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Full text of "Briefe von Friedrich Matthisson"

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BRIEFE 



FRIEDRICH, MATTH1SSON. 




Oreli, Füj. 






Z3X 







VORREDE 

ZUR ERSTEN AUFLAGE, 



Man glaubte sich bei der Bekanntma- 
chung dieser Briefe das Gesetz vorschrei- 
ben zu müfsen, alles darin zu unter- 
drücken, was blofs fiir den Empfänger 
derselben Interesse haben, oder nur 
ihm allein unter den Rosen der Freund- 
schaft gesagt werden konnte. 

Jeder vernünftige Leser wird einsc- 
lien, dafs aus dieser Ursache nothwen- 
dig viele, den Zusammenhang unter- 



II 

brechende Lücken entstehen mufsten, 
und folglich, mit dem Herausgeber , je- 
de weitere Entschuldigung , wegen des 
fragmentarischen Ansehens mehrerer 
Briefe dieser Sammlung , für überflüs- 
sig halten. - 



# 



VORREDE 

ZUR ZWEITEN AUFLAGE, 



Da der Verfasser für gut befunden hat, 
bei gegenwärtiger neuen Ausgabe sei- 
ner Briefe, nicht nur die sechs ersten 
der vorigen gänzlich zu unterdrücken, 
sondern auch mehrere Stellen in den 
übrigen durchzustreichen: so haben 
wir uns genöthigt gesehen, die zween 
Bände dieser Sammlung, die ohnehin 
schon von unbeträchtlicher Bogenzahl 
waren, in einen einzigen zusammen- 



IV 

zuziehen. Unstreitig hat das Werk 
durch jene Abkürzungen an Ueberein- 
stunmung des Tons um vieles gewonnen. 

Zürich. 1802. 

Die Verleger. 



Inhalt. 



Seite 

Erster Brief. Genthod. Bonnet. 5 

Zweiter Brief. Reise nach Chamouny, t xj 

Dritter Brief. Rolle. Chandler. 5* 

Vierter Brief St. Cergue. 5^ 

Fünfter Brief Lausanne. Gibbon. 4 2 

Sechster Brief Lyon. 49 

Siebenter Brief. Fortsetzung. 6* 

Achter Brief Nion. Gorani. 7* 

Neunter Brief Yvorne. Gefahrvolle Berg- 
reise. 

Zehnter Brief Lyon. Bekanntschaft mit dem 
Doktor Gilibert und dem Bildhauer 

Chinard. 87 

•Eilfter Brief Ueber den Dichter Gray $8 

Zwölfter Brief Reise nach dem grofsen Sc. 

Bernhardsberge. xoo 

Dreizehnter Brief Lyon. Vienne. n6 

Vierzehnter Brief. Avignon. Vauklüse. iaö 



76 



VI 



Seite 



Fünfzehnter Brief. Nismes Le Pont du 

Gard. Das Amphitheater. La maison 
Carrcc. l^G 

Sechzehnter Brief. Montpellier. Cette. 15s 

Siebzehnter Brief Das Schlofs Blonay. Reise 

durch die Sanenthäier. 165 

Achtzehnter Brief Ueber Rousseaus neue He- 

loise. 180 

Neunzehnter Brief Aufenthalt des Dichters 

'von Sali« in Grandklos. x$6 

Zwanzigster Brief Einladung zu einer Rei- 
se durch einen Theil des Gouverne- 
ments von Aigle und der Republik Wal- 
lis. 195 

Ein und zwanzigster Brief Reise nach Frei- 
burg. Die Felseneinsiedelei. 197 

Zwei ufid zwanzigster Brief. Ueber den 

blinden Naturforscher Franz Huber. 209 

Drei und zwanzigster Brief. Zürich. Füfsli. 
Ueber Gefsners Familie und seinen litte- 
rarischen und artistischen Nachlafs. 218 

Vier und zwanzigster Brief Reise nach « 

Graubündten. 2^5 

Fünf und zwanzigster Brief. Ermatingen am 
Bodensee. Grofses Beispiel von patrioti- 
scher Todesverachtung. 237 



vn 

Seite 
Sechs und zwanzigster Brief. Winke für Rei- 
sende durch die Schwein. 345 

Sieben und zwanzigster Brief. Anfang einer 

Reise von Bern nach Kopenhagen. 2.(9 

Acht und zwanzigster Brief. Ankunft in Stutt- 
gart. f a58 

Reim und zwanzigster Brief Heidelberg« 

Mannheim. Doktor Weikard. 365 

Dreifsigster Brief Frankfurt am Main. Das 

dortige Theater. Marburg. 276 

Ein und dreifsigster Brief Göttingen. Schil- 
derung einiger dortigen Gelehrten. Der 
Botanische Garten. Die Universitäts- 
Bibliothek. Das akademische Museum. 
Die Sternwarte. 284 

Zwei und dreifsigster Brief Hamburg. Schrö- 
der als König Lear. 3i5 

Drei und dreifsigster Brief Seereise nach Ko- 
penhagen. Ankunft daselbst. Dänisches 
Schauspiel. Reise nach Helsingör. Graf 
Bernstorff. Schulzens Hymne. 3 aa 

Vier und dreifsigster Brief, Rückreise von 
Kopenhagen über die Belte nach Trems- 
büttel bei Hamburg. 33£ 

Fünf und dreifsigster Brief Braunschweig. 
Ebert. Leisewitz. Eschenburg. Wolfen- 
büttel. Die dortige Bibliothek. 5jG 



YHI 



Seite 



Sechs und dreifsigster Brief* Magdeburg. 
Basedows Denkmal. Nachrichten von la 
Fayette. 

Sieben und dreifsigster Brief, Halberstadt. 
Gleim. Wernigerode. 

Atht und dreifsigster Brief. Ueher den Gar- 
ten zu Wörlits. 

Neun und dreifsigster Brief Weimar. Wie- 
land. Herder. Abendgesellschaft bei der 
verwittw eten Herzogin. Tiefurt. Der Park. 

Vierzigster Brief Nürnberg.* Albrecht Dürer. 

Ein und vierzigster Brief Bern. Reise nach 
«km Stockhorn und der Petersinael. 



557 



365 



«7o 



576 
587 

393 



MATTHISSONS BRIEFE. 



. ßoiinei~ 




Gentkod bei Genf. : 



■ JUD- 1788- 



Bonn et schlug mir vor, meinen Aufenthalt bei 
ihm noch um einige Tage zu verlängern , mein 
geliebter Bonstetten! Du wirst daher dein« 
kleine Heise wohl allein machen mäßen. 



4 

Er fahrt in den Morgenstunden fort, seine 
Werke mit mir zu lesen. Jetzt sind wir bei den 
Naturbetrachtungen. "Ich lese laut, und 
wo es einer Erläuterung bedarf, giebt er mir 
dieselbe mit der Klarheit und Präzision , die 
ihm in so hohem Grade eigen ist. Lange ver- 
weilten wir gestern bei der Weidenraupe (Pha~ 
leena Cossus. L.J und dem von Lyonnet dar- 
über geschriebenen Werke , mit welchem ich bei 
dieser Gelegenheit zuerst bekannt wurde. Die 
Entstehungsgeschichte dieses Buches ist merkwür- 
dig. L y o n n e t , der mit der brennendsten Lei- 
denschaft für die Naturgeschichte , ungewöhn- 
liche Beharrlichkeit, hohe Ruhmbegierde und 
scharfen Beobachtungsgeist verband, nahm sich 
vor, eine ganz neue Bahn zu betreten, und ein 
"Werk aufzustellen , welches in jedem Betrachte 
einzig wäre. . Er verfiel zuerst auf die Blatt- 
läuse; dann auf die Polypen: aber, durch eine 
der wunderlichsten Launen des Zufalls , wurde 
bei jenen Bonnet sein Nebenbuhler, und bei 
diesen Trembley. Nun kam es darauf an, 
einen Pfad ausfindig zu machen , der, durch die 



5 



auf demselben vereinigten Schwierigkeiten , ihn 
* vor jedem Folger sicher stellte. Er erreichte 
diesen Zweck durch die Zergliederung der Wei- 
denraupe. Aber kein Zeichner wollte die dazu 
nöthigen Tafeln übernehmen, weil Lyonnets 
Forderungen zu übertrieben schienen, als dafs 
nicht ein jeder dadurch hätte zurückgeschreckt 
werden xnüfsen. Er lernte daher selbst zeich- 
nen, und brachte es in kurzer Zeit so weit, 
dafs er im Stande war , die unglaublich schwe- 
ren Zeichnungen mit einer Feinheit und Ge- 
nauigkeit auszuführen, die alle Künstler und 
Kenner in Erstaunen setzte. Da es ihm mit den 
Kupferstechern gieng wie mit den Zeichnern, 
und auch kein einziger von ihnen sich Geschick- 
lichkeit genug zutraute, dem viel verlangenden 
Manne Genüge zu leisten, so lernte er auch 
diese Kunst , und brachte es bald zu jenem ho- 
hen Grade von Vollkommenheit, der die Kupfer- 
tafeln zu seinem Werke vor allen ahnlichen 
auszeichnet: Lyonnets Bildnifs verdiente die 
Unterschrift: Man kann was man will, mit 
mebrerem Rechte, als die Figur jenes längst 



8 

hene Hindernisse die Herausgabe desselben ver- 
eitelten. Der große Ha Her iheilte ihm bei- 
nahe alles mit , was er in einem Zeiträume von 
25. Jahren beobachtete, entdeckte, berichtig- 
te, widerlegte und veranlagte; zum Beispiele, 
seine Entdeckungen über die Generation , Nach- 
richten von den Salzwerken in Bex, Darstel- 
lungen der Versuche die Sümpfe im Gouverne- 
ment von Ai gl e auszutrocknen, und eine Menge ' ***** 
anatomischer, physikalischer, historischer, und 
moralischer Untersuchungen. 

Der Briefwechsel mit dem schwedischen Na- 
turforscher von Geer begann im Jahre 1746. 
und der mit du Hamel, dessen Physik der 
Bäume {Sonnet allen seinen Schülern , zur 
Entwickelung und Uebung ihres Beobachtungs. 
geistes , sehr angelegentlich empfiehlt , im Jah- 
re 1750. 

Spallanzanis Briefe enthalten die Resul- 
tate seiner wichtigsten Versuche, welche Bon- 
net, wie dessen Antworten darthun, gröfsten- 
theils veranlagte. 

InMerians Briefen vereinigen sich Gelehr« 



3 

samkeit, Geschmack, Scharfsinn, und Schön- 
heit der Diktion,. 

Sulzer, derBonnets persönliche Bekannt- 



schaft Auf' seiner Reise nach Nizza machte, 
schrieb ihm von dorther einige Briefe voll po- 
litischer, naturhistorischer und philosophischer 
Bemerkungen , die alle mit dein Stempel der 
Wahrheit und Menschenliebe bezeichnet sind. 

Merkwürdige Fremde sind seit einigen Tagen 
nicht hier gewesen, wohl aber einige junge Rei- 
sende, denen ich's anzumerken glaubte, dafs ' 
sie lieber ins Kaifeehaus gegangen wären, als 
zum Weisen von G e n t h o d ; die denn aber doch 
dem Despotismus der Mode , das Antlitz jedes 
berühmten Mannes anzustaunen , dessen Woh- 
nung nicht allzuweit von der Landstraße abliegt, 
sich hatten unterwerfen müfsen. Unmöglich kann 
ich der Versuchung widerstehen, dir das Frag- 
ment eines Gesprächs, zwischen Bonnet und 
einem dieser .Herren mitzutheilen, welches aber 
.einer kurzen Einleitung bedarf. 

Ich war vor drei Tagen in Genf und afs an, 
einer Wirthstafel. Ein junger Engländer, der 



10 

bei mir saß und den ich bald für einen von den 
Storchen in J-.es sin gs Fabel erkannte, denen 
es selten einfallt , auf ihren Zügen sich um et- 
was anders , als um die Topographie der Frosch* 
graben zu bekümmern, fragte mich nach Bon- 
nets Wphnung. Auf meine Erkundigung, ob 
er Bonnets Werke gelesen habe ? antwortete 
er: Nein, die kenne ich gar nicht; aber sein 
Name steht hier auf meiner Liste. Mit diesen 
Worten öffnete er seine Schreibtafel , wo fol- 
gendes Verzeichnifs Genfischer Merkwürdig- 
keiten zu lesen war: 

i. Das Portal der Peterskirche. 

2. Die Vereinigung der Arve und Rhone. 

3. Das Naturalienkabinet des Herrn yon 
S a u s s ü r e. * 

4. Herr Bonnet. 

5. Herr $ourrit. 

Da Sie noch nichts von seinen Werken ge- 
lesen haben, fuhr ich hierauf fort, so rathe ich 
Ihnen in den Buchladen zu gehen und sich et- 
was davon zeigen zu lassen ; zum Beispiele die 
Na turbe trachtungen. Lesen Sie einige Kar- 



II 

pitel dieses Werks, und Sie werden dann nicht 
nur weniger verlegen seyn, wenn er Ihnen etwa • 
die Frage thun sollte , ob Sie mit seinen Schrif- 
ten bekannt sind, sondern überdem auch noch 
sehr viel Wohlgefallen an dieser Lektüre finden. 

Er dankte mir für diesen Ratb , den er zu 
befolgen versprach und verliefs mich, nachdem 
er den Namen von Bonnets Wohnort sorgfäl- 
tig in sein Taschenbuch eingetragen hatte. 

Gestern Nachmittags, als Bonnet eben 
Schach spielte, wurde ein Fremder eingeführt, 
den ich sogleich für den Mann von gestern er- 
kannte. Bonnet empfieng ihn mit der herzli- 
chen und zuvorkommenden Gute , die Du an 
ihm kennst , und nothigte ihn auf den Sopha, 
Nachdem der Faden des Gesprächs durch die 
gewöhnlichen Formeln, von wannen? und 
wohin? angesponnen war, that Bonnet die 
Frage an ihn: 

„Sie haben sich wahrscheinlich auch mit der 
spekulativen Philosophie beschäftigt ? •' 

Der Fremde. Nein, das nicht; aber ich 
habe gestern alle Ihre Werke gesehn. 



'12 

Bonnet. Gesehen? — Hier hielt er etwas 
inne, fuhr aber in der Meinung, der Fremde, 
der das Französische sehr schlecht sprach , habe 
sich im Ausdrucke geirrt, sogleich fort : Nun, 
es würde mich freuen, wenn meine Schriften 
von einigem Nutzen für Sie gewesen wären. 
Hat vielleicht irgend etwas darin einen vorzug- 
lich lebhaften Eindruck auf Sie gemacht? 

DcrFremde. Ja, das sind besonders die Glet- 
scher ; denn sie sind ganz- vortrefiich natür- 
lich, ( ' excellens naturels , war sein Ausdruck.^) 
Man braucht kein Oedipus zu seyn, um hier 
sogleich zu errathen , dafs er im ßucbladen 
Bourrit, der auch auf seiner Liste stand, mit 
Bonnet verwechselt, und man ihm daher des- 
sen Alpenreisen gezeigt hatte, worin die Kupfer 
seine Aufmerksamkeit wahrscheinlich am stärk- 
sten angezogen haben mochten. Bonnet merkte 
den Irrthum sogleich, und es war mir rührend, 
wie er , anstatt die Verlegenheit des Fremden 
(hundert andre hätten dies an seiner Stelle ge- 
than) zu einer pikanten Scene zu benutzen, mit 
einem unbeschreiblichen Ausdrucke von Güte 



x 3 
und Schonung y dem Gespräche plötzlich eine 
andre Wendung gab und ihn nach seiner Hei- 
math > seiner Familie , ja sogar nach seinen Hun- 
den und Pferden fragte. 

Solche Züge, die beim ersten Anblicke un- 
bedeutend scheinen, sind es hauptsächlich, wo- 
durch Plutarch ein so warmes Leben und eins 
so tauschende Darstellung in seine Biographien 
brachte, dafs Timoleon, Dion und Philo- 
pömen, uns nicht wie Geisterscheinungen aus 
dem grauen Alter thume vorschweben , sondern 
wie vertraute Bekannte , mit denen wir Jahre 
lang in Einer Stadt oder unter Einem Dache 
wohnten, lebendig vor uns dastehen. Nach al- 
lem was wir in den Denkwürdigkeiten des S o- 
krat'es lesen, wäre dieser Weise, bey ahnli- 
cher Veranlaßung, einer solchen Schonung nicht 
fähig, gewesen ; und welche bittre Spottlauge 
ergofs nicht Voltaire über jenen Reisenden» 
dem man aufgeheftet hatte, alles was geschrien 
ben und gedruckt sey, habe V o 1 1 a i r e geschrie- 
ben und drucken lassen, und der sich, weijl 
Roll ins alte Geschichte die einzige Lektüre 



«4 

war , dereii er sich iioch erinnerte , in dieser 
Voraussetzung, mit folgender Anrede bei ihm 
einführte: „Ich habe mit eben so vielem Nutzen 
„ als Vergnügen Ihre alte Geschichte von R o 1- 
j,lin gelesen". 

Du kennst Bonnets warme Vaterlandsliebe, 
und wie das wechselnde Steigen und Sinken der 
Republik Genf, welche seit seiner Geburt al- 
lein neunmal durch innerliche Unruhen erschüt- 
tert wurde, ihn bald mit der tiefsten Wehmath 
bald mit der lebhaftesten Freude erfüllt; es be- 
wegte mich daher innig, als er neulich, bei Wie- 
dererblickung seiner Vaterstadt, die er seit vie- 
len Jahren nicht gesehen hatte, und wohin ihn 
wichtige Geschäfte riefen, in die Worte de« ster- 
benden Paolo Sarpi ausbrach : Estoperpetua l 

B o n n e t hört mich sehr gern von Deutsch- 
land, am liebsten aber vom grofsen Fried« 
rieh erzählen, den er verehrt und von dessen 
häuslichem Leben er durch seinen Freund M e- 
rian ziemlich viel weifs. Er pflegt ihn entwe- 
der mit dem Cäsar, dem er hauptsächlich da- 
rin am nächsten kommt, dafs er nie Zeit ver* 



'5 

lor, öder, Hoch passender, besonders in Absicht 
der Höhe, zu welcher ein an sich mittelmäßi- 
ger Staat durch ihn sich aufschwang, mit dem* 
Epaminöndäs eu vergleichen» 

Wir haben Herrn Volney, in den Abend- 
stunden bei Madame B o n n e t , mit immer wach- 
sendem Interesse auf seiner Reise durch Syrien 
und Egypten begleitet, und ihn vor einigen 
Tagen mit Bedauren am Ziele seines Laufs ver- 
lassen. 

Wir glaubten hier nicht, wie bey Savarys 
Briefen der Fall war , ein rosenfarbnes Feen-* 
mährchen aus den Tausend und Einer Nacht 
zu lesen , sondern die männliche Erzählung ei- 
nes mit Scharfsinn, Beobachtungsgeist und allen 
nöthigen Vorkenntnissen ausgerüsteten Reisen- 
den , dem Wahrheit und getreue Darstellung 
heilig sind* 

Jetzt haben wir die Korrespondenz des Kö- 
nigs von Preussen mit Voltaire angefangen. 
Kaum hatten wir einige Briefe gelesen, als wir 
wie aus Einem Munde ausriefen : Wie tief steht 
Voltaire unter Friedrich! Dies bestätigte 



i.6 

sieb immer mehr) je weiter wir vorrückten. Wel- 
che niedrige Schmeicheley, welcher kleinliche 
Gernwitz, welche seichte Raisonnements in V o h 
taires, hingegen welches erhabene Selbstge- 
fühl; welcher 'Adel des Ausdrucks , welche Blitze 
des Genies in Friedrichs Briefen! 

Ich bin spätstens in acht Tagen in Nion. 
Hoffentlich bist du dann schon wieder zu Hause. 
Gedenke mein am Fufse des Suchet und in der 
Grotte von Montcherand. Vale et bene 
rem gere. 



'Zwevter 



*7 



Z w e v t e r Brief. 

Bex t 7. Jul. 1788. 

Ganz unvermuthet fand ich hier deinen Rei- 
segefährten durch Italien, Herrn S***. G***. 
mit seiner Familie, der mich sehr freundschaft- 
lich einlud, ihn Morgennach dem Anzindas, 
einer der höchsten Alpentriften des Kantons 
Bern zu begleiten. Unter dem Vorwande der 
Ermüdung zog ich mich bald in mein Zimmer 
zurück > um noch ein paar einsame Stunden zur 
Erzählung meiner Reise durch das Charaouny- 
Thal zu gewinnen. Es kommt mir hierbei sehr 
zu Statten, dafs es für dich, dem Vertrauten 
der Alpen, nur flüchtiger Umrisse bedarf; denn 
mehr kann ich heute nicht versprechen. Möch- 
test auch Du endlich jenes Allerheiligste betre- 
ten, in dessen Vorhofe Du wandelst; da hat 
die Natur , in einem engen Öezirke , Wunder 
zusammengedrängt, wovon jedes für sich allein, 
die mühvollste Wanderung durch Steppen und 
Sandfelder belohnen würde. 

B 



*■• 



*8 

Ich verließ Genthod am 3. Jul. um in Genf 
zn übernachten. Hier fand ich einen Gefährten 
an Herrn F***. aus London. Wir miethe- 
ten einen Wagen bis Sallenche und traten 
am folgenden Morgen unsre Reise an. Wir ka- 
men durch Chesne, dem Grenzdorf e der Re- 
publik Genf; und nun wurden bei jedem Schrit- 
te die Ansichten größer , mannich faltiger und 
anziehender. Die Formen der Berge verwan- 
delten sich, wie durch einen Schlag der Zau- 
berruthe ; so dafs ich anfänglich weder den Mole 
noch den Saleve wiedererkannte. Die egyp- 
tische Pyramide, deren prachtvolle Abendbeleuch- 
tung uns so oft von der Terrasse von Genthod 
entzückte, wird zum. weit hingedehnten durch 
mehrere Thäler unterbrochenen Bergrücken ; und 
die Felsenmauer,. welche sich, wie eine unüber- 
steigliche Schutzwehr, hinter Genf erhebt, ver-» 
schmälert sich zum kolossalischen Denksteine ei- 
nes -nordischen Heldengrabes. Hinter dem Dorf« 
Kontamine läuft der Weg auf dem hohen 
Ufer der Arve, an steilen Felsenreihen, durch 
«ine Landschaft hin, wo Anmut h und Erhaben-; 



*9 

. heit so magisch abwechseln , dafs , bei jeder 
Biegung des Weges, sich eine neue Schöpfung 
zu entfalten scheint. Ueber Bonneville, 
dem Hauptorte von Faucigny, wo wir an« 
hielten , erhebt sich , senkrecht abgeschnitten 
gleich dem Saleve, der hohe Kalkberg Bre* 
zon> an dessen Fuße die Arve vorbeiströmt. 
Etwa eine Stunde hinter Klüse kommt man 
bei der Grotte von Balme vorbei, deren Ein* 
gang wir hoch am steilen Felsen erblickten. Herr 
von Saussüre war der erste Naturforscher 
der diese merkwürdige Höhle untersuchte, die 
von den hiesigen Landleuten für ein Werk der 
Feen gehalten wird. . Einer grauen Sage nach 
liegt ein unermefslicher Schatz darin verborgen, 
worüber ein schwarzes, immer waches Unge- 
tiiüm, das nur durch Reliquien und geweiht* 
Kerzen eingeschläfert werden kann, zum Wach* 
ter bestellt ist. Das Hinaufklettern zu dieser 
Höhle schien mir, nach allem was der Augen« 
schein lehrte , wenigstens eben so gefahrvoll und 
beschwerlich zu sejm, als Tourneforts Nie« 
derfahrt in die Grotte von Antiparos-; und 



c 



20 

da wir üb er dem nickt früh genug von Genf . 
abgereist waren und Sallenche noch errei- 
chen mufsten, so thaten wir um so williger auf 
dies Abentheuer Verzicht. 

Nicht weit vom Dorf Magiah überraschte 
uns plötzlich der Wasserfall von Arpenaz, den 
wir noch weit entfernt glaubten. Er setzt mehr 
durch seine außerordentliche Höhe, als durch 
seine Fülle in Erstaunen. Es ist keine donnernde 
Wassersäule, deren gewaltiger Sturz Felsen höhlt, 
sondern ein leichtes Silberband, das in sanften 
Wallungen an: der grauen Steinwand flattert und 
sich unten in tausend zarte Faden auflöst. Ich 
verweilte lange bei (diesem schönen Schauspiele, 
das, meine Seele in einen Zustand versetzte, wo 
Zukunft und Vergangenheit sich allmählich wie 
in Nebel verloren j und nur die Gegenwart mich 
freundlich umfieng. 

Wir kamen gegen Sonnenuntergang in S a 1- 
1 e n c h e an ., wo der Montblanc, der auf der 
ganzen Reise von andern Bergen bedeckt wird, 
sich uns auf einmal in der Glorie des Abend- 
lichts darstellte. Die Atmosphäre, war dunst- 



ZT 

frei und wolkenlos; wir genossen daher dieses 
Anblicks in seiner höchsten Schönheit. Was wir 
bei Nion vom Montblanc erblicken, scheint 
mir jetzt kaum die Hälfte der ungeheuren Masse 
auszumachen,, deren Scheitel bei Sallenche 
in den Regionen der Sterne zu glänzen und kaum 
noch unserer Erdkugel anzugehören scheint. 
Hier gedachte ich des Mannes, der zuerst die- 
sen höchsten Gipfel der alten Welt, in dessen 
feinerm Luftkreise, so weit unsere Jahrbücher 
reichen, vor ihm noch kein Sterblicher athmete, 
nur von zwey Gefährteu begleitet, mit seltner 
Kühnheit erstieg. Es ist so schön, in der mo- 
ralischen wie in der physischen Welt, auf einer 
Stelle, wohin man nur mit Noth und Mühe gelangt, 
zuerst gestanden zu haben. Sollte selbst , wie 
hier der Fall zu seyn scheint , für die Gesell- 
schaft kein unmittelbarer Vortheil daraus ent- 
springen; so erschüttert doch ein solches Bei- 
spiel von Kühnheit, Beharrlichkeit und Selbst- 
* vertrauen, mit elektrischer Gewalt, jede dafür 
empfängliche Seele; bringt manche große That 
zur Vollendung und stärkt den Glauben an 



Menschenvermögen, sobald Kraft und Wille in 
richtigem Verhältnisse gegen einander stehen. 

Wir machten noch einen Besuch bei Herrn 
Bakler d'Albe, einem französischen Land« 
schaftsmahler, der sich hier niedergelassen hat 
und von Zeit zu Zeit die umliegende Gegend 
bereist, um d^Tnierkwurdigsten Alpenansichten 
aufzunehmen. Er nähert sich der gefälligen und 
leichten Manier des Herrn Brandoin in Ve- 
vay, und wir sahen verschiedene Stücke bei 
ihm, unter andern den Eingang der Höhle von 
Balme, die für die Zukunft keinen gemeinen 
Künstler versprechen. Ich kaufte hier das 
Bildnifs des Doktors Bakkard, welches die 
schickliche Unterschrift aus dem Klaudian führt : 
Scandit inaccessos brumali sidere monttiZ 

Wir mietheten Maulthiere für uns und un- 
sre Führer , und reisten am 5 Jul. mit anbre- 
chendem Tage weiter. Die Nacht hatten wir, 
theils wegen der schlechten Betten , theils we- 
gen der unglaublichen Menge von Mäusen, völ%? 
lig schlaflos zugebracht. 

In der wilden und schrecklich erhabenen Ge- 



23 

gend, durch welche wir nun eine Zeit lang hin- 
gezogen waren , rührte uns der Anblick eines 
kleinen spiegelklaren , von den schönsten Bäu- 
men überschatteten Sees, dem, auf der einen 
Seite, ein mit Epheu und Moos bekleideter Fel- 
sen und auf der andern eine frisch blühende 
Wiese zur Einfassung diente, tojebhaft, daß 
uns diese liebliche Erscheinung nicht anders- vor- 
kam, als eine, von Geisterhänden, gleich der 
santa casa , durch die Luft geführte und in 
diese Wildnifs eingesenkte Landschaft aus Ely- 
sium. Die Wirkung, welche dies reitzende Email* 
le - Gemähide in einer Gegend hervorbringt, wo 
alles den Charakter des Furchtbaren, Feierlichen; 
Unermefslichen und Grausenvollen trägt , ist un- 
beschreiblich. Wir wurden, wie von unsichtbarer 
Macht, an die lichthelle Fluth hingezogen und ruh- 
ten im Schatten der Bäume, die sich im eigentlich- 
sten Verstände darin malten ; denn kein Lüft- 
chen bewegte die Oberfläche des Wassers. Um 

4§I0 stärker wurde bald nachher unsre Seele beim 
Anblicke der wilden Arve erschüttert, die sich 
hier mit fürchterlicher Wuth über ungeheure 

. Granitblöcke herabwälzt. 



Der Gegenstand, welcher unsre Aufmerksam- 
keit, auf dem Wege von hier nach dem Dorfe 
Servoz, am meisten beschäftigte, war ein ho- 
her Felsen, der, gleich einer vertikal gestellten, 
sehr breiten Schieferplatte , emporragte. Das 
ist der Rest eines Berges, der vor etwa vierzig 
Jahren einstürtt*. Der Staub der sich unauf- 
hörlich gegen einander zermalmenden Felsen- 
stucke stieg in so dicken Wolken empor, dafs 
die Luft weit umher davon verfinstert wurde. EinU 
ge Tage dauerte diese Scene des Schreckens, Die 
Einwohner der umliegenden Gegend flohen ; 
und da einige auch Flammen , im schwarzen 
Rauch, wofür sie diesen Staub hielten, erblickt 
haben wollten, so drang das Gerücht von der 
Entstehung eines Vulkans in Kurzem bis nach 
Turin. Nur erst durch den Naturforscher 
Donati, den der König zur Untersuchung 
des Phänomens an Ort und Stelle sandte, wurde 
man von dieser Furcht befreit. Dumpf bräu- 
send wälzt sich durch die Ruinen dieses Ber-^ 
ges ein schwarzes Waldwasser. 

Nicht weit vom Dorfe Servoz, wo wir Mit- 



*5- 

tag gehalten hatten, zeigte uns unser Führer 
die Reste des Schlosses St. Michel, von wel- 
chem er mit sehr feierlichem Ernst, einige Wun- 
dergeschichten erzählte , die der Bearbeitung 
eines Hamiltons oder Mus aus nicht un- 
werth gewesen waren. Er empfand es sehr 
übel , daß Herr F * *. • ihre Wahrheit zu ber 
zweifeln schien und brach plötzlich den Faden 
seiner Erzählung ab. x Vergebens baten wir ihn 
wieder fortzufahren; er blieb mürrisch und ein«» 
silbig , bis eine Flasche Wein das gute Verneh- 
men zwischen uns wieder herstellte. 

Der Eintritt in das Thal von Chamo uny 
war für mich der Eintritt in eine Zauberwelt. 
Ewig wird der prächtige Gletscher von Tako- 
nay, den wir zuerst erblickten, meiner Ein- 
bildungskraft vorschweben. Als wir uns dem 
Gletscher von Buisson näherten, begegnete 
uns ein Bauer , der sich erbot uns hinaufzu- 
führen. Wir liefsen daher unsre Maultbiere 
bei einem an der Strafse liegenden Bauern- 
hause., stiegen zwischen Lerchenbäumen und 
Tannen empor, pflückten am Rande des ewi- 



/ 

> 



z6 

gen Eises das schöne BJiododendron , und be- 
traten hierauf den Gletscher selbst, der vom 
Montblanc sich herabsenkt und mit grünli- 
chen, völlig durchsichtigen Pyramiden besetzt ist. 
Nicht ohne Gefahr übersprangen wir einen Spalt 
von unabsehbarer Tiefe und giengen bis zum 
entgegengesetzten Ufer des Gletschers , wo ein 
bequemerer Pfad als der erste, uns wieder berg- 
unter führte. Es war schon ziemlich spät, als 
wir in Prieure, dem Hauptorte des Thals, 
ankamen. 

Die Reise nach dem Montanvert wurde 
auf den folgenden Morgen festgesetzt. Grofs 
war unser Schrecken, als wir beim Erwachen, 
anstatt der hohen Granitobelisken , welche sich 
hinter den Gletschern erheben, nur graue Wol- 
ken erblickten, die tief über das Thal hinzo- 
gen. Bald raubte uns der herabstürzende Re- 
gen den letzten Rest von Hoffnung den Mont- 
anvert zu sehen, weil mein Gefährte, drin- 
gender Geschäfte wegen, seine Abwesenheit von 
Genf auch nicht um einen einzigen Tag ver- 
längern konnte. 



% 7 

Ungeachtet des Regens giengen wir indessen 
doch nach dem Ursprünge des Arveiron. 
Wie von der Hand eines Architekten regelmäs- 
sig gewölbt , erhebt sich eine Grotte von kla- 
rem , smaragdgrünem Eise , deren Eingang mir 
wenigstens 50« Fufs Höhe zu haben schien. Aus 
dieser stürzt sich mit unbeschreiblicher Wuth 
der Arveiron hervor. 

Wir besuchten den Doktor Pakkard, der 
uns seine Reise nach dem Montblanc sehr be- 
scheiden und einfach erzählte. Er scheint wei- 
ter gar keinen Werth auf dies kühne Unterneh- 
men zu legen , und behauptete , daß jeder an- 
dre mit gleichen physischen Kräften, eben so gut 
als er den Gipfel dieses Berges hätte ersteigen 
können. /Jetzt arbeitet er an einem Werke über 
die Gletscher , welches die Resultate seiner 
vieljährigen Untersuchung über die Entstehung 
derselben enthalten wird. Von einem Manne , 
der am Fufse der Gletscher lebt und sie in je« 
der Jahrszeit beobachten kann , läßt sich mit 
Recht etwas befriedigendes über diesen wichti- 
gen Gegenstand erwarten. Ich erhielt von ihm 



• 



*8 

ein Stuck grünen Schörl, das er vom Mont« 
blanc mitgebracht Latte, zum Andenken. 

Die Einwohner von Chamouny haben sehr 
viel Eigentümlichkeit in Sitten und Charakter. 
Die Männer beschäftigen sich ausschliefsend mit 
der Gemsenjagd, dem Aufsuchen der Krystalle 
und dem Herumführen der Fremden ; alle übri- 
gen Arbeiten der Hauswirt bschaft und des Land- 
baues fallen den Weibern an heim. Seitdem dies 
Thal so stark von Reisenden besucht wird, ha- 
ben die Einwohner von Prieure eine Art von 
feinem Ton anzunehmen gesucht , der gegen 
ihre natürliche Rustizität sehr drollig absticht. 
Sie überhäufen die Fremden mit Höflichkeiten 
und Schmeicheleien, und man ist erstaunt, aus 
dem Munde dieser rauhen Bergbewohner oft 
sehr feine und gewählte Ausdrücke zu hören. 
Es ist nun etwa ein halbes Jahrhundert, dafs 
der Berühmte Pokock das Thal von Cha- 
mouny zuerst besuchte. Da waren die Ein- 
wohner zwar wild und rauh wie die sie umrin- 
genden Berge ; aber Sittenreinheit und Bieder- 
treue wohnten in ihren unbekannten Hütten. 







2 9 

Traurig ! daß auch zu diesem harmlosen Volke 
Gold und Laster den Weg fanden. 

Der Regen liefs gegen Mittag nach. Wir 
bestiegen unsre Maulthiere wieder und nahmen 
unsern Weg nach der Tete noite, einem 
Berge über welchen eine Strafse nach Wallis 
führt. Wenn man das Thal von Chamoürtjr 
verläßt, kommt man, nach Uebersteignng * ei- 
nes Berges^ in eine der schauervollsten Einö- 
den , wo nur nackte Felsen furchtbar gen Him- 
mel starren und herabgestürzte Granitblocke 
weit umher verstreut liegen. Man horte nichts, 
«ls das dumpfe Tosen ferner Waldströme und 
das Kreischen der Adler, die hoch über uns 
die grauen Felszacken umschwebten. 

Mitten in dieser Wildnifs , wo wir nichts we- 
niger als menschliche Wesen anzutreffen vermu- 
theten > sahen wir, in einer von der Hand der 
Natur gewölbten Nische , drei weibliche Ge- 
stalten um ein Feuer herumgelagert. Sie tru- 
gen Mützen und Mantel von Schaafpelz > welche 
ihnen ein äußerst groteskes Ansehen gaben ; 
auch unterließ Herr F * *. beim Anblick 



V»,» 



3« 



i 
j 



Dritter Brief. 

Rolle, 17. Mäy. 1789. 

vv enn es deine Geschäfte irgend gestatten, lie- 
bet Bonstetten, so komm doch morgen her- 
über, den Genufi einer neuen Bekanntschaft 
mit mir zu theilen > die ich gestern in der Abend* 
ges ellschaft bey Madame R o g u i n machte. Ein 
kleiner, etwas starker Mann von feurigem Blick 
und blühender Gesichtsfarbe , stand am Fenster 
und blätterte in einem Bache. Mein Nachbar > 
bei dem ich mich nach dem Namen dieses Frem- 
den erkundigte , gab mir zur Antwort : Dafs er 
aus England sey> und Chan dl er heifse; 
.Vielleicht der ncmliche C h an dl e f der die Reise 
durch Griechenland und Klein-Asien ge- 
than hat ? fragte ich Weiter ; hierüber konnte mir 
aber niemand Auskunft geben. Ich wandte mich 
daher an ihn selbst und erfuhr zu meiner Freude, 
dafs er mit dem Herausgeber der parischen 
Marmorchronik , der griechischen Sieinschrif- 
ten 



33 

fr 

ten und der jonischen Alterthümer , nur Itfne 
Person ausmache. Es schien ihm nicht unan- 
genehm zu seyn, jemand anzutreffen, der in 
ihm auch den Gelehrten und berühmten Reisen- 
den kannte t worauf er im P a y s deVaud, wo 
die Reverdils und Levaden seltene Er« 
scheinungen sind, nicht hau/ig rechnen darf. Ein 
Beckfort erlangte dadurch, dafs er sein Gold 
mit vollen Händen auswarf, in diesem Lande 
einen Namen, der viele Jahre an den Thee- 
nnd Spieltischen der Seestädte fortleben wird ; 
den berühmten Gibbon hört man hingegen nur 
selten nennen , und wenn es geschieht, so weif* 
man gewöhnlich nichts anders von ihm zu er- 
zählen , als dafip er das Französische besser aus- 
spreche wie die meisten seiner 'Landsleute, und 
den Damen Artigkeiten sage. 

c • 

Wir machten den Weg von Rolle nach' 
A t h e n in wenigen Augenblicken ; und ungeach- 
tet der Menge meiner Fragen, ermüdete C h a n d- 
lers Gefälligkeit doch nicht, sie alle umständ- 
lich zu beantworten. Du weifst, wie oft es 
mein Wunsch war, einmal einen Manschen zu 

G 



34 

finden , der jenen heiligen Boden betreten hätte. 
Um mir eine recht anschauliche Idee von der 
Lage und dem Umfange von Athen zu geben, 
führte er mich ans Seeufer und deutete mir 
dort alle Distanzen , nach nahen und fernen 
Häusern , Bäumen und Anhöhen an. Ein Baum 
auf einer etwas entfernten Höhe war die Akro- 
polis und eine in den See laufende Landspitze 
derPiräus. Er bezeichnete mir auch die Ent- 
fernung, in welcher Sa 1 am in sich ungefähr 
von hier zeigen würde, und schilderte mit vie- 
ler Lebhaftigkeit die Aussicht vom Hymettus, 
die er für eine der reitzendsten und mannichfal- 
tigsten der Welt erklärt. Welch ein Unterschied 
zwischen dieser Darstellung nach der Natur , 
und jener Darstellung nach Kopien , welche 
Paw in seinen Untersuchungen über die Grie- 
chen von eben dieser Aussicht geliefert hat ! 

Der Tempel der Cybele beySardes, war 
nach Ghandlers Meinung eines der ersten 
Meisterstücke der Baukunst , und hätte eben so 
der Kanon der Architekten zu heifsen verdient, 
wie Polykjiets berühmte Statue der Kanon der 



35 

Bildhauer genannt wurde. Chishull sah 
noch das vollständige Portal dieses Tempels , 
das jonischer Ordnung war und acht Säulen an 
der Vorderseite hatte. Nur fünfe derselben, d*- 
ren Kapitaler von unbeschreiblicher Schönheit 
waren, fand Chan dl er noch aufrecht. 

Ich begleitete ihn nachher in seine Wohnung, 
um Villoisons Ausgabe des venetianischea 
Codex der Ilias zu sehen. Er hatte die Güte 
mir dies Werk auf einige Tage zu leihen und 
machte mich besonders auf eine Stelle in den 
Prolegomenen aufmerksam, wo Villoison der 
Tzakoner, welche er die rlelvetier Griechen- 
lands nennt > Erwähnung thut. , Sie sind Ab- 
kömmlinge der alten Spartaner und woh- 
nen zwischen Näuplia und Epidaurus, auf 
wilden und steilen Gebirgen in drei Ortschaf- 
ten vert heilt, welche bisher allen Geographen 
und Reisebeschreibern unbekannt geblieben wa- 
ren. Sie sind gutmiithig, bieder, arbeitsam, 
gastfrei, muthvoll, robust, und bringen, ohne 
Krankheiten und Aerzte , ihr Leben oft bis auf 
hundert Jahre. Merkwürdig ist es , dafs sich in 



36 

ihren Gebirgen noch viele dorische Wortfor- 
men erhalten haben, die selbst den übrigen 
JNeugriechen unerhört vorkommen. So sagen 
aie zum Beispiel , xaicoc für koch?) , duigct für 
9M€£oe, iof>v£ 9 ßgovroi, oqyii. 

Wir kamen bei dieser Gelegenheit auch auf 
Popem Homer; und ungeachtet der partei- 
ischen Vorliebe der meisten englischen Gelehr- 
ten für alles was auf ihrem Grund und Boden 
gewachsen ist > gab Chandler doch zu, dafs 
Pope sich gröblich an diesem Barden versün- 
digt und ihm seine ganze Homerheit ausge- 
sogen habe. Robert Woods Versuch hält 
auch er für das treflichste , was jemals über den 
Homer gedacht und geschrieben worden ist. 
Auch von Seiten des moralischen Charakters 
jchildert er W o o d als einen der vorzüglichsten 
.Menschen. Er hatte ein sehr leises Gefühl für. 
das Schöne, und umfafste das Große und Gute 
mit daurender Wärme. Die Gesellschaft . der 
Dilettant!, auf deren Kosten die Reise nach Grie- 
chenland unternommen wurde , zählte auch 
iWpod unter ihre Mitglieder; und er war es, 



3* 

der die Instruktion für Herrn Chan dl er und 
seine zwey Reisegefährten Revett und Pars 
entwarf, auch die jonischen Alterthümer mit ei- 
ner Vorrede begleitete. 

Was mich mehr als alles übrige für Chand- 
ler einnimmt , ist seine Anspruchlosigkeit und 
sein offenes und naturliches Wesen. 

Von allen merkwürdigen Gegenständen sei- 
ner Reise , mochte ich , nach dem Parthenon, 
keinen lieber gesehn haben , als die prächtigen 
Ruinen des Apollotempels bey Ura unweit Mi- 
letus» deren Beschreibung einen äufsem leb- 
haften Eindruck auf mich machte. Gegen Abend 
breitete sich eine Ziegenheerde mit lautenden 
Schellen über die majestätischen Trümmer aus 
und kletterte zwischen den Marmormassen und 
ungeheuren Säulen umher. Das Ganze ward 
von der sinkenden Sonne mit den reichsten Tin- 
ten beleuchtet, und in der Ferne glänzte das 
ruhige Meer. 

Ich habe Herrn Chandler schon vorläu-' 
fig nach Nion eingeladen , weil ich wünschte 
dafs auch* Herr Reverdi) seine Bekanntschaft 
machte. 



58 



Vierter Brief. 

St. Cergue, ai. Aug. 1789. 

Der Regen kerkert mich hier ein. Gluckli- 
cherweise war gestern der Himmel unbewölkt 
und die Ferne heiter. Du hast Recht ! es ist 
kaum möglich , sich etwas prachtvolleres in der 
Natur zu denken , als die Centralkette der AI* 
pen, deren höchste Gipfel alle nur Satelliten 
ihres Königs , des Montblancs , zu seyn 
scheinen, der in ihrer Mitte sich erhebt, und 
dann , am Fufse dieses Amphitheaters 9 den un- 
geheuren Halbmond des Lern ans, den man 
von Genf bis zum Einflüsse des Rhodans, 
sammt allen seinen Uferstädten und Buchten > 
mit Einem Blicke übersieht. Die Aussicht vom 
' Rigi mag vielleicht reicherund mannichf altiger 
seyn ; aber das Auge schweift dort unstät in 
einem Labyrinthe von Seen und isolirten Berg- 
gipfeln umher , ohne einen Ruhepunkt zu fin- 
den: Hier hingegen erschienen alle einzelne 



59 

Theile in harmonischer Vereinigung zu Einem 
großen Ganzen. 

Ich habe eine ziemliche Menge von Alpen- 
pflanzen zusammengebracht , unter denen ei- 
nige von so hoher Schönheit sind , dafs sie ei- 
ner poetischen Beschreibung eben so würdig 
wären , als die Gentiana lutea und das 
'Antirrhinum alpinum in Hallers Alpenge- 
dichte. Wie sehr würde manches malerische 
Gedicht durch ähnliche Schilderungen an Lokal- 
interesse und Originalität nicht gewonnen ha- 
ben ! Freilich sind unsre Dichter beinahe ge- 
zwungen, sich nur auf Veilchen, Rosen, Nel- 
ken, Jasmin und Lilien einzuschränken, weil 
oft die lieblichste Blume einen so barbari- 
schen und unedlen Namen führt , dafs ihre 
Nennung den guten Geschmack beleidigen wütj 
de ; so wie sich denn überhaupt nicht leicht 
etwas platteres und geschmackloseres denken 
laust , als die meisten deutschen Blumenna- 
men. Es wäre daher ein wahrer Gewinn für 
die Dichtkunst, wenn man schicklichere und 
edlere in Umlauf zu bringen suchte. .Viel« 



könnte man aus dem Linnäischen Systeme 
entlehnen , andere aus der französischen Flora 
des Ritters von Lamark oder aus dem Eng* 
tischen übersetzen, und noch andere selbst er* 
finden. Wie sich Teufelsabbisse , Stiefmutter ; 
Gauchheile , Hahnenfüße , Hunger - und Gän- 
seblumen in Kl eist's Frühling wohl ausneh- 
men würden? Nur erst nach einer solchen Na- 
menreform dürften wir vielleicht auf ein di- 
daktisches Gedicht über die Botanik rechnen , 
worin ein guter Kopf Gelegenheit hätte , alle 
.Talente , womit die Natur ihn ausstattete , zu 
üben und glänzen zu lassen: Denn welcher 
Stoff könnte wohl anziehender , mannichfalti- 
ger, neuer und wahrhaft poetischer seyn, als 
die Haushaltung der Pflanzen nach dem Sexual- 
systeme? Da würden sich dem Dichter die lieb- 
lichsten Mythen zu ovidischen Verwandlungen) 
die erhabensten Naturansichten zu thomsoni» 
sehen Gemälden und die gefälligsten Scenen 
der Hirtenwelt zu theokritischen Idyllen , in 
1-eitzender Abwechslung , darbieten. Wie stark 
der Anblick einer Lieblingsblurae die Seelft 



rubre, >und wie lebhaft insonderheit auf die 
Einbildungskraft wirke , das wissen alle dieje- 
nigen, bei denen die Pflanzenkunde zur Lei- 
denschaft wurde. Daher geht zuweilen , wie 
Linnäus bei der Beschreibung der Andro- 
meda polifolia in der Flora von Lappland, so* 
gar der ruhigprüfende Forscher in den Ton des 
begeisterten Dichters über. 

Ich fand hier Hallers Gedichte, und las 
mit neuem Vergnügen die Alpen wieder. Du 
weifst, dafs ich einer der wärmsten Verehrer 
dieses Gedichts bin , und doch kann ich den 
Wunsch nicht unterdrücken : Ein Mann von 
entschiedenem Dichterberufe möchte sich noch 
einmal an diesen großen Gegenstand wagen, 
weil , nach meiner Ueberzeugung , bei weitem 
der gröfste Theil der Alpenwelt für die Poesie 
tooch terra incognita ist. Ein solches Werk 
wäre keinesweges eine Dias nach dem Ho- 
mer. Aber der Mann, welcher diesen küh- 
nen Flug beginnen wollte , müßte , mit Hal- 
lers poetischem Genie und naturhistorischen 
Kenntnissen , auch Klopstocks Sprach gewalt 
und Lessings kritisches Gefühl verbinden* 



4* 



Fünfter Brief. 



Lausanne, n. Okt. 1789* 

Die Vorstellung des nahen Abschiedes von dir, 
mein Bonstetten, verläßt mich keinen Au- 
genblick mehr. Ich werde deinen Verlust dopr 
pelt fühlen, in jenem fremden Lande , wo man 
vielleicht' mein Herz noch weniger verstehen 
wird , als meine Sprache. Nur durch Arbeit 
hoffe ich den Schmerz der Trennung zu mil- 
dern; denn Arbeit ist das einzige untrügliche 
Mittel, nach einem unersetzlichen Verluste wie- 
der ruhig und zufrieden zu werden. Ich will 
alle in mir liegende Kräfte aufbieten , um etwas 
hervorzubringen, das die Dunkelheit zerstreue, 
die meinen Namen umgiebt. Vielleicht strebe 
ich nicht vergebens. Wo ist der Mensch von 
.einigem Gefühl , in dessen Seele der Wunsch 
nicht wenigstens einmal recht lebhaft geworden 
Wäre, noch bei der Nachwelt fortzuleben, oder 
doch wenigstens nicht, mit dem letzten Schau- 
felwurfe auf den Sarg , von den Zurückbleiben- 



r 



4s 

den vergessen zu werden ? Jener Romer liefs 
sich an der Landstraße begraben, und auf sei- 
len Denkstein setzen: „Man hat den Lollius 
9> bieher gelegt, damit die Vorübergehenden ihm 
„zurufen: Lollius lebe wohl!" 

Ich war gestern bei Gibbon. Sein Aeufse- 
res hat viel Auffallendes. Er ist grofs und von 
starkem Gliederbau ; dabei etwas unbehülflich in 
seinen Bewegungen. Sein Gesicht ist eine der 
sonderbarsten physiog nomischen Erscheinungen, 
Wegen des unrichtigen Verhältnisses der einzel- 
nen Theile zum Ganzen. Die Augen sind so 
klein, dafs sie mit der hohen und prächtig ge- 
wölbten Stirn den härtesten Contrast machen; 
die etwas stumpfe Nase verschwindet fast zwi- 
schen den stark hervorspringenden Backen , und 
die weit herabhangende Unterkehle macht das, 
an sich schon sehr längliche Oval des Gesichts 
noch frappanter. Ungeachtet dieser Unregel- 
mäßigkeiten hat Gibbons Physiognomie einen 
suis erordentlichen Ausdruck von Würde, und 
kündigt, beim ersten Blicke, den tiefen und 
scharfsinnigen Denker an. Nichts geht über das 
geistvolle Feuer seiner Augen« 



44 

Gibbon hat ganz den Tön und die Manie« 
ren eines abgeschliffenen Weltmannes; ist kalt- 
liöilich ; spricht das Französische mit Eleganz" 
und hat , ( ein wahres Phänomen bei einem Eng- 
länder) fast die Aussprache eines Parisergelehr-r 
ten. Er hört sich mit Wohlgefallen und rede( 
langsam, weil er eine jede Phrase sorgfähig zu 
prüfen scheint, ehe er sie ausspricht. Mit im- 
mer gleicher Miene unterhält er sich von ange- 
nehmen und unangenehmen Dingen, von frohen 
und tragischen Begebenheiten, und sein Gesicht 
verzog sic*h , so lange wir beisammen waren , 
ungeachtet er veranlafst wurde, eine sehr drollige 
Geschichte zu erzählen, nicht ein einzigesmal zum 
Lächeln. In seinem Hause herrscht die strengste 
Pünktlichkeit und Ordnung. Seine Leute müfsen 
ihre Geschäfte beinahe zur bestimmten Alinute 
verrichten , oder sie laufen Gefahr verabschie- 
det zu werden. Er giebt ihnen aber auch selbst 
das Beispiel. Sein Tag ist eingetheilt ) wie der 
Tag des angelsächsischen Königs Alfred. Mit 
dem Glockenschlage geht er an die Arbeit, zu 
Tische und in Gesellschaft , und bleibt in kei: 



45 

ner von ihm abhängenden Lebenslage eine Mi« 
nute langer , als die festgesetzte Tagsordnung 
es gestattet. Ein Friseur wurde verabschiedet 
weil er einige Minuten nach 7 Uhr kam. Sein ' 
Nachfolger stellte sich, um mehrerer Sicherheit 
willen, etwas früher ein und hatte gleiches Schick« 
sali Nur der dritte > der mit dem Glockenschlage 
in die Hausthür trat, wurde beibehalten. 

Gibbon arbeitet gegenwärtig am Katalogu 
seiner Bibliothek , die sehr reich an kostbaren 
Werken, besonders aber an trefiiehen Ausgaben 
der Klassiker ist, und überhaupt für' eine der 
vorzuglichsten Privatbibliotheken gehalten wird> 
die je ein Gelehrter zusammenbrachte. Das er* 
Jte Werk , womit er als Schriftsteller auftrat , 
schrieb er j noch sehr jung, in französischer Spra- 
che. Er sagte mir, es sey so selten geworden, 
dafs man diese wenigen Bogen kürzlich in einer 
Auktion bis auf zwey Guineen heraufgetrieben 
habe. In den Ruinen des Kapitols faTste er zuerst 
den Gedanken, die Geschichte des Verfalls un4 
des Umsturzes der römischen Monarchie zu schrei« 

* 

ben; und er hat mit männlicher Beharrlichkeit 



46 

eine der mühvöllsten Laufbahnen zurückgelegt; 
die jemals ein Schriftsteller betrat. 

Unser Gespräch gierig bald von der altengli- 
schen Literatur, worin er eine vorzügliche Stärke 
besitzt, zur deutschen über. Gibbon, ei- 
ner der gröTsten Literatoren unsrer Zeit, dem 
nichts entgangen ist, was England, Frank- 
reich, Italien und Spanien, fast in jedem 
fache des menschlichen Wissens , vorzügliches 
aufzuweisen haben, verriethvon der Geschichte 
unsrer Sprache und Literatur nur sehr einge- 
schränkte Kenntnisse. Von den deutschen Nach- 
bildungen alter Sylbenmafse hatte er nie etwas 
gebort. Bei dieser Gelegenheit führte er Al- 
garottis Abhandlung über den Reim an , wo- 
rin , mit gänzlicher Uebergehung der Deut- 
schen, nur die verunglückten rjexameterver- 
suche der Engländer, Franzosen und Ita- 
liäner aufgezählt Werden. Dies veranlagte 
mich zu einem kurzen Abrifs der Geschichte 
der deutschen Sprache und ihrer schnellen Aus- 
bildung , den ich mit der Nachriebt von einer 
detitschen Odyssee schloß, wo der Uebersetzer 



41 

nicht nur das Metrum und die Verszabl dfes Ori- 
ginals , sondern in vielen Hexathetern sogar die 
Sylbenfüfse desselben wiedergegeben habe. Mein 
Gedächtnifs war tnir getreu genug, um die bey- 
den berühmten Verse vom Steinwälzen des Si« 
s y p h u.s , aus dem eilften Gesänge der Odyssee, 
griechisch und deutsch hersagen zu können^ 
Aaa pxfoi^oyra ntKw^toy a/u^oTg^rf/y l 
Einen schweren Marmor mit grofser Gewalt fort- 
gebend. 
Avrts trtttra, fri&ov&t kv\lv$vto Xococs avixiöljy 
Hurtig mit Donnergepolter entrollte der tückische 

Marmor. 
Trotz seiner Unkunde der deutschen Spra- 
che, mußte er doch, durch das blofse Gehör, 
vom Meisterbau dieser beiden Hexameter über- 
zeugt werden. Ich bin nicht im Stande, sein 
Erstaunen, nach mehrmaliger Anhörung dersel- 
ben, zu schildern. Er bekam plötzlich eine so 
hohe Meinung von der Ausbildung unsffer Spra- 
che, und den Riesenschritten unsrer Literatur, 
wie er sich ausdrückte, dafs er den Entschluß 
fafste, bey mehrerer Mufse, sogleich deutsch 
zu lernen. Ich hoffe, Du werdest, bei erster 



48 

Gelegenheit, diesen merkwürdigen Mann per« 
sönlich kennen zu lernen suchen. Bei ihm sieht 
man die ausgewählteste Gesellschaft und die in* 

r 

teressantesten durchreisenden Fremden. Ich um* 
arme dich mit ganzer Seele, 



Sechster 




As 



• Sechster Brief. 

Lyoh, 10. Nov. 1789. 

Shettstöne hat Recht: HeU quanto minus 
est cum reliquis versari, quam tui meminisse. 
Ich : fand hier die freundlichste Aufnahme, und 
lebe in einer der liebenswürdigsten Familien; 
aber. Du fehlst mir überall; mein Bonstettenf 
Sonst habe ich alle Ursache mit meiner Lage 
zufrieden zu seyn , denn ich . werde . von den 
Menschen, die mich . zunächst umgeben, ganz- 
wie ein alter Bekannter behandelt. Sie verei- 
nigen seltne Geistesbildung mit der reinsten mo- 
ralischen Güte, so dafs ich sie in wenig Tagen 
lieben, und hochschätzen gelernt habe«. Noch 
wohnen wir auf der Paisible, einem schönen 
Landhause am Ufer, der S a o n e , das wir,' Gott- 
lob! erst in einigen Wochen mit der Stadt ver- 
tauschen werden« 

Meine Reise von Genf nach Lyon habe 
ich ohne die geringste Unannehmlichkeit zurück- 
gelegt» Im Fort de l'Eklüse wurde ich zum 



(6° 

Kommendanten geführt , einem eisgrauen Lud- 
wigsritter, den ich beim Essen antra'f. ' Er un- 
tersuchte meine Papiere mit vieler Sorgfalt, und 
sagte beym Abschiede : Sie reisen in ein Land, 
das bald das glücklichste des ganzen Erdbodens 
«eyn wird ! So ernsthaft er diese Worte auch 
aussprach, so war doch der Ton der Ironie da- 
rin unverkennbar. 

Ich war dem Verschwinden der Rhö- 

»ne (la perte du RJione) .zu nahe, um nicht 
der Einladung einiger Bauerknaben , die sich 

.mit großem Geschrei zu Führern antrugen, Ge- 
hör zugeben. Sie nannten diese Na türm $rk Wür- 
digkeit la perdüion du Eltone. Wir stiegen 
einen schmalen Fußpfad hinab, und gelangten 
bald an den Ort, wo sich der Flufs mit furch« 
terlichem Brausen in einen Felsenschlund hin- 
abstürzt, und, in einiger Entfernimg, von ei- 
nem unterirdischen Kanäle verschlungen wird. 
Die Weite dieses unsichtbaren Laufes mag hoch» 

istexks hundert Schritte betragen. Es fehlte mir 
ajt Zeit, den Ort seiner Wiedererscheinung zu 

/besuchen, dessen Zugang man- mk über dem *U 
sehr beschwerlich schilderte. 



