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iibraru of
'^Jrinccton ’Unitocrsitn.
(The (tiühtu(l:i*}bt ii'ibraru
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(fronomifß-
ZEITSCHRIFT
VOLKSWIRTSCHAFT, SOZIALPOLITIK
l'SH
VERWALTUNG.
Organ der Gesellschaft österreichischer
Volkswirte.
H EH AUS (iE (iE BEN’
VON
EUGEN V. BÖHM-BAWEKK, KAHL THEODOR V. IN AMA STERNEGG,
Ernst y. peexkk.
ZWÖLFTER BAND.
WIEN I NI. LEIPZIG.
WILHELM BKA U M Ü L L E R
K. V. K. Hop- V, L-'XIVKRSITÄTit-BuCIHlANüI-KR.
1003.
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Druck toi ll'tdolf 34. R obrer io Brünn.
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Inhalt des XII. Bandes.
£rltt»
Dr. J. LanJmann: Die Xot» nbankirage in der Schweiz . l
H Kizzi: Daa österreichische Gewerbe im Zeitalter de* Merfcantili.nnn.s TI
Dr. Th. Bresiewicz: Das Recht der öffentlichen Arbeiten 141
Prof. l)r. A. v. Hai bau: Zur Ausgestaltung des rechts- und staatswissenschaftlichen
Studiums in Österreich 1 242,843
Dr. F. Frh. t. Myrbach -Rheinfeld: Die Reform Jer österreichischen Hauszinsateuer 279
F. Hertz: Die Diskont- und Devisenpolitik der Österreichisch-ungarischen Bank
{1892 — 1902) 463
Dr. H. Schauer: Die Gewerbegerichte in Österreich 549
Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte 102, 306, 383
K. Th. v. Inama-Sternegg: August Meit/,»‘n llo
Dr. M. Mayr: Über staatliches Archivwesen in Österreich . 116
C. D. Carusso: Die vorgeschlagene Einlührung des Grundbuchsystents in Griechenland 321
R. Auspitz: Österreich -Ungarn und die Brüsseler Zuckerkonvention 409
Dr. Fr. Klein wiicliter: Die Landwirtschaft als Ausgangspunkt für ein System der
politDc len Ökonomie 430
K. v. Webern: Die Einführung der Neunstundenschicht beim österreichischen Kohlen-
bergbau 527
Dr. G. Lippcrt: Die neuen Triester Hafenbauten 535
Dr. K. Braun von Fernwald: Abstufung der Gebäude-teuer nach dem Mall der
Verbauung der Grundfläche 581
E. v. PI euer, Berichtigung 645
Literatur:
Dr. R. Mever: Das Zeitverhältnis zwischen der Steuer und dem Einkommen und
seinen Teilen. Plener 120
B. Fuiating: Die GrundzDge der Steuerlehre, Meyer 122
Dr. 0. Müller: Die Einkoinmenstcuergeaetzgebung in den verschiedenen Ländern,
Reisch 127
Dr. K. Grflnberg: Die handelspolitischen Beziehungen Österreich-Ungarns zu den
Ländern an der unteren Donau. K. Plener 12S
M. Godet; Dm Problem der Zentialiaatiuii des &chfftkeriadii:n BaakDQteimrfcuttia.
Dr. La. ü_diaA»..l> , 131
Dr. E. v. Halle: Volks- und Seewirtschaft, Juraschek 134
Neuere Literatur über Wirtschaftsgeschichte, Inama-Sternegg:
A. v. Buhne rin cg: Zwei Kämmereiregister der Stadt Riga 328
W. Stic da: Die Anfänge der Porzellanfabrikation auf dem Thüringer Walde 328
Q. Brandt. Studien zur Wirtachalts- und Verwaltungsgeschichte der Stadt
Düsseldorf im 19, Jahrhundert 329
F. Lohmann: Die staatliche Regelung der englischen Wollindustrie vom 15. bis
zu in 15. Jahrhundert ...... ...............
.il:W23i3l4 3 I ■ -?69ü
8*5 1«
Böhm-Bawcrk: Kapital and Kapitalzins 331
L. Braun: Die Frauen frage, ihre geschichtliche Entwicklung und ihre wirtschaftliche
Seite, Bauchberg 331
K. Hugo: Die deutsche StÄdteveiwaltung, Bauchberg 286
Dr. Zacher: Die Arbeiterversicherung im Auslände. Kogler 337
M. Bellom: Les lois d'assurance onvriere a l’etranger, Kogler 837
Dr. G. Sydow: Theorie und Praxis in der Entwicklung der französischen Staats-
schuld seit dem Jahre 1870, Braun von Fernwahl 339
G. Brodnitz: Vergleichende Studien über Betriebsstatistik und Betriebsformen der
englischen Textilindustrie, Zifcek 340
L. v. Amran: Englands Land- und Seepolitik und die orientalische Frage nebst
Vorschlägen in Betreff der Meerengen und Isthm n d- s Mittelländischen und
de» Koten Meere», L. E.-M. ... 342
Dr. A. Buchenberger: Finanzpolitik und Staatshaushalt im GrvUlierzogtum Baden
iii den Jahren 1850 — 1900, B. Piene r 444
M. Schippe!: Zuckerproduktion und Zuckerprliuicn bis zur Brüsseler Konvention
1002, E. Planer 444
W. Sombart: Der moderne Kapitalismus, Hilfe rding 44*1
Püttmann; Die deutsche Arbeitervemcherung, Kögler 453
K. Funke und \V. Hering: Die reichsgeaetzliche Arbciterversioherung Kranken-,
Unfall- und Invalidenversicherung). Kögler 4*3
V. Heller: Der Getreidehandel und »eine Technik in Wien 454
Dr. X. K. Weill: Die Solidarität der Geldmärkte. Braun von Fernwald . . . .455
Cli. Znehlin: American Municipal, Progress, chaptera in mnnicipa! soci(dogv,
Braun von Fernwold 456
Dr. J. Runzel: Studien zur Sozial- und Wirtschaftspolitik Ungarns, Twardowaki . 457
Dr. J. Kün: Sozialhistorische Beiträge zur Landarbeiterfrage in Ungarn, Twar-
dowski 457
Dr. Th. Spickermann: Der Teilbau in Theorie und Praxis, Grünberg 459
Dr. L. Sinzheim er: Die Atbeiterwohnungsfrage. Griinborg 462
Ed. Bugno: Die Rochtssprechnng de» Verwaltungsgerichtshofes auf den» Gebiete
des Gesetzes von» 25. Oktober 1896, R.-G.-Bl. Nr. 220, betreffend die direkten
Personalateuern seit Beginn der Wirksamkeit des Gesetzes (1898 — 1901),
Reisch 543
Cb. Booth: Life and Labour of tbe pcople in London, Ziiek 545
Zeitscliriften-Übcrsicht 140
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DIE NOTENBANKFRAGE IN DER SCHWEIZ.
GESCHICHTE UND GEGENWÄRTIGER STAND.
VON
D«- JI LRS LANDMANN (BASEL).
Die drei Grundfragen der modernen Notenbankpolitik: Hankvielbeit
oder Monopolbank. Bankfreiheit oder Bankgebundenheit, Staatsbank oder
Privatbank, sind fflr das Deutsche Reich vor einem Vierteljahrhundert gelöst
worden. Den Vertretern des Bankföderalismus stand im Reichstage eine
zielbewußte, kompakte Mehrheit gegenüber, die mit aller Entschiedenheit
für die Schaffung eines zentralen Noteninstitutes eintrat. Selbst die Minder-
heit des Reichstages wagte es nicht, prinzipiell gegen die Zentralbank auf-
zutreten: sie führte politische und taktische Argumente für ihre Haltung
an. und wenn der Reichstag schließlich neben der Reichsbank eine Reihe
einzelstaatlicher Institute fortbestehen ließ, so darf darin weniger eine Kon-
zession an das System der Bankvielheit als ein Entgegenkommen an den
noch starken staatlichen Partikularismus erblickt werden. Das System der
Bankfreiheit ist aber schon durch das erste Bankgesetz des Deutschen
Reiches, das Gesetz vom 21. Dezember 1871. das fast unverändert die
Bestimmungen des Bankgesetzes des Norddeutschen Bundes vom 27. März
1870 auf das Deutsche Reich übertrug, für immer verlassen worden.
Der von den Theoretikern längst anfgestellte Grundsatz, das System
der Bankfreiheit entspreche dem Aufangs-, nicht aber dem Reifestadium
des Notenbankwesens, ist inzwischen auf der ganzen Linie auch in der
Gesetzgebung zum Durchbruche gelangt und für eine Rückentwicklung
fehlen selbst die leisesten Ansätze. Auch die in Österreich-Ungarn vor-
handenen Bestrebungen bezwecken weder die Wiedereinführung der Bank-
vielheit noch der Bankfreiheit. sondern lediglich eine Änderung der Or-
ganisation der Österreichisch-Ungarischen Bank nach einer dualistischen
oder föderalistischen Richtung hin. und diese letzteren haben, wenigstens
für die nächste Zeit, keinerlei Aussicht auf Verwirklichung. Auf dem
europäischen Kontinente ist die Schweiz das eiuzige Land, das in seiner
Bankverfassung bis auf den heutigen Tag das System der Baukvielheit und
mit einigen Beschränkungen auch das der Bankfreiheit beibehielt, und die
Ergebnisse dieser Bankpolitik erscheinen uns auch außerhalb der Landes-
grenzen der Beachtung wert.
Zelt*chrift für Volkswirtschaft, Social j>olmk und Verwaltung. XII. Band. 1
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2
Landmann.
Diese Streitfragen wurden aber von einer neuen abgelöst; die Erkenntnis
der Snperiorität des Systems der Zentralbanken schlietlt noch in keinerlei
Weise eine Antwort auf die Frage ein, ob das Monopol der Notenausgabe
durch den Staat Reibst ausgeübt oder ob es einer Privatbank tibertragen
werden solle. Denn aus der Tatsache, daß mit einziger Ausnahme
Rußlands, Schwedens, Finnlands und Bulgariens alle europäischen zentralen
Notenbanken auf privater Grundlage errichtet aind, dürfen nach unserem
Dafürhalten keine weiteren Schlüsse gezogen werden als eben diese, daß
die Mehrzahl der Emissionsbanken, vor allem die Bank of England und die
Banque de France, zu einer Zeit gegründet worden sind, da die wirtschaft-
liche Interessensphäre und der wirtschaftliche Interessenkreis des Staates
enger gezogen waren, als dies heute der Fall ist, und daß die Ausgabe
von Banknoten lange schon, wie die Ausstellung von Wechseln, ein Zweig
des privaten Bankgeschäftes war, ehe die Banknote den Charakter des vor-
nehmsten Geldsurrogates annahm, den sie heute trägt. Gewiß sind auch
diese Erwägungen nicht geeignet, das unbefangene Urteil für eines der
beiden Systeme der Durchführung des Banknotenmonopols irgendwie zu
beeinflußen; sie sollen lediglich audeuten, daß die gegen das System der
Staatsbank vorgebrachten historischen Argumente nicht zwingender Natur
sind. Und wenn auch rflckhaltslos zugegeben werden muß, daß im
Deutscheu Reiche in den Jahren 1 889 ') und 1899,’) in Frankreich im
Jahre 1897,’) anläßlich der parlamentarischen Debatten über die, gelegent-
lich der Verlängerungen der Privilegien der zentralen Notenbanken dieser
Länder zum Ausdruck gekommenen Bank-VerstaaUichungstendenzen, sehr
beachtenswerte Argumente gegen das System der Staatsbank vorgebracht
wurden, so glauben wir doch nicht, daß die Frage damit als endgültig
erledigt zu betrachten ist. Wir neigen vielmehr zur Überzeugung bin,
daß die Ablehnung der Verstaatliclmngsanträge in Frankreich und Deutsch-
land ihren Grund nicht ausschließlich in Erwägungen sachlicher und bank-
technischer Natur findet, daß vielmehr ihr Motiv vor allem in der Be-
fürchtung zu suchen ist, es könnte die Verstaatlichung der Zentralbank
ihre Auslieferung an eine der politisch einflußreichsten wirtschaftlichen
Interessengruppen nach sich ziehen, und es erscheint uns aus diesem Grunde
der bisherige Verlauf des Streites um die Frage: Staat«- oder Privatbank? in der
Schweiz, wo für derartige Befürchtungen die Voraussetzungen in nicht gleich
hohem Grade vorliegen, wie dies in Frankreich oder Deutschland der Fall ist,
eines ziemlich hohen Grades von allgemeinem Interesse nicht zn entbehren.
Als das dritte Moment endlich, das uns veranlaßt, der schweizerischen
Notenhankfrago eine Ober die Grenzen der Eidgenossenschaft hinausgeheude
') Nasse, Dl« Kündigung des Privilegiums der Reichsbank nnd der Privat-
notenbanken, Preuflische Jahrbücher, 1889, II.; v. Philippovich, Die Verlängerung
dea Reiclisbankprivilegiums, Conrads Jahrbücher, N. F., XX, Rd , S. 275 ff.
Jj Helfferich, Zur Erneuerung des deutschen liankgesetzes, Leipzig, 1899. S.5I ff.;
Landtnann. Zur Abänderung des deutschen Rankgesetzes. Kiel nnd Leipzig, 1899, S. 11 ff.
*j Charles Brouillet, Le nouveau rdgime de la Banque de France, Revue
d'Economie politique, 1898, XIII. p. 817 sniv.
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Die Notenbankfrage in der Schweiz.
3
Bedeutung beizulegen, möchten wir die währungspolitische Seite der Frage
bezeichnen. Es ist allgemein, auch im Auslande, bekannt, daß die Schweiz
seit längerer Zeit und in stets steigendem Grade die Unzutritglichkeiten
ihrer Zugehörigkeit zur lateinischen Münzkonvention empfindet.1) Wenn sie
von dem ihr vertraglich zustehenden Kündigungsrechte bisher keinen
Gebrauch machte, so liegt die Erklärung hierfür zum Teile gewiß in der
Tatsache, daß die für die Schweiz günstigen Bestimmungen der Liqui-
dationsklausel des lateinischen MOnzbundes es ihr gestatten, ohne Gefährdung
ihrer eigenen Lage die Kündigung bis zum Augenblicke zu verschieben,
wo sie für die Durchführung einer Währungsreform genügend gerüstet ist;
insbesondere übt sie aber diese Zurückhaltung auch infolge von Erwägungen
haukpolitischer Natur.’) So oft bisher die Frage einer Währungsreform in
den eidgenössischen Bäten zur Sprache kam. wurde stets von allen Seiten
anerkannt, daß der Austritt der Schweiz aus der lateinischen Münzkon-
vention und ihr Übergang zur Goldwährung außer Zweifel stehe und
lediglich eine Frage der Zeit sei. daß aber die nötigen Vorarbeiten nicht
eher in Angriff genommen werden können, als bis an die Stelle des dezen-
tralisierten Notenbanksystems eine starke Zentralbank getreten sei, die
durch ihre Diskonto- und Valutapolitik genügende Sicherheiten für eine
erfolgreiche Durchführung der Reform böte.’) Die in den Kreisen der
schweizerischen Wirtschaftspolitiker vorherrschende Ansicht geht dahin, daß
unmittelbar nach der Lösung der Bankfrage die Frage des Austrittes der
Schweiz aus der lateinischen Münzkonvention in den Vordergrund tritt, und es
unterliegt wohl keinem Zweifel, daß der Eintritt dieses längst schon erwarteten
Ereignisses geeignet sein könnte, auch die Frage der Liquidation des lateinischen
Münzbnndes in den Vordergrund zu rücken. Daß aber von der Art und Weise
der Lösung dieser Frage die weitere Entwickelung des Wäbrungsproblems
sehr wesentlich abhängt, braucht wohl nicht weiter ausgeführt zu werden.
Überblicken wir nun an dieser Stelle den Komplex der Faktoren,
von welchen der Verlauf der schweizerischen Bankfrage bisher beherrscht
war. und deren zum Teile entgegenstehende Interessen es zur Folge
hatten, daß sie bis heute eine Frage bleiben konnte, so finden wir, daß
hier die gleichen Interessengegensätze im Spiele sind, die auch sonst
einem großen Teil der politischen und wirtschaftspolitischen Entwickelung
der Schweiz ihre Signatur aufdrücken:4) der Antagonismus zwischen den
’i Amtlich.» stenographische» Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung,
Dezembersession 1897. 8. 11170 11.
a> Bericht des eidgenössischen Finanzdopartements für daa Jahr 1889; Schweize-
risches Finauzjahrbucli 1900/01. S. 11311.
Stenographisches Bulletin, DezeinberscBsion 1897, S. 1354, 1382; Charles
Scherrer, La nationalisatiou du Systeme mondtaire suisse et l'adoption de l'etalon d’or,
Geneve, 1893; Crainer-Frey, Iler gegenwärtige Stand der Münzfrage mit besonderer
Berücksichtigung der schweizerischen Verhältnisse. Bern 1894.
*j Gustav Colin, Die Bundesgesetzgebung der Schweiz unter der neuen Ver-
fassung. Supplement III der Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Jena 1879 ;
desselben Darstellung der sehweizerisenen Kisenbahnpolitik im Archiv für Eisenbahn-
wesen, 1898, 8 1124 ff.
1*
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4
Lamlmann.
Anforderungen der obersten Einheit des Bundesstaates und den Sonder-
bedürfnissen der Kantone. Eine zentrale Notenbank und eine Bundesbank
begegnen auf der einen Seite der Opposition der Kantone gegen die Durch-
führung des Banknotenmonopols, der die Befürchtung zu Grunde liegt, daß
ihre ohnehin ungünstige finanzielle Lage dadurch noch ungünstiger beeinflußt
werden könnte, auf der andern Seite, in den Kreisen der Föderalisten der
romanischen Schweiz und der konservativen Parteien der deutschen Schweiz, der
Abneigung gegen jede weitere Erstarkung der Machtbefugnisse des Bundes.
Zu diesem Gegensätze, der den Prozeß der Zentralisierung des
Notenbankwesens in der Schweiz verlangsamt, tritt ein zweiter hinzu, auf
dem die Schwierigkeit einer Entscheidung der Frage: Staats- oder Privat-
bank? beruht, der Gegensatz zwischen den linksstehenden politischen
Parteien, die prinzipiell den wirtschaftlichen Aufgabenkreis des Staates viel
weiter ziehen, als die Gruppen der Konservativen und das liberale Zentrum
und die die zentrale Notenbank als reine Staatsbank organisiert zu sehen
wünschen, während die letzteren, soweit sie Bich mit dem Gedanken der
Monopolisierung der Banknotenausgabe überhaupt befreunden konnten, dieses
Monopol für ein privates Bankinstitut in Anspruch nehmen. So stehen die
antietatistischen und die föderalistischen Strömungen der Zentralisierung
des Notenbankwesens in der Schweiz entgegen.
Die Institution des Referendums endlich bringt alle diese Gegensätze
nicht nur viel schärfer zum Ausdrucke, sondern erschwert auch deren
Überwindung. Das Referendum ist nicht nur eine Instanz mehr, deren
Zustimmung es zu erlangen gilt, es ist auch gleichzeitig diejenige Instanz,
die sich bei ihren Entscheidungen durch die parlamentarische Diplomatie
nicht beeinflussen läßt und auf die gegenseitigen Konzessionen der par-
lamentarischen Parteien keinerlei Rücksicht nimmt.1)
Wir hielten diese kurzen Ausführungen für notwendig, um das
politische Relief der schweizerischen Bankfrage anzudeuten und die Ge-
sichtspunkte knapp hervorzuheben, aus welchen die einzelnen Etappen
ihrer Entwicklung beurteilt werden wollen.
1. Die Schweizerischen Notenbanken vor Erlaß des Bankgesetzes
vom 8. März 1881.
Die erste schweizerische Notenbank, die gleichzeitig auch das Recht
für sich in Anspruch nehmen darf, als erste reine Staatsbank Europas
bezeichnet zu werden, ist die im Jahre 1834 gegründete Kantonalbank von
Bern: es folgten dann in rascher Folge die Bank in Zürich (1836), die Bank
in St. Gallen 1 1837), die Bank in Basel (1844) und in der romanischen Schweiz
die Bsnque du Commerce (1843) und die Ilanque de Gcnhve (1848). Die
Gesetzgebung über das Notenbankwesen war Sache der Kantone. Im allge-
meinen begnügte man Bich mit der Vorlage der Baukstatuten und nur in
manchen Kantonen setzte man zur Beaufsichtigung der Notenbanken einen
Bankrat ein. ln keinem Kanton wurde für die im Kanton domizilierte
’) Curti, Die schweizerischen Volksrechte. IS48 — J900, Bern, 1900, S. 02 ff.
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Di« Notäobttnhfrage in der Schweiz
a
Notenbank ein Spezialgesetz erlasse«, die meisten begnügten sich damit,
einzelne Bestimmungen statutarisch festzulegeu und die Genehmigung der
Bankstatuten galt eo ipso als Gewährung des Notenemissionsrechtes.
In Zürich, Bern, Luzern, St. Gallen, Graubünden, Thurgau haftete
der Kanton solidarisch für alle Verbindlichkeiten seiner Kantonalbank; in
Solothurn, wo die Bank einen gemischten Charakter hatte, haftete der
Kanton in der Höhe der Hälfte der Notenzirkulation. In den meisten
Kantonen wurde eine spezielle Notensteuer erhoben, von welcher die kanto-
nalen Staatsbanken meistens befreit waren und die für die Privatbanken
zwischen */, — 1 Proz. der Notenemission p. a. schwankte. Nur der Kanton
Neuenburg sah von einer direkten Besteuerung der Notenzirkulation ab,
wogegen die Bank verpflichtet wurde, 10 Proz. des Reingewinnes an die
Kantonalkasse abzuführen. Die Höhe der Notenemission und die Art der
Deckung war von Kanton zu Kanton verschieden geregelt.1)
Kanton
Umfang der Notenemission
Xotendeckuug
Bern
—
Zürich
-
| '/ 3 der Notenzirkulation soll stets
in der Kasse vorrätig sein.
Luzern
—
40 Proz. der Notenzirkulation j
sollen metallisch gedeckt sein, j
Freiburg
Die Kantonalbank darf Noten
bis zur Höhe des Bankkapitals,
die Privatbanken bis J/, des
eingezahlten Kapitals, die Caiase
d'Amortissement de la Dette
Publique bis */3 des Dotations-
kapitals emittieren.
1
Basel-Land
Der Betrag der umlaufenden
Banknoten und Kassenscheine
soll 10 Proz. des Bankkapitais
nicht übersteigen.
7* der Zirkulation soll metallisch,
2 3 durch Wechsel gedeckt sein, j
! Schaffhausen
1
Wird durch den Großen Rat
bestimmt.
-
Graubünden
—
Die Kantonalbank ist verpflichtet, i
stete 500.000 Franca in Gold in j
ihren Kassen vorrätig zu halten, j
Aargau
Bis '/, des Bankkapitals.
Thurgau
Für die K&ntonalbank unbe-
schränkt. für die Hypotheken-
bank 760.000 Francs.
7« der RmisKioiissumine soll stets ■
in der Kasse vorrätig sein. j
l) X. Sandoz, Les Banques suisaes d'emission avant l’entröe en vigueur de la loi
du 8 mar s 1881, Zeitschrift für schweizerische Statistik, 1895, S. 189 fl.; Fick, Die
schweizerische Bankgesetzgebung, Hildebrands Jahrbücher. I. Bd„ S. 79 ff.
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6
Liindmann.
Kanton Umfang der Notenemission Notendeckung
Tessin Der Betrag der Notenzirkulation —
und der kurz fälligen Verbind-
lichkeiten soll das Dreifache drs
Bank-kapital* nicht übersteigen.
Waadt. Für die Kantonalbank Maxim ntn j Xotenzirkulatinn der Kantonal-
12 Mill. Francs. j bank zu */., die der Privat-
I banken zur Hälfte metallisch zu
decken.
Neucbätel Das Doppelte des Bonkkapitala. I
I
Infolge dieser mikontrollierbaren und uneinheitlieliun Bankorganisation
vermochten sich die Noten, an deren Solidität inan nicht mit Unrecht Zweifel
hegte, nur schwer einzubärgeru; sie konnten außerhalb des Heimats-
kantons entweder Oberhaupt nicht oder nur gegen ein Agio ausgegeben
werden. Der Umfang der Notenzirkulation erreichte denn auch nur eine
sehr bescheidene Höhe: bei der Bank in St. Gallen in den ersten Jahren
ihres Bestehens rnnd 180.000 — 850.000 fl., bei der Bank in Zürich
300.000—500.000 fl. Die Zahl der Emissionsbanken stieg in einem viel
rascheren Tempo als der Umfang der Notenzirkulation. 1
1848
1860
1862
1870
Zahl der Banken 8
15
16
24
Umfang der Notenzirkulation in Mill. Kranes 7
10
18
18
Notenumlauf per Kopf der Bevölkerung in Kranes 8-4*
898 j
4-91
6'76
Unter den Firmen, die im Zeiträume bis zum Jahre 1870 das Noten-
emissionsrecht auszuüben begannen, befanden sich solche, die der ganzen
Anlage ihres Geschfiftskreiscs nach von vornherein den Voraussetzungen
für eine banktechnisch korrekte Anlage der Notenemission nicht entsprechen
konnten. Es mag genügen, an die als Träger des Noteneinissionsrechtes so
wenig geeigneten Finnen zu erinnern, wie es z. B. die „Tburgauische
Hypothekenbank in Frauenfeld-, die .Spar- nnd Leihkasse von Nidwalden in
Stans* und nicht zuletzt die .Caisse d’amortissement de la Dette Publique
du Canton de Fribourg“ gewesen ist. Die Bankfreiheit war so vollkommen,
daß sogar ein Privatbankier (die Finna Marquardt & Comp, in Bern ) unge-
') Regclj', Oie Bewegung für die Errichtung einer «chweizeriachen Bundesbank,
Conrads Jahrbücher, III. F., X. Bd., S. 419 ff.
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Die Notenbankfrage in der Schweiz
7
hindert eine zeitlang Noten ausgeben konnte und diesen Geschäftskreis nur
wegen mangelnder Rentabilität aufgab.
Die Deckung der von diesen Instituten ausgegebenen Noten bestand,
neben einer ganz minimalen Metallreserve, nur zian geringsten Teile aus
Diskontowechseln und sicheren Lombardforderungen; zum weitaus größten
Teile bestand sie aus Hypothekarforderungen, aus Staatsobligationen, von
welchen sich besonders die hochverzinslichen spanischen einer besonderen
Beliebtheit erfreuten, aus schwerfälligen, nur auf kleinste Märkte angewiesenen
Industrieaktien- und -Obligationen, und bei einzelnen Instituten, die das
Pfandleihgewerbe betrieben, aus den Pfandbeständon.
Der erste Schritt zu einer Sanierung der Verhältnisse geschah durch
das im Jahre 1862 abgeschlossene Konkordat,1) durch welches sich die
liquiden Banken verpflichteten, ihre Noten einander ohne Abzug in Zahlung
zu nehmen und untereinander eine Art Giro- und Mandatverkehr einzu-
richten. Der Abschließung des Konkordats lag die Absicht zu Grunde, den
Zustand zu beseitigen, daß die Noten einer Bank auf einem anderen Platze
nur gegen Aufgeld eingelöst werden konnten; die Erfüllung dieser Aufgabe
wurde aber dem Konkordate außerordentlich durch die feindselige Haltung
erschwert, welche die in das Konkordat nicht aufgenommenen kleineren
Institute der Ost- und Zcntralsehweiz den Konkordatsbanken gegenüber
einnahinen.
Erst die Kriegsereignisse des Jahres 1870 gaben den Anstoß zum Ver-
suche einer bundesrechtlichen Regelung des schweizerischen Notenbankwesens.
Der vollständige Mangel an Spannfähigkeit des schweizerischen Notenumlaufes,
mit der von Grund aus verfehlten Politik der Banken zusammenwirkend, führte
zu einer nie vorher im Lande erlebten Geldklemme. Die Banken lösten
selbst die geringsten, ihnen präsentierten Beträge ihrer Noten nur wider-
willig und mit Schwierigkeiten ein, erhöhten ihre Diskontsätze bis auf
8 Pro?... verweigerten dabei aber jede Diskontierung und waren dennoch
selbst in einer schwierigen Lage, da die Geldreservoire der Schweizer
Banken, die der Schweiz benachbarten Filialen der Banque de France und
die großen Pariser Geldinstitute, die bisher das Portefeuille der schweize-
rischen Banken willig rediskontierten und den Gegenwert in Gold- und Silber-
raünzeii nach der Schweiz schickten, teils infolge der großen Anforderungen,
die die französische Regierung an den Geldmarkt stellte, teils aus Furcht
vor Ausschreitungen des Pariser Pöbels, diesen Verkehr plötzlich unter-
brachen und den schweizerischen Geldmarkt seinem eigenen Schicksal
überließen.*)
Die Banken, die in erster Linie auf die Sicherstellung ihrer eigenen
Lage bedacht waren, suchten in jeder Weise ihre Situation zu stärken; sie
suchten alle möglichen Positionen zu reduzieren, wodurch sie die wenigen
’) Burckhardt-Biaehoff, Die Zettölbanken in der Schweiz. 2. Auflage, Basel,
1881, S. 10 ff.
*) Drei Gutachten Ober daa schweizerische Banknotenwesen (erstattet von Keer-
Herzog, Küttimann, Keller und Pictct). Bern. 1871, S. 19 ff.
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8
Lamlniaim.
noch flüssigen Mittel dem Markte entzogen, anderseits lehnten sie es aber
vom ersten Tage der Krisis an ab, auch gegen die besten Sicherheiten Kredit
zu gewahren. Die Geldknappheit stieg zeitweise zn einer Höhe, daß selbst
für Lohiiaiiszahlungen kein Geld zu haben war, es kam in mehreren Kantonen
zu behördlichen M .ratoricn und zur Schaffung privater Geldsurrogate und
erst die vom Dundesrate angeordnete Tarifierung englischer Goldmünzen
konnte einem weiteren Umgreifen der Krise Einhalt gebieten.
In einer Reihe dem Bundesrate erstatteter Gutachten und Berichte
kam die allgemeine Überzeugung zum Ausdruck, daß der Wiederholung
derartiger Vorkommnisse für die Zukunft vorgebeugt werden müsse, und
selbst diejenigen, die sonst jeden Eingriff der staatlichen Gesetzgebung in
das Gebiet des wirtschaftlichen Verkehres am entschiedensten ablehnten,
gaben zu. daß dieses Ziel nur durch eine für das ganze Gebiet der
schweizerischen Eidgenossenschaft einheitliche Regelung des Notenbank-
wesens erreichbar sei. Zwei verschiedene Gesichtspunkte kamen in diesen
Eingaben und Berichten zum Ausdruck. Die einen erblickten die Haupt-
aufgabe der Gesetzgebung in der Sicherung der stetigen Einlösbarkeit der
Banknoten und erwarteten von der Besserung der Qualität der Banknote
eine Hebung ihres Kredites im Verkehre, wodurch auch die Möglichkeit
geschaffen würde, in kritischen Zeiten, in Fällen eines plötzlich gesteigerten
Bedarfes au Zirkulationsmitteln, diesem Bedürfnisse ohne Zuhilfenahme des
Zwangskurses oder Ausgabe von Staatspapiergeld durch bloße Erhöhung
der Banknotenzirkulation nachzukommen. Als Mittel hierzu schien eine
bloße gesetzliche Regelung der Bedingungen der Notenemission und der
Pflichten der Emissionsbanken zn genügen. Die zweite der beiden Ansichten
ging dahin, daß eine bloße gesetzgeberische Reform, unter Beibehaltung
der bestehenden Bankvielheit, unmöglich zum erwarteten Ziele führen könne
und trat damals schon für die Errichtung einer mit dem Noteumouopol
auszustattenden Zentralbank ein. Sie wurde in zweien der eingereichten
Gutachten vertreten: in dem der Herren Professor Rüttimann und
Nationalrat Feer-Herzog und in dem des Herrn Nationalrat Dr.
Kaiser. Das erste dieser Gutachten äußerte sich dahin: «La premiöie
forme, qui nous semble digne d'examen, est la fondation d’une banque
centrale d’emission. Ce terme ne signifie point nöcessairement une banque
föderale. On peilt trouver im grand nombre de variantes entre la position
d'une banque d'Etat et celle d'une banque independante.» Das Gutachten
des Nationalrates Kaiser tritt zwar unverhohlener für eine Staatsbank
ein, ohne aber eine Privatbank mit Staatsbeteiligung a priori abzulehnen
und ohne für die zu schaffende Zentralbank ein Notenmonopol zu verlangen.
In den eidgenössischen Räten stand eben die Frage der Verfassungs-
rerision im Vordergründe und sie sollte dazu benützt werden, um auch die
Kompetenz der Notenbankgesetzgebung dem Bunde zu übertragen.1) Schon
l) Beilage IV. zu den XationalrataprotökoHen betreffend Kevision der Verfassung.
Bern, 1873.
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Die Notenbankfrage in der Schweiz.
i)
am ö. Dezember 1870 legte der Bundesrat eine dahingehende Vorlage der
Bundesversammlung vor, «ährend gleichzeitig im Nationalvate der Antrag
gestellt wurde, es sei die Kompetenz des Bundes weiter zu fassen und ihm
das Recht zur Errichtung einer Bundesbank zu erteilen. Die Mehrheit der
Bundesversammlung war aber der Ansicht, daß diese Frage Überhaupt
noch nicht spruchreif sei und begnügte sich damit, in die von ihr ange-
nommene neue Bundesverfassung einen im Sinne der bundesritlichen Vor-
lage ahgefaßten Artikel aufzunehmeu, durch welchen dem Bunde die Kompetenz
ertbeilt wurde, allgemeine Vorschriften über die Ausgabe und Einlösung der
Banknoten zu erlassen. Von praktischer Bedeutung ist aber dieser Artikel
nie geworden, da das ganze Verfassungswerk dem Referendum vom 12. Mai
1872 zum Opfer gefallen ist, — Im Jahre 1873, bei der Wiederaufnahme
der Verfassungsrevisionsarbeiten, stellte der Nationalrat L)r. Kaiser den
Autrag. es seien in die Verfassung als Artikel 30 folgende Bestimmungen
aufzunehmen: .Die Gesetzgebung über die Errichtung von Zettelbanken
sowie die Ausgabe und Einlösung der Noten schon bestehender Banken ist
Sache des Bundes. — Der Bund ist befugt, eine Bank, die zur Emission
von Noten berechtigt ist, zu errichten, ohne jedoch ein Monopol aufzu-
stellen.“ Dieser Antrag wurde nun von der Bundesversammlung soweit
akzeptiert, als er dem Bunde die Kompetenz der Notenbankgesetzgebung
verleiht und den Grundsatz der Unzulässigkeit eines Notenmonopols aus-
spricht; hingegen wurde das liecht, eine eigene Bank zu begründen, dem
Bunde nicht gewährt. Der so modifizierte Artikel 39 wurde in die Bundes-
verfassung vom 29. Mai 1874 aufgenommen und bildete bis zuui Jahre
1891 die Grundlage der schweizerischen Notenbankgesetzgebung. Er lautete:
.Der Bund ist befugt, im Wege der Gesetzgebung allgemeine Vorschriften
über die Ausgabe und Einlösung von Banknoten zu erlassen. Er darf jedoch
keinerlei Monopol über die Ausgabe von Banknoten aufstellen und ebenso
keinerlei Rechtsverbindlichkeit für die Annahme derselben aussprechen.“
In Vollziehung des Artikels 39 der Bundesverfassung legte der Bundes-
rat schon im Juni 1874 der Bundesversammlung den Entwurf eines Bank-
gesetzes vor,1) der am 18. September 1875 von den beiden Räten angenommen
wurde. Das Gesetz übertrug dem Bundesrate die Verleihung der Ermächtigung
zur Notenausgabe, filierte das Bankkapital jeder Notenemissionsbank auf
mindestens ’/s Mill. Francs, begrenzte den Notenemissionsbetrag auf das
Einfache des eingezahlten Bankkapitales und für eine Bank auf höchstens
12 Mill. Francs, es enthielt ein Verbot der Erteilung ungedeckter Kredite
und der Ausführung ungedeckter Zeitgeschäfte; seine sonstigen Bestimmungen
entsprachen fast völlig jenen des später zu besprechenden Gesetzes vom
Jahre 1881. Gegen dieses erste schweizerische Notenhankgesetz wurde nun
*) S. R. Hlumrr, Zar Banknotenfrage, eine Kritik des Entwurfs des Banknoten,
gesetzes, Glarus. 1874; A. Burckhardt-Bischoff, Referat aber den Entwurf eines
schweizerischen Banknotengesetzes, Basel, 1875; Rapport ä la socidtd industrielle et
commerciale du ranton de Vaud, sur la queation des biliets de banque eu Suisse,
Lausanne, 1875.
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10
Landmaim.
ein Referendum augerufen und am 23. April 1870 wurde es vom Volke mit
einer Majorität von 73.000 Stimmen verworfen.
Auf dem Wege der Gesetzgebung schien man also zu keinem Resultate
kommen zu können, während andererseits die früher schon vorhandenen Miß-
stände immer größere Dimensionen annahmen. Mit der Zahl der Banken
nahm auch der Umfang der Notenzirkulation ständig zu und fast parallel
mit der Vermehrung der fiduziären Geldsurrogate ging die Verschlechterung
ihrer Qualität und Deckung. Einige Zahlen mögen diese Entwickelung knapp
skizzieren.
4871
1872
1878
1874
1875
1876
1877
187«,
1879 1880
Zahl der Banken
28
29
29
32
32
32
,34
35
36
36
Einiaeionasnmme in Mill. Francs . .
24'8;
310
47-8
65-3
77-2
80*6
H3-1
82-6.
837
92 9
Notenumlauf per Kopf der Be-
völkerung in Fraucs
9-2
11-7;
170
28 9
28 1
29 l1
298
29 9
29-7
32'7
Gewiss liegt der Gruud dieser zum Teile (z. 11. im Zeiträume 1871
bis 1875) überraschend starken Notenvermehrung auch auf währungs-
politischem Gebiete1); zum weitaus größten Teile alter ist er in der Politik
der Banken zu suchen, die unter Außerachtlassung aller bankpolitischen
Prinzipien alle erdenklichen Geschäfte machten, um nur eiuen möglichst
großen Teil ihrer Noten in den Verkehr zu bringen. Daran konnte auch
ein neues, am 8. Juli 1870 abgeschlossenes Konkordat nicht viel ändern,
dem 24 von den damals bestehenden 32 Banken heitraten, und welches
durch Verpflichtung zur gegenseitigen Noteneinlösung und zur gegenseitigen
Zusendung von Wochen- und Monatsbilanzen eine Besserung erzielen wollte.
Von durchgreifendem Erfolge konnte dieses Konkordat schon deshalb nicht
begleitet sein, weil die ihm nicht angehörenden Banken ihre eigenen Wege
gingen und auch die Konkordatsbanken selbst in ihrer Geschäftsführung
den bescheidensten Anforderungen nicht zu entsprechen vermochten.
Von den 21 Konkordatsbanken befaßten sich;
alle mit der Erteilung von Krediten im Kontokorrent gegen Hinterlage
von Effekten.
IS) mit der Erteilung von Krediten gegen Bürgschaft.
II mit der Erteilung von Krediten gegen Verpfändung von Waren.
5 mit der Erteilung von Blankokrediten.
17 mit Übernahme oder Beteiliguug an Anleihen.
je 1S4 mit der Ausstellung laugsichtiger Tratten auf das ln- und Aus-
land, mit Hypothekardarlehen und mit Akzeptation von Tratten,
l) Burekhardt- Bischof f. Das schweizerische Münzwesen. Jahrbücher für National-
0 konomie und Statistik, Bd. XXXII.
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,ie Notenbankfrage in der Schweiz.
11
5 mit Kontrahierung von Anleihen,
4 mit Reportgeschäften in Börseueffekten,
1 mit Ausgabe von Obligationen mit Gewinnanteil.
Die Fonds wären in allen möglichen Geschäften festgelegt und nicht
realisierbar, und die nach Form. Inhalt. Währung, Betrag, Sprache, Große
und Farbe verschiedenen Noten konnten als Symbol der Buntscheckigkeit
der Bankorganisation angesehen werden. Womöglich noch regelloser ge-
staltete sich die Gesrhäftsgeharung. Die Metalldeckung der Noten schwankte
zwischen 02 und 18 l’roz. der Zirkulation und wie wenig einheitlich die
Diskontpolitik geleitet wurde, kann aus der Tatsache ersehen werden,
daß während eine Züricher Bank im Jahre 1878 17 mal ihre Rate änderte,
eine andere Konkordatsbank in Genf sich nur 8tnal zu eine Änderung des
Diskontsatzes veranlaßt sah.
Um die Mitt der 70er Jahre, fast gleichzeitig mit der Verwerfung
des Gesetzes vom 18. September 1875. beginnt sich in der schweizerischen
Bankfrage ein neues Moment bemerkbar zu machen. Bis dahin wurde der
Frage lediglich in fachmännischen Kreisen ein größeres Interesse entgegen-
gebracht, das Volk verhielt sich ihr gegenüber ziemlich passiv und folgte
bei den Abstimmungen ohne viel eigenes Urteil den Weisungen seiner
politischen Vertrauensmänner. In den führenden politischen Kreisen hatten
die Freunde des Bestehenden eine sehr große Majorität und so konnte auch
die parlamentarische Tätigkeit der Anhänger einer Zentralisierung des Noten-
bankwesens nicht von Erfolg begleitet sein. Die Nationalräte Dr. Jons
und Curti versuchten es nun, die Frage ins Volk hineinzutragen, um so
ihre Lösung dem ausschließlichen Einflüsse der kantonalen Politiker zu
entziehen.1) Ihre Tätigkeit richtete sich in erster Linie auf die Aufhebung
des in der Verfassung festgelegten Verbotes des Notenmonopols, dessen
Beseitigung notwendigerweise einer im Sinne der Zentralbankfreunde ge-
haltenen Legislativarbeit voransgehen mußte. Sie veranlaßten zuerst den
schweizerischen Volksverein, an die Bundesversammlung das Begehren zu
richten, es sei eine Revisiou der Bundesverfassung in der vorhin ange-
deuteten Richtung vorzunehtnen, und nachdem der Bundesrat sich in seiner
Botschaft vom 28. November 1879* grundsätzlich gegen ein Notenmonopol
und eine Staatsbank ausgesprochen hatte und auch die Bundesversammlung
diesen Standpunkt zu dem ihrigen machte, allerdings nicht ohne daß sich
in der nntionalrätlichen Kommission eine starke, dem Begehren günstige
Strömung geltend gemacht hätte, entfalteten Joos und Curti eine Volks-
agitation. die zu dem Ergebnisse führte, daß bis zum 8. August 1880 in
der Bundeskanzlei 54.000 Unterschriften von Schweizerbürgern eingingen,
die eine Revision des Artikels 39 der Bundesverfassung im Sinne einer
9 Curti, Daa Hanknotenmonopol, die zweizerische I, änderbar, k und die Initiative,
Zürich, 1879; Argumente gegen dae Hanknotenmonopol, Antwort auf eine Rede des
Herrn Th. Curti, I.urem, 1*79; Kaiser. Dichtung und Wahrheit oder der Hanknoten-
»pektakel in der Schweiz im Herbst 1879. „Schweizerische Zeitfragen“, Heft 9, Zürich, 1880.
*, Schweizerisches Bundeeblatt. 1879, Bd. III, S. 107 1 ff
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12
Landmaim.
Aufhebung des Notenmonopolsverbotes und der Errichtung einer Staatsbank
forderten.
Gemäß den Bestimmungen des Artikels 120 der Bundesverfassung
soll über jedes im Wege der Volksinitiative geltend gemachte Begehren
eine Volksabstimmung stattfinden. Der damalige Wortlaut dieses Artikels
bestimmte aber auch, es könne dein Volke nur die Frage vorgelegt werden,
ob eine Revision stattfinden solle oder nicht, nicht aber die Frage der Ab-
änderung eines bestimmten Artikels. Auf diese Bestimmung gestützt und
dessen bewußt, daß das Volk, des vor kurzem erst abgeschlossenen Ver-
fassungskampfes müde, die Frage einer Verfassungsrevision nicht wieder
werde entfachen wollen, formulierten im Nationalrate die Gegner des Be-
gehrens die Fragestellung an das Volk folgendermaßen: .Soll eine Revision
der Bundesverfassung stattfinden?*1) Das erwartete Ergebnis konnte nicht
ausbleiben. In der Volksabstimmung vom 31. Oktober 1880 wurde das
Begehren mit 260.126 gegen 128.090 Stimmen abgelelmt.
Aber auch in den Kreisen, di# unter Beibehaltung des Systemes der
ßankvielheit eine gesetzliche Regelung anstrebten, fehlte es an Einheit-
lichkeit.’) Die Vertreter des Handels wollten in dem zu erlassenden Gesetze
die Bestimmungen aufgenommen sehen, daß das Recht der Notenemission
lediglich den reinen Diskontobanken erteilt werden könne; sie wollten den
Geschäftskreis der Noten ausgebenden Banken beschränken und verlangten
die Deckung der gesammton Notenzirkulation durch Hartgeld und Wechsel.
Die Vertreter der Kantone forderten dagegen Freigebung der Geschäfte der
Banken, und Deckung der gesamten Noteuzirkulathm durch Hartgeld
und Wertschriften. Jene legten das Hauptgewicht auf die jederzeitige
Einlösbarkeit der Banknoten, für welche das Wechselportefeuille die beste
Gewähr bietet, diese dagegen auf die Sicherheit der Noten, die sie durch
Deckung des metallisch nicht gedeckten Teiles der Zirkulation durch
Effekten am besten zu erreichen glaubten. Im Juni des Jahres 1880 legte
nun der Bundesrat den eidgenössischen Räten den zweiten Entwurf eines
Gesetzes „über die Ausgabe und Einlösung der Banknoten* vor, in welchem
er zwar nach Möglichkeit den verschiedenen Wünschen und Forderungen
gerecht zu werden bestrebt war, sich in der Hauptsache aber auf den
Standpunkt der Vertreter des Handels stellte und demgemäß eine Deckung
der Noten und der sonstigen kurz fälligen Veibindlichkeiten zu 50 Proz.
durch Metallgeld und zu 50 Proz, durch Wechsel verlangte. Daneben
nahm der Entwurf die Schaffung einer, allerdings nicht mit dem Noten-
monopol ausgestatteten Bundesbank in Aussicht oder wollte ihr wenigstens
einen Weg eröffnen. Der Ständerat, der in der Beratung dieses Gesetzes
') Schweizerisches Bundesblatt, 1880, Bd. III, S. 605 IT and 607.
*) W. Speiser, Die Neuordnung des Notenbankwesens in der Schweiz, Zeitschrift
für schweizerische Statistik 1891, Bd. XXVII, S. 140 ff.; Craroer-Frej’, Die Regulierung
Uea Bankwesens in der Schweiz, Schweizerische Zeitfragen, Heft 11, Zürich, 1880;
Girard, L'article 39 de la constitutiun federal, :■ et les banqueB d'Sndssion en Sei- He,
Cham de Fonds, 18:0.
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Die Notenbankfrage in (ier Schweiz.
13
die Priorität hatte, eliminierte nun nicht nur diese letztere Bestimmung,
sondern formte auch den ganzen bundesrätlichen Entwurf derart um. daß
der Hauptzweck des Gesetzes, nämlich die Herstellung einer gut fundierten
stets einlösbaren Banknote, gegenüber dem fiskalischen Interesse einer
größeren Anzahl von Kantonen völlig in den Hintergrund gedrängt wurde.
Die im bundesrätlichen Entwürfe vorgesehene Beschränkung des Geschäfts-
kreises der Notenbanken wurde gestrichen, die metallische Deckung von
50 Proz. auf 40 Proz. der Zirkulation reduziert und für die übrigen
60 Proz. eine Deckung in Wertscbriften vorgesehen. Der Bericht der
nationalrätlichen Kommission äußerte sich Uber die Beschlüsse des Stände-
rates folgendermaßen: „Wir können dem Ansmerzen aller auf eine
eventuelle Bundesbank bezüglichen Bestimmungen um so weniger bei-
stimmen. als wenig oder gar keine Aussicht vorhanden ist. in dem vorlie-
genden Gesetze denjenigen Kegeln Geltung zu verschaffen, welche in den
anderen Staaten für den Bankr.otenverkehr als die richtigen erkannt sind.
Es ist deshalb sehr zweifelhaft, ob nicht früher oder später der Gedanke
der Zentralisierung der Notenemission in Bundeshand mit oder ohne
Monopol behufs durchgreifender Sanierung der dannzumaligen Umstände
Oberwasser bekommt, und wir gestehen, daß so sehr wir geneigt sind,
mit den bestehenden Verhältnissen zu rechneu und bestehende legitime
Interessen zu berücksichtigen, wir den ständerätlichen Anträgen, insofern
dieselben nicht modifiziert würden, ein Zentralinstitut auf gesunder, be-
währter Grundlage, eine Bundesbank, die reine Emissionsbank wäre, bei
weitem vorziehen würden“. Die Kommission selbst schlug eine Beihe von
Abänderungen gegenüber den ständerätlichen Beschlüssen vor. wagte es
aber nicht, an Stelle dieser die Bestimmungen des bundesrätlichen Entwurfes
wieder einztisetzen. Sie willigte in die Reduzierung der Metalldeckung
auf 40 Proz. der Zirkulation ein und statuierte als Deckung für die
weiteren 60 Proz. das Wechselportefeuille bei den Banken, die den Charakter
reiner Diskontobanken haben, für alle sonstigen Banken entweder Hinterlage
von Effekten oder eine Garantie des Heimatskantons.
Am 15. Februar 1881 gelangte der Entwurf der Kommission zur
Beratung vor den Nationalrat. Am gleichen Tage legte Nationalrat
Dr. Alfred Esc her einen von ihm und dem späteren Nationalrat
Cramer-Frey ausgearbeiteten Entwurf eines Bankgesetzes vor, welcher
vom Entwurf der Kommission darin abwich, daß er eine getrennte Ver-
waltung der Notenausgabe von den übrigen Geschäften der Bank verlangte,
als Deckung neben dem Hartgeld nur Wechsel gellen lassen wollte und
endlich den Banken die Verpflichtung auferlegen wollte, 10 Proz. ihrer
Notenemission beim Bund in Effekten zu deponieren. Mit 68 gegen 21
Stimmen beschloß der Nationalrat das Eintreten in die Debatte auf
Gruud des Entwurfes der Kommission, und als dann der Entwurf von
dieser Behörde am 28. Februar erledigt wurde, konnte, nachdem über
gewisse Differenzen zwischen dem National- und dem Ständerat Einigung
erzielt war, am 7. März 1881 das Gesetz von beiden Käten definitiv
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u
Lftndm&nn.
angenommen und mit dem 1. Jänner 1882 in Kraft tretend veröffentlicht
werden.
Das Gesetz, welches — was nicht geleugnet werden soll — die
wildesten Auswüchse aus der Zeit der Kailtonssouveränität auf diesem
Gebiete beseitigte, kann nicht anders aufgefaßt werden, als ein Kompromiß
zwischen den Anforderungen des sich entwickelnden Großverkehrs auf der
einen Seite und den fiskalischen und politischen Sonderinteressen der
Kantone auf der andern. Das Gesetz beschränkt sich darauf, die bereits
bestehenden Verhältnisse zu kodifizieren, und allgemeine, für alle Banken
gültigen Normen aufzustellen, und zwar: 1. über die Berechtigung zur
Notenausgabe und den Umfang derselben; 2. Aber die Deckungs- und
Einlösungspflicht, Sicherstellung und die Privilegien der Noteninhaber:
3. Ober die Beziehungen der Notenbanken unter sich und den Geschäftskreis
derselben; 4. über die Form der Banknoten und die Größe der einzelnen
Abschnitte; 5. über die Kontrole durcli die Buudesbehörden; 6. Ober die
Besteuerung der Notenemission.
Seme Huuptbestiiumungeu sind die folgenden. Jedes Bankinstitut mit
einem Kapital von mindestens öOO.OOO Francs, das sich gewissen Normen
unterwirft, hat das Recht, vom Bundesrate die Einwilligung zur Banknoten-
emission im doppelten Betrage des Bankkapitals zu verlangen. Vom je-
weiligen Betrage der zirkulierenden Notenmenge muß die Bank 40 Proz.
in ihren Kassen in Barem liegen haben, ohne daß sie diese Barschaft zu irgend
welchen andern Zwecken als nur zur Notenoinlösung verwenden dürfte.
Als „verfügbare Reserve“ gilt nur der Betrag, der über 40 Proz. des
Notenumlaufes hinaus in den Kassen der Bank vorhanden ist. Die restlichen
60 Proz. der Notenzirkulation können in dreifacher Weise gedeckt werden:
durch Hinterlage von Wertschrifleu, durch Kantonsgarantic und endlich
durch Verpfändung des W'echselportefeuilles als Spezialsicherheit für die
Noteninhaber. Nur die Banken mit der zuletzt gedachten Deckungsart sind
auf die regulären Geschäfte einer Notenbank, Diskonto- und Lombard-
geschäft Giroverkehr u. 8. w. beschränkt: die übrigen dürfen alle
Arten von Geschäften betreiben: sie sind Kreditbanken, gewähren hypo-
thekarische Darlehen, erfüllen die Funktion von Sparkassen, beteiligen
sich an industriellen Unternehmungen, übernehmen die Emission staat-
licher und industrieller Werte, kurz: sie erfüllen alle Funktionen einer
Eflektenbank.
Dem Bedürfnisse nach Vereinheitlichung der Notenzirkulation wurde
in der Weise Rechnung getragen, daß die Banken zum Gebrauche einheitr
licher Notenformulare, deren Herstellung und Bezug vom Bunde überwacht
wird, verpflichtet wurden. Ungleich bedeutsamer für die Einheitlichkeit des
Notenumlaufes ist die Bestimmung, daß jede Emissionsbank verpflichtet
ist. jederzeit nicht nur ihre eigenen sondern auch die Noten aller anderen
schweizerischen Emissionsbanken, solange letztere ihre eigenen Noten
pünktlich einlösen, vollwertig in Zahlung zu nehmen, und außerdem die
Verpflichtung hat, die an ihren Schaltern präsentierten Noten aller andern
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Die Votenbankfrage in der Schweiz.
15
.Voteninstitute binnen längstens 3 Tagen ohne irgend welchen Abzug ein-
zulösen. Die Bilanzen aller Banken sind periodisch unter der Kontrolle der
Kundesbehörde ’> zu veröffentlichen. Zur Bestreitung der Kosten dieser
Kontrolle entrichten die Banken 1 Promille vom Betrage der ihnen bewilligten
Emissionssumme an die Bundeskasse. Die Kantone sind ermächtigt, eine
Steuer bis zu 6 Promille jährlich vom gleichen Betrage zu erheben.
Wir werden im nachfolgenden Gelegenheit haben, die Wirkungen
einzelner dieser Bestimmungen genauer zu untersuchen. An dieser Stelle
wollen wir lediglich die hauptsächlichsten Mängel des Gesetzes feststellen.
Vierzig Prozent der jeweiligen Notenzirkulation einer Bank müssen
stets durch Barvorrat gedeckt sein, der von den übrigen Kassenbeständen
der Bank getrennt gehalten und gebucht wird. Diese Bardeckung darf
nicht für den sonstigen Geschäftsveikehr der Bank, sondern nur zur Ein-
lösung ihrer Noten in Anspruch- genommen werden und haftet den Noten-
inhabern als Spezialfonds. Die Reserve, die anderwärts überall ein Sicherheits-
ventil darstellt, das man im Notfälle öffnen kann, ist hier demnach
unangreifbar, und selbst der Rnndesrat besitzt nicht die Kompetenz,
den Banken den Gebrauch des Ventils zu gestatten. Angesichts eines
Kassenbestande3 von 40 Proz. ihrer Notenzirkulation kann eine Bank zur
Zahlungseinstellung gezwungen werden, ln dieser Bestimmung kommt am
deutlichsten die das ganze Gesetz beherrschende Tendenz zum Ausdruck,
nicht so sehr die ständige Einlösungsfähigkeit der Notenbanken zu sichern,
als vielmehr für den Fall einer eventuellen Liquidation die Noteninhaber
voi einem definitiven Verluste zu bewahren. Die gleichen Erwägungen
liegen auch den Bestimmungen des Artikels 12 des Gesetzes zu Grunde,
wonach der bar nicht gedeckte Betrag der Notenzirkulation durch Effekten
oderauch bloß durch einen Garantieschein seitens einer Kantonregierung gedeckt
werden soll. Sind schon Effekten in kritischen Zeiten oft sehr schwer zu reali-
sieren, so ist an die Realisierung einer Kantonsgarantie im Augenblicke einer
Krise nicht zn denken. Fast alle kantonalen Staatsbanken haben von dieser
Scbeindeckung Gebrauch gemacht, und doch unterliegt es keinem Zweifel,
daß man aus allen diesen Scheiuen zusammen im Falle einer Geldkrise,
d. h. wenn die Kantone für die Zahlungsbereitschaft ihrer Banken eintreten
müssten, nicht zehn Millionen Francs Hartgeld herauspressen könnte.
Der ganze Kassenvorrat von 40 Proz. der Notenzirkulation haftet
als Spezialfond den Noteninhabern; über die Verpflichtung der Noten-
banken, die sonstigen kurzfalligen Verbindlichkeiten in ähnlicher oder sonst
irgend einer zufriedenstellenden Weise zu decken, enthält das Gesetz keinerlei
Bestimmungen, ln seinen Folgen muß dieser Mangel zu einer Gefährdung
der ununterbrochenen Einlösbarkeit der Noten führen, insbesondere, wenn
eine Reihe von Banken, wie dies tatsächlich der Fall ist, auf der Sollseite
ihrer Ausweise kurzfristige Verbindlichkeiten in der Höhe von mehreren
1 Die Kontrdle wurde durch Vollziehungeverordnung vom 21. Dezember 1881 dem
eidgenössischen Finanzdepartcment übertragen. welche» hierzu ein Inspektorat der
Emmiesionsbanken („Banknoteninapektorat“) ins Leben rief.
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16
Landmann.
Millionen Francs verzeichnet, deren Deckung zum Teile jeden Augenblick
telegraphisch gefordert werden kann, ohne daß aber Aber die unantastbare
Reserve von 40 Proz. der Notenzirkulation hinaus mehr als einige Hundert-
tausend Francs in den Kassen1) vorhanden wären. Hierzu kommt, daß ein sehr
großer Teil der schweizerischen Emissionsbanken auch die Funktion von
Sparkassen erfüllt, was selbstverständlich gefährdend auf die Situation der
Banken einwirkt, da die Erfahrung lehrt, daß Sparkassenglänbiger. wo nicht
gefährlicher, so doch gewiß dringlicher sind, als die Banknoteninhaber.
Endlich sei hier noch der in ihren Folgen bedeutungsvollen Be-
stimmung gedacht, wonach die Kantone das Recht haben, eine Steuer bis
zu 6 Promille der bewilligten Emissionssumme zu erheben. Wir werden
im nachfolgenden Gelegenheit haben, nachzuweisen, wie ungünstig diese
Bestimmung die gesamte Entwickelung beeinflußte.
2. Die Entwickelung des Schweizerischen Notenbankwesene unter
dem Bankgesetz vom 8. März 1881.
Bevor wir an die Schilderung der Entwickelung gehen, die sich unter
dem Gesetze vom 8. März 1881 vollzog, wollen wir den Zustand festhalten.
der im Augenblicke des Inkrafttretens des Gesetzes herrschte.
