Coloboma traumaticum noch 
auf etwaige atypische Colobome, die auf Öffenbleiben von Rand- 
kerben beruhen könnten, angewendet werden. 

Es ist nicht wahrscheinlich, sagt Rabl, daß mit der naso- 
temporalen Symmetrie des Auges die Erscheinung der Hemianopsie 
zusammenhinge. 

Es ist ein großes Glück für die Wissenschaft, daß es Rab] 
vergönnt war, diese Arbeit, deren hauptsächlichsten Inhalt er seit 
etwa 15 Jahren in seinen Vorlesungen vortrug, kurz vor seinem 
Ableben fertigzustellen. Die aufs sorgfältigste gezeichneten Abbil- 
dungen lassen auf den ersten Blick die Meisterhand wiedererkennen, 
die vor dreißig Jahren auch die Abbildungen zu der großen, drei- 
teiligen Linsenmonographie selbst zeichnete, an deren vergleichend- 
anatomischen und entwicklungsgeschichtlichen. Ergebnissen die 
spätere Forschung nicht im kleinsten Punkte hat rütteln können. 

V. Franz. 


„Über Entwicklungskorrelationen und Lokalrassen 
bei Rana fusca.“ 


Infolge des Krieges ist mir ein schon im März 1917 mit obiger Überschrift 
in dieser Zeitschrift erschienener Aufsatz von Bernhard Dürken erst kürzlich 
bekannt geworden. Derselbe enthält eine Polemik gegen eine meiner Arbeiten'). 
Die Notwendigkeit sich eben bei Veröffentlichungen auf das Unerläßliche zu be- 
schränken veranlaßt mich auf eine Antwort zu verzichten, um so mehr als die 
letztere nicht kurz werden könnte, da ich Dürken’s Arbeit sowohl wie die meinige 
mehrfach zitieren müßte. Ich bitte nur denjenigen, der sich in der Sache ein Urteil 
bilden will, auch meine Arbeit im Original zu lesen. R 


Helsingfors, den 3. November 1918. Alex. Luther. 


1) Über die angebliche „echte Entwicklungskorrelation* zwischen Auge und 
Extremitäten bei den Anuren und über einen Fall von Beinmißbildung und Poly- 
daktylie beim Frosch. — Öfversigt af Finska Vet. Soeietet. Förhandl. Bd. LVIII, 
1915—1916, Afd. A, Nr. 18, Helsingfors 1916, 40 S., 1 Taf., 10 Textfig. 





Verlag von Georg "Thieme i in n Leipzig }  Antonstraße 15. — Druck der Universitäts- 
Buchdruckerei von Junge & Sohn in ‚Erlangen. 














Biologisches Zentralblatt 


Begründet von J. Rosenthal 


Unter Mitwirkung von 
DE. RSGoebel und Dr.R. Hertwig 


Professor der Botanik Professor der Zoologie 
in München 


herausgegeben von 


Dr. E. Weinland 


Professor der Physiologie in Erlangen 


Verlag von Georg Thieme in DEIBnE 


39. Band _ Februar I‘ 1919 BR: Nr. 2 


ausgegeben am 2° ‚Februar 1219, 


Fer jährliche eeelepenig (12 Hefte) besagt 20 aan 


Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und VPostanstalten 


Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an 

Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, 

vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, 

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physiolog. Institut, 
einsenden zu wollen. 








Inhalt: E. Bresslau, Systylis lotfi n. gen. n. spec., eine neue  Vortieellide. 8 41, 
&. Steiner, Bemerkungen über die se Verpuppung der Rhabditis coaretata Leuckart 
und das Bilden von Zysten bei Nematoden überhaupt. S. 59. 
Fr. Heikertinger, Die metöke Myrmek«idie. S. 65. 

Referate: L. Kathariner, Das Vitamin ein Mikroorganismus? S. 103. 








Systylis Hoffi n. gen. n. spec., eine neue Vorticellide. 
1. Mitteilune über die Tierwelt kurzfristiger Wasser- 
ansammlungen („Rasenaufgüsse*). 

(Mit 7 Figuren.) 

Von E. Bresslau. 

Vorbemerkung. 

Von den Tagen Leeuwenhoek's (1676) an bis zu Ehren- 
berg (1838) und auch später noch sind zahllose Substanzen durch- 
probiert worden, um zu sehen, wie weit sich das Reich der Aufgul- 
tierchen erstreckt. In Ehrenbergs großem Werk „Die Infusions- 
tierchen als vollkommene Organismen“ ist der Aufzählung dieser 
Substanzen ein besonderes Kapitel (1838, S. 520--526) gewidmet. 
Wenn man auf jenen Großfolioseiten liest, was alles zur Herstellung 
von Aufeüssen benutzt worden ist, könnte es allerdings scheinen, als 
ob hier nicht viel neue Möglichkeiten mehr zu .erschließen wären. So 
erklärt es sich vielleicht, daß das Studium der aus Infusionen zu 
züchtenden Tierformen als faunistisches Problem seit Ianzem Kaum 

39. Band 4 





49 E. Bresslau, Systylis Hoffi n. gen. ih. spec., eine neue Vorticellide. 

eine Rolle mehr spielt; nur die aus Moospolsteraufgüssen zu erhal- 
tenden Organismen sind in den letzten Jahrzehnten noch Gegenstand 
besonderer Forschung gewesen. 

Und doch läßt sich diesem faunistischen Problem noch eine neue 
Seite abgewinnen, die ganz besonderes Interesse verdient. Denn sie 
vermittelt uns zugleich die Bekanntschaft mit einem neuen Lebens- 
semeinschaftstypus, der in der freien Natur vermutlich weite 
Verbreitung besitzt. 

Auf unseren Fluren schaften Ereignisse wie stärkere Regengüsse, 
Steigen des Grundwasserspiegels, Überschwemmungen u.s. w. vielerorts 
regelmäßig ephemere Wasseransammlungen, welche nichts anderes dar- 
stellen als Infusionen, durchaus vergleichbar den Aufgüssen, die wir 
in unseren Zuchtgläsern künstlich ansetzen. Von den Organismen, die 
sich in diesen „Naturinfusionen oder „Rasenaufgüssen‘, 
wie ich sie nennen möchte, entwickeln, wissen wir aber bisher, so- 
weit ich das übersehe, nur sehr wenigt). Wohl kennt man seit langem 
einzelne besonders auffallende Vorkommnisse, — so z. B. das plötzliche 
Auftreten von Dranchripus, Apus u. dgl. —, aber von einem syste- 
matischen Studium der Biocönosen dieser kurzfristigen Wasseran- 
sammlungen. mit ihren besonderen Existenzbedingungen ist bisher 
keine hede gewesen. 

Meine Untersuchungen über die Biologie unserer Stechmücken 
haben mir nun zu gleicher Zeit das reiche tierische Leben vor Augen 
seführt, das sich in jenen ephemeren Wasseransammlungen entwickelt. 
Um die Larven unserer A&dinenarten, die ihre Eier auf den trocken- 
selaufenen Boden von Überschwemmungswiesen ablegen, zu züchten, 
ließ ich mir Rasenstücke dieser Wiesen ausstechen und 
setzte siein Aquarien unter Wasser. Über die Beobach- 
tungen an den in diesen Kulturen ausschlüpfenden Schnakenlarven 
habe ich bereits an anderer Stelle dieser Zeitschrift berichtet (Bress- 
lau, 1917). Gleichzeitig entwickelte sich aber in vielen dieser 
Rasenaufgüsse eine Organismenweltt deren Formen- 
reichtum ebensosehr zum Studium einlud, wie die Neuheit vieler 
der Erscheinungen, die mir dabei vor Augen traten. Es ist mir 
schmerzlich, daß meine dienstliche Gebundenheit mir immer nur vorüber- 
gehend gestattete, in die Fülle und Manniefaltigkeit der Formen aus 
allen möglichen Tierkreisen, die in den verschiedenen 
Rasenaufgüssen zum Leben erwachten, Einblick zu tun, und dab ich 
keine der beobachteten Erscheinungen erschöpfend studieren konnte. 
Dennoch möchte ich nicht länger damit warten, einige Bruchstücke 
des Neuen, was ich dabei fand, jetzt der Öffentlichkeit vorzulegen. 





1) Ein Hinweis darauf, daß sich „solche Gegenstände, welche notorisch eine 
Zeitlang unter Wasser standen und durch Austrocknung desselben freigelegt wurden, 
so z. B. eingetrockneter Bodenschlamm, Moose ausgetrockneter Sümpfe, Gräser, 
trockene Blätter sowie Schilf und anderes mehr“ besonders gut zu Infusionen eignen, 
findet sich bei Schewiakoff (1892). 





E. Bresslau, Systylis Hoffi n. gen. n. spec., eine neue Vorticellide. 3 
yst, g 


1. Systylis Hoffi n. gen. n. spec.. eine neue Vorticellide. 


Gleich als ich Anfang 1917 die ersten Aufgüsse mit Rasenstücken 
von den Überschwemmungswiesen bei Wolfisheim ansetzte, entwickelten 
sich in den Aquarien unzählige große Vorticellidenkolonien, die sich 





en — 
Zr = 
<= > Fe I 


—— 
—_— 















Fig. 1. An einem Grashalm festsitzendes Stöckchen von Systylis Hoffi, nach dem 

Leben. Die Zeichnung gibt die Lage der Köpfchen wieder, die diese nach Ver- 

bringen der Kolonie auf einen Objektträger einnahmen. Im freien Wasser breitet 

sich die Stielverzweigung mit den daran sitzenden Köpfchen etwa in einer Ebene 
aus, die senkrecht zu dem Hauptstiel verläuft. X 37. 


auf den ersten Blick als etwas vollkommen Neües erwiesen. Es waren 

Stöckchen mit nicht kontraktilen Stielen, ähnlich denen der Gat- 

tung Epistylis, jedoch mit dem grundlegenden Unterschiede, dab an 

jedem Stielende statt eines Individuums stets eine ganze Gruppe 
4* 


En: 


von Individuen saß (Fig. 1), etwa so wie bei Anthophysa vegetans 
0. F.M. unter den Flagellaten. Ein derartiges Verhalten ist bisher 
unter den Vorticelliden nur ein einziges Mal beschrieben worden, bei 
Zoothamnium simplex Sav. Kent (1882), einer englischen Süßwasser- 
form, bei der etwa ein halbes Dutzend gleichartiger Zooide auf dem Ende 
eines einfachen, unverzweigten, sich selten und langsam kontrahieren- 
den Stieles sitzen soll. Bütschli bemerkt bei Anführung dieser 
Spezies?) in dem Infusorienbande seines großen Protozoenwerks (1889, 
S. 1765): „sie unterscheide sich durch die Art ihrer Koloniebil- 
dung von den übrigen Zoothamnien, doch auch von den anderen 
kolonialen Vorticellinen so wesentlich, dab die Aufstellung einer 
besonderen Gattung wohl angezeigt wäre, wenn die Schilderung richtig 
ist.“ Da Kent’s Abbildungen von Zoothamnium simplex deutlich den 
kontraktilen Stiel erkennen lassen, auch andere beträchtliche Unter- 
schiede, vor allem in der Größe der Zooide, zwischen den von Kent 
und mir beobachteten Organismen vorliegen, kommt eine Identität 
zwischen ihnen nicht in Frage. Im übrigen aber stimmen die Gründe 
Bütschlis für die Aufstellung einer neuen Gattung auch voll- 
ständig für die im folgenden zu beschreibende neue Form, deren Gat- 
tungsname Systylis einmal die Ähnlichkeit mit der Stielbildung bei 
Epistylis, zum anderen aber den gemeinsamen Sitz mehrerer Individuen 
auf ein- und demselben Stielende andeuten soll?). 

Bei Betrachtung der neuen Art wollen wir von einem Stöckchen 
mittlerer Größe ausgehen, wie es Fig. 1 veranschaulicht. Derartige 
Stöckchen erreichen einen Durchmesser von 2—3 mm. Ungefähr die 
gleiche Länge hat auch der Stiel, mit dem die Kolonien auf der Unter- 
lage, einem Grashalm, Mooszweiglein, oder an der Wand des Aquariums 
festgeheftet sind. Der Stiel ist glasklar, durchsichtig; bei starker 
Vergrößerung erkennt man an ihm eine Anzahl feiner Längs-, verein- 
zelt auch feine Querstreifen. An dem festgehefteten Ende ist er am 
dünnsten, während er sich nach dem anderen Ende zu ansehnlich 
verbreitert und sich schließlich mehrfach dichotomisch verzweigt. Auf 
den freien Enden der Stielverzweigungen sitzen die Individuen, und 
zwar jeweils auf dem nach außen gewölbten Apex eines Stielendes 
eine Gruppe von etwa 40-65 Zooiden, wie die Blüten einer Distel 
zusammen ein Köpfchen bildend. : 

Bemerkenswert ist nun, dab die Individuen jedes dieser Köpf- 
chen unter sich nicht gleich sind, sondern daß sich in jeder Gruppe 
immer ein, bisweilen zwei Zooide vor den anderen durch besondere 
Größe und abweichendes Verhalten auszeichnen (Fig. 1). 


2) Bütschli verzeichnet sie versehentlich unter dem Namen Zoothamnium 
pietum. 

3) Ihren Artnamen trägt die neue Spezies zu Ehren meines Schwiegervaters 
Carl Ernst Hoff, der um die Zeit ihrer Entdeckung seinen 70. Geburtstag feierte. 






in en BE ee An 








E. Bresslau, Systylis Hoffi n. gen. n. spec., eine neue Vorticellide. 45 


Die gewöhnlichen Individuen, die ich Mikronten (Fig. 2,3 mi) 
nennen möchte, erreichen eine Länge von 200-265 u, sind also etwa 
doppelt so groß wie die Individuen unserer gewöhnlichen Epistylis 
plicatilis. Ihr Körper ist in ausgestrecktem Zustande etwa drei- bis 
viermal so lang als breit, kegelförmig, am Vorderende am breitesten. 
Nach hinten zu nimmt er in den ersten Dreivierteln der Körperlänge 
an Breite verhältnismäßig wenig ab. Dann folgt im letzten Viertel 
vor dem Ansatz auf dem Stammende eine etwas stärkere Verschmäle- 





Figur 2. Figur 3. 
Fig 2. Jugendliche Kolonie von Systylis Hoffi, nach dem Leben. Es ist erst. ein 
Köpfchen gebildet, von dem nur ein Teil der Mikronten, und diese nur in ihren 
Umrissen gezeichnet sind. Von dem Stiel ist nur der apicale Abschnitt dargestellt. 
Der Makront (ma) ist etwas weiter differenziert als der in Fig. 3 abgebildete. 52 120. 


Fig. 3. ma jugendlicher Makront, mi Mikront von Systylis Hoff. X 240. 


rung, die diesen Körperabschnitt, der sich zugleich durch größere 
Kontraktilität auszeichnet, gewissermaßen als Ersatz für den dem 
einzelnen Individuum fehlenden Stiel erscheinen läßt (Fig. 3,5 mz). 
Es handelt sich hier um eine besonders starke Ausbildung des Korti- 
kalplasmas, das bei vielen Vorticelliden im Basalabschnitt der Tiere 
mächtig entwickelt ist ®). 

Die adorale Wimperzone beschreibt etwa eineinhalb Windungen, 
der Peristomrand ist nur schwach wulstig entwickelt, der Diskus da- 
gegen gewölbt und beträchtlich vorstreckbar. Das weite Vestibulum 
besitzt an der dem Zytostom gegenüberliegenden Seite eine Ausbuch- 


4) Vgl. O. Schroeder, 1996, 8. 77 und 92, 


46 E. Bresslau, Systylis Hoffi n. gen. n. spec., eine neue Vorticellide. 


tung, in welche die unmittelbar danebenliegende pulsierende Vakuole 
mündet. Das Entoplasma ist nur in den vorderen Dreivierteln des 
Individuums entwickelt und reich von Nahrungsvakuolen durchsetzt 
(Fig. 3 mi). Der hintere, stielartige Absatz ist frei von Entoplasma und 
dementsprechend auch von Vakuolen. Der wurstförmige Makronukleus 
ist bei einer Größe von 90-120 u nur wenig gekrümmt und stets 
dem Körper in seiner Längsrichtung eingelagert. Er tritt schon bei 
geringer Quetschung der Individuen deutlich hervor. Den Mikro- 
nukleus konnte ich bei den lebenden Individuen nicht sehen. 

Den eben beschriebenen Zooiden gegenüber erreichen die groben 
Individuen oder Makronten (Fig. 2,3 ma), die sich in Ein- oder 
Z/weizahl in jedem Köpfchen finden, etwa das Vierfache an Masse. In der 
Längserstreckung übertreffen sie zwar die kleineren Zooide nur un- 
wesentlich, dafür beträgt aber ihre Breite die Hälfte bis drei, ja 
vier Fünftel der Länge. Ihre Gestalt ist birnen- oder eiförmig und nähert 
sich inkontrahiertem Zustande einer Kugel. Das Peristom ist schmal, die 
Wimperzone bei älteren Individuen kaum ausgebildet, der Diskus 
flach, der an das Vestibulum sich anschließende Zytopharynx sehr 
klein. Das Entoplasma kann anfangs einige Nahrungsvakuolen. ent- 
halten und erscheint zunächst feinkörnig und klar. Nach einiger Zeit 
aber verschwinden die Vakuolen, und je älter die Individuen werden, 
desto undurchsichtiger wird ihr Plasma, bis es schließlich fast bräun- 
liche Farbe annimmt. Das Kortikalplasma zeigt im Basalabschnitt nicht 
jene mächtige Entwicklung wie bei den Mikronten, ein ausgesprochen 
stielartiger Ansatz wie bei jenen ist daher nicht vorhanden. Gewaltig 
ist dagegen der Makronukleus entfaltet. der, im Entoplasma zu mehr- 
fachen Schleifen. Schlingen oder Spiralen aufgerollt, eine Länge von 350 
bis 450 u erreichen kann. Er ist fast stets im lebenden Individnum mit 
erößter Deutlichkeit sichtbar und fällt dank seiner bedeutenden Größe 
schon bei schwacher Vergrößerung ins Auge. Es dürfte wenige Objekte 
schen, die sich so ausgezeichnet zur Untersuchung der lebenden Kern- 
substanz eignen wie diese großen Zooide von Systylis Hoffi. Für ge- 
wöhnlich sind in seinem Innern eine Anzahl feiner, aus aneinanderge- 
reihten Körnchen bestehender Fäden zu erkennen. Auf andere Erschei- 
nungen werde ich später zurückkommen (s. Anm. 5). 

Diese großen Individuen sind nun nichts anderes als «ie schon 
von Trembley (1747) bei Zoothamnium arbuscula beobachteten 
„Bulbi“, die später Ehrenberg (1838) als „knollenförmige Indivi- 
duen“ beschrieben hat. Im der neueren Literatur pflegen sie als 
Makrogonidien bezeichnet zu werden. Was über sie bekannt 
ist, hat zuletzt Bütschli in seinem Protozoenwerk 8. 1629 ausführ- 
lich zusammengestellt. Seither ist meines Wissens nichts weiter darüber 
veröffentlicht worden. 

An tatsächlichen Beobachtungen über die Bedeutung der Makrogonidien liegt 
nicht viel anderes vor, als was bereits Trembley über sie berichtet hat. Er sah 


Ta 


E. Bresslau, Systylis Hoffi n. gen. n. spec., eine neue Vorticellide. 47 


einmal, wie sich die Bulbi von den Stöcken ablösten, ferner wie frei umher- 
schwimmende Individuen dieser Art sich nach einiger Zeit festhefteten und durch 
äußerst rasch aufeinanderfolgende Teilungen neue Kolonien erzeugten. Dagegen be- 
obachtete er nie die Gründung einer Kolonie durch eines der kleinen, gewöhnlichen 
Zooide und vermutete daher, daß letztere nach ihrer Ablösung zugrunde gingen. 
Mit diesen später von verschiedenen Autoren im wesentlichen bestätigten Angaben 
kombiniert dann Bütschli eine Bemerkung Stein’s (1867, S. 132), der bei 
Zoothamnium arbuscula zwar nie die größeren knollenförmigen Tiere Ehrenberg’s 
finden konnte, andererseits aber auf den Stöcken das Vorkommen vereinzelter kontra- 
hierter Tiere beschreibt. die „merklich dieker und größer als die gewöhnlichen Tiere 
sind und beständig kugelig kontrahiert bleiben“, sich schließlich ablösen und zu Grün- 
dern neuer Kolonien werden. Bütschli schließt daraus, daß eben diese kontrahierten 
Tiere dennoch mit den von Stein vermißten knollenförmigen Individuen identisch 
sind, obwohl sie nicht das außerordentliche Volumen jener erreichen. Es unterliegt 
daher für ihn keinem Zweifel. daß „diese großen Individuen tatsächlich echte, zur 
Konjugation bestimmte Makrogonidien sind“. Allerdings, fügt er hinzu, „ist die 
Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß die Makrogonidien auch gelegentlich ohne 
Konjugation zu Gründern neuer Kolonien werden, sich auch parthenogenetisch ent- 
wickeln können“. 

Demgegenüber lehrten nun die Beobachtungen an Systylis Hoffi, 
daß die Makronten hier, für gewöhnlich wenigstens, eine ganz andere 
Bedeutung haben. 

Verfolgt man das Schicksal eines Stöckchens wie jenes, das Fig. 1 
zeigt, so geht die Entwicklung bei günstigen Existenzverhältnissen 
unter fortgesetzten Teilungen weiter, bis schließlich soviel Stielenden 
und auf diesen wieder soviel Individuengruppen gebildet sind, als 
zuletzt Makronten vorhanden waren. DieZahl der Köpfchen kann 20 
bıs 30, in besonders glücklichen, allerdings seltenen Fällen aber auch 
viel mehr, 50, ja 60, der Durchmesser der ganzen Kolonie bei ausge- 
streekten Individuen alsdann bis I cm betragen. Diese Entfaltung 
wird in der Regel am fünften oder sechsten Tage nach Ansetzen der 
Kultur erreicht. Dann beginnt der absteigende Ast der Lebenskurve 
der Kolonien. Eine weitere Zunahme der Köpfchenzahl findet nicht 
mehr statt, die Teilungen hören auf, Degenerationszeichen stellen 
sich ein, auf die weiter unten noch zurückzukommen sein wird. 

Auch die Makronten haben um diese Zeit die Grenze ihres Wachs- 
tums erreicht. Sie kugeln sich vollkommen ab, so daß der Ausdruck 
„Knollen“ für sie durchaus berechtigt ist. Das Peristom ist völlig 
geschlossen, Wimperbewegungen daran sind nicht mehr $ichtbar, nur 
die dicht neben dem Zytostom gelegene pulsierende Vakuole arbeitet 
lebhaft. Ihre unaufhörlich aufeinanderfoleenden Zusammenziehungen 
deuten auf energische Stoffwechselvorgänge hin, die zu einer starken 
Kondensierung des Plasmas führen. Diese verrät sich auch in der 


-diehten feinkörnigen Beschatftenheit des Zellleibes und in dem bräun- 


lichen Aussehen, das er bei durchfallendem Lichte zeigt. 

Alsdann beginnen höchst eigenartige Vorgänge, die zur Enzy- 
stierung der Makronten führen. Das völlig abgekugelte Indivi- 
duum zieht sich in der Richtung seiner Längsachse noch etwas stärker 





ale 





AS E. Bresslau, Systylis Hoffi n. gen. n. spee., eine neue Vorticellide. 


zusammen, so daß diese etwas kürzer wird als di@ Breitenachse (Fig. 4). 
Das Verhältnis zwischen Längs- und Querdurchmesser stellt sich daher 
schließlich auf etwa 8:9. Gleichzeitig scheidet der Makront eine feine, 
glasklar durchsichtige Hülle um sich aus, die einen getreuen Abeuh 
seiner Oberfläche darstellt und also an der Seite der Mundscheibe den 
Abdruck der Peristomlippen deutlich erkennen läßt (Fig. 4). Nicht in 
diese Ektozyste miteinbezogen wird 
der zugespitzte Basalabschnitt. mit 
dem der Makront vorher auf dem 
Stammende befestigt war. Er wird 
vielmehr zu einem 60 bis 70 «langen, 
dünnen Stiel ausgezogen, der die Ver- 
bindung zwischen der Zyste und dem 
Stamm des Stöckehens vermittelt. 
Kurz — etwa 10 u — vor dem An- 
satz der Zyste wird in diesem Ver- 
bindungsstiel schon frühzeitig eine 
doppelt kontourierte, stark licht- 
{ brechende Lamelle sichtbar, die An- 
a lage eines Gelenks, indem sich 
Bildung der Ektozyste; nach dem Später die /yste von dem Stiel ab- 
Leben. x 200. löst (Fig. 4, 5e). 

Ist die Ektozyste gebildet, so zieht sich der Makront in der Peri- 
stomgegend ein wenig zurück. Das vorher schon rege Spiel der pul- 
sierenden Vakuole wird noch lebhafter, ihre Pulsationen folgen sich 
alle 2bis2Ys Sekunden. Sie behält dabei immer ihren Platz in un- 
mittelbarer Nähe des Zytostoms und entleert anscheinend durch dessen 
Vermittlung bei der Kontraktion ihren Inhalt in dem freien Raum 
zwischen dem Peristom und der Ektozyste (Fig. 4). Gleichzeitig sind 
im Zellleib des Makronten sehr intensive Plasmaströmungen zu beob- 
achten, die sich auch darin kundgeben, daß der lange, in mehrere 
Schlingen zusammengelegte Makronukleus fortwährend seine Lage ver- 
ändert. Scheint anfangs das ganze Plasma mehr gleichmäßig zu ro- 
tieren, so treten nach einiger Zeit innerhalb desselben verschieden 
gerichtete Wirbelströmungen auf, welche die Protoplasmakörnchen bald 
hierhin, bald Aorthin bewegen. Man hat den Eindruck eines fortwähren- 
den Hin- und Her- und ‘Durcheinanderwoegens der kleinsten Plasma- 
teilchen. 

Ohne daß eine besondere Ursache hierfür erkennbar wäre Ich 
habe wenigstens vergeblich danach geforscht ‚ tritt derweilen im 
Äquator der Ektozyste eine Furche auf, die das ganze Gebilde ım 
Kreise umzieht (Fig. 4). 

Das soeben beschriebene Spiel der durcheinanderfliehenden 
Wirbelströmungen dauert 2bis3 Stunden lang. Infolge der fortwähren- 
den Ausscheidungen der pulsierenden Vakuole wird allmählich das 











E. Bresslau, Systylis Hoffi n. gen. n. spec., eine neue Vorticellide. 4) 


Plasma immer dichter, stärker lichtbrechend und anscheinend zäh- 
flüssiger, statt aus Körnchen erscheint es jetzt fädie zusammengesetzt. 
Die Fäden und Stränge werden gleichfalls in Wirbelströmen gegen- 
und durcheinander gebogen. Dann treten im äußeren Kontur des Ma- 
kronten Einbuchtungen und Vorwölbungen auf und im Zusammen- 
hang damit beginnt die Ausscheidung einer dicken, gelbbräunlichen 
Entozyste, die eines der zierlichsten Gebilde darstellt, die man sich 
denken kann (Fig. 5 ma). Stärkere Rippen umgrenzen zahlreiche, etwas 
tiefer liegende, polygonale Felder: außerdem wird entsprechend der äqua- 
torialen Furche in der Ektozyste eine kreisförmige Naht ausgebildet, die 





st 


Fig. 5. mi, Mikront von Systylis Hoffi in kontrahiertem Zustande: ma fertig aus- 
gebildete Zyste des Makronten; g Gelenk im Stielchen der Zyste; ek Ektozyste: 
st Ende der Stielverzweigung. Nach dem Leben. x. 240. 


die Entozyste in eine obere und eine untere Schalenhälfte sondert. In- 
folge der Ausscheidung des Entozystenbildungsmaterials nimmt das 
Volumen des Makronten meßbar ab: Längs- und Querdurchmesser der 
fertigen Entozyste, dersich alsdann die zarte Ektozyste (Fig.5ek) dicht 
anschmiegt, sind um etwa 4—5 %, kleiner als die entsprechenden Durch- 
messer der frisch gebildeten Ektozyste. Die Maße schwanken bei den 
verschiedenen fertig gebildeten Zysten zwischen 210 und 225 u für den 
Quer-, und zwischen 175 und 190. für den Höhendurchmesser. 

In die soeben beschriebenen, hochinteressanten, protoplasmatischen 
Vorgänge, die sich schon bei Betrachtung mit mittlerer Vererößerune 
dem Auge eindrucksvoll darstellen, noch tiefer einzudringen, war mir 
leider bisher aus Zeitmangel nicht möglich. Aus dem gleichen Grunde 
mußte ich auch davon absehen, die Kernverhältnisse in den Makronten 


” 


50 E. Bresslau, Systylis Hoffi n gen. n. spec., eine neue Vorticellide. 


bei ihrer Vorbereitung zur Enzystierung und während dieses Prozesses 
genauer zu studieren >). 

Die Bildung der Zysten geht bei den Makronten einer Kolonie 
ungefähr gleichzeitig vor sich, am Ende des sechsten Tages nach An- 
satz der Kulturen sind fast immer sämtliche Makronten aller Stöck- 
chen enzystiert. Dann lösen sich allmählich die Mikronten von den 
Stöckchen ab und gehen zugrunde. Schon vorher findet man oftmals 
Zeichen verminderter Lebenskraft, die erkennen lassen, dab die Stöck- 
chen bei Beginn der Enzystierungsvorgänge den Höhepunkt ihrer Ent- 
wicklung hinter sich haben. Die Kolonien dienen zahlreichen anderen 
Organismen, vor allem kleineren Vorticelliden, als Ansiedelungsort. 
Acineten setzen sich in Massen auf ihnen fest, oftmals sind in jedem 
Köpfchen mehrere Mikronten von Sphaerophryen befallen. Dazu 
kommen zahlreiche Infusorien, vor allem Amphileptvs, Trachelürs 
u.s.w., die, während sie an den jungen Stöckchen gewöhnlich nicht 
zu beobachten sind, jetzt die Systylis Hoffi-Kolonien als willkommene 
Weide betrachten. Ihre Beute sind aber fast stets nur die Mikronten. 
Die Makronten bleiben in der Regel verschont, auch wenn die meisten 
Mikronten der Köpfchen bereits Opfer ihrer Feinde geworden sind: 

Eine Zeitlang bleiben dann noch die fertigen Zysten an den sonst 
leeren Stammverzweigungen der Kolonien hängen. Wird das Wasser 
der Kulturen aber bewegt, so fallen sie ab, indem ihre Stielchen in 
den dazu präparierten Gelenken durchbrechen. Sie sinken ‚zu Boden 
und bleiben hier irgendwo im Detritus oder zwischen den Fieder- 
büscheln der Moospflänzchen oder in den Blattscheiden der Gras- 
stengel liegen. 

Die Ausbildung dieser Zysten bedeutet also ein? 
glänzende Anpassungan die Daseinsbedingungephe, 
merer Wasseransammlungen. 5 bis 6 Tage dürfte das Wasser 
an den tiefsten Stellen der Überschwemmungswiesen wohl immer 
stehen bleiben. Das genügt. um die Fxistenz der Systylis Hoffi zu 
sichern. Sind die Zysten gebildet, so können lange Trockenperioden 
folgen. Ja, sie müssen sogar folgen, denn in dauernd unter Wasser 
»ehaltenen Kulturen sah ich bei noch so langem Liegen der Zysten nie- 
mals ihren Inhalt ausschlüpfen. Wurde dagegen nach längerem Aus- 
trocknen das Rasenstück wieder unter Wasser gebracht, so erfolgte 


5) So erwähne ich nur, daß ein Teil der eigenartigen Veränderungen, die 
Greeff (1870) an den Kernen von Epistylis flavicans beobachtet und abgebildet 
hat, die aber bis heute noch keine hinreichende Erklärung gefunden haben, auch 
an den lebenden Kernen der Systylis Hoffi-Makronten mit Leichtigkeit zu sehen 
sind. Besonders auffällig tritt bei den in Enzystierung begriffenen Makronten 
bisweilen jener zentrale, den mehrfach gewundenen Kern in seiner ganzen Länge 
eleichmäßig durchziehende Achsenstrang auf, den Greeff (1870) auf Tafel VII 
Fig 12 abbildet und auf dessen eigentümliche Bildung auch Bütschli 185) 
(S. 1511) ausdrücklich aufmerksam macht. 





aha RR 


E. Bresslau, Systylis Hoffi n. gen. n. spec., eine neue Vorticellide, 51 


bei bestimmten jahreszeitlichen bezw. Temperaturverhältnissen, von 
denen weiter unten noch zu sprechen sein wird. binnen kurzem das 
Ausschlüpfen der Makronten und die Entwicklung neuer Stöckchen. 

Die Gunst des Materials gestattete mir, auch diese Vorgänge 
etwas zu verfolgen. 

Das Aufspringen der Zysten geschieht längs der vorhin beschrie- 
benen, kreisförmigen Quernaht. Die beiden Schalenhälften klappen 
auseinander, und der bis dahin zwischen ihnen eingeschlossene Ma- 
kront tritt aus. Welche Gestalt er beim Ausschlüpfen zeist, ist mir 
nicht bekannt, da ich diesen Moment selbst nicht beobachten konnte. 
Einige Zeit nachdem zystenhaltiger Rasen unter Wasser gesetzt ist, 
fmdet man aber sowohl die aufgeplatzteu Zysten am Boden, wie frei- 
schwimmende, große, ungestielte Systyks-Individuen im Wasser. 

Die aus den Zysten hervorgehenden Individuen zeigen noch das 
bräunliche, feinkörnige, undurchsichtige Plasma, das oben von den Ma- 
kronten vor ihrer Enzystierung beschrieben worden ist. Nach dem 
Ausschlüpfen schwimmen sie zunächst einige Stunden rastlos in den 
Kulturen umher. Auch wenn man sie herausfängt, und zur weiteren 
Beobachtung in auf dem Objektträger aufgekittete Mikroaqnarien 
bringt, setzen sie das Spiel weiter fort, 10. 12, 15 Stunden lang. Nach 
einiger Zeit kommen sie dann zur Ruhe, nicht immer alle gleichzeitig. 
bei der Mehrzahl der in einer Infusion aus den Zysten ausgeschlüpften 
Individuen dauert jedoch die Periode des freien Umherschwimmens 
ungefähr gleich lang. Eine Abhängigkeit des Anheftens von der Tages- 
zeit konnte ich nicht beobachten. In einem Versuch fand das Fest- 
setzen gegen Abend statt, in einem anderen gegen Morgen. 

Ich habe es leider versäumt, Zeichnungen der freischwimmenden 
Individuen anzufertigen und bin daher nicht in der Lage, über die 
Ausbildung ihrer Wimperkränze Näheres zu sagen. Bei den eben zum 
Festsetzen sich anschickenden Individuen ist nur der vordere Wimper- 
kranz sichtbar (Fig. 6a), der hintere dagegen verschwunden. Statt 
dessen zeigt sich am hinteren Ende eine periphere, wallerabsnartie 
Einziehung, aus der sich ein Plasmazapfen stielartig vorwölbt. Außer- 
dem ist die sonst stets in der Nähe der Peristomscheibe gelegene pul- 
sierende Vakuole jetzt in die Nähe des Hinterendes gerückt und kon- 
trahiert sich fortgesetzt. Gleichzeitig werden hier kleine Sekrettröpf- 
chen nach außen abgeschieden, die in dem Wallgraben neben dem 
Stielzapfen zum Vorschein kommen. Es scheint mir nicht zweifelbaft. 
daß diese Vorgänge zur Bildung des Stiels. des Makronten führen: 
das lebhafte Spiel der pulsierenden Vakuole deutet dabei auf ihr» Be- 
teiligung an diesem Prozesse hin, ebenso wie seinerzeit bei Erzeueung 
der Zyste. 

An dem Makronukleus der sich festsetzenden Tiere habe ich Be- 
sonderheiten nicht feststellen können, er zeigt immer noch die Iung- 
gestreckte, gewundene Gestalt wie vor der Enzystierung. Die Maße 





52 E. Bresslau, Systylis Hoffi n gen. n. spec., eine neue Vorticellide. 


des in Fig. 6a abgebildeten Makronten sind 270. Längs- bei 200 u 
(Juerdurchmesser. 





e 7743 12 





ig. 6. a Aus einer Zyste ausgeschlüpfter Makront kurz vor dem Festsetzeu, in 
Seitenansicht; b—m Teilungen des festgesetzten Makronten zum Zweck der Kolonie- 
bildung, nach dem Leben; nähere Erläuterung s. im Text. 109. 


Hat sich das Tier mit seinem Stiel auf dem Boden des Mikro- 
aanariums festgeheftet, so wandert die pulsierende Vakuole wieder in 
die Peristomgegend. Der ganze Makront richtet sich auf, so dab man 






NR a a fe Balz Zur Re N a SE 


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-F. Bresslau, Systylis Hoffi n. gen. n. spec., eine neue Vorticellide. 53 


von oben her auf seine Wimperscheibe sieht. Nach einiger Zeit be- 
einnen dann Teilungsvorgänge, die sich in aller Gemächlichkeit zeich- 
ven und photographieren lassen. Ich gebe hier nur eine Serie von 
Zeichnungen nach einem am 24. April 1917 in der Zeit von 9-1 Uhr 
nachts beobachteten Objekte wieder (Fig. 6b—m). Die Vorführung 
der Photogramme, die ich von einem anderen, in Koloniebildung be- 
griffenen Makronten aufgenommen habe, spare ich für spätere Zei- 
ten auf. 

Als erstes Zeichen der beginnenden Teilung bemerkt man, dab 
sich der bis dahin kugelige Makront in einem Querdurchmesser ın 
die Breite streckt. Gleichzeitig wird die adorale Wimperzone undeut- 
lich, das ganze Tier ist so weit wie möglich kontrahiert. Nur die 
pulsierende Vakuole setzt ihr Spiel fort. Bei fortdauernder 
Streckung der Querachse findet schließlich eine Teilung der Peristom- 
scheibe statt, das Individuum gleicht dabei, von oben gesehen, voll- 
kommen einer in inäqualer Teilung begriffenen Eizelle (Fig. 6b). 
Demgemäß entstehen durch den Teilungsprozeß nicht etwa zwei gleich- 
große Zooide, sondern ein kleines (AB) und ein großes Individuum 
(€ D). deren Querdurchmesser sich etwa wie 2:3 verhalten (Fig. 6c). 
Die Kernteilung scheint dabei, soweit sich etwas davon an dem leben- 
den Objekt im Mikroaquarium beobachten läßt, in der für die Vorti- 
cellen typischen Weise unter Konzentrierung des Makronukleus zu 
einem kurzen, dicken Strang zu verlaufen. 

Die inäquale Teilung des Makronten ist in etwa einer halben 
Stunde beendet. Dann zucken beide Individuen mehrmals zusammen 
und strecken sich jedesmal danach etwas mehr in die Länge. Das 
während der Teilung etwas verlangsamte Spiel der pulsierenden Va- 
kuole wird lebhafter, etwa 5-10 Minuten später beginnen die adoralen 
Wimperzonen wieder deutlich sichtbar zu werden. Die Peristom- 
scheiben und ihr Lippenrand treten hervor. Im Verlaufe der nächsten 
Viertelstunde erscheinen im Plasma der Tiere zahlreiche Vakuolen 
(Fig. 6d). 

Damit ist um 9 Uhr 50 Minuten die erste koloniale Stufe erreicht: 
Ein Stöckchen von zwei auf kurzem, gemeinsamem, hyalinem Stiel be- 
festigten Glockentierchen von allerdings sehr verschiedener Größe. 
Ihr Vorticellendasein dauert jedoch nur kurze Zeit, etwa eine Viertel- 
stunde. Dann beginnen die Vorbereitungen zum zweiten Teilungs- 
schritt. Die Vorgänge hierbei entsprechen wiederum in sehr bemerkens- 
werter Weise den Geschehnissen bei inäqualer Eifurchung: einmal steht 
die zweite Teilungsebene senkrecht zur ersten, sodann besteht eine er- 
hebliche Phasendifferenz. Wie bei inäqualer Furchung das größere 
Blastomer dem kleineren, so geht hier das größere Individuum U’ D 
dem kleineren AB in der Teilung voran. 

Im einzelnen gestaltete sich der Verlauf folgendermaßen. Um 
10 Uhr 5 Min. stellte das Individuum ÜUD sein Wimperspiel ein, 





D4 E. Bresslau, Systylis Hoffi n. gen. n. spec., eine neue Vorticellide 


kugelte sich ab und die Vakuolen im Endoplasma verschwanden, bis 
auf die pulsierende. Erst um 10 Uhr 11 Min. geschah das gleiche 
auch bei dem Individuum AB. Inzwischen hatte sich bei OD der 
senkrecht zur ersten Teilungsebene stehende Querdurchmesser zu 
strecken begonnen. Um 10 Uhr 14 Min. war das in Fig. 6e abgebildete 
Aussehen erreicht. Um 10 Uhr 20 Min. war bei ÜD der Mund durch- 
geschnürt, bei AB seine Durchschnürung eingeleitet (Fig. 6f). Um 
10 Uhr 29 Min. war die Teilung bei € D beendet und zwar wiederum 
inäqual in ein größeres Individuum D und ein kleineres € (Fig. 6 g)). 
Auck bei AB war die Teilung bereits im Gange, der Größenunter- 
schied zwischen den aus ihm hervorgehenden Individuen, einem klei- 
neren A und einem größeren 5, war Jedoch wesentlich geringer. Wenige 
Minuten darauf war der Vierer-Koloniezustand erreicht (Fig. 6h). 
Alle vier Zooide zeigten lebhaftes Wimperspiel und augenscheinlich 
regen Stoffwechsel, wie die zahlreichen, äußerst rasch in ihnen auf- 
getretenen Vakuolen bekundeten. 

Hatte die Pause zwischen dem ersten und zweiten Teilungs- 
schritt nur etwa 15 Minuten betragen, so konnte sich das Vierer- 
stadium ungefähr eine Stunde lang seines Daseins erfreuen. Dann 
leitete der dritte Teilungsschritt zur Bildung der achtzähligen Kolonie 
über, und zwar stand die Teilungsebene mehr oder minder senkrecht 
zu denen der beiden ersten Teilungsschritte, verlief also in Fig. 6 1m 
ungefähr parallel zur Ebene des Papiers. Entsprechend den Größen- 
unterschieden zeigten die Teilungen Phasendifferenzen, indem sich zu- 
nächst das Zooid D (Fig. 61), dann das Zooid € (Fig. 6k), dann das 
Zooid A (Fig. 61) und zuletzt das Zooid B (Fig. 6m) teilte. 

Im ganzen liefert so der dritte Teilungsschritt ein Quartett von 
vier Individuen: la, 1b, lc, 1d, die ähnlich wie das erste Mikro- 
inerenquartett bei der Eifurchung über den Zooiden 1A, 1B, 10, 1D und 
oleichzeitig etwas zwischenraumwärts zu ihnen verschoben liegen. 
Von den einzelnen Teilungen selbst verläuft 1D--1d noch deutlich 
inäqual (Fig. 6k, I). Auch bei der Teilung 1 Ü—1e scheint noch ein 
Größenunterschied zwischen den beiden Schwesterzooiden erkennbar 
(Fig. 61). Die Teilung 1A—la und 1B—1b läßt dagegen von In- 
äqualität kaum noch etwas bemerken. 

Infolge der Phasendifferenzen kommt es jedoch nicht zum vege- 
tativen Bestehen einer Kolonie von 8 Individuen. Zwar zeigt jedes 
Zooild sofort nach erfolgter Teilung reges Wimper- und Vakuolenspiel, 
aber eines oder das andere der Individuen ist während des ganzen, etwa 
drei Viertelstunden in Anspruch nehmenden dritten Teilungsschrittes 
stets in Durchschnürung begriffen. Und noch vor vollständigem 
Abschluß des letzten, zum dritten Teilungsschritt gehörenden Teilungs- 
aktes werden bereits die ersten Vorbereitungen zum vierten Teilungs- 
schritt erkennbar, indem sich das den übrigen Individuen sowohl an 
Größe wie an Teilungsgeschwindigkeit überlegene Individuum 1 D be- 
reits wieder zu diesem Zwecke abkugelt (Fig. 6m). 





7; 


E. Bresslau, Systylis Hoffi n. gen. n. spee., eine neue Vorticellide. 55 


Diesen vierten Teilungsschritt habe ich in seinem vollen Verlauf 
nicht mehr zu Ende beobachtet. Um 12 Uhr 50 Min. war die Durch- 
schnürung von 1D in 2D--2d, die in der gleichen Ebene wie die vor- 
hergehende dritte Teilung, diesmal aber nicht mehr deutlich inäqual 
verlief, nahezu vollendet. Gleichzeitig hatte 1UÜ durch Abkugelung 
seine Teilung eingeleitet. Da sich aber das Tempo der Teilung erheb- 
lich verlangsamt zu haben schien, brach ich an dieser Stelle die Be- 
obachtung ab. Am nächsten Morgen waren im ganzen 12 Zooide vor- 
handen, alle in vegetativem Zustande, mit ausgestreckter Wimper- 
spirale, das Plasma von zahlreichen Vakuolen durchsetzt. Auf diesem 
zwölfzähligen Stadium verblieb das Stöckchen auch noch den ganzen 
Tag und die nächste Nacht hindurch, bis es sich am folgenden Tage 
auflöste. 

Die Verhältnisse gestatteten mir leider nicht, die Entwicklung 
der Stöckchen über das Stadium von 12 Zooiden hinaus systematisch 
zu verfolgen. Was ich über die weitere Ausbildung der Kolonien zu 
sagen habe, bezieht sich daher auf Beobachtungen an den ohne isolierte 
Aufzucht in meinen Rasenaufgüssen entstandenen Systylis Hoffi- 
Stöckchen. 

Danach schreitet die Entwicklung zunächst in der Weise fort, 
daß sich durch immer neu aufeinanderfolgende Teilungen die Zahl der 
Individuen ständig vermehrt, während gleichzeitig der gemeinsame 
Stiel, auf dem sie sitzen, wächst und in der Richtung von dem an die 
Unterlage angehefteten zum freien Ende hin allmählich an Dicke zu- 
nimmt. So entstehen langgestielte Kolonien (Fig. 2) mit einem aus 
einigen 40-60 Zooiden bestehenden Köpfchen, in dem bisweilen noch 
alle Individuen völlig gleichartig sind, bisweilen aber auch bereits 
ein Individuum als Makront differenziert ist. 

Wie dieser Makront entsteht, Kann ich im einzelnen nicht sagen. 
Es spricht jedoch alles dafür, dab seine Differenzierung dadurch 
herbeigeführt wird, dab ein Zooid®) aufhört, sich zu teilen und von 
nun an lediglich weiter wächst und wächst. Jugendliche Makronten, 
die ich oft beobachten konnte, sehen demgemäß den gewöhnlichen 
Mikronten sehr ähnlich. Nur erscheint ihr Plasma klarer und fein- 
körniger und enthält viel weniger Vakuolen als das der Mikronten. 
Allmählich verändert sich mit ‘zunehmender Größe ihr Habitus, 
Peristom und Wimperspirale werden im Verhältnis zur Körpermasse 
kleiner (Fig. 3ma), der Kern wächst bedeutend (Fig. 2ma), die 
Nahrungsvakuolen verschwinden, so daß es den Anschein hat, als 
ob die Makronten überhaupt die aktive Nahrungsaufnahme einstellen. 





6) Es wäre selbstverständlich von großem Interesse gewesen festzustellen, ob 
sich der Makront auf eines der ersten Zooide zurückführen läßt und auf welches, 
d.h. ob aus den inäqualen ersten Teilungen des die Kolonien bildenden Individuums 
ein determiniertes Verhalten der Tochterzooide zu erschließen ist. Auch diese Frage 
muß einstweilen offen bleiben. 


a 





56 E. Bresslau, Systylis Hoffi n. gen. n. spec, eine neue Vorticellide. 


Allerdings wäre dann ihr gewaltiges Wachstum schwer zu verstehen, 
wenn man nicht etwa annehmen will, daß sie irgendwie von 
den Mikronten ernährt werden, ähnlich wie die der Propagation 
(dienenden Individuen der Hydrozoen- und Siphonophorenstöckchen 
von den Nährpolypen. 

Hat die Mikrontenzahl- des Köpfchens einige 60 überschritten, 
so bereitet sich im allgemeinen seine Teilung vor. In der Regel geht 
dies so vor sich, daß sich neben dem bereits vorhandenen ein zweiter 
Makront differenziert und zu gleicher Größe wie ersterer heranwächst. 
Dann gabelt sich der Stiel in zwei zunächst kurze, allmählich aber an 
Länge zunehmende Äste. ‚Jedes Astende trägt einen Makronten mit 
ungefähr der Hälfte der Mikronten. So wird eime neue, höhere 
Ausbildungsstufe des kolonialen Zustandes erreicht. Der Stock trägt 
jetzt zwei Köpfchen. 

Diese Vorgänge kennzeichnen zugleich das Prinzip, nach dem auch 
die ganze weitere Entwicklung der Kolonien verläuft. Immer wird 
typischerweise in den Köpfchen, deren Mikronten sich durch fortge- 
setzte Teilungen vermehren, neben dem bereits vorhandenen Makron- 
ten ein zweiter gesondert und dann das ganze Köpfchen geteilt. Bei 
einigermaßen regelmäßigem Verlauf kommen dadurch Stöckchen mit 
schön dichotomischer Verästelung, wie bei der Fig. 1 zugrunde liegen- 
den Kolonie, zustande. 

Nicht immer nimmt aber die Entwicklung diesen vollkommen 
regelmäßigen Gang. Vielmehr kommen allerhand Abweichungen vor, 
die entsprechend modifizierte Kolonien zur Folge haben. Häufig 
zeigen einzelne Köpfchen eine geringere Wachstumsenergie, ihr Stiel 
bleibt kürzer, ihre Mikronten teilen sich langsamer und dementspre- 
chend besitzt auch das Köpfchen als Ganzes eine geringere Teilungs- 
eeschwindigkeit. Das äußert sich dann in Störungen des dichoto- 
mischen Baus von mannigfaltiger Art. Bleibt z. B., nachdem das Zwei- 
Köpfchen-Stadium erreicht ist, das eine der beiden Köpfchen mit der 
Teilung im Rückstand, so wird, wie ich ab und zu beobachten Konnte, 
eine dreiästige Kolonie die Folge sein. In anderen Fällen kann schon 
die Teilung des ersten Köpfchens verzögert werden: so fand ich einmal 
ein Stöckchen mit nur einem Köpfchen auf. oben sehr verdicktem 
Stiel, obwohl bereits vier Makronten differenziert waren. Eine wei- 
tere Abweichung besteht darin, daß die Sonderung der Makronten 
längere Zeit auf sich warten läßt, während die Teilung der Köpfchen 
ruhig ihren Gang nimmt. Es zeigte sich dies einige Male bei sämt- 
licher Kolonien desselben Rasenaufgusses: Die Stöckchen hatten be- 
reits 4,6 und mehr Köpfchen entwickelt, und diese setzten sich scheinbar 
nur aus Mikronten zusammen. Weitere Beobachtung ergab aber, dab 
sich auch in diesen Kolonien schließlich Makronten differenzierten, 
die sich .uletzt in ganz normaler Weise enzystierten. Ferner kommen 
bisweilen Zuchten vor, in denen der Hauptstiel sämtlicher Kolonien 






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| 


E. Bresslau, Systylis Hoffi n. gen. n. spec,, eine neue Vorticellide. 57 


) 


nicht die gewöhnliche Länge von 1—2 mm erreicht, sondern ganz 
kurz bleibt. Vereinzelt sind endlich Stöckchen zu beobachten, die ver- 
krüppelten oder anormalen Wuchs zeigen und daher wohl als Miß- 
bildungen zu bezeichnen sind. 


Aus dem geschilderten Entwicklungsgang ergibt sich, daß 
Trembley vor 171 Jahren die Bedeutung der Makronten 
richtig erkannt hat, wenn er in ihnen — im Gegensatz zu den Mikron- 
ten dieGründer neuer Kolonien sah. Dagegen ist Bütschli 
wohlentschieden zu weit gegangen, wenn er die oben zitierte Beobachtung 
Stern’s über das Vorkommen konjugierter Tiere bei Zoothamnium 
arbuser!a dahin ausdeutet, dab die Makronten „echte, zur Konju- 
gation bestimmte Makrogonidien“ sind. Davon kann bei Systylis 
Hoffi, für gewöhnlich wenigstens, nicht die Rede sein. In der Regel. 
die ich aus der Beobachtung vieler Tausende in meinen Rasenauf- 
süssen zur Entwicklung gelangter Systylis-Stöckchen ableite, ist 
nichts von geschlechtlichen Vorgängen an den Makronten zu sehen: 
für gewöhnlich sind sie ‘vielmehr lediglich Dauerformen, die 
durch ihre Enzystierung die Erhaltung der Art in den ihr als Wohn- 
sitz dienenden kurzfristigen Wasseransammlungen sichern. 

Allerdings besteht eine große und wohl die schmerzlichste Lücke 
in meinen Beobachtungen an der schönen, neuen Form darin, daß ich 
über die doch zweifellos auch bei ihr vorkommenden Konjugations- 
erscheinungen nichts ermitteln konnte. Ein unglücklicher Zufall muß 
es gefügt haben, daß ın den zahlreichen Rasenaufgüssen mit Systylis- 
Stöckchen, die ich ansetzte, niemals die zum Auftreten einer Kon- 
jugationsepidemie führenden Bedingungen sich einstellten. Systema- 
tische Versuche zur Herbeiführung solcher Bedingungen waren nach 
Lage der Verhältnisse, unter denen ich arbeitete, ausgeschlossen. So 
muß die Frage offen bleiben, ob und welche Rolle etwa die Makronten 
bei der Konjugation spielen. 

Die einzige in das Kapitel der Konjugationserscheinungen 
fallende Beobachtung, dieich an Systylis Hoffi anstellen konnte, bezieht 
sich auf die Mikronten. In einem am 15. Mai 1917 angesetzten Rasen- 
aufguß hatte sich am 17. Mai ein einziges Sysiylis-Stöckchen ent- 
wickelt, das mir schon bei Betrachtung mit der Lupe durch sein anders- 
artiges Aussehen auffiel. Es handelte sich um eine relativ kurzstielige 
Kolonie mit sechs Köpfchen, in denen keine Makronten differenziert 
waren. Dagegen zeigten die Mikronten alle Stadien rapidester Tei- 
lungen, die zur Herstellung außerordentlich kleiner Individuen führ- 
ten. Ein Teil der Zooide der Köpfchen zeigte noch die gewöhnliche 
Größe, alle Übergänge leiteten von ihnen zu kleinen Schwärmern, 
die z. T. bereits in Ablösung begriffen waren, den hinteren Wimper- 
kranz entwickelt hatten (Fig. 7) und mit 20--25 u, Länge gerade nur 

Band 39. 5 


58 E. Bresslau, Systylis Hoffi n. gen. n. spee., eine neue Vorticellide. 


1/0 der Durchschnittsgröße der normalen Individuen erreichten. Das 
Peristom dieser wohl sicher als Mikrogonidien anzusprechen- 
den Zooide ist sehr klein, fast bei allen war in seiner Nähe 
die pulsierende Vakuole sichtbar, der rundliche Makronukleus lag 
bald in dem vorderen (Fig. 7b,d), bald in 
dem von diesem durch eine Einschnürung 
mit dem mächtig entwickelten, hinteren 
Wimperkranz abgesetzten, hinteren Körper- 
abschnitt (Fig. 7a, c), an dessen Hinterende 
ich in einem Falle eine kurze Borste, ähn- 
lich wie bei Astyloxoon, wahrzunehmen glaubte 
(Fig. 7d). Von den Mikronuklei war auch 
in dem gut fixierten und gefärbten Präparat, 
das ich von dem Stöckchen anfertigte, nichts 
zu sehen. | 
Fig, 7. Mikrogonidien von Ich habe selbstverständlich seinerzeit so- 
Systylis Hofji. X. 600. fort nach dieser Beobachtung zahlreiche, neue 
Aufgüsse mit Stücken des gleichen Rasens an- 
gesetzt, um zu schen, ob nicht in diesen Kulturen nunmehr Systylis- 
Kolonien mit Konjugationszuständen auftreten würden, aber vergebens. 
In Anbetracht der vorgerückten Jahreszeit kam es nur zu wenig er- 
siebiger Entwicklung von Systylis-Stöckchen, und diese zeigten, so- 
weit ich sie kontrollierte, sämtlich nur das gewöhnliche Verhalten mit 
Ausbildung von Makronten, die sich schließlich enzystierten. - 
Damit komme ich zur Besprechung des jahreszeitlichen Ver- 
haltens der neuen Art. Es läßt sich dies kurz dahin charakterisieren, 
dab Systylis Hojfi bei Straßburg eine ausgesprochene Frühjahrs- 
form ist. Entsprechend der ersten Wiesenwässerung, die bei Straß- 
burg in der zweiten Aprilhälfte zu beginnen pflegt, stellte sich stets 
im April die stärkste Entwicklung von Sysiylis-Kolonien in den Rasen- 
aufgüssen ein. Auch schon im März konnte ich Kolonien zur Aufzucht 
bringen. Die üppige Entfaltung der Stöckchen dauerte bis in den 
Mai hinein, vom zweiten Drittel dieses Monats an zeigte sich jedoch 
immer schwächeres Wachstum, wohl infolge der höheren Temperaturen, 
die in während des Sommers angesetzten Aufgüssen entweder über- 
haupt die Entwicklung von Systylis-Kolonien verhindern oder nur ver- 
einzelt kümmerliche Stöckchen entstehen lassen. Dagegen ergaben Kul- 
turen im Oktober und November 1917 wieder schöne Resultate. In der 
Natur kommt es aber bei Straßburg wenigstens — normalerweise 
nicht zur Entwicklung einer Herbstgeneration von Systylis, da die 
Wiesen dort um diese Jahreszeit nicht gewässert werden, sondern 
trocken dazuliegen pflegen. 
Es wird von Interesse sein, festzustellen, wie sich Systyles Hoffi 
in dieser Beziehung andernorts verhält. Denn ich bin überzeugt, 
dab diese schöne Art, die bei Straßburg so massenhaft vorkommt, 





G. Steiner, Bemerkungen über die sogenannte Verpuppung der Rhabditis ete. 59 


auch in anderen Gegenden. wo Überschwemmungswiesen geeignete 

Lebensbedingungen darbieten, zu finden sein wird. Um ihrer hab- 

haft zu werden, hat man nicht nötie, im Freien danach zu suchen, 

zumal da die festsitzenden Kolonien durch Abfischen der Wiıesen- 

tümpel ja doch nicht zu erbeuten sind. Weit zweckmäßiger ist viel- 

mehr das eingangs geschilderte Verfahren der Herstellung von 

Rasenaufgüssen. Ich hoffe, daß auf diese Weise recht viele 

'Kollegen in der Lage sein werden, neue Fundorte von Systylis 

Hoffi, diesem so schönen und dankbaren Untersuchungsobjekt, zu 

ermitteln. 

Literatur. 
l. Bresslau. E., Beiträge zur Kenntnis der Lebensweise unserer Stechmücken I. 
Über die Eiablage der Schnaken. Biol. Zentralbl. 37, 1917. 8. 507—521. 
Bütschli, ©., Protozoa. Bronn’s Klassen und Ordnungen Abt. 3. Infusoria 1589. 
Ehrenberg, Chr. G., Die Infusionstierchen als vollkommene Organismen. 
Leipzig 1858. 

4. Greeff, R., Untersuchungen über den Bau und die Naturgeschichte der Vorti- 
cellen. Arch. f. Naturgesch. 1870, Bd. I, S. 353— 384 und 1871, Bd. I, 
S. 185—222. 

5. Kent, Sav., A manual of the Infusoria. Including a description of all known 
Flagellate, Ciliate and Tentaculiferous Protozoa. London, III 2. Bd. 1882. 

6. Sechewiakoff, W., Uber die geögraphische Verbreitung der Süßwasser-Proto- 
zoen. Verh. Nat. Med. Ver. Heidelberg (2) 4, 1892, S. 544—592. 

‘. Schroeder, O., a) Beiträge zur Kenntnis von (ampanella umbellaria (Epistylis 
flavicans + grandis Ehrbg.) Arch. f. Protistenk. 7, 1906, S. 75—105 
b) Beiträge zur Kenntnis von KEpistylis plicatitis (Ehrbg.). Ebenda 
S. 173—185. 

8. Stein, Fr., Der Organismus der Infusionstiere nach eigenen Untersuchungen in 
systematischer Reihenfolge bearbeitet II. Abt. 1567. 

. Trembley, A., Observations upon several species of small water Insects of the 
Polypous kind. Philos. Transact. 44, 1747, S. 627 — 659. 


ww m 


9) 


Bemerkungen über die sogenannte Verpuppung der 
Rhabditis coarctata Leuckart und das Bilden von 
Zysten bei Nematoden überhaupt. 


Von Dr. G. Steiner, Thalwil-Zürich. 
(Vorläufige Mitteilung.) 

Die Zystenbildung bei Nematoden ist eine seit langem bekannte 
Erscheinung, aber durchaus kein Attribut sämtlicher Vertreter der 
Klasse. Sehen wir von den Parasiten ab, so finden wir auch unter 
den sogenannten freilebenden Formen die Fähigkeit zum Zystenbilden 
nur auf einige Ökologische Gruppen beschränkt. So ist für die große 
Zahl mariner Nematoden heute noch in keinem Falle Zystenbildung 
beobachtet worden; auch bei typischen, ausschließlichen Süßwasser- 
formen scheint sie zu fehlen. Nur die große Gruppe der Terricolen 


5% 


60  G. Steiner, Bemerkungen über die sogenannte Verpuppung der Rhabditis etc. 


hat diese Fähigkeit als Anpassung an besondere Lebensbedingungen 
erworben. Vermutlich kommt dieses Vermögen nicht allen Terricolen 
zu. Wir wissen heute, daß jene Formen, die die Fähigkeit dazu 
haben, sie in sehr verschiedenem Grade besitzen. Es gibt da eine lange 
Reihe von Abstufungen. Am ausgebildetsten und in vollendetster Form 
treffen wir sie bei zwei ökologischen Gruppen, den Fäulnis- und Kot- 
bewohnern einerseits und den Bewohnern von Pflanzenpolstern, 
namentlich Moos- und Flechtenrasen andererseits. 

Die Bedeutung der Zysten bei Nematoden wurde hauptsächlich 
darin gesehen, dab es mit ihrer Hilfe einer Form ermöglicht wird, 
ungünstige Außenverhältnisse zu überdauern und erst bei Eintritt 
besserer Umstände ihren Lebenszyklus fortzusetzen. Halten wir uns 
an ein Beispiel. Bei moosbewohnenden Aphelenchus-, Tylenchus-, 
Plecetus-Arten u. s. w. wird die Zeit des Austrocknens der Moosrasen 
im Zystenstadium überdauert; ein frischer Regen weckt all diese 
Tiere wieder aus ihrer Asphyxie, die Zysten werden gesprengt und 
die individuelle Entwicklung der Tiere geht weiter. Ähnlich wirkt 
bei Fäulnis- und Kotbewohnern der Nahrungsmangel. 

Die Zyste ist also eine zweckmäßige, eine erhaltungsmäßige Ein- 
richtung, die den Tieren, hier also einigen Nematodenformen, ermög- 
licht, ungünstigen Außenverhältnissen ihren vernichtenden Charakter 
zu nehmen. 

Damit ist aber die Bedeutung der Zysten noch nicht erschöpft. 
Wie bei den Einzelligen und vielen anderen niederen Metazoen er- 
weisen sie sich auch bei den Nematoden als vorzügliche Einrichtung 
zur Verbreitung der Arten. Nicht umsonst sind gerade die moosbe- 
wohnenden und auch die saprozooischen Nematoden weltweit ver- 
breitet. Als Zyste konnten sie durch Winde, Wasser, Strömungen, 
Mensch und Tier nach allen Seiten verschleppt werden. Auf die 
Modalitäten unter denen dies geschehen kann, wollen wir hier nicht 
eintreten. Es soll nur betont werden, daß der Zystenbildner und auch 
die Zyste sich dabei fast immer völlig passiv verhalten und dem Zu- 
fall alles überlassen wird. 

Nun gibt es auch hier einzelne Ausnahmefälle. Auf einen solchen 
möchten wir an dieser Stelle verweisen. Er ist eigentlich nicht neu, 
sondern schon von Leuckart zu Beginn der neunziger Jahre des 
verflossenen Jahrhunderts entdeckt worden. Er hat aber trotz des 
Interesses das er verdient, kaum Beachtung gefunden. Der Grund 
mag darin liegen, daß Leuckart selbst den eigentlichen Charakter 
der Erscheinung und namentlich ihre Bedeutung nicht deutlich erkannt 
hat oder wenigstens nicht genügend klar und scharf hervorhebt. 

Es handelt sich um die. Enzystierung der Rhabditis coarctata 
Leuckart. Der erwähnte Forscher hat sie als Verpuppung be- 
zeichnet und sah eben die interessante Seite des Falles wie es scheint 
nur darin, daß damit zum ersten Male für Nematoden das Vorkommen 
einer Verpuppung nachgewiesen sei. 








G. Steiner, Bemerkungen über die sogenannte Verpuppung der Rhabditis ete. 61 


Wir werden gleich sehen, wie er zu dieser Annahme kam. Über 
seine Beobachtungen hat er an der ersten Jahresversammlung der 
Deutschen Zoologischen Gesellschaft im Jahre 1891 in Leipzig be- 
richtet 1). Er schildert ın dieser Mitteilung in kurzen Zügen, wie 
an den Mundteilen und Beinen, namentlich an den Tarsen des weit- 
verbreiteten und gemeinen Dungkäfers Aphodius fimetarius L. gegen 
den Herbst hin oft Hunderte kleiner weißlicher Schläuche zu beob- 
achten seien. Es sind die „Puppen“ einer sich an diesen Stellen fest- 
heftenden Rhabditis, deren Lebensgang der Forscher kurz zeichnet. 
Die Larven dieses Nematoden heften sich vor ihrer dritten Häutung 
fest; ihre Haut wird verdickt, es bildet sich eine tönnchenförmigo 
Puppe, deren Gestalt nur mehr entfernt an die frühere Körperform 
erinnert. Werden diese Puppen in feuchte Umgebung gebracht, so 
treten die in ihnen enthaltenen Larven wieder aus, machen ihre letzte 
Häutung durch und erreichen das geschlechtsreife Stadium, das aller- 
dings ziemlich wenig an die frühere Larvenform erinnere. 

Leuckart hat dieser Mitteilung keine Ergänzung folgen lassen 
und auch keine Abbildungen veröffentlicht. Dies wird mit ein Grund 
gewesen sein, daß der interessante Fall so wenig beachtet und fast 
vergessen wurde. 

Im Sommer 1917 lenkte Herr Geh. Regierungsrat Prof. 
Dr. J. W. Müller in Greifswald meine Aufmerksamkeit auf den 
interessanten Nematoden. Er übermachte mir in liebenswürdiger Weise 
das erste Untersuchungsmaterial. So wurde es mir möglich die eigen- 
artigen Zysten, denn um solche handelt es sich, näher zu untersuchen. 
Über die Lebensgeschichte des Tieres wie über einige andere Einmieter 
des Aphodius fimetarius hoffe ich später ausführlich berichten zu 
können. ö un 

Eine einzelne Zyste ist auf Abbild. I dargestellt. Mit dem Vorder- 
ende ist sie am Käferbein oder an einem Mundteil des Käfers fest- 
geheftet; dieser vorderste Teil ist stielartig verengt, zeigt aber auf 
der Oberfläche ganz die Beschaffenheit, die wir auch am Mittel- und 
Hinterkörper finden. Auf diesen stielartigen Abschnitt folet der 
Hauptteil der Zyste, der ganz zylindrische bis leicht tönnchenförmige 
Gestalt hat. An seinem Hinterende faltet sich die Zystenhaut ein, es 
folet ein kürzerer engerer Abschnitt, dann wieder eine Falte und 
darauf der Zystenschwanz, dessen Basis leicht angeschwollen ist. 
Der Schwanz selbst ist stark verlängert, läuft fadenförmig spitz aus 
und erreicht ungefähr ein Drittel der ganzen Länge der Zyste. Die 
Oberfläche derselben ist regelmäßig skulpturiert; quere, stäbchen- 
bis plättchenartige Verdiekungen der Zystenhaut sind zu 22 Längs- 
reihen geordnet. Zwischen diesen gerundeten, insgesamt wulstartig 
vorspringenden Längsreihen sind verhältnismäßig tiefe trennende 


I) Verhandlung. Deutsch. Zoolog. Ges., Bd. 1 8. 54—46. 





62 6. Steiner, Bemerkungen über die sogenannte Verpuppung der Rhabditis ete. 


Längsfurchen. Die Zystenhaut zeigt bis auf den Schwanz überall die- 
selbe Beschaffenheit. Schon an der Schwanzbasis werden aber die 
stäbehenartigen Verdickungen kleiner; je mehr der Schwanz faden- 
förmig wird, um so kleiner werden sie, bis sie zule'zt als strich- 
förmige Gebilde ganz verschwinden. 





Abb. 1. Zyste der Rhabditis 
eoarctata Leuckart. « Stil der Abb. >. in Bein des Aphodius fimetarius 
7yste, b zylindrischer Mittelab- mit mehreren  festgehefteten Büscheln und 


schnitt der Zyste, e vordere Gruppen von Zysten (bei a). Man beachte wie 
Schwanzfalte, dd hintere Schwanz- die Zysten stets an Stellen festgeheftet sind, 
falte; K.Ok.. S u. Apochr. Imm. die von Borsten und Zähnen des Kätferbeines 

2 mm. überragt und geschützt werden. H.Ok. 2 Obj A. 


Im Innern der Zyvste findet sich in enge Windungen gelegt, die 
Larve:; sie bildet einen im zylindrischen Zystenabschnitt liegenden 
längsovalen Körper (vel. Abb. 2 bei D). Das Sprengen der Zyste er- 
[olot immer an derselben Stelle, nämlich am ersten Schwanzwulst; die 
Schwanzkappe -wird dabei völlig abgeworfen, der Wulst bezw. die 


vr 








G, Steiner, Bemerkungen über die sogenannte Verpuppung der Rhabditis etc. 63 


Ringfalte ringsum gerissen (vgl. Abb. 2 bei ©). Die leere Zystenhülle 
bleibt dann weiter am Insekt hängen. 

Die Zysten sitzen, wie schon Leuckart hervorgehoben hat, an 
den Beinen, hier auch an den Tarsen und an den Mundteilen des 
Käfers. Nie habe ich sie an anderen Stellen desselben beobachtet. 
Auch an den erwähnten Gliedmaßen haben sie stets ihre besondere 
Anordnung, von der kaum abgewichen wird. Sie stehen nämlich immer. 





Abb. 2. Ein einzelnes am Käferbein festsitzendes Büschel von Zysten; bei e ge- 
sprengte Zysten; die Schwanzkappe ist abgeworfen. H.Ok. 2 Obj. II. 


nach hinten und außen ab. Weiter begeben sie sich immer in den 
Schutz der an diesen Gliedmaßen vorhandenen Borsten- und Zahn- 
reihen, was die Abb. 2 und 3 sehr deutlich zeigen. Erst wenn alle 
diese geschützten Stellen völlig besetzt sind, werden auch andere zum 
Festheften benutzt. So trifft man die weißen Schläuche an den er- 
wähnten Stellen zu ganzen Büscheln und Säumen geordnet, die schon 
mit blobem Auge gut sichtbar sind. In Abb. 2 ist ein solches Zysten- 
büschel stärker vergrößert dargestellt, 


ee 





64 GG. Steiner, Bemerkungen über die sogenannte Verpuppung der Rhabditis ete. 


Welche Bedeutung haben nun diese Zysten, d. h. was für eine 
Rolle spielen sie im Leben ihrer Bildner. Leuckart ist auf diese 
Frage eigentlich nicht eingetreten und doch lag sie auf der Hand. Er 
hat die Zysten auch nicht als solche bezeichnet, sondern als Puppen. 
Man wird fragen warum. Er scheint die ganze Erscheinung, den 
sanzen Vorgang als eine Art Verwandlungsakt angesehen zu haben, 
deshalb seine Bezeichnung der Zyste als Puppe. Zu dieser Ansicht 
scheint er irrtümlicherweise dadurch gekommen zu sein, dab er aus 
den Zysten ganz anders beschaffene Tiere ausschlüpfen gesehen haben 
will, als jene Larven waren, die sie bildeten. Soweit ich die Sache 
heute überblicke, hat der berühmte Parasitenforscher hier zwei ver- 
schiedene Rhabditis-Formen in ein und denselben Entwicklungszyklus 
gebracht. Es ist dies ein Irrtum, der nicht einzig dasteht und bei 
den Schwierigkeiten artreiner Rhabditis-Kulturen auch begreifbar ist. 
Zur Straßen?) und Fuchs?) haben übrigens schon auf einige 
solcher Verwechslungen hingewiesen. Sie waren bei unserer Form um 
so leichter möglich, weil auch Aphodius fimetarius erstens verschie- 
dene Nematodenparasiten beherbergt, zweitens unter den Flügeldecken 
wie es scheint sogar mehrere Rhabditis-Arten in Form von Dauer- 
larven oft zu Hunderten als Einmieter mit sich führt und drittens 
der Kuhmist, in dem sich der Käfer herumtreibt, ja ohnehin nament- 
lich Rhabditiden enthält. Was dann jeweilen zusammengehört, ist 
recht schwer zu entscheiden und Irrtümer sind leicht möglich. Man 
braucht nur nachzulesen was Fuchs hierüber schreibt. Er fand. bei 
seinen Studien über die Parasiten der beiden Borkenkäferarten Ips 
/ypographus L. und Hylobius abietis L. Verhältnisse, die denen des 
Aphodius fimelarius völlig gleichen. 

Die Zysten der Rhabditis coaretata Leuckart spielen natürlich 
für die Ausbreitung der Art die größte Rollet). Dadurch, dab das 
Tier sich vor dem  Einzysten an den Käferbeinen u. s. w. festheftet, 
sorgt es selbsttätig für diese Ausbreitung. Der Käfer geht mit den 
vielen Zysten nach neuen Misthaufen, nach neuen Kuhfladen ; dort 
wird die Zyste gesprengt, die Tiere treten aus und vollenden ihre 
Entwicklung u. s. w. 

Das Eigentümliche am ganzen Vorgang bleibt natürlich, dab nur 
die Gliedmaßen des Käfers zum Festsetzen der Larven benutzt wer- 


2) Zur Strassen, Otto, Bradynema rigidum. Zeitschr. f. wiss. Zoologie, 
Bd. 54, 1892. 

3) Fuchs, Gilbert, Die Naturgeschichte der Nematoden und einiger anderer 
Parasiten, 1. des Ips typographus \., 2. des Hylobins abietis , 7ool. Jahrh. 
Syst., Bd. 38. 

4) Fuchs äußert übrigens S. 115 seiner Arbeit bezüglich unserer Rhabditis 
dieselbe Ansicht und auch Prof. Dr. J. W. Müller vertrat sie schon in seiner ersten 
brieflichen Mitteilung ohne Kenntnis jener Stelle bei Fuchs und jener Mitteilung 
Leuekarts zu haben, 





F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 65 


den. Die Vermutung liegt nahe, anzunehmen, dab das Bewegen dieser 
Glieder die Rhabditis-Larven zum Festheften reize, dab unbewegliche 
Körper, auch wenn sie chitiniger Art sind, nicht den nötigen Anreiz 
ausüben. Diese Annahme scheint sich auch durch eine briefliche Mit- 
teilung von Herrn Prof. Dr. J. A. Müller zu bestätigen. Er war 
nämlich, ohne Kenntnis von der Leuckart'schen Beobachtung zu 
haben, zuerst bei Studien an Dipteren-Larven auf die Zysten der vor- 
liegenden Rhabditis aufmerksam geworden. Dieselben sollen an einer 
solchen Dipterenlarve oft bis zu hundert Exemplaren am Kopfe fest- 
sitzen. Leider ist es mir bis jetzt nicht gelungen, derartige Fliegen- 
larven aufzufinden. Wir müssen aber annehmen, daß der lebhaft be- 
wegte Kopf der Fliegenlarven hier auf die Rhabditis-Larven denselben 
Anreiz ausübte, wie dort die Gliedmaßen des Käfers. Aber, und hier 
ist für die Auffassung der ganzen Erscheinung als zweckmäßiger 
Einrichtung ein springender Punkt. die Dipterenlarven können für 
die Ausbreitung der Zysten nicht die Bedeutung haben, wie jener 
Käfer. Die Dipterenlarven werden ja ledielich im schon bewohnten 
Dunghaufen bleiben, hier höchstens immer wieder die feuchten Stellen 
aufsuchen, aber beim Vertrocknen oder Schwinden des Dunghaufens 
nicht an eine örtlich entfernte neue Nahrungsstelle zu gehen ver- 
mögen. Ja. bei der Verwandlung zur Imago*wird die Larvenhaut abge- 
worfen und damit bleiben auch die an dieser festsitzenden Zysten 
liegen und die Einrichtung scheint uns wenn nicht völlig nutzlos so 
doch von weit weniger förderndem Charakter für die Rhabditis als 
die Festheftung der Zysten am Käfer. Es liegt nahe, anzunehmen. 
der Vorgang des Festheftens dieser Zysten sei hier noch unvollkommen 
ausgebildet. Die Rhabditis-Larven sind in ihren Instinkthand- 
lungen noch nicht genügend scharf nur auf den weit vorteilhafteren 
Käfer eingestellt. Wenn hier Selektion einsetzt, was uns möglich 
scheint, könnte schließlich eine völlige Einstellung nur anf den Käfer 
erfolgen. Dies sind Probleme, die sich uns aufdrängen beim 
Betrachten der merkwürdigen Zystenanheftung, wie die Rhab- 
ditis coarctata Leuckart sie ausübt. Wir glaubten einen weiteren 
Kreis hier auf diese interessante Erscheinung aufmerksam machen 
zu müssen. 


Die metöke Myrmekoidie. 
Tatsachenmaterial zur Lösung des Mimikryvproblems. 
(Mit 13 Textfiguren.) 

Von Franz Heikertinger, Wien. 
Das Mimikryproblem kann nur streng kritisch-empirisch, nur 
an der Hand von Tatsachenreihen gelöst werden. Hypothetische 
Erörterungen über die größere oder geringere Wahrscheinlichkeit 


66 F. Heikertinger. Die metöke Myrmekoidie. 
dieser oder jener Möglichkeit —- eine heute noch vielfach beliebte 
Methode der Problembehandlunge —- sind müßie und führen zu keinem 


realen Ergebnis. 

Die folgenden Erörterungen gelten der tatsachengemäßen Untrr- 
suchung der metöken Myrmekoidie, d.i. der insekten- 
fressertäuschenden Nachäffune von Ameisen dureh 
wehrlose Arthropoden. 

Diese Erörterungen zerfallen in drei Abschnitte. Im ersten soll 
das objektiv gegebene Tatsachenmaterial der Ähnlichkeiten an sich 
vorgeführt werden. Im zweiten Abschnitt sollen die heut> geltenden 
Meinungen der biologischen Forscher über die vor Feinden schützende 
Bedeutung dieser Ähnlichkeiten und über die natürlichen Feinde 
der Ameisennachahmer Darstellung finden. Im dritten Abschnitt 
endlich sollen exakt erforschte Erfahrungstatsachen über die natürliche 
Nahrung dieser Feinde als Prüfune der fundamentalen Voraus- 
setzungen der Ameisenmimikry, zusammengestellt werden. aus wel- 
chen zahlenmäßig ein Urteil zu gewinnen sein wird, ob eine metöke 
Myrmekoidie als Selektionsergebnis wahrscheinlich oder möglich ist. 
Die Untersuchung wird demnach hier ausschließlich nach der öko- 
logischen Methode erfoleen!). 

In allen drei Teilen legen mir Raumesrücksichten Knappheit und 
Beschränkung auf. Immerhin soll eine hinreichend eroße Anzahl 
von Fällen dargelegt werden, um dem unbefangenen Leser das allen 
Tatsachen gemeinsam zugrunde liegende Prinzipielle ohne Zweifels- 
möslichkeit erkennen zu lassen. Die Untersuchungen sollen sich nur 
auf Tatsachen beschränken, damit das Urteil ein zwinsendes und 
die Lösung der Frage eine endgültige sei. 

* 


Begriff und Wort „Myrmekoidie‘, primär ledielich im Sinne 
von „Ameisenähnlichkeit“, rühren von E. Wasmann her. Er unter- 
scheidet 2): „Es gibt eine Myrmekoidie, die bloß eine morphologische 
Familieneigentümlichkeit ist, ohne nachweisbare biologische Bedeu- 
tung; es eibt ferner eine andere Myrmekoidie, welche zum Schutze 
segen insektenfressende Wirbeltiere dient; es gibt endlich eine Mvr- 
mekoidie, welche auf Täuschung der Ameisen hinzielt und einen An- 


1) In einer anderen Arbeit habe ich ähnliche Untersuchungen ausschließlich 
nach der morphologisch-analytischen Methode, nach der vergleichenden 
Beurteilung der Ähnlichkeiten in morphogenetischer Hinsicht, die hier völlig außer 
Betracht gelassen ist, geführt (Die morphologisch-analytische Methode in 
der Kritik der Mimikryhypothese, dargelegt an der Wespenmimikry 
|Sphekoidie]) der Bockkäfer. Zoolog. Jahrbücher v. Spengel [in Vorberei- 
tung]). Beide Methoden führen in wissenschaftlicher Durchführung zu überein- 
stimmenden Ergebnissen. 

2) Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen. Zoologica, Heft 26, 
Stuttgart 1899, 8. 41. 


F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 67 


passungscharakter an die myrmekophile Lebensweise bildet.“ Er be- 
zeichnet diese letztere als „Mimikry der Ameisengäste, deren Zweck 
die Täuschung der eigenen Wirte ist" und teilt sie in eine „passive 
Mimikry“, welche täuschende Ähnlichkeit der äußeren Erscheinung, 
und in eine „aktive Mimikry“, welche Nachahmung des Benehmens 
der Wirte ist. 

Hieraus möchte ich hervorheben, dab Wasmann erstens das 
Dasein einer biologisch wertlosen Ameisenähnlichkeit 
ausdrücklich feststellt und daß er zweitens die täuschende Ähnlich- 
keit der Gäste mit ihren Wirten eine „Mimikry“ nennt. Mit letzterem 
Vorgehen steht er allerdings im Einklang mit allen Autoren vor ılım 
und nach ihm. Dennoch scheint mir dieses Vorgehen nicht zweckmäßig. 

A. Jacobi, der ‚Verfasser des neuesten zusammenfassenden 
Mimikrywerkes >), folgt ihm hierin und führt zwei neue Termini ein. 
Er bezeichnet die gegen Insektenfresser schützende Ameisenähnlich- 
keit als „metöke Myrmekoidie‘“ oder „Metökie“. die gegen 
die Wirtsameisen schützende Ähnlichkeit als „synöke Myrme- 
koidie“ oder „Synökie“ 

Wenn aber Jacobi den Begriff „Mimikry" in zeitgemäbem., 
klarem, engem Sinne als „schützende Nachäffung gemie- 
dener Tiere durch andere Tiere desselben Wohnge- 
bietes“ definiert), dann ist die von ihm als Mimikry aufgeführte 
Synökie gar keine Mimikry. Dann fehlt ihr ja das für den Mimikry- 
begriff Typische, die auffällige, gewissermaßen drohende. 
warnende Ähnlichkeit mit einem von dem Feinde gemiedenen 
Tiere. 

Der nachahmende Ameisengast will garnichtauffallen, will 
gar nicht drohen, nieht warnen; und das Modell ist kein von 
dem Feinde, d. i. von der Wirtsameise, gefürchtetes oder gemiede- 
nes Tier, sondern der eigene, wohlwollend behandelte oder unbeach- 
tete Artgenosse desselben. Der Nachahmer will nur unbeachtet, 
nur verborgen bleiben. Das Prinzip seiner Nachahmung ist ein 
kryptisches; das Prinzip jeder Warntracht (Warnfärbung und Warn- 
form) und Mimikry welch” letztere ja lediglich nachgeahmte Warn- 
tracht ist — aber bleibt das Auffallen, Drohen, Warnen. So kann 
Synökie dem Prinzip nach nur ein Fall jener Erscheinungen sein, die 
Jacobi als „schützende Ähnlichkeit‘. bezeichnet), wobei 
diese Kategorie allerdings vom unbeweglich verharrenden Modell auf 
das sich bewegende auszudehnen sein wird ®). 

3) Mimikry und verwandte Erscheinungen. Braunschweig 1913, Verl. 


Friedr. Vieweg & Sohn. 8. 95ft. 


R. Puschnig (Carinthia II, Mitt. Verein Naturhist. Landesmus. Kärnt,, 
106.—107.,1917,8.50)hat für Jacob i’s „Schützende Ähnlichkeit“ das Wort „Mimese,* 


68 F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 


Von der synöken Myrmekoidie, die somit —- was bislang über- 
sehen wurde — keine Mimikry ist, wird in den folgenden Ausfüh- 
rungen nicht mehr die Rede sein. 

Mit voller logischer Strenge beurteilt, entspricht allerdings auch 
(die metöke Myrmekoidie dem Mimikrybegriffe nicht. Mimikry oder 
Scheinwarntracht ist vorgetäuschte Warntracht. Warntracht aber ist 
ein grelles, auffälliges Kleid, das durch Grellheit, Auffälliekeit 
warnend wirkt. Nur zur selektionistischen Erklärung der Daseins- 
möglichkeit grellbunter Trachten wurde der Warntrachtbegriff („Trutz- 
tracht*) von A. R. Wallace aufgestellt; eine nicht auffällige Warn- 
tracht wäre widersinnig. Nun tragen aber die Ameisen kein grell- 
bunt auffälliges, sondern weit eher ein unauffälliges, verbergendes 
Kleid. Ihre Tracht kann logisch keine Warntracht, deren „Nach- 
ahmung“ keine Scheinwarntracht oder Mimikry sein (Näheres hierüber . 
in meinem Artikel Exakte Begriffsfassung usw.). Lediglich die 
außerhalb des Rahmens dieser Arbeit fallende „Mutilloidie“, die Ahn- 
lichkeit mit grellbunten Mutillen wäre eine Mimikry genauen Sinnes. 
Im folgenden soll indes der Mimikrybegrift noch im alten, die unauf- 
fälligen Ameisen umfassenden Sinne Anwendung finden. 


I. Ähnliehkeitstatsachen. 


Für eine Ameisenähnlichkeit kommen naturgemäß fast aus- 
schließlich aptere Arthropoden in Betracht. Der Hauptsache nach sind 
es drei Gruppen, die typische Mimetiker stellen: 

Arachniden, 
Hemipteren, 
Orthopteren. 

Bei Koleopteren und Lepidopterenraupen ist die metöke Myrme- 
koidie nur unvollkommen entwickelt. Unter den Ameisen selbst sollen 
einige besonders wehrhafte Arten durch minder wehrhafte „nachge- 
ahmt‘ werden. Hier wie bei den ameisenähnlichen EHoymenopteren 
überhaupt ist indes der Begriff der Mimikry kaum mehr gegeben und 
(die Ähnlichkeit findet ihre Erklärung in der natürlichen Verwandt- 
schaft der Tiere untereinander. 


geprägt. Ich möchte die Annahme dieses gut klingenden Terminus befürworten 


und den auch auf die Ähnlichkeit mit lebenden Tieren — sofern Unbeachtetbleiben 
das wirkende Prinzip ist — ausgedehnten Begriff unterteilen in eine Zoomimese, 


eine Phytomimese und eine Allomimese, je nachdem das Modell ein Tier, 
eine Pflanze (Pflanzenteil) oder irgend ein anderer Gegenstand ist. (Näheres hier- 
iiber in meinen Aufsätzen: Exakte Begriffsfassung und Terminologie im 
Problem der Mimikry und verwandter Erscheinungen. Zeitschr. f. 
wissensch. Insektenbiologie 1919 (im Erscheinen). — Versuch einer kritischen 
Übersicht der Form- und Färbungsanpassungen der Organis men 
(in Vorbereitung).) 





F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 649 


Die Myrmekoidie der Spinnen wurde eingehender zuerst von 
E. G. Peckham behandelt”). Auf Peckham’s Darlegungen fußen 
die Angaben E. Haase's in seinem großen Mimikrywerke 8). Spätere 
Angaben hat R. J. Pocock°) und nach ihm Jacobi zusammenge- 
stellt. Nachstehend eine Anzahl Einzelheiten. 

Die südamerikanische Clubionide Myrmesium nigum ähnelt täu- 
schend der Ameise Pachyeondyla villosa. Die Clubionide Micaria 
scintillans ist nicht nur in Gestalt, sondern auch im Gebahren der 
schwarzen Waldameise Formica »ufibarbis, zu der sie sich gesellt, ähn- 
lich. Die nordamerikanischen Salticiden (Attiden) Peckhamia picata 
und Synemosyna formica!®) ähneln gleichfalls in Gestalt (Fie. 1-2) 





Fig. 1—3. Myrmekoide Spinnen. 
( Fig. 1. Fig. 2. Fig. 3. 
Synageles (Peckhamia) picata.  Synemosynaformica.  Myrmarachne formosana, 
Fig. 1—2. Nordamerikanische Springspinnen, nach G. W. u. E. G. Peckham, 
Occasional Papers of Nat. Hist. Soc. Wisconsin. I. p 110—112; 1889. — Fig 3. 
Asiatische Springspinne, nach A. Jacobi, Mimikry und verwandte Erscheinungen. 
Braunschweig 1913, p. 99.) 


wie Bewegungen auffällig Ameisen. Einzelne Forscher betonen sogar. 
dab ım allgemeinen das ameisenhafte Gebahren einer Spinne das an 
der Täuschung wirksamere sei und selbst dann Verwechslungen her- 


7) Protective Resemblance in Spiders. Occas. Papers of Nat. Hist. 
Soc. Wisconsin. Vol. 1/2, Milwaukee 1889. — Ant-like Spiders of the Family 
Attidae. Ibid., Vol. II/l1, 1892. 

8) Untersuchungen über die Mimikry auf Grundlage eines natürlichen 
Systems der Papilioniden. II. Teil: Untersuchungen über die Mimikry. Mit 8 Taf. 
Bibliotheca Zoologica VIII. Stuttgart 1893. 

9) Mimiery in Spiders. Journ. Linn. Soc. Zool. Bd. 30, p. 256—270, 
Taf. 32. 

10) Beide Arten abgebildet bei Peckham und reproduziert bei: E. B. Poulton, 
Natural Selection the Cause of Mimetic Resemblance and Common 
Warning Colours. Journ. Soc. Zool., Bd. 24, 1898, p. 589. 


0 F. Heikertinger, Die metöke Mvrmekoidie. 


vorrufe, wenn die Gestalt der Spinne kaum etwas Myrmekoides an 
sich habe. 

Auf Ceylon lebt Myrmarachne plataleoiles in Gremeinschaft mit 
der ihr Nest aus Blättern zusammenspinnenden Ameise Oecophylla 
smaragtliva, ihr ähnlich. F. Doflein!!) bildet diese Art, Ja- 
cobi1!2) bildet Myrmarachne formosana ab (Fig. 3). Das Bild einer 
ameisenähnlichen Salticide (Salticus ichneumon?) aus Ostafrika bringt 
J. Vosseler!#). Bei den amerikanischen Argiopiden /ldibaha mu- 
lloiles und myrmicaeformis findet sich sogar mimetischer Sexual- 
dimorphismus: die verborgener lebenden Weibchen sind dornbewaffnet. 
die — angeblich mehr Gefahren ausgesetzten Männchen dagegen 
myrmekoid 14). 

Die letzte Zusammenfassung myrmekoider Spinnen (nebst cha- 
rakteristischen Habitusbildern von 7 Arten und einem reichen Lite- 
raturverzeichnis) bietet F. Dahl!’). Ich zitiere die Darlegungen 
dieses Spinnenkenners etwas ausführlicher. 

„Die Ameisenähnlichkeit kommt bei den Spinnen dadurch zu- 
stande, daß erstens der Körper: gestreckt und mehr oder weniger 
mit Quereinschnürungen bezw. mit Querzeichnungen, welche Einschnü- 
rungen vortäuschen, versehen ist, dab zweitens die Vorderfübe ge- 
bogen vorgestreckt und tastend bewegt werden wie die Fühler der 
Ameisen, daß drittens der Körper oft, wie der gewisser Ameisen. 
mit Stacheln versehen ist, daß viertens die Taster der Spinnen oft 
verbreitert sind und die Mandibeln der Ameisen vortäuschen und 
dab fünftens auch die Farbe bezw. der Seidenhaarelanz der Ameisen 
bei den Spinnen sich wiederholt. Ameisenähnlichkeit kommt in ver- 
schiedenen Spinnenfamilien vor, besonders allerdings in denjenigen 
Familien, die schon ohnedies einen gestreckten Körper besitzen, wie 
die Clubioniden und Salticiden; dann aber auch bei den T'heridiiden 
(Laseola), den Micryphantiden, den Araneiden und sogar bei den 
Krabbenspinnen oder Laterigraden, bei denen eine gestreckte Körper- 
form geradezu Ausnahme von der Regel ist. Unter den Clubioniden 
sind es besonders die Gattungen Sphecolypus, Myrmecium 16), Mecaria, 


11) Ostasienfahrt. Leipzig 1906. — Auch: Hesse-Doflein, Tierbau 
und Tierleben. Bd. II: Das Tier als Glied des Naturganzen. Leipzig 1914, 
S. 400. 

12, 17ePR9% 

13) Die Gattung Myrmecophana Br. Zool. Jahrb. (Spengel), Abt. f. 
Syst., Bd. 27, 1908, S. 196. 

14) In der Regel soll bei geschlechtlich verschieden gestalteten Tieren das für 
die Fortpflanzung bedeutungsvollere Weibehen mehr Schutz benötigen und auch 
besitzen. 

15) Vergleichende Physiologie und Morphologie der Spinnentiere 
mit bes. Berücksichtigung der Lebensweise. I. Teil: Die Beziehungen des Körper- 
baues und der Farben zur Umgebung. Jena 1913, S. 885—90. Literaturverzeichnis 
Ss. 111—112, 

16) Abbildungen von Sphecotypus niger und Myrmecium fuseum bringt 
R. Heymons in Brehm’s Tierleben (4. Aufl., Bd. II, 1915, S. 668). 


WAT 


F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 7 


Phrurolithus, Castaneira, Thargalia u.s.w., welche man mehr oder 
weniger/leicht mit Ameisen verwechseln. kann. So gleicht der süd- 
amerikanische Sphecotypus niger (Fig. bei Dahl) einer dortigen 
Ameise Neoponera unidentata, wie Viehmeyer hervorhebt, in über- 
ruschender Weise. Die Myrmeeium-Arten (Fig. bei Dahl) gleichen 
Eeiton-Arten. Unter den Salticiden sind es besonders die Gattungen 
Saltieus, Synageles, Synemosyna, Peckhamia, Tutelina u. s. w., die 
sich durch Ameisenähnlichkeit auszeichnen. Am meisten fallen einige 
Tropentormen, zZ. B. Salticus contracius von Ueylon (Kigur beı 
Dahl) durch ihre Ameisenähnlichkeit auf. Aber auch unser eim- 
heimischer Salticus formicarius ist, wenn man ihn am Boden kriechen 
sieht. von einer Ameise kaum zu unterscheiden. Derartige ameisen- 
ähnliche Spinnen erscheinen uns allerdings namentlich dann als 
ameisenähnlich, wenn Ameisen nicht zum Vergleich zur Stelle sind. 
Zu den interessantesten ameisenförmigen Spinnen gehört eine Krabben- 
spinnengattung Aphantochilus (Fig. bei Dahl), weil sie gewissen 
stacheligen Ameisen täuschend ähnlich ist. Eine zweite Krabben- 
spinne von eigenartiger Form Ampyciaea lineatipes (Fig. b.D.) soll 
nach Angabe der Forscher, welche sie lebend beobachteten, der ım 
Orient so häufigen Papierameise, Oecophylla smaragtlula sehr ähn- 
lich sein, und zwar soli der Körper in umgekehrter Form wiederge- 
geben werden: Die schwarzen Flecke auf dem Abdomen sollen die 
Augen darstellen. Aus der Familie der Miceryphantiden ist es be- 
sonders die südeuropäische Formicina mutinensis (Fig. b. D.), welche 
einer Ameise recht ähnlich ist und welche auch, wie diese am Boden 
laufend gefunden wird. Aus der Familie der Radnetzspinnen besitzt 
die südamerikanische /ldibaha mutilloides Ameisenform (Fig. b. D.) 

Über die ameisenähnlichen Wanzen lieferte zuerst O. M. Reu- 
ter eine übersichtliche Arbeit !?). Auf seinen Angaben fußen jene 
Haase’s. Später hat G. Bred din eine Reihe von Fällen zusammen- 
gestellt 18) und einen letzten Überblick gibt Jacobi. Literatur- 
angaben bei diesen Autoren. Reuter kennt etwa hundert myrme- 
koide Wanzenarten 19). 

Es handelt sich zumeist um die flügellosen Larven und Nymphen 
von Arten der Heteropteren, hauptsächlich aus den Familien 
der Capsiden (Miriden), Alydiden und Lygaeiden. So gleicht die 
Larve von Alydus calcaratus den Arbeitern von Formica rufa, mit 
denen sie oft zusammenlebt!?®). Das brachyptere Weibchen von Memo- 


17) Til kännedomen om mimiska Hemiptera ete. Öfvers. Finsk. 
Vetensk. Soc. Förh. Bd. 21, 1879, p. 140—198. 

18) Nachahmungserscheinungen bei Rhynehoten. Zeitschr. f. Natur- 
wiss., Leipzig, Bd. 69, 1896, S. 31—35. 

19) O.M. Reuter, Lebensgewohnheiten und Instinkte der Insekten. 
Berlin 1913, S. 138. 

19a) Abbildung bei H. Stitz in Ch. Schroeder’s Insekten Mittel- 
eüuropas, Bd. II, 1914, Taf. II, Fig. 34. 


E 


BEN DEM GERN GE NERRR: 





72 F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie, 


coris coarclalus ist myrmekoid, desgleichen das Weibchen von Systel- 
lonotus trigultatus?V), das in den Kolonien von Formica fusca und 
Lasius niger lebt. Ameisenähnlich sind weiters etliche andere Capsiden 
(Miriden) wie Pilophorus bifasciatus (cinnamopterus), der zusammen 
mit Formica congerens auf Kiefern, Pilophorus (Cammaronotus) cla- 
valus, der mit Lasius Juliginosus auf Birken, Weiden u.s.w. und 
Pil. confusus, der mit Lasius niger an Weiden gefunden wurde. 

Groß soll die Ameisenähnlichkeit der nordischen Myrmecoris 
gracelis?!) sein; diese Art bildet nach Reuter sogar zwei Formen, 
deren eine, die mehr gelbrote var. rufuscula, unter der entsprechend 
gefärbten Formica rufa, deren andere, die mehr schwarzbraune var. 
/usca, unter der gleichfarbigen Formica fusca lebt. Eine andere nor- 
dische ameisenähnliche Capside ist Myrmecophyes alboornatus, die 
unter einer schwarzen Lasius-Art lebt. Auch Diplacus und Campono- 
!idea sollen myrmekoid sein. 

„Durch einen wahren Geniestreich der Natur“, wie sich Breddin 
ausdrückt, wird die Larve unseres Nabrs lativentris (Reduviolus latı- 
ventris), die in ihren Körperumrissen nichts Ameisenähnliches hat, 
zuv Ameise verkleidet ??). An der Basıs des Hinterleibs tritt näm- 
lich ein weißlicher Fleck auf, der die dunkle Grundfärbung einengt 
und so die Körpereinschnürung einer Ameise vortäuscht (Fig. 4)°?*). 

Nach E. Wasmann?®) scheint diese Wanze zu den Myrmeko- 
phägen zu gehören. (Nichtsdestoweniger kann die genial erdachte 
Ähnlichkeit derselben mit Ameisen nicht zur Täuschung der letzteren 
dienen, denn die Ameisen schweben nicht über der Wanze in der 
Luft.) 

Die ostafrikanische Pyrrhocor.de Myrmoplasia myra°*) ähnelt 
dev Ameise Polyrhachis gagates (Fig. 5 6); der Ameisengattung 
Polyrhachis ähnelt auch die Coreidengattung Dulichius (Formicoris) 


20) Abbildung bei Reuter, 1913, S. 138. — Nach Mjöberg saugt es die 
Larven und Nymphen der Ameisen, in deren Bauten es lebt, aus (synöke Myrme- 
koidie? —= Zoomimese; protektiv und aggressiv ?). 


21) Abbildung bei Breddin, a. a. O., Taf. I, Fig. 11. — Auch bei Stitz, 
aa: °O.,. Dar. IL Bag. 39: 

22) Abb. gleichfalls bei Breddin, Fig. 10. — Auch in Brehm’s Tierleben, 
Insekten. 4. Aufl., Bd. II, Farbentafel bei S. 142. 

22a) Es sei erwähnt, daß ähnliche Abdominalzeichnungen auch bei geflügelten 
Hemipteren vorkommeu, wo sie funktionslos sein müssen (vgl. z.B. Mietis tenebrosa, 
Bild bei Distant, Fauna of Brit. Ind., Rhynch I, p. 349. 

23) Kritisches Verzeichnis der myrmekophilen und termitophilen Arthropoden. 
Berlin 1894, S. 179. 

24) Abb. nach Gerstaecker bei E. B. Poulton, Journ. Linn. Soc. Zool., 
1898, p. 591. — Reproduziert in: K.Kraepelin, Einführung in die Biologie. 
Leipzig 1909, S. 121; und: K. Kraepelin, Die Beziehungen der Tiere und 
Pflanzen zueinander. Bd. I (Aus Natur und Geisteswelt, Nr. 426), Leipzig 
1913, 8.70: 


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F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 7: 


h) 
mit der indischen Art örflatus**®). Vosseler?’) bildet eine ameisenähn- 
liche, vermutlich in die Nähe der Gattung Mirperus zu stellende Wan- 
zenlarve ab. G. A. K. Marshall?) bringt die Bilder von südafri- 
kanischen Camponotus-Arten und der diesen ähnlichen Wanze Mega- 
petus atratus. Die chinesische Randwanze Riptortus linearis gleicht 
im Larvenzustande zuerst einer kleinen, gelben Ameise, dann als 
Nymphe einer größeren. schwarz-weiben. 





Fig. 5—6. 
2 Myrmekoide Wanze.  Myrmoplasta myra, 
Fig. 4. Ostafrika. (Nach Gerstäcker, Fr. Stuhlmann’s 
Myrmekoide Wanze. Larve der Zoolog. Ergebnisse einer Reise in Ostafrika. 
Reduvide Nabis lativentris. I. Art. 6, Hemiptera, p. 9; Berlin 1895. [Poulton 
(Original.) 1898, p. 591].) 


Mehr als bei den Spinnen noch betonen die Forscher bei den 
Wanzen, daß die Ameisenähnlichkeit nicht bloß durch die Ähnlich- 
keit der Gestalt, sondern in wirksamerer Weise noch durch die Ähn- 
lichkeit der Bewegungen veranlaßt werde. 

24a) Bild bei W. L. Distant, The Fauna of British India inel. 
Ceylon and Burma. Rhynch. I, London 1902, p. 408. 

25) Die Gattung Myrmecophana. S. 194, 196. 

26) Five Years Observations and Experiments (1896-1901) on 
the Bionomics of South African Insects ete. Trans. Ent. Soe. Lond. 1902, 
p. 535, Taf. XIX. 

Band 39, 6 


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74 . Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 


Fälle von Ameisenähnlichkeit bei Homopteren (Zikaden) 
führt E. B. Poulton in Wort und Bild vor 7). 

Unter den Membraciden (Buckelzirpen), deren Pronotum in phan- 
tastischer Überentwicklung abenteuerliche Formen annimmt, finden 
sich Gestalten, deren Halsschildauswüchse, von oben betrachtet, eine 
gewisse Ähnlichkeit mit einem Ameisenkörper besitzen, so bei den 
Gattungen Heteronotus23) (Fig. 7—8) und Hemiconotus. 

Eine Mimikry, von der ich nie gewußt habe, ob ihre Vorführung 
so recht ernst gemeint sei, ist die von Poulton®) dargestellte 
angebliche Ähnlichkeit einer aus Britisch-Guiana stammenden Mem- 





Fig. 7—8. Myrmekoide Buckelzirpe (Mcmbracide). Heteronotus trinodosus, Zentral- 
amerika. (Nach W. W. Fowler, Biologia Centrali-Americana, Rhynch., Homopt. IT., 
21. 6 [Poulton 1898, p. 593].) 


bracidenlarve, deren Körper seitlich flachgedrückt und deren Pro- 
notum noch ungeformt ist, mit einer blattstücktragenden Blattschnei- 
derameise, Oecodoma cephalotes (Fig. 9I—10). — 

‘Was die myrmekoiden Geradflügler anbelangt, so stellen 
hiezu die Gruppen der Fangheuschrecken, der Grillen und der Laub- 
heuschrecken Vertreter. Die vorwiegend jüngere Literatur hierüber 
findet sich bei Jacobi zusammengestellt. 

Von den Mantiden sind es nur junge Larven exotischer Arten, 
die an Ameisen erinnern. 


27) Journ. Linn. Soc. Zool., 1898, p. 593-595. — Ferner: Suggestions as to 
the meaning of the shapes and colours of the Membracidae, in the struggle for 
existence. In: Buckton, A monograph of the Membracidae, p. 275, 281. 


28) Bild bei Poulton nach W. W. Fowler, Biologia Centr. Amer,, 


Rhynch. Homopt. II, t. 6 { 
29) Nach W. L. Scelater; erwähnt bei G. J. Romanes, Darwin und 
nach Darwin. TI, 1892, p. 382. 








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” F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 7» 


Unter den Grylloden fand K. Fiebrig in Paraguay eine ameisen- 
ähnliche Form, Phylloseirtus macilentus (Fig. 11), die in Gemeinschaft 
mit Camponotus rufipes Renggeri auf einer Mimose lebte ?%). Auch 
Myrmegryllus diplterus ist myrmekoid. 





Fig. 9--10. Südamerikanische Membraeidenlarve (rechts), eine blattragende Blatt- 
schneiderameise (Oecodoma cephalotes, links) nachahmend. (Nach Poulton, Linn. 
Jour. Zool. 26, 1898, p. 594.) 





Fig. 11. 

MyrmekoideGryllide. Fig. 12—13. Myrmekoide Laubheuschrecke. 
Phylloseirtus maci- Larve von Eurycorypha (Myrmecophana) fallax, 
lentus 3, Paraguay. Ostafrika. (Nach €. Brunner v. Wattenwyl, 
(Nach K. Fiebrig, Verhandl. d. k. k. zool.-botan. Ges., Wien 1883, 
Zeitschr. f. wissen- Taf. XV, Fig. tab. Fühlerlänge korrigiert nach 
schaftl. Insektenbio- J. Vosseler, Zool. Jahrb. Abt. f. Syst. 27, 
logie III,1907,p.101.) 1908, Taf. 8.) 


Vielleicht zum bekanntesten Ameisenmimetiker aber ist durch 
J.Vosseler's ausführliche Arbeit 31) die Larve der Phaneropteride 


30) Nach den Abbildungen, die Fiebrig gibt (Zeitschr. f. wissensch. Insekten- 
biologie, III, 1907, S. 101—106) scheint ‘mir die Ameisenähnlichkeit eine geringe. 
Die Arten der Gattung Phylloseirtus sind durch ihre „Nachahmung“ von Cieindelen 
bekannt. Ein unbefangener Blick in die Bearbeitung der Gattung durch H. Bur- 
meister (Cephalocoema und Phylloseirtus, zwei merkwürdige Orthopterengattungen 
der Fauna Argentina. Abh. Nat. Ges. Halle, XV, 1880) und auf die derselben 
beigegebene Tafel zeigt lediglich kleine Grillen mit etwas vortretenden Augen und 
etwas verschmälerten Halsschilden, von denen Fiebrig’s Art nicht nennenswert 
abweicht. 


31) Die Gattung Myrmecophana Br. Zool. Jahrb. (Spengel), Bd. 27, 
1908, 157— 210, Taf. 8. 


6* 


ERBEN TORRENT FRE 


76 F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 


Eurycorypha fallax geworden. Ü.Brunner v. Wattenwyl erhielt 
sie aus dem Sudan und beschrieb sie in der Meinung, ein reifes Tier 
vor sich zu haben, unter Hinweis auf ihre Ameisenähnlichkeit als 
Myrmecophana fallax. Vosseler fand sie in Deutsch-Ostafrika wie- 
der, beobachtete und schilderte ihre Entwicklung zur Eurycorypha, 
die eine blattähnliche grüne Laubheuschrecke ist. Das Bild dieser 
Heuschreckenlarve, das zuerst Brunner??), dann Vosseler gab, 
ist in zahlreichen Werken reproduziert worden 3%) (Fig. 12—13). Bis 
zur vierten Häutungsstufe trägt das Tier mimetische Ameisentracht 
und zeigt Ameisenbetragen; sodann tauscht es hiefür kryptische Blatt- 
ähnlichkeit und eine dieser entsprechende träge Ruhe ein. Dieser 
Fall gilt als gut untersuchtes Musterbeispiel schützender Myrmekoidie. 

Kaum erwähnenswert ist der Fall der angeblichen Ameisenähn- 
lichkeit junger Schmetterlings-Raupen, von Stauropus fagi, 
den Poulton#) nach Portschinski in Wort und Bild vorführt. 
‚Die langsame Bewegungsart der Raupe sowie der Umstand, daß der 
Kopf der Larve als Hinterleib der Ameise gelten soll, dürfte diese 
„Mimikry* wohl von ernsthaiter Erwägung ausschließen. 

Unter den Käfern führt Olerus formicarius den Beinamen des 
„Ameisenartigen“ ; er ist indes eher mutilloid. als myrmekoid. Die 
Familie der Anthiciden weist einen Formicomus auf; dessen Myrme- 
koidie ist aber kaum eine nennenswerte ®?). (Die synöke Myrmekoidie 
mancher Staphyliniden fällt nicht in den Rahmen unserer Betrach- 
tungen.) An dem angeblich ameisenähnlichen nordamerikanischen 
Cerambyciden Euderces picipes, den Poulton abbildet, kann ich 
auch bei nachsichtigster Beurteilung kaum etwas Ameisenhaftes finden. 

Die ,„Mimikry“ zwischen Ameisen untereinander — der furcht- 
same, in Nord- und Mitteleuropa glänzend schwarze (’amponotus late- 
ralis soll sich daselbst an andere,-streitbare, gleichfalls ganz schwarze 
Arten anschließen, wogegen er im Süden mit dem zweifarbigen Cr.- 
maslogaster scutellaris lebt und ihm zuliebe einen roten.Kopf annimmt 

ist, wenigstens vom Mimikrystandpunkt aus, keiner ernsten Be- 
achtung wert. Nach der Definition von Wallace kann ja von mime- 
tischer Anpassung nur dort gesprochen werden, wo der „Nachahmer“ 
von dem normalen Bilde seiner natürlichen Verwandtschaft abweicht, 
was hier keineswegs der Fall ist. 

Aus gleichem Grunde kann von „Mimikry“ in jenen Fällen kaum 
gesprochen werden, da Hymenopteren anderer Familien Ameisen mehr 

32) Über hypertelische Nachahmungen bei den Orthopteren. Verh. 
zool.-bot. Ges. Wien, 1883, Taf. XV. 

33) Poulton, 1898, p. 593; Jacobi, p. 109; Hesse-Doflein, II, 5.413; 
u. s. w. — Ein selbständiges Bild bringt Marshall, 1902, Taf. XIX. 

34) 1898, p. 589; u. Taf. 40, Fig. 1. 

35) Dasselbe gilt von den Käfern, die H. St. Donisthorpe (Trans. Ent. 
Soe. Lond. 1901, p. 376) als „ant-like* aufführt: Olwvina, Dyschirius, Brachynus 
crepitans, Atemeles, Myrmedonia, Astilbus canaliceulatus, Stilicus fragilis, Anthicus. 









F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. IN 


oder minder ähnlich werden. Die Gestalt der Ameisenarbeiterinnen 
ist ja schließlich nichts anderes als eben die Gestalt eines flügellosen 
Hymenopterons ziemlich typischer Prägung. 

So ähneln unter den Schlupfwespen 36) besonders manche Procto- 
trupiden, deren es zahlreiche im Wald- und Wiesenbodenslebende 
flügellose Arten gibt, Ameisen. Sie mögen leicht in Ameisenbauten 
gelangen oder doch beim Aussieben solcher gefunden werden. Beson- 
ders groß ist die Ähnlichkeit bei Tetramopria und Solenopsia. 

Bemerkenswert ist die Tatsache, daß jene Schlupfwespen, die als 
Ameisenparasiten nachgewiesen sind (siehe weiter unten), keinerlei 
Ameisenähnlichkeit zeigen, sondern sehr sonderbare Formen mit Dorn- 
und Gabelbildungen am Skutellum aufweisen, wodurch sie eher an 
‚gewisse Zikaden erinnern. Dagegen findet sich Ameisenähnlichkeit 
zahlreich bei nicht myrmekophilen Formen 3°). Unter den Chaleididen 
sind die Weibchen von Kupelmus vesicularis (Degeeri), einem Gallen- 
parasiten, ferner von Eupelminus excavatus, EricyInus aeneiventris 
und Mira macrocera, sämtlich im Grase lebend, ameisenähnlich. Unter 
den Bethyliden sind die Gonatopus-Arten im flügellosen weiblichen 
Geschlecht besonders durch den knotigeen Thorax außerordentlich 
ameisenähnlich ; sie sind indes, soweit bekannt, nur Zikadenparasiten. 
“ „Die meisten echten gallenerzeugenden Cynipiden sehen bei flüch- 
tigem Hinsehen den Ameisen außerordentlich ähnlich, die geflügelten 
den Geschlechtstieren. Da die Gallwespen selbst durch ein unange- 
nehm riechendes Drüsensekret gegen Vogelfraß ziemlich ‚geschützt‘ 
sind, könnte man vielleicht gar die Ameisen als die ‚Nachahmer‘ 
ansehen ?“ 

In hohem Maße ameisenähnlich sind die apteren Weibchen der 
Ichneumonidengattung Pezomachus, Parasiten von Spinneneiern und 
Kokons von Apanteles, Lophyrus und Mikrolepidopteren. 


II. Die den Ähnlichkeitstatsachen beigelegte Bedeutung. 

Gegen die Erfahrungstatsache, daß eine Reihe von Arthropoden 
in den Augen des oberflächlich hinblickenden Men- 
schen eine gewisse, in allen Graden — bis zur allmählichen Unähn- 
lichkeit hin — vertretene Ähnlichkeit mit Ameisen besitzt, wird 
von keinem Forscher ein Einwand erhoben werden können, wenngleich 
der Unbefangene zugeben wird, daß mancher anpassungsfreudige Bio- 
loge das ‚„Ameisensehen“ etwas zu weit getrieben hat und mancher 
angebliche Mimetiker auch in den Augen des Menschen kaum noch 


36) Ich verdanke die folgenden Angaben über die Myrmekoidie der Schlupf- 
wespen einer liebenswürdigen brieflichen Mitteilung des bekannten Chalcididen- 
forschers Dr. Franz Ruschka, Weyer (Ober-Österreich). 

37) Die sehr ameisenähnlichen Pezomachus-Arten wurden allerdings in Ameisen- 
nestern gefunden, doch hält Wasmann (Kritisches Verzeichnis der myrme- 
kophilen und termitophilen Arthropoden. Berlin 1894, S. 167) sie kaum 
für gesetzmäßige Parasiten der Ameisen (vgl. weiter unten). 


an Amen Me een 





IS F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 


etwas Ameisenhaftes an sich hat, sofern nicht der gute Wille des 
Beobachters kräftig nachhilft. Doch dies sind Belanglosigkeiten, 
die das Prinzip nicht berühren. Ähnlichkeiten für das Auge des 
Menschen sind gegeben und die Biologie erachtete sich damit ein 
Problem gestellt: Welchen Nutzen gewährt diese Ähnlich- 
keit, wie hat sie sich'im Kampfe um's Dasein, in der 
steten Auslese, des Bestausgestatteten)  herausge- 
bildet? 

Es lag nahe, an gewisse dem Menschen unangenehme Eigen- 
schaften der Ameisen zu denken, aus diesen hypothetisch zu folgern, 
diese Eigenschaften dürften auch insektenfressenden Tieren unan- 
senehm sein, hieraus hypothetisch zu folgern, dab diese Tiere keine 
Ameisen fräßen; sodann aus der Tatsache, daß manche Arthropoden 
dem Menschen ameisenähnlich erscheinen, hypothetisch zu folgern. 
sie dürften auch insektenjagenden, mit anderen Sinnesfunktionen als 
der Mensch ausgerüsteten Tieren ameisenähnlich erscheinen, dürften 
von diesen tatsächlich für Ameisen gehalten und (nach obiger hypo- 
thetischer Annahme) verschmäht werden. Man darf das in allen 
Teilen Hypothetische, auf keinerlei Erfahrungstatsachen Ge- 
gründete dieser luftigen Folgerungskette nicht übersehen. 


Hinsichtlich der — vom menschlichen Standpunkte aus gewer- 
teten — abwehrenden Eigenschaften der Ameisen zitiere, ich Ja- 


cobi?8), dessen Worte wohl die Meinung der Mehrzahl der Biologen 
sut zum Ausdruck bringen. 

„Der Vorteil der Nachäffung besteht hier in der Möglichkeit, 
mit Insekten verwechselt zu werden, die sehr wehrhaft sind und’durch 
massenweises Vorkommen ihre Kräfte vervielfachen. Was die Waffen 
der Ameisen anbelangt, so bestehen diese zunächst in den starken 
Kiefern, die durch ihre oft kolossal entwickelten Kaumuskeln als 
Beißzangen benutzt werden, und in einem Giftapparate. Dieser be- 
steht aus einer, das eigenartige Ameisengift absondernden Drüse, 
deren Saft bei mehreren Familien durch einen Stachel in den Körper 
des Feindes eingeführt, bei anderen mit verkümmertem Stachel ın 
eine mit den Beißzangen erzeugte Wunde gespritzt wird. Aber auch 
ohne den Feind selber zu verwunden, können ihn Ameisen sich vom 
Leibe halten, indem sie ihm die Absonderune der eigentlichen Gift- 
drüse oder ——- bei der Unterfamilie Dolichoderinae — diejenige zweier 
beim After ausmündenden Analdrüsen auf den Leib spritzen.“ 

Dieser protektiven, vor Feinden schützenden Bedeutung der 
Ameisenähnlichkeit stellen andere Forscher eine aggressive Aus- 
nutzung der Ähnlichkeit gegenüber. Die letztere soll den räuberisch 
lebenden Nachahmern, z. B. Spinnen, dazu dienen, sich ihren Beute- 
tieren — welche gegebenenfalls eben die nachgeahmten Ameisen selbst 


38) 1. c. p. 96. 








F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoöidie, 79 


sein können, welche aber jedenfalls Ameisen nicht fürchten — un- 
beachtet zu nähern. Einen Fall, in dem ameisennachahmende Spinnen 
unter dem Schutze der Ähnlichkeit ihre eigenen Modelle überfallen, 
ist dem Spinnenkenner F. Dahl nicht bekannt. „Lasaeola procax 
frißt freilich Ameisen ; aber nur das reife Männchen ist ameisenförmig 
und gerade dieses nimmt, nachdem es Ameisenform angenommen hat, 
keine Nahrung mehr zu sich.“ 

Dennoch führt R. Shelford?°®) einen solchen Fall an: Er beob- 
achtete auf Borneo die Thomiside Amyeiaea lineatipes, wie sie ihr 
Modell, die Ameise Oecophylla smaragdina, aussaugte. 

Für uns kommen alle Fälle aggressiver Anpassung nicht in Be- 
tracht. Sie entsprechen ebenso wie die Synökie dem Prinzipe der 
echten Mimikry, der warnenden Auffälligkeit, nicht; sie be- 
ruhen auf dem Prinzip des Unbeachtet-, Verborgenbleibens, der 
„schützenden Ähnlichkeit‘ mit unbeachteten Gestalten der Umwelt des 
zu Täuschungen. Sie sind — dies blieb bisher unbeaächtet — Mimese 
und keine Mimikry. — 

Die Uneinigkeit der Forscher in der prinzipiellen Bewertung von 
Ähnlichkeitstatsachen erhellt aus folgendem. 

„In China gleicht die Randwanze Riptortus linearis im Larven- 
zustande zuerst erheblich einer dortigen kleinen, gelben Ameise, als 
Nymphe einer größeren Art, die schwarz und weiß gefärbt und sehr 
gemein ist*). Da aber die auf Legsuminosen lebende Wanze keinerlei 
Gemeinschaft mit diesen Ameisen unterhält, so kann man nicht von 
Mimikry sprechen.“ 

So Jacobi. Meines Erachtens mit Unrecht. Für die Wirksam- 
keit einer metöken Mimikry kann es doch wohl nicht Bedingung sein, 
daß sich der „Nachahmer“ stets mitten unter den Modellen aufhalte. 
Die Feinde haben die Warngestalt ja gelernt, ihrem Gedächtnis fest 
eingeprägt. und man dürfe wohl eher in Übereinstimmung mit einer 
oben angeführten Äußerung Dahl’s der Meinung sein, daß die Täu- 
schung gerade dann leichter gelingen müsse, wenn Ameisen nicht 
zum Vergleich zur Stelle seien. Denn ein unmittelbares Nebeneinander- 
stellen könnte immerhin Verschiedenheiten im einzelnen hervortreten 
lassen. 

Hinsichtlich aller Gruppen von Myrmekoiden aber stimmen die 
Forscher darin überein, daß ‚durchaus nicht immer ein genaues 
Übereinstimmen in Form und Farbe nötig ist, sondern daß dasselbe 
Ziel, bei sich sehr schnell bewegenden Tieren, durch ein ge- 
naues Kopieren der Bewegungen ihres Modells in Verbindung mit einer 
ungefähren Übereinstimmung der Grundfarben vollkommen erreicht 
werden kann“ (Breddin)*t). 

39) Proc. Zool. Soc. Lond. 1902, p. 266, 

40) Kershaw und Kirkaldy, Trans. Ent. Soc. 1908, 8. 59—62, 

41) Von Jacobi zustimmend zitiert (S. 105). 





Re KT a Een 
A SER Et a et 





80 F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 


(Ich kann nicht umhin, auf den hierin liegenden logischen Wider- 
spruch hinzuweisen. Wenn Ähnlichkeit der Bewegung und der 
ungefähren Färbung zur Täuschung vollauf genügt, wozu sollten 
dann weitgehende Betrachtungen über eine größere oder geringere 
— jedenfalls aber überflüssige — Ähnlichkeit der Form und der 
Färbungseinzelheiten dienlich sein? Daß irgendeine schmal- 
gebaute und ziemlich langbeinige Wanze irgendeiner ähnlich schmal- 
gebauten und langbeinigen Ameise in der Bewegungsart mehr oder 
minder ähnlich sein wird, ist eher eine in der ähnlichen Bauart -be- 
gründete Selbstverständliehkeit als eine bemerkenswerte Verwunder- 
lichkeit. Im übrigen sind auch Wanzen, .die nicht im mindesten an 
Ameisen erinnern, diesen in der Bewegungsart äußerst ähnlich. So 
läuft Pyrrhocoris apterus, die bekannte Feuerwanze, in beunruhigtem 
Zustande, besonders als Larve, genau so hastig wie eine Ameise. 
Die ungefähre Ameisenfärbung aber — gelbbräunlich, rötlich, 
schwärzlich u.s.w. —— ist identisch mit einer sehr sewöhnlichen 
Wanzenfärbung. Die ganze Lage der Tatsachen entbehrt des Problem- 
haften. Unter Hunderttausenden von Landarthropoden erinnert eben 
eine kleine Anzahl zufällig mehr oder minder an die Ameisengestalt. 
Die Verwandten dieser „Mimetiker“ tragen in der Regel noch die 
charakteristischen Züge letzterer, sehen aber schon nicht mehr Ameisen 
ähnlich.) 

Aus der Wichtigkeit der ameisenähnlichen Bewegung heraus 
hat denn auch Jacobi mit Recht die Ameisenähnlichkeit der Mem- 
braciden als eine biologisch wertlose Erscheinung, als eine „Pseudo- 
mimikry“, gekennzeichnet. Das Benehmen der Buckelzirpen läßt keinen 
Vergleich, keine Verwechslung mit Ameisen zu; sie sitzen wie all» 
Z/Zikaden zumeist still und retten sich bei Gefahr durch einen Sprung. 

Die Wertlosigkeit einer großen, durch das Benehmen aber nicht 
unterstützten Ameisenähnlichkeit hebt auch Vosseler#?) hervor. 
„Wiederholt begegnete ich auch Spinnen aus anderen Familien mit 


sroßer Ameisenähnlichkeit ... Keine trug aber das Gepräge wirk- 
licher Mimikry ...., im Wesen und in ihren Bewegungen verrieten 


sie ihre wahre Natur sehr schnell.“ 

(Die Tatsache des Bestehens einer „Pseudomimikry“, einer großen, 
aber dennoch wertlosen täuschenden Ähnlichkeit muß uns vorsichtie 
machen. Wenn für diese kein Nutzen da ist, wenn diese nicht durch 
Auslese des Bestausgestatteten entstanden ist, was berechtigt uns, von 
den anderen Ähnlichkeiten anzunehmen, sie seien allein aus dem Nutzen 
durch Auslese entstanden? Wenn dort „Zufall“ waltet. sollte 
er hier undenkbar sein?) 

Was die Feinde anbelangt, denen gegenüber die Ameisenähnlich- 
keit von existenzerhaltender Bedeutung sein soll, so bedürfen die ein- 
zelnen Gruppen der Mimetiker einer gesonderten Betrachtung. 


42) Die Gattung Myrmecophana. SS, 19. 





F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 81 


Spinnen werden in reichstem Mabe von wohl allen insekten- 
fressenden Vögeln — in den Tropen besonders gern von Kolibris — 
verfolgt. Dennoch vermeint schon Peckham die Hauptfeinde der 
Spinnen nicht in den Vögeln, sondern in den spinneneintragenden 
Weg- und Grabwespen (Pompilus, Priocnemis, Agenia, Pelopoens, 
Trypoxylon u.s.w.) suchen zu müssen. Pocock und Jacobi schlie- 
ben sich dieser Auffassung an. Weder den Schlapfwespen noch den 
spinnenfressenden Wirbeltieren soll so viel Beteiligung „an dieser 
Naturauslese“ zukommen wie den Raubwespen. 

Auch gegen Springspinnen selbst, die nach Peckham nie 
Ameisen nehmen sollen, soll der Schutz wirksam sein. Mit der 
Annahme, die Spinnen verschmähten Ameisen, stehen allerdings die 
Beobachtungen anderer Forscher (siehe oben Shelford und Dahl. 
weiters auch Jacobi?) in Widerspruch: 

Was die Art des Nutzens der Ameisenähnlichkeit bei den Wanzen 
anbelangt, so vermutet Haase sie im Schutz vor Mordwespen, welche 
sich von Wanzen nähren, z. B. Tachytes. Dafür soll eine Beobach- 
tung von Belt sprechen, dab Spiniger Iuleicornis, mit schwärzlichen 
Flügeln und gelben kurzen Antennen, „mit beiden genau wie eine 
Wespe (Priocnemis) vibriert.“ 

Neuere Vertreter der Mimikryhypothesen sind über die Frage des 
Nutzens der Ameisenähnlichkeit der Insekten nicht einige. R. )J. 
Pocock, der auf Grund von Experimenten zur Einsicht gelangte, 
daß Säugetiere und Vögel Ameisen in beliebiger Zahl gerne fressen +), 
schiebt die wirksame Auslese Pompiliden zu. Andere Forscher hin- 
gegen, von der kritischen Einsicht ausgehend, daß die Annahme, 
eine Raubwespe mit ihren ganz anders gearteten Sinnesorganen würde 
eine Ameisenähnlichkeit ähnlich sehen und beurteilen wie ein Mensch, 
doch als eine etwas allzumenschliche Betrachtungsweise kaum An- 
spruch auf exakt wissenschaftliche Berücksichtigung erheben dürfe #), 
nehmen an, dab die Myrmekoidie, wie jede mimetische Nachäffung; 
wesentlich vor „Augentieren“ als Feinden schützen soll und daß als 
solche hauptsächlich Landwirbeltiere in Betracht kommen. Ihnen stehen 
eben keine Erfahrungen im Wege, wie sie Pocock gemacht hat. 
Hierdurch wäre der Schwerpunkt der Myrmekoidiefrage, soweit cs 
sich um Insekten als Mimetiker handelt, wieder auf Amphibien, Rep- 
tilien, Säugetiere und Vögel verlegt. 

43) l.c. p. 111. 

44) Proc. Zool. Soc. Lond., 1911, p. 849. 

45) G. Entz sen. (Die Farben der Tiere und die Mimikry. Math. 
u. naturw. Berichte aus Ungarn. XXV, 1908, S. 58) weist mit Recht darauf hin, 
daß alle Kleintiere die Ameisen und ihre Nachahmer aus großer Nähe schen und 
dann ebenso sicher unterscheiden, wie wir in einem Saal unter hundert Europäern 
einen Japaner in tadelloser europäischer Kleidung sofort erkennen Tiere mit 
ungenügendem Gesichtssinn aber besitzen stets einen feinen Witterungssinn. 


82 F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. - 
Hier gibt Jacobi — und seine Meinung kann als Ausdruck 
© to) 
der zumeist angenommenen Anschauungen gelten — zu, dab es eine 


ganze Reihe von Tierarten gibt, die Ameisen in ungeheuren Mengen 
vertilgen (unter den Säugetieren die Zahnarmen,| wie die Ameisen- 
bären, Gürteltiere, Schuppentiere, Ameisenbeutler, Schnabeligel, unter 
den Vögeln die Ameisendrosseln und Glanzdrosseln, die Spechte u. s. w. 
u.S.w.), es scheint ihm indes, daß ‚„hiebei augenscheinlich die ge- 
flügelten, das will heißen wehrlosen, Stufen vorwiegen, während die 
den eigentlichen großen Verkehr auf der Erde, an Stämmen und im 
Blattwerk stellenden Arbeiter in den Hintergrund zu treten scheinen.“ 

Jacobi schließt: „Außerhalb der Bauten dürften namentlich 
die geflügelten Geschlechtstiere von Vögeln weggeschnappt werden. 
Was aber die unausgesetzt in Heeressäulen hin- und herziehenden 
Arbeiter anbelangt, so scheinen räuberische Gliederfüßer sie durch- 
aus zu meiden. und Vögel im Durchschnitt wenig darauf zu geben. 
Diese Stufe ist es aber gerade, die von einigen Spinnen und Insckten 
nachgeäfft wird, so daß die Annahme einer wirklichen Schutzan- 
passung bis auf weiteres Berechtigung hat.“ 

Jacobi ist bis zu einem gewissen Punkte kritischer Vertreter 
der Mimikryhypothese. Seine mit etlichen vorsichtigen „scheinen“ 
und einem „bis auf weiteres“ verbrämte Fassung ist gemäßigt im 
Vergleiche zu der Sicherheit, mit welcher von manchen Biologen die 
Immunität der Ameisen gleich einer erwiesenen Tatsache verkündet 
wird. 

Hier ist der Angelpunkt des Myrmekoidieproblems, hier hat 
Tatsachenforschung endgültig klärend und Sicherheit schaffend ein- 
zugreifen. Das soll Gegenstand des folgenden Abschnittes sein. 


IH. Die Nahrung der Arthropodenfeinde. 
Die Arthropodenfeinde, soweit sie für das Mimikryproblem in 
Betracht kommen, umfassen Angehörige folgender Tiergruppen: 

Halbparasitische Arthropoden (Raubwespen, Schlupfwespen, 
Schmarotzerfliegen u.s. w.); 

Räuberische Arthropoden (Spinnen, Raubfliegen, Libellen 
US Wu)G 

Amphibien ; 

Reptilien ; 

Vögel; 

Säugetiere. 

Was die halbparasitischen Arthropoden, die Sphegiden, Pompi- 
liden, solitären Vespiden, die Ichneumoniden, Braconiden, Chalcididen, 
Tachiniden u. s. w. u. s. w. anbelangt, so findet die Annahme, 
sie würden durch eine beiläufige, äußerliche, nur auf eine relativ be- 
trächtliche Entfernung und nur bei ungenauem Hinsehen für den 
Menschen gültige Ameisenähnlichkeit effektiv getäuscht, ihre 








F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. j 83 


Widerlegung in sinnesphysiologischen Tatsachen. Wer je die für 
menschliche Sinnesorgane ganz unverständlichen Leistungen des Witte- 
rungssinnes dieser Insekten zur Kenntnis genommen hat, ihre geradezu 
unglaubliche Geschicklichkeit im Auffinden und Erkennen ihrer spe- 
ziellen Nahrung, für den hat die Verbindung dieser Tiere mit einer 
naiven Sehmimikry etwas völlige Undenkbares. 

O. M. Reuter#%) sagt von ihnen: „...Ällen gemeinsam ist 
die Fähigkeit, die Beute zu wittern, auf der das Ei angebracht werden 
soll...“ — „Man kann sich überhaupt keinen so verborgenen Ort 
denken, der nicht von der unendlich feinen Witterung der Schma- 
rotzerwespe entdeckt würde; selbst nicht im Holzinnern der Bäume 
oder ın der Tiefe der Erde lebende Larven entgehen derselben; und 
in solchen Fällen sind die Wespen mitunter mit Eilegeröhren von 
ungeheurer Länge ausgerüstet.“ 

„Die Scolia-Arten... suchen ihre Beute in Verstecken auf. Um 
sie zu erreichen, sind sie oft genötigt, sich einige Zentimeter tief in 
die Erde zu graben. Hier, tief im Innern der Erde, gerade unter 
dem Punkte, wo’sie das Graben beginnt, findet z. B. Scolia bifasciata 
die Larve eines Blatthornkäfers der Gattung Cetonia, von deren An- 
wesenheit hier unten sie durch die äußerst empfindlichen Sinnes- 
apparate unterrichtet wird, die ihren Sitz in den Antennen haben. 
Man sieht sie nämlich hin- und herwandern, die Erde mit diesen be- 
rührend, bis sie plötzlich stehen bleibt und zu graben beeinnt....“*) — 
„Nicht selten geschieht es aber, daß eine andere Wespe, eine Art der 
(rattung Mutilla, etwas später hier vorüberkömmt, durch die dicke 
Erdschicht hindurch den Geruch der Scolia-Larve empfindet, sich 


hinuntergräbt und jetzt ihr Ei auf diese legt #8). „... Die in faulem 
Holz minierenden Larven des Hirschkäfers, Lucanus cervus, fallen 
einer Seolia ... zum Opfer.“ 


Und R. Demoll#) schreibt: „Zu Spezialisten sind auch jene 
Schlupfwespen zu zählen, die uns durch die Fähigkeit in Staunen 
setzen, durch dickes Holz hindurch die Anwesenheit einer Holzwespen- 
larve zu riechen. Die Fühler dieser Tiere sind über und über mit 
eigentümlichen Sinnesorganen bedeckt...“ -— „Hat die Schlupfwespe 
sich auf einen Baumstumpf niedergelassen, so wird die Fläche intensiv 
mit den ständig zitternden Antennen abgetastet. Ist eine Beute im 
Innern des Stammes festgestellt, so wird die Scheide des Legebohrers 
genau an die betreffende Stelle gebracht... und der Legebohrer ein- 
gesetzt 50). Das ständige zitternde Hin- und Herwischen der An- 


46) Lebensgewohnheiten u.s.w. 8. 41, 42. 

47) Ebenda S. 239. 

45) Die Mutilliden spüren hauptsächlich die Nester anderer Akuleaten auf 
und bringen dort ihre Eier unter. 
. 49) Die Sinnesorgane der Arthropoden, ihr Bau und ihre Funk- 
tion. Braunschweig 1917, Verl. Friedr. Vieweg & Sohn. 8. 32. 
50) FE. Doflein (Hesse-Doflein, Tierbau und Tierleben, II, S. 286) 
gibt eine Abbildung dieser Szene, die R. Heymons (Brehm’s Tierleben, II, S. 538) 
reproduziert. 


84 F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie._ 


tennen läßt nicht daran denken, daß die Tiere ihre Beute hören...“ 
—— ....umd ich gestehe, daß ich dadurch immer wieder veranlaßt 
wurde, mir die Frage vorzulegen, ob dieser Umstand... vielleicht 
(doch seine Erklärung darin finden wird, daß es sich hier um ein 
unserem Sinnesleben vollkommen fremdes Element handelt.“ 

Und ein solches Tier sollte durch plumpe, oberflächliche Mvr- 
mekoidie, die kaum einen flüchtig hinblickenden Menschen irreführt, 
nur ein einzigesmal getäuscht werden?! 

Noch eine andere Tatsache zerstört die Mimikryannahme. Die 
Raubwespen sind Spezialisten. Ich zitiere wieder Reuter. 

„... Es ist für die Raubwespen und die solitären Faltenwespen 
charakteristisch, daß bis auf wenige Ausnahmen jede Art ihren Rauh 
in einer gewissen Ordnung, oft in einer gewissen Familie, mitunter 
nur in einer einzigen Gattung, ja manchmal einer einzigen Art 
wählt... So greifen die Seoba- und Tiphia-Arten nur die Larven der 
Blatthornkäfer (Lamellicornes) an, alle zur Familie Pompilidae ge- 
hörenden Arten fangen nur Spinnen, die Ammophila-Arten nur 
Schmetterlingslarven, die meisten ('erceris entwickelte Käfer (Pracht- 
oder Rüsselkäfer), nur einige Arten sammeln Immen, Sphex und 
ihre Verwandten Geradflügler, Bembex und Oxybelus Fliegen, P>m- 
phrelon und die meisten Psen-Arten Blattläuse u. s. w. 

“ Der Instinkt, der hiebei die Raubwespen leitet, grenzt in manchen 
Fäller an das Wunderbare. So z. B. fängt Cerceris bupresticida nur 
Käfer aus der Familie der Prachtkäfer (Buprestidae), aber nicht 
bloß eine, sondern mehrere Arten derselben, die doch in Farbe, Größe 
und äußerer Gestalt so sehr voneinander abweichen, daß nur ein 
Entomologe versteht, daß sie wirklich miteinander verwandt sind.“ °t) 

Erkennende Fähiekeiten solcher Art schließen die Möglichkeit 
eines Getäuschtwerdens durch Mimikry bedingungslos aus. 

Doch noch von anderer Seite aus wird die Mimikryannahme 
durch Tatsachen zerstört. 

Die Hypothese nimmt an, die Ameisen seien ihrer Wehrhaftie- 
keit halber von Raub- und Schlupfwespen gemieden. So sagt Ja- 
0ob152): „„Jene Wespen (es ist die Rede von Pompiliden. Sphegiden 
und solitären Vespiden) meiden Ameisen fast durchweg, ja sie fürch- 
ten sich vor ihnen.“ 


51) Der angeführte Fall bildet ein Analogon zu Erfahrungen, die ich mit 
phytophagen Käfern aus der Chrysomelidengruppe der Halticinen gemacht habe. 
Auch sie sind Spezialisten und verfügen über einen eigenartigen Sinn, der sie.ihre 
Nahrungspflanzen erkennen läßt, auch wenn dieselben habituell einander völlig un- 
ähnlich sind. So leben die Arten der Käfergattung Epithrix ausschließlich auf 
Solanaceen; Epithrix atropae lebt auf Atropa belladonna, Huoscvamus niger und 
Lyeium halimifolium (barbarum auect,), drei einander unähnlichen Solanaceen, die 
der Käfer mit dem Gesichtssinn auf Grund ihrer Gestalt nie und nimmer als nächste 
‚Verwandte erkennen würde. 

52) 1.6, :pX.10% 





ln A Aa HL Done m A = u a 2 





F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 8 

Jacobi bringt keine Tatsachenbelege für diese Meinung. Dab 
die wilden, kampflustigen, starken Raubwespen die zumeist kleineren, 
ihnen gegenüber viel wehrloseren Ameisen fürchten sollten, ist um so 
weniger wahrscheinlich, als sich diese selben Raubwespen furchtlos 
an weit größere akuleate Hymenopteren wagen. Die Arten der Gat- 
tung Philanthus, z. B. apivorus, tragen als Spezialisten Honigbiene:i 
und Sandbienen ein, die ihnen zuweilen an Größe überlegen sind. 
Auch unter den Cerceris-Arten finden sich spezialisierte Bienenjäger. 
Alfken fand in dem Wall, der die Nester von Üerceris rubiensis 
umgibt, ganze Niederlagen stichgelähmter Bienen ®®). Wenn sich die 
Raubwespen tatsächlich um Ameisen nicht kümmern würden — ich werde 
weiter unten das Gegenteil nachweisen und eine auf Ameisen speziali- 
sierte Raubwespe vorführen -—- dann wäre diese Tatsache unschwer ver- 
ständlich schon dadurch, daß an den Ameisen wenig Lockendes ist 
— es sind magere Bissen — und dab jede Raubwespe eben ihr Spe- 
zialgebiet bereits besitzt. Es gibt eine sehr große Zahl von Insekten, 
die gar nichts Wehrhaftes an sich haben und die dennoch nicht ın 
den Spezialnahrungskreis einer Raubwespenart fallen. Die Meinung, 
dab die kühnen Räuber aus den Gruppen der Pompiliden, Sphegiden, 
Vespiden u.s.w. sich vor den Ameisen „fürchten“, entbehrt jeder 
Tatsachengrundlage. Dab die meisten von ihnen Ameisen nicht 
beachten, liegt in ihrer engen Geschmacksspezialisation, die sie 
nur eine ganz bestimmte, zuweilen sehr wehrhafte Beute suchen, 
finden und überwältigen, alles übrige, und läge es noch so lockend 
wehrlos vor ihnen, aber völlig unbeachtet lassen heißt. 

Die Mimikryhypothese hat hier bedauerlicherweise ihre Sätze 
unter völliger Nichtbeachtung der Sinnesphysiologie der Räuber und 
der Tatsache der strengen Geschmacksspezialisation derselben auf- 
gestellt. Und.dieser Fehler in den tiefsten Grundlagen rächt sich. 

Es ist nun ein eigenartiger, seltsamer Zufall, dab es gelingt, 
in der so beschränkten Zahl der bekannten Geschmacksspezialisationen 
an einer positiven Tatsache nachzuweisen, daß „Ameisennachahmung‘ 
vor Raubwespen effektiv nicht schützt. Breldin und mit ihm 
Jacobi#) haben den „Geniestreich‘ bewundert. mit dem die Natur 
der Larve der Raubwanze Nabis lativentris Ameisenähnlichkeit ver- 
lieh. Nun, dieser Geniestreich der Natur ist — zumindest den Raub- 
wespen gegenüber — leider fehlgegangen: Eben diese Larve von Nabis 
lativentris wird als Spezialnahrung der Raubwespengattung Dineturs 
angegeben 5). Dies ist sogar die einzige Wanze, die ich — bei 
einem allerdings nur flüchtigen Einblick in die Literatur — als Raub- 
wespenbeute mit dem Artnamen angeführt fand. Das ist Zufall. 


53) Reuter, Lebensgewohnheiten u. s. w. S. 310. 

54) l. c. p. 104. 
- 55) O. Schmiedeknecht, Die Hymenopteren Mitteleuropas. Jena 
1907, 8. 212. 


Sb F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 


Aber gerade dieser seltsame Zufall sollte uns lehren, dab es eben 
seltsame Zufälle gibt. Die leichte Ähnlichkeit einiger Arthropoden 
mit Ameisen, um derentwillen sich die heutige Biologie abquält, ist 
weit minder verwunderlich als dieser Zufall, den niemand anders als 
mit seinem wahren Namen Zufall nennen wird. — 

Daß es aber endlich auch Raubwespen gibt, die spezielle 
Ameisenjäger sind, erweist der Einblick in die Literatur. Ich zitiere 
Reuter-P): 

„Fertonius, eine kleine Crabronine, welche in Algier ihre Nester 
mit gegen 40 Stück einer dort gemeinen Ameise, Tapinoma rraticum, 
versieht, befestigt das Ei auf der Brust hinter dem ersten Beinpaare. 
Der lähmende Stich ist so appliziert, daß die vier hinteren Beine und 
der Hinterkörper völlig gelähmt sind, ‚während die Antennen und 
die kräftigen Kiefer beweglich bleiben. Aber das Ei liegt, wie gesagt, 
außer ihrem Bereich, und wenn die junge Larve ausgekrochen und 
gewachsen ist, hat sich die Lähmung... auch auf diese Körperteile 
erstreckt.“ 

Und der Ameisenkenner E. Wasmann?”) schreibt: 

„Unter den Grabwespen finden sich manche Ameisenfeinde, die 
ihre Brut mit Ameisen versorgen. Nach Ferton macht Ürossocerus 
(Fertonius) Iuteicollis?8) Jagd auf Tapinoma erraticum in Algier, 
und nach Emery raubt ®rabro (Brachymerus) curvitarsis in Italien 
die Arbeiterinnen von Liomelopum mierocephalum °?). Schon Degeer 


berichtet über den Raub von Myrmica rubra durch Wespen. Einen . 


rätselhaften Kampf zwischen Ampulex compressus und Sima rufonigra 
berichtet Rothney. Zur Erklärung desselben dürfte eine ähnliche 
Beobachtung von Belt dienen 60). 

Hiermit ist die Annahme, die Raubwespen „fürchteten‘ Ameisen 
und könnten das Instrument der selektiven Entwicklung einer 
Ameisenmimikry sein, tatsachengemäß ihrer letzten Stütze beraubt. 

Als Ameisenfeinde kommen weiters Ameisen selbst in Betracht. 
Diese Feindschaft wird von den Forschern für außerordentlich be- 
deutsam erklärt; jedes Tier mit fremdem Nestgeruch soll angefallen 


56). 1. cp. 306. 

57) Kritisches Verzeichnis der myrmekophilen und termito- 
philen Arthropoden. Berlin 1894, S. 166. 

58) = Crabro (Tracheliodes) quinguenotatus (vergl. auch F. F. Kohl, Die 
Crabronen der paläarktischen Region. Ann, Nat. Hist. Hofmus. Wien, 
XXIX, 8. 322ff., 1915). 

59) Daß es sich hier keineswegs um friedfertige Ameisen handelt, geht aus 
der Tatsache hervor, daß sowohl Zapinoma als auch Liometopum fleischfressende, 
sich schnell bewegende und durch Ausspritzen ihres übelriechenden Drüsensekrets 
verteidigende Ameisen sind. H. Stitz nennt Liometopum „sehr kriegerisch und 
angriffslustig“ (Chr. Schroeder, Die Insekten Mitteleuropas. Bd. II. Die 
Ameisen. S. 79). 

60) Literaturzitate bei Wasmann, 











F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 87 


und getötet werden. Zahlreiche Arten unternehmen regelmäßig Raub- 
züge und Überfälle auf fremde Nester. Da die überfallenen Ameisen 
doch sicherlich auch „ameisenähnlich“ sind, dürfte man wohl nicht 
behaupten können, eine ungefähre Nachahmung der äußeren Ameisen- 
sestalt sei feindlichen Ameisen gegenüber irgendwie von Wert. Im 
übrigen sind die Ameisen ja in höchstem Maße Tiere mit Geruchs- 
orientierung. 

Von den Schlupfwespen erwähnen E. Wasmann®e!) und 
H. Stitz62) Arten aus den. Gruppen der Braconiden, Chalcididen 
und Proctotrupiden, die ihre Eier an Ameisen oder deren Larven ab- 
legen; ebenso treten gewisse Dipteren (Phoriden) als Schmarotzer 
von Ameisen auf. Die Braconide Elasınosoma berolinense legt nach 
Pierre ihre Eier in die Ameisen selbst‘?); Pachylonma eremieri legt 
ihre Eier in Larven von Lasius niger während des Transportes der- 
selben 6%), 

Nach F. Ruschka®°) sind sichere Ameisenparasiten unter den 
Schlupfwespen speziell die Eucharinen (Chalcididen), von denen Eu- 
charis alscendens aus den Kokons von Aphaenogaster barbara und 
Stilbula eynipiformis aus denen von (amponotus marginatus zweifellos 
nachgewiesen sind 66). Ferner Chalcura Bedelii aus Myrmecocystus 
viaticus #7). Aus Indien ist Eucharis myrmiciae aus Myrmecia forfi- 
cata 3) gemeldet, aus Nordamerika Orasema viridis aus der Ameise 
Pheidole instabilis®?). Die Eucharinen dürften durchwegs Ameisen- 


parasiten sein. Eine Reihe weiterer parasitischer Hymenopteren wurde 


mit Ameisen vergesellschaftet gefunden; der Nachweis indes, daß 
sie bei diesen Ameisen parasitieren, fehlt. 

Etwas anders als bei den halbschmarotzenden Raub- und Schlupf- 
wespen, die für ihre Nachkommenschaft jagen, liegen die Dinge bei 
den eigentlichen Raubarthropoden, die ihre Beute auf der Stelle selbst 
verzehren. Während wir dort einen für uns unfaßbar feinen Witte- 
rungssinn feststellten, finden wir hier, wenigstens soweit es sich 
nicht um Erdräuber und Fallensteller, sondern um fliegende Räuber 
handelt, vielfach auch eine Jagd nach dem Gesichtssinn. 

Die Spinnen sollen mit Hilfe ihrer mäßig gut entwickelten Augen, 
wobei vielen ihr Tastsinn, bezw. Erschütterungssinn, wesentliche 

al l.;e.) p2167; 

62) Die Beziehungen der Ameisen zum Menschen und ihre wirt- 
schaftliche Bedeutung. Zeitschr. f. angewandte Entomologie. IV, 1918, S. 110, 

63) Wasmann, |. c. p. 167. 

64) Stitz, Insekten Mitteleuropas. II, S. 46. 

65) Laut freundlicher brieflicher Mitteilung. 

66) J. Fahringer und F. Tölg, Verhandl. naturf. Ver. Brünn. Bd. 50, 
S. 249—250, 1912. 

67) Cameron, Mem. & Proc. Manchester Soc., IV, p. 188, 1891. 

68) A. Forel, Ann. Soc. Ent. Belg. XX, C©.R., p. VIII—X, 1890 — und 


&ameronz.L ce. p. 187. 
69) Wheeler, Bull. Am. Mus. Nat. Hist., XXIII, p. 1—93, 1907, 


Sg f°. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidıe. 


Dienste leistet, jagen. Auch sie sind vielfach stark spezialisiert, auch 
unter ihnen finden sich Ameisenfresser®a) und die ameisenverschmähen- 
den Arten sind durch anderweitige Spezialisation gebunden. 

Für die fallenstellende Larve von Myrmeleon, den „Ameisen- 
löwen‘, genüge der einfache Hinweis auf jedermann Bekanntes. Nach 
F. Brauer kommen, wohl mit denselben räuberischen Absichten, die 
Larven von Panorpa und Bittacus in der Nähe von Ameisen- 
iestern Vor. 

Was die räuberischen Insektenimagines anbelangt, so hat E. B, 
Poulton, bekannt dureh seine warme, weitgehende Verteidigung 
der Mimikryhypothese, eine außerordentlich verdienstvolle, mühsame 
Zusammenstellung der bis nun vorliegenden exakten Daten über die 
Beute der räuberischen Diptera, Neuroptera, Hemiptera, Orthoptera 
und Coleoptera gegeben 9). 

Diese Untersuchungen zeitigten das eigenartige Ergebnis, dah 
alcjenigen Eigenschaften, die im Sinne der Mimikryhypothese als 
schützend galten, den Raubinsekten gegenüber sich nicht nur als 
nicht wirksam erwiesen, sondern dab vielmehr gerade die als am ge- 
schütztesten geltenden Formen in besonders hohem Ausmaße den 
sechsbeinigen Räubern zur Beute fielen. Speziell die stechenden Haut- 
flügler stellen ein Hauptkontingent zur Nahrung der Asiliden, Odo- 
naten, Reduviiden u.s.w. So fanden sich beispielsweise unter 225 
Exemplaren Asilidenbeute 67 Hymenopteren, darunter 53 Akuleate, 
hierunter 9 Ameisen. (Für das hier behandelte Problem sind letztere 
allerdings kaum von Bedeutung, da die Asiliden fast nur fliegende 
Beute jagen und es sich daher um geflügelte Stücke der: Ameisen 
handelt. Die große Zahl der Akuleaten — Bienen, Wespen und 
Grabwespen — erweist indes die allgemeine Wertlosigkeit der Wespen- 
waffen gegenüber diesen Raubinsekten.) Unter den. in geringer Zahl 
angeführten Beutestücken von Libellen finden sich Arten der wehr- 
haften Gattung Vespa; in Raubwanzenbeute sind Halietus-Arten 
vertreten. 

Die typischen Raubinsekten scheuen somit bestachelte Haut- 
flügler nicht und eine Ameisenähnlichkeit wird ihnen gegenüber zu- 
verlässig die schützende Wirkung versagen. 

Daß sich Ameisenarbeiter nicht in der nachgewiesenen Beute 
vertreten finden, hat seinen Grund in der Jagdweise der Mehrzahl 
dieser Räuber, die sich zumeist nur auf Fliegendes stürzen, und in 


69a) „Arten von Enyo (Zodarium), Phrurolithus, Leptorchestes und Hahnia, 
die zum Teil ameisenähnlich sind, lauern den Ameisen am Eingang ihrer Nester auf. 
Theridium-Arten überfallen einzelne Ameisen von einem Grashalm oder Pflanzen- 
stengel aus und umspinnen sie, um dann die Beute an einem Faden zu sich empor- 
zuziehen,*. .xH. Stitz, l.« p, 45, Taf. TL7Rie 36.u. 37, 

70) Predaceous Insecets and their Prey. Part. I. Trans. Ent. Soe. 
Lond. 1906, p. 323-409. 








. 


F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 89 


der wenig verlockenden Kleinheit der Ameisenarbeiter. Irgendein 
Grund zur Annahme eines Geschütztseins der Ameisen ist nicht ge- 
geben, da größere Akuleaten rücksichtslos angegriffen werden. 

Hiemit erledigen sich die Arthropoden als Feinde von Arthro- 
poden. Sie scheiden aus der Konkurrenz für die auslesende Heraus- 
bildung der hier in Besprechung stehenden metöken Myrmekoidie end- 
gültig aus und zwar aus folgenden Gründen: 

1. Ihre eigenartigen, feinen Sinnesorgane lassen eine Täuschung 
durch eine plump-primitive, oberflächliche Gestaltähnlichkeit als aus- 
geschlossen erscheinen. 

2. Sie scheuen die Waffen der akuleaten Hymenopteren nicht. 
Es gibt unter ihnen nicht nur zahlreiche Arten, die die weit wehr- 
hafteren ?1) Bienen, Wespen und Raubwespen anfallen, sondern auch 
typische Feinde von Ameisen. 

* 

Wir gelangen zu den Wirbeltieren. Die Amphibien und Rep- 
tilien gestatten eine kurz gefaßte Erledigung. - Sie wurden meines 
Wissens von keinem Forscher als wesentliche Auslesefaktoren 
in der Frage der Myrmekoidie angesprochen. 

Die häufigeren erdlebenden, einheimischen Amphibien — Kröten. 
Frösche, Unken — werfen ihre Zunge so ziemlich nach allem sich 
. Bewegenden aus. Sie scheuen — wie mir eigene Versuche mit der 
Wespe Polistes gallicus und der Biene Apis mellifica mit Bufo vul- 
 garis, Rana esculenta, temporaria, arvalis und Bombinator pachypus 
(ebenso mit Hyla arborea) erwiesen — den Akuleatenstachel nicht. 
Brunet hat Kröten vor dem Bienenstande auf Bienenfang beob- 
achtet’?). Jacobi erwähnt Kröten, die vor Wespennestern lauerten 
und deren Bewohner wegfingen ?3). Sofern ihnen größeres Getier zur 
Verfügung steht, beachten diese Lurche Insekten von Ameisengröße 
in der Regel kaum. Daß es sich tatsächlich nur um ein Vernach- 
lässigen handelt und die Ameisen nicht geschützt sind, sondern bei 
Bedarf in Mengen verzehrt werden, ergibt sich aus der Mitteilung 
von J. H. Fabre, der Kotwürstchen von Erdkröten „fast ausschließ- 
lich aus Hunderten von Ameisenköpfen“ bestehend fand ’#). 

Unter den exotischen Amphibien sind die Engystomiden als 
Ameisenfeinde bekannt. 

Von Reptilien kommen in Mitteleuropa nur die Eidechsen in Be- 
tracht. Nach meinen Erfahrungen an gefangenen Lacerta agilis und 

71) Es ist mir bekannt, daß der Stich einzelner großer, tropischer Ameisen, z. B. 
gewisser Ponerinen, Myrmeeia-Arten u. a., an Schmerz- und Giftwirkung dem Stiche 
von Wespen nicht nachsteht! Doch sind dies Ausnahmen; im allgemeinen sind die 
Ameisen minder wehrhaft und mehr lästig als gefürchtet. 

72) F. Knauer, Naturgeschichte.der Lurche. Wien 1878, S, 287. 

73) Jacobi, l.c. p. 81. 

74) Souvenirs Entomologiques. (Deutsch in: Ein Blick ins Käfer- 


leben. Stuttgart, Kosmosverlag, S. 20.) 
Band 39. 2 


90 F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie, 


serpa verschmähen diese Arten nicht nur Ameisen, sondern auch Käfer, 
Wanzen u.s.w. von der in Betracht kommenden Größe, nehmen da- 
gegen begierig Heuschrecken, Käferlarven, nackte Raupen u.s.w. 
an ’5). Gegebenenfalls gehen sie wehrhafte Hautflügler, sofern sie 
sie nicht gänzlich unbeachtet lassen, ohne Furcht und ungestraft an. 
Man hat Eidechsen, Lacerta viridis und 2 auf der Lauer vor 
Bienenständen angetroffen 6). 

Ameisen bilden nach W.D. Hunter’’”) die gewöhnliche Nahrung 
der nordamerikanischen Krötenechse Phrynosoma cornutum; außerdem 
sind Zonuriden und Amphisbaenen Ameisenfresser. In Südeuropa 
jagen die Geckonen in Häusern nach Ameisen. Von den Schlangen 
sind die Typhlopiden Termitenjäger; J. Vosseler‘8) fand Typhlops 
punclatus im Bau ostafrikanischer Treiberameisen ”°). — 

Die wissenschaftlich genaue und sichere Feststellung der Art der 
Nahrung insektenfressender Vögel kann auf dreierlei Wegen in An- 
griff genommen werden: 

1. Durch Freilandbeobachtungen. 

2. Durch Versuche mit gefangen gehaltenen Vögeln. 

3. Durch Magen- und Kropfinhaltsuntersuchungen erlegter Vögel 
(gegebenenfalls auch durch Untersuchung von Gewöllen und 
Exkrementen). 

Was die Freilandbeobachtungen anbetrifft so sind sie 
nach dem übereinstimmenden Urteile der Forscher außerordentlich 
schwierig und nicht in größerem Ausmaße durchführbar 8°). Der scheue 
Wildvogel gestattet dem Beobachter nicht, so nahe heranzukommen, 
um zu unterscheiden, welche Insektenarten der Vogel aufnimmt. Ledig- 
lich, die Jagd eines Vogels nach weithin sichtbaren und kenntlichen 
Schmetterlingen, Libellen u. s. w. läßt eine erfolgreiche Beobachtung 
zu. Nur wenn sich der Vogel augenscheinlich mit einer größeren 
Ansammlung artgleicher Insekten, beispielsweise mit einer Ameisen- 
kolonie oder einem Ameisenzuge beschäftigt, können Schlüsse auf 
seine Nahrung gezogen werden. Doch es bleiben, wie Jacobi im Be- 
streben, die Grundlagen der mimetischen Myrmekoidie aufrecht zu 
erhalten, hervorhebt, auch hier nur unsichere Schlüsse. Er weist 1) 

75) Auch bei den Versuchen von J. Jenner Weir (Trans. Ent. Soc. Lond. 
1869) blieben die Ameisenarbeiter von Eidechsen unbeachtet; dagegen wurden die 
ansehnlicheren, gleichfalls wehrhaften geflügelten Weibchen von den Bergeidechsen 
(Zootoca vivipara) gefressen. In Pocock’s Versuchen verschmähten Mauereidechsen 
(Lacerta muralis) Formica rufa. 

76) Levandovsky, Versuche und Beobachtungen auf meinem 
Bienenstande. (Russ.) St. Petersburg 1908. 

77) Bullet. U.S. Dept. Agrie., Entom., Nr. 148, 1912. 

78) Die ostafrikanische Treiberameise. Pflanzer I, 1905. 

79) Vergl. Stitz, 1. «, 110. 

80) Vergl. z. B. A. Seitz, Betrachtungen über die Schutzvorrich- 


tungen der Tiere. Zoolog. Jahrb. (Spengel), III. Abt. f. Syst. 1887, S. 80. 
81) 1. c. p. 112—113. 


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F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 91 


darauf hin, daß die Ameisendrosseln (Formicariiden) als Ameisen- 
fresser gelten, daß aber über ihre Lebensweise und Ernährung kaum 
Exaktes bekannt ist. Nach v. Kittlitz soll eine brasilianische Art, 
Pyriglena leucoptera, zwar den Wanderzügen von Ameisen eifrig folgen, 
im Magen geschossener Stücke sollen aber diese Insekten „fast völlig 
fehlen“. ‚Es scheint also, daß die Ameisen mehr Leckerbissen als 
regelmäßige Nahrung für diese Vögel bilden 82).“ Nun, schließlich 
wäre auch ein „Leckerbissen“ nichts Gemiedenes oder Gefürchtetes. 

B. Altum3?) berichtet vom Schwarzspecht und Grünspecht, 
daß sie im Sommer, besonders aber im Winter bei hart gefrorenem 
Boden, die Hügel der Waldameisen zerhacken. Wasmann sah Buch- 
finken (Fringilla coelebs) beim Aufpicken von Lasius niger. Stitz®#) 
erwähnt nach M. Lund®?), daß den Zügen brasilianischer Wander- 
ameisen Dendrocolaptes, Tanagra, Drymophila, Lanius u. a. folgen; 
den Zügen altweltlicher Treiberameisen folgen Timalien. „Arten der 
Gattungen Alathe und Turdirostris in Afrika nähren sich ebenfalls 
von Ameisen. In Rio Grande du Sul sah H. v. Jhering®6), wie die 
Perlhühner Atta (Acromyrmex) nigra {raben,... Hühner und auch 
Enten können im Garten beim Auflesen von Ameisen beobachtet wer- 
den... Pogonomyrmex-Arten in Texas verzehrt Megagquiscalus major 
maerurus (Hunter$®°)). Eine Ammer (Colaptes auratus) wurde be- 
sonders bei der Vernichtung der argentinischen Ameise beobachtet... 
(W. Newell und T. C. Barber°®)).* 

Von den Blattschneiderameisen (Atta), die samt einem von ihnen 
getragenen Blattstück durch eine Membracidenlarve nachgeahmt wer- 


den sollen (Sclater, Romanes, Poulton) — eine Ähnlichkeit, 
die Jacobi der fehlenden Übereinstimmung in den Bewegungen 
halber als „Pseudomimikry“ stigmatisierte — sagt Entz nach 


H. W. Bates®’), „daß diese stachellosen Ameisen beim Blätter- 
sammeln von den Insektenfressern arg dezimiert werden.“ 

Daß freigehende Haushühner sich mit Eifer und Ausdauer der 
Ameisenjagd widmeten, habe ich selbst mehrfach zu beobachten Ge- 
legenheit gehabt. 


82) Jacobi entnimmt diese Angaben Brehm’s Tierleben. Was ich dort über 
Formieivora domicella finde, scheint mir die Wendung, die Jacobi der Auffassung 
der Dinge zu geben sucht, keineswegs voll zu rechtfertigen. Frh. v. Kittlitz ist 
überzeugt, daß die „Feueraugen“ den Ameisen „mit großer Gier und Behendigkeit 
nachstellten“ und „daß ihre Begierde nach den Ameisen so groß war, daß selbst 
das Schießen sie nur augenblicklich verscheuchte“. 

83) Forstzoologie II. S. 90. 

SA). Lye.'p. 111. 

85) Lettre sur les habitudes de quelques fourmis du Br&@sil. Ann. 
Sci. Nat. 1831. 

86) Berl. Ent. Zeitschr. Bd. 39, 1894. 

87) Bull. U. S. Dept. Agric. Bur. Entom. Nr. 148, 1912. 

88) Ibid. Nr. 122, 1913. 

89) Der ee N am a man nsteeh. 1863, S. 17. 


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92 F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 


Durch Freilandbeobachtungen kann in unsere Kenntnis von dem 
Umfange des Ameisenfraßes der Vögel keine Sicherheit gebracht 
werden. 

Gleiches gilt von den Versuchen mit eingezwingerten 
Vögeln. Die Forscher, die sich eingehender mit solchen Versuchen 
befaßt haben, betonen einstimmig die Unzulässigkeit, nach Versuchs- 
ergebnissen am Käfigvogel bindende Schlüsse für das gleiche Ver- 
halten eines Wildvogels derselben Art im Freileben zu ziehen ?®). 
Zu derselben Überzeugung haben mich eigene Versuche geführt. Der 
frischgefangene Vogel ist in der Regel zu scheu, um für Versuche 
dieser Art verwendbar zu sein. Der im Käfig eingewöhnte Vogel hat 
seine Freilandgewohnheiten bereits abgetan. Er führt ein relativ träges 
Leben, er hat sich völlig an eine ihm ursprünglich mehr oder minder 
fremde, zuerst vielleicht nicht oder nur zögernd angenommene Nah- 
rung gewöhnt. Er hat von Insekten außer Ameisenpuppen und Mehl- 
würmern nichts mehr zu Gesichte bekommen. Er hat sich einerseits 
vielleicht daran gewöhnt, aus der Hand seines Pflegers nur Lecker- 
bissen, zumindest nur Genießbares zu erhalten und nimmt vertrauens- 
voll von ihm fast alles; er hat weiters vielleicht eine Sehnsucht nach 
Abwechslung, die ihn für alle Fälle zum Angriff drängt. Anderseits 
kann es aber auch sein, daß er die Formen der draußen lebenden In- 
sekten vergessen hat und sich nunmehr vor den ihm seinerzeit viel- 
leicht vertrauten, nun aber fremd gewordenen Gestalten scheut oder 
sogar fürchtet. Scheu- und Furchtäußerungen vor allem Unbekannten 
sind allen Vogelpflegern bekannt. Ich erinnere mich an einen Kana- 
rienvogel meiner Jugendzeit, der über eine an seinen Käfig gesteckte 
rote Kirsche vorerst außer Rand und Band geriet, dann sich beruhigte, 
sie zögernd versuchte, sich dann über sie hermachte und sie schließ- 
lich gegen alle Versuche, sie ihm wegzunehmen, mit aufgesperrtem 
Schnabel eifrig verteidigte. 

Seitz91l) sah eingefangene Vögel im Käfig vor Fliegen und 
Insekten retirieren, von denen ihm bekannt war, daß sie im Freien 
anstandslos verzehrt worden wären. Obgleich er im Freien wieder- 
holt sah, wie eine Pyrrhula Raupen verschlang, so geriet ein zahmes 
Männchen dieser Vogelart vor einer Schwärmerraupe in große Furcht. 
Derselbe Vogel, der gewöhnlich am Fenster saß und Fliegen fing, zeigte 
zuweilen vor einer kräftigen vomitoria das äußerste Entsetzen. Ein 
aufgezogenes Exemplar von Upupa benahm sich einigen Insektenlarven 
gegenüber so komisch reserviert, daß es im Freien zuverlässig ver- 
hungern hätte müssen, wenn es auch dort die Kerbtiere so behan- 
delt hätte. 


90) Vergl. Seitz, l.c. p. 81; weiters R. J. Pocock, On the Palatability 
of some British Insects, with Notes on the Significance of Mimetic Resem- 
blances. Proc. Zool. Soc. Lond. 1911, p. 809—812. 

9). ce. p. 81. 








F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 93 


In Handbüchern für Stubenvogelliebhaberei wird empfohlen, 
Wildfängen, welche Ameisenpuppen nicht annehmen, diese Puppen in 
das Trinkwasser zu werfen. Der Vogel wird gelegentlich des Trinkens 
durch die auf dem Wasser auf und ab tanzenden Puppen gereizt, 
versucht sie, lernt sie als Nahrung kennen. 

Es ist die Tatsache des Scheuens vor der Ungewohnttracht 
(Ungewohntfärbung oder Ungewohntform), das hier klar und eindeutig 
in Erscheinung tritt 22). 

Dies alles objektiv vorausgesandt, darf ich ohne Schein von Partei- 
lichkeit darlegen, daß die Ameisen von Käfigvögeln fast in allen 
Fällen gerne und in beliebiger Zahl verspeist werden, daß die Mimi- 
kryhypothese im Verhalten gefangener Vögel keine Stütze findet. Ich 
darf darauf hinweisen, daß das Hauptfutter für gefangen gehaltene 
Insektenfresser Ameisen im Puppenstadium sind. Jeder Vogellieb- 
haber kann sich überzeugen, daß die aus den Puppen ausgekrochenen 
reifen Ameisen gerade so von den Vögeln aufgepickt werden wie die 
Puppen. Ich habe dies selbst verschiedene Male bei Sylvia atricapilla. 
Hypolais hypolais, Turdus sp. u. a. beobachtet. 

R. J. Pocock, der, von mimikryüberzeugter Seite kommend, 
Versuche mit einheimischen Insekten und ausländischen Insekten- 
fressern unternahm 93) — Versuche, die selektionshypothetisch wertlos 
sind, da sie mit Tierarten unternommen wurden, die nie in der gleichen 
natürlichen Lebensgemeinschaft (Biozönose) leben, deren eine die andere 
somit nie auslesen kann — stellte erstaunt fest, daß eine Reihe exotischer 
Vögel, denen er britische Ameisen (Formica rufa) vorlegte, diese „mit 
Begierde‘, so viel sie davon erhielten, verzehrten. Es waren: die afri- 
kanische Eule Glaueidium perlatum, die asiatische Bodendrossel Geo- 
cichla eitrina, der indische Copsychus saularis, die gleichfalls indischen 
Oittocincla macrura und Sibia capistrata, der nordamerikanisehe „Blau- 
vogel“ Sialia sialis, der indische Liothrix luteus, die australische Col- 
lyriocincla harmonica, der hinterindische Oriolus maculatus, die 
indische Gracula intermedia, die javanische Graculipica melanoptera, 
der südamerikanische /eterus chrysocephalus, und schließlich der 
europäische Große Buntspecht Dendrocopus major. Einen Vogel, der 
Ameisen nicht fraß, fand Pocock nicht). 


92) Vergl. meine Abhandlung: Zur Lösung des Trutzfärbungspro- 
blems: Der Fall Pyrrhocoris apterus und das Prinzip der Ungewohnt- 
färbung. Wien. Entom. Zeitg. 1919 (im Erscheinen). 

93) Pocock, 1. c. p. 849. 

94) Angesichts dieser Tatsachen schreibt er: „Der unvermeidliche Schluß, daß 
diese Insekten schmackhaft seien, ist sehr überraschend im Hinblick auf die zahl- 
reichen Fälle, in denen Ameisen verschiedener Arten in den Tropen von Orthop- 
teren, Coleopteren und anderen Insekten ebensowohl als von Spinnen nachgeahmt 
werden. Indessen bestätigt er die von MeCook vorgebrachte und von mir 1909 
vertretene und erweiterte Meinung, ... daß Ameisenmimikry hauptsächlich als 
Schutz gegen räuberische Hymenopteren der Familie der Pompiliden ,... dient,“ 


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94 F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 


Als letztes, exaktes Hilfsmittel der Forschung über die Nah- 
rungsmittellehre der Vögel verbleibt nun noch die Untersuchung der 
Magen- und Kropfinhalte, bezw. der Gewölle und Exkre- 
mente der Vögel. Der Inhalt eines Vogelmagens allein spiegelt natur- 
treu wieder, was der Wildvogel im Freileben freiwillig zu sich ge- 
nommen hat; die vergleichende Untersuchung von Mageninhaltsreihen 
allein wird ein richtiges Bild der Normalnahrung jeder Vogelart 
geben. i 

Doch auch hier warnt die Erfahrung vor voreiligen Schlüssen. 
Die Arten der Insekten sind hinsichtlich der Härte ihrer Chitinbe- 
deckung außerordentlich verschieden; demgemäß wird auch der 
Widerstand, den sie der Verdauung im Vogelmagen entgegensetzen, 
ein sehr verschiedener sein. Wenn sich von den harten Chitindecken 
eines Käfers noch nach zwei oder drei Stunden Reste im Vogelmagen 
finden 9), so wird eine Fliegenmade oder eine Stechmücke schon 
in viel weniger als einer Stunde restlos verschwunden sein. Der 
Mageninhalt wird also zumeist ein Bild geben, das nicht ohne wei- 
teres als Ausdruck der wirklichen Zusammenstellung der Nahrung 
in ihren relativ-quantitativen Verhältnissen gelten darf. Bei gleicher 
Anzahl von aufgenommenen harten und weichen Insekten werden die 
zahlreichen Reste der harten eine mehrfache Überzahl der letzteren 
vortäuschen und eine Statistik fälschen. Auch eine Individuenzahlen- 
statistik der Insektenreste täuscht, insbesondere dort, wo es sich um 
die wirtschaftliche Beurteilung eines Vogels handelt, sobald die Größe 
der Insektenart nicht in Betracht gezogen wird. Bei Vorfinden der 
Reste von zwei Melolontha vulgaris und 50 Lasius niger, spielen die 
in Minderzahl vorhandenen Maikäfer eine weit bedeutsamere Rolle 
als die fünfzig Ameisen. 

Für die Frage nach der Ameisenmimikry indes kommen die an- 
geführten kritischen Bedenken nicht in Betracht. Für diese Frage 
handelt es sich lediglich um den Nachweis, daß Ameisen in reich- 
lichem Ausmaße überhaupt von Vögeln verzehrt werden, daß die 
Ameisen vor Vögeln keinerlei Schutz genießen. Und dieser Nachweis 
ist mit einwandfreier Exaktheit leicht zu führen. 

Für die Erforschung der Insekten-Nahrung der Vogelwelt des 
mittleren Europa nach Mageninhalten liegt eine mustergültige, um- 
fangreiche Arbeit von E. Csiki vor %). 


95) Ich weise auf die Untersuchungen G. Rörig’s an Krähen hin (Unter- 
suchungen über die Verdauung verschiedener Nahrungsstoffe im 
Krähenmagen. Ormithol. Monatsschr. 1903, S. 470—477. Auch in: Arb, Kais. 
Biol. Anst. f. Land- u. Forstwirtsch., V, 1907). 

96) Positive Daten über die Nahrung unserer Vögel. Aquila, Buda- 
pest 1904—1914. — Ergänzend hiezu: Neuere Daten über die Nahrung des 
Dorndrehers. 1. c. 1911. — Die Insektennahrung des Rebhuhns. 
1”c.1. 1912, 


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F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 95 


Nach seinen genauen Listen, die das Material von 2523 Magen- 
inhalten umfassen, welche von 60 Vogelarten stammen, fanden sich 
Ameisen in 51 Vogelarten, die ich nachfolgend anführe: 

Erithacus rubecula, 

Rutieilla phoenicurus, 

- Turdus musiceus, iliaeus, viscivorus, piaris, ‘merula, torquatus, 

Phylloscopus trochilus, sibilator, acredula, 

Hypolais hypolais, 

Acrocephalus arundinaceus, 

Sylvia atricapilla, curruca, sylvia, 

Troglodytes troglodytes, 

Regulus regulus, 

Remiza pendulina, 

Aegithalus caudatus, 

Parus cristatus, coeruleus, palustris, ater, major, 

Sitta caesia, 

Certhia familiaris, 

Nucifraga caryocatactes und subsp. macrorhyncha, 

Garrulus glandarius, 

Corvus corniz, 

Lanius collurio, minor, excubitor, 

Museicapa atricapilla, collaris, grisola, 

Hirundo rustica, 

Upupa epops, Coracias garrula, 

Pieus viridis?"), canus®), 

Dendrocopus major, medius, minor, 

‚Picoides tridactylus, 

Dryocopus martius, 

Jynx torguilla 9), 

Cuculus canorus, 

Cerchneis vespertinus, tinnunculus, 

Perdix perdix 100), 

Diese Vögel gehören den verschiedensten Familien an. 

Die Ameisenarten umfassen Formiciden (Camponotus ligniperda, 
pubescens, sylvaticus, lateralis, Formica sanguinea, rufa, pratensis, 
fusca etc., Lasius fuliginosus, niger, alienus, flavus) und Myrmiciden 
(Myrmica laevinodis, Tetramorium caespitum). Sie sind zuweilen 
in großen Mengen in den Magen vertreten. 

Dem etwaigen Einwand, es handle sich wohl vorwiegend 
um geflügelte, also „wehrlose“ (?) Formen, begegne ich durch die 


97) Mageninhalt je eines Vogels: Formica pratensis ca. 700; Lasius niger 
400, 400, 500, 500, 600; Myrmica laevinodis 600 Stück u. s. w. 

98) Formica rufibarbis ca. 150; Lasius alienus 250 Stück u. s. w. 

99) Lasius alienus ca. 100, 100, 200, 300, 300 Stück u. s. w. 

100) Lasius niger ca. 250, 250 Stück u. s. w. 





96 F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 


Mitteilung, daß mir Herr Kustos E. Csiki (Budapest) über meine 
Anfrage hin die Versicherung gab, geflügelte Formen kämen nur 
ausnahmsweise in Betracht und die Hauptmasse bestünde aus flügel- 
losen, wehrhaften Arbeitern. | 

Ergebnisse ähnlicher, wenn auch minder ausgeprägter Art liefern 
die Mageninhaltsuntersuchungen, die E. Rey und A. Reichert !0t), 
und weiters W. Baer1!0) hinsichtlich heimatlicher Vögel veröffent- 
lichten. Auch die Arbeiten von G. Rörig1®), K. Loos und anderen 
Forschern bestätigen den Ameisenfraß unserer Vögel. 


W. Schuster stellte — wie er versichert, unter Zugrunde- 
legung der Magenuntersuchungsergebnisse — eine „Wertschätz- 


ung unserer Vögel“ zusammen10%) und schreibt (S. 52): 
„Ameisen: Fast alle Kerbtierfreser, vor allem Haselhuhn, Birk- 
huhn, Auerhuhn, Wachtel, Rebhuhn, Segler, Schwalben, 
Buntspecht, Schwarzspecht, Grünspecht (lebt teilweise von Amei- 
sen...), Grauspecht, Wiedehopf, Drosseln, Ufer- und Wasser- 
läufer.‘“ 

Die Gesamtheit dieser Angaben erweist: Ameisen werden 
wohl von fast allen insektenfressenden Vögeln der 
Heimat gerne und in großer Zahl verzehrt. Von einem 
wirksamen Geschütztsein auch in kleinem Umfange kann nicht die 
Rede sein; sie sind- vielmehr ein Hauptbestandteil normaler Vogel- 
nahrung. 

Hinsichtlich der Avifauna Nordamerikas liegen uns genaue Unter- 
suchungen über Mageninhalte hauptsächlich in den Arbeiten von 
F. E. L. Beal und W..L. McAtee, ausgeführt im U. S. Depart- 
ment of Agriculture und veröffentlicht in dessen Bulletins, vor. 

Hauptfeinde der Ameisen sind auch hier die Spechte, die ‚„wood- 
peckers“ und „sapsuckers“. Die Spechtuntersuchungen Beal’st®) 
basieren auf 3453 Mageninhalten von 16 nearktischen Spechtarten. 
Beal stellt fest: „Ameisen bilden den größten Teil der animalischen 


101) Mageninhalt einiger Vögel. Ormithol. Monatsschr. 1903—1910. 

102) Untersuchungsergebnisse von Mageninhalten verschiedener 
Vogelarten. Ornithol. Monatsschr. 1903. — Untersuchungsergebnisse von 
Mageninhalten sächsischer Vögel. 1. e., 1909. — Ornithol. Miszellen. 
17er 1910, 

103) Magenuntersuchungen land- und forstwirtschaftl. wichtiger 
Vögel (mit Literaturverzeichnis). Arb. Kais. Biol. Anst. f. Forst- u. Landwirt- 
schaft I, 1900. — Studien über die wirtschaftliche Bedeutung der in- 
sektenfressenden Vögel. Ebenda, IV, 1905. — Die wirtschaftliche Be- 
deutung der Vogelwelt als Grundlage des Vogelschutzes. Mitt. a. d. 
Kais. Biol. Anst. f. F.- u. L.-W., H. 9, 1910. 

104) Gera-Untermhaus, 1906 (bezw. Kosmos-Verlag, Stuttgart). 

105) Food of the Woodpeckers of the United States. U,S.D. Agr. 
Biol, Surv. Bull. Nr. 37, 1911, p. 10. 








F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 97 


Nahrung — 28,41 % im Durchschnitt, alle 16 Spechtarten zusammen- 
genommen 10%) — und die Hauptnahrung von 8 Arten.“ 

Die Arten, nach der Höhe des prozentualen Anteils der Ameisen 

in den Mageninhalten gereiht, sind: 

0 Ameisen 


Sphyrapieus thyroideus 85,94 
Dryobates borealis 56,75 
Colaptes cafer 53,82 
Colaptes auratus 49,75 
Sphyrapicus ruber 42,49 
Phloeotomus. peleatus 39,91 
Sphyrapicus varius 34,31 
Dryobates pubescens 21,36 
Dryobates villosus 17,10 
Asyndesmus lewisi 11,87 
Picoides americanus 8,29 
Dryobates nuttalli 8,19 
Melanerpes f. bairdi 8,09 
Centurus carolinus 6,45 
Picoides arcticus 6,35 
Melanerpes erythrocephalus 5,17 


Die Ameisen gehören vorwiegend den Gattungen Camponotus 
und Oremastogaster an; doch finden sich auch Formica, Lasius, Myr- 
mica, Aphaenogaster, Prenolepis, Pheidole, Solenopsis, Tetramorium, 
Messor. In einem Mageninhalte von Colaptes auratus wurden rund 
5000 Exemplare einer kleinen C’remastogaster-Art gefunden; in ande- 
ren je etwa 3000. Diese Anzahl entspricht also einer Mahlzeit dieser 
Vogelart. 

Beal hat weiters Spezialuntersuchungen über die Nahrung ein- 
zelner anderer nordamerikanischer Vogelgruppen nach Reihen von 
Mageninhalten geliefert 107). Von den drei Kuckucken teilt er mit, 
dab Ameisen „frequently eaten‘ seien. Jwdd nennt Ameisen als 
hrs der Ware Von den Stärlingen (Dolichonyx, Molothrus, 


106) Unter diesen 16 Spechtarten sind auch solche, bei denen der Anteil vege- 
tabilischer Nahrung — zumeist Früchte und Kambium (!) — bis 77,41°/, beträgt. 
— Diese Tatsachen werfen zugleiche in eigenartiges Licht auf die so viel er- 
wähnte hohe Anpassung des Spechtschnabels und der Spechtzunge. Zweifellos 
wären die Spechte ohne diese Anpassungen — die ja tatsächlich den andern Vögeln 
fehlen — auch erhaltungsfähig. Da sie indes einmal eine lang vorstreckbare, klebrige 
Zunge besitzen, ist es für sie das Bequemste, sie zum Massenfang von Ameisen aus- 
zunutzen. 

107) Some Common Birds in their Relation to Agriculture. Far- 
mers Bull. Nr. 54, 1897. — (Mit S. D. Judd) Cuckoos and Shrikes in their 
Relation to Agriculture. Biol. Surv. Bull. Nr. 9, 1898. — Food of the 
Bobolink, Blackbirds and Grackles. Bull. Nr. 13, 1900. — Food of our 
more important Flycatchers. Bull. Nr. 44, 1912. 


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fe) F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 


Xanthocephalus, Agelaius, Scolecophagus, Quiscalis) gibt Bealgleich- 
falls Ameisen und Wespen unter der Nahrung an. Ebenso sind Amei- 
sen in der Nahrung der .nordamerikanischen Fliegenfänger (Muscivora, 
Tyrannus, Myiarchus, Sayornis, Nuttallornis, Myiochanes, Empidonax) 
—- obgleich diese Vögel vorwiegend ‚Jäger fliegender Insekten sind — 
neben Wespen und Bienen verhältnismäßig reich vertreten. Des- 
gleichen finden sich Ameisen im Mageninhalt der ‚Wiesenlerche‘, 
Sturnella magna, des „Katzenvogels“, Galeoscoptes carolinensis, U. a. 
Vögel zahlreich. 

In der sehr ausführlichen Arbeit von McAtee über die Dick- 
schnäbler 108) (Oardinalis, Pyrrhuloxia, Zamelodia, Guiraca) werden 
Pogonomyrmex und Lasius aus dem Kardinal, Wespen und For- 
miciden aus dem Grauen Dickschnäbler, Camponotus aus dem Rosen- 
brüstigen, Honigbienen und Myrmiciden aus dem Schwarzköpfigen, 
und Formiciden aus dem Blauen Dickschnäbler aufgeführt. 

Über die Nahrung der Vögel Indiens geben C. W. Mason und 
H.Maxwell-Lefroy eingehende, auf Mageninhaltsuntersuchungen 
basierte Daten 109). Nach ihnen bilden die Ameisen gleich den Heu- 
schrecken ‚einen sehr großen Anteil an der Insektennahrung der 
indischen Vögel. Sie sind wohl die Lieblingsnahrung der Spechte, 
Wendehälse, Roller (Coracias) und einiger Fasanen. Die meisten 
Vögel, welche überhaupt Insekten fressen, verzehren auch Ameisen 
dieser oder jener Art.“ (Folgt Liste der in den Magen erkennbaren 
Ameisenarten.) 

Eine Arbeit F. Dahl’s gewährt uns einigen Einblick in “die 
Nahrung der Vögel der Bismarckinseln 110). Von 63 zumeist insekti- 
voren Vogelarten fanden sich in 28 Ameisen vor, und zwar ebenso- 
wohl geflügelte wie ungeflügelte 111). 

Eine Untersuchung von Mageninhalten australischer Vögel ver- 
danken wir J. B. Cleland!!l2). Von ..257 Magen, die Insektenreste 
enthielten, wiesen 55 Ameisen auf, wobei die Ameisen vielfach in 
sroßer Stückzahl vertreten waren. 

In einer kurzen Liste, die G. L. Bates113) über Mageninhalte 
von Vögeln Südkameruns gibt, finden sich die Ameisen unter den 


108) Food Habits of the Grosbeaks. Bull. Nr. 32, 1908. 

109) The Food of Birds in India. Mem. Dept. Agrie. Caleutta III, 1912, 
9. 1—371. 

110) Das Leben der Vögel auf den Bismarckinseln. Mittlg. Zool. 
Sammlg. Mus. Naturk. Berlin I, 1899. 

111) Jacobi betont (l. c. p. 113) das Vorkommen der geflügelten, „das will 
heißen wehrlosen“ Formen. Er vergißt hiebei, daß es nicht nur geflügelte Männ- 
chen, sondern auch geflügelte Weibchen gibt. . 

112) Examination of Contents of Stomachs and Crops of Some 
Australian Birds. Emu, IX, XI, XII, 1909—1913. 

113) ’Ibis,'V, 1911, p. 631 


F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 99 


Insekten an dritter Stelle genannt; allerdings fügt Bates hinzu 
„mostly in stomachs of birds of the genus Dendromus‘‘ 114), 

.G. A. K. Marshall, der über J. B. Poulton’s Anregung 
auszog, Mimikry zu beweisen, gibt im umfangreichen Berichte über 
seine diesbezüglichen Forschungen in Südafrika eine kurze Tabelle 
von Insekten, die er in Vogelmagen fand 415). Diese Tabelle umfaßt 
nur 13 Insektenformen, zu denen die Namen der Vogelarten genannt 
sind, in denen die bezügliche Insektenform gefunden wurde. Bei 
den einzelnen Insektenformen sind im Höchstfalle 5 Vogelarten als 
nachgewiesene Feinde genannt; allein bei den Ameisen sind 
10 Vogelarten(Bradyornis mariquensis, Pratincola torquata, Mon- 
ticola amgolensis, Sazxicola pileata, Buchanga assimilis, Thamnolaea 
cinnamomeiventris, Orateropus kirkii, Lophoceros leucomelas, Campo- 
thera bennetti, C'recopsis egregia) aufgeführt. Ameisen erscheinen 
somit als das Meistbegehrte in dem kleinen Kreise des Beobachteten. 
Damit reimt sich wohl auch für das äthiopische Gebiet die Annahme 
irgendeines Grades von Gemiedensein der Ameisen nicht mehr. 

Hiemit ist die Tatsache, daß Ameisen nicht nur 
nicht gemieden sind, sondern vielmehr einen bevor- 
zugten,jaeinen Hauptbestandteilder Vogelnahrung 
ausmachen, fürallefünfFErdteileziffernmäßignach- 
gewiesen. 

Was die wenigen insektivoren Säugetiere der Heimat anbelangt, 
so ist kein Grund zur Annahme gegeben, daß dieselben Ameisen ver- 
schmähen. Unter der Nahrung des Igels (Erinacens europaeus) nennt 
K. Escherich!16) Ameisen. Die Spitzmäuse, die als Wespen- 
feinde genannt werden 117), dürften wohl auch Ameisen nicht fürchten. 
Auch Dachs und Fuchs, die gleichfalls Wespen nicht scheuen, werden 
gelegentlich, falls ihnen die Beute nicht allzu gering ist, Ameisen 
nicht verschmähen. In den Tropen, wo die Ameisen eine unvergleich- 
lich größere Rolle spielen als bei uns, ist eine Reihe von Tierformen 
sogar fast ausschließlich der Ameisen- (und Termiten-)Nahrung an- 
gepaßt. Jacobit18) nennt die am Boden spürenden Zahnarmen, 
wie Ameisenbären (Myrmecophaga), Gürteltiere (Dasypodidae), 
Schuppentiere (Manis), Ameisenbeutler (Myrmecobius) und Schnabel- 
igel (Echidna). Stitz119) erwähnt, Orycteropus, der Termiten auf- 


114) Jacobi (p. 113) übersetzt falsch: „so gut wie allein“ von Dendromus 
verzehrt. 

115) Five Years Observations and Experiments (1896—1901) on 
the Bionomies of South African Insects etc. Trans. Ent. Soc. Lond., 
1902, p. 351. 

116) Die Forstinsekten Mitteleuropas. I, S. 226. 

117) E. Andr&, Species des Hymenopttres d’Europe et d’Alg£rie 
II, 1881, p. 502. 

118) 1. c. p. 112. 

Hg. Ep. 11], 


4100 F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 


sucht, werde auch Ameisen verfolgen. „Nächstdem kommen wohl in 
erster Linie Insektivoren in Betracht, sicher solche, von welchen 
bekannt ist, daß sie Termiten verzehren, wie die ostafrikanischen 
Petrodromus, ferner unter den Carnivoren Mangusten-Arten, unter 
ihnen der ostafrikanische Crossarchus. Von dem südafrikanischen, 
grabenden Erdwolf (Proteles lalandi) ist eine ähnliche Nahrung be- 
kannt, und auch Affen, besonders Paviane, werden Ameisen fressen.“ 

Daß Affen tatsächlich auf Ameisen geradezu erpicht sein können, 
zeigen die Versuche R. J. Pocock’s120), bei welchen ein aus Süd- 
amerika, der Heimat der Mimikry und der Ameisenherrschaft 121), 
stammender Kapuzineraffe (Cebus sp.) eine Formica rufa nach der 
anderen, soviel ihm immer gereicht wurden, mit Behagen fraß. 

Schließlich hat sich sogar das höchststehende Säugetier, der 
Mensch, der Ameisen als Nahrung bemächtigt. Nach den Berichten 
von Reisenden werden Ameisen von Naturvölkern vielfach gegessen. 
Humboldt, Rengger, Schomburgk u. a. berichten solches 
von Indianern Südamerikas, Burchell von den Buschmännern Süd- 
afrikas, Mjöberg von Eingeborenen Australiens u.s.f. (Einzel- 
heiten und Literatur bei Stitz, l.c. p. 72—73). 

Ich glaube mit der im Voranstehenden gegebenen reichen Tat- 
sachenfülle den Nachweis, daß die Ameisen keiner insektenfressen- 
den Tiergruppe gegenüber effektiv geschützt sind, daß mithin auch 
ameisenähnliche Tiere keinen Schutz genießen können, in einer jeden 
Unbefangenen völlig überzeugenden Weise erbracht zu haben. Die 
metöke Myrmekoidie im Sinne einer durch Selektion herausgebil- 
deten Anpassung stellt sich somit als ein bedauerlicher Irrtum der 
Forschung dar, der in vollem Umfange bedingungslos aufgegeben . 
werden muß. — 

Man könnte nach diesen negativen Darlegungen mit Recht die 
Frage aufwerfen: Wie nun soll sich die exakte Biologie 
den Erscheinungen der metöken Myrmekoidie gegen- 
über verhalten? 

‘Ich denke, die Antwort ist einfach: unbefangen. 

Die Ameisengestalt ist eine der typischen Arthropodengestalten. 
Mäßig langgestreckt, um die Körpermitte eingeschnürt, Kopf und 
Abdomen ziemlich groß und von ziemlich breit gerundeter Form, 
Beine und Fühler mäßig lang -—— das ist ihr wesentliches Charak- 
teristikum. Eine Kombination weniger, alltäglicher Eigenschaften 
des Arthropodenkörpers. 

Angesichts der Tatsache nun, daß in der ungeheuren Fülle von 
möglichen Gestaltungseinzelheiten, die die Grundzüge des Arthro- 
podenkörpers zulassen, in zahlreichen, einander fernstehenden Grup- 

120) Proc.®Zool.+Soc. Lond. 1911, p. 849. 


121) In Brasilien sollen ja nach einem geflügelten Wort „nicht die Menschen, 
sondern die Ameisen Herren des Landes sein“ (Forel, Stitz.) 








F. Heikertinger, Die metöke Myrmekoidie. 4101 


pen Ähnlichkeiten auftreten, die wir nicht anders als „zufällig“ be- 
zeichnen können und tatsächlich so bezeichnen, angesichts dieser 
unleugbaren Tatsache kann die Tatsache, daß unter Hunderttausen- 
den von Kombinationen und Abstufungen der wenigen Merkmale eine 
kleine Anzahl zufällig jenem Kombinationsbilde ähnelt, das uns von 
den Ameisen her so gut bekannt ist, nicht das mindeste Verwunder- 
liche an sich haben. Es wäre vielmehr im Gegenteile verwunderlich 
und den Regeln mathematischer Wahrscheinlichkeit zuwiderlaufend, 
wenn gerade die einfache Kombination von fünf, sechs Merkmalen, 
die den Ameisentyp charakterisiert, unter den vielen Hunderttausen- 
den von Kombinationen nicht mehr wiederkehren sollte. Man führe 
. mathematisch die Wahrscheinlichkeitsrechnung durch und man wird 
mir recht geben müssen. Es ist kein Grund zum Staunen gegeben, 
von dieser Seite her steht kein Problem. 

Man scheut das Wort „Zufall“ in der Biologie. Mit Unrecht. 
Es gibt Fälle, in denen es für den Unbefangenen von kristallklarer 
Bedeutung ist. Ein solcher Fall liegt hier vor. Der Einwand von der 
gesetzmäßigen Bedingtheit alles Naturgeschehens ist hier nicht an- 
gebracht. Jeder Forscher weiß ja, daß „Zufall“ ein relativer Begriff 
ist. Innerhalb unseres ökologisch-schutzmittelhypo- 
thetischen Problems fehlt offenkundig der kausale Zusammen- 
hang zwischen den Ähnlichkeiten, in phylaktisch-ökologi- 
scher Hinsicht liegt daher Beziehungslosigkeit, d. h. Zu- 
fall, vor. Entwicklungsmechanisch, morphologisch hingegen ist 
jede einzelne Ähnlichkeit zweifellos das Ergebnis gesetzmäßiger Be- 
dingtheiten, also kein ‚‚Zufall“. Die Experimentalzoologie müßte sich 
dem Studium der Werdebedingungen jeder einzelnen myrmekoiden 
Form widmen, müßte die festgestellten Werdebedingungen aller dieser 
Formen schließlich kritisch miteinander vergleichen und ermitteln, 
ob Ähnlichkeit der Gestalt mit Ähnlichkeit der Werdebedingungen 
in nachweislichem Kausalnexus steht oder ob es sich um Wachstums- 
erscheinungen handelt, welche, unbekannten Anstößen entsprungen. 
unabhängig von den Umweltfaktoren auftreten und welche Kombi- 
nationen von Merkmalen darstellen, die einander „zufällig* — im 
vollen Wortsinne — ähnlich sein können, und die, nach mathema- 
tischer Wahrscheinlichkeit, in einer bestimmten mutmaßlichen An- 
zahl auch als wirkliche Ähnlichkeiten in der Natur verkörpert sein 
werden. 

Das ist der Weg, auf dem die Biologie exakt das Problem der 
Ähnlichkeiten anzufassen vermag. Der einzige. Damit ist die Stel- 
lung der exakten Biologie zum Myrmekoidieproblem gekennzeichnet: 
Experimentell forschend, im übrigen kritisch zuwartend, hypothesen- 
los, dem bisher Gebotenen gegenüber skeptisch. — 

Man mag mir den Vorwurf machen, ich habe den an sich wenig 
belangreichen Fall der Ameisenmimikry hier zu eingehend behandelt. 


ENTER, TERN? 1 
2 ‘ er STE De 


409 F. Heikertinger, Die metöke Myrmekotdie. 


Wiewohl ich nun darauf hinweisen könnte, daß die Ameisenmimikry 
heute immer noch einer der als bestfundiert geltenden Glanzpunkte 
der Hypothese ist 122) und wiewohl es nicht zuviel sein kann, wenn 
zur endgültigen Widerlegung eines Irrtums ein Hundertstel von dem 
geschrieben wird, was über den Irrtum selbst geschrieben wurde 
und noch geschrieben worden wäre — so will ich dem Einwande doch 
recht geben. 

Gewiß, es ist zuviel der Widerlegung. Allein ich habe alle diese 
eingehenden Erörterungen nicht geschrieben um des Gegenstandes 
willen, dessen Belanglosigkeit kaum von jemandem geringer geschätzt 
werden könnte, als eben von mir — ich wollte gewiß nicht den Spatzen 
der Ameisenmimikry gegenüber unnötiges wissenschaftliches Schwer- 
geschütz aufführen, ich wollte lediglich ein bis in Einzelheiten aus- 
gearbeitetes Bild der einzigen Methode geben, mit der meines Fr- 
achtens in Problemen solcher Art in unvoreingenommener, zahlen- 
mäßig-exakter Tatsachenforschung vorgegangen werden muß, ja allein 
vorgegangen werden kann, soferne die moderne Ökologie dauernd 
auf den Rang einer nach wissenschaftlichen Methoden arbeitenden 
Disziplin Anspruch erhebt. 


122) Man vergleiche die ausführliche Behandlung der Ameisenmimikry bei 
Jacobi, der in der Einleitung (S. VI) schreibt: „Bei der Stoffeinteilung hielt ich 
es für angebracht... der Ameisennachäffung reichlichen Raum zu gönnen, weil sie 
mir im ganzen ee und der unmittelbaren Nachprüfung zugänglicher scheint 
als die blendende, aber oft auf lockeren Stützen ruhende Mimikry der Lepidopteren.“ 
Und ein anderer Verfechter der Mimikryhypothese, ©. Prochnow (Zeitschr. f. 
wissensch. Insektenbiologie IX, 1913, S. 65) schreibt unabhängig von ihm: „Auf 
dem Gebiete der eigentlichen Mimikry ...sind die Neuentdeckungen natürlich sehr 
zahlreich. Das Verfahren... ist ja so sehr bequem... Man nimmt sich seine 
Schmetterlingskästen vor und sucht bunte, leidlich gut übereinstimmende Falter ver- 
schiedener Familien heraus und schon hat man der Wissenschaft einen Dienst ge- 
leistet... Einen rühmlichen Gegensatz zu diesen... Mimikry-Arbeiten von Poul- 
ton, Dixey u.a. bildet eine kritische Arbeit von Vosseler über die Ameisen- 
ähnlichkeit der... Myrmecophana.... Heute kann man mit gutem Rechte nur 
die Mimikry bewehrter Hymenopteren durch Käfer, Schmetterlinge, Fliegen und 
Örthopteren — namentlich soweit eine ausgeprägte Formmimikry vorliegt — und 
die Übereinstimmung der Ameisengäste mit ihren Wirten als Fälle von Mimikry 
gelten lassen.“ 

Über die Wespennachahmung durch Käfer und Schmetterlinge und über die 
Bienennachahmung durch die Schlammfliege habe ich an anderen Orten gesprochen 
(Die morphologisch-analytische Methode in der Kritik der Mimikry- 
hypothese, dargelegt an der Wespenmimikry [Sphekoidie] der Bock- 
käfer. Zoolog. Jahrb. v. Spengel [in Druck). — Die Wespenmimikry 
der Lepidopteren [zugleich eine Darstellung des Mimikryproblems im allgemeinen]. 
Verhandl. Zool.-botan. Ges. Wien, 68. Bd., 8. (164)—(194), 1918. — Die 
Bienenmimikry von Eristalis. Eine kritische Untersuchung. Zeitschr. f. 
wissensch. Insektenbiologie. XIV, 1918, S. 1-5, 73—79.) 


TE 


N nt ee IE A Br nn 3 
RE 


L. Kathariner, Das Vitamin ein Mikroorganismus ? 103 


Referate. 


Das Vitamin ein Mikroorganismus? 


Bis in die neueste Zeit glaubte man, daß für die Unterhaltung des Stoff- 
wechsels, also als Energiequelle, die Kohlehydrate, die Fette und die Eiweißkörper 
der Nahrung ausreichend wären, bis man in steigendem Maße darauf hingewiesen 
wurde, daß noch etwas weiteres unentbehrlich ist, so daß bei seinem Fehlen in der 
Nahrung der Organismus mehr und mehr entkräftet wird und schließlich zugrunde 
geht. Entsprechende Krankheiten sind schon lange bekannt (Skorbut der Seefahrer 
und der Gefangenen, Pellagra der Maisbauern in Italien und die Beriberikrankheit 
der Seeleute im indischen Ozean). Man wußte, daß die durch die Kost bedingten 
Krankheiten sicher durch einen Nahrungswechsel, so beim Skorbut durch frisches 
Gemüse oder Obst und Fleisch, statt der bisher genommenen Konserven und Rauch- 
oder Salzfleisch geheilt werden können. Der fehlende rätselhafte Körper erhielt 
wegen seiner Bedeutung für das Leben den Namen Vitamin (Eykman, Gryns, 
Funk). Die durch das Fehlen_des Vitamins in der Nahrung bedingten Krankheits- 
formen werden als Avitaminosen zusammengefaßt. Man fand, daß das Vitamin in ge- 
wissen Teilen der Nahrung vorhanden ist, so in der Aleuronschicht der Getreide-, Reis- 
und Maiskörner, in frischem Fleisch, Gemüse u. dgl. Wurde das Mehl nicht ganz 
kleiefrei ausgebeutelt und der Reis nicht in der Form verwendet, wie er in 
den Handel kommt, so blieb auch die Beriberikrankheit aus; besonders reich- 
lich ist die Verbreitung der Beriberikrankheit im indischen Archipel. Die 
höheren Bevölkerungsschichten, welche das Reismehl aus „poliertem“ Reis gewinnen, 
erkranken, während die ärmere Bevölkerung verschont bleibt, für welche der Reis 
samt der Kleieschicht vermahlen wird. So wie man weiß, wo das Vitamin zu suchen 
ist, ist es auch schon längere Zeit bekannt, daß es sehr leicht wirkungslos gemacht, 
etwa durch Erhitzen zerstört wird. Man glaubte bisher es mit einer labilen äußerst 
komplexen chemischen Verbindung zu tun zu haben. 

In der Sitzung der Pariser Akademie der Wissenschaften (10. Juni 1918) 
wurde mitgeteilt, daß es gelungen sei, einen im Gewebe des Tieres und der Pflanze 
weitverbreiteten Mikroorganismus, ein symbiontisches Bakterium, als das „Vita- 
min“ nachzuweisen '’). Das Bakterium wurde ohne weiteres vom Körper aufgenommen. 
Durch experimentelle Avitaminose hervorgerufene Krankheitserscheinungen bildeten 
sich nach Einverleibung der Bakterien äußerst rasch zurück, und der kranke Orga- 
nismus genas in kurzem völlig. Die mit der weißen Maus und der Taube ange- 
stellten Versuche verliefen folgendermaßen: Die Futterkörner waren geschält und 
sterilisiert, während die Kontrolltiere nicht sterilisiertes Futter bekamen. Alle be- 
reits bekannten Symptome, wie: Appetitlosigkeit, Abmagerung, Gleichgewichts- 
störungen, Lähmungen etc. verschwanden bei normaler Ernährung in einigen 
Tagen, während bei längerer Versuchsdauer die Tiere unter Ernährungsstörung an 
Schwäche eingingen. Wenn das Tier wieder normales Futter bekam, setzte sich die 
Abmagerung noch einige Tage weiter fort, aber unter dem Einfluß vitaminhaltiger 
Nahrung bildeten sich die Krankheitssymptome zurück, um schließlich ganz zu ver- 
schwinden. Bei einem Tier, das schon stark die Symptome einer Avitaminose zeigte, 
trat nach Injektion einer Kultur der Symbionten unter die Haut oder in die Leibes- 
höhle schon nach 1—2 Tagen eine ganz überraschende Besserung ein. Die statischen 
und taktischen Störungen verschwanden und bald war das vorige Körpergewicht 


1) Vitamines et symbiotes, Note de M. M. Henri Bierry et Paul Portier, pre- 
sentee par M. Y. Selage ©.R. Tome 166, Nr. 23, 1918. 


4104 L. Kathariner, Das Vitamin ein Mikroorganismus? 


wieder erreicht. Am auffallendsten war dies bei der Taube, die schon nach einigen 
Stunden wieder normal laufen und fliegen konnte. Mehrmals wiederholte Injek- 
tionen von lcem Kultur hätten stets die gleich guten Resultate gehabt; man könne 
also durch Einverleiben von Symbionten die Avitaminosen heilen. Die zu Beginn 
der Versuche aufgestellte Hypothese hätte sich im weiteren Verlauf vollauf bestätigt. 
Der einzige Einwand, den man, wie es scheine, machen könnte, sei der, daß man 
sagte, dıe eingeführten Bakterien wären als lebende Organismen selbst Vitamine und 
man hätte mit jedem andern selbst nicht aktiven Bakterium das gleich gute 
Resultat erzielen können. In der Tat enthielten ja manche Mikroorganismen, wie 
der Hefepilz, Vitamine; die Darmbakterien aber schienen keine Vitamine abzugeben, 
da bei den an Avitaminosen eingegangenen Tieren eine reiche Darmflora gefunden 
wurde. | 

Darauf äußerte sich Delage”folgendermaßen: Die Voraussetzung der Sym- 
bionten im Körperplasma stände mit den’ schon jahrelang bewährten Leitsätzen 
Pasteur’s in schroffem Widerspruch. Es sei ja eine alltägliche Erscheinung, daß 
Bakterien die Darmwand durchsetzten und sich im Körper verbreiteten. Die hohe 
Thermostabilität der Symbionten nach vielen Untersuchungen etwa 120°C. hätte 
man erst nach Aufstellung der Hypothese hervorgehoben. Die neue Lehre wäre so 
paradox, daß es erst noch zahlreicher genau unter denselben Bedingungen ange- 
stellter Versuche bedürfte, bis sie in der Wissenschaft festen Fuß fassen könnte. 
Wenn den Symbionten in der Tat alle den Vitaminen eigenen Eigenschaften zu- 
kämen, müßte man sie im Körpergewebe eines jeden Organismus finden. Die Taube 
und die weiße Maus würden ja von den Folgen einer Avitaminose sofort geheilt, wenn 
eine sehr kleine Menge Symbionten einverleibt würde. Wenn alles richtig wäre, 
müßten die Symbionten ständig durch die Aufnahme von Nahrung erneuert werden, 
da sie ja allmählich aufhörten wirksam zu sein. Die injizierten Symbionten bestanden 
in letzter Linie aus den Geweben der aufgenommenen Nahrungskörper; da sie nun 
ihre Wirksamkeit allmählich verlören und ständig bei der Nahrungsaufnahme er- 
neuert würden, müßten sie sich offenbar in der aufgenommenen Nahrung ständig 
vermehren: Dieser Punkt müßte nun weiter aufgeklärt werden. Er wollte nur darauf 
hinweisen, ohne damit gegen die sehr interessanten Ausführungen Einspruch zu er- 
heben. Dr. phil. et med. L. Kathariner, Freiburg (Schweiz). 





Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der Universitäts- 
Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen. 








Biologisches Zentralblatt 


Begründet von J. Rosenthal 


Unter Mitwirkung von 


Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig 


Professor der Botanik Professor der Zoologie 
in München 


herausgegeben von 


Dr. EEE Weinland 


Professor der Physiologie in Erlangen 


ee von Be Thieme in er 





39. Band Re _ März 1919. DENE 3 


ausgegeben am 31. März 1919 











Der ährliche  Abonnementspreis a2 Hefte) beträgt 20 Mark. 
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten 


Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an 

Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, 

vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, 

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physiolog. Institut, 
einsenden zu wollen. 








Inhalt: €. Correns, Die Absterbeordnung der beiden Geschlechter einer getrenntgeschlechtigen 
Doldenpflanze (Trinia glaura). S. 105. 
K v. Frisch, Zur Streittrage naclı dem Farbensinn der Bienen. 8. 122. ° 
W. J. Schmidt, Vollzieht sich Ballung und Expansion des Pigmentes in den Melanophoren 


von Rana nach Art amöboider Bewegungen oder durch intrazelulläre Körnehenströmung ? 
S. 140. 








Die Absterbeordnung der beiden Geschlechter einer 
getrenntgeschlechtigen Doldenpflanze (Trinia glauca). 


Von €. Correns, Berlin-Dahlem. 
(Mit 3 Kurven im Text.) 


Seit den Untersuchungen Struycks (1740) ist bekannt, daß 
beim Menschen die Sterblichkeit des männlichen Geschlechtes ım 
allgemeinen größer ist, als die des weiblichen, so daß der Knaben- 
überschuß, der bei der Geburt noch besteht, allmählich schwindet 
und sogar einem Überschuß an Mädchen Platz macht!). Nur 
die Zeiträume vom 9. bis 15. und vom 27. bis 35. Lebensjahre 
machen eine Ausnahme; ın ihnen ist, a in den meisten 
Ländern, die Sterbenswahrscheinlichkeit des weiblichen Geschlechtes 
etwas größer als die des männlichen. 


)ı Man vergleiche dazu z. B. bei H. Westergaard (1901) das Kapitel über 
die Anfänge der Mortalitäts- und Morbiditätsstatistik, speziell S. 47 u. f. und das 
Kapitel: Alter, Geschlecht und Zivilstand, S. 206 u. f. oder E. Czuber, 1910, 
Bd.-Hl, S:-121. 


39. Band fe) 





Der hier mögliche Maßstab ist wenig geeignet, den Unterschied 
beider Geschlechter in der Kurve der Überlebenden oder in der 
Kurve der Sterbenswahrscheinlichkeit zum Ausdruck zu bringen 
(vgl. dazu Czuber, II. S. 121). In der folgenden Figur 1 ist 
versuchsweise eine andere Darstellungsweise gewählt, um das 
wechselnde Verhalten der beiden Geschlechter zu zeigen. Die 
Sterbenswahrscheinlichkeit des weiblichen Geschlechtes ist gleich 


+351 N 

















— a —— dp — gg pn 
10 20 30 40 50 60 7o 80 g90 Z00 
JSTRFEe 


Fig. 1. Kurve der Sterbenswahrscheinlichkeit des männlichen Geschlechtes beim 
Menschen, die des weiblichen gleich 100 gesetzt. Näheres im Text. 


100 gesetzt, und die Sterbenswahrscheinlichkeit des männlichen für 
die einzelnen Lebensjahre nach der deutschen Sterbetafel (Ozuber, 
II, S. 444—447) berechnet. Die Differenzen von 100 sind, je nach- 
dem sie positiv oder negativ ausfielen, als Ordinaten über oder 


2) Die einzige graphische Darstellung, die ich kenne, rührt von Longstaff 
her und ist bei Havelock Ellis (1909, S. 511) reproduziert. Er benützte die - 
Bevölkerung Englands und Wales 1870—18S0 und zwar die Sterbeziffern auf 1000 
Lebende beider Geschlechter. Die Kurve des weiblichen Geschlechtes zeigt nur ein 
abnehmendes Zurückbleiben hinter der des männlichen Geschlechtes bis zum 
2. Lebensjahr und ein zunehmendes Zurückbleiben nach dem 35., und nichts von 
dem wiederholten Übereinandergreifen der Kurven. 








Ne ARE RETR T 2 AHEAD ara ale BEE TN n u N 2 ed 
E DE EV EU KRETA A SEK 1 a AN ) » ; u 
u BR r ’ y \ bh; } e 

Ale u BER t 


ERO, Correns, Die Absterbeordnung der beiden Geschlechter ete. 107 


unter der Abszissenachse aufgetragen, und die Endpunkte dann 
verbunden worden. | | | 

Die Kurve zeigt sehr schön die zwei Einsattlungen unter die 
Abszissenachse, hervorgerufen durch die größere Sterblichkeit des 
weiblichen Geschlechtes zwischen 9 und 15 und 27 und 35 Jahren, 
mit den Minima bei 14 und 30 Jahren, und die drei Berge mit 
den Maxima bei 0, 21 und 47 Jahren, bedingt durch die größere 
Sterblichkeit des männlichen Geschlechtes, mit auffällig regel- 
mäßıgem Ansteigen und Abfallen. 