^\ 



5* 

Fast bei uUen Dörfern, wo wir durchkamen ^ 
übten die Bauern sich in den Waffen und er- 
hoben ein lautes Jauchzen, wenn wir Urnen zu* 
sahen. In N an tu a sprach ich im Wirthshause 
mit einem alten Soldaten, der den siebenjährig 
gen Krieg mitgemacht hatte. Er war ein war- 
mer Verehrer vom grolsen Friedrich, und 
behauptete unter andern: Daß nur ein solcher 
König im Stande gewesen wäre, Frankreich, 
Ohne Revolution; zum glücklichsten und mäch« 
tigsten Reiche der Welt zu machen. Jetzt aber; 
sey die Revolution ihre einzige Hoffnung, und 
wenn die nicht gelinge, woran er jedoch nicht 
zweifle, so sey alles verloren. v 

Dem See vonNantua habe ich > trotz Mer-* 
ciers Lobrede, keinen Geschmack abgewinnen 
können. Die ihn umringenden Felsen sind so 
nackt und einförmig, daß mir die Ufer des Lafc 
de Joux paradiesisch dagegen vorkommen* 
Das einzige was mich einigermaßen mit dieser 
öden Gegend aussöhnte war eine schöne sehr 
reiche Kaskade bei einer Mühle, unter welcher 
sich: die Landstraße vorbeizieht. ' Ihr Anblick 



-52 

erinnerte mich sehr lebhaft an die Kaskade hei 
St. Saphorin, mit welcher sie allenfalls eijie 
Vergleichung aushält. Das Thal von terdon 
hingegen hat mich entzuckt. Dsr Weg läuft ter- 
rassenmälsig an einem völlig senkrechten Kalk- 

. felsen hin, auf dessen Gipfel eine Kirche, dicht 
am Rande des Abgrunds, aus Bäumen hervor«* 
ragt. \ Zur Linken grünt tief unter der Straße 
ein Thal , durch welches ein Bach schäumt ; 
weiterhin erheben sich .zwei ansehnliche , . mit 
alten Schlössern gekrönte Berggipfel; * Was aber 
das 'meiste Leben, in diese reitzende Landschaft 
bringt * ist ein Wasserfall, der an Höhe den 
eben angeführten weit übertrifft, und sich von 
einem schwärzlichen Felsen, aus dichtem Ge- 

, b fisch, ins Thal herabstürzt. 

Nie wird die Zeit den Eindruck des ersten 

. Anblicks von Lyon aus meiner Seele, vertilgen* 
Man kann sich nichts prachtvolleres vorstellen, 
als die Lage dieser Stadt. Die palastähnlichen 

■ Häuser des Kay von St. Clair wurden eben 
von der Morgensonne erleuchtet, und ein durch- 
sichtiger Duft lag auf der Höhe von Four vi er es. 



53 ' 

- Die ersten Tage 'meines Hierseyns giengen 
damit hin , daß Herr S. * * dessen freundschaft- 
liche Gefälligkeit täglich zunimmt, mich mit 
der umliegenden Gegend und den Merkwür- 
digkeiten der Stadt bekannt machte. Im Gan- 
zen sind die Ueberbleibsel aus den Römerzei- 
ten , in und um Lyon noch ziemlich beträcht« 
lieh. • Vorgestern' fuhren wir nach dem Dorfe 
Chapauneaux ungefähr eine Meile von der 
Stadt, wo noch ßo. Arkaden einer Wasserlei- 
tung stehen,. Am folgenden Tage besahen wir 
die unbedeutenden Reste eines römischen The- 
aters , im Garten des Minoritenklosters , einen 
Wohlerhaltenen musivischen Fufsboden von gros- 
ser Schönheit , ein Taurobolium welches auf 
dem Rathhause aufbewahrt wird, und andre Al- 
terthümer mit deren Aufzählung ich dich nicht 
ermüden will Wir stiegen dann zur Kirche" 
Notre Dame des Fourvieres hinauf, wo ein 
wunderthätiges Marienbild ist, von dessen zahl- 
reichen Kuren die Votivgemälde zeugen , wo- 
mit die Wände der Vorhalle wie mit einer Ta- 
pete bekleidet sind. Der darauf vorgestellten 



54 

Figuren durfte sich der Hofmaler des Kaisers 
von China nicht schämen ; Callot's Karri- 
katuren sind Grazien und Antinousse dagegen. 
Diese Kirche krönt die amphitheatralische An-> 
höhe , auf deren Abhänge ein grofser Theil 
von Lyqn erbaut ist. Von hier übersieht man 
die ganze ungeheure Stadt mit einem Blicke, 
und verfolgt den Lauf der Rhone und Saone, 
bis zur Landspitze, wo s}ch beide Flüsse ver- 
einigen. 

Ich besuchte auch das StaatsgefängniTs Pie- 
re-Encise, wo sich jezt nur wenige Gefangene 
befinden. Es ist besonders durch seine Lage 
auf einem steilen Felsen merkwürdig. Man 
steigt auf einer schmalen Treppe hinan , aus« 
ser welcher kein andrer Zugang möglich scheint. 
Es giebt hier einige Kerker, die wie aus Ei- 
nem Stücke gehauen sind, und aus welchen 
selbst der erfinderische 1 a T ü d e sich schwer- 
lich je wieder an das leicht hervorgearbeitet 
hatte. Auf dem innern Hofe sah ich einen* 
Greis von ehrwürdigem Ansehen, mit langsa- 
men, doch festen Schritten spatzieren gehen > 




55 

dessen ungewotmUche- Gröfse mir; auffiel« Er 
war sauber, aber altmodisch gekleidet. Mehl 
.Führer ermunterte mich ihn anzureden , weil er 
die Unterhaltung liebe. Ich knüpfte daher ein 
Gespräch mit ihm an , das ich , vom schonen 
Sonnenschein und der sonderbaren Lage des 
ßchlosses, bald auf seine Gefangenschaft leitete. 
„ Es sind nunmehr sechzig Jahre „ , sagte er 
mit starker Stimme, „dafs ich nichts sehe, als 
„ diese Mauern , und fünf und achtzig daß ich 
,auf der Welt bin. Vor zwanzig Jahren er* 
„ hielt ich meine Freiheit wieder ; aber es war 
„zu spät, und ich blieb hier oben, wo es mir 
„ nun wohl ist. Weifs ich doch nicht , ob es 
„mir unten eben so wohl seyn würde,,. Nac(i 
der Ursache seiner Gefangennehmung forschte 
ich vergeblich. Nur so viel brachte ich heraus, 
dafs er von vornehmer Herkunft sei, und noch 
jiie eine Frage über den Grund seiner Einkerr 
kerung beantwortet habe. 

Auf dem Rückwege besah ich noch da$ 
Schloß Du eher e, welches dicht vor der Stadt 
auf einer angenehmen Anhöhe liegt, una* wo 



56 

Heinrich IV, einige Tage mit der schönen 
Gabriele zubrachte. 

Nicht weit von der Paisible ist ein Plätz- 
eben, das von der Natur ganz eigentlich zu ein- 
samen Betrachtungen bestimmt zu seyn scheint« 
Drei mit Moos und Immergrün bekleidete Fel- 
senwände , bilden eine Art von Grotte , die 
von Bäumen und Gesträuch überschattet wird 
und in deren Mitte ein Quell hervorsprudelt. 
Durch eine Gebüsch Öffnung erblickt man einen 



Theil der Stadt , und die reich angebauten, mit 
unzähligen Landhäusern bedeckten Ufer der 
Saone. Hier pflegte Rousseau die ni eisten 
einsamen Stunden seines Aufenthalts in Lyon 
zuzubringen. Ihm zu Ehren wird dieser Ort 
seitdem Rousseaus Grotte genannt und 
von den Freunden seines Genius als eine hei- 
lige Stätte betrachtet. Sie glauben , noch an 
einem Baumstamme Spuren eines von ihm ein- 
geschnittenen Namens zu entdecken und auf den 
Steinbanken stehn die Inschriften zu seinem 
Lobe so dicht in einander gedrangt , dafs kaum 
noch ein anakreontischer Vers anzubringen wäre. 



N 



57. 

N ach allem was ich höre, ist der Enthu- 
siasmus für Rousseau, seit einiger Zeit, in: 
Frankreich so hoch gestiegen , dafs man, 
glaube ich , kein Bedenken tragen würde, die- 
heilige O elf Lasche von Rheims, ungeach tet ih- 
res hohen Ranges unter den Natiionalheiligthü? 
rqern, für die Federn hinzugeben , mit weichen- 
der Contra t social geschrieben wurde. Ein 
Stückchen Handschrift von Rousseau wird oft 
so theuer bezahlt, dafs es schon mehr als eine 
industriose Hand versucht haben soll, seine 
Schriftzüge nachzubilden. Falls dies den guten 
Leuten auf der Petersinsel zu Ohren kommt, 
Werden sie es gewifs bereuen , in Rousseau« 
zurückgelassenen Papieren Biskuit gebacken zu; 
haben. 

Ich war gestern im Schauspiel, wo man » 
Zem i r e und A z o r aufführte. Madame d- Her« 
boville, welche die Z e m i r e spielte, ist , we- - 
gen ihrer reinen und richtigen Stimme , mit 
Recht der Liebling des Publikums. Von Seiten, 
ihrer mimischen Talente verdient sie weit we-j* 
niger Lob. Ihr Spiel ist frostig und nicht sei«- 



SS 

ten unnatürlich« Herr St. Au bin wurde als 
Azor so häufig und anhaltend beklatscht, dafs 
er einigem ale , in den langen Pausen , mit sei- 
ner Pantomime in Verlegenheit gerieth. Ein 
junger Schauspieler, der in einer Nebenrolle 
zum erstenmale auf dem Theater erschien, 
wurde ausgepfiffen , weil er nur eine einzige 
Stelle nicht richtig deklamirte. Es ist unglaub« 
lieh , welchen Fleifs ein französischer Schauspie- 
ler auf Deklamation und Aussprache wenden 
xnufs, um nur nicht zu mifs fallen. Für einen 
schlechten Deklamator ist auch in der klein-, 
sten Provinzialstadt keine Gnade zu hoffen. 
Was Wieland von den alten Joniern sagt,, 
pafst ganz auf die heutigen Franzosen: Ihr.. 
Ohr will nicht ergötzt, es will bezaubert, 
seyn. In Deutschland habe ich oft Schau- 
spielern den lautesten Beifall zujauchzen gehört,; 
die beinahe keine Silbe ' richtig deklamirten , 
sondern nur, unter wüthendem Geschrei und 
gräfslichen Kontorsionen, ihre Geberde ver-. 
stellten. Auf einem gewissen Theater , trafen 
sogar einmal der schwäbische, baierische. 



und -österreichische Dialekt in ihrer gan- 
zen Lauterkeit zusammen > und doch erhielt da$ 
Stuck ( eines von jenen dramatischen Unge-* 
heuern, wo der Held im ersten Akte auf dem 
Steckenpferde reitet und im leuten seine Enkel 
segnet und stirbt ) nicht nur den lautesten und 
allgemeinsten Beifall, sondern wurde auch mit 
grofsem Ungestüme zum zweitenmal wieder, 
verlangt. Der Eingang des Lyon er Schau-, 
spielhauses erhielt , auf Voltaires Vorschlag, > 
an den man sich deshalb wandte, nur das Wort:« 
Thedtre zur Ueberschrift. „Schreibt Thea- 
ter über die Thür eures Schauspielhauses „ , 
sagte er dem Abgeordneten, „so weifs man am. 
, ? geschwindesten was es seyn soll „. 

Mein täglicher Spatziergang geht gewöhnlich: 
bis zur Barben -Insel, längs dem Ufer der* 
Saone, Dieser Flufs ist so ruhig und sanft , 
dafs man seine Strömung kaum gewahr wird« 
Er ist beständig mit kleinen Kähnen bedeckt, 
welche man Besehen (Bdsc/ies) nennt und 
auf deren Führung die Weiber ein abschlies- 
sendes Recht zu haben scheinen; wenigstens* 



6o 

sieht man nur sehr selten Mannspersonen in die- 
sen Fahrzeugan rudern. Die Einwohner von 
Lyon bedienen sich gewöhnlich der Besehen, 
um sich nach ihren an der Saone gelegenen 
Landhäusern zu begeben. Man kann sehr be- 
quem darin lesen' und schreiben , und ist durch 
ein Dach von Leinwand gegen Regen und Son- 
nenhitze geschirmt. Die Ufer der Saone sind 
so lachend und so reich an schönen Landhäu- 
sern und Gärten , wie Du mir einmal die Ufer 
der Brenta schildertest. 

Der Paisible gegenüber steht am Gegen- 
ufer ein runder , sehr schlanker Thurm , der 
seit undenklichen Zeiteu TourdelabelleAl- 
lemande genannt wird. Ich forschte verge- 
bens nach dem Ursprünge dieses Namens , der 
mir Deutschen, in einem Lande , wo man, im 
Allgemeinen, von meiner Nation nur ein klein 
wenig mehr weifs , als von den Einwohnern 
vpn Japan, Siam und Kochinchina, al- 
lerdings auffallen mufsten Die Barben- Insel, 
welche, dem Dorfe Sr. Rambert gegenüber, 
mitten in der Saone, liegt, hat eine angej 




6i 

nehme Promenade unter hoben Ulmen und ei- 
. _ ansehnliche Gebäude. Eine alte 

Burg, die hinter Baumwipfeln anfragt, giebt 
ihr von fern ein äuTserst malerisches Ansehen* 
Brandoin hat sie von zwei Seiten aufgenom- 
men. Es ist ein alter Volksgebrauch in Lyoü> 
am Tage nach Pfingsten in Besehen nach die- 
ser Insel zu fahren. Dies Fest , welches die 
Vögüe heißt, lockt beinahe die ganze Stadt 
auf die beiden Ufer heraus > um die zahllose 
Menge von Fahrzeugen zu sehen, Welche den 
Flufs beinahe verbergen. 

Das Licht geht zu Ende , und es ist schein 
sehr spät. Da der Brief morgen früh auf die 
Post muß» , werde ich nichts weiter hinzufügen 
können. Ich erwarte die nächsten Zeilen von 
dir mit heißer Sehnsucht. . Lebe wohl. 



ft 



Siebenter Bkief. 



Lyon , 28. Febr: 1790. 

Nun liegt nur noch ein Monat zwischen dir und 
mir, mein Bonstetten! Unsere Abreisenach 
der Sehweite ist auf einender ersten Apriltage 
festgesetzt. Mit welcher Wonne werdeich den 
See und den Wald von Prang ins wieder er- 
blicken ! Wenigstens acht Tage hoffe ich bey 
dir zuzubringen. 

' Hier erhältst du ein Gedicht, worin ich die 
Sceneri meiner Kindheit zu . schildern versucht 
habe. Ich erbitte mir dein strenges und nn- 
freundschaftlicbes Urtheil darüber. Mir kommt 
es vor ,- als müfse das Ganze durch seine Länge 
ermüden. Brich also nur den Stab über jede 
Stanze die Du weg wünschest. Du weilst ja, 
dafs Pope die Kunst auszustreichen, für eine 
der größten und lobenswürdigsten Künste des 
Dichters erklärt; Swift, um einen jungen 
Dichter recht lebhaft von ihrer Vortreiüchkeit 



63 

zu überzeugen > sandte ihm das Manuskript , 
worüber er ein kritisches Gutachten begehrt 
hatte, statt aller Beurth eilung , von der ersten 
bis zur lezten Zeile durchstrichen, und zwar so 
sorgfaltig durchstrichen zurück , dafs kein Buch- 
stabe mehr vom andern zu unterscheiden war« 

Ueber die gegenwärtige politische Lage uns- 
rer Stadt werde ich dir schwerlich etwas sagen; 
können • das dir Herr B. nicht schon erzähle 
hätte. Ich erinnere mich, seit sehler Abreise, 
keiner Veränderung , die der Mittheilung werth 
wäre. Sie ist immer noch der Sammelplatz der 
Unzufriednen im Lande • und völlig wie ein iso- 
lirtes Rad in der Revolutionsmachine zu betrach- 
ten* Es ist auch wenig Wahrscheinlichkeit vor« 
handen, dals es jemals eingreifen werde. Ly- 
on kann, als Manufaktur-und Fabrikstadt, un- 
möglich eine Staatsveränderung begünstigen , 
die dem fernem Vertriebe der Produkte des 
Luxus so gefährlich zu werden scheint ; und es 
ist daher die allgemeine Erwartung , dafs alle 
Kräfte , die, bis jezt noch im ganzen Königrei- 
che vertheilt, den Ausbruch einer Gegenrevo« 



64 

lution vorbereiten , tfulezt sich hier , zuiri Um- 
stürze des neuen Systems, vereinigen werden. 
Die Liebe zum Könige hat sich beym größten 
Theile der hiesigen Einwohner noch in ihrer 
ganzen Stärke und Lebhaftigkeit erhalten , und 
aufs er t sich in den Kaffehäusern und im Schau- 
spiele ohne den mindesten Rückhalt» Im Sin- 
gestücke Richard Löwenberz erhielt neu- 
lich f bey Gelegenheit der Arie : O Richard > 
o mon Roil Vunivers t' abandonne , die a'p- 
plaudirende Parthey , beyna^ie in der ersten 
Sekunde, über die pfeifende die Oberhand. 

"Wir benutzten den ersten schönen Tag , zu 
einer kleinen Reise nach dem Mont-Cindre, 
einem nicht ganz unbeträchtlichen Berge , von 
dessen Gipfel man die Gegend um Lyon sehr 
weit beherrscht. Wir giengen.in die Klause £i- 
nes Eremiten, der da oben, weit entfernt von 
der Lebensweise eines thebaischen Anachore- 
ten, vielmehr darauf bedacht. ist, in den umf- 
liegenden Dörfern immer gute Bekanntschaf- 
ten , zum Besten seines Wemlagers zu kulti-*- 
yiren; sonst aber ein roher und unwissender 

Mensch 



6 5 

Mensch zu seyn scheint. Bin Bauer in St, 
Cyr, der ihm nicht günstig war , gieng so weit, 
ihn des Lesens und Schreibens für völlig unkun- 
dig zu erklären; wenigstens fanden wir in sei- 
ner Zelle nichts ,. was auch nur ganz entfernt 
auf literarische Unterhaltung hingedeutet hätte. 
Er fragte mit vieler Aengstlichkeit, ob wir noch 
nicht vernommen hätten, was die Natiönalvef* 
Sammlung über seine Klause beschlfefsen werde, 
oder vielleicht gar schon beschlossen habe; er 
schwebe in täglicher Furcht , daraus vertrieben^ 
und dadurch in das sündhafte Weltleben zu- 
rückgeworfen zu werden. 

Ich habe nun auch , seit meinem Aufenthalte 
in der Stadt, häufige Gelegenheit gehabt, meine 

* 

bisher ganz falschen Ideen über den Gesell- 
schaftston der F r a n z o fre n zu berichtigen. Ei- 
nen höhern Grad von Feinheit und Politur, 
hat gewifs noch keine Wation seit den ./Cthenien- 
sern erreicht. Vor einiger Zeit war ich zum; 
Abendessen beim Herrn von St. Leger wo die 
Gesellschaft aus zwei hiesigen Domherren oder 
Graferf von Lyon , einem Marqute,' einem 

E 



66 

Seeoffizier und verschiedenen andern Herren 
vom guten Tone bestand. Ich folgte dem Gan- 
ge der Unterhaltung mit grofser Aufmerksam- 
keit , und fand durchgängig, dafs keiner dieser 
Herren, unaufgefordert, sich selbst zum Hel- 
den seiner Erzählung machte, welches bei Leu- 
ten ohneMenschenkenntnifs und feine Erziehung 
gewöhnlich der Fall ist ( / the littlc hero of euch 
tale ) sondern , so oft als möglich , die Persön- 
lichkeit desjenigen darin verwebte, zu dem er 
sprach. Auf die Ausübung dieser ersten Regel 
des Weltlebens wird überhaupt wohl in keinem 
Lande mehr gesehen alsinFrankreich; und 
derjenige Reisende , der bei der Unterhaltung 
mit einer Dame das Hauptinteresse des Ge- 
sprächs nicht allein auf sie zu fixiren sucht, 
sondern vielmehr auf seine Angelegenheiten, 
Verbindungen , Amüsements und Reisege- 
schichte* lenkt , darf sicher darauf rechnen, 
als ein Mensch ohne Erziehung ( ours mal 
lechS ) höchst langweilig erfunden zu werden, 
und wären seine Schicksale wunderbarer als 
Klimm s und Gullivers Abenteuer zusam- 
mengenommen. 



67. 
Im Umgänge mit dem andern Geschlechte, 
herrscht eine bis zum skrupulösen getriebene 
Decenz. Einem Frauenzimmer beim Bewillkom- 
mungs - oder Abschiedskomplimente die Hand zu 
küssen , wurde hier für eine eben so große 
Verletzung der Anständigkeit gebalten werden , 
als in Deutschland, unter denselben Um« 
ständen , ein Kuß auf den Mund. Wer im 
Feuer des Gesprächs sich so weit vergäße, 
seine Hand vertraulich auf den Arm einer Dame 
zu legen , mit der er in keinem andern , als 
dem gewöhnlichen Assemblee - oder Soireever- 

• 

hältnisse stände, wurde sich als ein Homme 
familier > ( welche Benennung zu den erniedri- 
genden gehört) dem Verdachte aussetzen, sich 
in einer Schule gebildet zu haben , die man in 
keiner honetten Gesellschaft nennen darf. Wo- 
von diese übergewissenhafte Scheinvermeidung 
das Resultat sei > weiß jeder Welt - und Men- 
schenbeobachter. 

Ein junger Kiinstgott hat seit kurzem , mit 
Hülfe des Zaubers den die Grazien in seine- 
Füße legten, einen magUchen Kreis um das 



68 

ganze Lyon er - Publikum hergezogen > in 
•welchem er eine so unumschränkte Alleinherr- 
schaft ausübt , dafs das Wort Nationalver- 
sammlung höchstens nur noch in den Win- 
kein unberuhmter KafFehäuser oder in den 
Werkstätten der Handwerker ausgesprochen 
wird; ich meine den Tänzer Vestris, der seil 
acht Tagen die Bewunderung der Stadt und der 
ausschließende Gegenstand aller Unterhaltun- 
gen geworden ist. Der Zu drang ist so grofs , 
dafs , man r schon um zwei Uhr im Komödien- 
hause seyn mufs, um einen Platz zu bekommen. 

• 

Ich war da als er das letztemal, tanzte und kann 
mir den Enthusiasmus des Publikums nun eini- 
germaßen erklären : Es ist beinahe unmöglich , 
nicht von der Anmuth> Leichtigkeit und Har- 
monie seiner Bewegungen zur Bewunderung 
hingerissen zu werden. Man sieht keinen St erb« 
liehen mehr, sondern einen, aus Aetherstoff 
gewebten, für höhere Regionen bestimmten Syl- 
phen. Er schien drtsmal sich selbst übertreffen 
zu Wollen. Kaum hatte er . geendigt , als von 
allen Seiten Kränze und. Gedichte auf das Thea- 



ter geworfen wurden,. und, nach dem wüthend-. 
sten Händeklatschen, aus dem Parterre die Auf- 
forderung an ihn ergieng: Lyon noch nicht 
zu verlassen , sondern wo möglich noch einmal 
auf der Bühne zu erscheinen. Er trat hierauf 
selbst hervor und dankte mit edlem Anstände, 
für den unverdienten Beifall des all er verehr-, 
ungswürdigsten und allergeschmackv ollsten Pub- 
likums ; wurde aber in die gröfste Verzweifn 
lung versetzt , die schmeichelhaften Wünsche 
desselben nicht befriedigen zu können , weil der 
Hof ihm die Verlängerung seines Urlaubs ver- 
weigert habe. 

Yestris hat einen überaus feinen und 
schlanken Wuchs und etwas einnehmendes v\ 
seiner, übrigens nicht schonen Gesichtsbildung. 
Seine Einfachheit, und Bescheidenheit im Um- 
gange, kontrastfrt auffallend mit dem eiteln und 
hochtrabenden Wesen seines Vaters, der , bei 
Gelegenheit vo,n Voltaires letztem Aufenthalte 
in Paris , in einer Gesellschaft sagte : Nur drei 
grofse Männer leben jetzt in der Welt : Ves tris, 
Voltaire, und der König von Preufsen; 



7° 

auch seinem Sohne > als dieser noch Knabe war, 
zuweilen den Fuß , mit den Worten zum Küs- 
sen hinreichte : Küsse diesen unsterblichen Fuß, 
der Himmel und Erde bezaubert. 

Vor einiger Zeit sähe ich Glucks Iphige* 
nia in Aulis aufFühren. Der Totaleindruck 
dieses erhabenen Meisterwerks ist unbeschreib- 
lich , und ich erinnere mich, aufser Handels 
Messias, keine Musik gehört zu haben, die 
mich tiefer durchdrungen hatte. 

Was Tbeaterkabale vermag, wenn sie geho* 
rig geleitet wird , davon giebt es wohl kein 
frappanteres Beispiel , als die Art , wie man 
diese Iphigenia die jetzt alles entzückt und 
hinreifst, bei ihrer ersten Vorteilung in Paris 
aufnahm ; sie fiel , gleich dem Machwerke des 
untersten der Midasenkel. Ah ! Iphiginie est 
tomböel sagte Gluck voll Verzweiflung zu ei«* 
nem Freunde. Ouidu Ciell antwortete dieser; 
und ein wahreres Wort wurde nie ausgesprochen. 



7* 



Achter Bris f. 

Nion, a. Aprill. 1790. 

* » 

Ich schreibe dir aus dem grünen Kabinete, wo 
ich seit gestern wieder im Anschaun des Sees 
und des Montblancs lebe. Warum fand ich 
nicht auch den geliebtesten und vertrautesten 
meiner Freunde ? Nach deinem letzten Briefe 
glaubte ich dich schon vor zwei Tagen von 
Bern zurück und erhalte nun die Nachricht 
dafs Du, neuer Geschäfte wegen , erst den Tag 
nach Ostern hier seyn kannst. Deine Ankunft 
erwarte ich gewifs ; aber schwerlich werden wir - 
dann länger als zwei Tage beisammen leben, 
weil die Zeit meines Bleibens in Nion sehr 
beschränkt ist. Ich werde bis dahin Spatzier« 
gange nach Gent ho d und Rolle machen, 
und alle Plätze besuchen, welche cje Freund- 
schaft geheiligt hat. 

Gestern Abends war ich noch auf Promen- 
t o u , wo ich mir in völligem Ernst meine 



7* 

Grabstätte gewählt habe , falls ich in dieser 
Gegend sterben sollte. Du liefspst dann nur 
einen einfachen Sandstein mit meinem Namen 
hinlegen und einige Pappeln umherpflanzen , 
ut die an t preetereuntes: Vale. Der Abend 
war schön und das Gegenufer prächtig von der 
untergehenden Sonne beleuchtet. Der Anblick 
von Tbonon und Ripaille erinnerte mich 
lebhaft an unsere Seefahrt nach Evian, wo wir 
iu der Kapuzinerkirche Horazens brundusi- 
che Reise lasen , und der Prinz von P. der eben 
am Fenster stand , als unsre Barke vom Ufer 
stiefs, drohend den Finger gegen dich erhob, als 
Du es wagtest dein Fernglas gegen ihn zu rieht 
ten ; welchen Frevel Du bald nachher , durch 
den Verlust dieses lieben Andenkens von dei- 
nem Gray zu theuer büfsen mufstest. Nie 
werde ich des großen Anblicks der Felsen von 
Meillerie vergessen, unter welchen wir im 
Mondlichle vorbeifuhren und wo wir den schö- 
nen Plan entwarfen , eine Zeit lang in Ti- 
voli oder auf der Insel Nisida ganz den Wis- 
senschaften zu leben. 




75 

Ich brachte einen Theil dej heutigen Vor- 
mittages beim Grafen Gor ani hin , von dessen 
Umgange mich sein düsteres und menschen- 
feindliches Wesen bisher entfernt hielt , und 
den auch Du , wie ich glaube, immer nur im 
Vorbeigehen sähest. Ich bin sehr zufrieden mit 
dieser neuen Bekanntschaft , die ungeachtet ih- 
rer Kurze, besonders wegen mancher scharfsin- 
nigen Erläuterung über verschiedene Kunst« 
werke des Allerthums , äußerst lehrreich für 
mich gewesen ist. Gor ani scheint sich auf sei- 
nen vielen Reisen eine grofse Summe nützlicher 
Kenntnisse erworben , und, besonders über Ge- 
setzgebung und Regierungs formen , viel nach- 
gedacht und gelesen zuhaben. Ueber Italien 
hat er mancherlei, besonders iu politischer Hin- 
sicht gesammelt , welches aber schwerlich vor 
seinem Tode ins Publikum kommen wird. Seine 
Urtüeile über Kunst und Kunstwerke zeugen 
von anhaltendem Studium und reifem Geschma- 
cke. Dafs er, als Italiäner, Sulzers und 
Winkelmanns grofsen Verdiensten volle Ge- 
rechtigkeit wiederfabren läfst, setzt einen, das 



74 

Wahre und Schone überall anerkennenden und 
von kleinlichen Nationalvorurtheilen ungefes* 
selten Geist voraus. Er lernte die deutsche 
Sprache in Magdeburg, wo er sich zur Zeit 
des siebenjährigen Krieges , als österreichischer 
Kriegsgefangener aufhielt 9 und hat unsere be- 
sten Dichter und Prosaisten gelesen. Ich for- 
derte ihn auf, eine Beschreibung seiner marok- 
kanischen Reise bekannt zu machen , welche ge- 
■wifs viel neues und berichtigendes enthalten 
wurde. In Mailand war der Graf Alexan- 
der Veri, von dessen ausgezeichneten Talen- 
ten er mit vieler Wärme sprach , sein vertrau- 
tester Freund , und von dort aus schrieb er 
auch einige Briefe an Bonnet, der ihn in der 
Charakteristik seiner Korrespondenten sehr vor- 
theilhaft schildert. In Goranis Urtheilen und 
Aeulsernngen über die Menschen im allgemei- 
nen, herrscht eine Bitterkeit und Strenge, die 
seine gänzliche Zurückgezogenheit von mensch- 
lichem Umgange begreiflich macht« 

Herr S * * * war beinahe untröstlich , dich 
Sucht anzutreffen. Er setzte heute morgens seine 



TS 

Reise weiter fort, und kann in diesem Augen- 
blicke nicht mehr fern von Vevej seyn. Er 
rechnet sicher auf deinen längst verheißenen 
Besuch. Karl und Eduard haben mir viele 
Grüfse an dich aufgetragen. Lebe wohl ! ich 
zähle die Minuten bis zur Stunde des Wie» 
dersehens. 



*6 

jV 

Neunter Brie*. 

Grandclos , 29. Jun. 1790, 

•Jetzt zur Erzählung meiner Bergreise. Wir 
stiegen im Dorfe Y vorne, unweit Aigle , 
zu Pferde. Der »Weg war anfänglich schön > 
und wand sich zwischen Fichten ''und Cytisus- 
bäumen, deren gelbe Blütentrauben herrlich 
gegen das schwärzliche Grün der Nadelhölzer 
abstachen. Von Zeit zu Zeit erblickten wir 
durch Gebüsch Öffnungen das Rhone- Thal und 
die wilden Schneegebirge von Wallis. Zwei 
Stunden mochten wir etwa bergan geritten 
seyn , als wir einen Ort erreichten , den man 
die Ruinen nennt, und dessen natürliche Be- 
schaffenheit diesem Namen völlig entspricht. 
Der Weg wird beinahe senkrecht , und man 
sieht auf beiden Seiten nichts als abgerifsne , 
hoch über einander gethürmte Felsenmassen. 
Kaum hatten wir diese Oede zurückgelegt , als 
wir uns auf einer Ebne befanden, wo der ganze 



. 77 

Genfer- See. plötzlich tief unter unsern Fafsen 
erschien. Wir verweilten hier einige Stunden in 
einer Sennhütte, wo wir bei den Hirten eine 
freundliche Aufnahme und vortrefliche Milch 
fanden > und setzten hierauf unsern Lauf wei- 
ter fort. Gegen Abend erreichten wir unser 
Nachtquartier. Dies war eine andere Sennhütte, 
am . Fuße zweier majestätischen Felsengipfel > 
von welchen der eine völlig die Form einer 
gedrückten Kuppel hat und Tour de Mayen- 
n e genannt wird. Ich konnte am folgenden 
Morgen der Versuchung nicht widerstehen , die- 
sen Gipfel zu besteigen , dessen Zugänge mir 
von den Hirten als leicht und gefahrlos beschrie- 
ben wurden, und wo ich mir überdem eine herr- 
liche Aussicht auf die. Savoyischen Alpen 
und eine reiche Pflanzenerndte versprach. Ich 
steckte den Linn aus, eine kleine Korbflasche 
mit Wein . und ein Stück Brod zu mir , und trat 
meine Wanderung an. Glücklich erreichte ich 
das Ziel meiner Reise. Die Aussicht übertraf 

r ■ 

meine Erwartungen/ und mein botanischer Ei- 
fer blieb auch nicht unbelohnt. Anstatt nun 



78 

auf dem nemlichen , sehr bequemen Wege wie- 
der zurückzukehren , gab mir ein Dämon ein , 
die mir völlig unbekannte Ostseite des Berges 
zu umgeben , und auf einem andern Pfade wie- 
der zur Sennhütte hinabzusteigen. Gewifs hätte 
ich dies Vorhaben aufgegeben', wenn ich da- 
mals schon gewufst hätte , dafs die Reihe von 
Felsenzacken , über weiche ich mir eine Bahn 
zu eröffnen gedachte , auf der westlichen Seite, 
senkrecht abgeschnitten , einen fürchterlichen 
Abgrund bildeten. Nach einem halbstündigen 
.Wege, der mich zuerst in ein Thal und dann 
wieder bergan führte > befand ich mich vor ei- 
ner ziemlich hohen Felsenwand , welche ich j 
mit Hülfe der in den Ritaen wachsenden Sträu- 
che, ohne grofse Gefahr erkletterte. Nun folgte 
eine sanfte Anhöhe , die mit dem Silene acau« 
lis , wie mit einem Purpurteppich , überdeckt 
war, und wo ich eine Zeitlang ruhte, weil ich 
anfing mich ermüdet zu fühlen. Es war grade 
Mittalg. Nach einer erquickenden Mahlzeit von 
Wein und firod, erstieg ich die Anhöhe, und 
richtete, weil jede Menschenspur verschwunden 



79 

war > meinen Lauf nach der Sonne und der 
Tour de Mayenne, welche der Sennhütte 9 
wo sich meine Reisegesellschaft befand , grade 
gegen Osten lag. Unangenehmer bin ich sel- 
ten überrascht worden, als durch die Wand» 
lung der Scene , die mir jetzo bevorstand. 
Kaum hatte ich den Gipfel der Hohe erreicht, 
als ic,h eine Wildnils vor mir daliegen sah, wo 
nur Schneeflächen sich ausdehnten , die bald 
durch Schlünde bald durch Felsenspitzen unter«* 
brochen wurden , und wo alles vegetirende Le- 
ben , wie an den Grenzen eines Chaos , hin- 
zusterben schien. Da ich es kaum mit ganz fri- 
schen Kräften gewagt haben würde, durch dies* 
schauderhaften Regionen des Winters zu drin- 
gen , so war ich jetzt , da ich schon zu ermati 
ten anfing, um so mehr darauf bedacht unver- 
züglich umzukehren* und den alten Weg wie* 
der aufzusuchen. Aber als ich wieder an die 
Felsenwand zurückkam, sah ich mit Schaudern 
die unüberwindlichen Schwierigkeiten des Her« 
unterkletterns, und einen Abgrund der mir be£m 
Hinaufsteigen nicht halb so beträchtlich ge- 
schienen hatte. 



So 

Es ist auf Berg* eisen, wie Du aus eigener 
Erfahrung weifst , sehr oft der Fall , dafs iriah 
von einer Felswand , die man mit Leichtigkeit 
erklimmte , nicht w r ieder herabsteigen kann , 
ohne seih Leben der augenscheinlichsten Ge- 
fahr auszusetzen. Hier fiel die Unmöglichkeit 
in die Augen. Um nicht in den Abgrund ztf 
stürzen , hätte ich die hervorspringenden Steine 
und Strauche , die mir emporhalfen , g<nän* 
wieder treffen müfseh ; und dies war ol.ne Au- 
gen in den Fufssohleri nicht möglich. 

Zur Rechten und Linken versagten mir 
fürchterliche Klüfte jeden Ausgang ; es blieb 
folglich Rein anderes Rettun^smittel für niicli 
übrig , als die Schnee wüste ; sie allein mufste 
jetzt mein Schicksal entscheiden. Zum zweJ- 
tenmale erstieg ich also die Anhöhe mit dem Pur- 
purteppich y und betrat die daran grenzende 
Winteröde , wo der lockere Schnee das Geheri 
äußerst beschwerlich machte. "Die Mühselig- 
keiten , mit denen ich von dort an zu käm- 
pfen hafte , kann ich nicht mit Wörter* schil- 
dern; aber sie waren so grofs, dafs ich, bei 

einer 



8t 

. 

einer weniger starken Natur, nothwendig darunter 
hätte erliegen müfsen. Oft war ich gezwungen, 
in tiefe, halb mit Schnee angefüllte Abgründe 
hinunterzusteigen , um mit unsäglicher Muhe 
auf der Gegenseite Wieder heraufzuklimmen ; 
und dann hatte ich nach langer , ununterbroche- 
ner Anstrengung manchmal kaum fünf bis sechs 
Schritte für meinen Rückweg gewonnen. Die 
Schienbeine waren mir zuletzt, durch wieder- 
holtes Fallen zwischen den spitzigen Steintrüm- 
mern , geschunden und die Hände wund von 
häufigem Anklammern. Bald vermochte ich vor 
Ermüdung keinen Schritt mehr vorwärts zu thun fc 
Es war halb vier Uhr, 

Bis dahin hatte mich die Hoffnung, einen 
Ausgang zu finden, noch nicht verlassen; jetzt 
aber, 'da meine Kräfte mit jedem Athemzuge 
schwächer wurden, und vor mir die Wüste sich 
immer. noch eben so weit verbreitete, als da 
ich sie zuerst betrat, fing ich an, den Tod als 
den einzigen Befreier aus diesem Labyrinthe zu 
betrachten. Ich trank den kleinen Rest Wein, 
den ich noch sorgfältig geschont hatte , und afs 

F 



8» 

das einzige Stock Brod , welches mir übrig war ; 
eben so fest überzeugt meine letzte Mahlzeit gehal- 
ten zu haben, wie die edlen Spartaner bei Ther- 
mopylä. Fast im nemlichen Momente, da ich 
mich auf den Felsen niederlegte, der mir zum 
Tische gedient hatte, sank ich in' einen liefen 
Schlummer. 

Nun hing das Leben deines Freundes nur 
noch an einem zarten Faden. Die Fortdauer 
meines Schlafes bis nach Sonnenuntergang, war 
bei einer solchen Entkräftung, mehr als wahr- 
scheinlich ; und in diesem Falle wäre ich unfehl- 
bar ein Opfer der Nachtfröste geworden , die 
einen kleinen See dieser Höhen, bei dem ich 
vorbeigekommen war, in jetziger Jahrszeit, noch 
dick übereisten. Auf eine menschliche Hand , 
mich der Erstarrung zu entreißen, durfte ich 
hier eben so wenig rechnen , als in den Wild- 
nissen einer unbewohnten Insel. Ich werde da- 
her das EreigmTs , dem ich meine Rettung danke, 
immer als eines der aufs erordentlichsten mei- 
nes Lebens ansehen. Dem ungefähren Vorbei- 
flüge eines Raubvogels ( der vermuthlich daher- 




83 

um sein Nest hatte) war es vorbehalten, mich 
dir und der menschlichen Gesellschaft wieder» 
zugeben. Mit lautem Geschrei streifte er so 
dicht an mir hin , dafs ich > trotz meines Todten- 
schlummers, davon erwachte. Seiner Stimme 
nach , die ich noch hörte als er schon weit ent- 
fernt war, hielt ich ihn für einen Adler; und 
dies ward mir nachher durch die Versicherung 
eines Gemsenjägers , dafs der Steinadler hau* 
ßg in jenen Felseneinoden niste, noch wahr* 
scheinlicher. Auch die' grosse Eule, welche 
man in Frankreich Grandduc nennt , pflegt 
da im Dunkel tiefer Spalten und Höhlungen 
zu wohnen ; doch war diese schwerlich meine 
Retterin, weil es äufserst selten ist, dafs sie 
vor Sonnenuntergang ausfliegt. Der traumähn- 
liche Zustand, in welchem ich mich beim Er- 
wachen befand, machte mich zu Jeder genauen 
Beobachtung unfähig ; und als ich wieder zu 
mir selbst gekommen war, schwebte der Vo-* 
gel, dessen Stimme mich ins Leben zurückge- 
rufen hatte , schon in einer Entfernung , die. 
mich seine Gestalt nicht mehr deutlich erken- 



84 

nen liefs. Es war 6. Uhr , als ich erwachte. 
Neugestärkt durch den Schlaf , besclilofs ich 
nun, die Entdeckung eines Ausgangs von neuem 
zu versuchen, Nachdem ich mich etwa noch 
eine Stunde lang , mit unbeschreiblicher Mühe, 
durch Schnee und Klüfte fortgearbeitet hatte, 
befand ich mich an dem Bette eines Wald- 
stroms , das noch wasserleer und an einigen 
Stellen mit Schnee angefüllt war. Dieser An- 
blick erhob meinen immer tiefer sinkenden 
Muth auf einmal wieder so mächtig, dafs ich 
mit der freudigsten Zuversicht die Bahn betrat, 
welche das Wasser aus dieser Wildnifs in die 
Ebne leitete , und auch mich hinabfuhren 
konnte. 

Nur sehr langsam wand ich mich , zwischen 
aufgethürmten Felsenblöcken, die bald sanfter, 
bald schroffer , sich neigenden Krümmungen 
des Strombettes hinunter. Nun hörte ich das 
Lauten der Heerdenglocken und den Gesang 
der Hirten wieder. Eine süfsere Musik drang 
nie in mein Ohr, als diese rauhen Töne , mit 
denen der letzte Zweifel an meiner Rückkehr 



tS:» 

zu den Lebendigen aus meiner Seele ver- 
schwand, Der hinter einem Fichtenwalde auf- 
steigende Rauch leitete jetzt meine Schritte, und 
gegen &. Uhr kam ich bei einer Sennhütte an , 
die zwei Stunden von jener entfernt lag , wo 
ich übernachtet hatte. Die Hirten glaubten 
eine Todtenerscheinung zu erblicken, so sehr 
waren alle Ziige meines blassen Gesichts ent- 
stellt. Vierzehn Stunden hatte ich auf dieser 
gefahrlichen Wanderung zugebracht, und wah^ 
rend dieser ganzen Zeit nichts genossen, als 
ein wenig Brod und Wein. Die Hirten schlös- 
sen einen Kreis um mich her, und bewiesen 
mir eine Sorgfalt , die in meiner damaligen 
hülfsbedürftigeu Lage mich doppelt rührte. 
Als ich ihnen den Weg bezeichnete , auf wel- 
chem ich zu ihnen herabgekommen war , ge- 
riethen sie in das lebhafteste Erstaunen, und 
versicherten dafs die Gegend da oben, wegen 
ihrer gefahrlichen Abgründe , weit berüchtigt 
sei, und gewöhnlich erst im August, wiewohl 
nur selten , von den Geinscnjngern besucht 
werde. 



86 

Dies, mein Bonstetten, ist die getreue 
und schmucklqse Parstelltmg meiner letzten. 
Alpenreise. 



■•■p 



87 



Zehnter Brief. 

Lyon, ao. Febr. 1791. 

Nur aus der Schweitz konnten die schönen 
Nachrichten deines letzten Briefes kommen { 
Wie glucklich seid Ihr im Schoofse Eurer Al- 
pen , an welchen jedes Ungewitter sich bricht, 
und wo der Friede noch wohnen wird, wenn 
ganz Europa in Flammen steht! E$ ist eine be- 
glückende Vorstellung , dafs grade der Staat, 
für den keine verderblichere Landplage ge- 
denkbar ist, als der Krieg, den Frieden nur 
ernstlich zu wollen brauche , um ihn auf ewig 
zu erhalten ; oder die Bande seiner politischen 
Verhältnisse mußten denn, durch die unerhör- 
testen Erschütterungen der europäischen Staats- 
systeme, gewaltsam zerrissen werden. 

Lyon ist jetzt vielleicht die einzige grolse 
Stadt in Frankreich, wo man beinahe eben 
so ruhig lebt ^ wie in deinem einsamen Valei- 
re"s., Noch erhielt sie sich von Greuelscenen 



88 

rein, und ihr mittelbarer oder unmittelbarer 
Antheil an dem Fortgange der Revolution , ist 
jetzt noch nicht erheblicher, als im vergange- 
nen Jahre. Die Anstalten zur Erhaltung der 
öffentlichen Sicherheit sind so vortreflich, dafs 
bisher noch alle Versuche der Ruhestörer, 
die Stadt zu vulkanisiren (ein neugepräg- 
tes Wort ) fruchtlos geblieben sind. Uebri- 
gens aber beobachten die Einwohner, um des 
Friedens willen, das Kostüme und ganze Ri- 
tual der Revolution mit strenger Pünktlichkeit. 
Einige tragen neben der Nationalkokarde auch 
noch ein dreifarbiges. Band im KnopHoche, und 
die Elegants vom ersten Range , um dem 
Volke kein Aergerniß zu geben, erhalten es 
über sich, in messingenen Schuhschnallen ein- 
herzugehen, weil Lyon, nach dem Beispiele 
vieler andern Städte, mit den silbernen dem Va- 
terlande ein patriotisches Geschenk ma- 
chen mufste. 

Auch hier ist alles, wie im ganzen Reiche, 
de la Nation , und ä la "Nation. Ein Kerl , 
der die Kunst besitzt, ; , Alle nur mögliche 



r 



89 

„Zeuge, von allen nur möglichen Flecken zu 
„reinigen,,, hat sich den Titel eines ßttgrais- 
seur de la Nation beigelegt. Den Besitzer des 
Hauses auf dem Kay von St. Clair, wo die 
halberhobenen Brustbilder Heinrichs IV, S ü 1- 
lys, Ludwigs XVL und des Grafen von Ar- 
tois über dem Eingange angebracht waren-, 
nöthigte man., letz terra den Kopf wegzuschla- 
gen; und am Hotel de la Reine wurde 
die schwarze Tafel über der Haust!) ür an der 
Stelle durchgesagt, wo das Wort Reine an- 
fing , und dafür Nation mit Rothel auf die 
Mauer geschrieben. Heute treibt sich auch ein 
Hausierer durch die Strafsen , der mit fürchter- 
lichem Gebrüll: Den wahren Balsam ge- 
gen die aristokratische Hundswuth 
feil bietet, welchen Titel eine der zahllosen 
Revolutionsbrochüren führt, die, gleich den 
Ephemeren, am Morgen ausflattern , und nach 
Sonnenuntergänge wieder verschwinden. Frap- 
panter als alles bisher angeführte . ist eine ko- 
lossalische Nationalkokarde , welche man der 
Statue Ludwigs XIV. au/ dem Platze. Bei- 



9° 

lekoirr, an den linken Sehenkel gekittet hat. 
Dies alles aber scheint nicht den mindesten 
Einfluß auf den Gemeingeist der höhern Stände 
zu haben. Ueberhaupt hat sich die Stimmung 
der Gemuther seit dem letzten Winter auf- 
fallend verändert. An die Stelle der leicht ver- 
wundenden Ironie , sind brandmarkende Sar- 
kasmen getreten; und wen man damals , als 
einen Narren und exahirten Kopf, nur ins Toll- 
haus verwies , den verdammt man jetzt > als 
einen raffinirten Bösewicht , zur tiefsten Kluft 
von Gehenna, Besonders ist Mir ab e au einer 
der Haupthelden der täglichen Unterhaltung. 
Man erzählt Handlungen von ihm , die R i- 
chardson , um der Wahrscheinlichkeit zu 
schonen, niemals seinen Lovelace wurde ha- 
ben begehen lassen. Zur Probe will ich nur 
die Geschichte seiner Verheirathung zu Aix, 
worin sein Charakter noch lange nicht im nach- 
theiligsten Licht erscheint, als eine von denen 
herausheben , die man am wenigsten zu be- 
zweifeln scheint. 

Ein Frauenzimmer von unbescholtenem Hufe 



9* 

und vornehmer Familie , war mit einem jungen 
Manne von Stande vetlobt , den sie zärtlich 
liebte. Mirabeau, durch ihren Reich th um 
gereitzt , faßte den Anschlag, sie zur Seinigen 
zu machen , es koste was es wolle. Durch Be- 
stechungen gelang es ihm , ihre Kammerjung- 
fer in sein Interesse zu ziehen; und diese ließ 
ihn eines Morgens in das Schlafzimmer des 
Fräuleins , welche schon aufgestanden war und 
im Garten spazieren ging. Mirabeau legte 
sich, im Schlafrock und mit zerstörter Frisur, 
zum Fenster heraus , und grüfste mit bedeuten- 
der Miene einige Herren von seiner Bekannt- 
schaft , die gegenüber vor der Thür eines 
Kaffeehauses saften. Bald kam er zu ihnen 
herunter und erzählte mit triumphirender Selbst- 
gefälligkeit , dafs es ihm endlich gelungen sei , 
die Sprödigkeit jener Lukretia zu besiegen , aus 
deren Fenster sie ihn eben hätten frische Luft 
schöpfen sehen. Die Lästerchronik verbreitete 
in wenig Stunden die Geschichte durch die 
ganze Stadt. Das Mädchen war vor dem Publi- 
kum entehrt ; der Schein gegen sie ; die Kam- 



9* 

merjungfeiveiiie Nichtswürdige, die sich stellte, 
als habe sie viel zu verschweigen, und der 
Bräutigam zu entrüstet, um genau zu untersu- 
chen. Mirabeau hatte die Stirn, dem Vater 
zu sagen: Er mache sich unter der Bedingung 
anheischig, seine Tochter zur Grafin Mira- 
beau zu erheben, dafs man ihr sämnuliches 
Vermögen auf der Stelle in seine Hände lie- 
fere ; und hoffe übrigens , die Familie werde 
diese Grofsmuth zu erkennen wissen. Der Va- 
ter willigte in Alles , und die arme Unschul- 
dige wurde das Opfer der abscheulichsten , 
Intrigue. 

Diese Geschichte , deren grobe Unwahr- 
«cheinlichkeiten sich dir , ohne mein Hinweisen, 
von selbst aufdringen werden, habe ich, ohne 
die geringste Abänderung, einem Manne nacher- 
zählt, der feierlich versicherte, sich zur Zeit 
ihres Vorgangs selbst in Aix aufgehalten zuha- 
ben. In der zahlreichen Gesellschaft seiner Zu- 
hörer war kein einziger, dem es in den Sinn 
gekommen wäre, die Wahrheit des Faktums 
auch nur eine Sekunde lang zu bezweifeln. 



93 

Ich versäumte noch immer, dir vom Doktor 
Gilibert zu sprechen, einem der geschickte- 
sten hiesigen Aerzle und grofsen Pflanzenkun- 
digen, der mich bei dem Studium der krypto- 
gamischen Gewächse leitete, und dessen ansehn- 
liches Herbarium ich wie mein Eigenthum be- 
nutzen darf. Er war ehemals Leibarzt des KöV 
nigs von Polen und Professor der Naturge- 
schichte zu Wilna, wo Georg Forster 
sein Nachfolger wurde. Eine Flora von Li- 
t hauen, welche er vor einigen Jahren her- 
ausgab , machte seinen Namen zuerst bekannt ; 
auch erwarb er sich viel Verdienst um die 
neueste Ausgabe der für die hiesige Schule der 
Yieharzeneikunde bestimmten Einleitung in die 
Botanik, durch die berichtigenden und erklä- 
renden Zusätze, womit er dies nutzliche Werk 
bereicherte , und welche zusammengenommen 
beinahe einen ganzen Band ausmachen. Mit 
scharfem Beobachtungsgeiste und immer wach- 
sendem Eifer für seine Lieblings Wissenschaft, 
besuchte er die Alpen der Schweitz, und 
drang in einige bisher noch ganz vernachläs- 



94 

sfgte Thaler der Pyrenäen. Sein Herbarium 
besteht ans mehr als dreißig Foliobänden und 
ist besonders durch eine Menge sibirischer 
und astrakanis eher Pflanzen merkwürdig., 
die er seinem Freunde Pallas verdankt. Durch 
seine Humanität und Uneigennützigkeir, hat sich 
Gilibert die Achtung des ganzen hiesigen 
Publikums erworben ; und in den meisten Fa* 
milien , wo er als Arzt gebraucht wird , ist er 
auch Freund und Rathgeber. Mit Herrn Vi- 
tet, dessen unsterbliche Verdienste um die 
Vieharzeneikunde dir bekannt sind , und der , 
nach ihm, für den gröfsten praktischen Arzt 
dieser Stadt gehalten wird , lebt er in der voll- 
kommensten Harmonie. Gilibert, laTouret- 
t e und R o z i e r tragen am meisten dazu bei, dafs 
die Akademie der Wissenschaften von Lyon, 
deren Mitglieder sie sind, sich durch die Zweck- 
mäfsigkeil und Gemeinnützigkeit ihrer Preisfra- 
gen , vor vielen andern, so rühmlich aus- 
zeichnet. 

Meine Liebe zur Kunst des Alterthums, die 
ich dem Mannheimer« Antikensaale und dem 



95 

frühen Stadium von Winkelmanns Werken 
schuldig bin, hält mich oft Stunden lang in der 
Werkstatt des Bildhauers Chinard, der unter 
den Lyon er- Kunstlern unstreitig den ersten 
Rang behauptet. Seine schone und blühende 
Einbildungskraft ist unerschöpflich an neuen 
Ideen , die sich alle durch Einfachheit und 
Originalität empfehlen ; besonders hat er einen 
entschiedenen Beruf zur Allegorie. In Rom 
erschien ihm der Genius der alten Kunst, und 
zeichnete ihm eine Bahn vor, sich der uner- 
reichten Vollkommenheit der Antiken zu nä- 
hern. Nun verweilte er, wie Michael An- 
gelo, Tage lang vor dem Torso des Herku- 
les und hieng mit glühender Schwärmerei am 
Apoll und Laokoon. Seine Gruppe , Perseus 
und Ahdromeda , wovon er mir das Modell 
zeigte , erhielt den damals in Rom ausgesetzt 
ten akademischen Preis und kam nachher in 
das Kapitolinische Museum. Kürzlich hat er 
ein Basrelief von weifsem Marmor vollendet, 
das von hoher Schönheit ist; Es stellt eine 
Umarmung des Eros und der Psyche vor. Ich 



9? 

kann mir kaum vorstellen , dafs diese reitzend$ 
Dichtung, in der blühendsten Kunstepoche Grie- 
chenlands , glücklicher hatte ausgeführt wer- 
den können. Jetzt arbeitet er an einer Mar- 
morgruppe, womit ein reicher Kaufmann seine 
Gattin an ihrem Geburtstage überraschen will. 
Mutter, Vater und Sohn, mufsten darin anger 
bracht werden , und die Wahl eines histori- 
schen oder mythologischen Sujets wurde dem 
Kunstler überlassen. C h i n a r d hatte die glück« 
liehe Idee , nach Anleitung der Begebenheiten 
Teiemach's, die Mutter als Pallas vorzustel- 
len , wie sie mit dem Schilde Amors Pfeil auf- 
fängt , welcher dem Teiemach bestimmt war , 
' der . in der Gestalt des Sohnes, am : Fufs-e 
eines Felsens schlummert. Der Vater ist als 
Ulysses en Basrelief auf dem Schilde angebracht, 
der neben dem Schlafenden auf der Erde liegt* 
Die Aehnlichkeit der drei Figuren soll spre- 
chend seyn: so wie denn China rd überhaupt 
ein glücklicher Treffer ist, wovon vornehmlich 
Gretrys Büste und die Statue eines achtjäh- 
rigen Knaben zeugen, der unter der Figur ei- 
nes 



97 

nes Zephyrs , mit unbeschreiblicher Anmuth , 
eine Rose aufhaucht. # Dieser brave Künstler 
verbindet mit seinen artistischen Talenten, 
ausgebreitete Kenntnisse in der alten und neuen 
Geschichte > und hat seinen Geschmack, durch 
die Lektüre der besten Dichter seiner Nation, 
schon in früher Jugend gebildet. Sein Lieb- 
lingswerk ist Anacharsis Reise, die er 
schon viermal gelesen hat, und , bis zu seinem 
Tode j nach jedesmaliger Endigung immer wie- 
der von vorn anfangen will. Weit entfernt , 
dem Ziele, welchem er zustrebt, sich schon 
nahe zu wähnen > glaubt er im Gegen th eil den 
Lauf dahin kaum noch begonnen zu haben« 
Ihm schwebt ein so hohes Ideal von Vollkom-» 
menheit vor , dafs er bis jetzt noch mit keiner 
seiner Arbeiten ganz zufrieden war, die er über- 
haupt nur als Vorübungen zu Werken betrach- 
tet , wodurch er seinem Namen Dauer bei der 
Nachwelt zu verschaffen hofft. 



G 



98 



ElLFTER B 



RIEF. 



Lyon, 15. März. 1791. 

Hier erhältst du Grays Briefe zurück, die ihm 
eben so viele Ehre machen, als dir. In allen 
herrscht eine Männlichkeit der Empfindungen, 
eine Kraft des Ausdrucks und eine Schönheit 
der Sprache, wodurch sie, nach meiner Ue- 
berzeugung, mit die ersten Zierden von Ma- 
sons Sammlung geworden wären, wenn Du 
ihm nicht ihre Mittheilung verweigert hättest. 
Ich habe die interessantesten Stellen ausgeho- 
ben und sie der Anmerkung zu den Stanzen 
über den Genfersee angehängt, wo Grays 
Erwähnung geschieht. Es machte mir Freude, 
dies Denkmal deines Freundschaftsbundes mit 
einem der treflichsten Menschen, in einem Lande 
aufzustellen , wo er so viele Verehrer hat , 
und wo jeder Freund der englischen Dicht- 
kunst die Elegie auf den Dorfkirchhof 
beinahe auswendig weifs. Das von dir in die- 



99 
sen Briefen gesagte Gute ist ehrender, als eine 
Lobrede von Thomas oder d'Alembert. 
Grays Stärke in der Naturgeschichte > und be- 
sonders in der Entomologie , war mir bisher un- 
bekannt. Was würde ich nicht darum geben, 
das Exemplar des Linnäus, das er mit sei- 
nen Zusätzen bereichert hat , nur einmal zu 
durchblättern ! 

Schwerlich ist wohl seit dem Persius ein 
Dichter durch eine geringere Anzahl von Ver- 
sen berühmt geworden, als Gray; aber er 
geht mit dreißig Blättern eben so sicher den 
Weg zur Unsterblichkeit , als der Polygraph 
von Ferney mit siebzig Bänden. 
'. In Kurzem sehe ich den vertrautesten mei- 
ner Freunde und den Fleck des Erdbodens wie- 
der, wo ich mir am liebsten eine Hütte bauen,, 
und, fern von den Lavastromen und dem Aschen- 
regen politischer Vulkane > nur der Natur , 
den Musen und der Freundschaft leben möchte. 
Ille terrarum mihi prceter omnes angulus ri- 
det. — V^ale et ama. 



J 



IOO 



Zwölfter Br 



i e f. 



Im Kloster auf dem Grofsen St. Beruhard. 

