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BRIEFE
FRIEDRICH, MATTH1SSON.
Oreli, Füj.
Z3X
VORREDE
ZUR ERSTEN AUFLAGE,
Man glaubte sich bei der Bekanntma-
chung dieser Briefe das Gesetz vorschrei-
ben zu müfsen, alles darin zu unter-
drücken, was blofs fiir den Empfänger
derselben Interesse haben, oder nur
ihm allein unter den Rosen der Freund-
schaft gesagt werden konnte.
Jeder vernünftige Leser wird einsc-
lien, dafs aus dieser Ursache nothwen-
dig viele, den Zusammenhang unter-
II
brechende Lücken entstehen mufsten,
und folglich, mit dem Herausgeber , je-
de weitere Entschuldigung , wegen des
fragmentarischen Ansehens mehrerer
Briefe dieser Sammlung , für überflüs-
sig halten. -
#
VORREDE
ZUR ZWEITEN AUFLAGE,
Da der Verfasser für gut befunden hat,
bei gegenwärtiger neuen Ausgabe sei-
ner Briefe, nicht nur die sechs ersten
der vorigen gänzlich zu unterdrücken,
sondern auch mehrere Stellen in den
übrigen durchzustreichen: so haben
wir uns genöthigt gesehen, die zween
Bände dieser Sammlung, die ohnehin
schon von unbeträchtlicher Bogenzahl
waren, in einen einzigen zusammen-
IV
zuziehen. Unstreitig hat das Werk
durch jene Abkürzungen an Ueberein-
stunmung des Tons um vieles gewonnen.
Zürich. 1802.
Die Verleger.
Inhalt.
Seite
Erster Brief. Genthod. Bonnet. 5
Zweiter Brief. Reise nach Chamouny, t xj
Dritter Brief. Rolle. Chandler. 5*
Vierter Brief St. Cergue. 5^
Fünfter Brief Lausanne. Gibbon. 4 2
Sechster Brief Lyon. 49
Siebenter Brief. Fortsetzung. 6*
Achter Brief Nion. Gorani. 7*
Neunter Brief Yvorne. Gefahrvolle Berg-
reise.
Zehnter Brief Lyon. Bekanntschaft mit dem
Doktor Gilibert und dem Bildhauer
Chinard. 87
•Eilfter Brief Ueber den Dichter Gray $8
Zwölfter Brief Reise nach dem grofsen Sc.
Bernhardsberge. xoo
Dreizehnter Brief Lyon. Vienne. n6
Vierzehnter Brief. Avignon. Vauklüse. iaö
76
VI
Seite
Fünfzehnter Brief. Nismes Le Pont du
Gard. Das Amphitheater. La maison
Carrcc. l^G
Sechzehnter Brief. Montpellier. Cette. 15s
Siebzehnter Brief Das Schlofs Blonay. Reise
durch die Sanenthäier. 165
Achtzehnter Brief Ueber Rousseaus neue He-
loise. 180
Neunzehnter Brief Aufenthalt des Dichters
'von Sali« in Grandklos. x$6
Zwanzigster Brief Einladung zu einer Rei-
se durch einen Theil des Gouverne-
ments von Aigle und der Republik Wal-
lis. 195
Ein und zwanzigster Brief Reise nach Frei-
burg. Die Felseneinsiedelei. 197
Zwei ufid zwanzigster Brief. Ueber den
blinden Naturforscher Franz Huber. 209
Drei und zwanzigster Brief. Zürich. Füfsli.
Ueber Gefsners Familie und seinen litte-
rarischen und artistischen Nachlafs. 218
Vier und zwanzigster Brief Reise nach «
Graubündten. 2^5
Fünf und zwanzigster Brief. Ermatingen am
Bodensee. Grofses Beispiel von patrioti-
scher Todesverachtung. 237
vn
Seite
Sechs und zwanzigster Brief. Winke für Rei-
sende durch die Schwein. 345
Sieben und zwanzigster Brief. Anfang einer
Reise von Bern nach Kopenhagen. 2.(9
Acht und zwanzigster Brief. Ankunft in Stutt-
gart. f a58
Reim und zwanzigster Brief Heidelberg«
Mannheim. Doktor Weikard. 365
Dreifsigster Brief Frankfurt am Main. Das
dortige Theater. Marburg. 276
Ein und dreifsigster Brief Göttingen. Schil-
derung einiger dortigen Gelehrten. Der
Botanische Garten. Die Universitäts-
Bibliothek. Das akademische Museum.
Die Sternwarte. 284
Zwei und dreifsigster Brief Hamburg. Schrö-
der als König Lear. 3i5
Drei und dreifsigster Brief Seereise nach Ko-
penhagen. Ankunft daselbst. Dänisches
Schauspiel. Reise nach Helsingör. Graf
Bernstorff. Schulzens Hymne. 3 aa
Vier und dreifsigster Brief, Rückreise von
Kopenhagen über die Belte nach Trems-
büttel bei Hamburg. 33£
Fünf und dreifsigster Brief Braunschweig.
Ebert. Leisewitz. Eschenburg. Wolfen-
büttel. Die dortige Bibliothek. 5jG
YHI
Seite
Sechs und dreifsigster Brief* Magdeburg.
Basedows Denkmal. Nachrichten von la
Fayette.
Sieben und dreifsigster Brief, Halberstadt.
Gleim. Wernigerode.
Atht und dreifsigster Brief. Ueher den Gar-
ten zu Wörlits.
Neun und dreifsigster Brief Weimar. Wie-
land. Herder. Abendgesellschaft bei der
verwittw eten Herzogin. Tiefurt. Der Park.
Vierzigster Brief Nürnberg.* Albrecht Dürer.
Ein und vierzigster Brief Bern. Reise nach
«km Stockhorn und der Petersinael.
557
365
«7o
576
587
393
MATTHISSONS BRIEFE.
. ßoiinei~
Gentkod bei Genf. :
■ JUD- 1788-
Bonn et schlug mir vor, meinen Aufenthalt bei
ihm noch um einige Tage zu verlängern , mein
geliebter Bonstetten! Du wirst daher dein«
kleine Heise wohl allein machen mäßen.
4
Er fahrt in den Morgenstunden fort, seine
Werke mit mir zu lesen. Jetzt sind wir bei den
Naturbetrachtungen. "Ich lese laut, und
wo es einer Erläuterung bedarf, giebt er mir
dieselbe mit der Klarheit und Präzision , die
ihm in so hohem Grade eigen ist. Lange ver-
weilten wir gestern bei der Weidenraupe (Pha~
leena Cossus. L.J und dem von Lyonnet dar-
über geschriebenen Werke , mit welchem ich bei
dieser Gelegenheit zuerst bekannt wurde. Die
Entstehungsgeschichte dieses Buches ist merkwür-
dig. L y o n n e t , der mit der brennendsten Lei-
denschaft für die Naturgeschichte , ungewöhn-
liche Beharrlichkeit, hohe Ruhmbegierde und
scharfen Beobachtungsgeist verband, nahm sich
vor, eine ganz neue Bahn zu betreten, und ein
"Werk aufzustellen , welches in jedem Betrachte
einzig wäre. . Er verfiel zuerst auf die Blatt-
läuse; dann auf die Polypen: aber, durch eine
der wunderlichsten Launen des Zufalls , wurde
bei jenen Bonnet sein Nebenbuhler, und bei
diesen Trembley. Nun kam es darauf an,
einen Pfad ausfindig zu machen , der, durch die
5
auf demselben vereinigten Schwierigkeiten , ihn
* vor jedem Folger sicher stellte. Er erreichte
diesen Zweck durch die Zergliederung der Wei-
denraupe. Aber kein Zeichner wollte die dazu
nöthigen Tafeln übernehmen, weil Lyonnets
Forderungen zu übertrieben schienen, als dafs
nicht ein jeder dadurch hätte zurückgeschreckt
werden xnüfsen. Er lernte daher selbst zeich-
nen, und brachte es in kurzer Zeit so weit,
dafs er im Stande war , die unglaublich schwe-
ren Zeichnungen mit einer Feinheit und Ge-
nauigkeit auszuführen, die alle Künstler und
Kenner in Erstaunen setzte. Da es ihm mit den
Kupferstechern gieng wie mit den Zeichnern,
und auch kein einziger von ihnen sich Geschick-
lichkeit genug zutraute, dem viel verlangenden
Manne Genüge zu leisten, so lernte er auch
diese Kunst , und brachte es bald zu jenem ho-
hen Grade von Vollkommenheit, der die Kupfer-
tafeln zu seinem Werke vor allen ahnlichen
auszeichnet: Lyonnets Bildnifs verdiente die
Unterschrift: Man kann was man will, mit
mebrerem Rechte, als die Figur jenes längst
8
hene Hindernisse die Herausgabe desselben ver-
eitelten. Der große Ha Her iheilte ihm bei-
nahe alles mit , was er in einem Zeiträume von
25. Jahren beobachtete, entdeckte, berichtig-
te, widerlegte und veranlagte; zum Beispiele,
seine Entdeckungen über die Generation , Nach-
richten von den Salzwerken in Bex, Darstel-
lungen der Versuche die Sümpfe im Gouverne-
ment von Ai gl e auszutrocknen, und eine Menge ' *****
anatomischer, physikalischer, historischer, und
moralischer Untersuchungen.
Der Briefwechsel mit dem schwedischen Na-
turforscher von Geer begann im Jahre 1746.
und der mit du Hamel, dessen Physik der
Bäume {Sonnet allen seinen Schülern , zur
Entwickelung und Uebung ihres Beobachtungs.
geistes , sehr angelegentlich empfiehlt , im Jah-
re 1750.
Spallanzanis Briefe enthalten die Resul-
tate seiner wichtigsten Versuche, welche Bon-
net, wie dessen Antworten darthun, gröfsten-
theils veranlagte.
InMerians Briefen vereinigen sich Gelehr«
3
samkeit, Geschmack, Scharfsinn, und Schön-
heit der Diktion,.
Sulzer, derBonnets persönliche Bekannt-
schaft Auf' seiner Reise nach Nizza machte,
schrieb ihm von dorther einige Briefe voll po-
litischer, naturhistorischer und philosophischer
Bemerkungen , die alle mit dein Stempel der
Wahrheit und Menschenliebe bezeichnet sind.
Merkwürdige Fremde sind seit einigen Tagen
nicht hier gewesen, wohl aber einige junge Rei-
sende, denen ich's anzumerken glaubte, dafs '
sie lieber ins Kaifeehaus gegangen wären, als
zum Weisen von G e n t h o d ; die denn aber doch
dem Despotismus der Mode , das Antlitz jedes
berühmten Mannes anzustaunen , dessen Woh-
nung nicht allzuweit von der Landstraße abliegt,
sich hatten unterwerfen müfsen. Unmöglich kann
ich der Versuchung widerstehen, dir das Frag-
ment eines Gesprächs, zwischen Bonnet und
einem dieser .Herren mitzutheilen, welches aber
.einer kurzen Einleitung bedarf.
Ich war vor drei Tagen in Genf und afs an,
einer Wirthstafel. Ein junger Engländer, der
10
bei mir saß und den ich bald für einen von den
Storchen in J-.es sin gs Fabel erkannte, denen
es selten einfallt , auf ihren Zügen sich um et-
was anders , als um die Topographie der Frosch*
graben zu bekümmern, fragte mich nach Bon-
nets Wphnung. Auf meine Erkundigung, ob
er Bonnets Werke gelesen habe ? antwortete
er: Nein, die kenne ich gar nicht; aber sein
Name steht hier auf meiner Liste. Mit diesen
Worten öffnete er seine Schreibtafel , wo fol-
gendes Verzeichnifs Genfischer Merkwürdig-
keiten zu lesen war:
i. Das Portal der Peterskirche.
2. Die Vereinigung der Arve und Rhone.
3. Das Naturalienkabinet des Herrn yon
S a u s s ü r e. *
4. Herr Bonnet.
5. Herr $ourrit.
Da Sie noch nichts von seinen Werken ge-
lesen haben, fuhr ich hierauf fort, so rathe ich
Ihnen in den Buchladen zu gehen und sich et-
was davon zeigen zu lassen ; zum Beispiele die
Na turbe trachtungen. Lesen Sie einige Kar-
II
pitel dieses Werks, und Sie werden dann nicht
nur weniger verlegen seyn, wenn er Ihnen etwa •
die Frage thun sollte , ob Sie mit seinen Schrif-
ten bekannt sind, sondern überdem auch noch
sehr viel Wohlgefallen an dieser Lektüre finden.
Er dankte mir für diesen Ratb , den er zu
befolgen versprach und verliefs mich, nachdem
er den Namen von Bonnets Wohnort sorgfäl-
tig in sein Taschenbuch eingetragen hatte.
Gestern Nachmittags, als Bonnet eben
Schach spielte, wurde ein Fremder eingeführt,
den ich sogleich für den Mann von gestern er-
kannte. Bonnet empfieng ihn mit der herzli-
chen und zuvorkommenden Gute , die Du an
ihm kennst , und nothigte ihn auf den Sopha,
Nachdem der Faden des Gesprächs durch die
gewöhnlichen Formeln, von wannen? und
wohin? angesponnen war, that Bonnet die
Frage an ihn:
„Sie haben sich wahrscheinlich auch mit der
spekulativen Philosophie beschäftigt ? •'
Der Fremde. Nein, das nicht; aber ich
habe gestern alle Ihre Werke gesehn.
'12
Bonnet. Gesehen? — Hier hielt er etwas
inne, fuhr aber in der Meinung, der Fremde,
der das Französische sehr schlecht sprach , habe
sich im Ausdrucke geirrt, sogleich fort : Nun,
es würde mich freuen, wenn meine Schriften
von einigem Nutzen für Sie gewesen wären.
Hat vielleicht irgend etwas darin einen vorzug-
lich lebhaften Eindruck auf Sie gemacht?
DcrFremde. Ja, das sind besonders die Glet-
scher ; denn sie sind ganz- vortrefiich natür-
lich, ( ' excellens naturels , war sein Ausdruck.^)
Man braucht kein Oedipus zu seyn, um hier
sogleich zu errathen , dafs er im ßucbladen
Bourrit, der auch auf seiner Liste stand, mit
Bonnet verwechselt, und man ihm daher des-
sen Alpenreisen gezeigt hatte, worin die Kupfer
seine Aufmerksamkeit wahrscheinlich am stärk-
sten angezogen haben mochten. Bonnet merkte
den Irrthum sogleich, und es war mir rührend,
wie er , anstatt die Verlegenheit des Fremden
(hundert andre hätten dies an seiner Stelle ge-
than) zu einer pikanten Scene zu benutzen, mit
einem unbeschreiblichen Ausdrucke von Güte
x 3
und Schonung y dem Gespräche plötzlich eine
andre Wendung gab und ihn nach seiner Hei-
math > seiner Familie , ja sogar nach seinen Hun-
den und Pferden fragte.
Solche Züge, die beim ersten Anblicke un-
bedeutend scheinen, sind es hauptsächlich, wo-
durch Plutarch ein so warmes Leben und eins
so tauschende Darstellung in seine Biographien
brachte, dafs Timoleon, Dion und Philo-
pömen, uns nicht wie Geisterscheinungen aus
dem grauen Alter thume vorschweben , sondern
wie vertraute Bekannte , mit denen wir Jahre
lang in Einer Stadt oder unter Einem Dache
wohnten, lebendig vor uns dastehen. Nach al-
lem was wir in den Denkwürdigkeiten des S o-
krat'es lesen, wäre dieser Weise, bey ahnli-
cher Veranlaßung, einer solchen Schonung nicht
fähig, gewesen ; und welche bittre Spottlauge
ergofs nicht Voltaire über jenen Reisenden»
dem man aufgeheftet hatte, alles was geschrien
ben und gedruckt sey, habe V o 1 1 a i r e geschrie-
ben und drucken lassen, und der sich, weijl
Roll ins alte Geschichte die einzige Lektüre
«4
war , dereii er sich iioch erinnerte , in dieser
Voraussetzung, mit folgender Anrede bei ihm
einführte: „Ich habe mit eben so vielem Nutzen
„ als Vergnügen Ihre alte Geschichte von R o 1-
j,lin gelesen".
Du kennst Bonnets warme Vaterlandsliebe,
und wie das wechselnde Steigen und Sinken der
Republik Genf, welche seit seiner Geburt al-
lein neunmal durch innerliche Unruhen erschüt-
tert wurde, ihn bald mit der tiefsten Wehmath
bald mit der lebhaftesten Freude erfüllt; es be-
wegte mich daher innig, als er neulich, bei Wie-
dererblickung seiner Vaterstadt, die er seit vie-
len Jahren nicht gesehen hatte, und wohin ihn
wichtige Geschäfte riefen, in die Worte de« ster-
benden Paolo Sarpi ausbrach : Estoperpetua l
B o n n e t hört mich sehr gern von Deutsch-
land, am liebsten aber vom grofsen Fried«
rieh erzählen, den er verehrt und von dessen
häuslichem Leben er durch seinen Freund M e-
rian ziemlich viel weifs. Er pflegt ihn entwe-
der mit dem Cäsar, dem er hauptsächlich da-
rin am nächsten kommt, dafs er nie Zeit ver*
'5
lor, öder, Hoch passender, besonders in Absicht
der Höhe, zu welcher ein an sich mittelmäßi-
ger Staat durch ihn sich aufschwang, mit dem*
Epaminöndäs eu vergleichen»
Wir haben Herrn Volney, in den Abend-
stunden bei Madame B o n n e t , mit immer wach-
sendem Interesse auf seiner Reise durch Syrien
und Egypten begleitet, und ihn vor einigen
Tagen mit Bedauren am Ziele seines Laufs ver-
lassen.
Wir glaubten hier nicht, wie bey Savarys
Briefen der Fall war , ein rosenfarbnes Feen-*
mährchen aus den Tausend und Einer Nacht
zu lesen , sondern die männliche Erzählung ei-
nes mit Scharfsinn, Beobachtungsgeist und allen
nöthigen Vorkenntnissen ausgerüsteten Reisen-
den , dem Wahrheit und getreue Darstellung
heilig sind*
Jetzt haben wir die Korrespondenz des Kö-
nigs von Preussen mit Voltaire angefangen.
Kaum hatten wir einige Briefe gelesen, als wir
wie aus Einem Munde ausriefen : Wie tief steht
Voltaire unter Friedrich! Dies bestätigte
i.6
sieb immer mehr) je weiter wir vorrückten. Wel-
che niedrige Schmeicheley, welcher kleinliche
Gernwitz, welche seichte Raisonnements in V o h
taires, hingegen welches erhabene Selbstge-
fühl; welcher 'Adel des Ausdrucks , welche Blitze
des Genies in Friedrichs Briefen!
Ich bin spätstens in acht Tagen in Nion.
Hoffentlich bist du dann schon wieder zu Hause.
Gedenke mein am Fufse des Suchet und in der
Grotte von Montcherand. Vale et bene
rem gere.
'Zwevter
*7
Z w e v t e r Brief.
Bex t 7. Jul. 1788.
Ganz unvermuthet fand ich hier deinen Rei-
segefährten durch Italien, Herrn S***. G***.
mit seiner Familie, der mich sehr freundschaft-
lich einlud, ihn Morgennach dem Anzindas,
einer der höchsten Alpentriften des Kantons
Bern zu begleiten. Unter dem Vorwande der
Ermüdung zog ich mich bald in mein Zimmer
zurück > um noch ein paar einsame Stunden zur
Erzählung meiner Reise durch das Charaouny-
Thal zu gewinnen. Es kommt mir hierbei sehr
zu Statten, dafs es für dich, dem Vertrauten
der Alpen, nur flüchtiger Umrisse bedarf; denn
mehr kann ich heute nicht versprechen. Möch-
test auch Du endlich jenes Allerheiligste betre-
ten, in dessen Vorhofe Du wandelst; da hat
die Natur , in einem engen Öezirke , Wunder
zusammengedrängt, wovon jedes für sich allein,
die mühvollste Wanderung durch Steppen und
Sandfelder belohnen würde.
B
*■•
*8
Ich verließ Genthod am 3. Jul. um in Genf
zn übernachten. Hier fand ich einen Gefährten
an Herrn F***. aus London. Wir miethe-
ten einen Wagen bis Sallenche und traten
am folgenden Morgen unsre Reise an. Wir ka-
men durch Chesne, dem Grenzdorf e der Re-
publik Genf; und nun wurden bei jedem Schrit-
te die Ansichten größer , mannich faltiger und
anziehender. Die Formen der Berge verwan-
delten sich, wie durch einen Schlag der Zau-
berruthe ; so dafs ich anfänglich weder den Mole
noch den Saleve wiedererkannte. Die egyp-
tische Pyramide, deren prachtvolle Abendbeleuch-
tung uns so oft von der Terrasse von Genthod
entzückte, wird zum. weit hingedehnten durch
mehrere Thäler unterbrochenen Bergrücken ; und
die Felsenmauer,. welche sich, wie eine unüber-
steigliche Schutzwehr, hinter Genf erhebt, ver-»
schmälert sich zum kolossalischen Denksteine ei-
nes -nordischen Heldengrabes. Hinter dem Dorf«
Kontamine läuft der Weg auf dem hohen
Ufer der Arve, an steilen Felsenreihen, durch
«ine Landschaft hin, wo Anmut h und Erhaben-;
*9
. heit so magisch abwechseln , dafs , bei jeder
Biegung des Weges, sich eine neue Schöpfung
zu entfalten scheint. Ueber Bonneville,
dem Hauptorte von Faucigny, wo wir an«
hielten , erhebt sich , senkrecht abgeschnitten
gleich dem Saleve, der hohe Kalkberg Bre*
zon> an dessen Fuße die Arve vorbeiströmt.
Etwa eine Stunde hinter Klüse kommt man
bei der Grotte von Balme vorbei, deren Ein*
gang wir hoch am steilen Felsen erblickten. Herr
von Saussüre war der erste Naturforscher
der diese merkwürdige Höhle untersuchte, die
von den hiesigen Landleuten für ein Werk der
Feen gehalten wird. . Einer grauen Sage nach
liegt ein unermefslicher Schatz darin verborgen,
worüber ein schwarzes, immer waches Unge-
tiiüm, das nur durch Reliquien und geweiht*
Kerzen eingeschläfert werden kann, zum Wach*
ter bestellt ist. Das Hinaufklettern zu dieser
Höhle schien mir, nach allem was der Augen«
schein lehrte , wenigstens eben so gefahrvoll und
beschwerlich zu sejm, als Tourneforts Nie«
derfahrt in die Grotte von Antiparos-; und
c
20
da wir üb er dem nickt früh genug von Genf .
abgereist waren und Sallenche noch errei-
chen mufsten, so thaten wir um so williger auf
dies Abentheuer Verzicht.
Nicht weit vom Dorf Magiah überraschte
uns plötzlich der Wasserfall von Arpenaz, den
wir noch weit entfernt glaubten. Er setzt mehr
durch seine außerordentliche Höhe, als durch
seine Fülle in Erstaunen. Es ist keine donnernde
Wassersäule, deren gewaltiger Sturz Felsen höhlt,
sondern ein leichtes Silberband, das in sanften
Wallungen an: der grauen Steinwand flattert und
sich unten in tausend zarte Faden auflöst. Ich
verweilte lange bei (diesem schönen Schauspiele,
das, meine Seele in einen Zustand versetzte, wo
Zukunft und Vergangenheit sich allmählich wie
in Nebel verloren j und nur die Gegenwart mich
freundlich umfieng.
Wir kamen gegen Sonnenuntergang in S a 1-
1 e n c h e an ., wo der Montblanc, der auf der
ganzen Reise von andern Bergen bedeckt wird,
sich uns auf einmal in der Glorie des Abend-
lichts darstellte. Die Atmosphäre, war dunst-
ZT
frei und wolkenlos; wir genossen daher dieses
Anblicks in seiner höchsten Schönheit. Was wir
bei Nion vom Montblanc erblicken, scheint
mir jetzt kaum die Hälfte der ungeheuren Masse
auszumachen,, deren Scheitel bei Sallenche
in den Regionen der Sterne zu glänzen und kaum
noch unserer Erdkugel anzugehören scheint.
Hier gedachte ich des Mannes, der zuerst die-
sen höchsten Gipfel der alten Welt, in dessen
feinerm Luftkreise, so weit unsere Jahrbücher
reichen, vor ihm noch kein Sterblicher athmete,
nur von zwey Gefährteu begleitet, mit seltner
Kühnheit erstieg. Es ist so schön, in der mo-
ralischen wie in der physischen Welt, auf einer
Stelle, wohin man nur mit Noth und Mühe gelangt,
zuerst gestanden zu haben. Sollte selbst , wie
hier der Fall zu seyn scheint , für die Gesell-
schaft kein unmittelbarer Vortheil daraus ent-
springen; so erschüttert doch ein solches Bei-
spiel von Kühnheit, Beharrlichkeit und Selbst-
* vertrauen, mit elektrischer Gewalt, jede dafür
empfängliche Seele; bringt manche große That
zur Vollendung und stärkt den Glauben an
Menschenvermögen, sobald Kraft und Wille in
richtigem Verhältnisse gegen einander stehen.
Wir machten noch einen Besuch bei Herrn
Bakler d'Albe, einem französischen Land«
schaftsmahler, der sich hier niedergelassen hat
und von Zeit zu Zeit die umliegende Gegend
bereist, um d^Tnierkwurdigsten Alpenansichten
aufzunehmen. Er nähert sich der gefälligen und
leichten Manier des Herrn Brandoin in Ve-
vay, und wir sahen verschiedene Stücke bei
ihm, unter andern den Eingang der Höhle von
Balme, die für die Zukunft keinen gemeinen
Künstler versprechen. Ich kaufte hier das
Bildnifs des Doktors Bakkard, welches die
schickliche Unterschrift aus dem Klaudian führt :
Scandit inaccessos brumali sidere monttiZ
Wir mietheten Maulthiere für uns und un-
sre Führer , und reisten am 5 Jul. mit anbre-
chendem Tage weiter. Die Nacht hatten wir,
theils wegen der schlechten Betten , theils we-
gen der unglaublichen Menge von Mäusen, völ%?
lig schlaflos zugebracht.
In der wilden und schrecklich erhabenen Ge-
23
gend, durch welche wir nun eine Zeit lang hin-
gezogen waren , rührte uns der Anblick eines
kleinen spiegelklaren , von den schönsten Bäu-
men überschatteten Sees, dem, auf der einen
Seite, ein mit Epheu und Moos bekleideter Fel-
sen und auf der andern eine frisch blühende
Wiese zur Einfassung diente, tojebhaft, daß
uns diese liebliche Erscheinung nicht anders- vor-
kam, als eine, von Geisterhänden, gleich der
santa casa , durch die Luft geführte und in
diese Wildnifs eingesenkte Landschaft aus Ely-
sium. Die Wirkung, welche dies reitzende Email*
le - Gemähide in einer Gegend hervorbringt, wo
alles den Charakter des Furchtbaren, Feierlichen;
Unermefslichen und Grausenvollen trägt , ist un-
beschreiblich. Wir wurden, wie von unsichtbarer
Macht, an die lichthelle Fluth hingezogen und ruh-
ten im Schatten der Bäume, die sich im eigentlich-
sten Verstände darin malten ; denn kein Lüft-
chen bewegte die Oberfläche des Wassers. Um
4§I0 stärker wurde bald nachher unsre Seele beim
Anblicke der wilden Arve erschüttert, die sich
hier mit fürchterlicher Wuth über ungeheure
. Granitblöcke herabwälzt.
Der Gegenstand, welcher unsre Aufmerksam-
keit, auf dem Wege von hier nach dem Dorfe
Servoz, am meisten beschäftigte, war ein ho-
her Felsen, der, gleich einer vertikal gestellten,
sehr breiten Schieferplatte , emporragte. Das
ist der Rest eines Berges, der vor etwa vierzig
Jahren einstürtt*. Der Staub der sich unauf-
hörlich gegen einander zermalmenden Felsen-
stucke stieg in so dicken Wolken empor, dafs
die Luft weit umher davon verfinstert wurde. EinU
ge Tage dauerte diese Scene des Schreckens, Die
Einwohner der umliegenden Gegend flohen ;
und da einige auch Flammen , im schwarzen
Rauch, wofür sie diesen Staub hielten, erblickt
haben wollten, so drang das Gerücht von der
Entstehung eines Vulkans in Kurzem bis nach
Turin. Nur erst durch den Naturforscher
Donati, den der König zur Untersuchung
des Phänomens an Ort und Stelle sandte, wurde
man von dieser Furcht befreit. Dumpf bräu-
send wälzt sich durch die Ruinen dieses Ber-^
ges ein schwarzes Waldwasser.
Nicht weit vom Dorfe Servoz, wo wir Mit-
*5-
tag gehalten hatten, zeigte uns unser Führer
die Reste des Schlosses St. Michel, von wel-
chem er mit sehr feierlichem Ernst, einige Wun-
dergeschichten erzählte , die der Bearbeitung
eines Hamiltons oder Mus aus nicht un-
werth gewesen waren. Er empfand es sehr
übel , daß Herr F * *. • ihre Wahrheit zu ber
zweifeln schien und brach plötzlich den Faden
seiner Erzählung ab. x Vergebens baten wir ihn
wieder fortzufahren; er blieb mürrisch und ein«»
silbig , bis eine Flasche Wein das gute Verneh-
men zwischen uns wieder herstellte.
Der Eintritt in das Thal von Chamo uny
war für mich der Eintritt in eine Zauberwelt.
Ewig wird der prächtige Gletscher von Tako-
nay, den wir zuerst erblickten, meiner Ein-
bildungskraft vorschweben. Als wir uns dem
Gletscher von Buisson näherten, begegnete
uns ein Bauer , der sich erbot uns hinaufzu-
führen. Wir liefsen daher unsre Maultbiere
bei einem an der Strafse liegenden Bauern-
hause., stiegen zwischen Lerchenbäumen und
Tannen empor, pflückten am Rande des ewi-
/
>
z6
gen Eises das schöne BJiododendron , und be-
traten hierauf den Gletscher selbst, der vom
Montblanc sich herabsenkt und mit grünli-
chen, völlig durchsichtigen Pyramiden besetzt ist.
Nicht ohne Gefahr übersprangen wir einen Spalt
von unabsehbarer Tiefe und giengen bis zum
entgegengesetzten Ufer des Gletschers , wo ein
bequemerer Pfad als der erste, uns wieder berg-
unter führte. Es war schon ziemlich spät, als
wir in Prieure, dem Hauptorte des Thals,
ankamen.
Die Reise nach dem Montanvert wurde
auf den folgenden Morgen festgesetzt. Grofs
war unser Schrecken, als wir beim Erwachen,
anstatt der hohen Granitobelisken , welche sich
hinter den Gletschern erheben, nur graue Wol-
ken erblickten, die tief über das Thal hinzo-
gen. Bald raubte uns der herabstürzende Re-
gen den letzten Rest von Hoffnung den Mont-
anvert zu sehen, weil mein Gefährte, drin-
gender Geschäfte wegen, seine Abwesenheit von
Genf auch nicht um einen einzigen Tag ver-
längern konnte.
% 7
Ungeachtet des Regens giengen wir indessen
doch nach dem Ursprünge des Arveiron.
Wie von der Hand eines Architekten regelmäs-
sig gewölbt , erhebt sich eine Grotte von kla-
rem , smaragdgrünem Eise , deren Eingang mir
wenigstens 50« Fufs Höhe zu haben schien. Aus
dieser stürzt sich mit unbeschreiblicher Wuth
der Arveiron hervor.
Wir besuchten den Doktor Pakkard, der
uns seine Reise nach dem Montblanc sehr be-
scheiden und einfach erzählte. Er scheint wei-
ter gar keinen Werth auf dies kühne Unterneh-
men zu legen , und behauptete , daß jeder an-
dre mit gleichen physischen Kräften, eben so gut
als er den Gipfel dieses Berges hätte ersteigen
können. /Jetzt arbeitet er an einem Werke über
die Gletscher , welches die Resultate seiner
vieljährigen Untersuchung über die Entstehung
derselben enthalten wird. Von einem Manne ,
der am Fufse der Gletscher lebt und sie in je«
der Jahrszeit beobachten kann , läßt sich mit
Recht etwas befriedigendes über diesen wichti-
gen Gegenstand erwarten. Ich erhielt von ihm
•
*8
ein Stuck grünen Schörl, das er vom Mont«
blanc mitgebracht Latte, zum Andenken.
Die Einwohner von Chamouny haben sehr
viel Eigentümlichkeit in Sitten und Charakter.
Die Männer beschäftigen sich ausschliefsend mit
der Gemsenjagd, dem Aufsuchen der Krystalle
und dem Herumführen der Fremden ; alle übri-
gen Arbeiten der Hauswirt bschaft und des Land-
baues fallen den Weibern an heim. Seitdem dies
Thal so stark von Reisenden besucht wird, ha-
ben die Einwohner von Prieure eine Art von
feinem Ton anzunehmen gesucht , der gegen
ihre natürliche Rustizität sehr drollig absticht.
Sie überhäufen die Fremden mit Höflichkeiten
und Schmeicheleien, und man ist erstaunt, aus
dem Munde dieser rauhen Bergbewohner oft
sehr feine und gewählte Ausdrücke zu hören.
Es ist nun etwa ein halbes Jahrhundert, dafs
der Berühmte Pokock das Thal von Cha-
mouny zuerst besuchte. Da waren die Ein-
wohner zwar wild und rauh wie die sie umrin-
genden Berge ; aber Sittenreinheit und Bieder-
treue wohnten in ihren unbekannten Hütten.
2 9
Traurig ! daß auch zu diesem harmlosen Volke
Gold und Laster den Weg fanden.
Der Regen liefs gegen Mittag nach. Wir
bestiegen unsre Maulthiere wieder und nahmen
unsern Weg nach der Tete noite, einem
Berge über welchen eine Strafse nach Wallis
führt. Wenn man das Thal von Chamoürtjr
verläßt, kommt man, nach Uebersteignng * ei-
nes Berges^ in eine der schauervollsten Einö-
den , wo nur nackte Felsen furchtbar gen Him-
mel starren und herabgestürzte Granitblocke
weit umher verstreut liegen. Man horte nichts,
«ls das dumpfe Tosen ferner Waldströme und
das Kreischen der Adler, die hoch über uns
die grauen Felszacken umschwebten.
Mitten in dieser Wildnifs , wo wir nichts we-
niger als menschliche Wesen anzutreffen vermu-
theten > sahen wir, in einer von der Hand der
Natur gewölbten Nische , drei weibliche Ge-
stalten um ein Feuer herumgelagert. Sie tru-
gen Mützen und Mantel von Schaafpelz > welche
ihnen ein äußerst groteskes Ansehen gaben ;
auch unterließ Herr F * *. beim Anblick
V»,»
3«
i
j
Dritter Brief.
Rolle, 17. Mäy. 1789.
vv enn es deine Geschäfte irgend gestatten, lie-
bet Bonstetten, so komm doch morgen her-
über, den Genufi einer neuen Bekanntschaft
mit mir zu theilen > die ich gestern in der Abend*
ges ellschaft bey Madame R o g u i n machte. Ein
kleiner, etwas starker Mann von feurigem Blick
und blühender Gesichtsfarbe , stand am Fenster
und blätterte in einem Bache. Mein Nachbar >
bei dem ich mich nach dem Namen dieses Frem-
den erkundigte , gab mir zur Antwort : Dafs er
aus England sey> und Chan dl er heifse;
.Vielleicht der ncmliche C h an dl e f der die Reise
durch Griechenland und Klein-Asien ge-
than hat ? fragte ich Weiter ; hierüber konnte mir
aber niemand Auskunft geben. Ich wandte mich
daher an ihn selbst und erfuhr zu meiner Freude,
dafs er mit dem Herausgeber der parischen
Marmorchronik , der griechischen Sieinschrif-
ten
33
fr
ten und der jonischen Alterthümer , nur Itfne
Person ausmache. Es schien ihm nicht unan-
genehm zu seyn, jemand anzutreffen, der in
ihm auch den Gelehrten und berühmten Reisen-
den kannte t worauf er im P a y s deVaud, wo
die Reverdils und Levaden seltene Er«
scheinungen sind, nicht hau/ig rechnen darf. Ein
Beckfort erlangte dadurch, dafs er sein Gold
mit vollen Händen auswarf, in diesem Lande
einen Namen, der viele Jahre an den Thee-
nnd Spieltischen der Seestädte fortleben wird ;
den berühmten Gibbon hört man hingegen nur
selten nennen , und wenn es geschieht, so weif*
man gewöhnlich nichts anders von ihm zu er-
zählen , als dafip er das Französische besser aus-
spreche wie die meisten seiner 'Landsleute, und
den Damen Artigkeiten sage.
c •
Wir machten den Weg von Rolle nach'
A t h e n in wenigen Augenblicken ; und ungeach-
tet der Menge meiner Fragen, ermüdete C h a n d-
lers Gefälligkeit doch nicht, sie alle umständ-
lich zu beantworten. Du weifst, wie oft es
mein Wunsch war, einmal einen Manschen zu
G
34
finden , der jenen heiligen Boden betreten hätte.
Um mir eine recht anschauliche Idee von der
Lage und dem Umfange von Athen zu geben,
führte er mich ans Seeufer und deutete mir
dort alle Distanzen , nach nahen und fernen
Häusern , Bäumen und Anhöhen an. Ein Baum
auf einer etwas entfernten Höhe war die Akro-
polis und eine in den See laufende Landspitze
derPiräus. Er bezeichnete mir auch die Ent-
fernung, in welcher Sa 1 am in sich ungefähr
von hier zeigen würde, und schilderte mit vie-
ler Lebhaftigkeit die Aussicht vom Hymettus,
die er für eine der reitzendsten und mannichfal-
tigsten der Welt erklärt. Welch ein Unterschied
zwischen dieser Darstellung nach der Natur ,
und jener Darstellung nach Kopien , welche
Paw in seinen Untersuchungen über die Grie-
chen von eben dieser Aussicht geliefert hat !
Der Tempel der Cybele beySardes, war
nach Ghandlers Meinung eines der ersten
Meisterstücke der Baukunst , und hätte eben so
der Kanon der Architekten zu heifsen verdient,
wie Polykjiets berühmte Statue der Kanon der
35
Bildhauer genannt wurde. Chishull sah
noch das vollständige Portal dieses Tempels ,
das jonischer Ordnung war und acht Säulen an
der Vorderseite hatte. Nur fünfe derselben, d*-
ren Kapitaler von unbeschreiblicher Schönheit
waren, fand Chan dl er noch aufrecht.
Ich begleitete ihn nachher in seine Wohnung,
um Villoisons Ausgabe des venetianischea
Codex der Ilias zu sehen. Er hatte die Güte
mir dies Werk auf einige Tage zu leihen und
machte mich besonders auf eine Stelle in den
Prolegomenen aufmerksam, wo Villoison der
Tzakoner, welche er die rlelvetier Griechen-
lands nennt > Erwähnung thut. , Sie sind Ab-
kömmlinge der alten Spartaner und woh-
nen zwischen Näuplia und Epidaurus, auf
wilden und steilen Gebirgen in drei Ortschaf-
ten vert heilt, welche bisher allen Geographen
und Reisebeschreibern unbekannt geblieben wa-
ren. Sie sind gutmiithig, bieder, arbeitsam,
gastfrei, muthvoll, robust, und bringen, ohne
Krankheiten und Aerzte , ihr Leben oft bis auf
hundert Jahre. Merkwürdig ist es , dafs sich in
36
ihren Gebirgen noch viele dorische Wortfor-
men erhalten haben, die selbst den übrigen
JNeugriechen unerhört vorkommen. So sagen
aie zum Beispiel , xaicoc für koch?) , duigct für
9M€£oe, iof>v£ 9 ßgovroi, oqyii.
Wir kamen bei dieser Gelegenheit auch auf
Popem Homer; und ungeachtet der partei-
ischen Vorliebe der meisten englischen Gelehr-
ten für alles was auf ihrem Grund und Boden
gewachsen ist > gab Chandler doch zu, dafs
Pope sich gröblich an diesem Barden versün-
digt und ihm seine ganze Homerheit ausge-
sogen habe. Robert Woods Versuch hält
auch er für das treflichste , was jemals über den
Homer gedacht und geschrieben worden ist.
Auch von Seiten des moralischen Charakters
jchildert er W o o d als einen der vorzüglichsten
.Menschen. Er hatte ein sehr leises Gefühl für.
das Schöne, und umfafste das Große und Gute
mit daurender Wärme. Die Gesellschaft . der
Dilettant!, auf deren Kosten die Reise nach Grie-
chenland unternommen wurde , zählte auch
iWpod unter ihre Mitglieder; und er war es,
3*
der die Instruktion für Herrn Chan dl er und
seine zwey Reisegefährten Revett und Pars
entwarf, auch die jonischen Alterthümer mit ei-
ner Vorrede begleitete.
Was mich mehr als alles übrige für Chand-
ler einnimmt , ist seine Anspruchlosigkeit und
sein offenes und naturliches Wesen.
Von allen merkwürdigen Gegenständen sei-
ner Reise , mochte ich , nach dem Parthenon,
keinen lieber gesehn haben , als die prächtigen
Ruinen des Apollotempels bey Ura unweit Mi-
letus» deren Beschreibung einen äufsem leb-
haften Eindruck auf mich machte. Gegen Abend
breitete sich eine Ziegenheerde mit lautenden
Schellen über die majestätischen Trümmer aus
und kletterte zwischen den Marmormassen und
ungeheuren Säulen umher. Das Ganze ward
von der sinkenden Sonne mit den reichsten Tin-
ten beleuchtet, und in der Ferne glänzte das
ruhige Meer.
Ich habe Herrn Chandler schon vorläu-'
fig nach Nion eingeladen , weil ich wünschte
dafs auch* Herr Reverdi) seine Bekanntschaft
machte.
58
Vierter Brief.
St. Cergue, ai. Aug. 1789.
Der Regen kerkert mich hier ein. Gluckli-
cherweise war gestern der Himmel unbewölkt
und die Ferne heiter. Du hast Recht ! es ist
kaum möglich , sich etwas prachtvolleres in der
Natur zu denken , als die Centralkette der AI*
pen, deren höchste Gipfel alle nur Satelliten
ihres Königs , des Montblancs , zu seyn
scheinen, der in ihrer Mitte sich erhebt, und
dann , am Fufse dieses Amphitheaters 9 den un-
geheuren Halbmond des Lern ans, den man
von Genf bis zum Einflüsse des Rhodans,
sammt allen seinen Uferstädten und Buchten >
mit Einem Blicke übersieht. Die Aussicht vom
' Rigi mag vielleicht reicherund mannichf altiger
seyn ; aber das Auge schweift dort unstät in
einem Labyrinthe von Seen und isolirten Berg-
gipfeln umher , ohne einen Ruhepunkt zu fin-
den: Hier hingegen erschienen alle einzelne
59
Theile in harmonischer Vereinigung zu Einem
großen Ganzen.
Ich habe eine ziemliche Menge von Alpen-
pflanzen zusammengebracht , unter denen ei-
nige von so hoher Schönheit sind , dafs sie ei-
ner poetischen Beschreibung eben so würdig
wären , als die Gentiana lutea und das
'Antirrhinum alpinum in Hallers Alpenge-
dichte. Wie sehr würde manches malerische
Gedicht durch ähnliche Schilderungen an Lokal-
interesse und Originalität nicht gewonnen ha-
ben ! Freilich sind unsre Dichter beinahe ge-
zwungen, sich nur auf Veilchen, Rosen, Nel-
ken, Jasmin und Lilien einzuschränken, weil
oft die lieblichste Blume einen so barbari-
schen und unedlen Namen führt , dafs ihre
Nennung den guten Geschmack beleidigen wütj
de ; so wie sich denn überhaupt nicht leicht
etwas platteres und geschmackloseres denken
laust , als die meisten deutschen Blumenna-
men. Es wäre daher ein wahrer Gewinn für
die Dichtkunst, wenn man schicklichere und
edlere in Umlauf zu bringen suchte. .Viel«
könnte man aus dem Linnäischen Systeme
entlehnen , andere aus der französischen Flora
des Ritters von Lamark oder aus dem Eng*
tischen übersetzen, und noch andere selbst er*
finden. Wie sich Teufelsabbisse , Stiefmutter ;
Gauchheile , Hahnenfüße , Hunger - und Gän-
seblumen in Kl eist's Frühling wohl ausneh-
men würden? Nur erst nach einer solchen Na-
menreform dürften wir vielleicht auf ein di-
daktisches Gedicht über die Botanik rechnen ,
worin ein guter Kopf Gelegenheit hätte , alle
.Talente , womit die Natur ihn ausstattete , zu
üben und glänzen zu lassen: Denn welcher
Stoff könnte wohl anziehender , mannichfalti-
ger, neuer und wahrhaft poetischer seyn, als
die Haushaltung der Pflanzen nach dem Sexual-
systeme? Da würden sich dem Dichter die lieb-
lichsten Mythen zu ovidischen Verwandlungen)
die erhabensten Naturansichten zu thomsoni»
sehen Gemälden und die gefälligsten Scenen
der Hirtenwelt zu theokritischen Idyllen , in
1-eitzender Abwechslung , darbieten. Wie stark
der Anblick einer Lieblingsblurae die Seelft
rubre, >und wie lebhaft insonderheit auf die
Einbildungskraft wirke , das wissen alle dieje-
nigen, bei denen die Pflanzenkunde zur Lei-
denschaft wurde. Daher geht zuweilen , wie
Linnäus bei der Beschreibung der Andro-
meda polifolia in der Flora von Lappland, so*
gar der ruhigprüfende Forscher in den Ton des
begeisterten Dichters über.
Ich fand hier Hallers Gedichte, und las
mit neuem Vergnügen die Alpen wieder. Du
weifst, dafs ich einer der wärmsten Verehrer
dieses Gedichts bin , und doch kann ich den
Wunsch nicht unterdrücken : Ein Mann von
entschiedenem Dichterberufe möchte sich noch
einmal an diesen großen Gegenstand wagen,
weil , nach meiner Ueberzeugung , bei weitem
der gröfste Theil der Alpenwelt für die Poesie
tooch terra incognita ist. Ein solches Werk
wäre keinesweges eine Dias nach dem Ho-
mer. Aber der Mann, welcher diesen küh-
nen Flug beginnen wollte , müßte , mit Hal-
lers poetischem Genie und naturhistorischen
Kenntnissen , auch Klopstocks Sprach gewalt
und Lessings kritisches Gefühl verbinden*
4*
Fünfter Brief.
Lausanne, n. Okt. 1789*
Die Vorstellung des nahen Abschiedes von dir,
mein Bonstetten, verläßt mich keinen Au-
genblick mehr. Ich werde deinen Verlust dopr
pelt fühlen, in jenem fremden Lande , wo man
vielleicht' mein Herz noch weniger verstehen
wird , als meine Sprache. Nur durch Arbeit
hoffe ich den Schmerz der Trennung zu mil-
dern; denn Arbeit ist das einzige untrügliche
Mittel, nach einem unersetzlichen Verluste wie-
der ruhig und zufrieden zu werden. Ich will
alle in mir liegende Kräfte aufbieten , um etwas
hervorzubringen, das die Dunkelheit zerstreue,
die meinen Namen umgiebt. Vielleicht strebe
ich nicht vergebens. Wo ist der Mensch von
.einigem Gefühl , in dessen Seele der Wunsch
nicht wenigstens einmal recht lebhaft geworden
Wäre, noch bei der Nachwelt fortzuleben, oder
doch wenigstens nicht, mit dem letzten Schau-
felwurfe auf den Sarg , von den Zurückbleiben-
r
4s
den vergessen zu werden ? Jener Romer liefs
sich an der Landstraße begraben, und auf sei-
len Denkstein setzen: „Man hat den Lollius
9> bieher gelegt, damit die Vorübergehenden ihm
„zurufen: Lollius lebe wohl!"
Ich war gestern bei Gibbon. Sein Aeufse-
res hat viel Auffallendes. Er ist grofs und von
starkem Gliederbau ; dabei etwas unbehülflich in
seinen Bewegungen. Sein Gesicht ist eine der
sonderbarsten physiog nomischen Erscheinungen,
Wegen des unrichtigen Verhältnisses der einzel-
nen Theile zum Ganzen. Die Augen sind so
klein, dafs sie mit der hohen und prächtig ge-
wölbten Stirn den härtesten Contrast machen;
die etwas stumpfe Nase verschwindet fast zwi-
schen den stark hervorspringenden Backen , und
die weit herabhangende Unterkehle macht das,
an sich schon sehr längliche Oval des Gesichts
noch frappanter. Ungeachtet dieser Unregel-
mäßigkeiten hat Gibbons Physiognomie einen
suis erordentlichen Ausdruck von Würde, und
kündigt, beim ersten Blicke, den tiefen und
scharfsinnigen Denker an. Nichts geht über das
geistvolle Feuer seiner Augen«
44
Gibbon hat ganz den Tön und die Manie«
ren eines abgeschliffenen Weltmannes; ist kalt-
liöilich ; spricht das Französische mit Eleganz"
und hat , ( ein wahres Phänomen bei einem Eng-
länder) fast die Aussprache eines Parisergelehr-r
ten. Er hört sich mit Wohlgefallen und rede(
langsam, weil er eine jede Phrase sorgfähig zu
prüfen scheint, ehe er sie ausspricht. Mit im-
mer gleicher Miene unterhält er sich von ange-
nehmen und unangenehmen Dingen, von frohen
und tragischen Begebenheiten, und sein Gesicht
verzog sic*h , so lange wir beisammen waren ,
ungeachtet er veranlafst wurde, eine sehr drollige
Geschichte zu erzählen, nicht ein einzigesmal zum
Lächeln. In seinem Hause herrscht die strengste
Pünktlichkeit und Ordnung. Seine Leute müfsen
ihre Geschäfte beinahe zur bestimmten Alinute
verrichten , oder sie laufen Gefahr verabschie-
det zu werden. Er giebt ihnen aber auch selbst
das Beispiel. Sein Tag ist eingetheilt ) wie der
Tag des angelsächsischen Königs Alfred. Mit
dem Glockenschlage geht er an die Arbeit, zu
Tische und in Gesellschaft , und bleibt in kei:
45
ner von ihm abhängenden Lebenslage eine Mi«
nute langer , als die festgesetzte Tagsordnung
es gestattet. Ein Friseur wurde verabschiedet
weil er einige Minuten nach 7 Uhr kam. Sein '
Nachfolger stellte sich, um mehrerer Sicherheit
willen, etwas früher ein und hatte gleiches Schick«
sali Nur der dritte > der mit dem Glockenschlage
in die Hausthür trat, wurde beibehalten.
Gibbon arbeitet gegenwärtig am Katalogu
seiner Bibliothek , die sehr reich an kostbaren
Werken, besonders aber an trefiiehen Ausgaben
der Klassiker ist, und überhaupt für' eine der
vorzuglichsten Privatbibliotheken gehalten wird>
die je ein Gelehrter zusammenbrachte. Das er*
Jte Werk , womit er als Schriftsteller auftrat ,
schrieb er j noch sehr jung, in französischer Spra-
che. Er sagte mir, es sey so selten geworden,
dafs man diese wenigen Bogen kürzlich in einer
Auktion bis auf zwey Guineen heraufgetrieben
habe. In den Ruinen des Kapitols faTste er zuerst
den Gedanken, die Geschichte des Verfalls un4
des Umsturzes der römischen Monarchie zu schrei«
*
ben; und er hat mit männlicher Beharrlichkeit
46
eine der mühvöllsten Laufbahnen zurückgelegt;
die jemals ein Schriftsteller betrat.
Unser Gespräch gierig bald von der altengli-
schen Literatur, worin er eine vorzügliche Stärke
besitzt, zur deutschen über. Gibbon, ei-
ner der gröTsten Literatoren unsrer Zeit, dem
nichts entgangen ist, was England, Frank-
reich, Italien und Spanien, fast in jedem
fache des menschlichen Wissens , vorzügliches
aufzuweisen haben, verriethvon der Geschichte
unsrer Sprache und Literatur nur sehr einge-
schränkte Kenntnisse. Von den deutschen Nach-
bildungen alter Sylbenmafse hatte er nie etwas
gebort. Bei dieser Gelegenheit führte er Al-
garottis Abhandlung über den Reim an , wo-
rin , mit gänzlicher Uebergehung der Deut-
schen, nur die verunglückten rjexameterver-
suche der Engländer, Franzosen und Ita-
liäner aufgezählt Werden. Dies veranlagte
mich zu einem kurzen Abrifs der Geschichte
der deutschen Sprache und ihrer schnellen Aus-
bildung , den ich mit der Nachriebt von einer
detitschen Odyssee schloß, wo der Uebersetzer
41
nicht nur das Metrum und die Verszabl dfes Ori-
ginals , sondern in vielen Hexathetern sogar die
Sylbenfüfse desselben wiedergegeben habe. Mein
Gedächtnifs war tnir getreu genug, um die bey-
den berühmten Verse vom Steinwälzen des Si«
s y p h u.s , aus dem eilften Gesänge der Odyssee,
griechisch und deutsch hersagen zu können^
Aaa pxfoi^oyra ntKw^toy a/u^oTg^rf/y l
Einen schweren Marmor mit grofser Gewalt fort-
gebend.
Avrts trtttra, fri&ov&t kv\lv$vto Xococs avixiöljy
Hurtig mit Donnergepolter entrollte der tückische
Marmor.
Trotz seiner Unkunde der deutschen Spra-
che, mußte er doch, durch das blofse Gehör,
vom Meisterbau dieser beiden Hexameter über-
zeugt werden. Ich bin nicht im Stande, sein
Erstaunen, nach mehrmaliger Anhörung dersel-
ben, zu schildern. Er bekam plötzlich eine so
hohe Meinung von der Ausbildung unsffer Spra-
che, und den Riesenschritten unsrer Literatur,
wie er sich ausdrückte, dafs er den Entschluß
fafste, bey mehrerer Mufse, sogleich deutsch
zu lernen. Ich hoffe, Du werdest, bei erster
48
Gelegenheit, diesen merkwürdigen Mann per«
sönlich kennen zu lernen suchen. Bei ihm sieht
man die ausgewählteste Gesellschaft und die in*
r
teressantesten durchreisenden Fremden. Ich um*
arme dich mit ganzer Seele,
Sechster
As
• Sechster Brief.
Lyoh, 10. Nov. 1789.
Shettstöne hat Recht: HeU quanto minus
est cum reliquis versari, quam tui meminisse.
Ich : fand hier die freundlichste Aufnahme, und
lebe in einer der liebenswürdigsten Familien;
aber. Du fehlst mir überall; mein Bonstettenf
Sonst habe ich alle Ursache mit meiner Lage
zufrieden zu seyn , denn ich . werde . von den
Menschen, die mich . zunächst umgeben, ganz-
wie ein alter Bekannter behandelt. Sie verei-
nigen seltne Geistesbildung mit der reinsten mo-
ralischen Güte, so dafs ich sie in wenig Tagen
lieben, und hochschätzen gelernt habe«. Noch
wohnen wir auf der Paisible, einem schönen
Landhause am Ufer, der S a o n e , das wir,' Gott-
lob! erst in einigen Wochen mit der Stadt ver-
tauschen werden«
Meine Reise von Genf nach Lyon habe
ich ohne die geringste Unannehmlichkeit zurück-
gelegt» Im Fort de l'Eklüse wurde ich zum
(6°
Kommendanten geführt , einem eisgrauen Lud-
wigsritter, den ich beim Essen antra'f. ' Er un-
tersuchte meine Papiere mit vieler Sorgfalt, und
sagte beym Abschiede : Sie reisen in ein Land,
das bald das glücklichste des ganzen Erdbodens
«eyn wird ! So ernsthaft er diese Worte auch
aussprach, so war doch der Ton der Ironie da-
rin unverkennbar.
Ich war dem Verschwinden der Rhö-
»ne (la perte du RJione) .zu nahe, um nicht
der Einladung einiger Bauerknaben , die sich
.mit großem Geschrei zu Führern antrugen, Ge-
hör zugeben. Sie nannten diese Na türm $rk Wür-
digkeit la perdüion du Eltone. Wir stiegen
einen schmalen Fußpfad hinab, und gelangten
bald an den Ort, wo sich der Flufs mit furch«
terlichem Brausen in einen Felsenschlund hin-
abstürzt, und, in einiger Entfernimg, von ei-
nem unterirdischen Kanäle verschlungen wird.
Die Weite dieses unsichtbaren Laufes mag hoch»
istexks hundert Schritte betragen. Es fehlte mir
ajt Zeit, den Ort seiner Wiedererscheinung zu
/besuchen, dessen Zugang man- mk über dem *U
sehr beschwerlich schilderte.