Die Sterbenswahrscheinlichkeit des weiblichen Geschlechtes, die 
bei dieser Darstellung eine gerade Linie ist und mit der Abszissen- 
achse zusammenfällt, folgt in Wirklichkeit einer Kurve, die zuerst 
sehr steil, dann allmählich fällt, bei 13 Jahren ihr Minimum hat 
und dann wieder, erst sehr allmählich, später immer steiler ansteigt. 


Vom Verständnis der Kurve der Fig. 1 sind wir wohl noch 
weit entfernt. Es ist sicher, daß an ihrem Verlauf nur zum Teil 
die ungleich große äußere Lebensgefährdung der beiden Geschlechter 
schuld ist, sondern daß es sich auch, und wohl überwiegend, um 
innere, konstitutionelle Ursachen handelt. 


Ich habe mir erlaubt, soweit auf das Verhalten des Menschen - 
einzugehen, weil ich es später mit dem Verhalten unserer Ver- 
suchspflanze vergleichen möchte. Andere dazu brauchbare Angaben 
kenne ich nicht. Bei manchen Tieren (Rädertieren, Dinophilus 
u.s. w.) ist die Lebensdauer der Männchen und Weibchen sehr 
auffällig verschieden (Korschelt, 1917, S. 123 u. f., bes. S. 128). 
Zweifellos wird sich auch sonst im Tierreich eine ungleiche Sterbens- 
wahrscheinlichkeit der beiden Geschlechter finden; Genaueres 
darüber ist mir aber nicht bekannt. Auch aus dem Pflanzenreich 
.weiß ich keine eingehenden Untersuchungen anzuführen, sondern 
nur einige mehr gelegentlich gemachte Beobachtungen. Manche 
Angabe mag mir freilich unbekannt geblieben sein. 


Noch die meiste Literatur liegt für den Hanf vor. Fr. 
Haberlandt (1877) hält es für sehr wahrscheinlich, daß beı ıhm 
die Sterblichkeit des männlichen Geschlechtes größer sei, als die 
‘des weiblichen, und möchte so das bekannte zahlenmäßige Über- 
wiegen der Hanfweibchen erklären. Er stützt sich dabei auf das 
Ergebnis folgenden Versuches. Hanfkörner wurden am 30. Mai 
zwischen fenchte Flanellappen gebracht, und die Keimlinge, sobald 
sich das Würzelchen zeigte, vom 1. bis 4. Juni jeden Tag für sich 
getrennt in ein Beet ausgelegt. Leider wurde der Versuch abge- 
brochen, als das 1000ste Korn gekeimt hatte. Da die Arbeit an 
einer schwer zugänglichen Stelle erschienen ıst, darf ich wohl die 
Tabelle, ın der Fr. Haberlandt das Ergebnis zusammengefaßt 
hat, hier wiedergeben; sie ıst um drei Spalten vermehrt, die Be- 

ee 





EN IELR ir ELTERN Yo PRREINSENT on Yab IE x Er Ne E 
108 C. Correns, Die Absterbeordnung der beiden Geschlechter etc. 


rechnungen enthalten, die zur Beurteilung der Sicherheit der Er- 
gebnisse dienen sollen" 

Man wird danach den Beweis für die größere Sterblichkeit der 
Hanfmännchen nicht für sicher echt. ansehen. Zunächst ist 
nicht ausgeschlossen, daß die Männchen rascher keimen als die 
Weibehen. In diesem Fall würde der Versuch bei gleicher, von 
Tag zu Tag zunehmender Sterblichkeit beider Geschlechter das- 
selbe Resultat ergeben. Außerdem sind die Zahlen zu klein, wie 
schon Sprecher (1913, S. 281 u. f.) auf etwas andere Weise aus- 
gerechnet hat. Zieht man alle vier Tage zusammen, so erhält man 
395 Weibchen und 387, also 49,49%, Männchen. Legt man diesen 


> 






































Tabelle 1. 
Das Aus- | Zahl, | Prozent- an gen Differenz Dr 
lesen der | der | Davon ent- | satz der ae der Pro- Ri 
> : | ö bliebenen net für 
Hanf- |ausge-' wickelten | zugrunde zentzahl 
keimlinge |legten sich gegange- Keimlingen vom den 2m 
folete |Keim 5 ne n Keim- entwickelten "Mittelwert Mittel- 
re ee Ir sich zu Wen, wert 
am linge; jr. > Je “linge Zee ll derag 19,5°] 
IS ER RR Niro 2 SEN »> lo 
1. Juni || 595. | 273 | 243 | 1327 % |\529 \azı ! + 34 |+ 20 |+ 61 
2. Juni 320 | 102:1.130%1 27,622 1148:9 1, D@K. 9,0 Je 3,8 2, 
3. Juni 68 || 11 18.1638 % |. 37,9.\.62,2..| —11,6,.)+:93) 4279 
4 Juni 17 1 4 | 705 % || 200 | 800 | — 295 |#22,4 | #672 
zusammen | 1000 || 387 | 395 || 218 % \ 49,49 | 50,51 



































Mittelwert zugrunde und berechnet die mittleren Fehler der vier 
Einzelversuche, so ist, wie die letzten Spalten der Tabelle zeigen, 
ihr Dreifaches stets größer, etwa doppelt so groß, als die beobach- 
teten Abweichungen vom Mittelwert, die + 3,4 bis — 29,5 %, be- 
tragen. Die Abweichungen sind also ganz unsicher. Nur das 
gleichmäßige Ansteigen der Prozentzahlen für die Weibchen 
vom ersten bis vierten Versuch spricht dafür, daß tatsächlich eine 
Gesetzmäßigkeit zugrunde liegt. Sie kann aber, wie schon be- 
merkt, ebensognt darin liegen, daß die Hanfmännchen rascher 
keimen, wie darin, daß sie leichter absterben, 


Dasselbe gilt auch für die entsprechende Angabe Heyer’'s 
(S. 139 u. £.; vgl. die rechnerische Nachprüfung Sprecher’s, 
1913, S. 283). Aber auch hier haben wir vom 1. bis zum 4. Tage 
der Keimung — der 5. und der 6. Tag umfassen gar zu kleine 
Zahlen — eine Abnahme der ‚Lebensfähigkeit der Keimlinge von 
90 auf 32%, parallel gehend einer Zunahme der Weibchen von 
106,4 auf 150%. — Auch eine Versuchsreihe von Muth (1906, 
S. 116), ebenfails mit viel zu kleinen Zahlen, gab doch wieder um 
so mehr Weibchen, je schlechter die Früchtchen gekeimt hatten. 








C. Correns, Die Absterbeordnung der beiden Geschlechter ete. 109 


Der gleichsinnige Ausfall der Versuche spricht, trotz der im 
Einzelnen zu kleinen Zahlen, dafür, daß irgendeine Gesetzmäßig- 
keit zugrunde liegt. Dagegen, daß die männlichen Frücht- 
chen rascher keimen, würden zwei weitere Versuche Heyer’s 
(S. 139) sprechen, freilich wieder nur insofern, als in beiden 
die Prozentzahl der Weibchen um so mehr sank, je später die 
Früchtchen keimten; die Zahlen selbst sind zu klein, wenigstens 
in der einen Versuchsreihe. Etwa 36 Stunden nach der Aussaat 
waren die kräftigsten und schwächeren Keimlinge und die unge- 
keimten Körner getrennt worden. Fisch (1837, S. 141) hat aber 
das umgekehrte Resultat erhalten, freilich an sehr kleinem Material, 
und die Versuche Sprecher’s (S. 287) fielen im selben Sinn wie 
jene Fischs aus, wenn sie auch nicht streng beweisend sind. 


Für Melandrium gab Strasburger (1900, S. 759) an, daß die 
Männchen im Winter nachweislich stärker leiden als die Weib- 
chen, und erklärte so damals das starke Überwiegen der letzteren 
in einer Versuchsreihe, während er später (1910, $. 452) eine 
„Schwächung der männlichen Tendenz der (männchenbestimmenden) 
Pollenkörner als Ganzes genommen“ dafür verantwortlich machte. 
Weitere Angaben fehlen, so daß sich gar nicht beurteilen läßt, ob 
die Zahlen unseren heutigen Anforderungen genügt hätten. Eigene, 
zu andern Zwecken angestellte Versuche ergaben nichts Sicheres 
über eine solche Benachteiligung der Männchen. 

Eine größere Anzahl von Versuchspflanzen — Bastarde zwischen 
Melandrium album und rubrum und die reinen Stammarten —, die 
einer Reihe von 18 Einzelversuchen angehörten, wurden im ersten 
und zweiten Jahr (1915 und 1916) in bestimmter Reihenfolge auf 
ihr Geschlecht untersucht, und im dritten (1917) die bis dahin ab- 
gestorbenen aufgenommen. Es waren mehr als die Hälfte, etwa 
70%, tot. Die kleine Tabelle 2 gibt das Resultat für die beiden 
(seschlechter. 



































Tabelle 2. 
samt - ? ; 
San | ® 9in% d an | 6 | m 
insgesamt | 3484 | 2176 | 623 1318. | 37,7 | 485 | +0,821 
davon tot || 2452 1463 -| 59,7 || 988 40,3 49,0 +0,99 -: 


Die Differenz beträgt 2,6 %,, und ıhr mittlerer Fehler 
(+V 0,82? 0,992) ist +1,29 %,; 
er ist also genau halb so groß, und die Differenz selbst nicht sicher 
gestellt. 








110 ©. Correns, Die Absterbeordnung der beiden Geschlechter ete.. 


Eine zweite, viel kleinere Reihe von 10 Versuchen mit Sämlingen 
des Jahres 1916, ‘ebenfalls nach dem Uberwintern 1917 aufge- 
nommen, gab eine noch größere Sterblichkeit: 















































Tabelle 3. 
lo mid |. m 
== \ | 1 l 
insgesamt 677 | 468 69,1 || .209 30,9 46,2 1,76 
davon tot, 589 | 395 67,1. | 194 BrA 47,0 1,93 


Die Differenz ist 2,0%, also ähnlich wie bei der vorigen Ver- 
suchsreihe; ihr mittlerer Fehler 2,8%, ıst aber größer, wie sie selbst. 
Dafür, daß bei Melandrium die Männchen den Winter schlechter 
überstehen als die Weibchen, läßt sich also nur anführen, daß beide 
Versuchsreihen ein gleichsinniges Ergebnis aufweisen, durch 
das Verhalten der einzelnen Reihen selbst ist es nicht sichergestellt. 


In all diesen Fällen handelt es sich eigentlich. nur um das End- 
ergebnis, ob das eine oder andere Geschlecht eine größere Sterb- 
lichkeit besitzt, nicht um die Absterbeordnung, die zeigen würde, 
wie sich das Absterben über die ganze Entwicklungszeit verteilt, 
und ob es beide Geschlechter stets im gleichen Verhältnis trifft, 
oder ob die beiden Geschlechter in einem veränderlichen Verhältnis 
zur Totenliste beitragen. 

Bei einjährigen oder überhaupt nur einmal blühenden Gewächsen 
läßt sich die Sterbenswahrscheinlichkeit eines Geschlechtes über- 
haupt nicht, wie beim Menschen, während eines fast das ganze 
Leben umfassenden Zeitabschnittes direkt feststellen, weil sich das 
Geschlecht erst sehr spät, wenn die Blüten gebildet werden, fest- 
stellen läßt — wenigstens einstweilen. Günstiger liegen die Ver- 
hältnisse bei ausdauernden Gewächsen, weil der unbestimmbare 
Abschnitt der Entwicklung gegenüber dem bestimmbaren zurück- 
tritt, ihm freilich physiologisch auch nicht gleichwertig ıst. Aber 
auch hier ist die Untersuchung aus technischen Gründen, auf die 
ich jetzt nicht eingehen will, nicht so einfach, wie sie auf den ersten 
Blick vielleicht erscheint. Ich habe einige Versuchsreihen begonnen. 
Hier möchte ich einstweilen nur über das Verhalten der einmal 
blühenden, zweijährigen?) Doldenpflanze Trinia glauca berichten. 


3) Briquet (Schinz und Keller, 1900, S. 358) bezeichnet Zrinia glawca 
als einjährige Winterpflanze «3 und als ausdauernd 3; meine Sippe ist streng zwei- 
jährig © ©. 





rn > 


a 








Kr 


Ferne BEL SEEN sa Fa a DB Ban aa ET Va a 


C. Correns, Die Absterbeordnung der beiden Geschlechter etc. 411 


Die Versuche hatten eigentlich den Zweck, das erbliche Ver- 
halten der zwittrigen Individuen zu verfolgen, die bei dieser sonst 
getrenntgeschlechtigen Art nach den Angaben in der Literatur vor- 
kommen (A. Schulz, 1890, S. 90, 189; Henslow, 1888, S. 227). 
Dabei stellte sich die merkwürdig geringere Widerstandsfähigkeit 
der Männchen kurz vor und während der Blütezeit heraus. Sie 
soll im folgenden nach der letzten, umfangreichsten Versuchsreihe 
beschrieben werden *). 


Von der Ernte des Jahres 1916 wurden noch im gleichen 
Jahre, am 24. August und 5.. September, acht Aussaaten als Versuch 
5 bis 12 gemacht, jede von einem andern Weibchen. (Durch die 
frühe Aussaat sollte versucht werden, die Entwicklungszeit der 
sonst streng zweijährigen Pflanze abzukürzen, was aber nicht ge- 
lang; obschon die Keimung schon nach vierzehn Tagen begann, 
kamen die Sämlinge ausnahmslos erst 1918 zur Blüte, wie es 
bei der Aussaat im Frühjahr 1917 auch geschehen wäre.) Die 
Saatschalen wurden den Herbst und Winter über ım Kalthaus ge- 
halten, und die Keimlinge von Zeit zu Zeit in Kisten pikiert — 
im ganzen nahezu 5500 — und weiterhin ebenfalls im Kalthaus 
gehalten. Viele gingen dabei ein, so daß Anfang Mai 1917 nur 
noch 3319 ins Freie ausgepflanzt werden konnten, auf Beete von 
1 m Breite in Querreihen zu 5 und 4 ım Verband, mit Abständen 
der Reihen von 20 cm, und die Pflanzen einer Reihe ebenfalls 
20 cm voneinander entfernt. Solche Reihen gab es 736. Von 
diesen Sämlingen, die beim Auspflanzen sehr schlecht Ballen ge- 
halten hatten, starben im Laufe eines Jahres noch nahezu tausend 
ab, so daß ich schließlich bei der ersten Aufnahme am 3. Mai 1918 
nur noch 2367 untersuchen konnte. 

Ziemlich viel Pflanzen zeigten Zwangsdrehungen und andere 
Anomalıen, waren aber ohne weiteres als männlich oder weiblich 
zu bestimmen. Männlich und dazu etwas zwittrig waren nur vier (je 
eine bei Versuch 5 und 7, und zwei bei Versuch 6); sie sind im 
folgenden unter die Männchen gerechnet. 

Die Beete wurden viermal revidiert: am 3. Mai, vom 13. bis 
15. Mai, am 28. Mai und am 16. Juni. Bei dieser letzten Revision 
waren die Pflanzen schon stark ineinander gewachsen. Infolge- 
dessen wurde versehentlich das Verhalten von 17, die bei der vor- 
hergehenden Revision noch ganz oder doch teilweis lebendig ge- 


. funden worden waren, nicht bestimmt. Die vierte Aufnahme umfaßt 


4) Das Saatgut verdanke ich der Güte des Herrn Professor Geisenheyner 
in Kreuznach; es stammt von einer wildgewachsenen weiblichen Pflanze. Was ich 
aus botanischen Gärten des In- und Auslandes als „Trinia“ erhalten habe, war, 
mit Ausnahme einer Probe aus dem botanischen Garten in Bremen, alles Andere, 
nur keine Trinia. 





VE RR NIE Ba ORT N RN RT TANZ 
N Si ’ uk EM } 
e R de a N 


142 ©. Correns, Die Absterbeordnung der beiden Geschlechter ete. 


deshalb nur 2350 statt 2367 Pflanzen. 91 waren überhaupt nicht 
zur Blüte gekommen. 


Schon bei der ersten Aufnahme zu Beginn der Blütezeit zeigte 
sich wieder das Absterben vorwiegend der Männchen, wie ich es 
1913 in Münster i. W. und 1915 in Dahlem beobachtet hatte. Es 
ist im wesentlichen ein Abfaulen, das am Wurzelkopf, zwischen 
den grundständigen Blättern, beginnt, die rübenförmige Wurzel 
selbst ergreift und das Vertrocknen des blühenden Haupttriebes 
und der Seitentriebe zur Folge hat, die zwischen den grundstän- 
digen Blättern entspringen. Zuweilen bleibt ein Teil der Seiten- 
sprosse am Leben; gewöhnlich kann man aber bald die ganze ver- 


welkende oder schon dürre Pflanze ohne Kraftanwendung vom 
Boden abheben. 


Daß es sich um eine Infektionskrankheit handelt, ist wohl 
sicher, wenn der Erreger auch noch unbekannt ist. Sie hat mit 
dem Absterben der männlichen Pflanzen nach Erfüllung ihrer 
Funktion direkt nichts zu tun. Denn es gingen sehr oft Pflanzen 
ein, die eben erst mit dem Blühen begonnen hatten, und solche, 
deren Geschlecht nur durch Untersuchung der Blütenknospen mit 
dem Mikroskop bei schwacher Vergrößerung bestimmt werden konnte, 
und auch bei diesen kamen auf viel Männchen nur einzelne 
Weibchen. Es kam ferner vor, wenn auch nur sehr selten, daß 
ein Männchen bei allen vier Revisionen — also vom 3. Mai bis 
zum 16. Juni — blühend und am Leben gefunden wurde und 
anfing, von oben her, mit gesundem Wurzelkopf, zu vertrocknen. 
Häufiger war schon, daß bei drei Aufnahmen lebend 
waren. 


Es ist auch keine geschlechtsbegrenzte Krankheit, denn es 
werden ja auch die Weibchen, wenngleich viel seltener, befallen, 
auch schon vor dem Aufblühen, im Knospenzustand, und bei der 
Fruchtreife werden sie offenbar sogar stark ergriffen. 


In der Tabelle 4 ist das Ergebnis der vier Aufnahmen zusammen- 
gestellt. Der Raumersparnis wegen sind außer den Gesamtzahlen 
nur noch die Prozentzahlen der Abgestorbenen aufgenommen, 
Es genügt das ja zur Beurteilung der Sicherheit vollkommen. 
Pflanzen, die erst teilweis welk oder verdorrt waren, sind zu den 
lebenden gezählt, ganz oder stark welke als abgestorben gerechnet 
worden. 


Zunächst interessiert uns das Geschlechtsverhältnis der Pflanzen, 
die überhaupt zum Blühen kamen. Zwischen der zweiten und 
dritten Aufnahme blühten nur noch einzelne Pflanzen neu auf; 
die vierte zeigte keine weitere Zunahme mehr, Wir können also 
von der dritten Aufnahme ausgehen. 















































C. Correns, Die Absterbeordnung der beiden Geschlechter ete. 113 
Tabelle 4. 
| Von 100 &' sind tot Von 100 © sind tot 
Versuchs- q BIRNEN 9 \ am ” 
I | 
Nr. | | 3. V. | 14. V. |28. V. 16. VI. 3. V. |14. V. |28. V.|16. VI. 
a b [0 d a b ct 1 SO 
5 87 ' 3,5 | 43,7 | 67,8 | 98,8 sg 10 Eu WR © 
6 287 | 2,1 | 21,9 | 648 194,7 || .279.|0 0,4 0,7 1,8 
7 215 1,9. | 26,5 | 66,5 194,8 || 213 |0 0,9 0,9 1,4 
8 gan, 117.497 21°70,6° 191,5 95 2,1 5,3 6,3 9,5 
9 153%) 5,22.392. 1562 .1188,6. 11.157 0,6 2 4,5 5,1 
10 146 | 23.3: | 56,8 21.74,0° 193,8 11.2145°12,1 N 5,5 6,9 
11 96 [14,6 1438 | 76,8 ı 97,9 117.10 v7 2,6 5,1 
12 5412 9:991:20,95. 197,5... 98,1 49 |0 2,0 6,0  |10,6 
zusammen | 1132-742 35,34 | 66,96 | 94,04 1144 |0,5245| 1,749 | 2,885 | 4,283 











Tabelle 5 bringt das Verhältnis (in Prozenten) für die einzelnen 
Versuche getrennt und für alle acht zusammen, wie es sich aus den 
Angaben der Tabelle 4, speziell der Spalte c, ergibt. 


Tabelle 5. 


























| | | | Differenz der 
Versuehe Ge- | | | m für Prozent- 
Nr samt- 9 Se n% | 10% join. % 1° = 50,0 , zahlen vom 
j I zahl | | | % , Mittelwert 
| | | | | 49,74 
| | J 
| | | | | 
5 21269135895 14 87:4 1.50,57.49,43:%] 250,00. 18 1.3577 ne 
6 |. 566 | 279 | 287. | 49,20 | 50,71 | 49,99 | 2,10 | +0,97 
7 428 | 213.| 215 | 49,77 | 50,23 | 5000 | 242 | +0,49 
8 189 | 95 | 94 | 50,267 49,74 | 50,00. .| 3,72 :| +0,00 
9 310‘) /157 | 153 | 50,65 | 49,35 | 50,00 | 282 | —.0,89 
10 291 | 145 | 146 | 49,83 | 50,17 | 50,00 | 2,98 | +0,43 
BL. 7a130| 12 298 52:98. 45,07. 1149,76.1,..3,43 Vs 
12. | 103 | 49 | 54 |araz | 52.43 | 4994 | 493 +2,69 
zusammen | 2276 |1144 | 1132 | 50,26 49,74 | 49,999 | 1,05 | 





Es sind also vor Beginn der Zählungen ım ganzen fast ge- 
nau gleich vielMännchen und Weibchen: 49,74 und 50,26%, 
vorhanden gewesen. Die Differenz, 0,52%, macht eben die Hälfte 
des mittleren Fehlers (1,05 %,) aus. Der geringe Vorteil der Weib- 
chen kann sehr gut rein zufälliger Natur sein. Aber auch die 
einzelnen acht Nachkommenschaften, aus denen sich die Gesamtzahl 
zusammensetzt, stimmen ganz auffallend damit und unter sich über- 
ein. Nur einmal, bei Versuch 11, ist die Abweichung von dem 
Mittelwert größer (— 4,67%), als der einmal genommene mittlere 


414 C. Correns, Die Absterbeordnung der beiden Geschlechter ete. 


Fehler (+ 3,43%), sonst ıst sie geringer und bleibt fast immer 
unter seiner Hälfte. 


Ich kenne keine andere diöziısche Blütenpflanze, bei der das 
(eschlechtsverhältnis (zu Beginn der Blütezeit) so nahe dem „me- 
chanischen“, 1:1, kommt, und kein Geschlecht einen deutlichen 
Vorteil vor dem andern zeigt. 


In der Tabelle 6 ist nun zusammengestellt, wieviel weibliche 
und männliche Pflanzen bei den vier aufeinanderfolgenden Aufnahmen 
lebend und abgestorben, oder doch absterbend, gefunden wurden. 
































Tabelle 6. 
Insgesamt | 
Von An- 2076 1122 9 | 1132 
| 
Er lebend | Abge- lebend abgestorben Bei lebend abgestorben 
storben in % lin %| Iin% nv 
l l 


bis 3. V.| 2186 | 90 | 1136 |9948 | 6 | 0,52 | 1048 192,58 | 84 | 7,42 
bis 14, V. 1856 | 420 | 1122 97,72 | 20 | 2,28 || 732 | 64,66 | 400 | 35,34 
bis 28. V.|| 1485 | 791 || 1109 [97,11 | 33. | 2,89 | 374 133,04 | 758 | 66,96 
bis 16. V.)| 1176 | 1100 | 1093 [95,71 | 49 | 4,29 | sı | 7,16 | 1051 | 92,84 



































Bei der letzten Aufnahme waren fast alle Männchen tot (93%), 
aber nur wenige Weibchen (etwas über 4%). 


Noch deutlicher als die Tabelle 6 zeigt Fig. 2 an den Kurven 
der Überlebenden das ungleiche Verhalten der beiden Geschlechter. 
Auf der Abszissenachse sind die Tage a,b, c, d abgetragen, an denen die 
Beete untersucht wurden. Auf ihnen wurden Ordinaten errichtet, 
deren Länge angıbt, wieviel Prozent männlicher und weiblicher 
Pflanzen zu dem betreffenden Zeitpunkt am Leben gefunden wurden. 
Dann wurden die Endpunkte verbunden. 


Die Kurve der Weibchen bleibt hoch über der der Männchen. 
Beide Kurven verlaufen ferner fast gerade; die Zahl der Über- 
lebenden sinkt also bei beiden Geschlechtern sehr gleichmäßig. 
Bei den einzelnen acht Versuchen ist der Verlauf der Kurven unregel- 
mäßiger, was teils an der geringeren Individuenzahl, teils wohl 
auch daran liegt, daß die Chancen, zu erkranken und abzusterben, 
ungleich verteilt waren. 


Wie gleichmäßig die Zahl der überlebenden Männchen und 
Weibchen abnimmt, geht auch aus Tabelle 7 hervor. Sie gibt 
an, wie sich die beiden Geschlechter auf die Pflanzen verteilen, 
die bei jeder einzelnen Revision neu abgestorben gefunden worden 
waren. 





Da A 





C. Correns, Die Absterbeordnung der beiden Geschlechter etc. 115 


700 % 


75% 


30% 


235% 






RG 2% re 10, 
Fig. 2. Trinia glauca. Kurve der Überlebenden des männlichen und weiblichen 


Geschlechtes zwischen dem 3. Mai und 16. Juni. 


Die Männchen machen stets annähernd gleich viel aus, zwischen 
93,3 und 96,5%. Die Tabelle enthält auch die mittleren Fehler 
der einzelnen Aufnahmen, für den Mittelwert 95,5%, berechnet; 









































Tabelle 7 
| davon Differenz 
|  Ab- x vom N 
Aufnahme! gestorben N Mittelwert (WA | m 
| ER 2 | 
3.v. |...90 6 84: | 933 —22 | 2500 | +2,19 
14. V. 330 14 316 | 98 203 ).2007. | 1.14 
98. V. Ä 37] 13 58 | 0o5 to | 11838 | 1.08 
16. VL. |: 309 16 293 1.948. | —o7 | as | #118 
Ben) ‚1100 49 1051 95,5 +0 2073. ,| 


man sieht, die Differenzen zwischen den Ergebnissen der einzelnen 
Aufnahmen und diesem Mittelwert sind etwa so groß wie ihre 
mittleren Fehler. Diese geringen Unterschiede können demnach 
sehr gut rein zufälliger Natur sein. —- Auf ein Weibchen, das ab- 
stirbt, kommen also, während der Beobachtungszeit, jedesmal unge- 
fähr 19 zugrunde gehende Männchen. 


a NEN. ARE ae I a RR I EL A NE un BE te AN 
8 ‘+ IT % a PIE EN, 
E A Er FR TNE 


116 C. Correns, Die Absterbevrdnung der beiden Geschlechter etc. 


Wollte man für Trönia eine Figur zeichnen, die der als Fig. 1 
für den Menschen gegebenen entspräche und die Sterbenswahrschein- 


lichkeit der Männchen darstellte, bezogen auf die gleich 100 gesetzte - 


der Weibchen, so erhielte man eine Linie die gerade und nahezu 
parallel der Abszissenachse verliefe. Es ist das wichtig, weil es 
nochmals beweist, daß es sich bei der hohen Sterblichkeit der 
Männchen nicht um das Eingehen handelt, das man bei den Männ- 
chen nach Erfüllung ihrer Funktion vor allem im Tierreich 
so oft beobachtet, aber auch bei einmalfruchtenden Gewächsen, wie 
es unsere Trinia ist, erwarten wird. Denn dafür muß charakteri- 
stisch sein, daß sich das Zahlenverhältnis der abgestorbenen Männ- 
chen zu dem der abgestorbenen Weibchen in jedem der aufeinander- 
folgenden Zeitabschnitte immer mehr zuungunsten der Männchen 
verschiebt, statt, wie es der. Fall ıst, annähernd konstant zu bleiben. 
Es liegt eben eine Todesursache vor, die beide Geschlechter trifft, 
nur daß das männliche viel härter mitgenommen wird. 


® 


Die Tabelle 6 und die Kurven der Fig. 2 geben nur das kurze 
Stück der Absterbeordnung der Trinia glauca wieder, das, zwischen 
dem Anfang Mai und der Mitte Juni liegend, die Blütezeit umfaßt 
und bei Herbstaussaat etwa !/,,, bei Frühjahrsaussaat etwa !/,, der 
gesamten Lebenszeit ausmacht. 

Das weitere Verhalten ıst klar: Die letzten 6% Männchen 
gehen auch noch zugrunde, und mit dem Reifen der Früchte 
sterben auch die Weibchen ab. Immerhin sinkt ihre Kurve nicht 
plötzlich, infolge der deutlich individuell ungleichzeitigen Reife. 
Genauer wurde das nicht verfolgt, um das sonst unvermeidliche 
starke Aussamen zu vermeiden. 

Nicht so einfach ist der Verlauf der Kurven vor der ersten 
Aufnahme am 3. Mai anzugeben.’ Eine direkte Bestimmung für 
den ganzen Abschnitt ist ausgeschlossen, da das Geschlecht ja noch 
nicht erkennbar ist. Immerhin hätten sich die Kurven wohl noch 
ein kleines Stück weit rückwärts mit Hilfe der mikroskopischen 
Untersuchung der Knospen verfolgen lassen. 

Sicher ist zunächst, daß die Kurven vor der ersten Aufnahme 
noch eine Zeitlang in der gleichen Richtung verlaufen und zusam- 
menstoßen. Denn wir konnten am 3. Mai ja für die lebenden und 
toten Pflanzen zusammen das Geschlechtsverhältnis 1:1 feststellen 
(S. 113). Es läge nahe, anzunehmen, daß auch schon vorher, vor 
Beginn der Blütezeit, die Sterblichkeit der Männchen größer. ge- 
wesen sei, als die der Weibchen, daß sich also die Kurve der 
Männchen nach links wenigstens eine Zeitlang auch noch über 
den Schnittpunkt hinaus in derselben ansteigenden Richtung fort- 





_ 





©. Correns, Die Absterbeordnung der beiden Geschlechter etc. 117 


setze. Das würde dann zu der Annahme zwingen, das Geschlechts- 
verhältnis sei vor der Blütezeit zugunsten der Männchen ver- 
schoben. Mit Hilfe der räumlich ungleich verteilten Sterblichkeit 
läßt sich jedoch zeigen, daß das nicht der Fall ist. 

Wir können die Zeit vor der ersten Aufnahme in zwei Ab- 
schnitte zerlegen, einen ersten, vom Pikieren der Sämlinge in die 
Kisten bis zum Auspflanzen ins Freie, und einen zweiten, vom 
Auspflanzen bis kurz vor der ersten Aufnahme. 

Was zunächst diesen zweiten Abschnitt angeht, so läßt sich 
sicher zeigen, daß in ihm, als Ganzes genommen, männliche und 
weibliche Pflanzen gleichmäßig eingegangen sein müssen. Ermög- 
licht wird das dadurch, daß sich das Absterben nicht gleichmäßig 
über die einzelnen Versuche und Beete erstreckte, sondern daß 
hier mehr, dort weniger Pflanzen eingegangen waren. Würde das 
männliche Geschlecht auch in diesem Abschnitt der Entwicklung 
eine größere Sterbeziffer besessen haben, als das weibliche, so 
müßten an den Stellen der Beete, die viel Lücken aufweisen, relativ 
mehr Weibchen vorhanden sein, als an den noch dicht besetzten 
Stellen. 

Es ıst das eigentlich ohne weiteres klar; doch will ich ein 
fingiertes Zahlenbeispiel geben. Wir nehmen zwei gleichgroße 
Gruppen, A und B, von zunächst gleich viel Männchen und Weib- 
chen an. Jede mag aus 2000 Individuen bestehen. Die Sterblich- 
keit der Männchen soll größer sein, als die der Weibchen, so 
daß auf ein Weibchen immer vier Männchen eingehen; außerdem 
soll die Sterblichkeit überhaupt aber auch in den beiden Gruppen 
ungleich sein und in der Gruppe A nur 10%, in der Gruppe B 
dagegen 50% betragen. Dann sind nach Ablauf der Zeiteinheit 
in der Gruppe A noch 1800 Individuen am Leben; die 200 abge- 
storbenen setzen sich aus 40 Weibehen und 160 Männchen zu- 
sammen. Es leben also noch (1000—40=)960 Weibchen und 
1000-—160—=)8340 Männchen; das direkt bestimmbare Geschlechts- 
verhältnis ist 960 0:840g oder 55%, 9:47%,d. In der zweiten 
Gruppe, B, sind nach der gleichen Zeit nur noch 1000 Individuen 
am Leben; die 1000 abgestorbenen bestehen aus 200 Weibchen 
und 800 Männchen. Folglich sind noch (1000—200=)800 Weibchen 
und 1000—800=)200 Männchen vorhanden; das direkt bestimm- 
bare Geschlechtsverhältnis ist 800 0:200 9 oder 0% 2:20 %d. 

Wie schon erwähnt waren bei unseren Versuchen die Säm- 
linge in Reihen zu 5 und 4 ım Verband ausgepflanzt worden. Von 
diesen Reihen wurden nun zunächst immer je 10 aufeinanderfol- 
sende zusammengefaßt. Jede dieser Dekaden hatte beim Aus- 
pflanzen 45 Individuen enthalten (5-4—4+-5-5); durch das Absterben 
waren aber 42 bis 18 Pflanzen daraus geworden. Die verhältnis 
mäßig wenigen Trotzer (etwa 4%) sind nicht mit gezählt. Die 


% 12 DE AL MEIN. a ” j 
148 ©. Correns, Die Absterbeordnung der beiden Geschlechter etc. 


letzten sechs Reihen sind weggelassen; die Gesamtzahl, 2259, ist des- 
halb um 17 kleiner als in Tabelle 5. 

Ich habe nun die 73 Dekaden nach der Tu an- 
steigend geordnet und sie dann in acht Gruppen zusammengefaßt, 
von denen die erste die 10 ärmsten Dekaden umfaßt, die folgenden, 
immer individuenreicheren Gruppen je 9 Dekaden. Auf die einzelnen 
Versuche ist dabei keine Rücksicht genommen worden, was ja er- 
laubt ıst, da sich, wie wir schon sahen, bei allen dasselbe Ge- 
schlechtsverhältnis herausgestellt hatte (S. 113, Tabelle 5). 

In Tabelle 8 ist nun das Geschlechtsverhältnis der einzelnen 
Dekadengruppen zusammengestellt, wie es sich aus den Original- 
aufnahmen ergibt. 














Tabelle 8. 
Tag | = em 
| Ss © O5 ü 
ER EEE Diffe- | 388 
Dekaden = 58 ES e eek; Ve ae 
a8 Sesam y| Oo | SZ (ging BE 
Gruppe ag sag as 0 °| von |88% 
=: | = ._ 
as Boss: oe] nme3 | 49,58 = 
rs ES gro 
air Sa Il H = 


I 18—23| 450 ı 210 | 46,7 | 101 | 109 151,41 |+1,83| 3,45 
II 23-24| 405 | 211 | 53,0 50,24 |-+.0,67| 3,44 
III 25-226 |:.405 1. 230.1.56,8. 1..1184..112.|48,70 | 2.088). 3,37 
IV 127—30| 405 | 256 | 632 | 126 | 130 150,78 |+-1,20| 3,12 


I—IV |18—30| 1665 | 907 | 55,99] 450 | 457.| 50,39 |-+ 0,81 | 1,66 


- 
oO 
oO 

— 
SS 
(op) 


Arme 


Reihen-Dekaden Reihen-Dekaden! 








| .v..131-85| 405 | 298 | 73,6. | 146 | 152 [51,01 +1,43 | :2,90 
| VIE 185-381 405 | 328 | 81,0 | 177 | 151.|46,04 | 3,00 2,76 


| VII 1/3841). 405 | 351 186,7.| 173.| 178 |50,71|41,18| 2,67 
VII |41-42| 405 | 375 | 928,6 | 193 | 182 |48,53 |—1,05| 2,58 


v—vıı 3142| 1620 | 1352 | 83,46] 689 | 663 [49,04 | 0,54| 1,36 
zusammen | 3285 | 2259 Br 1139 | 1120 4958 | +0 | 1,11 


| 
I 


Reiche 






































Man sieht, daß es gar keinen merklichen Einfluß auf das Ge- 
schlechtsverhältnis der Überlebenden hat, ob von den ausgepflanzten 
Sämlingen mehr als die Hälfte (I, 53,3 %,) oder noch nicht ein Zehntel 
(VIII, 7,4%) zugrunde gegangen sind. Die Abweichungen, die die 
einzelnen Dekadengruppen von dem Mittelwerte — 49,58%, Männ- 
chen — zeigen, liegen stets innerhalb’ der Fehlergrenzen; meist 
sind sie sogar auffallend gering. 

Für den vorangehenden Zeitraum, zwischen dem Pikieren und 
dem Auspflanzen der Sämlinge, gilt zweifellos das gleiche, wenn 
man ıhn als Ganzes nimmt; auch hier war die Sterblichkeit der 
beiden Geschlechter annähernd gleich groß. Leider sind durch 
einen Zufall die genauen Zahlen der Sämlinge, die bei den einzelnen 
acht Versuchen pikiert wurden, zum Teil verloren gegangen. Es 








RN RR EN IR: RE RUE TORE 


Ö. Öorrens, Die Absterbeordnung der beiden Geschlechter etc. 119 


waren aber von allen soweit möglich gleichviel Sämlinge aus den 
Saatschalen genommen worden, durchschnittlich 700. Wenn nun 
von Versueh 5 nur 338 und von Versuch 8 nur 352 Individuen 
ausgepflanzt werden konnten, von Versuch 7 dagegen 600 und von 
Versuch 6 sogar 663, und das Geschlechtsverhältnis später doch 
bei allen gleich gefunden wurde, so geht daraus eben hervor, daß 
auch auf diesem frühen Stadium Männchen und Weibchen den 
Schädigungen gegenüber gleich resistent waren. 

Die Ursachen, die das Absterben der ausgepflanzten Sämlinge 
vor der Blütezeit bedingten, trafen also die beiden Ge- 
schleehter ganz gleichmäßig; die Männchen erwiesen sich 
ihnen gegenüber nicht empfindlicher als die Weibchen. (Es kann 
das natürlich nur für den Zeitraum als Ganzes gelten; in seinen 
einzelnen Abschnitten mag ein verschiedenes Verhalten der Ge- 
schlechter vorgekommen sein, das sich dann aber gerade gegen- 


_ seitig kompensiert haben müßte). 


Das Verhalten steht ım auffallendsten Gegensatz zu dem kurz 
vor und während der Blütezeit. Er könnte entweder darauf be- 
ruhen, daß in den beiden Lebensabschnitten die äußeren Ursachen 
andere sind, oder darauf, daß sich mit dem Eintritt der Blütezeit 
bei gleichen äußeren Eingriffen die höhere Empfindlichkeit der 
Männchen erst einstellt, vielleicht im Zusammenhang mit den stoff- 
lichen Änderungen, die mit dem Herannahen des natürlichen Ab- 
sterbens nach Erfüllung der Funktion als Pollenlieferanten ver- 
bunden sind. 

Jede dieser Annahmen hat etwas für sich; eine Entscheidung 
kann ich zurzeit nicht treffen. Am wahrscheinlichsten ist, daß die 
Hauptrolle den Altersveränderungen zuzuschreiben ist. Nach den 
wenigen Beobachtungen, die mir für das Absterben der Weibchen 
vorliegen, hört ja auch bei ihnen mit der Fruchtreife die bisherige 
starke Resistenz gegen die Erkrankung auf und macht einer min- 
destens sehr deutlich gesteigerten Empfänglichkeit Platz. 

In Fig. 3 sind versuchsweise die Kurven der Überlebenden 
beiderlei Geschlechts für Trinia gezeichnet. Genau bestimmt in 
ihrem Verlauf sind immer qur die kurzen, voll ausgezogenen Stücke; 
von den langen Abschnitten vorher sind ja nur je zwei Punkte 
festgelegt, und der geradlinige Verlauf dazwischen bloß angenommen 
und deshalb nicht voll ausgezogen. Noch unsicherer sind die nur 
punktiert angegebenen Enden der Kurven. Zum Vergleich ist die 
Kurve der Überlebenden für das weibliche Geschlecht beim Men- 
schen eingezeichnet, um ihren ganz abweichenden Verlauf zu zeigen. 

Auch die ganze Kurve der Sterbenswahrscheinlichkeit der Trinza- 
Männchen, bezogen auf die gleich 100 gesetzte der Weibchen, unter- 
scheidet sich, wie die Teilkurve für die Blütezeit, wesentlich von 
der für das männliche Geschlecht beim Menschen, wie sie in Fig. 1 


ee SI ea N > ee El SEN BIER N, er 


120 ©. Correns, Die Absterbeordnung der beiden Geschlechter ete. 


dargestellt wurde. Für Trinia verläuft sie stets annähernd parallel 
der Abszissenachse, mit der sie sich zunächst ungefähr deckt, und 
macht nur mit Beginn der Blütezeit einen großen Sprung nach 
oben, schneidet sie dagegen, so viel wir wissen, nicht oder höchstens 
ganz am Ende der Entwicklung, sieht also etwa so 

aus. Schuld an diesem verschiedenen Verhalten ist gewiß die un- 
gleich hohe Organisation der verglichenen Organismen, und die 
damit zusammenhängende verschiedene, ungleich starke und un- 
gleich komplizierte Reaktionsfähigkeit. 


















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1916 21917, 1918 
Fig. 3. Trinia glauca. Kurve der Überlebenden des männlichen. und weiblichen 


(teschlechtes während des ganzen Lebens. Zum Vergleich ist auch die Absterbe- 
ordnung (Kurve der Uberlebenden) für das weibliche Geschlecht beim Menschen 
gegeben; von 5 zu 5 Jahren ist ein Punkt eingetragen. Näheres im Text. 


Meine Ergebnisse gewann ich an Material, das von einem 
Weibchen stammte. Wie sich andere Populationen, und wie sich 
vor allem Freilandpflanzen verhalten, muß ich dahingestellt sein 
lassen. Der Fäulniserreger ist jedenfalls weit verbreitet und nicht 
auf Trinia spezialisiert, da er sich ın Münster ı. W. und ın Dahlem 
eingestellt hat, an zwei Orten, wo Trinia weder wild vorkommt 
noch kultiviert wurde. Daß er irgendwie mit den Früchten über- 
tragen wird, halte ich für ausgeschlossen. A. Schulz gibt an, daß 
Männchen und Weibchen in ungefähr gleicher Zahl vorkommen, 
was mit unserem Ergebnis für die Zeit vor Beginn der Blüte 
stimmt. Die Beobachtungen wurden bei Bozen gemacht; die ge- 
nauen Zahlen sind, wie mir Herr Kollege Schulz freundlichst mit- 
teilte, nicht mehr vorhanden. Möglich, daß die Krankheit und da- 
mit das vorzeitige Absterben der Männchen nur an manchen Stand- 
orten auftritt. Der Boden ıst in Münster und ın Dahlem kalkarm, 
während Trinia ım Freien Kalkboden entschieden bevorzugt (J. Bri- 
quet, in Schinz und Keller, 1900, S. 359). 








121 


Es sınd das Fragen, deren Beantwortung ich anderen über- 
lassen muß, die die Pflanze in größerer Menge im Freien beob- 
achten können. 


Zusammenfassung. 


Das Geschlechtsverhältnis der zweijährigen, getrenntgeschlech- 
tigen Doldenpflanze Trinia ylauca ist kurz vor Beginn der Blüte- 
zeit fast genau 1:1. Vorher ist die Sterblichkeit der Männchen 
und Weibchen gleichgroß, wie sich mit Hilfe der räumlich un- 
gleichen Verteilung des Absterbens zeigen läßt. 

Mit Beginn der Blütezeit gehen nach und nach fast alle Männ- 
chen durch Abfaulen am Wurzelkopf ein, meist lange vor dem 
Abblühen, oft schon ım Knospenzustand, während nur einzelne 
Weibchen ergriffen werden. Auf ein Weibchen, das zugrunde geht, 
kommen ungefähr 19 absterbende Männchen; dies Verhältnis, 19:19, 
bleibt während der ganzen Blütezeit sehr annähernd das gleiche. 

Das Eingehen hängt nur insoweit mit der Erfüllung der Funktion 
der Männchen zusammen, als die damit verbundenen stofflichen 
Veränderungen eine große Empfänglichkeit gegen die Infektion be- 
dingen, wie sie zur Zeit der Fruchtreife auch die Weibchen auf 
einmal, zum mindesten wesentlich gesteigert, zeigen. 

Es ıst kein Anzeichen vorhanden, daß bei Trinia die Sterbens- 
wahrscheinlichkeit beim weiblichen Geschlecht, wie beim Menschen, 
auf bestimmten Entwicklungsstadien größer ist als beim männlichen. 

Eine auffallend größere Sterblichkeit der Männchen läßt sich 
weder beim Hanf (nach fremden Beobachtungen) noch bei Melan- 
drium (nach eigenen) sicher nachweisen. Bei ersterer Pflanze ist 
vielleicht rascheres Keimen der Männchen an den gemachten An- 
gaben schuld. 


4. Dezember 1918. | 


Literaturverzeichnis. 


Czuber, E., 1910. Wahrscheinliehkeitsrechnung. II. Bd. 

Ellis, Havelock, 1909. Mann und Weib. Eine Darstellung der sekundären Ge- 
schlechtsmerkmale beim Menschen. II. Aufl. Übers. von Dr. Hans Ku- 
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d. Deutsch. Botan. Gesellsch. V, S. 136. 

Henslow, G., 1855. The Origin of Floral Structures through Insect and other 
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Heyer, F., 1884. Untersuchungen über das Verhältnis des Geschlechtes bei ein- 
häusigen und zweihäusigen Pflanzen. Ber. d. landw. Instit. d. Univ. Halle, 
V. Hett. 

Korschelt, E., 1917. Lebensdauer, Altern und Tod. Jena; auch Beitr. z. Pathol., 
Anat. u. z. allgem. Pathol., Bd. 63, Heft 2. 

Muth ‚Fr., 1906. Untersuchungen über die Früchte des Hanfes (Uannabis sativa L.). 
Jahresb. d. Ver.‘ d. Vertr. d. angew. Botan. Jahrg. III. 


39. Band 9) 


REM. Rh 
r 





1299 K. v. Frisch, Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen. a 


Schinz, H. und Keller, R., 1900. Flora der Schweiz. Zürich. 


' Schulz, A., 1890. Beiträge zur Kenntnis der Bestäubungseinrichtungen und Ge- 
schlechtsverteilung bei den Pflanzen. II. Biblioth. Botan. Heft 17. 


Sprecher, A., 1913. Recherches sur la variabilit@ des sexes chez Cannabis 
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S. 254. 


Strasburger, E., 1900. Versuche mit diözischen Pflanzen in Rücksicht auf Ge- 
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—. 1910. "Über geschlechtsbestimmende Ursachen. Jahrb. f. wiss. Bot., XLVIII, 
S. 428. 


Westergaard, H., 1901. Die Lehre von der Mortalität und Morbilität. II. Aufl. 
‚Jena. / 


Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen. 
Von K. v. Frisch, München. 


In einer kürzlich erschienenen Abhandlung hat C. v. Heß (12) 
meine Versuche über den Farbensinn der Bienen in einer- Weise 
angegriffen, die ich nicht stillschweigend hinnehmen kann. 


Sehr ungern entschließe ich mich zu dieser Auseinandersetzung 
rein polemischer Natur. Neue Versuche habe ich nicht mitzu- 
teilen. Zu solchen liegt kein Anlaß vor. Denn v. Heß bringt 
keinen einzigen Einwand, der durch eine gewisse Berechtigung 
zu einer Wiederholung oder Modifikation meiner Versuche her- 
ausfordern würde. Und doch kann ein Leser seiner Schrift, wenn 
er nicht gleichzeitig meine Arbeit über den Farbensinn und Formen- 
sinn der Biene (6) vornimmt und Seite für Seite vergleicht, was 
ich tatsächlich gefunden habe und wie es v. Heß darstellt, den 
Eindruck gewinnen, als wären mir grobe Versuchsfehler u 
laufen und als wären meine Schlußfolgerungen nicht gerechtfertigt. 
Wie es ihm gelingen kann, diesen Eindruck zu erwecken, sollen 
die folgenden Zeilen klar machen. 


Ich weiß, daß ich v. Heß nicht überzeugen werde. Ich habe 
es schon bei irnherer Gelegenheit erfahren, daß er Tatsachen, die 
mit seiner Überzeugung eh vereinbar Sad, einfach in Abrede 
stellt. Aber vielleicht kann ich durch meine Ausführungen manchen 
Leser, der die Frage nach einem Farbensinn der Biene noch für. 
unentschieden hält, dazu veranlassen, daß er die von C. v. Heß 
und von mir publizierten Versuche: aufmerksam vergleicht. Er 
wird dann finden, daß nicht das tatsächliche Ergebnis, zu welchem 
v. Heß in seinen langjährigen Untersuchungen immer wieder ge- 
führt wurde, sondern nur seine Deutung desselben mit den von 
.mir gefundenen Tatsachen in schroffem Widerspruche steht. 









PORT HERRG ERNNEENIE EIN 0 RENDITEN TEN 227 DRDAND SET RT ER LE ET TREE nt 
K. v. Frisch, Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen. 125 


Um das Folgende verständlich zu machen, wird es gut sein, 
wenn ich zunächst das Wesentliche der v. Heß’schen und meiner 
Beweisführung in Erinnerung bringe. 

v. Heß knüpft an die Tatsache an, daß die Helligkeitsver- 
teilung im Spektrum für das normale, farbentüchtige Menschen- 
auge eine andere ist als für das total farbenblinde Menschenauge. 
Während dem farbentüchtigen Menschenauge das Spektrum ım 
Gelb am hellsten erscheint, ist für den total Farbenblinden die 
hellste Stelle nach dem Gelbgrün bis Grün verschoben, ferner 
ist für den total farbenblinden Menschen das Spektrum an seinem 
langwelligen Ende verkürzt. Man kann die relativen Helligkeiten 
aller Farben messend bestimmen und erhält so für das farben- 
tüchtige Menschenauge eine Kurve der Helligkeitsverteillung ım 
Spektrum, die von der entsprechenden Kurve für das total farben- 
blinde Menschenauge in charakteristischer Weise verschieden ist. 
v. Heß trachtete an zahlreichen Tierarten durch sinnreiche Ver- 
suchsanordnungen, insbesondere unter Benützung der phototak- 
tischen Reaktionen, die Helligkeitsverteilung im Spektrum festzu- 
stellen und fand bei den Fischen und bei allen von ihm untersuchten 
wirbellosen Tieren (darunter Bienen) die für den total farben- 
blinden Menschen charakteristische Verkürzung des Spektrums am 
langwelligen Ende und die Verschiebung der hellsten Stelle nach 
dem Gelbgrün bis Grün. Durch messende Bestimmungen gelangte 
er für die genannten Tiere zu einer Kurve der Helligkeitsverteilung 
in Spektrum, welche mit der entsprechenden Kurve für das total 
farbenblinde Menschenauge auffällig übereinstimmt. Er schloß 
daraus, daß diese Tiere total farbenblind seien. 

Ich habe die Überzeugung geäußert, daß der Schluß nicht 
zwingend sei. Wenn für den total farbenblinden Menschen eine 
bestimmte Helligkeitsverteilung im Spektrum charakteristisch ist, 
muß nicht jedes Wesen, für welches die gieiche Kurve der 


. Helligkeitsverteilung gilt, total farbenblind sein. v. Heß sucht 


zwar diese Ansicht bloßzustellen, indem er sagt, ich hätte es als 
unzulässigen Analogieschluß bezeichnet, daß er „ein Wesen, das 
die Merkmale der totalen Farbenblindheit zeigt, als total farben- 
blind betrachte“ (12, p. 345). v. Heß hat aber nicht gefunden, daß 
die betreffenden Wesen die Merkmale der totalen Farbenblind- 
heit, sondern daß sie ein Merkmal der totalen Farbenblind- 
heit des Menschen zeigen, nämlich die für den total farbenblinden 
Menschen charakteristische Helligkeitsverteilung ım Spektrum!). 


1) v. Heß betont besonders das Fehlen des Purkinje’schen Phänomenes 
bei den Bienen und anderen wirbellosen Tieren. Dies kann aber nur als spezielles 
Beispiel für die Übereinstimmung des Helligkeitssinnes jener Tiere mit dem des 
total farbenblinden Menschen, und nicht als gesondertes Argument betrachtet werden. 
9% 





194 K. v. Frisch, Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen. 


Als das wesentliche Merkmal totaler Farbenblindheit kann nicht 
gelten, daß die Farben in einer bestimmten relativen Helligkeit 
erscheinen, sondern daß die Farben nur nach ihrer Helligkeit, 
nicht nach ihrer Qualität unterschieden werden (vgl. meine Aus- 
führungen [6] p. 8). 

Es ist bemerkenswert, daß v. Heß in seiner ersten Mitteilung 
über den Lichtsinn bei Fischen (7) seine Schlußfolgerungen wesent- 
lich vorsichtiger formuliert hat als später. Er schreibt dort (p. 35): 
„Alle von uns bisher ermittelten Tatsachen würden gut in Einklang 
stehen mit der Annahme, daß die untersuchten Fische total farben- 
blind seien, ja, nach einer solehen Annahme hätte man das tat- 
sächlich gefundene Verhalten in allen Einzelheiten voraussagen 
können. Ein bei ihnen etwa doch vorhandener Farbensinn müßte 
jedenfalls mindestens hinsichtlich der Helligkeitsverhältnisse der 
von ihnen gesehenen Farben wesentlich anders geartet sein als 
der menschliche.“ In seinen zahlreichen späteren Arbeiten hat er 
seine Versuche auf wirbellose Tiere ausgedehnt und die Unter- 
suchungsmethoden vervollkommnet. Die tatsächliche Grundlage 
seiner Schlußfolgerungen aber bleibt dieselbe?): Die UÜbereinstim- 
mung des Helligkeitssinnes jener Tiere mit dem des total farben- 
blinden Menschen. Trotzdem weist er später jene Möglichkeit schroff 
zurück, die er selbst ın den oben zitierten Sätzen zugegeben hat: 
daß jene Tiere einen Farbensinn haben, der hinsichtlich der Hellig- 
keitsverhältnisse anders geartet ist als der menschliche. Er meint 
jetzt den „objektiven Nachweis der totalen Farbenblindheit der 
Bienen“ erbracht zu haben, indem er zeigt, daß die Helligkeits- 
werte der Farben für die Bienen die gleichen sind wie für den 
total farbenblinden Menschen (10, p. 307 ff.). 

Da für mich diese Schlußfolgerung nicht überzeugend war, 
suchte ich die Frage nach einem Farbensinn der Biene auf andere 
Weise zu entscheiden. Ich ging von folgender Überlegung aus: 
„Ist ein Tier total farbenblind, so sieht es eine Farbe, sagen wir 
ein Gelb, genau so wie ein Grau von bestimmter Helligkeit. In 
einer Serie grauer Papiere, welche in hinreichend feinen Hellig- 
keitsabstufungen von Weiß bis zu Schwarz führt, muß also ein 
Grau enthalten sein, welches für das Tier mit dem Gelb identisch 
ist. Wenn man ihm nun ein gelbes. Blatt in einer solchen Serie 
grauer Blätter von gleicher Form, Größe und Oberflächenbeschaffen- 
heit vorlegt, so kann es das gelbe Blatt nicht mit Sicherheit her- 
ausfinden, es muß dasselbe mindestens mit einem der grauen 


Denn wenn für ein Tier, so wie für den total farbenblinden Menschen, die Farben 
bei jedem Adaptationszustand denselben relativen Helligkeitswert haben, können wir 
kein Purkinje’sches Phänomen erwarten. 

2) Von seinen mißglückten Dressurversuchen sehe ich hier ab, Ich komme 
später auf sie zu sprechen. 





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et a A ee Pe 4 
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K. v. Frisch, Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen. 125 


' Blätter verwechseln. Man muß nur das Tier veranlassen, nach 


der gewünschten Farbe zu suchen, und dies geschieht am ein- 
fachsten durch Dressur mit Hilfe von Futter“ (6, p. 10). 

Ich habe nun Bienen auf verschiedentliche Farben dressiert 
und nachgewiesen, daß sie Orangerot, Gelb, ‘ein gelbliches Grün, 
Blau, Violett, Purpurrot mit Sicherheit von allen Grauabstufungen 
unterscheiden. Sie haben somit Farbensinn. 

Ich konnte aber auch zeigen, daß sie ein Rot, wie es auf 
Taf. 5 meiner Arbeit (6) unter Nr. 1 aufgeklebt ıst, mit Schwarz, 
daß sıe Blaugrün (Taf. 5, Nr. 10 und 11) mit Grau verwechseln; 
daß sie ferner innerhalb der „warmen“ und „kalten“ Farben zu 
einer Unterscheidung der Farbenabstufungen nicht befähigt sind, 
daß sie einerseits Orangerot mit Gelb und Grün, anderseits Blau 
mit Violett und Purpurrot verwechseln. „Das Verhalten der 


Bienen ..... erinnert sehr an die Symptome, die für rot-grünblinde 
Menschen, und zwar für die Protanopen .... charakteristisch sind“ 
(6, p. 42). 


Dies mag genügen, um die Art meiner Versuche in Erinnerung 
zu bringen. Alles Nähere, insbesondere die Einzelheiten der Ver- 
suchsanordnung und die Widerlegung verschiedener Einwände, 
findet man in meiner Abhandlung (6) ausführlich dargestellt. 


Ich habe nicht die Absicht, auf all die Wendungen und Redens- 
arten der v. Heß’schen Schrift einzugehen, die mein Verhalten 
und meine Äußerungen in ein falsches Licht setzen. Ich will mich 
vielmehr, um diese Auseinandersetzung nicht länger zu gestalten, 
als im Interesse der Sache notwendig ist, auf die für die Beweis- 


“führung wesentlichen Punkte beschränken. Eines möchte ich aber 


doch richtigstellen, bevor ich auf die sachlichen Einwände zu 
sprechen komme. v. Heß schrieb von mir schon 1913 (9, p. 85): 
„Er schließt sich zwar hinsichtlich des Rot bereits durchaus meiner 
Darstellung an...“ und gebraucht in seinen neuesten Publi- 
kationen (12, p. 347; vgl. auch 11, p. 411) die Wendung, daß ich 
für die Bienen „bereits Rot-Grünblindheit zugegeben“ hätte. Es 
erweckt dies den Eindruck, als hätte ich einen Teil meiner früheren 
Angaben zurückgezogen. Das trifft nicht zu. Ich habe niemals 
behauptet oder auch nur als wahrscheinlich hingestellt, daß der 
Farbensinn der Biene mit dem des normalen, farbentüchtigen 
Menschen übereinstimme. 


Seine sachlichen Einwände beginnt v. Heß mit der über- 
raschenden Behauptung, meine Protokolle zeigen, daß die Bienen 


„sattes Blau und Gelb nicht von Grau, also auch Blau nicht 


von Gelb unterscheiden können“ (12, p. 347). 


TURION, 1 20 EN TS Meat ae aha Me dB ds ALT alas an Ca an El Ah 2 
EL KERN BG 2 h 






{ r } t v; Nm FERN ar, 
126 K. v. Frisch, Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen. 





Ich frage v. Heß zunächst, wie er diese Behauptung aufstellen 
kann, nachdem er aus meinen Protokollen ersehen mußte, daß die 
auf Gelb dressierten Bienen bei allen 7 Versuchen?), bei welchen 
ihnen ein gelbes Papier in der gesamten Grauserie vorgelegt wurde, 
das Gelb herausgefunden und von allen Grauabstufungen unter- 
schieden haben, daß ferner die auf Blau dressierten Bienen beı 
allen15 Versuchen), bei welchen ihnen ein blaues Papier in 
der gesamten Grauserie vorgelegt wurde, das Blau herausgefunden 
und von allen Grauabstufungen unterschieden haben, daß ferner | 
die auf Gelb dressierten Bienen bei allen 8 Versuchen’), bei 
welchen ihnen die gesamte Farbenserie vorgelegt wurde, die 
gelben Papiere gegenüber den blauen und purpurfarbigen in über- 
wältigender Mehrheit besuchten, daß schließlich die auf Blau dres- 
sierten Bienen bei den 26 Versuchen®), bei welchen, ıhnen die 
gesamte Farben-Serie vorgelegt wurde, ın 25 Fällen die blauen 
und purpurfarbigen Papiere ebenso entschieden gegenüber den 
gelben bevorzugten (nur in einem Falle wurde ein gelbes Papier 
relatıv stark besucht, diese Ausnahme war durch dıe näheren Um- 
stände leicht erklärlich, vgl. unten S. 132)?). 

v. Heß übergeht denn auch diese Tatsachen mit Stillschweigen 
und schlägt einen beträchtlichen Umweg ein, um seine Behauptung 
zu begründen. Um aus meinen Protokollen nachzuweisen, daß die 
Bienen Blau und Gelb nicht von Grau unterschieden hätten, sieht 


3) Vel. (6), p- 12—14 (3 Versuche), p. 26 (1 Versuch), ferner Tabelle 36—38. 

4) Vgl. (6), p. 14 (1 Vers.), p. 23ff. (2°”Vers.), p. 26ff. (2. Vers), ferner 
Tabelle 84, 88—91, 96, 102, 104, 111, 112. 

5) Vel. (6), Tabelle 36—43. 

6) Vgl. (6), Tabelle 81—83, 85 —94, 105—110, 113—119. + 

7) v. Heß will, wie aus seiner Anm. 2, p. 353 (12) hervorgeht, alle jene 
Versuche nieht gelten lassen, bei welchen die Farben nicht unter Glas dargeboten 
wurden und bei welchen daher ein etwaiger Einfluß eines (für uns nicht währnehm- 
baren) Duftes der farbigen Papiere nicht ausgeschaltet war. Dazu ist zu be- 
merken: Erstens: Bei den oben erwähnten Versuchen wurden — eben mit Rück- 
sicht auf die Möglichkeit eines solchen Einflusses — in 18 Fällen die Papiere unter 
Glas dargeboten. Die eindeutigen Resultate dieser 13 Versuche allein würden ge- 
nügen, um das zu beweisen, was v. Heß nicht zugeben will. Zweitens: Sehr 
häufig, z. B. auch bei meiner Freiburger und Münchner Demonstration der Versuche 
(vgl. [5]. ferner [6] p. 22#f., p. 27 ff. ete.) bin ich so vorgegangen, daß ich die Bienen 
auf ein unbedecektes farbiges Papier dressierte und dann unmittelbar vor 
Versuchsbeginn alle Papiere mit einer Glasplatte bedeckte. Wenn der Dressur- 
erfolg bei Verwendung unbedeckter Papiere auf einen Duft der Dressurfarbe zurück- 
zuführen ist, so muß dieser Erfolg natürlich ausbleiben, sobald vor Versuchsbeginn 
eine Glasplatte über die Papiere gedeckt wird. Der Erfolg ist aber unter diesen 
Umständen genau derselbe wie in jenen Fällen, wo keine Glasplatte über die Papiere 
gedeckt wird. Das Erkennen der Dressurfarbe von seiten der Bienen 
ist daher nicht auf einen dem farbigen Papier anhaftenden Duft 
zurückzuführen, und darum sind auch die ohne Anwendung von Glas 
durchgeführten Versuche verwertbar. Ich dachte, daß dies aus meiner 
früheren Darstellung (6, p. 22—27) deutlich genug hervorgeht, 





427 


er nicht in den Protokollen nach, ob die Bienen tatsächlich Blau 
und Gelb von ‚Grau unterschieden haben, sondern macht Versuche 
am rotblinden Menschen nach der Methode der Kreiselgleich- 
ungen. Er trägt dadurch Verwirrung in an sich klare Fragen und 
es ist nicht meine Schuld, wenn ich nun einen beträchtlichen Raum 
beanspruchen muss, um seine Ausführungen zu widerlegen. 

v. Hess macht die Versuche am Rotblinden in Hinblick auf 
meine Angabe, der Farbensinn der Biene zeige in allen wesentlichen 
Punkten Übereinstimmung mit dem eines rotblinden (protanopen) 


Menschen. 


‚ Er befestigt auf einem Farbenkreisel eine kleine Scheibe des 
purpurroten Papieres, welches die Bienen mit Blau verwechselt 
haben. Dahinter bringt er drei größere, radıär aufgeschlitzte und 
ineinandergesteckte Scheiben von mattschwarzem, mattweißem und 
sattblauem Papier an und variiert die Größe der Sektoren dieser 
Scheiben solange, bis beim Rotieren des Kreisels für den rotblinden 
Menschen eine genaue Gleichung zwischen dem Purpurrot der 
inneren Scheibe und dem weißlichen Blau des äußeren Ringes ent- 
steht. Er findet: 

360° Bläulichrot — 27° Blau + 28° Weiß — 305° Schwarz. 

Dann wählt er zu einem analogen Versuch statt des purpur- 


roten Papieres das blaugrüne Papier, welches den Bienen nach 
meinen Versuchen farblos grau erscheint®). Er findet: 


360° Blaugrün — 82° Blau + 89° Weiß + 189° Schwarz. 
Resultat: Während dıe Bienen ein gewisses Blaugrün mit 


‚Grau, Purpurrot aber mit Blau verwechselt haben, sieht der rot- 


blinde Mensch das betreffende Blaugrün gesättigter blau als das 
Purpurrot, | 

„Die Bienen sollen also ein sehr ungesättigtes, weißliches bezw. 
grauliches Blau’) von Grau scharf unterscheiden, während sie es 
mit einem sehr gesättigten Blau „völlig verwechseln“; dagegen soll 
ein gesättigteres, schöneres Blau!) für sie mit diesem Blau keine 
Ähnlichkeit haben, obschon sie es mit dem ihm viel weniger ähn- 
lichen Grau verwechseln. Das ist natürlich ein Unding.“ 

Durch weitere entsprechende Versuche findet er, daß jenes.Rot, 
welches die Bienen mit Schwarz verwechselt haben, dem rotblinden 
Menschen deutlicher gelb erscheint als jenes grasgrüne Papier, 
welches die Bienen mit Gelb verwechselt haben. 

„Auch hier haben also in v. Frisch’s „Dressur“versuchen 


8) Ich habe für die zwei blaugrünen Papiere Nr. 10 und Nr. 11 der Hering'- 
schen Farbenserie angegeben, daß sie die Bienen von Grau nicht unterscheiden lernen. 
v. Hess sagt nicht, welches‘ der beiden Papiere er benützt hat. 

9) NB.: Gemeint ist das Purpurrot. 

10) NB.: Gemeint ist das Blaugrün. 


BR RE FE TEL ER RT LEN N Naa Bt 3 T A E e 
Ba a N as 
128 K. v. Frisch, Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen. 


die Bienen ein sehr ungesättigtes Gelb mit sattem Gelb, dagegen 
ein beträchtlich gesättigteres Gelb mit Grau verwechselt. 

„Wenn aber die Bienen einerseits ein weißliches Blau und Gelb 
mit Grau und anderseits ein noch weißlicheres Blau bezw. Gelb 
mit gesättigtem Blau bezw. Gelb verwechseln, so ist damit der 
Beweis erbracht, daß sie auch sattes Blau und Gelb mit Grau und 
somit auch sattes Blau mit sattem Gelb verwechseln“ (12, p. 348 
bis 351). 

Ich wıll im folgenden voraussetzen, daß die obigen Kreisel- 
gleichungen für alle rotblinden (protanopen) Menschen zutreffen !!). 

v. Heß scheint nicht zu bemerken, daß seine „Beweisführung“ 
nur dann berechtigt wäre, wenn ich behauptet hätte, daß der Farben- 
sinn der Biene in allen Einzelheiten mit dem Farbensinn des 
rotblinden Menschen übereinstimmt. Tatsächlich habe ıch mich 
aber folgendermaßen ausgedrückt: „Das Verhalten der Bienen bei 
den in diesem Kapitel geschilderten Versuchen erinnert sehr an 
die Symptome, die für rot-grün-blinde Menschen, und zwar für die 

Protanopen . ... charakteristisch sind“ (6, p. 42). Ich machte weiter- 


11) Ich will aber auch nicht verhehlen, daß ich an einem rotblinden Menschen 
zum Teil wesentlich andere Werte erhalten habe. 

Herr Dr. J. Rosmanit in Wien, Chefarzt der Südbahn, gab mir Gelegen- 
heit, den betreffenden Rotblinden zu untersuchen. Es sei ihm auch an dieser Stelle 
bestens gedankt. Er hatte persönlich seinen Farbensinn geprüft und typische Prot- 
anopie gefunden. i 

Für das blaugrüne Papier (Blaugrün Nr. 11 der Hering’schen Farbenserie) 
erhielt ich eine Gleichung, die mit jener, die v. Heß an seinem Rotblinden gefunden 
hat, angenähert übereinstimmt. Die Blau-Anteile stimmen sogar genau überein. 
Ich fand: f 

360° Blaugrün — 82° Blau + 77° Weiß —+ 201° Schwarz. 

Als ich aber neben dem purpurroten Papier auf dem Farbenkreisel, ent- 
sprechend den Angaben von v. Heß, 27° Blau + 28° Weiß + 305° Schwarz mischte, 
erklärte der Rotblinde, daß diese Mischung zu wenig blau sei (ich nehme an, 
daß v. Heß bei diesem Versuch. ebenso wie ich, das Purpurrot Nr. 15 der Hering'- 
schen Serie benützte, denn auf dieses bezieht sich meine von v. Heß zitierte 
Angabe, daß es die Bienen mit Blau völlig verwechseln [6], p. 39). Ich erhielt bei 
meinem Rotblinden die Gleichung: 

360° Purpurrot = 106° Blau + 10° Weiß — 244° Schwarz. 
Für das Rot Nr. 1 fand ich die Gleichung: 
360° Rot = 24° Gelb + 336° Schwarz. 

Hier stimmt wieder der Gelb- Anteil mit dem von v. Heß angegebenen Wert 
genau überein. Das „grasgrüne“ Papier aber sah der von Heß untersuchte Rot- 
blinde weniger deutlich gelb als das Rot (die Zahlenwerte gibt v. Heß nicht an), 
während ich bei meinem Rotblinden die Gleichung erhielt: 

360° „Grasgrün“ = 45° Gelb + 20° Weiß + 295° Schwarz. 

Der von mir untersuchte Rotblinde sah also, im Gegensatze zu dem von 
©. v. Heß untersuchten Rotblinden, das purpurrote Papier deutlicher blau als das 
blaugrüne Papier, und er sah das „Grasgrün“ deutlicher gelb als das Rot. Schon 
daraus geht hervor, wie wenig solche Untersuchungen die Frage nach dem Farben- 
sinn der Bienen fördern können. 





A N a A er Fe Er na 
ELITE RS NR NETT, 
RE RE 2 \ 


7} 


K. v. Frisch, Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen. 129 


hin darauf aufmerksam, daß die Untersuchung eines rotblinden 
Menschen, dem ich die farbigen Papiere vorlegte, gewisse Unter- 
schiede zwischen seinem Farbensinn und dem der Biene erkennen 
ließ. „Es bestehen also wohl gewisse Differenzen zwischen dem 
Farbensinn der Biene und dem eines Protanopen; in allen wesent- 
lichen Punkten aber herrscht, wie man sieht, Übereinstimmung“ 
(6, p- 43). 

Nur die zweite Hälfte des letzten Satzes erwähnt v. Heß 
(i2, p. 348), die erste Hälfte und den vorher zitierten Satz erwähnt 
er nicht. 

Er verschweigt also, daß ich selbst das Bestehen gewisser 
Differenzen zwischen dem Farbensinn der Biene und dem des rot- 
blinden Menschen ausdrücklich betont habe. Er verschweigt, daß 
ich auf die Differenzen eben der Art hingewiesen habe, wie er 
sie durch die Methode der Kreiselgleichungen findet. Ich habe er- 
wähnt, daß jenes Rot, welches die Bienen mit Schwarz verwechselt 
haben, von einem rotblinden Menschen unter den gleichen Bedin- 
gungen als „Rot“ erkannt und von Schwarz unterschieden zu werden 
pflegt (6, p. 43, Anm.). Ich habe ferner erwähnt, daß das Blau- 
grün Nr. 11, welches von den Bienen mit Grau verwechelt wurde, 
dem rotblinden Menschen deutlich bläulich erschien (6, p. 43). 

Ich habe mich in meiner Abhandlung auf die Deutung dieser 
Verhältnisse nicht eingelassen, sondern mich damit begnügt, auf 
das Bestehen gewisser Differenzen hinzuweisen. Nun sei aber doch 
erwähnt, daß sie eine einfache Erklärung. finden, wenn man an- 
nımmt, daß für die Bienen das Spektrum am langwelligen Ende 
stärker verkürzt ist als für den rotblinden Menschen und daß für 
die Biene die „neutrale Zone“ im Blaugrün etwas näher dem Blau 
liegt als beim rotblinden Menschen. Dann werden die Differenzen, 
auf die v. Heß so großes Gewicht legt, ohne weiteres verständlich. 
Ein Rot, welches für die Bienen von Schwarz nicht zu unterscheiden 
ist, kann für den rotblinden Menschen schon deutlich gelblich sein. 
Das „Grasgrün*, welches die Biene mit Gelb verwechselt, erscheint 


dem rotblinden Menschen weniger deutlich gelb, wenn dieser Farb- 


ton für ihn näher dem neutralen Grau liegt als für die Biene, und 
das Blaugrün, welches für die Bienen dem neutralen Grau ent- 
spricht, hat für den rotblinden Menschen bereits einen blauen Ton. 

Meine Angabe, daß zwischen dem Farbensinn der Biene und 
dem des rotblinden Menschen in allen wesentlichen Punkten 
Übereinstimmung herrscht, wird dadurch nicht berührt. 

Es sei gestattet, hier nochmals anzuführen, wodurch die Rot- 
blindheit im wesentlichen charakterisiert ist (vgl. 6, p. 42): „Für 
den Protanopen ist das Spektrum am langwelligen Ende verkürzt; 
rote Lichter erscheinen ihm sehr dunkel, dunkelrote Gegenstände 
so gut wie schwarz; im Spektrum besteht für ihn in der Gegend 





130°.’ K. v. Frisch, Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen. 


des Blaugrün eine „neutrale Stelle“, die er farblos grau sieht; ge- 
wisse blaugrüne Pigmentfarben sieht er wie ein Grau von mittlerer 
Helligkeit; purpurrote Farben verwechselt er mit blauen; am Spek- 
trum sieht er an Stelle der etwa 160 Farbentöne, welche der Nor- 
male unterscheidet, nur noch zwei, nämlich eine „warme“ Farbe, 
wahrscheinlich Gelb, entsprechend der langwelligen Hälfte des 
Spektrums, welche der Normale Rot bis Grün sieht, und eine „kalte“, 
wahrscheinlich blaue, entsprechend der kurzwelligen Spektralhälfte, 
dort, wo der Normale grünblau bis violett sieht.“ 

„All diese, für den Farbensinn des protanopen Menschen cha- 
rakteristischen Merkmale sind uns auch bei der Analyse des Farben- 
sinnes der Bienen entgegengetreten.“ 

Ob nun etwa die neutrale Zone ım Blaugrün um ein geringes 
näher dem Blau oder dem Grün liegt, ob das Spektrum am lang- 
welligen Ende etwas mehr oder weniger verkürzt ist, kann dem- 
gegenüber nicht entscheidend in die Wagschale fallen. 

Am allerwenigsten aber kann man aus einer solchen Abweichung 
den Beweis konstruieren, daß die Bienen überhaupt keinen Haben. 
sinn hätten. 


Weiter stellt v. Heß die Behauptung auf, es sei das Ver- 
halten der dressierten Bienen gegenüber den farbigen Flächen 
„nach v. Frisch’s Dressurprotokollen unberechenbar: auf Hell- 
srau dressierte Bienen gingen stark auf Dunkelgrau. blaue und 
purpurfarbige Flächen wurden nicht nur von blaudressierten. 
sondern auch von graudressierten Bienen in sehr großen Mengen 
besucht; auf Blau dressierte Tiere gingen besonders zahlreich 
auf Purpur, besuchten aber gelegentlich auch sehr dunkles Grau. 
sehr helles Grau und Gelb, „offenbar zufällig* auch Grün in 
sroßen Mengen; auf Grasgrün dressierte Bienen gingen „aus 
unbekanntem Grunde“ in großen Mengen auf Blau‘ (12, p. 352). 

Ich werde die einzelnen Sätze nun der Reihe nach vornehmen 


und nebeneinanderstellen, was v. Heß aus meinen Versuchsproto-' 


kollen herausliest und was tatsächlich aus ihnen zu entnehmen ist. 


„Auf Hellgrau dressierte Bienen gingen stark auf 


Dunkelgrau.“ 

Es ist aus dieser Angabe nicht zu ersehen, auf welche Versuche 
sich v. Heß bezieht. 

Meint er mit dem „Hellgrau* das mittlere Grau 
‘Nr. 15 meiner aus 30 Nummern bestehenden Grauserie, 
so ist sein Satz eine unvollständige Wiedergabe meiner 


Resultate. Die Bienen beflogen in angenähert gleichem 


Maße\Papiere, die heller waren, und solche, die dunkler waren 
als das mittlere Grau, auf welches sie dressiert waren. Mit anderen 









BERN i 


K. v. Frisch, Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen. 131 


Worten: die Grauserie war so fein abgestuft, daß eine Dressur 
auf ein bestimmtes mittleres Grau dieser Serie und dessen sichere 
Unterscheidung von den übrigen grauen Papieren nicht zu erzielen 
war (vgl. 6, p. 19#E.). 

Meint er die Dressur auf Weiß (6, p. 22), so ist seine 
Behauptung falsch, denn bei diesen Versuchen gingen die 
Bienen niemals stark auf dunkelgraue Papiere. 

Die Dressur auf das Grau Nr. 1 meiner aus 15 Nummern 
bestehenden Grauserie kann er wohl nicht meinen, denn er be- 
zieht sich ja auf meine „Dressurprotokolle*, und die Protokolle 
dieser Versuche habe ich aus Gründen, die aus meinen Mitteilungen 
(6) p. 21 ersichtlich sind, gar nicht veröffentlicht. 

2. „Blaue und purpurfarbige Flächen wurden nicht 
nur von blaudressierten, sondern auch von graudres- 
sierten Bienen in sehr großen Mengen besucht.“ 

Auf diese Behauptung komme ich später (p. 136) zu sprechen. 

3. „Auf Blau dressierte Tiere gingen besonders zahl- 
reich auf Purpur, besuchten aber gelegentlich auch sehr 
dunkles Grau, sehr helles Grau und Gelb, „offenbar zu- 
fällig“ auch Grün in großen Mengen.“ 

Daß die auf Blau dressierten Bienen besonders zahlreich auch 
auf Purpurrot gehen, ist ja eines der wesentlichen Resultate 
meiner Untersuchung und ist eine Stütze meiner Annahme, daß 
der Farbensinn der Biene mit dem des rotblinden Menschen weit- 
‚gehend übereinstimmt. 

Daß die auf Blau dressierten Bienen gelegentlich auch sehr 
dunkles Grau, sehr helles Grau und Grün in großen Mengen 
besuchten, geschah in einer Versuchsreihe, bei welcher ich eine 
Anordnung getroffen hatte, die von meiner sonstigen Versuchs- 
anordnung in einem wesentlichen Punkte verschieden war; dies 
verschweigt v. Heß, obwohl es für die Beurteilung der 
Sache von ausschlaggebender Bedeutung ist. Während ich 
nämlich sonst, wenn ich das Verhalten der auf Blau dressierten 
Bienen‘ gegenüber den anderen Farben prüfen wollte, das Dressur- 
blau und die anderen Farben gleichzeitig auflegte, habe ich dies- 
mal das Verhalten der Bienen gegenüber einer Reihe von Farben 
nacheinander geprüft, indem ich bei jedem Versuche die Grau- 
serie und eine Farbe auflegte. Hierbei entstand bei den 5 Ver- 
suchen mit den blaudressierten Bienen, bei welchen als Farbe ein 
Blau oder Purpurrot aufgelegt wurde, stets auf der Farbe und 
niemals auf einem grauen Papier eine Bienenansammlung. Bei den 
5 Versuchen mit den gleichen blaudressierten Bienen aber, bei 
welchen als Farbe ein Gelb oder Grün: aufgelegt wurde und die 
Dressurfarbe auf dem Versuchstisch fehlte, entstand ein- 
mal auf einem dunkelgrauen, zweimal auf einem hellgrauen Papier, 


WENN NER ELSE ONE DONE RES FIRE 
Ds a %r 
139 K. v. Frisch, Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen. 


einmal auf einem mittleren Grau und einmal auf Grün eine große 
Bienenansammlung. Diese großen Ansammilungen auf manchen 
Papieren erklären sich durch die Anziehungskraft, welche einzelne 
sich setzende Bienen auf die anderen ausüben. Diese Anziehungs- 
kraft macht sich geltend, wenn die Bienen auf dem Versuchstisch 
durch keines der Papiere besonders angezogen werden, wenn also 
z. B., wie in diesen Fällen, die Dressurfarbe auf dem Versuchstisch 
fehlt; sie macht sich nicht geltend, wenn die blaudressierten Bienen 
etwa zwischen Grau und Blau die Wahl haben, weil sie dann von 
der Dressurfarbe, auch wenn keine Biene darauf sitzt, weit mehr 
angelockt werden als von einem Grau, auf dem Bienen sitzen !?), — 
Meine Annahme, daß die einmalige Bienenansammlung auf dem 
Grün „offenbar zufällig“ war, ist wohl berechtigt und begründet: 
1. durch das Benehmen der Bienen bei diesem Versuche (vgl. 6, 
p. 160); 2. dadurch, daß bei den 27 anderen Versuchen, bei 
welchen blaudressierten Bienen gleichfalls das betreffende Grün 
dargeboten wurde, in keinem Falle auf dem Grün eine Bienen- 
ansammlung entstand??): 3. dadurch, daß die Bienen das betreffende 
Grün (Nr. 10 der Hering’schen Farbenserie) von grauen Eapieren 
nicht unterscheiden sn (6, p- 143 ff.). 


Daß die auf Blau dressierten Bienen gelegentlich auch Gelb 
in großen Mengen besuchten, ist eine Angabe, die den Versuch 
Tabelle 117, p. 169 meiner Abhandlung zur Grundlage hat; es 
wurde in diesem Falle außer den blauen Papieren auch eines der 
gelben Papiere von zahlreichen Bienen beflogen. Wieder ver- 
schweigt v. Heß jenen Umstand, der diese Ausnahme er- 
klärt. Ich habe vor die betreffende Versuchsreihe die Worte ge- 
setzt (p. 167): „Für die Verwechslungsversuche war es am 3. Tage 
der Dressur insofern noch zu früh,, als nach meinen sonstigen Er- 
fahrungen!*) (vgl. S. 74, 75) noch eine Nachwirkung der voran- 
gegangenen Dressur auf das Orangerot Nr. 3 zu erwarten 
war. Dies findet man in den Tabellen bestätigt; die „warmen“ 
Farben wurden noch relativ stark besucht. Ich wollte die Ver- 
suche nicht länger hinausschieben, da ich noch andere Experimente 
mit den Bienen vorhatte. Daß diese von den blauen und purpur- 
roten Papieren am stärksten angezogen wurden, geht trotz des er- 
wähnten Umstandes aus den Tabellen deutlich hervor.“ Es wurden 
nämlich auch bei jenem Versuche, bei welchem ein gelbes Papier 
so stark beflogen wurde, durchschnittlich die „kalten“ Farben noch 


12) Ich habe diese Verhältnisse in meiner Abhandlung (6) auf p. 16—18 
erörtert, 

13) Vgl. die Tabellen meiner Abhandlung Nr. 81 —S3, S5—94, 101, 105—110, 
113—119. 

14) Es handelt sich um Versuche über das Erinnerungsvermögen der Bienen. 


K. v. Frisch, Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen. 135 


beträchtlich stärker besucht als die „warmen“, und bei den sechs 
anderen, am gleichen Tage, bei der gleichen Versuchsanordnung 
durchgeführten Experimenten war dies noch in unvergleichlich 
höherem Maße der Fall. 

Von den soeben besprochenen Fällen abgesehen, 
haben die blaudressierten Bienen bei keinem meiner 44 
einschlägigen Versuche?’) graue, gelbe oder grüne Pa- 
piere in größerer Menge beflogen, hingegen jedesmal '°) 
die blauen oder purpurroten Papiere in großen Mengen 
(meist zu Hunderten) aufgesucht. 

Es muß ein schlechter Rechenmeister sein, wer das Verhalten 
der Bienen in diesen Versuchen „unberechenbar“ findet. 

4. „Auf Grasgrün dressierte Bienen gingen „aus un- 
bekanntem Grunde“ in großen Mengen auf Blau.“ 

Die auf „Grasgrün“ dressierten Bienen haben bei den 5 Ver- 
suchen, bei welchen ihnen die Farbenserie vorgelegt wurde, die 
„warmen“ Farben zu Hunderten beflogen, die „kalten“ Farben da- 
gegen kaum besucht. Nur einmal (Tab. 53) wurde ein blaues 
Papier stark beflogen, wobei die Art, wie dieser starke Besuch zu- 
stande kam, deutlich das Zufällige des Geschehnisses erkennen ließ 
(„plötzliche Klumpenbildung gegen Ende des Versuches“); auch ın 
diesem Falle wurden übrigens die „warmen“ Farben noch doppelt 
so stark besucht wıe die „kalten“. 


Auf die sonderbare Angabe, daß „.dressierte Bienen nicht 
imstande sind, auf Helligkeits- bezw. Farbenunterschiede zu 
reagieren. die von nichtdressierten Tieren augenblicklich mit 
voller Sicherheit wahrgenommen werden“ (12, p. 352), brauche 
ich wohl kaum ausführlich einzugehen. 

v. Heß sucht dies zu begründen, indem er darauf hinweist, 
daß bei seinen Versuchen die Bienen, wenn er ihnen zwischen 
einem Blau und einem (für den total farbenblinden Menschen dunk- 
leren) Purpurrot die Wahl läßt, stets nach der blauen Fläche eilen, 
während meine dressierten Bienen Blau und Purpurrot ver- 
wechseln, daß ferner die Bienen bei seinen Versuchen auf sehr 
kleine Helligkeitsunterschiede farblos grauer Flächen reagierten, 
während meine dressierten Tiere bei viel größeren Helligkeits- 
unterschieden grauer Papiere versagten. 

Für jeden, der seine und meine Versuche kennt, muß klar sein, 
daß dies auf die verschiedenen Versuchsbedingungen zu- 


15) Vgl. meine Abhandlung p. 14 (1 Vers.), p. 24 (2 Vers.), p. 27 (2 Vers.), 
Tab. 81—119. 

16) Abgesehen von den 5 Versuchen, bei welchen ihnen kein blaues oder pur- 
purrotes Papier dargeboten wurde (vgl. oben). 


EN Te ET AAN ee 
154 K. v. Frisch, Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen. 


rückzuführen ist. v. Heß experimentiert mit frisch vom Stocke 
geholten, in einem Behälter eingesperrten und unter diesen Be- 
dingungen positiv phototaktischen Bienen; sie zeigen das Be- 
streben, von zwei ihnen gleichzeitig sichtbar "gemachten Flächen 
jener Fläche zuzulaufen, die ihnen heller erscheint. Bei meinen 
Versuchen sind die Bienen nicht positiv phototaktisch und 
die Helligkeit der Papiere ist innerhalb weiter Grenzen ohne Ein- 
fluß auf ihre Reaktionen; als ich sie auf ein Grau von bestimmter 
Helligkeit zu dressieren versuchte, wurde von ihnen verlangt, 
daß sie sich ein bestimmtes Grau der fein abgestuften, in buntem 
Durcheinander aufgelegten Grauserie merken und nach dem 
Gedächtnis wiederfindensollten. Daß sie hierbei das Dressurgrau 
von anderen Grauabstufungen nicht unterscheiden lernten, wird 
selbstverständlich von niemandem als Beweis dafür angesehen wer- 
den, daß sie die betreffenden Helligkeitsunterschiede nicht wahr- 
nehmen können. 

Überdies sind die oben zitierten Sätze wieder eine ganz ein- 
seitige Darstellung der tatsächlichen Verhältnisse. v. Heß hätte 
hinzufügen müssen, daß unter gewissen Bedingungen gerade umge- 
kehrt meine dressierten Bienen Farbenunterschiede, bei welchen 
seine nicht dressierten Tiere vollständig versagen, mit voller 
Sicherheit unterscheiden. Dies ist z. B. der Fall, wenn man blau- 
dressierten Bienen — wie ich es auf dem F keiburger Zoologentag 
demonstriert habe (5, p. 57) — ein blaues und ein graues Papier 
von gleichem farblosen Helligkeitswerte vorlegt. Sie be- 
fliegen dann ausschließlich das blaue Papier, während die positiv 
phototaktischen Tiere unter den v, Heß’schen Versuchsbedingungen 
nach seinen Angaben zwischen einem Blau und einem Grau von 
gleichem en Helligkeitswerte keinen Unterschied machen. 


Dressurversuche nach v. Heß (12, p. 553ff.). v. Heß ıst es 
geglückt, eine weitere. Versuchsanordnung zu finden, bei‘ welcher 
die Dressur auf Farben nicht gelingt. 

Er hat bisher — soweit es aus seinen Publikationen zu ent- 
nehmen ist — meine Versuche niemals ın der Form nach- 
geprüft, wie ich sie angegeben habe, obwohl ich mich doch, 
wie er sagt, nunmehr der von ihm „entwickelten Methoden“ be- 
diene und damit Ergebnisse erzielt habe (v. Heß, 12, p. 353). 

Er hat bereits ın einer früheren Arbeit (9) mißlungene Dressur- 


versuche mitgeteilt. Welche Umstände man — soweit sie aus 
seinen Mitteilungen ersichtlich sind — für das Mißlingen der Dressur 


nach seinen Methoden verantwortlich machen kann, habe ich ın 
meiner Arbeit (6, p. 28ff.) besprochen. v. Heß kommt jetzt (12 
p. 359 ff.) auf meine dort vorgebrachten Einwände zurück, wobei 
er diese unvollständig zitiert und es im übrigen geschickt ver- 








EL umgnaı Sa SB ed BI DC 





K. v. Frisch, Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen. 135 


meidet, auf ihren wesentlichen Inhalt einzugehen. Es wäre ver- 
lockend, dies ım einzelnen darzulegen; doch würde es viel Raum 
beanspruchen und eine Förderung des Problemes ist von einer 
solchen Auseinandersetzung nicht zu erwarten. 

Es scheint mir nach diesen Erfahrungen auch eine Diskussion 
seiner neuen Dressurversuche wenig erfolgversprechend. Ich sehe 
von einer solchen auch deshalb ab, weil uns die Mitteilungen, die 
v. Heß über seine Versuchsanordnung macht, über wesentliche 
Punkte im Unklaren lassen. Ich könnte über die Ursachen des 
Mißlingens seiner neuen Versuche nur Vermutungen äußern. Es 
genügt, daß wir eine Methode kennen, nach welcher die Dressur 
auf Farben mühelos und zuverlässig gelingt. 


In der Auseinandersetzung (12) p. 354, Anm., hat v. Heß, wie so oft, einen 
wesentlichen Teil meiner Ausführungen bei der Wiedergabe derselben weggelassen 
und bei der Entgegnung nicht berücksichtigt. Ich verweise diesbezüglich auf das, 
was ich in meiner Arbeit (6), p. 23, Anm., tatsächlich gesagt habe. 


„Die Vorführung dressierter Bienen beim Freiburger Zoo- 
logentag.*“ — Mit seinen „Freiburger Vorführungen hat v. Frisch 
selbst der Annahme eines Farbensinnes bei Bienen die letzte 
Stütze genommen“ (12, p. 364, 365, 366). 

Einige jener Versuche, die nach den Anschauungen von ©. v. Heß 
nicht gelingen dürfen und die ja auch nach seiner Angabe „sämt- 
lich -unrichtig“ sind, habe ich der Versammlung der deutschen zoo- 
logischen Gesellschaft zu Freiburg i. B. zu Pfingsten 1914 demon- 
striert (5). 

Ich habe dort u. a. gezeigt, daß Bienen, die 2 Tage lang auf 
Blau dressiert worden waren, ein blaues Papier —— welches sie 
nach v. Heß als ein farbloses Grau von bestimmter Helligkeit 
sehen — von grauen Papieren jeder beliebigen Helligkeit (genügend 
fein abgestufte Grauserie) mit Sicherheit unterscheiden. Zur Wider- 
legung Es schon oben erwähnten Einwandes, daß sich dıe Bienen 
hierbei nach einem für uns nicht wahrnehmbaren Duft des blauen 
Papieres richten, war bei den Versuchen über alle Papiere eine 
Glasplatte gedeckt. Brachte ich die über dem Blau entstandene 
Bienenansammlung durch Verschieben der Glasplatte auf ein graues 
Papier, so löste sich binnen !/,—!/, Minute der alte Bienenknäuel 
vollständig auf und auf dem Blau entstand ein neuer !”). 

‚ Auch habe ich dort oftmals folgenden Versuch vorgeführt: 
bietet man den blaudressierten Bienen „nebeneinander das blaue 
und das entsprechende graue Originalpapier der Hering’schen Zu- 


17) Wie sich v. Heß vorstellt, daß die mit dem Verschieben der Glasplatte 
verbundene „Erschütterung“ die Bienen veranlassen soll, vom Grau weg immer 
just wieder zum Blau zu fliegen, ist mir nicht klar geworden (v. Heß [12], 
p. 355, 356). 


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D Dead RE 





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N IR . 


136 K. v. Frisch, Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen. 


sammenstellung !°), also zwei Papiere, welche für einen total farben- 
blinden Menschen den gleichen farblosen Helligkeitswert besaßen, 
und deckt die Glasplatte darüber, so entsteht prompt auf dem Blau 
der Bienenknäuel, während das Grau unbeachtet bleibt. Verschiebt 
man nun die Glasplatte, sodaß der Bienenknäuel auf das Grau 
kommt, so löst er sich auf und bildet sich von neuem auf dem 
Blau“ (5, p. 57). 

Es ist interessant, zu welchem Erklärungsversuch v. Heß in 
Anbetracht dieser Tatsachen seine Zuflucht nimmt. 


Er behauptet (12, p. 365), ich hätte schon 1912 ermittelt, „daß 
Bienen, selbst wenn sie niemals auf Blau gefüttert waren, sogar 
"nach 8 Tage langer Dressur auf graue Papiere trotzdem 
vorwiegend blaue und purpurfarbige Papiere befliegen und sich hier 
in viel größeren Mengen sammeln als auf den grauen, auf die sie 
dressiert waren“, der Blaubesuch sei also nach meiner eigenen Fest- 
stellung keine Folge der Blaudressur. -Hätten die Teilnehmer an 
den Versuchen dies gewußt, „so würde niemand mehr an eine 
Farbendressur der Bienen glauben“. ’ 


Abgesehen davon, daß ıch mir wirklich nicht bewußt 
bin, diese merkwürdige Sache ermittelt zuhaben'”), über- 
sieht v. Heß sonderbarerweise, daß es für die Beweis- 
kraft meiner Versuche ganz gleichgültig ist, aus welchem 

15) Es handelt sich um eine Zusammenstellung farbiger und grauer Papiere, 
die Hering von einem total farbenblinden Menschen hatte machen lassen ; sie ent- 
hält neben jedem farbigen Papier das graue Papier, welches dem total farbenblinden 
Menschen mit dem farbigen Papier gleich erscheint. 

19) Die objektive Grundlage für den Heß’schen Einwand bilden zwei Ver- 
suche (vgl. meine Abhandlung [6], Tabelle 4 und 5, p. 106), bei welchen ich den 
auf ein Grau von mittlerer Helligkeit dressierten Bienen gleichzeitig die aus 
30 Nummern bestehende Grauserie und die aus 16 Nummern bestehende Farben- 
serie vorlegte. Die Dressur auf jenes Grau war vollständig mißlungen, die Bienen 
hatten infolge der feinen Abstufung der Grauserie nicht gelernt, daß ein bestimmtes 
Grau im Gegensatze zu den anderen Grauabstufungen die Anwesenheit von Futter 
bedeute, sie richteten sich also bei der Dressur nicht nach dem Grau, sondern 
suchten direkt das Zuckerwasser oder flogen einfach den zufällig zum Zuckerwasser 
gelangten Bienen zu. Bei den Versuchen, wo alle Papiere der Grauserie mit 
reinen, leeren Uhrschälchen versehen waren, äußerte sich das Mißlingen der Dressur 
darin, daß die Bienen völlig ziellos über dem Tisch herumschwärmten und daß ein- 
zelne, sich auf beliebige Papiere niedersetzende Tiere leicht zahlreiche andere zu 
sich zogen. So kam es regellos bald‘ da, bald dort zu größeren Bienenansamm- 
lungen. In zwei Fällen habe ich nun, wie schon erwähnt, außer der Grauserie 
auch die Farbenserie aufgelegt. In einem Falle erhielt den stärksten Besuch ein 
purpurrotes Papier (Nr 16 der Serie), doch war seine Frequenz nur wenig höher 
als die Frequenz mehrerer grauer Papiere, nämlich binnen '/, Stunde 25 Bienen auf 
dem Purpurrot, 16, 13, 11 ete. auf verschiedenen grauen Papieren; das andere, 
dem Blau näherstehende Purpurrot (Nr. 15) und die drei blauen Pa- 
piere wurden schwächer besucht als viele graue Papiere (8, 5, 2 und 
1 Besucher). Beim zweiten Versuch entstand auf dem Purpurrot Nr. 16 gleich 









K. v. Frisch, Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen. 137 


Grunde die Bienen nach dem Blau suchen. Die Experimente 
sollten zeigen, daß die Bienen ein blaues Papier, welches ihnen 
nach v. Heß genau so erscheint wie ein graues Papier von be- 
stimmter Helligkeit, tatsächlich von grauen Papieren jeder Hellig- 
keit mit Sicherheit unterscheiden können. Um sie zu veranlassen, 
nach dem Blau zu suchen, habe ich sie auf Blau dressiert, da 
ich — im Gegensatze zu der von C.v. Heß geäußerten Meinung — 
bislang nicht überzeugt bin, daß die Bienen auch ohnedem auf Blau 
losfliegen. Wäre dies der Fall, so hätte ich mir die Dressur er- 
sparen und der Versammlung auch so zeigen können, daß die 
Bienen das Blau nach seinem Farbwert von grauen Papieren 
unterscheiden. 


v. Heß übergeht deu zweiten oben (erwähnten, ‚in Freiburg 
demonstrierten Versuch, der direkt auf seine Theorie zugeschnitten 
ist, mit Stillschweigen: daß nämlich die blaudressierten Bienen ein 
unter Glas dargebotenes blaues Papier von einem grauen Papier, 
welches dem total farbenblinden Menschen mit dem Blau gleich 
erscheint, wohl !unterscheiden. Dies kann, wenn seine Ansicht 
richtig ist, nicht der Fall sein. Es war aber der Fall und es ge- 
schah in allen Versuchen mit einer Schnelligkeit und Sicherheit, 
die den Teilnehmern an jenem Kongreß noch in Erinnerung sein 
wird. 


Ich hätte mich ja auch schwerlich entschlossen, dressierte Bienen, 
deren Verhalten „unberechenbar“ ist, auf öffentlichen Versamm- 
lungen vorzuführen. 


In einer, Fußnote der vorliegenden Arbeit kommt v. Heß auf 
den Farbensinn der Fische zurück. 


zu Anfang eine große Bienenansammlung, von den blauen Papieren wurde eines 
etwas stärker besucht als graue Papiere (39 Bienen gegenüber 29, 29, 17, 16 etc. 
auf verschiedenen grauen Papieren binnen '/, Stunde), die beiden anderen 
blauen und das dem Blau näherstehende purpurrote Papier wurden 
von 8, 13 und 14 Bienen besucht, Frequenzzahlen, wie sie in diesem 
Versuche auch viele graue Papiere aufzuweisen hatten. Wenn man 
diese Zahlen mit jenen vergleicht, wie sie an blaudressierten Bienen erhalten wur- 
den, wird man gar nicht auf den Gedanken verfallen, daß hier ein der Blaudressur 
ähnlicher Effekt vorliegen könnte. Niemals haben blaudressierte Bienen das Blau 
und das Purpurrot Nr. 15 relativ so spärlich,. die grauen Papiere so zahlreich be- 
flogen. 

v. Heß hätte also aus den Versuchen höchstens entnehmen können, daß die 
auf Grau dressierten Bienen vorwiegend das eine purpurrote Papier (Nr. 16) be- 
flogen haben. Wie dies zu erklären war, habe ich nicht verfolgt. Es kann auch 
«Zufall gewesen sein. Meine „Ermittlungen“ pflege ich nicht auf zwei, noch 
dazu nicht eindeutige Versuche zu gründen. 


Band 39. 10 


138 K. v. Frisch, Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen. . 


Ich habe an anderer Stelle gezeigt (1,2, 3), wie sich die Farben- 
anpassung an den Untergrund bei der Pfrille (Ellritze) zum Nach- 
weise ihres Farbensinnes verwerten läßt. v. Heß hat die Richtig- 
keit der betreffenden Versuche bestritten und in direktem Wider- 
spruch zu meinen Angaben behauptet, „daß gelber Untergrund auf 
die Färbung der Pfrillen keinerlei nachweislichen Einfluß hat“ 
(8, p. 407). 

In Anbetracht dessen hatte Prof. Richard v. Hertwig die 
Freundlichkeit, solche Versuche und die Protokollführung über die- 
selben mit mir gemeinsam vorzunehmen. Er bestätigte ıhre Rich- 
tigkeit. Die Protokolle sınd in meiner Arbeit „Weitere Unter- 
suchungen über den Farbensinn der Fische“ (4, p. 53ff.) ver- 
öffentlicht. 


Nun schreibt v. Heß ın der erwähnten Fußnote (12, p. 361), 
er habe schon früher betont, daß man nur durch eine große Anzahl 
von lange fortgesetzten Beobachtungsreihen ein klares Bild von 
diesen Verhältnissen bekommen und durch Zufälligkeiten bedingte 
Täuschungen vermeiden könne. „Trotzdem hat R. v. Hertwig 
auf Grund der Teilnahme an einem einzigen (!) verwertbaren und 
an zwei weiteren, infolge zugestandener Versuchsfehler wertlosen 
Versuchen v. Frisch’s die Richtigkeit jener Angaben bestätigt, 
deren Unrichtigkeit für den aufmerksamen Beobachter so leicht 
und eindringlich festzustellen ist.“ 


Hierzu bemerke ich: Erstens: Die zwei „infolge zugestandener. 
Versuchsfehler wertlosen Versuche* kann ich in unserem Protokoll 
nicht finden. Zweitens: R. v. Hertwig hat, wie aus unserem 
Protokoll ersichtlich ist, nicht „an einem einzigen verwertbaren und 
an zwei weiteren... wertlosen Versuchen“ teilgenommen, sondern 
an zwei Versuchsreihen, ber’ welchen insgesamt zweiund- 
zwanzig Pfrillen auf ihre Reaktionsfähigkeit auf gelben 
Untergrund durch mehrmaliges Wechseln des Unter- 
gsrundes geprüft wurden. Hierbei haben sich zwei, nach- 
gsewiesenermaßenabnorme Tiere nıcht verändert, bei den. 
zwanzig anderen Tieren ist die Gelbfärbung beim Ver- 
setzen auf gelben Untergrund jedesmal eingetreten. 


Die Einzelheiten sind aus unseren Protokollen (l. ec.) zu er- 
sehen. Diese wenigen Worte aber dürften genügen, um zu zeigen, 
wie weit sich die Darstellung, die v. Heß gibt, von der Wirklich- 
keit entfernt. 


Anmerkung des Herausgebers Wie aus den von 
Dr. v. Frisch gemachten Mitteilungen hervorgeht, hat Herr Prof. 
v. Heß in seiner neuesten Streitschrift gegen Dr. v. Frisch sich 
bemüßigt gesehen auch mich anzugreifen. Es geschieht dies in 









a Sa are EN NE ER rk a TE RD Ber EI EA TRR 
en: Wer IRRE ES ER m old x R> ET 
- K. v. Frisch, Zur Streitfrage nach dem Farbensinn der Bienen. 139 


einer Weise, welche darauf ausgeht mich ın den Augen von Fach- 
genossen zu diskreditieren. Da v. Frisch schon auseinandergesetzt 
‘ hat, wie unrichtig die Darstellung des Sachverhalts ist, auf Grund 
deren Herr Prof. v. Heß seine Angriffe gegen mich gerichtet hat, 
könnte ich mich darauf beschränken, gegen das von C. v. Heß 
beliebte Verfahren Verwahrung einzulegen. Ich möchte aber noch 
einen weiteren Punkt richtig stellen. v. Heß sagt, ich hätte die 
„Richtigkeit der Angaben bestätigt“, „alle Ellritzen färbten sich 
auf gelbem Grunde gelb, diese Gelbfärbung gehe auf farblosem 
Grund wieder zurück“. Das ist nicht richtig. Ich habe mich viel- 
mehr darauf beschränkt, worum ich auch allein gebeten worden 
war, festzustellen, daß die Protokolle, welche Dr. v. Frisch üker 
seine an 22 Ellritzen ausgeführten Versuche aufgenommen hatte, 
den Sachverhalt richtig wiedergaben. Richard Hertwig. 


Zitierte Literatur. 


1. Frisch, K. v., Über den Farbensinn der Fische. — In: Verhandl. d. deutsch. 
zoolog. Gesellsch., 1911, p. 220—225. 


2, — Über farbige Anpassung bei Fischen. — In: Zoolog. Jahrb. Abt. f. allgem. 
Zoolog. u. Physiol. d. Tiere, Bd. 32, 1912, p. 171—230. 

3. — Sind die Fische farbenblind? — In: Zoolog. Jahrb., Abt. f. allgem. 
Zoolog. u. Physiol. d. Tiere, Bd. 33, 1912, p. 107—126. 

4. — Weitere Untersuchungen über den Farbensinn der Fische. — In: Zoolog. 


Jahrb., Abt. f. allgem. Zoolog. u. Physiol. d. Tiere, Bd. 34, 1913, p.43—68. 
-—- Demonstration von Versuchen zum Nachweis des Farbensinnes bei an- 
geblich total farbenblinden Tieren. — In: Verhandl. d. deutschen zoolog. 
Gesellsch., 1914, p. 50—58. : - 
6.. — Der Farbensinn und Formensinn der Biene. — Zool. Jahrb., Abt. f. 
allgem. Zoolog. u. Physiol. d. Tiere, Bd. 35, 1915, p. 1—188. Auch 

separat erschienen, Jena 1914. 


oO. 


7. Heß, C., v., Untersuchungen über den Lichtsinn bei Fischen. — In: Archiv f. 
Augenheilkunde, Bd. 64, Ergänzungsheft, 1909. 
8. — Neue Untersuchungen zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes. 


— In: Zoolog. Jahrb., Abt. f. allgem. Zoolog. u. Physiol. d. Tiere, Bd. 33, 
1913, p. 387— 440. 

9. — Experimentelle Untersuchungen über den angeblichen Farbensinn der 
Bienen. — In: Zool. Jahrb., Abt. f. allgem. Zoolog u. Physiol. d. Tiere, 
Bd. 34, 1913, p. 81--106. 


10. —- Messende Untersuchung des Lichtsinnes der Biene, — In: Arch. f. d. ges. 
Physiol., Bd. 163, 1916, p. 289—320. 

‚11. —- Der Farbensinn der Vögel und die Lehre von den Schmuckfarben. — 
In: Arch. f. d. ges. Physiol., Bd. 166, 1917, p. 381—426. 

12. -—- Beiträge zur Frage nach einem Farbensinne bei Bienen. — In: Arch. f. 


d. ges. Physiol., Bd. 170, 1918, p. 337—366. 


10° 


440 W. J. Schmidt, Vollzieht sich Ballung und Expansion des Sa ete. 


Vollzieht sich Ballung und Expansion des Pigmentes 
in den Melanophoren von Rana nach Art amöboider 
Bewegungen oder durch intrazelulläre Körnchen- 
strömung? 

Von Prof. W. J. Schmidt in Bonn. 

(Mit 2 Abbildungen.) 

Bekanntlich standen sich lange Zeit zwei Anschauungen über die 
Tätigkeit der Melanophoren gegenüber. Ein Teil der Forscher nahm an, 
die Ballung und Expansion des Pigmentes vollziehe sich nach Art 
amöboider Bewegungen, d.h. die Pıgmentzellen vermöchten pseudo- 
podienartige Fortsätze auszusenden und einzuziehen, so daß die Zelle 
bei der Ausbreitung des Melanins verästelt, bei der Ballung da- 
gegen ohne Ausläufer, mehr oder minder kugelig abgerundet sei. 
Der andere dagegen elaubte, daß die Zellen ihre ale Form 
dauernd beibehielten, gleichgültig ob das Pigment geballt oder ex- 
pandiert sei, daß nur im Expansionszustand die Pennterallien 
Fortsätze leicht, bei der Ballung dagegen infolge der Entleerung 
vom Melanin schwer oder gar nicht zu sehen seien. Die letzte 
Auffassung nötigte dann weiter zur Annahme, daß die Verlagerungen 
der Pigmentgranula in der formkonstanten Zelle als intrazelluläre 
Körnchenströmungen ablaufen. 

Alle neueren Untersucher stimmen für die schwarzen Chroma- 
tophoren der Fische und Reptilien der zweiten Deutung zu und 
zwar vornehmlich aus folgenden Gründen. Zunächst hat man beim 
Ballungszustand des -Melanins pigmentfreie Ausläufer tatsäch- 
lich nachgewiesen und damit dargetan, daß die Ballung des Pig- 
ments ohne Einziehen der Zellfortsätze vor sich gehen kann. "Ferner 
erscheinen bei stark geballtem Pigment die Kerne außerhalb 
der Pıgmentmasse gelegen; da nun weiter durch Beobachtungen 
am lebenden Objekt (Fische) gezeigt werden konnte, daß die Kerne 
beı der Tätigkeit der Zellen ihre Lage nicht verändern, muß not- 
wendigerweise der Zelleib nicht nur weiter reichen als das leicht 
sichtbare Melanın, sondern es wird äußerst wahrscheinlich, daß er 
in seinen Umrissen überhaupt unverändert geblieben ist. Schließ- 
lich hat man beobachtet, daß der Verästelungszustand einer Zelle 
vor und nach einer Ballung bis in die Einzelheiten hinein derselbe 
war, was kaum denkbar ist, wenn es sich um amöboide Tätigkeit 
handelte — es sei denn, daß die Pseudopodien sich in einem prä- 
formierten Lückensystem im Gewebe bewegten. 

Bei den Amphibien ist eine Einigung über die Art der Me- 
lanophorentätigkeit noch nicht erzielt, wie man der nn 
lung von Fuchs (1914, Handb. d vgl. Physiol. v. Winterstein 
Bd, III, 1. Hälfte, 2. Teil) entnehmen mag, auf die ich auch hin- 








W. J. Schmidt, Vollzieht sich Ballung und Expansion des Pigmentes ete. 141 


sichtlich der vorhin gemachten Angaben verweise. Zwar neigt die 
Mehrzahl der neueren Autoren auch hier der Annahme intrazellu- 
lärer Körnchenströmungen zu, aber vor einiger Zeit hat sich Daven- 
port Hooker (The reactions of melanophores of Rana fusca in 
the absence of nervous control, Z. f. allg. Physiol. 14, 1913 p. 93—104 
und: Ameboid movement in the .corial melanophores of frogs, 
Anat. Record 8, 1914, p. 103) wiederum ganz bestimmt für amöboıde 
Tätigkeit bei den Kutismelanophoren des Frosches ausgesprochen. 
Sınd die Anschauungen Hooker’s richtig, dann klafft ein schwer 
verständlicher Gegensatz zwischen den Melanophoren der Fische 
und Reptilien einerseits, denen der Amphibien andererseits. 

Hooker’s Befunde sind kurz zusammengefaßt folgende: An 
Schnitten durch die Haut von Aana fusca erschienen die in Ballungs- 
zustand versetzten Chromatophoren gut abgegrenzt und von braun- 
schwarzer Farbe; nur in einigen Fällen gingen von ihnen feine 
pigmenthaltige Fortsätze aus Hier und da war zu erkennen, daß 
die Zellen in Höhlen lagen, die vielleicht endothelial ausgekleidet 
seien. In diesen Höhlen sollen die Chromatophoren sich als ganzes, 
nach Art von Amöben ausdehnen und zusammenziehen. Die Tat- 
sache, daß die Expansionsphasen ein und derselben Zelle stets gleich 
sind, soll durch die konstante Form der vorgebildeten Lücken be- 
dingt sein. Waren die Farbzellen expandiert, so erschienen die 
Fortsätze von röhrenartigen Räumen umgeben. Daß diese Röhren 
nicht überall sichtbar sind, erklärt Hooker durch den Gewebsdruck, 
der sie mehr oder minder schließt. In Hautstücken, die in Blut- 
plasma drei Tage lebend erhalten wurden, zeigten sich die ge- 
schilderten Lymphräume sehr klar, was der Autor auf das Fehlen 
des Gewebsdruckes zurückführt. Wie Hooker einen deutlichen 
Hinweis, daß die Zellen sich als ganzes expandieren und zusammen- 
ziehen, darin sieht, daß die Verteilung des Pigments in der Expan- 
sıon gleichmässig im ganzen Zelleib sei, aber so, daß bei dem ver- 
ringerten Durchmesser des Zellkörpers und der Fortsätze die einzelnen 
Körnchen gut sichtbar seien, während die im geballten Zustand eben- 
falls gleichmäßig verteilten Körnchen nicht zu unterscheiden seien, 
verstehe ich nicht recht. Hooker kommt so zu dem Ergebnis: 
die Melanophoren liegen in vorgebildeten Spalten und ihre Tätigkeit 
beruht auf dem Einziehen und Aussenden von Pseudopodien. 

Bei der Untersuchung verschieden fixierter (Sublimat und 
Flemming’s Gemisch) und gefärbter (Eisenhämatoxylin, Thionin- 
Eosin, polychromes Methylenblau-Eosin, zum Teil mit Chlor ge- 
bleichter) Schnitte der Rückenhaut von Rana esculenta (und bei 
einigen Stichproben an Rana fusca) finde ich Hooker’s Angaben 
über präformierte Lücken um die Chromatophoren herum nicht 
bestätigt. Die Melanophoren verhalten sich in diesem Punkte nicht 
anders wie irgendwelche Zellformen der Kutis, seien es nun Fibro- 


142 W. J. Schmidt, Vollzieht sich Ballung und Expansion des Pigmentes etc. 
blasten, Mastzellen u.s. w., d. h. sie liegen zwischen den Binde- 
gewebsfasern, ohne daß irgendeine besondere (endotheliale) Ab- 
srenzung des Bindegewebes gegen den Leib der Chromatophoren 
vorhanden wäre. Wie jede größere interfibrilläre Einlagerung 
bleibt natürlich die Gegenwart der Melanophoren nicht ganz ohne 
Einfluß auf den Verlauf der benachbarten Bindegewebsfibrillen, oder 
auch umgekehrt. Die Melanophoren passen sich eben in ihrer Form 
der Umgebung an. Das sind aber Beziehungen, die alle Zellformen 
der Kutis zu ihrer Umgebung zeigen, und wenn man die Räume, 
welche für die Zellen im Gewebe ausgespart bleiben müssen, als 
Lymphräume bezeichnen will — die aber einer besonderen Abgren- 
zung entbehren —, so ist das zwar nicht üblich, aber immerhin 
verständlich. 

Während ich nun die Angaben Hooker’s nicht bestätigen 
kann, sehe ich dagegen mit der größten Deutlichkeit pigment- 
freie Ausläufer an Melanophoren ım Ballungszustand. Fig. 1 u. 2 





Fig. 1. Fig. 2. 


stellen derartige Melanophoren nach einem Flachschnitt durch die 
Rückenhaut von Rana eseulent« dar. In Fig. 1 bildet das Melanın 
eine tief dunkle, etwas unregelmäßig geformte Masse mit kugeligen 
Vorwölbungen; von ihr gehen an zwei Stellen pigmentfreie Aus- 
läufer ab, die mit etwas verbreiterter Basis an den Zelleib an- 
setzen, bald aber sich fadenartig verschmälern; an einer dritten 
Stelle ragt der Kern aus der. geballten Pigmentmasse zum Teil 
hervor. Fig. 2 bietet ım wesentlichen dasselbe Bild dar, nur ist 
die Zahl der im Schnitt’ gelegenen Ausläufer größer, und der auch 
hier zum Teil sichtbare Kern liegt an der Basis. eines pigment- 
freien Ausläufers, wie es oft der Fall ist. Solche Bilder, die in 
den Präparaten dutzendweise zu beobachten sind, »bestätigen durch- 
aus die Angaben früherer Autoren (Lister, Biedermann vgl. bei 
Fuchs 1914), die bei Fröschen pigmentfreie Ausläufer festgestellt 
haben; sie zeigen, daß bei vollkommen geballtem Melanın 
die Ausläufer bestehen bleiben können. Schon Bieder- 
mann hat seinerzeit in vorsichtiger Beschränkung auf das, was mit 
Sicherheit aus diesem Befund geschlossen werden kann, die Mög- 









Kö er ARDHR N SB a Pe BP ie ae 
9 


W. J. Schmidt. Vollzieht sich Ballung und Expansion des Pigmentes ete. 145 


lichkeit offen gelassen, daß vielleicht noch ein nachträgliches Einziehen 


der pigmentfreien Fortsätze stattfinden könne. Aber selbst wenn das 


zutreffen sollte, was deshalb nicht wahrscheinlich ist, weil die be- 
schriebenen Fortsätze an Zellen mit vollkommener Ballung des 
Melanıns zu beobachten sind, handelt es sich beim Ballungs- und 
Expansionsvorgang selbst um intrazelluläre Körnchenströ- 
mungen. 

Übrigens erinnern die Bilder in allen wesentlichen Punkten an 
die entsprechenden von Fischen und Reptilien (vgl. W.J. Schmidt, 
Die COhromatophoren der Reptilienhaut, Arch. f. mikr. Anat. 90, 
1917, Taf. IX); das gilt auch für die Lage des Kernes, der sich 
wenigstens zum Teil außerhalb des geballten Melanins befindet 
(s. 0.). Auffallend ist die mit großer Regelmäßigkeit, wenn auch 
nicht ohne jede Ausnahme zu beobachtende Erscheinung, daß die 
pigmententleerten Ausläufer so sehr viel feiner sind als die pigment- 
erfüllten. Daß ein Verschmälern der Ausläufer beim Abströmen 
des Pigments stattfinden muß, ist selbstverständlich; dem entspricht 
ja auch, daß der zentrale Zellteil bei der Ballung umfangreicher 
und mehr kugelig wird. Gewisse Formveränderungen der Zellen 
finden also auch bei der intrazellulären Körnchenströmung statt; 
sie haben aber nichts mit amöboıden Erscheinungen zu schaffen. 
Darauf habe ich schon vor einer Reihe von Jahren hingewiesen 
(Beobachtungen an der Haut von @Geckolepis und einigen anderen 
Geckoniden 1911, in: Voeltzkow, Reise ın Ostafrika in den Jahren 
1903— 1905, Bd. IV). Doch war ich einigermaßen überrascht, daß 
die pigmentfreien Ausläufer bei Rana von so geringem Kaliber 
sind. Es wird aber auch bei der Ballung mit dem Pigment Plasma 
abströmen müssen und vielleicht hat Biedermann nicht Unrecht, 
wenn er annehmen möchte, die pigmentfreien Ausläufer beständen 
aus einem festeren Plasma. Im übrigen muß ich Hooker (1914) 
beistimmen, wenn er für den Frosch das Vorkommen intrazellu- 
lärer Kanälchen (Ballowitz bei Fischen), stabartiger Strukturen 
im Zelleib oder überhaupt das Vorhandensein eines spezialisierten 
Plasmas, ferner eine bestimmte Ordnung der Granula zueinander 
oder zum Kern ablehnt. Es kommt aber den Melanophoren des 
Frosches gleich denen der Fische und Reptilien ein zelluläres Zen- 
trum zu, das wie dort genau die Mitte des geballten Pigments ein- 
nimmt. KRadiärstrahlige Bildungen sind aber um dieses Zentrum 
herum so gut wie gar nicht zu beobachten und damit mag die un- 
geordnete Bewegung der Pigmentgranula im Gegensatz zur Reihen- 
bewegung bei den Fischen zusammenhängen (vgl. W. J. Schmidt 
1917, Die Chromatophoren u. s. w., S. 0.). Genaueres über dieses 
Gebilde, ebenso über die pigmentfreien Ausläufer und die Kern- 
verhältnisse der Melanophoren beim Frosch bringe ich in einer 
Arbeit, die im Arch. f. Zellforschung in Druck gegeben ist. 


BEN NER N N OEL ALT BER AN er By AR a a ” 
7 2 ar 


“ BET 


444  W. J. Schmidt, Vollzieht sich Ballung und Expansion des Pigmentes “ig 


Hooker hat seine Behauptung, die Tätigkeit der Melanophoren 
beim Frosch vollziehe sich wie jene der Amöben, auch auf die 
Larven ausgedehnt. Nun kommen in der Epidermis von Frosch- 
larven pigmentbeladene Zellen vor, die ausgesprochen amöboıde 
Bewegungen zeigen (vgl. meinen ım Zool. Anz. erscheinenden Auf- 
satz: Einige Beobachtungen an melaninhaltigen Zellformen des 
Froschlarvenschwanzes); ob diese Zellen aber später zu den im 
Epithel gelegenen Melanophoren werden, ist noch fraglich. Bei’ 
den Kutis-Melanophoren der Froschlarven dagegen konnte ich mich 
nach Beobachtungen am überlebenden Material nicht vom Vor- 
handensein amöboider Bewegungen überzeugen; vielmehr entsprach 
die Art der Verlagerung der Granula viel mehr ıintrazellulären 
Körnchenströmungen (s. am letztgenannten. Ort), allerdings konnte 
ich pigmentfreie Ausläufer bei den kutanen Melanophoren (im über- 
lebenden Zustand) nicht feststellen. So wıll ich denn die Möglıch- 
keit amöboider Bewegungen bei jugendlichen Chromatophoren der 
Froschlarven nicht bestreiten, zumal auch Holmes (1913, Univ. 
Calıf. Publ., Zoology, Vol. 11, p. 143—154 Observations on isolated 
living pigment cells from the larvae of amphibiens) derartige Be- 
wegungen beobachtet hat. Anscheinend hat derselbe Autor (ibidem 
Vol. 13 p. 167—174, The movements and reactions of the isolated 
melanophores of the frog) amöboıde Bewegungen bei isolierten 
Chromatophoren des erwachsenen Frosches beobachtet. Beide 
Arbeiten von Holmes sind mir bislang nur durch den kurzen Hin- 
weis auf ihren Inhalt in der Bibliographia zoologica zugänglich ge- 
worden. Jedenfalls aber liefert das Auftreten amöboider Be- 
wegungen an Melanophoren unter so ganz anders gearteten Be- 
dingungen keinerlei Beweis gegen die von mir vertretene An- 
schauung, daß unter normalen Verhältnissen die Tätigkeit der 
Melanophoren des erwachsenen Frosches auf intrazellulärer Körn- 
chenströmung beruht. 


Verlag von Georg Thieme in 1 Leipzig, Antönstraße 15. — Druck der Universitäts- 
Suchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen. 








Biologisches Zentralblat 


Begründet von J. Rosenthal 


Unter Mitwirkung von , 


Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig 


Professor der Botanik Professor der Zoologie 
in München 


° 


herausgegeben von 
Dr. E. Weinland 


Professor der Physiologie in Erlangen 


Me von Georg Thieme in Leipzig 


39. Band April 1919 N 
ah am 30. April 1919 





Der jährliche Krsnsmeltehreik (12 Hefte) Beet 20 Ta, 


Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten 


Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an 


Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, 
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, 
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physiolog. Institut, 


einsenden zu wollen. 








Inhalt: BE a lenened der Hautflügler. S. 145, 
H. Henning. Mnemelehre oder Tierpsychologie? S. 187. 





Stammesgeschichte der Hautflügler. 

Von Carl Börner. 
Vorl. Mitteilung aus der Biologischen Reichsanstalt für Land- und Forstwirtschaft. 
(Mit 6 Textabbildungen und einem Verw.'ndtschaftsschema.) 


Von meinem Freunde Herrn J. D. Alfken, unserem best- 
bekannten Bremer Bienenforscher, zu einer vergleichend-morpho- 
logischen Studie über die Mundwerkzeuge der Bienen angeregt und 

- von ihm in reichem Maße mit wertvollem Untersuchungsmatersal 
unterstützt, begann ich im Herbst vorvergangenen Jahres eine ein- 
gehende Bearbeitung der Unterkiefer und der Unterlippe der Bienen. 
Ich hoffte auf diesem Wege zunächst zu neuen Einblicken in die Phylo- 
genie der Bienen zu gelangen, erkannte aber bald, daß dieser bıs- 
her nur unzureichend behandelte Teil der Anatomie der Hyme- 
nopteren für deren Phylogenese ganz allgemein ausschlaggebende 
Bedeutung gewinnen mußte, sobald er wenigstens in großen Zügen 
klargestellt sein würde. Nach und nach dehnte ich meine Unter- 
suchungen über sämtliche Stechimmenfamilien, schließlich auch über 
die Schmarotzerimmen und die Blatt- und Holzwespen aus, nach- 

39. Band. | 11 





446 Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 


dem mir die Herren Prof. Dr. Schmiedeknecht- Blankenburg 
ı. Th. und Dr. Enslin-Fürth ı. B., späterhn auch noch Herr 
Dr. Bischoff-Berlin ın liebenswürdigster Weise zum Teil recht 
wertvolles Material zur Verfügung gestellt hatten. Ihnen wie auch 
Herrn Alfken spreche ich an dieser Stelle meinen herzlichsten 
Dank für ihre Hilfe aus, ohne die ich nicht in der Lage gewesen 
wäre, meine Arbeit in so kurzer Zeit zum vorläufigen Abschluß 
zu bringen. y 





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Verwandtschaftsschema der Hautflüglerfamilien. 
Wegen der Möglichkeit anderer Auffassung der verwandtschaftlichen Beziehungen 
der Grabwespen (Psamm. — Philanth.) und Ameisenartigen (Sap.-Form.) vergl. 

S. 161. Statt Podal. lies Nomadiden. 


Das Ziel meiner Untersuchungen war von einer Phylogenese 
der Bienen zur Hymenopterenphylogenese erweitert worden, und 
dies erforderte die Berücksichtigung möglichst aller stammes- 
geschichtlich verwertbaren Familienunterschiede der äußeren Mor- 
phologie. Sie sind ın der weiter hinten mitgeteilten Familien- 
übersicht zusammengestellt worden, zu deren besserem Verständnis 
ich unter Hinweis auf das beigefügte Verwandtschaftsschema einige 
einleitende Worte voranschicke. 


1. Symphyta und Apoerita, 

Wir sehen zunächst die Gerstaecker’schen!) Unterordnungen 
der Symphyta und Apocrita beibehalten. Indessen ıst das zur 
Namengebung verwertete Merkmal der Verbindung von Brust und 
Hinterleib durch Unterschiede, die zwischen den Symphyten und 


|) Gerstaecker: Über die Gattung Oxybelus Latr. und die bei Berlin vor- 
kommenden ‘Arten derselben. Arch. f. Naturgesch,, Halle, Bd. 30, 1867. 





EN RT N a 
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‘ 


Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 147 
Apoceriten im Bau des Labıums und des Putzkammes der 
Vorderbeine ausgeprägt sind, abgelöst worden. Orysseus, der 
bis jetzt als Holzwespe aufgefaßt worden ist, ıst danach eine 
echte Schlupfwespe und hat mit den Holzwespen nur den Mangel 
der Tailleneinschnärung zwischen dem 1. und 2. Hinterleibsringe 
gemein. Nach freundlicher Mitteilung von Herrn Dr. Enslin hat 
Rohwer?) es auch schon biologisch wahrscheinlich gemacht, daß 
Oryssus der Schmarotzer holzbewohnender Käferlarven und nicht 
selbst ein Holzbohrer ıst. Und wie Oryss«s durch Mangel der Taille 
von allen „Apocriten“ abweicht, sınd auf der anderen Seite manche 
„Symphyten“ durch eine mehr oder minder innige Verschmelzung 
des 1. Hinterleibstergits mit der Hinterbrust ausgezeichnet (z. B. 
Oimbex, Cephus u. a.), womit schon hier die zur Ausbildung der 
„Taille“ notwendige Vorstufe erreicht erscheint, ohne daß aller- 
dings die Tailleneinschnürung selbst vorhanden ist. Deswegen aber 
die @erstaecker’schen Bezeichnungen der beiden Unterordnungen 
durch andere?:) zu ersetzen, schien mir nicht geraten zu sein. 
Der Putzkamm der Vorderbeine ist allen Apocriten gemeinsam; 
an seiner Bildung ist eine Reihe besonderer Borsten an der Ferse 
und der dieser Borstenreihe als Daumen opponierbare, stets nur 
ın der Einzahl vorhandene Schiensporn beteiligt. Die Kammborsten 
sind verschieden gestaltet, bald fein und lang, bald breit und 
niedrig, und zeigen bei verschiedenen Familien auch Unterschiede 
in der Anordnung. Bei den Symphyten treffen wir niemals den 
Putzkamm der Apoeriten in seiner typischen Gestaltung an: die 
Mehrzahl der Symphyten ist aber ım Besitz einer emfachen (oder 
doppelten) Reihe eigenartiger bandförmiger oder am Ende spatel- 
förmig verbreiterter Borsten an Schiene und Ferse der Vorder- 
beine, die wir als Vorläufer der Kammborsten der Apocriten auf- 
fassen dürfen. Wır brauchen nur anzunehmen, daß bei diesen 
allein die Band- oder Spatelborsten der Ferse erhalten geblieben 
und ihrem neuen Zweck ın vollkommenerer Weise angepaßt worden 
sind; das Bild, das sie beispielsweise bei den Cephiden oder Xye- 
liden gewähren, erinnert schon lebhaft an die bei manchen Schlupf- 
oder Gallwespen zu beobachtenden Verhältnisse: Innerhalb der 
Symphyten erweisen sich die‘ eigentlichen Tenthrediniden durch 
den völligen Mangel dieser Band-. oder Spatelborsten an den Vorder- 
beinen in dieser Hinsicht als ursprünglichste Vertreter. 


2) Rohwer: In: Proc. U. S. Nat. Mus. 43.:1912. p. 142. 

2a) Latreille stellt in seinen „Familles naturelles du regne animal, Paris 
1825 für die späteren Symphyta Gerstaecker’s den Begriff der Securifera 
auf, dem die heutigen Parasitica als Pupivora gegenüberstehen. Diese Namen 
sind indessen heute nicht gebräuchlich. 

3) Latreille: Histoire naturelle gänerale et partieuliere des Urustacds et des 
Insectes. 14 vol. Paris 1802—5. — Genera Crustaceorum et Insectorum. 4 vol. 
Paris u. Straßburg 1506-9. 

ale 


148 Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. - 


Die Symphyten nach Latreille’s®) und Hartig’s*) Vorgange 
mit den Schlupf- und Gallwespen als Terebrantia oder. Ditrocha zu 
vereinigen und diesen die Aculeaten gegenüberzustellen, ließ sich 
wegen der angeführten Merkmale der Imagines sowohl wie wegen 
der Organisation der Larven nicht rechtfertigen. 


2, Die Familien der Symphyta. 


Die Symphyten wurden bisher entweder in Blatt- und Holzwespen 
eingeteilt, oder man vereinigte die Pamphiliden (Lydiden) mit den 
Oephiden und räumte ihnen gemeinsam eine Sonderstellung neben 
‘den Tenthrediniden und Sırieciden ein. Es ist nun bemerkenswert, 
daß die noch von Enslin°) abgelehnte Vereinigung oder Annähe- 
rung der Pamphiliden an die Cephiden, die Konow*) verfochten 
hat, in der feineren Struktur der Unterkieferaußenlade eine wichtige 
Stütze erhält. Die Lagerung der Sinnespapillen oder Grubenkegel 
an der Außenlade des Unterkiefers ıst nämlich deshalb von Be- 
deutung, weil sie bei meinen Pamphilina und Cephina überein- 
stimmt mit der bei allen Apocriten zu beobachtenden, ihre ab- 
weichende Lagerung bei den Tenthrediniden und Cimbiciden also 
um so auffälliger ist. Und wenn wir ın der Ahnenreihe der Hy- 
menopteren zu altertümlicheren Insekten, zu Blattiden oder Phas- 
miden, herabsteigen, so erweisen sich die beiden letztgenannten 
Blattwespenfamilien darın von der hypothetischen Ahnenform, 
welche die orthopteroiden Verhältnisse des Maxillenbaues kaum ver- 
ändert übernommen hatte, ebenso sehr abgewichen wie im Bau ihrer 
mit abdominalen Stummelfüßen versehenen Larven. Deshalb habe 
ich sie als Sektion der Etropoden den übrigen, als Anetropoden 
zusammengefaßten Symphyten gegenübergestellt, indem ich durch 
Schaffung von überfamiliären Begriffen zugleich die höhere Wer- 
tigkeit der gekennzeichneten Merkmale andeuten wollte. Nach Sonder- 
stellung der Etropoden kommen als relativ altertümlichste Blatt- 
wespen nunmehr nur noch die Pamphilinen®) in Betracht, da ihre 
Larven unter allen Hymenopterenlarven die ursprünglichste Bauart 
bewahrt haben, ja unter allen Holometabolenlarven trotz mancher 
Sonderanpassungen cum grano salıs als altertümlichste gelten können. 
Bell wir uns aber ein Bild/von der hypothetischen 

J 

4) Hartig: Die ns Deutschlands. Die Familien der Blatt- und 
Holzwespen. Berlin 18: 

5) Enslin: Die B latt- und Holzwespen. In: Die Insekten Mitteleuropas, 
insbesondere Deutschlands von Sehröder. Band 3. 1914. 

6) Konow: Systematische Zusammenstellung der bisher bekannt gewordenen 
Chalastogastra. In: Zeitschr. f. Hym. u. Dipt. 1901— 5. 

6a) Die Familie der Pamphiliden selbst schaltet indessen wegen des Baues der 
Kopfkapsel aus, der sie zu den übrigen Symphyten in denselben Gegensatz bringt, 
wie z. B. die Seolien und Mutillen zu Sapygen und Ameisen. 












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Abb. 2. 





Abb. 3. er «Ahr: 4, 
Unterkieferaußenlade von Uroesus (Tenthredinide), Vorderansicht. Lage der 
Grubenkugel ( yk) abweichend von den Anetropoden und Apocriten (Fig. 2—5). 
Dasselbe von Cepkus, Hinteransicht. Das hintere Blatt oder Velulum (ab) 
ist reich beborstet, ein eigentliches Velum ist nieht differenziert. 

Dasselbe von Gasteruption (Evanide). Das Velulum ist in der Grund- 
hälfte zerstreut kurzborstig und medianwärts ‚durch eine bärtige Fläche (b) 
begrenzt, die auch bei den meisten Aculeaten wiederkehrt (Fig. 4 u. 5): der 
Borstenkamm der Aculeaten fehlt. Ein zart bewimpertes Velum (v) ist vor- 
handen. 

Dasselbe von Pemphredon (Sphegide). Das Velulum ist auf der Fläche 
nicht beborstet, trägt aber den charakteristischen Borstenkamm (bk) und grund- 
wärts die bärtige Fläche #. Das Velum (v) ist glattrandig. Die beiden ge- 
strichelten Linien deuten die vorderseitige Querteilung der Außenlade an, 


4150 Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 


Ahnenform der Symphyten und damit aller Hymeno- 
pteren entwerfen, so müssen wir die ımaginalen Merk- 
male der Tenthrediniden (Fehlen der Bandborsten der Vorder- 
schiene und -ferse, Fehlen mittelständiger Schiensporne) vereinen 
mit denoben erwähnten altertümlichen Merkmalen der 
Pamphilinen-Imagines (Bau des Unterkiefers), womit wir die 
rezenten Blattwespen alsAhnenformen des ganzen Stam- 
mes ausgeschaltet haben. 

Durch Vereinigung der Cephiden mit den Siriciden zur Unter- 
gruppe der Oephina ıst der Begriff der alten Uroceriden oder Holz- 
wespen wieder zur Geltung gebracht. Außer den längst bekannten 
übereinstimmenden Merkmalen dieser Gruppe ist der Besitz des 
von Demoll’) bei Sirer entdeckten grubenförmigen Riechorgans 
im Endglied der imaginalen Lippentaster nn dessen Phylo- 
genese re von Demdl gegebene Deutung als Stiboreflexor aller- 
dings kaum bestätigen dürfte. Die Cephiden (und Xiphydriiden) 
sind im Bau der Mundteile recht altertümlich und zeigen wichtige 
Anklänge an die bei den Apocriten obwaltenden Vere so- 
wohl ın der Struktur der Unterkieferaußenlade wie ın der Bebors- 
tung des Paraglossensockels. Die Unterkieferaußenlade läßt bei den 
Gephiden (Abb. 2) schon die für alle Apocriten charakteristische Gliede- 
rung der Hinterfläche ın einen lateralen (ab) und einen medianen (gk) 
Abschnitt erkennen. Die seitliche Begrenzung des letzteren durch 
einen verbreiterten Randsaum ın Form des Velums der apocriten 
Hymenopteren ist allerdings noch kaum angedeutet, aber bemerkens- 
wert ist die Beborstung des lateralen Abschnittes, aus der wir den 
Borstenkamm der Aculeaten ableiten können, wenn wir uns von 
den über diesen (etwa als „hinteres Innenblatt“ *) zu bezeichnenden) 
Absehnitt verteilten Borsten nur dıe randständigen erhalten denken. 
In dieser Hinsicht bietet die Hinterseite der Unterkieferaußenlade 
gewisser tropischer Pompiliden, deren „hinteres Blatt“ außer dem 
randständigen Borstenkamm auch flächenständige Borsten trägt, be- 
sonderes Interesse. Die Übereinstimmung mit der Aculeaten-Unter- 
kieferaußenlade wırd bei manchen Cephiden (z. B. Janus) noch da- 
durch erhöht, daß das hintere Innenblatt grundwärts weichhäutig 
wird und starke Wimperung zeigt und die Vorderseite der Außen- 
lade durch eine Querfurche in zwei Teile gegliedert erscheint. In- 
wieweit Nöphydria ım Bau des Unterkiefers von den Cephiden ab- 

‘) Demoll: Die Mundteile der Wespen, Tenthrediniden und Uroceriden, so- 
wie über einen Stiboreceptor der Uroceriden. Z. wiss. Zool. Band 92. 1909. 

7a) Weiter hinten (siehe Übersicht über die Sphegiden) wird hiefür der kürzere 
Terminus „Velulum“ eingeführt. Das ..Velum“ bildet, wenn man sich den Kiefer- 
fuß quer zur‘ Körperlängsachse gestellt denkt (also nach Art eines Laufbeines), die 
Vorderkante der Kieferfußaußenlade, das „Velulum‘ ihre Hinterkante. Letzteres 
ist bisweilen in einen auf der Innenseite der Außenlade frei herabhängenden Lappen 
erweitert (vgl. z. B. die Sphegini). 





U a Pl ae 
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Carl Börner. Stammesgeschichte der Hautflügler. 151 


weicht, lasse ich hier unberücksichtigt, bemerke nur, daß auch hier 
die als Vorläufer des Borstenkammes aufgefaßten Borsten des 
hinteren Blattes der Außenlade vorhanden sind. — Die für viele 
apocrite Hymenopteren charakteristische bürstenartige Beborstung 
des Paraglossensockels zeichnet in gleicher Weise Xiphydria und 
die Cephiden vor den Pamphilinen und Etropoden aus. — Die 
Siriciden aber verdanken ihre eigenartige Mundbildung einer hoch- 
gradigen Rudimentation der Unterkiefer und der Unterlippe, die 
der mächtig vergrößerten terminalen Riechgrube des Unterlippen- 
tasters zugute gekommen ist; ursprüngliche Verhältnisse vermag 
ich im Bau der Siricidenmundteile im Sinne Demoll’s nicht zu 
erkennen. Ob übrigens diese Rudimentation in Korrelation zu der 
schon bei Xiphydria erreichten Verschließung der Afteröffnung steht, 
sei hiermit zur Diskussion gestellt. 

Xiphydria (and seine nächsten Verwandten) als Familie so- 
wohl von den Cephiden wie von den Sirieiden zu trennen, erscheint 
mir auf Grund der in den vorstehenden Diagnosen mitgeteilten 
Merkmale unerläßlich. Ebenso weichen m. E. die Xyeliden so sehr 
von den eigentlichen Pamphiliiden ab, daß für sie der Rang einer 
Familie gerechtfertigt erscheint. Blasticotoma hatte ich leider keine 
Gelegenheit zu untersuchen, seine Zugehörigkeit zu den Pamphi- 
liiden i. e. S. bleibt nachzuprüfen. Die Cimbieiden habe ich von den 
Tenthrediniden s. str. als Familie abgezweigt, da sie diesen gegen- 
über nicht nur durch die Form der Fühler und der Sohlenbläschen 
wohlcharakterisiert sind, sondern durch den Besitz der Bandborsten 
an Schiene und Ferse der Vorderbeine zu den Anetropoden über- 
leiten. Unter den Tenthrediniden endlich sind die Lophyrinen 
enger mit den Tenthredininen als mit den Arginen verwandt und 
deshalb nur als Tribus bewertet. Die von Enslin°) aufgeführten 
Tribus seiner Tenthredininae wären demnach als Subtriben meinen 
Tenthredinini einzugliedern. 


3. Jculeata und Parasitica. 

Die Hauptvertreter der Aculeata und Parasitica hatte schon 
Latreille°), der den ersten der beiden Namen schuf, zutreffend 
geschieden, die Parasitica aber als Unterabteilung seiner Legimmen 
oder Terebrantia aufgefaßt. Ihm folgte Hartig*), nur ersetzte er die 
guten Bezeichnungen Latreille’s durch die sachlich unzutreffen- 
den Namen Mono- und Ditrocha, ın der Annahme, daß nur die 
Legimmen durch sogenannte zweigliedrige Schenkelringe oder besser 
gesagt durch den Besitz einesSchenkelgrundringes ausgezeichnet 
seien. Hartig’s Irrtum ist dann von den meisten Hymenoptero- 
logen unbeanstandet übernommen worden, woran selbst Gerst- 
aecker°) nichts zu ändern vermocht hat, der 1867 das Vorhanden- 


8) Gerstaecker; Archiv f. Naturgesch., Berlin, Jahrg. 33, 2. Band, S. 307, 





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152 Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 


sein des Schenkelgrundringes bei vielen Wespen nachwies. Heute 
sollte eine .Gegenüberstellung der Hymenopterenfamilien nach Vor- 
handensein oder Fehlen des Schenkelgrundringes nur mit Vorsicht 
geübt werden, hiernach aber größere Immengruppen zu unter- 
scheiden, ist unzulässig. Stech- und Legimmen anders als durch 
den Genitalapparat der Weibehen zu unterscheiden, ist seither nicht 
gelungen und dies mag der Grund gewesen sein, weshalb über 
die Zugehörigkeit einiger Wespenfamilien zur einen oder andern 
Gruppe noch keine Einigkeit erzielt worden ist. Uhrysididen, 
Bethyliden, Trigonaliden, Peleziniden und Proctotrupiden sind bald 
als Stech-, bald als Legimmen aufgefaßt worden. 

Die Legimmen gebrauchen ihren Stachelapparat bekanntlich als 
Legeröhre; das Ei wandert bei ihnen durch diese in den Pflanzen- 
oder Tierkörper eingeführte Legeröhre hindurch und gelangt so ins 
Innere der Wirtspfianze oder des Wirtstieres. 

Bei den Stechimmen wird aber das Eı ohne Zuhilfenahme 
des Stachels und frei abgelegt, und der Stachel, seiner ursprüng- 
lichen Funktion als Legeröhre verlustig gegangen, wurde zum 
Wehrstachel vervollkommnet. Wenn es nun statthaft ıst, aus der 
Entwicklungsweise der Immen auf die Art der Eiablage der Mutter- 
tiere zu schließen, so sind die genannten vier umstrittenen Immien- 
gruppen sämtlich den Legimmen oder Parasıten zuzuzählen. Denn 
sie sind echte Schmarotzer mit ekto- oder entoparasitischen Larven- 
formen und bauen für ihre Brut weder ‚selbst Nester, noch be- 
nutzen sie die Nester anderer Immen nach Art der Kuckucksimmen. 
Und wenn wir uns dieser Deutung anschließen, gewinnt die Gruppe 
der Stechimmen einen einheitlich geschlossenen Charakter nicht 
nur in der Bauart des Anogenitalapparates der Weibchen und der 
Mundwerkzeuge, sondern auch ın biologischer Hinsicht. 

Der Stachelapparat bleibt das wichtigste Erkennungszeichen 
der Stechimmenweibehen und ihre stammesgeschichtlich jüngste 
(sruppeneigentümlichkeit. Er ist so gebaut, daß er ebensowohl von 
einem Phytophagenstachel wie von einem kurzen Schlupfwespen- 
stachel abgeleitet werden kann, während sich die langen, besonderen 
Lebenszwecken angepaßten Legstachel gewisser Blatt-, Holz- und 
Schlupfwespen von der Urform des Immenstachels mehr entfernt 
zu haben scheinen. Ob die Giftdrüse des Acnleatenstachels aus 
gewissen Drüsenorganen des Legimmenstachels entstanden ıst, die 
teilweise wohl (zumal bei Pflanzengewebe durchbohrenden Leginmen) 
eine den Stich erleichternde gewebsauflösende Funktion haben 
könnten, läßt sich auf dem Wege vergleichender Forschung vielleicht 
ermitteln. Merkwürdigerweise haben die letzten Hinterleibsringe 
der Stechimmenweibchen (nämlich das 8. und 9. — ein zehntes 
gibt es bei den Imagines auch der altertümlichsten Hautflügler- 
weibehen nicht, wenn man in Anbetracht der Lage der (er; nicht 





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Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 155 


das 9. als aus dem 9. und 10. larvalen Hinterleibsring verwachsen 
annehmen will—) eine ähnlich weitgehende Umformung erfahren, wie 
bei manchen kurzstacheligen Schmarotzerimmen (Proctotru REN 
Peleziniden, Bethyliden). Da aber die letzteren nicht als alter- 
tümliche Formen in Frage kommen können, . ıst vielleicht die An- 
nahme berechtigt, daß die angedeutete Übereinstimmung nur der 
Ausdruck konvergenter Entwicklung ist. Eine gewisse Stütze er- 
hält diese Auffassung bei Berücksichtigung der Mund werkzeuge. 
Denn diese deuten bei den darın altertümlicher organisierten Stech- 
immen unmittelbar. auf phytophagenähnliche Ahnenformen hin, 
während wir bei den Schmarotzerimmen keine einzige derart primitiv 
verbliebene Form kennen. Als altertümlich fasse ıch dabei den 
Besitz des Borstenkammes auf der Hinter- (bezw. Innen-)seite der 
Unterkieferaußenlade beı gleichzeitigem Vorhandensein wohlent- 
wickelter Paraglossenanhänge auf. Letztere sind ein altererbtes 
orthopteroides Merkmal, die Vorstufe der Unterkieferaußenlade der 
Stechimmen aber hatten wır bereits bei Besprechung der beı den 
Phytophagen obwaltenden Verhältnisse (Abschnitt 2) kennen ge- 
lernt. Nun treffen wir allerdings auch bei gewissen Selmarolzer- 
wespen eine derart gebaute Unterkieferaußenlade an (bei Bethy- 
liden, Chrysididen und Stephaniden). bei diesen Formen sind 
aber dıe Paraglossenanhänge verkümmert. Trigonalys andererseits 
entbehrt als einzige Schlupfwespe mit primitivem Paraglossenanhang 
des Borstenkammes des Unterkiefers.. Wir müßten also auf eine 
hypothetische Ausgangsform zurückgreifen, wenn wir die Mundteile 
der Stechimmen von denen der Schmarotzerimmen ableiten wollten; 
diese Ausgangsforın wäre aber im Bau der Mundteile schon durch- 
aus stechimmenartig und vermittelte ihrerseits den Anschluß an die 
Phytophagen. 

Ähnlich liegen die Verhältnisse, ‚wenn wir die von den Syste- 
matikern gern benutzte Flügelbildung zu Rate ziehen. Es unter- 
liegt keinem Zweifel, daß die Phytophagen das ursprünglichste 
Geäder sowohl der Vorderflügel, wie namentlich auch der Hinter- 
flügel aufzuweisen haben. Und wenn auch manche Schlupfwespen 
(z. B. die Ichneumoniden) in der Gliederung des Adernetzes 
beider Flügelpaare noch erfolgreich mit den Stechimmen wetteifern, 
so haben sie doch gerade am Hinterflügel dieselbe weitgehende 
Rückbildung des Analfeldes erfahren, die die Mehrzahl der Schlupf- 
wespen von der zu fordernden Ausgangsform des Immenhinter- 
flügels am weitesten entfernt erscheinen läßt. Das Analfeld des 
Phytophagen-Hinterflügels ist ziemlich breit und erinnert darin an 
das altertümbche Verhalten niederer Fluginsekten: die bei fast allen 
Stechimmen festzustellende lappenartige Begrenzung des Analfeldes 
ist bei ıhnen aber noch nicht in Drehung getreten. Merk- 
würdigerweise besitzen nun einige Schlupfwespenfamilien (Bethy- 


Ir f N 


154 Carl Börner, Stanımesgeschiehte der Hautflügler. 


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liden und Chrysididen) Hinterflügel mit abgeschnürtem Anal- 
oder Basallappen, so daß man versucht sein könnte anzunehmen, 
daß die Verkümmerung des Analfeldes der Hinterflügel der übrigen 
Schmarotzerimmen ud dem Umwege über den gelappten Hinter- 
Hügel stattgefunden habe, wie ein Gleiches auch für die Entstehung 
der en Hinterflügel einiger Stechiımmen (Mutilla und 
Ameisen) der Fall sein könnte. Die hypothetische Ausgangsform 
der Schmarotzerimmen hätte also wiederum eine weitgehende Über- 
einstimmung mit den Stechimmen aufzuweisen, welche die Ableitung 
der letzteren von rezenten Schlupfwespen ausschließt. 

Die Frage der Verwandtschaft und des relativen Alters der 
beiden Sektionen der Stech- und der Schmarotzerimmen, an deren 
Trennung wir festhalten, werden wir demnach‘ am besten dahin be- 
antworten, daß Vertreter beider Gruppen Anklänge an die symphyten 
Hymenopteren bewahrt haben und es wohl möglich ist, die 
heutigen Stech- und Legimmen über eine gemeinsame 
hypothetische Alınenkorm auf blatt- oder holzwespen- 
ähnliche Urimmen zurückzuführen, daß aber dierezenten 
Stech-undLegimmen Dichrneimandonahe Ten cı werden 
können. Ich erwähne dies hier, weilHandlirsch’) den Gedanken 
ausgesprochen hat, daß die Stechimmen Abkömmlinge von Schma- 
rotzerimmen sein könnten. Aber dıe Tatsache, daß der Bau des 
Hinterleibes bei vielen Schmarotzerimmen recht ursprünglich geblieben 
und unschwer aus den bei den Symphyten len Verhält- 
nissen zu erklären ist, hilft nicht die mitgeteilten Schwierigkeiten 
überwinden, die einer Ableitung der neh Stechimmen- 
formen aus Schmarotzerimmen entgegenstehen. Im gleichen Sinne 
ist auch die nicht parasitäre Entwicklungsweise der Stechinnmen 
sehr wohl aus der phytophagen Lebensweise der Symphyten und 
ihrer Ahnen, nıcht aber aus. dem Parasitismus der Schmarotzer- 
ımmen herzuleiten. Aber mögen Stech- und Schmarotzerimmen auch 
frühzeitig getrennte Entwicklungsrichtungen eingeschlagen haben, 
gemeinsam bleiben ihnen die in der Diagnose der Unterordnung 
mitgeteilten Charaktere, die es kaum gerechtfertigt erscheinen 
lassen, für beide getrennte Entwicklungsherde in der Urzeit der 
Immen anzunehmen. Von untergeordneter Bedeutung ist die Frage, 
ob man in der Reihenfolge der Familien die Stech- oder die 
Schmarotzeriımmen voranstellt. 


4. Die Familien der Parasitica. 
Die neueren Autoren trennen die Familien der Schmarotzer- 
immen nach dem Flügelgeäder, ziehen aber zwecks Einordnung 
flügelloser Formen auch andere Merkmale mehr oder weniger ein- 


9) Handlirsch: Die fossileu Insekten. Leipzig 1905. 





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Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 155 


gehend zur Untersuchung heran. Ashmead!") geht sogar so weit, 
daß er nach Abzweigung Wer den Stechimmen eingeordneten Proc- 
totrupiden (und Pelezinuiden) das große Heer der Schmarotzerimmen 
nach dem Besitz oder Fehlen des Vorderflügelstigmas in zwei 
Lager, die Sienopili und die Meyaspili, eimteilt. Zu ersteren rechnet 
er die Cynipiden, Chaleididen und Mymariden, zu letzteren die 
Evaniiden, Trigonaliden, Stephaniden, Braconiden, Ichneumoniden 
und Agriotypiden. Dieser Einteilung vermochte ich ‚nicht Folge 
zu leisten. Die Schmarotzerwespen sind allerdings von so sehr 
verschiedenartiger Gestalt, daß wir, welches Merkmal wir auch in 
den Vordergrund stellen, immer wieder auf große Schwierigkeiten 
beim Versuch der Abgrenzung einigermaßen natürlicher Verwandt- 
schaftsgruppen stoßen. Die bei den Phytophagen und bei den 
Stechimmen mit Erfolg verwerteten Mundwerkzeuge, führen uns 
bei den Schlupfwespen kaum viel weiter als das Flügelgeäder; 
ebenso sind die Ausstattung der Fühler mit Riechorganen oder die 
Lagerung und Gestalt des Stachelschlitzes . oder der Ausbildungs- 
grad der Analraife des Weibehens nur mit Vorsicht zur Aufstellung 
von Gruppen heranzuziehen. 

Einigermaßen isoliert steht nur Trrigonalys, den Schmiede- 
knecht!') sogar zu den Stechimmen, und zwar im die Nähe der 
Mutillen, stellen möchte, der aber biologisch nach Bischoff!?) eme 
echte Schlupfwespe, und sogar eine solche zweiten Grades (z. B. 
bei Ophion und Tachinen) ist. Trigonalys ist die einzige Schlupf- 
wespe mit wohlentwickelten Paraglossenanhängen, entbehrt aber 
des bereits mehrfach erwähnten Borstenkammes der Unterkiefer- 
außenlade. Sie ist auch die einzige Schlupfwespe mit Sohlen- 
bläschen, die bei den Phytophagen und den Stechimmen weit ver- 
breitet sind. Der Stachelapparat des Weibchens ıst auffallend klein, 
aber kaum hoch spezialisiert, wofür auch das Erhaltensein der Cerei 
spricht. Der Errichtung einer besonderen Schlupfwespengruppe für 
diese Gattung stehen also kaum Bedenken entgegen, und wır dürfen 
sie mit einigem Recht als ziemlich altertümlich auffassen, womit 
auch das reichverzweigte Adernetz - der Flügel und die Form der 
grundwärtigen Beinglieder in Einklang stehen. Deshalb findet sich 
Trigonalys in dem hier entwickelten System den sogen. metaglossaten 
Schlupfwespen als archıglossate Form gegenübergestellt. 

Unter den metaglossaten Schlupfwespen, die eines wohlent- 
wickelten Paraglossenanhanges stets entbehren, haben wir nun 


10) Ashmead: The Phylogeny of the Hymenoptera. Proceed. Ent. Society of 
Washington. Vol. III. Nr. 5. 1896. 

11) Schmiedeknecht: Die Hymenopteren Mitteleuropas nach ihren Grat- 
tungen und zum groben Teil auch nach ihren Arten analytisch bearbeitet. Jena 1907. 

12) Neue Beiträge zur Lebensweise der Trigonaliden. Berl. Ent. Zeitschrift 1908. 


456 Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 


mehrere Formen, deren Unterkieferaußenlade im Besitz des Borsten- 
kammes ursprünglichere Verhältnisse bewahrt haben als Trigonalys. 
Dies sind auf der einen Seite die Bethyliden und Chrysididen, auf 
der anderen die Stephaniden. Letztere zeigen so weitgehende Über- 
einstimmuug mit den Evaniiden, insbesondere auch in der Glieder- 
zahl der Kiefer- und Lippentaster, sowie in der Form der Unter- 
kieferaußenlade, daß es irrtümlich erscheint, sie mıt den Bethyliden 
und Chrysididen nur des Borstenkammes wegen zu vereinigen. Wir 
werden vielmehr der Ansicht zuneigen, daß dieser Borstenkamm 
der Unterkieferaußenlade wohl ein altererbtes Merkmal aus der 
Zeit der ältesten Apocriten vorstellt, aber bei fortschreitender Eigen- 
entwicklung mancher Zweige und Zweiglein des Apoeritenbaumes 
— wie wir es bei Besprechung der Bienenphylogenese abermals 
dargelegt finden werden — nicht immer erhalten geblieben ist. So 
a es sich auch erklären lassen, warum Bethyliden und Chrysi- 
diden trotz dieses Borstenkammes- in anderer Hinsicht eine hohe 
Stufe gestaltlicher Umformung erreichen konnten. 

Überblieken wir nunmehr nochmals die gesamten metaglossaten 
Schlupfwespen, aber ohne Rücksicht auf den „Borstenkamm“, so 
erkennen wir zwei große Lager, die sich durch den Stachelapparat 
sowohl wie durch die Ausstattung der Fühler mit Riechorganen 
unterscheiden. Im einen Lager (Superfamilie Ichneumonina) stehen 
die Stephaniden, Evaniiden, Ohaleididen, Oryssiden, Braconiden, 
Cynipiden und Ichneumoniden, im andern (Superfamilie Procto- 
trupina) die Proctotrupiden, Peleziniden, Bethyliden und Chrysididen. 
Jene besitzen im weiblichen Geschlecht in der Regel Analreife, 
diese meines Wissens nie; bei jenen entspringt — um mit Ash- 
mead!?) zu reden — der Stachel vor, bei diesen aus der Hinter- 
leibsspitze;; bei jenen sind fast immer sogen. streifenförmige Rhinarien 
vorhanden, die diesen fehlen. Bei dieser Familienordnung nehmen 
aber die Stephaniden wieder eine gewisse Ausnahmestellung insofern 
ein, als ihre Rhinarien nicht streifen-, sondern eiförmig sind wie 
bei den Peleziniden und gewissen Bethyliden. Wir können unsere 
Einteilung aber rechtfertigen, wenn wir annehmen, daß die ın 
mehrfacher Hinsicht (Mindieile Hinterleibsgliederung, Plügeladerung) 
altertümlichen Stephaniden hinsichtlich rer Rhinarıen auf früherer 
Entwicklungsstufe stehen geblieben sind; denn die eiförmigen Rhı- 
narien sind sehr wahrscheinlich als Vorstufe für die streifenförmigen 
Rhinarien anzusehen und ihrerseits mit den sogen. glockenförmigen 
oder mit den plattenförmigen Organen anderer Hautflügler in 
genetische Beziehung zu bringen. 

Die Schlupfwespen mit streifenförmigen Rhinarıen kann man 
nun nach dem feineren Bau der Rhinarien abermals in zwei Gruppen 
(Ichneumonina a und b) zerlegen. Die Chitinhaut zeigt im Be- 
reich des Rhinariums einen schmalen, durch einen Porus mit 


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5 


2 


KG, 


Öarl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 457 


der Hypodermis in Verbindung stehenden, nach außen durch 
eine, zarte, bisweilen über das angrenzende Chitin leistenartig her- 
vorragende Membran abgeschlossenen Hohlraum, der ım Leben mit 
Teilen der zugehörigen Zellelemente ausgefüllt sein dürfte. Unter 
den Blattwespen finden wir bei den Xyeliden am 3. Fühlergliede 
ähnliche Rhinarien, bei NXyela ın der für Braconiden und Ichneu- 
moniden typischen Ausbildung, bei Pieroneura ın Gestalt glocken- 
förmiger Rhinarien . von kreisrundlichem Umriß. Bei den Stech- 
immen sind die streifenförmigen Rhinarien auf die Faltenwespen 
und (in weniger charakteristischer Ausbildung) verwandte Gruppen 
(Pompiliden) beschränkt. 

Der Porus der streifenförmigen Rhinarien liegt nun entweder 
zentral oder proximal, d.h. an dem der Fühlerwurzel zugekehrten 
Ende. Bei Oryssus ist der Porus fast von der Länge des Rhina- 
rıums und schmal, nicht einseitig verlagert. Bei den Faltenwespen 
ist er Ähnlich wie bei Oryssus von der Länge des Rhinariums, 
aber rundlich, nicht schmal. Bei den Ichneumoniden (einschließlich 
der Agriotypiden), Braconiden und Cynipiden ist er mittelständig 
urd klein ım Vergleich zur Länge des Rhinariums. Bei Chalei- 
diern, Evaniiden und Stephaniden liegt der Porus proximal und ist 
bald kreisrundlich, bald mehr langgestreckt; bei den Stephaniden 
ist der äußere Umriß des Rhinarıums überdies oval und nicht 
strichförmig. In den erstgenannten Fällen ist das Rhinarıum also 
symmetrisch oder gleichseitig, in den letztgenannten asymmetrisch 
oder schief entwickelt. 

Der nach Abtrennung der Trigonaliden und der mit streifen- 

_förmigen Rhinarien ausgestatteten Familien verbleibende Rest der 
Schlupfwespen (Superfamilie Proctotrupina) umfaßt die Peleziniden, 
Proctotrupiden, Bethyliden und Chrysididen. Peleziniden und Procto- 

.trupiden einerseits, und andererseits die Bethyliden und Chrysididen 
finden sich in der neuzeitlichen Systematik bereits paarweise ge- 
nähert, ob sie aber untereinander wirklich stammverwandt sind, 
blieb ungewiß, obwohl die Bethyliden jahrzehntelang den eigent- 
lichen Proctotrupiden eingeordnet waren. Da man als Hauptgrund 
zur Abtrennung der Bethyliden von den Proctotrupiden die Gestalt 
der Hinterflügel ins Feld führte, darin aber die Bethyliden mit den 

; Stechimmen übereinstimmen, hielt man!"!!) die Verwandtschaft 
letzter beiden Formenkreise für möglich. » Zu dieser. Frage habe ich 
mich weiter vorn bereits geäußert und für meinen Teil an der 
engeren Zusammengehörigkeit aller vier in Frage stehenden Familien 
festgehalten, und zwar in erster Linie wegen der Bauart des weib- 
lichen Anogenitalapparates sowohl wie im Hinblick auf ihre para- 
sitäre Lebensweise. Am altertümlichsten erscheinen unter ihnen 

"gewisse Bethyliden, an die sich auf der einen Seite die Cleptiden 

und Chrysididen,; auf der anderen Seite die Proetotrupiden und 


2 


158 Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 


Peleziniden anschließen lassen. Altertümlich ıst an diesen Bethy- 
liden die sehr ursprüngliche Gliederung des Hinterleibes derWeibchen, 
die Gestalt ‚des Unterkiefers und die Lappung der ‘Hinterflügel, 
Merkmale, welche die Chrysididen nur wenig abgeändert beibe- 
halten haben. während Proetotrupiden und Peleziniden nicht nur 
die Lappung der Hinterflügel, sondern auch den Borstenkamm der 
Unterkieferaußenlade verloren haben und die beiden letzten Hinter- 
leibstergite (das 8. u. 9.) ihrer Weibchen in der Regel in eins ver- 
schmolzen sind. In der Auffassung der Cleptiden als einer Bethy- 
liden und Chrysididen verbindenden Mittelgruppe stimme ich 
Schmiedeknecht!!) und Bischoff!”*) bei und rechne zu den 
Oleptiden nach Ashmead’s'?») und Bischoff’s Vorschlag auch 
Amisega und Pseudepyris. Die Gruppeneinteilung der eigentlichen 
Chrysididen habe ich aber nach anderen Merkmalen, als sie im 
System Bischoff’s gegeben sind, vorgenommen. 


5. Haplocenemata und Diplocenemata. 


Die Stechimmen, deren Umfang im 3. Abschnitt bestimmt 
worden ist, teilt der deutsche Sprachgebrauch seit altersher in 
Ameisen, Wespen und Bienen ein. Aber hiermit waren keine 
gleichwertigen systematischen Begriffe geschaffen, diese vielgestaltige 
Gesellschaft widerstrebte vielmehr hartnäckig einer Gliederung in 
natürliche Familiengruppen, so leicht es auch war, ihrer einzelne 
gut umgrenzt von den übrigen abzusondern. 

Fragen wır hierfür nach einem Grunde, so liegt er meines 
Erachtens in einer übermäßigen Bewertung der Form des Vorder- 
brustrückens, dessen Seiten bei den einen Stechimmen die Flügel- 
schuppen berühren, bei anderen nicht. Nach diesem Merkmal teilte 
Ashmead?) die Aculeaten ın seine Gruppen l*a und l*aa ein, 
deren erste die Bienen und Grabwespen (Sphegiden s. l.), deren 
zweite den Rest der Stechimmen “einschließlich der Proctotrupiden 
und Peleziniden) umfaßte. So wurden Bienen und Grabwespen in 
ein engeres verwandtschaftliches, stammesgeschichtliches Verhältnis 
gebracht, über das alle neueren Spekulationen über die Herkunft 
der Bienen zu berichten wußten, das aber nichtsdestoweniger jeg- 
licher wissenschaftlichen Begründung ermangelte. 

Es ist nicht schwer, für diese Behauptung Beispiele zu geben. 
Die Psammochariden (Pompiliden) sollen nach Ansicht der Autoren 
näher mit den Sapygiden, Scoliiden und Mutillen verwandt sem 
als mit den Sphegiden (s. 1.), weıl bei jenen die Seitenecken des 


124) Die Chrysididen des Königlichen Zoologischen Museums zu Berlin. Mitt. 
7.001. Mus. Berlin, IV. Band, 1910. 

12b) Classification of the fossorial, predacevus and parasitic wasps, or the 
superfamily Vespoidea. Paper Nr. S, Can, Entomol. Vol. 34, Nr. 9, 1902, 





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Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. ol) 


Pronotums die Flügelschuppen berühren, bei den Sphegiden nicht. 
Aber man hatte übersehen, daß Psammochariden und Sphegiden 
ım Besitz der Hinterbeinputzbürste sind und die Sohlenbläschen 
der ersteren auch bei vielen Sphegiden vorhanden sind. Umge- 
kehrt zweifelte niemand an der engeren Blutsverwandtschaft aller 
Goldwespen, obwohl die einen Gattungen derselben in der Schulter- 
bildung mit den Psammochariden oder Scoliiden übereinstimmen, 
bei anderen die Flügelschuppen von den Seitenecken desPronotums 
weit getrennt sind. Nach K ohl!?) ıst aber auch beı den Sphegiden 
die seitliche Ausdehnung des Vorderrückens wechselnd, under erwähnt 
dies bereits im ersten Gegensatz seiner großen Bestimmungstabellen. 
Ähnlich verhalten sich die Bienen, die allerdings mit den Grab- 
wespen gemein haben, daß die Schulterbeulen, wenn überhaupt, 
dann von unten her und nicht von vorn an die Flügelschuppen 
herantreten. Wir werden diesem Merkmal folglich keine entschei- 
dende Bedeutung mehr beimessen, ohne es etwa bei der Familien- 
diagnose zu vergessen. 


Die hier durchgeführte neue Einteilung der Stechımmen ın 
Haplo- und Diplocnemata beruht auf dem Fehlen oder Vor- 
handensein einer Hinterbein-Putzbürste (Abb. 5), die ein Analogon 
zum Vorderbein-Putzkamm vorstellt. Das Vorhandensein dieser 
Bürste ıst unschwer an der zunehmenden Länge der Borsten 
am Fersengrunde zu erkennen, während die Borsten dort, wo die 
Putzbürste fehlt, wıe ebenso an den Mittelfersen, in der Regel 


deutlich an Größe abnehmen. Die Anordnung der Bürstenborsten 


ist in der Diagnose der Diplocnematen eingehend geschildert worden. 
Wenn bei manchen Vertretern der Haplocnematen die Sohle der 
Ferse in ganzer Länge mehr oder weniger dicht behaart ist, so ist 
die Anordnung der Borsten und ihr Größenverhältnis am Hinter- 
fersengrunde doch stets von jener der Diplocnematen abweichend. 
Bienen, Ameisen und die mit den Scoliiden verwandten Immen 
sind nicht!?®) im Besitze der Putzbürste, und es ist nicht anzunehmen, 
daß sie ihrer wieder verlustig gegangen sein würden, wenn sie sie 
je besessen hätten. Damit ist aber auch die Grabwespenabstammung 
der Bienen widerlegt, während andererseits die Faltenwespen und 
die Psammochariden den Anschluß an die Grabwespen wiederge- 
wonnen haben. 


13) Kohl: Die Gattungen der Sphegiden. Annal. d. K. K. naturhist. Hof- 
museums. Band XI. Nr.3—4. 1897. — Siehe auch: Die Gattungen und Arten 
der Larriden. Verh. zool. bot. Ges. Wien 1854, p. 175. 

132) Scholz, der in seinen „Bienen ‘und Wespen, ihre Lebensgewohnheiten 
und Bauten‘ (bei Quelle & Meyer, Leipzig 1913, S. 50) auf die Hinterbeinputz- 
bürste hinweist, nimmt irrtümlicherweise an, daß sie nur den Bienen fehle, aber 
bei den Grabwespen im weiteren Sinne (also auch bei den Scolien) vorhanden sei, 





NE OR PIRTRONRNENRRTURATER 
160 Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 

Dies Ergebnis wird gestützt durch einen weiteren Unterschied 
zwischen Diplo- und Haplocnematen, der das Vorhandensein oder 
Fehlen einer Leiste feinster oder gröberer Bürstenbörst- 
chen auf der Hinterseite (Innenseite) der Hinterschiene 
betrifft. Diese Bürstenleiste, die sich am Schienenende verbreitert 
und sich ein kleines Stück auf die Ferse (1. Fußglied) fortsetzt, 
kommt allen Vertretern der Diplocnematen zu. Leicht zu erkennen 
ist sie u.a. bei Astatus, den Sphegiden, Bembeeiden, Pompilus und 





Abb. 5. 
5. Hinterbein-Putzbürste von Psammophila (Sphegide), Vorderansicht. ® = vor- 
derer, % — hinterer Schiensporn, t{ — Tibia, ta — Metatarsus, p = längste 


Borstenreihe der Putzbürste. Die distale Begrenzung der Putzbürste wie hier 
bei Psammophila ist selten; meist gehen die Bürstenborsten mehr weniger 
allmählich in die Sohlenborsten der Ferse über. 


Vespa. In anderen Fällen trıtt sie, namentlich im männlichen Ge- 
schlecht, kaum ın Erscheinung, wenn die fraglichen Beinglieder 
ringsum pubesziert sind, und das Vorhandensein der Bürstenleiste 
wird dann nur aus einer abweichenden Richtung der Börstchen 
erschlossen. Bienen, Ameisen und die ameisenähnlichen Stechinnen 
besitzen meines Wissens keine solche Bürstenleiste an der Hinter- 
schiene. 
6. Die Familien der Haplocnemata. 

Die Stechimmen dieses Verwandtschaftskreises erscheinen in 
zwei wesentlich verschiedenen Grundformen, die in der systemati- 
schen Übersicht als Formicina oder Ameisen und als Apidina oder 
Bienen bezeichnet worden sind. 
















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Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 161 


a) Formicina oder Ameisen im weiteren Sinne. 


Wie eingangs erwähnt, bilden die Ameisen eine wohlumgrenzte 
altbekannte Stechimmenfamilie. Mit der Erkenntnis ihrer Eigen- 
art ist aber weder ihre mutmaßliche Herkunft, noch die Frage ent- 
schieden, ob ihnen der Wert einer Familie oder, wie Ashmead?) 
meint, einer Superfamilie zuzuerkennen ist. Nach den in der 
Diagnose der Formieiden genannten Merkmalen zu urteilen, ist 
ihre Organisation sehr einheitlich und wenig ursprünglich, aber mit 
derjenigen anderer Vertreter dieses Verwandtschaftskreises in engere 
Beziehung zu bringen. Dies gilt indessen nur im anatomischen 
Sinne; biologisch haben gerade die Ameisen die altertümlicheren 
Verhältnisse bewahrt, und wır sınd, dies zu erklären, zu der An- 
nahme genötigt, daß von den übrigen Formieinen nur die an ein 
Schmarotzerleben angepaßten Formen erhalten geblieben, die bio- 
logisch ursprünglicheren Glieder aber ausgestorben (oder noch nicht 
entdeckt)sind. Die nächsten Verwandten der Ameisen erblicken wirin 
den Mutilliden, denn beide sind durch verkümmerte Paraglossenanhänge 
ausgezeichnet. In anderer Hinsicht sind aber die Mutilliden noch 
recht vielgestaltig. Wir gelangen zu einer hypothetischen 
Ameisenahnenform, wenn wir beispielsweise die Hinter- 
flügelform von Mutfilla vereinen mit dem Unterkiefer 
einer Myrmosa und den Schienspornen einer Methoca, 
um nur die auffälligsten Charakterzüge zu erwähnen. Daß Tiphia 
den Mutilliden und nicht den Scoliiden unterzuordnen ist, ver- 
steht sich nach Einsichtnahme der hinten neu aufgestellten 
Diagnosen von selbst, ebenso die völlige Neugruppierung der bis- 
her wesentlich anders umgrenzten Sapysen, Scolien, Myzinen und 
Thynniden. Es leuchtet ohne weiteres ein, daß gegenüber den 
ım Bau der Mundteile ausgeprägten tiefgreifenden Unterschieden 
die bisher verwerteten Merkmale der Stellung der Mittelhüften, 
der Form des 2. Hinterleibsringes, der Flügeladerung und Augen- 
form entschieden zurücktreten, und dies um so mehr, als darin 
Männchen und Weibchen einiger Vertreter erheblich vonemander 
abweichen. Dieser Unterschied der Geschlechter, der bei den 
Thynniden wohl den Höhepunkt erreicht hat, ıst es auch, der mich 
vorläufig von einer Bewertung der Unterfamilien der Scoliiden und 
Tbynniden als Familien Abstand nehmen ließ. 

Das von mır erst später berücksichtigte Merkmal der altertüm- 
lichen Bauart der Ameisenkopfkapsel, deren Mundloch mit 
der Oberkieferbucht breit verbunden ist, stellt die Ameisen 
in deutlichen Gegensatz zu den Mutillen. Man Ele daraus den 
Schluß herleiten, daß die Ameisen so wenig wie die Sapy- 
giden die Umformung der Kopfkapsel in die bei den Scolien, 
Thynniden und Mutillen bestehende jüngere Form miterlebt haben. 

39. Band. 13 


DE Ge Be N m Sei a a 
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7 


162 Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 


Und wenn diese ältere Kopfkapselform allen Ameisen eigentümlich 
ist und unter ihnen wirklich keine Vertreter der Mutillenform vor- 
kommen, so könnte man wohl eine Anordnung der Familien der 
Formicina nach dem Bau der Kopfkapsel verteidigen. Die Über- 
einstimmungen im Mundbau der Ameisen und Mutillen wären dann 
auf dem Wege der Parallelentwicklung entstanden zu denken, wie 
ähnlich auch unter den Bienen und den Grabwespen die Gattungen 
mit verkümmerten Nebenzungen auf verschiedene Ausgangsformen 
zurückgeführt werden konnten. Nach der Form der Kopfkapsel 
stelle ich auch dıe problematische Konovviella zu den Ameisen, denen 
sie aber immerhin wegen des altertümlicher gebauten Hinterleibes 
als Familie gegenübergestellt bleiben könnte. Fetschenkia gehört 
nach Bischoff zu den Myrmosinen, ob aber Bischoff’s Myrme- 
copterina (= Archihymen Enderlein) diesen oder den Konowiellen 
zuzuzählen sein wird, ist noch ungewiß, da über den Bau ihrer 
Kopfkapsel nichts bekannt ist. 

Es ist bemerkenswert, daß auch unter den Bienen (die Colle- 
tıden) und unter den Grabwespen (die Psammochariden, Bembeeiden 
und Nyssoninen) die altertümlicheren Formen die ältere, von jener 
der Symphyten und Orthopteren herzuleitende Kopfkapselform be- 
wahrt haben. Bei den Grabwespen scheint aber die Annahme einer 
polyphyletischen Entwicklung der jüngeren Kopfkapselform (mit 
getrennten Oberkieferlöchern) berechtigt zu sein, da die ın Frage 
kommenden Gruppen Beziehungen zu verschiedenen Vertretern der 
älteren Kopfkapselform aufzuweisen haben (so die Spheginen zu den 
Nyssoninen, speziell Astatus; desgleichen die Philanthinen, doch 
wohl mehr zu Gorytes-artigen Formen; die Orabroninen vielleicht 
zu den Alyssonen). Indessen liegen hier die Verwandtschaftsver- 
hältnisse sehr verschleiert, da fast alle verwertbaren Gruppenmerk- 
male zunächst wahllos über das Heer der heutigen -Grabwespen 
verteilt erscheinen. 


b) Apidina oder Bienen im weiteren Sınne. 


Wie die Ameisen und Faltenwespen sind auch die Bienen eine 
wohlumgrenzte, natürliche Immengruppe. Sie zeigen aber so große 
Unterschiede ın der Bildung der Mundwerkzeuge und in äußeren 
Merkmalen, daß sie mit Fug und Recht in mehrere Familien zer- 
legt werden können, ein Standpunkt. dem die Bienenforscher be- 
reits seit einigen Dezennien Rechnung getragen haben. Indessen 
ist über die Gesichtspunkte, nach denen die Abgrenzung der Bienen- 
familien zu erfolgen hat, noch keine Einigkeit erzielt worden, da 
bald den gestaltlichen, bald den biologischen Unterschieden der 
Vorzug gegeben worden ist. Es liegt nicht in meiner Absicht, hier 
die Entwicklung der Bienensystematik historisch zu verfolgen; ich 
beschränke mich vielmehr auf eine kurze Begründung der hier ge- 





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» 


Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 165 


.gebenen Einteilung der Bienen in die sechs Familien der Colletidae, 


Andrenidae, Halietidae, Nomadidae, Apidae und Megachilidae. Die 
drei ersten dieser Familien entsprechen der alten Kirby’schen Gat- 
tung Andrena, die letzten drei seiner Gattung Apes. Kirby '*) legte 
den Hauptwert auf die Gestaltung der Zunge und so konnte ihm 
der große Gegensatz zwischen den kurzrüsseligen niederen Bienen 
(Andrena s. ].) und den langrüsseligen höheren Bienen (Apis s. 1.) 
nicht verborgen bleiben ; und unsere heutige Aufgabe ıst es, dieser 
Einteilung Kirby’s erneut Geltung zu verschaffen, nachdem schon 
Ashmead?’) ähnliche Wege gegangen ist. Es wird gewiß nie- 
mand leugnen, daß biologische Eigentümlichkeiten bei Ergründung 
verwandtschaftlicher Beziehungen mit Erfolg verwertet werden 
können. Hat man aber die Wahl zwischen verschiedenen bıologi- 


‚schen Charakteren, so wird eine Entscheidung im der Regel noch 


schwieriger zu treffen sein, als wenn zwischen verschiedenen ge- 
staltlichen Gegensätzen zu wählen ıst. Bei den Bienen können wir 
beispielsweise einerseits soziale und solitäre, andererseits Kunst- 
bienen und Kuckucke und unter den Kunstbienen Bein- und Bauch- 
sammler unterscheiden. Nun durfte man von vornherein annehmen, 
daß verwandten Gattungen auch die gleiche Art des Pollensammelns 
zukommen würde, da diese von bestimmten morphologischen Ein- 
richtungen abhängig, also schließlich auch ein morphologisches Merk- 
mal ist, Als man aber erkannt hatte, daß die der Pollensammel- 
apparate entbehrenden Kuckucksbienen von verschiedenen Kunst- 
bienen abzuleiten sind, stand man vor der Schwierigkeit, die Zu- 
teilung der Kuckucksbienen zu den ihnen verwandten Kunstbienen 
ohne Rücksicht auf die Pollensammelapparate vorzunehmen, die 
dadurch erheblich an systematischem Wert eingebüßt zu haben 
schienen. Dies indessen mit Unrecht, da sıch bald herausstellte, 
daß die verschiedenen Gruppen der Kunstbienen ihre eigenen, von 
denen der anderen deutlich unterscheidbaren Kuckucksbienen be- 
sitzen. Wie die polyphyletische Herkunft der Kuckucksbienen, war 
eine solche auch für die sozialen Bienen denkbar, nachdem die 
ersten Anfänge geselligen Zusammenlebens beı verschiedenen So- 
litärbienen (Halictus, Panurgus, Euglossa) festgestellt worden waren. 
Und v. Buttel-Reepen'), der am tiefgründigsten dem Problem 
der Entstehung des Bienenstaates nachgegangen ist, hält eine ge- 
trennte Entwicklung des Meliponen- und Apis-Staates auf Grund 
wichtiger biologischer Unterschiede zwischen beiden Bienenstaaten- 
formen für wahrscheinlich. Es wird nicht ohne Interesse sein, 


14) Kirby: Monographia apum Angliae. 2 Bände 1802. 
15) Ashmead: Classification of the bees, or the Superfamily Apoidea. 
Transaet. Am. Ent. Soc. XXVI. May 1899. 
16) v. Buttel- Reepen: Leben und Wesen der Bienen. Bei Vieweg, Braun- 
schweig 1915. 
12% 





164 Carl Börner, Stam mesgeschichte der Hautflügler. 


daß die im systematischen Teil dieses Aufsatzes mitgeteilten 
Diagnosen der Untergruppen der Körbcehensammler (Apididae) diese 
Auffassung bestätigen und es gelungen ist, den sozialen Bienen 
die ihnen im System zukommende stammesgeschichtliche Stellung 
anzuweisen, 

In der Verwertung der feineren Strukturyerhältnisse der Mund- 
werkzeuge, insbesondere der Zunge und des Unterkiefers, bın ich 
noch weiter gegangen als Demoll'), dem wir den Nachweis 
engster Zusammengehörigkeit der Gattungen Halictus, Sphecodes 
und Nomia verdanken. Wie bei anderen Immen scheint mir auch 
bei den Bienen die Entwicklungsstufe der Paraglossen wichtig zu 
sein, obwohl ihr Anhang nie so weitgehend rückgebildet wird wie 
bei den Goldwespen und einigen anderen Hymenopteren. Wie bei 
den Formicina und den Diplocnematen ist auch bei den Bienen der 
Paraglossenanhang ursprünglich außer mit Wimpern und Tast- 
borsten mit besonderen Geschmacksborsten ausgestattet (so bei 
den Colletiden, Andreniden, Halictinen, Megachiliden und manchen 
Podaliriinen und Apidinen). Aber schon bei manchen Andreniden 
ist die Zahl der Geschmacksborsten auf eins vermindert und den 
Halietoidinen, einer Unterfamilie der Halictiden, fehlen sie vollends 
ganz ; sie fehlen auch bei vielen Podaliriinen und den jüngeren Apiden. 
Um so interessanter ist es, daß sie bei den ursprünglicheren 
Gliedern dieser beiden Familien erhalten geblieben sind. Die 
eigenartig gestalteten Lippentaster der höheren Bienen finden sich 
bereits bei einigen niederen Bienen (Systropha, Rhophites, Melitturgus), 
deren Zugehörigkeit zu diesen aus dem Bau anderer systematisch 
wichtiger Organe zu beweisen ist. Die Tendenz zur Verlängerung 
und Abflachung der Grundglieder der Lippentaster trat offenbar 
wit zunehmender Verlängerung der Zunge allmählich m Erschei- 
nung und ist erst bei den höheren Bienen als allgemeines Erbgut 
festgehalten. 

Die isolierte Stellung der Halictiden ıst morphologisch im 
Bau der Unterkiefer-Innenlade begründet, biologisch !*) ın ihrer 
besonderen heterogenetischen Fortpflanzungsweise. Merkwürdiger- 
weise sind allein ın dieser Familie quergegliederte und gleichzeitig 
mit Borstenkamm versehene Unterkieferaußenladen (Abb. 6) erhalten 
geblieben (Nomiini), die damit die meiste Ähnlichkeit mit der hypo- 
thetischen Ausgangsform der Außenlade des Aculeaten-Unterkiefers 
bewahrt haben. Umgekehrt bleibt bei den Andreniden und Col- 
letiden die Gestalt der Unterkiefer-Innenlade ursprünglicher und 
der Borstenkamm der Außenlade in der Regel vorhanden, während 


17) Demoll: Die Mundteile der solitären Bienen. Z. wiss. Zool. Band 91. 
1908. 

18) Siehe Armbruster: Zur Phylogenie der Geschlechtsbestimmungsweise 
bei Bienen. Zool. Jahıb. Band 40. Heft5. 1916. 





ELTERN ADDEN WENRENIOR RUN. a HER. 
Jarl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 165 


die Quergliederung der letzteren vermißt wird. Im Borstenkamm 
eine Neuerwerbung dieser Bienenformen und eine Anpassung an 
besondere biologische Eigentümlichkeiten zu erblicken und ihn als 
Pollensammelapparat zu deuten, wie es Demoll getan hat, will 
mir nicht recht einleuchten. Denn dieser Borstenkamm der 
Bienenmaxille ist ein Homologon des bei fast allen Stechimmen 
vorkommenden gleichnamigen Organes und dient in der Regel 
wohl eher als eine Reuse zur Verhinderung des Eindringens von 
Pollen in den Schlund beim Aufsaugen des Blumennektars oder 
anderer flüssiger Nahrungssäfte, als zum Sammeln von Pollen. 





Abb. 6. 


0. Unterkieferaußenlade (Hinteransicht) von Corynura (Halictide). Die sonst 
quere Basis der Außenlade ist hier zufolge der eigenartigen Verlagerung der 
Innenlade in schräger Richtung sehr verlängert. Das Velulum (ab) trägt außer 
dem Borstenkamm keine Haare; die bärtige Fläche (b) ist an der Übergangs- 
stelle zur Innenlade erkennbar geblieben. das Velum (v) ist elattrandig. 


Colletiden und Andreniden habe ich getrennt, um dadurch 
Nachdruck auf die Bauart der Zunge zu legen. die bei jenen mehr 
oder weniger ausgesprochen zweilappig bis tief zweiteilig, bei diesen 
stets einspitzig ist. Jene erinnern dadurch an viele Wespen und 
an die Sapygiden, diese an die Scoliiden, und wahrscheinlich ist 
es berechtigt, die Zunge der höheren Bienenformen auf die An- 






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166 Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 


drenidenzunge zurückzuführen, um so eher, als die ersten Anfänge 
zur Bildung des die höheren Bienen auszeichnenden Zungenlöffels 
schon in dieser Familie zu beobachten sind. Der Besitz des Außen- 
ladenborstenkammes bei gleichzeitigem Fehlen des Rückenkammes 
des Unterkieferstammes, welch’ letzterer ein wichtiges Merkmal aller 
Apididen ist, weist solchen Gattungen (wie Melitturgus) ıhren Platz 
unter den Andreniden an. . 


Prosopis als Familie von den Colletiden abzutrennen, dürfte 
nicht hinreichend zu begründen sein. Wenn sie im System der 
Bienen an erster Stelle erscheint, so ıst damit micht gesagt, daß 
sie die ursprünglichste rezente Biene sei. Um diesen Ehren- 
platz wetteifern mit ıhr dieColletinen so gut wie manche 
Andreninen und Halictinen, und wir gelangen zu einem 
annähernden Bild der Urbiene nur durch geeignete Ver- 
bindung der altertümlichen Merkmale der drei genann- 
ten Gruppen (lappıg vortretende Innenlade, mit Borstenkamm 
versehene und quergegliederte Außenlade des Unterkiefers; wohl- 
entwickelte, mıt Geschmacksborsten versehene Paraglossenanhänge : 
Zunge mit offener Speichelrinne'?), breit zweilappig; mit dem 
Mundloch verbundene Oberkieferbucht der Kopfkapsel; keine hoch- 
entwickelten Pollensammelapparate). 


Die Unterschiede der Andreniden und Halictiden beruhen in 
erster Linie auf dem verschiedenen Bau der Unterkiefer-Innenlade, 
der es unmöglich macht, Ashmead’s'’) Einteilung der hierher 
gehörenden Bienengattungen in Panurgidae und Andrenidae beizu- 
behalten. Bei einem Vergleich des hier gegebenen Systemes mit 
demjenigen von Ashmead erkennt man leicht, daß die Gruppie- 
rung der ın Frage kommenden Bienengattungen nach dem Flügel- 
geäder ihre natürliche Verwandtschaft nicht erkennen läßt. Dak 
dem Sammler und Museologen das Flügelgeäder hervorragende 
Dienste leistet, daß es vielfach auch mit anderen Eigentümlich- 
keiten Hand ın Hand geht und dann stammesgeschichtlich eindeutig 
erscheint, ist eine unbestreitbare Tatsache. Verliert man sich aber 
in die feineren Einzelheiten des Flügelgeäders, so wird es !m all- 
gemeinen immer schwieriger, hierbei phylogenetische Entwicklungs- 
reihen aufzustellen und sie eindeutig zu interpretieren; gar zu 
leicht ıst man der Gefahr ausgesetzt, Konvergenzerscheinungen als 
Ausdruck engerer Blutsverwandtschaft aufzufassen. 

19) Als Speichelrinne bezeichne ich die auf der. Hinter- bezw. Unterseite 
der Zunge gelegene Rinne, die sich am Zungengrunde verbreitert und dort den 
zwischen Zungengrund und Paraglossen auf die Zungenhinter- bezw. -unterseite hin- 
abfließenden Speichel aufnimmt und zur Zungenspitze leitet. Diese Rinne ist ge- 
wiß nicht als Saugrohr zu betrachten, durch das die Biene (oder andere langrüsselige 
Hymenopteren) die letzten Spuren ihrer Nahrung aufsauge, wie es noch neuerdings 
u. a. auch Zander (Der Bau der Biene, Stuttgart, 1911) darstellt. 








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-_ 


Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 167 


Je vielseitiger aber ein Organismus untersucht wird, je mehr 
Einzelheiten der verschiedenen Organe man vergleichend berück- 
sichtigt, um so leichter wird man diese gefährlichste Klippe aller 
systematisch-phylogenetischen Forschung umfahren können. Ich 
gebe zu, daß es in unserem Falle nicht weniger verfehlt wäre, 
irgend eine hervorstechende Eigenschaft der Mundwerkzeuge ein- 
seitig einem System zugrunde zu legen. So wichtig beispielsweise 
der Borstenkamm der Unterkieferaußenlade ist, so darf es uns 
doch nicht Wunder nehmen, daß er als altererbtes Stechimmenorgan 
bei der Anpassung an neue biologische Verhältnisse unterdrückt 
werden konnte. Dient er wirklich dazu, beim Saugakt einer Verstop- 
fung des Schlundes durch Blütenpollen entgegenzuwirken, so leuchtet 
es ein, daß er überflüssig wurde, sobald die Saugwerkzeuge (Zunge 
und Unterkiefer) verlängert waren und nun der Kopf der Biene 
nicht mehr so tief in die nektargebende Blume versenkt zu werden 
brauchte; sehen wir sich doch denselben Vorgang bei langrüsseligen 
Grabwespen, Faltenwespen und Goldwespen wiederholen. Demnach 
ist der Besitz des Borstenkammes der Unterkieferaußenlade kein 
untrüglicher Beweis für die Zusammengehörigkeit seiner Träger, 
sein Vorhandensein deutet vielmehr nur auf ein stammesgeschicht- 
lich höheres Alter im Vergleich zu Formen hin, die ihn nicht mehr 
besitzen. Ähnlich verfehlt wäre es ja auch, alle jene Bienen zu- 
sammenzufassen, deren Paraglossenanhänge die Geschmacksborsten 
verloren haben. Wenn aber an den Mundteilen neue Einrichtungen 
ın Erscheinung treten, wie beispielsweise der bei den Habletini und 
Nomioidini erwähnte Wimperkamm der Maxillenaußenlade, oder wenn 
die Paraglossen eine eigenartige, vom Urtyp abweichende Gestalt an- 
nehmen, wie.bei den Panurginae, Dasypodinae und Halictoidinae, dann 
wird man sich berechtigt halten dürfen, die derart gekennzeichneten 
Gattungen auch dann für stammesverwandt zu halten, wenn das 
Flügelgeäder dagegen zu sprechen scheint. Inwieweit die vorge- 
schlagene Tribuseinteilung der Halietinae bei Vergleich aller in 
Frage kommenden Bienengattungen beibehalten bleiben kann, ist 
abzuwarten. 

Die alte Einteilung der Bienen in Bein- und Bauchsamnler 
und der ersteren ın Bürstensammler und Körbehensamnler ließ 
‘sich bei den höheren Bienen aufrecht erhalten und durch Merk- 
male ım Bau der Mundwerkzeuge ergänzen. Fassen wir zunächst 
den Hauptgegensatz der Bein- und Bauchsammler ins Auge, so 
sind jene durch eine freiliegende, diese durch eine von den Man- 
dibeln überdachte Oberlippe, letztere ferner durch eine eigenartige 
doppelte Ringelung der verlängerten Unterkieferaußenladen, auf 
die schon Dem oll!”) aufmerksam gemacht hat, gekennzeichnet. 
Die Bauchsammler und die von ihnen abzuleitenden Kuckucksbienen 
sind überhaupt sehr einheitlich gebaut. Wegen der durchweg ur; 


168 Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 


sprünglich beborsteten Paraglossen müssen wır übrigens annehmen, 
daß sie sich schon frühzeitig vom Heer der höheren Bienen abge- 
zweigt haben. Dem Bau der Fußklauen nach zu urteilen, dürften 
die Stelinen mit den Osmien, die Coelioxinen mit den Megachilen 
ın Verbindung zu bringen sein. 

Im Vergleich mit den Bauchsammlern und ihren Kuckucken 
sınd die Beinsammler recht vielgestaltig und bilden, wie bereits 
angedeutet, zwei große Lager, die Bürsten- und die Körbchen- 
sammler. Ob und wie sich die letzteren aus den Bürstensammlern 
entwickelt haben, wird nicht leicht zu entscheiden sein, vielleicht 
bietet die Gattung Canephorula-Friese einen Hinweis zur Klärung 
dieser Frage; sicher aber ist, daß die mit Tast- und Geschmacks- 
borsten versehenen Paraglossen mehrerer Körbcehensammler (wie 
der Mehrzahl der Bombinen und der Meliponen) nur mehr deren 
Anschluß an die niederen Bürstensammler zulassen, die wır unter 
den Eucerini zu suchen haben. Nun besitzen fast alle Sammel- 
bienen (einschließlich Psithyrus) einen Rückenkamm am Stipes 
des Unterkiefers, und man könnte ım Sinne dieses Merkmales die 
Bürsten- und Körbehensammler als Einheit den Nomadinen gegen- 
überstellen. In solchem Vorgehen würde man durch die ver- 
schiedene Art der Behaarung der Unterkieferinnenlade noch be- 
stärkt werden. Aber die Nomadinen, die zunächst ganz isoliert zu 
stehen scheinen, lassen sich den Üeratinen unschwer anschließen, 
mit denen sie nicht: nur die haarlosen Paraglossen, sondern auch 
den mit Geschmacksborsten besetzten. vom Zungenrohr oft kaum 
abgesetzten Zungenlöffel teilen. Deshalb habe ich diese beiden 
Gruppen zu einer Familie zusammengefaßt, zumal sich die Oera- 
tinen den Nomadinen nicht nur in den bereits “mitgeteilten 
Merkmalen, sondern auch in der schlanken Gestalt der sonst 
bei Bienen so auffällig verbreiterten Hinterschienen und -fersen 
nähern. Die eigentlichen Podalirsinen zerfallen ın die natürlichen 
Tribus der Bucerini, Podaliriini und Xylocopini, deren erster der 
formenreichste und altertümlichere ıst und dessen Vertreter hin- 
sichtlich der Unterkieferaußenlade gestaltlich ähnliche Verschieden- 
heiten aufweisen wie die Andreniden und Nomadinen. Die Paraglossen 
sind bei ihnen, soweit die bis jetzt vorgenommenen Untersuchungen 
einen Schluß zulassen, stets mit Tast- und Geschmacksborsten ver- 
sehen, während die durch die eigentümliche Gestalt des Zungenlöffels 
charakterisierten Podaliriinen ebensolche (Habropoda) oder nur be- 
wımperte (Alykenella)?®) oder ganz kahle, grundwärts mehr oder 
weniger schuppige Paraglossen (P odalriik s. str.) aufweisen; bei 

20). Als Typus dieser neuen, meinem Freunde Alfken gewidmeten Bienengat- 
tung Alfwenella bezeichne ich Podalirius quadrifasciatus. Weitere Zugehörige 
dieser Gattung sind Podal. zonatus, eirculatus und albigena, während Pachymelus 
und Paramegilla im Paraglossenbau mit Habropoda übereinstimmen. 









Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 169 


den Xylocopen kommen ursprünglich behaarte Paraglossen m. W. 
nicht mehr vor, im übrigen ist die Übereinstimmung im Maxillenbau 
zwischen ihnen und den Podalirien sehr auffällig. 

Die Körbehensammler, deren höchstentwickelte Vertreter be- 
kanntlich Apis und die Meliponen sind, leben fast alle ın Staaten 
oder Familienverbänden. Morphologisch sind ihrer drei Gruppen 
zu unterscheiden, deren erste die Hummeln mit zweispornigen 
Hinterschienen, deren zweite die Bienen mit spornlosen Hinterschienen 
und bestachelten Weibchen, deren dritte die Meliponen mit eben- 
falls spornlosen Hinterschienen aber stachellosen Weibchen umfaßt. 
Die Hummeln wie die Meliponen enthalten Gattungen mit ursprüng- 
lich beborsteten Paraglossen, die Paraglossen der Honigbienen ent- 
behren aber — wie jene der Hummelgattung Eulema”!) — sowohl 
der Tast- wie der Geschmacksborsten. Man könnte demnach 
Apis vielleicht an Errlema-ähnliche Körbehensammler anschließen, 
muß sich aber bewußt bleiben, daß die Euglossen mit bombus 
(und Psithyrus) die stark verlängerten, eng geringelten Unter- 
kieferaußenladen teilen, Organe, die bei Apis (und den Melı- 
ponen) ursprünglicheren Bau bewahrt haben. Damit schalten 
die Bombinen als unmittelbare Vorläufer der Apinen 
und Meliponinen aus. -Und da die Meliponen der bei 
ihren altertümlicheren Vertretern mit Tast- und Ge- 
schmacksborsten versehenen Paraglossen wegen, wie 
auch wegen der grobborstigen Behaarung der beı Apis 
zart- und wimperhäutigen, bläschenartigen Unterkiefer- 
innenlade (um von den bei den Meliponen erhaltenen Resten des 
Borstenkammes der Unterkieferaußenlade und anderen morpho- 
logischen und biologischen Unterschieden zu schweigen) nicht 
von Apis abgeleitet werden können, so bleibt uns nur 
die Möglichkeit, eine hypothetische Ahnenform für die 
heutigenGruppenderKörbchensammler zu konstruieren. 


7. Die Familien der Diplocnemata, 

Wie aus der Familienübersicht hervorgeht, gehören hierher 
außer den Grab- und Sandwespen auch die eigentlichen oder 
Faltenwespen, jene die Superfamilie der Sphegidina oder Ento- 
mophila, diese die Superfamilie der Vespina oder Diplopteryga bil- 
dend. Daß die bisher den Scoliiden genäherten Psammochariden 
(Pompiliden) hier einzureihen sind, ergibt sich daraus, daß sıe die 
Putzbürste der Hinterbeine besitzen; ım übrigen schließen sie sıch 





21) Die bisher in einer Sammelgattung Kuglossa zusammengefaßten Hummeln 
sind nach dem Paraglossenbau wenigstens auf 2 Gattungen zu verteilen: Kuglossa 
s. str. umfaßt mit smaragdina als Typus die pelzigen Arten mit Paraglossen, deren 
Anhang auf der ganzen Fläche bewimpert ist und auch eine Geschmacksborste 
trägt. Die Paraglossen der Eulema-Arten sind dagegen nur am unteren Rande be- 
wimpert und entbehren der Geschmacksborsten (z. B. eordata und (dimidiata). 


4 


IR: Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 


in der Mundbildung “und mit den Sohlenbläschen der vier ersten 
Fußglieder eng an die eigentlichen Grabwespen an. 


a) Sphegidina oder Grabwespen im weiteren Sinne. 


Die Vielgestaltigkeit der Grab- und Sandwespen betrifft den 
feineren Bau der Mundwerkzeuge und andere Merkmale der all- 
gemeinen Erscheinung (Körpergestalt, Habitus) wie einzelner Körper- 
teile (Sohlenbläschen, Schiensporne, Flügeladerung). Es gibt Formen 
mit glattrandigem und mit wimperrandigem Velum, Formen mit 
wohlentwickelten und mit verkümmerten Paraglossen, Formen mit 
kurzen und mit verlängerten Mundteilen, Formen mit freier und 
mit verdeckter Oberlippe und Kopfkapselformen nach Art der 
Sapygen oder anderer niederer Hautflügler sowohl wie nach Art 
der Scolien und Mutillen. Rechnet man die im Besitz oder Fehlen 
der Sohlenbläschen nachweisbaren Unterschiede hinzu, so ergibt 
sich auch ohne Berücksichtigung weiterer Eigentümlichkeiten (Augen- 
form, Gestalt des 2. Hinterleibsringes, Schenkelgrundring) eine 
größere Anzahl scharf getrennter Gattungsgruppen, denen ich teils 
Familien- teils Unterfamilienrang zuerkannt habe. 

Vergleicht man nun die Grabwespenfamilien Ash mead’s W222) 
oder die Gattungsgruppen von Kohl") und Handlirsch??) mit 
den Gruppen meines Systemes, so fallen große Unterschiede ın 
ihrer Zusammensetzung auf. Die Ansicht Kohl’s. daß zu einer Auf- 
lösung der alten Sphegiden in mehrere selbständige Familien jede 
Berechtigung fehle und selbst eine Einteilung m Subfamilien durch 
isoliert stehende Gattungen erschwert werde —eine Anschauung, die 
andere Forscher, wie z. B. Ducke?), auch auf die Bienen über- 
tragen zu müssengeglaubt haben — dürfte durch die hier neu auf- 
gestellten Diagnosen widerlegt sein. In Zweifel könnte man allenfalls 
sein, ob nicht gar sämtliche von mir unterschiedenen Unterfamilien 
besser als Familien zu bewerten sind. Die Natürlichkeit dieser letz- 
teren steht nach unseren heutigen Kenntnissen außer Zweifel, und es 
dürfte ein Leichtes sein, die von mir noch nicht untersuchten Grab- 
wespengattungen des K ohl’schen Systemes dem meinigen einzufügen. 

DiePsammochariden finden mit ıhrem glattrandigen Velum 
und den mit Sohlenbläschen versehenen Fußgliedern ungezwungen 
Anschluß an die Astaten, aus deren hypothetischen Ahnenformen 
sie hervorgegangen gedacht werden können. Sie für phylogenetisch 
älter zu halten, liegt kein Grund vor: sowohl die Verlängerung 


22) Handlirsch: Monographienreihe der mit Nysson und Bembex verwandten 
(rabwespen. Sitzber. kais. Akad. d. Wissensch. Wien 1887—1895. 

22a) Olassification of the entomophilous wasps, or the superfamily Sphegoidea. 
Canad. Entomol. Vol. 31, 1899, Nr. 6—9, 11,12. 

23) Ducke: Die natürlichen Bienengenera Südamerikas. Zool. Jahrb. Bd. 34. 
Heft 1. 1912. 








Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. A 


der Hinterbeine, wie die an die Formicina erinnernde Form des 
Vorderbrustrückens können als Eigenschaften jüngeren Alters ge- 
deutet werden. Ihre Selbständigkeit als Familie bleibt indessen 
unberührt; die Stammesgeschichte ihrer Gattungen wird aber unter 
eingehender Berücksichtigung der feineren Struktur der Mund- 
werkzeuge — ich erinnere hier an das Vorkommen reichlicher Be- 
borstung des vom Borstenkamm begrenzten Seitenfeldes auf der 
Hinterseite der Unterkieferaußenlade bei afrikanischen, nicht näher 
bestimmten Formen, die ich bei unseren europäischen Vertretern 
dieser Familie nicht bemerkt habe -— einer erneuten Prüfung zu 
unterwerfen sein. 


b) Vespina oder Faltenwespen im weiteren Sinne. 

Die Faltenwespen zerlegt man nach biologischen Gesichts- 
punkten in drei Gruppen, die man bald als Familien, bald als Unter- 
familien bewertet findet. Die eine umfaßt die gesellig oder in Staaten 
lebenden (Vespinen), die zweite die solitären, ihre Brut mit In- 
sekten fütternden (Eumeninen), die dritte die solitären honig- 
sammelnden (Masarinen) Faltenwespen. Wie man die sozialen 
Bienen von Solitärbienen ableitet, so sollen auch die sozialen 
Wespen Abkömmlinge einsam lebender Wespen sein, und es hat 
nicht an Forschern (Handlirsch°®), Ducke::)) gefehlt. die die 
raubenden Eumeniden als Vorläufer namhaft gemacht haben. Ducke 
geht sogar so weit, daß er einen Teil der sozialen Wespen mit 
Eumenes-, einen anderen mit Odyner«s-ähnlichen Ahnenformen in 
Verbindung bringt. Nun liegen aber die Verhältnisse bei den 
Wespen wesentlich anders als bei den Bienen, bei denen wir in 
der Tat von altertümlich organisierten Urbienen (Colletidae) über 
kurzzungige Beinsammler ( Andrenidae) morphologisch wie biologisch 
zu den staatenbildenden Körbchensammlern und damit auch zur 
Honigbiene stammesgeschichtlich emporsteigen können. Bei den 
Wespen ist dieser Weg phylogenetischer Forschung nicht gangbar 
geblieben, es sei denn, daß unter den Solitärwespen noch solche 
Formen festgestellt werden, welche morphologisch den Anschluß 
der sozialen Wespen an sie ermöglichen. Vertreter der Zethus- 
Gruppe, die ähnlich wie die Kuglossa-Bienen gesellig leben ohne 
eigentliche Staaten zu bilden, habe ich leider zu untersuchen keine Ge- 
legenheit gehabt”). Die mir bekannten sozialen Faltenwespen (Vespa. 
Charterginus, Polistes, Nectarina, Polybia) haben sämtlich einfache 

24) Über Phylogenie und Klassifikation der sozialen Vespiden. Zool. Jahrb. 
Band 36, 2. und 3. Heft. 1914. 

25) Wie ich nachträglich festzustellen Gelegenheit hatte, hat Zethus Unter- 
kiefer von Eumenidentyp. könnte also als biologische Zwischenform zwischen den 
solitären Eumeniden und /schnogaster bezw. Ischnogasteroides auch vom morpho- 
logischen Standpunkt aus sehr wohl in Frage kommen, wenn letztere nicht etwa 
doch echte Vespinen sein sollten. 





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2 Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 


Fußklauen, doppelte Schiensporne der Mittelbeine und ursprünglich 
gebaute Mundwerkzeuge, insbesondere den Borstenkamm der Unter- 
kieferaußenlade und kurze, bis schwach verlängerte Zungenanhänge. 
Sie erweisen sich in den genannten Merkmalen als altertümlich 
organisiert im Vergleich zu den Eumeninen (untersucht sind Bu- 


menes, Discoelius, Alastor, Odynerus, Symmorphus, Hoplomerus, Ptero- 


chilus), denen sowohl der charakteristische Borstenkamm der Unter- 
kieferaußenlade wie meist auch der eine Mittelschiensporn fehlt, 
während sie durch gezähnte Fußklauen und geriefte Mandibeln 
ausgezeichnet sind. Es sınd demnach morphologisch eher 
die Eumeninen von den Vespinen als diese von jenen heı- 
zuleiten, unter Berücksichtigung der Biologie werden wir aber für 
beide eine mehr den Vespinen genäherte hypothetische Stamm- 
form annehmen, die die Lebensweise der heutigen Eumeninen führte. 


Sollten übrigens Ischnogaster und Ischnogasteroides. soziale Wespen, 


welche nach Ducke gezähnte Fußklauen und eigenartige Man- 
dibeln besitzen, auch im Maxillenbau den Eumeninen ähneln, so 
würden wır damit tatsächlich, wenn auch nicht in dem von Duck e 
angenommenen Umfange, eine polyphyletische Entstehung der 


soziälen Wespen nachweisen und in der Lage sein, wenigstens ' 


diese letztgenannten Sozialen an Eumeninen anzuschließen ?). 

Die Masariden. welche manche Forscher ihrer angeblich nicht 
faltbaren Vorderflügel wegen für altertümliche Wespen zu halten 
geneigt sind, können ebensowenig wie die Vespinen von Eumeninen 
abgeleitet werden. Denn ihre Unterkieferaußenlade besitzt den 
Borstenkamm und die Fußklauen sind ungezähnt. Als Vorläufer 
der Vespinen können sie aber nicht gelten, da letzere ım Zungen- 
bau die ursprünglicheren Verhältnisse bewahrt haben. Sie besitzen 
wie diese einfache Klauen und die mit Borstenkamm versehene 
Unterkieferaußenlade, und die Rhinarien der keulenförmigen Fühler 


‚sind noch nicht so langgestreckt streifenförmig wie bei den Vespinen 


und Eumeninen. Aber die stark verlängerte tief gespaltene Zunge, 
ihre hochentwickelte Einstülpbarkeit, die anscheinend zur Verküm- 
merung oder gar zum Verlust des Paraglossenanhanges führte, läßt 
die Masınden nur als hoch spezialisierten Seitenzweig hypothe- 
tischer Solitärwespen erscheinen, deren Hauptstamm zu Vespinen 
und Eumeninen führte. Künftige, auf morphologisch-biologischer 
(Grundlage durchzuführende Forschungen werden wohl den Ausbau 
des hier kurz skizzierten natürlichen Systemes der Faltenwespen 
ermöglichen, 


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Carl Börner, Stammesgeschiehte der Hautflügler. 0.475 


8. Systematische Übersicht über die Familien der Hautflügler. 
Ordo Hymenoptera. 
Subordo I: Symphyta Gerstaecker. 


Syn. Terebrantia Latr. partim. 
Securifera Latr. 
Ditrocha Hartig partim. 
Sessiliventres Haliday. 
Chalastogastra Konow. 
Phytophaga Gerstaecker, Ashmead. 


Imago: Labium (in der ursprünglichen Bauart) primitiv, seine Laden nicht ins 
Mundinnere zurückzuziehen; Glossa nicht breiter, meist schmäler als die stets mit 
Geschmacksborsten versehenen Paraglossen. Putzkamm der Vorderbeine fehlend oder 
doch nicht in der für die Apocrita charakteristischen Ausgestaltung vorhanden. 
Fußglieder 1—4 meist mit Sohlenbläschen. Hinterleib dem Thorax breit ansitzend, 
1. Hinterleibssegment am Hinterrande nie taillenartig eingeschnürt. Flügel reich 
seadert. 

j Larve: Stets mit Brustbeinen, oft auch mit Üercis, mit Reetalöffnung und 
defaezierend (immer?). 

Larven und Imagines phytophag. 


Sectio A: Etropoda CB. 
Imago: Außenlade des Unterkiefers mit Grubenkegeln grundwärts an der der 
Innenlade zugekehrten Schmalseite (nicht auf der Hinterfläche endwärts, Fig. 1). 


‘ Endglied der Lippentaster ohne Sinnesgrube. Basalnerv mündet im Vorderflügel 


vor oder in den Ursprung des Cubitus. Keine Supraapikalsporne. Vorderschienen 
mit 2 Endspornen. Mundloch der Kopfkapsel mit der Oberkieferbucht breit ver- 
bunden. 
Larve: Mit gegliederten Brustbeinen und stummelförmigen Bauchfüßen, meist 
von Blättern lebend. 
l. Familie: Tenthredinidae. 
Vorderbeine ohne Bandborsten an Schiene und Ferse Fühler nicht keulen- 
förmig. Sohlenbläschen am Eudrand der Fußglieder befestigt, einstülpbar. 
Unterfamilie: Tenthredininae. 
Sohlenbläschen wenigstens teilweise mit Schüppehen oder Haaren besetzt. 
Fühler mit 5 oder mehr Gliedern. 
Tribus Tenthredinini. 
Fühler mit 5—15 Gliedern. — Hierher die Tenthredinen, Dolerinen, Selandriinen 
Hoplocampinen, Blennocampinen, Nematinen. 
Tribus Lophyrini. 
Fühler mit mehr als 20 Gliedern. — Hierher Lophyrus und Monoctonus. 
Unterfamilie: Arginae. 
Sohlenbläschen kahl. Fühler dreigliedrig. — 
Aprosthema. 


Hierher Arge, Schizocera, 


2. Familie: Cimbicidae. 

Vorderbeine am Unterrande von Schiene und Ferse mit bandförmig oder 
spatelförmig verbreiterten Borsten (wie bei den Anetropoden, Vorläufer des Vorder- 
bein-Putzkammes der Apocrita). Fühler keulenförmig. Sohlenbläschen eroß, dem 
Fußgliede breit aufsitzend, nicht einstülpbar. 

Tribus Abiini. 

1. Adominaltergit mehr weniger frei, hinten ohne „Blöße“. — Hierher Abia, 

Amasis, Trichiosoma, Praia, Pseudoclavellaria. 





RE Ed 
FMH N KA Kr Ei TE 


174 Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 


Tribus Cimbieini. 

1. Abdominaltergit in ganzer Breite fest mit der Hinterbrust verwachsen, hinten 
mit „Blöße“. — Hierher Cimbex. 

Sectio B: Anetropoda CB. 

Imago: Außenlade des Unterkiefers (bei den ursprünglicheren Vertretern) mit 
Grubenkegeln auf der endwärtigen Hälfte ihrer Hinterfläche (wie bei den Apocrita, 
Fig. 2). Schiene und Ferse der Vorderbeine stets mit Bandborsten. 