Es bestanden im Augenblicke des Inkrafttretens des Gesetzes:
Zahl
(kr Banken
’
Hauptgeschäft
Bank-
(Dotation«-)
Kapital
Durchschnittliche
Notenzirkulation
in 1000 Francs
6
Diskontohanken
30.000
39.762
10
Handelsbanken
20.500
14.459
H
Hypothekenbanken
17.398
10.233
ii
Verschiedene Geschäfte . . . .
57 700
34.208
1
Caisse d’amortisseiuent de la
publique
Dette
739
36 Batiken
125.598
99.401
davon 24
im Konkordat mit
11G.650
92.262
davon 11
Staatsbanken mit
• • •!
87.398
83.659
Zur
Beurteilung der Bedeutung
h
und der Situation
der einzelnen
Banken mögen die Ziffern der Spezialtabelle dienen.
') Beispielshalber 6ei angeführt, daß die Freiburger Kantonalbank (rund 1 Mill.
bis 1,250.01)0 Franca Noteuzirknlation und rund 6 Mül. Francs kurzfälliger Verbindlich-
keiten) im Durchschnitte des Jahres 1901 eine verfügbar« Barschaft von 93.000 Francs
aufweist; die ßamjue cantonale Neuchäteloise, weist bei einem Notenumlauf von rund
8 Mill. Kranes und einem Bestände von kurzfälligeu Verbindlichkeiten im Betrage von
rund 13-5 Mill. Francs im Jahresdurchschnitt eine verfügbare Barschaft von 513.000
Francs auf. Zu Zeiten großer Anspannung sank der Betrag der verfügbaren Barschaft
bei der Freiburger Kantonaibank bis auf 29/00 Francs, bei der Ncuenburger bis auf
190.01.10 Francs.
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Die Notenbank frage in der Schweiz.
17
Durchschnittliche
Firma
Noten-
zirkulation
Kassen-
bestand
Deckung
der Noten in
in 1000
Francs
Zirkulation
*Kantonalbank vou Bern
7.257
2.876
39-7
•Bank in Zürich
4.502
4.001
88#
Ersparniskause des Kantons Uri
287
in
38-7
•Bank in St. Gallen
8.995
1.448
362
•Bank iu Basel
7.505
3.751
508)
•Banque du Commerce in Genf
14 074
4.757
83-8
•Banque cantonale vaudoise
5172
2.114
408
•Banque de Geneve
4 080
1.041
25-8
Spar- und Leihkuste, Luzern
982
871
887
•Banque cantonale Fribourgeoise
1-703
697
409
•Thurgauer Hypothekenbank
725
812
430
•Glarner Bank
1.160
870
31-9
Banque populaire de la Gruyi*re
160
54
33-7
•Bauque cantonale N» urk&tcloUc ....
5.656
1.661
29-4
Caisse hyputh«kaire de Fribourg
26
CO
h-
6654
•Aargauische Bank
2.326
836 ‘
85-9
•Luzerner Kantonalbank
1.953
881
451
•Solothumische Bank
1.878
855
455
Banca cantonale ticinesc
2.060
318
154
•Bank in Schaffhauaen
652
259
39-8
•Graubündner Bank .
285
180
63-2
Leihkasse Glarus
293
134
45 7
•Eidg. Bank, A. G
4 783
2.24«
470
• Toggenburger Bank
970
386
84-6
Banque populaire de la Broye
18
29
1611
Crldit agricole et industriel de la Broye .
214
74
34-5
•St. Gallische Kantonalbank
5980
2.374
397
Caisse d'ainort. de la Dette Publique . .
789
163
221
•Basellandschaftliche Kantonalbank . . .
690
290
42 0
•Thurgauer Kantonalbank
1.806
551
422
Graubündner Kantonalbank
1.958
657
836
•Züricher Kantonalbank
12.276
7.109
57-9
•Banca della Srizzera italiana, Lugano . .
1.437
516
860
Credit Gruyärien .
165
27
16-4
•Appenzell a. Rh. Kantonalbank
1.947
704
361
Kantonale Spar- und Leihkasse von Nid-
walden, St;» na
237
73
30-8
Zusammen
99.401
42.851
48 1
Die mit einem * versehenen Banken gehörten dem Konkordate an.
Zeitschrift für Volkuwlrtacbaft, Sozialpolitik und Verwaltung. XII. Hand.
2
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18
Landmann.
Nach Inkrafttreten des Gesetzes stellten von den angeführten 36 Banken
29 an den Bundeerat das Autorisationsbegehren zur Ausgabe von Bank-
noten. Diese Autorisation ist an 26 Banken, welche sich Ober die gesetzlichen
Vorbedingungen ausgewiesen haben, vor dem 1. Juli 1882 erteilt worden;
an die übrigen 3 Banken konnte sie erst später erteilt werden, und zwar
an eine am 11. Juli, an die zwei übrigen am 1. September 1882. Von
diesem Tage an unterstanden dem Gesetze 29 Emissionsbanken mit einer
effektiven Notenzirkulation von 102,174.055 Francs. Über die Entwickelung
während der bald 20 Jahre, die seither verflossen, sollen die nachfolgenden
Tabellen Auskunft geben.1)
Decknngsart
Jahr
Zahl fl er
| Banken
Eingezahltes
1 Kapital in
In Proz.
der Gesamt-
kapital«-
Effektiv©
Emission in
, Mill. Francs
Iu Proz
der Gesamt- 1
emission*-
stimme
i
1885
17
13-0
19-91
68 5
.50*7
Kantons- ]
garantie j
1890
19
71-2
53 00
82-5
470
1
1901
22
124*7
88-70
1455
60*6
i
1885
10
17-3
26-49
11-6
8*6
Effekten- 1
binterUge I
1890
10 ,
19*6
1500
141
8*0
l
1901
10
80*0 |
15*30
21-0
8-7
|
r
1885
6
350
53-60
550
407
Wechsel- J|
! portefeuille j j
1890
6
43-0
410
3200
775
450
1901
4
1
2100
74 0
308
Bewilligte
Emissions-
summe in
Mill. Francs
18 8 5
18 9 0
19 0 1
s
3 S
«1
ts
•
TS
Betraf der
KinUaion io
Kill. Franca
W <s 8
SuBi
Mi
Zahl
der Banken
R«irac der
Eralaaion in
Mill. Franca
liii
a £ a
a
•
b
Im ~ ß
Betraf der Io u g «
Koiiaaion in £ £ J S
Mill. Fraoca; - ~
bis 2
17
196
1409
19
22*4
1234
12
1675
0-95
2 bis 5
8
29-5
21 21
8
81-2
17-18
12
43-75
1818
5 , 10
5
420
8027
*
290
15-96
5
8800
ab
o
10 . 20
8
47-0
34-48-
3
750
41*29
4
6400
2661
20 , 25
—
— 1
>
240
18-28
2
48 00
19-95
über 25
_
—
— |
• — '
—
1
8000
12-51
| Zusammen
33
1881
100-00#
85
1816
100-00
.36
240 50
100 00
Zwei Entwickelungstendenzen kommen in diesen Zahlen zum Ausdruck.
Vorerst die Tendenz der Zuräckdrängung der durch Kffektenhinterlage oder
l) Alle Zahlenangaben der nachfolgenden Darstellung sind den, in den Geschäfts-
berichten des Bundesrates an die Bundesversammlung erscheinenden Jahresberichten
des Banknoteninspcktoratea und den Jahresberichten der einzelnen Banken entnommen
Digitized by Google
Die Notenbankfrage in der Schweil.
19
Wechselportofeuille ihre Noten deckenden Danken durch die diese Deckung in der
Forui einer Kantonsgarautie leistenden. Der Anteil der letztem an der Gesamt-
emission stieg von 50'7 Proz. ira Jahre 1885 aufßO'5 Proz. im Jahre 1901. Hand
in Hand ging damit auch eine Vermehrung der Zahl dieser Banken von 17 auf22,
während die Zahl der erstgenannten im gleichen Zeiträume von 16 auf 14 sank.
Die zweite Tendenz, die wir konstatieren, ist ein Steigen des Anteiles
der großen, kapitalkräftigen Institute auf Kosten der kleinen. Auch auf
diesem Gebiete vollzieht sich langsam der Prozess der Konzentration des
Bankbetriebes durch die Großbanken. Der Anteil der Banken mit einer
Emissionssumme bis 5 Mill. Francs sank von 35.30 Proz. an der Gesamt-
emission im Jahre 1885 auf 25' 13 Proz. im Jahre 1901; im gleichen Zeit-
räume stieg der Anteil der Banken mit einer Emissionssumme von mehr
als 10 Mill. Francs von 34'43 Proz. auf 59 07 Proz. War im Jahre 1885
das Maiimum der EraiBsionssumme einer Bank 20 Mill. Francs, so stieg es
bis 1901 bis auf 30 Mill. Francs und die eine Bank mit dieser bewilligten
EmisBionssumme nimmt auch absolut eine höhere Stellung ein als die
12 Banken mit einer Emissionssumme von je bis 2 Mill. Francs.
Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes stieg der Gesamtbetrag der
bewilligten Emission von 108 auf 240-5 Mill. Francs. Zur Beurteilung der
Frage, mit welchem Wahrscheinlichkeitsgrade aus den Betrage der bewilligten
Emissionssumme Schlösse auf die effektive Zirkulation gezogen werden dflrfen,
fOgen wir hier die Zahlen för das Jahr 1901 ein.
Durchschnitt j
Maximum
i Minimum
i n
Mill. Franca
Angewiesen« lj Zirkulation . . . .
... | 2145
2336
2055 |
Effektive*) Zirkulation
... 197-5
2204
1B6-7
Xotenreüere«*)
... I 25-5
400
141 j
Auf den Kopf der Bevölkerung gerechnet weist demnach die Schweiz
gegenwärtig einen Notenumlauf vou 64 05 Francs per Einwohner auf, gegen einen
solchen von 30 Francs im Deutschen Reiche, und 25 Francs in Großbritannien.
Die unverhältnismäßige Ausdehnung der Notenzirkulation, die durch
die Art der Stflckelung seitens der Banken bewußt gesteigert wurde, ist
durch die Art der Erhebung der Notensteuer kausal bedingt und hängt in
ihren Folgen so eng mit der Diskontpolitik zusammen, daß es am zweck-
mässigsten erscheint, diese drei Erscheinungen zusammen zu behandeln.
’) Die „ausgewiesene Zirkulation“ repräsentiert den Betrag der von ailen Banken
dem Verkehre übergebenen Noten, mit Einschluß der in den BankkaBsen liegenden -nicht
eigenen) Noten anderer schweizerischen Emissionsbanken.
3) Die „effektive Zirkulation“ repräsentiert die ausschließlich in H&ndcn Dritter
befindliche Notensnmme.
3) Die „Noteureserve“ stellt den Betrag der in den Kassen der Banken vorhandenen
eigenen Banknoten and der anderer schweizerischen Emissionsbanken dar.
o.
Digitized by Google
20
Landmann.
Da die schweizerischen Notenbanken, wie vorhin ausgeführt, nicht nach
dem Umfange der effektiven Zirkulation, sondern nach dem Betrage der
bewilligten Emissionesumme besteuert werden, so haben sie die natür-
liclie Tendenz, ihre Notenemission möglichst auszudehnen, da sie ja die
ganze bewilligte Emission versteuern mdssen, was, beim Brachliegen eines
Teilbetrages dieser Summe, einen direkten Verlust bedeuten würde. Die
Banken müssen 40 Proz. der Zirkulation unbedingt haar in den Gewölben
liegen lassen, und wenn da eine Bank etwa 20 Proz. ihrer Emissionssumme
überhaupt nicht in Zirkulation hat, so sind nur 40 Proz. der Emissions-
Summe nutzbringend angelegt, was im Resultate einen Gewinn von etwa
2 — 2'/j Proz. der Emissionssumme bedeutet. Wenn nun die Bank gleichzeitig
bis zu 6 Promille der ganzen bewilligten Emissionssumme an den Kanton,
1 Promille an den Bund versteuert, so macht dies rund 1 Proz. Abzug
vom berechneten Gewinne, der dann auf etwa 1 — lls Proz. sinkt Es ist
deshalb uur zu leicht begreiflich, daß die Emissionsbanken bestrebt sind,
das ganze bewilligte Kontingent in die Zirkulation zu bringen, damit wo-
möglich jede steuerbare Note auch wirbt, und sie erreichen dies auch, aller-
dings nur auf Kosten einer doppelten Verletzung der Prinzipien jeder
gesunden Diskontopolitik; der Prinzipien der Auswahl des DiBkontomateriales
und der Prinzipien der Regelung der Bankrate.
Nach den Berichten des eidgenössischen Banknoteninspektorates
gliederte sich die Anlage der schweizerischen Emissionsbanken im Jahres-
durchschnitte folgendermaßen:
J a
h r
_ :
1885
1895
1901
1885
1895
1901
In Mill. Francs j
In Proz. der
Gesamtanlage
1. Kurzfristige Anlagen:
*
a) Diskont-Schweizwechsel
14982
16311
163 36
21 88
15 97
10-95
b) Diskontdevisen
3086
15-56
45-79
4 49
1*52
307
c) Lombardwechsel
31-34
48-50
48-21
4 53
4-26
3-23
d) Guthaben bei anderen Banken . .
100
288
5-70
0-18
0-28
038
e) Koiresp.- Debitoren
2928
25 83
56-22
433
2*52
3-77
f) Diverse
1 94
2-50
2-58
032
024
0-17
Summe a) bis f) . . . .
243-74
253-88
821-86
3578
24 79
21-57
2. Langfristige Anlagen:
a) Konto- Kurrent -Debitoren
65-23
11336
223-83
960
1109
1500
b) Schuldscheine
61-61
9612
143-90
907
941
9*64
c) Anlage in Hypotheken
23675
408 65
656-86
54-78
39-99
44-03
d) Anlage in Effekten
74*99
14926
144-47
10-74
1461
9-69
e) Diverse
024
113
l-oa
008
O-Il
0-07
Summe a) bis e) ... .
Geaamrotsumme
488-82
768-52
117008
64 27
7521
78-43
682 56 1021 90 1491 94
100 00 100 00 100 00
1 1 1
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Die Notenb&nkfrage in der Schweiz.
21
Das Verhältnis zwischen der Summe der kurz- und der der langfristigen
Anlagen verschob sich von 86 : 64 im Jahre 1885 auf 25 : 75 im Jahre
1895 und bis auf 22 : 78 im Jahre 1901. Dabei ist aber stets die Tat-
sache im Auge zu behalten, daß die in der vorstehenden Zusammenstellung
als kurzfristige Anlage bezeichneten Diskonto- und Lombardwechsel diese
Eigenschaft durchaus nicht in einem gleich hohen Grade besitzen als die
gleichen Werte in den Portefeuilles der großen Zentralnotenbanken. Der
Kreis der als bankfähig betrachteten Wechsel ist in der Schweiz viel weiter
gezogen als anderswo; infolge der ewigen Wechselsuche, auf welcher sich
die Banken befinden, ist der Diskont demokratisiert und demgemäß steht
auch die Qualität des schweizerischen Wechselportefeuilles' durchaus nicht
auf der gleichen Höhe mit der Diskontanlage etwa der Deutschen Keichs-
bank oder der Bank von Frankreich. Den besten Beweis hierfür liefert die
Tatsache, diß während bei der Deutschen Keichsbauk auf je 1000 Mark
durchschnittlicher Wechselanlage nur 0'09 Mark Verlust kommen, bei der
Bank von Frankreich auf je 1000 Francs 0'02 Francs Verlust;, bei den
schweizerischen Emissionsbanken auf je 1000 Francs durchschnittlicher
Wechselanlage in dem gleichen Jahre (1901) 2p46 Francs verloren gegeben
werden mußten.
Auch die Anlage in Lorabardwecbseln verlor nach und nach infolge
der von seiten der schweizerischen Emissionsbanken im umfangreichsten
Maße geübten Prolongationspraxis völlig ihren kurzfristigen Charakter
und stellt heute in Wirklichkeit eine nur schwer realisierbare lang-
fristige Anlage dar. Zur Ausdehnung ihres Umfanges trug nicht wenig
der Umstand bei, daß die schweizerischen Emissionsbanken - eine
in der gesamten Bankgeschichte einzig dastehende Tatsache — ihren
eigenen Diskontosatz durch einen niedriger gehaltenen Lombardsatz
unterboten.
Betrachten wir endlich das Tempo des Anwachsens der einzelnen
Positionen der beiden Teile der Anlage, so erhalten wir folgende charak-
teristischen Resultate:
Anlage
im Jahresdurchschnitt
Jahr
Schweizer- !
Wechsel
Devisen
Lombard -
wechsel
Wechsel ||
1 aller Art
Alle
kurzfristigen
Anlagen
Mül.
Franc«
106
= KO
Mil]
Franca i
JflHft
« 1U0 ||
Min. ;
Kran>*a
I8&’>
cs HO
Min. |
Franc* 1
1885
= 100
'HU.
Frau««
IO& |
=» 1UU j
1885
149-82
! 100-00,
30'8«
10OOO
80 14
100-00
210 32
100 00
248-74
1 00*00 j
7895
16311
109 47
15-56
51*86
43-50
14500
222 1 7 !
105 80
253*38
103-42:
1901
163*36
109*64
4579
152-63
48-21 1
1 00-70 257-30
122 65
321*861
131-84
Digitized by Google
Lundm&on.
22
Anlage im Jahresdurchschnitt
a li r
Schuldscheine
Hypotheken
Effekten
Alle
langfristigen
Anlagen
MIO
Knuir*
188A
<s 1110
Mills
Kraue*
IHK?»
= 100
*•111. j I8H5
Kt aucs =3 11»
Will.
Kraue*
IHM?»
= |(U
1885
«1-61
100 00
236 75
100 00
74-99 100 00
438-82
100-00
1895
98 12
15757
408t>5
187 16
149 26 201-70
768-52
175 45
1901
14390
235-90
«56-86
278-33
144-47 195-23
1170*08
267-14
Wahrend die Wechselanlage, mit Einschluß der Lonibardwechsel, in
den Jahren 1885 — 1900 von 100 auf 122, und die Summe der gesamten
kurzfristigen Forderungen von 100 auf 131 stieg, stieg die Anlage in
Hypotheken von 100 auf 278, die in Effekten von 100 auf 195 und die
Gesamtsumme der langfristigen Anlagen von 100 auf 267.
W'elchen Einfluß eine derartige Gliederung der Anlage auf die Liquidität
der Banken ausQbt, wird in den nachfolgenden Untersuchungen zu Tage treten.
Der zweite der beiden erwähnten Verstöße gegen die Prinzipien einer
gesunden Diskontopolitik betrifft die Art der Festsetzung der Bankrate.
Das 1881er Gesetz begnügte sich mit einer äußern Itegelung der
Notenausgabe; die innere Itegelung wurde nicht in den Kreis seiner Auf-
gaben gezogen. Eine gemeinsame, für alle schweizerischen Notenbanken
verbindliche Festsetzung der Bankrute sieht das Gesetz nicht vor, und es
war infolgedessen unvermeidlich, dass die einzelnen Banken, vom Wunsche
beseelt, einen möglichst großen Notenbetrag in der Zirkulation zu erhalten,
in ihren Diskontosätzen einander unterboten. Jeder Bankplatz publizierte
einen eigenen Diskontosatz und es kam nicht selten vor, daß eine Bank
ihren Diskontosatz ermäßigte, während eine andere ihn gleichzeitig erhöhte.
Es kam sogar vor. daß auf ein und demselben Bankplatze zwei Banken
verschiedene Sätze aufstellen zu sollen glaubten. Der Diskontoarbitrage
zwischen den einzelnen Bankplätzen war Ttir und Tor geöffnet und im
Zusammenhänge damit gingen wirtschaftlich völlig ungerechtfertigte Hin- und
Herschiebungen von Hartgeld zwischen den einzelnen Plätzen vor sich. Hierzu
kam erschwerend dei Umstand, daß die mit einer großen Notenemission
ausgerüsteten Banken auf kleineren Plätzen für den Teil ihrer Notenemission
der für den Verkehr des betreffenden Platzes keine Verwendung finden
konnte, auf den großen Verkehrszentren, in Basel, Genf, Zürich. St. Gallen,
Anlage suchen und durch ihr Geldangebot oft die Bankrnten dieser Plätze
herunterdrücken mußten.
Erst im Jahre 1893’) beschlossen 28 von den damals bestehenden 35
Banken „um die Barbestände im Lande zu schützen, den Diskontosatz auf
*) Gygai, Kritische Betrachtungen über das schweizerische Notenbank» eseu
mit Beziehung auf den Pariser Wechselkurs, Zürich, 1901, S. 192 ff.
Digitized by Google
Die Nolenbankfrage in der Schweiz.
28
einer entsprechenden Höhe zu halten*, und setzten ein aus 5 der größten Banken
bestehendes Komitee ein. dem die Aufgabe zugewiesen wurde, einen einheit-
lichen offiziellen Diskontosatz festzusetzen, welcher allen Diskontgeschäften
als Basis dienen sollte. Mit der Einführung des einheitlichen offiziellen Diskonto
satzes wurde eine entschiedene Wendung zu einer Besserung der Verhältnisse
vollzogen. Doch bald schon erwies sich diese Vereinbarung als ungenügend.
Fast alle Notenbanken, mit Ausnahme der Bank von England, betrachten
ihre offizielle Kate nicht als Minimal- sondern als Maximalsatz.1) Sie
gewinnen dadurch die Möglichkeit, ihre offizielle Rate längere Zeit hindurch
stabil erhalten zu können, ohne durch die oft vorkommenden, in der realen
Situation des Geldmarktes ungenügend begründeten lokalen und temporären
Schwankungen des Privatsatzes eine Einbuße am Umfang oder an der
Qualität ihres Wechselportefeuilles erleiden zu müssen: sie kommen dadurch
in die Lage, ihr Diskontogeschäft mehr den Bedürfnissen der einzelnen,
lokalen Geldmärkte anzupassen, ohne deshalb doch ihre einheitliche Diskonto-
politik preiszugeben ; sie steigern ihre Konkurrenzfähigkeit gegenüber den
privaten Bankinstituten, sie erweitern das ihren werbenden Mittel offen-
stehende Operationsgebiet, sie ziehen auch Primabank- und Kommerzdis-
konten in ihr Portefeuille, ohne sich deshalb doch den privaten Instituten
unterzuordnen, ohne ihre den Geldmarkt beherrschende Stellung aufzugeben-
Auch die schweizerischen Notenbanken, die auf dem Diskontomarkte
einer scharfen Konkurrenz der großen Kreditinstitute in Zürich, Basel und
Genf ausgesetzt sind, müssen notwendigerweise ebenfalls einen Privatsatz
handhaben, wenn sie nicht Gefahr laufen wollen, daß ihnen das erstklassige
Wechselmaterial vorweggenommen wird und sie für ihr Portefeuille lediglich
minderwertiges Papier erhalten. Doch ist es klar, daß auch dieser Privatsatz
einheitlich festgesetzt werden mußte, wenn nicht sonst alle Vorteile der
Übereinkunft über den offiziellen Satz verloren gegeben werden sollten. Es
schlossen denn auch im Mai des Jahres 1894 22 Bauken ein Konkordat
zur Festsetzung eines einheitlichen Minimums des Privatdiskontosatzes ab.
Doch schon im Dezember desselben Jahres wurde diese Übereinkunft, der
von Anfang an die beiden Bauken von Neuenburg und die von Aarau,
Solothurn. Liestal und Chur nicht angehörten, aufgehoben, und der alte
zügellose Zustand trat von neuem ein.
Angesichts dieses Mißerfolges ist es begreiflich, daß man die Ange-
legenheit nun ein paar Jahre nihen ließ und nur unter dem Drucke der
fortwährenden Verschlechterung der Valuta sie neuerdings in Angriff nahm.’)
Erst im März des Jahres 1898 versuchten es die Emissionsbanken zum
zweitenmale. ein Einverständnis auf diesem Gebiete zu erzielen, aber schon
im Oktober des Jahres 1900 mußten die damals aufgestellten Bestimmungen
abgeändert werden, und zwar in der Weise, daß die durch das Komitee
erfolgende Festsetzung des Minimums des Privatdiskontosatzes für die ein-
zelnen Banken nicht verbindlich sein sollte; das festgesetzte Minimum sollte
: Landmann. System üer Diskontopolitik. Kiel un-l Leipzig. 190(1, S. 117 ff.
*) GjgftX, a, a. 0. S. 204 ff.
Digitized by Google
24
Lamlmsmn
den Banken telegraphisch mitgeteilt und jeder einzelnen Bank überlassen
werden zu beurteilen, wie weit sie in der Anwendung dieses Satzes gehen
will. Zum Überflufle enthielt die Übereinkunft noch die Bestimmung, daß
jede einzelne Bank lediglich .soviel als möglich“ verpflichtet sei. diese
Minimalgrenze zu beachten, und das Recht habe, .für Bankwechsel und
erstes kommerzielles Papier oder zum Zwecke, ihren Wechselbestand auf
der von ihren Statuten vorgeschriebenen Höhe zu halten, bis 1 4 Proz. unter
dem festgesetzten Minimum zu diskontieren.“
Es bestanden sonach in der Schweiz drei .offizielle* Bankraten: 1. der
sogenannte offizielle Bankdiskont für die breiten Schichten des Handels und
der Industrie; 2. der nicht minder offizielle Privatdiskont für die Wechsel
erstklassiger Kaufleuteund Industriellen und fflr diejenigen, die ihrem Wechsel
eine zweite oder dritte tTnterschrift gehen konnten, auch fßr die Rediskon-
tierungen durch kleinere Bankiers und Banken: 3. der ebenfalls offizielle
Minimaldiskont fflr erstklassige Bankunterschriften.
ln den Jahren 1899/1900 schien sich diese Regelung zu bewähren.
Der große Geldbedarf, der sich in diesen Jahren geltend machte, milderte
den Konkurrenzkampf der Emissionsbanken auf dem Diskontomarkte, dem
Privatsatze war eine untere Grenze gesetzt, wodurch auch der offizielle
Diskontosatz einen größeren Halt bekam, und die daraus resultierende
größere Beherrschung des offenen Geldmarktes kam den Banken in ihren
Anstrengungen zur Bekämpfung der mißlichen Folgen der ungünstigen
Wechselkurse zu statten. Wie alle anderen Vereinbarungen der schweizeri-
schen Emissionsbanken litt aber auch diese darunter, daß sie keinen obliga-
torischen Charakter hatte. Nicht alle Banken schloßen sich dem Konvenium
an, angeblich weil es ihnen nicht möglich gewesen wäre, ihr Portefeuille zu
ergänzen, wenn sie nicht unter das vom Komitee festgesetzte Minimum hinabgehen
dürften. Auch von den 29 Banken, die anfänglich dem Konvenium beitruteu,
konnten sich einige fflr die Dauer dem Regime des Diskontokomitees nicht
unterordnen und erklärten ihren Austritt, wodurch natürlich die den Kon-
veniuinbankon auf dem Diskontomarkte entgegentretende Konkurrenz bedeutend
verstärkt wurde. Zu der Konkurrenz der der Vereinbarung nicht angehörenden
Emissionsbanken und der sonstigen Bankinstitute trat noch die verschiedener
Verwaltungen hinzu, die ihre verfügbaren Kassenbestände in Diskontowechseln
anlegen wollten,1) während anderseits seit Anfang des Jahres 1001 die
geschäftliche Stagnation eine Verminderung des Wechselangebotes nach
sich zog. Die Stellung der dem Konvenium treu gebliebenen Institute
gestaltete sich so schwierig, daß eine neue Revision der Konveniums-
bestimmungen in Aussicht genommen wurde, die den einzelnen Banken
eine größere Bewegungsfreiheit sichern sollte. Diesem vermittelnden Plane
trat jedoch die von einer sehr großen Anzahl der Banken gehegte Abneigung
gegen dieses Konvenium entgegen und in der am 23. November 1901
*) Vor allem kommt Her in Betracht das nicht unbedeutende Diskontogeschkft
der eidgenössischen Staatskasse, dessen Rentabilität dauernd um etwa 1 Proient unter
dem Diskontosatre der Emissionsbanken bleibt, vgl. Landmann, a. a. 0., S. 26 ff.
Digitized by Google
Die Notenbaiikfrage in der Schweiz.
abgehaltenen Generalversammlung der Emissionsbanken wurden die Bestim-
mungen betreffend den Minimalsatz vollständig aufgehoben, wodurch der
frohere Zustand der Zügellosigkeit wieder hergestellt ist.
Die Wirkungen dieser Verhältnisse auf den Diskontoverkehr kommen
am deutlichsten in der realen Gestaltung der Diskontosätze zum Ausdruck.
Zwei Momente möchten wir von diesem Gesichtspunkte ans in den Vorder-
grund rücken. Als ersten die Tatsache, daß es zeitweilig möglich ist, auf
dem offenen Geldmärkte in der Schweiz zu niedrigeren Sätzen zu diskontieren,
als es die der Geldmärkte von Paris, Berlin oder London sind, ohne daß
hierfür ein anderer Grund vorhanden wäre als lediglich die Konkurrenz der
Banken unter einander. Als zweite Wirkung trat die Tatsache hervor, daß
das Verhältnis zwischen dem durchschnittlichen Diskontosatze und der
durchschnittlichen Rentabilität der Wechselanlage in der Schweiz sich
wesentlich anders gestaltet als bei den großen Notenbanken. Während z. B.
die Rechnungsergebnisse für das Jahr 1901 für die Deutsche Reichsbank
einen den durchschnittlichen Üiskontosatz um 005 Proz. übersteigenden
Gewinn des Portefeuilles aufweisen, der der Banque de France deren durch-
schnittlichen Diskontosatz um O'll Proz. überschreitet, steht die Rentabilität
das Wechselportefeuilles der schweizerischen Emissionsbanken um 0'05 Proz.
unter ihrem durchschnittlichen Diskontosatze. Daraus darf zum mindesten der
Schluß gezogen werden, daß der Kreis der Wechsel, die in der Schweiz unter dem
officiellen I »iskontosatze diskontiert werden, viel weiter gezogen ist als dies z. B.
im Deutschen Reiche der Fall ist, ohne daß auch hierfür eine andere Erklärung
gefunden werden könnte als die der Konkurrenz der Banken untereinander.
Diese drei Grundsätze ihrer Politik: das gegenseitige Unterbieten auf
dem Diskontomarkte, die Anlage großer Summen in langfristigen Geschäften
und endlich das Diskontieren beziehungsweise die Erteilung von Lombard-
krediten unter dem offiziellen Satze, ermöglichte es den Banken, größere
Mengen ihrer Noten in Zirkulation zu erhalten, als es den realen Bedürf-
nissen der schweizerischen Volkswirtschaft entsprechen würde. Dies konnten
sie allerdings nur auf Kosten der Elastizität des Notenumlaufes erreichen,
was seinerseits wieder zur Unmöglichkeit führt, zu Zeiten eines gesteigerten
Geldbedarfes dem Markte größere Mittel zur Verfügung zu stellen. Die
nachstehende Tabelle mag hierfür den Beweis erbringen
Ausgewiesene Zirkulation
Schweiz. Emissions-
banken
Deutsche Reichsbank
1800
189S
1901
1890
1895
1901
Mill. Francs
Mill. Mark
1. Durchschnittliche Zirkulation .
152*4
179*2
214*5
983-88
1095-59
1109-26
2. Höchste Zirkulation .....
168*3
189!)
233-6
1131-73
1320-08
1465-78
3. Niedrigste Zirkulation ....
144- 1
169*5
205*5
886-05
968*21
1044*82
4. Spannung zwischen 2 und 2 .
24*2
20-4
28-1
245-68
351-87
420*96
5. Spannung in Proz. der durch-
schnittlichen Zirkulation . . .
15-92
11*39
13 12
26-19
82-13
37*95
Digitized by Google
26
Lnndmann.
Stellt mau diese Zahlenreihen nebeneinander, so tritt auf den ersten
Blick die Erscheinung entgegen, daß die in ihnen für die schweizerischen
Emissionsbanken zum Ausdruck kommende Entwickelungstendenz eine völlig
andere Kichtung einschlfigt. als die gleiche Tendenz im Geschäfte der
Heichsbank. Während die Spannung zwischen dem Maximum und dem
Minimum der Notenzirkulation bei den schweizerischen Emissionsbanken
im Laufe der letzten elf Jahre von 15 9 auf 13-1 Proz. sank, stieg sie zur
gleichen Zeit bei der Heichsbank von 26'1 auf 3T-0 Proz. Uber die
Bedeutung dieser Verschiebung kann keine Meinungsverschiedenheit obwalten,
sobald man sich den unbestrittenen Grundsatz in Erinnerung ruft, daß es
eine der wichtigsten Aufgaben der Notenbankpolitik ist, dem Zahlungsmittel-
Umlauf. ohne seine Sicherheit zu beeinträchtigen, eine größere Elastizität
zu verleihen, als sie ein rein metallischer Zahlungsmittelumlauf besitzen
kann. Die Schwankungen des Geldbedarfes, sowohl innerhalb längerer
Perioden als auch innerhalb der einzelnen Jahre sind in dem gegenwärtigen
Entwickelungsstadium der Volkswirtschaft gegenüber den früheren Ver-
hältnissen außerordentlich groß geworden. Der Grad der Möglichkeit aber,
diesen Schwankungen des Bedarfes nachzukommen hängt für eine Notenbank
vom Grade der Elastizität ihres Notenumlaufes ab: der der schweizerischen
Emissionsbanken sinkt kontinuierlich von Jahr zu Jahr.1)
Treffend charakterisierte Kalkmann diese Politik mit folgenden Worten:
.Indem die Notenbanken bei geringer Nachfrage nach Umlaufsmittel
eine möglichst große Zahl ihrer Noten in den Umlauf pressen, berauben
sie sich der Möglichkeit, bei vermehrter Nachfrage den Bedürfnissen des
Verkehrs entgegenzukommen; denn dem Notenumlauf ist eine starre obere
Grenze gezogen; die einzelne Bank daif das Kontingent, das ihr von Bundes
wegen bewilligt ist, nicht überschreiten. Unter solchen Umständen sind denn
die Banken genötigt, um ihre Geschäftsverbindung aufrecht erhalten zu
■) Der Vollständigkeit halber mag au dieser Stelle erwähnt werden, daß die für
das Jahr 1901 mitireteilten Zahlen nicht mehr als völlig zuverlässige Gradmesser der
Spumiungafühigkeit des schweizerischen Banknotcnumlaufes angesehen werden dürfen. —
Sehen in der zweiten Hälfte der 90er Jahre tauchte in den Kreisen der Emissionsbanken
der Plan auf. in der Bekämpfung der ungünstigen Wechselkurse die Diskontopolitik
durch eine direkte Notenpolitik zu unterstützen. In Zeiten eines großen Geldbedarfes
— wurde Ausgeführt — besitzen die Emissionsbanken bei hohen Diskontosätzen eine
gewisse Kontrolle über den Geldmarkt; bei sinkendem Bedarf sinken auch die Sätze, was
daun ungünstig auf die Wecheelkurse eiuwirkt. Um dem vorzuheugen. wurde beantragt,
sei in seichen Zeiten die Notenemission zu reduzieren; der dadurch entstehende Verlust
konnte durch höhere Diskontosätze wettgemaeht werden. Der Vorschlag begegnete zuerst
einer lebhaften Opposition seitens der ihren Gewinn bedroht sehenden Banken, die erst
durch die ständig sich verschlimmernden Wechselkurse bewogen werden konnten, ein
Bpczialabkoimneu zu treffen, dein anläßlich der am 9. Juni 1900 in Basel abgehaltenen
Generalversammlung 27 Institute beitrsten. .Das Komitee ist befugt, sobald die allgemeine
Lage des Geldmarktes es erheischt, nnd die Summe der Noten in den Kassen der
Emissionsbanken stark anwächat, eine Beschränkung der gesamten Notenzirkulation
anzuordnen. Eine einmalige Beschränkung darf 5 Proz. dor bewilligten Emissiotissumme
nicht übersteigen, eine weitere Beschränkung ist vor Ablanl von vier Wochen vom
Datum der vorhergehenden nicht zulässig, die Beschränkung daTf im ganzen 10 Proz. der
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Die Notenbankfiage in der Schweiz.
27
können, ihre Haibestände anzugreifen, was ihnen aber, da ihr Vorrat das
gesetzliche Minimum nicht allzusehr zu überschreiten pflegt, sehr unangenehm
ist Zur Beschaffung von Bargeld präsentieren sie sich gegenseitig ihre
Roten zur Einlösung, sie jagen sich gegenseitig die Barschaft ab und ver-
suchen aus dem In- und Ausland Barmittel an sich zu ziehen. Allgemein
wird über Notenmangel geklagt, woraus dann einzelne Notenbanken die
Notwendigkeit ableiten, ihr Aktien- oder Dotationskapital zu erhöhen, um
sich vom Bunde ein größeres Kontingent bewilligen lassen zu können.
Damit fängt aber der Tanz von vorne an; die neuen Noten müssen in den
Umlauf gebracht und darin erhalten werden, dazu noch gewöhnlich in einer
Zeit, in welcher der Geldbedarf wieder abgenommen hat: die Banken unter-
bieten sich abermals durch niedrige Diskontosätze; es kommt wiederum zu
Auswanderung von Kapital und zu Goldabflüssen ins Ausland; und wenn
dann eine stärkere Geschäftstätigkeit einen größeren Umlauf verlangt, so
stellt sich auch der Notenmangol wieder ein, womit das Signal zu aber-
maliger Erhöhung der Emission gegeben ist. Infolgedessen hat die Schweiz
immer zu viel Geld, wenn sie keines braucht, und keines, wenn sie desselben
bedarf. So geht es nun schon seit fünfzehn Jahren: im ersten Halbjahr Geldüber-
fluß. im zweiten HalhjahrNotenmangel! Jahr für Jahr wird die Emission erhöht,
Jahr für Jahr wachsen der effektive und der ungedeckte Notenumlauf, und Jahr
für Jahr steht der Wechselkurs auf Frankreich, dessen Diskontosatz eine
große Stabilität zeigt, im ersten Halbjahr erheblich schlechter als im zweiten.*
Nach dieser Übersicht der Entwickelung des schweizerischen Notenbank-
wesens unter dem Gesetze vom 8. März 1881 wollen wir noch zwei Seiten der
Frage erörtern, die uns ein abschließendes Urteil ermöglichen sollen über das
Gesetz selbst und seine Wirkungen : wir untersuchen den Grad der Liquidität der
schweizerischen Emissionsbanken *) und sodann die Frage, ob und bis zu welchem
bewilligten Emissionssumtne nicht ubersteigen.* Über die Art der Durchführung dieser
Vereinbarung mögen die nachfolgenden Zahlen für das Jahr 1901 ein Urteil erlauben.
Datum
Zahl
1 der Tu»
He*rbrtükno( in Prot.
Em'aaioDMUinm*
1. Jänner bin
25. Jänner . .
25
—
25. Jänner „
1. März . . .
.85
5
1. März *
25. März . . .
24
10
25. März *
1. Juni . . .
«0
•V
1. Juni *
23. September
114
10
23. September „
18. Dezember .
86
5
18. Dezember „
31. Dezember .
1.8
361
—
Es liegt durchaus nicht in unserer Absicht, die günstigen Wirkungen dieses
Spezialabkommens leugnen zu wellen; anderseits dürfen wir aber nicht verschweigen,
daü wir seinen Wert allzu hoch nicht veranschlagen, und zwar aus dem Grunde, weil
das Abkommen einen freiwilligen Charakter trägt, jede einzelne von den ihm beigetretenen
27 Banken jederzeit austreten kann, und die bisherigen Erfahrungen mit derartigen
freiwilligen Vereinbarungen der schweizerischen Emissionsbanken es befürchten lassen,
daü es gerade im Augenblicke, wo es am notwendigsten wire, den Dienst versagt.
*) Schweizer, Zur Beurteilung des schweizerischen Notenbankwesens, Zeit-
schrift für schweizerische Statistik, 1888, 2. Quartalheft, und Speiser, Einige Bemerkungen
betreffend die Schrift von F. F. Schweizer: .Zur Beurteilung des schweizerischen
Noetnbankwesens“, Zeitschrift für schweizerische Statistik. 1888. 8. Quartnlbcft.
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28
Landmann.
Grade sie der vornehmsten Aufgabe einer Notenbank, der Verteidigung und
der Hochhaltung der Valuta ihres Landes, gerecht zu werden vermochten.
Deckungsvsrhfiltnisse der schweizerischen Emissionsbanken auf Grund
der Generalbilanzen vom 31. Dezember der Jahre 1885 und 1901.
1885
1901
Passiven.
In Mill
Francs
60 Pro», der eigenen Noten in Zirkulation
82
134
Andere kurzfällige Schulden
89
188
Kurzfälliger Teil der Spareinlagen . *
39
118
Total der stets fälligen Verbindlichkeiten
209
440
Aktiven.
VerfQgbare Barschaft
13
22
Andere Kassenbestände und kurzfällige Guthaben
19
62
Verfügbare Kasse und kurzfäJlige Guthaben
32
84
Portefeuille (Diskontwechsel und Devisen)
191
233
Bankmäßige Deckung
223
317
In runden Prozenten
Deckung der ungedeckten Zirkulation durch die verfügbare Barschaft
16
16
w * * * und der kurzfälligen Ver-
bindlichkeiten dnreh die verfügbare Barschaft
6
5
Deckung der ungegeckten Zirkulation und der kurzfälligen Schulden
durch die verfügbare Barschalt und die kurzfälligen Guthaben
15
18
Bankmäßige Deckung aller stets fälligen Verbindlichkeiten . .
106
95
Zur Ergänzung der vorstehenden Zahlen fügen wir noch eine Über-
sicht des Gesamtstatus der schweizerischen Emissionsbanken am 81. Dezem-
ber 1001 bei, der nach anderen Grundsätzen als die vorstehende Tabelle
aufgestellt ist. In der letztem wurden, gemäß den Bestimmungen des Batik-
gesetzes, 40 Proz. der Notenzirkulation, die nicht der freien Verfügung der
Bank unterstehen, von der Summe der Kassenbestände, und ebenso auch
der gleiche Betrag von der Summe der Notenzirkulation in Abzug gebracht.
In der nachfolgenden Tabelle ist diese Position an beiden Stellen mit-
berücksichtigt worden, wodurch die Möglichkeit gegeben ist, die Wirkungen
der erwähnten Gesetzesbestimmung auf die Liquidität der Banken am deut-
lichsten wahrzunehmen. Es schien uns außerdem geboten, uns bei der
nachfolgenden Tabelle nicht lediglich mit der Reproduktion der vom Inspektorat
der schweizerischen Emissionsbanken aufgestellten Generalbilanz aller 36
Banken zu begnügen, vielmehr sollte diese Generalbilanz durch drei weitere
ergänzt werden, von welchen jede ein Urteil über eine der drei, gesetzlich
zulässigen Bankkategorien erlaubt, und die auf Grund der Jahresschlußbilanzen
der einzelnen Banken berechnet wurden.
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Generalstatus den schweizerischen Emissionsbanken am 31. Dezember 1901.
30
I.tn<lmami.
Deckungsverhältnisse nach Maßgabe des Generalstatus vom
31. Dezember 1901.
Art der Notendeckung
Alle
Banken
Kantons-
garantie
Effekten-
hinterlage
Wechsel-
portefeuille
Deckung in
Prozenten
Deckung durch den Barvorrat:
a) der Notenzirkulation * . . .
52-82
00*69
4607
5066
b) der Notenzirkulation und der kurzfälligen
Schulden
16-24
10-93
36-28
1825
c) aller .Schulden an Dritte
6 10
4-07
85-78
750
Deckung durch Barvorrat, sonstige
Kassen bestände und kurz fällige Gut"
haben:
a) der Xotenzirknlation und der kurzfälligen
Schulden
4844
48 45
41'87
46 11
b) aller .Schulden an Dritte
16-82
21-68
41-41
1903
Bankmäßige Deckung:
a) der Notenzirkulation und der knrzfälligen
Schulden
79-81
79 63
9670
82 13
b) aller Schulden an Dritte
29-85
30*41
95-23
83 77
Nach Abzug von 40 Proz. von der Noten-
zirkulation und vom Kassen bestand:
Deckung durch den Barvorrat:
der Notenzirkulat ion und der kurzfälligen
Schulden
6-77
552
832
6*00
Deckungdnrch Kasse und kurzfällige
Guthaben:
der Notenzirkulalion und der kurzfälligen
Schulden
32-54
54 05
15*27
33-60
In mehr als einer Beziehung erscheinen uns die vorstehenden Zahlen
beachtenswert. Vor allem drängt sich uuserer Aufmerksamkeit die Tatsache
auf, daß die bankmäßige Deckung aller kurzfälligen Verbindlichkeiten von
106 auf 95 Proz. zurüekging und daß die Progression im Steigen der
Position »verfügbare Barschaft* und „kurztällige Guthaben* fast um die
Hälfte langsamer war als die der Positionen .ungedeckte Notenzirkulation*
und „kurz fällige Verbindlichkeiten*; nicht unbedeutend erscheint uns dabe
auch der Umstand, daß innerhalb dor letzterwähnten Position es gerade
der kurzfällige Teil der Sparkasseneinlagen war, der die stärkste Ver-
mehrung erfuhr, was qualitativ die Deckung ungünstiger erscheinen läßt
als dies hei bloß quantitativer Betrachtung der Zahlenverhältnisse den
Anschein hätte.
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Die Nntenbankfrage io der Schweiz.
31
Wie nicht anders zu erwarten, gestalten sich die Verhältnisse bei
den einzelnen Bankkategorien sehr verschieden. Während die, die metallisch
ungedeckten 60 Proz. der Notenzirkulation durch Wechsel deckenden Banken
in jeder Beziehung nahe an den Status heranreichen, den man als den
Normalstatus einer Notenbank bezeichnen darf, weichen die diese 60 Proz.
durch Kantonsgarnntie deckenden Banken von diesem Normalstatus am
weitesten ab. Bei den ersteren sind Notenzirkulation und alle sonstigen kurz-
fälligen Verbindlichkeiten mit 35*73 Proz. metallisch gedeckt, bei den
letzteren mit 16*21 Proz.; die metallische Deckung aller Schulden an Dritte
erreicht bei den ersteren 36 bei den letzteren bloß 610 Proz., die bank-
mäßige Deckung aller Schulden an Dritte hei den ersteren 95*23 Proz. bei
den letzteren bloß 29*85 Proz. Zieht man endlich die gesetzlich festgelegten
40 Proz. der Notenzirkulation von der Summe der Kassenbestände ab, so
weisen bei den Wechselbankeu die verbleibenden 60 Proz. der Noten-
zirkulation und die kurzfälligen Verbindlichkeiten eine metallische Deckung
von 8*32 Proz., bei den Banken mit Kantonsgarantie eine solche von 6*77
Proz. auf.
Diese Verschiedenheiten sind aber nicht allein fflr die einzelnen,
schwachsituierten Banken gefahrdrohend, sondern gefährden die Lage des
ganzen schweizerischen Notenbankwesens. Wenn einige Banken hundert-
tausenden von sofort rOckzahlbaren Passiven einen verfügbaren Kassenhestand
von nur wenigen tausend Francs gegenüberzustellen vermögen, so stellen sie
hierdurch nicht allein ihre eigene Liquidität in Frage sondern gefährden auch
die Stellung der Gesamtheit; den es unterliegt keinem Zweifel, «laß wenn bei
einer einzelnen Bank die Fatalität der. wenn auch nur vorübergehenden
Zahlungsstockung eintreten sollte, die Wirkungen einer Bolchen auch für
alle anderen Banken sich fühlbar machen würden, und zwar in solchem Maße,
daß auch für die Zahlungsbereitschaft der mit stärksten Barbeständen aus-
gerüsteten Institut« sich, wenn auch allerdings nur vorübergehend, Schwierig-
keiten ergeben würden.
Fassen wir nun nochmals den Gesamtstatus aller Banken ins Auge
so erregt vorerst der Umstand unsere Aufmerksamkeit, daß von je 100
Francs der Aktiva nur 16*16 auf die Barbestände entfallen, nur 12*65 auf
das Wcchselportefeuille, und der ganze Best auf langfristige Anlageu, von
welchen wieder die am schwierigsten realisierbaren Hypothekenanlagen, die
der Hauptsache nach die Position .andere Forderungen auf Zeit* bilden,
57*08 Proz. ausmachen. Auch hier ist nicht außer Acht zu lassen, daß diese
Gliederung der Anlage sich bei den einzelnen Kategorien verschieden
gestaltet. Bei den Banken mit Wechseldeckung der Noten entfallen von je
100 Francs der Aktiven 63*31 auf die bankmäßige Deckung, 1204 auf
Effekten, und vom verbleibenden Best nehmen die .anderen Forderungen
auf Zeit* nur 9*83 Francs in Anspruch; hingegen beträgt von 100 Francs
der Aktiven bei den Banken mit Kantonsgarantie die bankmäßige Deckung
nur 26*68 Francs, die EflVktenanlage 7*09 Francs, und die .anderen For-
derungen auf Zeit*, der Hauptsache nach also die Hypothekuranlagen,
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32
L&mlmann.
62-90 Francs. In der Mitte zwischen den beiden, ebenso ihrer Bedeutung
als der Qualität ihres Status nach, stehen die Banken, die die metallisch
nicht gedeckten 60 Proz. ihrer Notenzirkulation durch Hinterlage von Wert-
papieren den Koteninhabern sicherstellen.
Zum Zwecke einer abschließenden Beurteilung dieser Zahlen stellen
wir dem Gesamtstatus der schweizerischen Emissionsbanken vom 31. De-
zember der Jahre 1886 und 1901 den der Deutschen Beichsbank, der
Banque de France und der Belgischen Nationalbank von gleichem Datum,
und den der Niederländischen Bank vom 31. März der Jahre 1886 und 1902
gegenüber. (Siehe Tabellen S. 35 und 36.)
Zu allererst drängt sich unserer Beobachtung bei Betrachtung dieser
Zahlen die Erscheinung auf, daß auf der ganzen Linie die Deckungsver-
hältnisse eine Verschiebung nach unten erfuhren. Es sank die metallische
Deckung der Noten bei den schweizerischen Emissionsbanken von 53 auf
51 Proz., bei der Beichsbank von 66 auf 59 Proz., bei der Bank von
Frankreich von 88 auf 87 Proz., bei der Belgischen Nationalbank von 27
auf 18 Proz. und bei der Niederländischen Bank von 77 auf 61 Proz.; es
sank ferner die bankmäßige Deckung aller kurzfälligen Schulden bei den
schweizerischen Emissionsbanken von 111 auf 82 Proz., bei der Deutschen
Beichsbank von 96 auf 81 Proz., bei der Banque de France von 87 auf
86 Proz.. bei der Belgischen Nationalbank von 95 auf 91 Proz. und hei der
Niederländischen Bank von 90 auf 86 Proz. Fragen wir nach den Ursachen
dieser Verschiebungen, so erhalten wir eine für die Beurteilung der Qualität
des Stätus für die einzelnen Institute verschiedene Antwort. Wir sehen
hierbei von der Belgischen Nationalhank ab, die in mancher Beziehung eine
Ausnahmstellung einnimmt, da sie einen großen Teil ihrer speziellen Noten-
deckung statt in gesetzlicher Barschaft oder Barren in Devisen halten darf;
ebenso sehen wir von der Niederländischen Bank ab, bei der die Ver-
schiebungen sich in sehr engen Nahmen bewegen und die überhaupt keine
bedeutendere Änderungen ihres Status aufweist. Es verbleiben demnach
die schweizerischen Emissionsbanken, die Banque de France und die Beichs-
bank, für die dieses Sinken des Deckungsverhältnisses erklärt werden soll.
Ein Blick auf die tabellarische Übersicht genügt, um die Antwort zu
finden: bei der Banque de France und der Deutschen Beichsbank rührt die
Verschiebung von der außerordentlich raschen Vermehrung der dem Giro-
verkehr zu Grunde liegenden unverzinslichen Depositengelder her, die auf
der Sollseite der Bilanz eine bedeutende Steigerung der Position der stets
Billigen Verbindlichkeiten nach sich ziehen, während ihnen auf der gegen-
überstehenden Seite keine entsprechende Vermehrung der stets verfügbaren
Mittel entspricht, und auch aus banktechnischen Gründen nicht in gleich
hohem Grade wie den Noten zu entsprechen braucht; denn es ist ehen der
durch diese unverzinslichen Depositeneinlagen getragene Giroverkehr, der
die Differenz zwischen der Summe der Umsätze auf der einen und der
Summe der für diese Umsätze benötigten Zirkulationsmittel auf der
anderen Seite immerfort erweitert und dadurch der Bank die Möglichkeit
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Schweizerische Emissionsbanken und ausländische Notenbanken.
Summarische Bilanzen auf Jahresschluss 1886 und 18U1.
Die Notcnbankfra^e in der Schweiz.
33
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Gliederungs- und Deckungsverhältnisse nach Maßgabe der summarischen Berichte.
34
Landm&nn.
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Die Noten bank frage in der Schweis.
35
gibt, hei der Zusammensetzung ihrer bankmäßigen Deckung das Verhältnis
zwischen Bargeld und Wechselportefeuille zu Gunsten des letzteren zu
verschieben. Von je 100 Francs der Aktiven betrug denn auch der Kassen-
bestand bei der Reichsbank im Jahre 1886 58 Francs, im Jahre 1901
46 Francs, während gleichzeitig der Anteil des Wechselportefeuilles an
der Gesamtsumme der Aktiven von 32 auf 44 Proz. stieg. — Anderswo liegt
die Erklärung bei den schweizerischen Emissionsbanken. Mit wenigen Aus-
nahmen gehört der Giro- und Umschreibuugsverkehr nicht in den Kreis
ihrer Geschäfte und es erscheint deshalb von vornherein ausgeschlossen,
daß bei ihnen der gleiche Grund wie bei den beiden vorerwähnten Banken zur
Erklärung der Verschiebung der Deckungsverhältnisse herangezogen werden
könnte. Bei ihnen liegt der Grund in einer von der der anderen Banken
völlig abweichenden Entwickelung der Gliederung der Anlage auf der einen
und der Entwickelung der Passivgeschäfte auf der anderen Seite. Wohl
stieg bei ihnen die Summe der Kassenbestände und der disponiblen Gut-
haben von 96 auf 180 Mill. Francs, d. h. fast um das Doppelte, aber
andererseits stieg auch die Summe der Notenzirkulation und der stets fälligen
Verbindlichkeiten ebenfalls um fast das Doppelte, während das Wechsel-
portefeuille lediglich von 203 auf 223 Mill. Francs stieg, und somit die
bankmäßige Deckung der kurzfälligen Verbindlichkeiten von 111 Proz. im
Jahre 1886 auf 82 Proz. im Jahre 1901 sinken mußte. Der völlig ver-
schiedenartige Charakter dieser Verschiebungen kommt am deutlichsten in
der Tatsache zum Ausdruck, daß während die bankmäßige Deckung der
Banknoten bei der Deutschen Reichsbank von 124 auf 130 Proz. stieg, sie
hei den schweizerischen Emissionsbanken von 223 auf 185 Proz. sank, ob-
wohl die Banknoten bei der Reichsbank immer noch 71 Proz. aller kurz-
fälligen Verbindlichkeiten, bei den schweizerischen Emissionsbanken nur
42 Proz. derselben bilden. Ebenso sehen wir auf der Seite der Aktiven die
ungünstigste Zusammensetzung im Statns der schweizerischen Emissions-
banken. Von je 100 Francs der Aktiven entfallen auf die bankmäßige
Deckung bei der Deutschen Reichsbank 85, bei der Banque de France 81,
bei der Belgischen Nationalbank 81, bei der Niederländischen Bank 77
und bei den schweizerischen Emissionsbanken 24 Francs.
Die einzige Lichtseite, welche die schweizerischen Emissionsbanken
aufweisen, ist das Verhältnis zwischen den eigenen Geldern ' Aktienkapital
plus Kevervefond) und den Schulden an Dritte: dies ist darauf zurOckzu-
fflhren, dass das Gesetz vom 8. März 1881 das Notenkontingent jeder ein-
zelnen Bank auf die doppelte Höhe des Aktien- beziehungsweise Dotations-
kapitals limitiert, was in der Folge ein starkes Steigen der eigenen Bank-
kapitalien bewirkte. Die eigenen Gelder bilden bei den schweizerischen
Emissionsbanken rund 14 Proz. der Passiven, hei der deutschen Reichshank
nur rund 8 Proz., bei der Banque de France kaum 5 Proz.; es liegt außer
aller Wahrscheinlichkeit, auch wenn sehr pessimistisch gerechnet wird, daß
annähernd der siebente Teil aller Aktiven der schweizerischen Emissions-
banken endgültig verloren gehen könnte — und für so viel bieten die eigenen
8*
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36
Landmann.
Gelder Sicherheit. Die schließlich« Liquidität der Banken, auf die es
den Gesetzgebern im Jahre 1881 hauptsächlich ankam. erscheint demnach
über jeden Zweifel sichergestellt. Dieses Resultat wird auch durch die
Prüfung der einzelnen Posten auf ihre Disponibilität hin nicht beeinträchtigt.
Es ist aber auch nie in Frage gestellt worden.
Für die anderen in Frage kommenden Punkte ergibt die vergleichende
Untersuchung folgendes Resultat: 1. bezüglich der Bardeckung der
Noten Zirkulation stehen die schweizerischen Emissionsbanken hinter
der Keichsbank, der Ranque de France und der Niederländischen Bank, und
nur die Belgische Nationalbank weist hierfür ein noch ungünstigeres Ver-
hältnis auf; 2. bezüglich der metallischen Deckung aller kurz-
fälligen Schulden nehmen sie ebenfalls den vierten Platz ein und
werden auch hier nur von der Belgischen Nationalbank unterboten; 3. be-
züglich der metallischen Deckung aller Schulden an Dritte
nehmen die schweizerischen Emissionsbanken den letzten Rang ein: sie
beträgt bei ihnen 7 Proz.. bei der Belgischen Nationalbank 15 Proz., bei
der Reichsbauk 42 Proz., bei der Niederländischen Bank 60 Proz., bei der
Banque de France 69 Proz.; 4. bezüglich der bankmäßigen Deck'ung
aller Schulden nehmen die schweizerischen Emissionsbanken ebenfalls
den letzten Rang ein, und es ist hier die Differenz zwischen ihnen und den
sonstigen Banken am allergrößten: sie beträgt 33 Proz. gegenüber einer
zwischen 90 und 81 Proz. sich bewegenden Deckung bei den vier übrigen
untersuchten Instituten.
Wir fassen das Ergebnis dieser Untersuchungen in den Worten zu-
sammen: der Zweck des Gesetzes vom 8. März 1881, die Noteninhaber vor
definitiven Verlusten zu bewahren, ist in vollem Umfange erreicht worden;
von dem Normalstatus einer Notenbank, der nicht bloß die definitive, sondern
die aktuelle Liquidität der Bank jederzeit sichert, haben sich die schweizerischen
Emissionsbanken seit dem Inkrafttreten des Gesetzes je länger je mehr
entfernt.
Der Wertgang der schweizerischen Valuta kommt am deutlichsten in
der Entwickelung des Kurses der Devise Paris zum Ausdruck. Paris ist
der Platz, auf dem über den weitaus größten Teil der schweizerischen
Verbindlichkeiten im internationalen und besonders im überseeischen Ver-
kehr abgerechnet wird. Die meisten Bezüge von Korn, Baumwolle, Seide,
Kaffee, Öl, Petroleum u. s. w., die aus Italien, Nord- und zum Teil auch
Südamerika, Rumänien, Rußland stammen, können nur durch Rimessen auf
Paris reguliert werden; ein Teil der Bezüge, namentlich der aus Indien
und Südamerika, wird zwar in London zahlbar gestellt, im Resultate aber
fast stets durch Vermittlung des Pariser Platzes beglichen. Betrachten wir
nun die Entwickelung des französischen Wechselkurses, so bietet sich uns
ein überraschend ungünstiges Bild dar.