^\
5*
Fast bei uUen Dörfern, wo wir durchkamen ^
übten die Bauern sich in den Waffen und er-
hoben ein lautes Jauchzen, wenn wir Urnen zu*
sahen. In N an tu a sprach ich im Wirthshause
mit einem alten Soldaten, der den siebenjährig
gen Krieg mitgemacht hatte. Er war ein war-
mer Verehrer vom grolsen Friedrich, und
behauptete unter andern: Daß nur ein solcher
König im Stande gewesen wäre, Frankreich,
Ohne Revolution; zum glücklichsten und mäch«
tigsten Reiche der Welt zu machen. Jetzt aber;
sey die Revolution ihre einzige Hoffnung, und
wenn die nicht gelinge, woran er jedoch nicht
zweifle, so sey alles verloren. v
Dem See vonNantua habe ich > trotz Mer-*
ciers Lobrede, keinen Geschmack abgewinnen
können. Die ihn umringenden Felsen sind so
nackt und einförmig, daß mir die Ufer des Lafc
de Joux paradiesisch dagegen vorkommen*
Das einzige was mich einigermaßen mit dieser
öden Gegend aussöhnte war eine schöne sehr
reiche Kaskade bei einer Mühle, unter welcher
sich: die Landstraße vorbeizieht. ' Ihr Anblick
-52
erinnerte mich sehr lebhaft an die Kaskade hei
St. Saphorin, mit welcher sie allenfalls eijie
Vergleichung aushält. Das Thal von terdon
hingegen hat mich entzuckt. Dsr Weg läuft ter-
rassenmälsig an einem völlig senkrechten Kalk-
. felsen hin, auf dessen Gipfel eine Kirche, dicht
am Rande des Abgrunds, aus Bäumen hervor«*
ragt. \ Zur Linken grünt tief unter der Straße
ein Thal , durch welches ein Bach schäumt ;
weiterhin erheben sich .zwei ansehnliche , . mit
alten Schlössern gekrönte Berggipfel; * Was aber
das 'meiste Leben, in diese reitzende Landschaft
bringt * ist ein Wasserfall, der an Höhe den
eben angeführten weit übertrifft, und sich von
einem schwärzlichen Felsen, aus dichtem Ge-
, b fisch, ins Thal herabstürzt.
Nie wird die Zeit den Eindruck des ersten
. Anblicks von Lyon aus meiner Seele, vertilgen*
Man kann sich nichts prachtvolleres vorstellen,
als die Lage dieser Stadt. Die palastähnlichen
■ Häuser des Kay von St. Clair wurden eben
von der Morgensonne erleuchtet, und ein durch-
sichtiger Duft lag auf der Höhe von Four vi er es.
53 '
- Die ersten Tage 'meines Hierseyns giengen
damit hin , daß Herr S. * * dessen freundschaft-
liche Gefälligkeit täglich zunimmt, mich mit
der umliegenden Gegend und den Merkwür-
digkeiten der Stadt bekannt machte. Im Gan-
zen sind die Ueberbleibsel aus den Römerzei-
ten , in und um Lyon noch ziemlich beträcht«
lieh. • Vorgestern' fuhren wir nach dem Dorfe
Chapauneaux ungefähr eine Meile von der
Stadt, wo noch ßo. Arkaden einer Wasserlei-
tung stehen,. Am folgenden Tage besahen wir
die unbedeutenden Reste eines römischen The-
aters , im Garten des Minoritenklosters , einen
Wohlerhaltenen musivischen Fufsboden von gros-
ser Schönheit , ein Taurobolium welches auf
dem Rathhause aufbewahrt wird, und andre Al-
terthümer mit deren Aufzählung ich dich nicht
ermüden will Wir stiegen dann zur Kirche"
Notre Dame des Fourvieres hinauf, wo ein
wunderthätiges Marienbild ist, von dessen zahl-
reichen Kuren die Votivgemälde zeugen , wo-
mit die Wände der Vorhalle wie mit einer Ta-
pete bekleidet sind. Der darauf vorgestellten
54
Figuren durfte sich der Hofmaler des Kaisers
von China nicht schämen ; Callot's Karri-
katuren sind Grazien und Antinousse dagegen.
Diese Kirche krönt die amphitheatralische An->
höhe , auf deren Abhänge ein grofser Theil
von Lyqn erbaut ist. Von hier übersieht man
die ganze ungeheure Stadt mit einem Blicke,
und verfolgt den Lauf der Rhone und Saone,
bis zur Landspitze, wo s}ch beide Flüsse ver-
einigen.
Ich besuchte auch das StaatsgefängniTs Pie-
re-Encise, wo sich jezt nur wenige Gefangene
befinden. Es ist besonders durch seine Lage
auf einem steilen Felsen merkwürdig. Man
steigt auf einer schmalen Treppe hinan , aus«
ser welcher kein andrer Zugang möglich scheint.
Es giebt hier einige Kerker, die wie aus Ei-
nem Stücke gehauen sind, und aus welchen
selbst der erfinderische 1 a T ü d e sich schwer-
lich je wieder an das leicht hervorgearbeitet
hatte. Auf dem innern Hofe sah ich einen*
Greis von ehrwürdigem Ansehen, mit langsa-
men, doch festen Schritten spatzieren gehen >
55
dessen ungewotmUche- Gröfse mir; auffiel« Er
war sauber, aber altmodisch gekleidet. Mehl
.Führer ermunterte mich ihn anzureden , weil er
die Unterhaltung liebe. Ich knüpfte daher ein
Gespräch mit ihm an , das ich , vom schonen
Sonnenschein und der sonderbaren Lage des
ßchlosses, bald auf seine Gefangenschaft leitete.
„ Es sind nunmehr sechzig Jahre „ , sagte er
mit starker Stimme, „dafs ich nichts sehe, als
„ diese Mauern , und fünf und achtzig daß ich
,auf der Welt bin. Vor zwanzig Jahren er*
„ hielt ich meine Freiheit wieder ; aber es war
„zu spät, und ich blieb hier oben, wo es mir
„ nun wohl ist. Weifs ich doch nicht , ob es
„mir unten eben so wohl seyn würde,,. Nac(i
der Ursache seiner Gefangennehmung forschte
ich vergeblich. Nur so viel brachte ich heraus,
dafs er von vornehmer Herkunft sei, und noch
jiie eine Frage über den Grund seiner Einkerr
kerung beantwortet habe.
Auf dem Rückwege besah ich noch da$
Schloß Du eher e, welches dicht vor der Stadt
auf einer angenehmen Anhöhe liegt, una* wo
56
Heinrich IV, einige Tage mit der schönen
Gabriele zubrachte.
Nicht weit von der Paisible ist ein Plätz-
eben, das von der Natur ganz eigentlich zu ein-
samen Betrachtungen bestimmt zu seyn scheint«
Drei mit Moos und Immergrün bekleidete Fel-
senwände , bilden eine Art von Grotte , die
von Bäumen und Gesträuch überschattet wird
und in deren Mitte ein Quell hervorsprudelt.
Durch eine Gebüsch Öffnung erblickt man einen
Theil der Stadt , und die reich angebauten, mit
unzähligen Landhäusern bedeckten Ufer der
Saone. Hier pflegte Rousseau die ni eisten
einsamen Stunden seines Aufenthalts in Lyon
zuzubringen. Ihm zu Ehren wird dieser Ort
seitdem Rousseaus Grotte genannt und
von den Freunden seines Genius als eine hei-
lige Stätte betrachtet. Sie glauben , noch an
einem Baumstamme Spuren eines von ihm ein-
geschnittenen Namens zu entdecken und auf den
Steinbanken stehn die Inschriften zu seinem
Lobe so dicht in einander gedrangt , dafs kaum
noch ein anakreontischer Vers anzubringen wäre.
N
57.
N ach allem was ich höre, ist der Enthu-
siasmus für Rousseau, seit einiger Zeit, in:
Frankreich so hoch gestiegen , dafs man,
glaube ich , kein Bedenken tragen würde, die-
heilige O elf Lasche von Rheims, ungeach tet ih-
res hohen Ranges unter den Natiionalheiligthü?
rqern, für die Federn hinzugeben , mit weichen-
der Contra t social geschrieben wurde. Ein
Stückchen Handschrift von Rousseau wird oft
so theuer bezahlt, dafs es schon mehr als eine
industriose Hand versucht haben soll, seine
Schriftzüge nachzubilden. Falls dies den guten
Leuten auf der Petersinsel zu Ohren kommt,
Werden sie es gewifs bereuen , in Rousseau«
zurückgelassenen Papieren Biskuit gebacken zu;
haben.
Ich war gestern im Schauspiel, wo man »
Zem i r e und A z o r aufführte. Madame d- Her«
boville, welche die Z e m i r e spielte, ist , we- -
gen ihrer reinen und richtigen Stimme , mit
Recht der Liebling des Publikums. Von Seiten,
ihrer mimischen Talente verdient sie weit we-j*
niger Lob. Ihr Spiel ist frostig und nicht sei«-
SS
ten unnatürlich« Herr St. Au bin wurde als
Azor so häufig und anhaltend beklatscht, dafs
er einigem ale , in den langen Pausen , mit sei-
ner Pantomime in Verlegenheit gerieth. Ein
junger Schauspieler, der in einer Nebenrolle
zum erstenmale auf dem Theater erschien,
wurde ausgepfiffen , weil er nur eine einzige
Stelle nicht richtig deklamirte. Es ist unglaub«
lieh , welchen Fleifs ein französischer Schauspie-
ler auf Deklamation und Aussprache wenden
xnufs, um nur nicht zu mifs fallen. Für einen
schlechten Deklamator ist auch in der klein-,
sten Provinzialstadt keine Gnade zu hoffen.
Was Wieland von den alten Joniern sagt,,
pafst ganz auf die heutigen Franzosen: Ihr..
Ohr will nicht ergötzt, es will bezaubert,
seyn. In Deutschland habe ich oft Schau-
spielern den lautesten Beifall zujauchzen gehört,;
die beinahe keine Silbe ' richtig deklamirten ,
sondern nur, unter wüthendem Geschrei und
gräfslichen Kontorsionen, ihre Geberde ver-.
stellten. Auf einem gewissen Theater , trafen
sogar einmal der schwäbische, baierische.
und -österreichische Dialekt in ihrer gan-
zen Lauterkeit zusammen > und doch erhielt da$
Stuck ( eines von jenen dramatischen Unge-*
heuern, wo der Held im ersten Akte auf dem
Steckenpferde reitet und im leuten seine Enkel
segnet und stirbt ) nicht nur den lautesten und
allgemeinsten Beifall, sondern wurde auch mit
grofsem Ungestüme zum zweitenmal wieder,
verlangt. Der Eingang des Lyon er Schau-,
spielhauses erhielt , auf Voltaires Vorschlag, >
an den man sich deshalb wandte, nur das Wort:«
Thedtre zur Ueberschrift. „Schreibt Thea-
ter über die Thür eures Schauspielhauses „ ,
sagte er dem Abgeordneten, „so weifs man am.
, ? geschwindesten was es seyn soll „.
Mein täglicher Spatziergang geht gewöhnlich:
bis zur Barben -Insel, längs dem Ufer der*
Saone, Dieser Flufs ist so ruhig und sanft ,
dafs man seine Strömung kaum gewahr wird«
Er ist beständig mit kleinen Kähnen bedeckt,
welche man Besehen (Bdsc/ies) nennt und
auf deren Führung die Weiber ein abschlies-
sendes Recht zu haben scheinen; wenigstens*
6o
sieht man nur sehr selten Mannspersonen in die-
sen Fahrzeugan rudern. Die Einwohner von
Lyon bedienen sich gewöhnlich der Besehen,
um sich nach ihren an der Saone gelegenen
Landhäusern zu begeben. Man kann sehr be-
quem darin lesen' und schreiben , und ist durch
ein Dach von Leinwand gegen Regen und Son-
nenhitze geschirmt. Die Ufer der Saone sind
so lachend und so reich an schönen Landhäu-
sern und Gärten , wie Du mir einmal die Ufer
der Brenta schildertest.
Der Paisible gegenüber steht am Gegen-
ufer ein runder , sehr schlanker Thurm , der
seit undenklichen Zeiteu TourdelabelleAl-
lemande genannt wird. Ich forschte verge-
bens nach dem Ursprünge dieses Namens , der
mir Deutschen, in einem Lande , wo man, im
Allgemeinen, von meiner Nation nur ein klein
wenig mehr weifs , als von den Einwohnern
vpn Japan, Siam und Kochinchina, al-
lerdings auffallen mufsten Die Barben- Insel,
welche, dem Dorfe Sr. Rambert gegenüber,
mitten in der Saone, liegt, hat eine angej
6i
nehme Promenade unter hoben Ulmen und ei-
. _ ansehnliche Gebäude. Eine alte
Burg, die hinter Baumwipfeln anfragt, giebt
ihr von fern ein äuTserst malerisches Ansehen*
Brandoin hat sie von zwei Seiten aufgenom-
men. Es ist ein alter Volksgebrauch in Lyoü>
am Tage nach Pfingsten in Besehen nach die-
ser Insel zu fahren. Dies Fest , welches die
Vögüe heißt, lockt beinahe die ganze Stadt
auf die beiden Ufer heraus > um die zahllose
Menge von Fahrzeugen zu sehen, Welche den
Flufs beinahe verbergen.
Das Licht geht zu Ende , und es ist schein
sehr spät. Da der Brief morgen früh auf die
Post muß» , werde ich nichts weiter hinzufügen
können. Ich erwarte die nächsten Zeilen von
dir mit heißer Sehnsucht. . Lebe wohl.
ft
Siebenter Bkief.
Lyon , 28. Febr: 1790.
Nun liegt nur noch ein Monat zwischen dir und
mir, mein Bonstetten! Unsere Abreisenach
der Sehweite ist auf einender ersten Apriltage
festgesetzt. Mit welcher Wonne werdeich den
See und den Wald von Prang ins wieder er-
blicken ! Wenigstens acht Tage hoffe ich bey
dir zuzubringen.
' Hier erhältst du ein Gedicht, worin ich die
Sceneri meiner Kindheit zu . schildern versucht
habe. Ich erbitte mir dein strenges und nn-
freundschaftlicbes Urtheil darüber. Mir kommt
es vor ,- als müfse das Ganze durch seine Länge
ermüden. Brich also nur den Stab über jede
Stanze die Du weg wünschest. Du weilst ja,
dafs Pope die Kunst auszustreichen, für eine
der größten und lobenswürdigsten Künste des
Dichters erklärt; Swift, um einen jungen
Dichter recht lebhaft von ihrer Vortreiüchkeit
63
zu überzeugen > sandte ihm das Manuskript ,
worüber er ein kritisches Gutachten begehrt
hatte, statt aller Beurth eilung , von der ersten
bis zur lezten Zeile durchstrichen, und zwar so
sorgfaltig durchstrichen zurück , dafs kein Buch-
stabe mehr vom andern zu unterscheiden war«
Ueber die gegenwärtige politische Lage uns-
rer Stadt werde ich dir schwerlich etwas sagen;
können • das dir Herr B. nicht schon erzähle
hätte. Ich erinnere mich, seit sehler Abreise,
keiner Veränderung , die der Mittheilung werth
wäre. Sie ist immer noch der Sammelplatz der
Unzufriednen im Lande • und völlig wie ein iso-
lirtes Rad in der Revolutionsmachine zu betrach-
ten* Es ist auch wenig Wahrscheinlichkeit vor«
handen, dals es jemals eingreifen werde. Ly-
on kann, als Manufaktur-und Fabrikstadt, un-
möglich eine Staatsveränderung begünstigen ,
die dem fernem Vertriebe der Produkte des
Luxus so gefährlich zu werden scheint ; und es
ist daher die allgemeine Erwartung , dafs alle
Kräfte , die, bis jezt noch im ganzen Königrei-
che vertheilt, den Ausbruch einer Gegenrevo«
64
lution vorbereiten , tfulezt sich hier , zuiri Um-
stürze des neuen Systems, vereinigen werden.
Die Liebe zum Könige hat sich beym größten
Theile der hiesigen Einwohner noch in ihrer
ganzen Stärke und Lebhaftigkeit erhalten , und
aufs er t sich in den Kaffehäusern und im Schau-
spiele ohne den mindesten Rückhalt» Im Sin-
gestücke Richard Löwenberz erhielt neu-
lich f bey Gelegenheit der Arie : O Richard >
o mon Roil Vunivers t' abandonne , die a'p-
plaudirende Parthey , beyna^ie in der ersten
Sekunde, über die pfeifende die Oberhand.
"Wir benutzten den ersten schönen Tag , zu
einer kleinen Reise nach dem Mont-Cindre,
einem nicht ganz unbeträchtlichen Berge , von
dessen Gipfel man die Gegend um Lyon sehr
weit beherrscht. Wir giengen.in die Klause £i-
nes Eremiten, der da oben, weit entfernt von
der Lebensweise eines thebaischen Anachore-
ten, vielmehr darauf bedacht. ist, in den umf-
liegenden Dörfern immer gute Bekanntschaf-
ten , zum Besten seines Wemlagers zu kulti-*-
yiren; sonst aber ein roher und unwissender
Mensch
6 5
Mensch zu seyn scheint. Bin Bauer in St,
Cyr, der ihm nicht günstig war , gieng so weit,
ihn des Lesens und Schreibens für völlig unkun-
dig zu erklären; wenigstens fanden wir in sei-
ner Zelle nichts ,. was auch nur ganz entfernt
auf literarische Unterhaltung hingedeutet hätte.
Er fragte mit vieler Aengstlichkeit, ob wir noch
nicht vernommen hätten, was die Natiönalvef*
Sammlung über seine Klause beschlfefsen werde,
oder vielleicht gar schon beschlossen habe; er
schwebe in täglicher Furcht , daraus vertrieben^
und dadurch in das sündhafte Weltleben zu-
rückgeworfen zu werden.
Ich habe nun auch , seit meinem Aufenthalte
in der Stadt, häufige Gelegenheit gehabt, meine
*
bisher ganz falschen Ideen über den Gesell-
schaftston der F r a n z o fre n zu berichtigen. Ei-
nen höhern Grad von Feinheit und Politur,
hat gewifs noch keine Wation seit den ./Cthenien-
sern erreicht. Vor einiger Zeit war ich zum;
Abendessen beim Herrn von St. Leger wo die
Gesellschaft aus zwei hiesigen Domherren oder
Graferf von Lyon , einem Marqute,' einem
E
66
Seeoffizier und verschiedenen andern Herren
vom guten Tone bestand. Ich folgte dem Gan-
ge der Unterhaltung mit grofser Aufmerksam-
keit , und fand durchgängig, dafs keiner dieser
Herren, unaufgefordert, sich selbst zum Hel-
den seiner Erzählung machte, welches bei Leu-
ten ohneMenschenkenntnifs und feine Erziehung
gewöhnlich der Fall ist ( / the littlc hero of euch
tale ) sondern , so oft als möglich , die Persön-
lichkeit desjenigen darin verwebte, zu dem er
sprach. Auf die Ausübung dieser ersten Regel
des Weltlebens wird überhaupt wohl in keinem
Lande mehr gesehen alsinFrankreich; und
derjenige Reisende , der bei der Unterhaltung
mit einer Dame das Hauptinteresse des Ge-
sprächs nicht allein auf sie zu fixiren sucht,
sondern vielmehr auf seine Angelegenheiten,
Verbindungen , Amüsements und Reisege-
schichte* lenkt , darf sicher darauf rechnen,
als ein Mensch ohne Erziehung ( ours mal
lechS ) höchst langweilig erfunden zu werden,
und wären seine Schicksale wunderbarer als
Klimm s und Gullivers Abenteuer zusam-
mengenommen.
67.
Im Umgänge mit dem andern Geschlechte,
herrscht eine bis zum skrupulösen getriebene
Decenz. Einem Frauenzimmer beim Bewillkom-
mungs - oder Abschiedskomplimente die Hand zu
küssen , wurde hier für eine eben so große
Verletzung der Anständigkeit gebalten werden ,
als in Deutschland, unter denselben Um«
ständen , ein Kuß auf den Mund. Wer im
Feuer des Gesprächs sich so weit vergäße,
seine Hand vertraulich auf den Arm einer Dame
zu legen , mit der er in keinem andern , als
dem gewöhnlichen Assemblee - oder Soireever-
•
hältnisse stände, wurde sich als ein Homme
familier > ( welche Benennung zu den erniedri-
genden gehört) dem Verdachte aussetzen, sich
in einer Schule gebildet zu haben , die man in
keiner honetten Gesellschaft nennen darf. Wo-
von diese übergewissenhafte Scheinvermeidung
das Resultat sei > weiß jeder Welt - und Men-
schenbeobachter.
Ein junger Kiinstgott hat seit kurzem , mit
Hülfe des Zaubers den die Grazien in seine-
Füße legten, einen magUchen Kreis um das
68
ganze Lyon er - Publikum hergezogen > in
•welchem er eine so unumschränkte Alleinherr-
schaft ausübt , dafs das Wort Nationalver-
sammlung höchstens nur noch in den Win-
kein unberuhmter KafFehäuser oder in den
Werkstätten der Handwerker ausgesprochen
wird; ich meine den Tänzer Vestris, der seil
acht Tagen die Bewunderung der Stadt und der
ausschließende Gegenstand aller Unterhaltun-
gen geworden ist. Der Zu drang ist so grofs ,
dafs , man r schon um zwei Uhr im Komödien-
hause seyn mufs, um einen Platz zu bekommen.
•
Ich war da als er das letztemal, tanzte und kann
mir den Enthusiasmus des Publikums nun eini-
germaßen erklären : Es ist beinahe unmöglich ,
nicht von der Anmuth> Leichtigkeit und Har-
monie seiner Bewegungen zur Bewunderung
hingerissen zu werden. Man sieht keinen St erb«
liehen mehr, sondern einen, aus Aetherstoff
gewebten, für höhere Regionen bestimmten Syl-
phen. Er schien drtsmal sich selbst übertreffen
zu Wollen. Kaum hatte er . geendigt , als von
allen Seiten Kränze und. Gedichte auf das Thea-
ter geworfen wurden,. und, nach dem wüthend-.
sten Händeklatschen, aus dem Parterre die Auf-
forderung an ihn ergieng: Lyon noch nicht
zu verlassen , sondern wo möglich noch einmal
auf der Bühne zu erscheinen. Er trat hierauf
selbst hervor und dankte mit edlem Anstände,
für den unverdienten Beifall des all er verehr-,
ungswürdigsten und allergeschmackv ollsten Pub-
likums ; wurde aber in die gröfste Verzweifn
lung versetzt , die schmeichelhaften Wünsche
desselben nicht befriedigen zu können , weil der
Hof ihm die Verlängerung seines Urlaubs ver-
weigert habe.
Yestris hat einen überaus feinen und
schlanken Wuchs und etwas einnehmendes v\
seiner, übrigens nicht schonen Gesichtsbildung.
Seine Einfachheit, und Bescheidenheit im Um-
gange, kontrastfrt auffallend mit dem eiteln und
hochtrabenden Wesen seines Vaters, der , bei
Gelegenheit vo,n Voltaires letztem Aufenthalte
in Paris , in einer Gesellschaft sagte : Nur drei
grofse Männer leben jetzt in der Welt : Ves tris,
Voltaire, und der König von Preufsen;
7°
auch seinem Sohne > als dieser noch Knabe war,
zuweilen den Fuß , mit den Worten zum Küs-
sen hinreichte : Küsse diesen unsterblichen Fuß,
der Himmel und Erde bezaubert.
Vor einiger Zeit sähe ich Glucks Iphige*
nia in Aulis aufFühren. Der Totaleindruck
dieses erhabenen Meisterwerks ist unbeschreib-
lich , und ich erinnere mich, aufser Handels
Messias, keine Musik gehört zu haben, die
mich tiefer durchdrungen hatte.
Was Tbeaterkabale vermag, wenn sie geho*
rig geleitet wird , davon giebt es wohl kein
frappanteres Beispiel , als die Art , wie man
diese Iphigenia die jetzt alles entzückt und
hinreifst, bei ihrer ersten Vorteilung in Paris
aufnahm ; sie fiel , gleich dem Machwerke des
untersten der Midasenkel. Ah ! Iphiginie est
tomböel sagte Gluck voll Verzweiflung zu ei«*
nem Freunde. Ouidu Ciell antwortete dieser;
und ein wahreres Wort wurde nie ausgesprochen.
7*
Achter Bris f.
Nion, a. Aprill. 1790.
* »
Ich schreibe dir aus dem grünen Kabinete, wo
ich seit gestern wieder im Anschaun des Sees
und des Montblancs lebe. Warum fand ich
nicht auch den geliebtesten und vertrautesten
meiner Freunde ? Nach deinem letzten Briefe
glaubte ich dich schon vor zwei Tagen von
Bern zurück und erhalte nun die Nachricht
dafs Du, neuer Geschäfte wegen , erst den Tag
nach Ostern hier seyn kannst. Deine Ankunft
erwarte ich gewifs ; aber schwerlich werden wir -
dann länger als zwei Tage beisammen leben,
weil die Zeit meines Bleibens in Nion sehr
beschränkt ist. Ich werde bis dahin Spatzier«
gange nach Gent ho d und Rolle machen,
und alle Plätze besuchen, welche cje Freund-
schaft geheiligt hat.
Gestern Abends war ich noch auf Promen-
t o u , wo ich mir in völligem Ernst meine
7*
Grabstätte gewählt habe , falls ich in dieser
Gegend sterben sollte. Du liefspst dann nur
einen einfachen Sandstein mit meinem Namen
hinlegen und einige Pappeln umherpflanzen ,
ut die an t preetereuntes: Vale. Der Abend
war schön und das Gegenufer prächtig von der
untergehenden Sonne beleuchtet. Der Anblick
von Tbonon und Ripaille erinnerte mich
lebhaft an unsere Seefahrt nach Evian, wo wir
iu der Kapuzinerkirche Horazens brundusi-
che Reise lasen , und der Prinz von P. der eben
am Fenster stand , als unsre Barke vom Ufer
stiefs, drohend den Finger gegen dich erhob, als
Du es wagtest dein Fernglas gegen ihn zu rieht
ten ; welchen Frevel Du bald nachher , durch
den Verlust dieses lieben Andenkens von dei-
nem Gray zu theuer büfsen mufstest. Nie
werde ich des großen Anblicks der Felsen von
Meillerie vergessen, unter welchen wir im
Mondlichle vorbeifuhren und wo wir den schö-
nen Plan entwarfen , eine Zeit lang in Ti-
voli oder auf der Insel Nisida ganz den Wis-
senschaften zu leben.
75
Ich brachte einen Theil dej heutigen Vor-
mittages beim Grafen Gor ani hin , von dessen
Umgange mich sein düsteres und menschen-
feindliches Wesen bisher entfernt hielt , und
den auch Du , wie ich glaube, immer nur im
Vorbeigehen sähest. Ich bin sehr zufrieden mit
dieser neuen Bekanntschaft , die ungeachtet ih-
rer Kurze, besonders wegen mancher scharfsin-
nigen Erläuterung über verschiedene Kunst«
werke des Allerthums , äußerst lehrreich für
mich gewesen ist. Gor ani scheint sich auf sei-
nen vielen Reisen eine grofse Summe nützlicher
Kenntnisse erworben , und, besonders über Ge-
setzgebung und Regierungs formen , viel nach-
gedacht und gelesen zuhaben. Ueber Italien
hat er mancherlei, besonders iu politischer Hin-
sicht gesammelt , welches aber schwerlich vor
seinem Tode ins Publikum kommen wird. Seine
Urtüeile über Kunst und Kunstwerke zeugen
von anhaltendem Studium und reifem Geschma-
cke. Dafs er, als Italiäner, Sulzers und
Winkelmanns grofsen Verdiensten volle Ge-
rechtigkeit wiederfabren läfst, setzt einen, das
74
Wahre und Schone überall anerkennenden und
von kleinlichen Nationalvorurtheilen ungefes*
selten Geist voraus. Er lernte die deutsche
Sprache in Magdeburg, wo er sich zur Zeit
des siebenjährigen Krieges , als österreichischer
Kriegsgefangener aufhielt 9 und hat unsere be-
sten Dichter und Prosaisten gelesen. Ich for-
derte ihn auf, eine Beschreibung seiner marok-
kanischen Reise bekannt zu machen , welche ge-
■wifs viel neues und berichtigendes enthalten
wurde. In Mailand war der Graf Alexan-
der Veri, von dessen ausgezeichneten Talen-
ten er mit vieler Wärme sprach , sein vertrau-
tester Freund , und von dort aus schrieb er
auch einige Briefe an Bonnet, der ihn in der
Charakteristik seiner Korrespondenten sehr vor-
theilhaft schildert. In Goranis Urtheilen und
Aeulsernngen über die Menschen im allgemei-
nen, herrscht eine Bitterkeit und Strenge, die
seine gänzliche Zurückgezogenheit von mensch-
lichem Umgange begreiflich macht«
Herr S * * * war beinahe untröstlich , dich
Sucht anzutreffen. Er setzte heute morgens seine
TS
Reise weiter fort, und kann in diesem Augen-
blicke nicht mehr fern von Vevej seyn. Er
rechnet sicher auf deinen längst verheißenen
Besuch. Karl und Eduard haben mir viele
Grüfse an dich aufgetragen. Lebe wohl ! ich
zähle die Minuten bis zur Stunde des Wie»
dersehens.
*6
jV
Neunter Brie*.
Grandclos , 29. Jun. 1790,
•Jetzt zur Erzählung meiner Bergreise. Wir
stiegen im Dorfe Y vorne, unweit Aigle ,
zu Pferde. Der »Weg war anfänglich schön >
und wand sich zwischen Fichten ''und Cytisus-
bäumen, deren gelbe Blütentrauben herrlich
gegen das schwärzliche Grün der Nadelhölzer
abstachen. Von Zeit zu Zeit erblickten wir
durch Gebüsch Öffnungen das Rhone- Thal und
die wilden Schneegebirge von Wallis. Zwei
Stunden mochten wir etwa bergan geritten
seyn , als wir einen Ort erreichten , den man
die Ruinen nennt, und dessen natürliche Be-
schaffenheit diesem Namen völlig entspricht.
Der Weg wird beinahe senkrecht , und man
sieht auf beiden Seiten nichts als abgerifsne ,
hoch über einander gethürmte Felsenmassen.
Kaum hatten wir diese Oede zurückgelegt , als
wir uns auf einer Ebne befanden, wo der ganze
. 77
Genfer- See. plötzlich tief unter unsern Fafsen
erschien. Wir verweilten hier einige Stunden in
einer Sennhütte, wo wir bei den Hirten eine
freundliche Aufnahme und vortrefliche Milch
fanden > und setzten hierauf unsern Lauf wei-
ter fort. Gegen Abend erreichten wir unser
Nachtquartier. Dies war eine andere Sennhütte,
am . Fuße zweier majestätischen Felsengipfel >
von welchen der eine völlig die Form einer
gedrückten Kuppel hat und Tour de Mayen-
n e genannt wird. Ich konnte am folgenden
Morgen der Versuchung nicht widerstehen , die-
sen Gipfel zu besteigen , dessen Zugänge mir
von den Hirten als leicht und gefahrlos beschrie-
ben wurden, und wo ich mir überdem eine herr-
liche Aussicht auf die. Savoyischen Alpen
und eine reiche Pflanzenerndte versprach. Ich
steckte den Linn aus, eine kleine Korbflasche
mit Wein . und ein Stück Brod zu mir , und trat
meine Wanderung an. Glücklich erreichte ich
das Ziel meiner Reise. Die Aussicht übertraf
r ■
meine Erwartungen/ und mein botanischer Ei-
fer blieb auch nicht unbelohnt. Anstatt nun
78
auf dem nemlichen , sehr bequemen Wege wie-
der zurückzukehren , gab mir ein Dämon ein ,
die mir völlig unbekannte Ostseite des Berges
zu umgeben , und auf einem andern Pfade wie-
der zur Sennhütte hinabzusteigen. Gewifs hätte
ich dies Vorhaben aufgegeben', wenn ich da-
mals schon gewufst hätte , dafs die Reihe von
Felsenzacken , über weiche ich mir eine Bahn
zu eröffnen gedachte , auf der westlichen Seite,
senkrecht abgeschnitten , einen fürchterlichen
Abgrund bildeten. Nach einem halbstündigen
.Wege, der mich zuerst in ein Thal und dann
wieder bergan führte > befand ich mich vor ei-
ner ziemlich hohen Felsenwand , welche ich j
mit Hülfe der in den Ritaen wachsenden Sträu-
che, ohne grofse Gefahr erkletterte. Nun folgte
eine sanfte Anhöhe , die mit dem Silene acau«
lis , wie mit einem Purpurteppich , überdeckt
war, und wo ich eine Zeitlang ruhte, weil ich
anfing mich ermüdet zu fühlen. Es war grade
Mittalg. Nach einer erquickenden Mahlzeit von
Wein und firod, erstieg ich die Anhöhe, und
richtete, weil jede Menschenspur verschwunden
79
war > meinen Lauf nach der Sonne und der
Tour de Mayenne, welche der Sennhütte 9
wo sich meine Reisegesellschaft befand , grade
gegen Osten lag. Unangenehmer bin ich sel-
ten überrascht worden, als durch die Wand»
lung der Scene , die mir jetzo bevorstand.
Kaum hatte ich den Gipfel der Hohe erreicht,
als ic,h eine Wildnils vor mir daliegen sah, wo
nur Schneeflächen sich ausdehnten , die bald
durch Schlünde bald durch Felsenspitzen unter«*
brochen wurden , und wo alles vegetirende Le-
ben , wie an den Grenzen eines Chaos , hin-
zusterben schien. Da ich es kaum mit ganz fri-
schen Kräften gewagt haben würde, durch dies*
schauderhaften Regionen des Winters zu drin-
gen , so war ich jetzt , da ich schon zu ermati
ten anfing, um so mehr darauf bedacht unver-
züglich umzukehren* und den alten Weg wie*
der aufzusuchen. Aber als ich wieder an die
Felsenwand zurückkam, sah ich mit Schaudern
die unüberwindlichen Schwierigkeiten des Her«
unterkletterns, und einen Abgrund der mir be£m
Hinaufsteigen nicht halb so beträchtlich ge-
schienen hatte.
So
Es ist auf Berg* eisen, wie Du aus eigener
Erfahrung weifst , sehr oft der Fall , dafs iriah
von einer Felswand , die man mit Leichtigkeit
erklimmte , nicht w r ieder herabsteigen kann ,
ohne seih Leben der augenscheinlichsten Ge-
fahr auszusetzen. Hier fiel die Unmöglichkeit
in die Augen. Um nicht in den Abgrund ztf
stürzen , hätte ich die hervorspringenden Steine
und Strauche , die mir emporhalfen , g<nän*
wieder treffen müfseh ; und dies war ol.ne Au-
gen in den Fufssohleri nicht möglich.
Zur Rechten und Linken versagten mir
fürchterliche Klüfte jeden Ausgang ; es blieb
folglich Rein anderes Rettun^smittel für niicli
übrig , als die Schnee wüste ; sie allein mufste
jetzt mein Schicksal entscheiden. Zum zweJ-
tenmale erstieg ich also die Anhöhe mit dem Pur-
purteppich y und betrat die daran grenzende
Winteröde , wo der lockere Schnee das Geheri
äußerst beschwerlich machte. "Die Mühselig-
keiten , mit denen ich von dort an zu käm-
pfen hafte , kann ich nicht mit Wörter* schil-
dern; aber sie waren so grofs, dafs ich, bei
einer
8t
.
einer weniger starken Natur, nothwendig darunter
hätte erliegen müfsen. Oft war ich gezwungen,
in tiefe, halb mit Schnee angefüllte Abgründe
hinunterzusteigen , um mit unsäglicher Muhe
auf der Gegenseite Wieder heraufzuklimmen ;
und dann hatte ich nach langer , ununterbroche-
ner Anstrengung manchmal kaum fünf bis sechs
Schritte für meinen Rückweg gewonnen. Die
Schienbeine waren mir zuletzt, durch wieder-
holtes Fallen zwischen den spitzigen Steintrüm-
mern , geschunden und die Hände wund von
häufigem Anklammern. Bald vermochte ich vor
Ermüdung keinen Schritt mehr vorwärts zu thun fc
Es war halb vier Uhr,
Bis dahin hatte mich die Hoffnung, einen
Ausgang zu finden, noch nicht verlassen; jetzt
aber, 'da meine Kräfte mit jedem Athemzuge
schwächer wurden, und vor mir die Wüste sich
immer. noch eben so weit verbreitete, als da
ich sie zuerst betrat, fing ich an, den Tod als
den einzigen Befreier aus diesem Labyrinthe zu
betrachten. Ich trank den kleinen Rest Wein,
den ich noch sorgfältig geschont hatte , und afs
F
8»
das einzige Stock Brod , welches mir übrig war ;
eben so fest überzeugt meine letzte Mahlzeit gehal-
ten zu haben, wie die edlen Spartaner bei Ther-
mopylä. Fast im nemlichen Momente, da ich
mich auf den Felsen niederlegte, der mir zum
Tische gedient hatte, sank ich in' einen liefen
Schlummer.
Nun hing das Leben deines Freundes nur
noch an einem zarten Faden. Die Fortdauer
meines Schlafes bis nach Sonnenuntergang, war
bei einer solchen Entkräftung, mehr als wahr-
scheinlich ; und in diesem Falle wäre ich unfehl-
bar ein Opfer der Nachtfröste geworden , die
einen kleinen See dieser Höhen, bei dem ich
vorbeigekommen war, in jetziger Jahrszeit, noch
dick übereisten. Auf eine menschliche Hand ,
mich der Erstarrung zu entreißen, durfte ich
hier eben so wenig rechnen , als in den Wild-
nissen einer unbewohnten Insel. Ich werde da-
her das EreigmTs , dem ich meine Rettung danke,
immer als eines der aufs erordentlichsten mei-
nes Lebens ansehen. Dem ungefähren Vorbei-
flüge eines Raubvogels ( der vermuthlich daher-
83
um sein Nest hatte) war es vorbehalten, mich
dir und der menschlichen Gesellschaft wieder»
zugeben. Mit lautem Geschrei streifte er so
dicht an mir hin , dafs ich > trotz meines Todten-
schlummers, davon erwachte. Seiner Stimme
nach , die ich noch hörte als er schon weit ent-
fernt war, hielt ich ihn für einen Adler; und
dies ward mir nachher durch die Versicherung
eines Gemsenjägers , dafs der Steinadler hau*
ßg in jenen Felseneinoden niste, noch wahr*
scheinlicher. Auch die' grosse Eule, welche
man in Frankreich Grandduc nennt , pflegt
da im Dunkel tiefer Spalten und Höhlungen
zu wohnen ; doch war diese schwerlich meine
Retterin, weil es äufserst selten ist, dafs sie
vor Sonnenuntergang ausfliegt. Der traumähn-
liche Zustand, in welchem ich mich beim Er-
wachen befand, machte mich zu Jeder genauen
Beobachtung unfähig ; und als ich wieder zu
mir selbst gekommen war, schwebte der Vo-*
gel, dessen Stimme mich ins Leben zurückge-
rufen hatte , schon in einer Entfernung , die.
mich seine Gestalt nicht mehr deutlich erken-
84
nen liefs. Es war 6. Uhr , als ich erwachte.
Neugestärkt durch den Schlaf , besclilofs ich
nun, die Entdeckung eines Ausgangs von neuem
zu versuchen, Nachdem ich mich etwa noch
eine Stunde lang , mit unbeschreiblicher Mühe,
durch Schnee und Klüfte fortgearbeitet hatte,
befand ich mich an dem Bette eines Wald-
stroms , das noch wasserleer und an einigen
Stellen mit Schnee angefüllt war. Dieser An-
blick erhob meinen immer tiefer sinkenden
Muth auf einmal wieder so mächtig, dafs ich
mit der freudigsten Zuversicht die Bahn betrat,
welche das Wasser aus dieser Wildnifs in die
Ebne leitete , und auch mich hinabfuhren
konnte.
Nur sehr langsam wand ich mich , zwischen
aufgethürmten Felsenblöcken, die bald sanfter,
bald schroffer , sich neigenden Krümmungen
des Strombettes hinunter. Nun hörte ich das
Lauten der Heerdenglocken und den Gesang
der Hirten wieder. Eine süfsere Musik drang
nie in mein Ohr, als diese rauhen Töne , mit
denen der letzte Zweifel an meiner Rückkehr
tS:»
zu den Lebendigen aus meiner Seele ver-
schwand, Der hinter einem Fichtenwalde auf-
steigende Rauch leitete jetzt meine Schritte, und
gegen &. Uhr kam ich bei einer Sennhütte an ,
die zwei Stunden von jener entfernt lag , wo
ich übernachtet hatte. Die Hirten glaubten
eine Todtenerscheinung zu erblicken, so sehr
waren alle Ziige meines blassen Gesichts ent-
stellt. Vierzehn Stunden hatte ich auf dieser
gefahrlichen Wanderung zugebracht, und wah^
rend dieser ganzen Zeit nichts genossen, als
ein wenig Brod und Wein. Die Hirten schlös-
sen einen Kreis um mich her, und bewiesen
mir eine Sorgfalt , die in meiner damaligen
hülfsbedürftigeu Lage mich doppelt rührte.
Als ich ihnen den Weg bezeichnete , auf wel-
chem ich zu ihnen herabgekommen war , ge-
riethen sie in das lebhafteste Erstaunen, und
versicherten dafs die Gegend da oben, wegen
ihrer gefahrlichen Abgründe , weit berüchtigt
sei, und gewöhnlich erst im August, wiewohl
nur selten , von den Geinscnjngern besucht
werde.
86
Dies, mein Bonstetten, ist die getreue
und schmucklqse Parstelltmg meiner letzten.
Alpenreise.
■•■p
87
Zehnter Brief.
Lyon, ao. Febr. 1791.
Nur aus der Schweitz konnten die schönen
Nachrichten deines letzten Briefes kommen {
Wie glucklich seid Ihr im Schoofse Eurer Al-
pen , an welchen jedes Ungewitter sich bricht,
und wo der Friede noch wohnen wird, wenn
ganz Europa in Flammen steht! E$ ist eine be-
glückende Vorstellung , dafs grade der Staat,
für den keine verderblichere Landplage ge-
denkbar ist, als der Krieg, den Frieden nur
ernstlich zu wollen brauche , um ihn auf ewig
zu erhalten ; oder die Bande seiner politischen
Verhältnisse mußten denn, durch die unerhör-
testen Erschütterungen der europäischen Staats-
systeme, gewaltsam zerrissen werden.
Lyon ist jetzt vielleicht die einzige grolse
Stadt in Frankreich, wo man beinahe eben
so ruhig lebt ^ wie in deinem einsamen Valei-
re"s., Noch erhielt sie sich von Greuelscenen
88
rein, und ihr mittelbarer oder unmittelbarer
Antheil an dem Fortgange der Revolution , ist
jetzt noch nicht erheblicher, als im vergange-
nen Jahre. Die Anstalten zur Erhaltung der
öffentlichen Sicherheit sind so vortreflich, dafs
bisher noch alle Versuche der Ruhestörer,
die Stadt zu vulkanisiren (ein neugepräg-
tes Wort ) fruchtlos geblieben sind. Uebri-
gens aber beobachten die Einwohner, um des
Friedens willen, das Kostüme und ganze Ri-
tual der Revolution mit strenger Pünktlichkeit.
Einige tragen neben der Nationalkokarde auch
noch ein dreifarbiges. Band im KnopHoche, und
die Elegants vom ersten Range , um dem
Volke kein Aergerniß zu geben, erhalten es
über sich, in messingenen Schuhschnallen ein-
herzugehen, weil Lyon, nach dem Beispiele
vieler andern Städte, mit den silbernen dem Va-
terlande ein patriotisches Geschenk ma-
chen mufste.
Auch hier ist alles, wie im ganzen Reiche,
de la Nation , und ä la "Nation. Ein Kerl ,
der die Kunst besitzt, ; , Alle nur mögliche
r
89
„Zeuge, von allen nur möglichen Flecken zu
„reinigen,,, hat sich den Titel eines ßttgrais-
seur de la Nation beigelegt. Den Besitzer des
Hauses auf dem Kay von St. Clair, wo die
halberhobenen Brustbilder Heinrichs IV, S ü 1-
lys, Ludwigs XVL und des Grafen von Ar-
tois über dem Eingange angebracht waren-,
nöthigte man., letz terra den Kopf wegzuschla-
gen; und am Hotel de la Reine wurde
die schwarze Tafel über der Haust!) ür an der
Stelle durchgesagt, wo das Wort Reine an-
fing , und dafür Nation mit Rothel auf die
Mauer geschrieben. Heute treibt sich auch ein
Hausierer durch die Strafsen , der mit fürchter-
lichem Gebrüll: Den wahren Balsam ge-
gen die aristokratische Hundswuth
feil bietet, welchen Titel eine der zahllosen
Revolutionsbrochüren führt, die, gleich den
Ephemeren, am Morgen ausflattern , und nach
Sonnenuntergänge wieder verschwinden. Frap-
panter als alles bisher angeführte . ist eine ko-
lossalische Nationalkokarde , welche man der
Statue Ludwigs XIV. au/ dem Platze. Bei-
9°
lekoirr, an den linken Sehenkel gekittet hat.
Dies alles aber scheint nicht den mindesten
Einfluß auf den Gemeingeist der höhern Stände
zu haben. Ueberhaupt hat sich die Stimmung
der Gemuther seit dem letzten Winter auf-
fallend verändert. An die Stelle der leicht ver-
wundenden Ironie , sind brandmarkende Sar-
kasmen getreten; und wen man damals , als
einen Narren und exahirten Kopf, nur ins Toll-
haus verwies , den verdammt man jetzt > als
einen raffinirten Bösewicht , zur tiefsten Kluft
von Gehenna, Besonders ist Mir ab e au einer
der Haupthelden der täglichen Unterhaltung.
Man erzählt Handlungen von ihm , die R i-
chardson , um der Wahrscheinlichkeit zu
schonen, niemals seinen Lovelace wurde ha-
ben begehen lassen. Zur Probe will ich nur
die Geschichte seiner Verheirathung zu Aix,
worin sein Charakter noch lange nicht im nach-
theiligsten Licht erscheint, als eine von denen
herausheben , die man am wenigsten zu be-
zweifeln scheint.
Ein Frauenzimmer von unbescholtenem Hufe
9*
und vornehmer Familie , war mit einem jungen
Manne von Stande vetlobt , den sie zärtlich
liebte. Mirabeau, durch ihren Reich th um
gereitzt , faßte den Anschlag, sie zur Seinigen
zu machen , es koste was es wolle. Durch Be-
stechungen gelang es ihm , ihre Kammerjung-
fer in sein Interesse zu ziehen; und diese ließ
ihn eines Morgens in das Schlafzimmer des
Fräuleins , welche schon aufgestanden war und
im Garten spazieren ging. Mirabeau legte
sich, im Schlafrock und mit zerstörter Frisur,
zum Fenster heraus , und grüfste mit bedeuten-
der Miene einige Herren von seiner Bekannt-
schaft , die gegenüber vor der Thür eines
Kaffeehauses saften. Bald kam er zu ihnen
herunter und erzählte mit triumphirender Selbst-
gefälligkeit , dafs es ihm endlich gelungen sei ,
die Sprödigkeit jener Lukretia zu besiegen , aus
deren Fenster sie ihn eben hätten frische Luft
schöpfen sehen. Die Lästerchronik verbreitete
in wenig Stunden die Geschichte durch die
ganze Stadt. Das Mädchen war vor dem Publi-
kum entehrt ; der Schein gegen sie ; die Kam-
9*
merjungfeiveiiie Nichtswürdige, die sich stellte,
als habe sie viel zu verschweigen, und der
Bräutigam zu entrüstet, um genau zu untersu-
chen. Mirabeau hatte die Stirn, dem Vater
zu sagen: Er mache sich unter der Bedingung
anheischig, seine Tochter zur Grafin Mira-
beau zu erheben, dafs man ihr sämnuliches
Vermögen auf der Stelle in seine Hände lie-
fere ; und hoffe übrigens , die Familie werde
diese Grofsmuth zu erkennen wissen. Der Va-
ter willigte in Alles , und die arme Unschul-
dige wurde das Opfer der abscheulichsten ,
Intrigue.
Diese Geschichte , deren grobe Unwahr-
«cheinlichkeiten sich dir , ohne mein Hinweisen,
von selbst aufdringen werden, habe ich, ohne
die geringste Abänderung, einem Manne nacher-
zählt, der feierlich versicherte, sich zur Zeit
ihres Vorgangs selbst in Aix aufgehalten zuha-
ben. In der zahlreichen Gesellschaft seiner Zu-
hörer war kein einziger, dem es in den Sinn
gekommen wäre, die Wahrheit des Faktums
auch nur eine Sekunde lang zu bezweifeln.
93
Ich versäumte noch immer, dir vom Doktor
Gilibert zu sprechen, einem der geschickte-
sten hiesigen Aerzle und grofsen Pflanzenkun-
digen, der mich bei dem Studium der krypto-
gamischen Gewächse leitete, und dessen ansehn-
liches Herbarium ich wie mein Eigenthum be-
nutzen darf. Er war ehemals Leibarzt des KöV
nigs von Polen und Professor der Naturge-
schichte zu Wilna, wo Georg Forster
sein Nachfolger wurde. Eine Flora von Li-
t hauen, welche er vor einigen Jahren her-
ausgab , machte seinen Namen zuerst bekannt ;
auch erwarb er sich viel Verdienst um die
neueste Ausgabe der für die hiesige Schule der
Yieharzeneikunde bestimmten Einleitung in die
Botanik, durch die berichtigenden und erklä-
renden Zusätze, womit er dies nutzliche Werk
bereicherte , und welche zusammengenommen
beinahe einen ganzen Band ausmachen. Mit
scharfem Beobachtungsgeiste und immer wach-
sendem Eifer für seine Lieblings Wissenschaft,
besuchte er die Alpen der Schweitz, und
drang in einige bisher noch ganz vernachläs-
94
sfgte Thaler der Pyrenäen. Sein Herbarium
besteht ans mehr als dreißig Foliobänden und
ist besonders durch eine Menge sibirischer
und astrakanis eher Pflanzen merkwürdig.,
die er seinem Freunde Pallas verdankt. Durch
seine Humanität und Uneigennützigkeir, hat sich
Gilibert die Achtung des ganzen hiesigen
Publikums erworben ; und in den meisten Fa*
milien , wo er als Arzt gebraucht wird , ist er
auch Freund und Rathgeber. Mit Herrn Vi-
tet, dessen unsterbliche Verdienste um die
Vieharzeneikunde dir bekannt sind , und der ,
nach ihm, für den gröfsten praktischen Arzt
dieser Stadt gehalten wird , lebt er in der voll-
kommensten Harmonie. Gilibert, laTouret-
t e und R o z i e r tragen am meisten dazu bei, dafs
die Akademie der Wissenschaften von Lyon,
deren Mitglieder sie sind, sich durch die Zweck-
mäfsigkeil und Gemeinnützigkeit ihrer Preisfra-
gen , vor vielen andern, so rühmlich aus-
zeichnet.
Meine Liebe zur Kunst des Alterthums, die
ich dem Mannheimer« Antikensaale und dem
95
frühen Stadium von Winkelmanns Werken
schuldig bin, hält mich oft Stunden lang in der
Werkstatt des Bildhauers Chinard, der unter
den Lyon er- Kunstlern unstreitig den ersten
Rang behauptet. Seine schone und blühende
Einbildungskraft ist unerschöpflich an neuen
Ideen , die sich alle durch Einfachheit und
Originalität empfehlen ; besonders hat er einen
entschiedenen Beruf zur Allegorie. In Rom
erschien ihm der Genius der alten Kunst, und
zeichnete ihm eine Bahn vor, sich der uner-
reichten Vollkommenheit der Antiken zu nä-
hern. Nun verweilte er, wie Michael An-
gelo, Tage lang vor dem Torso des Herku-
les und hieng mit glühender Schwärmerei am
Apoll und Laokoon. Seine Gruppe , Perseus
und Ahdromeda , wovon er mir das Modell
zeigte , erhielt den damals in Rom ausgesetzt
ten akademischen Preis und kam nachher in
das Kapitolinische Museum. Kürzlich hat er
ein Basrelief von weifsem Marmor vollendet,
das von hoher Schönheit ist; Es stellt eine
Umarmung des Eros und der Psyche vor. Ich
9?
kann mir kaum vorstellen , dafs diese reitzend$
Dichtung, in der blühendsten Kunstepoche Grie-
chenlands , glücklicher hatte ausgeführt wer-
den können. Jetzt arbeitet er an einer Mar-
morgruppe, womit ein reicher Kaufmann seine
Gattin an ihrem Geburtstage überraschen will.
Mutter, Vater und Sohn, mufsten darin anger
bracht werden , und die Wahl eines histori-
schen oder mythologischen Sujets wurde dem
Kunstler überlassen. C h i n a r d hatte die glück«
liehe Idee , nach Anleitung der Begebenheiten
Teiemach's, die Mutter als Pallas vorzustel-
len , wie sie mit dem Schilde Amors Pfeil auf-
fängt , welcher dem Teiemach bestimmt war ,
' der . in der Gestalt des Sohnes, am : Fufs-e
eines Felsens schlummert. Der Vater ist als
Ulysses en Basrelief auf dem Schilde angebracht,
der neben dem Schlafenden auf der Erde liegt*
Die Aehnlichkeit der drei Figuren soll spre-
chend seyn: so wie denn China rd überhaupt
ein glücklicher Treffer ist, wovon vornehmlich
Gretrys Büste und die Statue eines achtjäh-
rigen Knaben zeugen, der unter der Figur ei-
nes
97
nes Zephyrs , mit unbeschreiblicher Anmuth ,
eine Rose aufhaucht. # Dieser brave Künstler
verbindet mit seinen artistischen Talenten,
ausgebreitete Kenntnisse in der alten und neuen
Geschichte > und hat seinen Geschmack, durch
die Lektüre der besten Dichter seiner Nation,
schon in früher Jugend gebildet. Sein Lieb-
lingswerk ist Anacharsis Reise, die er
schon viermal gelesen hat, und , bis zu seinem
Tode j nach jedesmaliger Endigung immer wie-
der von vorn anfangen will. Weit entfernt ,
dem Ziele, welchem er zustrebt, sich schon
nahe zu wähnen > glaubt er im Gegen th eil den
Lauf dahin kaum noch begonnen zu haben«
Ihm schwebt ein so hohes Ideal von Vollkom-»
menheit vor , dafs er bis jetzt noch mit keiner
seiner Arbeiten ganz zufrieden war, die er über-
haupt nur als Vorübungen zu Werken betrach-
tet , wodurch er seinem Namen Dauer bei der
Nachwelt zu verschaffen hofft.
G
98
ElLFTER B
RIEF.
Lyon, 15. März. 1791.
Hier erhältst du Grays Briefe zurück, die ihm
eben so viele Ehre machen, als dir. In allen
herrscht eine Männlichkeit der Empfindungen,
eine Kraft des Ausdrucks und eine Schönheit
der Sprache, wodurch sie, nach meiner Ue-
berzeugung, mit die ersten Zierden von Ma-
sons Sammlung geworden wären, wenn Du
ihm nicht ihre Mittheilung verweigert hättest.
Ich habe die interessantesten Stellen ausgeho-
ben und sie der Anmerkung zu den Stanzen
über den Genfersee angehängt, wo Grays
Erwähnung geschieht. Es machte mir Freude,
dies Denkmal deines Freundschaftsbundes mit
einem der treflichsten Menschen, in einem Lande
aufzustellen , wo er so viele Verehrer hat ,
und wo jeder Freund der englischen Dicht-
kunst die Elegie auf den Dorfkirchhof
beinahe auswendig weifs. Das von dir in die-
99
sen Briefen gesagte Gute ist ehrender, als eine
Lobrede von Thomas oder d'Alembert.
Grays Stärke in der Naturgeschichte > und be-
sonders in der Entomologie , war mir bisher un-
bekannt. Was würde ich nicht darum geben,
das Exemplar des Linnäus, das er mit sei-
nen Zusätzen bereichert hat , nur einmal zu
durchblättern !
Schwerlich ist wohl seit dem Persius ein
Dichter durch eine geringere Anzahl von Ver-
sen berühmt geworden, als Gray; aber er
geht mit dreißig Blättern eben so sicher den
Weg zur Unsterblichkeit , als der Polygraph
von Ferney mit siebzig Bänden.
'. In Kurzem sehe ich den vertrautesten mei-
ner Freunde und den Fleck des Erdbodens wie-
der, wo ich mir am liebsten eine Hütte bauen,,
und, fern von den Lavastromen und dem Aschen-
regen politischer Vulkane > nur der Natur ,
den Musen und der Freundschaft leben möchte.
Ille terrarum mihi prceter omnes angulus ri-
det. — V^ale et ama.
J
IOO
Zwölfter Br
i e f.
Im Kloster auf dem Grofsen St. Beruhard.
6. Jul. 1791.
Ich machte die Reise zu dieser höchsten Men-
schenwohnung der alten Welt zu Fufse und nur
von meinem Hunde begleitet. Indefs die Chor-
herren den Moniteur lesen , dessen letzte
Nummern ich als Reiselektüre zu mir gesteckt
hatte, will ich dir schreiben, mein Bonstet-
ten; obgleich ich noch nicht weifs , wann und
wie Du das Blatt erhalten wirst. Ich wurde
einen Adler damit absenden; aber dieser stolze
Vogel (der hier, wo Jupiter ehemals einen
Tempel hatte , vielleicht noch stolzer ist als an-
derswo ) verschmäht das niedrige Geschäft ei-
nes Briefträgers, worauf Anakreons Post-Taube
sich sogar etwas einzubilden schien. Morgen
habe ich im Sinn in das Thal von Aosta hin-
unterzusteigeu , und wo möglich bis zum Tri-
IOI
umphbogen des Augustus vorzudringen.