6. Jul. 1791. 

Ich machte die Reise zu dieser höchsten Men- 
schenwohnung der alten Welt zu Fufse und nur 
von meinem Hunde begleitet. Indefs die Chor- 
herren den Moniteur lesen , dessen letzte 
Nummern ich als Reiselektüre zu mir gesteckt 
hatte, will ich dir schreiben, mein Bonstet- 
ten; obgleich ich noch nicht weifs , wann und 
wie Du das Blatt erhalten wirst. Ich wurde 
einen Adler damit absenden; aber dieser stolze 
Vogel (der hier, wo Jupiter ehemals einen 
Tempel hatte , vielleicht noch stolzer ist als an- 
derswo ) verschmäht das niedrige Geschäft ei- 
nes Briefträgers, worauf Anakreons Post-Taube 
sich sogar etwas einzubilden schien. Morgen 
habe ich im Sinn in das Thal von Aosta hin- 
unterzusteigeu , und wo möglich bis zum Tri- 



IOI 



umphbogen des Augustus vorzudringen. 
Der Brief mag indefs im Kloster die erste Ge- 
legenheit nach Mar tinac h erwarten, 

Ich erreichte gestern , um 6. Uhr Abends, 
das letzte Wallisis che Dorf St. Peter, nach 
einer , durch Hitze und Bergansteigen sehr be- 
schwerlichen Tagereise. Wahrend mir ein Ra«? 
gout von MurmelthierHeisch. zubereitet wurde, 
gieng ich hin, den Sturz der Dranfse zu se- 
hen, den, so viel mir bekannt ist, noch kein 
Reisender umständlich beschrieben hat, der aber 
gewifs zu den prachtvollsten Wasserfallen Hel- 
vetiens gehart. Die Gegend umher , erin- 
nerte mich , in ihrer rauhen Erhabenheit , an 
eine der wildesten Landschaften des Salvatör 
Rosa, wo auch ein ansehnlicher Strom, zwi- 
schen. Felsen geprefst % in die Tiefe stürzt, und 
überhangende Steinmassen , eben so wie hier , 
ihm nachzustürzen dröhn. Die Dranfse ent- 
springt aus dem, durch eine ungeheure Eis- 
grotte merkwürdigen Gletscher von Valso-r 
rey, und ergießt sich unweit Martinach in 
die Rhone. Ein Theil meines heutigen We- 



102 

ges führte mich längs diesem reißenden Berg- 
strome durch einige recht malerische Gegen- 
den. Von St. Peter bis zum Kloster steigt 
man drei Stunden. Ich machte mich diesen 
Morgen sehr früh auf den Weg. Nicht weit 
vom Dorfe frappirte mich ein Felsen , der sich 
gleich einem Obelisken aus den Fluten der in 
finstrer Tiefe brausenden Dranfse erhebt , 
und an dessen Seiten das Rhododendron fer- 
rttgineum in ungewöhnlicher Menge blühte. 
Ein Kreutz, welches auf seinem abgerunde- 
ten Gipfel emporragt , vollendete das Ro- 
mantische des Anblicks. Ein sehr liebliches 
Gemmenbild druckte , einige Schritte weiter, 
ein Schmetterling in meine Seele ( ich glaube 
es war der Apollo) der auf der kurzstieligen 
Genziane (Gentiana acaulis L. ) safs und mit 
Wohlgefallen auf dieser prächtigen .Blume zu 
verweilen schien. 

Nun wurde die Gegend wilder und nack- 
ter. Langst grünte kein Baum mehr , und der 
Rasen verlor sich bald unter einer unabsehba- 
ren Schneefläche. Man hörte nichts als das 



io3 

Lied eher Alpenlerche., .und von Zeit zu Zeit 
das Pfeifen der Gemsen. Aber auch diese Töne 
verhallten, nachdem ich etwa eine halbe Stunde 
auf dem Schnee fortgegangen war : und bis nahe 
beim Kloster erreichte nun, in dieser furchtba- 
ren Einsamkeit, kein anderer Laut mein Ohr 
mehr, als das Donnern einer Lauwine. Hier 
ist es , wo so oft Reisende im Schneegestöber 
umkommen, oder von Lauwinen begraben wer« 
den, und wo die Chorherren schon viele die- 
ser Unglücklichen , mit Hülfe ihrer Hunde und 
Sondirstangen , entdeckten und wieder zum Le- 
ben brachten. Das beständige Einsinken in den 
Schnee ermüdete mich zuletzt so sehr, "dafs ich 
schon im Begriffe stand mich niederzusetzen , 
als das Läuten der Klosterglocke , welches 
dumpHg aus einem wilden Felsenschlunde her- 
abhallte, meine schwindenden Kräfte plötzlich 
erneuerte. Bald darauf erschien das Kloster 
selbst, hoch über mir in dunkelblauer Luft, 
am Rande eines schroffen Felsens. Der An- 
blick dieses regelmäfsigen und ansehnlichen Ge- # 
bäudes ist von unbeschreiblicher Wirkung , in 



i<>4 

einer Gegend , wo das an Gärten , Wesen , 
Bauerhöfe, Ströme und Wälder gewöhnte Auge 
ringsum nichts entdeckt, als Riesengipfel , um 
deren Fuß Gewölke sich wälzen, und Eis- und 
Schneelagen , labyrinthisch durch Thäler und 
Schlünde In trauriger Unwandelbarkcit sich 
verbreiten, 




Jetzt halte ich die Thüre des Klosters erreicht 
und trat nun in die höchste menschliche Woh- 
nung unsrer Halbkugel. In dieser 1246. Klaf- 
ter über die Meeresfläche erhabenen Region 
. wehn die Lüfte eine» immerwährenden Win- 



io5 

« 

ters. Der kleine, an der Südseite des Klosters 
liegende See , dessen beeiste Gestade kein grü* 
nender Schilf oder Binsenkranz entödet , thaut 
niemals ganz auf, und im Monat August sieht, 
sogar in der Mittagsstunde , das Thermometer 
nicht selten unter dem Gefrierpunkte. Hier , 
wo das Brennbolz zu den ersten Lebensbedurf- 
nissen gehört und in unglaublicher Menge ver- 
braucht wird, mufs dasselbe auf einem rauhen 
und steilen Wege, der nur höchstens zwei Mo« 
nate im Jahre offen ist y von Mauhhieren her? 
aufgetragen werden. 

Ich fand die Chorherren , unter denen ei - 
nige sich , in Red' und Manieren , als Leute von 
feiner Erziehung ankündigten , beim Früh- 
stücke versammelt. Der Speisesaal ist grofs , 
nicht prachtig aber mit Geschmack verziert ; 
und, was mehr ist als Deckengemälde, Krjr- 
stallkronen und Spiegelwände , die Reinlich- 
keit verbreitete ihren milden Reitz über das 
Ganze. Sie nahmen mich mit unverstellter 
Herzlichkeit auf und baten mich , meinen Au- 
fenthalt bei ihnen nach Willkühr zu verlangern. 






io6 

Es war für mich die Erfüllung eines Lieblings- 
wunsches , in die Mitte einer Gesellschaft zu 
treten, die mir schon lange durch die Wöbl- 
thätigkeit ihrer Zwecke ehrwürdig war, und 
wovon manches Mitglied schon mehr als Eine 
Burgerkrone verdient hatte. Mit welcher Auf- 
opferung von Lebensgenufs , mit welcher hel- 
denmütbigen Entsagung alles dessen , was die 
Tage der Sterblichen, im süfsen Zauber weib- 
licher Geselligkeit, verschönt und beseligt, üben 
nicht diese Manner , in einem der unwirthbar- 
sten Winkel der Erde , kalt und unfreundlich 
wie die Nebel von Grönland, die Pflichten 
der Menschlichkeit ! Unentgeltlich , und ohne 
Ansehung des Standes und der Religion, wird 
der müde Reisende gespeist und beherbergt ; 
der Kranke bis zur Genesung mit der treusten 
Sorgfalt gepflegt , und der erstarrte dem Tode 
entrissen. 

Täglich in der rauhern Jahrszeit , und so 
oft es schneit oder nebelt , gehn einige von 
ihnen, mit langen Stangen und von ihren treu- 
lichen Hunden begleitet, auf die Landstrafse ,: 



107 

welche diese Thiere , ungeachtet des dicksten 
Nebels oder Schneegestöbers niemals verfehlen. 
Hat nun ein Reisender das Unglück gehabt , 
von .einer Lauwine verschüttet, oder in ohn- 
mächtiger Erstarrung von Flocken begraben zu 
werden, so erwittern die Hunde, wenn die 
Tiefe des ihn deckenden Schnees nicht gar zu 
beträchtlich ist , unfehlbar die Stelle und deu- 
ten sie durch Scharren und Schnüffeln an. Der 
Verunglückte wird hervorgezogen und ins Klo- 
ster getragen , wo na an ihn mit Schnee reibt, 
in gewärmte Betten legt, und jedes als wirk- 
sam anerkannte Mittel anwendet , sein fliehen- 
des Leben zurückzurufen. Die Anzahl derer 
die auf Schlachtfeldern ihr Leben verlieren, 
weifs ganz Europa ; aber die Anzahl derer, de- 
nen es die Menschlichkeit in diesen Einöden 
wiedergab , konnte mir niemand angeben. 

Ungeachtet aller Entdeckungsgänge dieser 
Menschenfreunde und ihrer treuen Hunde, ver- 
geht indessen fast kein Jahr , dafs nicht im Som- 
mer, wenn der Schnee wegzuschmelzen an- 
fängt, Leichname von Reisenden sichtbar wer- 



J o8 

den , die hier, von allem fern was ihnen theuer 
war , hülflos umkamen. Da weitumher der Bo- 
den gediegener Fels ist, so versammelt man die 
Todten in eine an der Ostseite des Klosters 
liegende Kapelle , deren Wände , um des 
Durchzugs der Luft willen , mit grofsen vergit- 
terten Oefnungen versehen sind , die an das 
Beinhaus bei Murten erinnern. Der Anblick 
der da rinn beisammen ruhenden , aus verschie- 
denen Weltgegenden , meistens , gewifs durch 
sehr entgegengesetzte Schicksale, hier hoch über 
den Wolken vereinigten Todten , rührte mich 
im Innerrten der Seele. Alle sind in Leichen- 
tücher gehüllt ; und weil in dieser scharfen und 
kalten Luft kein entseelter Körper verwest, 
sondern nur allmählich einschrumpft und ver- 
trocknet, so erhalten sich die Gesichtszüge lange 
ziemlich unentstellt , und mehrere sind von 
Verwandten oder Freunden, noch nach zwei 
bis drei Jahren, wiedererkannt worden. Sie 
sind nicht über einander geschichtet , sondern 
sitzen aufrecht, und jeder Neuankommende 
wird immer mit dem Kopfe an die Brust sei- 



*. 



109 

lies Vorgängers gelehnt. Diese Stellung hat 
etwas Vertrauliches und ganz das Ansehen ei- 
nes gern einschafl liehen Schlummers. Vier Rei- 
hen solcher Schläfer' laufen schon neben einan- 
der hin. Ihre Gesichter, eben so wie die 
Hände und Füfse, welche das Leichentuch bei 
einigen unbedeckt gelassen hat, sind völlig 
mumienfarbig. 



Abends um 6. Uhr; 

Bei Tische herrschte ein fröhlicher und 
bruderlicher Ton; und es scheint überhaupt, 
dafs die Chorherren in vollkommener Hanno- 
nie bei einander wohnen. Die Stücke des 
Moniteurs, welche sie eben gelesen hatten, 
veranlagten einige politische Fragen, die mir be- 
wiesen, dafs sie die neuesten Weltbegebenhei- 
ten nur ganz undeutlich und verkleinert , wie 
in dämmernder Tiefe erblicken. Von der 
Flucht des Königs hatten sie einige verworrene 



HO 

und dunkle Nachrichten , und seine Rückkehr 
nach Paris war ihnen noch völlig unbekannt. 
Aber anstatt ihren Tag mit Yergleichung und 
Vereinigung der Widerspruche in den öffentli- 
chen Blättern hinzubringen, oder mit propheti- 
schem Pinsel allerlei groteske Ungeheuer auf 
den Vorhang der Zukunft zu malen , wie dies 
jetzt sogar der Fall bei Männern ist, die vor 
der Revolution ganz ausscbliefsend den Wissen- 
schaften lebten, beschäftigt irgend ein Lieb- 
lingsfach ihre Nebenstunden; wie, z. B. Phy- 
sik, Mineralogie oder Botanik. Auch legt sich 
einer unter ihnen mit vielem Eifer auf die alte 
Literatur. Doch so bald die leidende Mensch- 
heit ihrer Hülfe bedarf, eilt jeder mit militari« 
scher Pünktlichkeit an seinen Posten. 

Kaum hatten sie mein Vaterland erfahren, 
als sie das Gespräch sogleich auf den grofsen 
Friedrich leiteten, der denn auch der ein- 
zige Gegenstand unsrer Unterhaltung blieb. 
Choiseul- Gouffi er konnte kaum lebhafter 
erstaunen , da ein Mönch auf der Insel P a t fa- 
mos sich bei ihm nach Voltaire undRous* 



III 

■ 

seau erkundigte, als ich, bei den Fragen die- 
ser Wolkenbewohner nach dem Helden des sie- 
benjährigen Krieges , die alle eine genaue und 
ziemlich detaillirte Kenntnifs seiner Regierungs- 
geschichte voraussetzten. 

Herr Daleve, der Oekonom des Klosters, 
ein gefälliger und angenehmer Mann, an den 
ich eine besondere Empfehlung hatte , führte 
mich nach dem Jupitersplan, wo zu den 
Zeiten der Römer ein Tempel dieses Gottes 
stand , von dem der Berg seinen damaligen Na- 
men (Mons Jovis) erhielt. Man hat verschie- 
dentlich in den Ruinen dieses Tempels nach 
Alterthümern gegraben , und besonders eine 
Menge kupferner Votivtafeln entdeckt, welche* 
nach der Bemerkung des Herrn von Saus- 
süre deutlich beweisen, dafs die Reise über 
den Grofsen Bernhard auch von den Rö- 
mern für gefährlich gehallen wurde. Nicht weit 
vom Kloster pflückte ich die Azalea procura- 
bens , auf einem kleinen Rasenfleck, der im 
Schutz hoher Felsenwände grünt. Ich fühlte 
mich zu ermüdet, um noch den beschwerlichen 



112 

"Weg zu dem Spiegelfels en 211 unterneh- 
men > der zu den größten Merkwürdigkeiten 
der umliegenden Gegend gebort. Eine Stein- 
fläche., von ansehnlicher Gröfse, hat eine so 
vollkommene Politur , dafs man , nach der 
Versicherung des Herrn Daleve, sich eben so 
deutlich darin erblickt, wie im reinsten Spie- 
gel. Noch ist es keinem Forscher gelungen, 
dies Phänomen befriedigend zu erklären. In 
dichte Finsternifs gehüllt, schliff die Natur mit 
leiser Hand die Fläche dieses Felsens. 

Die berühmten Bernhardshunde, sind 
leider , bis auf eine einzige Hündin , gestorben. 
Es schmerzte mich in der That diese edle Race, 
welche sich , gleich den arabischen Pferden , 
so lange in ihrer ursprünglichen Aechtheit er- 
halten bat, wo nicht ihrem Erlöschen, doch 
wenigstens ihrer Ausartung nahe zu sehen. 

Das Verzeichniis meiner auf dieser Reise ge- 
sammelten Pflanzen ist schon ansehnlich. Die 

1 

Aretia und Diapensia sind mir indefs auch 
diesmal entgangen , weil sie auf Berggipfeln 
blühen, zu denen ich wegen Zeitkürze nicht 

empor- 



H3 

empordringen konnte; Dagegen bin ich nun 
gewiß, die Linncea borealis , die Herr tön 
Saussüre nur ein einzigesmal auf dem Voi- 
xons entdeckte > einige Jahre später aber > *ö» 
wohl Auf der nemlichen Stelle , als in vielen: 
andern Gegenden der Schweitz vergeblich suchte; 
in einem Walde oberhalb Martinach zu fin- 
den. Ueberhaupt ist Wallis ein wahres Eldo- 
rado für die Botanik ; und in diesem Lande 
war es, wo Ha Hers Exkursionen immer am 
reichlichsten belohnt wurden. Nur der Men* 
schenbeobachter verläfst es mit den traurigsten 
Betrachtungen > über eine Klasse von Geschö- 
pfen, die, in ihrer niedrigsten Abstufung, tief 
unter der Thierheit stehen, ob sie gleich mit 
dem Menschen die Gestalt, wiewohl zur häß- 
lichsten Karrikatur verzerrt , gemein haben. Ich 
sah auf dieser Reise in Martinach, einen 
dreißigjährigen Kretin , der nicht einmal so 
viel animalischen Instinkt hat, die Speisen selbst 
zum Munde zu führen , sondern gefuttert wer- 
den muß. Sein Kropf ist einer der ungeheuer- 
sten die ich noch gesehen habe ; dagegen sind 

H 



n4 

seine Augen , die ihm starr und matt im Kopfe 
stehen , ungewöhnlich klein. Bey gutem Wet* 
ter wird er an die Sonne gelegt , wo er so 
lange unbeweglich hingestreckt bleibt , bis man 
ihn wieder ins Haus tragt. Seine StimmS, die 
er aber nur selten hören läfst , ist ein dum- 
pfes Heulen. Noch tiefer als diesem, wies die 
Natur einem andern Kretin seinen Platz an, 
der in einem Alter von neun Jahren in Ai gl e 
starb , und an dessen ganzem Körper der 
Mund die einzige OefFnung war. Der verstor- 
bene Dechant von Kopp et, der einem meiner 
Bekannten mehrere über ihn angestellte Beo- 
bachtungen mitheilte , bemerkte nur dann eine 
Art von Bewegung an ihm , wenn er die Nah- 
rungsmittel, die man ihm einflöfsen mufste, 
wieder von sich gab. 

Wenige Familien in. Wallis bleiben ohne 
Kretins, die aber meistens alle auf keiner so' 
niedrigen Stufe stehen, als die eben angeführ- 
ten, gegen welche sogar Austern und Poly- 
pen Wesen höherer Art sind. Einige kann man' 
zum Wasser-und Holztragen gebrauchen, und' 



"5 

andere wissen sich durch Zeichen verständ- 
lich zumachen. Das starre Grinsen des Blöd- 
sinns aber , und die Häßlichkeit der Baschkiren 
und Pescherähs haben sie sämmtlich miteinan- 
der gemein. Merkwürdig ist die Erfahrung; 
dafs Kinder, die in andern Gegenden gezeugt 
wurden , als Kretins zur Welt kamen, weil die 
Mutter, während der Schwangerschaft , nur ei- 
nige Wochen in Wallis zugebracht hatten. 



n6 



Dreizehnter Brief. 

Lyon, ai. Dezember 1791. 

Lange schürzt das Schicksal am Ungeheuern 
Knoten, dessen Auflösung wir schwerlich erle- 
ben werden. Noch ist das Ziel des Volks 
ein Dunstbild das täglich seine Stelle verändert, 
und die Gesetzgeber verlieren , unter kindi- 
schen Zungenkämpfen , oft Wochen lang , 
Frankreich, mit allem was drinnen ist, Mei- 
lenweit aus den Augen. Die Volksparthei hat 
seit einem Jahre in Lyon so auffallend zuge- 
nommen , dafs die , anfänglich alles zermal- 
mende Gewalt des aristokratischen Gegendrucks 
beinahe für nichts mehr zu rechnen ist. Da- 
rin kommen übrigens die politischen Scharf- 
seher beider Partheien überein, daü dem Rei- 
che eine fürchterliche Explosion bevorstehe , 
auf welche unmittelbar eine neue Ordnung der 
Dinge folgen werde. Die Hypothesen über 



ll 7 

diese als unausbleiblich angenommene Reorga- 
nisation modifizieren sich natürlich nach den 
Personalvortheilen jedes dabei interessirten In- 
dividuums. Die Träume über Frankreichs 
Zukunft sind, in dieser Rucksicht , wie die 
Träume über den Zustand nach dem Tode , 
in welche der Philosoph Metaphysik und der 
Dichter Poesie verwebt. Auch das Beispiel 
jenes Erzbischofs gehört hieher , der auf ei- 
nem Abendspaziergauge mit seinem Neffen über 
die Figur der Mondflecken in Streit gerieth. 
Ich sehe ganz deutlich eine Schäferin unter ei- 
nem Baume , sagte der feurige Jüngling , in- 
defs der Oheim darauf beharrte , er unter- 
scheide noch deutlicher die Thürme einer Ka- 
thedralkirche. 

Frankreichs gefährlichster Feind ist der 
Egoismus seiner Demagogen. 

Vor einigen Wochen fuhr ich in einem 
kleinen Nachen die Rhone hinunter bis nach 
Vienne, der unter den Römern so berühm- 

* 

ten Colonia Vienensis. Diese kurze Reise, 
hatte an sich so wenig Merkwürdiges , dafs ich 



n8 

sie ganz mit Stillschweigen übergeben wurde, 
wenn ich ihr nicht die Kenntnifs einer der vor- 
treüichsten Grabschriften verdankte , die mir 
jemals zu Gesicht gekommen shid. In der 
Domkirche, einem ehrwürdigen gothischen Ge- 
bäude , liest man auf dem gemeinschaftlichen 
Grabstein zweier Freunde die Worte : 

Mens una. Cinis unus> 

Zwei andere Merkwürdigkeiten von V i e n n • 
sind: ein wohlerhaltenes Prätorium, das in der 
Form mit dem berühmten Tempel zu Nismes 
Aehnlichkeit haben soll , und ein altes , einige 
hundert Schritte von der Stadt im freien Felde 
stehendes Denkmal , das den Altertumsfor- 
schern schon viele böse Stunden gemacht hat. 
Es ist eine, aus grofsen Quadersteinen zusam- 
mengesetzte Pyramide , die auf vier durch Bo- 
gen verbundenen Pfeilern ruht. Unglücklicher 
Weise fand sich keine Aufschrift daran. Was 
blieb den Herren also übrig? Vor allen Din- 
gen, auf gebahnten und ungebahnten Wegen 
nachzuspüren, welche Bestimmung dies mys- 



XI 9 
tische Monument wahrscheinlich nicht hatte; 
dann , unumstößlich darzuthun , auch mit 
Beweisstellen aus den Alten sorgsam zu be- 
legen , dafs uns die Kunde derselben keineswe- 
ges liälte verborgen bleiben können ,. falls man 
so glucklich gewesen wäre, eine Aufschrift da» 
rnn zu entdecken ; und endlich dennoch , wie 
durch. Inspirazion, mit dem Orakel zu schlies- 
sen : Diese Pyramide sei das Grabmal eines vor- 
nehmen Römers. Das hiefs wohl recht das 
Meer in Bewegung setzen, um eine Fliege zu 
ersaufen ! 

Larive hat hier kürzlich vier Lieblingsrol- 
len unsers Publikums gespielt; den Cid, Orosr 
man , Tankred und Philoktet. Dieser glück- 
liche Zögling le Rains hat der Natur so viel 
zu danken, dafs es für ihn nur einer ganz leich- 
ten Unterstützung von Seiten der Kunst be- 
durfte , um jene Höhe der theatralischen Voll- 
kommenheit zu erreichen, die ihm in den Jahr* 
buchern der französischen Bühne , den Rang 
nach seinem unsterblichen Lehrer bis hieher 
versichert. Er hat einen hohen , edlen "Wuchs,. 



und nach Friedrichs Auge, sah ich kein 
größeres und feuervolleres , als das seine. Hier* u 
kommt noch eine Stimme , so volltönend und 
ehern, wie ich mir die Stimme der homeri- 
schen Helden denke , und eine Deklamazion , 
welche die schwersten und eigensinnigsten For- 
derungen der Kritik befriedigt. Die Geber« 
densprache hat er bis auf ihre feinsten Nuan- 
cen studirt, und in seinem Anstände herrscht 
nicht die komische Theatermajestät, welche puh- 
atend auf Stelzen einh erschreitet, sondern jene 
natürliche, angeborne Würde, die, nach Wie. 
lands Ausdruck , auch durch ein harnes Ge- 
wand scheint und Ehrfurcht gebietet. L a r i v e s 
Triumph ist P h i 1 o k t e t. Diese Rolle mufste sich 
auch darum seinem Talente genauer anschmie- 
gen, als jede andere, weil das ganze Stuck in 
beständiger Rücksicht auf ihn, und nach dem 
tiefsten Studium seines Spiels geschrieben wurde. 
Wenige Theaterstücke haben mich mehr erschüt- 
tert, als Philoktet; auch ist die Situation 
dieses Helden, am Strande der öden Lemnos, 
«ine der rührendsten, welche die Urkunden de$ 



iai 

Alterthums unsern Zeiten überliefert haben. Die 
Art allein, wie Larivein dieser Rolle mit dem 
wunden Fufse auftritt , indem er sich zu einer 
nahen Quelle schleppt , um Wasser in einen al- 
ten, verrosteten Helm laufen zu lassen , konnte 
Thränen auspressen. Schade! dafs die hohe 
Einfachheit des Griechen , in der französischen 
Nachbildung, die jedoch zu la Harpes bes- 
seren Arbeiten gehört , verloren gegangen ist. 
Im Tankred war ich auf die Scene begierig, 
wo dieser Held , nach langer Abwesenheit , bei 
Wiedererblickung seiner Vaterstadt , in die 
Worte ausbricht: 

A tous les cceurs bien nds , que la patrie 

est chöre ! 

Le Kain blieb lange nach seinem Eintritte 
noch sprachlos, und liefs sich gleichsam von 
den Gegenstanden , die das Andenken der Ju- 
gendjahre in seine Seele zurückriefen, erst ganz 
durchdringen , bevor er seine Gefühle in obige 
Worte , die im nemlichen Momente erst in sei- 
nem Innersten zu entstehen schienen , über- 



V 



122 

geben liefs. Anstatt diese, den großen Kunst« 
ler charakterisirende Idee zu benutzen, begann 
Larive, schnell nach der Erscheinung auf dem 
Theater, seinen Monolog, dessen eben ange- 
führten ersten Vers er aber bei weitem nicht 
innig genug deklamirte. Auch als Orosman 
sagte er die immer mit Ungeduld vom Publi- 
kum erwarteten Worte: Zaire, vous pleurezl 
wodurch I e K a i n alle Zuschauer hinrifs , viel 
tu kalt. Ueberhaupt soll diese Rolle, die eine 
Glut dar Empfindung fordert , welche die Na- 
tur ihm versagte, eine seiner schwächsten seyn. 
Im Cid gelang ihm die Erzählung der Schlacht 
ganz vorzuglich. Aergerlicli ist es , dafs man 
anfangt den alten Korneille zu modernisiren, 
indem man ihm schwache wohlklingende Verse, 
gegen starke* rauhtönende unterschiebt; auch 
viele veraltete, aber doch kräftige Worte, durch 
neue verdrangt die nicht halb so ausdruckvoll 
sind, und dadurch einen grofsen Theil dessen , 
was ihn eigentlich zum Korneille stempelt, in 
Feilstaub verwandelt. In Düsseldorf sah ich 
ein Gemälde von Rubens, wo der Fuß einer 



125 

Figur wenigstens um die Hälfte über die rich- 
tige Proportion hinausgieng. Das war ein Feh- 
ler; aber ich würde es dennoch dem Maler 
nicht Dank gewußt haben, der einen andern 
hätte hineinkorrigiren wollen. 

Warum die Franzosen das veraltete Wort 
invaincu, das auch im Cid vorkommt, nicht 
wieder in Umlauf zu bringen suchen, ist um so 
weniger zu begreifen, da ihre Sprache kein an- 
deres Adjektiv hat, um das invictus der Rö- 
mer auszudrücken. 

Einer der gröfsten Komiker in Frankreich 
ist unstreitig Restier, der aber wegen seines 
hohen Alters leider nur noch sehr selten spielt« 
Tiefer ist wohl noch niemand in Molieres 
Geist eingedrungen, als er, und mit ihm wird 
auch wahrscheinlich die ächte Manier, dieses 
Dichters Charaktere darzustellen, von der Bühne 
verschwinden. Seine glänzendsten Rollen sind 
der Tartüffe, der Geitzige und der Kranke in 
der Einbildung. Für Lyon hatte er von jeher 
eine so entschiedene Vorliebe, dafs er alle Vor- 
schläge der Pariser -Theaterdirektionen, so vor- 



124 

tbeilbaft sie auch seyn mochten , immer stand- 
haft zurückwies. 

Volney, der Verfasser der Reisen durch 
Syrien und Egypten , ist seil einigen Tagen 
hier. Er geht nach Korsika, mit dem Auf- 
trage, zweckmnfsige Plane zur Urbarmachung 
unangebauter Gegenden, deren es auf dieser 
Insel noch so viele giebt, zu entwerfen und 
auszufuhren., Ich sah ihn einigemal. Er hat 
eine einnehmende und feine Gesichtsbildung, 
und scheint nicht viel über dreißig zu seyn. 
In seinem Betragen herrscht die, den meisten 
Pariser - Gelehrten eigene Urbanität. Unter 
dem Titel: Die Ruinen, hat eben ein neues 
Werk von ihm die Presse verlassen. Es ent- 
hältpolitische und philosophische Betrachtungen, 
die er , in den Trümmern von Palmyra , über 
Staatsverfassungen und Revolutionen anstellt. 
Ich habe noch nicht weit über das Anfangska- 
pitel hinaus gelesen, und kann also über das 
Ganze nicht mehr sagen, als dafs die Einfas- 
sung des Gemäldes Geschmack und Originali- 
tät verrätfa. Gestern als ich mit ihm in zahl- 



125 

reicher Gesellschaft bei Herrn F. Jedermann 
freute sich auf die interessanten Erzählungen 
des berühmten Mannes , der die Pyramiden , 
den Nil und die Ruinen von Palmyrä gesehen 
hatte; aber Volney sprach > während der gan- 
zen Mahlzeit nur über die konstituirende Na- 
tionalversammlung y deren Mitglied er war , 
und über die Notwendigkeit , kulturfähige , 
bisher vernächläfsigte Gegenden anzubauen , 
Weil , nach der höchsten Wahrscheinlichkeit , 
die europäischen Kolonien der andern Wehtheile, 
in wenigen Jahren, nach dem Beispiele Nord- 
amerikas , von ihren Mutterländern abfal- 
len und besondere Staaten bilden würden. 
Mir ßel hierbei zuerst Brasilien ein , dieser 
Riesenzweig eines zwergartigen Stammes, von 
dem es unbegreiflich ist, dafs er nicht langst 
durch seine eigene Wucht isolirt wurde. 



1*6 



Vierzehnter Brief. 
Avifnon , i8* Mars. 179a. 

Seit der Abreise von Lyon hielt ich mich an 
keinem Orte lange genug auf, um dir schreiben 
«u können, mein Bonstetten. Von nun an 
•oll jede Stunde der Erholung , während mei- 
ner ganzen Reise in Sudfrankreich, dir 
ausschließend geweiht seyn. 

Von der Wasserfahrt von Lyon nach Avig- 
non habe ich nichts merkwürdiges zu erzäh- 
len« Die Gesellschaft im Postschiffe war zahl- 
reich , und wie gewöhnlich sehr gemischt. Ich 
machte die Bekanntschaft zweier Herren, de- 
ren Aeufseres mich einnahm. Der eine war 
•in Herr von Launay, vormals Offizier in 
Ostindien, der nach Avignon reiste, um ei* 

• 

nen Sohn, der daselbst unter dem Regimente 
von Lamark dient, nach vierzehnjähriger 
Trennung wiederzusehen ; und der andere ein 



x 



127 

Graf Tilli, der der Belagerung von Gi- 
braltar beigewohnt und sich nachher lange in 
Korsika aufgehalten halte. Dieser zeigte 
Kentnisse und feinen Geschmack. Wir lasen 
miteinander im Horaz tmd in Hu mes Ge- 
schichte Englands, von der ich den ersten 
Band bei mir halte. Ich freute mich seines 

warmen und richtigen Gefühls , und erstaunte 

i 

oft über das Neue und Scharfsinnige seiner Be* 
merkungen. So Hohn die Ufer vorüber, ohne 
dafs wir es gewahr wurden. Gegenden zu 
schildern ist eine undankbare Mühe, weil die 
Phantasie des Lesers gewöhnlich doch nur 
ein falsches Gemälde unterschiebt. Ohne 
diese Ueberzeugung hätte ich es vielleicht ver- 
sucht, dir einige pittoreske Ansichten bei Vi* 
viers zu beschreiben, wo wilde Felsberge mit 
reichangebauten Thälern wechseln , und die 
Trümmer mancher ehrwürdigen Ritterburg sicH 
auf schroffen Basaltlagen erheben. 

Herr von Launay, der bei mehrern Ge«i 
legenheiten ein gefühlvolles und leicht zu rüh- 
rendes Herz verrieth > dachte nur seinen Sohn, 



und wünschte dem Schiffe die Flügel des Sturm» 
winds. Das Bild des vierjährigen Knaben, der 
ihn beim Abschiede anlächelte, lebte noch in 
•einer Seele ; aber der achtzehnjährige Jung* 
ling erschien ihm verschleiert. 

Gestern gegen Mittag landeten wir vor 
Avignonj nachdem wir zwei Nächte unter* 
weges , die erste in einem Dorfe dessen Na- 
men mir entfallen ist , und die andere in S t. 
A n d i o 1, einem Städtchen im A r d e c h e-Depar- 
tement, zugebracht hatten. Eine Menge zer- 
lumpter Kerle fielen sogleich über unsere Sa- 
chen her , um sie ins Wirthshaus zu tragen. 
Meines leichten Felleisens > das ich an Einem 
Finger hätte transportiren können, bemächtigten 
sich zwei baumstarke Träger , ergriffen jeder 
einen Riemen, und stiegen langsam, als ob sie 
unter ihrer Last erliegen müßten , das Ufer 
hinan. Bei den Sachen des Grafen Tilli ging 
die Verth eilung so weit , dafs ein Uniformsä- 
bel von seinem Gehenk getrent wurde, und je- 
des Stuck einen besondern Träger bekam. 

Als wir ans Land traten, sahen wir drei 

Offiziere 



129 

Offiziere vom Rfegimente Lämark unter den 
Bäumen* spazieren geben > von denen der eine 
noch sehr jugendlich aussah. Si c etoit mon 
filsj sagte der Herr von Launay, und wandte 
sich zugleich mit der Frage an die drei Herren: 
. Messieurs , connoissez vous peut 4tre le jeune 
de Launay? C est moil sagte der junge Mensch; 
und im nemlichen Momente schloß ihn der 
Vater mit den Worten: Je suis ton perel in 
die Arme, So lange ich lebe, wird dieser 
schöne und rührende Auftritt mir wohlthätig in 
der Erinnerung bleiben. . 

Wir kamen im Hotel von St O m e r an , als 
man sich eben zu Tische setzen wollte. Einer 
von der Gesellschaft * die grofstentheils aus Of- 
fizieren bestand, erzählte, gleichgültig wie man 
von Regen und Sonnenschein spricht, es sei 
zwischen den -Regimentern L a m a r k und Bour- 
gogne zu Thätlichkeiten gekommen und es 
wären auf beiden Seiten einige Mann geblieben. 
Wir giengen nach dem Essen an den Ort , wo 
die Schlägerei vorgefallen war. Noch lagen die 
Körper der Getödteten zur Schau, und man 

I 



i3° 

schien mit Anblicken dieser Art scbon so ver> 
traut zu seyn, dafs die meisten Vorübergehen« 
den kaum eine Sekunde dabei verweilten. Der 
Streit wurde durch die Aeufcerung einiger Sol- 
daten von Bourgogne veranlaßt, daß das 
Regiment L a m a r k aus lauter gemietheten Ari- 
stokraten bestehe. 

Wir stiegen zur Burg hinauf. Hier hatte 
Jourdans Rotte kürzlich Greuelt baten ver- 
übt, die in der Geschichte ohne Beispiel sind 
und hoffentlich ewig bleiben werden. Das Blut 
ihrer Schi ach topf er war durch die ungeheuren 
Säle geströmt , wo unter dem weichlichen 
Pabste Klemens VI. nur der Jubel üppiger 
Gelage von den hohen Gewölben zurückhallte, 
und wo dieser Staub alter Gottes die dreifache 
Krone , sammt den Schlüsseln des Paradieses , 
zu den Füfsen der schönen Vikomtesse von 
Turenne niederlegte. 

Von den Unmenschlichkeiten der Jour- 
dani sehen Horden haben wir kaum die 
Hälfte durch die öffentlichen Blätter erfahren. 
Ein hiesiger Kaufmann > den ich für einen 



i3i 

glaubwürdigen Augenzeugen halte, erzählte mir 
die gräßlichen Schicksale einiger Einwohner 
dieser unglücklichen Stadt. Die zum Tode be- 
stimmten Schlachtopfer wurden mit raffinirter 
Grausamkeit , unter kannibalischem Frolocken > 
oft Tage lang gemartert , und zulezt , nicht 
selten noch lebendig , in den Eiskeller gewor- 
fen. Eine Mutter sah ihre zwölfjährige Toch- 
vor ihren Augen, erst auf die unerhörteste Art 
mishandeln, und dann, an Händen und Füs- 
sen verstümmelt , in den Abgrund stürzen» 
Bald wurde sie, eben so gemifshandelt und eben 
so verstümmelt > mit dem Leichname ihrer Toch- 
ter vereinigt. Es ist erwiesen, dafs beide noch 
am Leben waren, als sie nach dem Eiskeller 
geschleppt wurden. Sed manum de tabula. 
Nach der Verhaftung Jourdans und seiner 
Mitschuldigen, wurden die Leichname der Ge- 
mordeten aus der Eisgrube hervorgezogen und 
feierlich zur Erde bestattet. Die schauder- 
hafte Beschreibung dieses Leichenbegängnisses, 
wird dir noch aus dem Moniteur erinner- 
lieh seyn. 



Die Avignoner leben in unaufhörlicher 
Furcht seit der Drohung der Mars eil ler: 
Jourdan und seine Genossen mit gewafrhe- 
ter Hand wieder in Freiheit zu setzen. Fast 
alle vornehme Familien sind ausgewandert, und 
die schönsten Häuser der Stadt sind men- 
schenleer. 

Die Franziskanerkirche wird, seit der darin 
vorgefallnen Mordscene nicht mehr geöffnet ; 
ich konnte also Laura's Grabstätte nicht be- 
suchen. 

Ganz mit Entsetzen und Abscheu erfüllt, 
machte ich einen Spaziergang am Ufer der 
Rhone und las , um die mir vorschwebenden 
Greuelbilder zu zerstreuen , im Petrarka. - 
Das Sonnett : Dodeci Donne , brachte das Bild 
einer Lustfahrt vor meine Seele, welche Laura 
mit zwölf andern Damen in einer Barke , die 
der Dichter mit der Argo vergleicht, den Flufs 
hinunter mächte. Weil man auf der reifsenden 
Rhone nur langsam Stroman gezogen wird, 
kehrten sie auf einem K.-vrren , dem allein üb- 
lichen Fuhrwerke jener Zeiten, den die Ein- 



\ 



i53 

bildungskraft des begeisterten Sängers in einen 
Triumphwagen verwandelt, nach der Stadt zu- 
rück. Laura safs bescheiden in einer Ecke, 
und sang mit sufser Stimme ihren Freundinnen 
ein Lied. Diese Vorstellung versezte mich in 
die vergangnen Jahrhunderte. Ich gedachte 
des ersten Wiederauf bluhens der Dichtkunst un- 
ter diesem schönen Himmel, nach der langen 
Nacht der Barbarei, durch die Troubadours, 
welche an den Höfen der Fürsten und in den 
Schlofsern der Großen ihre Vaudevillen, Mad- 
rigale und Tenzonen absangen, und den Lie- 
bestribunalen ( Cours d'aMonr) ihr Daseyn ga- 
ben, wo in den poetischen und galanten Streit- 
fragen dieser Dichter, von den schönsten und 
geistvollsten Damen des Landes Recht und Ur- 
theü gesprochen wuide. 

Beim Zurückgehen nach dem Wirthshause , 
folgte ich ganz mechanisch einer Menge von 
Menschen, welche durch irgend ein ungewöhn- 
liches Schauspiel in Bewegung gesezt zu wer- 
den schienen. Auf meine Fragen: Wohin? 
und warum ? bekam ich zur Antwort : Nach 



i34 

dem Gefängriifs, um den Jourdan aus dem 
Verhör kommen zu seilen. Ich hatte bei die- 
ser Gelegenheit den Anblick dieses berüchtigten 
Ungeheuers, aus dessen Gesichte mehr Dumm- 
heit und Brutalität, als Grausamkeit und Blut- 
gier hervorscheint. Sein Verhör halt man fast 
allgemein für nichts anders als eine leere Forma* 
lität; und die Richter, welche hundert unum- 
stöfsliche Beweise gegen ihn in Händen haben, 
und ihm die ganze Stadt als Zeugen entgegen« 
stellen konnten, sollen keineswegs gesonnen 
seyn , ihn des Todes schuldig zu finden. 



Lile unweit Vauklüae, »9. März. 

Ich habe die vier Stunden von Avignonnach 
Lile zu Fufse gemacht. Der Wßg fuhrt durch 
eine der schönsten und fruchtbarsten Gegen- 
den des Komtats, worin die Zipressen und 
Oelbäurae für mich den Reitz der Ungewöhn- 



*35 

lieh k ei t hatten. Der hohe , noch halb mit 
Schnee bedeckte Yentoux gewährt, in die- 
ser flachen Gegend , einen sehr großen und 
majestätischen Anblick. Seinen Gipfel erstieg 
Petrarka, vor mehr als vierhundert Jahren, 
in Gesellschaft seines Bruders ; und dies war 
damals ein eben so unerhörtes Unternehmen, 
als in unsern Tagen die Ersteigung des Mont- 
blancs. Der Beschreibung nach, die er uns 
in einem seiner Briefe von dieser Wanderung 
hinterlassen hat, mufs die Aussicht vom* Yen- 
toux eine der mannichfaltigsten und ausgedehn- 
testen des Erdbodens seyn. Er sah die Al- 
pen, die Gebirge der Provinz Lyon, die Küste 
des Mittelmeers von Marseille bis Aigues- 
m ort es , und zu seinen Fufsen den Lauf der 
Rhone durch eine unermefsliche Ebene. Nach- 
dem er sich lange an diesem Schauspiel gewei- 
det hatte, schlug er die Bekentnisse des 
heiligen Augustinus auf, welche er immer 
bei sich trug, und traf, durch eiifen sonder- 
baren Zufall , grade auf die Stelle , wo es 
heust : Daß wir Menschen die Gipfel der 



I3Ö 

Berge erklimmen, um die Unermefslichkeit des 
Meeres und den: Lauf der Ströme zu bewun- 
dern, aber indefs uns selbst aus den Augen 
verlieren. Der Brief Petrarkas, welcher die 
Erzählung dieser Bergreise enthält, hat immer 
einen besonders lebhaften Eindruck auf mich ge* 
macht , und ist mir der gegenwärtigste vor al- 
len geblieben. Jetzt gehört eine Reise nach, 
dem Ventoux zu den sehr leicht auszufüh- 
renden Dingen. Alle Jahre , am 14. Septem- 
ber, wird in einer Kapelle, die auf dem Gi- 
pfel erbaut ist , Messe gelesen ; und, so wie der 
erste Augustsonntag die Anwohner des Jura 
auf der Dole versammelt, so versäumen hier 
wenige Landleute, am genannten Tage, den 
Gipfel des Ventoux zu besteigen. 

Ungefähr eine Stunde von Avignon, fragte 
ich einen anständig aber einfach gekleideten 
Mann, der mit schnellen Schritten hinter mir 
herkam, nach dem Wege nach Lile. Wenn's 
Ihnen gefällig ist , antwortete er mir , können 
wir miteinander gehen, denn ich will auch 
nach Lile. Wir wanderten also zusammen 



j 



*37 

weiter, und unvermerkt wandte sich das Ge- 
spräch auf wissenschaftliche Gegenstände. Mein 
neuer Gefährte verrieth viele Belesenheit , ge*- 
Sünde Urtheilskraft und richtiges Gefühl. Er 
nannte Montesquieu, Mably und Rous- 
seau, das Triumvirat welches die Revolution 
vorbereitet habe, und sprach mit Entzucken 
von Pope, Thomson und' Gefsner, die 
er aus Uebersetzujigen kannte. Plutarchs 
Biographien hatte er mehrmals durchgelesen. 
Dieser Umstand brachte noch mehr Wärme in 
unser Gespräch , und ich wurde immer fester 
überzeugt , die Bekanntschaft eines sehr ge- 
schmackvollen und scharfsinnigen Gelehrten 
gemacht zu haben. Auf die Bitte , mit mir zu 
Lile }m neralichen WirthsLause zu übernach- 
ten, bekam ich zur Antwort; Dafs er nur da- 
hin gehe um ein Billard zu beschlagen. Mein 
philosophischer Reisegefährte war, wie ich jetzt 
erfuhr , ein Tapezierer von Avignon, der 
von früher Jugend an, unter der Leitung eines 
dortigen Gelehrten , alle seine Nebenstunden 
den Wissenschaften gewidmet hatte. Wir trenn- 
ten uns wie alte Bekannte. 



i38 

Mit dem päbstlichen Wappen über dem 
Tliore von Lile, ist seit der Uebergabe an 
Frankreich, eine Veränderung vorgegangen, 
die ich unmöglich mit Stillschweigen überge- 
hen kann. Ein patriotischer Steinhauer hat al- 
les gothische Schnitzwerk von der dreifachen 
Krone des heiligen Vaters weggemeifselt , und 
sie durch verkürzende Abrundung zur franzö- 
sischen Freiheilsm fitze umgeschaffen. 

Das Wirthshaus wo ich mich einlogirt habe, 
liegt vor dem Thore, nicht weit von der Sor- 
gue, welche die Stadt mit zwei Armen um- 
fangt. Ich bin hier nur eine kleine Stunde von 
Vauklüse entfernt, wo ich den morgenden 
Vormittag zuzubringen gedenke. 

Bevor ich dir meine , in der Familie des 
Wirths gemachte Entdeckung mittbeile, mufs 
ich vorausschicken , dafs die Einwohner des 
Komtats in vier Partheien getheilt sind, die 
einander mit unerbittlichem Hasse verfolgen. 
Die erste hangt dem Pabste an und besteht 
gröfstentheils aus alten Leuten und Geistlichen; 
die zweite , welche die aristokratische heifst , 



/ 



«39 

wünscht zwar das Land unter Frankreichs 
Oberherrchaft , aber zugleich die völlige Wie- 
derherstellung der alten königlichen Gewalt; 
die dritte ist mit der jetzigen Ordnung der 
Dinge vollkommen zufrieden , und wird die 
demokratische genannt; die vierte endlich be- 
steht aus Leuten , die unter Jourdans Anfüh- 
rung sich durch Plündern bereicherten und da- 
her keinen angelegentlichem Wunsch haben, 
als die Fesseln ihres Helden zerbrochen und ihn 
wieder zu seiner vorigen Gewalt erhoben zu 
sehen : Diese begreift man unter dem Namen der 
Brigands. Es war eine der sonderbarsten, 
aber zugleich traurigsten politischen Erschei- 
nungen für mich , diese vier Partheien , in mei- 
nem Wirthshause, wo die ganze Familie nur 
aus vier Personen besteht, vereinigt zu finden. 
Der Vater, ein bigotter alter Mann, dem die 
Metamorphose der Pabstkrone über dem Stadt- 
thor e schon mehr als eine schlaflose Nacht ver- 
ursacht haben mag , war ein Papist ; die Mut- 
ter eine heftige Demokratin ; die Tochter, wel- 
che mit dem ehemaligen Erzbischof von Aix 



140 

in Verbindung gestanden hatte , eine enragirte 
Aristokratin , und der Sohn , als gewesener 
Lieutenant unter Jourdan, ein wuth ender 
Brigand. Zwischen der Schwester und dem 
Bruder schien die Erbitterung lange nicht so 
weit zu gehen, als zwischen den beulen Alten, 
welch fast immer im Streite waren. Als ich die 
Aristokratin fragte ,• ob man unter ihrem Dache 
auch mit Sicherheit übernachten könne, da ihr 
Bruder, nach ihrem eigenen Ausspruche , ein 
Brigand sei , antwortete sie mir : 

Ne craignez rien , Monsieur , il est trds 
boi enfarit , quand il est ici ; mais quand il 
est avec Jöiirdan , alors il fait son devoir. 



Avignon, 20. März. 



Ich war in Vauklfise. Mit Wohlgefallen 
verweilte ich an dem Orte, wo einer der merk- 
würdigsten und ausgezeichnetsten Menschen , 




i4i 

nicht nur seines Jahrhunderts, sondern aller 
Jahrhunderte zusammen genommen, einen gros- 
sen Theil seines Lebens den Musen und der Ein- 
samkeit heiligte; wo er seinen Sinnen den Krieg 
ankündigte; nichts sah, als eine Magd, braun 
und dürrgesengt wie die lybischen Wüsten ; 
nichts hörte, als das Blöcken der Heerden, 
den Gesang der Vögel und das Rauschen des 
Wassers ; niemand zur Gesellschaft begehrte , 
als seinen treuen Hund und seine Bücher; 
oft vom Morgen his zum Abend das Stillschwei- 
gen eines Karlhäusers beobachtete; nur von 
schwarzem Brode und Früchten lebte ; sich klei- 
dete wie seine Nachbarn die Fischer und Hir- 
ten ; seinen Garten mit eigener Hand baute ; 
am Morgen auf den umliegenden Hügeln und 
am Abend in den nahen Wiesen umherschweifte ; 
oft um Mitternacht, beim Scheine des Mon- 
des, in die furchtbare Höhle hinabstieg, wo 
er sich sogar in Gesellschaft und am bellen 
Tage von geheimen Schauern durchdrungen 
fühlte ; im Felde und im Walde wie in sei- 
nem Kabinete las, schrieb und träumte; die 



142 

Vergangenheit prüfend durchdachte und über 
die Zukunft rnthschlagte ; froh des seligen Mit- 
telstandes zwischen Armuth und Reich th um , 
in bescheidner Ländlichkeit, an klaren Gewäs- 
sern, in schattigen Hainen, auf blumigen Wie- 
sen , zwischen Oelbäumen und Reben , mit der 
reinen Luft , Gesundheit und Freiheit athmete, 
und wo er gewifs sein Leben beschlossen hatte , 
wenn Avignon, das er verabscheute, nicht 
zu nahe, und Italien, das er schwärmerisch 
liebte , nicht zu fern gewesen wäre. 

Hier sang er die Kanzonen und Sonnette 
von denen er selbst so bescheiden dachte und 
die doch hauptsächlich seinem Namen Glanz 
und Unsterblichkeit gaben ; indefs sein Helden- 
gedicht Afrika, worauf er seinen ganzen Dich- 
terruhm gründete , vergessen ist ; so wie sein 
Freund Bokkaz nicht durch den Dekame- 
ron, djßn er für unbedeutend hielt und sogar 
zu unterdrucken suchte , sondern einzig und 
allein durch seine . jetzt in Dunkelheit ruhen- 
den lateinischen Werke, bei der Nachwelt fort- 
zuleben hoffte. 



*43 

Du weifst, daß die Sorgue, die schon an 
ihrer Quelle Kähne trägt, aus einem kleinen 
See entspringt, der, ,unter der Umwölbung ei- 
ner geräumigen Höhle, in einem ovalen Felsen- 
becken ruht , und dafs sie , bei niedrigem Was- 
ser, durch unterirrdische Kanäle in ihr Bett 
hervordringt. Der Anblick dieser Grotte , die 
ich mir immer so abenteuerlich gedacht und 
mit ganzen Schaaren von Gnomen , Feyen und 
Ondinen bevölkert hatte , ward mir nicht zu 
Theil; denn der Flufs war so hoch angeschwol- 
len, dafs er über den Steinwall, welcher sich 
vor dem Eingange der Höhle erhebt, mit fürch- 
terlichem Tosen herabstürzte. Die Felsen , 
welche die Quelle gleich einem Amphitheater 
umgeben , sind völlig senkrecht , und verlieren 
sich in den Wolken. 

Nicht fern vom Ursprünge der Sorgue, 
liegt auf einem schroffen Felsen ein Burgge- 
mäuer das völlig unzugänglich scheint und von 
den Einwohnern Petrarka's Schlofs genannt 
wird. Durch diese Trümmer hat sich der Name 
des Dichters im Munde aller hiesigen Land- 



146 



Fünfzehn ter Briet. 

Nisines, aa. Man« 1792* 

« 

Ich nehme jetzt den Faden meiner abgerifs» 
nen Erzählung wieder auf. In Avignon wurde 
ich mit einem Hauptmanne der Nazionalgarde 
von Montpellier bekannt, der ebenfalls am 
folgenden Morgen nach Nisraes reisen wollte. 
Da mir der Mann wegen seines feinen und ar- 
tigen Betragens gefiel , so nahm ich seinen 
Vorschlag, auf gemeinschaftliche Kosten einen 
Wagen zu miethen , mit Vergnügen an. Wir 
verliefsen Avignon um 5. Uhr morgens und 
setzten über die Rhone, in deren Mitte hier 
eine ansehnliche Insel liegt , nach Villen euve 
über, bei welchem Stadtchen die prachtige lan- 
guedokische Chaussee anfängt, welche wegen 
ihrer außerordentlichen Breite berühmt ist. 

Der allgemeine Nazionalgrufs ist jetzt : ca 
iral worauf: cela val erwiedert wird ; sowie 



*47 

in einigen Gegenden des katholischen Deut* 
schlands dir der Grüßende: Gelobet sei Jesus 
Christ ! zuruft , und Du ihm : In Ewigkeit ! ant- 
wortest. Von allen Feldern und in allen Dör- 
fern , schrien Männer Weiber und Kinder uns 
ihr ga iral entgegen und erhoben ein lautes 
Jubelgeschrei , wenn wir cela va ! antworteten* 
Der Enthusiasmus für die Revoluzion grenzt an 
Taumel beim Landvolke dieser Gegenden. Sie 
reden wie Begeisterte , wenn man das Wort 
Freiheit nur auspricht, und leben der festen 
Zuversicht , dafs sie ein Gebäude aufführen , 
Welches der vereinigten Gewalt des ganzen Erd- 
bodens Trotz bieten werde. 

Nicht weit vonRemoulins sahen wir ei- 
nen etwa neunjährigen Knaben auf einem Acker 
Steine zusammenlesen. Als wir uns näherten, 
unterbrach er seine Arbeit , stellte sich • mit 
einem Gesichte, worin Trotz den Hauptzug 
machte, (wahrscheinlich weil eine Kutsche zu 
den Attributen des Aristokratismus gehört ) an 
die Landstraße , und schrie überlaut : ga ir^ ! 
Mein Gefährte , um seinen patriotischen Eifer 



i48 

auf die Probe zu stellen, erwiederte: ca riira 
pasl worauf jener mit dem Fufse auf die Erdet 
stampfte , und sein ca ira .sehr heftig wieder- 
hohltc. Jetzt liefs der Offizier halten , sprang 
aus dem Wagen, und gieng mit gezognem Sä- 
bel auf den Knaben los. Du bist des Todes , 
wenn du nicht auf der Stelle sagst: ca nira 
pasl rief er mit fürchterlicher Stimme, indem 
er zugleich die Stellung annahm , als sei er im 
Begriffe ihm den Kopf zu spalten. Das Kind 
erblaßte, beugte sich ein wenig vorwärts > um 
den Todestreich zu empfangen, und sagte mit 
zitternder und gedämpfter Stimme: ca iral. 



ca iral 



Mein Reisegefährte , durch dies außeror- 
dentliche Beispiel von unerschrockener Auf- 
opferung gerührt , umarmte den kleinen Mär* 
tyrer, (denn so mußte man ihn betrachten > 
weil er die wahre Absicht der Scene nicht ge- 
ahndet hatte ) machte ihm ein Geschenk , und 
schied mit den "Worten von ihm:- Du bist ein 
wackrer Junge , und mufst sejir brave Eltern 
haben. 



\ 



*49 

In Rem gu lins nahm ich einen Fuhrer, 
um die Wasserleitung über den Gardon (7* 
pont du Gard) zu sehen, welche nicht weit 
von diesem Dorfe entfernt ist. So hoch meine 
Erwartung auch durch die Schilderung, welche 
uns Rousseau, in seinen Bekentnissen , von 
diesem herrlichen Ueberbleibsel der römischen 
Gröfse hinterlassen hat, gespannt worden war, 
so übertraf dennoch die Wirklichkeit bei wei- 
tem das Bild meiner Phantasie. 

Es ist unmöglich sich., etwas kühnerer, ed- 
leres und majestätischeres zu denken, als den 
Stil dieser Wasserleitung, die mehr ein Werk 
der Götter, als der Menschen zu seyn scheint. 
Man erliegt beinahe unter der Erhabenheit die- 
ser Erscheinung, die sich auf einmal m einer 
Gegend, so wild, verlassen und dürftig, dafs 
der Anblick einer armseligen Kapelle darin 
frappiren würde , in ihrer ganzen Riesengröfse , 
.*ls der stärkste sinnliche Ausdruck der Unzei*- 
störbarkeit, darstellt. Rousseau sagt: Diese 
Wasserleitung war, seitdem ich auf Erden bin, 
der einzige Gegenstand,, den ich nicht unter 



i5o 

meiner Erwartung fand. Ich verlor mich in 

den iingeheuem Gewölben wie ein Insekt, und 

glaubte bei jedem wied erhallen den Fußtritte die 

Stimme der alten Gebieter des Erdkreises zu 

hören. 



P*3*r**» 



«IIa* es-» 




Es kam darauf an, da« Wasser, welches 
vom heutigen Uezes, sieben Stunden weit 
nach Nismes geleitet ward., über die Tiefe 
zn führen, durch welche der Gardon in die- 
ser Gegend seinen Laaf nimmt, und also die 
Gipfel zweier Berge durch einen Kanal in Ver- 
bindung zubringen, der über anderthalb liun- 



dertFufs über den Flufs erhoben werden mufste. 
Man war daher genöthigf drei Geschosse über 
einander zu stellen, wovon das innerste aus 
sechs , das zweite aus eilf , und das dritte , 
welches den Kanal tragt , aus fünf und dreis- 
sig Arkaden besieht. Die gröfste Lqnge de* 
Ganzen , d. h. da , wo sich die Berge am wei- 
testen von einander entfernen, wird auf O oo. 
Fufs angegeben. 

Mit einbrechender Nacht erreichten wir 
Nismes. und stiegen im Ffolel von Luxem- 
burg ab. Ich erwachte heute sehr früh, und 
mein erster Gang war nach dem Amphitheater, 
dem herrlichsten romischen Denkmale aui ser- 
halb Italien. Dies Gebäude würde einen un- 
beschreiblichen Effekt machen, wenn es auf ei- 
ner freien Anhöhe oder nur in einer freien 
Ebene stände, und nicht, wie jetzt^ durch eine 
Menge elender Häuser entstellt würde / die 
nicht nur von aufsen daran geflickt sind, son- 
dern auch die Arena dicht überdecken; so daß 
es der Einbildungskraft beinahe unmöglich ist , 
das Ganze auf einmal zu umfassen und dierei- 



i5* 

nen und edlen Formen desselben aus diesem 
Chaos hervorzuheben. Jetzt fängt man endlich 
an , nach einem längst entworfenen Plane , 
die Baracken der Arena niederzureiten und 
die ringsher viele Fuß hoch aufgehäuften . 
Schuttlagen wegzugraben. 

Unter allen römischen Amphitheatern, hat 
sich, nächst dem veronesischen ,keins vollstän- 
diger erhalten als das Amphitheater von Nia- 
mes; welches um so außerordentlicher schei- 
nen mufs . da es nicht nur der Zeit allein, son- 
dem auch der Zerstörungswuth der Barbaren- 
des Mittelalters Trotz zu bieten hatte. Ihren 
gutgemeinten Verunstaltungen entging es jedoch 
eben so wenig, als das Pantheon in Rom. 
Die Gothen stellten zwei Thurme auf die At- 
tika der Vorderseite , welche mir vorkommen 
wie eine Allongenperrücke auf dem Haupte des 
Farnesischen Herkules. Die Erbauungsepoche 
dieses Amphitheaters kann man nicht mit Ger 
wifsheit angeben; wahrscheinlich aber fällt sie 
in die Regierung des ersten Antonius. 

Vortbeilhafter gestellt, als das Amphitheater, 



■53 

ist ein anderes architektonisches Kunstwerk , 
das die höchste Zierlichkeit mit der höchsten 
Eurythmie vereinigt : Dies ist ein Tempel im 
korinthischen Stile der den trivialen Namen des 
viereckigen Hauses {Maiso/t carrtfe) fuhrt. 