Larve: Ohne Bauchfüße, in Gespinsten oder im Pflanzeninnern lebend. 


Subsectio: Pamphiliina. 
Brustbeine der Larve gegliedert. Endglied der Lippentaster ohne Riechgrube. 
Schienen mit Supraapicalspornen, Vorderschienen mit 2 Endspornen. 


3. Familie: Pamphiliidae. 

Sohlenbläschen herzförmig, breit angewachsen. Legeapparat des @ nicht oder 
wenig vorragend. Grundglieder der Unterkiefertaster nicht auffällige verstärkt. 
Fühler ohne glocken- oder streifenförmige Rhinarien. Ansatzstelle der Mandibeln 
vom Mundloch der Kopfkapsel vollständig getrennt (wie bei Scolien, Mutillen, Cra- 
broninen). — Hierher als Unterfamilien die Pamphiliinae und Blasticotominae. 


4. Familie: Xyelidae. 

 Sohlenbläschen verkümmert. Legeapparat des 2 weit vorragend. Grund- 
glieder der Unterkiefertaster auffallend kräftig. Fühler mit auffallend langem 
3. Glied, das glocken- oder streifenförmige Rhinarien trägt. Kopfkapsel wie bei den 
übrigen Symphyten. — Hierher Xyela, Pleroneura. 

Subsectio: Cephina. 

Brustbeine der Larven ungegliedert. Endglied der imaginalen Lippentaster 
mit Riechgrube (Demoll’s Stiboreflexor). Vorderschienen mit 1 Endsporn. — 
Entwicklung im Innern von Halmen oder holzigen Pflanzenteilen. 

5. Familie: Cephidae. 

Sohlenbläschen nackt, einfach, am Endrande der Fußglieder. Supraapical- 
sporne vorhanden. Mundteile ursprünglich. Paraglossensockel vorderseits mit bürsten- 
artig angeordneten Borsten. Innenlade der Unterkiefer mit Basallappen, Außenlade 
(Fig. 2) hinterseits grobborstig behaart. After offen. Cerei vorhanden. — Typische‘ 
(rattung Cephus. 

6. Familie: Xiphydriidae. 

Sohlenbläschen nackt, doppelt, am Endrande der Fußglieder. Keine Supra- 
apicalsporne. Mundteile ursprünglich. Innenlade der Unterkiefer ohne Basallappen. 
After geschlossen. Cerci vorhanden. — Typische Gattung Xiphydria. 

7. Familie: Sirieidae. 

Sohlenbläschen verkümmert, die borstenfreie Mittellinie der Fußglieder auf ihr 
einstiges Vorhandensein hindeutend. Keine Supraapicalsporne. Mundteile weit- 
gehend rückgebildet, Riechgrube des Lippentasterendgliedes aber groß, terminal. 
After geschlossen. ÜOerci fehlen. — Typische Gattung Sirex. 


Subordo Il: Apocrita Gerstaecker. 
Syn. Terebrantia Latr. partim (= Pupivora Latr.) — Aculeata Latr. 
Ditrocha Hartig partim — Monotrocha Hte. 
Petioliventres Haliday. 
Clistogastra Konow. 
Entomophaga und, Aculeata Gerst. 
Heterophaga Ashmead. 
Imago: Labium mit ins Mundinnere zurückziehbaren Laden, Glossa stets breiter 
und meist auch länger als die, vielfach weitgehend rückgebildeten, Paraglossen. 








Carl Börner, Stammesgeschichte der Hauttlügler. j 175 


Vorderbeine stets mit Putzkamm, der von einer differenzierten Borstenreihe der 
Ferse und dem einzigen, als Daumen opponierbaren Schiensporn gebildet wird (vgl. 
die Notiz bei den Cimbiciden). Hinterleib meist mit Tailleneinschnürung zwischen 
dem 1. und 2. Segment (Ausnahme Oryssiden). 
Larven: Ohne Brust- und ohne Bauchfüße, afterlos und nicht defaezierend. 
Phytophag oder carnivor. 


Sectio C: Parasitica. 


, Q mit Legestachel, die Eier ins Innere von Pflanzen oder Tieren ablegend. 
7. Abdominalsternit beim ® nie die — oft verschmolzenen — Tergite des 8. und 


). Segmentes umschließend. Hinterleibsringe nicht selten teilweise verschmolzen. 
Hinterbeine nieht mit Putzbürste. Entwicklung ekto- oder entoparasitisch, an oder 
in von @ nicht paralysierten Arthropoden, meist Insektenlarven oder deren Eiern. 
Mundloch der Kopfkapsel anscheinend stets mit der Oberkieferbucht breit verbunden 
(wie bei den meisten Symphyten). 


Subsectio: Archiglossata CB. (Diplomorpha Förster). 
Paraglossen mit breitem, mit Geschmacksborsten versehenem ‚Anhang. Fuß- 
glieder mit nackten Sohlenbläschen. Hinterflügel ungelappt. 


8. Familie: Trigonalidae. 

Innenlade des Unterkiefers (wie bei Cephiden) mit Basallappen; Außenlade 
quergeteilt. Trochanter mit obsoleter Querteilung; Schenkelgrundring abgeschnürt. 
3 Labial-, 6 Maxillartasterglieder. Fühler ohne streifenförmige Rhinarien. Flügel 
reich geadert. Tailleneinschnitt zwischen 1. und 2. Hinterleibsring. — Typische 
Gattung Trigonalys. 

Subsectio: Metaglossata CB. 

Paraglossen mit mehr weniger verkümmertem Anhang, dem Geschmacksborsten 

stets fehlen. Fußglieder ohne Sohlenbläschen. 


Superfamilie: Ichneumonina. 

Geißelglieder der Fühler mit strich- oder (selten) eiförmigen Rhinarien. 
Hinterleibsgliederung der Weibchen im Anogenitalkomplex in der Regel insofern 
ursprünglich, als S. und 9. Tergit getrennt und Cerci erhalten geblieben sind.. Der 
Stachelapparat ragt vor der Hinterleibsspitze (also mehr oder weniger ähnlich wie 
den Symphyten) heraus. Hinterflügel stets ungelappt. Maxillaraußenlade meist ohne 
„Borstenkamm“ (Ausnahme Stephaniden). ; 


a) Porus der Rhinarien in der basalen Hälfte gelegen. 


9 Familie: Stephanidae. 

Ähnlich der folgenden Familie, auch mit 4 Labial- und 6 Maxillartaster- 
gliedern, aber die quergeteilte Maxillaraußenlade mit „Borstenkamm“ und die 
Rhinarien der Fühlergeißel von eiförmigem Umriß (ähnlich denen der Peleziniden). 
Flügeladerung altertümlich. — Typische Gattung Stephanus. 


10. Familie: EKvaniidae. 

Fühler nicht gekniet, keine Annelli. Seitenecken des Pronotums berühren die 
Tegulae. Rhinarien strichförmig (immer?). Femur mit oder ohne Schenkelgrundring. 
-4 Labial-, 6 Maxillartasterglieder. -- Hierher 1. die Evanünae, 2. die Gasteruptioninae 
mit. den Triben der Gasteruptionini und Aulaeini. 


11. Familie: Chaleididae. 
Fühler gekniet, am Grunde der Geißel mit 1 oder mehreren Annellis. Rhinarien 


strichförmig. Seitenecken des Pronotums berühren die Tegulae nicht. 3 Labial-, 
4—5 Maxillartasterglieder. Mit oder ohne Schenkelgrundring. — Mehrere Unter- 


familien und Tribus, einschließlich der Mymarinae, 





176 Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 


. 


b) Porus «der Rhinarien mittelständig oder von der Länge des Rhinariums (bei 
Oryssiden). 

12. Familie: Oryssidae. 

Körperform ähnlich wie bei den Symphyten, keine Tailleneinschnürung zwischen 
dem 1. und 2. Abdominalsesment. Strichförmige Rhinarien mit schmalem, fast die 
Länge des ‚Rhinariums erreichendem Porus. Fühler nahe dem. Clypeus eingelenkt. 
3 Labial-, 5 Maxillartasterglieder. Außenlade des Unterkiefers quergeteilt, mit 
breitem Velum ; Innenlade breit. Schenkelgrundringe an allen 3 Beinpaaren. Stachel 


lang, ins Leibesinnere eingezogen, Stachelscheide (Styli) kurz. Bauchplatte des, 


7. Hinterleibsringes beim @ mit einem den Stachelschlitz deckenden Lappenanhang. 
— Typische Gattung Oryssus. 


13. Familie: Braconidae. 

Tailleneinschnürung zwischen dem 1. und 2. Hinterleibsring mehr minder 
deutlich. Strichförmige Rhinarien langgestreckt, mit elliptischem, bisweilen undeut- 
liehem Porus. Fühler zwischen den Augen eingelenkt. Taster und Bauchplatte des 
7. Hinterleibsringes beim Q wie bei den Oryssiden. Stachel frei oder mehr weniger 
eingestülpt, Stachelscheide meist lang. Außenlade des Unterkiefers nicht quergeteilt, 
mit meist breitem, wimperrandigem Velum. Bauchplatten der vorderen Hinterleibs- 
ringe nicht verkürzt. Schenkel mit oder ohne Grundring. 3 Labial-, 4 oder 5 


Maxillartasterglieder. — Mehrere Unterfamilien und Tribus, einschließlich der 
Megalyriden. 


14. Familie: Cynipidae. 

Tailleneinschnürung zwischen dem 1. und 2. Hinterleibsring. Strichförmige 
Rhinarien langgestreckt mit kleinem, ei- bis kreistörmigem Porus. Fühlereinlenkung 
wie bei den Braconiden. Bauchplatte des 7. Hinterleibsringes beim 2 ähnlich wie 
bei Oryssiden und Braconiden verlängert, Bauchplatten des 2.—5. Hinterleibsringes 
meist stark verkürzt (Ausnahme Anacharitinen). Stachel eingestülpt, Stachelscheide 
kurz. Außenlade des Unterkiefers quergeteilt, auf dem Grundabschnitt vorderseits 
mit auffallend langen Borsten. Velum bewimpert, meist schmal. #3 Labial-, 3—5 
Maxillartasterglieder. Schenkelgrundring oft nicht abgeschnürt. — Mehrere Unter- 
familien und Tribhs. 


15. Familie: Jchneumonidae. 

Rhinarien mit ziemlich großem elliptischen Porus, meist in Anzahl auf den 
Fühlergeißelgliedern (bei Agriotypus spärlich). Fühlereinlenkung wie bei Braco- 
niden und Oynipiden. Bauchplatte des 7. Hinterleibsringes beim Q ohne Fortsatz, 
Stachelscheide meist frei, wie der Stachel kürzer oder länger, Stachel nicht tief in 
den Leib eingesenkt. Querteilung der Unterkieferaußenlade undeutlich. Kein 
Velum, Schenkelgrundring meist abgeschnürt. 4 Labial-, meist 5 Maxillartaster- 
glieder. — Mehrere Unterfamilien und Tribus, einschließlich der Agriotypinae. 


Superfamilie: Proctotrupina. 

Fühlergeißel ohne strichförmige Rhinarien (eiförmige Rhinarien bei einigen 
Formen vorhanden). Der Stachelapparat des Weibchens liegt meist versteckt, der 
Stachel tritt scheinbar aus der Hinterleibspitze heraus; Cerei fehlen dem 2 (immer?). 

a) Hinterflügel ungelappt. 8. und 9. Abdominaltergit der Weibchen ver- 
schmolzen. Unterkieferaußenlade ohne Borstenkamm, quergeteilt, mit Velum. 
Fühler ungekniet. Seitenecken des Pronotums berühren die Tegulae. Fühler 
zwischen den Augen eingelenkt. 


16. Familie: Pelezinidae. 


Fühlergeißelglieder mit eiförmigen Rhinarien mit basalem Porus (ähnlich wie 
bei den Stephaniden). Große Formen, die 5 mit libellenartig verlängertem Hinter- 











Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautftügler. 17% 
leib. 3 Labial-, 5 Maxillartasterglieder. Kein Schenkelgrundring. — Typische 


Gattung Pelezinus. 
17. Familie: Proetotrupidae. 

Fühlergeißelglieder ohne ei- oder strichförmige Rhinarien, aber meist mit 
wohlentwickelten Riechhaaren. Meist kleine Formen. Schenkel mit oder ohne abge- 
schnürten Grundring. 3 Labial-, 4—5 Maxillartasterglieder. Flügeladerung meist 
mehr oder weniger vereinfacht. — Mehrere Unterfamilien und Tribus, ausschließlich 
der Bethyliden und Mymarinen, einschließlich der Diaprisden und Calliceratiden. 


b) Hinterflügel mit Anal- oder Basallappen. 8. und 9. Abdominaltergit der 
Weibchen nicht verschmolzen. Unterkieferaußenlade meist mit Borstenkamm und 
quergeteilt (Ausnahme Hedychrinae). Innenlade des Unterkiefers hinterseits mit 
einigen ringförmigen Sinnesgrübchen. Kein Schenkelgrundring. 


18. Familie: Bethylidae. 


Hinterleib normal gegliedert, mit S—9 äußerlich erkennbaren Ringen. 8 ab- 
dominale Stigmenpaare. Seitenecken des Pronotums bei geflügelten Formen die 
Flügelschuppen berührend. Kleine, meist nicht metallschimmernde, z. T. flügellose 
Immen. — 2 oder 3 Unterfamilien. 


19. Familie: Cleptidae. 


Hinterleibsringe ähnlich wie bei den Bethyliden, d. h. Rückenplatten der 
vorderen Ringe ohne Randwulst, Bauchplatten ungeteilt. Hintere Hinterleibsringe 
beim ' wenig verändert, bis zum 8. Segment mit Stigmen; beim 2 hintere Leibes- 
ringe fernrohrartig eingestülpt, stigmenlos, wie in der folgenden Familie. Glossa 
kurz, gerundet. Unterkieferaußenlade hinterseits mit mehrreihigem Borstenkamm, 
vorderseits quergeteilt. 5 Maxillar-, 3 Labialtasterglieder. — Hierher Cleptes, Ami- 
sega und Pseudepyris. 

20. Familie: Chrysididae. 

Rückenplatten der vorderen Hinterleibsringe mit Randleiste und -furche, 
Bauchplatten zweiteilig.. Die hinteren Hinterleibsringe bei g' u. 2 fernrohrartig 
ineinander geschoben und in der Ruhe versteckt, so daß äußerlich nur 2—4 Ringe 
(d.h. der 2.—3., 4. oder 5.) sichtbar sind. Die eingestülpten Ringe entbehren meist 
der Stigmen. Seitenecken des Pronotums meist etwas, bisweilen beträchtlich von 
den Flügelschuppen getrennt. Kleine bis mittelgroße, meist metallschimmernde 
geflügelte Immen. Hypognath, Fühler dicht über dem Clypeus eingelenkt. 


Unterfamilie: Chrysidinae. 

Glossa kurz, gerundet. Umterkieferaußenlade vorderseits quergeteilt Taster- 
glieder wie bei COleptes. 

Tribus Ellampini. 

Beborstung der Unterkieferaußenlade hinterseits wie bei Cleptes, mehrreihig. — 
Hierher Ellampus, Notozus. 

Tribus Chrysidini. 

Hinterseits auf der Unterkieferaußenlade nur der einreihige Borstenkamm. — 
Hierher Ohrysis, Stilbum, Hedychridium, Holopyga. 

} Unterfamilie: Hedychrinae. 

Wie die Chrysidinae, aber Unterkieferaußenlade nicht quergeteilt und hinte- 
‚seits ohne Borstenkamm, dafür aber mit zahlreichen freien flächenständigen Börst- 
chen. Glossa zweilappie. 

Tribus Hedycehrini. 
. Zunge und Unterkieferaußenlade kaum verlängert. 5 Maxillar-, 3 Labialtaster- 
glieder. f u. © mit 3 großen Hinterleibsringen. — Hierher Hedyehrum. 
39. Band. 13 


178 Carl Börner, Stammesgeschichte der H autflügler. 


a Tribus Parnopini. 
Zunge und Unterkieferaußenlade bisweilen stark verlängert. Maxillartaster 
und Labialtaster bisweilen armgliedrig. / mit 3 oder 4, 2 mit 3 großen Hinter- 
leibsringen. — Hierher Parnopes. 


Sectio D: Aculeata Latr. 

2 mit Wehrstachel (der bisweilen verkümmert) und meist verkümmerten Cereis. 
Beim @ bilden Rücken- und Bauchplatte des 7. Hinterleibssegments die scheinbare 
Austrittsöffnung für den Stachel, die 7. Bauchplatte halbrinnenförmig meist den 
Anogenitalapparat umschließend. Die Eier werden frei (nicht ins Innere von Pflanzen 
oder Tieren) abgelegt. Hinterleibsringe nie untereinander verschmolzen. Außenlade 
des Unterkiefers bei den ursprünglicheren Formen aller Familien hinterseits mit 
Borstenkamm (vgl. Fig. 4 u.5). Am Hinterflügel meist Basal- oder Anallappen oder 
beide abgeschnürt (Ausnahmen: einige Wespen, Mutilla, Ameisen). Entwicklung, 
soweit bekannt, nicht parasitisch, meist in dem vom 2 gebauten Nest, bisweilen nach 
Kuckucksart in fremden Nestern. 


Subsectio: Haplocnemata CB. 
Hinterbeine ohne Putzbürste. Fühler nicht mit streifenförmigen Rhinarien. 
Hinterschienen in der Regel ohne Streifenbürste (siehe bei den Diplocnematen). 


Superfamilie: Formicina CB. 

Bauchplatte des 2. Hinterleibssegmentes in der Hinterhälfte derart abgeschrägt, 
daß der Hinterleib zwischen dem 2. und 3. Segment bauchseits mehr weniger tief 
eingeschnitten efscheint (Ausnahme Sapygidae); niemals greift die Bauchplatte des 
2. Segmentes mit ihrem Hinterrande dachziegelartig über den Vorderrand der 
nächstfolgenden Bauchplatte. Seitenecken des Pronotums die Tegulae von vorn be- 
rührend. Schenkel mit oder ohne Grundring. Hinterschiene und -ferse nicht ver- 
breitert. 

21. Familie: Sapygidae. 


Zwischen dem 2. und 3. Hinterleibsring kein tiefer Einschnitt. Mittelschienen 
mit 2 Endspornen. Laden der Unterlippe kurz, feinborstig. (Glossa zweilappig, 
länger als die Paraglossen. Fazettenaugen nicht nierenförmig. Körperbehaarung 
nicht struppig. Sonst ähnlich \der folgenden Familie, namentlich auch im Bau 
des: Unterkiefers. Mundloch der Kopfkapsel (wie bei den meisten Symphyten und 
den Parasiten) breit mit der Oberkieferbucht verbunden. — Typische Gattung Sapyga. 


22. Familie: Scoliidae. 

Labium mit wohlentwickelten Paraglossen, deren Anhang außer Wimpern oder 
Papillen auch Geschmacksborsten trägt und in der feineren Struktur der ungeteilten 
(Glossa mehr weniger ähnlich ist. Innenlade des Unterkiefers stark verlängert, mit 
Basallappen ; Außenlade quergeteilt, mit rudimentärem Borstenkamm und glattrandigem 
Velum. Taster ursprünglich. Keine Sohlenbläschen. Hinterschienen mit 2 End- 
spornen. dg und ® geflügelt. Bauchplatte des 2. Hinterleibssegmentes wie bei der 
Superfamilie angegeben. Mittelschienen mit 1 Endsporn (immer?).  Unterlippen- 
"laden lang, mit schlauchförmigen Haaren oder Papillen; Glossa und Para- 
glossen ziemlich gleichlang, erstere ungeteilt. Fazettenaugen nierenförmig. Körper- 
behaarung meist struppig. Ansatzstellen der Öberkiefer vom Mundloch der Kopf- 
kapsel durch eine Chitinspange vollständig getrennt (wie bei den Pamphiliiden). — 
Typische Gattung Scolia, ob auch Oosila”? 


23. Familie: Thynnidae. 
Paraglossen wie bei den Scoliiden wohlentwickelt, am breiten Anhange mit 
Geschmacksborsten und wie die breite gelappte Glossa fein beborstet. Innenlade 
des breiten Unterkiefers nicht auffällig verlängert, ohne Basallappen ; Außenlade 









Carl Bömer, Stammesgeschiehte der Hautflügler. 179 


quergeteilt, mit Borstenkamm und glattrandigem Velum. Taster ursprünglich. 
Bauchplatte des 2. Hinterleibssegmentes und Kopfkapsel wie bei den Seoliiden. 
2 Mittel-, 2 Hinterschiensporne. 


Y Unterfamilie: Myzininae, 
‘ und @ ohne Sohlenbläschen, geflügelt. Behaarung und Fazettenaugen wie 
bei den Seoliiden. — Typische Gattung Myzine. 


Unterfamilie: Thynninae. 
g mit Sohlenbläschen und dichter Beinbehaarung, geflügelt. Q ohne Sohlen- 
bläschen und mit struppiger, mehr lockerer Beinbebaarung, flügellos. Fazettenaugen 
nicht nierenförmig. — Typische Gattung T’hynnus. 


24. Familie: Mutillidae. 

Paraglossen mit verkümmertem Anhang, dem Geschmacksborsten fehlen; Glossa 
kurz, breit, normal entwickelt, feinborstig. Bauchplatte des 2. Hinterleibssegmentes 
abgeschrägt. Innenlade des Unterkiefers ähnlich wie bei den Thynniden. Taster 
ursprünglich. Keine Sohlenbläschen. Keine Nierenaugen. Kopfkapsel wie bei den 
Seoliiden. 

Unterfamilie: Mutillinae. 

Unterkieferaußenlade quergeteilt, mit glattrandigem Velum. Mittel- und 
Hinterschienen mit 2 Endspornen. g meist, @ nicht geflügelt. 


Tribus Mutillini. 
Unterkieferaußenlade ohne Borstenkamm. Hinterflügel (des &) ohne Basal- 
oder Anallappen. — Hierher Mutilla. 


Tribus Myrmosini. 

Unterkieferaußenlade mit Borstenkamm. Hinterflügel (des 5) mit abge- 
schnürtem Basallappen. — Hierher Myrmosa, nach Bischoff zufolge mündlicher 
Mitteilung auch Fetschenkia. Ob auch Myrmecopterina Bischoff (= Archihymen 
Edln.) ? 

Unterfamilie: Tiphiinae. 

Unterkieferaußenlade nicht quergeteilt, mit Borstenkamm und wimperrandigem 

Velum. Hinterflügel mit abgeschnürtem Basallappen. 


Tribus Tiphiini. 
g und 2 geflügelt, beide mit je 2 Mittel- und Hinterschienspornen. — Hier- 
her Trphra. 
Tribus Methocini. 
g mit, 2 ohne Flügel; £ mit je 2, @ mit je 1 Mittel- und Hinterschienen- 
spornen. — Hierher Methoca. 


25. Familie: Formicidae. 

Paraglossen und Glossa wie bei den Mutilliden. Unterkieferinnenlade in der 
Form ebenfalls ähnlich wie bei den Mutilliden, oft mit dornförmigen Borsten am 
Innenrande. Unterkieferaußenlade mit oder ohne Querteilung, stets mit dicht- 
borstigem Borstenkamm und (immer?) glattrandigem Velum. Taster meist mehr 
weniger verkümmert. Keine Sohlenbläschen. Bei vorhandenen Flügeln Hinterflügel 
wie bei Mutilla. Selten je2, meist nur je 1 Mittel- und Hinterschiensporn. @ meist 
pleomorph. Keine Niereniaugen. Kopfkapsel wie bei den Sapygiden, Oberkieferbucht 
mit dem Mundloch breit verbunden. — Mehrere Unterfamilien und Tribus. Hier- 
her gehört auch als eigene Unterfamilie die vielleicht als altertümlichste Ameisen - 
form aufzufassende Konowiella Andre. 


Superfamilie: Apidina (Anthophila Latr.). 
Bauchplatte des 2. Hinterleibssegmentes mit ihrem Hinterrande den Vorder- 
rand der folgenden dachziegelartig überlagernd, daher kein Kerbeinschnitt zwischen 
13* 


180 Carl Börner, Stamimesgeschichte der Hautflügler. 


beiden bemerkbar. Seiteneecken des Pronotums die Tegulae meist nicht und wenn, 
dann von unten her berührend. Paraglossen meist mit Anhang, dieser oft ver- 
längert. Unterkieferinnenlade klein, ohne Basallappen. Unterkieferaußenlade mit 
glattrandigem Velum (Fig. 5). Hinterschiene und -ferse meist auffällig verbreitert. 
Kein Schenkelgrundring, keine Nierenaugen. — Ihre Brut mit Pollen oder mit 
Pollen und Nektar oder Honig versorgend, Imagines meist Nektar, sehr selten ani- 
malische Kost zu sich nehmend. 


26. Familie: Colletidae. 

Zunge zweilappig bis zweiteilig, unterseits mit offener Speichelrinne. Para- 
glossen archaistisch, am Anhang stets mit Gesehmacksborsten. Unterkieferinnenlade 
archaistisch (ähnlich wie bei Andreniden); Außenlade stets mit Borstenkamm, nie 
quergeteilt, ungeringelt. Stipes ohne Rückenkamm. Taster ursprünglich. Sammel- 
bienen, die angeblich ihre Brutzellen mit Speichel oder Honigbrei ausstreichen. Larven 
sich nicht einspinnend. Kopfkapsel wie bei Sapygiden und Formiciden. 


Unterfamilie: Prosopinae. ER 


Unterkieferinnenlade lappenartig vortretend. Paraglossen kurz löffeltörmig. 
Mentum mit einem durch eigenartige Hautstruktur (3 mit Schuppung, 2 mit Wim- 
perung) ausgezeichneten Mittelfeld (vgl. Mutilliden!). Auch die Zunge zeigt Sexual- 
dimorphismus. Mundpollensammler. — Typische Gattung Prosopıs. 


Unterfamilie: Colletinae. 

Unterkieferinnenlade nicht vortretend. Paraglossen mehr weniger verlängert, 
reich und lang bewimpert. Mentum ohne Mittelfeld. Zunge — wie bei allen anderen 
Bienen — ohne auffälligen Sexualdimorphismus. Beinpollensammler. — Typische 
Gattung Colletes (untersucht ferner Caupolicana und Diphaglossa). 


27. Familie: Andrenidae. 

Zunge lanzettlich bis bandförmig; Speichelrinne durch Einrollung der Zungen- 
ränder mehr weniger rinnenförmig geschlossen (die Speichelrinne bisher irrtüm- 
licherweise als kapillares Saugrohr für Reste flüssiger Nahrung aufgefaßt!). Zungen- 
spitze nicht löffelförmig, meist überhaupt nicht vom Zungenkörper abgegrenzt. - Unter- 
kieferinnenlade meist knopfförmig vortretend und grob beborstet; Außenlade meist 
mit Borstenkamm, nicht quergeteilt, kurz oder selten verlängert und dann nur end- 
wärts unvollkommen geringelt. Stipes ohne Rückenkamm. Paraglossenanhang mit 
wenigstens 1 Geschmacksborste. Taster meist ursprünglich gebaut. Beinsammler. 
den Pollen meist trocken, selten (Macropis, Melitturgus) befeuchtet einsammelnd 
Puppen wie bei den Colletiden ohne Kokon. Ansatzstellen der ÖOberkiefer vom 
Mundloch der Kopfkapsel durch eine Spange teilweise oder vollständig abgeschnürt 
(so auch bei den folgenden Bienenfamilien). ji 

Unterfamilie: Andreninae. 

Paraglossen kurz und breit, mit mehreren Geschmacksborsten (ähnlich wie bei 

Prosopis). — Hierher Andrena. 


Unterfamilie: Panurginae. 
Paraglossenanhang mehr weniger verlängert, aber am Ende nicht keilförmig 
verbreitert, reich bewimpert, mit wenigen bis nur 1 Geschmacksborste. Außenladen- 


borstenkamm selten fehlend. Hierher aus der deutschen Bienenfauna: Macroprs, 


Melitta, Melitturgus, Panurgus, Camptopoeum. 


Unterfamilie: Dasypodinae. 
Paraglossenanhang winzig, schuppig (nicht bewimpert ), mit wenigen Geschmacks- 
borsten. — Hierher Dasypoda. 
25 Familie: Halietidae. 
Zunge wie bei den Andreniden. Unterkieferinnenlade spangenförmig verlängert 
und den Zungenstäbehen (d. i. den „Segelhaltern“ der Bienenforscher) angelagert. 








Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 481 


Stipes ohne Rückenkamm. Taster meist ursprünglich gebaut. Beinsammler und 

Kuckucke (Sphecodes), erstere Pollen trocken einsammelnd. Puppen ohne Kokon- 

gespinst. 
Unterfamilie: Halictinae. 


Paraglossenanhang mit wenigen Geschmacksborsten, am Ende nicht verbreitert. 
Unterkieferaußenlade quergeteilt (wie bei vielen Formicarien und Diplocnematen). 


Tribus Nomiini. 

Unterkieferaußenlade an dem dem Velum gegenüberliegenden Rande mit 
größeren oder kleineren Borsten, aber ohne Wimperkamm (Fig. 6); Borstenkamm 
vorhanden oder fehlend. — Hierher u. a. Nomia, Augochlora. Corynura, Aga- 
postemon, Paranomia. 

Tribus Halictini/ 

Unterkieferaußenlade an dem dem Velum gegenüberliegenden Rande mit zier- 
lichem Wimperkamm, der von größeren Borsten unterbrochen scheint. Borstenkamm 
fehlt. — Hierher u. a. Halietus, Sphecodes, Paragapostemon. 


Tribus Nomioidini. 


Wimperkamm der Außenlade des Unterkiefers auf ihrer Hinterfläche einen 
grundwärts offenen Winkel bildend. — Hierher Nomioides, 


‚Unterfamilie: Halietoidinae. 
Paraglossenanhang ohne Geschmacksborsten, mehr weniger verlängert und am 
Ende etwas keilförmig verbreitert. Unterkieferaußenlade nicht quergeteilt, lanzett- 
lich. Borstenkamm fehlt. — Hierher Halictoides, Dufourca, Systropha, Rhophites. 


29. Familie: Apididae. 

Zunge stets bandförmig, mit geschlossen-rinnenförmiger Speichelrinne. Zungen- 
spitze löffelförmig, selten zerschlitzt. Oberlippe frei. Stipes des Unterkiefers oft 
mit Rückenkamm; Borstenkamm der Außenlade nur noch selten vorhanden und 
dann rudimentär (Xenoglossa), Grundglieder der Lippentaster abgeflacht und meist 
auch verbreitert. Hinterschiene und -ferse verbreitert. Der Pollen wird angefeuchtet 
eingesammelt. Puppen (immer?) ohne Kokongespinst. Geschmackspapillen am 
Zungenlöffelgrunde oder vor dem Löffel, nicht an dessen Ende. 


Unterfamilie: Podaliriinae. 
Stipes mit Rückenkamm. Pollensammelapparat bei Sammelbienen eine Schien- 
und Fersenbürste der Hinterbeine, kein Körbchen. Unterkieferinnenlade mit Grob- 
borsten, außer denen auch Feinborsten vorhanden sein können. Solitärbienen. 


Tribus Eucerini. 

Zungenlöffel wohlentwickelt, vorderseits behaart. Paraglossen bewimpert, mit 
Tast- und Geschmacksborsten. Pollenbürste auf der vorderen Beinseite besonders 
mächtig entwickelt. Galea meist ungeringelt, seltener (Tetrapedia, Oentris) geringelt. 
-— Hierher u. a. Eucera, Xenoglossa, Melissodes, Uentris, Tetrapedia, Exomalopsis. 

Tribus Podaliriini. 

Pollenbürste wie bei den Eucerin‘. Zungenlöffel auch vorderseits unbehaart, 

oft unregelmäßig gestaltet oder fächerförmig zerschlitzt. Galea ungeringelt. Para- 


glossen wie bei den Hucerini (Habropoda) oder nur bewimpert (Alfkenella) oder 
ganz kahl (Podalirius s. str.). 


Tribus X ylocopini. 
Zungenlöffel wie bei den Eucerini, Galea wie bei den Podaliriini. Paraglossen 
stets kahl. Pollenbürstenhaare auch auf der Beinhinterseite lang. — Typische Gat- 
tung Xylocopa. 


Unterfamilie: Apidinae. 
Oberlippe, Zunge und Lippentaster wie bei den Podaliriinen. Stipes allermeist 
mit Rückenkamm. Anußenlade nur selten noch mit verkümmertem Borstenkamm 





189 Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 


(Meliponen, Euglossen), meist ohne ihn. Pollensammelapparat bei Sammelbienen 
das sogen. Körbchen an der Hinterschiene, mit dem Pollenschieber (Fersenhenkel) an 
der Hinterferse (letzterer bei den Meliponen noch unvollkommen entwickelt, jedoch 
nicht ganz fehlend!). Meist-in Gesellschaften oder Staaten lebend. 


Tribus Bombini. 
Mittel- und Hinterschiene wie bei den meisten übrigen Bienen mit je 1 bezw. 
2 Endspornen. Unterkieferaußenlade stark verlängert und eng geringelt. Unter- 
kiefertaster zweigliedrig. Weibchen mit Stachel. Innenlade des Unterkiefers klein, 
mit Grobborsten. — Zunge vor dem Löffel mit einer Quaste. Paraglossen mit 
Tast- und Geschmacksborsten (Bombus und Psithyrus). oder Zunge vor dem Löffel 
ohne Quaste. Paraglossen mit oder ohne Geschmacksborsten (Kuglossa und Eulema). 


‘Tribus Apidini. 

Hinterschienen ohne Endsporn. Unterkieferaußenlade wenig verlängert und 
spärlicher geringelt. Grundglied des zweigliedrigen Unterkiefertasters sockelartig ab- 
geflacht. Zunge vor dem Löffel ohne (uaste. Paraglossen wie bei Eulema. — 
Hierher Apis. 

' Tribus Meliponini. 

Paraglossenanhang mit oder ohne Geschmacksborsten (diese Bienen sind darauf- 
hin noch zu systematisieren!). Ringelung der Unterkieferaußenlade spärlich, Unter- 
kiefertaster ungegliedert (knopfförmig). Zunge wie bei Apis. Wehrstachel der 2 
verkümmert. Hinterschienen ohne Endsporn. —- Typische Gattung Melipona. 


30. Familie: Nomadidae, 

Zunge, Oberlippe und Lippentaster wie bei den Apididae. Geschmackspapillen 
im Gegensatz zu dieser Familie auf der Vorderseite des Zungenlöffels selbst. Para- 
glossen kahl. Hinterschiene und -ferse nicht oder kaum verbreitert. Sammelapparat 
bei Sammelbienen eine Schien- und Fersenbürste der Hinterbeine, ähnlich jener der 
Antreniden und Halictiden. Rudimente des Außenladenborstenkammes bisweilen 
vorhanden (Allodape, Melecta). Puppeu und Pollengewinnung wie bei den Api- 
diden. Solitärbienen. 

Unterfamilie: Ceratininae. 

Stipes mit oder ohne Rückenkamm. Sammelbienen, Pollenbürste (der Hinter- 
beine) meist wenig auffällig. Unterkieferinnenlade mit Fein- und Grobborsten, letz- 
tere in einer Reihe dichtstehend angeordnet. Galea unvollkommen geringelt. — 
Hierher Ceratina, Manuelia und Allodape. 


Unterfamilie: Nomadinae. 
Stipes ohne Rückenkamm. Kuckucksbienen; Hinterschiene und -ferse ohne 
Sammelbürste. Innenlade des Unterkiefers nicht vortretend, fein- und kurzborstig 


behaart. Galea ohne oder mit unvollkommener Ringelung. — Typische Gattung 
Nomada. 


31. Familie: Megachilidae. 

Zunge und Lippentaster wie bei den beiden vorhergehenden Familien. Ober- 
lippe von den Mandibeln überdacht. Stipes meist ohne, seltener mit Rückenkamm. 
Außenlade ohne Borstenkamm, stets mehr weniger verlängert und doppelt geringelt. 
Innenlade mehr weniger grobborstig. Geschmacksborsten am Zungenende vor dem 
Löffel, dieser sehr klein. Paraglossen am Anhang stets mit Tast- und Geschmacks- 
borsten. Bauchsammler oder Kuckucksbienen, einzeln lebend. Der Pollen wird 
trocken eingesammelt. Die Larven spinnen zur Verpuppung einen Kokon. 


Unterfamilie: Osmiinae. 


Zwischen den Klauen ein wohlentwickelter Pulvillus. — Hierher die Osmeinae 
und Stelidinae des Ashmead’schen Systems. 


Unterfamilie: Megachilinae. 
Pulvillus zwischen den Klauen rudimentär. — Hierher gehören Ashmead's 
Megachilinae, Anthidiinae und Üoeliowinae. 











Carl Börner. Stammesgeschichte der Hauttlügler. 185 


Subsectio: Diploenemata CB. 

Hinterbeine mit einer dem Putzkamm der Vorderbeine analogen und gleich 
gelagerten Putzbürste (Fig. 5); die Bürstenborsten sind am längsten in der Kiellinie 
zwischen den beiden Schienspornen und nehmen auf der Seite des größeren Schien- 
spornes allmählich an Größe ab; auf der Seite des kleineren Schienspornes grenzen 
(sofern Pubeszenz vorhanden ist) an die Bürstenborsten nur kleinere, nicht zur Putz- 
bürste gehörende Haare. Unterkieferaußenlade meist quergeteilt. Bauchplatte des 
2, Hinterleibsringes meist wie bei den Formieina. Hinterschienen auf der Hinter- 
seite (Innenseite) mit einem Längsstreifen kürzerer oder längerer Bürstenbörstchen, 
der bei feiner Pubeszenz bisweilen kaum differenziert erscheint (gute Beispiele: 
Astatus, Sphex, Pompilus, Bembex, Vespa). 


_ Superfamilie Sphegidina. 

Flügel in der Ruhe nicht längsgefaltet. Seitenecken des Pronotums nicht mit 
einer an die Innenseite des Tegulums herantretenden Ecke. Keine Löffelbildungen 
an Zunge und Nebenzungen. Streifenförmige Rhinarien fehlen an den Fühlern 
(immer?). Fazettenaugen oval oder nierenförmig. -— Für ihre Brut paralysierte 
Gliedertiere eintragend. 


32. Familie: Bembecidae. 

Seitenecken des Pronotums die Tegulae nicht oder nur von unten her berührend. 
Knie der Hinterbeine das Hinterleibsende nicht erreichend. Unterkieferinnenlade 
hinterseits ohne ringförmige Sinnesgrübchen (immer?). Paraglossen archaistisch, am 
Anhang mit mehreren Geschmacksborsten. Unterkieferaußenlade mit Borstenkamm. 
Schenkelgrundring oft an allen 3 Beinpaaren abgeschnürt. Labrum ziemlich groß, 
frei, weder vom COlypeus noch von den Mandibeln (in Ruhelage) verdeckt. Mund- 
loch der Kopfkapsel nicht von der Oberkieferbucht (der Ansatzstelle 
der Mandibel) getrennt. Keine Sohlenbläschen. Kein Pterostigma im Vorder- 
flügel; 3 Cubitalzellen. 

Unterfamilie: Stizinae. 

Mundteile kurz, archaistisch. Velum der Unterkieferaußenlade borsten- oder 
glattrandig. Velulum (d. i. das „hintere Innenblatt“ der Unterkieferaußenlade) mit 
einem freien Endlappen. 2 Mittelschiensporne. — Hierher Stizus, Sphecius. 


Unterfamilie: Bembecinae. 

Mundteile, namentlich Maxillaraußenlade und Labialladen, verlängert. Velum 
glattrandig, Velulum ohne freien Endlappen. 1 Mittelschiensporn. — Hierher 
Bembex, Steniola. 

33. Familie: Sphegidae. 

Von der vorigen Familie unterschieden durch das unter dem Olypeus und 
meist auch unter den Mandibeln (wenn diese in Ruhelage) mehr weniger ver- 
steckte Labrum. 2 Mittelschiensporne. Paraglossen mit wohlentwickeltem, mit Ge- 
schmacksborsten versehenem Anhang. Vorderflügel mit 3 Cubitalzellen und Ptero- 
stigma. 

Unterfamilie: Nyssoninae. 

Öberkieferbucht wie bei der vorigen Familie mit dem Mundloch der Kopf- 
kapsel mehr weniger breit verbunden. Velum borsten- oder glattrandig. Unter- 
kieferinnenlade altertümlich, bisweilen mit einem inneren Lappen. 


Tribus Nyssonini. 
Hinterleib mit gewöhnlicher Gliederung. Füße mit Sohlenbläschen. Velulum 
ohne freien Endlappen. — Hierher u. a. Gorytes, Mellinus, Nysson, Astatus. 


Tribus Dolichurini. 
2.—4. Hinterleibsring sehr groß, die folgenden bei Ruhelage in den 4. einge - 
zogen. Sohlenbläschen vorhanden oder fehlend. Velulum ohne oder mit freiem 
Endlappen. — Hierher Dolichurus, Trirogma, Aphelotoma. 


. 


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184 Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 


Unterfamilie: Spheginae. 
Oberkieferansatzstelle vom Mundloch durch eine, bis zum Clypeus reichende 
oder mit ihm verwachsene, Spange der Kopfkapsel getrennt. Velum mit glattem 
Rande. Unterkieferinnenlade schmal, flach. 


‘ Tribus Sphegini. 

Tarsen und Pulvillus von gewöhnlicher Bildung. Meist Sohlenbläschen vor- 
handen. Mundteile kurz bis halblang, in letzterem Falle mit einem Mentum ähn- 
lich dem der Philanthinen. Velulum mit freiem Endlappen. — Hierher Sceliphron, 
Podium, Sphex, Chlorion. 

Tribus Ammophilini. 


Ahnlich den Sphegini, Mundteile stark verlängert, Velulum ohne freien 
Endlappen Keine Sohlenbläschen. — Hierher Ammophila, Psammophila. 


Tribus Ampulieini. 
4. Tarsenglied unterseits haftsohlenartig, das 5. Glied oberseits nahe dem Grunde 
des 4. angeheftet. Pulvillus sehr klein. Mundteile kurz, archaistisch, Keine Sohlen-. 
bläschen. — Typische Gattung Ampulex. 


34. Familie: Crabronidae. 
Im Gegensatz zu den Sphegiden nur mit 1 Mittelschiensporn. Sonst wie jene, 
aber Paraglossen oft verkümmert, desgleichen die Zahl der Zellen im Vorderflügel 
vermindert. Velulum nicht mit freiem Endlappen. 


Unterfamilie: Trypoxylinae. 
Oberkieferbucht der Kopfkapsel meist wie bei den Nyssoninae (selten durch 
eine Spange vom Mundloch + BDE Mir bei Mimesa). Mandibeln von gewöhn- 


licher Bauart, wie in der 32. und 33. Familie. Velum glatt- oder borstenrandig. 
Ocellen wohlentwickelt. 
Tribus Alysonini. \ı 
Mentum in der Seitenansicht schief birnförmig, bisweilen mit einer inneren 
Bogenspange jederseits, nicht auffallend langgestreckt. Augen von gewöhnlicher 
Gestalt. 3 Cubitalzellen im Vorderflügel. Mit oder ohne Sohlenbläschen. Para- 
glossenanhang mit oder ohne Geschmacksborsten. — Hierher Alyson, Mimesa, 
Psenulus. 
Tribus Trypoxylini. 
Wie vorige, aber Augen nierenförmig. Keine Sohlenbläschen. Paraglossen- 
anhang klein, ohne Geschmacksborsten. Cubitalzellenzahl normal (3) oder ver- 
mindert. — Hierher Pison, Trypoxylon. 


e 


Tribus Oxybelini. 

Mentum ähnlich wie bei den Philanthinen. Augen wie bei den Alysoninen. 
Sohlenbläschen und Paraglossenanhang wie bei den Trypoxylinen. Die inneren 
(einzigen) Diskoidal- und Cubitalzellen der Vorderflügel (meist) verschmolzen. — 
Typische Gattung Oxybelus. 


Unterfamilie: Larrinae. ! 
Oberkieferbucht wie bei den Trypoxylinae mit dem Mundloch der Kopfkapsel 
verbunden. Mandibeln an der unteren (hinteren) Kante mit einer Kerbe (die grund- 
wärts von einem Zahnvorsprung begrenzt sein kann). ÖOcellen meist teilweise ver- 


kümmert. 5 oder 2 Cubitalzellen im Vorderflügel, 
Tribus Larrini. 
Mentum wie bei den Alysoninen und Trypoxylinen, Velum borstenrandig. 


Paraglossenanhang ohne Geschmacksborsten. Keine Sohlenbläschen. — Hierher 
Larra, Tachytes, Tachysphex. BEN 





13 03 A Soil a a Ba FERN 
IN “ SEEN 3 h ? S 
Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 185 


Tribus Palarini. 
Mentum wie bei den Philanthinen und Oxybelinen. Velumrand glatt oder 
behaart. Paraglossenanhang mit oder Geschmacksborsten. Sohlenbläschen vorhanden 
oder fehlend. — Hierher Falarus, Dinetus. 


Unterfamilie: Philanthinae. 
Oberkieferansatzstelle von dem Mundloch der Kopfkapsel durch eine bis zum 
Clypeus reichende, mit ihm aber nicht verwachsene Spange getrennt. Maxillar- 
stipes und Mentum lang und schmal, letzteres mit einem mittelständigen Lappen 
jederseits (dieser dem Mundinnern zugekehrt). Mandibel wie bei den Trypoxylinen. 
Velum borstenrandig. 3 Cubitalzellen im WVorderflügel. Fühleransatzstelle nur 
wenig unter Stirnmitte. 
Tribus Cerceridini. 
Ohne Sohlenbläschen. Paraglossenanhang mit Geschmacksborsten. — Typische 
Gattung Üerceris. 
Tribus Philanthini. 
Mit Sohlenbläschen Paraglossenanhang winzig, ohne Geschmacksborsten. g mit 
bärtigem Clypeusrand. — Hierher Philanthus, Trachypus. 


» 


Unterfamilie: Crabroninae. 
Oberkieferansatzstelle vom Mundloch der Kopfkapsel vollständig getrennt. 
Mandibeln und Augen von gewöhnlicher Gestalt. Fühler nahe dem Clypeus ange- 
heftet. Vorderflügel mit 1—2 Cubitalzellen. 


Tribus Pemphredonini. 
Paraglossen von ursprünglichem Bau (wie bei Nyssoninen oder Aly en): Velum 
glattrandig. Sohlenbläschen vorhanden. 2 Cubitalzellen im Vorderflügel. — Hierher 
Pemphredon, Passaloecus, Diodontus, Stigmus. 


Tribus Crabronini. > 
Paraglossen winzig, ohne Geschmacksborsten. Velum borstenrandig. Sohlen - 
bläschen fehlen. 1 Cubitalzelle im Vorderflügel. Mentum wie bei den Larrini oder 
Palarini. — Typische Gattung Crabro. 


>35. Familie: Psammocharidae (Pompilidae). 

Seitenecken des Pronotums die Tegulae vorn berührend. Knie der Hinter- 
beine das Hinterleibsende erreichend oder überragend. Imnenlade des Unterkiefers 
hinterseits mit feinen (schwer sichtbaren) ringförmigen Sinnesgrübchen; Außenlade 
quergeteilt mit Borstenkamm. Velum glattrandig. Glossa und Paraglossen ursprüng- 
lich gebaut, Anhang der letzteren mit Tast- und Geschmacksborsten. Fußglieder 


mit nackten Sohlenbläschen. — Eine Anzahl Gattungen, deren Gruppierung noch 
eingehender Studien über die feinere Struktur der Mundwerkzeuge hedarf. Ober- 
kieferbucht mit dem Mundloch der Kopfkapsel breit verbanden. - 


Superfamilie Vespina (Diplopteryga Latr.). 

Seitenecken des Pronotums mit einer Ecke an die Innenseite der Tegulae 
herantretend. Am vorderen Zungenrande, bezw. an den beiden getrennten Zungen- 
lappen, ein paar löffelartiger Bildungen. Keine Sohlenbläschen. Fazettenaugen 
nierenförmig. Vorderflügel meist in Ruhelage einmal längsgefaltet. Oberkieferbucht 
mit dem Mundloch der Kopfkapsel breit verbunden. 


>36. Familie: Vespidae. 

Vorderflügel mit 3 Uubitalzellen. Maxillartaster mehrgliedrig. Paraglossen 
mit wohlentwickeltem Anhang. Fühlerglieder mit streifenförmigen Rhinarien. 
Schenkelgrundring wenigstens an den Mittelbeinen, oft auch an den Vorderbeinen, 
seltener an allen drei Beinpaaren abgeschnürt. < mit 13, @ mit 12 Fühlergliedern. 
Ihre Brut mit tierischer Nahrung fütternd. 





186 Carl Börner, Stammesgeschichte der Hautflügler. 


Unterfamilie: Vespinae. 
Fußklauen ungezähnt. . Unterkieferaußenlade mit Borstenkamm. Mittelbeine 
mit 2 Schienspornen. Mandibeln auf der Außenfläche nicht gerieft. Sozial lebend. 


Tribus Polistini. 


Labialtasterglieder mit kurzen Borsten mehr weniger gleichmäßig besetzt. — 
Hierher u. a. Chartoteuchium, Neetarinia, Polybia und Polistes. 


Tribus Vespini. 

Drittes Labialtasterglied am Ende mit einer auffällig langen gekrümmten 
Borste, an den drei ersten Gliedern oftmals noch weitere kräftige Borsten. — Hierher 
Vespa. 

Unterfamilie: Eumeninae. 


Fußklauen gezähnt. Unterkieferaußenlade ohne Borstenkamm, bisweilen mehr 
wen’ger verlängert. Mittelbeine meist nur mit ] Schiensporn. ‚Mandibeln auf der 
Rückenfläche gerieft, oft verlängert oder sonst eigenartig gestaltet. Die europäischen 
Gattungen solitär lebend, ihre Brut mit Insekten versorgend. Von sozialen Wespen 
vielleicht Ischnogaster und Ischnogasteroides hierher gehörend. 


Tribus Eumenini. 


Paraglossenanhang mit löffelförmigem Ende, mit Tast- und Cieehnaekehursien 
ausgestattet (wie bei allen Vespinae). Beborstung der Labialtasterglieder meist wie 
bei den Vespini. — Hierher Discoelius, Eumenes, Alastor, Odynerus, Zethus. 


Tribus Pterochilini. 

Paraglossenanhang ohne Tast- und ohne Geschmacksborsten, endwärts allmäh- 
lich verjüngt. Labialtaster mit sehr langen Wimperborsten. — Typische Gattung 
Pterochilus. 

37. Familie: Masaridae. 

Vorderflügel mit, 2—3 Cubitalzellen. Maxillartaster 1 ie (Grlossa sehr 
lang, tief gespalten, in einen hinter dem Mentum mehr weniger frei vorragenden 
Sack einstülpbar. Fühler in beiden Geschlechtern zwölfgliedrig, keulenförmig, nicht 
gekniet, ohne langgestreckte streifenförmige Rhinarien. Kein Schenkel- 
grundring abgeschnürt. Unterkieferaußenlade und Mandibeln wie bei den Vespinae, 
desgleichen 2 Mittelbeinschiensporne. — Solitäre, honigsammelnde Wespen. 


Unterfamilie: Masarinae. 
Paraglossen mit löffelförmigem Anhang, klein. Labialtaster mehrgliedrig, wie 


bei den Vespini. Typische Gattung Masaris. 


Unterfamilie: Celonitinae. ' 
Paraelossen anhangslos. Labialtaster eingliedrig. Typische Gattung Üelonites. 


Metz-St. Julien im März 1918, Berlin-Dahlem im Januar und März 1919. 





H. Henning, Mnemelehre oder Tierpsychologie. ö 187 


Mnemelehre oder Tierpsychologie? 
Eın Schlußwort zu den Angriffen auf die Tierpsychologie. 
Von Privatdozent Dr. Hans Henning, Frankfurt a. M. 

In seinem neuesten Artikel stellt Herr Dr. Brun!) einige neue 
Fragen zur Diskussion, deren Erörterung ein allgemeines Interesse 
beanspruchen darf, weıl die wissenschaftliche Lage dadurch be- 
trächtlich geklärt wird. Auf die frühere persönliche Polemik des 
Herrn Dr. Brun’) gegen mich brauche ich nicht mehr einzugehen, 
denn nachdem ich alle Einwürfe und Irrtümer des Herrn Dr. Brun 
zurückgewiesen hatte°®), konnte Herr Dr. Brun ın seiner jüngsten 
Veröffentlichung auch keinen einzigen Punkt seiner ehe- 
maligen heftigen Angriffe mehr aufrecht erhalten, wobei 
ich selbst gar en zurückzunehmen brauchte. So gehe 
ich denn auf die neuen Punkte ein. 

1. Herr Dr. Brun schneidet die wichtigste Frage an, was die 
Gegenüberstellung der psychologischen Forschungsmethoden gegen 
diejenige der Mnemelehre eigentlich bedeute. Der große Vererbungs- 
forscher Johannsen zeigte, daß die Bedeutung der Mneme „bis 
jetzt anerkannterweise niemals experimentell züchterisch nachge- 
wiesen ist“. Der Physiologe Verworn bemerkt, daß „durch die neuen 
Semon’schen Wortbildungen die physiologische Analyse der be- 
kannten Tatsachen, die damit bezeichnet werden, um keinen Schritt 
weiter gefördert“ wurde. Der Biologe OÖ. Hertwig will „die Ver- 
erbungs- und Gedächtnisphänomene als analog. aber nicht als 
identisch“ bezeichnen, weıl „auch vielerlei Unterschiede bestehen“. 
Der Tierforscher Wasmann „kann es nur für einen Mißgriff halten, 
wenn man die moderne Ameisenpsychologie mit dieser (Semon’- 
schen) Theorie verquickt; denn sie ıst in sıch selber philosophisch 
falsch, weil sie das Individualgedächtnis als wesentlich gleichartig 
mit der Vererbung hinstellt, während doch tatsächlich zwischen 
beiden bloß eine entfernte Analogie besteht“. Teichmann lehnte 
in seinem Nachruf auf Semon dessen ganze Hypothese ab u. s. f. 
Und eine psychologische Facharbeit konnte noch nie mit dieser 
Terminologie, auch nicht von ihrem Urheber, angefertigt werden, 
weil die Mnemelehre, jene Übersetzung psychologischer Fachaus- 
drücke ın eine neue Fremdsprache, überhaupt nur einige psycho- 
logische Grundbegriffe berücksichtigt. denen sie zudem eine schiefe 
Bedeutung beilasr, | 


1) Rudolf Brun, Nochmals die Grundlagen der Ameisenpsychologie. Biol. 
Zentralbl. 38 (11), S. 499—504, 1919. 

2) Rudolf Brun, Die moderne Ameisenpsychologie — ein anthropomor- 
pbistischer Irrtum? Ebenda 537 (7), S. 357—372, 1917. 

3) Hans Henning, Zur Ameisenpsychologie. Eine kritische Erörterung über 
die Grundlagen der Tierpsychologie. Ebenda 38 (5), S. 208-220, 1918. — Forel’s 
Zugeständnisse an die Tierpsvchologie. Ebenda 38 (12), S. 35-37, 1919. 


E. 


a a3 RE FRRER SR SCh Era Man RE Se ah a a ae 
188 H. Henning, Mnemelehre oder Tierpsychologie. 


Daß die zur Erklärung der tierischen Handlung unterlegten 
mnemischen Elemente rein spekulativ sind, möge ein Bei- 
spiel zeigen. Herr Dr. Brun erklärt das gegenseitige Erkennen 
der Ameisen als Koloniegenossen und Fremde mit „Erscheinungen 
komplizierter psychoplastischer assoziativer Gehirntätigkeit, wobei 
die normale automatische Kampfbereitschaft der Tiere unterbrochen 
oder gehemmt werden kann; teils durch die Ekphorie gewisser 
anderer übermächtiger Automatismen (Brutpflegeinstinkt, Königin- 
instinkt), teils aber auch durch momentane kombinierte Assoziationen 
neuer Engramme unter sich mit früheren mnemischen Kom- 
plexen“. 

Hier fragen wir: woher weiß der Anhänger der Mnemelehre 
denn, daß eine Kampfbereitschaft überhaupt da war, daß sie unter- 
brochen und gehemmt wurde? Bisher ist das nur spekulativ be- 
hauptet, aber nie experimentell bewiesen worden. Und woher weiß 
er, daß Automatismen auftraten. daß sie übermächtig wurden? Wo 
ist das Experiment, welches Art und Stärke der Automatismen 
belegt? Woher weiß er, daß das Begegnen der Tiere einen Brut- 
pflege- und Königininstinkt auslöst? Auch das ist lediglich eine 
Spekulation: nirgends ist bewiesen, daß der Erkennungsvorgang 
eine Kampfbereitschaft, deren Hemmung, Automatismen und Brut- 
pflegeinstinkte einschließt. — Was bedeutet endlich: neue En- 
gramme assozueren sich mit früheren mnemischen Komplexen ? 
Das ist eine arge Oontradietio ın adjecto, denn die Assoziation ist 
durch alle Jahrhunderte hindurch definiert als die „Verknüpfung 
gleichzeitiger Elemente“. Diese Unkenntnis über den haupt- 
sächlichsten einschlägigen Grundbegriff wird Fernstehenden die 
Augen darüber öffnen, mit welcher Sinnlosigkeit wissenschaftliche 
Termini in der mnemischen Spekulation benutzt werden, Der Führer 
der experimentellen Psychologie G. E. Müller hat einmal ausge- 
führt, wohm die Physik geriete, wenn deren Vertreter die ein- 
fachsten Grundbegriffe ın dieser Weise zu behandeln beliebten. 
Was soll da eine „assoziative Psychoplastik* besagen? Es ıst nur 
ein dunkles Bild. Schließlich ıst im Gegenteil doch das Eine klar, 
daß der Erkennungsvorgang mit solchen Spekulationen nicht er- 
klärt ıst, denn zum Erkennungsvorgang gehören doch wohl Er- 
kennungsvorgänge, von denen wir aber bei Brun gar nichts hören. 
Daß diese geruchlicher und optischer Art sind, wurde in Experi- 
menten schlagend gezeigt. In dieser Weise lassen sich alle mne- 
mischen Aufstellungen als Spekulationen kritisch-experimentell zurück- 
weisen. 

Die Tierpsychologie ihrerseits verurteilt solche spekulative 
Deutungen, sie fordert eine Strukturanalyse, die Prüfung des Be- 
haviors, und sie nimmt nur experimentell aufgezeigte Faktoren als 
Erklärung an. Wenn das mit Ameisensäure bepinselte Tier als Art- 


et TEE ie 
y IN Me cl 





. H. Henning, Mnemelehre oder 'Tierpsychologie. 1489 


genosse, das mit Ananasöl bepinselte gleiche Tier als Fremder ge- 
nommen wird, so ist z. B. die Rolle des Geruchs bewiesen. 

Die Mnemelehre glaubt, das Individualgedächtnis sei bei Insekten 
seit hundert Jahren erhärtet, wie auch Herr Brun gegen mich an- 
merkt. Allein die Analyse Fabre’s zeigte dann, daß die heim- 
kehrende Wespe siclı den Weg gar nicht individuell merkt: man 
kann derbe Eingriffe ın die en vornehmen (Bäume 
entfernen, Sträucher anpflanzen, Kräuter oder Steine auf das Nest 
anbringen, das Nest selbst mit dem Spaten abheben u. s. f.), und 
das Tier sucht die verschwundene Türe doch am alten Ort, ohne 
dıe offen. liegende Larve zu erkennen; ja diese wird in der ver- 
änderten Situation als Feind behandelt; die Orientierung stützt sich 
also nicht auf die individuell gemerkte Umgebung, wie man früher 
noch annehmen mochte. In andern Fällen genügt ein winziger 
Eingriff in die Gesamtsituation (wie vergleichsweise bei manchen 
modernen Gemälden), um eine grundsätzlich veränderte Lage zu 
schaffen. Da das Individualgedächtnis das Tier also nicht orientiert, 
bat die Analyse zu fragen, wo der auslösende Schwerpunkt der 
Gesamtsituation liegt. Volkelt sah ihn bekanntlich in der Ge: 
staltsqualität, ich selbst in der Bekanntheit der Gesamtsituation. 
Allein das ist eine sekundäre Frage gegenüber der Gewißheit, daß 
hier kein einfaches Individualgedächtnis mitspielt. — Wer gute Bei- 
spiele der tierpsychologischen Methodik lesen will, der nehme die 
Untersuchungen der Anthropoidenstation auf Teneriffa (erschienen 
in der preuß. Akad. d. Wiss.) zur Hand. 

2. Das Wesentliche der neueren tierpsychologischen Richtung 
liegt zweitens darin, daß wir die Selbstaussage und die Selbst- 
beobachtung ebensowenig brauchen, wie sie in zahlreichen Labo- 
ratoriumsversuchen (Arbeit und Ermüdung, Reaktions- und Erfolgs- 
versuche und zahlreiche andere Kapitel, über welche jedes Lehrbuch 
unterrichtet,) überflüssig ist, und wie sie von Kindern, Verbrechern, 
Irren und Naturvölkern im psychologischen Experiment bekannt- 
lich nieht gefordert wird. Oder man denke an die Testprüfungen 
der Be nr, an die sogenannten unwissentlichen Anordnungen, 
in denen der Experimentator im Unklaren gelassen wird. So kann 
die experimentelle Tierpsychologie nicht in psychische Anthropo- 
morphismen fallen, ihre Versuche binden den Anhänger wie den 
Leugner der Tierseele. Dazu bemerkt Herr Dr. Brun, die Psycho- 
logie könne „der philosophischen Definition zufolge“ nur intro- 
spektive Bewußtseinsphänomene untersuchen. Allein diese Definition 
steht auf derselben Stufe wie sein Assoziationsbegriff. Jedes be- 
liebige Lehrbuch der experimentellen Psychologie nennt ihm zahl- 
lose Experimente ohne Selbstbeobachtung, mu von den 
frühesten psychophysischen Versuchen Fechner’s und aufgehört 
mit den jüngsten Forschungen an Kriegsverletzten. Über dererlei 


, 





4196 H. Henning, Mnemelehre oder Tierpsychologie. 


gibt es heute keine Diskussion mehr, sondern nur eine Kenntnis- 
nahme aus einer Einführung ın die psychologische Wissenschaft, 
oder N Kenntnisnehmen. 

’. Ist nun die Mnemelehre einer wissenschaftlichen Analyse 
der en fähig? Die eingangs genannten Autoren be- 
streiten es, und im psychologischen Felde wäre eine mnemische 
Erklärung keine Erklärung. Denn die Mneme selbst ist einmal 
laut Definition ıhres Begründers eine Unbekannte. Zweitens sind 
Prozesse der Pflanzen, niederen und mittleren Tiere, endlich im 
menschlichen Großhirn verschiedenerlei, während die Muemelehre 
überall dasselbe sieht. Drittens kann ein erblicher Faktor, der wie 
die Mneme Gedächtnis und Vererbung identifiziert, überhatipt nur 
dasjenige berühren, was eben a wird. Als individuelles 
psychisches Leben erhalten wir aber nicht einfach eine Erbmasse 
auf den Lebensweg, sondern das Gros des Gedächtnisstoffes; weit 
entfernt vererbt zu werden, geht bekanntlich schon dem Individuum 
mit der Zeit wieder verloren, wie auch das Gedächtnis und die 
Verhaltungsweisen größtenteils individuell erworben werden mußten. 
Mit der mnemischen Vererbung läßt sich also ın der Hauptsache 
gar nichts anfangen. 

Das ee en dıe Seelenblindheiten und die 
Kopfschußverletzungen gaben uns einen Einblick ın die Struktur 
der Gehirnresiduen, in den verwickelten Aufbau der Residuen- 
systeme von Buchstaben, Ziffern, Objekten, Klängen u. s. f.; aber 
irgend etwas, was sich auch bei Pflanzen oder Tieren niederer 
Stufen offenbaren könnte, kam dabei nicht zutage: etwas gemein- 
sam Mnemisches hat da noch kein Psychiater, Psycholog, Physiolog, 
Neurolog, Ophthalmolog gefunden. Mit der Mnemelehre waren die 
Ausfallserscheinungen bei Kopfschußverletzten nie und nımmer zu 
begreifen. So ıst dem heutigen wıssenschaftlichen Stande gemäß 
die Großhirnresidue etwas anderes als die auch Pflanzen und 
nıederen Tieren zukommende Mneme. Nun meint Herr Dr. Brun, 
wenn ich die Mneme mit Johannsen, Verworn, Hertwig, 
Wasmann und vielen andern leugnete, dann würde ıch zugleich 
die Residuen leugnen, indem er nämlich von sich aus die allgemeine 
Mneme mit der Großhirnresidue identifiziert, und wobei er es 
seinen Lesern so darstellt, als rühre diese Gleichsetzung von mir 
her. Es wäre aber ein unstatthafter Anthropomorphismus, wollte 
man die Großhirnresiduen mit der allgemeinen, auch beı Pflanzen 
und niederen Tieren vorkommenden (zudem ıhrer Natur nach gänz- 
lich unbestimmten und hypothetischen) Mneme in dieser Weise 
gleichsetzen: die beim Menschen isolierten Partialresiduen sind 
nıemals bei niederen Tieren und Pflanzen möglich, und sie werden 
auch beim Menschen nicht als Mneme vererbt. 

4. In dem hauptsächlichsten Streitpunkte macht Herr Dr. Brun 





neh Ba a a le 
A N ei Ka, f LEN 
H. Henning, Mnemelehre oder Tierpsychologie. 491 


mir nun Zugeständnisse: sein ältester Artikel tadelte mich in 
schärfster Weise, weil ich Bethe’sche Reflexphysiologie triebe (ob- 
wohl ich mich tatsächlich ausführlich dagegen gewandt hatte!), und 
weil ich angeblich Empfindungen, Wahrnehmungen, Assoziation, 
Gedächtnis u. s. f. leugne (während ich sie tatsächlich festgestellt 
 hatte!). Im neuesten Artikel schreibt Herr Dr. Brun von sich 
nun: „ich berühre in, meinem polemischen Aufsatz diese Frage 
(d. h. die Frage des Bewußtseins, d. h. der Empfindungen, Wahr- 
nehmungen u. s. f.) mit keinem Wort“. Nun er berührte das sogar 
auf mehreren Seiten (z. B. S. 357-359 u. ö.) ganz ausführlich, wie 
jeder nachlesen kann, und Wasmann übernahm diese irrtümlıche 
Unterschiebung auch (dieses Zentralbl. 38, S. 127) von Brun, bis 
er nachträglich in meinen gegensätzlich lautenden Text Einsicht 
nahm. Auf alle Fälle steht also meine Position in der Bewußt- 
seinsfrage nun auch ausdrücklich unangetastet da, und die von 
Brun mir in seiner Polemik zugedachten Prädikate entfallen. 

5. Die moderne Psychologie analysiert überall die peripher 
ausgelösten Faktoren des Erlebnisses von den zentral ausgelösten 
und dazu tretenden, wie ich an der Hand der Oberflächenfarbe, 
der Gestalt u. s. w. schon erörterte, wobei ich auch auf Hering'’s 
Ausführungen wies. Herr Brun meint nun, ich ließe ın der Tier- 
“ psychologie nur „wesentlich periphere Reizkomplexe“ zu. Hierüber 
bin ich wieder starr, hatte ich doch geschrieben: „die Wirksamkeit 
solcher zentraler, nicht aus der gegenwärtigen Reizung stam- 
mender Vorgänge ist auf alle Fälle erwiesen“, und drückte ich 
mich doch überall in diesem Sinne (z. B. „Bekanntheit“) aus. Hier 
kann also nur ein Mißverständnis von Herrn Dr. Brun vorliegen, 
das sich nach einem Einblick ın ein Lehrbuch der Psychologie ohne 
weiteres verflüchtigt hätte. 

6. Ihm erscheinen meine Versuche belanglos, welche Gerüche die 
natürliche Fährte sperren können. Da Brun selbst (mit Wasmann) 
den Fingerversuch durch Sperrung „mit einem für die Ameisen neutral 
riechenden Gegenstand“ vorzunehmen empfiehlt, dürfte die Unter- 
suchung nicht belanglos sein, welche Gerüche denn eigentlich neutral 
sind. Um so mehr lohnten diese Reihen sich, als zugleich ein für 
die Tierpsychologie wichtiges Ergebuis, das sich auf das Geruchs- 
prisma bezieht, dabei herauskam. Jedenfalls wirkt hier noch der 
alte Irrtum Brun’s nach, das Geruchsprisma sei nicht von mir, 
sondern schon früher von andern gefunden, und andere Irrtümer 
Brun’s, auf deren Berichtigung er nichts mehr entgegnen konnte. 

7. In ganz voreiliger Weise hatte Herr Dr. Brun mich eines 
Plagiates an Cornetz bezichtigt. Ich zeigte ihm dann, daß ich 
alle Arbeiten von Cornetz sogar zitiert hatte, was Brun übersah, 
so daß der böse Vorwurf des Plagiates nur eine flüchtige Lektüre 
meines Gegners darstellte. Er sucht sich nun mit dem neuen Vor- 


199 H. Henning, Mnemelehre oder Tierpsychologie. 


wurf aus der peinlichen Situation zu retten, ich hätte Cornetz 
nur an einer Stelle genannt und Forschungsergebnisse übergangen. 


Das ist nieht der Fall. Denn CGornetz kam zeitlich nach meinem 


Geruchsbuch erst mit dem nicht berücksichtigten Artikel heraus, 
über den Brun selbst übrigens urteilt, daß seine Gründe „keines- 


wegs stichhaltig* seien. Die ungerechte Beschuldigung auf Plagiat 


bleibt also auf Herrn Dr. Brun und seiner flüchtigen Lektüre sitzen. 

Ss. Während Forel behauptete, die „Atome besitzen Bewußt- 
sein“, ebenso die Pflanzen, und während Herr Dr. Brun sich ur- 
sprünglich ganz mit Forel identifizierte, tritt er nun auf meine 
Seite und wendet sich gegen Forel, indem er die Pflanzenseele 
als „naiven Anthropomorphismus“ mißbilligt. Damit gibt er selber 
der Mnemelehre den Todesstoß, denn nun sind die Reaktionen der 
Pflanzen natürlich ganz etwas anderes als die psychophysischen 
Großhirnprozesse. So hat die ganze Polemik dazu geführt, daß 
Herr Dr. Brun schließlich meine Position annimmt. Übrigens hat 
Forel selbst seine durch sein ganzes Leben und unlängst auch auch 
an dieser Stelle gegen mich verfochtene Grundauffassung über 
Physisches und Psychisches inzwischen umgeworfen, indem er 
neuerdings energisch für die Telepathie eintritt (Journ. f. Psychol. 
u. Neurol. 24, S. 77, 1918). Freilich übersah er, daß dieses von 
ihm selbst nicht geprüfte Medium in psychologischen Untersuch- 
ungen, welche alle Nebenwirkungen und Betrugsmöglichkeiten aus- 
schlossen, plötzlich seine Leistungsfähigkeit verloren hatte.- Auch 
hier rächt sich die Vernachlässigung der experimentellen Psycho- 
logie, welche jede Verständigung auf einer solchen Basıs ablehnen 
muß. 

Ich komme nun, nachdem alle scharfen Ausdrücke, alle An- 
griffe und Anschuldigungen auf meine Person in nichts zusammen- 
gefallen sind, auf das Wesentlichste meines ersten Artikels zurück: 
es ist nötig, daß der Tierpsycholog die experimentelle Tier- 
psychologie beherrscht. Solche Fehler über die Assoziation 
und andere Grundbegriffe, wie wir sie feststellen mußten, dürfen 
nicht vorkommen, weil sie die wissenschaftlichen Ergebnisse ver- 
nichten, an denen wir alle interessiert sind. Nur die Berück- 
sichtigung aller Methoden und Gesichtspunkte, auch derer’der Nach- 
barwissenschaften, führt zum Ziel. 








Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. -— Druck der Universitäts- 
juchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen. 








Biologisches Zentralblatt 


Begründet von J. Rosenthal 


Unter Mitwirkung von 


Dr. K. Goebel und DIR, Hertwig 


Professor der Botanik Professor der Zoologie 
in München 


herausgegeben von 


Dr. E Weinland 


Professor der Physiologie in Erlangen 


en von ee Thieme in Be 


39. Band Mai 1919 Nr. 5 


ausgegeben am 31. Mai 1219 
Ink jährliche Ks nennen: (12 Hefte) beträgt 20 a 


Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten 





Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an 

Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, 

vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, 

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physiolog. Institut, 
einsenden zu wollen. 








Inhalt: O. v. Frangue, Innere Sekretion des Eierstocks. S. 193. 
E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättviekeit. S. 212. 
E. Mohr, Nochmals über das „Knacken* beim Rentier. S. 251- 


. 





Innere Sekretion des Eierstocks. 
Von Otto von Franque. 

Die Erkenntnis, daß die normale Beeinflussung der Gebär- 
mutter von seiten des Eierstocks auf dem Wege der inneren Se- 
kretion stattfindet, ist ziemlich jung. Früher herrschte Jahrzehnte- 
lang die geistvolle Hypothese Pflüger’s; nach ihm sollte durch die 
allmähliche Vergrößerung der Graaf’schen Follikel ein zunehmen- 
der Druck auf die im Eierstock befindlichen Nervenendigungen 
ausgeübt werden. Diese andauernden, aber sehr geringen Reize 
sollten nach dem Rückenmark fortgeleitet und dort in einem nervösen 
Zentrum nach einem auch sonst in der Physiologie beobachteten 
„Gesetz der Summation der Reize“ aufgespeichert werden, bis sie 
eine bestimmte Höhe erreicht hätten; dann sollte reflektorisch eine 
Reizung des Gefäßnervenzentrums eintreten, welche eine starke 
Erweiterung der Blutgefäße der Gebärmutter und des Eierstocks 
hervorruft, wodurch einerseits die Blutung aus den übermäßig ge- 
füllten und daher zerreißenden Gefäßen der Gebärmutterschleimhaut 
als Periode, andererseits im: Eierstock das Platzen eines eihaltigen 

Band 39. 14 


DER 
194 Ö. v. Franque, Innere Sekretion des Bierstocks. 


Follikels und Freiwerden eines befruchtungsfähigen Eichens her- 
vorgerufen werden solltee Nervenbahnen und -Reize waren 
also das Ausschlaggebende bei dem ganzen Vorgang. 

Die Abhängigkeit der menstruellen Blutung, ja der Entwick- 
lung und Erhaltung der übrigen Geschlechtsorgane vom Eierstock 
ist natürlich schon seit langen Jahren bekannt. Denn seitdem die 
Eierstöcke wegen bestimmter Erkrankungen operativ entfernt wurden, 
wußte man, daß danach die Periode ganz ausbleibt und daß die 
Gebärmutter eine fortschreitende Schrumpfung und Rückbildung 
erfährt, geradeso wie zur Zeit des natürlichen Auftretens der Meno- 
pause, in welcher die Eierstöcke ihre Tätigkeit einstellen und sich 
bei der mikroskopischen Untersuchung nurmehr aus Bindegewebe 
zusammengesetzt erweisen, während die Eier und die in ihrer Um- 
gebung auftretenden absondernden Gewebsteile vollständig fehlen. 
Wurden aber die Eierstöcke bei ganz jugendlichen Menschen oder 
Tieren entfernt, so kam es überhaupt nicht zur vollen Ausbildung 
der inneren und oft auch der äußeren (feschlechtsorgane. 

Doch erst die im Jahre 1895 von Knauer!) an Kaninchen 
angestellten Versuche zeigten den Weg der Beeinflussung. Denn 
er fand, daß die Funktion ausgewachsener und die weitere Ent- 
wicklung kindlicher Geschlechtsorgane in keiner Weise gestört 
wurde, wenn die herausgenommenen Eierstöcke sofort wieder an 
einer anderen Stelle des Körpers eingepflanzt wurden, sei es nun 
in der Bauchhöhle, oder wie andere Autoren dann zeigten, irgendwo 
unter der äußeren Haut, im Fettgewebe oder in der Milz. In 
allen diesen Fällen war der Zusammenhang der Nerverbahnen voll- 
ständig zerstört, nicht sie also konnten die Beeinflussung über- 
mitteln, sondern es blieb nur die Wirkung durch chemische Stoffe 
übrig, welche in den Blutkreislauf übergingen und durch diesen zu 
den weit entfernten Stätten ihrer Wirkung gelangten. Zu diesen 
gehören nicht nur die Unterleibsorgange, sondern auch die Brust- 
drüse, welche zwar nach Kastration bei Ausgewachsenen nicht 
verkümmert, bei Jugendlichen aber nicht zur vollen Entwicklung 
kommt. Voraussetzung des Erfolges ist aber, daß die Eierstöcke 
an ihrem neuen Standort auch einheilen und wirklich weiter tätıg 
sind; das ist keineswegs immer derFall. Es hängt ganz davon ab, 
ob von der Umgebung rasch genug neue Blutgefäße in das über- 
pflanzte Organ eindringen und dessen Ernährung übernehmen?). 
Dies geschieht erst nach 5 bis 8 Tagen; bis dahin ist regelmäßig 
ein Teil des wirksamen Eierstocksgewebes zugrunde gegangen, und 
ein anderer fällt noch der entzündlichen Reaktion zum Opfer, welche 
durch die als Fremdkörper wirkende, z. T. rasch absterbende Ge- 


1) Archiv f. Gynäkol. 60. 
2) Ribbert, Arch. für Entwieklungsmechanik Band 7; Tscher Nische 


Ziegler's Beiträge 59. 


N 


a a LS Er oe ae ee a Dee 


Ö. v. Franque, Innere Sekretion des Eierstocks. 495 


e& 
websmasse in der Umgebung ausgelöst wird. Die schon ausge- 
bildeten oder heranwachsenden Follikel gehen dabei am schnellsten 
zugrunde, die Ureier sind am widerstandsfähigsten. Daß sie nach 
erfolgter neuer Gefäßversorgung vollkommen unversehrt sich weiter 
entwickeln können, wird dadurch bewiesen, daß sogar Schwanger- 
schaft eintreten kann, wenn die Wiedereinpflanzung an irgend einer 
Stelle der Bauchhöhle erfolgte, so daß die beim Platzen der reifen 
Follikel wie in der Norm in die Bauchhöhle gelangenden Eier in 
die Eileiter und. die Gebärmutter befördert werden können. Ja 
die Schwängerung ist nicht nur bei der Autoplastik möglich, d.h. 
der Überpflanzung der Eierstöcke an eine andere Stelle desselben 
Tieres, sondern auch bei der Homoioplastik wie die Überpflanzung 
von Geweben eines Tiers auf ein anderes Tier derselben Gattung 
genannt wird. Auch die Folgen der nach gelungener Transplan- 
tatıon wiedereinsetzenden inneren Sekretion zeigen sich bei der 
Homoioplastik wıe bei Autoplastik, aber die überpflanzten Eierstöcke 
anderer Tiere erfahren eine sehr viel stärkere Schädigung und 
gehen in viel kürzerer Zeit häufig zugrunde. Dies hängt mit der 
Bildung von sogenannten Abwehrfermenten zusammen, die sich, 
wie Abderhalden’s berühmte Untersuchungen gezeigt haben, jedes- 
mal ım Körper bilden, wenn demselben irgendwelche fremde Eı- 
weißstoffe — und aus solchen bestehen ja auch die Eierstöcke — 
einverleibt werden. Geschieht die Einfuhr auf dem gewöhnlichen 
Wege durch den Magen und Darm, so findet dort ın der Ver- 
dauung der Abbau und Wiederaufbau der fremden Eiweißstoffe 
statt. Erfolgt die Zufuhr außerhalb des Eingeweideschlauches, 
dann entstehen im Blute und den Gewebssäften die verdauenden, 
zur Assımilierung der fremden Körperstoffe dienenden chemischen 
Stoffe, eben die erwähnten Abwehrfermente. Bei der „Hetero- 
plastik“, d. h. der Überpflanzung vom Gewebe von einer Tierart 
auf die andere, z. B. von Katzen auf Kaninchen, sınd diese parenteralen 
Verdauungsvorgänge so stark, daß das fremde Organ auf die Dauer 
sich nicht erhalten kann, sondern über kurz oder lang, manchmal 
allerdings erst nach 2—3 Jahren, spurlos verschwindet. Dagegen 
gelingt es etwas leichter, etwa ın 45%, der Versuche, dıe Kierstöcke 
und Hoden auf andersgeschlechtige Tiere derselben Art zu über- 
pflanzen. Hierher gehören die Aufsehen erregenden Versuche 
Steinach’s?), welche z.T. erst den allerletzten Jahren entstammen, 
und wohl den überzeugendsten Beweis für dıe Wirksamkeit der 
inneren Sekretion der Keimdrüsen erbracht haben. Steinach ent- 
fernte bei ganz jungen Tieren die Hoden oder die Eierstöcke und 
pflanzte dafür den Männchen Eierstöcke, den Weibchen Hoden ein. 
Er erreichte dadurch, daß sich bei den Männchen Warzenhöfe, Zitzen 
i 


3) Münchener med. Wochenschrift 1918, Nr. 6 (dort die früheren Arbeiten), 
: 14* 





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ERSTEN CSARANTON 
196 ©. v. Franqud, Innere Sekretion des Bierstocks. 


und Brustdrüsen entwickelten, die ein wiederholtes Säugen erlaubten: 
das Wachstum der männlichen Genitalien blieb zurück und der 
ganze Körper entwickelte sich in mehr weiblicher Richtung, bekam 
z. B. einen’ grazileren Knochenbau und ein geschmeidigeres Haar- 
kleid. Ja es fand auch eine Umstimmung des Zentralnervensystems 
statt, indem die feminierten Männchen gegenüber ihnen anver- 
trauten Jungen mütterliche Gewohnheiten ausübten, bei normalen 
Männchen starke Geschlechtslust erregten und sich von ihnen be- 
springen ließen. Das Umgekehrte fand bei maskulierten Weibchen 
statt. Durch die UÜberpflanzung je eines Hodens und eines Eier- 
stocks auf vorher kastrierte ganz junge Tiere, gelang es Steinach 
bei denselben die Erscheinung eines somatischen und psychischen 
Hermaphroditismus hervorzurufen. Er zieht daraus die Schluß- 
folgerung, daß ın den außerordentlich mannigfaltig gestalteten 
Fällen menschlicher Hermaphrodisie, bei welcher in einer Person 
männliche und weibliche Merkmale in verschiedenster Abstufung 
zusammen auftreten, die vorhandenen Keimdrüsen vonvorneher- 
ein in ihrem sekretorischen Abschnitt zwittrig ange- 
lest sind, d.h. sowohl spezifisch männliche als auch spezifisch 
weibliche Sekretionsstoffe liefern, wenn auch ıhre für die Fort- 
pflanzung bestimmten Produkte eingeschlechtig, entweder nur 
Samen oder nur Eier sind; dies ist nämlich die Regel beim Men- 





schen, von der bisher keine Ausnahme beobachtet worden ist. Trotz . 


der ungeheuer großen Zahl von Beobachtungen über Hermaphro- 


disıe — Neugebauer*) hat 1908 fast 1900 Fälle zusammengestellt 


— ıst bislang noch niemals bei einem Menschen gleichzeitig ein 


Hoden und ein Ovarıum gefunden worden und auch bei den Säuge- 
tieren gibt es nur drei mikroskopisch sicher gestellte Fälle, ın 
denen auf der einen Seite ein Hoden, auf der anderen Seite ein 
Eierstock gefunden wurde. Dagegen gibt es acht Fälle bei Säuge- 
tieren und zwei Fälle von Menschen mit einer freilich nicht doppelt 
funktionsfähigen Zwitterdrüse, Ovotestis. In den betreffenden 
Organen waren die charakteristischen Bestandteile eines Eierstockes 
und eines Hodens, einer derselben, meist der Hoden, aber in un- 
vollkommener Entwicklung, räumlich voneinander getrennt, mikro- 
skopisch nachweisbar. Dabei waren die übrigen Genitalien auch 
nicht normal entwickelt. In dem einen Fall handelte es sich um 
einen männlichen Hypospadiaeus, im anderen Fall um eine Frau mit 
rudımentärer Entwicklung der Scheide. Hier hatte anscheinend 
die innere Sekretion des abnormerweise vorhandenen andersge- 
schlechtlichen Anteils der Keimdrüse einen hemmenden Einfluß auf 
die normale Entwicklung des Individuums ım Sinne eines Ge- 
schlechts gehabt; doch ist, wie wir noch sehen werden, auch eine 


4) Der Hermaphroditismus beim Menschen, Leipzig 1908. 


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x 


O. v. Franque, Innere Sekretion des Eierstocks. 197 


andere Deutung möglich und wahrscheinlich richtig. Die Schlüsse, 
welche Steinach aus seinen Versuchen für die normale Entwick- 
lung der Genitalien und der sekundären Geschlechtsmerkmale zieht, 
nämlich daß dieselben allein von der inneren Sekretion des von 
ihm Pubertätsdrüse genannten sekretorischen Abschnitts der Keim- 
drüse abhängig sei, scheinen jedoch für den Menschen wenigstens, 
viel zu weitgehend zu sein. Wohl üben die vorhandenen und se- 
zernierenden Geschlechtsdrüsen einen sehr weitgehenden protek- 
tiven Einfluß auf die Entwicklung der übrigen Genitalien und der 
sekundären Geschlechtsmerkmale aus, und mit ihrem Fortfall treten 
starke Hemmungen und Rückbildungen auf. Aber die Entwicklung 
ist auch bei vollständigem Fehlen der Keimdrüse möglich und die 
Bestimmung, ob sie in männlicher oder weiblicher Richtung statt- 
findet, erfolgt, ehe überhaupt die Keimdrüse ausgebildet ist und 
sezerniert. Halban°) hat in ausfürlicher Beweisfürung dargetan, 
daß bei Menschen und höheren Tieren nicht nur die Anlage der 
Keimdrüse, ob sie männlich oder weiblich werden wird, sondern 
auch die der übrigen Genitalien und der sekundären Geschlechts- 
merkmale von vornherein in dem betreffenden Ei gegeben ist, und 
zwar voneinander unabhängig, wenn auch fast immer in gleichem 
Sinne. So daß also meist das gesamte Ei entweder männlich oder 
weiblich oder hermaphroditisch angelegt ist, daß aber ausnahms- 
weise, ohne daß wir die Ursache kennen, die Entwicklung dieser 
drei Dinge in verschiedener Richtung verlaufen kann. Fällt dann 
ın einem Ovulum, in dem abnormerweise z. B. die sekundären 
Geschlechtsmerkmäle hermaphroditisch angelegt sind, die protektive 
Beeinflussung durch eine normale Keimdrüse fort, oder wird sie 
gestört durch das gleichzeitige Vorhandensein eines anders geschlech- 
tigen Drüsenanteils, dann können die heterosexuellen Merkmale zur 
Ausbidung kommen. Nur durch die Annahme einer von vorneher- 
ein gegebenen hermaphroditischen Anlage auch der sekundären 
Geschlechtsorgane läßt sich der extremste und berühmteste der- 
artige Fall erklären, der von Weber beschriebene Finke, welcher 
auf der linken Seite ein Ovarıum und weibliches Gefieder, auf der 
rechten Seite einen Hoden und männliches Gefieder besaß. Der 
Hinweis auf dieses Tier genügte vielen Autoren sogar, die ganze 
Theorie der inneren Sekretion der Keimdrüse in Frage zu stellen, 
weil es ja selbstverständlich nicht einleuchten konnte, wie die 
Keimdrüse bei einer inneren Sekretion gerade diejenige Seite be- 
einflussen sollte, auf der sie liegt, wie also das links gelegene 
Ovarıum imstande wäre, das Gefieder auf der linken Seite weiblich 
zu gestalten, der Hoden auf der rechten Seite männlich, da doch 
die Stoffe gemeinschaftlich im ganzen Körper zirkulieren. Da aber 


9) Archiv f. Gynäkol. 70, 


4198 0. v. Frangue, Innere Sekretion des Eierstocks. 


nun die innere Sekretion, wie besprochen, eine feststehende Tat- 
sache ıst, so bleibt nichts übrig, ‘als anzunehmen, daß die ganze 
Anlage bei diesem Tiere auf der einen Seite dem: männlichen, auf 
der anderen Seite dem weiblichen Geschlechte zuneigt, und wir 
müssen das Tier als Hermaphroditen bezeichnen und zwar nicht nur 
in Rücksicht auf die Keimdrüse. Es war auch das Gefieder von 
Haus aus auf der einen Seite männlich, auf der anderen Seite weıb- 
lich angelegt und hat sich dementsprechend weiter entwickelt 
(Halban). 

Die Versuchsergebnisse Steinach’s sind wohl so zu erklären, 
daß bei nieder stehenden Tieren die bisexuelle Anlage der sekun- 
dären Geschlechtscharaktere sehr viel weiter verbreitet, ja vielleicht 
bei manchen Arten allgemein vorhanden ıst, so daß ın der Tat 
ihre Entwicklungsrichtung ausschließlich davon abhängt, ob die 
innere Sekretion einer weiblichen oder einer männlichen Keimdrüse 
hinzukommt. Eine Übertragung auf höhere Tiere und Menschen 
ist keineswegs ohne weiteres angängig. Wir wissen beispielsweise 
ja auch, daß bei vielen wirbellosen Tieren dasselbe Individuum 
weibliche und männliche Keimzellen liefert, und auch einzelne 
Fische, z. B. der Seebarsch, sollen diese Fähigkeit haben. Beim 
Maulwurf ıst nach Tourneux“) der oben als äußerst seltene Miß- 
bildung erwähnte Ovetestis cın physiologischer Zustand, indem 
neben dem funktionierenden Ovarıum eın 2—4 mal größerer Hoden 
mit vermehrten Zwischenzellen und rudimentären Samenkanälchen 
sich findet. Da gerade diese Zwischenzellen der nach Steinach 
Ausschlag gebenden Pubertätsdrüse entsprechen, müßten alle weib- 
lichen Maulwürfe hermaphroditische Kennzeichen an sich tragen, 
wenn es wirklich auf dıe Keimdrüsen allein ankäme. Davon ıst 
aber nichts mitgeteilt worden. Die Erfahrungen beim Menschen 
sprechen aber ganz direkt gegen die eimfache Übertragung der 
Steinach’schen Versuchsergebnisse und ım Sinne der Halban'- 
schen Schlußfolgerungen und zwar nicht nur in ‘klinischer, sondern 
auch ın anatomischer Beziehung. Denn bei den Untersuchungen 
der inneren (seschlechtsorgane weiblicher oder männlicher Pseudo- 
Hermaphroditen und zwar sowohl somatischer als psychischer Art, 
wurde bisher immer eine auch bei mikroskopischer Untersuchung 
einsinnig entwickelte. wenn auch mitunter hypoplastische Keim- 
drüse gefunden. Vor allem aber wurde gerade an den von Stei- 
nach angenommenen ıinnersekretorischen Abschnitten keine Ab- 
weichung von der Norm, keine Entwicklung nach der Richtung 
des anderen Geschlechtes hin festgestellt. Seine Angaben über die 
innersekretorischen Bestandteile sind überhaupt für den Menschen 
nicht zutreffend. Denn bei diesem hat die ınterstitielle Drüse bei 


6) L. Kermanner, in Schwalbe’s Morphologie der Misbildungen Bd. 3, 190%. 








O. v. Franque, Innere Sekretion des Eierstocks. 499 


weitem "nicht die Entwicklung und Unabhängigkeit, wie bei niede- 
ren Tieren, sondern sie ist ein meist recht unscheinbares Über- 
bleibsel geplatzter oder atretisch gewordener Follikel, das sehr bald 
nach dem Eingehen des letzten Follikels ebenfalls schwindet. Aus 
Steinach’s eigenen Angaben geht übrigens hervor, daß er selbst 
.bei den feminierten Männchen 3—4 Jahre nach der Ovarıalımplan- 
tation nicht nur seine „Pubertätsdrüse“, sondern auch zystische 
Follikel fand. Auch bei seinen Versuchstieren muß es also unent- 
schieden bleiben, ob wirklich die Pubertätsdrüse die selbständige 
Funktion gehabt hat, die er ihr zuschreibt. 

Klinisch aber wissen wır, daß bei sehr vielen Herma- 
phroditen und Homosexuellen die Keimdrüsen ganz normal 
funktioniert haben, soweit, daß sogar normale Kinder geboren oder 
gezeugt wurden, sogar bei Hermaphroditismus externus und sekun- 
darıus, der soweit ging, daß infolge der heterosexuellen Entwick- 
lung der äußeren Genitalien und der sekundären Geschlechtsmerk- 
male ursprünglich das andere Geschlecht angenommen und die 
Betreffenden fälschlich als Knaben oder Mädchen gezogen wurden, 
obwohl sie das Gegenteil waren. 

Eine Beobachtung Albertis’) spricht ebenfalls für die Beein- 
flussung der sekundären Geschlechtscharaktere durch die innere 
Sekretion des Eierstocks oder vielmehr durch eine Störung der- 
selben im Sinne Halban’s und nicht Steinach’s. Es handelt sich 
um ein 23jähriges Mädchen, welches wegen einer rechtsseitigen Eier- 
stockgeschwulst operiert wurde. Biszum 19. Lebensjahr war sie ein 
blühendes kräftiges und angeblich ganz normal entwickeltes Mäd- 
chen gewesen. Vom 20. Lebensjahre ab blieb die Periode aus, und 
es scheint sich allmählich der Tumor entwickelt zu haben, wegen 
dessen sie schließlich operiert werden mußte. Von da ab wurde 
ihre Stimme tiefer, ıhr ganzer Habitus ein männlicher und es ent- 
wickelte sich ein mächtiger Voll- und Schnurrbart. Bei der Ope- 
ration zeigte sich eine durchaus männliche Behaarung des ganzen 
Körpers, auch Knochenbau, Muskulatur, Kehlkopf, Brustdrüse 
zeigten männliche Bildung. Die inneren Genitalien waren abge- 
sehen von der Geschwulst normal, an den äußeren Genitalien war 
nur eine besonders starke Entwicklung des Kitzlers, wie sie sich 
beim Hermaphroditismus häufig findet, auffallend. Bei der mikro- 
skopischen Untersuchung war das eine Ovarıum vollständig normal, 
das andere war wohlin einen Tumor verwandelt, aber dieser entsprach 
der häufigsten Form der Eierstocksgeschwülste, dem Kystoma mul- 
tıloculare pseudomucinosum, wie wir es tausende von Malen be- 
obachten, ohne daß vor oder nach der Entfernung eine Änderung 
der Geschlechtsmerkmale einsetzt. Will man hier nicht etwa ein 


’) Hegar's Beiträge Bd. 9, 1905, 


200 O0. v. Frangue, Innere Sekretion des Eierstocks. 


zufälliges Zusammentreffen annehmen, so kann man diese Beobach- 
tung kaum anders als ım Sinne Halban’s erklären. Es bestand 
von vornherein unabhängig von der: einsinnigen Anlage der Ge- 
schlechtsdrüse eine hermaphroditische Anlage der äußeren Genitalien 
und der sekundären Geschlechtsmerkmale, welche aber durch den 
mächtigen protektiren homosexuellen Einfluß des Eierstocks ım 
/aume gehalten und überwunden wurde. Die durch die Geschwulst- 
entwicklung herbeigeführte Änderung, vermutlich nur quantitative 
Herabsetzung der inneren Sekretion des Ovarıums genügte in diesem 
Falle, um noch nachträglich am Ende des zweiten Jahrzehnts des 
Lebens die hermaphroditische Anlage des übrigen Körpers zum 
Ausbruche kommen zu lassen. Doch ıst hervorzuheben, daß der 
Bericht über den Zustand vor der Geschwulstbildung nicht auf zu- 
verlässiger ärztlicher Beobachtung beruht, ferner, daß die voll- 
ständige Ausbildung des weiblichen Körpers erst im 24. Lebensjahr 
erfolgt, und daß die Entwicklung der stärkeren Behaarung auch 
beim Manne erst nach erreichter Geschlechtsreife und später ein- 
tritt. 

Bei vollständig ausgebildetein Körper hat die Schädigung oder 
Entfernung der Keimdrüse keinen Einfluß mehr auf die sekundären 
Geschlechtsmerkmale. Alle dahin gehenden Berichte gehören ın 
das Reich der Fabel und beruhen auf oberflächlicher Beobachtung, 
besonders auf der Nichtbeachtung schon vorher vorhandener hetero- 
sexueller Merkmale, Aus dem Tierreich wird als Beispiel immer 
wieder die Hahnenfederigkeit kastrierter Hennen angeführt, die 
körperlich und geistig Hahnen ganz ähnlich werden sollen. Sell- 
heım°) hat diese Angaben widerlegt, indem er zeigte, daß die Ent- 
fernung der Eierstöcke beim Huhn außerordentlich schwierig, fast 
stets tödlich, oder nur unvollkommen ausführbar ıst. Und daß 
andererseits nach Ausführung der fälschlich als Kastration be- 
zeichneten Operation der Unterbindung der Legröhre kein Einfluß 
auf die sekundären Geschlechtscharaktere sich bemerkar macht. 
Kastrierte Hähne zeigen zwar eine ausgesprochene Änderung des 
Wachstums und des äußeren Habitus, werden aber keineswegs be- 
sonders hennenähnlich. 

Doch kehren wir zur normalen inneren Sekretion der Ovarien 
zurück. Daß auch die normale Periode von einer inneren Sekretion 
des Eierstocks abhängig ıst, hat zuerst Halban 1399 durch Trans- 
plantationsversuche bei Pavianen gezeigt, welche eine regelmäßige 
Menstruation wie die Menschen haben, die unbeeinflußt blieb, wenn 
nach der Kastration die Eierstöcke an einer anderen Körperstelle 
zur Einheilung gebracht wurden. Für den Menschen wurde dieser 
/usammenhang sehr bald durch auto- oder homoioplastische EBier- 


8) Heger's Beiträge 1901, 1898. 








O. v. Frauqgue, Innere Sekretion des Eierstocks. If 


stocksverpflanzungen bestätigt, welche in therapeutischer Absicht 
ausgeführt wurden. Schon Knauer war von Chrobak zu seinen 
Versuchen angeregt worden, um ausfindig zu machen, ob es möglich 
sei, die im Gefolge der Kastration auftretenden sogenannten Aus- 
fallserscheinungen durch Transplantation zu vermeiden oder zu be- 
seitigen. Außer dem Ausbleiben der Menses und der sekundären 
Atrophie der Geschlechtsorgane zeigt sich bei kastrierten Frauen 
nämlich nicht selten eine gewisse Neigung: zu Fettansatz und Stö- 
rungen auf dem Gebiete des Gefäßnervensystems, dieselben Stö- 
rungen, welche sich auch bei dem von selbst eintretenden Stillstand 
der Eierstocktätigkeit am Ende der Fortpflanzungsfähigkeit gelegent- 
lich geltend machen. Diese Ausfallserscheinungen, wie Anfälle von 
Herzklopfen, plötzlicher Blutandrang zum Kopf, Angstgefühle, 
Schwindel, plötzliche heftige Schweißausbrüche, Störungen des 
Schlafes und mancherleiı andere nervöse Erscheinungen können 
manchmal recht lästig sein. Sie wurden ın ihrer Bedeutung eine 
Zeitlang gewaltig überschätzt. Es hat sıch schließlich gezeigt, daß 
sie bei Frauen mit normalen Nervensystem meist rasch, ım Ver- 
laufe einiger Monate vorübergehen, wenn sie auch bei operativ her- 
vorgerufener vorzeitiger Menopause oft stärker in die Erscheinung 
treten als bei den Matronen, beı denen die Eierstockstätigkeit ganz 
allmählich erlischt und der Organısmus daher Zeit hat, sich an den 
Fortfall der inneren Sekretion zu gewöhnen. Je jünger die Frauen 
sind, desto stärkere Ausfallserscheinungen werden naturgemäß nach 
der Kastration auftreten, wirklich ernsthafte und quälende Störungen 
treten aber nur bei Personen mit labilem Nervensystem, bei Hyste- 
rischen oder sonst neurepathisch veranlagten Frauen auf. Da aber 
diese krankhaften Anlagen ın unserer heutigen Frauenwelt ganz 
außerordentlich verbreitet sind, wird man natürlich die Eierstöcke. 
wo dies möglich ist, wenigstens zum Teil erhalten. Denn es hat 
sich gezeigt, daß ein ganz kleiner Rest normalen Eierstocksgewebes 
genügt, um die Ausfallserscheinungen zu vermeiden. Bei gutartigen 
Geschwülsten wird eine, wenigstens teilweise Erhaltung meist mög- 
lich sein, bei bösartigen Geschwülsten aber nicht und ebenso auch 
nicht bei schweren entzündlichen Veränderungen oder eitrigen Ein- 
schmelzungen beider Eierstöcke. Handelt es sich ın diesen Fällen 
immer um Erkrankungen der Eierstöcke selbst, so wurde die eigent- 
liche Kastration, d. h. die Entfernung gesunder Eierstöcke, früher 
vielfach auch zu Heilzwecken ausgeführt, und zwar gerade um die 
innere Sekretion derselben auszuschalten und so die abnorm starke 
gelegentlich lebensbedrohliche periodische Blutung aus’ dem durch 
(Geschwülste vergrößerten Uterus zu beseitigen und die Gesch wülste 
zur Schrumpfung zu bringen. Heutzutage entfernt man, wenn man 
überhaupt operiert, lieber den kranken Uterus und läßt die ge- 
sunden Ovarien zurück. Häufiger aber verzichten wir ganz auf 


NEIN. DR RE PR STD ee tn: an Wh; 


202 ©. v. Franque, Innere Sekretion des Eierstocks. 


die Operation und beseitigen die innere Sekretion der Ovarien und 
damit die krankhaften Blutungen dadurch, daß wir die sezernieren- 
den Teile der Eierstöcke mit Röntgenstrahlen zerstören. Wie bei 
Greisinnen bleiben schließlich nur noch die bindegewebigen Be- 
standteile des Eierstocks ın narbenähnlichem Zustande zurück. Aus- 
fallserscheinungen treten auch hier auf, aber da die Ausschaltung 
der Eierstöcke ganz ähnlich wie bei der natürlichen Klimax ganz 
allmählich im Verlaufe von Monaten erfolgt, sind sie meist mild und 
geben höchstens zur Darreichung innerer Mittel Anlaß. 
Umgekehrt ist es gelungen, bei jungen Frauen, die infolge 
Operation, Krankheit oder mangelhafter Anlage fehlende Ovarial- 
sekretion durch Einpflanzung gesunder Eierstöcke gesunder Frauen 
herzustellen und so auch beim Menschen den experimentellen 
Nachweis dieser Sekretion zu erbringen. Morris?) pflanzte 1899 
in derselben Sitzung, in’ welcher er die erkrankten Eierstöcke ent- 
fernte, Stücke gesunder Eierstöcke einer anderen Frau ein, und 
erreichte dadurch, daß die Periode bestehen blieb und keine Ausfalls- 
erscheinungen auftraten. Da diese aber lange nicht in jedem Falle 
eintreten, ist diese Beobachtng nicht so beweisend, wie diejenige 
von Glaß, der 2 Jahre nach Kastration bei starken Ausfallserschei- 
nungen einer 29jährigen Frau den Eierstock einer 17jährigen über- 
trug und Wiedereintreten der Periode und Verschwinden der Aus- 
fallserscheinungen beobachtete. Morris erreichte noch mehr. Bei 
einer Patientin von 21 Jahren, welche nach einer vermutlich mit 
Infektion einhergehenden Frühgeburt 2 Jahre lang keine Periode 
und schwere Ausfallserscheinungen gehabt hatte, trat nach Entfer- 
nung der eigenen und Einpflanzung fremder Eierstöcke nicht nur 
die regelmäßige Periode, sondern sogar Schwängerung und Geburt 
eines lebenden, reifen Kindes ein. Die betreffende Frau hatte also 
ein von einem fremden Stamme aus dem Körper einer anderen Frau 
herrührendes Kind getragen. Dies ıst der einzige bisher bekannte 
derartige Fall, und da er mit allen sonstigen Erfahrungen in Wider- 
spruch steht, wurde er wohl mit Recht selbst in seinem Ursprungs- 
lande Amerika bezweifelt. Unterberger!®) hebt besonders hervor, 
daß im Tierexperiment Schwängerung nur innerhalb der ersten 
2 Jahre nach Homoioplastik möglich war, während später die 
transplantierten Ovarien zugrunde gingen. In Morris’ und ın 
eimem andern angeblich von Dixon beobachteten, aber im Original 
nicht auffindbaren Fall soll die Schwängerung aber erst 4 und 5 
Jahre später eingetreten sein. Wahrscheinlich sind die eigenen 
Ovarien der Operierten doch nicht vollständig entfernt worden, wie 
auch in den beiden höchst belangreichen Beobachtungen Cramers!!) 
9) E. Pankow, Hegar's Beiträge 12, 1908. Zentralblatt f. G. 1908, Nr. 32. 
10) Archiv f. Geb. u. Gyn. Bd. 110, Nov. 1918. 
I1) Gynäkologische Rundschau 1909. 








©. v. Frangue, Innere Sekretion des Bierstocks. 205 


die bis dahin nicht oder nicht mehr funktionierenden eigenen 
Ovarien absichtlich zurückgelassen wurden. Unterberger glaubt 
daher, daß ın allen diesen Fällen die überpflanzten Eierstöcke nur 
eine Zeitlang chemische Stoffe an den Körper abgaben und so die 
eigenen Ovarien der Trägerinnen entlasteten; diese konnten sich 
dann weiter entwickeln und später voll funktionstüchtig werden. 
An dem schönen Erfolge und der Berechtigung dieser Operationen 
ändert diese Auffassung natürlich nichts. 

Cramers Fälle verliefen folgendermaßen: 

Bei einer 22jährigen Frau war nach der ersten Geburt eine Atrophie 
der Eierstöcke und des Uterus und Wegfall der Periode eingetreten. 
Nach der 2 Jahre später ausgeführten Überpflanzung der Eierstöcke 
einer osteomalakischen Frau auf die gespaltenen, zurückgelassenen 
atrophischen Ovarien trat nicht nur eine regelmäßige, 3 Jahre lang 
beobachtete Periode ein, sondern auch eine Vergrößerung des Uterus 
von 4!/, auf 7 cm Länge, wie es der Norm entspricht. Ein zweites 
Mal gelang es. bei einem 21jährıgen Mädchen mit angeborener 
Aplasıe der Eierstöcke, das nie menstruiert hatte, und einen Uterus 
von nur 4cm Länge aufwies, durch Überpflanzung anderer ebenfalls 
einer an Knochenerweichung erkrankten Frau entnommenen Ovarien 
die Periode hervorzurufen und den Uterus zu einem Wachstum 
bis zu 6 cm Länge ebenso die vorher sehr kleinen Mamillen zur 
Vergrößerung zu veranlassen. Durch diese Beobachtungen am 
Menschen ist ın sehr willkommener Weise die durch das Tier- 
experiment schon bekannte, Ausschlag gebende Rolle bestätigt, 
welche der “Eierstock beim Wachstum, Ernährung und Erhaltung 
der Gebärmutter innehat. 

Weniger erfolgreich war man mit der therapeutischen Ver- 
wendung der Autotransplantation der Ovarien. Es gibt Fälle von 
außerordentlich hartnäckigen, durch keinerlei innere Mittel und 
auch nicht durch dıe sonst wirksame Ausschabung der Gebärmutter- 
schleimhaut beeinflußbaren Blutungen aus der Gebärmutter. Wenn 
man in solchen Fällen auch bei genauester Untersuchung weder an 
der Gebärmutter noch in ihrer Umgebung, an Eileitern und Eier- 
stöcken, auch nach der Herausnahme der Organe, etwas Krankhaftes 
auffinden kann, so liegt es nahe, eine rein funktionelle Störung an- 
zunehmen, deren Sitz die einen ın der Uterusmuskulatur, viele ım 
Eierstock annehmen und zwar in einer übermäßigen oder krankhaft 
veränderten inneren Sekretion des anatomisch und. histologischh 
nicht nachweislich veränderten Organes, also m einer Hyperfunk- 
tion oder einer Dysfunktion. In solchen Fällen hat man die Auto- 
transplantation versucht in der Annahme, daß durch den vollstän- 
digen Wachstums- und Ernährungsumschwung, der damit verbunden 
ist, vielleicht auch eine Änderung des funktionellen Einflusses auf 
die Periode bedingt sein könnte (Pankow). Der Erfolg war meistens 


04 O0. v. Frangue, Innere Sekretion des Eierstocks. 


der, daß eine Zeitlang die Blutungen aufhörten oder schwächer 
wurden, dann aber ın alter oder noch vermehrter Stärke zurück- 
kehrten, was eigentlich ganz verständlich ist. In der Zeit der mangel- 
haften Ernährung und teilweisen Rückbildung der überpflanzten 
Eierstöcke sonderten sıe nichts ins Blut ab, sobald aber die neuen 
(efäßverbindungen wieder hergestellt waren, begannen die Eier- 
stöcke ihre Tätigkeit wieder, auf die ım allgemeinen die Größe des 
funktionierenden ‚Eierstocksgewebes keinen Einfluß hat. Die ge- 
legentliche Verstärkung dieser Blutungen erklärt sich daraus, daß 
der normale Ablauf der Follikelreifung, Entleerung und Rückbildung 
an dem neuen Einpflanzungsorte leicht Störungen unterliegt, und 
mit diesen Vorgängen hängt die Entwicklung der sezernierenden 
Bestandteile zusammen. Behält Aschner!?) mit seiner Auffassung, 
die ıch allerdings nicht teile, Recht, daß nämlich die ovariellen 
Funktionsstörungen auf konstitutioneller, also angeborener Grundlage 
beruhen, dann wäre ja von solchen autoplastischen Heilungsversuchen 
von vorneherein nichts zu erwarten. Denselben Mißerfolg hatte 
Pankow bei Knochenerweichung, einer Erkrankung, die, wie wir 
noch hören werden, innige Beziehungen zur Eierstocksfunktion hat 
und in etwa 87%, der Fälle durch Kastration geheilt wırd. Pankow 
entfernte bei einer 3 Jahre osteomalakıschen Patientin die Eierstöcke 
und versenkte sie sofort wieder zwischen Blase und Uterus unter 
das Bauchfell. Nach dreimonatlicher erheblicher Besserung traten 
mit den Menses zugleich wieder osteomalakische Beschwerden ein, 
und schließlich mußten nach 3 Jahren die Ovarien wieder entfernt 
werden, worauf Heilung eintrat. 

Wir haben in diesen Beobachtungen am Menschen außer den 
Wirkungen der inneren Sekretion des Ovarıums auf die Geschlechts- 
organe drei neue, den Genitalien nicht angehörige Wirkungsbereiche 
derselben kennen gelernt, nämlich den Stoffwechsel, das Gefäß- 
nervensystem und die Knochen. Daß nach der Kastration in vielen 
Fällen eine Vermehrung des Fettansatzes stattfindet, ist eine nicht 
‚u bestreitende Tatsache, wenn sie auch bei den zu Heilzwecken 
kastrierten Frauen keineswegs so regelmäßig eintrifft, wie gemein- 
hin angenommen wird, nämlich nur in 50—40°%, der Fälle’). In 
den wenigen bekannten Fällen von Kastration weiblicher Kinder 
ist es nicht zu der bei jugendlichen männlichen Kastraten als Regel 
geltenden Fettbildung gekommen. Es ist daher zweifelhaft, ob die 
innere Sekretion des Ovarıums die Oxydationsvorgänge in Körper 
wirklich direkt beeinflußt. Es wäre möglich, daß die in der Fett- 
leibigkeit zum Ausdruck kommende Herabsetzung der Verbrennungs- 
vorgänge im Körper nicht die unmittelbare Wirkung des Kem- 


12) Aschner, Die Blutdrüsenerkraukungen des Weibes, Wiesbaden 191, 
13) Alterthum, Hegar's Beiträge 2, 1599. 








O. v. Franque, Innere Sekretion des Eierstocks. 205 


drüsenausfalls ist, sondern bloß einer verminderten Lebhaftigkeit 
und Beweglichkeit der Kastrierten ihre Entstehung verdankt. Es 
werden ja auch, nicht alle Matronen fettreich, sondern mindestens 
ebensoviele erfreuen sich einer besonders ausgeprägten Magerkeit. 

Dagegen haben die auf dem Gebiete des Gefäßnervensystems 
liegenden Ausfallserscheinungen experimentell eine befriedigende 
Erklärung erfahren. Oristofoletti!*) hat durch Tierversuch und 
durch Untersuchungen von Frauen vor und nach der Kastration 
nachgewiesen, daß nach dem Ausfall der Ovarıen die Wirkung 
einer anderen Blutdrüse, der Nebenniere sehr erheblich verstärkt 
ıst. Das Sekret derselben, das Adrenalin, bewirkt aber eine starke 
Blutdrucksteigerung, auf welche normalerweise das Ovarialsekret 
hemmend einwirkt. Wir haben hier ein sehr schönes Beispiel des 
Ineinandergreifens und der häufig auftretenden antagonistischen 
Wirkung verschiedener Blutdrüsen vor uns. Es ist wahrscheinlich, 
daß eine ganze Reihe von Krankheiten gerade auf eine Störung im 
Gleichgewicht zwischen der Funktion zweier oder auch mehrerer 
Blutdrüsen, wie z. B. Schilddrüse, Nebenniere, Eierstock, Neben- 
schilddrüse, Hypophyse beruht. In unserem besonderen Fall ist 
es verständlich, daß nach Wegfall der Eierstocksekretion, sei es 
nun durch die natürliche Klımax oder durch Kastration, die Neben- 
niere nunmehr ungehemmt übermäßig wirkt, wodurch die Blut- 
drucksteigerung, die Wallungen und Schwindelgefühle bei den Be- 
troffenen hervorgerufen werden. Schickele®?) gelang es dann, 
durch Auspressen aus frischen menschlichen und tierischen Eier- 
stöcken Säfte zu gewinnen, welche bei Injektion blutdruckherab- 
setzend und gefäßerweiternd wirkten, deren Wirkung aber durch 
gleichzeitige Anwendung von Adrenalin wieder aufgehoben wurden. 
Damit waren Cristofoletti’s Ergebnisse auf einem anderen Wege 
bestätigt. Dieselben Säfte wirkten aber auch gerinnungshemmend, 
und sie konnten außer im Ovarıum auch aus der Uterusschleimhaut 
gewonnen werden, nicht aber aus anderen Körperorganen. So ist 
das Auftreten der Menstruationsblutung durch chemische Einflüsse 
erklärbar. Die im Eierstock entstehenden Stoffe werden in der Uterus- 
schleimhaut verankert und aufgespeichert, bis sie zur Auslösung 
der Periode genügen, d.h. bis sie eine‘’so starke Erweiterung der 
Gefäße und Stagnation des Blutes in denselben herbeigeführt haben, 
daß diese zerreißen. Dann ist die Periode ausgelöst und da die 
gerinnungshemmende Komponente die sofortige Blutstillung trotz 
der kapillaren.. Beschaffenheit der zerrissenen Gefäße verhindert, 
hält sie an, bis die betreffenden Stoffe aus der Schleimhaut aus- 
geschwemmt sind. Auch ım Menstrualblut sind diese Stoffe nach- 


14) Gynäkologische Rundschau 5, 1911. 
15) Archiv f. Gyn. 97, 1912. Biol. chemische Zeitschrift 35, 1012. 


206 O. v. Frangue, Innere Sekretion des Eierstocks, 


weisbar, nicht ım übrigen Körperblut. Da sie sich schon im 
jugendlichen Eierstock finden, nicht aber ım senilen, der seine 
Tätigkeit eingestellt hat, so müssen sie in dem die wachsenden 
Eier begleitenden charakteristischen Gewebe ihre Ursprungsstätten 
haben. 

Endlich wurde die Anwesenheit und spezifische Wirksamkeit 
soleher Stoffe in den Eierstöcken von Schicksele, Seitz!‘) und ar- 
deren dadurch nachgewiesen, daß die Preßsäfte oder verschieden 
hergestellte Extrakte bei jugendlichen oder kastrierten Tieren, Hunden 
und Kaninchen, unter die Haut oder in die Blutbahn eingespritzt, 
starke Hyperämie der äußeren Genitalien, Schwellungen der Binde- 
haut, Nasen-, und Rachenschleimhaut wie bei der natürlichen Brunst 
und Wachstumssteigerungen des Uterus hervorriefen. Einzelne der 
enthaltenen Stoffe wurden sogar schon chemisch‘ rein dargestellt 
und wie die Gesamtextrakte oder Säfte selbst zu Heilzwecken an- 
gewandt. So konnte Seitz einige Male bei amenorrhoischen Mädchen 
die Periode durch fortgesetzte Darreichung solcher Substanzen her- 
vorrufen. Oft wurden sıe freilich auch vergeblich angewandt und 
auch bei Ausfallserscheinungen sind die Erfolge wechselnd. Wir 
können eben nur von Tieren gewonnene Präparate benützen und 
daß diese bei einer fremden Gattung, dem Menschen angewandt 
nicht so sicher und regelmäßig wirken können ıst eigentlich selbst- 
verständlich nach dem, was über den Abbau körperfremden Materials 
ım lebenden Organısmus früher gesagt wurde. 

Praktisch recht erhebliches Interesse hat endlich der Einfluß 
der Eierstockssekrete auf die Knochenbildung. Bei wachsenden 
jugendlichen Individuen üben sıe, wie Sellheim!’”) gezeigt hat, einen 
hemmenden Einfluß auf die Knochenbildung aus. Die Verknöcherung 
der knorpeligen Skelettabschnitte insbesondere der sogenannten 
Epiphysenscheiben an den Gliedmaßen und der Knochennähte 
wird nach der Kastration junger Tiere erheblich verzögert. An 
diesen Stellen findet das normale Wachstum statt, so daß dieses 
also bei Kastrierten länger anhält als in der Norm. Die Folgen 
sind beträchtliche Veränderungen ın den Maßverhältnissen der 
Gliedmaßen, des Schädels und des Beckens. Auch bei weiblichen 
Kastraten in jungen Jahren scheint das verstärkte Längenwachstum 
zu bestehen, das von jugendlichen männlichen Kastraten von alters 
her bekannt ıst. Aus dem Tierkreis ıst dies für die Kühe, Schafe und 
Hündinnen festgestellt. Dafür, daß die Sekrete des Ovariums eine 
Hemmung der Kalkablagerung und daher der Knochenbildung be- 
wirken, sprechen auch Versuche Tanıguchi's!*), welcher Kanın- 
chenweibchen zu ihren schon vorhandenen Ovarien solche schwester- 


16) Münchener med. Wochenschrift 1914, Nr.30 u. 31. 
17) Hegar's Beiträge 2, 1899. 
18) Archiv f. Gyn, 1914 (ohne Namen veröffentlicht s. Aschner). 








OÖ. v. Franque. Innere Sekretion des* Eierstocks. 207 


licher Tiere hinzu überpflanzte; die Folge war eine beträchtliche Ver- 
minderung des Kalkgehalts der Knochen. Auch bei Zufuhr von Eier- 
stocksextrakten wurde vonNeumann!’)und Vas ein gesteigerter Ver- 
lust an Phosphor und Calcium festgestellt. Die vergleichenden Stoff- 
wechseluntersuchungen bei Kastrierten und Nichtkastrierten haben 
allerdings bis jetzt zu ganz eindeutigen Ergebnissen nicht geführt, 
doch fand Matthes?) eine Verminderung der Kalk-Magnesia und 
Phosphorausfuhr im Harn nach Entfernung der Eierstöcke und 
durch Zufuhr getrockneter Ovarıalsubstanz konnte er die Ausfuhr 
dieser für die Knochenbildung wichtigsten Mineralien steigern, deren 
Stoffwechsel also stark durch die innere Sekretion die Eierstöcke 
beeinflußt wird. In überraschender und oft geradezu wunderbar 
anmutender Weise wird aber die Beziehung des Eierstockes zum 
Knochensystem vor Augen geführt, durch die von Febling ent- 
deckte Heilung der Osteomalakie durch die Kastration, welche wie 
bereits erwähnt, in nicht zu weit fortgeschrittenen Fällen in 87%, 
der Fälle von Erfolg begleitet ist. Das Charakteristische der 
Knochenerweichung ist aber, daß die Knochen ihre Kalksalze ver- 
lieren, während die Markräume stark an Ausdehnung zunehmen, so 
daß die Knochen ganz weich und biegsam oder brüchig werden. 
Für uns Geburtshelfer wird sie besonders wichtig, weil sie am aller- 
häufigsten bei schwangeren Frauen auftritt und zu weitgehender 
Verunstaltung und Verengung des Beckens führt, so daß häufig der 
Kaiserschnitt ausgeführt werden muß. Es ist sicher, daß für ihre 
Entstehung bei den Schwangeren die nötige Kalkabgabe an die 
wachsende Frucht ausschlaggebend ıst, aber sie kommt ausnahms- 
weise auch bei Jungfrauen vor, und schreitet bei einmal erkrankten 
Müttern oft auch nach der Geburt unaufhaltsam fort. In beiden 
Fällen wirkt die Kastration heilend. Die oft außerordentlich hoch- 
gradige Schmerzhaftigkeit bei jeder Bewegung schwindet oft inner- 
halb weniger Tage, die Knochen werden in verhältnismäßig kurzer 
Zeit wieder fest und die vorher vollständig bettlägerigen Kranken 
werden vollständig arbeitsfähig und gesund. Der Fortfall der Rier- 
stockshormone — so werde die von einem Körperorgan gelieferten 
chemischen Stoffe genannt, welche an anderen Körperstellen eine 
Wirkung ausüben — ermöglicht also die heilende Wiederablage- 
rung von Phosphor, Kalk und Magnesiumsalzen zur Neubildung des 
Knochengewebes. Kein Wunder, daß man die Ursache der Er- 
krankung im Eierstock sucht. 

Fehling nahm ursprünglich an, daß es infolge krankhafter 
Veränderungen der Eierstöcke zu einer Reizung der dort befind- 
lichen Nervenendigungen komme, welche reflektorisch zu einer Er- 
weiterung der Blutgefäße im Knochen führen sollte, so daß hier 

19) Monatsschrift 15, 1902. 

20) Monatsschrift 18, 1903, 





a Fe ll np ne ee 
308 OÖ. v. Franque, Innere Sekretion des Eierstocks. 


eine Stagnation des Blutes und eine vermehrte Auflösung der 
Knochensalze durch die Kohlensäure oder andere Säuren im Blute 
stattfindet. Die Osteomalakie wäre also eine reflektorische Angio- 
nenrose des Knochens. Geradeso wie die Pflüger’sche Theorie 
der Menstruation mußte diese Auffassung hinfällig werden durch 
den von Pankow erbrachten Nachweis, daß auch nach vollstän- 
diger Unterbrechung der Nervenbahnen durch Transplantation der 
Eierstöcke die Einwirkung auf die Knochen bestehen blieb. Ein 
meiner Meinung nach Sehr schwerwiegendes Hindernis für die An- 
erkennung der Fehling’schen Auffassung ist der Umstand, daß 
charakteristische Veränderungen an den Eierstöcken osteomalakischer 
Frauen, die in großer Anzahl untersucht wurden, niemals gefunden 
werden konnten. Da aber die heilende Wirkung bei Eierstocks- 
entfernung feststeht, mußte man in erster Linie an ein Übermaß 
ihrer inneren Sekretion denken und eine solche Hyperfunktion 
als Grundursache der Osteomalakie nehmen in der Tat viele, auch 
die neuesten Autoren an. Aber abgesehen von den anatomischen 
Befunden sprechen auch die klinischen Erfahrungen nicht dafür. 
Die Ovarien werden selten hypertrophisch, ım Gegenteil meist 
atrophisch gefunden und der Mangel der sezernierenden Elemente 
und der Eier ıst sogar ın sehr vielen Fällen das Auffallendste. 
Umgekehrt wurde bei einer anderen Erkrankung, der Blasenmole, 
oft die Bildung fast faustgroßer Geschwülste der Eierstöcke be- 
obachtet, welche durch eine ungeheure Vermehrung gerade der als 
die Quelle der inneren Sekretion ın Betracht kommenden Gewebs- 
bestandteile zustande kommt. Und doch hat man bei Blasenmole 
und bei dem mit denselben Wucherungen im Eierstock einhergehenden 
Chorioepitheliom malignum, einer bösartigen Geschwulst des Uterus, 
niemals Osteomalakie gesehen. Bei einer von mir selbst?!) während 
der Schwangerschaft mit Erfolg operierten Frau fand sich keinerlei 
Abweichung von der Norm im histologischen Bilde des Eierstocks, 
auch nicht an den von anderer Seite beschuldigten Thekalutein- 
zellen. 

Will man also eine primäre Erkrankung des Eierstocks an- 
nehmen, so muß man schon eine Dysfunktion annehmen, die Liefe- 
rung eines krankhaften, oder krankhaft wirkenden Sekretes durch 
eine anatomisch und histologisch normale Drüse, eine Annahme, 
die entschieden etwas gezwungenes an sich bat, die aber auch durch 
die oben erwähnten Versuche Cramer’s widerlegt wird. Denn die 
Frauen, denen er die osteomalakischen Eierstöcke einpflanzte, er- 
krankten nicht an Osteomalakie, obwohl die verpflanzten Organe bei 
jahrelanger Beobachtung funktionierten. Die Beseitigung einer 
Hyperfunktion durch die Transplantation könnte man sich allen- 


21) Verhandlungen der 15. Versammlung der deutschen Gesellsch. f. Gynäk., 
Halle 1913, 


Ö. v. Frangue, Innere Sekretion des Eierstocks. 209 





falls noch vorstellen, obwohl die oben erwähnten Verrsuche Pan- 
kow’s auch dnbepan sprechen. Aber wie eine Zellart, die ein 
abnormes Sekret absondert, durch die Überpflanzung so umgestimmt 
werden sollte, daß sie unmiehr normale Sekrete liefert, das können 
wir uns nicht vorstellen und das würde auch allen unseren Rr- 
fahrungen in der Pathologie widersprechen. So sprechen also die 
Transplantationsversuche gegen die Schuld der Ovarien überhaupt 
und auch der Pankow’sche Versuch mit der Autoplastik osteo- 
malakischer Ovarien ändert daran nichts, wie wir noch sehen werden. 

Der neueste Bearbeiter, Nägeliz), stellte allerdings erst vor 
wenigen Wochen die Osteomalakie wieder als eine Eiyperfünktion 
der re hin. Durch die in abnormer Masse gelieferten Eierstocks- 
hormone soll das Knochenmark zu einer krankhaften Wucherung 
gereizt werden, welche die Schmerzhaftigkeit. die abnorme Resorp- 
tion der Knochensalze und die Erweichung herbeiführt. Freilich 
nimmt er auch eine Mitwirkung anderer innerer Drüsen an, nament- 
lich der Nebenniere. Da es gelungen ist, in einem gewissen, aller- 
dings viel geringeren Prozentsatz, nämlich 24%, durch Injektion 
des Nebennierenextraktes die Osteomalakie auch ohne Kastration 
zu heilen, so kann man auch eine Hypofunktion der Nebenniere 
beschuldigen, was in der Tat auch geschehen ist. Wenn wir uns 
erinnern, daß die Ovarialextrakte eine gefäßerweiternde, das Adre- 
nalın eine gefäßverengernde Wirkung hat, so können wir ihren 
entgegengesetzten Einfluß auf die ostesmalakischen Knochen wohl 
verstehen und eine Störung in der normalen Wechselwirkung zwischen 
beiden, vielleicht auch noch anderer endokriner Drüsen könnte sehr 
wohl Ursache der Östeomalakie sen. Daß dabei das Ovarium 
primär erkrankt, daß überhaupt eine Hyper- oder Dysfunktion 
desselben vorliegt, scheint mir aber noch keineswegs erwiesen, ja, 
wie schon angedeutet, mit vielen in der Gynäkologie festgelegten 
Tatsachen in Widerspruch zu stehen, welche der Internist Nägeli 
bei Aufstellung seiner Hypothese nicht berücksichtigt hat. ° Die 
Heilung der Osteomalakie durch die Kastration, die einzig wirklich 
feststehende Tatsache, auf welche Nägeli und andere Verfechter 
einer primären Erkrankung der Ovarien bauen können, ist auch 
bei vollständig normaler Funktion der Eierstöcke denkbar. Ihre 
der normalen Knochenbildung und Erhaltung abträgige Wirkung 
könnte sich in durchaus normalen Grenzen bewegen und trotzdem 
ihre Ausschaltung zur Heilung der Osteomalakie führen, indem in- 
folge Wegfalls der Ovarialsekrete die antagonistisch wirkenden, 
vielleicht primär in ihrer Menge und Wirkung herabgesetzten Hor- 
mone-anderer Organe, z. B. der Nebenniere, die Oberherrschaft ge- 
Re und wieder zu genügender, zur Heilung führender Wirk- 


22) Münchener med. Wochenschrift 1917, 47; 1918, Nr. 21, 22, 23. 
39. Band 15 


310 ©. v. Franque, Innere Sekretion des Eierstocks. 


samkeit kommen könnten. Ja die Heilwirkung der Kastration wäre 
sogar denkbar, wenn Knochen und Knochenmark selbst primär er- 
krankt wären, — womit nebenbei bemerkt vieles von den sehr be- 
achtenswerten Mitteilungen Nägeli’s wohl vereinbar wäre — oder 
infolge einer allgemeinen Stoffwechselstörung nicht genügend mit, 
den Knochenmineralien versehen werden könnten. Und, gerade 
darauf deuten viele von Nägeli und anderen ebenfalls vernach- 
lässigte Tatsachen ım Krankheitsbilde der Osteomalakie hin. So 
vor allem das vorwiegende Vorkommen in der Schwangerschaft. 
Nichts spricht dafür, daß bei den Schwangeren, die an Osteomalakie 
erkranken, die Sekretion der Eierstöcke während der Schwanger- 
schaft sich anders verhält, als bei der ungeheuren Mehrzahl ge- 
sunder Schwangerer und in der höchsten Blütezeit der Osteoma- 
lakie, gegen Ende der Schwangerschaft, sind :die Ovarien meist zu 
ganz unscheinbaren, fast atrophischen Gebilden herabgesunken, wie 
ich aus zahlreichen eigenen Beobachtungen bei Kaiserschnitten weiß 
und zwar bei Osteomalakischen noch mehr als sonst. Hierher ge- 
hört ferner die eigentümliche regionale Verteilung der Osteomalakie, 
die in manchen Gegenden, wie in den Seitentälern des Rheins, im 
Olonatal bei Mailand, in manchen Gegenden Japans endemisch, in 
anderen Gegenden, wıe z. B. der ganzen norddeutschen Tiefebene 
so gut wie unbekannt ist. Auch die Ernährung hat einen gewissen 
Einfluß; so war die Osteomalakie z. B. in Gummersbach in früheren 
Zeiten häufig, jetzt ist sie mit der sozialen Hebung und besseren 
Ernährung der ganzen Bevölkerung so gut wie verschwunden. Ich 
habe zurzeit ‘eine Frau in Beobachtung, welche in ihrer letzten 
Schwangerschaft an Osteomalakie erkrankte, nach der Entbindung 
genaß und jetzt ohne erneute Schwangerschaft nur infolge ihrer 
stark herabgesetzten Ernährung an einem Rückfall litt. Die bei 
ihr entfernten Ovarien waren klein, enthielten kein Corpus luteum 
und nur Andeutungen von Thekaluteinzellen. Auch bei Tieren 
kommt die Osteomalakie endemisch vor und man konnte sie bei 
Rindvieh experimentell erzeugen durch Fütterung mit Heu, das 
ungewöhnlich arm an phosphorsauren Salzen war; wie auf der Insel 
Schütt in der Donau?). Nach künstlichem Zusatz von phosphor- 
saurem Kalk trat Heilung ein, wie auch viele Fälle bei Frauen 
allein durch die Darreichung von Phosphorsäure geheilt werden. 
Alle diese Tatsachen sind mit der Annahme einer primären Er- 
krankung des Eierstocks kaum vereinbar, wohl aber mit der An- 
nahme einer vonG elpke°*) schon 1891 in Betracht gezogenen mangel- 
haften Fixierung der Knochensalze und geringeren Widerstands- 
fähigkeit der Knochen, so daß diese der Wirkung der normalen 


. Velitz, Ungarisches Archiv f. Medizin, 1895. 
relpke, Die Osteomalakie im Ergolztale, Basel 1891, 


AG 
Be 

iu 
4 










Ö. v. Franque, Innere Sekretion des Rierstocks. DIE 


Eierstockssekrete nicht standhalten, besonders bei besonderer Anspan- 
nung des Kalkstoffwechsels wie in der Schwangerschaft, nach Weg- 
fall der Eierstockssekrete aber in der Norm verharren oder zu ihr 
zurückkehren könnten. 

Auf ebenso schwachen Füßen, wie die Annahme, daß die 
Östeomalakie einer primären Hyperfunktion der Ovarien ihre Ent- 
stehung verdanke, scheint mir die von namhaften Internisten, 
wie von Noorden und Nägeli, vertretene Hypothese zu stehen, 
daß die Chlorose auf einer Hyperfunktion der Ovarien beruhe. Doch 
soll hierauf nicht mehr eingegangen werden. 

Als Quelle der ınneren Sekretion des Eierstocks kommen im 
wesentlichen in Betracht der Follikelapparat und seine Abkömm- 
linge, das Corpus luteum und die aus der Theka interna geplatzter 
und nicht geplatzter Follikel hervorgehenden Thekaluteinzellen, deren 
Gesamtheit man neuerdings als interstitielle Eierstocksdrüse oder 
Pubertätsdrüse (Steinach) bezeichnet hat. Diese beiden letzteren 
Bestandteile scheinen sich in der Tierreihe und in den verschiedenen 
Lebensabschnitten einer Gattung, besonders auch des Menschen zeit- 
lich und funktionell weitgehend abzulösen und zu vertreten. Ihre 
Wirkung ist wohl identisch. und es ist nicht wahrscheinlich, daß 
sich ihre Produkte voneinander trennen lassen. Wohl aber ist es 
denkbar, daß das wachsende, das Ei noch enthaltende Graaf’sche 
Follikel andere Stoffe absondert, als das ausgebildete Corpus luteum, 
oder das junge, wachsende Corpus luteum andere, als das in Rück- 
bildung begriffene. In der Tat wollen Seitz und seine Mitarbeiter 
aus dem ersteren eine die Blutung verstärkende, aus letzterem eine 
die Blutung hemmende Substanz dargestellt haben. Andere 
wieder nehmen an, daß der Graaf’sche Follikel die Substanzen 
hervorbringt, welche die Periode hervorrufen, das Corpus luteum 
solche, welche sie aufhören machen. Als klinischer Beweis hierfür 
wurde der Umstand herangezogen, daß man mitunter bei prota- 
hierten Blutungen aus dem Uterus, die man auf den Eierstock zu- 
rückführen zu müssen glaubte und deshalb mit Entfernung oder 
Resektion desselben behandelte, die Ovarien im Zustande der klein- 
eystischen Degeneration fand, d. h. durchsetzt von vergrößerten 
Follikeln, welche nicht zu rechter Zeit geplatzt waren, so dass die 
Bildung von Corporibus luteis unterblieben war. Da man jedoch 
den gleichen Zustand der Ovarien sehr häufig auch ohne Blutungen, 
ja sogar bei vollständiger Amenorrhoe, z. B. der bekannten Kriegs- 
amenorrhoe, gefunden hat, so können diese Befunde nicht als be- 
weisend anerkannt werden und muß die Klärung dieser Fragen 
weiterer Forschung überlassen bleiben. 


15* 


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KURT IE 


912 E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 


Über weilsrandige Blätter und andere Formen 
der Buntblättrigkeit. 
Von Ernst Küster in Bonn. 
Mit 27 Abbildungen im Text. 


Die große Schar von Gewächsen, die der Gartenliebhaber ihres 
„bunten“ Laubes wegen schätzt und als panaschiert zu bezeichnen 
pflegt, stellt eine in jeder Beziehung höchst ungleichartige Genossen- 
schaft von Pflanzen dar: die panaschierten Pflanzen unterscheiden 
sich voneinander nicht nur hinsichtlich der Farbentöne, die an ihrem 
Laub mosaikartig nebeneinander gestellt erscheinen, nicht nur durch 
die Verteilung der ihnen eigenen Farben auf die Sprosse und 


Blätter, sondern auch — und diese Punkte beschäftigen den an 
dem Panaschierungsphänomen wissenschaftlich Interessierten in erster . 
Linie — hinsichtlich der Entwicklungsgeschichte und der Atiologie 


der Buntblättriekeit. 

Eine Einteilung der verschiedenen Formen der Panaschierung 
habe ich 1916 zu geben versucht ?). 

In zwei Hauptgruppen habe ich diejenigen Fälle vereinigt, welche 
entweder Grün und Blaß in scharf abgegrenzten Feldern nebeneinander 
zeigen — oder welche zwischen normal ergrünten und blassen An- 
teilen nur unscharfe Grenzen erkennen lassen. 

Wir werden uns in den nachfolgenden Erörterungen fast aus- 
schließlich mit Panaschierungen der ersten Gruppe beschäftigen. 

Bei ihnen werden nach der Verteilung der grünen und blassen 
Spreitenanteile folgende Untergruppen zu unterscheiden sein: 

1. Marginate Panaschierung, d. h. diejenige Form der 
Buntblättrigkeit, bei welcher normal grüne Blätter weiße oder gelbe 
Ränder aufweisen, 

2. sektoriale Panaschierung, bei der die weiße und grüne 
Farbe sektorenweise über Blätter oder Sprosse sich verteilt zeigen, und 

3. marmorierte und pulverulente Panaschierung: eine 
Blattspreite erscheint als mehr oder minder unregelmäßig zusammen- 
gesetztes Mosaik grüner und weißer Areale. Sind diese verhältnis- 
mäßig groß, so liegt marmorierte Panaschierung vor; sind sie klein, 
und geben sie der Spreite das Aussehen einer in Grün ausgeführten 
„Spritzarbeit“, so liegt pulverulente Panaschierung vor. 

Die nachfolgenden Betrachtungen gelten in erster Linie den 
marginaten Panaschierungen: „Albomarginate* Kräuter und Holz- 
pflanzen, d.h. solche, deren Blätter einen mehr oder minder breiten, 
regelmäßig oder unregelmäßig geformten, weißen oder gelben Rand 
aufweisen („varietates foliis argenteo- vel aureo-marginatis“), werden 


I) Küster, E. Pathologische Pflanzenanatomie. 2. Aufl., 1916, Pr, OL, 








E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 213 


in unseren Gärten gern kultiviert. Nur selten sieht man in der 
freien Natur spontan ein albomarginates Exemplar auftreten. Wir 
werden uns daher hauptsächlich mit den aus Ziergärten und Baum- 
schulen bekannten Panaschierungen zu beschäftigen haben. 


I. Vier Typen der marginaten Panaschierung. 


Auch dann, wenn wir gemäß unserer Aufgabe diejenigen weiß- 
randigen Spielarten, die wegen der unscharfen Grenze ihres blassen 
Spreitenrandes zu der ersten Hauptgruppe der Panaschierungserschei- 
nungen gehören, unberücksichtigt lassen, bleiben innerhalb der Gruppe 
der albomarginaten Gewächse noch viele Mannigfaltigkeiten zu unter- 
scheiden: die Unterschiede sind einerseits morphologischer Art und 
beziehen sich auf die Verteilung grüner und blasser Areale über die 
Blattspreite — andererseits kommen sie in der anatomischen Struktur 
der Blattquerschnittsbilder zum Ausdruck. 

Folgende Typen sind zu unterscheiden: 


1. Typus des Pelargontum zonale. 


Wir beginnen mit demjenigen Gewächs, dessen albomarginaten 
Formen durch die Untersuchungen Baur’s besonderes Interesse ge- 
sichert worden ist?). 

Die weißrandigen Spielarten des Pelargonium zonale sind unter- 
einander sehr verschieden, und selbst an den Sprossen eines Indi- 
viduums und an den Blättern des nämlichen Sprosses lassen sich 
allerhand Unterschiede feststellen. Im großen und ganzen wieder- 
holt sich immer folgendes Bild: ein weißer Rand wechselnder Breite 
umrahmt die ganze Spreite. Die weiße Zone dringt stellenweise in 
‚Form schmaler Keile, die der Richtung der Hauptnerven des Blattes 
folgen, mehr oder minder tief in sein Inneres ein. Auch dann, wenn 
solche Keile fehlen, ist die Grenze zwischen den grünen und weißen 
Anteilen des Blattes eine sehr unregelmäßig gekerbte oder gebuchtete 
Linie, deren Verlauf keine -Gesetzmäßigkeit erkennen läßt, niemals 
aber äquidistant zum Blattrand streicht. 

An der Grenze der grünen und weißen Anteile bemerkt man 
sehr häufig Areale von mattgrüner Färbung: die mikroskopische 
Untersuchung ergibt, daß die normal grünen Anteile des Mesophylis 
an der Peripherie des grünen Spreitenteils in treppenförmig gebil- 
detem, oft recht kompliziert sich abstufendem Profil ihr Ende nehmen 
(Fig. 1): je mehr farblose Mesophylischichten die grünen Anteile 
 überlagern, um so matter erscheint das betreffende Areal. Zu dieser 
am Rand der grünen Spreitenteile wahrnehmbaren Abstufung kommt 
als weitere Komplikation hinzu, daß auch die mattgrünen Partien 








2) Baur, E. Das Wesen und die Erblichkeitsverhältnisse der „varietates 
albomarginatae hort.“ von Pelargonium zonale (Zeitschr. f. induktive Abstammungs- 
und Vererbungslehre 1909, Bd. 1, p. 330). 


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914 E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 


als schmale Sektoren bis ins Innere der Spreite, bis zum Anhef- 
tungspunkt des Stieles vordringen können. und daß ferner inmitten 
dunkelgrüner Flächen inselförmige Einsprengsel mattgrüner Färbung 
erscheinen — und umgekehrt relativ dunkel gefärbte grüne Inseln 
auf hellerem mattgrünem Feld sich zeigen können. Solche Varianten 
in der Verteilung der Farben und Farbtöne finden sich zwar nicht 
an jedem Blatte, aber doch fast an jedem Sprosse kräftig grünender 
Individuen. : 

Von weiteren Varianten wird später noch zu sprechen sein. 

Baur hat in seiner zitierten Abhandlung über die albomarginaten 
Spielarten des Pelargonium über die Anatomie der panaschierten 
Blätter eingehend berichtet und vor allem festgestellt, „daß nicht 
bloß der Blattrand aus Zellen mit farblosen Uhromatophoren aufge- 
baut ist, sondern die ganze Pflanze, Blatt. Blattstiel und 
Stamm stecken quasi in einer farblosen Haut... Die peri- 
pheren zwei bis drei Zellagen, die sonst, bei rein erünblätterigen 











Fig. 1. Verschiedenartige Abstufungen des grünen Gewebes am Blatt- 
rand albomarginater Blätter von Pelargonium zonal.e — Vgl. Anm. 4. 
auf S. 003. 


Pflanzen (natürlich mit Ausnahme der Epidermiszellen) grüne, 
chlorophyllhaltige Chromatophoren führen, sind bei diesen Weißrand- 
pflanzen überall, auch in den scheinbar grünen Teilen farblos“?). 
Diese Verhältnisse sind auch in den schematischen Darstellungen 
von Fig. 1 zum Ausdruck gebracht ‘®). 

Schon in sehr jugendlichen Blättern läßt sich die chlorophyli- 
arme oder chlorophylifreie „Haut“, in der der normal-grüne Kern 
der Pflanze steckt, leicht erkennen. Baur nimmt an, daß ein solcher 
Unterschied auch am Vegetationspunkt selbst schon besteht, wenn 
er auch der unmittelbaren Beobachtung nicht zugänglich ist; der 
Vegetationspunkt bestehe also aus zweierlei Gewebesorten: der äußere 
Mantel liefert albikate, der innere Anteil liefert lauter normal- 
grüne Mesophylizellen. 

Wie Baur bereits beschrieben und abgebildet hat?), treten hie 
und da Anomalien auf, die dem bisher Mitgeteilten sich ‚schlecht ein- 
zuordnen scheinen: an weißrandigen Exemplaren findet man gelegent- 
lieh Blätter, welche besonders dunkelgrün gefärbte Teile aufweisen. 


hi Baur. 1909, a. a. O., p. 334. 

) In diesen und ähnlichen Darstellungen im folgenden ist nur has farblose 
und das grüne Mesophyll, nicht die Epidermis zur Anschauung gebracht. 

5) Baur. 1909, a. a. O., p. 345 und Fig. 18. 





E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 215 


Diese reichen meist bis an den Rand der Spreite, so daß dieser 
stellenweiße der weiße Saum abgeht. Fig. 2 zeigt zwei panaschierte 





Fig. 2b. Fig. 2c. 
Fig. 2. Marginate Blätter mit tiefgrünen, nicht gerandeten Anteilen 
(Pelargonium peltatum). a: Oberseite eines Blattes: der tiefgrüne Anteil umfaßt 
1'/, Blattzipfel. Die gestrichelte Linie (rechts unten) zeigt den Verlauf der Grenze 
Grün-Weiß auf der Blattunterseite. b: Profil der Grenze Grün-Weiß an der mit * 
bezeichneten Stelle von a (keine farblose subepidermale Mesophylischicht!). e: Ahn- 
liches Blatt mit größerem tiefgrünem Areal. Beide Blätter stark asymmetrisch ; 
die grüne Hälfte ist stets die geförderte. a u. e °/, d. nat. Gr. 


Blätter von P. peltatum, deren Grün-Weiß-Verteilung otenbar dem 
von Baur abgebildeten Fall im wesentlichen entspricht. 

Die nächste Figur (Fig. 3) zeigt ein mit tiefgrünem bis zum 
Blattrand durchgehenden Sektor ausgestattetes Blatt von seiner Unter- 





Fig.3. Marginates Blatt mit tiefgrünem Sektor; die Unterseite des Blattes 
ist dargestellt. Die Grenze des weißen Randes ist durch punktierte Linien erkenn- 
bar gemacht (Pelargonium zonale), 





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946 E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 


seite: die Form des Sektors ist auf beiden Seiten der Spreite ver- 
schieden; auf der Unterseite hebt sie sich mit stärkerem Farben- 
kontrast von der Nachbarschaft ab als auf der Oberseite. 
Schließlich stellt Fig. 4 einige ausgewählte Fälle tiefgrüner 
Flecken auf den Spreiten von „Mme Salleray“* zusammen: Lage, 
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Fig. 4b. 


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Fig. &c. Fig. 4c. 
Fig. 4. Tiefgrüne Randflecken an albomarginaten Blättern (Pelar- 
gaonium zonale). Dazu schematische Profilbilder. Erklärung im Text. 
a und.b'2/,..d; nat. Gr!, e: nat. Gr: 


(Größe und Form der tiefgrünen Areale wechseln, desgleichen ihre 
anatomische Struktur, von der später noch zu sprechen sein. wird. 

Sind die tiefgrünen Flecke ansehnlich groß, oder liegen sie am 
Blattrand oder gar an diesem inmitten farblosen Gewebes, so sind 
sie leicht aufzufinden. Seltener als solche vermochte ich diejenigen 
tiefgrünen Anteile aufzuspüren, die als kleine Einsprengsel inmitten 
der mattgrünen inneren Teile der Spreite liegen. 

Überall da, wo sich dem Auge tiefgrüne Blattfärbung . zeigt. 
reicht die normal ergrünte Mesophylimasse bis zur Epidermis, wird 
also von dieser nicht durch die vorhin erwähnte farblose Mesophyll- 






E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen ‘der Buntblättrigkeit. 247 


schicht getrennt®). Nicht immer aber reicht das tiefgrüne Gewebe 
auf beiden Seiten bis zur Epidermis. Bei Fig. ta ist ein Fall dar- 
gestellt, in welchem — wie das (uerschnittschema klar macht — 
am Rand- des Blattes allerdings sämtliche Schichten des Mesophylis 
normal grün sind; an der Grenze von Grün und Weiß macht sich 
eine Profilierung bemerkbar, wie sie auch an der Grenze des üblichen 
mattgrünen Binnenfeldes der Pelargonienblätter häufig ist. Fig. 4b 
zeigt ein tiefgrünes Randfeld, das nur blattoberseits die denkbar 
dunkelste Schattierung der erünen Laubfarbe erreicht; denn blatt- 
unterseits liegen — vom äußersten Rande abgesehen — zwei Schichten 
farblosen Mesophylis. Bei dem dritten Fall schließlich (Fig. 4) be- 
schränkt sich die grüne Farbe auf die beiden unter der oberen Epi- 
dermis liegenden Zellenschichten; der schematische Querschnitt zeigt 
ferner, daß nicht weit von der grünen randständigen Zone noch ein 
allseits von blassem Gewebe umgebenes grünes Einsprengsel liegt, 
es ist eine Gruppe von zwei grünen, der subepidermalen Mesophyll- 
schicht angehörigen Zellen und ist seiner Kleinheit wegen auf dem 
Blatte (Fig. 4c) nicht eingetragen worden. — 

Mit der. Feststellung. daß bei den weißrandigen Pelargonien ein 
normal grüner Gewebekern von einer blassen Gewebehülle überzogen 
ist, bringt Baur die von ihm a a. 0. erwähnten Anomalien durch 
die Vermutung in Einklang, daß bei diesen gleichsam „der grüne 
innere Komponent der Chimäre durch ein Loch in der weißen äußeren 
Haut hinausschaut“. Wir werden uns mit dieser Auffassung später 
noch zu beschäftigen und sie an der Hand weiterer Beobachtungen an 
panaschierten Pelargonien und anderen Gewächsen zu prüfen haben. 

Ähnliche Verhältnisse wie bei den Pelargonien liegen bei zahl- 
reichen andern in albomarginater Form. bekannten Arten vor. die 
wir hinsichtlich des Charakters ihrer Randpanaschierung mit jenen 
gleichstellen dürfen. 

Nur eine von ihnen soll noch eingehender beschrieben werden. 

Neben den durch ihre Flecekenpanaschierung”) interessanten 
Formen enthält die Gattung Abutilon auch marginat-panaschierte 
Spielarten: ein elfenbeinweißer Rand umzieht in wechselnder Breite 
ein mattgrünes Binnenfeld (Fig.5a). Mustert man eine größere Zahl 
von Blättern, so findet man wohl hie und da solche, die an dem 
weißen Rand noch ein grünes Blattzähnchen oder einen größeren 
grünen Anteil besitzen. Oft stellt sich erst bei genauerer Unter- 
suchung heraus, daß die grünen Anteile verschiedene Nuancen auf- 
weisen. In Fig. 5 ist mit beabsichtigter Übertreibung des Unter- 
schiedes auf die ungleiche Farbe der tiefgrünen Randflecken und 

6) Spreitenareale, deren grünes Mesophyll bis zur Epidermis reicht, will ich 
im folgenden „tiefgrün“ nennen. 

7) Lindemuth, Studien über die sogenannte Panaschüre und einige beglei- 

tende Erscheinungen (Landwirtsch. Jahrb. 1907, Bd. 36, p. 807). 


18 E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättriekeit. 


der etwas matteren Binnenfelder hingewiesen. Die grünen Rand- 
partien machen ein auffallend starkes Flächenwachstum durch; oft 
bekommen die Laubblätter dadurch groteske asymmetrische Formen. 
Das mattgrüne Binnenfeld kann sich auf eine der beiden Blattspreiten 
(Fig. 5b) oder auf spärliche Streifen, die am Grund der Nerven 
liegen, beschränkt zeigen (ec). 





Fig. 5a. Kissdie 


Fig. 5. Albomarginate Blätter von Abutilon mit mattgrünen Binnenfeldern und 
stark wachsenden tiefgrünen Randflecken (?/, d. nat. Gr.). Darunter 
schematische Darstellung des tiefgrünen Blattrandes und des mattgrünen Binnenfeldes. 


In den mattgrünen Binnenfeldern liegen an der ober- und unter- 
seitigen Epidermis je eine Schicht farblosen Mesophylis. An den 
tiefgrünen Arealen fehlt eine solche Schicht. — 

Zum Pelargonium-Typus rechne ich wegen der die Epidermis 
begleitenden farblosen Lage Mesophylizellen noch die marginaten 
’'anaschuren von Brassica oleracea, Acer negundo, Buxus marginatus, 
Fuchsia globosa, Farfugium „argenteum marginatum“, Cornus alba 
und verschiedenen Solanaceen wie Nzcotiana gigantea, Solanum dul- 
camara u. a. Auch bei den Monokotyledonen gibt es marginate 
’anaschierungen. bei welchen die: grünen Blattanteile von farblosem 
Mesophyll über- und unterlagert erscheinen (Dracaena Santeri, Ol- 
via Sp.). 

Selbstverständlich soll mit vorliegenden Blättern nicht eine Klassi- 
fikation der albomarginaten buntblättrigen Pflanzen gegeben werden, 








E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 219 


die alle bisher gezüchteten Formen der Randpanaschüre berück- 
sichtigt und zwischen mehreren scharf umgrenzbaren Typen unter- 
scheidet. Von scharfen Grenzen der hier aufgestellten Gruppen Kann 
nicht die Rede sein; vielmehr leiten sich die einen von den andern 
ab, und sind die besonders charakteristisch entwickelten Formen 
durch Übereänge aller Art miteinander verbunden. Die beiden im 
folgenden genannten Typen gleichen in mehreren Merkmalen dem 
Pelargonientypus, unterscheiden sich aber habituell hinreichend von 
diesem, um als eigene Typen gelten zu dürfen. 








Fig. 6b. Fig. 6.c. 


Fig. 6. Grünsprenkel von dem farblosen Rand albomarginater 

Blätter. a) schematischer Querschnitt von Saxifraga sarmentosa, b und e Quer- 

schnitt durch die Blätter von Solanum Balbisii. Die chlorophylihaltigen Zellen 
sind durch Punktierung kenntlich gemacht. 


2. Typus der Saxifraga sarmentosa. 

Die genannte Spezies wird in einer panaschierten, ziemlich lang- 
sam wachsenden Spielart gezogen, deren Blätter einen ansehnlich 
breiten blassen Rand und ein mattgrünes Binnenfeld unterscheiden 
lassen (f. tröcolor hort.). Letzteres zeigt auf Querschnitten an. der 
oberen und unteren Epidermis eine oder mehrere Schichten farblosen 
Mesophylis. Besonders matt gefärbte Inseln entstehen im grünen 
Binnenfeld dann, wenn zwei farblose Palissadenschichten übereinander 
liegen. d 

Was den albomarginaten Blättern der 8. sarmentosa ihren be- 
sonderen Charakter gibt, ist die Grünsprenkelung des blassen 
Randes: schon bei Betrachtung mit unbewatfnetem Ange läßt sich 
erkennen, daß in’dem Rande hunderte feinster Grünsprenkel liegen. 
Bei Untersuchung mikroskopischer Querschnitte stellt sich heraus, dab 


990 E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 


die grünen Inseln der ersten, im übrigen farblosen Palissadenschicht. 
häufiger der zweiten oder der zweiten und dritten oder noch tiefer 
liegenden Gewebelagen angehören (Fig. 6a). Je tiefer sie liegen, um 
so heller erscheinen sie natürlich bei makroskopischer Betrachtung 
des Blattes. Irgendwelche Gesetzmäßiekeit in ihrer Verteilung habe 
ich nicht bemerken können. 

Die kleinsten Grünsprenkel, die ich finden konnte, waren Gruppen 
von vier Zellen. Vermutlich entstehen gelegentlich auch Sprenkel 
von noch geringerem Umfang. — 

Zu demselben Typus rechne ich die Panaschierung. die ich an 
Solanum Balbisii 1915 und 1916 im botanischen Garten zu Bonn 
kultivieren konnte, nachdem sie im Sommer 1915 aus einem normal 
grünen Individuum spontan entstanden war. 

Die Blätter hatten einen gelblich-weißen Rand von wechselnder 
Breite, der in allen seinen Teilen grüne pulverulente Sprenkelung 
aufwies. Dem unbewaffneten Auge erschienen die Grünsprenkel zum 
Teil als polygonal umrissene Areale, zum größeren Teil als punkt- 
förmige kleinste Spritzer. Das mattgrüne Binnenfeld, mit dem die 
Spreitenhälften oft sehr ungleich bedacht sind (Fig. 7), entspricht hin- 
sichtlich des grünen und des subepidermalen farblosen Mesophylis 
durchaus den für Pelargonium geschilderten Verhältnissen; Fig. Te 
zeigt den Querschnitt durch ein Blatt, das auf der Oberseite in der 
rechten Hälfte zwei farblose Schichten. in der linken nur eine solche 
aufweist. 

Fig. 6 erklärt die Struktur der auf dem farblosen Rand der 
Blätter sichtbaren Grünsprenkel. Bei b sehen wir einen Grünsprenkel, 
der in der zweiten und dritten Mesophylischicht liegt und aus vielen 
Zellen besteht: bei e sind mehrere kleinste, aus nur je einer Zelle 
bestehende Sprenkel dargestellt, die in der obersten oder der zweiten 
Zellenschicht liegen. In noch anderen Fällen gehören die Sprenkel 
allein der dritten Lage an. 

Wir haben oben festgestellt, daß auch an den blassen Rändern 
der Pelargonienblätter grüne Flecke und Sprenkel auftreten; kKenn- 
zeichnend für den hier behandelten Typus sind die Reichlichkeit, mit 
der die Sprenkel auftreten, und ihr dadurch bedingter Einfluß auf die 
(Gesamterscheinung des Blattes. 


3. Typus der Spiraea Burmalda. 


Bei den Rosaceen ist die „Neigung“ zur Produktion panaschierter 
Formen beträchtlich. 

Großer Beliebtheit erfreut sich der in Ziergärten viel gezogene 
niedrige Dumalda-Spierstrauch (Spiraea Bumalda hort. = Sp. pumtla 
Zabel). 

Die Panaschierung der Spiraeen ist insofern eine sehr unregel- 
mäßige, als normal grüne Sprosse neben bunten zu entstehen pflegen, 





£ 


I 


I. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 221 


und diese ihrerseits meist neben normal grünen Blättern panaschierte 
entwickeln, auf deren Spreiten sich Grün und Weiß in sehr ver- 
schiedenartiger Weise kombinieren können. Gar nicht selten ist der 
Fall. daß eine kleine Gruppe panaschierter Blätter zwischen normal 





Fig. 7 c. 
Fig. 7. Albomarginate Blätter mit gesprenkeltem Spreitenrand (sSola- 
num Balbisö). a und b zwei Blätter in °/, d. nat. Gr., ce schematischer Quer- 
schnitt durch ein ähnliches Blatt; die Grünsprenkel sind nicht eingetragen. 


grünen stehen, ja daß nur ein einziges panaschiertes Blatt an einem 
Sprosse gefunden wird: der nämliche Vegetationspunkt kann pana- 
schierte Blätter, nach diesen normal grüne, später wieder panaschierte, 
schließlich wieder normal grüne liefern. 

Die Panaschierung ist eine deutlich sektoriale. Werden mehrere 
panaschierte Blätter an demselben Sproß erzeugt, so bedeutet ent- 
weder das Auftreten der Buntheit einen an demselben Vegetations- 
punkt mehrfach sich wiederholenden Prozeß anomaler Gewebeproduktion 


999 E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 


(diesen Fall deuteten wir bereits vorhin an), oder die panaschierten 
Blätter stehen in Orthostichen übereinander: ein Sektor des Sprosses 
ist also albikat, zu dessen Erklärung die Annahme einmaliger Ent- 
stehung albikaten Gewebes am Vegetationspunkt genügt. Seine Lage 
und seine Breite wechseln, so daß entweder nur Blätter entstehen. 
die zum Teil noch normal grün sind, oder auch solche, die nirgends 
mehr normales Grün aufweisen. 

Auch dann wenn die Buntfarbiekeit nur an einzelnen Blättern 
erscheint oder mehrere Blätter bunt werden, ohne in ihrer Zeichnung 
Beziehungen zu einander zu verraten, die zur Annahme eines albi- 
katen Sproßsektors nötigten, muß die Panaschierung eine sektoriale 
genannt werden, da alsdann die einzelnen Spreiten normal grüne 
Sektoren und albikate aufzuweisen pflegen (Fig. 8). 





/ 


Fie. Sa. Fig. Sb. 
Fig. Sd. Fig Se. 


Fig. 8. Sektoriale Panaschierung von Spiraea Bumalda. a, b und ce ver- 
schiedenartige Verteilung der tiefgrünen und mattgrünen-marginaten Blattareale ; 
bei d schematischer Querschnitt durch den mattgrünen Sektor des Blattes c. 

a, b und ce ?/, d. nat. Gr. 





Die Zeichnung der panaschierten Blätter ist verschieden: neben 
rein weißen Blättern — solche sind namentlich an den obersten 
Internodien blühender Sprosse und an den der aus den Achseln bunter 
Blätter sich entwickelnden Trieben häufig — erscheinen solche, die 
Reinweiß und Normalerün unvermittelt nebeneinander zeigen — oft 
derart, daß je eine Längshälfte der Spreite weiß und grün ausfällt — 
und marginat-panaschierte Spreiten, die uns hier besonders inter- 
essieren. Bei ihnen sehen wir einen mehr oder minder breiten weißen 
tand und neben diesem eine mattgrüne Zone wechselnder Breite. 
Fig. 8 gibt hierüber Aufschluß: der weiße Rand wird nur da ge- 









- _E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 295 


funden, wo ein albikater, mattgrüner Spreitensektor vorliegt; die 
normalgrünen Sektoren haben keinen weißen Rand, sondern gehen 
bis zum Rand der Spreite durch. Fig. Sa zeigt weiterhin, daß der 
reinweiße Saum ansehnlich breit werden und die mattgrünen Anteile 
gleichsam zurückdrängen kann. Ist ein Blatt ringsum weißgerandet, 
so ist der innere mattgrüne Bezirk meist sehr schmal. | 
Die anatomische Untersuchung lehrt, daß an den mattgrünen 
Spreitenteilen unter der Epidermis mindestens eine farblose Meso- 
phylischicht liest. Sie lehrt außerdem, daß die an bunten Blättern 
auftretenden albikaten Sektoren dreierlei Art sein können: entweder 
es treten auf beiden Seiten farblose subepidermale Zellen auf, 
oder es beschränken sich diese auf die Ober- oder auf die Unter- 
seite (vol. die Schemata in Fig 9); entwickelt ein Spreitensektor 
nur blattunterseits farbloses Mesophvll, so ist er bei makroskopischer 





Fig. 9. Marginate Panaschierung bei sektorial geteilten Blättern 

von Spiraea Bumalda: a farbloses Mesophyll auf beiden Blattseiten, der mattgrüne 

Blattsektor „geht durch“, b farbloses Gewebe (vom äußersten Rand abgesehen) nur 

auf der Blattunterseite; der mattgrüne Blattsektor ist nur auf dieser erkennbar, — 
Ein nur auf der Oberseite sichtbarer Sektor in Fig. Se und d. 


Untersuchung der Oberseite‘ nur da wahrzunehmen, wo er den ihm 
entsprechenden weißen Blattrand noch als schmales Streifehen auf 
der Blattoberseite erscheinen läßt. 

Vom zuerst geschilderten Pelargonium-Typus unterscheidet sich 
der Speraea-Typus vor allem durch die Mischung panaschierter und 
gleichmäßig grüner Blätter, die wir fast an jedem Sproß konstatieren 
können, — ferner dureh die große Verbreitung der an den Blättern 
auftretenden Sektorenteilung, bei welcher tiefgrüne Anteile neben 
mattgrüne zu liegen kommen; bei den Pelareonien fehlte zwar diese 
(liederung nicht, war aber selten. 

Zu demselben Typus wie Spiraea Bumalda ist ein beliebter gelb- 
bunter Zierstrauch aus der Familie der Oleaceen zu stellen. das albo- 
marginate Ligustrum ovalifolium. 

Seine Zeichnung ist sehr mannigfaltig: außer gleichmäßig blassen 
und gleichmäßig grünen Blättern entstehen marginat-panaschierte, die 
einen blassen Rand von wechselnder Breite und Form und ein matt- 
grünes Binnenfeld aufweisen. Außerdem entstehen nicht gerade selten 
an panaschierten Zweigen Blätter, die außer blassem Rand und matt- 
grünem Binnenfeld noch tiefgrüne Areale von meist deutlicher Sektor- 
form erkennen lassen (Fig. 10). Seltener erscheinen an den Blatt- 
rändern dunkelgrüne isolierte Partien, 


ar Be ER nt LE ) 2 m a 2. 





2994  E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 


Dunkelgrüne Sektoren können auf der Ober- wie auf der Unter- 


seite der Spreiten sichtbar werden. Fig. 11 zeigt vier aufeinander- 
folgende Blattpaare eines panaschierten Zweiges von der Ober- und 
Unterseite: bei dem untersten Blattpaar ist der auftretende tiefgrüne 
Sektor auf der Oberseite noch von einem mattgrünen Sektor unter- 


brochen, auf der Unterseite ist er zusammenhängend; das zweite 
Blattpaar weist nur auf der Unterseite einen tiefgrünen Sektor auf. Ahn-. 


liches wiederholt sich bei dem dritten Blattpaar, dessen tiefgrüner 
Sektor am Rande gerade noch auf die Blattoberseite „herumreicht* — 
ebenso wie es vorhin für die Sektoren der Spiraen zu beschreiben 
war (Fig. 9b). 





Fig. 10.- Albomarginate Blätter mit dunkelgrünen Sektoren; vier auf- 
einanderfolgende Blattpaare von Ligustrum ovalifolium. *°), d. nat. Gr. Rechts 
ein verstümmeltes Blatt. 


Die Anatomie der panaschierten Ligusterblätter zeigt insofern 
Übereinstimmung mit den albomarginaten Pelargonien u. s. w., als an 
den matten Arealen das grüne Mesophyli von farblosen Schichten 
über- bezw. unterlagert wird. Auf manche beachtenswerte Einzel- 
heiten einzugehen, welche die Struktur der tiefgrünen und mattgrünen 
Blattareale auszeichnet, darf wohl unterlassen werden, da die Schilde- 
rung ihrer Mannigfaltiekeit zu weit führen würde. — 

Weiterhin rechne ieh die panaschierte Form des Hebiseus Coopert 
in die Gruppe der Spiraea-Panaschierune. 





Br 


BR FE. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 995 


4. Typus der Sambucus nigra. 


Die Panaschierung des albomarginaten Holunders (Sambueus 
nigra) ist durch einen weißen Blattrand, ein tiefgrünes Binnenfeld 
und eine zwischen beiden vermittelnde mattgrüne Stufe von wech- 
selnder Breite gekennzeichnet. Abweichungen von diesem Ausbil- 
dunestypus sind nicht selten: hie und da reicht der tiefgrüne Teil 
bis zum Blattrand, so daß der helle Saum streckenweise unterbrochen 
wird, — außerdem erscheinen am Rand oder in seiner unmittelbaren 





Fig. 11a. Fig. 11 b. 


Fig. 11. Panaschierter Zweig von Ligustrum ovalifolium: Vergleich der 

Ober- und Unterseite der Blätter. Vgl. den Text. a Oberseite, b Unter- 

seite. Bei b sind nur diejenigen Blätter voll gezeichnet, auf deren Spreiten tief- 
grüne Sektoren auftreten. ?[, d. nat. Gr. 


Nähe dunkelgrüne „Inseln“ auf hellem Grund. Andererseits können 
auch mattgrüne Felder inselartig auf dunkler gefärbtem Grund sich 
zeigen. 

Überdies treten Erscheinungen auf, die die Panaschierung des 
Holunders als sektoriale zu bezeichnen gestatten: zuweilen entstehen 
tiefgrüne oder eleichmäßig blasse Anteile größeren Umfangs, die 
mehrere Blätter oder sektorenartige Teile eines Blattes oder eines 
Foliolum in Anspruch nehmen (Fig. 12). 

Die mikroskopische Untersuchung des weißen Randes macht mit 
dem in Fig. 13a dargestellten Bilde bekannt: die farblosen subepi- 
dermalen Schichten fehlen dem grünen Binnenfeld; nur da wo matt- 
grüne Zwischenzonen sichtbar sind, erscheint das grüne Binnenfeld 
eine Strecke weit von farblosem Mesophyll .über- oder unterlagert 
(Fig. 13b). Der schematisierte Querschnitt durch eine auf tieigrünem 
Grund sich zeigende matterine Insel ist in Fig. 13 e wiedergegeben. 

39. Band. 16 


/ 


996 E. Küster. Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättriekeit. 


Von Ilex aquifolium werden verschiedenartige panaschierte Zier- 
formen kultiviert. Die albomarginate Spielart (s. u. pag. 229) dürfte 
dem Sambucus-Typus näher stehen als den andern. EEE 

Auch bei den Monokotyledonen treten Randpanaschierungen 
auf (weißrandiges Chlorophytum capense, weißrandige Agave- und 
Funkia-Arten, von welchen weiter unten noch die Rede sein wird) 
welche hinsichtlich der Verteilung des grünen und blassen Mesophylls 
der beschriebenen Buntblättrigekeit der Sambueus ähnlich sind. 


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Fie. 12a. 


II. Reinweiße Sprosse. 


An vielen panaschierten Kräutern und Holzpflanzen treten rein- 
weiße Triebe in„wechselnder Häufigkeit auf — sowohl bei marginaten 
wie sektorialen oder marmorierten Panaschierungen kann man sie 
beobachten. Handelt es sich um Holzpflanzen, so läßt sich zuweilen 
feststellen, daß vorzugsweise das „alte Holz“ imstande ist, reinweiße 
Triebe zu produzieren. | 

Der Umstand, daß reinweiße Sprosse an der Photosynthese nicht 
teilnehmen können, wird die Annahme rechtfertigen, daß jene von 
den grünen oder bunten Sprossen desselben Individuums hier nicht 
immer ausreichend ernährt werden, und wird es erklären, daß nicht immer 
den reinweißen Sprossen eine lange Lebensdauer beschieden und eine 
reiche Blattproduktion möglich ist; freilich fehlt es auch nicht an 
Fällen, in welchen kräftige panaschierte Baumindividuen ihre weißen 
Triebe jahraus jahrein üppig ihr Wachstum fortsetzen lassen (UImus 
s. u.). Weiterhin wäre zu berücksichtigen, daß nicht nur weiße 
Sprosse, sondern auch einzelne weiße Blätter oder Blatteile allerhand 
schädigenden Einflüssen gegenüber sich erheblich weniger widerstands- 
fähig erweisen als die grünen (aus Gründen ihrer „enzymatischen“ 


REITEN 7 
Pe 


E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 927 


Qualitikation?). Auch dieser Umstand macht es verständlich, daß 
‘weiße Triebe oft früher zugrunde gehen als grüne und bunte. 

Trotz diesen Schwierigkeiten gelingt es bei einer Reihe pana- 
schierter Gewächse verhältnismäßig leicht, sich reinweißes Material 
in ausreichender Menge zu beschatten. 

An einigen der von mir untersuchten albomarginaten Gewächse 
soll im folgenden die Frage eeprüft werden. inwieweit die „rein- 
weißen“ Zweige ihren Namen verdienen. 





Fig. 12 b. 


Fig.12. Sektoriale Teilung eines marginaten Blattes von Sambucus nigra. 

Bei a ein zur Hälfte blasses Blatt; das oberste Foliolum mit mattgrüner Insel auf 

tiefgrünem Grund. (vgl. Fig. 13e), der weiße Blattrand von wechselnder Breite 

und mehrfach unterbrochen: die Blattspindel sektorial geteilt (',+!/,). Bei b 

sektoriale Teilung in tiefgrüne Foliola (das oberste, die beiden untersten), zwei 

spärlich gerandete (rechts), ein- Foliolum ohne tiefgrüne Anteile (links) und ein sektorial 
geteiltes Foliolum (links). ?/,d. nat. Gr. 


l. Pelargonium xonale. 
Reinweiße Äste sind an albomarginaten Individuen nicht selten. 
Sie wachsen eine Zeitlang kräftige, produzieren zahlreiche Blätter, 
die allerdings bei den von mir untersuchten Spielarten — an 
16: 


ae AB "rn 
y id 


398 E.Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 


Größe hinter den weißrandigen merklich zurückbleiben, stellen aber 
dann ihr Wachstum ein. Die Achsen der weißen Triebe sind eben- 
falls chlorophylifrei; sie haben einen elfenbeingelben Ton und sind 
durchscheinend. 

Verdienen die weißen Teile der Pelargonien die Bezeichnung 
„reinweiß“? Sie haben insofern Anspruch auf diese, als in der Tat 
sehr oft nur weiße Blätter an ihnen entstehen, als auch ihre Seiten- 
triebe alle blaß sein und keinerlei Rückschläge zum Normalgrünen 
wahrnehmbar werden können. Es fragt sich, ob die weißen Triebe 
auch dann reinweiß bleiben würden, wenn es gelänge, das Wachs- 
tum ihrer Vegetationspunkte beliebig lange anhalten zu lassen. 

Von Bedeutung ist es, daß auch unter den üblichen Kultur- 
bedingungen gelegentlich „Rückschläge* auftreten: die „rein- 
weißen“ Zweige produzieren bunte Blätter. Die Neigung 
zur Produktion der letzteren scheint bei verschiedenen Spielarten 





Fig. 13. Panaschierte Blätter von Sambucus nigra. a weißer Rand ohne 
mattgrüne Stufe, b dasselbe mit mattgrüner Stufe, ce mattgrüne Insel auf tiefgrünem 
} Grund (vgl. Fig. 12 a). 


ungleich groß zu sein. „Madame Salleray“* ist eine Spielart, an der 
ich wiederholt bunte Blätter an Sprossen nachweisen konnte, deren 
Laub im übrigen durch viele Internodien blaß war, und deren trans- 


parente Achsen — weder äußerlich noch bei Durchmusterung der 
@Quer- und Längsschnitte — grüne Anteile erkennen ließen. Die 


bunten Blätter erschienen vereinzelt im farblosen Laub der blassen 
Triebe und zeigten bald ansehnlich breite, normalgrüne Sektoren, die 
bis zum Rand der Spreite durchgingen und das ganze Mesophyll 
gleichmäßig gefärbt zeigten, — bald kleine Sprenkelungen, die erst 
bei Lupenuntersuchung sich erkennen ließen, und die mitten im weißen 
(sewebe liegen können. Ich habe bei „Mme Salleray“ bisher nur 
blattoberseits Grünsprenkel finden können. 

Viel häufiger als an den Laubblattspreiten zeigt „Mme Salleray* 
an den Stipeln Grünsprenkel: ein Nebenblatt zeigt deren manchmal 
8—10 — freilich erst bei Lupenbetrachtung. Die Grünsprenkel liegen 
(ausschließlich?) am Rande der Nebenblätter; ihr Mesophyll ist bis 
zur Epidermis normalgrün. 


j 





Fi E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 229 


Hierzu wäre zu bemerken, daß grüne Randsprenkel auch auf 
den weißen (oder weißrandigen) Nebenblättern der typischen albo- 
marginaten Sprosse bei „Mme Salleray“ häufig sind. 

An den Blattstielen der farblosen Triebe habe ich bisher 
ebensowenig grüne Anteile gefunden wie an den farblosen Achsen. 


2. Ilex aquwifolium. 


An kräftig wachsenden albomarginaten Individuen von Ilexr aque- 
fokum treten — vorzugsweise am alten Holz — sehr kräftige, schön 
belaubte Zweige „reinweißer“ Qualität in nicht geringer Zahl auf, 
Auch sie täuschen nur bei makroskopischer Prüfung dem Auge völlig 
reinweiße Beschaffenheit vor: bei Durchmusterung zahlreicher weißer 
Blätter mit der Lupe wird man auf einigen grüne Sprenkelungen 
finden, die ganz unregelmäßig auftreten und vielen Blättern und 
vielen Trieben eänzlich fehlen. Ich habe nicht selten Blätter vor 


a b C 


Fig. 14. Grünsprenkel auf weißen Blättern von Ilex aquifolium. a Grün- 
sprenkel unter der oberen Epidermis, b liegt an der unteren Epidermis, e Grün- 
sprenkel von komplizierter Form. Schematisiert. 


mir gehabt, die 20—30 feinste Grünsprenkel erkennen lieben, deren 
Verteilung über die Spreite ebensowenig Gesetzmäßiges erkennen 
ließ wie die Form der -einzelnen Fleckchen. Randständige Grün- 
sprenkel scheinen selten zu sein, nervenständige häufiger; noch häufiger 
liegen sie zwischen Blattrand und Mittelrippe, ohne an diese oder 


jenen zu grenzen. Nur die nervenständigen sind — soweit meine 
Erfahrungen reichen — zuweilen ansehnlich groß und nehmen sogar 


die Form 1—2 cm langer Streifen an. 

Hinsichtlich ihrer Lage im Mesophyli unterscheiden sich die 
'erünen Inseln voneinander so stark wie nur denkbar: entweder sie 
liegen an der Ober- oder an der Unterseite der Blätter — oder in- 
mitten des farblosen Mesophylis (vgl. die Schemata Fig. 14). 


3. Acer negundo. 

. Daß panaschierte Ahornbäume (Acer negundo fol. var.) reinweibe 
Aste produzieren, ist eine häufige Erscheinung: sie entstehen be- 
sonders zahlreich am alten Holz und wachsen oft mit bemerkens- 
werter Gradheit nach oben — gar nicht selten mehrere Jahre hin- 
durch, gehen .aber schließlich zugrunde. 

Die blassen Anteile mancher Gartenformen des genannten Ahorns 
zeichnen sich durch besonders reines Weiß aus, — bei andern 
sind die blassen Areale kräftig gelb und oft unregelmäßig grün 


930 E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 


gefleckt. Die Kontrastreichen Gartenformen mit weißer, ja blen- 
dend weißer Albikatur eignen sich besonders gut dazu, um sie auf 
versprengte grüne Anteile zu untersuchen. Solche treten in der 
Tat auf, — allerdings selten. Gleichwohl war es mir in langjähriger 
Beobachtung eines Bonner Exemplars möglich. eine stattliche An- 
zahl von Beobachtungen über das Auftreten grüner Sprenkel auf 
sonst völlig weißen, sehr laubreichen Ästen zu sammeln. Es handelt 
sich bei solchen Sprenkelungen um sehr kleine, nur wenige mm? 
messende grüne Areale, die in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle 
am Rand des Blattes sich finden; vereinzelt fand ich Gruppen von 
grünen Sprenkeln, von welchen wenigstens eines .bis an den Rand 


) 
a b \ 





d C 

Fig. 15. Grünsprenkel und Grünsektor an weißen Blättern von Evo- 

nymus rvadicans. a und b schematische Darstellung verschieden gelegener Grün- 

sprenkel, ce randläufiger Grünsektor mit mattgrüner Stufe. 2%‘ nat. Gr., d schema- 
tische Querschnittszeichnung des bei e abgebildeten Sektors. 


reichte, noch seltener fand ich vereinzelte grüne Fleckchen, die nicht 
am Rande, doch in seiner Nähe lagen, oder gar Sprenkelgruppen. 
die mit keinem ihrer Anteile bis zum Rande reichten. 

Die Anatomie der Grünsprenkel zeigt verschiedene Bilder. Im 
allgemeinen scheint die oberste Palissadenschicht die bevorzugte zu 
sein; nur ihre Zellen sind normalgrün. Am Rand der Blätter sind 
meist alle Mesophylischichten grün. 


4. Eronymus radicans. 


Die in panaschierter Form besonders beliebte Kronymus radicans 
produziert neben bunten Zweigen auch reingrüne und reinweiße. 
Sieht man letztere in größerer Anzahl dureh, so erkennt man, dab 
die Produktion zahlreicher reinweißer Blätter nicht unbedingt das 
spätere Auftreten grüner Anteile ausschließt. Es ist nicht schwer, 
bei Kronymus, deren weiße Triebe sehr stattlich werden, 50— 60 cm 
oder noch größere Länge erreichen und entsprechend zahlreiche Blatt- 


A a Tu 





« 


E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 231 


paare entwickeln, Albinozweige ausfindig zu machen, an welchen 


‚auf viele Internodien mit reinweißen Blättern ein oder mehrere bunte 


Blätter folgen, die dann wieder von vielen reinweißen abgelöst werden. 

a) Verhältnismäßig häufig ist der Fall, daß die versprengt auf- 
tretenden bunten Blätter in der Nähe der Mittelrippe einen schmalen 
Streifen mattgrünen Gewebes aufweisen. Wie Fig. 15a zeigt, liegt 
hier zwischen 4—5 farblosen Schichten oberseits und 2 farblosen 
Lagen unterseits eine aus 3—4 Schichten gebildete grüne Zellen- 
platte. 

b) Mustert man die „reinweißen“ Zweige mit der Lupe. so ent- 
deckt man an manchen von ihnen Blätter mit unterseitiger grüner 
Sprenkelung: auf weißem Grunde heben sich grüne Spritzer kleinsten 
Formates ab. Sie sind zuweilen Gruppen nur weniger Zellen. Oft 
liegen sie am Blattrand, nicht viel seltener im Inneren der Spreite. 
Bei ihnen fand ich die unterste Schwammschicht grün, alle andern 
weiß (Fig. 15). 

ce) Selten ist der Fall, daß an weißen Zweigen ansehnlich große 
grüne Sektoren auftreten. Das in Fig. 15c und d dargestellte Blatt ent- 
nahm ich einem Albinosproß; 16 weiße Blätter -— reimweiße und einige, 
die bei Lupenprüfung sich sehr spärlich gesprenkelt erwiesen, gingen 
ihm voraus; vier reinweiße, noch nicht ausgewachsene Blätter (Sprenke- 
lung war an ihnen nicht, vielleicht noch nieht sichtbar) folgten ihm. 
Am Rand dieses Blattes war das ganze Mesophyll grün; über die 
treppenförmige Abstufung des grünen eibt Fig. 15d Aufschluß. 

Sehr üppige sind zuweilen die weißen Triebe der albomarginaten 
Cornus alba;;auch an ihnen fand ich zwischen zahlreichen reinweißen 
Blättern vereinzelte bunte mit ansehnlich großen Grünsprenkeln. 

„Reinweiße* Sprosse und Sproßsysteme zeigen sich nicht nur 
an albomarginaten Individuen, sondern auch bei Gewächsen, deren 
Buntblättrigkeit sie zu andern Gruppen der panaschierten Pflanzen 
stellt. ‘Wenigstens an einem Beispiel möchte ich in diesem Zu- 
sammenhang auch auf die zu sektorialer, marmorierter oder pulverulenter 
Panaschierung neigenden Pflanzen eingehen. 


5. Ulmus campestris. 

An den Ulmenbäumen unserer einheimischen Parkanlagen u. s. w. 
fallen nicht selten reinweiße Sprosse von mächtigem Umfange neben 
marmoriert panaschierten auf. 

Die weißen Sprosse verhalten sich untereinander recht verschie- 
den. Entweder wir sehen an ihnen während der ganzen Vegetations- 
periode ausschließlich weiße Blätter entstehen — oder es erscheinen 
nach Produktion mehr oder minder zahlreicher weißer Blätter pana-- 
schierte. Diese Panaschierung folgt manchmal den Kennzeichen der 
sektorialen, derart, daß übereinanderstehende Blätter hinsichtlich ihrer 
(rün-Weißzeichnune in allen Einzelheiten sich ähneln; in andern 


939 E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 


Fällen ist nichts von sektorialer Bildung zu erkennen und jedes Blatt 
individuell gezeichnet marmoriert oder pulverulent (Beobachtungen 
an dem panaschierten Exemplar des Botanischen Gartens in Halle a. S. 
und den Bäumen der Bonner Anlagen). 

Die reinweißen Blattfolgen verdienen ihren Namen insofern nicht, 
als auch auf ihnen — und gar nicht selten — noch Spuren normal- 
grüner Gewebebildung sich zeigen können. Allerdings sind diese 
sehr klein und entziehen sich auch einem guten Auge, so lange es 




















Fig. 16. Inversion der Panaschierung bei Hostia japonica. a weißrandige 


Forn mit grünem Binnenfeld, b grünrandige Form mit weißem Binnenfeld. Die 


mattgrünen Stufen sind durch Punktierung angedeutet. '/, d. nat. Gr. 


unbewafinet bleibt. Auf vielen weißen Blättern sucht man umsonst 
nach ihnen: selbst ansehnlich gliederreiche Blattfolgen scheinen frei 
von ihnen bleiben zu können Anderwärts trifft man auf einer 
Spreite mehrere oder viele (10-20) winzige Grünsprenkel. Ich habe 
diese kleinsten Areale grünen Gewebes stets auf der Blattunterseite 
gefunden; ob auch oberseits solche anftreten können. mag dahinge- 
stellt bleiben. Besonders oft liegen die Grünsprenkel in der Nähe 
der Spreitenmittelrippe. sch selten fand ich sie am Blattrand. Oft 
liegen sie zu kleinen Gruppen vereinigt nebeneinander. 







FE EURE EIERN 
= 


x en 
E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Bundblättrigkeit. 255 


Außerhalb der Gartenanlagen beobachtete ich Analoges nur an 

Rubus sp., deren Zweige oft marmorierte Panaschierung zeigen und 

gelegentlich auch rein weiß ausfallen. Auch bei Rubas können Grün- 
sprenkel auftreten. — 

Bei der eroßen Verbreitung der auf weißen Sprossen nachweis- 
baren Grünsprenkelungen gewinnt die Frage Interesse, ob es über- 
haupt Pflanzen gibt, die neben panaschierten ‚Sprossen rein weiße 
— völlig reimweiße und sprenkelfreie — Triebe entwickeln können. 
Vermutlich werden alle panaschierten Arten. auch an ihren blassen 
Sprossen grüne Anteile entwickeln können, wenn sie nur lange genug 
leben und überhaupt die zur Entwicklung grüner Areale erforder- 
lichen Lebensbedingungen — über die vorläufig nichts bekannt ist — 


finden. 





re 
Bu SB 


Fig. 17. Grünrandiges buntes Blatt von EZvonymus ‚japonica (tiefgrüner 
Rand, hellgrünes Binnenfeld). a der grüne Rand reicht bis zu einem Gefäßbündel: 
- b drei Schichten grüner (sewebe, die oberste mit einer Lücke. ce Stück aus der 
Mitte des Blattes; die subepider.nale Grünschicht der Blattunterseite mit Lücke. 


Ill. Inversion der Panaschierung. 

Unter den in Gärten gern gezogenen Hostien oder Funkien be- 
finden sich verschiedene buntblättrige Spielarten. 

Von Hostia japonica Voss (= Funkia ‚lancıfolia Spr.) sind 
mehrere randpanaschierte Formen bekannt: die forına albo- marginata 
Voss (= F. cucullata f. albo-marginata hort.) hat weißen Rand und 

. grünes Binnenfeld, die forma undulata Voss (= F. undulata Otto 
et Dietr.) hat erünen Rand und weißes Binnenfeld: die eine der 
beiden Panaschierungen stellt die Inversion der andern dar (Fig. 16). 
Beiderlei bunte Formen sind ferner für Cklorophytum u. a. bekannt. 

Auch bei Dikotyledonen tritt ähnliches auf. 

Unter den sehr zahlreichen bunten Formen, die von Iler aqur- 
fokum gezogen werden. gibt es solche mit weißem Rand und grünem 
Binnenfeld und andere mit inverser Panaschierune d, h. tiefgrünem 
Rand und heller gefärbtem Binnenfeld. 


' 





934 E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 


1 


Ähnliches hatte ich weiterhin bei Spielarten der Eronymus japo- 
ntca zu untersuchen Gelegenheit. Die schematischen Darstellungen in 
Fig. 17 geben ohne weiteres über die Verteilung der grünen und. 
der blassen Gewebeanteile Aufschluß und zeigen, daß hier der blasse 
(sewebekern gleichsam in einer grünen Haut steckt, die stellenweise 
ebenso unterbrochen sein kann, wie es früher bei albomarginater 
Panaschierung für die weiße Gewebehülle zu schildern war. 

Ebenso wie bei Hostia entspricht bei 
Evonymus die Form des grünen Randes 
im Flächenbild des Blattes durchaus der 
Form des weißen Randes, wie er die 
albo marginaten Blätter kennzeichnet 
(Fig. 18). 

Inversion der Randzeichnung be- 
schreibt Baur‘) für  Pelargonium 
‚onale?), 

Besonderes Interesse „ewinnt die 
inverse Panaschierune in denjenigen 
Fällen. in welchen man beide Formen 
an einem Individuum vereinigt findet und 
die eine Form nach Art einer Knospen- 
mutation aus und an der anderen entstehen 
sieht. 

Trotz eifrigem Bemühen habe ich 
Fig. 15. Grünrandiges bisher dergleichen Bildungen nur an zwei 
ae N Arten panaschierter Holzpflanzen entdecken 

RN können. 

Der erste Fall betrifit. das früher schon eingehend behandelte 
albomarginate Zigustrum -oralifoium. Ausnahmsweise eutstehen an 
den panaschierten Sträuchern Zweige mit tiefgrünem Blattrand und 
hellem grünem Spreitenmittelfeld (Fig. 19a): der Farbenunterschied 
zwischen Rand und Binnenfeld ist gering und trägt zu der schlechten 
Anffindbarkeit der invers marginaten Zweige bei. Fie. 19b zeigt 
den Querschnitt durch ein Blatt dieser Art: auch die mittleren Meso- 





S) Vgl. Baur, 1909, a. a. Ö., p. 345 und Fig. 19. 

9) Vorgetäuscht wird eine Inversion der Randpauaschierung in denjenigen 
Fällen, in welchen zwar auch ein grüner Blattrand mit hellerem oder weißem 
Binnenfeld sich kombiniert, aber das letztere durch Verbleichen zustande kommt, 
also eine zur Kategorie der Fleckenpanaschüre gehörigen Form der Buntblättrigkeit 
zustande bringt (s. o., und Pathol. Pflanzenanat, 2. Aufl., 1916, p. 22): Die Grenze 


zwischen grünem Rand und blassem Mittelfeld ist nicht scharf, sondern verwaschen. 
Auch diese Form der Panaschierung tritt bei Pelargonium zonale, bei der Spielart 
„Boule de neige* auf, — überhaupt produziert die oftgenannte Spezies verschiedene 
Formen der Fleckenpanaschierung. Weiterhin tritt — neben der im Text erläu- 
terten und in Fig. 15 dargestellten Buntblättrigkeit — eine grünrandige Form mit 


unscharfen Grenzen ihrer Farbenfelder bei Hvonymus japonica auf. 





E. Küster. Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 235 


phylischichten enthalten Chloroplasten: diese sind aber kleiner und 
ein wenig heller als die der oberen und unteren Schicht. Wie Fig. 19 
zeigt, entspricht die Verteilung der tiefgrünen und der helleren Ge- 
webeschichten dem in Fig. 17a gezeigten Schema. 

Der zweite von mir beobachtete Fall bezieht sich auf den Ahorn. 

Bei panaschierten weißrandigen Spielformen von Acer negundo 
treten neben bunten Zweigen auch solche auf, deren Blätter reinweiß 
sind, und solche, deren Spreiten durchweg grün sind. Es fehlt nicht 
an Mischungen der Charaktere in dem Sinne, daß auch an grünen 
Ästen hie und da wieder Buntheit sich bemerkbar machen kann. 


fa 





Fig. 19a. Fig. 19 b 
Fig. 19. Inversion der Panaschierung; grünrandige Blätter von Ligu- 
strum ovalifolium. a 2 Blattpaare; °*/, nat Gr.; b Querschnitt durch ein Blatt 
mit tiefgrünem Rand. 


Weiterhin fällt an den grünen Zweigen auf, daß die Spreiten oft an 
der Mittelrippe mehr oder minder große Areale von mattgrüner Be- 
schaffenheit aufweisen: im durchfallenden Lichte betrachtet weisen 
diese etwas schwächer gefärbten Anteile eine Transparenz auf, die 
einigermaßen an die der auf Papier entstandenen Fettflecke erinnert. 

Die hellen Binnenfelder zeigen dieselbe Anordnung wie alle tief- 
grünen Felder bei den weißrandigen Blättern (Fig. 2a), pflegen 
aber an Ausdehnung hinter ihnen zurückzubleiben. 

Auf mikroskopischen Präparaten erkennt man, daß an den matt- 
grünen Teilen normalgrüne und völlig chlorophylifreie Schichten am 
Aufbau des Mesophylis teilnehmen: auf eine grüne Palissadenschicht 
folet eine oder folgen zwei Lagen farbloser kugeliger Zellen, schließ- 
lich kommt wieder eine Schicht normalgrüner Zellen. An den tief- 
grünen Spreitenteilen ist das Mesophyli in seiner ganzen Tiefe normal- 
grün (Fig. 20 b). 

Das Bonner Exemplar, an dem meine Untersuchungen angestellt 
worden sind, trägt demnach ständig vier Blattsorten nebeneinander: 





936 E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 


]. einfarbige: 
a) reinweibße, 
b) reingrüne; 
II. bunte: 
a) Blätter mit weißem Rand und grünem Binnenfeld, 
b) Blätter mit tiefgrünem Rand und mattem Binnenfeld. 





Fig. 20a. 


Fig. 20. Inversion der Panaschierung bei Acer negundo. a weißrandiges 

Blatt mit mattgrüner Stufe; '/, d. nat. Gr, b Querschnitt durch das mattgrüne 

Binnenfeld eines grünrandigen Foliolum; die beiden mittleren Zellenlagen sind 
durchaus chlorophylifrei. 


IV. Entstehung albomarginater Formen. 


Über die Entstehung albomarginater Formen hat Baur auf Grund 
seiner Beobachtungen an Pelargonium xonale Vermutungen aufgestellt. 

Baur geht bei seinen Erklärungsversuchen von der Schilderung 
sektorial panaschierter Individuen aus und stellt fest, daß in ihren 
Achsen die Grenzflächen der grünen und. blassen Zylindersektoren 
keineswegs immer genau den Radien folgen, sondern allerhand Un- 
vegelmäßigkeiten im Verlauf aufweisen können, sogar so weitgehende, 
wie es Fig. 21 veranschaulicht: bei b sieht man den weißen Gewebe- 
anteil den grünen eine Strecke weit überlagern. Blätter, die an dem 
der Stelle b entsprechenden Sektor der panaschierten Achse ent- 
stehen, werden — wenn auch die vom blassen Gewebe überlagerten 
erünen- Schichten der Achse am Aufbau des Blattes teilnehmen, albo- 
märginate Panaschierung aufweisen; Sprosse, die aus den Achseln 
solcher Blätter entstehen, werden durchweg derartige Zeichnung auf- 
weisen. 

Ich habe mich bemüht, an andern Arten als den Baur’schen 
Versuchspflanzen die Entstehung marginater Panaschierung zu beob- 
achten. 









E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formeı. der Buntblättrigkeit. 937 


Trotz langjährigen Bemühungen, in Gärten und in der freien 
Natur geeignetes Material zu ermitteln, ist die Zahl der von mir ge- 
fundenen Fälle bisher eine beschränkte geblieben. Ich werde sie im 
folgenden kurz beschreiben. 

1. Ein aus der Umgegend von Bonn stammendes Weißkohl- 
exemplar war dadurch ausgezeichnet, daß auf einige normalgrüne 
Blätter albomarginate folgten. Die randpanaschierten Blätter bildeten 
zusammen eine Gruppe, die die Hälfte des Achsenumfanges ausmachte, 
also einem Sektor von 180° Breite entsprach. Sämtliche Blätter, 
die in diesem Raum standen, waren albomarginat panaschiert; die- 


b 





Fig. 21. 
Fig. 21. Sektoriale Panaschierung bei Pelargonium zonale und die Ent- 
stehung marginater Panaschierung (nach Baur): Querschnitt durch eine 


sektorial panaschierte Achse; bei a regelmäßig radialer Verlauf der Grenze zwischen 
grünen und blassen Anteilen, bei D unregelmäßiger Verlauf. 


jenigen, welche an der Grenze des Sektors standen, ließen auf ihrer 
Spreite eine deutliche Scheidelinie erkennen, die von dem normal- 
grünen Teil einen randpanaschierten von wechselnder Breite — ent- 
sprechend der Stellung des betreffenden Blattes — trennte; an Blättern 
dieser Art war also der weiße Rand nur streckenweise entwickelt 
(Fig. 22). 

Hinsichtlich ihrer anatomischen Struktur entsprechen die albo- 
marginaten Blätter dem Pelargonium-Typus: das mattgrüne Binnen- 
feld weist unter der oberseitigen Epidermis zwei Lagen farbloses 
Palissadengewebe, an der unteren Epidermis eine Schicht farbloses 
Schwammparenchym auf. 

2. In den Jahren 1915 und 1916 beobachtete ich im Botanischen 
Garten zu Bonn das schon oben erwähnte randpanaschierte Exem- 


938 E. Küster, Über weißrandige Blätter uud andere Formen der Buntblättriekeit. 


plar von Solanum Balbisti. Auch hier entstanden albomarginate 
Blätter an einer Pflanze, die bis dahin normalgrüne Blätter in 
großer Zahl produziert hatte. Auch hier bildeten die panaschierten 
Blätter zusammen einen Sektor, der wiederum die Breite von 180° 
aufwies. Auch hier entstanden an den Grenzen des Achsensektors 
Blätter, die sektorenweise normalgrün und randpanaschiert waren. 

Von der anatomischen Struktur der Blätter war oben bereits 
die Rede (vel. Fig. 6). 








Fig. 22. Sektorial geteiltes Blatt von Bras- 
sieca oleracea: ein Teil ist tiefgrün, der andere 
mattgrün und weißgerandet. 


Die am Panaschierungssektor entstehenden Achseltriebe waren 
durchweg von vollkommen panaschierten Blättern, belaubt. 

3. Ein von mir 1915 aufgefundenes Exemplar der Spelle (Moeh- 
ringia trinerria) war dadurch ausgezeichnet, daß ein» Sektor des 
Sprosses, der anfangs nur reingrüne Blätter produziert hatte, albo- 
marginate Blätter entwickelte; aus ihren Achseln entstanden Sprosse 
mit durchweg weißbrandiger Beblätterung. 

4. Komplizierte Verhältnisse fand ich bei einer Arabes sp. vor. 
Die panaschierte Blattrosette ist in Fig. 25 wiedergegeben. 

Die Verteilung der beiden Qualitäten — normalgrün und bunt — 
ist deutlich sektorial: der Sektor, zu welchem die Blätter 8-13 ge- 
hören, umfaßt (etwas mehr als) 5!/, normalgrüne Spreiten. Die 
übrigen Blätter (1—7) zeigen reichhaltige Buntheit: es befinden sich 


NN?.. 


K. = . * . 4 = a ’ ST 
E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 239 


unter ihnen zwei Blätter, welche keine normalerünen Anteile aufzu- 
weisen haben (2 und 7), ein normalgrünes Blatt (3) und vier Blätter 
(1, 4, 5 und 6), die — ähnlich wie Blatt 8 — in sektorialer Ver- 
teilung nebeneinander beide Ausbildungsformen zeigen. Besonders 
kompliziert ist Blatt 1 ausgefallen, das inmitten des randpanaschierten 
Teiles einen mittleren Sektor tiefgrünen Gewebes erkennen läßt. 
Übrigens entsprechen die in Fig. 23 gezeichneten Umrisse des weißen 
Randes stellenweise nicht mit Sicherheit der Wirklichkeit, da die 
Blätter des von mir untersuchten Exemplars stellenweise schon zer- 
13 1 


eo) 


11 





Fig. 235. Mehrere Sektorenalbomarginater Panaschierung am Sproß von 
Arabis sp. Vgl. den Text. 


stört waren. Aus demselben Grunde vermag ich auch nicht mit 
Sicherheit anzugeben, ob die Pflanze vor den panaschierten Blättern 
auf dem ganzen Umfang ihrer Achse normalgrüne entwickelt hat: daß 
solche normale Produktion vorgelegen hat, halte ich für wahrscheinlich. 

Von den beiden zuerst geschilderten Fällen unterscheidet sich 
der vorliegende dadurch, daß die randpanaschierten Blätter hier 
mehreren Sektoren von geringer Breite angehören. 

Hinsichtlich ihrer anatomischen Struktur sind die albomareinaten 
Blätter der Arabis-Pflanze zum Pelargomium-Nyp zu stellen. 


Sehen wir zunächst von der Arabis-Panaschierung — wegen der 
dem beobachteten Falle anhaftenden Unsicherheiten -—- ab. so läßt 





940 E. Küster. Über weißrandige Blätter und andere Fornien der Buntblättrigkeit. 


sich auf Grund der an brassica, Solanum und Moehringia gewon- 
nenen Befunde feststellen, daß die Randpanaschierung auftritt, ohne 
daß eine sektoriale Teilung der Achse in Grün und Weiß voraus- 
gegangen wäre. Die Beobachtungen lehren, daß albomarginate Bunt- 
blättrigkeit auch ohne die von Baur beschriebene Vermittlung‘ sek- 
torialer Panaschierung spontan auftreten kann. Zu sektorialer Tei- 
lung des Sprosses steht aber die Randpanaschierung insofern in Be- 
ziehung, als sie selbst sektorenweise auftritt. 

Sektorialbildungen der für Drassica und Solanum beschriebenen 
Art entsprechen den von Beyerinck!°) erwähnten bunten Pelargonien, 
den von Buder!!) erörterten hypothetischen „einseitigen“ Periklinal- 
chimären!!) und einem der von Winkler!?) experimentell erzeugten 
Mischgebilde. — 





Flg. 24. Albomarginates Blatt von Ligustrum ovalifolium: lokale Ver- 
drängung der farblosen subepidermalen Mesophyllschichten. 


Wie bei dem geschilderten Weißkohlexemplar die ganze Pflanze 
aus einem normalgrünen und einem marginaten Sektor besteht, so 
bei Spöraea Bunnalda (s. vo.) jedes einzelne panaschierte Blatt: hier 
wiederholen sich im kleinen an jeder sektorial geteilten Spreite die- 
selben Spaltungserscheinungen. wie sie bei Brassica und Solanum 
Balbisii u.s. w. sich am Veeetationspunkt eines Sprosses abspielen. 
V. Über inäquale Zellenteilungen und ihre Bedeutung für die 

Entstehung bunter Blätter. 

Bei denjenigen Panaschierungen. die durch scharfe Grenzen der 
grünen und blassen Mesophyllanteile gekennzeichnet sind, besteht 
das Mesophyligewebe — auf seine Färbung hin betrachtet — aus 

10) Beyerinck, M. W,, Über die Entstehung von Knospen und Knospen- 
varianten bei CUytisus Adami (Botan. Zeitg., 2. Abt., Bd. 59, 1901, p. 113, 118). 

11) Buder, 1911, Studien an Laburnum Adami Zeitschr. f. indukt. Ab- 
stammu:gs- und Vererbungslehre 1911, Bd. 5, p. 209, 283, Anm. 3). 


12) Winkler, H., Weitere Mitteilungen über Pfropfbastarde (Zeitschr. f. Bot. 
1909, Bd..1, p. 315. 








E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättriekeit. 241 


Zellen zweierlei Art: grünen und blassen; beide Zellensorten stehen 
nebeneinander, ohne durch Überganesformen miteinander verbunden 
zu werden. 

Namentlich die sektoriale Panaschierung, welche z. B. bei Tra- 
descantia zebrina u. a. sehr oft internodienreiche Sprosse in der 
regelmäßigsten Weise zur Hälfte aus grünem, zur andern Hälfte aus 
weißem Gewebe sich aufbauen läßt, führt zu der Annahme, daß schon 
am Vegetationspunkt Zellen zweierlei Art entstehen — und zwar 
gesetzmäßig derart, daß an einer Seite des Vegetationspunktes lauter 
blasse, an der andern lauter grüne Zellen entstehen bezw. solche. 
deren Deszendenz grün zu werden und erün zu bleiben imstande ist. 
während die Nachkommenschaft der an der andern Hälfte des 
Vegetationskegels entstehenden Zellen jene Fähigkeiten abgehen. 

Da nun jede Pflanze aus einer Eizelle entstanden ist und als 
solche einmal ein einzelliges Wesen dargestellt hat, muß naturnot- 
wendig die Differenzierung in zwei Sorten von Zellen bei einer der 
späteren Zellenteilungen erfolgt sein. Diese Betrachtungen hat Baur 
bereits bei der Behandlung des Panaschierungsproblems angestellt !?), 
Baur hat ferner hervorgehoben, daß kritische Zellenteilungen, bei 
welchen die Qualitäten der Geschwisterzellen in der angeführten 
Weise sich ungleich verteilen, sich auch noch in sehr späten Phasen der 
Entwicklung vollziehen können. .Je später die kritische Zellenteilung 
— wir wollen sie als inäquale Teilung bezeichnen — erfolgt, um 
so geringer wird die Zahl der Deszendenten sein, die nach Tren- 
nung der beiden ungleich begabten Schwesterzellen entstehen; um 
so kleiner wird das aus gleichartigen Zellen aufgebaute Areal aus- 
fallen, das sich irgendwie von seiner Nachbarschaft unterscheidet: 
handelt es sich um eine sektoriale Panaschierung eines Sprosses, so 
wird angenommen werden dürfen, dab die inäquale Teilung am Vege- 
tationspunkt stattgefunden hat. Die marmorierten und pulverulenten 
Panaschierungen dagegen setzen inäquale Teilungen voraus, die sich 
in dem jugendlichen Blatt abgespielt haben — vielleicht kurz bevor 
die letzten Zellenteilungen in dem heranwachsenden Blatt sich voll- 
zogen haben: in der Tat fehlt es nicht an Panaschierungsformen. 
bei welchen die grünen und farblosen Areale nur aus wenigen Zellen 
bestehen (Fig. 6a und e). 

Leider ist es nicht möglich, die inäqualen Teilungen, die zur 
Panaschierung führen, unmittelbar zu beobachten oder auf Schnitten 
durch den Vegetationspunkt die bei jenen kritischen Teilungen ent- 
standenen Schwesterzellen als ungleich begabt zu erkennen: selbst 
für sehr viel spätere Stadien der Entwicklung gibt uns das Mikroskop 
über die Ungleichartigkeit der Zellen, aus welehen normal ergrünende 


135) Vgl. Baur. a. a. O., p. 348. Küster, Pathol. Pflanzenanat., 2. Aufl., 
1916, p. 17. 


39. Band. 17 


942 E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 


bezw. blasse Gewebe werden sollen, keine befriedigende Auskunft. 
Wir sind daher für alles, was die inäquale Zellenteilung betrifft, auf 
Vermutungen angewiesen. 

Offenbar kann man sich von der ungleichartigen Befähigung der 
bei einer inäqualen Teilung resultierenden Schwesterzellen und der 
Ursachen jener Ungleichartigkeit verschiedene Vorstellungen machen. 
Entweder geht die unterschiedliche Befähigung auf ungleiche Ver- 
teilung bestimmter Zellenorgane zurück, deren Neubildung den Zellen 
nicht möglich ist; dadurch daß etwa bestimmte Kernanteile, Chro- 
matophoren oder plasmatische Gebilde anderer Art, welche im Zellen- 
leben besondere Funktionen haben und hinsichtlich ihrer Wirkung auf 
dieses nicht durch andere — bereits vorhandene oder durch Neu- 
bildung entstehende — Anteile ersetzt werden können, bei der 
inäqualen Zellenteilung nur einer Tochterzelle zufallen, würde es 
sich erklären lassen, daß auch die Deszendentenmassen jener beiden 
Schwesterzellen verschiedene Charaktere entwickeln und dauernd 
beibehalten — oder es bleiben beiden Tochterzellen alle Zellen- 
organe erhalten und die gleichen Gestaltungs- und Differenzierungs- 
möglichkeiten zugänglich, durch irgendwelche hypothetischen — viel- 
leicht chemischen -—— Unterschiede der beiden Zellen werden aber 
ihre Reaktionsfähigkeiten verschieden — in dem Sinne, daß die eine 
der beiden Zellen ein bestimmtes Entwicklungsschicksal unter anderen 
äußeren Einwirkungen erfährt als ihre Schwesterzelle — oder unter 
eleichen Bedingungen die beiden Zellen sich ungleich verhalten und 
ungleichartige Gruppen von Deszendenten liefern '?). 

Diese beiden Arten der inäqualen Teilung unterscheiden sich 
nicht nur hinsichtlich der Zellenmorphologie voneinander, ‘sondern 
auch in ihrer Bedeutung für die Ontogenie der betreffenden Pflanzen- 
organe dadurch, daß der erste Modus inäqualer Teilung irreversible 
Veränderungen in der Folge der Zellengenerationen einleitet, wäh- 
rend nach Teilungen, die dem zweiten Modus angehören, eine Reversion 
im Bereich des Möglichen liest. 

Welcher Art mögen die inäqualen Teilungen sein, die der Theorie 
nach — bei der Ontogenese panaschierter Organe sich abspielen ? 

Aus den oben angeführten Gründen bleiben wir auf Hypothesen 
angewiesen, deren Brauchbarkeit wir an der Struktur der pana- 
schierten Organe zu prüfen haben. 

Baur hat sich zu der Frage nach der Qualität der inäqualen 
Teilungen dahin geäußert, daß bei den panaschierten Pflanzen zweierlei 
Uhromatophoren in den Zellen zu vermuten wären —- ergrünungs- 
fähige und -unfähige: wenn bei der inäqualen Teilung eine Tochter- 
zelle nur Chromatophoren der zweiten Art auf ihren Lebensweg mit- 


14) Küster, Über Mosaikpanaschierung und vergleichbare Erscheinungen 
(Ber. d. D. bot. Ges. 1918, Bd. 36, p. 54). 








FE. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 943 


bekommt, so wird sieh aus ihr nur blasse Zellendeszendenz ent- 
wickeln können; Zellen, welche nur grüne Chromatophoren erben, 
liefern nur grüne Deszendenz; diejenigen Zellen aber, welche beiderlei 
Chromatophoren enthalten, können normal ergrünende und — nach 
inäqualer Teilung — blasse Nachkommen haben. 

Ich will auf eine Kritik der Theorie um so weniger eingehen. 
als Baur selbst erwähnt, daß er keinen großen Wert auf sie lege’), 
Hervorzuheben bleibt. daß nach Baur’s Annahme die Entstehung 
blasser Zellen einen irreversiblen Vorgang der Qualitätentrennung 
bedeutet. 

Baur hätte die Theorie nicht aufgestellt, wenn sie nicht den 
Habitus der von ihm studierten marginat-panaschierten Pelargonien 
so gut zu erklären imstande wäre. 

Es fragt sich, ob sie auch den Abweichuneen vom Habitus 
gegenüber immer befriedigt. 

Bei den albomarginaten Pelargonien steckt — nach Baur’s anschau- 
lichem Bild — ein grüner Gewebekern in einer farblosen Gewebehaut. Hie 
wa da fehlt aber der es Mantel, und das grüne Mesophyll reicht bis 

r Epidermis. 

Hie und da habe ich wiederholt auf dem mattgrünen Binnenfeld 
der Pelargonienblätter oberseits kleine tiefgrüne Sprenkel gefunden, 
an welchen auch die der obersten Palissadenreihe angehörigen Zellen 
normal ergrünt waren. Man kann annehmen, daß diese Zellen sich 
von den tiefer liegenden Mesophylischichten herleiten und nur des- 
wegen die Epidermis erreichen, weil durch irgendeine Beschädigung 
an jener Stelle das subepidermale Gewebe geschwunden und durch 
Abkömmlinge der tiefer liegenden Mesophylischichten ersetzt worden 
ist. Es ist in der Tat bei. panaschierten Pflanzen z._B. bei Liguster. 
keine Seltenheit, daß die subepidermale Schicht — zumal auf der Blatt- 
unterseite — stellenweise verdrängt wird und nicht mehr erkennbar 
ist; dann stoßen die grünen Palissaden unmittelbar an die Epidermis. 
. Ein solcher Fall ist in Fig. 24 gezeigt. 

Auch bei Pelargonien tritt dergleichen ein — wenigstens dann. 
wenn infolge schwacher Intumeszenzbildung die normale Gewebs- 
struktur gestört wird!%). Ich habe derartige Gewebeschädigungen 
an albomarginaten Pelargonien 1916 in ‚großer Reichlichkeit beob- 
achten können. Die in Rede stehenden tiefgrünen Gewebesprenkel 
unterscheiden sich aber von jenen so auffällig durch die große Regel- 
mäßigkeit ihrer Mesophyllschichtenfolge, daß sie mit den genannten 
hyperhydrischen Anomalien kaum noch Ähnlichkeit haben. 

Man weiß, daß bei Periklinalchimären, die aus spezifisch ver- 
schiedenen Komponenten sich aufbauen, eine Schädigung der äußeren 


15) Vol. Küster, Pathol. Pflanzenanat., 2. Aufl., 1916. p. 18. 
16) Küster, a. a. 0., p- 44ff. Lingelsheim, Eine neue a 
nung an Kulturpelargonien (Zeitschr. f. Pflanzenkrankh. 1916, Bd. 26, p.. 375). 
17 


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944 E. Küster, Über weißrandige Blätter und Dr Formen der Buntblättiiekeit. 


Schichten den inneren Anteil an die Oberfläche bringen kann!”). Es 
wäre vorstellbar, daß auch bei den periklinalen Panaschierungen der- 
artiges aufträte. 

Die in Fig. 2 dargestellten halbgrünen Blätter der panaschierten 
Pelargonien entstehen nicht nur da, wo in sektorial geteilten Achsen 
die Grenze der grünen und blassen Sektoren verläuft (Baur, a.a.0., 
s. o. Fig. 21), sondern auch als unerwartete Anomalien zwischen dem 
weißrandigen Laub eines marginaten Exemplars. Vielleicht ließe sich 
die Annahme äußern, daß solche Blätter aus Anlagen hervorgehen, 
die in frühen Stadien ihrer Entwicklung gröblich verstümmelt worden 
sind; bei der großen Regenerationskraft, die sehr jugendlichen Blättern 
zukommt, wäre es vorstellbar, daß die durch das Trauma beseitigten 
Anteile ergänzt — und zwar ausschließlich unter Beteiligung des 
grünen Gewebekerns ergänzt worden wären. 

Form und Größe der tiefgrünen Blattanteile lassen mir aller- 
dings diese Annahme nicht gerade befriedigend erscheinen. 