Der Brief mag indefs im Kloster die erste Ge-
legenheit nach Mar tinac h erwarten,
Ich erreichte gestern , um 6. Uhr Abends,
das letzte Wallisis che Dorf St. Peter, nach
einer , durch Hitze und Bergansteigen sehr be-
schwerlichen Tagereise. Wahrend mir ein Ra«?
gout von MurmelthierHeisch. zubereitet wurde,
gieng ich hin, den Sturz der Dranfse zu se-
hen, den, so viel mir bekannt ist, noch kein
Reisender umständlich beschrieben hat, der aber
gewifs zu den prachtvollsten Wasserfallen Hel-
vetiens gehart. Die Gegend umher , erin-
nerte mich , in ihrer rauhen Erhabenheit , an
eine der wildesten Landschaften des Salvatör
Rosa, wo auch ein ansehnlicher Strom, zwi-
schen. Felsen geprefst % in die Tiefe stürzt, und
überhangende Steinmassen , eben so wie hier ,
ihm nachzustürzen dröhn. Die Dranfse ent-
springt aus dem, durch eine ungeheure Eis-
grotte merkwürdigen Gletscher von Valso-r
rey, und ergießt sich unweit Martinach in
die Rhone. Ein Theil meines heutigen We-
102
ges führte mich längs diesem reißenden Berg-
strome durch einige recht malerische Gegen-
den. Von St. Peter bis zum Kloster steigt
man drei Stunden. Ich machte mich diesen
Morgen sehr früh auf den Weg. Nicht weit
vom Dorfe frappirte mich ein Felsen , der sich
gleich einem Obelisken aus den Fluten der in
finstrer Tiefe brausenden Dranfse erhebt ,
und an dessen Seiten das Rhododendron fer-
rttgineum in ungewöhnlicher Menge blühte.
Ein Kreutz, welches auf seinem abgerunde-
ten Gipfel emporragt , vollendete das Ro-
mantische des Anblicks. Ein sehr liebliches
Gemmenbild druckte , einige Schritte weiter,
ein Schmetterling in meine Seele ( ich glaube
es war der Apollo) der auf der kurzstieligen
Genziane (Gentiana acaulis L. ) safs und mit
Wohlgefallen auf dieser prächtigen .Blume zu
verweilen schien.
Nun wurde die Gegend wilder und nack-
ter. Langst grünte kein Baum mehr , und der
Rasen verlor sich bald unter einer unabsehba-
ren Schneefläche. Man hörte nichts als das
io3
Lied eher Alpenlerche., .und von Zeit zu Zeit
das Pfeifen der Gemsen. Aber auch diese Töne
verhallten, nachdem ich etwa eine halbe Stunde
auf dem Schnee fortgegangen war : und bis nahe
beim Kloster erreichte nun, in dieser furchtba-
ren Einsamkeit, kein anderer Laut mein Ohr
mehr, als das Donnern einer Lauwine. Hier
ist es , wo so oft Reisende im Schneegestöber
umkommen, oder von Lauwinen begraben wer«
den, und wo die Chorherren schon viele die-
ser Unglücklichen , mit Hülfe ihrer Hunde und
Sondirstangen , entdeckten und wieder zum Le-
ben brachten. Das beständige Einsinken in den
Schnee ermüdete mich zuletzt so sehr, "dafs ich
schon im Begriffe stand mich niederzusetzen ,
als das Läuten der Klosterglocke , welches
dumpHg aus einem wilden Felsenschlunde her-
abhallte, meine schwindenden Kräfte plötzlich
erneuerte. Bald darauf erschien das Kloster
selbst, hoch über mir in dunkelblauer Luft,
am Rande eines schroffen Felsens. Der An-
blick dieses regelmäfsigen und ansehnlichen Ge- #
bäudes ist von unbeschreiblicher Wirkung , in
i<>4
einer Gegend , wo das an Gärten , Wesen ,
Bauerhöfe, Ströme und Wälder gewöhnte Auge
ringsum nichts entdeckt, als Riesengipfel , um
deren Fuß Gewölke sich wälzen, und Eis- und
Schneelagen , labyrinthisch durch Thäler und
Schlünde In trauriger Unwandelbarkcit sich
verbreiten,
Jetzt halte ich die Thüre des Klosters erreicht
und trat nun in die höchste menschliche Woh-
nung unsrer Halbkugel. In dieser 1246. Klaf-
ter über die Meeresfläche erhabenen Region
. wehn die Lüfte eine» immerwährenden Win-
io5
«
ters. Der kleine, an der Südseite des Klosters
liegende See , dessen beeiste Gestade kein grü*
nender Schilf oder Binsenkranz entödet , thaut
niemals ganz auf, und im Monat August sieht,
sogar in der Mittagsstunde , das Thermometer
nicht selten unter dem Gefrierpunkte. Hier ,
wo das Brennbolz zu den ersten Lebensbedurf-
nissen gehört und in unglaublicher Menge ver-
braucht wird, mufs dasselbe auf einem rauhen
und steilen Wege, der nur höchstens zwei Mo«
nate im Jahre offen ist y von Mauhhieren her?
aufgetragen werden.
Ich fand die Chorherren , unter denen ei -
nige sich , in Red' und Manieren , als Leute von
feiner Erziehung ankündigten , beim Früh-
stücke versammelt. Der Speisesaal ist grofs ,
nicht prachtig aber mit Geschmack verziert ;
und, was mehr ist als Deckengemälde, Krjr-
stallkronen und Spiegelwände , die Reinlich-
keit verbreitete ihren milden Reitz über das
Ganze. Sie nahmen mich mit unverstellter
Herzlichkeit auf und baten mich , meinen Au-
fenthalt bei ihnen nach Willkühr zu verlangern.
io6
Es war für mich die Erfüllung eines Lieblings-
wunsches , in die Mitte einer Gesellschaft zu
treten, die mir schon lange durch die Wöbl-
thätigkeit ihrer Zwecke ehrwürdig war, und
wovon manches Mitglied schon mehr als Eine
Burgerkrone verdient hatte. Mit welcher Auf-
opferung von Lebensgenufs , mit welcher hel-
denmütbigen Entsagung alles dessen , was die
Tage der Sterblichen, im süfsen Zauber weib-
licher Geselligkeit, verschönt und beseligt, üben
nicht diese Manner , in einem der unwirthbar-
sten Winkel der Erde , kalt und unfreundlich
wie die Nebel von Grönland, die Pflichten
der Menschlichkeit ! Unentgeltlich , und ohne
Ansehung des Standes und der Religion, wird
der müde Reisende gespeist und beherbergt ;
der Kranke bis zur Genesung mit der treusten
Sorgfalt gepflegt , und der erstarrte dem Tode
entrissen.
Täglich in der rauhern Jahrszeit , und so
oft es schneit oder nebelt , gehn einige von
ihnen, mit langen Stangen und von ihren treu-
lichen Hunden begleitet, auf die Landstrafse ,:
107
welche diese Thiere , ungeachtet des dicksten
Nebels oder Schneegestöbers niemals verfehlen.
Hat nun ein Reisender das Unglück gehabt ,
von .einer Lauwine verschüttet, oder in ohn-
mächtiger Erstarrung von Flocken begraben zu
werden, so erwittern die Hunde, wenn die
Tiefe des ihn deckenden Schnees nicht gar zu
beträchtlich ist , unfehlbar die Stelle und deu-
ten sie durch Scharren und Schnüffeln an. Der
Verunglückte wird hervorgezogen und ins Klo-
ster getragen , wo na an ihn mit Schnee reibt,
in gewärmte Betten legt, und jedes als wirk-
sam anerkannte Mittel anwendet , sein fliehen-
des Leben zurückzurufen. Die Anzahl derer
die auf Schlachtfeldern ihr Leben verlieren,
weifs ganz Europa ; aber die Anzahl derer, de-
nen es die Menschlichkeit in diesen Einöden
wiedergab , konnte mir niemand angeben.
Ungeachtet aller Entdeckungsgänge dieser
Menschenfreunde und ihrer treuen Hunde, ver-
geht indessen fast kein Jahr , dafs nicht im Som-
mer, wenn der Schnee wegzuschmelzen an-
fängt, Leichname von Reisenden sichtbar wer-
J o8
den , die hier, von allem fern was ihnen theuer
war , hülflos umkamen. Da weitumher der Bo-
den gediegener Fels ist, so versammelt man die
Todten in eine an der Ostseite des Klosters
liegende Kapelle , deren Wände , um des
Durchzugs der Luft willen , mit grofsen vergit-
terten Oefnungen versehen sind , die an das
Beinhaus bei Murten erinnern. Der Anblick
der da rinn beisammen ruhenden , aus verschie-
denen Weltgegenden , meistens , gewifs durch
sehr entgegengesetzte Schicksale, hier hoch über
den Wolken vereinigten Todten , rührte mich
im Innerrten der Seele. Alle sind in Leichen-
tücher gehüllt ; und weil in dieser scharfen und
kalten Luft kein entseelter Körper verwest,
sondern nur allmählich einschrumpft und ver-
trocknet, so erhalten sich die Gesichtszüge lange
ziemlich unentstellt , und mehrere sind von
Verwandten oder Freunden, noch nach zwei
bis drei Jahren, wiedererkannt worden. Sie
sind nicht über einander geschichtet , sondern
sitzen aufrecht, und jeder Neuankommende
wird immer mit dem Kopfe an die Brust sei-
*.
109
lies Vorgängers gelehnt. Diese Stellung hat
etwas Vertrauliches und ganz das Ansehen ei-
nes gern einschafl liehen Schlummers. Vier Rei-
hen solcher Schläfer' laufen schon neben einan-
der hin. Ihre Gesichter, eben so wie die
Hände und Füfse, welche das Leichentuch bei
einigen unbedeckt gelassen hat, sind völlig
mumienfarbig.
Abends um 6. Uhr;
Bei Tische herrschte ein fröhlicher und
bruderlicher Ton; und es scheint überhaupt,
dafs die Chorherren in vollkommener Hanno-
nie bei einander wohnen. Die Stücke des
Moniteurs, welche sie eben gelesen hatten,
veranlagten einige politische Fragen, die mir be-
wiesen, dafs sie die neuesten Weltbegebenhei-
ten nur ganz undeutlich und verkleinert , wie
in dämmernder Tiefe erblicken. Von der
Flucht des Königs hatten sie einige verworrene
HO
und dunkle Nachrichten , und seine Rückkehr
nach Paris war ihnen noch völlig unbekannt.
Aber anstatt ihren Tag mit Yergleichung und
Vereinigung der Widerspruche in den öffentli-
chen Blättern hinzubringen, oder mit propheti-
schem Pinsel allerlei groteske Ungeheuer auf
den Vorhang der Zukunft zu malen , wie dies
jetzt sogar der Fall bei Männern ist, die vor
der Revolution ganz ausscbliefsend den Wissen-
schaften lebten, beschäftigt irgend ein Lieb-
lingsfach ihre Nebenstunden; wie, z. B. Phy-
sik, Mineralogie oder Botanik. Auch legt sich
einer unter ihnen mit vielem Eifer auf die alte
Literatur. Doch so bald die leidende Mensch-
heit ihrer Hülfe bedarf, eilt jeder mit militari«
scher Pünktlichkeit an seinen Posten.
Kaum hatten sie mein Vaterland erfahren,
als sie das Gespräch sogleich auf den grofsen
Friedrich leiteten, der denn auch der ein-
zige Gegenstand unsrer Unterhaltung blieb.
Choiseul- Gouffi er konnte kaum lebhafter
erstaunen , da ein Mönch auf der Insel P a t fa-
mos sich bei ihm nach Voltaire undRous*
III
■
seau erkundigte, als ich, bei den Fragen die-
ser Wolkenbewohner nach dem Helden des sie-
benjährigen Krieges , die alle eine genaue und
ziemlich detaillirte Kenntnifs seiner Regierungs-
geschichte voraussetzten.
Herr Daleve, der Oekonom des Klosters,
ein gefälliger und angenehmer Mann, an den
ich eine besondere Empfehlung hatte , führte
mich nach dem Jupitersplan, wo zu den
Zeiten der Römer ein Tempel dieses Gottes
stand , von dem der Berg seinen damaligen Na-
men (Mons Jovis) erhielt. Man hat verschie-
dentlich in den Ruinen dieses Tempels nach
Alterthümern gegraben , und besonders eine
Menge kupferner Votivtafeln entdeckt, welche*
nach der Bemerkung des Herrn von Saus-
süre deutlich beweisen, dafs die Reise über
den Grofsen Bernhard auch von den Rö-
mern für gefährlich gehallen wurde. Nicht weit
vom Kloster pflückte ich die Azalea procura-
bens , auf einem kleinen Rasenfleck, der im
Schutz hoher Felsenwände grünt. Ich fühlte
mich zu ermüdet, um noch den beschwerlichen
112
"Weg zu dem Spiegelfels en 211 unterneh-
men > der zu den größten Merkwürdigkeiten
der umliegenden Gegend gebort. Eine Stein-
fläche., von ansehnlicher Gröfse, hat eine so
vollkommene Politur , dafs man , nach der
Versicherung des Herrn Daleve, sich eben so
deutlich darin erblickt, wie im reinsten Spie-
gel. Noch ist es keinem Forscher gelungen,
dies Phänomen befriedigend zu erklären. In
dichte Finsternifs gehüllt, schliff die Natur mit
leiser Hand die Fläche dieses Felsens.
Die berühmten Bernhardshunde, sind
leider , bis auf eine einzige Hündin , gestorben.
Es schmerzte mich in der That diese edle Race,
welche sich , gleich den arabischen Pferden ,
so lange in ihrer ursprünglichen Aechtheit er-
halten bat, wo nicht ihrem Erlöschen, doch
wenigstens ihrer Ausartung nahe zu sehen.
Das Verzeichniis meiner auf dieser Reise ge-
sammelten Pflanzen ist schon ansehnlich. Die
1
Aretia und Diapensia sind mir indefs auch
diesmal entgangen , weil sie auf Berggipfeln
blühen, zu denen ich wegen Zeitkürze nicht
empor-
H3
empordringen konnte; Dagegen bin ich nun
gewiß, die Linncea borealis , die Herr tön
Saussüre nur ein einzigesmal auf dem Voi-
xons entdeckte > einige Jahre später aber > *ö»
wohl Auf der nemlichen Stelle , als in vielen:
andern Gegenden der Schweitz vergeblich suchte;
in einem Walde oberhalb Martinach zu fin-
den. Ueberhaupt ist Wallis ein wahres Eldo-
rado für die Botanik ; und in diesem Lande
war es, wo Ha Hers Exkursionen immer am
reichlichsten belohnt wurden. Nur der Men*
schenbeobachter verläfst es mit den traurigsten
Betrachtungen > über eine Klasse von Geschö-
pfen, die, in ihrer niedrigsten Abstufung, tief
unter der Thierheit stehen, ob sie gleich mit
dem Menschen die Gestalt, wiewohl zur häß-
lichsten Karrikatur verzerrt , gemein haben. Ich
sah auf dieser Reise in Martinach, einen
dreißigjährigen Kretin , der nicht einmal so
viel animalischen Instinkt hat, die Speisen selbst
zum Munde zu führen , sondern gefuttert wer-
den muß. Sein Kropf ist einer der ungeheuer-
sten die ich noch gesehen habe ; dagegen sind
H
n4
seine Augen , die ihm starr und matt im Kopfe
stehen , ungewöhnlich klein. Bey gutem Wet*
ter wird er an die Sonne gelegt , wo er so
lange unbeweglich hingestreckt bleibt , bis man
ihn wieder ins Haus tragt. Seine StimmS, die
er aber nur selten hören läfst , ist ein dum-
pfes Heulen. Noch tiefer als diesem, wies die
Natur einem andern Kretin seinen Platz an,
der in einem Alter von neun Jahren in Ai gl e
starb , und an dessen ganzem Körper der
Mund die einzige OefFnung war. Der verstor-
bene Dechant von Kopp et, der einem meiner
Bekannten mehrere über ihn angestellte Beo-
bachtungen mitheilte , bemerkte nur dann eine
Art von Bewegung an ihm , wenn er die Nah-
rungsmittel, die man ihm einflöfsen mufste,
wieder von sich gab.
Wenige Familien in. Wallis bleiben ohne
Kretins, die aber meistens alle auf keiner so'
niedrigen Stufe stehen, als die eben angeführ-
ten, gegen welche sogar Austern und Poly-
pen Wesen höherer Art sind. Einige kann man'
zum Wasser-und Holztragen gebrauchen, und'
"5
andere wissen sich durch Zeichen verständ-
lich zumachen. Das starre Grinsen des Blöd-
sinns aber , und die Häßlichkeit der Baschkiren
und Pescherähs haben sie sämmtlich miteinan-
der gemein. Merkwürdig ist die Erfahrung;
dafs Kinder, die in andern Gegenden gezeugt
wurden , als Kretins zur Welt kamen, weil die
Mutter, während der Schwangerschaft , nur ei-
nige Wochen in Wallis zugebracht hatten.
n6
Dreizehnter Brief.
Lyon, ai. Dezember 1791.
Lange schürzt das Schicksal am Ungeheuern
Knoten, dessen Auflösung wir schwerlich erle-
ben werden. Noch ist das Ziel des Volks
ein Dunstbild das täglich seine Stelle verändert,
und die Gesetzgeber verlieren , unter kindi-
schen Zungenkämpfen , oft Wochen lang ,
Frankreich, mit allem was drinnen ist, Mei-
lenweit aus den Augen. Die Volksparthei hat
seit einem Jahre in Lyon so auffallend zuge-
nommen , dafs die , anfänglich alles zermal-
mende Gewalt des aristokratischen Gegendrucks
beinahe für nichts mehr zu rechnen ist. Da-
rin kommen übrigens die politischen Scharf-
seher beider Partheien überein, daü dem Rei-
che eine fürchterliche Explosion bevorstehe ,
auf welche unmittelbar eine neue Ordnung der
Dinge folgen werde. Die Hypothesen über
ll 7
diese als unausbleiblich angenommene Reorga-
nisation modifizieren sich natürlich nach den
Personalvortheilen jedes dabei interessirten In-
dividuums. Die Träume über Frankreichs
Zukunft sind, in dieser Rucksicht , wie die
Träume über den Zustand nach dem Tode ,
in welche der Philosoph Metaphysik und der
Dichter Poesie verwebt. Auch das Beispiel
jenes Erzbischofs gehört hieher , der auf ei-
nem Abendspaziergauge mit seinem Neffen über
die Figur der Mondflecken in Streit gerieth.
Ich sehe ganz deutlich eine Schäferin unter ei-
nem Baume , sagte der feurige Jüngling , in-
defs der Oheim darauf beharrte , er unter-
scheide noch deutlicher die Thürme einer Ka-
thedralkirche.
Frankreichs gefährlichster Feind ist der
Egoismus seiner Demagogen.
Vor einigen Wochen fuhr ich in einem
kleinen Nachen die Rhone hinunter bis nach
Vienne, der unter den Römern so berühm-
*
ten Colonia Vienensis. Diese kurze Reise,
hatte an sich so wenig Merkwürdiges , dafs ich
n8
sie ganz mit Stillschweigen übergeben wurde,
wenn ich ihr nicht die Kenntnifs einer der vor-
treüichsten Grabschriften verdankte , die mir
jemals zu Gesicht gekommen shid. In der
Domkirche, einem ehrwürdigen gothischen Ge-
bäude , liest man auf dem gemeinschaftlichen
Grabstein zweier Freunde die Worte :
Mens una. Cinis unus>
Zwei andere Merkwürdigkeiten von V i e n n •
sind: ein wohlerhaltenes Prätorium, das in der
Form mit dem berühmten Tempel zu Nismes
Aehnlichkeit haben soll , und ein altes , einige
hundert Schritte von der Stadt im freien Felde
stehendes Denkmal , das den Altertumsfor-
schern schon viele böse Stunden gemacht hat.
Es ist eine, aus grofsen Quadersteinen zusam-
mengesetzte Pyramide , die auf vier durch Bo-
gen verbundenen Pfeilern ruht. Unglücklicher
Weise fand sich keine Aufschrift daran. Was
blieb den Herren also übrig? Vor allen Din-
gen, auf gebahnten und ungebahnten Wegen
nachzuspüren, welche Bestimmung dies mys-
XI 9
tische Monument wahrscheinlich nicht hatte;
dann , unumstößlich darzuthun , auch mit
Beweisstellen aus den Alten sorgsam zu be-
legen , dafs uns die Kunde derselben keineswe-
ges liälte verborgen bleiben können ,. falls man
so glucklich gewesen wäre, eine Aufschrift da»
rnn zu entdecken ; und endlich dennoch , wie
durch. Inspirazion, mit dem Orakel zu schlies-
sen : Diese Pyramide sei das Grabmal eines vor-
nehmen Römers. Das hiefs wohl recht das
Meer in Bewegung setzen, um eine Fliege zu
ersaufen !
Larive hat hier kürzlich vier Lieblingsrol-
len unsers Publikums gespielt; den Cid, Orosr
man , Tankred und Philoktet. Dieser glück-
liche Zögling le Rains hat der Natur so viel
zu danken, dafs es für ihn nur einer ganz leich-
ten Unterstützung von Seiten der Kunst be-
durfte , um jene Höhe der theatralischen Voll-
kommenheit zu erreichen, die ihm in den Jahr*
buchern der französischen Bühne , den Rang
nach seinem unsterblichen Lehrer bis hieher
versichert. Er hat einen hohen , edlen "Wuchs,.
und nach Friedrichs Auge, sah ich kein
größeres und feuervolleres , als das seine. Hier* u
kommt noch eine Stimme , so volltönend und
ehern, wie ich mir die Stimme der homeri-
schen Helden denke , und eine Deklamazion ,
welche die schwersten und eigensinnigsten For-
derungen der Kritik befriedigt. Die Geber«
densprache hat er bis auf ihre feinsten Nuan-
cen studirt, und in seinem Anstände herrscht
nicht die komische Theatermajestät, welche puh-
atend auf Stelzen einh erschreitet, sondern jene
natürliche, angeborne Würde, die, nach Wie.
lands Ausdruck , auch durch ein harnes Ge-
wand scheint und Ehrfurcht gebietet. L a r i v e s
Triumph ist P h i 1 o k t e t. Diese Rolle mufste sich
auch darum seinem Talente genauer anschmie-
gen, als jede andere, weil das ganze Stuck in
beständiger Rücksicht auf ihn, und nach dem
tiefsten Studium seines Spiels geschrieben wurde.
Wenige Theaterstücke haben mich mehr erschüt-
tert, als Philoktet; auch ist die Situation
dieses Helden, am Strande der öden Lemnos,
«ine der rührendsten, welche die Urkunden de$
iai
Alterthums unsern Zeiten überliefert haben. Die
Art allein, wie Larivein dieser Rolle mit dem
wunden Fufse auftritt , indem er sich zu einer
nahen Quelle schleppt , um Wasser in einen al-
ten, verrosteten Helm laufen zu lassen , konnte
Thränen auspressen. Schade! dafs die hohe
Einfachheit des Griechen , in der französischen
Nachbildung, die jedoch zu la Harpes bes-
seren Arbeiten gehört , verloren gegangen ist.
Im Tankred war ich auf die Scene begierig,
wo dieser Held , nach langer Abwesenheit , bei
Wiedererblickung seiner Vaterstadt , in die
Worte ausbricht:
A tous les cceurs bien nds , que la patrie
est chöre !
Le Kain blieb lange nach seinem Eintritte
noch sprachlos, und liefs sich gleichsam von
den Gegenstanden , die das Andenken der Ju-
gendjahre in seine Seele zurückriefen, erst ganz
durchdringen , bevor er seine Gefühle in obige
Worte , die im nemlichen Momente erst in sei-
nem Innersten zu entstehen schienen , über-
V
122
geben liefs. Anstatt diese, den großen Kunst«
ler charakterisirende Idee zu benutzen, begann
Larive, schnell nach der Erscheinung auf dem
Theater, seinen Monolog, dessen eben ange-
führten ersten Vers er aber bei weitem nicht
innig genug deklamirte. Auch als Orosman
sagte er die immer mit Ungeduld vom Publi-
kum erwarteten Worte: Zaire, vous pleurezl
wodurch I e K a i n alle Zuschauer hinrifs , viel
tu kalt. Ueberhaupt soll diese Rolle, die eine
Glut dar Empfindung fordert , welche die Na-
tur ihm versagte, eine seiner schwächsten seyn.
Im Cid gelang ihm die Erzählung der Schlacht
ganz vorzuglich. Aergerlicli ist es , dafs man
anfangt den alten Korneille zu modernisiren,
indem man ihm schwache wohlklingende Verse,
gegen starke* rauhtönende unterschiebt; auch
viele veraltete, aber doch kräftige Worte, durch
neue verdrangt die nicht halb so ausdruckvoll
sind, und dadurch einen grofsen Theil dessen ,
was ihn eigentlich zum Korneille stempelt, in
Feilstaub verwandelt. In Düsseldorf sah ich
ein Gemälde von Rubens, wo der Fuß einer
125
Figur wenigstens um die Hälfte über die rich-
tige Proportion hinausgieng. Das war ein Feh-
ler; aber ich würde es dennoch dem Maler
nicht Dank gewußt haben, der einen andern
hätte hineinkorrigiren wollen.
Warum die Franzosen das veraltete Wort
invaincu, das auch im Cid vorkommt, nicht
wieder in Umlauf zu bringen suchen, ist um so
weniger zu begreifen, da ihre Sprache kein an-
deres Adjektiv hat, um das invictus der Rö-
mer auszudrücken.
Einer der gröfsten Komiker in Frankreich
ist unstreitig Restier, der aber wegen seines
hohen Alters leider nur noch sehr selten spielt«
Tiefer ist wohl noch niemand in Molieres
Geist eingedrungen, als er, und mit ihm wird
auch wahrscheinlich die ächte Manier, dieses
Dichters Charaktere darzustellen, von der Bühne
verschwinden. Seine glänzendsten Rollen sind
der Tartüffe, der Geitzige und der Kranke in
der Einbildung. Für Lyon hatte er von jeher
eine so entschiedene Vorliebe, dafs er alle Vor-
schläge der Pariser -Theaterdirektionen, so vor-
124
tbeilbaft sie auch seyn mochten , immer stand-
haft zurückwies.
Volney, der Verfasser der Reisen durch
Syrien und Egypten , ist seil einigen Tagen
hier. Er geht nach Korsika, mit dem Auf-
trage, zweckmnfsige Plane zur Urbarmachung
unangebauter Gegenden, deren es auf dieser
Insel noch so viele giebt, zu entwerfen und
auszufuhren., Ich sah ihn einigemal. Er hat
eine einnehmende und feine Gesichtsbildung,
und scheint nicht viel über dreißig zu seyn.
In seinem Betragen herrscht die, den meisten
Pariser - Gelehrten eigene Urbanität. Unter
dem Titel: Die Ruinen, hat eben ein neues
Werk von ihm die Presse verlassen. Es ent-
hältpolitische und philosophische Betrachtungen,
die er , in den Trümmern von Palmyra , über
Staatsverfassungen und Revolutionen anstellt.
Ich habe noch nicht weit über das Anfangska-
pitel hinaus gelesen, und kann also über das
Ganze nicht mehr sagen, als dafs die Einfas-
sung des Gemäldes Geschmack und Originali-
tät verrätfa. Gestern als ich mit ihm in zahl-
125
reicher Gesellschaft bei Herrn F. Jedermann
freute sich auf die interessanten Erzählungen
des berühmten Mannes , der die Pyramiden ,
den Nil und die Ruinen von Palmyrä gesehen
hatte; aber Volney sprach > während der gan-
zen Mahlzeit nur über die konstituirende Na-
tionalversammlung y deren Mitglied er war ,
und über die Notwendigkeit , kulturfähige ,
bisher vernächläfsigte Gegenden anzubauen ,
Weil , nach der höchsten Wahrscheinlichkeit ,
die europäischen Kolonien der andern Wehtheile,
in wenigen Jahren, nach dem Beispiele Nord-
amerikas , von ihren Mutterländern abfal-
len und besondere Staaten bilden würden.
Mir ßel hierbei zuerst Brasilien ein , dieser
Riesenzweig eines zwergartigen Stammes, von
dem es unbegreiflich ist, dafs er nicht langst
durch seine eigene Wucht isolirt wurde.
1*6
Vierzehnter Brief.
Avifnon , i8* Mars. 179a.
Seit der Abreise von Lyon hielt ich mich an
keinem Orte lange genug auf, um dir schreiben
«u können, mein Bonstetten. Von nun an
•oll jede Stunde der Erholung , während mei-
ner ganzen Reise in Sudfrankreich, dir
ausschließend geweiht seyn.
Von der Wasserfahrt von Lyon nach Avig-
non habe ich nichts merkwürdiges zu erzäh-
len« Die Gesellschaft im Postschiffe war zahl-
reich , und wie gewöhnlich sehr gemischt. Ich
machte die Bekanntschaft zweier Herren, de-
ren Aeufseres mich einnahm. Der eine war
•in Herr von Launay, vormals Offizier in
Ostindien, der nach Avignon reiste, um ei*
•
nen Sohn, der daselbst unter dem Regimente
von Lamark dient, nach vierzehnjähriger
Trennung wiederzusehen ; und der andere ein
x
127
Graf Tilli, der der Belagerung von Gi-
braltar beigewohnt und sich nachher lange in
Korsika aufgehalten halte. Dieser zeigte
Kentnisse und feinen Geschmack. Wir lasen
miteinander im Horaz tmd in Hu mes Ge-
schichte Englands, von der ich den ersten
Band bei mir halte. Ich freute mich seines
warmen und richtigen Gefühls , und erstaunte
i
oft über das Neue und Scharfsinnige seiner Be*
merkungen. So Hohn die Ufer vorüber, ohne
dafs wir es gewahr wurden. Gegenden zu
schildern ist eine undankbare Mühe, weil die
Phantasie des Lesers gewöhnlich doch nur
ein falsches Gemälde unterschiebt. Ohne
diese Ueberzeugung hätte ich es vielleicht ver-
sucht, dir einige pittoreske Ansichten bei Vi*
viers zu beschreiben, wo wilde Felsberge mit
reichangebauten Thälern wechseln , und die
Trümmer mancher ehrwürdigen Ritterburg sicH
auf schroffen Basaltlagen erheben.
Herr von Launay, der bei mehrern Ge«i
legenheiten ein gefühlvolles und leicht zu rüh-
rendes Herz verrieth > dachte nur seinen Sohn,
und wünschte dem Schiffe die Flügel des Sturm»
winds. Das Bild des vierjährigen Knaben, der
ihn beim Abschiede anlächelte, lebte noch in
•einer Seele ; aber der achtzehnjährige Jung*
ling erschien ihm verschleiert.
Gestern gegen Mittag landeten wir vor
Avignonj nachdem wir zwei Nächte unter*
weges , die erste in einem Dorfe dessen Na-
men mir entfallen ist , und die andere in S t.
A n d i o 1, einem Städtchen im A r d e c h e-Depar-
tement, zugebracht hatten. Eine Menge zer-
lumpter Kerle fielen sogleich über unsere Sa-
chen her , um sie ins Wirthshaus zu tragen.
Meines leichten Felleisens > das ich an Einem
Finger hätte transportiren können, bemächtigten
sich zwei baumstarke Träger , ergriffen jeder
einen Riemen, und stiegen langsam, als ob sie
unter ihrer Last erliegen müßten , das Ufer
hinan. Bei den Sachen des Grafen Tilli ging
die Verth eilung so weit , dafs ein Uniformsä-
bel von seinem Gehenk getrent wurde, und je-
des Stuck einen besondern Träger bekam.
Als wir ans Land traten, sahen wir drei
Offiziere
129
Offiziere vom Rfegimente Lämark unter den
Bäumen* spazieren geben > von denen der eine
noch sehr jugendlich aussah. Si c etoit mon
filsj sagte der Herr von Launay, und wandte
sich zugleich mit der Frage an die drei Herren:
. Messieurs , connoissez vous peut 4tre le jeune
de Launay? C est moil sagte der junge Mensch;
und im nemlichen Momente schloß ihn der
Vater mit den Worten: Je suis ton perel in
die Arme, So lange ich lebe, wird dieser
schöne und rührende Auftritt mir wohlthätig in
der Erinnerung bleiben. .
Wir kamen im Hotel von St O m e r an , als
man sich eben zu Tische setzen wollte. Einer
von der Gesellschaft * die grofstentheils aus Of-
fizieren bestand, erzählte, gleichgültig wie man
von Regen und Sonnenschein spricht, es sei
zwischen den -Regimentern L a m a r k und Bour-
gogne zu Thätlichkeiten gekommen und es
wären auf beiden Seiten einige Mann geblieben.
Wir giengen nach dem Essen an den Ort , wo
die Schlägerei vorgefallen war. Noch lagen die
Körper der Getödteten zur Schau, und man
I
i3°
schien mit Anblicken dieser Art scbon so ver>
traut zu seyn, dafs die meisten Vorübergehen«
den kaum eine Sekunde dabei verweilten. Der
Streit wurde durch die Aeufcerung einiger Sol-
daten von Bourgogne veranlaßt, daß das
Regiment L a m a r k aus lauter gemietheten Ari-
stokraten bestehe.
Wir stiegen zur Burg hinauf. Hier hatte
Jourdans Rotte kürzlich Greuelt baten ver-
übt, die in der Geschichte ohne Beispiel sind
und hoffentlich ewig bleiben werden. Das Blut
ihrer Schi ach topf er war durch die ungeheuren
Säle geströmt , wo unter dem weichlichen
Pabste Klemens VI. nur der Jubel üppiger
Gelage von den hohen Gewölben zurückhallte,
und wo dieser Staub alter Gottes die dreifache
Krone , sammt den Schlüsseln des Paradieses ,
zu den Füfsen der schönen Vikomtesse von
Turenne niederlegte.
Von den Unmenschlichkeiten der Jour-
dani sehen Horden haben wir kaum die
Hälfte durch die öffentlichen Blätter erfahren.
Ein hiesiger Kaufmann > den ich für einen
i3i
glaubwürdigen Augenzeugen halte, erzählte mir
die gräßlichen Schicksale einiger Einwohner
dieser unglücklichen Stadt. Die zum Tode be-
stimmten Schlachtopfer wurden mit raffinirter
Grausamkeit , unter kannibalischem Frolocken >
oft Tage lang gemartert , und zulezt , nicht
selten noch lebendig , in den Eiskeller gewor-
fen. Eine Mutter sah ihre zwölfjährige Toch-
vor ihren Augen, erst auf die unerhörteste Art
mishandeln, und dann, an Händen und Füs-
sen verstümmelt , in den Abgrund stürzen»
Bald wurde sie, eben so gemifshandelt und eben
so verstümmelt > mit dem Leichname ihrer Toch-
ter vereinigt. Es ist erwiesen, dafs beide noch
am Leben waren, als sie nach dem Eiskeller
geschleppt wurden. Sed manum de tabula.
Nach der Verhaftung Jourdans und seiner
Mitschuldigen, wurden die Leichname der Ge-
mordeten aus der Eisgrube hervorgezogen und
feierlich zur Erde bestattet. Die schauder-
hafte Beschreibung dieses Leichenbegängnisses,
wird dir noch aus dem Moniteur erinner-
lieh seyn.
Die Avignoner leben in unaufhörlicher
Furcht seit der Drohung der Mars eil ler:
Jourdan und seine Genossen mit gewafrhe-
ter Hand wieder in Freiheit zu setzen. Fast
alle vornehme Familien sind ausgewandert, und
die schönsten Häuser der Stadt sind men-
schenleer.
Die Franziskanerkirche wird, seit der darin
vorgefallnen Mordscene nicht mehr geöffnet ;
ich konnte also Laura's Grabstätte nicht be-
suchen.
Ganz mit Entsetzen und Abscheu erfüllt,
machte ich einen Spaziergang am Ufer der
Rhone und las , um die mir vorschwebenden
Greuelbilder zu zerstreuen , im Petrarka. -
Das Sonnett : Dodeci Donne , brachte das Bild
einer Lustfahrt vor meine Seele, welche Laura
mit zwölf andern Damen in einer Barke , die
der Dichter mit der Argo vergleicht, den Flufs
hinunter mächte. Weil man auf der reifsenden
Rhone nur langsam Stroman gezogen wird,
kehrten sie auf einem K.-vrren , dem allein üb-
lichen Fuhrwerke jener Zeiten, den die Ein-
\
i53
bildungskraft des begeisterten Sängers in einen
Triumphwagen verwandelt, nach der Stadt zu-
rück. Laura safs bescheiden in einer Ecke,
und sang mit sufser Stimme ihren Freundinnen
ein Lied. Diese Vorstellung versezte mich in
die vergangnen Jahrhunderte. Ich gedachte
des ersten Wiederauf bluhens der Dichtkunst un-
ter diesem schönen Himmel, nach der langen
Nacht der Barbarei, durch die Troubadours,
welche an den Höfen der Fürsten und in den
Schlofsern der Großen ihre Vaudevillen, Mad-
rigale und Tenzonen absangen, und den Lie-
bestribunalen ( Cours d'aMonr) ihr Daseyn ga-
ben, wo in den poetischen und galanten Streit-
fragen dieser Dichter, von den schönsten und
geistvollsten Damen des Landes Recht und Ur-
theü gesprochen wuide.
Beim Zurückgehen nach dem Wirthshause ,
folgte ich ganz mechanisch einer Menge von
Menschen, welche durch irgend ein ungewöhn-
liches Schauspiel in Bewegung gesezt zu wer-
den schienen. Auf meine Fragen: Wohin?
und warum ? bekam ich zur Antwort : Nach
i34
dem Gefängriifs, um den Jourdan aus dem
Verhör kommen zu seilen. Ich hatte bei die-
ser Gelegenheit den Anblick dieses berüchtigten
Ungeheuers, aus dessen Gesichte mehr Dumm-
heit und Brutalität, als Grausamkeit und Blut-
gier hervorscheint. Sein Verhör halt man fast
allgemein für nichts anders als eine leere Forma*
lität; und die Richter, welche hundert unum-
stöfsliche Beweise gegen ihn in Händen haben,
und ihm die ganze Stadt als Zeugen entgegen«
stellen konnten, sollen keineswegs gesonnen
seyn , ihn des Todes schuldig zu finden.
Lile unweit Vauklüae, »9. März.
Ich habe die vier Stunden von Avignonnach
Lile zu Fufse gemacht. Der Wßg fuhrt durch
eine der schönsten und fruchtbarsten Gegen-
den des Komtats, worin die Zipressen und
Oelbäurae für mich den Reitz der Ungewöhn-
*35
lieh k ei t hatten. Der hohe , noch halb mit
Schnee bedeckte Yentoux gewährt, in die-
ser flachen Gegend , einen sehr großen und
majestätischen Anblick. Seinen Gipfel erstieg
Petrarka, vor mehr als vierhundert Jahren,
in Gesellschaft seines Bruders ; und dies war
damals ein eben so unerhörtes Unternehmen,
als in unsern Tagen die Ersteigung des Mont-
blancs. Der Beschreibung nach, die er uns
in einem seiner Briefe von dieser Wanderung
hinterlassen hat, mufs die Aussicht vom* Yen-
toux eine der mannichfaltigsten und ausgedehn-
testen des Erdbodens seyn. Er sah die Al-
pen, die Gebirge der Provinz Lyon, die Küste
des Mittelmeers von Marseille bis Aigues-
m ort es , und zu seinen Fufsen den Lauf der
Rhone durch eine unermefsliche Ebene. Nach-
dem er sich lange an diesem Schauspiel gewei-
det hatte, schlug er die Bekentnisse des
heiligen Augustinus auf, welche er immer
bei sich trug, und traf, durch eiifen sonder-
baren Zufall , grade auf die Stelle , wo es
heust : Daß wir Menschen die Gipfel der
I3Ö
Berge erklimmen, um die Unermefslichkeit des
Meeres und den: Lauf der Ströme zu bewun-
dern, aber indefs uns selbst aus den Augen
verlieren. Der Brief Petrarkas, welcher die
Erzählung dieser Bergreise enthält, hat immer
einen besonders lebhaften Eindruck auf mich ge*
macht , und ist mir der gegenwärtigste vor al-
len geblieben. Jetzt gehört eine Reise nach,
dem Ventoux zu den sehr leicht auszufüh-
renden Dingen. Alle Jahre , am 14. Septem-
ber, wird in einer Kapelle, die auf dem Gi-
pfel erbaut ist , Messe gelesen ; und, so wie der
erste Augustsonntag die Anwohner des Jura
auf der Dole versammelt, so versäumen hier
wenige Landleute, am genannten Tage, den
Gipfel des Ventoux zu besteigen.
Ungefähr eine Stunde von Avignon, fragte
ich einen anständig aber einfach gekleideten
Mann, der mit schnellen Schritten hinter mir
herkam, nach dem Wege nach Lile. Wenn's
Ihnen gefällig ist , antwortete er mir , können
wir miteinander gehen, denn ich will auch
nach Lile. Wir wanderten also zusammen
j
*37
weiter, und unvermerkt wandte sich das Ge-
spräch auf wissenschaftliche Gegenstände. Mein
neuer Gefährte verrieth viele Belesenheit , ge*-
Sünde Urtheilskraft und richtiges Gefühl. Er
nannte Montesquieu, Mably und Rous-
seau, das Triumvirat welches die Revolution
vorbereitet habe, und sprach mit Entzucken
von Pope, Thomson und' Gefsner, die
er aus Uebersetzujigen kannte. Plutarchs
Biographien hatte er mehrmals durchgelesen.
Dieser Umstand brachte noch mehr Wärme in
unser Gespräch , und ich wurde immer fester
überzeugt , die Bekanntschaft eines sehr ge-
schmackvollen und scharfsinnigen Gelehrten
gemacht zu haben. Auf die Bitte , mit mir zu
Lile }m neralichen WirthsLause zu übernach-
ten, bekam ich zur Antwort; Dafs er nur da-
hin gehe um ein Billard zu beschlagen. Mein
philosophischer Reisegefährte war, wie ich jetzt
erfuhr , ein Tapezierer von Avignon, der
von früher Jugend an, unter der Leitung eines
dortigen Gelehrten , alle seine Nebenstunden
den Wissenschaften gewidmet hatte. Wir trenn-
ten uns wie alte Bekannte.
i38
Mit dem päbstlichen Wappen über dem
Tliore von Lile, ist seit der Uebergabe an
Frankreich, eine Veränderung vorgegangen,
die ich unmöglich mit Stillschweigen überge-
hen kann. Ein patriotischer Steinhauer hat al-
les gothische Schnitzwerk von der dreifachen
Krone des heiligen Vaters weggemeifselt , und
sie durch verkürzende Abrundung zur franzö-
sischen Freiheilsm fitze umgeschaffen.
Das Wirthshaus wo ich mich einlogirt habe,
liegt vor dem Thore, nicht weit von der Sor-
gue, welche die Stadt mit zwei Armen um-
fangt. Ich bin hier nur eine kleine Stunde von
Vauklüse entfernt, wo ich den morgenden
Vormittag zuzubringen gedenke.
Bevor ich dir meine , in der Familie des
Wirths gemachte Entdeckung mittbeile, mufs
ich vorausschicken , dafs die Einwohner des
Komtats in vier Partheien getheilt sind, die
einander mit unerbittlichem Hasse verfolgen.
Die erste hangt dem Pabste an und besteht
gröfstentheils aus alten Leuten und Geistlichen;
die zweite , welche die aristokratische heifst ,
/
«39
wünscht zwar das Land unter Frankreichs
Oberherrchaft , aber zugleich die völlige Wie-
derherstellung der alten königlichen Gewalt;
die dritte ist mit der jetzigen Ordnung der
Dinge vollkommen zufrieden , und wird die
demokratische genannt; die vierte endlich be-
steht aus Leuten , die unter Jourdans Anfüh-
rung sich durch Plündern bereicherten und da-
her keinen angelegentlichem Wunsch haben,
als die Fesseln ihres Helden zerbrochen und ihn
wieder zu seiner vorigen Gewalt erhoben zu
sehen : Diese begreift man unter dem Namen der
Brigands. Es war eine der sonderbarsten,
aber zugleich traurigsten politischen Erschei-
nungen für mich , diese vier Partheien , in mei-
nem Wirthshause, wo die ganze Familie nur
aus vier Personen besteht, vereinigt zu finden.
Der Vater, ein bigotter alter Mann, dem die
Metamorphose der Pabstkrone über dem Stadt-
thor e schon mehr als eine schlaflose Nacht ver-
ursacht haben mag , war ein Papist ; die Mut-
ter eine heftige Demokratin ; die Tochter, wel-
che mit dem ehemaligen Erzbischof von Aix
140
in Verbindung gestanden hatte , eine enragirte
Aristokratin , und der Sohn , als gewesener
Lieutenant unter Jourdan, ein wuth ender
Brigand. Zwischen der Schwester und dem
Bruder schien die Erbitterung lange nicht so
weit zu gehen, als zwischen den beulen Alten,
welch fast immer im Streite waren. Als ich die
Aristokratin fragte ,• ob man unter ihrem Dache
auch mit Sicherheit übernachten könne, da ihr
Bruder, nach ihrem eigenen Ausspruche , ein
Brigand sei , antwortete sie mir :
Ne craignez rien , Monsieur , il est trds
boi enfarit , quand il est ici ; mais quand il
est avec Jöiirdan , alors il fait son devoir.
Avignon, 20. März.
Ich war in Vauklfise. Mit Wohlgefallen
verweilte ich an dem Orte, wo einer der merk-
würdigsten und ausgezeichnetsten Menschen ,
i4i
nicht nur seines Jahrhunderts, sondern aller
Jahrhunderte zusammen genommen, einen gros-
sen Theil seines Lebens den Musen und der Ein-
samkeit heiligte; wo er seinen Sinnen den Krieg
ankündigte; nichts sah, als eine Magd, braun
und dürrgesengt wie die lybischen Wüsten ;
nichts hörte, als das Blöcken der Heerden,
den Gesang der Vögel und das Rauschen des
Wassers ; niemand zur Gesellschaft begehrte ,
als seinen treuen Hund und seine Bücher;
oft vom Morgen his zum Abend das Stillschwei-
gen eines Karlhäusers beobachtete; nur von
schwarzem Brode und Früchten lebte ; sich klei-
dete wie seine Nachbarn die Fischer und Hir-
ten ; seinen Garten mit eigener Hand baute ;
am Morgen auf den umliegenden Hügeln und
am Abend in den nahen Wiesen umherschweifte ;
oft um Mitternacht, beim Scheine des Mon-
des, in die furchtbare Höhle hinabstieg, wo
er sich sogar in Gesellschaft und am bellen
Tage von geheimen Schauern durchdrungen
fühlte ; im Felde und im Walde wie in sei-
nem Kabinete las, schrieb und träumte; die
142
Vergangenheit prüfend durchdachte und über
die Zukunft rnthschlagte ; froh des seligen Mit-
telstandes zwischen Armuth und Reich th um ,
in bescheidner Ländlichkeit, an klaren Gewäs-
sern, in schattigen Hainen, auf blumigen Wie-
sen , zwischen Oelbäumen und Reben , mit der
reinen Luft , Gesundheit und Freiheit athmete,
und wo er gewifs sein Leben beschlossen hatte ,
wenn Avignon, das er verabscheute, nicht
zu nahe, und Italien, das er schwärmerisch
liebte , nicht zu fern gewesen wäre.
Hier sang er die Kanzonen und Sonnette
von denen er selbst so bescheiden dachte und
die doch hauptsächlich seinem Namen Glanz
und Unsterblichkeit gaben ; indefs sein Helden-
gedicht Afrika, worauf er seinen ganzen Dich-
terruhm gründete , vergessen ist ; so wie sein
Freund Bokkaz nicht durch den Dekame-
ron, djßn er für unbedeutend hielt und sogar
zu unterdrucken suchte , sondern einzig und
allein durch seine . jetzt in Dunkelheit ruhen-
den lateinischen Werke, bei der Nachwelt fort-
zuleben hoffte.
*43
Du weifst, daß die Sorgue, die schon an
ihrer Quelle Kähne trägt, aus einem kleinen
See entspringt, der, ,unter der Umwölbung ei-
ner geräumigen Höhle, in einem ovalen Felsen-
becken ruht , und dafs sie , bei niedrigem Was-
ser, durch unterirrdische Kanäle in ihr Bett
hervordringt. Der Anblick dieser Grotte , die
ich mir immer so abenteuerlich gedacht und
mit ganzen Schaaren von Gnomen , Feyen und
Ondinen bevölkert hatte , ward mir nicht zu
Theil; denn der Flufs war so hoch angeschwol-
len, dafs er über den Steinwall, welcher sich
vor dem Eingange der Höhle erhebt, mit fürch-
terlichem Tosen herabstürzte. Die Felsen ,
welche die Quelle gleich einem Amphitheater
umgeben , sind völlig senkrecht , und verlieren
sich in den Wolken.
Nicht fern vom Ursprünge der Sorgue,
liegt auf einem schroffen Felsen ein Burgge-
mäuer das völlig unzugänglich scheint und von
den Einwohnern Petrarka's Schlofs genannt
wird. Durch diese Trümmer hat sich der Name
des Dichters im Munde aller hiesigen Land-
146
Fünfzehn ter Briet.
Nisines, aa. Man« 1792*
«
Ich nehme jetzt den Faden meiner abgerifs»
nen Erzählung wieder auf. In Avignon wurde
ich mit einem Hauptmanne der Nazionalgarde
von Montpellier bekannt, der ebenfalls am
folgenden Morgen nach Nisraes reisen wollte.
Da mir der Mann wegen seines feinen und ar-
tigen Betragens gefiel , so nahm ich seinen
Vorschlag, auf gemeinschaftliche Kosten einen
Wagen zu miethen , mit Vergnügen an. Wir
verliefsen Avignon um 5. Uhr morgens und
setzten über die Rhone, in deren Mitte hier
eine ansehnliche Insel liegt , nach Villen euve
über, bei welchem Stadtchen die prachtige lan-
guedokische Chaussee anfängt, welche wegen
ihrer außerordentlichen Breite berühmt ist.
Der allgemeine Nazionalgrufs ist jetzt : ca
iral worauf: cela val erwiedert wird ; sowie
*47
in einigen Gegenden des katholischen Deut*
schlands dir der Grüßende: Gelobet sei Jesus
Christ ! zuruft , und Du ihm : In Ewigkeit ! ant-
wortest. Von allen Feldern und in allen Dör-
fern , schrien Männer Weiber und Kinder uns
ihr ga iral entgegen und erhoben ein lautes
Jubelgeschrei , wenn wir cela va ! antworteten*
Der Enthusiasmus für die Revoluzion grenzt an
Taumel beim Landvolke dieser Gegenden. Sie
reden wie Begeisterte , wenn man das Wort
Freiheit nur auspricht, und leben der festen
Zuversicht , dafs sie ein Gebäude aufführen ,
Welches der vereinigten Gewalt des ganzen Erd-
bodens Trotz bieten werde.
Nicht weit vonRemoulins sahen wir ei-
nen etwa neunjährigen Knaben auf einem Acker
Steine zusammenlesen. Als wir uns näherten,
unterbrach er seine Arbeit , stellte sich • mit
einem Gesichte, worin Trotz den Hauptzug
machte, (wahrscheinlich weil eine Kutsche zu
den Attributen des Aristokratismus gehört ) an
die Landstraße , und schrie überlaut : ga ir^ !
Mein Gefährte , um seinen patriotischen Eifer
i48
auf die Probe zu stellen, erwiederte: ca riira
pasl worauf jener mit dem Fufse auf die Erdet
stampfte , und sein ca ira .sehr heftig wieder-
hohltc. Jetzt liefs der Offizier halten , sprang
aus dem Wagen, und gieng mit gezognem Sä-
bel auf den Knaben los. Du bist des Todes ,
wenn du nicht auf der Stelle sagst: ca nira
pasl rief er mit fürchterlicher Stimme, indem
er zugleich die Stellung annahm , als sei er im
Begriffe ihm den Kopf zu spalten. Das Kind
erblaßte, beugte sich ein wenig vorwärts > um
den Todestreich zu empfangen, und sagte mit
zitternder und gedämpfter Stimme: ca iral.
ca iral
Mein Reisegefährte , durch dies außeror-
dentliche Beispiel von unerschrockener Auf-
opferung gerührt , umarmte den kleinen Mär*
tyrer, (denn so mußte man ihn betrachten >
weil er die wahre Absicht der Scene nicht ge-
ahndet hatte ) machte ihm ein Geschenk , und
schied mit den "Worten von ihm:- Du bist ein
wackrer Junge , und mufst sejir brave Eltern
haben.
\
*49
In Rem gu lins nahm ich einen Fuhrer,
um die Wasserleitung über den Gardon (7*
pont du Gard) zu sehen, welche nicht weit
von diesem Dorfe entfernt ist. So hoch meine
Erwartung auch durch die Schilderung, welche
uns Rousseau, in seinen Bekentnissen , von
diesem herrlichen Ueberbleibsel der römischen
Gröfse hinterlassen hat, gespannt worden war,
so übertraf dennoch die Wirklichkeit bei wei-
tem das Bild meiner Phantasie.
Es ist unmöglich sich., etwas kühnerer, ed-
leres und majestätischeres zu denken, als den
Stil dieser Wasserleitung, die mehr ein Werk
der Götter, als der Menschen zu seyn scheint.
Man erliegt beinahe unter der Erhabenheit die-
ser Erscheinung, die sich auf einmal m einer
Gegend, so wild, verlassen und dürftig, dafs
der Anblick einer armseligen Kapelle darin
frappiren würde , in ihrer ganzen Riesengröfse ,
.*ls der stärkste sinnliche Ausdruck der Unzei*-
störbarkeit, darstellt. Rousseau sagt: Diese
Wasserleitung war, seitdem ich auf Erden bin,
der einzige Gegenstand,, den ich nicht unter
i5o
meiner Erwartung fand. Ich verlor mich in
den iingeheuem Gewölben wie ein Insekt, und
glaubte bei jedem wied erhallen den Fußtritte die
Stimme der alten Gebieter des Erdkreises zu
hören.
P*3*r**»
«IIa* es-»
Es kam darauf an, da« Wasser, welches
vom heutigen Uezes, sieben Stunden weit
nach Nismes geleitet ward., über die Tiefe
zn führen, durch welche der Gardon in die-
ser Gegend seinen Laaf nimmt, und also die
Gipfel zweier Berge durch einen Kanal in Ver-
bindung zubringen, der über anderthalb liun-
dertFufs über den Flufs erhoben werden mufste.
Man war daher genöthigf drei Geschosse über
einander zu stellen, wovon das innerste aus
sechs , das zweite aus eilf , und das dritte ,
welches den Kanal tragt , aus fünf und dreis-
sig Arkaden besieht. Die gröfste Lqnge de*
Ganzen , d. h. da , wo sich die Berge am wei-
testen von einander entfernen, wird auf O oo.
Fufs angegeben.
Mit einbrechender Nacht erreichten wir
Nismes. und stiegen im Ffolel von Luxem-
burg ab. Ich erwachte heute sehr früh, und
mein erster Gang war nach dem Amphitheater,
dem herrlichsten romischen Denkmale aui ser-
halb Italien. Dies Gebäude würde einen un-
beschreiblichen Effekt machen, wenn es auf ei-
ner freien Anhöhe oder nur in einer freien
Ebene stände, und nicht, wie jetzt^ durch eine
Menge elender Häuser entstellt würde / die
nicht nur von aufsen daran geflickt sind, son-
dern auch die Arena dicht überdecken; so daß
es der Einbildungskraft beinahe unmöglich ist ,
das Ganze auf einmal zu umfassen und dierei-
i5*
nen und edlen Formen desselben aus diesem
Chaos hervorzuheben. Jetzt fängt man endlich
an , nach einem längst entworfenen Plane ,
die Baracken der Arena niederzureiten und
die ringsher viele Fuß hoch aufgehäuften .
Schuttlagen wegzugraben.
Unter allen römischen Amphitheatern, hat
sich, nächst dem veronesischen ,keins vollstän-
diger erhalten als das Amphitheater von Nia-
mes; welches um so außerordentlicher schei-
nen mufs . da es nicht nur der Zeit allein, son-
dem auch der Zerstörungswuth der Barbaren-
des Mittelalters Trotz zu bieten hatte. Ihren
gutgemeinten Verunstaltungen entging es jedoch
eben so wenig, als das Pantheon in Rom.
Die Gothen stellten zwei Thurme auf die At-
tika der Vorderseite , welche mir vorkommen
wie eine Allongenperrücke auf dem Haupte des
Farnesischen Herkules. Die Erbauungsepoche
dieses Amphitheaters kann man nicht mit Ger
wifsheit angeben; wahrscheinlich aber fällt sie
in die Regierung des ersten Antonius.
Vortbeilhafter gestellt, als das Amphitheater,
■53
ist ein anderes architektonisches Kunstwerk ,
das die höchste Zierlichkeit mit der höchsten
Eurythmie vereinigt : Dies ist ein Tempel im
korinthischen Stile der den trivialen Namen des
viereckigen Hauses {Maiso/t carrtfe) fuhrt.
Das Peristyl hat zehn freistehende kanelirte
Säulen; die übrigen zwanzig sind zur Hälfte in
den Seitenmauern verborgen. Das Bildwerk am
Fries und die Kapitaler sind von so bezaubernder
Schönheit, dafs ich es für schwer halte , sich in
i54
dieser Art etwas vollkommneres vorzustellen.