Das Peristyl hat zehn freistehende kanelirte 
Säulen; die übrigen zwanzig sind zur Hälfte in 
den Seitenmauern verborgen. Das Bildwerk am 
Fries und die Kapitaler sind von so bezaubernder 
Schönheit, dafs ich es für schwer halte , sich in 



i54 

dieser Art etwas vollkommneres vorzustellen. 
Dem Herrn von S e g u i e r , einem scharfsinni- 
gen und gelehrten Altertumsforscher , ist es 
gelungen, die Urbesiimmung dieses Tempels ans 
Licht zu bringen, indem er die Aufschrift am 
Fries des Frontons, nach der Lage und Rich- 
tung der Löcher, worin die losgebrochnen me- 
tallnen Buchstaben vormals eingepafst waren , 
wieder herstellte. Dieser Entdeckung zu Folge, 
ward er zu Ehren der beiden Söhne des Mar- 
kus Agrippa erbaut. 

Von hier ging ich nach der Quelle ,' welche 
Nismes mit Wasser versorgt. Nahe dabei sind 
die unbeträchtlichen Ueberreste eines Dianen- 

* 

tempels. Um die Quelle -her hat der Magi- 
strat eine . öffentliche Promenade angelegt, die, 
nach dem Urtheil unscrs Odysseus N * * * , 
zu den prachtvollsten von Europa gehört. Die 
Abwechselung von Statuen , Ruinen , Lustge- 
bäuden , Kanälen und Alleen ist in der Tbat 
reitzend und ganz im Geiste der alten Bewohner 
der Colonia Nemausensis. 

Der sogenannte grofse Thurm ( la tour 



magnej der nicht weit von der Stadt auf ei- 
ner Anhöhe liegt, hat den Antiquaren schon 
sehr viel zu schaffen gemacht. Da er der 
Bauart nach nicht römischen Ursprungs zu seyn 
scheint, so hat man ihn von den alten Galliern 
auffuhren und zur Feier druidischer Mysterien 
dienen lassen. Einem andern ist es sogar ein- 
gefallen ihn zum Pharus zu machen , wozu frei- 
lich weiter nichts fehlte, als das Meer; doch 
diese Schwierigkeit war leicht zu lieben : das 
Mittelmeer bespühlte in den ältesten Zeiten den 
Fufs der Anhöhe , worauf der Thurm erbaut 
ist. Am richtigsten scheint mir Herr Fisch, 
in seinen mit Recht allgemein geschätzten Brie- 
fen über Südfrankreich, überdies alte 
Monument gemuihmafst zu haben, das seiner 
auffallenden Sonderbarkeit wegen , vor hun- 
dert andern , einer genauem Untersuchung 
Werth war. Er hält es für einen römischen 
Wachtthurm und Besatzungsort, welcher mit ei- 
nem andern Thurme zwischen Arles und Nis- 
mes korrespondirte ; so dafs beide Städte* 
durch verabredete Losungszeicben , sich von ei- 



i56 

ner herannahenden Gefahr unterrichten konn- 
ten. Hierdurch werde aber seine ehemalige 
Bestimmung zum gallischen Tempel keines We- 
ges ausgeschlossen. 

Ehe ich meinen Gasthof wieder erreichte > 
war ich noch Augenzeuge eines Auftritts , der 
mich mit dem heftigsten Unwillen erfüllte. 
Auf der Esplanade ward ein alter Ludwigsrit- 
ter , der da ruhig spazieren ging > von einigen 
Kerlen vom niedrigsten Pöbel angehalten, und 
trotzig befragt: Warum er keine Kokarde trage? 
Ich habe sie vergessen , ( antwortete der alle 
Ritter mit festem Tone) und ich weifs auch 
nicht , was mir die Verbindlichkeit auflegt , 
euch darüber Rede und Antwort zu geben. 
Gleich diese da angemacht ! schrie ein Kerl mit 
einer wahren Kalibans - Physiognomie , schon 
halb wfuhend, indem er dem Ritter seine ei. 
gene Kokarde hinreichte ; und als dieser > um 
der Scene schneller ein Ende zu machen , sie 
eben aufstecken wollte, rifs ein andrer ihm 
dieselbe mit den Worten wieder weg: „Ein so 
„ infamer Aristokrat verdient keine Kokarde zu 



»57 

• 

„ tragen ; und gleich das Kreutz aus dem Knopf« 
loche u ! Mit diesen Worten entriß er ihm auch 
das Ludwigskreutz, trat es unter die Füfse (wel- 
chem Beispiele der Kaliban gleichfalls folgte) 
und gab es dann mit dem Bedeuten zurück, 
niemals wieder jnit diesem verhaßten Abzeichen 
öffentlich zu erscheinen. Das umstehende Volk 
belohnte die Helden mit dem lautesten Beifalle ; 
und wehe dem , der sich des armen alten Man- 
nes hätte annehmen wollen ! Beinahe jeder Tag 
ist jetzt, in allen Winkeln Frankreichs, mit 
ähnlichen Gewalthätigkeiten bezeichnet , und 
das Volk scheint im eigentlichsten Verstände dazu 
privilegirt zu seyn, weil kein Gesetz dagegen 
angerufen werden kann. 




»58 



Sechszbhnter Brie*. 



Montpellier , 24. März. 1792« 



Bei einem Dorfe, zwischen N i s m e s und Mont- 
pellier, sahen wir in einiger Entfernung von 
uns, auf einem Fußpfade neben der Landstrafse, 
zwei Nazionalgardisten, die einem dritten mit vie- 
ler Heftigkeit zuschrien: Geh' voraus, Schurke! 
Als dieser sich weigerte , rannten sie selbst mit 
grofser Eilfertigkeit einige Schritte voraus > feg- 
ten auf ihren Kameraden, der jetzt, da er ihr 
Vorhaben merkte , sich durch die Flucht zu 
retten suchte, beide zugleich an, und trafen.ihn 
so geschickt im Laufe, dafs er zu Boden stürzte« 
Als Wir ihnen nahe genug waren, fragte sie 
mein Reisegefährte um die Ursache dieser 
schrecklichen That , worauf ihm der eine un- 
gefähr folgenden Bescheid gab : 






i59 
Sie haben Recht über die Strenge zu er- 
staunen , mit welcher Sie uns den Elenden da 
haben behandeln sehen ; aber er hatte es nicht 
besser verdient. Der Pfarrer jenes Dorfs nahm 
uns mit der größten Höflichkeit auf, gab reich- 
lich zu essen und zu trinken her , und bat uns, 
so lange bei ihm zu bleiben , als es uns gut 
dünken würde. Heute nun, da wir sein Haus 
verlassen wollten , gab er zu verstehen dafs ihm 
ein silberner Löffel fehle. Sogleich kehrten 
wir beide unsre Taschen um, und baten un- 
sern Kameraden ein gleiches zu thun« Auf sein 
hartnäckiges Weigern brauchten wir Gewalt x 
und fanden den Löffel. Wir beschlossen auf 
der Stelle , ihn zu bestrafen, so bald wir vor 
dem Dorfe seyn würden. Urtheilen Sie jetzt 
selbst , ob wir ein Recht dazu hatten ? Kein 
ehrlicher Mann dient mit einem Diebe u ! 

Gelassen setzten sie jetzt ihren Weg fort , 
ohne sich weiter nach ihrem Kameraden umzu- 
sehen, der indefs gestorben war. 



f. 



i6o 

Seit gestern bin ich in Montpellier , 

fer übt longum tepidasque pracbet 
Jupiter brumas. 

Herr Amoureux ein geschickter Arzt und 
Naturforscher , an den mich Doktor Gili- 

> 

bert empfohlen hatte, machte mich mit den 
Sehenswürdigkeiten dieser Stadt bekannt. 

In der Mitte der Esplanade, einem öffent- 
lichen Spatzierplatze, hat man kurzlich, auf einer 
vierzig Fuß hohen Kolonne , der Freiheit eine 
Bildsäule errichtet und an den Piedestal die 
Menschenrechte in eine Tafel von schwär* 
zem Marmor eingegraben. Von hier erblickt 
man in der Ferne das Meer , in der Nähe ganze 
Wälder von Oelbäumen. 

Merkwürdiger als dieser , ist ein andrer öf- 
fentlicher Lustplatz, wo glänzende Pracht mit 
edlem Geschmacke vereinigt ist ; man nennt ihn 
da? P e y r o u. Die eherne Ritterbildsäule L u d- 
wigs des Vierzehnten, welche eine der 
Hauptzierden desselben ausmacht, gehört zu 
den vortreflichsten Kunstwerken welche Frank- 
reich 



^ iGi 

reich in dieser Gattung aufzuweisen hat. Rings- 
umher stehen noch viele ledige Postemente, 
deren Besetzung lange im Werke gewesen seyn 
soll , von der jetzigen Nazional Versammlung 
aber wohl undekretirt bleiben wird. Was auf 
diesem Platze die Aufmerksamkeit am meisten 
fesselt , ist ein achteckiger Tempel ^ der am 
Ende einer Wasserleitung sieht , die unter den 
Wasserleitungen der neuern Zeit unstreitig den 
ersten Rang behauptet. Sie besteht aus zwei 
Geschossen von Arkaden, auf welchen ein Ka- 
nal ruht, der das Wasser eine Viertelstunde 
weit von einer Anhöbe herführt. Dies nerr- 
liche Denkmal der neuern Baukunst wurde 
eirien noch vortheilhaftern Eindruck machen , 
wenn es iri grader Linie fortliefe, und nicht, 
gegen das Ende, in einen stumpfen Winkel 
hätte gebrochen werden rhüfsen. Der Tempel, 
der vielleicht nur zu sehr mit Verzierungen 
überladen ist, steht über dem grofsen Behäl- 
ter welcher das Wasser des Kanals aufnimmt. 

Vom P e y r o u hat man rechts die Pyrenäen, 
links die Alpen , und vor sich das Meer. 

L 



m 






lO*2 

Der Liesige Schauspielsaal, der, nach der 
Einäscherung des vorigen, neu aufgeführt wurde, 
ist zirkelrund, und gefällt jedem Freunde des 
wahren Schönen, durch seine einfach -edle 
Verzierung. Anstatt der Kerzen hat man auch 
hier argandische Lampen eingeführt. 

Man spielte das Lager von Koblenz, 
ein Nazionalstück, worin der Graf Artois, 
der Prinz Con de, Mirabeau das Fafs und 
andre Emigranten auf die beifsen eiste und bür- 
leskeste Art lächerlich gemacht wurden. Diese 
Posse ward mit einem Jubel aufgenommen, des^ 
sen Ausbrüche das ganze Haus erschütterten. 

Ich eile jetzt nach dem Meerhafen von 
Cette, der fünf Stunden von' hier entfernt 
ist, und von dessen merkwürdiger Lage so 
viele* Reisende mit Bewunderung sprechen. 

Leider fehlte es mir an Zeit , die Insel 
Magellone zu besuchen, wo ehemals eine 
grofse Stadt blühte, von der jetzt nichts mehr 
übrig ist, als die Domkirche, in welcher, der 
Sage nach, die schone Magellone an der 



163 

Seite ihres Gemahls, Peters von Provence, 
begraben liegt. 



Cette, 25. März 1792. 

Ich erblickte das Meer, welches dem Freunde 
der beiden edelsten Völker der Welt, vor al- 
len Gewässern, die auf der Erdfläche wallen, 
heilig seyn mufs, in der schönsten Beleuchtung 
der untergehenden Sonne. 

Der Hafen mit einem Walde von Mastbäu- 
men; der Mole mit seinem schlanken Leu cht e- 
thurme ; die Stadt Cette , welche ganz im 
Wasser zu liegen scheint; der hohe Berg, der 
hinter derselben sich majestätisch erhebt; eini- 
ge holländische Windmühlen; die lange Stein- 
bocke, unter welcher der Kanal von Langue- 
dok durchgeht; Fischerböte nicht weit vom. 
Gestade; Schiffe mit geschwellten Segeln in 
der Ferne : dies alles machte ein Gemälde , 
das mich entzuckte , wie der Anblick des Gen- 
fersees und der Alpenkette vom Gipfel der 
Dole. 



i6{ 

Der Abend war warm, wie ein Sommer- 
Abend; die Matrosen schwammen zwischen den 
Schiffen im Hafen herum, und die Fischer 
sangen in ihren Barken. Ich stieg hinter der 
Petersschanze hinab , und .warf mich in die 
lauen Fluthen; mit der Wonne habe ich nie- 
gebadet. Die Geschwader der Karthager, Sy- 
rakuser und Römer, gingen vor meinem Geiste 
vorüber; die grofsen Schatten der' Scipionen 
schwebten über den Wassern , und klagende 
Stimmen der Heldenvölker schollen, aus ihren 
fernen Grüften, über die unermeßliche Mee- 
resfläche, welche sie vormals herrschend um- 
wohnten. 

Ich ging nachher noch auf dem Mole spatzie- 
ren. Das Getümmel des Hafens nahm allmäh- 
lich ab, und man hörte nur noch von Zeit zu 
Zeit in den Schiffen zum Essen öder zum Ge- 
bete läuten. Das Feuer des Leuchtethurms 
hatte schon lange gebrannt, als ich in den 
Gasthof zurückkehrte. 



i65 



Siebzehnter Brief. 

Blonay, 30. Jul. 1792. 

Du kennst die küjine und feierliche Berglage 
des Schlosses Blonav, mein lieber Bonstet- 
ten! die prachtvolle und reiche Ansicht von 
der Terrasse, wo man den See und die Mün- 
dungen des Rhodans, wie aus den Wolken, 
in der Perspektive des darüber hinstreifenden 
Adlers erblickt, und die wahrhaft erhabenen 
Kontraste der ganzen umliegenden Gegend, die, 
selbst Aubonne nicht ausgenommen, keiner 
andern des Waadt-JLandes an Majestät und 
Herrlichkeit weichen darf. Urt heile daher von 
der Lebhaftigkeit meiner Freude über die Ver- 
längerung unsers Aufenthalts in dieser ehrwür- 
digen* Ritterburg. Ich bewohne ein Zimmer, 
aus welchem man einen Theil des Rhone- 
Thals übersieht. Der Vorgrund der Landschaft 
besteht aus Buschhügeln und Wiese'nthälern , 



i6<5 

wo Dörfer aus Fruchtbauin - Hainen hervor- 
blicken, und mäandrische Bache, in hundert 
kleinen Kaskaden, von den sanften Abhängen 
der Garten und Viehweiden herabrauschen. 
Im Hintergrunde erheben sich die Walliser- 
Schneegebirge. Nicht weit von meiner Woh-. 
nung ist ein grauer, hie und da mit Epheu 
bekleideter Thurm , in welchem schon seit 
Jahrhunderten Minervens Vogel in ungestörter 
Sicherheit nistet, und auf dessen Dache, nach 
einer alten Volkssage, allnächtlich ein kolossa- 
lischer Ritter in voller Rüstung erscheint, des- 
sen Bart wie ein Kometenschweif leuchtet. 

Von unsrer Reise in den Sanen-Thälern, 
wo ich schon seit einigen Jahren, durch deine 
Briefe über ein schweitzerisches Hir- 
tenland, im Geiste einheimisch war, sind wir 
vor vierzehn Tagen zurückgekommen. Um keine 
merkwürdige Pflanze zu verfehlen, nahmen wir 
einen Begleiter, der die ganze Alpenflora, im 
strengsten Sinne , auswendig weifs , und ein 
Lokal- Gedächtnifs besitzt, das selbst dem gros- 
sen Hall er oft Erstaunen abnöthigte, der ihn 



ißj 

wahrend der Ausarbeitung der Histor. stirp. 
Helvet. indigen. vorzüglich zum Einsammeln 
der Pflanzen gebrauchte , und seiner auch 
in der Vorrede zu diesem unsterblichen Werke 
dankbar Erwähnung thnt. Er heifst Thomas, 
und lebt als Landmann und Dorfrichter zu 
Fennaley, unweit Bex. Zwar hat er nie 
die Philosophie der Botanik ergrundet, und ist 
folglich, nach Rousseau' s guter Distinction, 
mehr den Herboristen, als den Botanikern bey- 
zuzählen; aber sein Gedächtnifs ist so vielfas- 
send und treu; sein Blick, jedes Alpengewachs 
ohne Ausnahme bei'm ersten Anschaun und 
oft schon in einer beträchtlichen Entfernung, 
nach Klasse , Ordnung, Gattung und Art zu 
erkennen ; so geübt und richtig, dafs er in 
dieser Hinsicht gewifs nicht nur Aufmerksam- 
keit , sondern auch Bewunderung verdient. 
Mali könnte ihn, dünkt mich, am schicklich- 
sten mit einem Bibliothekare vergleichen, der 
alle Titel seiner Bücher geläufig herzusagen, 
und Stelle und Fach eines jeden pünktlich an- 
zugeben wüfste, aber jenseit des Einbandcs ein 



i63 

Fremdling geblieben wäre. Zeige ihm in Wal- . 
lis, oder im Gouvernement von Aigle, wel- 
chen Berg du willst, und er wird im Stande 
seyn, dir mit untrüglicher Genauigkeit anzu- 
deuten, was jede Region desselben an Pflanzen' 
hervorbringt; in welchem Monate sie blühen, 
und ob sie im Schalten oder an der Sonne , - 
in Sumpfen oder an Quellen, in Wäldern oder 
auf Triften wachsen. Auf einer Exkursion, die 
ich in seiner Gesellschaft vor zwei Jahren nach 
dem Anzindas machte, fragte ich unter an- . 
dem: Ob die Campanula thyrsoulra viel-' 
leicht in der Nähe anzutreffen soy? J\I 1 1 seiner 
gewohnten Kaltblütigkeit wies er, stau der 
Antwort, mit dem Knotenstocke nach einer 
Felsenreihe, die etwa eine halbe Stunde von 
unserm Wege entfernt lag. Wir giengen hin. 
Thomas blieb vor einer Felswand stehen, 
und sagte: Da oben mufs sie seyn! kletterte 
dann auf einen Vorsprung, bog, ohne aufzu- 
blicken , den Arm über eine Art von Gesims , 
das der obere Theil der Felswand bildete, wie 
man auf einen wohlbekannten Schrank nach 



1% 

einem Hausgeraihe langt, und zog ihn mit der 
Blume, die er auf den ersten Griff getroffen 
hatte, wieder zurück. Aufser den Linnäischen 
Namen hat er auch die Hallerischen .voll- 
kommen inne. Seit einiger Zeit treibt er ei- 
nen beträchtlichen Handel mit Bäumen und 
Sträuchen, deren er besonders viele in England 
und Frankreich absetzt. Er versichert , eine 
neue Genzi an -Gattung entdeckt zu haben, die 
den Namen Gentiana elegantissima fuhren 
foll. Sie ähnelt seiner Beschreibung nach der 
G. pwictata am meisten, von welcher sie am 
Ende vielleicht nur eine Spielart ist. 

An der Seile eines solchen Spähers, der zu- 
gleich an Schnellfufsigkeit und Klimmkraft mit 
den Steinböcken wetteifert, mufste nothwendifir 
unsre botanische Lese diesmal reicher, als auf. 
irgend einer vorhergehenden Wanderung aus- 
fallen. 

Der erste Anblick einer Pflanze, der ich 
lange vergeblich nachspurte, versetzt mich im- 
mer noch in eine Entzückung , auf die ein 
jeder ein entschiedenes Recht hat, mit mitleidi- 



gern Achselzucken herabzulächeln, der nicht 
im Schoofse der Schweitzergebirge in die hei« 
ligen Mysterien der Flora Alpina eingeweiht 
wurde , und nicht wenigstens einigemal , an 
schonen Julius -Tagen, das Fest dieser Göttin, 
im Angesichte des ewigen Eises und unter den 
Finflüssen des begeisternden Odems der reinen, 
Körper und Seele verjungenden Bergluft be- 
ging. So wie ich niemals ermüde.» Raphaels 
und Guido's Gemälde in meine Phantasie 
zurückzurufen , Seckendorfs Melodien zu 
hören, und Plutarchs Biographien zu lesen; 
eben so ermüde ich auch nie, meine Lieblinge 
unter den Blumen, selbst auf den rauhsten 
und muhevollsten Pfaden, wieder aufzusuchen. 
Zu diesen gehört nun auch die Andromeda 
polifolia, von welcher Linnees dichterische 
Beschreibung *) und die seiner Lappländi- 
schen Flora beigefügte Abbildung derselben, 

*) Andromeda , virgo haec lectissima puleberrimaque 
collo superbit alto et vividissimo (PedunCulus), 
cujus Facies roseis suis labellis (corolla) vcl Opti- 
mum veneris fueura longe superat; juncea hacc in 



J 7 l 

meiner Einbildungskraft schon längst ein sehr 
reitzendes Bild eingedrückt hatten. Frohlockend 
empfieng ich sie aus den Händen des wackern 
Thomas, der zwar nicht, wie weiland Per- 
seus bei Befreiung ihrer schönen Namensschwes- 
ter, den furchtbaren Kampf mit einem Wasser- 
Ungeheuer zu bestehen, aber doch, um ihrer 
habhaft zu werden, eine lange Sumpfstrecke 
zu durchwaten gehabt hatte. Sicher hätte ich 
die schöne Andromeda mit cjer ganzen Wonne 



genua projecta pedibus alligata (caulis inferior 
ineumbens) aqua (vernali) cioeta, rupi (mon- 
t i c u 1 p ) adfixa , horridis draconibus ( a m p h i h i i s) 
exposita ? terrara versus inclinat moestam faciem 
( f 1 o r e m ), innocentissimaque brach ia (ramos) cce- 
lum versus erigit, meliori sede fatoque dignissima , 
donec gratissimus Pcrseus (aestu s ) monstris di- 
victis , eam ex aqua eduxit e virgine faetam feeeun- 
dam matrem, qua* tum faciem (fruetuni) erec- 
tam cxtollic. Si Ovidio fabulam de Andromeda 
couscribenti ha?c ante oculos posita fuisset planta , 
vix melius quadrarent attributa, qui more poetico 
ex bumili tumulo produxisset Olympum. 

Linnaei Flora Lapponica. 
Amstelod. 1737. p. 126. 



eines erhörten Liebhabers begrüfst , wenn ich 

i 
allein gewesen wäre, öder einen, gegen der- 
gleichen erotische Schwärmereien tolerantem 
Zeugen gehabt härte, als meinen unmytholo« 
gi§chcn und uripoetiSchen Begleiter. Du, mein - 
Freund! hättest in aller Grazien Namen im- 
merhin zugegen seyn können; Du, der selbst 
der heiligen Einfalt nicht spotten würde, die • 
einen geweihten Rosenkranz aus Lore tto mit 
Vorgefühlen des Paradieses an Herz und Lip- 
pen druckte. . 

Gewifs ist es, dafs ich meine glucklichsten 
Stunden in einsamen Bergthälern auf botani- 
schen Exkursionen verlebte, und dafs nichts, 
im ganzen Kreise meiner Thätigkeit , jemals 
meine Seele schneller zu entwölken oder den 
herbsten Kummer untrüglicher zu mildern ver- 
mochte, als eine neue Entdeckung in der Pflan- 
zenwelt. Wie oft wurden da Bonnets Em- 
pfindungen die meinigen; und ich betrachtete, 
ohne weiter zu grübeln, mit ihm jene Blumen, 
die unsre Garten und Felder schmücken, und 
jene majestätischen Stämme unsrer bejahrten 



* 



'73 

H.iine , als empfindende ^Vesen , beslimmt , 
ihre angewiesene Summe von Glückseligkeit 
und Daseynsfreude zu geniefsen. 

Ueberliefse jetzt Apollon, unter allen Ge- 
schenken, wodurch er die Sterblichen jemals 
beglückte, dasjenige meiner Wahl, von wel- 

* ehern" ich mir den reinsten und dauerndsten 
Gettufs verspräche: so würde ich die Leyer, 
diesen heifsesten Wunsch meiner Jünglingsjahre, 
zurückweisen, und nach dem goldnen Pfeile 
greifen > worauf Abaris, schnell wie Blitz und 
Wind, über Länder und Meere flog: Dann 
lägen die vegetabilischen Schätze aller Zonen, 
von denen Forst er, Thunberg, Kommer- 
son> und andre Argonauten der Naturkunde, 

= nur einen kleinen Theil durch unnennbare 
Mühseligkeiten erkämpften, in reichster Fülle 
und steter Zugänglichkeit vor mir ausgebreitet; 
von den brennenden Gefilden, welche die kö^ 
nigliche Palme beherrscht, bis dahin, wo nur 
bleiches Aftermoos. die äufserste Klippe des • 
Nordmeers bekleidet; von der Aszensions« 
Insel, der nur vier Pflanzengeschlechter ent* 



'74 

sprossen, bis zum Verheifsungslande der Bota-> 
nik, Madagaskar. 

Ich war lange genug in den Sannn-Thä- 
lern, und besonders in der Gegend von Oesch, 
Rougemont und Jessenay, um überzeugt 
zu werden, dafs deine Briefe über diesen in- 
teressanten Theil des Kanions Bern zu den 
wahrsten und glücklichsten Darstellungen die- 
ser Art gehören. Wie sehr w« ; ire es daher zu 
wünschen, dafs dein Vorsatz, die Waadt auf 
ahnliche Weise tu. behandeln, endlich zur Reife 
gedeihen möchte. Nur durch Monographien 
von diesem Gehalte könnte vielleicht mit der 
Zeit eine allgemeine Beschreibung der Sehweite 
zu Stande kommen, die der vielseitigen Merk- 
würdigkeit dieses mit Recht allgepriesenen Lan- 
des vollkommen entspräche. In solchem Geiste 
verdienten vorzüglich das Emmenthal, Sie- 
benthal, Hasli und Entlibuch beschrie- 
ben zu werden, wegen des schärf ern Original- 
Gepräges des Volks Charakters, und der, zum 
Theil hieraus entspringenden, zum Theil blofs 
zufälligen Eigentümlichkeiten in Absicht auf 



i75 

Sitten, Gebräuche, Sprechart, Landbau, Hir- 
tenleben, Nazionaltugenden und Nazionalfehler. 
Ich lebe hier so still und abgeschieden, 
wie der Bewohner des Leuchtethurms von E d- 
dys tone. Der Weg von Vevey nach Blonay 
ist an den meisten Stellen so holprig und 
schroff, dafs von drückenden und zeitrauben- 
den Besuchen beinahe gar nichts- zu furchten 
ist. Seit mehrern Monaten ist es mir nun ge- 
lungen, jenen Gesellschaften ganz* auszuweichen, 
wo Karten , Frivolität , Laster- und Wetterchro- 
nik kein anderes Interesse neben sich aufkom- 
men lassen. Die meisten Menschen dieser 
Klasse halten zwar den Genfer- See als rei- 
chen Fischbehälter in gröfsen Ehren; können 
aber die Freude so vieler Reisenden an der 
Pracht und Herrlichkeit seiner Ufer eben so 
wenig begreifen, als ein der Einsamkeit ge- 
weihtes Leben ohne lange Weile. Einfalt und 
Natur sind von ihnen gewichen, und sie schau- 
dern beinahe zurück, wenn sie da, wo, ihrer 
Meinung nach, der Kunst die Alleinherrschaft 
ausschliefsend gebührt, zufälliger Weise durch 



Natur überrascht werden. Nie werde ich der 
Dame vergessen , die auf einen Rosenstock , 
der in einem prächtig verzierten Gesellschafts- 
Saale blühte , mit dem majestätischen Sturm- 
gange einer Theaterkönigin losfuhr, plötzlich 
aber die hochgeschwungenen Arme sinken liefs, 
und mit unwilliger Verachtung in die Worte 
ausbrach: "Ach, mein Gott! es sind ja nur 
„natürliche!" 

Mit mehrefem Piechte, wie die Mythensamrn- 
lung desPaläfatus, verdiente eine Auswahl sol- 
cher Karrikaturzüge die Aufschrift : TLspt dtriftav. 

Nur unter dem niedern Dache der Alpen- 
hirten wohnt noch alter Schweitzersinn, Bie- 
dertreue , Herzlichkeit und Sitteneinfalt ; "da 
Stiche und finde ich den wahren Menschen: 

Dcar is lhat sJicd to which his soul conjbrms , 
And 4ear lhat hill %vhich lifts hlm lo the störms : 
And as a child , when scaring so und s molcst , 
Cling? dose and closer to the molhers breast; 
So the lond torrent and the whirlwind's roar , 
Bat bind him lo his naiive rnonniains more. 

COLLSMITH. 

So 



■n 



»77 



So lange ich nun auch schon den Genfer- 
See fast täglich vor Augen habe, so bleibt das 
zauberische und warme Kolorit, worin ich ihn 
vor fünf Jahren zum erstenmal erblickte, doch 
immer dasselbe; und der Wunsch; an seinen 
Ufern meine Tage zu enden, hat in diesem 
ganzen Zeiträume noch nichts von seiner ur- 
sprünglichen Innigkeit und Wärme verloren. 
Der Anblick einer grofsen und erhabenen Na- 
tur ist mir zu meiner Glückseligkeit beinahe 
unentbehrlich geworden ; und es würde mir 
sehr schwer werden , mich wieder an die Mag- 
deburgischen Ebenen zu gewöhnen , wo es 
nicht erst des Kühreigens bedurfte, um die 
Sehnsucht nach den Bergen und Seen deines 
glücklichen Vaterlandes, die in jeder andern 
Gegend des Erdbodens, gleich Horazen's 
Sorge > zu Schüfe und zu Pferde, mich unzer- 
trennlich begleiten würde > in das tödtlichste 
Heimweh zu verwandeln. In ländlicher Abge- 
schiedenheit möchte ich im Elysium des Gen- 
« 

fer-Sees die mir noch bestimmten Jahre mit 
dem ähnlichdenkenden nnd ähnlichempfinden- 

M 



i?8 

den Weseft verleben, das ich so lange vergebe 
lieh suchte , und endlich fand. Glücklich , 
durch den reinen Einklang unsrer Herzen, fan- 
den wir dann., unbetäubt vom Getümmel, und 
ungeblendet von den Schimmerscenen des Welt- 
lebens, unsern höchsten Genufs im Schoofse 
der Natur und in der weitern Ausbildung un- 
sers Geistes. Jeder Morgen würde uns wie 
zu einem Feste wecken, und der Schlummer 
unwillkommen unser Auge schliefsen. Kaum 
würden wir "den Wechsel der Jahre bemerken, 
und ohne ängstliche Vorahndung uns plötzlich 
am Ziele befinden. Mitleidig berührte der Tod 
mit sanfter Hand unsre Augenlieder zugleich , 
und keiner begrübe den andern. 

Von unserm Salis habe ich noch immer 
keine Nachricht. Ich weifs nicht einmal, wo 
sein Regiment steht, und wie nahe er dem 
Feinde, oder wie weit er davon entfernt ist. 
Fällt er, so wird er fallen, wie Kleist; und 
wer würde dann nicht sein Loos beneiden! 
Happy are they w/io feil in their youth , 



i 7 9 
in the midst of their renovml They have 
not beheld the tombs of their friends or 
failed to hend the bew of their strength. 



i8<> 



Achtzehnter Brief. 



Vevey, ao. Sept. 179a. 

Ich habe endlich,, wozu Da mich schon so 
oft auffordertest, mir den schönen Genuß ver- 
Schaft, die neue Heloise im Mittelpunkte 
des Schauplatzes selbst zu lesen, wo der Dich- 
ter seihe Personen handeln läfst, und es ihm 
mehr als einmal gedankt, dafs er nicht, nach 
seiner ersten Idee, die verkünstelten und be- 
schränkten Borromäischen- Inseln, sondern 
diese, von der Natur mit Schönheiten jeder 
Gattung so reich ausgestattete Landschaft, durch 
Figuren belebte, die jeder seiner Leser, wel- 
chem Apollon, nach Horazens Ausdrucke, 
das Herz aus feinerm Tone bildete, sich nun 
immer in Verbindung mit derselben denken 
mufs. 



18* 

Anders liest man die Biade in den Gefilden, 
welche der Skamander bewässert, als zwi- 
schen den dumpfigen Mauern eines akademi- 
schen Hörsaals; anders die neue Heloise 
bei Vevey oder Klarens, als in einer un- 
freundlichen, nur von Hügeln begränzten Ebene, 
wo mir dieser berühmte Roman zuerst in die 
Hände Hei. 

Dort hatte meine Phantasie für die Alpen- 
Natur weder Farben noch Maasstab; sie ent- 
warf mir daher die grofsen Scenen der Rous- 
jseauischen Darstellungen nur in verjüngten 
Umrissen, und entlehnte ihr Kolorit aus der 
benachbarten Gegend: Hier bekam alles, nicht 
allein den Charakter der lokalen , sondern 
auch der historischen Wahrheit; und die Tau« 
schung war so lebhaft, dafs ich an Juliens 
Existenz in Vevey eben so fest glaubte, als 
an die D einige im Schlosse von Nion, und 
die einsamen Streif ereien des St. Preux in den 
wilden Felseinöden bei Meillerie eben so 
wenig bezweifelte, als Hannibals Kriegszug 
über die Alpen. Ganz unwillkührlich ist meine: 



i8« > 

Einbildungskraft noch immer mit der genauem 
Anordnung und Bestimmung des Lokalen be- 
schäftigt; welches in Meillerie, Vevey und 
vielen andern von Rousseau genannten oder 
angedeuteten O'ertern und Gegenden eben so 
leicht ist, als, nach dem Zeugnisse eines ge- 
lehrten und gefühlvollen Reisenden, die Ver-i» 
gegenwärtigung der theokritischen Hirtenwelt 
in einem schönen Thale von Sizilien. Nur 
in Klarens stöfst man auf Inkongr uitäten , die 
alle Täuschung zu zerstören dröhn. Das an^ 
sehnlichste Haus im Dorfe hat geflickte Fenster, 
an welchen gewöhnlich zerrifsne Wäsche webt, 
oder türkischer Weitzen aufgereiht ist, und 
wohinter neulich auch noch, anstatt des Gra* 
zienprofils der göttlichen Julie, das" braune 
Maritornengesicht einer alten Bäuerin zum Vor- 
schein kam. Dieser letztere Umstand verdarb 
alles , und erregte in mir ungefähr den nemli- 
chen Unmuth, welchen der umirrende Geist 
eines alteii Griechen empfinden mufste, dem 
*n der Stelle, wo vormals eine Venus von 
Praxiteles glänzte , ein plumpgeschnitztes 



*Ö3 

Madonnenbild mit einer blechernen Glorie ent- 
gegenstarrte. Es bleibt mir am Ende nichts 
übrig, als ein altes Gemäuer zur Ruine jener 
reitzenden Villa zu machen, wo eine Gemeinde 
wahrer Menschen, umschlungen von den 
stärksten Banden der Sympathie, heilige Hände 
am Altare der ächten Lebensweisheit emporhob. 
Auf der romantischen Anhöhe, wo sich der 
schlanke Thurm von M o u t r ü , hoch über 
dem Seeufer, umgeben von Nufsbaumhainen 
und schroffem Rebgelände, aus den weißen 
Ringmauern des Kirchhofs erhebt, denke ich 
mir Juli ens Ruhestätte, und auf dem Grab- 
steine die ScBlufswörte ihres Glaubensbekennt- 
nisses : Qui s'endort dans le sein d' u/t pire , 

ri est pas en souci du re'veil. 

« 

A&ch CilillflpL, das täglich* Ziel meiner 



Spatziergänge vojÄ&randkla^fraus, hat für 
mich ^^(^JSW^yjpt eilung . an^Jfiteresse ge- 
wonnen, dafs Julie sich da dem in die Fluth 
gleitenden Sohne nächstürzte , und bald nach- 
her das Opfer dieser heroischen Handlung 
wurde. 



Bei'm Schlosse Chili on ist, nach - meinem 
Gefühle, der anziehendste Ufer - Standpunkt 
zwischen Genf und Villeneuve; und ich 
bekenne, daß, wenn eine Fee plötzlich mit 
der Zauberruthe erschiene, und mich fragte, 
wo ich den kleinen Landhof, den sie für mich 
aus der Erde her vor zu winken im Begriff stän- 
de t hin wünschte , ich* ihr ohne Bedenken 
jene' Wiese dazu anweisen würde, wo die 
beiden Kaskaden sich aus dunkelm Felsgesträuch 
herabstürzen. 




Mein langes Zögern, die neue Heloise 
am Genfersee selbst zu lesen, wozu ich 
doch schon seit mehrern Jahren Gelegenheit 



i85 

hatte, erinnert mich an einen Engländer, der, 
nach einem dreijährigen Aufenthalt in Rom, 
seiner warmen Kunstschwärmerei ungeachtet, 
Raphaels Verklärung nur erst wenige Tage 
vor seiner Abreise sehen wollte, um den Ein- 
druck, welchen er sich von diesem erhabenen 
Meisterwerke versprach , so tief und unge- 
schwächt, als möglich, mit in seine Heimath 
zu nehmen, 

Uebrigens ward ich, durch diese wieder- 
holte Lektüre , von neuem in der Meinung 
bestärkt : Dafs der erste Preis der Beredsamkeit, 
nach dem Demosthenes, keinem Sterbli- 
chen mit vollerm Rechte gebühre, als dem 
Schöpfer der neuen Heloise. 



136 



Neunzehnter Brief. 

Grandklos 35. Jan. 1793. 

Gestern , mein tbeurer Bonstetten! hat unr 
ser Freund von Salis mich wieder verlassen. 
Die glucklichen Tage, die wir nach so langer 
Trennung miteinander verlebten , stehn mit 
goldnen Lettern in den Annalen meines Her* 
zens aufgezeichnet. Wohlthatig war ihm die 
Stille im Schoofse der Alpen , nach den Scenen 
des Entsetzens auf der Hauptbühne der Revo* 
luzion am zehnten August, den rastlosen Zü- 
gen mit seinem Regimente von einer Grenze 
Frankreichs zur andern, und dem betäu- 
benden Heergetümmel der Märsche und des 
Feldlagers in der letzten Epoche seines militä- 
rischen Lebens. 

Als ich ihn in meine Wohnung einführte, 
gedachte ich der bekannten Verse des Lukrez : 



i8? 

Suave , mari magno turbantibus cequora Dentis 
E terra magnum alterius spectare laborem. 

Vjele Tage unsers Beisammenlebens benutz* 
ten wir zu Exkursionen in die umliegende Ge- 
gend, wo ich, als ein gewissenhafter Cicerone, 
nicht unterliefs, meinen Freund, der, während 
seines Jugendaufenthalts in Lausanne, nie 
weiter, als bis Vevey gekommen war, mit 
dem Interessantesten und Merkwürdigsten be- 
kannt zu machen; so oft aber Schneeschauer 
und Winterst firme uns vor den Kamin bann- 
ten, waren unsre meisten Stunden den Musen 
geweiht. 

Salis hat einige neue Lieder gedichtet, die 
alle, wie Wieland sagt, von den Grazien 
nachgesungen zu werden verdienen. Am lieb- 
lichsten tönen, nach meiner Empfindung, die 
Stanzen an ein Thal. Er denkt selbst so 
bescheiden von seinen poetischen Arbeiten, 
und erblickt sie in einem so beträchtlichen 
Abstände von den Idealen, die seinem Geiste 
vorschweben, dafs nur die gegründete Furcht 
vor einem unbefugten Sammler im Stande 



i8S 

war, ihn zu einer Auswahl seiner zerstreut ge«* 
druckten und handschriftlichen Gedichte zu 
bewegen , die in einigen Wochen erscheinen 
wird. In der Vorrede , womit ich diese Samm- 
lung begleitet habe, heifst es unter anderm: 

„Schon sehr frühe rief den Dichter seine 
Bestimmung zum Kriegsdienste nach Frank- 
reich, und versetzte sein keimendes Talent 
in einen Boden, der, gleich dem festgestampf- 
ten Erdreiche einer Heerstraße, weder LebensT 
kraft noch Gedeihen zu versprechen schien. 
Aber die Schimmerscenen der üppigen Haupt- 
stadt und des glänzenden Hofes hatten für ihn 
höchstens den flüchtigen Reitz einer Feenoper, 
Und die feine Welt, die sonst dem Neulinge* 
in zauberischem Helldunkel zu erscheinen pflegt,, 
sog seine Blicke kaum so lange an, als nöthig 
war y um , nach dem Ausdruck eines weisen 
Britten, auch dies Kapitel des Buchs der 
Menschheit im Originale zu lesen." 

„In dieser, nur selten unterbrochenen Ab- 
geschiedenheit von deutscher Literatur und 
[deutschem Umgange, hat er mit der Sprache 



»89 

gerungen, wie Winkelmann und Haller, 
und, gleich ihnen, dadurch an Kraftfulle des 
Ausdrucks gewonnen' " 

So weit das Bruchstuck der Vorrede. 

Es ist mir eine unangenehme Vorstellung, 
dafs diese Gedichte in einer Gelehrtenrepublik 
erscheinen müfsen, wo sie, ihres entschiedenen 
"Werthes ungeachtet, vielleicht schon nach Ver- 
lauf eines Jahres das Loos der Vergessenheit 
treffen wird. In dieser reinen Demokratie , 
wo eine Lessingische oder Wielandische 
Diktatur, von den vielen noch ungebrauchten 
Mitteln, dem sinkenden Geschmack e wieder 
aufzuhelfen, vielleicht das wirksamste und im* 
trüglichste Wäre, verdrängt eine Epoche der 
Liebhaberei mit unglaublicher Schnelligkeit im- 
mer die andere; und die Muse des Gesanges 
hat sich, schon seit geraumer 2eit, aus dem 
literarischen Marktgewfihle zurückgezogen % wo 
noch immer die hunderth ändige Polygraphia, 
unter dem Schutze Hermes, des Gewinnverlei- 
hers, (IfjieSs Ks^ifot) das Volk ±u bethören fort- 
fährt. Der unmittelbaren Pflege dieser Vor- 



läuferin der Barbarei erfreut sich vorzuglich 
das weitläufige Pilzgeschlecht der neuesten 
Moderomane aus der Ritter- und Vorzeit, das, 
in unsäglicher Fülle, weit und breit, an Süm- 
pfen und auf Brachfeldern fröhlich hervor- 
schielst. Hierzu kommt noch, dafs vor unserm 
Publikum, im Allgemeinen, nur die Produkte 
der jedesmaligen letzten Messe eine momen- 
tane Gnade finden; wie wäre es sonst auch 
möglich, dafs ein so respektables Heer von 
Schriftstellern, deren im Jahre I7S8« * u ^ deut- 
schem Boden nicht weniger als 6194 lebten > 
immer noch so zuverläfsig auf Verleger und 
Käufer rechnen könnte ? 

In den brittischen Buchläden fragt man we- 
niger nach dem Neuen, als nach dem Guten; 
daher auch Shakespeare, Milton, Pope, 
Young, Addison, Shaftesbury, Sterne, 
Fielding, Hume, Robertson, Gibbon, 
und die übrigen klassischen Autoren der Na- 
zion, immer wiedergelesen, wiedergedruckt, 
und beinahe eben so häufig auf den Putztischen 
der Damen, als in den Bibliotheken der Ge- 



*9i 

lehrten angetroffen werden. Mehr, als in ir- 
gend einem andern Lande, blüht dort jener allge- 
meine Geschmack, der Im Reiche der Wis- 
senschaften alles, was den Stempel des ächten 
Vollgehalts an sich trägt, vom Epigramme bis 
zur Epopee , vom Todtengespräche bis zum 
Trauerspiele, vom Feenmärchen bis zur philo- 
sophischen Völkergeschichte, nach Verdienste 
würdigt, und allein der wahre genannt wer- 
den kann; so wie ein Linnäus im Reiche 
der Natur nichts mit Gleichgültigkeit betrach* 
tet, und nicht nur die Adansonia und den 
Elephanten, sondern auch den Schimmel und 
das Räderthier zu Gegenständen seiner Unter- 
suchungen macht» 

Das hebt sie über uns. 

Doch wieder auf den Freund zurück, der 
diese Digression veranlafste. Er sendet dir die 
wärmsten Grüfse, und die Versicherung, dafs 
er gewifs nach Nion gekommen wäre, wenn 
die Beschränktheit seiner Zeit ihm dies Ver- 
gnügen hätte erlauben wollen. Jetzt eilt er 



i9* 

seinen! Vaterlande und zugleich der Erfüllung 
seines letzten Wunsches entgegen. Ich will 
indefs im Tempel der Freundschaft , in Erman- 
gelung eines Votivgeraäldes , zwei Epheukränze 
aufhängen , zu welchen ich die Ranken von 
der Felsenwand bei Moutrü gebrochen habe, 
wo Salis und ich, an einem schonen Win- 
terabend, die Sonne hinter den Jurdssus 
herabsinken sahen, und eine Unterredung über 
Trennung, Tod und Fortdauer, mit der leben- 
digen Ueber zeugung endigten : „ Dali Verbin- 
to düngen, welche den erkenntnifsfähigen Theil 
^,urisrer Wesen vereinigen, aller Umbildungen 
,>des Wandelbaren ungeachtet, ewig unzer- 
„ störbar bestehn. „ 



*93 



Z WAH1IGS tEK 6 R I E F« 

Orandklos, a* März 1795. 

Die Tage Werden schön, ulid das 'Wetter be- 
ständig. Unterstütze doch bei Herrn G * * *. 
meine Bitte um einen baldigen Besuch. Er 
mufs die Schweitz nicht verlassen. , ohne die 
Gegenden um Roche > Vevey, Bex und St. 
Moritz kennen gelernt zu haben. Schildere 
ihm alles, was davon in deiner Erinnerung lebt, 
so treu als möglich , und wiederhole ihm > in 
meinem Namen, noch einmal das freudige An- 
erbieten, auf dieser kleinen Reise sein Beglei- 
ter und Führer zu seyn. Ich habe eine so ent- 
schiedene Vorliebe für diese Reviere, dafs ich 
mir immer ein wahres Fest daraus mache, an 
der Seite eines Menschen darin herumzustrei- 
fen, dem es nicht an Sinn und Empfänglichkeit 
für ihre mannigfaltigen Schönheiten fehlt. 

N 



'94 

Sage dem lieben Fremdlinge; Wir würden 
mit der Katarakte beginnen, deren unedler 
Name allen Musen und Musenjüngern ein Aer- 
gernifs ist; hinter St. Moritz zu einer Wall- 
fahrtskapelle hinansteigen, die, wie durch ein 
Wunder, in erstaunlicher Höhe, am senkrech- 
ten Felsen zu schweben scheint ; längs den 
malerischen Ufern des reißenden Avansson 
hinwandeln, der, wie Ha 11 er singt, gestürzte 
Wälder wälzt; mit Bergmannskitteln angethan, 
in die unterirrdischen Gallerien cjer Salzquellen 
von Bevieux einfahren, wo alle Schauer der 
Katakomben wehen; im Felsenkeller des Schlos- 
ses Chillon, dem Schatten Bonnivards, 
des toleranten Priesters und freiheitlieben- 
den Savoyarden, ein Todtenopfer bringen; 
Hall er s Geäachtnifsfeier in einem Gartenka- 
binette bei Roche begehen, wo dieser grofse 
Mann oft, in der Kühle der darüber ausgebrei- 
teten Rüstern, zu arbeiten, und, noch im ho- 
hen Alter, bei Richardsons Dichtungen aus- 
zuruhen pflegte; unsern Unmuth über die fehl- 
geschlagenen Versuche, das' Klarens zu 



»9$ 
entdecken, welches Rousseau schildert, auf 
dem Kirchhofe von Moutrü, beim Anblicke 
der hinreifsendsten Seeaussiclit vergessen; hin- 
ter dem Dorfe Noville, das Büsching zum 
Range eines feinen Städtchens erhoben 
hat, einen der anmuthigsten einsangen Spat zier- 
gange bis dahin verfolgen, wo der Rh od an 
seine trüben Fluthen in die grüne Klarheit des 
Sees ergiefst; und zuletzt in Vevey, dessen 
bezaubernde Lage, der Preis und das Entzücken 
jedes wahren Naturfreundes, mit so hohem 
Rechte, zu seyn verdient, bei achtem Ryfweine, 
ein Fest der Freude, nach Horazens Haus- 
tafel, feiern, wozu die Alpennymphe, deren 
kunstlose Lieder ich zuweilen nachzusingen ver- 
suche, mir schon eine Skolie versprochen hat. 
Scheint dies alles dem edeln Reisenden ei- 
nes Zeitaufwandes von einigen Tagen nicht 
unwerth , und sind die Geschäfte , die ihn in 
sein Vaterland zurückrufen, nicht allzu dringend, 
so täusche er die Hoffnung eines Mannes nicht, 
der ihn, in mehr als einer Rücksicht, herzlich 
verehrt und hochschätzt. 



ig6 

Du aber, mein Bonstetten, suche bald 
einmal Mufse zu einer recht langen und aus- 
fuhrlichen Epistel zu gewinnen, und vergiß 
vor allen Dingen nicht, die ganze * * * sehe 
Angelegenheit mit homerischer Umständlichkeit 
darzustellen. Dein letztes sybillinisches Blatt 
darüber bedarf in der That eines Kommentars. 



'97 



Ein und zwanzigster Brief. 

Grandklos, 5, April 1795. 

JVleine Unpäßlichkeit, lieber Bonstetten! war 
so wenig von Bedeutung, dafs du gar nicht 
Ursache gehabt hättest, nur einen Augenblick 
deshalb in Sorgen zu seyn. Da der Gott von 
Epidaurus nicht den mindesten Am heil an mei- 
ner Wiederherstellung hat, so wird es ihm 
hoffentlich diesmal nicht in dem Sinn kommen, 
auf ein Dankopfer zu rechnen. Ich bitte dich 
also, des Hahns zu verschonen, welcher schon 
vorläufig zu diesem frommen Zwecke bestimmt 
war. Er möge der Stolz des Hofes bleiben, 
und seine Freuden in alle Winde krähen, bis 
die Parze den Faden seines muntern Daseyns 
zerschneidet. 

So leicht das Uebel auch war , das mich 
einige Tage lang im Zimmer gefangen hielt, 
so tonte doch der kleine Hymnus an Hygieia, 



i98 

den uns Athenaus aufbehalten hat, meinem 
Ohre nie. süfser, als nach dieser kurzen Un- 
terbrechung meines vieljährigen Gesundheits- 
Gefühls : 

Mtroe duo ficituxiqcc vywat 

Ts'9rj)Xt frocvT«, noti \difimi %<x$ix<av ?ot£. 

£$9r«y ii ycv^lf, ovnr iv<W/uwy. 
Zum sichersten Zeichen meines völligen Wohl, 
seyns diene dir eine Reise nach Freiburg, 
von der ich gestern gesunder und munterer 
als jemals zurück kam. Ich war dabin geritten, 
um die berühmte Felsen - Einsiedelei zu sehen, 
die sich in keinen meiner bisherigen R eiseplane 
hat wollen einfügen lassen. 

Meine gespannte Erwartung von diesem 
Wunder einer eisernen Thätigkeit wurde kei- 
neswegs getäuscht. 

Nicht mehr als vier Hände brachten, nach 
fünf und zwanzigjähriger , ununterbrochener 
Arbeit, ohne alle Beihülfe, eine sehr geräumige 
und bequeme Eremitenwohnung zu Stande, 
die ganz in einen senkrechten, etwa vierhun- 
dert Fufs hohen Felsen gehauen ist, und aus 



*99 
einer Kapelle mit einem Thurme, einer Sakri- 
stei, einem Refectorium, einer Küche, einem 
großen Saale, zwei Seitenkammern, zwei Trep- 
pen und einem Keller besteht. Die Länge der 
Kapelle beträgt drei und sechzig, und die Breite 
sechs und dreifsig Fufs; der Thurm ist sieben- 
zig Fufs hoch und sechs Fufs breit; der grofse 
Saal hält neunzig Fufs in der Länge und hat, 
gleich den andern Gemächern, grofse Fenster- 
öffnungen, die auf den Flufs sehen, der dumpf- 
rauschend in waldiger Tiefe vorbeiströmt, und 
worin Jean du Pre von Gryerz, der dies 
herkulische Werk mit einem einzigen Gehülfen 
begann und vollführte, im Jahr 1703. seinen 
Tod fand. Die Gegend umher ist eine melan- 
cholische Einöde, ganz im Charakter der wil- 
den Landschaften des Salvator Rosa, an 
die man schwerlich irgendwo lebhafter ,und 
öfter erinnert werden kann , als in der Schweitz. 
Auf einem Felsenvorsprunge hat der Eremit 
einige Blumen- und Gemüsebeete angelegt. 

Bei dem Eintritt in diesen Tempel der Ein- 
samkeit ergriff mich ein feuriges Sehnen , hier 



2QO 

eine Zeit lang ganz dem gröfsern Gedichte zu 
leben , dessen Plan ich schon seit mehrern Jah- 
ren in meiner Seele bewege. Dann müßte ich 
aber zugleich einen Zauberkreis um diese Woh- 
nung des Friedens herziehen können, in wel- 
chen der Eingang nur demjenigen vergönnt 
wäre, der von mir selbst den dazu nÖthigen 
Talismann erhalten hätte. 

Der jetzige Bruder Klausner ist weit davon 
entfernt, sein Loos beneidens würdig zu finden ; 
er klagte vielmehr, im abscheulichsten Dia- 
lekte seines Vaterlandes Tyrol, über Lange*» 
weile und unchristliche Zeiten. 

„Sehen Sie nur", sagte er unter anderm, 
wie die gottlosen Emigrirten meinen Garten 
verwüstet haben ! Aller Salat ist niedergetreten, 
und auch den Glockenstrick haben sie mir abi- 
geschnitten ; es liegt ja also wohl am Tage , 

« 

dafs es mit der Religion aus ist." 

Dieser Anti-Alfonso bewohnt, gemeinschaft- 
lich mit yier Hunden, dreien Katzeh und eini- 
gen Elstern, ein recht artiges, ausgetäfeltes 
Zimmer, wo der hergebrachte Eremitenluxus 



301 

in Kücb engeschirre und Weinflaschen, gegen 
einen Kalender > der die ganze literarische 
Haabe des heiligen Mannes auszumachen schien, 
sehr charakteristisch abstach. Bei der glück- 
lichsten Muße, die einem Sterblichen unter 
dem Monde zu Theil werden kann , und die 
so mancher, in den Strudeln des Weltlebens 
umsonst ivich Freiheit und Stille ringende Geist, 
zu Werken der Unsterblichkeit benutzen würde, 
scheint er, wie Leisewitz irgendwo sagt, vom 
göttlichen Lorbeer nur so viel wünscbenswür- 
dig zu finden, als nöthig ist, um eine Fleisch- 
brühe zu würzen; und bleiben nur seine Salat- 
beete verschont, so mögen ganze Länder um 
ihn her zu Grunde gehen : Er sieht es mit 
Gleichmuth. 

In Freiburg selbst hielt ich mich nur we- 
nige Stunden auf. Die Gesellschaft an der 
Wirthstafel bestand aus lauter Emigrirten, un- 
ter denen sich besonders ein ehemaliger Page 
des Grafen Artois durch die aberwitzigsten 
fralereien auszeichnete. 

Er versicherte, unter den kräftigsten Schwü- 



202 

ren, der alte Glanz des franzosischen Hofes 
werde (nun unverzüglich wieder hergestellt 
werden; aber nicht in Paris, wo kein Stein 
auf dem andern bleiben solle, sondern, wie er 
von sicherer Hand wisse, in Lyon; die Armee 
der Patrioten, die nur aus feigherzigem Pöbel 
bestehe, könne sich höchstens noch einen Mo- 
nat halten, und die gegen Frankreich ver- 
einigten Mächte hätten ihnen, den Emigrirten, 
ihf Ehrenwort gegeben, sie auf jeden Fall, es 
koste, was es wolle, wieder in ihre alten 
Rechte einzusetzen, und, wie bekannt, nur 
deshalb den Krieg unternommen. 

Aehnliche Fanfaronaden hört man in den 
Schweitzerstädten, wo sich Emigrirte aufhalten, 
an allen öffentlichen Oertern zu Tausenden; 
und es ist unbegreiflich, wie diese Leute noch 
immer mit der festesten Zuversicht an Hoff- 
nungen hangen können, deren Erfüllung kein 
vernunftiger und unpartheiischer Beobachter des 
jetzigen Ganges der französischen Angelegen- 
heiten mehr für möglich hält. Nur sehr wenige 
kommen allmählich von diesem Wahnsinne zu- 



i 



rück, und fangen an, auf irgend ein ehrliches 
Erwerb mittel bedacht zu seyn, um nicht den 
Tod des Ugolino zu .sterben. Besonders sind 
mir zwei Marquis acbtungswerth geworden , 
die Muth genug hatten, das durchlöcherte Ge- 
wand eines uralten Vorurtheils von sich zu 
werfen, und, mit Verachtung des Hohngeläch- 
ters ihrer ganzen Kaste, zu einem Tischler in 
die Lehre giengen, wo sie nun, als brauchbare 
Arbeiter, ihren Unterhalt auf eine wahrhaft 
ehrenvolle Weise erwerben; indefs jene Rotte, 
die nur schreit, anstatt zu handeln, nur Rache 
schnaubt, anstatt ihrem Feinde selbst mit dem 
Schwerdte entgegen zugehen, und den Schwei- 
zern die Wohlthat eines Asyls mit Insolenzen 
und Vorwürfen über die weiseste Neutralität 
bezahlt, sich mit unaustilgbarer Schande brand- 
markt, und wahrscheinlich bald in keinem Win- 
kel von Europa mehr eine bleibende Stätte 
Enden wird. 

Dafs es unter den Ausgewanderten auch 
brave, verdienstvolle und sehr liebenswürdige 
Männer gebe, die eben so viel Hochachtung 



2<>4 

als Mitleid verdienen, darüber haben viele 
meiner Bekannten mir Zeugnisse abgelegt, deren 
Zuverläfsigkeit ich keinen Augenblick in Zwei- 
fel ziehe. Aber ich weiß nicht, durch welchen 
Unstern ich immer, bis auf drei oder vier Aus- 
nahmen , nur mit solchen zusammen treffen 
raufste , die herrisch , aufgeblasen , pralerisch 
und im höchsten Grade frivol waren; von al- 
len Nichtausgewanderten mit Verachtung und 
Hohn , und von den übrigen Nazionen , ohne 
Ausnahme, geringschätzig und wegwerfend spra- 
chen; sich als den Kern der menschlichen Ge- 
sellschaft betrachteten, und bei jeder Gelegen- 
heit die Ueberzeugung durchscheinen liefsen , 
dafs das ganze Weltheil einzig und allein auf 
dem Siege ihrer sogenannten guten Sache be- 
ruhe. — 

Beinahe hatte ich, über diesen Beitrag zur 
Charakteristik einer neuen Menschenklasse, ver- 
gessen, dir von einem Briefe zu sprechen, der 
mich in eine der glücklichsten Epochen meines 
Lebens zurückversetzte. Er war von einem 
meiner Jugendfreunde, und enthielt die Schick- 



ao5 

sale der meisten Jünglinge, mit denen wir zu 
Kloster Berge und Halle in engerer Ver- 
bindung gelebt hatten. Mancher von ihnen 
sank schon ins Grab, und nur ein einziger der 
noch lebenden, dessen bescheidene Wünsche 
immer auf eine Dorfpfarre eingeschränkt blie- 
ben, hat sein Ziel erreicht; die übrigen alle, 
deren Hoffnungen mit jugendlicher Kühnheit 
weit über die Grenzen des Gewöhnlichen hin- 
ausschweiften, zwang die Hand des Schicksals 
in Lagen und Verhältnisse, die sie damals 
nicht gewürdigt hätten, zum Ziele zu machen« 
Diese Nachrichten erneuerten das Andenken 
an meine Schuljahre mit einer solchen Leben- 
digkeit in mir, dafs der Genfersee und die 
Alpen verschwanden, und nur der Garten des 
Klosters Berge, mit seinem hochgewölbten 
Rüsterngange, die daran stofsende Wiese, die 
Elbe mit ihren Schiffmühlen und Kähnen, und 
die ehrwürdigen Thürme der Magdeburg {• 
sehen Domkirche, in der lieblichsten Beleuch- 
tung, sich meiner Einbildungskraft vormalten. 
Dort war es, wo ich. zum Jünglinge reifte, und 



ao6 

das goldne Zeitalter der Empfindung durchlebte, 
in welchem freundliches Morgenroth, wie eine 
Glorie, unser ganzes Daseyn umgiebt, und. in 
der physischen Welt wie in der moralischen , 
die eben so wie jene ihre Luftperspektive hat, 
alle Gegenstande die Rosenfarbe des Mediums 
annehmen , wodurch wir sie erblicken. 