Völlig versagen wird sie aber dann, wenn die an albomarginaten 


Blättern auftretenden grünen Areale als isolierte grüne Inseln — am 
Rand des Blattes oder in seiner nächsten Nähe — und durch breite 


farblose Spreitenanteile von dem grünen Binnenfeld getrennt sich zeigen. 
Wollten wir die grünen Randpartien, wie sie z. B. in Fig. 5 (Abutlon) 
dargestellt sind, entwicklungsgeschichtlich auf den grünen Gewebe- 
kern, der im mattgrünen Binnenfeld normalerweise sichtbar ist, zu- 
rückführen, so bliebe nichts anderes übrig, als eine Zerreißung der 
grünen zentralen Gewebemasse anzunehmen. Wohl ist bekannt, daß 
wucherndes Wundgewebe irgendwelche Zellengruppen aus ihrem natür- 
lichen Verband losreißen und von diesem eine Strecke weit forttragen 
kann; die Bildung der randständigen Grünsprenkel in ähnlicher 
Weise zu erklären, wäre m. E. ohne gewagte Hilfshypothesen nich? 
möglich. 

(Große Schwierigkeiten macht schließlich die Erklärung der Grün- 
sprenkel an sogenannten farblosen Zweigen. Ich habe oben gezeigt, 
daß das Auftreten solcher Grünsprenkel an panaschierten Pflanzen 
verschiedenster Art nicht gerade eine Seltenheit ist. Zu beachten 
ist, daß sie auch an Sprossen auftreten, deren Achsen nirgends einen 
grünen Gewebekern aufzuweisen haben, und daß die Grünsprenkel 
erscheinen, nachdem schon zahlreiche reinweiße Blätter gebildet 
worden sind. Zwar ließe sich die Möglichkeit erwägen, daß auch 
die Vegetationspunkte der sogenannten reinweißen Triebe Zellen 
beiderlei Art produzieren oder in ähnlicher oder gleicher Weise zu pro- 
duzieren fähig wären wie die Vegetationspunkte grüner Triebe der- 
selben Spezies; der Unterschied der reinweißen und der andern 


17) Buder, Studien an Laburnum Adami (Zeitschr. f. induktive Abstam- 
mungs- und re llpslehre, 1911, Bd. 5, p. 209); vgl. auch Joh. Meyer; Die 
Crataegomesptli von Bronvaux (ibid. Bd. 13, 1915, p. 193). 





E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 945 


Triebe Käme dann eben dadurch zustande, daß die inäqualen Zell- 
teilungen bei jenen besonders häufig sich wiederholten, und nur 
gleichsam kleinen Residuis der Zellendeszendenz die Fähigkeit zum 
normalen Ergrünen erhalten bliebe. Diese Annahme würde eine 
Ablehnung der Periklinaltheorie Baur’s in sich schließen. Sie würde 
weiterhin voraussetzen. daß zwischen den Vegetationspunkten weißer 
Zweige und den der bunten Triebe wichtige Unterschiede bestehen, 
indem jene fortwährend inäquale Teilungen vollziehen müßten, wäh- 
rend an den Vegetationspunkten bunter Zweige eine oder wenige 
inäquale Teilungen genügen, um das charakteristische Panaschierungs- 
bild zustande zu bringen. 

Diese und andere Schwierigkeiten führen mich zu der Forderung, 
die Lehre von der Spezifizität der blassen und grünen Zellen aufzugeben: 
die geschilderten Panaschierungsphänomene können am einfachsten 
und widerspruchslos durch die Annahme erklärt werden, daß nicht 
nur von. grünen (bezw. zum normalen Ergrünen befähigten) Zellen 
sich blasse (bezw. zum normalen Ergrünen und Grünbleiben nicht 
befähigte) abspalten, sondern auch von blassen wieder grüne hervor- 
gehen können. Die Veränderung der Qualitäten, welche bei inäqualen 
Teilungsschritten erfolgt, bedeutet demnach keine unwiderrnfliche 
des nach ihr sich bildenden Zellenmaterials, sondern ist ein 


. reversibler Vorgang. Sie steht hierin in prinzipiellem Gegen- 


satz zu denjenigen inäqualen Teilungen, bei welchen Zellenorgane, 
die niemals und unter keinen Umständen aus anderen Bestandteilen 
der Zellen neu gebildet werden können, nicht auf beide Schwester- 
zellen sich verteilen, sondern einer von diesen vorenthalten bleiben. 

Der Vorgang, daß bei einem in Vermehrung begriffenen Zellen- 
material inäquale Teilungen sich vollziehen, „neue“ Charaktere auf- 
treten und „Mutationen“ wahrnehmbar werden können, und die not- 
wendig gewordene Folgerung, daß die neuartigen Zellenformen in 
ihrer Deszendenz wieder Rückschläge erfahren und neben den blassen 
„Mutanten“ wieder grüne „Atavisten“ erscheinen lassen Können, 
erinnert an gewisse Erfahrungen der Mikrobiologie. 

Seit den Untersuchungen Massini’s und seiner Entdeckung der 
Laktosevereärung durch Bacterium col mutabile‘?) ist die Frage 
nach sprunghaft auftretenden Veränderungen der Mikroorganismen, 
nach ihren „Mutationen“ oft und erfolgreich behandelt worden. 

An Mikroorganismen der verschiedensten Art hat sich zeigen 
lassen, daß bei ihrer Züchtung auf geeigneten Nährböden in größerer 
oder geringerer Anzahl Individuen nachweisbar werden, welche andere 
Eigenschaften als das Ausgangsmaterial haben, und deren neue Quali- 
tätenmischung bei ihrer Deszendenz konstant bleibt. Es hat sich 


18) Massini, Über einen in biologischer Hinsicht interessanten Coli-Stamm 
(Bacterium coli mutabile). Ein Beitrag zur Variation der Bakterien. (Arch. f, 
Hygiene 1907, Bd. 61, p. 250). 


946 E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 


ferner zeigen lassen, daß die nenen „Mutanten“ zur Stammform zu- 
rückschlagen, aus den Mutanten „Atavisten“ werden können !?). 
Auch in diesen Fällen scheint es sich um Qualitätenverände- 
rungen zu handeln. welche unvermittelt bei einer Zellenteilung auf- 
treten. Dadurch werden die von den Bakteriologen studierten Fälle 
den uns interessierenden an bunten Pflanzen sich abspielenden Vor- 
sängen der inäqualen Teilung vergleichbar. Der wissenschaftlichen 


uf 





Fig. 25 


Erforschung sind letztere wegen der Größe der in Betracht kommen- 
den Zellen besser zugänglich als die an Mikroben auftretenden Pro- 
zesse, — anderseits eröffnet die Möglichkeit. bei Kultur der Mikro- 
organismen die Zellen der von einem Individuum sich ableitenden 
Deszendenz voneinander zu trennen und auf der Kulturplatte jede 
einzelne zu beliebig vielen weiteren Teilungen zu bringen, Wege 
zur Erforschung der Zellmutation, die gegenüber dem Zellenmaterial 
der höheren Pflanzen verschlossen bleiben. Die von Beyerinck 
studierte panaschierte C'hlorella vermittelt als Kultivierbarer „bunter 
Mikrobe“, der normalgrüne und blasse Zellen zu produzieren vermag ?®). 
zwischen den buntblättrigen Zierpflanzen einerseits, dem Forschungs- 
er der Mikrobiologen anderseits. 

19) Vgl. z. B. Beyerinck, M. W. Mutationen bei Mikroben (Folia micro- 
biologica Bd. 1.1101 2, Opal. Baershlern, Über Mutationserscheinungen bei 
Bakterien (Arb. k. Gesundheitsamt, 1912, Bd. 40, p. 4335—536). 

20) Beyerinck, M. W.. Chlorella variegata, ein bunter Mikrobe (Rec. trav. 
bot, neerland. 1904, Bd. 1, p. 14; vgl. Zentralbl. f. Bakteriol., Abt. Il, 1905. Bd. 14, 
p. 338), Beyerinck, 1912, a. a. O. 








E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 947 


Namentlich aus den Ergebnissen Beyerinck’s ist bekannt, daß 
bei der Mutation der Bakterien aus einer Stammform Mutanten der 
verschiedensten Art sich ableiten, bei den hypothetischen inäqualen Tei- 
lungen die Trennnung der Qualitäten also in der verschiedensten Weise 
erfolgen kann?!). Ich halte es für wahrscheinlich, daß auch bei den 


en u 
er 





\ 
| \ 
Fig. 25b. Fig. 25 c. 
Fig. 25. Ungleichartige Panaschierung an den Blättern des nämlichen 
Jahrestriebes (Acer pseudo-platanus var. Leopoldü). a Blatt mit sektorialer 
Teilung, ein Sektor ist pulverulent gezeichnet, der Rest des Blattes ist blaß; b Blatt 
mit grober Sprenkelung; c Blätter mit normal-grünen, pulverulenten und blassen 
Sektoren. *°/, d. nat. Gr. 


inäqualen Teilungen der höheren Pflanzen nicht nur immer die Fähig- 
keit zum normalen Ergrünen das Unterscheidungsmerkmal zweier 
ungleich begabter Schwesterzellen ausmacht, sondern daß auch Auf- 


- spaltungen anderer Art sich vollziehen können —- auch bei Material 


und Arten, bei welchen heterozygotischen Charakter vorauszusetzen 


al) Vgl. z. B. Beyerinck, 1912, a, a. O., p. 35, 





TE N ARERPTETR ER / 
NEUEN N CERETE 


948 E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 


kein Grund vorliegt??). Vielleicht treten auch bei den höheren 
Pflanzen Zellmutationen auf, die sich sehr viel schwerer nachweisen 
lassen als die durch unterschiedliche Pigmentierung ausgezeichneten 
Mutanten der panaschierten Pflanzen. Offenbar lassen sich bei den 


Mikroben — durch Kultur auf verschiedenen Nährböden und auf 
anderen Wegen — die Qualitäten vieler Mutanten besser prüfen und 


diese leichter als solche erkennen als analoge Mutanten im Zellen- 
verband höherer Pflanzen. — 

Auch darin scheint das Forschungsmaterial der Mikrobiologen 
eünstigere Aussichten zu gewähren als das uns beschäftigende, dab 
die Frage nach den Ursachen, welche zu inäqualen Teilungen 
führen, bei den Mikroben leichter in Angriff zu nehmen sein dürfte 
als bei den höheren Pflanzen. i 

Einigermaßen entmutigend muß es wirken, daß auch den Bak- 
terien gegenüber die Frage nach den Lebensbedingungen, unter 
welchen die Mutationen auftreten. noch wenig erforscht ist. Beye- 
rinck gibt allerdings einige Anhaltspunkte zu ihrer Beurteilung und 
stellt namentlich fest. daß in alternden Kulturen sich Mutanten sehen 
lassen, daß man andererseits durch fortgesetztes Überimpfen das 
Mutieren der Mikroben verhindern kann. 

Über die Bedingungen, welehe bei den höheren Pflanzen zu 
abnormen imäqualen Teilungen und insbesondere zur Panaschierung 
führen, sind wir noch völlige im unklaren. Vier Kategorien von Be- 
obachtungen glaube ich hier anführen zu sollen, die vielleicht Finger- 
zeige für die künftige entwicklungsmechanische Erforschung 
des Panaschierungsproblems abzugeben imstande sind. 

1. Die Neigung zur inäqualen Teilung und zur Entwicklung der 
von solchen sich herleitenden Buntblättrigkeit ist bei verschiedenen 
Familien und Gattungen verschieden. In den verschiedensten Teilen 
Deutschlands habe ich bestätigt gefunden, daß man an frendig grünen- 
den Kleefeldern nur ausnahmsweise nach panaschierten Exemplaren 
vergeblich sucht; Kartoffelfelder geben nur sehr selten positiven Be- 
fund, obwohl, wie wir früher hörten, für die Gattung Solanum Pana- 
schierungen der verschiedensten Art bereits bekannt sind. Die ver- 
schiedenen Arten der Gattung Rumezx fallen sehr oft bunt aus, Kohl- 
felder liefern buntblättrige Pflanzen der allerverschiedensten Art 
— mit sektorialer, marmorierter, pulverulenter und marginater Pana- 
schierung — und unter den Holzgewächsen der einheimischen Flora 
übertrifft Acer campestre alle anderen durch die Häufigkeit, mit der 
er bunte Zweige und Blätter liefert. Auch an Ulmen und Buchen 





22) Küster, E., Die Verteilung des Anthoeyans bei Coleus-Spielarten (Flora, 
1917, Bd. 110, p. 1), Uber Mosaikpanaschierung und vergleichbare Erscheinungen 
(Ber. d. D. bot. Ges. 1918, p. 36, Bd. 54). Über sektoriale Panaschierung und andere 
Formen der sektorialen Differenzierung (Naturw. Monatshefte f. d. biol. u. s. w. 
Unterricht 1919, p, 37). 











E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 249 


sind bunte Zweige nicht gerade selten, während an der Linde und 
Eiche ich noch niemals spontan auftretende Buntheit entdeckt habe. 

2. In verschiedenen Entwicklungsphasen eines Sprosses bezw. 
eines Vegetationspunktes ist die Neigung zur inäqualen Zellenteilung 





Fig. 27 c. 


Fig. 26. Marmoriertes Blatt von Ulmus campestris. Die mattgrünen punktier 
eingetragenen Areale liegen vorzugsweise an der Mittelrippe. ''. d. nat. Gr. 
Fig. 27. Grünrandige Blätter von Hydrangea (H. nivalis?). a unsym- 
metrisches Binnenfeld; b dichotom gespaltenes Binnenfeld; bei durchfallendem Licht 
gezeichnet, so daß die mattgrünen Stufen erkennbar werden; ce kompliziertere Zeich- 
nung, sektoriale Gliederung und pulverulente Mosaikzeichnung. ?/, d. nat. Gr. 


nicht immer die gleiche. Besonders auffällig ist der Wechsel der 
’anaschierung, der sich an den Zweigspitzen emes von mir jahre- 
lang beobachteten Ahorns (Acer pseudo-platanus var. Leopoldii) ‚be- 


a a! . 
' 


50 E. Küster, Über weißrandige Blätter und andere Formen der Buntblättrigkeit. 


merkbar macht: die ersten Blattpaare eines Jahrestriebes sind. meist 
sektorial geteilt und regelmäßig pulverulent gezeichnet (Fig. 25a), 
die letzten erheblich kleineren Blätter desselben Triebes zeigen nicht 
grüne Sprenkelung, sondern zusammenhängende normalgrüne Felder 
von ansehnlicher Ansdehnung (Fig..25c). Zwischen jenen und diesen 
vermitteln zuweilen Blätter mit grober Sprenkelung (Fig. 25b). Nach 
unserer oben erörterten Annahme entstehen um so kleinere Grün- 
felder oder Grünsprenkel, je später im Entwieklungslauf eines Organs 
die letzten inäqualen Teilungen sich vollziehen. Bei genannter Ahorn- 
form spielen sich demnach in den jugendlichen Blättern an der Basis 
des Jahrestriebs länger inäquale Teilungen ab als m den später 
foleenden Blättern. 

3. Nicht alle Teile einer Spreite lassen die Wirkungen inäqualer 
Teilungen mit gleicher Häufiekeit erkennen. 

bevorzugte Stellen für Zellenmutation sind vor allem die Blatt- 
ränder. An ihnen erfolgen Abspaltung blasser Deszendenten in großer 
Zahl —- vor allem wäre an die für Sambucus geschilderte albomargi- 
nate Panaschierung zu erinnern; ob die weißen Ränder der Pelar-® 
gonien nur aus Deszendenten der nach Baur schon am Vegetations- 
punkt durch besondere Qualifikation ausgezeichneten beiden änßeren 
Zellenlaxen *abstammen, oder ob auch die Abkömmlinge tiefer legen- 
der Schichten durch Produktion blasser Mutanten den weißen Rand 
noch verbreitern helfen. mag dahingestellt bleiben. Ferner ist an 
die tiefgrünen Randareale von Abutilon zu erinnern (Fig. 5) und die, 
Grünsprenkel weißer Zweige, die bei vielen Arten (Acer negundo u. a.) 
sich mit Vorliebe oder sogar ausschließlich am Blattrand sich finden. 
hinzuweisen. 

Weiterhin wäre der panaschierten Ulmen hier zu gedenken. Es 
scheint, daß in ihren Blättern zuweilen in der Nachbarschaft der 
Mittelrippen besonders günstige Bedingungen für das Auftreten 
inäqualer Teilungen verwirklicht sind; wenigstens finden sieh die 
Grünsprenkel weißer Ulmensprosse mit deutlich erkennbarer Bevor- 
zugung in nächster Nähe der Mittelrippen. Die Marmorierung der 
in den Gärten kultivierten Ulmen zeigt im allgemeinen völlig gleich- 
mäßige bezw. gesetzlose Verteilung der grünen oder blassen Areale 
über die Spreitenfläche; ein von mir gefundenes wildwachsendes 
Exemplar der Ulmus campestris war dadurch ausgezeichnet, daß 
sich die mattgerünen Felder seiner Spreiten vorzugsweise den Mittel- 
rippen anschlossen (vgl. Fig. 26). 

Kine sehr schöne kontrastreiche Panaschierung, die ich an einer 
Hortensie beobachten konnte (Aydrangea nivalis?), wird in Fig. 27 
dargestellt; die Spreiten haben ein schneeweißes Binnenfeld, das be- 
merkenswerterweise den Mittelrippen oder stärkeren Seitennerven 
des Blattes folet. 





E. Mohr, Nochmals über das .‚Knacken‘“ beim Rentier. IH] 


Auch die Häufigkeit, mit der grüne Sprenkel bei manchen Pelar- 
yonium-Spielarten gerade die Nebenblätter bevorzugen, gewinnt in 
diesem Zusammenhang an Interesse. 

4. Durch Zurückschneiden panaschierter Holzgewächse gelingt 
es in manchen Fällen. die Buntblättriekeit besonders reich werden 
zu lassen, oder Exemplare, die „träge* geworden waren, wieder zur 
Bildung panaschierter Blätter und Sprosse anzuregen. Daß an altem 
Holz sich nicht selten „remweiße* Sprosse zeigen, war schon früher 
zu erwähnen. Auf Beobachtungen, die ich an zurückgeschnittenen 
Exemplaren und über ihre gesteigerte Buntblättriekeit sammeln konnte, 
wird in anderem Zusammenhange zurückzukommen sein. Über die 
Faktoren, die in Knospen des alten Holzes wirksam zu sein und auf 
die inäqualen Teilungen und das Auftreten von Panaschierungen Ein- 
tluß zu haben scheinen, lassen sich zurzeit keine näheren Angaben 
machen. 

Bonn, Juli 1918. 


Nochmals über das „Knacken‘ beim Rentier. 
Von E. Mohr. Hamburg. 

Vor emiger Zeit veröffentlichte ıch in dieser Zeitschrift (9) einen 
kleinen Aufsatz, in dem ich sagte. daß die Literatur über das 
Knacken beim Rentier recht spärlich sei und ich selbst nur bei 
Brehm gefunden hätte, daß er sich mit der Frage nach der Ur- 
sache dieser Erscheinungen befaßt. Es ist jedoch eine kleine, wenn 
auch spärliche Literatur darüber vorhanden, und es sind schwe- 
dische Forscher gewesen, die sich damit befaßt haben, die ja er- 
klärlicherweise leichter zur Beobachtung von Rentieren kommen 
können als solche südlicherer Gegenden, die nur auf die Insassen 
von zoologischen Gärten angewiesen sind. 

In einer laut Umfrage auf deutschen Büchereien nicht vor- 
handenen schwedischen Zeitschrift findet sich ein kleiner Aufsatz von 
Erik Bergström (7), der nicht nur eine erfreuliche Zusammen- 
stellung der schwedischen Literatur über unseren Gegenstand bringt, 
sondern auch über neue, eigene Versuche berichtet. Da nun einer- 
seits schwedisch geschriebene Arbeiten — zumal die älteren — ın 
Deutschland leicht übersehen werden und es andererseits ganz 
wünschenswert ist, die Literatur über ein so spezielles Kapitel mög- 
lichst beieinander zu haben, halte ich es für ganz nützlich, eine 
kurze Besprechung der schwedischen Arbeiten vorzunehmen, die 
mir nun bis auf Nilsson (3) entweder selbst oder ın vollständigem 
Zutat zugänglich sind. 

Linne (1) war anfangs der Ansicht, das Knacken entstünde 
weder in den Hufen noch im untersten Gelenk. Doch später meinte 





", a iu, A rTRR N n To 
NAT RS TAN 
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; SEN 
959 E. Mohr, Nochmals über das „Knacken‘‘ beim Rentier. 


er, daß es von’den Hufen selbst herrührte, die innen ausgehöhlt 
seien!). Wenn nun das Tier auf dem Fuße steht, sind die Klauen 
gespreizt: aber sobald der Fuß aufgehoben wird, sollten die Spitzen 
der Hufe zusammenfallen und dadurch das knarrende Geräusch her- 
vorbringen. Dies meinte er durch Anlegen seiner Hand an den 
Rentierfuß bestätigt zu finden. 

Linne fand jedoch bald Widersacher. Hollsten (2) verlegt 
den Laut in das Innere der Zehenglieder und sagt (in der Über- 
setzung von Ekman) (6): „Unterhalb des En Knochens des 
ee Zehengliedes sitzt ein kleiner Bohn ?), welcher, wenn 
das Ren geht, so laut EN daß es auf 100 Schritt a 
gut Behr ade kann.“ 

Aa Nilsson (3) war anderer Ansicht als Linne, <chlok 
sich aber weder diesem noch Hollsten an, sondern meinte?), das 
Knacken habe äußere Ursachen, aber nicht im Zusammenschlagen 
der großen Hufe des gleichen Fußes, sondern zwischen den inneren 
Alterklauen der Nebenfüße (der beiden Vorderfüße oder der beiden 
Hinterfüße), die er miteinander in Berührung kommen sah, wenn 
die Rener gingen oder sprangen. 

Der ee Autor, der sich mit unserer Frage befaßt, ist 
von Düben (4). Durch ihn wird zum ersten Male der später nur 
von Bergström beachtete und wiederholte Versuch gemacht, den 
Entstehungsort des Lautes höher als in die Zehenglieder, das Fessel- 
gelenk, zu verlegen, denn er sagt, das Knacken müßte seine Ur- 
sache haben in den Sehnen für den Musculus tibialıs postieus oder 
für andere Streckmuskeln des Fußes, die in ihren Furchen gleiten. 

Bald darauf veröffentlichte Brehm (5) die von mir (9, p. 178) 
wörtlich zitierten Überlegungen und Versuche, nach denen er zu 
der Überzeugung en daß das Knacken unmöglich äußere Ur- 
sachen Di an en ım Inneren der Gelenke entsteht, wenn 
er auch aus dem bekannten Versuch des Umwickelns mit Leine- 
wand irrige Schlüsse zieht. 

Viele Jahre später beschäftigte Ekman (6) sich mit dieser 
Frage. Er beleuchtet zunächst die Ansichten von Linne, Nilsson, 
Hollsten und von Düben, wobei er aber die von v. Düben 
ganz offenbar und die von Nilsson, soviel Bergström’s Referat 
zu entnehmen ist, wahrscheinlich nicht im Sinne der Autoren selbst 
wiedergibt. Dann sagt er weiter (p. 31): „Sehr gute Gelegenheit 
zu einer näheren Untersuchung boten diejenigen Rene dar, welche 
als Lasttiere benutzt wurden ah durch das täglıche Umgehen mit 


1) Offenbar ist damit gemeint, daß die inneren Ränder der beiden Haupthufe 
auch in der Ruhelage meist nicht genau aufeinander passen, sondern sich nur die 
Hnufspitzen berühren. 

2) Offenbar der Sesamoidknochen (Ekman). 


> 


3) Nach Bergström. 







| 
’ 









E. Mohr, Nochmals über das „Knacken“ beim Rentier. 2353 


den Menschen völlig zahm waren, während bekanntlich die übrigen 
„zahme Renen“ ihrem Gemüt nach mehr wild als zahm sind. Mehr- 
mals lag ıch am Boden, das Ohr dicht an den Füßen der Tiere, 
und konnte natürlich in dieser Weise die näheren Umstände sehr 
genau beobachten, und immer machte ich dieselbe Wahrnehmung: 
der Laut entsteht nicht, wenn der Fuß aufgehoben wird, sondern 
immer nachdem er niedergesetzt worden ist, und zwar ir dem 
Augenblick, wo das Tier das Körpergewicht auf das betreffende 
Bein hinüber verlegt. Dies war mit aller wünschenswerten Deut- 
lichkeit festzustellen, wenn das Tier weiden ging und die Füße 
sehr langsam hob und niedersetzte. Beı solchen langsamen Be- 
wegungen ist es ja übrigens undenkbar, daß die Hufe hinreichend 
stark aneinander schlagen könnten, um ein auf viele Meter Ab- 
stand deutlich hörbares Knacken hervorzubringen. Schon bevor 
der Laut gehört wird, sind die beiden Hufe beim Niedersetzen 
ziemlich weit voneinander entfernt worden, und daß die oben ge- 
äußerte Ansicht richtig ıst, kann somit keinem Zweifel unterliegen.‘ 

Ich selbst sagte über die zeitliche Entstehung des Lautes 
(9, p. 179): „Es ist mühsam zu beobachten, ob das Knacken der 
Rentierfüße beim Aufsetzen oder beim Aufheben geschieht; aber 
ich glaube doch, nachdem ich monatelang mehrere Tiere daraufhin 
beobachtet habe, mit Sicherheit das Letztere annehmen zu müssen.“ 

Wenn Ekman nun sagt: „Der Laut entsteht nicht, wenn der 
Fuß aufgehoben wird, sondern immer nachdem er niedergesetzt 
worden ist,“ so sieht das auf den ersten Blick aus, als ob wir ge- 
rade entgegengesetzter Meinung seien.: Aber wenn man den Nach- 
satz „und zwar ın dem Augenblick, wo das Tier das Körpergewicht 
auf das betreffende Bein hinüberverlegt“, mit in Betracht zieht. 
zeigt sich, daß wır doch der gleichen Ansicht sind, und nur Ekman 
sich offenbar in der Zeitform vergriffen hat. Es handelt sich näm- 
lich nicht darum, wann der Fuß den Boden berührt, also im land- 
läufigen Sinne der Fuß niedergesetzt ist, sondern darum, wann er 
seine tiefste Stellung erreicht hat. Solange das Tier das Körper- 
gewicht noch nicht endgültig auf das betreffende Bein hinüber- 
verlegt hat, klaffen die ur noch nicht am weitesten, kann der 
Fuß also och fester aufgesetzt werden. Ekman müßte also nicht 
sagen: „In dem Augenblick, wo das Tier das Körpergewicht auf 
das betreffende Bein hinüberverlegt,“ sondern „hinüberverlegt hat“ 
Ist das geschehen, so wird der Fuß nicht weiter gesenkt, sondern 
durch die allgemeine Vorwärtsbewegung des Körpers hebt er sich 
von dem Momente an, da nun die Gelenke sich wieder lockern, 
entspannen können. Das habe ich gemeint, wenn ich sagte (p. 179): 
„In dem Augenblick, in dem das Teer den Fuß ieder zu heben 
beginnt, entspannt sich die Synovialhaut... also bei der Ent- 
spannung tritt das Geräusch ein.“ Ich glaube, Ekman hat das- 


Pd FL NG ER 


354 E. Mohr, Nochmals über das „Knacken“ beim Rentier. 


selbe gemeint, nur ıst bei ıhm besonders durch den Satz: „Der 
Laut entsteht nicht, wenn der Fuß aufgehoben wird,“ etwas anderes 
ausgedrückt als beabsichtigt war. 

Bergström (7) unterzog die Frage des Knackens mit Thore 
Fries zusammen einer neuen Kritik, als er im Winter 1909 mit 
ihm gleichzeitig in Karesuando weilte (p. 85). Ein Ren wurde für 
diese Beobachtungszwecke geschlachtet, und unmittelbar nach dem 
Tode des Tieres wurden Biegungsversuche mit den Gliedmaßen 
angestellt, die ein höchst überraschendes Ergebnis zeitigten. Trotz 
der eifrigsten Versuche mit den Zehengliedern konnte nichts dem 
Knacken ähnlich Klingendes hervorgebracht werden. Aber als man 
dann Fersen- und Handgelenke bog und streckte, hörte man den 
Laut scharf und deutlich. Bei Versuchen mit anderen Gelenken, 
die noch höher am Bein lagen, also mit Knie- und Ellbogengelenken, 
blieb das Geräusch ebenfalls aus. Leider konnte man dem Problem 
nicht noch näher kommen, da das Knacken aufhörte, als die Toten- 
starre eintrat. ; 

Ich muß gestehen, daß ıch nach der Lektüre dieser Feststel- 
. lungen zunächst einigermaßen ratlos war, denn an der Richtigkeit 
der Beobachtung von Bergström kann man sich nicht gut zu 
zweifeln erlauben. Den Versuch zu wiederholen, fehlt es uns zu 
Lande an Material, und wenn man auch sofort benachrichtigt wird, 
wenn in einem Tiergarten ein Ren eingeht, ist doch stets die Toten- 
starre bereits eingetreten, ehe man zur Stelle sein kann. Da außer- 
dem unser einziges noch lebendes Ren in Hamburg einen erfreu- 
lich lebenslustigen Eindruck macht, hat es auch keinen Zweck zu 
warten, bis es als Objekt für derartige Versuche verfügbar ist. So 
besuchte ıch das Tier also wıeder fleißig. Ich habe oft neben ıhm 
gestanden, auch neben ıhm auf der Erde gehockt mit der festen 
Absicht, das Knacken ın den Hand- und Fersengelenken zu hören, 
aber es war mir trotz redlicher Bemühung nicht möglich: für mich 
kam der Laut immer aus dem Fesselgelenk, wie ich auch stets 
durch das Gehör unterscheiden kann, ob ein vor mir stehender 
oder sitzender Mensch ın den Knien oder in einem der Fuß- oder 
Zehengelenke knackt. Ich glaube nicht, daß ich mich um die Länge 
des Metacarpus in der Lokalisierung des Lautes täuschen könnte. 
Bergström allerdings sagt von sich (p. 86, übersetzt): „Zum Be- 
weis dafür, daß die Gehörwahrnehmung auf vorgefaßter Meinung 
beruht, will ich hervorheben, daß ich nach dem genannten Experi- 
ment nicht länger den Laut als von den Zehen ausgehend wahr- 
nehmen kann. Für mich hört er sich nunmehr an als ım Hand- 
oder Fersengelenk lokalisiert.“ 

Da die Schweden, wie Ekman’s Ausführungen zu entnehmen 
ist, die Möglichkeit haben, mit vollkommen zahmen Renern umzu- 
gehen, dürfte die Frage nach dem Entstehungsort des Knackens 





I, 2.27. Zube a 
a ER 


E. Mohr, Nochmals über das „Knaeken“ beim Rentier. 2) 


leicht gelöst werden können mit Hilfe des modernen Stethoskop 
nach Snoften. Hierbei muß das untere Ende des Apparates an 
den. betreffenden Teil des Fußes angeschnallt werden, während der 
Beobachter an den oberen Enden hört. Die Verbindung ist lang 
genug, um dem Tiere Bewegung zu gestatten, ohne den Beobachter 
dabei zu belästigen. Wenn der Apparat einmal am Fesselgelenk 
und einmal am Hand- oder Fersengelenk angeschnallt würde, muß 
sich ja ohne weiteres das Resultat zeigen. Es ist dies aber ein 
Versuch, den wir bei uns in Deutschland nicht machen können, da 
unsere Rene zwar die übliche Tiergartenzahmheit besitzen, sich 
aber nur ungern anfassen lassen und bei solchen Versuchen wie 
dem beschriebenen vollends nervös und unbrauchbar werden würden. 

Damit, daß ein späterer Beobachter Bergström’s Wahr- 
nehmung vorläufig nicht zu machen imstande ist, ist aber die Tat- 
sache nicht aus der Welt geschafft, daß sich hier etwas Neues 
nicht erklären läßt. Ich bin einstweilen geneigt, das beobachtete 
Knacken in den Hand- und Fersengelenken nach dem Tode, das 
vielleicht nach Aufhören der Totenstarre wieder hätte beobachtet 
werden können, für etwas anderes zu halten als das Kuacken beim 
lebenden Tier. Vielleicht handelt es sich um die Wirkungen 
etwaiger postmortaler Veränderungen, die die Funktion der Ge- 
lenke beeinflußt haben könnten, die allerdings sehr schnell hätten 
eingetreten seir müssen. Mir ist sonst nicht klar, weshalb das 
Knacken aufhören sollte, wenn dem lebenden Tiere Leinewand um 
die Zehen gewickelt wırd und wenn es ım Schnee und Schlamm 
mit den Hufspitzen vorweg einsinkt. Dadurch werden Hand- und 
Fersengelenke ın keiner Weise behindert, hätten also durchaus 
keinen Grund, das Knacken einzustellen. Ebensowenig kann ich 
damit die Tatsache in Einklang bringen, daß die Kälber erst nach 
Verringerung des Phalangenwinkels anfangen zu knacken. Den 
Winkel zwischen Mittelfußknochen und Unterschenkel kann man 
nämlich keineswegs dafür verantwortlich machen. Dieser ist zwar 
bei verschiedenen Tierarten sehr verschieden, wie leicht ein Ver- 
gleich z. B. zwischen den Hinterbeinen — die Vorderbeine zeigen 
erklärlicherweise solche Unterschiede nicht — vom Bison und dem 
viel steiler gestellten Zebu zeigt, ıst bei derselben Tierart aber in 
der Jugend wie im Alter gleich. So interessant also Bergström's 
Untersuchungen an sich auch sind, können sie mich vorläufig in meiner 
Auffassung über den Ort und die Art des Zustandekommens vom 
Knacken nicht schwankend machen. 

Man hat mir inzwischen mehrfach vorgehalten, daß ein relativ so 
kleiner Raum, um den es sich im Gelenk ja nur handelt, unmöglich 
ausreichen könnte, um einen Laut von der Stärke des Knackens her- 
vorzubringen. Anfänglich war ich selbst einigermaßen zweifelhaft, 
aber wenige Versuche mit dem sogenannten Wasserhammer über- 





m RE PTR USDERER 
as) Be BER, Br en 


zeugten mich bald von der Möglichkeit. Durch diesen einfachen 
Apparat wird ein außerordentlich scharfer, metallisch harter Laut 
hervorgebracht, der die Stärke im Knacken des Rentierfußes noch 
um vieles übertrifft. Daß mit der von mir (9, p. 179) gegebenen 
Erklärung das Problem endgültig gelöst sei, habe ich nie behauptet, 
aber nach den bisherigen Überlegungen und dem augenblicklichen 
Stand unserer Kenntnisse von den Gelenkgeräuschen überhaupt, 
scheint sie mir zum mindesten als Provisorium lebensfähig zu sein. 
Die Liste der knackenden Tiere kann ich inzwischen noch um 
einige vermehren, wenn ich auch seit Erscheinen des ersten Auf- 
satzes nicht in viele fremde Tiergärten gekommen bin. So be- 
sinne ich mich darauf, daß der Steinbock ım Düsseldorfer Garten 
und die afrıkanischen Zwergziegen ın Leipzig deutlich knacken. 


Literatur. 


1. 1732. Linne, ©. v. Iter lapponieum. In Carl von Linne’s ungdomskrifter, 


utgifna af K. Vetensk. Akad. II. Stockholm 1889. 

2.1774. Hollsten, J. Afhandling om Renen. K. Vet. Ak handl. Stockholm 

3.1847. Nilsson. S. Skandinavisk Fauna I. Däggdjuren. Lund. 

4. 1873. Düben, @. v. Om Lappland och lapparna. Stockholm. 

5.1873. Brehm, A. E. Tierleben, ‚Die Säugetiere. Bd. 3. Leipzig. 

6. 1907. Ekman, S. Die Wirbeltiere der arktischen und subarktischen Hoch- 
vebirgszone im nördlichsten Schweden. In: Nattrw. Unters. d. Sarek- 
gebirges in Schwedisch-Lappland. Stockholm. 

7. 1911. Bergström, E. En iakttagelse öfver renens knäppning. Fauna och 
Flora. Uppsala. 

Ss. 1916. Hilzheimer, M In Brehm’s Tierleben, Säugetiere. Bd. 4. Leipzig. 

9. 1917, Mohr, E. Über das „Knacken“ bei einigen Paarhufern, besonders beim 
Renntier, Biolog. Zentralbl., Bd. 37. Leipzig. 


Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der Universitäts- 
suchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen. 





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Biolagsches Zentral 


Begründet von J. Rosenthal 


Unter Mitwirkung von 


Dr..&. Goebel und Dr. R. Hertwig 


Professor der Botanik Professor der Zoologie 
in München 


herausgegeben von 


Dr. E Weinland 


Professor der Physiologie in Erlangen 
Verlag von Georg Thieme in Leipzig 


39. Band Juni 1919 KENT. 


ausgegeben am 30. Juni 1919 








Der jährliche Abonnementspreis (12 Hefte) beträgt 20 Mark 

Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten 
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an 
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menziugerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, 
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R.:Hertwig, München, 
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physiolog. Institut. 
einsenden zu wollen. 








Inhalt: J.S Szymanski, Über den Antrieb. S. 257. 
R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock. 8. 266. 
H. Sik6ora, Vorläufige Mittejlung über Mycetscme bei Pediculinen, S: 237. 





Über den Antrieb, 
Von J. S. Szymanski, Wien. 
| (Mit 2 Figuren.) 
Die Ausdehnung des Gesetzes der Kontinuität des Geschehens 
auf die Lebensvorgänge führte zur Erkenntnis der Bedingtheit der 
motorischen Reaktion durch den auslösenden Reız. 


Die theoretisch abgeleitete methodische Formel — keine Re- 
aktion ohne auslösenden Reiz -— vermochte indes nicht, die Mannig- 


faltigkeit der zu erklärenden Erscheinungen restlos zu umfassen. 

Es wurden nur zu oft Fälle bekannt, ın welchen der gleiche 
auslösende Reiz einmal eine prompte, dann wieder gar keine bezw. 
abweichende Reaktion hervorrief. Diese Variabilität des Verhaltens 
empfand man zunächst als störend für den erwarteten Versuchs- 
verlauf. Erst allmählich ıst aus der unangenehm empfundenen 
Störung ein Problem geworden; man prägte für die Abweichungen 
von den als Norm angesehenen Verhaltungsweisen die Hilfsbegriffe 
der Umstimmung, der Reflexumkehr und Ähnliches. 

39. Band 15 


258 J. 8. Szymanski, Über den Antrieb. 


Diese Begriffe blieben einstweilen ziemlich. inhaltsleer; sie 
harrten einer weiteren Präzisierung und Unterordnung unter einem 
allgemeineren, physiologisch genauer definierbaren Oberbegriff. Den 
letzteren aufzustellen, war eine Denkforderung, der sich kaum ein 
Forscher, der sich je mit diesen Fragen befaßt hatte, entziehen 
konnte. Die fehlende Einförmigkeit des Reaktionsablaufes trotz 
des gleich bleibenden auslösenden Außenreizes kann man mit gutem 
Recht auf die in ıhrer Qualität und Intensität wechselnden Er- 
regungszustände des Organısmus zurückzuführen versuchen. Der 
Zustand der gesteigerten Erregbarkeit bewirkt eine bestimmte Ein- 
stellung der Rezeptionssphäre auf die Reize der Außenwelt, sensi- 
bilisiert die Rezeptoren im Sinne einer selektiven Auslese und der 
Auswertung der Reize und schreibt infolgedessen die Richtung der 
motorischen Reaktion vor. 

Die Gesamtheit der Merkmale eines Erregungszustandes in 
seiner Wirksamkeit auf das Zustandekommen einer motorischen 
Reaktion läßt sich ım Begriffe des Antriebes zu einem logischen 
Gebilde zusammenfassen. 

Wenn man von diesem Begriff das ıhm von altersher an- 
haftende transzendente Gepräge einer causa sui wegdenkt, so be- 
deutet der Antrieb nichts weiter als eine Steigerung der spezifischen 
Erregung, die das Individuum zur Stiftung bestimmter sensomoto- 
rıschen Verknüpfungen disponiert. 

Der Reizkomplex, der den Antrieb sich geltend machen läßt, 
kann sıch sowohl aus den äußeren wie auch den inneren Reizen 
zusammensetzen. 

Als Paradigma antreibender Innenreize seien Hungerreiz, Ge- 
schlechtsreiz u. dgl. mehr erwähnt; Beispiele für die antreiben- 
den äußeren Reize liefern die überoptimale Temperatursteigerung 
des Leberaumes, die überoptimalen Lichtverhältnisse (insb. in ihrer 
Wirkung auf die in Dunkelheit lebenden Tiere), Durchnässung des 
Körpers bei vielen Insekten!) u.s. f. 

Die motorische Äußerung des Antriebes macht sich zunächst 
in einer gesteigerten, ziel- und planlosen Beweglichkeit (Such- 
bewegungen) kund. Die Suchbewegungen werden erst durch die 
Einwirkung eines neuen Reizes (effektiver Reiz), auf dessen Rezeption 
der Organismus im gegebenen Momente besonders eingestellt ist, 
zu geordneten motorischen Reaktionen (Aneignungs- bezw. "Ab- 
weisungshandlung) erhoben. 

Die effektiven Reize gehören in der Regel der Außenwelt 
(Futter, Weibchen u.s.f.) und bloß in den Ausnahmsfällen der 
Innenwelt des Tieres selbst an (z. B. die Putzreflexe der Insekten 
unter der Einwirkung von zentralen Reizen). 


1) Vgl. meinen Aufsatz über „Das Verhalten der Landinsekten dem Wasser 
gegenüber“- (Biol. Zentralbl. 1918, S. 342). 








J. S. Szymanski, Über den Antrieb. 259 


Das Verhältnis zwischen den antreibenden und effektiven Reizen 
kann sich zweierlei gestalten. Das weitaus häufigste Verhältnis ist 
das oben erwähnte, d. h. die antreibenden Reize fallen nieht mit 
den effektiven zusammen; so können z. B. die Vorgänge im Darm- 
kanal als antreibender, das Futter als effektiver Reiz dienen. Es 
kann jedoch in anderen Fällen der antreibende Reiz sich mit dem 
effektiven decken; die Rezeption des Feindes wirkt z. B. gleich- 
zeitig als antreibender, d. h. den Zustand der spezifischen Erregung 
herbeiführender, und effektiver, d. h. die Bewegungsrichtung be- 
stimmender Reiz. Für die feinere Analyse des Antriebes kommt 
die Prüfung einiger Bedingungen, die für die Entstehung und die 
nachträgliche Ausführung neuer Gewohnheitshandlungen voraus- 
gesetzt sein müssen,besonders in Betracht. 

Es lassen sich durch diese Prüfung drei Fragen dem Ver- 
ständnis näher bringen. Und zwar läßt sich zunächst die unbe- 
dingte Notwendigkeit des Antriebes zur Ausführung einer Hand- 
lung demonstrieren; dann läßt sich ein Einblick in die abnehmende 
Wirksamkeit eines Antriebes in Abhängigkeit von der abnehmenden 
Intensität desselben gewinnen. Schließlich läßt sich die ver- 
schiedene Valenz verschiedener Antriebsqualitäten nachweisen. 

Die Notwendigkeit eines Antriebes von genügender Intensität 
für die Ausbildung einer Gewohnheitshandlung demonstrieren» am 
eklatantesten jene Fälle, in denen einerseits das gleiche Tier außer- 
stande war, bei einem geringeren Antrieb eine Gewohnheitshand- 
lung auszubilden, andererseits aber bei Eingreifen eines stärkeren 
Antriebes und sonst gleich bleibenden übrigen Bedingungen die 
gleiche Handlung prompt und schnell zu erlernen vermochte. So 
z. B. konnten weiße Ratten nicht erlernen ein einfaches Labyrinth 
auf dem kürzesten Wege zu durchlaufen, wenn bloß der Erregungs- 
zustand, der das Entfernen aus dem Nest herbeiführt, als Antrieb 
diente; es ließ sich jedoch die gleiche Handlung in kurzer Zeit 


ausbilden, nachdem der Hunger als Antrieb gewirkt hatte. Gleich- 


falls erlernten Katzen bei einem ungenügenden Antrieb (schwacher 
Hunger) nicht — wohl aber bei einem solchen von starker Intensität 
(starker Hunger) —, den Futterkäfig auf dem kürzesten Wege zu 
finden (Fig. 1Au.B). 

Die Tatsache, daß die Wirksamkeit eines Antriebes sich mit 
abnehmender Intensität desselben verringert, wurde besonders deut- 
lich durch jene Fälle nachgewiesen, in welchen die fehlerlose Aus- 
führung einer bereits perfekt ausgebildeten Gewohnheitshandlung 
infolge der Abnahme der Antriebsintensität verhindert wurde. 

So zeigten Versuche an weißen Ratten, daß die Tiere, die be- 
reits perfekt erlernt hatten, ein Labyrinth auf dem kürzesten Wege 
zu durchlaufen, diese Handlung nicht fehlerlos auszuführen ver- 
mochten, falls der Antrieb. der bei dem Lernvorgang wirkte, sich 

18° 


TERN Hr ON EEE RN 
1 « 






60 J. J. Szymanski, Über den Antrieb. 





nicht mehr geltend machte. Es stellte sich weiter heraus, daß die 
Ausführung der perfekt erlernten Handlung um so ungenügender 


Figur 1, Abb. A. 


A 00 ' | 


4 
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2900 


erreiche Su 





339 


Ze DE a 


20 an ELLI 50 u 30 80 ET] 


Notwendigkeit eines Antriebes von genügender Intensität für die Ausbildung einer 
Gewohnheitshandlung. 


A. Lernvorgang bei weißen Ratten: 

I = Zeitkurve, IT = Wegkurve, III = Fehlerkurve. Auf der Ordinate sind einge- 
tragen: In I Sekunden, in II Zentimeter, in III die Anzahl der Fehler; auf der Ab- 
szisse sind in sämtlichen Fällen die Versuchstage eingetragen. Die gestrichelte Linie 
trennt die Versuche, in denen das „Zum-Wohnkäfig-gelangen“ als Antrieb diente, 
von den Versuchen ab, bei denen Hunger als Antrieb diente. 

Zur Kurve II: 339 cm betrug der kürzeste Weg, auf dem das Tier den Wohn- 
käfig, bezw. das Futter (in Versuchen 62 bis 88) erreichen konnte. 


J. S. Szymanski, Über den Antrieb. 261 





war, eine je schwächere Antriebsintensität zur Wirkung gelangte ?) 
(Fig. 2, Abb. B). 

Als ein anderes Beispiel der Abhängigkeitsbeziehung zwischen 
der. Antriebsintensität und Ausführung einer Gewohnheitshandlung 
‚sei noch der Fall angeführt, in dem ein Rattenweibchen, das seine 
Jungen säugte, erlernen sollte. das Labyrinth unter der Wirkung 
des spezifischen Erregungszustandes, der die Mutterpflege kenn- 
zeichnet und der als Antrieb diente, auf dem kürzesten Wege zu 
durchlaufen. Diese Handlung konnte sich ausbilden; die fehlerlose 
Ausführung derselben dauerte jedoch bloß so lange, als das Weib- 
chen die Jungen säugte (Fig. 2, Abb. A). 


Figur 1, Abb. B. 


1 29130 - 40 


B. Lernvorgang bei zwei Katzen: 


Auf der Abszisse sind die Versuchstage, auf der + Ordinate die richtige, auf der 
— Ördinate die falsche Richtung eingetragen. Die gestrichelte Linie trennt die 
Versuchstage, während welchen die Versuchstiere im Zustande eines ganz geringen 
Hungers gehalten wurden, von den Versuchstagen ab, während welchen die Tiere 
stark hungern mußten. 


Die Untersuchung der Bedingungen, die für die Entstehung 
einer Gewohnheitshandlung notwendig vorauszusetzen sind, gewährt 
schließlich einen Einblick in die Frage über die Valenz verschiede- 
ner Antriebsqualitäten. 

Es gibt einige Möglichkeiten, dieser Frage näherzukommen. 
Eine dieser Möglichkeiten besteht darin, daß man eine Anzahl 
Individuen, die eine gleiche Gewohnheitshandlung jedoch bei der 
Wirkung von verschiedenen Antriebsqualitäten erlernt bezw. nicht 
erlernt haben, miteinander vergleicht. 

Wenn alle untersuchten Individuen eine gleiche Handlung bei 
einer Antriebsqualität erlernten, bei einer andeien aber bloß wenige 
oder keines, so liegt es nahe, daß jene Antriebsqualität sich im 
allgemeinen von einer bedeutenderen Stärke als diese für die ge- 
geprüfte Tierart erweist. 


2) Die gleichen Versuche an Ratten ließen weiter vermuten, daß ausschließlich 
jene Antriebsart, unter deren Wirkung die Ausbildung der Gewohnheitshandlung 
zustande gekommen ist, die nachträgliche fehlerlose Ausführung der gleichen Hand- 
lung bedingt; andere Antriebsarten scheinen unwirksam zu sein. 


262 


J. 8. Szymanski, Über den Antrieb. 


So erlernten z. B. alle untersuchten weißen Ratten, das Laby- 


rınth auf dem kürzesten Wege zu durchlaufen, wenn Hunger als 
Antrieb diente; von drei nn Ratten- Weihehen, welche die 


Figur 2, Abb. A. 


A 


750 


1508 





1000+ 





9 2 
*C 20 Jo vo 50 ‚wo 


Abhängigkeitsbeziehung zwischen dem Antrieb und Fortbestehen von 
Gewohnheitshandlungen. 


. Der Lernvorgang eines Ratten-Weibchens: 


I = Zeitkurve, II= Wegkurve, III = Fehlerkurve Auf der Ordinate sind ein- 
getragen: In I Sekunden, in II Zentimeter, in III die Anzahl der Fehler; auf 
der Abszisse sind in sämtlichen Kurven die Versuchsnummern eingetragen. 

Zur Kurve II: 339 cm betrug der kürzeste Weg, auf dem das Tier den Wohn- 
käfig mit den Jungen erreichen konnte. Vom 35. Versuche an säugte die Ratte 
die Jungen entweder gar nicht mehr oder bedeutend seltener. 


Jungen säugten, erlernte bloß ein Tier, das gleiche Labyrınih auf 
dem kürzesten Wege zu durchlaufen, wenn der Erregungszustand, 
der mit der Mutterpflege einhergeht, als Antrieb diente; schließlich 
vermochte kein einziges Individuum, die gleiche G ewohnheitshand- 


L 


 J. 8. Szymanski, Über den Antrieb. 263 


lung auszubilden, wenn der Erregungszustand, der das Entfernen 
aus dem Nest bewirkt, als Antrieb wirkte. 
Diese Ergebnisse lassen annehmen, daß der Hunger bei weißen 


Figur 2, Abb. B. 


N /B 


700: 


30 





[0] 


05 4 22 


B. Verhalten der weißen Ratten, die bereits früher fest erlernten, das Labyrinth 
unter dem Einfluß des Hungers auf dem kürzesten Wege zu durchlaufen. 
I — Zeitkurve, IT= Wegkurve, III= Fehlerkurve. Auf der Abszisse sind in 
‚sämtlichen Kurven die Stunden eingetragen, in denen vor den diesbezüglichen 
Versuchen die letzte Fütterung stattgefunden hatte; auf der Ordinate sind die 
gleichen Werte wie in der Abbildung A eingetragen. 


Ratten im allgemeinen von größerer Wirksamkeit als die Mutter- 
pflege für das Verhalten der Tiere gelten darf; und eine noch ge- 
geringere Wirksamkeit kommt der Nestgewohnheit (wenigstens in 
der Gefangenschaft) zu. 


BAR DRS (SE SEE BE NER ER 3 ES BEE Se aan a a a N N su 
964 J. S. Szymanski, Über den Antrieb. 


Vielleicht noch exakter läßt sich die Stärke von verschiedenen 
Antriebsqualitäten auf Grund der Untersuchung der Lernge- 
schwindigkeit klassifizieren. 

Wenn einige Vertreter einer Tierart bei einem Antrieb schneller 
als die anderen Individuen der gleichen Art bei einer anderen 
Antriebsqualität eine gleiche Handlung erlernen, so liegt der Gedanke 
nahe, daß der erste Antrieb wirksamer als der letztere sein dürfte. 

Die Abhängigkeit der Lerngeschwindigkeit von den verschiede- 
nen Antriebsqualitäten wurde an weißen Mäusen untersucht 3). 

Je eine Gruppe von Mäusen mußte erlernen, das gleiche Laby- 
rınth, aber unter der Wirkung von verschiedenen Antriebsqualitäten, 
auf dem kürzesten Wege zu durchlaufen. 

Als Antrieb diente bei einer Gruppe der Erregungszustand, der 
durch die Einwirkung des erhitzten Bodens, auf dem das Labyrinth 
aufgestellt war, auf SE, Hautsinnesorgane er Pfoten herbeigeführt 
wurde; bei dor anderen Gruppe ee als Antrieb der ee 
zustand, der durch die Einwirkung des feuchten Bodens, auf dem, 
das Labyrinth aufgestellt war, auf die Hautsinnesorgane der Pfoten, 
hervorgerufen wurde. 

Diese Versuche führten zum Ergebnis, daß die Lerngeschwindig- 
keit der Mäuse, die bei der Wirkung des stärkeren Antriebes („der 
erhitzte Boden“) das Labyrinth erlernen mußten, mehr als zweimal 
größer war als die Lerngeschwindigkeit der Mäuse, deren Unter- 
suchung bei der Wirkung des schwächeren Antriebes („der feuchte 
Boden“) erfolgte. N 

Schließlich ergibt sich noch eine Möglichkeit, sich über die 
Stärke von verschiedenen Antriebsqualitäten Rechenschaft zu geben. 

Man läßt nämlich auf ein Tier gleichzeitig zweierlei Reiz- 
komplexe einwirken, von denen der eine, eine von Geburt an wirk- 
same, d. h. die Bewegungsrichtung obligatorisch bestimmende Re- 
zeption, der andere eine uneffektive Rezeption erweckt. Die un- 
effektive Rezeption, falls dieselbe durch die Übung zum Rang einer 
wirksamen erhoben sein könnte, würde eine Handlung auslösen, 
die zum Abflauen einer der zu untersuchende# Antriebsqualitäten 
führen würde; die wirksame hingegen, falls dieselbe für die Be- 
wegungsrichtung auch weiter ausschlaggebend bleiben sollte, würde 


5) Hier möchte ich die Frage aufwerfen, ob diese Methode sich nicht als 
überhaupt tauglich für die Klassifikation der Antriebe nach ihrer motorischen Wirksam- 
keit erweisen könnte. Daß ein Zusammenhang zwischen der Antriebsstärke und 
Lernfähigkeit auch bei den Menschen zu bestehen scheint, beweist eine von Katz 
gefundene Tatsache, daß ein Kind von 2!/, Jahren zwar nicht aus einer Reihe 
gleichfarbiger Spielmarken, wohl aber aus einer Reihe Schokoladestückchen, von 
denen wie bei den Spielmarken jedes zweite festgeklebt war, jedes zweite Stück nach 
kurzer Übung richtig fortnahm (zit. nach K. Bühler, Die geistige Entwicklung 
des Kindes 1918, S. 92). 








J. S. Szymanski, Über den Antrieb. 265 


eine Handlung bewirken, die zwar nicht das Abflauen dieses An- 
triebes, wohl aber der anderen zu untersuchenden Antriebsquah- 
täten herbeiführen müßte. 

Wenn das Tier allmählich durch wiederholte Übung erlernt hätte, 
die Bewegungsrichtung nach der zunächst uneftektiven Rezeption 
zu richten, so müßte man schließen, daß der Antrieb, der durch die 
von Geburt an wirksame Rezeption bewirkt war, sich als schwächer 
als der Antrieb, der zum Wirksamwerden der uneffektiven Rezeption 
führte, erwiesen hat. In der Tat erwies sich z. B. der Hunger bei einer 
positiv phototaktischen Fischart (Ellritze) stärker als die erregende 
Wirkung des Lichtes und bei den negativ phototaktischen Schaben 
zeigte sich der Schmerz (die Wirkung des elektrischen Schlages) 
wirksamer als ebenfalls die erregende Wirkung des Lichtes. 

Nachdem ich auf Grund dieser Tatsachen die prinzipielle 
Wichtigkeit des Antriebes für die Ausführung einer Handlung zu 
zeigen versucht hatte, komme ich auf die anfangs erwähnte all- 
gemeine methodische Formel — keine Reaktion ohne auslösenden 
Reiz -— zurück. 

Nach allen vorhergegangenen Auseinandersetzungen bedarf 
diese Formel einer Vervollständigung und Erweiterung. 

Es unterliegt keinem Zweifel — wenigstens nach unseren 
heutigen erkenntnistheoretischen Anschauungen —, daß es keine 
Reaktion ohne auslösenden Reiz gibt; es ist aber ebenso wahr, 
daß der Reiz bloß ın dem Falle zum Hervorrufen einer wirksamen, 
d. h. die Bewegungsrichtung bestimmenden Rezeption, die erst den 
motorischen Mechanismus in Gang setzt, führen kann, wenn dies 
der ım gegebenen Moment im Organismus vorwaltende Antrieb 
erfordert. 

Demnach wäre es angezeigt, die oben erwähnte Formel in 
dem Sinne zu erweitern, daß auch der Begriff des Antriebes darin 
berücksichtigt wäre. - 

Der erweiterte methodische Satz müßte etwa besagen, daß es 
ohne auslösenden Reiz keine Reaktion, jedoch ohne genügenden 
Antrieb keine wirksame Rezeption gibt. 


266 R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock. 


Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock. 
Von R. Demoll. 


In dem 38. Band dieser Zeitschrift hat v. Buddenbrock 
mein Buch über „Die Sinnesorgane der Arthropoden, ihr Bau und 
ihre Funktion“ einer Kritik unterzogen, in der er in der Haupt- 
sache auf einige Punkte hinweist, die in diesem Buch nach seiner An- 
sicht eine zu geringe Beachtung gefunden haben oder überhaupt 
einer Besprechung nicht gewürdigt wurden. 


Ich nehme an, daß er hierbei alle die Fehler erwähnt hat, 
die ihm die bedenklichsten zu sein schienen und da all die von 
ihm gerügten Unterlassungen von mir beabsichtigt und wohl über- 
legt waren, so ist es um so mehr angebracht, daß ich die Momente 
hier anführe, die mich in meinem Verhalten bestimmten, als ich 
aus der Abhandlung v. Buddenbrock’s ersehe, daß man auch unter 
den physiologisch durchgebildeten Zoologen nicht immer annehmen 
darf, daß sie zur richtigen Einschätzung der hier zur Sprache 
gebrachten Vorwürfe gelangen können. 


Als Erstes wirft er mir vor, daß der Thigmotropismus und 
weiter dann, daß der Phototropismus keine Erwähnung darin findet. 
v. Bu ddenbr ock sagt damit, daß die Behandlung der Tropismen 
von dem Übertitel "Funktion der Sinnesorgane* notwendig ge- 
fordert wird. 


Hierzu ist zu bemerken, daß er mit diesem Standpunkt wohl 
sehr isoliert stehen mag. Ich will gar nicht darauf hinweisen, daß 
in den Physiologie-Büchern, die nur die Wirbeltiere bebann 
ein Kapitel über die Tropismen häufig ganz fehlt. Ich bitte nur 
v. Buddenbrock sich darüber zu orientieren, daß ın allen Büchern, 
in denen die Tropismen behandelt sind, diese nicht unter dem 
Obertitel „Physiologie der Sinnesorgane“ erscheinen, sondern ein 
völlig hiervon abgetrenntes Gebiet darstellen. So auch in Winter- 
stein’s Handbuch, wo die Tropismen und die Physiologie der Sinnes- 
organe, ferner die Reflexe etc. als einander koordinierte Abhand- 
lungen unter dem Übertitel „Physiologie der Reizaufnahme, Reiz- 
leitung und Reizbeantwortung“* zusammengefaßt sind. Und dies 
mit vollem Recht. Man ist sich heute noch nicht einig, wie die 
Tropismen aufzufassen sind. Aber ganz gleichgültig, ob man sie 
durchweg als Reflexe auffaßt, oder ob man in ihnen zum Teil ein 
dem Protoplasma ureigenes Geschehen sieht, so oder so, in keinem 
der beiden Fälle kann es motiviert werden, die Tropismen unter 
den Titel „Die Funktion der Sinnesorgane“ zu stellen. 


Würde man also schon in einer Abhandlung, die sich auf die 
Sinnesorgane sämtlicher Tiere bezieht, eine Mitbetrachtung der 





u ' 





R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock. ‘ 267 


Tropismen ım Titel ausführlich zu erwähnen haben, so hat diese 
in einer abgegrenzten Darstellung der Funktion der Sinnesorgane 
eines einzigen Tierkreises erst recht nichts zu suchen, falls man 


‚ nicht willkürlich dem Buch einen aus zwei Teilen zusammenge- 


Pr 


setzten Inhalt geben will. 


Welche Beziehungen bestehen denn zwischen der Spezifität 
der Sinnesorgane und den Tropismen? Haben die Arthropoden 
irgendwelche durch den Charakter ihrer Sinnesorgane besonders 
gekennzeichnete Tropismen?. Ist der Heliotropismus ein anderer, 
wenn er vom Fazettenauge, und ein anderer, wenn er vom Linsen- 
auge ausgelöst wird? Ist derjenige der Mollusken und der Krebse, 


da wo er verschieden ist, deshalb verschieden, weil die Augen ver- 


schieden gebaut sind? und da, wo er gleich ist, deshalb gleich, 
weil die Augen gleich sınd? Was hat es mit den Sinnesorganen 
zu tun, daß, um ein Beispiel aufzustellen, bei gewissen Copepoden 
nur die Weibchen einen deutlichen Phototropismus zeigen, daß 
ferner bei den Larven der Stomatopoden und mancher Macruren 
die Lichtstimmung mit dem Lebensalter mehrmals wechselt? 


Die Tropismen haben mit der Eigenart der Sinnesorgane nur 
einen lockeren Zusammenhang. Dagegen sind sie etwas so allgemein 
dem Leben zukommendes, daß es wohl nie jemand einfallen würde, 
eine selbständige zusammenfassende Abhandlung über die Tropis- 
men eines einzigen Tierkreises zu schreiben. Man überlege sich 
doch nur, daß die Tropismen mit den Sinnesorganen nicht enger 
verknüpft sind und von ihrer Spezifität nicht mehr beeinflußt 
werden, als jeder beliebige Reflex. Warum also nicht auch fordern, 
daß ich ebenso z. B. alle dem Beuteerwerb dienenden Reflexe zu 
beschreiben habe. Derartige Reflexe sind in dem Buch genau so 
wie die Tropismen eben nur da beigezogen, wo sie über die Phy- 
sıologie der betreffenden Sinnesorgane etwas auszusagen vermögen. 
Ein „Mehr“ schien mir nicht angebracht, und die Ausführung von 

Buddenbrock vermochte nichts wesentliches zu bringen, was 
mich von diesem Standpunkt hätte abwenden können. Auch seine 
Originalarbeiten über den Phototropismus der Arthropoden, deren 
Erwähnung er ja wohl in meinem Buch vermißt, vermochten mir 
nicht das Wesen des Photoprotismus in ein anderes Licht zu setzen. 


Wohl sehe ich ein, es wäre besser gewesen, wenn ich alles dies 
schon im Vorwort des Buches gesagt hätte; ich glaubte aber an- 
nehmen zu dürfen, es sei dies zu geläufig, um erwähnenswert zu 
sein. Dies war ein Irrtum, denn v. Buddenbrock schreibt: 
„Es ıst schwer zu begreifen, was Demoll unter „Funktion der 
Sinnesorgane“ versteht, wenn er dies alles zu bringen für über- 
flüssig erachtet.* Damit meint v. Buddenbrock weiter, die Be- 
trachtung der tonuserregenden Wirkungen mancher Tastsinnes- 


268 ; R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock. 


organe; ja er geht noch viel weiter und verlangt, daß die Reflex- 
wirkungen auf die Chromotaphoren ebenfalls hier zu besprechen 
wären. Vielleicht nımmt er das Handbuch von Winterstein zur 
Hand, um dort zu finden, daß dieser Gegenstand ın den Bänden 
über Energie und Formenwechsel zur Sprache gebracht wird, 
während die Sinnesorgane natürlich nur unter dem oben erwähnten 
Übertitel gefunden w ih 

Gestik: es dürfte mır wohl kaum ein For wurf daraus gemacht 
worden sein, wenn ich unter dem Öbertitel, wie ıhn das Buch 
führt, auch die Tropismen gestreift hätte. Der Umfang des Buches 
war jedoch in enger Grenze festgelegt. Ich erhielt zunächst die 
Aufforderung für den Verlag ein Buch über die Sinnesorgane der 
Arthropoden im Umfang von 10 Bogen zu schreiben. Ich ant- 
wortete, daß ich gerne diese Anregung aufnehmen würde, daß ich 
aber darauf bestehen müsse, daß mir 15 Bogen zugebilligt werden. 
In diesem Sinne wurde dann der Vertrag abgeschlossen. ' Wollte 
ıch das was der Titel des Buches zu behandeln verlangt, einiger- 
maßen eingehend darstellen, so durfte ıch nicht auf dessen Kosten 
vom Wege abliegende Gebiete betreten. Wurde es mir doch schön 
schwer genug, die große Zahl der Sinnesorgane mit bisher unbe- 
kannter Funktion, wie sie einzelnen Oruppen der Arthropoden 
vielfach zukommen, gänzlich unbesprochen lassen zu müssen. So 


mußte denn zunächst alles ausscheiden, was nicht direkt zu „Bau 


und Funktion“ der Sinnesorgane gehört. Und dazu zählen die 
Tropismen und natürlich auch die Abhängigkeit der Hauptpigment- 
stellen von Sinnesorganen. 

Der nächste Vorwurf, den mir v. Buddenbrock macht und 
der darin besteht, daß ıch die Funktion der Halteren, über die er 


selbst gearbeitet hat, nicht erwähnt habe, kann ıhm so sehr nicht 


verübelt werden. Ich gestehe, daß mir selbst zunächst vorschwebte, 
daß auch dieser Gegenstand zu berücksichtigen wäre und daß ich 
erst davon absah, als ıch in die Betrachtung näher eintrat und als 
mir klar wurde, daß der Stabilisierungs- und Bewegungsmechanis- 
mus, der in den. Halteren voraussichtlich gegeben ist, mit einer 
Sınnesfunktion nicht mehr zu tun hat, als der Steuerungs- und 
Stabilisierungsmechanismus, der für den Vogelflug in den Schwanz- 
federn gegeben ist. Zu beschreiben waren also nur die Sinnes- 
organe auf den Halteren, und hierbei wurde ıch durch die Funktion 
der Sinnesorgane, die sich auf der schnellen Schwingung der 
Halteren aufzubauen scheint, auch zu der Frage nach der Be- 
ziehung dieser Sinnesorgane zu den Halterenschwingungen gebracht. 


Eine Verkennung der Sachlage ist hier allerdings um so leichter 


möglich, als die Halteren dadurch, daß sie mit Binndahiernn an 
der Basis übersät sind, leicht selbst in ihrer Gesamtheit als Sinnes- 
organe aufgefaßt werden. Mit wohlüberlegter Absicht habe ich 








- 







R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock. 369 
diese Funktion der Halteren nicht erwähnt, weil durchaus nicht 
‚in den Rahmen gehörig. Dagegen wird v. Buddenbrock in meiner 
Arbeit „Über den Flug der Insekten und der Vögel“, die ich gleich- 
zeitig mit der Herstellung des Buches in Gang hatte, die von ihm 
aufgestellte Hypothese hinsichtlich der Funktion der Halteren ge- 
würdigt finden. Dort war eine‘ Heranziehung dieser Arbeit am 
Platze, hier aber nicht und daher unterblieb sie auch. Erstaunlich 
ist mir allerdings doch, daß v. Buddenbrock nie selbst auf diesen 
Gedanken kam, nachdem er folgende zwei Fragen als besonders 
schwerwiegend und als mit „keinem Wort“ erwähnt aufstellt, 
die ihm Heutlich genug das Gesagte hätten klar werden een 
können. 


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Er schreibt: „Ich schicke voraus, daß sich z. Z. unsere ganze 
Kenntnis von der Funktion‘ der Halteren auf zwei schon sehr lange 
bekanten Versuchen aufbaut. 1. Können die Dipteren nach Heraus- 
reißen der Halteren nicht mehr oder nur sehr schlecht fliegen 

und 2. tritt der gleiche Effekt ein, wenn man die Halteren fest- 
klebt. Jede zukünftige Behandlung dieses Problems muß not- 
wendigerweise von diesen zwei Grundversuchen ausgehen. Trotz- 
dem steht in Demoll’s Buch kein Wort von ihnen, sei es, daß 
er sie für bekannt voraussetzt oder aus sonst einem mir unerfind- 
liehen Grunde.“ 


Hierzu zwei weitere Fragen, die ich v. Buddenbrock vor- 
legen möchte. 1. Können die Vögel nach Herausreißen der Schwanz- 
federn nicht mehr oder nur sehr schlecht fliegen? und 2. hat diese 
' Frage etwas mit Sinnesorganen zu tun? es sei denn mit dem 
Schmerzsinn. v. Buddenbrock wird mir vielleicht antworten, 
daß ein Vergleich hier insofern nicht möglich ist, als die Hal. 
teren mit nahen dicht besetzt sind, daß also mit dem 
Ausreißken der Halteren auch die Sinhsbraane entfernt werden. 
Nun wird ‚man aber doch kaum fehl gehen, wenn man von den 
-  »Sınnesorganen, die die Basis der Halteren umgeben, annimmt, daß 
- ihre Funktion mit der Bewegung der Schwinger selbst in Zu- 
> sammenhang steht, daß sie sozusagen für die Schwinger da sind. 
- Ist dies aber der Fall, so kann ein Ausreißen der Halteren oder 
ein Festlegen derselben nur etwas aussagen über die Bedeutung 
der Bewegungen der Halteren, aber nichts über‘ die Bedeutung 
der Sinnesorgane für die Halteren. Dies wäre nur möglich, wollte 
man ihnen eine Funktion zuschreiben, dıe nicht dıe Halteren, son- 
dern sonst einen Teil des Körpers trifft. v. Buddenbrock wird 
also kaum beı dieser Behauptung stehen bleiben können, wenn er 
nicht in diesen Sinnesorganen selbst statische Organe oder etwas 
Derartiges sieht. 





I70 R. Demoll. Antwort auf die Kritik von v. Buddenbiock. 

Den Vorwurf von v. Buddenbrock muß ich also entschieden 
zurück weisen. 

Ich nehme hier gern die Gelegenheit wahr, auf die Kritik von 
Weinland zurückzukommen, die ich als zu Recht bestehend an- 
erkennen muß. Weinland war der Erste, der mit der Ansicht 
aufräumte, daß die Sinnesorgane an der Basis der Halteren Geruchs- 
oder Gehörsorgane sind. Ich bedauere, dies nicht hervorgehoben 
und einen Passus folgender Art eingefügt zu haben: Weinland, 
der zum erstenmal darauf hinwies, daß die Sinnesorgane auf den 
Halteren auch für die Halteren sind, nimmt an, daß die federnden 
Kuppeln durch die Zentrifugalkraft nach Maßgabe der Geschwindig- 
keit der Halteren eine verschieden starke Schleuderbewegung aus- 
führen und auf diese Weise die Bewegung der Halteren zu regi- 
strieren imstande sind. 

Meine eigene Auffassung lehnt sich an diese Weinland’s an; 
doch vermute ich, daß es nicht Scheuderbewegungen der Kuppeln 
sind, die den Funktionsreiz liefern, sondern. Dehnungen und Zu- 
sammenpressungen der Kuppeln an ıhrer Basıs. Diese Auffassung 
scheint mir insofern den Vorzug zu verdienen, als einmal die Masse 
dieser Kuppeln so minimal ist, daß an der postulierten Zentrifugal- 
wirkung gezweifelt werden kann; wichtiger aber als dies scheint 


mir, daß die Drucksinneskuppeln auf dem Schmetterlingsflügel ihrem 


Bau nach eine Schleuderbewegung der Kuppeln nicht zulassen. 
Und doch scheint für beide Gruppen dieselbe Funktion vorzuliegen. 
Auch wäre zu erwarten, daß eine Häufung dieser Sinnesorgane 
nicht an der Basis stattfindet, sondern da, wo die Zentrifugalkraft 
am stärksten wirkt, an den distalen Enden. (Die Erklärung, die 
Weinland für diese Lage gibt, kann jedenfalls nicht auch für die 


Schmetterlinge gelten, scheint mir aber auch für die Halteren 


keineswegs zwingend.) 

Weiter kritisiert v. Buddenbrock, daß ıch wohl ausführlich 
die Funktion der statischen Organe derjenigen Krebse besprochen 
habe, deren Statocysten einander entgegenarbeiten hinsichtlich der 
Reflexe, die von ihnen ausgelöst werden, daß ich aber nur mit 
einem Satz auf diejenigen eingegangen bin, bei denen die gleichen 
Reflexe von der rechten und linken Statocyste ausgehen, und daß 
ich hier das Wort „sollen“ als Fragezeichen eingefügt habe. Wenn 
ich diesen Vorwurf auch insofern anerkenne, als ıch gut getan hätte, 
mich über das „sollen“ näher auszusprechen so muß ich doch hin- 
zufügen, daß wir eben dank der schönen Arbeit von Kühn über 
die Reflexe der 1. Gruppe sehr genau orientiert sind. Dagegen 
scheinen mir bei der 2. Gruppe immer noch Momente vorhanden 
zu sein, die es mir fraglich werden lassen, ob erneute eindringliche 
Untersuchungen hier nicht doch zu etwas anderen Resultaten führen 
würden. 


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R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock. 971 


. Ich schrieb:- „Bei den schwimmenden Dekapoden sollen nach 
Beobachtungen, die schon von Delage gemacht wurden und nach 
solchen neueren Datums beide Statocysten in jeder Körperlage 
genau gleiche Reflexe auslösen. Die Schrägstellung der Sinnes- 
fläche läßt das Verhalten schwer verständlich erscheinen.“ Die 
Schrägstellung bewirkt, daß bei einer Neigung des Tieres nach 
der Seite, die eine Fläche in Horizontallage kommt, während die 
andere in diesem Moment (z. B. bei Mysideen nach Bethe’s Ab- 
bildung) nicht nur schon senkrecht steht, sondern bereits über- 
hängt. Dort ruht also der Stein auf der horizontalen Unterlage, 
hier hängt er frei an der Wand. Trotzdem können zweifellos Re- 
flexe gleicher Qualität von den beiden verschieden gereizten Stato- 
‚cysten ausgehen. Wird doch die Erregung in ihrer Qualität nicht 
von dem Reiz bestimmt, und es kann dies auch weiter für alle 
Lagen derart durchgeführt sein, daß die gleichen Reflexe von den 
stets verschiedenartigen (mit Ausnahme der zwei Normallagen), 
aber zusammengehörigen Reizen ausgelöst werden. Das aber, woran 
ich zweifle, ist, daß „genau gleiche Reflexe“, d.h. auch hinsichtlich 
der Intensität gleiche Reflexe, ausgelöst werden können; gilt doch 
die Regel, daß ein intensiverer Reiz auch die stärkere Erregung 
auslöst und die Reize muß man doch wohl als verschieden stark an- 
nehmen bei einem auf der Unterlage ruhenden und bei einem mit 
seinem ganzen Gewicht an den Haaren hängenden Stein. Weil 
ich hier erwarten muß, daß erneute eingehende Untersuchungen 
doch noch Differenzen, wenigstens hinsichtlich der Intensität auf- 
decken werden, deshalb habe ich das Wort „sollen“ eingefügt. 
Dies sollte zu neuen Erwägungen und Untersuchungen des vor- 
liegenden Problems anregen. 


Wie auch das Resultat solcher neuen Untersuchungen sein 
mag, sei es, daß meine Vermutung bestätigt wird, sei es, daß in 
der Tat genau gleiche Reflexe ausgelöst werden, immer liegt eine‘ 
Bereicherung unserer Erkenntnis vor. Auch ım letzten Fall. Denn 
vorderhand kann man es noch nicht wagen, aus den Beobachtungen 
von Delage u.a. den weittragenden Schluß zu ziehen, daß hier 
ein Organ vorliegt, dessen Erregungen hinsichtlich ihrer Intensität 
gänzlich unabhängig sind von der Intensität des Reizes!). Das 
„Sollen“ ist also nach meiner Ansicht ganz und gar berechtigt. 


1) Nur beim Sehen und zwar bei dem des Menschen und auch bei dem des 
Schinpansen und Haushuhns (Köhler) konnte bisher für bestimmte Fälle der 
Mangel einer Beziehung zwischen Reizintensität und Wirkung festgestellt werden, 
Es gilt dies für das vergleichende Sehen von Oberflächenfarben, das in weitgehendem 
(sehr stark bei schwarz-weiß) Maße von der Beleuchtungsintensität unabhängig bleibt. 
Hier liegen psychologische Faktoren zu Grunde. 

Ob sonst noch Ähnliches beobachtet wurde, ist mir nicht bekannt. 


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379 R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock. 


Und wenn v. Budllenbebel: die Anregung zum erneuten Über- 
denken dieser hier auftauchenden Fragen nicht aufgenommen hat, 
sie sogar energisch zurückweist, so kann ich nur hoffen, daß ich 
nicht bei allen Lesern dieses Buches hier den Zweck so verfehlt 
haben möge, 

Der nächste Vorwurf lautet: „Die fundamentale Tatsache, 
daß die Statocysten zum Balancieren nicht nur um die Längsachse, 
sondern auch um die horizontale Querache dienen, wird dem Leser 
ebensowenig mitgeteilt, wie die gleichfalls nicht unwichtige, daß 
bei den schwimmenden Dekapoden die Abdominalfüße die wich- 
tigsten Erfolgsorgane der Statocysten darstellen.“ 

Der zweite Teil dieses Satzes ist ja. bereits bei Behandlung 
der Tropismen, Reflexe etc. besprochen. 

Was die erste Hälfte anlangt, so hatte ich hier allerdings den 
Fehler begangen, etwas für zu selbstverständlich zu halten, näm- 
lich, daß der Statolith durch Verschiebung auf der plattenartigen 
Unterlage nach jeder Richtung hin entsprechende Sensationen der 
Sinneshaare ergibt. Doch habe ich ausgeführt, wie die Tiere mit 
Hilfe der Statocysten ganz allgemein und in jeder Lage oben und 
unten zu unterscheiden vermögen. Von Drehungen nur um die 
Längsachse ist nichts gesagt. Die Regulationsfähigkeit bei Dreh- 
ungen um die horizontale Querachse ist somit eingeschlossen. Daß 
ich hier mit einer Selbstverständlichkeit rechnete, ist auch aus der 
Fußnote zu ersehen. Doch will ich damit nicht abstreiten, daß eine 
Ausführung am Platze gewesen wäre. Übertrieben ist es aber, hier 
von fundamentalen Tatsachen zu reden. | 

Weiter schreibt v. Buddenbrock, „daß es bei den Krebsen 
statische Reflexe gibt, die nicht an Statocysten gebunden sind, wird 
in ganz willkürlicher Weise nur für die Stomatopoden angegeben, 
obgleich diese Reflexe auch bei den Krebsen mit Statocysten (Palae- 
mon, Mysis) neben diesen Organen in .einwandfreier Weise nach- 
gewiesen sind.“ 

Die Arbeiten, die v. Buddenbrock wohl hier ım Auge hat, 
nämlich von Rädl, Ewald, Me. Ginnis, v. Buddenbrock han- 
deln alle von Tropismen, d. h. von der Orientierung statocysten- 
loser und statocystenbesitzender Krebse nach dem Licht. Hier 
liegt vermutlich bei den statocystenlosen Tieren überhaupt kein 
statischer Sinn vor; jedenfalls läßt sich darüber nichts ermitteln. 
Die rein phototropischen Bewegungen aber gehören nicht hierher. 
Bei den Stomatopoden dagegen handelt es sich um ein Reagieren 
lediglich nach Maßgabe der Schwerkraftrichtung. Daher ist bei 
diesen ein statischer Sinn anzunehmen, wenn er auch bisher nicht 
lokalisiert zu werden vermochte. Dies hat auch v. Buddenbrock 
1914 anerkannt. v. Buddenbrock verweist aber besonders auf 








- 


R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock. 373 


Palaemon und Mysideen. Die Arbeiten, die hier vorliegen, sind 
die von Steiner (1887) über Palaemon u.a. und die von v. Budden- 
brock selbst über Leptomysis (1914). Die erstgenannte Arbeit 
wurde nicht berücksichtigt, da sie kein klares Resultat lieferte und 
weil sie nicht sehr zuverlässigen Eindruck macht. Steiner schreibt: 
nach Entfernung der Augen und der Statocysten bei Palaemon 
„L’animale roule encore souvent autoure de son axe lorsqu’il com- 
mence A nager A l’aide de ses pattes abdominales; mais on constate 
que, meme dans ce cas, l’anımal conserve quelquefois son &equi- 
libre“. Ich habe es nicht gewagt, daraufhin außerhalb der Stato- 
cysten des Palaemon noch einen anderen statischen Sinn anzunehmen, 
nur weil die Tiere „quelquefois“ das Gleichgewicht behalten. Außer- 
dem erwähnt Steiner, daß er allen Krebsen, mit denen er ope- 
rierte, auch Sqwlla!, die Statocysten entfernte. Dies klingt nicht 
sehr zuverlässig. v. Buddenbrock selbst hat an Leptomysis 
mediterraneo gearbeitet: Eine Anzahl ihrer Statocysten beraubter 
Tiere wurden horizontal beleuchtet. Es zeigte sich nun, daß sie 
nicht, wie es dem Lichtrückenreflex entsprochen hätte, in einer 
Ebene umherschwammen, die senkrecht stand, sondern in dieser 
vertikalen Ebene führten sie nur Bewegungen aus in senkrechter 
Linie. v. Buddenbrock schließt hieraus: „Es kann dies nur er- 
klärt werden durch die Annahme eines weiteren, an der Erhaltung 
des Gleichgewichts beteiligten Faktors, den ich, wie gesagt, als den 
allgemeinen Lagereflex bezeichnen will.“ 1914, S. 507. 

Diese Ergebnisse - über einen außerhalb der Statocysten vor- 
handenen statischen Sinn habe ich deshalb nicht angeführt, weil ich 
den Beweis durchaus nicht für geglückt halte. Ich vermute, daß die 
Mysideen in diesem Falle lediglich deshalb nur in der Vertikalen, 
nach oben und nach unten schwimmen, weil ihnen jedes andere 
Schwimmen unmöglich oder mindestens außerordentlich beschwer- 
lich sein würde, wenn sie dabei ın Orientierung nach horizontal 
einfallendem Licht ihren Rücken diesen zukehren wollten. So lange 
das Gegenteil nicht peinlichst genau bewiesen ist, darf man ver- 
muten, daß der Schwerpunkt des schwimmenden, entstateten Tieres 
nicht zusammenfällt mit dem Auftriebsmittelpunkt. In diesem Falle 
aber wird es den Tieren unmöglich sein in Seitenlage zu schwimmen, 
da so das Drehmoment, das aus der gegenseitigen Lage von Schwer- 
punkt und Auftriebspunkt resultiert, seinen größten Wert, und 
andererseits die Drehung selbst (um die Längsachse) den geringsten 
Widerstand bietet. Es würde ein solches Schwimmen in Seitenlage 
ständige, stets gleich gerichtete, energische Belancebewegungen der 
Beine fordern. Bei einem Schwimmen in der Vertikalen dagegen 
werden nur unbedeutende regulatorische Bewegungen dann und 
wann nötig sein, und diese werden mit dem Schwanzsteuer aus- 


geführt werden können. Hierin sehe ich, solange andere Tatsachen 
Band 59. 19 


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374 R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock. 


nicht vorliegen, dıe Erklärung, weshalb die Tiere nur in der Verti- 
kalen schwimmen. Für. die Annahme eines zweiten statischen 
Sinnes liegt vorderhand jedenfalls keine Ursache vor. Den „ein- 
wandfreien“ Beweiß vermisse ich durchaus. 

v. Buddenbrock fährt in seiner Kritik dann weiter fort: 
„Wenn der Verfasser aber von den ‚sicher vorhandenen dynamischen 
Funktionen‘ der Statocysten der Mysideen spricht, so hätte er 
immerhin dazusetzen müssen, daß sich diese ‚Sicherheit‘ bisher nur 
auf theoretische Erwägungen und nicht auf irgendeinen Versuch 
stützt.“ Über diese Auslegung von v. Buddenbrock bin ich um‘ 
so erstaunter, als er doch selbst über den von mir in dem Buch 
ausführlich besprochenen von Bauer entdeckten Springreflex der 
Mysideen gearbeitet hat. Er schrieb damals: „Die Statocysten der 
Mysideen dienen bekanntlich auch zur Perzeption von Erschütte- 
rungen, auf welche diese Krebse mit dem sogen. Springreflex ant- 
worten — ein einzig dastehender Fall —.“ Weiterhin vermag er 
diese Beobachtung von Bauer voll und ganz zu bestätigen. Und 
nun frage ich ihn, was -für eine Funktion er in diesem Falle den 
statischen Organen zuspricht? Es würde mich interessieren zu er- 
fahren, was anders als eine dynamische Funktion hierin gesehen 
den kann, es sei denn, daß er auf die längst überwundene Hör- 
funktion zurückgreift. Ei fühle mich daher trotz der Kritik von 
v. Buddenbrock im Recht, wenn ich von sicher vorhandenen 
dynamischen Funktionen spreche. 

Der nächste Vorwurf v. Buddenbrock’s lautet: „Hätte sıch 
Demoll ein wenig näher mit Räd!’s gehaltvollem Werk beschäf- 
tigt, so wäre ihm auch vermutlich das Versehen nicht unterlaufen, 
daß er einen Versuch als neu beschreibt, den Rädl bereits vor 
15 Jahren gebracht hat.“ Die Sachlage folgende: In einer An- 
merkung habe ich darauf hingewiesen, daß Käfer auf der Dreh- 
scheibe kein verändertes Verhalten zeigen, wenn man ihnen die 
Fühler und — worauf es mir ankam — damit die Johnston’schen 
Organe entfernt. Rädl andererseits machte folgenden Versuch: 
Er ließ Käfer auf der Drehscheibe laufen und versuchte nun fest- 
zustellen, ob die eigene Richtung, die sie hier immer verfolgen, 
durch eine optische Orientierung gewährleistet wird. Er stülpte 
daher über die schwarz bezogene Drehscheibe eine !/;, m hohe und 
40 cm breite mit schwarzmattem Tuch ausgekleidete Röhre, um 
jede Orientierung nach dem Fenster auszuschließen. Der Effekt 
ist (Rädl 1903, p. 31): „Nach sehr oft wiederholten Versuchen 
habe ich höchstens undeutliche Spuren einer Kompensation gefunden. 

. je besser das seitlich einfallende Licht abgeblendet war, desto 
undeutlicher waren die Kompensationen des Käfers.*“ 

Zunächst liegen hier zwei ganz verschiedene Versuche vor. 
Man könnte aber oh sagen, wenn Rädl nachweist, daß die kom- 


ER ENT 







R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock. 375 


pensatorischen Bewegungen nur durch die optischen Eindrücke 
hervorgerufen werden, so sind meine Versuche von vornherein schon 
negativ beantwortet. Ich habe aber gerade deshalb Rädl hier 
zitiert, weil, wie man sieht, eine eindeutige Antwort hier keines- 
wegs vorliegt. Wenn nur noch feinste Spuren der Kompensation 
nach Ausschluß optischer Orientierung übrig bleiben, so ist es ge- 
rechtfertigt genug, noch nach anderen Sinnesorganen zu suchen, 
die hier verantwortlich zu machen sind. Ja, ich gehe noch weiter, 
selbst wenn Rädl’s Versuche eindeutig ausgefallen wären, würde 
immer noch die Möglichkeit bestehen, daß auch andere Sinnes- 
organe Kompensationen hervorrufen, die aber normalerweise an 
die Führung durch die Augen so gewohnt sind, daß sie auch bei 
Ausschalten der Augen zunächst mit diesen versagen. Der Fall 
liegt aber hier so, daß man nach Rädl!’s Angabe doch wohl an- 
nehmen darf, daß die Kompensation in erster Linie zwar von den 
Augen, zum Teil aber noch von einem anderen Sinnesorgan be- 
 dingt wird. 
j Ich stelle daher fest: Mein Versuch war insofern neu, als Rädl 
sich nicht um die Frage bemühte, ob speziell den Johnston’schen 
Organen irgendwelcher Einfluß zuzuschreiben ist. Zweitens stelle 
ich fest, daß durch die ganzen derartigen Versuche von Rädl mein 
Versuch keineswegs überflüssig wurde. Schließlich aber möchte ich 
noch betonen, daß, selbst wenn dies alles nicht so zuträfe, ich 
es selbst dann mir nicht zum großen Vorwurf machen würde, wenn 
ich mal in einem ganz unbedeutenden, sozusagen nebenher ange- 
stellten Versuch, der auch nebenher — in der Anmerkung — er- 
wähnt wurde, einen Autor zu zitieren vergesse, der dasselbe schon 
früher ausgeführt hat. Auch einem anderen gegenüber habe ich 
es nie als großes Verbrechen anrechnen können, wenn er irgend- 
eine Angabe brachte, die in einer meiner früheren Arbeiten bereits 
enthalten war. Denn schließlich ist der Zweck die Wissenschaft 
zu fördern und nicht, sich gegenseitig zu zitieren; doch sehe ich 
darin nicht etwa für mich ein Leitmotiv, das mich zu Bequemlich- 
- keit und Lässigkeit in Autorenangaben verleiden könnte. 
3 Hier möchte ich gerne noch eine Kritik des wichtigsten Be- 
 fundes einfügen, den wir bisher v. Buddenbrock verdanken. Er 
hat in den verschiedensten Tiergruppen den von ihm sogen. „Licht- 
- rückenreflex* nachgewiesen. Ich habe ihn auch in meinem Buch 
| an mehreren Stellen erwähnt, ohne ıhn einer näheren Kritik zu 
unterziehen. Ich würde es heute nicht mehr tun. Denn die Be- 
denken gegen diesen Begriff, die mir früher bei der Lektüre zu- 
nächst in schwächerer Form entgegentraten, haben sich immer mehr 
zu einer kompakteren Form kristallisiert, so daß ich heute auf dem 
' Standpunkt stehe, daß dieser Begriff zu verwerfen ist, da er nicht 
das Wesen der Sache trifft. Wenn ich nun dies nachzuweisen ver- 
198 


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376 R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock. 


suche, so möchte ich vorweg betonen, daß ich damit durchaus nicht 
die Experimente von v. Buddenbrock und deren Durchführung 
angreifen oder gar herabsetzen möchte und ferner, daß ich voll 
anerkenne, daß die Erscheinungen, die seinem „Lichtrückenreflex“ 
zugrunde liegen, uns wesentliche Hilfe in der Analyse der Funktion 
mancher Sinnesorgane leisten können. 

Man stelle sich vor, daß ein höheres Wesen mit dem Menschen 
experimentiert und daß es es ın der Hand hätte, einem guten 
Schwimmer, der etwa unter Wasser getaucht ist u der gewohnt 
ist, sich unter Wasser mit den Augen zu orientieren, plötzlich alles 
Licht nicht von oben, sondern von unten zuzuschicken; oder man 
denke sich einen Flieger, der über den Wolken fliegt, dem dieses 
experimentierende Wesen plötzlich dieselben Wolken, die er eben 
unter sich sah, nach oben versetzt und ebenso die Sonne, die er 
über sıch sah, von unten her scheinen läßt. Es ist hier schon 
recht wahrscheinlich, daß die optische Orientierung so stark wirken 
würde, daß sie die statische vollständig übertäubt, daß also der 
Flieger glaubt, auf dem Rücken zu fliegen und dementsprechend 
Vorkehrungen trifft; noch mehr würde dies der Fall sein bei einem 
Menschen, der sein ganzes Leben, so lange die Sonne scheint, im 
Flugapparat zwischen Sonne und Wolken zubringt. Wenn dieses 
experimentierende Wesen im Anschluß daran einen Lichtrücken- 
reflex oder Lichtkopfreflex bei den Menschen beschreiben würde, 
so würde man vom menschlichen Standpunkt diese Beschreibung 
für schematisiert und unangebracht halten. Hierin liegt aber ledig- 
lich eine Warnung vor Übertreibung, dagegen noch nichts von 
einer Irreführung durch diesen Begriff. Dies wird uns erst durch 
folgendes klar. 

Es gibt auf Jahrmärkten bewegliche Zimmer, die so einge- 
richtet sind, daß das ganze Zimmer um eine quer durchlaufende 
horizontale Achse vollständig drehbar ist. An dieser Achse wird 
ferner eine große Schaukel aufgehängt. Das Publikum nimmt in 
dieser Schaukel Platz, dann wird sie leicht angestoßen und der 
Diener verläßt den Raum. Was nun wirklich passiert, ist fol- 
gendes: Die Schaukel schwingt sich allmählich aus und kommt 
zur Ruhe., Im selben Maße wie dies stattfindet, beginnt aber das 
Zimmer in Schwingungen zu geraten um dıe erwähnte Achse, so 
daß das Publikum den Eindruck hat, daß die Schaukel immer 
stärker schwingt, auch dann noch, nachdem sie in die Ruhelage 
zurückgekehrt ist. Der Ausschlag des Zimmers wird nun immer 
weiter vergrößert, bis schließlich der Boden nach oben, die Decke 
nach unten sieht. Der Witz bei der Sache ist der, daß jetzt das 
Publikum den Eindruck hat auf dem Kopf zu stehen und ängstlich 
den Moment erwartet, wo es von oben herabfällt. Hier sehen wir 
zweierlei. Einmal, daß auch beim Menschen die optische Orien- 





* 





R Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock. ° 2377 


.tierung die statische in den Hintergrund drängt unter diesen ab- 
normen Umständen, die denen entsprechen, wie sie im Experiment 
v. Buddenbrock’s gesetzt wurden. Obwohl hierdurch unser Bei- 
spiel vom Flieger noch mehr den Charakter des Hypothetischen 
verliert, hat dennoch noch niemand von einem Lichtkopfreflex der 
Menschen gesprochen. Das Beispiel von der Schaukel zeigt aber 
zweitens, daß es bei dieser Orientierung überhaupt nicht auf den 
Einfall des Lichts ankommt, sondern lediglich auf das optische 
- Bild. Hier liegt nicht die Wirkung von einer vertauschten Ein- 
fallsrichtung des Lichts vor, sondern lediglich von einer Vertau- 
schung des dargebotenen Bildes von oben und unten. Stellt man 
das Bild auf den Kopf, so fühlt sich auch der Mensch auf den 
Kopf gestellt. 

Und nun kehren wir nochmals zu dem Flieger zurück. Wenn 
der Flieger: bei dem erwähnten Experiment sofort Rückenlage ein- 
zunehmen bestrebt sein würde, so müßte nach Analogie der 
v. Buddenbrock’schen Experimente, der Experimentator auch 
dort schließen, daß die Strahlenwirkung der Lichtquelle das Maß- 
gebende ist. Er würde einen Lichtrückenreflex beschreiben. Bringt 
er dann den Flieger auf die Schaukel in dem drehbaren Zimmer, 
so würde ihn dieser Versuch über seinen Irrtum aufklären. 

Entscheidende Experimente liegen bei Krebsen schon seit 1908 
vor. Hadley beschreibt die Wirkung des einfallenden Lichts auf 
Krebslarven auf Grund ausgedehntester Untersuchungen. p. 300 
kommt er zu der „Summary“: „The larvae orient to screens and 
backgrounds of black and of white by reflex movements identical 
with those by which they reaect to direkt illumination and shadıing.* 

Also die gleiche Wirkung, wie einfallendes Licht haben auch 
helle und dunkle Schirme seitlich oder unten angebracht. Nicht 
die direkte Bestrahlung ist demnach das Maßgebende, sondern die 
Konstanz des Reizes verbunden mit der Möglichkeit durch genügende 
Markierung (Kontrast, Größe, Intensität) Orientierungsobjekt = 
Kompaß für das Tier zu werden. 

Die im Lichtrückenreflex zutage tretende Orientierung der 
Krebse ist also weiter nichts, als ein spezieller Fall 
der Orientierung nach einem gewohnten Bild. Befindet 
man sich in einer so gleichmäßigen Umgebung wie die Krebse, 
so wird man selbstverständlich auf die markantesten Richtlinien, 
nämlich die Sonne besonders achten. Damit ist aber gar nicht 
gesagt, daß auch die ganze Umgebung das übrige Unten und Oben, 
Rechts und Links dieselbe Wirkung hervorzurufen vermag, wenn 
den Tieren eine Gewöhnung an diesen markanten Wegweiser, die 
Sonne genommen wird. 

Hier liegt ein ähnlicher Irrtum vor, wie ich ihn vor kurzem 
(in dieser Zeitschrift) hinsichtlich des Heliotropismus der nach dem 


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378 R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock. 


Licht fliegenden Insekten aufgedeckt habe. Auch in diesem Falle 
sind es nicht die Lichtquellen oder die Lichtstrahlen, die das Tier 
anziehen; diese allein vermögen es gar nicht zu beeinflussen; nötig 
ist, daß außerdem die Umgebung dunkel erscheint, der sie dann 
zu entgehen trachten. Bietet man dem Tier bei gleicher Licht- 
stärke durch helle Zimmerwände eine erkennbare Umgebung dar, 
so „interessiert“ es sich nicht mehr für das Licht, von dem es in 
der Dunkelkammer so sehr beeinflußt wurde. Hier wie dort liegt 
nicht das Wesen in einer Anziehung des Lichtes, sondern es wirkt 
auf das Tier wie übrigens auch auf den Menschen, die Gesamt- 
heit des optischen Komplexes. Dieser erst bestimmt, ob der 
eine Wegweiser Bedeutung gewinnen kann oder nicht. 

Die ganze Auffassung der Tropismen der mit Gehirnzentren 
begabten Tiere scheint mir daran zu kranken, daß man in ihnen 
ein Unveränderliches, ein Vererbtes, eine einfachste Verkettung 
zwischen Reiz und Reaktion sieht. Man sagt: Der Krebs wirft 
sich bei plötzlicher Beleuchtung von unten auf den Rücken, weil ihm 
der Lichtrückenreflex dazu zwingt. Man sagt weiter: Der Schmetter- 


ling fliegt in das Licht, weil ıhn der Lichtstrahl dazu zwingt, der 


Krebs drückt sich ın die Ecke, weil ihn seine Tastsensationen 
infolge eines festgelegten Reflexbogens dazu zwingen. Könnte man 
die Tiere fragen, so würden sie vielleicht antworten, daß sie sich 
auf den Rücken werfen, weil sie von unserem Planeten gewöhnt 
sind, daß die Sonne zuverlässig niemals da steht, wo unten ıst; 
daß sie eben gewöhnt sind, das Licht von oben zu bekommen. 
Und der Schmetterling würde dasselbe antworten wie ein Kind, 
das im dunklen Wald ein Licht sieht; nämlich daß es auf das 
Licht zugelaufen ist, „weil es hell macht“ und ‚weil es ım Wald 
so dunkel war“; nicht weil es — wie manche gar meinen — von den 
Lichtstrahlen wie aufgespießt, diesen zustreben mußte. Auch bei 
dem Menschen muß erst die Umgebung verschwinden, soll er In- 
teresse für eine Laterne gewinnen. Der Krebs aber, der sich in 
die Ecke drückt, würde wohl antworten: nieht weil mich ein Re- 
flex willenlos in die Ecke treibt, sondern weil ich gern alles sehe, 
was vor sich geht und weil ich mich nicht gern immer umdrehe, 
um zu kontrollieren, was hinter mir passiert; darum setze ich 
mich, sowie die Menschen ım Cafe zu tun pflegen, mit dem Rücken 
gegen die Wand. 

Die Auffassung der Nervenphysiologie und. Psychologie der 
niederen Tiere pendelt immer noch zwischen den beiden Extremen 
und hält sich zu wenig in der Mitte. Die Tropismen bei den höheren 
Tieren, auch bei den Arthropoden sind nicht mehr die primitiven 
Reflexbogen, sondern sie sind zum Teil sicher schon auf die, die 
Eindrücke verarbeitende und miteinander ın Beziehung bringende 
Tätigkeit der Nervenzentren zurückzuführen. { 





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R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock. 979 


Bei einem primitivsten Bahnhof, wo ein gegenseitiger Aus- 
tausch der verschiedenen (Reflex-) Bahnen mit Hilfe von Weichen 
nicht vorgesehen ist, wo das Wesen des Zenirums nur in einer 
Überkreuzung mit Hilfe von Überführungen besteht, braucht es 


keinen Weichenwärter, keine Intelligenz. Gehen aber die für den 


Außenstehenden gleich schematisiert aussehenden (Reflex-) Bahnen 
durch ein großes Bahnzentrum (und der Weg Auge—Bein z. B. 
führt beim Krebs durch das Gehirn), das unzählige Verbindungen 
der Weichen enthält, so greift hier überall die Intelligenz, der 
Weichensteller ein und muß hier eingreifen, auch wenn ein ebenso 
stereotyper Kurs für einen bestimmten Zug gefordert wird wie im 
ersten Fall. ; 

Durch ein kompliziertes Zentrum — dieser Eindruck hat 
sich in letzten Jahren immer mehr bei mir verstärkt — kann ein 
Reflexbogen überhaupt nicht hindurchlaufen, ohne Typi- 
sches dieses höheren Zentrums im geringeren oder stär- 
kerem Maße ın Mitleidenschaft zu ziehen. 

Im Anschluß an die oben besprochenen Ergebnisse der 
v. Buddenbrock’schen Arbeiten, deren Nichtbeachtung er direkt 
rügt, möchte ich nun noch die übrigen, die er in seiner Arbeit aus 
dem Jahre 1915 publiziert hat, einer kurzen Kritik unterziehen, da 
er vielleicht auch über die Ignorierung dieser Resultate Schmerz 
empfunden hat. 

Um das Vorhandensein eines Lichtrückenreflexes beı fliegenden 
Insekten zu prüfen, befestigte er einer Fliege ein Stäbchen auf dem 
Rücken des Thorax, das etwa 2 Thoraxdurehmesser lang war. 
Dieses Stäbchen war am anderen Ende drehbar um eine Achse auf- 
gehängt. Gewichte, die in Verlängerung des Stäbchens über seine 
drehbare Achse hinaus angebracht wurden, kompensierten das Ge- 
wicht der Fliege, so daß diese nun schon durch einen geringen 
Anstoß in eine Drehung versetzt werden konnte, andererseits ın 
jeder Lage auch im Gleichgewicht war. Die Drehungen, die die 
Fliege bei dieser Vorrichtung ausführen konnte, waren die einer 
Perpendikelscheibe um den außerhalb der Scheibe liegenden Dreh- 
punkt. Das Pendel, in dem die Fliege befestigt war, wurde nun 
in horizontale Lage gebracht. Die Fliege hing also in Seitenlage 
in der Luft; und nun begann v. Buddenbrock mit Lichteinfall 
zu arbeiten und vermißte trotz lebhafter Flügeltätigkeit des Insekts 
eine entsprechende Drehung um seine Längsachse. Zu dem nega- 
tiven Resultat, das er erhielt, bemerkt er: „Da ich außerstande bin, 
einen Fehler in dieser Versuchsanordnung zu entdecken, ziehe ich 
hieraus den Schluß ... .“ p. 7, 1915. 

Man darf wohl mit Sicherheit erwarten, daß das Tierchen das 
lebhafteste Bestreben hatte, aus dieser unnatürlichen Seitenlage 
herauszukommen, durch welche Reize dies Bestreben auch ver- 


ISO R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock. 


mittelt sein möge. Man darf es sicher erwarten, wenn man sieht, 
daß jedes Insekt, das man in irgendeiner Schräglage abfliegen läßt, 
sofort ın Bauchlage übergeht. Man darf es aber sicher nicht er- 
warten bei der verunglückten Versuchsanordnung v. Buddenbrock’s, 
die dem Tier jede Möglichkeit nimmt, sich um die Längsachse zu 
drehen. Muß doch die Fliege unter normalen Verhältnissen, wenn 
sie von Seiten- in Bauchlage überzugehen strebt, diese Bewegung 
damit einleiten und damit fortsetzen, daß die eine Seite gehoben, 
die andere gesenkt wird. Was aber mutet v.Buddenbrock dem 
Tier zu! Hier soll sich die Fliege in Seitenlage nach abwärts be- 
wegen; statt einer Drehung, eine seitliche Verschiebung. v. Budden- 
brock „weiß“, daß das Tier auf diesem Wege schließlich auch zum 
Ziel, nämlich in Bauchlage kommen könnte, aber die Fliege ist doch 
nicht auch so schlau dieses zu „wissen“; sie will sich eben drehen 
und bemüht sich nicht, die sinnige Anordnung v. Buddenbrock’s 
zu durchschauen. 

Auf der nächsten Seite berichtet er über Branckipus und führt 
hier aus, daß Tiere, denen er die Fazettenaugen weggenommen 
hatte, den Lichtrückenreflex beinahe normal zeigen, daß aber solche, 
denen er nur das Naupliusauge entfernte, nur noch sehr schwach 
den Lichtrückenreflex erkennen lassen und er faßt dies als eine 
spezifische Leistung resp. Nichtleistung dieser beiden Arten von 
Augen auf. Hierbei habe ich das große Bedenken, daß das Versagen 
der Tiere bei der Entfernung des Naupliusauges vielleicht gar 
nicht darauf zurückzuführen ist, daß das Naupliusauge mit diesem 
Lichtrückenreflex besonders zu tun hat; möglicherweise ist die Ur- 
sache nur darin zu sehen, daß bei einer Entfernung des Nauplius- 
auges das Gehirn in viel stärkerer Weise in Mitleidenschaft ge- 
zogen werden muß (wenn auch nicht direkt geschädigt, so doch 
durch das Eindringen von Wasser), als bei Abschneiden der Augen- 
stiele dies der Fall sein mag. 

Noch ein letztes Wort über dieselbe Publikation. Wie bei den 
eben und schon weiter vorn besprochenen Versuchen über Fliege, 
über Branchypus und Leptomysis, so finde ich ın meinen Separatab- 
zügen seiner Arbeiten auch an verschiedenen anderen Stellen Rand- 
bemerkungen beigefügt, die ich bei der ersten Lektüre hingeschrieben 
habe und die mindestens ein Fragezeichen, häufig aber mehr als 
dies bedeuten und die alle ebenso berechtigt sind wie die hier aus- 
geführten Randbemerkungen, über deren Berechtigung der Leser 
selbst entscheiden mag. Ich verzichte darauf, sie alle hier anzu- 
reihen. Nur da habe ich nicht geschwiegen, wo mir v. Budden- 
brock Nichtbeachtung der (= seiner) neuesten Ergebnisse vorwirft. 
Wollte man seine Arbeiten kritisch erschöpfen, es dürfte von 
manchen, z. B. von der erwähnten aus d, J. 1915 kein Punkt un- 
berührt bleiben. 





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R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock. 381 


Auf Seite 388 glaubt v. Buddenbrock weiter für Heß noch 
‚eine Lanze brechen zu müssen, indem er schreibt: „Ebensowenig 
Gnade wie Rädl hat auch C. v. Heß vor den Augen des Ver- 
fassers gefunden, wovon wir uns ım Kapitel über das Farbensehen 
hinreichend überzeugen können. Demoll stellt es so dar, als ob 
das einzige Resultat von Heß dies eine wäre, ‚daß die Helligkeits- 
kurve der verschiedenen Lichter bei den wirbellosen Tieren zu- 
sammenfällt mit der Helligkeitskurve des total farbenblinden Men- 
schen‘. Den hieraus von Heß gezogenen Schluß, daß auch bei 
den wirbellosen Tieren totale Farbenblindheit vorliege, erkennt 
Demoll nicht als zwingend an, und mit dieser rein negativen Fest- 
stellung ist die ganze große Arbeit von Heß für ıhn erledigt. Es 
erscheint mir nötig, den sehr verdienstvollen Münchner Forscher 
gegen diese nicht ganz korrekte Art der Beurteilung ein wenig ın 
Schutz zu nehmen.“ , 

Was ich von Heß aufgeführt habe ist folgendes: Seite 198 seine 

Beobachtungen über Entfernungssehen der Fliegen. Seite 205 werden 
ausführlich besprochen und voll und ganz anerkannt die Versuche 
über Adaptation und Unterschiedsempfindlichkeit. In einer Anmerkung 
ist allerdings ausgeführt, daß man nıcht übersehen darf, daß „ein 
zwingender Beweis“ für die eine Experimentserie von ıhm noch 
nicht gegeben ıst. Dagegen ıst ın dem 2. Absatz des Haupttextes 
hervorgehoben: „Wir verdanken Heß (1912) noch andere Unter- 
suchungen, die eindeutig die Frage nach der Adaptationsfähigkeit 
des Fazettenauges bejahen.“ 
— Hinsichtlich des Farbensehens wurde festgestellt, daß Heß in 
seinen zahlreichen Untersuchungen den Nachweis geführt hat, daß 
die Wirbellosen sich den verschiedenen Lichtern gegenüber so ver- 
halten, wie ein total farbenblinder Mensch sich in entsprechender 
Lage verhalten würde. Er wies also nach, daß die Helligkeitswerte 
eines Spektrums für diese Tiere gleich oder nahezu gleich sind wie 
für einen total farbenblinden Menschen. Nachdem diese Ergebnisse 
anerkannt wurden, weise ich dann darauf hin, daß der Schluß, daß 
den gleichen Helligkeitskurven gleiches Farbensehen entspricht, an 
sich nicht einwandfrei ist, daß er aber völlıg zu verwerfen war ın 
dem Moment, wo in anderer Weise, nämlich von v. Frisch nach- 
gewiesen wurde, daß bei den Bienen eine Dressur auf bestimmte 
Farben möglich ist, die durch keinen farblosen Helligkeitswert er- 
setzt werden können, und ferner, daß eine Dressur auf nur Hellig- 
keitswerte nicht gelingt. 


v. Buddenbrock schließt nun so: „Wenn einzelne hochent- 
wickelte Insekten wie die Bienen nach v. Frisch Farbensinn be- 
sitzen, so ändert dies gar nichts an der Richtigkeit der Heß’schen 
Auffassung, daß die große Überzahl der Arthropoden wie der 


289 R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock. 


übrigen Wirbellosen in ihren erkennbaren Reaktionen sich vollig 
wie farbenblind verhalten.“ 

Ich leugne durchaus nicht die Möglichkeit, daß es auch Insekten 
gibt, besonders vielleicht solche, die keine Fazettenaugen haben, 
nöitllich die Larvenformen, auf ae die Resultate von v. Dee 
nicht ausgedehnt werden dürfen. Aber noch voreiliger wäre es, 
wollte man hier eine Farbenblindheit annehmen auf Grund der 
Versuche von Heß, nachdem diese bei den Bienen als nicht ent- 
scheidend, ja als irreführend sich haben erkennen lassen. Eine . 
derartige Annahme wäre um so bedenklicher, als Heß selbst nach- 
weisen konnte, daß all den untersuchten Insekten gleiches Hellig- 
keitssehen zukommt. Ist für eine der Gruppen aber ein Farben- 
sehen erwiesen, so wird man für die übrigen nur das sagen können, 
daß die gleiche Helligkeitskurve eine gewisse Verwandtschaft hin- 
sichtlich der Gesamtfunktion nicht von der Hand weisen läßt, so- 
lange Tatsachen fehlen, um hierüber definitiv zu urteilen. Wenn 
ich daher von diesen Möglichkeiten, über die nichts Bestimmtes aus- 
gesagt werden kann, völlig geschwiegen habe, so schien mir dies um so 
mehr berechtigt, als auf der andern Seite über diejeuigen Formen 
Positives gebracht werden durfte, bei denen die Frage nach dem 
Farbensehen ım Zusammenhang mit der Frage nach der Bedeutung 
der Blumenfarben immer das regste Interesse wach gehalten haben. 

Seite 209 habe ich ausdrücklich festgestellt, daß von Heß vor 

Frisch bereits die Verkürzung der Sichtbarkeit des Spektrums 
ım Rot für die Insekten erkannt hat. 

Auf Seite 211 schließlich habe ıch ausführlich etwa eine ganze 
Seite über die Untersuchungen von Heß über die Einwirkung ultra- 
violetten Lichtes gesprochen. 

In der Behandlung der so heiß umkämpften Frage über das 
Farbensehen der Insekten war ich eifrigst bestrebt, den beiden so 
hoch verdienten Männern Heß und Frisch volle Gerechtigkeit 
werden zu lassen. Ich habe rückhaltlos anerkannt, wo ich anerkennen 
zu dürfen glaubte und habe andererseits objektiv kritisiert und 
zurückgewiesen, wo es mir nötig schien, so daß ich auch heute 
noch jedes Wort, was ich ın dieser Angelegenheit geschrieben habe, 
vor meinem wissenschaftlichen Gewissen vertreten kann. So wie 
ich früher mehr zu der Auffassung von Heß neigte und dem Wahr- 
scheinlichkeitsbeweis, den er anführte, eine höhere Bedeutung zu- 
maß und so wie ich damals in einem Referat versuchte, auch den 
Arbeiten von v. Frisch gerecht zu werden, so habe ich auch jetzt, 
wo mich die positive Beweisführung von v. Frisch erkennen ließ, 
daß die negative von Heß aufzugeben ist, in derselben Weise nur 
das Bestreben gehabt, anzuerkennen, was anzuerkennen ist. Und 
ich glaube nicht, daß Heß mir einen anderen Vorwurf machen 
könnte und würde, als den, daß ich einen anderen Standpunkt ein- 
nehme. 








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-R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock 285 


Schließlich kommt v. Buddenbrock noch auf die von Demoll- 
Scheuring aufgestellte Auffassung der Tätigkeit der Ocellen zu 
sprechen und meint, daß es nicht möglich ist, in den Ocellen ein 
Mittel für binokulare Entfernungsiokalisation (im Verein mit dem 
Fazettenauge) zu sehen. Er schreibt darüber: „Gegen diese ganze 
Deduktion ist der folgende Einwand zu machen: 

‚Das binokulare Entfernungsmessen hat in erster Linie die 
Kongruenz der Bilder zur Voraussetzung, die durch beide Augen 
dem Gehirn vermittelt werden. In unserem Falle existiert eine 
solche Kongruenz nicht, vielmehr muß bei dem grundverschiedenen 
Bau von Ocellus und Fazettenauge von vornherein angenommen 
werden, daß jedes Objekt in beiden Organen zwei ganz verschiedene 
Bilder entwirft. Hieran knüpft sich die Frage: Woher weiß das 
Insekt, daß das Bild a ım Ocellus und das total verschiedene Bild A 
im Fazettenauge zu einem und demselben Gegenstand gehören?‘ 

An dieser Überlegung scheitert die Dem oll-Scheuring’sche 
Auffassung der Ocellen vollständig.“ 

Wenn v. Buddenbrock glaubt, hier ın diese Frage besonders 
tief eingediungen zu sein, so mrt ersich. „Woher weiß das Insekt, 
daß das Bild a im Ocellus und das total verschiedene Bild A ım 
Fazettenauge zu einem und demselben Gegenstand gehören ?* 

Zunächst antworte ich ihm: Das Insekt „weiß es“, weıl ıhm 
diese Beziehungen zum Ocellus und Fazettenauge fest vererbt sind; 
und dann frage ıch ihn weiter: 

Woher „weiß“ die Kreuzspinne. daß sie eine Eristalisfliege mit 
Erfolg und ohne Gefahr. attackieren kann, mit einer Biene oder 
Wespe aber sehr vorsichtig umzugehen hat, woher „weiß“ sie dies, 
auch wenn sie nie gestochen wurde? Tatsache ıst, daß sie bei der 
Wespe anders zu Werke geht als bei der Fliege. Tatsache ist also, 
daß hier etwas vererbt werden muß, was mindestens ebenso kompliziert 
ist wie das, was unsere Auffassung der Ocellen fordert. Und, um 


auf ein gleiches zu sprechen zu kommen, auf etwas, was sich dırekt 


der hier aufgeworfenen Frage anschließt, frage ich ihn weiter: Wo- 
her kommt es, daß ein Schwärmer, der als Raupe und als Puppe 
im Dunkeln gehalten wurde und auch bis zu dem Moment des Ab- 
fludes in dunkler Schachtel verhindert wurde, irgendwelche Raum- 
orientierungen. mit Ausnahme über den Tastraum (tastbare nächste 


Umgebung) zu gewinnen, woher kommt es, daß dieses Tier ım 
Moment des Abflugs sich vollständig orientiert im Raume zeigt. 


nicht anstößt, ausweicht, wo es auszuweichen gilt, und so deutlich 
dokumentiert, daß ihm eine Raumorientierung mitvererbt ist und 
dies anscheinend in höherem Maße als es bei uns Menschen der 
Fall ıst 2). 

= 2) Ich habe diese Beobachtung gelegentlich vor zwei-Jahren gemacht, da mich 
diese Fragen von jeher interessierten und da mir ihre positive Beantwortung, d.h. 


die Beobachtung, daß derartig vererbtes Material in der Tat vorliegt, am meisten für 
eine Vererbung erworbener Eigenschaften zu sprechen schien. 


984 R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock. 


Hier wird vererbt, was v. Buddenbrock als ausgeschlossen 
erklärt, „eine Raumorientierung“. Ob diese mangelhaft ist und 
nur durch 2 Fazettenaugen 'vermittelt wird, oder ob auch die 
Ocellen mit in Betracht kommen, spielt für das Prinzipielle dieser 
Frage keine Rolle. Für das Zusammenarbeiten der beiden Fa- 
zettenaugen allein ıst ebenso entweder Erfahrung nötig, oder aber 
ein vererbtes Etwas, das die Erfahrung zu ersetzen vermag; und 
daß eine derartige Vererbung vorliegen muß, ist durch meine Ver- 
suche an den Schwärmern erwiesen). Im übrigen hat uns (Demoll- 
Scheuring) die histologische Untersuchung den direkten Zusammen- 
hang des Ocellarnervs mit dem 2. Ganglion des Fazettenauges fest- 
stellen lassen, so daß man keineswegs sagen kann, daß die morpho- 
logischen Vorbedingungen für ein In-Beziehung-Treten der Ocellaren 
— mit den Fazettenaugeneindrücken ungünstiger sei, als für ein 
solches der beiden Fazettenaugen. 

An anderer Stelle — um dies gleich hier mitzubesprechen — 
hat v. Buddenbrock (1915) diese Theorie aus einem andern 
Grunde abgelehnt. Dort schreibt er: „Denn, wenn das Zusammen- 
arbeiten beider Augensorten zum Entfernungssehen nötig ist, dann muß 
den zweitgenannten Insekten — gemeint sind diejenigen die keine 
Ocellen besitzen — diese Fähigkeit notwendigerweise völlig abgehen.“ 
Mit Hilfe der zitierten Arbeit über das binokulare Sehen hätte 
sich v. Buddenbrock leicht belehren lassen können, daß so wie 
beim Menschen auch bei den Insekten eine ganze Reihe von Fak- 
toren für die Entfernungslokalisation in Betracht kommen können, 
die zum Teil ein relatives, zum Teil ein absolutes Entfernungs- 
maß geben, die ferner zum Teil nur für solche Objekte gelten, 
die nach vorn, d. h. innerhalb des binokularen Sehraums der 
Fazettenaugen liegen, teils wieder nur für solche, die seitlich von 
der Flugrichtung gelegen sind. Alle diese Möglichkeiten sind 
p. 552, 53 u. 54 genau besprochen und es ist auch soweit als mög- 
lich auf ıhre größere oder geringere Bedeutung hingewiesen. 
Ausdrücklich wird darın betont, daß auch ohne Öcellen eine 
relative Entfernungslokalisation, ebenso eine absolute für nach 
'vornliegende Gegenstände in erheblichem Maße vorliegen kann. 
Nur das Gewinnen von absoluten Entfernungsdaten für die Objekte, 
die nicht in dem meist. kleinen Bereich des binokularen Sehfeldes . 


3) Auch beim Menschen scheinen manche Wahrnehmungen fundamentale 
Bestandteile zu enthalten, deren ererbte Natur kaum mehr zweifelhaft erscheint. 
=.59 schreibt Bühler in seinem Buch „die geistige Entwicklung des Kindes“ (1918): 
„Den ersten Licht- und Tastempfindungen des Kindes muß man darum gewisse 
primäre Bestimmtheiten des Ortes und der Ausdehnung ebenso zuschreiben, wie man 
ihnen Qualitäten und Intensitäten beilegt.“ 

S. 62 lesen wir: „unwahrscheinlich aber ist es, daß das feinste und zwingenste 
Motiv zu Tiefeneindrücken, das wir Erwachsene an uns finden, nämlich die Quer- 
disparation der Netzhautbilder beider Augen, seine Wirkung ganz der Erfahrung 








R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock. 2385 


der Fazettenaugen liegen, ist ohne Mittätigkeit der Ozellen wohl 


nahezu gleich Null. Ich zitiere nur den einen Satz Seite 554 der 
Öriginalarbeit: „Wir glauben... daß das stereoskopische Sehen 
und die Querdisparation erst da die Stelle der Ocellen vertritt, 
wo diese. vollständig rückgebildet sind, wie z. B. bei den Tag- 
schmetterlingen.“ Im Anschluß an diesen Satz wird noch ein 
weiteres, die ocellenlosen Insekten unterstützendes Entfernungs- 
kriterıum, nämlich die gegenseitige Verschiebung der Objekte 
während des Flugs erwähnt. 


Diese drei Seiten, die von dem Entfernungssehen ohne Ocellen 
handeln, stehen nun nicht etwa in der Einleitung oder sonst irgendwo 
an leicht übersehbarer Stelle, sondern zu Anfang des Hauptteiles, 
der. besonders überschrieben ist mit „Eigene Auffassung“. v. Bud- 
denbrock hat also entweder die Arbeit, über die er so emsig zu 
kritisieren beliebt, gar nicht gelesen, oder er hat sich als Eklek- 
tiker nur an die wenigen gesperrt gedruckten Sätze gehalten. 


v. Buddenbrock hat aber weder die Arbeit gelesen, noch hat 
er irgend welche Kenntnis davon, daß hier mehrere Faktoren zu- 
sammenwirken, Faktoren, wie sie auch bei dem Sehen der Wirbel- 
tiere bekanntlich in gleicher oder ähnlicher Weise eine Rolle spielen. 
Die Kritik fließt allerdings um so leichter dahin, je weniger auf 
Sachkenntnis beruhende Bedenken sich ihr entgegenstellen. 


Ein Versehen, daß mir in dem Buch wirklich bei der Be- 
sprechung dieser Theorie passiert ist, hat v. Buddenbrock frei- 
lich nicht bemerkt. Becher hat mich darauf aufmerksam gemacht. 
Ich hatte die oben erwähnte in der Originalarbeit ausgeführte 
Hilfe, die für die Entfernungslokalisation in der gegenseitigen Ver- 
schiebung der Objekte (= sukzessive Parallaxe) gegeben ist, anzu- 
führen vergessen. Ferner wurde noch nicht berücksichtigt eine 
von Bühler neuerdings gemachte Beobachtung, die hier Erwähnung 
verdiente. 


Die Kritik über mein Buch resümiert v. Buddenbrock etwa 
mit dem Satz: „Bei einer solchen zusammenfassenden 
Darstellung, die doch dem Leser als Wegweiser durch 
das ganze Gebiet dienen soll, ist Vollständigkeit das 
o,berste und erste Erfordernis, so gut wie bei einem 
verdanken sollte, es liegt da wohl eine in der Struktur der Sehsubstanz vorgebildete 
Einrichtung, die nur nicht gleich funktioniert, sondern des Anstoßes von außen 
bedarf.“ 

Es spricht ferner immer mehr dafür, daß sogar die relative Unabhängigkeit 
des Sehens der Größe eines Objekts von dem zugehörigen Retinabildehen und ebenso 
die Unabhängigkeit des Sehens der Oberflächenfarben von der Beleuchtungsintensität 
nicht auf Erfahrung beruht, sondern diese Art des Sehens ein dem Auge der Säuge- 


tiere und Vögel -— nur diese sind bisher daraufhin von Köhler untersucht — von 


vornherein Inhärentes, Ererbtes darstellt. 





- 


286 R. Demoll, Antwort auf die Kritik von v. Buddenbrock. 


Fahrplan, der wertlos ist, wenn er nicht alle Züge ent- 
hält.“ | i 

Ich würde mich schämen, ein Buch geschrieben zu haben, das 
den Vergleich mit einem Fahrplan aushält, das in fahrplanmäßiger 
Weise einzelne Tatsachen mit peinlichster Gewissenhaftigkeit auf- 
zählt, dabei aber jedes geistige Band vermissen läßt. 

Aber auch, wenn man diesen Vorwurf dahin mildern wollte, 
daß das Buch die einzelnen Kapitel in zu ungleicher Weise behandelt, 
einige Fragen zu intensiv, andere zu wenig, so verweise ich nur 
auf das, was ich in meinem Vorwort gesagt habe, worin ich deut- 
lich eine Grenze zwischen diesem Buch und einem Lehrbuch in 
dieser Hinsicht zog und gezogen haben wollte: „Man wird wohl 
bemerken, daß dann und wann einer Frage vermehrte Aufmerk- 
samkeit geschenkt und ihr intensiver nachgegangen wurde. Der- 
artige Exkurse müssen in einem Lehrbuche unmotiviert erscheinen 
und daher einen Vorwurf einschließen. In Darstellungen jedoch, 
die immer wieder über den gesicherten Bestand unseres Wissens 
hinausgreifen müssen und in dem Maße, als sie dies zu tun ge- 
zwungen sind, die Individualität des Schreibenden deutlicher er- 
kennen lassen, in solchen Büchern finde ich Abschweifungen in 
Gebiete, die den Verfasser besonders beschäftigen, nur begrüßens- 
wert. Ich glaube daher, mir eine volle Zurückhaltung nach dieser 
Richtung hin nicht auferlegen zu müssen.“ 

Wenn ich hier die Vorwürfe von v. Buddenbrock zurück- 
gewiesen habe, so tue ich es nicht, weil ich der Überzeugung bin, 
daß an dem Buch nıchts mehr zu bessern wäre, So wie ich aus der 
früheren Besprechung von Weinland manches entnahm, das mir 
durchaus beachtenswert erschien, so muß ich andererseits be- 
tonen, daß gerade die Fehler, die mir seit der Herausgabe des 
Buches am dringlichsten vor Augen traten, von v. Budden- 
brock nicht erkannt wurden; wenigstens muß ich . dies ver- 
muten, weil er sie nirgends erwähnte und weil ich wohl nach dem 
Stil seiner Kritik nicht annehmen darf, daß er es aus Schonung 
für mich unterlassen hatte darauf hinzuweisen. Ich nehme zu 
jederzeit gern jede Belehrung an. Ich würde auch heute schon 
manches Kapitel, wie z. B. das über Geruch und Geschmack unter 
dem Einfluß der Lektüre von Henning’s Buch und anderen wesent- 
lich umschreiben. Ich fühle mich aber nur belehrt von Solchen, 
die über der Sache stehen, 












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H. Sikora, Vorläufige Mitteilung über Mycetome bei Pediculinen. 287 


(Aus dem Institut für Schiffs- und Tropenkrankheiten Hamburg, 
Direktor Prof. Dr. Nocht.) 


Vorläufige Mitteilung über Mycetome bei Pediculinen. 


Von H. Sikora. 


Die Kleiderlaus, die Kopflaus, die Filzlaus und auch die Ratten- 
laus Polyplax besitzen ventral am Magen, zwischen Epithel und 
Muskelschicht, ein rätselhaftes Organ, die Magenscheibe oder „Leber“. 
Es besteht aus radıär angeordneten Kammern, die von .einer Hülle 
umschlossen werden und beim erwachsenen Tier einen sich wie 
Protoplasma färbenden, unregelmäßig scholligen körnigen Inhalt 
besitzen, der mit Pilzfäden nicht die entfernteste Ähnlichkeit auf- 
weist. Cholodovsky beschrieb die Entstehung der Magenscheibe 
aus einem rundlichen, anfangs vor der Umstülpung des Embryo 
über dessen Kopf im Dotter liegenden Körper. Dies würde für 
die Auffassung sprechen, daß es sich um ein pilzführendes Organ 
handelt. Jedoch war mit dieser Auffassung die Tatsache nur 
schwer zu vereinen, daß die Magenscheibe, wie ich es durch Skizzen 
von Magenscheiben lebender Tiere nachwies, bei den erwachsenen 
Tieren kleiner wird und allmählich eine unregelmäßige, verzerrte 
Form annımmt, kurzum: atrophiert. Bei ganz jungen Läusen ist 
der Inhalt der Kammern ein Fadenkonvolut, dessen Verwandlung 
ın eine Masse unregelmäßiger Schollen um die Zeit der 3-Häutung 
herum zu erfolgen scheint. 


Bei der Schweinelaus Haematopinus fand ich während des 
Larvenlebens über den Magen verstreut eine Menge kleiner und 
einige größere, zuweilen rosettenförmig angeordnete Kammern, 
mit meist fadenförmigem Inhalt. Bei erwachsenen Schweineläusen 
war von diesen Fadenkammern keine Spur mehr aufzufinden, so 
daß es etwas gewagt schien, diese Kammern der Schweinelauslarve 
mit der Pedikulusmagenscheibe zu homologisieren. Die Kleider- 
laus und die Schweinelaus besitzt zwischen Eileiter und Eiröhren 
ein halbkugeliges Organ, dessen sehr dicke Wände in viele un- 
deutliche Fächer mit Kernen und dicken radıär gestellten Stäb- 
chen von etwa 50 a Länge geteilt sind. Diese diekwandigen 
Halbkugeln, die Müller „Ovarialampullen“ nennt, konnten Re- 
ceptacula seminis sein. Da ich aber ın ihnen selten etwas als 
Samenfäden deutbares fand, hielt ich sie für eine Art phagozy- 
tierendes Organ, das die Einschmelzung des ihm zunächst liegenden 
Eifollikels nach Ausstoßung des Eies zu besorgen hat. Anderseits 
scheinen sie mir pilzführenden Organen weit ähnlicher als die 
Magenscheibe. 


Ich vermute, daß die Magenscheibe ein provisorisches Mycetom 
ist, das die Aufgabe hat, die Pilze zu beherbergen, bis das Ovarıum 


88 H. Sikora, Vorläufige Mitteilung über Mycetoim& bei Pediculinen. 





fertig ausgebildet ıst, dessen Entwicklung durch ihre frühere An- 
wesenheit geschädigt werden würde, während der Magen im Laufe 
des Larvenlebens keiner wesentlichen Umwandlung unterliegt. 

Bei der Schweinelauslarve beschrieb ich chromatinarme Kerne 
mit großem Nukleolus, von gleich dicken, langen, ziemlich regel- 
mäßig angeordneten Fäden umgeben, und chromatinreichere, vielfach 
eingebuchtete Kerne, denen eine Masse zusammengeklunipter, Hohl- 
räume enthaltender Kugeln anlag: ‚vermutlich unter Mitwirkung 
der Kerne entstehende Fäden.“ Nun scheint die umgekehrte Deu- 
tung — Zerfall der Pilzfäden in Schwärmformen, die das Ovarıum 
aufzusuchen haben — befriedigender. Die provisorischen Mycetome 
verschwinden bei der Schweinelaus, und verkümmern beı den an- 
deren Arten zu dem rätselhaften Organ, das Landois, „Magenscheibe“ 
benannte und das er für eine Verdauungsdrüse hielt, da die da- 
maligen Untersuchungsmethoden nicht erkennen ließen, daß keine 
Verbindung mit dem Innern des Magens vorhanden ist. 

Ein der Aufklärung besonders bedürfender Punkt ist das Schicksal 
der Pilze nach Verlassen der Magenkammern in männlichen Tieren; 
wahrscheinlich gehen sie in diesen zugrunde. 

Ich werde auf dieses ungewöhnlich verwickelte Symbiosever- 
hältnis in einer größeren Arbeit mit Abbildungen zurückkommen, 
sobald mir die Zucht des Pilzes gelingt. Bisher blieben die Kul- 
turen mit Magenscheiben, Ovarien und Eiern steril, was möglicher- 
weise auf zu gründliches Desinfizieren der Läuse vor der Präparation 
zurückzuführen ist. 

Es scheint, daß auch andere Läuse, z. B. Haematopinus eury- 
sternus, Mycetome im Ovarium haben. Sicherheit darüber wird 
sich erst durch Anwendung geeigneter Färbmethoden gewinnen 
lassen. Die Versilberung nach Levaditti scheint zu einer Kontrast- 
färbung der Pilze und des sie umgebenden Gewebes zweckmäßig 
zu sein, denn in einem Kleiderlauspräparat färbten sich die rund- 
lichen Pilzmassen in den Eiern und die Stäbchen in den Wand- 
kammern des Ovarienmycetoms hell grausepia wie sonst nichts 
anderes in der Laus. 


Literatur. 


Landois, Z. f. wiss. Zool. 1864, 1865. 

Graber, Z. f. wiss. Zool. 1872. 

Cholodovsky, Zool. Anz. 1904. 

Müller, Zur Naturgeschichte der Kleiderläuse, Hölder 1915. 

Buchner, Studien über intracellulare Symbionten, Archiv f. Protistenkunde 1912. 








der Universitäts- 





Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck 
Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen. 





Biologisches Zentralblatt 


Unter Mitwirkung von 


Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig 


Professor der Botanik Professor der Zoologie 
in München 


herausgegeben von 
Dr. E. Weinland 
Professor der Physiologie in ErEuEe 


Merle von Eee Thieme in Re 








39. Band Juli 1919 IN Nr. 7 
ausgreeben am 3. Juli 1919 


Der jährliche Abonnementspreis a2 Heite) beträgt 20 Mark 


Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten 











Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an 

Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, 

vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, 

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physiolog. Institut, 
einsenden zu wollen. 








Inhalt: W. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. S. 289. 
€. Emmelius, Beiträge zur Biologie einiger Ameisen rten. S. 303. 
F. Poche, Über das Definieren der systematischen Gruppen. S. 311. 
Ph. H. Latzin, Die Rolle der Ausgleichsprinzipe in der Theorie des Lebens. $. 318. 
E. Bresslau u. M. Buschkiel, Die Parasiten der Stechmückenlarven. 8. 325. 





Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 
Von Dr. Wilh. Goetsch, Assistent des Zoolog. Instituts Strafsburg. 


Im 37. Band des Biolog. Zentralblattes habe ich eine vorläufige 

Mitteilung veröffentlicht über Versuche und Beobachtungen an 
Hydren, bei denen Regeneration und Fortpflanzung zusammenfielen. 
Diese Mitteilung möchte ich nunmehr in einigen Aufsätzen er- 
weitern und näher ausführen. Ich werde mich dabei, der Zeit ge- 
horehend, in der wir leben, so kurz wie möglich fassen und nur 
einzelne meiner in zahlreichen Protokollen niedergelegten Be- 
obachtungen genauer beschreiben, die übrigen dagegen mehr allge- 
mein darstellen. 
. Das Untersuchungsmaterial bestand wiederum aus Hydra fusca, 
den braunen Süßwasserpolypen, die nach manchen Autoren, in ver- 
schiedene Spezies ' eingeteilt werden. Ich behalte jedoch, R. Hert- 
wig und seinen Schülern folgend, den Namen fasca bei, besonders 
da es für diese Untersuchungen gleichgültig ist, welche spezielle 
Art oder Unterart vorliegt. 

Diese erste Mitteilung hier wird hauptsächlich von der 

39. Band. 20 


I90 W. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche ar Hydra. 


Bildung und Rückbildung der Hoden 


und den damit ın Zusammenhang stehenden Vorgängen handeln, 
an die ich dann noch einige Beobachtungen anfügen werde, die 
sıch an die gewonnenen Resultate anschließen lassen. 

Zunächst seien über die Abhängigkeit der Hodenentwicklung 
von der Witterung, auf die ich schon in der früheren Arbeit hin- 
wies, noch einige Beobachtungen mitgeteilt. 

Die zu den Untersuchungen im Sommer 1918 benutzten Tiere ent- 
stammten fast alle einem Aquarium, ın das die Reste früherer unter 
den verschiedensten Bedingungen gehaltenen Kulturen überführt 
waren und dort den Winter überdauerten. Ende Juni 1918 setzten 
fast alle Tiere dieses Aquariums plötzlich Hoden an, Zählungen 
ergaben 90% mit und nur 10% ohne Hoden. Wie bei früheren 
Beobachtungen ließ sich auch hier feststellen, daß nach längerer 
wärmerer Zeit kurz vorher, am 15. Juni, ein Witterungsunischlag 
eingetreten war, mit Kälte und Regen, so daß wohl sicher hierin 
die einsetzende Hodenproduktion zu suchen ist. Die Tiere, welche 
ich für diese Untersuchungen benützte, erhielten reichlich Futter, 
bildeten aber trotzdem keine Knospen. Am 2. Juli waren die 
Hoden bei fast allen Hydren verschwunden, nur wenige besaßen 
noch wohlentwickelte, mit beweglichen Spermien gefüllte männliche 
Geschlechtsorgane. Die Witterung war seit dem 29. Juni wieder 
wärmer geworden und hatte wohl so die Hodenbildung ungünstig 
beeinflußt. Hierzu ıst noch zu bemerken, daß auch die Tiere, mit 
denen ich experimentierte, plötzlich rascher als zu erwarten war 
die Hoden rückbildeten, so daß ich für die ferneren Versuche: be- 
sondere Vorsichtsmaßregeln mit gleichmäßig bleibenden Bedingungen 
anwenden mußte. 

Am 28. Juli begannen die Hydren desselben Aquariums von 
neuem mit der Hodenbildung, und wiederum war nach einer 
größeren Anzahl warmer Tage kälteres Wetter eingetreten. Und 
nicht nur in diesem Aquarium bildeten die Tiere männliche Ge- 
schlechtsorgane, sondern auch ın allen Behältern, die zu den ver- 
schiedensten Zeiten besetzt waren. Es zeigte sich auch durch 
Kontrollbeobachtungen, daß nicht nur bei der Zimmertemperatur 
der Umschlag der Witterung sich bemerkbar machte, sondern auch 
in den Teichen ließen sich jetzt Hydren mit Geschlechtsorganen 
finden, so daß wohl sicher der Witterungsumschlag von wärmerer 
zu kälterer Temperatur einen Einfluß auf die Hodenentwicklung hat 
und ihren Beginn verursacht. 

Nach diesen Bemerkungen über das zeitliche Auftreten der 
Hoden noch einige neue Beobachtungen über ihre Entwicklung. 

Nach Kleinenberg, Nußbaum u.a. werden die Hoden vor 
den Ovarien angelegt, und entstehen aus den intermediären Zellen 
des Ektoderms unmittelbar unter dem Tentakelkranz. Im reifen 








a 


W. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 39} 


Zustand bilden die Hoden mehrere, „einer Mamma ähnliche weiße 
Erhebungen“ (Nußbaum) oder „hohe Zylinder“ (Kleinenberg), an 
deren Außenseite die Ektodermzellen nur mehr als plattgedrückte, 
einschichtige Zellage zu finden sind, ohne daß in ihnen noch Nessel- 
zellen angetroffen werden können. Im Zustand der Entwicklung 
soll nach Kleinenberg „die Bildung der Fie. 1. 
samenbereitenden Organe eingeleitet werden 

durch auf rundlich umschriebene Stellen be- 

schränktes Wachstum von Ektodermzellen, so 

daß sich die Hoden äußerlich zuerst nur als 
flache beulenartige Erhebung und durch ihre 
weißliche Farbe markieren“. Diesen Aus- 
führungen kann ich nur in der Beschreibung 
der Farbe beistimmen. Nach meinen Beobach- 
tungen beginnt die Entwicklung der männlichen 
Geschlechtsorgane äußerlich sich in nicht fest- 
umgrenzten Vorbuchtungen des Ektoderms zu 
zeigen, die häufig den ganzen Körper des Tiers 
einnehmen. Die Abbildung 1 gibt ein Bild 
von derartigen jugendlichen Stadien der männ- 
lichen Geschlechtsdrüsen, das mit den sonst 
gezeigten und gezeichneten so wenig überein- 
stimmt, daß ich selbst zunächst zweifelhaft 
war, ob hier überhaupt Hoden vorlägen oder 
irgendeine Mißbildung und Krankheit, die das 
Ektoderm auftrieb. Erst nach und nach ent- 
standen dann aus diesen den Körper des Tiers 
manchmal ganz umziehenden Auftreibungen 
örtlich umgrenzte Stellen; es trat aus dem 
einheitlichen Gürtel bald hier, bald da eine h 
stärkere Erhebung zutage (Fig. 1a rechts), die 

sich dann nach und nach mehr ausbreitet. 

Nach Verebbung der dazwischen liegenden 

Partien entstehen hieraus dann die typischen, 
: - BENRG an a: Hydra fusca mit 
zipfel- oder zitzenförmigen Hoden, die jedoch <crsten Hodenanlaven, die 
manchmal bis zu einem sehr späten Stadium das ganze Tier umziehen. 


noch mit ihren Basen zusammenhängen b: Reife Hoden an der 
(Fig 1b) Ä k Basis verwachsen. 


a 


Abweichend von den bisher beschriebenen Beobachtungen ist 
demnach sowohl das gleichzeitige Auftreten der Hoden wie auch 
das Fehlen eines begrenzten Bezirks. Diese Erscheinung hat viel- 
leicht ıhre Ursache in der allzu stürmischen Hodenproduktion, die 
nach Hertwig eintreten kann, wenn die Tiere aus wärmerer Tempe- 
ratur ins Kalte gestellt werden. 

Auf die speziellen Verhältnisse bei der Hoden- und Sperma- 

208 





399 W. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra, 
entwicklung will ich hier nicht näher eingehen, da von den ver- 
schiedensten Autoren hierüber ausführliche Beschreibungen vor- 
liegen. Das Endprodukt dieser Entwicklung ist die zipfel- oder 
zitzenförmige Erhebung, abgeschlossen nach außen durch die platten 
Ektodermpartien, deren Zellgrenzen häufig verwischt sind. Inner- 
halb dieser Ektodermumhüllung finden sich, suspendiert in einer 
Flüssigkeit, die Entwicklungsstadien der Spermien, bei ganz reifen 
Hoden an der Spitze die ausgewachsenen Spermatozoen, mit stark 
färbbarem Köpfchen und den Schwanzteilen, deren wimmelnde Be- 


wegung schon bei schwächerer Vergrößerung sichtbar ist, besonders 


an der Spitze der Hoden. Das Aufhören dieser Bewegung zeigt 
rein äußerlich die eintretende Degeneration und Rückbildung der 
Hoden an, der wir uns nun zuwenden wollen. 

Wie ich in einer früheren Mitteilung in Bd. 37 dieser Zeit- 
schrift schon beschrieb, tritt eine Rückbildung der Geschlechts- 
organe, sofern sie noch nicht allzuweit ausgebildet sind, in dem 
Moment ein, in welchem die Hydren zur Regeneration der ver- 
loren gegangenen oder amputierten Körperteile schreiten. Beiden 
Hoden wird äußerlich diese Rückbildung dadurch sichtbar, daß, wie 
soeben erwähnt, die Spermabewegung geringer wird und nach und 
nach aufhört; dann beginnen die einzelnen Hodengebilde ihre straffe 
Form zu verlieren, sie fangen an etwas zu schrumpfen, wodurch 
die einzelnen Zellen des Ektoderms auch äußerlich als kugelige 
Gebilde sichtbar werden (Fig. 2a). Auf einem weiteren Stadium 
der Rückbildung sind dann die Hodenreste nur mehr als flache 
Erhebungen über der Körperoberfläche sichtbar (Fig. 2b); allmählich 
verstreicht auch diese geringe Ausbuchtung, und zu allerletzt sind 
die Hoden dann nur noch als kleine weißliche Gebilde zwischen 
Ektoderm und Entoderm zu sehen, die häufig auch äußerlich eine 
Vorbuchtung des inneren Blattes verursachen. Dann’ verschwinden 
sie restlos und sind an lebenden Tieren nicht mehr nachweisbar. 

Die Zeitspanne, in welcher diese bis zum völligen Verschwinden 
der Hoden führenden Vorgänge sich abspielen, ist verschieden. 
Es hängt die Schnelligkeit des Verlaufs einmal ab von der Witte- 
rung; bei wärmerer Temperatur geht die Reduktion bedeutend 
rascher vor sich als bei niederer. Nach 5—6 Tagen ist im all- 
gemeinen auch bei kälterer Umgebung die Rückwärtsentwicklung 
soweit vorgeschritten, daß bei lebenden Tieren und Totalpräparaten 
nichts mehr von Hoden und Spermaresten gesehen werden kann, 
bei wärmerer Temperatur kann die Rückbildung schon nach 2—3 
Tagen vollendet sein. Dies geschieht jedoch nur unter ganz be- 
sonderen Bedingungen. Beschleunigt wird die Reduktion nämlich 
außerdem noch durch den Ernährungszustand, in dem sich die Tiere 
befinden. Je schlechter dieser ist, um so schneller verschwinden 
die Hoden, während ein guter Ernährungszustand, der sich meist 


u a nn an alu un nu dm nn nn 








a 23 a aa A UN. FIELEN BER ZA  Ea A E 
W. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 295 


in der dunkleren Färbung der Tiere kundtut, die Rückbildung ver- 
langsamt. Endlich kommt es noch auf die Lage der Hoden an. 
In nächster Nähe der Schnittfläche, an der die Regeneration an- 
setzt, verkleinern sich die Hoden bedeutend schnelier als an Stellen, 
die von dieser Regenerationszone entfernter sind. Auch hier ist 
noch ein Unterschied zwischen den einzelnen Teilstücken der 
Tiere zu machen. Ein Kopfteil, der nur den Fuß’ zu ergänzen hat, 
reduziert die Hoden weniger rasch als ein unteres Stück, bei welchem 
der ganze Kopfteil mit den Tentakeln neu zu entstehen beginnt. 
An der Abb. 2, welche Teilstücke ein und desselben Tieres zu der- 
selben Zeit darstellt (nach 2 Tagen), kann man sich von dem 
Unterschiede der Hodenreduktion an den verschiedenen Teilen ein 
Bild machen. Stücke endlich, die aus der Mitte herausgeschnitten 
sind und Kopf und Fußscheibe entbehren, reduzieren unter den- 
selben Bedingungen die Hoden am schnellsten. 


Fig. 2. Fig. 3. 





Fig. 2. a:,oberes, b: unteres Teilstück einer Hydra, 2 Tage nach der Operation. 
H = Hoden. 
> 


Fig. 3. Regenerierendes unteres Teilstück von Hydra mit Hoden unmittelbar an den 
Tentakelanlagen. 


Diese hier angeführten Tatsachen geben uns schon einen Hin- 
weis dafür, was als Ursache der Reduktion von den. Geschlechts- 
organen anzusehen ist. Der Grund der Rückbildung ist stets darın 
zu suchen, daß bei der eintretenden Regeneration viel Material 
gebraucht wird, sodaß sofort die Weiterentwicklung der nahe ge- 
legenen Hoden unterbleiben muß. Es ist möglich und sogar wahr- 
scheinlich, daß die ganz reifen Spermatozoen noch ausgestoßen 
werden und ins Freie gelangen ; die übrigen nicht völlig zur Reife 
gelangten dagegen bleiben in der Entwicklung zurück und dienen 
als Material zum Wiederaufbau des Tiers. Bei der Neubildung 
der Fußscheibe, die sich ja äußerlich als keine besonders hervor- 
tretende Organbildung zeigt, läßt sich der Verbrauch der Ge- 





[80] 


94 W. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 


schlechtsorgane nicht so ohne weiteres makroskopisch beobachten; 


man muß sich darauf beschränken, die Rückbildung der Hoden 


sukzessive bis zu ihrem Verschwinden zu kontrollieren und kann 
dann 1—2 Tage später feststellen, daß das Tier die Möglichkeit 
der Anheftung nunmehr wieder erlangt hat. 

Bei der Bildung der Tentakeln dagegen läßt sich auch äußerlich 
beobachten, daß ae Abbau der Hoden: mit dem Aufbau der kleinen 
Tentakeln Hand in Hand geht. Die Tentakeln entstehen nämlich 
vorzugsweise da, wo Hoden in Rückbildung sich befinden. Sie 
bilden sich stets im allernächsten Umkreis der reduzierten Hoden, 
in manchen Fällen sogar aus den Hodenresten selbst. Die in den 
Abbildungen 3, 4 und 5 gezeichneten Verhältnisse waren besonders 
instruktiv. 

Das in der Figur 3 gezeichnete untere Stück einer Hydra zeigt 
die Regenerationszone, an der sich gerade kleine Tentakelanlagen 
bilden; bei der warmen Temperatur, in der das Tier gehalten wurde, 
geschah dies schon am zweiten Tag, nachdem der Kopfteil entfernt 
war. Wie man an der Abbildung sieht, liegen die schon stark 
rückgebildeten Hoden immer ganz in der Nähe der Tentakelanlagen, 
links auf dem Bilde unmittelbar an der Basis der kleinen Tentakel- 
knospe. Bei der mit Nr. 73 in meinen Protokollen bezeichneten 
Hydra war ähnliches zu beobachten. Am 12. V]. 1918, dem zweiten 
Tag nach der Operation, waren die drei Hoden des unteren Teil- 
stücks bereits stark degeneriert, die oberen mehr als die unteren 
(Fig. 4a). Eine Bewegung von Sperma war nicht mehr sichtbar. 
Am 13. VI. frühmorgens waren an den Stellen der Hoden drei 
Vorstülpungen sichtbar, die oberste war die größte und ließ sich 
deshalb sowohl wie wegen ihrer Lage als Tentakelanlage identifi- 
zieren; bei der in Abb. Ab links gezeichneten Vorwölbung dagegen 
war es zweifelhaft, ebenso bei der ein Stück unter der ersten 
liegenden dritten Ausbuchtung, ob man einen Hoden vor sich hatte 
oder einen jungen Tentakel. Ich war zunächst geneigt, das erstere 
anzunehmen, zumal wegen der Lage, an der man doch keinen 
Tentakel erwarten konnte. Es zeigte sich jedoch bald, daß hier 
trotz der ungewöhnlichen Lage ein junger Tentakel sich bildete, 
denn bereits am Nachmittag desselben Tages wuchs sich die Vor- 
wölbung zu einem wirklichen kleinen Fangarm aus, und auch der 
dritte Auswuchs auf der entgegengesetzten Seite bildete sich zu 
einem Tentakel um, so daß am Abend, als ich das Tier abtötete, 
sich ein Bild ergab, wie es die Figur 4c zeigt: einen kleinen und 
einen etwas größeren Tentakel an der obersten Spitze, und unter- 
halb des größeren, also an einer Stelle, wo normalerweise niemals 
ein Fangarm zu finden ist, ein dritter hervorwachsender Tentakel. 
Noch demonstrativer gestalteten sich die Beobachtungen an 
einem anderen Tier, bei dem die Umbildung eines Hodenrestes in 


| 
| 











W. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an "Hydra. 295 


einen Tentakel unter meinen Augen vor sich ging. Die Figur 5a 
zeigt den unteren Stumpf einer Hydra, der bei niederer Temperatur 
das Köpfchen zwei Tage vorher abgeschnitten war. Man sieht an 
dem Bild noch deutlich zwei große Hoden, die dicht an der Schnitt- 
stelle sich befinden, während der dritte Hoden, der sich auf der 
hinteren Seite befand, deshalb natürlich nicht sichtbar. ist. Alle 
Hoden zeigten zu dieser Zeit (12. Vll. 1918) noch lebhafte, Sperma- 
bewegung. Am Tage danach waren in den frühen Morgenstunden 
die Hoden in beginnender Degeneration; an der äußersten Spitze 


- des eanzen Stumpfes erhob sich eine ganz leichte Vorwölbung, die 
fo) Oo 8) 


erste Anlage eines Tentakels, wie sich später herausstellte. Am 
14. VII. waren 4 Uhr morgens außer dem ersten, im Wachstum 


‚Fig. 4, 





a 


® 
Fig. 4. a—c Fortschreitende Umbildung von Hoden in Tentakel. 


begriffenen Tentakel an der Spitze noch unzweifelhaft als Hoden 
zu bezeichnende Erhebungen festzustellen, die von Stunde zu Stunde 
jedoch sich immer mehr rückbildeten. Dafür begannen nunmehr 
die Tentakelanlagen hervorzusprießen, zunächst zwei weitere, die 
etwas oberhalb der Hodenreste entstanden, und zwar so, daß sie 
sich immer zwischen je zwei Hoden befanden. Am Abend des- 
selben Tages zeigte das Tier das Bild der Figur 5e; d.h. es waren 
drei große Tentakel vorhanden, und eine kleinere Anlage zu einem 
vierten; der eine Hoden war ganz verschwunden, ein anderer, auf 
der Abbildung nicht sichtbar, in starker Degeneration, der dritte, 
in der Figur unterhalb des einen Tentakels zu sehen, ebenfalls 
bereits stark geschrumpft, aber noch deutlich als Hoden erkennbar. 

An diesem zuletzt erwähnten Hoden hieß sich nun unzweifel- 
haft die Umbildung in einen Tentakel feststellen. Am 15. VII. ganz 
früh morgens nämlich konnte man an dem Tier neben vier wohl- 
ausgebildeten Tentakeln und einem in Abb. 5d unten links sicht- 
baren ganz geringen Restehen des zweiten Hodens noch den dritten 
Hoden in sehr weit fortgeschrittener Degeneration erkennen; am 
Vormittag begann die Umbildung in einen Tentakel, d. h. an der 


Stelle, an welcher der Hoden sich befand, konnte man eine ganz 


minimale Vorstülpung erkennen, die ein Mittelding zwischen einem 
Hodenrest und einer jungen Tentakelanlage darstellte (Fig. 5d). 








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296 W. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 
Am Nachmittag des 15. VII. war es dann nach und nach unzweifel- 
haft geworden, daß hier ein fünfter Tentakel hervorzusprießen be- 
gann, und zwar, wie es Figur 5d und e' zeigt, an einer Stelle, die 
etwas unterhalb der übrigen Tentakel sich befand; wıe bei dem ın 
der Abb. 4 gezeichneten Tier an einer Stelle also, an welcher sich 
für gewöhnlich keine Tentakel finden. 

Die Frage, wie diese Umwandlung vor sich geht und wie solche 
Unisetzungen zu erklären sind, konnten die Beobachtungen an 
lebenden Tieren nicht beantworten. Schnitte dagegen gaben guten 


Fig. 5. 





e 
Fig. 5. Umbildung von Hoden in Tentakeln bei Hydra fusca. -- Hodenreste. 


Aufschluß darüber und konnten auch die Resultate der an lebenden 
Tieren gemachten Untersuchungen bestätigen. Es zeigte sich 
nämlich auch an den Schnitten, daß die der Operationswunde näher 
liegenden Hoden stets weiter rückgebildet waren als die, welche 
ihr entfernter lagen. Die größere oder geringere Degeneration 
macht sich in den Schnitten in der Weise geltend, daß ın den 
Hoden und Hodenresten mehr oder weniger Spermatozoen sichtbar 
sind; sie treten in den Serien als kleine, lebhaft und kräftig ge- 
färbte länglichrunde Körperchen hervor, teils einzeln, teils zu Klumpen 
geballt, und können mit anderen Organen und Organteilen gar 


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W. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra, 27 


nicht verwechselt werden (Fig. 6—8). Was wird nun aus diesen 
Körperchen, wenn die durch eintretende Regeneration bedingte 
Rückbildung der Hoden eintritt? Bilden sie sich um oder werden 
sie aufgelöst? Beides konnte theoretisch angenommen werden. 
Die Untersuchungen der Schnittserien ergaben jedoch ein anderes 
Resultat; sie zeigten. daß die Spermatozoen verdaut werden, 
und zwar in ganz normaler Weise von den Entodermzellen, als 
ob sie Nahrungskörper, wären. 





Fig 6. Schnitt durch H. f. mit Hoden, die in Reduktion sich befinden. Über- 
wandern der Spermien nach Auflösung der Stützlamelle. HR Hoden-Reste. 
Obj.. V:’Oe. 1. 


Fig. 7. Längsschnitt durch H. fusca. Vorbuchtung der Entodermzellen, die mit 
Sperma-Resten angefüllt sind Obj. V. Oc I. 


Jeder Schnitt durch eine Hydra, deren Hoden einige Zeit in 
Reduktion sich befanden, zeigte die eigenartige Tatsache, daß die 
typischen unverkennbaren Spermien auch im Entoderm zu finden 
waren. Systematische Versuche und Schnittserien von Tieren, die 
in den verschiedensten Reduktionsstadien abgetötet wurden, ließen 
dann auch erkennen, wie eine solche Erscheinung zustande kommt. 
Beı Tieren, die kurz nach der Operation geschnitten wurden, sind 
die Spermatozoen natürlich nur im Ektoderm anzutreffen. Nach 
kwzer Zeit jedoch beginnen sie auch im Entoderm aufzutreten. 
Es war zunächst unklar, wie. das möglich ist, da ja zwischen beiden 
Schichten eine Stützlamelle sich befindet, die ein einfaches Über- 





BED aa a RE Fr 


B08.. W. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 


treten von einer Schicht zur andern verhindert. Es zeigte sich 
nun, daß diese Stützlamelle bei solchen Stücken, die Hoden in 
Reduktion besaßen, an manchen Stellen eine Strecke weit durch- 
brochen und aufgelöst war; meist nur ein !kleines Stück weit, so 
daß auf Schnittserien von 10 « nur an einem einzelnen Schnitt 
die Durchbrechung mit aller Deutlichkeit sichtbar war, während 
an den vorhergehenden und folgenden. Schnitten die Lamelle ın 
ununterbrochener Linie verlief- und die beiden Schichten trennte. 
Abb. 6 zeigt eine solche Durchbrechung der Stützlamelle, und zeigt 
auch, wie die Spermatozoen mit der Überwanderung vom Ektoderm 
ıns Entoderm beginnen. 
Fig. 8. 





Fig. 8. Schnitt (längs) durch Hydra fusca ‚mit degenerierten Hoden (H) und 
hervorwachsenden Tentakeln (T). Rechts Sperma nur im Entoderm. 
Obj. III. Oe. II. 


Je weiter die Reduktion der Hoden fortschreitet, um so we- 
niger Spermien sind ım Ektoderm anzutreffen, während sich die 
Entodermzellen immer mehr mit ihnen füllen. Sie werden dann 
dort in Vakuolen eingeschlossen und intrazellulär verdaut, wie es 
die Abb. 7 demonstriert, die einige solcher Nahrungsvakuolen mit 
Spermaresten aufweist. Nach und nach verschwinden die Sperma- 
tozoen immer mehr aus dem Ektoderm (Abb. 8 rechts); sie füllen 
nunmehr nur das Entoderm, das auf diese Weise an bestimmten 
Partien unter sehr günstigen Ernährungsbedingungen steht. Die 
Folge davon ist ein Größer- und Kräftigerwerden der Entoderm- 







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W. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 249 


zellen an diesen Stellen, so sehr meıst, daß das Entoderm hier 
große Vorbuchtungen bildet (Abb. 7) 

Dieses an bestimmten Bezirken lokalısierte Wachstum und die 
dadurch bewirkte Vermehrung der Zellen, hervorgerufen durch die 
fortwährende Fütterung mit immer nachdringenden Spernuen, er- 
klärt es nun, daß gerade an diesen Stellen die Regeneration und 
Neubildung von Organen besonders rasch eintritt. Das vorhandene 
Nährmaterial begünstigt die Wachstumsbedingungen natürlich sehr, 
so daß schon ım allgemeinen an solchen Punkten das Hervor- 
wachsen der Tentakeln verständlich ist. Es läßt sich aber auch 
noch ein direkter Einfluß von den in Rückbildung begriffenen 
Hoden an der Neuentstehung der Fangarme feststellen. Die Ver- 
größerung und das Wachstum der Entodermzelien verursacht näm- 
lich nicht nur eine Vorwölbung nach innen, sondern auch häufig 
eine Ausbuchtung nach außen (Fig. 8 links), und drängt dann das 
Ektoderm ebenfalls nach außen, besonders da diese Zellen, welche 
die Hodenbedeckung dort bildeten, sehr dünn sind. Sie bilden 
sich erst nach und nach wieder zu den typischen Ektodermzellen 
um, sind also ihrerseits ebenfalls ın Entwicklung und Wachstum 
begriffen. Und so kommt es, daß unmittelbar aus den Hodenresten 
so leicht Tentakel hervorgehen, auch an Stellen, die unterhalb des 
normalen Tentakelkranzes liegen. 

Die Abb. 8 zeigt einen derartigen Fall. Der Längsschnitt 
durch einen regenerierenden Hydra-Stumpf weist am äußersten 
Ende zweı etwas größere Tentakel auf. Unterhalb der auf der 
Abbildung nach links liegenden Tentakelknospe befand sich ein 
Hoden, dessen Samenelemente bis auf geringe Reste aus dem Ekto- 
derm verschwunden sınd. Das Entoderm enthält dagegen noch 
reichlich in Verdauungsvakuolen eingeschlossene Spermien, auf dem 
Schnitt selbst sind allerdings nur geringe Reste getroffen, die ın 
großen, nach dem Ektoderm zu vorgebuchteten Zellen liegen. Die 
Zellen der äußeren Schicht, welche die Umhüllung der beinahe 
ganz verschwundenen Hoden bildeten, sind ihrerseits in Regeneration 
und Wachstum begriffen, und so ist es unzweifelhaft, daß aus 
dieser Hervorwucherung ebenfalls ein Tentakel herausgewachsen 
wäre, wenn ich das Tier nicht abgetötet hätte. Verschiedene andere 
Schnitte durch größere Tentakelanlagen mit Hodenresten scwie die 
Beobachtungen an lebenden Objekten liefern dafür den Beweis. 

Die zunächst so auffallende Erscheinung, daß so verschiedene 
Organe wie Hoden und Tentakel sich unmittelbar ineinander ver- 
wandeln können, ist ım Grunde genommen also nur auf die Tat- 
sache zurückzuführen, daß da, wo viel Nahrung vorhanden ist, auch 
zunächst eine Entwicklung, eine Regeneration erfolgt. Die negative 
Seite dieser Erscheinung ließ sich ebenfalls an meinen Unter- 
suchungsobjekten beobachten: es traten Hemmungen da ein, wo 





300 W. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 


eine Art Kampf der Teile um das Nahrungsmaterial stattfand. 
Eine //ydra mit Kuospe, welcher der Kopfteil oberhalb der Knospe 
abgeschnitten war, bildete stets neue Tentakel zunächst an der 
von der Knospe abgewandten Seite; war die Knospe selbst noch 
ın Entwicklung und besaß noch keine Fangarme, so entstanden, 
immer zunächst nur an der unteren Seite Tentakelanlagen, d. h. 
ebenfalls an der Stelle, an welcher keine Konkurrenz mit anderen 
Teilen vorliegt, die ihrerseits Regenerations- und Nahrungsstoffe 
brauchen (Abb. 10). Bei den Ovarien, die schon zu differenziert 
sind, als daß sie rückgebildet werden können, läßt sich dasselbe 
beobachten. In der früheren Arbeit habe ich eine solche Hydra 
abgebildet, die auf der einen Seite ein in der- Weiterentwicklung be- 
‚griffenes Ovar trägt, während auf der diesem abgewandten Seite 


Fig. 9. Fig. 10. 


Fig. 9. Kopf von Hydra fusea mit zuvielen bei der Regeneration entstandenen 
Tentakeln, die mit der Verschmelzung beginnen. 


Fig. 10. Regenerierender Stumpf von Hydra fusca mit wachsender Knospe; an 
den einander zugewandten Seiten Wachstumshemmung der Tentakeln. 


Tentakel hervorzusprießen beginnen. In allen solchen Fällen sind 
immer dıe Tentakel am weitesten in der Entwicklung fortgeschritten, 
welche dem konkurrierenden Teil am weitesten abgewandt sind. 
Besonders schön läßt sich dies an einem knospenden Tier sehen, 
wo dann wie in der Figur 10 dem großen Tentakel der Knospe der 
größte Fangarm des Regenerationsstumpfs gegenübersteht, jeder 
flankiert von zweı kleineren. 

Es sucht demnach, wie es sich aus dem vorhergehenden ergibt, 
immer zunächst ein jeder Teil unabhängig von dem anderen zu 
wachsen; die Knospe oder die Geschlechtsorgane wollen sich weiter- 
entwickeln, der verletzte Teil das Verlorengegangene ersetzen. 
Dieser Kampf reguliert sich indes bald; es tritt eine Harmonie der 
Teile ein, wobei dann die eime Kraft die andere überwiegt. 
Und zwar ist dabei eine gewisse Reihenfolge festzustellen, auf die 
ich schon früher hinwies. Jede Knospe, sei sie auch noch so klein, 
hat immer den Vorzug vor dem Regenerationsstumpf und wächst 









ae a x sÄcciange er rg A EL Be a Be nern ” RL RAR TRLAR 4 ED a a aa 
W. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 301 


‚auf seine Kosten, ihn nach und nach ganz in sich aufnehmend. 
Der abgeschnittene Stumpf dagegen regeneriert und rangiert vor 
den Geschlechtsorganen, und er braucht sie auf, sofern sie nicht 
schon zusehr spezialisiert und differenziert sind. Ist dies der Fall, 
so kann die Rückentwicklung unterbleiben; es zeigt sich dies gut 
bei den Ovarien, weniger deutlich bei den Hoden, da hier ja eine 
ganze Zeit lang immer neue Spermien gebildet werden. Diese 
Neubildung unterbleibt dann bei einsetzender Regeneration, und 
aus den Hodenresten wird das Material für den Neuaufbau des 
Tiers gewonnen und direkt oder indirekt für die zu bildenden Teile 
verbraucht. 

Eigenartig ist auch bei solchen Regenerationsprozessen, die 
viel Nahrungsmaterial zur Verfügung haben, die zu beobachtende 
UÜberproduktion von Teilen oder Organen. Sie ist auf dieselben 
Gründe zurückzuführen wie die vorhergehenden Erscheinungen und 
zeigt ebenfalls dıe merkwürdige Tatsache, daß die einzelnen Re- 
gionen, zunächst wenigstens, sich unabhängig voneinander ent- 
wickeln. An unteren Teilstücken, besonders an solchen mit breiter 
Schnittfläche, wachsen fast regelmäßig eine sehr große Anzahl von 
Tentakeln hervor, viel mehr, als ein normales Tier besitzt. Die 
in Abb. 9 gezeichnete Hydra zeigte z. B. zunächst die Zahl von 
13 Tentakeln, andere manchmal noch mehr. Eine derartige Über- 
produktion bleibt jedoch nicht bestehen, es tritt vielmehr stets 
eine Regulation ein. Im einfachsten Fall geschieht dies derart, 
daß eine Reduktion der Tentakel eingeleitet wird: verschiedene 
Fangarme verschmelzen miteinander zu einem einzigen. Die Basen 
zweier nebeneinander liegenden Tentakeln nähern sich immer mehr 
und vereinigen sich zuerst unten. Die Verschmelzungsstelle rückt 
dann immer weiter nach der Spitze zu, so daß sich gegabelte Arme 
beobachten lassen, bis dann allmählich eine totale Verschmelzung 
eingetreten ist. Die Textfigur 9. zeigt eine derartige Hydra, die 
am 3. Tag mit der Tentakelbildung begann und am 5. Tag 13 wohl- 
entwickelte, wirr durcheinander liegende Tentakel gebildet hatte, 
im Begriff, am 7. Tag nach der Operation ihre Arme zu vereinigen. 
Rechts neben dem senkrecht nach oben gerichteten Tentakel ist 
ein Paar sichtbar, das mit seinen Basen sich aneinandergelegt hat 
und dort verschmolzen ist; auf der linken Seite sieht man zwei 
weitere Paare in verschiedenen weiter fortgeschrittenen Verschmel- 
zungsstadien, während der mittlere, dicke Tentakel das Endprodukt 
eines solchen Vereinigungsprozesses ist. 

Die Regulation kann sich jedoch auch komplizierter gestalten, 
nämlich derart, daß an diesen für das Tier viel zu vielen Tentakeln 
sich mehrere Gruppen bilden, die untereinander eine größere Zu- 
sammengehörigkeit besitzen als mit anderen. Auf diese Weise 
entstehen dann zwei oder mehrköpfige Hydren, da innerhalb einer 





(% gan 


309 W. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 
enger zusammengehörigen Gruppe sich Mundöffnungen bilden. 
Werden solche mehrköpfige Tiere gefüttert, so kann eine Längs- 
teilung eintreten; d. h. jeder Kopf wırd dadurch, daß der Zwischen- 
raum zwischen ihm und dem anderen sich immerwährend vergrößert, 
mehr und mehr von dem Nachbarn getrennt, so daß nach einiger 
Zeit nur noch die Stielteile vereinigt sind, ein Zusammenhang, der 
sich zuletzt auch noch löst. Wird dem Tier dagegen kein Futter 
gereicht, so finden wir das Gegenteil; die Köpfe nähern sich ein- 
ander immer mehr und verschmelzen schließlich wiederum zu einer 
Einheit, wie es auch Kıng bei gepfropften Köpfen von Hydra 
viridis beobachtete; dann wird hier ebenfalls in derselben Weise 
wie ın dem ersten Fall durch Verschmelzung eine Reduktion der 
Tentakel eingeleitet. 

Die ın diesem und dem früheren Aufsatz mitgeteilten Beobach- 
tungen lassen sich alle auf ein gemeinsames Prinzip zurückführen. 
Überall bestimmt das Vorhandensein von Nahrungsmaterial das 
Wachstum und die Regeneration, die in der Hauptsache ja eben- 
falls ein Wachstum ist. Fehlt das Material überhaupt, 50 kann 
keine Regeneration eintreten; dies zeigen kurze Stümpfe oder Stücke 
von unteren Teilen, die, wie ich früher beschrieb, nicht regenerieren, 
sondern der Auflösung verfallen. Ist jedoch Material vorhanden, 
so bestrebt sich jedes Teilstück des Tiers zu einem vollständigen 
Tier wieder zu ergänzen, und zwar kann bei Materialüberfluß die 
Regeneration dann an vielen Stellen zu gleicher Zeit unabhängig 
voneinander einsetzen. Erst nach und nach tritt dann eine Regu- 
lation ein; der kräftigste Bezirk ınit dem energischsten Wachstum 
vergrößert sich allein; er nımmt, wenn ıhm nicht von außen Nah- 
rung zugeführt wird, zunächst alle vorhandenen Nahrungsmaterialien 
für sich ın Anspruch und unterdrückt so die Weiterentwicklung 
an anderen Stellen. Nach Aufbrauch des Materials greift er dann 
auch auf die schon ausgebildeten Teile über und schmilzt sie für 
seinen Bedarf ein, wie eine wachsende Knospe stets den mütter- 
lichen Stumpf zu ihrem Aufbau verbraucht und ein in regenerativem 
Wachstum befindlicher Stumpf seinerseits die Geschlechtsorgane, 
sofern sie nicht schon zu weit differenziert sind, daß sie nun die 
Oberhand bei diesem Materialkampf gewinnen. 


Literatur. 

Brauer, A. Über die Entwicklung von Hydra. Zeitschr. f. wiss. Zoologie 
Bd. 52, 1891. 

Frischholz, E. Zur Biologie von Hydra. Biolog. Zentralbl. Bd. 29, 1909. 

Goetsch, W. Beobachtungen und Versuche an Hydra. Biolog. Zentralbl. 
Bd. 187,:1917. 

Hertwig, R. v. Die Knospung u. Geschlechtsentwicklung v. Hydra fusca. Biolog. 
Zentralbl. Bd. 26, 1906. 

King, H. D. Further Studies on Regeneration in Hydra viridis. Arch. f. Ent- 
wickl.-Mech. Bd. 16. 






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©. Emmelius, Beiträge zur Biologie einiger Ameisenarten. 2303 


Kleinenberg, N. Hydra. Leipzig 1872. 
Krapfenbauer. Einwirkung der Existenzbed. auf die Fortpflanzung von Hydra. 
Dissertation München 1908. 
Nußbaum, M. Über die Teilbarkeit der lebendigen Materie. Arch. f. mikrosk. 
Anatomie Bd. 29, 1887. 
— Zur Knospung u. Hodenbildung bei Hydra. Biolog. Zentralbl. Bd. 27, 1907. 


Beiträge zur Biologie einiger Ameisenarten. 
Von Carl Emmelius. 


(Gefallen als Unteroffizier einer Feldbatterie im April 1918 bei Albert (Nordfrankreich).) 
Zusammengefaßt und ergänzt von Heinrich Kutter (Zürich). 

Die folgenden Ausführungen beziehen sich sämtliche auf Be- 
obachtungen in der freien Natur und Experimente im künstlichen 
Beobachtungsapparate, welche mein Schulkamerad, Studiengenosse 
und Freund Carl Emmelius, in seinem Tagebuch vor seiner Ein- 
berufung in den Heeresdienst zurückgelassen hat, und das nun im 
Original vor mir liegt. Es konnte nicht allein nur der Gedanke 
sein, der mich bewog, diese kurzen Notizen meines Freundes zu 
veröffentlichen, um seine Beobachtungen und Entdeckungen der 
Wissenschaft zu retten, sondern auch das Pflichtgefühl des Freundes 
dem toten Freunde den Lohn für seine eifrigen Forschungen zu 
erringen. Wer wollte sich auch daran stoßen, daß einmal nicht 
nur erworbenen Ruhmes, sondern eines wohl noch unbekannten 
jungen Mannes gedacht wird, dessen wissenschaftliche Tätigkeit 
durch jahrelanges Kriegshandwerk auf grausame Art lahmgelegt 
wurde; eine Tätigkeit, die er vor seiner Einberufung in so hoff- 
nungsvoller Weise entfaltet hatte. 

Nach der Erwerbung seines Maturitätszeugnisses wurde er im 
Herbst 1915 zum blutigen Waffendienst für sein Vaterland einbe- 
rufen. Es wäre unnütz, wollte man alle die Mühsale und Strapazen 
aufzählen, die er während seiner schwersten Tage der Pflichter- 
füllung durchkosten mußte — die Worte Somme und Ypern reden 
für sıch selbst. Ende April 1918 erlag er bei Albert ın Nord- 
frankreich einer schweren Granatverletzung, die er während eines 
Artilleriegefechtes erhalten hatte. 

Eigener langer Grenzdienst und Krankheit verhinderten mich 
leider bis heute diese Arbeit anzugreifen. 

Obwohl ın den kurzen Aufzeichnungen meines Freundes für 
die Wissenschaft absolut neue Forschungsresultate nicht zahlreich 
zu finden sind, so verlieren seine Beobachtungen, die er schriftlich 
hinterlassen hat, trotzdem nicht an ihrem Wert; sie bestätigen und 
ergänzen vielmehr, oft aufs trefflichste, schon bekannte Tatsachen 
und Theorien, und erweisen dadurch ihre volle Berechtigung der 
Allgemeinheit bekannt gemacht zu werden. Durch Einzelbeobach- 


NEE SR 2 Bear va al a Sa re BEER BE Ta Er ER Bla Lea a a a a res 
> De Ira, 5 ‘ Kr MR EWR 





304 ©. Emmelius, Beiträge zur Biologie einiger Ameisenarten. 


tungen, und wenn sie noch so unscheinbar sind, wird die Wissen- 


schaft oft viel mehr gefördert, als durch gewagte Hypothesen. 
Ein großer Teil der Beobachtungen von Emmelius sind schon 
von verschiedenen Forschern in entsprechendem Zusammenhange 
verwertet worden. Um jedoch eın möglichst vollständiges Bild 
der wissenschaftlichen Tätigkeit meines Freundes auf dem Gebiet 
der Ameisenkunde zu geben, werde ich die schon bekannten Re- 


sultate seiner Forschungen hier nochmals kurz erwähnen. Es soll‘ 


meine Aufgabe sein, soweit dies die kurzen Notizen zulassen, mich 
möglichst an den Text der Aufzeichnungen zu halten, um dann zu 
versuchen durch eigene Zusätze und Bemerkungen den Zusammen- 
hang derselben mit andern, schon bekannten Tatsachen klarzulegen. 


1. Über Pleometrose und die Überwinterung unbefruchteter 
Königinnen. | 


Es kommt nicht selten vor, daß das Ausfliegen der Geschlechts- 
tiere einer Kolonie durch besonders ungünstige Witterungsverhält- 
nisse etc. in dem einen oder andern Jahr ganz oder doch teilweise 
unterdrückt wird. Die Folge hiervon ist wohl die „Hochzeit zu 
Hause“, die Inzucht. Die Paarung der Geschlechter erfolgt auch 
oft nahe beim Neste, so daß junge, eben befruchtete Weibchen 
in ıhr Mutternest zurückgelangen können. Dies erklärt zum Teil 
die große Anzahl entflügelter, d. h. befruchteter Weibchen in ein 
und demselben Nestverbande. Von Wasmann wurde diese Er- 
scheinung als Pleometrose bezeichnet, worunter also das Vor- 
kommen mehrerer Königinnen dergleichen Art ın einem Staate ver- 
standen wird. 

In seinem Tagebuche erwähnt nun Emmelius mehrere, von 
ihm festgestellte, interessante Fälle von Pleometrose bei drei ver- 
schiedenen Arten. 

a) Pleometrose bei Formica fusca L. 

Wasmann gibt in seinem Werke „Zur Kenntnis der Ameisen 
und Ameisengäste von Luxemburg“, Ill. Teil, p. 76 an, daß er in 
den meisten der zahlreichen fasca-Kolonien, welche er untersuchte, 
durchschnittlich 2—5 befruchtete Weibchen nachweisen konnte. 
In einem fusca-Staate vermochte er sogar 10 Königinnen zu zählen. 
Emmelius erwähnt unter dem Datum vom 5. August 1912 zwei 
Nester mit je 7 und eine Kolonie mit sogar 13 Königinnen. Ich 
selbst fand im September 1918 bei Arosa (Graubünden) eine Menge 
fusca-Kolonien, von denen einige mindestens 100 Weibchen be- 
saßen! Nur in einem der Nester besaß eines dieser Weibchen noch 
Flügel. Von Männchen ließ sich nichts mehr nachweisen. Erinnert 
man sich des außerordentlich kühlen und feuchten Sommers 1918, 
vor allem auch des Monats August, so ist die Erklärung für solch 
abnorme Verhältnisse nicht schwer zu finden, 








BT 


Dr 


©. Emmelius, Beiträge zur Biologie einiger Ameisenarten. 305 


b) Pleometrose bei Formica rufibarbis. 

„Am 3. April 1913 fand ich in Chardonne (am Genfersee) ein 
rufibarbis-Nest mit 6 Königinnen !“ 

c) Pleometrose bei Plagiolepis pygmaea. 

„Heute den 10. April fand ıch bei Saillon (Wallis) ein Pla- 
giolepis-Nest mit 23 Königinnen!“ 

Dieser letztere Fall ıst besonders interessant, da, meines Wissens, 
bis heute noch nirgends in der Literatur Pleometrose bei unserer 
winzigen Plagiolepis pygmaea erwähnt wurde. Es ist schade, daß 
Emmelius nur eine so kurze Notiz über ‚diesen Fall zurückge- 
lassen hat. 

Es trıtt nun aber auch recht häufig der Fall ein, daß nicht 
sämtliche Weibchen bei Unterbleiben des Hochzeitsfluges ım 
Mutterneste befruchtet werden. Hieraus erklären sich die Funde 
geflügelter, d. h. unbefruchteter Weibchen unter den Arbeitern zu 
ganz ungewöhnlichen ‚ Jahreszeiten. So erwähnt Emmelius in 
seinem Tagebuch, daß er am 2. März 1913 in einem ZLasius ful- 
ginosus-Nest geflügelte Königinnen gefunden habe! Am 30. März 
desselben Jahres fand er ın Chardonne in einem ZLasius umbratus- 
Nest ebenfalls „viele geflügelte Weibchen“, dasselbe am 6. April, 
am gleichen Orte, in einer Formica fusca-Kolonie, während die 
Schwärmezeit dieser 3 Arten zwischen Mai und August fällt. 

Interessant ist auch folgende Notiz: „30. Oktober 1912. Heute 
beobachtete ich‘ noch einen „Hochzeitsflug“ von ZLasius umbratus. 
Derselbe bestand nur aus Weibchen. Es war eine ungeheure 
Menge; der ganze Zeltweg (eine Straße von ca. 700 m Länge) war 
damit bedeckt.“ 

Ein ähnlicher Hochzeitsflug, wenn man von einem solchen in 
unserm Falle überhaupt noch sprechen darf, überraschte mich, an- 
läßlıch eines Ausfluges nach den Ruinen der Küssaburg (Baden 
am Rhein). Dort war nämlich ein Teil des alten Gemäuers ganz 
übersäht von lauter Myrmica scabrinodis-Männchen, ohne daß ein 
einziges Weibchen unter den Tierchen zu finden war; das ganze 
stellte vielmehr eine großartige „Junggesellenveranstaltung“ dar. 

Aus dem Umstande, daß in einer Kolonie meist in demselben 
Jahre entweder in großer Überzahl nur Männchen oder nur Weib- 
chen aufgezogen werden, lassen sich auch diese eigenartigen, ver- 
späteten „Hochzeitsflüge“ erklären. Durch ıhr Auftreten zu gänz- 
lich ungewohnter Jahreszeit bleiben sie isoliert und „hoffen“ ver- 
geblich auf Schwärme anderer, benachbarter Kolonien. 


2. Beiträge zur Frage der Koloniegründung einiger 
Formica-Arten. 
Die folgenden wertvollen Funde und Beobachtungen von 


Emmelius bereichern aufs trefflichste das schon heute stark an- 
39. Band. 21 


Pr 


306 ©. Emmelius, Beiträge zur Biologie einiger Ameisenarten. 


gewachsene Tatsachenmaterial, welches uns zur Erkenntnis und 
Lösung des in Frage stehenden Problems zur Verfügung steht; 
und faktisch ist heute dieses Tatsachenmaterial schon so reich- 
haltig, daß von einem eigentlichen Probleme nicht mehr gesprochen 
werden kann, wenigstens in bezug auf die Frage: In welchem 
Zusammenhange stehen die vielen merkwürdig gemischten Staaten 
rufa-fusea ete. mit der Koloniegründung der einen oder andern 
Art. Heute ist es eine, den Myrmecologen allgemein bekannte 
Tatsache, daß die Weibchen unserer gewöhnlichen Arten der rufa- 
und execta-Gruppe die Fähigkeit zum allergrößten Teile verloren 
haben, selbständig, ohne Hilfe von Arbeitern der eigenen oder 
einer fremden Art, nach der Befruchtung neue Kolonien zu gründen, 
und daß diese jungen Königinnen zur Erfüllung ihrer größten und 
wichtigsten .Lebensaufgabe sich nicht scheuen, bei Ermangelung 
von Hilfskorps arteigener Arbeiter ihres Mutternestes oder einer 
fremden Kolonie, sich ın Staaten gänzlich artverschiedener Ameisen, 
vor allem bei fuseca und ihren Rassen, einzuschleichen, um deren 
Völker zur Aufziehung der eigenen Brut zu gewinnen. Es muß 
nun gänzlich im Interesse der Erreichung der Absicht solch junger 
Eindringlinge liegen, wenn die von ihnen ausgesuchte, fremde 
Ameisengemeinschaft weisellos ist, denn dann kommt ihnen der 
bei Ameisen stets stark entwickelte Instinkt unbedingt eine Königin 
zu besitzen zu gute. Die Wahrscheinlichkeit ın einer solchen 
weisellosen, artfremden Kolonie an Königinnen Statt adoptiert 
zu werden, wächst um so mehr u. a. je länger diese Staaten einer 
Stammutter entbehren mußten, wobei allerdings die Zahl der 
hinterlassenen Arbeiter ete. noch mit entscheidet. Findet nun 
solch ein umherstreifendes junges, befruchtetes Weibchen keine 
weisellose Kolonie, in welche es sich einschleichen könnte, um 
die Bewohner dieses mutterlosen Nestes für seine eigenen Zwecke 
auszunützen, so versucht es vielfach ihre Nebenbuhlerin, die Königin 
des von ihr auserwählten Volkes zu töten, um so das größte 
Hindernis auf dem gefahrvollen Wege zur Adoption hinweg zu 
räumen. 

In seinen Exkursionsberichten beschreibt nun Emmelius ver- 
schiedene Beobachtungen, welche auf die eben kurz skizierten 
Lebensgewohnheiten zurückzuführen sind. Schon 1910 kann Brun 
in seiner Arbeit: Weitere Beiträge zur Frage der Koloniegründung 
bei den Ameisen |Biologisches Zentralblatt Bd. 32, Nr. 3, p. 178] 
eine Beobachtung meines Freundes mitteilen, welche ich nun in 
den Originalaufzeichnungen vor mir habe. Es sei mir gestattet, 
dieselben hier wiederzugeben: 

„Etwa 500 m von der Kittenmühle, einem Restaurant ım 
Erlenbachertobel bei Zürich, sah ich Sonntag, den 26. Juni um 
5 Uhr bei schönem Wetter an einem bemoosten Straßenbord eine 












C. Emmelius, Beiträge zur Biologie einiger Ameisenarten. 307 


Formica pratensis-Königin. Sie rannte sehr aufgeregt auf dem 
Moose hin und her, ohne scheinbar ein bestimmtes Ziel zu ver- 
folgen. Als ich näher hinsah, gewahrte ıch 4 fusca-Arbeiter, welche 
das Weibchen immer von hinten attackierten. Dieses drehte sich 
jedoch stets schnell herum und jagte die Arbeiterinnen fort. Ich 
suchte nach dem fusca-Nest und fand es auch unter dem Moos 
versteckt. Die fusca stürzten heraus. Es mochten ca. 100 Stück 
sein. Sie waren alle sehr erregt und liefen in allen Richtungen 
davon. Das Nest war ungefähr 2 m von dem pratensis-W eibchen 
entfernt. Im fasca-Neste ließ sich keine Königin finden; ich habe 
das ganze Nest mit dem Messer ausgekratzt “ 

Das pratensis-Weibchen strich offenbar absichtlich in der Nähe 
der fusca-Kolonie herum, um durch allmähliche Annäherung vorerst 
die fremden Arbeiter mit sich vertraut zu machen und dann schließ- 
lich als Nestmutter aufgenommen zu werden. 

Ferner erwähnt Emmelıus eine execta-fusca- und eine rufa- 
fusca-Kolonie 1. Stadiums (d. h. eine /usca-Kolonie, mit eventuell 
noch eigener Brut und einer erst kürzlich frisch adoptierten rufa- 
Königin), zwei Kolonien, die er am 10. Juli 1912 bei Näfels im 
Kanton Glarus gefunden hatte. 

Hier wäre auch ein pratensis-rufibarbis-Nest zu erwähnen, 
welches wir auf einem gemeinsamen Ausflug auf die Lägern bei 
Baden am 21. Mai 1914 an dem Bord eines steinigen Feldweges 
entdeckten. 

Am weitaus interessantesten in dieser Beziehung ist wohl die 
folgende Bemerkung, welche Emmelius am 26. Juli 1914, während 
seines Sommeraufenthaltes in Sıls (Engadin) niedergeschrieben hatte: 

„Heute fing ich in Sils in einem fusca-Neste eine rufa und 
eine fusca-Königin zusammen. Es war noch keine rufa-Brut vor- 
handen, und ich glaube, daß das rufa-Weibchen erst seit einigen 
Tagen bei den fusca war.“ 

Es ist äußerst schade, daß von diesem Funde keine weitere 
schriftliche Hinterlassung zu finden ist. Bis jetzt ist nur Was- 
mann’s!) viel zitierte Beobachtung bekannt, daß nämlich die junge 
rufa-Königin eigenmächtig die Stammutter einer fusca-Kolonie 
tötet, um selbst an deren Stelle zu treten. Wasmann, welcher 
dies zwar im künstlichen Beobachtungsapparate verfolgen konnte, 
sieht wohl mit Recht den Grund des positiven Ergebnisses seines 
Versuchs darin, daß die betreffende junge rufa-Königin draußen, 
in freier Natur, bei ihrem Versuche in jenes fusca-Nest einzudringen 
in flagrantı abgefangen wurde. Der Versuch im Beobachtungs- 
neste war somit eigentlich nur die Fortsetzung eines und des- 


1) Über den Ursprung des sozialen Parasitismus, der Sklaverei und der Myr- 
mecophilie bei den Ameisen. Biol. Zentralblatt Bd. 29, 1909, p. 663 u. 683 ff. 


26 


308 ©. Emmelius, Beiträge zur Biologie einiger Ameisenarten. 


selben Vorganges. Noch nie war es, trotz der sorgfältigsten 
Versuchsanordnupgen bisher gelungen den Versuch von Anfang an 
künstlich soweit durchzuführen, wie ıhın Wasmann beschrieb! 
Stets wurden die r«fa-Weibchen von den fusca-Arbeitern ä froid 
getötet, bevor die ersteren nur ernstlich versuchen konnten ihre 
Rivalinnen aus dem Wege zu schaffen. Nur einmal war es mir 


gelungen fasca- und pratensis-Weibchen in ein und derselben fusca- 


Kolonie friedlich beieinander zu halten?). Es wäre deshalb von 
großem Werte gewesen, wenn Emmelius seinen Fund weiter ver- 
folgt und beschrieben hätte. Sicherlich ist es doch sehr interessant, 
daß ein rufa-Weibchen, nach Wasmann’s Feststellung, plötzlich 
die Eigenschaft zeigt in vollkommenster und raffiniertester Weise 
ihre Rivalın durch Enthauptung umzubringen, und daß damit ein ganz 
eigentümliches, unnatürliches Verhalten des Opfers, in unserm Falle 
also der fusca-Königin, parallel geht. 


Ä 


3. Folgen von Pseudogynenzucht. 


In einer kleinen Arbeit: Beiträge zur Ameisenbiologie (Biol. 
Zentralbl. 1918, Bd. 38, Nr. 3, p. 110ff.) beschrieb ich die Schick- 
sale einer großen rufa-Kolonie, welche plötzlich eine riesige Menge 
von Mesopseudogynen, jenen krüppelhaften Mittelformen zwischen 
Weibehen und Arbeiter, aufwies. Ich sehe ein, daß ich damals bei 
dem Versuch diese unerwartet schnell auftretende Massenpseudo- 
gynenerzeugung zu erklären die zahlreichen Beobachtungen Was- 


mann’s?) diesbezüglich zu wenig berücksichtigt hatte, und aus diesem 


Grunde die Lösung des Problems in gewissen Beziehungen zu 
weit suchte. 

Es ist mir wertvoll, daß Emmelius nun in seinem Tagebuch 
ebenfalls auf jene Kolonie zu sprechen kommt. Nach der Bestäti- 
gung meiner eigenen Beobachtungen beschreibt er noch u. a. eine 
Exkursion zu diesem verseuchten Neste, an welcher ich ihn nicht 
begleitete, und deren Ergebnis ich erst heute erfahre. Es heikt da: 

„13. September 1913. Heute untersuchte ich noch einmal die 
Pseudogynennester. Trotz genauer Durchsuchung konnte ich keine 
Ameisengäste finden; ich sah aber große Mengen Schimmel in dem 
Haufen, es waren manchmal ganze Schichten verschimmelt. Viel- 
leicht ist während des nassen Sommers den Ameisen ein Teil ihrer 
Brut verschimmelt.“ 

Diese bösartige Verschimmelung wird jedoch wohl eine sekun- 
däre Erscheinung sein, verursacht durch das Massenauftreten von 


2) Siehe hierzu meine Versuche in Myrmecologische Beobachtungen Biol. 
Zentralblatt Bd. 37, Nr. 9, p. 429 ff. 

3) Siehe vor allem in Wasmann’s prächtiger Arbeit: Neue Beiträge zur 
Biologie von Lomechusa und Atemeles. Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie. 
Bd. CXIV, H. 2, p. 233ff., 1915. 









en kn a nr 


309 


Pseudogynen, welche sich ja entweder gar nicht oder doch nur 
sehr wenig an den häuslichen Geschäften beteiligen, so daß auch 
auf diese Weise, ganz mechanisch, eine große Vernachlässigung 
des ganzen Haushaltbetriebes eintreten mußte; eine Vernachlässigung, 
welche dem Umsichgreifen des Schimmels nur Vorschub leisten 
konnte. | 

4. Exceutions A froid. 

„Seit 2!/, Wochen halte ich 9 Formica sanguinea-Arbeiter ohne 
Königin allein. Am 26. Mai 1912 setzte ich zu denselben nach- 
mittags 3 Uhr ein rufa-Weibchen direkt aus seinem Nestverbande. 
Es wurde gar nicht beachtet. Ich setzte zu den sanguwinea noch 
30 weitere Arbeiter mit zwei fausca-Sklaven. Die rufa-Königin 
wurde auch jetzt nicht beachtet. '/,10 Uhr wurde sie von einem 
großen sanguinea-Arbeiter flüchtig gefüttert und an den Kiefern 
umbergezogen und schließlich von einer andern sangwinea an den 
Fühlern in einen Haufen ihrer Genossinnen geschleppt.. Diese, so- 
wie die fusca beachteten die rufa jedoch immer noch nicht. 

NB. Die sanguinea-Arbeiter hatten vor 3 Wochen über 150 
rufa-Arbeiter und 6 ihrer Weibchen getötet. 

27. Mai 8 Uhr. Die Königin spaziert im Neste umher; wird 
nicht angefeindet. Ich habe ein r«fa-Weibchen aus ihrer Puppen- 
hülle gezogen und sie gestern den sanguinea gegeben. Dieselbe 
wurde gestern nicht beachtet, heute wird sie eifrig beleckt. Die 
Puppe.war schon lange bei den sangwinea. 8° Uhr. Die 1. Königin 
wird vom gleichen Arbeiter (erkenntlich an seinem hellen Thorax), 
der sie gestern an den Fühlern gezogen, am Bein gepackt, jedoch 
bald wieder losgelassen. Das rufa-Weibchen verhält sich passiv. 
1/,10 Uhr. Die rufa-Königin wird von einer sanguinea anderthalb 
Minuten lang gefüttert. Darauf von dem hellen Arbeiter am Petiolus 


‚gepackt, gleich darauf aber wieder losgelassen. Noch ein anderer 


Arbeiter packt sie 5 Minuten lang am Fühler, ein vierter beleckt 
sie. Ein fünfter pakt sie wiederum am Bein etc. 

28. Mai. Das rufa-Weibehen ist ziemlich matt und bewegt 
sich nur ganz wenig. Die Arbeiter beachten sie nicht. 

29. Mai. Die Königin ist tot, jedoch unverletzt.“ 

Emmelius beschreibt hier ein weiteres Beispiel jener be- 
kannten „ex6cutions A froid“, d.h. Tötung eines Individuums durch 
fortwährende Schikanierereien und kaltblütige Mißhandlungen ohne 
Anwendung von Gift. Jedes Tier liefert seimen Beitrag, gewisser- 
maßen beim Vorbeigehen, durch irgendeinen Rupf an den Fühlern 
oder einen Zwack in Rücken und Beine, während andere durch 
Belecken ihren Pflegedrang zu befriedigen suchen. 


5. Messor barbarus r. struector Latr. 
„Seit dem 9. März habe ich Messor structor (aus Gandria am 
Luganersee) im Torfapparate. Die großen Arbeiter werden von 





310 C. Emmelius, Beiträge zur Biologie einiger Ameisenarten. 


den kleinen immer beleckt, überhaupt reingehalten. Dann sah ich 
auch, daß sie den Torf, bevor sie ihn wegtragen, mit dem vor- 
gebogenen Hinterleib festdrücken, um möglichst viel mitnehmen 
zu können. Neben den sonderbaren Stellungen, die meine Messor 
bei allen möglichen Verrichtungen einnehmen, ist wohl diejenige 
die lustigste, wenn sie ihre Hinter- und Mittelbeine putzen. Sie 
legen sich nämlich auf den Rücken und putzen so. Zu große Hanf- 
körner werden nicht mit den Mandibeln gefaßt, sondern mit dem 
großen Kopfe gerollt.“ 

Meines Wissens wurden diese eigenartigen Gewohnheiten der 
Ernteameise bis heute noch nirgends beschrieben. 


6. Myrmica rubida Latr. 


Daß Tiere aus verschiedenen Kolonien dieser Art sich meist 
sehr schnell \befreunden, ein Verhalten, das sonst bei Ameisen 
nicht häufig zu konstatieren ist, bestätigt eine kleine Notiz vom 
23. Juni 1912: | 

„Ich setzte Myrmica rubida aus verschiedenen Kolonien mit 
3 Königinnen zusammen. Die Ameisen vertragen sich ım allge- 
meinen gut, die Weibchen werden jedoch oft angefeindet.“ 

Ein solches Verhalten ist um so auffallender, da ja diese Art 
sonst keineswegs gutmütig genannt werden kann, wie Ponera, 
Myrmecina, Leptothorax etc., sondern, wenn gereizt zu den gefähr- 
lichsten der europäischen Ameisen zählt. Forel*) bezeichnet sie 
als: la plus redoutable des fourmis d’Europe. 

Übrigens zeigt Myrmica rubida offenbar ein solch „unameisisches“ 
Betragen sogar oft Tieren anderer Myrmica-Arten gegenüber, welche 
als Larven oder Puppen auf einem „Kriegsentschädigungsraubzug* 
nach der Schlacht von den siegreichen rubida geraubt und heini- 
getragen wurden, und welche ım feindlichen Neste vergeblich auf 
ihre Ermordung „warteten“, so daß sie sich fertig entwickeln und 
ausschlüpfen konnten’). | 


7. Harpagoxenus sublaevis Nyl. 

Auf unserer Reise Ende Julı 1914 durch Norditalien war es 
stets der stille Wunsch von Prof. Forel und mir gewesen, doch 
endlich auch dieses so interessante Tierchen, wie den räuberischen 
Harpagoxenus zu finden, vor allem da derselbe bis zu jener Zeit 
weder in der Schweiz, noch in Italien gefunden worden war, und 
doch absolut vorhanden sein mußte. Es half alles Sehnen nichts, 
und wir mußten unsere Hoffnung zu Grabe tragen, als uns plötz- 

4) Fourmis de la Suisse p. 379. 


5) Siehe hierzu E.u. R. Brun, Beobachtungen im Kemptthaler Ameisengebiete. 
Biol Zentralbl, Bd. 33, Nr. 1, p. 23—29, 1913. 









F. Poche, Über das Definieren der systematischen Gruppen. 3 


lich Emmelius die freudige Mitteilung machte, unser Wunsch sei 
doch ın Erfüllung gegangen; er selbst habe das Tierchen zum ersten 
Male für die Schweiz ın Sıls ım Engadin, auf dem Landrücken 
zwischen Silser See und Fex-tobel aufgestöbert. Was seit langem 
erwartet war, war endlich eingetreten, und wir dürfen wieder ein 
durch seine Lebensweise im höchsten Grade interessantes und be- 
wunderungswürdiges Tierchen zu den Schweizer Ameisen zählen. 
So hat sich sein Verbreitungsgebiet vom hohen Norden Europas 
über Dresden, Erzgebirge, Böhmerwald und Kärnten bis in die 
hohen Gebirgstäler der Schweiz erweitert. 

Dies was der letzte Dienst, welchen Emmelius seiner Lieb- 
lingswissenschaft, der Ameisenkunde, erweisen konnte. Im Jahre 
darauf wurde er in den grausamen Waffendienst einberufen, von 
dem er nicht mehr zurückkehren sollte. Mit ıhm ging wieder einer 
jener Hunderttausende verloren, welche einst berufen sein sollten, 
jeder auf seinem Gebiete, sein Ganzes herzugeben zum weitern Aus- 
bau menschlichen Wissens, menschlichen Könnens, und zum Auf- 
bau einer neuen Menschengemeinschaft, die wir Übriggebliebenen 
so sehr suchen und so schwer uns erringen müssen. 


Über das Definieren der systematischen Gruppen. ı 
Von Dr. Franz Poche, Wien. 


Wohl viele Autoren haben sich bei der Aufstellung von Defi- 
nitionen von Einheiten des Systems, zumal wenn es sich um super- 
generische und umfangreiche Gruppen handelte, schon der Schwierig- 
keit gegenüber gesehen, daß Merkmale, die für eine Gruppe in 
hohem Maße charakteristisch sınd und oft eine hervorragende Rolle 
bei ıhrer Abgrenzung gegenüber den nächstverwandten Gruppen 
spielen, jeweils nicht allen ihren Angehörigen zukommen. Und 
dazu stellen diejenigen Merkmale, die wirklich allen Formen einer 
Einheit gemeinsam sind, sehr oft keine durchgreifenden Unterschiede 
gegenüber verwandten Gruppen dar, so daß gar manche Einheit 
überhaupt keinen Charakter besitzt, der allen ihren Angehörigen 
zukommt und zugleich einen durchgreifenden Unterschied gegen- 
über den verwandten Gruppen bildet. 

Je nach ihrer individuellen Veranlagung und — aber ın viel 
geringerem Grade — je nach der speziellen Lage des Falles haben 
die einzelnen Autoren sich jener Schwierigkeit gegenüber sehr ver- 
schieden verhalten. 

1. Sehr oft wird ein Merkmal, das zwar den meisten, aber, 
wie auch dem betreffenden Autor sehr wohl bekannt ıst [denn von 
den prinzipiell durchaus verschiedenen Fällen, wo dies ihm nicht 
bekannt war oder von ihm einfach übersehen wurde, sehe ich hier 





312 F. Poche, Über das Definieren der systematischen Gruppen. 


natürlich ganz ab], nicht allen Mitgliedern einer Gruppe zukommt, 
ın der Definition dieser doch ohne jede Einschränkung oder sonstige 
Bemerkung angeführt. Dies geschieht insbesondere, aber bei weitem 
nicht ausschließlich, in Lehrbüchern, und auch in den neuesten und 
besten von diesen, die wır überhaupt besitzen. — Dieses Verfahren 
hat den großen Nachteil, der seine Anwendung meiner An- 
sicht nach von vornherein durchaus verbietet, daß die 
betreffenden Angaben in ihrer Allgemeinheit direkt unrichtig, 
sind. Demgegenüber kann der dadurch erzielte Vorteil der Kürze 
und der scharfen Hervorhebung der typischen und daher wichtigsten 
Verhältnisse, der offenbar der leitende Gedanke der betreffenden 
Autoren ist (soweit sie nicht etwa einfach aus Bequemlichkeit so 
gehandelt oder blindlings aus, einer andern Arbeit abgeschrieben 
haben), vom wissenschaftlichen Standpunkt aus gar nicht in die 
Wagschale fallen. Jene Unrichtigkeit wird als solche natürlich auch 
nicht dadurch aufgehoben, wenn im sonstigen Texte darauf hin- 
gewiesen wird, daß manche Formen der gegebenen Definition in 
dieser oder jener Hinsicht nicht entsprechen. Und wenn ein Autor 
etwa ausdrücklich sagen wollte, daß seine Definitionen nur darauf 
Anspruch machen, die für die einzelnen Gruppen typischen Ver- 
hältnisse anzugeben, so hätte dies wieder den großen Nachteil, daß 
man dann im Einzelfalle aus ihnen nıe entnehmen könnte, ob ein 
bestimmter Charakter allen Angehörigen einer Einheit zukommt 
oder nicht. 


2. In sehr vielen anderen Fällen wird ein Charakter, der nicht 
allen Formen einer Einheit zukommt, ın der Definition dieser mit 
dem Zusatze »fast stets«, »meist«, »ıin der Regel«, »gewöhnlich: 
u. 5. w. angeführt. — Dieses Verfahren ist dem soeben besprochenen 
bei weitem vorzuziehen. Denn es vermeidet vor allem die Un- 
richtigkeit, an der das letztere leidet, während es in Bezug auf 
Kürze und Hervorhebung des Typischen wohl auch kaum etwas 
zu wünschen übrig läßt. Andererseits haften aber auch ıhm große 
Nachteile an. Denn erstens soll eine Definition bekanntlich doch 
den Inhalt eines Begriffes angeben; und dieser Inhalt kann selbst- 
verständlich nie Merkmale enthalten, die einem Teile der in den 


Umfang des Begriffes fallenden Dinge nicht zukommen — abge- 
sehen natürlich von den einzelnen Gliedern von Paaren oder Reihen 
disjunktiv angeführter Charaktere (.... oder ....oder....) —, 


da letzteres ja eben der schlagendste Beweis dafür ist, daß die ge- 
dachten Merkmale nıcht zum Inhalt desselben gehören. Zweitens 
sind alle mit jenen Zusätzen angeführten Charaktere bei der Klassı- 
fizierung einer gegebenen Form an der Hand solcher Definitionen 
so gut wie unverwendbar, da man es einem Tier natürlich nicht 
ansehen kann, ob die Gruppe, zu der es gehört, ein Merkmal »meist« 
besitzt, oder nicht. Und dadurch wird es drittens angesichts des 












F. Poche, Über das Definieren der systematischen Gruppen. 319 


am Ende des ersten Absatzes angeführten Sachverhaltes nicht selten 
überhaupt unmöglich, Einheiten vermittelst solcher Definitionen 
durchgreifend gegeneinander abzugrenzen. 

3. Einzelne Autoren, insbesondere nach möglichster formaler 
Exaktheit strebende Systematiker, haben offenbar diesen letzteren 
Übelstand besonders- lebhaft empfunden und vertreten den Stand- 
punkt, daß man nur solche Gruppen unterscheiden dürfe, die durch 
eine Definition von allen andern abgegrenzt werden können. So 
sagt Ridgway (1901, p. VIID: Auf Grund der Descendenztheorie 
gibt es ın der Kette der existierenden Tierformen keine Lücken 
außer denen, die durch das Aussterben intermediärer Typen ver- 
ursacht sind; „daher kann es keine solche Gruppe wie eine Familie 
oder Gattung (noch irgend eine andere was das betrifft) geben 
wenn sie nicht von ‘andern Gruppen durch die Existenz einer 
solchen Lücke abgetrennt ist; weil, wenn nicht so isoliert sie nicht 
definiert werden kann, und daher keine Existenz in der Wirklich- 
keit hat.... Kurzum, keine Gruppe, ob von generischem, Fami- 
lien- oder höherem Range, kann giltig sein außer sie kann durch 
Charaktere definiert werden, die genügen sie von jeder andern zu 
unterscheiden.“ — Das die gedachten Autoren leitende Streben 
nach Exaktheit ıst sehr anerkennenswert; und auch darin hat 
Ridgway durchaus Recht, daß eine systematische Einheit nur dann 
unterschieden werden darf, wenn sie von jeder andern durch eine 
Lücke getrennt ist. In dem Vorhandensein einer solchen Lücke 
selbst liegt aber auch das in formaler Hinsicht (also abgesehen 
von der jeweiligen fachwissenschaftlichen Prüfung des Wertes der 
trennenden Charaktere) maßgebende Kriterium dafür, ob die Unter- 
scheidung einer Gruppe berechtigt ist oder nicht, und nicht etwa, 
wie Ridgway anscheinend meint, darin, ob wir imstande sind, sie 
durch eine Definition von allen andern Gruppen zu unter- 
scheiden. Gewiß ist es sehr wünschenswert und soll den Gegen- 
stand ernstlichen Strebens bilden, für jede unterschiedene Gruppe 
eine solche Definition zu geben, und wird dies bei wirklich natür- 
lichen Gruppen mit Hilfe des weiter unten vorgeschlagenen Ver- 
fahrens auch in allen Fällen möglich sein. Sollte es aber auch in 
diesem oder jenem Falle nicht gelingen, so dürfte uns das nicht 
im geringsten daran hindern, eine Einheit, die wir als natürlich 
erkannt haben, auch tatsächlich aufzustellen — ein Standpunkt, 
den schon OQdhner ausdrücklich vertreten hat (s. unten sub 4). 
(Ein solcher Fall wäre noch am ehesten möglich bei einer Gruppe, 
welche neben andern auch z. B. durch Parasitismus hochgradig 
veränderte Formen enthält, deren Zugehörigkeit zu ihr durch das 
Vorhandensein von Übergangsformen ganz zweifellos ist, die aber 
die speziellen, die typischen Mitglieder der Gruppe von denen der 
verwandten Einheiten unterscheidenden Merkmale nicht aufweisen, 





314 F. Poche, Über das Definieren der systematischen Gruppen. 


oder bei einer sehr formenreichen Gruppe, die sowohl ursprüng- 
liche als [und vielleicht sogar nach verschiedenen Richtungen hin] 
viel höher entwickelte und dazu eventuell noch stark rückgebildete 
Formen umfaßt. und deren Natürlichkeit ebenfalls durch die Exi- 
stenz von Übergangsgliedern bewiesen wird, die aber außer den 
ihr mit den verwandten Gruppen gemeinsamen keine Charaktere 
besitzt, die gleichzeitig allen ıhren Mitgliedern zukommen.) 

4. In direktem Gegensatz zu der oben besprochenen Ansicht 
Ridgway’s sagt Odhner (1911a, p. 107): „Es ist ein großer Irr- 
tum, zu glauben, wenn es sich um höhere systematische Gruppen 
handelt, daß die Schwierigkeit oder Unmöglichkeit, eine präzise 
Diagnose zu geben, ein Kriterium der mangelnden Natürlichkeit der 
betreffenden Gruppe sein muß. Würde man im vorlfegenden Falle 
Proctoeces und Tergestia in der Familiendiagnose mit berücksichtigen, 
so würde wahrhaftig nicht viel Gemeinsames übrig bleiben.“ Anderer- 
seits sagt er aber unmittelbar vorher auch selbst: Die Beziehungen 
der Gattung Proctoeces „zu den Steringophoriden sind so völlig über 
jeden Zweifel erhoben, daß sie von diesem Gesichtspunkt aus sehr 
wohl ın die Familie eingereiht werden könnte. Wenn man sie aber 
statt dessen als ein aberrantes Genus der Familie am Ende an- 
hängt, gewinnt man dadurch, wie in andern Ähnlichen Fällen, den 
großen Vorteil, daß man sie ın der Familiendiagnose nicht zu be- 
rücksichtigen braucht und diese deshalb klarer und schärfer ab- 
fassen kann.“ Und ebenso sagt er 1911 b, p. 526, nachdem er die 
Hauptcharaktere der Hemiuridae angeführt hat: „Daß fast von allen 
diesen Merkmalen hier und da Ausnahmen vorhanden sind, die das 
Aufstellen einer präzisen Diagnose schwierig machen, hat meiner 
Ansicht nach nichts zu bedeuten und kann in einer großen Gruppe 
kaum anders sein, da ja jedes Organ a priori ebensowohl wie das 
andre Veränderungen unterliegen kann. Die Diagnose muß sich 
deshalb auf das, was die Regel ist, beziehen, und die Ausnahmen 
können ıhr dann im Noten angehängt werden.“ Letzteres tut 
Odhner auch tatsächlich vielfach in den von ihm gegebenen Defi- 
nitionen (1911a, p. 97£.; 1911b, p. 527 u. s. w.), indem er, wie es 
auch Ridgway bisweilen tut (siehe z. B. 1901, p. 12), bei der An- 
führung des betreffenden Charakters in einer Fußnote oder auch 
im laufenden Text der Definition selbst diejenigen Formen, denen 
jener nicht zukommt, als solche nennt. Daneben führt er aber auch 
einzelne Merkmale als »in der Regel« u.s. w. vorhanden an (s. 1911 b, 
p. 527f.; 1911c., p. 22f. u.s. w.). — Dem am Anfang dieses Ab- 
satzes angeführten prinzipiellen Standpunkt Odhner’s stimme ich 
durchaus bei, wie schon aus dem sub 3 Gesagten erhellt. Auch 
das von ihm bevorzugte Verfahren, bei nicht allgemein gültigen 
Charakteren die Ausnahmen einzeln anzuführen, ist meiner Mei- 
nung nach das Beste bis dahin von irgend einem Autor angewen- 








F. Poche, Über das Definieren der systematischen Gruppen. >15 


dete. Es hat jedoch mit dem sub 2 Besprochenen immer noch 


den einen Nachteil gemein, daß dabei — ganz abgesehen natürlich 
von etwaigen disjunktiv angeführten Charakteren — in die Defi- 


nition der betreffenden Gruppe Merkmale aufgenommen werden, 
die einem Teil ihrer Angehörigen nicht zukommen und daher 
nicht zum Inhalt des betreffenden Begriffes gehören können. Über- 
dies würden die Definitionen durch dieses Verfahren bei umfang- 


reichen Gruppen oft sehr schleppend und unübersichtlich werden. 


So ist es gewiß für die Turbellaren, zum Teil speziell gegenüber 
den nächstverwandten koordinierten Gruppen der Trematoden, bezw. 
Cestoden in hohem Maße charakteristisch, daß sie am ganzen Körper 
von der Epidermis bekleidet sind, daß sie wenigstens auf dem 
größeren Teil desselben Wimpern tragen, daß sie stäbchenförmige 
Körper erzeugen, daß ihre Körperbedeckung keine .chitinigen* 
Anhänge aufweist, daß sie einen Mitteldarm besitzen, daß sie 


hermaphroditisch sind und daß sie sich ohne Generationswechsel 


fortpflanzen. Wenn man aber alle jene Arten oder Gruppen, 
die einzelne dieser Charaktere nicht besitzen, in der Definition der 
Turbellaren jeweils einzeln als Ausnahmen anführen muß, so wird 
diese recht schleppend werden und an Übersichtlichkeit sehr ver- 
lieren. Und außerdem ist es oft überhaupt nicht möglich, jeweils 
alle Ausnahmen von den in der Definition angeführten Charakteren 
einzeln aufzuführen, weil oft bei einer ganzen Anzahl von Formen 
über das bezügliche Verhalten nichts bekannt ist. 

Alle die vorstehend angeführten Nachteile vermeidet das von 
mir ım Nachfolgenden dargelegte (und ähnlich auch schon 1915, 
p. 15 angewandte) Verfahren. 

Dieses besteht darin, daß ich eine Einheit gegebenen 
Falles definiere als diese und diese Merkmale besitzend 
(wobei ich zuerst die allen ihren Angehörigen zukommen- 
den anführe und dann die zwar nicht allen diesen zu- 
kommenden, aber für die Einheit in hohem Maße cha- 
vrakteristischen) oder alle die genannten Merkmale bis auf 
höchstens » der n' letztangeführten derselben [bezw. bis 
auf höchstens die w letztangeführten derselben] be- 
sitzend. Die nicht allen Formen der Gruppe zukommenden 
Merkmale führe ich dabeı deshalb jeweils zuletzt an, damit die Defi- 
nition durch die Angabe jener Zahl »' ersichtlich macht, welche 
Charaktere allen Angehörigen der Einheit zukommen und welche 
nicht. (S. das untenstehende Beispiel.) 