Dem Herrn von S e g u i e r , einem scharfsinni-
gen und gelehrten Altertumsforscher , ist es
gelungen, die Urbesiimmung dieses Tempels ans
Licht zu bringen, indem er die Aufschrift am
Fries des Frontons, nach der Lage und Rich-
tung der Löcher, worin die losgebrochnen me-
tallnen Buchstaben vormals eingepafst waren ,
wieder herstellte. Dieser Entdeckung zu Folge,
ward er zu Ehren der beiden Söhne des Mar-
kus Agrippa erbaut.
Von hier ging ich nach der Quelle ,' welche
Nismes mit Wasser versorgt. Nahe dabei sind
die unbeträchtlichen Ueberreste eines Dianen-
*
tempels. Um die Quelle -her hat der Magi-
strat eine . öffentliche Promenade angelegt, die,
nach dem Urtheil unscrs Odysseus N * * * ,
zu den prachtvollsten von Europa gehört. Die
Abwechselung von Statuen , Ruinen , Lustge-
bäuden , Kanälen und Alleen ist in der Tbat
reitzend und ganz im Geiste der alten Bewohner
der Colonia Nemausensis.
Der sogenannte grofse Thurm ( la tour
magnej der nicht weit von der Stadt auf ei-
ner Anhöhe liegt, hat den Antiquaren schon
sehr viel zu schaffen gemacht. Da er der
Bauart nach nicht römischen Ursprungs zu seyn
scheint, so hat man ihn von den alten Galliern
auffuhren und zur Feier druidischer Mysterien
dienen lassen. Einem andern ist es sogar ein-
gefallen ihn zum Pharus zu machen , wozu frei-
lich weiter nichts fehlte, als das Meer; doch
diese Schwierigkeit war leicht zu lieben : das
Mittelmeer bespühlte in den ältesten Zeiten den
Fufs der Anhöhe , worauf der Thurm erbaut
ist. Am richtigsten scheint mir Herr Fisch,
in seinen mit Recht allgemein geschätzten Brie-
fen über Südfrankreich, überdies alte
Monument gemuihmafst zu haben, das seiner
auffallenden Sonderbarkeit wegen , vor hun-
dert andern , einer genauem Untersuchung
Werth war. Er hält es für einen römischen
Wachtthurm und Besatzungsort, welcher mit ei-
nem andern Thurme zwischen Arles und Nis-
mes korrespondirte ; so dafs beide Städte*
durch verabredete Losungszeicben , sich von ei-
i56
ner herannahenden Gefahr unterrichten konn-
ten. Hierdurch werde aber seine ehemalige
Bestimmung zum gallischen Tempel keines We-
ges ausgeschlossen.
Ehe ich meinen Gasthof wieder erreichte >
war ich noch Augenzeuge eines Auftritts , der
mich mit dem heftigsten Unwillen erfüllte.
Auf der Esplanade ward ein alter Ludwigsrit-
ter , der da ruhig spazieren ging > von einigen
Kerlen vom niedrigsten Pöbel angehalten, und
trotzig befragt: Warum er keine Kokarde trage?
Ich habe sie vergessen , ( antwortete der alle
Ritter mit festem Tone) und ich weifs auch
nicht , was mir die Verbindlichkeit auflegt ,
euch darüber Rede und Antwort zu geben.
Gleich diese da angemacht ! schrie ein Kerl mit
einer wahren Kalibans - Physiognomie , schon
halb wfuhend, indem er dem Ritter seine ei.
gene Kokarde hinreichte ; und als dieser > um
der Scene schneller ein Ende zu machen , sie
eben aufstecken wollte, rifs ein andrer ihm
dieselbe mit den Worten wieder weg: „Ein so
„ infamer Aristokrat verdient keine Kokarde zu
»57
•
„ tragen ; und gleich das Kreutz aus dem Knopf«
loche u ! Mit diesen Worten entriß er ihm auch
das Ludwigskreutz, trat es unter die Füfse (wel-
chem Beispiele der Kaliban gleichfalls folgte)
und gab es dann mit dem Bedeuten zurück,
niemals wieder jnit diesem verhaßten Abzeichen
öffentlich zu erscheinen. Das umstehende Volk
belohnte die Helden mit dem lautesten Beifalle ;
und wehe dem , der sich des armen alten Man-
nes hätte annehmen wollen ! Beinahe jeder Tag
ist jetzt, in allen Winkeln Frankreichs, mit
ähnlichen Gewalthätigkeiten bezeichnet , und
das Volk scheint im eigentlichsten Verstände dazu
privilegirt zu seyn, weil kein Gesetz dagegen
angerufen werden kann.
»58
Sechszbhnter Brie*.
Montpellier , 24. März. 1792«
Bei einem Dorfe, zwischen N i s m e s und Mont-
pellier, sahen wir in einiger Entfernung von
uns, auf einem Fußpfade neben der Landstrafse,
zwei Nazionalgardisten, die einem dritten mit vie-
ler Heftigkeit zuschrien: Geh' voraus, Schurke!
Als dieser sich weigerte , rannten sie selbst mit
grofser Eilfertigkeit einige Schritte voraus > feg-
ten auf ihren Kameraden, der jetzt, da er ihr
Vorhaben merkte , sich durch die Flucht zu
retten suchte, beide zugleich an, und trafen.ihn
so geschickt im Laufe, dafs er zu Boden stürzte«
Als Wir ihnen nahe genug waren, fragte sie
mein Reisegefährte um die Ursache dieser
schrecklichen That , worauf ihm der eine un-
gefähr folgenden Bescheid gab :
i59
Sie haben Recht über die Strenge zu er-
staunen , mit welcher Sie uns den Elenden da
haben behandeln sehen ; aber er hatte es nicht
besser verdient. Der Pfarrer jenes Dorfs nahm
uns mit der größten Höflichkeit auf, gab reich-
lich zu essen und zu trinken her , und bat uns,
so lange bei ihm zu bleiben , als es uns gut
dünken würde. Heute nun, da wir sein Haus
verlassen wollten , gab er zu verstehen dafs ihm
ein silberner Löffel fehle. Sogleich kehrten
wir beide unsre Taschen um, und baten un-
sern Kameraden ein gleiches zu thun« Auf sein
hartnäckiges Weigern brauchten wir Gewalt x
und fanden den Löffel. Wir beschlossen auf
der Stelle , ihn zu bestrafen, so bald wir vor
dem Dorfe seyn würden. Urtheilen Sie jetzt
selbst , ob wir ein Recht dazu hatten ? Kein
ehrlicher Mann dient mit einem Diebe u !
Gelassen setzten sie jetzt ihren Weg fort ,
ohne sich weiter nach ihrem Kameraden umzu-
sehen, der indefs gestorben war.
f.
i6o
Seit gestern bin ich in Montpellier ,
fer übt longum tepidasque pracbet
Jupiter brumas.
Herr Amoureux ein geschickter Arzt und
Naturforscher , an den mich Doktor Gili-
>
bert empfohlen hatte, machte mich mit den
Sehenswürdigkeiten dieser Stadt bekannt.
In der Mitte der Esplanade, einem öffent-
lichen Spatzierplatze, hat man kurzlich, auf einer
vierzig Fuß hohen Kolonne , der Freiheit eine
Bildsäule errichtet und an den Piedestal die
Menschenrechte in eine Tafel von schwär*
zem Marmor eingegraben. Von hier erblickt
man in der Ferne das Meer , in der Nähe ganze
Wälder von Oelbäumen.
Merkwürdiger als dieser , ist ein andrer öf-
fentlicher Lustplatz, wo glänzende Pracht mit
edlem Geschmacke vereinigt ist ; man nennt ihn
da? P e y r o u. Die eherne Ritterbildsäule L u d-
wigs des Vierzehnten, welche eine der
Hauptzierden desselben ausmacht, gehört zu
den vortreflichsten Kunstwerken welche Frank-
reich
^ iGi
reich in dieser Gattung aufzuweisen hat. Rings-
umher stehen noch viele ledige Postemente,
deren Besetzung lange im Werke gewesen seyn
soll , von der jetzigen Nazional Versammlung
aber wohl undekretirt bleiben wird. Was auf
diesem Platze die Aufmerksamkeit am meisten
fesselt , ist ein achteckiger Tempel ^ der am
Ende einer Wasserleitung sieht , die unter den
Wasserleitungen der neuern Zeit unstreitig den
ersten Rang behauptet. Sie besteht aus zwei
Geschossen von Arkaden, auf welchen ein Ka-
nal ruht, der das Wasser eine Viertelstunde
weit von einer Anhöbe herführt. Dies nerr-
liche Denkmal der neuern Baukunst wurde
eirien noch vortheilhaftern Eindruck machen ,
wenn es iri grader Linie fortliefe, und nicht,
gegen das Ende, in einen stumpfen Winkel
hätte gebrochen werden rhüfsen. Der Tempel,
der vielleicht nur zu sehr mit Verzierungen
überladen ist, steht über dem grofsen Behäl-
ter welcher das Wasser des Kanals aufnimmt.
Vom P e y r o u hat man rechts die Pyrenäen,
links die Alpen , und vor sich das Meer.
L
m
lO*2
Der Liesige Schauspielsaal, der, nach der
Einäscherung des vorigen, neu aufgeführt wurde,
ist zirkelrund, und gefällt jedem Freunde des
wahren Schönen, durch seine einfach -edle
Verzierung. Anstatt der Kerzen hat man auch
hier argandische Lampen eingeführt.
Man spielte das Lager von Koblenz,
ein Nazionalstück, worin der Graf Artois,
der Prinz Con de, Mirabeau das Fafs und
andre Emigranten auf die beifsen eiste und bür-
leskeste Art lächerlich gemacht wurden. Diese
Posse ward mit einem Jubel aufgenommen, des^
sen Ausbrüche das ganze Haus erschütterten.
Ich eile jetzt nach dem Meerhafen von
Cette, der fünf Stunden von' hier entfernt
ist, und von dessen merkwürdiger Lage so
viele* Reisende mit Bewunderung sprechen.
Leider fehlte es mir an Zeit , die Insel
Magellone zu besuchen, wo ehemals eine
grofse Stadt blühte, von der jetzt nichts mehr
übrig ist, als die Domkirche, in welcher, der
Sage nach, die schone Magellone an der
163
Seite ihres Gemahls, Peters von Provence,
begraben liegt.
Cette, 25. März 1792.
Ich erblickte das Meer, welches dem Freunde
der beiden edelsten Völker der Welt, vor al-
len Gewässern, die auf der Erdfläche wallen,
heilig seyn mufs, in der schönsten Beleuchtung
der untergehenden Sonne.
Der Hafen mit einem Walde von Mastbäu-
men; der Mole mit seinem schlanken Leu cht e-
thurme ; die Stadt Cette , welche ganz im
Wasser zu liegen scheint; der hohe Berg, der
hinter derselben sich majestätisch erhebt; eini-
ge holländische Windmühlen; die lange Stein-
bocke, unter welcher der Kanal von Langue-
dok durchgeht; Fischerböte nicht weit vom.
Gestade; Schiffe mit geschwellten Segeln in
der Ferne : dies alles machte ein Gemälde ,
das mich entzuckte , wie der Anblick des Gen-
fersees und der Alpenkette vom Gipfel der
Dole.
i6{
Der Abend war warm, wie ein Sommer-
Abend; die Matrosen schwammen zwischen den
Schiffen im Hafen herum, und die Fischer
sangen in ihren Barken. Ich stieg hinter der
Petersschanze hinab , und .warf mich in die
lauen Fluthen; mit der Wonne habe ich nie-
gebadet. Die Geschwader der Karthager, Sy-
rakuser und Römer, gingen vor meinem Geiste
vorüber; die grofsen Schatten der' Scipionen
schwebten über den Wassern , und klagende
Stimmen der Heldenvölker schollen, aus ihren
fernen Grüften, über die unermeßliche Mee-
resfläche, welche sie vormals herrschend um-
wohnten.
Ich ging nachher noch auf dem Mole spatzie-
ren. Das Getümmel des Hafens nahm allmäh-
lich ab, und man hörte nur noch von Zeit zu
Zeit in den Schiffen zum Essen öder zum Ge-
bete läuten. Das Feuer des Leuchtethurms
hatte schon lange gebrannt, als ich in den
Gasthof zurückkehrte.
i65
Siebzehnter Brief.
Blonay, 30. Jul. 1792.
Du kennst die küjine und feierliche Berglage
des Schlosses Blonav, mein lieber Bonstet-
ten! die prachtvolle und reiche Ansicht von
der Terrasse, wo man den See und die Mün-
dungen des Rhodans, wie aus den Wolken,
in der Perspektive des darüber hinstreifenden
Adlers erblickt, und die wahrhaft erhabenen
Kontraste der ganzen umliegenden Gegend, die,
selbst Aubonne nicht ausgenommen, keiner
andern des Waadt-JLandes an Majestät und
Herrlichkeit weichen darf. Urt heile daher von
der Lebhaftigkeit meiner Freude über die Ver-
längerung unsers Aufenthalts in dieser ehrwür-
digen* Ritterburg. Ich bewohne ein Zimmer,
aus welchem man einen Theil des Rhone-
Thals übersieht. Der Vorgrund der Landschaft
besteht aus Buschhügeln und Wiese'nthälern ,
i6<5
wo Dörfer aus Fruchtbauin - Hainen hervor-
blicken, und mäandrische Bache, in hundert
kleinen Kaskaden, von den sanften Abhängen
der Garten und Viehweiden herabrauschen.
Im Hintergrunde erheben sich die Walliser-
Schneegebirge. Nicht weit von meiner Woh-.
nung ist ein grauer, hie und da mit Epheu
bekleideter Thurm , in welchem schon seit
Jahrhunderten Minervens Vogel in ungestörter
Sicherheit nistet, und auf dessen Dache, nach
einer alten Volkssage, allnächtlich ein kolossa-
lischer Ritter in voller Rüstung erscheint, des-
sen Bart wie ein Kometenschweif leuchtet.
Von unsrer Reise in den Sanen-Thälern,
wo ich schon seit einigen Jahren, durch deine
Briefe über ein schweitzerisches Hir-
tenland, im Geiste einheimisch war, sind wir
vor vierzehn Tagen zurückgekommen. Um keine
merkwürdige Pflanze zu verfehlen, nahmen wir
einen Begleiter, der die ganze Alpenflora, im
strengsten Sinne , auswendig weifs , und ein
Lokal- Gedächtnifs besitzt, das selbst dem gros-
sen Hall er oft Erstaunen abnöthigte, der ihn
ißj
wahrend der Ausarbeitung der Histor. stirp.
Helvet. indigen. vorzüglich zum Einsammeln
der Pflanzen gebrauchte , und seiner auch
in der Vorrede zu diesem unsterblichen Werke
dankbar Erwähnung thnt. Er heifst Thomas,
und lebt als Landmann und Dorfrichter zu
Fennaley, unweit Bex. Zwar hat er nie
die Philosophie der Botanik ergrundet, und ist
folglich, nach Rousseau' s guter Distinction,
mehr den Herboristen, als den Botanikern bey-
zuzählen; aber sein Gedächtnifs ist so vielfas-
send und treu; sein Blick, jedes Alpengewachs
ohne Ausnahme bei'm ersten Anschaun und
oft schon in einer beträchtlichen Entfernung,
nach Klasse , Ordnung, Gattung und Art zu
erkennen ; so geübt und richtig, dafs er in
dieser Hinsicht gewifs nicht nur Aufmerksam-
keit , sondern auch Bewunderung verdient.
Mali könnte ihn, dünkt mich, am schicklich-
sten mit einem Bibliothekare vergleichen, der
alle Titel seiner Bücher geläufig herzusagen,
und Stelle und Fach eines jeden pünktlich an-
zugeben wüfste, aber jenseit des Einbandcs ein
i63
Fremdling geblieben wäre. Zeige ihm in Wal- .
lis, oder im Gouvernement von Aigle, wel-
chen Berg du willst, und er wird im Stande
seyn, dir mit untrüglicher Genauigkeit anzu-
deuten, was jede Region desselben an Pflanzen'
hervorbringt; in welchem Monate sie blühen,
und ob sie im Schalten oder an der Sonne , -
in Sumpfen oder an Quellen, in Wäldern oder
auf Triften wachsen. Auf einer Exkursion, die
ich in seiner Gesellschaft vor zwei Jahren nach
dem Anzindas machte, fragte ich unter an- .
dem: Ob die Campanula thyrsoulra viel-'
leicht in der Nähe anzutreffen soy? J\I 1 1 seiner
gewohnten Kaltblütigkeit wies er, stau der
Antwort, mit dem Knotenstocke nach einer
Felsenreihe, die etwa eine halbe Stunde von
unserm Wege entfernt lag. Wir giengen hin.
Thomas blieb vor einer Felswand stehen,
und sagte: Da oben mufs sie seyn! kletterte
dann auf einen Vorsprung, bog, ohne aufzu-
blicken , den Arm über eine Art von Gesims ,
das der obere Theil der Felswand bildete, wie
man auf einen wohlbekannten Schrank nach
1%
einem Hausgeraihe langt, und zog ihn mit der
Blume, die er auf den ersten Griff getroffen
hatte, wieder zurück. Aufser den Linnäischen
Namen hat er auch die Hallerischen .voll-
kommen inne. Seit einiger Zeit treibt er ei-
nen beträchtlichen Handel mit Bäumen und
Sträuchen, deren er besonders viele in England
und Frankreich absetzt. Er versichert , eine
neue Genzi an -Gattung entdeckt zu haben, die
den Namen Gentiana elegantissima fuhren
foll. Sie ähnelt seiner Beschreibung nach der
G. pwictata am meisten, von welcher sie am
Ende vielleicht nur eine Spielart ist.
An der Seile eines solchen Spähers, der zu-
gleich an Schnellfufsigkeit und Klimmkraft mit
den Steinböcken wetteifert, mufste nothwendifir
unsre botanische Lese diesmal reicher, als auf.
irgend einer vorhergehenden Wanderung aus-
fallen.
Der erste Anblick einer Pflanze, der ich
lange vergeblich nachspurte, versetzt mich im-
mer noch in eine Entzückung , auf die ein
jeder ein entschiedenes Recht hat, mit mitleidi-
gern Achselzucken herabzulächeln, der nicht
im Schoofse der Schweitzergebirge in die hei«
ligen Mysterien der Flora Alpina eingeweiht
wurde , und nicht wenigstens einigemal , an
schonen Julius -Tagen, das Fest dieser Göttin,
im Angesichte des ewigen Eises und unter den
Finflüssen des begeisternden Odems der reinen,
Körper und Seele verjungenden Bergluft be-
ging. So wie ich niemals ermüde.» Raphaels
und Guido's Gemälde in meine Phantasie
zurückzurufen , Seckendorfs Melodien zu
hören, und Plutarchs Biographien zu lesen;
eben so ermüde ich auch nie, meine Lieblinge
unter den Blumen, selbst auf den rauhsten
und muhevollsten Pfaden, wieder aufzusuchen.
Zu diesen gehört nun auch die Andromeda
polifolia, von welcher Linnees dichterische
Beschreibung *) und die seiner Lappländi-
schen Flora beigefügte Abbildung derselben,
*) Andromeda , virgo haec lectissima puleberrimaque
collo superbit alto et vividissimo (PedunCulus),
cujus Facies roseis suis labellis (corolla) vcl Opti-
mum veneris fueura longe superat; juncea hacc in
J 7 l
meiner Einbildungskraft schon längst ein sehr
reitzendes Bild eingedrückt hatten. Frohlockend
empfieng ich sie aus den Händen des wackern
Thomas, der zwar nicht, wie weiland Per-
seus bei Befreiung ihrer schönen Namensschwes-
ter, den furchtbaren Kampf mit einem Wasser-
Ungeheuer zu bestehen, aber doch, um ihrer
habhaft zu werden, eine lange Sumpfstrecke
zu durchwaten gehabt hatte. Sicher hätte ich
die schöne Andromeda mit cjer ganzen Wonne
genua projecta pedibus alligata (caulis inferior
ineumbens) aqua (vernali) cioeta, rupi (mon-
t i c u 1 p ) adfixa , horridis draconibus ( a m p h i h i i s)
exposita ? terrara versus inclinat moestam faciem
( f 1 o r e m ), innocentissimaque brach ia (ramos) cce-
lum versus erigit, meliori sede fatoque dignissima ,
donec gratissimus Pcrseus (aestu s ) monstris di-
victis , eam ex aqua eduxit e virgine faetam feeeun-
dam matrem, qua* tum faciem (fruetuni) erec-
tam cxtollic. Si Ovidio fabulam de Andromeda
couscribenti ha?c ante oculos posita fuisset planta ,
vix melius quadrarent attributa, qui more poetico
ex bumili tumulo produxisset Olympum.
Linnaei Flora Lapponica.
Amstelod. 1737. p. 126.
eines erhörten Liebhabers begrüfst , wenn ich
i
allein gewesen wäre, öder einen, gegen der-
gleichen erotische Schwärmereien tolerantem
Zeugen gehabt härte, als meinen unmytholo«
gi§chcn und uripoetiSchen Begleiter. Du, mein -
Freund! hättest in aller Grazien Namen im-
merhin zugegen seyn können; Du, der selbst
der heiligen Einfalt nicht spotten würde, die •
einen geweihten Rosenkranz aus Lore tto mit
Vorgefühlen des Paradieses an Herz und Lip-
pen druckte. .
Gewifs ist es, dafs ich meine glucklichsten
Stunden in einsamen Bergthälern auf botani-
schen Exkursionen verlebte, und dafs nichts,
im ganzen Kreise meiner Thätigkeit , jemals
meine Seele schneller zu entwölken oder den
herbsten Kummer untrüglicher zu mildern ver-
mochte, als eine neue Entdeckung in der Pflan-
zenwelt. Wie oft wurden da Bonnets Em-
pfindungen die meinigen; und ich betrachtete,
ohne weiter zu grübeln, mit ihm jene Blumen,
die unsre Garten und Felder schmücken, und
jene majestätischen Stämme unsrer bejahrten
*
'73
H.iine , als empfindende ^Vesen , beslimmt ,
ihre angewiesene Summe von Glückseligkeit
und Daseynsfreude zu geniefsen.
Ueberliefse jetzt Apollon, unter allen Ge-
schenken, wodurch er die Sterblichen jemals
beglückte, dasjenige meiner Wahl, von wel-
* ehern" ich mir den reinsten und dauerndsten
Gettufs verspräche: so würde ich die Leyer,
diesen heifsesten Wunsch meiner Jünglingsjahre,
zurückweisen, und nach dem goldnen Pfeile
greifen > worauf Abaris, schnell wie Blitz und
Wind, über Länder und Meere flog: Dann
lägen die vegetabilischen Schätze aller Zonen,
von denen Forst er, Thunberg, Kommer-
son> und andre Argonauten der Naturkunde,
= nur einen kleinen Theil durch unnennbare
Mühseligkeiten erkämpften, in reichster Fülle
und steter Zugänglichkeit vor mir ausgebreitet;
von den brennenden Gefilden, welche die kö^
nigliche Palme beherrscht, bis dahin, wo nur
bleiches Aftermoos. die äufserste Klippe des •
Nordmeers bekleidet; von der Aszensions«
Insel, der nur vier Pflanzengeschlechter ent*
'74
sprossen, bis zum Verheifsungslande der Bota->
nik, Madagaskar.
Ich war lange genug in den Sannn-Thä-
lern, und besonders in der Gegend von Oesch,
Rougemont und Jessenay, um überzeugt
zu werden, dafs deine Briefe über diesen in-
teressanten Theil des Kanions Bern zu den
wahrsten und glücklichsten Darstellungen die-
ser Art gehören. Wie sehr w« ; ire es daher zu
wünschen, dafs dein Vorsatz, die Waadt auf
ahnliche Weise tu. behandeln, endlich zur Reife
gedeihen möchte. Nur durch Monographien
von diesem Gehalte könnte vielleicht mit der
Zeit eine allgemeine Beschreibung der Sehweite
zu Stande kommen, die der vielseitigen Merk-
würdigkeit dieses mit Recht allgepriesenen Lan-
des vollkommen entspräche. In solchem Geiste
verdienten vorzüglich das Emmenthal, Sie-
benthal, Hasli und Entlibuch beschrie-
ben zu werden, wegen des schärf ern Original-
Gepräges des Volks Charakters, und der, zum
Theil hieraus entspringenden, zum Theil blofs
zufälligen Eigentümlichkeiten in Absicht auf
i75
Sitten, Gebräuche, Sprechart, Landbau, Hir-
tenleben, Nazionaltugenden und Nazionalfehler.
Ich lebe hier so still und abgeschieden,
wie der Bewohner des Leuchtethurms von E d-
dys tone. Der Weg von Vevey nach Blonay
ist an den meisten Stellen so holprig und
schroff, dafs von drückenden und zeitrauben-
den Besuchen beinahe gar nichts- zu furchten
ist. Seit mehrern Monaten ist es mir nun ge-
lungen, jenen Gesellschaften ganz* auszuweichen,
wo Karten , Frivolität , Laster- und Wetterchro-
nik kein anderes Interesse neben sich aufkom-
men lassen. Die meisten Menschen dieser
Klasse halten zwar den Genfer- See als rei-
chen Fischbehälter in gröfsen Ehren; können
aber die Freude so vieler Reisenden an der
Pracht und Herrlichkeit seiner Ufer eben so
wenig begreifen, als ein der Einsamkeit ge-
weihtes Leben ohne lange Weile. Einfalt und
Natur sind von ihnen gewichen, und sie schau-
dern beinahe zurück, wenn sie da, wo, ihrer
Meinung nach, der Kunst die Alleinherrschaft
ausschliefsend gebührt, zufälliger Weise durch
Natur überrascht werden. Nie werde ich der
Dame vergessen , die auf einen Rosenstock ,
der in einem prächtig verzierten Gesellschafts-
Saale blühte , mit dem majestätischen Sturm-
gange einer Theaterkönigin losfuhr, plötzlich
aber die hochgeschwungenen Arme sinken liefs,
und mit unwilliger Verachtung in die Worte
ausbrach: "Ach, mein Gott! es sind ja nur
„natürliche!"
Mit mehrefem Piechte, wie die Mythensamrn-
lung desPaläfatus, verdiente eine Auswahl sol-
cher Karrikaturzüge die Aufschrift : TLspt dtriftav.
Nur unter dem niedern Dache der Alpen-
hirten wohnt noch alter Schweitzersinn, Bie-
dertreue , Herzlichkeit und Sitteneinfalt ; "da
Stiche und finde ich den wahren Menschen:
Dcar is lhat sJicd to which his soul conjbrms ,
And 4ear lhat hill %vhich lifts hlm lo the störms :
And as a child , when scaring so und s molcst ,
Cling? dose and closer to the molhers breast;
So the lond torrent and the whirlwind's roar ,
Bat bind him lo his naiive rnonniains more.
COLLSMITH.
So
■n
»77
So lange ich nun auch schon den Genfer-
See fast täglich vor Augen habe, so bleibt das
zauberische und warme Kolorit, worin ich ihn
vor fünf Jahren zum erstenmal erblickte, doch
immer dasselbe; und der Wunsch; an seinen
Ufern meine Tage zu enden, hat in diesem
ganzen Zeiträume noch nichts von seiner ur-
sprünglichen Innigkeit und Wärme verloren.
Der Anblick einer grofsen und erhabenen Na-
tur ist mir zu meiner Glückseligkeit beinahe
unentbehrlich geworden ; und es würde mir
sehr schwer werden , mich wieder an die Mag-
deburgischen Ebenen zu gewöhnen , wo es
nicht erst des Kühreigens bedurfte, um die
Sehnsucht nach den Bergen und Seen deines
glücklichen Vaterlandes, die in jeder andern
Gegend des Erdbodens, gleich Horazen's
Sorge > zu Schüfe und zu Pferde, mich unzer-
trennlich begleiten würde > in das tödtlichste
Heimweh zu verwandeln. In ländlicher Abge-
schiedenheit möchte ich im Elysium des Gen-
«
fer-Sees die mir noch bestimmten Jahre mit
dem ähnlichdenkenden nnd ähnlichempfinden-
M
i?8
den Weseft verleben, das ich so lange vergebe
lieh suchte , und endlich fand. Glücklich ,
durch den reinen Einklang unsrer Herzen, fan-
den wir dann., unbetäubt vom Getümmel, und
ungeblendet von den Schimmerscenen des Welt-
lebens, unsern höchsten Genufs im Schoofse
der Natur und in der weitern Ausbildung un-
sers Geistes. Jeder Morgen würde uns wie
zu einem Feste wecken, und der Schlummer
unwillkommen unser Auge schliefsen. Kaum
würden wir "den Wechsel der Jahre bemerken,
und ohne ängstliche Vorahndung uns plötzlich
am Ziele befinden. Mitleidig berührte der Tod
mit sanfter Hand unsre Augenlieder zugleich ,
und keiner begrübe den andern.
Von unserm Salis habe ich noch immer
keine Nachricht. Ich weifs nicht einmal, wo
sein Regiment steht, und wie nahe er dem
Feinde, oder wie weit er davon entfernt ist.
Fällt er, so wird er fallen, wie Kleist; und
wer würde dann nicht sein Loos beneiden!
Happy are they w/io feil in their youth ,
i 7 9
in the midst of their renovml They have
not beheld the tombs of their friends or
failed to hend the bew of their strength.
i8<>
Achtzehnter Brief.
Vevey, ao. Sept. 179a.
Ich habe endlich,, wozu Da mich schon so
oft auffordertest, mir den schönen Genuß ver-
Schaft, die neue Heloise im Mittelpunkte
des Schauplatzes selbst zu lesen, wo der Dich-
ter seihe Personen handeln läfst, und es ihm
mehr als einmal gedankt, dafs er nicht, nach
seiner ersten Idee, die verkünstelten und be-
schränkten Borromäischen- Inseln, sondern
diese, von der Natur mit Schönheiten jeder
Gattung so reich ausgestattete Landschaft, durch
Figuren belebte, die jeder seiner Leser, wel-
chem Apollon, nach Horazens Ausdrucke,
das Herz aus feinerm Tone bildete, sich nun
immer in Verbindung mit derselben denken
mufs.
18*
Anders liest man die Biade in den Gefilden,
welche der Skamander bewässert, als zwi-
schen den dumpfigen Mauern eines akademi-
schen Hörsaals; anders die neue Heloise
bei Vevey oder Klarens, als in einer un-
freundlichen, nur von Hügeln begränzten Ebene,
wo mir dieser berühmte Roman zuerst in die
Hände Hei.
Dort hatte meine Phantasie für die Alpen-
Natur weder Farben noch Maasstab; sie ent-
warf mir daher die grofsen Scenen der Rous-
jseauischen Darstellungen nur in verjüngten
Umrissen, und entlehnte ihr Kolorit aus der
benachbarten Gegend: Hier bekam alles, nicht
allein den Charakter der lokalen , sondern
auch der historischen Wahrheit; und die Tau«
schung war so lebhaft, dafs ich an Juliens
Existenz in Vevey eben so fest glaubte, als
an die D einige im Schlosse von Nion, und
die einsamen Streif ereien des St. Preux in den
wilden Felseinöden bei Meillerie eben so
wenig bezweifelte, als Hannibals Kriegszug
über die Alpen. Ganz unwillkührlich ist meine:
i8« >
Einbildungskraft noch immer mit der genauem
Anordnung und Bestimmung des Lokalen be-
schäftigt; welches in Meillerie, Vevey und
vielen andern von Rousseau genannten oder
angedeuteten O'ertern und Gegenden eben so
leicht ist, als, nach dem Zeugnisse eines ge-
lehrten und gefühlvollen Reisenden, die Ver-i»
gegenwärtigung der theokritischen Hirtenwelt
in einem schönen Thale von Sizilien. Nur
in Klarens stöfst man auf Inkongr uitäten , die
alle Täuschung zu zerstören dröhn. Das an^
sehnlichste Haus im Dorfe hat geflickte Fenster,
an welchen gewöhnlich zerrifsne Wäsche webt,
oder türkischer Weitzen aufgereiht ist, und
wohinter neulich auch noch, anstatt des Gra*
zienprofils der göttlichen Julie, das" braune
Maritornengesicht einer alten Bäuerin zum Vor-
schein kam. Dieser letztere Umstand verdarb
alles , und erregte in mir ungefähr den nemli-
chen Unmuth, welchen der umirrende Geist
eines alteii Griechen empfinden mufste, dem
*n der Stelle, wo vormals eine Venus von
Praxiteles glänzte , ein plumpgeschnitztes
*Ö3
Madonnenbild mit einer blechernen Glorie ent-
gegenstarrte. Es bleibt mir am Ende nichts
übrig, als ein altes Gemäuer zur Ruine jener
reitzenden Villa zu machen, wo eine Gemeinde
wahrer Menschen, umschlungen von den
stärksten Banden der Sympathie, heilige Hände
am Altare der ächten Lebensweisheit emporhob.
Auf der romantischen Anhöhe, wo sich der
schlanke Thurm von M o u t r ü , hoch über
dem Seeufer, umgeben von Nufsbaumhainen
und schroffem Rebgelände, aus den weißen
Ringmauern des Kirchhofs erhebt, denke ich
mir Juli ens Ruhestätte, und auf dem Grab-
steine die ScBlufswörte ihres Glaubensbekennt-
nisses : Qui s'endort dans le sein d' u/t pire ,
ri est pas en souci du re'veil.
«
A&ch CilillflpL, das täglich* Ziel meiner
Spatziergänge vojÄ&randkla^fraus, hat für
mich ^^(^JSW^yjpt eilung . an^Jfiteresse ge-
wonnen, dafs Julie sich da dem in die Fluth
gleitenden Sohne nächstürzte , und bald nach-
her das Opfer dieser heroischen Handlung
wurde.
Bei'm Schlosse Chili on ist, nach - meinem
Gefühle, der anziehendste Ufer - Standpunkt
zwischen Genf und Villeneuve; und ich
bekenne, daß, wenn eine Fee plötzlich mit
der Zauberruthe erschiene, und mich fragte,
wo ich den kleinen Landhof, den sie für mich
aus der Erde her vor zu winken im Begriff stän-
de t hin wünschte , ich* ihr ohne Bedenken
jene' Wiese dazu anweisen würde, wo die
beiden Kaskaden sich aus dunkelm Felsgesträuch
herabstürzen.
Mein langes Zögern, die neue Heloise
am Genfersee selbst zu lesen, wozu ich
doch schon seit mehrern Jahren Gelegenheit
i85
hatte, erinnert mich an einen Engländer, der,
nach einem dreijährigen Aufenthalt in Rom,
seiner warmen Kunstschwärmerei ungeachtet,
Raphaels Verklärung nur erst wenige Tage
vor seiner Abreise sehen wollte, um den Ein-
druck, welchen er sich von diesem erhabenen
Meisterwerke versprach , so tief und unge-
schwächt, als möglich, mit in seine Heimath
zu nehmen,
Uebrigens ward ich, durch diese wieder-
holte Lektüre , von neuem in der Meinung
bestärkt : Dafs der erste Preis der Beredsamkeit,
nach dem Demosthenes, keinem Sterbli-
chen mit vollerm Rechte gebühre, als dem
Schöpfer der neuen Heloise.
136
Neunzehnter Brief.
Grandklos 35. Jan. 1793.
Gestern , mein tbeurer Bonstetten! hat unr
ser Freund von Salis mich wieder verlassen.
Die glucklichen Tage, die wir nach so langer
Trennung miteinander verlebten , stehn mit
goldnen Lettern in den Annalen meines Her*
zens aufgezeichnet. Wohlthatig war ihm die
Stille im Schoofse der Alpen , nach den Scenen
des Entsetzens auf der Hauptbühne der Revo*
luzion am zehnten August, den rastlosen Zü-
gen mit seinem Regimente von einer Grenze
Frankreichs zur andern, und dem betäu-
benden Heergetümmel der Märsche und des
Feldlagers in der letzten Epoche seines militä-
rischen Lebens.
Als ich ihn in meine Wohnung einführte,
gedachte ich der bekannten Verse des Lukrez :
i8?
Suave , mari magno turbantibus cequora Dentis
E terra magnum alterius spectare laborem.
Vjele Tage unsers Beisammenlebens benutz*
ten wir zu Exkursionen in die umliegende Ge-
gend, wo ich, als ein gewissenhafter Cicerone,
nicht unterliefs, meinen Freund, der, während
seines Jugendaufenthalts in Lausanne, nie
weiter, als bis Vevey gekommen war, mit
dem Interessantesten und Merkwürdigsten be-
kannt zu machen; so oft aber Schneeschauer
und Winterst firme uns vor den Kamin bann-
ten, waren unsre meisten Stunden den Musen
geweiht.
Salis hat einige neue Lieder gedichtet, die
alle, wie Wieland sagt, von den Grazien
nachgesungen zu werden verdienen. Am lieb-
lichsten tönen, nach meiner Empfindung, die
Stanzen an ein Thal. Er denkt selbst so
bescheiden von seinen poetischen Arbeiten,
und erblickt sie in einem so beträchtlichen
Abstände von den Idealen, die seinem Geiste
vorschweben, dafs nur die gegründete Furcht
vor einem unbefugten Sammler im Stande
i8S
war, ihn zu einer Auswahl seiner zerstreut ge«*
druckten und handschriftlichen Gedichte zu
bewegen , die in einigen Wochen erscheinen
wird. In der Vorrede , womit ich diese Samm-
lung begleitet habe, heifst es unter anderm:
„Schon sehr frühe rief den Dichter seine
Bestimmung zum Kriegsdienste nach Frank-
reich, und versetzte sein keimendes Talent
in einen Boden, der, gleich dem festgestampf-
ten Erdreiche einer Heerstraße, weder LebensT
kraft noch Gedeihen zu versprechen schien.
Aber die Schimmerscenen der üppigen Haupt-
stadt und des glänzenden Hofes hatten für ihn
höchstens den flüchtigen Reitz einer Feenoper,
Und die feine Welt, die sonst dem Neulinge*
in zauberischem Helldunkel zu erscheinen pflegt,,
sog seine Blicke kaum so lange an, als nöthig
war y um , nach dem Ausdruck eines weisen
Britten, auch dies Kapitel des Buchs der
Menschheit im Originale zu lesen."
„In dieser, nur selten unterbrochenen Ab-
geschiedenheit von deutscher Literatur und
[deutschem Umgange, hat er mit der Sprache
»89
gerungen, wie Winkelmann und Haller,
und, gleich ihnen, dadurch an Kraftfulle des
Ausdrucks gewonnen' "
So weit das Bruchstuck der Vorrede.
Es ist mir eine unangenehme Vorstellung,
dafs diese Gedichte in einer Gelehrtenrepublik
erscheinen müfsen, wo sie, ihres entschiedenen
"Werthes ungeachtet, vielleicht schon nach Ver-
lauf eines Jahres das Loos der Vergessenheit
treffen wird. In dieser reinen Demokratie ,
wo eine Lessingische oder Wielandische
Diktatur, von den vielen noch ungebrauchten
Mitteln, dem sinkenden Geschmack e wieder
aufzuhelfen, vielleicht das wirksamste und im*
trüglichste Wäre, verdrängt eine Epoche der
Liebhaberei mit unglaublicher Schnelligkeit im-
mer die andere; und die Muse des Gesanges
hat sich, schon seit geraumer 2eit, aus dem
literarischen Marktgewfihle zurückgezogen % wo
noch immer die hunderth ändige Polygraphia,
unter dem Schutze Hermes, des Gewinnverlei-
hers, (IfjieSs Ks^ifot) das Volk ±u bethören fort-
fährt. Der unmittelbaren Pflege dieser Vor-
läuferin der Barbarei erfreut sich vorzuglich
das weitläufige Pilzgeschlecht der neuesten
Moderomane aus der Ritter- und Vorzeit, das,
in unsäglicher Fülle, weit und breit, an Süm-
pfen und auf Brachfeldern fröhlich hervor-
schielst. Hierzu kommt noch, dafs vor unserm
Publikum, im Allgemeinen, nur die Produkte
der jedesmaligen letzten Messe eine momen-
tane Gnade finden; wie wäre es sonst auch
möglich, dafs ein so respektables Heer von
Schriftstellern, deren im Jahre I7S8« * u ^ deut-
schem Boden nicht weniger als 6194 lebten >
immer noch so zuverläfsig auf Verleger und
Käufer rechnen könnte ?
In den brittischen Buchläden fragt man we-
niger nach dem Neuen, als nach dem Guten;
daher auch Shakespeare, Milton, Pope,
Young, Addison, Shaftesbury, Sterne,
Fielding, Hume, Robertson, Gibbon,
und die übrigen klassischen Autoren der Na-
zion, immer wiedergelesen, wiedergedruckt,
und beinahe eben so häufig auf den Putztischen
der Damen, als in den Bibliotheken der Ge-
*9i
lehrten angetroffen werden. Mehr, als in ir-
gend einem andern Lande, blüht dort jener allge-
meine Geschmack, der Im Reiche der Wis-
senschaften alles, was den Stempel des ächten
Vollgehalts an sich trägt, vom Epigramme bis
zur Epopee , vom Todtengespräche bis zum
Trauerspiele, vom Feenmärchen bis zur philo-
sophischen Völkergeschichte, nach Verdienste
würdigt, und allein der wahre genannt wer-
den kann; so wie ein Linnäus im Reiche
der Natur nichts mit Gleichgültigkeit betrach*
tet, und nicht nur die Adansonia und den
Elephanten, sondern auch den Schimmel und
das Räderthier zu Gegenständen seiner Unter-
suchungen macht»
Das hebt sie über uns.
Doch wieder auf den Freund zurück, der
diese Digression veranlafste. Er sendet dir die
wärmsten Grüfse, und die Versicherung, dafs
er gewifs nach Nion gekommen wäre, wenn
die Beschränktheit seiner Zeit ihm dies Ver-
gnügen hätte erlauben wollen. Jetzt eilt er
i9*
seinen! Vaterlande und zugleich der Erfüllung
seines letzten Wunsches entgegen. Ich will
indefs im Tempel der Freundschaft , in Erman-
gelung eines Votivgeraäldes , zwei Epheukränze
aufhängen , zu welchen ich die Ranken von
der Felsenwand bei Moutrü gebrochen habe,
wo Salis und ich, an einem schonen Win-
terabend, die Sonne hinter den Jurdssus
herabsinken sahen, und eine Unterredung über
Trennung, Tod und Fortdauer, mit der leben-
digen Ueber zeugung endigten : „ Dali Verbin-
to düngen, welche den erkenntnifsfähigen Theil
^,urisrer Wesen vereinigen, aller Umbildungen
,>des Wandelbaren ungeachtet, ewig unzer-
„ störbar bestehn. „
*93
Z WAH1IGS tEK 6 R I E F«
Orandklos, a* März 1795.
Die Tage Werden schön, ulid das 'Wetter be-
ständig. Unterstütze doch bei Herrn G * * *.
meine Bitte um einen baldigen Besuch. Er
mufs die Schweitz nicht verlassen. , ohne die
Gegenden um Roche > Vevey, Bex und St.
Moritz kennen gelernt zu haben. Schildere
ihm alles, was davon in deiner Erinnerung lebt,
so treu als möglich , und wiederhole ihm > in
meinem Namen, noch einmal das freudige An-
erbieten, auf dieser kleinen Reise sein Beglei-
ter und Führer zu seyn. Ich habe eine so ent-
schiedene Vorliebe für diese Reviere, dafs ich
mir immer ein wahres Fest daraus mache, an
der Seite eines Menschen darin herumzustrei-
fen, dem es nicht an Sinn und Empfänglichkeit
für ihre mannigfaltigen Schönheiten fehlt.
N
'94
Sage dem lieben Fremdlinge; Wir würden
mit der Katarakte beginnen, deren unedler
Name allen Musen und Musenjüngern ein Aer-
gernifs ist; hinter St. Moritz zu einer Wall-
fahrtskapelle hinansteigen, die, wie durch ein
Wunder, in erstaunlicher Höhe, am senkrech-
ten Felsen zu schweben scheint ; längs den
malerischen Ufern des reißenden Avansson
hinwandeln, der, wie Ha 11 er singt, gestürzte
Wälder wälzt; mit Bergmannskitteln angethan,
in die unterirrdischen Gallerien cjer Salzquellen
von Bevieux einfahren, wo alle Schauer der
Katakomben wehen; im Felsenkeller des Schlos-
ses Chillon, dem Schatten Bonnivards,
des toleranten Priesters und freiheitlieben-
den Savoyarden, ein Todtenopfer bringen;
Hall er s Geäachtnifsfeier in einem Gartenka-
binette bei Roche begehen, wo dieser grofse
Mann oft, in der Kühle der darüber ausgebrei-
teten Rüstern, zu arbeiten, und, noch im ho-
hen Alter, bei Richardsons Dichtungen aus-
zuruhen pflegte; unsern Unmuth über die fehl-
geschlagenen Versuche, das' Klarens zu
»9$
entdecken, welches Rousseau schildert, auf
dem Kirchhofe von Moutrü, beim Anblicke
der hinreifsendsten Seeaussiclit vergessen; hin-
ter dem Dorfe Noville, das Büsching zum
Range eines feinen Städtchens erhoben
hat, einen der anmuthigsten einsangen Spat zier-
gange bis dahin verfolgen, wo der Rh od an
seine trüben Fluthen in die grüne Klarheit des
Sees ergiefst; und zuletzt in Vevey, dessen
bezaubernde Lage, der Preis und das Entzücken
jedes wahren Naturfreundes, mit so hohem
Rechte, zu seyn verdient, bei achtem Ryfweine,
ein Fest der Freude, nach Horazens Haus-
tafel, feiern, wozu die Alpennymphe, deren
kunstlose Lieder ich zuweilen nachzusingen ver-
suche, mir schon eine Skolie versprochen hat.
Scheint dies alles dem edeln Reisenden ei-
nes Zeitaufwandes von einigen Tagen nicht
unwerth , und sind die Geschäfte , die ihn in
sein Vaterland zurückrufen, nicht allzu dringend,
so täusche er die Hoffnung eines Mannes nicht,
der ihn, in mehr als einer Rücksicht, herzlich
verehrt und hochschätzt.
ig6
Du aber, mein Bonstetten, suche bald
einmal Mufse zu einer recht langen und aus-
fuhrlichen Epistel zu gewinnen, und vergiß
vor allen Dingen nicht, die ganze * * * sehe
Angelegenheit mit homerischer Umständlichkeit
darzustellen. Dein letztes sybillinisches Blatt
darüber bedarf in der That eines Kommentars.
'97
Ein und zwanzigster Brief.
Grandklos, 5, April 1795.
JVleine Unpäßlichkeit, lieber Bonstetten! war
so wenig von Bedeutung, dafs du gar nicht
Ursache gehabt hättest, nur einen Augenblick
deshalb in Sorgen zu seyn. Da der Gott von
Epidaurus nicht den mindesten Am heil an mei-
ner Wiederherstellung hat, so wird es ihm
hoffentlich diesmal nicht in dem Sinn kommen,
auf ein Dankopfer zu rechnen. Ich bitte dich
also, des Hahns zu verschonen, welcher schon
vorläufig zu diesem frommen Zwecke bestimmt
war. Er möge der Stolz des Hofes bleiben,
und seine Freuden in alle Winde krähen, bis
die Parze den Faden seines muntern Daseyns
zerschneidet.
So leicht das Uebel auch war , das mich
einige Tage lang im Zimmer gefangen hielt,
so tonte doch der kleine Hymnus an Hygieia,
i98
den uns Athenaus aufbehalten hat, meinem
Ohre nie. süfser, als nach dieser kurzen Un-
terbrechung meines vieljährigen Gesundheits-
Gefühls :
Mtroe duo ficituxiqcc vywat
Ts'9rj)Xt frocvT«, noti \difimi %<x$ix<av ?ot£.
£$9r«y ii ycv^lf, ovnr iv<W/uwy.
Zum sichersten Zeichen meines völligen Wohl,
seyns diene dir eine Reise nach Freiburg,
von der ich gestern gesunder und munterer
als jemals zurück kam. Ich war dabin geritten,
um die berühmte Felsen - Einsiedelei zu sehen,
die sich in keinen meiner bisherigen R eiseplane
hat wollen einfügen lassen.
Meine gespannte Erwartung von diesem
Wunder einer eisernen Thätigkeit wurde kei-
neswegs getäuscht.
Nicht mehr als vier Hände brachten, nach
fünf und zwanzigjähriger , ununterbrochener
Arbeit, ohne alle Beihülfe, eine sehr geräumige
und bequeme Eremitenwohnung zu Stande,
die ganz in einen senkrechten, etwa vierhun-
dert Fufs hohen Felsen gehauen ist, und aus
*99
einer Kapelle mit einem Thurme, einer Sakri-
stei, einem Refectorium, einer Küche, einem
großen Saale, zwei Seitenkammern, zwei Trep-
pen und einem Keller besteht. Die Länge der
Kapelle beträgt drei und sechzig, und die Breite
sechs und dreifsig Fufs; der Thurm ist sieben-
zig Fufs hoch und sechs Fufs breit; der grofse
Saal hält neunzig Fufs in der Länge und hat,
gleich den andern Gemächern, grofse Fenster-
öffnungen, die auf den Flufs sehen, der dumpf-
rauschend in waldiger Tiefe vorbeiströmt, und
worin Jean du Pre von Gryerz, der dies
herkulische Werk mit einem einzigen Gehülfen
begann und vollführte, im Jahr 1703. seinen
Tod fand. Die Gegend umher ist eine melan-
cholische Einöde, ganz im Charakter der wil-
den Landschaften des Salvator Rosa, an
die man schwerlich irgendwo lebhafter ,und
öfter erinnert werden kann , als in der Schweitz.
Auf einem Felsenvorsprunge hat der Eremit
einige Blumen- und Gemüsebeete angelegt.
Bei dem Eintritt in diesen Tempel der Ein-
samkeit ergriff mich ein feuriges Sehnen , hier
2QO
eine Zeit lang ganz dem gröfsern Gedichte zu
leben , dessen Plan ich schon seit mehrern Jah-
ren in meiner Seele bewege. Dann müßte ich
aber zugleich einen Zauberkreis um diese Woh-
nung des Friedens herziehen können, in wel-
chen der Eingang nur demjenigen vergönnt
wäre, der von mir selbst den dazu nÖthigen
Talismann erhalten hätte.
Der jetzige Bruder Klausner ist weit davon
entfernt, sein Loos beneidens würdig zu finden ;
er klagte vielmehr, im abscheulichsten Dia-
lekte seines Vaterlandes Tyrol, über Lange*»
weile und unchristliche Zeiten.
„Sehen Sie nur", sagte er unter anderm,
wie die gottlosen Emigrirten meinen Garten
verwüstet haben ! Aller Salat ist niedergetreten,
und auch den Glockenstrick haben sie mir abi-
geschnitten ; es liegt ja also wohl am Tage ,
«
dafs es mit der Religion aus ist."
Dieser Anti-Alfonso bewohnt, gemeinschaft-
lich mit yier Hunden, dreien Katzeh und eini-
gen Elstern, ein recht artiges, ausgetäfeltes
Zimmer, wo der hergebrachte Eremitenluxus
301
in Kücb engeschirre und Weinflaschen, gegen
einen Kalender > der die ganze literarische
Haabe des heiligen Mannes auszumachen schien,
sehr charakteristisch abstach. Bei der glück-
lichsten Muße, die einem Sterblichen unter
dem Monde zu Theil werden kann , und die
so mancher, in den Strudeln des Weltlebens
umsonst ivich Freiheit und Stille ringende Geist,
zu Werken der Unsterblichkeit benutzen würde,
scheint er, wie Leisewitz irgendwo sagt, vom
göttlichen Lorbeer nur so viel wünscbenswür-
dig zu finden, als nöthig ist, um eine Fleisch-
brühe zu würzen; und bleiben nur seine Salat-
beete verschont, so mögen ganze Länder um
ihn her zu Grunde gehen : Er sieht es mit
Gleichmuth.
In Freiburg selbst hielt ich mich nur we-
nige Stunden auf. Die Gesellschaft an der
Wirthstafel bestand aus lauter Emigrirten, un-
ter denen sich besonders ein ehemaliger Page
des Grafen Artois durch die aberwitzigsten
fralereien auszeichnete.
Er versicherte, unter den kräftigsten Schwü-
202
ren, der alte Glanz des franzosischen Hofes
werde (nun unverzüglich wieder hergestellt
werden; aber nicht in Paris, wo kein Stein
auf dem andern bleiben solle, sondern, wie er
von sicherer Hand wisse, in Lyon; die Armee
der Patrioten, die nur aus feigherzigem Pöbel
bestehe, könne sich höchstens noch einen Mo-
nat halten, und die gegen Frankreich ver-
einigten Mächte hätten ihnen, den Emigrirten,
ihf Ehrenwort gegeben, sie auf jeden Fall, es
koste, was es wolle, wieder in ihre alten
Rechte einzusetzen, und, wie bekannt, nur
deshalb den Krieg unternommen.
Aehnliche Fanfaronaden hört man in den
Schweitzerstädten, wo sich Emigrirte aufhalten,
an allen öffentlichen Oertern zu Tausenden;
und es ist unbegreiflich, wie diese Leute noch
immer mit der festesten Zuversicht an Hoff-
nungen hangen können, deren Erfüllung kein
vernunftiger und unpartheiischer Beobachter des
jetzigen Ganges der französischen Angelegen-
heiten mehr für möglich hält. Nur sehr wenige
kommen allmählich von diesem Wahnsinne zu-
i
rück, und fangen an, auf irgend ein ehrliches
Erwerb mittel bedacht zu seyn, um nicht den
Tod des Ugolino zu .sterben. Besonders sind
mir zwei Marquis acbtungswerth geworden ,
die Muth genug hatten, das durchlöcherte Ge-
wand eines uralten Vorurtheils von sich zu
werfen, und, mit Verachtung des Hohngeläch-
ters ihrer ganzen Kaste, zu einem Tischler in
die Lehre giengen, wo sie nun, als brauchbare
Arbeiter, ihren Unterhalt auf eine wahrhaft
ehrenvolle Weise erwerben; indefs jene Rotte,
die nur schreit, anstatt zu handeln, nur Rache
schnaubt, anstatt ihrem Feinde selbst mit dem
Schwerdte entgegen zugehen, und den Schwei-
zern die Wohlthat eines Asyls mit Insolenzen
und Vorwürfen über die weiseste Neutralität
bezahlt, sich mit unaustilgbarer Schande brand-
markt, und wahrscheinlich bald in keinem Win-
kel von Europa mehr eine bleibende Stätte
Enden wird.
Dafs es unter den Ausgewanderten auch
brave, verdienstvolle und sehr liebenswürdige
Männer gebe, die eben so viel Hochachtung
2<>4
als Mitleid verdienen, darüber haben viele
meiner Bekannten mir Zeugnisse abgelegt, deren
Zuverläfsigkeit ich keinen Augenblick in Zwei-
fel ziehe. Aber ich weiß nicht, durch welchen
Unstern ich immer, bis auf drei oder vier Aus-
nahmen , nur mit solchen zusammen treffen
raufste , die herrisch , aufgeblasen , pralerisch
und im höchsten Grade frivol waren; von al-
len Nichtausgewanderten mit Verachtung und
Hohn , und von den übrigen Nazionen , ohne
Ausnahme, geringschätzig und wegwerfend spra-
chen; sich als den Kern der menschlichen Ge-
sellschaft betrachteten, und bei jeder Gelegen-
heit die Ueberzeugung durchscheinen liefsen ,
dafs das ganze Weltheil einzig und allein auf
dem Siege ihrer sogenannten guten Sache be-
ruhe. —
Beinahe hatte ich, über diesen Beitrag zur
Charakteristik einer neuen Menschenklasse, ver-
gessen, dir von einem Briefe zu sprechen, der
mich in eine der glücklichsten Epochen meines
Lebens zurückversetzte. Er war von einem
meiner Jugendfreunde, und enthielt die Schick-
ao5
sale der meisten Jünglinge, mit denen wir zu
Kloster Berge und Halle in engerer Ver-
bindung gelebt hatten. Mancher von ihnen
sank schon ins Grab, und nur ein einziger der
noch lebenden, dessen bescheidene Wünsche
immer auf eine Dorfpfarre eingeschränkt blie-
ben, hat sein Ziel erreicht; die übrigen alle,
deren Hoffnungen mit jugendlicher Kühnheit
weit über die Grenzen des Gewöhnlichen hin-
ausschweiften, zwang die Hand des Schicksals
in Lagen und Verhältnisse, die sie damals
nicht gewürdigt hätten, zum Ziele zu machen«
Diese Nachrichten erneuerten das Andenken
an meine Schuljahre mit einer solchen Leben-
digkeit in mir, dafs der Genfersee und die
Alpen verschwanden, und nur der Garten des
Klosters Berge, mit seinem hochgewölbten
Rüsterngange, die daran stofsende Wiese, die
Elbe mit ihren Schiffmühlen und Kähnen, und
die ehrwürdigen Thürme der Magdeburg {•
sehen Domkirche, in der lieblichsten Beleuch-
tung, sich meiner Einbildungskraft vormalten.
Dort war es, wo ich. zum Jünglinge reifte, und
ao6
das goldne Zeitalter der Empfindung durchlebte,
in welchem freundliches Morgenroth, wie eine
Glorie, unser ganzes Daseyn umgiebt, und. in
der physischen Welt wie in der moralischen ,
die eben so wie jene ihre Luftperspektive hat,
alle Gegenstande die Rosenfarbe des Mediums
annehmen , wodurch wir sie erblicken.