Noch einmal , ehe ich sterbe , möchte ich 
die El b wiese wiedersehen, wo ich oft, unter 
einem Weidenbaume gelagert , bei O s s i a n s 
Gesangen, Stunden hatte, denen ich mit Wie- 
land nachrufe : 

"Euch kann kein Gott mir wiedergeben!" 

Niemand hat der, mit der Blüte des Jüng- 
lingslebens hinsterbenden Gluckseligkeit ein rüh- 
renderes Grablied gesungen, als Gray, der 
Mamrnach dem Herzen der Weisheit und Natur, 
dessen Freundschaft, in Absicht auf deine Gei- 
stesbildung, das wichtigste Geschenk war, das 
Du jemals aus den Händen des Schicksals em- 
pfiengst und dessen Manen ich , an deiner Stelle, 
schon längst ein kleines Denkmal im Garten zu 
Valeires errichtet hätte. 



207 

Ah happy hüls! ah pleasing shade; 
Ah fields beiov'd in vain ; 
• Where once my careless childhood stray'd , 

A stranger yet to pain ! 
J feel the gales , that from ye blaw , 
A momentary blifs bestow , 
" As waving fresh their gladsome wing , 
My weary soul they seem to soothe , 
And, redolcnt of joy and yoitth , 
To breath a second spring. 

Ich wiederhole diese Stanze nie, ohne mich 
im Innersten bewegt zu fühlen ; und die ganze 
Ode verdient, nach meiner Ueberzeugung, eine 
der ersten Stellen unter den Meisterwerken der 
lyrischen Poesie ; trotz dem kalten, gegen Gray 8 
Dichterverdienst höchst ungerechten Johnson, 
der durch ein kritisches Microskop , das nur für 
sein Auge geschliffen war, so oft Sommer- 
sprossen für Muttermäler ansähe. 

Ueber L * * * s Gesundheitszustand habe ich 
nun auch Tissots Meinung gehört. Er sieht 
weniger Gefahr, als der zuerst befragte Arzt, 
und räth zur Traubenkur, die seit einiger Zeit 



I 
2X0 



die Verdunkelung des äufsern schadlos. Auf 
einem Spaziergange bei Roche sagte er, wie es 
ihn immer so glücklich mache , sich die Gegend, 
durch welche er hingehe, nach dem was Gehör 
und Gefühl ihn davon ahnden ließen, in die 
Seele zu malen. Jetzt, da er sich im Schatten 
dichter Bäume fühle und das Rauschen eines 
Wassers höre , steige schon eine so reitzende 
Landschaft vor seinem innern Sinne empor, 
dafs die Wirklichkeit schwerlich schöner seyn 
könne, als das Gemälde seiner Phantasie. 

Man erzählt von dem arabischen Dichter 
Abulola Ahmed, der des Gesichts schon in 
seinem dritten Jahre durch die Blattern beraubt 
ward, dafs er sich, von allem was er vorher 
gesehen, nur noch der einzigen rothen Farbe 
habe erinnern können; unserm Blinden ward 
es durch den etwas spätem Verlust desselben 
glücklicherweise noch so gut, aus seinem sehen- 
den Zustande nicht nur alle Farben, sondern 
auch Gestalten, Formen und Verhältnisse zu 
retten. Hiedurch vermag er nun in seinem In- 
nern, wie in einer Camera obscura, Gemälde 



I 

erscheinen zu lassen, zu denen doch wenigstens 
Originale existiren könnten. 

Nur selten bedarf er in seinem Hause eines 
Fuhrers, indem von einem Zimmer zum andern 
Fäden ausgespannt sind , deren Richtung er 
kennt, und an welchen er sich fortfühlt. 

Alles bisher Gesägte wird unbedeutend und 
geringfügig, so bald man einen Blick auf die 
muh volle Bahn wirft j die er als Naturbeobach- 
ter, an der Hand seines Vorlesers Borgens, 
der in manchem Betrachte eben so merkwürdig 
als er selbst ist , mit so Vielem Glücke betrat 
und •verfolgte. Dieser Burnens, von Geburt 
ein franzosischer Schweitzer; las ihm, mehrere/ 
Jahre läng, die besten physikalischen und ndtur- 
historischen Werke vor , und bildete sich da- 
durch selbst unvermerkt zu einem vortrefiichen 
Beobachter. Dies veranlagte Herrn Hub er, 
ihn zu verschiedenen physikalischen Versuchen 
zu gebrauchen, wobei er nicht nur die gröfste 
Geschicklichkeit an den Tag legte, sondern zu- 
letzt sogar die dazu erforderlichen Instrumente 
theils verbessern, theils verfertigen lernte. End- 



212 \ 

lieh schwang 'er sich so weit über die in Künsten, 
und Wissenschaften immer unerträgliche und 
nichts weniger als goldene Mittelmäßig- 
keit empor, dafs Herr Huber^ bei seinen 
Beobachtungen und Versuchen , den völligen 
Gebrauch des Gesichts wieder erlangt zu haben 
glaubte. Er sah nun durch die Augen des un- 

« 

ermüdeten und für das Studium der Naturge- 
schichte bis zur Leidenschaft glühenden B Ur- 
ne ns eben so scharf und hell, wie Pfeffel 
durch die Augen seines Freundes Lerse. 

Nach der Lektüre /von Reaumürs Beob- 
achtungen über die Bienen , wurden dessen 
sämtliche Versuche mit dem erwünschtesten 
Erfolge wiederholt. Aber die beiden Forscher 
blieben nicht am Ende der von ihrem grofsen 
Vorgänger gebrochenen Bahn stehen, sondern 
strebten acht Jahre lang, mit immer wachsen- 
den Kräften und nie ermangelnder Anstrengung, 
dieselbe noch weiter fortzuführen. Eine Menge 
neuer Entdeckungen und Berichtigungen , die 
der Welt jetzt vor Augen liegen , waren das 
Resultat dieses rastlosen Eifers, der bei Herrn 



•*/ 



213 

m 

Bürnens eft so weit gieng, dafs er ganze Tage 
lang vor einem Bienenstocke lag, und nur erst, 
wenn die hereinbrechende Dunkelheit seine 
Lieblingsbeschäftigung unterbrach , die Unbehag- 
lichkeiten des Hungers und Durstes , und die 

Schmerzen der empfangenen Bienenstiche , zu 

t. 

empfinden an/ieng. Mit ähnlichem Enthusiasmus 
safs Swammerdamm einmal, in der bren- 
nendsten Sonnenhitze, mehrere Stunden, mit 
unbedecktem Haupte vor einem Bienenstocke, 
weil sein Hut einen Schatten verursachte, der 
ihm beim Beobachten hinderlich war. 

Schon vor drei Jahren theilte mir Bonnet 
den ersten der von Herrn Hub er an ihn ge- 
richteten Briefe über die Bienen mit, worin, 
durch eine Reihe feiner und glücklicher Beob- 
achtungen, unwiderleglich erwiesen wird: Dals 
die Bienenkönigin nicht durch sich selbst, son- 
dern erst durch die Begattung mit einer Drohne 
fruchtbar werde, und dafs die Befruchtung, 
wie bei den Ameisen und Ephemeren, in den 
Lüften geschehe. Damals schienen mir diese Be- 
obachtungen so unbezweifelt neu, wie Trenn 



9l4 

bleys Entdeckungen über die Polypen; jetzt 
ßber baben genauere Erkundigungen mich ge- 
lehrt , dafs deutscher Forschujigsgeist auch def 
Erklärung dieser Zifferstelle im Buche der Natur 
schon langst fast eben so nahe gekommen sei. 
als Herr Hub er. Um sich hievon zu überzeu* 
gen, braucht man nur die Bienenschriften des 
Herrn von Luttichau nachzulesen. Von wie. 
manchen Entdeckungen, Versuchen und Beob- 
achtungen der Franzosen und Engländer würde) 
der blendende Nimbus der Neuheit plötzlich 
wegschwinden , wenn unsere Sprache mehr 
Allgemeinheit hätte, und jene Völker nicht von 
einem, alles Unvatcrländiscbe verkleinernden, 
Nazionaldünkel befangen wären. 

Unser blinder Naturforscher ist ein Sohn des 
berühmten Hub er von Genf, der mit Vol- 
taire in der engsten Geistesyerbindung stand 
(denn nur von einer solchen konnte bei fiesem 
die Rede seyn), und welchem Sulzer, in der 
Theorie der schönen Künste und Wissenschaften, 
ein bleibendes Denkmal gestiftet hat. Durch 
seinen schnellen und treffenden Witz wufste er 



215 

den alten Dichter von Ferney eben so sehr in 
Respekt zu halten, wie ehemals Piron, dieser 
epigrammatische Skorpion, dessen furchtbare 
Ueberlegenheit im Verwunden Voltaire bis 
dahin nur allein anerkannt' hatte, und von dem 
er einmal sagte: „Mit dem Menschen ist nicht 
„auszukommen; er hat seinen Witz immer in 
„ baarer Münze. " Auch als Schriftsteller hat 
sich dieser Hub er bekannt gemacht. Man hat 
von ihm ein Buch über den Vogelflug, welcher 
auf der Jagd , die er leidenschaftlich liebte , 
immer der Hauptgegenstand seiner Beobachtun- 
gen gewesen war. Wegen der darin befindli- 
chen Figuren, wodurch die Direktionslinien des 
Fluges einiger Vögel angedeutet werden, erhielt 
dies sonderbare Werk , das übrigens wohl zu 
den ungelesensten gehören mag, die seit der 
Erfindung der Buchdruckerkunst erschienen sind, 
den Namen des Zickzackbuchs, durch welchen 
sich das Andenken desselben auch noch bis jetzt 
in Genf erhalten hat. Als Thiermaler erwarb 
er sich ebenfalls Huf und Beifall. 

Am hervorstechendsten aber war sein un- 



2l6 

t 

nacliahmliches Talent, mit der einzigen Beihülfe 
einer Scheere , Landschaften aus Papier zu er- 
schaffen, welche durch Richtigkeit und Schärfe 
der Umrisse, Reichthum und Schicklichkeit der 
Anordnung, Zartheit und Lufügkeit der Bäume, 
und besonders durch die frappante Aehnlichkeit 
der Portraitfiguren , die er gewöhnlich darin 
anbrachte, Kenner und Nichtkenner zur höch- 
sten -Bewunderung hinreifsen. In Genthod 
befindet sich ein solches Kunstwerk von ihm, 
das Voltairen vorstellt, der in seinem Lieb- 
lingskostume (Schlafrock, Perücke und Pelz- 
mütze), den Pegasus besteigt. Den einen Fufs 
hat er schon im Steigbügel ; und indem er den 
andern nachzuheben bemüht ist , entfällt ihm 
der Pantoffel. Seitwärts erblickt man den Par- 
nafs , als das Ziel des zu- beginnenden Rittes, 
An dem Profile dieses Dichters hatte er sich so 
lange und vielfältig geübt , dafs er zuletzt im 
Stande war, dasselbe nicht nur, mit auf den 
Rücken gehaltenen Händen auszuschneiden , 
sondern sogar eine Scheibe Brod unter den 
Zähnen eines Jagdhundes so geschickt zudiri- 



gircn, dafs dieser Voltaires Silhouette nagen 
mufste. Die originelle Art, wie er den nämli- 
chen Kpntour auf dem Schnee hervorbrachte, 
ist bekannt genug, oder kann doch wenigstens 
sehr leicht errathen werden. 




MD ZWANZIGSTER 



Zürich, 5* Jul. 1795. 



Ich schreibe dir bei unserm Füfsli, mein ge- 
liebter Bonstetten! im neinlichen Zimmer, 
wo ich im Jahre 1787- zuerst die Bekanntschaft 
dieses edeln und geistvollen Mannes machte, 



*i9 

Jessen Freundschaft seitdem die Quelle so man« 
eher Gluckseligkeit für mich wurde. Du weifst 
es aus eigener Erfahrung, wie sehr er die Kunst 
versteht, Freunden ein Freund zu seyn; 
und es bedarf daher kaum der Versicherung f 
dafs ich die Tage, welche ich in seinem Hause 
zubrachte, zu meinen schönsten zähle. So oft 
es seine Geschäfte, deren Umfang .sich seit dei- 
nem letzten Hierseyn noch um vieles erweitert 
hat, nur irgend gestatteten, machten wir Spar 
ziergänge an den Ufern des Sees oder der Lim? 
mat, und meine Freude, diese Gegenden wie-» 
der zu erblicken , verdoppelte sich an seiner 
Seite. Gestern waren wir. auf dem Schützen«- 
platze , um G e f s n e r s Monument zu sehen , 
welches nun dieser angenehmen Promenade zur 
schönsten Zierde dient. 

Auf dem Zimmer, wo G e f s n e r gewöhnlich 
zu arbeiten pflegte, wenn er sich in der Stadt 
befand , brachte ich neulich einige Stunden sehr 
angenehm damit zu , seine ersten poetischen 
Versuche zu lesen, die größtenteils aus kleinen 
Anakreontisch?n Liedern und Fragmenten pro- 



saischer Gedichte bestehen. Auch befindet sich 
unter seinen un gedruckten Papieren , ein vol- 
lendetes Lustspiel, die Reise nach dem 
Tollhause betitelt, das, durch ächte humo- 
ristische Züge und einzelne wahrhaft molierische 
Scenen, die großen Anlagen beweist, die auch 
xu den komischen Dichtungsarten in ihm lagen, 
und welche, durch den unerschöpflichen Witz 
und die yorikisch-luzianische Laune, wodurch 
er, im Kreise vertrauter Freunde, so oft Leben 
und Frohsinn verbreitete, noch unwidersprech*- 
Jicher beurkundet wurden. Seine sämmtlichen 
Handzeiclmungen hat man auf blaue Foliobogen 
geklebt, und mit der Aufschrift: Gefsners 
Studien, einbinden lassen. Es wäre zu . wün- 
schen, da Cs diese Sammlung, die angehenden 
Künstlern so äufserst lehrreich .werden könnte, 
in Kupfer gestochen und dadurch gemeinnützi- 
ger gemacht würde. 

Niemand wage es jemals , die so merkwür- 
dige Entwickelungsgeschichte von Gefsners 
Dichter- und Künstlergenie zu schreiben, ohne 
seine jugendlichen Poesien und Zeichnungen 



sorgfältig studiert, und aus dem Muride seiner 
Gattin alle dazu nöthigen Winke und Aufschlüsse 
gesammelt zu haben, die nur sie, welche des 
grofsen Mannes vertrauteste Freundin bis zum» 
letzten Lebensaugenblicke und seine zuverläs- 
sigste Kuns trichterin war , allein zu geben in} 
Stande ist. 

Gefsners beide Söhne sind eines solchen 
Vaters würdig. Der ältere ist, nach dem Aus-; 
spruche kompetenter Richter, auf dem Wege, 
einer de* gröfsten Schlachten- und Landschafts- 
maler zu werden, die jemals lebten; und es ist 
erstaunlich , mit welchen Riesenschritten er den- 
selben verfolgt. Schon als er noch in Rom 
studierte , wetteiferten alle Kenner und Künst- 
ler in Bewunderung seiner Pferde , die doch 
von den jetzigen bei weitem übertroffen werden 
xnüTsen, weil sein letztes Werk immer sein vor-^ 
züglichstes ist. Die Briefe , welche ihm sein 
.Vater über Gegenstände der Kunst nach Italien 
schrieb, sind der Bekanntmachung nicht weni^ 
ger würdig, als das vortrefliche Schreiben 
über die Landschaftsmalerei. 



122 

Sein Bruder verbindet; mit vieleil gelehrteti 
Kenntnissen, den feinsten und richtigsten Ge- 
schmack und eine ausgebreitete Belesenbeit. Er 
hat sich dem Buchhandel gewidmet, und setzt 
die Geschäfte seines Vaters in diesem Fache sehr 
glücklich fort. Gefsners einzige Tochter ist 
in Genua an einen daselbst etablirten Kauf« 
mann (Zellweger) aus dem Kanton App en- 
teil verheirathet. 

Mit religiöser Ehrfurcht trat ich in das Kabi- 
net, wo, bei seinem ähnlichen Bilde von Grafy 
öefsners letzte Landschaften hangen, welche 
als ein unveräußerlicher Nachlafs immer bei der 
Familie bleiben sollen. Hier steht auch seinö 
Büste, von der Hand des geschickten Luzer- 
ri er -Bildhauers 1 Christen« 

Dasjenige von Gefsners Gedichten, wofür 
er selbst die meiste Vorliebe hegte, und das er 
oft wiederlas, war der erste Schiffer; dem 
Tode Abels hingegen gab er die letzte Stelle 
unter seinen poetischen Werken. 

Vor einigen Tagen wurde ich sehr angenehm 
durch einen Besuch des Verfassers von Lien* 



223 

hard und Gertrud überrascht, dessen Be- 
kanntschaft ich mit wahrem Vergnügen wieder 
erneuerte. Er ist ein äußerst einfacher und 
ansprucbloser Mann , voll warmer Liebe fut 
Freiheit > Aufklärung und Volksgluckseligkeit, 
deren Beförderung und Erhaltung ihm so nahe 
wie das Wohl des geliebtesten Freundes , am 
Herzen liegt. 

In Toblers Hause lernte ich den Prediger 
J. G. S c h u 1 t h e f s kennen, der ein ganz vorzug- 
licher Kopf und ein Mann von ausgebreiteten 
Kenntnissen zu sejrn scheint. Er hat mehrer« 
Epigramme im Geschmacke der griechischen 
Anthologie gedichtet , worin eine unnachahm- 
liche Grazie und Feinheit herrscht. 

Im hiesigen botanischen Garten, wo ich 
einige sehr gluckliche Stunden zubrachte, blüht 
jetzt ein Tulpenbaum, der, an Schönheit und 
Gröfse , in Buropa wohl schwerlich seines; 
Gleichen hat. 

Herr S. sagt mir in seinem letzten Briefe / 
dafs er erst in der andern Hälfte dieses Monats 
hier eintreffen könne ; ich habe mich daher 



2*4 

entschlossen, fliesen Aufschub zu einer Refse- 
nach Graubündten zu benutzen, wohin ich 
morgen mit dem Boten von Chur abzugehen 

gedenke; 

Lebe wohl. 



Vier 



425 



Vier und zwanzigster Brief. 

Malans in Bündten , 14. Jul. 1793. 

vvas ich seit Jahren 59 sehnlich wünschte, hat 
mir der mil^e Genius der Freundschaft nun ge- 
währt. Salis, mein theu erster Bonstettenj 
ist endlich, wie nach einer gefahrvollen Welt- 
umschifFung, in den stillen Schatten der Häus- 
lichkeit zurückgekehrt , um sich nicht wieder 
daraus zu entfernen. Bald werden süfse Bande 
ihn fesseln ;. und so becjarf er keines Katos 
mehr; der ihn vor der Rückkehr in die Höhle 
des CyklopeÄ warne. 

Jetzt erst beginnt unsers Freundes wahres 
Leben; und allem Anscheine nach wird er das- 
selbe höher bringen, als der Konsul M. Plan« 
tius, der nur die neun Jahre, gelebt zu haben 
glaubte, die er, fern von Volksversammlungen 
und Waffenlerme, in einer edeln Muße hau« 
zubringen können. 1 

P 



2*4 

ent*ch]öt§en , Simsen Aufschub zu einer Reise 

nach Or/inböndten zu benutzen, wohin ich 

Jfiorgon mit dem Boten von Chur abzugehen 

{«denke* 

Lebe wohL 




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JfeiKSA -^ -»u. r->pr 



mir der anüse ^o^ t#er J i-rui^t^^^f laut ^ 
Währt. BiHi wexL limrue-i*sr fcv» . ^ r-M * 
ist endEst, ice jard «#*- ^^ur «^i*ea ***$ür 



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Mit« fr if «■*»!<> 






mehr, te- im. -vir t«r s ^x\^<.r n, 6*s. <>>/*-* 
des Csibit^sr w*m* 

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Lebern; nac alew rc^-s-rrj*- ?>r\ mr -^ ^ 
«dbe iiäter mag** -** >r -'. *«■- -* ^ 

tiUf, 4*8 IOC &L Uecl **.?.* ?<**.* t, 

glaubte, tu* -r üsm --» " ^'."f»?w" ****** 
und WaBsMin» . * *»**• <■*** ,»**«* *r>« 



32$ 

Am 6. Julius, Nachmittags um 4* Uhr, ver- 
ließ ich Zürich, bei hellem Sonnenscheine, 
in der Barke des Boten von Chur, die bedeckt 
und überhaupt sehr bequem eingerichtet ist. 
Wohlfeiler bin ich selten gereist. Für die zwan- 
zig Stunden von Zürich bis Malans bezahlte 
ich , mit Einrechnung aller Wirthsh auskosten , 
nicht mehr als einen neuen Louisd'or. Die 
Gesellschaft bestand meistens aus Zürichern, 
von denen einige nach Pfeffers,, andere nach 
Italien giengen. 

Nach Sonnenuntergänge landeten wir bei 
Meilen, einem Dorfe auf dem linken Seeufer/ 
wo wir die Abendmahlzeit schon bereitet fanden.* 
Als ich wieder zur Barke zurückkam , waren die 
Schiifleute eben beschäftigt, die Bänke daraus; 
Wegzuräumen, und Stroh zum Lager auszubrei- 
ten , auf welchem wir alle nebeneinander ftin- 
gereihet wurden. Dicht in meinen Mantel ge- 
wickelt, schlief ich unter dem Geräusche der 
Ruder sehr bald ein, und erst mit der Morgen- 
röthe erwachte ich von einem Schlummer, den 
der herrliche Dulder Odysseus auf seinem Lager 



/ 



2ZJ 

von dürren Blättern nicht süfser kann geschlafen 
haben. Das erste, was meinem Blicke sich dar- 

i 

stellte, war die Insel Ufnaü, die, wie von 
einem zarten Schleier um webt, im röthlicben 
Frühdufte zu schwimmen schien. Gern wäre 
ich ausgestiegen , um den heiligen Boden zu 
betreten, wo einer der gröfsten Deutschen, als 
ein hülfloser Verbannter, von Allen feigherzig 
verläugnet, die sich im Glücke seine Freunde 
genannt hatten , das Ziel seines stürmischen 
Lebens fand; aber die Barke gleitete vorüber, 
und nur im Geiste konnte ich an der Stätte 
verweilen , wo man die Gebeine des kühnen 
Sprechers der deutschen Nazion, derLuthern 
die Bahn brach , ins Grab senkte. Seitdem sind 
nun schon beinahe drei Jahrhunderte verflossen, 
und noch immer war jeder patriotische Versuch, 
eine vollständige Ausgabe seiher Werke zu ver- 
anstalten, und so seinen zürnenden Schatten 
zu versöhnen , aus Mangel an Unterstützung 
fruchtlos. Der vor zehn Jahren erschienene 
erste Theil blieb ohne Fortsetzung , weil er 
kaum so viel Käufer fand, als die eckelhafteste 



22$ 

Krudität aus der Zauber- Ritter- öder Gespen- 
sterwelt* Wahrlich y eine Nation , die gegen 
einen der vorzüglichsten Geister, die sie jemals 
hervorbrachte, dieser Gleichgültigkeit fähig ist, 
verdiente nie, einen Ulrich von Hütten zu 
den ihrigen zu zählen ! 

In Lachen, welches 7. Stunden von Zü- 
rich entfernt ist, wurden wir in drei Chaisen 
vertheilt, die uns gegen Mittag nach Wesen 
brachten, einem armseligen Städtchen, wo die 
meisten Häuser beinahe bis zur Hälfte im Mo- 
raste stecken, und dessen Atmosphäre, in Ab- 
sicht ihrer verderblichen Einflüsse , auf die Ge- 
sundheit der Einwohner, den Ausdünstungen der 
pontinischen Sümpfe nur wenig nachgeben 4bll. 
Die Fahrt auf dem Wallen Stadt er -See 
wird für eine der gefährlichsten in der Schweitz 
gehalten , weil seine Felsenufer fast überall * 
senkrecht abgeschnitten sind , und man daher 
bei einem plötzlichen Sturme ohne Rettung ver- 
loren wäre* Der Tag war schwül, die Barke 
unbedeckt, und so voll Menschen gepreßt > dafs 
mir der freie Gebrauch der Arme gänzlich' ver- 



«29 

sagt war, und ich mich beinahe in den Zustand 
versetzt sah, worin sich H oll well befand, 
als man ihn mit den Gefährten seines Unglücks 
in der schwarzen Höhle gefangen hielt« 
Unter diesen Umstanden war es kein Wunder, 
daß weder die malerischen Wasserfälle, noch 
die fantastischen Felsenformen der Seegestade, 
meine Seele zu sich emporzuheben vermochten. 
Nach einer Fahrt yon vier tödtlich langen Stunden 
landeten wir bei Wallenstadt. Im Wirths- 
hause sähe ich ein Familiengemälde von D i o g g , 
einem der geschicktesten Bildnilsmaler unserer 
Tage, der sich in Rappersch weil aufhält, 
und den ich kürzlich in Zürich, wegen seiner 
seltenen Bescheidenheit, so lieb gewonnen hatte* 
Hirzel, der .Verewiger Kleinjoggs, hat 
diesen Künstler und seine merkwürdige Bildung 
zum Gegenstande eines sehr lesenswürdigen 
Aufsatzes gemacht. 

Von hier setzten wir die Reise wieder zu 
Lande fort, und kamen mit einbrechender Dun- 
kelheit in Ragatz an, wo uns ein Gasthof zum 
Nachtquartiere angewiesen wurde, durch wel- 



*30 

eben ich ganz unerwartet eine anschauliche Idee» 
von efen spanischen Zigeunerherbergen bekam, 
die, wegen ihrer unbeschreiblichen Unsauber- 
keit, so weit berüchtigt sind. ' 

Am folgenden Morgen kam ich bei Salis 
4n, der noch bei seinem Vater im Schlosse 
Bodmar wohnt. Dies ansehnliche Gebäude 
liegt dicht hinter Mal ans auf einer Anhöhe, 
und beherrscht eine beträchtliche Strecke des 
großen Thals ; das, durch den Rhein get heilt, 
sich zwischen zwei höhen Bergketten fortwindet. 

Nachmittags besuchten wir den Obersten- 
Ton Pestalozzi, in dessen Tochter ich die 
künftige Lebensgefährtin meines Salis kennen 
lernte. Gewifs , ihm ' fiel ein schönes Loos ; 
denn die harmonische Vereinigung der sittlichen 
Grazie mit dem reinsten Natursinne und der 
sanftesten Weiblichkeit, verheifst ihm unwandel- 
bare Glückseligkeit, als Manne und als Greise. 

Nun wurden Plane zu Ausflügen in die um- 
liegende Gegend entworfen , die wir auch 
gröfstentheils ausführten. 

«Wir waren in Reichenau, wo eine Gesell- 



*3* 

schaft von Menschenfreunden, an deren Spitze 
ein Herr von Ts chamer steht, ganz kurz- 
lich eine Erziehungsanstalt errichtet hat, von 
der sich in mehrern Rücksichten viel Gutes 
erwarten läfst. Die Unternehmer haben das 
Reichenauer-Schlofs gekauft, und die Woh- 
nungen der Lehrer und Zöglinge so bequem 
und zweckmäßig einrichten lassen , dafs ich , 
aufser den Philantropisten- Zimmern im ehema- 
ligen Dessauischen Erziehungsinstitute , nichts 
musterhafteres in dieser Art gesehen habe. Von 
einer Terrasse des Schlofsgartens sieht man 
die Vereinigung des Vorder- und Hinter- 
Rheins aus dem vorteilhaftesten Standpunkte. 

Zu Chur brachte ich nur wenige Stunden 
in gemischter Gesellschaft zu. Sem onville 
ist neulich hier durchgegangen , hat überall , 
nach gewohnter Weise, wie ein Bassa vergeu- 
det , und soll sogar die unerhörte Forderung 
einiger Fuhrleute, täglich für jedes Pferd einen 
Louisdor zu bezahlen, ohne sich auf irgend eine 
Einwendung einzulassen, befriedigt haben. 

Im Bade zu Pfeffers konnte ich der Ver» 



«3» 

«ndiung nicht widerstehen, den gefährlichen 
Gang nach der Quelle zu wagen ; und ich 
wünsche mir jetzt Gluck, diese Naturmerkwür- 
digkeit gesehen' zu haben, die mich . wechsels- 
weise mit Bewunderung und Grausen erfüllte. 

Nachdem unser Führer die Pforte des Ein- 
ganges aufgeschlossen hatte, glaubten wir uns 
plötzlich aus der freundlichen Oberwelt an die 
Thore des Orkus versetzt. Zwei hohe Felsen- 
mauern , - aus unförmlichen Massen , wie vpn 
Titanenhänden , wild- übereinandergethürmt , 
bilden eine Art von Gallerie, an deren linker 
Wand die Röhren hinlaufen, welche die Quelle 
ins Badehaus leiten. Sie sind mit eisernen Stan- 
gen und Klammern daran befestigt, eben so 
wie die Bretter, die uns jetzt zum Stege dienen 
sollten. Unter dieser unsichern Brücke, die so 
schwach ist, dafs nie zwei Personen dic^it hin- 
tereinander darauf gehen dürfen, wälzt sieb die 
Tarn ine, ein wüth ender Bergstrom, in grau, 
senvoller Tiefe , mit dem Donner einer Kata- 
rakte; und derjenige, unter dessen Füfsen das 
über diesem schrecklichen Abgrunde schwan- 



*33 

"Jtende Brett bräche, würde unvermeidlich seinen 
Untergang in der tobenden Fluth finden, aus 
welcher eben so wenig Rettung zu hoffen ist, 
a)s aus dem Schlünde der Charybdis. Heber 
uns wölbten sich die Felsenwände bald völlig 
zusammen; bald trennten sie sich wieder, und 
liefsen ein mattes Dämmerlicht durch Qeffhun- 
gen einfallen, an deren Hände ungeheure Stein- 
blöcke in zweifelhaftem Gleichgewichte hiengen, 
und jeden Augenblick herabzustürzen drohten. 
Zuweilen ward die Felswand, an welcher wir, 
wegen der häufigen Vorsprünge, mehr gebückt 
als aufrecht fortgi engen , durch Vertiefungen 
oder Höhlen unterbrochen; und dann lief das 
schmale Brett völlig freischwebend über die 
Tiefe hin , vor deren betäubendem Aufrühre 
keiner von uns die Stimme des andern hören 
konnte. An einer solchen Stelle sank der I^uth 
einem von der Gesellschaft so tief, dafs er auf 
die Ehre des erreichten Zieles Verzicht tbat und 
wieder umkehrte. Aber wir übrigen schritten 
herzhaft fort, bis uns das aus einer Seiten Öff- 
nung der linken Felswand hervorströmende 



*34 

Dampfgewölk das Ende unserer Wanderung 
▼erkündigte. Bald sahen wir den Ursprung der 
Queue selbst, deren abenteuerliche Entdek- 
knngsgeschichte ich dir, dem, beim Studium 
der Vaterlandshistorie, keine Chronik, ja bei- 
nahe keine Legende und Volksüberlieferung 
entgangen ist, nicht zu wiederholen brauche* 

Hierauf begaben wir uns auf den Ruckweg ; 
und freudig., wie Milton nach seiner Höllen- 
reise, begrülste ich das Sonnenlicht, als wir 
wieder beim Badehause ankamen. 

Den angenehmsten Tag meines Aufenthaltes 
in Graubündten, brachte ich, mit einer 
kleinen, aber erlesenen Gesellschaft, in einer 
Sennbütte zu. Das Wetter war wie aus dem 
Paradiese, und die Gegend von bezaubernder 
Mannigfaltigkeit. In der Ferne ragten zahllose 
Berggipfel in die dunstlose Bläue des Himmels 
auf; aber majestätischer als alle seine Nachbaren, 
erhob der Kai an da sein graues Haupt. Zu 
unsern Fußen lag der Blecken Mal ans, und 
weiterhin strömte der Rhein durch eine mit 
Dörfern und einzelnen Wohnungen übersäete 



* 



*35 

Ebene. Nicht weit von der Sennhütte blickte 
die alte Burgveste Wein eck aus dunkelm Ge? 
büscbe hervor ; Haine schatteten in traulicher 
Nähe, und kristallhelle Bäche zitterten durch 
die blumigen Matten. In jenen lagerten wir 
uns , unter Scherz und Gesänge , froh wie 
Gefsnerische Schäfer, auf Moose; und in 
diesen kühlten wir unsere Flaschen. i*ängs den 
Hecken blühte das herrliche Cyclamen euro» 
paeum, dem seine zurückfallende Blumenkrone: 
ein so sylphenhaftes und ätherisches Ansehen 
giebt, dafs man verführt werden könnte, beim 
Pflücken leise aufzutreten, wie beim Haschen 
eines Schmetterlings. 

Wir weilten in dieser reizenden Gegend 
Bis Hesperus, gleich einer goldnen Flocke, 
Aus Wolken drang ; 

und, Trotz meines Widerwillens gegen alle 
Denkschriften und Seelenergiefsungen an Wän- 
den, Thüren und Fensterscheiben, schrieb ich 
in der Freude meines Herzens , zum Andenken 
dieses schonen Tages , an einen Pfosten der 
Hütte : Pixi. 



*36 

Oft gedachten wir Deiner, mein geliebter 
Freund, und wünschten Dich in unsere Mitte. 
Wenn Du vielleicht am zwölften Julius gegen 
Sonnenuntergang deinen gewohnten Spatzier- 
gang am See machtest, und der Abendwind 
deinem Ohre Töne zuführte, deren Ursprung 
Du dir vergeblich zu erklären suchtest ; so 
»wisse, daß sie von der landlichen Harmonika 
unserer Gläser ausgiengen, die wir unter froher 
Nennung deines Namens zusammenstießen. 



\ 




*37 



Fünf und zwanzigster Brief,' 
Ermatingen am Bodensee, 4. Aug. 1795. 

Ich habe dir ein Beispiel von patriotischer To- 
desverachtung zu erzählen; das einer Stelle im 
Thucydides öder Livius werth gewesen 
Wäre. Es ward mir aus einem Briefe mitge- 
theilt, den ein französischer Kaufmann, mit 
dem ich neulich in Konstanz zusammentraf, 
von seinem Sohne erhalten hatte , der sich 
bei der Armee in Nizza befindet. Ich gebe 
dir das Faktum so einfach und schmucklos , 
wie ich es aus dem Munde meines Gewährst 
xnannes empfieng. 

Ein französischer Grenadier war auf einer 
kleinen Expedition an den Grenzen der Graf- 
schaft Nizza , man weifs nicht recht dureb wel- 
chen Zufall , von seinen! Korps, abgekommen , 
und irrte in einer wilden und bergigen Gegend' 
allein umher. Hier ward er plötzlich von einer 



*38 

feindlichen Patrouille umringt und entwaffnet. 
Das erste, was die Pjemonteser von ihrem 
Gefangenen begehrten, war, seinem politischen 
Unglauben zu entsagen, und vive le Roil zu 
rufen. Kalt und fest sagte dieser : ca ira ! Du 
bist des Todes , wenn du nicht auf der Stelle 
vive le Roil rufst, schrieen jene noch einmal. 
Der Franzose wiederhol (e sein ca ira. „ Nun, 
„'zum letztenmal! wenn dir dein Leben lieb ist, 
;,so sagst du vive le Röi ! " Bei diesen Worten, 
die schon mit wuth ender Leidenschaft ausge- 
stoßen wurden , kehrten sich alle Bajonetter 
gegen! die Brust des Republikaners. Da rifs 
dieser seine Weste auf, und weihte sich dem 
Tode mit den Worten : $a ira sans moi l 
kaum hatte er diese-. mit einem Tone ausge- 
sprochen, der dem sterbenden Gefangenen die 
ganze Wurde eines triumphierenden Siegers 
gab , als er unter den Stichen seiner Mörder 
zu Boden sank. 

Den Namen des Helden hatte der Korre- 
spondent nicht erfahren können, oder zu nen- 
Äeri vergessen; ich habe daher den Kaufmann 



angelegentlich gebeten , sobald er wieder in 
jene Gegend schreibt, sich darnach zu erkun- 
digen, und mir denselben mitzutheilen. Wie 
mancher Name kam schön um die verdiente 
Unsterblichkeit, weil er nicht zur rechten Zeit 
aufgezeichnet wurde ; und auch diese erhabene' 
Todesgeschichte wäre vielleicht in ewige Ver- 
gessenheit gesunken , wenn nicht einer der 
Äugenzeugen > glücklicherweise y noch genug 
Sinn und Gefühl gehabt hätte, um das Grofse 
darin zu fassen, und ihre ursprüngliche Aecht-^ 
heit weder durch Zusätze noch Weglassungen 
zu verfälschen. 

Ein Volk, das solche Patrioten zu verlieren 
hat, droht der Geringschätzung seiner Kriegs- 
macht eine fürchterliche Rache ; und das Bei- 
spiel dieser freiwilligen Aufopferung allein, das* 
schwerlich das einzige der Art bleiben dürfte/ 
ist in seinen unausbleiblichen Wirkungen mehr* 
als eine ganze Armee. 

Eine der Hauptursachen des bisherigen Mifs- 
lingens so vieler gegen Frankreich angelegten 
Plane, ist unstreitig die höhnende Verachtung 



i4<> 

seiner militärischen Kräfte > die im Anfange, des 
Krieges so weit gieng, daß mehrere angesehene 
Offiziere zu * * * *. im völligen Ernste der 
Meinung waren, ein Soldat könne, ohne sich 
xu entehren, nicht gegen jenes zusammengeraffte 
Gesindel fechten ; und das Befste , um allen 
unangenehmen Kollisionen vorzubeugen, wäre 
daher, nach ihrem unmaafsgeblichen Dafürhal- 
ten, einige Regimenter Juden an den Rhein 
marschieren zu lassen. 

In der Beantwortung deiner Fragen über 
meine hiesige Lebensweise kann ich kurz seyn. 
Meine Geschäfte sind völlig dieselben, wie zu 
Grandklos, und in unserer ganzen Tages- 
ordnung ist keine Veränderung von einiger Er- 
heblichkeit vorgegangen« Herr S * * *. wird sich 
wahrscheinlich bis zum Oktober hier aufhalten. 

Die Lage des Schlosses, das wir bewohnen, 
ist äufserst anmuthig; und diejenigen Zimmer, 
welche nach der Seeseite gehen, haben eine 
weite und reiche Aussicht. Zu meiner Freude 
ist mir eins der letztern zu Theil geworden ; 
und so oft ich vom Schreibtische aufblicke, zeigt 

sich 



24 1 

sich mir die Insel Reicbenau, und hinter 
derselben das lieblichste Gemisch von Hügeln, 
Dörfern und Hainen, bis zur Bergveste Hohent- 
wiel, die, im bläulichen Dufte der Ferne, den 
Gesichtskreis begrenzt. Dem Maler, welcher 
es unternähme, diesen Prospekt darzustellen, 
wurde die Befolgung des thebanischen Gesetzes, 
das dem Künstler die Nachahmung ins Schönere 
befahl ( it? ro ngsirrov (Ufw&ou) , ziemlich schwer 
werden. 

Mein gestriger Spatziergang führte mich nach 
der Anhöhe von Kastei, wo die bemooste 
Burgruine gegen das daneben gebaute neue 
Schlofs malerisch absticht. Hier ist unstreitig 
die Stelle, wo man die Ufer des Bodensees 
in der gröfsten Ausdehnung und reitzendsten, 
Mannigfaltigkeit übersiebt. 

Ich blieb den ganzen Vormittag bei der 
Ruine, und genofs, mit der heitersten und of- 
fensten Seele, des Anblicks der vor mir ausge- 
breiteten Gegend, die mit Recht zu den ent- 
zückendsten des Erdbodens gezählt wird. In 
diesen dichterischen Stunden, wo so manches 

Q 



magische Bild der Phantasie vor mir aufstieg, 
wurde, bei meiner überwiegenden Vorliebe für 
den Genfersee, dessen ich sogar hier mit 
Sehnsucht gedachte , auch sehr natürlich der 
dlte Wunsch wieder in mir erneuert : Mit Bei- 
hülfe des Genius von Aladdins Lampe, oder 
des Riesen, der, nach einer altnordischen Sage, 
Seeland von Schweden losrifs, die Insel 
Meinau zwischen Vevey und Meillerie 
hinversetzen zu können , wo sie von unbe- 
schreiblicher Wirkung seyn müßte , indefs sie 
in ihrer gegenwärtigen , höchst unvorth eilhaf- 
ten Lage , nur an wenigen Orten ganz isolirt 
erscheint. 

Um dies Wunder , womit dem Deutschen 
Orden freilich eben nicht sehr gedient seyn 
könnte, ganz unfehlbar zu bewirken, bedürfte 
es nichts weiter , als der erwähnten Zauber- 
lampe, die Kagliostro aus den egyptischen 
Pyramiden, wo sie schon seit Jahrhunderten in 
einem Mumienkasten begraben liegt, unbegreif- 
licherweise mitzubringen vergessen hat , oder 
auch nur eines skandinavischen Runenstabes, 



*45 

der vielleicht noch leichter zu haben seyn würde. 
Das zweite und bei weitem größere Wunder > 
welches der glucklichen Ausführung dieser Idee 
unmittelbar folgen müfste , und wodurch die 
Weltweisen unserer Tage in kein geringeres 
Erstaunen gesetzt werden dürften , als die Na- 
turforscher von Lausanne und Genf durch 
die Erscheinung der entführten Insel , wäre 
nichts mehr und nichts weniger, als: Die Stif- 
tung einer kleinen platonischen Republik auf 
Meinau im Genfersee. 

Dies alles vertraue ich dir unter den Rosen 
der Freundschaft; denn bei grofsen und uner- 
hörten Unternehmungen mufs man weder Keime 
noch Blüthen, die so mancherlei Zufällen unter- 
worfen sind, sondern nur zeitige Früchte vor 
das Anschaun des Publikums bringen. Eine 
goldene Regel, deren geringes Ansehen in der 
gelehrten und politischen Sphäre, zu den älte- 
sten Klagen der Welt- und Menschenverbesse- 
rer gehört. 

Ucber den vorgeblichen Smaragd im Kloster 
der Insel Reichenau, den ich, auf meiner 



»44 

ersten Reise durch diese Gegenden, für einen 
Glasflufs hielt , habe ich mich nun eines bes- 
sern belehrt; es ist ein grüner Flußspath, und 
als solcher von großer Schönheit. 



*45 



Sechs und zwanzigster Brief» 



Grandklos, 20. Okt. 1793* 
• 

Du erhältst hier * * * s Schweizerreise zurück. 
Wann werden doch unsere Alpenpilgrimme auf- 
hören, Nachteulen nach .Athen zu tragen? In 
diesem ganzen dicken Bande ist auch nicht Eine 
Spur von Neuheit oder Eigentümlichkeit ; alles 
ist schon hundertmal übergedroschen, und der 
Reisende erscheint von der ersten Seite bis zur 
letzten, als ein Mann, der seinen Vorgängern 
eben so sklavisch nachschritt und nachkletterte, 
wie er ihnen" jetzt nacherzählt und nachexklamirt. 
Es geht in der Schweitz wie in Italien : die 
meisten Fremden wandeln Schritt vor Schritt 
hintereinander her, wie Sancho Pansas Gänse; 
und die alten Fufsstapfen sind nach grade so tief 
ausgetreten, dafs niemand mehr hoffen darf, 
ohne Stolpern darin fortzukommen« 



£4$ 

Es ist kaum begreiflich , dafs von allen 
Schweizerpilgern , die seit so vielen Jahren ihre 
vor und nach der Reise geschriebenen Tage- 
bücher in öffentlichem Drucke haben ausgehen 
lassen , noch keiner , vom Geiste des Ruhms 
oder der Neugierde getrieben, die Heerstrafse tf 

( wo freilich die trefiichen Wirthshäuser sehr oft 
die Rolle des Magnetenberges im arabischen 
Mährchen spielen) verlassen hat, um, auf sel- 
tener betretenen Seitenwegen, alle bisher ver- 
nachlässigten und im Auslande so gut als unbe- 
kannte Merkwürdigkeiten Helvetiens aufzusu- 
chen, und in einem eigenen Werk zu beschrei- 
ben. Deutschland würde erstaunen über die 
reiche Nachlese von Naturwundern , so wie 
Italien über die Menge der alten Denkmäler 
erstaunte, die unserm Winkelmann noch zu 
erläutern übrig geblieben waren. 

Wie vieles ist nicht allein in unserer Nähe , 
was der Darstellung eines Mein er s oder 
Hirschfelds würdig wäre ! Von den Wasser- 
füllen , die an den einmal als kanonisch aner- 
kannten Reiserouten liegen , giebt es fast eben 



247 

so viele Beschreibungen , als Bildnisse voll 
Friedrich oder Voltaire; wer aber erwähnt 
der Tine de Konflans, einer Kaskade zwi- 
schen Lasar a und Kossonay, zu welcher 
sich , in Absicht ihres originellen Lokalcharak- 
ters , schwerlich irgendwo ein Seitenstück findet, 
auch nur mit einem Worte ? Wer gedenkt an- 
ders, als im Vorbeigehen, des Ursprunges der 
O r b e , dessen Aehnlichkeit mit Vauklüse) 
mich so angenehm überraschte , und der an 
Berühmtheit jener Quelle gewifs nicht weichen 
würde, wenn in seiner Nähe ein Petrarka 
gelebt, oder ein Horaz ihm ein Lied geweiht 
hätte ? Wer hat von der Grotte bei Montche- 
rand, die nach meiner Empfindung, mit ihren 
Umgebungen , dasfhöchste des Romantischen 
ist, nur ein einzigesmal so umständlich gespro- 
chen, wie man schon hundertmal von Meille- 
ries Felsen sprach; die wir gewifs nur selten 
nennen und noch seltener besuchen würden, 
wenn die Zauberkraft des Genies ihnen nicht erst . 
ein so allgemeines Interesse verschafft hätte ? 
So konnte ich noch lange zu fragen fortfah- 



*48 

ren , wenn ich den kleinen' Bezirk , der ttdt 
grade zuerst einfiel, verlassen, und in entfern- 
tere Gegenden übergehen wollte. Genug, es 
steht künftigen Reisebesch reibern noch ein wei- 
tes Feld zu neuen Eroberungen in der Eidge- 
, nossenschaft offen , so bald sie sich entschließen 
wollen, neue Pfade zu betreten, vorzüglich in 
[Wallis, Graubündten und den italiänischexi 
Landvogteiea. 



M9 



Sieben und zwanzigster Brief. 

Ulm, 23. Jun. 1794» 

jVliller, bei dem ich seit meiner Abreise von 
Zürich den ersten Rasttag hatte, ist in Amts- 
geschäften ausgegangen und bis zu seiner Wie- 
derkunft kann ich mich mit dir unterhalten, 
lieber Bonstetten. Dem Blatte, worauf ich 
an dich schreibe ,' dient eine Mappe zur Unter- 
lage , die einst Hölty gehörte, und jetzt, als 
ein heiliges Andenken der Freundschaft, immer 
auf Millers Pulte liegt. Bei Erblickung der 
Schriftzuge des liebenswürdigen Sängers, womit • 
diese Reliquie überall bedeckt ist, gedachte ich 
seines meist freudenlosen Lebens und frühen 
Hinwelkens, und seufzte aus dem Innersten der 
Seele: Armer Hölty I • 

Meine Reisegeschichte von Bern bis Ulm 
enthält eigentlich nichts was des Niederschrei- 
bens werth wäre. Da Du aber schon mehr als 



35o 

einmal meinen Briefen Mangel an Umständlich* 
keit vorgeworfen, und noch ausdrücklich beim 
Abschiede den Wunsch geäußert hast, mich auf 
der langen Kometenbahn meiner jetzigen Reise, 
bis zur Wiederkehr in den Schoofs der Alpen , 
Schritt vor Schritt zu begleiten ; so magst Du 
dir es selbst zuschreiben, wenn meine Erzäh- 
lungen mit unter nur ein Gewebe von Gering- 
fügigkeiten seyn werden, die ihrer Natur na et 
lange Weile erregen mufsen, so bald man nicht, 
wie Marivaux oder Sterne, die seltene Kunst 
in seiner Gewalt hat , aneh den alltäglichsten 
Ereignissen, durch Laune, Witz und Humor, 
Leben und Interesse zu geben. 

Von Zürich bis Konstanz reiste ich in 
der Diligence schnell , bequem und wohlfeil. 
Meine Gefährten waren ein Exkapellmeister des 
Fürstbischofs von Basel, und ein Tuchhändler 
aus dem E Isafs. Jener hatte durch die Revo- 
luzion seine Stelle und ganze Habe verloren, 
dieser hingegen bei Gelegenheit einiger Tuch- 
lieferungen für die Armee beträchtlich dadurch 
gewonnen. Dar politische Glaube dieser Her- 



251 

ren war folglich schwarz gegen weiß, ohne die 
allergeringste Mitteltinte. Auch geriethen sie 
bald so heftig an einander, dafs ich es für Pflicht 
hielt, durch einige an den Tonkünstler gerich- 
tete musikalische Fragen, den Fortgang eines 
Gesprächs zu hemmen, dessen Katastrophe für 
diesen, dem sein sanskülottischer Antagonist an 
Körperkraft bei weitem überlegen war, sehr 
unglücklich hätte ausfallen können. 

Wie traurig, dafs man im ganzen Umkreise 
der durch Frankreichs Revoluzion erschüt- 
terten Länder , beinahe nirgends mehr einen 
Schritt mit Menschen oder unter Menschen thun 
kann, ohne vom Gifthauche des unreinen Par- 
theigeistes angeweht zu werden, vor welchem , 
in Hütten und Palästen, jede schöne Blume der 
Geselligkeit und Lebensfreude dahinstirbt ! 

Der Gefährte , mit dem du ehemals eine 
Strecke Weges zurückzulegen hattest, erleich- 
terte dir die Beschwerden desselben durch Froh- 
sinn und Gespräch, und beim Handdrucke des 
Abschiedes lasest du in seinem Auge den Wunsch, 
dir noch einmal wiederzubegegnen ; jetzo forscht 



und späht er mit mistrauiscber Lauersamkeit , ob 
du dich zur weifsen oder dreifarbigen Kokarde 
bekennst, und die entdeckte Abweichung dei- 
ner politischen Grundsätze von den seinigen be- 
stimmt ihn, entweder alle weitere Gemeinschaft 
mit dir zu vermeiden, oder dich mit fanatischer 

Bekehrungswuth , als einen Feind der allgemei- 

t 
nejrf Gluckseligkeit, anzugreifen. Wie oft sind 

mir, bei solchen Anläfsen , schon die Sekten 
des Omar und Ali eingefallen, deren eine die 
Abwaschung vom Ellenbogen, die andere aber 
von den Fingerspitzen anfangt. Kaum hat ein 
Anhänger des Ellenbogens seinen Reisegefährten 
bei dieser heiligen Handlung zuerst die Finger- 
spitzen benetzen gesehn , so ist plötzlich der 
Friede gebrochen, und derjenige, mit dem er 
vorher in bruderlicher Eintracht lebte, ist nun 
vor den heftigsten Ausbrüchen des Hasses keinen 
Augenblick mehr sicher. 

Ein sehr lächerlicher Hahnenkampf fiel, beim 
Abendessen in Konstanz, zwischen dem Hof- 
rath X. und dem Rathsherrn von Y. vor. Erste- 
rer trachtete durch Stellen aus der Apokatyp se 



*53 

die Notwendigkeit und Rechtmäfsigkeit der 

französischen Revoluzion zu erweisen, und lez- 

terer demonstrirte , mit ernster Diktatormine, 

i 
das sonnenklare Geg entheil aus dem römischen 

Rechte. Ein ausgewanderter Geistlicher nahm 
hieran ein so grofses Aergernifs, dafs er, mit 
einem Blicke voll unwilliger Verachtung auf den 
apokalyptischen Demokraten, vom Tische auf- 
stand und das Zimmer verliefs. 

Der nemliche befand sich am folgenden 
Morgen, bei der Ueberfahrt nach Mörspurg 
mit im Postschiffe. Nach seiner Angabe haben 
wenigstens 34,000 Priester Frankreich ver- 
lassen. Was mir in der Unterhaltung mit ihm 
am meisten auffiel , war folgende Aeufserung , 
die ich am allerwenigsten von einem gesunden 
und kraftvollen Manne erwartet hätte, der noch 
in der Blüthe des Lebens war. 

„Kein Mensch, der ein Gewissen hat," sagte 
er mit vieler Lebhaftigkeit , „ wird uns die Aus- 
„ Wanderung aus unserm Vaterland noch ver- 
denken, $0 bald er weifs, dafs man uns sogar 
„zur Ehe verpflichten wollte." 



»54 

Die Ueberfahrt dauerte anderthalb Stunden. 
Die Ferne war heiter , und die Luft so mild , 
dafs ich mich bei ihrem Wehen eben so wenig 
in der Mitte des Januars , als bei obigem Aus« 
Spruche des Geistlichen im achtzehnten Jahrhun- 
dert glaubte. 

In Memmingen, einer schwäbischen freien 
Reichsstadt, wo alles Wohlstand und Gewerb- 
samkeit ankündigt , hörte ich den Wirth im 
Weifsen Ochsen, mit wahrem Vergnügen , 
einige von ihm selbst komponirte Melodien spie- 
len. Er heifst Rheineck, und wird in diesen 
Gegenden als Tonkünstler sehr geschätzt. Schon 
mehrere musikalische Sammlungen sind von ihm 

9 

erschienen , und mit Beifall aufgenommen wor- 
den. Besonders gelingen ihm launige und fröh- 
liche Gesänge. Wie mich ein deutscher Dichter 
befremden würde, der weder die Messiade 
noch den Oberon gelesen hätte; eben so be- 
fremdete mich hier ein Tonkünstler, dem der 
treiiiche Schulz kaum dem Namen nach bekannt 
war. Wie kann man Kenner, Freund und Aus- 
über der Tonkunst seyn, und sicli doch so wenig 



*55 
um ihre ersten Meisterwerke bekümmern ? Wenn 
es mit dem so oft erhobenen musikalischen Ge* 
scbmacke und Gefühle der Deutschen seine völ- 
lige Richtigkeit hätte , würden, vom Boden- 
see bis zur Eider, die Chöre aus der 
Athalia sicherlich auf keinem Klavierpulte 
fehlen. 

Hier in Ulm fand ich die freundschaftlichste 
Aufnahme bei dem Professor Miller, den ich 
schon vor mehrern Jahren persönlich kennen und 
wegen seines biedern Charakters hochschätzen 
gelernt hatte. Es macht seinen Mitbürgern Ehre, 
dafs sie seine hervorstechenden Verdienste als 
Volks- und Jugendlehrer zu würdigen wissen > 
und er einer allgemeinen Achtung geniefst. Auch 
Miller der Dichter wird gewifs so lange fort' 
leben, als der Sinn für altdeutsche Herzlichkeit, 
süfse Naivetät und edle Einfalt, nicht gänzlich 
unter uns ausstirbt. Viele seiner Lieder sind im 
Munde aller Stände. Seit einigen Jahren hat er 
beinahe nichts mehr für das Publikum gesungen ; 
und er gehört zu den wenigen deutschen Dich- 
tern, die ihre Laufbahn zu früh beschlossen 



j 



256 

haben. Doch vielleicht war er der goldnen 
Worte eingedenk , die eins unserer größten 
poetischen Genies , schon vor dreißig Jahren , 
allen Günstlingen der Musen zu beherzigen gab.. 
„Es ist gewifs," sagt der Sanger der Theodicee, 
„dafs unter allen Schriftstellern sonderlich die 
„Dichter einen gewissen Zeitpunkt haben , wo 
„sie zu schreiben aufhören sollen. Es ist nur zu 
„bedauern, dafs sie unter allen am wenigsten 
„ diesen Zeitpunkt bemerken. 1 ' 

Die in dieser Stadt befindlichen französischen 
Kriegsgefangenen , deren Anzahl sich auf tausend 
beläuft, werden mit vieler Menschlichkeit behan- 
delt, und sind daher sehr unzufrieden, dafs sie" 
in einigen Tagen nach Linz abgehen sollen, wo 
sie, aller Wahrscheinlichkeit nach, ein weniger 
mildes Schicksal zu erwarten haben. Unter den 
Offizieren ist ein junger Elsasser von vorzüg- 
lichen Kenntnissen, der, als Kandidat der Theo- 
logie , gezwungen ward , eine Hauptmannsstelle 
anzunehmen , und sich nun, wie unzahlige sei- 
ner übrigen Waffenbruder, so weit von seiner 
ersten Laufbahn weggeschleudert sieht, dafs ihm 

nicht 



*57 
nicht die geringste Hoffnung bleibt , sie je wie- 
der zu betreten. 

Hier mufs icb abbrechen. Lebe wohl, Theu- 
erster ! Meinen nächsten Brief erhältst du aus 
Stuttgardt, wo ich einige Tage zu bleiben 
Willens bin. 



R 



*58 



Acht vhd zwanzigster Brief. 

Smttgardt , den 27. Jan. 1794. 

Ich grufse dich mit hinstrebender Seele, mein 
Bonstetten ! der Du vielleicht in dieser Mor- 
genstunde, am Kamine, vor dem Bilde unsers 
verewigten Bonne ts , auch deines Freundes ge- 
denkst. Diese Vorstellung beseligt mein Herz , 
das zwar von dem deinigen entfernt , aber nie 
geschieden seyn kann. 

Seit zwei Tagen bin ich nun im Hause des Pro* 
fessors Hartmann, eines meiner ältesten und 
gepruftesten Freunde , der auch zu den wenigen 
gehört , die lieber seyn als* scheinen mögen, 
und das stille Bewustseyn edler Wirksamkeit , 
im angewiesenen Berufskreise , für beglückender 
halten, als den ganzen Flitterprunk einer oft sehr 
wohlfeil erkauften Celebrität, der in uns er m Va- 
terlande , nur allzuhäußg, vom Dampfe kriti- 
scher Windlichter geschwärzt , wie die unächten 



*59 
Tressen eines Theaterkleides , nach kurzem 
Schimmer ein Raub der Trödelbuden und Plun- 
derkammern wird. 

Am Tage meiner Ankunft wurde eben Hart- 
roanns erstes Kind getauft. Ich war mit als 
Taufzeuge eingeschrieben ; und dieser Umstand 
machte mir das Wiedersehen meines braven, von 
der Wonne des Vatergefühls tief durchdrungenen 
Freundes , doppelt angenehm. Nichts im Er- 
denleben geht doch über häusliches Glück ; und 
wessen Herz und Geist in einem edlen Weibe , 
hoffnungsvollen Kindern und erlesenen Büchern, 
nicht volle Befriedigung und daurenden Genufs 
findet , der wird ewig begehren, ohne jemals zu 
erlangen , und seine Arme nach Wolkenbildern 
ausstrecken , bis der Tod ihn zur Ruhe bringt. 

Zu den wichtigsten Veränderungen , die seit 
meinem letzten Hierseyn inStuttgardt vorge- 
gangen sind, gehört unstreitig die Aufhebung 
der Militärakademie, womit die hiesigen Ein* 
wohner, wegen des Verlustes der großen Geld- 
summe , die dadurch unter ihnen in Umlauf ge- 
setzt ward ; nicht anders als sehr unzufrieden seyn 



26a 

können. t)ie Professoren bleiben , wie billig , 
bis 'zu anderweitiger Beförderung , iui Genüsse 
ihres Gehalts. Diese berühmte Anstalt , welche, 
ihrer hervorspringenden Mängel und Sonderbar- 
keiten ungeachtet , dennoch für das allgemeine 
Wohj gewifs nicht vergeblich da gewesen ist , 
war hauptsächlich darin einzig in ihrer Art , dafs 
sie sich beinahe über das ganze Gebiet der Wis- 
senschaften und Künste ausdehnte, und jedes an- 
geborne Talent entwickelte und bildete. Aus ihr 
«ind Gelehrte, Dichter, Maler, Bildhauer, 
Kupferstecher, Schauspieler, Tonkünstler, San- 
ger , ja sogar Tänzer hervorgegangen , die , fast 
ohne Ausnahme, der Schule, worin ihre jedes- 
malige vorzüglichste Naturanlage erforscht und 
geweckt wurde, mehr oder weniger zur Ehre ge- 
reichen. 