Durch dieses Verfahren wird vermieden, daß die Definition 
unzutreffende Verallgemeinerungen und somit unrichtige An- 


gaben enthält, daß sie — abgesehen natürlich von disjunktiv an- 
geführten solchen -— Merkmale enthält, die einem Teile der unter 


ihr begriffenen Gruppe nicht zukommen, und daß sämtliche ‘ 


316 F. Poche, Über das Definieren der systematischen Gruppen. 


nicht als allgemeingültig angeführten Charaktere bei der Klassifi- 
zierung einer gegebenen Form an der Hand der Definition so 
gut wie unverwendbar sind, indem bei einer der betreffenden Gruppe 
zugehörigen Form höchstens » derselben fehlen können, während 
wenigstens n'’—n -derselben ihr zukommen müssen. Ebenso wird 
durch jenes Verfahren vermieden, daß es nicht selten überhaupt 
unmöglich wird, Einheiten vermittelst der für sie gegebenen Defi- 
 nitionen durchgreifend gegeneinander abzugrenzen, oder daß anderer- 
seits natürliche Gruppen nicht unterschieden werden, weil man nicht 
imstande ıst, sie vermittelst Definitionen durehgreifend gegeneinander 
abzugrenzen, oder daß die Definitionen bei umfangreichen Gruppen 
durch die einzelne Anführung aller Ausnahmen oft sehr schleppend 
und unübersichtlich werden. 

Überdies hat das in Rede stehende Verfahren den 
Vorteil, daß es scharf zum Ausdruck bringt, daß für die 
Unterscheidung und Abgrenzung von Gruppen im natür- 
lichen System durchaus nicht immer nur ein oder einige 
durchgreifende Merkmale maßgebend sind, wie es 5 
künstlichen Systemen der Fall ist, sondern oft vielmehr 
ein ganzer Komplex von Charakteren, von denen bei einer 
gegebenen Form jeweils einer oder mehrere fehlen 
können, wie es sich aus der im natürlichen System ge- 
botenen Berücksichtigung der Gesamtorganisation der 
zu klassifizierenden Tiere geradezu*mit Notwendigkeit 
ergibt. 

Da bei dem besprochenen Verfahren die allen Formen einer 
Gruppe zukommenden Charaktere jeweils gesondert von jenen an- 
geführt werden, bei denen dies nicht der Fall ist, so kann es da- 
bei natürlich sehr wohl vorkommen, daß über dasselbe Organi- 
sationsverhältnis an 2 verschiedenen Stellen der Definition etwas 
ausgesagt wird, nämlich bei den allgemeingiltigen und bei den nicht 
Men Charakteren. Und zwar wird dieser Fall dann 
eintreten, wenn sich über ein Organisationsverhältnis einer Gruppe 
eine weniger weitgehende, aber ausnahmslos zutreffende, und eine 
weitergehende für die meisten, aber nicht für alle Angehörigen 
dieser geltende Angabe machen, läßt und es wünschenswert erscheint, 
sowohl erstere wie letztere in die Definition aufzunehmen. So ist 
es ein durchgreifendes und sie von allen andern Platoden unter- 
scheidendes Merkmal der Turbellaren, daß wenigstens der größte 
Teil des Körpers von der Epidermis bekleidet ist, während das 
Vorhandensein derselben am ganzen Körper für diese Gruppe zwar 
sehr charakteristisch ist, aber nicht ausnahmslos allen ihren Ange- 
hörigen zukommt (s. Plehn, 1896, p. 141f.). Ich halte es daher 
für angezeigt, in der Dei das Turbellaren (s. unten) sowohl 
dieses wie jenes Organisationsverhältnis an der entsprechenden 
Stelle anzuführen. 














ie 5 N i R 
F. Poche, Über das Definieren der systematischen Gruppen. 347 


Um eine praktische Illustration für das Gesagte zu geben, defi- 
niere ich beispielsweise die Turbellaren als Piatodes, die unsegmen- 
tiert und zeitlebens wenigstens am größten Teil des Körpers von 
der Epidermis: bekleidet sind, deren Parenchym keine „Outicula* 
abscheidet und keine „Subcuticularzellen“ enthält, die wenigstens 
in der Jugend einen Mund, aber nie einen gegabelten Mitteldarm 
noch einen Laurer’schen Kanal besitzen, deren Jugendformen keine 
Embryonalhäckchen tragen, die nie stark voneinander abweichende 


- Generationen und nie Heterogonie aufweisen, am ganzen Körper 


von der Epidermis bekleidet und wenigstens auf dem größeren Teile 
desselben bewimpert sind, mit stäbchenförmigen Körpern, ohne 
„ehitinige“ Anhänge der Körperbedeckung, mit emem Mitteldarm, 
hermaphroditisch und sich ohne Generationswechsel fortpflanzend, 
oder mit allen diesen Charakteren bis auf höchstens 3 der 7 letzt- 


angeführten. 
Ferner möchte ich — ganz unabhängig von dem vorhergehen- 
den — bei dieser Gelegenheit auch darauf hinweisen, daß man in 


der Definition von Gruppen, bei denen ein Generations- 
wechsel vorkommt, entweder die Charaktere sämtlicher 
Generationen (gemeinsam oder gesondert) berücksich- 
tigen oder ausdrücklich angeben muß, für welche von 
diesen die ‚angeführten Merkmale Geltung beanspruchen. 
Denn da ja eine Einheit als solche und nicht etwa nur 
eine bestimmte Generation derselben definiert wird und 
jene aus der Gesamtheit der Zeugungskreise ihrer Ange- 
hörigen besteht, so beansprucht ohne eine solche An- 
gabe die Definition wenigstens dem Wortlaute nach für 
sämtliche Generationen dieser letzteren Gültigkeit und 
ist daher, wenn in ihr nicht die Charaktere aller dieser 
Generationen berücksichtigt sind, zu eng, indem sie für 
einen Teil derselben dann nicht zutrifft. 


Literatur. 


Odhner, T. (1911a), Zum natürlichen System der digenen Trematoden. III. (Ein 
weiterer Fall von sekundärem Anus.) (Zool. Anz. 38, p. 97—117.) 

— (1911 b), Zum natürlichen System der digenen Trematoden IV. (Zool. Anz. 35, 
p. 513—531.) 

— (1911e), Nordostafrikanische Trematoden, größtenteils vom Weißen Nil (von 
der schwedischen zoologischen Expedition gesammelt). (In: Results of the 
Swedish Zoological Expedition to Egypt and the White Nile 1901 under the 
Direetion of L. A. Jägerskiöld, T. IV.) 

Plehn, M. (1896), Neue Polycladen, gesammelt von Herrn Kapitän Chierchia bei 
der Erdumschiffung der Korvette Vettor Pisani, von Herrn Prof. Dr. Küken- 
thal im nördlichen Eismeer und von Herrn Prof. Dr. Semon in ‚Java. (Jen. 
Zeitschr. Natwiss. 30, p. 137—176, tab. VIII—XIII.) 


 Poche, F. (1915), Über das System der Anthozoa und einige allgemeine Fragen 


der zoologischen Systematik. (Zool. Anz. 46, p. 6—16, 33—43.) 






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„ 2. 
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518 Ph. H. Latzin, Die Rolle der Anseleichsprinzipe in der Theorie des Lebens. ® 


Ridgway, R. (1901), The Birds of North and Middle America: A deseriptive 
Catalogue of the Higher Groups, Genera, Species, and Subspecies of Birds 
known to oceur in North America, from the Arctie Lands to the Isthmus 
of Panama, the West Indies and other Islands of the Caribbean Sea, and 
the Galapagos Archipelago, 1. (Bull. United States Nat. Mus., Nr. 50, [1|.) 


Die Rolle der Ausgleichsprinzipe in der Theorie 
des Lebens. 
Von Mr Ph. Hermann Latzin, Wien (Atzgersdorf). 


Vor Beginn der wissenschaftlichen Forschung wurde gemeinig- 
lich alles in Bewegung Befindliche als lebend er bis sich 
langsam, ohne dem naiven Beobachter recht Beh zu werden, 
die Unterschiede beider Tatsachen aufdrängten. Zuerst mehr 
instinktiv gefühlt, wurden diese Verschiedenheiten im Verlaufe der 
geistigen Entwicklung einer begrifflichen Fassung unterworfen. So 
wurde allmählich eine Summe von Erkenntnissen über das Leben 
angehäuft, die zwar ohne Zusammenhang und Erklärung dastanden, 
aber doch zur genauen Abgrenzung des Gebietes „lebend — tot“ 
gute Dienste leisteten. Diese Begriffe wurden dereh‘ die neuere 
a Durcharbeitung des biologischen Tatsachenmaterials 

scharf präzisiert, und durch die bekannte Lebensdefihition W.Roux’ 

zu möglichster Vollendung gebracht. Er unterscheidet 9 Selbst- 
tätigkeiten, die durch die 10., die Selbstregulafion, zusammengehalten 
werden. Diese 9 Autergasien sind: 1. Selbstaufnahme von Fremd- 
stoffen, 2. Selbstassimilation, 3. Selbstdissimilation, 4. Selbstaus- 
scheidung, 5. Selbstersatz, 6. Selbstwachstum, 7. Selbstbewegung, 
8. Selbstvermehrung, 9. Vererbung. 

Diese neun Begriffe sind dem Universalbegriff des Lebens 
untergeordnet, setzten ıhn zusammen. 

Um zu einer Erklärung des Lebens zu gelangen, d. h., um den 
unbekannten Komplex der Lebenserscheinungen auf Bekanntes zu- 
rückführen, müssen also zuerst die zehn Unterbegriffe des Lebens 
auf ihren Gehalt an schon erkannten Dingen untersucht werden. 

Es lag nahe, nach Erleichterungen auf diesem Wege der Er- 
kenntnis zu suchen. Man hob deshalb den einen oder den andern 
der obigen Begriffe, der dem jeweiligen Beobachter am meisten von 
denen der anorganischen Natur abweichen mochte, hervor und 
wollte dessen Aufklärung als Aufklärung des Lebens überhaupt: ver- 
standen wissen. 

Besonders günstig für diesen Endzweck schien der letzte zu- 
sammenfassende Begriff zu sein, die Selbstregulation oder der Aus- 
gleich, wie wir ıhn nennen wollen. 

Ausgleichsprinzip deswegen, um eine möglichst allgemeine 
Fassung dieser anfänglich nur dem Leben zugesprochenen Eigen- 





Ph. H. Latzin, Die Rolle der Ausgleichsprinzipe in der Theorie des Lebens. 310 


schaft zu haben, weil wir im folgenden besonders von Theorien reden 
wollen, die GB Gegenteil ch nachzuweisen suchen. 

Wins definiert der Begriff des Ausgleichs? 

Jedes System irgendwelcher Art ist im Gleichgewichte an Be- 
dingungen geknüpft, die teils seinen eigenen Kräften und Konfigu- 
rationen entstammen, sogenannte innere Bedingungen, teils den 
mit ihnen in Wechselwirkung begriffenen anderen Systemen, äußere 
Bedingungen. Diese Bedingungen können auch als gesetzmäßige 
Zusammenhänge der Systemteile untereinander und mit der Außen- 
welt bezeichnet werden. 

Auf eine Veränderung dieser Zusammenhänge kann zweierlei 
eintreten. Entweder vermag das gestörte Gleichgewicht nicht wieder 
hergestellt werden, dann geht es alte System zugrunde, oder dieses 
strebt einem neuen Gleichgewichtszustande zu, es gleicht sich mit 
den veränderten Umständen aus. Der N alenlan wird da- 
nach definiert:als ein Prozeß, durch den das Erhaltenbleiben 
eines Systems trotz Änderung seiner Zusammenhänge 
bedingt wird. 


. Dieser Ausgleich ist an lebenden und toten Objekten zu beob- 

achten, qualitativ und quantitativ aber herrschen große Differenzen. 

Wir wollen uns an einem einfachen Beispiele klar machen, 
worauf es hier ankommt. 

Ein Stahldraht kann eine sehr große Last tragen, ein gleich 
dicker Kautschukfaden nur eine viel kleinere, ohne zu zerreißen. 
Aber der Draht wird bis zur Aufhebung seiner Individualität, dem 
Riß, nur wenig gedehnt, die Länge 6 Kautschuks dagegen oft 
mehr als ok ohne daß ur System zugrunde geht. 

Danach ist nicht allein die Größe der Elastizität als maßgebend 
für die Fähigkeit zum Ausgleich mit äußeren Kräften anzusehen. 

Wir messen die Ausgleichsfähigkeit durch die Summe aller 
möglichen Zustandsänderungen, die das System erleiden kann, ohne 
seine charakteristischen Zusammenhänge einzubüßen, und durch die 
Arbeit, die dazu aufgewendet werden muß. 

Cohen Kysper (Die mechanischen Grundgesetze des Lebens. 
Leipzig 1914) prägte hierfür den Begriff „Ausgleichsbreite*. 

Die Ausgleichsbreite ist also proportional der Verschiedenartig- 
keit der Konstellationsänderungen, mit denen sich das System aus- 
gleichen kann und sie ist auch zugleich das unterscheidende Merk- 
mal lebender von toter Substanz, groß bei ersterer, relativ klein 
bei den Anorganismen. 

Diese enorme Ausgleichsfähigkeit der Lebewesen gegenüber den 
wechselnden Kräften der Umwelt ist eine der primitivsten wissen- 
schaftlichen Erkenntnisse über das Leben. Und frühzeitig erwachte 

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390 Ph. H. Latzin, Die Rolle der Ausgleichsprinzipe in der Theorie d 
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auch der Wunsch nach tieferer Einsicht in diese merkwürdige Er- 
scheinung. 

Dem früheren Stande der Naturwissenschaft war eine rein 
physikalische Erklärung (Physik als empirische Naturwissenschaft 
im weitesten Sinne genommen) nicht möglıch. 

Philosophische Prinzipien tauchen darum zuerst auf. 

Man bezeichnete einfach die zu erklärenden Vorgänge als die 
Folge bestimmter Tendenzen, die in die lebende oder auch in 
jegliche Substanz verlegt wurden. _ 

Je nachdem diese Tendenzen jenseits aller Erkenntnis gesucht 
wurden, oder nur als derzeit nıcht weiter auflösbar angesehen, ent- 
standen vitalistische oder mehr weniger positivistische Hypothesen. 

Da die ersteren von speziell philosophischem Interesse sind, 
wollen wir uns den letzteren zuwenden. 


Hier ıst zuerst Gustav Theodor Fechner zu nennen. Er 
versuchte zu zeigen, wie durch sein Prinzip der Tendenz zur 
Stabilität (Einige Ideen zur Schöpfung und Entwicklungsgeschichte 
der Organismen 1873) jegliches organisches Geschehen bestimmt ist. 

Zweı Fälle von Stabilität sind nach ihm zu unterscheiden: Die 
Stabilität der Ruhe und die der Veränderung. Sind die Teilchen 
des Systems bewegungslos, so haben wir den ersten Fall, die abso- 
lute Stabilität. Wenn aber die Teilchen des Systems solche 
Bewegungen ausführen, daß das System periodisch in frühere Zu- 
stände, wenn auch nur angenähert, zurückkehrt, so nennt dies 
Fechner volle, resp. approximative Stabilität. 

-Und diese ist nach ihm für das Weltgeschehen maßgebend. 
Nicht zur Ruhe, sondern zur periodischen Wiederholung strebe die 
Natur. Der Lauf der Planeten um die Sonne, der Kreislauf des 
Lebens sind Beispiele dafür. 

Das organische Beharrungsvermögen ıst unter diese Ten- 
denz zur approximativen Stabilität zu rechnen. 

Das Streben nach einem solchen Zustand entspricht dem, was 
oben als Ausgleich bezeichnet wurde. 

Herbert Spencer, der bekannte englische Philosoph, ent- 
wickelte seine empirische Lebensdefinition aus dem Phänomen der 
lebenden Ausgleichsprozesse. „Leben ist beständige Anpas- 
sung (hier Ausgleich) innerer an äußere Beziehungen.“ 


Dies ist übrigens eine der besten, die bis jetzt gegeben wurden. 


Und zwar deshalb, weil sie keine Erklärung sein will, sondern nur 
eine begriffliche Zusammenfassung unserer bisherigen Kenntnisse 
über das Leben in kurzen Worten vorstellt. 


Nachdem einmal die Wichtigkeit der Ausgleichserscheinungen 
erkannt war, konnte es nicht verfehlen, daß physikalisch-chemische 


es Lebens. 





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Ph. H. Latzin, Die Rolle der Ansgleichsprinzipe in der Theorie,des Lebens. 391 


 Deutungsversuche auftraten. Die metaphysischen Theorien wollen 
‚wir, wie schon gesagt, nicht in den Kreis unserer Betrachtungen 
ziehen. 

Ich will im folgenden eine Auswahl aus den bisherigen Er- 
klärungsversuchen des Ausgleichsprozesses geben, ohne die ver- 
schiedenartigen Anpassungshypothesen zu erwähnen, und dabei zwei 
Theorien vorführen, welche von dem charakterisierten-Prinzip aus- 
gehend eine Totalansicht der Lebenserscheinungen aufbauen wollen. 

Nur einige Worte noch über den Zusammenhang von Ausgleich 
und Anpassung. Nach der oben gegebenen Definition. des Aus- 
gleichsbegriffes bezeichnet dieser den Prozeß schlechtweg, während 
die Bezeichnung Anpassung auch auf die Finalität des Vorganges 
hinweist. 


Wir wollen uns zuerst der chemisch-physikalischen Theorie von 
H. Lundegärdh (Grundzüge einer chemisch-physikalischen Theorie 
des Lebens. Jena 1914) zuwenden, einerseits weil sie sich aufs 
engste an den bisherigen Aufbau der allgemeinen Physiologie an- 
schließt, ‚andererseits auch infolge der fast allgemeinen Anerken- 
nung ihrer Grundlage, der Anwendung des Massenwirkungsgesetzes 
auf die Selbstregulation des Plasmas. 


Das Grundgesetz der chemischen Kinetik besagt, daß 
die Geschwindigkeit einer Reaktion proportional der noch vorhan- 
denen, nicht umgesetzten Substanz ist; also wenn Stoff A ın B 


umgesetzt wird 


dx 
1. RT k(a—x) 


d 
a die anfänglich vorhandene Menge des Stoffes A, 
x = die jeweilig in B umgesetzte Menge von A. 
Ist die Reaktion A>B umkehrbar (A = B); so besteht Gleich- 
gewicht, wenn die Reaktionsgeschwindigkeit in beiden Richtungen = 
gleich ist. 





WU BE 5 
De dx 
5: mtU-9= ko 
(A—x) 5 k —=(C (Konstante). 


x k 


Wächst also ım Gleichgewichte die Menge B(=x), so muß A 
(= a—.x) ebenfalls zunehmen und umgekehrt. Die Quantitäten von 
A und B gleichen einander aus. 
Die einfacheren Stoffwechselregulationen sind wohl mit Sicher- 
heit auf dieses Schema zurückzuführen (siehe dazu auch Verworn: 
39. Band. 22 


A RN RER A N NG vn VER Wr 
LE 






399 Ph. H. Latzin, Die Rolle der Ausgleichsprinzipe in der Theorie des Lebens. 


Allgemeine Physiologie, Jena 1915, p. 613f.). Die überragende Aus- 
gleichsfähigkeit des lebenden Organismus beruht nach dieser Theorie 
auf den zahlreichen, untereinander zusammenhängenden Reaktions- 
ketten des Plasma. 

Wir kennen aber noch eine zweite Möglichkeit des chemischen 
Ausgleichs. Der Chemiker nennt eine Variation der Konstante © 
eine Gleichgewichtsverschiebung. Le Chatelier und van’t 
Hoff konnten darüber folgende Sätze nachweisen: Erstens ist eine 
Gleichgewichtsverschiebung nur durch Energiezufuhr möglich. En- 
zyme vermögen deshalb eine solche Wirkung nicht hervorzubringen. 
Zweitens stellten sie das sogenannte Prinzip des „beweglichen Gleich- 
gewichtes auf. Wird einem chemischen Systeme irgendeine Energie 
zugeführt, so verschiebt sich das Gleichgewicht auf die Seite des- 
jenigen Stoffes, der unter Absorption dieser Energie entsteht. 

Die einwirkende Kraft wird also dadurch aufgehoben, „aus- 
geglichen“. Zahlreiche Plasmaregulationen mögen auf diese Weise 
ihre Erklärung finden. 

Wir können uns eine lebende Zelle auf folgende Weise ver- 
sinnbildlichen: 





CE (a — x) SE) a) 
ka een —k 
&—x, 2) al 5 ; (ae nn) nn 
Reaktionskettel „ IE: RR ER te 
(a —x,) (a— x) 


entspricht unserem obigen ——— —-, x setzt sich eben 
(X —%ı) x 
sofort in x, um. Für die umgekehrte Reaktion B> A kommt des- 
halb nur die Menge (x, — x,) in Betracht. 
Die Totalformel wäre also (alle Reaktionsketten 1—|n— 1] 
als eine aufgefaßt) 





AmxX 
3. ns et SE k 
(Jedes einzelne Reaktionskettenglied der Einfachheit halber uni- 
molekular und nur an zwei andere anschließend, sonst würden die 
Verhältnisse zu unübersichtlich, etwa: 


an Constante. 


A=ZB-+6 
RE u. 8. w.). 
D E-+F. 


Lundegärdh stellt nun weiterhin die Hypothese auf, daß 
während der Ontogenese keine neuen Reaktionsketten entstehen 
oder alte aufgelassen werden, sondern nur die Gleichgewichte der 
vorhandenen auf eine der beiden beschriebenen Arten varuiert werden. 

Die „Artzelle“ (O.Hertwig) besitzt also eine charakteristische 
Reaktionskette, die sie von jeder anderen unterscheidet. Die Varia- 
tionsmöglichkeiten von © stellen ihre „Potenz“ vor. 








u N 
PRFIR 


"Ph. H. Latzin, Die Rolle der Ausgleichsprinzipe in der Theorie des Lebens. 323 


Über die Größe der prospektiven Potenz emer Eizelle kann 
man sich ein Bild machen, wenn man bedenkt, daß die beiden 
oben beschriebenen Variationen der einzelnen k auf die verschie- 
denste Weise untereinander kombiniert werden können. 

Auf analoge Art will unser Autor die Regeneration verstanden 
wissen, doch kann darauf nicht näher eingegangen werden. 

Was aber den gesetzmäßigen Wechsel der Reaktionskon- 
stanten veranlaßt, darüber können nur-vage Vermutungen aufgestellt 
werden. Lundegärdh vertritt stufenweise Determination der 
Ontogenese durch äußere und innere, skalare oder vektorielle Kräfte, 
wobei die letzteren für die räumliche Ausbildung der Organismen 
verantwortlich gemacht werden. 

Wir wollen uns jetzt den Anschauungen Öohen Kyspers’ zu- 
wenden. Sie weichen in beträchtlichem Maße von denen der bis- 
herigen Physiologie ab und verwenden ausschließlich analytisch- 
mechanische Begriffe statt der gewöhnlichen physikalisch-chemischen. 
Dadurch erhalten sie zwar eine ungewöhnliche Allgemeinheit, teilen 
aber auch den Nachteil aller allzu allgemeinen Begriffe, bei der 
Anwendung auf Spezialprobleme sich ins Nebelhafte zu verziehen. 

Da die Ausführungen des Autors (siehe b. l.c. III. Abschnitt) 
etwas unklar sind, wozu noch die ungewohnte Hertz’sche Nomen- 
klatur kommt, so will ich versuchen, das rein mechanische Er- 
klärungsprinzip des Ausgleichs auf eine etwas andere Art zu formu- 
lieren. 

Wir bezeichnen als mechanisches System eine Summe von 
materiellen Punkten m, +m,..... m„, ‘zwischen denen a fixe Be- 
dingungsgleichungen von der Form (x, Y,2,....Zu) = 0 bestehen, 
worin xyz die Koordinaten der Punkte m vorstellen. Diese Be- 
dingungen sind identisch mit den sogenannten inneren Kräften 
des Systems, durch sie wird die freie Bewegungsform der einzelnen 
Punkte abgeändert. Diese Variation ist gerade so groß, daß die 
davon hervorgerufenen Gegenkräfte den inneren das Gleichgewicht 
halten. 

Die Summe der. Quadrate der Abweichungen der einzelnen 
Punkte bezeichnen wır nach Gauß als Zwang des Systems. Es 
gilt der Satz, daß der Zwang eines Systems unter den gegebenen 
Umständen ein Minimum ist. 

Führen wir jetzt b neue Bedingungsgleichungen y(x, y,2,.... Zu) — 0 
ein, sei es durch äußere Kräfte „Reize“, sei es durch innere Zu- 
ständsänderungen, so werden die ursprünglichen Bewegungsformen 
abermals.geändert, der Zwang nımmt zu, immer natürlich mit dem 
Minimumprinzip verträglich. Bis die absolute Größe des Zuwachses 
des Zwanges den durch die neuen Bedingungen dargestellten Zu- 
satzkräften entspricht. Damit ist ein neues Gleichgewicht, der Aus- 
gleich, gegeben. Werden die neuen Kräfte entfernt, so kehrt das 


2 





Ne. NER TE Say ES he 
394 Ph. H. Latzin, Die Rolle der Ausgleichsprinzipe in der Theorie des Lebens. 


System wieder infolge der Bedingungen (...)=0 in den alten Zu- 
stand zurück. Ist unser System ein vitales, die Zusatzkräfte die 
Außenwelt, so entsprechen sich gegenseitig Ausgleich und An- 
passung. Nur ist die Ausgleichsbreite eines vitalen Systems unver- 
gleichlich größer als die eines mechanischen. 

Diese allgemeinsten Betrachtungen über mechanische Systeme 
werden zum Aufbau einer Vitalmechanik verwendet. 

Oskar Kysper will die lebende Substanz als ein einheitliches, 
mit charakteristischer Dynamik versehenes System auffassen. Nicht 
die einzelnen Teile der lebenden Zelle kämen für die verschiedenen 
vitalen Verrichtungen in Betracht, sondern nur die gesamten Zu- 
sammenhänge, die Zelle an sich als letzte unteilbare Lebenseinheit. 

Von diesem Standpunkte aus wird jede Theorie lebender Mole- 
keln oder Micellen (Naegeli) abgelehnt. 

Jedes System, das ohne Veränderung seiner spezifischen Wir- 
kungen nicht weiter geteilt werden kann, heißt eine dynamische 
Einheit. Seine spezifischen dynamischen Leistungen sind 
seine Funktionen. 

Zur Einreihung der Onto- und Phylogenese unter sein Prinzip 
muß Cohen Kysper zwei neue Hypothesen aufstellen, die „Inte- 
gration“ und das „Gesetz der Einstellung“. 

Integration bedeutet den Übergang eines oder mehrerer Systeme 
zu einem System höherer Ordnung. Und diese höheren Zusammen- 
hänge sollen zugleich den Ausgleich der niederen bedingen. 

Das zweite „Gesetz“ beinhaltet die Phänomene der Anpassung. 


Wir nannten die Abweichungen eines Systems von der eigenen 


Bewegung durch neue Zusammenhänge Zwang. Dieser Zwang soll 
nun nach Cohen Kysper bei langdauernder Einwirkung der ver- 
änderten Umstände auf unser System immer kleiner werden, indem 
die inneren, alten Bedingungen des Systems sich mit den neuen 
auszugleichen streben, „konstruktiver Ausgleich“. 

Auch die Psychologie will Cohen Kysper dem Ausgleichs- 
begriff unterordnen. Näheres darüber und über die Entwicklungs- 
prozesse mag in dem oben genannten Werke nachgelesen werden. 

So viel über die Grundlagen dieser Theorie. 

Durch ihren exakten Aufbau auf der analytischen Mechanik 
und ihrer umfassenden Begriffsbestimmung hat sie etwas ungemein 
Bestechendes an sich. Auch verhindert diese feste Fundamentierung 
jeden Angriff auf ıhre Grundlagen. 

Vermag sie aber auch wirklich das Rätsel des Lebens zu lösen? 

Wir dürfen uns darüber nicht täuschen. Was sind denn jetzt 
eigentlich die kennzeichnenden Merkmale vitaler Systeme? 

Wieder die von jeglicher toter Materie unterschiedlichen Er- 
scheinungen. Die Unterschiede der Erscheinungen beruhen aber 
auf den besonderen Systembedingungen. 


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E. Bresslau und M. Buschkiel, Die Parasiten der Stechmückenlarven. 325 


Und diese spezifisch vitalen Systembedingungen sind nach wie 
vor unbekannt. 

Wie die Maxwell’sche 'Theorie die Erscheinungen der Elek- 
trizität und des Lichtes auf gemeinsamer Grundlage aufs einfachste 
und genaueste beschreibt, ohne das Wesen der behandelten Dinge 
im geringsten aufzuklären, so auch hier. 

Das Ausgleichsprinzip mechanischer Fassung führt die Dynamik 
lebender und toter Systeme auf gemeinsame Grundlagen, dieSystem- 
bedingungen, zurück, von denen aus sie beide Erscheinungsreihen 
exakt zu beschreiben vermag. 

Die Konstitution vitaler Systeme zu erkennen, ist aber noch 
immer der Zukunft überlassen. 


Die Parasiten der Stechmückenlarven. 
ı[V. Mitteilung der Beiträge zur Kenntnis der Lebensweise unserer Stechmücken ').) 


- Von E. Bresslau und M. Buschkiel. 
(Mit 3 Textfiguren.) 


a) Allgemeines. 
Von E. Bresslau, Frankfurt a. M. 


Während die erwachsenen Stechmücken wegen ihrer Rolle als 
Krankheitsüberträger oft und genau auf Parasiten untersucht worden 
sind, scheint weniger bekannt zu sein, daß auch ihre Larven eine 
wahre Fundgrube für Schmarotzer darstellen. Es dürfte sich lohnen, 
diesem ausgezeichneten und vielerorts leicht zu beschaffenden Unter- 
suchungsmaterial bei uns in Zukunft mehr Aufmerksamkeit zuzu- 
wenden, als bisher geschehen ist. Als Vorarbeit für derartige Unter- 
suchungen stelle ich im folgenden zusammen, was ich in der Literatur 
an Angaben über die Parasiten der Schnakenlarven habe ausfindig 
machen können ?), indem ich jeweils kurz anfüge, was ich selbst mit 
meinen Mitarbeitern bei den Straßburger Stechmückenstudien darüber 
beobachtet habe. 

Ich beginne mit den Entoparasiten und unter diesen mit 
den parasitischen Würmern. Aus der Gruppe der Trematoden 
sind verschiedentlich junge, eingekapselte „Distomeen“ in den Larven 
von Anopheles-Arten beschrieben worden (Ruge 1903, Alessan- 
drini 1909). Nach Alessandrini soll das von Ruge gefundene 
Distomum die Larve von Distomum globiporum sein, das von 


1) I. und II. Mitteilung s. diese Zeitschr. 37, 1917, S. 507—533, III. Mit- 
teilung ebenda 38, 1919, 8. 530—56. a 
2) Vgl. dazu besonders die Arbeit von Dy& (1905), ferner die Übersicht im 
1. Bande der Monographie von Howard, Dyar und/Knab (1912) und die Zu- 
sammenstellung von Eysell (1915). 


7 


326 E. Bresslau und M. Buschkiel, Die Parasiten der Stechmückenlarven. 


v. Linstow auch in Zymnaea ovata beobachtet wurde und als er- 


wachsene Form im Darm von Fischen lebt. Die von ihm selbst 
gesehenen Trematoden hält Alessandrinı für die Larven von 
Leeithodendrium ascidia (van Beneden), einem häufigen Parasiten 
unserer Fledermäuse. Die Fledermäuse infizieren sich, indem 
sie Schnaken fressen, die den Trematoden im Ösophagus oder 
in der Magenwand enzystiert oder frei in der Leibeshöhle be- 
herbergen. Die Schnaken wiederum erhalten den Parasiten, 
indem die Eier mit den Fäces der Fledermäuse ins Wasser 
gelangen, wo die Larven ausschlüpfen und als Cercarien in 
die Anopheles-Brut eindringen. Wir haben in Straßburg nicht 
selten in Anopheles-Larven kleine enzystierte Trematoden gefunden. 
Weder Dr. Eckstein, der sie zuerst beobachtete, noch ich hatten 
indessen Zeit, über ihre Artzugehörigkeit nähere Untersuchungen 
anzustellen. 

Auch Nematoden sind verschiedentlich in Schnakenlarven 
gefunden worden. Es handelt sich nach Stiles (1903) dabei um 


die Jugendstadien eines Rundwurms (Agamomermis), der erwachsen 
in den Imagines lebt und schon von Leuckart dort beobachtet 


wurde. Die Nematoden finden sich sowohl in den Larven unserer 
einheimischen Crlicada nemoralis, wie bei der nordamerikanischen 
Oulicada sollicitans, möglicherweise auch in Anopheles-Larven. — Mer- 
mis-Larven, und zwar immer paarweise eine größere und eine kleinere 
zusammengerollt in der Thoraxgegend der Leibeshöhle liegend, sah 
Gendre (1909) m den Larven der Gelbfiebermücke (Stegomyyia 
calopus) von Französisch-Guinea. 

Von parasitischen Protozoen in Stechmückenlarven sei zuerst 
Nosema stegomyiae genannt, ‚das Marchoux, Salimbeni und 
Sımond (1903, 1906) in der Gelbfiebermücke (Stegomyia calopus) 
entdeckten. Sind 9 Imagines dieser Stechmückenart stark in- 
fizıert, so dringen nach den Angaben der französischen Forscher 
die Microsporidien auch in die Ovarien und Eier ein, woraus 
dann infizierte Larven hervorgehen. Eine unmittelbare Infektion 
der Larven durch Zufuhr der Nosema-Sporen mit der Nahrung ge- 
lang den Autoren nicht. Sie beschreiben einmal gewöhnliche, farb- 
lose Sporen von 4—7 u Länge und 2-3 u Breite, aus denen 
Amöboidkeime hervorgehen, außerdem aber noch braune Sporen, 
die mehr fadenförmig gestaltete Keime entstehen lassen. Ob es sich 
bei diesen Parasiten wirklich um Angehörige der ‘Gattung Nosema 
handelt, läßt sich allerdings weder aus dem Text noch aus den 
Abbildungen mit Sicherheit erkennen. Immerhin kann ich be- 
stätigen, daß tatsächlich echte Vertreter des Genus Nosema in 
Schnakenlarven vorkommen. Ich besitze ein Ausstrichpräparat von 
dem Leibeshöhleninhalt einer Oylex piptens-Larve, . das gewaltige 
Massen von Nosema-Sporen enthält, die in ihrem Aussehen (Fig. 1) 






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PET RE ET IREE U EEE REE 


2 kn 5 Aus a Ze 


“ mit allen Entwicklungsstadien einer augenschein- 


E. Bresslau und M. Buschkiel, Die Parasiten der Stechmückenlarven. 527 


an die typischen, von Stempell (1904, Fig. 99—102) abgebildeten 
Sporen von Nosema anomalum oder an die Sporen des Nosema 
pulieis Nöller (1912, 1914, Textfig. 8) erinnern. Die Länge der 
Sporen beträgt 4,5—5,5 a, ihre Breite 1,5—2,4 «. Zur Artbezeich- 
nung schlage ich den Namen Nosema culieis vor. 

Außer Nosema-Arten kommen in den ein- 
heimischen Schnakenlarven aber auch noch andere 
Microsporidien vor. So fand ich einmal eine 
Larve von Culiseta (Theobaldia) annulata, die ganz 





lich in die Nähe von Thelohania gehörigen Form 
erfüllt war. Ich hoffe - auf diesen Parasiten, 
in dessen Kernen bei den Sporulationsteilungen 
sehr schöne Chromosomen ausgebildet werden, 
andernorts ausführlicher zurückkommen zukönnen. Kar Prlening 
Die gleichen französischen Autoren (1903) be- pu;,be Hei he 
schreiben ferner aus Stegomyia calopus und ıhren x 150%. 
Larven eine Gregarinen-Art mit recht eigen- 
artigem lebenszyklus.. Die Imagines enthalten niemals vege- 
tative Stadien, sondern nur Sporocysten innerhalb der Mal- 
pighischen Gefäße. Von hier sollen die Sporen teils nach ihrer 
Ausstoßung mit den Fäces des Insekts, teils nach dessen Tode 
und Zerfall ins Wasser gelangen und dort von den Larven mit 
ihrer Nahrung aufgenommen werden. Im Darmkanal der Larven 
kriechen die Sporozoiten aus und dringen in Zellen des Darm- 
epithels oder des subkutanen Fettgewebes ein, wo sie sich abkugeln 


Fig. I. .Nosema cu- 
lieis n. sp., Sporen, 


und allmählich zu Gregarinen ohne Proto- und Epimerit von birn- 





förmiger Gestalt und 15--30 u Länge heranwachsen°). Bei wei- 
terem Wachstum fallen sie aus den Zellen heraus, in das Cölom 
oder Darmlumen, und bewegen sich hier lebhaft. Sie messen als- 
dann 25—50 u. Während der letzten Zeit des Larvenlebens oder 
auch erst im Puppenstadium treten die Parasiten zu Syzygien zu- 
sammen. Wenn sich dann in der Puppe der Darmkanal des fer- 
tigen Insekts ausbildet, wandern die Syzygien in diesen über und 
gelangen von hier aus in die Malpighischen Gefäße, wo sie sich 
festsetzen und mit der Sporogonie beginnen. Diese verläuft sehr 
rasch, so daß die Sporocysten im allgemeinen fertig ausgebildet 
sind, wenn die Imago ausschlüpft. 

Auch von anderen Autoren sind Gregarinen in Stechmücken- 
larven gesehen, jedoch stets nur ganz kurz beschrieben worden. 
So teilt Ross 1906 in Ergänzung schon 1895 und 1898 in indischen 


3) Möglicherweise sind diese Formen auch von Pressat (1905) gesehen worden, 
der im Darm von Stegomyia-Larven birnförmige Elemente fand, die sehr langsame 
amöboide Bewegungen zeigten, 





398 E. Bresslau und M. Buschkiel, Die Parasiten der Stechmückenlarven. 


Zeitschriften von ıhm publizierter Angaben über das Vorkommen 
einer Gregarina culicis ın Stegomyia-Larven, -Puppen und -Imagines 
mit, daß die von ıhm beobachteten Formen wahrscheinlich ver- 
schiedenen Spezies angehörten, von denen eine wohl sicher mit 
der von Marchoux, Salimbeni und Simond beschriebenen 
Gregarine identisch ist. Ferner beobachteten Leger und Duboseq 
(1902) bei einer in Korsika gesammelten COulex-Larve eine in das 
Cölom vorspringende Oyste der Darmwand, die sie auf eine Gre- 
garine vom Diploeystis-Typus beziehen. Endlich beschreibt Guenther 
(1914) eine nach seiner Meinung wahrscheinlich zu den Monocystiden 
gehörige Gregarine aus der Leibeshöhle von Larven der indischen 
Stechmückenart Frealbia dofleini. 

Es ıst also nur sehr wenig, was über die Gregarinen der 
Stechmückenlarven bekannt geworden ist. Die einheimischen Arten 
scheinen überhaupt noch nicht daraufhin untersucht worden zu 
‚sein, obwohl gerade die Insektenlarven stets dankbare Objekte zum 
Studium von Gregarinen gebildet haben‘). In der Tat ist Infektion 
mit Gregarinen etwas ganz Gewöhnliches bei unseren Schnaken- 
larven. 

Es gilt dies in erster Linie für die Larven von Oulex pipiens L. 
Schon ım Sommer 1916, als ich mich aus systematischen Gründen 
etwas näher mit den Larven der verschiedenen Stechmückenarten 
beschäftigte ’), fiel mir auf, daß die piöpiens-Larven vielfach — an 
manchen Fundorten zu 50%, und mehr — mit Gregarinen infiziert 
waren. ‚Diese erwiesen sich bei näherem Zusehen als Angehörige 
einer neuen Art, die zu der erst vor kurzem durch Keilin (1914) 
entdeckten Schizogregarinenfamilie der Oaulleryellidae gestellt werden 
mußte. Ihre genauere Untersuchung war mir selbst aus Zeitmangel 
nicht möglich; ich konnte diese Arbeit jedoch im Sommersemester 
1918, als ich ın Vertretung von Prof. Doflein das Freiburger 
Zoologische Institut leitete, Frl. M. Buschkiel übergeben, die ım 
Anschluß an meine Ausführungen hier kurz selbst über ihre Beob- 
achtungen berichten wird. 

Außer den Cklex piüpiens-Larven sind aber auch die Larven 
verschiedener anderer einheimischer Schnakenarten Träger von 
Gregarinen. Als Beispiel möchte ıch hier nur kurz eine in (ul- 
seta annulata nicht seltene, neue Schizogregarinenform beschreiben, 
deren Lebenszyklus, soweit meine Beobachtungen reichen, dem von 
Frl. Buschkiel für die Singschnakengregarine ermittelten sehr 
ähnlich ıst. Das Aussehen der frei im Darm der annulata-Larven 
lebenden erwachsenen, vegetativen Stadien dieser Art, die ich 

4) Vgl. z. B. das umfangreiche Verzeichnis der untersuchten Arten in der 
Arbeit von Wellmer (191]). 

5) Uber das Ergebnis dieser später von Dr. Eckstein übernommenen Unter- 
suchungen s. dessen gleichzeitig erscheinende Arbeit (Eckstein 1919). 










E. Bresslau und M. Buschkiel, Die Parasiten der Stechmückenlarven. 329 


Caulleryella annulatae benenne, zeigt Fig. II. Man kann an ihnen 


. zwei Körperabschnitte unterscheiden, einen hinteren, der den großen 


Kern mit einem im Leben stark lichtbrechenden Karyosom enthält, und 
einen vorderen, den ich als Pseudomeriten bezeichnen möchte, da 


‚er aus gleich zu erörternden Gründen weder als echter Proto- noch 


als echter Epimerit aufgefaßt werden kann. Der hintere Körper- 
abschnitt ist mehr oder minder zylindrisch, hinten abgerundet und 
von einer dünnen Ektoplasmaschicht umhüllt, der Pseudomerit zeigt 
wechselnde Gestalt und eine auffällig dicke, im Leben stark lıcht- 
brechende Pellicula. Stets beginnt der Pseudomerit der annulata- 
Gregarinen mit einer beträchtlichen Verbreiterung gegenüber dem 
hinteren Körperabschnitt, nach vorn zu ist er bald abgerundet 
(Fig. Ha), bald mehr oder minder spitz zulaufend (Fig. IIb, c). Auch 
sein fein granuliertes Plasma erscheint von anderer Beschaffenheit als 
das mehr grobkernige des anschließenden, hinteren Körperabschnitts. 
Dadurch, sowie durch die Anschwellung, mit der er beginnt, ferner 
durch die stärkere Ausbildung seiner Pellicula hebt sich der Pseudomerit 
sehr deutlich von dem den Kern führen- 
den hinteren Körperabschnitt ab, ‚ohne 
doch wie ein typischer Protomerit von 
dem Deutomeriten durch eine Ekto- 
plasmalamelle getrennt zu sein oder die 
für einen Epimeriten charakteristischen 
Eigenschaften — vorwiegend ektoplas- 
matische Beschaffenheit und Hinfällig- 
keit während des freien vegetativen Pu 
Lebens — zu besitzen. Die Länge Fig. II. Caulleryella annulatae 
der ausgewachsenen vegetativen Indi- "- SP ne a ne 
viduen beträgt 23-33 u, ihre Breite am De 
Ansatz des Pseudomeriten 9-13 u°). 

Auch Flagellaten sind unter den Parasiten der Stechmücken- 
larven recht häufig vertreten, die Kenntnis der Systematik, Mor- 
phologie und Biologie dieser Formen liegt aber noch ganz im argen. 
Kurze Angaben darüber machte als erster Ross (1898, 1906); sie 
beziehen sich auf indische Schnakenarten. 1902 berichteten sodann 
Leger und Dubosegq über eine Herpetomonas-Art aus dem Darm 
korsischer Anopheles-Larven, die Leger (1902) kurz zuvor im Darm 
weiblicher Imagines von Anopheles maculipennis entdeckt und als 
Crithidia fasciculata beschrieben hatte. Die Parasiten haben bald 
die langgestreckte Gestalt typischer Herpetomonaden, wobei sie 
zugleich durch Verschmälerung und welligen, eine undulierende 
Membran andeutenden Kontour der einen Seite des Zelleibes an 





°) Anmerkung bei der Korrektur: Inzwischen ist auch eine verwandte Schizo- 
gregarınenart in Anopheles-Larven beschrieben worden; vgl. E. Hesse, Caulleryella 
anophelis, Compt. Rend. Acad, Se, Paris, 166, 1918, S. 569-572. 





330 E. Bresslau und M. Buschkiel, Die Parasiten der Stechmückenlarven. 


Trypanosomen erinnern können, bald erscheinen sie als mehr oder 
minder ovoide bis abgekugelte Formen. Ich habe nicht selten ähn- | 
liche Flagellaten im Darm von Cuwlex pipiens-Larven gefunden, an 
denen sich der Übergang aus dem Herpetomonas-Stadium in einen 
gregarinenähnlichen, oftmals zum Schluß völlig abgekugelten Zu- 
stand leicht beobachten ließ. Außer diesen Flagellaten traf ich bis- 
weilen aber auch ZLeptomonas-Formen, ohne jede Andeutung einer 
undulierenden Membran, ähnlich der von Novy, Mac Neal und 
Torrey (1907) aus dem Darm erwachsener Stechmücken beschrie- 
benen Leptomonas fasciculata, die nicht mit der Orithidia faseieulata 
Leger verwechselt werden darf (vgl. Woodecock 1914, Nöller 
1917). Eine genaue Bearbeitung dieser Schnakenlarven-Flagellaten 
ist dringend erforderlich, schon um eine gefährliche Fehlerquelle 
bei Infektionsversuchen mit erwachsenen Stechmücken auszu- 
schalten. Solange nicht eine scharfe Charakterisierung der ın den 
Schnakenlarven vorkommenden Flagellaten möglich ıst, können 
Übertragungsversuche von Blutflagellaten, bei denen Stechmücken 
zur Verwendung kommen, nicht als völlig einwandfrei gelten. Denn 
bei der Möglichkeit einer direkten Übermittlung der Flagellaten 
von Schnake zu Schnake ohne Zwischenwirt, auf dem Wege über 
die Eier, Larven und Puppen, läßt sich selbst durch alleinige Ver- 
wendung von Imagines, die im Laboratorıum aus Eiern aufgezogen 
wurden, nicht ausschließen, daß die Insekten bereits von vornherein 
mit Flagellaten infiziert sind (vgl. auch Novy, Mac Neal und 
Torrey 1907, Patton, 1912). 

Als letzte entoparasitische Form sei endlich noch die Spiro- 
chaela culicis erwähnt, die Jaffe (1907) bei Berlin massenhaft ın 
den Larven einer nicht näher bestimmten Schnakenart fand. Ähn- 
liche Organismen beschreiben Edmond und Etienne Sergent 
(1906) aus den Larven algerischer Anopheles maculipennis. Nach 
meinen Beobachtungen kann ich bestätigen, daß vor allem Oulew 
pipiens-Larven sehr häufig Spirochaeten beherbergen. 

Als Ektoparasiten kommen an Schnakenlarven bisweilen 
Milben vor. Es handelt sich dabei um die Jugendformen von 
Hydrachniden, die wahrscheinlich zu den Gattungen Eylais, Hydro- 
droma, Hydryphantes oder Diplodontus gehören, deren Larven durch 
ihre parasitische Lebensweise bekannt sind. Nach den Beobachtungen 
amerikanischer Entomologen (Howard, Dyar und Knab 1912) 
und der Gebrüder Sergent (1904) an algerischem Material geht 
die Infektion so vor sich, daß sich die Hydrachnidenlarven im 
Wasser an das Abdomen der Schnakenlarven anhängen. Dadurch 
werden die Schnakenlarven indessen in keiner Weise geschädigt, 
denn ihre Entwicklung geht ruhig weiter. Bei der Verwandlung 
zur Puppe wandern die Milben von der Schnakenlarvenhaut auf 
die Puppe über und setzen sich hier am Rücken fest, nahe dem 












E. Bresslau und M. Buschkiel, Die Parasiten der Stechmückenlarven. 35| 


Punkt, wo die Haut beim Schlüpfen der Imago einreißt. Dies er- 
möglieht ihnen dann, sich während des Ausschlüpfens an dem Hinter- 
leib des fertigen Insekts zu befestigen, sodaß sie mit diesem den 
Übergang vom Wasser- zum Luftleben mitmachen. Nach den An- 
gaben von Howard. Dyar und Knab scheint es, als ob beson- 
ders afrikanische Hydrachnidenlarven die Gewohnheit haben, Stech- 
mückenlarven zu befallen, während die nordischen Wassermilben 
andere Wasserinsekten bevorzugen. Vielleicht erklärt sich 
daraus, daß mir bisher keine mit Milben behafteten Stechmücken- 
larven zu Gesicht gekommen sind. Wohl tragen auch bei uns die 
Stechmücken-Imagines nicht selten Milben, aber wohl keine Hydrach- 
niden, sondern Gamasusarten (Eysell 1913), die sich den In- 
sekten anhängen, wenn sie irgendwo auf dem Lande ausruhen. 

Als harmlose Ektokommensalen gleichfalls völlig unschädlich sind 
die Vorticelliden, die sich oft in ungeheuren Massen auf den Schna- 
kenlarven ansiedeln. Bisweilen trifft man Brutstellen, besonders von 

Culex pipiens, wo der größte Teil der Larven am ganzen Körper, 
den Kopf mit een mit einem dichten eben Überzug 
aus lauter Individuen von Vorticella mierostoma oder einer verwandten 
Art bedeckt ist, so daß es aussieht, als ob die Tiere vollständig ver- 
pilzt wären. Nichtsdestoweniger habe ı h niemals eine Beeinträch- 
tigung der Tiere bemerken können; ihre Entwicklung vollzog sich 
stets so, wie bei Larven, die frei von Vorticellen waren. Der bei 
Howard, Dyar und Knab (1912) erwähnte Fall einer Anopheles- 
Larve, die so mit Glockentierchen beladen ‚war, daß sie ihren Kopf 
nicht mehr recht bewegen konnte, daher bei der Nahrungsaufnahme 
notlitt und demzufolge einging, wird auch von den amerikanischen 
Autoren als Ausnahme bezeichnet. 

Auch die Entoparasiten haben im allgemeinen wohl keine patho- 
gene Bedeutung für die von ihnen Bealenen Schnakenlarven. Nur 
in ganz wenigen Fällen, so bei der Infektion mit Mermis (Gendre 
1909) oder mit Msn (Marchoux, Salimbeni und Simond 
1906) nehmen die betreffenden Autoren eine schädigende Wirkung 
als möglich an. Ich selbst habe, soweit meine Beobachtungen 
reichen, niemals eine Schädigung der infizierten Larven feststellen 
können. Als Helfer bei der Bekämpfung der Schnakenbrut können 
ihre Parasiten jedenfalls nieht in Frage kommen, 


b) Caulleryella pipientis n. Sp., 
eine Schizogregarine aus dem Darm der Larven von Culex pipiens L. 
Von Marianne Buschkiel, Freiburg i. B. 
In einer eingehenderen, bisher noch nicht veröffentlichten Arbeit, 
zu der ich durch Herin Prof. Bresslau angeregt wurde, beschäl- 
tigte ich mich mit der Untersuchung einer Schizogregarine, die 





339  E. Bresslau und M. Buschkiel, Die Parasiten der Stechmückenlarven. 


im Darme von Culex pipiens-Larven parasitiert. Die Ergebnisse 
meiner Beobachtungen sollen in kurzer Zusammenfassung hier folgen. 

Es handelt sich um eine Schizogregarine, die als Produkt ihrer 
geschlechtlichen Entwicklung 8 Sporen zu je 8 Sporozoiten liefert. 
Sie erweist sich dadurch zu der von Keilin (1914) aufgestellten 
Gruppe der Octosporea gehörig. Weitere Untersuchungen ergaben 
die nahe Verwandtschaft mit der von diesem Autor beschriebenen 
Caulleryella aphiochaetae, einem Parasiten aus dem Darm von Aphio- 
chaeta rufipes Meig., eines zyklorhaphen Dipters. . = neue Species 
sei daher Caulleryella pipientis genannt. 

Im‘Lumen der der Sekretion. dienenden Aussackungen des 
Mitteldarmes der Culex pipiens-Larven, wie im Darme selbst, finden 
sich alle Entwicklungsstadien des Parasiten. Während im allge- 
meinen entweder die Sporogonie oder die Schizogonie vorwiegt, 
findet man auch häufig Stadien beider Entwicklungsmodi neben- 
einander im gleichen Wirtstier. | 

Die jungen, entweder aus der geschlechtlichen oder unge- 
schlechtlichen Vermehrung hervorgegangenen Keimlinge dringen 
mit ihren spitzen Vorderenden in die mit einem Stäbchensaum ver- 
sehenen „Leberzellen“ der Mitteldarmdivertikel ein. Fig. Ill, 1 des 
Zeugungskreises zeigt eine solche Zelle, die sich aus dem Verbande des 
Epithels gelöst hat und von einer größeren Zahl der Parasiten be- 
fallen ist. So befestigt wachsen sie heran zu der typischen keulen- 
artigen Gestalt der vegetativen Caulleryella pipientis. In diesem 
Stadium kann man einen länglichen, beim ausgewachsenen Tier 
rundlich ovalen hinteren Körperabschnitt, der den großen, bläschen- 
förmigen Kern enthält, von dem stielartig verlängerten Vorderende, 
unterscheiden, das gewisse Übereinstimmung mit dem Epimeriten 
der polycystiden Eugregarinen zeigt. Da dieser Stielfortsatz jedoch 
durch keine Scheidewand vom Körper getrennt und zweifellos entoplas- 
matischer Natur ist, zugleich aber die Fähigkeit der Rückbildung besitzt, 
nimmt er unter den Meriten der Gregarinen eine Sonderstellung 
ein. Er wurde von Bresslau als Pseudomerit bezeichnet. Beim 
Jugendlichen Individuum geht der Pseudomerit gleichmäßig ın das 
Körperplasma über, während die reifen vegetativen Parasiten so- 
wohl eine deutliche äußere Abgrenzung, wie Differenz von Körper- 
und Stielplasma aufweisen. Im Leben erscheint das Körperplasma 
stärker von lichtbrechenden Körnern erfüllt als das Plasma des 
Pseudomeriten, das sich im fixierten Präparat feinmaschiger zeigt. 
Das Ende des vegetativen Wachstums wird im allgemeinen erst 
nach Ablösung des Parasiten aus der Epithelzelle erreicht, in freier 
Lage innerhalb des Lumens der Lebersäckchen, bezw. des Darmes. 
Die Größe der erwachsenen Individuen schwankt zwischen 35 
und 60 u, je nach dem Ernährungszustande des Wirtstieres. 

Der Kern enthält einen großen, kompakt kugeligen Binnen- 


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399 


der Stechmückenlarven. 





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334  E. Bresslau und M. Buschkiel, Die Parasiten der Stechmückenlarven. 


körper. Außerdem erkennt man bei Anwendung stärkerer Ver- 
größerungen ein kleines, im Leben stark lichtbrechendes, mit Eisen- 
Hämatoxylin dunkel färbbares Körnchen, über dessen Bedeutung 
und etwaige Beziehung zu den Vorgängen im Kern ich vorläufig 
nichts aussagen möchte. Ich werde es daher im folgenden mit 
dem indifferenten Namen „zweites Körnchen“ bezeichnen. 

Betrachten wir die ungeschlechtliche Vermehrung, so sehen 
wir, wie sich der Körper des Parasiten zunächst einheitlich ab- 
kugelt, indem sich das Plasma aus dem Pseudomeriten zurückzieht 
und mit dem Körperplasma einheitlich verschmilzt (Fig. Ill, 2u. 5). 
Die Pellicula, welche das Stielende überzog, bleibt entweder als 
leere, kegelförmige Hülle funktionslos an der ursprünglichen Stelle 
haften, oder wird ın ihrer Form unverändert abgestoßen. 

Der Kern beginnt sich nun auf mitotischem Wege unter 
typischer Spindelbildung zu teilen, wobei die Kernmembran schwindet 
und der Binnenkörper frei in das Cytoplasma austritt (Fig. IIL, 5). 
In fortgesetzten Teilungen werden eine größere Anzahl Kerne ge- 
liefert, die sich peripher ım Schizonten anordnen, während der Binnen- 
körper des ersten Kernes, noch lange Zeit sichtbar (Fig. III, 4), 
schließlich im Plasma unter allseitiger Größenabnahme resorbiert 
wird. Die Endzahl der Kerne beträgt 32—38. Es schnüren sich 
um die Kerne Plasmaportionen ab, die unter Aufbrauchen des Rest- 
körpers zu den endgültigen Merozoitenkörpern heranwachsen (Fig. 
Ill, 5). Sind die Merozoiten fertig ausgebildet und weisen den 
charakteristischen mit Binnenkörper und zweitem Körnchen ver- 
sehenen Kern auf, dann ıst das Restplasma nahezu verbraucht 
(Fig. III, 6). Nach Loslösung der Merozoiten kann die Autoinfektion 
vor sich gehen. 

Die Sporogonie wird eingeleitet durch Aneinanderlagerung 
zweier ausgewachsener Individuen zur Bildung einer Syzygie, welche 
sich nach erfolgter Abkugelung mit einer dünnen, einfachen Oysten- 
membran umgibt (Fig. Ill, 7). Auch hier wird die den Pseudo- 
meriten überziehende Pellicula als leere Hülle abgestoßen oder 
bleibt an der entstandenen Cyste haften. Die Kernteilung geht in 
beiden Syzygiten gleichfalls auf mitotischem Wege vor sich. Der 
aus dem ersten Ker ne ausgestoßene Binnenkörper bleibt; wie bei der 
Schizogonie, einige Zeit zwischen den neuentstandenen Kernen liegen 
(Fig. III, 8), um schließlich resorbiert zu werden. 

Ist in beiden Syzygiten eine bestimmte Anzahl Kerne gebildet, 
so lassen sich im Leben wogende Bewegungen des ne enplee 
beobachten, die zur schließlichen Absehnürung der Gametenkörper 
führen (Fig. III, 9u. 10). Es entstehen in heiden Syzygiten mehr 
Kerne, als Gameten bei der Kopulation Verwendung finden. Im all- 
gemeinen kopulieren je 8 Gameten miteinander zur Bildung von 
3 Zygoten (Fig. UI, 11). Die überschüssigen 6—10 somatischen 





E. Bresslau und M. Buschkiel, Die Parasiten der Steehmückenlarven 5335 


Kerne umgeben sich mit unregelmäßigen Plasmaportionen, welche 
sich als Restkörper der Cystenmembran anlagern. 

Die aus der Kernverschmelzung der kopulierenden Gameten 
hervorgegangenen Syncarien teilen sich aufs neue und liefern je 
$S Kerne, welche sich an der Peripherie, meist an einem Pole der 
Sporoblasten anordnen (Fig. Ill, 12). Durch Abgrenzung sichel- 
förmiger Plasmakörper werden so 8 Sporozoiten gebildet, zwischen 
Hören. verjüngten Vorderenden ein kugeliger, im en stark licht- 
brechender Restkörper lagert (Fig. IIl, 13). 

Die Cystenmembran umgibt 8 Sporen zu je 8 Sporo- 
zoiten, die von einer äußerst zarten Sporenhülle eingeschlossen 
sind, und einige Restkörper in wechselnder Anzahl, welche schließ- 
lich durch Quellung die Sprengung der Cyste veranlassen. 

Die Sporen (Fig. Ill, 14) werden mit dem Darminhalt der 
Cwlex-Larven in das umgebende Wasser entleert und können von 
neuen Larven gefressen werden. Im Darme des frischinfizierten 
Wirtstieres wird die Sporenhülle gesprengt und das Bündelchen der 
Keimlinge fällt, wahrscheinlich unter Quellungswirkung des Sporo- 
blastenrestkörpers, auseinander. 

Die Infektion findet in den Puppenstadien des Wirtes ihren 
Abschluß, indem der infizierte Larvendarm in den Darm der Puppe 
aufgenommen, hier resorbiert und die Reste schließlich ausgestoßen 
werden. Die aus infizierten Larven bezw. Puppen hervorgegangenen 
Imagines wurden stets frei von Caulleryella gefunden. 


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Woodeock, H. M., Further remarks on the flagellate parasites of C'ulex. Is there 
a generic type, Crithidia? Zool. Anz., 44, S. 26—33, 1914. 














EEE WET URN DUB? 


jologisches Zentralblatt 


Begründet von J. Rosenthal 
Unter Mitwirkung von 
Dr. RKrGöocbel und Dr. R. Hertwig 


Professor der Botanik Professor der Zoologie 
in München 


herausgegeben von 


Dr. E. Weinland 


Professor der Physiologie in Erlangen 
Verlag von Georg Thieme in Leipzig 
August 1919 Nr. 8 


ausgegeben am 31. August 1919 








39. Band 











Der jährliche Abonnementspreis (12 Hefte) beträgt 20 Mark 
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten 
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem (esamtgebiete der Botanik an 
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, 
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, 
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physiolog. Institut, 
einsenden zu wollen. 








Inhalt: E. Naumann, Beiträge zur Kenntnis des Teiehnannoplanktons. S. 337. 
K. Toldt, jun., Neuere Arbeiten über das Integument des Flußpferdes 8. 316. 
F. Heikertinger, Versuche und Freilandforschungen zur Mimikryhypthese. S. 
H. Heller, Über die Geruchstheorie von Teudt. 8. 364. 
G. Dunktr, Jolı. Schmidt’s Rassenuntersuchungen an Fischen. S. 371 


332. 





Beiträge zur Kenntnis des Teichnannoplanktons. 


III}. Einige Gesichtspunkte zur Beurteilung des biologiı- 
schen Effekts der vegetationsfärbendenHochproduktieonen. 
Von Einar Naumann in Lund, Schweden. 

[XNXIV. Mitteilung aus dem Limnologischen Laboratorium Aneboda b. Lamhult?.| 

Die Untersuchungen der letzten Jahre haben gezeigt, um welche 
oft beträchtliche Hochproduktionen es sich beim Eintreten der 
Vegetationsfärbung handelt?). Während sich nämlich die Produk- 
tion von Algen und Flagellaten in mäßig hahrungsreichen Teichen 
— übrigens gilt das auch für die Seen — für gewöhnlich auf höch- 


1) Der erste dieser Beiträge erschien in dieser Zeitschrift 1914, der zweite 1917. 

2) Die XXIII. Mitt. erschien in den Publikationen der Schwedischen Geo- 
logischen Landesanstalt 1917. ; 

3) Die meisten Mitteilungen hierüber sind in den folgenden Arbeiten mitgeteilt: 

Kolkwitz, R., Die Beziehungen des Kleinplanktons zum Chemismus der 


Gewässer. — Mitt. aus der Kgl. Prüfungsanstalt für Wasser und Abwasser 1911. 
Naumann, E., Beiträge zur Kenntnis der Vegetationsfärbungen des Süß- 
wassers I—XII. — Botaniska Notiser, Lund 1912— 1919. 
Band 39. 23 


Le U a a aaa KA ne ee a 
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338 E. Naumann, Beiträge zur Kenntnis des Teichnannoplanktons. 


stens einige Tausende pro ccm hält, steigt sie beim Eintreten der 
Vegetationsfärbung mindestens Zehn-, oftmals auch auf Hun- 
derttausende von Zellen pro eem. Ja, sogar Produktionen auf 
Millionen von Zellen pro ccm sind für kleinere Süßwässer ein- 
registriert*), und zwar beträgt das bisherige mehrmals. beobachtete 
Maximum nicht weniger als 10000000. Was die Ursache dieser 
Hochproduktionen betrifft, so dürfte sie stets von dem Chemismus 
des Wassers abhängen — d. h., die vegetationsfärbende Hochpro- 
duktion indiziert stets einen übernormal gesteigerten Zugang auf 
ausnützbare Nährstoffe, sei es, daß dieser schon unter den natür- 
lichen Verhältnissen entweder stets oder periodisch ermöglicht wird 
oder daß er ganz oder teilweis von kulturellen Einflüssen bedingt 
wird. Der erstgenannte Fall tritt uns besonders in gewissen Seen 
entgegen, wo der sogen. baltische Seentypus eben durch lang an- 
dauernde Vor sich in Vergleich mit anderen Typen 
als übermäßig nahrungsreich zu Bee Milieu ohne weiteres 


indiziert. Für den letztgenannten Fall bietet vor allem die intensive 


Wasserkultur der Teichwirtschaft lehrreiche Beispiele’), die gewiß 
übrigens auch für die gesamte Limnologie eine prinzipielle Bedeu- 
tung zuerkennen werden müssen. 

Über die Bedeutung dieser Hochproduktionen im Leben des 
Süßwassers sind wır aber noch in mehreren Hinsichten sehr wenig 
unterrichtet. Zwar läßt es sich ganz allgemein sagen, daß sie in 
dem biochemischen Betrieb eine sehr wichtige Rolle spielen — 
gewissermaßen als Sicherheitsventile gegen eine übermäßige An- 
reicherung des Wassers an Faulstoffen, sowohl durch das partielle 
Aufzehren von einem Teil derselben, welche durch die teilweise 
Heterotrophie der meisten dieser Formen ermöglicht wird, wie auch 
durch ihre respiratorische Tätigkeit. Daß sie Bar als Produzenten 
der Tiernahrung von einer oft hervorragenden Bedeutung sind, 
mehrmals erwiesen. \ 

Aber wie sollte man ein anschauliches Maß für diesen bio- 
chemischen Effekt der steigernden Produktionen erhalten? Diese 
Frage ıst bis jetzt niemals erörtert, dürfte aber von einer ein- 
schneidenden Bedeutung sein, wenn wir dahin kommen, die Pro- 
bleme der Hochproduktionen in einer mehr vielseitigeren Weise ex- 
perimentell angreifen zu können‘). Sie dürfte deshalb hier ın aller 
Kürze eine einführende Auseinandersetzung wohl verdienen. 


4) 8. hierzu meinen Aufsatz: Über einige besonders auffallende Hochproduk- 


tionen aus Nannoplankton im Süßwasser. — Berichte der Deutschen Botan. Ges. 
3erlin 1919, 
5) D. z. B. meine Zusammenstellung in dieser Zeitschrift 1914, S. 581-594. 


6) Selbstverständlich müssen derartige Studien mit eh eden über den 
löffekt na »nischer Eingriffe in dem natürlichen Lebensmilieu des Wassers ihren An- 
fang nehmen. Über eine Reihe derartige Versuche habe ich selbst, in den 
De des Fischereivereins für Südschweden, Lund 1917, eine erste Übersicht 
veechen. 





u A? a A age le ln En 1 A an Be 
Kir kn Op a Shah a a aba A Re 


E. Naumann, Beiträge zur Kenntnis des Teichnannoplanktons. 359 


Ein anschauliches Maß für den biologischen Effekt der Hoch- 
produktionen ist also als sehr erwünscht zu bezeichnen. Es dürfte 
wohl dabeı nichts näher liegen, als hierfür eben die Reaktions- 
fläche der Produktion vorzuschlagen, worunter demnach die 
gesamte von den Pflanzen auf einem gegebenen Volumen 
entfaltete Oberfläche verstanden wird. 

Versuchen wir jetzt eine rein schematische Darstellung dieser 
Verhältnisse. Wır gehen dabei von Algen eines sphärischen Bau- 
typus aus, was ja eine besonders im Teichplankton sehr gewöhnliche 
Gestaltungsform darstellt. Von derartigen Voraussetzungen kann 
2. B. eine tabellarische Darstellung wie die beistehende gegeben 
werden. Um den Umfang derselben zu begrenzen, habe ich nur 
einige repräsentative Produktionstypen des Bautypus 5 bezw. 10 u 
— was auch als der allgemeinste anzusehen ist — herausgegriffen. 
Die Reaktionsflächen, welche den angeführten Produktionen 
(pro cem) entsprechen, sind um Vergleiche leicht zu ermöglichen 
als mm? pro 1001 angegeben. 

















Tabelle. 
| Entsprechende Oberflächenentfaltung 
Produktion pro cem. in mm? pro 1001 
Für den Größentypus 
} | i > A & | ü 10 u Fer 
I. Relative Geringproduktionen. | 
1.000 | 7 854 31416 
2 500 | 19 635 | 78 540 
5 000 39270 157.080 
IT. Hoch- bis Überproduktionen, | 
A. Hochproduktionen. | 
25 000 196 350 | 785 400 
50 000 392.700 | 1 570 S00 
B. Überproduktionen. I 
100 000 | 785 410 3 141 600 
1 000 000 7854000 .. 31416 000 
10 000 000 78 540 000 314 160 000 











Die Tabelle dürfte von der gewaltigen Öberflächenentwick- 
lung der vegetationsfärbenden Hochproduktionen einen sehr an- 
schaulichen Überblick geben und somit schon an und für sich eine 
zahlenmäßige Illustration zu dem schon oben über die Bedeutung 
derselben als biochemische Milieuregulatoren angeführten 
geben. Es sind ja nämlich dies alles Verhältnisse, die eben von 
der reaktionsfähigen Fläche abhängen. Auch die Bedeutung der 
planktonischen Pflanzenformen in dem ernährungsphysiologischen 
System des Wassers dürfte hiervon abhängen. In dem folgenden 


+ 
23 





340 E. Naumann, Beiträge zur Kenntnis des Teichnannoplanktons. 


werden wir einigen von diesen Fragen, soweit dies auf dem jetzigen 
Standpunkt der Limnologie ermöglicht wird, eine orientierende 
Auseinandersetzung in aller Kürze widmen. 


1. Die produktive Fläche in ihrem Verhältnis zu der 
Entwicklung der Produzenten. 


Pütter’) hat es zuerst versucht, den Stoffwechsel des Wassers 
von allgemeinen Gesichtspunkten aus zu beleuchten. Als Maß des 
Stoffumsatzes wurde dabei natürlich die Oberfläche gewählt, wobei 
aber Pütter die Auffassung entwickelt, daß die konsumierende 
Fläche im Idealfall gleich der produzierenden gesetzt werden könnte. 
Ganz abgesehen von den neuen Vorstellungen über die Ernährungs- 
physiologie der aquatischen Tierwelt, welche Pütter hierauf be- 
gründet, ist es ja allerdings ziemlich wahrscheinlich, daß eine 
Korrelation zwischen der produzierenden Fläche und der Entwick- 
lung der Tierwelt vorhanden sein muß. Pütter hat dies u. a. 
durch eine auf Grund von Lohmann’s Untersuchungen ım Meer 
bei Kıel®) berechnete Tabelle gezeigt, woraus es sich allerdings 
ergibt, daß die produzierende Fläche ım allgemeinen beträchtlich 
die konsumierende übertrifft, und daß nur ın Ausnahmefällen eine 
direkte Proportionalität festgestellt werden könnte. 

Die von Pütter (l. e. 1909, S. 133) mitgeteilte Tabelle. ist 
indessen als Vergleichsmaterial zu den Verhältnissen in Süßwasser 
bei eintretender Vegetationsfärbung von einem beträchtlichen In- 
teresse. Einige Hinweise hierauf sind deshalb hier am Platze. 

Sehen wir zuerst die produzierende Fläche an, so ergibt 
sich, daß dieselbe in dem untersuchten Meeresteil niemals über 
einen Wert von ca. 55000 qmm pro 1001 steigt; das Minimum liegt 
sogar bei nur etwa 1500 qmm pro 100 1. Vergleichen wir diese 
Werte mit den für unsere Teichgewässer von uns nachgewiesenen, 
so ergibt sich — vgl. die Tabelle S. 339 — daß nur die kleinsten 
unserer alltäglichen Produktionen eine Reaktionsfläche 
dieser relativ unbedeutlichen Größe aufzuweisen haben. 
Beim Eintreten der vegetationsfärbenden Hochproduktionen steigt 
sie aber gewaltig. So liegt sie schon bei einer an und für sich 
so geringen Produktion wie die des Größentypus von 10 u auf 
5000 pro cem bei dem 3fachen des mit dem angeführten Meeres- 
teil beobachteten Maximums, für eine übermäßige Hochproduktion 
wie die der Frequenz 10000000 pro ecm aber bei dem’ 4000 fachen 
dieser Zahl u. s. w. 


‘) Pütter, H., Die Ernährung der Wassertiere und der Stoffhausbalt der 
(tewässer. Jena 1909. 
S) Wiss. Meeresunters, N. F., Bd. 10, Kiel 1908. ‚& 








- E. Naumann, Beiträge zur Kenntnis des Teichnannoplanktons. 341 


Es fragt sich aber nun, inwieweit diese Steigerung der 
produktiven Fläche mit der Entwicklung der Tierwelt 
korreliert. Wıe Pütter nachgewiesen hat, kann jedenfalls eine 
direkte Proportionalität zwischen der produktiven und der konsu- 
mierenden Fläche existieren. Gehen wir von dieser Annahme 
aus um einige jedenfalls unter sich vergleichbare Haltepunkte in 
dieser a zu gewinnen. 

Eine piuduktive Fläche des Typus 55000 qmm pro 1001 wird 
somit einer konsumierenden von derselben Größe gleich ange- 
nommen. Oder, um ein konkretes Beispiel zu nehmen, sie ent- 
spricht z. B. einer Frequenz von etwa 10000 größeren Kopepoden 
— d. h. 1 Exemplar für jeden !/,, eem. Dies sollte somit unge- 
fähr der Minimalproduktion eines nieht besonders nahrungsreichen 
Teichwassers entsprechen, was tatsächlich auch der Fall sein dürfte. 
Nehmen wir danach, wie oben, ein zweites Beispiel im Bereich der 
vegetationsführenden Hochproduktionen der Gruppe A unserer 
Tabelle und zwar wie früher der Frequenz 50000 auf 1 ccm — was 
z. B. für eine vegetationsfärbende Ohlamydomonas-Assoziation 
als ein Minimalwert bezeichnet werden kann — entsprechen, so 
sollte ja diese Fläche a 1575000 qmm pro 100 1 als tierisches 
Äquivalent nicht weniger als 315000 größere Zooplanktonformen — 
d.h. 3 pro cem! — geben. Derartige Hochproduktionen 
aus Tieren sind tatsächlich auch in einem sozusagen mäßıg 
vegetationsgefärbten Teichwasser oft genug anzutreffen. 
Soweit entspricht gewiß die zunehmende Produktionsfläche auch 
einer überhaupt gesteigerten Produktion des Gesamtwassers. 

Gehen wir Br nun weiter im Bereich der von mir als Über- 
produktionen bezeichneten und der Gruppe B der Tabelle ein- 
gereihten Produktionstypen. Ein hier oft beobachtetes Maxımum 
ist das der Produktionsfläche auf 78000000 qmm pro 100 1. Theo- 
retisch entspricht dies einem Tieräquivalent auf etwa 15000000 — 
d. h. etwa 150 pro cem! Das ist ein höchst erstaunliches Er- 
gebnis, das ungeahnte Möglichkeiten für den Aufschwung der 
Teichwirtschaft zu bedeuten scheint. Aber ın der Natur liegen 
die Verhältnisse ganz anders als es hier rechnerisch ermittelt wurde. 
Es hat sich nämlich bei meinen experimentellen Untersuckungen über 
die Vegetationsfärbungen kleinster Wasseransammlungen gezeigt, 
daß dieÜberproduktion an pflanzlichem Nannoplankton 
stets mıt einem Rückgang der höheren Tierwelt des 
Planktons verbunden ıst ın den Fällen, wo man theore- 
tisch ihre höchste Entwicklung erwarten sollte. Dies geht 
soweit, daß die pelagische Tierwelt eben bis auf ein äußer- 
stes Minimum, ja bisweilen sogar auf Null reduziert 
wird. Wie in dem folgenden näher gezeigt werden soll, dürfte 
dies nicht nur aus den ursprünglichen chemischen Verhältnissen 


Hin 


et 


349 E. Naumann, Beiträge zur Kenntnis des Teichnannoplanktons. 


des Wassers erklärt werden können, sondern scheint vielmehr direkt 
bezw. indirekt von der all zu üppigen Entwicklung der Algen ab- 
hängen. Die Überproduktion an Algen wirkt somit auf 
das höhere Zooplankton gerade produktionshemmend ein. 

Es ergibt sich somit hieraus, daß die Korrelation zwischen der 
Entwicklung der Produktionsfläche und der Entwicklung der Tier- 
welt in Bereich der geringeren Produktionen bezw. der mäßigen 
Hochproduktionen eine (vielleicht ganz) direkte Proportionalität 
aufzuweisen hat, während sie beim Eintreten der Überproduktion 
ganz gleitend in eine umgekehrte umschlägt. Selbstverständlich 
sind’ diese Verhältnisse auch für die Praxis der Teichwirtschaft 
von einer hervorragenden Bedeutung. Es gilt ja nämlich hier 
zwischen Produktion und Überprodaktion mit Rücksicht auf die 
Urnahrung des Wassers den „goldenen Mittelweg“ zu betreten, um 
mit dem geringsten Aufwand von Dungstoffen Sn besten Effekt 
zu en Wahrscheinlich ist aber hier — in beiderlei Richtung 
— vieles gesündigt worden. Die angewandte Biologie hat gewiß 
auf diesem Gebiet große Werte zu schützen. 


2. Einige Gesichtspunkte betreffs der Ernährungsverhältnisse 
des Zooplanktons. 


Die alte Auffassung — die übrigens noch die gangbare ıst — 
sieht bekanntlich ohne weiteres in den Algen und Flagellaten die 
direkte Urnahrung des Wassers. Die Produzenten werden somit 
von den Konsumenten ganz einfach verzehrt, digeriert und ausge- 
nutzt. Das ganze Problem der gegenseitigen Verhältnisse dieser 
rn. Typen sollte somit einfach durch eine 
Berechnung der im Organısmenkörper produzierten organischen 
Substanz ae werden können: somit ein reines Gewicht- 
Problem. a 

Pütter war der erste, der gegen diese beim ersten Anblick 
allerdings doch so ziemlich plausibel erscheinende Auffassung einen 
Einwand erhob. Von rein theoretischen Gesichtspunkten wies er 
nach, daß es den Produzenten überhaupt niemals ermöglicht werden 
könnte, ın dieser Weise die Anforderungen der Produktion zu 
decken. Die alte Auffassung könnte somit nicht richtig sein. 
Pütter versuchte es deshalb auch, eine neue ernährungsphysiolo- 
gische Theorie der Wasserorganismen zu begründen®), die besser 
den tatsächlichen Verhältnissen entsprechen sollte. Nach Pütter 
ist die ganze Frage als ein Problem der reagierenden Ober- 
fläche zu betrachten, und die Hauptpunkte seiner Theorie dürften 


9) Vgl. vor allem seine oben angeführte zusammenfassende Darstellung aus 
dem Jahre 1909, 












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'E. Naumann, Beiträge zur Kenntnis des Teichnannoplanktons. 343 


folgendermaßen kurz resumiert werden können: Die Produktion 
auf wirksame Oberfläche bezogen ıst der Konsumtion direkt pro- 
portional; die Produzenten übergeben gelöste organische Stoffe 
— ihre Assımilate — dem Wasser; die Nahrung der Tierwelt 
erfolgt vor allem durch eine Resorption gelöster organischer Stoffe 
durch die Oberfläche. 

Diese Theorie bricht ja völlig mit einigen der anscheinend 
meist wohlbegründeten Sätzen der Physiologie. Sie ist deshalb 
auch Gegenstand eines sehr lebhaften Streits gewesen, der wohl 
auch noch nicht als erledigt betrachtet werden kann !P). 

Das ohne weiteres herausfordernde Moment der Pütter’schen 
Theorie liegt selbstverständlich ın ıhrer Auffassung über die Er- 
nährung der Wassertiere durch eine Resorption gelöster Stoffe 
durch die Haut. Tatsächlich scheint dies auch von den Gesichts- 
punkten der komparativen Anatomie sehr wenig begründet. 
Es ist indessen u. E. sehr zu bedauern, daß die Kritik sıch hierbei 
gar zu viel aufgehalten hat, was gewiß ein sonst unbefangenes Be- 
urteilen der Gesamttheorie sehr beeinträchtigt hat. 

Gesetzt aber, daß diese Annahme wirklich als falsch zu be- 
trachten ist, wird dies dann die prinzipielle Bedeutung der Pütter’- 
schen Theorie bedenklich erschüttern ? Selbstverständlich in diesem 
Punkt. Aber in den andern? Kaum. Unter allen Umständen 
bleibt sein Verdienst, die Unzulänglichkeit der- Nahrung im alten 
Sinne in rein theoretischer Weise: nachgewiesen zu haben, immer 
bestehen. Wo sind aber die neuen Nährquellen, und wıe werden 
sie ausgenutzt? 

In einer früheren Arbeit!!) habe ich schon einigen der hierher- 
gehörigen Fragen eine eingehende Auseinandersetzung gewidmet. 
Vor allem wurde dabei die Frage über die Ausnützung der Nähr- 
algen in experimenteller Weise behandelt. Sıe zeigte sich fast 
überhaupt als sehr minimal, — einzelne Gruppen, die aber 
nicht in jedem Wasser auftreten, allerdings ausgenommen. An der 
Unzulänglichkeit der gebotenen Nahrung im alten Sinne ist: deshalb 
sehr oft nicht zu zweifeln. Als eine neue, und gewiß weit mehr 
ausgiebige, bisher aber von den Planktologen eigentlich völlig über- 
sehene Nahrungsquelle wurde aber auf den feinsten, überall m dem 
Wasser vorhandenen Detritus hingewiesen. Er ist teils limnoalloch- 
thon, teils aber im Wasser selbst — vor allem von den Algen — 
produziert und demnach autochthon. { 


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10) Eine Zusammenstellung ist von H. Lipschütz gegeben unter dem Titel: 
Die Ernährung der Wassertiere durch die gelösten organischen Verbindungen der 
Gewässer. Eine Kritik. — Erg. der Physiologie, Wiesbaden 1913. 

11) E. Naumann, Über die Ernährungsverhältnisse des tierischen Limno- 
planktons. Ein Beitrag zur Kenntnis des Stoffhaushalts im Süßwasser. — Lunds 
Universität. Jahresschrift 1918. 


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J. 
344 E. Naumann, Beiträge zur Kenntnis des Teichnannoplanktons. 


Und hier möchte ich nun an Pütter anknüpfen. Gewiß rührt 
nämlich dieser letztgenannte Detritus nicht nur von den Überresten, 
abgestorbener Algenzellen her. Es muß vielmehr als sehr 
wahrscheinlich betrachtet werden, daß ein beträcht- 
licher Teil desselben auch von den von der produzieren- 
den Fläche der Algen und Flagellaten ausgeschiedenen 
Assimilaten herrührt, indem sie später im Wasser in- 
folge chemischer Vorgänge ausgeflockt werden und somit 
in eine Form übergeführt werden, die mit Sicherheit von dem 
höheren Zooplankton ausgenützt werden kann. Mit einer derartigen 
Erweiterung dürfte sich u. E. auch die Pütter’sche Theorie viel 
besser als früher in Übereinstimmung mit sonstigen Tatsachen 
bringen lassen. Und, ich möchte es nochmals hervorheben, in ihren 
wichtigsten prinzipiellen Grundlagen wird dadurch die Theorie 
m. E. kaum beeinträchtigt. Die von Pütter rechnerisch erwiesene 
Unzulänglichkeit der Nahrung im alten Sinne ist vielmehr experi- 
mentell noch mehr pointiert worden, nur die Weise, worin die 
Produktion wahrscheinlich der Konsumtion zugute kommt, ist einer 
Revision in Übereinstimmung mit den tatsächlichen Befunden der 
komparativen Anatomie und Physiologie unterzogen worden. Auch 
experimentelle Erfahrungen — die ich wiederum bei meinen Ar- 
beiten mit den vegetationsgefärbten Kleingewässern gemacht habe 
und die in dem folgenden kurz angedeutet werden sollen — sprechen 
aber für das Berechtigte dieser Revision der vorliegenden Theorie. 


3 Die Reaktionsfläche der Urnahrung als Exkretproduzent. 


Eigentlich sind wir schon durch die soeben vorgeführten Aus- 
eimandersetzungen gerade an diesen Punkt gelangt. Denn wenn 
die Produktion den Anforderungen der Konsumtion als Nahrung 
nicht in einer direkten Weise entsprechen kann, so ist dies selbst- 
verständlich auch nicht durch einen Detritus, der nur durch ıhr 
Kollabieren hervorgeht, ermöglicht. Wır müssen deshalb hier ge- 
wiß mit einer exkretorischen Tätigkeit der produzierenden Fläche 
rechnen. Sie dürfte von den Gesichtspunkten der Nützlich- 
keit in zweierlei Weise näher beurteilt werden können: einerseits 
von dem Standpunkt der Pflanze selbst, anderseits von dem der 
Tierwelt. 

Pütter hat selbstverständlich besonders auf den letztgenannten 
Fall hingewiesen. Der erstgenannte ist allen fast völlig unbeachtet 
geblieben. Er ist aber wahrscheinlich nichtsdestoweniger von einer 
hervorragenden ökologischen Bedeutung. Wenn nämlich die 


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Pflanze ausnutzbare Nährstoffe — und zwar vor allem Kohlen- 
hydrate — an. das Wasser abgibt, so muß ja daraus ein 


mehr oder minder eingreifender biochemischer Milieu- 
wechsel resultieren, der selbstverständlich eben in den vege- 








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E. Naumann, Beiträge zur Kenntnis des Teichnannoplanktons. 345 


-tationsgefärbten Wasser mit der dort vorhandenen großen Pro- 
duktionsfläche ein Maximum erreichen muß. Es liegt ohne weiteres 
auf der Hand, welch eine große Bedeutung dies vor allem für das 
Bakterienleben des Wassers darstellen muß. Nicht nur quantı- 
tatıv muß es eine beträchtliche Steigerung aufweisen können, son- 
dern dazu gewiß auch in einer qualitativ spezialisierten Form 
— man denke z. B. nur an die stickstoffsammelnden Bakterien, die in 
einem elektrolytenreicheren Gewässer bekanntlich beim Vorhanden- 
sein von Kohlenhydraten stets wuchern! —, die wiederum den Ur- 
produktionen zugute kommen kann. Auf Grund derartiger Ver- 
hältnisse dürfte man wohl berechtigt sein, von einer sehr kompli- 
zierten gegenseitigen Abhängigkeit der verschiedenen Assoziationen 
dieser Biocönosen zu sprechen. — Was aber diese exkretorische 
Wirksamkeit der produzierenden Fläche im übrigen für das Leben 
der in Hochproduktion stehenden Pflanzenwelt bedeutet, läßt sich 
allerdings noch nicht näher auseinandersetzen. Vielleicht legt 
aber hier auch die Lösung des Rätsels, daß so viele Hochproduk- 
tionen eine ausgesprochene Speziesreinheit längere Zeiten hindurch 
aufweisen können: vielleicht hängt es auch hiervon ab aller- 
dings neben einer Reihe anderer Verhältnisse —, daß die Über- 
produktion der produzierenden Fläche nicht mit einer dement- 
sprechenden Produktion an höheres Tierplankton korreliert. Hier 
müßte es sich dann allerdings z. T. um ganz spezialisierte Exkret- 
stoffe handeln, um die Alleinherrschaft der Algen im Wasser zu 
sichern. 


Auf Grund des Gesagten ist somit die Exkretion 
auch von den als Nährstoffe brauchbaren Verbindungen 
als für die Pflanze unbedingt nützlich anzusehen. Es 
ist dann später eine ganz andere Frage, daß sie auch der 
Tierwelt zugute kommen. Daß die Menge derselben mit der 
produzierenden Oberfläche steigt, muß als eine erwiesene Tatsache 
gelten; und daß dies z. T. eben von der Tätigkeit der pflanzlichen 
Oberfläche als Produzent verwertbarer Exkrete abhängen muß, geht 
ohne weiteres aus der in geeigneten Versuchen erwiesenen Unzu- 
länglichkeit der Algennahrung au und für sich hervor, Da nun 
diese Exkrete gewiß zum großen Teil in dem Wasser ausgeflockt 
werden, so muß selbstverständlich auch der Gehalt an dem staub- 
‘feinen Detritus in Proportion mit der vorhandenen Produktions- 
fläche zunehmen. Leider ist der Nachweis dieser Körper sehr schwer 
in einer quantitativen Weise zu erbringen. Ich bin aber eben 
. mit den Vorarbeiten hierzu beschäftigt. Rein qualitativ kann 
aber der Gehalt verschiedener Gewässer an dem aktuellen, viel- 
leicht z. T. auch potentiellen staubfeinen Detritus nach meinen 
Erfahrungen sehr einfach z. B. durch das Hinzufügen von etwas 
in destilliertem Wasser gelöstem Gentianaviollet demonstriert wer- 





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unsere Augen treten. 





346 K. Toldt jun., Neuere Arbeiten über das Integument des Flußpferdes. 


den können. Der staubfeine Detritus tritt dann beim Beobachten 
einer dirckt geschöpften Wasserprobe in einer geeigneten Kammer 
als intensiv gefärbte, oft feın granulierte Flöckehen von denı Aus- 
sehen koagulierender Kolloide hervor. Man kann sich in dieser 
Weise leicht von dem verschiedenen Gehalt der Gewässer an diesem 


staubfeinen Detritus überzeugen. Daß dies hierbei eben in den vege- 


tationsgefärbten Gewässern den schärfsten Ausschlag geben wird, 
ıst nach dem oben Angeführten ja nur was man theoretisch er- 
warten könnte. Es existiert somitinnerhalb gewisser Gren- 
zen eine ganz auffallende Proportionalität zwischen pro- 
duktiver Fläche, Gehalt des Wassers an staubfeinem 
Detritus und der Frequenz der höheren planktonischen 
Tierwelt. Vor allem bieten aber die vegetationsgefärbten Gewässer 
in diesen Beziehungen hierzu lehrreiche Beispiele und eben in dem 
Stadium der Hochproduktion dürfte das produktionsbiologische 
Problem der Limnologie ın seiner schärfsten Gestaltung vor 


* 


Die oben angeführten Gesichtspunkte zum Beurteilen des bio- 
logischen Effekts der vegetationsfärbenden Hochproduktionen bezw. 
die allgemein-limnologischen Fragen. deren Entwicklung u. E. von 
einer derartigen Auseinandersetzung gefördert werden könnten, 
müßten wir hier ailerdings in erster Linie in einer rein theore- 
retischen Weise behandeln. Schon hierdurch dürfte indessen mehreres 
an Klarheit gewonnen haben, wenn auch das hier Dargestellte in 
mehreren Hinsichten sich diskutieren läßt. Selbstverständlich kann 
auch nur eine experimentelle Forschung auf diese überhaupt sehr 
neue Frage die endgültige Beantwortung geben. Ich bin deshalb 
auch seit einiger Zeit mit derartigen Arbeiten ın der hier ange- 
zeigten Richtung beschäftigt und hoffe deshalb, auch selbst einmal 
das hier theoretisch Entwickelte durch das empirisch Gefundene er- 
setzen zu können. 

Lund, Bot. Inst. d. Universität, im Dezember 1918. 


Neuere Arbeiten über das Integument des Flufspferdes. 
Von K. Toldt jun., Wien. 


In der Menagerie zu Schönbrunn befindet sich seit mehreren 
Jahren eine Anzahl Flußpferde (Hippopotamus amphibius L.), die 
dank der Fürsorge der Menagerieverwaltung vorzüglich gedeihen 
und bereits zweimal eine erfolgreiche Aufzucht aufzuweisen haben. 
Das gelingt in den Tiergärten nur selten, obgleich Geburten von 
Flußpferden verhältnismäßig häufig stattfinden. Die Jungen gehen 





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 K. Toldt jun., Neuere Arbeiten über das Integument des Flußpferdes.. 347 


aber meistens*sofort oder nach wenigen Tagen ein. Auch bei den 
Schönbrunner Flußpferden wurde einmal nach einem unbeobachteten 
Wurf ein reifes Neugeborenes tot aufgefunden und ein anderes 
Mal kam es zu einer frühzeitigen Totgeburt. Beide Früchte dieses 
infolge der vornehmlich amphibiotischen Lebensweise besonders 
interessanten Säugetiers wurden zwecks eingehender morphologisch- 
anatomischer Studien konserviert. Bis jetzt liegen einige Arbeiten 
über die äußere Körperform und namentlich über die Haut abge- 
schlossen vor; die makroskopischen Untersuchungen wurden vom 
Berichterstatter!), die mikroskopischen von S. v. Schumacher 
(Innsbruck)?) ausgeführt. Nachstehend seien die wichtigsten Be- 
funde, insoweit sie sich auf bisher wenig bekannte Verhältnisse be- 
ziehen oder von biologischem Interesse sind, kurz zusammengefaßt. 

Das Frühgeborene, das einen normal gebildeten Fetus dar- 
stellt, ıst ungefähr um die Hälfte Jünger (4'/, Monate alt) als das 
Neugeborene (Trächtigkeitsdauer beim Flußpferde etwa 8 Monate) 
und auch annähernd halb so groß wie dieses (Scheitel-Steißlänge 
40 bezw. 84 cm). Beide sind d. 

Der Fetus zeigt bereits im allgemeinen den äußeren Habitus 
des Erwachsenen. Von einzelnen Formdetails seien zunächst die 
der Lippen erwähnt... Diese haben beim Flußpferd wie bei anderen 
wasserbewohnenden Säugetieren (namentlich bei den Sirenen) eine 
auffällige, spezifische Form, die ein besonders festes Aneinander- 
schließen ihrer harten Ränder ermöglicht und zum dichten Abschluß 
der Mundhöhle unter dem Wasser und zum Ergreifen der aus 
Wasserpflanzen bestehenden Nahrung geeignet erscheint. Beim 
Fetus ist diese feste Abschlußmöglichkeit noch nicht vollkommen 
erreicht, da die Wangenteile der Unterlippe vom Kinnteil derselben 
jederseits durch einen scharfen Einschnitt abgegrenzt sind; dieser 
dürfte, worauf Herr Prof. Friedenthal privatim aufmerksam 
machte, mit der bereits ın diesem Stadium hohen Lage der Mund- 
winkel in Beziehung stehen. Beim Neonatus haben sıch die einzelnen 
Unterlippenteile bereits zu einem dem Oberlippenrand entsprechenden 
kontinuierlichen Rand vereinigt; strukturell sind sie aber noch er- 
kennbar. — Die Penisscheide öffnet sich nach hinten, bekanntlich. 

1) K. Toldt jun., Äußerliche Untersuchung eines neugebornen Hippopotamus 
anıphibius L. mit besonderer Berücksichtigung des Integuments und Bemerkungen 
über die fetalen Formen der Zehenspitzenbekleidung bei Säugetieren. Denkschr. 
Akad. Wissensch. Wien, 92. Bd., S. 653— 707, 1915. 

Derselbe. Bemerkungen über einen Fetus von Hippopotamus amphibius L. 
und über einen 9 Monate alten Zlephas maxin.us L. Zool. Anz. Bd. 50, S. 65—91, 1918. 

2) Siegmund von Schumacher, Über eigentümliche Verhältnisse an den 
Venen der Ohrmuschel eines neugebornen Nilpferdes. Anat. Anz. Bd. 49,S.72—81,1916. 

Derselbe. Histologische Untersuchung der äußeren Haut eines neugebornen 
Hippopotamus amyphibiusL. Denkschr. Akad. Wissensch. Wien, 94. Bd.,S.1—52, 1917. 


Derselbe. Bau der äußeren Hant eines Fetusvon Hippopotamus amphibius L. 
Anat. Anz. Bd. 51, S. 165—173, 1918. 


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348 K. Toldt jun., Neuere Arbeiten über das Integument des Flußpferdes. 


ein bei den Säugetieren primitiver Zustand. Die’ Hoden liegen 
subintegumental. An der Basis der Penisscheide befindet sich jeder- 
seits eine rudimentäre aber deutlich erkennbare Zitze. Beim Fetus 
liegt außerdem nahe vor diesem Zitzenpaar noch ein zweites, 
schwächeres. - Eine ähnliche Lage der Zitzen ım Bereiche des Penis 
kommt z. B. auch beim Nashornhengst, bei manchen Cetaceen, beim 
Esel und Maultier vor, bei g' Pferdeembryonen sind sie sogar nahe 
an den Rand des Präputiums verlegt. Beim g Rind, beim Schaf 
und Ziegenbock, bei g Hirschfeten sowie bei einigen Marsupialiern 
liegen die Zitzen nahe der Basis des Skrotums. Derartige, zunächst 
im Vergleich zur Zitzenlage bei den 9 bemerkenswerte Verhältnisse 
wurden in der zahlreichen Literatur über den Mammarapparat bisher 
wenig beachtet. — Die Nabelschnur ist beim Flußpferd wie z. B. 
auch beim Pferd, Rind, Hirsch u. a. mit für die einzelnen Arten 
charakteristisch geformten epithelialen Wucherungen bedeckt. Beim 
Flußpferd (vgl. bes. Keibel) sind sie von kugelförmiger Gestalt 
und von verschiedener Größe, beim Neugeborenen aber durch- 
schnittlich nicht größer als beim Fetus. — Bei letzterem befindet 
sich am Ende des kurzen, ım apikalen Teil seitlich kompressen 
Plätscherschwanzes ein kleines Schwanzfadenrudiment, eine Bildung, 
wie sie bei verschiedenen Säugetieren vorkommt und auf eine Reduktion 
des Schwanzes hin weist (vgl. bes. Bonnet, Anat. Anz. Ill, 1888). — Die 
Hufe zeigen in diesen Entwicklungsstadien eine eigenartige, wesent- 
lich andere Form als die des erwachsenen Tieres. In mehr weniger 
auffallender Weise kommt dies auch in der Entwicklung der anderen 
Säugetiere vor, ist aber bisher noch wenig bekannt. An Stelle des 
definitiven Hufes findet sich zunächst eine mit mehr weniger ver- 
hornten Lederhautpapillen (Hornsäulchen) durchsetzte Masse, die 
den ersten Epithellagen der Körperhaut (dem Epitrichium) ent- 
spricht und der Zehe im weiteren Entwicklungsverlauf ein be- 
trächtlich verlängertes Aussehen gibt. Dieser als Schutz für 
die Embryonalhüllen angesehene Erstlingshuf hat beim Fluß- 
pferdfetus eine birnförmige Gestalt mit nach vorne umge- 
bogener Spitze. In seinem Innern bildet sich, von dem Zehen- 
endglied ausgehend und apikal fortwachsend, der definitive Huf; 
dieser schiebt dabei die Hauptmasse des Peronychiums vor sich 
hin. Die Hufe des Neugeborenen erscheinen sehr lang, weil die 
definitive Hufform nun bereits ausgebildet, aber noch vom Perony- 
chium bedeckt ist. Dieses wird bald nach der Geburt abgestoßen. 

Die Körperhaut des Flußpferdes hat bereits M. Weber ım 
Jahre 1586 eingehend behandelt; die hier zu besprechenden Arbeiten 
ergaben auf Grund günstigen Materials weitere interessante Be- 
funde. Die kräftigen und annähernd konstanten Faltenbildungen 
namentlich am Nacken und Hals des Erwachsenen, welche z. T. 
durch Bewegungen des Tieres, z. T. durch die Formbeschaffenheit 









5 


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K. Toldt jun, Neuere Arbeiten über das Integument des Flußpferdes. 349 


der darunter befindlichen Weichteile bedingt werden, sind im all- 
gemeinen bereits beim Fetus vorhanden und zeigen im Zusammen- 
hang mit den Verhältnissen beim Neugeborenen die Art ihrer all- 
mählichen Ausbildung und ihrer mechanischen Beanspruchung. Außer- 
dem befinden sich beim Neugeborenen allenthalben an der Haut- 
oberfläche Runzelbildungen, die stellenweise regelmäßige Ornamente 
bilden und größtenteils’ gleichfalls auf Körperbewegungen zurück- 
zuführen sind. Beim Fetus sind sie noch nieht vorhanden, da die 
Haut noch wenig gefestigt erscheint. Anderseits sind sie beim 
Erwachsenen nicht so deutlich wie beim Neugeborenen, weil sie 
durch die starke Oberflächenverhornung der Haut mehr weniger 
verwischt werden; beim Neonatus ist die Hornschicht dagegen, ab- 
gesehen vom mittleren Teile der Sohlen, noch nicht ausgebildet. 
Das frühzeitige Auftreten der Bewegungsfalten und -runzeln in der 
ÖOntogenie spricht, wie es auch bezüglich der Fußsohlenhaut des 
Menschen, für gewisse Furchenbildungen der Elefantenhaut u. s. f. 
gilt, dafür, daß sie bereits erblich fixiert sind. — Die hauptsächlich die 
große Stärke und Dicke der Flußpferdhaut bedingende Lederhaut zeigt 
ähnlich wie bei Manatus in ihrem größten Anteil eine so regelmäßige 
Durchflechtung der Faserbündel. daß sie in dieser Beziehung einem 
künstlichen Gewebe kaum nachsteht. — Bezüglich der vornehmlich 
auf das Wasserleben zurückzuführenden Spärlichkeit der Behaarung 
läßt eine Stelle jederseits im Mundwinkel, wo noch feine Härchen 
mit stärkeren untermischt dicht beisammen stehen, erkennen, wie 
die Reduktion des Haarkleides allmählich vor sich gegangen ist. 
Die im Mundwinkel von den Wasserströmungen geschützte dichte 
Behaarung löst sich beim Übertritt auf die freie Wange zunächst 
in größere, dann in kleinere Haargruppen auf und schließlich 
bleiben nur die einzelnen verhältnismäßig weit voneinander stehenden 
Haare erhalten, ein Zustand, wie er auch an der übrigen Körper- 
haut besteht. Diese Haare sind beim neugeborenen Flußpferd nicht 
einfache Fellhaare (ohne Blutsinusse im Balge), wie sie am Lande 
hauptsächlich als Wärmeschutz dienen, sondern, wie bereits Weber 
feststellte, Haare mit mehr weniger deutlich entwickelten Blut- 
räumen, also Tasthaare. Das wurde in neuerer Zeit auch für die 
wasserbewohnenden Üetaceen und Sirenen nachgewiesen; gleich- 
zeitig fehlen die Talgdrüsen oder sind (bei den Sirenen) eine rudi- 
mentäre vorübergehende Erscheinung in der Entwicklung. Beim 
Flußpferdfetus sind diese Haare noch nicht sinuös. Als eine Folge 
des Ausfalles der Schutzhaare dürfte, wıe auch beim Elefanten, bei 
den Cetaceen, Sirenen u. a., die mächtige Ausbildung der Epidermis 
anzusehen sein. Zu ihrer Ernährung und zum besseren Zusammen- 
halt mit der Lederhaut, dem auch infolge der Mangelhaftigkeit der 
Behaarung ein wesentlicher Faktor abgeht, sind die Lederhaut- 
‚papillen sehr reichlich und lang entwickelt. Ihre Länge steht im 






350 K. Toldt jun., Neuere Arbeiten über das Interument des Flußpferdes. 


direkten Verhältnis zur Dicke der Epidermis. An Stelle der sonst 
hauptsächlich als Pigmentspeicher dienenden dichten Behaarung 
ist, wie z. T. auch bei den eben genannten Tieren, die Epidermis 
reich pigmentiert. — Bezüglich det Behaarung sei noch bemerkt, 
daß die zahlreichen kräftigen Haare an dem auffallend breiten 
(hohen), größtenteils nach vorne gerichteten Oberlippenteil zwischen 
Nasenregion und Oberlippenrand bei genauerer Betrachtung eine 
streng bilateral-symmetrische Anordnung zeigen, ein Beweis, daß 
dieser Behaarungsbereich den Oberlippenvibrissenfeldern anderer 
Säugetiere entspricht; das kommt hier nur infolge der eigenartigen 
Lippenform nicht deutlich zum Ausdruck. — Eine weitere An- 
passung an das Wasserleben bedeuten die unabhängig von den 


Haaren allenthalben am Körper verstreuten Hautdrüsen, die früher 


vielfach als „blutschwitzende“ Schweißdrüsen gedeutet wurden. Es 
handelt sich hier um eine für die äußere Haut ganz neue Drüsen- 
form vom Bau der mukösen Speicheldrüsen, wie sie sonst nur an 
Schleimhäuten vorkommen. Bei dem vorzugsweisen Aufenthalt des 
Flußpferdes im Wasser ist eine Schweißsekretion überflüssig ge- 
worden und statt ihrer wird von den genannten eigenartigen Drüsen 
ein rotes, schleimiges Sekret ausgeschieden, das die Haut vermut- 
lich vor dem wechselnden Einfluß von Wasser und Luft schützt 
(vgl. a. Weber). — Gegenüber diesen an das Wasserleben ange- 
paßten Verhältnissen der allgemeinen Körperhaut hat die Haut der 
Ohrmuscheln bemerkenswerterweise den Charakter der Haut von 
Landbewohnern noch nahezu bewahrt. Denn hier kommen auch 
Knäueldrüsen (Schweißdrüsen) und Fellhaare mit Talgdrüsen 
vor; an der schwach behaarten Außenseite fehlen: die Schleim- 
drüsen. Außerdem finden sich noch um die Basis der Ohr- 
muscheln herum Haargruppen. Diese Unterschiede gegenüber 
der allgemeinen Körperhaut sind vielleicht darauf zurückzu- 
führen, daß das Flußpferd im Wasser die Ohrmuscheln ge- 
wöhnlich über den Wasserspjegel herausstehen läßt; die Ein- 
wirkung des Wassers ist daher hier noch nicht recht in Erschei- 
nung getreten. — Außerdem weisen in der Ohrmuschel des Fluß- 
pferdes (in der Nähe des freien Randes) auch die Venen eigen- 
artige Verhältnisse auf, die, wie bei anderen Säugetieren andere 
Einrichtungen daselbst, wohl zur Verhinderung von Stauungen im 
Venensystem dienen. — Die histologische Untersuchung der Fluß- 
pferdhaut gab vielfach auch Gelegenheit zur Stellungnahme gegen- 
über allgemeinen, das Säugetierintegument betreffende Fragen. 
Anschließend sei hier noch erwähnt, daß die Oberfläche der 
Haut der, jungen und erwachsenen Flußpferde in unseren Tier- 
gärten vielfach dunkle Flecke sowie Warzen oder Sprünge mit 
wuchernden Rändern aufweist; über diese Bildungen herrscht, wie 
sich aus der Literatur ergibt, vielfach noch Unklarheit, obgleich 








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K..Toldt jun., Neuere Arbeiten über das Integument des Flußpferdes. 351 


sie von einzelnen Autoren gelegentlich richtig gedeutet wurden. 
In beiden Fällen handelt es sich keineswegs um typische Erschei- 
nungen, sondern in ersterem Falle um lokale Niederschläge des 
roten Sekretes rings um die Mündungen der Schleimdrüsen, ım 
zweiten Falle um pathologische, akanthomähnliche Wucherungen 
der Epidermis ın verschiedenem Ausbildungsgrade. Diese scheinen 
hauptsächlich dann aufzutreten, wenn die Tiere zu wenig Gelegen- 
heit haben, ins Wasser zu gehen, also aus Feuchtigkeitsmangel, 
vermutlich auch durch Unreinlichkeit begünstigt. In solchen Warzen 
wurden Nematoden eingebohrt gefunden; sie dürften nur als sekun- 
däre Eindringlinge an rissigen Stellen der Haut und nicht als die 
Erreger der Wucherungen anzusehen sein, Die Untersuchungen 
über diese Verhältnisse sind noch nicht abgeschlossen. 

Bei dieser Gelegenheit sei noch die eigenartige Anordnung 
der Haare am Rüssel des indischen Elefanten erwähnt, über die 
auch in einer dieser Arbeiten berichtet wurde. Entlang de Ränder 
der Rüsselunterseite stehen die Haare, wie besonders deutlich beim 
Fetus zu sehen ıst, in einer Reihe von einzelnen hintereinander- 
liegenden kleinen Gruppen. Im apıkalen, ın der Ruhe eingerollt 
gehaltenen Teile des Rüssels hört diese Behaarung jedoch auf, 
während die Umgebung des Rüsselendes wieder, und zwar ziemlich 
stark behaart ıst. Das hängt vermutlich damit zusammen, daß der 
apıkale Teil der Küsselunterseite bei der mannıgfachen Betätigung 
des Rüssels als Greiforgan besonders stark ın Anspruch genommen 
ist, weshalb die Haarentwicklung hier unterdrückt wurde und be- 
reits beim Fetus nicht mehr zur Ausbildung gelangt. Vielleicht 
kommt dabei auch der Druck infolge der Einrollung in Betracht. 
Daß anderseits das Rüsselende stark behaart ıst, dürfte darauf 
zurückzuführen sein, daß hier die Tastfunktion von besonderer 
Wichtigkeit ist. 

Von den beiden Flußpferdfrüchten wurden auch Röntgenauf- 
nahmen hergestellt und mit einer solchen eines Elefantenfetus ver- 
glichen. Sie zeigen namentlich den Entwicklungsgrad und die 
topographischen Verhältnisse des Skeletts. Am Elefantenfetus 
fällt besonders auch die noch relatıv beträchtliche Größe der Ge- 
hirnkapsel auf; die Pneumatizıtät des Schädeldaches ist a nicht 
ausgeprägt. 


5 ENTE 


359 F. Heikertinger, Versuche und Freilandforschungen zur Mimikryhypothese. 


Versuche und Freilandforschungen zur 
Mimikryhypothese. 


Von Franz Heikertinger, Wien. 


— 


I. Akuleate Hymenopteren als Spinnenbeute. 


Unter den Fällen von Mimikry ist die „Nachahmung“ von 
stechenden Hautflüglern, von Wespen und Bienen, eine allbekannte 
Erscheinung. Der Giftstachel der akuleaten Hymenopteren gilt als 
gefährliche Walfe, um dessentwillen seine Träger von den Insekten- 
Feinden de werden. Die täuschende Ahnlichkort mit diesen 
enudenen läßt — der Hypothese nach — auch den Bee 
Schutz genießen. 

Es ist selbstverständlich, daß eine een nur dann 
gerechtfertigt sein kann, wenn das nachgeahmte Modell selbst 
Schutz genießt, selbst von den Feinden seiner Sıppe gemieden wird. 
Läßt sich dieser Schutz nicht nachweisen, dann fehlt für eine 
Mimikryannahme die wissenschaftliche Begründung. Läßt sich 
nachweisen, daß die Modelle selbst schutzlos sind und den Feinden 
zur Beute fallen, dann ist die Mimikryannahme als Irrtum erwiesen. 

Ich will ein Kapitel aus dem Problem der schützenden Nach- 
äffung stechender Hautflügler, der Sphekoidie, . wie A. Jacobı 
in seinem zusammenfassenden Werke über die Mimikry !) die Er- 
scheinung genannt hat, herausgreifen und das Verhältnis der stechen- 
den Hautflügler zu den Arachniden untersuchen. Zur Beleuchtung 


der in der zeitgemäßen Biologie gangbaren Anschauungen gebe ich ° 


Jacobı das Wort. 

(S. 81.) „Für die erwachsenen Weibchen dieser Familien (d. 
i. der Aculeata oder Stechimmen, nämlich der Apiden, Vespiden, 
Sphegiden, Pompiliden, Seoluden u. s. w.) kommen als Feinde im 
ganzen nur die Radspmnen und einige wenige Vögel in Betracht; 
erstere wagen sich aber nicht an die ın ıhre Netze geratenen 
heran, sondern lassen sie schleunigst durch Abbeißen von Fäden 
me1).283) 


1) Mimikry und verwandte Erscheinungen. Braunschweig 1913, Fr. 
Vieweg & Sohn. 

2) Vgl. auch F. Doflein, Das Tier als Glied des Naturganzen (Hesse 
und Doflein, Tierbau und Tierleben. Bd.1Il, Leipzig, 1914), S.174: „Wenn 
Tiere in das Netz geraten, welche als Beute für die Spinnen zu groß und stark sind, 
so eilt die Spinne geschäftig herbei und beißt selbst die Fäden ab, in welchen das 
Tier hängen blieb. So beschleunigt sie selber die Befreiung der unwillkommenen 
Beute. Das ist stets der Fall, wenn solehe Insekten in das Netz geraten sind, 
welche über Giftstacheln oder mit Giftdrüsen versehene Beißwerkzeuge verfügen.“ 
Diese Angabe findet sich übrigens bereits bei OÖ. Herman (Ungarns Spinnen- 
fauna. Bd. I, Budapest 1876, S. 78). auch hier aber nur als unbelegte Behaup- 
tung. Eine Schilderung konkreter Einzelfälle fand ich nicht. 





ns 





F. Heikertinger, Versuche und Freilandforschungen- zur Mimikryhypothese. 353 


Über die „wenigen Vögel“ gedenke ich andernorts zu sprechen?). 
Hier mag Jacobi’s Behauptung bezüglich des Benehmens der 
Spinnen gegenüber Stechimmen an Tatsachenmaterial beleuchtet 
werden. 

Die Behauptung ist nicht zutreffend. 

Ich führe im Folgenden Sätze aus einem Buche vor, das einen 
Spinnenkenner, der den Mimikrylehren zustimmend gegenübersteht, 
zum Verfasser hat/®). 

(S. 49.) „Oft kann man hören, wenn eine Wespe oder Biene 
sich im Netze fange, so suche die Spinne die Fäden zu lösen, und 
lasse sie frei. Dem ist aber nicht so. Manchmal töten sie sich 
im wilden Kampfe gegenseitig... Mehr als einmal war ich Zeuge, 
wenn sich eine Wespe gefangen hatte, daß die Spinne den Sıeg 
davontrug; das Schauspiel ıst sehenswert. Das einemal schien 
sich die Spinne der Gefährlichkeit der Lage wohl bewußt zu sein: 
sie hielt sich vorsichtig von beiden Enden der Wespe fern und 
faßte ıhre Beute am Flügel, den sie unten befestigte. Dann näherte 
sie sich dem Körper des Opfers immer mehr, obwohl die Gefangene 
beständig mit ıhrem dolchartigen Stachel drohte. Aber das half 
der Wespe nichts; die Todfeindin kroch wie ein schleichender 
Panther noch näher heran, bis sie ıhre Fänge ım Wespenleib, da 
wo dıe Flügel angewachsen sind, versenken konnte. Von dem 
Gift der überlegenen Feindin gelähmt, gab dıe Wespe nach einigen 
Zuckungen den Kampf auf. Darauf schleppte die Spinne die Wehr- 
lose in den verstecktesten Winkel ihrer Höhlung, um sie dort un- 
gestört verspeisen zu können S 

Soweit Ellis. 


Ein französischer Beobachter, H. du Buysson°), berichtet 
über das Verhalten einer „grosse araignee* — den Namen nennt 
er nicht — folgendes: 

„Eine große Spinne hatte zwischen zwei Gitterpfählen ıhr Netz 
gespannt... Einige Augenblicke später (d. I. nachdem sie eine 


3) Vorläufige Angaben hierüber finden sich in meinen Abhandlungen: Die 
Bienenmimikry von Eristalis. Zeitschr. f. wissensch. Insektenbiologie. Bd. XIV., 
1918, S. 1—5, 73—79. — Die Wespenmimikry der Lepidopteren. (Zugleich 
eine Darstellung des Mimikryproblems im allgemeinen.) Verhandlgn. d. zool.-bot. 
Gesellsch. Wien, 68. Bd., 1918, S. (164)—(194). — Die metöke Myrmekoidie. 
Tatsachenmaterial zur Lösung des Mimikryproblems. Biolog. Zentralbl., Bd. 39, 
1919, 5. 65. — Die Insektennahrung des Grauen Fliegenfängers Musci- 
eapa grisola) im Lichte der Schutzmittelhypothese. Österr. Monatschrift 
f. naturwissensch. Fortbildung. XIV. Jhrg., 1919. 

4) R. A. Ellis, Im Spinnenland. Aus dem Englischen deutsch von 
M. Pannwitz. Verlag d. Deutschen Lehrervereins f Naturkunde (K. G. Lutz). 
Stuttgart 1913. 

5) Les chasses d’une Araignde. Revue scientif. du Bourbonnais. XVII. 
1904, p. 135. 

39. Band. 24 





354 °F. Heikertinger, Versuche und Freilandforschungen zur Mimikryhypothese. 


kleine Fliege ausgesaugt hatte) gab ich ihr eine lebende Biene; 
die Spinne stürzte sich sofort auf sie, aber, bis auf etliche Zenti- 
meter nahe gekommen, hielt sie erachrebkh inne: sie hatte in ihrer 
Gefangenen eine Feindin erkannt, die fähig war, sich mit ihrem furcht- 
baren Stachel zu verteidigen. Nun mußte sie mıt Klugheit handeln. 
Sie wartete einen günstigen Augenblick ab, um die Biene auf dem 
Rücken zu packen und durchbohrte sie mit ıhren Kieferklauen. 
Der Druck veranlaßte das Einfließen des Giftes in die Wunde, die 
verwundete Biene starb augenblicklich. Die Spinne versuchte sie 
in ihren Schlupfwinkel zu schleppen, aber die Beute hatte sich so. 
verstrickt, daß die Fäden sie überall zurückhielten. Die Spinne 
zögerte nicht, die Fäden abzubeißen, kam aber gleich zurück (re- 
viendra), um den Schaden auszubessern.“ 

In dieser gegen Ende etwas unklaren Schilderung ist allerdings 
von einem Abbeißen der Fäden die Rede. Aber dieses Abbeißen 
erfolgte offenbar lediglich zu dem Zwecke, um die Beute loszube- 
kommen und in den Schlupfwinkel schleppen zu können. Der 
Beobachter erwähnt nirgends, daß die Beute aus dem Netz geworfen 
worden wäre — wie dies seitens derselben Spinne mit anderen 
Tieren, einer Baumwanze und einer Raupe, geschah und vom Be- 
riehterstatter ausdrücklich erwähnt wird —, sein „reviendra* besagt 
vielmehr, daß die Spinne —- offenbar nach Deus der Beute 
in ıhrem Schlupfwinkel — „wiedergekehrt*“ 

Ich selbst habe mit Honigbienen, Apis mellifica, und Kreuz- 
spinnen, Araneus diadematus (Epeira diademata) Versuche ange- 
stellt. Nachstehend ein kurzgefaßter Bericht über zwei derselben. 

Mitte September, Spätnachmittag. Eine Kreuzspinne hat an 
einer nischenartig vertieften Mauer ein Netz gesponnen. Ich fange 
eine blütenumschwärmende Biene, betäube sie durch einen schwachen 
Druck (von dem sie sich übrigens bald erholt) und hänge sie der 
Spinne ins Netz. Die Manipulation gelingt nicht sofort und mein 
Hantieren veranlaßt die Spinne zur Flucht an die Mauer. Wie 
die Biene festhängt, jage ich die Spinne zurück. Sie bleibt eine 
kurze Weile ruhig nahe der Biene stehen, dann geht sie auf die 
sich schwach Bewegende zu, berührt sie mit den Vorderbeinen, 
befestigt mit dem Hinterleibe Fäden an ıhr, dreht sie herum, so 
daß die Biene bald in Fäden eingewickelt wie in einer Hängematte 
hängt, stellt sich hochbeinig über die Biene, läßt unablässig das 
breite Bündel Fäden aus ihren Spinnwarzen treten, dreht die Biene 
herum, bis diese einem umsponnenen Bündel ähnelt, schlägt ıhre 
Kiefer in die Biene und beginnt sie auszusaugen. Kein Zeichen 
von Furcht ist im Benehmen-der Spinne, kein Versuch eines Fäden- 
abbeißens und Befreiens der Biene. Die letztere wurde in der- 
selben Weise als Beute behandelt wie etwa eine große Fliege und 
wurde in gewohnter Weise bezwungen. 






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F. Heikertinger, Versuche und Freilandforschungen zur Mimikryhypothese. 355 


Vielleicht war dieser Versuch wenig beweisend, da ja die 
Biene leicht betäubt war. Da es mir an Ort und Stelle nicht ge- 
lang, eine von den unbetäubten, fahrigen Bienen im Netze zu be- 
festigen, nahm ich Kreuzspinnen — und zwar andere Exemplare 
als das in obgeschilderter Beobachtung erwähnte Tier — mit nach 
Hause. Sie spannen in großen Zuchtgläsern Gewebe und wurden 
mit Fliegen ernährt. Nach etlichen Tagen reiche ich einer der 
Spinnen eine eben gefangene Arbeitsbiene. Die Biene, von mir 
mit der Pinzette an einem Hinterbein gehalten, summt laut und 
schlägt mit den Flügeln. Ich fühle die starke Zugluft des Flügel- 
schlags sehr deutlich, sobald ich sie meinem Gesicht nähere. Die 
Spinne weicht vor der ihr genäherten Biene nicht zurück. 
Sie schlägt mit den Vorderbeinen nach ıhr. Ich lasse die Biene 
los. Diese verhängt sich leicht in den Fäden. Im nächsten Augen- 
blicke ist die Spinne auf sie losgestürzt und schlägt ihre Kiefer 
in die Seiten des Thorax der Biene. Die Biene summt, strampelt 
verzweifelt, sucht zu stechen. Doch die Spinne hat sie geschickt so 
gefaßt, daß ihr Hinterleib die Spinne nicht erreichen kann. Ein 


Augenblick genügt, Fäden an der Biene zu befestigen. Die Spinne 


läßt einen breiten Strom derselben aus ihrem Hinterleib quellen. 
Die Bewegungen der Biene werden matter. Nach etwa einer 
Minute läßt die Spinne ihr Opfer los, dreht es mit den Beinen um 
eine wagrechte Achse und wickelt es in die Seide ıhrer Spinndrüsen. 
Nach einer Anzahl von Umdrehungen ist die Biene eine reglose, 
umwickelte Puppe, und die Spinne beginnt sie auszusaugen. 


Um festzustellen, ob dieser Vorgang Regel sei, nehme ich der 
Spinne die Biene, an der sie etwa eine Viertelstunde gesaugt hat, 
sachte weg, nehme eine frische, ebenso ärgerlich summende, flügel- 
schlagende Biene an einem Hinterbein an die Pinzette und reiche 
sie der Spinne. Diese flieht nicht, sondern sucht sich sofort der 
Biene zu bemächtigen. Ich lasse letztere los. Die Spinne faßt 
sie, behängt sie rasch mit Fäden, wobei sie die Biene mit den 
Beinen von. ihrem Leibe entfernt hält. Während der Hinterleib der 
Biene von der Spinne weg nach außen steht, behängt diese ihr 
Opfer unablässig mit Fäden. Dann wickelt sie die hängende Biene 
einige Male herum, wobei der Körper der letzteren stets weit genug 
vom Spinnenleibe entfernt bleibt. Nach etwa zehn Sekunden ist die 
Biene eingehüllt. Nun schlägt die Spinne ihre Kiefer in den Hals- 
schild des Opfers. Die Abwehr der Biene wird schwächer und 
schwächer. Nach etwa fünf Minuten hängt sie regungslos einge- 
hüllt ın Fäden. 

Und wieder nehme ich der Spinne die Biene weg und halte 
ihr eine dritte, frische, summende Biene vor. Sie schlägt ihre 
Kiefer sofort hinter dem Kopf in die Biene, behängt sie mit Fäden, 


948 





356 F. Heikertinger, Versuche und Freilandforschungen zur Mimikryhypothese, 


wirbelt sie etlichemale herum. Nach etwa zehn Sekunden ist auch 
diese Biene ein hilfloser Knäuel, der sich nach etwa einer Minute 
nicht mehr regt und über den sich die Spinne zum Mahle hermacht. 

Das Versuchsergebnis ist beweisend: Ein Tier, dasin einem 
Zeitraum von nicht ganz dreißig Minuten nacheinander 
drei völlig frische Arbeitsbienen mit Leichtigkeit in je 
etwa zehn Sekunden überwältigte, das weder Furcht 
noch besondere Vorsicht, sondern lediglich eine selbst- 
sichere Geschicklichkeit zeigte — ein solches Tier ent- 
spricht in keiner Weise dem Bilde, das uns Jacobi von 
der Immenfurcht der Spinnen zeichnet, ein solches Tier 
kann nicht das Werkzeug der Herausbildung einer aku- 
leatennachahmenden Mimikry durch natürliche Auslese 
gewesen sein. 


Die Abwehr eines möglichen Einwandes sei hier eingeschaltet. 
Es mag bei einem Versuche vorkommen, daß eine Spinne vor einer 
vorgehaltenen Biene oder Wespe die Flucht ergreift. Dieses Er- 
gebnis hat für denjenigen, der Experimente solcher Art öfter durch- 
geführt hat, weder etwas Verwunderliches noch etwas .Beweisendes. 
(ar nicht selten ergreifen nämlich Spinnen aus unerkennbaren Ur- 
sachen die Flucht vor einer ihnen vorgehaltenen Schmeißfliege, ja 
einer kleinen Stubenfliege. Eingezwingerte Versuchstiere sind un- 
berechenbar; sie lehnen aus unerfindlichen Gründen zuweilen Tiere 
ab, dıe erfahrungsgemäß ansonsten ihre Normalnahrung bilden. 

Gleichsinnige Ergebnisse lieferten Beobachtungen und Versuche, 
die mein verehrter Freund Prof. Dr, Josef Fahringer unternahm. 
Seinen Notizen, für deren freundliche Überlassung ich ihm auch 
an dieser Stelle herzlich Dank sage, entnehme ich folgende 
Daten: 

1. Beobachtungen und Versuche mit Araneus diadematus 9, 
durchgeführt vom 2. bis 16. September 1912 bei Melk in Nieder- 
österreich. Die Spinne bewältigte folgende Hymenopteren: 


Apis mellifica 9, 
Bombus lapidarius 9, 
bombus terrester g'9, 
Bombus variabilis 9, 
Vespa silwestris 59, 
Vespa germanica 99, 
Vespa rufa 9, 
Odynerus parietum 9, 
Pompilus viahleus 9. 
Die Auswahl umfaßt u. a. sehr kräftige Tiere (z. B. die Bom- 
bus-Arten). Von besonderem Interesse ist der Fang der Wee- 








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F. Heikertinger, Versuche und Freilandforschungen zur Mimikryhypothese. 357 
wespe Jompilus viaticus, die, selbst ein Spinnentöter‘), der 
Kreuzspinne ins Netz geraten, eingewickelt und ausgesaugt wor- 
den war. 

2. Beobachtungen und Versuche mit Argiope Bruenichüi 9, durch- 
geführt im Juli 1915 bei Pola in Istrien. Die Spinne überwältigte: 

Apis mellifica 9, 
Bombus vartabilis 9, 
Bombus confusus 9, 
bombus agrorum 9, 
Vespa rufa g, 
Polistes gallicus 9. 

3. Beobachtungen an Argiope lobata 9, am 25. August 1916 
beı Pola in Istrien. Die Spinne fing und tötete: 

Vespa crabro d', 
Vespa vulgaris 9. 

Daß eine Spinne ein ins Netz geratenes Hymenopteron durch 

Abbeißen der Fäden befreit hätte, hat der Beobachter nie gesehen, 
obgleich viele der genannten Hautflügler ‚hinsichtlich Größe und 
Kräftigkeit wenig zu wünschen übrig Be 

Auch in der Literatur — in Et ich allerdings nicht mit 
Gründlichkeit eindrang — ist mir ein Fall von Befrdiune eines 
Akuleaten um der Furcht vor seinem Stachel willen nicht aufge- 
stoßen. R. Shelford’) berichtet allerdings über etliche Versuche, 
die er mit der Radspinne Nephila maculata auf Borneo unternahm 
und bei welchen diese Spinne fünf Exemplare der kleinen Biene 
Trigona apicalis und ein Exemplar von Triyona lacteifascia kurzer- 
hand aus dem Netze warf. Aber dieselbe Spinne warf auch unbe- 
stachelte Hemiptera und Lepidoptera aus dem Netz und bewies durch 
längeres Versuchen einer Trig. lacteifascia, daß sie die Bienchen 
nicht fürchtete, sondern daß ihr dieselben aus einem anderen Grunde 
nicht zusagten. 

Die bis nun vorgeführten Tatsachen betrafen Netze bauende 
Spinnen. Man könnte bezüglich dieser geltend machen, diese Spinnen 
besäßen in ihren Netzen und Spinndrüsen, die eine rasche Fesse- 
lung und Wehrlosmachung des gefangenen Opfers ermöglichen, 
wirksame Werkzeuge zur ne = Beute, Werkzeuge, die 
ihnen erlaubten, nah den Kampf mit Seiehonden Hautflüglern 
aufzunehmen. 

Indes lehrt die Erfahrung, daß auch Spinnen, die ohne Netz 
jagen, den Kampf mit Hautflüglern durchaus nicht scheuen, ja daß 
gewisse, insbesonders blütenbewohnende Gruppen sogar der Immen- 





6) Die Pom pilus-Arten versorgen bekanntlich ihre Nachkommenschaft aus- 
schließlich mit stichgelähmten Spinnen. 
7) Trans. Ent. Soc. Lond. 1906, p. LXIV. 





358 F. Heikertinger, Versuche und Freilandforschungen zur Mimikryhypothese. 


und Fliegenjagd angepaßt sind. Ich gebe einem der besten deut- 
schen Spinnenkenner, zugleich einem überzeugtem Verfechter der 
Mimikrylehre, Prof. Friedrich Dahl, das Wort?). | 

(5. 84.) „Als Blütenbesucher spielen die Hymenopteren eine 
wichtige Rolle und da diese z. T. durch einen gefährlichen Gift- 
stachel ausgezeichnet sind, können nur kräftige Spinnen diese ge- 
fährliche Jagd betreiben. Nur Krabbenspinnen sınd es, und zwar 
fast nur Verwandte von Misımena, da besonders die Arten dieser 
Familie an ‚der Unterseite der Vorderbeine mit Reihen kräftiger 
Stacheln versehen sind und deshalb die Fähigkeit besitzen Bienen 
zu bewältigen. Sie wissen den Hinterleib der Biene immer so zu 
halten, daß der Stachel nach außen sticht und den Angreifer nıcht 
LrIEb 

Prof. Fahringer°) schildert den Vorgang einer solchen Jagd, 
die er im Belgrader Wald bei Konstantinopel beobachtete, näher. 

„Bunte Fliegen ..... senken ihre Rüssel in die weißen Blüten 
(von Sambucus ebulus) . .., auf einzelnen dieser Blüten sitzt die 
erbsenkorngroße, weißgefärbte Spinne Thomisus albus, die selbst ein 
scharfes Auge kaum wahrnimmt ... Hier beobachtete ich auch, 
wie diese kleine Spinne eine große, kräftige Pelzbiene (Antophora 
maynilabris) überwältigte. Während die Biene ihren Rüssel in die 
Blüte senkte, faßte die Spinne mit den beiden vorderen Beinen 
den Kopf der Biene und bewegte sich langsam nach rückwärts. 
Die Biene leistete, ohne sich in ihrer Arbeit stören zu lassen, durch 
Anstemmen mit den Beinen Widerstand. Zwischen Kopf und Hals- 
schild wurde, infolge der Anstrengung beider, einen Augenblick 
die zarte weiße Verbindungshaut sichtbar, die diese Körperteile 
verbindet. Blitzschnell senkt die Spinne ihre Kieferklauen an 
dieser Stelle ein und ein Zucken des großen Körpers verrät den 
Tod des Opfers.“ 

Den. mir freundlichst zur Verfügung gestellten Notizen des 
genannten Beobachters entnehme ich folgende weitere Angaben über 
Blütenspinnen: 


1. Beobachtungen an Thomisus albus; die ersten vier Beobach- 
tungen im Juli 1912 im Belgrader Wald bei Konstantinopel, die 
fünfte ım August 1912 bei Eski-Chehir in Kleinasien. Die Spinne 
fing und tötete: 

Antophora (Podalirius) magnilabris 9 (siehe die 
vorangehende Schilderung), 


8) Vergleichende Physiologie und Morphologie der Spinnentiere 
unter besonderer Berücksichtig. d. Lebensweise. I. Jena, 1913. 

3) Eine wissenschaftliche Studienreise nach der europäischen 
Türkei und nach Kleinasien. Jahresbericht d. k. k. II. deutschen Staats- 
realschule, Brünn, 1912, S. 15. 










u a ae Lu Sn Der Hrn a nd Te m a a 








Pr 
x 


F. Heikertinger, Versuche und Freilandforschungen zur Mimikryhypothese. 359 
Bombus pratorum 9, 
‚Andrena Hattorfiana g', 
Apis mellifica 9, 
(rabro pellarius 9. 
Die Arten sind durchwegs ansehnliche Tiere. 
2. Beobachtungen an Misumena vatia, ım August 1913, Acdos 
Dagh am Bosporus. Die Spinne erbeutete: 
Andrena flavipes 9, 
Halietus calceatus d', 
Halictus tumulorum 9, 
Apis mellifica 9, 
Megachile centuncularıs d'. 

Apis und Megachile sind kräftige Arten. 

L. Bir6!°) erwähnt gelegentlich, daß er eines Augustnach- 
mittags die Spinne Misumena vatia Cl. auf einer Umbellifere eine 
Honigbiene verzehren sah. 

Ich selbst beobachtete auf xerothermen Kalkhügeln nächst 
Mödling bei Wien schon in den ersten sonnigen Apriltagen die 
gelbe Misumena calyeina (vatia) auf den gelben Blüten von Poten- 
tilla incana {arenaria), wie sie Apiden (Halietus, Andrena) aussog. 

Was erdlebende Spinnen — die allerdings für den Fang von 
Hautflüglern und ihren Mimetikern weniger in Betracht kommen — 
anbelangt, so hat der französische Forscher J. H. Fabre belang- 
Teiche Versuche über ihr Verhalten gegenüber Akuleaten angestellt 
und in seiner provencalisch lebendigen Weise hierüber berichtet. 


Ich entnehme seinen Darstellungen Folgendes. 


Fabre bespricht die Erdlöcher, die eine Wolfsspinne, die schwarz- 
bäuchige Tarantel (Zycosa narbonensis), im dürren, steinigen Ge- 
lände Südfrankreichs baut. Er schildert den Fang dieser Wollfs- 
spinne!!). 

„Ich versehe mich mit einem Vorrat lebender Hummeln und 
setze jedesmal eine davon in ein Fläschchen, dessen Hals weit 
genug ist, um die Mündung der Erdröhre zu umschließen. Nun 
stülpe ich das Gefäß mit der Mündung nach unten über das Loch. 
Der kräftige Hautflügler. fliegt zunächst unter lebhaftem Summen 
in seinem gläsernen Gefängnis umher ; dann gewahrt er den Erdbau, 
der dem von seiner eigenen Familie benutzten ähnelt, und begibt sich 
ohne langes Zögern hinein. Dies bekommt ihm übel: während er 
hinunterseigt, kommt die Tarantel nach oben, und in dem senk- 
rechten Schacht treffen beide zusammen. Ein paar Sekunden lang 
vernimmt das Ohr des Beobachters eine Art Todesgesang: es ist 


10) Kommensalismus bei Fliegen. Termeszetrajzi Füzetek. XXII. 
1899, S. 203. 

11) Souvenirs entomologiques. Deutsch in „Bilder aus der Insekten- 
welt“, 1. Reihe („Der Biß der Tarantel“). Stuttgart, Kosmos-Verlag, S. 114—117. 


360 F. Heikertinger, Versuche und Freilandforschungen zur Mimikryhypothese. 


das Sausen der Hummel, die sich gegen den ihr zuteil werdenden 
Empfang verwahrt. Hierauf plötzliche Stille. Das Fläschchen 
wird nun weggenommen und die Hummel mit einer Pinzette mit 
langen Armen herausgezogen. Aber sie ist unbeweglich, tot, mit 
heraushängendem Saugrüssel; irgendein schreckliches Boa muß 
sich abgespielt haben. Die Tarantel, die eine so reiche Beute nicht 
fahren lassen will, folgt... Mißtrauisch macht die Zycosa mit- 
unter kehrt, Ella es genügt, die Hummel vor ihrer Schwelle oder 
sogar ein paar Zoll weit entfernt davon liegen zu lassen, um sie 
bald wieder erscheinen zu sehen. Dann verläßt sie a Festung 
und kommt kühn hervor, um ihre Beute wieder zu ergreifen.“ 

Die Tarantel ist ein geschickter Jäger; sie führt so rasch als 
möglich den Tod des Opfers herbei, der die Angreiferin vor der 
Gegenwehr der Angegriffenen sicherstellt. Denn ıhr Wild ist 
kräftig und nicht immer besonders friedfertig. 

„Die großen Heuschreekenarten mit starken Kiefern, Wespen, 
on een und andere Träger vergifteter Dolche geraten 
von Zeit zu Zeit in ihren Hinterhalt. Dann entspinnt sich ein 
Zweikampf mit beinahe gleichen Waffen... Der Kampf findet 
Körper an Körper statt und die Tarantel verfügt über kein Ver- 
teidigungsmittel zur Nachhilfe: keine Schlinge, um das Opfer zu 
fesseln, keine Falle, um es zu bändigen.... Ihr stehen bloß ıhre 
in, und ae Giftklauen zu Gebote; sie muß sich auf das 
al Wild stürzen, es durch ihre Gewandtheit meistern und 
es dann auf irgendeine Ww eise blitzartig töten. 

„Blitzartig töten ist, das rechte Wort: die Hummeln, die ıch 
aus dem verhängnisvollen Loch hervorziehe, beweisen es. Wenn 
das scharfe en das ich den Todesgesang nannte, aufhört, so 
mag ich noch so eh meine Pinzette hineinstecken — stets ziehe 
ich das Insekt bereits tot, mit herausgestrecktem Saugrüssel und 
schlaffen Beinen hervor. Der Tod muß sofort eingetreten sein. 
Wie kommt es nun, daß die Tarantel selbst den größten Hummel- 
arten (Bombus hortorum und B.terrestris) gegenüber, jedesmal den 
Sieg davonträgt und noch dazu in so überaus kurzer Zeit? 
Man müßte den Kampf der berden Gegner direkt beobachten, und 
ich bringe zu diesem Zweck je eine Tarantel und eine Hummel 
zuerst in einer Flasche und dann in einem kleinen Reagensglas, 
das eigentlich nur für eines der beiden Tiere Platz gewährt, unter, 
allein in keinem Fall kommt es zu einer Entscheidung. Die außer- 
halb ihres Erdloches furchtsame Tarantel verweigert den Kampf, 
und die sonst so unbesonnene Hummel erdreistet sich doch nicht, 
ıhn anzufangen... Es ist nötig, an die Stelle der Hummel, die 
in die Erdröhre eindringt und dadurch ihr Ende meinen Blicken 
entzieht, einen anderen Gegner zu bringen, der nicht geneigt ist, 
sich unter die Erde zu begeben. Augenblicklich ist im Garten, 








Me nn rn arme ar BER, > >> Su den 1 Zalid all Bann Bl nn dl u en 


F. Heikertinger, Versuche und Freilandforschungen zur Mimikryhypothese 361 


_ auf den Blüten des Muskateller-Salbeis (Salvia sclarea), massenhaft 


einer der stärksten und größten Hautflügler meiner Gegend zu 
finden: die violettflügelige ee: (Xylocopa violacea). Sie über- 
trifft die Hummel an Größe, ihr Stich ist abscheulich und ruft 
beim Menschen eine noch lange schmerzende Geschwulst hervor, 
wie ich ans eigener Erfahrung versichern kann... Ich setze immer 


je eine Holzbiene in ein Blaschehen mit so großer Öffnung, daß 


diese die Mündung der Erdröhre zu lenbeen vermag... Das 
Fläschehen mit einer Holzbiene als Köder wird über die Röhren- 
öffnung der auserwählten Tarantel gestülpt . . .* 

Die meisten Taranteln greifen nicht an. 


„Endlich wird meine Geduld durch einen Erfolg belöhnt: eine 
sah, durch verlängertes Fasten besonders ae gewordene 
Tarantel kommt mit einem Satze aus ihrem Loch hervor, und in 
einem Augenblick ist das, hierauf ın der Flasche sich abspielende 
Drama beendet. Die starke Holzbiene ist tot, und die Stelle, wo 
der Mörder sie traf, läßt sich leicht feststellen, da die Tarantel sıe 
nicht losläßt: ihre Hacken sind hinter dem Nacken, da, wo der 
Hals anfängt, eingeschlagen... Doch einmal ist keinmal; war es 
Zufall oder ein überlegter Stich, was ich gesehen habe? Nach 
vielen vergeblichen Versuchen bringe ich noch zwei weitere Ta- 
ranteln dazu, ıhr Loch zu verlassen und über die Xylocopa herzu- 
fallen, und jedesmal wiederholt sich vor meinen Augen dieselbe 
Mordszene. Die Beute wird wieder ın den Nacken gebissen, und 
zwar nur dorthin, und stirbt auf der Stelle.“ 


Mit Fabre’s Darstellung steht in Übereinstimmung die Beob- 
achtung Fahringer’s, der im August 1911 bei Skutarı in Albanıen 
die Wolfsspinne Zyeosa radiata die kräftigen Hymenopteren Bom- 
bus lapidarius 9 und Psithyrus rupestris 9 überwältigen sah. 

Der gleiche Beobachter sah ın Kleimasien die große Walzen- 
spinne Galeodes araneoides 9 eine Mutilla maura 9 töten, und in 
den nachgelassenen Notizen unseres verewigten Freundes Prof. 
Dr. F. Tölg fand Fahringer Aufzeichnungen, wonach Tölg bei 
Belemedik in Kleinasien dieselbe Walzenspinne beim Töten von 
Bombus terrester 9 und Scolia flavifrons v. haemorrhoidalis Q beob- 
achtete. 


Die Beispiele, die ich ohne gründliches Eingehen in die ein- 
schlägige Literatur zusammengestellt habe, ließen sich leicht ver- 
mehren. Sie liefern den Nachweis von der Unzulässigkeit der 
Behauptung, daß sich Spinnen vor bestachelten Haut- 
flüglern fürchten und daßdiese vor ihnen geschützt sind. 
Sowohl radbauende als frei jagende Spinnen wagen sich furchtlos 
an akuleate Hymenopteren heran und bezwingen sie, ja sie sind 
zuweilen der Jagd auf solche Insekten geradezu angepaßt. 


362 F. Heikertinger, Versuche und Freilandforschungen zur Mimikryhypothese. _ 


Damit soll nicht gesagt sein, daß es nicht Spinnenarten gibt, 
welche Stechimmen nicht angreifen, welche sie aus dem Netz 
werfen oder scheu vor ihnen zurückweichen. Auch in der Arthro- 
podenklasse der Arachnoideen wird Geschmacksspezialisation in 
engerem oder weiterem Grade Regel sein, sie wird jeder Spinnen- 
art ihre ganz bestimmte Normalnahrung — die zuweilen recht ge- 
fährlich sein kann — zuteilen, und es wird von dieser angeborenen 
Eigenschaft der eingeschränkten Nahrungswahl abhängen, ob ein 
Tier als Beute angenommen wird oder nicht. Aber diese Tat- 
sache der Nahrungsspezialisation muß genau bekannt sein, ehe man 
Furcht vor dem Stachel als wirksames Abwehrprinzip betrachten 
darf. 





Aus dem Dargelegten ergibt sich die Tatsache, daß auch die 
„Nachahmer“ von Stechimmen keinen Nutzen aus ihrer „Nach- 
ahmung“ ziehen können. Wenn das Modell nicht geschützt ist, 
dann kann auch die Kopie nicht geschützt sein, auch ın jenem 
Falle nicht, da eine Spinne durch eine oberflächliche Ähnlichkeit 
genau so getäuscht würde wie ein Mensch — eine Annahme, die 
beı der fundamentalen Verschiedenheit der Sinnesorgane beider 
Wesen nicht ohne weiteres zulässig ist. 


Als vollendete Mimetikerin der Honigbiene gilt die Schlamn- 
fliege, Eristalis tenax. Das zitierte Buch von Ellis gibt (S. 60) 
die Wiedergabe eines photographischen Bildes, auf dem die Spinne 
Triaranea eine Schlammfliege verzehrt, und (S. 59) Bild und Schil- 
derung, wie dıe kleine Triaranea diese ıhr an Körpergröße mehr- 
fach überlegene Beute überwältigt. 

Im ersten Bande von „Ungarns Spinnenfauna* (S. 78) 
schildert OÖ. Herman den Fang eines Eristalis durch eine Stea- 
toda. ,„.... Ich hatte ım Klausenburg Gelegenheit, den Kampf 
einer halbentwickelten Steatoda castanea mit einer Erisialis, welche 
an Größe und Stärke die Spinne um das Dreifache übertraf, zu 
beobachten. Die Eristalis blieb mit einem Fuße im Netze hängen, 
zerriß dasselbe; aber das zum Seile zusammengerollte Netz hielt 
nun die Beute um so sicherer fest. Da aber nur ein Fuß festhing, 
schlug die Fliege mit den Flügeln sowohl als auch mit dem Leibe 
schrecklich um sich; während dessen beobachtete die Spinne. Er- 
müdet unterbrach die Fliege ihr Ringen und diesen Augenblick be- 
nützte die kleine Spinne sofort auf die Art, daß sie sich ebenso 
schnell als geschickt zur Fliege hinabließ, mit dem vierten Fuß- 
paare aus den Spinnwarzen einen Faden herauszog und diesen, 
nach Art eines Lasso, mit demselben Fußpaare auf einen der frei- 
gebliebenen Füße der Fliege mit Blitzesschnelligkeit warf. Die 
Fliege begann augenblicklich wieder zu schlagen. Die Szene wieder- 
holte sich noch viermal, endlich geriet die Fliege doch in die Ge- 











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2 


++ 





F. Heikertivger, Versuche und Freilandforschungen zur Mimikryhypothese. 363 
walt des geschickten Feindes und es stellte sich heraus, daß alle 
sechs Füße gebunden waren.“ 

Ich selbst hatte Gelegenheit, die Überwältigung eines Eristalis 
durch eine Kreuzspinne zu beobachten. Zwischen den Ästen einer 
Hecke saß eine große Kreuzspinne mitten in ıhrem Netze, das mit 
winzigen Mückenbälgen übersät war. Ich nahm eine frisch ge- 
fangene Schlammfliege und reichte sie der Spinne. Die Fliege 
verfing sich etwas in den Fäden, ich ließ sıe los, die Spinne ergriff 
sie und in kaum zehn Sekunden hing sie reg- und hilflos als eın 
in weiße Fäden gehülltes Bündel im Gespinst. Sie hatte den 
gleichen Tod gefunden wie ihr angebliches Modell, die Honigbiene 
bei den im Vorangehenden geschilderten Versuchen. 

Ich fasse das Ergebnis der Untersuchungen zusammen: 

Die Behauptung, der Wehrstachel der Akuleaten wirke 
Spinnen gegenüber als Schutz, findet ın Erfahrungstat- 
sachen keine Bestätigung und ist wissenschaftlich nicht 
zulässig. Damit ist zugleich erwiesen, daß eine „Nach- 
ahmung“* von Wespen (Sphekoidie) den Spinnen gegen- 
über wirkungslos sein muß. 

Gleiches gilt für die in der heutigen Literatur eine besondere 
Rolle spielende Myrmekoidie oder Ameisennachahmung. Ich 
habe dem Gegenstande bereits eine eingehende Erörterung ge- 
widmet!?) und darf mich an dieser Stelle auf den Hinweis be- 
schränken. 

Daß sich die Spinnen nicht vor Ameisen scheuen, erweist ein 
Blick auf die Theridium-Arten, die, auf Pflanzenstengeln sitzend, 
klebrige Fäden nach Ameisen werfen und die Beute zu sich empor- 
ziehen. Auch andere Spinnenarten sind als Ameisenfeinde be- 
kannt '?). | 

Daß die Ameisen mit ihren schwächeren Waffen keinen Schutz 
vor Spinnen genießen, erscheint übrigens angesichts der Erfahrungen 
mit Wespen und Bienen als Selbstverständlichkeit. 

Hiermit erledigt sich die Frage nach der Mitwirkung 
der Spinnen bei Herausbildung einer Wespen-, Bienen- 
oder Ameisenmimikry endgültig in verneinendem Sinne. 


12) Die metöke Myrmekoidie. Tatsachenmaterial zur Lösung des Mimikry- 
problems. Biolog. Zentralblatt, Bd. 39, 1919, S. 65. 

13) Vgl.E. Wasmann, Kritisches Verzeichnis der myrmekophilen 
und termitophilen Arthropoden. Berlin, 1894, S. 193—197. 





364 H. Heller, Über die Geruchstheorie von Teudt. 


Über die Geruchstheorie von Teudt. 
Von Hans Heller. 


Über die Art und Weise, auf die Duftstoffe eine Geruchs- 
empfindung in uns hervorrufen, hat H. Teudt!) vor einiger Zeit 
eine neue Theorie aufgestellt, die angeblich „alle beim Riechen 
auftretenden Erscheinungen ohne Schwierigkeit zu erklären“ ge- 
stattet. Insbesondere seit dem grundsätzlich neuen und sehr be- 
deutsamen Buche von Hans Henning?) steht die Theorie des 
Duftes sowohl wie die des Geruches im Vordergrund der Erörte- 
rung. Da die Frage nach der inneren Natur des Geruchsvorgangs 
auch praktisch wichtig ist (worauf insbesondere Teudt mit Recht 
hinweist), so ist eine Kritik der neuen Theorie um so dringender 
geworden. 

Ohne auf die älteren Vorstellungen über den Riechprozeß 
einzugehen, soll die Teudt’sche Theorie kurz skizziert sein. Nach 
ihr kommt jede Geruchsempfindung zustande durch die Schwin- 
gungen von Elektronen zwischen den Atomen eines Moleküls 
des jeweils vorliegenden Duftstoffes. Diese Elektronenschwingungen 
üben, „wenn sie mit der Atmungsluft in die Nase eingezogen werden 
und sich dabei den Rıiechnerven nähern“, eine Induktionswirkung 
auf diese aus, dıe als Geruchserlebnis in unserem Bewußtsein er- 
scheint. In den verschiedenen Nervensträngen nımmt Teudt ver- 
schieden großeElektronenschwingungenan, diedurch dieSchwingungen 
ım Duftstoffmolekül oder auch von an sich duftlosen Stoffen, 
sofernihnen die Elektronenschwingungen irgend eines 
Duftes induziert worden sind, nach Art einer Resonanz- 
wirkung „erregt“ werden und dadurch das sinnliche Erlebnis Duft 
hervorrufen. — Die Elektronen, die „Atome der Elektrizität“, spielen 
heute dank einer Unzahl hervorragender physikalischer Erkennt- 
nisse im Bereich dieser kleinsten Teilchen eine sehr große Rolle°). 
Man sieht in ihnen die Grundbedingung durchaus nicht nur der 
elektrischen Erscheinungen, sondern aller atomaren Vorgänge. Ob 
die Atome, die kleinsten chemischen Masseteilchen, selbst nun nur 
Aggregate von Elektronen sind (was wahrscheinlich ist) oder diesen 
als bis zu gewissem Grade im Wesen verschieden gegenüber stehen, 
fest steht jedenfalls, daß innerhalb eines chemischen Moleküls die 
Atome als solche neben den einer ganz anderen Größenordnung 
zugehörenden Elektronen agieren und reagieren. Und wenn ein Atom 
auch nur ein Ringsystem aus Elektronen ist, es ist doch ein wohl- 


1) Biol. Zentralblatt XXXIIL, Nr 12 (1913); Prometheus XXV, 
Nr. 34 (1914); Wochenschr. für Brauerei 1918, Nr. 15—17. 

2) Der Geruch. Leipzig 1916. (J. A. Barth.) 

3) Vgl. J. Stark, Prinzipien der Atomdynamik. Leipzig 1915 (Hirzel). 





H. Heller, Über die Geruchstheorie von Tendt. 365 


definiertes und in sich geschlossenes Individuum ®), von bestimmten 
nur ihm zukommenden Eigenschaften (seinen chemischen und physi- 
kalischen Konstanten), die ohne ihren atomaren Träger verschwin- 
den. Teudt geht darum von einer mißverstandenen Grundan- 
schauung aus, wenn er sagt: „in jedem Molekül sind Elektronen 
vorhanden, die nicht zu einem Atomkern gehören, sondern sıch 
zwischen zwei Atomen des Moleküls befinden.“ Gewiß gibt es 
solche Elektronen von verschiedenem Lockerungsgrade, also unter- 
schiedlichen Schwingungsfreiheiten, aber gehören sie auch nicht zum 
„Atomkern“, so doch zum gesamten Atombereich als ihm inte- 
srierende Bestandteile! Im Molekül übernehmen sie selbstverständ- 
lich zwischenmolekulare Aufgaben, tragen sozusagen auf mehreren 
Schultern, denn sie werden in ihren Schwingungen von sämtlichen 
ihnen benachbarten Kraftfeldern beeinflußt. Wäre es anders, müßte 
jedes Molekül ungleichartiger Atome die additiven Eigenschaften 
seiner Bestandteile haben. Das ıst bekanntlich nicht der Fall; ım 
Molekül ıst also das Atom-Individuum zum mindesten in seiner 
äußeren Sphäre versehrt, aber auch nur in dieser. Eine Existenz 
unabhängig von den Atomen wirksamer Elektronen kann nicht 
anerkannt werden. 

Da Teudt nun eine solche Existenz zur Voraussetzung macht, 
den Geruch durch Elektronen bedingt sein läßt, die nıcht einer 
bestimmten Stoffart und nur dieser zugehören müssen, wenn 
überhaupt Geruch erlebt werden soll, so fällt mit dieser Haupt- 
stütze und Grundlage seiner Theorie sie selbst. Es ist m. E. nicht 
schwer, die Unwahrscheinlichkeit der Teudt’schen Annahme bezw. 
ihre teilweise erfahrungsgemäße Unrichtigkeit zu erweisen. Es ıst 


. Tatsache, daß nach unseren heutigen, durch mannigfaltigste Er- 


fahrungen experimenteller Art gestützten Bildern vom Bau chemi- 
scher Verbindungen allen konstitutiv bekannten Duftstoffen eıin- 
deutige und recht vielsagende Formeln zukommen. Formeln, die 
nicht nur dem Chemismus der durch sie versinnbildlichten Stoffe, 
sondern auch ihrem optischen und — physiologischen Verhalten 
Rechnung tragen. Schon älteren Forschern (z. B. Zwaardemaker) 
ist die Verknüpfung der verschiedenen Düfte mit gewissen für 
jeden Duft jeweils kennzeichnenden „Atomgruppen“ aufgefallen. 
Am schlagendsten aber und im Grundgedanken überzeugendsten ist 
der Zusammenhang zwischen Duft und chemischer Konstitution 
nachgewiesen und durch zahlreiche Beispiele belegt bei Henning’). 


- Muß seinen Ergebnissen im einzelnen auch widersprochen werden 


(eine eingehende Würdigung gebe ich anderswo), so ıst doch 





4) Von seiner sehr eindeutigen Körperlichkeit, die nach den neuen Auffassungen 
über Teilbarkeit der Valenz u. s. w. etwas ins Wanken gekommen war, macht z.B. 
die Theorie von F. Wenzel (Journ. f. prakt. Chemie 98, 155, 1919) wieder 
eindringliche Vorstellungen. 

5) a..2 0. 8.'2818E, 


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366 H. Heller, Über die Geruchstheorie von Teudt. 


Henning'’s für die Theorie des Geruches wichtiger Nachweis un- 
bedingt anzunehmen, daß jedem Duft’eine ihm (und nur ihm) eigene 
„Geruchsbindung* einiger Atome ım Molekül zugrunde liegt. Wo 
immer eine derartige Bindungsart auftritt, ıst der damit verknüpfte 
Duft vorhanden. Ändere ich das Atomgerüst durch Reaktionen, 
die die darin vorliegenden „Geruchsbindungen“ auflösen, so ändere 
bezw. vernichte ich auch den Duft des Moleküls. Im Sinne der 
Teudt’schen Theorie läßt sich nun scheinbar schließen: jede Mole- 
külstruktur beruht (vgl. Stark’s grundlegende Arbeit) auf atomarer 
Verknüpfung durch Elektronen. Der „osmophore“*) Charakter ge- 
wisser Atomgruppen ist letzten Endes also doch die Resultante 
der zwischen ihnen befindlichen Elektronenschwingungen, deren 
Felder beim Abbau der betr. Atomgruppen reißen, womit auch der 
Duft schwindet. Der Schluß ist falsch. Henning beweist den 
osmophoren Uharakter einer Bindung, deren Vorhandensein per 
se an eine gemäße Atomkonstellation gebunden ist. Mehr noch 
und entscheidend: die Bindung an sich (also das Kraftfeld der 
intermolekular schwingenden Elektronen) ist bezw. erregt noch 
keinen Duft! Hinzutreten muß erst noch ein molekularer „Rest“ 
(dessen Struktur hier gleichgültig ist) um Duft zu erzeugen. Also 
zum Osmophor muß noch ein „OÖsmogen“ ın der charakte- 
ristischen Bindungsart treten: dann ist ein Duft bedingt, nur dann 
ist er möglich. So wie ein Farbstoff durch Chromogen und Chromo- 
phor (und auxochrome Gruppen) bedingt ist. 

In Teudt’s Auffassung hingegen kommt jegliches atomare — 
soll man sagen: materielle? — Substrat in Wegfall und die Elek- 
tronenschwingung ist das einzig Wirksame. 

Die von Teudt angeführten „Stützen“ seiner Theorie sind 
alles andre denn geeignet, seine Anschauungen zu bekräftigen. 
Beruht das Riechen auf elektrischen Vorgängen, so müssen irgend- 
wie unmittelbare Beziehungen zwischen elektrischem Strom und 
Geruchserlebnis nachweisbar sein. Das ist nicht möglich. Alle 
Versuche, z. B. von Volta, Pfaff, Fowler, v. Humboldt und 
andern, durch elektrische Ströme Geruchsempfindungen hervorzu- 
rufen fielen negativ aus. „Bei Reizung der Riechschleimhaut durch 
Elektrizität stellt sich kein Geruchserlebnis ein ’).“ Der von Teudt 
einzig genannte Versuch Aronsohn’s ıst wertlos, vielmehr gehört 
er in die negative Reihe der genannten Forscher. Was man beim 
Stromschluß nämlich empfindet ist ein Stich, kein Duft. Der 
Stechreiz hat physiologisch mit dem Geruchserleben jedoch gar nichts 
zu tun. 

Wie erwähnt ist das Wesentliche der Teudt’schen Theorie 
die Induktionswirkung von dufterzeugenden Elektronen- 

6) „odoriphor“ bei Zwaardemaker, „odophor“ bei Krais (Deutsche 


Parfüm.-Zte. I, 343, 1915). 
7)stkennanessa a. 0,8337. EN 





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H. Heller, Über die Geruchstheorie von Teudt. 367 


schwingungen. Sieht man von der Unmöglichkeit des Nachweises 
elektrischer Beziehungen beim Riechen ab, so scheint anderseits 
eine starke Stütze der Theorie zu sein, „daß die in die Nase ge- 
zogenen riechenden Körperchen gar nicht mit den Riechnerven in 
Berührung kommen.“ Diese von älteren Autoren übernommene 
Behauptung ist irreführend. Unmittelbar zwar gelangen die Duft- 
partikel nicht an den Nerven, wohl aber mittelbar (durch ihre Ab- 
sorption durch das Nasensekret) an die Riechschleimhant. Und in 
dieser sind die Riechzellen eingebettet. Von einer Nichtberührung 
von Duftstoff und Nerv kann also nicht die Rede sein, im Gegen- 
teil baut gerade auf der Kontaktwirkung zwischen Duftmolekül und 
Neuron Henning seine Theorie auf. Aber gibt man selbst Teudt's 
Voraussetzung zu, so ist zwar das Geruchserlebnis beim Einatmen 
erklärt: mit jedem Atemzuge tritt eine Schwingungsverstärkung auf, 
die eine Resonanz im Riechnerven hervorruft. Dementsprechend 
sollte nun auch beim Ausatmen eine Geruchsempfindung auf- 
treten, denn die duftgebenden Moleküle bleiben völlig unversehrt, 
ihre Schwingungen werden durch die beim Ausatmen stattfindende 
Verminderung der Duftpartikel schwächer, es müßte also (zum 
mindesten bei sehr ausgeprägten Düften) ein abermaliges Geruchs- 
erlebnis stattfinden. Die Erfahrung weiß nichts vos Es ist 
weiterhin schwer einzusehen, wie z. B. ein Schnupfen die Geruchs- 
fähigkeit größtenteils oder ganz aufzuheben vermag. „Induktions- 
wirkungen* sind auch dann nicht unmöglich gemacht. Die Tat- 
sache daß beim Schnupfen der Nasenschleim weitgehend verändert 
ist spricht jedoch dafür, daß ihm eine wesentliche Rolle beim 
Riechen zukommt; um so mehr als im oberen Teile der Nasen- 
gruben, wo die Fasern des Geruchsnerven am zahlreichsten sind, 
auch die reichlichste Schleimabsonderung statthat. 

Zur Bekräftigung seiner Ansicht zieht Teudt schließlich auch 
Behauptungen heran, die erstaunen müssen ob ihrer geringen 
Stichhaltigkeit. Es ist vor allem die Fortpflanzung des Duftes 
durch Luft auf oft sehr große Entfernungen, die er nur durch die 
Annahme erklären zu können glaubt, „daß auch bei den Luftmole- 
külen ein Teil der Elektronen verschiedenartige Schwingungen aus- 
führen und daher die den verschiedenen Gerüchen der eigentlichen 
Riechkörper entsprechenden Schwingungen annehmen kann“. So 
wie Eisen, an einem starken Magneten vorbeigeführt, magnetisch 
wird, One daß der Magnet dabei an Gewicht N so el Luft, 
über einen duftenden Stoff streichend, duftend durch sone 
von Elektronenschwingungen, ohne due der Stoff „etwas von 
seinem Gewichte oder Geruch verliert“. Erstaunlich, daß 
noch immer diese (a priori unwahrscheinliche) falsche Behauptung 
nachgesprochen wird, ein Duftstoff verliere nicht an Gewicht, nach- 
dem vor Zeiten bereits Boyle das Gegenteil, eine sehr wohl nach- 


AN] 





368 | H. Heller, Über die Geruchstheorie von Teudt. 


weisbare Abnahme, festgestellt hat! Was für jeden Stoff als selbst- 
verständlich gilt, daß er nämlich mehr oder weniger langsam ver- 
dampft, soll für Duftstoffe nicht gelten?! Wenn Zwaardemaker 
beim Moschus keine Gewichakn feststellen konnte, so be- 
weist das, von der Hygroskopizität ganz abgesehen, bei den metho- 
disch recht ungenauen Messungen Zwaardemaker’s gar nichts, 
Die Versuche von Fischer und Penzoldt und anderer ergaben, 
welch lächerlich geringe Mengen stark duftender Stoffe auch beim 
Menschen Geruchserleben zu erregen vermögen, immer aber war 
der Duft doch an die Anwesenheit des Stoffes selbst gebunden! 
Mit Recht bemerkt Henning, es fiele wohl keinem Menschen ein, 
sich mit einem Korn Moschus sein Leben lang parfümiert zu 
wähnen — was nach Teudt ja gar nicht unmöglich sein würde. 
Sehr instruktiv sind ın dieser Beziehung Versuche von A. Durand?°). 
Wurde durch Watte filtrierte sorgfältig inaktivierte Luft über einen 
Duftstoff (z. B. Moschus oder Kampfer) geleitet, so erwarb sie mit 
dem Duft die Fähigkeit Wasserdampf zu kondensieren. Es müssen 
also „Kerne“ für die Kondensation durch den Duftstoff gebildet 
worden sein. Die Kondensation geschah um so leichter, je größer 
das Molekül des duftenden Stoffes war. Beim Duften liegt also 
stets eine wenn zunächst auch nicht notwendig meßbare Ver- 
dampfung vor. Dagegen sprechen selbst die von Teudt heran- 
gezogenen Versuche Tyndall’s über die Absorption von strahlen- 
der Wärme durch duftgeschwängerte Luft nicht. Die z. T. aller- 
dings recht großen Absorptionszahlen treten ebenso bei duftlosen 
Chemikalien auf. 

Lediglich die Fortpflanzungsgeschwindigkeit von Duftstoffen 
scheint nach einer zahlenmäßigen Angabe Teudt’s nicht mit ihrer 
Flüchtigkeit zusammenzustimmen, so daß die Duftmoleküle danach 
nicht die Ursache der Fernübertragung des Duftes wären. Hierzu 
gebe ich zu bedenken, wie außerordentlich zahlreichen und schwer- 
wiegenden Fehlern alle Bestimmungen von Diffusionskoeffizienten 
ausgesetzt sind, wie vorsichtig man infolgedessen bei deren Aus- 
wertung im Sinne einer immerhin schwer demonstrierbaren Theorie 
sen muß. So finden sich z. B. bei dem sonst sehr kritischen 
Henning’) auf derselben Seite seines Buches zwei Tabellen von 
Diffusionsgeschwindigkeiten, die einige geradezu entgegengesetzte 
Zahlenverhältnisse aufweisen. Das sollte zu größtem Mißtrauen in 
die Zahlen vor allem einzelner älterer Forscher veranlassen. — 

Aus der Praxis glaubt Teudt weitere Stützen seiner Theorie 
beibringen zu können. Er nimmt an, daß das Aroma eines Weines 
oder Bieres nicht nur durch die chemische Zusammensetzung be- 
stimmt sei, sondern „auch von den Bewegungen abhängig sein kann, 


S) Comptes rendus 166, 129, 
ga a OEBBl2: 





H. Heller, Über die Geruchstheorie von Teudt. 369 


welche die Elektronen in den Molekülen oder an den Außenseiten 
der Moleküle einzelner der Bestandteile des Bieres oder Weines 
ausführen“. Ja, er schreibt diesen Schwingungen eine ausschlag- 
gebende Rolle zu. Bisher befriedigte die vergleichsweise unge- 
zwungene Erklärung, das Aroma des Weines sei durch chemische 
Verschiedenheiten, die auf Boden, Pflege, Temperatur seines 
Wuchsortes und auf nachherige Behandlung zurückzuführen seien, 
bedingt. Und beim Bier, das ja doch auch recht mannigfaltigen 
Prozessen seinen Endzustand verdankt, war es ebenso. Aus denk- 
ökonomischen Gründen allein müßte man eine Theorie ablehnen, 
die mittels Elektronenschwingungen, von denen man sich keine, 
aber auch .nicht die ungefährste Vorstellung machen kann (weil sie 
in ihrer postulierten Art bisher einzig dastehen), etwas erklären 
will, was mit einfacheren Mitteln weit klarer ausgedrückt werden 
kann. Alle Geruchsforscher stimmen überein in der hohen psy- 
- chischen Wirksamkeit selbst kleiner Duftmengen. Es ist gar nicht 
einzusehen weshalb nicht auch das Aroma von Bier und Wein der 
Anwesenheit gewisser Aromatıka, deren Entstehen von mannig- 
fachen, an den verschiedenen Erzeugerstellen aber wechselnden Be- 
dingungen abhängt, zuzuschreiben sein solle Teudt hingegen läßt 
in den verschiedenen Brauereien verschiedene Elektronenschwin- 
gungen „eingebürgert“ sein, die den jeweiligen Gebränuen ihren 
Duft induzieren. Zugeben wird jedoch auch er, daß man während 
des Krieges von spezifischen Wirkungen jener Schwingungen nichts 
gemerkt hat: die gegen Friedenszeit verschiedene chemische 
Zusammensetzung ließ die meisten Biere gleich — schlecht schmecken. 
Kaltes Bier schmeckt „anders“ als warmes, und das Aroma des 
Rotweins entwickelt sich am besten in der Wärme (und wie sehr!). 
Wer wird in Ansehung der hohen Wirksamkeit solch scheinbar 
äußerlicher Umstände noch die Annahme physikalisch recht merk- 
würdiger Elektronenschwingungen machen wollen? 

Endlich sei ein letztes Hauptargument Teudt's erwähnt: der 
Individualduft, der ‚jedem Menschen anhaftet und ıhn z, B. für 
seinen Hund von allen Mitmenschen unterscheidet. Auch dieser 
Duft soll auf individuellen Schwingungen beruhen. Auch hier kann 
ich nur zugeben, daß solche Schwingungen sehr wohl bestehen 
können, ja wahrscheinlich sind wie bei allen Duftstoffen, daß sie 
aber stets integrierende Bestandteile gewisser Moleküle sind, 
die in den schweißigen Absonderungen des Menschen am ganzen 
Körper auftreten. Nur wenn selbst sehr geringe Mengen solcher 
Moleküle sich irgendwo niederschlagen, wird eine Spur und eine 
Witterungsmöglichkeit (nieht nur für den Hund!) geboten. Das 
scheint mir daraus hervorzugehen, daß es bestimmte Rassendüfte 
von sehr großer Lebhaftigkeit gibt. Hier geht also morphologischen 
Unterschieden die Variation einer physiologischen Qualität parallel. 


Band 39. 25 


370 H. Heller, Über die Geruchstheorie von Tendt. 


Der Grund ist zweiffellos verschiedenartige chemische Konstitution. 
Wiederum ziehe ich es der Einfachheit halber vor, diese Ursache 
auch auf individuelle Duftverschiedenheit zu übertragen. Das sehr 
komplizierte Eiweißmolekül ist millionenfacher Konfigurationen 
(durch Isomerie und Stereoisomerie) fähig, so daß jedes Individuum 
sein nur ihm zukommendes Eiweiß mit charakteristischen intra- 
molekularen Geruchsbindungen (Eigenduft) haben mag. Die kann 
ein feinnasiger Hund sehr wohl von unbekannten unterscheiden. 
Gerade der Hund ist im Sinne Zell’s '’ein ausgesprochenes Nasen- 
tier. Eine ganz besondere Begabung in der Witterung ist bei ihm 
also nicht verwunderlich, verlangt jedenfalls nicht nach einer be- 
sonderen Theorie, die ım ganzen nicht mehr zu erklären vermag 
als bisherige Annahmen. Im Gegenteil versagt sie in folgendem 
Fall: ein Hund erkennt seinen Herrn in einer Badeanstalt bedeutend 
schwieriger als auf der Straße am Duft seiner Spur. Obwohl die 
Möglichkeit der, „Induktion“ die gleiche ist, müßten die Fliesen 
der Badeanstalt ‘bezw. die adhärierende Luft demnach weniger 
Schwingungen oder schwächere empfangen haben. Unbegreiflicher 
Umstand; wahrscheinlicher ist doch da die Annahme, daß Duft- 
moleküle vom Körper des Herren sich zwar im Bad. reichlicher 
niederschlagen, daß sie daselbst aber auch weit reichlicher von 
andern Personen beim Darübergehen adsorbiert, also weggeführt 
werden. Oder auch, daß der vermehrte Duft einzelner Individuen 


den vielleicht schwächeren Duft des Herrn übertönt, was bei der 


Annahme Teudt’scher Schwingungen nicht möglich erscheint. 
Auf die Ausdehnung der Teudt’schen Theorie auf das Ge- 
ruchsvermögen der Tierwelt allgemein wie auch auf ihre Aus- 
nutzung zur Erklärung vererbungsbiologischer Fragen gehe ich als 
zu weitführend nicht ein. Nur zwei Bemerkungen: Teudt über- 
schätzt die geruchlichen Fähigkeiten der Tiere teilweise ganz er- 
heblich. Und wenn er ferner mit dem einleitenden Satz seiner 
Hauptabhandlung, „Der Geruch ist nach Professor G. Jaeger der 


Hauptsinn des Instinkts, mit dem Mensch und Tier erkennt, was 


ihm nützlich oder schädlich ist“, sich auf den Boden der An- 
schauungen jenes sonderbaren Geruchsforschers stellt, so ist das 
m. E. eine ziemlich anfechtbare Kritiklosigkeit. Geruch und Ge- 
schmack geben sehr oft einen höchst unvollkommenen Beitrag zur 
Erkenntnis der Gegenstände, der bei allen „Augentieren“ (in der 
Z,ell’schen Terminologie) gleich Null wird. — 

Zusammenfassend ist also zu sagen: die Geruchstheorie von 
Teudt in ihrer vorliegenden Fassung ist aus chemischen und 
physiologischen Erwägungen heraus unhaltbar. Gelingt es ihrem 
Urheber, sie in einer oder anderer Richtung auszubauen, was je- 
doch umfangreicher experimenteller Vorarbeiten bedarf, so ist das 
natürlich zu begrüßen. 









G. Duncker, Joh. Schmidt’s Rassenuntersuchungen an Fischen. 31 


Joh. Schmidt’s Rassenuntersuchungen an Fischen. 
Von Georg Duncker. 


1. Im Tier- wie im Pflanzenreich besteht die weitverbreitete 
Erscheinung, daß ein und dieselbe Art an ihren verschiedenen 
Fundorten körperliche Verschiedenheiten aufweist, so daß man nach 
diesen an ihr verschiedene „Rassen“, „Lokalformen“ oder „Stämme* 
unterscheiden kann. Derartige Lokalformen sind u. a. an einer 
ganzen Reihe der Nutzfischarten nachgewiesen worden, bei denen 
ihre Kenntnis oft praktische Bedeutung gewonnen hat, wie bei der 
Scholle, der Flunder, dem Hering und der Sprott. 

So wohlbekannt nun diese Erscheinung auch ist, so wenig hat 
sie bisher eine ursächliche Erklärung gefunden. Man beschränkte 
sich auf Vermutungen über ihre Ursachen, als welche man z. B. 
bei den Lokalformen der marinen Nutzfische die Verschiedenheiten 
des Salzgehaltes und der Temperatur des Wassers, der Tiefe und 
der Grundbeschaffenheit ihres Aufenthaltsortes ansah, da es der 
besonderen Lebensbedingungen dieser Tiere wegen technisch un- 
möglich geblieben ist, experimentelle Zuchtversuche über die Art 
des direkten oder indirekten Einflusses der Lebensbedingungen beı 
ihnen anzustellen. Aber selbst Fragen nicht experimenteller Natur, 
wie nach der räumlichen Ausdehnung der Lokalformen, ihrer geo- 
graphischen Abgrenzung gegeneinander und ihrer Formbeständig- 
keit im Laufe der Zeit konnten .auf Grund der vorliegenden Unter- 
suchungen nicht mit genügender Genauigkeit beantwortet werden. 

Ausgehend von seinen klassischen Aalforschungen hat Joh. 
Schmidt sich die Aufgabe gestellt, zur Aufklärung der oben ge- 
nannten Probleme beizutragen. Seine bisherigen Ergebnisse sind 
in den Arbeiten [1]—[4] veröffentlicht; bei ihrer Wichtigkeit dürfte 
ein Berickt darüber auch die Leser dieser Zeitschrift interessieren. 

Als Material diente dem Verf. hauptsächlich die an den nord- 
europäischen Küsten sehr häufige Aalmutter, Zoarces viviparus L., 
neben Sebastes marinus L. der einzige lebendgebärende Knochen- 
fisch dieses Gebiets. Zoarces ist ein nicht wandernder Standfisch 
der Flachwasserregion, der nur ausnahmsweise die 10 m-Tiefenlinie 
überschreitet. Er findet sich daher überall in Strandnähe und dringt 
weit in selbst enge Buchten und Föhrden ein. In nord-südlicher 
Richtung ist er vom Eismeer bis zum Ärmelkanal, in ost-westlicher 
von der Tscheschkaja-Bucht des nördlichen Eismeers sowie von 
der bottnischen und finnischen Bucht der Ostsee bis zur irischen 
See verbreitet. In letzterer ist er selten und fehlt an der West- 
küste Irlands. Das Zentrum seiner Verbreitung sind die dänischen 
Küsten. 

Zoarces viriparus erreicht eine Länge von höchstens 40 cm. 
Eine zweite, aber bedeutend größere, bis über i m lange Art der- 


Or%k 
In 





372 G. Duncker, Joh. Schmidt’s Rassenuntersuchungen an Fischen. 


selben Gattung (Z. ang ‚guillaris Peck.) kommt an der Labradorküste 
Nord-Amerikas vor, eine dritte, wenig bekannte (Z. elongatus a 
im Ochotskischen Meer an der asiatischen Ostküste. 


Für die vorliegenden Untersuchungen wichtig ist, daß Zoarces 
viviparus vom zweiten Lebensjahr ab lebende und zwar sehr voll- 
kommen entwickelte Junge in großer Anzahl (bis zu 400) zur Welt 
bringt. Die Paarung findet im Spätsommer statt und die Jungen 
werden im Winter (etwa Januar) mit 4—5 cm Länge geboren. Sie 
sind dann bereits vollkommen entwickelt, so daß Merkmale, wie 
die Anzahl der Wirbel, der Flossenstrahlen und selbst der Farb- 
binden bei ihnen ohne weiteres mit denen ausgewachsener Tiere 
verglichen werden dürfen. Entnimmt man die Jungen eben vor 
ihrer Geburt hochträchtigen Weibchen, so ist ihre Abkunft wenig- 
stens von mütterlicher Seite bekannt. 


Sein Material an mehr oder minder ausgewachsenen Tieren 
verschaffte sich der Verf. von über 80 Fundorten, die größtenteils 
auf den Karten I und II in |1] angegeben sind und sich fast über 
das gesamte Verbreitungsgebiet der Art erstrecken. Ganz besonders 
zahlreich und oft nur wenige Kilometer voneinander entfernt sind 
dabei die Fundorte der dänischen Küsten und ıhrer Fjorde. Kon- 
servierung und sonstige Präparation des Materials sind ın [1] 
p- 236—287 mitgeteilt. Nachdem durch Voruntersuchungen fest- 
gestellt war, daß die sogleich aufzuzählenden Merkmale sowohl vom 
Lebensalter, wie vom Geschlecht. der Tiere unbeeinflußt bleiben, 
wurden von jedem Fundort durchschnittlich etwa 200 Exemplare 
auf folgende Merkmale hin untersucht: 


Wirbelsumme („Vert.“ — DBeobachtete Variationsextreme: 
101—126). 

2. Stachelzahl im hinteren Abschnitt!) der sonst gliederstrahligen 
Rückenflosse („D,.* — 0—17). 

3. Zahl der dunkelfarbigen Querbinden auf dem vorderen weich- 
strahligen Abschnitt der Rückenflosse, rechtsseitig gezählt 
(„Pigm. D,.“ — 7—21). 

4. Strahlzahl der rechten Brustflosse („Pd.“ — 16-22). 

Die meisten der untersuchten Tiere waren 2—4 (3), vereinzelte 
1 und 5 Jahre alt; die Altersbestimmung erfolgte mittelst der Jahres- 
ringe der Gehörsteine und der Schuppen. Das höchste mit Sicher- 
heit nachweisbare Lebensalter betrug 9 Jahre. Die Größe der Tiere 
eines Fanges hängt wesentlich von dem benutzten Fanggerät ab. 

Für Den Fundort wurden aus den an den einzelnen Exem- 


I) Das Auftreten ungegliederter Stachelstrahlen im hinteren Abschnitt einer 
sliederstrahligen Flosse steht bei Zoarces unter den Knochenfischen vereinzelt da. 
Den Stachelstrahlen gehen etwa SO Gliederstrahlen voran, während etwa 20 ihnen 
folgen 

gen. 






2a 


G. Duncker, Joh. Schmidt’s Rassenuntersuchungen an Fischen. 375 


plaren desselben beobachteten Zahlenwerten, den Varianten (NV), 
der vier Merkmale ihre arithmetischen Mittel (A) berechnet, die 
zur Kennzeichnung der Lokalform dienen. Das Maß der Variabilität 
eines Merkmals bei der Lokalform, seine Hauptabweichung (s), ist 
die sogen. mittlere quadratische Abweichung, d.h. die Wurzel aus 
dem Mittel der ins Quadrat erhobenen Abweichungen der einzelnen 
beobachteten Varianten vom Mittel der Gesamtheit. In herkömm- 
licher Weise wurde ferner der „wahrscheinliche Fehler“ von A, 
E (A), aus s und der Gesamtzahl » der untersuchten Individuen 
bestimmt; dann bezeichnet Schmidt den fünffachen Betrag des 
letzteren als „wahrscheinliche Fluktuation“ (w. Fl.), d. ı. diejenige 
Fehlergrenze des gefundenen arithmetischen Mittels, die mit einer 
Wahrscheinlichkeit von 1341:1 weder nach unten noch nach oben 
hin mehr überschritten wird. Die Formeln zur Berechnung der 
angeführten Werte lauten: 


4A=-2M ng 


N 
_ je I ll (A 5HfA) 
R 


2. Über Lokalformen von Zoarees. — Die vier Tabellen |1] 
p. 361-388 enthalten die detaillierten Befunde von 66 Fundorten. 
An dieser Stelle seien daraus nur die extremen Mittelwerte und 
Hauptabweichungen der vier Merkmale wiedergegeben, um die große 
Verschiedenheit der Lokalformen zu veranschaulichen: 


Tabelle 1. 
Zahl der 
« 5 Fundorte 
1. Vert. 107,984— 119,200 / 1,225-— 3,194 66 
22 D> 0,968 — 11,500 0,583—2,255 56 
3. Pigm. D.- 11.4752 .14,531 0,867 — 1,985 62 
4. Pd. 18,338 — 19,727 0,458—0,757 66 


Schon aus diesen Zahlen ergibt sich, daß Zoarces viviparus ın 
hohem Grade zur Bildung von Lokalformen neigt, ganz im Gegen- 
satz zum Flußaal (Anguilla vulgaris Flem.), dessen Wirbelzahlen, 
an Individuengruppen weit auseinanderliegender Fundorte unter- 
sucht, zum Vergleich angeführt seien ([3] p. 113, Fig. 7): 


2) Der Verf. gibt ([1] p- 294, Fußnote) irrtümlich 


Biken; 
N Pr 


an; die Unterschiede beider Rechnungsweisen machen sich jedoch nur bei kleinen 
Werten von » störend geltend, bei welchen Schmidts Ausdruck zu große und für 
verschiedene » nicht streng vergleichbare Werte ergibt. 








904 G. Duncker, Joh. Schmidt’s Rassenuntersuchungen an Fischen. 


1 Tabelle 2. 
Wirbel 111°. 2:4113: 7 12 IH OT PS ern 4A s 





Fundorte: 
Island — 45710,6 26,3 84,6% 10/8003,06.. 1,1: 0,6% MIR TE 75821963 
Kopenhagen 2,4 3,9 13,4 20,5 33;8,.°14,3: 7.41 1,6 —r. 127:,11468 1,402 
Bayonne -—04,8.,145. 25,4.02892.18.956.6. 51.33 1.0228, 21207277,319 
Azoren 0,8: 3,8. .13,7. 26,0: 83,6: 71602.61.. =, — 131. 114,60°771,234 
Comacchio.\:0,5'. 2,5. 14,2:,21,3235,9 16827762 55) —, 1920 212777 210284 
Total 0,6. »3,9''.13,3..24,0.1 32,9 14,39:0,0N 1,2: 0,1 '862:711420271.302 


Hier stimmen nicht nur Mittelwerte und Hauptabweichungen, 
sondern selbst die prozentualen Frequenzen der einzelnen Varianten 
an sämtlichen Fundorten fast vollkommen überein. Ähnlich ver- 
hielten sich die Befunde an den Strahlzahlen der rechten Brust- 
flosse des Aals. — Besonders beachtenswert erscheinen dem Ref. 
die außergewöhnlich starken Schwankungen der Hauptabweichungen (s) 
in der Tab. 1, da ıhm solche bei anderem Material noch nicht be- 
gegnet sind. 

Teilt man den gesamten beobachteten Variationsumfang der 
Wirbelzahl, der Stachelzahl der Rückenflosse und der Zahl der dor- 
salen Farbbinden in je eine obere und eine untere Hälfte und be- 
zeichnet diese Hälften beziehungsweise mit A und a, B und b, 
C und ce, so lassen sich die Kombinationen der Mittel dieser drei 
Merkmale bei den einzelnen Lokalformen durch eine der acht mög- 
lichen Kombinationen ABC, ABc, AbCu.s.w. bis abe charak- 
terisieren. Man erhält dann für die vier Hauptregionen des Unter- - 
suchungsgebietes die nachstehenden Symbole und Mittelwerte (s. [1] 
‘p. 298—301 und Karte III, [3] p. 109—111): 


Tabelle 3. 
Region Symbol Mittelwerte 
Vert. ID Pigm.D, (Pd) 
Westl. Nordsee Abe 116,2 2,2 12,7 18,71 
Östl. Nordsee abe 111,2 6,0 12,3 18,41 
Westl. Ostsee ABC 112,2 8,0 14,3 19,35 
Östl. Ostsee ABe 117,2 11,1 12,3 18,66 


Stellt man jedoch die Symbole der einzelnen Lokalformen 
nach ihrer geographischen Verteilung zusammen, so findet man 
zahlreiche Unregelmäßigkeiten ihres Auftretens. Die Größe der 
Mittelwerte eines Merkmals bei den verschiedenen Lokalformen 
hängt offenbar nicht wesentlich von der geographischen Lage ihrer 
Fundorte zueinander ab. Man findet oft bedeutende Unterschiede 
nahe beieinander lebender und fast völlige Übereinstimmung weit 
getrennter Lokalformen (s. weiter unten Tab. 11, III), und zwar 
nicht allein bei Zoarces, soudern z. B. auch beim Hering, bei dem 
nach Heincke die Lokalform, welche der des weißen Meeres nächst- 






X 


'G. Duncker. Joh. Schmidt’s Rassenuntersuchungen an Fischen. 3% 


- 


verwandt ist, nicht in den nordeuropäischen Gewässern, sondern 
an der Ostküste Japans vorkommt. Man kann also nicht füglich 
von einer geographischen Abänderung der Arten sprechen. 
Dagegen stellten sich charakteristische und unter sich über- 
einstimmende Befunde beim Vergleich der Lokalformen einzelner 
dänischer und schleswigscher Föhrden, d.h. schmaler, untiefer Meer- 
buchten, die oft tief ins Land eindringen und in der Regel in 
ihrem inneren Winkel brackisch sind, heraus (vergl. [1] p. 301—310). 
An der Ostküste Jütlands mündet der Limfjord, etwa 30 km 
südlicher der Mariager Fjord. Von der Mündung landeinwärts 
gehend findet man an den verschiedenen Fangorten der beiden 
Fjorde: 





Tabelle 4. 
I. Östlicher Limfjord®) ([1] p. 304—305, [3] p. 110), A+ w. Fl. 

Vert. D, Pigm. D, Pd. 
St. 2. 117,10 + 0,62 922 +0,33 '- 1320 +0,41 19,06 + 0,14 
S.3. 112114059 741#+037 12,73+048 19,34+0,16 
St. 4. 109,69 + 0,45 6,84 + 0,34 12,52 +0,37 19,19 # 0,14 

II. Mariager Fjord ([1] p. 302—303, [3] p. 111), Atw. Fl. 

Vert. D, Pigm. D, Pd. 
St. 15. 115,43 +0,65 8,74 +0,39 13,06 + 0,49 19,04 0,13 
St. 16. 110,99 +0,84 7,21 #.0,38 12,32 + 0,54 19,14 + 0,16 
St. 17. 110,18 40,43 6,87 +0,33 11,80 + 0,44 19,30 + 0,15 
St. 19. 109,30 + 0,40 6,40 + 0,30 11,83 + 0,46 19,46 + 0,16 


In der Mitte zwischen den beiden Fjord-Mündungen liegt an 
der offenen Küste des Kattegats St. 14 (Hurup), deren Lokalform 
die Mittelwerte 


Vert. 117,37 + 0,48, D, 9,21 + 0,37, Pigm. D; 13,30 + 0,42, 


Pd. 19,06 + 0,14 


aufweist. Von der Küste ins Binnenland hinein findet also in beiden 
Fjorden eine deutliche Abnahme der Wirbelzahl, der Stachelzahl 
der RKückenflosse und der Anzahl der dorsalen Pigmentbinden, da- 
gegen eine geringfügige Zunahme der Strahlzahl der Brustflossen 
statt. Ubereinstimmende Verhältnisse ergeben sich auf dem Fest- 
land in der Schlei ([1] p.305) und im Koldingfjord, sowie auf See- 
land im Skjelskoerfjord ([1] p. 306) am großen Belt und in den ge- 
meinschaftlich bei Lynaes (St. 30) ins Kattegat mündenden Isefjord 
und Roskildefjord. Die Werte der Lokalformen der beiden letzt- 
genannten Regionen, von ihrer Mündungsstelle an aufwärts, sind: 


3) Einschließlich des Nibe-Bredning. Die Lokalformen des westlichen, mit 
der Nordsee zusammenhängenden Limfjords ähneln denen des angrenzenden Nord- 
seegebiets. 


N SE a Mr 
ER REIN RE ARE 


4 





376 G. Duncker, Joh. Schmidt’s Rassenuntersuchungen an Fischen. 
Tabelle 5. 
. Isefjord, A + w. Fl. 

Vert. D; Pigm. D, Pd. 
St. 30. 114,01 # 0,46 5,97. 0,31 13,89 +0, 36 1930#0,11 
St. 3 113224043 6324034  13,50+0,34 °1926+0,13 
St. 32. . 112,94 0,22 5,89 # 0,16 13,47 + 0,19 19,30 # 0,06 

II. Roskildefjord ([1]) p. 307—308), A-+ w. Fl. 

Vert. D,; Pigm.D, Pd. 
St. 30. 114,01 + 0,46 5,97. 4.0,31 13,89 + 0,36 19,30 &0,11 
St. 33. 109,46 + 0,49 5,79 + 0,44 12,63 + 0,42 19,09 £ 0,16 
St. 34. 107,98 + 0,36 5,74 + 0,27 12,34 + 0,36 19,20 +0,12 


Es ergeben sich also übereinstimmende Befunde an vergleich- 


baren Fundorten von nicht weniger als sieben verschiedenen Re- 
gionen, die eine deutliche und bestimmt gerichtete Abänderung der 
Lokalformen mit dem Eindringen der Art in geschützte, salzärmere 
Gewässer von dem offenen Seestrand her erkennen lassen. Diese 
findet einen sichtbaren Ausdruck auch im Gesamthabitus der Tiere, 
von denen die schlanken, ın der freien See lebenden sehr ver- 
schieden von den gedrungenen der inneren Fjordwinkel erscheinen, 
wie es bei der Gegenüberstellung zweier etwa gleichgroßer Exenı- 
plare aus dem Öresund und aus dem Roskildefjord in [1] p.. 309, 
Fig. 16 und 17 oder in |3] pl.-VII, Fig. 1 und 2 hervortritt. 

In den erwähnten Fjordformen liegen typische Beispiele lokaler 
Variation vor, die dadurch besonders eelene werden, daß die 
verschiedenen Lokalformen oft in nächster Nachbarschaft miteinander 
leben. 


3. Untersuchung der Konstanz der Lokalformen. — 
Nachdem nun festsichn, daß Zoarces viviparus ın hohem Grade zur 
Bildung von Lokalformen neigt, ist es in erster Linie wichtig zu 
wissen, wie weit die einzelne Lokalform sich als beständig erweist. 
Konstanz einer Lokalform kann nur angenommen werden, wenn 
sowohl ihre einzelnen Fangproben, als auch ihre einzelnen Gene- 
rationen und ihre einzelnen Zuchtstämme immer wieder die gleichen 
Mittelwerte der untersuchten Merkmale ergeben. 

Von einigen ausgeprägten Lokalformen, wie der St. 22 (Snoghöj), 
St.31 (Nakkehage am Isefjord) und St. 38 (Vordingborg) hatte der 
Verf. zu verschiedenen Zeiten größere Individuenmengen (150— 250 
Exemplare). erhalten, deren Mittelwerte (4 + w. Fl.) miteinander 
verglichen werden konnten (|1] p. 289, 294—298): 


Tabelle 6. 


St. 38 Vert. Berne St. 22 Vert. 
15. IL, 15 116,10 + 0,49 19,22 +0,17 April 1915 117,69 + 0,52 
24. III. 15 115,97 + 0,41 19212. 0,14 Mai 1915 117,65 + 0,29 
Oktober 1915 117,44 + 0,34 


Oktober 1916 117,44 # 0,44 


& 





NT 


G. Duncker, Joh. Schmidt’s Rassenuntersuchungen an Fischen. 37 


X 
St. 31 Vert. D, Pigm. D, Pd. 
1914 113,42 +0,49 5 1 +0,39 = 19,43 +0,15 
1915 113,92 +0,43 324 0,340 18,50, 0,34 .' 19,26-#:0,43 
1916 113,40 & 0,44 se +0,31 13,67 + 0,38 19,26 + 0,14 


Die Durchschnittswerte der einzelnen Fangproben stimmen, zu- 
mal in der Wirbelzahl, sehr genau miteinander überein, sprechen 
also für Konstanz der betreffenden Lokalformen in den untersuchten 
Merkmalen. 

Da sich jede Fangprobe aus Individuen ungleichen Alters zu- 
sammensetzt, so erschien nicht ausgeschlossen, daß zwar die Mittel- 
werte der Fangproben konstant, dagegen die ıhrer einzelnen Jahr- 
gänge verschieden sein könnter. Deshalb wurde das sehr umfang- 
reiche Material der St. 34 (Langholm am Roskildefjord) nach der 
Beschaffenheit der Schuppenringe sortiert und die Mittelwerte 
zweier der so bestimmten Jahrgänge, der 1915 (über 400) und der 
1916 geborenen (ca. 300) Individuen, miteinander verglichen. Es 
ergab sich (|2] p. 2—7): | 

Tabelle 7. 
St. 34 Vert. D, Pigm. D, Pd: Ps. 
1915 108,22 +0,32 6,271 +#0,21 '12,34+ 0,33 .18,98 +0,10. 19,01 +0,10 

1916. 108,08+.0,39 .5,83 +0,23 12,45 +0,40 1941+0,11 19,45 +0,12 

In diesen beiden Jahrgängen verhalten sich zwar die Wirbel- 
summe und die Zahl der dorsalen Querbinden konstant, nicht da- 
gegen die Stachelzahl der Rücken- und die Strahlzahlen der rechten 
und der linken Brustflosse. 

Die Verschiedenheiten der beiden Jahrgänge können nicht etwa 
durch die Annahme erklärt werden, es handle sich bei ihnen um 
zwei ihrem Geburtsort nach verschiedene Lokalformen, die erst 
durch Wanderung an den gemeinsamen Fangort Belaneı seien. 
St. 34 liegt im innersten Winkel des FOSKHldE ah und die dort 
lebenden Tiere weisen die niedrigste Wirbelzahl des gesamten 
Fjordgebiets auf, können also nicht wohl von irgendeinem anderen 
Punkt des letzteren hergewandert sein, an welchem ja stets eine 
höhere Wirbelzahl bestehen würde. 

Somit ergibt die Untersuchung zweier Jahrgänge desselben 
Fundorts die Möglichkeit ungleicher Durcheann. were einiger ihrer 
individuell ee Merkmale. In diesen verhält sh die 
Lokalform nicht konstant. 

Die weitere Zerlegung der Jahrgänge einer Lokalform führt 
auf ihre Zusammensetzung aus Geschwisterschaften, die verschie- 
denen Müttern entstammen; man hat also die Abkunft der Indi- 
viduen verschiedener Jahrgänge einer Lokalform im Hinblick auf 
ihre Konstanz oder Nichtkonstanz zu berücksichtigen. Die Ge- 
schwisterschaften von Zoarces sind oft recht zahlreich (bis zu 400 
Individuen); sie ergeben daher Mittelwerte, die mit denen: der Ge- 






378 G. Duncker, Joh. Schmidt’s Rassenuntersuchungen an Fischen. 


samtheit verglichen werden können. Der Verf. untersuchte Ge- 
schwisterschaften, die er hochträchtigen Weibchen entnahm, die 
also unmittelbar vor ihrer Geburt standen und ın den hier berück- 
sichtigten Merkmalen bereits vollständig entwickelt waren. 
Besonders lehrreich ist der Befund an 11 vollständig unter- 
suchten Geschwisterschaften bekannter Mütter der St. 31 (Nakkehage 
am Isefjord) auf ihre Wirbelsumme hin ([1] p.318—319, Fig. 24—27): 








Tabelle 8. 
? iuv. Lokalform (erwachsene Tiere). 
jr ————— \an m 
V n A $ Fang n A $ 
108 149 109,48 1,62 1914 166 113,42 1,87 
110 uns) 111,11 1,12 1915 233 113,22 1,96 
110 79 111,33 1,20 a) 239 113,40 2,07 
12 211. 11236 1,37 1914—16 638 113,34 1,96 


115 159 112,36 2,06 
114 184 114,27 1,87 
115 205 115,17 1,40 Mütter: 
117 52 113,92 1,53 
Il: 113,82 3,30 


ER ua unker ne a 
118: 6711512 108 a a 


118 f 80 116,34 1,41 
Summe 1459 113,25 2,73 
Mittel 113,25 1,53 


Zunächst fallen an dieser Tabelle die Abhängigkeit der Durch- 
schnittswerte der Geschwisterschaften von den Varianten ıhrer 
Mütter und die geringe Variabilität der Geschwisterschaften im 
Vergleich zu der der gesamten Lokalform auf. Die erstere Erschei- 
nung ist der Ausdruck der Vererbung, die offenbar eine weit 
größere Einwirkung auf die Geschwisterschaften ausübt als die un- 
bekannt wirkenden Einflüsse der Außenwelt. Die Mittelwerte der 
elf Geschwisterschaften dieses einen Fundortes schwanken in nur 
wenig engeren Grenzen, als die der (erwachsenen) Lokalformen 
von 66 Fundorten, nämlich zwischen 109,5 —117,8 statt zwischen 
108,0— 119,2. Trotzdem aber vereinigen sich die gesamten Beob- 
achtungen an den elf Geschwisterschaften zu einem Mittel, das mit 
dem Durchschnittswert ihrer Lokalform fast genau zusammenfällt 
(113,25 gegenüber 113,34). 

Die Variabilität der elf Geschwisterschaften ist in zehn Fällen, 
zum Teil recht erheblich, kleiner als die der Lokalform und über- 
steigt die letztere nur in einem Fall ein wenig; das korrekt be- 
rechnete?) Mittel der elf Hauptabweichungen bleibt daher beträcht- 





4) Varianten der Mütter mit der Zahl ihrer Jungen multipliziert. 


9) Eh, In s°) 
Na, 33 (n) . 





’ ar u a N AUGEN, RG ern Zu. e" N ap ech rd 2 u t 
2 z - 
G. Duncker, Joh. Schmidt’s Rassenuntersuchungen an Fischen. 319 


lich hinter der Hauptabweichung der erwachsenen Gesamtbevölkerung 
zurück (1,53 gegen 1,96). Dagegen ergibt die Gesamtheit der zu den 
elf Geschwisterschaften gehörigen 1459 Embryonen eine sehr große 
Hauptabweichung, die etwa das 1'/,fache jener der erwachsenen 
Gesamtbevölkerung beträgt und nur noch von der der elf auser- 
lesenen Mütter übertroffen wird. Die hohe Variabilität der letzteren 
erklärt sich einfach daraus, daß bei ihnen infolge der Auslese ge- 
rade extreme Varianten relativ viel häufiger sind als bei der Lokal- 
form, der sie angehören. — Ähnliche Resultate ergab die Unter- 
suchung je dreier vollständiger Geschwisterschaften der St. 31 auf 
die Strahlzahlen der After-, der Rücken- und der rechten Brust- 
flosse, sowie der St. 17 auf die Zahl der dorsalen Farbbinden 
([1] p- 321-324). 

Untersucht man statt der sämtlichen Jungen einzelner auser- 
lesener Weibchen eine kleinere feste Anzahl (etwa 10) Junger sämt- 
licher trächtigen Weibchen eines einheitlichen Fangmaterials, so er- 
hält man Resultate wie die der auf die Wirbelsumme bezüglichen 
Tabellen XII A bis © in [1] p. 390— 392, aus denen hier im Auszug 
wiedergegeben sei: 


Tabelle 9. 


Dekadische Gesamtmittel 
Einzelmittel € Lokal 

; iuv. 
der iuv. form- 
St.31(Nakkehage, Isefjord, 1914) 1382 ° 109,3—118,9 113,18. 113,42 
St. 33 (Frederiksund, Roskildefjord, 1915) 1242 106,6—115,9 110,17 109,46 
St. 22 (Snoghöj, Kl. Belt, 1915) 162 2 193-1208 11.726 Nat AA 


Die einzelnen „dekadischen* Geschwisterschaften einer Lokal- 
form ergeben wiederum unter sich außerordentlich verschiedene 
Mittelwerte, die sich aber stets zu einem Gesamtmittel ergänzen, 
das von dem ihrer Lokalform nur wenig abweicht. 

Außer für die Wirbelzahl wurden entsprechende ehuneen 
auch für die Strahlzahl der rechten Brustflosse vorgenommen, mit 
dem Ergebnis, daß das Mittel der Embryonen bei diesem Merkmal 
ın einem Fall etwas größer, ım andern etwas kleiner war als das 
ihrer Mütter. 

Tabelle 10. 


St. 38, St. 40. 
1289 19,070 1412 “19,241 
1280 iuv. 19,343 400 iuv. 18,870 
128 iuv. 19,351 134 iuv. 18,836 


Von St.33 wurden je 10 bezw. je1l, von St. 40 nur je 3 bezw. 
je 1 Embryo jedes Weibchens bei der Mittelbildung berücksichtigt; 
von dem letzteren Material fielen einzelne lädierte Exemplare aus. 

Die eben dargestellten Abkunftuntersuchungen ergeben also, 
daß die einzelnen Jahrgänge einer Lokalform aus zahlreichen, unter 








380 G. Duncker, Joh. Schmidt’s Rassenuntersuchungen an Fischen. 


sich verschiedenen Geschwisterschaften zusammengesetzt sind. Erst 
diese kann man als ın sich einheitliche, nicht weiter zerlegbare 
Individuengruppen betrachten, vorausgesetzt, daß die sämtlichen 
Geschwister einer Geburt auch demselben Vater entstammen. — 
Die ım Anfang dieses Abschnitts gefundene Konstanz der Lokal: 
formen ist daher nur eine scheinbare, mehr oder minder zufällig 
hervorgerufen durch eine ıhr günstige Kombination der Geschwister- 
schaften desselben Jahrgangs. Schmidt faßt seine Ergebnisse 
hinsichtlich dieser Frage in die Worte zusammen ([3] p. 117): „Eine 
‚Fischrasse‘ ıst wesentlich ein statistischer Begriff. Er bedeutet 
eine Mischung verschiedener Genotypen, und die Mittelwerte, die 
die Rasse charakterisieren, hängen in erster Linie von dem quanti- 
tativen Verhältnis dieser Genotypen zueinander, nur in zweiter von 
den äußeren Lebensbedingungen ab.“ 


4. Über den Einfluß äußerer Lebensbedingungen. — 
Von den äußeren für die Entstehung von Lokalformen mariner 
Fischarten ın Betracht kommenden Bedingungen galten der Mehr- 
zahl der Forscher als besonders wichtig der Salzgehalt und die 
Temperatur des Aufenthalts-Gewässers. Den Einfluß des Salzgehalts 
untersuchte der Verf. mittelst Vergleichs der Lokalformen verschie- 
dener Fischarten, den der Temperatur durch besondere Zuchtver- 
suche an Lebistes reticulatus Pet., einem von Aquarienliebhabern 
viel gehaltenen, lebendgebärenden Cyprinodonten. 

Was den Einfluß des Salzgehalts anlangt, so ergeben die 
nachstehenden, aus [1] p. 351—338 und [3] p. 115—117 entnommenen 
Mittelwert-Tabellen außerordentlich widerspruchsvolle Resultate. 


Tabelle 11. 
I. Wirbelzahlen nach Heincke ([1] p. 332—333). 
Fundort Salzgehalt Scholle Hering 
Ostsee 205 425 . 55,2 
Weißes Meer 252160 43,5 53,6 
Südl. Nordsee 23.30 0],. 43,0 59.3 
Nordwestl. Nordsee ca. 349] o 43,0 56,3 
Island >35 oo > 43,0 >.97,0 
II. Seenadel (Syngnathus typhle L.) nach Duncker (|l] p. 334). 
Fundort Salzgehalt Vert. D. Pd. 
Südwestl. Ostsee ilteuat, 52,8 34,9 13,4 
Plymouth 33— 35,5 oo 55,5 37,8 14,8 
Neapel 37—38 oo 54,8 34,4 16,0 


III. Zoarces, Wirbelzahlen (|1] p. 337, [3] p. 116—117). 
Fundort Salzgeh. A+ w. Fl. Fundort Salzgeh. At+tw.Fl. 
St.57. Schottland 34°/,, 116,40 + 0,47 St.1: Laesöo +» 30%... 114,25 #.0,43 
St.52. Bottn. Bucht 5°, 116,10+ 0,45 St.8. Limfjord 30 °/,, 111,21 +0,38 





G. Duncker, Joh. Schmidt’s Rassenuntersuchungen ‚an Fischen. 381 


Fundort Salzgeh. A+twFEl 
Kjelds Nor, Langeland °) 12 0: 119,44 + 0,75 
St. 34. Roskildefjord (1916) 12%, 108,06 + 0,69 


Scholle und Hering des Weißen Meeres fallen beide hinsicht- 
lich der Wirbelsumme aus der sonst regelmäßigen Reihenfolge der 
übrigen, dem Salzgehalt nach geordneten Fundorte heraus, jedoch 
in entgegengesetztem Sinne, indem die Scholle des Weißen Meeres 
eine zu hohe, der Hering desselben eine zu niedrige Wirbelzahl 
aufweist. Bei der Seenadel entsprechen die Mittelwerte weder der 
Wirbelsumme, noch der Strahlzahl der Rückenflosse den Verschie- 
denheiten des Salzgehalts der aufgeführten Fundorte, während die 
Strahlzahl der Brustflossen mit seinem Steigen eine deutliche Zu- 
nahme erfährt. Endlich stimmen die Mittel der Wirbelsummen 
von Zoarces an zwei Fundorten extrem verschiedenen Salzgehalts 
(Schottland und Bottnische Bucht) völlig überein, weisen dagegen 
an je zwei anderen, unweit voneinander gelegenen Fundorten unter 
sich gleichen Salzgehalts fast spezifische Unterschiede auf. — Die 
Gesamtheit dieser Befunde läßt also überhaupt keinen bestimmt 
gerichteten Einfluß des Salzgehalts auf die hier berücksichtigten 
Merkmale erkennen. 


Den Einfluß der Temperatur untersuchte der Verf. an 
Lebistes reticulatus in der Weise, daß er Zuchtpaare mit bekannter 
Strahlzahl der Rückenflosse während verschiedener Trächtigkeits- 
perioden des Weibchens in verschiedenen Temperaturen hielt, so 
daß er von einem und demselben Paar verschiedene Temperatur- 
Bruten erzielte. Die einzelne Brut brachte 9—57, ım Durchschnitt 
28 Junge, an denen die Strahlzahl der Rückenflosse und deren Mittel- 
wert bestimmt wurde. Anfänglich konnte die Temperatur der 
Aquarien nur annähernd konstant gehalten werden; bei einem spä- 
teren Versuch (1918; VI) gelang es, dies genau durchzuführen. Die 
Elterntiere der einzelnen Zuchtpaare sind mit ıhrer Strahlzahl be- 
zeichnet; die mittleren Ergebnisse der Zuchten waren ([2] p. 13—14, 
[4] p. 3): 
Tabelle 12. 


Temperatur: Niedrig Mittel Hoch 
Zuchtpaar tc19.°) (ea. 25,9) (ca. 28% 
a AT 3. 6, 658° 2.7, 000 1. 7, 600 
4. 6, 921 5. 7, 200 
HA 3x2 3 1. 6, 844 2.7,341 
IE 8 8:X 27 2. 6, 838 1.7,140 
IN I EEIER6 3. 6,417 1. 6, 867 
2.6, 868 
Vers ek 0°xX-:9-6 2. 6, 500 1.7, 000 
3. 6, 660 


6) Etwas südlich von St. 43. 


Nu 


382 G. Duncker, Joh. Schmidt’s Rassenuntersuchungen an Fischen. 
Konstante Temperatur: 18%C. 20 
Zuchtpaar 
VL, Sax 25 4. 6.250 1. 6. 889 
2. 6. 867 
3.6. 906 
5.— 17.6. 927 


(Mittel: 6. 910) 


In Tabelle 12 sind die einzelnen Zuchtpaare mit römischen, 
die von ihnen unter verschiedenen Temperaturbedingungen erzielten 
Bruten nach ihrer zeitlichen Folge mit arabischen Nummern be- 
zeichnet. Die mittlere Strahlzahl der einzelnen Bruten entsprach 
also gänzlich unabhängig von der Aufeinanderfolge des Wechsels 
der Temperaturen stets derjenigen Temperatur, welcher das Weib- 
chen während seiner Trächtigkeit ausgesetzt war: je höher die 
letztere, desto höher auch die Strahlzahl seiner Nachkommenschaft. 
Neben dem Einfluß der Temperatur auf diese machte sich aller- 
dings auch stets der der Vererbung bei den Nachkommen verschie- 
dener Zuchtpaare geltend. — Die Dauer der Trächtigkeit währte 
bei hoher Temperatur nur einen, bei niedriger mehr als 2!/, Monat. 

Bei Zebistes übt demnach die Temperatur während der Em- 
bryonalentwicklung der Jungen einen mit Sicherheit nachweisbaren, 
positiv gerichteten Einfluß auf die Strahlzahl ıhrer Rückenflosse aus. 


5. Vererbungsversuche. — Endlich wandte sich der Verf. 
demjenigen inneren Faktor zu, der bereits wiederholt bei der Be- 
trachtung der Geschwisterschaften von Zoarces und Lebistes hervor- 
trat, der Vererbung. Er stellte neuerdings (1918) sehr sorgfältige 
Zuchtversuche über den Einfluß der Vererbung auf die Strahlzahl 
der Flossen von Lebistes reticulatus an. 

Bei dieser Art hat die Rückenflosse 5—-8, in der Regel 7 Strahlen. 
Seit 1915 waren zwei Stämme derselben auf möglichst hohe und 
auf möglichst niedrige Strahlzahlen hin gezüchtet worden. Der 
Verf. richtete nun zwei Aquarien, A und B, ohne Pflanzenwuchs, 
mit Durchlüftung und mit bis auf 0,1° ©. konstanter Wassertempe- 
ratur von 25° ein, zerlegte jedes derselben durch ein Gitter aus 
dünnen Glasröhren in zwei Abteilungen, so daß die Wassermassen 
in diesen beiden Abteilungen in jeder Hinsicht gleichartig blieben, 
und besetzte jedes der beiden Aquarien in seiner einen Abteilung 
mit einem Zuchtpaar mit acht-, in seiner andern mit einem solchen 
mit sechsstrahliger Rückenflosse. Es wurden also ım ganzen vier 
Zuchtpaare verwendet, von welchen die beiden mit hoher Strahl- 
zahl dem auf diese hin, die mit niedriger dem auf letztere hin ge- 
züchteten Stamm entnommen waren. Pflege und Fütterung der ın 
beiden, Seite an Seite stehenden Aquarien gehaltenen Tiere war 
gleich. Eine ungleichartige Einwirkung der äußeren Bedingungen 
war somit bei dıesen Versuchen ausgeschlossen; ungleiche Ergeb- 












1 03, Bl a SR AARBRN ERe  Dall va an Vak 


G&. Duncker, Johs. Schmidt’s Rassenuntersuchungen an Fischen. 383 


nisse der Zuchtversuche konnten nur auf der Verschiedenheit der 


Zuchtpaare beruhen. Die Nachkommen derselben verhielten sich 
wie folgt (s. [4] p. 4—6): 


Tabelle 13. 
Aquarium: A B 
Zuchtpaar: "1.86X26 IL.38X2PS TIL.Z36XP6 IV.J38XPS Total 
Strahlz.d.Nachk. (4Bruten) (4Bruten) (4 Bruten) (3Bruten) (15 Bruten) 


6 25 — 23 ._ 48 

Ü 62 10 51 3 126 

8 — 54 — 40 94 
Summed.Nachk. 57 64 74 3 268 

A 6,713 7,844 6,689 7,930 72 

Ss 0,453 ‚363 0,463 0,255 0,707: 


Verschiedene unter sich gleichartige Weibchen (I und III, 
II und IV) bringen also unter gleichen äußeren Bedingungen in 
bezug auf Mittel und Variabilität ähnliche Nachkommenschaft her- 
vor, während nach Tab. 12 identische Weibchen unter ungleichen 
äußeren Bedingungen verschiedenartige Nachkommenschaft zur 
Welt brachten. Bei den Nachkommen findet von beiden elterlichen 
Extremen her eine Regression nach dem Mittel der Gesamtheit 
(etwa 7) hin statt. 

Den Schluß der ersten Arbeit Schmidt’s ([1] p. 340— 345) bilden 
Erwägungen im Sinne W. Johannsen’s über die genotypische und 
phänotypische Natur der Ursachen der Differenzierung von Lokal- 
formen. Da der Verf. weitere experimentelle Untersuchungen betr. 
dieser Frage in Aussicht stellt, hält der Ref. es für angezeigt, erst 
deren Resultate abzuwarten, ehe er auf jene Erwägungen eingeht. 


6. Zusammenfassung. — Zoarces vivriparus L. ist eine ın 
zahlreiche Lokalformen zerfallende, weil sehr seßhaft lebende Art. 
Die Verschiedenheiten dieser Lokalformen entsprechen nicht der 
geographischen Lage ihrer Fundorte; nahe beieinander lebende können 
in den untersuchten Merkmalen verschiedener sein, als weit von- 
einander entfernte. Übereinstimmend aber verhalten sich die ein- 
zelnen Lokalformen der verschiedenen dänischen Fjorde darin, daß 
sie gleichgerichtete Abänderungen mit dem Eindringen der Art von 
der offenen Seeküste her ın die inneren geschützten und mehr 
braekischen Fjordwinkel erkennen lassen. 

Untersucht man von einer und derselben Lokalform größere 
Fangproben, so stimmen diese untereinander im wesentlichen über- 
ein. Zerlegt man nun diese Fangproben nach dem individuellen 
Lebensalter der Tiere in Jahresklassen, so findet man nur noch in 
einigen Merkmalen Übereinstimmung, in anderen dagegen eine 
merkliche Verschiedenheit derselben. Teilt man endlich diese Jahr- 


384 G. Duncker, Johs. Schmidt's Rassenuntersuchungen an Fischen. 





gänge in Greschwisterschaften auf, so zeigen sich überraschend 
große Unterschiede der letzteren in sämtlichen Merkmalen, welche 
die zwischen verschiedenen Lokalformen bestehenden; oft weit über-' 
treffen und in erster Linie durch die individuelle Abkunft der Ge- 
schwisterschaften, also durch Vererbung, bedingt erscheinen. Die 
durchschnittliche Variabilität der Geschwisterschaften einer Lokal- 
form aber ist kleiner als die der letzteren selbst. 