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Die Notenbankfrage in der Schweiz.
87
Jahr
Durchschnittlicher
Kurs
Niedrigster
Kurs
Höchster
Kurs
1889 .
. . . 10014
99-90
100-32
1890 .
. . . 10016
100-00
100-32
1891 .
. . . 100-22
100-00
100-45
1892 .
. . . 10010
9985
100-31
1893 .
. . . 10013
99-90
100-39
189 t .
. . . 100 04
99-89
100-26
1895 .
. . . 10010
99S5
100-34
1896 .
. . . 100-24
99-85
100-48
1897 .
. . . 100-35
100-00
100-69
1898 .
. . . 100-36
10012
100-71
1899 .
. . . 100-49
10022
100-80
1900 .
. . . 100-54
100-29
100-80
1901 .
. . . 100 -14
9975
100-52
Diese Zahlen sprechen eine selten deutliche Sprache. Sie bezeugen,
daß der Kurs der Devise Paris auf den schweizerischen Börsen seit dem
Jahre 1804 bis inkl. 1900') in einem ununterbrochenen Steigen begriffen
ist; er erreichte im Jahre 1900 einen Durchschnittsstand, der höher ist, als
der höchste Kurs der Jahre 1889 — 1896, und auch der niedrigste Kurs
des Jahres 1900 steht über dem Goldpnnkte und ist höher als der Durch-
schnittskurs der Jahre 1889 — 1896.
Vergleichen wir nun mit dem Kurse der Devise Paris die Kurse auf
London und auf die deutschen Bankplätze, so ersehen wir, daß zwischen
den beiden letzteren und dem erstgenannten ein vollständiger Parallelismus
vorherrscht.
Jahr
Durchschnittlicher Jahreskurs der Devisen auf
Paris >)
London *)
Deutsche Bankplätze4)
1892 .
. . 10013
100-72
12354
1893 .
. . 10013
100-84
123-63
1894 .
. . 10004
100-64
123-38
1895 .
. . 10010
100-96
123-51
1896 .
. . 100-24
100-92
123-71
1897 .
. . 100-35
100-92
123-88
1898 .
. . 100-36
10140
12106
1899 .
. . 100-49
101-32
12391
1900 .
. . 100-54
101-04
123-48
1901 .
. . 10014
100-76
123-33
Zur Erklärung dieser steigenden Tendenz der auswärtigen Wechselkurse
wurde vor allem die dauernde Steigerung der Passivität der schweizerischen
*) Die Besserung des Jahres 1901 findet ihre ursächliche Erklärung bei der Dar-
stellung der Geldmarktverhältnisse des überhaupt eine Ausnahmestellung einnehmenden
Jahres 1901 auf 8. 48. 47.
7) Für 100 Francs.
*) Für 4 Pf. Sterl.
*) Für 100 M.
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88
Land mann.
Handelsbilanz und als deren Folge eine ungünstige Gestaltung des Saldos
der Zahlungsbilanz herangezogen.
Es ist bekannt, daß die schweizerische Handelsbilanz sich in den
letzten 15 Jahren wesentlich verschlechtert hat. Eine Keilte der das Land sie
umgebenden Staaten ist zum Schutzzoll flbergegangen und es konnte in der
Folge eine Reihe von Artikeln nicht mehr in den früheren Quantitäten oder
überhaupt gar nicht mehr nach Frankreich. Deutschland, Österreich und
Italien ausgeführt werden; auf der anderen Seite nahm die Einfuhr der
fremden Produkte stets zu und es konnte nicht ausbleiben. daß das Saldo
der Handelsbilanz ein immer größeres Minus aufweist. Die Mehreinfuhr,
die im Jahre 1885 bloß 47 Mil). Francs betrug, stieg bis zum Jahre 1899
bis auf 363 Mill. Francs. Zur Beurteilung dieser Ziffern darf allerdings
nicht unerwähnt bleiben, daß die Steigerung der Mehreinfuhr nur zum
weitaus geringsten Teile auf die Steigerung der Einfuhr von Fabrikaten
zuröckzuführen ist, vielmehr in der Hauptsache ihren Grund in der seit
Mitte der 90er Jahre in der Schweiz vor sich gehenden bedeutenden wirt-
schaftlichen Expansion findet, die die Festlegung größerer Mittel in aus-
ländischen Maschinen etc., eine gesteigerte Bautätigkeit und einen sehr
gesteigerten Bedarf nach ausländischen Rohstoffen und Halbfabrikaten
nach sich zog. Gegenwärtig sind auch schon die Früchte der Gründung
neuer und der Erweiterung der bestehenden Industrien zu erblicken. Seit
Mitte des Jahres 1898 ist der Export der Schweiz unausgesetzt von Quartal zu
Quartal gestiegen; wäre nicht der gewaltige Aufschlag in den Preisen der Roh-
stoffe eingetreten, so wüide schon int Jahre 1899 eine Abnahme der Mehreinfuhr
zu konstatieren gewesen sein; trotz dieser, noch 1900 andauernden Hausse sank
der Betrag der Mehreinfuhr von rund 363 Mill. Francs im Jahre 1899 auf
375 Mill. Francs im Jahre 1900 und auf 213 Mill. Francs im Jahre 1901.
Betrachten wir die ziffermüßige Entwickelung des Saldos der Handels-
bilanz mit der Entwickelung des französischen Wechselkurses, so ist ein
Parallelismus zwischen den beiden Entwickelungsreihen unverkennbar.
Jahr
Einfuhr (
1
Ausfuhr
übem-hull
der Einfuhr
Mehreinfuhr
in Proz. der
Durch*
schnittakure
der Devise
i n
Mill. F r a n c 8
auf Paris
1895
915*85
663 8G
252-49
381
100-10
1896
993-85
668*26
305-59
457
100-24
1897
1081-21
693-17
338-04
48-8
100-35
1898
1065-30
728-82
841-47
47-2
100-36
1899
1159 94
796-01
863-93,
31-5
100-49
1900
1111-11
836-08
27.V03
32-8
100-54
1901
1050 00
836-56
213-43
25-5
100-14
1902')
529-
417-85
111*16
26-8
100 39
*) Erstes Halbjahr; provisorische Werte.
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Die Notenbankfrage in der Schwein.
39
Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß diesem Parallelismus ein
Kausalnexus zwischen den beiden Erscheinungen, der Verschiebung des
Saldos der Warenbilanz und der Gestaltung der auswärtigen Wechselkurse, zu
Grunde liegt. Zu ihrer Erklärung diente in der Schweiz längere Zeit hindurch
eine .Verschulduiigstheorie*, die mit einer scharfen Zuspitzung auf die
Warenbilanz am geschicktesten von Dr. Geering1' vertreten wurde; er
erblickt in der Handelsbilanz den ziffermäßig am sichersten greifbareu
und fflr die Schweiz den weitaus wichtigsten Teil der Zahlungsbilanz
und nimmt daher keinen Anstand, die Bewegung der schweizerischen
Wechselkurse im besondern Maße vom Saldo der Handelsbilanz abhängig
zu erklären.
Gegen Ende der !>0er Jahre beginnen die der G e e r i n g’schen Theoiie
gegenflberstehendcn skeptischen Stimmen laut zu werden.’) Der Jahresbericht
des schweizerischen Handels- und Industrievereines fflr das Jahr 1898 bemerkt:
,Es scheint fast, als ob die ungflnstige Handelsbilanz der Schweiz gegenüber
dem Auslande zur Begründung der Entwertung der Valuta nicht mehr aus
reichte.* Die weitere Entwickelung scheint die Geering’sche Theorie
nicht zu stützen: nach der in den Jahren 1899 und 1900 eingetretenen
beispiellosen Besserung der schweizerischen Handelsbilanz ist der durch-
schnittliche Jahroskurs der Devise Paris nicht entsprechend gesunken, und
sein Sturz im Jahre 1901 kann nicht ausschließlich durch die Besserung
der Handelsbilanz erklärt werden. — In einer anderen Variante wurde die
Verschuldungstheorie von W. Speiser vertreten, der im Gegensätze zu
Geering den Hauptnachdruck nicht auf die Passivität der Schweiz im
Warenverkehr«, sondern auf die Passivität in der internationalen Kapital
bilanz legte. Er schiebt die starke Verschuldung der Schweiz dem AuBlande
gegenüber in den Vordergrund, die auf die starke Beteiligungen ausländischer,
besonders französischer Kapitalien an schweizerischen Unternehmungen, und
auf den sehr bedeutenden Anteil der im Auslande, speziell in Frankreich
untergebrachten schweizerischen Wertpapiere zurflekzufflhren ist. Das durch
die, die Unternehmungslust im eigenen Lande einschläfernde Wirtschafts-
politik Herrn M e 1 i n e s freigewordene französische Kapital habe sich dem
Auslande, und aus einer Beibe teils historischer, teils wirtschaftlicher
Gründe in ganz besonders hohem Grade der Schweiz zugewendet, und zwar
ebenso in der Form fester Anlagen, als zur vorübergehenden Verwendung.
Die in der Folge nach Frankreich zu leistenden Zinszahlungen, die nach
Frankreich remittierten Dividenden und endlich die gelegentlich vorkommenden
Kapitalsrückzahlungen steigern in sehr hohem Grade den Umfang der nach
Frankreich zu leistenden Zahlungen und damit natürlich auch den Stand der
Devisenkurse.
') Geering, Die Statistik der auswärtigen Wechselkurse, Zeitschrift für schwei-
zerische Statistik. 1897, 6. Lieferung, und Derselbe, Die Vaintsfrage, Separatabdruck
aus der Neuen Züricher Zeitung vom 8 — 20. Juni 1900.
’) Eggenberger, Zur Beurteilung unserer Handelsbilanz, Schweizerische Blatter
fflr Wirtschafte- und Sozialpolitik, 1898, 8. 3 l't ff .
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40
Landiuann.
Was von vornherein gegen die , Verschuldungstheorie* in der von Geering
vertretenen Fassung zu sprechen scheint, ist die Tatsscfce. daß wenn die
schweizerische Volkswirtschaft tatsächlich von Jahr zu Jahr so erhebliche
Defizite machen würde, wie es der durch diese Theorie erklärten Hohe
der auswärtigen Wechselkurse entspräche, dies notwendigerweise im Lande
selbst nach zwei Seiten hin uicht ohne Wirkung verbleiben könnte: es müßte
mit Notwendigkeit zu einer Abnahme der Steuerkraft des Landes und zu
einer Verschlechterung der Lebensführung der breiten Massen des Volkes
fahren. Nun ist aber in fast allen Kantonen die Steuerkraft in einem kon-
tinuierlichen Steigen begriffen, und es läßt sich kaum beweisen, daß die
steigenden Anforderungen an den Standard of life, von Rückschlägen in
Zeiten der Krise abgesehen, nicht befriedigt werden könnten.
Beide Theorien sind wohl geeignet, eine Erklärung der steigenden
Devisenkurse zu geben, keine der beiden genügt aber, um die Tatsache
zu erklären, daß der Kurs der Devise Paris sich in den Jahren 1896 bis
1900 im Jahresdurchschnitte um 4 (1896) bis 34 (1900) Punkte über dem
Goldpunkte zu halten vermochte, daß die Kursmaxima lange Zeit hindurch
über dem Goldpunkte standen und daß selbst die Kursminima in den Jahren
1899/1900 den Goldpunkt nicht erreichen konnten.
Eine Erklärung dieser Erscheinung gab zum ersten Male Kalkmanu
in seinen .Untersuchungen über das Geldwesen der Schweiz und die Ursachen
des hohen Standes der auswärtigen Wechselkurse*, die zwar von mancher
Seite einer scharfen Kritik begegneten, bis heute aber keine Widerlegung
erfuhren. Seine Ausführungen liegen den nachfolgenden in der Hauptsache
zu Grunde, ohne daß wir aber seinen Standpunkt in allen Details zu teilen
vermöchten.1)
Das System der Goldprämienpolitik der Bank von Frankreich ist
bekannt; es ist auch bekannt, daß die Goldprämienpolitik bisher in Frank-
reich selbst keine ungünstigen Folgen hatte, und zwar aus dem einfachen
Grunde, weil Frankreich, angesichts des günstigen Saldos seiner Zahlungs-
bilanz, einer Goldprämienpolitik eigentlich nicht bedarf.’) Bei dem zeitweilig
sich umstellenden größeren Geldbedarf für Zahlungszwecke nach dem Aus-
land macht es der mit Gold gesättigte französische Geldumlauf möglich,
Gold aus dem freien Verkehre zu ziehen, wodurch dem Steigen der Gold-
prämie eine Grenze gesetzt ist: zur Zeit dauernd ungünstiger Gestaltung
des internationalen Geldmarktes hat die Bank von Frankreich stets die
Goldprämienpolitik verlassen und zu einer Diskontoerhöhung schreiten
müssen, da die Goldprämienpolitik nicht im stände war, die Goldbestände
zu verteidigen.
Anders sind die Wirkungen der französischen Goldprämienpolitik auf
die Schweiz, die als Mitglied der lateinischen Münzkonvention in inniger
Verbindung zum französischen Geldmarkt« steht, und infolge ihrer ßank-
*) Kalkmann, a, a. 0., passim.
’) Itosendorff, Die Goldprämienpolitik der Banque de France und ihre deutschen
Lobredner, Conrads Jahrbücher, Ul. F.. XXI. Bd , S. 682 ff.
Digitized by Google
Die Notcnbaulifrago in der Schweiz.
41
Verfassung zwar die Nachteile, nicht aber die Vorzüge dieser Verbindung
geniefit.
Seit Jahren rüstet man sich in der Schweiz für den Übertritt zur
Goldwährung und in Anbetracht dieses bevorstehenden Währungsweehsels
und der starken Entwertung der silbernen 5 Francs-Stücke sahen sich die
Banken veranlaßt, ihre Silberbestände abzustofien. Während ihre gesamte
Metallreserve vom Jahre 1883 bis 1901 von 57 auf 117 Mill. Francs stieg,
sanken im gleichen Zeiträume die Silberbestände von 35 auf 11 Mill. Francs
und bilden gegenwärtig nur noch etwa 10 Proz. der gesamten Barbestände.
Es sind nun zwei Gründe, die die Banken veranlassen, trotz dieser
reichen Goldbestände kein Gold in die Zirkulation zu setzen und die im
Resultate dazu führen, daß die Schwankungen des Barvorrathes sich fast
ausschliefilich an den Silberheständen vollziehen. Die Banken halten das
Gold fest, um bei Einführung der Goldwährung gerüstet dazustehen und
sind obendrein durch die französische Goldprämie zu dieser Politik gezwungen.
Da infolge der Bestimmungen der lateinischen Mttnzkonventiou die
französischen und schweizerischen Goldmünzon und silbernen 5 Francs-Stücke
in beiden Ländern unbegrenzte Zahlungskraft haben, so würde der französische
Verkehr beim Vorhandensein einer Goldprämie in Paris und bei gleichzeitig
vorhandener Möglichkeit, an den Schaltern der schweizerischen Banken Gold
ohne Prämie zu erhalten, seine gesamten Zahlungsverpflichtungen nach
dem Auslande auf dem Umwege über die Schweiz begleichen; die inter-
nationale Arbitrage würde gewiß auch nicht versäumen, Vorteil aus einer
derartigen Sachlage zu ziehen, sie würde aus Frankreich Silbergeld nach
der Schweiz versenden, es hier al pari gegen Gold einwechseln, das Gold
dann nach Frankreich importieren, dort mit einem Aufgeld verkaufen, und
diese Operationen würden sich so lange wiederholen, bis der Goldbestand
der schweizerischen Banken auf Nichts geschmolzen wäre. Ist nun die
Schweiz Deutschland oder England gegenüber zahlungsverpflichtet, oder
bewirken Differenzen zwischen der Anspannung des schweizerischen und der
der fremden Geldmärkte Kapitalabfluß nach dem Ausland und übersteigt
der Betrag der nach dem Auslande zu leistenden Zahlungen die Summe der
in der Schweiz befindlichen Devisen, so muß der Fehlbetrag durch Gold-
versendung erfolgen. Da aber die Notenbanken kein Gold al pari heraus-
geben, dieses auch im Verkehre nicht vorhanden ist und deshalb nicht, wie
in Frankreich, aus dem Verkehre gezogen werden kann, so erhöhen sich die
Kosten des Goldexportes um den Betrag der Goldprämie, was im Besultate
gleichbedeutend ist mit einer Erhöhung des Goldpunktes um den gleichen
Betrag. Da jedoch stets die Möglichkeit vorhanden ist, mit den Silber-
münzen des lateinischen Mflnzbundes gegen Bezahlung der Prämie Gold
aus Frankreich zu beziehen, so ist dem Steigen der Devisenkurse auf die
dem lateinischen Mflnzbunde nicht angehörenden Staaten eine obere Grenze
gesetzt, die stets gefunden werden kann, wenn man dem Betrage der Kosten
der Versendung von Gold aus Frankreich nach dem die Zahlung empfangenden
Lande und der Umwandlung derselben in Zahlungsmittel des betreffenden
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42
LamiinRnn.
Landes den Betrag der Versendungskosten des Silbers aus der Schweiz nach
Frankreich und den der in Paris zu bezahlenden Prämie zuzählt.
In der Zugehörigkeit der Schweiz zur lateinischen Münzkonvention und
in den Wirkungen der französischen Goldprämienpolitik Hegt demnach die
Erklärung der Steigerung der Devisenkurse auf alle dem Münzbunde nicht
angehörenden Staaten über den Goldpunkt. Die Frage ist nun: wie ist die
Tatsache zu erklären, daß auch der Kurs der französischen Devisen trotz
der Währungseinheit die Goldpunkte so beträchtlich überschreiten konnte?
Der Zahlungsverkehr zwischen der Schweiz und Frankreich gestaltet
sich in der Regel in der Weise, daß die zu leistenden Zahlungen durch
Devisen und Checks nach Frankreich remittiert werden. Da in der Regel
aus den aHsgefflhrten Gründen der Betrag der nach Paris zu leistenden
Zahlungen größer ist als der Betrag der schweizerischen Guthaben, so kann
die Nachfrage nicht gedeckt werden und der Kurs der Devise Paris schnellt
empor. Erreicht er 100 25. so wird Silbereiport nach Frankreich rentabel.
Die meisten großen Notenbanken, so vor allem die Deutsche Reichs-
bank und die Österreichisch-Ungarische Bank gehen in ähnlichen Situationen
folgendermaßen vor: sie werfen einen Teil der in ihren Portefeuilles liegenden
Devisen auf den Markt, wodurch der Kurs der Devise gedrückt wird
und die Gefahr eines Goldeiportes fürs nächste abgewendet ist. Diese den
Devisenkurs drückende Wirkung der Devisenverkäufe seitens der Zentral-
bank wird durch ein weiteres Moment unterstützt: da eine langjährige
Erfahrung lehrt, daß im Augenblicke, wo die Reichsbank z. B. englische
Devisen zu verkaufen beginnt, der Devisenkurs auf London schon seinen
Höhepunkt erreicht hat und eine weitere Steigerung nicht mehr wahr-
scheinlich, vielmehr ein Sinken des Kurses mit Sicherheit zu erwarten ist,
so hat sich die Gewohnheit herausgebildet, daß, sobald die Reichsbank
Devisen abzugeben beginnt, auch alle anderen Institute dasselbe tun, da
sie wissen, daß in diesem Augenblicke der beste Kurs zu erzielen ist.
Durch dieses Steigen des Angebotes sinkt natürlich der Kurs der Devise
und wenn es sich wirklich nur um eine momentane ungünstige Verschiebung
des Wechselkurses handelte, so ist auch die Gefahr des Goldabßusses
beseitigt, ohne daß die Reichsbank es uötig gehabt hätte, ihren Diskont-
satz zu erhöhen.
Dieser Politik direkt entgegengesetzt ist die der schweizerischen Noten-
banken iD den gleichen Fällen. Die Bardeckung des Notenumlaufes beträgt,
wie vorhin ausgeführt, etwa 50 bis bestenfalls 55 Proz., wovon etwa 40 Proz.
der jeweiligen Zirkulation unangreifbar sind. Da diese Bardeckung obendrein
zu etwa 90 Proz. aus Gold besteht, die Banken aber den Goldvorrat nicht
angreifen dürfen, es sei denn auf die Gefahr hin, den Goldbestand an
Frankreich abgeben zu müssen, so ist es in Wirklichkeit der auf 86 Banken
zersplitterte minimale Silberbestand, auf dem der gesamte gchweizerisch-
französische Zahlungsverkehr basiert. Überschreitet der Kurs der Devise
Paris 100'20/25 und wird infolge dessen Silber zum Eiport entzogen, so
müssen die schweizerischen Notenbanken, um nicht ganz ohne verfügbare
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!>ic Xotenbankfrage in der Schweir.
48
Barschaft dazustehen, Wechsel auf Frankreich kaufen, uni das ihnen ent-
zogene Silber so bald als möglich nieder zu importieren. Während also
die Keicbsbank oder die Österreichisch-Ungarische Bank im Augenblicke,
wo der Goldpunkt überschritten wird, Devisen zum Verkauf anbieten, um
dadurch den Kurs zu drücken, treten die schweizerischen Emissionsbanken
bei der gleichen Situation selbst als Devisenkäufer auf und treiben durch
ihre Ankäufe den Kurs nur umso höher hinauf.
Dies die Erklärung der Möglichkeit einer Überschreitung des Gold-
punktes der Devise Paris trotz vorhandener Währungseinheit: die durch
Silberexporte eintretende Entlastung des Wechselmarktes wird durch die
Devisenaukäufe seitens der Emissionsbanken kompensiert. Für die Steigerung
des französischen Wechselkurses ist keine obere Grenze mehr vorhanden,
denn jeder Export von Silber nach Frankreich zieht eine neue Steigerung
der Nachfrage nach französischen Wechseln nach sich und parallel damit ein
weiteres Steigen des Kurses dieser Devise. Trägt schon die Abhängigkeit
des Wertganges der schweizerischen Valuta von der Höhe der französischen
Goldprämie viel dazu bei, daß der Goldpunkt, eine sonst stabile Größe,
in der Schweiz einen variablen Charakter aufweist und parallel mit der Höhe
der Pariser Goldprämie steigt und fällt, so hat die vorhin geschilderte Sach-
lage vollends zur Folge, daß für die Steigerung des Kurses der Devise
Paris der Goldpunkt überhaupt nicht mehr in Betracht kommt und daß
die schweizerische Währung in dieser Hinsicht völlig den Charakter einer
unterwertigen Papierwährung aunahm.
Es konnte nicht lange ausbleiben, und die Spekulation begann diese
Situation auszunfltzen. Wir denken dabei nicht an die Ausfuhr von Metall-
geld zur Tilgung von geschäftlichen Verbindlichkeiten, vielmehr an den
berufsmäßigen Transport silberner 5-Fiancsstücke über die französische
Grenze, der in den Geschäftskreisen als .Drainage* bezeichnet wird. Der
ganze Vorgang ist höchst einfach, für den Spekulanten mit keinem Kisiko
verbunden, und trägt einen zwar nicht großen aber sichern Gewinn, der
durch die Möglichkeit einer sehr häufigen Wiederholung der Spekulation
nicht unbeträchtlich gesteigert werden kann. Die Manipulation ist die
folgende: der Spekulant präsentiert an den Schaltern einer schweizerischen
Emissionsbank schweizerische Banknoten und läßt sich diese, wozu die
Bank gesetzlich verpflichtet ist. in Hartgeld einlösen; dieses Hartgeld
spediert er über die französische Grenze, wo es ebenfalls gesetzliches
Zahlungsmittel ist. tauscht es dort gegen Noten der Bank von Frankreich
ein oder kauft dafür Checks auf Paris. Diese bringt er nach der Schweiz, wo es
ihm nie schwer fällt, sie wieder zu verkaufen, was mit einem, je nach der Höhe
des Kurses der Devise Paris größeren oder kleineren Gewinn verknüpft ist. Die
in Zahlung erhaltenen schweizerischen Banknoten werden an den Schaltern einer
schweizerischen Emissionsbank wieder in Hartgeld nmgetausclit, und das Ge-
schäft beginnt von neuem. Die zweifellose .Legitimität“ der Drainage macht
jeden direkten Kampf gegen sie unmöglich. Die kleinen Mittelchen aber, deren
sich anfangs die Banken gegen sie bedienten, konnten keinerlei Wirkung augülren.
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4
Laadmann.
Über den Umfang dieser Schiebungen mag die nachfolgende Tabelle
eine Auskunft geben : *)
Ein- und Ausfuhr von .Silbergeld aus. beziehungsweise I
nach der Schweiz in Mill. Francs ! Wechselkurs auf
Jahr
J Paria
Gesamtverkehr
Schwei g.-frausö«iMh*r
Verkehr
Einfuhr
Ausfuhr
Mahr *3 (+) oder
Minder = (-)
Einfuhr
Ein-
fuhr
Aus-
fuhr
Mehr- Durch-
ei.fnhr „choitt
1892
SIS
266
+ * 7
27-9
24-2
4- 3-7 100-10 100-31
1893
33 &
42-6(31 2) — 91 (4-2*3)
29-7
27-3
+ 2-4 100 13 100-39
1894
26-3»)
340(16 5)
- 7-7 (+9-8)
22-6
141
4- 8-5| 100 04 100-26
1895
44-2
23-9
4-20-3
41-9
20-8
4-211; 100 10 100-34
1896
49-3
28-6
+20-7
47-6
27-3
f 20-3 100-24 100-48
1897
67 '0
37-2
+29-8
53-3
34-1
4-19-2 100-35 100-69
1898
76-9
40-5
-f3«-4
68-9
37-2
4-81-7 100-36 100-71
1899
110-2
453
4-649
1030
41-7
4-61-3 10049 100-80
1900
840
32-0
4-52-0
75-5
28-2
4-47-3: 100-54 100-80
1901
343
11-3
4-23-0
80-2
8-7
+21-.3 100 14 100-52
1902*)
27 4
8-5
18-9
28-9
8-0
+ 15-9 100-39 100-70
Über die Ursachen dieser exorbitanten Vorgänge im schweizerisch-
französischen Metallgeldverkehr brauchen wir an dieser Stelle kein weiteres
Wort zu verlieren; ihre Erklärung ist im vorstehenden gegeben worden.4)
*) Bei der Beurteilung der vorstehenden Zahlen darf nicht auUcr Betracht
gelassen werden, da 13 die EinfuhrziffVrn einen viel zuverlässigeren Maßstab darstellen
als die AQsfuhrzahlen. l>a die Drainage sich der Ausfuhrkontrolle ihrem ganzen Wesen
nach zu entziehen bestrebt ist, entgeht sie zum weitaus größten Teile den Organen
der Handelsstatistik. Während somit dieser Maaßtab versagt darf die Einfuhr von
gemünzten Silber nicht nur als viel zuverlässiger ermittelt, sondern gleichzeitig auch
als Ausdruck für die Stärke des Silberabflusses einschließlich der ganzen Drainage
angesehen werden. — Znr Bekräftigung dieser Ansicht führen wir besonders die Zahlen
für das Jahr 1899 an, in welchem die deklarierten Exporte nur um 4'5 Mill. Francs
dem Vorjahre gegenüber gestiegen sind, die nicht deklarierten dagegen um zirka 30 Mill.
Francs, d. h. nahezu um das doppelte des Vorjahres. Vgl. Öeering, Die Valutafrage, S. 4 ff.
*) Die starken Kiporte der Jahre 1893/94 erklären sich aus der vertragsmäßigen
Abstoßung von zirka 29 Mill. Francs italienischer Scheidemünzen. Die einge klammerten
Zahlen stellen den Verkehr nach Abzug der schweizerisch-italienischen Umsätze dar.
*) Erstes Halbjahr; provisorische Werte.
4) Einer Erklärung bedarf lediglich die mit dem .Sinken des Kurses der Devise
Paris parallel verlaufende Verschiebung der Jahre 1901/02. Wir Anden sie, wenn wir,
neben der Verschiebung des Saldos der schweizerischen Handelsbilanz, die Vorgänge
auf dem schweizerisch- französischen Geldmärkte ins Auge fassen. Ende Februar 1901
sank der Kur« der Devise Frankreich zum ersten Male seit 2*/^ Jahren wieder unter
den Goldpunkt, und hielt sich bis etwa anfangs Oktober auf einem so günstigen Staude,
daß Goldbeztige aus Frankreich ohne Aufgeld möglich und zeitweilig sogar für Frank-
reich rentabel waren. Forschen wir nach den Ursachen dieser Erscheinung, so finden wir
sie im starken Zuflüsse französischer Kapitalien nach der Schweiz zu Anlagezwecken.
Nachdem schon im Oktober 1900 eiu Berner Anlehen von 20 Mill. Francs in Paris
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Die Xotenbankfrage in tier Schweiz.
45
Was ihre Wirkungen und ihren Einfluß betrifft, so müssen hierbei zwei
Seiten der Frage unterschieden werden: ihr Einfluß auf die Emissions-
banken selbst und ihr Einfluß auf die schweizerische Volkswirtschaft.
Für die Emissionsbanken bedeutet diese Sachlage eine so ungeheuere
finanzielle Belastung, daß sie sieb, unter dem Drucke dieser Verhältnisse,
entgegen allen ihren sonstigen Gepflogenheiten zu einer Verteidigung der
Valuta aufrafften, und eine Reihe von Spezialabkommen abschlossen.
Wie groß diese Opfer für die einzelnen Banken sind, ist aus der Tat-
sache zu ersehen, daß z. B. die Berner Kantonalbank ihre an der
französischen Grenze in Pruntrut gelegene Filiale schließen mußte, und
daß die Banque de Genfcve. die der Drainage am meisten ausgesetzt war,
im Frühjahr des Jahres 1899 auf ihr Notenemissionsrecht verzichtete,
nachdem sie in den Jahren 1895 — 1899 für Bezüge von rund 173 Hill.
Francs Silbergeld aus Frankreich nicht weniger als 1.070.000 Francs auf-
zuwenden gezwungen war.
Schon im Jahre 1893 trat innerhalb der Konkordatsbanken der Plan
zu Tage, die Kosten des Importes von Silbermünzen, welche infolge der
geographischen Lage der Banken von Genf, Neuenbnrg, Basel und Bern
hauptsächlich von diesen getragen wurden, auf alle Banken, pro rata ihrer
Notenemission zu verteilen, da die Bargeldeinfuhr im Interesse der
Gesamtheit erfolgt, und auch die Noten, die die Draineure den Grenz-
banken zur Einlösung präsentiereu. sich auf alle BaukeQ verteilen.1) Es
ist begreiflich, daß die unmittelbar nicht beteiligten Banken lange Zeit
aufgelegt und vom französischen Kapital vollständig aufgenommen wurde, sind im Laufe
des Jahres 1901 viel bedeutendere Beträge von Seiten Frankreichs zum Ankauf der
beiin Rückkauf der Zentralbalin neu kreierten 4proz. eidgenössischen Eisenbahnrente
verwendet worden, die für den französischen Kapitalisten eine günstige Anlage dar* teilt,
während sie sich in der Schweiz selbst einer nur mäßigen Vorliebe erfreut. Hierzu
kamen endlich auf hunderte Millionen geschützte Überführungen französischer Kapitalien
nach der Schweiz, die seitens französischer Orden unter dem Eindrücke des neuen
Vereinsgesetzes vorgenommen wurden. All dies bewirkte eine Verschiebung im Angebot
und Nachfrage schweizerischer und französischer Wechsel in einer für die Schweiz
günstigen Richtung. Wie wenig aber diese ausnahmsweise günstige Sachlage während
einiger kurzer Monate an der Totalität der Situation zu Andern vermochte, beweist die
Weiterentwicklung seit Oktober 1901. Im Zufluß der französischen Kapitalien trat eine
Stockung ein, während sich gleichzeitig infolge starker Investierung dieser Kapitalien
in schweizerischen Werten eine vermehrte Zinsen- und Dividendenleistungspflicht nach
Frankreich bereits geltend zu machen begann; hierzu kam ein vermehrter Einfuhrbedarf
infolge der schlechtem einheimischen Ernten, und so ist denn inzwischen das Disagio
der schweizerischen Valuta zeitweilig bis auf 7 Promille gestiegen, was wieder an die
Situation der Jahre 1899/900 lebhaft erinnert. Während in den ersten 9 Monaten des
Jahres 1901 der Kurs der Devise Paria durchschnittlich 100*11 betrug und sich während
der Monate Juli, August und September sogar um 12 — 15 Punkte unter Pari hielt,
stieg er im Durchschnitte des letzten Quartals 1901 auf 100 52. im ersten Quartal 1902
auf 10057. Dementsprechend stellte sich im letzten Quartal 1901 von neuem die
Drainage ein, und die seitherige Entwicklung der Verhältnisse scheint den Schluß zu
rechtfertigen, daß der schweizerischen Valuta für die nächste Zeit eher ein Sinken
als eine Besserung bevorsteht.
*) Gvgai, a. a. 0. S. 39 ff.
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46
Landmann.
hindurch diesem Plane ihre Zustimmung versagten und erst unter dem
Eindrücke der Ereignisse des Jahres 1899 wurde ein von den Grenzbanken
ausgearbeiteter Vereinbavungsentwurf angenommen, dessen Restimmungen
im wesentlichen die nachfolgenden Bind: „Die Banken kommen überein,
denjenigen unter ihnen, welche Barschaft vom Auslande kommen lassen
einen Teil ihrer bezüglichen Auslagen zu vergüten. Auf diese Vergütung
haben ebenfalls Anspruch die Banken, welche durch besondere Abmachungen
den Bareiport verhindern. Das Komitee wird durch ein besonderes Regulativ
das Nähere festsetzen. Zu diesem Zwecke verpflichtet sich jede Bank, einen
jährlichen Beitrag zu leisten in der Höhe von Mazimum 1 Promille ihrer
wirklichen durchschnittlichen Emissionssumme.* Die Vereinbarung trat am
1. Juli 1899 in Kraft. Über ihre Wirksamkeit, die Kosten der Silber-
bezüge und die Belastung der Banken vor und nach ihrem Inkraftreten
enthält die nachfolgende Tabelle die nötigen Angaben.
Kosten d* r SilberbezQge in Franca
Banqoedu
Commerce
Zdrieher
Bank in
Baael
Jahr
Ranqno da
Comnirrc#
Züricher
Bank in
Baue]
Alle
Jahr
bank
Kantonal -
bank
Banken
Heit raff tu den gemeimamen
Kotten in Franc«
1897
226.000
75.000
60.000
1900
23.794
26.304
23.496
1901
22.548
25.991
22.375
1899
ZZd.UGV
438.000
170.000
133 000
Betrag der Kdckeralauuncen
• —
1900
365,000
153.151
116.489
896.899
1900
1901
100.333
54419
42.035
16.069
31.975
26.875
1901
80.955
19 941
26.084
170.134
Effektive Belastung
1900
289.014
137.420
108.010
1901
49.084
29.866
21.584
Bedeutungsvoller als diese den Banken erwachsenden Verluste ist die
Schädigung der schweizerischen Volkswirtschaft und die Gefährdung des
schweizerischen Zahlungsverkehres, die sich aus der, in der Geschichte des
Bankwesens wohl vereinzelt dastehenden Erscheinung ergeben, daß die
Notenbanken eines Landes mit geordneten Wirtschafte Verhältnissen ihre
Zahlungsbereitschaft nur dadurch aufrecht erhalten können, daß sie fort-
während und mit großen Kosten, zu den ungünstigsten Bedingungen und
mit Schädigung ihres eigenen Wirtschaftsgebietes Metallgeld aus dem
Auslande beziehen müssen. Für die schweizerische Volkswirtschaft wirkt
diese Entwertung ihrer Valuta in gleicher Weise wie prohibitive Zoll-
schranken. Wenn der Jahresbericht der Züricher Seideninuustriegesellschaft
für 1898 konstatiert: „Unser Dröge-Import aus Ostindien empfindet das
Disagio gegen die französische Valuta als eine bedeutende Erschwerung
und Belästigung*, so ist dies lediglich ein Ausdruck für die allgemein
vorhandene, wenn auch vielleicht nicht allgemein empfundene Belastung
des Bezuges aller ausländischen Waren, die auf Grund der Ausweise der
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Die Notenbank frei.'*- in der Schweiz.
47
Handelsstatistik bei einem Disagio von 6 — 7 Promille auf rund eine halbe
Mill. Francs im Durchschnitte der letzten Jahre berechnet wird.
Für den schweizerischen Zahlungsverkehr bedeuten die geschilderten
Verhältnisse die ständige Gefahr einer im Gefolge einer Geldkrisis drohenden
Zahlungseinstellung der Notenbanken. Es ist blott nötig, daß durch ein
starkes Anwachsen der Spekulation, im Vereine mit anderen ungQnstigen
Momenten, eine solche Steigerung des Silberexportes eintritt, daß die
Notenbanken gezwungen sind, Gold abzugeben und ftlr Wechsel auf
Frankreich jeden Preis zu zahlen, daß die Differenz zwischen Wechselkurs
und Goldpunkt die Entnahme größerer Mengen Metallgeld aus dem Umlaufe
lohnt. Es liegt durchaus nicht außerhalb des Bereiches der Möglichkeit, daß
den schweizerischen Notenbanken an einem Tage 10 bis 15 Mill. Francs
Metallgeld abverlangt werden. Geschieht dies, und es kann geschehen,
wenn der spekulative Silberexport uud die Devisenspekulation planmäßig
in großem Maßstabe betrieben wird, dann müssen sich die Banken um
jeden Preis mit Metallgeld versehen, sie werden jeden von der Spekulation
verlangten Preis für französische Wechsel bezahlen, sie werden sich gegen-
seitig in größter Eile ihre Noten zur Einlösung präsentieren: sie müssen
Gold für die Ausfuhr hergeben, womit der Export von Bargeld natürlich
nur noch einträglicher wird, sie bieten jedem, der ihnen Bargeld für ihre
Noten abgibt ein Aufgeld an, und einzelne, besonders exponierte Banken
sehen sich vielleicht gezwungen, da sie die 40proz. Notendeckung nicht
angreifen dürfen und die Spekulation ihnen neben ihren Noten ebenso gut
andere Forderungen zur Honorierung präsentieren kann, ihre Zahlungen
einzustellen.
So gelangen wir denn zum Schluß der Untersuchung der Leistungen
der schweizerischen Emissionsbanken auf dem Gebiete der Valutapolitik zu
einem für sie ebenso ungünstigen Resultate wie bei der Untersuchung des
Grades ihrer Liquidität. Der vornehmsten Aufgabe der Notenbanken, der
der Verteidigung und Hochhaltung der heimischen Valuta, vermochten sie
nicht gerecht zu werden, und wenn sie auch nicht im Ganzen für die
ungünstige Gestaltung der auswärtigen Wechselkurse verantwortlich gemacht
werden dürfen, so ergaben doch die vorstehenden Untersuchungen zur
Genüge, daß sie durch ihre Deckungs- und ihre Anlagepolitik an dieser
Gestaltung mitschuldig sind.
3. Der Kampf um die Zentralisierung des Notenbankwesens.
Von politischen und kantonalfiskalischen Rücksichten beeinflußt, gehört
das Bankgesetz von 1881 zu jener Art von Koinpromißgesetzen, die schon
bei Erlaß niemand ganz befriedigen und von allem Anbeginn an den Keim
der Revisionsbedflrftigkeit in sich tragen. Zu wiederholten Malen wurde, be-
sonders vom Nationalrat Cramer-Frey. auf das Unbefriedigende des durch
das Bankgesetz geschaffenen Zustandes hingewiesen1), und er war es auch,
l) Cramor-Frey, Zur Keform de» schweizeriachen Notenbankweaena, Zürich, 1886;
Keller, Die Kegulierung des schweixerisehe» Hanknotenweaena, Wald, 1888; Siedler,
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48
Landmanu.
der im Nationalrate zum ersten Male die Notwendigkeit einer Reform zur
Sprache brachte. Seine am 4. Juni 1885 gestellte Motion lautete: „Der
Bundesrat wird eingeladen, die Frage zu prüfen und darüber baldmöglichst
Bericht zu erstatten: ob nicht Artikel 89 der Bundesverfassung ira nach
stehenden Sinne zu revidieren sei: »Die Gesetzgebung über das Banknoten-
wesen ist Bundessache. Der Bund ist befugt, einer seiner Aufsicht und
Leitung zu unterstellenden Bank das ausschließliche Recht zur Ausgabe
von Banknoten zu verleihen“. In der Begründung der Motion wies Cramer-Frey
zuerst auf die durch das Banknotengesetz vermehrten Übelstände, auf die
Dnhaltbarkeit und die zum Teile durch das Gesetz geschallenen Gefahreu der
schweizerischen Bankverfassung hin; er zeigte sodann, daß das Cbel in
dem System der Vielheit der Banken mit ihren verschiedenartigen Aufgaben
und widerstreitenden Einzelinteressen wurzle, welches die vitalsten Verkehrs-
interessen dem Spiele des Zufalls und der Konkurrenz preisgebe; daß end-
lich mit dem System selbst gebrochen werden müsse, da mit bloßen Än-
derungen am Banknotengesetz nicht geholfen werden könne.
Mit 71 gegen 43 Stimmen wurde die Motion Cramer-Frey abge-
lehnt. Eine Widerlegung hat die Begründung seiner Motion nicht gefunden.
Den von ihm ziffermäßig erbrachten Nachweis der Unhaltbarkeit der be-
stehenden Zustünde glaubte man mit der Behauptung abtun zu können:
.daß die Solvabilität unserer Banken über jeden Zweifel erhaben und der-
jenigen jeder Bank des Auslandes vorzuziehen sei.“
Die allernächste Zeit sollte schon den schweizerischen Notenbanken
die Möglichkeit geben, die Frage zur Entscheidung zu bringen, ob die gegen
sie erhobenen Vorwürfe berechtigt seien oder nicht.*) Schon gegen Ende
des Jahres 1886 tauchten Kriegsgerüchte auf und zu Anfang des Jahres 1887
war die politische Situation so düster, daß das eidgenössische Finanzdepar-
tement sich veranlaßt sah, an die Emissionsbanken ein vertrauliches Zirkular
ddto. 1. März 1887 zu versenden, in welchem die Befürchtung ausgesprochen
wurde, daß die stetige und sofortige Einlösbarkeit der Noten in kritischen
Zeiten in Hinblick auf die vielerorts unzureichenden Barbestände und den
teilweisen Mangel an auderen kurzfälligen oder leicht realisierbaren Aktiven
nicht bei allen schweizerischen Emissionsbanken gesichert sei; die Banken
wurden im gleichen Zirkular aufgefordert „auf eine Verminderung der Noten-
zirkulation hinzuarheiten und gleichzeitig ihre Barreserven zu verstärken,
um auch genugsam mit Barschaft versehen zu sein, für den Fall, daß es
infolge unerwarteter Ereignisse einmal nicht möglich sein sollte. Barschaft
aus Frankreich zu beziehen*: es schloß mit der Erklärung, daß der Bund
im Falle kriegerischer Verwicklungen keine Verantwortlichkeit für die Ver-
Zur Revision des Banknotengesetzeg, Luzern, 1887; derselbe. Über die Dringlichkeit
der Revision des Banknotengeseue», Luzern, 1888: W. Speiser, Untersuchungen Ober
das Bankuoteuwesen der Schweiz, Zeit» chrift für schweizerische Statistik, 1888; J. Wolf,
Zur Reform des schweizerischen Banknotenweseus. Zürich, 1888.
b Das schweizerische Banknotenweseu. Gutachten des schweizerischen Handels-
und lndustriercreines. Zürich. 1887.
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Die Notenbankfrage in der Schweiz.
40
bindlichkeiten der Banken übernehmen könne und sich strikte an die Be-
stimmungen des Gesetzes halten müsse. — Im Augenblicke, als dieses Zir-
kular versandt wurde, oszillierte der Kurs der Devise Paris knapp um den
Goldpunkt; der Metallimport aus Frankreich war nur mit nicht unbeträcht-
lichen Verlusten möglich, und trotz der von militärischer Seite laut gewor-
denen Drohung, es werde die Silberansfuhr verboten werden, konnte man es
nicht verhindern, datl mehrere hunderttausend Francs nach Frankreich ab-
flossen. Gleichzeitig machten sich auch weitere Geldentzflge an den Schaltern
der Emissionsbanken bemerkbar: dem Zirkular des Finanzdepartements folgten
unmittelbar, gleichsam zu dessen Bekräftigung, Bezöge von Barschaft und
Kündigung der Depositen seitens der Buudesknssen, die zur Bezahlung der
Einkäufe der eidgenössischen Verwaltung von Kohlen, Lebensmitteln, Getreide
und Fuurage dienen sollten; gleiche Geldentzflge erfolgten auch seitens sonstiger
öffentlichen und privaten Verwaltungen und zu ihnen gesellten sich bedeutende
Anforderungen, die an die Banken seitens der Privaten und Industriellen
gestellt wurden, welche gleich bei Beginn der drohenden politischen Lage sich
zum Teil sehr große Barreserven anzulegen bestrebt waren.
Die Krisengeschichte kennt mehrere Fälle, wo eine starke Zentral-
notenbank spielend leicht eine derartige Panik in den Anfängen niederzu-
halten vermochte.') Es ist nur nötig, daß die Bank, wenn auch bei er-
höhten Diskontosätzen, liberal und koulant diskontiert, um in jeder Weise
das Aufkommen der Befürchtung zu verhindern, es sei überhaupt kein Geld
zu haben. In klassischen, heute noch durchwegs zutreffenden Worten schildert
diese Politik der Governor der Bank von England während der Tage der
Panik im Jahre 1825; „Wir verliehen von allen möglichen Mitteln und in
vorher nie dagewesener Weise; wir nahmen Werte gegen Sicherheit, wir
kauften Staatsschatzscheine, gaben Vorschüsse darauf, und diskontierten
nicht nur drauf los, sondern machten auch Vorschüsse gegen deponierte
Wechsel zu ungeheueren Beträgen; mit allen möglichen Mitteln, die mit
der Sicherheit der Bank verträglich erschienen, und manchmal waren wir
nicht sehr gewissenhaft, suchten wir dem Geldbedürfnisse nachzukommen.
Und nach zwei Tagen eines solchen Verfahrens legte sich die Panik und
die City war wieder ganz ruhig.“
Anders war die Politik der Schweizerbanken: mehrere Institute wiesen
alle Diskontobegehren rundweg ab, andere erschwerten sie durch exorbitant
hohe Sätze und durch eine übertrieben rigorose Prüfung der eingereichten
Wechsel: obendrein machte eine Reihe von Banken Schwierigkeiten bei der
Noteneinlösung*), was, wenn durchaus nicht zu entschuldigen, so doch zu
verstehen ist, da eine Reihe der großen Banken, die mehrere Millionen
'i Landmaun, a. a. 0. S. 144fT.
*) Es sind Fälle vorgekommen, wo die Emiasionabanken, unter Berufung auf den
Wortlaut, aber faktisch im Widerspruche zuin Sinne des Artikels 21 des Bankgeseties
sich weigerten, für die ihnen per Post zur Einlösung eingcBandten Noten den Gogenwcrt
in Metall zuruckzuschicken, indem eie erklärten, sie seien zur Einlösung ihrer Noten nur
„gegen Vorweisung an ihren Kassen* verpflichtet.
Zeitschrift fflr Volkswirtschaft, SoclalpoUlIk und Verwaltung. XII. Baad. 4
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I.IQ'imiDD.
Hartgeld in ihren Kellern liegen hatten, hart an der Grenze der 40proz.
Notendeckung angelangt war, die sie nicht überschreiten durften. — Erat
nachdem es bekannt wurde, daß der Bundesrat den Beschluß faßte, für
den Fall einer ernsten Verwicklung die Ausgabe von Bundeskassenscheinen
anzuordnen, legte sich die Panik, aber mit elementarer Gewalt gelangte in-
zwischen flberall die Erkenntnis zum Ausdruck, daß ein auf einer so hohen
Stufe der wirtschaftlichen Kultur stehendes Land wie die Schweiz unmög-
lich für die Dauer bei dieser, beim geringsten Anlaß den Dienst ver-
sagenden Bankverfassung verbleiben köune.
Unmittelbar nach der Klärung der politischen Lage begann mit Wucht
der Kampf um Reform. Im April 1887 wurde die Frage in der in
Lausanne abgehaltenen Delegiertenversammlung des schweizerischen Handels-
und Industrievereines erörtert, und im Oktober des gleichen Jahres erstattete
der Verein auf Grund einer von ihm veranstalteten Enquete dem Bundes-
rate ein Gutachten über das schweizerische Banknotenwesen. Es wurden
ferner im Laufe des Jahres 1887 die Emissionsbanken selbst seitens des
BanknoteninspektoratS aufgefordert. Vorschläge zu einer Revision des Gesetzes
zu erstatten, von Bankdirektoren und Gelehrten wurden Gutachten eingeholt
und im ganzen Lande eine Reihe von Versammlungen abgehalten.
In dem für die damals herrschenden Ansichten typischen Gutachten
des schweizerischen Handels- und Industrierereines standen sich zwei An-
schauungen entgegen. Die eine kam zum Teile im Resume des Vorortes
selbst zum Ausdruck, das zwar im Postulat der Errichtung einer Zentral-
bank gipfelte, aber auch den Fall vorsah. dass dieses Postulat nicht durch-
dringen könnte und für diesen Fall die als Minimum anzusehenden Kevisions-
begehren darlegte. Als solche wurden bezeichnet: 1. Erhöhung des Minimums des
eingezahlten Kapitals jeder zur Notenausgabe berechtigten Bank auf mindestens
2 Mill. Francs; 2. Erhöhung der speziellen Metalldeckung der Noten von 40 Proz.
der Emissionssumme auf 50 Proz. der Zirkulation unter gleichzeitiger Auf-
hebung der unbedingten Unangreifbarkeit der Bardeckung und Ermächtigung
der Banken, unter Anzeige an das Banknoteninspektorat für die Dauer von
höchstens acht Tagen die Bardeckung bis auf 80 Proz. der Zirkulation sinken
zu lassen; 3. Deckung der übrigen ßO Proz. der Notenzirkulation und des
gesamten Betrages der stets fälligen Verbindlichkeiten durch das Wechsel-
portefeuille; 4. Beschränkung des Geschäftskreises, bezw. Ausscheidung der
für eine Notenbank nicht geeigneten Geschäfte; 5. Erhebung der Noten-
steuer vom durchschnittlichen Zirkulationsbetrage, an Stelle der bisherigen
Erhebung von der bewilligten Emissionsumme.
Die zweite Richtung, die vornehmlich durch die Nationalräte Cramer-
Frey, Joos und Cur ti vertreten war. stellte sich die Begründung einer zentralen
Notenbank zur Aufgabe, wobei die Nationalrate Joos und Cnrti die Be-
gründung einer Staatsbank, Nationalrath Craraer-Frey die einer privaten
Zentralbank im Auge hatten; Voraussetzung hierfür war die Abänderung
des Artikels 39 der Bundesverfassung.
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Die Noten bankfrage in der Schweiz.
51
Der Bundesrat selbst wartete mit der Ausarbeitung eines Gesetzes-
entwurfes, bis das damals in Beratung stehende Bundesgesetz Ober Schuld-
betreibung und Konkurs, welches einem wesentlichen Teile des Banknoten-
gesetzes zur Basis dienen sollte, verabschiedet war. Inzwischen wurden Vor-
arbeiten in Angriff genommen, eine Kommission nach Bern einberufen und
ihr ein Vorentwurf zur Beratung und Begutachtung vorgelegt. Erst am
23. Juni 1890 wurde den eidgenössischen Käthen der Entwurf eines Gesetzes,
betreffend die Revision des Bankgesetzes vom 8. März 1881 vorgelegt, in
welchem der Bundesrat sich zwar auf die Seite der Befürworter einer
bloßen Revision des bestehenden Gesetzes, unter Beibehaltung des Systems
der Bankvielheit, stellte, und die vorgeschlagenen Reformen im wesent-
lichen auf das Gutachten des schweizerischen Handels- und Industrievereines
stützte, gleichzeitig aber in der Botschaft die Neigung zu Gunsten einer
Zentralbank durchblicken ließ. Es war nicht zu verwundern, daß bei den
vielerlei Interessen, die bei einer Revision notwendigerweise berührt werden
mußten, der Entwurf vereinzelt heftigem Widerspruche begegnete. Im all-
gemeinen herrschte aber die Ansicht vor. daß eine Revision des bestehenden
Gesetzes lediglich als Übergangsstadium zur Monopolisierung des Noten-
bankwesens aufzufassen sei.
Indessen ist dieser Entwurf überhaupt nicht zur parlamentarischen
Behandlung gelangt; eine Volksbewegung, und die inzwischen in der Bundes-
versammlung selbst stark angewachsene Strömung zu Gunsten einer Zentral-
bank schoben ihn in den Hintergrund.
Der im April 1890 in Olten abgehaltene allgemeine schweizerische
Arbeitertag faßte auf Antrag des Nationalrates Joos die Resolution: „Der
schweizerische Arbeitertag spricht die Erwartung aus, daß die eidgenössischen
Räte in der kommenden Junisession den Artikel 89 der Bundesverfassung
einer Revision unterziehen im Sinne der Einführung des Banknotenmonopols.
Sollte dieser Erwartung nicht entsnrochen werden, so wird der schweizerische
Arbeiterbund die Sammlung von 50.000 Unterschriften in die Hand nehmen,
um auf dem Wege der Volksbewegung die verlangte Verfassungsänderung
durchzusetzen. ‘ Die schon durch die Botschaft des Bundesrates beein-
flußten Mitglieder der eidgenössischen Räte setzten nun zwar in der
Junisession je eine Kommission zur Beratung des bundesrätlichen Gesetzes-
entwurfes ein, bevor aber diese Kommissionen ihre Arbeiten begonnen
hatten, wurde in der Herbstsession der Bundesversammlung im Nationalrate
mit großer Mehrheit eine Motion Keller erheblich erklärt, welche den
Bundesrat einlud, Bericht und Antrag über die Revision des Artikels 89
der Bundesverfassung im Sinne der Monopolisierung der Notenausgabe und
Schaffung eines zentralen, mit dem Notenmonnpol auszustattenden Bank-
institutes zu erstatten. Der Bundesrat, der hierfür nur die Initiative der
Bundesversammlung abwartete, erstattete schon am 30. December 1890
Bericht und Antrag im Sinne der Motionssteller, und nachdem die Samm-
lung von Unterschriften, die von Joos inzwischen eifrig betrieben wurde,
zum Resultate führte, daß 82.000 Schweizerbürger das Begehren nach
4*
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52
Landm&Jiu.
einer Abänderung des Artikels 39 der Bundesverfassung im Sinne eines
Monopols und einer Bundesbank stellten, arbeitete der Bundesrat einen
neuen Artikel 39 der Bundesverfassung aus. der das Notenmonopol aus-
sprach, und die Lösung der Frage der Verwirklichung dieses Monopols der
Legislative überließ. Nach langen parlamentarischen Debatten gelangte die
Vorlage an das Volk, und am 18. Oktober 1891 wurde mit einem Mehr
von 73.000 Stimmen der revidierte Artikel 39 in die Bundesverfassung auf-
genommen. Er lautet:
»Das Hecht 7.ur Ausgabe von Banknoten und anderen gleichartigen
Geldzeichen steht ausschließlich dem Bunde zu.
Der Bund kann das ausschließliche Hecht zur Ausgabe von Bank-
noten durch eine unter gesonderter Verwaltung stehende Staatsbank aus-
tlben, oder es, vorbehaltlich des Kfickkaufsrechtes, einer zu errichtenden
zentralen Aktienbank flbertragen, die unter seiner Mitwirkung und Aufsicht
verwaltet wird.
Die mit dem Notenmonopol ausgestattete Bank hat die Hauptaufgabe,
den Geldumlauf des Landes zu regeln und den Zahlungsverkehr zu er-
leichtern.
Der Reingewinn der Bank, über eine angemessene Verzinsung beziehungs-
weise eine angemessene Dividende des Dotations- oder Aktienkapitals und
die nötigen Einlagen in den Reservefonds hinaus kommt wenigstens zu
zwei Dritteln den Kantonen zu.
Die Bank und ihre Zweiganstalten dürfen in den Kantonen keiner Be-
steuerung unterzogen werden.
Eine Rechtsverbindlichkeit für die Annahme von Banknoten und an-
deren gleichartigen Geldzeichen kann der Bund, außer bei Notlagen in
Kriegszeiten, nicht aussprechen.
Die Bundesgesetzgebung wird über den Sitz der Bank, deren Grund-
lagen und Organisation sowie über die Ausführung dieses Artikels über-
haupt das Nähere bestimmen.“
• *
*
ln der Botschaft zum Revisionsentwurfe erklärte der Bundesrat. daß
obwohl er sich keineswegs der Überzeugung verschließe, es könne durch
eine Revision des auf dem System der Vielheit der Banken beruhenden
Bankgesetzes eine durchgreifende Reform des schweizerischen Notenbank-
wesens nicht erzielt werden, eine solche vielmehr nur durch die Zentrali-
sierung der Notenausgabe, durch die Schaffung einer mit dem Notenmonopol
ausgestatteten schweizerischen Landesbank zu erreichen wäre, er dennoch
nur den Entwurf eines revidierten Banknotengesetzes auf Grundlage des
bestehenden Systems einbringe, .weil wir daran zweifeln müssen, daß
weitergehende, durchgreifende Reformanträge, denen eine Revision des
Artikels 39 der Bundesverfassung voranzugehen hätte, Aussicht auf An-
nahme finden würden, und zu befürchten wäre, daß mit der Ablehnung
auch diejenigen Verbesserungen an dem gegenwärtigen Zustande, welche
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Die Notenbankfrage in der Schweiz.
63
eine blotäe Revision de3 Gesetzes bringen kann, in die Ferne gerückt
würden.“ :i .
Seit der Annahme des neuen Artikels 39 der Bundesverfassung sind
nun bald 12 Jahre ins Land gegangen; die im Jahre 1891 vom Bundes-
rate geäußerten Befürchtungen trafen vollinhaltlich zu: eg ist bisher den
Trägern der schweizerischen Souveränität nicht gelungen, sich auf ein Bank-
gesetz zu einigen und die Mängel und Schäden des schweizerischen Bank-
notenwesens, die durch eine Revision des Gesetzes zum Teile wenigstens
hätten beseitigt werden können, konnten sich ungehindert zu einer direkten
wirtschaftlichen Kalamität herausentwickeln.
Das Prinzip des Notenmonopols war ausgesprochen; die Frage: Staats-
oder Privatbank blieb der Entscheidung der Legislative überlassen; um diese
Frage entbrannte nun ein leidenschaftlicher Kampf, der bald ins politische
Gebiet überschlug. In unzähligen Brochüren, Flugschriften und Zeitungs-
artikeln wurde die Frage erörtert; die großen wirtschaftlichen Interessen-
verbände der Schweiz, der Grütliverein, der Bauernbund und der schweizerische
Handels- und Industrieverein beteiligten sich intensiv an der Agitation.
Der Bundesrat selbst nahm vorerst eine abwartonde Stellung ein und gab
den Vertretern der verschiedenen Anschauungen Gelegenheit, sieb zu äußern.