Noch einmal , ehe ich sterbe , möchte ich
die El b wiese wiedersehen, wo ich oft, unter
einem Weidenbaume gelagert , bei O s s i a n s
Gesangen, Stunden hatte, denen ich mit Wie-
land nachrufe :
"Euch kann kein Gott mir wiedergeben!"
Niemand hat der, mit der Blüte des Jüng-
lingslebens hinsterbenden Gluckseligkeit ein rüh-
renderes Grablied gesungen, als Gray, der
Mamrnach dem Herzen der Weisheit und Natur,
dessen Freundschaft, in Absicht auf deine Gei-
stesbildung, das wichtigste Geschenk war, das
Du jemals aus den Händen des Schicksals em-
pfiengst und dessen Manen ich , an deiner Stelle,
schon längst ein kleines Denkmal im Garten zu
Valeires errichtet hätte.
207
Ah happy hüls! ah pleasing shade;
Ah fields beiov'd in vain ;
• Where once my careless childhood stray'd ,
A stranger yet to pain !
J feel the gales , that from ye blaw ,
A momentary blifs bestow ,
" As waving fresh their gladsome wing ,
My weary soul they seem to soothe ,
And, redolcnt of joy and yoitth ,
To breath a second spring.
Ich wiederhole diese Stanze nie, ohne mich
im Innersten bewegt zu fühlen ; und die ganze
Ode verdient, nach meiner Ueberzeugung, eine
der ersten Stellen unter den Meisterwerken der
lyrischen Poesie ; trotz dem kalten, gegen Gray 8
Dichterverdienst höchst ungerechten Johnson,
der durch ein kritisches Microskop , das nur für
sein Auge geschliffen war, so oft Sommer-
sprossen für Muttermäler ansähe.
Ueber L * * * s Gesundheitszustand habe ich
nun auch Tissots Meinung gehört. Er sieht
weniger Gefahr, als der zuerst befragte Arzt,
und räth zur Traubenkur, die seit einiger Zeit
I
2X0
die Verdunkelung des äufsern schadlos. Auf
einem Spaziergange bei Roche sagte er, wie es
ihn immer so glücklich mache , sich die Gegend,
durch welche er hingehe, nach dem was Gehör
und Gefühl ihn davon ahnden ließen, in die
Seele zu malen. Jetzt, da er sich im Schatten
dichter Bäume fühle und das Rauschen eines
Wassers höre , steige schon eine so reitzende
Landschaft vor seinem innern Sinne empor,
dafs die Wirklichkeit schwerlich schöner seyn
könne, als das Gemälde seiner Phantasie.
Man erzählt von dem arabischen Dichter
Abulola Ahmed, der des Gesichts schon in
seinem dritten Jahre durch die Blattern beraubt
ward, dafs er sich, von allem was er vorher
gesehen, nur noch der einzigen rothen Farbe
habe erinnern können; unserm Blinden ward
es durch den etwas spätem Verlust desselben
glücklicherweise noch so gut, aus seinem sehen-
den Zustande nicht nur alle Farben, sondern
auch Gestalten, Formen und Verhältnisse zu
retten. Hiedurch vermag er nun in seinem In-
nern, wie in einer Camera obscura, Gemälde
I
erscheinen zu lassen, zu denen doch wenigstens
Originale existiren könnten.
Nur selten bedarf er in seinem Hause eines
Fuhrers, indem von einem Zimmer zum andern
Fäden ausgespannt sind , deren Richtung er
kennt, und an welchen er sich fortfühlt.
Alles bisher Gesägte wird unbedeutend und
geringfügig, so bald man einen Blick auf die
muh volle Bahn wirft j die er als Naturbeobach-
ter, an der Hand seines Vorlesers Borgens,
der in manchem Betrachte eben so merkwürdig
als er selbst ist , mit so Vielem Glücke betrat
und •verfolgte. Dieser Burnens, von Geburt
ein franzosischer Schweitzer; las ihm, mehrere/
Jahre läng, die besten physikalischen und ndtur-
historischen Werke vor , und bildete sich da-
durch selbst unvermerkt zu einem vortrefiichen
Beobachter. Dies veranlagte Herrn Hub er,
ihn zu verschiedenen physikalischen Versuchen
zu gebrauchen, wobei er nicht nur die gröfste
Geschicklichkeit an den Tag legte, sondern zu-
letzt sogar die dazu erforderlichen Instrumente
theils verbessern, theils verfertigen lernte. End-
212 \
lieh schwang 'er sich so weit über die in Künsten,
und Wissenschaften immer unerträgliche und
nichts weniger als goldene Mittelmäßig-
keit empor, dafs Herr Huber^ bei seinen
Beobachtungen und Versuchen , den völligen
Gebrauch des Gesichts wieder erlangt zu haben
glaubte. Er sah nun durch die Augen des un-
«
ermüdeten und für das Studium der Naturge-
schichte bis zur Leidenschaft glühenden B Ur-
ne ns eben so scharf und hell, wie Pfeffel
durch die Augen seines Freundes Lerse.
Nach der Lektüre /von Reaumürs Beob-
achtungen über die Bienen , wurden dessen
sämtliche Versuche mit dem erwünschtesten
Erfolge wiederholt. Aber die beiden Forscher
blieben nicht am Ende der von ihrem grofsen
Vorgänger gebrochenen Bahn stehen, sondern
strebten acht Jahre lang, mit immer wachsen-
den Kräften und nie ermangelnder Anstrengung,
dieselbe noch weiter fortzuführen. Eine Menge
neuer Entdeckungen und Berichtigungen , die
der Welt jetzt vor Augen liegen , waren das
Resultat dieses rastlosen Eifers, der bei Herrn
•*/
213
m
Bürnens eft so weit gieng, dafs er ganze Tage
lang vor einem Bienenstocke lag, und nur erst,
wenn die hereinbrechende Dunkelheit seine
Lieblingsbeschäftigung unterbrach , die Unbehag-
lichkeiten des Hungers und Durstes , und die
Schmerzen der empfangenen Bienenstiche , zu
t.
empfinden an/ieng. Mit ähnlichem Enthusiasmus
safs Swammerdamm einmal, in der bren-
nendsten Sonnenhitze, mehrere Stunden, mit
unbedecktem Haupte vor einem Bienenstocke,
weil sein Hut einen Schatten verursachte, der
ihm beim Beobachten hinderlich war.
Schon vor drei Jahren theilte mir Bonnet
den ersten der von Herrn Hub er an ihn ge-
richteten Briefe über die Bienen mit, worin,
durch eine Reihe feiner und glücklicher Beob-
achtungen, unwiderleglich erwiesen wird: Dals
die Bienenkönigin nicht durch sich selbst, son-
dern erst durch die Begattung mit einer Drohne
fruchtbar werde, und dafs die Befruchtung,
wie bei den Ameisen und Ephemeren, in den
Lüften geschehe. Damals schienen mir diese Be-
obachtungen so unbezweifelt neu, wie Trenn
9l4
bleys Entdeckungen über die Polypen; jetzt
ßber baben genauere Erkundigungen mich ge-
lehrt , dafs deutscher Forschujigsgeist auch def
Erklärung dieser Zifferstelle im Buche der Natur
schon langst fast eben so nahe gekommen sei.
als Herr Hub er. Um sich hievon zu überzeu*
gen, braucht man nur die Bienenschriften des
Herrn von Luttichau nachzulesen. Von wie.
manchen Entdeckungen, Versuchen und Beob-
achtungen der Franzosen und Engländer würde)
der blendende Nimbus der Neuheit plötzlich
wegschwinden , wenn unsere Sprache mehr
Allgemeinheit hätte, und jene Völker nicht von
einem, alles Unvatcrländiscbe verkleinernden,
Nazionaldünkel befangen wären.
Unser blinder Naturforscher ist ein Sohn des
berühmten Hub er von Genf, der mit Vol-
taire in der engsten Geistesyerbindung stand
(denn nur von einer solchen konnte bei fiesem
die Rede seyn), und welchem Sulzer, in der
Theorie der schönen Künste und Wissenschaften,
ein bleibendes Denkmal gestiftet hat. Durch
seinen schnellen und treffenden Witz wufste er
215
den alten Dichter von Ferney eben so sehr in
Respekt zu halten, wie ehemals Piron, dieser
epigrammatische Skorpion, dessen furchtbare
Ueberlegenheit im Verwunden Voltaire bis
dahin nur allein anerkannt' hatte, und von dem
er einmal sagte: „Mit dem Menschen ist nicht
„auszukommen; er hat seinen Witz immer in
„ baarer Münze. " Auch als Schriftsteller hat
sich dieser Hub er bekannt gemacht. Man hat
von ihm ein Buch über den Vogelflug, welcher
auf der Jagd , die er leidenschaftlich liebte ,
immer der Hauptgegenstand seiner Beobachtun-
gen gewesen war. Wegen der darin befindli-
chen Figuren, wodurch die Direktionslinien des
Fluges einiger Vögel angedeutet werden, erhielt
dies sonderbare Werk , das übrigens wohl zu
den ungelesensten gehören mag, die seit der
Erfindung der Buchdruckerkunst erschienen sind,
den Namen des Zickzackbuchs, durch welchen
sich das Andenken desselben auch noch bis jetzt
in Genf erhalten hat. Als Thiermaler erwarb
er sich ebenfalls Huf und Beifall.
Am hervorstechendsten aber war sein un-
2l6
t
nacliahmliches Talent, mit der einzigen Beihülfe
einer Scheere , Landschaften aus Papier zu er-
schaffen, welche durch Richtigkeit und Schärfe
der Umrisse, Reichthum und Schicklichkeit der
Anordnung, Zartheit und Lufügkeit der Bäume,
und besonders durch die frappante Aehnlichkeit
der Portraitfiguren , die er gewöhnlich darin
anbrachte, Kenner und Nichtkenner zur höch-
sten -Bewunderung hinreifsen. In Genthod
befindet sich ein solches Kunstwerk von ihm,
das Voltairen vorstellt, der in seinem Lieb-
lingskostume (Schlafrock, Perücke und Pelz-
mütze), den Pegasus besteigt. Den einen Fufs
hat er schon im Steigbügel ; und indem er den
andern nachzuheben bemüht ist , entfällt ihm
der Pantoffel. Seitwärts erblickt man den Par-
nafs , als das Ziel des zu- beginnenden Rittes,
An dem Profile dieses Dichters hatte er sich so
lange und vielfältig geübt , dafs er zuletzt im
Stande war, dasselbe nicht nur, mit auf den
Rücken gehaltenen Händen auszuschneiden ,
sondern sogar eine Scheibe Brod unter den
Zähnen eines Jagdhundes so geschickt zudiri-
gircn, dafs dieser Voltaires Silhouette nagen
mufste. Die originelle Art, wie er den nämli-
chen Kpntour auf dem Schnee hervorbrachte,
ist bekannt genug, oder kann doch wenigstens
sehr leicht errathen werden.
MD ZWANZIGSTER
Zürich, 5* Jul. 1795.
Ich schreibe dir bei unserm Füfsli, mein ge-
liebter Bonstetten! im neinlichen Zimmer,
wo ich im Jahre 1787- zuerst die Bekanntschaft
dieses edeln und geistvollen Mannes machte,
*i9
Jessen Freundschaft seitdem die Quelle so man«
eher Gluckseligkeit für mich wurde. Du weifst
es aus eigener Erfahrung, wie sehr er die Kunst
versteht, Freunden ein Freund zu seyn;
und es bedarf daher kaum der Versicherung f
dafs ich die Tage, welche ich in seinem Hause
zubrachte, zu meinen schönsten zähle. So oft
es seine Geschäfte, deren Umfang .sich seit dei-
nem letzten Hierseyn noch um vieles erweitert
hat, nur irgend gestatteten, machten wir Spar
ziergänge an den Ufern des Sees oder der Lim?
mat, und meine Freude, diese Gegenden wie-»
der zu erblicken , verdoppelte sich an seiner
Seite. Gestern waren wir. auf dem Schützen«-
platze , um G e f s n e r s Monument zu sehen ,
welches nun dieser angenehmen Promenade zur
schönsten Zierde dient.
Auf dem Zimmer, wo G e f s n e r gewöhnlich
zu arbeiten pflegte, wenn er sich in der Stadt
befand , brachte ich neulich einige Stunden sehr
angenehm damit zu , seine ersten poetischen
Versuche zu lesen, die größtenteils aus kleinen
Anakreontisch?n Liedern und Fragmenten pro-
saischer Gedichte bestehen. Auch befindet sich
unter seinen un gedruckten Papieren , ein vol-
lendetes Lustspiel, die Reise nach dem
Tollhause betitelt, das, durch ächte humo-
ristische Züge und einzelne wahrhaft molierische
Scenen, die großen Anlagen beweist, die auch
xu den komischen Dichtungsarten in ihm lagen,
und welche, durch den unerschöpflichen Witz
und die yorikisch-luzianische Laune, wodurch
er, im Kreise vertrauter Freunde, so oft Leben
und Frohsinn verbreitete, noch unwidersprech*-
Jicher beurkundet wurden. Seine sämmtlichen
Handzeiclmungen hat man auf blaue Foliobogen
geklebt, und mit der Aufschrift: Gefsners
Studien, einbinden lassen. Es wäre zu . wün-
schen, da Cs diese Sammlung, die angehenden
Künstlern so äufserst lehrreich .werden könnte,
in Kupfer gestochen und dadurch gemeinnützi-
ger gemacht würde.
Niemand wage es jemals , die so merkwür-
dige Entwickelungsgeschichte von Gefsners
Dichter- und Künstlergenie zu schreiben, ohne
seine jugendlichen Poesien und Zeichnungen
sorgfältig studiert, und aus dem Muride seiner
Gattin alle dazu nöthigen Winke und Aufschlüsse
gesammelt zu haben, die nur sie, welche des
grofsen Mannes vertrauteste Freundin bis zum»
letzten Lebensaugenblicke und seine zuverläs-
sigste Kuns trichterin war , allein zu geben in}
Stande ist.
Gefsners beide Söhne sind eines solchen
Vaters würdig. Der ältere ist, nach dem Aus-;
spruche kompetenter Richter, auf dem Wege,
einer de* gröfsten Schlachten- und Landschafts-
maler zu werden, die jemals lebten; und es ist
erstaunlich , mit welchen Riesenschritten er den-
selben verfolgt. Schon als er noch in Rom
studierte , wetteiferten alle Kenner und Künst-
ler in Bewunderung seiner Pferde , die doch
von den jetzigen bei weitem übertroffen werden
xnüTsen, weil sein letztes Werk immer sein vor-^
züglichstes ist. Die Briefe , welche ihm sein
.Vater über Gegenstände der Kunst nach Italien
schrieb, sind der Bekanntmachung nicht weni^
ger würdig, als das vortrefliche Schreiben
über die Landschaftsmalerei.
122
Sein Bruder verbindet; mit vieleil gelehrteti
Kenntnissen, den feinsten und richtigsten Ge-
schmack und eine ausgebreitete Belesenbeit. Er
hat sich dem Buchhandel gewidmet, und setzt
die Geschäfte seines Vaters in diesem Fache sehr
glücklich fort. Gefsners einzige Tochter ist
in Genua an einen daselbst etablirten Kauf«
mann (Zellweger) aus dem Kanton App en-
teil verheirathet.
Mit religiöser Ehrfurcht trat ich in das Kabi-
net, wo, bei seinem ähnlichen Bilde von Grafy
öefsners letzte Landschaften hangen, welche
als ein unveräußerlicher Nachlafs immer bei der
Familie bleiben sollen. Hier steht auch seinö
Büste, von der Hand des geschickten Luzer-
ri er -Bildhauers 1 Christen«
Dasjenige von Gefsners Gedichten, wofür
er selbst die meiste Vorliebe hegte, und das er
oft wiederlas, war der erste Schiffer; dem
Tode Abels hingegen gab er die letzte Stelle
unter seinen poetischen Werken.
Vor einigen Tagen wurde ich sehr angenehm
durch einen Besuch des Verfassers von Lien*
223
hard und Gertrud überrascht, dessen Be-
kanntschaft ich mit wahrem Vergnügen wieder
erneuerte. Er ist ein äußerst einfacher und
ansprucbloser Mann , voll warmer Liebe fut
Freiheit > Aufklärung und Volksgluckseligkeit,
deren Beförderung und Erhaltung ihm so nahe
wie das Wohl des geliebtesten Freundes , am
Herzen liegt.
In Toblers Hause lernte ich den Prediger
J. G. S c h u 1 t h e f s kennen, der ein ganz vorzug-
licher Kopf und ein Mann von ausgebreiteten
Kenntnissen zu sejrn scheint. Er hat mehrer«
Epigramme im Geschmacke der griechischen
Anthologie gedichtet , worin eine unnachahm-
liche Grazie und Feinheit herrscht.
Im hiesigen botanischen Garten, wo ich
einige sehr gluckliche Stunden zubrachte, blüht
jetzt ein Tulpenbaum, der, an Schönheit und
Gröfse , in Buropa wohl schwerlich seines;
Gleichen hat.
Herr S. sagt mir in seinem letzten Briefe /
dafs er erst in der andern Hälfte dieses Monats
hier eintreffen könne ; ich habe mich daher
2*4
entschlossen, fliesen Aufschub zu einer Refse-
nach Graubündten zu benutzen, wohin ich
morgen mit dem Boten von Chur abzugehen
gedenke;
Lebe wohl.
Vier
425
Vier und zwanzigster Brief.
Malans in Bündten , 14. Jul. 1793.
vvas ich seit Jahren 59 sehnlich wünschte, hat
mir der mil^e Genius der Freundschaft nun ge-
währt. Salis, mein theu erster Bonstettenj
ist endlich, wie nach einer gefahrvollen Welt-
umschifFung, in den stillen Schatten der Häus-
lichkeit zurückgekehrt , um sich nicht wieder
daraus zu entfernen. Bald werden süfse Bande
ihn fesseln ;. und so becjarf er keines Katos
mehr; der ihn vor der Rückkehr in die Höhle
des CyklopeÄ warne.
Jetzt erst beginnt unsers Freundes wahres
Leben; und allem Anscheine nach wird er das-
selbe höher bringen, als der Konsul M. Plan«
tius, der nur die neun Jahre, gelebt zu haben
glaubte, die er, fern von Volksversammlungen
und Waffenlerme, in einer edeln Muße hau«
zubringen können. 1
P
2*4
ent*ch]öt§en , Simsen Aufschub zu einer Reise
nach Or/inböndten zu benutzen, wohin ich
Jfiorgon mit dem Boten von Chur abzugehen
{«denke*
Lebe wohL
V:i?,
V
Visa rix xtFin::j:u £*rt>>
JfeiKSA -^ -»u. r->pr
mir der anüse ^o^ t#er J i-rui^t^^^f laut ^
Währt. BiHi wexL limrue-i*sr fcv» . ^ r-M *
ist endEst, ice jard «#*- ^^ur «^i*ea ***$ür
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mehr, te- im. -vir t«r s ^x\^<.r n, 6*s. <>>/*-*
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Lebern; nac alew rc^-s-rrj*- ?>r\ mr -^ ^
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glaubte, tu* -r üsm --» " ^'."f»?w" ******
und WaBsMin» . * *»**• <■*** ,»**«* *r>«
32$
Am 6. Julius, Nachmittags um 4* Uhr, ver-
ließ ich Zürich, bei hellem Sonnenscheine,
in der Barke des Boten von Chur, die bedeckt
und überhaupt sehr bequem eingerichtet ist.
Wohlfeiler bin ich selten gereist. Für die zwan-
zig Stunden von Zürich bis Malans bezahlte
ich , mit Einrechnung aller Wirthsh auskosten ,
nicht mehr als einen neuen Louisd'or. Die
Gesellschaft bestand meistens aus Zürichern,
von denen einige nach Pfeffers,, andere nach
Italien giengen.
Nach Sonnenuntergänge landeten wir bei
Meilen, einem Dorfe auf dem linken Seeufer/
wo wir die Abendmahlzeit schon bereitet fanden.*
Als ich wieder zur Barke zurückkam , waren die
Schiifleute eben beschäftigt, die Bänke daraus;
Wegzuräumen, und Stroh zum Lager auszubrei-
ten , auf welchem wir alle nebeneinander ftin-
gereihet wurden. Dicht in meinen Mantel ge-
wickelt, schlief ich unter dem Geräusche der
Ruder sehr bald ein, und erst mit der Morgen-
röthe erwachte ich von einem Schlummer, den
der herrliche Dulder Odysseus auf seinem Lager
/
2ZJ
von dürren Blättern nicht süfser kann geschlafen
haben. Das erste, was meinem Blicke sich dar-
i
stellte, war die Insel Ufnaü, die, wie von
einem zarten Schleier um webt, im röthlicben
Frühdufte zu schwimmen schien. Gern wäre
ich ausgestiegen , um den heiligen Boden zu
betreten, wo einer der gröfsten Deutschen, als
ein hülfloser Verbannter, von Allen feigherzig
verläugnet, die sich im Glücke seine Freunde
genannt hatten , das Ziel seines stürmischen
Lebens fand; aber die Barke gleitete vorüber,
und nur im Geiste konnte ich an der Stätte
verweilen , wo man die Gebeine des kühnen
Sprechers der deutschen Nazion, derLuthern
die Bahn brach , ins Grab senkte. Seitdem sind
nun schon beinahe drei Jahrhunderte verflossen,
und noch immer war jeder patriotische Versuch,
eine vollständige Ausgabe seiher Werke zu ver-
anstalten, und so seinen zürnenden Schatten
zu versöhnen , aus Mangel an Unterstützung
fruchtlos. Der vor zehn Jahren erschienene
erste Theil blieb ohne Fortsetzung , weil er
kaum so viel Käufer fand, als die eckelhafteste
22$
Krudität aus der Zauber- Ritter- öder Gespen-
sterwelt* Wahrlich y eine Nation , die gegen
einen der vorzüglichsten Geister, die sie jemals
hervorbrachte, dieser Gleichgültigkeit fähig ist,
verdiente nie, einen Ulrich von Hütten zu
den ihrigen zu zählen !
In Lachen, welches 7. Stunden von Zü-
rich entfernt ist, wurden wir in drei Chaisen
vertheilt, die uns gegen Mittag nach Wesen
brachten, einem armseligen Städtchen, wo die
meisten Häuser beinahe bis zur Hälfte im Mo-
raste stecken, und dessen Atmosphäre, in Ab-
sicht ihrer verderblichen Einflüsse , auf die Ge-
sundheit der Einwohner, den Ausdünstungen der
pontinischen Sümpfe nur wenig nachgeben 4bll.
Die Fahrt auf dem Wallen Stadt er -See
wird für eine der gefährlichsten in der Schweitz
gehalten , weil seine Felsenufer fast überall *
senkrecht abgeschnitten sind , und man daher
bei einem plötzlichen Sturme ohne Rettung ver-
loren wäre* Der Tag war schwül, die Barke
unbedeckt, und so voll Menschen gepreßt > dafs
mir der freie Gebrauch der Arme gänzlich' ver-
«29
sagt war, und ich mich beinahe in den Zustand
versetzt sah, worin sich H oll well befand,
als man ihn mit den Gefährten seines Unglücks
in der schwarzen Höhle gefangen hielt«
Unter diesen Umstanden war es kein Wunder,
daß weder die malerischen Wasserfälle, noch
die fantastischen Felsenformen der Seegestade,
meine Seele zu sich emporzuheben vermochten.
Nach einer Fahrt yon vier tödtlich langen Stunden
landeten wir bei Wallenstadt. Im Wirths-
hause sähe ich ein Familiengemälde von D i o g g ,
einem der geschicktesten Bildnilsmaler unserer
Tage, der sich in Rappersch weil aufhält,
und den ich kürzlich in Zürich, wegen seiner
seltenen Bescheidenheit, so lieb gewonnen hatte*
Hirzel, der .Verewiger Kleinjoggs, hat
diesen Künstler und seine merkwürdige Bildung
zum Gegenstande eines sehr lesenswürdigen
Aufsatzes gemacht.
Von hier setzten wir die Reise wieder zu
Lande fort, und kamen mit einbrechender Dun-
kelheit in Ragatz an, wo uns ein Gasthof zum
Nachtquartiere angewiesen wurde, durch wel-
*30
eben ich ganz unerwartet eine anschauliche Idee»
von efen spanischen Zigeunerherbergen bekam,
die, wegen ihrer unbeschreiblichen Unsauber-
keit, so weit berüchtigt sind. '
Am folgenden Morgen kam ich bei Salis
4n, der noch bei seinem Vater im Schlosse
Bodmar wohnt. Dies ansehnliche Gebäude
liegt dicht hinter Mal ans auf einer Anhöhe,
und beherrscht eine beträchtliche Strecke des
großen Thals ; das, durch den Rhein get heilt,
sich zwischen zwei höhen Bergketten fortwindet.
Nachmittags besuchten wir den Obersten-
Ton Pestalozzi, in dessen Tochter ich die
künftige Lebensgefährtin meines Salis kennen
lernte. Gewifs , ihm ' fiel ein schönes Loos ;
denn die harmonische Vereinigung der sittlichen
Grazie mit dem reinsten Natursinne und der
sanftesten Weiblichkeit, verheifst ihm unwandel-
bare Glückseligkeit, als Manne und als Greise.
Nun wurden Plane zu Ausflügen in die um-
liegende Gegend entworfen , die wir auch
gröfstentheils ausführten.
«Wir waren in Reichenau, wo eine Gesell-
*3*
schaft von Menschenfreunden, an deren Spitze
ein Herr von Ts chamer steht, ganz kurz-
lich eine Erziehungsanstalt errichtet hat, von
der sich in mehrern Rücksichten viel Gutes
erwarten läfst. Die Unternehmer haben das
Reichenauer-Schlofs gekauft, und die Woh-
nungen der Lehrer und Zöglinge so bequem
und zweckmäßig einrichten lassen , dafs ich ,
aufser den Philantropisten- Zimmern im ehema-
ligen Dessauischen Erziehungsinstitute , nichts
musterhafteres in dieser Art gesehen habe. Von
einer Terrasse des Schlofsgartens sieht man
die Vereinigung des Vorder- und Hinter-
Rheins aus dem vorteilhaftesten Standpunkte.
Zu Chur brachte ich nur wenige Stunden
in gemischter Gesellschaft zu. Sem onville
ist neulich hier durchgegangen , hat überall ,
nach gewohnter Weise, wie ein Bassa vergeu-
det , und soll sogar die unerhörte Forderung
einiger Fuhrleute, täglich für jedes Pferd einen
Louisdor zu bezahlen, ohne sich auf irgend eine
Einwendung einzulassen, befriedigt haben.
Im Bade zu Pfeffers konnte ich der Ver»
«3»
«ndiung nicht widerstehen, den gefährlichen
Gang nach der Quelle zu wagen ; und ich
wünsche mir jetzt Gluck, diese Naturmerkwür-
digkeit gesehen' zu haben, die mich . wechsels-
weise mit Bewunderung und Grausen erfüllte.
Nachdem unser Führer die Pforte des Ein-
ganges aufgeschlossen hatte, glaubten wir uns
plötzlich aus der freundlichen Oberwelt an die
Thore des Orkus versetzt. Zwei hohe Felsen-
mauern , - aus unförmlichen Massen , wie vpn
Titanenhänden , wild- übereinandergethürmt ,
bilden eine Art von Gallerie, an deren linker
Wand die Röhren hinlaufen, welche die Quelle
ins Badehaus leiten. Sie sind mit eisernen Stan-
gen und Klammern daran befestigt, eben so
wie die Bretter, die uns jetzt zum Stege dienen
sollten. Unter dieser unsichern Brücke, die so
schwach ist, dafs nie zwei Personen dic^it hin-
tereinander darauf gehen dürfen, wälzt sieb die
Tarn ine, ein wüth ender Bergstrom, in grau,
senvoller Tiefe , mit dem Donner einer Kata-
rakte; und derjenige, unter dessen Füfsen das
über diesem schrecklichen Abgrunde schwan-
*33
"Jtende Brett bräche, würde unvermeidlich seinen
Untergang in der tobenden Fluth finden, aus
welcher eben so wenig Rettung zu hoffen ist,
a)s aus dem Schlünde der Charybdis. Heber
uns wölbten sich die Felsenwände bald völlig
zusammen; bald trennten sie sich wieder, und
liefsen ein mattes Dämmerlicht durch Qeffhun-
gen einfallen, an deren Hände ungeheure Stein-
blöcke in zweifelhaftem Gleichgewichte hiengen,
und jeden Augenblick herabzustürzen drohten.
Zuweilen ward die Felswand, an welcher wir,
wegen der häufigen Vorsprünge, mehr gebückt
als aufrecht fortgi engen , durch Vertiefungen
oder Höhlen unterbrochen; und dann lief das
schmale Brett völlig freischwebend über die
Tiefe hin , vor deren betäubendem Aufrühre
keiner von uns die Stimme des andern hören
konnte. An einer solchen Stelle sank der I^uth
einem von der Gesellschaft so tief, dafs er auf
die Ehre des erreichten Zieles Verzicht tbat und
wieder umkehrte. Aber wir übrigen schritten
herzhaft fort, bis uns das aus einer Seiten Öff-
nung der linken Felswand hervorströmende
*34
Dampfgewölk das Ende unserer Wanderung
▼erkündigte. Bald sahen wir den Ursprung der
Queue selbst, deren abenteuerliche Entdek-
knngsgeschichte ich dir, dem, beim Studium
der Vaterlandshistorie, keine Chronik, ja bei-
nahe keine Legende und Volksüberlieferung
entgangen ist, nicht zu wiederholen brauche*
Hierauf begaben wir uns auf den Ruckweg ;
und freudig., wie Milton nach seiner Höllen-
reise, begrülste ich das Sonnenlicht, als wir
wieder beim Badehause ankamen.
Den angenehmsten Tag meines Aufenthaltes
in Graubündten, brachte ich, mit einer
kleinen, aber erlesenen Gesellschaft, in einer
Sennbütte zu. Das Wetter war wie aus dem
Paradiese, und die Gegend von bezaubernder
Mannigfaltigkeit. In der Ferne ragten zahllose
Berggipfel in die dunstlose Bläue des Himmels
auf; aber majestätischer als alle seine Nachbaren,
erhob der Kai an da sein graues Haupt. Zu
unsern Fußen lag der Blecken Mal ans, und
weiterhin strömte der Rhein durch eine mit
Dörfern und einzelnen Wohnungen übersäete
*
*35
Ebene. Nicht weit von der Sennhütte blickte
die alte Burgveste Wein eck aus dunkelm Ge?
büscbe hervor ; Haine schatteten in traulicher
Nähe, und kristallhelle Bäche zitterten durch
die blumigen Matten. In jenen lagerten wir
uns , unter Scherz und Gesänge , froh wie
Gefsnerische Schäfer, auf Moose; und in
diesen kühlten wir unsere Flaschen. i*ängs den
Hecken blühte das herrliche Cyclamen euro»
paeum, dem seine zurückfallende Blumenkrone:
ein so sylphenhaftes und ätherisches Ansehen
giebt, dafs man verführt werden könnte, beim
Pflücken leise aufzutreten, wie beim Haschen
eines Schmetterlings.
Wir weilten in dieser reizenden Gegend
Bis Hesperus, gleich einer goldnen Flocke,
Aus Wolken drang ;
und, Trotz meines Widerwillens gegen alle
Denkschriften und Seelenergiefsungen an Wän-
den, Thüren und Fensterscheiben, schrieb ich
in der Freude meines Herzens , zum Andenken
dieses schonen Tages , an einen Pfosten der
Hütte : Pixi.
*36
Oft gedachten wir Deiner, mein geliebter
Freund, und wünschten Dich in unsere Mitte.
Wenn Du vielleicht am zwölften Julius gegen
Sonnenuntergang deinen gewohnten Spatzier-
gang am See machtest, und der Abendwind
deinem Ohre Töne zuführte, deren Ursprung
Du dir vergeblich zu erklären suchtest ; so
»wisse, daß sie von der landlichen Harmonika
unserer Gläser ausgiengen, die wir unter froher
Nennung deines Namens zusammenstießen.
\
*37
Fünf und zwanzigster Brief,'
Ermatingen am Bodensee, 4. Aug. 1795.
Ich habe dir ein Beispiel von patriotischer To-
desverachtung zu erzählen; das einer Stelle im
Thucydides öder Livius werth gewesen
Wäre. Es ward mir aus einem Briefe mitge-
theilt, den ein französischer Kaufmann, mit
dem ich neulich in Konstanz zusammentraf,
von seinem Sohne erhalten hatte , der sich
bei der Armee in Nizza befindet. Ich gebe
dir das Faktum so einfach und schmucklos ,
wie ich es aus dem Munde meines Gewährst
xnannes empfieng.
Ein französischer Grenadier war auf einer
kleinen Expedition an den Grenzen der Graf-
schaft Nizza , man weifs nicht recht dureb wel-
chen Zufall , von seinen! Korps, abgekommen ,
und irrte in einer wilden und bergigen Gegend'
allein umher. Hier ward er plötzlich von einer
*38
feindlichen Patrouille umringt und entwaffnet.
Das erste, was die Pjemonteser von ihrem
Gefangenen begehrten, war, seinem politischen
Unglauben zu entsagen, und vive le Roil zu
rufen. Kalt und fest sagte dieser : ca ira ! Du
bist des Todes , wenn du nicht auf der Stelle
vive le Roil rufst, schrieen jene noch einmal.
Der Franzose wiederhol (e sein ca ira. „ Nun,
„'zum letztenmal! wenn dir dein Leben lieb ist,
;,so sagst du vive le Röi ! " Bei diesen Worten,
die schon mit wuth ender Leidenschaft ausge-
stoßen wurden , kehrten sich alle Bajonetter
gegen! die Brust des Republikaners. Da rifs
dieser seine Weste auf, und weihte sich dem
Tode mit den Worten : $a ira sans moi l
kaum hatte er diese-. mit einem Tone ausge-
sprochen, der dem sterbenden Gefangenen die
ganze Wurde eines triumphierenden Siegers
gab , als er unter den Stichen seiner Mörder
zu Boden sank.
Den Namen des Helden hatte der Korre-
spondent nicht erfahren können, oder zu nen-
Äeri vergessen; ich habe daher den Kaufmann
angelegentlich gebeten , sobald er wieder in
jene Gegend schreibt, sich darnach zu erkun-
digen, und mir denselben mitzutheilen. Wie
mancher Name kam schön um die verdiente
Unsterblichkeit, weil er nicht zur rechten Zeit
aufgezeichnet wurde ; und auch diese erhabene'
Todesgeschichte wäre vielleicht in ewige Ver-
gessenheit gesunken , wenn nicht einer der
Äugenzeugen > glücklicherweise y noch genug
Sinn und Gefühl gehabt hätte, um das Grofse
darin zu fassen, und ihre ursprüngliche Aecht-^
heit weder durch Zusätze noch Weglassungen
zu verfälschen.
Ein Volk, das solche Patrioten zu verlieren
hat, droht der Geringschätzung seiner Kriegs-
macht eine fürchterliche Rache ; und das Bei-
spiel dieser freiwilligen Aufopferung allein, das*
schwerlich das einzige der Art bleiben dürfte/
ist in seinen unausbleiblichen Wirkungen mehr*
als eine ganze Armee.
Eine der Hauptursachen des bisherigen Mifs-
lingens so vieler gegen Frankreich angelegten
Plane, ist unstreitig die höhnende Verachtung
i4<>
seiner militärischen Kräfte > die im Anfange, des
Krieges so weit gieng, daß mehrere angesehene
Offiziere zu * * * *. im völligen Ernste der
Meinung waren, ein Soldat könne, ohne sich
xu entehren, nicht gegen jenes zusammengeraffte
Gesindel fechten ; und das Befste , um allen
unangenehmen Kollisionen vorzubeugen, wäre
daher, nach ihrem unmaafsgeblichen Dafürhal-
ten, einige Regimenter Juden an den Rhein
marschieren zu lassen.
In der Beantwortung deiner Fragen über
meine hiesige Lebensweise kann ich kurz seyn.
Meine Geschäfte sind völlig dieselben, wie zu
Grandklos, und in unserer ganzen Tages-
ordnung ist keine Veränderung von einiger Er-
heblichkeit vorgegangen« Herr S * * *. wird sich
wahrscheinlich bis zum Oktober hier aufhalten.
Die Lage des Schlosses, das wir bewohnen,
ist äufserst anmuthig; und diejenigen Zimmer,
welche nach der Seeseite gehen, haben eine
weite und reiche Aussicht. Zu meiner Freude
ist mir eins der letztern zu Theil geworden ;
und so oft ich vom Schreibtische aufblicke, zeigt
sich
24 1
sich mir die Insel Reicbenau, und hinter
derselben das lieblichste Gemisch von Hügeln,
Dörfern und Hainen, bis zur Bergveste Hohent-
wiel, die, im bläulichen Dufte der Ferne, den
Gesichtskreis begrenzt. Dem Maler, welcher
es unternähme, diesen Prospekt darzustellen,
wurde die Befolgung des thebanischen Gesetzes,
das dem Künstler die Nachahmung ins Schönere
befahl ( it? ro ngsirrov (Ufw&ou) , ziemlich schwer
werden.
Mein gestriger Spatziergang führte mich nach
der Anhöhe von Kastei, wo die bemooste
Burgruine gegen das daneben gebaute neue
Schlofs malerisch absticht. Hier ist unstreitig
die Stelle, wo man die Ufer des Bodensees
in der gröfsten Ausdehnung und reitzendsten,
Mannigfaltigkeit übersiebt.
Ich blieb den ganzen Vormittag bei der
Ruine, und genofs, mit der heitersten und of-
fensten Seele, des Anblicks der vor mir ausge-
breiteten Gegend, die mit Recht zu den ent-
zückendsten des Erdbodens gezählt wird. In
diesen dichterischen Stunden, wo so manches
Q
magische Bild der Phantasie vor mir aufstieg,
wurde, bei meiner überwiegenden Vorliebe für
den Genfersee, dessen ich sogar hier mit
Sehnsucht gedachte , auch sehr natürlich der
dlte Wunsch wieder in mir erneuert : Mit Bei-
hülfe des Genius von Aladdins Lampe, oder
des Riesen, der, nach einer altnordischen Sage,
Seeland von Schweden losrifs, die Insel
Meinau zwischen Vevey und Meillerie
hinversetzen zu können , wo sie von unbe-
schreiblicher Wirkung seyn müßte , indefs sie
in ihrer gegenwärtigen , höchst unvorth eilhaf-
ten Lage , nur an wenigen Orten ganz isolirt
erscheint.
Um dies Wunder , womit dem Deutschen
Orden freilich eben nicht sehr gedient seyn
könnte, ganz unfehlbar zu bewirken, bedürfte
es nichts weiter , als der erwähnten Zauber-
lampe, die Kagliostro aus den egyptischen
Pyramiden, wo sie schon seit Jahrhunderten in
einem Mumienkasten begraben liegt, unbegreif-
licherweise mitzubringen vergessen hat , oder
auch nur eines skandinavischen Runenstabes,
*45
der vielleicht noch leichter zu haben seyn würde.
Das zweite und bei weitem größere Wunder >
welches der glucklichen Ausführung dieser Idee
unmittelbar folgen müfste , und wodurch die
Weltweisen unserer Tage in kein geringeres
Erstaunen gesetzt werden dürften , als die Na-
turforscher von Lausanne und Genf durch
die Erscheinung der entführten Insel , wäre
nichts mehr und nichts weniger, als: Die Stif-
tung einer kleinen platonischen Republik auf
Meinau im Genfersee.
Dies alles vertraue ich dir unter den Rosen
der Freundschaft; denn bei grofsen und uner-
hörten Unternehmungen mufs man weder Keime
noch Blüthen, die so mancherlei Zufällen unter-
worfen sind, sondern nur zeitige Früchte vor
das Anschaun des Publikums bringen. Eine
goldene Regel, deren geringes Ansehen in der
gelehrten und politischen Sphäre, zu den älte-
sten Klagen der Welt- und Menschenverbesse-
rer gehört.
Ucber den vorgeblichen Smaragd im Kloster
der Insel Reichenau, den ich, auf meiner
»44
ersten Reise durch diese Gegenden, für einen
Glasflufs hielt , habe ich mich nun eines bes-
sern belehrt; es ist ein grüner Flußspath, und
als solcher von großer Schönheit.
*45
Sechs und zwanzigster Brief»
Grandklos, 20. Okt. 1793*
•
Du erhältst hier * * * s Schweizerreise zurück.
Wann werden doch unsere Alpenpilgrimme auf-
hören, Nachteulen nach .Athen zu tragen? In
diesem ganzen dicken Bande ist auch nicht Eine
Spur von Neuheit oder Eigentümlichkeit ; alles
ist schon hundertmal übergedroschen, und der
Reisende erscheint von der ersten Seite bis zur
letzten, als ein Mann, der seinen Vorgängern
eben so sklavisch nachschritt und nachkletterte,
wie er ihnen" jetzt nacherzählt und nachexklamirt.
Es geht in der Schweitz wie in Italien : die
meisten Fremden wandeln Schritt vor Schritt
hintereinander her, wie Sancho Pansas Gänse;
und die alten Fufsstapfen sind nach grade so tief
ausgetreten, dafs niemand mehr hoffen darf,
ohne Stolpern darin fortzukommen«
£4$
Es ist kaum begreiflich , dafs von allen
Schweizerpilgern , die seit so vielen Jahren ihre
vor und nach der Reise geschriebenen Tage-
bücher in öffentlichem Drucke haben ausgehen
lassen , noch keiner , vom Geiste des Ruhms
oder der Neugierde getrieben, die Heerstrafse tf
( wo freilich die trefiichen Wirthshäuser sehr oft
die Rolle des Magnetenberges im arabischen
Mährchen spielen) verlassen hat, um, auf sel-
tener betretenen Seitenwegen, alle bisher ver-
nachlässigten und im Auslande so gut als unbe-
kannte Merkwürdigkeiten Helvetiens aufzusu-
chen, und in einem eigenen Werk zu beschrei-
ben. Deutschland würde erstaunen über die
reiche Nachlese von Naturwundern , so wie
Italien über die Menge der alten Denkmäler
erstaunte, die unserm Winkelmann noch zu
erläutern übrig geblieben waren.
Wie vieles ist nicht allein in unserer Nähe ,
was der Darstellung eines Mein er s oder
Hirschfelds würdig wäre ! Von den Wasser-
füllen , die an den einmal als kanonisch aner-
kannten Reiserouten liegen , giebt es fast eben
247
so viele Beschreibungen , als Bildnisse voll
Friedrich oder Voltaire; wer aber erwähnt
der Tine de Konflans, einer Kaskade zwi-
schen Lasar a und Kossonay, zu welcher
sich , in Absicht ihres originellen Lokalcharak-
ters , schwerlich irgendwo ein Seitenstück findet,
auch nur mit einem Worte ? Wer gedenkt an-
ders, als im Vorbeigehen, des Ursprunges der
O r b e , dessen Aehnlichkeit mit Vauklüse)
mich so angenehm überraschte , und der an
Berühmtheit jener Quelle gewifs nicht weichen
würde, wenn in seiner Nähe ein Petrarka
gelebt, oder ein Horaz ihm ein Lied geweiht
hätte ? Wer hat von der Grotte bei Montche-
rand, die nach meiner Empfindung, mit ihren
Umgebungen , dasfhöchste des Romantischen
ist, nur ein einzigesmal so umständlich gespro-
chen, wie man schon hundertmal von Meille-
ries Felsen sprach; die wir gewifs nur selten
nennen und noch seltener besuchen würden,
wenn die Zauberkraft des Genies ihnen nicht erst .
ein so allgemeines Interesse verschafft hätte ?
So konnte ich noch lange zu fragen fortfah-
*48
ren , wenn ich den kleinen' Bezirk , der ttdt
grade zuerst einfiel, verlassen, und in entfern-
tere Gegenden übergehen wollte. Genug, es
steht künftigen Reisebesch reibern noch ein wei-
tes Feld zu neuen Eroberungen in der Eidge-
, nossenschaft offen , so bald sie sich entschließen
wollen, neue Pfade zu betreten, vorzüglich in
[Wallis, Graubündten und den italiänischexi
Landvogteiea.
M9
Sieben und zwanzigster Brief.
Ulm, 23. Jun. 1794»
jVliller, bei dem ich seit meiner Abreise von
Zürich den ersten Rasttag hatte, ist in Amts-
geschäften ausgegangen und bis zu seiner Wie-
derkunft kann ich mich mit dir unterhalten,
lieber Bonstetten. Dem Blatte, worauf ich
an dich schreibe ,' dient eine Mappe zur Unter-
lage , die einst Hölty gehörte, und jetzt, als
ein heiliges Andenken der Freundschaft, immer
auf Millers Pulte liegt. Bei Erblickung der
Schriftzuge des liebenswürdigen Sängers, womit •
diese Reliquie überall bedeckt ist, gedachte ich
seines meist freudenlosen Lebens und frühen
Hinwelkens, und seufzte aus dem Innersten der
Seele: Armer Hölty I •
Meine Reisegeschichte von Bern bis Ulm
enthält eigentlich nichts was des Niederschrei-
bens werth wäre. Da Du aber schon mehr als
35o
einmal meinen Briefen Mangel an Umständlich*
keit vorgeworfen, und noch ausdrücklich beim
Abschiede den Wunsch geäußert hast, mich auf
der langen Kometenbahn meiner jetzigen Reise,
bis zur Wiederkehr in den Schoofs der Alpen ,
Schritt vor Schritt zu begleiten ; so magst Du
dir es selbst zuschreiben, wenn meine Erzäh-
lungen mit unter nur ein Gewebe von Gering-
fügigkeiten seyn werden, die ihrer Natur na et
lange Weile erregen mufsen, so bald man nicht,
wie Marivaux oder Sterne, die seltene Kunst
in seiner Gewalt hat , aneh den alltäglichsten
Ereignissen, durch Laune, Witz und Humor,
Leben und Interesse zu geben.
Von Zürich bis Konstanz reiste ich in
der Diligence schnell , bequem und wohlfeil.
Meine Gefährten waren ein Exkapellmeister des
Fürstbischofs von Basel, und ein Tuchhändler
aus dem E Isafs. Jener hatte durch die Revo-
luzion seine Stelle und ganze Habe verloren,
dieser hingegen bei Gelegenheit einiger Tuch-
lieferungen für die Armee beträchtlich dadurch
gewonnen. Dar politische Glaube dieser Her-
251
ren war folglich schwarz gegen weiß, ohne die
allergeringste Mitteltinte. Auch geriethen sie
bald so heftig an einander, dafs ich es für Pflicht
hielt, durch einige an den Tonkünstler gerich-
tete musikalische Fragen, den Fortgang eines
Gesprächs zu hemmen, dessen Katastrophe für
diesen, dem sein sanskülottischer Antagonist an
Körperkraft bei weitem überlegen war, sehr
unglücklich hätte ausfallen können.
Wie traurig, dafs man im ganzen Umkreise
der durch Frankreichs Revoluzion erschüt-
terten Länder , beinahe nirgends mehr einen
Schritt mit Menschen oder unter Menschen thun
kann, ohne vom Gifthauche des unreinen Par-
theigeistes angeweht zu werden, vor welchem ,
in Hütten und Palästen, jede schöne Blume der
Geselligkeit und Lebensfreude dahinstirbt !
Der Gefährte , mit dem du ehemals eine
Strecke Weges zurückzulegen hattest, erleich-
terte dir die Beschwerden desselben durch Froh-
sinn und Gespräch, und beim Handdrucke des
Abschiedes lasest du in seinem Auge den Wunsch,
dir noch einmal wiederzubegegnen ; jetzo forscht
und späht er mit mistrauiscber Lauersamkeit , ob
du dich zur weifsen oder dreifarbigen Kokarde
bekennst, und die entdeckte Abweichung dei-
ner politischen Grundsätze von den seinigen be-
stimmt ihn, entweder alle weitere Gemeinschaft
mit dir zu vermeiden, oder dich mit fanatischer
Bekehrungswuth , als einen Feind der allgemei-
t
nejrf Gluckseligkeit, anzugreifen. Wie oft sind
mir, bei solchen Anläfsen , schon die Sekten
des Omar und Ali eingefallen, deren eine die
Abwaschung vom Ellenbogen, die andere aber
von den Fingerspitzen anfangt. Kaum hat ein
Anhänger des Ellenbogens seinen Reisegefährten
bei dieser heiligen Handlung zuerst die Finger-
spitzen benetzen gesehn , so ist plötzlich der
Friede gebrochen, und derjenige, mit dem er
vorher in bruderlicher Eintracht lebte, ist nun
vor den heftigsten Ausbrüchen des Hasses keinen
Augenblick mehr sicher.
Ein sehr lächerlicher Hahnenkampf fiel, beim
Abendessen in Konstanz, zwischen dem Hof-
rath X. und dem Rathsherrn von Y. vor. Erste-
rer trachtete durch Stellen aus der Apokatyp se
*53
die Notwendigkeit und Rechtmäfsigkeit der
französischen Revoluzion zu erweisen, und lez-
terer demonstrirte , mit ernster Diktatormine,
i
das sonnenklare Geg entheil aus dem römischen
Rechte. Ein ausgewanderter Geistlicher nahm
hieran ein so grofses Aergernifs, dafs er, mit
einem Blicke voll unwilliger Verachtung auf den
apokalyptischen Demokraten, vom Tische auf-
stand und das Zimmer verliefs.
Der nemliche befand sich am folgenden
Morgen, bei der Ueberfahrt nach Mörspurg
mit im Postschiffe. Nach seiner Angabe haben
wenigstens 34,000 Priester Frankreich ver-
lassen. Was mir in der Unterhaltung mit ihm
am meisten auffiel , war folgende Aeufserung ,
die ich am allerwenigsten von einem gesunden
und kraftvollen Manne erwartet hätte, der noch
in der Blüthe des Lebens war.
„Kein Mensch, der ein Gewissen hat," sagte
er mit vieler Lebhaftigkeit , „ wird uns die Aus-
„ Wanderung aus unserm Vaterland noch ver-
denken, $0 bald er weifs, dafs man uns sogar
„zur Ehe verpflichten wollte."
»54
Die Ueberfahrt dauerte anderthalb Stunden.
Die Ferne war heiter , und die Luft so mild ,
dafs ich mich bei ihrem Wehen eben so wenig
in der Mitte des Januars , als bei obigem Aus«
Spruche des Geistlichen im achtzehnten Jahrhun-
dert glaubte.
In Memmingen, einer schwäbischen freien
Reichsstadt, wo alles Wohlstand und Gewerb-
samkeit ankündigt , hörte ich den Wirth im
Weifsen Ochsen, mit wahrem Vergnügen ,
einige von ihm selbst komponirte Melodien spie-
len. Er heifst Rheineck, und wird in diesen
Gegenden als Tonkünstler sehr geschätzt. Schon
mehrere musikalische Sammlungen sind von ihm
9
erschienen , und mit Beifall aufgenommen wor-
den. Besonders gelingen ihm launige und fröh-
liche Gesänge. Wie mich ein deutscher Dichter
befremden würde, der weder die Messiade
noch den Oberon gelesen hätte; eben so be-
fremdete mich hier ein Tonkünstler, dem der
treiiiche Schulz kaum dem Namen nach bekannt
war. Wie kann man Kenner, Freund und Aus-
über der Tonkunst seyn, und sicli doch so wenig
*55
um ihre ersten Meisterwerke bekümmern ? Wenn
es mit dem so oft erhobenen musikalischen Ge*
scbmacke und Gefühle der Deutschen seine völ-
lige Richtigkeit hätte , würden, vom Boden-
see bis zur Eider, die Chöre aus der
Athalia sicherlich auf keinem Klavierpulte
fehlen.
Hier in Ulm fand ich die freundschaftlichste
Aufnahme bei dem Professor Miller, den ich
schon vor mehrern Jahren persönlich kennen und
wegen seines biedern Charakters hochschätzen
gelernt hatte. Es macht seinen Mitbürgern Ehre,
dafs sie seine hervorstechenden Verdienste als
Volks- und Jugendlehrer zu würdigen wissen >
und er einer allgemeinen Achtung geniefst. Auch
Miller der Dichter wird gewifs so lange fort'
leben, als der Sinn für altdeutsche Herzlichkeit,
süfse Naivetät und edle Einfalt, nicht gänzlich
unter uns ausstirbt. Viele seiner Lieder sind im
Munde aller Stände. Seit einigen Jahren hat er
beinahe nichts mehr für das Publikum gesungen ;
und er gehört zu den wenigen deutschen Dich-
tern, die ihre Laufbahn zu früh beschlossen
j
256
haben. Doch vielleicht war er der goldnen
Worte eingedenk , die eins unserer größten
poetischen Genies , schon vor dreißig Jahren ,
allen Günstlingen der Musen zu beherzigen gab..
„Es ist gewifs," sagt der Sanger der Theodicee,
„dafs unter allen Schriftstellern sonderlich die
„Dichter einen gewissen Zeitpunkt haben , wo
„sie zu schreiben aufhören sollen. Es ist nur zu
„bedauern, dafs sie unter allen am wenigsten
„ diesen Zeitpunkt bemerken. 1 '
Die in dieser Stadt befindlichen französischen
Kriegsgefangenen , deren Anzahl sich auf tausend
beläuft, werden mit vieler Menschlichkeit behan-
delt, und sind daher sehr unzufrieden, dafs sie"
in einigen Tagen nach Linz abgehen sollen, wo
sie, aller Wahrscheinlichkeit nach, ein weniger
mildes Schicksal zu erwarten haben. Unter den
Offizieren ist ein junger Elsasser von vorzüg-
lichen Kenntnissen, der, als Kandidat der Theo-
logie , gezwungen ward , eine Hauptmannsstelle
anzunehmen , und sich nun, wie unzahlige sei-
ner übrigen Waffenbruder, so weit von seiner
ersten Laufbahn weggeschleudert sieht, dafs ihm
nicht
*57
nicht die geringste Hoffnung bleibt , sie je wie-
der zu betreten.
Hier mufs icb abbrechen. Lebe wohl, Theu-
erster ! Meinen nächsten Brief erhältst du aus
Stuttgardt, wo ich einige Tage zu bleiben
Willens bin.
R
*58
Acht vhd zwanzigster Brief.
Smttgardt , den 27. Jan. 1794.
Ich grufse dich mit hinstrebender Seele, mein
Bonstetten ! der Du vielleicht in dieser Mor-
genstunde, am Kamine, vor dem Bilde unsers
verewigten Bonne ts , auch deines Freundes ge-
denkst. Diese Vorstellung beseligt mein Herz ,
das zwar von dem deinigen entfernt , aber nie
geschieden seyn kann.
Seit zwei Tagen bin ich nun im Hause des Pro*
fessors Hartmann, eines meiner ältesten und
gepruftesten Freunde , der auch zu den wenigen
gehört , die lieber seyn als* scheinen mögen,
und das stille Bewustseyn edler Wirksamkeit ,
im angewiesenen Berufskreise , für beglückender
halten, als den ganzen Flitterprunk einer oft sehr
wohlfeil erkauften Celebrität, der in uns er m Va-
terlande , nur allzuhäußg, vom Dampfe kriti-
scher Windlichter geschwärzt , wie die unächten
*59
Tressen eines Theaterkleides , nach kurzem
Schimmer ein Raub der Trödelbuden und Plun-
derkammern wird.
Am Tage meiner Ankunft wurde eben Hart-
roanns erstes Kind getauft. Ich war mit als
Taufzeuge eingeschrieben ; und dieser Umstand
machte mir das Wiedersehen meines braven, von
der Wonne des Vatergefühls tief durchdrungenen
Freundes , doppelt angenehm. Nichts im Er-
denleben geht doch über häusliches Glück ; und
wessen Herz und Geist in einem edlen Weibe ,
hoffnungsvollen Kindern und erlesenen Büchern,
nicht volle Befriedigung und daurenden Genufs
findet , der wird ewig begehren, ohne jemals zu
erlangen , und seine Arme nach Wolkenbildern
ausstrecken , bis der Tod ihn zur Ruhe bringt.
Zu den wichtigsten Veränderungen , die seit
meinem letzten Hierseyn inStuttgardt vorge-
gangen sind, gehört unstreitig die Aufhebung
der Militärakademie, womit die hiesigen Ein*
wohner, wegen des Verlustes der großen Geld-
summe , die dadurch unter ihnen in Umlauf ge-
setzt ward ; nicht anders als sehr unzufrieden seyn
26a
können. t)ie Professoren bleiben , wie billig ,
bis 'zu anderweitiger Beförderung , iui Genüsse
ihres Gehalts. Diese berühmte Anstalt , welche,
ihrer hervorspringenden Mängel und Sonderbar-
keiten ungeachtet , dennoch für das allgemeine
Wohj gewifs nicht vergeblich da gewesen ist ,
war hauptsächlich darin einzig in ihrer Art , dafs
sie sich beinahe über das ganze Gebiet der Wis-
senschaften und Künste ausdehnte, und jedes an-
geborne Talent entwickelte und bildete. Aus ihr
«ind Gelehrte, Dichter, Maler, Bildhauer,
Kupferstecher, Schauspieler, Tonkünstler, San-
ger , ja sogar Tänzer hervorgegangen , die , fast
ohne Ausnahme, der Schule, worin ihre jedes-
malige vorzüglichste Naturanlage erforscht und
geweckt wurde, mehr oder weniger zur Ehre ge-
reichen.