Eine Lokalform ist demnach nur scheinbar konstant. Sie stellt 
eine Mischung sehr verschiedenartiger Geschwisterschaften ver- 
schiedener Jahrgänge dar, und die Mittelwerte ıhrer Merkmale 
hängen in erster Linie von dem quantitativen Verhältnis der Ge- 
schwisterschaften, nur ın zweiter von den äußeren Lebensbe- 
dingungen ab. 

Von äußeren Lebensbedingungen wurden der Einfluß des Salz- 
gehalts und der der Temperatur untersucht. Ein Vergleich von 
Lokalformen verschiedener Fischarten, die in‘Meeresgebieten un- 
gleichen Salzgehalts leben, ließ keinen bestimmt gerichteten Ein- 
fluß desselben auf die untersuchten Merkmale erkennen. Dagegen 
ergaben sehr präzise Versuche an einem lebendgebärenden Cyprino- 
donten (Lebistes) eine deutlich nachweisbare, positiv gerichtete 
Wirkung der Temperaturhöhe, welcher die Jungen der verschiedenen 
Bruten eines und desselben Weibchens während ihrer Embryonal- 
entwicklung ausgesetzt waren, auf die Strahlzahl der Rückenflosse. 

Zuchtpaare von Lebistes mit entweder hoher oder niedriger 
Strahlzahl der Rückenflosse, welche unter genau gleichen äußeren 
Bedingungen gehalten wurden, ergaben in je einem Doppelversuch 
Nachkommen, die ausgeprägte regressive Erblichkeit dieses Merk- 
mals erkennen ließen. Die Vererbung ıst demnach ein weiterer 
wichtiger Faktor der Differenzierung von Lokalformen. 


Literatur. 


1] Johs. Schmidt, Racial Investigations. — I. Zoareces viviparus L. and local 
raees of the same. Compt. Rend. Trav. Labor. Carlsberg Vol. XI 3. Livr. 
p. 277 —397, pl. I-Il. 1917. 

[2] Johs. Schmidt, Racial oa te — II. Constancy investigations eontinued. 
Ibid. Vol. XIV, Nr. 1, p. 1—19. 1917. 

[3] Johs. Schmidt, Racial Studies in Fishes. I. Statistical investigations with 
Zoarces viviparus L. Journ. of Geneties, Vol. II, Nr. 2, p. 105-118, 
pl. VII. 1918. 

|4| Johs. Schmidt, Race-Unders@gelser. — Ill. Experimentelle Konstans- og 
Arveligshedsundersggelser med’ Lebistes reticulatus (Peters) Regan. Meddelels. 
Carlsberg Lab. Bd. XIV, Nr. 5. 1919. 


Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der Universitäts- 
3uchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen. 











Biologisches Zentralblatt 


Begründet von J. Rosenthal 


Unter Mitwirkung von 


Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig 


Professor der Botanik Professor der Zoologie 
in München 


herausgegeben von 


Dr. E. Weinland 


Professor der Physiologie in Erlangen 


Verlag von Georg Thieme in Leipzig 








39. Band September 1919 Nr. 9 


ausgegeben am 30. September 1919 











Der jährliche Abonnementspreis (12 Heite) beträgt 20 Mark 

Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten 
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an 
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, 
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, 


alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physiolog. Institut, 
einsenden zu wollen. 








Inhalt: F. Alverdes, Die gleichgerichtete stammesgeschichtliche Entwicklung der Vögel und 
Säugetiere. S. 385. 
E. Hesse, Lueilia als Schmarotzer. S. 401. 
B. Klatt, Zur Methodik vergleichender metrischer Untersuchungen, besonders des Herz- 
gewichtes. S. 406. 
P. Schieffer deeker, Über die Differenzierung der tierischen Kaumuskeln zu menschlichen 
Sprachmuskeln. 8. 421. 





Die gleichgerichtete stammesgeschichtliche Entwicklung 


der Vögel und Säugetiere. 
Von Dr. Friedrich Alverdes, Halle a. S., Zoolog. Institut. 


Unter „unabhängiger Entwicklungsgleichheit“ oder „Homöo- 
genesis“ versteht Eimer die Erscheinung, daß im Verlaufe der 
Phylogenese bei verschiedenen Tier- oder Pflanzengruppen die 
gleichen Charaktere selbständig zur Ausbildung gelangen können; 
die betreffenden systematischen Einheiten haben während ihrer 
Stammesgeschichte eine in gleicher oder ähnlicher Richtung ver- 
laufende Entwicklung durchgemacht. Auf diese Weise erklärt 
Eimer bei Schmetterlingen eine Reihe von Vorkommnissen, die 
früher als Mimikry gedeutet wurden !'). 


1) In einer nach Fertigstellung vorliegender Zeilen erschienenen Arbeit: „Der 
Generationswechsel bei Pflanzen und Tieren als Wechsel verschiedener Morphoden“ 
(Bd. 38 dieser Zeitschrift) belegt Fr. J. Meyer mit dem Namen „Homoiogenesis“ 
den Wechsel von getrenntgeschlechtlichen und hermaphroditen Morphoden. Nach- 


39. Band 26 


386  F. Alverdes, Die gleichgerichtete stammesgeschichtl. Entwicklung d. Vögel ete. 


Auch Steinmann spricht in seinen „geologischen Grundlagen 
der Abstammungslehre“ von einem parallelen Verlauf des phylo- 
genetischen Entwicklungsganges; doch ıst hierunter etwas ganz 
anderes zu verstehen als unter der Homöogenesis Eimer’s. Stein- 
mann glaubt, die heute lebende Tier- und Pflanzenwelt polyphy- 
letisch von den ausgestorbenen Formen herleiten zu können, und 
zwar in der Weise, daß aus einzelnen Gruppen der einen Klasse 
auf Grund einer Parallelentwicklung ebensoviele jüngere Gruppen 
hervorgehen, die dann von den Systematikern ihren gemeinsamen 
Charakteren nach wieder einer anderen Klasse zugerechnet werden. 
Die Homöogenesis Eimer’s ıst demgegenüber ein Ahnlichwerden 
verschiedener Arten von einander unähnlichen Ahnentypen aus. 

Wohl einmütig ist die Ablehnung, die seitens der Zoologen 
und Anatomen Steinmann’s Theorie erfahren hat. Denn bei einer 
gründlicheren morphologischen Betrachtungsweise ist dieselbe wenig- 
stens in der Form, wie sie von Steinmann und seinen Schülern 
verfochten wird, unhaltbar. 

Es war der große Fehler Steinmann’s, daß er Konvergenz- 
erscheinungen als den Ausdruck stammesgeschichtlicher Zusammen- 
gehörigkeit hinnahm. So führt er beispielsweise die Waltiere poly- 
phyletisch auf mesozoische Meeressaurier zurück und zwar die 
Bartenwale auf die Thalattosaurier, die Physeteriden auf die Plesio- 
saurier und die Delphiniden auf die Ichthyosaurier. Er stützt sich 
dabei lediglich auf ein ‘paar äußere Merkmale dieser Tiergruppen 
wie Körpergröße, Profil des Hinterhauptes, Verlauf der Nasengänge 
sowie Zahl der Zähne, Finger und Fingerglieder u. dgl.; die grund- 
legenden morphologischen Verschiedenheiten läßt er wie stets, so 
auch hier, ganz außer acht. 

Wenn ich ım folgenden von einer gleichgerichteten stammes- 
geschichtlichen Entwicklung der Vögel und Säuger spreche, so habe 
ich dabei nicht etwa eine Parallelität nach Steinmann, sondern 
eine „unabhängige Entwicklungsgleichheit“ im Auge, welche beim 
Vergleich der beiden Klassen miteinander hervortritt. 

Angaben über Homöogenesis finden sich häufig in der zoolo- 
gischen, botanischen und paläontologischen Literatur. Allerdings 
denkt heutzutage der Paläontologe, wenn er von paralleler Ent- 
wicklung spricht, meist weniger an eine solche im Eimer’schen. 
als vielmehr an eine solche im Sinne Steinmann’s. Schon Darwin 
kannte das selbständige Auftreten des gleichen Charakters bei ver- 
schiedenen Arten, eine Erscheinung, die er „analogous or parallel 
Variation“ nannte. 


dem aber dieser Terminus durch Eimer bereits für die „unabhängige Entwicklungs- 
gleichheit* festgelegt wurde, halte ich die durch Meyer vorgeschlagene Anwendung 
desselbeu für unzweekmäßig. 









F. Alverdes, Die gleichgerichtete stammesgeschichtl. Entwicklung d. Vögel ete. 387 


Gräfin Linden stellt in den verschiedensten Gastropodenfamilien 
das Wiederkehren nicht nur derselben Skulptur und Zeichnung, 
sondern auch der äußeren Gestalt der Schneckengehäuse fest, ohne 
daß die Träger der letzteren in irgendwelcher verwandtschaftlicher 
oder biologischer Beziehung zueinander ständen. 

In systematischen Arbeiten sind Hinweise auf eine unabhängige 
Entwicklungsgleichheit nicht selten. Nach Sarasın zeigen eine 
ganze Reihe von Vogelarten auf den Loyalty-Inseln melanotische 
Tendenzen. Stresemanun deutet im Sinne Eimer’s als Resultat 
unabhängiger Konvergenz der Eutwicklungsrichtung bei Vögeln eine 
Erscheinung, die seit Wallace als Schulbeispiel der Mimikry galt, 

Der auf Buru lebende Vertreter der Gattung Philemon ıst von 
demjenigen auf Seran sehr verschieden, ebenso wie die Angehörigen 
der Gattung Oriohıs auf diesen beiden Inseln untereinander erheb- 
liche Unterschiede zeigen. Auffallend ist nun, daß sich auf Buru 
Oriolus bouruensis und Philemon moluccensis sehr ähnlich sind, 
ebenso wie sich auf Seran die Vertreter dieser beiden Gattungen 
untereinander gleichen. Nach Wallace soll Plxlemon das Vorbild, 
Oriolus der nachahmende Vogel sein, wodurch der letztere vor 
seinen Feinden geschützt sei. Nach Stresemann wäre dagegen 
die gegenwärtige Färbung auch dann erreicht worden, wenn nur 
der Meliphagide oder nur der Pirol auf Buru resp. Seran gelebt 
hätte. Es sollen auf den genannten Inseln jeweils die gleichen 
von der Außenwelt ausgehenden Reize bei den beiden Gattungen 
die gleichen Charaktere hervorgerufen haben. 

Über Konvergenz bei Muscheln berichtet Stromer in seiner 


Paläozoologie. Semper stellt an fossilen Brachiopoden „in einer 


Fauna parallele Modifizierungen bei mehreren unter sich durchaus 
nicht nahe verwandten Arten“ fest und „daß die gleichen Modı- 
fizierungen sich zu allen Zeiten gelegentlich einstellen, ohne daß 
ein genetisch‘ engerer Zusammenhang zwischen den modifizierten 
Arten besteht“. Den umgestaltenden Einfluß kennen wir nicht; 
wenn wir die Abänderung als Anpassung deuten, so ist sie damit 
auf äußere Einflüsse zurückgeführt. 

Hanstein weist in seiner „Biologie der Tiere“ auf das Auf- 
treten ähnlich gestalteter Arten in ganz verschiedenen, durchaus 
nicht näher verwandten Tiergruppen hin, die eine ähnliche Lebens- 
weise führen. Er vergleicht dabei Spitzmäuse und echte Mäuse, 
die amerikanischen Maulwurfmäuse mit den echten Maulwürfen, die 
Spitzhörnchen mit den Eichhörnchen, Ameisenbeutler und Erdferkel, 
Kängurus und Springmäuse u. Ss. w. 

Klinghardt wird demnächst in einer Arbeit über „Vergleichende 
Anatomie und Biologie der Rudisten“ (Verlag der Gesellsch. natur- 
forsch. Freunde, Berlin) Untersuchungen über Konvergenz ver- 
öffentlichen. . - 


26* 


388  F. Alverdes, Die gleichgerichtete stammesgeschichtl. Entwicklung d. Vögel etc. 


Dacque spricht davon, „daß zu gleichen geologischen Zeiten 
unter den Tiergruppen ein gewisser gleichartiger Baustil herrscht“. 
„Gewisse Eigentümlichkeiten kehren dann bei einer ganzen Anzahl 
nicht unmittelbar verwandter Gattungen und Arten wieder, gerade 
als würden die Lebensumstände Formenerscheinungen fordern, denen 
alle Typen nachzukommen streben.“ „Heterogene Formen bilden 
also zur selben Zeit gleiche Typen aus, die bei nicht allzu entfernter 
Stammeszugehörigkeit geradezu konvergent identisch werden können.“ 


Mit anderen Worten: die neuen Typen, welche ım Laufe der 
Erdgeschichte unablässıg aus den alten Formen hervorgehen, er- 
scheinen in ein und derselben geologischen Zeit oft untereinander 
ähnlich, so daß gewisse Merkmale geradezu für bestimmte Erd- 
perioden charakteristisch genannt werden können. 


Ob nun das Auftreten neuer Formen ganz unabhängig von erd- 
geschichtlichen Ereignissen sich vollzieht, wie Dacque& will, er- 
scheint mir sehr fraglich, denn dann wäre eine Parallelität in der 
Ausbildung dieser Variationen ganz unverständlich. Viel wahr- 
scheinlicher ist es, daß ganz bestimmte Veränderungen der Außen- 
bedingungen dafür verantwortlich zu machen sind, wenn jeweils 
bei einander fernstehenden Formen die gleichen oder ähnliche Merk- 
male hervortreten. 


Mit den Eimer’schen Anschauungen decken sich z. T. die Aus- 
führungen von Abel, der im Anschluß an Osborn den Versuch 


einer genaueren Begriffsscheidung gemacht hat. Abel unterscheidet 


scharf zwei verschiedene Arten gleichgerichteter Abänderung und 


zwar 1. die parallele und 2. die konvergente Adaptationsform. Letz- 


tere setzt er den „analogen Ähnlichkeiten“ Darwin’s gleich. Der 
wesentliche Unterschied zwischen diesen beiden Gruppen ist der, 
daß bei den miteinander verglichenen Tiergruppen im ersteren Falle 
der morphologische Bau der betreffenden Organe gleich, im letzteren 
Falle mehr oder weniger verschieden ist. 


Die parallele Adaption spricht sich in einer homodynamen 
Funktion homologer Organe aus. Die gleiche Umformungsursache 
— sei es das Vorhandensein oder Fehlen eines Reizes — hat bei 
gleichem morphologischem Bau die gleichen Umformungsresultate 
hervorgerufen, so bei Balaenoptera und Halitherium eine Reduktion 
des Beckens. Dies trifft auch in den Fällen zu, wo die Lebens- 
weise der betreffenden Tiere eine verschiedene ist, wie bei der 
Ausbildung der Zwischenfingerhaut von Chironectes und Galeo- 
pithecus. 


Die konvergente Anpassung charakterisiert sich in homodynamer 
Funktion heterogener Organe. Auch hier kann die Lebensweise 
verschieden sein, wenn nur die Umformungsursache die gleiche ist. 
Der morphologische Bau des Organs und die von ihm durchlaufenen 


BE DEN RENTEN S 
fra le JE 
Ha 
A 
f 
{ 
3 


F. Alverdes, Die gleichgerichtete stammesgeschichtl. Entwicklung d. Vögel ete. 389 


Entwicklungsstufen sind in jedem Falle mehr oder minder ver- 
schieden (vgl. die Reduktion der Seitenzehen von Dipus und Macropus 
und die Verkümmerung der Augen bei Tiefsee-, Grab- und Höhlen- 
tieren). Selbst dort, wo sowohl Lebensweise wie Umformungs- 
ursache verschieden ist, kann unter Umständen ein ähnliches Um- 
formungsresultat entstehen. Es ergibt sich somit, daß sich die 
„konvergente“ Entwicklung Abel’s mit der „unabhängigen Ent- 
wicklungsgleichheit“ Eimer’s im wesentlichen deckt. Abel nennt 
als Beispiel für diese Unterabteilung unter anderem Haarlosigkeit 
bei Walen, Sirenen, Elefanten ete. und bei Hund und Mensch. 
Hinsichtlich des Menschen ist es zweifelhaft, ob er die gelegentlich 
als Abnormität auftretende Atrichie oder die normale, im Vergleich 
zu anderen Säugetieren geringe Behaarung meint; beim Hund denkt 
er zweifellos an Atrichie. Nun sind aber die Haarlosigkeit der 
Wale und die gelegentliche Atrichie beim Hund unbedingt zwei 
ganz verschiedene Dinge. Haecker nennt regressive Mutationen 
wie Albinismus, Atrichie etc. „generelle oder universelle Variationen“; 
dieselben sind zuweilen neue Rassenmerkmale und verdanken ver- 
hältnismäßig einfachen Ursachen, ın der Regel einer Entwicklungs- 
hemmung, ihre Entstehung und können spontan bei einzelnen Indi- 
viduen der verschiedensten Gruppen auftreten, ohne im allgemeinen 
einen Einfluß auf die Phylogenese zu gewinnen. Der Verlust der 
Haare bei Walen und beim Menschen müssen wir uns im Gegen- 
satz zu diesen generellen Variationen als durch allmähliche An- 
passung erworben denken; wie diese letztere im einzelnen vor sich 
ging und inwieweit vielleicht auch hier Mutationen eine Rolle 
spielten, wissen wir allerdings vorerst nicht. 

Ich muß hier noch auf eine weitere Reihe von Begriffen ein- 
gehen, die mit den vorhergehenden in gewissem Zusammenhang 
stehen. Haecker (1909) versteht unter „Überschlägen“ oder 
„Transversionen“ ein „partielles aberratives Übergreifen oder Über- 
springen einer Spezies auf die normalen Formverhältnisse und Merk- 
malskomplexe eines benachbarten, aber in der Gegenwart scharf 
abgegrenzten Verwandtschaftskreises“. Teilweise decken sich die 
Transversionen mit dem Begriff: „analogous or parallel Variation“, 
den Darwın schuf. 

Ein Beispiel für Transversionen ist der weiße Halsring, welcher 
bei 8 einheimischen Vogelarten als gelegentliche Aberration ge- 
funden wird, während er bei 3 einheimischen Vogelspezies (Eimberixa 
schoenielus, Phasianus torguatus und Anas boschas) ein Artmerkmal 
darstellt. Die Anlage zur Ausbildung eines weißen Halsringes steckt 
also offenbar in vielen Vogelspezies, wird aber normalerweise bei 
den wenigsten Arten geweckt und tritt deshalb bei den übrigen 
Formen in der Regel nicht in die Erscheinung. Haecker (1915) 
erklärt dies Verhalten durch die „Pluripotenz“, 


390  F. Alverdes, Die eleichgerichtete stammesgeschichtl. Entwicklung d. Vögel ete. 


Hierunter ist zu verstehen „die in jedem Organısmus — nicht 
bloß der Art und Rasse, sondern in jedem einzelnen Individuum — 
vorhandene virtuelle Fähigkeit, unter besonderen, die Lebensfähig- 
keit nicht berührenden Bedingungen bestimmte, vom Typischen ab- 
weichende Entwicklungsrichtungen einzuschlagen, also das Vorhanden- 
sein einer größeren, aber nicht unbegrenzten Zahl von Potenzen 
oder Entwieklungsmöglichkeiten . . .* 

Auch ein von Haecker zitierter Satz Zederbauer’s sei wieder- 
gegeben: „Die Variabilität ist eine Eigenschaft der Organismen wie 
die Wachstums- und Fortpflanzungsfähigkeit. Wie diese bei ähn- 
lichen Arten, Gattungen und Familien ähnlich ist, so auch die 
Variabilität.“ Also: die Variation schlägt bei den Individuen der 
gleichen Rasse und Art sowie bei verschiedenen Arten, Gattungen 
und Familien vielfach die gleiche Richtung ein; die Zahl der 
Variationsmöglichkeiten ist eine begrenzte. 

In seinen Ausführungen stellt Haecker zunächst die Frage 
beiseite, ob es sich bei diesen Variationen um solche erblicher oder 
nicht erblicher Natur handelt, ob also Mutationen oder Modifikationen 
im Sinne Baur'’s vorliegen. 

Wir sehen also, es gibt Merkmale, die bei der einen Art als 
individuell sich herausbildende Variation, bei der anderen Art aber 
als spezifischer Charakter auftreten. Nun handelt es sich bei Trans- 
versionen Immer um solche Eigenschaften, die neben den anderen 
für das Leben bedeutungsvollen, durch Anpassung erworbenen 
Charakteren herlaufen, ohne anscheinend für den Bestand der Art 
von ‚Wichtigkeit zu sein, Dies geht ja auch schon daraus hervor, 
daß die betreffenden Merkmale ohne Schaden für die ın Frage 
kommenden Individuen anwesend sein oder fehlen können. Es wäre 
denkbar, daß ım Verlauf der Phylogenese unter Umständen aus 
einer Transversion ein Artmerkmal werden kann; z. B. könnte der 
weiße Halsring außer bei den 3 obengenannten einheimischen Arten 
durch Häufung der Fälle noch bei einer vierten zu einer für die 
Art charakteristischen Merkmal werden. Andererseits wieder könnte 
künftighin aus irgendwelchen Gründen bei einer der 3 Arten der 
weiße Halsring als Artcharakter verschwinden und nur mehr ge- 
legentlich bei einzelnen Individuen auftreten; dann wäre umgekehrt 
aus einem Artmerkmal eine Transversion geworden. 

Ich halte es nicht für müßig, noch auf eine letzte Art „ähn- 
licher Entwicklung“ aufmerksam zu machen. Wir finden bei den 
Nashornkäfern ın ähnlicher Weise wie bei den Nashörnern auf dem 
Vorderende des Kopfes ein spitzes Horn aufgesetzt. Nun ist es 
aber nichts als eine rein äußerliche Ähnlichkeit, wenn sich bei 
diesen beiden Tieren an dem in der Bewegungsrichtung liegenden 
Körperende und zwar auf der dem Erdboden abgewandten Körper- 
seite ein Horn erhebt; denn morphologisch und funktionell haben 








a u BET IR RN a I FE ee LE NEN RT ir y 


F. Alverdes, Die gleichgerichtete stammesgeschichtl. Entwicklung d. Vögel ete. 391 


die beiden Gebilde miteinander gar nichts zu tun. Anders ist die 
Grabschaufel des Maulwurfs und der Maulwurfsgrille einzuschätzen ; 
diese beiden Bildungen stehen zwar nicht morphologisch, wohl aber 
funktionell miteinander in Beziehung und fallen daher unter den 
Begriff der „konvergenten Adaptation“. Fürden Fall der Hornbildung 
bei Nashörnern und Nashornkäfern schlage ich einen besonderen 
Terminus: „äußerliche Ähnlichkeit“ vor, um hervorzuheben, daß in 
diesem Falle keinerlei Beziehungen zwischen den beiden miteinander 
verglichenen Gebilden bestehen. Hier noch von einer Analogie 
Sprechen hieße diese Bezeichnung des letzten Restes von begriff- 
licher Schärfe entkleiden. Überhaupt wäre es meines Erachtens am 
Platze, das durch verschiedenartige Anwendung recht vieldeutig ge- 
ne Wort „Analogie“ anzhch auszuschalten. Die von Ben 
und Abel geprägte Nomenklatur zusammen mit der Haecker’schen 
läßt eine hinreichend präzise Bezeichnungsweise zu. 

Unter gewissen Umständen werden sich im Verlaufe der Phylo- 
genese die Erscheinungen der Parallelität und Konvergenz derart 
häufen, daß man sagen kann, die betreffenden Gruppen seien auf 
Grund einer Anzahl gleichartiger Eigenschaften, die sie unabhängig 
voneinander erwarben, gemeinsam in eine andere Organisationsstufe 
eingetreten. Diese letztere wird sich vielfach als eine vollkommenere 
darstellen; die betreffenden Formen wären dann also auf Grund der 
durchlaufenen Entwicklung nebeneinander in eine höhere Stufe der 
Organisation aufgerückt. 

Vögel und Säuger haben im Sinne dieser Formulierung eine 
gleichgerichtete Entwicklung durchgemacht (im Abel’schen Sinne 
in bezug auf einzelne Organe eine parallele, in bezug auf andere 
Organe eine konvergente Entwicklung). Um dies zu erläutern, muß 
ich auf einige allbekannte Tatsachen eingehen, die sich in jedem 
Lehrbuche vorfinden. 

Stammesgeschichtlich leitet sich weder die eine Klasse von der 
anderen her, noch lassen sie sich direkt auf die gleiche Wurzel 
zurückführen. Daher müssen die übereinstimmenden Merkmale, 
welche sie gemeinsam vor allen anderen Klassen auszeichnen, sich 
notwendigerweise in beiden Gruppen unabhängig voneinander aus- 
gebildet haben. Die anatomische Betrachtung zeigt eine nicht un- 
bedeutende Kluft zwischen Säugern und Vögeln und weist den 
letzteren einen Platz in der Nähe der Reptilien zu. Bekanntlich 
vereinigt Huxley sogar Vögel und Reptilien unter dem Namen 
Sauropsiden. 

Charakteristisch für Vögel und Säuger ist die Art der Körper- 
bedeckung durch Federn resp. durch Haare. Wenn nun aber auch 
diese beiden Bildungen in gleicher Weise als Wärmeschutz funktio- 
nieren, so hat man sie darum doch noch nicht als homolog an- 
zusehen (siehe Brandt, Emery, Maurer, de Meijere, Römer 


399  F. Alverdes, Die gleichgerichtete stammesgeschichtl. Entwicklung d. Vögel ete. 


u. a.); die Federn sind als umgewandelte Reptilienschuppen auf- 
zufassen. 

Schuppen kommen auch bei manchen Säugetieren vor; dieselben 
sind zwar nach Weber denen der Reptilien nicht völlig homolog, 
unterscheiden sich von ıhnen aber nur in untergeordneten Punkten; 
jedenfalls entstammen beide phylogenetisch einem gemeinsamen 
Boden. Bei Anwesenheit von Schuppen sind die Haare in regel- 
mäßiger Weise zwischen diesen angeordnet (Weber). Eine der- 
artige Stellung der Haare läßt sich ebenfalls bei schuppenlosen 
Säugetieren nachweisen (Weber, de Meijere, Stöhr); Haare sind 
also Bildungen, die neben den Schuppen entstanden ‚sind; nach der 
vielumstrittenen Theorie von Maurer sollen sie sich aus Nerven- 
endhügeln von Wasserbewohnern herleiten. 

Neuerdings haben sich freilich mehrere Forscher auf den Stand- 
punkt gestellt, daß Haar und Feder in naher phylogenetischer Be- 
ziehung stehen (siehe Wiedersheim). Der Ursprungsort des 
Haares soll sich in der Mitte der Schuppenfläche finden. Dieser 
Ansicht gegenüber scheint mir jedoch die ältere oben dargestellte 
Auffassung größere Wahrscheinlichkeit zu besitzen. 

Aber selbst angenommen, die letztgenannten Angaben würden 
sich bestätigen, so sind Haare und Federn immer noch nicht homolog 
im strengsten Sinne, denn die Feder entspricht einer ganzen Rep- 
tilienschuppe oder doch dem größten Teile einer solchen, die Haare 
repräsentieren dagegen nur jeweils einen kleinen Teil des Schuppen- 
gebietes. Ferner ist mit Rücksicht auf die Verschiedenheiten in Bau- 
art und Entwicklung eine Herleitung der beiden Epidermoidal- 
bildungen aus einer gemeinsamen Urform, die sich bereits über 
die Reptilienschuppe hinausentwickelt hatte, auszuschließen; viel- 
mehr müssen die beiden Klassen ihr charakteristisches Kleid un- 
abhängig voneinander erworben haben. 

Verschiedenartige Anhänge der Epidermis stellten also die 
Vorfahren der Vögel und der Säuger aus der Notwendigkeit her- 
aus, ihren Körper mit einer wärmenden Hülle zu umgeben, in 
Dienst. Ein Bedürfnis nach solchem Schutz ergab sich wohl in 
dem Augenblick, als die Warmblütigkeit ausgebildet wurde. Rep- 
tilienschuppen waren nicht imstande, denselben in genügendem 
Maße zu gewähren; es mußte daher eine neue Bekleidung geschaffen 
werden, welche sich hierfür in höherem Maße eignetee Wenn nun 
bei Vögeln und Säugetieren nichthomologe Bildungen dem gleichen 
Zwecke dienstbar gemacht sind, dann ist es zum mindesten sehr 
wahrscheinlich, daß die beiden Klassen ihre Warmblütigkeit unab- 
hängig voneinander erwarben. 

In einem gewissen Zusammenhang mit der Homöothermie steht 
vielleicht eine BE underheit im Bau des Herzens. Übereinstimmend 
ıst bei Vögeln und Säugern eine vollständige Teilung in eine rechte 





F. Alverdes, Die gleichgerichtete stammesgeschichtl. Entwicklung d. Vögel etc. 3953 


und linke Hälfte erfolgt. Die Tendenz zu einer derartigen Trennung 
zeigt sich bereits bei Amphibien und Reptilien, durchgeführt ist 
dieselbe aber nur bei den Warmblütern. 

Die höheren Anforderungen, die die Warmblütigkeit an den 
gesamten Stoffwechsel stellte, machte offenbar eine gänzliche Schei- 
dung von Körper- und Lungenkreislauf zur Notwendigkeit. Da 
diese Scheidung bei allen niederen Formen nur eine mehr oder 
minder unvollkommene ist, so steht zu vermuten, daß sie sich 
‘ — vielleicht Hand in Hand mit der Homöothermie — bei Vögeln 
und Säugern selbständig entwickelte. 

Interessant ist das Verhalten der Aortenbögen. Die Vögel be- 
sitzen bekanntlich nur mehr den rechten, die Säugetiere den linken. 
Bei den Warmblütern schwand offenbar ım Verlaufe der Phylo- 
genese die Notwendigkeit, zwei Aortenbögen auszubilden. Einer 
mußte der Rückbildung verfallen; bei den Vögeln wurde der linke, 
bei den Säugetieren der rechte ausgeschaltet ?). 

Was Vögel und Säuger ganz besonders vor allen anderen Wirbel- 
tieren auszeichnet, das ist ihre höhere Intelligenz. Wir finden bei 
den meisten Vertretern der beiden Klassen ein ausgesprochenes 
Familienleben; die Eltern pfiegen und verteidigen, wenn es nötig 
ist, die junge Brut. Ähnliche Verhältnisse liegen nur selten bei 
niederen Vertebraten vor. Auch die Beziehungen der Geschlechter 
zueinander gestalten sich bei den Warmblütern reicher, sei es, daß 
die Männchen durch Balzen, Gesang und zur Schau Tragen eines 
prächtigen Gefieders die Gunst der Weibchen zu erringen suchen 
(Vögel), sei es, daß die Männchen um den Besitz der Weibchen 
lebhafte Kämpfe ausfechten (Säugetiere). Die gehobene Intelligenz 
spricht sich fernerhin in der Gelehrigkeit aus, wie wir sie bei Vögeln 
und ganz besonders bei Säugern antreffen. 

Eine interessante Gleichartigkeit in der psychischen Entwicklung, 
auf die mich hinzuweisen Herr Professor Haecker die Liebens- 
würdigkeit besaß, spricht sich auch in folgendem aus. Blau und 
Rot sind nach Haecker (siehe Haecker und Meyer) bei Vögeln 
exquisite Schmuckfarben; es finden sich stets nur rote und blaue 


2) Ähnliche Entwicklungstendenzen, bei welchen ein Organsystem durch Rück- 
bildung eines seiner Teile eine Vereinfachung erfährt, sehen wir vielfach im Tier- 
reich. Es soll ein Beispiel aus einer ganz anderen Tierklasse herausgegriffen werden, 
deren Vertreter eine Vereinfachung ebenfalls auf zwei verschiedenen Wegen erreicht 
haben. Aus der Tatsache, daß der Ovidukt bei der überwiegenden Mehrzahl der 
rezenten Ögopsiden und Octopoden paarig auftritt, darf man wohl schließen, daß 
dies für alle Cephalopoden das ursprüngliche Verhalten darstellt. ‚Bei manchen 
Formen scheint nun im Laufe der Entwicklung das Bedürfnis, zwei Ovidukte aus- 
zubilden, abhanden gekommen zu sein; bei den Nautiliden rudimentierte daher der 
linke soweit, daß er funktionsunfähig wurde; bei anderen Cephalopoden schwand 
dagegen der rechte und zwar vollständig. Auch hier sehen wir, wie die Verein- 
fachung bei den verschiedenen Formen auf verschiedene Weise erzielt wird. 


En N N a 


594  F. Alverdes, Die gleichgerichtete stammesgeschichtl. Entwicklung d. Vögel etc. 


Farbenflecke auf andersfarbenem Untergrunde aufgesetzt, niemals 
ist das Umgekehrte der Fall. Augenscheinlich handelt es sich also 
um besondess wirksame Schmuckfarben, die die Augen der Vögel 
in höherem Maße reizen als andere Farben. Nach Haecker sınd 
Braun, Schwarz und Weiß die ältesten Vogelfarben; aus dem Braun 
entwickelte sich das Grün, aus diesem das Gelb; die phylogenetisch 
jüngsten Farben sind Orange, Rot und Blau. „Die modernere, 
neuer erworbene Farbe steht zur ältern im Verhältnis vom Abzeichen 
zur Grundfärbung.“ Rot und Blau sind auf dem Gefieder zahl- 
reicher Vögel, insbesondere bei Papageien vertreten; wir treffen 
diese Farben am Schnabel des Papageitauchers, an Kopf und Hals 
des Truthahns und am Halse des Kasuars. 


Die gleichen Farben Rot und Blau finden sich aber auch als 
Z1erfarben bei dem buntesten der Säugetiere, dem Mandrill, an 
einigen „Prädilektionsstellen“ des Körpers. Das Gesicht, nament- 
lich des alten Männchens zeigt blaue Leisten, die mit Purpur ab- 
wechseln. Die Gesäßschwielen sind mit violetter, Genital- und 
Analgegend mit roter nackter Haut bedeckt. Offenbar kommt also 
der blauen und der roten Farbe sowohl im Liebesleben gewisser 
Vögel wie in demjenigen des Mandrills die gleiche wichtige Rolle 
als Anreizungsmittel zu. 


Der Fortschritt in den psychischen Eigenschaften steht ım 
engsten Zusammenhang mit der Entwicklung des Gehirns. Das- 
selbe hat sich bei Vögeln und bei Säugern gegenüber dem der 
anderen Wirbeltiere erheblich vergrößert und dadurch auch die 
Schädelkapsel zu einer nicht unbedeutenden Erweiterung genötigt. 
In beiden Fällen sind es sowohl Großhirnhemisphären wie Klein- 
hirn, die an Umfang zugenommen haben. 


Das Großhirn der Vögel hat begonnen, den Lobus olfactorius. 
und das Mittelhirn zu bedecken. Ähnliches gilt für die primitiven 
Säugetiere, wogegen bei den Primaten die Großhirnhemisphären, 
von oben her gesehen, die übrigen Hirnteile verdecken. Andere 
Säuger-Ordnungen zeigen alle Übergänge zwischen diesen zwei 
Extremen. 

Nächst dem Großhirn besitzt bei Vögeln und Säugern das Klein- 
hırn das größte Volumen. In der Ausbildung desselben findet sich 
eine interessante Verschiedenheit zwischen beiden Klassen. Bei den 
Säugetieren ist dasselbe in seitliche Hemisphären und den medianen 


Wurm gegliedert; bei den Vögeln weist es — ähnlich wie bei den 
Reptilien — ein großes Mittelstück, das dem Wurm der Säuger 


entspricht, und kleinere seitliche Anhänge auf. Die an das Klein- 
hirn gestellten gesteigerten Ansprüche ließen also bei den Vögeln 
hauptsächlich den mittleren Teil, bei den Säugetieren neben diesem 
auch die Seitenteile heranwachsen, 












F. Alverdes, Die gleichgerichtete stammesgeschichtl. Entwicklung d. Vögel ete. 395 


Die höhere Intelligenz der Vögel und Säuger ist vielleicht als 
mittelbare Folge der von ihnen erworbenen Warmblatiekei aufzu- 
fassen. Vermutlich begünstigte die letztere einen erhöhten Stoff- 
wechsel im ganzen Organismus und also auch innerhalb des Ge- 
hirns, wodurch eine lebhaftere Funktion desselben ermöglicht wurde. 
Diese verstärkte Beanspruchung verursachte dann durch die von 
ihr ausgehende trophische Wirkung und durch Vererbung der ein- 
mal erreichten funktionellen Anpassung im Sinne von Roux bei 
den Angehörigen beider Klassen eine allmähliche Vergrößerung des 
Gehirns. 

Mit dem sich fortentwickelnden Zentralnervensystem hielten 
die Sinnesorgane der Warmblüter gleichen Schritt. Bei den Vögeln 
und den meisten Säugern spielt das Auge dieselbe wichtige Rolle. 
Das Gehörorgan ıst überall vorzüglich ausgebildet. Dies gilt auch 
für den Fall, daß, wie bei den Waltieren der äußere Gehörgang in 
Anpassung an das Wasserleben einer Rückbildung an 
(Kükenthal). Denn der eigentliche schallperzipierende Apparat 
ist von dieser Rudimentierung nicht ergriffen worden, sondern in 
vollem Umfang funktionsfähig geblieben, da der Körper des Tieres 
selbst die Vermittlung der Geräusche übernahm. 

Bei den Vögeln ist im Bau des Gehörorgans den Reptilien 
gegenüber insofern ein Fortschritt festzustellen, als die Lagena eine 
erhebliche Vergrößerung erfahren hat. Bei Säugern ist dieselbe 
sogar spiral zur Schnecke eingerollt. Bei den Vögeln findet sich, 
in Nachahmung der Verhältnisse bei Säugern, Ohrmuschel und 
äußerer Gehörgang angedeutet, indem das Trommelfell in die Tiefe 
rückte. Also auch die Fortentwicklung des Gehörorgans ist bei Vögeln 
und Säugern in parallelen Bahnen erfolgt; die großen Verschieden- 
heiten, welche die beiden Klassen allein schon bezüglich der Gehör- 
knöchelchen zeigen, lassen mit Sicherheit darauf schließen, daß 
Vögel und Säuger diese Vervollkommnung unabhängig voneinander 
erwarben. 

Mannigfach sind innerhalb des Tierreiches die Apparate zur 
Tonerzeugung. Bei den höheren Wirbeltieren dient als solcher der 
in gewissen Teilen modifizierte Zuleitungsweg der Lungen. Gerade 
die Luftröhre erscheint zur Angliederung eines Stimmorgans_ her- 
vorragend geeignet, da die ein- und ausströmende Luft bei Ein- 
schaltung passender Zwischenstücke kräftige Töne zu erzeugen ver- 
mag. So ist bereits bei den Fröschen und in Piekardenerer 
Weise bei den stimmbegabten Reptilien, namentlich bei den Geckos 
und beim Chamäleon, die Luftröhre kehlkopfähnlich ausgestaltet. 

Bemerkenswert ist es, daß sich bei Vögeln und Säugern ganz 
verschiedene Abschnitte des Luftweges zum Stimmapparat umge- 
formt haben. Bei Säugetieren dient der eigentliche Kehlkopf (Lar yax) 
als tonerzeugendes De bei den Vögeln hat sich dagegen ein 


Br — ni A, “ ner “ 


396  F. Alverdes, Die gleichgerichtete stammesgeschichtl. Entwicklung d. Vögel etc. 


solches an der Stelle entwickelt, wo sich die Luftröhre in die 
Bronchien teilt. Meist bilden die letzten Tracheal- und die ersten 
Bronchialringe gemeinsam diesen sogenannten unteren Kehlkopf 
(Syrinx); seltener ist es der Fall, daß die Trachea oder die Bronchien 
allein denselben liefern. Offenbar machte die erhöhte Intelligenz 
der Warmblüter die Möglichkeit einer wenn auch vielfach nur 
primitiven Verständigung wünschenswert und so bildeten Vögel 
und Säuger unabhängig voneinander einen Abschnitt ihrer Luft- 
röhre zum -Stimmapparat um. Näheres insbesondere bezüglich der 
Physiologie der Stimmerzeugung siehe bei Haecker „Der Gesang 
der Vögel*. 

Ein weiterer gemeinsamer Charakter der Warmblüter ist die Art 
des Ganges. Während bei Amphibien und Reptilien die Extremi- 
täten eine mehr seitwärts gerichtete Stellung ‘besitzen, sind die 
Beine der Warmblüter dem Körper in der Regel so angefügt, daß 
sie senkrecht nach abwärts weisen. Die Streitfrage, ob die großen 
mesozoischen Landsaurier in bezug auf ihre Beinstellung richtig 
rekonstruiert worden sind, ob also die Montierung ihrer Skelette 
mit säugerähnlicher Haltung der Extremitäten ın den Museen zu 
Recht besteht, kann hier außer Betracht gelassen werden. (Näheres 
siehe beı Torniıer.) ’ 

Die verschiedene Einlenkung und Stellung der Extremitäten 
bedingt bei wechselwarmen und warmblütigen Landwirbeltieren .eine 
ganz verschiedene Art desGanges. Sehen wir ab von extremitätenlosen 
Formen, so besteht die Fortbewegung der Amphibien und Reptilien 
im Vergleich zu der der meisten Warmblüter mehr in einem Da- 
hingleiten über den Erdboden, bei dem sich die Bauchfläche nicht 
wesentlich über die Unterlage erhebt; nach Tornier sind bei 
Amphibien und Reptilien „die Gliedmassen nicht richtige Fortträger 
des Körpers, sondern wie Ruder an ıhm wirkende Am-Boden-Ent- 
langschieber“. Man heißt die Reptilien deshalb wohl auch Kriech- 
tiere. 

Der Gang der Warmblüter stellt im Gegensatz zu dem der 
anderen Klassen fast allgemein ein Schreiten dar. Vielleicht, daß 
erst die Homöothermie den Warmblütern die ihnen eigentümliche 
Gangweise ermöglichte, indem der vermehrte Stoffumsatz eine er- 
höhte Beanspruchung der Beinmuskulatur ausglich. 

Im Bau der Hinterextremität haben die Vögel eine ganz ähn- 
liche Entwicklung wie die Huftiere durchgemacht. In beiden Fällen 
ist die Vielzahl der Knochen erheblich reduziert worden. Bei 
Vögeln verschmilzt der distale Teil des Tarsus mit den Metatarsen 
zum Tarsometatarsus, der proximale Teil mit der Tibia zum Ti- 
biotarsus; die Fibula verschwindet bis auf unbedeutende Reste. So 
sind bei Vögeln nur mehr Femur, Tibiotarsus mit anhängendem 
Fibula-Rudiment, Tarsometatarsus und die Phalangen der Zehen 





F. Alverdes, Die gleichgerichtete stammesgeschichtl. Entwicklung d. Vögel eete. 397 


vorhanden. Bei Anwesenheit einer vierten Zehe findet sich eın zu 
dieser gehöriges kleines Metatarsale. 


Die Huftiere bieten in bezug auf die Verschmelzung ihrer 
Extremitätenknochen kein so einheitliches Bild wie die Vögel. Beı 
den Condylarthren, den ursprünglichsten Huftieren aus dem Alt- 
tertiär, zeigt sich eben erst der Beginn einer in der angegebenem 
Richtung orientierten Entwicklung, indem an jeder Extremität die 
‘äußerste der vorhandenen fünf Zehen bedeutend kleiner ist als die 
übrigen. Von diesem Verhalten bis zu demjenigen des rezenten 
Pferdes, bei welchem sich nur mehr die mittlere Zehe vollständig er- 
halten hat, während die zweite und vierte als stark rückgebildete 
sogenannte „Griffelbeine“ auftreten, finden sich innerhalb der Ord- 
nung alle Übergänge. 


Von verschiedenen Ahnentypen ausgehend, haben also Vögel 
und Säuger während ihrer phylogenetischen Vergangenheit eine in 
mancher Hinsicht gemeinsame Entwicklung durchlaufen, so daß 
sie sich heutzutage in vielen Punkten gleichen. Oder, gemäß der 
eingangs gewählten Formulierung, es sind die beiden Klassen neben- 
einander und unabhängig voneinander in eine höhere Organisations- 
stufe aufgestiegen. Zeugnis für ihre verschiedene Abstammung 
legen die großen morphologischen Unterschiede ab, welche von 
dieser parallel gerichteten Fortentwicklung nicht verwischt werden 
konnten. 


Offenbar stehen in der ÖOrganismenwelt niemals unendlich 
viele Möglichkeiten für die Weiterentwicklung zur Verfügung; viel- 
fach ist die Zahl der letzteren wohl nur eine recht beschränkte 
(vgl. Eimer, Gräfin Linden). Wird die für die Gesamtheit der 
Tiere in Betracht kommende Zahl der Variationsmöglichkeiten er- 
wogen, so mag dieselbe zwar unendlich erscheinen; für die einzelne 
systematische Gruppe ist sie dagegen meist nur gering. 

Wenn dann ersteinmal von seiten zweier Gruppen ein gemein- 
samer Schritt in gleicher Richtung geschah, so sind sie bei allen 
sonstigen Verschiedenheiten anscheinend oftmals gezwungen, auch 
weiterhin in ihrer Entwicklung gleichlaufende Wege einzuhalten. 
Im Falle der Vögel und Säugetiere ist ein solcher erster gemein- 
samer Schritt im Übergang zur Warmblütigkeit zu erblicken. Was 
zu ihrem Auftreten den Anstoß lieferte, wird sich wohl schwer 
entscheiden lassen. Wir sahen, daß sich dieselbe bei den beiden 
Klassen wahrscheinlich selbständig ausbildete. Durch die gemein- 
same Abänderung eines so lebenswichtigen Charakters, wie ıhn die 
Körpertemperatur darstellt, wurde bei Vögeln und Säugern im 
wesentlichen der fernere Verlauf der Phylogenese bestimmt. Ge- 
wissermaßen zwangsläufig nahm dieselbe einen durch weitere ge- 
meinsame Umwälzungen gekennzeichnete Richtung. 


BE N an ET a a LER ir A Er 
4 BR u? RE HT z 





398 F. Alverdes, Die gleichgerichtete stammesgeschichtl. Entwicklung d. Vögel etec. 


Es bildete sich ein Kleid aus Federn und aus Haaren, welches 
eine Steigerung der Körpertemperatur bis zu den von rezenten 
Formen erreichten Wärmegraden wohl überhaupt erst ermöglichte. 
Bei den Vögeln lieferten umgewandelte Schuppen, bei den Säuge- 
tieren zwischen solchen hervorsprossende Haare die wärmende 
Decke. 

Die höhere Temperatur hatte eine vermehrte Tätigkeit aller 
Organe zur Folge; nicht nur die Muskulatur, sondern auch Gehirn 
und Sinnesorgane wurden zu größeren Leistungen befähigt. Diese 
gesteigerte Funktion bedingte im Verlauf der Phylogenese eine 
Vervollkommnung und zum Teil Vergrößerung der betreffenden 
Organe. Interessant ist es dabei, zu beobachten, wie die beiden 
Klassen der stärkeren Beanspruchung unter Umständen auf ver- 
schiedene Weise gerecht wurden. 

Die Vergrößerung des Gehirns kam in einer Hebung der 
Intelligenz zum Ausdruck; durch Ausbildung eines Stimmorgans 
wurde dem auftretenden Bedürfnis nach Verständigung Rechnung 
getragen. 

Vielleicht steht auch die vollständige Trennung der rechten 
und linken Herzhälfte mit der Warmblütigkeit in Zusammenhang, 
indem die Anforderungen, dıe bei erhöhtem Stoffumsatz an alle 
Kreislaufsorgane gestellt wurden, die unrationelle Vermischung des 
aus Körper und Lunge stammenden Blutes nicht mehr gestatteten, 
selbst wenn es sich, ähnlich wie bei Reptilien, nur mehr um geringe 
Mengen gehandelt hätte. 

Nach der hier vertretenen Auffassung war also die Ausbil: 
dung eines ersten gemeinsamen Charakters, der Warmblütigkeit, 
Anstoß zu einer Zahl weiterer gleichgerichteter Schritte in der 
phylogenetischen Entwicklung, die dazu führten, daß Vögel und 
Säuger eine in vielen Punkten ähnliche Organisation erreichten. 

Eine derartige Entwicklungsgleichheit wird für uns am leichtesten 
bei denjenigen Gruppen nachzuweisen sein, die aus irgendwelchen 
Gründen unter die gleichen Lebensbedingungen traten. 

Ein Beispiel bilden die Tiefseeorganismen. Vielleicht wurden 
die Vorfahren der hierher gehörigen Tiere durch irgendwelche 
äußere Umstände genötigt, in die tieferen Regionen des Meeres 
hinabzusteigen; vielleicht aber eigneten sie sich auf Grund beson- 
derer Eigenschaften bereits bis zu 'einem gewissen Grade für ein 
Leben in dieser Umgebung. 

Als sich ihre Anpassung an die neuen Bedingungen späterhin 
allmählich vervollkommnete, schlug die Entwicklung bei Formen, 
die sich systematisch außerordentlich fern stehen, zuweilen die 
gleichen oder doch sehr ähnliche Wege ein. So bildete eine An- 
zahl von Fischen, Cephalopoden und Crustaceen neben anderen 
gemeinsamen Charakteren Leuchtorgane aus, die von den ver- 








F. Alverdes, Die gleichgerichtete stammesgeschichtl. Entwicklung d. Vögel ete. 99 


schiedenen Gruppen natürlicherweise selbständig erworben sein 
müssen. Meist wird sich allerdings die Ursache eines bei mehreren 
Gruppen ähnlichen Entwicklungsganges nicht so leicht aufzeigen 
lassen wie in diesem Falle, und man wird sich daher oft mit der 
Konstatierung, daß eine Parallelität oder Konvergenz der Stammes- 
geschichte offenbar vorliegt, zunächst begnügen müssen. 


Im allgemeinen sind Übereinstimmungen um so häufiger, je 
näher sich die betreffenden Formen stehen, und um so seltener, 
je geringer der Grad der Verwandtschaft ist (vgl. hierzu auch 
Zederbauer). 

Baur und andere Forscher erblicken in den äußeren Eigen- 
schalten lediglich eine nach ererbten Normen erfolgende Reaktion 
des Körperplasmas auf die verschiedenartigen zur Wirkung ge- 
langenden Einflüsse Wenn nun bei mehreren Gruppen unabhängig 
übereinstimmende Charaktere auftreten, so wird man unter Um- 
ständen folgern dürfen, daß hier die gleichen Ursachen äußere 
oder innere — am Werke waren. Man wird sich allerdings hüten 
müssen, allzu weitgehende Schlüsse zu ziehen; denn es können die 
gleichen äußeren Eigenschaften auch von ganz verschiedenartigen 
Ursachen herstanımen. So muß, um ein Beispiel aus der Botanik 
anzuführen, die weiße Blütenfarbe bei den verschiedenen Pflanzen 
durchaus nicht immer von den gleichen Bedingungen her ihren Ur- 
sprung nehmen (vgl. hierzu Baur). 





Tritt eine Variation aus inneren Ursachen auf, so hat sich 
irgend etwas in der spezifischen inneren Struktur der betreffenden 
Formen verändert; hieraus resultiert eine neuartige Reaktionsweise 
auf die unverändert gebliebenen Einflüsse der Umgebung. Wandelten 
sich dagegen die Außenbedingungen, während die innere Struktu- 
rierung die alte blieb, so kann dann eine Veränderung in die Er- 
scheinung treten, wenn der Körper auf diese neuen Außeneinflüsse 
anders reagiert als auf die vorher wirksamen. Unter Umständen 
werden äußere und innere Ursachen in komplizierter Weise zu- 
sammenspielen, indem Veränderungen der Außenwelt mit inneren 
Umwandlungen zusammentreffen und gemeinsam einen Einfluß auf 
die Merkmale der betreffenden Form ausüben. 


Bei Beurteilung aller dieser Verhältnisse dürfen wir das eine 
nie außer acht lassen, daß wir bei dem jetzigen Stand unseres 
Wissens unter den Eigenschaften der Organismen gemeinhin die- 
jenigen verstehen, die sich. als Form, Farbe, Umfang und als die 
allereinfachsten physiologischen und chemischen Erscheinungen 
manifestieren. Eine sich anbahnende Veränderung werden wir in 
den seltensten Fällen in ihren eigentlichen Anfängen zu bemerken 
vermögen; meist stehen wir bei unseren Beobachtungen vor bereits 
vollzogenen Tatsachen. 





400  F. Alverdes, Die gleichgerichtete stammesgeschichtl. Entwicklung d. Vögel ete. 


Literatur: 


Abel, O., Grundzüge der Paläobiologie. Stuttgart 1912, 
Baur, E., Einführung in die experimentelle Vererbungslehre. 2. Aufl. Berlin 1914. 
Brandt, A., Zur Phylogenie der Säugetierhaare. Biol. Zentrabl. Bd. 20. 1900. 
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(Überschläge). Zeitschrift f. ind. Abst.- u. Ver.-Lehre. Bd. 1. 1909. 
—  , Entwiecklungsgeschichtliche Eigenschafts- oder Rassenanalyse. Zeitschr. f. 
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Abt. f. Syst. Bd. 15. 1902. 
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Huxley, Th., A Manual of the Anatomie of Vertebrated Animals. London 1871. 
Kükenthal, W., Die Wale des Arktis Fauna Arctica I. Jena 1901. 
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1898. 
Maurer, F, Hautsinnesorgane, Feder- und Haaranlagen. Morph. Jahrb. Bd. 18. 
1892. 
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Meijere, J. de, Over de Haren der Zoogdieren in’t byzonder over hunne wijze 
van rangschikking. Dissert. Amsterdam 1893. (Zitiert nach Weber). 
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196. 
Roux, W., Der Kampf der Teile im Organismus. Leipzig 1881. 
Sarasin, F., Die Vögel Neu-Caledoniens und der Loyalty-Inseln. Wiesbaden 1913. 
Semper, M., Über Convergenzerscheinungen bei fossilen Brachiopoden. Neues 
Jahrb. f. Min., Geol. u. Pal. Jahrg. 1899. Bd.1. 
Steinmann, G., Die geologischen Grundlagen der Abstammungslehre. Leipzig 1908. 
Stöhr, P., Über die Schuppenstellung der menschlichen Haare. Anat. Anz. Bd. 30. 
Ergänzgs.-Heft 1907. 
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Stromer, E. v., Paläozoologie II. Leipzig und Berlin. 
Tornier, G., Wie war Diplodocus carnegii wirklich gebaut? Sitzber. Ges. natur- 
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4. Aufl. Tübingen 1908. 
Zederbauer, E., Variationsrichtungen der Nadelhölzer. Sitzber. der Akad. Wiss. 
Wien. Math.-Nat. Klasse. 116. Abt.1. 1907. (Zitiert nach Haecker.) 





E. Hesse, Lucilia als Schmarotzer. 401 - 


Lucilia als Schmarotzer. 
(Dritter Beitrag.) 
Von Dr. Erich Hesse. 


Im Biologischen Zentralblatt Bd. 26, 1906, S. 633—640, Taf. I 
und Bd. 28, 1908, S. 753—758 veröffentlichte ich einige "Mitteilungen 
über Schmarotzertum von Lucilia; zehn Fälle davon betrafen Lu- 
cilia splendida Zett. und Meig. mit Bufo vulgaris Laur. als Wirt, 
einer Zueilia caesar L. mit Turdus viscivorus L. als Wirt, alle auf das 
Leipziger Gebiet als Vorkommen entfallend. Im folgenden möchte ich 
vier weitere Fälle anführen, die sich auf die erstgenannte Fliegen- 
art mit der gleichen Krötenart als Wirt beziehen, und deren Vor- 
kommen zweimal der Mark Brandenburg und zweimal abermals dem 
Leipziger Gebiet angehören. Diese vier Fälle belege ich wieder mit 
fortlaufenden Nummern, die sich an die der ersten beiden Berichte 
anschließen sollen. Bezüglich des Benehmens der Kröten und ihrer 
fortschreitenden Zerstörung durch die Parasiten fasse ich mich ganz 
kurz und verweise auf meine früheren Darlegungen. Der Boden der 
Behälter wurde wieder ein paar Zentimeter hoch mit schwach ange- 
feuchteter Erde bedeckt. — 

Fall XI Am 14. August 1910 auf Wiesenweg bei Vehlefanz 
(ca. 4 Meilen nordwestlich Berlin) eine fast erwachsene Kröte gefun- 
den; Fliegenlarven in den erweiterten Nasenlöchern; abends rechtes 
Auge bereits zerstört. — 15. August: Fraßhöhlen bedeutend erwei- 
tert; eine Larve auf der Erde kriechend; Kröte in der Erde wüh- 
lend. — 16. August: Kröte tot, vordere Schädelpartie zerstört. — 
17. August: Larven in die Leibeshöhle vorgedrungen, vordere Körper- 
partie zerstört. — 18. August: Inneres der Kröte ausgefressen; Lar- 
ven in die Erde gehend. — 19. August: Alle Larven in der Erde. — 
17. September: Revision der Erde: Im ganzen 39 Larven, alle noch 
unverpuppt, 37 abgestorben, 2 noch lebend. — 15. Oktober: Revision 
der Erde: Alles wie am 17. September. — 19. November: Revision 
der Erde: 38 abgestorbene, 1 lebende Larve. — 3. Dezember: Revision 
der Erde: 38 abgestorbene Larven, 1 abgestorbene Puppe. 

FallXII. Am 18. August 1912 am Grimnitz-See bei Joachims- 
tal 1. d. Mark eine halberwachsene' Kröte gefunden; Larven durch 
die ausgehöhlte Nasenregion schon tief in den Kopf vorgedrungen, 
linkes Auge bereits zerstört; Kröte schon ganz matt und halb tot. — 
19. August: Kröte tot; Larven in die Leibeshöhle vordringend. — 
20. August: Larven im Innern der Leibeshöhle. — 21. August: 
Inneres der Kröte ausgefressen, Larven in die Erde gehend. — 
22. August: Alle Larven in der Erde. — Um tunlichst wenig störend 
einzugreifen, nahm ich nur zwei Revisionen der Erde in großen 
Pausen vor: 7. Oktober: Im ganzen 50 Larven, alle noch unver- 
puppt, 22.abgestorben, 28 noch lebend; 12. Februar 1913: 49 abge- 
storbene Larven, 1 abgestorbene Puppe. 

39, Band 27 


409 E. Hesse, Lucrlia als Schmarotzer 


Fall XIII. Am 1. August 1916 eine erwachsene Kröte in 
einem der Terrarien des Zoologischen Instituts der Universität Leipzig 
befallen gefunden; sie befand sich schon lange in Gefangenschaft. 
Vordere Schädelhälfte bis an die Augen bereits ausgefressen, Kröte 
noch ziemlich lebhaft. — 2. August: Kröte tot; Larven im Kopf 
weiter fressend. — 3. August: Fraß nur wenig fortgeschritten. — 
4. August: Kopf fast ganz ausgefressen; Larven in die Erde gehend. 
— 5. August: Alle Larven in der Erde. Es waren nur etwa 1 Dutzend 
Larven vorhanden (s. u.), daher die verhältnismäßig langsam fort- 
schreitende und nicht weiter über den Kopf hinaus um sich greifende 
Zerstörung des Wirtes. — 1. September: 1 9 geschlüpft. — Am 
24, September wurde mein Institutzimmer, in dem ich die Be- 
hälter stehen hatte, zum ersten Male geheizt; daraufhin bis zum 
27. September wieder einige Larven oben auf der Erde herumkrie- 
chend. — 3. Oktober: 1 © geschlüpft. — 19. Oktober: 1 & geschlüpft. 
Im Dezember und Januar stellte ich den Behälter, nach vorheriger 
allmählicher Überführung in immer kältere Räume, vor das Fenster, 
um Larven oder Puppen der Kälte auszusetzen; darauf in entsprechen- 
der Weise Überführung in das geheizte Zimmer zurück. — 21. April 
1917: Revision der Erde: 8 abgestorbene Larven. Insgesamt also 
nur 11 Larven, von denen sich nur 3 verpuppten und Imagines er- 
gaben, und zwar 2 5, 1 ©. Weiteres siehe unten. 

Der vorliegende Fall ist noch besonders bemerkenswert, da er be- 
weist, daß selbst in engem Gewahrsam gehaltene Kröten nicht vor 
diesen Schmarotzern gefeit sind; auch im Häusermeer der Großb- 
stadt wissen die Parasiten ihren Wirt ausfindig zu machen, dringen 
in die Räumlichkeiten und schließlich den Käfig selbst ein, um ihre 
Eier an jenem abzulegen. Die Kröte befand sich schon mehrere Mo- 
nate in Gefangenschaft (s. 0.), so daß sie beim Einfangen natürlich 
noch nicht behaftet gewesen war. 

Fall XIV. Am 3. August 1916 im Universitätsholz (ca. 
2 Meilen südöstlich Leipzig) eine erwachsene Kröte gefunden; Lar- 
ven in den erweiterten Nasenhöhlen. — 4. August: Larven bis zu _ 
den Augen vorgedrungen, Kröte sich einseitig krümmend. — 5. August: 
Kröte tot; Larven den Kopf ausfressend. — 6. August: Larven in 
die Leibeshöhle vorgedrungen. — 7. August: Larven in der Leibes- 
höhle. — 8. August: Leibeshöhle. ausgefressen; Larven in die Erde 
gehend. — 9. August: Alle Larven in der Erde. — 22. August: 1 9- 
geschlüpft. — 23. August! 3 © geschlüpft. — Nach Heizung des 
Zimmers am 24. September auch in diesem Fall wieder einige Larven 
bis zum 10. Oktober oben auf der Erde umherkriechend. — 30. Sep- 
tember: 1 .@ geschlüpft. — 11. November: 1 © geschlüpft. — 
19. November: 1 © geschlüpft. — 22. November: 1.0 geschlüpft. 

29. November: 1 ©, 1 © geschlüpft. — Im Dezember und Januar 
wurde der Behälter unter genau gleicher Behandlung der Kälte aus- 








DR MEI SRH, 


E. Hesse, Lucilia als Schmarotzer. 405 


gesetzt wie in Fall XIII. — 21. April 1917: Revision der Erde: 
91 abgestorbene Larven. Insgesamt also 101 Larven, von denen sich 
nur 10 verpuppten und Imagines. ergaben, und zwar 4 9,69. 

Aus den Fällen XIII und XIV, die vom August an datieren, 
würde somit hervorgehen, daß nur ein kleiner Teil der Larven sich 
noch im selben Herbst zu Imagines entwickelte, die Mehrzahl da- 
gegen zu überwintern trachtete. Dabei scheinen die meisten Larven 
auch wirklich in diesem Stadium überwintern und sich erst im Früh- 
jahr in die Puppe verwandeln zu wollen. Als normal geschlüpft kön- 
nen wohl nur in Fall XIII das Weibchen vom 1. September, in Fall 
XIV die 4 Weibchen vom 22. und 23. August angesehen werden; 
die Zeit zwischen dem Einwandern aller Larven in die Erde und 
dem Schlüpfen der letzten Imagines, also der Dauer der Puppenruhe 
etwa entsprechend, betrug mithin in ersterem Fall 26, in letzterem 
13 Tage, in den ehedem mitgeteilten Fällen 10—20 Tage, so daß sich 
demnach im ganzen eine Pendelweite von 10—26 Tagen ergibt. Da- 
gegen dürfte bei den in Fall XIII am 3. und 19. Oktober und in 
Fall XIV am 11., 19., 22. und 29. November geschlüpften Männchen 
und Weibchen ein Reiz durch die Temperaturerhöhung des geheizten 
Zimmers stattgefunden haben, wie wir es ja in ähnlicher Weise nach 
vorangegangener Kälteeinwirkung mit Vorliebe bei Schmetterlings- 
zuchten zur Beschleunigung des Schlüpfens anzuwenden pflegen. Ver- 
mutlich hat sich aber auch im Entwicklungsstadium des in Fall XIV 
am. 30. September, also 5 Tage nach dem erstmaligen Heizen ge- 
schlüpften Weibchen diese Reizwirkung geltend gemacht und eine 
vorzeitige Verwandlung herbeigeführt. Alle die Larven oder Puppen 
in letzteren Fällen wollten ursprünglich wohl überwintern. 

Da augenscheinlich auch in den Fällen IV, XI und XII die Mehr- 
zahl der Larven oder z. T. Puppen überwintern wollten, würde sich 
aus den bisherigen Befunden der Fälle IV und XI—XIV ergeben, 
daß die im August und September zur Entwicklung gelangenden Lar- 
ven zum größten Teil als Larven oder Puppen überwintern und sich erst 
im nächsten Frühjahr zu Fliegen verwandeln wollen. Desgleichen be- 
richtet Mortensen in seinem früher von mir zitierten Artikel, 
Zoolog. Anzeiger 1892, S. 193—195, in zwei Fällen, die ebenfalls 
dem August und September angehören, von Überwintern; er erhielt 
die Imagines erst im April und Mai des kommenden Jahres, die 
ersten am 17. April, die letzten am 3. Mai. Auffällig ist, daß in allen 
den fünf Fällen IV und XI—XIV der größte Teil der Larven oder 
auch Puppen abstarb; es dürfte dies aber wohl auf ungünstige Ein- 
wırkungen der Gefangenschaft zurückzuführen sein, in der freien 
Natur jedoch ein derartiges Massenabsterben wohl kaum stattfinden, 

Höchst bemerkenswert ist nun ferner die Jahreszeit des Auf- 
tretens. Alle die von mir bisher festgestellten 14 Fälle umfassen nur 
die Monate Juni, Juli, August und September; dabei sind die Fälle 

27* 


404 E. Hesse, Lucila als Schmarotzer. 


VIII, IX und X nur einfach gerechnet, obwohl, wie bereits bei Be- 
sprechung derselben erwähnt, ihre Zahl leicht beliebig hätte ver- 
mehrt werden können, da an jenem 20. Juni 1908 noch eine größere 
Anzahl befallener Kröten konstatiert, aber nur ein Teil von ihnen 
mitgenommen wurde. Weiter führen z. B. Meinert, Entomolog. 
Meddelels. 1889, S. 89—96, einen Fall für Juli, Dunker, Zoolog. 
Anzeiger 1891, S. 453—455, zwei Fälle für Juli, Mortensen, wie 
soeben vermerkt, zwei Fälle für August und September, Klun- 
zinger, Jahreshefte d. Vereins f. vaterländ. Naturkunde i. Würt- 
temberg 1902, S. 371—379, zwei Fälle für Juli und September an; 
ferner schreibt v. Adelung in einem Referat über die in russischer 
Sprache erschienene Arbeit von Portschinsky (Hor. Soc. Entom. 
Rossicae 1398, S. 225—297) im Zoolog. Zentralblatt 1898 (S. 855 
— 859), 8. 858: „...; die Fliege tritt (in der Umgebung von St. 
Petersburg) in zwei Generationen auf (Juni und Ende Juli oder 
August).“ Ich will an dieser Stelle nicht noch mehr auf anderweite 
Literatur eingehen, jedoch die folgenden interessanten Parallelvor- 
kommen noch anführen. Heinroth legte 1915 in der Jahresver- 
sammlung der Deutsch. Ornitholog. Gesellschaft in Berlin eine jetzt 
im Berliner Zoolog. Museum befindliche Kollektion der sonst in den 
Sammlungen seltenen Diptere Protocalliphora azurea Fall. vor, ge- 
züchtet aus Larven, die er im Berliner Gebiet Anfang Juli 1915 
an Nestjungen der Gartengrasmücke, Sylvia borin Bodd., und An- 
fang August desselben Jahres an Nestjungen der weißen Bachstelze, 
Motacilla alba L., schmarotzend gefunden hatte. Im Protokoll, Journ. 
f. Ornithol. 1916, S. 158/159, bemerkt er, daß es sich auch bei allen 
übrigen in der Literatur veröffentlichten Fällen schmarotzender 
Fliegenlarven bei Vögeln, soweit überhaupt eine Zeit angegeben, stets 
um späte, in die obigen Monate entfallende Bruten handele, und fährt 
schließlich fort: ‚Auffallend ist, daß die in den späteren Sommer- 
monaten der Puppe entschlüpfte Fliege bis zum Frühjahr offenbar 
keine Gelegenheit hat, sich zu vermehren. Bei der dann vorhandenen 
sroßen Menge von Vogelnestern und der wohl immerhin großen Sel- 
tenheit der Fliegen ist es wohl nicht verwunderlich, daß bisher mit 
Maden besetzte Vogeljunge bei den ersten Bruten noch nicht ge- 
funden worden sind. Zum Sommer hin werden dann die Fliegen häufiger 
und die Nester seltener, so daß die Wahrscheinlichkeit des Auffindens 
größer wird“. Er erhielt in beiden Fällen die Imagines „nach drei 
Wochen‘, wasalso deroben abgegrenzten normalen Dauer der Puppenruhe 
wieder durchaus entsprechen würde, und es bleibt nur noch hervorzu- 
heben, daß sich bei der Protocalliphora in diesem Fall auch die August- 
generation noch im selben Herbst vollzählig zu Imagines entwickelte, 
mithin nicht überwinterte wie die genannten Luecilia-Generationen glei- 
chen Monats. — Da nun auch noch das früher von mir mitgeteilte 
Schmarotzen von Lucilia caesar L. an Nestjungen von Turdus visci- 





Tu ae Baar 





E. Hesse, Zueilia als Schmarotzer. 405 


vorus L. auf den Juli entfällt, würden also alle die angeführten Bei- 
spiele als Befallzeit immer nur die Monate Juni, Juli, August, Sep- 
tember umfassen. Es drängt sich daher die Frage auf: Wie verhalten 
sich die Fliegen in ihrem Auftreten vom Frühjahr bis zum Juni? 
Für die an Nestjungen der Vögel schmarotzenden Arten hat Hein- 
roth in seinen zitierten Darlegungen eine Möglichkeit angedeutet, 
und diese könnte auch für den Parasitismus an Kröten zutreffend 
sein. Diese Lurche sind ja schon im zeitigen Frühjahr stellenweise 
geradezu in Masse vorhanden, wenn sie sich zum Laichen an und 
in die stehenden Gewässer begeben, nach vollzogenem Akt das Wasser 
wieder verlassen und sich. nun an den Ufern und in deren Nähe um- 
hertreiben. Die im Frühjahr aus den überwinternden Generationen 
schlüpfenden Fliegen würden also nicht unter Wirtsmangel zu leiden 
haben. Es ist daher nicht unwahrscheinlich, daß ein größerer Pro- 
zentsatz der überwinternden Larven und Puppen zugrunde geht, wenn 
auch, worauf schon oben hingewiesen, die Verlustziffer in der freien 
Natur natürlich nicht die außerordentliche, einer Vernichtung fast 
gleichkommende Höhe der Gefangenschaftszuchten zu erreichen 
braucht. Die verhältnismäßig wenigen geschlüpften Fliegen könnten 
somit trotz der großen Zahl der vorhandenen Wirte zunächst nur 
einen sehr kleinen Teil derselben befallen; in den nächsten Monaten 
würden sich dann die Fliegen unter den günstigen sommerlichen 
Existenzbedingungen fortschreitend vermehren, bis sie schließlich in 
den eigentlichen Sommermonaten selbst ihr Maximum -und zugleich 
Optimum erreichen und um so mehr Kröten befallen könnten. Auf 
diese Weise würde sich die verhältnismäßig auffällige Häufigkeit 
des Vorkommens im Sommer und demzufolge auch das öftere Auffinden 
um diese Zeit erklären lassen. Mir scheinen aber auch noch andere 
Möglichkeiten _nicht ausgeschlossen, daß beispielsweise die Fliegen 
im Frühjahr überhaupt nicht oder nur teilweise schmarotzen, oder 
aber, daß irgendein Wirtswechsel stattfindet, wobei es beidemal we- 
niger von Belang wäre, ob im Frühjahr eine große oder kleine Zahl 
zur Entwicklung gelangte. Doch dies alles kann nur durch weitere 
Untersuchungen klargestellt werden. Es würde auch erforderlich sein, 
einmal eine zusammenfassende Darstellung aller bisher schmarotzend 
sefundenen Dipteren zu geben, unter Beifügung aller Literaturbe- 
lege und der dort gegebenenfalls enthaltenen Zeitangaben des Vor- 
kommens, um eine möglichst genaue vergleichende Übersicht über 
das jahreszeitliche Auftreten der einzelnen Arten zu haben. 

Außer der gleichen Jahreszeit konnte in den Fällen XI—XIV 
sleichwie in den früheren noch folgendes übereinstimmend konsta- 
tiert werden: In allen Fällen handelte es sich wieder um Bufo vulgaris 
Laur. als Wirt; stets waren es halb bis ganz erwachsene Indivi- 
duen; immer erfolgte das Eindringen der Parasiten vom Vorderkopf, 
sewöhnlich von den Nasenlöchern aus, — 


406 B. Klatt, Zur Methodik vergleichender metrischer Untersuchungen etc. 





Man ersieht aus obigen Darlegungen, dab im jährlichen Ent- 
wicklungszyklus der Lucilien und auch ihrer Verwandten noch 
mancherlei zu klären übrig bleibt, und ich hoffe, späterhin auch noch 
einige experimentelle Untersuchungen ausführen zu können. 

Zoolog. Museum Berlin, den 12. Mai 1919. 


Zur Methodik vergleichender metrischer 
Untersuchungen, besonders des Herzgewichtes. 


Von Berthold Klatt. 
(Landwirtsch. Hochschule, Berlin.) 


Das Bestreben, morphologische Dinge metrisch zu erfassen, ist 
alt, und, um die Unterschiede genaw dem Grade nach zu bestimmen, 
eine unumgängliche Notwendigkeit; zumal wenn man, über die bloße 
Feststellung von Tatsachen hinausgehend, auch über die Ursachen der 
Formverschiedenheiten ins Klare kommen will, die doch meist auf 
irgendein zahlenmäßig fixierbares Plus oder Minus irgend welcher 
Teilfunktionen im komplizierten Getriebe des Gesamtorganismus 
— sei es auch oft auf großen Umwegen — zurückführbar sein dürften. 
Aber nicht die Feststellung der absoluten Höhe eines solchen Plus 
oder Minus kann stets zu der gewünschten Auskunft verhelfen, 
sondern nur dann, wenn die verglichenen Organismen neben mög- 
'lichster Ähnlichkeit in anderen Punkten vor allem auch gleiche Ge- 
samtgröße besitzen. Ist dies letztere nicht der Fall, so kann nur Ver- 
gleichung der Werte bezogen auf die Gesamtgröße vor falschen Schlüs- 
sen bewahren, und so vergleicht man denn bei metrischen Unter- 
suchungen schon seit langem vorzugsweise die relativen Werte, 
und zwar weniger gern direkt auf das Ganze bezogen (z. B. „ein Drittel 
des Körpergewichtes“ oder „viermal so lang als die Körperlänge‘), 
sondern lieber indirekt auf 100 oder 1000 Einheiten des Ganzen (als 
0/0 oder 9/,u Werte). 

Aber auch Unterschiede in solchen einander entsprechenden Ver- 
hältniszahlen (,Proportionalwerten‘) zweier zu vergleichender Orga- 
nismen verschiedener Gesamtgröße berechtigen keineswegs unter allen 
Umständen zu dem Schluß, daß dem zahlenmäßigen Plus oder Minus 
auch wirklich eine genau entsprechende Verschiedenheit hinsicht- 
lich der Leistung des betreffenden Teiles entspricht. Denn es gibt 
im Organismus bestimmte 'Teilwerte, die nicht im gleichen Verhältnis 
wie die Gesamtgröße ab- und zunehmen, sondern langsamer oder, was 
seltener ist, schneller als diese, so daß also für eine jede Größenstufe 
. eine andere Verhältniszahl die Norm bedeutet. Der Grund hierfür 
dürfte bei den meisten sich so verhaltenden Teilwerten letzten Endes 
zu suchen sein in dem bei verschieden großen Körpern sonst gleicher 
Bauart notwendig verschiedenen mathematischen Verhältnis von Ober- 


/ 






B. Klatt, Zur Methodik vergleichender metrischer Untersuchungen etc. 407 


fläche und Maße zueinander, das im Organismus ja zugleich physio- 
logische Bedeutung bekommt und bei verschiedener Größe nur durch 
entsprechende Abänderung einzelner Teile gleich erhalten werden 
kann. 

Hirn und Auge sind die bekanntesten Beispiele für solche in 
einem anderen „Tempo“ als die Gesamtgröße sich verändernden Teil- 
werte des Organismus, die damit zugleich auch ihrer Umgebung, 
z. B. einzelnen Maßen am Schädel ein ganz charakteristisches Ver- 
halten der Proportionalwerte aufzwingen. Ähnlich verhält sich aber 
z. B. auch das Herzgewicht der Warmblüter. Hesse hat für das- 
selbe auf die Zunahme der °/,,-Zahlen mit sinkendem Körper- 
gewicht aufmerksam gemacht und wie schon vor ihm W. Müller 
den Grund dafür gesucht in dem intensiveren Stoffwechsel, der Klei- 
neren Tieren infolge ihrer größeren relativen Flächenentwicklung 


und dementsprechend auch größeren Wärmeabgabe eigen ist. Neuer- 


dings hat dann weiter Hasebroek auf die gleiche Tatsache hinge- 
wiesen, die sich nach ihm gleichfalls erklärt aus den Beziehungen 
des Herzgewichtes zum Stoffwechsel. Er findet ein völlig paralleles 
Verhalten der Gewichte der Vorhöfe und des rechten Ventrikels mit 
den Stoffwechselindizes, die er ihrerseits als von der Körperober- 
fläche abhängig errechnet. Pütter, welcher an der Allgemeingültig- 
keit dieser auf Rubner zurückgehenden Auffassung zweifelt, dab 
die Stoffwechselintensität proportional der Körperoberfläche und pro 
Einheit der Körperoberfläche bei den verschiedenen Tierarten kon- 
stant sei, bestätigt dennoch, von theoretischen Erwägungen ausgehend, 
den rein tatsächlichen Teil der Hesse’schen Feststellung, das all- 
mähliche Zunehmen der °/yo-Zahlen mit sinkendem Körpergewicht, 
wenigstens für ‚Tiere von der Größe eines Maulwurfes bis zu der des 
Menschen“, also so ziemlich für die Mehrzahl der meist zur Unter- 
suchung gelangenden Warmblüter. 

Gestattet nun aber die Methode der Vergleichung von Du -Werten 
genauere Schlüsse auf den Grad der Verschiedenheit des Herzgewich- 
tes zu ziehen? Nach dem oben Gesagten offenbar nicht, wenn es sich 
um den Vergleich verschieden. großer Formen handelt. Man kann 
wohl in solchen Fällen z. B., wo das kleinere Tier einen geringeren 
oder gleichen %/,9-Wert aufweist wie das größere, so ganz allgemein 
sagen, daß es wirklich ein niedrigeres Herzgewicht besitzt als ihm 
zukommt; denn als kleineres Tier müßte es ja, wie gesagt, die größere 
0/yo-Zahl aufweisen. Aber um wieviel genau größer gerade für den 
betreffenden Grad der Kleinheit der °/90-Wert des kleineren Tieres 
sein müßte, um ein in Wahrheit dem des größeren gleichwertiges 
Herzgewicht zu bedeuten, das ist aus der bloßen °/,.-Berechnung 
nicht zu ersehen, und es wird diese Feststellung nur durch eine Ver- 
sleichsmethode ermöglicht, die Aufklärung darüber schafft, ob ein 
etwaiges Plus im °%/,0-Wert des kleineren Tieres seinen zureichenden 


408 B. Klatt, Zur Methodik vergleichender metrischer Untersuchungen etc. | 
Grund restlos in dem gerade vorhandenen Unterschied der Gesamt- 
größen findet, oder inwieweit der %/,.-Wert noch darüber hinaus größer 
resp. kleiner ist. Pütter, in dem jetzt endlich ein Vertreter der 
zu dieser Aufgabe in erster Linie berufenen physiologischen Wissen- 
schaft die eben so notwendige wie aussichtsreiche Analyse des Ein- 
flusses der Gesamtgröße auf die einzelnen Teile des Organismus vor- 
zunehmen beginnt, hat für das Herzgewicht eine solche Normalskala. 
aufgestellt, aus der ersichtlich wird, wie hoch für jede einzelne Größen- 
stufe das Herzgewicht unter im übrigen ähnlichen Bedingungen sein ' 
muß. Obwohl also damit von einer viel berufeneren Seite und in einer 
theoretisch weit exakteren Weise dem methodologischen Mangel des 
Vergleichs bloßer 0/y0-Werte abgeholfen wird, möchte ich dennoch im 
folgenden einen anderen Weg zu zeigen versuchen, der zum gleichen 
Ziele strebt, wenn er auch eine weit kunstlosere und, wie man gleich 
sehen wird, nicht einmal originelle Gedankenstraße darstellt. Als 
Entschuldigung für dieses anscheinend überflüssige Beginnen möchte 
ich in erster Linie den mehr induktiven Charakter dieses gleich zu 
erörternden Verfahrens anführen. : 

Wie gesagt, ist dasselbe nicht einmal völlig neu, sondern für die 
ähnlich liegenden Verhältnisse des Hirngewichtes bereits 18397 von 
Dubois und Lapicque gleichzeitig, doch unabhängig voneinander 
eingeführt worden, nachdem Ansätze zu dem Gedankengange bereits 
bei früheren Autoren zu finden waren. Daß diese bisher nur für den 
einen Spezialfall des Hirngewichtes ausgearbeitete Methode darüber 
hinaus allgemeinere Bedeutung und großen heuristischen Wert besitzt 
und mit entsprechenden Modifikationen im weitesten Sinne für die Ver- 
gleichung von Teilwerten verschieden großer Tiere benutzt werden kann, 
gedenke ich bald an anderer Stelle zu zeigen. Hier soll nur ihre 
Wirksamkeit am Beispiele des Herzgewichtes dargelegt werden. — 
Der zugrunde liegende Gedankengang ist der folgende: Das Herzge- 
wicht (H) wird bestimmt durch verschiedene Faktoren, wie Lebens- 
weise, systematische Stellung, Alter, Geschlecht u. s. w., darunter 
aber auch vor allem eben durch die Größe (ausgedrückt durch das 
Körpergewicht). Nennen wir diese Beziehung zum Körpergewicht 
(K) x, die übrigen Faktoren zusammen p, so besteht die Gleichung 

PAHSpEKr 
Haben wir nun zwei verschieden große Tiere gleicher Art, bei denen 
auch noch Geschlecht, Alter, Lebensweise u. s. w., d. h. die Summe 
der übrigen Faktoren, p, als gleich angesehen werden kann, so be- 
steht die Beziehung 
HH; 
Krk, 

Daraus läßt sich x ohne weiteres berechnen als 
log H, — logH,, 
log K, — log K, 








ie dee 


N 


B. Klatt, Zur Methodik vergleichender metrischer Untersuchungen ete. 409 


Dieser „somatische Exponent“ x gibt uns also genau das „Lempo“ 
an, in welchem mit sinkender Körpergröße das Herzgewicht sich ver- 
ändern muß, vorausgesetzt, daß nicht noch andere Faktoren mit 
hereinspielen. Haben wir zwei verschieden große Tiere und wollen 
wir prüfen, ob das z. B. größere relative Herzgewicht des Kleineren 
schon in dem bloßen Unterschied der Körpergrößen seinen zureichen- 
den Grund findet, so brauchen wir nur in Formel 1. die Werte für 
H, K ‘und x einsetzen und p berechnen. Ist der Wert für p bei beiden 
Tieren gleich, so ist der Unterschied im relativen Herzgewicht nur 
durch die verschiedene Größe bedingt, andernfalls bestehen den be- 
treffenden Zahlen entsprechende, graduelle Unterschiede. i 

Die Aufgabe ist also nur die, den somatischen Exponenten zahlen- 
mäßig genau festzustellen .Das kann nur geschehen durch eine mög- 
lichst große Zahl von Berechnungen an gut ausgewählten Beispiels- 
paaren. An und für sich wäre es wohl denkbar, daß in verschiedenen 
systematischen Gruppen der Exponent verschieden hoch ist; wie 
mir aber aus den gleich zu gebenden Beispielen hervorzugehen scheint, 
dürfte er für Warmblüter (Vögel und Säugetiere) etwa gleich hoch 
sein. 

Als Grundlage für die folgende Berechnung des Exponenten dien- 
ten mir außer einigen Angaben von Parrot ausschließlich die Er- 
gebnisse von Untersuchungen, die nach Prof. Hesse’s Anleitung von 
mir selbst und einigen Doktoranden im damaligen zoologischen.Institut 
der Landwirtschaftlichen Hochschule gemacht wurden. Gerade bei 
Herzuntersuchungen kommt es ja sehr darauf an, daß dem Vergleich 
nach einer einheitlichen Methode!) genommene Maße zugrunde liegen. 
Zudem liegen größere Reihen von anderer Seite auch kaum vor?). 
Die verglichenen Wertpaare sollten ferner nach Möglichkeit Durch- 
schnittswerte von mehreren ausgewachsenen unter gleichen Verhält- 
nissen lebenden Individuen gleichen Geschlechtes sein und paarweise 
Tierformen von möglichst naher Verwandtschaft (systematischer Stel- 
lung), doch dabei zugleich starkem Größenunterschiede entstammen. 
Besonders letztgenannter Punkt ist wichtig, worauf schon Dubois 
bei der erneuten Berechnung seines somatischen Hirnexponenten hin- 
wies: Gehen die Variationsbreiten der beiden Reihen von Werten, 
von welchen die Durchschnittswerte verglichen werden sollen, in- 
einander über, so kann man kein sicheres Resultat erwärten. Je 
stärker der Größenunterschied zwischen den zwei verglichenen For- 
men, desto klarere Resultate. Daß ich bei diesen vielfachen Anfor- 


1) Es ist das die von W. Müller angewandte Methode. 

2) Die im Gegensatz zu den sorgfältigen Parrot’schen Untersuchungen höchst 
oberflächlichen Angaben von Löer (Pflüger’s Archiv Bd. 140), dem einzigen, der 
noch eine größere Sammlung von Herzgewichten veröffentlicht hat, sind völlig un- 
brauchbar, wie jeder auf den ersten Blick erkennen muß, der nur etwas Praxis in 
metrischen Untersuchungen hat, 


De 


A EN Ta a este 





410 B. Klatt, Zur Methodik vergleichender metrischer Untersuchungen etc. 


Tabelle 1. 


Berechnung des somatischen Exponenten. 


a) Arten verglichen. 





Zahl 
der 
Indi- 
viduen 


mw rw 


Do De De 


Hua 


ei ed 


Do ww 
































Körper- 
N gewicht 
Art GR m 
schlecht | Durch- 
schnitt 
Wölfe 2 d 12| 33000 
Füchse d 6570 
Schakale 7700 
Wüstenfuchs ? 1470 
Iltisse 1191,5 
Wiesel d 252 
Iltis 9 1268 
Wiesel ; 139,5 
Arvicola terrestr. 9 83,5 
A. arvalis h 28,5 
Ratte 9 391 
Maus ! 20,3 
Vesp. murinus 9 21 
Vesp. pipistr. ; 3,173 
Stockenten 1037 
Krickenten d 287,5, 
Stockenten ®) 852 
Kricekenten 233,5 
Col. v»alumb, d 479,5 
Col. oenas 258 
Uhu 9 | 1875 
Steinkauz ; 170 
Uhu 9 1875 
Waldkauz h 441 
Tetr. urogallus d 4225 
Tetr. tetrix 1256 
Habicht d 1182 
Sperber 123,5 
Tringa canuta y 104 
Tringa minuta 21,12 
Wanderfalk ) 850 
Baumfalk gu.9 217 














Bar 
Bach Ex. Untersucher 
im resp. 
Durch- PORT Literatur 
schnitt 
270° 
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109 0,9340 Z 
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1,571 Hesse 
0,139 Bei (n.d.°/, Angaben) 
0,21 ia 
0.0535| 97913 i 
10,46 
3,32 0,8890 Timmann 
7,9 
259 0,8615 N 
5.75 Klatt 
ons 0,8355 (n. Hesse u. 
: Parrot) 
8,812 Hesse 
1,40 Onae (n.d.°/, Angaben) 
8,812 \ 
2.036 0,9475 N 
Bee 0,7918 Parrot 
10,22 
1.46 0,8614 a 
1,63 
0.378 0,9168 A 
12,61 | 
338 | 0,9643 { 









TERROR EL 


1 LH Ar A 9 zu Ba Hd FE N ee? 


b) Individuen einer Art verglichen. 


B. Klatt, Zur Methodik vergleichender metrischer Untersuchungen ete. 411 








Körper- 





























Zahl Herz- 
der Ge gewicht | gewicht | n,. Untersucher 
Indi- a schlecht ie Bi t Aeoee 
{ R n J 
viduen rn ar N Rn PN Literatur 
Dar ma Er ae Holsaan Klatt 
2 Füchse 6550 70 
1 Ä d 5110 | 5825 | 97401 ” 
2 ‚ Hasen je 4358 39,06 ‘ 
2 ; " 3914 .|. 35,77 | OB » 
2 Br Re g I aa 0,7963 E. Müller 


o1w 


& 





Gruppe I 


IV 


I 
1II 


fi 
II 


Er 
IV 


II 
III 


III 
IV 





Haushunde 
(4 Größengruppen) 


nach Angaben von H. Vorsteher‘) 


d 


g 


6) 


47000 
3534 


9240 


23300 


332 
37,4 


86,3 


200 





0,5438 


0,8258 


0,7223 


0,9087 


0,8700 





Durchschnitt der Werte für den Hund: 0,8430 


Durchschnitt aller 26 Werte: 


0,8433 


0,3890 





derungen nicht mit sehr vielen Vergleichspaaren aufwarten kann, 
wird verständlich sein, ebenso bei der starken Beeinflußbarkeit ge- 
rade des Herzgewichtes durch individuelle Besonderheiten, daß die 
Ergebnisse der Berechnung im allgemeinen stärker variieren als die 
Dubois’schen Hirnexponenten-Berechnungen. 

Das sind 26 Einzelberechnungen des Exponenten, die in nicht 
gerade idealer Weise den oben gestellten Forderungen genügen: so stam- 


*) Ich bin Herrn H. Vorsteher zu großem Dank verpflichtet für die 
Liebenswürdigkeit mir seine bisher noch unveröffentlichten Untersuchungsergebnisse 
zur Verfügung zu stellen. 


412 B. Klatt, Zur Methodik vergleichender metrischer Untersuchungen etc. 


men die Wölfe z. B. aus Lappland, die mit ihnen verglichenen Füchse 
aus Norddeutschland; die großen Schakale aus dem kühlen Hoch- 
land, die kleinen aus dem heißen Tiefland, so daß also keineswegs 
die äußeren Lebensbedingungen für beide Teile dieser Vergleiche völlig 
gleichartige sind. Ebenso sind Thooiden (Wölfe und Schakale) und 
Alopeciden (Fuchs, Wüstenfuchs) doch systematisch einander schon 
fernerstehend, so daß da wohl erbliche Differenzen mit hereinspielen 
können, die eigentlich ausgeschaltet werden müßten. Vor allem aber 
sind es in den meisten Fällen recht wenige Individuen, die den Durch- 
schnittswerten zugrunde liegen. Nur für den Haushund liegt mir 
durch die Liebenswürdigkeit des Herrn Vorsteher ein Material 
vor, bei dem alle diese Einwände erheblich reduziert sind und zu- 
gleich auch eine vierte sehr wesentliche Forderung, die oben gestellt 
wurde, nämlich möglichster Kontrast in den Größenunterschieden der 
zum Vergleich benutzten Wertpaare, erfüllt ist. Wenn ich also beson- 
ders im Hinblick auf diese nur wenig differierenden Berechnungen 
beim Hunde und in Anlehnung an den aus sämtlichen 26 Berech- 
nungen ermittelten Durchschnittswert den somatischen Exponenten 
des Herzgewichtes für Warmblüter auf 0,83 beziffern möchte, so ge- 
schieht das nicht, weil ich diese Zahl für die genau den tatsächlichen 
Verhältnissen entsprechende halte. Aber einen bestimmten Wert muß 
ich für die späteren Ausführungen annehmen, und ungefähr dürfte 
diese Zahl auch der Wahrheit nahe kommen. 

Von besonderem Interesse wäre die Feststellung des Exponenten 
beim Menschen, und die umfangreichen Wägungen W. Müllers 
gestatten auch eine mehrfache Berechnung. Ich habe von den Größen- 












































Tabelle 2. 
(Durchschnittswerte von Herz- und Körpergewicht des Menschen nach W. Müller.) 
kei 22 
Zahl Dune, Körper-ı Herz- Zahl ur Körper-, Herz- 
Gruppe | der 4. | gew. | gewicht | Gruppe || der “| gew. | gewicht 
| Alter) =. E 1. Alten) > . 
Nr. Indi- | x. in in Nr. Tadi- | =, in in 
viduen Jahien kg g viduen Tahren kg g 
1 42 51 62,5 312,4 I 21 47 974D 270,7 
II 59 51 57,5 301,6 II 34 50 52,5 234,4 
III 69 49 52,5 252 III. 62 53 47,5 23177 
IV 192... 54 47,5 243,2 IV 75 48 42,5 220,6 
v| os | 4 | a5 | 2279 v| 8 | 55 | 375 |.199,1 
VI 65 5l 31:0 217,3 vI 59 52 32,5 174,9 
VII 33 45 32,5 181,9 vil 32 5l 27,5 153,9 
| 








B. Klatt, Zur Methodik vergleichender metrischer Untersuchungen etc. 413 


gruppen, in die Müller sein Material getrennt hat, diejenigen aus- 
gewählt, die aus möglichst vielen und nur ausgewachsenen Personen 
bestehen, und die von W. Müller berechneten Durchschnittswerte 
in Tabelle 2 zusammengestellt (s. S. 412). 

Aus diesen Angaben habe ich für jedes der beiden Geschlechter 
den Exponenten zehnmal berechnet. 


Tabelle 3. 


(Werte des somatischen Herzexponenten beim Menschen.) 








schnitt ohne 
III IV Im [die abnormen 

und und |Durch- Werte 
I VII hnitt 
V schni III VIG 
II/V 9 


| | Im Durch- 





I I il I Il II II III 
und | und | und | und | und | und | und | und 
VIE VI V VER ESNETE EVER Vz VII 






































Ä Ä | 
dd . 0,7132/0,8178|0,8952|0,8862|0,7652\0,9270|0,7626 |0,4403 0,7761 0,7803 | 0,8181 


29 0,7656 0,7656 0,7187[0,6770|0,6507|0,61060,4840!0,7559 [0,7515 |0,8271 1,7007 | 0,7247 


Berücksichtigt man die große Variabilität des Menschen, welche 
bei diesem Material noch besonders erhöht sein muß, da es sich 
durchweg um Personen handelt, die an z. T. langwierigen Krank- 
heiten zugrunde gingen, zieht man ferner in Rechnung, daß gerade 
beim Menschen mit seinen geringen Größenunterschieden die oben 
gestellte Forderung möglichst starken Kontrastes der Glieder eines 
Vergleichspaares in nur wenig genügender Weise erfüllt werden kann, 
so wird man in diesen Rechnungsergebnissen durchaus eine Bestäti- 
gung der vorhergehenden Ausführungen erblicken können. 

Gerade die Tatsache übrigens, daß beim Hunde und beim Men- 
schen sowie auch sonst beim Vergleich von Individuen innerhalb 
der Art der Wert des Herzexponenten nicht wesentlich von dem 
beim Vergleich von Arten gefundenen Wert sich unterscheidet, ist 
von Interesse im Hinblick auf die von Dubois und Lapiceque für 

| den Hirnexponenten gefundenen Tatsachen. Bei dem Verhältnis von 
Hirngewicht zu Körpergewicht besteht nämlich ein Unterschied in der 
Höhe der Exponenten, wenn man Arten vergleicht und wenn man 
> Individuen in einer Art vergleicht. Im ersteren Falle beträgt der 
Exponent 0,56, im zweiten 0,22. Ob letzteres allerdings für Indi- 
viduen einer wilden Tierart stimmt, scheint mir bisher noch nicht 
bewiesen. Für Mensch und Hund dagegen ist es durch zahlreiche 
Daten sichergestellt, und speziell für den Hund habe ich diesen 
Lapieque’schen Befund voll bestätigen Können?). Beim Herzexpo- 


3) Leider sind meine „Domestikationsstudien am Hundehirn“, in denen dies 
geschieht, und die Dubois-Lapicque’schen Theorien erörtert werden, infolge des 
Krieges noch immer nicht im Druck erschienen. 


444 B. Klatt, Zur Methodik vergleichender metrischer Untersuchungen etc. 


nenten besteht nun, wie gesagt, diese Differenz der Werte ebenso 
sicher nicht. Hirngröße und Herzgröße werden eben trotz gewisser 
Ähnlichkeit in der Herrschernatur dieser beiden Lebenszentren durch 
ganz verschiedene Faktoren bestimmt. Das Herz, als Muskel ein 
relativ einfaches Gebilde und in weitgehendem Maße funktioneller 
Anpassung fähig, ist mehr ein Maßstab der Quantität des Lebens- 
prozesses und mehr von der bloßen Masse des Organismus ab- 
hängig. Das Hirn, als gleichsam verkleinertes, kunstvoll durch mehr 
oder minder komplizierte Sekundärverbindungen zusammengefaßtes 
Abbild aller verschiedenen Organe und Teile des Ganzen, und in 
weit beschränkterem Maße funktionellen Einflüssen zugänglich, spie- 
gelt zugleich die Qualität des betreffenden Lebensprozesses wieder, 
wird also in höherem Maße auch von der Form des Organismus 
beeinflußt. So sucht jaDubois auch den Grund für den Unterschied 
des interspeziellen und des interindividuellen Hirnexponenten in 
erster Linie in einem verschiedenen Verhalten der Längendimen- 
sionen des. Körpers bei groß und klein beim Vergleich verschieden 
sroßer Arten einerseits und großer und kleiner Individuen einer Art 
andererseits. Bei großen und kleinen Arten naher Verwandtschaft 
sollen die Körperdimensionen im großen und ganzen dieselben, eher 
die kleinen Formen noch etwas langgliedriger sein; innerhalb der 
Art sollen die kleineren Individuen dagegen durch relativ kürzere 
Dimensionen von den großen sich unterscheiden. Wie weit die theo- 
retischen Erwägungen richtig sind, durch welche Dubois aus diesem 
verschiedenen Verhalten der Körperdimensionen genau die Höhe der 
verschiedenen Exponentenwerte herleiten will, kann hier nicht dis- 
kutiert werden. Daß eine solche Verschiedenheit der Dimensionen- 
ausbildung bei Arten einerseits und Individuen andererseits tatsäch- 
lich besteht, davon habe ich mich inzwischen für mein spezielles Unter- 
suchungsobjekt, die Caniden, überzeugen können und gedenke, die 
Tatsachen bald in einer ausführlichen Arbeit zu veröffentlichen. Wenn 
also, wie mir jetzt scheint, die verschiedene Höhe des Hirnexponenten 
tatsächlich zum guten Teil sich aus dem verschiedenen Verhalten der 
Körperform bei Änderung der Gesamtgröße herschreibt, so ist die 
Tatsache, daß der Herzexponent eine solche Verschiedenheit nicht 
aufweist, eben ein Zeichen, daß es weniger die Form als die bloße 
Masse des Körpers ist, welche das Verhältnis , des Herzgewichtes 
zum Körpergewicht regelt. 

Einen Versuch, die Höhe des Exponenten genau der Zahl (0,85) 
nach als notwendige Folge bestimmter physiologischer Beziehungen 
im Organismus zu erweisen, in ähnlicher Art wie Dubois dies für 
die Hirnexponenten unternimmt, halte ich für verfrüht, so lange 
nicht weit umfassendere metrische Untersuchungen eine endgültige 
Feststellung dieses Wertes, genauer als es mir.bisher möglich war, 
gestatten, und auch eben solche Daten für die übrigen Teile des 








.B. Klatt, Zur Methodik vergleichender metrischer Untersuchungen etc. 415 


Organismus vorliegen. Nur ganz allgemein könnte man vielleicht die 
Tatsache, daß der Wert ziemlich in der Mitte zwischen 0,66 und ] 
zu liegen scheint, erklären, in derselben Weise wie Snell, ein Vor- 
läufer Dubois, dies für den irrtümlich von ihm zu hoch ange- 
setzten Hirnexponenten tat. Snell hatte nämlich behauptet, der 
Hirnexponent müsse höher als 0,66 sein, weil das Hirngewicht von 
der Oberflächenentwicklung des Körpers (die sich mathematisch ja 


IR 
- darstellt als (vr): oder K3 oder K), daneben aber auch 


von der Masse des Körpers (Exponent natürlich = 1) bestimmt 
sei. Für das Herz könnte diese Argumentation tatsächlich zu- 
treffen. Wie oben schon erwähnt, hat Hasebroek im gewichts- 
mäßigen Verhalten der Vorhöfe und des rechten Ventrikels eine 
weitgehende Ubereinstimmung mit den im wesentlichen aus der 
Oberfläche berechneten Stoffwechselindizes nachgewiesen, während der 
linke Ventrikel schneller mit der Größe zunimmt. Hier wird ein 
Weg gewiesen, auf dem die Anschauungen von Parrot, Grober,, 
Strohl, Magnan, die hauptsächlich die Beziehungen des Herz- 
gewichtes zur Leistung der Fortbewegung der Körpermasse betonen, 
mit ‘denen Hesse’s, der die Wichtigkeit der Stoffwechselintensität 
in den Vordergrund stellt, einerseits verschmolzen, andererseits durch 
die Methode. der Teilwägung genauer geprüft werden können. 

In analoger Weise nun wie Dubois unter Einsetzen des Wertes 
für den Hirnexponenten aus den Daten des Hirngewichtes und des 
Körpergewichtes den Faktor p berechnet und damit ein Mab für die 
„Cephalisation‘ der betreffenden Tierart gewinnt, kann man auch für 
das Herzgewicht zahlenmäßige Werte finden, welche einen. genauen 
Vergleich der Herzgröße unabhängig von der Körpergröße, deren 
Einfluß ja eben durch das Verfahren ausgeschaltet wird, gestatten. 
Damit also ist dem Mangel, der dem Vergleich von °/o0-Werten- an- 
haftet, abgeholfen. An Hand der Parrot’schen Tafel wird sich 
am besten zeigen lassen, daß mit Hilfe,;der hier angegebenen Methode 
eine zum Teil recht erhebliche Änderung der Wertfolge sich ergibt, 
die zugleich den Tatsachen besser gerecht werden dürfte. 

Ich habe 24 Vögel der Parrot’schen Tafel nach dem relativen 
Herzgewicht in 6 Gruppen angeordnet, für dieselben Tiere nach den 
Pärrot’schen Daten dann mit Hilfe des Exponenten 0,83 die Werte 
berechnet und nun gleichfalls in 6 Gruppen geodnet. Die zu jedem 
Tiere beigesetzten Kennummern der Parrot’schen Reihenfolge lassen 
rasch die Umordnung für jede einzelne Art erkennen. So rückt der 
Auerhahn vom Anfang in die Mitte, dicht neben den ähnlichen Birk- 
hahn, ebenso die bei Parrot weit auseinanderstehenden Sperber 
und Habicht mit ihrer ähnlichen Lebensweise und nur verschiedenen 
Größe eng zusammen in Gruppe 2, wo ihnen der Turmfalke sich 
zugesellt, während die vielfliegenden Baum- und Wanderfalke ähn- 


446 B. Klatt, Zur Methodik vergleichender metrischer Untersuchungen etc, 


lich der Parrot’schen Anordnung sich viel weiter unten wieder- 
finden. Der Buchfink, der bei Parrot das letzte Drittel der Reihe 
beginnt, rückt ganz an den Anfang, ebenso Häher und Elster, die 
gleichfalls Standvögel sind, also geringere Bewegungsleistung aufzu- 
weisen haben als z. B. der Storch, der bei Parrot ganz unberech- 
tigterweise in der ersten Hälfte der Reihe sich findet und bei mir 
als drittletzter steht. Die Singdrossel, bei Parrot die letzte, wird 
nach der Exponentenberechnung noch übertroffen vom Singschwan, 
der bei Parrot in der Mitte der Tabelle figuriert. 


Tabelle 4. 
(Die Herzgröße bei den Vögeln nach Angaben von Parrot.) 
a) nach d. °/,, Methode angeordnet. b) n. d. Exponenten-Methode angeordnet. 





















































An- 
ord- 
nung Art 
nach 
b) 
2. 14! Auerhahn | Dei| 1 1 0,0228 1 Elster | RB 
1. 5 | Mäusebussard' 83 | 2 2 0,0232 2 d Eichelhäher | I. 6 
2. 9 | Habicht 8,65 | 3 L; 3 10,0240|3 J2 Buchfink |ITI. 16 
4. 17 | Seeadler 8,98| 4 L. 410,0245|1 8 Wiedehopf | II. 14 
1. 1 | Elster 9,34| 5 5 ‚0,0249|4 © Bussard Say 
1. 2 | Eichelhäher 37-6 
3. 15 | Birkhahn 9.77|\.7 6 0,0268 12 S Sperber 11.13 
7 \0,0269[6 2 Möve 1. 8 
2. 7 | Lachmöve 10,35 | 8 o 8 [0,0271|4 & Ohreule II. 9 
2. 8 | Ohreule 10,86 | 9 ” 9 |0,028812 d Habicht 1: #3 
5. 22 | Storch 11,49 |10 N 10 [0,0292)4 S2 Kuckuck [ITI. 15 
6. 24 | Singschwan 11,78111| I. 11 0,0299 5 Z Turmfalk 11.12 
2. 11 | Turmfalk 11,91 |12 
2. 6 | Sperber 11.931113 12 0,0300 |4 Zwergstrandlfr.| V. 21 
1. 4 | Wiedehopf 12,04 | 14 13 [0,0308 /6 JP Turmschw. |IV. 19 
3. |1410,0322|3 g Auerhahn . 1.91 
2. 10 | Kuckuck 13,16 | 15 15 |0,0336 3 d Birkhahn 1 RN 
1. 3 | Buchfink 14,16|16 | III. 16 |0,0345 |3 Isl. Strandläufer[ IV. 18 
5. 20 | Wanderfalk | 14,91 |17 
17 |0,0382|2 JQ Seeadler I. 4 
3. 16 | Isl.Strandläuf.| 15,75 | 18 4. /18/0,0402|3 8 Baumfalk IV. 20 
3. 13 | Turmschwalb.| 16,46 |19| IV. 19 |0,0425 |3 & Pirol V. 22 
4. 18 | Baumfalk 16,98 | 20 
20 |0,0467 11 2 Wanderfalk |III. 17 
3. 12 | Zwergstrandl.| 19,18 | 21 v 5. 21 0,0467 |1 Z Flußuferläuf.|VI. 23 
4. 19 | Pirol 21,73 | 22 N 22 0,0469 |1 Q Storch II. 10 
5. 21 | Flußuferläuf. | 24,39 | 23 VI 6 23 |0,0528|1 Z Singdrossel |VI. 24 
6. 23 | Singdrossel | 25,64 | 24 ‘ “124 [0,0550 2 Singschwan 11..11 











Auch für eine Anzahl Säuger gebe ich die entsprechenden Be- 
rechnungen. Wie zu erwarten, sind sie im allgemeinen niedriger als 
bei den Vögeln. 


Bad: Na 
F “ir 
' a 


N 


B. Klatt, Zur Methodik vergleichender metrischer Untersuchungen etc. 417 











Tabelle 5. 
(Herzgröße europäischer Säuger.) 
1. Brandmaus 2 Klatt 0,01090 
2. Ratte Hesse 0,01108 
3. Waldmaus g' Welcker 0,01130 
4. Hausmaus Hesse 0,01142 
a) Wildkaninchen 19 2 E. Müller 0,01151 
6. Hauskaninchen 152 2 0,00939 
de Maulwurf g' Welcker 0,01518 
8. Igel 29 = 0,01584 
9. Mopsfledermaus 2 N 0,01595 
10. Eichhorn Parrot 0,01641 
11; Gemeine Fledermaus Klatt 0,01709 
12, Zwergfledermaus Hesse 0,01794 
13. Gemeine Spitzmaus 2 2 Welcker 0,01814 
14. Ohrfledermaus & 0,01822 
15. Gemeine Fledermaus 4 2 Strohl 0,01926 
16. Wühlmaus 2 2 Klatt 0,02129 
17. Wiesel g' Betheke 0,02133 
18. Its 7 5 0,02436 
19, Ra 057 = 0,02019 
20. Frettchen 4. d & 0.02105 
21. Frettchen 7% . 0,01879 
22. Steinmarder g' = 0,02618 
23. a 42 5 0,02284 
24. Hase 25,29 Klatt 0,03724 
25. Mensch 32 g', gesund Bergmann 0,03783 
26. Mensch 42, gesund ® 0,03436 
27. Fuchs 4 Klatt 0,04462 
28. 2 5 0,04235 
29. Wolf 24,12 E 0,04797 
30. Hund 2248 Vorsteher 0,04322 
31. Reh 5 Bergmann 0,06253 


Ich möchte besonders aufmerksam machen auf die bisher nur 
wenigen Fälle, wo für Männchen und Weibchen derselben Art die 
Herzgewichte bekannt sind. Dieselben sind ja häufig verschieden 
hoch, aber da zugleich oftmals eine erhebliche Körpergrößendifferenz 
zwischen den Geschlechtern besteht, wird aus dem relativen Herz- 
sewicht nicht die genaue Höhe der Differenz ersichtlich. Die Be- 
rechnung nach der Exponentenmethode gestattet ohne weiteres klare, 
zahlenmäßige Angaben. Die Differenz scheint im allgemeinen zwi- 
schen 0,002 und 0,004 zu liegen: 

Iltis 0,0042, Steinmarder 0,0033, Mensch 0,0035, Fuchs 0,0023. 

Frettchen 0,0022. Auch bei den Enten, bei denen Männchen und 
Weibchen zu vergleichen möglich ist, liegt die Differenz in ähnlicher 
Höhe: 

Tabelle 6. 


(Die Herzgröße bei Enten nach Angaben von ©. Timmann.) 








2 Kriekenten de 0,03023 \ 0.0022 2 Stockenten fe 0,03241 0.0032 
2 








» = 0,02803 „ 2 0,02920 
6 Hausenten & 0,02570 0,0032 
39. Band ® ” a 28 


N 


5 ESTER RN a 
\ . h 


418 B. Rlatt, Zur Methodik vergleichender metrischer Untersuchungen etc, 


Durch schrägen Druck sind die Haustiere, die neben ihren Wild- 
formen stehen, hervorgehoben. Auch hier, wo durch die Domesti- 
kation so erhebliche Größenunterschiede hervorgerufen sind, wird erst 
durch die Exponentenmethode es möglich, genaue zahlenmäßige Ver- 
gleiche anzustellen. Gegenüber den Wildformen zeigen sie eine er- 
hebliche Herabminderung der Werte, die beim Kaninchen z. B. noch 
unter 0,01 hinuntergehen, was bei keiner der deutschen Wildtierarten 
sich findet. 

Auch verwandte Tiere aus verschiedenen Klimaten sind häufig 
verschieden groß, so daß die einfache Berechnung der °/gn-Werte 
keine genauen zahlenmäßigen Vergleiche gestattet. Zwar die allge- 
meine Folgerung, daß in den Tropen das Herz kleiner ist als bej 
nahe verwandten Arten in unserem Klima oder gar im Norden Euro- 
pas, habe ich 1913 in meinem Reisebericht schon durch Vergleiche 
der °/g0-Werte oder in manchen Fällen durch direkten Vergleich 
der absoluten Zahlen feststellen können. Eine genaue zahlenmäßige 
Feststellung des Unterschiedsgrades gestattet die Exponentenmethode, 
Rechnet man mit ihrer Hilfe die Werte für p aus, so erhält man, 
um nur einige der Säugetiere hier anzuführen, folgende Werte: 











Tabelle 7 
(Herzgröße abessinischer Säuger nach Angaben von Klatt.) 
1. Arvicola abyssinica 9 0,00510 | 7. Lepus sp. 5. g' 0,02540 
2. Gerbillus murinus & 0,00696 8. Oynalopex pallidus 2 0,02562 
3. Procavia sp. 3. & 0,00965 9. Madoqua saltiana JR 0,02597 
4. Nyetinommus pumilus Q _ 0,01558 10. Grauschakal 69 . 0,03042 
5. Hysirix sp. d 0,02137 10. ” So 0,03104 
6. Herpestes albicauda 2 8 0,02330 12. Gazelia isabella 2% 0,03591 


Wenn auch die Reihenfolge im großen und ganzen dieselbe ist 
wie bei den europäischen Säugern (zuerst Muriden, dann Fledermäuse, 
kleine Carnivoren, große Carnivoren, Huftiere), so sind doch durch- 
gängig die Werte erheblich tiefer als bei den europäischen Verwandten. 
Man vergleiche z. B. die Hasen miteinander, den Schakal mit Wolf 
und Fuchs, vollends die Mäuse, die hier sogar Werte weit unter 0,01 
liefern, was bei keiner der europäischen Wildarten der Fall ist. Das 
Bild ist ein viel klareres als der Vergleich nach %/,9-Werten von 1913. 

Alle diese letzten Gegenüberstellungen zeigen so recht, daß die 
Herzgröße in weit höherem Grade modifizierbar ist als die Hirn- 
größe. So ist der Herzexponent mehr ein Mittel, die biologische und 
individuelle Eigenart eines Tieres zahlenmäßig auszudrücken, wäh- 
rend der Hirnexponent mehr die systematische Verwandtschaft der 
Spezies zu ergründen gestattet. ! 

Einige Worte noch zu der Frage, was wird denn nun eigentlich 
durch die mit Hilfe des Exponenten ausgerechnete Zahl bewertet? 





B. Klatt, Zur Methodik vergleichender metrischer Untersuchungen etc. 4149 


Oben wurde gesagt, daß der Faktor p — denn dieser ist es ja, der 
hier in Zahlen gefaßt wird — die Summe aller der Faktoren aus- 
drückt, welche abgesehen von der Körpergröße das Herzgewicht sonst 
noch bestimmen, und es wurde andererseits das Herz als ein Lebens- 
zentrum bezeichnet, die Zahl dieser Faktoren also sehr weit gefaßt. 
Es entspricht das der Hesse’schen ‘Auffassung, welcher sagt: „Das 
Herz ist das wahre Punktum saliens im Getriebe des Tierkörpers“, 
der ‚‚Lebensmaßstab“. Neuerdings hat sich besonders Pütter gegen 
diese hohe Einschätzung des Herzgewichtes gewendet. Nach ihm 
kommt es mehr auf „die Güte der Durchblutung‘ des Organismus 
an, die ihrerseits in Beziehung zur Intensität des Stoffwechsels 
(Maßstab: Der in der Zeiteinheit verbrauchte Sauerstoff) gesetzt. 
werden muß. Aus: dem Herzgewicht aber könne man keineswegs 
auf die Güte der Durchblutung schließen. Ein Herz, das etwa gegen 
einen Blutdruck von besonderer Höhe zu arbeiten hat, muß schwerer 
werden, ohne daß die Durchblutung im geringsten besser zu werden 
braucht, so daß hier also der Schluß auf eine höhere Lebensinten- 
sität aus dem bloßen Herzgewicht zu falschen Anschauungen führen 
müßte. „Es kann bei unähnlichen Herzgewichten ähnliche Durch- 
blutung bestehen... Nur wenn die Widerstände gleich sind, be- 
deutet eine größere Leistung des Herzmuskels auch eine größere Lei- 
stung des Herzens für den ganzen Körper.‘ Damit wird der Wert 
physiologisch-anatomischer Schlüsse aus dem bloßen Herzgewicht stark 
herabgemindert, je mehr, je ferner die verglichenen Formen sich 
systematisch stehen. Gerade für Überlegungen aber wie die es sind, 
von denen ich eigentlich zu dieser Untersuchung geführt wurde, 
nämlich Domestikationsstudien an Haustieren und ihren wilden Ver- 
wandten oder vergleichende Untersuchungen an verschiedenen Haus- 
tierrassen dürfte der Betrachtung der Herzgröße und der in diesem 
Aufsatz befürworteten Methode ihrer Vergleichung ihr Wert bleiben. 
Freilich bin ich mir auch darüber klar, daß man zum Ziel der physio- 
logisch-anatomischen Forschung, nämlich der Zurückführung der Form- 
verhältnisse der Organismen auf bestimmte physiologisch-ökologische 
Teilgeschehnisse an denselben um so sicherer gelangen wird, je weiter 
man den Kreis der metrischen Feststellungen zieht. Hätten wir 
auch nur bei der Hälfte der Formen, für welche das Herzgewicht. 
genau bekannt ist, auch metrische Feststellungen über Pulszahl, Blut- 
druck u. s. w., so wäre dadurch eine weit gründlichere Erkenntnis 
der allgemeinen Beziehungen, wie die Erklärung besonderer von der 
Norm abweichender Fälle möglich. Bei allen solehen metrischen Unter- 
suchungen aber ist Berücksichtigung der Gesamtgröße unerläßlich. 
Ihr Einfluß muß genau erkannt werden, um keine Fehler aufkommen 
zu lassen. Aber die Erkenntnis des Größeneinflusses ist 
nicht bloß unerläßliche Vorbedingung einer klaren Erfassung der Tat- 
sachen, sondern, was noch weit wertvoller ist, das beste Hilfs- 


28* 





490 B. Klatt, Zur Methodik vergleichender metrischer Untersuchungen etc. 


mittel, eine tiefere Einsicht zu gewinnen in die ge- 
setzmäßigen BeziehungensowohldesOrganismuszur 
Umwelt wie auch der physiologischen Teilgescheh- 
nisse in ihm selbst. Die Gesamtgröße ist gewissermaßen das 
Skelett, durch das alle einzelnen Teilwerte genau fixiert und zu einem 
harmonischen Ganzen zusammengehalten werden. 


Literatur. 


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P. Schiefferdecker, Über die Differenzierung der tierischen Kaumuskeln ete. 421 


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Welcker-Brandt, Gewichtswerte der Körperorgane bei dem Menschen und den 
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Über die Differenzierung der tierischen Kaumuskeln 
zu menschlichen Sprachmuskeln. 
Von Prof. P. Schiefferdecker, Bonn. 


In einer vor kurzem erschienenen Arbeit”), in der ich mensch- 
liche und tierische Kaumuskeln nach meiner Methode der Ausmessung 
der Muskelfaser- und Kernquerschnitte untersucht habe, bin ich zu 
dem Ergebnisse gekommen, daß die menschlichen Kaumuskeln sich 
aus den tierischen derartig differenziert haben, daß sie beim Men- 
schen nicht nur dem Kauakte, sondern auch dem Mechanismus der 
Sprache zu dienen imstande sind. Diese Differenzierung ist in der 
Weise eingetreten, daß die bei den Tieren in ihrer Dicke nur sehr 
wenig verschiedenen Muskelfasern beim Menschen sehr große Dicken- 
unterschiede zeigen, daß also bei ihm sehr verschiedene Arten 
von Muskelfasern in den Kaumuskeln bunt durcheinander gemischt 
liegen. Sehr verschiedene „Arten“, denn diese Fasern unterscheiden 
sich nicht nur nach ihrer Dicke, sondern auch nach dem Verhalten ihrer 
Kerne. Ich habe schon in früheren Muskelarbeiten immer wieder 
zeigen können, daß ein Muskel stets ein mehr oder weniger kompliziert 
gebautes Organ ist, da er stets aus verschieden dicken Fasern sich 
aufbaut, die sich ihrem ganzen Wesen nach verschieden verhalten. 
Es wird dies bewiesen durch die Kernfaserverhältnisse. Je größer die 
Verschiedenheiten der Fasern in einem Muskel sind und je mehr 
Arten von verschiedenen Fasern in ihm auftreten, um so komplizierter 
ist der Bau des Muskels, und um so kompliziertere Leistungen ver- 
mag er auszuführen. Die von mir bisher untersuchten menschlichen 
Kaumuskeln, der Masseter, Pterygoideus internus und Temporalis, 
zeigen nun alle drei eine höhere Differenzierung als die entsprechenden 
tierischen Muskeln, besonders hochgradig differenziert ist aber der 
Masseter, der die beiden anderen genannten Muskeln in dieser Be- 
ziehung bei weitem übertrifft. Welches die Ursache hierfür ist, läßt 
sich vorläufig noch nicht angeben: entweder müßte der Masseter bei 
den Sprachbewegungen weitaus stärker beteiligt sein als die beiden 
anderen Muskeln, oder sein Bau muß schon vor der Einwirkung der 
Ursache, welche die drei Muskeln verändert hat, nach dieser späteren 
Richtung hin abgewichen sein von den beiden anderen Muskeln, oder 
endlich der Masseter ist infolge seiner früheren Entwicklungsgeschichte 
leichter umbildungsfähig gewesen als die beiden anderen Muskeln, so 
daß er infolgedessen in stärkerem Grade hat umgewandelt werden 


BER ANNE NE DENE RT RS SD aha En, 
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4292 P. Schiefferdecker, Über die Differenzierung der tierischen Kaumuskeln ete. 


können. Welche von diesen dreien die wirkliche Ursache gewesen ist, 
läßt sich zurzeit noch nicht feststellen, es geht aber aus der hier mög- 
lichen Fragestellung schon die wichtige Tatsache hervor, dab der 





h re 


phylogenetisch. frühere Bauw/’eines .Muskels ven 


wesentlichem Einfluß sein kann auf den gegenwärti- 
sen Aufbau, wie er sich bei meiner Untersuchungsmethode heraus- 
stellt. Hieraus folgt dann weiter, daß man mit dieser Methode nicht 
nur die gegenwärtigen Eigentümlichkeiten in dem Baue eines Muskels 
aufzufinden vermag, sondern bis zu einem gewissen Grade auch die 
der früheren Entwicklungsstadien. Dadurch wird die Methode einerseits 
weit leistungsfähiger, als ich selbst früher angenommen habe, anderer- 
seits wird es aber auch weit schwerer, die aufgefundenen Eigentüm- 
lichkeiten richtig zu deuten, da diese nicht mehr einfach sämtlich auf 
die gegenwärtige Tätigkeit des Muskels bezug haben, sondern auf alle 
früheren, die der Muskel stammesgeschichtlich jemals ausgeübt hat. 
Nun wissen wir aber schon aus der Arbeit von Lubosch?), dab 
unsere Kaumuskeln sich aus ganz verschiedenen Muskeln herausge- 
bildet haben. Wenn sie jetzt bei uns in bezug auf ihren Aufbau eine 
gewisse, charakteristische Ähnlichkeit bekommen haben, so beruht 
das also auf einer allmählichen Umänderung, die bei allen dreien 
durch die Einwirkung derselben Ursachen eingetreten ist, als 
diese Ursachen sind aber nur anzusehen: diebesondere Art des 
Kauens und Beißens und die allmähliche Ausbildung 
der Sprache. Da die Sprachtätigkeit die bei weitem komplizier- 
teste Tätigkeit ist, die ein Muskel überhaupt auszuüben vermag, so 
wird sie speziell als Ursache in Betracht kommen für den auffallend 
komplizierten Aufbau, den wir bei den menschlichen Kaumuskeln 
und namentlich bei dem Masseter finden. Es gilt das bisher Gesagte 
natürlich für jedes Organ des Körpers: ein jedes hat seine Stammes- 
geschichte, während deren es sich allmählich umgebildet hat zu der 
Form, die es jetzt bei uns erreicht hat. Bei den Muskeln läßt sich 
diese Umänderung aber jetzt schon mit Hilfe meiner Methode bequem 
nachweisen. Ich habe bei meiner Untersuchung weiter feststellen kön- 
nen, daß auch zwischen dem Aufbaue der Kaumuskeln — namentlich 
des Masseters, der hauptsächlich untersucht worden ist — der ver- 
schiedenen Tierarten, selbst innerhalb derselben Ordnung, sich wesent- 
liche Unterschiede auffinden lassen, die aber vorläufig nicht gedeutet: 
werden können. Sie sind vermutlich auf die verschiedene stammes- 
geschichtliche Entwicklung der Tierarten zurückzuführen. Im ganzen 
aber waren die tierischen Muskeln einander doch wieder recht ähnlich 
im Gegensatze zu denen des Menschen. Auch der Masseter des Man- 
drill stimmte hierin mit den tierischen Muskeln durchaus überein, 
stand also, ebenso wie diese, in vollem Gegensatze zu dem mensch- 
lichen Muskel. Es zeigte sich also kein allmählicher Übergang durch 
die Primaten zum Menschen hin, und das war ja auch durchaus ver- 






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P. Schiefferdecker, Über die Differenzierung der tierischen Kaumuskeln ete. 493 


ständlich, wenn die Sprache die Hauptursache der Umänderung war. 
Hieraus war dann weiter zu schließen, daß diese Umänderung 
in der Stammesgeschichte des Menschen erst sehr 
spät eingetreten sein konnte. Dieser Schluß fand seine Be- 
stätigung darin, daß auch bei menschlichen Embryonen diese Um- 
änderung erst spät hervortritt: bei einem Embryo aus dem 6.—-7. Mo- 
nate zeigten sich zuerst deutlicher verschieden dicke Fasern, noch deut- 
licher war die Mischung bei dem Neugeborenen, doch muß die eigent- 
lich charakteristische Ausbildung erst während der Kindheit eintreten. 
Es mußte eben während der menschlichen Stammesgeschichte erst. 
ein Zustand erreicht werden, in dem das menschliche Gehirn so weit 
entwickelt war, daß die ersten deutlicheren Anfänge der Sprache auf- 
zutreten vermochten. Mit der allmählich immer weiter fortschreiten- 
den Gehirnentwicklung konnte sich die Sprache mehr und mehr ver- 
vollkommnen und dementsprechend die Differenzierung der Kaumus- 
keln mehr und mehr zunehmen, bis dann schließlich unsere jetzige 
Sprache und damit der jetzt vorhandene feinere Aufbau der Muskeln 
entstanden waren. Dieser Umbildung der Muskeln mußte parallel 
gehen eine allmähliche Umbildung und Ausbildung des nervösen Appa- 
rates für die Mechanik des Sprechens, In dieser Hinsicht ist eine 
Arbeit von Jelgersma!) von großem Interesse, die ebenfalls vor 
kurzem erschienen ist. Jelgersma weist in dieser nach, daß die 
starke Entwicklung des menschlichen Kleinhirns mit auf die Entwick- 
lung der Sprache zurückzuführen ist. 

Die Sprache ist nach Jelgersma die komplizierteste Koordi- 
nation, die überhaupt vorkommt, bei etwas näherer Betrachtung ist 
sie unübersehbar kompliziert. Die kleinsten und am meisten zusammen- 
gesetzten Bewegungen folgen in geschwindester und verschiedenster 
Reihenfolge und Kombination aufeinander. Das Auffallendste dabei 
ist, daß wir von den einzelnen Bewegungen und den Muskeln, die da- 
bei in Tätigkeit treten, subjektiv nichts wissen. Es scheint uns, als 
‚ob das Sprechen von selbst geht und als ob ein Willensimpuls für den 
Ablauf der Sprechbewegungen genügte. Nichts geschieht aber von 
selbst und die Kontrolle der Sprechbewegungen ist wohl da, sie ent- 
geht aber unserer subjektiven Beobachtung. Das Sprechen geht vie) 
zu geschwind vor sich, um eine Korrektion vom Gehöre aus möglich 
zu machen. Wir hören wohl, was von uns selbst und anderen ge- 
sprochen wird, aber die Korrektion der Sprechbewegungen beim er- 
wachsenen Menschen verläuft ganz außerhalb des Bewußtseins. Für 
diese Korrektion bleibt nur ein Sinnesorgan übrig: die Tiefensensi- 
bilität. Da aber die tiefen Gefühle ihre zentrale Endigung im Klein- 
hirne finden, so wird die Innervation der Sprechbewegungen zu einer 
zerebellaren Funktion. Große Redner brauchen nicht nur ein hochent- 
wickeltes Broca’sches Zentrum, sondern für die richtige Koordi- 
nation ihrer Sprechbewegungen auch ein fein ausgebildetes Cerebel- 


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424 P. Schiefferdecker, Über die Differenzierung der tierischen Kaumuskeln ete. 


lum. Das Sprechen bleibt ziemlich normal, wenn Taubheit nach dem 
12. Jahre eintritt. Stummheit tritt ein, wenn das Kind taub geboren 
ist oder Taubheit in früherer Jugend entsteht. Das Gehör ist also 
hauptsächlich wichtig für die Erlernung des Sprechens. Es dient 
hierbei auch zur Korrektion, später geht diese ganz über auf die Tiefen- 
sensibilität und entzieht sich damit dem Bewußtsein. Der zerebrale 
Prozeß hat sich damit in einen zerebellaren umgewandelt. Ein der- 
artiger Mechanismus beherrscht aber überhaupt alle unsere höheren 
Koordinationen. 

Wenn das Sprechen ziemlich normal bleibt, falls die Taubheif. 
erst nach dem 12. Jahre eintritt, so wird man annehmen dürfen, 
daß um diese Zeit der komplizierte Bau der Kaumuskeln vollständig 
oder fast vollständig zur Entwicklung gelangt ist, nachdem er in den 
letzten Embryonalmonaten sich angefangen hatte zu entwickeln, ebenso 
wie auch der gesamte nervöse Apparat für den Mechanismus des 
Sprechens um diese Zeit eine Entwicklung erreicht haben wird, die 
den gewöhnlichen Ansprüchen genügt. Ich sage ausdrücklich „den 
gewöhnlichen Ansprüchen“, denn selbstverständlich wird sich nament- 
lich der nervöse Apparat späterhin noch viel weiter auszubilden 
imstande sein, falls das Individuum sprachlich sich weiter vervoll- 
kommnet, durch Übung in der Muttersprache sowohl, wie namentlich 
auch durch die Erlernung fremder Sprachen, deren abweichende Laute 
natürlich eine ganz erhebliche Vermehrung in der Kompliziertheit 
hauptsächlich des nervösen Apparates verlangen und damit infolge 
der Übung bewirken werden. Es ist wohl fraglich, ob der muskuläre 
Apparat zu dieser Zeit des Lebens noch so weit umwandelbar ist, daß 
ein komplizierterer Bau in ihm durch Auftreten weiterer Dicken- 
klassen von Muskelfasern zu entstehen vermag. Ich möchte das so- 
gar für ausgeschlossen halten, wohl aber ist es denkbar, daß in den 
Kernfaserverhältnissen sich unter dem Einflusse der Nerven noch 
weitere Verschiedenheiten herauszubilden vermögen. Wie schwierig 
aber auch die Umbildung des nervösen Apparates, namentlich in 
höherem Lebensalter geworden ist, das weiß ja jeder, der es um diese 
Zeit noch unternimmt, eine neue Sprache zu lernen. Ebenso merkt 
man dabei auch, wie schwer später Fehler zu korrigieren sind, die 
man früher bei der Erlernung einer Sprache mitgelernt hat, als man 
jung war. Der einmal gebildete nervöse Apparat ist sehr schwer wieder 
umzubilden. Es müssen dazu eben erst die in der Großhirnrinde nieder- 
gelegten Erinnerungsbilder wieder verändert oder ganz ausgelöscht. 
werden, was augenscheinlich gar nicht so einfach ist. Die neu ent- 
standenen Bilder müssen dann erst wieder auf das Kleinhirn einwirken. 
Zu dieser Zeit ist aber sicher jede in Betracht kommende Nervenzelle 
schon mit einer ganzen Anzahl von Eindrücken versehen, die einer 
Umänderung einen gewissen Widerstand entgegensetzen. 

Die Sprache wird beim Menschen ganz allmählich entstanden 





P. Schiefferdecker, Über die Differenzierung der tierischen Kaumuskeln etc. 425 


sein. Die einzelnen Laute, durch die sich der tierische Vorfahre des 
Menschen verständlich machte, ähnlich wie es jetzt die Affen tun, 
werden allmählich komplizierter geworden sein und dabei wird gleich- 
zeitig ihre Anzahl immer mehr zugenommen haben. Bei diesem all- 
mählichen Übergange der tierischen Lautsprache in die immer kom- 
plizierter werdende menschliche wird die Umbildung der muskulösen 
und nervösen Apparate sehr langsam und allmählich vor sich gegangen 
sein, in sehr langen Zeiträumen. Diese stehen uns ja auch zu gebote, 
wenn wir die ersten Menschen, von denen wir Kunde haben, in das 
Ende des Miocäns oder den Beginn des Pliocäns verlegen. Die 
Grenze zwischen dem tierischen Vorfahren des Menschen und diesem 
selbst ist ja schwer festzulegen. Es scheint mir ganz richtig, sie 
nach der geistigen Entwicklung zu bemessen, und sie also da anzu- 
nehmen, als der Mensch zuerst fähig war, sich Geräte herzustellen. 
Ein Wesen, welches dies zu tun vermochte, stand höher als jedes 
Tier, auch selbst noch als die heutigen Tiere. Aus dem Ende des 
Miocäns oder dem Beginne des Plioeäns finden wir aber bekanntlich die 
ersten vom Menschen künstlich hergestellten Werkzeuge, die Eolithen 
oder Archäolithen des Cantalien. Da die Menschen dieser Zeit also 
geistig jedenfalls höher standen als alle sonstigen Tiere, auch sogar 
als die Affen der Jetztzeit, so werden sie voraussichtlich auch schon 
eine fortgeschrittenere Art der lautlichen Verständigung besessen 
haben. Welcher Art diese gewesen ist, darüber wissen wir freilich 
gar nichts und werden hierüber wohl auch nie etwas erfahren. ‚Jeden- 
falls sind wir aber berechtigt, anzunehmen, daß von dieser Zeit an 
oder auch schon früher bei den Menschen sicher eine Verständigungs- 
weise existiert hat, die höher stand als die tierische und daher als 
der erste Anfang der menschlichen Sprache zu bezeichnen sein würde. 
Das können wir nach unseren jetzigen Kenntnissen sagen, jeden 
Augenblick kann aber ein neuer Fund gemacht werden, der den Zeit- 
punkt der Menschwerdung noch früher anzusetzen erlaubt. Wir sind 
sogar auch jetzt schon gezwungen, einen solchen weit früheren Zeit- 


punkt anzunehmen, da die Menschen des Cantalien schon verhältnis- 


mäßig hoch standen. Von jener Zeit an bis zur Jetztzeit hin haben 
also die muskulösen und nervösen Apparate Zeit gehabt, sich zu dem 
Zustande auszubilden, den wir heute finden. Wenn sich solche Zeit- 
räume bekanntlich zurzeit auch nur sehr ungenau in Jahren ausdrücken 
lassen, so wird es sich dabei doch jedenfalls um ein paar Millionen 
Jahre handeln. Nach den vorliegenden Angaben vielleicht um 2—4 
Millionen. Also jedenfalls um Zeiträume, die für unsere menschliche 
Auffassung ungeheuer groß, für die ganze Zeitdauer der Entwicklung 
der Tierwelt auf der Erde aber außerordentlich "klein sind, und auch 
gegenüber der Zeit der Entwicklung der Säugetiere recht klein sind. 
So ist es durchaus verständlich, daß man die Spuren dieser Umbil- 
dung embryonal erst sehr spät findet. 


es 


496 P. Schiefferdecker, Über die Differenzierung der tierischen Kaumuskeln ete. 


Man kann den „Grad“ der Kompliziertheit des Muskelauf- 
baues aus dicken und dünnen Fasern einigermaßen klarstellen durch 
das Verhältnis der für die Maxima und Minima der Querschnitte der 
Muskelfasern gefundenen Werte. Da ergibt sich nun, daß bei dem 
Masseter der untersuchten Tiere die Maxima etwa 5—6 mal 
sröber sind als die Minima, bei dem dererwachsenen Menschen 
dagegen 50—80 mal. Bei den menschlichen Embryonen von 
5 Monaten, 6—7 Monaten und dem Neugeborenen sind die Ma- 
xima des Masseters ebenfalls etwa 5—6 mal größer. Diese Muskeln 
entsprechen also in dieser Hinsicht noch den tierischen, während in 
bezug auf die Anordnung der Fasern schon der menschliche Typus 
mehr und mehr hervortritt. Die Hauptdifferenzierung muß 
also erst nach der Geburt während der Kindheit ein- 
treten. Sie scheint dann nach der oben angeführten Angabe von 
Jelgersma im 12. Jahre der Hauptsache nach beendigt zu sein. 
Wie weit sie nach diesem Jahre noch weiter geht, wissen wir nicht. 
Selbstverständlich würde es sehr erwünscht sein, über diese kindliche 
Entwicklung direkte Untersuchungen zu besitzen, doch dürfte das mit 
großen Schwierigkeiten verbunden sein, da das Material sehr schwer 
zu beschaffen sein würde. Außer dem Masseter habe ich je einen 
menschlichen Pterygoideus internus und Temporalis untersucht. Das 
ist sehr wenig, ließ sich aber jetzt nicht anders machen. Bei diesen 
Muskeln war das Maximum etwa um das 12—-15fache größer als 
das Minimum. Auch diese Muskeln sind also erheblich stärker diffe- 
renziert als die tierischen, aber doch bei weitem nicht in dem Grade 
wie der Masseter. Für den Temporalis von Hund und Eichhörnchen 
ergab sich das 4—5fache. Diese Muskeln standen also in dieser Hin- 
sicht den entsprechenden Massetern gleich (ebenfalls das 4—5 fache), 
während beim Menschen zwischen dem Temporalis und dem Masseter 
eine bedeutende Kluft lag. 

Es ist selbstverständlich, daß so wichtige Untersuchungen an 
einem weit größeren Materiale ausgeführt werden müßten, um einiger- 
maben sichere Ergebnisse zu erhalten, das war aber für mich ganz 
ausgeschlossen, ich mußte froh sein, das vorliegende Material bear- 
beiten zu können. Auch so sind die Ergebnisse ja schon sehr wich- 
tige geworden, nur sind sie noch nicht sicher genug und noch nicht 
genau genug, sie können nur als allgemeinste Grundzüge gelten, und das 
ist schade. Allerdings bin ich zurzeit damit beschäftigt, noch mehrere 
Pterygoidei interni und externi zu untersuchen, und weiter Genio- 
hyoidei, die ja als Sprachmuskeln auch in Betracht kommen, 
aber bis diese Untersuchungen abgeschlossen sein werden, kann 
noch lange Zeit vergehen. Unter den Verhältnissen, unter denen 
ich zu arbeiten gezwungen bin, kann ich solche Untersuchungen nur 
sehr langsam ausführen. Ich bin natürlich selbst sehr gespannt, was 
diese neuen Untersuchungen ergeben werden. 





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P. Schiefferdecker, Über die Differenzierung der tierischen Kaumuskeln ete. 497 
Sehr auffallend und merkwürdig ist der eben erwähnte ver- 

schieden hohe Grad der Umbildung der drei menschlichen Kau- 

muskeln, hierfür müßte der Grund noch gefunden werden. 

Der von mir untersuchte Masseter des Mandrill stimmt durch- 
aus überein mit denen der übrigen Tiere (Maximum knapp 4mal 
größer als Minimum), also zeigt der Mandrill, obwohl Primat- und 
Ostaffe, in dieser Hinsicht keine Spur von Annäherung an den Men- 
schen, da eben die Sprache fehlt. 

Nun ist ja sicher nicht die Sprache allein die Ursache für die 
beschriebene Differenzierung, auch die Kautätigkeit des Men- 
schen ist eine andere als die der Tiere. Auch sie ist es erst allmäh- 
lich geworden. Wie weit die doppelte Art der Kautätigkeit des 
Menschen — die Scherenbewegung und die Mahlbewegung — als 
erworben anzusehen ist oder vielleicht gerade als Urgut und somit 
als die Bewahrung eines ursprünglichen Zustandes, muß man wohl 
zunächst als unsicher ansehen und noch nicht entscheidbar. Aber 
abgesehen hiervon hat sich die Kautätigkeit des Menschen gegenüber 
der tierischen dadurch verändert, daß er infolge seiner immer zu- 
nehmenden geistigen Begabung sich die Nahrung weit besser auszu- 
suchen und die ausgesuchte sich in. der nötigen Menge zu verschaffen 
wußte, daß er schneidende Werkzeuge besaß und dann — und das 
ist ein sehr wichtiger Punkt — dadurch, daß er mit Hilfe des 
Feuers seine Nahrung zu kochen und dadurch zu erweichen 
vermochte. Hierdurch wurden seine Kiefer erheblich entlastet 
und konnten sich nach der nötigen Richtung hin weiter aus- 
bilden. Auch beim Kauen verwendet der Mensch nicht mehr die 
rohe, gewalttätige Art der meisten Tiere, er kaut mit mehr Verschie- 
denheiten je nach der Art der Nahrung, braucht bald mehr Kraft, 
bald weniger, die Bewegungen sind bald schneller, bald langsamer und 
bei der Mahlbewegung wesentlich andere als bei der Scherenbewegung. 
Immerhin ist die Mannigfaltigkeit der Sprachbewegungen natürlich 
außerordentlich viel größer als die der Kaubewegungen. Dazu kommt 
dann endlich noch, daß für den Menschen der „Biß“ als „Waffe“ in 
Wegfall gekommen ist, er wurde durch künstlich hergestellte Waffen 
ersetzt dank der fortgeschrittönen Gehirnausbildung. Daß die mensch- 
lichen Kaumuskeln trotz ihrer feinen Differenzierung einer sehr großen 
Kraftleistung fähig sind, können wir staunend wahrnehmen, wenn 
wir Artisten beobachten, welche mit ihren Kaumuskeln nicht nur 
ihre eigene Last, sondern auch noch die anderer Menschen zu tragen 
imstande sind. Es ist eigentlich sehr auffallend, daß solche plumpe, 
mächtige Muskeln solch zarter Bewegungen, wie sie für das Sprechen 
notwendig sind, fähig sind. 

Die Benutzung des Feuers gehört mit zu den charakte- 
ristischen Eigentümlichkeiten, die den Menschen vom Tiere unter- 
scheiden. Wann sie zuerst in die Erscheinung getreten ist, läßt 


ns 7 De ae > 7, SD Aa Pa er 


498  P Schiefferdecker, Über die Differenzierung der tierischen Kaumuskeln ete. 


sich mit einiger Sicherheit nicht mehr nachweisen, da man auf 
Feuerspuren angewiesen ist, deren Auffindung natürlich ganz dem 
Zufalle überlassen ist. Rutot hat behauptet, Spuren von Feuer im 
unteren Acheul&en, ja schon im Chelleen gefunden zu haben, sogar 
in dem noch älteren Strepyien. Allerdings stützen sich diese 
Annahmen nicht auf den Fund von Herdplätzen, sondern nur auf den 
von gebleichten und oberflächlich zerplatzten Feuersteinen. Noch 
unsicherer waren die Befunde aus dem Reutelien. Unter den tertiären 
Eolithen ist gar nichts derartiges gefunden worden. Alle diese Befunde 


sind also wohl im ganzen noch nicht sicher und .sprechen vor allen 


Dingen nicht im geringsten für eine Verwendung des Feuers zur Be- 
reitung der Nahrung. Ob der wohl noch früher oder zur Zeit des 
Reutelien anzusetzende Heidelbergmensch schon das Feuer gekannt 
hat, ist daher unbekannt, und dasselbe gilt natürlich von den mio- 
cänen Menschen. Der gewaltige Kiefer des Heidelbergmenschen war 
freilich mächtig genug, um die Nahrung auch ohne Zubereitung durch 
Feuer zu zerkleinern, und doch sind seine Zähne schon durchaus 
menschlich, und er ist sowohl für die Scherenbewegung wie für die 
Mahlbewegung eingerichtet. 

Es ist übrigens nicht nur möglich, sondern durchaus wahrschein- 
lich, daß die Menschen das Feuer nicht gleich zur Bereitung der 
Nahrung verwandt haben, sondern weit eher zum Schutze gegen wilde 
Tiere, zur Erwärmung und vielleicht auch zur Zerspaltung von großen 
Feuersteinknollen, deren Spaltprodukte sie ja nötig brauchten. Wie 
weit sie es zuerst zur Erwärmung gebraucht haben, ist auch noch 
fraglich, denn das Chelleen und auch das Acheuleen fallen in eine 
Zwischeneiszeit mit warmem Klima, in der noch Elefanten lebten. 
Die Menschen waren an die natürliche, nicht weiter zuberei- 
tete Nahrung so gewöhnt, dab gar kein Grund für sie vorlag, diese 
noch erst dem Feuer auszusetzen. Wahrscheinlich wird ein zufälliger 
Befund die erste Anregung dazu gegeben haben. Fleisch, das zufällig 
mit dem Feuer in Berührung gekommen war, wird den Appetit an- 
reizende Düfte verbreitet haben und beim Genusse besser geschmeckt. 
haben als rohes, und so wird aus diesem Grunde das Braten und 
Rösten des Fleisches in Aufnahme gekommen sein. Vielleicht hat 
man dann auf diese Anregung hin auch pflanzliche Früchte zuzu- 
bereiten versucht, so durch Rösten. Das „Kochen“ der Nahrungs- 
mittel ist sicher erst sehr viel später aufgekommen, zu einer Zeit, 
da man schon Töpfe besaß. Man braucht ja allerdings, wie die vor- 
liegenden Beobachtungen lehren, nicht notwendig „Töpfe“ dazu, man 
kann sich auch mit dichtgeflochtenen Körben oder noch einfacher mit 
dem Magen der getöteten Tiere behelfen, aber es lag zunächst für die 
Menschen überhaupt kein Grund vor, Fleisch oder Pflanzenfrüchte 
mit Wasser in Berührung zu bringen, beide hatten für sie gar nichts 
miteinander zu tun. Erst weit später, als man schon Töpfe hatte, 


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P. Schiefferdeeker, Über die Differenzierung der tierischen Kaumuskeln ete. 429 


wird man überhaupt zuerst dazu übergegangen sein, Wasser zu er- 
hitzen und eventuell kochen zu lassen, und dann wird es wohl wieder 
erst ein Zufall oder ein vorwitziger Versuch gelehrt haben, dab 
man auch die Nahrung vorteilhaft mit heißem Wasser herzustellen 
vermochte. Hiernach würde dann sehr spät erst ein Einfluß von 
regelmäßig gekochter Nahrung auf die Kaumuskeln wahrscheinlich 
sein. 

Nach dem Gesagten läßt es sich nicht feststellen, in welcher 
zeitlichen Beziehung die Benutzung des Feuers zu der Ent- 
stehung der. Sprache steht. Jedenfalls werden wir aber annehmen 
können, daß die ersten Anfänge einer menschlichen 
Sprachesehr vielfrüher liegen als die Benutzung des 
Feuers zur Bereitung der Nahrung. Wir können also be- 
treffs der Differenzierung der Kaumuskeln nur sagen, dab zu 
irgendeiner Zeit der Entwicklung der Sprache die 
durch Feuer zubereitete Nahrung aufgetreten ist, 
durch welche dann ebenfalls eine Änderung in dem 
feineren Aufbaue der Kaumuskulatur eintrat, zu- 
gleich mit der durch die Sprache bedingten. Man darf 
wohl mit Sicherheit annehmen, daß die durch die Sprache bedingten 
Änderungen weit erheblicher waren als die durch die Änderung im 
Kauen bedingten, aber beide haben sich, für uns jetzt untrennbar, 
miteinander vermischt. 

Hält man diese Betrachtungen zusammen mit der oben mitge- 
teilten Feststellung, daß bei dem Pterygoideus internus und Temporalis 
desMenschen dieMaxima nur das 12- und löfache der Minima der 
Faserquerschnittsgröße betragen, während sie bei dem Masseter das 
50-—-80fache sind, bei Tieren dagegen nur das 4—b6fache, so kann 
man auf den Gedanken kommen, daß der Masseter der haupt- 
sächlichste Sprachmuskel ist, während die beiden 
anderen hauptsächlich für den Kauakt dienen. Natür- 
lich würde der Masseter auch als Kaumuskel mitwirken, aber seine ihm 
besonders zufallende Aufgabe würde die Sprache sein, während bei den 
beiden anderen die Sache umgekehrt liegen würde. Wie weit diese An- 
nahme sonst noch zu begründen sein wird, läßt sich vorläufig nicht sagen, 
sie stützt sich zunächst nur auf den anatomischen Bau. Erfahrungsgemäß 
findet man aber bei einer Gruppe von Muskeln mit scheinbar gleicher 
oder wenigstens sehr ähnlicher Funktion gewöhnlich eine feinere 
Differenzierung der einzelnen Muskeln, durch welche jeder einzelne 
Muskel wieder seine besondere Funktion erhält. Von den hier in 
Betracht kommenden drei Muskeln ist der Temporalis wohl 
alsder Hauptkraftmuskel anzusehen, da er sich an den Mus- 
kelfortsatz des Unterkiefers ansetzt und infolgedessen eine größere 
Hebelkraft zu entwickeln vermag. Das würde für die Kaufunktion 
sehr wichtig, für die Sprachfunktion ohne Bedeutung sein. Er ist 


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430  P. Schiefferdecker, Über die Differenzierung d«r tierischen Kaumuskeln ete. 


außerdem weit feinfaseriger als die beiden anderen Muskeln, die in 
dieser Hinsieht etwa gleich sind, wird also eine reichere Inner- 
vation besitzen. Wir haben ja auch feststellen können, daß die 
Größe des Temporalis mit der zunehmenden Entwicklung des 
Menschen mehr und mehr abgenommen hat, zusammen mit der Re- 
duktion der Zähne und des ganzen Kiefers, was ebenfalls für seine 
starke Beteiligung am Kauakte sprechen würde. Allerdings haben auch 
die beiden anderen Muskeln an Größe abgenommen; das Verhältnis läßt 
sich bis jetzt nicht genauer feststellen. Wenn ich sage, daß der Masseter 
und der Pterygoideus internus in bezug auf ihre Faserdicke fast gleich sind, 
so ist das insoweit richtig, als die „Durchschnittsgröße* der Fasern 
in Frage kommt. Der Masseter besitzt aber eine große Anzahl weit 
feinerer Fasern als der Pterygoideus, dafür dann aber auch einige 
weit dicker. Er ist eben in weit höherem Maße differenziert. 
So sind also die Muskeln alle deutlich voneinander verschie- 
den und hierzu kommen dann noch die Verschiedenheiten der 
Kerne. Schon aus dieser Verschiedenheit im Baue geht hervor, daß 
jeder von diesen drei Muskeln auch eine etwas andere Funktion be- 
sitzen wird. Welches nun die Unterschiede zwischen dem Masseter 
und dem Pterygoideus internus in dieser Hinsicht sein werden, läßt. 
sich aus der Lage kaum ableiten, dem feineren Baue nach könnte der 
erstere aber, wie schon gesagt, hauptsächlich der Sprachmuskel sein. 
Das würde dann allerdings ein sehr wesentlicher funktioneller Unter- 
schied sein. 

Hier seinoch erwähnt, daß derMasseter eines Chinesen 
sich in bezug auf seine Faserverhältnisse ganz ebenso verhielt, wie 
die Muskeln der Deutschen, daß er aber erheblich mehr Kernmasse 
besaß, so daß seine „relative Kernmasse‘“, d. h. das prozentuale Ver- 
hältnis zwischen Kernmasse und Fasermasse, eine sehr wichtige 
Größe, bei ihm 1,09 %% betrug, während es bei den Deutschen etwa 
0,70 % betrug, ein sehr wesentlicher Unterschied, der wahrschein- 
lich als ein Rassenunterschied anzusehen sein wird. Allerdings müßten 
erst noch mehr Chinesen hieraufhin untersucht werden, um festzu- 
stellen, wie weit diese Größe sich als konstant erweist. Noch in 
einer anderen Beziehung lieferte der Masseter dieses Chinesen inter- 
essante Ergebnisse. Ich hatte in meiner Herzarbeit*) nachweisen 
können, daß es Menschen mit großen und solche mit kleinen Muskel- 
kernen gibt, und zwar machte ich einen Unterschied dabei zwischen 
„individuellen“ und „urrassigen“ Verschiedenheiten, die letzteren 
waren weit größer und meiner Deutung nach auf zwei Urrassen zu- 
rückzuführen. Derselbe Chinese war auch bei der Herzarbeit unter- 
sucht worden und hatte sich dort als deutlich „großkernig‘ erwiesen. 
Ich habe über diese Dinge auch berichtet in „Die Naturwissenschaf- 
ten“ Bd. 5, H. 19, 1917, S. 309—316. Ganz ebenso wie der Herz- 
muskel verhielt sich nun auch der Masseter dieses Chinesen, seine Kerne 





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P. Schiefferdecker, Über die Differenzierung der tierischen Kaumuskeln ete. 431 


besaßen ein Volumen von 75 ku, während die der Deutschen Muskeln 
nur ein solches von etwa 50 ku aufwiesen, also ein sehr bedeutender 
Unterschied, aus dem hervorging, daß die hier untersuchten Deut- 
schen ‚‚kleinkernig‘ waren, während der Chinese sich wieder als 
„großkernig“ erwies. 

Ich habe seit einigen Jahren versucht, die Anthropologie 
durch vergleichend-mikroskopische Untersuchungen 
zu fördern, und wie ich wohl sagen darf, mit Erfolg. Die erste 
dieser Arbeiten behandelte die Wangenhaut des Menschen°), eine 
Fortsetzung dieser ist jetzt fast abgeschlossen, die zweite den mensch- 
lichen: Herzmuskel®), eine dritte beschäftigte sich mit den Hautdrüsen 
des Menschen und der Säugetiere), die vierte ist die hier bespro- 
chene Arbeit?) über die Kaumuskeln. Die Ergebnisse dieser letz- 
teren, die ich hier angeführt habe, sind natürlich nur ein Teil der 
im ganzen von mir erhaltenen. In der Hautdrüsenarbeit®) konnte 
ich nachweisen, daß die Primaten sich von den übrigen Säugetieren, 
so weit mir das bekannt geworden war, unterscheiden dadurch, dab 
bei ihnen bestimmte Hautdrüsen über andere mehr und mehr das 
Übergewicht gewinnen, und daß dieser Vorgang beim Menschen, der 
an der Spitze der Primaten steht, seinen höchsten Grad erreicht: 
Während bei den sonstigenSäugetieren die apokrinen Drüsen 
(auch als große Schweißdrüsen bezeichnet) bei weitem am meisten 
verbreitet sind, sind beim Menschen die ekkrinen Drüsen (auch 
als kleine Schweißdrüsen bezeichnet) auf dem bei weitem größten 
Teile des Körpers ausschließlich vorhanden, nur an einigen wenigen 
beschränkten Teilen befinden sich auch mit ihnen zusammen die 
anderen. Die Affen, welche beide Drüsenarten in weiterer Ver- 
breitung zu besitzen scheinen, würden einen Übergang bilden, sie 
würden „gemischtdrüsig‘“ sein. Auch für diese Arbeit war leider 
das untersuchte Material notgedrungen recht klein, so daß ich nur 
einige Hauptsachen feststellen konnte. Die Untersuchung mensch- 
licher Embryonen ergibt nun, wie das Carrossini auch schon ge- 
funden hat, daß ursprünglich weit mehr apokrine Drüsen angelegt 
werden, als später zur Entwicklung kommen, daß also der größte Teil 
dieser Drüsen während der embryonalen und wahrscheinlich auch 
noch der kindlichen Entwicklung zugrunde geht. Der Mensch stammt. 
also zweifellos von Vorfahren ab, die weit mehr apokrine Drüsen 
besaßen, sich also den sonstigen Säugetieren in dieser Hinsicht weit 
mehr näherten. Aus irgendeinem uns noch unbekannten Grunde, der 
natürlich mit seiner ganzen Entwicklung auf das engste zusammen- 
hängt, hat der Mensch nun später diese Drüsen zum größten Teile 
eingebüßt. Wegen des Näheren verweise ich auf die Arbeit. Wir 
werden weiter annehmen können, daß dieser Vorgang der Drüsen- 
reduktion beim Menschen stammesgeschichtlich erst spät aufgetreten 
ist, da wir ihn ontogenetisch erst in den späteren Embryonalmonaten 


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432  P. Schiefferdecker, Über die Differenzierung der tierischen Kaumuskeln ete. 


finden. Immerhin tritt er früher auf als die Umbildung 
der Kaumuskeln und es ist auch ganz verständlich, daß er früher 
eingetreten sein wird in der Phylogenese, wahrscheinlich zu einer 
mehr oder weniger langen Zeit nach der Abtrennung des Menschen- 
stammes von dem Ostaffenstamme oder von dem der Anthropoiden, 
darüber weiß man ja noch nichts. Jedenfalls aber wohl zu einer Zeit, 
da die Vorfahren des Menschen noch rein tierisch waren. 

Diese beiden Vorgänge, sowohl die Umbildung der Kaumuskeln 
wie die der Drüsen, sind nur zu verstehen, wenn man eine Verer- 
bung erworbener Eigenschaften annimmt, und hierzu ge- 
hört dann wieder die Annahme einer Beeinflussung der 
Keimzellen durch den gesamten übrigen Körper. Ich 
habe mich über eine solche auch in einer vor kurzem erschienenen 
Arbeit®) über die „Konstitution“ ausgesprochen, nachdem ich diese 
Annahme im Prinzipe schon vor einer Reihe von Jahren vertreten 
hatte Ohne eine solche Annahme ist unsere gesamte 
Stammesentwicklung unverständlich, da sie nun 
aberdoch unleugbar vorhandenist,so wirdmaneben 
auch jene Beeinflussung der Keimzellen durch den 
Körper annehmen müssen. 


Literatur. 


1. Jelgersma, G., Die Funktion des Kleinhirns. Journ. f. Psychol. u. Neurol. 
Bd. 23, H. 5/6, S. 137—162, 1918. 


2. Lubosch, W., Vergleichende Anatomie der Kaumuskeln der Wirbeltiere, in 
5 Teilen. Jenaische Zeitschr. f. Naturwiss. Bd. 53, S. 51—188, 1914, mit 
5 Taf. u. 28 Abb. im Text. 


3. Schiefferdecker, Paul, Der histologische und mikroskopisch-topographische 
Bau der Wangenhaut des Menschen. Arch. f. Anat. u. Physiol. Jahrg. 1913, 
Anat. Abt. S. 191—224, mit 3 Taf. 


4. — Untersuchung des menschlichen Herzens in verschiedenen Lebensaltern in 
bezug auf die Größenverhältnisse der Fasern und Kerne. Arch, f. die ge- 
samte Physiol Bd. 165, S. 499—564, 1916. 


5. — Die Hautdrüsen des Menschen und der Säugetiere, ihre biologische und 
rassenanatomische Bedeutung sowie die Muscularis sexualis. (Vorläufige 
Mitteilung.) Biol. Zentralbl. Bd. 37, Nr. 11, S. 534-562, ausgegeben am 
30. Nov. 1917. 

6. — Betrachtungen über die „Konstitution“. Zeitschr. f. angewandte Anatomie 

u. Konstitutionslehre Bd. 4, H. 4, S. 200-224, 1918. 

— Untersuchung einer Anzahl von Kaumuskeln des Menschen und einiger 
Säugetiere in bezug auf ihren Bau und ihre Kernverhältnisse nebst einer Kor- 
rektur meiner Herzarbeit (1916). Arch. f. d. gesamte Physiol. Bd. 173, H. 4—6, 
1919, mit 36 Textabbildungen. 


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Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der Universitäts- 
Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen. 


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Biologische Zentralblatt 


Begründet von J. Rosenthal 


Unter Mitwirkung von 


Dr.R Goebel und Dr. R. Hertwig 


Professor der Botanik Professor der Zoologie 
in München 


herausgegeben von 


Dr. E. Weinland 


Professor der Physiologie in Erlangen 


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39. Band Oktober 1919 .\# #Nr. 10 


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Der Fahren "Abonnemenfepreis (12 Hefte) beträgt 20 Mark 
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten 


Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an 

Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, 

vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, 

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physiolog. Institut, 
einsenden zu wollen. 











Inhalt: H. Driesch, Studien über Dane und Rhythmus. S. 435. 
; H. Jordan, Die Phylogenese «der Leistungen des zentralen Nervensystems. S$. 462. 
R. Demoll, Dfe Bedeutung der Elytren der Käfer für den Flug. S. 474. 
5: A. Forel, Entgegnung. 8. 478. ” 
Referate: O. Renner, N. Heribert-Nilsson, Experimentelle Studien über Variabilität, Spaltung, Art- 
bildung und Evolution in der Gattung Salix. S. 479. 








Studien über Anpassung und Rhythmus. 
Von Hans Driesch, Heidelberg. 


Gewisse schwierige Probleme aus der Philosophie des Or- 
ganıschen werden in diesen Studien aufs Neue behandelt, in der 
Hoffnung, daß dadurch die Einsicht ın sie erweitert und vertieft 
werde. Die zweite Studie befaßt sich fast ausschließlich mit Ge- 
dankengängen von Georg Klebs. Als er diese Studie schrieb, 
ahnte der Verfasser nicht, daß er damit in der Diskussion mit seinem 
Freunde und Arbeitsgenossen das „letzte Wort“ haben werde; er 
hätte es sich wahrlich anders gewünscht. 


I. Zur Lehre von der Anpassung. 
1. Grundbegriffe. 

Wir gehen aus von drei Begriffspaaren, welche in meinen natur- 
philosophischen Schriften eingeführt worden sind: Anpassung und 
Angepaßtheit, Eigenfunktion und harmonische Funktion, 
primäre und sekundäre Regulation. 


39, Band. 29 





434 H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus. 


a) Anpassung ist ein Vorgang, Angepaßtheit ist ein Zu- 
stand rein als Zustand betrachtet, das heißt so, daß nach seiner 
Herkunft nicht gefragt wird. 

Der Vorgang der Anpassung gehört zu den Regulationen. 
„Regulation ıst ein am lebenden Organismen geschehender Vor- 
gang oder die Änderung eines solchen Vorganges, durch welchen 
oder durch welche eine ırgendwie gesetzte Störung seines vorher 
bestandenen ‚normalen‘ Zustandes ganz oder teilweise, direkt oder 
indirekt, kompensiert und so der ‚normale‘ Zustand oder wenigstens 
eine Annäherung an ihn wieder herbeigeführt wird.“ (Org. Reg. 1901, 
S. 92, ähnlich Phil. d. Org. I, 1909, S. 167). Es gibt zwei Klassen 
von Regulationen: Restitutionen und Anpassungen, die ersten 
stellen die gestörte Organisation, die zweiten den gestörten Funktions- 
zustand wieder her; Restitutionen und Anpassungen greifen inein- 
ander, denn „jede Entfernung von Teilen verändert auch den 
Funktionszustand des Organismus“ (Ph. d. ©. 1. c.). 

Angepaßtheit bedeutet eine besondere gegebene Einrichtung 
des ÖOrganısmus, welche typisches ‚normales‘ Funktionieren im 
weitesten Sinne des Wortes bedingt (Ph.d. 0. I, S. 187f., wo frei- 
lich keine strenge Definition, sondern nur eine Erläuterung des 
Begriffs gegeben ist). 

b) Eigenfunktionr leistet ein Teil des Organısmus, wenn er 
die für ihn typische Art spezifischen Stoff- und Energiewechsels 
leistet (Ph. d. ©. I, S. 191f.; zuerst in Ergebn. d. Anat. u. Entw.- 
gesch. 8, 1899, S.793). Die harmonische Funktion bezieht sich 
nicht auf die unmittelbare Leistung eines bestimmten Teiles als 
solche, „sondern auf den Effekt dieser Leistung auf andere Teile 
desselben Individuums oder sogar auf das Ganze“; sie ist „har- 
monisch“ „auf Grund der Kompositions- und Funktionalharmonie des 
Individuums“ (l.e.). Es besteht nämlich eine statische Harmonie 
im Organismus, die sich dreifach, nämlich in Kausalharmonie, 
Konstellationsharmonie und Funktionalharmonie gliedern läßt: Kau- 
salharmonie ist gegeben in dem Zueinanderpassen „zwischen for- 
mativen Ursachen und Ursachsempfängern“!), Konstellations- 
harmonie äußert sich darın, „daß ein ganzer Organismus den Ab- 
schluß der Entwicklung bildet, trotz der relativen Unabhängigkeit 
der zu ihm führenden Prozesse“?), Funktionalharmonie ist „ein 
Ausdruck für die Einheit und das Ineinandergreifen der organischen 
Funktionen“?) (Ph. d. ©. I, S. 109; zuerst Analyt. Theorie d. org. 


1) Beispiel: Der Augenbecher reizt die Haut zur Linsenbildung und sie kann 
dem Reiz entsprechen. 

2) Darm und Mund der Seeigellarven entstehen ganz unabhängig voneinander, 
„passen“ dann aber zueinander. 

3) Die Funktionen der einzelnen Darmteile sind aufeinander „abgestimmt“, 
jede spätere setzt die frühere voraus, 









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H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus. 


Entw. 1894, S. 92—94; für Konstellationsharmonie habe ich gelegent- 
lich auch „Kompositionsharmonie* gesagt). 

c) Primär-regulatorisch ist „jede morphogenetische oder 
funktionale Leistung, welche in ihrer inneren Natur einen regula- 
torischen Zug trägt, d.h. von sich selbst aus dahinstrebt, das Ganze 
der Organisation und des Funktionszustandes normal zu erhalten“; 
sekundär-regulatorisch dagegen sind „alle Geschehnisse im Ge- 
bıet der Formbildung und des Funktionierens, welche dazu dienen, 
den gestörten Zustand auf Bahnen, die außerhalb des Bereiches 
sogenannter Normalität liegen, wiederherzustellen“ (Ph. d. ©. I, 
S. 189; zuerst Arch. f. Entwicklungsmechanik 3, 1896, S. 378). 


2. Beispiele von Angepaßtheit und primärer Anpassung‘*).. 

Im Anschluß an die hier noch einmal festgelegten drei Begriffs- 
paare sollen nun eine Reihe von organischen Geschehnissen auf ihr 
begriffliches Wesen hin geprüft werden. Es handelt sich zunächst 
nur um eine strenge begriffliche Klassifizierung der Geschehnisse. 
Eine solche strenge Klassifizierung ist notwendig, da mit der An- 
wendung der Begriffe „Anpassung“ und „Funktion“ außerordentlich 
lässig vorgegangen zu werden pflegt: Anpassung und Angepaßtheit, 
Eigen- und harmonische Funktion werden fortwährend durcheinander 
geworfen, 


. a) Vorgänge als Ausdruck von Angepafstheit, nicht von Anpassung. 


v. 


.. Nicht weil ein Vorgang im Organismus nun eben ein: zur 
Wahrung des strukturellen und funktionellen normalen‘ Ganzen 
dienender „Vorgang“ ist, ist er deswegen allein schon eine „An- 
passung“. Vorgänge rein als Vorgänge ergeben sich aus den Be- 
ziehungen der Organisation zum Medium; und weil die Organisation 
einschließlich ihrer Funktionen eben harmonisch ist mit Rücksicht 
auf Bildung und Erhaltung des Ganzen, deshalb sind die einzelnen 
aus ihr fließenden Vorgänge ohne weiteres ganzheitsfördernd oder 
ganzheitserhaltend, also, um einmal das übliche, allzu psycholo- 
gisch klingende Wort zu gebrauchen, „teleologisch“ im rein des- 
kriptiven Sinne dieses Wortes. ‘Die Ganzheit ist da und ihr Er- 
halten- und Gefördertwerden durch die Vorgänge ıst auch da; 
von „Theorie“ ist hier gar nicht die Rede, bloß von der scharfen 
Formung eines beziehlichen reinen Sachverhaltes. 

Nicht „Anpassungen“ sind also die seltsam „elektiven“ Vorgänge, 
die sich an den Wurzeln der Pflanzen und am Epithel der Niere 
zeigen, wenigstens, soweit bloß ıhre „auswählende* Seite in Frage 
kommt. Die Nierenepithelien lassen alles aus dem Blute heraus 
durchtreten, was nicht zur normalen Zusammensetzung des Blutes 
gehört; die Wurzel der Pflanzen läßt nur bestimmte Stoffe jeweils 


4) Ausführlicheres in unserer Phil. d. Organ. I, S. 193 ff. 
29* 


. 





456 H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus. 


in bestimmter Konzentration ein-, beziehungsweise durchtreten. 
Alles ıst verständlich als bloßes Angepaßtsein, d.h. auf Grund der 
Annahme eines ganz bestimmten gegebenen physikalisch- chemischen 
Baues, dessen bloßes Dasein dıe Vorgänge, so wie sie sind, bedingt. 
Ein ame ablaufender Vorgang ist also zunächst nur der Aus- 
druck von Angepaßtheit. 


b) Einfache Fälle von Anpassung. 


Wie nun steht es bei Änderungen von funktionellen Vor-. 
gängen, welche Änderungen des Mediums entsprechen? Sind. sie 
ohne weiteres „Anpassungen“? Wir müssen die quantitativen Ände- 
rungen jedenfalls von qualitativen scheiden und wollen zunächst nur 
quantitative Änderungen betrachten. Ein gutes Beispiel bietet 
die sogenannte Wärmeregulation der warmblütigen Wirbeltiere: die 
Körpertemperatur dieser Organismen erhält sich konstant, gleich- 
gültig ob die Außentemperatur steigt oder fällt. Was liegt dem 
letzhin zugrunde? Man weiß es nicht. Wir mögen hier, da uns 
nur am Grundsätzlichen liegt, das oft gebrauchte Wort „Wärme- 
zentrum“ heranziehen und so tun, als sei sicher erwiesen, daß ein 
bestimmter Hirnort zu allen Wärmeregulationen ın Beziehung steht. 
Das Funktionieren des Wärmezentrums würde also bei Abkühlung 
stärkere Verbrennung und Verengung der Kapillaren der Haut, bei 
Erwärmung Herabsetzung der Verbrennung, Erweiterung der Kapil- 
laren und Schweißabsonderung bewirken. Das Wärmezentrum wäre 
hier das eigentlich „Reagierende“. In der geschilderten Weise zu 
reagieren wäre seine Eigenfunktion; seine harmonische Funk- 
tion wäre der Effekt seiner Eigenfunktion, d. h. die Erhaltung 
gleicher Temperatur in allen Teilen des Organismus; im Wege 
harmonischer Funktion, so können wir auch sagen, bewirkt dıe (im 
einzelnen unbekannte) Eigenfunktion des Zentrums, daß andere Teile 
des Organismus, z. B. die Kapillaren, ihre Eigenfunktion ändern, 
alles in quantitativem Sinne. Ist das „Anpassung“? Fraglos. Aber 
so, wie es geschieht, zu reagieren, das ist überhaupt die Eigen- 
funktion des hypothetischen Wärmezentrums: also handelt es sich 
um primäre Regulation, beziehungsweise Anpassung im Sinne 
unserer Definition. Das Wärmezentrum vermittelt Anpassung, weil 
es ist, was es ist. Und ganz ähnliches liegt wohl bei Erhaltung 
der verschiedenen Stoffgleichgewichte, des Stickstofigleichgewichts 
7. B., vor, obwohl man hier das „Zentrum“ erst recht nicht kennt. 

Gewisse primäre Anpassungen, nämlich solche bei 
denen nur Quantitatives in Frage kommt, sind also un- 
mittelbar die Folge von Angepaßtheit. 





H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus. 497 


c) Das Problem der Durchlässigkeitsanpassungen’). 


Wenn die Oberhaut der Pflanzenwurzel oder das Epithel der 
Niere aus „normaler“ Umgebung Stoffe nur ın quantitativ und qualı- 
tatıv „elektiver“ Weise durchtreten läßt, so haben wir das oben 
(2a) Angepaßtheit genannt. Hier kam überhaupt keine eigentliche 
Regulation, keine Vorgangsäriderung, ın Frage. 

Wir wollen nun ein anderes, viel erörtertes Problem aus der 
Lehre von der Durchlässigkeit organischer Oberflächen untersuchen. 
Es gibt jedenfalls Anpassungen der Durchlässigkeit. Fragen wir 
zuerst, mit bezug auf was hier „angepaßt“ werden soll. 

Es kommen zwei Ziele der Durchlässigkeitsanpassung in Frage: 
erstens soll die „normale“ Zusammensetzung der Säfte des 
Organismus gewahrt bleiben, zweitens soll der Organismus oder 
ein bestimmter Teil des Organismus in bestimmtem Maße „turgescent“, 
d. h. gespannt bleiben; anders gesagt: er soll nicht schrumpfen, 
aber auch nicht platzen. Der Organismus soll also, kurz gesagt, 
ım Wechsel der Außenbedingungen seine Säftezusammensetzung 
und, einen bestimmten Grad von Turgescenz bewahren?). 

In bezug auf Durchlässigkeit überhaupt sind nun folgende 
Fälle aprıorı denkbar: 

1. Die Oberfläche des Organismus ist absolut undurchlässig für 
Wasser und für gelöste Substanzen, d.h. absolut impermeabel 
(abgesehen von ihrer Permeabilität für Gase); in diesem Falle be- 
wahrt der Organismus seine gegebene Säftezusammensetzung und 
Turgescenz ohne weiteres. 

2. Die Oberfläche des Organismus ist absolut permeabel. 
Alsdann untersteht er völlig den Diffusions-Ausgleichsgesetzen. Er 
bleibt in diesem Falle stets turgeseent, wenn er es einmal war, 
aber er bewahrt offenbar nicht in jedem Wechsel des Mediums 
seine Säftezusammensetzung. 

3. Die Oberfläche des Organismus ist semipermeabel, d. h. 
permeabel für Wasser, impermeabel für gelöste Substanzen. In 
diesem Falle bewahrt er seine Säftezusammensetzung in jedem Falle, 
aber nicht seine Turgescenz: er schrumpft in hypertonischem Medium, 
er kann bis zum Platzen sich ausdehnen in hypotonischem, beides 
nach Maßgabe der osmotischen Druckdifferenzen und der durch sie 
bedingten Wasserbewegungen. 


5) Hierzu vgl. die guten (Gesamtdarstellungen von OÖ. Cohnheim, Physiologie 
der Verdauung und Ernährung, 1908, 17. Vorlesung, zumal Seite 306 ff., und von 
R. Höber, Physikal. Chemie der Zelle und der Gewebe, 3. Aufl. 1911, Kapitel 2, 
6,7,13. Gesamtdarstellung des botanischen Materials bei Ungerer, Die Regulationen 
der Pflanzen, 1919, 8. 222 ff. 

. 6) Turgescenz stammt durchaus nicht nur von osmotischer Hypertonie 

(Uberdruck) im Innern der Zellen, sondern wahrscheinlich in weit höherem Grade 
von kolloidaler Quellung; sie wird aber durch Änderung der osmotischen Verhält- 
nisse geändert. | 


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438 H. Driesch, Studien über. Anpassung und Rhythmus. 


Das sind die allgemeinsten apriori denkbaren Fälle. In ihnen 
wird, soweit überhaupt Durchlässigkeit in Frage kommt, also bei 
2. und 3., die Permeabilität alsın beiden Richtungen, von innen 
nach außen und von außen nach innen, gleich möglich aufgefaßt. 

Es sind nun aber auch nöch folgende Fälle denkbar: 

4. Am Organismus oder an einem Organ sind die aufnehmen- 
den Oberflächen nur von außen nach innen absolut permeabel 
oder semipermeabel, von innen nach außen dagegen impermeabel, 
es sind aber die abgebenden Oberflächen von innen nach außen 
absolut permeabel oder semipermeabel, von außen nach innen 
dagegen impermeabel. In diesem Fall würde unter gewissen Um- 
ständen einseitig ein Wasserstrom (bei Semipermeabilität) oder 
ein Lösungsstrom (bei völliger Permeabihtät) durch den Organismus, 
beziehungsweise das Organ, hindurchgehen können; seine Turgescenz 
würde er in diesen beiden Fällen bewahren können, seine Säfte- 
zusammensetzung nur, wenn bloß ein Wasserstrom durch ihn hin- 
durchgeht. 

In welchen der genannten vier Fälle nun ist ohne weiteres, 
d.h. ohne daß es einer Regulation bedarf, Säftezusammensetzung 
und Turgescenz des Organismus oder Organs in jedem Falle, d.h. 
beijedem Wechsel des Mediums gewährleistet? Offenbar, wie schon 
angedeutet, nur ke 

1. bei Fall 1, der absoluten Impermeabilität für alles; 

2. bei Fall 4, falls (zweimal einseitige) Semipermeabilität, d.h. 
die Durchlässigkeit nur für Wasser besteht, so daß ein Wasser- 

\ strom in einseitiger Richtung möglich ist. 

Der erste dieser Fälle ıst bei der menschlichen Haut, der Haut 
(einschließlich der Kiemen) der Knochenfische und noch in einigen 
anderen Fällen verwirklicht; der zweite für die Haut der Frösche 
und die Kiemen der Knorpelfische, bei denen eine besondere Ein- 
richtung zur Unterhaltung eines dauernden Wasserstromes besteht. 

Das alles aber ist bloßes Angepaßtsein. | 

(Kommt es nur auf ein Durchlassen von Wasser und Gelöstem 
[aber nicht auf Erhaltung von Turgescenz und Säfteerhaltung], über- 
haupt an, so genügt natürlich auch die Fähigkeit zu völliger Per- 
meabilität im Sinne bloßen Angepaßtseins diesem Ziele; doch soll 

‚ dieser Fall uns nicht beschäftigen.) 

Ist Fall 2 oder 3, d. h. absolute Permeabilität oder Semiper- 
meabilität, oder aber Fall 4 im Sinne des einseitigen Lösungs- (nicht 
Wasser-)stroms verwirklicht, so muß, auf daß Turgescenz und 
Säftezusammensetzung erhalten bleiben, :noch etwas anderes ver- 
wirklicht sein, und zwar im Sinne einer Möglichkeit der Regulation, 
der echten Anpassung. Mit anderen Worten, es muß das, was 
die Fälle 2, 3 und (zum Teil) 4 ausdrücken, zwar geschehen können, 
aber nicht geschehen müssen. Wir untersuchen die Sachlage nur 





H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus. 439 


unter der Voraussetzung, daß es sich um semipermeable Oberflächen 
handle (Fall 3). 

Es sind hier aber die folgenden Fälle von Anpassung denkbar 
und, wie es scheint, auch verwirklicht: 

Erstens: Die Säfte des Organismus oder Organs regulieren 
ihren osmotischen Druck rein physikalisch durch lonisierung (falls 
das Medium hypertonisch ist), oder durch Zusammentreten von 
Ionen zu Molekülen (falls das Medium hypotonisch ist). Durch das 
erste wird ein Schrumpfen vermieden, durch das zweite ein Platzen. 

Zweitens: Die Säfte des Organismus fällen gelöste Stoffe in 
fester Form aus im hypotonischen und lösen feste Stoffe im hyper- 
tonischen Medium; die Wirkung ist die des ersten Falles. 

Drittens: Die Oberfläche des Organismus oder des Organs 
ändern ihre Durchlässigkeit für alle oder für einige der gelösten 
Bestandteile des Mediums, jeweils bis zur Erreichung normaler 
Turgescenz. 

In den beiden ersten Fällen bleibt die Zusammensetzung der 
Säfte des Organismus ohne weiteres grundsätzlich gewahrt, d. h. 
sie bleibt dieselbe, die sie vor der Regulation war, der ganze Vor- 
gang betrifft die Säftezusammensetzung überhaupt gar nicht, wenig- 
stens dem eigentlich Chemischen nach. 

Im dritten Fall handelt es sich um die Aufgabe echter Semi- 
permeabilität, d. h. einer Permeabilität nur für Wasser, zugunsten 
einer relativen Permeabilität auch für Gelöstes. Über diesen Fall 
herrscht noch große Uneinigkeit unter den Forschern im einzelnen. 
Nach den neuesten Untersuchungen (Fitting) vermindert bei Pflanzen- 
zellen die Plasmahaut ihre spezifische, für jedes Salz verschiedene 
Permeabilität unter dem Einfluß bestimmter Salze für eben diese 
bestimmten Salze, wenn es wegen der Hyper- oder Hypotonie des 
Mediums erforderlich ist, um die Turgescenz normal zu erhalten. 
Die Tendenz auf Erhaltung der Turgescenz und der normalen Säfte- 
zusammensetzung greifen ineinander. Eine Regulation für den 
Durchtritt des Wassers spielt mit hinein; ohne sie würde auch 
wohl kaum die Turgescenz auf der normalen Höhe bleiben können. — 

Es handelt sich für uns nun um die wichtige Frage, was An- 
passung in allen hier geschilderten Fällen bedeutet. 

Daß es sich ın den Fällen, in welchen durch lonisierung ge- 
löster Substanzen oder Lösung fester Stoffe (oder durch das Gegen- 
teil) das osmotische Verhältnis zwischen Medium und Saft bewahrt 
bleibt, um die bloße Folge eines Angepaßtseins handelt, ist 
klar. Es ist sozusagen ein Osmostat gegeben, ebenso wie bei der 
Wärmeregulation eine Art von Thermostat gegeben ist. Wenigstens 
läßt sich grundsätzlich die Sachlage so auffassen. Alles geht rein 
und einfach im Sinne physikalischer Öhemie vor sich, geradeso wie 
etwa der Transport der Nahrungsstoffe nach den Verbrauchsorten, 


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440 H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus. 


Schwieriger liegen die Dinge im dritten Fall, d.h. da, wo die 
Durchlässigkeit als solche geändert wird. Aber auch hier kann eine 
Einrichtung gedacht werden, welche, für jeden gelösten Stoff be- 
sonders, das Verhältnis zwischen seiner Innen- und seiner Außen- 
konzentration gleichsam durch das Öffnen und Schließen eines - 
Ventils konstant erhält. Lägen die Dinge so, dann wäre die An- 
passung durchaus primär, ja, sie wäre die deutliche Folge eines 
Angepaßtseins. Wir wissen zwar im eigentlichen Sinne nichts 
von den „Einrichtungen“, die hier in Frage kommen müßten, aber 
sie sind denkbar, und nur darauf soll es hier ankommen. 

Wenn wir, etwa für eine Pflanzenzelle, annehmen, es seien in 
ihrer Plasmahaut verschiedene bestimmt lokalisierte Einrichtungen 
für osmotische Regulation vorhanden, so würde also die Eigen- 
funktion dieser Zellteile primär-regulatorischen Charakter haben; 
ihr harmonisches Funktionieren aber, in erster Linie die Tur- 
gescenz der Zelle als eines Ganzen, würde wegen ihrer primär- 
regulatorischen Eigenfunktion ebenfalls regulierbar sein. 

Das Bestehen angepaßter, primär-regulatorisch wirkender „Ein- 
richtungen“ an Zellen mit regulabler Durchlässigkeit ist freilich durch- 
aus nicht erwiesen. Man darf also auch.das in der Durchlässig- 
keit zutage tretende Regulationsgetriebe vitalistisch auffassen (ob- 
schon auch das Nichtbestehen maschineller Einrichtungen hier nicht 
aus der bloßen Sachlage selbst heraus, wie bei der Embryo- 
genese, zu beweisen ist)”). Auch dann würde es sich um primäre 
Regulationen handeln: der die Durchlässigkeit im „Normalen“ 
lenkende Faktor wäre ein solcher, daß_er auch Störungen von 
seiten des Mediums regulatorisch gerecht werden kann. 


d) Morphologische Anpassungen. 

Morphologische Anpassungen kommen. auch durch Eigenfunk- 
tionen von Zellen oder Zellteilen, d.h. durch ihren Stoff- und Energie- 
wechsel, zustande. Der Unterschied von „rein“ physiologischen 
Furiktionseffekten ist nur der, daß die Funktion sich in Form 
äußert, d. h. in Stoff- und Energiewechselprodukten, welche in 
irgendwelchem Sinne und aus irgendwelchem Grunde eine Form 
besitzen, die mehr oder weniger beständig ist. 

Die sogenannte Transpiration der Pflanzen, d.h. die Verwand- 
lung von Wasser in Wasserdampf erfolgt an den Oberflächen nach 
Maßgabe eines fortwährenden Wassernachschubs von den inneren 
Geweben her. In sehr trockener Luft nun kann, wenigstens wenn 
der Boden feucht ist, die Transpiration so stark werden, daß ihre 
harmonische Funktion gestört wird, so daß die Pflanze „welkt“; in 


7) Es 'wird allerdings wahrscheinlich angesichts des Nichtnachgewiesenseins 
maschineller Einrichtungen, wenn man sich erinnert, daß der erwachsene Organismus 
aus seiner Ontogenese herstammt, und daß für diese allerdings vitalistische Kausalität 
erwiesen ist, 





H. Driesbh, Studien über Anpassung und Rhythmus. 441 


sehr feuchter Luft kann sie andererseits so schwach werden, daß 
der Nachschub von Wasser, damit aber auch weiterwirkend die für 
die Ernährung notwendige Wasseraufnahme seitens der Wurzeln 
gestört wird, was ebenfalls eine Störung der harmonischen Funktion 
des Transpirirens bedeutet. 

Die Pflanze vollbringt gegen beide Schäden eine morphologische 
Anpassung: sie verstärkt oder vermindert die Kutikularbildungen 
an den oberflächlichen Zellschicehten, vermindert oder vermehrt Größe 
und Zahl der leitenden Gewebszellen u. s. w. 

Nun gehört die Bildung von Kutikularsubstanz überhaupt zur 
Eigenfunktion der Oberflächenzellen. Die Intensität dieser Eigen- 
funktion ist es also lediglich, die der adaptiven Regulation unter- 
steht: eine deutliche Angepaßtheit mit primär-adaptiver Wirkung. 
Dasselbe scheint auf den ersten Blick für die morphologische Aus- 
‚gestaltung der Leitungszellen vorzuliegen. Davon reden wir später 
unter anderem Gesichtspunkt. 

Ähnlich läßt sich die Verstärkung der Festigkeitsgewebe von 
aufs Land versetzten Wasserpflanzen, ihre Verminderung in unter 
Wasser gesetzten Landpflanzen auffassen: das Protoplasma der 
Stützgewebe ıst darauf eingerichtet auf bestimmte Intensitäten 
mechanischer Inanspruchnahme mit Leistungen von bestimmten In- 
tensitäten zu reagieren. 

In allen diesen Fällen handelt es sich nicht um den Unter- 
schied eines „Abnormen“ von einem „Normalen“, Alles ist „nor- 
mal“: unter diesen Umständen im Medium Dieses, unter jenen 
Jenes; daß den „formativen Reizen“ (Herbst) jeweils adaptıv ent- 
sprochen werden kann, gehört zur „Normalität“ der Pflanze, Der 
Begriff des Adaptiven freilich wird durch Heranziehung des Be- 
griffes „formativer Reiz“ keinen Augenblick beeinträchtigt; im Ge- 
schehen liegt zugleich die Adaptatıon, die eben deshalb primär 
ist. Freilich gilt das nur für die Abhängigkeit funktioneller 
Strukturen von formativen Reizen und ich habe früher‘) ausdrück- 
lich betont, daß notwendige „Mittel“ für das bloße Dasein orga- 
nischer Gebilde nicht mit formativen Reizen, auf die adaptıv rea- 
giert wird, verwechselt werden dürfen; ein bloßes notwendiges 
Mittel ist z. B. das Licht für die Bildung vieler Blüten. 

Dem Ausgeführten entsprechend läßt sich wohl die von Roux 
so genannte funktionelle Anpassung der Knochen, Muskeln, 
Sehnen deuten: Angepaßt ıst das Vermögen, in Zuordnung zur 
Intensität gewisser Reize mit Formeflekten reagieren zu können: was 
unter normalen Verhältnissen die normale Knochenstruktur im 
Stoffwechsel dauernd neu schafft?) und so erhält, das schafft unter 


8) Phil. d. Org. 1,8. 169 ff. 
9) Embryologisch wird die Knocheustruktur bekanntlich nicht durch funk- 
tionelle Anpassung, sondern rein evolutiv geschaffen. 


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44) H. Driesch, Studien über Aupassung und Rhythmus. 


abnormen Umständen, z. B. nach Knochenbrüchen, eine für diese 
Verhältnisse adaptive statische Struktur. Das’Vermögen zur Bildung 
der mechanisch wirkenden Substanzen war eben von vornherein so 
angepaßt eingerichtet — (sei es maschinal oder vital) — daß 
jeweils ein adaptiver Vorgang herauskommt. 

Viele weitere Fälle ähnlicher primärer Adaptationen lassen 
sich beibringen. Genannt seien noch: die der Art der Ernährung 
entsprechende Länge des Darmes bei Froschlarven, die verschiedene 
Art der Ausbildung des Epithels von Salamanderlarven, je nach- 
dem sie im Mutterleibe oder im Wasser aufwachsen u. s. w. Auch 
Farbanpassungen gehören wohl hierher, 

(Der Text dieser Studie ist schon vor etwa drei Jahren geschrieben 
worden. Ich ließ ıhn liegen, da mir bekannt war, daß Ungerer mit 
einer größeren begriffsanalytischen Arbeit über Die Regulationen 
der Pflanzen (Roux’ Vorträge zur Entw. Mech., Heft 22, 1919) her- 


vortreten würde. Nachdem ich durch die Freundlichkeit des Ver- 


fassers die Korrekturbogen seiner Arbeit lesen konnte, bemerke ich 
zu allem Vorstehenden, das ich absichtlich unverändert ließ, dieses: 

Ungerer hat den von mir im Jahre 1894 in der Analytischen 
Theorie eingeführten Begriff der Harmonie in sehr scharfsinniger 
Weise weiter ausgebaut. Er faßt den Begriff weiter als ich. „Alle 
ganzheitserhaltenden Vorgänge am Organismus, die unter „normalen“ 
äußeren und inneren Bedingungen verlaufen, sollen harmonisch 
heißen, das einzelne telokline Geschehen eine Harmonie.“ Neben 
den Harmonien stehen die auf Störungen hin erfolgenden Regu- 
lationen; diese sind „Ganzheitswiederherstellungen“, die Harmonien 
„Ganzheitserhaltungen“, „Ganzheitsherstellungen“. Echt amphibische 
Pflanzen z. B. zeigen in ihren respektiven Umgestaltungen Har- 
monien, Landpflanzen, die, abnormerweise unter Wasser gesetzt, 
dort weiter leben, Regulationen, bezw. Adaptationen (l. c. S. 56). 

Es ist klar, daß Ungerer alles, was im Text primäre An- 
passung auf Grund von Angepaßtheit heißt, Harmonie nennen 
würde. Mir selbst sagt die Ungerer’sche Terminologie sehr zu 
(man lese bei ihm zu dieser Frage zumal S. 71ff.) Von meinen 
Adaptationen würden bei ihrer Annahme nur die sekundären als 
„Adaptationen“ übrig bleiben. 

Wer die Schriften von uns beiden kannte, wird übrigens, wie 
schon angedeutet, bemerken, daß wir das eigentliche Grundwort 
Harmonie in verschiedener Weise einführen. Bei mir (s. Phil. d. 
Org. 1, S. 107 ff.) bezeichnet es gewisse sehr allgemeine Sachverhalte, 
bei Ungerer bezeichnet es konkrete Vorgänge im Rahmen jener 
Sachverhalte. Auch entspricht Ungerer’s allgemeine Darstellung 
in Sachen der Ganzheitslehre meinem jetzigen philosophischen 
Standpunkte besser als meine eigene Darstellung von 1909 oder 


gar 1894. Denn Ungerer hat meine Ordnungslehre (1912) und 





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H. Drieseh, Studien über Anpassung und Rhythmus. 443 


anderes von mir mit sehr tief dringendem Verständnis benutzt, und 
ich mußte sie 1909 erst noch schreiben.) 


3. Sekundäre Anpassungen. 


Wir haben bis jetzt nur solche Vorgänge betrachtet, welche, 
wie die Stoffdurchgänge durch :die Niere, entweder der reine Aus- 
druck eines Angepaßtseins waren ohne überhaupt einen eigentlich 
adaptiven Zug zu besitzen, oder aber primäre Anpassungen dar- 
stellten, die sich unschwer auf Angepaßtheiten zurückführen heßen. 
Gewisse besondere Schwierigkeiten der Sachlage ließen wir dabei 
absichtlich einstweilen außer acht. 

Es stehen nun aber neben den primären Anpassungen die 


‘sekundären, welche nicht bloße Variationen des normalen Eigen- 


funktionierens sind. Wie stehen sie zum Begriff der harmonischen 
Angepaßtheit? 
a) Die Abwehrfermente. 

Unter den rein physiologischen Geschehnissen gehört zu- 
mal die Bildung der von Abderhalden so genannten „Abwehr- 
fermente“ hierher. In engster Zuordnung zu spezifischen orga- 
nischen „Giften“, zu denen auch jedes artfremde Eiweiß gehört, 
kann der Organismus Stoffe, wohl meist Fermente, bilden, welche 
die fremden, das Funktionsgetriebe schädigenden Stoffe ausfällen 
oder sie in anderer Weise ihrer Wirkung berauben. 

Auch wenn Pilze in „elektiver“ Weise abnorm dargebotene 
organische Nährstoffe für ıhren Stoffwechsel verwerten können, 
müssen sie wohl außerhalb der Bahnen ihres normalen Funktionierens 
tätig gewesen sein, und auch wenn es sich bestätigen sollte — (die 
Ansichten weichen zurzeit voneinander ab) —, daß erwachsene 
Hunde, die wieder ausschließlich mit Milch gefüttert werden, wieder 
Lactase bilden, würde eine wenigstens relativ-sekundäre Adaptation 
vorliegen. 

Dagegen gehört nicht hierher das wunderbare harmonische 
Ineinandergreifen aller einzelnen normalen Verdauungssekrete, wie 
es in neuester Zeit vonPawlow und seinen Nachfolgern entdeckt 
worden ist. Das ist nicht einmal primäre Adaptatıon, sondern nur 
Angepaßtheit: die Eigenfunktion jedes einzelnen Teiles des Ver- 
dauungsapparates ıst so geartet, daß sie zugleich harmonisch funk- 
tioniert mit Rücksicht auf die Ermöglichung der Eigenfunktion der 
anderen Teile. 


b) Morphologische Anpassungen, 

Unter den morphologisch ausgeprägten Adaptivregulationen 
gehört eine große Menge hierher, ist aber schwer von solchen Regu- 
lationen, welche die gestörte Form als Form wiederherstellen, also 
von Restitutionen, zu scheiden. 





444 H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus, 


Besonders wichtig sind die Ermittlungen Vöchting’s!%): Er 
zwang Knollen von Pflanzen, abnormerweise Bestandteile des Stengels 
zu werden, und er zwang, andererseits, Teile des Stengels oder den 
Blattstiel, abnormerweise Knollen zu bilden. In beiden Fällen bil- 
deten sich Gewebsformen — zumal Leitungsgewebe und mechanische 
Gewebe im ersten, Speicherungsgewebe im zweiten Fall —, welche 
ım normalen Verlauf der Dinge von eben den Teilen, die sie jetzt 
bildeten, nicht gebildet worden wären. 

Die Zellen, welche hier Ausgang der adaptiven Bildungen ge- 
. worden sind, müssen zunächst einmal die prospektiven Potenzen, 
d. h. die Bildungsmöglichkeiten, gehabt haben für das, was sie 
leisteten. Sie müssen zweitens die Fähigkeit gehabt haben auf be- 
stimmte Reize hin jeweils so zu antworten, wie sie es ın jedem 
Falle taten. Das ıst selbstverständlich. Es fragt sich nur, was es 
bedeutet. 

In erster Linie aber fragt es sich: Was ist hier eigentlich der 
„Reiz“? Ist es da, wo die Knolle, weil sie Teil des Stengels ge- 
worden ist, abnormerweise Leitungsgewebe bildet, das Vorhanden- 
sein des Säftestromes, der gleichsam „weiter wıll“? Ist es da, wo 
der Stengel abnormerweise Speicherungsgewebe bildet, das Vor- 
handensein der Stoffe, die sonst in den normalen Knollen ge- 
speichert werden? 

Es scheint auf den ersten Blick so zu sein, und wır wollen es 
' einstweilen annehmen, abgesehen davon freilich, daß, wie gesagt, 
die Adaptivleistung mit einer Restitutionsleistung sich paart!!). 
Die Zellen, welche die Adaptation leisten, würden, wenn es so wäre, 
das Vermögen besitzen, auf das durch den Versuch neu geschaffene 
Funktionsgetriebe, also auf das Dasein des abnormen Säftestroms 
oder auf das Dasein zu speichernden Stoffe hin, so zu antworten, 
daß sie ihre Eigenfunktion derart ändern, daß ihre Beteiligung an 
der Neuordnung des gesamten Funktionsgetriebes möglich ist, wo- 
bei diese Änderung der Eigenfunktion morphologische Ausprägung 
gewinnt. 

Ist das nun wirklich „sekundäre“ Anpassung, d.h. Anpassung, 
die nicht in den Rahmen der normalen Funktionsfaktoren fällt? 
Oder ıst es etwa doch „primäre“ Anpassung (nach Ungerer aiso 
Harmonie), die weiterhin auf Angepaktsein, wenn auch nur mit 
Rücksicht auf ein „Vermögen“ zurückgeht? 

Die Antwort muß hier wohl lauten wie folgt: 


10) H. Vöchting, Zur Physiologie der Knollengewächse, ‚Jahrb. wiss. Bot. 
34, 1899; s. a. H. Winkler, Über die Umwandlung des Blattstieles zum Stengel, 
ebenda 45, 1907, und S. Simon, Exp. Unt. über die Differenzierungsvorgänge im 
Callusgewebe von Holzgewächsen, ebenda 45. 1908. 

11) Vöchting hat die Bildung von Speicherungszellen im Stamm auch ge- 
sehen, wenn keine Stärke, die gespeichert werden sollte, vorhanden war. 





? H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus. 445 


Die Anpassung ist insofern sekundär, als sie eine Leistung 
zeitigt, welche ım normalen Verlauf der Dinge nie gezeitigt worden 
wäre. Sie ist aber trotz allem primär, ınsofern eben das „Ver- 
mögen“ der sich betätigenden Zellen oflenbar gegeben sein muß 
— werde es vitalistisch oder als Einrichtung gedacht. 

Legt man den Nachdruck auf das zweite, auf das Gegebensein 
des Vermögens, so gibt es nun freilich ganz offenbar überhaupt 
keine „sekundären“ Regulationen? Denn ohne „Vermögen“ dazu 
geschieht überhaupt nichts. Ist doch auch eine gänzlich atypische 
Regeneration insofern nicht eine sekundäre Regulation, als sie auf 
dem „Vermögen“ des Reagierenden ruht. 


Man verzichtet aber, meine ıch, auf eın trotz allem wertvolles 
Begriffspaar, wenn man in dieser Weise den Begriff der sekun- 
dären Regulation ganz streicht, bloß weil auch jede sekundäre Regu- 
lation auf vorhandenen Potenzen ruht. 


Es bleibt der Unterschied zwischen dem „sich ım normalen 
Verlauf betätigen“ und dem „sich nicht ım normalen Verlauf be- 
tätigen“, wo „normaler Verlauf“ heißt: normale Ontogenese und nor- 
male Variationsbreite des Mediums, und wobei „Medium“ für jede 
Zelle auch die Gesamtheit aller anderen Zellen einschließlich ihres 
Funktionsgetriebes ıst. Und legt man nun auf diesen Unterschied 
(sewicht, so bleibt auch der Unterschied zwischen primären und 
sekundären Regulationen und insonderheit Adaptationen. Er mag 
gelegentlich schwankend sein, aber er’bleibt für die meisten Fälle 
deutlich bestehen: wie denn z. B. im Gebiet des rein physiologisch- 
adaptiven die Anpassung an „Gifte“ deutlich sekundär-adaptiv bleibt, 
während man im Bereich der oben erörterten Durchlässigkeits- 
adaptationen gelegentlich schwanken möchte, ob die „normale 
Varıationsbreite des Mediums“ noch gewahrt oder überschritten ist. 

Wir halten also den Begriff der sekundären Adaptation auf- 
recht, obwohl auch sie auf gegebenen Potenzen und insofern auf 
Angepaßtheit geradezu logisch beruhen muß. 


Das Problem des Vitalısmus aber, das wır hier kurz in die 
Frage kleiden können: „Sind die Potenzen ‚Einrichtungen‘ 
oder nicht*?, soll an dieser Stelle unberührt bleiben. — 


4. Die drei möglichen Wege aller Anpassung. 


Es soll jetzt die Gesamtheit der Adaptationen unter einem 
neuen Gesichtspunkt betrachtet werden. 

Wir werfen die Frage auf: Wie kann überhaupt grundsätzlich 
eine Anpassung an ein durch Änderungen des Mediums be- 
wirktes Funktionsgetriebe erfolgen, wo doch das bestehende Funk- 
tionsgetriebe durch die Änderung des Mediums zunächst jedenfalls 
einmal gestört ist? 


446 H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus. 


Offenbar kann die Zuordnung der Adaptatıon zur ur- 
sprünglichen Störung von dreierlei Art sein!?): 

Erstens: Die störende Ursache wird als Ursache beseitigt. 

Zweitens: Die störende Ursache wird in ihrer Wirkung ge- 
hemmt. 

Drittens: Die durch die störende Ursache gesetzte Störungs- 
wirkung wird durch eine Gegenwirkung ausgeglichen. 

Der erste Fall liegt wohl nur bei der sogenannten Antikörper- 
bildung vor: die Gifte“ werden als Gifte beseitigt. ‘ 

> zweite Fall liegt vor bei allen Durchlässigkeitsadaptationen, 
Transpirationsadaptationen u. s. f. Die geänderte störende Ursäch- 
lichkeit des Salzgehaltes des Mediums, des Wassergehaltes der Luft 
bleibt bestehen, kann sich aber nicht mehr schädigend äußern. 

Der dritte Fall liegt vor bei den morphologischen Gewebs- 
adaptationen, die Vöchting und seine Nachfolger entdeckt haben. 
Die störende Ursache hat a: Wirkung getan, und diese Wirkung 
bleibt auch bestehen; aber es geschieht a was trotzdem das 
harmonische Funktionsgetriebe herstellt: Speicherzellen sind fort, 
der Säftestrom ıst gestört, d. h. gesättigt mit Produkten, welche 
der Speicherung bedürfen; es bilden sich Speicherzellen. 


5. Reizort und Anpassungsort. 


Selbstverständlich ist, daß nur adaptıv (und ebenso restitutiv) 
reagieren kann, was einen Reiz zum Reagieren empfing. Aber der 
Reiz, welcher das Reagierende trifft und zur Reaktion veranlaßt, 
braucht nicht die erste Veränderung zu sein, welche von der- 
jenigen Änderung des Mediums, welche überhaupt die Anpassung 
bedingte, am Organısmus gesetzt worden ist. Wir nennen pri- 
mären Reiz De als erste von der Änderung des Mediums gesetzte 
Veränderung am Organısmus; den das eigentlich Reagierende treffen- 
den Reiz nennen wir Endreiz; zwischen primärem Reiz und End- 
reiz besteht eine Reizvermittlung'?). 

Primärer Reiz und Endreiz haben eine jeweils bestimmte Ört- 
lichkeit; beide Örtlichkeiten können zusammenfallen, alsdann fallen 
auch primärer Reiz und Endreiz zusammen. Das wird z. B. der 
Fall sein, wenn Adaptationen isolierter Zellen mit Rücksicht auf 
ihre Durchlässigkeit in Frage kommen, obwohl auch hier verschiedene 
Teile der Zelle für primären Reiz und Endreiz (nebst Reaktion) 
in Frage kommen mögen. 

Im ällgemeinen wird folgender Sachverhalt verwirklicht sein: 

Eine Änderung des Mediums, im weitesten Sinne des Wortes, 
stört eine harmonische Funktion, d. h. eine Wirkung irgendeines 


12) s. Organische Regulationen S. 127f. Die dort gegebene Analyse ist hier 
schärfer gefaßt. 
13) s. Organische Regulationen B, Kapitel III u. IV. 








Äh le Tale, 1 





H.| Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus. AAT 


eigenfunktionierenden Teiles. Die Störung wird berichtigt in irgend- 
einer der drei möglichen im vorigen Abschnitt aufgezählten Formen. 
Das kann offenbar jeweils in zwei verschiedenen Formen geschehen: 

entweder so, daß eben die Eigenfunktion des Teiles, welcher 
jetzt sozusagen „falsch“, d. h. mit Rücksicht auf das harmonische 
Ganze falsch, funktioniert, abgeändert wird, 

“ oder so, daß irgendwo anders eine Eigenfunktionsänderung 
eintritt, welche die Wirkungen jenes jetzt „falsch“ funktionierenden 
Teiles aufhebt. ' 

Im ersten Fall, der z. B. bei adaptiven Durchlässigkeitsände- 
rungen von Oberflächen und wohl auch bei funktioneller Anpassung 
an mechanische Inanspruchnahme verwirklicht ist, wird meist 
primärer Reiz, Endreiz und Reaktion zusammenfailen. Im zweiten 
Fall wird das nicht der Fall sein, wie denn z. B. bei zu starker 
Transpiration in sehr troekener Luft die jetzt im harmonischen 
Sinne „falschen“ Funktionen des inneren Flüssigkeitstransportes 
ungestört weiter laufen, ihre die Harmonie schädigenden Wirkungen 
aber dadurch berichtigt werden, daß die Oberflächen der Pflanze 
eine stärkere Outicula bilden. 

Beide Fälle kombinieren sich mit den drei im vorigen Ab- 
schnitt unter anderem Gesichtspunkt gewonnenen möglichen Adap- 
tationsmannigfaltigkeiten, so daß, wer will, hier sechs verschiedene 
Fälle des Adaptationsgetriebes unterscheiden mag. 

Wenn eine Störung des harmonischen Funktionsgetriebes da- 
durch kompensiert wird, daß die jetzt „falsche“ Eigenfunktion des 
eigentlich bedeutsamsten Teiles ruhig weiter läuft, ihre schädliche 
Wirkung aber durch Eigenfunktionsänderung eines anderen Teiles 
kompensiert wird, so liegt es eben in der allgemeinen Konstellations- 
und Funktionalharmonie des Organismus begründet, daß auf diese 
Weise Abhilfe geschaffen werden kann: Oberflächen reagieren nun 
einmal auf eine gewisse Stärke des Transpirationsstromes mit 
Cuticulabildung, das ist ihre „Potenz“, ıhr „Vermögen“, und wegen 
der Konstellation des Ganzen bedeutet dieses Vermögen ein An- 
gepaßtsein, aus dem primäre Anpassungen („Harmonien“ nach 
Ungerer) fließen. 

Bei der Bildung der Abwehrfermente („Antikörper“) können auch 
nur gewisse Teile des Organısmus sekundär-adaptiv reagieren; ihre 
Wirkung schützt aber, wegen der Konstellation des Ganzen, die 
eigentlich geschädigten Teile, welche selbst nicht reagieren können. 

Alle diese Dinge bieten keine besonderen Schwierigkeiten: daß 
alles letzthın auf das konstellatorisch-harmonische Dasein, sei es 
(mechanistisch) von Einrichtungen oder (vitalistisch) von Vermögen 
zurückgeht, ist die wesentlichste Einsicht. Viel bedeutsamer wird 
die Frage nach dem Ort des primären Reizes, dem Ort des End- 
reizes und der Reaktion, und der Vermittlung zwischen beiden im 


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“ 4 > . 3 ” . ui Win. a; 





448 H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus. 


Gebiet der Restitutionslehre. Hierüber sind meme „Organı- 
schen Regulationen“ (S. 110 ff.) und meine Schrift „Der Resti- 
tutionsreiz“ (1909) zu vergleichen. 


6. Der Zustand der die Anpassung leistenden Zellen. 


Wir kommen zu den seltsamsten Erscheinungen, welche die 
Lehre von der Anpassung kennt. Es handelt sich da ganz vor- 
nehmlich um morphologische Anpassungen, wenigstens soweit die 
Sachlage näher erforscht ist. 

Nur in seltenen Fällen vermögen sich, bei Tieren sowohl wie 
bei Pflanzen, histologisch voll ausdifferenzierte Zellen noch zu teilen. 
Wie wird nun Anpassung geleistet, wenn es dabei auf eine quan- 
titative Zunahme eines Organs ankommt, bei der die Zahl der das 
Organ zusammensetzenden spezifischen Zellen vermehrt werden soll, 
ohne daß die vorhandenen ausdifferenzierten Zellen des Organs noch 
leistungsfähig sind, oder wenn Gewebe gebildet werden sollen, die 
an den betreffenden Orten im Normalen weder vorhanden sind 
noch waren? 

Da bilden, so heißt es, „indifferente“ oder „embryonale* Zellen 
den Ausgang des adaptiven Geschehens. Entweder sie sind von 
vorneherein da, wie z. B. im Cambiun der Pflanzen, oder sie werden 
durch eine Art Rückbildung seitens schon ein wenig differenzierter, 
aber noch teilungsfähiger Zellen, wie z. B. der sogenannten Paren- 
chymzellen, erst gebildet, ein Vorgang, der einigermaßen an die 
Furchung des Eies erinnert. Winkler'*) hat bei seinen Unter- 
suchungen, in denen er Blattstiele zwang, die Organisation eines 
Stengels, also einer Hauptachse, anzunehmen, solche Fälle in be- 
sonderer Deutlichkeit aufgedeckt, ebenso Vöchting und Simon; 
sie kommen aber bei fast allen morphologischen Anpassungen, auch 
im Tierreich, vor; auch z. B. da, wo, ohne daß Teile entnommen 
worden wären, Anpassungen der Leitungs- und der mechanischen Ge- 
webe an neue Erfordernisse der Transpiration oder der mechanischen 
Beanspruchung in Frage stehen. 

Die „indifferente“ Zelle, sei sie vorhanden gewesen oder erst 
neu gebildet, hat hier eine ungeheuer reiche prospektive Potenz, 
d.h. sie „kann“ alles im Rahmen der Organisation der betreffenden 
Art nur irgendwie Erdenkbare leisten: sie kann zu jeder beliebigen 
Art von einzelner Gewebezelle werden, zu Holz-, Bast-, Leitungs- 
faser, sie kann aber auch zu einem ganzen Vegetationspunkt werden, 
d. h. einen ganzen Sproß oder eine ganze Wurzel aus sich hervor- 
gehen lassen. Ihr letztgenanntes Vermögen geht die restitutiven 
Leistungen des Organısmus an und kommt für unsere Betrachtungen, 
die sich ja nur mit Anpassungen beschäftigen, nicht in Frage. Um 
so mehr kommt für unsere Untersuchungen das Vermögen „in- . 


14) 5. 0. 8. 444, Anm. 10. 





40 


uns. 


H. Driesch, Studien üher Anpassung und Rhythmus. 


ditferenter“ Zellen in Frage, zu Einzelgebilden jeder erdenk- 
baren Art ım Dienste morphologischer Anpassung sich auszu- 
gestalten. 

Das eigentlich Seltsame bei diesen Geschehnissen ist zunächst 
einmal dieses: Es handelt sich ausgesprochenermaßen um eine An- 
passung zugunsten eines neuen Funktionsvermögens, das eben durch 
die gestörte Harmonie des Ganzen benötigt ist. Aber um eigent- 
liche „funktionelle Anpassung“ im Sinne Roux’ handelt es sich 
doch nicht. Bei dieser wird schon Funktionierendes durch sein 
erhöhtes Funktionieren zu noch besserem Funktionieren in seiner 
Ausbildung gesteigert: schon funktionierende Zellen vergrößern 
sich (Hypertrophie) oder teilen sich (Hyperplasie). Aber in den 
Fällen, an welche wir denken, wird gar nicht „schon“ funktioniert; 
ja, auch bei vielem, was kurzerhand „funktionelle Anpassung“ ge- 
nannt wird, beteiligen sıch Zellen, welche nicht „schon“ funktionieren, 
sondern „indifferent*“ sind, so daß sich also auch ein gutes Teil 
von dem, was unter dem Titel einer funktionellen Anpassung im 
Roux’schen Sinne geht, unserm Probleme eingliedert. Die eigent- 
lieh echte funktionelle Anpassung, an der sich nur bereits funktio- 
nierende Zellen beteiligen, ist sogar wahrscheinlich sehr selten. 

Wo indifferente Zellen, ob schon vorhanden oder neu ge- 
bildet, zu morphologischen Anpassungen dienen, da geschieht also 
nicht etwas durch Funktion für „bessere“ Funktion, sondern da ge- 
schieht nur etwas für Funktion. Und es kann, je nach Um- 
'ständen, an einer beliebig herausgegriffenen indifferenten Zelle 
das Allerverschiedenste für künftiges Funktionieren geschehen ®°). 

Die prospektive Potenz einer indifferenten Adaptionszelle ist 
außerordentlich reich. Aber doch in ganz anderem Sinne, als etwa 
die Potenz echter enıbryonaler Zellen sehr reich ist: Die Gesamt- 
heit echt embryonaler Zellen, z. B. der Blastulazellen des Seeigel- 
keims, bildet bekanntlich ein „harmonisch-äquipotentielles System“: 
jede Teilgesamtheit dieser Zellen, wie sie durch das Experiment ın 
beliebiger Weise hergestellt ıst, kann „das Ganze“ durch Zusammen- 
wirken der Teile leisten, woraus, angesichts der Beliebigkeit der 
Operation, folgt, daß „Jedes jedes Einzelne kann“ und mit jedem 
Anderen zusammen ın Harmonie arbeitet — daher eben der Name 
„harmonisch-äquipotential“. Bei adaptiıven Zellen mit reicher Potenz 
kommt nicht das Formganze als solches in Frage, sondern eben die 
Anpassung an neu geschaffene Umstände des Funktionierens. Da 
besteht ein ganz besonderer „formativer“, d.h. zu spezifischer mor- 
phologischer Ausbildung führender, Reiz für jede einzelne Zelle, ein 
Reiz, der sich aus der durch das gestörte Funktionsgetriebe ge- 
schaffenen Sachlage in jedem Falle ergibt. 

15) Zuerst aufgerollt ist dieses Problem Phil. d. Organ. I, S. 1831. 

Band 39. 30 






450 H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus. 


Was ıst nun der „Reiz“ ın jedem Falle, und was ist der 
letzte Grund dafür, daß jedem in Frage kommenden Reiz 
seitens der indiffer a Zelle adaptıv entsprochen wer- 
den kann? 