Nicht weniger als 10 verschiedene Vorschläge sind nun dem Bundesrate
zugegangen: 1. Projekt, eingereicht von den Freunden einer reinen Staats-
bank (von Mitgliedern der Bundesversammlung ausgehend': 2. Bemerkungen
und Vorschläge von Herrn W. Speiser; 3. Gutachten des Herrn National-
rates Forrer; 4. Eingabe des Banknoteninspektorats; 5. Leitende Ge-
danken zum Ausführungsgesetz zum Artikel 39 der Bundesverfassung, dem
Finanzdepartement eingereicht vom Banknoteninspektor Schweizer;
6. Projekt der Bank in Basel, eingereicht namens der Gruppe der reinen
Privatbanken; 7. Gutachten der gemischten Banken, eingereicht durch die
Kantonalbank von Waadt: 8. Organisationsprojekt der Gruppe dev Kantonal-
banken; 9. Projekt des Herrn Dr. Konrad Esc her; 10. Projekt des Alt-
Nationalrates J. J. Keller.
ln diesen verschiedenen Eingaben kamen im wesentlichen drei Gesichts-
punkte zum Ausdruck. Für die reine Staatsbank traten der linke Flügel der
freisinnigen Partei, vertreten durch Nationalrat Hirter in Bern, die sozial-
politische Gruppe der Bundesversammlung, vertreten durch Nationalrat
Curti, der schweizerische Grütliverein und der schweizerische Bauernbund
ein. Die treibenden Motive waren der allerverschiedensten Natur: bei den
einen, so vor allem bei den Fachmännern, die für die Staatsbank eintraten,
waren es rechtliche und volkswirtschaftliche Erwägungen, bei den anderen
Abneigung gegen das Privatkapital und staatssozialistische Tendenzen, boi
der großen Masse Abneigung gegen die Börse und Spekulation und im
Hintergründe — dies darf nicht verschwiegen werden — schlummerten
unklare Hoffnungen auf billigen Zins und leichten Kredit. Für eine private
Zentralbank traten vor allem die Kreise der haute finance ein und unter
der Führung des schweizerischen Handels- und Industrievereines der Handels-
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54
Laniimann.
stand; politisch vertraten diesen Standpunkt der rechte Flügel der frei-
sinnigen Partei und unter der Führung von Cramer-Frev das liberale
Zentrum und ein Teil der Liberal Konservativen, bei welchen auch die
Abneigung gegen eine Verstärkung der Bundesgewalt mitwirkte, ln der
französischen Schweiz endlich und in den Kreisen der kantonalen Finanz-
politiker erhoben die alten Gegner der Zentralbank die Forderung einei
.Notenbank mit föderalistischer Basis* aufs Schild. Sie schlugen die
Errichtung einer .Bank der Eidgenossenschaft* vor, die die Noten aus-
fertigen sollte, um sie sodann an die bestehenden Emissionsbanken zu ver-
teilen; diese worden ihre besonderen Finnen opfern und zu Filialen des
Zentralinstituts werden, im übrigen aber ihre Selbständigkeit wahren, eine
eigene Direktion und einen eigenen Verwaltungsrat beibehalten, solidarisch
lediglich für die Noteneinlösungspflicht haften und in einer Delegierten-
versammlung und einem Zentralbureau gemeinsame Organe besitzen.
Bedeutungsvoll für den ganzen weiteren Verlauf der Frage war der
im Jahre 1891 vollzogene Wechsel in der Leitung des schweizerischen
Finanzdepartements ; auf den Bundesrat Hammer, einen entschiedenen
Freund des Gedankens einer mit dem Notenmonopol auszustattenden Privatbank,
folgte ein Demokrat, der frühere Vorsteher des Finanzdepartements des Kantons
Zürich, Bundesrat Hauser, eine Persönlichkeit mit ausgebreitetem fach-
männischen Wissen und von ausgeprägt autoritativem Charakter. Nachdem
er zuerst die verschiedenen Vorschläge und Projekte einer sorgfältigen
Prüfung unterzogen hatte, trat er zuletzt ganz auf die Seite der Staatshank-
freunde und legte schon am 30. November 1893 dem Bundesrate seine
Anträge zur Entscheidung der Frage: Staatsbank oder Privatbank? vor, in
welchen er sich zu Gunsten der reinen Staatsbank aussprach und gleich-
zeitig in einer Reihe von Thesen die Art der Ausführung vorzeichnete.
Diese Thesen, auf Grund welcher der Gesetzentwurf nachher ausgearbeitet
wurde, lauteten: .Als Sitz der Bank ist Bern in Aussicht genommen.
Hauptaufgabe der Bank ist, durch eine einheitliche und vorsorgliche
Diskontpolitik den Geldumlauf des Landes zu regeln und durch Ausbildung
des Giro- und Mandatverkehres den Zahlungsverkehr zu erleichtern. Sie hat
ferner den ganzen Knssenverkchr des Bandes uneutgeltlich zu besorgen. Der
Goschäftskreis der Staatsbank wird zu diesem Zwecke auf denjenigen einer
reinen Noten-, Giro- und Diskontobank beschränkt; insbesondere sollen das
Darlehensgeschäft in laufender Rechnung (Kreditoren-Kontokorrent), der
Hypothekarverkehr, das Sparkassewesen, An- und Verkauf von Wertpapieren
für Rechnung Dritter den Kantonalbanken beziehungsweise Privatbanken
erhalten bleiben. Die Kantonalhanken, welche sämtlich kantonalen Gesetzen
unterworfen und kantonalen Behörden verantwortlich sind und Geschäfte
betreiben, welche der Staatsbank verboten werden sollen, können nicht
Filialen dieser letzteren sein. Dagegen wird die Staatsbank vorzugsweise
mit den Kantonalbanken in enge Verbindung treten betreffend die Rück-
diskontierung von Wechseln, die Belehnung von Wertpapieren, den Verkehr
in Check- und Girorechnung, den Inkasso- und Mandatverkehr. Die Staats-
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Die Notenbankfrage in der Schweiz. 55
bank ist ferner befugt, bereits bestehende Notenbanken (staatliche oder
private) mit Aktiven und Passiven, soweit sich deren Übernahme mit dem
der Staatsbank vorgeschriebenen Geschäftskreis verträgt, vertraglich zu
erwerben und als Filialen der Staatsbank zu organisieren. In diesem Sinne
sind mit der Inkrafttretung des Ges-etzes die Unterhandlungen zu eröffnen.
Die unentgeltliche Besorgung des Kassewesens des Bundes ist nicht als
blotler Giroverkehr zu betrachten, sondern als eine Verpflichtung der Staats-
bank und als ein besonderer Geschäftszweig derselben zn behandeln; sie ist
zu verpflichten, für Rechnung des Bundes kostenfrei Zahlungen anzunehmen
und zu leisten, beziehungsweise die Zahlungsmandate der Staatskasse an
ihrer Hauptkasse und allen Filialen einzulösen, immerhin aber nur bis zur
Höhe des jeweiligen Guthabens der Staatskasse. Sie kann ferner verpflichtet
werden, die Verwaltung der dem Bunde gehörenden Wertschriften zu über-
nehmen. Abgesehen vom Zweidrittelanteil am Reingewinn, welchen der
Verfassungsartikel den Kantonen zusichert, sollen letztere an der Beschaffung
des Gründungskapitals der Staatsbank partizipieren dürfen. Die Verwaltung
der Bank soll innerhalb der aufzustellenden gesetzlichen Vorschriften eine
durchaus selbständige, jedem Einfluß der politischen Behörden entzogene
sein. Immerhin steht die Bank unter der Oberaufsicht und Kontrolle der
Bundesversammlung. Nach Ablauf einer angemessenen Frist für den Rück-
zug der alten Noten wird die Staatsbank zur Einlösung aller noch zirku-
lierenden Noten verpflichtet, wogegen die bisherigen Emissionsbanken den
Gegenwert in bar und Diskontowechseln an erstere abzuliefern haben. Die
Bestimmung des gegenwärtigen Bankgesetzes, daß nach Ablauf einer
30jährigen Frist der Gegenwert der nicht zur Einlösung vorgewiesenen
Noten dem schweizerischen Invalidenfonds verfalle, wäre auch in das neue
Gesetz wieder aufzunehmen.*
In der Sitzung des Bundesrates vom 21. Jänner 1891 gelang es dem
Bundesrat Hauser eine Abstimmung des Bundesrates zu erzielen, in
welcher mit 3 gegen 3 Stimmen und Stichentscheid durch das Votum des
Präsidenten die Thesen des Finanzdepartements angenommen und dieses
beauftragt wurde, den Entwurf eines Staatsbankgesetzes auszuarbeiten. Das
Finanzdepartement legte nun am 24. Mai 1894 dem Bundesrate einen
Gesetzesentwurf vor, der vom Bundesrate in der Sitzung vom 5. Juli 1894
behandelt und angenommen und sodann von dieser Behörde mit Botschaft
vom 23. Oktober 1894 der Bundesversammlung vorgelegt wurde. Der
Nationalrat, der in dieser Angelegenheit die Priorität batte, beschloß in
der außerordentlichen Frühlingssession 1895, unter Ablehnung der Rück-
weisungsauträge, das Eintreten auf den bundearätlichen Entwurf und ging
in der nächsten Sommersession zur Einzelberatung über. Die hauptsäch-
lichsten vom Nationalrate am bundesrätlichen Entwurf vorgenommenen
Änderungen bestanden iu Zugeständnissen an die Kautone und betrafen die
Teilnahme derselben an der Beschaffung des Grundkapitals und der Wahl
des Bankrates, die Herabsetzung der Verzinsung des Grundkapitals von
4 auf 37j Proz. und die Erhöhung des Anteils des Kantone am Reingewinn
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56
Landmann.
von zwei Drittel auf drei Viertel. Im Dezember 1895 kam die Vorlage an den
Ständerat, der den meisten der vom Nationalrate angenommenen Ände-
rungen zustimmte, sich jedoch fflr die Wahl aller Mitglieder des Bank-
rates durch den Bundesrat und die Zuweisung des ganzen Beingewinnes
an die Kantone auBsprach. In der nächsten außerordentlichen Märzsession
und in der Junisession 1896 erfolgte zwischen den beiden Räten eine
Verständigung auch Ober diese strittigen l’unkte; es wurde beschlossen,
25 statt nur 15 Proz. des Reingewinnes an den Reservefonds abzufübren,
den ganzen verbleibenden Gewinn aber den Kantonen zu überlassen, welchen
man 10 Kantonsdelegierte im Bankrate zugestand, wählbar durch ein Wahl-
kollegium, in welchem jeder Kanton und Halbkanton durch je ein Mitglied
vertreten sein sollte. Das Gesetz wurde vom Nationalrat« in der Sitzung
vom 16. Juni 1896 mit 89 gegen 27 Stimmen, bei 3 Stimmenthaltungen
und 26 Abwesenden, im Ständerate am 18. Juni 1896 mit 24 gegen
17 Stimmen, bei 2 Stimmenthaltungen, angenommen und mit dem Datum
vom 18. Juni 1896 als .Gesetz über die Errichtung der schweizerischen
Bundesbank* am 10. Juli 1896 im Bundesblatte veröffentlicht.
Unmittelbar nach der Verabschiedung des Gesetzes wurde seitens der
Gegner des Staatsbankgesetzes eine rege Referendumsbewegung ins Leben
gerufen,1) an der sich natürlich auch die Gegner der Zentralbank überhaupt
in jeder Form lebhaft beteiligten, und angesichts der seit Jahren schon
vorhandenen Erhitzung der Gemüter fiel es nicht schwer, in kurzer Zeit
mehr als die doppelte Anzahl der gesetzlich erforderlichen 30.000 Unter-
schriften aufzubringen. Obwohl schon im Oktober 1896 in der Bundeskanzlei
die mit 79.123 Unterschriften bedeckten Referendumsbogen eingelaufen waren,
setzte der Bundesrat durch Beschluß vom 30. Oktober die Volksabstimmung
erst auf den 28. Februar des nächsten Jahre3 an, während welcher langen
Zwischenfrist die Agitationsreisen und Vorträge für das beanstandete Gesetz
nicht aufhörten. Ungeachtet dieser Anstrengungen wurde dasselbe jedoch mit
255.984 gegen 195.764 Stimmen verworfen und was noch ausschlaggebender
war, von der Mehrheit in 16 Kantonen und Halbkantonen; bejahend stimmte bloß
die Volksmehrheit in Zürich, Bern, Glarus, beiden Basel, Schaffhausen, Appen-
zell a. Rh., Aargau und Thurgau. Die romanische Schweiz stimmte völlig
geschlossen dagegen; in Züiich, Bern. Aargau ergaben sich starke Minderheiten.
Je nach dem politischen Standpunkte, den man einnimmt, wird man
das Zahlenergebnis dieser Volksabstimmung verschieden zu interpretieren
geneigt sein; das Eine steht aber fest:’) daß die 200.000 Schweizerbürger,
V; Dubois, Une Banque centrale, Chaux de Fonds, 1896; Lombard. Contra la
banque d’etat, (lenere. 1896; r. Watten wyl, Staatsbank and Kriegsgefahr Bern, 1896;
Richard, (legen die .Staatsbank, Zürich, 1897; r. Wattcnwyl, (legen die .Staatsbank,
v. Steiger, Der Sprang ins Ungewisse and Därrenmatt, Eidgenössische Staatsbank
und Berner Kantonalbank, in .Zur Tagesfrage!!*, Bern, 1896.
*) Bundesrat Hauser im Protokoll über die Verhandlungen der vom Bundes-
rat bestellten Expertenkommission betreffend Ausführung von Artikel 69 der Bundes-
verfassung, Bern, 1999, 8. 22 ff.; Hartnng, Die schweizerische Bundesbank, Conrads
Jahrbücher, III. K„ XIII. BJ„ 8. 31 ff.
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Die Notenbankfrage in der Schweiz.
die sieh zu Gunsten einer reinen Staatsbank aussprachen, eine homogenere
Masse darstellen als die 260.000, die gegen das Gesetz stimmten. Unter
den Annehmenden können drei Gruppen unterschieden werden: die Linke,
die grundsätzlich gewisse Aufgaben dem Bunde zuweisen will, die über-
zeugten .Staatsbankfreunde und endlich diejenigen, und ihre Zahl war nicht
gering, welche, nur um den herrschenden Zuständen ein Ende zu setzen,
mit ,ja* stimmten, obwohl sie einer Privatbank den Vorzug gegeben hätten.
Unter den Verwerfenden können vier Gruppen unterschieden werden: die
Kreise der politischen Opposition, die bei jedem Referendum grundsätzlich
mit .nein* stimmen und deren Zahl auf etwa 150.000 veranschlagt wird;
die zweite Gruppe der Verwerfenden lieferte in der Hauptsache die romanische
Schweiz, die von der Bundesbank eine Stärkung der zentralistischen Bundes-
gewalt befürchtete und in der unbeschränkten Haftbarkeit des Bundes eine
Vermischung des Bundes- mit dem Bankkredite erblickte; bei der dritten
Gruppe waren es Erwägungen kantonal-finanzpolitischer Natnr. Befürchtungen
einer Schmälerung der Kantonseinnahmen infolge des Sinkens der Rendite
der Kantonalbanken; als vierte Gruppe traten endlich die Kreise des
schweizerischen Handels- und Industrievereines auf, die grundsätzlich nur
einer auf privater Grundlage aufgebauten Zentralnotenbank ihre Zustimmung
zu geben bereit waren.
Der Artikel 39 der Bundesverfassung verlangte auch nach der Volks-
abstimmung die Schaffung einer zentralen Notenbank und eine ganze Reihe
von Anzeichen sprach dafür, daß auch die Gegner des verworfenen Ent-
wurfes oder wenigstens ein Teil derselben von der Notwendigkeit der
Zentralisierung der Emission trotz des negativen Volksentscheides durch-
drungen seien.1)
In der unmittelbar nach der Volksabstimmung abgehaltenen außer-
ordentlichen Märzsession 1897 der Bundesversammung sind im Nationalrate
gerade aus Kreisen, aus welchen die schärfsten Angriffe gegen die Staats-
bank ausgingen, zwei Motionen eingebracht worden, die beide die Errichtung
eines zentralen Noteninstituts im Auge hatten. Die erste dieser Motionen.
Motion Gaudard und Genossen, lautete: .Der Bundesrat wird eingeladen,
in einer der nächsten Sessionen Bericht und Gesetzentwurf betreffend die
Errichtung einer Nationalbank vorzulegen, welche beschränkte Haftbarkeit
und eine vom Staate unabhängige juristische Persönlichkeit besitzen und
deren Kapital durch den Bund, die Kantone und eventuell die Kantonal-
banken geliefert werden soll. Die Nationalbank soll ihren Sitz in Bern
haben. Das Gesetz wird den Wahlmodus ffir die Organe der Bank fest-
stellen, welche unter der Leitung und Aufsicht des Bundes stehen soll.*
Die zweite Motion ging vom Nationalrat C r a m e r- Fr ey, Präsidenten
des schweizerischen Handels- und Industrievereines, aus und lautete: .Der
Bundesrat wird eingeladen, unter Würdigung des Volksentscheides vom
l) Feibelmann. DU swriierUchen Notenbanken und der gegenwärtige Stand der
Zentralisationsfrage. Zeitschrift für die gesamte Staatawissensehaft, 1397, S. 633 tf
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58
Laadmann
28. Februar 1897 und mit möglichster Beförderung einen neuen Gesetzes-
entwurf betreffend die Ausführung des Artikels .89 der Bundesverfassung
vorzulegeu.*
Auch der schweizerische Handels- und Industrieverein bat schon während
der Campagne gegen das Staatsbankgesetz die förmliche Verpflichtung über-
nommen, dem Bundesrate unverzüglich den Entwurf eines neuen, auf dem
Boden der zweiten im Artikel 39 vorgesehenen Alternative (zentrale Aktien-
bank unter Mitwirkung des Bundes bei der Aufsicht und Verwaltung)
stehenden Baukgesetzes vorzulegen. Im Mürz des Jahres 1898 wurde dieser
Entwurf dem Bundesrate eingereicht; er wurde zuvor durch die am 5. März
1898 abgehaltene Delegiertenversammlung des schweizerischen Handels- und
Industrievereines einstimmig gutgeheißen.
Der Entwurf dos Handels- und Industrievereines sah eine gemischte
Bank vor: zwei Fünftel des Bankkapitals sollten von den Kantonen, ein
Fünftel von den bestehenden Emissionsbanken und zwei Fünftel vom Privat-
kapital aufgebracht werden. Auf die finanzielle Beteiligung des Bundes
wurde völlig Verzicht geleistet, und zwar mit der Begründung, daß das
Scheitern der Bundesbankvorlage zunächst auf die Abneigung eines großen
Teiles des Volkes gegen die finanzielle Haftbarkeit des Bundes und gegen
die Verknüpfung des Kredits des Bundes mit dem einer Bank zurückgeführt
werden müsse. Als Hauptsitz der Bank wurde Zürich in Aussicht genommen,
ihr Geschäftskreis auf den einer reinen Giro-, Noten- und Diskontobank
beschränkt; die Dividende wurde mit 4 Proz. nach oben limitiert und der
ganze verbleibende Gewinn den Kantonen zugewiesen. Neben einer General-
versammlung, der im wesentlichen bloß Formalien überlassen werden
sollten, sah der Entwurf als Organe der Bank einen Bankrat vor, zu
welchem die Generalversammlung 25, der Bundesrat 20 Mitglieder und
den Präsidenten wählen sollte und dem die Feststellung der Geschäfts-
berichte und der Jahresrechnung, die Vorbereitung der Vorlagen für die
Generalversammlung und Beschlußfassung bei Abschluß von Geschäften
über 5 Hill. Francs obliegen sollte, ferner einen durch den Baukrat zu
wühlenden Bankausschuß, der zusammen mit der ebenfalls durch den Bank
rat zu wählenden Bankdirektion die Geschäfte der Bank zu leiten hätte.
Zu gleicher Zeit wurde dem Bundesrate ein zweiter Entwurf ein-
gereicht: .Grundzüge für die Errichtung einer schweizerischen Bundesbank.
Als Vorschlag unter Ausschluß des Privatkapitals eingereicht von einer
Gruppe von Mitgliedern der Bundesversammlung.' Dieser Entwurf ging
von den Freunden des vom Volke verworfenen Projektes einer reinen Staats-
bank aus, den Nationalräten Fa von, Gaudard, Heller. Hirter und
Jordan - Martin; das Grundkapital dieser Bundesbank sollte zu einem
Drittel durch die Kantone aufgebracht werden, ein Drittel durch diejenigen
der bestehenden Emissionsbanken, die unter Mitwirkung der kantonalen
Behörden verwaltet werden, und ein Drittel durch den Bund, dem eventuell
auch der durch die Kantone beziehungsweise Kantonalbanken nicht gezeichnete
Teil der Anteilscheine zufallen sollte. Indem aus 60 Mitgliedern bestehenden
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Die Notenbankfraffe iii der Schweiz.
59
Bankrate sollten die Kantonalbanken durch 5. die Kantone durch 25 und der
Bund durch 30 Mitglieder vertreten sein.
Endlich reichte der Alt-Nationalrat J. J. Keller einen dritten Ent-
wurf ein: es sollte eine mit subsidiärer Haftung des Bundes ausgestattete
Bundesbank begründet werden, der das Notenmonopol zu übertragen wäre;
ihr Notenemissionsrecht sollte mit 250 Mill. Francs limitiert werden, wovon
sie 180 Mill. Francs den zur Zeit bestehenden Kantonalbanken unverzinslich
zu überlassen hätte. Die privaten Emissionsbanken sollten des Notenemissions-
rechtes verlustig gehen und als Organe der Bundesbank erklärt werden.
Diese drei Entwürfe lagen der durch das eidgenössische Finanz-
departement nach Bern einberufenen Expertenkommission vor, die in der
Zeit vom 9. Juli bis zum 24. November 1898 tagte. Schon in den
Eröffnungsworten brachte der Bundesrat Hauser seinen Standpunkt zum
Ausdruck, der im wesentlichen dahin ging, die Ergebnisse der Volks-
abstimmung vom 24. Februar 1897 dürften nicht in dem Sinne gedeutet
werden, als ob nun lediglich die Alternative einer mit dem Notenmonopol
auszustattenden privaten Aktienbank noch offen wäre. .Sie werden es mir
nicht fibelnehmen, wenn ich sage, daß ich dem Bundesrate von mir aus
nichts empfehlen werde, was ich vor mir nicht verantworten kann. Das
Maß der Verantwortlichkeit ist bei mir ein größeres als bei Ihnen und
mit einer solchen Gesetzesvorlage bleibt mehr oder weniger für alle Zeiten
der Namen des betreffenden Departementchefs verknüpft. — Ich bin bereit,
Konzessionen zu machen, es fragt sich nur, welcher Art dieselben sind.“
Im wesentlichen durch die Haltung des Bundesrates Hauser beeinflußt,
faßte die Kommission über eine Reihe der Streitpunkte Beschlüsse, mit
welchen auch die Freunde einer Staatsbank sich befreunden konnten, ohne
daß aber das Privatkapital von der Beteiligung an der zu errichtenden
Zentralbank völlig ausgeschlossen worden wäre. Auf Grund dieser Ergebnisse
arbeitete das Finanzdepartement den Vorentwurf eines Bundosgesetzes über
die Errichtung einer zentralen Notenbank aus und nachdem dieser Vor-
entwurf durch eine engere Expertenkommission begutachtet wurde, wurde
am 24. März 1899 den schon im voraus bestellten parlamentarischen
Kommissionen der definitive Gesetzesentwurf überwiesen.
Der neue Entwurf suchte nach beiden Seiten hin Konzessionen zu
machen, allerdings ohne die größere Zuneigung seines Urhebers zur Staats-
bank zu verleugnen.') Je ein Drittel des mit 36 Mill. Francs angesetzten
Grundkapitals der mit eigener juristischer Persönlichkeit auszustattenden
.Schweizerischen Bundesbank* sollte durch den Bund, die Kantone und das
Privatkapital aufgebracht werden; der von den Kantonen nicht beanspruchte
oder bei der öffentlichen Subskription nicht gezeichnete Teil sollte dem
Bunde zufallen. Der Geschäftskreis der Bank wurde analog den Vorschlägen
des schweizerischen Handels- und Industrievereines beschränkt, ffir die Noten-
deckung war eine Metalldeckung durch 40 Proz. und eine Deckung der
') Ssjoui. De U Creation en Suiese d'unc banque centrale d'emission, Paris, 1900.
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60
Landmann
öbrigen 60 Pro z. durch Banen, Diskontowechsel und Devisen vorgesehen.
Vom Reingewinn sollten 15 Proz. vorweg dem Reservefonds zuflie&en, so-
lange dieser 30 Proz. des Grundkapitals nicht erreichte, Bodann eine Dividende
von 4 Proz. verteilt und der ganze übrige Rest an die Kantone abgefQhrt
werden. Unter Ablehnung jeder Generalversammlung wurde als oberstes
Organ der Bank ein aus 75 Mitgliedern bestehender Generalrat bestimmt,
der zu je ein Drittel durch den Bund, die Kantone und die privaten Anteils-
eigner bestellt werden sollte und dessen Präsident und Vizepräsident vom
Bundesrate zu ernennen wären. Diesem Generalrate wurden die Rechte
zugewiesen, die sonst eine Generalversammlung ausflbt. Der Generalrat
sollte ferner aus seiner Mitte 13 Mitglieder des im ganzen aus 15 Mit-
gliedern bestehenden Bankrates wählen; die weiteren zwei Mitglieder, die
die Funktionen des Präsidenten und Vizepräsidenten ausüben sollten, wären
vom Bundesrate zu ernennen. Der Bankrat hätte sich mindestens einmal
vierteljährlich zu versammeln und erhielt als Aufgaben die Feststellung des
Geschäftsberichtes, die Vorbereitung der Vorlagen an den Geneialrat und
die Ausarbeitung der vom Bundesrate zu genehmigenden Reglements zu-
gewiesen; außerdem erhielt er ein unverbindliches Vorschlagsrecht für die
vom Bundesrate zu vollziehende Wahl des Direktoriums. Der Präsident
und Vizepräsident des Bankrates und drei weitere vom Bankrate aus seiner
Mitte gewählten Mitglieder bildeten den Bankausschuß, der die Aufsicht
und die Kontrolle über die Geschäftsführung auszuüben, bei der Festsetzung
der Bankrate sein Gutachten abzugeben und die Lokalkomitees zu wählen
gehabt hätte. Das Direktorium, die eigentliche leitende Behörde, sollte auf
unverbindlichen Vorschlag des Bankrates durch den Bundesrat für eine
Amtsperiode von sechs Jahren gewählt werden; es sollte aus 3 — 5 Mit-
gliedern bestehen und gemeinsam mit dem Bankausschusse operieren. Der
Bundesrat nahm für sich auch das Recht der Wahl der Lokaldirektoren in
Anspruch, während die Revisionskommission vom Generalrate zu wählen
gewesen wäre. Das Privilegium sollte der Bank für 20 Jahre erteilt und
in den Obergangsbestimmungen den bestehenden Emissionsbanken 2 '/j Jahre
FriBt zum Einzug ihrer Noten gegeben werden. Als Sitz der Bank wurde
Bern bestimmt.
Die nationalrätliche Kommission behandelte den Entwurf in den Tagen
vom 19 — 22. April, das Plenum des Nationalrates hatte ihn in der Juni-
session durchberaten und in der Schlußabstimmung vom 13. Juni 1899
mit 92 Ja gegen 23 Nein und 30 Stimmenthaltungen angenommen.
Die vom Nationalrate am bundesrätlichen Entwurf vorgenommenen
Änderungen wareu bloß nebensächlicher Natur. Er ersetzte den in der
Vorlage gebrauchten Ausdruck .Hauptsitz* durch .Zentralsitz*, von der
Erwägung ausgehend, daß dieser Ausdruck zutreffender und für die Be-
deutung der einzelnen Plätze weniger präjudizierend sei; der Zentralsitz,
d. h. der Sitz der Zentralverwaltung, könne gesetzlich in Bern festgelegt
werden, zu Hauptsitzen würden sich aber naturgemäß die großen Handels-
plätze entwickeln, Zürich, Basel, Genf. St Gallen. Ferner hat der National-
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Die Xotenbankfr&ge in der Schweiz. 61
rat die Wahl des Vizepräsidenten des Qeneralrates der Kompetenz des
Bundesrateg entzogen und sie dem Qeneralrate selbst zugewiesen und
die Dauer des Privilegiums auf 15 Jahre reduziert.
Die ständerätliche Kommission hatte sich zwar auch rechtzeitig zur
Beratung des Entwurfes versammelt, beantragte aber, nachdem der National-
rat das Gesetz bereits verabschiedet hatte, zu Beginn der Dezembersession
1899, in dieser Session in die Beratung des Gegenstandes nicht einzu-
treten. Es schien den Mitgliedern des Ständerates nicht opportun, ihre
Beratungen Aber die Baukvorlage in einem Augenblicke zu beginnen, da
der Wechselkurs auf Frankreich 50 Punkte über dem Goldpunkte stand,
da diese Tatsache wohl geeignet gewesen wäre, ihre Vertretung der
Interessen der Kantonalbanken und der kantonalen Bankpolitik in einem
ungünstigen Lichte erscheinen zu lassen.
Erst in der Dezembersession 1900 gelangte die Vorlage im Ständerate
znr Beratung und konnte in der gleichen Session schon von ihm verab-
schiedet werden. In sieben Punkten wiesen die Beschlüsse des Ständerates
wesentliche Änderungen gegenüber der bundesrätlichen Vorlage und den
Beschlüssen des Nationalrates auf. Im Interesse der Privat- und Kantonal-
banken nahm der Ständerat der Bundesbank das Recht der Annahme
verzinslicher Depositen, mit einer Ausnahme für den Verkehr mit der
Bundesverwaltung, und das Recht der Annahme von Wertschriflen zur Ver-
wahrung und Verwaltung; er erhöhte die Dividende auf 41/, Pro'z.; er übertrug
die Wahl der dem Direktorium am Hauptsitze der Bank unterstellten Beamten
und Angestellten dem Bankausschuß und die des Personals der Filialen den
lokalen Bankkomitees; er verlängerte die erstmalige Dauer des Bankprivilegiums
von 15 auf 20 Jahre, mit zehnjähriger Prolongationsperiode und die Frist
zum Rückzug der bisher zirkulierenden Noten von 2% auf 3 Jahre mit
entsprechender Reduktion der vierteljährlichen Einlflsungsquoten von l/,0 auf
*/„ der Emissionssumroe; außerdem sollte die Bundesbank den bisherigen
Notenbanken den Rückzug der Noten durch Vorschüsse auf Wertpapiere
nach Möglichkeit erleichtern; endlich sollte die Bezeichnung Zentralsitz
wieder durch .Hauptsitz* ersetzt und dieser von Bern nach Zürich verlegt
werden, wofür die Stadt Zürich einen geeigneten Bauplatz für das Bank-
gebäude oder einen entsprechenden Geldbetrag zu leisten verpflichten
werden sollte.
Im Mai 1901 wurden die Abänderungen des Ständerates vom
Nationalrate behandelt und in der Junisession des gleichen Jahres sollten
die noch bestehenden Differenzen ausgeglichen werden. Die Ausgleichs-
Verhandlungen begannen im Nationalrate. Er hielt fest an seinen Beschlüssen
betreffend die Bezeichnung .Zentralsitz*, den Sitz der Zentrale in Bern, die
Annahme von Wertschriften zur Verwahrung und die Dividende von 4 Proz.;
er stimmte hingegen den ständerätlichen Beschlüssen zu, wonach der
Bank nur im Verkehre mit den Bundesbehörden das Recht zur Annahme
verzinslicher Deposition zustehen sollte. In den weiter folgenden Verhand-
lungen stimmte der Ständerat zuerst der Bezeichnung .Zentralsitz* zu,
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62
Lantlmann.
hielt jedoch an der Dividende von 41/, Pro*., am Verbot der Annahme der
Wertschriften zur Aufbewahrung und Verwaltung und an der Verlegung
des Zentralsitzes nach Zürich fest Nachdem dann der Nationalrat seine
Beschlösse in Bezug auf diese drei Punkten als definitiv erklärt hatte,
stimmte der Ständerat zwar in der ersten zwei Punkten den Beschlössen
des Nationalrates zu, entschied sich aber, in vollem Bewußtsein, daß die
Vorlage dadurch zum Scheitern gebracht wird, abermals für Zürich als
Zentralsitz, worauf der Präsident des Ständerates kalt lächelnd verkünden
konnte: „Sie haben sich somit för Zürich als Sitz der Bank ausgesprochen.
Da der Nationalrat erklärt hat. definitiv bei seinem Beschlüsse zu beharren,
so ist das Gesetz somit nicht zu Stande gekommen“.1)
Das Scheitern der Vorlage hat innerhalb der Kreise der Bundes-
versammlung selbst eine verschiedene Interpretation gefunden: die einen
erklärten das Verhalten des Ständerates als Ausfiull einer starken Abneigung
der Mehrzahl seiner Mitglieder gegen die Idee der Zentralbank überhaupt;
die anderen wollten es aus lediglich taktischen Erwägungen heraus erklären:
das Gesetz, gegen welches das Referendum gewili angerufen worden wäre,
hätte gar keine Aussicht gehabt, beim Volke dnrehzudringen, die romanische
Schweiz und die durch die Konzession an das Privatkapital gegen das Gesetz
voreingenommene äußerste Linke hätten gemeinsam mit den Vertretern der
kautonalen Finanzinteressen bei der Volksabstimmung das Gesetz mit Wucht ver-
worfen, und es seien daher Opportunitätserwägungen gewesen, die den Ständerat
veranlaßt hätten, die zwischen den beiden Räten vorhandene Differenz zum Vor-
wand zu nehmen, um deu Gesetzentwurf zum Scheitern zu bringen, statt ihn
durch ein Referendum verwerfen und den damit verbundenen erbitterten und
unerquicklichen Kampf zum zweiten Male das Land durchziehen zu lassen. ’)
') Es hat somit drn Anschein, daß die Bankvorlage lediglich an der Rivalität
der Städte Bern und Zürich scheiterte. Betrachtet man aber genaner die Resultate der
einzelnen Abstimmungen, so sieht man, daß diese Rivalität lediglich zum Mittel anderer
Interessen verwertet wurde.
Datum <l»r Abstimmung. Zahl <tor abgegebenen Stimmen ffln
7. Dezember
1900 .
. . . St.-R. Zürich
24
Bern
16
18. Juni
1901 .
. . . N.-K. „
58
69
26. Juni
1901 .
. . . St.-R. „
29
14
27. Juni
1901 .
. . . N.-K. „
50
81
28. Juni
1901 .
. . . St.-R. „
•24
„
17
In der Abstimmung des Nationalrates vom 18. Juni erhielt Bern 69 Stimmen, in
der vom ’Si. Juni 81 Stimmen; woher rührt dieser Zuwachs? Die dein Gedanken
einer Zentralbank mehr oder weniger feindlich gegeniiberstehendeii, im Ständerate über
die Majorität verfügenden und auch im Nationalrate stark vertretenen Sachwalter der kanto-
nalen Finanzinteressen, die ein Scheitern der Vorlage wünschten, stimmten im St&nderate
am 26. Juni geschlossen fiir Zürich, im Nationalrate tag« darauf geschlossen für Bern,
und abermals tags daran! im Ständerate für Zürich. Da sie ferner im Nationalrate für
die Definitiverklärung des Beschlusses stimmten, und eine Majorität für Bern im «Stänie-
rate ausgeschlossen war, so war ein Scheitern der Vorlage unvermeidlich, ohne daß der
Ständerat es nötig gehabt hätte, in den rein sachlichen Fragen dem Nationalrate
seine Zustimmung zu versagen, was immerhin einen schlechten Eindruck gemacht hätte.
*) Sten. Bull., Aprilseision 1902, S. 95.
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Die Notenbankfrage in der Schweiz.
63
Durch das Scheitern der Vorlage ist der Kampf um die Zentralbank,
der die letzten 15 Jahre der schweizerischen ßaukpolitik beherrschte, zum
toten Punkte gelangt. Beide im neuen Artikel .19 der Bundesverfassung
vorgesehenen Alternativen versuchte man nach einander zu verwirklichen,
ohne daß es gelungen wäre, die Frage um einen Schritt vorwärts zu
bringen: sie befindet sich heute in demselben Stadium wie unmittelbar nach
der Verfassungsrevision vom Jahre 1891. Heute, wie vor elf Jahren, wird
das verfassungsmäßig ausschließlich dem Bunde zustehende Hecht der
Banknotenausgabe von 36 kantonalen und privaten Instituten ausgeübt, und
so sehen wir uns dem, jedenfalls nicht normalen Zustande gegenüber daß
die Bestimmungen der Bundesverfassung und die zu Hecht bestehende
Organisation des Notenbankwesens sich in direktem Widerspruche befinden.
Nachdem die zweite Vorlage eines Bankgesetzes am Widerstande des
Ständerates gescheitert war. machte sich auf der ganzen Linie große
Verzagtheit geltend; mancherorts wurde die Frage aufgeworfen, ob es
überhaupt möglich sein werde, einen Ausweg zu finden, der allen einander
widerstreitenden Interessen gerecht werden könnte. Aus den Kreisen der
Gegner einer Zentralbank wurden nun Stimmen laut, das Scheitern der
Vorlage bedeute nicht notwendigerweise einen Schiffbruch aller Hofinungen,
die sich an die Annahme des Gesetzes knöpften: die zweifellos vorhandenen
Mängel der heutigen Bankverfassung könnten beseitigt und eine lieihe von
Verbesserungen könnte durchgefflhrt werden, wenn die gesetzgebenden
Behörden die Schaffung einer zentralen Notenbank ffirs erste in den Hinter-
grund rflckeu und eine Hevision des Bankgesetzes vom Jahre 1881 in Angriff
nehmen wollten. Ihren parlamentarischen Ausdruck fand diese Strömung in
der am 17. Dezember 1901 im Ständerate eingebrachten Motion von Arz
und Mitunterzeichner, die in der Sitzung des Ständerates vom 18. April
1902 erheblich erklärt und dem Bundesrate Oberwiesen wurde.
Die Motion von Arx lautet: .Der revidierte Artikel 39 der Bundes-
verfassung sieht die Gründung einer mit dem Banknotenmonopol ausge-
rösteten Bundesbank vor. Alle bisher zur praktischen Durchführung dieser
Forderung gemachten Anstrengungen sind entweder am Widerstand des
Volkes oder an der Uneinigkeit der Behörden gescheitert. Ob eine Aus-
gleichung der bestehenden Gegensätze in absehbarer Zeit gefunden werden
kann, scheint dermalen mehr als zweifelhaft. Anderseits haften unserem
Banknotenwesen Übelstände an, welche dringend der Abhilfe rufen und
deren Abstellung nicht auf Jahre hinaus verschoben werden sollte. Die
Unterzeichneten laden deshalb den Bundesrat ein, zu untersuchen und der
Bundesversammlung Bericht zu erstatten, ob nicht das Gesetz vom 8. März
1881 Ober die Ausgabe und Einlösung von Banknoten einer Revision zu unter-
werfen sei, und ihr bejahendenfalls einen bezüglichen Gesetzesentwurf zu unter-
breiten. Unbeschadet der Hevision des Banknotengesetzes soll die Durchführung
des revidierten Artikels 39 der Bundesverfassung weiter verfolgt werden.“
Als die wesentlichsten Punkte, die anläßlich einer derartigen Hevision
ins Auge zu fassen wären, wurden in der Sitzung des Ständerates vom
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H4
Landmann.
18. April 1902 durch den Ständerat von Arx die folgenden bezeichnet:
1. Begrenzung der Notenemission durch den Bundesrath oder die Bundes-
versammlung; 2. Festsetzung der prozentualen Anteile der Kantone an der
Gesamtemission, nach Maßgabe ihrer bisherigen Notenausgabe, der
Bevölkerungszahl und ihrer wirtschaftlichen Bedeutung; 3. Einräumung der
Befugniß an den Bundesrat, nötigenfalls eine Beschränkung der Gesamt-
notenemission anordnen und die einzelnen Emissionsbanken zu einer ver-
hältnismäßigen Reduktion ihrer Notenzirkulation anhalten zu dOrfen;
4. Deckung der gesamten Notenzirkulation durch Barschaft und Wechsel;
5. Verpflichtung der Banken, die Beschlösse des Diskontokomitees als ver-
bindlich anzuerkennen und zu befolgen; 6. Gründung einer zentralen
Abrechnungsstelle als staatliches Organ; 7. Besteuerung der Emissionsbanken
nach der Höbe der wirklichen Notenzirkulation statt der bisherigen Besteuerung
nach Maßgabe der bewilligten Emissionssumme: 8. Schaffung einer ein-
heitlichen schweizerischen Banknote, zu deren Einlösung alle bestehenden
Emissionsbanken solidarisch verpflichtet wären.
Über die Nützlichkeit der hier vorgeschlagenen Reformen ist es kaum
nötig, ein Wort zu verlieren; es unterliegt keinem Zweifel, daß wenn es
gelingen würde, diese Reformvorschläge zu verwirklichen, die krassesten der
heute vorhandenen Auswüchse der schweizerischen Bankverfassung beseitigt
werden könnten. Daß aber mit dem Erlaß einer Novelle zum bestehenden
Bankgesetz nicht alle diese Auswüchse beseitigt werden könnten, und daß
vor allem auch dann die 36 Banken nicht in der Lage wären, den währungs-
politischen Aufgaben einer zentralen Notenbank gerecht zu werden, kommt
in der eingangs wiedergegebenen Motion von Arx selbst zum Ausdruck, die
in einer Revision des bestehenden Bankgesetzes lediglich eine Vorarbeit für
die Schaffung einer zentralen Notenbank sehen will.
Fragen wir nach den Aussichten der Motion von Arx, so scheinen uns
drei Reihen von Gründen dafür zu sprechen, daß weder der Bundesrat noch der
Nationalrat geneigt sein dürften, dieser Anregung Folge zu leisten. Sie stößt
auf Schwierigkeiten verfassungsrechtlicher, prinzipieller und politischer Natur.
Der Artikel 39 der Bundesverfassung vom Jahre 1874 gab dem Bunde
die Kompetenz, im Wege der Gesetzgebung Vorschriften über die Ausgabe
und Einlösung von Banknoten zu erlassen; er wurde durch die Verfassungs-
änderung vom Jahre 1891 aufgehoben, und das gegenwärtige eidgenössische
Verfassungsrecht überträgt dem Bunde das Monopol der Banknotenausgabe,
überläßt der Legislative die Entscheidung über die Art der Ausübung dieses
Monopolrechtes, enthält aber keinerlei Bestimmungen, die als verfassungs-
mäßige Grundlage einem auf der Basis des Systemes der Bankvielheit
stehenden Bankgesetze dienen könnten. Zwar wurde anläßlich der Beratung
der Motion von Ari im Ständerat die Ansicht geäußert, der alte Artikel 39
der Bundesverfassung stehe solange in Kraft, bis der neue nicht durch-
geführt ist,1) doch steht diese Ansicht in direktem Widerspruche zum
Ingreß des neuen Verfassungsartikels: .Artikel 39 der Bundesverfassung
') Stand, -rat Usteri in der Sitzung rout 18. April 1902, Sten. Bull. S 101 ff.
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Die Notenbankfrage in der Schweiz.
65
wird aufgehoben und an seine Stelle folgender Artikel gesetzt*: wenn ferner
im Ständerate die Ansicht zum Ausdruck kam. der neue Artikel 39 der
Bundesverfassung bedeute eine Erweiterung der Bundeskompetenzen und
schliesse deshalb eo ipso die früheren Kompetenzen der Bundesgewalt
implicite ein, so wurde dieser Auflassung mit Recht entgegengehalten, >)
der neue Artikel 39 sei keine Erweiterung des alten, die beiden schließen
vielmehr einander aus, und es unterliegt keinem Zweifel, daß weder der
Bundesrat noch der Nationalrat sich bereit linden werden, um zu einer so
flagranten Verfassungsverletzung die Hand zu bieten, wie dies eine Revision des
Bankgesetzes auf Grund eines außer Kraft gesetzten Verfassungsartikels wäre.
Eine Revision des Bankgesetzes würde eine neuerliche Abänderung des Artikels 39
der Bundesverfassung voraussetzen, für die weder in den eidgenössischen
Räten und noch viel weniger im Volke eine Majorität zu finden wäre.
Zwei weitere, schwerwiegende Reihen von Erwägungen scheinen uns
gegen eine Revision des Gesetzes zu sprechen.
Vorerst Erwägungen politischer Natur: es ist klar, und wird selbst von
den Vertretern der Idee einer Revision des Gesetzes vom Jahre 1881 zu-
gegeben, daß eine derartige Revision, wenn sie wirklich eine Sanierung
der Verhältnisse nach sich ziehen sollte, notwendigerweise tiefeinschneidend
sein müßte, eine Beschränkung des Geschäftskreises der Banken, eine
Erhöhung der metallischen Notendeckung und eine Verschiebung in der
Gliederung der Anlage zu Gunsten der weniger rentablen kurzfristigen
Anlagen zur unumgänglichen Voraussetzung hätte, was in der Folge ein
Sinken des Erträgnisses dieser Banken nach sich ziehen würde. Damit
wäre aber auch die Opposition der Vertreter der fiskalischen Interessen der
Kantone wachgerufen, die sich gegen eine derartige Revision des Gesetzes
ebenso sträuben würden, wie gegen den Plan einer Zentralbank. Und nicht mit
Unrecht wurde denn auch hervorgehoben, daß die eventuellen Vorteile einer
Revision des Gesetzes nicht bedeutend genug wären, um den Aufwand der
politischen Kräfte zu lohnen, der nötig wäre, um diese Opposition zu überwinden.
Zuletzt sprechen Erwägungen prinzipieller und taktischer Natur gegen
eine Gesetzesrevision. Denn wenn auch in der Motion von Arz der Hoffnung
Ausdruck gegeben wurde, es könne unbeschadet einer späteren Durchführung
des Artikels 39 der Bundesverfassung eine Revision des gegenwärtig zu
Kraft bestellenden Bankgesetzes vorgenommen werden, so würde doch
tatsächlich eine Revision des Gesetzes den Erfolg haben, daß sie die
Errichtung einer zentralen Notenbank wenn nicht völlig verhindern so
doch gewiß in weite Zukunft rücken würde. Eine künstliche Verlängerung
des gegenwärtig herrschenden Zustandes aber ist weder im Interesse der
schweizerischen Volkswirtschaft gelegen, noch mit den Ergebnissen der
Volksabstimmung vom 18. Oktober 1891 in Einklang zu bringen.
Wir glauben deshalb nicht fehl zu gehen, wenn wir auf Grund all dieser
Bedenken den Schluß ziehen, daß einer Verwirklichung der in der Motion von
A r i zum Ausdruck gelangten Tendenzen kaum geringere Schwierigkeiten
•) Ständerat Scherl) in derselben Sitzung, a. a. 0. S. 103 !f
2eit«rbrlfl fAr VolkiwiriMhtft, Koeiilpolitlk und Verwraltnng. XII. Hand. 5
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66
Landrnann.
entgegenstehen als es jene waren, die bis heute die Errichtung einer Zentralbank
unmöglich machten. Daß dieser letztere Plan aber, trotz der Hindernisse, die
seiner Verwirklichung entgegenstehen, immer noch hochgehalten wird, beweist
die Antwort, die aus den Kreisen des Nationalrates der ständerätlichen Majorität
nach dem Scheitern der zweiten Hankvorlage erteilt wurde.
Nachdem am 28. Juni 1901 der Präsident des Ständerates die Bank-
vorlage als nicht zu stando gekommen bezeichnete, wurde am 29. Juni
durch mehrere Mitglieder der gouvernementalen Linken und der socialpoliti-
schen Gruppe des Nationalrates folgende Motion gestellt:
»Der Bundesrat wird eingeladen, den eidgenössischen Bäten be
förderlich einen neuen Gesetzentwurf zur Ausfflhrung des Artikels 39 der
Bundesverfassung vorzulegen, wesentlich auf Grundlage des verworfenen
ßundesgesetzes vom 18. Juni 1896 (reine Staatsbank! und unter möglichster
Berücksichtigung der Interessen der Kantonalbanken.*
Wir dürfen an dieser Stelle von der Tendenz der Motionsteller, an das
Gesetz vom 18. Juni 1896 anzuknöpfen, fflglich abseben: wie so oft schon wird
auch diesmal ein Kompromiß zwischen den beiden Parteien geschlossen werden
können, und wenn dieses Kompromiß mehr zu Gunsten der Anhänger einer reinen
Staatsbank ausfallen sollte, so wäre dies nur eine natürliche Konsequenz der
Erfahrungen, diewährend der Beratungen der zweiten Bankgesetzvorlage gemacht
wurden, und die geeignet waren, den Nachweis zu erbringen, daß Konzessionen
nach der Seite des Privatkapitals eine Verstimmung in einem Teile der Freunde
der Idee einer Zentralbank zur Folge haben, ohne gleichzeitig für diese Idee
von der zweiten Seite her eine entsprechende Anzahl neuer Anhänger zu werben.
Überblicken wie die Gruppierung der Machtfaktoren von der zuerst
in den eidgenössischen Räten der weitere Verlauf der Bankfrage abhängt, und
die bei eventuellen Volksabstimmungen entscheidend sein wird, so scheint
uns die Situation gegenüber der Gruppierung anläßlich der Volksabstimmung
vom 24. Februar 1897 nur nach einer Richtung hin eine Verschiebung
erlitten zu haben. Heute wie damals würden für eine zentrale Notenbank
die Kreise der politisch linksstehenden Parteien stimmen, ein großer Teil
der Kreise des Handels und der Industrie, ein Teil des Bauernstandes
und endlich alle, die die Bankfrage nicht vom politischen sondern vom
volkswirtschaftlichen Gesichtspunkte aus zu betrachten vermögen: dagegeu
würde sich eine Mehrheit der Stimmen der französischen Schweiz ergeben,
die Stimmen der konservativen Parteien und falls ein Gesetz auf der
Basis einer reinen Staatsbank zu stände käme, der Anhang des schweizerischen
Handels- und Industrievereincs. Entscheidend wären somit die Stimmen
derjenigen, für deren Haltung die finanzpolitischen Interessen der Kantone
ausschlaggebend sind, und hier scheint uns eine Verschiebung sich dahin
vollzogen zu haben, daß ihre Zahl heute größer ist als im Jahre 1897.
Die finanzielle Lage der Kantone hat sich in den letzten Jahren
erheblich verschlechtert: 1 1 während ihre Verwaltungsausgaben im Jahre
') Steiger, Betrachtangen über den Finanzhaushalt der Kantone and ihre
Beziehungen zum Bund, Zeitschrift für echweizerische Statistik, 1899, S. 29S IT.:
Schweizerisches Finanzjahrbuch. 1901, S. 73 ff, S. 95 ff.; 1902, S. 89 ff.
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Die Notenbankfmgc in der Schweiz.
67
1885 nur 66 MilL Francs betrugen, stiegen sie bis zum Jahre 1891 auf
81 Mill.. bis zum Jahre 1898 auf 11S Mül. und erreichten für das Jahr
1901 rund das Doppelte der Summe für das Jahr 1885, während die
Bevölkerung im gleichen Zeiträume nur um rund 15 Proz. zunahm. Weitaus
das Hauptkontingent der Steuervermehrung fallt auf neue, direkte Steuern
mit Einschluß von verschärften Erbschaftssteuern und einem immer strafferen
Anziehen der Gemeindesteuerschraube. Nicht weniger als 12 Kantone er-
ließen seit dem Jahre 1885 neue Steuergesetze, in 5 Kantonen steht die
Steuerreform auf der Tagesordnung, in 8 Kantonen steht sie unmittelbar
bevor. Wenn es nun auch keinem Zweifel unterliegt, daß die Steuerkraft
in einem viel rascheren Tempo gestiegen ist als die Bevfllkerungszahl,
so beweisen doch die Ergebnisse der kantonalen Volksabstimmungen der
letzten Jahre, daß diese Vermehrung der Steuerkraft durch die neuen
Steuergesetze bereits antizipiert wurde. In vielen Kantonen, so in Zürich,
Bern. Basel — Stadt, Appenzell a. Rh., St. Gallen, Thurgau, Tessin und
Waadt, ist die Steuerschraube bereits am Ende ihrer Ergiebigkeit angelangt;
neue Steuererhöhungen haben hier keine Vermehrung der Einkönfte zur
Folge, sondern lediglich größere Steuerhinterziehungen und mancherorts
Auswanderung der Kapitalien. Auch in den Kantonen, in welchen keine
allzu hohen Steuerquoten erhoben werden, ist man steuermäde und reform-
feindlich: in Solothurn, Bern, Luzern und Aargau sind die neuen Steuer-
gesetze vom Volke verworfen worden, während die bisherigen kantonalen
Einnahmen zur Bestreitung der großen, den Kantonen zufallenden kulturellen
und sozialen Aufgaben nicht hinreichen. Während die Rechnungsergebnisse
noch im Jahre 1896 einen Einnahmenäberschuß von rund einer
Million Francs ergaben, schlossen sie für das Jahr 1898 mit einem Defizit
von etwa 74.000 Frans, für das Jahr 1899 mit einem Defizit von
2,300.815 Francs., welches in den Budgets für das 1901 bis auf
7.577.658 Francs anstieg.
Angesichts einer derartigen Sachlage ist eB erklärlich, daß die Kantone
keine Neigung haben, auf die, wenn auch geringe, Einnahme zu verzichten,
die sie aus den kantonalen Banknotensteuern und aus dem Reingewinn
ihrer Kantonalbanken beziehen. Die Vertreter der Kantone im Ständerate
dürfen hier mit ziemlicher Zuversicht darauf rechnen, daß bei eventuellen
Volksabstimmungen eine nicht geringe Anzahl von Stimmberechtigten sich
vor allem die Frage vorlegt, welchen Einfluß ein neues Bankgesetz auf
die Gestaltung der mit den Steuerverhältnissen so innig verknüpften
kantonalen Finanzen ausüben würde. Gelingt es in irgend welcher Weise
den finanziellen Ausfall zu decken, den die Kantone infolge des Verzichtes
auf die kantonale Banknotensteuer und der Verminderung der Erträgnisse
der Kantonalbanken erleiden würden, dann wäre diese Schwierigkeit für die
Annahme eines Bankgesetzes beseitigt.
Fragen wir nun, wie groß diese Einnahmen sind, so finden wir, daß
das Totale der Einkünfte der Kantone aus ihren Kantonalbanken sich auf
etwa 3'5 Mill. Francs beläuft.
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Einnahmen der Kantone aus den Kantonalbanken,
68
Landinann.
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III. Kantonale Bnnknotenstcner der 14 pri- | 2,997.1 18’69
raten Emnmsionsbanken . . . I 474.871*66
jl Total der Einkünfte der Kantone au« dem Notcnemiasioiwgeschäft . ' 3, 4? 1.4 DÜ- 85
Die Notrnbaukfrage in der Schweiz.
69
Diese Summe setzt sich aus zwei Positionen zusammen: aus den
Nettoablieferungen der Kantonalbanken an die Kantonkassen und aus dem
Ertrage der kantonalen Bunknotensteueru. Der weitaus größte Teil,
2'9 Mill. Francs, entfällt auf die Kantone mit Kantonalbanken, und nur
eine knappe halbe Million Francs auf die Kantone, in welchen die Noten-
emission den Privatbanken überlassen wurde, und die nur durch die Banknoten-
steuer an der Erhaltung des gegenwärtigen Zustandes interessiert sind.
Bei Beurteilung der Frage, wie hoch der Ausfall sich belaufen
dürfte, der den Kantonen durch den Entzug des Einissionsrechtes ihrer
Kantonalbanken erwachsen wird, darf natürlich nicht die Gesamtsumme
von 2'9 Mill. Francs zu Grunde gelegt werden: schon der letzte Entwurf
eines Bankgesetzes bewies die durchgehende Tendenz, den Kantonalbanken
durch die zentrale Notenbank so wenig Konkurrenz als möglich zu bereiten;
diese Tendenz dürfte in einem künftigen Gesetze noch stärker zum Ausdruck
gelangen, und so darf man annehmen, daß die Kantonalbanken bei Er-
richtung einer zentralen Notenbank nur durch Wegfall des Gewinnes aus
der Notenemission betroffen werden.
Wir schlagen bei der Berechnung dieses Gewinnes das gleiche Ver-
fahren ein. das Hclfferich für die Deutsche Reichsbank zum ersten
Male mit Erfolg eingeschlagen hat.1) Verteilt man die verfügbare Barschaft
und die sonstigen Kassenbestände der Kantonalbanken auf die Deckung der
60 Proz. der Notenzirkulation und die Deckung der sonstigen täglich
fälligen Verbindlichkeiten nach dem Verhältnis dieser beiden Passivposten,
so erhält man auf Grund der Durchschnittszahlen für das Jahr 1901 bei
einem Notenumlauf von rund 141 Mill. Francs eine spezielle Notendeckung
von rund 62 Mill. Francs, so daß sich als ungedeckter Notenumlauf in
diesem besonderen Sinne ein Betrag von rund 79 Mill. Francs ergiebt.
Veranschlagen wir die durchschnittliche Rentabilität der Notenanlage auf
4 — ö Proz.. so erhalten wir einen Betrag von 3 — 4 Mill. Francs, den wir
als Bruttoertrag der Notenemission der Kantonalbanken ansehen dürfen.
Ziehen wir von diesem Betrage den Teil der Verwaltungskosten ab, der
sich, nach Maßgabe des Verhältnisses des Bruttoertrages aus dem Noten-
emissionsgeschäft zum Gesamtenbruttoertrag, als spezielle Verwaltungs-
kosten der Notenausgabe qualifiziert, ziehen wir die Kosten der Anfertigung
der Banknoten und den Betrag der an den Bund entrichteten Banknoten.
Steuer ab, so verbleibt als Nettoertrag aus dem Notenemissionsgeschäft
ein Betrag von rund 2-5 Mill. Francs. Stellen wir nuu diesem Verluste
den Gewinn gegenüber, den die Banken über den heutigou hinaus dadurch
erzielen könnten, daß sie nicht mehr verpflichtet sein werden, einen Betrag,
der 40 Proz. der jeweiligen Notenzirkulation entspricht, in ihren Kellern liegen zu
lassen, so glauben wir eher zu hoch denn zu niedrig den finanziellen Ausfall
der Kantone mit 2 Mill. Francs veranschlagen zu dürfen. Wie gering diese
Summe an sich auch sein mag. sie ist, in Anbetracht der sehr bedrängten
*) Helffcrich. a. a. 0., S. 55.
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70
Landmann.
Finanzlage der Kantone groß genug, um sie zur Opposition gegen ein Gesetz
zu veranlassen, das einen Ausfall dieser Summe nach sich ziehen würde.
Und wenn es auch gesetzlich festgelegt wurde, daß der ganze Reinertrag
der zentralen Notenbank nach Verzinsung des Bankkapitals den Kantonen
zufallen soll, so sind von ihrer Seite nicht ganz ohne Berechtigung Zweifel
daran geäußert worden, oh die Bank in den ersten Jahren, in welchen sie
naturgemäß größere Aufwendungen für Organisations- etc. Kosten wird
machen müssen, überhaupt einen über eine normale Verzinsung des Bank-
kapitals hinausreichenden Gewinn ergeben wird. Für die kantonalen Finanzen
aber, die mit steigenden Defiziten nnd dem Mangel an neuen Einnahms-
quellen zu kämpfen haben, fällt ein Ausfall der Einnahme gerade für die
nächsten Jahre schwer in die Wagschale.