Eben jetzt verliefs mich einer der hoffnungs- 
vollsten Zöglinge der Akademie , der sich unter 
der Leitung des verdienstvollen Professors 
H e t s c h der Malerei widmet , und gewifs der- 
einst , wenn er fortfährt wie er begann , das in- 
nerste Heiligthuni^ der Kunst zu betreten hoffen 



2.6t 

darf. Schon hat der Jungling Versuche geliefert, 
die von den Werken des Mannes die glänzend- 
sten Erwartungen erregen. Bald geht er nach 
Rom, wo sein Genie, das hoffe ich zum hohen 
Enthusiasmus der ihn beseelt , durch das Stu- 
dium Raphaels und der Antiken, sicherlich 
seinen Reifpunkt erreichen wird. Dieser junge 
Künstler ist ein Bruder meines Freundes H a r t- 
mann. 

Von der schlafenden Venus , in der Gemäl- 
desammlung seines Vaters, die mehrere bewähr- 
te Kenner dem Tizian zuschreiben, hat er ei- 
ne Kopie verfertigt, welche die gegründete Er- 
wartung erregt , er werde auch in Arbeiteu die- 
ser Gattung, die für die weitere Verbreitung und 
Beförderung des wahren Geschmacks in der Ma- 
lerei, von so hoher Verdienstlichkeit sind, zu 
einer vorzuglichen Geschicklichkeit emporsteigen. 
Auch eine vollkommene Kopie verewigen die 
Jahrbucher des Nachruhms; und jene des An- 
dreas del Sarto ,' die Julius Romanus, 
der die Drapperie am raphaelischen Urbilde 
selbst gemalt hatte , nicht davon zu unters choi« 



den wufste, wird nicht seltner genannt, als 
dieses. 

Gestern war ich im Schlosse, um die Korne- 
lia vonHetsch zu sehen. Dies Gemälde hat 
einen unvertilgbaren Eindruck auf mich ge- 
macht. Die Mutter der Gracchen stellt der eiteln 
Römerin , welche ihre Kleinodien vor ihr aus- 
breitet , die ihrigen in ihren Kindern dar. Die 
Kopfe der beiden Knaben, die eines Albano 
würdig wären , und wobei die Grazien selbst den 
Pinsel ihres Freundes geführt zu haben scheinen, 
gehören unstreitig zu den lieblichsten Zaubereien, 
welche die Kunst jemals hervorgebracht hat. Ich 
sah auch einige Bildnisse von der Hand des nem- 
lichen Künstlers, welche in Absicht der Stellung, 
und besonders der Lage der Arme , die , wie ei- 
ner unserer witzigsten Schriftsteller sehr trefend 
sagt , fast immer von der Lage der Flügel an ei- 
nem gebratenen Huhne geborgt zu seyn scheint , 
allen angehenden Portraitmalern zur Nachah- 
mung vorgehalten zu werden verdienen. 

Unmöglich kann ich hier die Veränderung 
unberührt lassen , welche kürzlich an den De- 



263 

ckengemälden des Schlosses mit einigen nackten 
Figuren vorgegangen seyn soll. Man erzählt 
ziemlich , daß mehrere Maler befehligt worden 
wären, diejenigen Plafondfiguren , welche sich 
in dem Zustande befänden , worinneine der be- 
rühmtesten griechischen Schönheiten kein Be- 
denken trug , sich den Blicken des ganzen ver- 
sammelten Volks darzustellen, durch dichtschlei- 
ernde Gewänder selbst dem Auge einer Vestalin 
anschaubar zu machen. Ist dies nicht etwa, wie 
ich so gern zur Ehre unsers bis hieher von der- 
gleichen Barbareien unentweiht gebliebenen Zeit- 
alters glauben möchte, ein nur zur Kurzweil er- 
sonnenes Künstlermährchen : so mag sich Gui- 
b a 1 s Schatten damit beruhigen , dafs es dem 
Michael An g elo um nichts besser gieng, da, 
ich weifs nicht mehr welcher bigotte Pabst, das 
jüngste Gericht dieses Meisters dadurch profanir- 
te, dafs er einem armseligen Sudler, der viel- 
leicht kaum im Stande gewesen wäre, den hei- 
ligen Geist in Taubengestalt an die Decke einer 
Dorfkirche zu klecken, den Auftrag gab, die an- 
stöfsigsten nackten Figuren in dieser erhabenen 



264 

Komposizion mit Beinkleidern anzutbun. Der- 
gleichen Drappirer haben daher seitdem in Ita- 
lien den Spitznamen der Hosenmaler behalten bis 
auf den heutigen Tag. 



26s 



Neun und zwanzigster Brief. 

Heidelberg ,"7. Febr. 179I, 

V or drei Tagen kam ich nach einer durch Regem 
und schlechte Wege äufserst unangenehmen und 
beschwerlichen Reise hier an und wurde von- 
meinem alten Freunde, dem Kirchenrathe Mi e g, 
mit seiner gewohnten Herzlichkeit empfangen. 
Innig freute ich mich , den Ort wiederzusehen, 
wo wir , mein gelieber Bonstetten! vor acht 
Jahren , an der schönen Quelle des W o 1 f b r un- 
n e n s den Plan urisers nachherigen Beisammen- 
lebens entwarfen , und ihn mit freudiger Zuver- 
sicht in die Hände des Schicksals niederlegten. 

Damals baute, an den Ufern des Neckars 
und Rheins, noch der Ländmann sein Feld in 
Frieden , und wohnte ruhig im Schatten seines 
Weinstocks. Wie schrecklich hat die Scene sich 
gewandelt ! Blutströme tranken nun die Furchen, 
und Feuerschlünde donnern wo sonst das Lied 



266 

der Winzerin erklang. Voltaire fragte : Wa- 
rum öffnete die Erde sich nicht in einer Wüste 
von Afrika , anstatt das blühende Lissabon zu 
verschlingen ? Eben so möchte ich im Unmut he 
meiner Seele jetzt fragen: Warum mufste grade 
eins der schönsten und gesegnetsten Länder der 
Schauplatz des Entsetzens und ein Opfer der Ver- 
heerung werden? 

Gräfslich haben die Franzosen in der 
Pfalz gewüthet ; noch gräfslich er aber, selbst 
nach dem Urth eile hiesiger Einwohner, die 
Oesterreicher und Pfälzer im Elsafs. 
Sogar ein Kapuziner aus einem jenseitigen Rhein- 
lande , mit dem ich beim Spazierengehen ein Ge- 
spräch anknüpfte , bestätigte dies ; indem er sag- 
te : Unser Kloster haben die Franzosen sehr 
gnädig behandelt und nur einen Kelch und eine 
Glocke daraus mitgenommen ; mit den Elsas- 
sern sind die Oesterreicher ganz anders um«* 
gegangen. 

Die Animosität der Kaiserlichen gegen die 
Preufsen äufsert sich hier bei jeder Gelegenheit," 
und mehrere Offiziere haben ganz unverholen das 



267 

Bekenntnifs abgelegt , dafs sie ihren Kriegslauf 
weit lieber gegen den schwarzen Adler , an des- 
sen Fängen sie noch das Blut ihrer Väter erbli- 
cken , als gegen die neufränkischen Rothkappen 
gerichtet haben wurden. 

Wie weit die verderbliche Geringschätzung 
des Feindes , welche man sich seit dem Beginn« 
des Krieges zur heiligen Gewissenspflicht ge- 
macht zu haben scheint, trotz aller schon da- 
durch verscherzten Vortheile , noch immer bei 
den verbündeten Mächten gehe, davon gab Graf 
* * *. kurz vor der unglücklichen Katastrophe 
des Rückzuges der Wurmserischen Armee , noch 
dadurch einen frappanten Beweis , dafs er den 
versammelten Offizieren mit stolzem Selbstver- 
trauen zurief : „ Nur noch eine Hasenjagd , mei- 
,,ne Herren! und Strasburg ist in unserer 
„ Gewalt. „ 

Dafs die O es terr eicher in Heidelberg 
eine Demokratenliste führen, erhellt unwider- 
sprechlich aus einem Auftritte, der zwischen dem 
hiesigen Professor S. einem eifrigen Anhänger 
der kantischen Philosophie , und einem kaiserli- 



26$ 

eben Lieutenant vorfiel. Ersterer hatte nemlick 
aus dem untersten Stockwerke seines Hauses , 
welches dem Lieutenant zum Quartier angewie- 
sen wurde, einen Ofen in sein Studierzimmer 
versetzen lassen. Als dies der Offizier erfuhr , 
griff er den Professor mit den pöbelhaftesten 
Schimpfwörtern an, und nannte ihn unter andern 
auch einen Ofenditb. Der Philosoph wurde durch 
dies niedrige Betragen so wenig aufser Fassung 
gebracht, dafs er seinem Gegner vielmehr, kalt- 
blütig und gelassen wie vom Katheder , den Satz 
demonstrirte : Ein jeder hat das Recht mit seinem 
Eigenthum zu schalten wie es ihn gut dünkt , und 
niemand kann dem Transporte eines eigenen 
Ofens in ein eigenes Zimmer auch nur das all er- 
kleinste Hindernifs in den Weg legen. Nun ge- 
rieth der Lieutenant in die heftigste Wuth , und 
rief seinem Feldwebel zu: „Feldwebel ! hol' 
„ er einmal das Demokrat enlistel, und schreibe 
„er den Hallunken druf!" Der Feldwebel, 
dem das feste und würdige Betragen des Pro- 
fessor» Ehrfurcht eingeflößt hatte , blickte 
mit abgezogenem Hute zu ihm hinauf (denn 



*ß9 

der Professor führte seinen Beweis aus dem Fen- 
ster), und sagte : „Han sie die Gnade, mijr 
„ Dero Namen zu spendiren ! " 

Gestern fuhr ich mit meinem Freunde M i e g 
nach Mannheim. Diese Stadt ist jetzt in Bela- 
gerungstand gesetzt , und hat , aufser der pfälzi* 
sehen, auch noch österreichische Besatzung* 

Wir besuchten Herrn Weikard, den be- 
rühmten Verfasser des philosophischen Arztes > 
der seine Stelle in Petersburg niedergelegt 
und Mannheim zu seinem Wohnorte gewählt 
hat. Dies ist einer der hellsten Kopfe unserer 
Zeit, und ein geschworner Feind von Dumm- 
heit, Schwärmerei, Aberglauben, Unsinn, Un- 
gerechtigkeit und Thorheit. Weikard gehört 
zu den seltnen Menschen, die der Erziehung bei- 
nahe nichts und sich selbst alles zu danken ha- 
ben. Er wuchs in der dicksten Finsternifs auf 
und es gab , wie er in seiner Selbstbiographie er- 
zählt, keine Gattung von Vorurth eilen und Aber- 
glauben , die man ihm nicht ins Herz gepflanzt 
hätte. Mehr als einmal mufste er die Kerzen hal- 
ten , wenn ein Mönch mit der Entteufelung einer 



ZJO 

Besehenen beschäftigt war. Die Lehrer, welche 
er nachher bekam , waren beinahe für nichts zu 
rechnen und er erwarb sich die ganze Masse sei- 
ner grundlichen und mannigfaltigen Kenntnisse 
durch eigenes Forschen, Streben und Nachden- 
ken. Manche Lanze hat er zur Ehre der Ver- 
nunft mit der Dummheit gebrochen , und mehr 
als einem Betrieger die Larve vom Gesicht geris- 
sen. In Fulda war der philosophische Arzt 
bei fünfzig Gulden Strafe verboten und jedem 
Studenten , bei welchem man dies verderbliche 
Buch finden würde , mit Verweisung gedroht. 
Dem Ausspürer und Angeber hingegen war ein 
Dukaten zur Belohnung verheifsen. 

Ich verließ Herrn W e i k a r d mit dem wohl- 
thätigen und herzerhebenden Gefühle , das der 
Anblick eines außerordentlichsten Mannes im- 
mer in mir hervorbringt, und welches denn doch 
ganz anderer Natur ist , als die Stimmung , wo- 
rin uns das Anschaun, selbst des vollkommensten 
Kunstwerks oder der entzückendsten Gegend 
versetzt. Das Interessanteste für den Menschen 
bleibt ewig der Mensch ; er mag nun , wie die 



21 1 

Yameos ; nur bis drei zählen können , oder 
wie Newton Planeten wägen und den Licht- 
stral spalten. 

Gegen Mittag gerieth die ganze Stadt in Be- 
wegung , weil sich die Nachricht verbreitet hatte, 
die Franzosen wären bis Oggersheim vor- 
geruckt. Alles stürzte nach- der Sternwarte, und 
ich folgte dem Strome ; man entdeckte aber 
nichts , und bald nachher lief die Nachricht ein , 
dafs nur ein unbedeutendes Vorpostengefecht 
dies Gerücht veranlagt habe. 

Nachmittags gieng ich nach der Rheinschanze, 
welche , der Stadt gegenüber , auf dem jenseiti- 
gen Ufer liegt und durch eine Schiffbrücke mit 
derselben in Verbindung steht. Hier hatte alles , 
durch die Menge der Soldaten , welche sich in 
dichten Haufen auf den Wällen zwischen den Ka- 
nonen herumgelagert hatten , und durch die an- 
sehnlich erweiterten Aufsenwerke , ein noch 
kriegerischeres Ansehen, als in Mannheim 
selbst. Die Weidengebüsche die ehemals am 
Wege grünten , hatten sich in Schanzkörbe ver- 
wandelt , und die hohen Pappeln der O g g e r s- 



aj6 



Drfissigster Briff. 



Marburg , 19. Febr. 1794. 

Der Tag , an welchem ich dir endlich wieder 
schreibe , ist schon der fünfte meines Aufenthalts 
in Marburg, der mir durch unsern braven 
J u n g so angenehm gemacht ward , dafs ich im- 
rner mit wahrem Vergnügen daran zurückden- 
ken werde. 

Zu Heidelberg, das ich bei stürmischem 
Regenwetter verlief*, bekam ich einen unterhal- 
tenden Reisegefährten an einem kaiserlichen 
Offizier, der sein Seh wer dt bei Jeraappe ge- 
gen Dumouriez versucht hatte, und mir von 
jener merkwürdigen Schlacht eine umständliche 
und lebhafte Beschreibung machte. 

Von der Bergstraße und der alten Burg , in 
deren Gemäuer icÄ die Elegie schrieb 3 wodurch 
unsere Bekanntschaft yeranlafst ward , sah ich 



*77 

diesmal nichts* .weil wir den Wagen, um trocken 
zu bleiben* beinahe immer hermetisch verschlos- 
sen hielten. 

In Frankfurt am Main gieng ich ins 
Schauspiel, wo man das Ehrenwort* ein Stuck 
Tpn ziemlich guter theatralischer Wirkung auf« 
führte* Der Schauspielsaal ist von einer gefälli- 
gen und geschmackvollen Architektur; der Vor« 
hang aber elend gemahlt. Anstatt der Krön« 
leuchter hat man, nach dem Beispiele vieler 
Städte Frankreichs * argandische Lampen einge- 
führt. Ueber dem Theater ist eine Uhr mit trans- 
parenten! Zifferblatte angebracht ; eine Idee wel- 
che nachgeahmt zu werden verdient. 

An der Wirthstafel befanden sich einige preus- 
sische Gardeoffiziere * die von den Hautboisten 
ihres Regiments Musik machen liefsen. Sie hiel- 
ten mich anfänglich, ich habe nicht erfahren kön- 
nen, ob aus physiogno mischen oder patbogno- 
mischen Gründen, für einen Franzosen, und lies* 
•en deshalb einige Blicke auf mich fallen, worin 
sich etwas offenbarte * das ungefähr wie Verach* 
tung aussah. Kaum war ihnen aber zufälliger- 



2 7 3 

Weise bekannt geworden, dafs ich die Ehre hätte, 
nicht nur ein Deutscher, sondern sogar einpreus- 
sischer Unterthan zu seyn , als sie mir ihren Irr- 
thum gestanden, mich, sehr höflich deshalb um 
Verzeihung baten, und äufserst gesprächig wur- 
den. Nach dem Essen tanzten sie mit den Töch- 
tern des Hauses. Mein Schlafzimmer war der 
Scene dieses Balles, der zuletzt von allen Grazien 
verlassen in ein wahres Bacchanal auszugehen 
schien , unglücklicher Weise so nahe , dafs ich 
bis zur Morgendämmerung kein Auge schliefsen 
konnte. 

Von Frankfurt bis Marburg reiste ich 
in Gesellschaft eines preufsischen Offiziers , der 
Geschmack und Belesenheit verrieth. Das Ver- 
gnügen , welches mir die Unterhaltung mit ihm 
gewährte, ward um vieles durch die unvermuthe- 
te Entdeckung erhöht , dafs wir in S. als kleine 
Knaben mit einander gespielt hatten. Ich erin-" 
nerte mich noch der Farbe des türkischen Kleides, 
das er in jenen glucklichen Zeiten trug , und 
wufste von dem Turbane zu erzählen , der so oft 
das Ziel meiner kindischen Wünsche gewesen 



*79 

war. Hierüber würden alle die berühmten Litte- 
- ratur - Produkte , von denen wir bis dahin den 
Faden unsers Gesprächs losgewickelt hatten, auf 
eine für ihre Urheber so wenig schmeichelhafte 
Art bei Seite geworfen , dafs ich mich in meinem 
Gewissen gedrungen fühle , diese Herren , wenn 
ich ihnen einmal irgendwo begegnen sollte, einer 
so ungebührlichen Hintansetzung wegen, feierlich 
um Verzeihung zu bitten. 

Mein erster Gang in Marburg war zum Hof- 
rath Jung. Als ich in sein Haus trat , kam er 
eben aus dem Collegium. Selten war wohl das 
Wiedersehen zweier Freunde von froheren Ge- 
fühlen begleitet als das uns/ige. 

Bei dem Abendessen ward L . . . . s Gesundheit 
aus dem Familienpokale getrunken , der nur bei 
festlichen Anläfsen zum Vorscheine kommt. Er 
ist nicht von Gold oder Silber, sondern von Bir- 
kenholz , inwendig gefirnifst und mit Zinn ein- 
gefafst ; stammt noch aus dem sechszehnten Jahr- 
hunderte, und gieng seitdem bei jedem Familien- 
feste in die Runde. Einen solchen Becher nann- 
ten unsere Urv'at er den Birkenmeier, und- er 



2$° 

durfte bei keinem frohen Gelage fehlen« Soll- 
test Du mehr von diesem interessanten Trinkge- 
fässe zq wissen begierig seyn , so verweise ich 
dich auf den Artikel Birkenmeier in Krüni- 
teus Encyklopädie. 

Von meinen hiesigen neuen Bekannten , nen- 
ne ich dir nur den Regierungsr ath vonWildun- 
gen und den Professor Justi, 

Erst er er verdient nicht nur als edler und lie- 
beiiswürdigar Mensch , sondern auch als trefü- 
cher Zeichner und Maler, grundlicher Naturfor- 
scher, geschmackvoller Dichter , erfahrner Jagd- 
verständiger und geschickter Rechtsgelehrter , 
die allergröfste Achtung. Bei ihm sah ich eine 
Suite von ihm selbst nach der Natur gemalter 
Vögel aus hiesiger Gegend , welche die Zierde 
einer Gallerie seyn würde. Auch besitzt er eine 
grofse Zahl ausgestopfter , merkwürdiger frem- 
der sowohl als hessischer Vögel, nebst einer voll- 
ständigen Eiersammlung von den letztern« Sei- 
ne Hauptliebhaberei istindefs die Jagd, und er 
soll als Waidmann in der ganzen Gegend seines 
Gleichen nicht, haben. 



28« 

Der Professor J u s t i ist ein junger Mann von 
feinem Geschmack , nicht gemeinem Dichtergei- 
ste und grofser Kenntnifs der alten, besonders 
morgenlandischen Sprachen, wovon er in mehre- 
ren mit Beifall aufgenommenen Schriften die un- 
zweideutigsten Beweise abgelegt hat. Sein Herz 
ist warm für alles Gute, Edle und Schöne , und 
der Ton seines ganzen Wesens , voll Wahrheit 
und Natur. Dabei ist er im Besitze der, von B u r- 
ger so schon besungenen Blume Wunder- 
hold, die vornehmlich auf den Hohen des Par- 
nasses zu den seltneren Gewächsen gehört, weil 
der Schatten des Lorbeerbaums ihr nicht weni- 
ger verderblich seyn soll, als Mehlthau und 
Nachtfröste. 

Ich kann diesen Brief nicht schließen, ohne 
vorher noch einer tragischen Begebenheit er- 
wähnt zu haben , die sich vor einigen Tagen in 
dem hessischen Dorfe Nauenheim ereignete« 
Der dortige Amtmann ward von einem Leibgar- 
disten des Landgrafen , wegen eines Urtheils- 
spruches , den flieser für ungerecht hielt , mit 
Säbelhieben so gefährlich verwundet, dafs man 



28a 

v 
stundlich seinen Tod erwartet. Nach der That 

trug der Mörder , der jetzt sein Schicksal im Ker- 
ker erwartet , die Perücke des Amtmanns auf der 
Säbelspitze , wie im Triumphe durch das Dorf , 
und begleitete diese Handlung mit dem Ausrufe : 
Es lebe die Freiheit!' 

Bei einer solchen Entheiligung dieses Namens 
schaudert die Seele des Menschenfreundes in sich 
selbst zurück , und segnet zwiefach das Dunkel 
der Zukunft. Eben so war einst der Name der 
Religion das Losungswort zur Entfesselung des 
Wahnsinns , der Raubwuth und des Blutdurstes. 
Wie wenige von den Tausenden , die jetzt in 
Frankreich so muthig das Schwert fuhren, 
kennen das Palladium , für dessen Erhaltung so 
viele deiner Altvordern ihre edle Laufbahn mit 
dem Tode der thermopylischen Heldenschaar 
beschlossen ! Noch ist kein AlgernonSidney 
unter ihnen aufgestanden , der sie über die wah- 
ren Vortheile eines freien Volks erleuchtet , und 
ihren schwankenden und wandelbaren Endzwe- 
cken Bestimmtheit , Adel und Unerschütterlich- 
keit angeschaffen hätte« 



*85 

. Ich mute enden. Von hier fuhrt mich nun Ä 

9 

mein Weg über Gö ttin gen , wo ich mich we- 
nigstens acht Tage aufhalten werde. Lebe wohl, 
mein Theuerster , und höre nie auf mich zu lie- 
ben. Ich bleibe in allen Lagen des Lebens , und 
bei allen Wandlungen des Schicksals , für dich 
auf ewig derselbe. 



^^mm>m* 



*84 



Ein und dabissigstba Brief. 



GÖttingen, i. Man 1794* 

Ich wende meine letzten Göttingiscben Stunden 
dazu an, theucrster Bonst etten! mich mit dir 
von den schönen Tagen zu unterhalten, die mir 
hier, in einem wahren literarischen Bienenstan- 
de, leider nur zu geschwind vorübereilten. 

Wenn man im Vatikan dem Altertumsfor- 
scher, in Dusseldorf dem Maler, auf den Alpen 
dem Pflanzenkundigen , in Vaukluse dem Dich- 
ter, bei Meillerie dem Liebenden jedes Aufbrau- 
sen der Begeisterung , es sey auch so diihyram- 
bisch als es nur immer wolle, gern zu gute halt ; 
so wirst du ja hoffentlich wohl demjenigen , der 
nun einmal nicht umhin kann , den Menschen für 
den anziehendsten und interessantesten Gegen- 
stand in der Schöpfung zu erklaren , und sich so- 
gar nicht scheuen wurde , diesen ungenialischen 



285 

und spiefsb ärgerlichen Glaubensartikel öffentlich 
kund werden zu lassen , eine kleine Anwand- 
lung von freudiger Schwärmerei bei seinem Ein- 
tritte in eine Stadt nicht verargen , wo die Verei* 
nigung so vieler ausgezeichneten und vortrefli- 
chen Köpfe ein ganze$ Weltall von Kenntnissen 
und Ideen oder vielmehr ein intellektuelles Na- 
tursystem bildet , in welchem wir den menschli- 
chen Geist auf der höchsten Stufe seiner Göttlich- 
keit erblicken. 

Ich hoffe Du werdest mir zugeben , dafs die- 

se Galtung von Schwärmerei , mit jener verdäch- 

» 

tigen, von der Schaftesbury bemerkt, da& 
sie ansteckender sey als der Schnupf en ( , nichts 
weiter als den Namen gemein habe. 

Jetzt folgt die kleine Chronik meines hiesigen 
Aufenthalts , die ich aber , um die Grenzen eines 
Briefes nicht ohne Noth zu überschreiten , mög* 
liehst zusammendränge. 

22. Februar. 

Mein erster Besuch war bei Kästner. Die- 
ser verdienstvolle Greis , über defsen Lebhaftig- 
keit und Feuer jeder , dem sein Geburtsjahr be-* 



J&86 

kannt ist, erstaunen mufs, empHeng mich mit 
ausnehmender Höflichkeit und Gute , welches ,' 
nach meinem Bedünken , einem Manne ziemlich 
hoch angerechnet zu werden verdient, der so oft 
von Fremden zur Schau gefordert wird. Er bat- 
te sogar die Gefälligkeit , mir seine neuesten 
Sinngedichte aufzuschreiben , welche von der 
ungescbwächten Kraft zeugen , womit dieser 
furchtbare Liebling der juvenalischen Muse im- 
mer noch den Bogen spannt. Ihm gewährte 
Apollon, warum Ho raz flehte: 
— — — integra 

Cum mente , nee turpem seneetam 
Degere , nee cithara carentem. 
Hierauf gieng ich zum Hofrath M e i n e r s. 
Nicht, weil es bei Gelehrtenvisiten Herkommens 
ist, sondern weil mein Herz mich dazu aufforder- 
te, dankte ich ihm für alle, durch die Lesung 
seiner Schriften mir zugewachsene neue Id^en 
und Kenntnisse. Ich denke e"r mufs es auch in- 
ne geworden seyn , dafs meine Worte anderes 
Ursprungs waren , als die konvenzionellen For- 
mulare purer Höflichkeit und Urbanität. Nur zu 



*&7. 

häufig müfsen berühmte Schriftsteller lange Tira- 
den von der Herrlichkeit und Unübertreflichkeit 
ihrer Werke anhören , von denen der dankstam- 
melnde Weibrauchspender manchmal gerade so 
viel weiß, als ein gewisser Prediger von der Mes- 
siade, der im völligen Ernste dies Gedicht für ei- 
ne Verteidigung des christlichen Glaubens hielt 
und daher den Verfasser inständig bat , sein Ge- 
schofs doch ja bei dieser Gelegenheit auch gegen 
die argen Sozinianer zu richten. 

Wie jeder Mensch von reinem Sinne und füh- 
lendem Herzen y der die Schweitz durchreiste , 
hängt auch Meiners noch mit ganzer Seele an 
diesem bezauberten Lande und ist ernstlich da* 
rauf bedacht , eine dritte Reise dahin zu unter- 
nehmen. 

In Beziehung auf die Schweitz ist mir M ei- 
ne rs ungefähr das, was einem Liebenden der 
Maler seyn würde , dem , nach hundert frucht- 
losen Versuchen anderer Künstler , endlich das 
ähnlichste und würdigste Bildnils des angebete- 
ten Gegenstandes gelungen wäre. So viel ich 
urtheilen kann , hat noch niemand besser und 



*85 

anziehender über dein Vaterland geschrieben, 
ab er. Was einzelne Unrichtigkeiten oder Fehl» 
urt heile in seinen Briefen betritt, so war davon 
schwerlich ein Werk dieser Gattung jemals ganz 
frei. Man könnte daher kühn vor die Front« 
des großen Heers der Reisebeschreiber hin treten 
und den Sundenlosen unter ihnen zum ersten 
Stein würfe gegen Meiners auffordern; wer 
durfte ihn wagen ? 

Auf die Nachricht , daß heute zwei fremde 
Sängerinnen das hiesige Publikum , in sehr drin« 
genden Ausdrücken , auf den Konzertsaal be- 
schieden hatten , begab ich mich in der Meinung 
dahin , dafs derjenige welcher es wage, den Oh- 
ren einer ganzen Stadt eine so kategorische An« 
Weisung auf Bezanberung oder Vergnügen zu 
geben , im Voraus gewifs seyn mfifste , ihnen , 
wenn auch grade nicht das eine , doch wenig* 
stens das andere in vollem Maße gewähren zu 
können. Dies schien auch, nach der Menge de* 
Hörer zu urtheilen , die Meinung des Publikums 
gewesen zu seyn. Die Sängerinnen und ihre* 
männlichen Stimmgenossen , im üblichen Fliiri* 



»89 

nierprunke landfahrender Virtuosen, erhoben 
sich zu ihren Pullen , und warfen Blicke umher, 
worin Selbstgefälligkeit und Frechheit in ein drit- 
tes ganz unleidliches Etwas zusammenschmol- 
zen. Nun begann — nicht etwa die Musik, 
welche der Anschlagzettel besagte: Nein! der 
■Aufruhr oder vielmehr das Aufbersten eines Chaos 
von Tönen, bei deren zerreifsender Unmelodie 
der wandernde lAdramelech zuverlässig am 
Heimweh hatte erkranken müfsen, wie deine 
Landsleute , wenn sie in der Fremde den Rührei- 
gen hören. Selten ist wohl eine schöne Musik 
arger gemifshandelt worden; es war Martinis 
Baum der Diana. Wäre der Komponist zu- 
gegen gewesen , so müßte ihm ungefähr zu Mu- 
the geworden seyn , wie einem Vater, der sei- 
nen Sohn im Zuchthause mit Ruthen streichen 
sähe. Die Stimmen , die abwechselnd kreisch- 
ten , kollerten , heulten , ächzten oder zirpten , 
thaten auf mein Ohr die völlige Wirkung eines 
schweizerischen Gharivaris, wo Kessel, Rinder- 
glocken und Ziegenschellen korybantisch durch 
einander lärmen. Diese Vergleichung im nieder- 



*9° 

ländischen Gescbmacke (für ein solches Ob j eckt 
noch viel zu edel) sagt alles. 

Ich erwartete immer, dafs die Zuhörer , auf 
irgend eine Weise, den schamlosen Mengern die- 
ses Ohrengifts ihre gerechte Unzufriedenheit zu 
erkennen geben würden ; aber man hatte di* 
Schonung , bis zum Schlüsse standhaft und ru- 
hig auszuharren. 

23. Februar. 
Deutschlands witzigster Schriftsteller ist im Um- 
gange einer der feinsten und hinreißendsten Men- 
schen. Ich brachte einen Th eil des heutigen Vor- 
mittages bei ihm zu und gewann den Mann von 
Herzen lieb, den ich bisher nur verehrt und be- 
wundert hatte. In allen seinen Aeufserungen 
herrscht ein Ton von Milde und Anspruchlosig- 
keit , der selbst den Züchtungen seines Satyrs 
Wohlwollen abgewinnen müfste. Von den be- 
wunderten Meisterwerken des Witzes und der 
Laune , die er mit unväterlicher Hand in Journa- 
le und Almanache herumstreute , wo sie nun, 
zum Theil , wie Diamanten unter einem Schutt- 
hau- 




2Q1 

häufen begraben liegen , denkt er so bescheiden, 
dafs er, der dringendsten Aufforderungen unge- 
achtet , immer noch nicht zu bewegen war , eine 
vollständige Sammlung derselben zu veranstal- 
ten. Indefs hat er sich doch jetzt erbitten lassen, 
die Hogarthischen Kommentare besonders her- 
auszugeben, welche unstreitig das glänzendste 
Produkt seines Witzes und zugleich ein unver- 
gängliches Denkmal des deutschen Scharfsinnes 
sind, zu dessen Urheber Hogarths brittische 
Ausleger mit übergebeugtem Haupte hinanbli- 
cken müfsen. 

Hogarths Werke, die er vollständig besafs* 
wurden zuletzt, wegen der Menge von Kunst- 
liebhabern, welche defshalb unaufhörlich bei ihm 
einsprachen, und von denen er nicht selten Eckel 
und lange Weile gegen seine goldne Zeit ein- 
tauschte, ein so druckendes Familienkreutz für 
ihn, dafs er sie, um Ruhe zuhaben, derUniver- 
sitäts -Bibliothek üb erliefs. Es gieng mir damit, 
sagteer, wie einem Manne, der eine schöne Frau 
hat. 



»!"* 



*9* 

Er sagte mir bei Gelegenheit von Schröters 
selenotopographischen Fragmenten, (um wel- 
ches erhebliche Werk er sich durch einen trefli- 
chen Auszug nicht weniger verdient gemacht hat, 
als Bonn et um Lyonnets Raupenanatomie) 
daß dieser unermüdete Himmelsbeobachter, Ber- 
ge von aufs erordentlich er Höhe in der Venus ent- 
deckt , und dabei die Bemerkung gemacht habe : 
Die höchsten Berge auf der Erde, dem Monde 
und der Venus , wären immer die sudlichen. 

Das eben genannte Buch, welches ich hier zum 
erstenmal zu Gesichte bekam, gehört zu den al- 
lerwich tigsten wissenschaftlichen Erscheinungen; 
ist aber leider in einem so ermüdenden Stile ge- 
schrieben, dafs man während dem Lesen bestän- 
dig im Sande zu waten glaubt* 

Ich wollte hierauf zuBürger gehen ; erfuhr 
aber in seinem Hause, er sei gefährlich krank, 
und besonders heute so schwach, dafs er gar 
nicht sprechen dürfe. 

Nachmittags wohnte ich der Sitzung der kö- 
niglichen Sozietät der Wissenschaften bei. Der 
Professor H o f f m a n n hielt eine botanische Vor- 



*93 
Iestmg , worin einige neue Gattungen und Arten 
charackterisiert wui den , von denen mir die Afo- 
rcea pubescens , der Boletus ceratophorus und 
die Rizomorpha canalicularis die merkwürdig- 
sten schienen. Die beiden letzteren, zur unter- 
irdischen Flora gehörigen Gewächse, werden 
dereinst durch ein Werk bekannter werden , wel- 
ches Herr Hoffmann unter dem Titel : Vege- 
tabilia Hercynice subterranea , icon, illustrata, 
herauszugeben gesonnen ist. 

Der Boletus ceratoph. findet sich häufig in 
den Bergwerken des Harzes, und zwar immer in 
einer Tiefe von wenigstens 150. Lachter. So wie 
viele Pflanzen, als zum Beispiel die Aretia, Dia» 
pensia, Soldanella u. a. m. nur den höchsten 
Bergregionen 1 eigen sind; so bedürfen auch meh- 
rere vegetabilische Grutfenprodukte einer be- 
stimmten Tiefe zu ihrer Erzeugung. Dieser B o- 
letus ist von schöner kastanienbrauner Farbe ; 
fängt , ohne der Zubereitung des gewöhnlichen 
Zunderschwamms zu bedürfen, leicht Feuer; ver- 
breitet einen lieblichen, weihrauchähnlichen 
Duft, und läßt eine sehr reine Kohle zurück. 



^94 

Nach geendigter Sitzung besuchte ich denHof- 
rath Blumenbach , dessen Sammlung von 
Menschenschädeln für jeden Freund der Natur- 
geschichte gewifs zu den Sehenswürdigkeiten vom 
ersten Range gehört. Der Schädel einer Geor- 
gianerin frappirte mich vor allen übrigen > durch 
die Schönheit seiner Form , welche vielleicht ei- 
ne der vollkommensten ist, ' die jemals aus den 
Händen der Natur bervorgiengen. Am meisten 
charakteristisch schien mir der Schädel eines 
Neuholländers, an welchem auch die Lücke 
des Vorderzahns bemerkt zu werden verdient, 
den diese Nazion , man weÜs nicht aus welcher 
Ursache , den Kindern auszubrechen pflegt. 

Von den Mineralien, die ich hier zuerst an- 
schaulich kennen lernte, waren der Z i r k o n, B o- 
razi t und Uranit für mich die wichtigsten« 

DerZirkon oder S a r g o n, ein Edelstein, der 
erst vor wenigen Jahren bekannt geworden ist , 
wird auf Ceylan gefunden. Klaproth ent- 
deckte durch die genauere Analyse desselben zu- 
erst, dafs er eine eigene , ganz einfache , nicht 
durch Laugensalze 9 sondern Vitriolsäure und. 



konzentrirten Essig auflösbare Grunderde enthal- 
te. Die Farbe des Z i r k o n s spielt aus dem gelben 
ins grünliche oder hellbraune. 

Der B o r a z i t gehört, th eils wegen der so auf- 
fallend ausgezeichneten Form seiner Krystalli- 
sazion, theils wegen der, durch den französi- 
schen Naturforscher Haüy kürzlich an ihm ent- 
deckten elecktrischen Eigenschaften, zu den 
merkwürdigsten und sonderbarsten Produkten 
des Mineralreichs. Um eine richtige Idee von 
der Krystallisazion desselben zu erhalten , mufst 
Du dir einen Würfel mit abgeschliffenen Kanten 
und Ecken vorstellen. Gewöhnlich hat derBora- 
zit einen matten , weifsgrauen Glanz. Seine 
Durchsichtigkeit ist ungleich. Durch Erwärmung 
wird er elektrisch wie der Turmalin und bringt 
die nemlichen Erscheinungen hervor. So viel 
man weifs , findet sich dies Mineral nur bei L Ti- 
li e b u r g im sogenannten Kalkberge : Daher sei- 
ne Seltenheit; welcher jedoch die Industrie der 
dortigen Arbeiter, durch die Verfertigung künst- 
licher Boraziten abzuhelfen versucht hat, die 
aber sehr leicht durch die elektrische Probe von 
den ächten zu unterscheiden sind. 



äg6 

Der U r a 11 i t ( TJranium) ward neuerlich von 
Klaproth entdeckt und den Metallen ( nach der 
gewöhnlichen aber unzulänglichen Eintheilung 
den Halbmetalleii ) beigezahlt. Er ist dunkel- 
grau und mattglänzend, und thut der Feile nur 
leichten Widerstand. Das Erzgebirge erzeugt 
ihn am häufigsten. 

Blumenbach, dieser Naturforscher von 
wahrem Genie und tief dringenden Selbstblicke , 
muPs im Umgange jeden für sich einnehmen, dem 
warme Heizlichkeit und gefälliges Zuvorkommen, 
noch im reinen und wohlthuenden Lichte liebens- 
würdiger Humanität erscheinen, und der nicht 
etwa ( wie denn dergleichen Beispiele grade nicht 
zu den seltensten Anomalien der moralischen 
Welt gehören ) das , so manchem Gelehrten 
grofses Namens angelangte, schwülstige, ge- 
schraubte,' hochtrabende und kalthöfliche Wesen 
vorzieht. 

Der übrige Theil des Abends vergieng mir sehr 
angenehm beim Professor Buhle, dem Heraus- 
geberdes Ar atus und Aristo t eles. Von der 
Ausgabe des letztern, woran er seit zehn Jahren 



. Ä 97 
unermüdet gearbeitet hat, sind fünf Bande er- 
schienen. Da der Druckort (Zweib rücken) 
mitten im Kriegsschauplatze liegt , so ist sehr zu 
furchten, der Fortgang dieses ehrenvollen Unter- 
nehmens, werde, wo nicht ganzlich gehemmt , 
doch wenigstens auf lange Zeit unterbrochen wer- 
den. Fiele das schon abgeschickte Manuskript 
der Fortsetzung unglücklicherweise in die Hände 
der Feinde , und wären diese grade Barbaren , 
denen der Brand eines Heuschobers mehr zu Her- 
zen gienge , als die Vernichtung einer ganzen Bi- 
bliothek ; so hätte freilich das unfreundlichst» 
Gestirn über diese Arbeit gewaltet, worauf ihr 
Urheber die schönsten Jahre seines Lebens ver- 
wandte und die für die Dauer und den Glanz sei- 
nes Namens bei der Nachwelt die sicherste Bürg- 
schaft verhiefs. 

24* Februar« 
Ich hatte eine zweite Unterredung mit Lich- 
tenberg. Je länger ich das weite Gebiet des 
Wissens überdenke, welches dieser aufserordent- 
liche Geist umfaßt, je höher steigt meine Bewun- 
derung für ihn. Sein Element ist Licht, und 



*9S 

der Stempel seines Genies Wahrheit. Ich wüfste 
in der That, nach Les sin g, auiser ihm kei- 
nen Deutschen mehr, der tiefere und grundliche- 
re Kenntnisse, (wiewohl in ganz verschiedenen 
Fächern) mit schärferem Witze und reinerem 
Geschmacke vereinigte. 

Ich wünschte , dafs es einem Nachdrucker 
oder anderm litterarfschen Freibeuter gefallen 
möchte , eine Sammlung von Lichtenbergs 
zerstreut gedruckten Aufsätzen anzukündigen , 
weil dies vielleicht das einzige Mittel wäre , ihm 
die Selbstherausgabe derselben zur Pflicht zu ma- 
chen; denn strafbar wäre der Vater, der nach 
der Entdeckung, dafs eine Zigeunerhorde damit 
umgehe, ihm seine Kinder zu rauben, sie in Lum- 
pen zu stecken oder wohl gar ans Bettlerpolitik 
zu verstümmeln , nicht jedes von ihm abhängen- 
de Mittel gebrauchte, um ein so heilloses Unter- 
nehmen zu vereiteln. 

25. Februar. 

Ich komme von Bürgers Krankenbette. 
Sein Anblick erfüllte mich mit bitterer Wehmutb. 
Krankheit und Mifsgeschick haben die Schwingen 



2 99 
des kühnen Genius gebrochen , und seine Kraft 
von ihm genommen. Niedergedruckt schmach- 
tet er im Staube, den er vormals so tief unter 
sicherblickte. Abgezehrt, bleich und entstellt, 
scheint er mehr dem Tode als dem Leben anzu- 
gehören ; nur in seinen blauen Augen glimmt 
noch ein sterbender Rest jenes Feuers , das im 
Hohen Liede von der Einzigen so hoch 
und mächtig emporlodert. Seine Stimmorgane 
sind gelähmt , und man hat Mühe die leisen Lau- 
te zu versteilen , die er mit sichtbarer Anstren- 
gungjiervorbringt. 

Er reichte mir mit einem so wahren Ausdru- 
cke von Wohlwollen die dürre Hand, und sagte 
mir so viel freundschaftliches , dafs ich innig be- 
wegt ward. 

Auch meiner poetischen Versuche that er Er- 
wähnung, und besonders des Elysiums, das 
er für den gelungensten darunter erklärte. Ich 
wiederhole dir , über eine Stelle aus diesem Lie- 
de, seine eigenen Worte. „Sie haben vier Ver- 
„se gemacht, " sagte er, „die mich oft getröstet 
„ haben , und für die ich Sie einen Griff in meine 



3oo 

„Gedichte mochte thun lassen, welchen Sie 
„wollten : 

Psyche trinkt und nicht Vergehens ! 
Plötzlich in der Fluthen Grab 
Sinkt das Nachtstuck ihres Lebens 
Wie ein Traumgesicht hinab. 

Er deklamirte diese Zeilen, die ganz ausdrück- 
lich für seine gegenwärtige Lage gedichtet zu seyn 
schienen, so gedämpft und leise, dafs sie von den 
Ufern der stillen Lethe selbst, in Geistertönen, 
heraufzuwehen schienen. 

Noch hofft Bürger seine Genesung mit 
völliger Zuversicht. Er sprach von Planen, durch 
deren Ausführung er auch die strengsten und ei- 
gensinnigsten Kunstrichter zu entwaffnen hoffe , 
und insbesondere von einer Selbstkritik seiner 
Werke , welche ihn nach seiner Wiederherstel- 
lung zuerst beschäftigen solle. Möge die Hoff- 
nung zum Leben ihn nur mit dem letzten Athem- 
zuge verlassen ! 

Nach dem Eindrucke , den der gänzlich er- 
schöpfte und zerrüttete Zustand seiner physischen 
Kräfte auf mich machte, kann ich mir für ihn kei- 



3oi 

ne völlige Genesung mehr als wahrscheinlich 
denken. 

Gegen Abend gieng ich zum Professor Hof f- 
mann, den mir der Doktor GilibertinLyon 
einst als einen Botaniker nannte , um welchen er 
im Namen seiner Nazion mein Vaterland benei« 
de. Was würde ich nicht darum gegeben haben, 
daß dieser wackere Mann, dessen Schicksal seit 
der Eroberung von Lyon in das undurchdring- 
lichste Dunkel gehüllt ist , Herrn Hoffmanns 
herrliches kryptoga misch es Kabinet mit mir hätte 
betrachten können ! Gewifs dies wäre eine der 
befsten Stunden seines Lebens geworden. 

Ich gieng hier ein Herbarium von Alpenpflan- 
zen durch, welches der Abt Wulfen in Kla- 
genfurt gesammelt hat. Diesen hält Herr 
Hoffmann für den gröfsten jetzt lebenden Ken- 
ner der Alpengewächse , selbst den Professor la 
Chenal in Basel nicht ausgenommen. Für 
mich neu in dieser Sammlung waren : Wulfenia 
carinthiaca, Typha minima , die sich nicht im 
Linn ä u s findet , ttfyosotis nana und Swertia 
carinthiaca. 



Eine andere mir bisher unbekannte Pflanze 
von entzückender Schönheit, die Aletris capen- 
sis , blühte im Zimmer. Das Vergnügen, wel- 
ches ich bei jeder neuen Blumenbekanntschaft 
empfinde, hat noch nichts von seiner ersten Leb- 
haftigkeit verloren; und von dieser Seite verspre- 
che ich mir mit Sicherheit noch eine grofse Sum- 
me von Freuden , wenn ich nicht allzubald hinab 
mufs, quo pius Aeneas , quo Tulius dives et 
Ancus, 

Das Moos, welches ich von Vaukl üs e mit- 
brachte , wo es in grofser Menge am Gesteine in 
der S r g u e wachst , hält Herr Hoffm ann, 
so weit er dasselbe ohne Fruchthüllen zu beur- 
theilen vermochte , für Hedwigs Trichostomum 
Fontin alioides. {Stirp. crypt. J^oL III T. 14.) 
Nach dem Linnäus ist es ein Hypnum\ findet 
sich aber weder bei ihm , noch bei Dille nius. 
In Schottland und Kärnthen wird dies 
schöne Moos ebenfalls angetroffen, und aus letz- 
terer Gegend erhielt es Herr H o f f m a n iv durch 
«.einen Freund Wulfen. • 

Die Einrichtung des hiesigen botanischen Gar- 



3°3 
tens , der unter Herrn Hoffmanns Aufsicht 
steht , wird mit Recht als vortreflich und muster- 
haft gepriesen. Die mannigfaltigen Verdienste , 
welche dein grofser Landsmann H aller , und 
nach ihm Zinn, Büttner und Murr ay 
sich um die weitere Vervollkommung desselben 
erworben haben , sind entschieden und aner- 
kannt. Was jeder von ihnen zum Besten des 
Gartens leistete , davon findet sich eine genaue 
Darstellung in Herrn Hoffmanns Antrittspro- 
gramme, das unter dem Titel Hortus Gö'ttingen- 
sis, im vorigen Jahre prächtig gedruckt erschie- 
nen ist. Nach dem zu urtheilen, was der gegen- 
wärtige Nachfolger der genannten Männer in 
sehr kurzer Zeit schon ins Werk richtete, wird 
er gewifs keinem von ihnen , weder an Eifer und 
Thätigkeit, noch an Anordnungs- und Verbesse- 
rungsgeiste nachstehen. 

Vorzuglich gereicht ihm die Ausführung der 
glucklichen Idee zur Ehre , einen Theil des Stadt- 
grabens , den der Wall vom Garten trennte , 
durch einen unterirdischen Gang damit in Ver- 
bindung gesetzt , und ihn zur Kultur der Was- 
ser - und Sumpfgewächse benutzt zu haben. 



3o4 

26. Februar. 

Den Vormittag brachte ich bei Burg er zu, 
der heute so schwach war, dafs er kaum ein 
Wort vernehmlich aussprechen konnte. Er t heil- 
te mir eine für die neue Ausgabe seiner Werke 
bestimmte Umarbeitung der Nachtfeier der 
Venus mit, die von dem außerordentlichen 
Fleiße zeugt , den er angewandt hat , um seinen 
Gedichten den möglichsten Grad der Vollendung 
zu geben. Die meisten Veränderungen sind ihm, 
so viel ich urtheilen kann , vortrefiich gelungen , 
wiewohl es auch nicht an solchen fehlt, die ich 
gern wieder mit den alten Lesearten vertauschen 
möchte. Die Feile ist überhaupt ein gefährliches 
Instrument, wenn sie nicht mit höchster Vorsicht 
und Behutsamkeit geführt wird , und schneidet , 
besonders in der kraftvollen und raschen Hand 
eines Bürgers, nicht selten da ein , wo es blos 
darauf ankam, vermittelst eines leichten Dru- 
ckes, eine kaum merkbare Unebenheit v er schwill- 
den zu machen. 

Beinahe den ganzen Nachmittag war ich wie- 
der bei Herrn Hoff mann, der mir die Samm- 



305 

lung von Sudseepflanzen zeigte, womit Georg 
Forst er der Universität ein Geschenk machte, 
und die, aufser Joseph' Banks, schwerlich 
noch jemand anders in Europa besitzt. DieKrypto- 
gamisten sind am besten erhalten, und unstreitig 
der wichtigste Theil dieses Schatzes. Eine leben- 
dige Flora von Jamaika, die ich ebenfalls durch- 
gieng, lehrte mich viele offizinelle Pflanzen an« 
schaulich kennen. 

Vom Cypripedium bulbosum, einer sehr sel- 
tenen Pflanze, die L i n n ä u s vergeblich in L a p p- 
land suchte , und welche damals allein von den 
Rudbecken gefunden worden war,*) sähe 
ich eine gute kolorirte Abbildung. Dies ist eine 
der lieblichsten Blumen , der aber die Natur lei- 
der einen Erdstrich angewiesen hat, wo kein 
menschliches Auge sich ihrer Schönheit freut. 

Bei Gelegenheit eines Gesprächs über die 
gröfsten jetzt lebenden Pflahzenkundiger, nann- 

* ) Hcec planta rarissima debetur solis Rudbeckiis y 
nee tcio alium , qui eandem observaverit , nee ip~ 
se eam reperire potui , licet de ea admodum fae- 
rim sollicitus. LihraeiFio&a Lappon. p. 249. 



3<X> 

te mir Herr Hoff mann auch/einen Deutschen, 
Namens Hanke» der sieb gegenwärtig in L i m a 
aufhält und von dort aus die Kordilleren be- 
reist, um die Botanik durch neue Entdeckungen 
zu bereichern. Er hat in diesen , für die Na- 
turgeschich te bis dahin so gut als gar nicht exi- 
stirenden Gegenden, schon mehrere Pflanzen 
gefunden, deren Struktur und Habitus, von 
allem was im Reiche der Flora bekannt ist, so 
weit abweichen soll , dafs sie in keiner der lin- 
näischen Klassen unterzubringen sind. 

27. Februar. 
Eins der glänzendsten Denkmäler der Buch- 
druckerkunst ist unstreitig die grofse Prachtaus- 
gabe des Shakespeare, wovon ich die ersten 
Lieferungen auf der hiesigen Universitäts - Biblio- 
thek sah ; und bis jetzt kann sich wohl noch 
kein Dichter eines schöneren Gewandes rühmen. 
Die dazu gehörigen Kupfer sind von sehr un- 
gleichem Werthe, und nur die wenigsten haben 
meine Erwartung ganz befriedigt, die nicht an- 
ders als hoch gespannt seyn konnte, weil sie 

groß-. 



307 
größtenteils von Künstlern herrühren, deren 
Talent in der herrlichsten Blüthe steht, und die 
auf der Laufbahn des Ruhms schon Kränze er- 
rungen haben, welche der Vergänglichkeit Trotz 
bieten. Am meisten glaube ich , ließe sich ge- 
gen die Wahl der dargestellten Scenen erinnern, 
die wirklich oft, ohne alles ästhetische Gefühl, 
nur blindlings herausgegriffen zu seyn scheinen» 

Der Londoner- Abdruck des Heynischen Vir^ 
gils ist kürzlich hier angekommen. Dafs er in 
typographischer Rücksicht die Leipziger - Edition 
unendlich weit hinter sich zurücklasse , brauche 
ich wohl kaum zu erinnern. Er verhält sich zur 
letztern ungefähr, wie der Karlsruher- Nach- 
druck von Zimmernanns Buche über die Ein- 
samkeit , zur großen Originalausgabe dieses 
Werks auf Royalpapier. 

Es wäre sehr zu wünschen, daß Heyne 
seinen Homer , dessen Erscheinung man schon 
so lange mit Ungeduld entgegensieht, ebenfalls 
in England möchte drucken lassen , weil im Gan- 
zen nirgends weniger für die äußere Schönheit 

U 



3oS 

philologischer Werke gethan wird, als in Deutsch- 
land. Manches belletristische Manufakturstück, 
das seine kränkelnde Existent kaum auf einige 
Wochen brachte , ward , mit didotischen Schrift 
ten auf Velinpapier gedruckt und reichlich durch 
Kupfer und Vignetten verherrlicht, unter Posau- 
aenklang , wie im Triumphe ins Publikum ein- 
geführt ; indefs ein Unsterblicher des Alterthums 
graugelbes Löschpapier , stumpfe Lettern und 
ein Paar groteske Holzschnitte zur ganzen arm- 
seligen Aussteuer bekam. Koch einmal mufs ich 
hier , bei dem Gedanken an die Menge zierli- 
cher und prachtiger Ausgaben klassischer Auto- 
ren, die schon aus brit tischen Pressen h er vorgi en- 
gen , Klopstocks bekanntes : „Das hebt uns 
über sie!,, auf eine freilich etwas unpatriotische 
Art parodieren und ausrufen : 

,> Das hebt sie über uns ! 4 \ 

Der Hofrath Blumenbach führte mich in 
das akademische Museum, welches unter seiner 
Aufsicht steht. 

Hier richtete ich mein Augenmerk vorzüglich 
auf die grofse Sammlung von Sfidseeseltenheiten, 



ö»9 

die, aufser England,, bis jetzt nur G ö 1 1 i n g en 
aufzuweisen bat. 

Eins der merkwürdigsten Stücke derselben ist 
wohl der Traueranzug des ersten Leidtragenden 
in Otaheiti, der das non plus ultra der Aben- 
teuerlichkeit ist, zugleich aber zum Beweise die- 
nen kann, welcher ausdaurenden Geduld jene 
Insulaner bei der Verfertigung ihrer Kunstarbei- 
ten fähig sind» Der am Brustbilde befestigte 
Schurz besteht allein auss 1086. Perlmutter -Stäb- 
chen , wovon jedes aufs sorgfältigste und feinste 
gearbeitet und an beiden Enden «durchlöchert ist. 

Höchst bewundernswürdig sind dieFedermo- 
saiken von den Sandwich -Inseln, wozu die 
dortigen Einwohner , denen unstreitig unter den 
Südseevölkern der Preis der* Geschicklichkeit und 
Kunstfähigkeit gebührt, das Gefieder der Certhia 
coccinea gebrauchen , welchen Vogel sie aus- 
schließlich "besitzen. Mit den goldgelben und 
purpurfarbenen Federn desselben ist der hier be- 
findliche Mantel eines Heerführers überzogen, 
und zwar so, dafs sie regelmäfsig, nach einem 
bestimmten Muster , wie die Steinchen eines mu- 



3*° 

sivischen Fußbodens, geordnet sind. Ein Helm 
von acht antiker Form, und ein Götzenbild, das 
von Owaihi, wo des unsterblichen Koo ks 
Laufbahn sich endigte, nach England gebracht 
ward, sind auf ähnliche Weise bekleidet. Letz- 
teres stellt einen , für den Prinzen von P a 1 a g o- 
nia, dessen Du dich wohl aus Brydone erin- 
nern wirst, gewifs an hohes Ideal grenzenden 
monströsen Kopf dar , welcher aus einer kalloti- 
s chen Einbildungskraft entlehnt zu seyn scheint. 
Der aufgerifsne Rachen dieses grotesken Ideals ist 
mit neunzig Hundszähnen besetzt. 

•Die Kleidungsstücke der verschiedenen Süd- 
seevölker sind meistens aus dem durchweichten 
Baste des Brod - oder Papiermaulbeerbaums ge- 
schlagen ; andere besteben aus einem zarten 
Flechtwerk. Die neuseeländischen sind von Sei- 
denflachs. Die Stoffe von Owaihi übertreffen 
alle übrigen durch die Schönheit der darauf ge-. 
druckten Figuren. 

Ein Halsband von bunten, auf Baste gereihten 
Schneckenhäusern, ward mir als ein Hauptartikel 
des feuerländischen Putzes merkwürdig. Also 



3" 

auch das elendeste aller bekannten Völker ist 
nicht ganz ohne Toilettenkünste. 

Sehr charakteristisch, in Vergleichung mit 
diesem Halsbande, ist ein Ohrengehänge von 
Otaheiti: Drei ächte Perlen an einer Schnur 
von Menschenhaaren; und vielleicht noch mehr, 
ein neuseeländischer Ohrenschmuck : Fünf Men- 
schenzähne. 

Unter den Waffen der Südseevölker zeichnet 
sich eine acht Fufs lange Lanze von den Sand- 
wich-Inseln besonders aus. Sie ist von Ka- 
suarinaholz, und so vollkommen geglättet und 
gerundet, dafs niemand, ohne zuvor von ihrem 
Ursprünge unterrichtet zu seyn , dieselbe für ein 
Werk blos steinerner Instrumente halten würde. 

Als wir die Betrachtung der Südseeseltenhei- 
ten geendigt hatten , war die Zeit meines Beglei- 
ters beinahe verflossen , und aus den naturhisto- 
rischen Sammlungen konnte daher nur noch das 
Merkwürdigste ausgehoben werden. Aber ich 
übergehe diese allzuüüchtigen Anschauungen. 
Nur in Rücksicht auf B o n n e ts Reproduktions- 
y ersuche mit dem Wassersalamander {Lacerta 



512 



lacustris), für welche Du dich ehemals so leb- 
haft interessirtest, theile ich dir die merkwürdig- 
sten von allen mir bisher bekannt gewordenen 
Operazionen dieser Art mit. Herr Blumen- 
bach zeigte mir nemlich einenWassersalamander, 
dem er das eine Auge völlig saftleer gemacht und 
hierauf die Häute desselben b.einahe ganz ausge- 
schnitten hatte. In Zeit von zehn Monaten er- 
stattete sich ein neuer Augapfel , der sich vom 
andern nur dadurch unterschied , dafs er um die 
Hälfte kleiner war. 

Nur dasjenige führte ich dir aus dem reichen 
Schatze des göttingischen Museums an , was auf 
mich den lebhaftesten Eindruck machte , und bei 
dessen Betrachtung ich sogleich am längsten ver- 
weilte. Wer thöricht genug ist, in Kunst -Natu- 
ralien * oder Gemäldesammlungen, denen er nur 
wenige Stunden widmen kann , alles auf einmahl * 
ergreifen und umfassen zu wollen, der mufs im 
voraus auf jeden .reinen Ideengewinn Verzicht 
thun. ' 

23. Februar. 

Auf der Sternwarte sah ich das Hers ch eis che. 



5 f 5 
Teleskop , womit die Königin von England die 
Universität beschenkte, und das bis jetzt wahr«* 
scheinlich nur noch das einzige in Deutschland 
ist. . Es hat zebnFufs Länge, neun Zoll Oefluung, 
und vergröfsert tausendmal im Durchmesser. Das. 
grofse Herschelsche Teleskop hat bekanntlich 
vierzig Fu Ps Länge, fünf Fufs Oeffnung, und 
vergröfsert eilftausendmaL 

Herr Blumenbach hatte heute die Freude, 
den Schädel eines Otaheiten aus England zu 
erhalten, den ihm sein Freund Banks durch den 
Kapitain Bligh mitbringen liefs. Letzteremist 
es endlich gelungen, zweitausend Brodfrucht« 
bäume nach Jamaikazu transportiren. Diese 
Verpflanzung ist* nicht weniger wichtig , als die 
Verpflanzung der Kartoffel nach Europa. Viel- 
leicht essen unsere Enkel schon Brodfrucht. 