Es ist, wie oben gesagt wurde, bei allen morphologischen 
Adaptationen, bei denen die gestörte Funktion und die Adaptation 
an sie durch :Entnahme. von Teilen hervorgerufen wurde, wie also 
z. B. in den Versuchen Vöchting’s und Winkler’s, restitutives 
Geschehen eng mit adaptivem verwoben. Aber es ist eben doch 
auch adaptiv-morphologisches Geschehen da. Soweit nun dieses 
da ist, geht es nicht an, wie es für die eigentliche Embryogenese 
notwendig ist, einer formbildenden Entelechie, als einer sozusagen 
intensiven Mannigfaltigkeit, in Ermangelung nachweisbarer forma- 
tiver Einzelursachen alles aufzubürden. Das „System“ indifferenter 
Zellen, was bald in diesem, bald ın jenem Sinne Adaptation leistet, 
ist also nicht ein harmonisch-äquipotentielles System ım Sinne der 
Embryologie !°) und der echten Umdifferenzierungsrestitutionen. „Har- 
monisch“ ist gewiß auch alles, was adaptıv geschieht, aber doch ganz 
anders: auf das harmonische Ineinandergreifen der Funktionen 
kommt es an, nicht darauf, daß „Form“ der Ganzheit da seı. 

Es muß also von einzelnen Funktionsänderungen als von ein- 
zelnen Reizen ‘geredet werden. Aber wie das? 

Wasser und Nahrungsstoffe sollen geleitet werden, Festigkeit 
soll erzielt werden, Stoffe sollen gespeichert werden. Und es ge- 
schieht; die „indifferenten“ Zellen machen, daß es geschehen kann. 
Ja, sie bilden sich wohl gar erst aus einer halbdifferenzierten Zelle, 
um alsdann zu machen, daß es geschehen kann. Und die eine in- 
differente Zelle formt sıch so, die andere formt sich anders, obwohl 
jede sich nach jeder der überhaupt möglichen Richtungen hin for- 
men könnte. 

Handelt es sich, wie z. B. in den Versuchen von Kohl’), nur 
darum, daß je nach dem Feuchtigkeitsgrad des Mediums neue lei- 
tende und mechanische Gewebe, ja, wohl gar von normalerweise 
nicht vorkommender Art ''®), Kebildet en so liegt die Sache 
noch relativ einfach. Hier darf hypothetisch gesagt werden, daß 


16) Ein echtes harmonisch-äquipotentielles System auf botanischem Gebiet hat 
K. Linsbauer nachgewiesen (Denkschr. Ak. Wien 93, 1915, S. 108): Sproßvege- 
tationspunkte gestalten sich nach Quer- oder Längsoperationen in echt harmonisch- 
äquipotentieller Weise um (Wurzelvegetationspunkte dagegen „regenerieren“ sich 
nach Verletzungen, d. h. sie ersetzen das fehlende durch Sprossung). Das neue 
Plerom entsteht bei dieser „morphollaktischen“ Umgestaltung (T. H. Morgan) aus 
inneren Schichten des Periblems. Nur der äußerste Teil des Urmeristems ist der 
harmonischen Regulation fähig. 

17) Die Transpiration der Pflanzen und ihre Einwirkung auf die Ausbildung 
pflanzlicher Gewebe. 1586. Weiteres bei Ungerer ]. c, S. 190 ff. 

18) z. B. Sklerenchym in den Versuchen von Kohl, sogenanntes Aerenchym 
bei den Wasserformen der ‚Jussiala. 








2 ah ZN HE a 


IN 


H. Driesch. Studien über Anpassung und Rhythmus, 451 


es sich um f[ormative Reize!'’) handele, welche auf bestimmte Ein- 
richtungen der gereizten Zellen auslösend wirken, die dann eben 
mit „Mechanomorphosen“, „Hydromorphosen* u. s. w. reagieren. 
Das Ganze wird zu primärer Anpassung auf Grund von Angepaßt- 
heit. Das ist grundsätzlich denkbar, wenn es auch eine starke Zu- 
mutung ist, bloß quantitative Unterschiede, etwa in der Wasser- 
verteilung, als Reize für qualitative Verschiedenheiten ansehen zu 
sollen ?°). 

-Für die Versuche von Winkler und Vöchting, bei denen 
das Anpassungsgetriebe auf gänzlich abnorme Störungen hin, die 
mit der Entnahme oder Verlagerung von Teilen verknüpft sind, 
ins Spiel tritt, liegt aber alles denn doch wesentlich anders, und 
auch in jenen anderen Fällen bietet die Entstehung normalerweise 
nicht vorkommender Gewebe denn doch auch eine besondere 
neue Schwierigkeit für die Hypothese der „Einrichtungen“. 

Es müßte „Einrichtungen“ geben, die sich im normalen Lebens- 
lauf des Organismus nie äußern! Und was für welche? Ganz un- 
geheuer mannigfaltige in ein und derselben „embryonalen* Zelle. 

Und dabei ist die Gesamtheit dessen, was herauskommt, zwar 
nicht eine eigentliche morphologische Einheit, aber doch ein Ganzes 
seinem Funktionieren nach. Kann das in lauter Einzelreizwirkungen 

aufgelöst werden ? \ 

| Man denkt hier an die Gallen, welche ja auch in ganz selt- 
samer Weise „Einheiten“ sind, freilich nicht, wie die rein morpho- 
logischen Ausprägungen, in sich selbst ruhende und auch nicht 
funktionelle, sondern „fremddienlich-zweckmäßige* (BE. Becher). 

Über die „Reize“, welche Gallen hervorrufen, weiß man nun 
auch — nichts. Sicher genügt als Reiz nicht ein spezifischer 
chemischer Stoff. W.Magnus°!) hat ein destruktives und ein kon- 
struktives Stadium bei der Gallbildung unterschieden und für die 
Ausbildung des zweiten den dauernden von der Larve ausgehenden 
Wundreiz, aber auch stoffliche Reize (enzymatische Hemmungen, 
Antienzyme) verantwortlich gemacht, freilich nicht im Sinne eigent- 
licher einfacher „Morphosen“, sondern durch Vermittlung einer Be- 
einflussung der allgemeinen Stoffwechselverkettungen. Das sagt 
wenig und soll auch, wie Magnus offen zugibt, wenig sagen. 
Küster?) ist etwas optimistischer bezüglich der Auflösung der zu 
den Gallbildungen führenden Ursachen in Faktorenkombinationen; 
aber Positives kann er auch nicht bringen, und wenn er sagt, daß 
„aus jedem Gewebe alles werden kann“ (l. c. S. 325), so rollt, er 
damit im Grunde eine ungeheure Schwierigkeit auf, die dadurch 
19) 8. Herbst, Biol. Zentralblatt 15, 1595 und format. Reize in d. tier. 
Ontogenese, 1901. 

20) s. z. B. Simon, Ber. Deutsch. Bot. Ges. 26, 1908, S. 392 f. 

21) Die Entstehung der Pflanzenzellen, Jena 1914. 

22) Pathol. Pflanzenanatomie 2. Aufl. 1916, zumal S. 319ff. u. 3ö4f. 

30* 


452 H. Driesch, Stndien über Anpassung und Rhythmus, 


wenig gemildert wird, daß bei Gallbildung vielleicht gar nicht oder 
doch nur in sehr seltenen (alsdann phylogenetisch verständlichen?) 
Fällen artfremde Gewebssorten auftreten sollen, während alles gut 
Gesicherte sich nur als, nach Größe, Form und innerer Ausgestaltung 
freilich den Rahmen des Normalen überschreitende, Konstruktionen 
aus den arteignen Gewebsformen darstellt. 

Was weıß man überhaupt (und was „vermutet“ man nicht 
nur) über das Bestehen innerer Reizverkettungen bei Pflanzen, 
wie sie doch für das Verständnis der sekundären Adaptationen so- 
wohl wie der Gallen anzunehmen wären? Soviel ich sehe, be- 
schränkt sich ein wirklicher Nachweis hier auf eine Ermittlung von 
Haberlandt?°): Isolierte Gewebsplatten aus dem Mark der Kar- 
toffelknolle und einige andere Objekte zeigten nur dann Zellteilungen, 
wenn sie ein Fragment der Leitbündel enthielten; bündelfreie Platten 
konnten andererseits durch Anlegen bündelhaltiger zu Teilungen 
gebracht werden. 

Man sieht: das Nichtwissen ist groß, — 

Das, um was es sich bei der Frage der morphologischen Adap- 
tationen sowohl wie bei der Frage der Gallen handelt, ıst doch ganz 
offenbar die Lokalisation dessen, was geschieht; es ist die Ort- 
und Zeitfrage, die in den Vordergrund tritt, ebenso, nur in an- 
derer Form, wie bei dem embryologischen Problem, und zwar die 
Ort- und Zeitfrage mit Rücksicht auf das zur Einheit Bei- 
einandersein von all dem Einzelnen, was da ist. Warum ist 
Solches jetzt hier, in Verbindung mit jener Gesamtheit des an- 
deren Solchen? — Das ist das Problem. 

Eine zum Beweise des Vıtalısmus führende Diskussion des 
Sachverhalts, wie sie beim harmonisch-äquipotentiellen System mög- 
lich ıst?*), ist nun hier freilich nicht möglich; als außerordentlich 
unwahrscheinlich darf es aber wohl gelten, daß eine Einrich- 
tung den echten („sekundären“) Adaptationen zugrunde liege. 


II. Zur Lehre vom Rhythmus. 


Alle Formbildungsvorgänge, in der Ontogenese sowohl wie bei 
Restitutionen, geschehen in vielen einzelnen wohl geordneten Phasen; 
nicht entsteht der Organismus aus dem Keim durch einen einzigen 
Werdeakt, gleichsam auf einen Schlag. Auch ım Leben des Er- 
wachsenen setzt sich auf gewissen Gebieten des Geschehens diese 
Rhythmik fort, z. B. bei der Reifung der Sexualprodukte, beim 
Treiben und Blühen, beim Laubfall der Bäume. 

23) Sitz.-Ber. Akad. Berlin Nr. 16, 1913 und Nr. 46, 1914. 

24) Vgl. außer meinen früheren Darstellungen meine neue Formung der 
Theorie der Äquipotentialitätin Logische Studien über Entwicklung‘ I und II 
(Sitz.-Ber! Ak. Wiss, Heidelberg, phil, hist. Kl. 1918 Nr. 3 und 1919), sowie die 
Anhänge zu meiner Schrift Der Begriff der organischen Form (Abh. z. theor. 
Biol. herausgeg. von Schaxel Nr. 3). 





ba a Zn ad 





2a 


H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus. 459 


Klebs?°) hat in einer Reihe sehr wertvoller Untersuchungen 
den Nachweis geführt, daß pflanzliche Rhythmik, wie sie sich bei 
dem eben genannten Treiben und Blühen sowie beim Laubfall der 
höheren Pflanzen, wie sie sich auch bei der Abfolge der vegetativen 
und der sexuellen Ausgestaltungen der Pilze und Algen zeigt, von 
äußeren Bedingungen, unmittelbar oder mittelbar, abhängt, daß 
sie nıcht „ımmanent“ oder „autonom“ ist?®). Jede Phase erscheint 
als Reaktion auf eine besondere Bedingungskonstellation, und zwar 
letzthin auf eine Konstellation „innerer Bedingungen“, welche aber 
auf vorangegangene „äußere“ Bedingungskonstellationen zurückgeht: 
„Erblich fixiert ist die spezifische Struktur mit allen ihren zahl- 
losen Potenzen; alles was sich tatsächlich entwickelt, d. h. ver- 
wirklicht wird, geschieht unter der notwendigen unmittelbaren oder 
mittelbaren Einwirkung der Außenwelt“ (Biol. Zentr. 37, 413). 

Die Rhythmik der Formbildung ist also nach Klebs nicht 
„erblich fixiert“; sie ıst es nach seiner Ansicht nicht nur nicht für 
die Fälle, für welche er, wie uns scheint, allerdings ihr Nichtfixiert- 
sein experimentell zwingend nachgewiesen hat, für Austreiben und 
Blühen der höheren Pflanzen, Blattfall der Bäume, Fortpflanzung 
der Thallophyten, sie ist es nach seiner Ansicht nie: „Es wäre 
denkbar, daß die Bildung von Wurzel und Sproß oder von Kotyle- 
donen des Embryö auf Grund der in der Eizelle vorbereiteten 
inneren Bedingungen geschähe. Es würde sich dabei nicht um 
eine ‚erbliche Fixierung‘ handeln... Vielmehr würde es sich um 
eine gewisse Fixierung der inneren Bedingungen durch die 
vorbereitende Außenwelt handeln. Der Nachweis würde damit 
zu liefern sein, daß man durch geeignete Vorbehandlung die Ent- 
wicklung des Embryo in andere Bahnen leitet“ (l. c. 403). 

Hier überträgt, wie man sieht, Klebs seine Auffassung auf 
ein anderes Gebiet des Formbildungsgeschehens, auf die Ontogenese 
oder Embryologie im engeren Sinne. 

Gewiß, Blühen und Sprossen, Laubfall und Blattaustrieb, Wachsen 
und Sporenbildung der Algen und Pilze sind auch Formbildungs- 

25) Vgl. vor allem: a) Die Bedingungen der Fortpflanzung bei 
einigen Algen und Pilzen, Jena 1896; b) Jahrb. wiss. Bot. 35, 1900; e) Will- 
kürliche Entw.-Anderungen bei Pflanzen, Jena 1903; d) Biol. Zentr. 24, 1904; 
e) Sitz.-Ber. Akad. Heidelberg 1911 und 1913; f) Biol. Zentr. 32, 1912; g) Jahrb. 
wiss. Bot. 1915; h) Biol. Zentr. 37, 1917. 

26) Klebs will bekanntlich den Begriff des „Reizes“, wie er in neuerer Zeit 
namentlich von Pfeffer (Pflanzenphysiologie) und Herbst (Biol. Zentr. 14 
und 15) erörtert worden ist, abschaffen und nur gleichwertige äußere Bedingungen 
gelten lassen. Vgl. hierzu zumal Biol. Zentr. 24, 1904, S. 450, sowie die sehr klare 
zusammenfassende Darstellung der Klebs’schen Forschungs- und Denkergebnisse 
von Ungerer (Naturwissenschaften 6, 1918, S. 683). Ich glaube nicht, daß 
man mit der Lehre von der „Gleiehwertigkeit“ auskommt, auch dann nicht, wenn 
man zugibt, daß für den Begriff des Reizes seine Quantität nicht bedeutungslos sei. 
Man vergleiche in meiner Phil. d. Organ. I, 8. 99f#f. Übrigens sind diese Dinge 
für das, was in diesem Aufsatz erörtert werden soll, ohne unmittelbare Bedeutung. 


Fi, EEE ES RN ss Rn a Kart a TEN R 


454 H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus, 





vorgänge. Aber sie geschehen an solchen Formen, welche ich 
früher?”) als offene bezeichnet habe ım Gegensatz zu den ge- 
schlossenen Formen, wie alle Tiere mit Ausnahme der stock- 
bildenden es sind. Anders gesagt: die soeben genannten Form- 
bildungen betreffen Organismen, insofern sie offene Formen sind — 
(daß sie nicht nur „offen“ sind, werden wir alsbald sehen). Eine 
offene Form ist nun aber, wıe der Name besagt, gar nichts eigent- 
lich’ zur Einheit geschlossenes, jedenfalls besitzt sie keine klare 
höchste Einheit. Sie besteht aus Teileinheiten (Blattsprosse, Blüh- 
sprosse, Mycelsprosse, Sporangien), und zwar aus Teileinheiten ver- 
schiedener Sonderart, und setzt diese in ungeschlossener Weise zu 
ihrer Übereinheit, die eben deshalb eine offene Übereinheit ist, zu- 
sammen. Daß dieses „offene“ Zusammensetzen der Teileinheiten 
zur Übereinheit durchaus von letzthin äußeren Bedingungskonstel- 
lationen abhängt, daß hier kein immanenter Rhythmus waltet, das 
hat Klebs wirklich nachgewiesen. 

Aber sind die pflanzlichen Teileinheiten auch „offen“ und mit 
Rücksicht auf die Verwirklichung ihrer Bestandteile durchaus ohne 
inneren Rhythmus. Klebs meint es, wie gesagt. Es ıst klar, daß 
er damit seinen früheren Untersuchungen gegenüber Neues meint. 
Das Werden der pflanzlichen Teileinheiten, gehe es von Ei, Spore, 
Vegetationspunkt oder Adventivzelle aus, galt bisher als eigentliche 
geschlossene Öntogenese, der Ontogenese der Tiere vergleichbar, 
Klebs möchte nachweisen, daß auch hier von „immanentem Rhyth- 
mus“ des Geschehens nicht die Rede seı., 

Für die Entwicklung der Prothallien der Farne aus der Spore, 
meint Klebs, sei ihm ein solcher Nachweis in gewissem Rahmen 
geglückt. Durch Einwirkung verschiedener Lichtarten und ver- 
schiedener Lichtintensität konnte er Wachstum und Zellteilung in 
den drei Achsen des Raumes geradezu beherrschen ın ihrem Auf- 
treten, ebenso die Bildung Be Antheridien und Oogonien. Jede 
Wachstum skor des Prothalliums soll einem bestimmten verwickelten 
Faktorengleichgewicht entsprechen °®). Freilich handelt es sich ex- 
perimentell im Grunde doch nur um ein zeitliches Hinausziehen der 
einzelnen Bildungsphasen: im roten Licht kam es schließlich doch 
zur Teilung in der dritten Dimension und zur Archegonienbildung, 
es dauerte nur sehr lange. Nie werden die einzelnen Phasen der 
Formbildung miteinander vertauscht. 

Das scheint uns wichtig zu sein; doch wollen wir es zunächst 
nicht weiter erörtern. 

Wie nun steht es mit tierischer BorahMinee Da liegen eigent- 
lich nur die Versuche von Herbst vor, denn alle Versuche an 
Amphibieneiern haben bloß recht: unbestimmte Hemmungen durch 

27) Phil. d. Org. 1, S. 18; dasselbe schon Analyt. Theorie d. org. Entw, 


1594, S. 105. 
28) Sitz.-Ber, Heidelberg. 1916, Nr. &, 1917 Nr. 3 u 7, 










H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus. 455 


Einwirkung abnormer Medien erzielt. Herbst hat an Echinodermen- 
keimen bekanntlich (neben vielem anderen Wichtigen, das uns hier 
nicht angeht) festgestellt: 

1. daß Mangel von Schwefel im Seewasser dıe Ausbildung der 
Bilateralität verhindert zugunsten eines radıären Körperbaues der 
Larven ®°); 

2. daß Rhodankalıum und buttersaures Natrium bei Asterias 
die Gastrulation unterdrückt °°), so daß die Mesenchymbildung ab- 
normerweise an der Blastula erfolgt;. freilich liegt die für die Gastru- 
lation bestimmte Zellenplatte ın ıhr und ist nur nicht ausgewachsen; 

3. daß Zusatz von Lithiumsalzen zum Meerwasser die Bilateralität 
unterdrückt, die Darmzellenzone ungeheuer erweitert und das Aus- 
wachsen des Darmes nach außen anstatt nach innen bedingt?!). 

Um eine Umkehr von Formbildungsphasen handelt es sich 
auch hier nicht. 

Klebs nennt das im letzten Grunde Verantwortliche beı aller 
Formbildung „spezifische Struktur“, ich nenne es „Entelechie“. Ich 
glaube gezeigt zu haben, daß es etwas grundsätzlich Unmaschinelles, 
also keine „Struktur“ ist. Klebs behauptet aber auch nicht etwa, 
zu wissen, daß seine spezifische Struktur eine „Struktur“ sei; die 
Annahme, daß es sich um eine „Struktur“ handle, ıstihm nur eine 
heuristische Hypothese, welche er aufstellt, da er (zu Unrecht)®?) 
meint, der Vitalismus hemme den Fortgang positiver Forschung. 
Ich meine also, wir können uns trotz allem verständigen. Und 
so möchte ich denn .mit Klebs°?) die folgende wichtige Frage 
erörtern: 

Muß das für die Formbildung Maßgebende (nach Kleba 
Struktur, nach mır Ertelechie) so gedacht werden, daß 
es nur den Inbegriff des morphogenetisch Möglichen über- 
haupt darstellt ohne Rücksicht auf seine Verwirklichung, 
welche vielmehr in jeder Beziehung, auch mit Rücksicht 
auf alle Rhythmik, alle Phasen, von außen kommt? Oder 
muß jenes Maßgebende so sedacht werden, daß es nıcht 
nur Möglichkeitsinbegriff ist, sondern auch wenigstens 
gewisse auf die Verw irklichung in Phasen gerichtete 
Benizeichen an sich trägt? 

Nach Klebs ist, ohne Rücksicht auf die Frage des Vitalısmus, 
die erste Frage zu bejahen, die zweite zu verneinen. 

29) Arch. Entw. Mech. Nasa 1904, S. 317. 

30) Arch. Entw. Mech. 2, 1896, S. 482. 

31) Zeitschr. wiss. Zool. 55, 1892 nd Mitt. Station ‚Neapel 11, 1892. 

32) 8. hierzu meine Schrift Die Biologie als selbständige Grund- 
wissenschaft, 2. Aufl., 1911, S. 24. 

33) Dieser Aufsatz war geschrieben, ehe der verdiente Forscher einer tückischen 
Krankheit erlag. ‘So muß ich mich denn jetzt mit ihm unterhalten, wie man sich 
mit einer fest umschriebenen historischen Persönliehkeit unterhält und muß die Ver- 
teidigung seinen Anhängern überlassen. 


4556 H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus, 


Konsequent zu Ende gedacht heißt das: Ein Hühnerei müßte 
auch unter entsprechenden „Bedingungen“ gleich nach der Furchung 
ein Auge bilden können, eine jüngste Pflanze an Stelle der Kotyle- 
donen sofort die Blüte u. s. w., und zwar ohne daß eine deutliche 
Unterdrückung des normal Dazwischenliegenden von außen statthtat. 

Wir kennen nun nichts, was dafür spräche. In Klebs’ eigenen 
Versuchen an Farnprothallien gab es lange Phasenverzögerung, in 
den Versuchen von Herbst gab es Hemmungen und Modifikationen; 
aber es gab keine Umkehr, auch keinen eigentlichen Phasenausfall. 
Aber trotzdem könnte Klebs recht haben. 

Ich selbst habe nie gesagt, daß die Entelechie allein für oR 
Zustandekommen der Formbildung genügt: mindestens drei polare 
Achsen im Protoplasma des Eies nehme ich als materiell gegeben 
an?‘), auf daß es zu dreidimensional ausgeprägter Formbildung 
komme. Denn die Entelechie, als ein Unraumhaftes, kann ja doch 
nicht „dreidimensional“ sein. Klebs’ „Struktur“ könnte das: da- 
mit hätte er aber mindestens einen „autonomen“ Faktor in seiner 
Struktur (freilich nicht im: Sinne dessen, was dieses Wort für den 
Vitalisten heißt), welcher ausdrücklich nicht nur auf Formbildungs- 
möglichkeit, sondern auf die Verwirklichung der Formbildung 
gerichtet wäre. Aber das Rhythmische, das Phasenhafte ginge auch 
er nichts an. 

Kommt das nun wirklich immer und lediglich von außen? 

Wenn es immer und lediglich von außen gesetzt wäre, so würde 
das heißen, daß „das Maßgebende“, um neutral zu sprechen, stets 
seinerseits gleichermaßen bereit wäre, jede seiner Möglichkeits- 
seiten in die Verwirklichung treten zu lassen. Daß tatsächlich, zu- 
mal bei Tieren, der feste Rhythmus der Formbildungsabfolgen zum 
Ausdruck kommt, würde nur an den „Bedingungen“ liegen. Diese 
nun werden ja freilich durch die schon geschehenen Abfolgen für 
die künftigen produziert; aber der in bestimmten Bedingungen für 
die folgenden sich äußernde Effekt früherer Abfolgen könnte grund- 
sätzlich als von außen künstlich ersetzbar gedacht werden. Nicht 
wäre das bloße „Schon getan haben“ maßgebend für das 
folgende Tun oder Reagieren des Maßgebenden. 

Hier treffen wir wohl auf den Kernpunkt der Frage, die uns 
angeht: Ist bloßes Reagierthaben selbst „Bedingung“ für fol- 
gendes Reagieren? Solche „Bedingung“ wäre dann nıcht von 
außen künstlich ersetzbar! Oder etwa doch? 

Wir müssen uns zunächst klar machen, daß der Ausdruck 
„Reagierthaben“ noch doppelsinnig ist. Soll gemeint sein, daß das 
Reagierthaben bloß als überhaupt „reagiert“-haben zum Ausdruck 
kommt, oder soll gemeint sein, daß das Reagierthaben deshalb selbst 


34) Zuerst in Lokalisation morphogenetischer Vorgänge, 1899, 5.45; 
. Philöd. Orten. 65 ff, 








Be \. 


H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus. 4A 
, $ h t 


sozusagen „Bedingung“ für folgendes ist, weil das Reaktions- 
ergebnis da ıst? Das letzte habe ich in der „Philosophie des 
Organischen“ angenommen’°?), in den von keinem beachteten Ab- 
schnitten „Die Affektion der Entelechie“ und „Einiges über das 
Problem der Zeit“. - 

. Bei dieser letzten Annahme sind nun offenbar die durch das 
Reagierthaben gesetzten „Bedingungen“ für das Folgende als von 
außen ersetzbar wenigstens grundsätzlich zu denken. Fassen wir 
einmal einen besonderen Fall ins Auge: Amputation mit folgender 
Wiederaufpfropfung des entnommenen Teiles, der aber von einem 
anderen Individuum stammt. Die bloße Amputation würde bier 
— (wie, das wird noch zu erörtern sein) — die Entelechie „affizieren“ 
und zur Neubildung bestimmen; nun ist aber trotz der Entnahme 
das alte Leistungsergebnis der Entelechie der Wiederaufpfropfung 
wegen vorhanden, zwar von einem anderen Individuum stammend, 
und geleistet wırd daher, was ohne die Amputation geleistet wäre 
— nämlich nichts. 

Vielleicht erklärt man dieses Beispiel für gekünstelt; es handelte 
Ja in der Tat von „Nicht“affektion und „Nicht“leistung. 

Befriedigender erscheint vielleicht die Erwägung, daß doch 
offenbar alle Restitutionen lehren, wie nur ein bloßes Schon- 
geleistethaben das Verhalten des für die Formbildung „Maßgebenden“ 
in diesen Fällen sicherlich nicht bestimmt; wäre das der Fall, so 
gäbe es nämlich überhaupt keine Restitution; denn „Restituieren“ 
heißt: ein schon geleistet Gewesenes ersetzen, wenn es ge- 
nommen war. 

Aber wie steht es bei der reinen Ontogenese? Besteht für 
diese vielleicht doch eine immanente Auanolie des Rhythmus ? 
Mit dieser Frage wollen wir uns zuerst beschäftigen, uns vorbe- 
haltend auf das Restitutionsproblem zurückzukommen. 

Wir formen uns die folgende Frage: Gesetzt, die Onto- 
genese habe das Stadium n erreicht, wovon hängt es ab, 
daß sie zum Stadium n + 1 übergeht°*)? 

Klebs meint, daß das Maßgebende durch das bis zum Stadium 
n hin von ihm Geleistete, welches in seinem bloßen Dasein bestimmte 
„Bedingungen“ darstellt, zu dem Schritt n 4 1 veranlaßt wird, daß 
das Daseiende das Maßgebende „affiziere“. Dabei muß also das 





35) Bd. II, S. 230ff. und 341 ff. 

36) In logisch derselben Form tritt das Problem auf erstens bei allen zu- 
sammengesetzten Bewegungserscheinungen der Organismen N zweitens bei physio- 
Ioßischen Sekretions- Oder. allgemeiner, Stoffw N Der erste Fall führt auf 
den Begriff des „Kettenreflexes“ und auf die Frage, ob alle Bewegungskombinationen 
der Organismen auf Kettenreflexe zurückführbar seien oder nicht (s. Philos. d. 
Organ, II 8, 1—125); der zweite ist jüngst für die Verdauungsdrüsen von G. Chr. 
Hirsch eingehend, aber zunächst ohne Bun: zum vitalistischen Problem, be- 
handelt worden (Biel. Zentralblatt 38, 1918, s. 4), 


458 H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus. 


Daseiende auf das Maßgebende wirken können, und zwar „normal“ 
wirken können, auf daß Normales, insonderheit Einheitliches her- 
auskomme. Embryologische teilweise Doppelbildungen (und, auf 
anderem Gebiet des Geschehens, Doppelrestitutionen, z. B. bei 
Planaria) würden zeigen, daß das nicht immer der Fall ist. Aber 
wo es der Fall ıst, da stellt das Daseiende eben ganz besondere 
„Bedingungen“ für das Maßgebende dar. Diese Bedingungen, so 
könnte man wohl sagen, wären im Falle der Doppelbildungen 
gleichsam zweimal vorhanden: Das Maßgebende wird hier sozusagen 
irre geführt durch Verdoppelung oder besser Teilung gewisser Be- 
dingungskomplexe bei Einheitlichkeit anderer Bedingungen, und so 
kommt es zur Einheitlichkeit etwa der ektodermalen, zur Doppel- 
heit der entodermalen Organe. Alle Bedingungen aber sind als 
künstlich ersetzbar wenigstens zu denken, und zwar als ganz be- 
stimmte physiko-chemische Bedingungskomplexe. Es kommt nur 
darauf an, daß eın und dieselbe Bedingungsresultante da 
ist, gleichgültig nicht nur, ob diese vom normal Geliefer- 
ten oder vom künstlich Ersetzten herstammt, sondern 
gleichgültig auch im Grunde, ob das Ersetzte in allen 
seinen Einzelheiten dasselbe wie das Normale ist; nur 
dieselbe Resultante des Ganzen an Bedingungen muß sich ergeben. 

Bei solcher Auffassung ist das für normale Ontogenese Not- 
wendige und Hinreichende: erstens das „Maßgebende“ als 
bloßer Inbegriff der möglichen Reaktionen, sei es als Struktur 
(Klebs) oder Entelechie gefaßt, und zweitens die allerersten ım 
Eı gegebenen Bedingungen. Alle künftigen Bedingungen 
werden durch diese Grundfaktoren geschaffen, aber eben 
durch beide, nicht durch das Eigenwesen des Maßgebenden allein. 

Jeder einzelne embryologische Akt stamnıt also aus einem Affi- 
zıertwerden des Maßgebenden durch daseiende Bedingungen, welche 
freilich aus früheren Leistungen des Maßgebenden resultierten, 
welche früheren Leistungen ebenso durch daseiende, aus noch 
früheren Leistungen resultierte Bedingungen hervorgerufen waren 
und so fort — bis zu den Urbedingungen im Ei, welche durch 
Leistungen des Maßgebenden im der Ontogenese der Mutter ge- 
schaffen waren. Da ist wirklich alles „aitionom*, wenigstens in- 
soweit das Verhältnis von Bedingungen zum reagierenden Mabß- 
gebenden in Frage kommt: ohne Bedingungen wird nichts ver- 
wirklicht, und daß aus der im Maßgebenden gegebenen Fülle des 
Möglichen nun eben .Dieses verwirklicht wird, das hängt nur am 
Dasein eben dieser und keiner anderen Bedingungen. Nicht also 
wird das Maßgebende durch sein bloßes „Reagierthaben“ affiziert. 

Daß diese Lehre richtig ist, ist sicherlich nicht entschieden. 
Bedenklich muß erscheinen, daß bis jetzt so wenige über bloße 
Hemmungen hinausgehende typische Abnormitäten des Entwicklungs- 





Br 





H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus 459 


verlaufs durch künstliche, zumal chemische, Eingriffe erreicht sind. 
Und auch die partiellen Doppelbildungen nach Zerrungen des Keimes 
oder die partiellen Doppelrestitutionen nach Zufügung komplizierter 
Wunden sind ja eben nur Verdoppelungen von Teilen, aber nichts 
eigentlich Abnormes dem Rhythmus nach. Bedenklich erscheint 
weiter, daß sehr starke Deformationen von Keimen, durch Pres- 
sung unter Platten, Aufsaugung in Kapillaren, Entnahme von Zellen, 
die Normalität des typischen Entwicklungsverlaufes oft gar nicht 
stören. 

Trotz allem scheint mir die Lehre von Klebs logisch zu- 
lässig zu sein; ja, ich gehe soweit zu sagen, daß wir sie hypo- 
thetisch zulassen müßten, bis sie geradezu widerlegt wäre; denn 
sie rettet das Prinzip der eindeutigen Bestimmtheit in hohem Grade. 
Bei der Lehre von der reinen „Autonomie“ des ontogenetischen 
Rhythmus — (das Wort „Autonomie“ immer lediglich im Gegen- 
satz zu Aitionomie, also nicht ım vitalistischen Sinne verstanden) — 
würde noch mehr, als es schon ohnehin der Fall ist, der eigent- 
lichen Wissensmöglichkeit entzogen. Freilich — woher die ersten, 
die im Ei gelegenen „Bedingungen“ kommen, das erfahren wir auch 
von Klebs nicht. 

So scheint denn die Ontogenese zu einem äußerst zusammen- 
gesetzten Wechselspiel zwischen „Bedingungen“ oder vielmehr Be- 
dingungsresultanten und Antworten seitens des „Maßgebenden* 
geworden zu sein — ohne das Eingreifen „intraentelechialer Kau- 
salıtät“ ?”). 

Aber so einfach erledigt ist die Angelegenheit doch wohl noch 
nicht, selbst wenn man den Boden der Lehre vom Wechselspiel 
nicht, verläßt. 

Wir reden hier von der eigentlichen Embryologie. Nun ist 
diese ein Sonderfall von Morphogenese, von Formbildung überhaupt. 
Zur Formbildung überhaupt gehören aber auch alle Restitutionen, 
die echten Regenerationen zum Beispiel. 

Eine aufs letzte gehende Theorie vom Rhythmus muß nun 
doch wohl auf alle Formbildung un also auch auf die „Be- 
dingungen“ für Restitutionen. 

Schon oben haben wir die Tatsache der Restitution heran- 
gezogen um zu zeigen, daß hier jedenfalls das Maßgebende nicht 
nur deshalb mit Phase B reagiert, weil es mit Phase A reagiert 
„hat“. Das war ein gewisses Zugeständnis an die Lehre vom 
Wechselspiel. Jetzt sollen uns die Restitutionen helfen, die Lehre 
vem Wechselspiel zu vertiefen, d. h. zu zeigen, das sie jedenfalls 
keine so ganz einfache Angelegenheit ist. 

Welches sind denn die „Bedingungen“ für irgendeine Resti- 
tution, z. B. eine echte Regeneration? Doch wohl nicht das 


37) Phil, d. Ore IL, S. 234, 


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- . ar a ei 





460 H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus. 


im Wege der Formbildung gelieferte Daseiende, sondern gerade 
das Nichtdaseiende in seiner Spezifizität! Gewiß ist das auch eine 
„Bedingung“, aber keine, die als chemisch-physikalische Bedingung 
auch nur gedacht werden kann. Kann sie aber nicht so gedacht 
werden, so könnte auch die „Bedingung“ für jede einzelne onto- 
genetische Leistung zwar als „Bedingung“, aber doch nicht als eine 
solche, die nur in einem „Daseienden“ besteht, gedacht werden. 
Dann würde das Maßgebende also zwar ganz im allgemeinen durch 
„Bedingungen“ zu seiner jeweiligen Leistung affıziert, aber durch 
daseiende Bedingungen nur der allgemeinen Verwirkliehungemög. 
lichkeit überhaupt En: durch Nichtd aseiendes als „Bedingung“ 
aber der Qualität seiner Leistung nach. Weil etwas nicht da 
ist, nämlich der verwirklichte Organismus, deshalb wird es produ- 
ziert. Die ganze ÖOntogenese erscheint bei dieser Stellungnahme 
als Restitution! 

Und so kommt denn doch wohl ein „autonomer“ Rhythmus 
wenigstens in gewissem Sinne in Frage, trotz aller „Aitionomie“ 
Nicht zwar, als brauche das Maßgebende gar keine „daseienden“ 
Bedingungen. Es muß Bedingungen z. B. für die Gastrulation vor- 
finden; aber es „will“, wenn der bildliche Ausdruck erlaubt ist, 
doch jetzt eben die Bedingungen nur gerade für die Gastrulation; 
es leistet gar nichts (also nicht etwa ein beliebiges Anderes aus 
dem Bereiche des ihm Möglichen), wenn nicht eben die Gastrulation, 
als das erste Daseinsollende und Nochnichtdaseiende, geleistet 
werden kann; es leistet dann nicht etwa irgendeine normal spätere 
Einzelleistung °®). 

Die Tatsache der Restitutionen von atypischem Ausgange aus 
läßt gar keine andere Deutung zu als eben diese®®), daß Nicht- 
vorhandenes im Sinne einer „Bedingung“ wirkt; und eben, weil 
hier keine andere Deutung möglich ist, ist auch eine andere Deutung 
auf dem Gebiete der Ontogenese zum mindesten wenig wahr- 
scheinlich. 

(Und jetzt treten die Beweise des Vitalismus auf das Feld, der 
eine auf die Genese komplex-äquipotentieller Systeme, der andere 
auf die Differenzierung harmonisch-äquipotentieller Systeme ge- 
gründet. Sie haben mit der Frage nach dem Wechselspiel zwischen 
Bedingungen und Antworten eines „Maßgebenden“ an und für sich 
gar nichts zu tun; sie.lassen diese Lehre (in ihrer großen, soeben von 
uns dargelegten Kompliziertheit!) unangetastet. Aber sie zeigen: 
eine „Struktur“ kann das „Maßgebende“ nicht sein: Eine drei- 
dimensional verschieden typisch gebaute Struktur bleibt nicht ganz, 


38) Es spricht natürlich nicht gegen diese Auffassung, wenn scheinbar 
spätere Einzelleistungen „zu früh“ produziert werden deswegen, weil Zwischenleistungen 
zwar „angelegt“, aber von außen unterdrückt sind. 


39) Vgl. meinen Vortrag Der Restitutionsreiz, 1909, 





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H. Driesch, Studien über Anpassung und Rhythmus. “ 461 


wenn sie sich teilt; eine dreidimensionale „Struktur“- und Be- 
dingungskonstellation, die dasselbe leistet, wie ım Normalen, wenn 
man ihr beliebig viele Teile nimmt oder ihre Teile beliebig ver- 
lagert, kann keine „Maschine“ sein.) 

Die sogenannten „Bedingungen“ der Formbildung, welche in 
der Tat auch nach unserer Auffassung einen gewissen aitionomen 
Zug in alles Formbildungsgeschehen tragen, sind also bloße schlichte 
Bedingungen, nicht aber etwas, was auf das Sosein des Effektes 
geht. Sie mögen immerhin für die einzelnen Formbildungsphasen 
spezifisch verschieden sein. Im normalen Verlaufe werden sie, so- 
weit nicht die allgemeinen Bedingungen des Mediums ın Frage 
kommen, durch den vorangegangenen Verlauf produziert; sie mögen 
teilweise oder ganz künstlich ersetzbar sein; ohne sie geschieht 
nichts. Die wesentliche Soseinsbedingung aber dafür, daß 
jeweils, wenn etwas geschieht, ein Bestimmtes geschieht, ıst das 
Fehlen dieses Bestimmten, wobei. die Abfolge der einzelnen 
Realisationen der Teile des Fehlenden „autonom“ ın dem zugleich, 
den Inbegriff alles Leistungsmöglichen darstellenden nicht- 
strukturellen „Maßgebenden“, der Entelechie, mit gelegen ist, 
ohne daß doch „intraentelechiale Kausalıtät“ in Frage käme, ohne 
daß also bloßes Reagierthaben mit A der volle Grund für das 
Reagieren mit B wäre, Übrigens könnte auch wohl eine „Struktur“ 
so gedacht werden, daß sie immer nur „das Nächste“ leisten kann 
und, wenn für dieses die „Bedingungen“ fehlen, gar nichts leistet. 

Einen „autonomen Rhythmus“ der Formbildung vertreten wir 
also, ebenso wie Klebs, nicht ın dem Sinne, daß ın dem Maß- 
gebenden (seiner „Struktur“, unserer „Entelechie“) der eine Vor- 
gang den anderen ohne weiteres seinem Sosein und seiner Ver- 
wirklichung nach bestimme. Alle organischen Verwirklichungen 
sind nach uns insofern „aitionom“, als sie ın bezug auf ihre Ver- 
wirklichung von Bedingungen abhängig sind, welche, wenigstens 
grundsätzlich, als physiko-chemische Bedingungen gedacht werden 
können. 

Aber es gibt noch andere „Bedingnngen“ für die Leistungen 
des Maßgebenden, Bedingungen, welche das Sosein des jeweils 
Einzelnen, was es aus der Fülle seiner Vermögen heraus leistet, 
betreffen. Diese Bedingungen bestehen in dem Nichtdasein oder 
Nichtmehrdasein von Etwas. Und mit Rücksicht auf diese Be- 
dingungen besteht nun eine „Autonomie“ und „immanente Rhyth- 
mik“ in dem Sinne, daß jeweils nur ein Einzelnes im Maßgebenden 
zur Verwirklichung sozusagen reif ist. 

Die Tatsachen der Restitution von atypischem Ausgange aus 
zwingen für dieses beschränkte Feld zu der hier dargelegten Auf- 
fassung. Für die tierische Embryogenese und für die eigentliche 
„Embryologie“ der Pflanzen ist sie sehr wahrscheinlich. Für nicht 


TER 59548, Bar 








462 H. Jordan, Die Phylogenese der Leistungen des zentralen Nervensystems. 


„geschlossene“, sondern „olfene“ Formenbildung, wie sie im Sprossen, 
Blühen, Treiben u. Ss. w. der Pflanzen und in den Fortpilanzungs- 
verhältnissen der Pilze und Algen vorliegt, gilt dagegen, wie im 
Eingange dieser Studie gesagt ist, unsere Auffassung nicht: hier 
treten die Soseinsbedingungen, welche ja sozusagen negative Be- 
dingungen (Nicht-dasein !)sind, gegenüber den eigentlichen positiven, 
den reinen Verwirklichungsbedingungen ganz zurück. Liegt es doch 
im Wesen der „offenen“ Form, daß ihr eine ganz feste Tektonik 
mit Rücksicht auf das, ın bezug auf was sie „offen“ ıst, mangelt. 
Die offene Form reagiert auf die Bedingungsresultante a mit A, auf 
die Bedingungsresultante b mit B; sıe tut das (im Rahmen ihres 
„Offenseins“) stets und beliebig oft hintereinander, und auch in 
umgekehrter Reihenfolge. Die „geschlossene“ Form reagiert auch 
auf a mit A, auf b mit B; aber wenn A geleistet war, reagiert 
sie nun eben nur auf b (mit B); bleibt die Bedingungsresultante b 
aus — so reagiert sie auf irgendeine andere Bedingungsresultante 
gar nicht. Von außen gesetzte Verkümmerungen bestimmter 
Bildungen dürfen hier natürlich nicht als echtes Ausbleiben ge- 
deutet werden. 


Die Phylogenese der Leistungen des zentralen 


Nervensystems. 
Von Hermann Jordan, Utrecht. 


Die Aufgabe des Zentralnervensystems ist die Verteilung der 
Erregung auf die Erfolgsorgane. Die Gesetze, welche diese Ver- 
teilung beherrschen, sind bei den verschiedenen Tiergruppen sehr 
verschieden. Sie hängen ab vom Organisationstypus und der Um- 
welt der Tiere. In nichts äußert sich die Gesamtheit der Organi- 
sation auf so deutliche Weise als in den Leistungen des Zentral- 
nervensystems. 

Das Zentralnervensystem ist bei dieser seiner Arbeit nicht 
autonom. Die Verteilung der Erregung hängt nicht nur ab vom 
Bau und den spezifischen Arbeitsgesetzen des Zentralorgans, sondern 
auch von folgenden Umständen: 1. Von den äußeren Sinnesorganen, 
2. vom Zustande der Erfolgsorgane (zumal der Muskeln), 3. von 
der Wechselwirkung zwischen niederen und höheren Zentren. Ich 
habe mir für diesen Aufsatz vorgenommen vornehmlich über die 
Bedeutung des Zustandes der Erfolgsorgane zu sprechen. Die Be- 
deutung der übergeordneten Zentra beschäftigt uns nur in zweiter 
Linie und dann noch größtenteils deshalb, weil wir aus den Leistungen 
dieser übergeordneten Zentren manches ableiten können, dessen wir 
für das angedeutete Hauptproblem bedürfen. . 

Wir können nach ihrem physiologischen Verhalten die Metazoen 
in zwei Gruppen einteilen: eine niedrige, zu denen vornehmlich 









ER a Gy a u na Ka a A a a A 
Er, ” ‘ 8 e F - 


H. Jordan, Die Phylogenese der Leistungen des zentralen Nervensystems. 465 


die Coelenteraten, Plattwürmer, Echinodermen, Schnecken, Muscheln 
und Aseidien gehören, neben einer höheren, zu der ıch die Anneliden, 
Arthropoden und Wirbeltiere rechne. 


I. Die Wirbeltiere. 


Als Vertreter der „höheren“ Gruppe besprechen wir zuerst die 
Wirbeltiere. Die Invertebraten dieser Gruppe kommen später an 
die Reihe. 

Der Bewegungsapparat der Wirbeltiere zeichnet sich aus durch 
den festen Antagonismus, in welchem die einzelnen Muskeln und 
Muskelgruppen zueinander stehen. Die Bewegung der Antagonisten- 
paare wird geregelt durch das ganz besonders für diesen Antagonis- 
mus eingerichtete Nervensystem. Dies gilt sowohl für feste Reflexe, 
die uns hier ihrer einförmigen Phylogenese wegen nicht interessieren, 
als für diejenigen Fälle, in denen sich die Muskelerregung zu 
richten hat nach dem Zustande bestimmter Muskelgruppen. Dieser 
Fall tritt z. B. ein bei rhythmischen (etwa lokomotorischen) Be- 
wegungen, bei denen die Erregung stets zu denjenigen Muskel- 
gruppen gelangen muß, die gedehnt und daher an der Reihe sind, 
sich zu verkürzen, während gleichzeitig die Erregung, der Tonus 
in den Antagonisten vernichtet werden muß. Hierbei wiederum 
sind es nicht die präformierten zentralen Steuerungen des Erregungs- 
ablaufes die uns beschäftigen sollen, sondern der Einfluß, den die 
in Frage kommenden Muskeln selbst durch ihren Zustand auf diese 
Steuerung ausüben, mit Hilfe des Muskelsinnes, d. h. also von proprio- 
zeptiven Reflexen. 

Der Besitz eines außerordentlich feinen Muskelsinnes ist eines 
der Hauptcharakteristika der Wirbeltierorganisation. Über die Art, 
- wie der Muskelsinn die Bewegung regelt, steuert. sind wır durch 
Sherrington und Magnus unterrichtet). 

Von den zahlreichen Reflexen, von denen jeder einzelne den 
erwarteten Erfolg zu gewährleisten ımstande ıst, geben wir hier 
einige wenige Beispiele. 

1. Der nervöse Impuls trifft stets die Muskeln, die sich ın ge- 
dehntem Zustande befinden und demzufolge an der Reihe sind sich 
zu verkürzen. Das gilt für zweierlei Erregungen, nämlich für solche 
Erregung, die durch einen willkürlichen Reiz auf der Haut des 
Tieres hervorgerufen wırd (Magnus), des weiteren für solche, deren 
Entstehung Reizen zu danken ist, die in antagonistischen (oder ge- 
kreuzten) Muskeln „gesetzt“ werden und zwar durch ihre Ver- 


1) Sherrington, The Integrative Action of the Nervous System, London 1906. 
On Plastie Tonus and Proprioceptive Reflexes (uart. Journ. exper. Physiol. London 
Vol. 2. 1909. p. 109; Flexion-reflex of the Limb, Crossed Extension Reflex of the 
Limb, and Reflex Stepping and Standing. Journ. Physiol. London Vol. 40 p. 28. 
1910. — Magnus, R., Zur Regelung der Bewegung durch das Zentralnervensystem. 
1—4 Arch. ges. Physiol. Bd. 130. 1909, p. 219, p. 253; Bd. 134. 1910. p. 545, 584 







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Kor 


464 HM. Jordan, Die Phylogenese der Leistungen des zentralen Nervensystems. 


kürzung; dieselbe Verkürzung, durch welche jener Dehnungszustand 


des in Frage stehenden Muskels hervorgerufen wurde (Sherrington). 
Wir wollen uns auf den ersten Fall, den Magnus mitteilt, be- 
schränken. 


Magnus arbeitet mit dem Schwanze der Rückenmarkskatze. Er 
faßt 1. ec. Bd. 130 S. 267 seine Resultate wie folgt zusammen: „Am 
Schwanze der Rückenmarkskatze läßt sich zeigen, daß bei einer 
mittleren Lage, bei welcher das Glied weder an seiner Wurzel noch 
in seinem weiteren Verlauf abgebogen oder gekrümmt ist, ganz 
regellose Bewegungen auftreten, ohne daß dem Reizort ein ein- 
deutig bestimmender Einfluß ak Sowie aber der Schwanz 
nach irgendeiner Seite hin abgebogen wird, so tritt an Stelle dieser 
Regellosigkeit ein einfaches Gesetz: Der Schwanz schlägt immer 
nach der gedehnten Seite.“ S. 268 „Die Versuche lassen keine 
andere Deutung zu, als daß durch die veränderte Lage des Schwanzes 
eine veränderte Schaltung in den zugehörigen motorischen Zentren 
des Rückenmarks bewirkt wird. Reizt man z. B. die Schwanzspitze, 
so kann die durch die sensiblen Bahnen ins Rückenmark ein- 
strömende Erregung die verschiedensten Bahnen einschlagen und tut 
dies auch tatsächlich bei Mittelstellung des Schwanzes. Sowie dieser 
letztere aber nach einer Seite gekrümmt wird, so erfolgt eine 
Schaltung, welche die Erregung zwingt, nunmehr von den ver- 
schiedenen möglichen Bahnen nur eine einzige einzuschlagen. Die 
Erregung strömt unter diesen Umständen immer zu den Zentren 
der Muskeln, welche am stärksten gedehnt sind.“ 

In seiner Mitteilung Nr. 3 (Bd. 134, 1910, S. 545) untersucht 
Magnus die Mechanik u Schaltung‘, 

Keinerlei Schaltung ist mehr nachzuweisen, sobald die hinteren 
(dorsalen) Wurzeln der entsprechenden Rückenmarkssegmente durch- 
schnitten sind. Dagegen bleibt sie erhalten, wenn (bei intakten 
dorsalen Wurzeln) die Haut- oder Gelenksensibilität vernichtet ist 
(Bein des Rückenmarkhundes S. 572). Die Schaltung wird also aus- 
gelöst durch den afferenten Einfluß der Muskeln selbst, d. h. 
durch den Muskelsinn. Der Einfluß der Lage und Stellung der 
Glieder auf die Erregbarkeitsverteilung ım Zentralorgan ist ein 
dauernder (tonischer) (S. 583), während die Auslösung der Be- 
wegung des Agonisten durch die vorhergehende Bewegung des 
Antagonisten zwar gleichfalls auf einen Muskelsinnesreflex zurück- 
zuführen ist, aber sich nur zu bestimmten Augenblicken geltend 
macht (Sherrington) 2), 





2) Es sei nochmals darauf hingewiesen, daß wir nur einzelne Reflexe hier be- 
sprechen aus einer ‘ganzen Reihe von Einrichtungen, welche die Regelmäßigkeit des 
Geschehens etwa bei der Lokomotion sicherstellen. Magnus (1910, S. 579) sagt: 
„Sherrington (Journ. Physiol. London Vol. 40 p. 28 1910) ... ist zu dem 
Schlusse gelangt, daß die Schaltung ... nur als ein Hilfsmoment in Betracht 
kommen kann, und daß reine zentrale Vorgänge in Verbindung mit gleichseitigen 
und gekreuzten propriozeptiven Reflexen die alternierenden Gehbewegungen bedingen.“ 





NÜRte holt ip, an ga Be DB ET EA 2 SEE ae HR ZU 
HM. Jordan, Die Phylogenese der Leistungen des zentralen Nervensystems. 465 


2. Reflexe die den Tonus beeinflussen (Sherrington, 
On Plastie Tonus ete. 1. e.). Durch Muskelsinnesreflexe kann auch 
der Tonus in einer Muskelgruppe vernichtet werden. Ein solcher Re- 
flex wird ausgelöst durch den Zug, der auf die betreffenden tonischen 
Muskeln selbst ausgeübt wird, wobei dieser Muskel zugleich 
Empfangs- und Erfolgsorgan des Reflexes ist. Der Erfolg dieser 
Reflexerregung ist eine unmittelbare Beseitigung des tonischen Wider- 
standes (Streckmuskeln der Säugetierextremitäten). 

Aus diesen Ergebnissen läßt sich folgendes Schema ableiten: 
An sich besteht das Rückenmark aus zahlreichen Bahnen, die der 
Erregung offenstehen. (Versuch von Magnus mit dem ausgestreckten 
Katzenschwanz: Die Erregung erreicht die Muskeln nicht auf be- 
‘stimmten Bahnen.) 
| Jede Bahn jedoch ist mit einer „Weiche“ versehen. Zahlreiche 
Einrichtungen sorgen dafür, daß durch entsprechende Stellung, der 
Erregung der richtige Weg (zum gestreckten Muskel im Versuche 
von Magnus) gewiesen wird; während gleichzeitig der Zugang zu 
anderen Bahnen versperrt wird. Dies führt nicht nur zur Be- 
schränkung der Wirkung auf bestimmte Muskelgruppen, sondern 
zur Abblendung oder Vernichtung einer Erregung, die zuvor bestand 
(Tonusvernichtung Sherrington’s). Das Stellen der Weichen wird 
unter anderem erzielt durch afferente Einflüsse, die vom Muskel- 
sinne ausgehen. 

11. Niedere Tiere. 

Ganz anders liegen die Dinge bei unserer niedrigsten Tiergruppe. 
‚Hier finden wir an Stelle des Rückenmarkes der Vertebraten, d.h. 
als niedrigstes nervöses Zentralorgan ein Netz von Ganglienzellen 
und Nervenfasern, das mıt den Hautsinnesorganen und den Muskeln 
in Verbindung steht. Auch solche Netze haben die Aufgabe die 
Erregung auf die Erfolgsorgane zu verteilen. Allein die Verteilung 
geschieht auf Grund ganz anderer Gesetze, als bei den Wirbeltieren, 
Die Erregung die von den Hautsinnesorganen kommend ın dieses 
Netz tritt, verteilt sich ın ıhm zunächst nach allen Seiten völlig 
‘gleichmäßig; sie wird hierbei lediglich beschränkt durch das Gesetz 
vom „Dekrement“. Das bedeutet, daß je weiter entfernt vom Orte 
der Reizung, desto geringer deren Wirkung ist, soweit man sie durch 
‘ die Muskelbewegung messen kann. Das bekannteste Beispiel für 
die Gültigkeit dieses Gesetzes bei einer biologisch wichtigen Reaktion 
ist der Versuch von Romanes. 

Wenn man eine Meduse am Schirmrande reizt, so neigt sich 
das Manubrium dem Reizorte zu. Dies wırd erreicht durch eine Ver- 
kürzung derjenigen Längsmuskeln des Manubrium, die dem Reiz- 
orte zugekehrt, auf dem kürzesten Wege die Erregung durch die 
subepithelialen Nervennetze erhalten. Wenn der Reiz, der diesen 
Reflex. auslöst, die Nahrung ist, welche durch die Randtentakeln ge- 

Band 39, 21 





466 HH. Jordan, Die Phylogenese der Leistungen des zentralen Nervensystems. 


fangen wurde, dann ıst diese Bewegung des Mundes nach dem Reiz- 
orte zu ohne weiteres in seiner Bedeutung verständlich. 

In solchen Nervennetzen ist niehts von jenen „Weichen“ zu 
finden, die im Rückenmark der Wirbeltiere „gestellt“ oder „blockiert“ 
werden können. Müssen bei manchen Vertretern unserer Gruppe 
bei bestimmten Reizen ganz bestimmte Muskeln sich bewegen, trotz- 
dem ihre Entfernung vom Reizorte größer ıst als bei anderen, dann 
muß die anatomische Verbindung dieser Muskeln mit den reiz- 
aufnehmenden Zellen besonders geartet sein, oder die Reizschwelle 
dieser Muskeln muß besonders niedrig sein. Aber dann trıtt auch 
bei jeder entsprechenden Reizung stets mit Notwendigkeit nur die 
eine Reaktion auf, von einer verstellbaren Weiche ıst keine Rede°). 
Weder Muskelsinn, noch propriozeptive Reflexe hat man bisher beı 
Vertretern unserer Gruppe nachweisen können: In einem Leitungs- 
system ohne Weichen ist kein Platz für Weichensteller. Hierdurch 
aber ist echter Antagonismus bestimmter Muskelgruppen aus- 
geschlossen. Nur selten finden wir bei den ın Frage stehenden 
Tieren überhaupt eine Anordnung der Muskeln bei der Muskelpaare 
rhythmisch alternierend gegeneinander arbeiten. Und wo dies doch 
der Fall ist, da untersteht dieses Zusammenarbeiten nicht den Ge- 
setzen des echten Antagonismus, d.h. dann regelt der Agonist nicht 
auf dem Wege der Reflexerregung den Zustand ‘und die Arbeit des 
Antagonisten. Meist fehlt aber anatomisch schon jegliche Möglıch- 
keit eines Antagonismus, es fehlen in der Regel Hebelgliedmassen 
und häufig arbeitet eine Muskelgruppe gegen rein elastischen Wider- 
stand (Schirmgallerte der Medusen, Schloßband der Muscheln). 

Wie können nun bei solchen Tieren überhaupt rhythmische 
Bewegungen zustande kommen? Am Arme des Schlangensternes 
Ophioglypha lacertosa, also einem Objekte mit äußerlich antagoni- 
stischer Anordnung der Muskeln, und scheinbar großer Ähnlichkeit 
mit dem Schwanze der Katze*) findet v. Uexküll sein bekanntes 
Gesetz: „Es fließt die Erregung immer zu den verlängerten Muskeln“ °). 
v. Uexküll will hiermit folgendes sagen: Die Verteilung der Er- 
regung in den Nervennetzen (das radiäre Nervensystem wird von 
ihm für ein „Nervennetz* angesehen) geschieht nach Maßgabe 
des Zustandes der Leitungsendpunkte. Er vergleicht dieses 
nervöse Zentralorgan mit einem Leitungssystem rein physikalischer 
Energieformen, für die ja das gleiche Gesetz gilt: Vom Orte der 
größten Wärme erfolgt ein Ausgleichstrom nach dem Orte der ge- 
ringsten Wärme. Dem gedehnten Muskel entspricht ın den zuge- 

3) Jordan, Zeitschr. allg. Physiol. Bd. 8. 1908. S. 22. ‘ 

4). Magnus wählte den Schwanz der Katze, gerade wegen dieser Ähnlichkeit 
mit dem Objekte v. Uexkülls. 

5) v. VUexküll, J. Zeitschr. Biol. Bd. 46. S. 1 (auf S. 25); siehe auch Erg. 
Physiol. Jahrg. 3 Abt. 2. 1904. S. 1. 









H. Jordan, Die Phylogenese der Leistungen des zentralen Nervensystems. 46\ 


hörigen nervösen Elementen ein Erregungsminimum; darum muß 
die Erregung dem gedehnten Muskel zufließen. Wir wollen die 
bekannten Versuche v. Uexküll’s hier kurz wiedergeben. Eın 
Schlangenstern, bis auf einen, aller Arme beraubt, wird auf einer 
Korkplatte befestigt. Der Ringnerv ist gegenüber der Einmündungs- 
stelle des Radiärnerven des intakten Armes durchschnitten. Der 
Ringnerv wird gereizt. Wenn nun das Präparat horizontal liegt, 
so daß der Arm in radiärer Richtung ausgestreckt ıst, dann schlägt 
der Arm stets nach der Seite, wo v. Uexküll den Ringnerven mit 
den Platinelektroden reizt (Gesetz vom „Dekrement“). Wird das 
Präparat dahingegen vertikal aufgehängt, so daß der Arm gekrümmt 
nach unten hängt, so schlägt — auf welcher von den beiden Seiten 
des Armes auch immer der Ringnery gereizt wird — der Arm stets 
nach oben. 

Die Übereinstimmung dieser Resultate mit denjenigen von 
Magnus ist deutlich. Trotzdem kommen beide Forscher zu den 
oben angedeuteten grundsätzlich verschiedenen Erklärungen dieser 
Erscheinungen. Die Meinung, als handle es sich beim Schlangen- 
stern nicht um eine reflektorische Regelung der Erregungsverteilung, 
wie dies bei der Katze der Fall ist, ıst leider bei diesen Tieren 
nicht einwandfrei zu beweisen; denn bei Ophiuriden kann man die 
afferenten Bahnen nicht getrennt von den efferenten durchschneiden. 
Für den Beweis, daß die Erregungsverteilung nun ın der Tat nach 
Maßgabe des Zustandes der Leitungsendpunkte bei unseren niederen 
Tieren stattfindet, eignen sich am besten die Schnecken, über deren 
Nervensystem ich seit dem Jahre 1901 eine Reihe von Mitteilungen 
veröffentlicht habe®). Als solche Leitungsendpunkte treten hier 
nämlich, neben den Muskeln, die Zentralganglien auf, die man ex- . 
perimentell beeinflussen kann, ohne zugleich die Bedingungen für 
mögliche regulierende Reflexe zu schaffen, wie dies bei Beeinflussungen, 
die sich auf die Muskulatur beschränken (z. B. in v. Uexküll’s Ver- 
suchen) der Fall ist. 

Die Versuchsergebnisse, auf die sich meine Deduktionen stützen, 
sind verschiedentlich mitgeteilt worden und sollen daher hier nur 
kurz wiederholt werden. 

Das Cerebralganglion beherrscht, reguliert die Bewegung und 
zwar dadurch, daß es dauernd die Erregbarkeit hemmt. Entfernung 
des Cerebralganglions hat zur Folge ausgesprochene Erniedrigung 
der Reizschwelle und bei Aplysıa dauernde lokomotorische Be- 
er (Schwimmbewegungen mit den Parapodien) die das Tier 


6) Jordan, Zeitschr. Biol. Bd. 41, 1901. S. 196 (Aplysia). Arch. ges. Physiol, 
Bd. 106. 1905. 8.189. Bd. 110. 1905. 8. 533 ee pomatia); Zeitschr. allg. Physiol. 
Bd. 7. 1907. S.85 (Ciona intestinalis); Zool. Tahrb, Abt. allg. Zool. Physiol. Bd. 34 
1914. S. 365; Bd. 36. 1916. S. 109 (Holothurien); Erg. Physiol. Jahrg. 16. 1918. 
S. 87 (Aplysia, Helix) ete. 


.. 468  H. Jordan, Die Phylogenese der Leistungen des zentralen Nervensystems. 





wochenlang, bis zu seinem Tode, nicht imstande ist zu inhibieren. 
Einseitige Durchschneidung des Üerebropedalkonnektifs hat bei - 
Aplysia Kreisbewegungen nach der’ normalen Seite hin zur Folge: 
die enthirnte Seite kriecht, wenn die normale Seite in Ruhe oder 
doch in einem geringeren Bewegungszustande verkehrt. 


Auch die Schneckenmuskeln haben die Fähigkeit durch dauernde 
relative Verkürzung dem Tiere die nötige Fertigkeit zu verleihen 
(Turgor). Wegen des Fehlens von jeglichem vorbestimmten Anta- 
gonismus’) und jeglicher antagonistischer Innervierung, muß dieser. 
„Tonus“ von ganz anderer Beschaffenheit sein als derjenige, den 
wir beim Skelettmuskel des Wirbeltieres kennen lernten. Wenn 
man diesen tonischen Muskel dehnt (unter Ausschaltung tonuslösender 
Reflexe), so verhält er sich wie ein elastisches Band: Eine gewaltige 
Spannungszunahme behindert mehr und mehr die Arbeit des Anta- 
gonisten. Solch ein Tonus muß durch Nerveneinfluß aufgehoben 
werden. Bei Schnecken (und anderen Angehörigen unserer Gruppe) 
finden wir eine Dauerverkürzung, in welcher der Muskel gewalt- 
samer Dehnung nicht den Widerstand elastischer, sondern visköser 
Körper entgegensetzt. Gleich einer plastischen Masse lassen sich 
diese Muskeln 'ohne Spannungszunahme dehnen. Es versteht sich 
von selbst, daß diese Eigenschaft nicht in den eigentlichen kon- 
traktilen Bestandteilen der Muskelfaser zu suchen ist. Denn wenn 
diese auf Grund von Erregung tetanisch verkürzt sind, dann ist ihr 
Widerstand gegen Dehnung elastisch, - 


) 


Wahrscheinlich leisten besondere Bestandteile der Muskelfasern 
die „Tonusfunktion bei den Holothurien aber besondere muskel- 
ähnliche Fasern die (fast) nicht kontraktil sind. Auch auf solche 
„Lonusmuskeln“ (oder. Tonusbestandteile von Muskeln) übt das 
Nervensystem einen Einfluß aus, jedoch im Gegensatze zu kontraktilen 
Elementen nicht auf die Länge, sondern auf den Viskositätsgrad. 
Diesen Einfluß beobachten wir durch Untersuchung der Dehnungs- 
kurve (Zeit-Längenkurve) des belasteten ruhenden Muskels. Der 
Grad der Steilheit dieser Kurve ist der Ausdruck für die Viskosität. — 
Bei den Schnecken sind die Pedalganglien die Beherrscher, die 
Regulatoren des viskosoiden Tonus. Sind sie vorhanden, so üben 
sie dauernd einen hemmenden Einfluß auf den Viskositätsgrad 
aus. Entfernt man sie, so nimmt der Widerstand gegen passive 
Dehnung zu. Auf diese Weise sorgen die Ganglien dafür, daß, 
wenn der Druck des Blutes, erzeugt etwa durch Verkürzung einer 
Muskelgruppe, die anderen Muskeln zwingt, nachzugeben, sich zu 
dehnen, dies ohne großen Widerstand geschehen kann, obwohl der 
an sich gebotene Widerstand (im Gegensatze zum Wirbeltiermuskel) 


7) Gänzlich unbestimmte Muskelpartien müssen dem Drucke des Blutes nach- 
geben, den irgendeine andere Muskelpartie durch ihre Verkürzung erzeugt! 









N Di 
N 0 MN TA DA 
N MRYe, ’ 1a 


H. Jordan, Die Phylogenese der Leistungen des zentralen Nervensystems. 469 


niemals aufgehoben wird. Die Wirkung der Pedalganglıen ist 
dauernd und nicht gelegentlich, reflektorisch °). | 

Nun gilt es für unsere Zwecke den aktiven Zustand der Leitungs- 
endpunkte, nämlich des Zerebralganglions und der Pedalganglien 
irgendwie quantitativ zu beeinflussen und die Wirkung dieser Be- 
einflussung auf den Erregungsablauf festzustellen. Wir beschränken 
uns zunächst auf die Ganglien als Leitungsendpunkte, weil es bei 
ihnen ausgeschlossen ıst, daß wir die Bedingungen eines regulierenden 
Reflexes verwirklichen, wie dies an sich stets möglich ist, wenn 
wir die Muskulatur als Leitungsendpunkt wählen. Ganglien kann 
man erfahrungsgemäß am besten durch chemische Mittel in der 
von uns gewünschten Weise beeinflussen. Durch Auflegen von 
einem Kochsalzkristall oder Bepinselung mit Kochsalzlösung kann 
man solche Zentren ın Erregungszustand versetzen, während vor- 
sichtige Bepinselung mit schwacher Kokainlösung dıe umgekehrte 
Wirkung erzielt (Verminderung des „aktiven Zustandes“). 

Wir erhalten folgende Ergebnisse: Verminderung des aktiven 
Zustandes (Kokain) bedeutet Steigerung der normalerweise von den 
Ganglien ausgeübten Hemmung; Steigerung des aktiven Zustandes 
(durch Kochsalz) bedeutet Verminderung der normalerweise von 
den Ganglien ausgeübten Hemmung. Also: 


Kochsalz auf das G. cerebrale .. . . die Erregbarkeit nimmt zu, 
Kokain auf das G. cerebrale ... . . die Erregbarkeit nımmt ab. 
Kochsalz. auf das G. pedale ... . der viskosoide Muskelwiderstand 
nımmt zu. 
Kokain auf das G. pedale .... .. der Widerstand nımmt ab?). 


Wir haben also auch hier den Zustand in Leitungsendpunkten 
verändert und dadurch eine Änderung erzielt in der Hemmung durch 
die Ganglien. Diese Änderung ıst nicht durch interferierende Re- 


flexe — wie ın den Versuchen von Sherrington und Magnus — 
zu erklären: Die Ganglien können — ım Gegensatz zum Säugetier- 


muskel — nicht der Ort einer Reflexerregung (eines Reflexempfanges) 
sein. Sie sind vielmehr Hemmungszentra. Allein sie hemmen nicht 
durch Impuls, nicht durch zentrifugale Einwirkung auf den Reflex- 
bogen, von dem sie ja selbst kein Bestandteil sind. Dies konnte 
durch verschiedene Versuche mit aller Sicherheit bewiesen werden!") 


8) Doch glaube ich, daß, wenn eine Schnecke oder Holothurie kriecht, der 


Viskositätsgrad der Muskeln allgemein noch weitergehend herabgesetzt wird, als dies 


an sich der Fall ist! 


9) Die Wirkung der genannten Stoffe auf die Ganglien ist durchaus spezifisch. ' 


Dies beweist, daß z. B. die erhöhte Reizbarkeit nach Bepinselung des G. cerebrale 
mit Kochsalz keine direkte Reizwirkung (Summierung) ıst. Eine solche müßte sich 
noch viel mehr geltend machen bei Behandlung der Gg. pedalia mit Kochsalz; das 
ist nicht der Fall. 

10) Reizt man echte Hemmungszentra, so kann man die Hemmung demon- 
strieren, siehe weiter unten bezüglich der Crustaceen. 








BB ae N A u ya a a N nad 
3 \ Da ’ R 


470 H. Jordan, Die Phylogenese der Leistungen des zentralen Nervensystems. 


uud geht ja schon mit Deutlichkeit daraus hervor, daß durch Kokain 
die Hemmung verstärkt, durch Kochsalz vermindert wird. 
Hemmung ohne Impuls, Hemmung, die durch teilweise Lähmung 
vergrößert, durch dauernde Erregung vermindert wird, kann nur 
durch Erregungsvernichtung zustande kommen. Die Ganglien stehen 
mit dem in sich geschlossenen ‚Reflexbogen als nebengeschaltete 
Leitungsenden, durch besondere Bahnen und Connective in Ver- 
bindung. Sie können also nur denjenigen Teil der Erregung ver- 
nichten, der, in sie gelangend, dem eigentlichen Refiexbogen ent- 
zogen wird. Je größer dieser Teil, desto größer die Hemmung. 
Die Hemmung hängt also von der Verteilung der Erregung auf 
Reflexbogen und Zentra ab. Die Hemmung findet statt nach Maß- 
gabe des aktiven Zustandes der Zentra, d.h. der Leitungsendpunkte; 
also findet auch die Verteilung der Erregung in den 
Zentralorganen unserer Tiere statt nach Maßgabe des 
aktiven Zustandes der Leitungsendpunkte. Und das nahmen 
wir uns vor zu beweisen. Bei Helix (und Ciona inteslinalis) können 
wir diesen für die Ganglien gewonnenen Satz auch für die Muskeln, 
und zwar für den viskosoiden Muskeltonus, beweisen. Wir müssen 
annehmen, daß der Dehnungsgrad der Muskeln gleichbedeutend ist 
mit geringem „aktiven Zustande“ der zugehörigen Zentra in den 
Nervennetzen. Daß dies zulässig ist, ergibt sich aus dem Umstande, 
daß ın manchen Versuchen das nämliche Resultat durch Muskel- 
dehnung oder Kokainvergiftung der Muskeln erzielt werden kann. 
Die Verminderung des viskosoiden Widerstandes durch die Pedal- 
ganglien können wir durch solche Veränderung des aktiven Zu- 
standes in der Peripherie in ähnlicher Weise beeinflussen, wie wir 
dies bei den Ganglien taten. Übermäßige Dehnung der Muskeln 
vermindert die Tonushemmung zunächst, um späterhin zu bewirken, 
daß der Muskel weiterer Dehnung sogar mehr Widerstand bietet, 
als ein ganglienloser Muskel unter gleichen Bedingungen.. Tonus- 
erzeugende Erregung strömt also auch hier nach demjenigen Leitungs- 
endpunkte, in welchem wir den aktiven Zustand künstlich herab- 
‚setzten. Daß wir durch unsere Dehnung keinerlei Muskelsinnes- 
reflex erzeugt haben, konnte hier (im Gegensatz zum Schlangenstern) 
wie folgt gezeigt werden. Ein Helixfuß wird durch einen Längs- 
schnitt in zwei Hälften zerlegt, die nur mehr durch die Zentral- 
ganglien miteinander in Verbindung stehen. Starke Dehnung der 
einen Hälfte verursacht in der anderen nunmehr keine Zunahme, 
sondern eine Abnahme des tonischen Widerstandes. Das würde für 
die Auffassung als Reflex folgenden Widerspruch bedeuten: gleicher 
Reiz in beiden Dehnungsversuchen erzielen entgegengesetzten Erfolg. 
Nach unserm Gesetze der Erregungsverteilung hingegen erklärt sich 
jenes gegensätzliche Verhalten ohne weiteres. Für die bewegungs- 
auslösende Erregung konnte ich aus dargetanen Gründen unseren 
Satz noch nicht beweisen. | 








a Sn es dar KEN Br DR KR a re aaa A ah LINSE Saar Brad Hui Dr ap 7:00 ac Wire EA FRE Be 
DE a Rt . Is v 7 


H. Jordan, Die Phylogenese der Leistungen des zentralen Nervensystems. 471 


Zusammenfassend können wir sagen: Im Nervensystem unserer 
„niederen“ Tiere fehlen in der Tat individualisierte Bahnen, die 
durch bestimmte Weichen und weichenstellende Muskelsinnreflexe 
geöffnet und blockiert werden können. Die Erregung verteilt sich 
in diesen Systemen nach einfachen Gesetzen: An sich stehen ihr 
alle Wege offen und nur das Gesetz vom Dekrement hindert die 
Ailgemeinausbreitung. Speziellen Anforderungen wird diese Art 
der Erregungsverteilung gerecht durch das Gesetz, daß der Zustand 
der Leitungsendpunkte für diese Verteilung maßgebend ist. So er- 
halten wir ohne weiteres eine Anpassung dieser Verteilung an die 
Bedürfnisse der Erfolgsorgane und verstehen es zugleich, daß die 
Zentralganglien als nebengeschaltete Leitungsendpunkte auftreten, 
die hemmend den Erfolgsorganen einen Teil der Erregung streitig 
machen. Ihr „aktiver Zustand“, von dem Verteilung und daher 
Regulierung abhängt, kann als physiologische Umschreibung der 
Spontaneität („Wille“) aufgefaßt werden. 

Die Erregung verhält sich wie eine beliebige leitbare Energie- 
form, d.h. sie verteilt sich entsprechend dem Energiegefälle. Dies 
ist natürlich kein Beweis dafür, daß das einfache Gesetz vom Ge- 
fälle für die beschriebene Erregungsverteilung verantwortlich ist. 
Wir wissen noch zu wenig über die Erregung, um über die Gesetze, 
die ihre Verteilung in den leitenden Systemen beherrschen, mehr 
als Hypothesen aufstellen zu können. 


Ill. Wirbellose. die zu unserer höheren Tiergruppe gehören 
(Arthropoden und Anneliden). 


Arthropoden und Anneliden besitzen Muskeln, die ın bestimmten 
antagonistischen Gruppen oder Paaren zusammenarbeiten. So kann 
stets dafür gesorgt werden, daß dem Agonisten der Antagonıst folgt, 
und daß während der Arbeit des Agonisten der Tonus im Anta- 
gonisten aufgehoben wird. In der Tat kommt bei den Bewegungs- 
muskeln beider Gruppen kein viskosoider, sondern ein elastischer 
Tonus vor, wie bei den Wirbeltieren. Auf alle Fälle muß solch 
ein elastischer Tonus durch einen besonderen hemmenden Impuls 
aufgehoben werden. Seine Überwindung ohne Zuhilfenahme hem- 
mender Einwirkung von Seiten des en ensystems bedeutete 
wachsenden Widerstand! 

Bei den Crustaceen (Astacus, Cancer pagurus) hat bislang 
noch kein Muskelsinnesreflex zur Regelung des Antagonismus ge- 
funden werden können. Wir können die Haupterscheinungen ohne 
Zuhilfenahme solcher Reflexe erklären. Auch eine Individualisierung 
der Bahnen hat hier noch nicht stattgefunden. 

Ch. Richet und andere Untersucher!!) fanden folgende Ge- 


11) Richet, Ch., Arch. Physiol. Paris 1879. Physiologie des muscles et des 
nerfs. Paris 1582, Luchsinger, Arch. ges. Physiol, Bd. 28, 1882, p. 60. Bieder- 


472 HH. Jordan, Die Phylogenese der Leistungen des zentralen Nervensystems, 


setze: Wenn ıman die Extremitäten von Krebsen mit „schwachen“ 
Strömen reizt, so erfolgt Streckung (Öffnung der Schere), während 
„starke“ Ströme Beugung (Scherenschluß) zur Folge haben. 

Schwache Ströme, welche die Streckmuskeln zur Verkürzung 
bringen, hemmen etwaigen Tonus in den Beugemuskeln. Starke 
Ströme hingegen vernichten den Tonus in den Streckmuskeln. 

Endlich konnte ich'!?) zeigen, daß die Regelung dieser Bewegung 
durch das Cerebralganglion sich den dargetanen Gesetzen anpaßt. 
Reizt man das Cerebralganglion, so erhält man durchaus den um- 
gekehrten Erfolg wie bei Reizung des Extremitätennerven (oder des 
Bauchmarkes). D.h. starke Reize rufen eine Verkürzung der Streck- 
muskeln hervor, während schwache die Bewegung der Beuge-(Schließ)- 
Muskeln verursachen. Hirnreizung und periphere Reizung können 
miteinander interferieren. D. h. wenn wir die Peripherie mit „starken“ 
Strömen dauernd reizen, dann können wir die Verkürzung der 
Beugemuskeln aufheben durch eine Reizung des G. cerebrale, und 
zwar ebenfalls mit starken Strömen. Durch diese Einrichtung kann 
das Hirnganglion die Peripherie beherrschen, wie aus folgenden Ver- 
suchen hervorgeht: Es ıst eine altbekannte Tatsache, daß ein Krebs, 
dem man (einseitig) ein Schlundkonnektif durchschnitten hat, Kreis- 
bewegungen nach der normalen Seite hin ausführt. Meine Erklärung 
hierfür ıst folgende: Jeder Schritt des Tieres beginnt mit einer 
Verkürzung der Beugemuskeln, hierdurch greifen die Beine (1—3) 
nach vorn. Fehlt nun dieser Bewegung der regulierend, inter- 
ferierende Impuls vom Oerebralganglion, dann wird sie übertrieben; 
die Beine der operierten Seite greifen zu weit nach vorn-innen und 
hierdurch entstehen die Kreisbewegungen. Daß die Erklärung richtig 
und die Erscheinung ein Ausdruck für das Steuervermögen des G. 
cerebrale ist, ergibt sich aus folgenden Versuchen, die ich bei 
Cancer pagurus ausführte: Auf einer Seite wird das Schlundkonnektif 
durchtrennt und der periphere Stumpf auf Platinelektroden gelegt, 
die durch die künstlich geschlossene Operationswunde herausragen. 
Man läßt das Tier sich erholen und wartet bis es spontan läuft 
(und zwar wie gesagt im Kreise). Nun verbindet man durch ein 
langes Stück Leitungsschnur die beiden Platinadrähte mit einem 
Induktionsapparat. Während das Tier spontan im Kreise läuft, 
setzt man das Induktorium in Bewegung: sofort nehmen die Beine 
(bei richtiger Stromstärke) die normale Haltung an und die Richtung 
des Ganges wird normal. Durch Abstufung der Reizstärke können 
wir nunmehr das Tier zwingen in jeder gewünschten Richtung zu 
gehen, wir können es steuern, wie es normalerweise durch das G. 
mann, W., Sitz.-Ber. math. nat. kl. Akad. Wiss. Wien Bd. 95, Abt. 3, 1887, 
p. 7; Bd. 97, Abt.3, 1889, p. 49. Piotrowski, G., Journ. Physiol. London T, 14. 
1893, p. 165. 

12) Jordan, H., Arch. ges. Physiol. Bd. 131, 1910, p. 317, 








Du ak TE RR Ze Zn ha 





H. Jordan, Die Phylogenese der Leistungen des zentralen Nervensystems. 4793 
cerebrale gesteuert wird. Ich glaube, daß dies das einzige Beispiel 
ist für den Ersatz einer Zentrenfunktion durch elektrische Reizung 
und gerade dadurch wird dasjenige bewiesen, was für die Beurteilung 
der Crustaceen als „phylogenetisches Stadium“ in der Entwicklungs- 
reihe, die uns beschäftigt, am wichtigsten ist: Die Beherrschung und 
Steuerung eines antagonistischen Muskelsystems ohne individualı- 
sierte Bahnen, daher ohne Weichen und weichenstellende Reflexe! 
Wir wissen nicht was in den Zentren des Bauchmarks die Folge 
von starker und schwacher Erregung hervorruft??). Die Abstufung 
der Erregung jedoch genügt um alles zu erklären, was bei der Orts- 
bewegung dieser Tiere, bei der Erregungsverteilung in ihren Zentren, 
einer Erklärung bedarf: sind nämlich die abgestuften Erregungen 
einmal gegeben, dann ist eine Verteilung auf besondere Nerven- 
bahnen '*) oder besondere Muskelgruppen nicht mehr notwendig. 
Die primitive Art der Erregungsverteilung wird ausgeglichen durch 
die besondere Art der Erregungsausnützung von Seiten der Muskeln. 


Der Regenwurm. 


Dies alles ist beim Regenwurm anders. Hier zum ersten Male 
trıtt uns der Muskelsinn als entscheidender Faktor bei der Er- 
regungsverteilung entgegen. Die antagonistischen Muskelgruppen 
sind Längs- und Ringmuskeln, die ın strengem Antagonismus zu- 
sammenarbeiten, und hierbei die bekannten Kriech- und Bohr- 
bewegungen dieser Tiere zustande bringen. 

Aus den bekannten Versuchen Friedländer’s'?) ergibt sich 
folgendes: zieht man an den Längsmuskeln, so hat dies, nicht wie 
bei den Schnecken etc. eine passive, sondern eine aktive Dehnung 
des Wurmes zur Folge: die Delmung der Längsmuskeln hat einen 
Reflex zur Folge, dessen Resultat eine Verkürzung der Ringmuskeln 
und eine Dehnung des. Tieres ist. Die Bedeutung dieses antagonı- 
stischen Reflexes für die Bewegung des Tieres haben Friedländer 
und Biedermann!) gezeigt. 

Neben diesem und anderen antagonistischen Reflexen, welche 
die Bewegung einer Muskelgruppe als Folge der Bewegung der 
Antagonisten bezwecken, beschreibt Biedermann einen Reflex, 
der gleichzeitig im Antagonisten den Tonus vernichtet. Unter be- 
sonderen Versuchsbedingungen nämlich erhält man durch Haut- 





13) Ich übergehe absichtlich die in der Literatur vorliegenden Erklärungs- 
versuche des Impulsrhythmus. — Der Verzicht auf Benützung individueller peripherer 
Bahnen macht Vergleichung mit analogem, jedoch rein zentralem Geschehen bei Verte- 
braten zunächst für uns unnötig. 

14) Man beachte, daß wir stets die ganzen Bahnen oder Ganglien reizen und 
je nach Abstufung des Reizes doch den differenzierten Erfolg erzielen. 

15) Friedländer, B., Biol. Zeniralbl. Bd. 8, 1888; Arch. ges. Physiol. Bd. 58, 
834,7 


16) Biedermann, W,, Arch. ges. Physiol. Bd. 102, 1904, p. 475, 


WRITER 








474 R. Demoll, Die Bedeutung der Elytren der Käfer für den Flug. 


reizung gleichzeitig Verkürzung der Längsmuskeln und Verschwinden 
eines deutlich vorhandenen go in.den Ringmuskeln. 

So einfach diese Erscheinungen beim Regenwurm auch sein 
mögen, sie setzen individualisierte Leitungsbahnen mit „Weichen“ 
voraus, dıe geöffnet und blockiert werden können. Einwirkungen 
der Zentren auf die Peripherie „en bloc“ sind hier nicht mehr 
möglich. Damit ist im Prinzip die Einrichtung gegeben, welche 
wir in viel größerer Kompliziertheit bei den Säugetieren‘ durch 
Sherrington und Magnus kennen gelernt haben. Ein System 
ist hierdurch für die höchsten Tiere angenommen worden, bei 
welchem höhere Differenzierung des Bewegungsapparates eine un- 
geheure Zunahme der Leitungsbahnen ım Zentralnervensystem 
fordert. So erklärt sich der Reichtum an Fasern, an Bahnen ın 
diesen Zentren, ein Reichtum, der seinerseits wieder die Basis wird 
für die feine Veen: der Leistungen dieses Systems, zumal 
auch der psychischen Leistungen. 


Die Bedeutung der Elytren der Käfer für den Flug. 
Von R. Demoll. 


In meiner Schrift „Über den Flug der Insekten Ad der Vögel* 
(Fischer 1918) bin ich hinsichtlich der Bedeutung der Elytren der 
Käfer zu folgendem Resultat gekommen (Seite 53): „Die Käfer werden 
demnach durch die Tätigkeit der Elytren lediglich gehoben; die 
Vorwärtsbewegung wird nur durch die Hinterflügel ermöglicht.“ 

Zu diesem Ergebnis wurde ich geführt durch die Beobachtung 

1. daß die Elytren Flugbewegungen ausführen, 

2. daß eine Verkürzung der Vorderflügel eine Zunahme der 
Fluggeschwindigkeit zur Folge hat, während andererseits 
eine Verkürzung der Hinterflügel zu einer schnellen Ver- 
minderung der horizontalen Fluggeschwindigkeit führt. 

In seiner ausführlichen Kritik über diese Arbeit hat Stellwaag 
betont, daß diese Auffassung nicht möglich sei, in der Ba 
weil die anatomischen Befunde eine Beielieing der Elytren beim 
Flug als Hebeorgane nicht möglich erscheinen lassen. Er schreibt 
hierüber in „Die Naturwissenschaften“ 1919, Heft 10, Seite 164: 
„Es sei gestattet hier nur auf die Frage der Bedeutung der Käfer- 
deckflügel einzugehen, da der Verfasser seine Ansicht von deren 
Wirksamkeit als echte Flügel noch an anderer Stelle betont hat. 
(Die Auffassung des Fliegens der Käfer — eine zoologische Irrlehre, 
ım Zool. Anzeiger 1918, S. 285.) Er geht hier noch weiter wie ın 
seinem Buche. »Die Elytren beteiligen sich am Fluge in derselben 
Weise wie die häutigen Flügel.- Mit dieser Ansicht stimmt er nur 
mit einem einzigen der vielen Autoren überein, die über diese 





R. Demoll, Die Bedeutung der Elytren der Käfer für den Flug. 45 
Frage nachgedacht haben, nämlich mit Chabrier aus dem Jahre 1821, 
dem die anatomischen Verhältnisse des Käferthorax noch nicht be- 
kannt waren. Aus dem Bau der Flügelachsel, der Größe und Lage 
der ansetzenden Muskeln, der schwächlichen Beschaffenheit des 
Mesothorax und dem mechanischen Verhalten der Deckflügel folgt 
jedoch, daß diese Ansicht nicht haltbar ist. Der Referent hat dies 
eingehend begründet (Zeitschrift für wissensch. Zoologie 1914, siehe 
auch Naturw. Wochenschrift 1914, S. 97): Ein wirksamer Flügel 
muß neben anderen Eigenschaften notwendigerweise einen steifen 
Vorderrand und eine nachgiebige Fläche besitzen, wenn er den Luft- 
widerstand wirksam ausnützen soll. Außerdem muß er energische 
und wirksame Schläge und ganz bestimmte Drehbewegungen aus- 
führen. Aber der Deckflügel stellt eine gleichmäßig dicke, un- 
elastische Platte vor, die nur geringe Ausschläge machen kann und 
vertikal beweglich ist. Die Analyse des Flugapparates und zahl- 
reiche verschiedenartige Versuche führen zu dem Ergebnis, daß die 
Elytren weder als wirksame Flügel noch etwa als Tragflächen oder 
Gewichtssteuer, sondern wohl nur als Stabilisierungsflächen auf- 
zufassen sind. Sie wirken durch ihre Fläche und die bei schneller 
Fortbewegung des Tieres sekundär erzeugte lebendige Kraft des 
Luftwiderstandes, die den Körper beim Flug aus der mehr vertikalen 
Lage in eine mehr horizontale Lage bringt.“ 

Ich habe nun trotz dieser Einwände von Stellwaag, deren 
Bedeutung mir schon zuvor bekannt war, da ich seine Arbeit vor 
Niederschrift meiner Untersuchungen gelesen hatte, mein Augen- 
merk nicht darauf gerichtet, ob die anatomischen Verhältnisse uns 
eine Wirksamkeit ohne weiteres verstehen lassen; ich habe weiter 
darauf verzichtet, in theoretische Betrachtungen mich zu verlieren, 
ob — wie Stellwaag meint —, ein wirksamer Flügel „notwendiger- 
weise einen steifen Vorderrand und eine nachgiebige Fläche be- 
sitzen muß“, sondern ich bin wieder, wie in meiner ersten Arbeit, 
direkt an das Experiment gegangen, um dieses entscheiden Zu 
lassen, ob zwingendere Beweise, als die, die ich bisher erbracht 
habe, die Bedeutung der Elytren nach der einen oder anderen 
Richtung hin außer Frage stellen. 

Die ausschlaggebenden, kaum noch Einwände zulassenden Be- 
obachtungen hätte übrigens Stellwaag leicht selbst bei seinen 
Experimenten machen können, wenn er bei seinen Versuchen mit 
Maikäfern die Männchen und Weibchen streng miteinander ver- 
glichen hätte. Er hatte den hier zu beobachtenden Differenzen 
ebensowenig Bedeutung zugemessen, wie ich selbst in meiner 
früheren Untersuchung. Er schreibt zwar zunächst, daß er mit 
männlichen und weiblichen Tieren gearbeitet hat, gibt aber dann 
bei Schilderung seiner Experimente nicht mehr an, ob es sich um 
Weibchen oder Männchen handelte, Auffallend schemt mir an 


476 R. Demoll, Die Bedeutung der Elytren der Käfer für den Flug. 


seinen Beobachtungen, daß er durchweg beı Elytrenverkürzung von 
einer Verminderung der Fluggeschwindigkeit. spricht, während ich 
stets das Gegenteil finden konnte. Ich habe auch in diesem Jahre 
wieder mehrere Männchen beobachtet, die auch nach vollständiger 
Entfernung der Elytren noch zu fliegen vermochten. Zunächst 
konnte ich durchweg feststellen, daß die Fluggeschwindigkeit bei 
diesen Tieren weit über die Norm hinausging. Es wurden 4 bis 5 
und selbst 6,5 m in der Sekunde erreicht, während das Normaltier 
bei 2m etwa bleibt. Ferner konnte ich nie den Eindruck gewinnen, 
daß die Käfer unbeholfener und schwankender fliegen, sondern im 
Gegenteil eher in geringerem Maße das Gaukelnde des Maikäfer- 
fluges zeigen, was eben durch die hohe Geschwindigkeit verursacht 
sein mag. 

Die neuen Beobachtungen, die mir die Bedeutung der Elytren 
definitiv klarzustellen scheinen, sınd folgende: 

1. Kleine Teile der Elytren Me der Hinterflügel ver- 
mögen sich physiologisch zu vertreten. Werden einem Käfer 
die El so weit gestutzt, daß er auch nach einigen Übungs- 
flügen noch erkennen läßt, daß er nahe an der Ge eines ch 
möglichen horizontalen Fluges angelangt ist, so wird ein solches 
Tier vollständig unfähig zu fliegen, dadurch, daß man ihm entweder 
noch die Hinterflügel weiter um ein kleines Stückchen kürzt, oder 
daß man von den Elytren die Spitze wegnimmt. Es zeigt sich also 
hier, daß eine Entfernung eines solch kleinen Teiles, etwa !/,o bis 
las a. Elytren, eine ee herberufulyen vermag, ‚Ner- 
kürzungen, die bei intakten Hinterflügeln vollständig belanglos sind 
für den Flug. 

Die 2. Versuchsreihe führe ich hier an, nicht deshalb, weil 
ich sie für sehr beweiskräftig halte, sondern deshalb, weil das 
Resultat ein verschiedenes ist und weil ich daher verhindern möchte, 
daß irgendeine gelegentliche Beobachtung als allgemein gültig an- 
gesehen und gedeutet würde. Ich arbeitete bei dieser Serie nur 
mit Weibehen. Diesen darf man die Elytren durchschnittlich nur 
bis zur Hälfte oder bis zu ?/, entfernen, um an die Grenze der 
Flugfähigkeit zu gelangen. 

Ich ging nun so vor, daß ich einem Tier die linke Elytre etwa 
um */, kürzte, die rechte dagegen etwa nur um !/,. Es zeigte sich 
nun in den ne meisten Fällen, daß solche Tiere sehr Schlacht 
oder überhaupt nicht mehr fliegen. Dies würde sowohl im Sinne 

tellwaags, als auch im Sinne meiner Auffassung verwertbar sein. 
Ich hatte aber doch unter den vielen Weibehen auch zwei be- 
obachten können, die gleich zu Anfang mit den sehr ungleich ge- 
stutzten Elytren noch recht gut zu fliegen vermochten. Wurde diesen 
Tieren dann die weniger gestutzte Elytre nun auf dasselbe Maß 
veduziert wie die kürzere, so daß beide gleich kurz waren, so war 











rl Ken kn RR Dia e DM Ta AH 7 1 2 LESE IE ara Dot Da DE 
R. Demoll, Die Bedeutung der Elytren der Käfer für den Flug. ATI 


ein Flug überhaupt nieht mehr möglich. Es zeigte sich also ın 
diesen beiden Fällen, daß der Flug noch ermöglicht wird, wenn nur 
die Summe der Flächen des rechten und linken Flügels die un- 
bedingt notwendige minimale Ausdehnung der Elytren erreicht, 
gleichgültig, ob die Flächenverteilung symmetrisch oder asymmetrisch 
ist. Würde es sich hier um ein Balanzeorgan handeln, so wäre zu 
erwarten, daß die gleich kurzen Elytren dem Fluge dienlicher sind. 
Die besonders schwerwiegenden Argumente nenne ich zuletzt. 

3. Ich habe in diesem Monat eine Reihe von Männchen be- 
obachtet, die ihrer Elytren beraubt, gleich beim ersten Flug tadel- 
los zu fliegen vermochten, wenn sie auch meist bei den ersten 
beiden Flügen auf 2 m, 2—3 dem an Höhe verloren. Einige von 
ihnen vermochten schon beim zweiten Flug nach oben zu fliegen 
und hießen in keiner Weise einen Unterschied gegenüber normalen 
Männchen erkennen. Eine solche Stabilität ohne Elytren 
muß die Wichtigkeit dieser Gebilde als Stabilisierungs- 
apparate recht fraglich erscheinen lassen. 

Man kann wohl sagen, daß es aul alle Fälle erstaunlich ist, 
daß die Tiere so schnell sich den ungewohnten Verhältnissen an- 
passen, denn ungewohnt ist die Situation nicht nur dadurch, daß 
die Hinterflügel schneller arbeiten müssen, um die Tätigkeit der 
Vorderflügel zu ersetzen, sondern auch dadurch, daß der Angriffs- 
punkt der hebenden Kraft nennenswert nach hinten rückt. Aus- 
schlaggebend für die ganze Frage scheint mir aber folgende Be- 
 obachtung zu sein. 

Je geringer das Gewicht des Tieres, desto weiter darf 
ohne Beeinträchtigung des Fluges eine Verkürzung der 
Elytren stattfinden. Daher kommt es, daß man nur bei Männ- 
chen hoffen darf, noch nach völliger Entfernung der Elytren eine 
Flugfähigkeit anzutreffen. Ich gebe hier eine Tabelle, die das Ge- 
wicht von 12 männlichen und 12 weiblichen Käfern wiedergibt, die 
. mir einer meiner Doktoranden zur Verfügung gestellt hat, der von 
ganz anderen Fragen ausgehend, sich für das Gewicht der Tiere 
interessierte. Er hat hierbei aus 200 Exemplaren außer Durch- 
schnittstieren auch möglichst große und möglichst kleine Männchen 
und Weibchen herausgenommen und man sieht, daß erst etwa die 
schwersten Männchen im Gewicht die leichtesten Weibchen erreichen. 
Dies erklärt uns, weshalb man nur unter den Männchen Tiere findet, 
die auch noch ohne Elytren zu fliegen vermögen. 


Melolontha mgr Melolontha mgr 
Männchen: 1. = 1081,02 Weibchen: 1. = 1505,2 
2. — 906,8 2. — 1482,8 
3, — 946,8 3. — 13576 
4. — 882,2 4. = 13492 
5. —= 8452 5. — 1254,0 


ATS A. Forel, Entgegnung. 


Melolontha mer Melolontha mgr 
Männchen: 6. = 854,8 Weibehen: 6, = 1354,2 
7.— 1,8952 1. 138.0 
8.9 142,2 2 
u 153,9 9. 10413 
302 —..:685;9 IR ITL 
hr ,029,2 11. =! "886,4 
22,0 ‚58058 12.2 500.0 


Ich hatte ferner bei einer Reihe von Weibchen die Elytren 
ganz allmählich verkürzt, um möglichst genau die Grenze fest- 
zustellen, bei der die Tiere noch zu fliegen vermögen. Und da hat 
sich nun stets gezeigt, daß eine Einordnung der Weibchen nach 
dem Gewicht vollständig sich deckte mit einer Einordnung nach 
den ihnen noch verbliebenen Elytrenstummeln. Je‘ schwerer das 
Weibchen, eine desto größere Fläche bedurfte es zum Fliegen. Bis- 
weilen glaubte ich Ausnahmen zu finden. Ich hatte einem Weib- 
chen die Elytren bis auf !/, gestutzt und zwar einem Weibchen, das 
mir schwerer zu sein schien als ein anderes, bei dem die Grenze 
bei einer Entfernung der Hälfte der Elytren lag; legte ich aber die 
Tiere auf die Wage, so zeigte sich jedesmal wieder, daß diese 
Proportionalität eine ganze strenge blieb. Hier muß jeder Versuch, 
die Elytren als Gleichgewichtsorgane zu deuten, scheitern; es sei 
denn, man wolle annehmen, daß das etwas schwerere Weibchen 
eine um ein entsprechendes größere Balanzestange nötig habe als 
das kleinere, und daß die noch leichteren Männchen infolge des 
geringeren Gewichts, im übrigen aber aus unerfindlichen Gründen 
dieses Balanzierapparates ganz entbehren könnten. 

Ich habe daher nach wie vor die Ansicht, daß es ın erster 
Linie geboten erscheint, die Anschauungen über die anatomischen 
Verhältnisse zu modifizieren. Denn, da mir das Experiment ein- 
deutig die Antwort gibt, daß die Elytren zum Heben dienen, so 
wird man versuchen müssen, die anatomischen Verhältnisse diesen 
Resultaten anzupassen und nicht umgekehrt. 


Entgegnung 
von Dr. A. Forel, 
vormals Professor in Zürich. 

Mit zwei Worten muß ich gegen die Art, wie Herr Dr. Henning 
(Biolog. Zentralbl. vom 30. April 1919, S. 192) meine Worte und 
Ansichten entstellt, protestieren, die Pflanzen oder gar die Atome 
besäßen ein Bewußtsein. Über die nachfolgenden Auseinander- 
setzungen, die Henning gegen mich, Dr. Brun und Semon’s 
Mneme anführt, ist es nicht der Mühe wert ein weiteres Wort zu 
verlieren, ebensowenig über die vorausgehenden, 








N Ba an a a ea ae a din Her N ra N BE Re 
OÖ. Renner, Experimentelle Studien über Variabilität ete. - 479 
Referate. 


N. Heribert-Nilsson, Experimentelle Studien über 
Variabilität, Spaltung, Artbildung und Evolution in der 
Gattung Salix. 


Lunds Universitets Arsskrift, 1918, N. F. Bd. 14 Nr. 28. Festschrift der Univer- 
sität Lund zu ihrem 250jährigen Bestehen. 145 Seiten, 65 Bilder im Text. 

Die Floristik wird im Lande Linnes, im (Gedenken an die glorreiche Zeit der 
schwedischen Führerschaft, noch heute so tatkräftig gepflegt wie sonst kaum irgendwo, 
und aus den Bedürfnissen des Sammlers sind die Versuche hervorgegangen, deren 
imponierende Ergebnisse der Verf. nach 12jähriger Arbeit vorlegt. Die große Arten- 
zahl in der Gattung Salix, die Variabilität der Linn&’schen Weidenarten und die 
Häufigkeit unzweifelhafter spontaner Bastardbildung sind für den Floristen eine 
(JQuelle der Freuden und des Kummers, des Kummers insofern, als es auch dem 
guten Kenner oft nicht gelingen will einem gefundenen Individuum mit einiger 
Sicherheit seinen Platz im System anzuweisen. Die Rolle der Bastardierung beim 
Zustandekommen dieser Vielförmigkeit experimentell zu studieren war das erste Ziel 
des Verf., und unter den Händen ist ihm aus der ursprünglich floristisch gerichteten 
Arbeit ein höchst bedeutsamer Beitrag zur allgemeinen Vererbungslehre geworden. 
Auch der Mutter, die es duldet, daß in ihrem Dorfgarten die Gemüsebeete mit Weiden- 
gestrüpp statt mit Blumen gesäumt werden, ist ein Ehrenplatz in der Geschichte 
der Weiden- und der Vererbungsforschung sicher. 

Die erste (teneration der Kreuzung zweier Arten ist einförmig und intermediär. 
Dabei halten entweder fast alle Einzelmerkmale in ihrer Ausprägung die Mitte 
zwischen den Eltern, oder aber es wird das eine Merkmal vom einen und das andere 
vom andern Eltern ziemlich unverändert übernommen, so daß nur das „Mosaik“ der 
Charaktere als ganzes intermediär wirkt. Im zweiten Fall kann ein und dasselbe 
morphologische Merkmal in der einen Kreuzung dominieren und in einer anderen 
rezessiv sein; so dominiert die Behaarung der Blätter von $. aurita über die Kahl- 
heit des Laubgs von $. purpurea, dagegen ist die Behaarung der $. caprea gegen- 
über der Kahlheit der $. purpurea rezessiv; und ähnliches ist von dem Verhältnis 
zwischen langen und kurzen Narben beobachtet. In beiden Fällen werden solche 
Bastarde vom Kenner mit ziemlicher Sicherheit richtig bestimmt. Viel wichtiger ist 
aber das Verhalten der F,-Generationen. Die Mehrzahl der Individuen ähnelt wohl 
mehr oder weniger der F,, aber in geringerer Zahl treten auch Pflanzen auf, die 
teils den Eltern nahe kommen, teils von beiden Eltern in den verschiedensten Eigen- 
tümlichkeiten sich so weit entfernen, daß auch der beste Spezialist die Genese nicht 
erraten würde. Das auffälligste Beispiel einer solchen „extravaganten“ Kombination 
ist der aus der Kreuzung Salix (repens X viminalis) X repens gewonnene Bastard 
„amerinoides“, so genannt, weil er allerhand Merkmale zur Schau trägt, die der 
Gruppe der Amerinae (S. alba, babylonica) eigen sind, aber weder den Elternarten 
noch ihren Verwandten zukommen. 

Am eingehendsten ist die F, der Kreuzung 9. caprea X viminalis studiert, 
und die beträchtliche Anzahl der Individuen (157 Stück) erlaubt einen Schluß auf 
die Zahl der beteiligten mendelnden Faktoren. Es wird wahrscheinlich gemacht, daß 
S. caprea, mit breiten kurzen Blättern, vor der sehr lang- und schmalblätterigen 
S. viminalis zwei Faktoren für Blattbreite „voraus“ hat, während S. viminalis einen 
Faktor für Blattlänge „mehr“ besitzt, und daß diese Faktoren außer der Blattgröße . 
und -gestalt auch die meisten übrigen artunterscheidenden Habitusmerkmale ebenso 
wie die physiologischen Charaktere beeinflussen, z. B. die Blattfarbe, die Höhe des 
Strauchs, die ganze Periodizität der Entwicklung. Diese „pleiotropen“, „diffus 
wirkenden“ Faktoren dürften allerdings nicht den letzten Erbeinheiten entsprechen, 





ku he a OR q 
; ar NR 7- 







\ 


480 0. Renner, Experimentelle Studien über Variabilität eh 
sondern die großen Komplexe von Genen repräsentieren, die je im einem Chromosom 
lokalisiert sind (Ref.); die eigentlichen BEinzelfaktoren werden eben streng gekoppelt 
sein, weil kein erossing over stattfindet. Verhältnismäßig kompliziert scheinen die 
Grundunterschiede zu spalten, «die die Behaarung der beiden Arten bedingen, d. h. 
die betreffenden Gene werden in einer größeren Zahl von Chromosomen lokalisiert 
sein. Unabhängig voneinander spalten die Länge der Kätzchenspindel und die 
Länge der Staubblätter. Wenn die faktorielle Analyse hier auch noch nicht ganz 
durchgeführt ist. so besteht doch kein Zweifel daß alle diese Charaktere, geradeso 
wie die für die Habitusunterschiede der beiden Arten besonders wesentlichen Merk- 
male der Blattgestalt, auf mendelnden Grundunterschieden beruhen, daß also „Art- 
merkmale“ durchweg keine andere Vererbungsweise besitzen als „Varietätmerkmale*“. 

Bei Rückkreuzung eines Bastardes mit einem der Eltern liegt die Variabilität, 
wie zu erwarten, zwischen dem Phänotypus der F, und dem der Art, die zur Rück- 
kreuzung verwendet wurde. Auch die Kreuzung eines Bastardes mit einer dritten 
Art liefert ein Ergebnis, das nach Mendel’schen Schemata ungefähr vorauszusehen 
ist. Ganz besonders polymorph fällt natürlich die Nachkommenschaft einer Kreuzung 
zweier Bastarde aus. — Von der ganzen Fülle der Variation und von den über- 
raschenden Zügen der extravaganten Kombinationen geben die zahlreichen Ab- 
bildungen von Zweigen und ganzen Sträuchern eine anschauliche Vorstellung. 

Die wenigen exakten Studien über Artkreuzungen, die bis jetzt vorliegen, bringen 
es klar an den Tag, daß die Kreuzung mindestens einer der allerwichtigsten Wege 
der Entstehung neuer Biotypen, neuer „Arten“ ist. Der Verf. zieht aus seinen Er- 
fahrungen den Schluß, daß auch die Variabilität der „Großarten“ eine befriedigende 
Erklärung findet, wenn die Genese der Arten auf Kreuzung zurückgeführt wird: 
die „Varietäten“ können gleichzeitig mit der „Hauptart“ entstehen, brauchen sich 
nicht nachträglich yom „Typus“ abzuspalten, da aus der F, einer einzigen Kreuzung 
ein Schwarm von Formen hervorgehen kann. Viele dieser Kreuzungsprodukte sind 
aber ausgesprochen minderw ertig, unfähig sich in der ae renz mit den auf weiten . 
Wohngebieten ansässigen’ Arten zu behaupten, wie z. B. F,-Kombinationen, deren 
. Achselknospen regelmäßig als Johannistriebe Re so daß Blütenbildung un- 
möglich ist, oder solche mit leicht berstender Zweigrinde oder mit: hoher Anfälligkeit 
für Pilzbefall. Es ist also recht wohl möglich, daß die gegenwärtig existierenden 
Arten die an die gegenwärtigen Lebensbedingungen ihrer Wohngebiete am besten 
angepaßten Biotypen darstellen, daß die Natur alle möglichen Kombinationen schon 
durchgeprüft und das Beste behalten hat. Erst mit der Übersiedelung einer Art in 
ein neues, ihr vorher nicht zugängliehes Gebiet, das andere Artengruppen beherbergt, 
oder mit der Verschiebung der klimatischen Faktoren in einem gegebenen geogra- 
phischen Bezirk könnte der Vorgang der Artbildung von neuem in Fluß kommen. 

Über die Konstruktion von „Entwieklungsreihen‘“ aus äußeren Ähnlichkeiten 
sprechen die experimentellen Ergebnisse des Verf. ein vernichtendes Urteil. Aus 
einer einzigen F,-Generation können Formengruppen hervorgehen, die der mit den 
Methoden der vergleichenden Morphologie arbeitende Systematiker, ohne Kenntnis 
der Genese, in eine Entwieklungsreihe oder in mehrere solche Reihen ordnen würde. 
Und gelegentlich tritt infolge von Kreuzung mit einem Schlag ein absolutes Novum 
auf, das seine Abstammung ganz und gar verleugnet, wie die Salz amerinoides. 
Daß alle unsere systematischen, phylogenetischen Stammbäume Dichtung sind, ist 








eine bittere Einsicht, aber eine unabweisbare, O. Renner, München. 
Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der Universitäts- 


Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen, 





Biologisches Zentralblatt 


Begründet von J. Rosenthal 


Unter Mitwirkung von 


Dr..K. Goebel und Dr. R. Hertwig 


Professor der Botanik Professor der Zoologie 
in München ; 


herausgegeben von 


Dr. E. Weinland 


Professor der Physiologie in Erlangen 


Nee von Georg Thieme in Leipzig 








'39. Band November 919 Nr u 
Ahr am 10. Dezember 1919 








Der jährliche "Abohnementspreis (12 Hefte) beträgt 3 en) Mark 
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten 


Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an 

Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, 

vgl. Anatomie und Entwiekelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, 

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physiolog. Institut 
einsenden zu wollen. 








Inhalt: N. Patschovsky, Über eine Möglichkeit des außernormalen Entstehens von pflanzlichem 
Kalziumoxalat. 8. 481. 
J. H. F. Kohlbrugge, Der Akademiestreit im Jahre 1530, der niemals enden wird. S. 489, 
L. Arnhart, Das Puppenhäuschen der Ilonigbiene. S. 494. 
R. Goldschmidt, Intersexualität und Geschlechtsbestimmung. S. 493. 
H. Günther, Das Schraubungsprinzip in der Natur. S. 513. 
Referate: J. Wilhelmi, Die angewandte Zoologie als wirtschaftlicher, medizinisch-hygienischer und 
. kultureller Faktor. S. 527. — H. Bücher, V. Bauer, G. Bredemann, E, Fickendey, 
W, 1a Baume und J. Loag, Die Ileuschreckenplage und ihre Bekämpfung, S. 528. 





Über eine Möglichkeit des aussernormalen Entstehens 
von pflanzlichem Kalziumoxalat. 


Von Dr. Norbert Patschovsky, 
Assistent am Botanischen Institut zu Halle a. S. 


A. Fragestellung und Versuehsanordnung. 


In einer früheren Mitteilung (1919) habe ich darauf hingewiesen, 
daß Pflanzen ohne Ablagerung von oxalsaurem Kalk zugleich auch 
im Zellsaft gelöste Oxalate vermissen lassen. Diese Feststel- 
lung legt den Gedanken nahe, daß jener Mangel an Kalkoxalat 
vielleicht auf einem Unvermögen zur Oxalsäurebildung überhaupt 
beruhe. Dies ist wahrscheinlich dann der Fall, wenn sich in den 
betreffenden Geweben durch äußere Zuführung von Oxa- 
latlösungen experimentell Kalziumoxalatbildung hervorrufen läßt. 

Die im folgenden wiedergegebenen Untersuchungen sollen zur 
Entscheidung der mit dem Letztgesagten umschriebenen Frage bei- 

39. Band. 32 


EN WE DR RER SE BR DNE RER a ra 2 Malen ae VS RER 


482 N. Patschovsky, Über eine Möglichkeit des außernormalen Entstehens etc. _ 


tragen. Im Falle von Spirogyra (Objekt VI) handelt es sich um die 
Möglichkeit der Aufgabe, schon unter natürlichen Bedingungen Kal- 
ziumoxalat führende Zellen durch die Oxalatlösung zu einer Ver- 
änderung dieses Kristallgehaltes zu veranlassen. Diese Versuche er- 
gaben ferner Aufschlüsse über die Giftwirkung der Oxalate, die j 
in verschiedenen Konzentrationen auf ein ungleichartiges Pflanzen- 
material zur Wirkung kamen. 

Geschichtliches. Erfolgreiche Bemühungen, den Kristall- 
gehalt von Pflanzenzellen durch äußerlich zugeführte Säurelösungen 
zu beeinflussen, gehen auf Migula (1888) zurück. Dieser Forscher 
arbeitete mit Spirogyren (orbicularis Kg. u. a.), die in ihrem Plasma 
sekreuzte Kristalle von quadratischem Kalziumoxalat bergen. Als 
Kulturflüssigkeit dienten sehr verdünnte Säurelösungen, teils mit 
teils ohne Kalkgehalt. Es zeigte sich, daß nur organische Säuren, 
mit Ausnahme von Karbol- uud Essigsäure, dagegen nichf die Mineral- 
säuren einen Einfluß auf den Kristallgehalt haben. Diese Wirkung 
besteht in einer meist sehr beträchtlichen Anhäufung des Kalkoxa- 
lats in den behandelten Zellen, die je nach dem Kalkreichtum des 
säurehaltigen Wassers größer oder geringer ausfiel. Wurden Spiro- 
syren in Lösungen organischer Säuren unter Ausschluß des Kal- 
ziums kultiviert, so bildeten sich in den Zellen keine neuen Kristalle; 
solche wurden aber binnen weniger Stunden in großen Mengen abge- 
schieden, wenn die Fäden nachher in kalkreiches Wasser übertragen 
worden waren. Migula nimmt an, daß die verwendeten organi- 
schen Säuren (Weins., Zitronens.) in der Zelle im Oxalsäure umge- 
wandelt werden und diese an den mit dem Wasser aufgenommenen 
Kalk gebunden wird. Bei Ausschluß von Kalksalzen gingen die Zellen 
selbst in sehr schwachen Säurelösungen nach 5 bis 6 Tagen zugrunde, 
während sie sich ohne Kalzium und ohne Säure bis 14 Tage am 
Leben erhalten ließen. Migula erblickt die Aufgabe des Kalziums 
hierbei darin, die in der Zelle gebildete Oxalsäure unschädlich zu 
machen. 

Eine Steigerung des Gehaltes an Kalziumoxalat erzielte auch 
Loew (1891) bei Spirogyra nitida durch Kultur in sehr schwacher 
Lösung von Monokaliumphosphat. 

Benecke (1903) vermochte den Gehalt seines Spirogyra-Ma- 
terials an Kalziumoxalat nicht zu beeinflussen. Bei Vaucheria erzielte 
er dadurch massenhafte Ausfällung von Kalkoxalat, daß er die Ob- 
jekte zunächst in ihrem Wachstum hemmte (Entziehen der Stick- 
stoffnahrung oder Übertragen in destilliertes Wasser) und darauf in 
Kalziumlösungen überführte. 

In welchem Maße bei den Pilzen die Bildung des Kalziumoxa- 
lats von der Kalkmenge der Kulturflüssigkeit abhängig ist, haben 
bekannte Untersuchungen de Bary’s (1886) und Wehmer’s (1891) 
gezeigt. Die Oxalsäure wird hier geradezu im Verhältnis des. fäll- 





N RN 





N. Patschovsky, Über eine Möglichkeit des außernormalen Entstehens etc. 483 


baren Kalkquantums und im Bedarfsfalle kontinuierlich erzeugt. Der 
Kalk verhält sich hier wie ein Gift, auf dessen Beseitigung der 
Organismus. in spezifischer Weise hinzuarbeiten scheint. 

| Für die chlorophyllführenden Gewächse ist umgekehrt die Gift- 
wirkung der Oxalsäure eine geläufige Tatsache. Dieses unterschied- 
liche Verhalten der grünen und nichtgrünen Pflanzen hat Loew 
(1893, 123£.) hervorgehoben. Bassalik (1914) fand im Bacillus ex- 
torguens einen Organismus, der Oxalate sogar verarbeitet und in die 
Karbonate überführt. 

Die sehr eingehenden Untersuchungen O. Loew’s (1892, 93) 
betreffend die Giftwirkung der Oxalsäure und ihrer Salze auf grüne 
Pflanzen, lehrten zunächst, daß die freie Oxalsäure ungleich gif- 
tiger ist als die neutralen Salze. Von diesen verwendete er das 
neutrale Kaliumsalz. Fäden von Spirogyra majuscula, in 2 %oige 
Lösung neutralen Kaliumoxalats versetzt, zeigen nach etwa 5 Minuten 
eine Kontraktion des: Zellkerns. Nach 30-40 Minuten verquillt der 
Chlorophylikörper. Trotz der Verletzung des Kerns besteht der Tur- 
gor der Zellen noch nach 10 Minuten; indes erholen sich die Fäden, 
zu dieser Zeit in kalkreiches Quellwasser übertragen, nicht, wieder. 
In einer 0,1 Yoigen Lösung geht die Giftwirkung auf Spirogyra aber 
bereits so langsam vor sich, daß die Zellen erst nach einer Reihe 
von-Tagen in allen Teilen abgestorben sind (1892, 375). Die Gift- 
wirkung der Oxalate nimmt also mit der Verdünnung sehr rasch ab 
(1893; 122, 124). Weiter schließt Loew aus seinen Beobachtungen, 
daß diese Giftwirkung in erster Linie Zellkern und Chloroplasten er- 
greift und das Cytoplasma erst mittelbar durch jene affiziert 
(1892, 376). Im Zellkern und Chloroplast, so argumentiert Loew, 
müssen Kalziumverbindungen eine wichtige Rolle spielen, und dadurch, 
dab diese, in oxalsauren Kalk übergeführt, der lebenden Materie ent- 
rissen werden, stellt sich die Giftwirkung der Oxalate letzten Endes 
als Strukturstörung der lebenden Substanz durch chemische Um- 
lagerung dar (1892, 376; 1893, 124). 

Dab die Oxalsäure auch auf phanerogame Gewebe eiftig wirkt, 
zeigte Loew an Blättern von Elodea und Vallisneria, die in einer 
1 opigen Lösung des Kaliumoxalats nach 36 Stunden ihren Turgor 
gänzlich verloren hatten, während sie in gleichstarken Lösungen 
von weinsaurem bezw. schwefelsaurem Kali noch gänzlich unbeschädigt 
waren (1893, 123). Schimper (1890, 249) beobachtete, daß Zweige 
von Tradescantia Sello‘ in Lösungen von neutralem und saurem 
Kaliumoxalat von 1, 2 und 3 % zugrunde gingen. Auch ihm erwiesen 
sich die sauren Lösungen giftiger als die neutralen. 

Versuchsanordnung. Für die eigenen Versuche verwendete 
ich neutrales Kaliumoxalat oder Ammoniumoxalat, vorzugsweise das 
Kalisalz.. Es wurden immer schwache Lösungen verwendet, wech- 
selnd zwischen 1°/,, und 5°/yo, nie darüber hinaus. Das in diesen Kon- 


OO 
32° 


A84 N. Patschovsky, Über eine Möglichkeit des außernormalen Entstehens etc. 


zentrationen schon giftigere Ammonoxalat wurde stets nur als 109/y9- 
und 2%/,0- Lösung gebraucht. Zur Kultur benutzte ich Glasdosen 
mit übergreifendem Deckel, in die je 20 ccm der betreffenden Lösung 
gefüllt wurden. Ich nahm die Versuche während der Wintermonate 
vor, so daß die Assimilationstätigkeit der Objekte einer besonderen 
Unterstützung bedurfte. Deshalb erhielten die Lösungen einen Zu- 
satz von Rohrzucker, von dem sie dann meistens. 5 % enthielten. 
Zu Parallelkulturen ohne Oxalat dienten reine Rohrzuckerlösungen. 
Höhere Gaben von Rohrzucker bezweckten gleichzeitige Plasmolyse 
der Zellen, wodurch sich Zellwand und Protoplast gesondert über- 
sehen ließen. Die Glasdosen mit den Objekten wurden in eine am 
Boden mit weißem Fließpapier ausgelegte Glasschale gebracht und 
diese im Warmhaus an einem sehr hellen Ort aufgestellt. 

Die Glasdosen und Versuchspflanzen sind vor Beginn der Kultur 
mit destilliertem Wasser sorgfältig gewaschen worden. Es kamen nur 
chlorophyllhaltige Pflanzen zur Untersuchung. Als Material dienten: 
Mooszweiglein (-Blättchen), Moosprotonemen; Algenfäden; Blatt- und 
andere Schnitte von Blütenpflanzen. Die Dauer der Einwirkung ist 
bei der Wiedergabe der Ergebnisse in jedem Einzelfalle vermerkt 
worden. 


B. Ergebnisse. 
Il. Mnium und Funaria (Blätter). 


Mnium. Verträgt ohne Schädigung K-Oxatlösungen von 19/og 
2/0; 3°/oo mit einem Rohrzuckergehalt von 5°/, nach Beobachtungen 
während 8 Tagen. 5°/,, war nach 6tägiger Einwirkung tötlich: Der 
Protoplast war zusammengefallen; dabei hatten die Chlorophylikörner 
intensiv grüne Farbe. Äußerlich war indes die Schädigung an der 
blassen, grünlichgelben Färbung. der Pflänzchen bemerkbar. Auch 
409/00 schädigt die Pflänzchen. Am besten eignen sich zur Kultur 
Lösungen von 20/99 K-Oxalat (+5 % Rohrzucker); doch sind auch 
Lösungen von 1°/,, brauchbar. Objekte, die in diesen Lösungen bis 
zu 8 Tagen verblieben waren, zeigten folgendes. Auf den ersten Blick 
erscheinen die Zellen der Blättchen erfüllt von dicht gedrängten 
Kriställchen, die beim Erwärmen und in Essigsäure nicht verschwin- 
den, wohl aber in Salzsäure vergehen und solchen Blättchen, die 
in 7,5 Yoiger Rohrzuckerlösung (ohne K-Oxalat) gehalten waren, 
fehlen. Zwischen gekreuzten Nicols leuchten sie weißlich auf. Wir 
sehen sie in Anbetracht ihres Aussehens und chemischen Verhaltens 
als Kalziumoxalat an. Bei genauem Einstellen erkennt man, daß die 
Kriställchen nicht im Mittelpunkt des Zellinneren liegen Können, 
da sie beim Einstellen auf die Mitte bereits undeutlich werden. Beim 
Falten des Moosblattes und beim Einstellen auf den Faltenbug sieht 
man viele Kriställchen dem Blatt außen aufsitzen. Ein Teil oder 
alle Kriställchen liegen also nicht in den Zellen des Moosblattes, son- 









1 0 & ER 2 IB hi j B v 4 ng fi 
N. Patschovsky, Über eine Möglichkeit des außernormalen Entstehens etc. 485 


dern sitzen diesem außen auf. Die Flächenansicht lehrt aber, daß 
sie stets in deutlich umschriebenen Ansammlungen über dem Lumen 
der Zellen liegen, nie über den vertikalen Zellwänden oder regellos 
an der Blattoberfläche verteilt. Man kann sich vorstellen, daß aus 
dem Zellinhalt Kalksalze der umgebenden Oxalatlösung entgegendiffun- 
dieren und bei Berührung mit dieser die Kristallhäufchen an 

Mnium-Pflänzchen, die während 6—8 Tagen in einer 7,5 Yoigen 
Rohrzuckerlösung (ohne K-Oxalat) verblieben waren, besaßen SESUn- 
des Aussehen. Mit Jod ließ sich reichlich Stärke nachweisen. Plas- 
molyse war nicht eingetreten; sie ließ sich aber an 3 Tage hindurch 
in der Lösung gehaltenen Blättchen mit 10 Yoiger K-Salpeterlösung 
vornehmen. Nach l14tägigem Aufenthalt in dieser Zuckerlösung star- 
ben die älteren Blätter unter Bräunung ab, währenddessen die Gipfel- 
knospe austrieb und grüne Blättchen bildete; auch neue Rhizoide 
wuchsen hervor. Kriställchen sind an den Objekten in reiner Zucker- 
lösung nie gesehen worden. 

Funaria. Die Widerstandsfähigkeit gegen die Giftwirkung des 
K-Oxalats ist weit größer als bei Mnium. Ich sah Pflänzchen, die 
8, 13 und 15 Tage lang in 5 %/gu K-Oxalat (+5 % Rohrzucker) ver- 
weilt hatten und lebendig waren; nach 15tägiger Einwirkung war 
zwar der Inhalt einzelner Zellen kontrahiert, und ein ähnliches Bild 
zeigten’ Blättchen, die 21 Tage hindurch einer 2°/,.-Lösung ausge- 
setzt waren und jedenfalls lebende Zellen aufwiesen. 

Kalziumoxalatkristalle fehlten diesen Objekten oder waren doch 
viel spärlicher vertreten als bei Mnrium; wo vorhanden sitzen sie 
den Blättchen außen auf, sie sind nicht in den Zellen anzutreffen. 
Solche Kriställchen Be ich an Objekten, die 8 Tage lang in K- 
Oxalat von 1%, 2 lo (3°, Rohrz.) verweilt hatten. 


II. Elodea densa. 


Blätter in Lösungen von 1°/,, und 2°/,, K-Oxalat (+ 5°/, Rohrz.) 
wurden 7 Tage hindurch beobachtet. Eine Schädigung der Blättchen 
war nicht zu bemerken; Plasmarotation konnte festgestellt werden. 
3°%/,, und 4°/,, wurden nach 2 Tagen der Einwirkung noch ertragen; 
darüber hinaus dürften diese Lösungen die Zellen schädigen und den 
Tod herbeiführen. 5%/,, tötet die meisten Zellen schon nach 1 Tag: 
der Zellinhalt kontrahiert sich; nach 2, 4 und 6 Tagen war alles 
abgestorben. Bei Verwendung der Lösungen 3%yg, oo; I°/oo wurde 
niemals Plasmarotation beobachtet. 

Blättchen, die einen Tag in einer 20/,0-Lösung von Ammonoxalat. 
(+ 5% Rohrzucker) zugebracht hatten, lebten; nach 4 Tagen waren 
sie ohne Turgor und abgestorben. 1°/,, wird nach 4tägiger Einwir- 
kung vertragen: der Turgor bleibt bestehen. Plasmarotation konnte 
aber in NH,-Oxalat nie gesehen werden. 

Blättchen, die 2 Tage hindurch in 7,5 % Rohrzucker (ohne Oxa- 


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486 N. Patschovsky, Über eine Möglichkeit des außernormalen Entstehens ete. 


lat) verweilt hatten, zeigten sehr lebhafte Plasmarotation und keine 
Kristallbildung. . 

Das Kalziumoxalat tritt bei Zlodea infolge der Behandlung mit 
gelösten Oxalaten in zwei Formen auf: 1. als aus winzigen Kriställ- 
chen, die bei gekreuzten Nicols aufleuchten, bestehender Kristall- " 
sand und 2. als sehr deutlich ausgebildete Oktaäder (,Brief-Kou- 
verts“). Beide Modifikationen sind an den Objekten nebeneinander 
vorhanden. Nur Spuren von Kristallbildung zeigten sich bei 5%/oo 
K-Oxalat. An den Objekten der anderen Lösungen ließ sich ein bald 
größerer bald geringerer Reichtum an Kalziumoxalat feststellen. 

Die ‚„Brief-Kouverts“ liegen immer an der Oberfläche der . 
Blättchen, nie im Inneren der Zellen. Bevorzugt ist hierbei entschie- | 
den die großzellige Oberseite, wie das übereinstimmende Verhalten 
der Objekte in 1°%,, (bis 7 Tage), 3%. (2. Tage), 4°), (2 Tage) be- 
weist. Die Brief-Kouverts treten oft in großer Menge nebeneinander 
auf, so mitunter in’der Nähe der Blattspitze. Sie waren an den mit 
Ammonoxalat behandelten Objekten nicht auffindbar. 

Der Kristallsand verschwindet nicht beim Erhitzen und in Essig- 
säure, wohl aber in Salzsäure. Er ist in einzelnen Fällen sicherlich 
in den Zellen eingeschlossen, so z. B. in den Zellen der Blattober- 
seite von Objekten mit einer Ttägigen Einwirkung von 2°/, K- 





Oxalat. — Größere Kriställchen sind in anderen Fällen auf oder in 
den Zellen der Blattunterseite (kleinzellig) zu sehen. — Diese Form 


des Kalziumoxalats wurde noch beobachtet bei Elodea-Blättchen der 
Lösungen: K-Oxalat 19,55 3), A/n0; NH,-Oxalat 2%), (1 Tag). 


11. Nasturtium (und Ceratophyllum). 


Lösungen des K-Oxalats von 1°/,, und 2%/,, (+ 53°], Rohrz.) wurden 
bei Nastırtium von den unzerschnittenen Fliederblättchen sowie von 
Schnitten (Blatt quer; Blattstiel längs und Epidermis, davon abge- 
zogen) gut ertragen während 3 tägiger Beobachtung. Gleichprozentige 
NH,-Oxalatlösungen können in derselben Zeit töten: Die Flieder- 
blättchen waren ohne Turgor, doch noch grün; in reinem Leitungs- 
wasser erholten sie sich nicht wieder. Indes sind auch lebende unzer- 
schnittene Fiedern gesehen worden, die 7 Tage lang in 10/90 NH;- 
Oxalat gelegen hatten; die Schnitte hatte diese Lösung dagegen 
getötet. 

Die Empfindlichkeit von Ceralophyllum, das denselben K-Oxa- 
latlösungen ausgesetzt war (intakte Blättchen und Querschnitte da- 
von) dürfte der von Nasturtium gleichkommen. 

Höher konzentrierte Lösungen sind nicht versucht worden. 

Kriställchen von Kalziumoxalat waren in den mit K-Oxalat behandel- 
ten Objekten wahrnehmbar. Sie sind, ähnlich den an früheren Objekten 
sesehenen, von ovalem Umriß und leuchten zwischen gekreuzten Nicols 
weiblich ‚und gelblich auf, Besonders günstig dafür ist die Blatt- 


* 


% N. Patschovsky, Über eine Möglichkeit des außernormalen Entstehens etc. 487 


stielepidermis. Doch treten sie auch im Assimilationsgewebe der 
Schnitte auf. — Ceratophyllum verhält sich analog: Schnitte, die 
11 Tage lang in 2%/,u K-Oxalat verblieben waren, ließen außen viele 
Kriställchen erkennen: 


IV. Moosprotonema. 
Die mit NH,-Oxalat von 1°/,, und 2°%%0 (+ 5°, Rohrzucker) 
behandelten Protonemen erwiesen sich als sehr widerstandsfähig: Sie 
zeigten in beiden Lösungen während einer Beobachtungsdauer von 
14 Tagen kein Anzeichen der Schädigung, waren von frischgrüner 
Farbe und turgeszent. 
Kristallbildung war an den Protonomen niemals erfolgt. 


V. Vaucheria. 

Die untersuchte Spezies scheint gegen K-Oxalat sehr resistent 
zu sein: Ich fand lebende Schläuche in 2%/y0-Lösung (+20 % Rohr- 
zucker), worin sie 31 Tage hindurch zugebracht hatten. Der hohe 
Zuckergehalt der Lösung rief in einigen Schläuchen Plasmolyse hervor. 

In 1°/,, (ohne Zuckerzusatz) und 2°/,, K-Oxalat (+ 20°, Rohr- 
zucker) gehaltene Schläuche führten Oktaöder (,Brief-Kouverts‘), 
die jenen außen aufsitzen, doch vielleicht auch im Protoplasma zu 
finden sind. (Einzelbeobachtungen am Material nach 1, 3, 4, 31 Tagen 
der Kultur.) 

Vl. Spirogyra. 

Die untersuchte Spezies zeigte bereits am unbehandelten Material 
kreuzförmige Kristalle von Kalziumoxalat. Gelingt es, diesen Kri- 
stallgehalt durch Kultur in Kaliumoxalatlösung zu beeinflussen? — 
Es wurde dazu eine Lösung von 1°/,o mit 10 % Rohrzucker ver- 
wendet. 4 

In einem Falle, nach 1tägiger Einwirkung, sahen die Zellen 
teilweise normal aus und zeigten bisweilen Plasmolyse; in anderen 
Zellen war der Protoplast pathologisch verändert. Dabei waren die 
Kristallkreuze in allen Fäden zumeist verschwunden. Eine andere 
Beobachtung an 3 tägig behandelten Fäden ergab als Befund: Schwache 
Plasmolyse; im Protoplasten viele kreuzförmige Kristalle, viel mehr 
als an unbehandelten Objekten. Es dürfte eine Anhäufung, Vermeh- 
rung des. Kalziumoxalats vorliegen, wie sie auch von Migula und 
Loew (l. ec.) bei Spirogyra erzielt wurde. — Die Untersuchung von 
4tägig behandeltem Material ergab dieselbe wie die des 3tägigen. 
Die Kristallkreuze liegen in den plasmolysierten Zellen stets im Proto- 
plasten, nie außerhalb von diesem und nie an der Membran. 


C. Zusammenfassung der Ergebnisse und Erklärungsversuch. 


Empfindlichkeit gegen Oxalatlösungen. Ammon- 
oxalat hat, wo es verwendet wurde, giftiger gewirkt als Kaliumoxalat, 





SEE ARE AD 3 ne Ba a Bee A Pl ET RR NP 3 I a SAN NE Fe 


ASS N. Patschovsky, Über eine Möglichkeit des außernormalen Entstehens etc 


wie dies zu erwarten war, da gleichprozentige Lösungen dieser Salze, 
was ihren Oxalatgehalt betrifft, nicht äquivalent sind. Die Objekte 
sind deutlich verschieden hinsichtlich ihrer Resistenz gegen die gif- 
tigen Oxalate: Vaucheria, Moosprotonema, Funaria (Blatt) sind we- 
sentlich resistenter als Spirogyra, Mnium, Elodea, Ceratophyllum, Na- 
sturtium. 

Kristallbildung. Es gelingt, einige Objekte zur Bildung 
von normalerweise nicht vorhandenem Kalziumoxalat zu veranlassen, 
das entweder den Objekten äußerlich aufsitzt oder innerhalb der Zellen 
erscheint. Hierher gehören: Mnium, Funaria, Elodea, Nasturtium, 
Ceratophyllum, Vaucheria. Kristallbildung ließ sich nicht erzielen 
bei Moosprötonemen. — Eine Anreicherung von primär vorhandenem 
Kalziumoxalat kann bei Spirogyra erfolgt sein. 

In allen Fällen, wo durch die Behandlung mit gelöstem Oxalat 
die Objekte zur Bildung oder Anreicherung von Kalziumoxalat ver- 
anlaßt werden, ist vorauszusetzen, dab Kalziumsalze gelöst in den 
Zellen der Pflanze vorhanden sind; sie müssen sich mit dem gelösten 
Oxalat entweder innerhalb der. Zelle oder außerhalb an der Membran 
umsetzen. Das Auftreten der Kriställchen an der Oberfläche der Ob- 
jekte ist durch die Annahme der Sekretion von Kalziumsalzen aus 
dem Zellinnern wohl zu begreifen. Die regelmäßige Lagerung der Kri- 
ställchen streng über der Mitte jeder einzelnen Zelle (Mnium) würde 
jedenfalls damit im Einklang stehen. Dieser Vorgang hat gewisse 
Ähnlichkeit mit der Kalziumoxalatbildung, wie sie de Bary (l. c.) 
an Hyphen von Peziza selerotiorum beobachtet hat. Der Unterschied 
liegt darin, daß die Kalksalze und die Oxalatlöung in beiden Fällen 
auf entgegengesetzten Seiten der Zellmembran gegeben sind. 

Das normale Fehlen von Kristallen des Kalziumoxalats beruht 
also in den untersuchten Fällen auf dem Nichtvorhandensein der Oxal- 
säure, nicht dem des Kalziumst). Die gelösten Kalksalze der Zellen 
scheinen in den Versuchen die Aufgabe zu erfüllen, das giftige Oxalat 
in unlöslicher Form festzulegen. In diesem Sinne sagt Pfeffer all- 
gemein über die Neutralisation von Giftwirkungen durch die Zelle: 
„In Hinsicht auf das gesamte selbstregulatorische Walten im Orga- 
nismus ist aber nicht zu bezweifeln, daß in bestimmten Fällen auch 
Reaktionen erweckt werden, die auf die Festlegung oder Beseitigung 
des Giftes abzielen“ (1904, 347). 

Unter diesem Gesichtspunkt wird es vielleicht verständlich, dab 
Moosprotonomen und Funaria-Blättchen, die sich lange Zeit hindurch 
als sehr resistent erwiesen haben, nicht oder nur zu schwacher Kal- 
ziumoxalatbildung zu bringen sind. Für diese kann das Oxalat an 

1) Kalksalze ließen sich im herausgepreßten Zellinhalt von Vaucheria und 
Phycomyces mittels 2°/,iger Lösung von Ammonoxalat als Kalziumoxalat ausfällen 
und durch nachfolgende Behandlung desselben mit Schwefelsäure bei Zusatz eines 
Tropfens Alkohol an dem Aufschießen charakteristischer Gipsnadeln erkennen, 













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J. H. F. Kohlbrugge, Der Akademiestreit im Jahre 1830 ete. 489 
und für sich weniger giftig sein als für die anderen Objekte, — oder 


sie schützen sich gegen das Eindringen des Giftes in die Zellen auf 
eine nicht näher angebbare Weise (eventuell impermeable Plasma- 
haut). Die Anreicherung des Kalziumoxalats in der sehr empfind- 
lichen Spirogyra wäre umgekehrt durch jene Vorstellung ebenfalls 
begreiflich gemacht. 

- Daß in diesen Versuchen di& Bildung des kristallinen Kalzium- 
oxalats ein mit dem lebenden Zustand der Zelle verknüpfter Vorgang 
ist, geht deutlich daraus hervor, daß Objekte, die durch Giftwirkung 
sichtlich geschädigt waren, nur unbedeutende oder keine Kristall- 
bildung aufzuweisen hatten. 


Literatur. 


Bassalik, K., Jahrb. f. wiss. Bot. Bd. 53. 1914/ 
Benecke, W., Botan. Zeitung 61. 1903. 
De Bary, A., Botan. Zeitung 44. 1886. 
Loew, O, Biolog. Zentralblatt Bd. 11. 1891. 
— Flora 1892. . 
— Ein natürliches System der Giftwirkungen. München 1893. 
Migula, W., Über den Einfluß stark verdünnter Säurelösungen auf Algenzellen. 
Diss. Breslau 1888. 
Patschovsky.N., Ber.d. Deutschen Botan. Gesellschaft. Bd. XXX VI, H.9. 1919. 
Pfeffer, W., Pflanzenphysiologie. Bd. II, 2. Aufl. 1904. 
Schimper, A. F. W., Flora 1890. 
Wehmer, C., Botan. Zeitung 49. 1891. 


Der Akademiestreit im Jahre 1830, 
der niemals enden wird. 
Berichtigungen zur Arbeit von Prof. Dr. W. Lubosch, 
Biol. Zentralbl. Bd 38 Nr. 9 und 10. 

Von J. H. F. Kohlbrugge. 


Aus der Einleitung zu meiner Arbeit über Goethe!) als Natur- 
forscher geht deutlich hervor, daß ich mich seit Jahren mit der 
Geschichte der Evolutionstheorie befasse und daß genannte Schrift 
als ein daraus losgelöstes, weiter ausgearbeites Kapitel zu betrachten 
sei. Die Gründe, welche mich zu dieser Loslösung bestimmt hatten, 
wurden dort näher angegeben. Ein Hauptgrund mich speziell mit 
Goethe zu beschäftigen, war dieser, daß in vielen deutschen histori- 
schen Arbeiten Goethe eine Stellung in der Geschichte der Natur- 
wissenschaft zugewiesen wird, die, wenn sie richtig ist, ıhn als Ur- 
quell moderner Auffassung erweist. Ist dies richtig, dann wird 
die historische Forschung dadurch sehr vereinfacht, ist sie unrichtig, 


‘ dann wird dadurch das Verdienst anderer Forscher, Goethe zu Liebe, 


geschmälert oder verkannt.: Darum hatte ich mich nicht mit Goethe 


1) Historisch-Kritische Studien über Goethe als Naturforscher. Würzburg 1913. 








490 J. H. F. Kohlbrugge, Der Akademiestreit im Jahre 1830 etc. 





ın erster Linie sondern mit seinen Bewunderern auseinander zu 
setzen und das ist in der genannten Schrift geschehen. 

Meine historischen Studien brachten mir die Überzeugung, daß 
obengenannte deutsche Auffassung (man findet sie niemals bei nicht 
Deutschen) unrichtig sei und so wurde-ich in eine Oppositions- 
stellung gedrängt und dann geschieht es allerdings leicht, daß man 
zu weit geht, ganz wie Cuvier (im Akademiestreit von 1830) in 
seiner Opposition gegen Geoffroy zu weit ging, so daß Geofiroy 
schließlich Cuvier durch einen Hinweis auf seine eigenen Arbeiten 
hätte zurückweisen können. Da mir nun wohl bewußt: war, 
daß man Goethe, den man so gern als den „Genius, den Heros, 
den Olympier“ auffaßt, in Deutschland nur zu bewundern wünscht, 
so konnte ich auch nichts anderes erwarten, als daß meine Schrift 
auf Widerstand stoßen würde. 

Diesen brachte nun die inhaltsreiche, tief durchdachte Arbeit 
von Lubosch, die in den Augen des neutralen Ausländers eben 
wieder den Fehler einer unumschränkten Goetheverehrung zeigt. 
Man findet sie namentlich auf den Seiten 371—376. Sie kulminiert 
in dem Satze, der zur Verteidigung Goethes verfaßt wurde: „Wann 
wäre es je die Pflicht des Genius gewesen, die Mitwelt ın ıhren 
törıchten Mißverständnissen zu korrigieren“. 

Besonders feiert Lubosch Goethe als Begründer der Homologie- 
lehre, die er schon 1790 aufgestellt haben soll (S. 361, 377.). Ich 
würde mich nun, in ähnlicher Weise, wie ich dies für das Os inter- 
maxillare getan habe, daran machen müssen, die ganze V or-Goethesche 
Literatur zu durchforschen um festzustellen ob dies richtig ıst und 
es wäre sehr wohl möglich, daß sich bei Buffon, Vieq d’Azyr, 
Daubenton, Camper u. a. Äußerungen fänden, die den gleichen 
Sinn haben als Goethe’s hierauf sich beziehende Worte. So viel 
steht jedenfalls jetzt schon fest, daß die Arbeiten von den genannten 
Forschern schließlich zum Homologiebegriff führen mußten. Ich 
will mich aber nicht noch einmal in die Oppositionsstellung drängen 
lassen, deren schwache Seite mir besonders in diesem Falle (in Be- 
zug auf Goethe) nicht nur wohl bewußt, sondern außerdem schmerz- 
lich ıst. Lieber beschränke ich mich auf folgende Bemerkungen: 

Wenn man bei einem Schriftsteller alter Zeit (in der man das 
Philosophieren so liebte) Gedanken ausgräbt, die den neuen Ähnlich 
sind, hat man dann das Recht, solchen Autor als Begründer der 
neuen Lehre zu feiern? Erstens könnte es doch sein, daß sich beı 
einem noch älteren Forscher auch ähnliches findet. Zweitens ge- 
nügt es doch nıcht, einen glücklichen Gedanken zu haben, sondern 
man soll ihn durchführen, anwenden, mit vielen Beispielen belegen. 
Drittens, und das ist die Hauptsache, soll man nachweisen, daß dieser 
glückliche Gedanke nun auch von den Zeitgenossen anerkannt wurde, 
daß er also die Wissenschaft befruchtete und außerdem, daß 








J. H. F. Kohlbrugge, Der Akademiestreit im Jahre 1830 ete. 491 


die Befruchtung auch nur von dem betreffenden Autor aus- 
ging. Angenommen es sei richtig, daß Goethe viele moderne An- 
schauungen auf vergleichend anatomischem, botanischem und geologı- 
schem Gebiet, aus sich heraus bildete, so hat doch noch keiner seiner 
Bewunderer der letzt genannten Forderung genügt, keiner hat die 
Auffassung widerlegt, daß Goethe’s naturwissenschaftliche Arbeiten 
nur wenig Einfluß auf die Entwicklung der Naturwissenschaft ım 
modernen Sinne gehabt haben. Die Bewunderung Goethe’s als 
Naturforscher hat, soweit ich sehe, erst gegen 1860 oder noch später 
eingesetzt. So hat auch niemand, so weit ich weiß, sich auf ıhn 
bei der Ausbildung des Homologiebegriffs berufen. 

Die Beschuldigung, daß ich in der Opposition zu weit ging, 
scheint besonders berechtigt in meiner Beurteilung Geoffroy’'s 
trotzdem muß ich sie hier zurück weisen. Meine Schrift war eben 
nur ein losgelöstes Kapitel und darum war ich nicht verpflichtet, 
den ganzen Geoffroy zu betrachten. Da aus nichts hervorging, 
daß Goethe die vor 1820 erschienenen Arbeiten Geoffroy’s kannte 
(sie finden sich weder in Goethe’s Bibliothek noch in seinem Ver- 
zeichnis entliehener Bücher), da weiter Cuvier und Geoffroy 
früher immer als Freunde zusammengearbeitet hatten, sodaß deren 
Antagonismus nicht auf älteren Arbeiten beruhen konnte, so durfte 
ich diese zur Seite lassen. Natürlich gehört zu meiner Sammlung 
ein apartes Portefeuille Geoffroy’s, in dem alles über diesen Autor 
zusammengetragen wurde, und wenn ich je dazu komme auch diese 
auszuarbeiten, werde ich ihm als Forscher vielleicht nicht weniger 
Lob spenden wie Lubosch. In meiner Schrift über Goethe brauchte 
ich darauf nicht einzugehen. 

Geoffroy zeigt nämlich um 1818—1819 eine Änderung seiner 
Arbeitsmethode, aus dem früher hochstehenden Forscher wurde 
ein Phantast. Darüber liest man in der Isis 1819 (S. 1353): „Wir 
wissen nicht recht woran wir mit Geoffroy sind. Dieser geist- 
volle Naturforscher Frankreichs, der in allen bisherigen Arbeiten 
so kurz und bestimmt sprach, nimmt den französischen plauder- 
haften Stil an und will durch Wortschwall die anatomischen Teile 
beweisen, die für sich so kurz und bündig sprechen und nur klar 
sind durch Kürze. Durch das viele Reden hat sich Geoffro y selbst 
manche sonderbare Meinung angeredet, die er vergeblich durch die 
vielen neuen Zeichnunger zu stützen sucht“. Bojanus schrieb dann 
(1819 S 1360). „Und wenn ich erwäge, daß von Geoffroy’s 
Verfahren (das man dem Drehen eines Glücksrades vergleichen 
darf) wenig zu hoffen ist“. In meiner Goethe-Arbeit wies ich dann 
darauf hin, daß die Umwandlung bei Geoffroy wohl dem Einfluß 
der Naturphilosophie zuzuschreiben sei. Nur mit dem umgewandelten 
Geoffroy hatte ich mich zu befassen. Da nun Lubosch, um ihn 
gegen meine Auffassung zu verteidigen, besonders auf die Arheiten 


492 J. H. F. Kohlbrugge, Der Akademiestreit im Jahre 1830 ete. 


vor dieser Umwandlung eingeht, so mußte daraus natürlich ein un- 
geheurer Gegensatz entstehen. Weiter habe ich mich in meiner 
Arbeit im Text und in den Noten mit dem Charakter Geoffroy’s 
befaßt und wer die dort gebrachten Tatsachen zusammenstellt, wird 
wohl, wie ich einen ungünstigen, widerwärtigen Eindruck vom Cha- 
rakter dieses Gelehrten bekommen. Lubosch geht darauf einfach 


nicht ein, ich ging unwillkürlich immer von dem Bilde aus, welches 


ich mir aus diesen Tatsachen entworfen hatte. Beweisen läßt sich 
dann nicht jeder Satz (auch Lubosch tut dies für Goethe nicht), 
aber es fragt sich, stimmt meine Auffassung zu dem Charakter des 
Mannes? Schließlich will ich noch hinzufügen, daß wer Geoffroy 
als Ganzes studieren will, im Jardin des plantes in Paris arbeiten 
muß, denn nur dort findet man seine unzähligen Arbeiten. Da ich 
viel in der Richtung tat, so kann ich versichern, daß die Arbeit 
sich lohnen würde, wenn nicht für die Naturwissenschaft, so doch 
für die Nemo ol 

Geradezu ungerecht wird Lubosch, wenn er behauptet, daß 
ich der ne sei, daß Geoifroy sich „lediglich“ (Anm. 363) 
oder „nur“ (S. 399) Cuvier’scher Forschungen zu seinen Speku- 
lationen bedient habe. Das ıst mir niemals eingefallen. Wie 
Lubosch durch seine Opposition in Bezug auf Geoffroy gegen 
mich zu weit geht, so gilt allerdings gleiches von den mündlichen 
Äußerungen Cuvier’s während des Streites. Wenn man aber 
Cuvier’s Stellung zu den von Geoffroy aufgestellten Theorien 
vichtig beurteilen will, dann muß man im Institut de France den 
Fonds Cuvier durcharbeiten. Denn da Uuvier bald nach dem 
Streite starb, so kam er nicht dazu sein darüber handelndes Buch 
zu vollenden, während Geoffroy noch viele Jahre weiter 
publizieren konnte und dabei immer wieder auf den Streit zurück- 
kam. Das hat Lubosch nicht beachtet und außerdem kehrt 
Lubosch zu einer alten, ungerechtfertigten Beschuldigung zurück, 
wenn er behauptete, daß Ouvier auf die Kombination der Tatsachen 
verzichtete (S. 363). Ich wies dies in meiner Anm. 37 85.101 zurück. 
Weil ich mich kurz fassen muß, erwähne ich hier nur Cuvier’s 
„principe de la subordination des characteres“ als Beweis wie er 
kombinierte. Lubosch scheint allerdings von Cuvier’s Gesetzen 
nur das der Erdkatastrophen und Tierwanderungen zu kennen, 
wobei er unbeachtet läßt, daß Cuvier sich zwar wohl gelegentlich 
für die Erdkatastrophen ausgesprochen hat, daß diese Lehre aber 
von ganz anderen Forschern ausging und in anderen ihre wirklichen 
prinzipiellen Verteidiger fand. Leider kann ıch an dieser Stelle 
nicht weiter darauf eingehen, da die Redaktion verlangt, daß ıch 
mich kurz fassen soll. Ebenso unberechtigt ist es auch, Cuvier’s 
Typenlehre als abgetan zu betrachten (S. 442), darüber möge 
man Rädl (S. 232 und 338) nachlesen. Da Lubosch so tief 



















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J. B. Ri a Der Akademiestreit im jahre 1830 etc. 493 


auf Geoffroy und sein Verdienst eingeht und Cuvier nur in 
Bezug auf den Streit in Betracht nimmt, so wird er schon hier- 
durch uugerecht gegen Cuvier. In Bezug auf Lamarck wieder- 
„holt er die längst wiederlegte Behauptung?) daß dessen Theorie 
in seiner Zeit und später völlig vergessen worden sei (S. 367). 
Die Differenz beruht aber besonders darauf, daß Lubosch auf 
einem ganz anderen Standpunkt steht wie ich und dann sieht man die 
Dinge eben anders. Dies ist der Fall erstens in der Wertschätzung 
Goethe’s als Naturforscher, was schon erwähnt wurde, zweitensin Bezug 
auf den Streit in der Akademie. Von diesem behauptet er (S. 381): 
„Denn der vergleichend-anatomischen Methode, d.h. der Vergleichen- 
den Anatomie selbst als Wissenschaft ihr Recht zu erkämpfen, darum 
handelte es sich letzten Endes in dem Akadamiestreit im Jahre 1830*. 
Ich glaube wer Cu vier’s vergl. anat. Arbeiten und die der deutschen 
ee vor dem Jahre 1830 studiert hat. der wird zugeben müssen, 
dass es gar nicht mehr nötig war, der vergleichenden Anatomie als 
Wissenschaft ihr Recht zu erkämpfen. Der Streit in der Akademie 
drehte sich einfach um die Frage, ob die Naturphilosophie mit ihren 
uferlosen Vergleichungen und Vergeistlichungen die vergleichende 
Anatomie beherrschen solle oder nicht. Goethe (Geoffroy) wollte 
sie eben in den Dienst der Naturphilosophie stellen, wie seine von 
mir (S. 94) zitierten Worte an Soret zeigen, die seine Methode zu 
der Zeit charakterisieren. Der Gedanke, daß sich der Streit ein- 
fach um die Frage dreht, ob die Tunikaten gefaltete Wirbeltiere 
seien (den Lubosch mir zuschreibt) (S. 382), ist damit gleichzeitig 
zurückgewiesen. Wenn ich von Geoffroy behauptete, daß sein Stand- 
punkt von niemand mehr geteilt werde, so meine ich natürlich nicht 
seine Homologienlehre u. s. w. sondern seine naturphilosophischen 
Spekulationen und sprungartigen Vergleichungen. Drittens: Lubosch 
verhält sich ganz anders zu Hypothesen und philosophischen Speku- 
lationen im allgemeinen. Das zeigt sich, wenn er Lamarck’s Ein- 
teilung in wirbellose und Wirbeltiere schädlich nennt (S. 426), wenn 
er die Gastraeatheorie bewundert (S. 365), durch welche die Lehre 
von der Unite de plan bewiesen sei, in seinen Betrachtungen über 
die Archipterygiumtheorie (S. 466 ff.) und an anderen Stellen. 
Natürlich sehe ich ein, daß wir ohne Arbeitshypothesen nicht weiter 
kommen, sie sind also nötig. Soweit sie sich nıcht zu weit von 
den Tatsachen entfernen, sympathisiere ich mit ihnen. Werden sie 
aber wilde Spekulationen oder werden sie aufandere Theorien auf- 
gebaut, etwa auf Spinozistische, Darwinistische und andere, sodaß die 
eine Hypothese sich immerfort auf die andere häuft, wodurch das 
Bild der umgekehrten Pyramide entsteht, die nur mit einer kleinen 
Spitze auf festem Boden ruht, während das Ganze in der Luft 


2) J. B.deLamarck und der Einfluß seiner Deszendenztheorie von 1809—1859, 
. Zeitschrift für Morphologie und Anthropologie 1914 8, 191—206, 


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E 


494 L. Arnhart, Das Puppenhäuschen der Honigbiene. 





schwebt, dann fühle ich mich abgestoßen. Darum sympathisiere 
ich mit Cuvier oder OÖ. Hertwig und stößt die Naturphilosophie 
und der Darwinismus mich zurück. Ebenso arbeitet der eine lieber 
induktiv, der andere deduktiv, wenn auch ein jeder beides tut. Das 
ist eben Charaktersache. Nun ist eine Grenzlinie zwischen berech- 
tigter Hypothese und Spekulation nicht zu ziehen, darum ist es 
eben so schwer, wo solche Gegensätze aufeinanderstoßen wie im 
Jahre 1830, ein Urteil zu fällen. Weil es Charaktersache ist, weil 
es wie Oswald sagt, Romantiker und Klassiker in der Naturwissen- 
schaft giebt, darum wird die Beurteilung je nach dem eigenen 
Charakter eine andere sein müssen. Darum wird der Streit von 
1830 niemals enden, das hat Goethe schon richtig erkannt und 
hier schloß und schließe ich mich ganz an ihn an. Die in vieler 
Hinsicht so schöne Arbeit von Lubosch hat diese Wahrheit aufs 
neue illustriert. 
Utrecht, 10. April 1919. 


Das Puppenhäuschen der Honigbiene. 


Von Ludwig Arnhart. 


(Aus dem Laboratorium der ersten Österreichischen Imkerschule in Wien.) 
„Zeitschrift für angewandte Entomologie“. Bd. 5. S. 231. 


Es ist allgemein bekannt, daß die „Waben“ des Bienenstockes 
nicht nur zum Aufbewahren des Honigs und des Blütenstaubes, 
sondern auch zum Ausbrüten der Bienenlarven dienen. Während 
in den dicht aneinanderliegenden sechsseitigen Zellen die Arbeiter 
und Drohnen — erstere in den engeren, letztere in den weiteren — 
erbrütet werden, werden die Königinnen in noch größeren, birn- 
förmigen, meist an den Rändern der Waben stehenden sogenannten 
„Weiselwiegen* erbrütet. In der natürlichen Lage liegen die er- 
steren Zellen horizontal, die letzteren vertikal. Letztere werden nur 
zeitweilig erbaut und, nachdem sie leer geworden, wieder abgetragen; 
der Laie bekommt sie demnach selten zu sehen. 

Gestützt auf Swammerdam hat man nun bisher angenommen, 
daß die Bienen sich vor dem Verpuppen in einem in einem Zuge 
gesponnenen „Kokon“ einspinnen. Allerdings war es schon diesem 
Forscher aufgefallen, daß der Kokon aus zwei augenfällig ver- 
schiedenen Substanzen, einer strukturlosen, farblosen, durchsichtigen 
Haut und einem gelben, seidenartigen, wirklichen Gespinst be- 
stehe. Die Haut liegt so eng an den Zellwänden, die sie auskleidet, 
an, daß sie mechanisch nur schwer und nie ganz von denselben zu 
trennen ist; das Gespinst liegt nur an der Mündung der Zelle, so- 
zusagen nur als Deckel der Zellhöhle unter einem porösen Deckel 
aus Wachs, Pollen und abgebissenen Häuten alter Zellauskleidungen 





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L. Arnhart, Das Puppenhäuschen der Honigbiene. 495 


gemengt, den die Arbeitsbienen des Stockes vor dem Kokonspinnen 
über die Zellöffnung legen. Das Kokonspinnen ist also von außen 
nicht zu beobachten. V. Buttel-Reepen fand, daß man es wenig- 
stens teilweise, beim Abheben beider Deckel, wenn der Gespinst- 
deckel noch nicht vollendet ist, sehen kann. Swammerdam wußte 
sich da zu helfen. Er erklärte: Wenn die Bienenlarve die Wachs- 
zellenwände auskleide, ist das Spinndrüsensekret mehr leimigt, 
dagegen beim Spinnen des Deckels mehr drähtig. Wäre dem so, 
so müßte die Haut eben auch gelb und nicht farblos sein. V. Buttel- 
Reepen, der sich ın letzterer Zeit mit der Sache eingehender be- 
schäftigt, war mit den bisherigen Ergebnissen auch nicht mehr zu- 
frieden. In seiner letzten Arbeit „Beiträge zur Physiologie, Biologie 
und Psychologie der Honigbiene“ („Apis“ mellifica L.) Naturw. 
Wochenschr. 1918 bezeichnet er den Sachverhalt als „noch nicht 
sichergestellt“. - 

Zu alledem kam nun noch die Entdeckung Fr. Huber’s, daß 
die Königin nur einen ihre Zellöffnung abschließenden „Halbkokon“ 
spinne; derselbe ist Gespinstdeckel und läuft dann an der Seiten- 
wand die Zellverjüngung herab. Die Fäden dieses Gespinstes 
sind viel dicker als die des Gespinstes der Arbeitsbiene und Drohne 
und dann sind sie braun und nicht gelb wie diese. 

Meine diesbezüglichen Untersuchungen führten zu folgenden 
Ergebnissen: 

1. Die Bienenlarven sondern an ihrer Hautoberfläche in der 
Jugend mehr, im Alter weniger dickflüssiges Chitin ab. Da die 
Larven der Arbeitsbienen und Drohnen ayf dem Zellboden kipfel- 
förmig gekrümmt liegen und sich fortwährend mit dem Kopfe vor- 
aus in einem Kreise, dessen Peripherie durch ıhren eignen Körper 
geht, bewegen, wird dieses Chitin auf den Boden und die inneren 
Teile der Seitenwände der Zellen gestrichen. Hier erhärtet es sich 
zu Häuten. Während der ersten Larvenzeit erreicht der Rücken 
der Larve die Seitenwände nicht. Es wird demnach die am Boden 
abgeschmierte Chitinmenge reichlicher sein als die an den Seiten. 
Vor dem Verpuppen richten sich diese Larven in ihren Zellen auf 
und kommen so mit den äußeren Teilen der Seitenwände in Be- 
rührung, die zur Öffnung zu liegen. Zu dieser Zeit ist aber — es 
geht gegen das Ende der Larvenzeit! — die Chitinabsonderung schon 
eine geringe. Wir finden so noch vor dem Verpuppen und auch 
noch vor dem „Spinnen“ die Auskleidung der Wachszellen mit einer 
strukturlosen Haut, die am Boden dick, gegen die Deckfläche zu 
dünn ist, fertig. Will man sich davon überzeugen, so wähle man 
Waben, die zum ersten Male bebrütet sind, denn die Bienen ver- 
wenden die Wachszellen mehrere Male — bis 30 mal — zum Brüten 
und lassen dabei dıe Häute, die sie schwer abtragen können, in den 
Zellen. Je öfter eine Wabe bebrütet wurde, mit um so mehr dicht 
aneinanderliegenden Häuten ist sie ausgekleidet. 


i96 L. Arnhart, Das a der Honigbiene; 


Die strukturlose Haut des Puppenhäuschens der Ho: 
nigbiene ist demnach ein Produkt der Chitinabsonderung 
ihres Körpers. 

2. Nach dem Aufrichten in den Zellen, das erst nach dem 
Verdeckeln durch die Arbeitsbienen stattfindet, entleeren die Larven 
ihren Darm und spinnen die Deckel über ıhren Zellen. Zu dieser 
Zeit erst ist, wie schon Swammerdam nachwies, in den Spinn- 
drüsen das fadenziehende Sekret zu finden. Es sieht auch unter 
dem Mikroskop gelb aus und ist in der sonst ziemlich farblosen 
Drüse leicht festzustellen. Die Hauptmasse des Gespinstes ist vor- 
wiegend Deckel; es greift aber auch auf die Seitenwände über 
und einzelne Fäden gehen, wie schon v. Buttel-Reepen gefunden, 
bis tief an denselben herab. Trotz neuerlicher Untersuchung konnte 
ich die Larven wohl um gebogen, den Rücken der Zellöffnung zu- 
gekehrt, aber niemals so wie es v. Buttel-Reepen gesehen, daß 
Ei After der Zellöffnung zugekehrt ist, beobachten. 

Aus dem Vorstehenden ergibt sich demnach, daß der soge- 
nannte Kokon nur zum Teil ein Produkt der Spinndrüsen 
ist. Deshalb nenne ich diese äußere Puppenhülle — als innere 
wäre die zu bezeichnen, die die ausschlüpfenden Insekten sprengen 
müssen, die ihnen enge angelegen sind, das oft sogenannte Puppen- 
hemd — Puppenhäuschen. 

3. Während des Spinnens drehen sich die Larven in den 
Zellen und schmieren dabei ihre vorher abgegebenen Exkremene in 


die Ecken und Kanten des Zellbodens und in die unteren Teile der' 


Seitenkanten. Man findet sie da mit einer sehr dünnen Chitin- 
schicht überzogen; sie erzeugen, wie schon Leuckart wußte, eine 
braune Färbung der Haut; diese Färbung geht auch auf das Wachs 
der Waben über und wird durch oftes Bebrüten der Zellen fast 
ganz schwarz. 

4. Nach dem Spinnen legen die Larven die letzte Larvenhäutung 
ab und werden zu Puppen. Diese Larvenhaut enthält auch die 
Haupttracheen der Larve und liegt als weißes Häutchen, an dem 
man die Tracheen sehr schön als weiße Fäden sieht, am Zellboden. 

Nun können wir auch das eigentümliche Verhalten des Königin- 
puppenhäuschens erklären. Die Larven der Königinnen liegen nicht 
direkt am Zellboden, sondern auf einer dieken Schicht Futtersaft, 
den die Arbeitsbienen vor der Entwicklung des Eies auf den Zell- 
boden getragen hatten. Die Zelle selbst ist von so großem Durch- 
messser, daß die Larve gar nicht mit der Zellwand in Berührung 
kommen und deshalb auch nicht das von ihrer Körperhaut abge- 
sonderte Chitin an dieser abstreifen kann. Erst beim Aufrichten, 
also unmittelbar vor dem Spinnen, ist dies möglich. Man sieht also: 
Bei der Königin kann der gegen den Boden der Zelle zu liegende 
Teil des Puppenhäuschens (die strukturlose Haut) gar nicht zu- 
standekommen. Es kommt eben nur zum Halbkokon. 







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L. Arnhart, Das Puppenhäuschen der Honigbiene. 497 


5. Interessant ist auch das Puppenhäuschen in den „Nach- 
schaffungszellen“. So nennt man die Weiselwiegen, die die 
Arbeitsbienen über noch unverdeckelter Arbeiterbrut, also auf der 
breiten Wabenfläche aufbauen. Geht nämlich die Königin zugrunde 
oder wird sıe aus irgendeinem Grunde unbrauchbar, so füttern die 
Bienen noch nicht verdeckelte Arbeiterbrut ın den Nachschaffungs- 
zellen mit königlichem Futterbrei und erhalten so Königinnen. In 
diesem Falle ist der schon vor dem Anbau der Nachschaffungszellen 
gebildete Teil der Haut des Puppenhäuschens mit dem später er- 
zeugten Halbkokon vorhanden. Je nach dem Zeitpunkte des An- 
setzens der Nachschaffungszellen sind diese unteren Teile größer 
oder kleiner. So wurden sie auch in Jungfern-Nachschaffungszellen 
vorgefunden. Es entsteht nun die Frage: Hat nur die Honigbiene 
ein derartiges Puppenhäuschen und entsteht es auch nur bei ihr auf 
die vorstehend geschilderte Art? 

6. Ich habe zur Beantwortung dieser Frage zunächst die Puppen- 
häuschen der nächsten Verwandten der Honigbiene untersucht: 
Bombus, Melipona und Crabro. Bei allen konnte ich die struktur- 
lose Haut und das Gespinst sehr leicht nachweisen. Die Honigbiene 
ist aber allen gegenüber dadurch diesbezüglich ausgezeichnet, daß 
bei ihr das Gespinst nur den Deckel des Puppenhäuschens 
bildet, während es bei den übrigen um das ganze Häus- 
chen reicht. 

Es scheint aber, daß diese Art des Puppenhäuschens, wie wir 
es bei den Apidae finden, auch bei anderen Hymenopteren zu finden 
ist. So zum Beispiel fand ich es so bei Polstes. 

Sehr interessant wäre es, diesbezüglich auch bei den anderen 
sich einspinnenden Insekten, insbesonderes bei den Schmetterlingen 
Nachschau zu halten. 

Über weitere Einzelheiten vergleiche meine Arbeit selbst. An 
derselben Stelle sind auch noch andere Eigentümlichkeiten der Biene 
behandelt. 


39. Band: 33 


REDNER SC ER FR 
x \ N Ele 


498 R. Goldschmidt, Intersexualität und Geschlechtsbestimmung. 


Intersexualität und Geschlechtsbestimmung. 
(Vorläufige Mitteilung.) 
Von Richard Goldschmidt. 
(Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie, Berlin- -Dahler.) 

Die Untersuchungen über Intersexualität und Geschlechts- 
bestimmung, die ich in den letzten 10 Jahren zum Teil unter Mit- 
arbeit der Herın Dr. Dr. Seiler, Poppelbaum und Machida 
ausgeführt habe, und über die wir bereits eine Anzahl von Mit- 
teilungen veröffentlichten, sind nunmehr so weit gediehen, daß die 
behandelten Probleme im wesentlichen als gelöst betrachtet werden 
können, wenn auch noch manche Einzelheit nachzutragen sein wird, 
die, hauptsächlich infolge der Zeitumstände, noch nicht ausgearbeitet 
werden konnte. Da die monographische Veröffentlichung der Re- 
sultate wohl noch einige Zeit beanspruchen wird, so seien die 
Hauptpunkte im voraus in dieser Mitteilung zusammengefaßt. Sie 
beruhen auf der Zucht von mehr als 75000 Individuen. Die Haupt- 
tatsachen sind die folgenden: 

Durch Kreuzung verschiedener geographischer Rassen des 
Schwammspinners Lymantria dispar L. kann in völlig regelmäßiger 
Weise Intersexualität erzielt werden. Als Intersexualität (früher 
fälschlich dem Gynandromorphismus eingereiht) bezeichnen wir die 
Erscheinung, daß Individuen eines Geschlechts in bestimmter Weise 
und Reihenfolge Charaktere des anderen Geschlechts annehmen; 
je nach dem genetischen Geschlecht, das dem Individuum eigent- 
lich zukommt, reden wir von weiblicher und männlicher Inter- 
sexualität. Bei beiden Typen gibt es vollständige Serien, die von 
gerade beginnender Intersexualität durch alle Stufen hindurch bis 
zu völliger Umwandlung in das andere Geschlecht führen. Jede 
Stufe ist typisch und scharf charakterisiert. Die Umwandlung be- 
trifft sämtliche Organe in bestimmter Reihenfolge, sekundäre wie 
primäre Geschlechtscharaktere. Die Kombination genetischer und 
entwicklungsphysiologischer Analyse hat die völlige Erklärung des 
Phänomens wie seine experimentelle Beherrschung ergeben. 


1. @enetische Analyse. 
AA. Versuche über weibliche Intersexualität. \ 


I. Nach dem Verhalten in Kreuzungen können wir zwei Gruppen 
von Schwammspinnerrassen unterscheiden, die wir als schwache und 
starke bezeichnen. Schwache Rassen sind solche, deren Eier, wenn 
von dem Sperma einer starken Rasse befruchtet, normale Männchen 
und nur intersexuelle Weibchen irgend einer Stufe liefern. Starke 
Rassen sind solche, deren Sperma sich wie eben genannt verhält, 
deren Eier.aber, wenn von dem Sperma einer schwachen Rasse 
befruchtet, normale Nachkommenschaft ergeben. Als schwache 








BR EAN TB: NEAR ERBE ER NRSENE SONNE IE NE. dan \ 
R. Goldschmidt, Intersexualität und Geschlechtsbestimmung. 499 


Rassen erwiesen sich bisher alle europäischen und. amerikanischen 

Rassen, sowie die japanischen Rassen, die wir als Rassen Kuma- 

moto, Fukuoka, Kyoto, Hokkaido, Jap Br bezeichnen; als stark er- 

wiesen sich die japanischen Rassen Gifu, Ogi, Saitama, Tokyo, 

Aomori, jap. x und Jap. y. 

A. Sämtliche benützten Rassen sind, wenn reingezüchtet, sexuell 
völlig normal. 

B. Sämtliche schwachen Rassen in irgendeiner Richtung unter- 
einander gekreuzt, ergeben niemals blile Intersexualitäl, 

C. Sämtliche starken Rassen in irgendeiner Richtung untereinander 
gekreuzt, ergeben niemals Intersexualität. 

D. Sämtliche Kreuzungen von Weibchen der starken Rassen mit 
Männchen der schwachen Rassen, also die reziproke F, der 
gleich zu nennenden Tntersexunbriätskreizungen, ergeben aus- 
nahmslos normale Weibchen. 

E. In sämtlichen!) Kreuzungen von Weibchen der schwachen Rassen 
‘mit Männchen der starken Rassen besteht F, aus normalen 
Männchen und ausschließlich intersexuellen Weibchen irgend- 
einer Stufe. Als typische Stufen werden unterschieden: 1. Be- 
ginnende I. Nur an Fühlern, Flügeln und Kopulationsapparat 
ist der männliche Einschlag zu merken. Noch fruchtbar. 
2. Schwache I. Die gleichen Organe in verstärkter Weise be- 
troffen, aber nicht. mehr fähig, Eier zu legen. 3. Mittlere 1. 
desgl. fortschreitend. Ovarien nicht mehr ganz vollständig. 
4. Starke I. Alle Organe mehr oder minder betroffen, teils 
schon ganz männlich. Ovar rudimentär und in Rückbildung. 
5. Höchstgradige I. Äußerlich fast männchengleich. Gonade in 
allen Umwandlungsstadien von Ovar zu Hoden. 6. Geschlechts- 
umkehr. Alle genetischen Weibchen in Männchen umgewandelt. 

Folgende Gesetzmäßigkeiten gelten für diese Kreuzungen: 

a) Das Resultat einer bestimmten Rassenkombination ist inner- 
halb gewisser Variationsgrenzen konstant. 

b) Wenn in F, weibliche Intersexualität erzielt wird, betrifft sie 
sämtliche Individuen, die genetisch Weibchen sein sollten. 
(Nur bei Geschlechtsumkehr kommt eine später zu nennende 
Ausnahme vor). 

c) Innerhalb der Nachkommenschaft eines Elternpaares zeigen 
die intersexuellen Individuen eine gewisse Fluktuation um 
ein Mittel herum, die zu den Grenzen der vorhergehenden 
oder nächstfolgenden Klasse führt. 

d) Die extremen Fälle der Intersexualität, sowohl nach der 
weiblichen wie nach der männlichen Seite hin fluktuieren ins 
Normale hinüber. 


1) Siehe später. 


a a Ne ern, 
\ 
2 


e) Die Konstanz des Resultats schließt nicht aus, daß kleine 
Variationen des Mittelwerts der Intersexualität bei mehreren 
Zuchten derselben Kombination, auch bei Verwendung von 
Geschwistern, vorkommen. 

f) Ein und dieselbe Rasse von Weibchen ergibt, wenn mit ver- 
schiedenen Rassen von Männchen gekreuzt, typisch verschie- 
dene Resultate in F,, die es erlauben, eine Serie der Männ- 
chen, in bezug auf ihre Intersexualität produzierende Stärke 
aufzustellen. Z. B. gibt Rasse Mass 9 mit Gil g' gerade be- 
ginnende, mit Gill d schwache, mit Ogg mittlere, mit Aog 
starke Intersexualität u. s. w. 

g) Ein und dieselbe Rasse von Männchen, ergibt, wenn mit ver- 
schiedenen Rassen von Weibchen gekreuzt, verschiedene Re- 
sultate in F,, die es erlauben, eine Serie von Weibchen in 
bezug auf ihre bei der Produktion von Intersexualität be- 
teiligte „Schwäche“ aufzustellen. Z. B. J Gil ergibt mit 9 
der Rasse Kum noch teilweise normale Tiere, mit 9 Mass be- 
ginnende, mit 9 Ho schwache, mit 9 Schnei schwache his 
mittlere, mit 9 Fiu starke Intersexualität u. s. w. 

h) Die so gewonnene Kenntnis der relativen „Stärke“ der Rassen 
läßt sich an Intersexualitätsgleichungen prüfen, die ein be- 
sonders wichtiges Glied in der Ableitung der Erklärung bilden. 
Beispiel: Kum 9 X Gil g' = beginnende I. Kum o X Aod = 
mittel bis stark . Wenn Fiuo X Gil stark I., dann Fiu 9 
x Ao d = Geschlechtsumkehr u. s. w. 

i) Wie zu erwarten geben die stärksten „schwachen“ o mit den 

schwächsten „starken“ Z zum Teil normale Nachkommen, ein 

wichtiger Grenzfall. 

Aus all dem folgt: Weibliche Intersexualität kommt zustande, 

wenn Weibchen einer schwachen Rasse mit Männchen einer 

starken Rasse gekreuzt werden. Der spezifische Grad der 

Intersexualität einer gegebenen Kreuzung ist eine Funktion 

zweier Variabeln, nämlich des Grades der „Schwäche“ der 

Mutter und der „Stärke“ der Väter. Das besagt ferner, daß 

das Entscheidende eine quantitative Relation der beiden 

Variabeln ist. 

Il. Das, was als Schwäche und Stärke bezeichnet wurde, ist 

ein physiologischer Zustand zweier selbständiger, in jedem Indi- 

viduum gleichzeitig vorhandener Sätze von Geschlechtsfaktoren. 

Das eine sind die im x-Ohromosom vererbten Geschlechtsfaktoren. 

(weibliche Heterozygotie, xy=9, xx= d) und zwar ist es der 

Männlichkeitsbestimmer M. (Mm = 9, MM =). Der andere Faktor 

wird ausschließlich mütterlich vererbt, von Mutter zu Ei, und ist 

daher entweder im Eiplasma oder dem y-Öhromosom lokalisiert. 

Es ist der Weiblichkeitsbestimmer [F. Wenn wir die Suffixe f 


- 500 R. Goldschmidt, Tntersexualität und Geschlechtsbestimmung. 


k 


u 





R. Goldschmidt, Intersexualität und Geschlechtsbestimmung. 501 


für stark und d für schwach benutzen, so ist die Formel einer 
starken Rasse IF] M;m — S[FIM:-M:=G, einer schwachen Rasse 


[FJMım = g [FJ] MıMı = SG. M:m ist ein intersexuelles 9. 
Die mütterliche Vererbung von F und die Vererbung von M als 
Mendelfaktor im x-Chromosom wird durch folgende Tatsachen be- 
wiesen: 

A. Ebenso wie F, sind auch alle Rückkreuzungen, F, etc. von 

€ schwachen Rassen inter se und ebenso starken Rassen inter se 
normal in bezug auf die Weibchen. 

B. Sämtliche F,-Zuchten aus der Kreuzung starke 9 X schwache 
(also der reziproken der Intersexualitätsproduzierenden) ergeben 
‚ausschließlich normale Weibchen’). 

C. In F,—F,-Zuchten aus solchen F,, deren ursprüngliche Bastard- 
mutter der starken Rasse angehörte, bleibt weibliche Inter- 
sexualität dauernd ausgeschlossen. 

D. In allen Rückkreuzungen, bei denen F,-Bastarde von starken 
Müttern und schwachen Vätern verwendet werden, erscheinen 
nur normale Weibchen, wenn dieser Bastard als Mutter dient, 
d. h. die mütterliche Linie der starken Rasse angehört. 

E. Dient der Bastard stark 9 X schwach Z als Vater einer Rück- 
kreuzung, sind die resultierenden 2 normal, wenn die Mutter 
einer starken Rasse angehört. 

F. Nachkommenschaft von noch fruchtbaren intersexuellen Weib- 
chen aus der Kreuzung schwach 2 X stark S spaltet (F,) in ?/, 
normale !/, intersexuelle 20 neben normalen Männchen. Die 
intersexuellen Weibchen sind vom gleichen Typus wie in F, 
und bleibep so in weitern Generationen. In F, etc. verhält sich 
die Nachkommenschaft normaler und intersexueller Weibchen 
identisch. Sie besteht von F, ab entweder aus nur intersexuellen 
99, oder aus !/, normalen, !/, intersexualen 09. Von F, ab sind 
auch Zuchten mit nur normalen 99 möglich. 

G. Intersexuelle Weibchen von F, verhalten sich der starken väter- 
lichen Rasse gegenüber wie normale Weibchen, geben also in 
dieser Kombination nur intersexuell-weibliche Nachkommenschaft 
vom gleichen Typ. 

H. Intersexuelle F,-Weibchen verhalten sich $S der schwachen 
Elternrasse gegenüber wie normale Weibchen; sie geben ın 
dieser Rückkreuzung normale Nachkommenschaft. 

I. F,-Männchen, welche Brüder der intersexuellen 99 sind, er- 
zeugen in der Rückkreuzung mit 99 der starken Elternrasse 
ausschließlich normale Nachkommenschaft in bezug auf die 99. 

. Die gleichen Jg wıe ın I erzeugen ın der Rückkreuzung mit 
99 der schwachen Elternrasse '/, normale, ?/, intersexuelle 99. 


>= 


2) In unserer Publikation von 1912 falsch berichtet, ebenso wie die korre- 
spondierende Rückkreuzung. Erklärung des Irrtums erfolgt in der Hauptarbeit, 





502 R. Goldschmidt, Intersexualität und Geschlechtsbestimmung. 


L. F,-7g aus der reziproken, normale Weibchen produzieren- 
den Kreuzung stark 9 X schwach g‘ produzieren in der Rück- 
kreuzung mit schwachen Weibchen ebenfalls die Spaltung in 
!/, normale, ?/, intersexuelle 99. 

M. Diese Tatsachen beweisen völlıg den unter II. aufgestellten 
Satz. Sıe können schematisch so zusammengefaßt werden: 








a Ze 


Mütterliche Linie Die beiden x-Chromosomen Weihliche NOCHE 








(Plasma oder gleich Geschlechtsfaktoren en 
y-Chromosom) | des Vaters 
| stark stark + stark normal 
stark stark + schwach normal 
[a schwach + schwach normal 
| schwach stark —+ stark alle O2 intersexuell 
schwach stark + schwach O9 !/, normal, ?/, intersexuell 
a schwach + schwach | normal 








Ill. Die Richtigkeit aller vorhergehenden Sätze wird, außer 
durch die später zu nennenden Tatsachen der männlichen Inter- 
sexualität durch weitere Proben bewiesen, nämlich: 

A. Normale und intersexuelle Geschwister-99, die also das gleiche 
Plasma resp. y-Chromosom besitzen, geben mit dem gleichen 
homo- oder heterozygoten Männchen oder mit verschiedenen 
homozygoten Männchen das gleiche Kreuzungsresultat, nämlich 
das nach der resp. Beschaffenheit der Sg aus yoriger Tabelle 
zu erwartende. 

B. Männchen, die aus völliger Geschlechtsumwandlung genetischer 
Weibchen entstanden sind, dürfen nur einen starken Geschlechts- 
faktor = x-Ohromosom besitzen. Soweit bisher möglich, wurde 
dies nachgewiesen. 

©. Eine außerordentlich bedeutungsvolle Probe wurde durch Tripel- 
und Quadrupelkreuzungen geliefert, d. h. durch alle möglichen 
Kreuzungskombinationen von drei oder mehr Rassen. Das 
Resultat darf nach Vorhergehendem nur bedingt werden von 
der mütterlichen Linie einerseits, d. h. der Beschaffenheit der 
ursprünglichen Bastardmutter (stark oder schwach) und den beı- 
den Geschlechtschromosomen des Vaters. Der Typus der Inter- 
sexualität, wenn erzeugt, muß dem der F,-Kreuzung aus solchen 
oo und Jg von der Rasse der betreffenden Geschlechtschromo- 
somen entsprechen, unabhängig davon, was sonst noch ın die Kombi- 
nation gekreuzt wurde. Z.B. diene der Bastard [(A X B)X (BxX A)] 
x|[C x DJ]: die Mutter (Inhalt der eckigen Klammer) ist der 
doppelreziproke F,-Bastard aus den Rassen A und B, erhalten 





BT ENG in Dan DE REN ARMEE Br ea va En 
R. Goldschmidt, Intersexualität und Geschlechtsbestimmung. 503 


aus dem F,-9 der ursprünglichen Kreuzung Ag xX Bd mit dem 
F,g der reziproken Kreuzung. (In der Formel steht immer 
das 9 an erster Stelle, das X-Zeichen trennt die beiden Eltern). 
Der Vater (die andere eckige Klammer rechts vom \X-Zeichen) 
ist ein F,-Bastard (das Potenzzeichen) aus der KreuzungC og X DG. 
Das Plasma (oder y-Chromosom) dieser Kreuzung ist das der 
Rasse A (der erste Buchstabe der Formel bei dieser Schreib- 
weise). Die x-Chromosomen (Geschlechtsfaktoren) des Vaters 
sind entweder D+Ü oder D+D. Das Resultat muß also das 
gleiche sein, wie wenn die reine Rasse A kombiniert wird mit 
Geschlechtsfaktoren D und © oder nur D. Ist A eine schwache 
Rasse, C und D zwei verschiedene starke, so kann das Resultat 
nur sein entweder a) !/, inters. © vom Typus der Kombination 
AxX.C, !/, inters. 9 vom Typus der Kombination AxXD oder 
b) alle 9 intersexuell vom Typus AXDu.s.w. Alle solchen 
noch so verwickelten Kombinationen ergaben das erwartete 
Resultat. 

IV. Unsere frühere Annahme der Inzuchtsintersexualität inner- 
halb genetisch reiner Rassen erwies sich als unrichtig. Der Fall 
wurde befriedigend aufgeklärt und liefert weiteres Material für 
alle vorhergehenden Tatsachen. 

V. Bei den intersexuellen Kombinationen, die völlige Geschlechts- 
umkehr von 2 in Zd' bedingen, kommen gelegentlich vereinzelte 
.Weibehen vor (im Durchschnitt weniger als 1%). Ihre Unter- 
suchung macht es wahrscheinlich, daß ein Fall sogenannten Nicht- 
auseinanderweichens (Non-disjunction nach Bridges) vorliegt und 
die Analyse deutet in die Richtung der Annahme, daß die „Schwäche“ 
nicht im Plasma, sondern im y-Chromosom vererbt wird. 


BB. Versuche über männliche Intersexualität. 

Die in Kreuzungen mit den gleichen Rassen nach bestimmten 
Gesetzen erhaltene männliche Intersexualität, also die Reihe inter- 
sexueller Umwandlungen von Männchen in Weibchen, ist schwerer 
zu analysieren als die weibliche Intersexualität und, hauptsächlich 
infolge der aus den Zeitverhältnissen entspringenden Schwierig- 
keiten, noch nicht so vollständig durchgeführt. Männliche Inter- 
sexualität wurde bisher auf drei Arten erzielt: 

I. In der ersten Serie trıtt männliche Intersexualität in allen 
-F,-Männchen auf. Sie ist bisher beschränkt, aber absolut typisch 
für die Kombinationen der beiden japanischen Rassen Fukuoka und 
Hokkaido. 

A. Weibehen Fuk gekreuzt mit Männchen Hok ergeben ın F, nur‘ 
normale Weibchen und intersexuelle Männchen. Die 99 sind 
beträchtlich in der Überzahl. Die intersexuellen dd zeigen 
außerordentliche Variabilität von vereinzelten normalen Jd als 
Minusindividuen bis hinauf zu starker Intersexualität; das Mittel 
liegt mehr bei letzterer, . 


—. 


504 R. Goldschmidt, Intersexualität und Geschlechtsbestimmung. 


B. 
C. 


G. 


SH. 


Die reziproke Kreuzung ist normal (beides sind ja „schwache“ 
Rassen). 

Die Rasse Fuk ergibt mit europäischen Rassen, die sich in 
bezug auf weibliche Intersexualität genau wie Hok verhalten, 
nur normale Nachkommenschaft. Das Resultat A ist somit bis- 
her spezifisch für die Kombination mit Hok. 


. F, aus Fuk 9 x Hokg mit intersexuellem F, d‘ ergibt wieder 


normale 99 und intersexuelle d‘Z' mit noch stärkerem Über- 
wiegen der 09. 

Die Rückkreuzung von F, 9 aus Fuk 9 x Hok Z mit reinen dd 
der Hok-hasse ergibt ausschließlich (100 %,) 29. 

F, oder Rückkreuzungen mit intersexuellen F, Sf auf Weibchen 
der reinen Hok-Masse oder solche, deren Mutter dieser Rasse 
angehörte, ergibt nur normale Nachkommenschaft. 

Diese Tatsachen zeigen, daß männliche Intersexualität in dieser 
Serie entsteht, wenn sich Fuk-Protoplasma (oder y-Chromosom) 
mit einem Fuk- und einem Hok-Geschlechtsfaktor kombinieren.. 
Bei der Kombination Fuk-Plasma mit zwei Geschlechtsfaktoren 
Hok werden alle SS in 99 umgewandelt. 
In gleicher Weise wie bei weiblicher Intersexualität wurde der 
Schluß vollgültig durch Tripel- und Quadrupelbastardierungen 
bewiesen. 

Il. In der zweiten Serie tritt männliche Intersexualität niederer 


Grade ın F,-Zuchten der Kombinationen stark 9 X schwach d auf. 


Q 


. In allen F, aus der Kreuzung von 29 der stärksten japanischen 


Rassen mit $d europäischer Rassen ist ein gewisser Prozent- 
satz der gg‘ mäßig intersexuell. Genau so verhält sich die 
Rückkreuzung (stark X schwach) 0 X schwach d.. 


. In F,, F, ete., aus derartigen Zuchten treten in den meisten 


Einzelzuchten wieder intersexuelle 5 auf, in anderen fehlen sie 
jedoch. 

Rückkreuzungen, außer den in A genannten, in denen der Bastard 
stark 9 X schwach d als Vater oder Mutter dient, liefern keine 
intersexuellen d.. 


. Irgendwelche andere Kombinationen zwischen einer starken 


und einer schwachen Rasse lieferten nie intersexuelle dJ. 

Wie bei der ersten Serie verhält sich die schwache Rasse 

Hokkaido different, obwohl sie in bezug auf weibliche Inter- 

sexualität den andern schwachen gleich ist. 

a) F, aus einem 9 starker japanischer Rasse mit d Hokkaido 
gibt typischerweise keine männliche Intersexualität, sondern 
nur auffallenden Weibchenüberschuß. 

b) Die Rückkreuzung des genannten F,-Bastards mit Hokkaido 
liefert ausschließlich Weibchen, nur gelegentlich ein paar 
Ausnahmsmännchen. (Genau wie die parallele (Fuk X Hok) 
x Hok-Kombination). 





Bi 
BR, 


R. Goldschmidt, Intersexualität und Geschlechtsbestimmung. . 505 


c) Alle andern Kombinationen der beiden Rassen liefern keine 

Resultate, die mit männlicher Intersexualität zu tun haben. 

d) Als gelegentliche Ausnahme kommen in F, der in a) ge- 
nannten Kreuzung vereinzelte 9‘ gerade beginnender Inter- 

sexualität vor. In diesem Fall erscheinen sie. auch in F, 

wieder neben der Erscheinung der hohen Weibchenzahl. 

G. Diese Befunde zeigen für männliche Intersexualität in dieser 
Serie. 

1. Sie entsteht nur, wenn die mütterliche Linie „stark“ ist. 

2. Wenn mit dem „starken Protoplasma“ sich in F, oder 
Rückkreuzung ein schwacher und ein starker Geschlechts- 
faktor kombinieren, entstehen normale Männchen. 

3. Wenn mit dem starken Protoplasma in F, oder Rück- 
kreuzung zwei schwache Geschlechtsfaktoren kombinieren, 
werden alle genetischen 5 in 9 verwandelt. 

4. Die gleiche Kombination wie in Nr. 2 liefert, wenn in F, 
oder Rückkreuzung (A) vorhanden, einen bestimmten Prozent- 
satz intersexueller S; das zeigt, daß hier die Rekombination 
weiterer Mendelfaktoren hinzukommt. Dieser Punkt gilt 
nicht für die Hokkaido-Rasse. 

III. Die dritte Serie enthält ein paar unvollständige Daten 
über Auftreten einiger weniger Individuen männlicher Intersexualıtät 
in F, und F, bei Kreuzung bestimmter schwacher Rassen inter se. 
Die Rassen sind mit der Fukuoka-Rasse verwandt, sämtlich Süd- 
Japaner. 

IV. Wie bei der weiblichen Intersexualität werden alle Gesetz- 
mäßigkeiten durch komplizierte Tripel- und Quadrupelbastarde in 
wunderbarster Weise bewiesen. Hierher gehören einige der glän- 
zendsten Belege für die Gesamtinterpretation. 


CC. Die Interpretation der Befunde. 


Das gesamte Experimentalmaterial wurde vererbungstheoretisch 
analysiert. Die in unsern früheren Publikationen bereits verschiedent- 
lich durchgeführte Interpretation hat sich glänzend bewährt und ist 
zum Teil so weit bewiesen worden, wie es überhaupt in solchen 
Experimenten möglich ıst. Das Prinzip ist, daß „Stärke“ und 
„Schwäche“ der Geschlechtsfaktoren ete. quantitative Zustände oder 
Potenzen dieser sind, die bei den einzelnen Rassen typisch verschieden 
sind. Da ıhre quantitative Relation für das Resultat entscheidend 
ist, so erklärt sich die Intersexualität durch abnorme Kombination 
m ihren absoluten Werten nicht zusammenpassender Quanten der 
beiden Variabeln. Wir verweisen auf die Durchführung des Prinzips 
in unseren früheren Publikationen und die genauere Analyse in der 
folgenden Monographie. Im einzelnen hat es sich bewährt und er- 
klärt spielend und ohne Hilfsannahmen auch die verwickelsten und 


ENTE Ren. BR ER Alle N, HALLSIRT SINE TR 
‘ - N \ a, 2% Y 
* 


HH R. Goldschmidt, Intersexualität und Geschlechtsbestimmung. 


unerwartetsten Resultate. Wie alle mendelistische Analyse liefert 
aber auch dies bloß eine formale Erklärung. Dem Mendel’schen 
Faktor, dessen Definition ja nur der Mechanismus seiner Verteilung 
ist, wird noch hinzugefügt das physiologische Attribut der Quantität 
und dadurch ermöglicht, die Resultate vererbungsmechanisch zu er- 
klären. Das Problem kann aber erst als gelöst betrachtet werden, 
wenn es auch vererbungsphysiologisch erklärt ist: d.h. wenn fest- 
steht was die Quantität eines Faktors physiologisch bedeutet und 
wieso diese Quantitäten in ihren relativen Proportionen Inter- 
sexualität hervorrufen, somit, was Intersexualität physiologisch ist. 
Diese Lösung hat die entwicklungsmechanische Analyse, wie wir 
glauben, vollständig gebracht. 





2. Entwicklungsphysiologische Analyse. 


A. Das Studium der intersexuellen Individuen hat folgende ein- 
fache Gesetzmäßigkeit ergeben, deren Analyse die Erklärung 
des ganzen Problems liefert: 

Die Reihenfolge, in der die Organe intersexueller Individuen 
sich in der Richtung auf das andere Geschlecht hin verändern, 
ist die Umkehr der Reihenfolge der embryonalen resp. larvalen 
Differenzierung. 

Daraus folgt die entwicklungsphysiologische Pirklähung der 
Tntareerualts 5 

Ein Intersex ist ein Individuum, das sich bis zu einem be- 
stimmten Punkt mit einem Geschlecht, seinem genetischen 
(hetero- oder homozygoten — xy oder xx) Geschlecht ent- 
wickelt und von diesem Punkt an trotz unveränderter gene- 
tischer Beschaffenheit, seine Entwicklung mit dem anderen Ge- 
schlecht beendet. Ein intersexuelles Weibchen ist ein gene- 
tisches Weibchen (Mm = xy), das an einem bestimmten Punkt 
seiner Entwicklung plötzlich aufhört ein Weibchen zu sein und 
seine Entwicklung als Männchen vollendet. Ein intersexuelles 
Männchen ist ein genetisches Männchen (MM = xx), das sich 
bis zu einem bestimmten Punkt seiner Entwicklung als Männ- 
chen differenziert, von da an aber plötzlich seine Entwicklung 
als Weibchen vollendet. Das Maß der Intersexualität ist somit 
nichts als ein Ausdruck für die späte (schwache Intersexualität) 
oder frühe (hohe Intersexualität) Lage dieses Drehpunktes inner- 
halb der Entwicklung. Alle Organe, die sich vor dem Dreh- 
punkt differenzieren, zeigen die Charaktere des genetischen Ge- 
schlechts, alle, die sich nachher differenzieren, die des entgegen- 
gesetzten Geschlechts. Alle zur Zeit des Drehpunkts_ differen- 
zierten Organe, für die physiologisch die Möglichkeit der De- 
oder Umdifferenzierung gegeben ist, tun es; ist es physiologisch 
unmöglich, so verbleiben sie. 






sch m 
0 


aa VE N ap BEE 1 ara rk ar SR ZERvan Z ver KU De er Pr Ze Tea 


R. Goldschmidt, Intersexualität und Geschlechtsbestimmung. 507 


B. Dies Zeitgesetz der Intersexualität ist abgeleitet aus dem Einzel- 
studium aller Organe; die Beweiskraft des Materials ist eine 
überwältigende. Hier seien nur ein paar Punkte angedeutet: 


a) 


b) 


Die Antennen sind beim 5 langgefiedert, beim Weibchen nicht. 
Die Differenzierung erfolgt in den ersten Tagen der Puppen- 
ruhe. Wird ein 9 intersexuell, so wachsen die Fiedern in 
männlicher: Richtung aus, bis die Chitinisierung das Wachs- 
tum endet. Je früher der „Drehpunkt“ liegt, um so mehr 
Zeit steht für diesen Prozeß zur Verfügung, die Länge der 
Fiedern ist also eine Funktion der zeitlichen Lage des Dreh- 
punkts, was im einzelnen genau zutrifft. 

Bei männlicher Intersexualität ist zu erwarten, daß Ver-: 
änderungen an den Antennen nur möglich sind, wenn der 
Drehpunkt in die ersten Tage der Puppenruhe fällt. Dies 
trifft zu. 

Flügelform und Abdomen demonstrieren schön das gleiche 
Gesetz. Es sei nur erwähnt der Fall starker Intersexualität, 
bei dem die Analyse die Lage des Drehpunkts für etwa zur 
Zeit der Verpuppung fixiert. Die Raupe hat somit eine weib- 
liche Entwicklung abgeschlossen, zu der die Aufspeicherung 
großer Fettmassen gehört, auf deren Kosten die Entwicklung 
des Ovars in der Puppe stattfindet. Mit dem Drehpunkt 
hört die Weiterentwicklung des Eierstocks auf und die 
Reservestoffe werden nicht verbraucht. Das intersexuelle 
Weibchen dieser Art hat dementsprechend ein Abdomen von 
weiblicher Dicke und männlicher Form, in dem sich das 
winzige Ovar der erwachsenen Raupe findet. Die Reserve- 
stoffe sind teilweise aufgelöst und füllen dadurch den Leib 
zum Platzen an, so daß .das Tier nicht aus seiner Puppen- 
hülle kann und bei leichter Berührung platzt. 

Die Geschlechtsdrüsen liefern ein Beispiel für das Gesetz, 
dessen Beweiskraft uns unwiderleglich erscheint. Wird ein 
Q intersexuell, so hört sofort die Weiterdifferenzierung des 
Ovars auf und eine Dedifferenzierung mit Histolyse und 
Phagozytose beginnt. Abgesehen von letzterem muß also 
eine Serie intersexueller Weibchen beginnen mit solchen, 
die normale Ovarien haben und fortschreitend Eierstöcke 
zeigen, die allen Stufen der embryonalen und larvalen Ent- 
wicklung entsprechen. Der Vergleich mit der normalen Ent- 
wicklung erlaubt dann, genau die Lage des Drehpunkts fest- 
zustellen, die mit der aus der Analyse anderer Organe 
gewonnenen übereinstimmt. Liegt dieser Drehpunkt nun 
früh in der Puppenzeit, so bleibt noch genügend Zeit, die 
Dedifferenzierung soweit zu führen, daß die morphologische 
Umgestaltung der Eiröhren in Hodenfollikel beginnen kann. 


. 


»08 





R. Goldschmidt, Intersexualität und Geschlechtsbestimmung. 


Liegt der Drehpunkt aber noch früher, so kann dieser Prozeß 
weiterschreiten und wir erhalten ın den höchsten Inter- 


sexualitätsstufen die lückenlose Serie der Dedifferenzierung 


des Eierstocks und seiner Umwandlung in einen Hoden. 

Dasselbe Gesetz zeigt sich bei den intersexuellen %. Bei 

den g’ ist der Hoden schon in der älteren Raupe fertig und 
mit Sperma gefüllt. Um die Zeit der Verpuppung : verwachsen 
dann die paarıgen Drüsen zu einer unpaaren. Entsprechend 
dieser Entwicklung zeigen intersexuelle 5 keine großen Ver- 
änderungen der Hodenstruktur, wenn der Drehpunkt nach 
der Verpuppung liegt. Nur bilden sich eventuell noch übrige 
Urgeschlechtszellen in Eizellen um, die sich in die typischen 
Ei-Nährzellgruppen der Insekten differenzieren. Liegt aber 
der Drehpunkt um- die Zeit der Verpuppung (Starke Inter- 
sexualität), so bleiben die Hoden paarig und beginnen inner- 
lich zu degenerieren und die ersten Schritte in der Richtung 
auf einen Eierstock durchzumachen. Die vielen Einzelheiten 
all dieser Dinge sind von größtem Interesse. 
Die Kopulationsapparate liefern das beweisendste Material 
für das Zeitgesetz. Denn sie bestehen aus verschiedenartigen 
homologen Teilen in beiden Geschlechtern und außerdem 
solchen, deren Anlagen nur einem Geschlecht zukommen 
und die sich zu verschiedenen Zeiten entwickeln. Die Serie 
intersexueller Veränderungen dieser Organe erscheint auf 
den ersten Blick von einer hoffnungslosen Komplikation zu 
sein. Die Entdeckung ıdes Zeitgesetzes der Intersexualität 
gibt eine geradezu verblüffend einfache Lösung. Die Tat- 
sachen selbst sind aber so kompliziert, daß sie nicht ohne 
Abbildungen beschrieben werden können. Es sei wieder nur 
ein illustrativer Einzelpunkt herausgegriffen: 

Beim Männchen entwickelt sich bereits in frühen Raupen- 
stadien eine Einstülpung am Hinterrand des 9. Segments, 
das Herold’sche Organ, das kein Homologen beim Weibchen 
besitzt. ‘In ihr differenzieren sich dann 2 Paare von Zapfen, 
aus denen sich später Valven und Penis des männlichen Kopu- 
lationsapparats ausbilden. Wird ein Weibchen intersexuell, 
so hören die Segmente, die den Kopulationsapparat bilden, 
mit dem Einsetzen des Drehpunkts auf dem erreichten Punkt 
mit weiblicher Entwicklung auf und beenden ihre Entwick- 
lung ın männlicher Differenzierung. Das läßt sich dann 
Schritt für Schritt an den homologen Teilen beider Apparate 
verfolgen. Mit dem Drehpunkt aber beginnt sich alsbald 
auch das dem Weibchen fehlende Herold’sche Organ zu 
bilden und in normaler Weise seine Entwicklung anzutreten, 
die natürlich eine bestimmte Zeit erfordert. Je nach der 





a N 
R. Goldschmidt, Intersexualität und Geschlechtsbestimmung. 509 


Lage des Drehpunkts (gleich Grad der Intersexualität) ver- 
bleibt nun nur eine kurze oder graduell längere Zeit, bis 
die allgemeine Chitinisierung derartige Entwicklungsvorgänge 
beendigt. Mit ansteigenden Stufen weiblicher Intersexualität 
hat somit Herold’s Organ verschiedene Stufen der Ent- 
wicklung von der Einstülpung bis zu fertigen Valven und 
Penis erreicht und diese Entwicklungsstufen werden dann 
chitinisiert und sind im intersexuellen Kopulationsapparat 
vorhanden, wo sie das Zeitgesetz direkt ad oculos demon- 
strieren. 

e) Geschlechtsausführwege und Puppenhülle illustrieren das 
gleiche Gesetz in Übereinstimmung mit den übrigen Daten. 

f) Der Beweis, daß die Flügelfärbung intersexueller Tiere das 
gleiche Gesetz zeigt, läßt en Bat kurz wiedergeben. Für 
den Haupttypus der intersexuellen Färbung (es gibt noch 
einen anderen Typus) läßt sich der folgende Satz beweisen: 
Die Quantität des Pigments auf dem intersexuellen Flügel 
ist ein Ausdruck der früheren oder späteren Lage des Dreh- 
punkts,; oder, anders ausgedrückt, eine Funktion der Zeit, 
die dem Individuum für die Ohromogen bildenden Spaltungs- 
prozesse vom männlichen Typ zur Verfügung standen. 

g) Die Resultate in bezug auf die Bestimmung der zeitlichen 
Lage des Drehpunkts bei der Entwicklung der verschiedenen 
intersexuellen Typen, die das Studium der Einzelorgane er- 
gibt, stimmen miteinander überein. 


Vergleich der genetischen und entwieklungsphysiologischen 
Tatsachen. 


. Die genetische Analyse zeigt, daß bei der Determination des 


Geschlechts weibliche wie männliche Geschlechtsfaktoren im 
Spiel sind; ferner, daß beiden eine gewisse Quantität der 
Aktivität zukommt, die Stärke und Schwäche, allgemein Potenz; 
schließlich daß das Endresultat in bezug auf das Geschlecht durch 
eine quantitative Relation beider bedingt wird. Ist sie quan- 
titativ abnorm zugunsten einer Gruppe, so entsteht Inter- 
sexualität. 


. Die entwicklungsphysiologische Analyse zeigte, daß das Maß 


der Intersexualität ein Ausdruck ist für die zeitliche Lage des 

Drehpunkts. 

Daraus ergibt sich folgende Situation: 

a) Intersexualität ist das Phänomen, daß an einem bestimmten 
Zeitpunkt der Entwicklung des Individuums, dem Drehpunkt, 
eine Reaktion stattfindet, die Umschlagsreaktion, deren physio- 
logischer Effekt darin besteht, daß sie die alternativen Differen- 
zierungsvorgänge zwingt, im Zeichen des entgegengesetzten 


oe a 





510 R. Goldschmidt, Intersexualität und Geschlechieben ne.” 


Geschlechts zu verlaufen: die weibliche Differenzierung springt 
in die männliche um und umgekehrt. 

b) Der Zeitpunkt des Einsetzens der Umschlagsreaktion ist maß- 
gebend für das Maß der Intersexualität; je früher er liegt, 
um so höher der Grad. 

c) Das Auftreten der Umschlagsreaktion während der Entwick- 
lung ist genetisch bedingt durch erbliche Eigenschaften der 
zur Kreuzung benützten Rassen. 

d) Die in Betracht kommenden Erbfaktoren der geschlechtlichen 
Differenzierung unterscheiden sich in ihrer Quantität. 

e) Intersexualität wird genetisch produziert, wenn die Faktoren 
der männlichen und weiblichen Differenzierung quantitativ 
nicht richtig aufeinander abgestimmt sind. Das Maß der Inter- 
sexualität ist proportional der Höhe dieser Unstimmigkeit. 


D. Aus © folgt die folgende Lösung des Problems: 

a) Das normale Geschlecht wird dadurch bedingt, daß die ge- 
samten Differenzierungsprozesse im Zeichen de physiologi- 
schen Einflusses verlaufen, der von dem oder den Faktoren 
des betreffenden Geschlechts hervorgerufen wird. 

Da in verschiedenen Individuen entweder der männliche oder 

weibliche Differenzierungseinfluß herrschend ist, beim Inter- 

sex aber beide Einflüsse im gleichen Individuum aufeinander- 
folgen können, so besteht der normale Geschlechtsvererbungs- 
mechanismus darin, dem einen Einfluß die Oberhand zu geben. 

Da Intersexualität durch das Eintreten der Umschlagsreaktion 

während der Differenzierung bedingt ist und dies Ereignis 

durch abnorme quantitative Kombination der Faktoren herbei- 
geführt wird, so muß normalerweise die Reaktion, die den 
differenzierungsbeherrschenden physiologischen Zustand her- 
vorbringt, für das aktuelle Geschlecht schneller verlaufen 
als für das nicht erscheinende Geschlecht. Weibliche Inter- 
sexualität kommt aber zustande, wenn die neben der herr- 
schenden weiblichen Reaktion verlaufende männliche Reaktion 
schneller verläuft als sie normalerweise sollte (umgekehrt 
bei männlicher Intersexualität) und noch während der Ent- 
wicklung die Oberhand gewinnt. Je schneller sie verläuft, 
je früher die Lage des Drehpunkts, je höher das Maß der 

Intersexualıtät. 

Somit sind koordiniert Quantität der Erbfaktoren und Ge- 

schwindigkeit einer Reaktion; wir stehen vor dem Massen- 

gesetz der Reaktionsgeschwindigkeiten. 

e) Das Wesen der von den Faktoren erzeugten Reaktion läßt 
sich nicht aus Versuchen von der Art der unseren erschließen. 
Eine vergleichende Betrachtung des Geschlechtsproblems lehrt, 
daß es sein muß die Produktion der spezifischen Hormone 


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R. Goldschmidt, Intersexualität und Geschlechtsbestimmung. Sl 


der geschlechtlichen Differenzierung (die aber bei den In- 
sekten nicht lokalisiert produziert werden, sondern wohl in 
jeder Körperzelle). 

f) Die Geschlechtsfaktoren selbst müssen Substanzen sein, die 
eine Reaktion proportional ihrer Quantität beschleunigen, also 
Enzyme oder ihnen ähnliches. 


. Somit ist die Lösung des Problems der Intersexualität und des 


Geschlechtsproblems überhaupt, zu der wir vordringen können, 
die: j 

Jedes befruchtete Ei besitzt normalerweise die beiderlei 
Erbfaktoren, deren Aktivität für die Differenzierung des einen 
oder anderen Geschlechts erforderlich ist. Diese Geschlechts- 
faktoren sind Enzyme oder Körper von ähnlichem physikalisch- 
chemischem Charakter. Jedes dieser Enzyme, das der männ- 
lichen wie das der weiblichen Differenzierung ist notwendig für 
die Ausführung (Beschleunigung) einer Reaktion, deren Produkt 
die spezifischen Hormone der geschlechtlichen Differenzierung 
sind. . Bei Formen mit weiblicher Heterozygotie, wie es der 
Schwammspinner ist, wird das weibliche Enzym, wie wir kurz 
sagen wollen, rein mütterlich vererbt. Ob dies plasmatische 
Vererbung oder solche im y-Chromosom bedeutet, jedenfalls 
ist jedes Ei identisch in bezug auf den Weiblichkeitsfaktor 
oder seine Produkte. Das männliche Enzym ist der nach dem 
bekannten Heterozygotie-Homozygotie-Schema mit dem x-Chro- 
mosom der Hälfte der Eier aber allen Spermatozoen überlieferte 
Geschlechtsfaktor. Absolute wie relative Quantität der beiden 
Enzyme ist ein festgelegter Erbcharakter jeder Rasse. Der 
Mechanismus der Geschlechtsvererbung, der darin besteht, daß 
die zu Männchen bestimmten Eier zwei x-Chromosomen, = zwei 
Faktoren M, = zwei Dosen männliches Enzym erhalten, die zu. 
Weibchen bestimmten Eier aber nur eines, einen, eine, ist so- 
mit ein Mechanismus der dafür sorgt, daß zu Anfang der Ent- 
wicklung einer bestimmten, stets gleichen Quantität weiblichen 
Enzyms entweder n, oder 2n-Maßeinheiten des männlichen 
Enzyms gegenüberstehen. Diese Quanten sind so dosiert, daß 
die Quantität q des weiblichen Enzyms größer ist als n des 
männlichen: die Produktion der Hormone der weiblichen Diffe- 
renzierung eilt somit bei dieser Kombination voraus, die Ent- 
wicklung ist weiblich. Umgekehrt ergeben 2 n des männlichen 
Enzyms eine höhere Konzentration als q des weiblichen, die 
Hormone der männlichen Differenzierung werden schneller 
produziert und ein Männchen entsteht. Der x-Chromosomen- 
Heterozygotie-Homozygotie-Mechanismus erweist sich somit als 
eine ideale Methode des‘ Ausgleichs der Relation zweier Re- 
aktionsgeschwindigkeiten. 


512 R. Goldschmidt, Intersexualität und Geschlechtsbestimmung. 


Da das Entscheidende die Relation zweier Quantitäten ist, 
so können die absoluten Quantitäten sehr verschieden sein, so-' 
lange nur die richtige Relation gewahrt ist und die resultieren- 
den Reaktionsgeschwindigkeiten in Harmonie sind mit den Zeit- 
verhältnissen der Entwicklung. In der Tat erweisen sich 
verschiedene Rassen verschieden in bezug auf die absoluten 
Quanten der Enzyme. Werden solche Rassen gekreuzt, so 
wird die notwendige quantitative Relation gestört und das 
männliche Enzym kann relativ zu konzentriert sein für. das 
weibliche Quantum, selbst im n-Zustand. Umgekehrt mag das 
weibliche Enzym zu konzentriert sein im Verhältnis zum männ- 
lichen, selbst ım 2n-Zustand. Dann werden die Produkte des 
zu konzentrierten Enzyms zu schnell gebildet; ihre wirksame 
Quantität wird noch innerhalb der Entwicklungsperiode erreicht, 
(der Drehpunkt), Intersexualität tritt ein. 

F. Die Resultate der Untersuchung erlauben eine neuartige Be- 
trachtung des ganzen Geschlechtsproblems, die in einem be- 
sonderen Buch durchgeführt ist, das bald erscheinen soll. 


4. Die Vererbung sekundärer Geschlechtseharaktere. 


Die Untersuchungen über die Intersexualität haben auch eine 
einfache Lösung des Problems der sekundären Geschlechtscharaktere 
gebracht, die sich von den früheren Anschauungen des Verfassers 
entfernt und sich mehr der von Baur und Tandler vertretenen 
nähert. 

5. Cytologie. 

Die eytologische Untersuchung konnte bisher nichts Wesent- 
liches zu unserem Problem beitragen und wird es auch wahrschein- 
lich nie können, wie in der Hauptarbeit ausgeführt werden wird. 


6. Die biologische Bedeutung der Potenzvariation. 


Die Tatsache, daß es geographische Rassen sind, die sich in 
der Quantität der Geschlechtsfaktoren unterscheiden, bietet ein 
bedeutungvolles Problem dar. Seine wahrscheinliche Lösung ist, 
daß diese Quanten eine Anpassung an die Zeitverhältnisse des 
Lebenszyklus sind. Der Beweis wird im Zusammenhang mit einer 
anderen Untersuchung über geographische Variation erbracht und 
zur Basis neuer evolutionistischer Ableitungen gemacht, die dem- 
nächst in Buchform veröffentlicht werden. 









h RE RER N ZT 


ICH 


515 


Das Schraubungsprinzip in der Natur. 
Von Dr. Hans Günther, Leipzig. 


$ 1. In das an der organisierten Substanz ausgeprägte biosta- 
tisch begründete Prinzip der Symmetrie bringt der Begriff des 
materiellen Geschehens einen Dualismus, indem er den Begriff der 
Richtung und den damit verbundenen der Gegenrichtung einschließt. 
Mit der Vorstellung der reinen Form einer symmetrischen ebenen 
Figur (z. B. Kreis), oder eines symmetrischen Körpers (Würfel, 
Kugel) ist primär der Begriff „Rechts — Links“ (indem nach Study 
„ein axiomatischer Bestandteil“ liege) nieht verbunden. Letzterer 
erscheint erst in der Begleitung einer Bewegungsvorstellung oder 
bei der physiologischen Vorstellung einer organisierten Substanz 
oder bei der physiologischen Orientierung im Raume (welche, wie 
E. Mach sagt, eine Ungleichwertigkeit — Anisotropie — der 
Dimensionen des physiologischen Raumes fordert) nach einem be- 
stimmten Koordinatensystem (dessen 0-Punkt z. B. auf einer Sym- 
metrieachse in der „Medianebene“ liegen möge). 