Aus diesen Erwägungen heraus stellte im Dezember 1900 anläßlich
der Beratung des zweiten Bankgesetzentwurfes, eine Minorität der stände-
rätlichen Kommission folgenden Antrag: „Als Ersatz für die den Kantonen
durch Entzug der Emission von Banknoten eiwachsende Einbuße hat der
Bundesrat von den zur Ausgabe gelangenden Banknoten der zentralen
Notenbank alljährlich eine Steuer von '/« Proz. zu erheben, welche an die
Kantone nach Maßgabe ihrer Wohnbevölkerung zu verteilen ist". Der
Ertrag einer solchen Steuer wurde auf 1,200.000 Francs jährlich geschätzt.
Daß dieser Antrag nicht angenommen werden konnte, ist selbstverständlich,
wollte man nicht der Bank von vornherein ihre Aufgabe erschweren; der
Antrag zeigt aber den Weg, auf dem es gelingen konnte, die Opposition
der Kantone gegen die Monopolisierung der Banknotenausgabe zu überwinden;
wühl bestimmt der oft zitierte Artikel 5 des Banknotengesetzes vom
8. März 1881 : „Die Ermächtigung znr Notenausgabe begründet keinen
Entschädigungsanspruch der Emissionsaustalteu für den Fall, daß das
Emissionsrecht durch spätere verfassungsmäßige und gesetzliche Bestim-
mungen ganz oder teilweise wieder aufgehoben oder durch Bundesbeschluß
eingeschränkt werden sollte", doch scheint sich der Kreis derjenigen stets
zu erweitern, die zur Ansicht neigen, daß bei der gegenwärtigen Lage der
Verhältnisse Gründe der Billigkeit dafür sprechen, daß der finanziell ver-
hältnismäßig günstig situierte Bund den finanziell bedrängten Kantonen in
irgend welcher Form ein Entgelt für die Einnahmeneinbuße ihrer Kantonal-
bauken angedeihen läßt. Ist dies geschehen, so ist auch die grüßte
Schwierigkeit für die Verwirklichung des Artikels 39 der Bundesverfassung
beseitigt, und wir glauben am Schlüsse dieser Ausführungen der festen
Überzeugung Ausdruck geben zu dürfen, daß der nüchterne Sinn des
Schweizervolkes sich eben so wenig über die Gefahren des gegenwärtigen
Zustandes wird hinwegtäuschen lassen, als er auf die Dauer dieser einen
Schwierigkeit wegen auf die Vorteile des zentralisierten Notenbankwesens
wird Verzicht leisten wollen.
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das Österreichische
GEWERBE IM ZEITALTER DES MERKANTILISMUS ')
VON
HANS R1ZZI (WIEN).
Inhaltsübersicht.
Stil«
I. Vorbemerkungen 71
II. Das Österreichische Gewerbe bis 1650 .* 72
III. Gewerbeverfassung und -Politik bis 1731 74
IV. Das Gencr&lpatent von 1731 und seine Durchführung 82
V. Die tberesianiach-joseflnischen Reformen 87
VI. Sonnenfels’ Grundzüge der Gewerbepolitik 94
VII. Soziale und Ökonomische Lage des Österreichischen Gewerbes in der zweiten
H&lftc des 18. Jahrhundert* 95
VIII. Schluflbemerkungen 100
I.
Gegenstand meiner Untersuchungen bildet die gewerbliche Produktion
und Verfassung jenes Länderkomplexeg, den wir Westösterreich nennen können.
Ungarn, dessen Volkswirtschaft bis vor kurzer Zeit auf rein agrarischer
Basis stand, das sich überdies nie in so engem staatsrechtlichen Konnex
mit den österreichischen Erblanden befand, der eine einheitliche Volkswirt-
schaftspolitik gestattet hätte, muß selbstverständlich wegbleiben. Ebenso
aber auch die östlichen Kronländer, Galizien, Bukowina und Dalmatien;
ihre Vereinigung mit Österreich vollzog sich zu einer Zeit, in der die
gewerbepolitischen Reformen in ihren Grundzflgen zum Abschluß gekommen
waren; sie wurden, im Sinne des damaligen Zentralismus, den neuerworbenen
Gebieten dekretiert, in der stillschweigenden Voraussetzung, daß die gewerb-
liche Entwicklung jener Länder der der westlichen Provinzen konform sei.
■) Vorliegende Abhandlung bildet einen Teil einer größeren Arbeit, die ich auf
Anregung und unter Leitung des Herrn Professors Dr. Karl Oriinberg in dessen Seminar
in Wien seit dem Winter 1901 unternommen habe. Das archivalisebe Material, auf dem
sie beruht, entstammt dem Archiv des k. k. Ministeriums des Innern in Wien. Ebenso
sind die ohne nähere Quellenangabe zitierten Patente und Verordnungen der Patent- und
Zirknlarien-Sammlung desselben Ministeriums entnommen.
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72
Rizxi.
Dali sie hier wesentlich noch in ihrem ersten Stadium, dem des
Hausfleißes, sich befand, wußte oder beachtete man nicht.
Haben wir so das Untersuchungsfeld räumlich abgegrenzt, so erübrigt
noch die Bestimmung des Zeitraumes, auf den die Untersuchung sich
erstrecken soll. Da die gewerbliche Entwicklung im Anschluß an die gewerbe-
politischen Regierungsmaßnahmen zur Darstellung kommen soll, können wir
als Anfangspunkt die Mitte des 17. Jahrhunderts, den Regierungsantritt
Leopolds I.. festsetzen, als den Zeitpunkt, in dem zum ersten Male eine ziel-
bewußte Regierungspolitik systematisch in das Wirtschaftsleben eingreift zur
Hebung des .Kommerzes und Flors der Länder*.
Als Endpunkt nehmen wir die Wende des 18. Jahrhunderts. Hier
beginnt eine neue Kntwicklungsreihe: auf politischem Gebiet die gewerbe-
politische Reaktion unter Franz 1.. die der Anfang vom Ende der zQnftlerisch
merkantilistischen Regierungspolitik wurde, auf gewerblichem der Kampf
des Kleingewerbes mit der Maschine, in dem wir heute noch stehen, und
dessen Endergebnis, in Österreich wenigstens, sich noch nicht abschätzen läßt.
II.
Zuerst einiges zur Vorgeschichte.
Österreich war nie ein gewerbereiches Land. Während des ganzen
Mittelalters und auch in den folgenden Jahrhunderten hatte sich die gewerb-
liche Entwicklung enge an die des Städtewesens angeschlossen. Auf städti-
schem Boden entstand das Handwerk, hier wuchs es im Kampfe mit den
älteren Betriebsformen, Heimwerk uud Stör, heran. Die Schließung der
Zünfte im 15. Jahrhundert bedeutet das vorläufige Ende dieses Prozesses.
Österreich hatte sich von dieser Entwicklung nicht ausschließen könneu;
es hatte die deutsche Agrarverfassung, die dem Gewerbe am Land den
Boden entzog und es nur in seinen kümmerlichsten Betriebsformen leben
ließ, nach und nach mit dem Vordringen des Deutschtums übernommen.
Aber die Entwicklung des Städtewesens hielt mit der im Deutschen Reich
nicht Schritt; während sich hier in Entfernungen von nur wenigen Meilen
Stadt au Stadt drängte, konnten es in Österreich nur wenige Munizipien zu
verhältnismäßiger Bedeutung bringen. Der Umstand, daß der ganze Boden
erst schrittweise besetzt und kultiviert werden mußte, die fortwährenden
Kämpfe, die das Land als Grenzmark zu besteheu hatte, in den Alpcnländern
die natürliche Bodenbeschalfenheit ließen jene Bevölkerungsverdiclitung nicht
zu, als deren Ergebnis Stüdtebildung und Wachstum erscheinen.
Dazu kam die in den Grenzmarken früher und stärker ausgobildete
landesherrliche Macht, die allen autonomen Gewalten einen Damm entgegen-
setzte. Das einzige städtefördernde Element war hier der Handel; wichtige
Handelsstraßen, von den adriatischen Häfen nach Deutschland, die Ost und West
verbindende Donaustraße, bildeten den Stützpunkt, an dem sich Städte ent-
wickeln konnten und entwickelten. Das Hauptelement derselben bildete dem-
gemäß der Handel. Die Gewerbe kamen nie zu jener führenden Rolle, die sie in
den Städten des deutschen Südens und Westens einnahmen. Sie konnten
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Da* österreichische Gewerbe im Zeitalter «les Merkantilismus.
73
nur den gewöhnlichen Bedarf der Bewohner decken; bezog ja Wien sogar
in seiner glänzendsten mittelalterlichen Periode unter den ersten Habsburgern
alle feineren Gewerbeprodukte aus den Niederlanden und aus Deutschland.1
Die Hauptproduktionselemente in den österreichischen Ländern waren
somit die Urproduktion und in den Städten daneben der Handel. Mit den
Überschüssen derselben, Wein und Erzen, sowie mit den im Transithandel
gewonnenen Werten zahlte man die Einfuhr, die übrigens wohl ziemlich
unbedeutend war.
In den Sudetenländern setzt die Städtebildung zwei Jahrhunderte
später als in Deutschland, zu Beginn des 13. Jahrhunderts, unter Haupt-
mitwirkung deutscher Elemente ein und hier scheint es. als ob die rasch
emporschießenden Neugründungen den Vorsprung ihrer deutschen Mutter-
und Schwesterstädte bald erreichen, ja diese überflügeln wollten; so sehr
waren sie von der zentralen Lage des Landes, seinen reichen Bodenschätzen
wie von der trefflichen Merkantilpolitik der ersten Luxemburger begünstigt. —
Aber der erste nationale Kampf in Böhmen, die Hussitenkriege, machte
diesem Aufschwung ein jähes Ende.
Das Jahr 1453, der Fall Konstantinopels, bedeutet in der Entwicklung
des österreichischen Städtewesens eine Katastrophe. Seine Hauptlehensadem,
die beiden Handelswege, waren durchschnitten. Die Vereinigung der öster-
reichischen mit den böhmischen Ländern, 70 Jahre später, konnte den
Vorteil, den sonst ein größeres Staatswesen der Volkswirtschaft bietet, nicht
gewähren, solange diese Gebiete verwaltungstechnisch getrennt, wirtschaftlich
fremd sich gegenüber standen. Die Errichtung einer gemeinsamen Hof-
kammer 1527 hatte dagegen wenig zu bedeuten; sie hatte anfangs nur
finanzielle Agenden. Während aber die österreichischen Länder das ganze
folgende Jahrhundert durch die fortwährenden Türkenkriege zerrüttet und
finanziell erschöpft wurden, regte sich in den Sudetenländern wieder der
gewerbliche Eifer. Die Einführung der Spinnerei und Spitzenklöppclei sowie
der Glasindustrie iu Böhmen, das Emporblühen des Iglauer Tuchmacher-
gewerbes fällt in jene Zeit ln Schlesien stieg die Leinenindustrie rasch zu
solcher Höhe, daß sich ein schwunghafter Export entwickeln konnte und
die Nachbarländer ihre Leinenwaren nach Schlesien zur Veredlung brachten.
Und als der Dreißigjährige Krieg seine verheerenden Fluten Ober ganz
Deutschland ergoß und alle Kultur so gründlich in den Boden stampfte,
daß sie sich ein volles Jahrhundert nicht zu erheben vermochte, da bildete
der Norden Böhmens, das .Königreich Wallenstein*, bis gegen Schluß des
Krieges ein friedliches Eiland, auf dem dank der genialen Industriepolitik
des Friedländers und der gewaltigen Bedürfnisse seiner Armee üevyerbe aller
Art emporblflhten.'l
Währenddessen hatte im benachbarten Österreich die katholische
Reformation die fähigsten Elemente des Bürgerstandes, die betriebsamen
’) Vgl. Fr. Kalenbarg, Dm Wiener Zunftwesen. «Zeitschrift für Surial- und
Wirtschaftsgeschichte. Bd. I.. S. 264 ff und 11.. S. 62 ff.)
*) Vgl. Hallwich, Anfänge der Großindustrie in Österreich. Wien 1898, S. 14—24.
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74
Rizzi.
Arbeiter der Bergwerke und Gewerkschaften, zur Auswanderung genötigt und
so die innere Glaubenseinheit um den teueren Preis des bürgerlichen Wohl-
standes erkauft.
Als Leopold 1. die Kegierung seiner Länder antrat, konnte er mit
Recht beklagen, datt .aller Flor in den Kommerzien und Manufakturen und
alle Tüchtigkeit im Handwerk nur in der Fremde zu sehen seien.*
III.
Das österreichische Gewerbe weist um die Mitte des 17. Jahrhunderts
noch ausschließlich kleingewerhlichen Betrieb auf: in den größeren Städten
war es bürgerliches Handwerk, das in einigen Zweigen und in ganz kleinem
Umfang auf Verlag, zum größten Teil aber auf Bestellung arbeitete; in
kleineren Orten war es überwiegend, am Land ausschließlich Lobnwerk.
Die Organisation war in fast allen Zweigen zünftlerisch. Nur die eigent-
lichen Landgewerbe, Bader. Müller, Leinweber, Halter, Schäffler, hatten es
als Qrundhörige zu keiner Organisation gebracht und galten daher beim
bezunfteten Stadthandwerk als unehrlich.1) Die Zunftprivilegien waren
meist noch mittelalterlichen Ursprungs, von den verschiedenen territorialen
Gewalten verliehen. Sie hatten die öfteren Zunftverbote, ein Charakteristikum
der älteren österreichischen Gewerbepolitik, überdauert, waren immer bald
nach jeder Zunftauflösung wieder aufgetaucht und vom selben Landesherrn,
der sie annulliert, auf ewige Zeiten wieder bestätigt worden.*) Natürlich
enthielten sie in ihrem konkreteren Teile viele gänzlich veraltete Bestim-
mungen.
Alle Handwerksmißbräuche, die wir aus der Geschichte des deutschen
Gewerbes kennen, sind auch in Österreich zu finden: Erschwerung des
Zutritts zum Gewerbe durch hohe Aufnahmsgebühren und Unehrlicherklärung,
willkürliche Preistaxen, steigende Auflagegelder, Gesellenaussperrung und
übermäßige Lehrlingszüchtung von Seite der Meister, Ausstände, Schelten
und Auftreiben, Feiern unter der Woche, übermäßige Handwerksgeschenke
und daran anschließende Gelage der Gesellen.*) — Sie deuten auf eine
unbefriedigende materielle Lage des Handwerks hin.
Versuchen wir nun, die Tendenzen zu charakterisieren, die in der
nächsten Zeit, von innen und außen an das Gewerbe herantretend, seine
Weiterentwicklung beeinflußten. Wir müssen zu diesem Zwecke unsern Blick
auf das Ausland, vor allem auf den europäischen Westen, werfen. Denn
schon hatte Deutschland an diesen seine ehemals in ökonomischer wie
geistiger Beziehung führende Rolle abtreten müssen. Während in langem,
unheilvollem Kriege die deutschen Stämme sich zerfleischten, hatte der
Westen Fortschritte gemacht, die nicht mehr einzuholen waren. Der über-
seeische Handel und das Aufkommen der Manufakturen hatten den Anstoß
gegeben zu jener Wirtschaftspolitik, die wir die merkantilistische nennen; das
‘) Cod. Aastr., I. Bd.. S. 508 u. ff.
2 Vgl. Euleobarg (a. a, 0. I. Bd., 8. 275 ff)
>) Cod. Austr., 1 Bd., 8. 508 u. ff.
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Dm Österreichische Gewerbe im Zeitalter ilee Merkantilismus.
75
goldene elisabethinische Zeitalter und die Ara Crom well und in seiner
prägnantesten Ausbildung das System Colberts in Frankreich bezeichnen
die Siegeslaufbahn einer Richtung, die an der Wiege der Volkswirtschaft
gestanden und sie durch mehr als zwei Jahrhunderte begleitet und groß-
gezogen hat. Dies dürfen wir nicht vergessen, wenn wir von unserem
heutigen Standpunkt aus geneigt sind, die Weisheit der damaligen Staats-
männer und Nationalökonomen als ein mehr oder minder geistvolles Equi-
librieren anzusehen; für seine mechanische Gesellschaftsauffassung künnen
wir dieses juristische Zeitalter nicht verantwortlich machen.
Die allgemeine Bekanntheit mit den Grundsätzen des Merkantilismus
enthebt mich der Aufgabe, auf dieselben näher einzugehen. Ebenso bekannt
ist. daß die deutschen Fürsten, kaum daß sich die Wunden des Krieges
geschlossen, sich auf ein System stürzten, daß ihrem Machtbedürfnis ent-
gegenkam und bereits anderwärts so glänzende Resultate gezeitigt hatte.
Nur auf einen Unterschied müchte ich hinweisen. der seine Erklärung in
den anders gearteten Bedingungen diesseits des Rheins findet.
Während die Merkantilpolitik des Westens ihr Hauptaugenmerk auf
die Vermehrung des Geldes richtet, ist in den deutschen Staaten, die hier
in Betracht kommen — Österreich, Preußen und Sachsen — die Bevölkerungs-
vermehrung der Angelpunkt aller wirtschaftlichen Bestrebungen. Die Ursache
ist klar: Frankreich hatte mit Geld Krieg geführt, Deutschland sein Volk
zum Kampf gestellt. Hier wie in Österreich war die Entvölkerung das
Haupthindernis des wirtschaftlichen Aufschwungs, ln einem Erlaß Leopolds I.
wird darüber geklagt, daß die Türkenkriege den Bevölkerungsstand Nieder-
österreichs so dezimiert hätten, daß sieb nicht einmal die Handwerker zum
Wiederaufbau der nötigsten Wohnstätten fänden, und es wird gestattet, bis
auf weiteres Ausländer ohne Unterschied und auch Unzftnftige dazu zu
verwenden.
Hier konnte nur die neue Regierungskunst helfen und so verschrieb
man sich deren Adepten aus dem Deutschen Reiche.1)
Im Jahre 1666 kam J o h an n Joachim Becher nach Wien. Ein
Jahr vorher hatte man schon den Wirkungskreis für die neuen Lenker
einer neuen Wirtschaftspolitik geschaffen, das Hofkommerz-Kolleg. Becher,
nach ihm Philipp W’ilhelm v. Hörnigk und Wilhelm v. Schröder
wirkten an demselben.
Dem Kaiser handelte es sich vor allem um die Hebung der Steuerkraft der
Bevölkerung; er hatte im Osten seine Erbländer gegen die drohende Türken-
gefahr zu schützen, im Westen den Übergriffen Frankreichs zu begegnen,
und aus jener Zeit stammt ja der berühmte Ausspruch Montecuccolis
über das wichtigste Kriegsbedfirfnis — Geld. Daß sich unter solchen Ver-
hältnissen eine Industriepolitik großen Stils nicht durchführen ließ, ist
begreiflich. Von den verschiedenartigen staatssozialistischen Ideen Bechers*):
l) Vgl. für das Folgende: Hoicher, Die österreichische Nationalökonomie nnter
Kaiser Leopold 1. (Hildebrauds Jahrbücher, 1. Bd., 8. 455).
*) J. J. Bechere, Politischer Diskurs III. K iit . Frankfurt 16SH, 8. ‘J44 H
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76
Rilii.
Errichtung von Provianthäusern zum Absatz der Bodenprodukte, von Werk-
hausern. die gleichzeitig der Strafpflege und Arbeitslosenversorgung dienen
sollten, von Kaufhäusern zui Organisation des Groflhandels und einer
Landesbank zur Regelung des Oeldverkehres kam nur dag Wiener Manu-
fakturenhaus zur Ausführung. Es war für die damalige Zeit eine Muster-
austalt, faßte den Großbetrieb und Absatz einer Anzahl von Gewerben in
sich, wurde aber bei der Türkenbelagerung (1686) in Brand geschossen.
Becher hatte schon vorher (1678) Wien verlassen müssen. Oie Vorschläge
Hörnigks bewegten sich wesentlich in derselben Richtung wie jene
Bechers. Schräder war durch und durch Fiskalist. Von ihm stammt
der Gedanke der Errichtung einer Notenbank, die den Staat mit Papiergeld
versorgen und dem Handel durch Wechseleskomtierung Zahlungsmittel ver-
schaffen sollte.
Charakteristischer Weise kamen nur die kleinen Mittel des Merkan-
tilismus zur Ausführung. Schon 1659 war ein Einfuhrverbot für Luxuswaren,
1665 ein Münzausfuhrverbot, 1689 eine ungemein ausführliche Taxordnung
für alle möglichen Waren und Arbeiten erlassen worden.
In jene Zeit Rillt für Österreich das Aufkommen der Manufakturen,
einer gewerblichen Betriebsform, die, durch die Regierung eingeftthrt, das
ganze folgende Jahrhundert hindurch das Schoß- und Sorgenkind der
wechselnden Staatsleiter wurde.
Machen wir uns zuerst klar, was darunter zu verstehen ist.
Der amtliche Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts wendetdie Bezeichnung
Manufakturen und Fabriken bald abwechselnd, bald gleichzeitig als gleich-
bedeutend an. Dies ist irreführend. Manufaktur ist der weitere Begriff und
bezeichnet, wie 8 o n n e n f e 1 s* i richtig bemerkt, die Herstellung gewerblicher
Produkte für den Verlag. Allerdings setzt derselbe Schriftsteller dann aus-
einander. Manufakturant im engsten Sinne sei gleichbedeutend mit Fabrikant,
demjenigen, der den ganzen Produktionsprozeß vom Rohprodukt bis zum
Kaufgut leite. Dies war aber bei den Mannfakturanten jener Zeit größtenteils
nicht der Fall. Daher hat sich auch die falsche Anschauung von dem Auf-
kommen der Fabriksindustrie zu Beginn des 18. Jahrhunderts und von der
Beeinträchtigung des Kleingewerbes durch dieselbe gebildet. Aber es ist
doch merkwürdig, daß mau erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts und da
nur vereinzelt Klagen des Handwerks,”) das doch sonst eifersüchtig auf
Wahrung seiner Rechte und Interessen bedacht war, gegen die Manufakturen
oder Fabriken begegnet und daß sie erst im 19. Jahrhundert ständige
InvcntarstOcke der zünftlerischen Beschwerden werden. Tatsächlich berührten
manche dieser neuen Betriebe, und zwar diejenigen, die man allenfalls als
Fabriken bezeichnen kann, Zuckerralfinerien, Glashütten, Ölfabriken, die bis-
herige Domäne des Kleingewerbes gar nicht, die weitaus größt« Anzahl aber,
1 Vgl. Sonnenfel», Grundsätze der Polizey, Handlung und Finanz. 3. Anfl Wien
1787. n. Bd„ 8. 149, 150.
*) Vgl. Beer, Die österreichische Industriepolitik unter Maris Theresia.
Wien 1894. S. 16.
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Das Österreichische Gewerbe im Zeitalter des Merkantilismus. 77
nämlich die Textilmaniifakturen. waren ihm eher förderlich. Sie stellten ihre
ganze Produktion im Verlage durch durchwegs selbständige Meister her,
übernahmen nur gewisse technische Verbesserungen, die man bisher nicht
gekannt hatte und besorgten den Vertrieb im gTOßen. So kam es. daß im
18. Jahrhundert Spinner und Weber es zu einer Zunftorganisation brachten,
was doch für die persönliche Unabhängigkeit der Meister spricht. Aber
auch dort, wo der Betrieb sich konzentrierte, wie in den Gewerkschaften
und Hammerwerken, behielten die Meister ihre volle Selbständigkeit und
Organisation. Es fehlte eben das wesentliche der fabriksmäßigen Produktion,
der maschinelle Betrieb und die Arbeitszerlegung.
Daß die Manufakturen, die als kapitalistische Unternehmungen alle
Vorteile der Technik sich zu eigen machen konnten, durch Aufnahme des
maschinellen Betriebs zu Fabriken wurden, ist unbestreitbar. Ebenso scheinen
sie einen zersetzenden Einfluß auf die handwerksmäßige Organisation aus-
geübt zu haben, indem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die
Zilnfte in der Textilindustrie wieder verschwanden. Es zog eben, ein sehr
gewöhnlicher Prozeß, die sachliche Abhängigkeit vom Verleger und Kapi-
talisten die persönliche nach sich. — Ich schließe mich also vollinhaltlich dem
Urteil Bochers an. wenn er behauptet5): .Vor 100 Jahren beherrschte
das Handwerk konkurrenzlos alles das. was es vom Mittelalter übernommen
und im 16. und 17. Jahrhundert noch dazu gewonnen hat.*
Die Kegierungspolitik jener Zeit suchte uun auf jede Weise die Ein-
fohrung der Manufakturen, in denen sie eine Zeitlang eine Panacee gegen
die allgemeine wirtschaftliche Stagnation erblickte, zu fördern. Da dies im
Kähmen des Zunftwesens nicht möglich, auch in österreichischen gewerb-
lichen Kreisen das zum Großbetrieb nötige Kapital nicht aufzutreiben war.
sah man sich gezwungen, ftlr derartige Unternehmungen privilegia privativa
zu erlassen. Sie hatten sowohl den Zweck, den Unternehmer von den Zunft,
schranken zu eximieren. als ihm durch ein auf eine Reihe von Jahren ein-
geräumtes Monopol einen sicheren Gewinn zu garantieren. Solcher Privilegien
wurden zu Ende des 17. und im Anfang des 18. Jahrhunderts eine große
Anzahl verliehen.') So wurde 1691 die erste Wollzeugfabrik Böhmens in
Osseg, 1701 eine Spiegelfabrik in Neuhaus, 1709 eine Ölfabrik in Wien,
1710 eine Tuchmantifaktur in Planitz mit Privilegien und weitgehenden
Verkaufs- und Alleinverkaufsrechten ausgestattet. Ja, der Staat schritt selbst
zur Anlegung von Manufakturen und einzelne Länder ahmten ihm darin nach.
Von der Gründung des Wiener Manufakturenhauses war schon die
Rede. Im Jahre 1672 wurde in Linz eine staatliche Tuchmanufaktur errichtet,
die es bald zu großer Blüte brachte und um 1720 gegen 80.000 Webern
in Oberösteneich und Böhmen Verdienst gab:5) später ging sie in Privat-
s) Vgl. Bücher, Entstehung der Volkswirtschaft. 8. Auf!., S. 208.
') Vgl. Cod. Aostr., lU.Bd., S. 782 f.— Hall wich a a. 0„ 8. 40 ff. K. L. Neumann,
Entwurf einer Geschichte der Zuckerindustrie in Böhmen. Prag 1891, S. 2. Bujatti,
Geschichte der Seidenindustrie iu Österreich.
*) Vgl. F. Nieht, Für da» Kleingewerbe. Wien 1888, HL, S. 4.
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Rizzi.
besitz (Iber, Auch die kärntnerischen Lundstände errichteten in Klagenfurt
eine Landesmanufaktur, die jedoch bald einging. 1718 wurde eine staatliche
Porzellanmanufaktur errichtet und die von Karl VI. ins Leben gerufene
orientalische Kompagnie mit einer Reihe von Fabriksprivilegien aus-
gestattet.
Hier glaubte man den gegen die Zünfte zu Felde geführten Grundsatz
der Bekämpfung des Monopolismus nicht durchführen zu sollen; und in der
Tat waren ja diese Monopolien anfangs der stärkste Hebel zur Überwindung
der Schwierigkeiten, die sich in eiuem kapitalsarmen, volkswirtschaftlich
unentwickelten Staate dem Dnternehmungsgeist entgegenstellten.
Gegen die Zünfte kam es unter Leopolds Regierung noch nicht zu
den erforderlichen durchgreifenden Maßregeln. Zwar hatte schon Becher
ihre Beibehaltung nur bei gleichzeitiger Abschaffung der zutage getretenen
Übelstände befürwortet und als solche bezeichnet; .Das Monopolium, das die
Populosität, das Polipolium. das die Nahrung hemme und das Propolinm,
das die Gemeinschaft zertrenne.* Es wurden auch einzelne Schritte unter-
nommen, die ärgsten Mißbräuche abzustellen; aber es zeigte sich, wie auch
das ganze folgende Jahrhundert hindurch, daß den Zunftmißbräuchen mit
gesetzgeberischen Maßnahmen nicht beizukommen sei. Außerdem machte
sich auch jene ängstliche Scheu, an überkommenen und wie man glaubte,
wohlerworbenen Rechten zu rütteln, bemerkbar, die dem ganz von juristischen
Anschauungen durchsetzten Charakter jener Zeit eigen war. Die römisch-
rechtliche Auffassung der Zunftprivilegien als privatrechtlicher Eigentums-
objekte, die im schroffen Widerspruch zur deutschen stand, welche in den
Zünften Ämter, ständische Organisationen sah,1) verhinderte jede Reform,
die an der Handwerksverfassung selbst Hand anlegen wollt«.
In der Richtung der drei eben angeführten Grundsätze Bechers
bewegten sich einige Verordnungen, die jedoch nur auf dem Papier blieben.
Nachdem der Kaiser schon 1661 von der niederösterreichischen
Regierung und den Ständen sowie von Städten und Märkten Gutachten
eingefordert hatte, kam es endlich 1689 zum Erlaß einer Verordnung, welche
die schreiendsten Mißbräuche, besonders jene, die auf Abschließung der Zunft
und Hochhaltung der Preise zielten, abstellte. *) Zur Hintanhaltung des Poli-
poliums sollte wohl jene Verordnung dienen, die den Bauersleuten .Hand-
thierung und bürgerliche Gewerb mit allerley Pfennwerthen zu treiben,*
durch die .denen Städten und Märkten an ihren Gewerben Abbruch geschieht,*
verbot.’) Ebenso wird das Verbot des Fürkaufs von Lebensmitteln und
Rohprodukten in den Bauernhäusern erneuert.* i Die unzähligen Wieder-
holungen aller dieser Verbote durch das ganze 18. Jahrhundert werfen ein
Schlaglicht auf ihre Wirksamkeit.
') Vgl. Bruder. Über den Verfall der Zünfte zur Zeit des Absolutismus. (Histo-
risches Jahrbuch der Gürres-Gesellschaft, 1. Bd.)
1 Cod. Austr.. I. Bd., S. 462.
*) Cod. Austr.. I. Bd., S. 455.
*) Gleichlautende’ Verbote 1640, 1568. 1570, 1571. (Cod. Austr. I. Bd.. S. 455).
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Das Österreichische Gewerbe im Zeitalter des Merkantilismus.
79
Die kurte, durch Kriegssorgen ausgefüllte Regierungstätigkeit Josefs I.
bewegt sich in derselben Richtung.
Hervorzuheben wäre, daß er 1709 dem bisher unbezunfteten Gewerbe
der Schäffler (Schafscherer) eine Zunftordnung verlieh. Diese waren noch bei
Lebzeiten Kaiser Leopolds darum eingekommen, man möge sie „in den
Ehrenstand versetzen* und ihnen Iunungsartikol verleihen. Leopold hatte
zwar jenen, die mit der Abdeckerei des gefallenen Viehes sich nicht beschäf-
tigten, die Ehrenverwahrung erteilt, die andere Bitte um Zunftprivileg jedoch
zurückgewiesen. Josef verleiht ihnen nun auch Zunftartikel in Anbetracht
dessen, daß .durch solches ihr Begehren die Ehre Gottes nicht allein
befördert, sondern auch unter ihnen Zucht und Ehrbarkeit erhalten werden
könnte.* Die Bestimmungen dieser Artikel sind die damals noch allgemein
flblichen. Interesse verdient nur Artikel IV der Ordnung, der begagt: Die
Obrigkeit ist berechtigt. Freimeister und Gesellen zu machen, die die Zunft
dann anerkennen müsse, .maßen eine jede Obrigkeit am besten wüßte, wer
derselben tauglich und anständig sei.“ Hiemit ist, da die Schäffler ein länd-
liches Gewerbe waren, jedenfalls die Grundobrigkeit gemeint und es läßt
sich diese Durchbrechung der Zunftschranken allenfalls aus dem Verhältnisse
der Grundhörigkeit erklären. Die Annahme aber, daß die Institution der
Freimeister bei den bürgerlichen Gewerben viel älter ist als das bekannte
Scbutzdekreterpatent Karl VI., findet ihre Bestätigung in einer Goldschmied-
ordnung aus dem Jahre 1562, die allen Unbezunfteten die Verarbeitung von
Gold und Silber verbietet, mit Ausnahme derer, denen es vom König
gestattet ist. Vermutlich war diese Bestimmung in allen neueren Zunft-
ordnungen enthalten.
In der Regierung Karls VI. gelangte der Merkantilismus in seinem
vollen Umfange zum Sieg. Sie bedeutet den Anfang jener wirtschafts-
politischen Ära, die sich unter ihm und seinen beiden Nachfolgern in steter
Entwicklung fortbildet, bis ihr Abschluß unter Josef II. eine vom Anfang
wesentlich verschiedene Prägung aufweist. Das wirtschaftliche Prinzip blieb
während dieses Zeitraumes von fast 100 Jahren dasselbe: Vermehrung des
sich in einer möglichst großen Summe wirtschaftlicher Güter äußernden
Volkswohlstands durch staatliche Maßnahmen, deren erste und wichtigste
die Hebung der Bevölkerungsziffer war. Was sich änderte, waren die
treibenden Ideen und die leitenden Persönlichkeiten. Zu Beginn des Jahr-
hunderts das in der römischen Juristenschule und im Kampf um das Welt-
imperium herangereifte Machtbedürfnis eines durch und durch konservativen
Herrschers, an der Neige des Jahrhunderts: salus publica — suprema lex.
Mit voller Energie setzte Karl die Vermehrung der Manufakturen,
die Hebung des Handels durch Errichtung der orientalischen und ostindischen
Kompagnie, durch Anlegung von Verkehrswegen zwischen Zentrum und
Peripherie des Reiches. Ausbau der Häfen und Kreierung zweier Freihäfen
— Triest und Fiume — durch.
Besonderes Augenmerk wandte er der in den Sudetenländern schon zu
hoher Blüte gelangten Leinen- und Tuchroanufaktur zu.
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Kiiii.
Schon 1660 war auf die Beschwerde der holländischen Generalstaaten,
dalt schlesische Kaufleute ein an Länge und Zahl minderwertiges Garn
verkauften, die Aufstellung von Garnbeschauern in den größeren Orten
nngeordnet. damit dem guten Rufe der Landesmanufakturen bei fremden
Nationen kein Eintrag geschehe. Patente in den Jahren 1698, 1708. 1711
hatten sich eingehend mit Qualität und Quantität des zu verkaufenden
Garns beschäftigt. Am 27. September 1714 erging ein ausfflhrlicheres Patent.
Als Illustration zur merkantilistischen Gesetzgebung fahre ich hier seine
wesentlichsten Bestimmungen an: ZuerBt erinnert es an das schon öfter
erflossene Gebot: Garne streng nach Maß und Zahl herzustellen, und regelt
ausführlich die Art der Herstellung. Die Weber werden beauftragt, falls
das von ihnen gekaufte Garn nicht genau den Bestimmungen entspreche,
dies bei der Obrigkeit anzuzeigen. Diejenigen, die sich das Sammeln des
Garns zum Beruf machen, haben künftig sich dazu einen Erlaubnisschein
ausstellen zu lassen. Damit aber durch diese Zwischenhändler den Garn-
verarbeitern in den Städten kein Eintrag geschehe, sei diesen an Markttagen
durch eine bestimmte Anzahl von Stunden der Vorkauf Vorbehalten. Auch
solle kein Garn außer Landes geführt werden dürfen, damit es den ein-
heimischen Fabricatores möglich sei, ihren Bedarf im Land zu decken. Nur
mit königlichem Amtspaß versehenes Garn darf die Grenze passieren. Am
Lande dürfen keine Packhäuser errichtet werden. Bauern und Dorfschulzen
sollen keine Garne oder Leinwänden versenden oder damit ein negotium
außer Landes treiben, damit das städtische Commercium, die beste Quelle
des bürgerlichen Reichtums, blühe, die königlichen Städte dadurch aus
ihrem tiefen Verfall gehoben, die Stenern einträglicher würden.
Mehrere Erlässe in den nächsten Jahren beschäftigen sich mit dem-
selben Gegenstand. So suspendiert eine Verordnung aus 1725 das im Gam-
patent enthaltene Ausfuhrverbot für Flachs wegen mehljähriger reicher
Ernten, deren Erträgnis im Lande nicht mehr verarbeitet werden könne.
Auch die mährische Tuchmanufaktur, die im 17. Jahrhundert durch
die Iglauer Tuchmucherkompaguie zu hoher Blüte gelangt, später aber durch
betrügerische und leichtsinnige Manipulationen heruntergekommen war, wird
mit einer Tuchordnung für Händler und Fabrikanten bedacht. Außerdem
werden an jedem Fabrikationsort Beschauer aufgestellt, die jedes Stück
Tuch prüfen und nur das fehlerfreie mit dem Siegel versehen sollten.
1724 erhält Schlesien eine Leinwandordnung. in der besonders den Nego-
tianten eingeschärft wird, gutes Maß zu geben, da diesbezüglich Klagen
aus dem Ausland eingelaufen seien. Ferner enthält sie ausführliche Bestim-
mungen über Beschau.
Der Schaumeister wird in den Städten vom Magistrat, am Land von
der Obrigkeit ernannt und beeidigt und soll ein anständiger Mann sein.
Jede Leinwand muß gleich nach Verfertigung zur Schau gebracht und vom
Beschauer mit dem an jedem Ort verschiedenen Stempel von roter Ölfarbe
bezeichnet werden. Waren, denen der Stempel fehlt, werden am Markte
konfisziert. Streitigkeiten zwischen Webern und Schaumeistem werden von
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Das östeiri'ichisfhe Gewerbe im Zeitalter des Merkantilismus.
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einer Versammlung anderer Schaumeister und Weber, in letzter Instanz
vom Kommerzkollegium ausgetragen.
Die Anzahl der Mäkler auf den Wochenmärkten wird festgesetzt und
ihnen ein Eid vorgeschrieben. Der Handel, heißt es weiter, gehört zwar in
die Städte, da die Bauern aus dem Landbau und der Manufaktur ihren
Unterhalt zögen. Da aber die gänzliche Abschaffung des Handels auf dem
Lande Inkonvenienzen nach sich zöge, werden die Landleute auf gewisse
Märkte beschränkt und ihnen verboten, nach Italien und dem Reich zu
exportieren.
1731 wird den schlesischen Tuchmachern gestattet, neben ihren bis-
herigen Webstflhlen holländische aufzustellen; doch darf auf denselben
nur holländisches oder feines Aachener Tuch gemacht werden. Zur Beför-
derung der Einführung dieser Stühle werden folgende Bestimmungen
erlassen: diejenigen, die den neuen Stuhl einführen, erhalten das Prädikat
.Kunstreich“; nur aus ihrer Mitte darf in einer Reihe namentlich auf-
geführter Städte der Zunftälteste gewählt werden und die Erlangung der
Meisterschaft ist künftig an die Anschaffung eines solchen Stuhls gebunden.
Zur Durchführung dieser Bestimmungen wurde aus dem Kommerzkolleg
eine eigene Kommission ernannt.
Ein wichtiger Schritt auf dem Gebiete der Gewerbeförderung geschah
1734: zur Förderung des Handels und Einführung neuer Manufakturen
wurde in Prag ein eigenes Kommerzkolleg für Böhmen und Glatz geschaffen.
Es sollte aus kaiserlichen Räten und Sachverständigen bestehen und mit
Rat und Tat den Fabrikanten und Händlern zur Seite stehen.1) Besonders
wichtig aber ist eine gleichzeitige Bestimmung, durch die fremden Fabrikanten
und Artisten, die eine neue Manufaktur in Böhmen einführen wollten, ohne
Rücksicht auf ihr religiöses Bekenntnis, Privilegien und Immunitäten zuge-
sagt wurden. Wurde doch dadurch mit dem bisher ängstlich gehüteten
Konfessionalitätsprinzip gebrochen.
Weniger energisch und durchgreifend war das Verhalten der Regierung
gegen die Zünfte. Es war die Regelung und Ordnung des Zunftwesens auch
in der Tat ein äußerst schwieriges Problem, das durch einzelne, zusammen-
hangslose Maßregeln nicht zu lösen war. Das Wandern der Gesellen hatte
eine enge Verbindung hergestellt zwischen dem österreichischen Handwerk
und dem im Reiche. Gebräuche und Mißbräuche waren hier wie dort die-
selben. Wollte man nicht diese Verbindung durchschneiden, wogegen sich
aber das gesamte Handwerk wie ein Mann erhoben hätte, so war man
gezwungen, eine gemeinsame Regelung für das ganze Reich zu treffen
bei dem Mangel einer durchgreifenden Reichsgewalt und dem unentwickelten
Solidaritätsgefühl der Stände eine äußerst schwierige Sache.
Mit der ökonomischen Hebung des Handwerks glaubte man, sich
damals nicht beschäftigen zu müssen. Hatte man ja doch durch Einführung
') Seit 1714 hatte schon ein Merkantilkollegium als iudiciuin delegatum der
böhmischen Hofkanzlei mit ziemlich beschränkten Kompetenzen bestanden. Vgl. A. Pfibram.
Das böhmische Komraerakollegium and seine Tätigkeit. Prag 1868. 8. 27 (f.
Zritdchrlfl für VnlktwIrUoh&fi, Soclalpolltlk nnd V«?rw»lluDf. ZU. n*nd. 6
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Rixzi.
und Begünstigung der Manufakturen den Weg gezeigt und eingeschlagen,
der dem Wohl des einzelnen wie dem des Staatssäckels am förderlichsten
schien. Es blieb also nur die soziale Frage zu lösen, die damals wesentlich
Gesellenfrage war, und den Konsumenten gegen Übergriffe der Zünfte zu
schützen übrig.
1724 erschien ein kaiserliches Reskript, welches die Behörden mit
den Vorerhebungen zur Erlassung einer allgemeinen Zunftordnung betraute;
gleichzeitig wurden die Verhandlungen mit den deutschen Reichsständen
eingeleitet. Das Ergebnis war der Reichstagsschluß vom IC. August 1731, *)
der in Österreich als Generalzunftpatent am 16. November desselben Jahres
publiziert wurde.
IV.
Er bildete den Abschluß jener langen Kette politischer und ökono-
mischer Ereignisse, die von dem stolzen Baue mittelalterlich deutscher
Zunftherrlichkeit Stein um Stein abgebröckelt hatten. Kam er zur Durch-
fflhrung, so war die Zunft tatsächlich nur mehr behördliche Polizeianstalt
und Dekorationsstück für kirchliche Feste und Prozessionen.
Die erste Bestimmung behielt dem Herrscher das Recht der Zunft-
bestätigung vor — ein Recht, welches dieser in Österreich schon seit jeher
in Anspruch genommen und seit Josef I. auch tatsächlich beständig aus-
geübt hatte. Demzufolge mußten bei jedem Thronwechsel alle Zunfts- wie
auch die übrigen Privilegien zur Bestätigung eingereicht werden.
Jedes korporative Vorgehen der Meister einer Zunft, noch mehr aber
das Zusammengehen verschiedener örtlich getrennter Handwerke erscheint
streng verpönt. Durch dieses Verbot sollen vor allem die Preisverabredungen
der Meister, die sehr beliebte Fassung geheimer Handwerksschlüsse, die
sich einerseits auf Beschränkungen der Meisterstellen, anderseits auf gemein-
sames Vorgehen gegen die Gesellen bezogen, verhindert werden. Zum
Zwecke der Überwachung sollte jeder Zunftversammlung der Zuuftinspektor
beiwohnen. Korrespondenzen der Handwerke untereinander seien überhaupt
überßüssig. Sollten sie sich aber doch einmal nötig erweisen, so müssen
sie der Ortsbehörde vorgelegt werden. War auf diese Weise den Meistern
jedes korporative Vorgehen unmöglich gemacht, so mußte konsequenterweise
den Gesellen gegenüber dasselbe Verfahren eingehalten werden. Da die
Gesellenverbände oder Bruderschaften tatsächlich nicht zum Wesen der
Zunft gehörten, sondern sich nur als das Ergebnis einer späteren socialen
Entwicklung darstellten. ’) da sie ferner eben auch in Konsequenz dieser Ent-
wicklung und der von der Meisterschaft und den lokalen Gewalten dagegen
ausgehenden Reaktion einen teilweise revolutionären und turbulenten
Charakter angenommen hatten, so wurden sie schlechtwegs untersagt und
jede Gesellenvcrsammlung sowie das schon damals viel gebrauchte Kampf-
*) Vgl. Mäscher. Das deutsche Gewerbewesen vou der frühesten Zeit bis aof die
Gegenwart Potsdam 1866.
3) Vgl. Schanz, Zur Geschichte der Gesellenverbände. Leipzig 1*77.
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Das Gsterrcirhiache Gewerbe im Zeitalter des Merkantilismus. K3
mittel des Ausstands als Aufruhr mit Leibes- und Zuchthausstrafe bedroht.
Von wie weittragender Bedeutung diese ultima ratio der Staatraison war,
da sie auch die bisherigen sozialen Funktionen der Gesellenverbände unter-
band, werden wir bei Besprechung der Durchführung des PatentB ersehen.
War so einerseits das korporative Wirken des Handwerks in seinem
Nerv getroffen, anderseits die bisherigen öffentlich-rechtlichen Funktionen
der Zünfte bis auf kleine Überreste beseitigt, so mußte die Staatsgewalt
daran denken, wenigstens für diese öffentlich-rechtlichen Funktionen Ersatz
zu schaffen. Das Verhältnis zwischen Meister und Gesellen, bisher ein
Zunftinternum, wurde zum Lohnvertrag und als solcher der staatlichen
Normierung und Gerichtsbarkeit unterworfen. Nur kleine Disziplinarstrafen
im Höchstbetrage von 2 fl. rh. sollte der Zunftälteste noch verhängen können,
ja selbst bei diesen stand der Rekurs an die Behörde offen.
Die zünftige Lebensmittel- und Warenpolizei war in Österreich schon
lange der Beschau gewichen. Nur gingen diese staatlich angestellten Beschau-
meister früher aus ihrem Gewerbe hervor.1) Jetzt aber sollten sie als
behördliche Polizei organisiert werden.
Auf die Finauzgebarung der Zünfte, bisher nur durch die Handwerks-
versammlungen kontrolliert, sicherte sich der Staat weitgehenden Einfluß.
Den Jahresversammlungen, an denen die Zunftältesten Rechenschaft ablegen
mußten, sollte der Zunftinspektor beiwohnen. Er erhält einen Schlüssel zur
Zunftkasse. Die politischen Behörden sind jederzeit berechtigt, Vorlegung
der Zunftrechnungen zu verlangen. Die Überschüsse werden anstatt wie
bisher auf Gelage aufzugehen, durch den Staat ad pias cansas verwendet.
Die Gesellenfrage glaubte man nicht durch Beschränkung der Lehr-
lingszahl. wie dies von vielen Behörden vorgeschlagen worden war,*) lösen
zu sollen — hätte dies doch der Populosität Eintrag getan — man erleichterte
vielmehr den Zugang zum Meisterrecht. Es wird daher den Zünften nicht
mehr gestattet, die Zahl der Meister oder Gesellen festznsetzen. Dies kann
fortan nur mehr durch die Obrigkeit geschehen, die aber jederzeit berechtigt
ist. von der so festgesetzten Zahl wieder abzugehen. Die Meisterstücke
dürfen nicht zu kostbar und müssen leicht verkäuflich sein. Die bei der
Meisterwerdung üblichen Schmausereien haben ganz wegzufallen. „Mutungs-
jahre“ — das waren ein oder zwei Jahre, die zugereiste Gesellen auf die
Meisterwerdung warten mußten, um vorher bekannt zu werden — werden, wo
sie bisher üblich waren, abgeschafft. Verheirateten Gesellen darf das Meister-
recht nicht verweigert werden.
Um den Zutritt zum Gewerbe zu erleichtern, wird angeordnet, daß
für mittellose Lehrlinge die Obrigkeit das Lehrgeld herahsetzen könne, und
daß dem Meister, der auf das Lehrgeld Verzicht leiste, der Lehijunge nach
seiner Freisprechung noch ein Jahr unentgeltlich dienen müsse. Alle die
verschiedenen Makel aus dem Stande der Eltern und aus sittlichen Ver-
*) Vgl. Euletibnrg (a. a. 0., 1. Bd„ S. 308.)
T) Berichte de« königlichen Tribunals von Mahren snm 35. Jänner und 0. Mürz 1727.
«•
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Riizi
geben werden mit einer Ausnahme — der Kinder von Schindern — abge-
achaft't. Der tatsächlichen Überfüllung vieler Gewerbszweige wurde also
nicht Rechnung getragen, der Grundsatz der Nahrungs- und Volksvermehrung
war allein maßgebend. Eine Theorie darüber, wie diese zu bewirken sei,
wie wir sie am Ausgang des Jahrhunderts treffen, war noch nicht aus-
gearbeitet.
Dem hier geschilderten Prinzip entsprach auch das Verhalten gegen
Winkelarbeiter und Stöhrer, die besonders auf dem Lande einen großen
Prozentsatz der Gewerbetreibenden bildeten.
Die Regierung hatte hier zwar schon 1725 durch die Einführung der
Schntzdekrete teilweise Abhilfe geschaffen: gegen Zahlung einer jährlichen
Taxe wurden Schutzbefugnisse an Gewerbetreibende, die den zünftigen
Anforderungen nicht entsprachen, verliehen und diese so berechtigt, ihr
Gewerbe unabhängig von den Zünften auszuüben. Aber diese Dokrcte
scheinen nicht weit über Wien oder Niederösterreich hinausgedrungen zu
sein. Auch erfaßten sie jene proletarischen Eiistenzen nicht, denen die
Zahlung der Taie oder die damit verbundene Überwachung unbequem
erschien. Der Regierung jedoch lag es daran, alle Gewerbetreibenden in
Körperschaften zu vereinigen, da sich so die Überwachung leichter gestaltete.
So wurde denn festgelegt, daß Stöhrer und Winkelarbeiter zwar nirgends
geduldet und ihnen im Betretungsfall ihr Werkzeug konfisziert werden
sollte, zugleich aber auch, daß ihnen der Eintritt in die Zünfte auf jede
Weise erleichtert werden solle.
Was schließlich die Konfession der Gewerbetreibenden betrifft, so setzt
die Aufoahme in die Zunft nach wie vor römisch-katholisches Bekenntnis
voraus. Wir haben aber schon bei den Manufakturen eine Durchbrechung
dieses Prinzips konstatiert. Ebenso enthielt das Schutzdekreterpatent keine
Bestimmung über die Konfession. Da aber das katholische Bekenntnis als
Voraussetzung der Erlangung des Bürgerrechts zugleich Bedingung der
Aufnahme in die Zunft bildete, letzteres aber bei den Dekretern nicht
gefordert wurde, so können wir annehmen, daß bei ihnen vom Bekenntnis
abgesehen wurde.1)
Wollen wir in wenigen Worten den Charakter dieser ganzen Zunft-
gesetzgebung feststellen, so können wir zusammenfassend sagen: Man ging
von einigen a priori feststehenden Grundsätzen aus, ohne sich um das von
den Unterbehörden reichlich beigeschaffte Tatsachenmaterial zu kümmern.
Nicht auf Grund der tatsächlichen Verhältnisse, die eine so detaillierte ein-
heitliche Regelung gar nicht gestatteten und ohne Abschätzung der Macht-
mittel, die zu ihrer Durchführung zur Verfügung standen, wandte man
schablonenhaft die Grundsätze eines Staatsabsolutismus an, den Roscher
den despotischen nennt.
Es ist allerdings nicht wahrscheinlich, daß der Staat durch eine wie
immer geartete Regelung des Zunftwesens den Verfall der Zünfte hätte
’) Vgl. Ite schauer. Geschichte des Kampfes der Handwerkerzünfte und Kauf-
manusgremien mit der Bureaukratie, S. 10.
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Da* österreichische Gewerbe im Zeitalter des Merkantilismus.
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aufhalten können. Die ökonomische Entwicklung drängte zur Gewerbefreiheit,
wie ja jede Entwicklung in ihrer Jugendzeit vor allem der Freiheit bedarf
und erst, wenn das Gleichgewicht zwischen den ihr innewohnenden Eipan-
äionsbestrebungen und den ihrer Befriedigung dienenden Wirtschaftselementen
hergestellt ist, im Zustand der volkswirtschaftlichen Sättigung also, sich
staatlicher Normierung und Beschränkung fügt.
Auch war der Staat damals noch nicht in der Lage, der Zünfte
gänzlich entraten zu können. Das Behördenwesen stand noch in seinen
Kinderschuhen und war zu einer so fein ausgebildeten Funktion, wie sie
die Gewerbepolizei des 18. Jahrhunderts darstellt, absolut nicht befähigt.
Schon die Anforderungen des Generalpatents waren, wie wir sehen werden,
viel zu hoch gestellt. Als Registrierungsbehörde fOr alle Veränderungen
des gewerblichen Status, als Machtmittel, dessen sich die Regierung zur
Durchführung ihrer merkantilistischen Grundsätze, zur Regelung von
Angebot und Nachfrage bedienen konnte, waren die Zünfte noch immer
unentbehrlich.
Zur Prüfung und Rektifizierung der von den Zünften vorzulegenden
Innungsartikel wurde beim Gubernium eines jeden Landes eine Kommission
eingesetzt,1) die für jeden Handwerkszweig einen Referenten zu ernennen
hat. Sie soll .das utile ab inutili* separieren und jenes in einem Aufsatz
dem Kaiser zur Bestätigung vorlegen. Hierbei solle man sich an die Grund-
sätze des Generalpatents, die aber in die Spezialartikel keine Aufnahme
finden sollten, halten. Was in den Generalartikeln Normierung allenfalls
nicht gefunden habe, sei beizurücken und „sensui et menti des General-
patents zu konformieren.“ Die mallgebenden Grundsätze dabei seien: eines-
teils .die Ersprießlichkeit und Aufhelfung der Zünfte selbst“, anderseits
das „darunter waltende bonurn publicum et commerciale“.
Es ist anzunehmen, daß sich die Zünfte ohne Widerspruch in die
Neuregelung der Verhältnisse fügten. Die Kommission fand wenigstens an
den eingereichten Artikeln nicht viel zu ändern.1) Das System der behörd-
lichen Überwachung hatte sich schon zu sehr eingelebt und die Zünfte
durften hoffen, es werde künftig nicht strenger als bisher durchgeführt
werden. Denn, welche Organe wollte man damit betrauen? Staatlich
waren nur die oberen Behörden in den Frovinzhauptstädten. Die Magistrate
der kleineren Städte und Märkte dagegen waren viel zu sehr mit gewerbe-
treibenden Elementen durchsetzt, um sich über die widerstreitenden Einxel-
interessen erheben zu können.
Die kaiserlichen Hauptleute in den königlichen Städten und auf den
Domänen, die Herrschaftsbeamten in den untertänigen Orten und am Lande
schließlich waren so sehr mit Agenden überhäuft, daß sie den gewerb-
lichen Verhältnissen nur geringe Aufmerksamkeit schenken konnten.
') Patent vom 18. Jänner 1782, Direktiven für die bandesstelle zur Einrichtung
der Innungsartikel.
*) Kommissiousanfsätze der böhmischen Kommission vom 24. Juli 1734 und
26. September 1736.
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Kiiti.
Za Zunftinspektoren wurden meist Leute in untergeordneten Stellungen,
wie Stadtschreiber und Marktaufseher, bestellt, die von finanzieller Gebarung
womöglich noch weniger verstanden als die Gewerbetreibenden und mit den
Zünften, wenn sie nicht mit denselben im Einverständnis oder wohl auch
direkt bestochen, alle Ausgaben passieren lieben, das ganze Jahr wegen der
ihnen aus der Zunftlade zukommenden Pauschalvergütung für ihre Mühe-
waltung im Streite lagen.1) Rechnungen wurden nicht geführt und so kam
es auch zu keinen Überschüssen ad pias causas. Ja. was früher doch teil-
weise der Dnterstützung armer und kranker Gesellen zugeführt worden war,
das wanderte jetzt, da man die vermittelnde Organisation aufgehoben hatte,
in die Herberge. Es kam daher schon 1788 zu einem Notenwechsel zwischen
der böhmischen und österreichischen Hofkanzlei, als dessen Ergebnis die
Abänderung des Artikels betreffend die Gesellenzusammenkünfte für die neu
zu erlassenden Generalzunftartikel beschlossen wurde. Es sollen aucli künftig,
wie dies bisher Sitte gewesen, die Gesellen unter Beiziehung von zwei
Meistern wöchentlich oder monatlich einmal sich versammeln und für die
genannten Zwecke die Auflage von 2 — 4 kr. leisten dürfen. Doch sollte auf
diesen Versammlungen kein Erkenntnis gefällt werden dürfen und das Geld
abgesondert von der Zunfllade aufbewahrt werden.
Die Handwerkserkenntnisse oder Beschlüsse machten überhaupt der
Regierung schwere Sorgen. Sie hatten nach Erlassung des Patents keines-
wegs aufgehört, nur wurden sie geheimer gehalten und schienen dem ent-
sprechend noch gefährlicher. So fordert die Regierung in einem Intimatum
vom Jahre 1766 von der kärntnerischen Landeshauptmannschaft einen Bericht
über die unter den dortigen Zünften bestehenden Handwerksschlüsse. Die
Landeshauptmannschaft läßt durch die Kreisämter die Erhebung gleich bei
deu Zunftladen selbst anstellen und erhält natürlich zur Antwort: sie hätten
keinerlei geheime Schlüsse, sondern hielten sieb streng nach den General-
artikeln. Statt der zu meldenden Mißbräuche kommt dieser interessante
Enquetebericht mit einer Unzahl von Handwerksbeschwerden und Bitten
zurück.
Ebensowenig hatten sich die Zustände in der Gesellenschaft gebessert,
Handwerksgeschenke, Schmähen. Schelten und Auftreiben standen nach wie
vor in Schwung. Bei einer schon 1727 eingeleiteten Erhebung über Hand-
werksgeschenke in den Sudetenländern kamen die ungeheuerlichsten Dinge
zum Vorschein und hierin hatte sich bis 1740 so wenig geändert,*) daß die
Ergebnisse der damaligen Umfrage als Grundlage neuer gesetzgeberischer
Maßrogeln gegen Gesellenmißbräuche genommen werden konnten.
Da die Normierung der einzelnen Bestimmungen des Generalpatents
für die böhmischen Länder, in denen die gewerbliche Produktion am weitesten
fortgeschritten war, zu wenig eingehend erschien, da Bich überdies bei der
*) Kaiserliches Reskript ex Augusto 1763. Hofdekret an das böhmische Guberniuni
ex Julio 1769.
Berichte des mährischen Tribunals und des böhmischen Guberniums; Referat
an die Kaiserin ex Aprili 1740.
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Du Österreichische Gewerbe im Zeitalter des Merkantilismus.
87
praktischen Anwendung mancher Artikel Unzukömmlichkeiten herausgestellt
hatten, sah man sich veranlaßt, fflr die böhmischen Länder 1739 eigene
Generalzunftartikel herauszugeben als Erläuterung und Ergänzung des General'
Patents. Sie sollten in den Zunftordnungen der verschiedenen Orte Gleich-
förmigkeit schaffen in Bezug auf Lehrzeit, Wanderjahre, Gebühren u. a. m.
Denn die Bestimmung des Generalpatents: daß der einmal erlangte Meister-
titel überall Geltung haben solle, erforderte auch gleiche Vorbedingungen
seiner Erlangung. Zur Durchführung teilte man die Städte in vier Größen-
klassen, die auch bei Bemessung der Gebühren verschieden behandelt wurden.
In der dritten und vierten Klasse sollten die Generalzunftartikel unum-
schränkte, in den beiden anderen Klassen subsidiäre Geltung neben den
Spezialprivilegien haben.
V.