Bei meiner Nachhausekunft wurde mir ein Pa- 
ket mit -Mineralien gebracht, worunter sich auch 
ein Zirkon, ein Stuck Schwefeluranit ( Uranium 
siilphuratum) und einige der schönsten Borazi- 
ten befanden. Ich ward durch dies Geschenk 
Blumenbachs, das , besonders um der drei 



3*4 

genannten Artikel willen , für mich einen hohen 

Werth erhält, auf das angenehmste überrascht. 

Dies, mein Theuerster! ist die Geschichte 
meines Göttingischen Lebens im gedrängtesten 
Auszuge» 

letzt zu den Vorbereitungen zur Abreise. Ich 
umarme dich wie immer. Vale et ama. 



3'5 



Zwei und dfeissigster Brief. 



Hamburg, 10. März, 1794* 

Der Raum, der uns scheidet, dehnt sich immer 
weiter aus , mein geliebter Bonstetten! Von 
der £ 1 b e bis zur Aare, welche furchtbare Ent- 
fernung für die sehnende Freundschaft ! 

Tausendfachen Dank für deinen letzten Brief. 
Alles was deine öeele ihm einhauchte, ist in die 
meine übergegangen. Die beiden gleichgestimm- 
ten Lauten erbebten ; aber ihr Tonen war schwer- 
müthig , wie die Harfe O s s i a ns am herbstlichen 
Hügel, wenn der Mond die grauen Denksteine 
der Väter bescheint. 

Schon hatte ich dein liebes Blatt zweimal 
überlesen, als ich erst die Zeilen entdeckte, die 
am Rande, nach Art der Arabesken, herunter- 
liefen. Sie enthalten den Warnungswink , daß 
deine Einbildungskraft schon einigemal in Gefahr 



oi6 

gewesen ist, meine Spur zu verlieren, und den 
Vorwurf, dafs ich der Zusage , dir meine durch- 
laufene Bahn , von Orte zu Orte, mit der streng- 
sten Treue eines von Berlin nach R e k a h n 
reisenden Büschings vorzuzeicbnen , kaum 
einen Schatten von Genüge geleistet habe. 

Hierauf erkläre ich nach Wahrheit und Ge- 
wissen, dafs ich dich mit dem festen Vorsätze ver- 
ließ, an Umständlichkeit wo möglich noch den 
berüchtigten Johannes Bunkel zu übertref- 
fen , weil der getrennten Freundschaft auch das 
Kleine und Geringfügige grofs und erheblich 
scheint, so bald es nur die entfernteste Beziehung 
auf den Gegenstand ihrer Theilnehmung hat ; 
und dafs ich auch, meines gegebenen Wortes ein- 
gedenk, mehrere Versuche in dieser Absicht an- 
stellte, die aber sämmtlich verunglückten. Ich 
glaube in der That, dafs mir dafs Tanzen auf dem 
Seile kaum schwerer fallen könnte , als eine de- 
taillirte Darstellung von erzalltäglichen Dingen. • 
Der gezerrte Ammenstil unserer meisten Rei- 
setagbücher hat mir immer einen so unbezwing- 
baren Eckel verursacht, dafs ich in meinen Brie- 



3*7 

fcn, wiewohl sie nur der nachsichtsvollen Freund- 
schaft geweiht sind, vielleicht wieder auf der an- 
dern Seite über die Mittellinie hinausgehe , und 
oft nur da eine einzelne Blume breche, wo ich 
einen Kranz hatte winden sollen. 

Uebermorgen hoffe ich in Kiel zu seyn. 
Von dort führt mich dann der erste günstige 
Wind nach Kopenhagen. 

Klopstocks Genius schwebt auf Adlersfit- 
tigen wie immer. Seine neuesten Oden, veran- 
lafst durch wichtige Epochen der französischen 
Revoluzion , stehen keiner der frühem an Feu- 
er, Erhabenheit und Kraftfülle nach. Das Ge- 
rücht, als habe Klopstock sein französisches 
Bürgerdiplom zurückgesandt, ist ungegründet, 
und die Qde , wodurch es einigen Glauben er- 
hielt, (welche aber schon deshalb nic^t acht $eyn 
konnte ,. weil sie von prosodischen Unrichtigkei- 
ten wimmelt), hat ihm ein berühmter Schriftstel- 
ler untergeschoben. 

Gerstenberg, dieser undankbare Liebling 
der Musen und Grazien, lebt, fast mit Aus* 
Schließung alles menschlichen Umgangs , einzig ' 



5*8 

der Kamischen Philosophie, die ihm, wie er ver- 
sichert, vollen Ersatz für das meiste gewahrt, 
was seine Vergangenheit Schönes und Beglücken- 
des hatte. Wohl dem, der da fand, was unwan* 
delbare Heitre selbst über die Oede des Alters 
verbreitet , und ihn so unabhängig von den Man- 
schen macht , dafs er, wie Xenokrates, sagen 
kann , er besitze ohne besessen zu werden. 

Die Kantische Philosophie, sagte mir Ger- 
stenberg, ist die wichtigste Erscheinung nicht 
nur unsers Jahrhunderts , sondern aller Jahrhun- 
derte zusammengenommen , und der gröfste 
Gewinn für die Menschheit. Sie steckt uns die 
Grenzen ab von dem was wir wissen und von dem 
was wir nicht wissen können , und eröffnet auch 
dem Dichter neue, nie geahnte Aussichten. 

Ich hat(e das Gluck , Schröder als König 
Lear zu sehen. Diese Rolle ist der Triumph 
des deutschen Garricks. 

In Kurzem vielleicht wird das hohe Spiel die- 
ses grofsen Menschendarstellers von der Erde 
verschwunden seyn; und noch hat kein Lich- 
tenberg oder Sturz wenigstens die Außenlk 



3*9 . 

hien der Zaubergestalten für die Nachwelt ent- . 
worfen , - worin dieser Proteus sich zu verwan- 
deln wufste , ohne dafs man je an Verwandlung 
dachte ; denn seine gröTste Kunst war immer die, 
niemals Kunst durchscheinen zu lassen ; und in- 
sofern darf man mit vollem Rechte auch auf ihn 
anwenden, was Fiel ding dem noch tauscbba- 
ren Rebhuhn zum Lobe Garricks in den 
Mund legt. Vielleicht ist nie das Verdienst eines 
ausgezeichneten Schauspielers auf eine feinere Art 
erhoben worden , als durch diesen zwar etwas 
holzschnittmäfsigen , aber keck aus dem Spiegel 
der Natur aufgefaßten Panegyrikus. 

Nach dem Schauspiele führte mich Herr 
Meyer, Verfasser der Darstellungen aus 
Italien, in die Harmonie. Dies ist der Name 
eines Klubbs , der aus dreihundert Mir gliedern 
besteht. Sie hielten grade ihr monatliches Abend« . 
banket, wobei ich einen interessanten Tisch* 
nachbarn an dem Doktor Bartels bekam, 
dessen Reise durch Kalabrien zu den Haupt* 
werken über Italien gehört. 

ßei einer andern Gelegenheit zeigte mir Herr 



&20 

Meyer, den ich als einen feinsinnigen und hu- 
snanen Mann schätzen lernte , eine sehenswürdi- 
ge Sammlung von Handzeichnungen , die er auf 
seinen Reisen zusammenbrachte, und wozu viele 
der gröfsten jetzt lebenden oder kürzlich verstor- 
benen Künstler Beiträge lieferten. Nach einer, 
durch die Schuld der Umstände äufserst flüchti- 
gen Ansicht , sind nur die von H a c k e r t , A n- 
gelica Kaufmann, Battoni, Gefsner 
und Göthe, meiner Phantasie gegenwärtig ge- 
blieben. 

In einer Abendgesellschaft beim Kaufmann 
Sieveking hörte ich von einem Gewurzhänd- 
ler Namens R ö d i n g erzählen , der unstreitig 
zu Hamburgs merkwürdigsten Männern ge* 
hört. Er giebt ein terminologisches Lexicon der 
Marine in mehreren Sprachen heraus ; hat ein 
deutsches Buch in das Portugiesische übersetzt , 
und ein eigenes Werk über Herders Ideen 
zur Philosophie der Geschichte der 
Menschheit geschrieben, welches theils Be- 
richtigungen, theils Widerlegungen enthält, aber 
nicht für den Druck bestimmt ist ; besitzt gründ- 



321 

liehe mathematische Kenntnisse ; spielt das Kla- 
vier mit Fertigkeit und Geschmack , und ist ein 
geschickter Miniatiirma hier. Dieser talentvolle 
Mann kann den Wissenschaften und Künsten lei- 
der nur die Nebenstunden widmen , welche sein 
Beruf ihm übrig läfst. 

Lebewohl, mein geliebter Freund ! Ich bin 
oft im Geiste bei dir auf der Terrasse deines Gar- 
tens; sehe Wetterh orn, Schreckhornund 
Jungfrau von der Abendsonne gerölhet , höre 
das Rauschen der Aar und das Läuten der He er- 
den an ihren Ufern , und schliefse > mit dem rei- 
nen Feuer unsterblicher Liebe , den treusten und 
edelsten Freund in die Arme. 



322 



£> R E I UND DREISSIGSTER Brief. 

Kiel , 16 März , . 1 794. 

Morgen soll das Paketboot abgehen, lieber 
Bonstetten! Ich habe meine Zurüstungen zur 
Seereise gemacht und zwei grofse Körbe mit Le- 
bensmitteln anfüllen lassen , tim gegen jede Ver- 
legenheit gedeckt zu seyn, im Falle die Fahrt, 
die oft nur vier und zwanzig Stunden, oft aber 
vierzehn Tage dauert , durch widrige Winde ver- 
längert werden sollte. letzt blicke ich unaufhör- 
lich nach den Wetterfahnen , deren Richtung in 
diesem Augenblicke meinem Vorhaben noch gün- 
stig ist. 

Am Bord des Paketboots, 18 März. 
Wir giengen gestern früh um sieben Uhr beim 
heftigsteh Regen unter Segel. Kaum hatten wir 
eine Meile zurückgelegt , als der Kapitain , mit 

der 



3*3 

der Erklärung, daß er bei so trüber Luft sich oh- 
ne Gefahr unmöglich weiter wagen könne, die 
Anker fallen liefs. Plötzliche Hemmung eines 
kaum begonnenen Laufs, ist in der sinnlichen 
Natur eben so peinlich und niederschlagend, als 
in der sittlichen. Im engen Räume der dumpfi- 
gen Kajüte zusammengedrängt, waren nun alle 
Passagiere auf die möglichste Verbesserung ihres 
Zustandes bedacht. Einige griffen zu den Kar- 
ten, andere zur Punschbole. Ich fand mein Heil 
in der Befriedigung des alten Wunsches , die 
Odyssee auf dem Meere zu lesen. So kam der 
Abend endlich heran, und ich entschlief zum er« 
stenmal in meinem Leben unter dem Schutze der 
Dioskuren. Das Geräusch der Anker, die mit an- 
brechendem Tage gelichtet wurden, verscheuch- 
te meinen Schlummer. Freudig gieng ich aufs 
Verdeck , und siehe! der heiterste Himmel lach- 
te mir entgegen ; ein frischer Wind schwellte die 
Seegel, und bald verloren wir Christiansort, 
eine Festung am Eingange des Kieler- Meerbu- 
sens , aus den Augen. 

X 



3*4 

Nachmittags, um 4 Uhr. 

Die Sonne schien so mild, dafs ich den gan- 
zen Vormittag auf dem Verdecke zubrachte und 
in der Odyssee las. Wir befinden uns jetzt im An- 
gesichte der Insel Laland, Die Gesellschaft in 
der Kajüte besteht, welches so selten bei derglei- 
chen Zusammenwürfen des Ungefährs der Fall zu 
seyn pflegt , aus lauter feinen und gefälligen Leu- 
ten. Wir haben eine Art von häuslicher Ord- 
nung unter uns eingeführt , und es ist als wur- 
den wir durch Familienbande vereinigt. Lars, 
der anstelligste und flinkste aller Kajüten jungen, 
vollstreckt unsre Winke schnell, wie der Nacht- 
geist Puck in Shakespeares Sommernachts- 
traum. Der Bursche hat schon eine Reise nach 
Ostindien gethan, versichert aber, hundertmal 
mehr Behagen an der Fahrt nach K i e 1 zu finden. 

Unter den Passagieren befinden sich zwei Brü- 
der des berühmten Mineralogen F erb er, der 
vor einigen Jahren in deiner Vaterstadt starb. 
Diese artigen und gebildeten Männer sprachen 
mit Enthusiasmus vom grofsen Linnäus, der 
ihr Lehrer war, und sagten mir viel befriedigen- 



3*5 

des über seinen moralischen Charakter; unter 
anderm , wie erBüffons, seines erklärten Geg- 
ners, 'Verdiensten um die Naturgeschichte, bei 
jeder Gelegenheit, habe volle Gerechtigkeit wie- 
derfahren lassen« 

Kopenhagen, 19. März; 

Das erhabene, jeder Beschreibung unerreich- 
bare Schauspiel , die Sonne ins Meer sinken und 
den Mond daraus hervorsteigen zu sehen, wurde 
mir gestern in seiner ganzer Herrlichkeit , grade 
in dem günstigen Augenblicke, wo alles Land 
aus dem Gesichtskreise verschwunden war : 

Nocie sublustri nihil astra prceter 
Vidi et undas. 

Heute nach Sonnenaufgang befanden wir uns 
dem Kreideberge auf der Insel Mön ge 
genübef , der eine der frappantesten Ansichteil 
gewährt. Senkrecht abgestürzt erhebt sich diese 
ungeheure Masse in rauher Majestät aus den Wo- 
gen. Ich schwang mich im Geiste hinauf, und 
Shakespeares Beschreibung des Felsens bei 
Dover, wo die Krähen und Wasserra- 
ben, die in der mittlem Luft schweben, wie 



S*6 

Käfer , die Fischer am Ufer wie Mause , und die 
vor Anker liegenden Kriegscbiffe wie Böte er- 
scheinen, wurde Wirklichkeit. 

Gegen Mittag erblickten wir Seeland und 
die Küste von Schweden. Drei Stunden spa- 
ter wurden die Thürme von Kopenhagen, 
gleich zarten Halmenspitzen, am Horizonte sicht- 
bar ; bald darauf die Masten der im Hafen liegen- 
den Schiffe, und endlich entwickelte sich , wie 
aus Meeresgrund entspringend, die ganze präch- 
tige Stadt vor unsern Augen. Eine wahrhaft ma- 
gische Schöpfungsscene ! Entstehen, Wachsthum, 
Gestaltung , Scheidung der Formen , Bestim- 
mung der Proportionen, allmähliche Verth ei- 
lung von Licht, Schatten und Kolorit, vollen- 
dendes Daseyn eines harmonischen Ganzen: al- 
les dies folgte darin , wie nach bestimmten Ge- 
setzen , in verhältnifsmäfsigen Zeitpunkten auf 
einander. Ganz verloren im Anschaun des be- 
weglichen, immer ändernden Zaubergemälde*, 
befand ich mich , ehe ichs wähnte, auf der Rbee- 
de von Kopenhagen, wo unser Schiff sich 
vor Anker legte. Die Beisenden wurden, sanunt 



5 2 7 
ihrem Gepäcke, in Böten, die sogleich in grofser 
Anzahl herbeiruderten , bei der Zollbude ans 
Land gesetzt. 

Wenige Minuten darauf war ich schon im 
Hause unserer Br uns , das in der Nähe des Ha- 
fens gelegen ist. Ich würde schwerlich meinen 
Augen getrauet haben, wenn mir damals , als ich 
diese lieben Freunde zuerst inLyon kennen 
lernte , die heutige Scene des Wiedersehens im v 
Spiegel der Zukunft erschienen wäre. 

34* März. 

Ich komme aus dem Schauspiele , wo Peters 
Bryllup ( Peters Hochzeit ) ein Singspiel , auf- 
geführt ward. Die dänische Sprache scheint mir 
äußerst sangbar zu seyn, und fällt besonders in 
den zärtlichen Arien angenehm ins Ohr. Im 
Ganzen zeichneten sich die Schauspieler vortheil- 
haft aus. Vorzüglich geßel mir Mad. Bartels 
als Sängerin ; ihre Stimme ist eine der reinsten 
die ich jemals hörte , und ihr Gesang innige Her- 
zensmelodie. Der beste Schauspieler heifst 
Schwarz; er hat sich nach Schröder gebil- 
det, und ermüdet nicht, seinem Vorbilde näher 



3^8 

tu streben. Der Scliauspielsaal ist schön und ge-r 
seh mackvoll , aber für eine so grofse Stadt, wie 
Kopenhagen, wo man das Theater beinahe 
leidenschaftlich liebt , viel zn klein. Der König, 
der die sehr prächtige Seeuniforro trug , schien 
sich wenig um das Stuck zu bekümmern, son-r 
dem gieng mit schnellen Schritten in seiner Loge 
auf und nieder. Von Zeit zu Zeit verzog sich 
seine Miene zum Lächeln. Er ist klein von Sta- 
tur, aber wohlgebaut, und hat eine sehr vor- 
theilhafte Gesichtsbildung , die von dem Zustan- 
de seiner Seele nur wenig ahnen läfst. 

Helsingör, 22. März. 
Der Frühling ist dies Jahr wenigstens einen 
Monat zeitiger als gewöhnlich in Seeland er- 
schienen , und ich glaube , dafs die Tage jetzt 
kaum in V e v e y milder seyn können , als hier. 
Wir haben sie nicht unbenutzt vorübereilen las- 
sen , sondern, als treue Befolger einer alten und 
weisen Lehre, die Gelegenheit beim Stirnhaar 
ergriffen , um die merkwürdigsten umliegenden 
Gegenden in einer vortheilhaften Beleuchtung zu 
sehen , ohne welche die reitzendste Landschaft 



3^9 

eben so wenig einen wohlthätigen und dauren- 
den Eindruck machen kann , als ein schönes Ge- 
sicht ohne die Grazie des Lächelns, 

Meine Gefährten auf dieser Lustreise, die ich 
nicht nur für eine meiner angenehmsten , son- 
dern für eine der angenehmsten überhaupt halte, 
die man auf der Erdiiäche machen kann, waren 
unsre Freundin Brun, ihre Schwägerin, der bie- 
dre und geistvolle Sander, mein ältester 
Freund , und der kleine Karl , der deine Knaben 
immer noch nicht Vergessen kann, und neulich 
mit grofsem Jubel verkündigte: Es war doch 
herrlich auf der Burg in Nion! Lieber 
Bonstetten! wie diese Worte des Klei- 
nen aus dem Innersten meiner Seele zurück- 
hallten ! 

Zuerst besuchten wir Seelust, einen Land- 
sitz des Finanzministers Grafen Schimmel- 
mann, wovon Du in Hirschfelds Theorie 
der Gartenkunst eine gute Beschreibung fin- 
dest. Der mit reinem Natursinne angelegte Gar- 
ten hat eine der schönsten Meeraussichten in 
Seeland. In blauer Ferne entdeckt man die 



55" 

durch Tyc hoBrahes Aufenthalt berühmt ge- 
wordene Insel Hween, * 

Hierauf durchschnitten wir einen Theil des 
königlichen Thiergartens , dessen riesenmäfsige 
Buchen mich in Erstaunen setzten. Eine darun- 
ter, welche Klopstock, wenn er sich in 
Bernstorf aufhielt , gewöhnlich zum Ziele sei- 
ner Spatziergange machte, heifst Klops t o cks 
Buche, und wird als res sacra betrachtet. 

Gegen Abend kamen wir inHelsingör an. 
Die dahin führende Chaussee ist eine der vortref- 
lichsten und unterhaltenden, die ich auf meinen 
Reisen angetroffen habe ; selbst die inLangue- 
d o c k und dem Kanton Bern nicht ausgenom- 
men. Unser erster Gang war nach der Festung 
Kronenburg. Der Anblick dieses gothischen, 
im kühnsten Stile erbauten Schlosses, erfüllte 
meine Seele , durch den Charakter von Festig- 
keit und Gröfse , den es an sich trägt, und durch 
das Feierliche seiner Lage, mit Ehrfurcht und 
melancholischem Ernst. Es steht da als wäre es 
aus Erz gegossen, tind ermüdet, wie D elil 1 e von 
den Pyramiden Egyptens sagt, die zerstörende Zeit. 



53i 

Wir stiegen auf die Platteform eines vierecki- 
gen Thurms. Die Sonne neigte sich zum Unter- 
gange und gofs die wärmsten Tinten auf die na- 
hen Ufer Schwedens^ von Helsingburg 
bis zu den scharf umrissenen Gipfeln des K u 1 1 a- 
Gebirges. Zur Rechten verlor sich der Blick auf 
dem baltisch en Meere; zur Linken auf der 
Nordsee. Unter uns lag Helsingör, mit 
einem Walde von Mastbäumen. Schiffe segelten 
durch den Sund. 

Wenn Du dir den Blick von Nion nach 
Yvoire und Thonon denkst , so hast Du ei- 
ne Vorstellung von der Deutlichkeit der Objekte 
auf der schwedischen Gegenküste. 

Marienlust, ein Schlofs des Kronprinzen , 
liegt nahe bei der Stadt , und hat einige angeneh- 
me Gartenparthien , wo die Natur mit Schonung 
behandelt ist. 

Friedensburg, 23. März. 
Wir verliefsen Helsingör sehr früh , und 
fuhren weiter nordwärts nach Hellebeck, be- 
kannt durch die dem Grafen Schimmelmann 
gehörige Gewehrfabrik. Hier ist, nach einstira- 



A 



53* 

roigem Urtheile, der herrlichste Meerprospekt 
auf der ganzen Insel. In Friedrich Stol- 
bergs Gedichte H eile b eck ist diese Gegend 
schön und wahr geschildert. Auf dem Odins« 
Hügel hat die Aussicht über beide Meere ihre 
gröfste Ausdehnung. 

Nachmittags kamen wir nach Friedens- 
burg, der jetzigen Residenz der Königin Julia-» 
ne Marie. Dies war der Lieblingsaufenthalt 
Friedrichs V. Der Garten hat nichts Auffal- 
lendes; aber seine Lage am Esrum-See ist 
äufserst anmuthig. 

In einem Tannengebüsche trafen wir auf ein 
Denkmal, das unsre Aufmerksamkeit anzog. 
Ein kubisches Fufsgestell trägt einen unförmli- 
chen Felsblock , an welchem keine andere Spur 
des Meifsels wahrzunehmen ist , als ein Kreutz 
und die Jahrzahl 1534^ Ich werde in Kopen- 
hagen* Auskunft über diesen mystischen Stein 
zu erhalten suchen. 

Kopenhagen, 34. März. 
Einen schauderhaft - prächtigen Anblick ge- 
währen die verödeten Mauern von Christians- 



335 

bürg. Ich wandelte lange darin herum , und 
meine Phantasie war geschäftig, das Fehlende zu 
ergänzen und das Zerstörte wieder herzustel- 
len. Sie hiefs noch einmal, die geschwundene 
Herrlichkeit des stolzen Palastes aus der Ver- 
nichtung hervorgehen, um meine Seele desto 
stärker durch den Kontrast zu erschüttern. Nach- 
dem sie die schimmernden Scenen eines königli* 
chen Festes , im lebendigsten Farbenspiele , vor 
meinem innern Sinne vorbeigeführt hatte , löste 
sie den Zauber plötzlich, und überliefs mich ganz 
dem Eindrucke der Wirklichkeit. Da glaubte ich 
im Winde , der durch die leeren Fensteröffnun- 
gen sauste, die Stimmen unsichtbarer Wesen zu 
hören , die zuletzt in den feierlichen Chor zusam- 
men klangen : 

The cloud-capt toxv'rs , the gorgeous palaces^ 
The solemn temples, the great glob itself, 
Yea all who it inherit, shall disolve 
And like an insubstanlial pageant faded 
Leave not a rak behind; we are such stuff 
As dreams are made of, and our little lije 
Is round ed \vilh a sleep. 



334 

leb stieg die große Marmortreppe hinan , die 
nQch ziemlich unversehrt geblieben ist, und blick- 
te in den Rittersaal , der durch seine ungeheu- 
re GröTse einen hohen Rang unter den architek- 
tonischen Merkwürdigkeiten Europas einnahm. 
Das Landhaus des Grafen Bernstorf f , ein ge- 
wifs ansehnliches Gebäude, hätte, nach allen 
seinen Dimensionen , darin Raum gehabt. Die 
Decke ist völlig eingestürzt. Unter den Eisenstä- 
ben, woran die Gallerie befestigt war, haben 
sich die Brustbilder der Könige noch unbeschä- 
digt erhalten. Gleich blassen Geistergestalten 
scheinen sie traurend, über den Ruinen der zer- 
trümmerten Pracht, im verlassenen Raum zu 
schweben. Hier war es wo ein Mann, von den 
ihn verfolgenden Flammen zuletzt auf ein Fen-r 
stergesims getrieben , welches keine rettende 
Hand mehr erreichen konnte , um einem langsa- 
men Martertode zu entgehen , sein Gesicht ver- 
hüllte , und so in die Gluth hinabstürzte. 

Von dem Steine der mir in Friedensburg 
aufgefallen war , erfuhr ich heute , dafs ihn 
Friedrich V. auf Anrathen eines launigen 



355 

Höflings, mit einer willkührlich gewählten Jahr- 
zahl bezeichnet habe aufrichten lassen, um rei- 
senden Geschichts- und Altertumsforschern eine 
Falle zu stellen. Ich weifs nicht wie viele Dis- 
sertationen und gelehrte Zweikämpfe er schon 
veranlafst haben mag, ehe seine wahre Bestim- 
mung an den Tag kam. 

Der Nachmittag vergieng mir }n allgenehmer 
Gesellschaft , leider nur allzuschnell , beim Pro- 
fessor von Eggers, einem der thätigsten und 
aufgeklärtesten Gelehrten in Dänemark, der 
sich als statistischer , politischer und historischer 
Schriftsteller Ruhm und Achtung erworben hat. 
Bei ihm sah ich Herrn Grouvel, den be- 
kanntlich das traurige Loos traf, L ü d w i g XVI. 
das Todesurtheil vorlesen zu müfsen. Er ist ein 
Mann von altfranzösischer Politur und horchsa- 
iner Gewandheit. 

35. März. 

Man führte mich auf den Balkon des Pack- 
hauses, wo eine berühmte Aussicht ist, welche 
den ganzen Holm, die Rheede, das Meerufer bis 
HelsingörundcüeKüstevonSchonenumfafst. 



336 

Zum Mittagessen war icb beim Grafen S c h i m- 
melmann. Der hier herrschende zwanglose 
und natürliche Ton,, welcher eines meiner er- 
sten Bedurfnisse im geselligen Leben ist , gab 
mir, so weit es vom Einzelnen auf das Allge- 
meine zu schlielsen erlaubt ist, die vortheil- 
hafteste Idee vom häuslichen Leben der hiesi- 
gen Grofsen. Der Graf, ein edler und besehen 
den er Mann, der im Umgange mit jedem Augen- 
blicke gewinnt, genieist , als Finanzminister 
und als Mensch , der ehrenvollsten und gerech- 
testen Hochachtung. 

Die Abendstunden brachte ich im Familien- 
zirkel des Staatsministers Grafen Bernstor ff 
zu, den ich den Aristides der neuern Zeit 
nennen möchte. Nie erschien mir die mensch- 
liche Natur veredelter und höher , als in ihm. 
Mit den größten und mannigfaltigsten Anlagen 
ausgestattet, ward er alles, was er werden konn- 
te. Milde, Festigkeit und Adel treffen in 
seiner Seele, Kraft, Hoheit und Ebenmaais 
in seiner wahrhaft königlichen Getsalt zusam- 
men. 



337 

Si fraCtus illabatur orbls, 

Jmpauidum ferient ruince. 

Aus einem Munde dem die "Wahrheit heilig 
ist, hörte ich eine Schilderung des Kronprin- 
zen, nach welcher er die meisten Regententu- 
genden in sich vereinigt , ohne von einem einzi- 
gen Regentenlaster beherrscht zu werden« An 
seiner Gemahlin hängt er mit leidenschaftlicher 
Liebe , und soll nie mit einem andern Frauenzim- 
mer vertraulich gelebt haben. Er spielt nicht, 
ist äufserst mäßig in seiner Lebensart , halst die 
Jagd, und arbeitet mit unermüdlicher Thätigkeit 
in Staatsgeschäften, denen er sich ausschliefsend 
Widmet. Den grofsen Bernstorff ehrt er wie 
einen Vater, und steht hoch genug, um den 
ganzen Werth dieses seltenen Mannes zu erken- 
nen und zu umfassen. Den Mangel an gelehr- 
ten Kenntnissen, deren Erlangung ihm bekannt* 
lieh in seiner Jugend unmöglich gemacht ward , 
ersetzt er durch reinen Menschensinn und schar« 
fe Urtheilskraft. 

Im Harmonieklubb ward Schulzens Hym- 
ne, eins der ersten Meisterwerk^ der Tonkunst, 



338 

von Liebhabern vortreAich aufgeführt. Seit 
Glucks Opern wirkt« keine Musik mit solcher 
Allgewalt auf meine Seele. Die Höhe, zu wel- 
cher Schulzens Genius in dem Chore; „Or- 
kane preisen dich , o Gott ! " emporschwebt , 
hat , nach meinem Gefühle , das aber nicht den 
mindesten Anspruch auf Untrüglichkeit macht, 
selbst Händel niemals erreicht. 



Vier 



339 



Vier und dreissigster Brief. 



Tremsbüttel in Holstein, 15. April. 1794« 

Ich bin über die Belte nach Hamburg' zu- 
rückgekommen y mein theuerster Bonstetten! 
weil der anhaltende Wind die Seereise nach Ki el 
oder Lübeck unmöglich machte. 

Ich gieng am 4* April von Kopenhagen 
ab. Die Aussicht beim Schlosse Friedrich sa 
berg, dem gewöhnlichen Sommeraufenthalte 
des Hofes, ausgenommen, ist die Gegend bis 
Rothschild ziemlich einförmig. In dieser 
*Stadt sind die Begräbnisse der Könige, welche 
Klopstock zum Gegenstande einer der vor- 
züglichsten Elegieen machte, die wir in unserer 
Sprache besitzen. Von hier kamen wir über 
Ringstädt, einem Städtchen wo kürzlich zwan- 
zig Häuser abgebrannt waren, nach Korsör, 
an der Westküste von Seeland. Die 14. Mei- 

Y 



34* 

len von Kopenhagen bishieher, legten wir, 
freilich auf einer der treulichsten Chausseen von 
Europa, in eben so viel Stunden zurück. Die 
Ueberfahrt über den grofsenBelt, machten wir 
in fünf Stunden, mit halbem Winde. "Wir kamen 
nahe am Eilande Sproe vorbei, das, gleich 
der Peters-Insel im Bieler-See, nur von 
einer einzigen Familie bewohnt wird. 

Das Postschiff landete vor N y b o r g , einem 
dtadtchefl von angenehmer Lage, m einem kl ei* 
nen Meerbusen, dessen Ufer manttichfalüg und 
reich angebaut sind. Nun betraten wir die fruch- 
bare Insel Fönen, deren ansehnlichsten Th eil 
ich leider unter der MQlle der Nacht durchreis- 
te. Bei Mlddelfart giengen wir über den 
kleinen Belt, der hier so schmal ist, daß 
wir in weniger als einer halben Stunde in einem 
Boote übergemdert wurden; da hingegen bei 
Assens, wo man ihn ebenfalls passirt, seine 
Breite zwei Meilen beträgt. 

Fast den ganzen Tag hatten wir heftigen 
Regen , und gegen Abend überfiel uns , in ei- 
nem Walde nicht weit von Hadersleben, 




34* 

eins der stärksten Gewitter, die fch mich je- 
mals erlebt zu haben erinnere. Dreimal warerf 
Blitz und Schlag vereinigt, und dabei ergoßt 
sich eine Hagelwolke mit fürchterlicher Gewalt. 
Nicht weit von uns ward ein Baum vom Blitze 
getroffen. Jetzt standen die Pferde plötzlich 
still , und der Postillion , dem ich zurief , gab 
keine Antwort ; er schien völlig betSnbt Mit 
Muhe gelang es mir endlich , ihn cum Weiter* 
fahren zu bewegen, und so von den hohen Bäu- 
men wegzukommen , in deren Nahe es uns nun 
sehr unheimlich zu werden anfieng. 

Der folgende Tag war so regnig, daß ich! 
des Anblicks der gerühmten Landschaften von 
Apenrade und Flensburg beraubt wurde. 
Flensburg ist eine der artigsten und freund« 
lichsten Städte, und ihre Lage, so viel mich 
der trübe Flor, durch welchen ich sie erblick* 
te, davon errathen lief*, bezaubernd schön. 

In Schleswig fand ich Herrn vonE***, 
dem ich durch seinen Bruder in Kopenhagen 
war empfohlen worden, schon im Posthause. 
Er unterhielt mich die Stunde, Welche ich hier 



34* 

zuzubringen hatte, sehr angenehm von Schles- 
wig, dessen Einwohnern, der daselbst immer 
mehr überhand 'nehmenden Prachtliebe, und 
dem Theater, wovon er viel Yortheilhaftes sagte. 

Endlich hatte der Himmel sich wieder auf- 
gehellt. Beim schönsten Mondlichte fuhr ich 
von Schleswig nach Eckernförde. Dies 
war nun die vierte Nacht , die ich ganz ruhelos 
auf dem Postwagen zubrachte. 

So ermüdet und schlafbedürftig ich bei mei- 
ner Ankunft in Ki e 1 mich auch fühlte , so konn- 
te ich doch der Einladung meines Freundes Hens- 
ler nicht widerstehen , ihn noch, am neralichen 
Tage nach Emkendorf zu begleiten. Dieser 
Landsitz liegt drei Meilen vonK i e 1 gegen Rends- 
burg zu, und gehört dem Grafen R event- 
lau, ehemaligem dänischen Gesandten in Lon- 
don und Stokholm, einem sehr gebildeten 
und edlen Manne, der die Gräfin JulieSchim- 
xnelmann, eine Schwester des Finanzministers , 
zur Gemahlin hat. Diese ist durch Geisteskul- 
tur und Herzensadel gleich achtungsvverth. Sie 
hat zum Besten ihrer Bauern zwei musterhafte 



345 
Volksbücher geschrieben, wovon das eine Sonn« 
tagsfreuden, und das andere Kinderfreu- 
d e n betitelt ist. Ihr ähnliches Bild in Lebens- 
große, von Angelika Kaufmann, sah ich- 
in' Kopenhagen im Hause ihres Bruders. 
Die Künstlerin hat in diesem Gemälde , nach . 
dem Beispiele des grofsen Reynolds, mit der 
ihr eigenen Grazie und Zartheit der Ideen, ein 
bloßes Portrait sehr glücklich zu der Würde 
und dem Interesse eines historischen Sujets er- 
hoben. 

Der Graf Reventlau hat einige gute Ko- 
pien nach Raphael und Guido Reni aus 
Italien mitgebracht; auch mehrere Originale, 
unter denen mir besonders zwei Landschaften 
von Hack er t hervorstechend schienen. 

In Kiel besuchte ich den Professor F a b r £- 
cius, einen der würdigsten Linnäischen Schü- 
ler , -der im Fache der Entomologie , vorzüg- 
lich in England und Frankreich, eine Art 
von Diktatur erlangt hat, die ihm, unter al- 
len jetzt lebenden Naturforschern, kein einzi- 
ger streitig zu machen im Stande ist« 



544 

Von Kiel reiste ich, auf eine Einladung 
meiner Freundin , der Grafin Luise Stol- 
berg, naeh Tremsbüttel, In diesem Hol- 
steinischen Dorfe, vier Meilen von Ham- 
burg, lebt der königliche Amtmann Graf Chri- 
stian Stolberg, als Menschenbeglücker und 
Musenfreund, das Leben eines ächten prakti- 
schen Weisen. Den hohen Geilt der Gräfin und 
ihre ausgebreitete Belesenheit, kennst Du aus 
einigen ihrer Briefe an Bonnet, der sie ein* 
mal gegen mich, die schnellste Folgerin seines 
Ideengangesj nannte. In der That ward der 
verewigte Greis wohl von Wenigen wärmer 
verehrt and besser verstanden, als von dieser 
umermfidet nach licht und Wahrheit forschen* 
den Seele. 

Leider muß ieh morgen diesen Wohnsitz der 
reinsten häuslichen Gifickseligkeit schon wieder 
verlassen ; aber das Andenken anTremsbut» 
t e 1 und seine Bewohner , wird unvertilgbar in 
mir fortdauren. 

Ich gehe nun über Braunschweig meiner 
Heimath entgegen , wo mich die Freude erwar- 



546 

tet; nach langer Trennung meine Mutter und 
Schwester wieder zu sehn« 

Die Kürze dieses Briefs wird verzeihlich, wenn 
Du bedenkst, wo er geschrieben ward. 

Lebe wohl, mein geliebter Freund! und 
zweifle nie an der unwandelbaren Liebe dessen, 
der ganz dein gehört. 



34« 



Fünf und dreissigst^r Brief. 



Braunschweig , aa. April« 

Von Hamburg bis Braunschweig hatte 
ich eine äufserst angenehme Reise , mein lieber 
Bonstetten! Das Wetter war ununterbrochen 
heiter, und alles in voller Blüthe. Einer sol- 
chen Fülle des vegetirenden Lebens in den er- 
sten Frühlingstagen , erinnre ich mich aus mei- 
ner ganzen Vergangenheit nicht. Man hätte die 
Schneelast, worunter, in Horazens Winter- 
ode, die Wälder erseufzen, ohne dichterische 
Uebertreibung , auf die Blüthen der Fruchtbäu- 
me anwenden können. 

Auf dem Kirchhofe zu Lüneburg zog ein 
Denkmal meine Aufmerksamkeit an sich , wo- 
zu die Idee mir eben so neu als edel schien« 
Es stellt eine zerbrochene ionische Säule dar. 
Ein Thcil des Schafts steht noch auf dem Fuß- 



347. 

gesteile, und ein anderes Stück desselben da- 
gegen gelehnt ; das Kapital liegt auf der entge- 
gengesetzten Seite. Ein Rifs geht mitten durch 
die Aufschrift am Postemente, die nur den Na« 
xnen und bürgerlichen Beruf des Verstorbenen 
angiebt. Das Ganze ist so geordnet, dafs die- 
se Zertrümmerung einem jeden, beim ersten 
Anblicke, als die plötzliche Folge einer zerstö- 
renden Naturbegebenheit, nicht aber als eine 
langsame Wirkung der Zeit erscheinen mufs. 

Nach genauerer Erkundigung erfuhr ich , 
dafs die patriotischen Verdienste des Landsyn- 
dikus Kraut, dem das Monument geweiht ist, 
diese ehrenvolle Allegorie vollkommen recht- 
fertigen. 

Da ich bei meiner Ankunft in Braun- 
schweig, von denen, die ich hier zu besu- 
chen hatte, niemanden antraf, gieng ich indels 
ins Schauspiel. Ein wahres dramatisches Un- 
ding ward so elend aufgeführt, dafs der Preis 
der Erbärmlichkeit zwischen dem Dichter und 
den Schauspielern zweifelhaft schwankte. Un- 
ter andern kam eine Scene vor , wo ein durch 



den Helden des Stucks verführtes Mädchen im 
Begriffe stand, sich ins Wasser zu stürzen. 
Donner und Bliu begleiteten den unsinnigsten 
Monolog) 'durch den *i& auf die empörendste 
Ärty bild an den König Lear, bald an Harn- 
Fet erinnert ward. Auf einmahl legte sich, 
wie durch den Mohnstengel &er Fee Mab , die 
Wuth der Elemente , und ein schwarzer Pappen- 
deckel, der bis dahin eine Gewitterwolke vor- 
gestellt hatte, nrafste dem Vollmonde Platz ma- 
chen. Urplötzlich scbmeidigte dieser Anblick 
des sympathetischen Freundes der Liebenden 
die Verzweiflung. der verlassenen Dido ; und an- 
statt die lastende Lebensbiirde, ihrem ersten 
Pfane gemäß, in den feuchten Abgrund zu 
versenken , apostrophirte sie den Mond mit dem 

eeVelbdftesten 6chwalle von Reminiseenzen aus 

* * 

empfindsamen Romanen, tind gieng getröstet ab. 
Diesen unbegreiflichen Plattheiten folgte (mit 
Efcröthen schreibe ich als Deutscher es nieder) 
ein so"lebhaftes und anhaltendes Händeklatschen, 
dafs ein Ausländer, der in diesem Momente des 
allgemeinen Entzückens hereingetreten wäre, 



349 

von der Urheberin desselben eine sehr grofse 
Idee hätte fassen, und sie wenigstens für. eine 
zweite Siddons oder Klairon halten müs- 
sen. So steht es leider in den meisten Gegen- 
den Deutschlands um den Theatergescbmäck% 
für welchen nun, da selbst Lessings Bemü- 
hungen, ihm feste Eigenthümlichkeit zu geben, 
vergeblich waren, wohl eben so wenig ein g ol d- 
nes Zeitalter zu hoffen seyn möchte, als 
der ewige und allgemeine Friede des gutmüthi- 
gen Schwärmers St. Pierre, für die jetzt Krieg 
führenden Völker. 

Es war mir eine herzliche Freude, die Be- 
kanntschaft des Hofraths Ebert zu machen , 
der nun beinahe ein halbes Jahrhundert hin- 
durch , mit dem seltensten patriotischen Eifer, 
zur Ausbildung des Geschmacks in Deutschland 
mitwirkte. Die Munterkeit und das Jünglings- 
feuer dieses liebenswürdigen Greises , der in 
seinem siebenzigsten Jahre den Musen noch eben 
so frische Kränze opfert, wie im Frühlinge sei- 
nes Lebens, war für mich, des getreuen Bil- 
des ungeachtet, dasL**. St**, mir vorläufig* 



35o 

von ihm gezeichnet hatte , höchst überra- 
schend. 

» 

Ebert ist von den Verfassern der Bremi- 
schen Beiträge, mit denen eine neue Epo- 
che des deutschen Geschmacks begann , nebst 
Klopstock, noch allein am Leben. Was letz- 
terer in seiner Ode an ihn so rührend weifsag- 
te , ist nach und nach in Erfüllung gegangen • 
Giseke, Kramer, Gärtner, Rabner, Gel- 
iert, Schlegel, Schmidt und Hagedorn 
sind todt, und zween Einsame blieben al- 
lein von allen noch übrig: 

Als Geweihte des Schmerzen», die hier ein trüberes 

Schicksal , 

Langer als Alle, sie liefs. 

Wer wird nun der Ueberlebende seyn ? 

Ebert ist einer der angenehmsten Gesell- 
schafter die ich kenne, und ein vorzüglich gu- 
ter Deklamator. Lange werde ich der frohen. 
Augenblicke gedenken, die mir durch sein Vor- 
lesen eines ungeclruckten Gedichts von Hage- 
dorn wurden, worin die ryp arographische Ma- 
nier des weiland berühmten Brock es unnach- 



35i 

abmlich parodirt ist. Es ist eine Epistel an Lis- 
kov, die so anfängt: 

Ol 

Wie ward ich doch, geehrter Liskov, froh, 

Als 
Mit noch ungewaschner Rechten und dreiund- 
drei fs ig jährgem Hals, u. s. w. 

Bei Ebert hatte ich auch das Vergnügen t 
einen der größten jetzt lebenden Virtuosen auf 
dem Klaviere, den hiesigen Kapellmeister Schwa- 
nenberger, spielen zu hören. Sein Vortrag 
vereinigt bezaubernde Anmuth mit hinreifsen- 
dem Feuer , und die Schnellkraft seiner Finger 
ist aufserordentlich ; in jedem derselben scheint 
eine eigene Seele zu wohnen. 

Auf die mit so vieler Ungeduld erwartete 
Geschichte des drei fsigjähri gen Krie- 
ges von Leisewitz, wozu derselbe, mit beträcht- 
lichem Aufwände und seltenem Eifer, vielleicht 
einen der reichsten und vollständigsten Schätze 
von Materialien zusammenbrachte, dessen sich 
je ein Geschichtschreiber zu erfreuen gehabt hat, 
wird Deutschland höchst wahrscheinlich Verzicht 



553 

thunmüfsen. Leisewitz erklärte mir, auf die 
angelegentliche Erkundigung nach dem Fortgan- 
ge dieses wichtigen Werks, daß er sich nicht 
mehr für diese Arbeit interessire, und zu glau- 
ben Ursache habe, es werde von Seiten des 
deutschen Publikums der nehmliche Fall seyn. 
Einer der feinsten und geschmackvollsten Kunst- 
richter, die jetzt unter uns leben , der Hofrath 
Escheriburg, fällte von einigen ihm von die- 
ser Geschichte mir geth eilten Bruchsrucken ein 
Urtheil , nach welchem Leisewitz mit allen er- 
forderlichen, und so äußerst selten in Einem 
Geiste vereinigten Talenten ausgerüstet ist, um 
als ein Geschichtsschreiber aufzutreten, der mit 
Robert, Hume und Gibbon, sich kühn im 
die Schranken wurde wagen dürfen. 

Gestern machte ich mit meinem Freunde, 
dem Professor Buhle aus Gott in gen, der 
hier die Osterferien bei seinen Eltern zubringt, 
einen Spaziergang nach Wolfen büttel. Ehe 
wir Braunsh weig verließen, sah ich auf 
dem Burgplatze noch die Bildsäule des Löwen, 
welchen Herzog Heinrich der Lowe aus 



353 

dem gelobten Lande mitgebracht haben soll , 
und der, nach einer grauen Volks Überlieferung, 
hier begraben liegt. Es freute mich , dies ehr- 
würdige Nationaldenkraal zu sehen , weil es den 
schauerlich frohen Eindruck zurückrief , womit 
ich diese abenteuerliche Sage so oft in meiner 
Kindheit erzählen hörte. 

Im Garten der Herzogin verweilten wir ei* 
nige Augenblicke , des reitzenden Aussicht we- 
gen, die man nicht weit vom Schlosse , welche* 
zwar klein , aber in einem edlen Stile erbaut 
ist, auf eine Angeriläche hat, die von der Ocker 
durchschlängelt wird. Diese liebliche Aue er« 
innerte mich an jene, wo, nach dem prächti- 
gen Gemälde des Moschus, Europa mit ih- 
ren Gespielinnen lustwandelt; eine so reiche 
Fülle von Blumen hatte der Frühling darüber 
ausgegossen. 

Unser erster Besuch inWolfenbüttel war 
beim Professor Trapp, meinem alten Freunde, 
der hier zufrieden und glücklich lebt , und sei- 
ne vortreflichen Erziehungstalente immer noch 
mit dem erwünschten Erfolge in Ausübung bringt. 



354 

Den Bibliothekar Langer, einen sehr gelehr? 
ten und vielgereisten Mann , der für den gröfs- 
ten jetzt lebenden Kenner alter Drucke gehal- 
ten wird, fanden wir auf der Bibliothek. Dies 
Gebäude überraschte mich durch seine kühne 
Bauart. Es ist eine Rotunde, wo das Licht 
von oben einfällt Billig verschone ich dich hier 
mit einer vollständigen Aufzählung der Bücher 
und Handschriften, die Herr Langer mir als 
vorzüglich merkwürdig zeigte. Ich habe das Wich-» 
tigste davon in meinem Reisebuche aufgezeichnet, 
welches dadurch ganz unerwartet einen kleinen 
Nimbus von Gelehrsamkeit bekommen hat. 

Herr Langer hat kürzlich entdeckt, daß* 
die ersten deutschen Drucke im Jahre 1460. 
zu Bamberg herausgekommen sind. Wir sa- 
hen hier eine daselbst erschienene Ausgabe von 
Boners Fabeln mit dieser Jahrzahl. Sie ist 
mit Missalbuchstaben gedruckt, und hat ausge- 
malte Holzschnitte. 

Die hiesige Bibelsammlung besteht aus 4000« 
Stücken. In allem giebt es etwa zwölftausend 
Bibelausgaben. % 

Für 



\ 



355 

Für die zahlreiche Klasse von Reisenden , der 
es in öffentlichen Sammlungen hauptsächlich um 
die Schau der sogenannten Kuriositäten zu 
thun ist, liegt beständig eine hallische Bibel 
aufgeschlagen, worin eine Unterlassungssünde 
des Setzers , einer groben Begehungssünde das 
Wort redet ; denn das sechste Gebot lautet hier 
also: Du sollst ehebrechen. 

Dafs Herr L a n g e r in seiner Jugend ein nichts 
weniger als unbedeutender Dichter war, bewei- 
sen ein Paar sehr gute lyrische Stücke von ihm 
im dritten Bande der Allgemeinen Blumen- 
lese der Deutschen. In seiner Wohnung 
sah ich eine der schönsten Landschaften Gefs- 
ners, und einen kleinen antiken Apoll von 
Bronze, der unweit Basel ausgegraben ward. 

"Wir traten kurz vor Sonnenuntergang unsern 
Rückweg nach Braunschweig an. Das Licht, 
in welchem die Wipfel der Gärten und Wäl- 
der sich wollüstig zu wiegen schienen , war das 
lieblichste , das vom Himmel auf die Erde kom- 
men kann. Wir nahmen im Garten eines 
Wirthshauses , das einzeln an der Landstrafse 

Z 



356 

liegt, von einer kleinen Laube Besitz, um die- 
ses schönen Frühlingsabends recht nach Herzens- 
wünsche froh zu werden. Die Rosen und Sal- 
ben abgerechnet, war hier alles vereinigt, was 
Horaz in der Ode an denDelius zusammen- 
stellt : Wipfel die sich zum wirthlichen Schat- 
tendache verschränkten, ein plätscherndes Was- 
ser am einsamen Rasenabhange, und der weise 
Vorsatz, jede Lebensfreude im finge zu haschen. 

Dum res et astas et sororum 
Flla tri um patiunlur atra. 

Auch der Wein , den wir hier tranken , war 
vielleicht kein ganz unwürdiger Repräsentant 
des Falerners. 



357 



Sechs und dreissigstbr B a i b f< 



Krakau bei Magdeburg, i. Mal. 1794* 

Du weißt es, mein geliebter Freund! wie oft 
ich, selbst ait deiner Seite, ' im Feenlande des 
Genfer-Sees, den Wunsch that , noch ein- 
mal den Ort wieder zu sehen, wo ich die er- 
sten Frühlingsjfcnre meines Lebens zubrachte. 
Die Erfüllung dieses Wunsches hat mir das 
Schicksal nun gewährt. Ich kam vor drei Ta- 
gen in diesem Dorfe an , wo ich von meinem 
Grofsvater , einem ehrwürdigen und verdienst- 
vollen Geistlichen, bis zu meinem vierzehnten 
Jahre erzogen ward. Krakau hat eine ange- 
nehme und freundliche Lage am Elb Ufer, und 
ist von Magdeburg, das, jenseits des Flus- 
ses, mit seinen zahlreichen Doppelth firmen sich 
sehr prachtvoll darstellt , nur ungefähr so weit 
entfernt, als Prangins von Nion. 



558 

Alles , was mich hier in der Nahe und Ferne 
umgiebt , bringt irgend eine Scene der Kind- 
heit vor meine Einbildungskraft ; und, trotz des 
langen Zwischenraumes und des unaufhörlichen 
Wechsels von Situazionen und Schicksalen, ei- 
ne jede. noch so frisch und lebendig, wie die 
Auftritte des gestrigen Tages. 

Bloß hindeuten lafs mich auf den Moment 
des Wiedersehens meiner Mutter und Schwe- 
ster, nach zehnjähriger Trennung. 

Gestern brachte ich einige Stunden sehr ver- 
gnügt im Hause des Hofraths von Köpken zu, 
der dir schon durch unsere Unterredungen über 
den gegenwärtigen Zustand der deutschen Lite- 
ratur, als ein vorzüglich feiner Kenner und 
Aus über der Musenkünste bekannt ist. Leider 
nur als Handschrift für Freunde, hat er kurz- 
lich eine Sammlung seiner Poesien , unter dem 
Titel : „ Hymnus auf Gott , nebst andern ver- 
mischten Gedichten, " drucken lassen. 

Auf dem Domplatze, einem öffentlichen Spa- 
ziergange in Magdeburg, begegneten mir vie- 
le französische Gefangene. Die Offiziere waren 



359 

keinesweges sanskülottiscli , sondern vielmehr 
mit aller den Altfranzosen eigenen Eleganz ge- 
kleidet, und trugen meistens große dreifarbi- 
ge Federbüsche auf den Hüten. Man rühmt 
sie allgemein wegen ihres artigen und gesitte- 
ten Tons, und gestattet ihnen den Zutritt in 
den besten Häusern. Die Soldaten wohnen in 
den Kasernen, und werden mit vieler Menschlich- 
keit behandelt. Eine grofse Menge von ihnen 
sah ich um einen Bänkelsänger versammelt, 
der mit einem Stäbchen auf ein scheusliches Ge- 
mälde wies, worin eine Guillotine die Haupt- 
figur machte. In der Volkselegie, die er da- 
bei über die schreckliche Ermordung der 
verwittweten Königin von Frankreich ab- 
sang, ward die französische Nazion nicht nur 
mit Tygern und Hyänen , sondern sogar auch 
mit Basilisken und Lindwürmern in eine Ka- 
tegorie gebracht. 

Hierbei fällt mir die kleine Guillotine ein, 
welche ein hiesiger Einwohner, in der huma- 
nen Absicht hat verfertigen lassen, um dem 
für seine Mahlzeiten zum Tode verurtheilten 



Geflügel die Qualen der Hinrichtimg abzu- 
kürzen. 

Mit wahrem Vergnügen erfahr ich durch den 
Hofrath von Köpken, dad die magdeburgi- 
sehe litterarische Gesellschaft, deren ältestes 
und thätigstes Mitglied er ist, einmüthig beschlos- 
sen habe, dem Andenken Basedows, an der 
Grabstätte desselben auf dem hiesigen Heiligen- 
geist - Kirchhofe, ein Denkmal errichten zu las- 
sen. Das Brustbild des Verstorbenen en Bas- 
relief , dessen Verfertigung man dem geschick- 
ten Professor Doli in Gotha aufgetragen hat, 
wird die ganze Verzierung dieses Monuments 
ausmachen , und die Aufschrift einzig und al- 
lein aus den wenigen Buchstaben seines Namens 
bestehen. Für einen großen Todten giebt es 
wohl schwerlich eine ehrenvollere Grabschrift. 

Von laFayette wird auch hier mit warmer 
Achtung gesprochen, und das Schicksal, wel- 
ches diesen hochsinnigen und menschlichen Feld- 
berrn, in der Mitte eines so schön und rühm- 
lich begonnenen Laufs, in Fesseln zwang, von 
allen, die gesundes Geistes und Herzens sind, 



36* 

den grausamsten beigezählt, die einen Sterbli- 
chen treffen können. Es war mir lieb aus dem 
Munde eines glaubwürdigen Mannes, der als 
Arzt seines täglichen Umgangs genossen hatte, 
"beinahe ganz das Gegentheil von dem zu hö- 
ren, was wir einst, mit so bitterm Unwillen, übet 
la Fayettes harte und unwürdige Behandlung 
auf der magdeburgischen Ckadelle in tneh* 
reren öffentlichen Blattern lasen. 

Ein Ausspruch la Fayettes, dieses ein- 
sichtsvollen Beurtheilers und richtigen Würdi- 
gere von Feldherrntalenten und Feldherrnver- 
diensten , über den Prinzen von Koburg, bei 
Gelegenheit des Uebergangs Dümouriezs zur 
österreichischen Armee, scheint mir so wahr 
und treffend zu seyn , dafs ich dir denselben 
wiederholen zn raüfsen glaube. „Man kann 
dem Prinzen vonKoburg ausgezeichnete Feld- 
herrntalente nicht absprechen , " sagte er zu 
einem Offiziere der magdeburgiscfren Gar- 
nison; „aber einen Fehler hat er begangen, 
den ihm die Nachwelt nie verzeihen wird : er 
griff die Franzosen nicht an, als Dumou- 



$62 

riez zu ihm übergieng, und ihre Armee sich 
in einer so gänzlichen Unordnung und Zerrüt- 
tung befand , dafs er sie mit leichter Mühe bis 
auf den letzten Mann hätte aufreiben können." 
Alexander Lame.th befindet sich noch 
hier, wird aber nächstens nach einem Bade in 
Schlesien abreisen , um seine äufserst ge- 
schwächte Gesundheit wieder herzustellen. Das 
Traktament, welches er vom Könige von Preus- 
sen bekommt, beträgt täglich zwei Reichs t ba- 
ier. L a m e t h s Mutter , eine gebohrne B r o g- 
lie, die als eine geistvolle und entschlossene 
Frau gerühmt wird , ist ihrem Sohne nach Mag- 
deburg gefolgt. 



563 



Sieben und dreissigster Brief. 



Halberstadt, 6. Mai. 1794* 

Herr von Köpken und ich sind von Mag« 
deburg hieher gereist, um unsern gemein« 
schaftlichen Freund Gleira zu besuchen. Ich 
fand diesen Nestor unter den jetzt lebenden 
Dichtern, der, wie Klopstock so wahr und 
schön von ihm singt, „liebend Liebe gebeut, 
und hier nur die zögernde sanfte Mäfsigung 
hafst , " noch eben so feurig , kraft - und geist- 
voll, wie vor zehn Jahren; auch in seinem 
Aeufseren hat dieser Zwischenraum keine auf- 
fallende Veränderung hervorgebracht. 

Für ihn scheint der kas talische Quell die 
wahre Fontaine de Jouvence zu seyn. 

Ich traf hier den Bibliothekar Benz ler von 
Wernigerode an, dessen deutschen Dionys 
von Halikarnafs wir einst mit einander la- 



7.6 < 



ö°4 

sen, und der sich auch durch seinen Auszug 
aus dem Spectator einen Platz unter den 
geschmackvollsten und zierlichsten Uebersetzera 
erworben hat. ßald gesellte sich auch Kla- 
mer Schmidt zu uns , den ich wegen seines 
edlen Charakters und festen Biedersinns hoch- 
schätze. Er las mir verschiedene seiner unge- 
druckten Gedichte vor, wovon eins, mit der 
Aufschrift Klamersruh, in welchem er, wie 
Gefsner in seinem Wunsche, das lieblich* 
ste Ideal stiller häuslicher Glückseligkeit auf- 
stellt, mir alles bei weitem zu übertreffen 
scheint , was bisher von diesem liebenswürdigen 
Dichter ins Publikum gekommen ist. 

Er begleitete uns nach den Spiegelber- 
gen. Der Schopfer dieser Anlagen, der ver* 
storbene Domdechant von Spiegel, wählte 
sich seine Ruhestätte im Schatten der Haine, wo- 
durch er eine vormals öde und baumlose Ge- 
gend in einen Aufenthalt der Freude und' des 
Naturgenusses verwandelte. Sein Sarg steht in 
einem runden Tempel mit durchbrochenen Ei» 
centhüren. Hier wird alle Jahre, am 22. Mai, 



365 

Spiegels Todtenfeier begangen. Nach einer 
Trauermusik in der Domkirche begiebt sich fast 
die ganze Stadt nach den Spiegelbergen. 
Grablieder werden am Sarge gesungen, und 
dieser, samt dem Tempel, von jungen Mäd- 
chen mit Blumengewinden geschmückt. Dies 
schone Gedächtnüsfest wird hier die Spiegel- 
feier genannt. 

Auf einem mit Gesträuch besetzten Hügel, 
steht die Bildsäule der Karschin, mit der 

» 

Unterschrift: Die deutsche Sappho. Dies 
ist, meines Wissens, die einzige Dichterstatüe 
in Deutschland. 