Selbst das rektanguläre Koordinatensystem ist aber nicht ein- 
deutig bestimmt, wenn es sich um Drehungen handelt. Denn wir 
unterscheiden das bei uns gewöhnlich verwendete rechtsseitige 
(englische) und das linksseitige (franz. Koordinatensystem. 

Im rechtsseitigen Koordinatensystem soll die Drehung eines 
Radiusvektors von der „+ X“ zur „+ Y“ Achse, resp. „+ Y* zur 
„+Z* und „+Z” zur „+X* Achse den Sinn der positiven 
Drehung angeben. Diese Drehung erfolgt dann im Sinne der Rechts- 
drehung und im Sinne der Uhrzeigerbewegung, wenn man die 
Drehung von der dazu normalen negativen Koordinate (Drehungs- 
achse) aus betrachtet. Positiv orientiert im Raume sind ferner die 
Drehungen dann, wenn außerdemjeine Drehung aus der Koordinaten- 
ebene heraus durch Drehung der Drehungsachse im positiven 
Sinne (Drehzentrum im Ursprung) erfolgt. 

Ein gegebenes rotierendes System läßt sich aber willkürlich 
verschieden im Raume orientieren. Eine eindeutige Bestimmung 
des Drehungssinnes ist erst möglich, wenn gleichzeitig eine  be- 
stimmte Bewegungsrichtung des Systems gegeben ist. Der ein- 
fachste Fall ist der, daß ein Punkt, der eine Kreisbewegung macht, 
gleichzeitig eine Beschleunigung in der Richtung der Drehungsachse 
_ erfährt, so daß er eine gewöhnliche Schraubenlinie beschreibt. 

Den Drehungssinn der Schraubenlinie wollen wir nun stets so 
bestimmen, daß wir die Bewegung in der Richtung der Drehungs- 
achse so betrachten, daß der rotierende Punkt sich von uns fort 
bewegt. Die eindeutige Bezeichnung des Drehungssinnes entspricht 
dann der üblichen, auf die Uhrzeigerdrehung bezogenen Ausdrucks- 
weise, 

Allgemeiner bestimmen wir den Drehungssinn irgend 

Band 39. 34 


514 H. Günther, Das Schraubungsprinzip in der Natur. 


eines Systems, indem wir dieses in der dem ganzen 
System eigenen Bewegungsrichtung (so daß dieses sich 
von uns fortbewegt) betrachten. Bei dieser Bestimmungsmethode 
entspricht also die positive Drehung der Rechtsdrehung. | 

Einen ähnlichen Sinn hat die von Study gegebene Definition: 
„Wenn eine Schraubung um eine orientierte Gerade der positiven 
Richtung dieser Geraden ihren positiven Drehungssinn zuordnet, so 
ist die Schraubung rechtsgewunden.“ 


Eine oberflächliche Orientierung ermöglicht die anschauliche Bestimmung: 
„Auf einen Rotationszylinder mit senkrechter Achse sei eine gemeine Schrauben- 
linie verzeichnet. Wenn diese für den außenstehenden Beschauer von links unten 
nach rechts oben verläuft, so soll sie rechtsgewunden, im entgegengesetzten Falle 
linksgewunden heißen“ (Study), oder die Vorstellung einer Wendeltreppe, die 
rechtsgewunden ist, wenn beim Hinabsteigen die Achse zur Rechten ist. Defini- 
tionen, wie: „Eine Bewegung heißt rechtsgewunden, wenn sie in zwei Umwendungen 
um Gerade zerlegt werden kann, die ein rechtsgewundenes Paar bilden“ oder: 
„Eine Kurve heißt dort linksgewunden, wo ihre Tangentenfläche rechtsgewunden ist 
und umgekehrt“ bezeichnet Study selbst als gewaltsam und nur aus praktischen 
Gründen gebildet. 

Wird eine Dimension der Schraubenbewegung gleich 0, so entsteht einerseits 
(Ausschaltung von Beschleunigung in Richtung der Drehungsachse) die ebene Dreh- 
ung, anderseits (Ausschaltung einer Komponente der Kreisbewegung) eine wellen- 
förmige ebene Kurve. 

Der Rhythmus der Schraube wird durch die Ganghöhe repräsentiert. 

Eine Umkehr des Schraubenssinnes erhält man durch Spiegelung. In 
gleicher Weise gibt rein geometrisch die Spiegelung einer zentral-symmetrischen Form 
(z. B. Rechtsform) die entsprechende Linksform, während die lateral-symmetrische 
Form dem Spiegelbilde gleicht. Eine R.- und L.-Form lassen sich zu einer lateral- 
symmetrischen Form konjugieren (konjugierte Form), z. B. auch eine R.- und L.- 
Schraube so ineinander legen, daß ein lateral-symmetrisches Gebilde entsteht. Es 
besteht eine gewisse Analogie zwischen den aus physiologischen Vorstellungen ent- 
sprungenen R.- und L.-Formen und den mathematischen „Originalfunktionen“ und 
„inversen Funktionen“. 

$& 2. Die meisten „absoluten“ (im Sinne der erweiterten Rela- 
tivität) Bewegungen im Raume stellen Schraubungen dar. Jede 
unendlich kleine Bewegung ist eine Schraubung. 

Als Herschel bei der Untersuchung der Drehung der Polari- 
sationsebene des Lichtes .im Quarze eine Schraubenstruktur des 


letzteren annahm, sprach er von einer „helikoidalen Dyssymmetrie*“. 


Durch die Einführung des Begriffes der Asymmetrie wird hier nichts 
gewonnen; wir könnten ebensogut unter Erweiterung des Begriffes 
der Symmetrie von einer besonderen Form der Symmetrie („heli- 
koidalen Symmetrie“) sprechen, denn auch an einer gewöhnlichen 
Schraube lassen sich Symmetrieverhältnisse nachweisen, auch läßt 
sich ein völlig symmetrischer, biegsamer Körper (Wurm, Schlange) 
in schraubenartige Lage bringen, resp. kann sich in Schrauben- 
richtung bewegen. 

Symmetrie und Schraubung schließen sich also gegenseitig 
nicht aus, sondern die Schraubung stellt eine besondere Art der 


Symmetrie dar. 








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H. Günther, Das Schraubungsprinzip in der Natur. 515 


$ 3. Um den Drehungssinn der in der Natur vorkommenden 
Rotationen und Schraubungen wissenschaftlich festzustellen, ist die 
allgemeine Anwendung einer Definition, wie etwa der oben ge- 
gebenen, unbedingt nötig, um Widersprüche zu vermeiden. Leider 
finden sich in der Naturwissenschaft und selbst in der Mathematik, 
wie auch Vertreter verschiedener Disziplinen (van Iterson, R. Fick, 
Study) besonders betonen, häufige Widersprüche und Verwirrung. 
So entsprechen im allgemeinen die Bezeichnungen von Zoologen 
und Technikern der hier gegebenen Definition, während Botaniker 
u. a. dieselben Ausdrücke im entgegengesetzten Smne brauchen. 
Besonders in der Botanik ist seit Listing und Linne& dieser 
Brauch üblich geworden, wie man aus Lehrbüchern von Pfeffer, 
Jost, etc. sehen kann. van Iterson benutzte selbst bei der mathe- 
matischen Behandlung botanischen Materials die gegensinnige, ın 
der Botanik übliche Definition. 

Zoologen verwenden außerdem die Ausdrücke: „dexiotrop und 
„läotrop“, welche aber fälschlich auch im entgegengesetzten Sinne 
gebraucht werden. Ein Botaniker sprach sogar von „südöstlichen“ und 
„südwestlichen“ Gewinden. In allen naturwissenschaftlichen Fächern 
begegnen wir dem Prinzip der Schraubung. Bevor in den folgen- 
den Paragraphen näher darauf eingegangen wird, sei betont, daß 
mitunter die Schraubungsriehtung ohne die Möglichkeit einer Nach- 
prüfung mit der von den betreffenden Autoren stammenden Be- 
zeichnung wiedergegeben werden mußte und daß in einzelnen Fällen 
eventuell noch Korrekturen gemäß einer einheitlichen Definition 
nötig sind. 

Der Schraubungssinn wird bei Betrachtung durch das Mikro- 
skop nicht verändert; eine Umkehrung findet aber z.B. bei Ver- 
wendung des alten Sömmering’schen Zeichnungsapparates statt. 
Nach Nägeli und Schwendener (Das Mikroskop, Leipzig 1867) 
„haben schon manche Mikroskopiker den Beweis geliefert, daß sie 
über dergleichen Dinge noch ganz ım Unklaren sind“. 

$ 4. Unter den physikalischen Erscheinungen sei zunächst 
die elektromagnetische Rechtsschraubung genannt. Ferner ist be- 
kannt, daß ein Drahtleiter im Magnetfelde rechtsgeschraubte Torsion 
erleidet, wenn er in der Nordsüdrichtung von einem elektrischen 
Strome durchflossen wird. (Matteuci-Wiedemann.) 

Besondere Beachtung verdient hier die optische Drehung 
der Polarisationsebene des Lichtes, welche in dem „optisch 
aktiven“ Medium im Sinne der R.- oder L.-Drehung erfolgt. Pasteur 
hat zuerst den Zusammenhang zwischen dieser optischen Aktıvität 
und der Kristallform der betreffenden Substanz klargestellt. Der 
enantiomorphe Bau dieser Kristallformen, welche die Stereochemie 
als „asymmetrisch* bezeichnet, läßt schon äußerlich eine Schrauben- 
struktur erkennen. 

Bei der Polarisation des Lichtstrahles erfolgt nach Fresnel 


34* 


BE KOT RS RERTRER € 3 aa EB a BE ae Ra a 
516 H. Günther, Das Schraubungsprinzip in der Natur. 


eine Spaltung in einen r.- und l.-geschraubten Strahl; der normal 
gegen die Schraubenstruktur des Körpers verlaufende Strahl er- 
langt die größere Geschwindigkeit und bestimmt somit die „Dreh- 
ung der Polarisationsebene“. Also z. B. im Rechtsquarz erzeugt 
der linksgeschraubte Strahl für den in entgegengesetzter Richtung 
Beobachtenden die „Rechtsdrehung“ der Polarisationsebene. Dem- 
entsprechend gilt die Definition von Kohlrausch, daß „Rechts- 
drehung“ dann stattfindet, „wenn die Schwingungsebene des Lichtes 
sich im umgekehrten Sinne des Korkziehers verschiebt, d.h wenn 
dieselbe dem empfangenden Auge in der Richtung des Uhrzeigers 
gedreht erscheint“. Herr Geh.-Rat Prof. Dr. Wiener gab mir 
die gütige Auskunft, daß diese Definition in der Physik jetzt all- 
gemein gilt. Rechtsschraubung des Lichtes wird aber als „Links- 
drehung“ bezeichnet und ist auf Linksstruktur zu beziehen. Die von 
Lummer (in Müller-Pouillet 1909, 11I. 3. p. 999) gegebene 
Definition: „Eine Drehung der Polarisationsebene nach der rechten 
Seite erfolgt, wenn der rechtsrotierende Strahl sich schneller durch 
die Quarzplatte fortpflanzt“, steht hierzu im Widerspruch (Rechts- 
rotation ist dabei als Rechtsschraubung abgebildet). Die Entstehung 
der optischen Drehung durch Schraubenstruktur läßt sich auch 
experimentell verwirklichen. Werden z. B. dünne Glimmerblätt- 
chen der Struktur des Rechtsquarzes entsprechend in R.-Schrauben- 
anordnung übereinandergeschichtet, so zeigt ein in der Richtung der 
Schraubenachse einfallender Lichtstrahl für den dem Strahle entgegen- 
blickenden Beobachter „Rechtsdrehung“ (Reusch). 

Manche Stoffe drehen nur 1. im kristallinischen, manche nur 
2. im amorphen, flüssigen oder gelösten, andere 3. in beiden Zu- 
ständen. Die R.- und L.-Kristalle gewisser Substanzen können 
übrigens verschiedene Löslichkeit zeigen. Bei Stoffen der 1. Klasse 
ist nach Sommerfeld eine spiegelbildliche Symmetrie der Mole- 
küle nicht ausgeschlossen. Bei den übrigen Klassen neigt die Chemie 
zu der Ansicht, daß die physikalischen Vorgänge im Molekül, resp. 
der „Bau“ der Moleküle denselben Drehungssinn aufweisen. Die 
biologische Tatsache ist zu beachten, daß die Eiweißkörper meist 
eine Rechtsschraubung des Lichtstrahles verursachen, also nach 
der üblichen Bestimmungsmethode „linksdrehend“ sind; die wichtige 
Gruppe aber der Nucleoproteide und des Hämoglobins sind „rechts- 
drehend“. Die optische Aktivität ist eine wesentliche Eigenschaft 
der biologischen, synthetischen Produkte, welche im Gegensatz zu 
den artifiziellen Produkten des Laboratoriums als wichtiges Cha- 
rakteristikum der lebenden Substanz eine. spezifische Schrau- 
bungsrichtung zeigen. Schon Pasteur fragte sich, was wohl für 
Lebensgebilde entstehen würden bei einer Inversion des Schrau- 
bungssinnes der Zellulose und der Eiweißkörper. „If such cir- 
cumstances could be realised in the living tissues, investigations 
of inlimited range would be open to the future, and at present 





aa go ee Fk aa N RE a a Fran 2 une sy) way 
H. Günther, Das Schraubungsprinzip in der Natur. 517 


such questions are worthy of the most careful attention of scien- 
tists“‘ (F. M. Jaeger). A. Byk sucht diese spezifische Einseitigkeit 
des Schraubungssinnes der organischen Synthese auf die Wirkung 
des an Wasseroberflächen reflektierten, zirkular polarisierten, unter 
dem Einfluß des terrestrischen Magnetismus stehenden Lichtes zurück- 
zuführen. 

Nach Sommerfeld kann man bei alleiniger Anwendung der 
Punktsysteme ohne Berücksichtigung der räumlichen Ausdehnung 
der Formelemente das Drehungsvermögen lediglich im regulären, 
tetragonalen und hexagonalen System erklären; „wenn man aber 
körperliche Formelemente im Raume gruppiert, so genügen schon 
die Raumgitter, um auch in den niedriger symmetrischen Systemen 
die Verschiedenheit der Rechts- und Linksstrukturen zu erkennen‘. 
Bei Raumgittern kommt es nach Sommerfeld weniger auf 
Symmetrieeigenschaften an. Teilflächige Symmetrie sei durch 
„alternierende Gitter“ zu erklären. Je nachdem die Teilgitter im 
rechten oder linken Schraubensinne aufeinander folgen, lassen sich 
rechts- oder linksgewendete Kristallstrukturen erzeugen. Das op- 
tische Drehungsvermögen läßt sich also danach nicht nur durch 
eine entsprechende Eigenschaft der Moleküle, sondern auch durch 
eine schraubenförmige Anordnung der Moleküle im Raume er- 
klären. 

Bedeutsame Ergebnisse hatten die Studien der flüssigen Kri- 
stalle, durch die noch weitere tiefgreifende Umgestaltungen unserer 
Theorien über Kristallographie und Molekularphysik zu erwarten 
sind. Die Kristallenergien äußern sich durch die verschiedenartigsten 
Phänomene, von denen hier besonders die Schraubungsphänomene 
interessieren. 

Durch Wallerant’s Untersuchungen war bereits bekannt, daß 
durch Aufnahme fremder Moleküle, besonders optisch aktiver 
Stoffe, in das Raumgitter eines Kristalls schraubenförmige Ver- 
drehungen erzeugt werden, welche nach ©. Lehmann’s Meinung 
auf den spiralen Bau dieser Moleküle zurückzuführen sind. 

Bei flüssigen Kristallen hat besonders das Kolophonium die 
Wirkung, Schraubenstruktur und Zirkularpolarisation hervorzu- 
bringen, speziell dessen Abietinsäure (Vorländer und Janecke), 
von der schon sehr geringe Mengen zur „zirkularen Infektion“ ge- 
nügen. 

Bei Paraazoxyphenetol erzeugen Olivenöl oder Cholesteryl- 
benzoat entgegengesetzte Drehung wie Kolophonium und Abietin- 
säure, und zwar scheint nach Abbildungen OÖ. Lehmann’s Cho- 
lesterylbenzoat Rechtsschraubung hervorzurufen. 

Diese Phänomene treten besonders deutlich an Kapillarsäulen 
des tropfbar-flüssig-kristallinischen Paraazoxyphenetols hervor. Die 
Ganghöhe war von der Konzentration des Zusatzes abhängig, durch 
Zusatz beider autogonistischer Substanzen trat Kompensation ein. 


Y 


548 H. Günther, Das Schraubungsprinzip in der Natur. 


Zuweilen entstanden ‚auch bei homogenen Säulen kristallini- 
scher Flüssigkeiten Spiralstrukturen, wenn das Temperaturgefälle 
zwischen Unter- und Oberseite verstärkt wurde. Ebenso war eine 
scheinbare Rotation der Tropfen in Olivenöl als Lösungsmittel 
und in entgegengesetztem Sinne bei Kolophonzusatz bemerkbar. 
Bei Tropfen, die Olivenöl und sehr wenig Kolophonium enthalten, 
lassen sich Oszillationen verbunden. mit regelmäßigem Wechsel 
der Struktur nachweisen. 

Ferner sah O. Lehmann beim Zusammenfließen zweier ange- 
schmiegter, gleichförmig grau erscheinender Tropfen flüssiger 
Kristalle in beiden Tropfenhälften entgegengesetzte Schrauben- 
struktur; es fand also ein symmetrischer Ausgleich statt. 

$ 5. Auch im Makrokosmus erkennen wir das Schraubungs- 
prinzip. Die Bestimmung der Drehungsrichtung unseres isoliert 
gedachten Planetensystems würde nicht eindeutig möglich sein, da 
wir ja die Bewegung einem bestimmten Weltpole, aber ebensogut 
auch dem anderen Weltpole zuordnen können. Diese doppelsinnige 
Deutung vermeiden wir, wenn wir definitionsgemäß berücksichtigen, 
daß das ganze System eine Bewegung in der Richtung nach einem 
Punkte ım Sternbilde des Herkules ausführt. Die Bewegungsrich- 
tung entspricht dabei einer Deklination plus 28° (Rektaszension 
ca. 269 bis 277°)'). Dann können wir eindeutig z. B. die Drehung 
unserer Erde als Rechtsdrehung, die aus der Erdbahnbewegung 
und Bewegung des- Sonnensystems zusammengesetzte Bewegung 
als Rechtsschraubung bezeichnen. 

Allen Planeten kommt bemerkenswerterweise der gleiche Dreh- 
ungssinn zu. (Eine ähnliche Konstanz findet sich auch bei Wirbel- 
winden.) 

Berücksichtigt man außer der Bahn des Planeten dessen Eigen- 
rotation, so bildet die Bahn eines Punktes der Erdoberfläche eine 
superponierte Schraubung. II. Ordnung; eine ähnliche Kurve finden 
wir (s. u.) bei der en von gewissen Spirochaeten. 

Theoretisch ist dıe Annahme sehon als Analogieschluß aus den 
Befunden im Mikrokosmos berechtigt, daß es auch linksdrehende 
Systeme gibt. 

$ 6. Das in der allgemeinen Physik herrschende Schraubungs- 
prinzip muß auch in der Morphologie und Physiologie der 
Örganısmen in irgendwelchen Formen zum Ausdruck kommen, 
sowohl in der Wache A einzelner Teile, als auch in 
der Bewegung des gesamten Organismus. 

Wie die Ortsbewegung einerseits nach biostatischen Gesetzen 
die bilaterale Symmetrie des Organismus begründet, führen anderer- 
seits Bewegungstendenzen beim Wachstum und gewisse Bewegungen 
des ganzen Organismus zur Unterordnung ‘unter das dualistische 


1) Herrn Geheimrat Galle-Potsdam bin ich für gütige Auskunft in. astro- 
nomischen Fragen zu großem Danke verpflichtet, 





H. Günther, Das Schraubungsprinzip in der Natur. 519 


Schraubungsprinzip. Bilaterale Symmetrie und Schraubung sind 
daher, allerdings ın verschiedenartigem Sinne, Funktionen der Be- 
wegung. Um hier eine Übereinstimmung in ‚der Bezeichnung des 
Drehungssinnes zu erzielen, muß definitionsgemäß die Bestimmung 
bei Organismen immer beim Anblick in der Richtung der Bewegung 
(von uns fort), resp. des Längenwachstums oder Höhenwachstums 
(negative Gravitationsrichtung) erfolgen. 

Einen allmählichen Übergang von einem Drehungssinn in den 
anderen im Sinne einer Variation gibt es hier nicht, sondern nur 
ein Entweder — oder. Es werden daher die vonder Norm abweichen- 
den Formen hier zunächst nicht als Varianten (z. B. Linksvarianten) 
bezeichnet, sondern als Heterotypen oder inverse Formen. 

$ 7. Schon bei den niedersten einzelligen Organismen 
findet man Schraubungssymptome, so bei den wellenförmigen 
Vibrionen und schraubenförmigen starren Spirillen. Diese erregen 
nach Nägeli-Schwendener und Ferd. Cohn bei Drehung um 
ihre Achse die Sinnestäuschung der Schlangenbewegung trotz der 
starren, unveränderlichen Form. Besonders ausgeprägt ist die 
Schraubung bei Spirochaeten mit korkzieherartig fixierter, fast 
starr erscheinender Gestalt mit mehr oder weniger zahlreichen, 
meist gegeneinander symmetrischen Windungen („welche unter- 
einander meist den gleichen Radius besitzen“ Doflein). Die relativ 
große, im Süßwasser lebende Spirochaeta plicatilis Ehrenberg zeigt 
eine doppelte Schraubung, indem sich außer den kleinen Schrau- 
benwindungen noch eine superponierte Schraubung zweiter Ord- 
nung findet. Die Rotation findet nach Doflein in der Richtung 
des Uhrzeigers und auch in entgegengesetzter Richtung statt; es 
fehlt hier die Angabe, ob sich dabei auch die Bewegungsrichtung 
umkehrt. Speziell bei Spirochaeta pallida sind die Windungen 
konstant mit bestimmtem Schraubenwinkel, die Spirale ist nach 
Schaudinn „präformiert“; bei S. pallida läßt sich der Schrau- 
bungssinn wegen der Kleinheit des Objektes nicht mit Sicherheit 
bestimmen. Jaffe bildet bei Spirochaeta culicis Linksschraubungab. 

Schraubungsphänomene sind ferner bei Trypanosomen ange- 
deutet, bei Radiolarien u. a. deutlich ausgeprägt. 

$ 8. UnterdenPflanzen kommt das Schraubungsprinzip beson- 
ders deutlich bei Schlingpflanzen zum Ausdruck. Als fast gesetzmäßige 
Erscheinungen sind dabei hervorzuheben die Prävalenz der 
Rechtswindung und die Unveränderlichkeit des Schraubungs- 
sıinnes innerhalb der Age Man findet konstante Rechtsschrau- 
bung bei Phaseolus multifl., Convoln. sep., Aristolochia, Ipomoea purp., 
Menispermum can. ete., Linksschraubung dagegen u. a. bei Humulus 
lup., Lonicera caprif., da convolv., Testudinaria eleph. Bei 
einzelnen Pflanzen, z..B. Polygonum N und Solanum dulc. finden 
sich allerdings Sinzelne Individuen und selbst einzelne Sprosse des- 
selben Individuums mit gegensinniger Windung. Es kommen auch 


520 H. Günther, Das Schraubungsprinzip in der Natur. 
freie Windungen vor, besonders unter ungünstigen Wachstums- 
bedingungen. 

male Anordnung findet sich bei Blattanlagen; bedeutsam ist 
die von van Iterson festgestellte Übereinstimmung in den Ge- 
setzen der Anlegung neuer Blätter und der Ka von Fora- 
miniferen. Eine morphologische Schraubungserscheinung läßt sich 
in der Blattordnung z. B. von Blüten nachweisen („spirotrophes 
Wachstum“). So kann man nach Brenner bei der oberflächlich 
betrachtet symmetrisch erscheinenden Sazifraga granul, eine R.- 
und L.-Form analysieren. Ein anderes ätiologisches Moment spielt 
wohl bei der Rollung des ersten Blattes von Sämlingen, da man 
nach Compton bei der zweireihigen Gerste R.- und L.-Schraubung 
in annähernd gleichem Verhältnisse (42:58) findet. Nur muß die 
Bezeichnung Comptons: „linkshändige Faltung“ im Sinne der 
Einrollung des Blattes als Rechtsschraubung bezeichnet werden. 

Schraubungserscheinungen zeigen besonders auch verschiedene 
Früchte; bei Fruchtständen mit raumgitterartig angeordneten 
Früchten (Pinus, Helianthus, Ananassa ete.) finden sich beide 
Schraubenrichtungen an demselben Körper (Parastichien). 

Interessant sind die von GOompton aufgedeckten Beziehungen 
„wischen der Lage des Samens im Fruchtstand und der späteren 
Rollung des ersten Blattes. Danach gehen aus den Körnern der 
jedesmaligen linken Reihe der paarigen Fruchtreihen linksgeschraubte 
(im obigen Sinne) erste Blätter hervor; doch handelt es sich nach 
Compton dabei nicht um erbliche Anlagen. Die Samenanlagen- 
fächer der Fruchtknoten von Aesculus zeigen R.-. und L.-Formen, 
für deren Zusammensetzung im ganzen Fruchtknoten nach Löwi 
die Wahrscheinlichkeitsrechnung sich anwenden läßt. 

Die Zelle der Fadenalge. Spirogyra enthält nach Abbildung ın 
Verworn’s Allg. Physiologie eine rechtsgeschraubte Chlorophy I- 
bandspirale, Nägeli und Sc Ewendkaee dagegen eine lınks- 
geschraubte. : 

Die Schraubenstruktur kommt bei Pflanzen oft durch Quel- 
lungzum Vorschein, Bei Schachtelhalmsporen erfolgen die schnellen 
Bewegungen der Zellulosemembranen (Elateren) unter schrauben- 
förmiger Anlagerung an den Sporenkörper infolge Quellung. Anderer- 
seits erfolgt beim Storchschnabel (Krodium eieut.) die Rechtsschrau- 
bung der en Fahne des Samens durch E ‚Entquellung (Verworn). 

® 9. Bei den Tieren ist ebenfalls ein Vorwiegen der Rechts- 
schraubung feststellbar. 

Metyrksfür dieSchraubenerscheinungen können dieSchnecken 
gelten. Auch bei diesen ist neben der Pr ävalenz der Rechts- 
schraubung (Fischer und Bouvier) noch die Bedeutung des Win- 
dungssinnes als konstantes Gattungssymptom zu erwähnen. 

Es kommen aber auch Heterotypen einer Gattung vor, z. B. 
die „aberratio sinistrorsa* der Weinbergschnecke; diese Linksform 











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H. Günther, Das Schraubungsprinzip in der Natur. 521 


ist aber selten und nach Lang nicht erblich. Bei Helix pom. fand 
de Mortillet unter 18000 Exemplaren 6mal (= 0,03°/,) Links- 
formen (zit. Fischer-Bouvier). Die örtliche Häufung der Linkstypen 
soll allerdings nach Haecker für einen Einfiuß der Vererbung 
sprechen. (Bei den Schnecken Amphridromus und Achatinella sollen 
ungefähr ebensoviele R.- und L.-formen vorkommen). Nach P. Hesse 
sınd Linksschnecken meist zum Oölibat verurteilt. 

Es gibt auch „falsch“ gewundene (hyperstropheund heterostrophe) 
Gehäuse bei gegensinnig gewundenen, Schnecken, sowie plötzliche 
ontogenetische Umkehr des Windungssinnes. 

Die Schraubungsrichtung ist hier nicht so zu deuten, daß das 
Wachstum vom Ursprung aus in Richtung einer Abwärtsschrau- 
bung erfolgt, denn das Wachstum kann nicht ohne Unterstützungs- 
punkt quasi in der Luft beginnen. Sondern das Gehäuse wird im 
Sinne der Aufwärtsschraubung (besonders bei Wassertieren ın der 
Riehtung des Auftriebes) verschoben. 

Bei Muscheln, z. B. Isocardia, ist der Wirbel der rechten Schalenhälfte links-, 

der anderen. rechts gewunden. Auch unter Kephalopoden und Pteropoden gibt es 
regelmäßig (links) geschraubte Formen (Turrzlites, Sipirialis). 
Im indischen Volke scheint eig ‚besonderes Interesse für den Windungssinn 
der Schnecken wohl infolge der Verwendung als Münze verbreitet zu sein. Die 
Statue des Wischnu trägt immer in der linken Hand eine linksgewundene Tur- 
binella; ein Inder zahlte für eine solche Linksturbinella (Tjanko genannt) 1000 
Franken (Fischer-Bouvier). 

Zur Feststellung des ätiologischen strophogenen Faktors ist die 
retrograde morphologische Erforschung des embryonalen Wachs- 
tumsprozesses erforderlich. Es gelang so, nachzuweisen, daß der 
Schraubungssinn schon am Spiraltypus der Furchung mit Schräg- 
stellung der Kernspindel erkennbar ist (Compton). 

Crampton und Kofoid fanden 1894, daß sich bei den Links- 
schnecken Physa und Planorbis die Schraubung schon vor der 
2. Teilung nachweisen läßt. Bei Crepidula beginnt die Rechts- 
schraubung nach Conklin schon mit der: 1. Teilung und wird 
sichtbar, wenn die vier am vegetativen Pole gelegenen Makromeren 
zur Bildung des fünften „Mikromerenquartetts“ schreiten. Daß 
schon beim Reifungsprozeß an der Kernspindel eine Schraubungs- 
richtung zu erkennen sei (Merk, Kostanecki und Wierzejski), konnte 
Conklin nicht bestätigen. Conklin sieht den ätiologischen Faktor 
in der Umkehrung der Polarität des Eies. 

Eine Schraubenstruktur läßt sich aber schon ım Zellkern nach- 
weisen. K.C. Schneider fand nämlich in jedem Tochterchro- 
mosom bei der Salamanderlarve zwei aneinandergelegte Spiralen, 
auf die allein sich die chromatische Substanz beschränkt und die 
auch während der Kernruhe als farblose Fäden bestehen bleiben. 
Es wäre wichtig, festzustellen, ob sich hier schon Gesetzmäßigkeiten 
bezüglich des Schraubungssinnes ergeben. 

Auch an der kontraktilen Substanz findet man Schraubungs- 
vorgänge, 2; B. bei der Geiselbewegung. Der sogenannte Muskel- 


522 H. Günther, Das Schraubungsprinzip in der Natur. 


faden im Stile der Vorticella ım Zustande der „Kontraktion“ 
Rechtsschraubung, könnte man hier nicht, ähnlich wie es Pütter 
für die Stäbehen der anisotropen Schicht der quergestreiften 
Muskulatur annimmt, vermuten, daß ım Zustande der „Kontrak- 
tion“ eine Entspannung stattfindet, und daß die die Schrauben- 
form bewirkende Substanz des Vortizellenfadens im „Ruhezu- 
stande“* gleich einer Feder gespannt ist? Die Spannungsände- 
rung wird dann eventuell durch osmotische Vorgänge durch 
die Stilscheide bewirkt. Die Struktur der „doppeltschräggestreif- 
ten“ Muskulatur der Mollusken und einiger Würmer ist vielleicht 
durch eine Schar von Spiralbändern bedingt; diese ist nach Ab- 
bildungen (Ballowitz) bei Sepia rondel. links geschraubt. 





Ein eigentümliches Phänomen ist die alternierende Drehung von Organen bei 
Cestodenproglottiden ; bei Taenia solium finden sich die Genitalpapillen abwechselnd 
an der rechten Seite einer Proglottide und an der linken der folgenden etc. Bei 
Würmern findet sich auch die Prävalenz eines Schraubungssinnes. Zur Straßen 
fand unter 125 Individuen von Ascaris megal. nur 4 inverse Formen. Spiralwin- 
dung des Darmes findet sich bei vielen festsitzenden Tieren, z. B. Crinoiden. 

Völlie symmetrische Formen können, wie bereits in $2 erwähnt, Bewegung 
und Lagerung in Schraubenrichtung zeigen. Bei der Enzystierung (z. B. Trichina 
spiralis) dürfte dabei das Prinzip der miıfmalen Oberfläche der Kapsel maß- 
gebend sein. Viele Ortsbewegungen sind schraubenartig, wobei aber infolge des 
Körperbaues oder der ebenen Bewegungsbasis (Kriechtiere) eine Dimension ver- 
schwinden kann, so daß eine wellenähnliche Bewegung resultiert. Beim Borsten- 
wurm Tubifex ist die Grundform der Bewegung des Hinterleibes nach Szymanski 
die Spiralenform (nach Abbildung Linksschraubung). 

Bei Vertebraten seien zunächst die gesetzmäßigen embryo- 
logischen Drehungsprozesse am Intestinaltraktus nebst Anhängen, 
des Herzens etc. erwähnt, Conklin weist darauf hin, daß bei 
bilateral vorhandenen Organen die Inversion der Wahrnehmung 
entgehen kann. Die Nabelschnurarterien verlaufen in Links- 
schraubung zur Plazenta. Die am Muskel nachgewiesenen „Nonius- 
perioden“ führen Heidenhain zu der Theorie der Schraubengänge, 
daß also z. B. die Telophragmen eine Wendeltreppe mit sehr ge- 
ringer Steigung bilden. 

Das Schraubungsprinzip kann besonders deutlich an epithelialen 
Körperanhängen, wie Haaren, Hörnern, Geweihen zum _Aus- 
druck kommen. 

Bei der Geweihbildung findet sich häufig die Tendenz zur Schraubung; 
in hohem Grade tritt dies bei den „Korkziehergeweihen“ hervor. V. Haecker 
glaubt, daß bei diesen nicht nur mechanische Faktoren, wie Verletzung der Stirn- 
zapfen und Hinterextremitäten oder Stoffwechselstörungen, wie Lungenseuche 
(Strongylosis), sondern auch eine „Keimesvariation“ in Betracht komme. Der 
Schraubungssinn entspricht zuweilen nicht der Körperseite So haben manche Schafe 
oder /Ziegen das rechte Horn rechts-, andere linksgewunden. Der „genetische 
Gabelpunkt“* (V. Haecker) ist hier vielleicht in der Anlage der Blutgefäße in dem 
das präostale Bildungsgewebe umhüllenden, wachstumsleitenden Periost zu suchen, 
da diese hier am „Wachstumsscheitel“ wirbelartig angeordnet sind (Rhumbler). 
Die beim Menschen selten beobachtete Hornbildung an der Stirn zeigt nach einer 
Abbildung von Heurtaux an der rechten Seite Rechtsschraubung. 





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H. Günther, Das Schraubungsprinzip in der Natur. 523 


Manche Gelenkflächen zeigen Schraubenform. Dabei ist her- 
vorzuheben, daß der Drehungssinn meist der Körperseite entspricht, 
also Gelenkflächen der rechten Körperhälfte rechtsgewunden sind 
(R. Fick). Boegle sucht diese Tatsache zu verallgemeinern und 
glaubt, daß die Grundform der Bewegungsorgane eine schnecken- 
förmige sei, deren Charakter. besonders deutlich an den Gelenk- 
flächen hervortrete. 

Als wesentlich ist nochmals hervorzuheben, daß bei bilateral- 
symmetrischen Organismen Schraubungsprinzip und Symmetriever- 
hältnis gewöhnlich einander entsprechen (Rechtseite — Rechts- 
schraubung). Dieser Umstand kann zu der Anschauung einer 
feineren' gegensinnigen Differenzierung des rechts- und Iinksseitigen 
Gewebes führen, welche schon in älterer Zeit ausartete in die ge- 
sonderte physiologische Betrachtung der beiden Tierhälften, in die 
Unterscheidung des rechten und linken Menschen. 

Wenn Bewegungen und Handlungen infolge besonderer Spe- 
zialisierung einseitig ausgeführt werden müssen, so ist es wahr- 
scheinlich, daß diejenige Seite bevorzugt wird, welche auch bei der 
artspezifischen Schraubungsrichtung den Vortritt hat, also das heißt, 
bei der Rechtsschraubung die rechte Flanke. Und andererseits 
können wir aus einer funktionellen Spezialisierung auf die Artspe- 
zıfität des Schraubungssinnes schließen 

Das stärker beanspruchte Organ zeigt gewöhnlich auch ein 
morphologisches Übergewicht. Als Beispiel für derartige morpho- 
logische oder funktionelle Heteroplasien sei besonders die 
Heterochelie der Krebse und die Rechtshändigkeit des Menschen 
erwähnt. 


Rechts- und Linkshändigkeit des Menschen hat nach V. Haecker mit der 
Heterochelie der Decapoden, speziell der poterochieren Krebse gewisse Ähnlich- 
keit. Wie beim Menschen nach Ausfall der rechten Hand die andere allmählich 
die Funktion übernehmen kann, so findet sich auch bei Knackscheren von Krebsen 
eine Funktionsübernahme durch das symmetrische, Organ, welche mit morpho- 
logischer Umkehr verbunden ist („Scherenumkehr“). 

Nach Marschall sei bei Landkrabben häufiger die linke, bei nicht schwim- 
menden Seekrabben die rechte Schere größer. Bei einer Hesperidenart ist die 
linke Geschlechtszange meist stärker entwickelt. 

Beim Menschen bildet bekanntlich die Linkshändigkeit eine Ausnahme (etwa 
4%). Sie zeigt regionale Unterschiede und kann sogar an einzelnen Orten, z. B. 
auf Celebes, dominieren. Ferner wird sie durch beide Geschlechter übertragen und 
häufiger bei Männern manifest. 

Da die Differenzierung erst im Laufe der ersten Lebensjahre allmählich er- 
folgt, tritt sie erst später hervor, nach Baldwin etwa im 6. oder 7. Lebensjahre. 
Eine Angabe von Delaunay, daß Primaten, Carnivoren, Uneulaten, und die 
meisten Vögel Rechtser seien, bedarf der Revision. Auf die morphogenetischen 
Erklärungsversuche (Gefäßentwicklung, Herzlagerung, a irniekeit etc.) sei hier 
nicht näher eingegangen. 


Eine Rechtsschraubung ist jede ungezwungene Bewegung des 
herabhängenden rechten Armes, z. B. beim grüßenden Handreichen 
(H. Weber, Encyel. d. Matlıem.). Folgt dieser Bewegungsintention 
der ganze Körper, so resultiert eine Rechtsdrehung des ganzen 





NEN IN OSTEN, 
524 H. Günther, Das Schraubungsprinzip in der Natur. 


Körpers (definitionsgemäß ist eine Bewegung des Systems in der 
Richtung vom aboralen zum oralen Pol anzunehmen), welche im 
gewöhnlichen Sprachgebrauch als „linksum“! bezeichnet wird. Die 
logisch richtigere Bezeichnung „Rechtsdrehung“ ergibt sich in diesem 
Falle auch ee daß eine Drehung der rechten Körperhälfte 
um eine durch den linken Fuß gehende Drehungsachse erfolgt. Ü 

Diese Drehung wird bei der Kehrtwendung bevorzugt. Es ist 
wohl nur eine Folge der Anlernung, daß beim Tanz der andere 
Drehungssinn beliebter ist, nämlich die Linksdrehung, welche wir 
aber z. B. als „Rechts“walzer zu benennen gewohnt sind. 

Im Zusammenhang mit der Dextromanie sind die gewöhnlichen 
Handwerksgegenstände) (Schraube, Korkzieher) rechsgewunden. 
Eine Schraubbewegung wird mit der rechten Hand gewöhnlich im 
Sinne der Rechtsschraubung ausgeführt. 

Es wird zweifellos von mancher Seite beanstandet werden, daß 
die der vorliegenden Aphandlung zugrunde liegende Definition gegen 
Volksempfinden und Volkssprachgebrauch verstößt. Ich habe diesen 
Mißstand auch unangenehm empfunden und eine Abänderung der 
Definition durch Uinkehrung der Schraubungsrichtung, welche 
ja mathematisch gleichberechtigt ist, ernstlich erwogen. Bei physio- 
logischen Betrachtungen ergeben sich aber dann unüberwindbare 
Widersprüche, so daß also ein Festhalten an der hier gegebenen 
Definition zweckmäßig ist. 

$ 10. Ein Überblick über die geschilderten Tatsachen legt die 
ein nahe, daß das Sehraubun ss prinzip, welches ber den 
verschiedenartigsten Naturereignissen in unserem Planetensystem 
zur Geltung kommt, sich in einer einheitlichen Weise verwirklicht, 
wie es die häufige Übereinstimmung und Konstanz zeigt. 

Eine Prävalenz der Rechtsschraubung, welche vielleicht ihren 
tieferen Grund in der Rechtsschraubung des ganzen Planeten- 
systems hat, ist bei den Organismen unverkennbar. 

Diese kommt auch bei morphologischen Studien der Symmetrie- 
verhältnisse durch Störungen der bilateralen Symmetrie zugunsten 
der rechten Seite zum Ausdruck. wie besonders die systematischen 
Untersuchungen Dunkers zeigen. 

Dunker bestimmte die variable Differenzreihe DI=V„— V.), welche ent- 
steht, wenn zwei variable bilateral-homologe Merkmale in unvollkommener Relation 
zueinander stehen. Vollkommene Symmetrie bestand bei einer Individuengemein- 
schaft hinsichtlich eines Merkmalpaares dann, wenn dessen Differenzreihe gleich- 
förmig um Null als Mittel variiert. Als Maß der „Kollektivasymmetrie“ eines Merk- 


malpaares bei einer Ra verwendete Dunker den ‚„Asymmetrie- 
(NN) If) N 
index‘ a = = AN) zb, al , wobei I(D,) die absolute Summe der negativen 
n[2(D") + 2(D,)] 
Differenzen, &(f,) die Summe ihrer Frequenzen ist. Dieser Index wird null bei 
vollkommener Symmetrie, -F 1 bei vollkommener „Asymmetrie‘“ und ein positiver 
oder negativer echter Bruch bei unvollkommener Symmetrie. Als Maß des indivi- 
duellen (Grades der „Asymmetrie“ eines bilateral-homologen Merkmalpaares gilt die 
Vamv 

P A 2 ° g 3 

relative Differenz seiner Varianten ____”°_ mit den Grenzwerten 0 und + 1. 


VarV; 








H. Günther, Das Schraubungsprinzip in der Natur. 595 


Diese Berechnungen ergeben, daß fast !/, aller Individuen selbst bei fast voll- 
kommener Kollektivsymmetrie des Merkmalpaares sich „asymmetrisch‘“ verhalten 
und daß ein Überwiegen der rechten Seite erkennbar ist. Es ergibt sich also 
wieder eine Prävalenz der Rechtsschraubung. 


Für die plötzliche ontogenetische Umkehr des Windungssinnes 
bei Schlingpflanzen und Schnecken müssen wohl äußere besondere 
Faktoren verantwortlich gemacht werden. 

Zur Feststellung des Zeitpunktes, wo das Schraubungsprinzip 
an einem morphologischen oder biologischen Merkmal des Orga- 
nismus manifest wird, sind entwicklungsgeschichtliche Studien nötig, 
die bereits in einzelnen Fällen, wie oben erwähnt, bis zum ersten 
Furchungsstadium als dem „scheinbaren Gabelpunkte*“ fort- 
geschritten sind. Diese Phänokrise ist nach V. Haecker die- 
jenige Phase, von der aus „der äußere Entwicklungsverlauf in den 
beiden ‚miteinander zu vergleichenden Reihen ein verschiedener ist“. 

Hier sind wir wohl zur Grenze des Erkennbaren, aber noch 
nicht zum wirklichen Gabelpunkte gelangt, der vielleicht in intra- 
molekulären Vorgängen zu suchen ist. 

Und damit kommen wir ın das Gebiet der Hypothesen über 
bekannte Erscheinungen, die wır auf besondere, innere, „konsti- 
tutionelle“ Zustände beziehen, deren eigentliches Wesen uns 
noch unbekannt geblieben ist. 

Kerner v. Marılaun sucht bereits die Schraubungskonstanz 
bei Windungspflanzen durch „eigentümliche Konstitution des 
Protoplasmas“ zu deuten. Auch bei der oben erwähnten Be- 
ziehung des Schraubungssinnes zur gleichsinnigen; Lage des 
Samens im Fruchtstande ist wieder gerade die betreffende Lage 
des Samens vielleicht von demselben konstitutionellen Momente 
abhängig. Aber auch die Umkehr des Drehungssinnes muß als 
(innere) Konstitutionsanomalie aufgefaßt werden, die durch äußere 
mechanische Einflüsse nıcht zu erklären ist, wie es Przibram 
versucht. („Es scheint demnach die Rechtswindung von vornherein 
den Embryonen zuzukommen und nur infolge mechanischer Störungen 
gelegentlich in einzelnen Exemplaren umgekehrt zu werden.“) 

Zur Straßen wagte sich gelegentlich seiner Askaridenstudien 
nur zu der Annahme vor, daß die „asymmetrische Verteilung von 
Anlagen“ „schon im Ei oder in dessen Kern entschieden“ ist. 

E. Mach gelangt auf deduktivem Wege bei Erörterung des 
physiologischen Raumes zu der Annahme: „Möglicherweise liegt 
diese Anisotropiesschon 'in den Elementarorganen, aus welchen 
sich unser Leib zusammensetzt.“ 

Bezüglich entwicklungsgeschichtlicher Schraubungserscheinungen 
wirft Haecker die Frage auf, ob hier schon eine „Asymmetrie“ 
der Molekularstruktur maßgebend sei. Diese molekuläre Konstitu- 
tion muß dann ım ganzen Zellstaate vorhanden sein. 

Mag also das Schraubungsphänomen der Organismen der Aus- 
druck einer besonderen intramolekularen oder intrazellularen Kon- 


” “ 12 N EN A E E 


z 


526 H. Günther, Das Schraubuugsprinzip in der Natnr. 


stitution sein, so ergibt sich die Frage, auf welche Weise die 
heterotypen (inversen) Formen zustande kommen, deren Verwirk- 
lichung zunächst nicht durch allmähliche Variation, sondern durch 
plötzliche, kryptogenetische Mutation möglich erscheint (cf. & 6). 

Unter Bezugnahme auf die bei flüssigen Kristallen festge- 
stellten Tatsachen können wir auch bei Organismen analoge Ver- 
hältnisse vermuten. Es muß in der lebenden Substanz ein Medium 
vorhänden sein, welches gewissermaßen der materielle Träger des 
Schraubungsphänomens ist, eine Substanz, deren vielleicht selbst 
schraubenfömige Moleküle sich in Schraubenform aneinanderfügen 
und das formbestimmende Gerüst der lebenden Materie darstellen. 
Dieses Medium möge Strophoplast heißen. Die Verwirklichung 
(Aktivierung) der Schraubenformung erfolge durch strophogene 
Komplemente, welche auf den Strophoplasten wirken. Es mögen 
ein die Rechtsschraubung des Strophoplasten bestimmendes Rechts- 
komplement und ein entsprechendes Linkskomplement in der leben- 
den Materie in der Konstellation vorhanden sein, daß das Rechts- 
komplement überwiegt und daher den strophogenen Ausschlag gibt; 
das organische lebende System gestaltet sich dann in R.-Schrau- 
bungssinn. Die hier beschriebene Zusammensetzung bestimme die 
normale Konstitution des Systems, in komplizierterer Weise des 
ganzen Organismus, Nun kann die Menge der strophogenen Kom- 
plemente variieren und bei verschiedenen Varianten einer Spezies 
z. B. das Linkskomplement eine relative Zunahme erfahren. Es 
kann dann schließlich der kritische Punkt erreicht werden, an dem 
das Linkskomplement das Übergewicht über das Rechtskomplement 
hat, so daß die Krise durch Inversion des Schraubungssinnes, durch 
Entstehen von Heterotypen in Erscheinung tritt. In diesem Sinne 
können also die Heterotypen als Varianten einer Spezies aufgefaßt 
werden, während ohne die hier gegebene morphogenetische Theorie 
die Heterotypenbildung sich nicht als Variation deuten ließ. Es 
ergibt sich die weitere interessante Kombination, daß bei einer in 
der Nähe des kritischen Punktes liegenden chemischen Konstella- 
tion nur eine geringe quantitative Änderung eines Faktors genügt, 
um eine wesentliche Änderung der Konstitution zu bedingen. 

So bestechend diese Theorie zunächst erscheint, vermag sie doch 
nicht die heterotypen Kombinationen bei bilateral-symmetrischen 
Formen (also L.- und R.-Form bei demselben Individuum) zu er- 
klären. Es sind wohl hier außerdem rein physikalische Kräfte, z.B. 
Spannungen, als örtliche Faktoren wirksam; so können ja auch 
entsprechende (cf. $4) symmetrische Erscheinungen bei flüssigen 
Kristallen gefunden werden. 

Je einfacher die Fragestellung, desto eher können wir eine 
Lösung erwarten. Wir bleiben aber bei der Untersuchung dieses 
scheinbar einfachen Phänomens vor vielen Rätseln stehen, deren 
Dunkel sich vielleicht allmählich lichten wird. 






Be ie 





H. W. Friekhinger, Die angewandte Zoologie etc. 597 


Referate. 


J. Wilhelmi, Dieangewandte Zoologie als wirtschaftlicher, 
medizinisch-hygienischer und kultureller Faktor. 
Berlin 1919, Julius Springer. 88 S. geh. 5 Mk. 


Es ist in den letzten Jahren des öfteren darauf hingewiesen worden, wie sehr 
die angewandte Zoologie lange Zeit in Deutschland als Stiefkind der Wissenschaft 
vernachlässigt worden ist. So berechtigt diese Feststellung bis vor kurzem war, im 
Verlaufe der Kriegsjahre wurde stetig mehr die wirtschaftliche Bedeutung der prak- 
tischen Tierkunde nach ihrem wahren Werte erkannt, und mit dieser Erkenntnis 
wuchs auch in gleichem Maße ihr Ansehen in wissenschaftlichen Kreisen. Man er- 
kannte in ihr ein Betätigungsfeld, auf dem noch reiche Früchte abzuernten waren. 
Zahlreiche Kräfte stellten sich in ihren Dienst und im Laufe weniger Jahre sind eine 
ganze Reihe hochwichtiger Forschungen mit bestem Erfolge durchgeführt worden, 
die an ihrem Teile mithalfen, unserem Vaterlande die schwere Kriegszeit zu er- 
leichtern. 

Wenn nun auch in wenigen Jahren die Versäumnisse von Jahrzehnten nicht 
nachgeholt werden konnten, so ist es doch heute schon möglich, über die hohe 
wirtschaftliche und hygienische Bedeutung der angewandten Zoologie einen Über- 
' bliek zu geben, eine Aufgabe, die sich Verfasser in vorliegendem Büchlein ge- 
stellt hat und die zu lösen, ihm wohl gelang. Prof. Wilhelmi, der seit Jahren 
‘in seinem Spezialarbeitsgebiet, ‚der Wasserhygiene, für die vollgültige Anerkennung 
der wasserwirtschaftlichen Zoologie, die bisher nur als Hilfsdisziplin der Chemie 
aufgefaßt wurde, eintrat, hat während der letzten Kriegsjahre auch als angewandter 
Entomologe grundlegende Untersuchungen, wie z. B. über den Wadenstecher oder 
die kleine Stubenfliege anstellen können. Er ist also als Mitstreiter sehr wohl be- 
rufen, über die angewandte Zoologie als wirtschaftlichen Faktor ein Urteil zu fällen., 

Wilhelmi bespricht zuerst die wirtschaftliche Zoologie, die er in wasserwirt- 
schaftliche und landwirtschaftliche Zoologie trennt. (Leider ist letztere auf Kosten 
der ersteren stark in den Hintergrund geschoben worden.) Ebenso wie über diese 
beiden Unterabteilungen der angewandten Zoologie ist wohl auch über den Wert 
der medizinisch-hygienischen Zoologie kein Wort der Erklärung vonnöten. Dagegen 
wird der Begriff der kulturellen Zoologie, wie ihn Wilhelmi prägt, manchem Leser 
einer Erklärung bedürfen. Verfasser geht von der Ansicht aus, daß der kulturelle 
Wert der gesamten Zoologie erst durch die Ausbreitung ihrer wissenschaftlichen, 
wirtschaftlichen und medizinisch bezw. hygienischen Errungenschaften unter weiteren 
Kreisen des Volkes wirklich zur Geltung kommt, er faßt deshalb, besonders dieser 
Ausbreitung dienstbar, „gewissermaßen als angewandte Gebiete der kulturellen Zoo- 
logie“ die populär-wissenschaftliche und Schul-Zoologie, das zoologische Schau- 
stellungswesen, die praktische Liebhaberzoologie und das zoologische ne, erbe auf. 

Das anregend geschriebene Büchlein, das Prof. Korschelt in Marburg zum 
60. Geburtstag gewidmet ist, stellt eine treffliche Übersicht dar über das Wesen 
und den Wert der angewandten Zoologie. Es verdient einen großen Leserkreis. 

H. W. Friekhinger, München. 





598 H.W. Frieckhunger? Die en, und Er Bekimpting. 


Die Heuschreckenplage und ihre Bekämpfung. 


Auf Grund der in Anatolien und Syrien während der Jahre 1916 und 1917 
gesammelten Erfahrungen dargestellt und im Auftrag des Kaiserlich-Osmanischen 
Landwirtschaftsministeriums unter Mitwirkung von Dr. V. Bauer, Dr. G. Brede- 
mann, Dr. E. Fiekendey, Dr. W. la Baume und J. Loag herausgegeben von 
Dr. H. Bücher, kaiserl. Regierungsrat. Mit 11 Karten, 33 Textabbildungen und 

Abbildungen auf 20 Tafeln. Monographien zur angewandten Entomologie. Bei- 
hefte zur Zeitschrift für. angewandte Entomologie Nr. 3 (Beiheft 1 zu Bd. V), 

Berlin 1918, Paul Parey. 274 S. geh. 10 Mk. 


Die Heuschreckenplage in Anatolien, Syrien und Palästina ist uralt. Wenn 
es nun auch zu jeder Zeit in irgendeinem Teile des Landes Heuschreckenschäden 
gibt, so ist das Auftreten der Heuschrecken in großem Umfange doch an bestimmte 
Perioden gebunden, die wegen ihres außerordentlichen Eingriffes in die Wirtschaft 
großer Teile des Landes der Bevölkerung als Heuschreckenjahre, d.h. als Hunger- 
jahre in der Erinnerung bleiben. Auch in die Kriegszeit fiel ein solches Hungerjahr. 
Im Jahre 1915 waren zwei Arten von Wanderheuschrecken in Türkisch-Kleinasien 
in ungeheuren Mengen aufgetreten, die marokkanische Wanderheuschrecke 
(Stauronotus maroccanus) und die ägyptische Wanderheuschrecke (Schisto- 
cerca pereg,ina). Durch diese Heuschreckenplage war die Ernte weiter fruchtbarer 
Gebiete vernichtet worden. Um derartige Gefahren der Erpährungswirtschaft für 
die Zukunft auszuschließen, entschloß sich die türkische Regierung die Bekämpfung 
der Heuschrecken einem Stabe deutscher Gelehrter unter der Leitung von Regie- 
rungsrat Bücher zu übertragen. Die Aufgabe der Kommission bestand vor allen 
Dingen darin, eine Organisation zu schaffen, mit-der es gelingen konnte, der Heu- 
schreckenplage Herr zu werden. Dies Ziel konnte nur dann erreicht werden, wenn 
die gesamten bisher versuchten Methoden systematisch durchgeprüft, die bestbewährte 
nach Möglichkeit ausgebaut und verbessert und vor allem die Bevölkerung selbst 
allmählich zu immer intensiverer Mitarbeit herangezogen wurde. Diese ihre Aufgabe 
haben die deutschen Gelehrten, man darf wohl sagen, in glänzender Weise gelöst, 

Die Bekämpfung der Heuschreckenschwärme gelang am besten durch den 
Bücher’schen Zinkapparat, eine einfache Abfangmethode, die den Wander- 
trieb der Schädlinge mit Nutzen verwertet. War es für die Abfangmethoden schon 
zu spät, so erzielten die Forscher durch Anwendung von chemischen Mitteln, vor 
allem mit Urania-Grün die besten Erfolge. Zugleich mit den Maßnahmen der besten 
Bekämpfung wurde von den Zoologen der Expedition, zuerst von Dr. V. Bauer 
und dann von Dr. W. la Baume die biologischen Verhältnisse der Heuschrecken 
genau studiert. Letzterer berichtet in dem Sammelwerk ausführlich über die Er- 
fahrungen bei seinen Untersuchungen über Morphologie und Entwicklung, über 
Physiologie und Tebenigewohnheiten und endlich über die natürlichen F einde der 
Schädlinge. 

Die Bü cher’sche he kon gibt eine gr uralte Darstellung 
der gesamten Heuschreckenfrage und zeugt von dem unermüdlichen Tatendrang, 
mit dem die deutsche Wissenschaft während des Weltkrieges in der Heimat und im 

tebiet unserer ehemaligengBundasgenossen sich unvergängliche Lorbeeren erworben 
hat. H. W. Friekhinger, München. 











Verlag von Georg. Thieme in ı Leipzie, , Antonstraße 15. — Druck der Universitäts- 
"Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen. 











- 


Bilgschs Zentral 


Begründet von J. Rosenthal 


Unter Mitwirkung von 


Dr. R,Gocbel und Dr. R. Hertwig 


Professor der Botanik Professor der Zoologie 
in München 


herausgegeben von 


Dr. E. Weinland 


Professor der Physiologie in Erlangen 





Verlag von Georg Thieme in Leipzig 





Dezember 1919. Nr. 12 


auseeeeben am 28. Januar 1920 
Oo 


39. Band 








Der jährliche Abonnementspreis (12 Hefte) beträgt 20 Mark 
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und P’ostanstalten 
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an 
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, 
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, 
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physiolog. Institut, 
: einsenden zu wollen. 








Inhalt: S. Galant, Über die Entstehung von Variationen bei Anemone hıepatiea, S. 529. 

P. Buchner, Zur Kenntnis der Symbiose niederer pflanzlicher Organismen mit Pedikuliden 
S.. 535. 

V. Franz, Lichtsinnversuche an Schnecken. S. 540. 
Wilh. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 2. Teil. S. 544, 

Referate: H. Lundegardh, Die Ursachen der Plagiotropie und die Reizbewegungen der Nebenwurzeln. 
Derselbe: Das geotropische Vorhalten der Seitensprosse. S. 557. 
Bastian Schmid, Deutsche Naturwissenschaft, Technik und Erfindung im Weltkriege. 
S. 559 








Über die Entstehung von Variationen bei Anemone 
! hepatica. 
(Mit 2 Tab. u. 2 Fig. im Text.) 
Von Dr. S. Galant, Bern-Belp. 


I. 


Bohn!) stellt die Formel: La nature a horreur de la varıatıon, 
auf und verleiht ihr die Kraft eines Gesetzes, indem er überall in der 
Natur den Streit dieser letzteren gegen das Auftreten von Varia- 
tionen sieht. Gelingt es z. B. auf künstlichem Wege Variationen 
hervorzurufen, so kann man konstatieren, daß die Abweichungen 
vom Typus nach einiger Zeit nicht nur nicht weiter fortschreiten, 
sondern sogar ein Stillstehen, also eine Tendenz zur Norm zurück- 
zukehren, aufweisen: L’effet d’une variation s’oppose A cette varia- 
tion, sagt Bohn. 

39. Band. 35 


530 8. Galant, Über die Entstehung von Variationen bei Anemone hepatica. | 


Das mag für die Beispiele künstlicher Herbeiführung von Varia- 
tionen, die Bohn anführt, sowie für manche pathologische Fälle 
(Tuberkulose) gelten. Ob man aber jede Variation als Krankheit 
anzuschauen im Rechte sei und so dem „Gesetze“: La nature a horreur 
de la varıation Allgemeingültigkeit verleihen könne ist doch nicht 
ohne weiteres zuzulassen. „Un individu qui subit une varia- 
tion est un malade?). Or,. un malade, ou bien meurt, ou bien 
lutte contre la maladie.“ Auf dieser Behauptung — eine Variation 
sei eine Krankheit — baut Bohn sein Gesetz und die sich an 
dieses anschließende Theorie. Aber Bohn versucht es nicht ein- 
mal zu beweisen, daß jede Variation wirklich eine Krankheit sei, 
was er doch unbedingt begründen sollte, bevor er sein Gesetz auf- 
stellte. Ohne diese Begründung entbehrt seine Theorie jede feste 
Stütze und läßt Tür und Tor für die Kritik offen. 

Nun aber braucht man nicht Kritik zu treiben, um die Ansicht 
Bohn’s von der Variation als einer Krankheit für den Tatsachen 
nicht entsprechend zu erklären. Die Natur spricht für sich allein. 
Sehen wir uns in der Natur um, so überzeugen wir uns leicht, daß 
sie von Variationen strotzt, die als krank aufzufassen kein Grund 
vorliegt. Von dem Typus abweichende Variationen weisen keine 
Spur irgendwelcher verminderter Lebensfähigkeit auf und gedeihen 
ebensogut wıe der Typus. Wir können es nicht für alle Lebewesen 
mit derselben Gewißheit, wıe für die Pflanzenwelt, wo die Variationen 
außerordentlich häufig sind und wo die Individuen, die mit: der 
Variation behaftet sind, sich sonst kaum von dem Typus unter- 
scheiden, behaupten. Als Beispiel wollen wir hier unsere Unter- 
suchungen über die Variationen der Anemone hepatica anführen. 

Wir lasen unsere Leberblümchen zusammen auf dem Belp- 
berg (985 m). Die Anemone hepatica ıst auf diesem Berge ziem- 
lich verbreitet und man findet sie auf vielen Abhängen des Berges. 
Besonders häufig ist aber das Leberblümchen auf jenem Abhang 
des Belpberges, wo die Ruine Hohburg sich befindet. Dieser Ab- 
hang ıst ganz blau von Leberblümcehen und die meisten unserer 
Exemplare stammen von der Hohburg her. 

Unsere Statistik betrifft 1729 Exemplare. Die Absicht, die Zahl 
der Exemplare auf 2000 zu erhöhen, war durch die Witterung ver- 
eitelt. Am 30. März fing es an zu schneien. Der Schneefall dauerte 
ununterbrochen bis zum 3. April. Unterdessen mußten wir Bern 
verlassen und blieben bei der Zahl 1729 stehen. Die Resultate 
unserer Untersuchungen leiden darunter nicht, denn. die 271 Exem- 
plare, die wir noch zusammenlesen sollten, hätten uns kaum etwas 
neues gebracht. 


1) Bohn, La naissance de l’intelligence. Bibliothöque de philosophie scienti- 
phique. Paris 1909. 
2) Von Bohn gesperrt. 








8. Galant, Über die Entstehung von Variationen bei Anemone hepatica. 531 


Wir lenkten unsere besondere Aufmerksamkeit bei der Be- 
trachtung der Variationen der Anemone hepatica nur auf die Zahl 
der Kronen- und Kelchblätter°) jedes Exemplars. Die verschiedenen 
anderen Variationen (Länge des Stengels, Form der Kronen- und 
Kelchblätter, Farbe u. s. w.) ließen wir außer acht, da eine Berück- 
sichtigung aller dieser Umstände unsere Arbeit zu kompliziert 
machen würde und sich auf eine größere Zahl von Blumen nicht 
ausdehnen könnte. Wir haben uns nur im allgemeinen alle möglichen 
vorkommenden Variationen gemerkt, ohne eine genaue Statistik für 
sie aufzustellen, wie für die Zahl der Kelch- und Kronenblätter. 

Für gewöhnlich hat die Anemone hepatica 6 Kronenblätter und 
3 Kelchblätter. Nun aber kann die Zahl der Kronenblätter in den 
Variationen des Leberblümchens zwischen 5—11, diejenige der Kelch- 
blätter zwischen 2—5 schwanken. In unseren 1729 Exemplaren ver- 
teilen sich die Leberblümchen nach der Zahl der Kronen- und Kelch- 
blätter folgendermaßen: 


Tabelle 1. 
Zahl der Kronenblätter Zahl der Blumen 
5 7 
6 1180 
7 436 
8 82 
9 16 
10 6 
11 | 2 
Tabelle 2 
Zahl der Kelchbklätter Zahl der Blumen 
DR 9) 
3 1665 
4 51 
5 4 


Wenn wir nun die zwei Tabellen vergleichen, so merken wir, 
daß die Variationsmöglichkeiten der Kronenblätter größer als die 
der Kelchblätter und daß die Kelchblätterzahl sich durch eine größere 
Beständigkeit als die der Kronenblätter sich auszeichnet. Während 
bei den Kronenblättern auf 1729 Exemplare 549 für die Variationen 
abgehen, so fallen auf dieselbe Zahl von Individuen für die Varıa- 
tionen der Kelchblätter nur 64 Exemplare. Dieser Unterschied ın 
der Variationsmöglichkeit hängt mit der normalen Zahl der Kelch- 








3) Was wir da Kelchblätter nennen, sind keine eigentlichen Kelchblätter. Wir 
nennen sie dennoch Kelchblätter bequemlichkeitshalber und weil, wie wir bald hören 
werden, die Blätter, die wir als Kelchblätter bezeichnen, in Kronenblätter sich um- 
wandeln können. 


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I) 


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53% 8. Galant, Über die Entstehung von Variationen bei Anemone hepatieu. 


und Kronenblätter der Blume zusammen. Die doppelte Zahl der 
Kronenblätter verschafft mehr Spielraum für Variationen, als es die 
Kelchblätter tun könnten. N 

Die Tabellen zeigen auch, daß es kaum gerechtfertigt ist, Varia- 
tionen als Krankheit aufzufassen. Die Variationen sorgen mehr 
für das Weitergedeihen einer Art als für seine Degeneration. Auf 
1729 Individuen kommen nur 7 Individuen vor, die eine unter der 
Norm stehende Zahl von Kronenblättern aufweisen, während die 
Exemplare, die einen Überschuß aufzuweisen haben, 542 sind. 

Es handelt sich aber in vorliegender Arbeit nicht darum, über 
die Bohn’sche Theorie zu diskutieren. Für die Entstehung der 
Variationen ist es ganz gleichgültig, wie man diese letzteren auf- 
faßt. Leider ist aber über diese Entstehung selbst nicht viel zu 
berichten, wenn wir auch manche Tatsache auf diesem Gebiet mit 
Bestimmtheit bei unseren Untersuchungen herausfinden konnten. 


sc 


_ 








5A NET ErEO, 


N 2 asmAun5 
Fig. 1. Kurvendarstellung der Tabellen 1 u. 2. 


In den meisten Fällen standen wir sozusagen vor einer voll- 
zogenen Tatsache. Da ist ein Exemplar von Anemone hepatica, das 
8 oder 9 und 11 Kronenblätter besitzt, die sich kaum voneinander 
und von den Blättern anderer mit normaler Zahl von Kronenblättern 
versehenen Blümchen unterscheiden. In vielen Fällen konnte man 
deutlich sehen, woher ein Überschuß an Kronenblättern herkommen 
kann. 

Ein Überschuß an Kronenblättern kann von einer 
Umwandlung von Staubgefäßen oder Kelchblättern in 
Kronenblätter herrühren. Viele Blümchen mit 7, 8 u. s. w. 
Kronenblätter hatten ein recht merkwürdiges Kronenblatt auf- 
zuweisen. So ein Kronenblatt hatte eine hornartig gekrümmte Form 
bei einer verhältnismäßig bedeutend verkleinerten Größe. Der kon- 
kave Rand des Blattes wies einen weißen Streifen auf von un- 


? 


EAN I I RER RI SR NEE RE RE SLR TEE WEL EL EA RR N  ETRNE T N , u el? 


S. Galant, Über die Entstehung von Variationen bei Anemone hepatica. 533 


gefähr der Tänge des Fadens eines Staubgefäßes, und der weiße 
Streifen endete mit einem Köpfchen von derselben Farbe, das dem 
Köpfehen der Staubgefäße ganz und gar ähnelte (s. Zeichnung). 
In anderen Fällen entsprang das überschüssige Kronenblatt an 
derselben Stelle, wo einmangelndes Kelchblatt entspringen 
sollte (im solchen Falle fehlte ein drittes Kelchblatt) und seine 


"Außenfläche war grünlich, an den Rändern intensiv grün verfärbt, 


während für gewöhnlich die Außenfläche der Kronenblätter weißlich- 
lila verfärbt sind. 


Fig. 2. Hornartiges Kronenblatt einer Anemone hepatica mit dem weißen Streifen 

und der Verdiekung -an seinem oberen Ende (fett gedruckt), die den Bestand- 

teilen des Staubgefäßes entsprechen, dem das Blatt entwachsen ist, an dem konkaven 
Rand des Blattes (natürliche Größe). 


In ähnlichen Fällen kann kein Zweifel bestehen, daß das über- 
schüssige Kronenblatt durch eine Unwandlung, die, wir nicht 
päher schildern können, von einem Staubgefäß oder einem Kelch- 
blatt herrührt. Es läge nahe anzunehmen, daß es immer so vor 
sich geht, und daß ein Mehr an irgend welchem Bestandteile des 
Blümchens der Anemone hepatica auf Rechnung irgend eines anderen 
Bestandteiles entsteht. Ex nihilo nil fit. In den meisten Fällen 
geschieht diese Umwandlung im embryonalen Zustande und wir 
sehen an dem Blümchen keine Spuren einer solchen Metamorphose. 
In selteneren Fällen tritt eine solche Unwandlung erstpostembryonal(?) 
auf und sie kann ihre Spuren nicht mehr ganz verschwinden lassen. 

Was wir da zuletzt ausgesprochen haben ıst natürlich eine 
Hypothese und beansprucht für sich nicht mehr Wahrheit als 
es eine Hypothese beanspruchen kann. Eins ist sicher: In’ vielen 
Fällen entsteht bei der Anemone hepatica ein Überschuß 
an Kronenblättern infolge einer Metamorphose eines 
Staubgefäßes oder Kelchblattes ın ein Kronenblatt. Ob 
alle möglichen Variationen am Blümchen der Anemone hepatica auf 
solchem Wege entstehen, ıst schwer auf anderer Weise, als durch 
eine Hypothese, abgeleitet von der Tatsache eines solchen Vor- 
kommens, zu behaupten. — 

Wir wollen schließen mit einer Bemerkung über die Farbe der 
Anemone hepatica. Bekanntlich hat das Leberblümchen eine hell- 
blaue, lila oder blaß-rosa Farbe. Zwischen den 1729 Exemplaren, die 
wir gesammelt haben, sind zwei, die ganz weiß sind, vorhanden. Wie 
diese seltene Variation zu erklären sei ist schwer bestimmt zu sagen. 
Wir nahmen eine bleichende Wirkung der Sonne an. Ganz junge 
Leberblümehen, die sich kaum noch von der Knospe entwickelt 





1 a I a a ae 


534 8. Galant, Über die Entstehung der Variationen bei- Anemone hepatica. 


haben, haben eine schöne dunkelblaue Farbe. Ältere Individuen weisen 
meist eine Farbe, die zwischen Iila und blaß-rosa schwankt, auf, . 
und Kronenblätter, die dem Verwelken und Abfallen nahe sind, 
ganz blaß-,rosa* und stellenweise „farblos“ aussehen. Um unserer 
Vermutung, einen Schein von Wirklichkeit zu verleihen, stellten wir 
folgendes Experiment an: Wir hielten ein weißes Exemplar im 
dunkeln, bis die Kronenblätter abgefallen sind. Wir konnten fest- 
stellen, daß die Kronenblätter der so aufbewahrten Blume einen 
lilaähnlichen (kaum merkbaren) Schimmer bekommen haben. Dieser 
Schimmer aber war weit davon, auch nur eine Erinnerung an das 
„rosa“ des welkenden blauen Leberblümchens zu haben. Wir sind 
also im Zweifel, ob die Farbe der zwei weißen Anemonen der 
bleichenden Wirkung der Sonne zuzuschreiben sei. Im solchen 
Falle wäre die Zahl der weißen Leberblümchen gewiß größer. Es 
muß noch dabei ein anderer, wichtigerer Faktor mitwirken. Was 
für einer wissen wir nicht zu berichten. 


I. 


Eine Umschau in der biometrischen Literatur, sowie einige neue 
Erfahrungen geben uns Anlaß, den ersten Abschnitt der vorliegen- 
den Mitteilung durch diesen zweiten zu erweitern. Diese unsere 
biometrische Forschung über die Anemone hepatica ist als solche in 
der Literatur die erste, wenn auch unsere Betrachtungsweise nicht 
ganz neu ist. Die Angabe, daß bei der Anemone hepatica Staub- 
blätter sich in Kronenblätter umwandeln können, hat schon Goebel 
in seinem Buche: Organographie der Pflanzen 1. Aufl. 1898 ge- 
gemacht. Seite 152 des ebenerwähnten Buches ist zu lesen: „Ane- 
mone hepatica hat ın ihren Blüten meist sechs Perigonblätter, aber 
die Zahl schwankt. Bei 75 aufs geradewohl herausgegriffenen 
Blüten fanden sich folgende Zahlen für die Perigonblätter: 35 
hatten 6; 29 — 7; 10 — 8; 1 — 9 und in 4 der untersuchten Blüten 
waren Mittelbildungen zwischen Perigonblättern und Stammblättern 
vorhanden, welche darauf hindeuten, daß die Überzahl von Perigon- 
blättern ae kommt durch mehr oder minder frühzeitige Um- 
wandlung von Staubblattanlagen in Blumenblätter.“ 

Im allgemeinen wird aber in der biometrischen Literatur der 
Faktor der Metamorphose ‘der verschiedenen Bestandteile der 
Blume ineinander nicht berücksichtigt. Sollte unsere Arbeit eine 
Anregung in dieser Richtung sein, so hat sie ihr Ziel nicht verfehlt. 

Was wir noch besonders hervorheben möchten ist jene Tat- 
sache, daß die so seltene Variation der weißen Anemone hepatica 
auf dem Belpberg im Wallıs eine überaus häufige Erscheinung ist. 
Bei einer Wanderung durch den Wallis, die ich Ende Mai vorge- 
nommen habe, bin ich am 29. Mai in einem Lärchenwald bei 
Zermatt weißen Leberblümchen in großer Menge begegnet, so 








P. Buchner, Zur Kenntnis der Symbiose niederer Mönslicher a. etc. 535 


daß stellenweise die weißen Leberblümchen die blauen an Zahl 
überragten. Auch teilte mir Herr Prof. Chodat mit, daß in seinen 
Kulturversuchen die weiße Anemone hepatica vom Wallıs ihren 
Charakter rein bewahrt, sowie auch die Hepatica, die aus dem 
Jura stammt, so daß es sehr leicht sei, nach dem Leberblümchen 
über die Region, aus der es stammt, zu urteilen. Unter anderem 
haben Chodat’s Kulturversuche ein reiches Material an Variationen 
der Blätter der Anemone hepatica aufgewiesen, unter denen eine 
matte glanzlose und ein glänzige Variation hervorzuheben sei®). 


Zur Kenntnis der Symbiose niederer pflanzlicher 
Organismen mit Pedikuliden. 
Von Paul Buchner, München. 


Das bisher völlig rätselhafte, schon von Hooke und Swam- 
merdam gesehene und abgebildete Bauchorgan der Pedikuliden, 
auch die Magerischeibe oder Bauchdrüse genannt, ein scheiben- 
förmiges in eine Nische des Magens eingefügtes, aus radiär ge- 
stellten Zellen aufgebautes Gebilde, entwickelt sich auf ganz eigen- 
tümliche Weise. Chlodovsky beschrieb 1904, daß sich am Embryo 
in der Nähe des invaginierten Schwanzendes, aber völlig unab- 
hängig vom Keimstreif ein rundliches Häufchen von Zellen befände, 
das bei der Umrollung desselben in seine Mitte gelange, und zwar 
dicht unter den Magen und hier zur Magenscheibe des erwachsenen 
Tieres würde. Daß ım Bereich des Mesoderms gelegene Organe 
eines Insekts ihr Zellmaterial nicht vom Keimstreif beziehen, son- 
‘dern sich gewissermaßen extra-embryonal entwickeln, ist bisher 
nur für Wohnstätten im Insektenkörper symbiontisch lebender Pilze 
bekannt geworden und die Vermutung, es möge sich hier um ähn- 
liches lag nahe, zumal wenn man noch in Betracht zog 
daß die Ba des fraglichen Organes eine so dunkle war og 
die älteren Autoren nur von einem en körneligen Inhalt 
seiner Zellen zu sprechen wußten. Die überraschende Ähnlichkeit 
ın der Entwicklung beider Organe ist daher auch schon Strind- 
berg (1919) aufgefallen, wie er in einer Fußnote gelegentlich 
einer Untersuchung über die Entwicklung der Cocciden und ihrer 
Mycetocyten mitteilt. 

Aus den gleichen Überlegungen heraus entschloß auch ich mich, 
das Bauchorgan der Pedikuliden genauer zu untersuchen und ich 
konnte mich alsbald von der Berechtigung derselben überzeugen. 


*) Diejenigen Leser, die sich für die biometrische Forschung besonders inter- 
essieren, verweisen wir auf die Arbeiten von P. Vogel, besonders auf seine Arbeit: 
Probleme und Resultate variationsstatistischer Untersuchungen an Blüten und 
Blütenständen im Jahrbuch der St. Gallischen naturforschenden Gesellschaft 1911, 
wo auch ein ausführliches Literaturverzeichnis zu finden ist. 


N ei RS a 


536 P. Buchner, Zur Kenntnis der Symbiose niederer pflanzlicher Organismen ete. 


Das Bauchorgan der Pedikuliden stellte sich als ein unzweifelhaftes, 
Be hlauche beherbergendes Mycetom dar und die Übertragung 
der Pilze ın das Ei, stets das beste Kriterium für die Richtigkeit 
einer solchen Deutung, hieß sich schon am lebenden Material dar- 
tun. Nach den in der Literatur vorliegenden Angaben lassen die 
Haematopinus-Arten im Gegensatz zu den Pediculus- und Phthyrius- 
Arten die Magenscheibe vermissen, die bei diesen schon mit bloßem 
Auge als gelblicher Fleck zu erkennen ist. Ich zog trotzdem auch 
solche in den Kreis meiner Untersuchung!) und hierbei stellte sich 
heraus, daß hier die Wohnstätte der Pilze nur eine weniger aul- 
fällige ist, indem diese an Stelle eines geschlossenen Organes 
einzelne über den Magen zerstreute Zellen, bewohnen, die zwischen 
Muskelschicht und Epithiel gelegen, sich so tief ın das letztere ein- 
drücken, daß es auf den ersten Blick scheint, als ob einzelne Zellen 
des Darmepithels selbst infiziert seien°). Tatsächlich trennen aber 
stets schmale Brücken der deformierten benachbarten Epithelzellen 
die großen Mycetocyten vom Darmlumen (Haematopinus wurius; 
u Die hier lebenden Pilzschläuche sind schlanker als bei 
Pediculus capitis und erinnern in Anordnung und Gestalt lebhaft an 
den Inhalt der bei den Camponotus-Arten stets im Bereich des Mittel- 
darmes sich findenden Mycetocyten. Bei genauerem Zusehen wird die 
Ähnlichkeit der Verhältnisse bei Ameisen und Läusen sogar noch 
größer, denn die bisherigen Angaben, daß bei (umponotus das 
Mitteldarmepithel selbst infiziert seı, stellen sich dann als irrig heraus. 
Tatsächlich ist ım Bereich des gesamten Mitteldarmes eine zu- 
sammenhängende Schicht a like: mesodermaler oder richtiger 
ee Zellen vorhanden, die dicht unter und zwischen 
die Epithelzellen sich einfügt. Die Entwicklungsgeschichte des 
Camponotus-Eies, mit der ich mich zurzeit befasse, ergibt dies in 
einwandfreier Weise?). Dazu kommt noch, daß nach Blochmann 
bei Formica fusca die Pilze’ in einer beschränkten Zellgruppe beider- 
seits im Fettgewebe, also ohne enge Beziehung zum Darmepithel 
zu finden sind. Das Vikariieren beider Wohnstätten der Symbi- 
onten bei nahestehenden Formen läßt auch einige Schlüsse bezüg- 
lich der Art der Funktion zu, insofern ein möglichst inniger Kon- 
takt mit dem Darmepithel offenbar erstrebt wird, aber nicht un- 
bedingt nötig ist. Die Zustände des Zusammenlebens bei Oamponotus 


1) Herrn Dr Hobmaier, Assistent am tierpathologischen Institut der hiesigen 
Universität, bin ich für seine stete Bereitwilligkeit, mich mit Material zu versorgen, 
zu großem Dank verpflichtet. 

2) Inzwischen fand sich auch bei Haematop. piliferus ein Mycetom (Zusatz 
bei Korrektur). 

3) Das. Wesentliche hierzu ist übrigens bereits der Strindberg’schen Unter- 
suchung: Embryologische Studien an Insekten 1913, zu entnehmen; der Autor hält 
die Pilze allerdings für Mitochondrien, und man muß seine Angaben deshalb erst 
den wirklichen Verhältnissen entsprechend umdeuten, 








P. Buchner, Zur Kenntnis der Symbiose niederer pflanzlicher Organismen ete. 537 


und Haematopinus sind zweifellos die weniger ursprünglichen und 
größere entwicklungsgeschichtliche Komplikationen erfordernden ®). 

Unabhängig von mir und gleichzeitig entdeckte Sikora die 
Symbiose der Pedikuliden mit niederen Pilzen. Eine soeben in 
dieser Zeitschrift erschienene kurze vorläufige Mitteilung sicherte 
ıhm die Priorität und veranlaßte mich zu den vorliegenden Be- 
merkungen. Er erkannte die Mycetomnatur des Bauchorganes beı 
den Ne chen und bei Polyplax und fand ebenfalls ee diffusen 
Mycetocyten bei Haematopinus urius (Schwein). Hinsichtlich der 
Art der Übertragung der Pilze auf die Eier scheint er jedoch 
keinerlei Klarheit gewonnen zu haben. Ich habe sie bis jetzt vor 
allem bei Pedieulus capitis und Haematopinus piliferus lückenlos 
verfolgen können; sie ıst recht interessant, da sie in wesent- 
‚lichen Punkten ganz anders verläuft, als bei den übrigen In- 
sekten. Vergleicht man die Übertragungsweisen bei deren ein- 
zelnen Familien, so ergibt sich, daß sie jeweils ihr spezifisches 
Gepräge haben: bei Hemipteren polare Infektion meist ziem- 
lich alter Eier, gewöhnlich am hinteren Pol, seltener am 
vorderen, ım Gefolge einer lokalen Durchsetzung des Follikels 
(Pierantoni, Buchner u.a.), bei den Hymenopteren (Camponotus) 
allseitige Infiltration des Follikels sehr junger Eier und anfänglıch 


4) Echte Darmepithelbewohner unter den Insektensymbionten sind offenbar 
sehr selten. Nachdem (’amponotus zu streichen ist, bleiben nur noch die Hefe- 
pilze, die die Aussackungen am Anfang des Mitteldarmes bei Anobium und Sito- 
drepa (Coleopteren) bewohnen. Ich vermute, daß diese an sich so nahe liegende 
Wohnstätte sich infolge entwicklungsgeschichtlicher Schwierigkeiten nicht einbürgern 
konnte. Damit stimmt überein, daß in diesem Falle als dem einzigen unter den 
Insekten die Übertragung überhaupt nicht durch eine Infektion des. Eies gewähr- 
leistet wird. Schon früher habe ich mitgeteilt, daß das ausgewachsene Anobium-Ei 
pilzfrei bleibt, und daß Anhaltspunkte vorhanden sind, daß sich die Larve hier 
ausnahmsweise jedesmal durch den Mund neu infizieren muß. Inzwischen habe 
ich diese Verhältnisse weiter untersucht und meine Annahme bestätigt gefunden. 
In geschlechtsreifen Weibchen verläßt ein Teil der Pilze die Epithelzellen und 
wandert im Darmlumen nach rückwärts. In die Vagina aber münden zwei schlauch- 
förmige Säcke, die nun mit Pilzen vollgepfropft werden; schon Stein bildet diese 
- „Anhangsdrüsen‘“ ab, die verwandten Formen fehlen und offenbar eine spezifische, 
der Symbiose dienende Einrichtung darstellen. Von hier aus werden die austreten- 
den Eier oberflächlich mit den Hefezellen beschmiert, die zwischen den Höckern 
der Schale gut haften. Die abgelegten Eier zeigen sich stets reichlich damit be- 
haftet Daß die ausschlüpfende Larve beim Zernagen der Eihülle sich jedesmal 
neu infiziert, konnte ich nun neuerdings auch anatomisch feststellen; auch sind 
Untersuchungen im Gange, hier die Infektion künstlich zu verhindern. 

Die Anobien verhalten sich bezüglich der Übertragungsweise demnach ganz 
wie Convoluta (Turbellarien), bei der die symbiontischen Algen die abgelegten 
Kokons äußerlich und innerlich verunreinigen und von dem ausschlüpfenden Würmchen 
durch den Mund aufgenommen werden, und es ist zu hoffen, daß Experimente an 
Anobien ähnliche Resultate zeitigen wie dort angestellte, die ergaben, daß künstlich 
algenfrei gemachte Tiere dahinsiechen und dem Tode verfallen, durch eine recht- 
zeitige Fütterung mit Algen aber gerettet werden können. 





völlige Durchdringung des ganzen Eiplasmas (Buchner), bei Blat- 
tiden frühzeitig beginnende Bildung einer die ganze Eioberfläche 
überziehenden Bakterienschichte (Buchner, Fränkel), bei Oole- 
opteren (Anobien) Infektion durch den Mund. Die Menschenläuse 
aber und die Haematopinus-Arten bilden jederseits ein eigenes 
voluminöses Pilzorgan im Anfangsteil der beiderseits in den 
Uterus mündenden Tuben, das bereits von Müller als „Ovarial- 
ampulle“ bezeichnet, aber nicht in seiner wahren Natur‘ er- 
kannt worden ist. Es stellt etwa eine halbe, dickwandige Kugel- 
schale dar, die dem an die Eiröhren angrenzenden Teil des 
Oviduktes innen anliegt und als eine lokale ringförmige Falte 
entstanden sein muß, die es erklärt, daß hier das Epithel in 
drei Lagen übereinander liegt, zuäußerst das unveränderte Epithel, 
das in den Follikel einerseits, die Tubenwandung andererseits 
sich fortsetzt, hierauf eine hohe, reichlich mit sehr deutlichen wurst- 
förmigen, mehr oder weniger gekrümmten Pilzen erfüllte Schicht, 
die am Rand der Kugelschale umschlägt im eine zurücklaufende 
dritte Zone, die aus flachen pilzfreien Zellen bestehend den pilz- 
führenden Abschnitt nach dem Lumen zu bedeckt. Die Entwick- 
lung dieser eigentümlichen, sonst nirgends vorkommenden Einrich- 
tung und die Art, wie die Pilze dorthin gelangen, bleibt noch zu 
untersuchen. An sehr jungen Ovarien der Schweinelaus habe ich 
sie schon vollendet gefunden. Von hier aus, also gewissermaßen 
von einem Filialmycetom aus, werden nun die Eizellen infiziert 
und zwar jeweils nur das letzte, an die Tube angrenzende Ei, 
sobald es ein gewisses Alter erreicht hat, während bei Hemipteren 
gewöhnlich mehrere hintereinander liegende Eizellen einer Röhre 
infiziert sind, bei Cumponotus und: den Blattiden sogar nahezu sämt- 
liche Eier einer solchen. 


Aus der Region des Filialmycetoins, die dem zu infisierenden 
Ei zunächst liegt, trıtt eine Anzahl Pilze, mehrere in einer gemein- 
samen Vakuole vereint, in den Pfropf von Follikelzellen über, der das 
Eı von der Tubenhöhlung trennt; bald gelangen einige zwischen das 
Eı und den Follikel und wenn sich allmählich eine größere Menge 
derselben hier sammelt, buchten sie das Ei selbst genau in der 
Mitte des hinteren Poles tief ein. Schließlich wird diese pilzerfüllte 
Einstülpung völlig geschlossen und ein rundlicher Haufen der 
Symbionten liegt völlig in den Dotter eingesenkt. Die Verlötungs- 
stelle aber ist noch in ganz alten Eiern, um die die komplizierte 
Eischale mit dem nach der Infektion hier gebildeten rätselhaften 
„Stigma“ schon fertig ıst, deutlich zu erkennen. Der Ort der In- 
fektion gestattet zusammen mit dem frühesten entwicklungsgeschicht- 
lichen Stadium Chlodovsky’s den Schluß, daß diese Pilzmasse 
ganz wie bei den Hemipteren durch den von der Infektionsstelle 





P. Buchner, Zur Kenntnis der Symbiose niederer pflanzlicher Organismen ete. 559 


aus allmählich sich in den Dotter einsenkenden Keimstreif sekundär 
an den oberen Eipol verschoben wird. 

Sikora wagt sich über diese Ovarialampullen Müller’s nicht 
eindeutig zu äußern, wenn er von ihnen schreibt: „Diese dick wan- 
digen Halbkugeln . . . konnten Receptacula seminis sein. Da ich 
aber in ihnen selten etwas als Samenfaden Deutbares fand, hielt 
ich sie für eine Art phagocytierendes Organ, das die Einschmelzung 
des ihm zunächst liegenden Eifollikels nach Ausstoßung des Eies 
zu besorgen hat. Andererseits scheinen sie mir pilzführenden Or- 
ganen weit ähnlicher zu sein als die Magenscheibe.“ Jedenfalls 
aber erwähnt er kein Wort über dıe Rolle, die das Organ bei der 
Infektion zu-spielen hat. 

Sikora und mir ist es aufgefallen, daß die Pilze im Bauchorgan 
nur sehr undeutlich zu unterscheiden sind; sie sind auf Schnitten 
schlecht gegeneinander abgrenzbar und man würde hier ihre Natur nur 
schwer erkennen, wenn nicht auch andere Zustände vorlägen. 
Sikora teilt ferner mit, daß sich dagegen bei ganz jungen Läusen 
noch ein deutliches Fadenkonvolut findet, das sich erst um die 
Zeit der 3. Häutung. „in eine Masse unregelmäßiger Schollen“ zu 
verwandeln scheint. Bei Haematopinus urius sollen die verstreuten 
Mycetocyten sogar völlig schwinden. Seiner Deutung einer Atrophie 
der Mycetome vermag ich mich jedoch’ nicht anzuschließen, wenn 
er vermutet, „daß die Magenscheibe ein provisorisches Mycetom 
ist, das die Aufgabe hat, die Pilze zu beherbergen, bis das Ovarıum 
fertig ausgebildet ist, dessen Entwicklung durch ihre frühere An- 
wesenheit geschädigt werden würde, während der Magen ım Laufe 
des Larvenlebens keiner wesentlichen Umwandlung unterliegt“. 
Die . Filalmycetome sind vielmehr schon sehr frühe ange- 
legte sekundäre Einrichtungen, die ausschließlich im Dienste 
der Infektion stehen und die Pilze, die so innige topo- 
graphische Beziehungen zum blutgefüllten Magen aufweisen, sind 
hier nicht nur provisorisch untergebracht, sondern spielen hier 
irgendeine unbekannte, den Läusen vorteilhafte Rolle bei der 
Verdauung. Wenn hierbei Degenerationserscheinungen an ıhnen 
auftreten sollten, so-spricht das keineswegs gegen eine solche An- 
nahme. Ich habe selbst bei genauerem Studium der eigenartigen 
Mycetome mancher Oocciden regelmäßig auftretende Zustände offen- 
barer Entartung der Pilze beobachtet, die an Stelle kurzer läng- 
licher Schläuche große, scheinbar gequollene rundliche Bläschen 
darstellten und dem Botaniker sind ja schon seit langem die merk- 
würdigen Degenerationsformen der Bakterien in den Leguminosen- 
'knöllehen bekannt, die ebenfalls beträchtlich angeschwollenen Bak- 
teroiden. 

Sikora verspricht noch eine ausführlichere Arbeit, auch ich 
gedenke meine Untersuchung weiterhin zum Abschluß zu bringen. 


NEWS 
ana 


IR 





540 V. Franz, Liehtsinnversuche an Schnecken. 





Da noch mancher Punkt der Symbiose der Pedikuliden der Klärung 
harrt, wird es die restlose Erkenntnis der merkwürdigen Verhält- 
nisse nur fördern, wenn von zwei Seiten an ihrer Klärung ge- 
arbeitet wird. 
Literatur. 
Buchner, P., Studien am ivtrazellulären Symbionten 1., 2. Arch. f. Protistenk. 
19121948. 
— Vergleichende Eistudien I. Die akzessorischen Kerne des Hymenoptereneies. 
Arch. f. mikr. Anatomie 1918. 
Chlodovsky, Zur Morphologie der Pedikuliden. Zool. Anz. Bd. 27. 1914. 
Müller, Zur Naturgeschichte der Kleiderläuse. Hölder 1915. 
Sikora, H., Vorläufige Mitteilung über Mycetome bei Pedieulinen. Biol. Zentralbl. 
39. .Bd..1919. 


Strindberg, H., Embryologische Studien an Insekten. Z. f. wiss. Zool. Bd. 106, 
1913. 


— Zur Entwicklungsgeschichte der oviparen Cocciden. Zool. Anz. Bd. 50. 1919. 


Lichtsinnversuche an Schnecken. 
Von Professor V. Franz, Jena. 


Ein kurzer Bericht über meine Feststellungen zur Frage des 
Liehtsinns bei Heliciden sei mir hier gestattet. Das Erscheinen 
der ausführlichen Mitteilung in den Zoologischen Jahrbüchern dürfte 
noch längere Zeit auf sich warten lassen. 

Angeregt wurde ich zu den Versuchen unter anderem durch 
die Angabe Yungs, die Weinbergschnecke sei vollständig blind 
und entbehre auch jeglichen Hautlichtsinnes?).. Diese Angabe steht 
ja, was den Hautlichtsinn betrifft, zu den Angaben Nagels im 
Widerspruch’), und was den Augenlichtsinn betrifft, so mußte sie 
im Hinblick auf die gut ausgebildeten und an exponierter Stelle 
stehenden Augen der Schnecke unwahrscheinlich erscheinen. Die 
Angaben Yungs haben auch W.v. Buddenbrock zu seinen schon 
vor einigen Jahren veröffentlichten Versuchen, die ungefähr gleich- 
zeitig mit den meinigen begonnen wurden, angeregt ?). Auf eigenen 
und im Wesentlichen anderen Wegen kam ich zu Ergebnissen, die 
diejenigen Früherer und v. Buddenbrocks in manchem bestätigen, 
in manchem ergänzen dürften. Den neueren Feststellungen v. Budden- 
brocks über die von ıhm so genannten Lichtkompaßbewegungen 
der Tiere bin ich indessen nicht nachgegangen. 


1) E. Yung, De l’insensibilite ä la lumiere et de la c£eite de l’escargot (Helix 
pomatia). Archives de Psycholog e, Tome XI, No. 44, Nov. 1911. 26 Seiten. 

2) W. A. Nagel, Der Lichtsinn augenloser Tiere. Eine biologische Studie. 
Jena, G. Fischer 1896. 26 Seiten. 

3) W. v. Buddenbrock, Einige Bemerkungen über den Lichtsinn der Pul- 
monaten. Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, mathe- 
matisch-naturwissenschaftliche Klasse, Ableilung B, Jahrgang 1916, 1. Abhandlung. 
23 Seiten. 1916. 








V. Franz, Liehtsinnversuche an Schnecken. 541 


Es zeigte sich, daß es nicht ganz leicht ist, von Anderen be- 
schriebene Lichtsinnversuche an Schnecken nachzuprüfen, wegen 
der auch früher schon manchmal erwähnten Undeutlichkeit vieler - 
- Reaktionen und der anscheinend zum Teil individuellen, zum Teil 
wohl von Zuständen der Individuen und rascher Gewöhnung ab- 
hängigen Schwankungen im Verhalten der Tiere. 

een konnte eh längeren Bemühungen festgestellt werden, 
daß die Nagelsche Beschattungsreaktion der Schnecken, 
das auf Beschattung hin eintretende Zusammenzucken 
des Tieres, wesentlich auf dem Hautlichtsinn beruht, wie 
schon Nagel angab. Der Hautlichtsinn der Heliciden ist damit 
bestätigt. Allerdings gelang diese Bestätigung nicht an den Ver- 
suchsobjekten Nagels, wie Helix pomatia und hortensis, an denen 
ich nämlich die Beschattungsreaktion überhaupt nicht wahrnahm, 
sondern erst bei der im August 1918 ostwärts Peronne in Frank- 
reich von mir ın Massen gefundenen, eigentlich mediterranen Helix 
(Xerophila) varibelis Drap., die auf Dlörheke Beschattung sehr 
deutlich durch Heraufrollen des Gehäuses auf den sich zusammen- 
ziehenden Körper reagiert und dies auch im Falle der Blendung 
durch Augenträgeramputation nach mehrtägiger Wundverheilung tut. 

Ferner wurde die — wie ich sie nenne — v. Buddenbrock- 
sche Beschattungsreaktion oder die auf Beschattung hin ein- 
tretende Aufbäumebewegung der Schnecken sowie ıhr Zu- 
standekommen durch den Augenlichtsinn bestätigt. Die 
Reaktion selber ıst bei allen Arten leicht darzustellen. Bei Helix 
variabilis tritt sie erst dann ein, wenn nach etwa halbstündigem 
Arbeiten mit den Tieren die Nagelsche Beschattungsreaktion nicht 
mehr eintritt. Daß sie auf den Augen beruht, schließe ich aus 
ıhrem im Laufe der Versuche hinlänglich deutlich gewordenen, 
wenn auch im Einzelversuch nicht unbedingt sicher erkennbaren 
Aufhören nach Amputation der Augenträger und Wundverheilung, 
während v. Buddenbrock es aus der von ihm beobachteten 
manchmal geradezu unaufhörlichen Fortdauer der Reaktion nach 
Blendung schließen zu können meint: die Augen zeigten dem Tiere 
die Helligkeit an. 

Eine wenn auch- selten deutlich zum Ausdruck kommende 
positive Phototaxis war bei den Heliciden nachweisbar. Daß 
sie auf den Augen beruht, wurde mir wahrscheinlich, aber nicht 
ganz gewiß. 

Während nun ım Vorstehenden schon gesagt ist, daß die 
Schnecke auch über Lichtreaktionen, die durchs Auge vermittelt 
werden, verfügt, scheint sie sich doch zunächst ım Freileben 
kriechend in Vielem wıe blind zu verhalten, indem sie hundertmal 
mit ihren Augenträgern und auch mit deren die Äuglein. tragenden 
Kuppen an Hindernisse anstößt, worauf jedesmal der Augenträger 


a 


549 V. Franz, Lichtsinnversuche an Schnecken. - 


2 


sich teilweise einzieht oder auch einstülpt. Über die Frage, ob 
‘bei diesem Verlalten das Auge wirklich keinerlei Funktion ausübe, 
gibt der durch zahlreiche Versuchsreihen erbrachte Nachweis Auf- 
schluß, daß nach Anstoßen der Augenträgerkuppe an sicht- 
baren Hindernissen eine durchschnittlich geringere 
Retraktion des Augenträgers erfolgt als nach Anstoßen 
an einem unsichtbaren Hindernis, nämlich einer Glas- 
scheibe. 

Ich übergehe hier alle Einzelheiten dieser den Hauptinhalt 
"meiner Arbeit ausmachenden Versuche und erwähne nur das Haupt- 
ergebnis und Einiges aus den Erörterungen darüber. 

Das Hauptergebnis läßt sich offenbar in den Satz zusammen- 
fassen: von sichtbaren Körpern ausgehende optische 
Eindrücke, die das Schneckenauge beim Anstoßen oder 
unmittelbar vorher treffen, hemmen die Retraktion des 
Augenträgers. 

Die biologische Bedeutung dieses -Hemmungsreflexes liegt eben- 
so auf der Hand wie die des bloßen Rückziehreflexes. Unvorher- 
sehbare Berührungsreize, wie sie in der Natur etwa ein kleiner 
plötzlicher Wasserguß, ein herabfallender Stein oder ein zustoßen- 
der Vogel darstellen können, müssen unbedingt eine starke Zurück- 
ziehung der ganzen Schnecke oder mindestens zunächst des Augen- 
trägers zur Folge haben; dieser Reflex ist also eine Lebensnot- 
wendigkeit.. Bei der hohen Bedeutung des Tastsinnes 
des Augenträgers für die Kriechbewegung der Schnecke ist es 
aber auch wichtig, daß der Augenträger kleine, nicht plötzlich 
kommende, wenig störende Hindernisse in der Natur, wie nament- 
lich ganz dünne Ästchen, von jenen plötzlichen Einwirkungen 
unterscheiden kann, und hierzu hat er das Auge; es erfolgt dann 
nach dem Anstoßen nur die geringe Retraktion, die eben ge- 
nügt, um die offenbar sehr zarte Haut des Augenträgers und be- 
sonders seiner Kuppe hinreichend zu schützen, manchmal übrigens 
auch gar keine, 

Wenn hierbei ene'hohe Bedeutung des Tastsınns des 
Augenträgers für die Kriechbewegung der Schnecke angenommen 
wird, so steht mir eine Reihe von Versuchen zur Verfügung, welche 
diese tatsächlich beweisen. Es zeigte sich nämlich — um es hier 
nur in Kürze anzudeuten — daß Berührung des Augenträgers mit 
einem feinen Stäbchen von oben, unten, rechts oder links, wenn 
sie nicht zu schwach ist und nicht stark genug, um den Rückzieh- 
reflex des ganzen Tieres auszulösen, zur Folge hat, daß die 
Schnecke entweder auf das „Hindernis“ herauf- oder 
seitlich an ihm vorbeikriecht. 

Hiernach könnte man etwa sagen, die Schnecke wird von dem 
Augenträger oder Fühler geführt wie ein Blinder. Diese Ausdrucks- 












V. Franz, Lichtsinnversuche an Schnecken. ' 545 


weise würde allerdings nur dann ganz zutreffend sein, wenn keinerlei 
optische Reize vom Sehorgan über den Augenträger hinaus in den 
übrigen Körper der Schnecke gingen. Dem scheint nun zwar nicht 
ganz so zu sein mit Rücksicht auf die mitunter zu beobachtende 
Phototaxis und gewisse Feststellungen v. Buddenbrocks. Immer- 
hin dürfte jenes Zusammenarbeiten von Auge und Augenträger die 
Hauptfunktion des Auges darstellen, im Wesentlichen oder 
„cum grano salis gesprochen“ gehört dieses Organ nur dem Augen- 
träger an, der seinerseits für die Schnecke hauptsächlich ein Organ 
des Tastsinnes ist; dem entspricht ja auch die winzige Größe des 
Auges, die nämlich im Verhältnis zur ganzen Schnecke winzig, im 
Verhältnis zum Augenträger aber etwa die ist wie sonst die eines 
Auges zum ganzen Tier. Es war also, wenn man vom dermat- 
optischen Sinn absieht, nicht so ganz verfehlt, wenn Yung die 
Schnecke als blind bezeichnete; wenn Yung das Sehvermögen des 
Helixauges nicht feststellen konnte, so war er nicht nur keinem 
größeren Irrtum verfallen als wohl manche früheren Forscher, die, 
wie zum Beispiel wahrscheinlich Willem®), hierin zu viel be- 
hauptet hatten, vielmehr entspricht der Organısmus der Schnecke 
seiner Angabe nahezu. 

Zum Schluß erwähne ich, daß unter den oben erwähnten Be- 
rührungsreizen, die man auf den Augenträger mit der Wirkung 
darauf folgender Körperbewegungen der Schnecke ausüben kann, 
diejenigen, welche den Augenträger von oben oder unten und mit- 
hin die vorwärts kriechende Schnecke von vorn treffen, die- 
selben Körperbewegungen der Schnecke hervorrufen wie ein 
gegebenenfalls nicht zu kräftiger Schattenreiz ohne gleichzeitigen 
Berührungsreiz. Denn die auf jenem Wege zu erzielenden Fühler- 
und Kopfbewegungen und das Heraufkriechen der Schnecke auf 
das Hindernis sind ganz dieselben Bewegungen wie die v. Budden- 
brocksche Aufbäumebewegung der Schnecke nach Beschattung. 
So können also die optischen und taktischen Reize aufs beste zu- 
sammenarbeiten, und aus diesem Grunde „muß“ die Aufbäume- 
bewegung, soweit photisch bedingt, nur auf dem Auge Beruhen 
und nichts mit dem Hautlichtsinn zu tun haben, wie es die oben 
erwähnten Versuche über diese Bewegung der Schnecke auch tat- 
sächlich ergeben haben. 


/ 


4) V. Willem, La vision.chez les Gastropodes Pulmon&s. Archives de Bio- 
logie, Tome XI, Seite 57 bis 184, 1892. 

Derselbe, La vision chez les Gastropodes Pulmones. Note. Comptes rendus 
de l’Acad&mie des Sciences, Tome 112, 1891, I, Seite 247 bis 248. 


Burge 





544 Wilh. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 


Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 
1I. Teil. 


Von Dr. Wilhelm 6Goetsch. 


Die hier vorliegende II. Abteilung der Versuche und Beobach- 
tungen an Hydra werden die in dieser Zeitschrift vor. einiger Zeit 
erschienenen Mitteilungen fortsetzen und im Anschluß an die dort 
besprochenen Vorgänge bei der Reduktion der männlichen Ge. 
schlechtsorgane 


die Bildung und Rückbildung der Ovarien 


behandeln und hauptsächlich die Erscheinungen beschreiben, die 
bei gleichzeitig einsetzender Regeneration anzutreffen sind. 

Das Material zu diesen Untersuchungen bestand diesmal haupt- 
sächlich aus Hydra viridis, von der in der Zeit von Mitte Juni 
bis Anfang Juli in Würzburg viele Tiere gefunden wurden, die 
Hoden, Ovarien und Knospen gleichzeitig in reichlicher Ausbil- 
dung besaßen. Die Witterung war zu dieser Zeit zunächst sehr 
warm und schlug dann ins Gegenteil um, ohne daß dadurch sich 
eine Änderung im Verhalten der Hydren feststellen ließ. Ähnlich 
verhielt sich Hydra grisea, die zum Vergleich herangezogen wurde. 

Die mit zur Untersuchung benützten Exemplare von Aydra 
fusca scheinen wiederum meine früheren Beobachtungen zu be- 
stätigen, daß nach einem Witterungsumschlag von warmen zu 
kaltem Wetter Fortpflanzungsorgane zu finden sind: Es waren nur 
in der zweiten, kälteren Periode geschlechtsreife Tiere anzutreffen. 
Doch wurden Hydra fusca nur in so geringer Anzahl erbeutet, daß 
ich einen definitiven Schluß nicht zu ziehen wage. Die braunen 
Hydren waren getrenntgeschlechtlich, gehörten also der von Brauer 
als Hydra oligactis' beschriebenen Form an. Wie in den früheren 
Abhandlungen behalte ich auch hier, Hertwig u. a. folgend, den 
Namen Hydra fusca für die braunen Polypen bei. Außer dem 
Material, das in Würzburg gesammelt wurde, standen mir noch 
einige Aufzeichnungen und etwas Material zu Gebote, das aus 
Straßburg mitgenommen werden durfte. 

Über die Entstehung der Ovarien und Eier ist bereits früher 
viel gearbeitet worden, so daß eine genauere Beschreibung aller 
Einzelheiten sich erübrigt. Ich werde über den normalen Verlauf 
der Entwicklung daher nur kurz berichten und auch auf bestimmte 
Streitfragen, deren Erörterung zu weit ab vom eigentlichen Thema 
führen würde, mich nicht einlassen. 

Der Ausgangspunkt für die Bildung der weiblichen Geschlechts- 
produkte ist derselbe, der sich auch für die Hoden feststellen ließ; 
die interstitiellen Zellen nämlich, die sich unmittelbar unter dem 








Wilh. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 545 


eigentlichen Ektoderm befinden. Diese interstitiellen Zellen be- 
ginnen sich an den Stellen, an denen dann später das Ovar mit 
dem in ihm entstehenden Ei anzutreffen ist, stark zu vermehren 
und dadurch eine Platte zu bilden, die sich am lebenden Ei als 
eine undurchsichtige, weißliche Verdickung beobachten läßt. Sie 
nimmt nach und nach an Ausdehnung zu und bildet so das Ovar, 
in dessen Mitte dann nach einiger Zeit das Ei zu finden ist. 

Über die Art und Weise, wie die Vermehrung der intersti- 
tiellen Zellen vor sich geht, sind die Ansichten geteilt. Manche 
Autoren behaupteten, die Anhäufung der Zellen fände durch Ein- 
‘wanderung statt, während andere (Kleinenber g, Downing u.a.) 
ein Wh um ne eine Vermehrung der interstitiellen Zellen. an Ort 
und Stelle annehmen. Ich schließe mich dieser Ansicht an, da man 
auf den Schnitten durch junge Ovarien die Zellen meist in Teilung 
antreffen kann. 

Inmitten dieser Ovarzellen trıtt nun das Ei auf, zunächst als 
eine Zelle kenntlich, die die umgebenden Ovarzellen an Größe 
übertrifft. Auch über die Entstehung des Eis sind dıe Ansichten 
geteilt, und es ist noch nicht las festgestellt, ob es als eine 
vorher prädestinierte Zelle aufzufassen ist, die von den interstitiell 
entstehenden Ovarzellen prinzipiell verschieden ist — wie es z. B. 
Downing behauptet —, oder ob es wohl interstitiellen Ursprungs, 
aber schon vor dem Auftreten des Eierstocks von den Ovarzellen 
unterscheidbar ist-— wie es Tannreuther angıbt —, oder aber 
ob es einfach dadurch entsteht. daß eine Ovarzelle die anderen 
durch irgendeine sekundäre Ursache an Größe übertrifft und nun 
die Oberhand behält, — wie Kleinenberg, Steche u. a. an- 
nehmen. Für unsere Untersuchungen hier ist diese an sich sehr 
wichtige Frage über die Kontinuität der Keimzellen von Hydra be- 
langlos; ich selbst neige mich auf Grund dieser meiner Experimente 
und Beobachtungen, die an anderer Stelle veröffentlicht werden 
sollen, der Ansicht Steche’s zu, für den es unzweifelhaft ist, daß 
alle Ovarzellen ursprünglich gleichwertig waren und zu Eiern werden 
konnten. Es findet also hier, wie auch bei anderen Tieren, unter 
den Eiern eine Art Kampf ums Dasein statt. „Welche Zellen zur 
definitiven Eizelle werden, ist nicht von vornherein bestimmt. Die- 
jenige Zelle, die aus irgendwelchen Gründen einen zunächst gering- 
fügigen Wachstumsvorsprung vor ihren Nachbarn hat, wird in der 
‚Lage sein, auch weiterhin kräftiger zu assimilieren, dadurch ihren 
Vorsprung allmählich zu vergrößern und endlich ıhre Nachbarn 
völlig zugrunde zu richten.“ | 

Ist das Ei inmitten der es umgebenden Ovarzellen deutlich zu 
unterscheiden, so kommt es in ihm zur Anhäufung von Nahrungs- 
‚material. Wir haben dabei zu unterscheiden zwischen einfachen 
Dotterkügelchen und den eigenartigen größeren Gebilden, die für 

39. Band. 36 


546 Wilh. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 


die Untersuchungen hier sich als wichtig herausstellen werden, den 
Pseudozellen nämlich, wie Kleinenberg sie nennt. Es sind. dies 
rundlich oder oval geformte, in sich abgeschlossene Bestandteile 
des reifenden und reifen Eis, bestehend aus einem mit mehr oder 
weniger Hervorbuchtungen versehenen Plasmaring und zentraler 
Vakuole; sie fallen auf jedem Schnitt durch eine Hydra mit reiferen 
weiblichen Geschlechtsprodukten sofort in die Augen (Fig. 3). 
Schon die ältesten Beobacher der Entwicklungsgeschichte unserer 
Süßwasserpolypen kannten diese Pseudozellen; sie deuteten sie 
indes meist falsch, so z. B. Ecker, der sie für wirkliche Zellen, für 
Furchungszellen, hielt. Aber schon Kleinenberg korrigierte diesen 
Irrtum. Er erkannte auch die Funktion dieser Gebilde und be- 
schrieb sie richtig als Nahrungsreservoire für das wachsende Ei. 
Spätere Untersucher stellten dann ihre Entstehungsweise, über 


die bereits Kleinenberg einige Angaben macht, sowie ihren Ur- 


sprung näher fest. Nach Downing entstehen sie entweder durch 
Vereinigung von kleinen Dotterkügelchen im Ei oder durch Auf- 
nahme ganzer interstitieller Zellen. Wager unterscheidet Pseudo- 
zellen, die von ganzen Zellen, solche, die von Kernen und endlich 
solche, die von Kernkörperchen herrühren. Meine Untersuchungen 
konnten immer nur solche Pseudozellen feststellen, die aus ganzen 
interstitiellen Elementen ihren Ursprung ableiteten; wir werden 
später noch darauf zurückzukommen haben. 

Das Ei nımmt indes immer mehr an Größe zu, und diese Ver- 
größerung hält mit der Reduktion und dem Kleinerwerden des 
Ovars gleichen Schritt. Man kann schon daraus schließen, daß das 
Ovar auf Kosten der Eizelle an Größe abnımmt; direkte Beobach- 
tungen, daß die Ovarzellen an den dem Ei zugewandten Seiten 
ihre Zellgrenzen einbüßen und aufgesaugt werden, bestätigen diese 
Vermutung. In Fig. 3 findet man verschiedene derartige Fälle an- 
gegeben. Inzwischen ist auch die zunächst rundliche Eiform einer 
amöboiden Gestalt gewichen, welche sich auf Schnitten in der Art 
und Weise repräsentiert, wie es Fig. 3 darstellt. Die lappenartigen 
Pseudopodien reichen tief in die Haufen der Ovarzellen hinein und 
nehmen immermehr von ihnen in sich auf, was ebenfalls ın der 
Fig. 3 links zu sehen ist. 

Der Endeffekt all dieser Vorgänge ist der, daß das fertige Ei, 
welches inzwischen den Kern aufgelöst und dann durch Abschnüren 
der Riehtungkörperchen seine Reife erlangt hat, vollgestopft ist von 
Pseudozellen, während von dem Ovar nichts mehr übrig bleibt. 
Ist dieser Zustand erreicht, dann durchbricht das Ei die Epidermis 
und ist nun zur Befruchtung reif. 

Dieser normale Entwicklungsgang der Eier wird durch das 
gleichzeitige Auftreten von regenerativen Prozessen wesentlich ge- 
stört. Um das Ergebnis, das entsteht, wenn man eiertragende 







1 










vu ) NR 


Wilh. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 


Hydren zerschneidet, gleich vorwegzunehmen: Die Weiterbildung 
der Eier und auch des Ovars unterbleibt, sofern die Operation, 
welche die Regeneration veranlaßt, nicht an Tieren gemacht wird, 


‘ deren Eier bereits so entwickelt waren, daß sie unmittelbar vor der 


Durchbrechung der Epidermis standen. Hat man dagegen einen 
Schnitt geführt oberhalb oder unterhalb einer jüngeren Ovaranlage, 
so tritt eine rückläufige Entwicklung ein und die weiblichen Ge- 
schlechtsorgane verschwinden. 

Die Zeitdauer, die für derartige Rückbildungsprozesse nötig ist, 
beträgt bei Hydra grisea und Hydra fusca 3—5 Tage, bei Hydra 
viridis A—-7 Tage. Wie bei der Hodenreduktion ist die Schnellig- 
keit des Verlanfs einmal von der Witterung abhängig: wie alle 
Lebensprozesse bei Hydra geht sie bei warmen Wetter schneller 
vor sich als bei kälteren. Zweitens spielt die Lage des Ovars eine 
Rolle, da Ovarteile, die der Schnittfläche näher liegen, etwas rascher 
degenerieren als die, welche weiter abseits liegen. Drittens kommt 
es noch auf den Ernährungszustand an; je schlechter er ıst desto 
rascher werden die Ovarteile eingeschmolzen. Die Lage des Ovars 
ist zum Unterschied von den Hoden gleichgültig, und untere wie 
obere Teile einer Hydra zeigen dieselben Verhältnisse. 

Ob die etwas längere Zeitdauer der Rückbildungsprozesse bei 
Hydra viridis in den Artcharakteren beruht, ist ungewiß. Die 
Tiere, mit denen ich arbeitete, hatten wie bereits erwähnt, meist 
Knospen, waren also in gutem Ernährungszustand. Außerdem ver- 
anlaßt vielleicht noch die durch den Hermaphroditismus bedingte 
gleichzeitige Anwesenheit von Hoden eine Verlangsamung der Rück- 
entwicklung sowie das Vorhandensein der symbiotischen Algen. 

Bei einer Beschreibung der Vorgänge, die bei einem Zusammen- 
treffen von Regeneration und Eibildung zu beobachten sind, hat 
man drei Fälle zu unterscheiden; je nachdem man kleine, mittlere 
oder große Ovaranlagen vor sich hat, verlaufen die Bildungs- 
prozesse anders. An lebenden Tieren ist nicht allzuviel vom Be- 
ginn der Reduktionsvorgänge sowie von den verschiedenen Ent- 
wicklungsphasen zu sehen, im Gegensatz zu den Hoden, bei denen 
das Aufhören der Spermabewegung die eintretende Degeneration 
anzeigt, das Schlaffwerden und die allmähliche Schrumpfung das 
Weiterfortschreiten kundtut. Besonders bei den kleinen, jungen 
Stadien der weiblichen Geschlechtsorgane, dıe sich am leichtesten 
zurückbilden, ist die äußerliche Beobachtung sehr erschwert, da 
sich diese kleinen Hervorwölbungen bei lebenden Tieren, die sich 
einmal lang ausstrecken, ein anderes Mal ganz zusammenziehen, 
nicht leicht auf geringe Größenschwankungen kontrollieren lassen. 

Bei Hydra fusca und grisea hat im allgemeinen ein kleines 
ÖOvar bereits am Tage nach der Operation an Größe etwas abge- 
genommen; am zweiten Tage danach hat es sich noch weiter ver- 

| 36* 


548 Wilh. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 


kleinert, manchmal bis zur äußerlichen Unkenntlichkeit, und ist 
am dritten Tage meist völlig geschwunden. Am vierten Tage be- 
ginnen dann die Tentakel zu entstehen, und noch einen Tag später 
hat dann das Tier seine normale Ausbildung erlangt. 

Von Hydra viridis sei an einem speziellen Beispiel, das gleich- 
zeitig auch noch andere Vorgänge demonstriert, die Ovarrückbil- 
dung gezeichnet und beschrieben. Abbildung 1 a zeigt den unteren 
Teil einer Hydra viridis, wie ich ihn am 18. Juni 1919 frühmorgens 
beobachten konnte, mit Hoden unmittelbar an der Schnittstelle und 
zwei Ovarien darunter; männliche und weibliche Fortpflanzungs- 


organe bereits in beginnender Degeneration, da am Tage vorher 


(17. Juni 1919) der obere, ebenfalls Hoden enthaltende Kopfteil ab- 
geschnitten worden war. Am Nachmittag des 18. Juni begannen 
bereits Tentakel zu entstehen, und zwar wie ich es in der früheren 





Fig. 1. a—c Fortschreitende Reduktion von Hoden (4) und Övarien (0) bei Re- 
generation der Tentakel, die sich z. T. unmittelbar aus den Hoden bilden. 


Mitteilung an Hydra fusca bereits beschrieb, unmittelbar aus dem 
Hoden heraus. Besonders deutlich sehen wir es rechts, wie sich 
in die Hodenreste Entoderm hineinschiebt, auf diese Weise das 
Material des einen Organs zum Aufbau des anderen benützend. 
Die Ovarıen haben an Größe abgenommen und sind zu kleinen 
Erhebungen zusammengefallen, Erhebungen, die am 19. Juni noch 
geringer geworden und am 20. Juli äußerlich ganz geschwunden 
sind (Fig. 16), Statt dessen haben sich die Tentakel mächtig. ent- 
wickelt. Am 19. Juni waren zehn kleinere vorhanden, also mehr 
als eine Hydra viridis normalerweise zu besitzen pflegt. An der 
Basis des einen Tentakels sah man noch deutlich die Reste des 
Hodens, der zum Aufbau mit verwandt war, und diese Reste waren 
auch am 20. Juni noch sichtbar, nur etwas kleiner geworden und 
etwas weiter nach oben gerückt (Fig. 1c). Die Überzahl der Ten- 
takel begann mit diesem Tage normaleren Verhältnissen Platz zu 
machen, indem mehrere miteinander zu verschmelzen anfingen, 
wie wir es gleichfalls an der Abbildung 1c sehen. 


Re Mala RES 
Be er > R Mn ZN Een 7 





in > u 4 oe 





Wilh. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydıa. 549 


Ovarien mittlerer Größe, d. h. solche, die bereits äußerlich un- 
zweifelhaft als solche erkennbar sind, verhalten sich etwas anders. 
Auch hierfür sei ein bestimmtes Beispiel gegeben. 

| Eine Hydra wiridis mit vielen Hoden am oberen Ende und 
deutlich erkennbaren Ovar am unteren Teil wurde am 17, Juni so 
durchschnitten, daß der Kopfteil alle Hoden und, wie erst die 
Schnitte zeigten, ein äußerlich noch nicht erkennbares Ovar, das 
untere Stück nur das mittelgroße Ovar enthielt. Die Figur 2a 
zeigt diese untere Hälfte, die uns hier allein angeht, sechs Stunden 
nach der Operation; das Ovar, das unmittelbar nach der Operation 
‚seitlich von der Schnittfläche lag, hat sich auf diese darauf ge- 
schoben und bedeckt so zum Teil die Wunde haubenförmig. Am 
18. Juni war diese Haube etwas mehr nach der Seite gerückt, da- 
durch, daß der Stumpf über das Ovar hinaus zu wachsen begann; 
das Ovar selbst war unverändert (Fig. 2b). Am 19. Juni war inner- 
halb desOvars deutlich das Ei sichtbar geworden (Fig. 2c), es hatte 
sich also weiterentwickelt und schien auch in der Entwicklung fort- 





„Fig. 2. a—d Fortschreitende Umbildung eines Ovars (O) bei der Regeneration. 


fahren zu wollen, es begann sich auch schon durch die einwandern- 
den Algen leicht grünlich zu färben. Am Abend desselben Tages 
wurde nun das Ei, das noch keinesfalls reif sein konnte, da rings- 
herum noch viel unverbrauchte Ovarzellen vorhander waren, plötz- 
lich ausgestoßen. Die ausgetretene Masse stellte sich als leicht 
grün gefärbte Kugel dar, die sofort jeden Zusammenhang mit 
dem Muttertier aufgab und sich bald auflöste. Die stehen ge- 
bliebenen Övarteile waren als weißliche Ausbuchtung sichtbar ge- 
blieben. E 

Am. 20. Juni früh morgens zeigte der Stumpf noch äußerlich 
erkennbare Ovarteile, er begann aber auch bereits mit der Re- 
generation. Am Nachmittag erhoben sich die ersten Tentakel- 
knospen, die am 21. Juni schon eine ziemliche Länge erreicht hatten. 
Övarreste waren an diesem Tag noch vorhanden (Fig. 2 d). Eine 
Hemmung der Tentakelbildung auf der Seite des Ovars, die immer 
eintritt, solange dort das Ei noch in Entwicklung ist, trat nicht 
ein, sondern im Gegenteil, es ließ sich an der Seite, an der das 
Ovar lag, eine stärkere Ausbildung der Tentakel erkennen, ein 


550 Wilh. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 
N | 


Zeichen dafür, daß hier Materialüberschuß vorhanden war, vener 
durch die Rückbildune des Ovars. 

‘ Die an diesem Beispiel dargelegten Verhältnisse zeigen, daß 
ein schon etwas spezialisierteres, differenzierteres Ei nicht rück- 
gebildet wird, daß es sıch aber trotzdem nicht weiter entwickeln 
kann, da die Regeneration das Übergewicht besitzt und das Material, 
das für die Weiterentwicklung noch nötig wäre, für sich bean- 
sprucht. Der Kampf der einzelnen Teile und Kräfte hat sich gegen 
das Ei entschieden, und es wird, da es weder resorbiert werden noch 
in der Entwicklung fortschreiten kann, ausgestoßen und kann sein 
Ziel nicht erreichen. 

Nur ın dem Fall, daß ein Ei beinahe vor der Durchbreehung 
der Epidermis steht, kann es seine Bestimmung erfüllen und zur 
Befruchtung kommen. Es ist dann bereits zu sehr in der Ent- 
wicklung voran gekommen und hat sich genügend mit Reserve- 





Fig. 3. Schnitt durch das Ovar einer Hydra viridis. E=Ei mit Kern. PsZ = 
Pseudozellen; OZ = ÖOvarzellen. Ekt = Ektoderm, Ent = Entoderm mit 
Algen; & Aufnahme von Entodermzellen in das Ei. 


material gefüllt, so daß es das, was etwa die Regeneration davon 
in Anspruch nimmt, entbehren kann. Daß auch bei einem solchen 
großen Eı ein Kampf um die Nahrung stattfindet, zeigt sich darin, 
daß auf der Seite, auf welcher sich ein solches Ei befindet, die 
Tentakelentwicklung gehemmt ist und erst dann mit voller Kraft 
einsetzt, wenn das Eisich ganz losgelöst hat, ein Vorgang, den ich 
ja bereite früher beschrieb und abbildete. 

Schnitte durch fixierte Tiere müssen auch hier die an lebenden 
Objekten gewonnenen Beobachtungen ergänzen und geben über- 
haupt erst den richtigen Aufschluß über die Vorgänge, die sieh 
heim a eesireffen von Regeneration und Eibildung feststellen 
lassen. 

Die Textfigur 4 führt nur den mittelgroßen Eierstock eines 
Tieres vor Augen; das einen Tag, nachdem der Kopfteil oberhalb des 
Ovars abgeschnitten war, getötet wurde. Wir sehen an dem Schnitt 
rechts und links zwischen dem blasigen Ektoderm und dem mit 
Algen gefüllten Entoderm die typischen Ovarzellen, wie wir sie 
von Fig. 3 bereits kennen; eng nebeneinander liegende runde oder 










Wilh. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 551 


polygonale Gebilde, hervorgegangen aus Teilungen. Nach der 
Mitte zu löst sich die kompakte Zellmasse mehr in einzelne Teile 
auf, und in der Mitte selbst, an der Stelle der stärksten Erhebung 
und Ausbuchtung, erblicken wir bei x einen leeren Raum unter 
dem hier etwas verdünnten Ektoderm. ‘ Es ist dies die Stelle, an 
der sich das Ei befand; dasselbe war kurz vor der Fixierung aus- 
gestoßen worden, da es bei den jetzt einsetzenden Regenerations- 
vorgängen sich nieht weiterentwickeln konnte, zur Rückbildung 
aber bereits zu diffenziert war. Von Regenerationsprozessen selbst 





Fig. 4. Schnitt durch das Ovar von H.viridis, einen Tag nach der Operation. Be- 
zeichnungen wie beii3 z= Stelle an welcher das unreife Ei ausge- 
stoßen wurde. . 





or 


Fig. Schnitt durch Ovar von H. veridis, 2 Tage nach der Operation. Umwand- 


lung der Ovarzellen OZ° in Pseudozellen PsZ, — Links verschiedene Um- 
wandlungsstadien in stärkerer Vergrößerung. 

Fig. 6. Schnitt durch Ovar von H.viridis, 2!/, Tage nach der Operation. Pseudo- 
zellen (PsZ) auch im Entoderm (Ent). — Unten Pseudozellen, größer ge- 
zeichnet; keine Chromatinbrocken mehr wie bei 5. 


erblicken wir auf diesen Schnitten noch nichts, wir können nur 
überall regelmäßige Ovarzellen sehen, noch ohne Auflösungserschei- 
nungen. Das ändert sich, wenn wir den Durchschnitt durch eın 
Tier betrachten, das einen Tag später, am zweiten* Tag nach der 
Operation abgetötet wurde, wie ihn Fig. 5 zeigt. Da es sich um 
ein Tier mit kleinerer Ovaranlage handelt, sind die Ovarzellen 


nicht so dichtgedrängt wie in Fig. 3 und 4, sondern liegen noch 


weiter auseinander und sind auch nicht so zahlreich, Wir sehen 


E} 








559 Wilh. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 


aber auf dem Bild, daß diese typischen Eierstockzellen sich nur an 
den Seiten finden; in der Mitte. sehen wir große rundlich-ovale 
Gebilde, die als Umwandlungsprodukte von Ovarzellen aufzufassen 
sind. Wir können auf den einzelnen Schnitten der Serie, der die 
Abbildung 5 entnommen ist, alle Übergänge von typischen Ovar- 
zellen bis zu diesen Degenerationsprodukten feststellen ; seitlich von 
Fig. 5 habe ich eine Reihe von Umwandlungsformen etwas größer 
gezeichnet. Die Ovarzellen werden zuerst größer, behalten aber 
ihren Kern. Dann tritt eine Vakuole in ihnen auf, die sich 
immer stärker ausdehnt und das Plasma mehr und mehr an den 
Rand zurückdrängt, so daß es entweder ringförmig als gleich- 
mäßige Masse an der Peripherie zu finden ist oder aber an einer 
Stelle zusammengedrängt wird. Der Kern hat sich auf diesem 
Stadium in Chromatinbrocken aufgelöst, die sich ın den Plasma- 
resten nachweisen lassen. 

Die Chromatinbrocken verschwinden nach und nach. Dies ge- 
schieht jedoch erst am Ende des zweiten oder am dritten Tag 
nach der Schnittführung, und ist daher auf der Bilder-Serie, der 
Fig. 5 entnommen ist, nicht mehr zu beobachten. Die Textabbil- 
dung 6 dagegen läßt die weiteren Umwandlungen erkennen, in 
deren wol die degenerierten Ovarzellen schließlich zu ah. 
tigen Kugeln werden, mit großer Vakuole und einem peripheren 
Ring, von dem aus sich beim letzten Stadium, das in dieser Periode 
zu beobachten ist, meist eine größere Vorwölbung oder ein zapfen- 
artiges Gebilde ins Innere hineinzieht, wie es sowohl die seitlich 
von Fig. 6 gezeichneten Einzelelemente wie auch die no 6 selbst 
übermittelt. 

Vergleichen wir diese bei der Fresenerahion usewohhlellen 
Ovarzellen auf dieser Entwicklungsphase mit den Ei-Einschlüssen 
der Fig. 3, mit den Pseudozellen, so wird man sofort sehen, daß 
hier eine große Ähnlichkeit zwischen beiden Gebilden herrscht, so 
sehr, daß ein morphologischer Unterschied nicht gemacht werden 
kann. Aber auch ihrer Entstehungsweise nach ist kein Unterschied 
anzugeben; beide sind entstanden aus umgewandelten Ovarzellen, 
bei normalen Tieren allerdings erst dann, wenn sie vom wachsen- 
den Ei aufgenommen sind. Trotz dieses Unterschieds werde ich 
diese degenerierten Ovarzellen von nun an mit dem Namen Pseudo- 
zellen bezeichnen, zumal da ıhre physiologische Funktion beim 
Weiterfortschreiten der Regeneration dieselbe ist wie bei der Eireife: 
sie dienen nämlich, wie wir gleich sehen werden, auch hier als 
Nahrung. 

Wenn wir ihr Schicksal weiter verfolgen und uns zu diesem 
Zwecke das Übersichtsbild der Fig. 6 betrachten, so fällt uns bei 
diesem Stadium sofort eine Ehrentimlichlen in die Augen, die 
sich von dem vorhergehenden Stadium abhebt: es sind solche 





ET ET THERE NUT EN en 
KIE E, "Yin RR . \ 7 st = 


\ 
. 


Wilh. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 553 


Pseudozellen nicht nur im Ektoderm zu finden, sondern auch ım 
Entoderm. Wie ist dies Vorkommen zu erklären ? 

Schon bei früheren Stadien sieht man, daß beinahe regelmäßig 
in der Mitte des Ovars die beiden Blätter sich genähert haben, 
wie es z. B. die Figuren 5 und 4 zeigen; auf letzterem Bild ist 
die Annäherung so weit gegangen; daß man keine’deutliche Grenze - 
erkennt und die Stützlamelle ganz undeutlich wird. An derartigen 
Stellen kommt es dann zur Überwanderung der Pseudozellen, was 
vielleicht zunächst sehr verwunderlich erscheinen mag. Aber wir 
wissen auch von anderen Hydroiden, daß Geschlechtszellen im 
Laufe der Entwicklung die Stützlamellen mehrfach überschreiten 
können. Es muß auch normalerweise in dieser Zeit eine Durch- 
brechung leicht sein, da gerade in demselben Stadium die Algen 
bei Hydra viridis im Ei aufzutreten beginnen, demnach auch beim 
nicht regenerierenden Tier zu dieser Periode ein Materialaustausch 
stattfindet. 





Fig. 7. Schnitt durch H. viridis am 4. Tage nach der Öperation. Keine Ovar- 
zellen mehr; Pseudozellen (PsZ) im Ektoderm (Zkt) und Entoderm (Ent), 
wo sie z. T. schon verdaut sind. 


Den Vorgang der Überwanderung selbst sehen wir in Fig. 7. 
Die Stützlamelle, die an den übrigen Stellen rings herum deutlich 
als ununterbrochener Strich hervortritt, wird immer undeutlicher, 
je mehr sie sich dem in Auflösung begriffenen Ovar nähert, und 
- ist an manchen Punkten so völlig zerstört, daß die Pseudozellen 
ohne Hindernis vom Ektoderm ins ‚Entoderm einpassieren können. 
Einige Pseudozellen sind gerade auf der Überwanderung begriffen, 
viele vom Entoderm bereits aufgenommen und in normaler Weise 
intrazellulär verdaut, so daß die Magenzellen an manchen Stellen 
ganz vollgestopft sind von Pseudozellen selbst oder von ihren 
Resten. Im Ektoderm finden sich bei diesem Tier noch eine 
ziemliche Anzahl von ihnen; typische Ovarzellen sind hier, am 
vierten Tage nach der Operation, nicht mehr anzutreffen, da alle 
ihre Umwandlung bereits durchgemacht haben. 





(| 


554 Wilh. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 

Dieser regelmäßige Verlauf der Ovar-Reduktion bei regenera- 
tiven Prozessen kann manchmal etwas verändert erscheinen. Bei 
Hydra grisea treten meist die Pseudozellen im Ektoderm sowohl 
wie ım Entoderm auf, bevor bei einem mittelgroßen Ovar die Ei- 
teile, die nicht mehr rückbildungsfähig sind, ausgestoßen worden 
sind. Ferner traf ich auch bei Hydra viridis manchmal auf 
späten Stadien der Degeneration noch Ovarzellen im Ektoderm an, 
aber keine Pseudozellen, von denen dagegen im Entoderm eine 
größere Anzahl zu finden war. Die Ovarzellen liegen dann un- 
mittelbar am Entoderm; sie scheinen dann in derselben Weise von 
ihm aufgenommen zu werden wie durch das Ei, da die Zellgrenzen 
an der dem Entoderm zugelagerten Seite unsichtbar sind, und sich 
danach in Pseudozellen umzuwandeln. | 

Es sind dies einige Modifikationen, die ganz interessant er- 
scheinen. Der erste Fall illustriert am klarsten die zur Beurteilung 
der Ursache all’ dieser Rückbildungserscheinungen dienenden Mo- 
mente: Für die Regeneration werden hier die Ovarzellen in An- 
spruch genommen; dadurch wird das Ei seiner notwendigen Er- 
nährungsbedingungen beraubt und so geschädigt, daß es sich nicht 
weiterentwickeln kann und zugrunde geht. Der zweite Fall da- 
‚gegen stellt eine Übergangsform dar zwischen den normalen Vor- 
gängen bei der Eientwicklung und den durch die Regeneration 
beeinflußten oder hervorgerufenen Entwicklungsmodus. Die Ovar- 
zellen — Eizellen also, die aus Materialmangel ihre eigentliche 
Bestimmung nicht erfüllen können — werden hier in genau der- 
selben Weise durch Aufsaugung aufgenommen wie beim Ei und 
entwickeln sich dann erst zu Pseudozellen; hierdurch wird die 
Ähnlichkeit mit ihrer normalen Umbildungsweise bei unverletzten 
Tieren noch größer als bei den gewöhnlichen Regenerationsprozessen, 
wo die Aufsaugung durch das Ektoderm fehlt und die Ovarzellen 
sich vor dem Übergang in die andere Schicht in Pseudozellen 
umwandeln. 

Der Erfolg und Zweck aller dieser Umwandlungsmethoden ist 
aber in jedem Fall der gleiche; die Ovarzellen verschwinden 
nach und nach vollständig aus dem Ektoderm und smd dann noch 
eine Zeitlang als Pseudozellen oder Reste davon ım Entoderm zu 
erkennen, bis sie dort nach und nach völlig aufgezehrt und ver- 
daut worden sind. 

Im großen Umriß betrachtet verhalten sich also die Ovarien 


genau wie die Hoden. Die schon zu stark spezialisierten Elemente, 


werden ausgestoßen; bei den Hoden geschieht dies allerdings nur 
mit den wirklich reifen Spermien, bei den Ovarien auch schon bei 
unreifen Eiern, sofern sie nur eine gewisse Größe erlangt haben, 
d. h. als wirkliche Eier erkennbar sind. In allen anderen Fällen 
tritt eine Rückbildung der Geschlechtsorgane ein. Die unreifen 






| 
| 


a ga NER > I DEN un IR I U RN PO 
Y 





.- 


Wilh. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 555 


Spermien und ihre Bildungszellen wandern von dem äußeren in 
das innere Keimblatt, und die Ovarzellen oder ihre Umwandlungs- 
produkte werden gleichfalls vom Entoderm aufgenommen; entweder 
in ihrer Gesamtheit, sofern sich noch keine Zelle von ihnen als 
- Eizelle ausgesondert hat, oder nach Ausstoßung des nicht mehr 
rückbildungsfähigen Eis. Im Entoderm werden dann alle diese 
Reduktionsprodukte von den Magenzellen verdaut, als ob es sich 
um Nahrung handele, die durch de Mundöffnung aufgenommen wäre. 

Daß bei der Huekbildung der Ovarzellen Find K Aufnahme 
ins Entoderm aus dem dereneriere en Organ unmittelbar ein neu- 
entstehendes hervorwächst wie bei den Hoden habe ich nicht fest- 
stellen können. Die Verhältnisse liegen ja auch hier etwas anders 
als bei den männlichen Geschlechtsorganen. Ein Ovar umgibt einen 
größeren Bezirk einer Hydra, so daß nicht an einer kleinen Körper- 
partie ein solch’ lokalisiertes Wachstum möglich ist wie bei den 
Hoden, wo an eng umgrenzter Stelle durch die allmähliche Rück- 
bildung und Überwanderung der Spermien eine und dieselbe Zell- 
gruppe fortgesetzt mit Nahrung versorgt wird, so daß Hervor- 
wölbungen entstehen, die dann zu Tentakeln sich umbilden. Daß 
etwa eine Knospe an dieser Stelle entstünde, dazu liegt auch keine 
Veranlassung vor, da ja das gesamte Tier keinen Nahrungsüber- 
‚schuß besitzt; und eine schon vorbestimmte Stelle, eine Art 
„Vegetationspunkt“, die, wie ich früher feststellte, eine Knospe auf 
Kosten des mütterlichen Stumpfes entstehen ließe, ıst an dieser 
für das Ei vorgesehenen Stelle natürlich nicht vorhanden. So tritt 
denn die Nahrungsmenge, die durch das Einschmelzen der Ovar- 
zellen aufgenommen wird, sofort mehr in den Dienst der Gesamt- 
heit als es. bei den Hoden geschieht, die zum Teil für ein einzelnes 
Organ verbraucht : werden. Daß trotzdem die Seite, an der 
das Ovar liegt, durch die reichhaltige Nahrungsmenge bevorzugt 
ist, habe ich schon früher erwähnt, ebenso wie das Gegenteil, daß 
dıe Hälfte einer Hydra, an welcher der Kampf um das Material 
noch nicht zugunsten der Regeneration entschieden ist, benach- 
teiligt erscheint und nicht so rasch die Organe wiederhersteller 
kann wie die gegenüberliegende Seite. 

Wir können danach auch bei der Bildung der Övarien und 
Bier die Selbständigkeit der einzelnen Organe und Bezirke am 
Hydra-Körper beobachten, sowie ihre Unabhängigkeit voneinander 
und den Kampf, den sie gegeneinander zu führen haben. 

Zunächst gibt es einen Kampf der Ovarzellen untereinander; 
die größte und kräftigste wird zum Ei, das nun für sich innerhalb 
des Ovars die Klaus beansprucht. Die Folge ist eine Unter- 
drückung der übrigen On die nun es dem Ei zum 
Aufbau dienen müssen. Hat das Ei erst eine gewisse Größe. er- 
langt und genügend Nahrungsmittel aufgespeichert, so führt es ein 


Zt Pe Up Sy ac RER 


556 Wilh. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. 


ziemlich unabhängiges Leben und sitzt nur wie eine Art Parasit 
auf dem Muttertier, von dem es bis zu seiner Loslösung noch 
Nahrungssäfte erhält und dazu noch die in Auflösung befindlichen 
Ovarzellen „frißt“. Daß nur durch solch reichliche Ernährung die 
Entwicklung des Eis möglich ist, zeigen die Verhältnisse der ein- 
‚tretenden Regeneration; das Ei kann sich dann nicht weiter ent- 
wickeln und wird ausgestoßen und verkommt. Ebenso müssen die 
Ovarzellen, welche den richtigen Augenblick verpaßt haben, von 
einer gewissen Zeit an degenerieren; es ist dabei gleichgültig, ob 
sie durch das differenzierte Ei unterdrückt werden oder wegen 
Regeneration an Nahrungsmangel leiden. So kommt es auch, daß 
bei jüngeren Ovarien alle Zellen beim Eintreten von regenerätiven 
Vorgängen rückgebildet und in Pseudozellen umgewandelt werden. 

Erwähnenswert ist noch, daß beı gleichzeitiger Anwesenheit 
von Hoden und Ovarien zunächst die Ovarıen verschwinden. 
Die hermaphroditische Hydra viridis bietet dafür ein gutes Beispiel, 
und in Fig. 7 können wir auch sehen, daß die Spermien noch 
nicht ins Entoderm übergewandert sind, während das Ovar schon 
beinahe ganz aufgelöst ıst und seine Elemente z. T. schon ver- 
daut sind. 

Fassen wir zum Schluß noch einmal die Hauptergebnisse dieser 
Untersuchung zusammen. 

Es konnte zunächst festgestellt werden, daß die Pseudozellen 
umgewandelte Ovarzellen sind, die normalerweise im Ei entstehen, 
aber sich auch außerhalb des Eis bilden können. In beiden Fällen 
dienen sie zur Nahrung; bei der Entwicklung dem wachsenden EHı, 
in anderem Falle, bei der Regeneration, zum Aufbau der dem Tier 
fehlenden Teile. Weiterhin konnte festgestellt werden, daß auch 
bei Hydra viridis die im I. Abschnitt bereits gemachten Beobach- 
tungen Gültigkeit haben. Auch hier ist Nahrungsmangel und 
-Überschuß das Maßgebende. Die einzelnen Bezirke und Organe 
entwickeln sich zunächst für sich, so daß bei Überschuß von 
Material auch Überzähliges entstehen kann, z. B. zuviel Tentakel 
oder zuviel Mundöffnungen, die aber bald wieder verschwinden. 
Bei Nahrungsmangel dagegen kommt es zu Einschmelzungen und 
Rückbildungen, so daß auch hier, nach anfänglichem Kampf der 
Teile untereinander, die Harmonie und Einheit des Tiers auf Kosten 
der Fortpflanzung wieder hergestellt wird. 


Übersicht über die zitierte Literatur. 
Brauer, A., Über die Entwicklung von Hydra. Zeitschr. f. wiss. Zoologie. 
Bd. 52, 1891. 
Downing, E. R., Oogenesis of Hydra. Zool. Jahrb. Abt. Morph. Bd. 28. 
Ders., The Oogenesis of Hydra a preliminary paper Biol. Bull. Woads Hole Vol. 15. 
Goetsch, W., Beobachtungen und Versuche an Hydra. Biolog, Zentralbl. Bd. 37, 
1917. 


j 
5 
| 








O. Renner, Die Ursachen der Plagiotropie und die Reitzbewegungen ete. 557 


Ders., Neue Beobachtungen und Versuche an Hydra. Biol. Zentralbl. Bd 39, 
1919. 

Hertwig, R. v., Die Knospung und Geschlechtsentwicklung von Hydra. Biol. 
Zentralbl. Bd. 26, 1906. 

Kleinenberg, N. Hydra. Leipzig 1872, 

Steche, O., Hydra und Hydroiden. Monogr. einheimischer Tiere. Bd. III. Ver- 
lag W. Klinkhardt. Leipzig 1911. 

Tannreuther, G. W., Observation on the Germ-Cells of Hydra. Biol. Bull. 
Woads Höle Vol. 16. i 

Ders., Budding in Hydra ibid. 

Wager, Th., Oogenensis and early Develop. of Hydra. Biol. Bull. Woads 
Hole Vol. 17. 


Referate. 





H. Lundegärdh. Die Ursachen der Plagiotropie und die 
| Reizbewegungen der Nebenwurzeln. 


I u. II. Lunds Universitets Ärsskrift, TITTEN SR. Bdr13. NE.16, 6 15 Nr.e1: 
I: 75 Seiten, 13 Textfiguren. II: 68 Seiten, 5 Textfiguren. 


Derselbe: Das geotropische Verhalten der Seitensprosse, 


Zugleich ein Beitrag zum Epinastieproblem und zur kausalen Morphologie. 
Ebenda, 1918, Bd. 14 Nr. 27 (Festschrift der Universität Lund). 
93 Seiten, 16 Textfiguren. 


Neben dem positiven Geotropismus der Hauptwurzeln und dem negativen 
Geotropismus der aufrechten Hauptsprosse soll nach der geltenden Schulmeinung 
noch ein spezifischer Geotropismus andrer Organe existieren, nämlich der Trans- 
versal- oder Diageotropismus z. B. der wagrecht wachsenden Rhizome und der 
Plagiogeotropismus der schief orientierten Seitenwurzeln erster Ordnung. Der plagio- 
trope Wuchs der Seitenzweige ist dagegen seit längerer Zeit als die Resultante einer 
negativ geotropischen Bestrebung und einer entgegengesetzt gerichteten, ebenfalls 
durch den Schwerkraftreiz induzierten „epinastischen“ Krümmungstendenz aufgefaßt 
worden. Der Verf. hat diese Verhältnisse an Seitenwurzeln und Seitensprossen mit 
den modernsten Mitteln automatisch-photographischer Registrierung und unter sorg- 
fältiger Konstanthaltung der Temperatur studiert — man spürt die wirtschaftliche 
Umschichtung Europas — und ist dabei zu bemerkenswerten Ergebnissen gekommen. 

Was die Seitensprosse betrifft, so bestätigen die neuen Untersuchungen die 
auf Grund der Baranetzky’schen Experimente von Pfeffer vertretene Auffassung. 
Doch inauguriert der Verf. eine Vereinfachung der Bezeichnungsweise, indem er 
das, was Pfeffer durch Schwerkraft induzierte Epinastie nennt, als positiven Geo- 
tropismus definiert. Wie schen Pfeffer angibt, hat die positive Reaktion eine viel 
längere Induktionszeit als die negative — nach dem Verf. beträgt die Präsentations- 
zeit für die positive Reaktion 1—2 Tage, für die negative 1 Stunde —, und die 
positiv geotropische Induktion klingt auch viel langsamer ab als die negative. Bei 
Drehung an der horizontalen Klinostatenachse, also bei Ausschluß dauernd gleich- 
sinniger Beeinflussung des Organs durch die Schwerkraft, kommt die Epinastie oder 
die positiv geotropische Induktion darin zum Ausdruck, daß die morphologische 
Oberseite der Seitensprosse konvex wird ; die positive Reaktion überwindet die negative, 
weil die negative Reizung rascher abklingt. Bis auch die positive Induktion am 
Klinostaten verschwunden ist, können 14 Tage vergehen. Die antängliche Krümmung 


558° O. Renner, Die Ursachen der Na ad R Be ete. 


der Seitensprosse ist jetzt durch Autotropismus ausgeglichen, und bei horizontaler 2 


Exposition krümmen sich nun die Seitensprosse negativ; geotropisch auf — gleich- 
gültig wie der Hauptsproß orientiert ist —, weil die negative Reaktion so viel rascher 
induziert wird als die positive. Besonders heftig ist die Aufkrümmung der Seiten- 
sprosse, wenn der ganze normal gewachsene Sproß invers gestellt wird, so daß die 
Seitensprosse schräg abwärts schauen, mit abwärts gekehrter morphologischer Ober- 
seite; denn jetzt wirken der in der Normallage induzierte positive und der aktuell 
induzierte negative Geotropismus gleichsinnig zusammen. Kräftig ist auch die Kon- 
vexkrümmung der morphologischen Oberseite, wenn ein normal gewachsener Seiten- 
sproß senkrecht aufwärts gestellt, also in geotropisch reizlose Lage gebracht wird; 
die Krümmung verläuft sogar rascher als am Klinostaten, und der Verf. glaubt 
daraus schließen zu dürfen, daß in vertikaler Lage die negative, aber nicht die 
positive Reaktion gehemmt ist, was auch durch besondere Versuche — z. B. kurz 
dauernde Reizung in horizontaler Lage, dann erst Vertikalstellung — bestätigt wird. 
Nun ist durch Frl. Riß für positiv geotropische Hauptwurzeln nachgewiesen, daß 
die spitzenwärts gerichtete Längskomponente der Schwerkraft auf die von der quer 
angreifenden Komponente induzierte Krümmung hemmend wirkt; so ist es z.B. zu 
verstehen, daß die Proportionalität zwischen dem Reizerfolg und dem Sinus des 
Ablenkungswinkels nicht streng gilt, weil die Längskomponente des Schwerereizes 
um so größer wird, je mehr sich die Lage der Wurzel der Vertikalen nähert, und 
ganz verschwindet, wenn die Wurzel horizontal gelegt wird. In derselben Weise 
soll nach dem Verf. die negativ geotropische Krümmung durch die basiskope Längs- 
komponente der Erdschwere gehemmt werden. Die Gleichgewichtslage, in die ein 
Seitensproß nach jeder Ablenkung zurückkehrt, wäre also die Resultante aus drei 
Reizwirkungen der Schwerkraft: negativem Geotropismus, positivem Geotropismus 
(mit längerer Induktions- und Abklangszeit, also in der Nachwirkung dem negativen 
überlegen, bei aktueller Reizung hinter dem negativen zurückstehend), und tonischem 
Längsreiz. 

Daß den Seitenwurzeln ein spezifischer Geotropismus in Form von Plagio- 
oder Diageotropismus zukomme, bestreitet der Verf. Nach längerer Rotation an der 
horizontalen Klinostatenachse zeigen die Seitenwurzeln 1. Ordnung nämlich aus- 


gesprochen positiv geotropische Reaktion, wobei die Horizontallage wie bei den 


orthotropen Organen die optimale Reizlage darstellt, während in der vertikalen Lage 
keine Krümmung eintritt. Daß die positiv geotropische Krümmung aus der Hori- 
zontalen nicht bis zur Einstellung in die Vertikale führt, hat nach dem Verf. wieder 
seine Ursache in der tonischen, und zwar hemmenden Wirkung der längs angreifenden 
Komponente der Schwerkraft. Auf dem Klinostaten führen normal gewachsene 
Seitenwurzeln Krümmungen aus, die als Nachwirkung der in der Normallage perzi- 
pierten positiv geotropischen Reizung zu verstehen sind; die. Krümmung kann jetzt 
ausgeführt werden, weil die einseitige Wirkung der Längskraft wegfällt. Der Unter- 
schied zwischen dem geotropischen Verhalten der Hauptwurzeln und dem der Seiten- 
wurzeln soll also im wesentlichen darauf beruhen, daß die tonische Wirkung des 
Längsreizes bei den Seitenorganen viel stärker ist als bei der Hauptwurzel. Dazu 
soll bei den Seitenwurzeln noch negativer Geotropismus kommen, der aber viel 
schwächer ausgeprägt ist als der damit zu vergleichende positive Geotropismus der 
Seitensprosse. Dieser negative Geotropismus, genauer gesagt die Nachwirkung der 
in der Normallage erfolgten negativ geotropischen Induktion, tritt dann in Tätigkeit, 
wenn eine Seitenwurzel aus Ah Grenzwinkel nach unten, bis zur Vertikalen, 
abgelenkt wird; der positive Geotropismus besorgt die Wiedereinstellung nach einer 
Ablenkung nach oben. Inder Vertikallage (mit abwärts gekehrter Spitze) und in be- 
nachbarten Stellungen kann die negative Reaktion deshalb zur Ausführung kommen, 
weil die positive Krümmung durch die mit maximaler Stärke angreifende akroskope 
Komponente der Schwerkraft gehemmt wird: 

Von den + genau horizontal wachsenden Rhizomen und Ausläufern nimmt 
der Verf. an, daß sie wie die Seitenwurzeln positiven und negativen Geotropismus 









a 


R. Demoll, Deutsche Naturwissenschaft, Technik und Erfindung ete. 559 

> mit sehr starker Hemmungswirkung der Längskomponente besitzen. Doch ist dem 
Ref. nicht verständlich, wie in horizontaler Lage eine Längskomponente der Schwer- 
kraft auftreten solle — 

Die Gleichgewichtslagen der plagiotropen Organe sind nach dem Verf. dyna- 
mischer Art. Sie sollen auf dem Weg dauernder Oszillationen zustandekommen, 
dadurch daß dieReaktion, die Krümmung, infolge der durch die Längskraft be- 
wtrkten Reizung fortwährend ausgeglichen wird. Die Perzeption der Querkompo- 
nente wird durch den Längsreiz nicht aufgehoben, sondern es findet in der Normal- 
lage dauernd geotropische Reizaufnahme statt, dieam Klinostaten, nach Ausschaltung 
der Längskraft, auch zur Reaktion führt. O. Renner, München. 


Deutsche Naturwissenschaft, Technik und Erfindung 
im Weltkriege. 


Herausgegeben von Prof. Dr. Bastian Schmid-München, Verlag von Otto Nemnich, 
München-Leipzig 1919. Preis 30.— M., Prachtausgabe 60.— M. 


Prof. Dr. Bastian Schmid ist es gelungen noch während des Krieges ein 
Werk in Druck zu bringen, das sämtliche Errungenschaften auf wissenschaftlichem 
und technischem Gebiete umfaßt, soweit sie zu dem Weltkrieg Beziehung gewonnen 

. haben. An der Bearbeitung der einzelnen Artikel haben sich namhafte Forscher be- 
teiligt. Ich lasse hier die Überschriften der einzelnen in dem Buch behandelten 
Materien folgen: 

Krieg und Kultur. Von Prof. Dr. Rudolf Stübe-Leipzieg. 

Zur Psychiologie des Krieges und der Erfindungen. Von Geh. Medizinal- 
rat Prof. Dr. Robert Sommer-Gießen. 

Die Physik im Kriege. Von Prof. Dr. Paul Eversheim-Bonn. 

Die Meteorologie im Kriege. Von Geheimrat Prof. Dr. Siegmund Günther- 
München. 

Die Aeronautik im Kriege. Von Prof. Dr. Reinhard Süring-Potsdam. 

Die Photographie im Kriege. Von Dr. Walter Block-Berlin. 

Die Chemie im Kriege. Von Prof. Dr. Bastian Schmid-München. 

Die Waffen im Kriege. Von Hauptmann a. D. Oefele-Würzburg. 

Die Ballistik im Kriege. Von Hauptmann Franz Külp r 

Die Technik im Kriege. Von Dr. M. Blaschke-Berlin-Charlottenburg. 

Verkehrs- und Nachrichtenmittel. Von Hauptmann a. D. Oefele-Würzburg. 

Die Geologie im Kriege. Von Major Dr. W. Kranz-Straßburg. 

Der Krieg und die erdkundliche Wissenschaft. Von Prof. Dr. Felix 

. Lam pe-Berlin. 

Krieg und Völkerkunde Von Prof. Dr. Rudolf Stübe-Leipzig. 

Die Botanik im Kriege. Von Prof. Dr. Ernst Lehmann-Tübingen. 

Zoologie im Kriege. Von Dr. Gerhard Wülker-Heidelberg. 

Die Bakteriologie im Kriege. Von Prof. Dr. Ernst Behmann-Tübingen. 

Die Hygieneim Kriege. Von Prof. Dr. Emil Küster-Köln. 

Die Medizin im Kriege. Von Geheimrat Prof. Dr. Robert Sommer-Gießen. 

Die Chirurgie im Kriege. Von Privatdozent Dr. Wilhelm Gundermann- 

Gießen. 

Die Orthopädie im Kriege. Von Privatdozent Dr. Philipp Erlacher-Graz. 

Die Lichttherapie im Kriege. Von Geheimrat Dr. Hugo Bach-Bad Elster. 

Die Röntgentechnik im Kriege. Von Direktor Dr. Friedrich Dessauer- 
Frankfurt a.M. 

Psyehiatrie und Nervenkrankheiten. Von Geheimrat Prof. Dr. Robert 
Sommer-Gießen. 





560  R. Demoll, Deutsche Naturwissenschaft, Technik und Erfindung etc. - 
Die Augenheilkunde. Von Stabsarzt Dr. W. Klingelhöffer-Offenbach a. M. 


Die Zahnheilkunde. Von Prof. Dr. Alfred Kantorowitz-Bonn. 
Die Tiermedizin, Von Prof. Dr. von Sußdorf-Stuttgart. 


Die Landwirtschaft und der Krieg. Von Prof. Dr. H. Krämer-Hohenheim- _ 


Stuttgart. 

Die Forstwirtschaft im Kriege. Von Prof. Dr. Wilhelm Borgmann-Gießen. 

Der naturwissenschaftliche Unterricht und der Krieg. Von Prof. Dr. 
Bastian Schmid-München. 

Die Schulmathematik und der Krieg. Von Prof. Dr. Timerding-Braun- 
schweig. 

Krieg und Wirtschaftsleben. Von Dr. G. Buetz-Dessau. 

Täglich beinahe hörte man während des Krieges von Neuerungen und von 
großen Entdeckungen auf allen diesen Gebieten oder man las davon in Zeitungen; 
selten aber bot sich Gelegenheit, wirklich mit diesen Errungenschaften vertraut zu 
werden, einen Sachverständigen darüber zu hören oder durch einen Aufsatz aus 
berufener Feder näher in den Gegenstand eingeweiht zu werden. Man darf daher 
erwarten, daß das vorliegende Buch allen denen hochwillkommen sein wird, welche 
das Bedürfnis fühlen, in präziser einwandfreier Form über das Wesen derjenigen 
Fortschritte der Wissenschaft und Technik orientiert zu werden, die in den letzten 
Jahren das allgemeine Interesse auf sich gelenkt ‚haben. Selbstverständlich kann 
es sich bei all diesen Aufsätzen nicht um eine eindringliche, spezielle fachwissen- 
schaftliche Kenntnisse voraussetzende Darstellung handeln. Häufig, so besonders 
bei Besprechung der Sprengmittel, bei Erörterungen von Waffen mancher Art, bei 
der Darstellung der Geheimnisse eines U-Bootes etc. mußten die Referenten not- 
gedrungen an den Grenzen der militärischen Geheimnisse haltmachen. Es bleibt 
erstaunlich genug, wie es dem Herausgeber möglich war, während des Krieges ein 
Werk zu fördern und in Druck zu bringen, das sich doch beinahe ausschließlich 


mit Dingen befaßt, deren Veröffentlichung von den militärischen Stellen nicht ohne 


weiteres genehmigt wurde. 
Als besonderes Verdienst darf es dem Herausgeber ferner angerechnet werden, 
daß er es verstanden hat, die Einteilung des Stoffes so zu treffen und die einzelnen 


Kapitel so zu begrenzen, daß in den Darstellungen der verschiedenen Autoren, da 


wo sie dasselbe Objekt behandeln, keine Wiederholungen auftreten. So wird man 
z.B. unterrichtet über Flugzeuge in dem Kapitel „Die Physik im Kriege“, dann in 
dem über „Aeronautik“; wir finden es wieder erwähnt bei der Besprechung der 
„Verkehrs- und Nachrichtenmittel“, bei „Waffen“ u.s.w. Obwohl diese einzelnen 
Aufsätze der Feder verschiedener Verfasser entstammen, könnte man doch das über 
das Flugzeug in den einzelnen Kapiteln Gesagte hintereinander fügen, ohne daß es 
deutlich den Charakter des Zusammengetragenen zeigen würde. 

Eine ganz besondere Erwähnung verdienen die zahlreichen, zum Teil aus- 
erlesenen Abbildungen, die auch trotz der Papierqualität, die das Buch als Kind 
des Jahres 1919 erkennen lassen, doch vorzüglich sind. 

\ Der Preis des Buches (30 Mk.) ist trotz der ungezählten Abbildungen und des 
erheblichen Umfanges (1000 Seiten) doch so niedrig gehalten, wie es nur bei einem 
Werk möglich ist, das auf Absatz in weitesten Kreisen rechnet. Man kann nur 
hoffen, daß der Herausgeber und der Verleger sich in diesen Erwartungen nicht 
getäuscht haben mögen, und daß das Buch die ihm gebührende allgemeine Ver- 
breitung findet. R. Demoll. 








Dick‘ der B. Hof- & 





eye, 





Alphabetisches Namenregister. 


Abderhalden 195. 143. 

Abel 388. 389. 391. 400 

Adelung 404. 

Albertis 199. 

Alessandrini 325. 326. 335. 

Alfken 85. 145. 

Alterthum 204. 

Altum, R. 91. 

Alverdes, F. 385. 

Andre 99. 

Annandale, N. 12. 

Armbruster 164. 

Arnhart, L. 494. 

Aronsohn 366. 

Aschner 204, 206 

Ashmead 155. 156. 158. 161. 
163. 166. 170. 182. 


Bach 559. 

Baer, W. 96. 

Baerthlein 246. 

Baldwin 523. 

Ballowitz 143. 522. 

Barber, T. C. 91. 

Barth, J. A. 364. 

de Bary 482, 488, 489. 

Bassalik 483. 489. 

Bates, G. L. 98, 99. 

Bates, H. W. 91. 

Bauer 274. 

Bauer, V. 528. 

la Baume, W. 528. 

Baurn2198 2127215.2 2171 
234. 236. 237. 240. 241. 
242. 243, 244. 245. 250. 

. 390. 399. 400. 512. 

Beal, F: E. L. 96. 97. 98. 

Becher 285. 

Becher, E. 451. ı 

Beer 37. 

Belt 81. 86. 

Benecke 482. 489. 

Beneden, van 326. 

Bergmann 420. 

Bergström 251, 252, 254, 
255, 256. 

Betheke 420. 

Bethe 37. 191. 27!. 

Beyerinck 240. 246. 247. 
DIS RR 

Biedermann 142. 143. 472. 
473. 

Bierry 103. 

39. Band. 


Biro. L. 359. 

Bischoff 146. 155. 158. 161. 

Blaschke 559. 

Blochmann 536. 

Block 559. 

Boecker 10. 

Boecker, Ed. 12. 

Boegle 523. 

Börner, ©. 145. 

Bohn 529. 530. 

Bojanus, 491. 

Bonnet 348. 

Borgmann 560. 

Bouvier 520. 521. 

Boyle. 367. 

Brandt 391. 400. 

Brauer, A. 302. 

Brauer, F. 88. 

Brauer 544. 556 

Breddin, G. 71. 79. 85. 

Bredemann, G. 528. 

Brehm 251. 252. 256. 

Brenner 520. 

Bresslau, E. 41. 325. 331. 
Sr 

Briquet, J. 110. 120. 

Brun 187. 188. 189. 190. 
191- 192. 306. 478. 

Brun, E. u. R. 310. 

Brunet 89. 

Brunner v. Wattenwyl 75. 

Buchner 258. 

Buchner, P. 535. 537. 540. 
Buddenbrock, W. v. 266 
bis 286. 540. 541. 543 

Buder 240. 244. 

Bücher 528. 

Bühler 284. 285. 

Bütschli, ©. 13. 44. 46. 50. 
57. 59. 

Buetz 560. 

Buffon 490. 

Burchell 109. 

Burmeister 75. 

Buschka, Franz 77. 87. 

Buschkiel, M. 325. 328. 

v. Buttel-Reepen 163. 495. 
496. 

du-Buysson, H 353. 

Byk, A. 517. 


Calkins 2. 
Cameran 97. 


Camper 490. 

Chatelier, Le 322. 
Chlodovsky 535. 538. 540. 
Chodat 535. 

Cholodovsky 287. 288. 
Chroback 201. 

Cleland, J. B 98. 


Cohen Kysper 310. 323. 


324, E 
Cohn, F. 519. 
Cohnheim, OÖ. 437. 
Compton 520. 521. 
Conklin 521. 522. 
Cornetz 191. 192, 
Correns, C. 105. 
Cramer 202. 208. 
Crampton 521. 
Cristofoletti 205 
Osiki, E. 94. 96. 


Cuvier 490. 491. 492. 493. 


494. 
Czuber, E. 105. 106. 121. 


Dacque 358. 400. 
Dahl; ‚E70479,.3198. 
Dahl, Fr 358. 


Darwin 386. 388. 389. 400. 


Daubenton 490. 
Degeer 86. 
Delage 104. 271. 
Delaunay 523. 


Demoll, R. 83. 150. 164, 
165. 167.,174. 266. 474. 


559. 560. 
Dessauer 559. 
Distant 72. 
Dixey 102. 
Dixon 2:2, 


Doflein, F. 7}. 83. 328. 352. 


519. 
Downing 545. 546. 556. 
Driesch, H. 21. 433. 
Dubois 408, 409. 411. 413 

414. 415. 420. 
Duboscp 328 329. 335. 
Ducke 170. 171. 172. 
Düben, v. 252, 256. 
Dürken, Bernhard 40. 
Duncker, G. 371. 404. 
Dunker 524. 
Durand, A. 368. 
Dyar 325. 330. 331. 335. 
Dye 3257 335. 

37 


562 


Kicker 546. 
Eekstein 326. 328. 335. - 
Edmond 330. 


Ehrenberg Chr.G. 41.46. 59. 
385. 386. 387. 388. 


Eimer 


389. 397. 400. 


Ekmann 252. 253. 254. 256. 


Ellis, Havelock 121. 

Ellis, R. A. 353. 362. 
Emery 86. 391. 400. 

Emmelius, ©. 303. 


Enslin 146. 147. 148. 151 

Entz, G. sen. 81. 91. 

Erlacher 559. 

Escherich, K. 99. 

Estabrook, A. H. 26. 

Etienne Sergent 330. 

Eversheim 559. 

Ewald 272. 

Eykmann 103 

Eysell 325. 335. 

Fabre, J. H. 89. 189. 359. 
361. 

Fahringer, J. 87. 356. 358. 


361. 
Fatton W. S. 336. 
Fechner, Th. 189. 329 
Fehling 207. 208. 
Ferton 86. 
Fick, R.:519..523. 
Fickendey, E. 528. 
Fiebrig, K. 75. 
'Fisch, ©. 109. 121. 
Fischer 368. 520. 521. 


Forel, A. 35. 87. 100. 187. 


192. 310. 478. 
Fowler 366. 
Fränkel 537. 
Franque, O. v. 193. 
Franz, V. 37. 540. 
Fresnel 515. 
Friekhinger, H. W. 527. 
Friedenthal 347. 
Friedländer 475. 
Fries 254. 
Frisch, Carl v. 35. 

281. 282. 


Frischholz, E. 12. 302. 


Fuchs, Gilbert 64. 140. 142. 


Funk 103. 


@alanth, S. 529. 
Galle 518. 

Gauß 323. 
Geisenheyner 111. 
Gelpke 210. 

Gendre 326. 331. 335. 


(seoffroy 490. 491. 492. 493. 
In. 


Gerstaecker 146. 147. 
Me. Ginnis 272. 


Goebel 534. 


1222139. 


Alphabetisches Namenregistet‘. 


Goethe 489. 490. 491. 492. 

Goetsch, W. 289. 302. 544, 
556. 557. 

Goldschmidt, R. 497. 

Graaf 193. 211. 

Graber 288. 

Greef, R. 50. 59. 

Grober 415. 420. 

Gryns 103. 

Günther 328. 335. 

Günther, H. 513. 559. 


. Gundermann 559. 


Haase, E. 69. 71. 

Haase 81. 

Haberlandt, Fr. 107. 452. 
Hadley 277. 


Haecker 389. 390. 391. 393. 
394. 396. 400. 521. 522. 


523. 525. 


Halban 197. 198. 199. 200. 


Handlirsch 154, 170. 171. 
Hanstein 387. 400. 

Hartig 148. 151. 
Hasebroek 407. 415. 420. 
Hegar 199. 200. 206. 
Heidenhain 522. 
Heikertinger, Fr. 
Heincke 374. 
Heinroth 404. 405. 
Heller, H. 364. 
Helmholtz 36. 


Henning, Hans 35. 187. 286. 


364. 365. 366. 
478. 
Henslow 111. 121. 
Herbst, ©. 20. 
Herbst, S. 451. 453. 454. 
455. 456. 
Hering 36. 136. 191. 
Hermann, OÖ 352. 302. 
Herschel 514. 


367. 368 


Hertwig, v.R. 12. 138. 187. 


190. 291. 302. 322. 544. 
Il. 

Hertwig, ©. 491. 

Hertz 323. 

Hess,. ‚Carl 392 122.723: 
24.2109 120.8127.0128: 
1293.2120713151324.133; 
1344713532 136,,.137:%138, 
139. 281. 282: 

Hesse, E. 329. 352.. 401. 
407. 409. 415. 419. 420. 


Hesse, P. 521. 
Heurtaux 522. 
Heyer 108. 121. 
Heymons, R. 83. 
Hilzheimer 256. 
Hirsch, G. Chr. 
Hobmaier 536. 
Höber, R. 437, 


457. 


69., 892: 





van’t Hoff 322. 
Hollsten 252. 256. 
Holmes 144. 
Hooke 535. 
Hooker, Davenport 141. 142. 
143, 144. 
Howard 325. 330. 331. 335. 
Huber, Fr. 495. 
Humboldt v. 100. 366. 
Hunter, W. D. 90. 
Huxley 391. 400. 


Jhering, H., v. 91. 
Iterson, van 515. 520. 


Jacobi, A. 67. 70. 74. 78. 
80. .81.. 82.84.89. 91: 
985, 99:1102. BIER 933 
356. 

Jaeger, F. M. 517. 

Jaeger, G. 370. 

Jaffe 330. 335.519. 


Janecke 517. 

Jelgersma 423. 426. 432. 

Jennings, T. B. 12. 

Johannsen 37. 187. 190. 383. 

Jordan, H. 462. 466. 467. 
472. 

Joseph, H. 12. 

Jost 515. 

Judd 97. 


Kantorowitz 560. 

Kathariner, L. 103. 104. 

Keibel 348. 

Keilin 335. 328. 332. 

Keller 110. 120. 122. 

Kent 44 

Kent, Sav. 59. 

Kerner v. Marilaun 525. 

Kershaw 79. 

King 302. 

Kirby 163. 

Kirkaldy 79. 

Kittlitz, v. 91. ı 

Klatt, B. 406. 420. 

Klebs 433. 453. 454. 455. 
456. 457. 458. 459. 461. 

Kleinenberg 290. 291. 308. 
545 546. 557. 

Klingelhöffer 560. 

Klinghardt 387. 

Klunzinger 404. 

Krnab) 32528302831: 339: 

Knauer, F. 89. 194. 201. 

Koch, W. 9. 12. 

Köhler 271. 285. 

Koelitz, W. 9. 12. 

Kofoid 521. 

Kohl 159. 170. 450. 

Kohlbrugge, J. H. F. 489. 

Kohlrausch 516. 

Kolkwitz, R. 338. 





Alphabetisches Namenregister. 


Konow 148. 
Korschelt, E. 12. 
Korschelt 107. 121. 527. 
Kostanecki 521. 
Krämer 560. 
Kranz 559. 
Krapfenbauer 9. 
Krapfenbauer, A. 12. 303. 
Kükenthal 395. 400. 
Külp 559. 
Küster 212. 
243. 
248. 451. 559. 
Kutter 303. 


241. . 242. 


Baamarck 493. 

Lampe 559. 

Landois 288. 

Lang 521. 

Lapieque 408. 413 420, 

Latreille 147. 148. 151. 

Latzin, Ph.. H. 318. 

Laurent, L..10. 12. 

Leeuwenhoek 41. 

Leger 328. 329. 330. 

Lehmann, ©. 517. 5 

Lehmann 559. 

Leiber, A. 9. 12 

Leuckart, R. 60. 64. 

Leuckart 326. 496. 

Levadititi 288. 

Levandovsky 90. 

Lillie, R. 24. 

Lindemuth 217. 

Linden 387. 397, 400. 

Lingelskeim 243, 

Linne 251/252, 253, 256. 
515: 

Linsbauer, R. 450. * 

v. Linstow 326. 

Lipschütz, H. 343. 

Lister 142. 

Listing 515. 

Loag, J. 528. 

Loeb 37. 

Löe: 409. 

Loew 482, 483, 489, 

Löwi 520. 

Lohmann 340. 

Longstaff 106. 

Loos, K. 96. 

Lubosch 422. 432. 490. 491, 
492, 493. 494. 

Luchsinger 471. 

Lummer 516. 

Lund, M. 91. 

Lundegardh, H. 321. 322. 
323. 

Luther, A. 40. 


33D. 
18. 


Mach, E. 513. 525. 
Machida 498. 


Mac Neal, W.J. 330. 
Magnan 415. 420. 


Magnus, W.451. 463. 464. 
465. 466. 467. 469. 474. 
Marchoux 326. 328. 331. 


336. 


Marschall, G. A. K. 73. 9. 


Marshall, 523. 

Mason, C. W. 98. 
Massini 245. 

Matthes 207. 

Maurer 391. 392. 400. 
Maxwell-Lefroy H. 98. 
Maxwell 325. 

MeAtee W. L. 96. 98. 
MeCook 93. 

de Meijere 391, 400. 
Meinert 404. 

Mendel 480. 

Merk 521. 

Meyer, Joh. 244. 
Meyer, Fr. J. 385. 
Meyer 395. 400. 
Migula 482. 489. 
Mjöberg 100. 

Mohr, E. 251. 256. 
Morris 202. 

Mortensen 403. 404. 
de Mortillet 521. 
Müller, E. 420. 
Müller, G. E. 188. 
Müller, Herbert ©. 12. 
Müller, J, W. 61. 64. 65. 
Müller, Paul 10. 
Müller 287. 288. : 


Müller, W. 407. 409. 412. 


420. 
Müller 537. 539. 540. 
Müller-Pouillet 516. 
Muth 108. 121. 


Nägeli 209. 210. 211. 324. 


515. 519. 520. 
Nagel 540. 541. 
Naumann, E. 338. 
Neugebauer 196. 
Neumann 207. 
Newell, W. 91. 
Nilsson 251. 252. 256. 
Nocht 287. 
Nöller, W. 327. 330. 336. 
Noorden 211. 
Novy, F. G. 330. 336. 
Nusbaum 11. 
Nußbaum 290, 291, 303. 


Odhner 313. 314. 
Oefele 559. 
Osborn 388. 391. 400. 
Ostwald, Wolfgang 13. 
Oswald 494. 


32. 


396. 


Pankow 202. 203.204. 208. 
209. 

Parrot 
420. 

Pasteur 104, 516. 

Patschovsky 481. 489, 

Patton 330. 

Pawlow 443. 

Peckham 69. 81, 

Penzoldt 368. 

Pfaff 366. 

Pfeffer 453. 488. 489. : 
557. 

Pflüger 193. 208. 

Pierantoni 537. 

Piotrowski 472. 

Plehn 316. 317. 

Poche, FE. 311. 317. 

Poeoek;; R.7J;.;81...90. 91. 
93. 100. 

Poppelbaum 498. 

Portier, Paul 103. 

Portschinski 76. 404. 

Poulton, E. B. 74. 76. 88. 

Poulton 91. 

Poulton, J. B. 99. 102. 

Pressat 327. 

Pressat, A. 336. 

Prochnow, ©. 102. 

Przibram 525. 

Puschnig, R. 67. 

Pütter 340. 341. 
344. 407. 408. 
522. 


409. 415. 


Rabl, Carl 37. 

Radk?ar2 Dr; 

Reichert, A. 96. 

Rengger 100. 

Renner, O. 479. ! 

Renning, H. 35. 

Reusch 516. 

Reuter, M. ©. 71. 83. 84. S6. 

Rey, E. 96. 

Rhumbler, L. 13. 522. 

Ribbert 194. 

Richet, Ch. 471. 

Ridgway 313. 314. 318. 

Rıß 558. 

Römer 391. 400. 

Rörig, G. 94. 96. 

Roesel von Rosenhof 1. 12, 

Rohwer 147. 

Romanes 91. 465. 

Rosmanil 128. 

Ross, R. 329. 336. 

Rothney St. 

Roux 11. 318. 395. 400. 
441. 442, 449. 

Rubner 407. 420. 

Ruge, R. 325. 336. 

Rutot 428. 


5. 49. 


39% 


Salimbeni 326. 328. 331. 


336. 
Sarasin. 387. 400. 
Sehaudinn 519, 
Schaxel 452. 
Scheuring 283. 284. 
Schewiakoff 42. 
Schewiakoff, W. 59. 
Schicekele 205. 206. 


Schiefferdecker, P. 421. 432. 


Schimkewitsch, W. 21. 
Schimper 483. 489. 
Schinz 110. 120.122. 
Schmid, B. 559. 560. 


Schmidt, Joh. 371. 373. 380. 


383. 384. 
Schmidt, W. J. 140. 143. 


Schmiedeknecht, ©. 85. 146. 


155. 158. 
Schneider, K. ©. 521. 
Seholz 159. 
Schomburgk 100. 
Schroeder, O. 45. 59. 
Schuhmacher, S. v. 347. 
Schulz, A. 111. 120.. 122. 
Schulze, Paul 2. 
Schuster, W. 96. 


Schwendener 515. 519. 520. 


Selater 91. 
Seefelder 38. 
Seiler 498. 


Seitz, A; 90, ‚92,206. 211. 


Sellheim 200. 206. 
Semon 37. 187. 478. 
Semper, M. 387. 400. 
Sergent E.. 330. 336. 
Shelford, R. 79. 81. 357. 


Sherrington 463. 464. 465. 


469. 474. 
Sikora, H. 287: 537. 
540. 
Simon. S..444. 448. 451. 
Simond 326. 328. 331. 
Simond. P. L. 336. 
Snell 415. 420. 
Snoften 255. 
Sommer 559. 
Sommerfeld 516. 517. 
Soret 493. 
Spek, Josef 13. 23. 35. 
Spemann, H. 6. 
Spencer, Herbert 320. 
Spengel 102. 
- Sprecher 108. 109. 122. 
Stark, J. 364. 366. 
Steche, ©. 12.545.557. 
Stein 47. 


539: 


Alphabetisches Namenregister. 


Stein, Fr. 57. 59. 538. 

Steinach 195. 196. 197. 198. 
199. | 

Steinach 211. 

Steiner, G. 59. 273. 

Steinmann 386. 

Steinmann, G. 400. 

Stellwaag 474. 475 

Stempell, W. 327. 336. 

Stiles, Ch. W.: 326. 336. 

Stitz,.H. 71.86.87. 91.99, 
100. 

Stockard, Ch. 21. 

Stöhr 392. 400. 

Straßburger 109. 122. 

Stresemann 387. 400. 

Strindberg 535. 540. 

Strohl 415. 420. 

Stromer, E. v. 387. 400. 

Struyks 105. 

Stübe 559. 

Study 513 514. 515. 

Süring 559. 

Sußdorf 560. 

Swammerdamm 494. 
496. 535. 

Szily, v. 39. 

Szymanski, J. S. 257. ! 


— 


Tandler 512. 
Taniguchi 206. 
Tannreuther 545. 557. 
Teiehmann 37. 187. 


Teudt, H. 364. 365. 366. 


‚367. 368. 369. 370. 
Thore 254. 
Timerding 560. 
Timmann 421. 

Tölg, F. 87. 361. 
Toldt, K. 346. 347. 
Tornier 396. 400. 
Torrey, H. N.'330. 
Tourneux 198. 
Trembley, A. 1. 12. 46.59. 
Tschernischoff 194. 
Tyndall 368. 


336. 


Wexküll, v. 37. 466. 467. 

Ungerer 437. 442. 444. 447. 
450. 453. 

Unterberger 202. 203. 


Vas 207. 

Velitz, v. 210. 

Vertebraten 522. 

Verworn 37. 187. 190. 321. 
Viequ d’Azyr 490. 








Viehmeyer 71. 
Virchow, Hans 39. 
Vöchting 444, 446, 448, 450. 


451. f 
Voeltzkow 143. 
Vogel:'B. 339. 


Volkelt 189. 

Volta 366. 

Vorländer 517. 

Vorsteher 411. 412. 

Vosseler, J. 70. 75. 80. 90. 
102. 


Wachs, Horst 1 

Wager 546. 

Wager, Th. 557. 

Wallace, A. R 68. 

Wallace 387. 400. 

Wallerant 517. 

Wasmann, E. 37. 6b. 72.77. 
86. 87. 91. 187. 190. 191. 
304. 307.:308. 363. 

Weber 197. 

Weber, H. 523. 
Weber, M. 348. 350. 
400 \ 

Wehmer 482. 489. 
Weinland 270. 286. 
Weir J. Jenner 90. 
Welcker-Brandt 421. 
Wellmer 328. 336. 
Wenzel, F. 365. 
Westergaard, Ü. 
Wheeler 87. 
Wiedersheim 392. 400. 
Wiener 516. 
Wierzejski 521. 
Wilhelmi, J. 527. 
Willem 543. 
Winkler 240. 
Winkler H. 444. 448. 
451. 
Winterstein 140. 266. 
Woodeock, H. M. 330. 
Woodruff 25. 
Wülker 559. 


Wung 540. 543. 


Zander 166. 
Zıederbauer 
Zell 370. 
Ziegler 37. 
Zoja, R. 12. 
Zur Straßen, Otto 64. 522 
525. ; 
Zwaardemaker 
368. 


392. 


122. 


105. 


450. 


os 


390. 399. 400. 


365. 366. 





Alphabetisches Sachregister. 


Aal 371. 

Aalmutter 371. 

Abdomen, Geschlechtsdifferenzierung 507. 

Abstammung, polyphyletische 386.. 

Absterbeordnung 109. > 

Abutilon 217. 244 250. 

Abwehrfermente 443. 

Acer eompestre 248. 

Acer negundo 218. 229. 235 

Acer pseudoplatanus var. 
247..249. 

Acheuleen 428. 

Acineten 50 

Aeculeata 151. 

Adaptation 281. 

Adrenalin 205. 

Affen 100. 

Afteröffnung, Verschließung der 151 

Agamomermis 326. 

Ayave 226. 

Agenia 81. 

Agriotypiden 159. 

Ahnlichkeit, äußerliche 391. 

Akademiestreit von 1830 489. 

Algen 337. 

Alytiden 71. 

Ameisen 66. 158. 161. 

Ameisenbiologie 303. 

Ameisendrosseln 91. 

Ameisenfeinde 85. 

Ameisenfressende Wirbeltiere 89. 

Ameisenmimikry 65. 

Ameisenpsychologie 35. 187. 

Ameisen in Vogelmägen 95. 

Amphibienembry yo 6. 

Amphibien, Nahrung 89. 

Amphileptus 50. 

Ammophila 94. 

Amyciaea 71. 79. 

Andrena 359. 

Andrenidae 163. 166. 180. 

Anemone hepatica 529. 

Angepaßtheit 433 

Anobium, Pilze in 537. 

Anopheles 325. 

Anpassung 433. 

Anpassung, convergente 388. 

Anpassungen, morphologische 440. 

Anpassung, parallele 388. 


250. 


Antennen, Geschlechtsdifferenzierung 507. 


Anthiciden 76. 
Anthophora 358. 
Anthophysa 44. 
Anthropologie 431. 
Antrieb 257. 
Apanteles 77. 


Leopoldii 


Aphaenogaster 87. 
Aphantochilus 1. 
Aphelenchus 60 
Aphiochaeta 332. 
Aphodıus 61. 

Apidae 169. 

Apididae 181. 

Apidina 160. 162. 
Apoerita 146. 174. 

Apuxs 42. 

Arabis 238. 
Arachniden (Mimikry) 68. 69. 
Araneiden 70. 

Araneus 356. 

Argiope 357. 

Argiopiden 70. 
Artbildung, bei Salix 479. 
Arthbropoden, Sinnesorgane 266. 
Artzelle 322. 

Asiliden, Nahrung 88. 
Asterias-Larven 23. 
Astylozoon 58. 
Atombeseelung 36. 
Attiden 6). 
Aufgußtierchen 41. 

Auge, Entwicklung 57. 
Ausgleichpripzipe 318. 


Ausstülpurgen, Entstehung von 15. 


Avitaminosen 103. 


Beacillus extorquens, Oxolate 483. 
Bachstelze 44. 

Bacterium coli mutabile 245. 
Balaenoptera 388. 
Befruchtung 24. 

Bembeciden 160. 

Bembecidae 159. 

Bembex 84. 

Bethylidae 117. 

Bethyliden 77, 156, 

Bienen 158. 354. 

Bienen, Brutwaben 95. 
Biene, Farbensinn 122. 281. 
Bienenlarve, Chitinabsonderung 95. 
Bienenlarven, Spinndrüsen 496. 
Biene, als Nahrung 89. 

Bienen. Phylogenie 145. 

Biene, Puppenhäuschen 494. 
Bienenstaat 169. 

Bittacus SB. 

Blasenmole 208. 

Blastula-Modell 14. 

Blattiden, Symbionten 537. 
Blütenfarbenvariationen 533. 534. 


Blätter, Schraubungserscheinung 520. 


Blätter, weißrandige 212. 


EN RLSEN PORBEN | a 2 eh bh: Rn a 
»66 Alphabetisches Sachregister. 


Blattwespen 148. 
Blumenfarben 282. 
Bockkäter 66. 

Bombus 356. 497. 
Braconidae 176. 
Braconiden 155. 
Branchipus 42. 280. 
Brassica oleracea 218. 237. 
Brustdrüse 194. 

Bufo 401. 
Buntblättrigkeit. 212. 
Buprestidae 84. 

Buxus marginatus 218. 


Caleiumsalze bei Lithiumlarven 22. 


(amponotidea 72. 
Camponotus 73. 76. 87. 


Camponotus, Mycetocyten 536. 
(Cancer, Ganglion cerebrale 472. 


Canephorula 168. 
Cantalien 425. 
Capsiden 71. 
Castaneira 71. 
Caulleryella 331. 
Caulleryellidae 328. 
Centralnervensystem 462. 
Cephalisation 415. 
Cephalocoema 75. 
Cephalopodenauge 38. 
Cephidae 174. 
Cephiden 148. 


Ceratophyllum, Oxalsäurewirkung 486. 


Oerceris 84. 

Cerebroside 16. 

Cetonia 83. 

Chaleididae 175. 
Chaleididen 77. 155. 
Chaleura 87. 

Chironectes 388. 
Chsronomus 10. 
Chlamylomonas 341. 
Chlorella 246. 


Chlorkalzium und Zellteilung 33 


Chlorophytum 233. 
Chlorophytum capense 226. 
Chlorose 211. 

Chorda, quellende Stoffe 17. 
Chorioidealgefäße 39. 
CUhromatophoren 140. 
Chrysididae 177. 
Chrysididen 156: 
Chrysomeliden 84. 
Cieindela 75. 

Ciliarkörper des Auges 38. 
Uimbıicidae 173. 

Ciona 470. 

Oleptidae 177. 

Cleptiden 157. 

Olerus 76. 

Clivia 218. 

Clubioniden 69. 

Colletidae 163. 180. 


Colloide, Quellung 13. 
Colobom 40. 
Condytarthren 397. 
Oonvoluta, symbiotische Algen 538. 
Coreiden 72. 

Cornus alba 218. 231. 
Corpus luteum 211. 
Convergenz 397. 
Corynura 165. 
Crabronidae 184. 
Crabroniden 85. 
Cremastogaster 76. 
Crithidia 329. 

Urabro 497. 
Crustaceen, Wirkung der Granglien 471. 
Culex 326. 

Oulicada 326. 

Ouliseta 327. 

Cynipidae nr 

Cynipiden. 77..155. 156. 

Lytisus Am 240. 


Dauerformen 57. 

Detritus 343. 

Diffusionskoeffizienten 368. 

Dinetus 85. 

Dinophrlus 107. 

Diplacus 72. 

Diploeystis 328. 

Diplocnemata 158. 169. 

Dipus 389. 

Distoma 325. ! 

Dolichoderinae 78. 

Dracarna Santeri 218. 

Drehpunkt bei der Entwicklung der 
Intersexualität 506. 

Dressur auf Farben 281. 

Drüse, interstitielle 198. 

Drüsen mit innerer Sekretion 205. 

Duftstoffe 369. 

Dulichius 72. 

Durchlässigkeitsanpassungen 437. 


Echinodermenkeime unter abnormen Be- 
dingungen 455. 

Eeiton 71. 

Edentaten 82. 

Eidechsen, Nahrung 89. 

Eierstock 193. 

Eierstockdrüse, interstitielle 211. 

Eierstock, Einfluß aufdieGebärmutter 203. 

Eierstock, gerinnungshemmende Wirkung 
208. 

Eierstock, Transplantation 194. 

Eierstocktätigkeit, Ausfall der 201.- 

Eierstock, Umwandlung in Hoden 50. 

Eierstock, Wirkung auf Blutdruck 205. 

Eierstock, Wirkung auf die Knochen- 
bildung 216. 

Eigenduft 370. 

Eigenfunktion 434. 


- Einrichtungen, fremddienlich-zweck- 


mäßige 451, 


nl ah ı 0 Ir Fat u u a5 ne Chen nun nn a Co u n 










REN TEUER 





Meraketlcher Sachregister. | 567 


Einstülpungen, Entstehung von 15. 

Elasmosoma 87. 

Electronen 364. 

Elefant, indischer, 

Ellritze 138. 265. 

Elodea, Oxalsäurewirkung 5. 483. 

Elytren (der Käfer) 474. 

Enzystierung 47. 

Enzystierung (bei Vorticelliden) 47. 

Engystomiden, Nahrung 59. 

Entelechie 455. 

Entfernungslokalisation 283. 

Entwicklung, gleichgerichtete 385. 

Entwicklung, Schrauubngserscheinungen 
520: 

Entwicklungskorrelatiönen 40. 

Enzyme und Erbfaktoren 511. 

Eolithen 425. 

Epeira 354. 

Epistylis 43. 50. 

Erfolgsorgane 462. 

Erieydnus 7%. 

Eristalis 102. 

Eristalis, Mimikry 353. 362. 

Eucerini 168. 

Eucharis 87. 

Eumenes, 171. 

Eupelminus 77. 

Eupelmus 77. 

Euryecorypha 76. 

Evanvidae 175. 

Evaniiden 149. 155. 

Evonymus japonica 234. 

Evonymus radicans 230. 

Exogastrulation 21. 


Rüsselbehaarung 351. 


Kaltenwespen 84. 171. 
Fangheuschrecken 74. 
Farbenblindheit 281. 
Farbenblindheit, totale 123. 
Farbensehen 122. 

Farbensehen der Tiere 281. 
Farfugium argenteum marginatum 218. 
Farnprothallien 454. 

Federn 391. 

Fermente, proteolytische 195. 
Ferngeruch 35. 

Fertonius S6. 

Ficalbia 328. 

Filzlaus 287. 

Fische 371. 

Fische, Chromatophoren 140. 
Fische, Farbensinn 137. 
Fischrasse 380. 

Flagellaten 329. 342. 
Fledermäuse, Parasiten der 326. 
Fliege268. 279. 

Flügelgeäder (bei Hymenopteren) 166. 
Flug, der Käfer 474. 

Flunder 371. 

Flußpferd, Haare 349. 
Flußpferd, Hautdrüsen 350. 


Flußpferd, Integument 346. 

Flußpferd, Körperhaut 348. 

Flußpferd, Lippen 347. 

Flußpferd, Zitzen 348. 

Formica 69. 

Formica fusca L. 304. 305. 

Formica fusca, Pilze im Fettgewebe 536. 

Formica, Koloniegründung 305. 

Formica pratensis 307. 

Formica rufibarbis 305. 

Formica sanguwinea 309. 

Formicidae 179. 

Formicina 71. 160. 

Formicomus 76. 

Formiecoris 72. 

Forschung, biometrische 534 

Fruchtstände, Schraubungserscheinungen 
520. 

Fuchsia globosa 218. 

Funaria, Oxalsäurewirkung 484. 

Fundulus-Entwicklung in Lithiumsee- 
wasser 22. 

Funktion, harmonische 434. 

Funkia 226. 

Funkia lancifolia 233. 


@aleodes 361. 
Galeopithecus 388. 
Gartengrasmücke 404. 
Gastropoden, Leberanlage 17. 
Gastrostyla 25. 
Gastrulainvagination 19. 


- Gebärmutter 193. 


Gehirn bei Vögel und Säuger 393. 

Gehirnresiduen 190. 

Gehörsteine, Jahresringe der 372. 

Geiselbewegung, Schraubungserschei- 
nungen 521. 

Gelbfiebermücke 326. 

Gelenkflächen,Schraubungserscheinungen 
523. 

(Generationswechsel 317. 

Geruchstheorie 364. 

Geschlechter, Absterbeordnung 105. 

Geschlechtscharaktere, sekundäre 512. 

Geschlechtsbestimmung 498. 

Geschlechtsdrüsen, Dedifferenzierung 507. 

Geschlechtsfaktoren, Wesen der 511. 

Gewebsadaptationen 444. 

Geweihe, Schraubungserscheinungen 522. 

Gonatopus 77. 

Grabwespen 81. 158. 169. 


* Gregarinen 327. 


Grillen 74. 
Gynandromorphismus 498. 


Haare 391. 

Haematopinus 287. 
Haematopinus-Mycetom 536. 
Hahnenfederigkeit 200. 
Halietidae 165. 180. 
Halietiden 165. 


568 Alphabetisches Sachregister. 


Halietus 359. 

Halitherium 388. 

Halteren 268. 

Haltieinen 84. 

Halsring, weißer bei Vögeln 389. 

Hanf 121. 

Hanf, Sterblichkeit der beiden Geschlechter 
107. 

Haplocnemata 158. 

Harmonie 442. 

Harpagoxenus sublaevis >10. 

Hautdrüsen 431. 

Hautflügler 145. 

Hautlichtsinn- 540. 

Hel x 470. 

Helix, Lichtsinn 540. 

Hemianopsie 40. 

Hemipteren, Mimikry 68. 

Hemipteren, Symbionten 537. 

Hemiuıidae 314. | 

Hemmungszentren 469. 

Hering 371. 380. 

Hermaphroditismus 196. 

Herold’sches Organ 508. 

Herpetomonas 329. 

Herzgewichte 406. 

Herz bei Warmblütern 392. 

Heteronotus 74. 

Heterotrophie 338. 

Heuinfus 26. 

Heuschreckenplage 528. 

Hibiscus Cooperi 224. 

Hippopotamus 346. 

Hirngewicht 408. 413. 

Hirschkäfer 83. 

Hochzeitsflüge 305. 

Holothurien, Tonus 468. 

Holzwespen 148, 

Homo heidelbergensis 428. 

Homologielehre 490. 

‚Homopteren 74. 

. Homöogenesis 385. 

Homöothermie 392. 

Hortensia 250. 

Hostia japonica 233. 

Hufe (Flußpferd) 348. 

Hummeln 169. 

Hydra, Abnormitäten 9. 

Hydra, Eibildung 545. 

Hydra, Entodermale Verdauung 553. 

Hydra fusca 2. 289. 

Hydra, Hoden 290. 

Hydra, Längsteilung 1. 

Hydra, Ovarien 544, 

Hydra, Pseudozeilen 546. 552. 

Hydra, Querteilung 10. 

Hydra, Regeneration 292. 

Hydra, Regeneration und Eibildung 546. 

Hydra, Selbstverdauung 297. 

Hydra viridis 9. 

Hydra, zweiköpfig 301. 

Hydrachniden 330. 





Hydrangea 249, 250. 

Hylobius 64. 

Hymenopteren 145. 

Hymenoptera 173. 
Hymenopteren, Flügelbildung 153. 
Hymenopteren, stechende 352. 


Ichneumonidae 176. 
Ichneumoniden 77. 151. 155. 
Ildibaha 70. 

Ilex aquifolium 226. 229. 233. 
Individualgedächtnis 189. 
Infusorien, Teilungsgeschwindigkeit 25. 
Insektensymbionten 535. 
Intersexualität 498. 
Intersexualität, Zeitgesetz der 506. 
Inzucht 304. | 

Ips 64. 


Johnston’sches Organ 274. 


Käfer 76. 274. , 

Käfer, Elytren und Flug 474. 

Kaliumchlorid und Zellteilung 31. 

Kaliumsalze 17. 

Kalziumoxalat 481. 

Kastration 194. 

Kastration, Wirkung auf Fettansatz 204. 

Kastration, Wirkung auf das Gefäß- 
nervensystem 205. 

Katze 259. 

Kaumuskeln 421. 

Keimdrüsen, innere Sekretion 195. 

Kephalopoden Schraubungserscheinungen 
521. 

Kernmasse, relative bei Muskelfasern 430. 

Kleintiere 423. 

Knollengewächse 444. 

Kolibri 31. 

Kolloide, Quellung, Wirkung von Säuren 
und Alkalien dabei 19. 

Konowiella 162. 

Konstitution 432. 

Kopflaus 287. 

Kopulationsorgane, 
änderungen 508. 

Krabbenspinnen 358. 

Krebse 270. 

Krebse, Heterochelie 523. 

Küchenschabe 265. 

Kukuksbienen 163. 


intersexuelle Ver- 


Lactosevergärung 245. 
Lasaeola 79. 

Laseola XV. 

Lasius 72, 87. 

Lasius fuliginosus 305. 
Lasius umbratus 305. 
Läusearten 287. 
Laterigraden 70. 
Laubheuschrecken 74. 
Lautsprache der Tiere 425. 





u er et 


EUER EU WEN 









hen. Theorie des 318. 
Lebensbedingungen, äußere, Einfluß der 
380. 
Lebensdauer 
Tieren 107, 
Leber, quellende Stoffe 16. 
Lebistes 380. 
Leeithin 16. 
Leeithodendrium 326. 
Legimmen 152. 
Leptomonas 330. 
Leptomysis 273. 


beider Geschlechter bei 


. Lerngeschwindigkeit 264. 


Libellen, Nahrung 85. 
Lichtrückenreflex 275. 
Lichtsinn der Heliciden 540. 
Ligustrum ovalıfolium 223. 234. 
Lımnaeus 326. 

Linkshändigkeit 523. 
Liometopum 86 

Lipoidgehalt der Zellmembranen 29. 
Lithiumbromid 29. 
Lithiumchlorid 26. 

Lithiumion u. Zellteilung 26. 
Lithiumlarven 20. 

Lithiumsulfat 29. 

Lokalformen 371. 373. 384. 
Lokalformen, Konstanz der 376. 
Lophyrus 77. 

Lucanus! 83. 

Lucilia, als Parasit 401. 
Lycosa 359. 

Lygaeiden 71. 

Lymantria 498. 


Macropus 389. 


' Magenscheibe 287. 


Magnesiummangel im Seewasser 23. 
Maikäfer, Flug 475 

Maikäfer, Gewichte 477. 
Makronten 46. 

Manatus 349. 

Mandrill, M. masseter 427. 
Masaridae 171. 180. 
Maulwurf 198. 

Maus, weiße 103. 264. 
Medullarplatte 6: 

Meersaurier 386. 

Megachile 359. 

Megachilidae 165. 182. 
Megapetus 73. 

Melandrium 109. 121. 
Melanophoren 140. 
Melipona 169, 497. 
Membraeiden SO. 

Menopause 194. 

Mensch, Ameisenverzehrer 100. 
Menstruation 193. 
Menstruationsblutungen 203. 
Menstruation u. Eierstöcke 200. 
Mesophyll 213. 

Mermis 326. 


Alphabetisches Sachregister. 569 


Messor barbarus 309. 

Methoca 161. 

Micaria 69. 

Mictis 72. 

Mikrogonidien 58. 

Mikronten 45. 

Mikryphantiden 70. 

Milben 330. 

Mimikry 65. 352. 385. 

Mimocoris 71. 

Mira \%. 

Misumena 358. 

Mneme 37. 187. 

Mninm, Oxalsäurewirkung 484. 

Moehringia trinervia 238. 

Moose, Oxalsäurewirkung 484. 

Moosprotonema Oxalsäurewirkung 487. 

Motacilla 404. 

Muscheln, Schraubungserscheinungen 
521. 

Musculus masseter 421. 

Museulus temporalis 429. 

Muskelfaserarten 421. 

Muskel, quellende Stoffe 17. 

Muskelsinn 463. 

Mutation 245. 

Mutilla 83. 361. 

Mutillen 158. 

Mutillidae 179. 

Mutilliden 161. 

Mycetom bei Pedikuliden 536. 

Mycetome 287. 

Myelin 17. 

Myrmarachne 69. 

Mymariden 155. 

Myrmecia 87. 

Myrmecium 69. 

Myrmecoeystus 87. 

Myrmecophana 75. 

Myrmecophyes 22, 

Myrmecoris 72. 

Myrmegryllus 75. 

Myrmekoidie metöke, synöke 65. 67. 

Myrmeleon 88. 

Myrmica 86. 

Myrmica rubida 310. 

Myrmica scabrinodis 305. 

Myrmoplasta 72. 

Myrmosa 161. 

Myzinen 161. 





Nabelschnur 348. 

Nabelschnurarterien, 

Nabis 72. 
scheinungen 522. 

Nahgeruch 35. 

Nährpolyp (bei Hydrozoen und RUND: 
phoren) 56. 

Nashoın 390. 

Nashornkäfer 390. 

Nasturtium, Oxalsäurewirkung 486. 

Natriumchlorid und Zellteilung 31, 


Schraubungser- 


570 


Natriumsalze 17. 

Natriumsulfat und Zellteilung 32. 

Nebenwurzeln, Plagiotropie 557. 

Nebenwurzein, Reizbewegungen 557. 

Nematoden 326. 

Nematoden, Oystenbildung 59. 

Nematoden, in der Haut des Flußpferdes 
aa 

Neoponera 71. 

Nephila 357. 

Niedere Tiere, Nervennetze 465. 

Neubildungen, pathologische Quellende 
Substanzen in 18. 

Neutralsalze, Wirkung auf 
Quellung 19. 

Nicotiana gigantea 218. 

Nomadidae 163. 182. 

Nomiini 164. 

Nosema 326. 


Kolloid- 


Oberflächengesetz 406. 
Ocellenfunktion 283. 

Odynerus 356. 

Oeeodoma 74. 

Oecophylla 71. 79. 

Ophioglypha 466. 

Orasema 87. 

Orientierung 277. 

Oriolus 387. 

Orthopteren 74. 148. 
Orthopteren (Mimikry) 68. 
Oryssidae 176. 

Oryssiden 156. 

Osmose 438. 

Osteomalacie 204. 206. 
Ovarienreduktion bei Hydra 547. 
Ovidukt bei Cephalopoden 393. 
Ovotestis 196. 148. 
Oxalsäurebildung in der Pflanze 481. 
Oxybelus 84. 


Pachycondyla 69. 

Pachylomma 87. 

Pa'aemon 273. 

Paludina fasciata 17. 

Pamphiliidae 174. 

Pamphiliden 148. 

Panaschierung 212. 

Panaschierung, Inversion der 233. 

Panorpa 88. 

Panurgidae 166. 

Papierameise 71. 

Paramaecıum caudatum, Zellteilung 25. 

Parasitica 151. 

Parasitismus 313. 

Parthenogenese, künstliche 24. 

Peckhamia 69. 

Pedalganglien bei Schnecken 468. 

Pedieuliden, Magenscheibe 535. 

Pedieuliden, Symbiose mit 
Pflanzen 535, 


niederen 


Alphabetisches Sachregister. 


EN A I 





Pediculinen 287. 

Pelaryonium zonale, Panaschierung 213. 
227. 234, 236. 

Peleziniden 156. 

Pelezinidae 176. 

Pelmatohydra oligactis 2. 

Pelopoeus 81. 

Pemphredon 84. 

Periklinalchimären 240. 

Peziza, Kalziumoxalatbildung 488. 

Pezomachus 77. 

Pflanzen-Gallen 451. 

Pflanzen, Kalziumoxalat 481. 

Pflanzen, niedere, Symbiose mit Pedi- 
euliden 535. i 

Pfrille 138. 

Pheidole 87. 

Philanthus 55. 

Philenion 387. 

Phototropismus 266. 

Phrurolithus 71. 

Phthyrius, Mycetom 536. 

Phylloseirtus 75. 

Physa, Schraubungserscheinung 521. 

Phytoptagen 151. 

Pigmentzellen 140. 

Pilophorus 72. 

Plagiolepis pygmaea 305. 

Planorbis, Schraubungserscheinungen 
521. 

Plectus 60. 

Pleometrose 304. 

Pluripotenz 389. 

Podaliriini 168. 

Polistes 357. 

Polyplax 287. 

Polyplax, Symbionten 537. 

Polyrhachis 72. 

Pompilidae 84. 

Pompiliden 158. 

Pompilus 81. 356. 

Prioenemis 81. 

Protoeces 314. 

Protocalliphora 404. 

Proctotrupidae 177. 

Proctotrupiden 77. 156. 

Prosopis 166. 

Protanope 125. 

Protozoen parasitische 326. 

Psammocharidae 185. 

Psammochariden 158. 170. 

Psammophila. 160. 

Psen 84 

Pseudogynen 308. 

Pseudomimikry 80. 

Psithyrus 361. 

Pteropoden, Schraubungserscheinungen 
521. 

Pubertätsdrüse 197. 211. 

Pyriglena 91. 

Pyrrhocoriden 72. 

Pyrrhocoris 80. 93. 





° 


@uellung der Kolloide 24. 
Quellungsreihe der Ionen 19. 
Quellungsreihen 24. 


Rana fusca, Lokalrassen 40. 

Rana, Pigment 140. 

Rasenaufgüsse 41. 

Rassendüfte 369. 

Rassenuntersuchungen 371. 

Ratte, weiße 259. 

Raubinsekten 88. 

Raubwespen 81. 84. 

Räumliches Sehen 36. 

Raumorientierung 283. 

Rechtsdrehung 514. 

Rechtshändigkeit 523. 

Reduviolus 72. 

Reflexumkehr 257. 

Regeneration und Nahrungsmaterial 302. 

Regenwurm, zentrales Nervensystem 473. 

Regulationen 454. 

Reize, formative 441. 451. 

Rentier, Knacken beim 231. 

Reptilien, Nahrung 9. 

Reptilien, Chromatophoren 140. 

Restitution 434. 

Retina 39. 

Retinaanlage 37. 

Rhabditis, Verpuppung 59. 

Rhodanion und Zellteilung 28. 

Rhythmik, pflanzliche und äußere Be- 
dingungen 453. 

Rhythmus 433. 452. 

Riptortus 73. 79. 

Rotgrünblindheit 125. 

Rubus 233. 

Rückbildung 7. 

Rumex 248. 


SO,-Ion 30. 

Salamandra, Retina 39. 

Salix, Evolution 479. 

Salix, Variabilität 479. 

Saltieiden 69. 

Salticus 70. 

Salzgehalt des Meerwassers, Einfluß auf 
Lokalrassen 380. 

Sambueus 250. 

Sambuceus nigra 225. 

Sandwespen 169. 

Sapyga 161. 

Sabygidae 178. 

Sapygiden 158. 

Säuger 385. 

Säugerherzgewichte 410. 

Säugetiere, ameisenfressende 99. 

Sauropsiden 391. 

Saxifraga sarmentosa 219. 

Schizogregarinen 331. 

Schlingpflanzen, Schraubenbewegung 519. 

Schlupfwespen 77. 87. 155. 

Schmetterlingsraupen 76. 


Alphabetisches Sachregister. 


K ze 


Schnecken, Ganglien 467. 


Schnecken, Schraubungserscheinungen 
520. j 

Scholle 371. 380. 

Schraubungsprinzip 519. 

Schuppen 392. 

Schwammspinner, Rassen 49S. 

Schweinelaus 287. 

Schwinger 268. 

Scolia. 83 361. 

Seoliidae 178. 

Seoliiden 158. 161. 

Sebastes 371. 

Sekretion, Innere 193. 

Seebarsch 198. 

Seeigellarvenentwicklung bei verschiede- 
nen Salzlösungen 20. 

Seeigellarven, Lithiumwirkung 19. 

Sehen der Insekten 35. 

Seitensprosse, geotropisches 
der 557. 

Selbstregulation 318. 

Selbsttätigkeiten 318. 

Sinne, innere 423. 

Sinnesorgane 266. 

Sirene 347. 

Sirieidae 174. 

Sirieiden 150. 

Sitodrepa, Pilze in 537. 

Solaneen besuchende Käfer 84. 

Solanum Balbisii 220. 238. 

Solanum duleamara 218. 

Solenopsia 77. 

Spektrum, Helligkeitsverteilung darin 123. 

Spelle 238. 

Siphaerophrya 50. 

Siphecotypus 70. 

Sphegidae 183. 

Sphegiden 149. 158. 

Sphegidina 169. 

Sphekoidie 66. 352. 

Sphex 84. 

Spiniger 81. 

Spinne gegen Biene 283. 

Spinnen 81. 352. 

Spiraea Bumalda 220. 240. 

Spirillen, Schraubenbewegung 519. 

Spirochaeta 330. 

Spirochaete, Schraubenbewegung 519. 

Spirogyra, Oxolatgehalt 482. 

Spirogyra, Oxalsäurewirkung 487. 

Sprache, menschliche 425. 

Sprachmuskeln 421. 

Springreflex 274. 

Sprott 371. 

Stammesgeschichte 145. 

Statistische Organe 270. 

Stauropus 76. 

Steatoda 362. 

Stechimmen 152. 352. 

Stechmückenlarven, Parasiten der 325. 


Verhalten 


 Stegomyia 326. 





572 


Stephaniden 155. 156. 

Stephanidae 175. 

Sterblichkeit der beiden Geschlechter 105. 

Stilbula 87. 

Stoffe, quellbare 16. 

Statocystenentwicklung bei Cephalopoden 
>31: 

Strophoplast 526. 

Struktur 455. 

Sulfatmangel im Seewasser 23. 

Sylvia 404. 

Symbiose 535. 

Symphyta 146. 173. 

Synageles 69. 

Synemosyna 69. 

Syngnathus 380. 

Systellonotus 72. 


Systematische Gruppen, Definieren der311.. 
System, harmonisch-äquipotentielles 449. 


Systylis 41. 


Tachytes 81. 

Tapinoma 86. 

Taube 103. 
Teichnannoplankton 337. 
Teilung, inäquale 53. 241. 
Telepathie 192 
Temperatur, Einfluß auf Lokalrassen 381. 
Tenthredinidae 173. 

Tenthrediniden 150. 

Tergestia 314. 

Tetramopria 77, 

Thargalia 71. 

Thekaluteinzellen 211. 

Thelohania 327. 

Theridiiden 70. 

Theridium 363. 

Thigmomorphose 7. 

Thigmotropismus 260. 

Thomisiden 79. 

Thomisus 358. 

Thynnidae 178. 

Thynniden 161. 

Tiefseetiere 398. 

Tierpsychologie 35. 187. 

Tiphia 84, 

Tonus 465. 468. 

Tonus, viskosoider 468. 

Tonwerkzeuge bei Vogel und Säuger 395. 
Trachelius 50. 

Tradescantia, Oxalsäurewirkung 483. 
Tradescantia zebrina 241. 
Transspiration (der Pflanzen) 440. 
Transversion 389. 
Trematoden 325. 
Triaranea 362. 
Trigona »57. 
Trigonalidae 175. 
Trigonaliden 155. 
Trinia glauca 105. 
Tropismen 266. 278 
Trupoxylon S1. 
Turbellaren 317. 
Turdus 401. 


Alphabetisches Sachregister. | x 
- Turgescenz 457. 


" Tylenchus 60. 


Tutelina 71. 


Überschläge 389. 
Ulmus 226. 
Ulmus campestris 231. 249. 250. 
ee tion bei der Intersexualität 
Umstimmung 257. 

Urbiene 166. 


Vallisneria, Oxalsäurewirkung 483. 

Variabilität 390. 

Variationen 529. 

Vaucheria, Oxalate 482. 

Vaucheria, Oxalsäurewirkung 487. 

Vegetationspunkt 214. 

Vererbung 187. 378. 382. 479. 

Vererbung erworbener Eigenschaften 432. 

Verpuppung, bei Nematoden 59. 

V De Schraubungserscheinungen 
522. 

Vespa 356. 

Vespidae 185. 

Vespina 169. 

Vibrionen, Schraubenbewegung 519. 

Vitalismus 440. 445. 455. 460 

Vitamin 103. 

Vögel 385. 

Vögel, ameisenfressende 90. 95. 

Vögel, Magen- und Kropfinhalte 94. 

Vogelherzgewichte 410. 

Vorticelliden 41. 331. 


Waltiere 386. 

Walzenspinnen 361. 

Wanderheuschrecke 528. 

Wanzen, ameisenähnliche 71. 

Warmblütigkeit 392. 

Weberscher Finkenhermaphrodit 197. 

Weinbergschnecke, Lichtsinn 540. 

Weißkohl, panaschiert 237. 

Wespen 158. 

Wespenmimikry 66. 

Willkürliche Entw icklungsänderungen 
453. 

Wirbeltierauge 37. 

Wirbeltiere, Bewegungsapparat 463. 

Wolfsspinne 359. 

Xiphydriidae 174. 

Xyelidae 174. 

Xylocopa 361. 

Xylocopini 168. 

Zellkern, Schraubungserscheinung 521. 

Zellteilung 23. 

Zellteilung abhängig von Wasserabsorp- 
tion 25. 

Zellteilung und Volumvergrößerung 24. 

Zikaden 74. 77 

Zoarces 371. 380. 383. 

Zoologie, angewandte 527. 

Zoopl ankton 342. 

Zoothamnium 44. 46. 57. 

Zystenbildung, bei Nematoden 5). 


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