Eben jetzt verliefs mich einer der hoffnungs-
vollsten Zöglinge der Akademie , der sich unter
der Leitung des verdienstvollen Professors
H e t s c h der Malerei widmet , und gewifs der-
einst , wenn er fortfährt wie er begann , das in-
nerste Heiligthuni^ der Kunst zu betreten hoffen
2.6t
darf. Schon hat der Jungling Versuche geliefert,
die von den Werken des Mannes die glänzend-
sten Erwartungen erregen. Bald geht er nach
Rom, wo sein Genie, das hoffe ich zum hohen
Enthusiasmus der ihn beseelt , durch das Stu-
dium Raphaels und der Antiken, sicherlich
seinen Reifpunkt erreichen wird. Dieser junge
Künstler ist ein Bruder meines Freundes H a r t-
mann.
Von der schlafenden Venus , in der Gemäl-
desammlung seines Vaters, die mehrere bewähr-
te Kenner dem Tizian zuschreiben, hat er ei-
ne Kopie verfertigt, welche die gegründete Er-
wartung erregt , er werde auch in Arbeiteu die-
ser Gattung, die für die weitere Verbreitung und
Beförderung des wahren Geschmacks in der Ma-
lerei, von so hoher Verdienstlichkeit sind, zu
einer vorzuglichen Geschicklichkeit emporsteigen.
Auch eine vollkommene Kopie verewigen die
Jahrbucher des Nachruhms; und jene des An-
dreas del Sarto ,' die Julius Romanus,
der die Drapperie am raphaelischen Urbilde
selbst gemalt hatte , nicht davon zu unters choi«
den wufste, wird nicht seltner genannt, als
dieses.
Gestern war ich im Schlosse, um die Korne-
lia vonHetsch zu sehen. Dies Gemälde hat
einen unvertilgbaren Eindruck auf mich ge-
macht. Die Mutter der Gracchen stellt der eiteln
Römerin , welche ihre Kleinodien vor ihr aus-
breitet , die ihrigen in ihren Kindern dar. Die
Kopfe der beiden Knaben, die eines Albano
würdig wären , und wobei die Grazien selbst den
Pinsel ihres Freundes geführt zu haben scheinen,
gehören unstreitig zu den lieblichsten Zaubereien,
welche die Kunst jemals hervorgebracht hat. Ich
sah auch einige Bildnisse von der Hand des nem-
lichen Künstlers, welche in Absicht der Stellung,
und besonders der Lage der Arme , die , wie ei-
ner unserer witzigsten Schriftsteller sehr trefend
sagt , fast immer von der Lage der Flügel an ei-
nem gebratenen Huhne geborgt zu seyn scheint ,
allen angehenden Portraitmalern zur Nachah-
mung vorgehalten zu werden verdienen.
Unmöglich kann ich hier die Veränderung
unberührt lassen , welche kürzlich an den De-
263
ckengemälden des Schlosses mit einigen nackten
Figuren vorgegangen seyn soll. Man erzählt
ziemlich , daß mehrere Maler befehligt worden
wären, diejenigen Plafondfiguren , welche sich
in dem Zustande befänden , worinneine der be-
rühmtesten griechischen Schönheiten kein Be-
denken trug , sich den Blicken des ganzen ver-
sammelten Volks darzustellen, durch dichtschlei-
ernde Gewänder selbst dem Auge einer Vestalin
anschaubar zu machen. Ist dies nicht etwa, wie
ich so gern zur Ehre unsers bis hieher von der-
gleichen Barbareien unentweiht gebliebenen Zeit-
alters glauben möchte, ein nur zur Kurzweil er-
sonnenes Künstlermährchen : so mag sich Gui-
b a 1 s Schatten damit beruhigen , dafs es dem
Michael An g elo um nichts besser gieng, da,
ich weifs nicht mehr welcher bigotte Pabst, das
jüngste Gericht dieses Meisters dadurch profanir-
te, dafs er einem armseligen Sudler, der viel-
leicht kaum im Stande gewesen wäre, den hei-
ligen Geist in Taubengestalt an die Decke einer
Dorfkirche zu klecken, den Auftrag gab, die an-
stöfsigsten nackten Figuren in dieser erhabenen
264
Komposizion mit Beinkleidern anzutbun. Der-
gleichen Drappirer haben daher seitdem in Ita-
lien den Spitznamen der Hosenmaler behalten bis
auf den heutigen Tag.
26s
Neun und zwanzigster Brief.
Heidelberg ,"7. Febr. 179I,
V or drei Tagen kam ich nach einer durch Regem
und schlechte Wege äufserst unangenehmen und
beschwerlichen Reise hier an und wurde von-
meinem alten Freunde, dem Kirchenrathe Mi e g,
mit seiner gewohnten Herzlichkeit empfangen.
Innig freute ich mich , den Ort wiederzusehen,
wo wir , mein gelieber Bonstetten! vor acht
Jahren , an der schönen Quelle des W o 1 f b r un-
n e n s den Plan urisers nachherigen Beisammen-
lebens entwarfen , und ihn mit freudiger Zuver-
sicht in die Hände des Schicksals niederlegten.
Damals baute, an den Ufern des Neckars
und Rheins, noch der Ländmann sein Feld in
Frieden , und wohnte ruhig im Schatten seines
Weinstocks. Wie schrecklich hat die Scene sich
gewandelt ! Blutströme tranken nun die Furchen,
und Feuerschlünde donnern wo sonst das Lied
266
der Winzerin erklang. Voltaire fragte : Wa-
rum öffnete die Erde sich nicht in einer Wüste
von Afrika , anstatt das blühende Lissabon zu
verschlingen ? Eben so möchte ich im Unmut he
meiner Seele jetzt fragen: Warum mufste grade
eins der schönsten und gesegnetsten Länder der
Schauplatz des Entsetzens und ein Opfer der Ver-
heerung werden?
Gräfslich haben die Franzosen in der
Pfalz gewüthet ; noch gräfslich er aber, selbst
nach dem Urth eile hiesiger Einwohner, die
Oesterreicher und Pfälzer im Elsafs.
Sogar ein Kapuziner aus einem jenseitigen Rhein-
lande , mit dem ich beim Spazierengehen ein Ge-
spräch anknüpfte , bestätigte dies ; indem er sag-
te : Unser Kloster haben die Franzosen sehr
gnädig behandelt und nur einen Kelch und eine
Glocke daraus mitgenommen ; mit den Elsas-
sern sind die Oesterreicher ganz anders um«*
gegangen.
Die Animosität der Kaiserlichen gegen die
Preufsen äufsert sich hier bei jeder Gelegenheit,"
und mehrere Offiziere haben ganz unverholen das
267
Bekenntnifs abgelegt , dafs sie ihren Kriegslauf
weit lieber gegen den schwarzen Adler , an des-
sen Fängen sie noch das Blut ihrer Väter erbli-
cken , als gegen die neufränkischen Rothkappen
gerichtet haben wurden.
Wie weit die verderbliche Geringschätzung
des Feindes , welche man sich seit dem Beginn«
des Krieges zur heiligen Gewissenspflicht ge-
macht zu haben scheint, trotz aller schon da-
durch verscherzten Vortheile , noch immer bei
den verbündeten Mächten gehe, davon gab Graf
* * *. kurz vor der unglücklichen Katastrophe
des Rückzuges der Wurmserischen Armee , noch
dadurch einen frappanten Beweis , dafs er den
versammelten Offizieren mit stolzem Selbstver-
trauen zurief : „ Nur noch eine Hasenjagd , mei-
,,ne Herren! und Strasburg ist in unserer
„ Gewalt. „
Dafs die O es terr eicher in Heidelberg
eine Demokratenliste führen, erhellt unwider-
sprechlich aus einem Auftritte, der zwischen dem
hiesigen Professor S. einem eifrigen Anhänger
der kantischen Philosophie , und einem kaiserli-
26$
eben Lieutenant vorfiel. Ersterer hatte nemlick
aus dem untersten Stockwerke seines Hauses ,
welches dem Lieutenant zum Quartier angewie-
sen wurde, einen Ofen in sein Studierzimmer
versetzen lassen. Als dies der Offizier erfuhr ,
griff er den Professor mit den pöbelhaftesten
Schimpfwörtern an, und nannte ihn unter andern
auch einen Ofenditb. Der Philosoph wurde durch
dies niedrige Betragen so wenig aufser Fassung
gebracht, dafs er seinem Gegner vielmehr, kalt-
blütig und gelassen wie vom Katheder , den Satz
demonstrirte : Ein jeder hat das Recht mit seinem
Eigenthum zu schalten wie es ihn gut dünkt , und
niemand kann dem Transporte eines eigenen
Ofens in ein eigenes Zimmer auch nur das all er-
kleinste Hindernifs in den Weg legen. Nun ge-
rieth der Lieutenant in die heftigste Wuth , und
rief seinem Feldwebel zu: „Feldwebel ! hol'
„ er einmal das Demokrat enlistel, und schreibe
„er den Hallunken druf!" Der Feldwebel,
dem das feste und würdige Betragen des Pro-
fessor» Ehrfurcht eingeflößt hatte , blickte
mit abgezogenem Hute zu ihm hinauf (denn
*ß9
der Professor führte seinen Beweis aus dem Fen-
ster), und sagte : „Han sie die Gnade, mijr
„ Dero Namen zu spendiren ! "
Gestern fuhr ich mit meinem Freunde M i e g
nach Mannheim. Diese Stadt ist jetzt in Bela-
gerungstand gesetzt , und hat , aufser der pfälzi*
sehen, auch noch österreichische Besatzung*
Wir besuchten Herrn Weikard, den be-
rühmten Verfasser des philosophischen Arztes >
der seine Stelle in Petersburg niedergelegt
und Mannheim zu seinem Wohnorte gewählt
hat. Dies ist einer der hellsten Kopfe unserer
Zeit, und ein geschworner Feind von Dumm-
heit, Schwärmerei, Aberglauben, Unsinn, Un-
gerechtigkeit und Thorheit. Weikard gehört
zu den seltnen Menschen, die der Erziehung bei-
nahe nichts und sich selbst alles zu danken ha-
ben. Er wuchs in der dicksten Finsternifs auf
und es gab , wie er in seiner Selbstbiographie er-
zählt, keine Gattung von Vorurth eilen und Aber-
glauben , die man ihm nicht ins Herz gepflanzt
hätte. Mehr als einmal mufste er die Kerzen hal-
ten , wenn ein Mönch mit der Entteufelung einer
ZJO
Besehenen beschäftigt war. Die Lehrer, welche
er nachher bekam , waren beinahe für nichts zu
rechnen und er erwarb sich die ganze Masse sei-
ner grundlichen und mannigfaltigen Kenntnisse
durch eigenes Forschen, Streben und Nachden-
ken. Manche Lanze hat er zur Ehre der Ver-
nunft mit der Dummheit gebrochen , und mehr
als einem Betrieger die Larve vom Gesicht geris-
sen. In Fulda war der philosophische Arzt
bei fünfzig Gulden Strafe verboten und jedem
Studenten , bei welchem man dies verderbliche
Buch finden würde , mit Verweisung gedroht.
Dem Ausspürer und Angeber hingegen war ein
Dukaten zur Belohnung verheifsen.
Ich verließ Herrn W e i k a r d mit dem wohl-
thätigen und herzerhebenden Gefühle , das der
Anblick eines außerordentlichsten Mannes im-
mer in mir hervorbringt, und welches denn doch
ganz anderer Natur ist , als die Stimmung , wo-
rin uns das Anschaun, selbst des vollkommensten
Kunstwerks oder der entzückendsten Gegend
versetzt. Das Interessanteste für den Menschen
bleibt ewig der Mensch ; er mag nun , wie die
21 1
Yameos ; nur bis drei zählen können , oder
wie Newton Planeten wägen und den Licht-
stral spalten.
Gegen Mittag gerieth die ganze Stadt in Be-
wegung , weil sich die Nachricht verbreitet hatte,
die Franzosen wären bis Oggersheim vor-
geruckt. Alles stürzte nach- der Sternwarte, und
ich folgte dem Strome ; man entdeckte aber
nichts , und bald nachher lief die Nachricht ein ,
dafs nur ein unbedeutendes Vorpostengefecht
dies Gerücht veranlagt habe.
Nachmittags gieng ich nach der Rheinschanze,
welche , der Stadt gegenüber , auf dem jenseiti-
gen Ufer liegt und durch eine Schiffbrücke mit
derselben in Verbindung steht. Hier hatte alles ,
durch die Menge der Soldaten , welche sich in
dichten Haufen auf den Wällen zwischen den Ka-
nonen herumgelagert hatten , und durch die an-
sehnlich erweiterten Aufsenwerke , ein noch
kriegerischeres Ansehen, als in Mannheim
selbst. Die Weidengebüsche die ehemals am
Wege grünten , hatten sich in Schanzkörbe ver-
wandelt , und die hohen Pappeln der O g g e r s-
aj6
Drfissigster Briff.
Marburg , 19. Febr. 1794.
Der Tag , an welchem ich dir endlich wieder
schreibe , ist schon der fünfte meines Aufenthalts
in Marburg, der mir durch unsern braven
J u n g so angenehm gemacht ward , dafs ich im-
rner mit wahrem Vergnügen daran zurückden-
ken werde.
Zu Heidelberg, das ich bei stürmischem
Regenwetter verlief*, bekam ich einen unterhal-
tenden Reisegefährten an einem kaiserlichen
Offizier, der sein Seh wer dt bei Jeraappe ge-
gen Dumouriez versucht hatte, und mir von
jener merkwürdigen Schlacht eine umständliche
und lebhafte Beschreibung machte.
Von der Bergstraße und der alten Burg , in
deren Gemäuer icÄ die Elegie schrieb 3 wodurch
unsere Bekanntschaft yeranlafst ward , sah ich
*77
diesmal nichts* .weil wir den Wagen, um trocken
zu bleiben* beinahe immer hermetisch verschlos-
sen hielten.
In Frankfurt am Main gieng ich ins
Schauspiel, wo man das Ehrenwort* ein Stuck
Tpn ziemlich guter theatralischer Wirkung auf«
führte* Der Schauspielsaal ist von einer gefälli-
gen und geschmackvollen Architektur; der Vor«
hang aber elend gemahlt. Anstatt der Krön«
leuchter hat man, nach dem Beispiele vieler
Städte Frankreichs * argandische Lampen einge-
führt. Ueber dem Theater ist eine Uhr mit trans-
parenten! Zifferblatte angebracht ; eine Idee wel-
che nachgeahmt zu werden verdient.
An der Wirthstafel befanden sich einige preus-
sische Gardeoffiziere * die von den Hautboisten
ihres Regiments Musik machen liefsen. Sie hiel-
ten mich anfänglich, ich habe nicht erfahren kön-
nen, ob aus physiogno mischen oder patbogno-
mischen Gründen, für einen Franzosen, und lies*
•en deshalb einige Blicke auf mich fallen, worin
sich etwas offenbarte * das ungefähr wie Verach*
tung aussah. Kaum war ihnen aber zufälliger-
2 7 3
Weise bekannt geworden, dafs ich die Ehre hätte,
nicht nur ein Deutscher, sondern sogar einpreus-
sischer Unterthan zu seyn , als sie mir ihren Irr-
thum gestanden, mich, sehr höflich deshalb um
Verzeihung baten, und äufserst gesprächig wur-
den. Nach dem Essen tanzten sie mit den Töch-
tern des Hauses. Mein Schlafzimmer war der
Scene dieses Balles, der zuletzt von allen Grazien
verlassen in ein wahres Bacchanal auszugehen
schien , unglücklicher Weise so nahe , dafs ich
bis zur Morgendämmerung kein Auge schliefsen
konnte.
Von Frankfurt bis Marburg reiste ich
in Gesellschaft eines preufsischen Offiziers , der
Geschmack und Belesenheit verrieth. Das Ver-
gnügen , welches mir die Unterhaltung mit ihm
gewährte, ward um vieles durch die unvermuthe-
te Entdeckung erhöht , dafs wir in S. als kleine
Knaben mit einander gespielt hatten. Ich erin-"
nerte mich noch der Farbe des türkischen Kleides,
das er in jenen glucklichen Zeiten trug , und
wufste von dem Turbane zu erzählen , der so oft
das Ziel meiner kindischen Wünsche gewesen
*79
war. Hierüber würden alle die berühmten Litte-
- ratur - Produkte , von denen wir bis dahin den
Faden unsers Gesprächs losgewickelt hatten, auf
eine für ihre Urheber so wenig schmeichelhafte
Art bei Seite geworfen , dafs ich mich in meinem
Gewissen gedrungen fühle , diese Herren , wenn
ich ihnen einmal irgendwo begegnen sollte, einer
so ungebührlichen Hintansetzung wegen, feierlich
um Verzeihung zu bitten.
Mein erster Gang in Marburg war zum Hof-
rath Jung. Als ich in sein Haus trat , kam er
eben aus dem Collegium. Selten war wohl das
Wiedersehen zweier Freunde von froheren Ge-
fühlen begleitet als das uns/ige.
Bei dem Abendessen ward L . . . . s Gesundheit
aus dem Familienpokale getrunken , der nur bei
festlichen Anläfsen zum Vorscheine kommt. Er
ist nicht von Gold oder Silber, sondern von Bir-
kenholz , inwendig gefirnifst und mit Zinn ein-
gefafst ; stammt noch aus dem sechszehnten Jahr-
hunderte, und gieng seitdem bei jedem Familien-
feste in die Runde. Einen solchen Becher nann-
ten unsere Urv'at er den Birkenmeier, und- er
2$°
durfte bei keinem frohen Gelage fehlen« Soll-
test Du mehr von diesem interessanten Trinkge-
fässe zq wissen begierig seyn , so verweise ich
dich auf den Artikel Birkenmeier in Krüni-
teus Encyklopädie.
Von meinen hiesigen neuen Bekannten , nen-
ne ich dir nur den Regierungsr ath vonWildun-
gen und den Professor Justi,
Erst er er verdient nicht nur als edler und lie-
beiiswürdigar Mensch , sondern auch als trefü-
cher Zeichner und Maler, grundlicher Naturfor-
scher, geschmackvoller Dichter , erfahrner Jagd-
verständiger und geschickter Rechtsgelehrter ,
die allergröfste Achtung. Bei ihm sah ich eine
Suite von ihm selbst nach der Natur gemalter
Vögel aus hiesiger Gegend , welche die Zierde
einer Gallerie seyn würde. Auch besitzt er eine
grofse Zahl ausgestopfter , merkwürdiger frem-
der sowohl als hessischer Vögel, nebst einer voll-
ständigen Eiersammlung von den letztern« Sei-
ne Hauptliebhaberei istindefs die Jagd, und er
soll als Waidmann in der ganzen Gegend seines
Gleichen nicht, haben.
28«
Der Professor J u s t i ist ein junger Mann von
feinem Geschmack , nicht gemeinem Dichtergei-
ste und grofser Kenntnifs der alten, besonders
morgenlandischen Sprachen, wovon er in mehre-
ren mit Beifall aufgenommenen Schriften die un-
zweideutigsten Beweise abgelegt hat. Sein Herz
ist warm für alles Gute, Edle und Schöne , und
der Ton seines ganzen Wesens , voll Wahrheit
und Natur. Dabei ist er im Besitze der, von B u r-
ger so schon besungenen Blume Wunder-
hold, die vornehmlich auf den Hohen des Par-
nasses zu den seltneren Gewächsen gehört, weil
der Schatten des Lorbeerbaums ihr nicht weni-
ger verderblich seyn soll, als Mehlthau und
Nachtfröste.
Ich kann diesen Brief nicht schließen, ohne
vorher noch einer tragischen Begebenheit er-
wähnt zu haben , die sich vor einigen Tagen in
dem hessischen Dorfe Nauenheim ereignete«
Der dortige Amtmann ward von einem Leibgar-
disten des Landgrafen , wegen eines Urtheils-
spruches , den flieser für ungerecht hielt , mit
Säbelhieben so gefährlich verwundet, dafs man
28a
v
stundlich seinen Tod erwartet. Nach der That
trug der Mörder , der jetzt sein Schicksal im Ker-
ker erwartet , die Perücke des Amtmanns auf der
Säbelspitze , wie im Triumphe durch das Dorf ,
und begleitete diese Handlung mit dem Ausrufe :
Es lebe die Freiheit!'
Bei einer solchen Entheiligung dieses Namens
schaudert die Seele des Menschenfreundes in sich
selbst zurück , und segnet zwiefach das Dunkel
der Zukunft. Eben so war einst der Name der
Religion das Losungswort zur Entfesselung des
Wahnsinns , der Raubwuth und des Blutdurstes.
Wie wenige von den Tausenden , die jetzt in
Frankreich so muthig das Schwert fuhren,
kennen das Palladium , für dessen Erhaltung so
viele deiner Altvordern ihre edle Laufbahn mit
dem Tode der thermopylischen Heldenschaar
beschlossen ! Noch ist kein AlgernonSidney
unter ihnen aufgestanden , der sie über die wah-
ren Vortheile eines freien Volks erleuchtet , und
ihren schwankenden und wandelbaren Endzwe-
cken Bestimmtheit , Adel und Unerschütterlich-
keit angeschaffen hätte«
*85
. Ich mute enden. Von hier fuhrt mich nun Ä
9
mein Weg über Gö ttin gen , wo ich mich we-
nigstens acht Tage aufhalten werde. Lebe wohl,
mein Theuerster , und höre nie auf mich zu lie-
ben. Ich bleibe in allen Lagen des Lebens , und
bei allen Wandlungen des Schicksals , für dich
auf ewig derselbe.
^^mm>m*
*84
Ein und dabissigstba Brief.
GÖttingen, i. Man 1794*
Ich wende meine letzten Göttingiscben Stunden
dazu an, theucrster Bonst etten! mich mit dir
von den schönen Tagen zu unterhalten, die mir
hier, in einem wahren literarischen Bienenstan-
de, leider nur zu geschwind vorübereilten.
Wenn man im Vatikan dem Altertumsfor-
scher, in Dusseldorf dem Maler, auf den Alpen
dem Pflanzenkundigen , in Vaukluse dem Dich-
ter, bei Meillerie dem Liebenden jedes Aufbrau-
sen der Begeisterung , es sey auch so diihyram-
bisch als es nur immer wolle, gern zu gute halt ;
so wirst du ja hoffentlich wohl demjenigen , der
nun einmal nicht umhin kann , den Menschen für
den anziehendsten und interessantesten Gegen-
stand in der Schöpfung zu erklaren , und sich so-
gar nicht scheuen wurde , diesen ungenialischen
285
und spiefsb ärgerlichen Glaubensartikel öffentlich
kund werden zu lassen , eine kleine Anwand-
lung von freudiger Schwärmerei bei seinem Ein-
tritte in eine Stadt nicht verargen , wo die Verei*
nigung so vieler ausgezeichneten und vortrefli-
chen Köpfe ein ganze$ Weltall von Kenntnissen
und Ideen oder vielmehr ein intellektuelles Na-
tursystem bildet , in welchem wir den menschli-
chen Geist auf der höchsten Stufe seiner Göttlich-
keit erblicken.
Ich hoffe Du werdest mir zugeben , dafs die-
se Galtung von Schwärmerei , mit jener verdäch-
»
tigen, von der Schaftesbury bemerkt, da&
sie ansteckender sey als der Schnupf en ( , nichts
weiter als den Namen gemein habe.
Jetzt folgt die kleine Chronik meines hiesigen
Aufenthalts , die ich aber , um die Grenzen eines
Briefes nicht ohne Noth zu überschreiten , mög*
liehst zusammendränge.
22. Februar.
Mein erster Besuch war bei Kästner. Die-
ser verdienstvolle Greis , über defsen Lebhaftig-
keit und Feuer jeder , dem sein Geburtsjahr be-*
J&86
kannt ist, erstaunen mufs, empHeng mich mit
ausnehmender Höflichkeit und Gute , welches ,'
nach meinem Bedünken , einem Manne ziemlich
hoch angerechnet zu werden verdient, der so oft
von Fremden zur Schau gefordert wird. Er bat-
te sogar die Gefälligkeit , mir seine neuesten
Sinngedichte aufzuschreiben , welche von der
ungescbwächten Kraft zeugen , womit dieser
furchtbare Liebling der juvenalischen Muse im-
mer noch den Bogen spannt. Ihm gewährte
Apollon, warum Ho raz flehte:
— — — integra
Cum mente , nee turpem seneetam
Degere , nee cithara carentem.
Hierauf gieng ich zum Hofrath M e i n e r s.
Nicht, weil es bei Gelehrtenvisiten Herkommens
ist, sondern weil mein Herz mich dazu aufforder-
te, dankte ich ihm für alle, durch die Lesung
seiner Schriften mir zugewachsene neue Id^en
und Kenntnisse. Ich denke e"r mufs es auch in-
ne geworden seyn , dafs meine Worte anderes
Ursprungs waren , als die konvenzionellen For-
mulare purer Höflichkeit und Urbanität. Nur zu
*&7.
häufig müfsen berühmte Schriftsteller lange Tira-
den von der Herrlichkeit und Unübertreflichkeit
ihrer Werke anhören , von denen der dankstam-
melnde Weibrauchspender manchmal gerade so
viel weiß, als ein gewisser Prediger von der Mes-
siade, der im völligen Ernste dies Gedicht für ei-
ne Verteidigung des christlichen Glaubens hielt
und daher den Verfasser inständig bat , sein Ge-
schofs doch ja bei dieser Gelegenheit auch gegen
die argen Sozinianer zu richten.
Wie jeder Mensch von reinem Sinne und füh-
lendem Herzen y der die Schweitz durchreiste ,
hängt auch Meiners noch mit ganzer Seele an
diesem bezauberten Lande und ist ernstlich da*
rauf bedacht , eine dritte Reise dahin zu unter-
nehmen.
In Beziehung auf die Schweitz ist mir M ei-
ne rs ungefähr das, was einem Liebenden der
Maler seyn würde , dem , nach hundert frucht-
losen Versuchen anderer Künstler , endlich das
ähnlichste und würdigste Bildnils des angebete-
ten Gegenstandes gelungen wäre. So viel ich
urtheilen kann , hat noch niemand besser und
*85
anziehender über dein Vaterland geschrieben,
ab er. Was einzelne Unrichtigkeiten oder Fehl»
urt heile in seinen Briefen betritt, so war davon
schwerlich ein Werk dieser Gattung jemals ganz
frei. Man könnte daher kühn vor die Front«
des großen Heers der Reisebeschreiber hin treten
und den Sundenlosen unter ihnen zum ersten
Stein würfe gegen Meiners auffordern; wer
durfte ihn wagen ?
Auf die Nachricht , daß heute zwei fremde
Sängerinnen das hiesige Publikum , in sehr drin«
genden Ausdrücken , auf den Konzertsaal be-
schieden hatten , begab ich mich in der Meinung
dahin , dafs derjenige welcher es wage, den Oh-
ren einer ganzen Stadt eine so kategorische An«
Weisung auf Bezanberung oder Vergnügen zu
geben , im Voraus gewifs seyn mfifste , ihnen ,
wenn auch grade nicht das eine , doch wenig*
stens das andere in vollem Maße gewähren zu
können. Dies schien auch, nach der Menge de*
Hörer zu urtheilen , die Meinung des Publikums
gewesen zu seyn. Die Sängerinnen und ihre*
männlichen Stimmgenossen , im üblichen Fliiri*
»89
nierprunke landfahrender Virtuosen, erhoben
sich zu ihren Pullen , und warfen Blicke umher,
worin Selbstgefälligkeit und Frechheit in ein drit-
tes ganz unleidliches Etwas zusammenschmol-
zen. Nun begann — nicht etwa die Musik,
welche der Anschlagzettel besagte: Nein! der
■Aufruhr oder vielmehr das Aufbersten eines Chaos
von Tönen, bei deren zerreifsender Unmelodie
der wandernde lAdramelech zuverlässig am
Heimweh hatte erkranken müfsen, wie deine
Landsleute , wenn sie in der Fremde den Rührei-
gen hören. Selten ist wohl eine schöne Musik
arger gemifshandelt worden; es war Martinis
Baum der Diana. Wäre der Komponist zu-
gegen gewesen , so müßte ihm ungefähr zu Mu-
the geworden seyn , wie einem Vater, der sei-
nen Sohn im Zuchthause mit Ruthen streichen
sähe. Die Stimmen , die abwechselnd kreisch-
ten , kollerten , heulten , ächzten oder zirpten ,
thaten auf mein Ohr die völlige Wirkung eines
schweizerischen Gharivaris, wo Kessel, Rinder-
glocken und Ziegenschellen korybantisch durch
einander lärmen. Diese Vergleichung im nieder-
*9°
ländischen Gescbmacke (für ein solches Ob j eckt
noch viel zu edel) sagt alles.
Ich erwartete immer, dafs die Zuhörer , auf
irgend eine Weise, den schamlosen Mengern die-
ses Ohrengifts ihre gerechte Unzufriedenheit zu
erkennen geben würden ; aber man hatte di*
Schonung , bis zum Schlüsse standhaft und ru-
hig auszuharren.
23. Februar.
Deutschlands witzigster Schriftsteller ist im Um-
gange einer der feinsten und hinreißendsten Men-
schen. Ich brachte einen Th eil des heutigen Vor-
mittages bei ihm zu und gewann den Mann von
Herzen lieb, den ich bisher nur verehrt und be-
wundert hatte. In allen seinen Aeufserungen
herrscht ein Ton von Milde und Anspruchlosig-
keit , der selbst den Züchtungen seines Satyrs
Wohlwollen abgewinnen müfste. Von den be-
wunderten Meisterwerken des Witzes und der
Laune , die er mit unväterlicher Hand in Journa-
le und Almanache herumstreute , wo sie nun,
zum Theil , wie Diamanten unter einem Schutt-
hau-
2Q1
häufen begraben liegen , denkt er so bescheiden,
dafs er, der dringendsten Aufforderungen unge-
achtet , immer noch nicht zu bewegen war , eine
vollständige Sammlung derselben zu veranstal-
ten. Indefs hat er sich doch jetzt erbitten lassen,
die Hogarthischen Kommentare besonders her-
auszugeben, welche unstreitig das glänzendste
Produkt seines Witzes und zugleich ein unver-
gängliches Denkmal des deutschen Scharfsinnes
sind, zu dessen Urheber Hogarths brittische
Ausleger mit übergebeugtem Haupte hinanbli-
cken müfsen.
Hogarths Werke, die er vollständig besafs*
wurden zuletzt, wegen der Menge von Kunst-
liebhabern, welche defshalb unaufhörlich bei ihm
einsprachen, und von denen er nicht selten Eckel
und lange Weile gegen seine goldne Zeit ein-
tauschte, ein so druckendes Familienkreutz für
ihn, dafs er sie, um Ruhe zuhaben, derUniver-
sitäts -Bibliothek üb erliefs. Es gieng mir damit,
sagteer, wie einem Manne, der eine schöne Frau
hat.
»!"*
*9*
Er sagte mir bei Gelegenheit von Schröters
selenotopographischen Fragmenten, (um wel-
ches erhebliche Werk er sich durch einen trefli-
chen Auszug nicht weniger verdient gemacht hat,
als Bonn et um Lyonnets Raupenanatomie)
daß dieser unermüdete Himmelsbeobachter, Ber-
ge von aufs erordentlich er Höhe in der Venus ent-
deckt , und dabei die Bemerkung gemacht habe :
Die höchsten Berge auf der Erde, dem Monde
und der Venus , wären immer die sudlichen.
Das eben genannte Buch, welches ich hier zum
erstenmal zu Gesichte bekam, gehört zu den al-
lerwich tigsten wissenschaftlichen Erscheinungen;
ist aber leider in einem so ermüdenden Stile ge-
schrieben, dafs man während dem Lesen bestän-
dig im Sande zu waten glaubt*
Ich wollte hierauf zuBürger gehen ; erfuhr
aber in seinem Hause, er sei gefährlich krank,
und besonders heute so schwach, dafs er gar
nicht sprechen dürfe.
Nachmittags wohnte ich der Sitzung der kö-
niglichen Sozietät der Wissenschaften bei. Der
Professor H o f f m a n n hielt eine botanische Vor-
*93
Iestmg , worin einige neue Gattungen und Arten
charackterisiert wui den , von denen mir die Afo-
rcea pubescens , der Boletus ceratophorus und
die Rizomorpha canalicularis die merkwürdig-
sten schienen. Die beiden letzteren, zur unter-
irdischen Flora gehörigen Gewächse, werden
dereinst durch ein Werk bekannter werden , wel-
ches Herr Hoffmann unter dem Titel : Vege-
tabilia Hercynice subterranea , icon, illustrata,
herauszugeben gesonnen ist.
Der Boletus ceratoph. findet sich häufig in
den Bergwerken des Harzes, und zwar immer in
einer Tiefe von wenigstens 150. Lachter. So wie
viele Pflanzen, als zum Beispiel die Aretia, Dia»
pensia, Soldanella u. a. m. nur den höchsten
Bergregionen 1 eigen sind; so bedürfen auch meh-
rere vegetabilische Grutfenprodukte einer be-
stimmten Tiefe zu ihrer Erzeugung. Dieser B o-
letus ist von schöner kastanienbrauner Farbe ;
fängt , ohne der Zubereitung des gewöhnlichen
Zunderschwamms zu bedürfen, leicht Feuer; ver-
breitet einen lieblichen, weihrauchähnlichen
Duft, und läßt eine sehr reine Kohle zurück.
^94
Nach geendigter Sitzung besuchte ich denHof-
rath Blumenbach , dessen Sammlung von
Menschenschädeln für jeden Freund der Natur-
geschichte gewifs zu den Sehenswürdigkeiten vom
ersten Range gehört. Der Schädel einer Geor-
gianerin frappirte mich vor allen übrigen > durch
die Schönheit seiner Form , welche vielleicht ei-
ne der vollkommensten ist, ' die jemals aus den
Händen der Natur bervorgiengen. Am meisten
charakteristisch schien mir der Schädel eines
Neuholländers, an welchem auch die Lücke
des Vorderzahns bemerkt zu werden verdient,
den diese Nazion , man weÜs nicht aus welcher
Ursache , den Kindern auszubrechen pflegt.
Von den Mineralien, die ich hier zuerst an-
schaulich kennen lernte, waren der Z i r k o n, B o-
razi t und Uranit für mich die wichtigsten«
DerZirkon oder S a r g o n, ein Edelstein, der
erst vor wenigen Jahren bekannt geworden ist ,
wird auf Ceylan gefunden. Klaproth ent-
deckte durch die genauere Analyse desselben zu-
erst, dafs er eine eigene , ganz einfache , nicht
durch Laugensalze 9 sondern Vitriolsäure und.
konzentrirten Essig auflösbare Grunderde enthal-
te. Die Farbe des Z i r k o n s spielt aus dem gelben
ins grünliche oder hellbraune.
Der B o r a z i t gehört, th eils wegen der so auf-
fallend ausgezeichneten Form seiner Krystalli-
sazion, theils wegen der, durch den französi-
schen Naturforscher Haüy kürzlich an ihm ent-
deckten elecktrischen Eigenschaften, zu den
merkwürdigsten und sonderbarsten Produkten
des Mineralreichs. Um eine richtige Idee von
der Krystallisazion desselben zu erhalten , mufst
Du dir einen Würfel mit abgeschliffenen Kanten
und Ecken vorstellen. Gewöhnlich hat derBora-
zit einen matten , weifsgrauen Glanz. Seine
Durchsichtigkeit ist ungleich. Durch Erwärmung
wird er elektrisch wie der Turmalin und bringt
die nemlichen Erscheinungen hervor. So viel
man weifs , findet sich dies Mineral nur bei L Ti-
li e b u r g im sogenannten Kalkberge : Daher sei-
ne Seltenheit; welcher jedoch die Industrie der
dortigen Arbeiter, durch die Verfertigung künst-
licher Boraziten abzuhelfen versucht hat, die
aber sehr leicht durch die elektrische Probe von
den ächten zu unterscheiden sind.
äg6
Der U r a 11 i t ( TJranium) ward neuerlich von
Klaproth entdeckt und den Metallen ( nach der
gewöhnlichen aber unzulänglichen Eintheilung
den Halbmetalleii ) beigezahlt. Er ist dunkel-
grau und mattglänzend, und thut der Feile nur
leichten Widerstand. Das Erzgebirge erzeugt
ihn am häufigsten.
Blumenbach, dieser Naturforscher von
wahrem Genie und tief dringenden Selbstblicke ,
muPs im Umgange jeden für sich einnehmen, dem
warme Heizlichkeit und gefälliges Zuvorkommen,
noch im reinen und wohlthuenden Lichte liebens-
würdiger Humanität erscheinen, und der nicht
etwa ( wie denn dergleichen Beispiele grade nicht
zu den seltensten Anomalien der moralischen
Welt gehören ) das , so manchem Gelehrten
grofses Namens angelangte, schwülstige, ge-
schraubte,' hochtrabende und kalthöfliche Wesen
vorzieht.
Der übrige Theil des Abends vergieng mir sehr
angenehm beim Professor Buhle, dem Heraus-
geberdes Ar atus und Aristo t eles. Von der
Ausgabe des letztern, woran er seit zehn Jahren
. Ä 97
unermüdet gearbeitet hat, sind fünf Bande er-
schienen. Da der Druckort (Zweib rücken)
mitten im Kriegsschauplatze liegt , so ist sehr zu
furchten, der Fortgang dieses ehrenvollen Unter-
nehmens, werde, wo nicht ganzlich gehemmt ,
doch wenigstens auf lange Zeit unterbrochen wer-
den. Fiele das schon abgeschickte Manuskript
der Fortsetzung unglücklicherweise in die Hände
der Feinde , und wären diese grade Barbaren ,
denen der Brand eines Heuschobers mehr zu Her-
zen gienge , als die Vernichtung einer ganzen Bi-
bliothek ; so hätte freilich das unfreundlichst»
Gestirn über diese Arbeit gewaltet, worauf ihr
Urheber die schönsten Jahre seines Lebens ver-
wandte und die für die Dauer und den Glanz sei-
nes Namens bei der Nachwelt die sicherste Bürg-
schaft verhiefs.
24* Februar«
Ich hatte eine zweite Unterredung mit Lich-
tenberg. Je länger ich das weite Gebiet des
Wissens überdenke, welches dieser aufserordent-
liche Geist umfaßt, je höher steigt meine Bewun-
derung für ihn. Sein Element ist Licht, und
*9S
der Stempel seines Genies Wahrheit. Ich wüfste
in der That, nach Les sin g, auiser ihm kei-
nen Deutschen mehr, der tiefere und grundliche-
re Kenntnisse, (wiewohl in ganz verschiedenen
Fächern) mit schärferem Witze und reinerem
Geschmacke vereinigte.
Ich wünschte , dafs es einem Nachdrucker
oder anderm litterarfschen Freibeuter gefallen
möchte , eine Sammlung von Lichtenbergs
zerstreut gedruckten Aufsätzen anzukündigen ,
weil dies vielleicht das einzige Mittel wäre , ihm
die Selbstherausgabe derselben zur Pflicht zu ma-
chen; denn strafbar wäre der Vater, der nach
der Entdeckung, dafs eine Zigeunerhorde damit
umgehe, ihm seine Kinder zu rauben, sie in Lum-
pen zu stecken oder wohl gar ans Bettlerpolitik
zu verstümmeln , nicht jedes von ihm abhängen-
de Mittel gebrauchte, um ein so heilloses Unter-
nehmen zu vereiteln.
25. Februar.
Ich komme von Bürgers Krankenbette.
Sein Anblick erfüllte mich mit bitterer Wehmutb.
Krankheit und Mifsgeschick haben die Schwingen
2 99
des kühnen Genius gebrochen , und seine Kraft
von ihm genommen. Niedergedruckt schmach-
tet er im Staube, den er vormals so tief unter
sicherblickte. Abgezehrt, bleich und entstellt,
scheint er mehr dem Tode als dem Leben anzu-
gehören ; nur in seinen blauen Augen glimmt
noch ein sterbender Rest jenes Feuers , das im
Hohen Liede von der Einzigen so hoch
und mächtig emporlodert. Seine Stimmorgane
sind gelähmt , und man hat Mühe die leisen Lau-
te zu versteilen , die er mit sichtbarer Anstren-
gungjiervorbringt.
Er reichte mir mit einem so wahren Ausdru-
cke von Wohlwollen die dürre Hand, und sagte
mir so viel freundschaftliches , dafs ich innig be-
wegt ward.
Auch meiner poetischen Versuche that er Er-
wähnung, und besonders des Elysiums, das
er für den gelungensten darunter erklärte. Ich
wiederhole dir , über eine Stelle aus diesem Lie-
de, seine eigenen Worte. „Sie haben vier Ver-
„se gemacht, " sagte er, „die mich oft getröstet
„ haben , und für die ich Sie einen Griff in meine
3oo
„Gedichte mochte thun lassen, welchen Sie
„wollten :
Psyche trinkt und nicht Vergehens !
Plötzlich in der Fluthen Grab
Sinkt das Nachtstuck ihres Lebens
Wie ein Traumgesicht hinab.
Er deklamirte diese Zeilen, die ganz ausdrück-
lich für seine gegenwärtige Lage gedichtet zu seyn
schienen, so gedämpft und leise, dafs sie von den
Ufern der stillen Lethe selbst, in Geistertönen,
heraufzuwehen schienen.
Noch hofft Bürger seine Genesung mit
völliger Zuversicht. Er sprach von Planen, durch
deren Ausführung er auch die strengsten und ei-
gensinnigsten Kunstrichter zu entwaffnen hoffe ,
und insbesondere von einer Selbstkritik seiner
Werke , welche ihn nach seiner Wiederherstel-
lung zuerst beschäftigen solle. Möge die Hoff-
nung zum Leben ihn nur mit dem letzten Athem-
zuge verlassen !
Nach dem Eindrucke , den der gänzlich er-
schöpfte und zerrüttete Zustand seiner physischen
Kräfte auf mich machte, kann ich mir für ihn kei-
3oi
ne völlige Genesung mehr als wahrscheinlich
denken.
Gegen Abend gieng ich zum Professor Hof f-
mann, den mir der Doktor GilibertinLyon
einst als einen Botaniker nannte , um welchen er
im Namen seiner Nazion mein Vaterland benei«
de. Was würde ich nicht darum gegeben haben,
daß dieser wackere Mann, dessen Schicksal seit
der Eroberung von Lyon in das undurchdring-
lichste Dunkel gehüllt ist , Herrn Hoffmanns
herrliches kryptoga misch es Kabinet mit mir hätte
betrachten können ! Gewifs dies wäre eine der
befsten Stunden seines Lebens geworden.
Ich gieng hier ein Herbarium von Alpenpflan-
zen durch, welches der Abt Wulfen in Kla-
genfurt gesammelt hat. Diesen hält Herr
Hoffmann für den gröfsten jetzt lebenden Ken-
ner der Alpengewächse , selbst den Professor la
Chenal in Basel nicht ausgenommen. Für
mich neu in dieser Sammlung waren : Wulfenia
carinthiaca, Typha minima , die sich nicht im
Linn ä u s findet , ttfyosotis nana und Swertia
carinthiaca.
Eine andere mir bisher unbekannte Pflanze
von entzückender Schönheit, die Aletris capen-
sis , blühte im Zimmer. Das Vergnügen, wel-
ches ich bei jeder neuen Blumenbekanntschaft
empfinde, hat noch nichts von seiner ersten Leb-
haftigkeit verloren; und von dieser Seite verspre-
che ich mir mit Sicherheit noch eine grofse Sum-
me von Freuden , wenn ich nicht allzubald hinab
mufs, quo pius Aeneas , quo Tulius dives et
Ancus,
Das Moos, welches ich von Vaukl üs e mit-
brachte , wo es in grofser Menge am Gesteine in
der S r g u e wachst , hält Herr Hoffm ann,
so weit er dasselbe ohne Fruchthüllen zu beur-
theilen vermochte , für Hedwigs Trichostomum
Fontin alioides. {Stirp. crypt. J^oL III T. 14.)
Nach dem Linnäus ist es ein Hypnum\ findet
sich aber weder bei ihm , noch bei Dille nius.
In Schottland und Kärnthen wird dies
schöne Moos ebenfalls angetroffen, und aus letz-
terer Gegend erhielt es Herr H o f f m a n iv durch
«.einen Freund Wulfen. •
Die Einrichtung des hiesigen botanischen Gar-
3°3
tens , der unter Herrn Hoffmanns Aufsicht
steht , wird mit Recht als vortreflich und muster-
haft gepriesen. Die mannigfaltigen Verdienste ,
welche dein grofser Landsmann H aller , und
nach ihm Zinn, Büttner und Murr ay
sich um die weitere Vervollkommung desselben
erworben haben , sind entschieden und aner-
kannt. Was jeder von ihnen zum Besten des
Gartens leistete , davon findet sich eine genaue
Darstellung in Herrn Hoffmanns Antrittspro-
gramme, das unter dem Titel Hortus Gö'ttingen-
sis, im vorigen Jahre prächtig gedruckt erschie-
nen ist. Nach dem zu urtheilen, was der gegen-
wärtige Nachfolger der genannten Männer in
sehr kurzer Zeit schon ins Werk richtete, wird
er gewifs keinem von ihnen , weder an Eifer und
Thätigkeit, noch an Anordnungs- und Verbesse-
rungsgeiste nachstehen.
Vorzuglich gereicht ihm die Ausführung der
glucklichen Idee zur Ehre , einen Theil des Stadt-
grabens , den der Wall vom Garten trennte ,
durch einen unterirdischen Gang damit in Ver-
bindung gesetzt , und ihn zur Kultur der Was-
ser - und Sumpfgewächse benutzt zu haben.
3o4
26. Februar.
Den Vormittag brachte ich bei Burg er zu,
der heute so schwach war, dafs er kaum ein
Wort vernehmlich aussprechen konnte. Er t heil-
te mir eine für die neue Ausgabe seiner Werke
bestimmte Umarbeitung der Nachtfeier der
Venus mit, die von dem außerordentlichen
Fleiße zeugt , den er angewandt hat , um seinen
Gedichten den möglichsten Grad der Vollendung
zu geben. Die meisten Veränderungen sind ihm,
so viel ich urtheilen kann , vortrefiich gelungen ,
wiewohl es auch nicht an solchen fehlt, die ich
gern wieder mit den alten Lesearten vertauschen
möchte. Die Feile ist überhaupt ein gefährliches
Instrument, wenn sie nicht mit höchster Vorsicht
und Behutsamkeit geführt wird , und schneidet ,
besonders in der kraftvollen und raschen Hand
eines Bürgers, nicht selten da ein , wo es blos
darauf ankam, vermittelst eines leichten Dru-
ckes, eine kaum merkbare Unebenheit v er schwill-
den zu machen.
Beinahe den ganzen Nachmittag war ich wie-
der bei Herrn Hoff mann, der mir die Samm-
305
lung von Sudseepflanzen zeigte, womit Georg
Forst er der Universität ein Geschenk machte,
und die, aufser Joseph' Banks, schwerlich
noch jemand anders in Europa besitzt. DieKrypto-
gamisten sind am besten erhalten, und unstreitig
der wichtigste Theil dieses Schatzes. Eine leben-
dige Flora von Jamaika, die ich ebenfalls durch-
gieng, lehrte mich viele offizinelle Pflanzen an«
schaulich kennen.
Vom Cypripedium bulbosum, einer sehr sel-
tenen Pflanze, die L i n n ä u s vergeblich in L a p p-
land suchte , und welche damals allein von den
Rudbecken gefunden worden war,*) sähe
ich eine gute kolorirte Abbildung. Dies ist eine
der lieblichsten Blumen , der aber die Natur lei-
der einen Erdstrich angewiesen hat, wo kein
menschliches Auge sich ihrer Schönheit freut.
Bei Gelegenheit eines Gesprächs über die
gröfsten jetzt lebenden Pflahzenkundiger, nann-
* ) Hcec planta rarissima debetur solis Rudbeckiis y
nee tcio alium , qui eandem observaverit , nee ip~
se eam reperire potui , licet de ea admodum fae-
rim sollicitus. LihraeiFio&a Lappon. p. 249.
3<X>
te mir Herr Hoff mann auch/einen Deutschen,
Namens Hanke» der sieb gegenwärtig in L i m a
aufhält und von dort aus die Kordilleren be-
reist, um die Botanik durch neue Entdeckungen
zu bereichern. Er hat in diesen , für die Na-
turgeschich te bis dahin so gut als gar nicht exi-
stirenden Gegenden, schon mehrere Pflanzen
gefunden, deren Struktur und Habitus, von
allem was im Reiche der Flora bekannt ist, so
weit abweichen soll , dafs sie in keiner der lin-
näischen Klassen unterzubringen sind.
27. Februar.
Eins der glänzendsten Denkmäler der Buch-
druckerkunst ist unstreitig die grofse Prachtaus-
gabe des Shakespeare, wovon ich die ersten
Lieferungen auf der hiesigen Universitäts - Biblio-
thek sah ; und bis jetzt kann sich wohl noch
kein Dichter eines schöneren Gewandes rühmen.
Die dazu gehörigen Kupfer sind von sehr un-
gleichem Werthe, und nur die wenigsten haben
meine Erwartung ganz befriedigt, die nicht an-
ders als hoch gespannt seyn konnte, weil sie
groß-.
307
größtenteils von Künstlern herrühren, deren
Talent in der herrlichsten Blüthe steht, und die
auf der Laufbahn des Ruhms schon Kränze er-
rungen haben, welche der Vergänglichkeit Trotz
bieten. Am meisten glaube ich , ließe sich ge-
gen die Wahl der dargestellten Scenen erinnern,
die wirklich oft, ohne alles ästhetische Gefühl,
nur blindlings herausgegriffen zu seyn scheinen»
Der Londoner- Abdruck des Heynischen Vir^
gils ist kürzlich hier angekommen. Dafs er in
typographischer Rücksicht die Leipziger - Edition
unendlich weit hinter sich zurücklasse , brauche
ich wohl kaum zu erinnern. Er verhält sich zur
letztern ungefähr, wie der Karlsruher- Nach-
druck von Zimmernanns Buche über die Ein-
samkeit , zur großen Originalausgabe dieses
Werks auf Royalpapier.
Es wäre sehr zu wünschen, daß Heyne
seinen Homer , dessen Erscheinung man schon
so lange mit Ungeduld entgegensieht, ebenfalls
in England möchte drucken lassen , weil im Gan-
zen nirgends weniger für die äußere Schönheit
U
3oS
philologischer Werke gethan wird, als in Deutsch-
land. Manches belletristische Manufakturstück,
das seine kränkelnde Existent kaum auf einige
Wochen brachte , ward , mit didotischen Schrift
ten auf Velinpapier gedruckt und reichlich durch
Kupfer und Vignetten verherrlicht, unter Posau-
aenklang , wie im Triumphe ins Publikum ein-
geführt ; indefs ein Unsterblicher des Alterthums
graugelbes Löschpapier , stumpfe Lettern und
ein Paar groteske Holzschnitte zur ganzen arm-
seligen Aussteuer bekam. Koch einmal mufs ich
hier , bei dem Gedanken an die Menge zierli-
cher und prachtiger Ausgaben klassischer Auto-
ren, die schon aus brit tischen Pressen h er vorgi en-
gen , Klopstocks bekanntes : „Das hebt uns
über sie!,, auf eine freilich etwas unpatriotische
Art parodieren und ausrufen :
,> Das hebt sie über uns ! 4 \
Der Hofrath Blumenbach führte mich in
das akademische Museum, welches unter seiner
Aufsicht steht.
Hier richtete ich mein Augenmerk vorzüglich
auf die grofse Sammlung von Sfidseeseltenheiten,
ö»9
die, aufser England,, bis jetzt nur G ö 1 1 i n g en
aufzuweisen bat.
Eins der merkwürdigsten Stücke derselben ist
wohl der Traueranzug des ersten Leidtragenden
in Otaheiti, der das non plus ultra der Aben-
teuerlichkeit ist, zugleich aber zum Beweise die-
nen kann, welcher ausdaurenden Geduld jene
Insulaner bei der Verfertigung ihrer Kunstarbei-
ten fähig sind» Der am Brustbilde befestigte
Schurz besteht allein auss 1086. Perlmutter -Stäb-
chen , wovon jedes aufs sorgfältigste und feinste
gearbeitet und an beiden Enden «durchlöchert ist.
Höchst bewundernswürdig sind dieFedermo-
saiken von den Sandwich -Inseln, wozu die
dortigen Einwohner , denen unstreitig unter den
Südseevölkern der Preis der* Geschicklichkeit und
Kunstfähigkeit gebührt, das Gefieder der Certhia
coccinea gebrauchen , welchen Vogel sie aus-
schließlich "besitzen. Mit den goldgelben und
purpurfarbenen Federn desselben ist der hier be-
findliche Mantel eines Heerführers überzogen,
und zwar so, dafs sie regelmäfsig, nach einem
bestimmten Muster , wie die Steinchen eines mu-
3*°
sivischen Fußbodens, geordnet sind. Ein Helm
von acht antiker Form, und ein Götzenbild, das
von Owaihi, wo des unsterblichen Koo ks
Laufbahn sich endigte, nach England gebracht
ward, sind auf ähnliche Weise bekleidet. Letz-
teres stellt einen , für den Prinzen von P a 1 a g o-
nia, dessen Du dich wohl aus Brydone erin-
nern wirst, gewifs an hohes Ideal grenzenden
monströsen Kopf dar , welcher aus einer kalloti-
s chen Einbildungskraft entlehnt zu seyn scheint.
Der aufgerifsne Rachen dieses grotesken Ideals ist
mit neunzig Hundszähnen besetzt.
•Die Kleidungsstücke der verschiedenen Süd-
seevölker sind meistens aus dem durchweichten
Baste des Brod - oder Papiermaulbeerbaums ge-
schlagen ; andere besteben aus einem zarten
Flechtwerk. Die neuseeländischen sind von Sei-
denflachs. Die Stoffe von Owaihi übertreffen
alle übrigen durch die Schönheit der darauf ge-.
druckten Figuren.
Ein Halsband von bunten, auf Baste gereihten
Schneckenhäusern, ward mir als ein Hauptartikel
des feuerländischen Putzes merkwürdig. Also
3"
auch das elendeste aller bekannten Völker ist
nicht ganz ohne Toilettenkünste.
Sehr charakteristisch, in Vergleichung mit
diesem Halsbande, ist ein Ohrengehänge von
Otaheiti: Drei ächte Perlen an einer Schnur
von Menschenhaaren; und vielleicht noch mehr,
ein neuseeländischer Ohrenschmuck : Fünf Men-
schenzähne.
Unter den Waffen der Südseevölker zeichnet
sich eine acht Fufs lange Lanze von den Sand-
wich-Inseln besonders aus. Sie ist von Ka-
suarinaholz, und so vollkommen geglättet und
gerundet, dafs niemand, ohne zuvor von ihrem
Ursprünge unterrichtet zu seyn , dieselbe für ein
Werk blos steinerner Instrumente halten würde.
Als wir die Betrachtung der Südseeseltenhei-
ten geendigt hatten , war die Zeit meines Beglei-
ters beinahe verflossen , und aus den naturhisto-
rischen Sammlungen konnte daher nur noch das
Merkwürdigste ausgehoben werden. Aber ich
übergehe diese allzuüüchtigen Anschauungen.
Nur in Rücksicht auf B o n n e ts Reproduktions-
y ersuche mit dem Wassersalamander {Lacerta
512
lacustris), für welche Du dich ehemals so leb-
haft interessirtest, theile ich dir die merkwürdig-
sten von allen mir bisher bekannt gewordenen
Operazionen dieser Art mit. Herr Blumen-
bach zeigte mir nemlich einenWassersalamander,
dem er das eine Auge völlig saftleer gemacht und
hierauf die Häute desselben b.einahe ganz ausge-
schnitten hatte. In Zeit von zehn Monaten er-
stattete sich ein neuer Augapfel , der sich vom
andern nur dadurch unterschied , dafs er um die
Hälfte kleiner war.
Nur dasjenige führte ich dir aus dem reichen
Schatze des göttingischen Museums an , was auf
mich den lebhaftesten Eindruck machte , und bei
dessen Betrachtung ich sogleich am längsten ver-
weilte. Wer thöricht genug ist, in Kunst -Natu-
ralien * oder Gemäldesammlungen, denen er nur
wenige Stunden widmen kann , alles auf einmahl *
ergreifen und umfassen zu wollen, der mufs im
voraus auf jeden .reinen Ideengewinn Verzicht
thun. '
23. Februar.
Auf der Sternwarte sah ich das Hers ch eis che.
5 f 5
Teleskop , womit die Königin von England die
Universität beschenkte, und das bis jetzt wahr«*
scheinlich nur noch das einzige in Deutschland
ist. . Es hat zebnFufs Länge, neun Zoll Oefluung,
und vergröfsert tausendmal im Durchmesser. Das.
grofse Herschelsche Teleskop hat bekanntlich
vierzig Fu Ps Länge, fünf Fufs Oeffnung, und
vergröfsert eilftausendmaL
Herr Blumenbach hatte heute die Freude,
den Schädel eines Otaheiten aus England zu
erhalten, den ihm sein Freund Banks durch den
Kapitain Bligh mitbringen liefs. Letzteremist
es endlich gelungen, zweitausend Brodfrucht«
bäume nach Jamaikazu transportiren. Diese
Verpflanzung ist* nicht weniger wichtig , als die
Verpflanzung der Kartoffel nach Europa. Viel-
leicht essen unsere Enkel schon Brodfrucht.