Das folgende Jahrzehnt bildet einen Kuhepunkt im Flusse der gewerbe-
politischen Entwicklung. Der österreichische Erbfolgekrieg und nach dessen
Beendigung die von Maria Theresia durchgeführte Bebördenorganisation
nahmen alle Kräfte der Verwaltung in Anspruch. Als dann nach ihrem
Abschluß die Frage der Gewerbereform von neuem an die Staatsleiter her-
antrat, fand sie einen wesentlich neuen Geist und frische Kräfte zu ihrer
Lösung.
Die Beamtenschaft war überall vom ständischen Einfluß losgelöst und
durch Errichtung der Kreisämter der Bevölkerung und ihren materiellen
Interessen näher gerückt. Daß aber nicht nur eine bureaukratisch polizeiliche
Verwaltung die ständische Interessenpolitik ablöse, dafür sollten im Gebiet
des Gesamtstaates das Kommerzdirektorium, in den einzelnen Provinzen die
Kommerzkonsesse sorgen. Sie waren kollegial zusammengesetzt, hatten
alle gewerblichen Erhebungen einzuleiten, Beschwerden entgegenzunehmen,
Reformvorschläge zu erstatten oder zu begutachten und Ober alle Gewerbe
Protokoll zu führen. Hatte man sich so exekutive und beratende Organe
geschaffen, so konnten die diesbezüglichen Funktionen der Zünfte mehr und
mehr überflüssig erscheinen und in der Tat richtete Maria Theresia
schon 1751 eine Rundfrage an die Behörden: ob es nicht in Anbetracht der
allenthalben obwaltenden Zunftmißbräuche geraten sei, das Zunftwesen
gänzlich abzuschaffen?1) Gegen einen so radikalen Schritt erhoben sich aber
allerorts Bedenken und so wurde vorläufig nur, eine allerdings äußerst
folgenreiche Einrichtung, die Trennung des Gewerbes in zwei Gruppen,
Polizei- und Kommerzialgewerbe, durchgeführt.
t) Kaiserliches Reskript an die gesamten Länderrepräsentationen, nnd Kammern
vom 4. Dezember 1751, .daß in Ansehung deren durch allseitige erbländische Hand-
werkszünfte dem Public» und Commercio zugewachacnen Bedrückungen nnd Incon-
venienzen, nnd ob dahero aothane Zünften nnd Innungen gänzlich aufgehoben, was für
Bedenklichkeiten etwa hierbei gcmachct, oder wie bei deren alienfaltigen Beibehaltung
eine bessere Ordnung eingeleitet werden konnte, im geheimb and mit aller Behutsamkeit
hierüber deliberieret und gutachtlicher Bericht erstattet werden solle. “
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88
Rizzi.
Sonnenfels und seit ihm meines Wissens alle Schriftsteller, die
Bich mit dem Gegenstand befaßten, geben als Einteilungsgrund die Absatz-
verhältnisse an: Die Kommerzialgewerbe suchten mit ihren auf Verlag
hergestellten Produkten den nationalen und internationalen Markt, die Polizei-
gewerbe den örtlichen auf.1) Dies kann jedoch nur teilweise festgehalten
werden. In erster Linie maßgebend waren verwaltungspolitische Momente.
Alle Gewerbsarten, die wir heute unter dem Namen Approvisionierungs-
gewerbe zusammenfassen oder die jetzt einer Konzession bedOrfen, erscheinen
in der Liste der Polizeigewerbe, da man bei ihnen staatliche Überwachung
für unentbehrlich hielt; ferner jene Gewerbe, die ein geringes oder gar kein
Anlagekapital und keino große Geschicklichkeit erfordern oder die in persön-
lichen Dienstleistungen bestanden. Hier wollte man den für Kommerzial-
gewerbe aufgestellten Grundsatz der unbeschränkten Vermehrbarkeit nicht
zulassen, da man wegen der geringen Anforderungen eine Überfflllung
befürchtete. Alle anderen Gewerbe, darunter die meisten mit Kleinbetrieb,
die damals, wie teilweise heute noch, auch nur für den lokalen Markt
produzierten, wurden als Kommerzialgewerbe erklärt.’)
Die Kommerzialisten unterstanden in gewerblichen Angelegenheiten
den Kommerzkonsessen, in letzter Instanz dem Kommerzdirektorium, später
der Hofkammer. Sie erhielten keine Zunftprivilegien mehr, sondern Ordnungen
für Meister und Gesellen, die den Bedürfnissen der Zeit besser angopaßt
waren als die alten Innungsartikel.5) Die ganze Tendenz ging dahin, die
Kommerzialgewerbe nach und nach zu voller Gewerbefreiheit überzuleiten.
Zu diesem Zwecke wurden seit 1754 überhaupt keine neuen Zünfte mehr
errichtet. Das hatte zur Folge, daß bei der starken Spezialisierung dieser
Gewerbe in größeren Städten, besonders in Wien, die freien bald die zünftigen
Gewerbe an Zahl übertrafen Auch entließ man nach und nach eine große
Anzahl von Gewerben, zuerst die Textilgewerbe, dann zwischen 1760 und
1780 eine ganze Reihe anderer Beschäftigungen aus dem Zunftzwang.
Die Polizeigewerbe sollten den politischen Behörden, in letzter Instanz
dem Directorium in publicis et cameralibus. später der vereinigten Hofkanzlei
unterstehen. Sie sollten je nach Bedarf von den Behörden geschlossen und
wieder geöffnet werden. Auch bei den Kommerzialgewerben war den Landes-
behörden schon im Jahre 1754*) für Inländer, fünf Jahre darauf5) auch
für Ausländer die Befugnis zur Verleihung von Bürger- und Meisterrecht
erteilt worden; doch mußte dieses immer verliehen werden, wenn die gesetz-
lichen Erfordernisse Vorlagen.
') Sonnenfels, Ausarbeitung über die Grundsätze wegen Aufnahme der
Handwerker und Gewerbsleute in den Städten ex 1793.
b Profeseionistentabellen in den bobmilchen und innerösterreichischen Gubernial-
berichten.
’) Die erste Profeseionsordnung erhielten die Papiermacher am ‘23. November 1754.
die letite die Knrtenmaler iin Jahre 1787.
*) Reskript vom 13. Juli 1754 an alle Repräsentationen und Kammern.
*) Reskript ex Martin 1759.
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Das österreichische Gewerbe im Zeitalter des Merkantilismus.
89
Auf die ungemein zahlreichen Eingriffe der Kegierung in die Gewerbe-
verfassung ist hier nicht der Raum näher einzugehen. Sie bestanden teils
in Wiederholungen der in Vergessenheit geratenen Bestimmungen des
Generalpatents und Mallregeln zu ihrer Durchführung, teils gingen sie dar-
über hinaus. Immer wieder mußten die Verbote gegen Zunft- und Gesellen-
mißbräuche eingeschärft werden und fast wie Ironie klang os, wenn 1782
die österreichische Regierung auf ein Promemoria,) des preußischen Residenten
v. Jakobi über gemeinsame Abschaffung der Handwerksmißbräuche in den
beiderseitigen Grenzländern zur Antwort gab: man habe ja ohnehin die
Generalartikel, die streng beobachtet würden.
Andere Aufgaben boten den Behörden die sehr oll von den Handwerkern
selbst gewünschte Zusammenlegung schwächerer Zünfte,') die Inkorporierung
der Landmeister, die diese, um den Zunftabgaben zu entgehen, auf jede
Weise zu hintertreiben suchten, überhaupt die Regelung der Verhältnisse
zwischen städtischem und ländlichem Gewerbe.
Die Generalartikel hatten die Einzünftung aller Meister angeordnet,
sowohl der Überwachung als auch gewisser Abgaben wegen, die von den
Gewerbetreibenden in corpore getragen wurden. Im Interesse des städtischen
Gewerbes lag es, die Landmeister daran mittragen zu lassen; im Interesse
dieser dagegen frei zu bleiben. Das hatte aber auch zur Folge, daß viele
städtische Gewerbetreibende aufs Land zogen und die Städte so noch weiter
beeinträchtigt wurden.') Die staatlichen Behörden, die ja auch auf dem
Lande die Meisterrechte zu vergeben hatten, scheinen dies stillschweigend
geduldet zu haben, bis Maria Theresia endlich auf die Klagen der
Städte energisch die Inkorporation der Landmeister in die nächstgelegene
Zunftlade befahl. Ja, es sollte überhaupt die Ansiedlung einer Reihe von
Gewerben auf dem Lande verboten werden.
Dies geschah auch tatsächlich in Niederösterreich im Jahre 1764.*) ln
Böhmen aber machten die Behörden Schwierigkeiten. Mehrmals mußte hier
die Kaiserin ein Verzeichnis der auf die Stadt zu beschränkenden Pro-
fessionisten und Kaufleute fordern. Auf die erste Note 1771 erwiderte das
Gubernium erst 1774; die Kreisämter seien zu sehr beschäftigt, um diese
Aufnahme durchführen zu können; es genüge, wenn sie jeden unbefugten
Kaufmann oder Krämer auswiesen. Erst auf eine nochmalige Mahnung1 * * * 5)
wird der von der Kommerzkommission ausgearbeitete Bericht eingesandt.®) Er
beschränkt sich auf die Kommerzialzünfte. da Professionisten ohnehin nur
1 ; Das Promemoria beabsichtigte hauptsächlich Ausgleichung der beiderseitigen
Gesetzgebungen mit den letzten ReichsschlQssen von 1771 und 1772.
b Berichte des böhmischen Gnberniums ex 1752 und 1753, 1754, 1755.
*) Vortrag des böhmischen Kommerxkonsesses ex 1753. Protokoll der kämtcerischen
Repräsentation ex Maio 1754.
*! Kaiserliches Reskript ex Maio 1771.
Im September 1774; sie enthält eine Abschwächnng des 1771 ergangenen
Reskripts.
*) Gubernialbericht ex Januario 1775.
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«0
Ritii.
dort sich niederließcn, wo man ihrer bedürfe, aber auch unter den Komraer-
zialisten sollen die Großbetriebe nicht einbezogen werden, da sie sich dort
niederließen mußten, wo sie am besten und billigsten einkaufen konnten.
Krämer sollten in jedem Ort zwei zugelassen werden, damit kein Monopol
entstände, außerdem der Hausierhandel am Lande den Juden gestattet sein.
Der Komraerzkonseß bemerkte zu diesen Vorschlägen, sie würden den Nieder-
gang der Städte, der auf andere Ursachen zurückzuführen sei, nicht aufhalten.
Das Gubernium hinwiederum meint, man solle lieber auf Ausbreitung der
Hausindustrie, Leinen-, Woll- und Baumwollspinnerei. Weberei und Strickerei
bedacht sein. Doch schloß sich die Kaiserin trotz des durchaus ablehnenden
Gutachtens des Hofkommerzialrates den Anträgen der Kommerzkommission
an. Nur sollte auf dem Dorf ein Krämer genügen.
Noch mehrmals hatten die Behörden Gelegenheit, eine freiere Auf-
fassung der Gewerbepolitik gegen oben zu bekunden.
Auf die Anfrage, ob man nicht den Übergang von der Landwirtschaft
zum Handwerk, der dieser viele tüchtige Kräfte entzöge und unter den
Professionisten ein Polipolium schaffe, erschweren solle,*) wird geantwortet:
dieser Übergang komme nur selten vor, da die Grundherren schon selbst auf
Erhaltung ihrer Arbeitskräfte bedacht seien, die Zahl der Professionisten
aber regle sich von selbst nach dem Bedürfnis. Ein andermal zieht gegen
die geplante Festsetzung der Zahl von Professionisten und Kaufleuten der
Kommerzialrat mit ganz manchesterlich klingenden Argumenten zu Felde.
Beidemale war der Erfolg auf Seite der Behörden.*)
Wenden wir uns nun jenen Regierungsmaßregeln zu, die auf direkte
Förderung des Gewerbes zielten.5)
Den Großbetrieben widmete die Regierung nach wie vor besonderes
Augenmerk. Den Behörden wurden wiederholte Weisungen gegeben, die Eine
Wanderung fremder Fabrikanten und Artisten auf jede Weise zu fördern;
neu errichteten Manufakturen wurde Abgabenfreiheit auf eine Reihe von
Jahren zugesichert, die Arbeiter erhielten Befreiung von der Militärdienst-
pflicht. Dem Adel, der besonders in Böhmen, aber auch in Innerösterreich
auf seinen Gütern großgewerblicbe Betriebe einführte, wurden Staatsvor-
schflsse gewährt und der Staat ging nach wie vor durch Errichtung von Staats-
manufakturen mit gutem Beispiel voran. I)a jedoch diese merkantilistischen
Experimente mehr kosteten als sie Nutzen brachten und sehr bald den
mühsam angesammelten Kommerzialfundus erschöpften.*) so wurde man
in der späteren Regierungszeit Maria Theresias namentlich mit den
Staatsvorschüssen, die gewöhnlich nicht zurückgezalilt wurden, vorsichtiger.
Auch die Staatsmauufakturen rentierten sich meist schlecht und wurden
teilweise wieder aufgelassen.5) Mit dem Monopoliensystem der vorangegangenen
*) Note an das böhmische Gubernium und den Kommerzkonsetl ex Martio 1771.
*) Gutachten des Kommerzialrates und Protokoll der Hofkanzlei ex 1774.
*) Vgl. Beer, Die Österreichische Industriepolitik unter Maria Theresia. Wien 1894.
«) Vgl Beer a a. 0., I., S. 11 ff.
9) Vgl. Beer a. a. 0., I., ebendaselbst.
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I>as Österreichische Gewerbe im Zeitalter des Merkantilismus
91
Periode wurde jetzt allmählich gebrochen. Man hatte eingesehen, daß es
das Gemeinwohl auf Kosten einiger weniger schädigte. Das Prinzip der
freien Konkurrenz innerhalb des Staatsgebiets gewann immer mehr an
Boden. Neue Privativprivilegien wurden nicht mehr bewilligt, die alten nach
Ablauf nicht erneuert. Statt dessen suchte man die Industrie durch ein
kompliziertes System staatlicher Maßregeln zu kräftigen und exportfähig zu
machen. Man gewährte hohe Ausfuhrprämien, Zollerraäßigungen für die
Ausfuhr und den Transit; Rohprodukte, die im Staat verarbeitet werden
konnten, wurden mit Ausfuhrverboten belegt, der Import von Fertigfabrikaten
durch hohe Einfuhrzölle verhindert.
Ein anderes Mittel der Gewerbeförderung waren staatliche Lohntaxen.
So wurde in Mähren der Preis fflr die Gespinste festgesetzt. Ober den der
Verleger bei Strafe nicht hinausgehen durfte.1) In einer andern böhmischen
Industrie, der Glasfabrikation, die sich durch hohe technische Vollendung
einen europäischen Ruf errungen hatte, wird der Mindestlohn fOr die
Gesellen festgesetzt,*) um tüchtige Kräfte heranzuziehen, gleichzeitig
aber Fabrikanten und Gesellen strenge verboten, das Land zu verlassen.
Ja, zur besseren Überwachung dürfen sie sogar in Böhmen nur mit
behördlichen Pässen reisen.*) Als Schlesien an Preußen verloren gegangen
war. schloß man es durch Prohibitivzölle von Böhmen ab4) und brachte
so in kurzer Zeit die nordböhmische Leinenindustrie zu ungeahnter
Blüte.
In Brünn wurde 1751 ein staatliches Manufaktnrenaint eröffnet.*) Es
hatte über Befolgung der Generalartikel zu wachen, Vorschläge über Neu-
errichtung gewerblicher Korporationen zu erstatten, für Ausbreitung der
gewerblichen Schulung zu sorgen und Warenproben vorzunehmen. Auch
sollte es eine ständige HandwerkBberutschlagung unter Beisitz von sechs
Repräsentanten der Gewerbe organisieren. Zur Vermittlung des Kredits
diente die Btüuner königliche Lehenbank, die auch als Kommissionär der
einzelnen Fabrikanten und Weberschaften den Warenverkauf besorgte.6)
Die Seidenindustrie war in Österreich schon länger eingeführt. Ein
Gewerbescheins für Wien aus dem Jahre 1728 zählt schon 20 Seiden-
fabricatores auf.1 Damit aber das Geld für die Rohseide nicht ins Ausland
wandere, bemüht sich die Regierung den Bau des Maulbeerbaumes in Öster-
reich heimisch zu machen. Nachdem von ihr selbst angestellte Versuche in
Böhmen, Mähren und Kiederösterreicb günstig ausgefallen sind, ergeht an
alle Städte, Obrigkeiten und Klöster der Auftrag, auf ihren Gründen
Baumschulen anzulegen: den erforderlichen Samen stellt das Ärar bei;
*) Hofdekret iom 19. Dezember 1768.
3) Reglement för die Glasmeister und Glasarbeiter vom 5. Oktober 1765.
*) Patent vom 17. August 1752.
4) Vgl. Bach mann. Österreichische Reichsgeschichte, S. 394.
*) Patent vom 16. Jänner 1751, dazu Nachtragspatent vom 20. Oktober 1751.
•) Patent vom 15. Man 1762.
3) Bei S. Mayer, Die Aufhebung des Befähigungsnachweises in Österreich, S. 257.
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92
Kiui.
günstige Erfolge sollen durch Prämien belohnt, die jungen Bäume an die
Untertanen verteilt und diese über ihre Pflege belehrt werden.1)
Nicht mindere Sorgfalt wurde der Ausbreitung der Garn- und Woll-
spinnerei zugewandt. Kein Haus in Österreich sollte ohne Spinnrad sein,
alle Städte, am Land die Obrigkeiten, Spinnschulen errichten,') die Kommer-
zialkonsesse der einzelnen Länder durch Prämiierung besonders schöner
Gespinste und unentgeltliche Verteilung der neuesten Spindeln und Web-
stQhle die Betriebsamkeit fördern. In Mähren, wo die Gespinste vielfach
von Spinnfaktoren gesammelt und verlegt wurden, sollten diese Faktoren den
Spinnunterricht leiten, von Zeit zu Zeit alle Spinner visitieren und ihre
Bäder ausbessern lassen.3) Beschränkungen der Anzahl der WebstQhle, die
ein Meister aufstellen durfte, wurden untersagt.
Auch für die Metallindustrien tat der Staat, was er konnte, indem er
seine von der K. Bergwerksprodukten-Direktion verschleißten montanistischen
Produkte zu besonders günstigen Preisen abließ.')
Nicht vergessen darf man ferner die indirekte Förderung des gewerb-
lichen Fortschritts durch die theresianische Schulreform.
Von besonderer Wichtigkeit aber ist das allmähliche Fallen der Binnen-
zölle, zuerst für einzelne Länder und Warenkategorien,6) bis zum Ende der
Regierungszeit Maria Theresias fflr das ganze Staatsgebiet.')
Die Regierung Josefs II. setzte auch hier, wie auf allen Gebieten
des staatlichen Lebens: mit radikalen Maßregeln ein. Anfangs trug sich der
Kaiser mit dem Gedanken, das Zunftwesen überhaupt abzuschaffen,7) aber seine
Ratgeber, vor allem Sonnenfels, rieten ihm davon ab. So kam es denn
nur zur Auflassung einiger Zünfte, merkwürdigerweise auch aus den Appro-
visionierungsgewerben, die bisher des Zunftzwanges am wenigsten entraten zu
können schienen. Die Gelder der aufgehobenen Zünfte wurden den Armen-
instituton überwiesen. Alle Meisterrcchtsverleihungen sollten künftig von den
Obrigkeiten und Magistraten vorgenommen werden können,*) die Ordnungen
der Kommerzialgewerbe der Bestätigung nicht mehr bedürfen.9) Verwendung
von Zunftgeldein für kirchliche Festlichkeiten sowie für alle nicht rein
gewerblichen Zwecke ist untersagt-19) Meister, bei denen an den aufgehobenen
Feiertagen nicht gearbeitet wird, werden mit Geldstrafen belegt.11) Die
’) Patent vom 16. August 1763 für Böhmen und Österreich.
T) Patent für die Erblande vom 27. November 1765. Vgl. auch das Hofdekret an
das mährisch«! Gubcmium vom 17. Februar 1753 bei Grönberg, Studien zur öster-
reichischen Agr&rgcschichte. Leipzig 1901, S. 193 f.
*) Instruktion fßr die mährischen Spinnfaktoren vom 19. Oktober 1765.
4) Hofdekrete vom 8. Dezember 1769.
s) Hofdekret vom 2. Oktober 1769 und 27. Jänner 1772 für Textilwaren.
e) Durch die Zollordnung vom 15. Juli 1775. Vgl. Hallwich a. a. 0., S. 58.
7) Sitzungsprotokoll der Hofk&nxlei ex Septembri 1782. Ordre an das inneröster-
reichische Gnbernium ex Aprili 1784.
•) Hofdekret ex Aprili 1791.
*) Kaiserliche Resolution ex 1781.
10) Zirkular vom 17. Oktober 1785.
n) Gubernialverordnung vom 24. Juli 17 6 fQr Böhmen.
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Das österreichische Gewerbe im Zeitalter <les Merkantilismus.
93
Wanderpflicht der Gesellen aller Gewerbe wird abgeschafft.1) Alle Inländer,
die in ein Gewerbe eintreten wollen, haben den zweijährigen Besuch einer
Normalschule nachzuweisen.' i Dies neben Wiederholung vieler froherer
Verordnungen die wesentlichsten neuen Bestimmungen der josefinischen
Gewerbepolitik. Als die wichtigste und folgenreichste Maßregel aber erscheint
wohl auch auf gewerblichem Gebiet die Aufhebung der Leibeigenschaft. Sie
sollte besonders dem gewerblichen Großbetrieb zu gute kommen;*) war
sie ja die erste Vorbedingung seiner Entwicklung zur modernen Fabriks-
industrie.
Auch dem Toleranzpatent kann man nicht jede Bedeutung für die
gewerbliche Entwicklung absprechen, obwohl es jedenfalls an der bisher
schon sehr toleranten Präzis nicht viel änderte.
Wenn wir Josef II. in seiner staatspolitischen Tätigkeit als von den
Ideen der Wol fachen Glflckseligkeitstheorie, die in Österreich ihren Ver-
treter in Justi gefunden hatte, und der von der W o 1 fschen Schule aus-
gehenden Aufklärung beeinflußt, auf ffnanz- und agrarpolitischem Gebiet als
Physiokraten erklären können, so war er in seiner Handels- und Industrie-
politik Merkantilist reinsten Wassers.
Die verkehrsfreundliche Richtung, die die theresianische Politik in
ihren letzten Jahren eingeschlagen hatte, wurde wieder verlassen.
Alle Waren, von denen man annahm, daß sie in Österreich in genügender
Menge erzeugt wflrden, wurden außer Handel gesetzt, d. h. ihre Einfuhr
wurde verboten.4) Diejenigen österreichischen Gewerbsprodukte, die den
Bedarf noch nicht deckten, durch hohe Einfuhrzölle geschlitzt. Um fremde
Waren von den einheimischen unterscheiden zu können, wurden er stere bei
ihrem Eintritt in das Reich einer Zollstempelung, letztere nach Verfertigung
der Kommerzialstempelung unterzogen.5) Ja selbst die erst erworbene Zoll-
einheit wurde diesem Prinzip zuliebe wieder aufgegeben, Tirol zollpolitisch
als Ausland erklärt.'1) für manche Waren die Transitzölle wieder hergestellt.
Die Zollgesetzgebung dieser zehn Jahre kam keinen Augenblick zur Ruhe.
Ausfuhr- und Einfuhrzölle, Zollerhöhungen und Herabsetzungen, Einführung
und Abschaffung von Ausfuhrprämien folgten einander in kurzer Zeit und
konnten schon wegen ihrer Kurzlebigkeit keine Erfolge erzielen.
Das letzte Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts bringt auf wirtschaftspoli-
tischem Gebiet nichts Neues. Wenn irgendwo, so kann man hier sagen,
daß große Ereignisse ihre Schatten vorauswerfen. Der Geist der Demokratie,
in Frankreich entfesselt, hatte ein wirtschaftlich gedrücktes, politisch unreifes
Volk getroffen und war in Anarchie umgeschlagen. Die europäischen Staats-
lenker. wie gewöhnlich die mitten in einer Bewegung stehenden, sahen
5i Kaiserliches Reskript ex Majo 1780.
*) Hofdekret vom 27. August 1787.
*) Vgl. Grünberg, „Bauernbefreiung“. 1. Bd., 8. 272 IT.; II. ßd., S. 360 ff.
In einer Reihe von Patenten aus den Jahren 1787 und 1788.
5) Patent vom SO. Jänner 1789.
*1 Zirkulare vom 20 Oktober 1783.
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Rini.
wohl die Wirkungen, nicht aber die Ursachen und konzentrierten all ihre
Bestrebungen darauf, das Feuer auf seinen Herd zu beschränken. In Öster-
reich wirkten noch die inneren Unruhen, die den josefinischen Neuerungen
gefolgt waren und finanzielle Kalamitäten ruit, die Kegierung aller Initiative
zu berauben. So beließ man alleB auf dem Status quo und ließ nur die
Zügel lockerer.
Ein größerer Versuch, die ganze gewerbliche Verfassung einer Neu-
regelung zu unterziehen, der seine Entstehung der Initiative Sonnenfels’'
verdankt, scheiterte wegen seiner praktischen Undurchführbarkeit in seinen
Anfängen. Es fehlte jener Zeit in der Tat der Beruf zur Gesetzgebung. Sie
sah nur das Allgemeine, wo der Gesetzgeber den Einzelbedürfnissen Rechnung
tragen sollte.
Als letzte Lebensäußerung des scheidenden Merkantilismus und als
Kompromiß, das dieser in seinem geistvollsten Vertreter, Sonnenfels,
mit der kommenden Entwicklung schloß, verdient er dennoch eine nähere
Betrachtung.
VI.
1793 hatte der Kaiser von allen Läuderstollen Berichte abgefordert,
wie Handwerker und Gewerbsleute in die Städte einzureihen seien, damit
eine gerechte Verteilung zwischen Stadt und Land platzgreife.
Über diese Grundsätze hatte Hofrat v. Sonnen fei s ein Gutachten
ausgearbeitet, das den Länderstellen als Grundlage ihrer Berichte zugeschickt
wurde.
Seine Grundzüge will ich hier kurz mitteilen.
Es bestellen zwei entgegengesetzte Meinungen; die eine würde durch
Kleinfögigkeit in Vorschriften und Anstalten Zwang und bedrückende
Beschränkungen, die andere durch unrichtig angewandte Begriffe von Freiheit
Ungebundenheit und Unordnung herbeiführen.
Produzent und Konsument werden durch beide gleicherweise geschädigt.
Die Mittellinie kann nur aus der Beobachtung der tatsächlichen Ver-
hältnisse durch die Verwaltung gewonnen werden.
Angebot und Nachfrage werden durch das Bedürfnis hervorgerufen und
richten sich auf dasselbe Objekt. Nur in der Preisbestimmung gehen sie
auseinander. Die Dringlichkeit des Bedürfnisses entscheidet in letzter Linie
über den Preis. Die Verwaltung hat für keinen von beiden Teilen Partei zu
ergreifen. Sie hat nur zu sorgen, daß die freie Preisbildung, die schließlich
beiden Teilen gerecht wird, ungehindert vor sich gehe. Dies ermöglicht die
freie Konkurrenz, die Verkäufer und Käufer voneinander unabhängig macht.
Die öffentliche Verwaltung hat die Aufgabe, dieses freie Spiel der
Kräfte, wo es besteht, gewähren zu lassen, wo es gehemmt ist, wieder
herzustelien. Es entsteht also die Frage: bei welchen Handwerken und
Gewerben besteht das freie Spiel der Kräfte ? Bei diesen wären Zwang und
Vorkehrungen nur von Nachteil. Bei welchen besteht es nicht? Hier ist
die Regierung berechtigt, Vorkehrungen zu treffen.
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Das Oatfrreichiselie Gewerbe im Zeitalter des Merkantilismus,
95
Zu unterscheiden sind vier Arten von Gewerben:
1. Gewerbe, die allein auf Geding arbeiten, ohne selbst den Stoff
beizustellen :
2. Gewerbe die auf Geding mit eigenem Stoffe arbeiten:
3. Gewerbe, die hauptsächlich auf Verlag arbeiten;
4. Handelsgewerbe.
Die ersten zwei Klassen können wir als Handwerk zusammenfassen.
Sie erfordern den Befähigungsnachweis, doch darf dieser nicht durch Taxen
und andere Erschwerungen ausarten. Würde er fehlen, so wäre das betreffende
Gewerbe wegen des geringen Erfordernisses an Kapital und Geschicklichkeit
bald Oberfüllt. .Man sage nun nicht, diese Vorkehrungen legen der Fähigkeit
Fesseln an, beschränken die Geschicklichkeit, verschließen die Wege der
Erwerbung, nehmen in Ansehung des einzelnen Bürgers eine Sorgfalt über
sich, die jeder am besten für sich selbst trage, da jeder sich gegen Beschädigung
vorsehen wird. — Vorschriften, welche nur Beweise der zureichenden Geschick-
lichkeit zum Augenmerke nehmen, legen der Fähigkeit keine Fesseln an,
schließen die Geschicklichkeit nicht aus; sie versichern vielmehr der Geschick-
lichkeit vor der Unfähigkeit den Vorzug, worauf sie gewiß einen billigen
Anspruch hat.* Die Zünfte seien in diesen zwei Klassen beizubehalten, doch
dürfen sie nicht geschlossen werden.
Die Gewerbe, der dritten Klasse, die. auf Verlag arbeitend größere
Geschicklickbeit und größeres Kapital erfordern, sollten frei sein, da die
Kombination dieser zwei Umstände die nötigen Garantien für ihre Keellität
und gegen allzu starkes Anwachsen gebe. Es ist hier nur Anmeldung und
Nachweis eines genügenden Kapitals erforderlich.
Bei den Handelsgewerben endlich sind zu unterscheiden:
1. Die dem täglichen Bedarf dienen; sie sollen frei sein, müssen sich
aber zur Haltung der nötigen Vorräte verpflichten.
2. Die Luxusgewerbe sind frei.
3. Krämer sind frei, dürfen aber keinen Vorkauf ausfiben.
4. Gastwirtgewerbe erfordern Beschränkung der Zahl.
5. Wandernde Gewerbe sind wegen Unkoutrollierbarkeit und Vorkauf
immer nachteilig, daher möglichst zu beschränken. Vererbliche Personal-
gewerbe, radizierte und verkäufliche Gewerbe .sind unglückliche Geburten
einer an echten Hilfsquellen unfruchtbaren Finanz.*
So S o n n e n f e 1 s.
Von den Antworten der Gubernien. habe ich nur die des kärntnerischen
und krainischen gefunden. Sie erklären zwar im allgemeinen ihre volle
Zustimmung zu den hier ausgedrückten Grundsätzen und wollen auch die
Möglichkeit ihrer Anwendbarkeit auf Wien nicht in Frage stellen, erklären
sich aber gegen ihre Ausdehnung auch auf ihre Länder.
VII
Nachdem wir so der Gewerbeverfassung durch alle Phasen des Merkan-
tilismus nachgegangen sind und sie bis an die Schwelle der ökonomischen
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Rizzi.
96
Neuzeit begleitet haben, wollen wir in knappen Zogen das Bild zu zeichnen
versuchen, das uns im Gewerbe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts,
in seiner Verbreitung, seinen Betriebsformen und seiner Bedeutung fOr die
Gesamtwirtschaft entgegentritt.
Beginnen wir beim städtischen Handwerk.
Es stellte zu jener Zeit noch immer den größten Prozentsatz zur
städtischen Bevölkerung, aber es war schon lange nicht mehr reine Kunden-
arbeit. In sehr vielen Gewerben hatte der Meister bereits einen kleinen
Laden neben der Werkstatt, indem er seine Arbeiten zum Verkaufe ausbot.
Eine feste Abgrenzung der Befugnisse bestand in den Kommerzialgewerben,
die die Polizeiprofessionen an Zahl und Bedeutung überragten,1) nicht Ja,
auch bei letzteren verschwand sie in der josefinischen Periode mehr und
mehr und Sonnenfels konnte es geradezu als Aufgabe des Staates
erklären, Gewerbe, die zur Fertigstellung eines Arbeitsproduktes erforderlich
seien, womöglich in einer Hand zu vereinigen.9)
Die Meisterstellen vererbten sich meist vom Vater auf den Sohn, der
Zuzug zum Gewerbe war gering und kam größtenteils aus dem Ausland.
Denn die Landbevölkerung war bis 1783 an die Scholle gebunden und die
Aufhebung der Leibeigenschaft kam vorerst hauptsächlich dem Großbetrieb
zu gute. Ein Wiener Professionistenschema3') aus dem Jahre 1736 zählt 3345
bürgerliche, d. i. bezunftete Professionisten, 3216 Dekretor. 301 Hofbefreite
und 2941 Störer auf. Interessant ist hier erstens die große Anzahl der
Dekreter elf Jahre nach Erlassung des Schutzpatents, zweitens die der
Störer. Da diese sich jedoch kaum einer Zahlung unterworfen haben, so
läßt die genaue Zahlangabe nicht auf allzu große Zuverlässigkeit des
Berichtes schließen. Tatsache ist. und die vielen Erlässe, die sich mit den Störern
beschäftigten, bestätigen es, daß die Stör das ganze 18. Jahrhundert nicht
nur auf dem Lande, ihrer eigentlichen Heimstätte, sondern auch in den Städten
verbreitet ist. Die Behörden mochten weder die Macht noch den Willen haben,
biegegen ernstlich einzusclireiten, und eine gewaltsame Keaktion der Zünfte,
wie sie in Deutschland in weitgehendem Maß erfolgte, war bei dem Charakter
und der Entwicklung des österreichischen Zunftwesens nicht denkbar.
Das hier fflr Wien angeführte Zahlenverhältnis galt wohl nur für die
Reichshnupt8tadt und vielleicht noch Prag und Brünn. In den kleinen Städten
konnte sich der Meister nicht so leicht der Zunft entziehen. Sie bot auch
in ihrem ökonomischen Stillstand keinen Anldß dazu. Hier wurde, besonders
in den Alpenländern, der gewerbliche Betrieb vielfacb noch neben der Land-
wirtschaft ausgeübt. Arbeit auf Bestellung mit oft noch vom Auftraggeber
beigestelltem Material herrschte fast ausschließlich. Das ganze gewerbliche
Leben spielte sich in viel kleinlicheren Verhältnissen ab. Streitigkeiten wegen
Befugnisüberschreitung kamen häufiger vor.
*) Ein Verzeichnis der kärntncrischen Polizei- und Kommemalgewcrbc enthalt von
ersteren 37. von letzteren 50 Professionen.
*) In dem Gutachten über die Verteilung der Gewerbe.
*) Vgl. Bujatti a. a. 0.. 8. 22.
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Das Österreichische Gewerbe im Zeitalter des Merkantilismus.
97
Die Anzahl der Gesellen nahm mit der Größe der Städte und von den
Kommemal- zu den Polizeigewerben ab. So kamen 1756* i in ganz Kärnten
in den Kommerzialgewerben auf 1845 Meister 1366 Gesellen, doch ist die
Verteilung sehr ungleich. Die stärksten Gesellenzahlen weisen die Groß-
betriebe der montanistischen Industrie und die Textilgewerbe auf, während
bei den eigentlich städtischen Professionen immer zwei oder drei Meister
auf einen Gesellen kommen. Ein Beispiel der ungemein rasch fortschreitenden
Spezialisierung der Kommerzialgewerbe liefert die Vergleichung der Tabellen
von 1756 und 1793:*) während erstere 13 Kommerzialgewerbe nennt, sind
auf letzterer schon 50 vertreten.
Die Lage und Verfassung des ländlichen Gewerbes richtete sich
natürlich nach der der bäuerlichen Bevölkerung, aus der es hervorging, und
war demgemäß in den verschiedenen Ländergruppen verschieden. In den
Sndetenländern, in denen das System der gewerblichen Gutsuntertänigkeit
in seiner strengsten Form ausgebildet war. der Boden größtenteils in den
Händen des Großgrundbesitzes sich befand und der Untertan einen großen
Teil seiner Zeit und Kraft dem Herrendienste widmen mußte, konnte sich
bis gegen die Mitte des 18. Jahrhunderts kein eigentlicher Gewerbestand
am Lande entwickeln. Der Grundherr ließ die gewöhnlichen Handwerksarbeiten
durch die robotpflichtigen Untertanen verrichten, feinere gewerbliche Produkte
bezog er aus der Stadt oder aus dem Ausland. Die Untertanen hinwiederum
deckten ihren ganzen gewerblichen Bedarf im hauswirtschaftlichem Betrieb.
Nur die Textilgewerbe erscheinen seit alter Zeit auf dem Lande heimisch.
Sie gaben dem Bauer Beschäftigung während des Winters und mit ihren
Erzeugnissen konnte er in manchen Gegenden einen Teil seiner untertänigen
Schuldigkeit bezahlen.1) Zu intensiverem Betrieb gelangten sie aber auch
erst durch den Verlag. Mit der allmählichen Milderung des Untertänigkeits-
verhältnisses und der gleichzeitigen Bedürfnissteigerung im Laufe des
18. Jahrhunderts begannen nach und nach auch die übrigen Gewerbe am
Lande Fuß zu fassen. Die Generalartikel hatten zwjr nur für die ländlichen
Leinweber Zünfte vorgesehen, den übrigen Landhandwerkern Inkorporation
in die städtischen Zünfte befohlen. Aber bald kommen auch Bestätigungen
ländlicher Zünfte vor,*) wohl in Verbindung mit der Entstehung der Groß-
betriebe. die sich mit Vorliebe auf dem flachen Lande ansiedelten.
’) Tutaltabella deren gesamten Kommerzprofessionisten im ganzen Land Kärnten
pro 1756.
*) Verzeichnis der kSmtnerischen Kommerzialgewerbe im kämtneriechen Gubernial-
bericht ex 1793
■*) Vgl. Grünberg, Bauernbefreiung. I. Bl.. 3. 183 f, und Brentano, Über den
grnndherrlichen Charakter des hausindustriellen Leinengewerbes in Schlesien (in der
Zeitschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. I. Bd-, S. 325 ff); derselbe. Über den
Kinüub der Grundherriichkeit und Friedrichs des Großen auf das schlesische Leinen-
gewerbe (ebendaselbst II. Bd., 8. 299 ff.; Grünhagen, Über den angeblich grundherr-
lichen Charakter des hausindustriellen Leinengewerbes in Schlesien (ebendaselbst II. Bd-,
S. 241 ff.).
*) Bericht des bobmischen Guberniums und Kommerxialkonsesses ex 1753.
/.HUchrlft fflr Volkswirtschaft, Hucialpolitik und Verwaltung. XII. Rand. 7
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98
Rizxi.
In Nieder- und Innerösterreicb, wo das Untertänigkeit« Verhältnis ein
viel loseres war, der Großgrundbesitz lange nicht die wirtschaftliche Macht
wie in den Sudetenländern besaß, sowie in Deutschtirol mit seinem freien
Bauernstände bestand ein ziemlich reich entwickeltes ländliches Gewerbe:
wir finden da Professionen auf dem Lande, die heute wieder rein städtisch
geworden sind, z. B.: Lederer, Hutmacher, Körschner, Färber, Hafner.1)
Doch sind sie nirgends so zahlreich vertreten, um eigene Zünfte bilden zu
kennen. Die Meister sind in die Laden der größeren Orte, die sogenannten
Viertelladen, eingegliedert und diese unterstehen wieder der Hauptlade in der
Landeshauptstadt. Lohnwerk überwiegt hier weit, nur ein geringer Teil
wird auf Kirchtagen und Märkten zum Verkauf gebracht Die Teitilgewerbe
arbeiten Bchon größtenteils für den Verlag.
Die materielle Lage des Handwerks in Stadt und Land ist keineswegs
befriedigend. In vielen Städten Böhmens stehen oft große Bruchteile ein-
zelner Gewerbe vollständig beschäftigungslos. Die Meister müssen sich durch
Taglöhnern ihr Brot verdienen, die Gesellen ziehen fechtend im Land herum.
In den meisten behördlichen Berichten aus der zweiten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts ist von dem Darniederliegen des Handwerks die Rede. Rin Bericht
über das ländliche Gewerbe eines Kärntnerkreises erzählt, die Löhne im
Gewerbe seien so schlechte, daß jeder lieber in die Gewerkschaften oder
zum Holzfällen gehe.1)
Die Ursachen liegen, wie schon oben gezeigt, nicht im Aufkommen
der Großbetriebe. Auch die Steuern waren nicht übermäßig. Außer den
geringen Kealsteuern und der Klassensteuer hatten die Gewerbetreibenden
nur ihre Zunftabgaben und Taxen zu zahlen, von denen die Regierung einen
Prozentsatz für sich erhob. Die Schuld liegt vielmehr in den gewerblichen
Verhältnissen selbst. Ich nenne: die Überfüllung vieler Gewerbe8) die Anzahl
der Gewerbetreibenden stieg zu rasch, als daß das Bedürfnis zu folgen
vermochte, ferner die technische Rückständigkeit und die vielen alteinge-
wurzelten Mißbräuche, die Zeit- und Geldverschwendung bedeuteten. Auch
die sprunghafte Zollpolitik der Regierung, die eine Stabilisierung der Markt-
verhältnisse nicht zuließ, mochte in gleicher Richtung wirksam gewesen sein.
Über die Cntstehung des Großbetriebes und seine Betriebsforra wurde
schon das Nötigste gesagt. In den wichtigsten Industriezweigen anfangs
Verlag, nähert er sich durch Vereinigung der Arbeitskräfte in einer Betrieb-
stätte, durch Anwendung des maschinellen Betriebs und Arbeitszerlegung
immer mehr der Fabrik — ein Prozeß, der in manchen Gegenden noch heute
nicht zum Abschluß gekommen ist. Ich verweise mir auf die Leinenweber
Schlesiens, Nordböhmens und Niederösterreichs, deren niedere Entlohnung
die Konkurrenz mit der Fabrik noch immer gestattet. Auch einige Misch-
formen des großgewerblichen Betriebes finden sich: die Tuchmacherkompanie
’) HaupttAbel über die in Hörzogthumb Kärnthen des oberen Kreisen befindliche Pro-
fessiouisten, welche mit ihren fabricatis einen Kinschlag ins Commercium haben, ex 1754.
*) Gutachten des gräflich Lodronschen Land- and Stadtgerichtes Gmund, ex 1793.
*) Bericht dea kämtnerischen und krainischen Gubemiunts. ex 1793.
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Das Österreichische Gewerbe im Zeitalter dee Merkantilismus. <|{>
in Iglau, die teilweise genossenschaftlich produzierte und genossenschaftlich
absetzte und eine besonders interessante Form, die Ferlacher Gewerkschaft
in Kärnten. Sie lieferte hauptsächlich Gewehre, und zwar wurden die ein-
zelnen Gewehrteile von den verschiedenen Meistern spezialisiert; sie wurden
dann von den reichsten Meistern angekauft, zusammengesetzt und genossen-
schaftlich dem Großabnehmer abgegeben.*)
Die rechtliche Grundlage des Großbetriebes bildete in der ersten Hälfte
des 18. Jahrhunderts das Privilegium privativum, in der zweiten die fabriks-
mäßige Befugnis. Beide kamen nur der Person des Begünstigten zu. Dieser
bedurfte weder des Bürger- noch des Meisterrechts.*) War er Akatholik, so
hatte er bis 1781 um Dispens anzusuchen. Juden waren schon seit
Maria Theresia allgemein zu Erlangung von Befugnissen befähigt.
Man unterschied am Ende des Jahrhunderts zweierlei Befugnisse:*)
Einfache fabriksmäßige Befugnisse, die für den Begünstigten
eine Anerkennung der Nützlichkeit seiner Unternehmung, die Befreiung von
allem Zünftigkeitszwang und das Recht alle Arten gewerblicher Hilfsarbeiter
in seinem Betrieb zu vereinen in sich schlossen, und .Landesfabriks-
befugnisse*. Diese bildeten eine Anerkennung der besonderen Wichtigkeit
und Solidität des Unternehmens. Sie berechtigten zur Führung des kaiserl.
Adlers, zur Errichtung von Niederlagen in allen Hauptstädten4) und zur
Aufdingung und Freisprechung von Lehrjungen, was bei der ersten Klasse
den Zünften Vorbehalten war.
Der Absatz der gewerblichen Produkte erfolgte, wo diese nicht Kunden-
arbeit waren, fast ausschließlich durch die Gewerbetreibenden selbst. li>
größeren Städten im Laden, in kleineren am Wochenmarkt, am Land auf
den Kirchtagen. Der Kaufmannsstand war mit Ausnahme des Großhandels
noch ganz unentwickelt Er galt als volkswirtschaftlich schädlich, da er,
ohne selbst zu produzieren, einen Gewinn bezog. Die wenigen Kaufleute in
Städten und Märkten waren teils Krämer und Höcker, die Pfennwerte. Gegen-
stände des täglichen Bedarfs, mit deren Anschaffung man nicht bis zum
nächsten Wochenmarkt warten konnte, verkauften; teils handelten sie mit
importierten Waren. Kolonialwaren u. a.
Am wenigsten beliebt bei den Behörden, wie bei der Bevölkerung
war der Hausierhandel. Man ließ ihn nur bestehen, wo man seiner nicht
entraten konnte.
Nachdem eine Reihe von Verordnungen Maria Theresias Bestim-
mungen für den Hausierhandel in den einzelnen Provinzen enthalten hatten,
kam es endlich unter Josef 11. zu einer einheitlichen Regelung für
die böhmischen und österreichischen Erblande:5) Fremden Untertanen sollte
das Hausieren Oberhaupt, den eigenen aber nur das mit fremden Waren
*) Vgl. Kränil, Statistik. Wien 1841. III. Bit, S. 838.
*1 Vgl. Wildner, Das Österreichische Fahrikenrecht. Wien 1838, S. 14 u. ff.
*) Vgl, Wildner a. a. 0., S. 4.
4) Vgl. Wildner a. a. 0., S. 55.
\ Hausierpatent vom 20. Jnni 1785.
7*
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100
Rirzi.
untersagt sein. Mit inländischen Waren dürfen sie hausieren, müssen sich
jedoch von den Kreisäintern Erlaubnisscheine aussteilen lassen, die nur für
den betreffenden Kreis gelten, ln Städten und grelleren Märkten, die mit
Kaufleuten versehen sind, sowie zwei Stunden innerhalb der Landesgrenze
darf überhaupt nicht hausiert werden.
Die Märkte als jener Ort. an dem sich Produzent und Konsument
direkt trafen, fanden zunehmend Pflege und Berücksichtigung seitens der
Regierungen. Unter Josef II. wurde der Besuch der Jahrmärkte in den
Landeshauptstädten Inländern und Ausländern und für alle Waren freige-
gegeben.1) Man wollte grolle Handelsplätze, wie es die deutschen Messen,
vorzüglich Leipzig und Frankfurt, waren, schaffen.
Betrachten wir schließlich die Stellung des Gewerbes in der Gesamt-
wirtschafl.
Österreich erzeugte seinen Bedarf an Massenprodukten vollkommen.
Ja. es lieferte noch für den Export nach Italien und dem Osten. Luxus-
waren, gegen Ende des Jahrhunderts auch Maschinen, bildeten die Haupt-
importartikel in Fabrikaten.*'
Die Scheidung zwischen dem gewerbereichen Korden und dem gewerbe-
armen, viehzüchtenden Süden war noch nicht eingetreten. Böhmische Waren
kamen höchstens im Transithandel in die Alpenländer, denn die Textil-
industrie war hier weit verbreitet, die montanistische Produktion und
Metallwarenindustrie übertraf die der Sudetenländer. Die Elemente, welche
diese Scheidung im 19. Jahrhundert herbeiführten, Steinkohle, Baumwolle
und eine rücksichtslose kapitalistische Spekulation, kamen damals noch
nicht zur Geltung.
VIII.
Stellen wir uns zum Schlüsse die Frage, welches die eigentlichen
Ursachen waren, die die Entwertung der sozialen Organisation des Gewerbes,
den Verfall der Zünfte herbeigeführt haben Denn, daß Regierungsmaßnahmen
dies nicht vermochten, daß sie ohne die in den konkreten Verhältnissen
liegende Berechtigung gar nicht auf die Dauer Bestand haben konnten,
liegt auf der Hand. Um hierauf antworten zu können, müssen wir auf die
Entstehung des Zunftwesens zurückgreifen.
Die Zünfte waren als Schutz- und Rechtsorganisationen des Gewerbe-
standes entstanden und sie hatten diesen Charakter beibehalten, solange Rechts-
schutz und Interessenvertretung ausschließlich durch ständische Organisation zu
erlangen waren. Die ökonomische Bedeutung des Zunftwesens kam erst an
zweiter Stelle und konnte die natürliche Produktionsentwicklung nur in
geringem Maße beeinflussen. Als aber daun der Ständestaat vom absolutistischen
Einheitsstaat abgelöst wurde, da wurden auch die ständischen Organisationen
überflüssig. Neben der neuen, immer mehr erstarkenden Zentralgcwalt
konnten sie nur ein Schattendasein fristen. Nicht mehr dem Bedürfnisse,
1) Zirkular \om 20. September 1788.
*) Vgl Fränzl a. a. 0., III. Bd„ S. 460 u. ff.
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Das österreichische Gewerke im Zeitalter des Merkantilismus. 101
sondern staatlicher Wohlmeinung verdankten sie ferner ihre Existenz. Der
Staat war es fortan, der den Umfang ihrer Wirksamkeit bestimmte und
dabei zum Gradmesser das bonum publicum et commerciale nahm. Der
ökonomische Stand des Kleingewerbes hält sich vom Ende des Dreißig-
jährigen Krieges bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts fast auf der gleichen
Stufe und dennoch der rasche Rückgang in der Bedeutung des Zunftwesens.
Der Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts mußte auch mit den letzten
Resten rechtlicher Ausnahmestellung und sozialer Gebundenheit aufräumen.
Er mußte die Gewerbefreiheit gewähren. Wo er daun wieder an die Organi-
sation des Gewerbes schritt, war dies nur soweit von Erfolg begleitet, als
er die freie Genossenschaft auf ökonomischer Basis schuf. Die Wieder-
herstellung der Zunft, der geschlossenen Standesvertretung erwies sich in
der Tat als mittelalterliches Anachronistikon.
Der jetzt im Werden begriffene soziale Staat wird nur soweit an eine
geschlossene Organisation des Gewerbestandes schreiten können, als er sie
mit rein sozialen Elementen zu erfüllen vermag. Die rechtliche und politische
Gestaltung der gewerblichen Verhältnisse wird er sich Vorbehalten, die
ökonomische der freien Assoziation überlassen müssen.
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VERHANDLUNGEN DER GESELLSCHAFT
ÖSTERREICHISCHER VOLKSWIRTE.
CXVIII. Plenarversammlung.
Über einige wünschenswerte Richtungen der Gebühre n-
reforin hielt am 28. Oktober 1902 Herr Oberfinanzrat Dr. r. Koczynski
einen Vortrag.
Die sehr beklagte Kompliziertheit entstamme lediglich einem Kedaktions-
fchler bei Abfassung des Gebührengesetzes vom 9. Februar 1850, und käme es
sonach darauf an. diesen Fehler wieder gut zu machen.
Die Gebühren im österreichischen Sinne sind eine spezifisch österreichische
Einrichtung: außerhalb Österreichs kommen Abgaben dieses Namens entweder gar
nicht vor, oder sie sind völlig verschiedener Natur. Auch in der Finanzwissenschaft
hat die Bezeichnung „Gebühr" einen ganz anderen Sinn. Sieht man aber anf
Objekt, Anlaß und Wesen unserer Gebührenabgabe, so korrespondiere ihr ander-
wärts nicht eine einzelne Abgabe, sondern eine ganze Reihe verschiedenartiger
Abgaben. So war os auch im alten vormärzlicbcn Österreich. Im Jahre 1840
gab es bei uns Rechtstaxen, Laude mien, Papi erstem pel und Erb-
steuer.
1. Die Rechtstazen bestehen aus Verleibungstaxen und Sportel-
taxen. Die Verleihungstaxen sind die Gaben, welche aus Anlaß der Belehnung
an den verleibenden Landesherrn zu leisten waren, ihrem Wesen nach eher ein
Geschenk als ein Entgelt. Auch die Sporteltaxen reichen weit in das altdeutsche
Recht hinein. Sie waren regelmäßig in fixen Beträgen bestimmt; nnr drei der-
selben hatten prozentuelle Gestalt: die D e p o s i t e n t a x e für die gerichtliche
Verwahrung, die Raittaxe für die Prüfung von Verwaltungsrechnungen und
das Mortuar für die Pfiege von Verlaßabhandlungen.
Die Verleihungstaxen waren eine ganz eigenartige, mit dem Lehonswesen
im Zusammenhang stehende Gattung von landesherrlichen Einnahmen, die
Sporteltaxon Gebühren im Sinne der Wissenschaft. Letzteres ist allerdings
für die proportionalen Depositen-, Rait- und Sterbetaxen zweifelhaft. Nach der
überwiegenden wissenschaftlichen Lehre soll die Gebühr reine Kostenvergütung,
ein gewinnloses Entgelt sein; erübrigt ein Gewinn, so sei das Ganze oder
mindestens der Überschuß eine Steuer. Dies würde hier zutreffen, und es müßten
diese Taxen als Verkehrsstenern angesehen werden. Dies geht wieder nicht an,
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CXVm. Plenarversammlung.
103
weil es an einem zu besteuernden Verkehrsakte völlig mangelt. So wird man dazu
gedrängt, zu erwägen, ob nicht eine Revision jenes wissenschaftlichen Gebühren-
begriffes statthaft wäre. Tatsächlich gibt es in der Praxis Gebühren in diesem
Sinne der Wissenschaft gar nicht: bei jeder Gebühr bleibt ein kleinerer
oder größerer Gewinn übrig. Ein absolutes Gleichgewicht von Kosten und Gebühr
herzustellen ist technisch unmöglich. Kur die Tendenz besteht, sie so niedrig
als möglich zu halten, was aber eine Konsequenz der Forderung ist, daß das
Gemeinwesen bei der Erfüllung seiner Aufgaben seinen Gliedern so wenig als
möglich Kosten verursachen solle.
2. Landenden sind die im Falle von Veränderungen im Haupte des Unter-
tanen zu entrichtenden Veränderungsgebühren. Sie sind öffentlich-rechtlicher
Matur. Die Gntsherrschaften waren im Patrimonialstaat die untersten Glieder der
öffentlichen Verwaltung; das Laudemialbezngsrecht und das heutige Besteuerungs-
recht der Gemeinden entspringen sonach der gleichen Wurzel. Unter den Steuern
werden die Laudemien ihrer Katur nach den Verkehrssteuern zuzuweisen sein.
Sie hatten eine für unsere Vorstellungen exorbitante Höhe. Zumeist betrugen sie
10 Proz., mitunter aber bis zu einem Drittel des Sachwertes.
3. Infolge der Türkennot entwickelte sich von der Mitte des XVI. Jahrhunderts
an ein reiches Aufschlagswesen; es entstand im Jahre 1675 ein Papieraufschlag,
welcher je nach Format und Qualität des Papiers abgestuft war. Im Jahre 1686
wurde er durch die Siegelabgabe ersetzt: alle rechtlich bedeutsamen Schriften
mußten auf einem mit gewissen Stempelzeichen versehenen Papier geschrieben
werden. Die Abgabe batte drei Abstufungen, zu 3 kr., 15 kr. und 60 kr. Jeder
stempelpflichtige Gegenstand war einer dieser Stempelklassen zugewiesen, so daß
die bezügliche Schrift zur Gänze anf Stempelpapier dieser Klassen geschrieben
sein mußte. Die stempelpflichtigen Schriften zerfielen in Einschreiten nnd Ver-
bescheidungen. Ungestempelte Schriften unterlagen strengen Sanktionen: Urkunden
waren nichtig; über ungestempelte Eingaben durfte nicht beamtshandelt werden.
Mach kaum sechsjährigem Bestände wieder abgeschafft, wurde sie im XVIII. Jahr-
hundert erst in Innerösterreich und später in den Ländern der böhmischen Krone
neuerlich eingeführt, um durch Maria Theresia wieder auf alle Erblande aus-
gedehnt zu werden. Hierbei wurde eine weitere Stempeltaxe zu 2 ft. geschaffen.
1802 wurde die Zahl der Stempelklassen auf 14 vermehrt bis zu 100 fl. per Bogen.
Diese Abgabe von Urkunden und Eingaben ist das Schmerzenskind der
Theorie. Keiner der bisherigen Versuche, dieselbe theoretisch zu konstruieren, hat
ein einwandfreies Ergebnis geliefert. Die Qualifizierung des Eingabenstempels als
Gebüb r muß aus historischen Gründen verworfen werden. Für den Urkunden-
stempel ist die gleiche Ansicht von vornherein bedenklich, weil die Urkunde
gestempelt werden nmß, ohne daß ein Objekt des Entgelts, eine Amtshandlung,
irgend wie in Betracht käme. Der Urkundenstempel ist aber auch keine Verkehrs-
steuer, weil die Stempelpflicht von der Realisierung des Verkehrsaktes ganz unab-
hängig ist und die Abgabe sich mit jedem Exemplar und jedem Bogen der
Schrift wiederholt, während nur e i n Verkehrsakt hinter der Urkunde steht.
Referent schlägt eine neue Erklärung und den Namen „Schriftsteuer*
vor. Er geht dabei von der Wiederholung der Abgabe mit jedem Exemplar und
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104
Verhandlungen der Gesellschaft Österreichischer Volkswirte.
sogar mit jedem Bogen der rechtlich relevanten Schrift aus. Ke müsse angenommen
werden, daß nnr dort die Abgabe mehrmals eingehoben wird, wo mehrere Steuer-
objekte vorliegen. Daraus folge, daß der hinter dem Schriftstücke stehende recht-
lich relevante Vorgang nicht das Steuerobjekt sein könne. Anch nicht die Beur-
kundung selbst, da die Abgabe sich mit jedem Bogen der Schrift wiederhole.
Objekt der Steuer sei vielmehr der rechtlich relevante Verbrauch
von Schreibmaterial; es liegt also eine Konsumsteuer auf den Verbrauch
von Schreibstoffen zu rechtlich relevanten Zwecken vor. Deshalb ist von einem
schriftlichen Kaufverträge über eine Realität neben der Immobiliargebühr auch
der Orkundenstempel zu zahlen; darum ist dio Stempelabgabe von der Realisie-
rung des beurkundeten Geschäftes oder vom Erfolg des Einschreitens ganz unab-
hängig, Befristungen und Bedingungen sind irrelevant.
4. Die Erbsteuer ist gleichfalls eine Besteuerung des Rechtslebens, und zwar
eine Verkohrssteuer. Die Landenden beschränkten sich auf Immobilien und auf
die Erfassung ihres Bruttowertes, traten aber bei allen Arten von Über-
tragungen ein. Die Erbetener stellt die Beteiligung des Gemeinwesens am Znfalls-
gewinne des Einzelnen (Bereicherungsgebühr) dar. Sie tritt daher nicht nur bei
der Erbfolge, sondern bei allen unentgeltlichen VermGgenserwerbungen unter
Lebenden und von Todes wegen ein, sie trifft nur die reine Zuwendung nach
Abschlag aller Lasten, läßt den aus entgeltlichen Rechtsgeschäften resul-
tierenden Gewinn unbestenert und macht zwischen Erwerbungen von Immobilien
und von Fahrnissen keinen Unterschied. Die Steuer betrag regelmäßig 10 J’roz.,
Übertragungen zwischen Aszendenten nnd Deszendenten waren ganz, solche
zwischen Eheleuten hinsichtlich eines Drittels des Vermögens befreit. Vom Ver-
mögen der toten Hand war ein Erbsteueräquivalent zu entrichten. Die Steuer
wurde im Jahre 1810 reformiert.