Das Zimmer in Gleims Hause, welches 
er seinen Musen- oder Freundschaftstempel 
nennt , enthält eine h'öchstinteressante Samm- 
lung von Bildnissen deutscher Gelehrten, Dich- 
ter und Künstler , die fast alle von gleicher 
< 

Gröfse und zum Theil auch von Seiten der 
Kunst schätzbar sind. Jedes dieser Portraits 
ist für den ehrwürdigen Greis ein Denkmal 
seiner freundschaftlichen oder litterarischen Ver- 
bindung mit dem Ürbilde. Unser Johannes 



366 

Mull er befindet sich auch in dieser erlesenen 
Gesellschaft. 

Mit religiöser Ehrfurcht sah ich die heili- 
gen Reliquien aus dem Nachlasse Friedrichs 
des Einzigen: den Hut, welchen der gröfs- 
te Sterbliche, seitdem Griechenlands und Roms* 
Heroen dahin sind , noch am Morgen vor sei- 
nem Tode trug ; und die Silberschärpe , wo- 
mit er während des ganzen siebenjährigen Krie- 
ges umgurtet war. Diese hatte er selbst zum 
Andenken aufbewahrt. Den Hut verdankt 
Gleim der Vorsorge des Herzogs Friedrich 
August von Braunschweig, dem er nach 
einer Unterredung mit dem grofsen Könige im 
Jahr 1785. äufserte: Der König habe zwar ei- 
nen sehr alten Hut aufgehabt ; dennoch aber 
würde es das ehrenvollste Andenken für den 
preußischen Grenadier seyn, wenn er den Hut 
hätte. Der Herzog verhieß dem Dichter die 
Erfüllung dieses Wunsches, und hielt Wort, 
sobald der König todt war. 

Gestern fuhr ich mit dem Herrn von K ö p- 
ken, nach dem, zwei Meilen von Halber- 



367 

Stadt entfernten Schlosse Wernigerode, 
welches durch seine romantische Berglage be- 
rühmt ist y und lernte hier die glückliche und 
in so vieler Rücksicht achtungswerthe Familie 
des regierenden Grafen kennen. Dafs dies ge- 
rade am Geburtstage der zweiten jungen Grä- 
fin geschah , war ein sehr günstiger Zufall ; 
denn ich wurde dadurch Zeuge von einem Fa- 
milienfeste , dessen Freuden zu jenen gehör- 
ten, welche, wie Wieland sagt, alles Gold 
der Aureng-Zeben nicht kaufen kann. Wir 
begaben uns nach der Tafel in einen nahen 
Buchenwald , wo ein ländlicher Altar von Baum- 
rinde errichtet war. Seine Bestimmung deu- 
tete folgende Aufschrift : „ Schwesterliche Zärt- 
lichkeit und treue Freundschaft weihen Maria 
Stolberg diesen Altar." 

Nachdem man alles gehörig vorbereitet hat- 
te, wurde die Königin des Festes, von ihrer 
Mutter , unter dem Vorwande eines Spatzier- 
ganges, an den Ort geführt, wo die Gesell- 
schaft versammelt war. Ein kleines Orchester, 
durch hangende Zweige und Gesträuch vom 



>s 



568 

Altarplatze geschieden, begrüßte sie mit einer 
rührenden Musik ; und dann sangen die drei 
Schwestern einen von Klamer S j£i in i d t nach 
Klopstock parodirten Wechselgesang. Dier 
Gräfinnen Anna und Luise begannen : , 

Das Mädchen bringt des Haines Kranz ; 

Allein wer wird die Theure seyn, 

Der sie den Kranz um die Schläfe windet? 

Hierauf antwortete die Gräfin Friederike; 

Da bring' ich euch des Haines Kranz ! 

Ich weifs, ich weifs die Theore wohl, 

Der ich den Kranz um die Schläfe winde. 
Bei der letzten Strophe , die anfängt : 

Nun bring' ich dich der Theuresten , 

Die uns der Mai geboren hat , 
setzten die Schwestern ihrer Maria den Kranz 
auf, führten sie dann zum Altare und legten 
da den Kranz zum Opfer nieder. Hier wurde 
sie von Vater, Mutter, Schwestern und Bru- 
der unter Freudenthränen umarmt. 

Wir giengen hierauf nach Augustenh aus, 
einer Art von Einsiedelei unter hohen Linden, 
wo Herr von Köpken und ich uns, aber lei- 



3^9 

der nicht lange mehr aufhalten konnten, weil 
wir durch den herannahenden Abend an die 
Ruckreise nach Halberstadt erinnert wurden. 
Die Gegend bei Wernigerode hat sehr 
viele Eigenthümlichkeit ; hauptsächlich wegen 
des. auffallenden Kontrastes einer unabsehbaren 
Ebene mit dem nahen Harzgebirge, wo der 
Brocken verhältnifsmäfsig sich eben so herr- 
schend über die benachbarten Gipfel empor« 
hebt, wie der Montblanc in der Mittelkette 
der Alpen. Die Aussicht von der WaWprome- 
nade , welche das Schlofs umfängt , würde zu 
den reitzendsten in der Welt gehören , wenn 
sie durch einen Strom oder See belebt würde. 
Der Gipfel des Brockens ist von Wernige- 
rode ungefähr so weit entfernt, wie die Dole 
vonKopet oder Nion. Die Ersteigung die- 
ses Berges ist weder mit Beschwerde noch Ge- 
fahr verbunden, und die Reisenden finden auf 
einem Seitengipfel desselben, der die Hein- 
richshöhe heilst, ein gut versehenes Wirtbs- 
haus. 



37° 



Acht und dreissigster Brief*. 

Wörlitz. ia. Mai. 1794. 

Vv enn auf irgend einer mir bekannten Stelle 
des Erdbodens , der Dichtertraum vom Elysium 
der Alten , in befriedigende Wirklichkeit über-« 
zugehen scheint , so ist es in W ö r li t 'z , • wo ein 
edler , in die Geheimnisse des wahren Schonen 
früh eingeweihter Geist, unverbrüchlich der Na- 
tur getreu, ein Lustrevier schuf, dem nach 
meiner Ueberzeugung , unter den Werken der 
höheren Gartenkunst, der nehmliche Rang ge- 
bührt, welchen Gefsners erster Schiffer 
unter den Gedichten, Glucks Armide unter 
den Produkten der Musik, Guidos Aurora 
unter den Gemälden, die medizeische Ve- 
nus unter den Bildsäulen, und der Julier- 
tempel zu Nismes unter den Gebäuden ein- 
nimmt. 

Je- 




37* 

Jedem , der mit reinem Sinne und richtigem 
Gefühle, bei einer Fahrt auf dem See und den 
Kanälen, die zauberisch wechselnden Parteien 
des Wör litz er - Gartens, in der Beleuchtung 
4er. Abendsonne , als der vorteilhaftesten für 
das Ganze, gesehen und wiedergesehen hat, 
wird die' nahe Verwandschaft, worin derselbe, 
in Absicht auf ästhetische Wirkung, mit den ge- 
nannten Kunstwerken steht , sich von selbst 
darstellen« 

Nie verließ ich den Garten von Wörlitz, 
den ich im Jahre 1778* zum erstenmal und 
nachher oft wieder besuchte , ohne die beglü- 
ckende Stille des Geistes , welche > nach H o- 
razens Ausdrucke, „Bitterkeiten durch sanf- 
tes Lächeln mildert," und die Mutter der äch- 
ten Lebensweisheit ist« Was ich damals als 
Jungling empfand, das empfand ich auch heu- 
te, wiewohl stärker und lebendiger, als Mann. 

Durch kein Werk der Tonkunst, Poesie oder 

» 
Malerei , habe ich mich jemals so suis befrie- 
digt , und , wenn ich mir diesen Ausdruck er- 
lauben darf, so in die Gegenwart eingezaubert 

A a 



37» 

gefühlt, als durch den reinen, edlen und ori- 
ginellen Stil der landschaftlichen Scenen dieser 
in ihrer Art einzigen Anlage, mit der eine neue 
Epoche des geläuterten Geschmacks in der Gar- 
tenkunst anhebt, und die, ihrer anerkannten 
Eigentümlichkeit wegen, ein besonderes Gat- 
tungsprädikat verdiente. Eben so wenig ich 
den Oberon ein Ariostisches Gedicht oder 
den Götz von BerlichingeneinShakes- 
pearisches Schauspiel nennen mochte; eben 
so wenig mochte ich Worlitz mit den ge- 
wöhnlichen englischen Gärten in eine Katego- 
rie gebracht wissen. Aber es offenbart sich der 
sklavische Nachahmungs- und Enjlehnungsgeist 
der deutschen Nazion , sogar in den Benen- 
nungen und Charakterisirungen von Werken, 
deren Originalgepräge dem Blicke jedes unbe- 
fangenen Richters als unverkennbar erscheinen 
rauft. Der dürftige Aufsatz über Worlitz, in 
Hirschfelds Theorie der Gartenkunst, 
dessen Verfasser, durch seine Manier zu be- 
trachten, an den sonderbaren Besuch erinnert, 
den der hypochondrische Smollet der medi- 




, 373 

zeischen Venus machte , ist kaum der Erwäh- 
nung werth ; aber die Beschreibung , welche 
Herr August Rode, der geschmackvolle Ue- 
bersetzer des Apulejus, davon geliefert hat, 
verbindet Genauigkeit und Sachkenntnis, und 
macht jede andere überflüssig. Von diesem Ge- 
lehrten haben wir nächstens einen deutschen 
Vitruv zu erwarten. Mit so vielen Schwe- 
rigkeiten dies Unternehmen (woran selbst die 
rüstigsten unserer Uebersetzer sich zu wagen 
bis hieher nicht den Muth hatten) auch immer 
verbanden seyn mag ; so läfst sich dennoch die 
glückliche Ausführung desselben durch Herrn 
Rode auf keine Weise bezweifeln, besonders 
da er in der Nähe eines der gelehrtesten Ar- 
chitekten unserer Zeit, des Herrn von Erd- 
mannsdorf lebt, der durch das von ihm er- 
baute, hiesige fürstliche Landhaus, seinen grofsen 
Talenten ein würdiges Denkmal gestiftet hat. 
Auch das Wohngebäude in Luisium, einem 
Garten wo die regierende Fürstin gewöhnlich 
den Frühling zubringt , ward nach dem Plane 
de* Herrn von Erdmanns dorf aufgeführt. 



574 

Die Kamt der Landschaf tsverschoneraxig, 
die der Fürst von Dessau in einem vorzüg- 
lich hohen Grade besitzt, hat er nicht allein 
in Wörlitz, sondern beinahe in seinem gan- 
zen Gebiete, mit außerordentlichem Glucke in 
Ausübung gebracht. Ihm ward, bei einem sel- 
tenen Ideen -Reichthume, das wichtige Talent, 
die feine Mittellinie zwischen dem zu Vielen 
und zu Wenigen , fast immer mit scharfer Be- 
stimmung zu treffen ; daher der Charakter von 
reiner Harmonie, stiller Wurde und erhabener 
Einfachheit, wodurch seine meisten Anlagen sich 
so auffallend vor allen ähnlichen auszeichnen« 

Du hast die interessantesten Lander unsers 
Welttheils gesehen, lieber Bonstetten! und 
besonders in Italien, Frankreich und Eng« 
land, jede dir erreichbare Blume des Grofien, 
Schönen und Nützlichen gebrochen: aber den- 
noch wurde , bei der Reise durch das Fürsten« 
thum Dessau, frohes Erstaunen sich deiner 
Seele bemächtigen ; hier , wo der Beobachter 
der Fortschritte des allgemeinen Wohlstandes , 
im reichen Anbaue eines Bodens, welcher der 



*\ 



375 

Natur ursprünglich nur wenig zu danken hat, 
und besonders in den häufigen Pflanzungen des 
mannich faltigsten Strauch - und Baumwerks , 
überall den Finger des Genius der Menschlich- 
keit erkennt, und der Freund des Alterthums, 
beim Anblicke der in Feldern und Hainen zer- 
streuten Tempel, Denkmäler und Bildsäulen, 
in 'die schönen Tage der Griechen zurück ver- 
setzt wird. 

Es war mir ein hoher Genuß , dies Land 
wieder zu erblicken, wo ich nicht, wie in so 
manchen aridem , unaufhörlich an die Barbarei, 
Finsternis, Inhumanität und Geschmacklosigkeit 
des Mittelalters, sondern an den Verschönerungs- 
und Kulturgeist des feinsten, veredelsten und 
gebildetesten aller Völker, und an den Erdstrich 
erinnert ward , den es zum merkwürdigsten dejr 
Welt machte. 



/ 



\ 



57 6 



Neun und dreissigster Brief. 



Weimar , *4- Mai, 1794» 

Habe Dank für deine bruderlichen Zeilen. 
Auch ich , mein Lieber! sehne mich nach un- 
serer Wiedervereinigung, und werde sie, so 
viel als möglich/ zu beschleunigen suchen. Von 
liier bis zum Bodensee, sehe ich nun keine 
beträchtliche Unterbrechung meines Laufes mehr 
voraus, und mein Aufenthalt in Zürich wird 
diesmal nur wenige Tage dauren. Mächtig 
zieht alles mich wieder in die glückseligen Ge- 
genden , wo das goldene Zeitalter mir keine Fa- 
bel mehr schien , und aus denen , wenn die 
Anordnung und Leitung der mir noch bestimm- 
ten Schicksale allein von mir abhienge , mich 
künftig nichts wieder in die weite Welt hinaus- 
locken sollte , als Rom oder die heiligen Trüm- 
mer von Athen. 



377 

An die Reihe der wenigen berühmten Män- 
ner , die ich in dem , oft so sehnlich herbeige- 
wünschten Augenblicke der persönlichen Be- 
kanntschaft ; nicht unter meiner Erwartung fand, 
hat sich nun auch Wieland angeschlossen; 
nnd ich achte das Gluck, diesen bewunderten 
Schriftsteller endlich von Angesichte gesehen zu 
haben, mit für den gröfsten Gewinn meiner gan- 
zen Reise. Hier hör ich dich schon im Geiste in 
tausend Fragen über deinen Lieblingsdichter aus- 
brechen, an dem, wie Du einmal sagtest, dich 
alles , bis auf die Farbe seines Kleides interes- 
sirt. Mit herzlicher Freude sehe ich unsern Ge- 
sprächen über ihn entgegen , unter den Lin- 
den deines Landhauses, oder in einem friedli- 
chen Hirtenthaie, fern vom Rauche der Städte 
und den Thorheiten und Lastern ihrer Bewoh- 
ner. Viel habe ich dir zu erzählen von dem 
Dichter, mit dessen Gesängen, wie es irgend- 
wo heifst, die Grazie beginnt und endiget; viel 
von dem liebenswürdigen und attischfeinen Ge- 
sellschafter, den ich nicht treffender, als durch 
folgende Worte Quintilianszu schildern weift : 



578 

Inaffectatam ejus jucunditatem nulla affecta- 
Ho consequi potest > ita , ut sermonem ipsiiis 
ipsce gratias finxisse videantur ; am allermei- 
sten aber von dem vortreflichen Familienvater, 
welcher der Gegenstand meiner wärmsten Lie- 
be und Verehrung geworden ist. Wohl dem 
Manne, von dem man mit Wahrheit, wie von die- 
sem sagen kann , daß Weib und Kinder ihm 
die ganze Welt sind! 

Bei Gelegenheit eines Gesprächs mit Wie- 
land über die neue Ausgabe seiner Werke, 
die den erwünschtesten Fortgang hat und eins 
der schönsten Denkmäler der deutschen Typo- 
graphie werden wird, erfuhr ich, daß er, un- 
ter, allen seinen Schriften, für den Agathon 
die meiste Vorliebe hegt, und ihn gleichsam 
als das Architypon alles dessen ansieht, was er 
jemals dachte und schrieb. Diejenigen , welche 
dies Buch bisher wie eine schone Giftblume in 
der sittlichen Welt betrachtet haben, werden 
dasselbe , nach Lesung der jetzt hinzugekomme- 
nen Dialogen zwischen Agathon und dem wei- 
sen Archytas > hoffentlich nun mit milderen Vor- 



379 

Stellungen aus der Hand legen« Auch die psy- 
chologischen Lücken, welche die Befriedigung 
aufmerksamer Leser hier und da unterbrochen, 
Sind durch diese neue Ueberarbeitung ganzlich 
verschwunden. 

So lange ich mich hier aufhielt, blieb ich 
fast immer von Wieland ungetrennt. In sei- 
ner Gesellschaft war ich bei dem Vicepräsiden- 
ten Herder, der verwittweten Herzogin, der 
Frau vonK***, deren Schwester Du in Hei- 
delberg kennen lerntest^ im Schauspiele , 
im Park und im Belvedere. Jede Minute brach- 
te mich ihm näher ; und ich verlasse W e i m a r 
mit der Ruhe der gewissesten Ueberzeugung , 
dafs sein Wohlwollen, wovon er mir die un- • 
2weideutigsten Beweise gab, ohne Wank und 
Wandel für mich fortdauren werde. 

Als wir, lieber Bons tetten! vor einigen 
Jahren, an einem schönen Maimorgen, auf 
dem Wege vonNion nach Genf, die Mnsa- 
rion lasen, aufwertest Du ein so lebhaftes Ver- 
langen, den Sänger dieses Gedichts persönlich 
kennen zu lernen, dafs in diesen Tagen, wo 



38o 

mir dies Gluck zu Theil wurde, unzahligemal 
der Wunsch in mir aufgestiegen ist , Oberont 
Wolkenwagen an dich absenden, und dich so 
in wenigen Minuten zu uns her versetzen zu 
können. Ohne Zaubermittel möchte dies wohl 
schwerlich jemals ins Werk zu richten seyn, 
weil deine politische Laufbahn dir keinen lan- 
gen AusHug mehr gestattet; besonders in die- 
ser gefahrvollen Epoche, wo das Schiff der Re- 
publik von Klippen und Untiefen umringt isr. 
Bei Herder, den schon sein Zeitalter den 
Pia ton Germaniens nennt, brachte ich einige 
Stunden zu , deren Andenken ich künftig oft 
mit Wohlgefallen in meine Seele zurückrufen 
werde. Wenn die Deutschen einmal der Hu- 
manität einen' Tempel bauen, so werde Her- 
ders Büste dem Altare gegenüber aufgestellt! 
Er beschäftigt sich jetzt mit der Uebersetzung 
eines gänzlich vergessenen und so gut als dem 
Grabe wieder entrufenen lateinischen Dichters, 
aus den Zeiten des dreifsigjährigen Krieges, den er 
beinahe dem Horaz an die Seite setzen möch- 
te; so schön und edel ist seine Sprache, so 



58i 

kühn sein Schwung , so überströmend die Fülle 
seiner Gedanken , so rein das Feuer seiner Be- 
geisterung ; so harmonisch reihen sich seine Bil- 
der, und mit so tief prägender Gewalt treffen 
seine Weisheitssprüche die Seele. Nennen will 
er den Namen des erweckten Todten noch nicht ; 
auch jeden bitten , der denselben ausfindig ma- 
chen sollte, ihn vor der Hand zu verschweigen; 
weil die Gesänge zuerst , ohne den Namen des 
Sängers, die Wirkung hervorbringen sollen, 
wozu die Kraft in ihnen liegt. Dichter, setzte 
er noch hinzu, sind Boten der Götter, und 
man sollte immer den Dichter vom Menschen 
absondern. Ich mache dich vorläufig auf diese 
merkwürdige Erscheinung aufmerksam. 

Bei der verwittweten Herzogin , die , als 
Beschützerin und Kennerin der schönen Künste, 
mit Rechte geschätzt und gepriesen wird, war 
ich gestern in der Abendgesellschaft, welche 
aus den meisten in W e i m a r lebenden Gelehrten, 
Dichtern und Künstlern besteht. Nach dem Tbee 
wird entweder gelesen, gezeichnet oder Musik 
gemacht. Gestern war ein musikalischer Abend. 



58* 

Das Bildniß der Herzogin von Angelika 
Kaufmann, ist unstreitig eins der vollkom- 
mensten Werke, wodurch jemals ein glänzen- 
des Kunstlergenie seine Ansprüche auf Unsterb- 
lichkeit legitimirt hat. Die Schönheit, Grazie 
und Farben- Harmonie dieses Gemaides sind so 
bezaubernd und hinreißend, dafs ich auch bei 
mehrerer Muße und feinerem Kunstsinne nicht 
darüber zu kommentiren wagen wurde. Die 
lebensgroße Figur sitzt, griechisch kostumirt , 
auf einem Stuhle von antiker Form , und hält 
ein Buch in der Hand, das man, der auf dem 
Rücken desselben angebrachten Aufschrift zu«* 
folge, mit Vergnügen für Herders Ideen 
erkennt. Im Hintergrunde erhebt sich das K o- 
liseum. 

Unter den Handzeichnungen und Malereien, 
welche die Herzogin aus Italien mitgebracht 
hat , gefielen mir vorzüglich drei Landschaften 
von Hackert, dessen Bäume von so hoher 
Vollkommenheit sind, dafs sie mir sogar mit 
denen des großen Waldmalers Ruysdael um 
den Vorzug zu kämpfen scheinen. Eine Zeich- 



383 

nung von Angelika Kaufmann, deren Su- 
jet aus Göthes Iphigenia genommen ist > und 
eine neapolitanische Aussiebt, von einem mir 
bisher unbekannten Künstler Namens Kniep* 
gehören ebenfalls zu den Zierden dieser Samm- 
lung« 

Im Sommer hält sich die verwittwete Her- 
zogin in einer landlichen Wohnung zu Tiefurt 
auf. Die Um fließt durch den Garten, an 
welchen ein Gehölz st ölst, das man zu ange- 
nehmen Promenaden zu benutzen gewufst hat. 
Hin und wieder sind Bildsäulen angebracht; 
unter andern ein Amor, der einer Nachtigall 
Speise mit dem Pfeile reicht. Die Aufschrift am 
Fufsgestelle giebt , an Lieblichkeit und Schöne, 
keiner Blume der griechischen Anthologie et- 
was nach : 

Dich hat Amor gewifs , o Säugerin , fütternd er- 
zogen ; 

Kindisch reichte der Gott dir mit dem Pfeile die Kost: 
Schlürfend saugtest du Gift in die unschuldige Keble; 

Denn mit der Liebe Gewalt trift Philomele das Herz. 

Ihrem Bruder, der im Dienste der Mensch- 



384 

lichkeit eines Todes starbt den ihm Kein Sohlaclit- 
feld rühmlicher und erhabener hatte gewähren 
können, hat die Herzogin hier ein Denkmal 
mit der einfachen Aufschrift errichtet: Dem 
verewigten Leopold. 

Zu den größten Merkwürdigkeiten von Wei- 
mar, gehört unstreitig der Park; eine reitzen- 
de, durch die Natur ganz vorzuglich begün- 
stigte Anlage , in jenem edlen und lautern Ge- 
schmacke, der in Deutschland zuerst von Wo r- 
litz ausgieng, und dessen weitere Verbreitung, 
einer der angelegentlichsten Wünsche aller 
wahren Freunde des Schönen geworden ist. So 
wie durch Rousseau und Basedow, nach 
und nach aus vielen Schulen und Kinderstu- 
ben Stock und Kuthe verschwunden sind ; eben 
so wird auch, durch das, was Delilleund 
Hirschfeld lehrten, und der Fürst von Des- 
sau und seine glücklichen Nachahmer tha- 
ten , die Schnur und Scheerentirannei allmäh- 
lich aus den deutschen Garten verbannt werden. 

Folgende Stelle aus Delilles Gartenge- 
dichte, das sich unter den wenigen Büchern 



385 

befindet , die mich auf dieser Reise begleitet 
haben, scheint mir die Gesetze zu enthalten, 
welche dem Schöpfer der 'Weimarischen Anla- 
ge, vom Genius der Gegend zur Befolgung 

vorgeschrieben wurden : , 

. Cest peu de charmer Voeil , il faut parier au cceur, 
Avez - vous donc connu ces rapports invisibles 
Des corps inanimis et des itres sensibles? 
Avez - vous entendu des eaux, des pris , des bois f 
La muette Sloquence et la secrette volx? 
Rendez - nous ces effets. Que du riant au sombre, 
Du noble au gracieux , les passages sans nombre 
Af Interessent toujours. Simple et grand, fort et douXj 
Unissez tous les tons pour plaire ä tous les godts. 
La , que le peintre vienne enrichir sa palette; 
Que l 'Inspiration y trouble le poete ; 
Que le sage , du calme y goute les douceurs ; 
Uheureux, ses Souvenirs ; le malheureux, sespleurs* 

Im Jahre 1783. brachte ich einen unvergefs- 
lichen Nachmittag mit dem biedern , leider zu 
früh verstorbenen M u s ä u s , in einem Garten 
vor der Stadt zu, wo er damals eben an den 
Volksmährchen arbeitete, und gewann ihn 
so lieb , dafs ich bei meinem diesmaligen Auf- 



586 

enthalte in Weimar nicht vyeniger angelegent- 
lich nach seiner Grabstäte forschte , als weiland 
Tristram Shandy nach dem Grabe der bei- 
den Liebenden in Lyon. Auf dem Jak ob s- 
Kircjhhofe deutet ein Denkmal von edler Sim- 
plizität dem Wanderer die, Stelle an, wo sie 
den guten Mann hinlegten. Unter seinem ähn- 
lichen Brustbilde steht ein Aschenkrug in einer 
Nische, über welcher man die Worte liest: 
Dem verewigten J. £. Musäus im Jahr 

*787- 

Einige Schritte davon ruht die Hülle seines 

Geistesverwandten, des redlichen, von vielen 

guten Menschen betrauerten Bode. 



Vikr- 



387 



Vierzigster Brief. 



Nürnberg, i. Jim. 1794* 

Fast ohne aus dem Wagen zu kommen, bin 
ich von Jena bis Nürnberg gereist, wo ich 
mir einen Rasttag erlaubt habe. Du siehst hier- 
aus , mein bester Bonstetten! wie sehr es 
mir darum zu thun ist, bald wieder das Land 
zu betreten, dessen Glückseligkeit, trotz der 
Erdbeben und Vulkane, welche die benach- 
barten Reiche verheeren, noch immer uner- 
schüttert steht, wie seine Berge. Schwerlich 
hat sich je ein geborner Schweitzer mit lebhaf- 
terer Ungeduld in den Schoofs der Alpen zu- 
rückgewünscht, als ich Hyperboreer, bei des- 
sen Geburtsorte Windmühlenhügel die beträcht- 
lichsten Höhen sind, und auf dessen Vorliebe 
für dein Vaterland , unauslöschliche Jugendein* 

B b 



5ö8 

drücke und lange Gewöhnung keinen Fiwfl nff 
haben konnten. 

Du erinnerst dich vielleicht des jungen Ota- 
heiten, den Bougainville mit nachFrank- 
reich brachte, und der im botanischen Garten 
zu Paris, bei Erblickung eine« auf seiner In- 
sel einheimisch eft Baumes, inThränen ausbrach, 
den Baum in die Arme schloß, die Binde des- 
selben mit heifsen Küssen bedeckte, und aus- 
rief : Das ist Otaheiti! Beinahe eben so 
gieng es mir auf einem waldigen Bergwege, 
zwischen Saalfeld und Koburg, wo ich die 
Arnica montana , das Gnaphalium dioicum 
und Polygonum bist ort a antraf. Diese Blu- 
men hatte ich bisher nirgends als in der Schweitz 
blühen gesehen , und ihr unvermutheter Anblick 
führte die glücklichsten Scenen meiner Alpen- 
reisen vor meine Seele. „Das ist die Schweitz ! " 
scholl es in meinem Innern ; unter meinen 
Füfsen glühte der Boden , und ich wünschte mir 
die Schwingen des Vogels, der über mir hinflog. 

Mit Mühe widerstand ich der Versuchung, 
meinen Ruhetag schon in Bamberg zu hat 



389 
ten, dessen freundliche Lage mich sehr anzog. 
Ich hätte dadurch auch den Vortheil erlangt, 
die Bekanntschaft des Hofrath Markus zu 
machen, dem ich durch einen Freund in*Wei- 
m a r war empfohlen worden. Dieser verdienst- 
volle Mann , der als ein höchst erfahrener und 
geschickter Arzt gerühmt wird, hat sich beson- 
ders durch die vortrefliche Einrichtung des Bam- 
bergischen Krankenhauses , das unter seiner 
Aufsicht steht, die Achtung nnd den Beifall al- 
ler wahren Menschenfreunde erworben. 

Sogleich nach meiner Ankunft inNürnberg, 
gieng ich zum Professor Sattler, einem ein« 
nehmenden und gefälligen Manne, der von mehr 
als einer vor th eilhaften Seite in der Schriftstel- 
ler Welt bekannt ist, und sich vorzüglich um 
die Bildung und Läuterung des Geschmacks in 
Nürnberg verdient gemacht hat. 

£r hatte die Güte mich in die Aegidien- 
Kirche zu führen, um van Dyks berühmte 
Abnehm ung vom Kreutze zu sehen , welche von 
Kennern für das erste Gemälde dieser Stadt er- 
klärt wird. In dieser grofsen und edlen Korn- 



39° 

posifcion rührte mich das müde geweinte, ; mit 
einem unbeschreiblichen Ausdrucke des Schmer- 
zes auf den Todten hingeheftete Auge der Mut- 
ter am lebhaftesten. Die kleine geflügelte , al- 
lerliebste Figur, welche, mit Tiiränen im Bli- 
cke , die Hand des Leichnams ergreift , soll , 
allem Vermuthen nach, einen Engel vorstellen, 
aber es ist kein Engel, sondern Anakreons, 
von einer Biene verwundeter Amor, so schön 
und lieblich , als er nur immer der Einbildungs- 
kraft des tejischen Greises vorgeschwebt haben 
mag. Hat je eine Figur ihre rechte Stelle ver- 
fehlt , so ist es wohl diese. 

Ich konnte unmöglich die Vaterstadt Al- 
brecht Durers verlassen, ohne wenigstens 
einige seiner Werke kennen gelernt zu haben. 
Da meine Zeit eingeschränkt war, so sah ich 
Hur was auf dem Rathhause von ihm aufbewahrt 
wird. Ich bewunderte die herrlichen Propor- 
zionen in den Figuren von Adam und Eva , die 
in der nemlichen Stellung unter dem Baume 
stehen, wie man sie gewöhnlich in den alten 
Holzschnitt- Bibeln vorgestellt findet. Der Fal- 



39i 

tenwurf im Mantel des Paulus , der neben dem 
Markus stehend abgebildet ist, verdient allen an- 
gehenden Künstlern zum sorgfältigsten Studi- 
um empfohlen zu werden. Albrecht Dürers 
eigenes, von ihm selbst kräftig gemaltes Bild- 
nifs, soll, der Tradizion zufolge , sehr ähn- 
lich seyn. Eine ächtdeutsche Kernphysiogno- 
znie , voll Mannsinn und Biederkeit. 

Dafs Albrecht Durer auch Schriftsteller 
war, ist dir vielleicht unbekannt, weil seine 
"Werke unter uns vergessen sind, wie so viele 
andere , aus dem merkwürdigen Zeiträume der 
Hütten und Pirkhaimer. Sein Bucli, von 
der menschlichenProporzionund P o r- 
traitmalerei, verdiente, da es so aufs erst sel- 
ten geworden ist, ganz vorzuglich von neuem ge- 
druckt und so wieder in Umlauf gesetzt zu 
werden., Es ist eine Schande für Deutschland, 
dafs es Werke dieses Gehalts, als wären sie 
um nichts besser wie Mönchshomilien oder scho- 
lastischer Unsinn, mit Gleichgültigkeit vermo- 
dern läfst. 

Albrecht Dürer starb nicht, wiederVer- 



/ 



39* 

fasser der Charaktere deutscher Dichter 
und Prosaisten angiebt, im. Jahre 1527. son- 
dern im folgenden. 

Im Wirthshause kam mir eine Beschreibung 
der Stadt Nürnberg in Knittelversen zu Ge- 
sichte, die von einem hiesigen Rothgerber her- 
rührt, und, mit grofser Genauigkeit , alle Tho- 
re, Brücken, Thürme, Brunnen, Strafsen und 
Plätze aufzählt ; auch, in folgenden Versen.» 
des von Harsdörfer gestifteten, vormals so 
berühmten Blumenordens an der Pegniz 
gedenkt : 

Ein Flufs fliefst durch die Stadt mit Eil 
Und theilt sie in zwei gleiche Theil; 
Die Pegniz wird der Flufs genannt, 
Sein Blumenorden ist bekannt. 

Du stehest hieraus, dafs der Geist des bra- 
ven Hans Sachs noch nicht gänzlich von 
Nürnberg gewichen ist, und dafs die ehe- 
dem hier blühende Meistersängerei hin und wie- 
der noch einen schwachen Schöfsling treibt. 



i" 



393 



Ein und vierzigster Brief. 






Bern, 31. Jun. 1794* 

Schon seit einigen Wochen, mein geliebter 
S a 1 i s ! bin ich, nach einer Reiäe durch Deutsch- 
land und Dänemark, wieder mit unserem 
Bonstetten vereinigt, und wohne* jetzt in 
seinem Landhause , das , dicht vor der Stadt , 
auf einer sanft abhängigen Anhöhe liegt. Hier 
beherrscht man die reiche und prachtvolle Land- 
schaft, welche Aberli auf dem Blatte mit der 
Unterschrift : La ville de Berme du cötä du 
Nord, so glucklich dargestellt hat. 

Wiewohl ich während meiner Reise dir nicht 
ein einzigesmal schrieb, so habe ich den- 
noch deiner sehr oft herzlich und liebevoll ge- 
dacht, und mit wahrer Freude jede Frage be- 
antwortet, die so viele gute Menschen, denen 
Du durch deine Lieder schätzbar geworden 



394 

bist, über dein Tliun und Wesen an mich er- 
gehen liefsen. Deine Muse , mein bester S a 1 i s, 
hat sehr viele Freunde in Deutschland ; und 
wer der Freund deiner Muse ist , der ist auch 
immer zugleich der deinige. 

Klopstock grüTst dich mit Wärme. Wie 
nach einem in der Fremde lebenden Sohne , er- 
kundigte sich Wieland nach dir. Das Ange- 
sicht des guten , alten Eb erts glänzte vor Freu- 
de, als ich ihm sagte, daß das Schicksal dir 
die Erfüllung deines letzten Wunsches nun 
gewährt habe. Des kranken Burgers trübes 
Auge erheiterte sich bei Erblickung deines Bildes 
auf meiner Dose, und Vofs trug mir auf, dich in 
seinem Namen zu bitten, den Genius der dich an 
der Seine und sogar in Flandern begeisterte, 
nicht in R h ä t i e n einschlummern zu lassen.* 

Keines deiner Gedichte scheint eine allge- 
meinere Sensazion erregt zu haben, als das 
Mitleid. Sehr häufig habe ich Stellen daraus 
hersagen gehört, besonders die beiden Verse : 

Bindest loser deine Garben 
Vor der Aehrenleserin. 



395 

Dies alles sei dir ein neuer Sporn, nach im- 
mer höherer Vollkommenheit zu streben. Sin- 
ge, da um dich her noch alles grünt und blüht ; 
der Tage des Lenzes sind wenige. 

Weil Bonstetten, seit einiger Zeit, mehr 
als jemals von Fremden , besonders von Emi- 
grirten besucht wird , deren Anzahl im Kanton 
Bern noch immer beträchtlich ist , so beschlos- 
sen wir eine kleine Fufsreise, um wenigstens 
ein paar Tage lang einander ganz anzugehören. 
Zum Ziele der Wanderung .wählten wir den 
Gipfel des Stockhorns unweit Thun, des- 
sen Westseite, senkrecht abgekürzt, dem ver- 
tikalen Durchschnitte einer Kuppel gleicht, und 
mit der benachbarten , scharf zugespitzten Py- 
ramide des Niesen auffallend kontrastirt. 

Das Gutachten eines der dortigen Gegend 
kundigen Bauern , den wir über die Seite be- 
fragten, von welcher dem Stockhorn am 
besten beizukommen sei, Hei dahin aus, dafs 
wir, wie er sich ausdrückte, diesen streitba- 
ren Berg bei Blumenstein anzugreifen 
hätten. 



S9 6 

Dem zufolge begaben wir uns nach dem be- 
kannten Blumensteiner- Badehause, das am 
Fu£se des Stockhorns, in einer angenehmen 
Wiesengegend liegt, und übernachteten daselbst. 

Die aufgehende Sonne fand uns schon in ei- 
ner luftigen Halle, beim Frühstücke, im Ho- 
xaz lesend, wdrin wir aber bald durch zwei 
artige Bäurinnen unterbrochen wurden, die 
uns Blumensträuße brachten, und um Erlaub- 
nis baten, dieselben an unsere Hüte heften 
zu dürfen , zu welchem Geschäfte sie auch schon. 
Nadel und Zwirn in Bereitschaft hielten. Wir 
hatten Freude an diesem arkadischen Angebin* 
de; wobei der Umstand nicht zu übergehen 
ist, dafs die Mädchen ein Geldgeschenk, 
welches wir ihnen dagegen anboten , nicht oh- 
ne einige Empfindlichkeit ausschlugen. 

Also geschmückt traten wir, von einem mun- 
tern und leichtfüfsigen Führer begleitet, unsere 
Wanderung an. Das erste, wodurch unsre Auf- 
merksamkeit angezogen wurde , war der Sturz 
des Fallbachs, unweit der Kirche des Dorfes 
Blumenstein, welches etwa eine Viertel- 



397 

stunde vom Badehause entfernt ist. Dieser Kas- 
kade hat man, so viel mir bekannt ist, noch 
in keiner Reisebeschreibung Erwähnung gethan, 
wiewohl sie von ansehnlicher Höhe, beträcht- 
licher Wassermasse, und an Lokalschönheiten 
ganz vorzuglich reich ist. 

Durch die melancholischenCcbatten schwar- 
zer Tannengeholze , wand sich hierauf der Weg 
zu den Alpentriften empor , welche den Gipfel 
des Stockhorns umgeben. Ueber uns hien- 
gen einige Wolken, wie an den Berg festge- 
drückt. Durch welche Wolke geht unser Weg ? 
fragte ßonstetten den Führer. Eine wahre 
Götterfrage , wie aus einem mythologischen 
Mährchen entlehnt ; welche aber , an der Stelle 
wo sie gethan wurde, auch aus dem Munde 
des einfältigsten Hirten hätte kommen können. 

Drei Stunden mochten wir etwa gestiegen 
seyn, als wir die Wälder unter unsern Füfsen 
erblickten, und den dichten, elastischen Ra- 
sen der höheren Bergregionen betraten. Senn- 
hütten lagen ringsumher zerstreut, und nahe 
und fern scholl das harmonische Geläute der 



398 

Heerdenglocken. Ueber einen schmalen , brü- 
cken« hnlichen Pfad , an dessen linker Seite sich 
ein fürchterlicher Abgrund öffnete, gelangten 
wir zu einem fast senkrechten , gewiß über 
hundert Fufs hohen Rasenabhange. Mit be- 
ständiger Beihülfe der Hände, klimmten wir, 
nicht ohne Gefflir und Anstrengung, daran 
empor, indefs unser Führer die Todesgeschich- 
te eines jungen Menschen aus Thun erzählte, 
der vor einigen Jahren von dieser Rasenwand, 
an welcher wir eben zwischen Himmel und 
Abgrund schwebten, herabgestürzt war. Glück- 
licher als jener erreichten wir die Basis des 
Felsengipfels, der eigentlich als Stockhom 
genannt wird, und, wegen seiner sonderba- 
ren Form , in der ganzen umliegenden Gegend, 
einen sehr auffallenden Anblick gewährt. 

Mit Unmuth sahen wir jetzt , so nahe schon 
dem Ziele unserer Reise, sich überall Gewölke 
zusammenziehen, die einen Schleier über das 
Zaubergeraälde zu werfen drohten , dessen An- 
blicke wir mit froher Ungeduld entgegenstreb- 
ten. Wir erreichten jedoch den Gipfel, ehe 



359 

sich alles verhüllte. Noch stand die Bergkette 
des Grindel waldes ohne Vorhang da; und 
dies war gerade die Seite der Aussicht, worauf 
ich am wenigsten halte Verzicht thun mögen« 
Bald aber wandelte sich die Scene. Die Ge- 
wölke zogen in immer dichteren Schaaren her- 
an , und strömten zuletzt in ein unabsehbares 
Meer zusammen, aus dessen grauer Oberfläche 
Berggipfel , wie Inseln hervorragten. Von Zeit 
zu Zeit entstanden OeiFnungen darin, durch 
welche wir bald die Stadt Thun, bald einen 
Theil des Sees , bald eine Krümmung der Aare, 
bald Schneegipfel und Felsengruppen , bald Wäl- 
der und Dörfer, in einer wahrhaft magischen 
Abwechselung erblickten. Auf diese Weise ward 
uns die Aussicht vom Stockhorne, eine der 
angenehmsten und ausgedehntesten der Schweitz, . 
nur in Bruchstücken zugemessen. Die unauf- 
hörlichen Wandlungen dieser Wolkenscenen 
brachten indefs eine Reihe von so aufs erst man- 
nichf altigen und interessanten Erscheinungen 
hervor, dafs wir zuletzt gar nicht mehr an das. 
dachten, was unserm Blicke dadurch entzogen 



4<x> 

wurde , sondern , ohne den Wolkenversammler 
Kronion auch nur mit einer Sylbe anzuklagen, 
befriedigt und glucklich , ab hätten wir mit 
Brydone auf dem Aetna gestanden, zu ei- 
ner Sennhütte herabstiegen., wo ein alter ehr- 

4 

würdiger Alpenhirt uns, patriarchalisch - gast- 
frei, mit Ziegenmilch und Käse bewirtbete* 
Kommet sufen! war seine Einladung, die er 
mit einem kräftigen Handschlage begleitete; 
wobei zu bemerken ist, dafs der Sprachgebrauch 
des Hirtenvolks dieser Berge die Menschen sau- 
fen, die Thiere hingegen trinken läfst. 

Von Blumenstein bis zum Gipfel des 
Stock horns, freute ich mich der Wiederer- 
blickung .folgender Pflanzen, von denen die 
meisten irgend eine frohe Erinnerung aus mei- 
nen vorigen Bergreisen in mir erweckten: 

lmpatiens noli tangere. 
Pedicularis verticillata* 
Valeriana tripteris, 
Cacalia alpina. 
Alchemilla alpina. 
Prenanthes purpurea, 
Vicia sylvatica. 



4°* 

Tfymus alpinus. 
Pimpinella saxifraga. 
Astranda major, 
Leontodon aureum. 
Phellandrium mutellina, 
Rhododendron fertugineum, 
Rhododendron hirsutunu 
Phjteum/i orbicularis, 
Dianthus superbus. 
Cnicus spinosissimus, 
Polygonum viviparum, 
Sonchus alpinus. 
Aconitum napellus, 
Aconitum lycoctojtum, 
Trollius europasus. 
Campanula barbata, 
Aster alpinus, 
Satyrium nigrum. 
Crepis alpina, 
Bupleurum ranunculo'ides, 
Achillea atrata, 
Tussilago alpina, 
Centaurea moniana, 
Arnica *scorpiöides+ 
Carduus defloratus. 



402 

Clobnlaria nudicaulis. 
Gentiana acaulis. 
Mjagtum saxatile. 
Astragalus onobrychis. 
Androsace lactea. 
SiUne acaulis. 

Gegen Abend verliefsen wir die gastfreie 
Hirtenhutte, und folgten, auf der Ostseite des 
Stock horns, dem bequemen Heerdenwege, 
der uns in das Siben- oder Simmenthai 
hinabführte, wo wir zu Erlenb ach , einem 
durch seine ansehnlichen Pferdemärkte bekann- 
ten Dorfe, von unserm beschwerlichen Tage- 
werke ausruhten. 

Am folgenden Morgen setzten wir unsere 
Wanderung durch einen Theil des Simraen- 
thals, das sich von den Grenzen von Wal- 
lis bis zum Thuner-See hindehnt, und von 
der Sieben oder Simme durchströmt wird ß 
noch bis Thun zu Fufse fort ; von hier aber 
schifften wir, auf der reifsenden Aare, in 
weniger als zwei Stunden, mit der sogenann- 
sen Kälberflotte nach Bern. Diesen sonderba- 

. ren 



403 

ren Namen führen einige Hache , ziemlich grofse 
Kähne, die wöchentlich zweimal von Thun 
nach Bern gehn, von demjenigen Theile ih- 
rer Ladung, der gemeiniglich der ansehnlich« 
üte zu] seyn pflegt. 

Wegen der romantischen Ansichten der Aar- 
Ufer, wurde diese Wasserreise viel angeneh- 
mes gehabt haben, wenn wir nicht, kaum ei- 
ne halbe Stunde nach der Abfahrt, von einem 
heftigen Gewitter wären überfallen worden. 

Grade als der Regen am stärksten herab- 
stürzte, und der Donner am fürchterlichsten 
über uns rollte, gerieth , unser Ungemach zu 
verdoppeln, das Fahrzeug auf den Sand. Der 
Sturm brauste ; die Wellen waren in Aufruhr 
und arbeiteten gegen die dünnen Bretter der 
nachlässig gezimmerten Barke; die Blitze zuck- 
ten, in gefährlicher Nähe, über der tosenden 
Fluth und an den schwarzen Fichten, die knur- 
rend hin und her schwankten; die Mannschaft 
fuhr, in wilder Unordnung, mit Stangen und 
Rudern durcheinander, und selbst die Thiere, 
welche bis dahin ruhig auf dem Boden neben 

C c 



4»4 

und auf einander gelegen hatten, 
Gefahr zu ahnen , und erhoben, mit emporge- 
reckten Häuptern, wie ans einer Kehle, ein 
ängstliche* Jammergeschrei. 

Den vereinigten Kräften einiger herkulischen 
Fleischerknechte, die im Wasser sprangen und 
das Fahrzeug von der Untiefe, wegschoben, hat- 
ten wir es zu danken , dals wir zuletzt noch 
aus dieser Gefahr gerettet wurden, und wohl- 
behalten, obgleich träufelnd, als wären wir 
dem Schiffbruche entschwommen , unter der 
hohen Terrasse des Bern er - Munster* ans 
Land stiegen. 

— — — me tabula sacer 
yotiva partes indicat uvida 
Suspendisse potenti 
Veslimenta maris deo. 

Eine andere kleine Reise machte ich mit Bon- 
stetten nach der Peters - Insel im Bieler- 
See.' Dies reitzende, mit allem, was die ersten 
Bedürfnisse des Lebens ausmacht, reichlich ge- 
segnete Eiland, scheint von der Natur zum 
Wohnsitze für solche Menschen bestimmt zu 



4*5 

seyn, die in ländlicher Stille und freier Gel- 
stesbeschäftigung ihre Gluckseligkeit finden. 
Nun begreife ich es ganz, warum dem armen 
Rousseau das Herz blutete, als auch hier, 
wo er, nach seiner Versicherung, Jahrhunder- 
te ohne lange Weile zugebracht haben würde, 
ibm keine bleibende Stätte ward; und warum, 
unter allen den Wohnplätzen , die das Schick- 
sal dem ruhelos Umhergetriebenen, bald hier 
bald da, anwies, grade dieser seinem Herzen 
der liebste und bis zum Grabe der Gegenstand 
seiner wehmüthigen Sehnsucht blieb. Mit in- 
niger Rührung lasen wir bei dieser Gelegenheit 
Rousseaus schöne Beschreibung der Peters- 
Insel und seiner dortigen Lebensweise wieder, 
und folgten den Spuren des großen Mannes 
von dem Zimmer das er bewohnte, bis zum 
Obstgarten , wo er oft , mit einem Sacke um- 
gürtet , in Gesellschaft seiner ehrlichen Hausge- 
nossen Früchte einsammelte; von den Hügeln, 
Gebüschen und Wiesen, wo er zuerst, den 
Linnäus in der Hand, die Gattungskennzeichen 
der Pflanzen studirte, bis zu der Uferstelle ß 



4o6 

wo er so gern, an schonen Abenden, den Blick 
in stiller Selbstvergessenheit auf die Flutb ge- 
heftet, hingestreckt lag. 

Hier bekam die Brunelle, eine der gemein- 
sten Pflanzen , das Interesse der Dioncea oder 
Adansonia für mich, weil ich dabei an das 
Entzucken dachte, worin Rousseau bei der 
Entdeckung der zwei Gabeln gerieth, worin 
die Staubfäden dieser Blume in ihrer Spitze ge- 
spalten sind; es war so lebhaft, daü er, wie 
durch einen Trunk aus der Lethe, aller Schmer- 
zen des Vergangenen darüber vergafs. An alle 
die ihm nach dieser Entdeckung begegneten, 
that er, im Uebermafse seiner Glückseligkeit, 
die Frage : Ob sie auch schon die Gabeln der 
Brunelle gesehen hätten ? Unter den mir be- 
kannten Scenen inRousseaus Leben , möch- 
te ich von dieser am liebsten Augenzeuge ge- 
wesen seyn. 

Aber auch diese , des goldnen Weltalters 
würdige Freuden , verwehte der Sturm ; und 
bald darauf hören wir von neuem die Klagen 
des Unglücklichen, gegen Noth und Wider- 



4o 7 

wärtigkeit ankämpfenden Mannes : A peine 
est - il dans nos plus vives jouissances un in- 
stant ou le coeur puisse värit ablernen t nous 
dire : Je voudrois que cet instant durät tou- 
jours. Et comment peut-on appeller bon~ 
heur un e'tat fugitif ', qui nous laisse encore 
le coeur inquiet et vuide , qui nous fait re- 
gretter quelque chose avant ou desirer en» 
core quelque chose apris ? 



Zusätze und Anmerkungen. 



1l aster Brief. 

(S. 4.) Auch xu Trembleys Werke über die Po- 
lypen bat Lyonnet die Tafeln gezeichnet und 

1 

gettochen. 

(S. 15.) Bonnet starb den 20. Mai 1795. zu 
Genf, in einem Alter von 73. Jahren. Seinen gan- 
zen literarischen Nachlafs hat ein junger Verwand- 
ter geerbt , der ibn weder zu schätzen noch zu be- 
nutzen weif*. 

Zweiter Brief. 

(S. 19.) Auch die Ammonshörner und Turbiniten* 
welche man häufig bei Klüse findet, betrachten 
die dortigen Einwohner als Kunstwerke, mit deren 
Verfertigung sich die Feen in ihren Nebenstunden 
beschäftigen. 

(S. 19.) Der Eingang der Hohle vonBalme ist 700. 
Fufs über die Arve erhaben, und bildet einen 
ziemlich regelmäßigen, ungefähr 10. Fufs hohen 
und 20. Fufs breiten Boden. Man findet in dieser 
geräumigen Grotte einige Säle mit sehr hohen Ge- 




4°9 

wölben, die denen von gothischer Bauart gleichen 
, und mit den schönsten Stalaktiten geschmückt sind. 
Saussüre zählte vom Eingänge , bis dahin wo sich 
der Hintergrund so sehr verengt, dafs man nicht 
weiter vordringen kann , 640. Schritte. 

(S. 20.) Der Messung der Herren Piktet und 
Trembley zufolge, ist der Wasserfall von Ar- 
p e n a z 800. Fufs hoch. 

(S. 24.) Ein sehr interessanter Brief des Naturfor- 
schers Donati, welcher seine Wahrnehmungen 
über den eingestürzten Berg enthält , findet sich 
im zweiten Theile von Saussüres Alpenreisen, 
„Ich fand mich endlich, „ heifst es unter andern 
darin, „nach einer Reise von vier Tagen und zwei 
Nächten im Angesichte eines Berges, welcher ganz 
mit Rauch umgeben war , und von dem sich im- 
merfort Tag und Nacht Felsenstücke mit einem er- 
staunlichen Getöse losrissen , das noch stärker 
war als das Getöse des Donners oder der Knall ei- 
ner Batterie von grobem- Geschütze. Alle benach- 
barten Felder waren mit einem Staube bedeckt, der 
vollkommen einer Asche glich, aber nichts anders 
' war , als zu Pulver gewordener Marmor. Ich nä- 
herte mich dem vorgeblichen Rauchgewölke , und 
sah einen ungeheuren Felsen sich in den Abgrund 
stürzen. Bei dieser Gelegenheit ward ich gewahr, 
dafs der Rauch nichts weiter als Staub sei , der von 
dem Falle der Steine aufstieg. Unter den Ruinen 
sind sechs Häuser, sechs Menschen und sehr viel 
Vieh begraben worden. „ 



4io 

Fünfter Brief. 

(S. 44. ) „Gibbons Tag war eingeteilt , wieder 
Tag des angelsächsischen Königs Alfred.,, 

Alfred, König der Angelsachsen, theilte den Tag 
in drei gleiche Theile, wovon der erste dem Schlafe 
und der Mahlzeit, der zweite- den Regierungsge- 
schäften , und der dritte den Wissenschaften und 
der Religion gewidmet war. Da jenes Alter der 
Unwissenheit und Barbarei (er starb i. J. 900.) 
keine Art von künstlichem Zeitmesser kannte , so 
gebrauchte er, um die Abschnitte seines Tages ge- 
nau zu bestimmen , Kerzen von gleicher Lange und 
Dicke die er nacheinander in einer Laterne nieder- 
brennen liefs. 

( S. 46. ) InAlgarottis Aufsatze über den Reim , 
der keinem Freunde der Musenkünste unbekannt 
seyn sollte , kommt auch ein burlesker englischer 
Hexameter der Königin Elisabeth vor , den sie, 
wenn ich nicht irre , sogar aus dem Stegereife ge- 
macht zu haben vorgab , um den Versuchen , wel- 
che einige Dichter ihrer Zeit in dieser Versart ge- 
wagt hauen , einmal für allemal das Siegel der Lä- 
cherlichkeit aufzudrücken. 

Sechster Brief* 

( S. 49. ) Die im Anfange dieses Briefes angezoge- 
nen Worte Shenstones sind aus der Aufschrift 
einer Urne entlehnt , welche dieser Dichter in den 
bekannten Lea so ws , oder Hirtenfeldern, dem 
Andenken einer jungen Verwandtin weihte. 




4n 

D. M. 

Ah ! Maria 

Puellarum elegantissima 

Ah flore venustatis abreptal 

Fale. 

Heu quanto minus est cum, reliquis versari 

quam Tui meminisse» 

Siebenter Brief. 

( S. 64. ) Während meines dreimaligen Winterauf- 
enthalts in Frankreich (von 1789. bis 92. ) war, 
insonderheit in Lyon, der Geschmack an Gretrys 
Musik der allgemein herrschende. Mit auiseror- 
dentlichem Beifalle -ward sein Blaubart, und im- 
mer bei vollem Hause, unzühligemal wiederhohlt. 
Monsigny, Philidor und D ü n y , kamen nur 
noch sehr selten zum Vorscheine. Nach Gretry 
war Dalairac der beliebteste Komponist. Für 
Glucks Musik ist , aufser Paris, keine Stadt 
Frankreichs reif geworden. 

Achter Brief. 

(S. 74.) Der Graf Gorani gieng seitdem nach Pa- 
ris, ward zum französichen Bürger ernannt, und 
gab das Werk über Italien heraus, dessen in die- 
sem Briefe gedacht wird. Er ahnte das Schicksal 
der Brissotiner, zu deren Parthey er sich be- 
kannte, und kehrte kurz vor ihrem Falle in die 
Schweitz zurück, wo ihm aber keine bleibende 
Stätte mehr wurde. Sein jetziger Aufenthalt ist 
mir unbekannt. 



4ia 

Zihntei Brief. 

(S. 94.) Den verdienstvollen Doktor Gilibert, 
der auch eine Zeit lang Maire von Lyon war und 
nachher in Verhaft genommen wurde, habe ich 
nach der Eroberung dieser unglücklichen Stadt durch 
die Konventstruppen völlig aus den Augen verloren. 
So viel weifs ich indefs gewifs, dafs es ihm ver- 
mittelst eines ansehnlichen Lösegeldes gelungen ist , 
die Thüren seines Kerkers zu sprengen t und sich 
über die Grenze zu retten. 

( S. 95* ) Der Bildhauer C h i n a r d , der nachher 
als Hauptmann der Nationalgarde von Lyon fast 
gar keine Zeit mehr für seine Kunst üibrig behielt, 
gieog i. J. 179a« wieder nach Rom» wo ejr bei 
einem Auflaufe umgekommen seyn soll. 

Zwölfter Brief. 

(S. 100.J ,, Und durchs peninisch Thal man reist 

Ueber das Birg wie man wohl weifst . 

Peninisch Alpes sie bekennt , 

Der grofs Sanct Bernhart so genennt , 

Ein hohes und grausam Cebirg: 

Wall Pellinna in seinem Circk % 

Welchen der Pönus Hannibal 

Als er mit Gewalt zog durch dies Thal ^ 

Wieder die Römer durchhin brach 

Mit Fewr und Essig allgemach 

Zersprengt und macht ihn wandelbar 

Und setzet einen Abgott dar ^ 
Pöninum genannt , nachwert z lälein 



! 



4'3 

Mnfst dieser Berg Mons Jovis seyn. 

Xu höchst druff ist ein Hospital 

Von Sanct Bernhart genennt zumal , 

Dahin führt man d^ spei f st sechs meil weg 

Gefährliche Strassen , tritt und sieg , 

Und ist umb diese wohnnng gar 

Jn dreien meilen weit umbhar 

Nichts anders dann Felsen und seh nee : 

Doch mus ich da auch melden mek 9 

So jemand s auf dem Berg abstirbt 

Jn der Erd er kein begrebd erwirbt 

Sonders geworfen die Felsen ab , 

Das er im Schnee sein Bcgr'dbnus hab , 

Da er langsam verzeert und gefriert, 

Als ob er wer verbalsamiert. 

Acht Hundert ein und fünft zig Jahr 

Gebawt schon da das Closter war. ,, 

Diese Beschreibung de« grofsen Bernhard s -Berges 
in Hans Sachsens Manier, findet sich in einem 
selten gewordenen Werke, das i. J. 1606. zu Bern 
herauskam und worin der Berg Niesen dem Ber- 
ge Stockhorn, welchem er, nebst seiner sammt- 
lichen Dienerschaft, ein prächtiges Gastmal anrich- 
tet , mit einem grofsen Aufwände von Gelehrsam- 
keit, zum Nachtische nicht nur /die ganze Weltge- 
schichte von Adam an , sondern auch die Beschrei- 
bung aller Gebirge und Naturmerkwürdigkeiten de« 
Erdballs , in Knittelversen vorträgt. Der ganze Ti- 
tel dieses seltsamen Produkts , dessen Einfassung 
gewifs die einzige dieser Art ist, lautet wörtlich sot 



4«4 

„Ein Neuw , Lustig , Ernsthaft poetisch Gastmal 
„und Gespräch zweier Bergen in der löblichen 
f , Eydgenofsschaft , vnd im Berner Gebieth gele- 
„ gen : Nehmlich defs Niesens und Stockhorns , als 
„ zweier alten Nachbarn : welches Inhalt ein Phy- 
i, sie am chorographicam vnd Ethicam descriptionem 
„ von der ganzen Welt ingemein , vnd sonderlich 
„von Bergen und Bergleuten: Sonneten weifs ge- 
stellt, durch Hans Rudolf Räkmann, Die- 
„neren des Worts Gottes. Getruckt zu Bern bey 
„Johann le Preux. Im Jahr 1606.,, 

(S. 113.) Auch in Graubündten, unweit der 
Via mala, wird die Linnceß borealis in grofser 
Menge angetroffen. 

Dreizehnter Brief. 

(S. 122.) Das in diesem Briefe angeführte Gemälde 
von Ruhens , ist das sogenannte kleine jüng- 
ste Gericht. 

Vierzehnter Brief. 

(S. 133. ) Von der angenehmen und ausdrucksvollen 
Stimme der schönen Laura, legt Petrarka an 
mehr als einem Orte die rühmlichsten Zeugnisse ab : 
dafs sie sich aber auch als Dichterin hervorgethan , 
wie viele dem fabelnden J. Nostradamus nach- 
erzählt haben , der unter andern auch behauptet , 
quelle romansoit promptemer^t en toute sorte de rüh- 
me provencale , davon finden wir gerade das Ge- 
gentheil in folgendem Verse : 

Che non curö giammai rime ne versi.