Bei meiner Nachhausekunft wurde mir ein Pa-
ket mit -Mineralien gebracht, worunter sich auch
ein Zirkon, ein Stuck Schwefeluranit ( Uranium
siilphuratum) und einige der schönsten Borazi-
ten befanden. Ich ward durch dies Geschenk
Blumenbachs, das , besonders um der drei
3*4
genannten Artikel willen , für mich einen hohen
Werth erhält, auf das angenehmste überrascht.
Dies, mein Theuerster! ist die Geschichte
meines Göttingischen Lebens im gedrängtesten
Auszuge»
letzt zu den Vorbereitungen zur Abreise. Ich
umarme dich wie immer. Vale et ama.
3'5
Zwei und dfeissigster Brief.
Hamburg, 10. März, 1794*
Der Raum, der uns scheidet, dehnt sich immer
weiter aus , mein geliebter Bonstetten! Von
der £ 1 b e bis zur Aare, welche furchtbare Ent-
fernung für die sehnende Freundschaft !
Tausendfachen Dank für deinen letzten Brief.
Alles was deine öeele ihm einhauchte, ist in die
meine übergegangen. Die beiden gleichgestimm-
ten Lauten erbebten ; aber ihr Tonen war schwer-
müthig , wie die Harfe O s s i a ns am herbstlichen
Hügel, wenn der Mond die grauen Denksteine
der Väter bescheint.
Schon hatte ich dein liebes Blatt zweimal
überlesen, als ich erst die Zeilen entdeckte, die
am Rande, nach Art der Arabesken, herunter-
liefen. Sie enthalten den Warnungswink , daß
deine Einbildungskraft schon einigemal in Gefahr
oi6
gewesen ist, meine Spur zu verlieren, und den
Vorwurf, dafs ich der Zusage , dir meine durch-
laufene Bahn , von Orte zu Orte, mit der streng-
sten Treue eines von Berlin nach R e k a h n
reisenden Büschings vorzuzeicbnen , kaum
einen Schatten von Genüge geleistet habe.
Hierauf erkläre ich nach Wahrheit und Ge-
wissen, dafs ich dich mit dem festen Vorsätze ver-
ließ, an Umständlichkeit wo möglich noch den
berüchtigten Johannes Bunkel zu übertref-
fen , weil der getrennten Freundschaft auch das
Kleine und Geringfügige grofs und erheblich
scheint, so bald es nur die entfernteste Beziehung
auf den Gegenstand ihrer Theilnehmung hat ;
und dafs ich auch, meines gegebenen Wortes ein-
gedenk, mehrere Versuche in dieser Absicht an-
stellte, die aber sämmtlich verunglückten. Ich
glaube in der That, dafs mir dafs Tanzen auf dem
Seile kaum schwerer fallen könnte , als eine de-
taillirte Darstellung von erzalltäglichen Dingen. •
Der gezerrte Ammenstil unserer meisten Rei-
setagbücher hat mir immer einen so unbezwing-
baren Eckel verursacht, dafs ich in meinen Brie-
3*7
fcn, wiewohl sie nur der nachsichtsvollen Freund-
schaft geweiht sind, vielleicht wieder auf der an-
dern Seite über die Mittellinie hinausgehe , und
oft nur da eine einzelne Blume breche, wo ich
einen Kranz hatte winden sollen.
Uebermorgen hoffe ich in Kiel zu seyn.
Von dort führt mich dann der erste günstige
Wind nach Kopenhagen.
Klopstocks Genius schwebt auf Adlersfit-
tigen wie immer. Seine neuesten Oden, veran-
lafst durch wichtige Epochen der französischen
Revoluzion , stehen keiner der frühem an Feu-
er, Erhabenheit und Kraftfülle nach. Das Ge-
rücht, als habe Klopstock sein französisches
Bürgerdiplom zurückgesandt, ist ungegründet,
und die Qde , wodurch es einigen Glauben er-
hielt, (welche aber schon deshalb nic^t acht $eyn
konnte ,. weil sie von prosodischen Unrichtigkei-
ten wimmelt), hat ihm ein berühmter Schriftstel-
ler untergeschoben.
Gerstenberg, dieser undankbare Liebling
der Musen und Grazien, lebt, fast mit Aus*
Schließung alles menschlichen Umgangs , einzig '
5*8
der Kamischen Philosophie, die ihm, wie er ver-
sichert, vollen Ersatz für das meiste gewahrt,
was seine Vergangenheit Schönes und Beglücken-
des hatte. Wohl dem, der da fand, was unwan*
delbare Heitre selbst über die Oede des Alters
verbreitet , und ihn so unabhängig von den Man-
schen macht , dafs er, wie Xenokrates, sagen
kann , er besitze ohne besessen zu werden.
Die Kantische Philosophie, sagte mir Ger-
stenberg, ist die wichtigste Erscheinung nicht
nur unsers Jahrhunderts , sondern aller Jahrhun-
derte zusammengenommen , und der gröfste
Gewinn für die Menschheit. Sie steckt uns die
Grenzen ab von dem was wir wissen und von dem
was wir nicht wissen können , und eröffnet auch
dem Dichter neue, nie geahnte Aussichten.
Ich hat(e das Gluck , Schröder als König
Lear zu sehen. Diese Rolle ist der Triumph
des deutschen Garricks.
In Kurzem vielleicht wird das hohe Spiel die-
ses grofsen Menschendarstellers von der Erde
verschwunden seyn; und noch hat kein Lich-
tenberg oder Sturz wenigstens die Außenlk
3*9 .
hien der Zaubergestalten für die Nachwelt ent- .
worfen , - worin dieser Proteus sich zu verwan-
deln wufste , ohne dafs man je an Verwandlung
dachte ; denn seine gröTste Kunst war immer die,
niemals Kunst durchscheinen zu lassen ; und in-
sofern darf man mit vollem Rechte auch auf ihn
anwenden, was Fiel ding dem noch tauscbba-
ren Rebhuhn zum Lobe Garricks in den
Mund legt. Vielleicht ist nie das Verdienst eines
ausgezeichneten Schauspielers auf eine feinere Art
erhoben worden , als durch diesen zwar etwas
holzschnittmäfsigen , aber keck aus dem Spiegel
der Natur aufgefaßten Panegyrikus.
Nach dem Schauspiele führte mich Herr
Meyer, Verfasser der Darstellungen aus
Italien, in die Harmonie. Dies ist der Name
eines Klubbs , der aus dreihundert Mir gliedern
besteht. Sie hielten grade ihr monatliches Abend« .
banket, wobei ich einen interessanten Tisch*
nachbarn an dem Doktor Bartels bekam,
dessen Reise durch Kalabrien zu den Haupt*
werken über Italien gehört.
ßei einer andern Gelegenheit zeigte mir Herr
&20
Meyer, den ich als einen feinsinnigen und hu-
snanen Mann schätzen lernte , eine sehenswürdi-
ge Sammlung von Handzeichnungen , die er auf
seinen Reisen zusammenbrachte, und wozu viele
der gröfsten jetzt lebenden oder kürzlich verstor-
benen Künstler Beiträge lieferten. Nach einer,
durch die Schuld der Umstände äufserst flüchti-
gen Ansicht , sind nur die von H a c k e r t , A n-
gelica Kaufmann, Battoni, Gefsner
und Göthe, meiner Phantasie gegenwärtig ge-
blieben.
In einer Abendgesellschaft beim Kaufmann
Sieveking hörte ich von einem Gewurzhänd-
ler Namens R ö d i n g erzählen , der unstreitig
zu Hamburgs merkwürdigsten Männern ge*
hört. Er giebt ein terminologisches Lexicon der
Marine in mehreren Sprachen heraus ; hat ein
deutsches Buch in das Portugiesische übersetzt ,
und ein eigenes Werk über Herders Ideen
zur Philosophie der Geschichte der
Menschheit geschrieben, welches theils Be-
richtigungen, theils Widerlegungen enthält, aber
nicht für den Druck bestimmt ist ; besitzt gründ-
321
liehe mathematische Kenntnisse ; spielt das Kla-
vier mit Fertigkeit und Geschmack , und ist ein
geschickter Miniatiirma hier. Dieser talentvolle
Mann kann den Wissenschaften und Künsten lei-
der nur die Nebenstunden widmen , welche sein
Beruf ihm übrig läfst.
Lebewohl, mein geliebter Freund ! Ich bin
oft im Geiste bei dir auf der Terrasse deines Gar-
tens; sehe Wetterh orn, Schreckhornund
Jungfrau von der Abendsonne gerölhet , höre
das Rauschen der Aar und das Läuten der He er-
den an ihren Ufern , und schliefse > mit dem rei-
nen Feuer unsterblicher Liebe , den treusten und
edelsten Freund in die Arme.
322
£> R E I UND DREISSIGSTER Brief.
Kiel , 16 März , . 1 794.
Morgen soll das Paketboot abgehen, lieber
Bonstetten! Ich habe meine Zurüstungen zur
Seereise gemacht und zwei grofse Körbe mit Le-
bensmitteln anfüllen lassen , tim gegen jede Ver-
legenheit gedeckt zu seyn, im Falle die Fahrt,
die oft nur vier und zwanzig Stunden, oft aber
vierzehn Tage dauert , durch widrige Winde ver-
längert werden sollte. letzt blicke ich unaufhör-
lich nach den Wetterfahnen , deren Richtung in
diesem Augenblicke meinem Vorhaben noch gün-
stig ist.
Am Bord des Paketboots, 18 März.
Wir giengen gestern früh um sieben Uhr beim
heftigsteh Regen unter Segel. Kaum hatten wir
eine Meile zurückgelegt , als der Kapitain , mit
der
3*3
der Erklärung, daß er bei so trüber Luft sich oh-
ne Gefahr unmöglich weiter wagen könne, die
Anker fallen liefs. Plötzliche Hemmung eines
kaum begonnenen Laufs, ist in der sinnlichen
Natur eben so peinlich und niederschlagend, als
in der sittlichen. Im engen Räume der dumpfi-
gen Kajüte zusammengedrängt, waren nun alle
Passagiere auf die möglichste Verbesserung ihres
Zustandes bedacht. Einige griffen zu den Kar-
ten, andere zur Punschbole. Ich fand mein Heil
in der Befriedigung des alten Wunsches , die
Odyssee auf dem Meere zu lesen. So kam der
Abend endlich heran, und ich entschlief zum er«
stenmal in meinem Leben unter dem Schutze der
Dioskuren. Das Geräusch der Anker, die mit an-
brechendem Tage gelichtet wurden, verscheuch-
te meinen Schlummer. Freudig gieng ich aufs
Verdeck , und siehe! der heiterste Himmel lach-
te mir entgegen ; ein frischer Wind schwellte die
Seegel, und bald verloren wir Christiansort,
eine Festung am Eingange des Kieler- Meerbu-
sens , aus den Augen.
X
3*4
Nachmittags, um 4 Uhr.
Die Sonne schien so mild, dafs ich den gan-
zen Vormittag auf dem Verdecke zubrachte und
in der Odyssee las. Wir befinden uns jetzt im An-
gesichte der Insel Laland, Die Gesellschaft in
der Kajüte besteht, welches so selten bei derglei-
chen Zusammenwürfen des Ungefährs der Fall zu
seyn pflegt , aus lauter feinen und gefälligen Leu-
ten. Wir haben eine Art von häuslicher Ord-
nung unter uns eingeführt , und es ist als wur-
den wir durch Familienbande vereinigt. Lars,
der anstelligste und flinkste aller Kajüten jungen,
vollstreckt unsre Winke schnell, wie der Nacht-
geist Puck in Shakespeares Sommernachts-
traum. Der Bursche hat schon eine Reise nach
Ostindien gethan, versichert aber, hundertmal
mehr Behagen an der Fahrt nach K i e 1 zu finden.
Unter den Passagieren befinden sich zwei Brü-
der des berühmten Mineralogen F erb er, der
vor einigen Jahren in deiner Vaterstadt starb.
Diese artigen und gebildeten Männer sprachen
mit Enthusiasmus vom grofsen Linnäus, der
ihr Lehrer war, und sagten mir viel befriedigen-
3*5
des über seinen moralischen Charakter; unter
anderm , wie erBüffons, seines erklärten Geg-
ners, 'Verdiensten um die Naturgeschichte, bei
jeder Gelegenheit, habe volle Gerechtigkeit wie-
derfahren lassen«
Kopenhagen, 19. März;
Das erhabene, jeder Beschreibung unerreich-
bare Schauspiel , die Sonne ins Meer sinken und
den Mond daraus hervorsteigen zu sehen, wurde
mir gestern in seiner ganzer Herrlichkeit , grade
in dem günstigen Augenblicke, wo alles Land
aus dem Gesichtskreise verschwunden war :
Nocie sublustri nihil astra prceter
Vidi et undas.
Heute nach Sonnenaufgang befanden wir uns
dem Kreideberge auf der Insel Mön ge
genübef , der eine der frappantesten Ansichteil
gewährt. Senkrecht abgestürzt erhebt sich diese
ungeheure Masse in rauher Majestät aus den Wo-
gen. Ich schwang mich im Geiste hinauf, und
Shakespeares Beschreibung des Felsens bei
Dover, wo die Krähen und Wasserra-
ben, die in der mittlem Luft schweben, wie
S*6
Käfer , die Fischer am Ufer wie Mause , und die
vor Anker liegenden Kriegscbiffe wie Böte er-
scheinen, wurde Wirklichkeit.
Gegen Mittag erblickten wir Seeland und
die Küste von Schweden. Drei Stunden spa-
ter wurden die Thürme von Kopenhagen,
gleich zarten Halmenspitzen, am Horizonte sicht-
bar ; bald darauf die Masten der im Hafen liegen-
den Schiffe, und endlich entwickelte sich , wie
aus Meeresgrund entspringend, die ganze präch-
tige Stadt vor unsern Augen. Eine wahrhaft ma-
gische Schöpfungsscene ! Entstehen, Wachsthum,
Gestaltung , Scheidung der Formen , Bestim-
mung der Proportionen, allmähliche Verth ei-
lung von Licht, Schatten und Kolorit, vollen-
dendes Daseyn eines harmonischen Ganzen: al-
les dies folgte darin , wie nach bestimmten Ge-
setzen , in verhältnifsmäfsigen Zeitpunkten auf
einander. Ganz verloren im Anschaun des be-
weglichen, immer ändernden Zaubergemälde*,
befand ich mich , ehe ichs wähnte, auf der Rbee-
de von Kopenhagen, wo unser Schiff sich
vor Anker legte. Die Beisenden wurden, sanunt
5 2 7
ihrem Gepäcke, in Böten, die sogleich in grofser
Anzahl herbeiruderten , bei der Zollbude ans
Land gesetzt.
Wenige Minuten darauf war ich schon im
Hause unserer Br uns , das in der Nähe des Ha-
fens gelegen ist. Ich würde schwerlich meinen
Augen getrauet haben, wenn mir damals , als ich
diese lieben Freunde zuerst inLyon kennen
lernte , die heutige Scene des Wiedersehens im v
Spiegel der Zukunft erschienen wäre.
34* März.
Ich komme aus dem Schauspiele , wo Peters
Bryllup ( Peters Hochzeit ) ein Singspiel , auf-
geführt ward. Die dänische Sprache scheint mir
äußerst sangbar zu seyn, und fällt besonders in
den zärtlichen Arien angenehm ins Ohr. Im
Ganzen zeichneten sich die Schauspieler vortheil-
haft aus. Vorzüglich geßel mir Mad. Bartels
als Sängerin ; ihre Stimme ist eine der reinsten
die ich jemals hörte , und ihr Gesang innige Her-
zensmelodie. Der beste Schauspieler heifst
Schwarz; er hat sich nach Schröder gebil-
det, und ermüdet nicht, seinem Vorbilde näher
3^8
tu streben. Der Scliauspielsaal ist schön und ge-r
seh mackvoll , aber für eine so grofse Stadt, wie
Kopenhagen, wo man das Theater beinahe
leidenschaftlich liebt , viel zn klein. Der König,
der die sehr prächtige Seeuniforro trug , schien
sich wenig um das Stuck zu bekümmern, son-r
dem gieng mit schnellen Schritten in seiner Loge
auf und nieder. Von Zeit zu Zeit verzog sich
seine Miene zum Lächeln. Er ist klein von Sta-
tur, aber wohlgebaut, und hat eine sehr vor-
theilhafte Gesichtsbildung , die von dem Zustan-
de seiner Seele nur wenig ahnen läfst.
Helsingör, 22. März.
Der Frühling ist dies Jahr wenigstens einen
Monat zeitiger als gewöhnlich in Seeland er-
schienen , und ich glaube , dafs die Tage jetzt
kaum in V e v e y milder seyn können , als hier.
Wir haben sie nicht unbenutzt vorübereilen las-
sen , sondern, als treue Befolger einer alten und
weisen Lehre, die Gelegenheit beim Stirnhaar
ergriffen , um die merkwürdigsten umliegenden
Gegenden in einer vortheilhaften Beleuchtung zu
sehen , ohne welche die reitzendste Landschaft
3^9
eben so wenig einen wohlthätigen und dauren-
den Eindruck machen kann , als ein schönes Ge-
sicht ohne die Grazie des Lächelns,
Meine Gefährten auf dieser Lustreise, die ich
nicht nur für eine meiner angenehmsten , son-
dern für eine der angenehmsten überhaupt halte,
die man auf der Erdiiäche machen kann, waren
unsre Freundin Brun, ihre Schwägerin, der bie-
dre und geistvolle Sander, mein ältester
Freund , und der kleine Karl , der deine Knaben
immer noch nicht Vergessen kann, und neulich
mit grofsem Jubel verkündigte: Es war doch
herrlich auf der Burg in Nion! Lieber
Bonstetten! wie diese Worte des Klei-
nen aus dem Innersten meiner Seele zurück-
hallten !
Zuerst besuchten wir Seelust, einen Land-
sitz des Finanzministers Grafen Schimmel-
mann, wovon Du in Hirschfelds Theorie
der Gartenkunst eine gute Beschreibung fin-
dest. Der mit reinem Natursinne angelegte Gar-
ten hat eine der schönsten Meeraussichten in
Seeland. In blauer Ferne entdeckt man die
55"
durch Tyc hoBrahes Aufenthalt berühmt ge-
wordene Insel Hween, *
Hierauf durchschnitten wir einen Theil des
königlichen Thiergartens , dessen riesenmäfsige
Buchen mich in Erstaunen setzten. Eine darun-
ter, welche Klopstock, wenn er sich in
Bernstorf aufhielt , gewöhnlich zum Ziele sei-
ner Spatziergange machte, heifst Klops t o cks
Buche, und wird als res sacra betrachtet.
Gegen Abend kamen wir inHelsingör an.
Die dahin führende Chaussee ist eine der vortref-
lichsten und unterhaltenden, die ich auf meinen
Reisen angetroffen habe ; selbst die inLangue-
d o c k und dem Kanton Bern nicht ausgenom-
men. Unser erster Gang war nach der Festung
Kronenburg. Der Anblick dieses gothischen,
im kühnsten Stile erbauten Schlosses, erfüllte
meine Seele , durch den Charakter von Festig-
keit und Gröfse , den es an sich trägt, und durch
das Feierliche seiner Lage, mit Ehrfurcht und
melancholischem Ernst. Es steht da als wäre es
aus Erz gegossen, tind ermüdet, wie D elil 1 e von
den Pyramiden Egyptens sagt, die zerstörende Zeit.
53i
Wir stiegen auf die Platteform eines vierecki-
gen Thurms. Die Sonne neigte sich zum Unter-
gange und gofs die wärmsten Tinten auf die na-
hen Ufer Schwedens^ von Helsingburg
bis zu den scharf umrissenen Gipfeln des K u 1 1 a-
Gebirges. Zur Rechten verlor sich der Blick auf
dem baltisch en Meere; zur Linken auf der
Nordsee. Unter uns lag Helsingör, mit
einem Walde von Mastbäumen. Schiffe segelten
durch den Sund.
Wenn Du dir den Blick von Nion nach
Yvoire und Thonon denkst , so hast Du ei-
ne Vorstellung von der Deutlichkeit der Objekte
auf der schwedischen Gegenküste.
Marienlust, ein Schlofs des Kronprinzen ,
liegt nahe bei der Stadt , und hat einige angeneh-
me Gartenparthien , wo die Natur mit Schonung
behandelt ist.
Friedensburg, 23. März.
Wir verliefsen Helsingör sehr früh , und
fuhren weiter nordwärts nach Hellebeck, be-
kannt durch die dem Grafen Schimmelmann
gehörige Gewehrfabrik. Hier ist, nach einstira-
A
53*
roigem Urtheile, der herrlichste Meerprospekt
auf der ganzen Insel. In Friedrich Stol-
bergs Gedichte H eile b eck ist diese Gegend
schön und wahr geschildert. Auf dem Odins«
Hügel hat die Aussicht über beide Meere ihre
gröfste Ausdehnung.
Nachmittags kamen wir nach Friedens-
burg, der jetzigen Residenz der Königin Julia-»
ne Marie. Dies war der Lieblingsaufenthalt
Friedrichs V. Der Garten hat nichts Auffal-
lendes; aber seine Lage am Esrum-See ist
äufserst anmuthig.
In einem Tannengebüsche trafen wir auf ein
Denkmal, das unsre Aufmerksamkeit anzog.
Ein kubisches Fufsgestell trägt einen unförmli-
chen Felsblock , an welchem keine andere Spur
des Meifsels wahrzunehmen ist , als ein Kreutz
und die Jahrzahl 1534^ Ich werde in Kopen-
hagen* Auskunft über diesen mystischen Stein
zu erhalten suchen.
Kopenhagen, 34. März.
Einen schauderhaft - prächtigen Anblick ge-
währen die verödeten Mauern von Christians-
335
bürg. Ich wandelte lange darin herum , und
meine Phantasie war geschäftig, das Fehlende zu
ergänzen und das Zerstörte wieder herzustel-
len. Sie hiefs noch einmal, die geschwundene
Herrlichkeit des stolzen Palastes aus der Ver-
nichtung hervorgehen, um meine Seele desto
stärker durch den Kontrast zu erschüttern. Nach-
dem sie die schimmernden Scenen eines königli*
chen Festes , im lebendigsten Farbenspiele , vor
meinem innern Sinne vorbeigeführt hatte , löste
sie den Zauber plötzlich, und überliefs mich ganz
dem Eindrucke der Wirklichkeit. Da glaubte ich
im Winde , der durch die leeren Fensteröffnun-
gen sauste, die Stimmen unsichtbarer Wesen zu
hören , die zuletzt in den feierlichen Chor zusam-
men klangen :
The cloud-capt toxv'rs , the gorgeous palaces^
The solemn temples, the great glob itself,
Yea all who it inherit, shall disolve
And like an insubstanlial pageant faded
Leave not a rak behind; we are such stuff
As dreams are made of, and our little lije
Is round ed \vilh a sleep.
334
leb stieg die große Marmortreppe hinan , die
nQch ziemlich unversehrt geblieben ist, und blick-
te in den Rittersaal , der durch seine ungeheu-
re GröTse einen hohen Rang unter den architek-
tonischen Merkwürdigkeiten Europas einnahm.
Das Landhaus des Grafen Bernstorf f , ein ge-
wifs ansehnliches Gebäude, hätte, nach allen
seinen Dimensionen , darin Raum gehabt. Die
Decke ist völlig eingestürzt. Unter den Eisenstä-
ben, woran die Gallerie befestigt war, haben
sich die Brustbilder der Könige noch unbeschä-
digt erhalten. Gleich blassen Geistergestalten
scheinen sie traurend, über den Ruinen der zer-
trümmerten Pracht, im verlassenen Raum zu
schweben. Hier war es wo ein Mann, von den
ihn verfolgenden Flammen zuletzt auf ein Fen-r
stergesims getrieben , welches keine rettende
Hand mehr erreichen konnte , um einem langsa-
men Martertode zu entgehen , sein Gesicht ver-
hüllte , und so in die Gluth hinabstürzte.
Von dem Steine der mir in Friedensburg
aufgefallen war , erfuhr ich heute , dafs ihn
Friedrich V. auf Anrathen eines launigen
355
Höflings, mit einer willkührlich gewählten Jahr-
zahl bezeichnet habe aufrichten lassen, um rei-
senden Geschichts- und Altertumsforschern eine
Falle zu stellen. Ich weifs nicht wie viele Dis-
sertationen und gelehrte Zweikämpfe er schon
veranlafst haben mag, ehe seine wahre Bestim-
mung an den Tag kam.
Der Nachmittag vergieng mir }n allgenehmer
Gesellschaft , leider nur allzuschnell , beim Pro-
fessor von Eggers, einem der thätigsten und
aufgeklärtesten Gelehrten in Dänemark, der
sich als statistischer , politischer und historischer
Schriftsteller Ruhm und Achtung erworben hat.
Bei ihm sah ich Herrn Grouvel, den be-
kanntlich das traurige Loos traf, L ü d w i g XVI.
das Todesurtheil vorlesen zu müfsen. Er ist ein
Mann von altfranzösischer Politur und horchsa-
iner Gewandheit.
35. März.
Man führte mich auf den Balkon des Pack-
hauses, wo eine berühmte Aussicht ist, welche
den ganzen Holm, die Rheede, das Meerufer bis
HelsingörundcüeKüstevonSchonenumfafst.
336
Zum Mittagessen war icb beim Grafen S c h i m-
melmann. Der hier herrschende zwanglose
und natürliche Ton,, welcher eines meiner er-
sten Bedurfnisse im geselligen Leben ist , gab
mir, so weit es vom Einzelnen auf das Allge-
meine zu schlielsen erlaubt ist, die vortheil-
hafteste Idee vom häuslichen Leben der hiesi-
gen Grofsen. Der Graf, ein edler und besehen
den er Mann, der im Umgange mit jedem Augen-
blicke gewinnt, genieist , als Finanzminister
und als Mensch , der ehrenvollsten und gerech-
testen Hochachtung.
Die Abendstunden brachte ich im Familien-
zirkel des Staatsministers Grafen Bernstor ff
zu, den ich den Aristides der neuern Zeit
nennen möchte. Nie erschien mir die mensch-
liche Natur veredelter und höher , als in ihm.
Mit den größten und mannigfaltigsten Anlagen
ausgestattet, ward er alles, was er werden konn-
te. Milde, Festigkeit und Adel treffen in
seiner Seele, Kraft, Hoheit und Ebenmaais
in seiner wahrhaft königlichen Getsalt zusam-
men.
337
Si fraCtus illabatur orbls,
Jmpauidum ferient ruince.
Aus einem Munde dem die "Wahrheit heilig
ist, hörte ich eine Schilderung des Kronprin-
zen, nach welcher er die meisten Regententu-
genden in sich vereinigt , ohne von einem einzi-
gen Regentenlaster beherrscht zu werden« An
seiner Gemahlin hängt er mit leidenschaftlicher
Liebe , und soll nie mit einem andern Frauenzim-
mer vertraulich gelebt haben. Er spielt nicht,
ist äufserst mäßig in seiner Lebensart , halst die
Jagd, und arbeitet mit unermüdlicher Thätigkeit
in Staatsgeschäften, denen er sich ausschliefsend
Widmet. Den grofsen Bernstorff ehrt er wie
einen Vater, und steht hoch genug, um den
ganzen Werth dieses seltenen Mannes zu erken-
nen und zu umfassen. Den Mangel an gelehr-
ten Kenntnissen, deren Erlangung ihm bekannt*
lieh in seiner Jugend unmöglich gemacht ward ,
ersetzt er durch reinen Menschensinn und schar«
fe Urtheilskraft.
Im Harmonieklubb ward Schulzens Hym-
ne, eins der ersten Meisterwerk^ der Tonkunst,
338
von Liebhabern vortreAich aufgeführt. Seit
Glucks Opern wirkt« keine Musik mit solcher
Allgewalt auf meine Seele. Die Höhe, zu wel-
cher Schulzens Genius in dem Chore; „Or-
kane preisen dich , o Gott ! " emporschwebt ,
hat , nach meinem Gefühle , das aber nicht den
mindesten Anspruch auf Untrüglichkeit macht,
selbst Händel niemals erreicht.
Vier
339
Vier und dreissigster Brief.
Tremsbüttel in Holstein, 15. April. 1794«
Ich bin über die Belte nach Hamburg' zu-
rückgekommen y mein theuerster Bonstetten!
weil der anhaltende Wind die Seereise nach Ki el
oder Lübeck unmöglich machte.
Ich gieng am 4* April von Kopenhagen
ab. Die Aussicht beim Schlosse Friedrich sa
berg, dem gewöhnlichen Sommeraufenthalte
des Hofes, ausgenommen, ist die Gegend bis
Rothschild ziemlich einförmig. In dieser
*Stadt sind die Begräbnisse der Könige, welche
Klopstock zum Gegenstande einer der vor-
züglichsten Elegieen machte, die wir in unserer
Sprache besitzen. Von hier kamen wir über
Ringstädt, einem Städtchen wo kürzlich zwan-
zig Häuser abgebrannt waren, nach Korsör,
an der Westküste von Seeland. Die 14. Mei-
Y
34*
len von Kopenhagen bishieher, legten wir,
freilich auf einer der treulichsten Chausseen von
Europa, in eben so viel Stunden zurück. Die
Ueberfahrt über den grofsenBelt, machten wir
in fünf Stunden, mit halbem Winde. "Wir kamen
nahe am Eilande Sproe vorbei, das, gleich
der Peters-Insel im Bieler-See, nur von
einer einzigen Familie bewohnt wird.
Das Postschiff landete vor N y b o r g , einem
dtadtchefl von angenehmer Lage, m einem kl ei*
nen Meerbusen, dessen Ufer manttichfalüg und
reich angebaut sind. Nun betraten wir die fruch-
bare Insel Fönen, deren ansehnlichsten Th eil
ich leider unter der MQlle der Nacht durchreis-
te. Bei Mlddelfart giengen wir über den
kleinen Belt, der hier so schmal ist, daß
wir in weniger als einer halben Stunde in einem
Boote übergemdert wurden; da hingegen bei
Assens, wo man ihn ebenfalls passirt, seine
Breite zwei Meilen beträgt.
Fast den ganzen Tag hatten wir heftigen
Regen , und gegen Abend überfiel uns , in ei-
nem Walde nicht weit von Hadersleben,
34*
eins der stärksten Gewitter, die fch mich je-
mals erlebt zu haben erinnere. Dreimal warerf
Blitz und Schlag vereinigt, und dabei ergoßt
sich eine Hagelwolke mit fürchterlicher Gewalt.
Nicht weit von uns ward ein Baum vom Blitze
getroffen. Jetzt standen die Pferde plötzlich
still , und der Postillion , dem ich zurief , gab
keine Antwort ; er schien völlig betSnbt Mit
Muhe gelang es mir endlich , ihn cum Weiter*
fahren zu bewegen, und so von den hohen Bäu-
men wegzukommen , in deren Nahe es uns nun
sehr unheimlich zu werden anfieng.
Der folgende Tag war so regnig, daß ich!
des Anblicks der gerühmten Landschaften von
Apenrade und Flensburg beraubt wurde.
Flensburg ist eine der artigsten und freund«
lichsten Städte, und ihre Lage, so viel mich
der trübe Flor, durch welchen ich sie erblick*
te, davon errathen lief*, bezaubernd schön.
In Schleswig fand ich Herrn vonE***,
dem ich durch seinen Bruder in Kopenhagen
war empfohlen worden, schon im Posthause.
Er unterhielt mich die Stunde, Welche ich hier
34*
zuzubringen hatte, sehr angenehm von Schles-
wig, dessen Einwohnern, der daselbst immer
mehr überhand 'nehmenden Prachtliebe, und
dem Theater, wovon er viel Yortheilhaftes sagte.
Endlich hatte der Himmel sich wieder auf-
gehellt. Beim schönsten Mondlichte fuhr ich
von Schleswig nach Eckernförde. Dies
war nun die vierte Nacht , die ich ganz ruhelos
auf dem Postwagen zubrachte.
So ermüdet und schlafbedürftig ich bei mei-
ner Ankunft in Ki e 1 mich auch fühlte , so konn-
te ich doch der Einladung meines Freundes Hens-
ler nicht widerstehen , ihn noch, am neralichen
Tage nach Emkendorf zu begleiten. Dieser
Landsitz liegt drei Meilen vonK i e 1 gegen Rends-
burg zu, und gehört dem Grafen R event-
lau, ehemaligem dänischen Gesandten in Lon-
don und Stokholm, einem sehr gebildeten
und edlen Manne, der die Gräfin JulieSchim-
xnelmann, eine Schwester des Finanzministers ,
zur Gemahlin hat. Diese ist durch Geisteskul-
tur und Herzensadel gleich achtungsvverth. Sie
hat zum Besten ihrer Bauern zwei musterhafte
345
Volksbücher geschrieben, wovon das eine Sonn«
tagsfreuden, und das andere Kinderfreu-
d e n betitelt ist. Ihr ähnliches Bild in Lebens-
große, von Angelika Kaufmann, sah ich-
in' Kopenhagen im Hause ihres Bruders.
Die Künstlerin hat in diesem Gemälde , nach .
dem Beispiele des grofsen Reynolds, mit der
ihr eigenen Grazie und Zartheit der Ideen, ein
bloßes Portrait sehr glücklich zu der Würde
und dem Interesse eines historischen Sujets er-
hoben.
Der Graf Reventlau hat einige gute Ko-
pien nach Raphael und Guido Reni aus
Italien mitgebracht; auch mehrere Originale,
unter denen mir besonders zwei Landschaften
von Hack er t hervorstechend schienen.
In Kiel besuchte ich den Professor F a b r £-
cius, einen der würdigsten Linnäischen Schü-
ler , -der im Fache der Entomologie , vorzüg-
lich in England und Frankreich, eine Art
von Diktatur erlangt hat, die ihm, unter al-
len jetzt lebenden Naturforschern, kein einzi-
ger streitig zu machen im Stande ist«
544
Von Kiel reiste ich, auf eine Einladung
meiner Freundin , der Grafin Luise Stol-
berg, naeh Tremsbüttel, In diesem Hol-
steinischen Dorfe, vier Meilen von Ham-
burg, lebt der königliche Amtmann Graf Chri-
stian Stolberg, als Menschenbeglücker und
Musenfreund, das Leben eines ächten prakti-
schen Weisen. Den hohen Geilt der Gräfin und
ihre ausgebreitete Belesenheit, kennst Du aus
einigen ihrer Briefe an Bonnet, der sie ein*
mal gegen mich, die schnellste Folgerin seines
Ideengangesj nannte. In der That ward der
verewigte Greis wohl von Wenigen wärmer
verehrt and besser verstanden, als von dieser
umermfidet nach licht und Wahrheit forschen*
den Seele.
Leider muß ieh morgen diesen Wohnsitz der
reinsten häuslichen Gifickseligkeit schon wieder
verlassen ; aber das Andenken anTremsbut»
t e 1 und seine Bewohner , wird unvertilgbar in
mir fortdauren.
Ich gehe nun über Braunschweig meiner
Heimath entgegen , wo mich die Freude erwar-
546
tet; nach langer Trennung meine Mutter und
Schwester wieder zu sehn«
Die Kürze dieses Briefs wird verzeihlich, wenn
Du bedenkst, wo er geschrieben ward.
Lebe wohl, mein geliebter Freund! und
zweifle nie an der unwandelbaren Liebe dessen,
der ganz dein gehört.
34«
Fünf und dreissigst^r Brief.
Braunschweig , aa. April«
Von Hamburg bis Braunschweig hatte
ich eine äufserst angenehme Reise , mein lieber
Bonstetten! Das Wetter war ununterbrochen
heiter, und alles in voller Blüthe. Einer sol-
chen Fülle des vegetirenden Lebens in den er-
sten Frühlingstagen , erinnre ich mich aus mei-
ner ganzen Vergangenheit nicht. Man hätte die
Schneelast, worunter, in Horazens Winter-
ode, die Wälder erseufzen, ohne dichterische
Uebertreibung , auf die Blüthen der Fruchtbäu-
me anwenden können.
Auf dem Kirchhofe zu Lüneburg zog ein
Denkmal meine Aufmerksamkeit an sich , wo-
zu die Idee mir eben so neu als edel schien«
Es stellt eine zerbrochene ionische Säule dar.
Ein Thcil des Schafts steht noch auf dem Fuß-
347.
gesteile, und ein anderes Stück desselben da-
gegen gelehnt ; das Kapital liegt auf der entge-
gengesetzten Seite. Ein Rifs geht mitten durch
die Aufschrift am Postemente, die nur den Na«
xnen und bürgerlichen Beruf des Verstorbenen
angiebt. Das Ganze ist so geordnet, dafs die-
se Zertrümmerung einem jeden, beim ersten
Anblicke, als die plötzliche Folge einer zerstö-
renden Naturbegebenheit, nicht aber als eine
langsame Wirkung der Zeit erscheinen mufs.
Nach genauerer Erkundigung erfuhr ich ,
dafs die patriotischen Verdienste des Landsyn-
dikus Kraut, dem das Monument geweiht ist,
diese ehrenvolle Allegorie vollkommen recht-
fertigen.
Da ich bei meiner Ankunft in Braun-
schweig, von denen, die ich hier zu besu-
chen hatte, niemanden antraf, gieng ich indels
ins Schauspiel. Ein wahres dramatisches Un-
ding ward so elend aufgeführt, dafs der Preis
der Erbärmlichkeit zwischen dem Dichter und
den Schauspielern zweifelhaft schwankte. Un-
ter andern kam eine Scene vor , wo ein durch
den Helden des Stucks verführtes Mädchen im
Begriffe stand, sich ins Wasser zu stürzen.
Donner und Bliu begleiteten den unsinnigsten
Monolog) 'durch den *i& auf die empörendste
Ärty bild an den König Lear, bald an Harn-
Fet erinnert ward. Auf einmahl legte sich,
wie durch den Mohnstengel &er Fee Mab , die
Wuth der Elemente , und ein schwarzer Pappen-
deckel, der bis dahin eine Gewitterwolke vor-
gestellt hatte, nrafste dem Vollmonde Platz ma-
chen. Urplötzlich scbmeidigte dieser Anblick
des sympathetischen Freundes der Liebenden
die Verzweiflung. der verlassenen Dido ; und an-
statt die lastende Lebensbiirde, ihrem ersten
Pfane gemäß, in den feuchten Abgrund zu
versenken , apostrophirte sie den Mond mit dem
eeVelbdftesten 6chwalle von Reminiseenzen aus
* *
empfindsamen Romanen, tind gieng getröstet ab.
Diesen unbegreiflichen Plattheiten folgte (mit
Efcröthen schreibe ich als Deutscher es nieder)
ein so"lebhaftes und anhaltendes Händeklatschen,
dafs ein Ausländer, der in diesem Momente des
allgemeinen Entzückens hereingetreten wäre,
349
von der Urheberin desselben eine sehr grofse
Idee hätte fassen, und sie wenigstens für. eine
zweite Siddons oder Klairon halten müs-
sen. So steht es leider in den meisten Gegen-
den Deutschlands um den Theatergescbmäck%
für welchen nun, da selbst Lessings Bemü-
hungen, ihm feste Eigenthümlichkeit zu geben,
vergeblich waren, wohl eben so wenig ein g ol d-
nes Zeitalter zu hoffen seyn möchte, als
der ewige und allgemeine Friede des gutmüthi-
gen Schwärmers St. Pierre, für die jetzt Krieg
führenden Völker.
Es war mir eine herzliche Freude, die Be-
kanntschaft des Hofraths Ebert zu machen ,
der nun beinahe ein halbes Jahrhundert hin-
durch , mit dem seltensten patriotischen Eifer,
zur Ausbildung des Geschmacks in Deutschland
mitwirkte. Die Munterkeit und das Jünglings-
feuer dieses liebenswürdigen Greises , der in
seinem siebenzigsten Jahre den Musen noch eben
so frische Kränze opfert, wie im Frühlinge sei-
nes Lebens, war für mich, des getreuen Bil-
des ungeachtet, dasL**. St**, mir vorläufig*
35o
von ihm gezeichnet hatte , höchst überra-
schend.
»
Ebert ist von den Verfassern der Bremi-
schen Beiträge, mit denen eine neue Epo-
che des deutschen Geschmacks begann , nebst
Klopstock, noch allein am Leben. Was letz-
terer in seiner Ode an ihn so rührend weifsag-
te , ist nach und nach in Erfüllung gegangen •
Giseke, Kramer, Gärtner, Rabner, Gel-
iert, Schlegel, Schmidt und Hagedorn
sind todt, und zween Einsame blieben al-
lein von allen noch übrig:
Als Geweihte des Schmerzen», die hier ein trüberes
Schicksal ,
Langer als Alle, sie liefs.
Wer wird nun der Ueberlebende seyn ?
Ebert ist einer der angenehmsten Gesell-
schafter die ich kenne, und ein vorzüglich gu-
ter Deklamator. Lange werde ich der frohen.
Augenblicke gedenken, die mir durch sein Vor-
lesen eines ungeclruckten Gedichts von Hage-
dorn wurden, worin die ryp arographische Ma-
nier des weiland berühmten Brock es unnach-
35i
abmlich parodirt ist. Es ist eine Epistel an Lis-
kov, die so anfängt:
Ol
Wie ward ich doch, geehrter Liskov, froh,
Als
Mit noch ungewaschner Rechten und dreiund-
drei fs ig jährgem Hals, u. s. w.
Bei Ebert hatte ich auch das Vergnügen t
einen der größten jetzt lebenden Virtuosen auf
dem Klaviere, den hiesigen Kapellmeister Schwa-
nenberger, spielen zu hören. Sein Vortrag
vereinigt bezaubernde Anmuth mit hinreifsen-
dem Feuer , und die Schnellkraft seiner Finger
ist aufserordentlich ; in jedem derselben scheint
eine eigene Seele zu wohnen.
Auf die mit so vieler Ungeduld erwartete
Geschichte des drei fsigjähri gen Krie-
ges von Leisewitz, wozu derselbe, mit beträcht-
lichem Aufwände und seltenem Eifer, vielleicht
einen der reichsten und vollständigsten Schätze
von Materialien zusammenbrachte, dessen sich
je ein Geschichtschreiber zu erfreuen gehabt hat,
wird Deutschland höchst wahrscheinlich Verzicht
553
thunmüfsen. Leisewitz erklärte mir, auf die
angelegentliche Erkundigung nach dem Fortgan-
ge dieses wichtigen Werks, daß er sich nicht
mehr für diese Arbeit interessire, und zu glau-
ben Ursache habe, es werde von Seiten des
deutschen Publikums der nehmliche Fall seyn.
Einer der feinsten und geschmackvollsten Kunst-
richter, die jetzt unter uns leben , der Hofrath
Escheriburg, fällte von einigen ihm von die-
ser Geschichte mir geth eilten Bruchsrucken ein
Urtheil , nach welchem Leisewitz mit allen er-
forderlichen, und so äußerst selten in Einem
Geiste vereinigten Talenten ausgerüstet ist, um
als ein Geschichtsschreiber aufzutreten, der mit
Robert, Hume und Gibbon, sich kühn im
die Schranken wurde wagen dürfen.
Gestern machte ich mit meinem Freunde,
dem Professor Buhle aus Gott in gen, der
hier die Osterferien bei seinen Eltern zubringt,
einen Spaziergang nach Wolfen büttel. Ehe
wir Braunsh weig verließen, sah ich auf
dem Burgplatze noch die Bildsäule des Löwen,
welchen Herzog Heinrich der Lowe aus
353
dem gelobten Lande mitgebracht haben soll ,
und der, nach einer grauen Volks Überlieferung,
hier begraben liegt. Es freute mich , dies ehr-
würdige Nationaldenkraal zu sehen , weil es den
schauerlich frohen Eindruck zurückrief , womit
ich diese abenteuerliche Sage so oft in meiner
Kindheit erzählen hörte.
Im Garten der Herzogin verweilten wir ei*
nige Augenblicke , des reitzenden Aussicht we-
gen, die man nicht weit vom Schlosse , welche*
zwar klein , aber in einem edlen Stile erbaut
ist, auf eine Angeriläche hat, die von der Ocker
durchschlängelt wird. Diese liebliche Aue er«
innerte mich an jene, wo, nach dem prächti-
gen Gemälde des Moschus, Europa mit ih-
ren Gespielinnen lustwandelt; eine so reiche
Fülle von Blumen hatte der Frühling darüber
ausgegossen.
Unser erster Besuch inWolfenbüttel war
beim Professor Trapp, meinem alten Freunde,
der hier zufrieden und glücklich lebt , und sei-
ne vortreflichen Erziehungstalente immer noch
mit dem erwünschten Erfolge in Ausübung bringt.
354
Den Bibliothekar Langer, einen sehr gelehr?
ten und vielgereisten Mann , der für den gröfs-
ten jetzt lebenden Kenner alter Drucke gehal-
ten wird, fanden wir auf der Bibliothek. Dies
Gebäude überraschte mich durch seine kühne
Bauart. Es ist eine Rotunde, wo das Licht
von oben einfällt Billig verschone ich dich hier
mit einer vollständigen Aufzählung der Bücher
und Handschriften, die Herr Langer mir als
vorzüglich merkwürdig zeigte. Ich habe das Wich-»
tigste davon in meinem Reisebuche aufgezeichnet,
welches dadurch ganz unerwartet einen kleinen
Nimbus von Gelehrsamkeit bekommen hat.
Herr Langer hat kürzlich entdeckt, daß*
die ersten deutschen Drucke im Jahre 1460.
zu Bamberg herausgekommen sind. Wir sa-
hen hier eine daselbst erschienene Ausgabe von
Boners Fabeln mit dieser Jahrzahl. Sie ist
mit Missalbuchstaben gedruckt, und hat ausge-
malte Holzschnitte.
Die hiesige Bibelsammlung besteht aus 4000«
Stücken. In allem giebt es etwa zwölftausend
Bibelausgaben. %
Für
\
355
Für die zahlreiche Klasse von Reisenden , der
es in öffentlichen Sammlungen hauptsächlich um
die Schau der sogenannten Kuriositäten zu
thun ist, liegt beständig eine hallische Bibel
aufgeschlagen, worin eine Unterlassungssünde
des Setzers , einer groben Begehungssünde das
Wort redet ; denn das sechste Gebot lautet hier
also: Du sollst ehebrechen.
Dafs Herr L a n g e r in seiner Jugend ein nichts
weniger als unbedeutender Dichter war, bewei-
sen ein Paar sehr gute lyrische Stücke von ihm
im dritten Bande der Allgemeinen Blumen-
lese der Deutschen. In seiner Wohnung
sah ich eine der schönsten Landschaften Gefs-
ners, und einen kleinen antiken Apoll von
Bronze, der unweit Basel ausgegraben ward.
"Wir traten kurz vor Sonnenuntergang unsern
Rückweg nach Braunschweig an. Das Licht,
in welchem die Wipfel der Gärten und Wäl-
der sich wollüstig zu wiegen schienen , war das
lieblichste , das vom Himmel auf die Erde kom-
men kann. Wir nahmen im Garten eines
Wirthshauses , das einzeln an der Landstrafse
Z
356
liegt, von einer kleinen Laube Besitz, um die-
ses schönen Frühlingsabends recht nach Herzens-
wünsche froh zu werden. Die Rosen und Sal-
ben abgerechnet, war hier alles vereinigt, was
Horaz in der Ode an denDelius zusammen-
stellt : Wipfel die sich zum wirthlichen Schat-
tendache verschränkten, ein plätscherndes Was-
ser am einsamen Rasenabhange, und der weise
Vorsatz, jede Lebensfreude im finge zu haschen.
Dum res et astas et sororum
Flla tri um patiunlur atra.
Auch der Wein , den wir hier tranken , war
vielleicht kein ganz unwürdiger Repräsentant
des Falerners.
357
Sechs und dreissigstbr B a i b f<
Krakau bei Magdeburg, i. Mal. 1794*
Du weißt es, mein geliebter Freund! wie oft
ich, selbst ait deiner Seite, ' im Feenlande des
Genfer-Sees, den Wunsch that , noch ein-
mal den Ort wieder zu sehen, wo ich die er-
sten Frühlingsjfcnre meines Lebens zubrachte.
Die Erfüllung dieses Wunsches hat mir das
Schicksal nun gewährt. Ich kam vor drei Ta-
gen in diesem Dorfe an , wo ich von meinem
Grofsvater , einem ehrwürdigen und verdienst-
vollen Geistlichen, bis zu meinem vierzehnten
Jahre erzogen ward. Krakau hat eine ange-
nehme und freundliche Lage am Elb Ufer, und
ist von Magdeburg, das, jenseits des Flus-
ses, mit seinen zahlreichen Doppelth firmen sich
sehr prachtvoll darstellt , nur ungefähr so weit
entfernt, als Prangins von Nion.
558
Alles , was mich hier in der Nahe und Ferne
umgiebt , bringt irgend eine Scene der Kind-
heit vor meine Einbildungskraft ; und, trotz des
langen Zwischenraumes und des unaufhörlichen
Wechsels von Situazionen und Schicksalen, ei-
ne jede. noch so frisch und lebendig, wie die
Auftritte des gestrigen Tages.
Bloß hindeuten lafs mich auf den Moment
des Wiedersehens meiner Mutter und Schwe-
ster, nach zehnjähriger Trennung.
Gestern brachte ich einige Stunden sehr ver-
gnügt im Hause des Hofraths von Köpken zu,
der dir schon durch unsere Unterredungen über
den gegenwärtigen Zustand der deutschen Lite-
ratur, als ein vorzüglich feiner Kenner und
Aus über der Musenkünste bekannt ist. Leider
nur als Handschrift für Freunde, hat er kurz-
lich eine Sammlung seiner Poesien , unter dem
Titel : „ Hymnus auf Gott , nebst andern ver-
mischten Gedichten, " drucken lassen.
Auf dem Domplatze, einem öffentlichen Spa-
ziergange in Magdeburg, begegneten mir vie-
le französische Gefangene. Die Offiziere waren
359
keinesweges sanskülottiscli , sondern vielmehr
mit aller den Altfranzosen eigenen Eleganz ge-
kleidet, und trugen meistens große dreifarbi-
ge Federbüsche auf den Hüten. Man rühmt
sie allgemein wegen ihres artigen und gesitte-
ten Tons, und gestattet ihnen den Zutritt in
den besten Häusern. Die Soldaten wohnen in
den Kasernen, und werden mit vieler Menschlich-
keit behandelt. Eine grofse Menge von ihnen
sah ich um einen Bänkelsänger versammelt,
der mit einem Stäbchen auf ein scheusliches Ge-
mälde wies, worin eine Guillotine die Haupt-
figur machte. In der Volkselegie, die er da-
bei über die schreckliche Ermordung der
verwittweten Königin von Frankreich ab-
sang, ward die französische Nazion nicht nur
mit Tygern und Hyänen , sondern sogar auch
mit Basilisken und Lindwürmern in eine Ka-
tegorie gebracht.
Hierbei fällt mir die kleine Guillotine ein,
welche ein hiesiger Einwohner, in der huma-
nen Absicht hat verfertigen lassen, um dem
für seine Mahlzeiten zum Tode verurtheilten
Geflügel die Qualen der Hinrichtimg abzu-
kürzen.
Mit wahrem Vergnügen erfahr ich durch den
Hofrath von Köpken, dad die magdeburgi-
sehe litterarische Gesellschaft, deren ältestes
und thätigstes Mitglied er ist, einmüthig beschlos-
sen habe, dem Andenken Basedows, an der
Grabstätte desselben auf dem hiesigen Heiligen-
geist - Kirchhofe, ein Denkmal errichten zu las-
sen. Das Brustbild des Verstorbenen en Bas-
relief , dessen Verfertigung man dem geschick-
ten Professor Doli in Gotha aufgetragen hat,
wird die ganze Verzierung dieses Monuments
ausmachen , und die Aufschrift einzig und al-
lein aus den wenigen Buchstaben seines Namens
bestehen. Für einen großen Todten giebt es
wohl schwerlich eine ehrenvollere Grabschrift.
Von laFayette wird auch hier mit warmer
Achtung gesprochen, und das Schicksal, wel-
ches diesen hochsinnigen und menschlichen Feld-
berrn, in der Mitte eines so schön und rühm-
lich begonnenen Laufs, in Fesseln zwang, von
allen, die gesundes Geistes und Herzens sind,
36*
den grausamsten beigezählt, die einen Sterbli-
chen treffen können. Es war mir lieb aus dem
Munde eines glaubwürdigen Mannes, der als
Arzt seines täglichen Umgangs genossen hatte,
"beinahe ganz das Gegentheil von dem zu hö-
ren, was wir einst, mit so bitterm Unwillen, übet
la Fayettes harte und unwürdige Behandlung
auf der magdeburgischen Ckadelle in tneh*
reren öffentlichen Blattern lasen.
Ein Ausspruch la Fayettes, dieses ein-
sichtsvollen Beurtheilers und richtigen Würdi-
gere von Feldherrntalenten und Feldherrnver-
diensten , über den Prinzen von Koburg, bei
Gelegenheit des Uebergangs Dümouriezs zur
österreichischen Armee, scheint mir so wahr
und treffend zu seyn , dafs ich dir denselben
wiederholen zn raüfsen glaube. „Man kann
dem Prinzen vonKoburg ausgezeichnete Feld-
herrntalente nicht absprechen , " sagte er zu
einem Offiziere der magdeburgiscfren Gar-
nison; „aber einen Fehler hat er begangen,
den ihm die Nachwelt nie verzeihen wird : er
griff die Franzosen nicht an, als Dumou-
$62
riez zu ihm übergieng, und ihre Armee sich
in einer so gänzlichen Unordnung und Zerrüt-
tung befand , dafs er sie mit leichter Mühe bis
auf den letzten Mann hätte aufreiben können."
Alexander Lame.th befindet sich noch
hier, wird aber nächstens nach einem Bade in
Schlesien abreisen , um seine äufserst ge-
schwächte Gesundheit wieder herzustellen. Das
Traktament, welches er vom Könige von Preus-
sen bekommt, beträgt täglich zwei Reichs t ba-
ier. L a m e t h s Mutter , eine gebohrne B r o g-
lie, die als eine geistvolle und entschlossene
Frau gerühmt wird , ist ihrem Sohne nach Mag-
deburg gefolgt.
563
Sieben und dreissigster Brief.
Halberstadt, 6. Mai. 1794*
Herr von Köpken und ich sind von Mag«
deburg hieher gereist, um unsern gemein«
schaftlichen Freund Gleira zu besuchen. Ich
fand diesen Nestor unter den jetzt lebenden
Dichtern, der, wie Klopstock so wahr und
schön von ihm singt, „liebend Liebe gebeut,
und hier nur die zögernde sanfte Mäfsigung
hafst , " noch eben so feurig , kraft - und geist-
voll, wie vor zehn Jahren; auch in seinem
Aeufseren hat dieser Zwischenraum keine auf-
fallende Veränderung hervorgebracht.
Für ihn scheint der kas talische Quell die
wahre Fontaine de Jouvence zu seyn.
Ich traf hier den Bibliothekar Benz ler von
Wernigerode an, dessen deutschen Dionys
von Halikarnafs wir einst mit einander la-
7.6 <
ö°4
sen, und der sich auch durch seinen Auszug
aus dem Spectator einen Platz unter den
geschmackvollsten und zierlichsten Uebersetzera
erworben hat. ßald gesellte sich auch Kla-
mer Schmidt zu uns , den ich wegen seines
edlen Charakters und festen Biedersinns hoch-
schätze. Er las mir verschiedene seiner unge-
druckten Gedichte vor, wovon eins, mit der
Aufschrift Klamersruh, in welchem er, wie
Gefsner in seinem Wunsche, das lieblich*
ste Ideal stiller häuslicher Glückseligkeit auf-
stellt, mir alles bei weitem zu übertreffen
scheint , was bisher von diesem liebenswürdigen
Dichter ins Publikum gekommen ist.
Er begleitete uns nach den Spiegelber-
gen. Der Schopfer dieser Anlagen, der ver*
storbene Domdechant von Spiegel, wählte
sich seine Ruhestätte im Schatten der Haine, wo-
durch er eine vormals öde und baumlose Ge-
gend in einen Aufenthalt der Freude und' des
Naturgenusses verwandelte. Sein Sarg steht in
einem runden Tempel mit durchbrochenen Ei»
centhüren. Hier wird alle Jahre, am 22. Mai,
365
Spiegels Todtenfeier begangen. Nach einer
Trauermusik in der Domkirche begiebt sich fast
die ganze Stadt nach den Spiegelbergen.
Grablieder werden am Sarge gesungen, und
dieser, samt dem Tempel, von jungen Mäd-
chen mit Blumengewinden geschmückt. Dies
schone Gedächtnüsfest wird hier die Spiegel-
feier genannt.
Auf einem mit Gesträuch besetzten Hügel,
steht die Bildsäule der Karschin, mit der
»
Unterschrift: Die deutsche Sappho. Dies
ist, meines Wissens, die einzige Dichterstatüe
in Deutschland.