Die vier dargestellten Abgaben vom Rechtsleben bestanden vor dem Jahre
1840 nicht nur nebeneinander, sondern sie konkurrierton auch oft mitein-
ander. In den ersten Jahrzehnten des XIX. Jahrhundorts wurde der Ruf nach
einer Reform der Besteuerung des Rechtslebens immer Unter. So entstand das
Stempel- und Taxgosotz vom 27. Jänner 1840. Alle Abgaben vom Itechtsleben
wurden zu einer einzigen, einheitlichen Abgabe vereinigt; an die Stelle der Erb-
etener, der Schriftsteuer und deijenigen Sporteltaien, die dem landesfürstlichen
Taxfonds zufließen, trat eine einheitliche, nur im Falle der Verwendung der
Schriftlichkeit zu entrichtende Stempelabgabe. Die Schriftsteuer war der großen
Aufgabe, die ihr derart zngemutet wurde, nämlich nahezu die gesamte Besteuerung
des Rechtslebens zu vertreten, umsoweniger gewachsen, als gleichzeitig auch das
Stempelwesen eine erhebliche Reduktion erfuhr, indem alle höheren Stempelklassen
von mehr als 20 fl. abgeschafft wurden. Es gab keine prozentuelle Erbsteuer
nnd vor staatlichen Gerichten kein prozentuelles Horlnar mehr. Selbst von Mil-
lionenerbschaften war keine höhere Abgabe zu entrichten als der Stempel von
20 fl. zum Einantwortungsdekrete, wie er auch zu einem Nachlasse von 5000 fl.
schon notwendig war. In einem zweiten Teile des Stempeltaigesetzes wurden die
Verleihungsgebühren einer zusammoufassenden Kodiflzierung unterzogen. Nach
bloß zehnjähriger Dauer wurde das Stempeltaigeaetz von dem jetzt geltenden Ge-
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CXVIII. Plenarversammlung'.
105
bä hren ge.se tze vom 9. Februar 1850 abgelöst. Es realisiert «len Grundsatz der
Allgemeinheit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung des Rechtslebens in einem
bisher noch nicht dagewesenen Umfange. Mit der Übernahme der Kosten der
gesamten Gerichtsbarkeit auf den Staat war dieser zum alleinigen Taxbezugsberech-
tigten geworden und vermochte jetzt eine allgemeine Reform der Sporteltaxen
eintreten zu lassen. Mit der Aufhebung des Untertansverbandes hatten ferner alle
Urbariallasten einschließlich der Laudemien gegen Entschädigung der bisherigen
Gutsherrschaften sofort aufzuhören. Hierdurch wurde eine immense Besteuerungs-
fahigkeit frei, die vom Staate ausgenützt wurde.
Die Elemente der Reform des Jahres 1850 waren daher: Reaktivierung
der Erbsteuer, Erweiterung der Schriftsteuer, Reform der nunmehr ausschließlich
staatlichen Sporteltaxen und Inkamerierung der Laudemien. Dabei wurde versucht,
diese Ziele durch ein einziges Gesetz und durch die Zusammenfassung aller dieser
Abgaben unter die gemeinsame Bezeichnung „Gebühren u zu erreichen. In Wirk-
lichkeit ist hier aber keine einheitliche neue Abgabe entstanden. Unsere Gebühren
sind vielmehr nichts anderes als ein mechanisches Gemenge aus allen den er-
wähnten Abgaben, nur zusammengehalten durch den schwächlichen Kitt eines
gemeinsamen Namens und durch die Zusammenfassung in ein einheitliches
Gesetz. Den zweiten Teil des Stenertaxgesetzes ließ man ungeändert und er
besteht als solcher noch heute zu Recht. Bald machte es sich geltend, daß es ein
großer Fehler war, den Schein einer einheitlichen Abgabe zu schaffen. Man nahm
jetzt allgemein den Schein für das Wesen und mühte sich begreiflicherweise
ganz vergeblich ab, eine passende Definition für die österreichischen Gebühren
zu finden. Aber auch die Praxis und sogar die Gesetzgebung der Folgezeit
wurden durch den Glauben, daß es sich um eine einheitliche Gebühren abgabe
bandle, oft auf Irrpfade geleitet. In Wahrhoit leben die alten Abgaben im heu-
tigen Gebührenrecht trotz des neuen gemeinschaftlichen Namens in ihrem Wesen
unverändert fort. Blieb doch sogar das alte Stempelpapier der Emission 1836 in
Geltung, welches die Reform des Jahres 1840 unbeirrt überdauert hatte. Die
Erbsteuer finden wir in den Bereicherungsgebühreil wieder, da hier alle charak-
teristischen Züge: die Besteuerung der unentgeltlichen Übertragungen, die Be-
messung nach dem reinen Werte, die Einforderung eines Äquivalents vom Ver-
mögen der toten Hand, die unterschiedslose Heranziehung von beweglichem und
unbeweglichem Vermögen, ja sogar die ganze für die Erbsteuer ausgebildete
Technik des Verfahrens wiederkehren. Die Laudemien sind in der Inimobiliar-
gebühr zu erkennen, wie die Beschränkung auf Immobiliarübertragungen
und die Bemessung nach dem Bruttowerte ergeben. In Hinsicht auf die Objekte
hat diese Steuer eine große Erweiterung erfahren, da nunmehr alle Immobilien
und nicht bloß die ehemals laudemialpflichtigen Bauerngüter die Steuer zu tragen
haben. Die größten Veränderungen aber wurden im Sporteltaxwesen vorgenommen.
Die Zahl der reaktivierten Sporteltaxen reduzierte sich auf zwei, denen prozentuelle
Gestalt verliehen wurde: die Urteils- und die Eintragungsgebühren. Ihr Gebühren-
Charakter (im wissenschaftlichen Sinne) dokumentiert sich darin, daß sie an Amts-
handlungen geknüpft, durch deren Gültigkeit bedingt und von der Realisierung
des ihnen zu Grunde liegenden Vermögenserwerbes ganz unabhängig sind.
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l(Mi Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte.
In zahlreichen Beziehungen hat die Zusammenschweißung der erwähnten
zier so verschiedenen Abgaben (einer Gebühr, einer Konsutnsteuer und zweier
Verkehrsstenem) Verwirrung angerichtet. Besonders auch dadurch, daß diese von
Hang aus verschiedenartigen, nunmehr so bedenklich miteinander vermischten
Abgaben in dem alphabetischen Tarife unseres Gebührengesetzes auf die banteste
Art durcheinander gewürfelt sind; so ist unser Gebührenrecht zu einem förm-
lichen Irrgarten geworden.
Hauptforderung an die kommende Gebührenreform sei daher, daß der Bo-
daktionsfebler aus dem Jahre 1850 wieder gutgemacht, die nichtssagende Sammel-
bezeichnung „Gebühr“ aufgelassen, die Vereinigung der differenten Abgaben,
welche keinerlei Vorteil gebracht und nur Verwirrung gestiftet hat, beseitigt und
die Nounormierung dieser Abgaben in separaten Gesetzen vorgenommen
werde. Ks sollten drei solcher Gesetze erlassen werden ; eines für die Schrift-
steuer, eines für die Gerichtsgebühren (die Urteils- und Eintragungsgebühren)
und eines für die Verkehrsstenem, worin die Bereicherungs- und die Immo-
biliargebüliren zusammenzufassen wären.
Unter den Rechtstaxen ist die Entwicklung der Verkehrstaxen entschieden
eine rückläufige; dieser Abgabenzweig ist offenbar in der Auflösung begrifTon,
und dieser Prozeß müßte durch die bevorstehende Reform mit einem Schlage zu
Ende geführt werden; dieser Abgabenzweig wäre gänzlich zu beseitigen. Eine
Anzahl von Verleihungstaxen wird wohl in Abgaben anderer Natur übergeführt
werden können. Die unleugbare Anomalie, die hinsichtlich der Staatsbeamten
besteht, könnte damit beseitigt werden.
Auch die außerhalb des Steuertaxgesetzes bestehenden Verleihungstaxen : so
die Lottotaxe, die Bergwerkstaxen und die Heimats- und Bürgerrechtstaxen, sollten
einer solchen Umgestaltung entzogen werden.
Die zweite Art der Rechtstaxen — die Sporteltaxen — hat auf dem
•Gobiete der autonomen Verwaltungen eine reiche Zukunft. Es sind auch schon
Ansätze hierzu vorhanden, z. B. die Taxordnung der Stadt Triest, und die Ko-
tierungsgebnhren an den drei österreichischen Effektenbörsen.
Die Verkehrssteuern sind offenbar noch in aufsteigender Entwicklung be-
griffen. Sic waren seit 1850 geradezu das Lieblingsfeld der gesetzgeberischen
Betätigung, und es ist auf diesem Gebiete eine ganze Anzahl von Keuschöpfungen
zu verzeichnen. Die Novelle vom Jahre 1862 normiert gewisse fixe und skala-
mäßige Gebühren, auch wenn kein Schriftstück ausgefertigt wurde; Anzahl und
Umfang der Ausfertigungen sind dann, wenn sie einmal wirklich statthaben, ohne
Einfluß auf die Höhe der Gebühr. Damit ist eine Verschiebung des Steuerobjektes
eingetreten; dieses ist nicht mehr der Schriftakt, sondern der Verkehrsakt. Da-
durch wurde eiue neue Klasse von Verkehrssteuern geschaffen, welche man als
„denaturierte Stempelgebühren" bezeichnen könnte. Ferner emanzipierte man sieh
für Fälle größerer Steuerkraft von der herkömmlichen fixen und skalamäßigen
Abgabe und setzte für dieselbe prozentuelle Sätze fest, so für die Eisenbahn-
hillettgebühr und für die Gebühr von Lotterie- und Totalisateurgewinsten. An
diese neuartige Verkehrsbesteuerung auf das bewegliche Vermögen reihte
sich dann die Effektenumsatzsteuer und die Fahrkartensteuer. Diese Richtung der
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CXVUI. Plenarversammlung.
107
Gesetzgebung, die intensivere Heranziehung des beweglichen Vermögens zur
Tragung der Abgakenlast, ist von der Erkenntnis geleitet, daß das Gebührengesetz
in seiner ursprünglichen Anlage den Wertungen einer früheren, heute bereits in
voller Umwandlung begriffenen Wirtschaftsordnung entsprach.
Die Reform der Verkehrssteuern wird sich wahrscheinlich auch mit dem
Progressionsprinzip und mit der Forderung einer differenzierenden Behandlung
der Verkehrsobjekt« je nach ihrer wirtschaftlichen Funktion auseinandersetzen
müssen.
Die Schriftsteuer hat während ihrer Entwicklung meist nur Einschränkungen
ihres objektiven Anwendungsgebietes erfahren; so die grundsätzliche Beseitigung
der Stempelpflicht von Amtsbescheiden im Jahre 1850 und die Einführung der
denaturierten Stempelgebühren. Da letzteren falls Verkehrssteuern geschaffen wurdeu,
sind jetzt die betreffenden Schriftstücke gegen die allgemeine Regel stempelfrei.
Auch bezüglich der Amtsausfertignngen wäre die Rückkehr zu einem mäßigen
Stempel angezeigt. Seit 1850 hat eine weitgehende Differenzierung und Spezia-
lisierung der Schriftsteller stattgefunden, zum großen Schaden dieser Abgaben-
gattung, deren Natur dieser Richtung der Ausbildung stracks zuwiderlief. Die
Schriftsteuer ist von vornherein auf die Solbstentrichtung durch die Parteien ein-
gerichtet gewesen. Dies setzt aber voraus, daß die Abgabe nur wenige Sätze
sowie einfache und durchsichtige Bestimmungen besitze, welche sich leicht ein-
prägen und mit Sicherheit zu einer Tatsache des allgemeinen Bewußtseins
werden. Bei nns ist man von diesem Kardinalerfordernis weit abgekommen, da
die Schriftsteuer in ihrer Verquickung mit den übrigen Gebühren lim öster-
reichischen Sinne) an deren Schicksal teilgenommen hat. Unser Stempolrecht wird
allgemein für eine Art Geheiinlebre angesehen, die nnr wenigen Eingeweihten
zugänglich ist.
Die künftige Reform müßte hier gründlich anfränmen. Je einfacher die
Stempelsätze sind, desto sicherer kann auf ihre allgemeine Beachtung gerechnet
werden; jede Ermäßigung derselben würde durch die Masse der Fälle hundert-
fältig wioder eingebracht werden. Die Vereinfachung und Verbilligung der Schrift-
steuer sollte soweit als nur irgend tunlich ist gehen. Man könnte etwa für die
große Masse der Schriftstücke bloß zwei Stempelsätze, einen ganz kleinen von
2 oder 3 Hellem, für die rücksichtswürdigen Fälle, in denen heute gar nichts
entrichtet wird, und einen hohen zu 1 oder 2 Kronen für normale Verhältnisse
einfübreu. Den kleinen Satz sollte schlechthin alles Geschriebene, was rechtliche
Bedeutung hat. tragen. Es muß doch in allen diesen Fällen das Papier an sich
gekauft werden, da es selbst den Armen niemand herschenkt, und es würden einige
Heller in keinem dieser Fälle als eine erhebliche Mehrbelastung erscheinen. Im
ganzen aber würden sie sich zu eiuem großen Betrag zusammensummieren, da
ja bekanntlich bei uns sehr, sehr viel geschrieben wird.
Eine solche wesentliche Ermäßigung der Abgabenlast würde auch die
Handhabe ergeben, um die unzähligen Befreiungen zu beseitigen, durch welche
die Gebührennormen fast schon überwuchert worden sind. Die Gebührenbefreiung
ist dadurch so sehr zu einem förmlichen Attribut der Gemeinnützigkeit geworden,
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Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte.
daß man beinahe sagen könnte: wer beute noch Gebühren stahlt, ist dadurch
fast schon als gemeinschädlich gekennzeichnet.
Mit der Reduktion der Stempelsätze sollte die Wiedereinführung des
Stempelpapiers erfolgen. Dabei könnte der Staat, wenn er dieses Stempelpapier
in einer staatlichen Fabrik herstellen ließe, auch einem andeien, immer drin-
gender werdenden öffentlichen Interesse gerecht werden, nämlich der vom Stand-
punkte der Rechtssicherheit zu stellenden Forderung nach einem haltbaren Papier
für die rechtlich wichtigen Aufzeichnungen. Endlich erschiene es geraten, für
manche Urkunden, die im Rechtsleben oft in gleichförmiger Gestalt Vorkommen,
Spezialstempelzeichen zu schaffen. Solche Spezialstempelzeichen sind auch für die
Statistik und für die Rechtspolitik wichtig, weil sie den Abgabenertrag jeder
einzelnen Urkundengattung ersehen lassen. Auch erscheint es nicht empfehlens-
wert, die bisherige Zweiteilung der Entrichtungsart, geringere Gebühren mittels
des Stempels, größere hingegen bar, beizubehalten. —
Wichtig sei endlich die Trennung der Gebührenjudikatur von der Ver-
waltung des Gebührengefälles; die administrative und die jndizierende Tätigkeit
wären verschiedenen Behörden anzuvertrauen.
Bei der an diesen Vortrag anknüpfenden Diskussion bemerkte Hof- und
Gerichtsadvokat Dr. T b u m i m, die Reform des Gebührongesetzes müsse das
Gesetz und seine Handhabung in klare, durchsichtige und einfache Formen
bringen. Das Verfahren soll ein mündliches sein, dem in mancher Beziehung
auch die Öffentlichkeit zuzugestehen wäre.
Reichsrateabgeordneter Dr. Ofner erklärt: Der vom Referenten vorgetragene
Reformgedanke sei zu abstrakt entwickelt worden, unser Interesse an der Ge-
bührenreform sei aber ein sehr konkretes. Jede Steuer und jede Gebühr soll im
Verhältnisse stehen zu dem Vermögen und dem Einkommen der betreffenden
Person, während heute die Erbsteuer, die Grundsteuer, die Gebäudesteuer u. s. w.
den Ärmeren genau so trifft wie den Reichen. Das Gleiche gilt von allen Arten
der Verkehrssteuer. Und doch müssen diese von dem Gesichtspunkte ihres Zu-
sammenhanges mit dem Vermögen und Einkommen der davon betroffenen Per-
sonen aus anfgefaßt und bemessen werden. Nach dieser Richtung muü sich die
Kritik und die Reform der Verkehrssteuern vertiefen, mit einer blofien Neuein-
teilung der Gebühren ist nichts erreicht. Viel wichtiger als die Einfachheit einer
Steuer ist deren Größe und die Art ihrer Progression. Wenn nicht eine ent-
sprechende Proportionalität der Verkehrssteuern eingeführt wird, so hätten wir
lediglich das jetzige Gebührengesetz in einer anderen Fassung. Wir dächten aber
doch, daß der Gedanke einer Gebührenreform nicht bloß formell, sondern vielmehr
materiell zu fassen wäre, auch nach der Richtung hin, daß die Entrichtung der
Steuer nur mit dem wirklichen Vermögenserwerb verknüpft sein soll, was nach
der heutigen Präzis nicht zutrifft. Was die Schriftgebühr betrifft, so muß man
sich doch fragen, warum denn eigentlich eine solche — und wäre sie noch so
gering — überhaupt entrichtet werden soll. Der Gedanke einer Gebührenreform
ist dahin zusammenzufasseu : Zusammenhang der Gebühr mit dem wirklichen
Vermögenserwerb und Aufnahme einer Progression, welche die Reicheren inehr
heranziebt, um die Armen zu entlasten.
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CXVIII. Plenarversammlung.
109
Sektionschef Or. Inania v. Sternegg wünscht gleichfalls, daß die
Reform einen sozialen Einschlag erhalte: darin sei die Berechtigung der Pro-
gression. ebenso aber auch die Berechtigung des Vorschlages des Referenten zu
sehen, die vielen Einzelfälle auf allgemeine Formeln zu reduzieren. Dadurch
werde die Gebühr den wirtschaftlichen Verhältnissen der Einzelnen und der ver-
schiedenen Klassen angepaltt und für die ganze Bevölkerung leichter erträglich
werden.
Nach einigen Bemerkungen des Oberbuchhalters Sch m i d (Österreichisch-
nngarische Bank) replizierte noch Oberfinanzrat Dr. v. Koczynski, worauf
Herr I)r. Ritter v. Dorn die Versammlung schloß.
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AUGUST MEITZEN.
VORTRAG, GEHALTEN VON DR v. INAM A-STERNEGG IN DER GESELL-
SCHAFT ÖSTERREICHISCHER VOLKSWIRTE.
August Meitze n ist aui 16. Dezember 1822 zu Breslau gekoren,
wo er auch seine erste Jugend verbrachte. Nach Vollendung seiner Studien
machte er zunächst praktischen Jnstiz- und Finanzdienst. Aber schon bald drang
seine vielseitige, aber doch spezifische Begabung durch. Als Achtundzwanzig-
jähriger wurde er mit der Leitung der Deichregulierungsgeschäfte in Schlesien
betraut; mit seinen geodätischen und agronomischen Kenntnissen war der junge
Jurist eine Spezialität. Als er später als Kommissar für die Grundsteuerregelung
in Schlesien wieder das Land bereiste, ging ihm auch das Verständnis auf für
das historische Werden der Au Siedlungen und ihrer Feld-
fluren. Unter AVattorbachs sachkundiger Führung drang Meitzen in die
Quellenforschung ein und gab 1863 die Urkunden der Kolonisation von Schlesien
heraus, womit er seinen Ruhm als bahnbrechender Entdecker der in den Flur-
plänen verborgenen Zeuguisse der Ansiedlung des Landes begründete. So vor-
bereitet übernahm er die Leitung dos grollen amtlichen Werkes »Der Boden
und die landwirtschaftlichen Verhältnisse des prenlliscben Staates“, von dem er
eben jetzt nach 35jähriger Arbeit den sechsten und letzten Band akschliefit.
Inzwischen weitete Meitzen sein Forschungsgebiet zeitlich und räumlich immer
mehr aus; auf seilten Reisen durch ganz Europa schaute er mit Scharfsinn und
Genauigkeit der Beobachtung nach den Esistenzbedingungon der Landwirtschaft
aus, immer zugleich den lebendigen Zuständen wie ihrer Entstehung aus kaum
mehr erkennbaren Urformen seine Aufmerksamkeit zuwendend. Reiche Schätze
an Urkunden. Zeichnungen. Plänen brachte er nach Hanse, wo er sie wohlgeordnet
der Wissenschaft und der Lehre zugänglich machte. Ich war noch ein ganz
junger Mann, als ich von ihm dort eingeführt wurde. Mich ergriff die Tatsache,
daß hier aus der ganzen europäischen Welt die ältesten Spuren der Besiedlungs-
weisen vor mir lagen, fast ebenso sehr, wie Meitzen selbBt davon erfüllt war,
der ja in der Entzifferung dieser Pläne eine Lebensaufgabe sah. Es ist ein,
wenn auch ganz bescheidener Beitrag zur Charakterisierung dieses Mannes, wenn
ich mir gestatte, hier zu sagen: schon bei dieser ersten Begegnung hat er mich
dauernd für derartige Forschungen zu fesseln und mir sofort sehr intensiv die
Erkenntnis nnd die Tragweite dieser Untersuchungen zu eröffnen gewußt, so daß
es fernerhin nur ein Genuß war, seinen späteren Arbeiten zu folgen. Bis spät
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August Meitzen.
111
iu die Nacht hinein waren wir beisammen, Mitternacht war längst vorüber, auf
der Erde lagen Flurpläue von Italien mid Gallien, von Schottland nnd Finnland
au «gebreitet, lind wir krochen auf allen Vieren — die kleine Lampe neben uns —
um Kaum genug zu haben, uns in dieser weiten Welt zu bewegen. Sein reiches,
bis ins einzelne getreues Wissen von der Besiedelung Europas umspannte
schließlich dessen ganze Kulturzeit. In diesem Sinne ist Meitzen unzweifelhaft
der universellste Forscher unserer Zeit. Sein oberstes und größtes Verdienst ist
aber die geniale Entzifferung der Runen, welche die Menschen der ältesten
Knlturperiode mit ihren Ansiedtungen, ihren Hansformen, ihren Flurabteilnngs-
nnd Feldstreifen unzerstörbar in den Boden eiugegraben haben. Seit Meitzen
uns diese stumme Sprache gelehrt hat. erzählen sie uns, woher sie gekommen,,
wohin sie gewandert sind und welche elementaren Gedanken die bedeutsamsten
aller gesellschaftlichen Lebensäußernngen beherrscht haben — die Begründung
dauerhafter Gemeinwesen, den Ausbau der Heimat. Es ist ein eigener Reiz für
jeden, dessen Interesse nicht mit den Grenzen seines Vaterlandes anfhören und.
der gerne auch einen Blick werfen möchte über die engen Grenzen seiner eigenen
Lebenszeit zurück zu den Anfängen menschlicher Kultur, an Meitzens sach-
kundiger Hand sich iti die Zeiten zu versetzen, als zuerst nach der großen Eis-
zeit, als noch die Polartiere in den Pyrenäen und den Alpen hausten, die
Menschen ihre Holmen und Pfahlbauten errichteten. Aus Afrika, von dem vor-
dringenden Wüstensaude über das Mittelmeer getrieben, kamen die einen (Iberer
und Ligurer?) aus dem Nordosten, mit zunehmender Begrasung und Bewaldung
der Moränen, die anderen (Finnen?) nach Europa und entfalteten hier die erBte
Kultur. Dann schieben sich die Kelten, die Germanen und Slaven, alle zuerst
weidend nnd dann erst fest angesiedelt, von Osten her durch ganz Mitteleuropa
vor. Jeder der drei großen Volksstämme bringt eine eigenartige wirtschaftliche
Kultur hervor; aus der Tiefe der Volksseele entspringt sie; in bestimmten festen
Formen prägt sie sich aus, die zähe festgehalten, selbst jetzt noch an den
Ansiedlungen, dem Uansbau, der Flureinteilung erkennbar sind.
Da vor allem setzt Meitzens eigenartige Forschung ein. Wenn uns die
Prähistoriker ans den mit Steinen bedeckten Höhlen, den Dolmen, aus den
Überresten der Pfahlbauten, aus den Knochen der Haustiere und aus den
Spuren von Artefakten die älteste Kulturwelt anschaulich zu machen versuchen,
wenn die Archäologen aus den Keilschriften der Assyrer nnd Babylonier uns die
Grnndzüge einer längst verschollenen Bildung wieder erwecken, so hat Meitzen
die stummen Zeugen der Fluranpassung wieder zum Sprechen gebracht. Ana
loquuntur, kann er über sein Lebenswerk schreiben.
Wo immer sich menschlicher Haushalt und menschliche Arbeit dauernd an
dem Boden fixiert, eine planmäßige Siedelang zu einer Austeilnng des Bodens
gelangt, ist damit eine Tatsache geschaffen, die in aller Regel den Wechsel der
äußeren Schicksale der Menschen überdauert, weil wohlerworbene Rechte und
der gleiche Kreislauf des landwirtschaftlichen Betriebes sie erhalten; alles ist
eher nmzustürzen als die Urform einer Volksansiedlung mit der dnreh sie gegebenen
Ordnung der Feldfluren. Nun finden sich bis in unsere Zeit hinein in dem alten
Keltenlande die Einzelhöfe mit vollkommen arrondierter Feldflur, auf reinem
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Inama-Sternegg.
Germanenboden die Haufendörfer mit regulärer Gewanneinteilung und Gemenge-
lage der zu einem Gehöfte gehörigen Parzellen, in den Slavengebieten die Rund-
dörfer mit ganz ungeregelter Felderteilung, aber sehr festen Gemarkungen au
sehr vorherrschend, daß von drei deutlich unterscheidbaren Typen der Ansiedlung
gesprochen werden kann. Und dieselbe Anordnung ihrer Ansiedelungen läßt sich
zurück verfolgen bis in die Zeit des Überganges aus der Nomadenwirtschafi in
feste Niederlassung mit Ackerbau. Als der Urgrund dieser verschiedenen Formen
der Ansiedlnng und Flnreinteilung aber ergibt sich dio sehr differente politische
Veranlagung der drei Völkerschaften. Bei den Kelten sind die politischen
Abteilungen, die Klanes und Tates, auch zum Anfangs- und Endpunkt der Band-
teilung geworden; dem festen, hordenmäßigen Zusammenhalt des Klan unter
starker Obrigkeit entspricht die gleichförmige mechanische Landabteilung ebenso
wie dem ausgeprägten Familiensinn die volle Absonderung der einzelnen Tates
in Einzelhüfen. Bei den Germanen entspricht die vor allem auf vollkommene
Gleichwertigkeit des Landloses berechnete Gewanneinteilung bei sehr verschiedener
Form der Fluranlage dem entwickelten politischen Freiheits- und Unabhängig-
keitssinn des Volkes; bei den Slaven ist die rein patriarchalische Form ihrer
ältesten politischen Verfassung zugleich in der Flurverfassung ausgeprägt, die
aus dem starken Übergewicht hausväterlicher Gewalt über Individualrechte und
Individualinteressen zu erklären ist.
Führt uns so Meitzen an der liand der Flurpläue und der Kataster-
operate des XIX. Jahrhunderts mit sicherem Schritte bis zu den Uranfängen der
gegenwärtigen Besiedlung Europas zurück, welche noch durch kein schriftliches
Denkmal erhellt werden, so geleitet er uns anderseits durch die Jahrhunderte
des Mittelalters und der neueren Zeit bis zn den agrarpolitischen Pro-
blemen der Gegenwart. Aus dem gesamten Entwicklungsgänge des Agrar-
wesens erklärt er die agrarpolitischen Maßregeln der modernen Knlturstaateu.
Mit unerreichter Klarheit stellt Meitzen in knappster Form dar, was an Ein-
richtungen der älteren Agrarverfassung abgestorben und daher zu beseitigen, was
noch entwicklungsfähig und daher beizubehalten ist. Ein überzeugter Verfechter
der bürgerlichen Freiheit in Besitz und Erwerb betrachtet Meitzen die Bauern-
befreiung von dem Joche der Hörigkeit und den Lasten der Gutsuntertänigkeit
als den Anbruch einer neuen, wesentlich gebesserten Zeit der Landwirtschaft.
Die Herstellung der persönlichen Freiheit des Landmannes erlangte ihre volle
Bedeutung aber doch erst durch die Grundentlastnng und die Beseitigung der
Reallasten, deren volle und endgültige Überwindung nur mehr eine Frage der
Zeit ist. Mit großem Nachdrucke tritt Meitzen für die Regelung der Servituten
und für eine einheitliche durch die Obrigkeiten zu leitende Kommassation ein;
aber er verkennt nicht, daß der Erfolg von darauf sbtielenden Gesetzen wesent-
lich abhängig ist von der alten Art der Flurverfassung sowie von der Bodenlage
und den herrschenden Kulturarten. Gesetze, welche diese Verschiedenheiten der
Voraussetzungen von Kommassationen unbeachtet lassen, bergen den Keim des
Mißerfolges in sich.
Ebenso spricht sich Meitzen zwar gegen jede prinzipielle Beschränkung
der Freiteilbarkoit von Liegenschaften ans, in der er eine unberechtigte Ein-
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August Meitzen.
113
mischung der öffentlichen Gewalt in die Sphäre der privatwirtschaftlichen und
daher freien Entschließung des Grundbesitzers erblickt; aber er erkennt es doch
für notwendig an, Parzellierungen von ganzen Gütern zo erschweren, um nicht
Unordnung in dein Kreise der Öffentlichen Rechte und Pflichten der Grundstücke
einreiflen zu lassen und Landgüter nur zu Spekulationszwecken zu zerschlagen.
Einen besonderen Fürsprecher fand in Meitzen die neuerdings auch hei
uns geschaffene Einrichtung der Kombinationen von Kataster- und Grundbuch,
hauptsächlich wegen des dadurch erleichterten Verkehres mit Liegenschaften. Die
Furcht von einer dadurch begünstigten Mobilisierung des Grundbesitzes teilt er
nicht: eine solche müßte das gesamte agrarpolitische Streben treffen, das darauf
.abzielt, dem Grundbesitzer freie Verfügung über sein Grundstück zu schaffen.
Es liegt vielmehr im Wesen der fortschreitenden humanen Kultur, daß auch im
Grundbesitz der Charakter des Kapitals immer mehr zur Geltung kommt Was
von bestimmten Nutzungswerten und Anrechten das allgemeine Wohl gegenüber
dem Grund und Boden fordert, anf dem die gesamte bürgerliche Gesellschaft
besteht und verkehrt, kann und soll der Staat im vollen und fortschreitenden
Maße als notwendige Beschränkungen für alles Grundeigentum zur Geltung
bringen. Der nicht notwendig beschränkte Anteil an demselben aber, der der
individuellen Verfügung überlassen bleibt, erfüllt nur dann seinen Zweck genügend,
wenn er möglichst in die naturgemäßen Funktionen des Kapitals eintritt.“
Von anderen Gebieten seiner auf die Lösung praktischer Aufgaben der
Wirtschaftspolitik gerichteten wissenschaftlichen Arbeit sei nur kurz des Problems
der Binnenwasserstraßen gedacht, mit dessen gründlicher Behandlung
Meitzens Namen eng verknüpft ist Seine Bearbeitung der Stromgebiete des
Deutschen Reiches führt Meitzen auch jetzt noch rastlos weiter und auf Grund
seiner genauesten Kenntnis der orographischen und hydrographischen Verhältnisse
Preußens hat er schon vor mehr als 30 Jahren der praktischen Durchführung des
norddeutschen Kanalsystems wesentliche Dienste geleistet.
Es gehört zu den Eigentümlichkeiten von Meitzens Vortragsweise, daß
er die Ergebnisse seiner Forschungen immer begleitet mit der Darstellung
des Verfahrens, durch welches sie gewonnen sind. Tiefe Ein-
blicke in die Werkstatt seiner Geistesarbeiten sind dadurch ermöglicht, welche
die Treue und Gewissenhaftigkeit seiner Forschungen erkennen lassen. Aus den
Flurplänen rechnet er uns die Zahl der Hufen vor, die bei der ersten Besiedlnng
einer Gemarkung gebildet sein mußten; an der Hand der Niederschlagsmengen,
der Niveanmessungcn und Wasserstandsbeobachtungen demonstriert er die Mög-
lichkeit der Kanäle, wie ans den Verkehrsmengen des Zufahrtsgebietes seine
ökonomische Rechtfertigung. Seine vorsichtig abwägonden agrarpolitischen Urteil*'
beruhen auf sorgsamster Beobachtung der Zustände der Landwirtschaft wie der
historischen Notwendigkeiten im Verlaufe der Agrargesetzgebung. Kurz, er ver-
läßt nie den Boden der gegebenen Tatsachen, auch wo er reformierend auf sie
einwirken will und hinterläßt eben deshalb stets den Eindruck voller Sicherheit
in seinen Ausführungen. Meitzen ist eben ein historisch wie statistisch gleich
gut geschnlter Nationalftkonom. der dazu von der Naturwissenschaft hinlänglich
gelernt hat, um zu wissen, daß sorgsam und verständig beobachtete Tatsachen
/.eiuchrift f«lr VoUuwtmchaft, Socialpolitik und Verwaltung. XII. Band. g
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Ioama*Sternegg.
die Wissenschaft mehr fördern als bodenlose Spekulationen und voreilig gezogene
Schlüsse.
Seine streng methodische Schulung tritt am deutlichsten hervor in seinem
Werke „Geschichte, Theorien und Technik der Statistik“, von
dem ebon jetzt eine neue Auflage erschienen ist Es ist der geistige Niederschlag
einer fast 40jährigen unentwegten Arbeit im Dienste der amtlichen Statistik des
Deutschen Reiches und einer fast ebenso langen akademischen Lehrtätigkeit.
Was Meitzen in diesem Werke bietet, ist nicht eines der langläufigen Schul-
bücher über Statistik, sondern eine ernsthafte, von der grollen Wichtigkeit der
Aufgabe erfüllte Darlegung der großen und kleinen Pflichten, welche die Statistik
dem Staate, dem öffentlichen Leben überhaupt und der Wissenschaft insbesondere
gegenüber zu erfüllen bat. Nie sind eindringlichere Worte über den Beruf der
Statistik und gegen ihren so häufigen Mißbrauch geschrieben worden. Für den
praktischen Statistiker ist es wie ein lebendiges Gewissen, das ihn auf Schritt
und Tritt begleitet, um ihn an seine Pflichten zu mahnen; für die große Masse
derer, die Statistik gebrauchen, ein beständiger lauter Warner gegen leichtfertigen,
dilettantischen Gebrauch wie gegen tendenziösen Mißbrauch dieses hervorragenden
Werkzeuges politischer Erkenntnis.
Wer Meitzen aber nur ans seinen Schriften kennt, der kennt ihn nur
halb. Die vollendete Liebenswürdigkeit seines Wesens, sein unermüdlicher Eifer
zu lernen und zu lehren, seine bescheidene Selbstkritik offenbaren sich doch voll-
kommen erst im persönlichen Verkehr. Darum hängen auch seine Schüler so
sehr an ihm und bereiten ihm honte in Berlin ein schönes Fest. Einige kleine
Züge aus seinem Leben sollen dafür Zeuge sein. Als ich ihn vor fünf Jahren
in Berlin besuchen wollte, fand ich ihn au einem herrlichen Augusttage endlich
in Frankfurt a. 0. inmitten von Fiurplänen nnd Katasterprotokollen vergraben:
-Ich suche hier die Hufen, welche Albrecht der Bär seinen Bittern ausgetan
und — ich finde sie.“ Im henrigen Frühjahr forschte er hier nnd in Brünn
monatelang, um endlich die Grundzüge der Kolonisation der Ostmark festzolegen.
über die er noch von niemanden sicheren Bescheid erlangen konnte. Als ich
ihn damals bat, einem jüngeren Forscher einige Anleitnng za geben, wie er die
alten Slavenansiedelungen im Gailtale am sichersten auffinden könne, ergriff den
alten Herrn die Aufgabe so sehr, daß er sich gleich entschloß, mit ihm zu gehen,
und verbrachte mehrere Wochen in Arnoldstein mit dem Studium der Fluren und
der alten Gerichtsakten. Und dann ging er, veranlaßt durch die neuesten aufge-
tauchten Zweifel über das Alter der südslavischen Hanskommunion nach W i n-
dischmatrei and Lienz, am ihre Spuren in diesem altslavischen Siedlungs-
gebiete von Tirol zu verfolgen.
Als ich mit ihm vor Jahren von der zunehmenden Not der Landwirtschaft
sprach, bemerkt« Meitzen, ganz ernsthaft geworden, der Boden gehöre dem
Bauer, er allein kann ihn heute noch mit Erfolg bewirtschaften, aber auch er
muß es erst lernen. Und bei einem Besuch in den Botkschildgärten, während wir
die herrlichen Blumen nud Früchte bewunderten, sagte er plötzlich, nach einer
kleinen Pause im Gespräch; „Wenn er seine Diners in Kcchnung stellt, kommt
Rothschild auch mit seinen Gärten anf seine Kosten.* Ihn beschäftigen fortwährend
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August Meitzen.
115
die aktuellen Frage» der Wirtschaft ebensosehr wie die entlegensten Probleme
aus den Anfängen menschlicher Kultur. Es ist nicht zn viel gesagt, wenn ich
meine, ganz Europa ist Meitzen hente, an seinem 80. Geburtstage, vielen
Dank schuldig für die wesentliche und grundlegende Bereicherung der Kenntnis
seiner Urgeschichte und seiner ganzen agrarischen Entwicklung. Wir Österreicher
haben noch einen besonderen Grund dafür: Kein einheimischer Forscher hat
bisher für die Aufhellung der Besiedlungsgeschicbte und der Agrarverfassung
Österreichs soviel geleistet als Meitzen. Ein warmer Freund unseres Vaterlandes,
ebenso vertraut mit unserer deutschen Art wie mit den slavischen, magyarischen
und romanischen Verhältnissen, hat er anch viele Freunde bei uns, die am
heutigen Tage dankbar zn ihm aufblicken für all das Wertvolle, das er reichlich
und freigebig spendend in seiner selbstlosen Weise für Österreich geleistet hat.
zur Aufhellung unserer Vergangenheit, zum Verständnis unserer Gegenwart, ja
selbst für den Ausbau unserer Zukunft. Denn die eine Wahrheit leuchtet aus
Meitzens Lebenswerk auf: nicht im Kampfe der Volker, sondern in saurer
Arbeit um des Lebens Notdurft baut sich ein Volk seine Heimat auf.
8*
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ÜBER
STAATLICHES ARCHIVWESEN IN ÖSTERREICH.
VO.N
PROF. DK. MICHAEL MAYR (INNSBRUCK).
Uer eben beendigte, von den Fachkreisen mit Spannung verfolgte Adels-
fälscherprozcß in Prag warf auch auf gewisse Mängel des österreichischen Archiv-
wesens ein wenig freundliches Licht Sie sollen im besonderen hier ebensowenig
erörtert werden als die im In- und Anslande vielbeklagte Rückständigkeit des
österreichischen Herolds- oder Adelsamtes, soweit es auf die unbedingt erforder-
liche wissenschaftliche Qualität desselben ankommt. Es ist übrigens für
die selbst in wissenschaftlichen Kreisen vorhandene Geringschätzung des letzt-
genannten Verwaltungszweiges bezeichnend genug, daß sogar ein anerkannter
Lehrer des öffentlichen Rechtes in einem kürzlich erschienenen Artikel in der
„Neuen Freien Presse* die hauptsächliche Bedeutung des Adelsamtes in der
Befriedigung der menschlichen Eitelkeit erblicken konnte. Er übersah, welch
wichtige reelle Werte (Stiftungen und Stipendien aller Art) wohl den Großteil
der Parteien zur Benützung dieses Amtes veranlassen.
Viel beachtenswerter als dieser archivalische Sonderzweig erscheint uns die
allgemeine Situation, in welcher sich das österreichische Staatsarchiv-
wesen größtenteils befindet. Hier hat freilich gleich die notige Einschränkung
Platz zu greifen. Die großen Archive dor (gemeinsamen) Reichsbehörden, Haus-,
Hof- und Staatsarchiv und Hofkummerarchiv, entziehen sich von selbst dieser
Besprechung, da Organisation und Aufgaben dieser Anstalten wesentlich andere
sind als jene der Archive der österreichischen Staatsbehörden. Das Haus-, Hof-
und Staatsarchiv ist anerkannt trefflich geleitet und bildet, seit es vor kurzem
in sein neues, luxuriös ausgestattetes und allen modernen Anforderungen ent-
sprechendes Heim übersiedelt ist, eine wahre Zierde der Monarchie. Auch die
Archive einzelner österreichischer Zentralstellen fallen aus dem Rahmen der
nachstehenden Erörterungen, weil sie einerseits genügend organisiert sind, ander-
seits auch einen verhältnismäßig einfachen und beschränkten Wirkungskreis haben.
Es handelt sich hier vorzugsweise uni die staatlichen Archive in den Kronländern,
welche den Landesregierungen angegliedert sind. Diese sind, ein paar Ausnahmen
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über staatliche* Archivwesen in Österreich.
117
abgerechnet, im allgemeinen wenigor berufen der historischen Wissenschaft zu
dienen; die Katar ihrer Bestünde bringt es mit sich, daß sie für die Verwaltung
selbst eine ungleich größere Bedeutung besitzen. Diese Bedeutung wächst aber,
wie die Beispiele lehren, im Verhältnisse zur unablässigen Erweiterung dieser
Anstalten. Je mehr die Provinzialarchive ihrem natürlichen Berufe entsprechen:
Sammelstätten für die wichtigen älteren Akten und Urkunden aller staatlichen
Behörden eines Kronlandes zu werden, desto eindringlicher wird ihr Wert und
Nutzen für eine geregelte Verwaltung zutage treten. Die wissenschaftliche Auf-
gabe braucht darum keinerlei Beeinträchtigung zu erfahren.
Leider sind wir von den anzustrebenden Zielen sehr weit entfernt. Vielfach
fehlt uns noch das richtige Verständnis für die wahre Bodcutung eines Archives
überhaupt. Während unsere westlichen Nachbarn namentlich auch ihr Provinzial-
archivwesen, in Erkenntnis der hohen Wichtigkeit desselben für eine moderne
Verwaltung, längst geregelt haben, stecken wir damit noch tief in den Kinder-
schuhen. In gewissem Sinne bestätigt das der Prager Prozeß neuerdings. Jeder
Eingeweihte weiß, wie leicht es einem geriebenen Betrüger, und das gilt nicht
bloß von Adelsfälschern, in unseren Archiven, sogar in den öffentlichen, ermöglicht
ist, ihr dunkles Handwerk zu treiben, ohne daß in den meisten Fällen die Archiv-
beamten irgend eine Schuld trifft. Viel bedauerlicher erscheint uns aber gegen-
über den seltenen Fällen der Fälschung der Umstand, daß die Becht oder
Auskunft suchenden Parteien oder der Staat selbst wegen mangelhafter
Organisation der Archive oft genug die Grundlage ihrer Rechte oder Besitztitel
entweder gar nicht oder mangelhaft oder nur durch blinden Zufall erfahren.
Viele langwierige Prozesse, Streitigkeiten, Erhöhungen, Verluste an Geld und
Arbeit könnten erspart werden, wenn unsere Archive tadellos funktionieren
würden, oder auch, wenn der Weg zu den Archiven Parteien und Behörden
geläufiger wäre. Jeder einigermaßen praktisch tätige Archivbeamte besitzt hierüber
reichliche Erfahrung. Auf diesem Gebiete herrscht bei uns meist noch große
Unkenntnis und Uqerfahrenheit. Kaum ein Lichtstrahl moderner Verwaltungs-
grundsätze hat bisher dieses Dunkel erhellt, und nur selten sieht man dort und
da eine gewisse Erkenntnis von den großen Vorteilen eines modern geregelten
Archivwesens für die Verwaltung dämmern.
Bloß nach einer Seite, in wissenschaftlicher Beziehung, suchen die
bestehenden Archive im allgemeinen ihrer Aufgabe zu entsprechen. Aber auch
da Herrscht vielfach Planlosigkeit und Willkür. Die vorhandene Besserung auf
diesem Gebiete verdanken wir dem vielversprechenden ersten Anlaufe, der im
Jahre 1896 mit der staatlichen Archivorgauisation gemacht wurde. Seither sind
wenigstens nur wissenschaftlich genügend vorgebildete Beamte angestellt worden.
Die Hauptsache, mindestens für die Provinzialarchive, die Sorge für die Bedürf-
nisse des Staates und seiner Untertanen, wurde entschieden hintangesetzt.
Einzelne wissenschaftliche Kreise gingen in der allzu ausschließlichen Betonung
ihres rein wissenschaftlichen Standpunktes wohl zu weit und sahen sogar eine
andere intensivere Betätigung der Archive nicht besonders gerne. Für ihre Aus-
gestaltung zu wichtigen Hilfsorganen der staatlichen Verwaltung scheint uns
eben das richtige Verständnis noch zu fehlen. Deshalb sind die meisten Archive
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118
Mayr.
nach dieser Richtung im Grunde genommen auch heute noch nichts anderes als
etwas besser behandelte, wenig benützte Registraturen der politischen Verwaltung.
Vielleicht hängt es mit dem Hangei besserer Erkenntnis einigermaßen zusammen,
daß die glücklich angebahnte Reform von 1896 stecken blieb, daß bisher nicht
einmal für jedes Kronland ein staatliches Archiy besteht, was einer anderwärts
kaum denkbaren Bedürfnislosigkeit gleichkommt, daß endlich auch die normale
Weiterbildung der wenigen bestehenden Archive wiederum sehr in Frage gestellt
wird. Die damals und seither angestellten jungen Beamten, von welchen mit
Recht eine hohe wissenschaftliche Vorbildung verlangt wird, müssen mit ihrer
Stellung und den trostlosen Aussichten unzufrieden werden. Die Vereinigung der
Archivbeamten mit Bibliotheksbeamten zu einem Konkretalstatns erscheint uns
überhaupt als ein Fehler, weil die Aufgaben beider grundverschieden sind. Da
der erhoffte Nutzen für die praktische Verwaltung größtenteils ausgeblieben ist
und für die wissenschaftlichen Leistungen allein weniger Verständnis herrscht,
muß man gerade die tüchtigsten der jungen Beamten, auf denen die Zukunft
ruht, wegziehen sehen und froh sein, daß dadurch wenigstens wieder Platz für
andere wird. Gewiß ein recht bedenkliches Symptom
Nach unserer bescheidenen Anschauung fehlt es in den Grundlagen.
Der wissenschaftlich gut vorgebildete Aspirant bringt naturgemäß nur geringes
Verständnis für die seiner harrenden praktischen Aufgaben mit. Er findet im
Dienste selbst keine oder nur ungenügende Schulung dafür. In jeder einzelnen
Anstalt gelten andere oder gar keine rechten Normen. Meist geschieht alles
uach einer gewissen, schon vorhandenen Tradition. Jedes Archiv lebt darnach
für sich und kennt keine gemeinsamen Interessen. Es fehlt eben eine
übergeordnete Behörde, welche überall verständnisvoll
regelnd eingreift. Allerdings besteht seit einigen Jahren der Archivrat.
Er ist gewiß berufen, in Zukunft viel Ersprießliches zu leisten. Die Aufgabe und
der Wirkungskreis dieses schon seiner Zusammensetzung nach rein wissen-
schaftlichen Beirates ist und kann aber nur auf diese eine Seite
beschränkt bleiben. Kr vermag unmöglich einen genauen Einblick in den Betrieb einer
Archiv werkstutte. wie es z. B. ein Kronlandsarchiv sein soll, zu gewinnen. Gerade
in den wichtigsten Fragen des Amtes kann doch nur den ausübenden Archiv-
beamten selbst ein richtiges Urteil zuerkannt werden. Manchmal wird sogar die
rein theoretische Anschauung einer solchen fernestehenden Behörde unangenehme
Verwirrung hervorrufen, mag sie noch so gut gemeint sein.
Ein wahrer Fortschritt in der Ausgestaltung unseres Archivwesens und die
Behebung der angesammelten Übelstände wird sich dock nur erzielen lassen,
wenn vorerst die genauen Kenner der wirklichen Verhältnisse und Bedürfnisse
gemeinsame Beratung pflegen und eine feste, mit den kleinsten Details vertraute
Hand die jetzt isolierten und nach Belieben schaltenden Anstalten nach bestimmtet)
Grundsätzen leitet Erst dann vermag auch der bestehende Archivrat eine seiner
Aufgabe entsprechende Bedeutung zu erlangen.
Wesen und Aufgaben der gleichartigen Archive sind im grossen und ganzen
überall dieselben. Anerkannt erprobte Muster sollten deshalb auch, wenigstens in
ihren Grundzügen, für uns maßgebend sein. Am nächsten liegt uns wohl die
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Über staatliches Archivwesen in Österreich. 1 19
preußische oder bayerische Organisation, welche übrigens von jener anderer
Kultnrstaaten nicht erheblich abweicht. Auch bei uns werden endlich Kronlands-
archive bei allen Landesregierungen erstehen müssen. Diese haben allmählich
die Archivalien nicht bloß der politischen, sondern aller staatlichen Landesbehörden
aufzunehmen und zu verwalten. Die Übernahmen müßten periodisch geschehen
und sich bis auf ungefähr die letzten dreißig Jahre erstrecken, damit die ver-
schiedenen Registraturen entlastet werden und Behörden und Parteien für alle
mehr als ein Menschenalter zurückliegenden Fragen stets auf raschen und gründ-
lichen Aufschluß vom Archiv rechnen könnten. Nur der Praktiker vermag zu
ermessen, wieviel Zeit und Arbeit durch eine derartige Einrichtung erspart
wird. Die geringen Kosten derselben würden sich von selbst decken. Diese
Provinzialarchive hätten auch belebend und beispielgebend auf das Landes-,
Gemeinde- und Privatarchivwesen, dessen Wichtigkeit auch bei uns mehr und
mehr erkannt wird, einzuwirken und selbstverständlich ihre eigene wissenschaft-
liche Aufgabe nicht zu vernachlässigen. In zweiter Linie sollten die heute zer-
streuten und wohl auch ungenügend untergobrachten Archive der verschiedenen
Zentralstellen zu einem Archiv der k. k. Ministerien vereinigt werden, wodurch
die jetzige komplizierte Verwaltung wesentlich vereinfacht und verbilligt, die
Benützung für alle Interessenten sehr erleichtert würde.
Die Oberleitung der Provinzialarchivo und des Archives der k, k. Ministerien
wäre wie bei allen Fachanstalten einem aus 1 — 2 Fachmännern bestehenden
Direktorium der k. k. Staatsarchive anzu vertrauen; denn nur auf diese Weise
ist es möglich den einzelnen Anstalten Geist und Leben einznhauchen und ihrer
Tätigkeit ein richtiges Ziel zu geben. Für wissenschaftliche Fragen hätte der
bereits bestehende Archivrat als Beirat des Direktoriums zu fungieren.
Da die Provinzialarchive und das Archiv der k. k. Ministerien Urkunden
und Akten aller Staatsbehörden verwalten, erscheint es selbstverständlich, daß
die ganze Organisation, respektive das Direktorium, nach preußischem Muster
dem Ministerratspräsidium, nicht inehr dem Ministerinm des Innern unter-
zuordnen wäre.
Wir schließen mit der begründeten Überzeugung, daß nur diese oder eine
ähnliche, anderwärts bereits erprobte Organisation, die sich mit Aufwendung
unerheblicher Mittel leicht durchführen läßt, die berechtigten Hoffnungen und
Erwartungen für Verwaltung und Wissenschaft erfüllen nnd Leben in heute
ziemlich trostlose Zustände bringen werde.
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LITERATÜRBERICHT.
Dr. K. Meyer, Das Zeitverhältnis zwischen der Steuer und dem Ein-
kommen und seinen Teilen. Wien. 1901 (Manz), X und 186 S.
Die moderne Steuergesetzgebung vertieft und verfeinert Bich gerade so wie andere
wichtige Zweige des Verwaltungsrechtes, und auch das heutige Steuerrecht, strebt bereits
eine Formvollendung und Präzision an, welche vor einer Generation ausschließlich das
Vorrecht der strengen Zivilistik bildete. Wesentlich hat hierzu auch die Verwaltungs-
gerichtbarkeit beigetragen, vor welcher die Verwaltungsbehörden auf der Hut sein
müssen. Aber ebenso bat sich auch das allgemeine Niveau der Verwaltung gehoben, und
dieser Entwicklung verdanken wir Monographien wie die vorliegende, in welcher ein
Fachmann ersten Ranges auf dein Gebiet des direkten Steuerwesens eine interessante
Detailfragc der Steuergesetzgebung in streng wissenschaftlicher Fonn behandelt und
teilweise neue Vorschläge macht. Ks handelt sich uni die Fragen und Schwierig-
keiten, welche sich aus der Nichtübereinstimmung des der Einkoinmensbemessung
zu Grunde gelegten Jahres mit dem Steuerjahr d. i. dem Jahre der Veranlagung und
Entrichtung der Steuer ergeben. Die Regierungsvorlage hatte für die Persunaleinkommen-
steuer von feststehenden Einkommen die Besteuerung nach dem Einkommenstande im
Steuerjahre und für schwankende Einkommen den Stand des Vorjahres vorgeschrieben.
Dies war rationell, die feststehenden Einnahmen, namentlich fixe Bezüge sind in der
Regel für das ganze Steuerjahr sicher und bekannt und können daher auch zu Beginn
des Jahres als Bemessungsgrundlage für das laufende Jahr richtig veranlagt werden,
umsomehr als die Steuer hier meistens direkt bei der Auszahlung der Bezugsraten im
Wege des Abzugs erhoben wird. Ebenso wäre das Vorjahr für schwankende Einkommen
ausreichend gewesen, weil im früheren dreijährigen Durschschnitte immer eine Fehler-
quelle und eine gewiBBe Ungerechtigkeit liegt. Der Steuerausschuß hat trotzdem in
Anknüpfung an die frühere Praxis für schwankende Einnahmen wieder den dreijährigen
Durchschnitt und für feststehende Einnahmen das Vorjahr zur Grundlage bestimmt. Das
einfachste allerdings wäre, wenn mau gar keine Unterscheidung machen und für alle Ein-
kommensteile gleichmäßig das Vorjahr zu Grunde legen würde, dann wäre die Steuer eine
aufgeBchobene Last des Voijahres, die im nächsten Jahre, dem Steuerjahr fällig würde. Die
Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichtshofes, daß das Steuerobjekt das Einkommen
des Steuerjahrea ist, steht mit dem Gesetz in Widerspruch, welches ganz ausdrücklich
die Besteuerung nach der Vergangenheit vorschreibt, es Bcheint jedoch durch mehrere
Entscheidungen tatsächlich im Falle der Verzögerung der Veranlagung bis zum Zeit-
punkt, wo das wirkliche Ergebnis des Steuerjahres bekannt ist, dieses letztere zur
Grundlage gelegt zu werden. Der Verfasser, welcher der Berücksichtigung der Verhält-
nisse des Steuerjahres unter gewissen Umständen nicht abgeneigt erscheint, proponiert
schließlich als Reform Vorschlag den dreijährigen Durchschnitt für Einkummen aus dem
Betrieb von Landwirtschaft, Bergwerken, gewerblichen und HandeUuntemehmungen, weil
hier das einzige für den dreijährigen Durchschnitt anzuführendc Moment’ der Verlust-
auBgleichnng eine Berechtigung habe; für alle anderen Einkommen, also nicht bloß für
fixe Bezüge, sondern auch für Kapitalrenteneinkommen, wie Zinsen, Dividenden empfiehlt
er mit Recht das Vorjahr. Eine sehr eingehende Kasuistik erfährt die Behandlung der
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Literaturbericht.
121
Anfang- und Endstücke des Einkommens. Die drei verschiedenen Methoden (voraus-
sichtlicher Erfolg im Steuerjahr, Vorjahr oder dreijähriger Durchschnitt) ergeben nach
•der Meinung des Verfassers das gemeinsame Resultat, die Anfangstücke im Entstehungsjahr
frei zu lassen, dagegen die Endstücke mindestens in diesem Jahre mit der Steuer fiir
•einen vollen Jahresbetrag zu treffen, da gesetzlich Änderungen im Steueijahr nicht für
dieses, sondern für die folgenden Veranlagungsperioden in Betracht kommen; eine Aus-
nahme von diesem nach der Meinung des Verfassers unbilligen Grundsatz wird nur in
besonderen Fällen der Bedürftigkeit zugestanden. Die Berechnung der Steuer für das
Anfangstück im Steuerjahr wird nach den drei Methoden verschieden sein, die Besteuerung
nach dem Toraassichtlichen Ertrag trifft das ganze neue Einkommen des Steuerjahres,
der Besteuerung nach Voijahr unterliegt erst jetzt das Anfangstück, also regelmäßig
weniger als ein Jahreseinkommen, die dreijährige Durchschuittskerechnung unterwirft
im zweiten Jahr (d.J. hier das Steueijahr) erst ein Drittel des Anfaug>tückes u. s. w.,
so daß hier die Einnahmen, solange sie nicht drei Jahre bestauden haben, wie ein mehr-
jähriges Anfangstück drei Jahre hindurch wirken. Diese Unzukömmlichkeiten bedürfen
einer Korrektur, diese sei zwar durch den Absatz 2 des § 156 des Personaleinkommensteuer-
gesetzes gegeben, welcher sagt, daß solche neue Einkommen nach dem Darchschnitt des
Zeitraumes ihres Bestehens, nötigenfalls nach dem mutmaßlichen Jahresertrag in Ansatz
zu bringen sind. Der Verfasser hält dies aber nicht für genügend und proponiert, aus
dem Betrag des Anfangstückes verhältnismäßig das Ergebnis einer Jahresgebarung zu
berechnen und dieses als Einkommen in die Besteuerung einzubeziehen. Dieser Vorschlag,
der wohl mit Absicht keinen Uuterschied zwischen fixem und schwankendem Einkommen
macht, ist aber meines Erachtens auch nicht einwandfrei, denn die Besteuerung eines
nur einen Monat lang bezogenen Einkommens nicht nach seinem wirklichen Betrag
sondern nach einer willkürlich fingierten J&hresxiffer ist auch nicht gerecht. Ist die
Besteuerung nach dem Vorjahre die gesetzliche Grundlage, dann soll auch nur so viel
besteuert werden, als im Vorjahr wirklich eingekommen ist, nicht mehr, geradeso wie
der Verfasser selbst zeitweilige, anperiodische und kurz dauernde periodische Einnahmen
nur mit dem tatsächlich im Vorjahr erreichten Ansmaß in die Besteuerungsgrundlage1
des Steuerjahres einbeziehen will. Dies ist die richtige Lösung. Alles was gegen die
dreijährige Durchschnittsberechnung gesagt wird, ist vollkommen richtig, denn diese
ergibt zu wenig Steuer bei Anfang des Einkommens und zu viel Steuer bei seinem
Erlöschen.