Das Zimmer in Gleims Hause, welches
er seinen Musen- oder Freundschaftstempel
nennt , enthält eine h'öchstinteressante Samm-
lung von Bildnissen deutscher Gelehrten, Dich-
ter und Künstler , die fast alle von gleicher
<
Gröfse und zum Theil auch von Seiten der
Kunst schätzbar sind. Jedes dieser Portraits
ist für den ehrwürdigen Greis ein Denkmal
seiner freundschaftlichen oder litterarischen Ver-
bindung mit dem Ürbilde. Unser Johannes
366
Mull er befindet sich auch in dieser erlesenen
Gesellschaft.
Mit religiöser Ehrfurcht sah ich die heili-
gen Reliquien aus dem Nachlasse Friedrichs
des Einzigen: den Hut, welchen der gröfs-
te Sterbliche, seitdem Griechenlands und Roms*
Heroen dahin sind , noch am Morgen vor sei-
nem Tode trug ; und die Silberschärpe , wo-
mit er während des ganzen siebenjährigen Krie-
ges umgurtet war. Diese hatte er selbst zum
Andenken aufbewahrt. Den Hut verdankt
Gleim der Vorsorge des Herzogs Friedrich
August von Braunschweig, dem er nach
einer Unterredung mit dem grofsen Könige im
Jahr 1785. äufserte: Der König habe zwar ei-
nen sehr alten Hut aufgehabt ; dennoch aber
würde es das ehrenvollste Andenken für den
preußischen Grenadier seyn, wenn er den Hut
hätte. Der Herzog verhieß dem Dichter die
Erfüllung dieses Wunsches, und hielt Wort,
sobald der König todt war.
Gestern fuhr ich mit dem Herrn von K ö p-
ken, nach dem, zwei Meilen von Halber-
367
Stadt entfernten Schlosse Wernigerode,
welches durch seine romantische Berglage be-
rühmt ist y und lernte hier die glückliche und
in so vieler Rücksicht achtungswerthe Familie
des regierenden Grafen kennen. Dafs dies ge-
rade am Geburtstage der zweiten jungen Grä-
fin geschah , war ein sehr günstiger Zufall ;
denn ich wurde dadurch Zeuge von einem Fa-
milienfeste , dessen Freuden zu jenen gehör-
ten, welche, wie Wieland sagt, alles Gold
der Aureng-Zeben nicht kaufen kann. Wir
begaben uns nach der Tafel in einen nahen
Buchenwald , wo ein ländlicher Altar von Baum-
rinde errichtet war. Seine Bestimmung deu-
tete folgende Aufschrift : „ Schwesterliche Zärt-
lichkeit und treue Freundschaft weihen Maria
Stolberg diesen Altar."
Nachdem man alles gehörig vorbereitet hat-
te, wurde die Königin des Festes, von ihrer
Mutter , unter dem Vorwande eines Spatzier-
ganges, an den Ort geführt, wo die Gesell-
schaft versammelt war. Ein kleines Orchester,
durch hangende Zweige und Gesträuch vom
>s
568
Altarplatze geschieden, begrüßte sie mit einer
rührenden Musik ; und dann sangen die drei
Schwestern einen von Klamer S j£i in i d t nach
Klopstock parodirten Wechselgesang. Dier
Gräfinnen Anna und Luise begannen : ,
Das Mädchen bringt des Haines Kranz ;
Allein wer wird die Theure seyn,
Der sie den Kranz um die Schläfe windet?
Hierauf antwortete die Gräfin Friederike;
Da bring' ich euch des Haines Kranz !
Ich weifs, ich weifs die Theore wohl,
Der ich den Kranz um die Schläfe winde.
Bei der letzten Strophe , die anfängt :
Nun bring' ich dich der Theuresten ,
Die uns der Mai geboren hat ,
setzten die Schwestern ihrer Maria den Kranz
auf, führten sie dann zum Altare und legten
da den Kranz zum Opfer nieder. Hier wurde
sie von Vater, Mutter, Schwestern und Bru-
der unter Freudenthränen umarmt.
Wir giengen hierauf nach Augustenh aus,
einer Art von Einsiedelei unter hohen Linden,
wo Herr von Köpken und ich uns, aber lei-
3^9
der nicht lange mehr aufhalten konnten, weil
wir durch den herannahenden Abend an die
Ruckreise nach Halberstadt erinnert wurden.
Die Gegend bei Wernigerode hat sehr
viele Eigenthümlichkeit ; hauptsächlich wegen
des. auffallenden Kontrastes einer unabsehbaren
Ebene mit dem nahen Harzgebirge, wo der
Brocken verhältnifsmäfsig sich eben so herr-
schend über die benachbarten Gipfel empor«
hebt, wie der Montblanc in der Mittelkette
der Alpen. Die Aussicht von der WaWprome-
nade , welche das Schlofs umfängt , würde zu
den reitzendsten in der Welt gehören , wenn
sie durch einen Strom oder See belebt würde.
Der Gipfel des Brockens ist von Wernige-
rode ungefähr so weit entfernt, wie die Dole
vonKopet oder Nion. Die Ersteigung die-
ses Berges ist weder mit Beschwerde noch Ge-
fahr verbunden, und die Reisenden finden auf
einem Seitengipfel desselben, der die Hein-
richshöhe heilst, ein gut versehenes Wirtbs-
haus.
37°
Acht und dreissigster Brief*.
Wörlitz. ia. Mai. 1794.
Vv enn auf irgend einer mir bekannten Stelle
des Erdbodens , der Dichtertraum vom Elysium
der Alten , in befriedigende Wirklichkeit über-«
zugehen scheint , so ist es in W ö r li t 'z , • wo ein
edler , in die Geheimnisse des wahren Schonen
früh eingeweihter Geist, unverbrüchlich der Na-
tur getreu, ein Lustrevier schuf, dem nach
meiner Ueberzeugung , unter den Werken der
höheren Gartenkunst, der nehmliche Rang ge-
bührt, welchen Gefsners erster Schiffer
unter den Gedichten, Glucks Armide unter
den Produkten der Musik, Guidos Aurora
unter den Gemälden, die medizeische Ve-
nus unter den Bildsäulen, und der Julier-
tempel zu Nismes unter den Gebäuden ein-
nimmt.
Je-
37*
Jedem , der mit reinem Sinne und richtigem
Gefühle, bei einer Fahrt auf dem See und den
Kanälen, die zauberisch wechselnden Parteien
des Wör litz er - Gartens, in der Beleuchtung
4er. Abendsonne , als der vorteilhaftesten für
das Ganze, gesehen und wiedergesehen hat,
wird die' nahe Verwandschaft, worin derselbe,
in Absicht auf ästhetische Wirkung, mit den ge-
nannten Kunstwerken steht , sich von selbst
darstellen«
Nie verließ ich den Garten von Wörlitz,
den ich im Jahre 1778* zum erstenmal und
nachher oft wieder besuchte , ohne die beglü-
ckende Stille des Geistes , welche > nach H o-
razens Ausdrucke, „Bitterkeiten durch sanf-
tes Lächeln mildert," und die Mutter der äch-
ten Lebensweisheit ist« Was ich damals als
Jungling empfand, das empfand ich auch heu-
te, wiewohl stärker und lebendiger, als Mann.
Durch kein Werk der Tonkunst, Poesie oder
»
Malerei , habe ich mich jemals so suis befrie-
digt , und , wenn ich mir diesen Ausdruck er-
lauben darf, so in die Gegenwart eingezaubert
A a
37»
gefühlt, als durch den reinen, edlen und ori-
ginellen Stil der landschaftlichen Scenen dieser
in ihrer Art einzigen Anlage, mit der eine neue
Epoche des geläuterten Geschmacks in der Gar-
tenkunst anhebt, und die, ihrer anerkannten
Eigentümlichkeit wegen, ein besonderes Gat-
tungsprädikat verdiente. Eben so wenig ich
den Oberon ein Ariostisches Gedicht oder
den Götz von BerlichingeneinShakes-
pearisches Schauspiel nennen mochte; eben
so wenig mochte ich Worlitz mit den ge-
wöhnlichen englischen Gärten in eine Katego-
rie gebracht wissen. Aber es offenbart sich der
sklavische Nachahmungs- und Enjlehnungsgeist
der deutschen Nazion , sogar in den Benen-
nungen und Charakterisirungen von Werken,
deren Originalgepräge dem Blicke jedes unbe-
fangenen Richters als unverkennbar erscheinen
rauft. Der dürftige Aufsatz über Worlitz, in
Hirschfelds Theorie der Gartenkunst,
dessen Verfasser, durch seine Manier zu be-
trachten, an den sonderbaren Besuch erinnert,
den der hypochondrische Smollet der medi-
, 373
zeischen Venus machte , ist kaum der Erwäh-
nung werth ; aber die Beschreibung , welche
Herr August Rode, der geschmackvolle Ue-
bersetzer des Apulejus, davon geliefert hat,
verbindet Genauigkeit und Sachkenntnis, und
macht jede andere überflüssig. Von diesem Ge-
lehrten haben wir nächstens einen deutschen
Vitruv zu erwarten. Mit so vielen Schwe-
rigkeiten dies Unternehmen (woran selbst die
rüstigsten unserer Uebersetzer sich zu wagen
bis hieher nicht den Muth hatten) auch immer
verbanden seyn mag ; so läfst sich dennoch die
glückliche Ausführung desselben durch Herrn
Rode auf keine Weise bezweifeln, besonders
da er in der Nähe eines der gelehrtesten Ar-
chitekten unserer Zeit, des Herrn von Erd-
mannsdorf lebt, der durch das von ihm er-
baute, hiesige fürstliche Landhaus, seinen grofsen
Talenten ein würdiges Denkmal gestiftet hat.
Auch das Wohngebäude in Luisium, einem
Garten wo die regierende Fürstin gewöhnlich
den Frühling zubringt , ward nach dem Plane
de* Herrn von Erdmanns dorf aufgeführt.
574
Die Kamt der Landschaf tsverschoneraxig,
die der Fürst von Dessau in einem vorzüg-
lich hohen Grade besitzt, hat er nicht allein
in Wörlitz, sondern beinahe in seinem gan-
zen Gebiete, mit außerordentlichem Glucke in
Ausübung gebracht. Ihm ward, bei einem sel-
tenen Ideen -Reichthume, das wichtige Talent,
die feine Mittellinie zwischen dem zu Vielen
und zu Wenigen , fast immer mit scharfer Be-
stimmung zu treffen ; daher der Charakter von
reiner Harmonie, stiller Wurde und erhabener
Einfachheit, wodurch seine meisten Anlagen sich
so auffallend vor allen ähnlichen auszeichnen«
Du hast die interessantesten Lander unsers
Welttheils gesehen, lieber Bonstetten! und
besonders in Italien, Frankreich und Eng«
land, jede dir erreichbare Blume des Grofien,
Schönen und Nützlichen gebrochen: aber den-
noch wurde , bei der Reise durch das Fürsten«
thum Dessau, frohes Erstaunen sich deiner
Seele bemächtigen ; hier , wo der Beobachter
der Fortschritte des allgemeinen Wohlstandes ,
im reichen Anbaue eines Bodens, welcher der
*\
375
Natur ursprünglich nur wenig zu danken hat,
und besonders in den häufigen Pflanzungen des
mannich faltigsten Strauch - und Baumwerks ,
überall den Finger des Genius der Menschlich-
keit erkennt, und der Freund des Alterthums,
beim Anblicke der in Feldern und Hainen zer-
streuten Tempel, Denkmäler und Bildsäulen,
in 'die schönen Tage der Griechen zurück ver-
setzt wird.
Es war mir ein hoher Genuß , dies Land
wieder zu erblicken, wo ich nicht, wie in so
manchen aridem , unaufhörlich an die Barbarei,
Finsternis, Inhumanität und Geschmacklosigkeit
des Mittelalters, sondern an den Verschönerungs-
und Kulturgeist des feinsten, veredelsten und
gebildetesten aller Völker, und an den Erdstrich
erinnert ward , den es zum merkwürdigsten dejr
Welt machte.
/
\
57 6
Neun und dreissigster Brief.
Weimar , *4- Mai, 1794»
Habe Dank für deine bruderlichen Zeilen.
Auch ich , mein Lieber! sehne mich nach un-
serer Wiedervereinigung, und werde sie, so
viel als möglich/ zu beschleunigen suchen. Von
liier bis zum Bodensee, sehe ich nun keine
beträchtliche Unterbrechung meines Laufes mehr
voraus, und mein Aufenthalt in Zürich wird
diesmal nur wenige Tage dauren. Mächtig
zieht alles mich wieder in die glückseligen Ge-
genden , wo das goldene Zeitalter mir keine Fa-
bel mehr schien , und aus denen , wenn die
Anordnung und Leitung der mir noch bestimm-
ten Schicksale allein von mir abhienge , mich
künftig nichts wieder in die weite Welt hinaus-
locken sollte , als Rom oder die heiligen Trüm-
mer von Athen.
377
An die Reihe der wenigen berühmten Män-
ner , die ich in dem , oft so sehnlich herbeige-
wünschten Augenblicke der persönlichen Be-
kanntschaft ; nicht unter meiner Erwartung fand,
hat sich nun auch Wieland angeschlossen;
nnd ich achte das Gluck, diesen bewunderten
Schriftsteller endlich von Angesichte gesehen zu
haben, mit für den gröfsten Gewinn meiner gan-
zen Reise. Hier hör ich dich schon im Geiste in
tausend Fragen über deinen Lieblingsdichter aus-
brechen, an dem, wie Du einmal sagtest, dich
alles , bis auf die Farbe seines Kleides interes-
sirt. Mit herzlicher Freude sehe ich unsern Ge-
sprächen über ihn entgegen , unter den Lin-
den deines Landhauses, oder in einem friedli-
chen Hirtenthaie, fern vom Rauche der Städte
und den Thorheiten und Lastern ihrer Bewoh-
ner. Viel habe ich dir zu erzählen von dem
Dichter, mit dessen Gesängen, wie es irgend-
wo heifst, die Grazie beginnt und endiget; viel
von dem liebenswürdigen und attischfeinen Ge-
sellschafter, den ich nicht treffender, als durch
folgende Worte Quintilianszu schildern weift :
578
Inaffectatam ejus jucunditatem nulla affecta-
Ho consequi potest > ita , ut sermonem ipsiiis
ipsce gratias finxisse videantur ; am allermei-
sten aber von dem vortreflichen Familienvater,
welcher der Gegenstand meiner wärmsten Lie-
be und Verehrung geworden ist. Wohl dem
Manne, von dem man mit Wahrheit, wie von die-
sem sagen kann , daß Weib und Kinder ihm
die ganze Welt sind!
Bei Gelegenheit eines Gesprächs mit Wie-
land über die neue Ausgabe seiner Werke,
die den erwünschtesten Fortgang hat und eins
der schönsten Denkmäler der deutschen Typo-
graphie werden wird, erfuhr ich, daß er, un-
ter, allen seinen Schriften, für den Agathon
die meiste Vorliebe hegt, und ihn gleichsam
als das Architypon alles dessen ansieht, was er
jemals dachte und schrieb. Diejenigen , welche
dies Buch bisher wie eine schone Giftblume in
der sittlichen Welt betrachtet haben, werden
dasselbe , nach Lesung der jetzt hinzugekomme-
nen Dialogen zwischen Agathon und dem wei-
sen Archytas > hoffentlich nun mit milderen Vor-
379
Stellungen aus der Hand legen« Auch die psy-
chologischen Lücken, welche die Befriedigung
aufmerksamer Leser hier und da unterbrochen,
Sind durch diese neue Ueberarbeitung ganzlich
verschwunden.
So lange ich mich hier aufhielt, blieb ich
fast immer von Wieland ungetrennt. In sei-
ner Gesellschaft war ich bei dem Vicepräsiden-
ten Herder, der verwittweten Herzogin, der
Frau vonK***, deren Schwester Du in Hei-
delberg kennen lerntest^ im Schauspiele ,
im Park und im Belvedere. Jede Minute brach-
te mich ihm näher ; und ich verlasse W e i m a r
mit der Ruhe der gewissesten Ueberzeugung ,
dafs sein Wohlwollen, wovon er mir die un- •
2weideutigsten Beweise gab, ohne Wank und
Wandel für mich fortdauren werde.
Als wir, lieber Bons tetten! vor einigen
Jahren, an einem schönen Maimorgen, auf
dem Wege vonNion nach Genf, die Mnsa-
rion lasen, aufwertest Du ein so lebhaftes Ver-
langen, den Sänger dieses Gedichts persönlich
kennen zu lernen, dafs in diesen Tagen, wo
38o
mir dies Gluck zu Theil wurde, unzahligemal
der Wunsch in mir aufgestiegen ist , Oberont
Wolkenwagen an dich absenden, und dich so
in wenigen Minuten zu uns her versetzen zu
können. Ohne Zaubermittel möchte dies wohl
schwerlich jemals ins Werk zu richten seyn,
weil deine politische Laufbahn dir keinen lan-
gen AusHug mehr gestattet; besonders in die-
ser gefahrvollen Epoche, wo das Schiff der Re-
publik von Klippen und Untiefen umringt isr.
Bei Herder, den schon sein Zeitalter den
Pia ton Germaniens nennt, brachte ich einige
Stunden zu , deren Andenken ich künftig oft
mit Wohlgefallen in meine Seele zurückrufen
werde. Wenn die Deutschen einmal der Hu-
manität einen' Tempel bauen, so werde Her-
ders Büste dem Altare gegenüber aufgestellt!
Er beschäftigt sich jetzt mit der Uebersetzung
eines gänzlich vergessenen und so gut als dem
Grabe wieder entrufenen lateinischen Dichters,
aus den Zeiten des dreifsigjährigen Krieges, den er
beinahe dem Horaz an die Seite setzen möch-
te; so schön und edel ist seine Sprache, so
58i
kühn sein Schwung , so überströmend die Fülle
seiner Gedanken , so rein das Feuer seiner Be-
geisterung ; so harmonisch reihen sich seine Bil-
der, und mit so tief prägender Gewalt treffen
seine Weisheitssprüche die Seele. Nennen will
er den Namen des erweckten Todten noch nicht ;
auch jeden bitten , der denselben ausfindig ma-
chen sollte, ihn vor der Hand zu verschweigen;
weil die Gesänge zuerst , ohne den Namen des
Sängers, die Wirkung hervorbringen sollen,
wozu die Kraft in ihnen liegt. Dichter, setzte
er noch hinzu, sind Boten der Götter, und
man sollte immer den Dichter vom Menschen
absondern. Ich mache dich vorläufig auf diese
merkwürdige Erscheinung aufmerksam.
Bei der verwittweten Herzogin , die , als
Beschützerin und Kennerin der schönen Künste,
mit Rechte geschätzt und gepriesen wird, war
ich gestern in der Abendgesellschaft, welche
aus den meisten in W e i m a r lebenden Gelehrten,
Dichtern und Künstlern besteht. Nach dem Tbee
wird entweder gelesen, gezeichnet oder Musik
gemacht. Gestern war ein musikalischer Abend.
58*
Das Bildniß der Herzogin von Angelika
Kaufmann, ist unstreitig eins der vollkom-
mensten Werke, wodurch jemals ein glänzen-
des Kunstlergenie seine Ansprüche auf Unsterb-
lichkeit legitimirt hat. Die Schönheit, Grazie
und Farben- Harmonie dieses Gemaides sind so
bezaubernd und hinreißend, dafs ich auch bei
mehrerer Muße und feinerem Kunstsinne nicht
darüber zu kommentiren wagen wurde. Die
lebensgroße Figur sitzt, griechisch kostumirt ,
auf einem Stuhle von antiker Form , und hält
ein Buch in der Hand, das man, der auf dem
Rücken desselben angebrachten Aufschrift zu«*
folge, mit Vergnügen für Herders Ideen
erkennt. Im Hintergrunde erhebt sich das K o-
liseum.
Unter den Handzeichnungen und Malereien,
welche die Herzogin aus Italien mitgebracht
hat , gefielen mir vorzüglich drei Landschaften
von Hackert, dessen Bäume von so hoher
Vollkommenheit sind, dafs sie mir sogar mit
denen des großen Waldmalers Ruysdael um
den Vorzug zu kämpfen scheinen. Eine Zeich-
383
nung von Angelika Kaufmann, deren Su-
jet aus Göthes Iphigenia genommen ist > und
eine neapolitanische Aussiebt, von einem mir
bisher unbekannten Künstler Namens Kniep*
gehören ebenfalls zu den Zierden dieser Samm-
lung«
Im Sommer hält sich die verwittwete Her-
zogin in einer landlichen Wohnung zu Tiefurt
auf. Die Um fließt durch den Garten, an
welchen ein Gehölz st ölst, das man zu ange-
nehmen Promenaden zu benutzen gewufst hat.
Hin und wieder sind Bildsäulen angebracht;
unter andern ein Amor, der einer Nachtigall
Speise mit dem Pfeile reicht. Die Aufschrift am
Fufsgestelle giebt , an Lieblichkeit und Schöne,
keiner Blume der griechischen Anthologie et-
was nach :
Dich hat Amor gewifs , o Säugerin , fütternd er-
zogen ;
Kindisch reichte der Gott dir mit dem Pfeile die Kost:
Schlürfend saugtest du Gift in die unschuldige Keble;
Denn mit der Liebe Gewalt trift Philomele das Herz.
Ihrem Bruder, der im Dienste der Mensch-
384
lichkeit eines Todes starbt den ihm Kein Sohlaclit-
feld rühmlicher und erhabener hatte gewähren
können, hat die Herzogin hier ein Denkmal
mit der einfachen Aufschrift errichtet: Dem
verewigten Leopold.
Zu den größten Merkwürdigkeiten von Wei-
mar, gehört unstreitig der Park; eine reitzen-
de, durch die Natur ganz vorzuglich begün-
stigte Anlage , in jenem edlen und lautern Ge-
schmacke, der in Deutschland zuerst von Wo r-
litz ausgieng, und dessen weitere Verbreitung,
einer der angelegentlichsten Wünsche aller
wahren Freunde des Schönen geworden ist. So
wie durch Rousseau und Basedow, nach
und nach aus vielen Schulen und Kinderstu-
ben Stock und Kuthe verschwunden sind ; eben
so wird auch, durch das, was Delilleund
Hirschfeld lehrten, und der Fürst von Des-
sau und seine glücklichen Nachahmer tha-
ten , die Schnur und Scheerentirannei allmäh-
lich aus den deutschen Garten verbannt werden.
Folgende Stelle aus Delilles Gartenge-
dichte, das sich unter den wenigen Büchern
385
befindet , die mich auf dieser Reise begleitet
haben, scheint mir die Gesetze zu enthalten,
welche dem Schöpfer der 'Weimarischen Anla-
ge, vom Genius der Gegend zur Befolgung
vorgeschrieben wurden : ,
. Cest peu de charmer Voeil , il faut parier au cceur,
Avez - vous donc connu ces rapports invisibles
Des corps inanimis et des itres sensibles?
Avez - vous entendu des eaux, des pris , des bois f
La muette Sloquence et la secrette volx?
Rendez - nous ces effets. Que du riant au sombre,
Du noble au gracieux , les passages sans nombre
Af Interessent toujours. Simple et grand, fort et douXj
Unissez tous les tons pour plaire ä tous les godts.
La , que le peintre vienne enrichir sa palette;
Que l 'Inspiration y trouble le poete ;
Que le sage , du calme y goute les douceurs ;
Uheureux, ses Souvenirs ; le malheureux, sespleurs*
Im Jahre 1783. brachte ich einen unvergefs-
lichen Nachmittag mit dem biedern , leider zu
früh verstorbenen M u s ä u s , in einem Garten
vor der Stadt zu, wo er damals eben an den
Volksmährchen arbeitete, und gewann ihn
so lieb , dafs ich bei meinem diesmaligen Auf-
586
enthalte in Weimar nicht vyeniger angelegent-
lich nach seiner Grabstäte forschte , als weiland
Tristram Shandy nach dem Grabe der bei-
den Liebenden in Lyon. Auf dem Jak ob s-
Kircjhhofe deutet ein Denkmal von edler Sim-
plizität dem Wanderer die, Stelle an, wo sie
den guten Mann hinlegten. Unter seinem ähn-
lichen Brustbilde steht ein Aschenkrug in einer
Nische, über welcher man die Worte liest:
Dem verewigten J. £. Musäus im Jahr
*787-
Einige Schritte davon ruht die Hülle seines
Geistesverwandten, des redlichen, von vielen
guten Menschen betrauerten Bode.
Vikr-
387
Vierzigster Brief.
Nürnberg, i. Jim. 1794*
Fast ohne aus dem Wagen zu kommen, bin
ich von Jena bis Nürnberg gereist, wo ich
mir einen Rasttag erlaubt habe. Du siehst hier-
aus , mein bester Bonstetten! wie sehr es
mir darum zu thun ist, bald wieder das Land
zu betreten, dessen Glückseligkeit, trotz der
Erdbeben und Vulkane, welche die benach-
barten Reiche verheeren, noch immer uner-
schüttert steht, wie seine Berge. Schwerlich
hat sich je ein geborner Schweitzer mit lebhaf-
terer Ungeduld in den Schoofs der Alpen zu-
rückgewünscht, als ich Hyperboreer, bei des-
sen Geburtsorte Windmühlenhügel die beträcht-
lichsten Höhen sind, und auf dessen Vorliebe
für dein Vaterland , unauslöschliche Jugendein*
B b
5ö8
drücke und lange Gewöhnung keinen Fiwfl nff
haben konnten.
Du erinnerst dich vielleicht des jungen Ota-
heiten, den Bougainville mit nachFrank-
reich brachte, und der im botanischen Garten
zu Paris, bei Erblickung eine« auf seiner In-
sel einheimisch eft Baumes, inThränen ausbrach,
den Baum in die Arme schloß, die Binde des-
selben mit heifsen Küssen bedeckte, und aus-
rief : Das ist Otaheiti! Beinahe eben so
gieng es mir auf einem waldigen Bergwege,
zwischen Saalfeld und Koburg, wo ich die
Arnica montana , das Gnaphalium dioicum
und Polygonum bist ort a antraf. Diese Blu-
men hatte ich bisher nirgends als in der Schweitz
blühen gesehen , und ihr unvermutheter Anblick
führte die glücklichsten Scenen meiner Alpen-
reisen vor meine Seele. „Das ist die Schweitz ! "
scholl es in meinem Innern ; unter meinen
Füfsen glühte der Boden , und ich wünschte mir
die Schwingen des Vogels, der über mir hinflog.
Mit Mühe widerstand ich der Versuchung,
meinen Ruhetag schon in Bamberg zu hat
389
ten, dessen freundliche Lage mich sehr anzog.
Ich hätte dadurch auch den Vortheil erlangt,
die Bekanntschaft des Hofrath Markus zu
machen, dem ich durch einen Freund in*Wei-
m a r war empfohlen worden. Dieser verdienst-
volle Mann , der als ein höchst erfahrener und
geschickter Arzt gerühmt wird, hat sich beson-
ders durch die vortrefliche Einrichtung des Bam-
bergischen Krankenhauses , das unter seiner
Aufsicht steht, die Achtung nnd den Beifall al-
ler wahren Menschenfreunde erworben.
Sogleich nach meiner Ankunft inNürnberg,
gieng ich zum Professor Sattler, einem ein«
nehmenden und gefälligen Manne, der von mehr
als einer vor th eilhaften Seite in der Schriftstel-
ler Welt bekannt ist, und sich vorzüglich um
die Bildung und Läuterung des Geschmacks in
Nürnberg verdient gemacht hat.
£r hatte die Güte mich in die Aegidien-
Kirche zu führen, um van Dyks berühmte
Abnehm ung vom Kreutze zu sehen , welche von
Kennern für das erste Gemälde dieser Stadt er-
klärt wird. In dieser grofsen und edlen Korn-
39°
posifcion rührte mich das müde geweinte, ; mit
einem unbeschreiblichen Ausdrucke des Schmer-
zes auf den Todten hingeheftete Auge der Mut-
ter am lebhaftesten. Die kleine geflügelte , al-
lerliebste Figur, welche, mit Tiiränen im Bli-
cke , die Hand des Leichnams ergreift , soll ,
allem Vermuthen nach, einen Engel vorstellen,
aber es ist kein Engel, sondern Anakreons,
von einer Biene verwundeter Amor, so schön
und lieblich , als er nur immer der Einbildungs-
kraft des tejischen Greises vorgeschwebt haben
mag. Hat je eine Figur ihre rechte Stelle ver-
fehlt , so ist es wohl diese.
Ich konnte unmöglich die Vaterstadt Al-
brecht Durers verlassen, ohne wenigstens
einige seiner Werke kennen gelernt zu haben.
Da meine Zeit eingeschränkt war, so sah ich
Hur was auf dem Rathhause von ihm aufbewahrt
wird. Ich bewunderte die herrlichen Propor-
zionen in den Figuren von Adam und Eva , die
in der nemlichen Stellung unter dem Baume
stehen, wie man sie gewöhnlich in den alten
Holzschnitt- Bibeln vorgestellt findet. Der Fal-
39i
tenwurf im Mantel des Paulus , der neben dem
Markus stehend abgebildet ist, verdient allen an-
gehenden Künstlern zum sorgfältigsten Studi-
um empfohlen zu werden. Albrecht Dürers
eigenes, von ihm selbst kräftig gemaltes Bild-
nifs, soll, der Tradizion zufolge , sehr ähn-
lich seyn. Eine ächtdeutsche Kernphysiogno-
znie , voll Mannsinn und Biederkeit.
Dafs Albrecht Durer auch Schriftsteller
war, ist dir vielleicht unbekannt, weil seine
"Werke unter uns vergessen sind, wie so viele
andere , aus dem merkwürdigen Zeiträume der
Hütten und Pirkhaimer. Sein Bucli, von
der menschlichenProporzionund P o r-
traitmalerei, verdiente, da es so aufs erst sel-
ten geworden ist, ganz vorzuglich von neuem ge-
druckt und so wieder in Umlauf gesetzt zu
werden., Es ist eine Schande für Deutschland,
dafs es Werke dieses Gehalts, als wären sie
um nichts besser wie Mönchshomilien oder scho-
lastischer Unsinn, mit Gleichgültigkeit vermo-
dern läfst.
Albrecht Dürer starb nicht, wiederVer-
/
39*
fasser der Charaktere deutscher Dichter
und Prosaisten angiebt, im. Jahre 1527. son-
dern im folgenden.
Im Wirthshause kam mir eine Beschreibung
der Stadt Nürnberg in Knittelversen zu Ge-
sichte, die von einem hiesigen Rothgerber her-
rührt, und, mit grofser Genauigkeit , alle Tho-
re, Brücken, Thürme, Brunnen, Strafsen und
Plätze aufzählt ; auch, in folgenden Versen.»
des von Harsdörfer gestifteten, vormals so
berühmten Blumenordens an der Pegniz
gedenkt :
Ein Flufs fliefst durch die Stadt mit Eil
Und theilt sie in zwei gleiche Theil;
Die Pegniz wird der Flufs genannt,
Sein Blumenorden ist bekannt.
Du stehest hieraus, dafs der Geist des bra-
ven Hans Sachs noch nicht gänzlich von
Nürnberg gewichen ist, und dafs die ehe-
dem hier blühende Meistersängerei hin und wie-
der noch einen schwachen Schöfsling treibt.
i"
393
Ein und vierzigster Brief.
Bern, 31. Jun. 1794*
Schon seit einigen Wochen, mein geliebter
S a 1 i s ! bin ich, nach einer Reiäe durch Deutsch-
land und Dänemark, wieder mit unserem
Bonstetten vereinigt, und wohne* jetzt in
seinem Landhause , das , dicht vor der Stadt ,
auf einer sanft abhängigen Anhöhe liegt. Hier
beherrscht man die reiche und prachtvolle Land-
schaft, welche Aberli auf dem Blatte mit der
Unterschrift : La ville de Berme du cötä du
Nord, so glucklich dargestellt hat.
Wiewohl ich während meiner Reise dir nicht
ein einzigesmal schrieb, so habe ich den-
noch deiner sehr oft herzlich und liebevoll ge-
dacht, und mit wahrer Freude jede Frage be-
antwortet, die so viele gute Menschen, denen
Du durch deine Lieder schätzbar geworden
394
bist, über dein Tliun und Wesen an mich er-
gehen liefsen. Deine Muse , mein bester S a 1 i s,
hat sehr viele Freunde in Deutschland ; und
wer der Freund deiner Muse ist , der ist auch
immer zugleich der deinige.
Klopstock grüTst dich mit Wärme. Wie
nach einem in der Fremde lebenden Sohne , er-
kundigte sich Wieland nach dir. Das Ange-
sicht des guten , alten Eb erts glänzte vor Freu-
de, als ich ihm sagte, daß das Schicksal dir
die Erfüllung deines letzten Wunsches nun
gewährt habe. Des kranken Burgers trübes
Auge erheiterte sich bei Erblickung deines Bildes
auf meiner Dose, und Vofs trug mir auf, dich in
seinem Namen zu bitten, den Genius der dich an
der Seine und sogar in Flandern begeisterte,
nicht in R h ä t i e n einschlummern zu lassen.*
Keines deiner Gedichte scheint eine allge-
meinere Sensazion erregt zu haben, als das
Mitleid. Sehr häufig habe ich Stellen daraus
hersagen gehört, besonders die beiden Verse :
Bindest loser deine Garben
Vor der Aehrenleserin.
395
Dies alles sei dir ein neuer Sporn, nach im-
mer höherer Vollkommenheit zu streben. Sin-
ge, da um dich her noch alles grünt und blüht ;
der Tage des Lenzes sind wenige.
Weil Bonstetten, seit einiger Zeit, mehr
als jemals von Fremden , besonders von Emi-
grirten besucht wird , deren Anzahl im Kanton
Bern noch immer beträchtlich ist , so beschlos-
sen wir eine kleine Fufsreise, um wenigstens
ein paar Tage lang einander ganz anzugehören.
Zum Ziele der Wanderung .wählten wir den
Gipfel des Stockhorns unweit Thun, des-
sen Westseite, senkrecht abgekürzt, dem ver-
tikalen Durchschnitte einer Kuppel gleicht, und
mit der benachbarten , scharf zugespitzten Py-
ramide des Niesen auffallend kontrastirt.
Das Gutachten eines der dortigen Gegend
kundigen Bauern , den wir über die Seite be-
fragten, von welcher dem Stockhorn am
besten beizukommen sei, Hei dahin aus, dafs
wir, wie er sich ausdrückte, diesen streitba-
ren Berg bei Blumenstein anzugreifen
hätten.
S9 6
Dem zufolge begaben wir uns nach dem be-
kannten Blumensteiner- Badehause, das am
Fu£se des Stockhorns, in einer angenehmen
Wiesengegend liegt, und übernachteten daselbst.
Die aufgehende Sonne fand uns schon in ei-
ner luftigen Halle, beim Frühstücke, im Ho-
xaz lesend, wdrin wir aber bald durch zwei
artige Bäurinnen unterbrochen wurden, die
uns Blumensträuße brachten, und um Erlaub-
nis baten, dieselben an unsere Hüte heften
zu dürfen , zu welchem Geschäfte sie auch schon.
Nadel und Zwirn in Bereitschaft hielten. Wir
hatten Freude an diesem arkadischen Angebin*
de; wobei der Umstand nicht zu übergehen
ist, dafs die Mädchen ein Geldgeschenk,
welches wir ihnen dagegen anboten , nicht oh-
ne einige Empfindlichkeit ausschlugen.
Also geschmückt traten wir, von einem mun-
tern und leichtfüfsigen Führer begleitet, unsere
Wanderung an. Das erste, wodurch unsre Auf-
merksamkeit angezogen wurde , war der Sturz
des Fallbachs, unweit der Kirche des Dorfes
Blumenstein, welches etwa eine Viertel-
397
stunde vom Badehause entfernt ist. Dieser Kas-
kade hat man, so viel mir bekannt ist, noch
in keiner Reisebeschreibung Erwähnung gethan,
wiewohl sie von ansehnlicher Höhe, beträcht-
licher Wassermasse, und an Lokalschönheiten
ganz vorzuglich reich ist.
Durch die melancholischenCcbatten schwar-
zer Tannengeholze , wand sich hierauf der Weg
zu den Alpentriften empor , welche den Gipfel
des Stockhorns umgeben. Ueber uns hien-
gen einige Wolken, wie an den Berg festge-
drückt. Durch welche Wolke geht unser Weg ?
fragte ßonstetten den Führer. Eine wahre
Götterfrage , wie aus einem mythologischen
Mährchen entlehnt ; welche aber , an der Stelle
wo sie gethan wurde, auch aus dem Munde
des einfältigsten Hirten hätte kommen können.
Drei Stunden mochten wir etwa gestiegen
seyn, als wir die Wälder unter unsern Füfsen
erblickten, und den dichten, elastischen Ra-
sen der höheren Bergregionen betraten. Senn-
hütten lagen ringsumher zerstreut, und nahe
und fern scholl das harmonische Geläute der
398
Heerdenglocken. Ueber einen schmalen , brü-
cken« hnlichen Pfad , an dessen linker Seite sich
ein fürchterlicher Abgrund öffnete, gelangten
wir zu einem fast senkrechten , gewiß über
hundert Fufs hohen Rasenabhange. Mit be-
ständiger Beihülfe der Hände, klimmten wir,
nicht ohne Gefflir und Anstrengung, daran
empor, indefs unser Führer die Todesgeschich-
te eines jungen Menschen aus Thun erzählte,
der vor einigen Jahren von dieser Rasenwand,
an welcher wir eben zwischen Himmel und
Abgrund schwebten, herabgestürzt war. Glück-
licher als jener erreichten wir die Basis des
Felsengipfels, der eigentlich als Stockhom
genannt wird, und, wegen seiner sonderba-
ren Form , in der ganzen umliegenden Gegend,
einen sehr auffallenden Anblick gewährt.
Mit Unmuth sahen wir jetzt , so nahe schon
dem Ziele unserer Reise, sich überall Gewölke
zusammenziehen, die einen Schleier über das
Zaubergeraälde zu werfen drohten , dessen An-
blicke wir mit froher Ungeduld entgegenstreb-
ten. Wir erreichten jedoch den Gipfel, ehe
359
sich alles verhüllte. Noch stand die Bergkette
des Grindel waldes ohne Vorhang da; und
dies war gerade die Seite der Aussicht, worauf
ich am wenigsten halte Verzicht thun mögen«
Bald aber wandelte sich die Scene. Die Ge-
wölke zogen in immer dichteren Schaaren her-
an , und strömten zuletzt in ein unabsehbares
Meer zusammen, aus dessen grauer Oberfläche
Berggipfel , wie Inseln hervorragten. Von Zeit
zu Zeit entstanden OeiFnungen darin, durch
welche wir bald die Stadt Thun, bald einen
Theil des Sees , bald eine Krümmung der Aare,
bald Schneegipfel und Felsengruppen , bald Wäl-
der und Dörfer, in einer wahrhaft magischen
Abwechselung erblickten. Auf diese Weise ward
uns die Aussicht vom Stockhorne, eine der
angenehmsten und ausgedehntesten der Schweitz, .
nur in Bruchstücken zugemessen. Die unauf-
hörlichen Wandlungen dieser Wolkenscenen
brachten indefs eine Reihe von so aufs erst man-
nichf altigen und interessanten Erscheinungen
hervor, dafs wir zuletzt gar nicht mehr an das.
dachten, was unserm Blicke dadurch entzogen
4<x>
wurde , sondern , ohne den Wolkenversammler
Kronion auch nur mit einer Sylbe anzuklagen,
befriedigt und glucklich , ab hätten wir mit
Brydone auf dem Aetna gestanden, zu ei-
ner Sennhütte herabstiegen., wo ein alter ehr-
4
würdiger Alpenhirt uns, patriarchalisch - gast-
frei, mit Ziegenmilch und Käse bewirtbete*
Kommet sufen! war seine Einladung, die er
mit einem kräftigen Handschlage begleitete;
wobei zu bemerken ist, dafs der Sprachgebrauch
des Hirtenvolks dieser Berge die Menschen sau-
fen, die Thiere hingegen trinken läfst.
Von Blumenstein bis zum Gipfel des
Stock horns, freute ich mich der Wiederer-
blickung .folgender Pflanzen, von denen die
meisten irgend eine frohe Erinnerung aus mei-
nen vorigen Bergreisen in mir erweckten:
lmpatiens noli tangere.
Pedicularis verticillata*
Valeriana tripteris,
Cacalia alpina.
Alchemilla alpina.
Prenanthes purpurea,
Vicia sylvatica.
4°*
Tfymus alpinus.
Pimpinella saxifraga.
Astranda major,
Leontodon aureum.
Phellandrium mutellina,
Rhododendron fertugineum,
Rhododendron hirsutunu
Phjteum/i orbicularis,
Dianthus superbus.
Cnicus spinosissimus,
Polygonum viviparum,
Sonchus alpinus.
Aconitum napellus,
Aconitum lycoctojtum,
Trollius europasus.
Campanula barbata,
Aster alpinus,
Satyrium nigrum.
Crepis alpina,
Bupleurum ranunculo'ides,
Achillea atrata,
Tussilago alpina,
Centaurea moniana,
Arnica *scorpiöides+
Carduus defloratus.
402
Clobnlaria nudicaulis.
Gentiana acaulis.
Mjagtum saxatile.
Astragalus onobrychis.
Androsace lactea.
SiUne acaulis.
Gegen Abend verliefsen wir die gastfreie
Hirtenhutte, und folgten, auf der Ostseite des
Stock horns, dem bequemen Heerdenwege,
der uns in das Siben- oder Simmenthai
hinabführte, wo wir zu Erlenb ach , einem
durch seine ansehnlichen Pferdemärkte bekann-
ten Dorfe, von unserm beschwerlichen Tage-
werke ausruhten.
Am folgenden Morgen setzten wir unsere
Wanderung durch einen Theil des Simraen-
thals, das sich von den Grenzen von Wal-
lis bis zum Thuner-See hindehnt, und von
der Sieben oder Simme durchströmt wird ß
noch bis Thun zu Fufse fort ; von hier aber
schifften wir, auf der reifsenden Aare, in
weniger als zwei Stunden, mit der sogenann-
sen Kälberflotte nach Bern. Diesen sonderba-
. ren
403
ren Namen führen einige Hache , ziemlich grofse
Kähne, die wöchentlich zweimal von Thun
nach Bern gehn, von demjenigen Theile ih-
rer Ladung, der gemeiniglich der ansehnlich«
üte zu] seyn pflegt.
Wegen der romantischen Ansichten der Aar-
Ufer, wurde diese Wasserreise viel angeneh-
mes gehabt haben, wenn wir nicht, kaum ei-
ne halbe Stunde nach der Abfahrt, von einem
heftigen Gewitter wären überfallen worden.
Grade als der Regen am stärksten herab-
stürzte, und der Donner am fürchterlichsten
über uns rollte, gerieth , unser Ungemach zu
verdoppeln, das Fahrzeug auf den Sand. Der
Sturm brauste ; die Wellen waren in Aufruhr
und arbeiteten gegen die dünnen Bretter der
nachlässig gezimmerten Barke; die Blitze zuck-
ten, in gefährlicher Nähe, über der tosenden
Fluth und an den schwarzen Fichten, die knur-
rend hin und her schwankten; die Mannschaft
fuhr, in wilder Unordnung, mit Stangen und
Rudern durcheinander, und selbst die Thiere,
welche bis dahin ruhig auf dem Boden neben
C c
4»4
und auf einander gelegen hatten,
Gefahr zu ahnen , und erhoben, mit emporge-
reckten Häuptern, wie ans einer Kehle, ein
ängstliche* Jammergeschrei.
Den vereinigten Kräften einiger herkulischen
Fleischerknechte, die im Wasser sprangen und
das Fahrzeug von der Untiefe, wegschoben, hat-
ten wir es zu danken , dals wir zuletzt noch
aus dieser Gefahr gerettet wurden, und wohl-
behalten, obgleich träufelnd, als wären wir
dem Schiffbruche entschwommen , unter der
hohen Terrasse des Bern er - Munster* ans
Land stiegen.
— — — me tabula sacer
yotiva partes indicat uvida
Suspendisse potenti
Veslimenta maris deo.
Eine andere kleine Reise machte ich mit Bon-
stetten nach der Peters - Insel im Bieler-
See.' Dies reitzende, mit allem, was die ersten
Bedürfnisse des Lebens ausmacht, reichlich ge-
segnete Eiland, scheint von der Natur zum
Wohnsitze für solche Menschen bestimmt zu
4*5
seyn, die in ländlicher Stille und freier Gel-
stesbeschäftigung ihre Gluckseligkeit finden.
Nun begreife ich es ganz, warum dem armen
Rousseau das Herz blutete, als auch hier,
wo er, nach seiner Versicherung, Jahrhunder-
te ohne lange Weile zugebracht haben würde,
ibm keine bleibende Stätte ward; und warum,
unter allen den Wohnplätzen , die das Schick-
sal dem ruhelos Umhergetriebenen, bald hier
bald da, anwies, grade dieser seinem Herzen
der liebste und bis zum Grabe der Gegenstand
seiner wehmüthigen Sehnsucht blieb. Mit in-
niger Rührung lasen wir bei dieser Gelegenheit
Rousseaus schöne Beschreibung der Peters-
Insel und seiner dortigen Lebensweise wieder,
und folgten den Spuren des großen Mannes
von dem Zimmer das er bewohnte, bis zum
Obstgarten , wo er oft , mit einem Sacke um-
gürtet , in Gesellschaft seiner ehrlichen Hausge-
nossen Früchte einsammelte; von den Hügeln,
Gebüschen und Wiesen, wo er zuerst, den
Linnäus in der Hand, die Gattungskennzeichen
der Pflanzen studirte, bis zu der Uferstelle ß
4o6
wo er so gern, an schonen Abenden, den Blick
in stiller Selbstvergessenheit auf die Flutb ge-
heftet, hingestreckt lag.
Hier bekam die Brunelle, eine der gemein-
sten Pflanzen , das Interesse der Dioncea oder
Adansonia für mich, weil ich dabei an das
Entzucken dachte, worin Rousseau bei der
Entdeckung der zwei Gabeln gerieth, worin
die Staubfäden dieser Blume in ihrer Spitze ge-
spalten sind; es war so lebhaft, daü er, wie
durch einen Trunk aus der Lethe, aller Schmer-
zen des Vergangenen darüber vergafs. An alle
die ihm nach dieser Entdeckung begegneten,
that er, im Uebermafse seiner Glückseligkeit,
die Frage : Ob sie auch schon die Gabeln der
Brunelle gesehen hätten ? Unter den mir be-
kannten Scenen inRousseaus Leben , möch-
te ich von dieser am liebsten Augenzeuge ge-
wesen seyn.
Aber auch diese , des goldnen Weltalters
würdige Freuden , verwehte der Sturm ; und
bald darauf hören wir von neuem die Klagen
des Unglücklichen, gegen Noth und Wider-
4o 7
wärtigkeit ankämpfenden Mannes : A peine
est - il dans nos plus vives jouissances un in-
stant ou le coeur puisse värit ablernen t nous
dire : Je voudrois que cet instant durät tou-
jours. Et comment peut-on appeller bon~
heur un e'tat fugitif ', qui nous laisse encore
le coeur inquiet et vuide , qui nous fait re-
gretter quelque chose avant ou desirer en»
core quelque chose apris ?
Zusätze und Anmerkungen.
1l aster Brief.
(S. 4.) Auch xu Trembleys Werke über die Po-
lypen bat Lyonnet die Tafeln gezeichnet und
1
gettochen.
(S. 15.) Bonnet starb den 20. Mai 1795. zu
Genf, in einem Alter von 73. Jahren. Seinen gan-
zen literarischen Nachlafs hat ein junger Verwand-
ter geerbt , der ibn weder zu schätzen noch zu be-
nutzen weif*.
Zweiter Brief.
(S. 19.) Auch die Ammonshörner und Turbiniten*
welche man häufig bei Klüse findet, betrachten
die dortigen Einwohner als Kunstwerke, mit deren
Verfertigung sich die Feen in ihren Nebenstunden
beschäftigen.
(S. 19.) Der Eingang der Hohle vonBalme ist 700.
Fufs über die Arve erhaben, und bildet einen
ziemlich regelmäßigen, ungefähr 10. Fufs hohen
und 20. Fufs breiten Boden. Man findet in dieser
geräumigen Grotte einige Säle mit sehr hohen Ge-
4°9
wölben, die denen von gothischer Bauart gleichen
, und mit den schönsten Stalaktiten geschmückt sind.
Saussüre zählte vom Eingänge , bis dahin wo sich
der Hintergrund so sehr verengt, dafs man nicht
weiter vordringen kann , 640. Schritte.
(S. 20.) Der Messung der Herren Piktet und
Trembley zufolge, ist der Wasserfall von Ar-
p e n a z 800. Fufs hoch.
(S. 24.) Ein sehr interessanter Brief des Naturfor-
schers Donati, welcher seine Wahrnehmungen
über den eingestürzten Berg enthält , findet sich
im zweiten Theile von Saussüres Alpenreisen,
„Ich fand mich endlich, „ heifst es unter andern
darin, „nach einer Reise von vier Tagen und zwei
Nächten im Angesichte eines Berges, welcher ganz
mit Rauch umgeben war , und von dem sich im-
merfort Tag und Nacht Felsenstücke mit einem er-
staunlichen Getöse losrissen , das noch stärker
war als das Getöse des Donners oder der Knall ei-
ner Batterie von grobem- Geschütze. Alle benach-
barten Felder waren mit einem Staube bedeckt, der
vollkommen einer Asche glich, aber nichts anders
' war , als zu Pulver gewordener Marmor. Ich nä-
herte mich dem vorgeblichen Rauchgewölke , und
sah einen ungeheuren Felsen sich in den Abgrund
stürzen. Bei dieser Gelegenheit ward ich gewahr,
dafs der Rauch nichts weiter als Staub sei , der von
dem Falle der Steine aufstieg. Unter den Ruinen
sind sechs Häuser, sechs Menschen und sehr viel
Vieh begraben worden. „
4io
Fünfter Brief.
(S. 44. ) „Gibbons Tag war eingeteilt , wieder
Tag des angelsächsischen Königs Alfred.,,
Alfred, König der Angelsachsen, theilte den Tag
in drei gleiche Theile, wovon der erste dem Schlafe
und der Mahlzeit, der zweite- den Regierungsge-
schäften , und der dritte den Wissenschaften und
der Religion gewidmet war. Da jenes Alter der
Unwissenheit und Barbarei (er starb i. J. 900.)
keine Art von künstlichem Zeitmesser kannte , so
gebrauchte er, um die Abschnitte seines Tages ge-
nau zu bestimmen , Kerzen von gleicher Lange und
Dicke die er nacheinander in einer Laterne nieder-
brennen liefs.
( S. 46. ) InAlgarottis Aufsatze über den Reim ,
der keinem Freunde der Musenkünste unbekannt
seyn sollte , kommt auch ein burlesker englischer
Hexameter der Königin Elisabeth vor , den sie,
wenn ich nicht irre , sogar aus dem Stegereife ge-
macht zu haben vorgab , um den Versuchen , wel-
che einige Dichter ihrer Zeit in dieser Versart ge-
wagt hauen , einmal für allemal das Siegel der Lä-
cherlichkeit aufzudrücken.
Sechster Brief*
( S. 49. ) Die im Anfange dieses Briefes angezoge-
nen Worte Shenstones sind aus der Aufschrift
einer Urne entlehnt , welche dieser Dichter in den
bekannten Lea so ws , oder Hirtenfeldern, dem
Andenken einer jungen Verwandtin weihte.
4n
D. M.
Ah ! Maria
Puellarum elegantissima
Ah flore venustatis abreptal
Fale.
Heu quanto minus est cum, reliquis versari
quam Tui meminisse»
Siebenter Brief.
( S. 64. ) Während meines dreimaligen Winterauf-
enthalts in Frankreich (von 1789. bis 92. ) war,
insonderheit in Lyon, der Geschmack an Gretrys
Musik der allgemein herrschende. Mit auiseror-
dentlichem Beifalle -ward sein Blaubart, und im-
mer bei vollem Hause, unzühligemal wiederhohlt.
Monsigny, Philidor und D ü n y , kamen nur
noch sehr selten zum Vorscheine. Nach Gretry
war Dalairac der beliebteste Komponist. Für
Glucks Musik ist , aufser Paris, keine Stadt
Frankreichs reif geworden.
Achter Brief.
(S. 74.) Der Graf Gorani gieng seitdem nach Pa-
ris, ward zum französichen Bürger ernannt, und
gab das Werk über Italien heraus, dessen in die-
sem Briefe gedacht wird. Er ahnte das Schicksal
der Brissotiner, zu deren Parthey er sich be-
kannte, und kehrte kurz vor ihrem Falle in die
Schweitz zurück, wo ihm aber keine bleibende
Stätte mehr wurde. Sein jetziger Aufenthalt ist
mir unbekannt.
4ia
Zihntei Brief.
(S. 94.) Den verdienstvollen Doktor Gilibert,
der auch eine Zeit lang Maire von Lyon war und
nachher in Verhaft genommen wurde, habe ich
nach der Eroberung dieser unglücklichen Stadt durch
die Konventstruppen völlig aus den Augen verloren.
So viel weifs ich indefs gewifs, dafs es ihm ver-
mittelst eines ansehnlichen Lösegeldes gelungen ist ,
die Thüren seines Kerkers zu sprengen t und sich
über die Grenze zu retten.
( S. 95* ) Der Bildhauer C h i n a r d , der nachher
als Hauptmann der Nationalgarde von Lyon fast
gar keine Zeit mehr für seine Kunst üibrig behielt,
gieog i. J. 179a« wieder nach Rom» wo ejr bei
einem Auflaufe umgekommen seyn soll.
Zwölfter Brief.
(S. 100.J ,, Und durchs peninisch Thal man reist
Ueber das Birg wie man wohl weifst .
Peninisch Alpes sie bekennt ,
Der grofs Sanct Bernhart so genennt ,
Ein hohes und grausam Cebirg:
Wall Pellinna in seinem Circk %
Welchen der Pönus Hannibal
Als er mit Gewalt zog durch dies Thal ^
Wieder die Römer durchhin brach
Mit Fewr und Essig allgemach
Zersprengt und macht ihn wandelbar
Und setzet einen Abgott dar ^
Pöninum genannt , nachwert z lälein
!
4'3
Mnfst dieser Berg Mons Jovis seyn.
Xu höchst druff ist ein Hospital
Von Sanct Bernhart genennt zumal ,
Dahin führt man d^ spei f st sechs meil weg
Gefährliche Strassen , tritt und sieg ,
Und ist umb diese wohnnng gar
Jn dreien meilen weit umbhar
Nichts anders dann Felsen und seh nee :
Doch mus ich da auch melden mek 9
So jemand s auf dem Berg abstirbt
Jn der Erd er kein begrebd erwirbt
Sonders geworfen die Felsen ab ,
Das er im Schnee sein Bcgr'dbnus hab ,
Da er langsam verzeert und gefriert,
Als ob er wer verbalsamiert.
Acht Hundert ein und fünft zig Jahr
Gebawt schon da das Closter war. ,,
Diese Beschreibung de« grofsen Bernhard s -Berges
in Hans Sachsens Manier, findet sich in einem
selten gewordenen Werke, das i. J. 1606. zu Bern
herauskam und worin der Berg Niesen dem Ber-
ge Stockhorn, welchem er, nebst seiner sammt-
lichen Dienerschaft, ein prächtiges Gastmal anrich-
tet , mit einem grofsen Aufwände von Gelehrsam-
keit, zum Nachtische nicht nur /die ganze Weltge-
schichte von Adam an , sondern auch die Beschrei-
bung aller Gebirge und Naturmerkwürdigkeiten de«
Erdballs , in Knittelversen vorträgt. Der ganze Ti-
tel dieses seltsamen Produkts , dessen Einfassung
gewifs die einzige dieser Art ist, lautet wörtlich sot
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„Ein Neuw , Lustig , Ernsthaft poetisch Gastmal
„und Gespräch zweier Bergen in der löblichen
f , Eydgenofsschaft , vnd im Berner Gebieth gele-
„ gen : Nehmlich defs Niesens und Stockhorns , als
„ zweier alten Nachbarn : welches Inhalt ein Phy-
i, sie am chorographicam vnd Ethicam descriptionem
„ von der ganzen Welt ingemein , vnd sonderlich
„von Bergen und Bergleuten: Sonneten weifs ge-
stellt, durch Hans Rudolf Räkmann, Die-
„neren des Worts Gottes. Getruckt zu Bern bey
„Johann le Preux. Im Jahr 1606.,,
(S. 113.) Auch in Graubündten, unweit der
Via mala, wird die Linnceß borealis in grofser
Menge angetroffen.
Dreizehnter Brief.
(S. 122.) Das in diesem Briefe angeführte Gemälde
von Ruhens , ist das sogenannte kleine jüng-
ste Gericht.
Vierzehnter Brief.
(S. 133. ) Von der angenehmen und ausdrucksvollen
Stimme der schönen Laura, legt Petrarka an
mehr als einem Orte die rühmlichsten Zeugnisse ab :
dafs sie sich aber auch als Dichterin hervorgethan ,
wie viele dem fabelnden J. Nostradamus nach-
erzählt haben , der unter andern auch behauptet ,
quelle romansoit promptemer^t en toute sorte de rüh-
me provencale , davon finden wir gerade das Ge-
gentheil in folgendem Verse :
Che non curö giammai rime ne versi.