Die Darstellung greift dann weiter aus und behandelt die Frage der verschiedenen
Einkommensquellen. Bekanntlich legen die Personaleinkommensteuergesetze, im Bestreben
sich möglichst von den Objektertragssteuern zu entfernen, das Hauptgewicht auf die
Einheit des persönlichen Einkommens und „lassen nicht nur die Teileinkommen, sondern
auch den ganzen Prozeß der Ertragsbildung außer Acht und führen an deren Stelle in
sachlich unzutreffender Weise Elemente der Eiukommensbildung viel zu niedrigen Hanges,
nämlich die Einnahmen und Ausgaben ein“. Die gesetzliche Terminologie wendet das
Wort Einkommen sowohl auf das Gesamteinkommen als auf die EinkommeDspartialen
an. legt aber kein Gewicht auf diese letztere, obwohl sich ökonomisch nur aus ihnen das
Gesamteinkommen konstruieren läßt, und atomisiort statt dessen das Einkommen in
Einnahmen und Ausgaben. Der tatsächliche wirtschaftliche Vorgaug und die geschäft-
liche Auffassung des Einkommenempfängers läßt aber diese Einkommensteile als das
Beeile und die Einheit deB Einkommens nur als Abstraktion erscheinen. Der Verfasser
ist der Meinung, daß daher Abgaben und Schuldzinsen von dem Ertrag jener Einkommens-
partialen abzuziehen sind, auf welche sie sich beziehen, nur Lebensversicherungsprämien
und rein persönliche Zinsen und Lasten seien erst am Schluß vom Gesamteinkommen
abzuziehen. Die so gewonnenen Resultate wendet dann der Verfasser auf sein eigent-
liche« Thema, auf die Zeitfrage des Einkommens an und verwirft mit Recht die Behand-
lung der einzelneu Einnahmen nur nach ihrer allgemeinen gleichartigen Ein n ahm e-
eigenschaft, er verlangt statt dessen ihre Einreihung bei den verschiedenen Einkommens-
zweigen, deren wirtschaftlicher Charakter dann darüber zu entscheiden hat, ob eine
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122
Literaturbericht.
einzelne, einem ihnen zugehörige Einnahme als fixe oder schwankende, als neu entstandene
oder als periodische anzasehen ist. Bei Erhöhung fixer Bezüge entsteht die Frage, ob das
neue Teilstück nnd der entsprechende Teil des alten Bezugs zusammen nach dem
tatsächlichen Ausmaü des Vorjahrs oder ob der neue Bezug als neues Einkommen, das die
allgemeine Leistungsfähigkeit verändert, nach seinem neuen höheren Gesamtausmaß sofort zu
versteuern ist. ln der ersten Vollzugsvorschrift war diese letztere Auffassung enthalten,
welche für die Beamten anläßlich der allgemeinen Gehaltserhöhung die ungünstigere
war; der Verfasser, welcher überhaupt die Tendenz hat, für Bezüge den Standpunkt der
Vorjahrsbesteuerung zu verlassen, erklärt die Erhöhung eines Bezugs als eine Erlangung
einer neuen Einnahmsquelle und will den ganzen Jahresbetrag des neuen Dienstbezugs
der Besteuerung zu Grunde legen. Angesichts einer lebhaften Agitation in Beamten kreisen
gegen diese Auffassung gab die Finanzverwaltung bekanntlich nach und erließ einen
Nachtrag zur Vollzugsvorschrift, welcher der Gehaltserhöhung die Eigenschaft der
Erlangung einer neuen Einkommensquelle wieder absprach und im Steuerjahr nach der
Erhöhung nur das höhere Teilstück des Vorjahrs heranzog. was meines Erachtens dem
Grundsatz der Vorjahrbesteuerung mehr entspricht als die Bestimmung der ersten Voll-
zugsvorschrift. Der Verfasser nimmt auch Anlaß, sich ausführlich mit der iu Preußen
entwickelten sogenannten Quellentheorie auseinanderzusetzen, die das Einkommen aus
einzelnen dinglichen Quellen hervorgehen läßt, die selbst wieder als Einzelnutzobjekte
innerhalb der verschiedenen Einkon mensteile selbständig erscheinen. Die Besteuerung
darf dort nnr nach dem Bestand der Quellen zu Beginn des Steuerjahres stattfinden,
und insbesondere darf ein Einkommen aus einer Quelle, die zu Beginn des Steuerjahres
nicht mehr vorhanden war, auch nicht in Anschlag gebracht werden, ebensowenig ein
Verlust aus eiuer solchen erloschenen Quelle, ein Grundsatz der unserer Voijahrbesteuerung
direkt widerspricht. Der Verfasser will für Dienstbezüge die Quellentheorie überhaupt
nicht gelten lassen, wohl aber für Kapitaleinkoraroen, er weist aber mit Recht auf die
Schwierigkeiten hin, die sich hieraus der Unterscheidung zwischen festen und schwankenden
Einnahmen ergeben. Am Schluß wird eine neue Formulierung des § 156 des Personol-
einkommensteuergesetzes vorgeschlagen, welche durch eine vielleicht allzu scharfsinnige
Kasuistik einen etwas komplizierten Eindruck macht Das beste wäre, man kehrte zu
der alten Regierungsvorlage zurück, fixe Bezüge nach dem Ausmaß des Steueijahrs, alle
andern nach dem Ausmaß des Vorjahrs. Das Buch ist unter allen Umständen eine
besonders lesenswert« interessante Denkarbeit, die hoffentlich auch zu einer neuen
Gesetzformuliernng und geänderten Spruchpraxis beitragen wird. E. P len er.
B. Fulstlng, Wirklicher Geheimer Ober-Regienmgsrat und Seuatspräsident des
königlich preußischen Oberverwaltungsgericbtes. Die Grundzüge der Steuerlehre.
Berlin, Karl Hey in an ns, Verlag, 1902, XVI und 445 S.
Das vorliegende Werk folgt als vierter Band den bekannten ansgezeichneten
Kommentaren deB Verfassers zum preußischen Einkommensteuer-, Ergänznngsstener- and
Gewerbesteuergesetze und soll von einem fünften Bande, einer geschichtlich-systematischen
Darstellung des preußischen Systems der direkten Steuern, gefolgt sein. Die „Grund-
züge* sind aber gleichzeitig mit besonderem Titel auch außerhalb der Koimueiitarreihe
erschienen.
Die allgemeinste Aufmerksamkeit wird der letzte Abschnitt der Werkes in An-
spruch nehmen: er hat die Fortbildung des Systems der direkten Steuern zum
Gegenstände und enthält meines Wissens zum ersten Male seit der Miquelschen
Steuerreform den Vorschlag, an Stelle der VermOgensergänzungssteuer zn den —
allerdings gründlich un. zugestaltenden — Ertragssteuern zurückzukehren.
Dem Umfang nach weit überwiegend ist die systematische Darstellung des Rechts-
stoffes der Einkommensteuer.
Der Gegenstand in seinem gesamten Umfange hat meines Wissens bisher noch
keine, die rechtliche und steuerpolitische Seite so innig verbindende Behandlung erfahren;
dieser Teil des Werkes ist für den Fachmann, in erster Linie für den Praktiker eine
reiche Fundgrube.
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Literaturbericht.
123
Trete« gegenüber der Einkommensteuer schon die Ertragssteuern an Umfang und
Eindringlichkeit der Behandlung bedeutend zurück, so stellen die Abschnitte über die
Zolle, Verbrauchssteuern und Verkehrssteuem (S. 30 — 80) kaum mehr als eine allerdings
klare aber recht kurte Übersicht dar.
Kaum ausführlicher sind die allgemeinen finanzwissenschaftlichen Kapitel über
Begriff und Wesen der Steuer, Grundregeln der Steuerverteilung und das Steuersystem
(S. 1-28).
Am Titel gemessen, bieten diese Abschnitte kaum das Notwendigste, während der
Hauptinhalt des Werkes in seiner eindringlichen Behandlung einzelner Teile des Steuer-
rechtes und der Steuerpolitik das Maß von „Grundzügen“ weit überschreitet.
Auf die Art der Darstellung werfen die in dem Vorworte enthaltenen Erklärungen,
daß der „Verfasser seiner Überzeugung von der Unhaltb&rkeit einzelner theoretischen
Meinungen lebhaften Ausdruck gegeben“, „eine Polemik“ aber „schon wegen der Be-
schränkung auf eine übersichtliche Darstellungsweise ausgeschlossen“ habe (S. VII), ein
bezeichnendes Licht. Er ist auch in seiner wissenschaftlichen Darstellung der Vorsitzende
geblieben, der dirimicrt; schade, daß der Leser die Referate nicht gehört hat! Wenn
auch bereitwillig xugestanden werden mag, daß der Verfasser, wenn auch nicht in allen
Fällen, „auf eine überzeugende Begründung besonderes Gewicht gelegt“ habe (S. VII),
so ist doch diese Methode, die den Gegner nie zum Wort kommen läßt, nicht ohne
Gefahren, denen der Verfasser auch keineswegs immer entgangen ist.
Nach diesem allgemeinen Überblicke über das Buch wende ich mich nun den
beiden Hauptteilen seines Inhaltes zu.
Die Ansichten des Verfassers über die Fortführung der Steuerreform stimmen
insoweit mit der herrschenden Lehre überein, daß er in der Einkommensteuer das Rück-
grat der direkten Steuern erblickt (§ 125), und weder die Ertragsteuem in ihrer der-
zeitigen, historisch gegebenen Gestalt noch eine allgemeine Zuscblagsbesteuerung der
mehr za belastenden Einkommen im Rahmen der Einkommensteuer für durchführbar hält.
Sowohl über das Maß als die Richtung der Ergänzungsbedürftigkeit der Einkommensteuer
hingegen hat er seine eigene Meinung. Der eingehendsten Beachtung wert sind die
gründlichen, wenn auch nicht in jeder Beziehung einwandfreien (s. unten) Ausführungen
§ 127 ff., welche den Verfasser zur Überzeugung führen, daß die Einkommensteuer über-
haupt nicht die geeignete Steuerreform für die unteren Klassen sei, und za unverhältnis-
mäßiger Belastung der unteren Volksklassen, insbesondere der kleinen Landwirte und
Gewerbetreibenden führe. Gegenüber den Schlüssen, die Fr. Wieser aus der Vergleichung
der preußischen und österreichischen Veranlagungsergebniss«- gezogen hat, mahnen diese
Erklärungen eines so gewiegten Kenners der preußischen Praxis, die durch die Angaben
S. 857 eine noch nähere Beleuchtung erfährt, zur größten Vorsicht.
Abgesehen davon, daß Fuisting hiernach das Gebiet der Einkommensteuer ein-
geschränkt sehen will, sieht er anch den Grund der Ergänzungsbedürftigkeit weniger
in einer ungleichmäßigen Erfassung der Leistungsfähigkeit, als darin, daß neben der
Leistungsfähigkeit die Besteuerung nach dem Interesse ihren Platz zu finden habe.
Keinem der Gesichtspunkte scheint ihm aber die Vermögenssteuer, insbesondere mit
Rücksicht auf die in Preußen gemachten Erfahrungen zu entsprechen (§ 142, 166).
Sein Vorschlag geht dahin: e9 seien der Einkommensteuer Ertragssteuern, und
zwar Grundsteuer, Gebäudeateuern Erwerbsteuer (Gewerbe und freie Berufe) mit Kapital-
rentensteuer zur Seite zu stellen.
Die Ertragaateuem sollen in der Regel den wirklichen durch Rechnung oder
Schätzung zu erhebenden Ertrag, jedoch in weit ausgedehnterem Maße als bei der Ein-
kommensteuer durch Rücksicht auf die Ertragsfähigkeit ergänzt, zur Grundlage
haben. Die praktisch wichtigste Seite des Vorschlages ist wohl jene, die sich auf die
Errichtung besonderer fachkundiger Schätzungekommisaionen für Grund-, Gebäude- und
Gewerbeertrag bezieht; ihre Festsetzungen sollen für die Einkommensteuerkommission,
bindend sein, nur der Kapitalsertrag soll von der Einkummenschätzungskommission un-
mittelbar festgestellt werden ; auch sollen der Kapitalsrentensteuer Einkünfte aus
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124
Literaturbericlit.
j) rsönlichen lUbungsrechten, die steuerlich nicht anders behandelt werden können, als
die Erträge reiner Arbeitstätigkeit (§ 159) (?) entzogen bleiben. Passivzinsen und Lasten
sollen bei der Grund-, Gebäude- und Erwerbsteuer nur insoweit in Betracht kommen,
als der wirtschaftliche Zusammenhang mit der Quelle nachgcwn-gen wird, alle übrigen
jedoch bei der Kentensteuer abzugsfällig sein.
Dieser gewiß auffallende Vorschlag ist nur ein Glied in einer Reihe von Äußerungen,
die uns bei dem Srerfasser — sagen wir eine ganz besondere Ängstlichkeit — gegenüber
den Einkünften des mobilen Kapitals entdecken lassen; wir werden im weiteren Verlaufe
darauf noch zurückkonunen. Merkwürdig ist in dieser Richtung unter anderen die
Ablehnung einer höheren Belastung der Aktiengesellschaften mit dem Argument, man
würde zu der offenbaren Widersinnigkeit gelangen, daß diejenigen, welche wegen unzuläng-
licher eigener Kapitalskr&ft sich zuB&mmenschließen .... eben auB diesem Grunde stärker
belastet werden müßten, als solche, deren eigene Kapitalski aft aasreicht; das wäre eine
Belastung mangelnder zu Gunsten vorhandener Kapitalskraft ($. 392; ; ebenso gehört
hierher, daß er den Grad des Interesses bei dem einen räumlichen Teil des Staats-
gebietes einnehmenden Grund- und Hauskesitz am höchsten, beim Kapitalsvermögen-
hingegen am geringsten veranschlagt u. a. in.
Der Steuerfuß dieser Krtragsateuern soll ein gleichmäßiger sein und von etwa
*/2 Proz. des Ertrages progressiv bis 3 Proz. ansteigen.
Eine eigenartige Gestaltung gewinnt der Vorschlag des Verfass«« durch die
veischiedenartige Feststellung der Untergrenze der Steuerpflicht und der Einrichtung
der „ Interessebesteuerung“ ; der Verfasser versteht darunter die Norm, daß der Steuer-
träger jedenfalls eine gewisse Minimalsteuer nach der „Ertragsfähigkeit“ zu ent-
richten habe.
Die „Ertragsfähigkeit“ soll von den Kommissionen individuell für jede Quelle er-
mittelt werden für den Grund- und Hausbesitz: bei Aktiengesellschaften sollen 4—5 Proz.
des Grundkapitals, bei den mit Erwerbsvermögen ausgestatteten privaten Gewerbetreibenden
die Zinsen dieses Vermögens die „Ertragsf&higKeit“ darstellen, kapitallose Gewerbe-
treibende und Kapitaizins und Renteneinkommen sind von jeder Minimalbesteueruog
befreit.
Bei der Grundsteuer soll der zum vollständigen Lebensunterhalte nicht ausreichende
Kleinbesitz freigelassen, doch darf die Grenze nicht zu weit gezogen werden (§ 172;;
bei der Geb&udesteuer. die als Wohnhaussteuer, jedoch mit Ausschluß der landwirt-
schaftlichen und gewerblichen, wenn auch nebensächlich den Wohnungszweckeu des
Landwirtes oder Gewerbetreibenden dienenden Gebäude, gedacht ist, soll eine weitere
ziffertnäßige Befreiung nicht statttinden.
Bei der Erwerbsteuer sollen die Grenzen der preußischen Gewerbesteuer (1500 Mark
Ertrag, 3000 Mark Vermögen) durch die Erhöhung des Vermögensbetrages auf 5000 Mark
etwa« erweitert werden; auch bei der Kapitalrentensteuer soll ein Einkommen von
1500 Mark die Untergrcnze für die sodann progressiv ansteigende Besteuerung bilden.
Dies die Grundzüge der Steuerreform des Verfassers.
Ist auch eine erschöpfende Kritik der Vorschläge an dieser Stelle von vorneherein
ausgeschlossen, so braucht doch nicht verschwiegen zu werden, daß uns gar manches
befremdlich aninutet. Mit dem großen Gewichte, welches der Verfasser dem Gegensätze
zwischen Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit und Interessebelastung beilegt, steht
es nicht im Einklänge, daß in der Ertragsbestcuerung gerade uur der sogenanute Mindest-
betrag der Interessebelastung entsprechen und jede höhere Belastung vou Rücksichten
der Leistungsfähigkeit abhängig sein soll. Diese Mindeststeuer scheint uns auch kein
ausreichender Grund, die Vorschläge des Verfassers als Ertragssteuersystem init der
Zuschlagebelastung iin Rahmen der Einkommensteuer in Gegensatz zu stellen. Ja, die
Forderung, daß die Feststellungen der Steuerausschüsse für die Einkommensteuer-
behörderi bindend sein sollen, scheint einem solchen Gegensätze geradezu zu wider-
sprechen. Es bleibt von demselben nichts anderes übrig, als daß er die Erträge zuerst
ermittelt und daraus das Einkommen zusammengesetzt wissen will, während er
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Literaturberkhi.
125
die Ableitung der besonders zu belastenden Erträge aus dem einheitlich ermittelten
Einkommen ablehnt. Ob dieser formale Unterschied durch den Gegensatz Ertrag- und
Einkommensteuer zutreffend bezeichnet wird, bleibe dahingestellt. In Bezug auf die
Ausführbarbeit bleibt uns Verfasser eine nähere Erklärung schuldig, wie sich der Steuer-
träger ohne allzuweit gehende Belästigung mit so vielen Kommissionen auseinander-
setzen soll und wie diese Komm iss io non ihre Arbeit, deren Schwierigkeiten ja dem Ver-
fasser so wohl bekannt sind, in der zur Veranlagung zur Verfügung stehenden Zeit
bewältigen können.
Nach einer anderen Richtung hin vermissen wir in dem Werke jegliche Aus-
führung darüber, wie die angeregte Reform an die in Preußen bereits vollzogene Über-
weisung der Ertragsteuem an die KommunalkOrper angegliedert werden soll; auch über
den finanziellen Erfolg derselben im Vergleich mit der bestehenden staatlichen Ergänzung»-
steuer spricht »ich der Verfasser nicht aus.
Als der zweite Hauptgegenstand des Werkes stellt sich, wie gesagt, die rechtliche
und kritische Behandlung der Einkommensteuer dar.
Die Fülle der in knappster Form gehaltenen, sowohl die Fragen des materiellen
Steuerrechtes als des Verfahrens umfassenden, in alle Einzelheiten eingehenden Aus-
führungen schließt eine Widergabe an dieser Stelle aus. Die reichste Erfahrung des seit
vielen Jahren am obersten Tribunal tätigen Richters ist hier niedergelegt. Es muß ge-
nügen, einige Hauptpunkte bervorzuheben.
Wenn ich den vortrefflichen Ausführungen des Verfassers über die Bedeutung
des Ertrages für die Einkommensermittlung (§§29, dann 51 ff , 78, mit denen mir allerdings
§75 in einem gewissen Widerspruche zu stehen scheint! vollkommen zustimme, so darf ich
mich zur näheren Begründung auf meine im vorigen Jahre erschienene Arbeit BDas
Zeitverhältnia zwischen der Steuer und dem Einkommen“ berufen, in welcher ich auf
Grund eingehender Untersuchungen zu übereinstimmenden Ergebnissen gelangt hin. Ob
sie auch vom Verfasser, der ihrer keine Erwähnung tut, benutzt wurden, bleibe dahingestellt.
Auf die von mir ausführlich erörterte Frage, wie sich denn die einzelnen Quellen indi-
vidualisieren, ist der Verfasser diesmal nicht eingegangen.
Jede sozialpolitische Funktion der Besteuerung lehnt Fuisting mit Nachdruck
ab. Er beschränkt das Einkommen auf das „quellenmäßige Einkommen“ <§ 41) und weist
die Besteuerung außerordentlichen und zufälligen Einkommens, der Konjunkturengewinne
ete. energisch zurück.
Solche Gewinne sollen aber merkwürdigerweise auch durch die Verkehrssteuern
nicht getroffen werden (§§ 25, 27). Die auch nur subsidiäre Einschätzung nach dem Auf-
wand« ist ihm ein Grenel und ein Widerspruch gegen den Grundgedanken der Ein-
kommensteuer (§ 102). Meines Erachtems liegt schon in diesen Ansichten des Verfassers
Ober die Grundlagen der Besteuerung die Gefahr, daß eine so geartete Einkommensteuer
die Leistungsfähigkeit nicht gleichmäßig erfassen, sondern gerade sehr leistungsfähige
Elemente frei ansgehen lassen werde.
Diese Gefahr wird nun durch gewisse Meinungen des Verfassers über das Ver-
anlagungsrerfahren in hohem Maße verstärkt. Nach seiner Meinung sollen nämlich
Schätzungen überhaupt aufs äußerste eingeschränkt und die genaue Beiechnung des
Einkommens der Veranlagung zu Grunde gelegt werden. Die Veranlagung darf nicht
dahin ausgedehnt werden, das Vorhandensein einer Quelle ohne vollkommen zwingende
Beweise, „Unterlagen“, zu behaupten. Soweit nicht der Stand des Kapitalvermögens be-
kannt ist, wird deshalb den Angaben des Pflichtigen über den Gesamtertrag seines
Kapitalvermögens zu folgen sein {§ 101).
Diese übrigens über die Kechtsanschauungen des preußischen Oberverwaltungs-
gerichtes noch hinausgehenden Ansichten im Zusammenhang mit den oben angeführten
Grundsätzen führen in ihrem praktischen Resultate doch wohl unvermeidlich zu einer
weitgehenden Steuerentlastung der Einkünfte des mobilen Kapitals überhaupt und ganz
besonders des Einkommens aus spekulativen Geschäften, sei es in BOrseeffekten oder
Realitäten, aus Provisionsgeschäften u. s. w.
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126
Literaturbericht.
Dein auch von Fnisting anerkannten Gesichtspunkte gleichmäßiger Inanspruch-
nahme der Leistungsfähigkeit wird hierdurch keineswegs entsprochen.
Damit stimmt es dann freilich überein, wenn Fuistiug eine Überlastung der
kleinen und insbesondere der landwirtschaftlichen Einkommen durch die Einkommensteuer
befürchtet )§§ 126 ff.. 12H). Einseitig und unrichtig ist ea aber, wenn er dies auf eine
objektive Überlastung durch das Schätzungsweseu zurückführt, anstatt auf die objektive
Entlastung, welche das mobile Kapital durch die von ihm geforderte ungleichmäßige An-
wendung des Schätzungswesens. nämlich die Exemtion der Einkünfte des beweglichen
Vermögens von demselben erfährt. Andere Stellen lassen allerdings darauf schließen,
daß sich der Verfasser über die Faltbarkeit den Einkommens aus mobilem Kapital nach
den von ihm gutgeheißenen Kegeln einem ziemlich weitgehenden Optimismus hingibt
(Vgl. in dieser Beziehung n. a. § 126: „Die Unterlagen liir eine zahlenmäßige Berechnung
des Einkommens sind hiermit (nämlich durch das Bekenntnis) regelmäßig gegeben**,
ferner den Schluß des § 27 betr. Erbschaftssteuer). Gewiß ist es auch charakteristisch,
daß er dein Strafwesen kein einziges Kapitel widmet, meines Wissens die einzige Lücke
in diesem Teile des Werkes. Ganz gelegentlich kommt die allerdings bedeutungsvolle
Bemerkung vor (S. 249) : „der Staat sei hinreichend geschätzt durch die im Strafverfahren
gebotene Möglichkeit, die Bücbereinsicht zu erzwingen.“
Iti der Frage, oh die Besteuerung nach dem Durchschnitte der Vorjahre, nach dem
Vorjahre o. a. w. stattfinden solle, nimmt Verfasser — nach Jastrows Vorgang — fiir
die ausschließliche Besteuerung nach Vorjahr ohne jede Korrektur Partei (§§ 44, 45). Ich
habe meine in vielen Punkten entgegenBtehenden Ansichten schon vorher in der oben
erwähnten Arbeit entwickelt und kann mich daher kurz fassen. Den entscheidenden
Punkt meiner Darlegungen, daß das wirkliche Einkommen des Vorjahres nicht die
wirkliche Leistungsfähigkeit der Gegenwart erkennen lasse, hat der Verfasser, der auch
in diesem Falle „jede Polemik vermeidet“, ebensowenig berührt, wie den Hinweis darauf1,
daß nach seiner Methode bei anentgeltlichem Bcsitzwechel jeweils bis zu einem ganzen
Jahreseinkommen aus der Besteuerung ausfällt.
Die schon von Jastrow vertretene Formel, es handle sich um allgemeine Nach-
zahlung der Steuer (S. 133), widerspricht den tatsächlichen Wertungsvorgängen und
euthält nur eine Umgehung der wirklich vorhandenen praktischen Schwierigkeiten. Es ist
merkwürdig, daß der Verfasser die Fehler der Besteuerung nach dem Stande der Quellen
zu Beginn des Steuerjahres genau wahrnimmt (§ 47, i, aber gänzlich übersieht, daß einige
derselben noch schlimmer werden, wenn man die Besteuerungsgrundlage noch weiter,
nämlich ins Voijahr zurückzieht.
Auch mit den Ausführungen über die Notwendigkeit von Korrekturen bei den
Ertragssteuern scheint mir seine einseitige Haltung bei der Einkommensteuer in Wider-
spruch zu stehen. Tatsächlich unrichtig uud durch die von mir mitgeteilten Vorgänge
bei der österreichischen Steuerreform widerlegt ist die Behauptung, die dreijährige
Durchschnittsbr-rochnung beruhe auf einer doktrinären Schrulle (S. 122).
Die Kommissionen will Verfasser von den Behörden ganz unabhängig stellen und
insbesondere die Beamten auch von dem Vorsitze ausschließen. Wie weit hierbei die
grundsätzliche Auffassung der „Judikatur in Verwaltongssachen“ im Spiele ist, will ich
hier nicht untersuchen. Vom praktischen Standpunkte ist mir nicht klar, wie unter
solchen Umständen der Geschäftsgang in den Kommissionen aufrecht erhalten werden
soll; auch in Preußen dürfte, nach der Praxis zu urteilen, die geschäftskundige Hand des
Beamten tatsächlich als anentbehrlich betrachtet werden.
Seine Ausführungen scheinen mir überhaupt auf einer allzu vorteilhaften Meinung
von den Tugenden der Kommissionen zu beruhen.
Das eigentliche Kreuz der Einkommensteuer, das Beanstandungswesen, die erfor-
derlichen „Unterlagen“ zu einer vom Bekenntnisse abweichenden Veranlagung und die
Mittel und Wege späterer Richtigstellung zu niedrigen Veranlagungen, findet eine der
Bedeutung der Sache entsprechende sehr eingehende Behandlung.
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Literaturbericht
127
Auch in diesem Abschnitte zolle ich der Fülle reicher Erfahrungen und feiner
Beobachtungen bereitwillig meine Anerkennung. Den Ergebnissen vermag ich nicht in
allen Punkten zuzustimraen. Sie bringen meine« Erachtens doch zu sehr das formale In-
teresse de« einzelnen Steuerträgers zum Ausdruck, der durch die Beanstandung leicht
beleidigt ist und möglichst bald Kühe haben will.
Daß sich hinter diesem formal berechtigten Interesse sehr oft materielles Unrecht
einer unrichtigen Veranlagung verbirgt, wird ebenso unterschätzt, wie das nicht minder
berechtigte und gerade für den moralischen Erfolg der Einkommensteuer entscheidende
Interesse der redlichen Steuerträger, daß ihre minder gewissenhaften Mitbürger nicht
durch die Normen des Veranlagungsverfahrens den materiellen Erfog ihrer unrichtigen
Bekenntnisse gesichert finden. Das Veranlagungsverfahren darf die Einkommensteuer
nicht zu einer Extrabelastung für die Ehrlichen machen. Das aber ist die unausweich-
liche Folge, wenn die Beweislast allzusehr zu Lasten der Veranlagungsorgane ver-
schoben wird.
Aufs Geratewohl seien endlich noch einige Äußerungen hervorgehoben, die nach
verschiedenen Richtungen Interesse erwecken können, z. B.: Alle untergeordneten
politischen Verbände „können das Recht der Abgabenforderung uur vom Staate
ableiten “ (S. 2.)
Die Ausübung des Besteuerungsrechtes des Staates muß „auf das Maß des Not-
wendigen beschrankt bleiben. Hierbei muß das gegenwärtige Bedürfnis entscheidend
sein.“ (S. 5.)
„Das Hauptziel praktischer Steuerpolitik muß stets die Zufriedenheit der großen
Masse der Bevölkerung mit den bestehenden Einrichtungen sein.“ (S. 26, ähnlich S. 212.)
Recht merkwürdig ist die grundsätzliche Ablehnung einer höheren Leistungsfähigkeit
des Besitceinkommens (§ 31), dann aber doch der Vorachlag einer geringeren Belastung
des reinen Arbeitseinkommens aus Rücksichten der Billigkeit und Zweckmäßigkeit (§ 83).
Den mir nicht recht einleuchtenden Ausführungen über die verschiedenartige Be-
handlung der selbstverbrauchten Erzeugnisse in der Landwirtschaft und gewerblichen
Produktion (§ 43) steht die ziemlich durchgreifende Ansicht gegenüber, daß bei der Wald-
wirtschaft das Erträgnis der Abstockung — im Gegensatz zum geltenden preußischen
Recht — schlechthin, ohne jede Unterscheidung, ob es eine gewöhnliche oder außer-
gewöhnliche war, als Einkommen zu veranschlagen sei u. s. w.
Den Zweck der Anzeige, auch dem Nichtleser des Buches eine möglichst zutreffende
Schilderung desselben zu geben und sie recht bald zu Lesern zu machen, glaube ich
hiermit erfüllt zu haben. Robert Meyer.
Dr. Otto Müller, Die Einkominenstenergesetzgebung in den ver-
schiedenen Ländern. 104 8. XXXIV. Band der Sammlung national-ökonomischer
und statistischer Abhandlungen des staatswissenschaftlichen Seminars zu Halle, heraus-
gegeben von Dr. Job. Conrad. Jena 1902.
Die Arbeit setzt sich zum Ziele, die Einkommcnbesteuernng in den verschiedenen
Ländern darzustellen, zu vergleichen und ein .Schlußurteil über die beste Regelung
abzugeben. Bei der großen Bedeutung, welche der direkten Besteuerung heute in den
Steuersystemen fast aller Staaten zukonimt, und der hervorragenden Stellung, welche
innerhalb der direkten Steuern die Einkonimenbesteuerung einnimrat, gewiß ein sehr
berechtigtes und im Falle des Gelingens auch «ehr dankenswertes Unternehmen. Wie
ein Großteil des Themas selbst, so ähnelt aber leider auch die Ausführung desselben in
vielen Beziehungen der kürzlich hier(Bd. XI, S. 617) besprochenen Arbeit Feitelbergs, —
auch sie läßt es an einer festen Grundlegung über den Begriff des Einkommens fehlen
und kann es daher naturgemäß auch nicht zu einer richtigen Abgrenzung des Begriffes
der Einkommensteuer bringen. So behandelt denn die Arbeit tatsächlich die englische
income tax, die italienische imposta sui redditi della riech ez za mobile und die holländische
Vermögensteuer als ungefähr auf einer Stufe mit der preußischen oder österreichischen
Personaleinkommensteuer stehend. Das englische Gesetz wird sogar als für die Um-
schreibung des „Einkommenbegriffes“ (!) mustergültig hingestellt, „weil es in seinen fünf
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128
Literaturbericht.
Verzeichnissen ganz genau zwischen den einzelnen Einkommen quellen unterscheidet*
(S. 101), and als Vorzug dieser als reine Einkommensteuer charakterisierten income t&r
gerühmt, „an der Quelle erhoben zu werden“ (S. 10); von der italienischen Steuer wird
behauptet, daß sie „im ganzen auf den Grundsätzen der Einkoinmcnbesteuerung der
deutschen Gesetze“ beruhe (8. 4), u. ». w.! Wir sehen also die engen subjektiven
Beziehungen, welche die Einnahmen erst zum Einkommen des Steuersubjektes werden
lassen, ebenso vollständig ignoriert, wie die für jede wahre Einkommensteuer unerläß-
liche Einheit des Einkommens, welche doch über der Aufzählung der einzelnen möglichen
Einkommenszweige nicht vergessen werden darf. Letzteres geschieht aber in der immer
wiederkehrenden Betonung der Notwendigkeit, innerhalb des Einkommens zu .speziali-
sieren“, ebenso wie in dem ernsthaften Vorschläge, zwar die juristischen Personen der
Einkommensteuer zu unterwerfen, hingegen den Dividendenertrag beim Aktionär aus
dessen Einkommen auszuscheiden. Durch letzteres würde — von vielen anderen abge-
sehen — nicht nur eine durch gar nichts gerechtfertigte Bresche in das Prinzip der
Besteuerung nach der Höhe des Gesamteinkommens unter Berücksichtigung der
individuellen V erbältnisse gelegt, sondern auch der Praxis jede Kontrolle für eine richtige
Einschätzung des Gesamteinkommens verlöten gehen, überdies aber die sehr schwierige
Frage der Aufteilung etwa vorhandener Lasten provoziert.
Bei dem eben hervorgehobenen Mangel eines richtunggebenden Einkomnienbegriffes
werden natürlich auch im Detail viele nicht anzuerkennende Thesen verfochten, — z B.
die Abrechenbarkeit der Verluste am Vermögensstamro vom Einkommen, .da das Ein-
kommen tatsächlich dadurch vermindert wird“ (S. 15), — bei gleichzeitiger Freilassung
auüerordentlicher Einnahmen von der Einkommensteuer, da dieselben .keine Einkommens-
vennehrung, sondern einen Vermögenszuwachs“ darBtellen (S. 22); oder die „Abrechen-
barkeit der gesetz- und vertragsmäßigen Ausgaben“ schlechthin, — jedoch mit Aus-
schluß der Koinmunal&bgaben .wegen ihrer großen Ungleichmäßigkeit“ (S. 23), — durch
welch letztere Ausnahme eine theoretisch offenbar ganz unhaltbare Bestimmung des
preußischen Gesetzes verteidigt werden soll.
Die Zusanimentragung der einzelnen positiv-rechtlichen Bestimmungen ist im
großen ganzen sorgfältig durchgeführt, wenn freilich eine einseitige Bevorzugung der
doch hinlänglich bekannten preußischen und einiger anderer deutschen Gesetze gegen-
über den englischen und amerikanischen Gesetzen nicht zu verkennen ist und auch
Systematik und Übersichtlichkeit dieser Zusammenstellung zu wünschen übrig läßt. So
werdeu viele Fragen von verhältnismäßig untergeordneter Bedeutung (Abzugsposten,
Steuerhühe, Kommissionen, Verfahren) ausführlich, hingegen sehr wichtige Prinzipien-
fragen kursorisch behandelt; in dieser Richtung hätte das noch in den Kinderschuhen
steckende internationale Steuerrecht einer Vertiefung bedurft und das so wichtige
Moment, ob Subjekt der Einkommensteuer das einzelne Individuum, die Familie oder
die Haushaltung sein solle, nicht mit der Bemerkung abgetan werden dürfen, daß sich
„die Veranlagung des Haushaltungsvorstandes unter Hinzurechnung des Einkommens der
Familienglieder durch die Vereinfachung des Verfahrens“ rechtfertigen lasse
<S. 38) !
Nach dem Gesagten wird die vorliegende .Seminararbeit als handlicher Behelt zu
einem vergleichenden Studium mancher Einzelfragen in den verschiedenen Einkommen-
steuergesetzen Dienste leisten, jedoch als Förderung der theoretischen Erkenntnis auf
dem Gebiete der Einkommenbesteuerung nicht angesehen werdeu können. Reisch.
I)r. Karl Grünberg, Die handelspolitischen Beziehungen Österreich-
Ungarns zu den Ländern an der unteren Donau. Leipzig, Duncker & H um-
blot, 1902. VH und 317 8. M. 6 60.
Ein sehr interessantes Buch, das gerade zu rechter Zeit erscheint, da die Handels-
verträge nicht bloß mit Deutschland und Italien, sondern auch mit den Balkanliindem
in der nächsten Zukunft zur Diskussion kommen werden. Der Außenhandel der Monarchie
mit diesen Ländern nimmt in der gesamten Handelsbewegung zwar nur einen geringen
Teil ein (ungefähr 5 Proz. der Ausfuhr), allein trotzdem hat sich die öffentliche Meinung
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Literaturbericht. 129
von froher her gewöhnt, dieBe Länder als das natürliche Absatzgebiet nnscrcr Industrie
anzusehen und ist darum gegen jede Zuriickdrängung unserer Ausfuhr nach jenen
Märkten besonders empfindlich. Und leider geht die Entwicklung nicht aufwart«, unser
Absatz wird durch fremde Konkurrenz, Schaffung einheimischer Industrien eingeengt, und
wenn sich auch hie und da eine Zunahme findet, so ist diese relativ gegen andere
Länder nicht bedeutend und steht nicht im Verhältnisse zu der wenn auch nur langsam
steigenden Konsumkraft jener Länder. Der Verfasser schildert an der Hand amtlicher
und anderer Publikationen die Geschichte unserer Handelsbeziehungen zu Rumänien,
Serbien und Bulgarien. In der alten Zeit hatte die Monarchie geradezu eine Vorzugs-
stellung, allmählich wurde sie im besten Fall auf formelle MeiBtbegQnstigungsverträge
gestellt, die aber durch den Fortbestand autonomer Tarifpositionen gerade für Österrei-
chische Importe eine ungünstigere Lage für einzelne wichtige österreichische Produkte
schufen. Der Verfasser benützt für seine statistische Darstellung ausschließlich die Ziffern
der Handelsausweise jener Länder, welche, wie dies ja immer der Fall ist, mit den
Ziffern der österreichisch- ungarischen Handelsstatistik nicht übereinstimmen. So gibt z. B.
die rumänische Handelsstatistik für 1900 eine Ausfuhrwertziffer nach Österreich-Ungarn
von 44 27 Mill. Lei und eine Einfuhrwertziffer aus der Monarchie von 69 29 Mill. Lei,
während unsere Handelsstatistik für jenes Jahr eine Einfuhr aus Rumänien im Werte
von nur 33 3 Mill. Kronen und eine Ausfuhr nach Rumänien im Werte von nur 48‘8 Mill.
Kronen ausweist. Unser Verkehr mit Rumänien bewegt sich auf absteigender Linie, im
Durchschnitt der Jahre 1861 — 1865 betrug der Anteil der Monarchie an der Gesamteinfuhr
Rumäniens 48’27 Prot., in jenem der Jahre 1871 — 1875 39 Pro* , die Ausfuhr Rumäniens
nach der Monarchie betrug in jenen Zeitabschnitten 19 und 37*6 Pro*, der Gesamtausfuhr.
Die Regulierung der Donaumündungen brachte vor allein einen Aufschwung des Handels
mit England, dessen Tonnengehalt von 1865 auf 1875 von 14 auf 49 Pro*, aller aus-
gehenden Schiffe Btieg. Die Handelskonvention, welche die Monarchie 1875 mit Rumänien
schloß, war für unsere Beziehungen günstig, unser Anteil an der rumänischen Einfuhr
stieg in der Zeit von 1876—1886 wieder auf 48 6 Proz. und England und Frankreich
traten wieder etwas zurück, Deutschland fing erst an in Textil- und Metallwaren steigend
abzusetzen. Der günstige Zustand dauerte jedoch nicht lange. Zunächst rief die deutsche
Viehsperre gegen österreichisch-ungarische Provenienzen die weitere Maßregel der Sperrung
unserer Grenze gegen rumänisches Rindvieh hervor, darauf antwortete Rumänien mit
Zollplackereicn. man versuchte neue Verhandlungen aber ohne Erfolg und so trat nach
Ablauf der Konvention (Juni 1886) der Zollkrieg ein. Rumänien wendete seinen inzwischen
lertiggestellten hohen autonomen Zolltarif auf österreichisch-ungarische Waren an, während
für andere Staaten noch die Konventionaltarife galten. Die autonomen Sätze waren zum
großen Teile direkt gegen österreichische Importe gerichtet, insbesondere gegen Zucker,
Mehl, Kleider, Sattler- und Schuh waren. Österreich- Ungarn sperrte dafür seine Grenze
gegen rumänisches Vieh aller Art, sogar im Durchfuhrverkehr, und legte einen 30proz.
Strafzoll auf alle rumänischen Eintrittsgüter. Der Zollkrieg brachte im gangen keine
Einbuße des rumänischen Außenhandels, sowohl die Einfuhr als die Ausfuhr stieg während
dieser Zeit, allerdings sank der Viehexport rapid, 30.654 Stück Hornvieh in 1879 auf
3464 in 1891, Schweine von 153.607 auf 5237 Stück. Nach anderen Ländern konnte
Rumänien sein Vieh auch nicht bringen, der Versuch einer Beschickung des italienischen
Marktes mißlang uud die ganze Viehzucht des Landes erlitt einen Schlag, von dem sie
sich überhaupt nicht mehr erholte. Dies scheint übrigens auch sein einziger Nachteil
infolge des Zollkrieges geweseu zu sein. Zum Ersatz für den Rückgang der Viehzucht
wurde Weideland in Ackerboden umgewandelt, der Getreideexport möglichst forciert
und tatsächlich die Unabhängigkeit Rumäniens von Österreich- Ungarn in der Verwertung
»einer Cerealien erwiesen. Die Ausfuhr Rumäniens nach unserer Monarchie fiel von
85 Proz. seiner Gesamtausfuhr in der Konventionsperiode auf 7 Proz. während der Zoll-
kriegaperiode. Die österreichisch- ungarische Einfuhr nach Rumänien sank v..n 48 auf
18 Proz. der Gesamteinfuhr. Wesentlich traten Deutschland und England an unsere
Stelle, insbesondere in Leder, Möbel, Konfektions- und Blechwaren. Es ist selbstver-
KelUchrift frtr Volkswirtschaft, Suclalpolitik und Verwalt uns. XII. Baad. 9
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130
Literaturbericht.
stündlich sehr schwer ziffermäßig auszudrücken, welcher der beiden Staaten mehr unter
dein Zollkrieg gelitten hat, der Verfasser meint, daß, wenn kein Zollkrieg entstanden
wäre und unsere Ausfuhr sich auf der Höhe der Konventionsperiode erhalten hätte, der
Ausfall zu Ungunsten der Monarchie mit 420 Mill. Francs zu veranschlagen Bei, wogegen
der rumänische Verlust am Viehexport fast vollständig verschwindet. Nach fünf Jahren
endete der Zollkrieg, unsere Waren wurden nicht mehr der differentiellen Behandlung
unterworfen, die österreichisch-ungarische Ausfuhr hob sich zwar wieder, konnte aber
Deutschland von der ersten Stelle nicht sobald verdrängen. Indessen hatte auch eine
nachdrückliche staatliche Industrie-Förderungsaktion stattgefunden. Steuerbefreiungen*
Frachtbegünstigungen, direkte Subventionen und ähnliche Maßregeln, die Erfolge dieser
Aktion waren übrigens nicht sehr groß, für die Deckung seines Bedarfes an Textil- und
Metallwaren bleibt Rumänien auf absehbare Zeit auf ausländischen Bezug angewiesen,
besser gelang die Förderung der heimischen Industrie bei Zucker, Spiritus, Bier, Mehl,
wohlfeilem Glas und gemeiner Konfektionsware. 1891 wurde ein neuer Konventionaltarif
eingeführt, wieder mit der Spitze gegen österreichisch*ungarische Provenienzen. 1893
schloß Rumänien einen Vertrag mit Deutschland ab, dessen Sätze Österreich-Ungarn
in einer einfachen Meistbegünstigungskonvention annehmen mußte, während für alles
nmlere der autonome Tarif in Geltung blieb und gerade für solche Artikel, welche
speziell österreichische Ausfuhrartikel sind, wie Leder, Schuhe, Textilkonfektion, Wüsche,
Papier, Glas. Wenn trotzdem Österreich -Ungarn wieder relativ an die erste Stelle im
rumänischen Import gerückt ist, so Bind die absoluten Ziffern nicht sehr befriedigend,
indem sie weit hinter jenen der früheren Jahre Zurückbleiben, wozu allerdings auch die
infolge mehrmaliger Mißernten verminderte Konsumkraft des Landes beigetragen bat.
Auch sind die Artikel, in welchen wir einen Vorsprung gewonnen haben, nicht gerade
solche, auf welche eine Exportindustrie besonderen Wert legt, wie Kolonialwaren, Mineralien
Halbfabrikate und Papier; in den zwei Hauptartikeln, den Textil- und Metallwaren,
bleibon wir auch jetzt hinter Deutschland und England zurück. Ein gewisses Verschulden
scheint auch in der mangelhaften Initiative unserer Exporteure zu liegen, wenn man
liest, daß Deutschland in einem Jahre 3309 Reisende nach Rumänien Bendete und
Österreich- Ungarn nur 154; in der Metallbranche war das Verhältnis ein österreichischer
Reisender gegen 478 deutsche! Für die Zukunft hofft der Verfasser eine Besserung durch
einen neuen Handelsvertrag, der wesentlich auf österreichisch-ungarische Produkte Rück-
sicht nähme gegen Konzessionen für Getreide und Vieh. Um das Argument ungarischer
Handelspolitiker gegen solche Konzessionen zu entkräften, die angeblich die ungarische
Landwirtschaft zu Gunsten der österreichischen Industrie hart treffen würden, führt der
Verfasser Daten an, wonach sich gerade die Ausfuhr ungarischer Industrieprodukte nach
Rumänien im Laufe der Jahre außerordentlich gehoben hat und heute 85 Proz. der
Gesamtausfuhr der Monarchie nach diesem Lande beträgt.
Serbiens Gesamtbandel ist viel geringer als jener Rumäniens, im Durchschnitt der
Jahre 1894—1900 betrug die Gesamteinfuhr Rumäniens 337*2 Mill. Lei, aus Österreich-
Ungarn 94*9 Mill. Lei, seine Ges&mt&uafuhr 259 8 Mill. Lei, nach Österreich -Ungarn
48 8 Mill. Lei, während in der Zeit von 1893 — 1900 die Gesamteinfuhr Serbiens
40 5 Mill. Dinar betrug, davon aus Österreich- Ungarn 22*7 Dinar, die Gesamtauafuhr
Serbiens 54*5 Mill. Dinar, davon nach Österreich- Ungarn 47*6 Mill. Dinar. Der Verfasser
gibt auch hier eine interessante geschichtliche Darstellung der Handelsbeziehungen
zuerst bis und nach dem Handelsvertrag von 1881, ursprünglich hatte ein Teil unseres
Imports nur den halben Zoll zu entrichten, wogegen die bekannten Grenzverkehts-
erleichterungen für serbisches Getreide gewährt waren. Die Eisenbahn nach »Saloniki
brachte keine wesentliche Änderung der Handelsrichtungen, die serbische Ausfuhr nach
der Monarchie betrug in der Zeit bis 1891 immer noch 86*5 Proz. der Gesamtausfubr.
die Einfuhr der Monarchie Bei allerdings von 70 auf 61*5 Proz. der Gesamteinfuhr
Serbiens. Eine Erschwerung unseres Absatzes bedeuten auch die internen städtischen
Akziseabgaben. 1892 kam ein neuer Vertrag zu Stande, welcher hohe Gewichtszölle ein-
führte, die bisherige differentielle Begünstigung einiger österreichischer Artikel aufhob,
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Literaturbericht.
131
dagegen das serbische Getreide zu begünstigten iwenn auch etwas höheren) Zollsätzen
zuließ. Das Resultat dieses ungünstigen Vertrages ist der Rückgang der prozentuellen
Quote Österreich-Ungarns an dein serbischen Import um 10 Proz., die deutsche Ausfuhr,
die unmittelbar von unserem serbischen Vertrag Vorteil zog, hat sich dagegen erheblich
gesteigert. Dagegen hat die Ausfuhr Serbiens nach der Monarchie außerordentlich zuge-
noinmen, 89 Proz. seiner Gesaintauafuhr geht nach Österreich- Ungarn. Da Serbien in
seiner Ausfuhr absolut auf die Monarchie angewiesen ist, andere Absatzwege für Beine
Cerealien noch lange nicht finden wird und geographisch großenteils von der Monarchie
eingeschlossen ist, so sei es die Aufgabe unserer künftigen Handelspolitik, diese günstige
Position auch wirklich auszuniitzen und hält der Verfasser wieder eine differentiell
günstigere Behandlung unseres Imports für durchsetzbar.
Das Verhältnis zu Bulgarien ist gegenwärtig durch den Vertrag von 1896 geregelt,
mit Wertzollabstufungen für verschiedene Warenklassen, wobei gerade die meisten
österreichisch-ungarischen Aitikel in die höchste Stufe fallen, dazu kommen noch Akzise-
abgaben. Bulgarien genießt eine besonders günstige geographische Lage, die Monarchie
partizipierte im Durchschnitte der letzten Jahre mit 32*5 Proz. an der Gesamteinfuhr,
die rund 75 Mill. Lei beträgt, die einzelne Jalireszifftr nimmt aber stetig ab, während
jene Deutschlands zunimmt, unser Zucker wird durch rumänischen verdrängt, Konfektions-
waren teilweise durch selbständige Industrioförderung. Der Vertrag ist Ende Dezember
1902 gekündigt worden. Wenn man hört, dat5 Bulgarien selbst den früheren Wunsch
nach einer Veterinärkonvention nicht mehr erneuern will, so steht vermutlich eine noch
stärkere Ahschließung bevor.
Am Schluß wird auch das handelspolitische Verhältnis zwischen Österreich und
Ungarn kurz aber charakteristisch besprochen und verdient das angezeigte Buch die Auf-
merksamkeit aller jener, die sich um die Handelspolitik der Monarchie interessieren.
E. Ploner.
Marcel Godet, Da» Problem der Zentralisation des schweizerischen
Banknoten wesens. 'Staats- und sozialwissenschaftliche Forschungen. Herausgegeben
von Gustav Schmoller, Bd. XXI., Heft I.) 86 SS. Leipzig, Verlag von Duncker und
Huroblot. 1902.
Adolf Wagner hat gelegentlich in einer seiner Abhandlungen über österreichische
Valuta- und Bank Verhältnisse mit Bedauern der Tatsache gedacht, daß niemand diese
ohne eingehende Kenntnis der politischen Einflüsse lediglich anf Grund volkswirtschaft-
licher Erwägungen zu beurteilen im Stande »ei. Dasselbe gilt auch von der Valuta- und
Bankfrage in der Schweiz. Nur muß mau hinzufügen, daß die Kenntnis der politi-
schen Strömungen der Schweiz allein kein zutreffendes Urteil über bankorganisatorische
Fragen gewährleistet.
Zu diesen Bemerkungen fühlt man sich veranlaßt, wenn inan sich mit der neuesten
Schrift auf diesem Gebiete, jener von Marcel Godet, näher beschäftigt. Sie ist in ihrer
Art ein vortreffliches Produkt der historischen Forschungsmethode. Sie orientiert in ver-
läßlicher Weise über die Vorgeschichte. Allein das Interesse, das man an dieser Arbeit
nimmt, gilt weniger den zwei ersten Abschnitten, die einen historisch-kritischen Abriß der
Entwicklung des schweizerischen Notenbankwesens, des bisherigen Verlaufes der Bestre-
bungen um die Zentralisierung der Notenbankverfassung und eine ziemlich knapp gehaltene
Darstellung der gegenwärtigen Noten- und Geldmarktverbältnisse bieten, alB ihrem dritten
Teile, in welchen der Verfasser positive Vorschläge zur Lösung des Problems vorbringt
Es darf angenommen werden, daß die Frage der Durchführung der in Art. 39 der
Bundesverfassung gestellten Aufgabe der Errichtung einer zentralen Notenbank in nächster
Zeit abermals Gegenstand der Verhandlungen der eidgenössischen Räte bilden wird, und
es erscheint uns aus diesem Grunde umsomehr geboten, die positiven Vorschläge Godets
kritisch zu würdigen, als diese Vorschläge den Versuch darstellen, die bisherigen Gegner
durch ein weitgehendes Entgegenkommen für den Gedanken einer zentralen Notenbank
zu gewinnen.
9*
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132
Literaturbericht
Wie wir tn anderer Stelle ausführen, findet der Gedanke der Errichtung einer
mit dem Monopol der Notenausgabe auszustattenden Zentralbank die heftigsten Gegner
in den Kreisen der Vertreter der kantonalen Finanzen, die insbesondere angesichts der
seit Jahren sich verschlimmernden kantonalen Finanzverhiltnisse sich dagegen wehren,
die zwar nicht großen aber sicheren Einkünfte der kantonalen Notensteuer und die in
einzelnen Kantonen nicht unbeträchtlichen Reingewinne der Kantonalbanken preiszugeben.
Diesen Kreisen sucht Godet entgegenzukommen, indem er für die zu gründende Zentral-
bank eine Organisation verschlägt, die die Möglichkeit einer Einkünfteeinbuße für die
kantonalen Fisken von vorneherein ausschließt. Seine Vorschläge betreffen: 1. die Art der
Beschaffung des Grundkapitals, 2. den Geschäftskreis der künftigen Bundesbank.
Der Art. 39 der Bundesverfassung sieht bekanntlich zwei Eventualitäten für die
Beschaffung des Grundkapitals vor: der Bund kann das ausschließliche Recht zur Ausgabe
von Banknoten durch eine unter gesonderter Verwaltung stehende Staatsbank auBÜhen
oder es einer zu errichtenden, unter seiner Mitwirkung und Aufsicht verwalteten zentralen
Aktienbank übertragen. Der Versuch der Errichtung einer reinen Staatsbank, deren
Grundkapital der Bund anfzubringen gehabt hätte, scheiterte an der Volksabstimmung
vom 28. Februar 1897; der zweite Versuch einer gemischten Bank, deren Grundkapital
zu je einem Drittel durch den Bund, die Kantone und das Privat kapital aufiubringen
gewesen wäre, kam im Ständerate in der Junisession 190t) zom Falle. Godet stellt sich
auf den Stadtpunkt der Anhänger der reinen Staatsbank ; als „Staat“ gilt ihm aber in
diesem Falle nicht der Bund sondern die Kantone. Das Grundkapital der zu
errichtenden zentralen Notenbank Bollte, mit völliger Außerachtlassung des Bundes, zu
zwei Dritteilen durch die Kantone und zu einem Dritteil durch die bestehenden Emissions-
banken aufgebracht werden.
Dieser Vorschlag ist nicht neu. Er lehnt sich an den im Jahre 1898 vom schweize-
rischen Handels- and Industriedepartement herausgegebenen Gesetzentwurf an, der die
Aufbringung des Grundkapitals zu je einem Drittel durch die Kantone, das Privatkapital
und die bestehenden Emissionsbanken vorsah. Godet übergeht das Privatkapital und
weist dieses eine Drittel den Kantonen zu.
Ob diese Art der Aufbringung des Grundkapitals eine glückliche Lösung des
Konfliktes darstellt, bleibe dahingestellt. Es genügt auf die Tatsache hinzuweisen, daß
nicht alle heute bestehenden Emissionsbanken kantonale Staatsinstitute sind: an zweien
(Aarau und Waadt) ist der Staat nur mit der Hälfte des Kapitals beteiligt, fünfzehn sind
reine Privatbanken, darunter die zwei größten Institute in Basel und Genf. Will man
von einer Beteiligung des Privatkapitals absehen, dann entsteht die Frage: wo liegt der
Grund für die Bevorzugung der privaten Emissionsbanken? und diese Frage würden sich
auch gewiß die prinzipiellen Anhänger der reinen Staatsbank stellen, während auf der andern
Seite der völlige Ausschluß des Privatkapitals nur geeignet ist. die Opposition der rechts
und iin Zentrum stehenden Parteien und wirtschaftlichen Interessenvertretungen zu stärken.
Der zweite Vorschlag Godets betrifft die Beschränkung des Geschäftskreiseg der
zu errichtenden Zentralbank. Eine Beschränkung des Geschäftskreises einer Notenbank
ist die natürliche Konsequenz des obersten Prinzips der Bankpolitik, wonach eine Bank
keinen andersgearteten Kredit erteilen darf als sie selbst nimmt, und wonach alle lang-
fristigen Kreditgeschäfte für eine korrekt geleitete Notenbank von vornherein ausge-
schlossen sind. Zu Gunsten der am Ertrage der Kantonalbanken interessierten kantonalen
Fisken wurde in den ersten zwei Entwürfen eines Bundesbankgesctzes der Geschäftskreis
der geplanten Zentralbank enger abgesteckt, als dies bei den meisten anderen zentralen
Notenbanken der Fall ist; es sollte dadurch einer Unterbindung der Entwicklung der
Kantonalbanken durch die Konkurrenz der Zentralbank nach Möglichkeit vorgebeugt und
ersteren die Möglichkeit gegeben werden, auch nach Verlust deB Notenemissionsrechtes
ihren Geschäftskreis aaszudehnen und finanziell günstige Abschlüsse zu erzielen. Es
war auch oftmals betont worden, daß die kantonalen Bankinstitute ebenso für den Giro-
verkehr als auch für das Diskontgeschäft der Zentralbank in erster Linie in Betracht
kommen sollen.
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Literaturb» rieht.
133
Godel geht nun bedeutend weiter auf diesem Wege. Die Zentralbank soll nur
zu: 1. Ausgabe von Banknoten. 2. Annahme von Depositen im Giroverkehr, 3. Diskont-
geschäften befugt werden. Um aber durch ihr Diskontgeschäft den bestehenden Emissions*
banken keine Konkurrenz zu machen, soll die Zentralbank nur die ihr vou den „akkre-
ditierten" Banken eingeieichten Wechsel rediskontieren; als „akkreditierte Banken" gelten
aber die am Tage des Erlasses des Bankgesetzes vorhandenen Emissionsbanken.
Auch dieser Vorschlag ist nicht neu; er entspricht vollständig dem im Jahre 1H96
anfgestellten Projekte des ehemaligen Direktors der Banque Cantonale Neuchateloiae,
Herrn Dubois, der. ebenso wie Godet, die Bundesbank als eine Rediskont-, Depositcn-
und Girostelle der bisherigen Emissionsbanken organisiert sehen wollte. Die Zentralbank
hätte weder Filialen noch Agenturen, sie käme mit dem Verkehre überhaupt nicht in
unmittelbare Berührung, sie würde lediglich den akkreditierten Banken gegen zum
Rediskont eingereicht Wechsel ihre Noten überlassen, die von diesen Banken in den
Verkehr gebracht und an deren Schaltern eingelöst würden.
Nach Art. 39 der Bundesverfassung hat die mit den Notenmonopol ausgestattete
Zentralbank die Hauptaufgabe, den Geldumlauf des Landes zu regeln und den Zahlungs-
verkehr zu erleichtern. Es erscheint uns ausgeschlossen, daß eine nach den Godetschen
Voi Schlägen organisierte Notenbank diesen Aufguben nachzukommeu vermöchte. Die
einheitliche Regelung des Geldumlaufes wird mit dem Augenblick unmöglich, wo die
Zentralbank nur formell das Notenmonopol ausübt, dieses aber tatsächlich, in einer völlig
verfassungswidrigen Weise, einer Vielheit der akkreditierten Banken ausgeliefert ist, was
unbedingt cintreten würde, sobald diese, und nicht die Zentralbank selbst, die Noten in
den Verkehr zu bringen hätten.
Und weiter: die Bundesbank könnte die Ausgabe ihrer Noten nur durch die Ver-
mittlung und mit Hilfe der akkreditierten Banken bewerkstelligen; für die Einlösung
der Nuten wäre sie dagegen allein verantwortlich. Die Einlösung erfolgt an den Schaltern
der akkreditierten Banken und folglich müßten die Barbestände der Bank auf etwa
36 Stellen dezent ralisieit werden, was eine Hemmung der Bewegungsfreiheit der Bank
und eine wirtschaftlich nicht tu rechtfertigende Erhöhung der K&ssenbestände bedeutet.
Die Monopolstellung, die nach den Godetschen Vorschlägen «len akkreditierten
Banken eingeräutnt würde, müßte notwendigerweise ein Gefühl der Erbitterung in den
weitesten Kreisen erwecken. Die Spar- und Leihkasse des Kantons Niedwalden in Stans
hätte das Recht, ihr Wechselportefeuille bei der Bundesbank zu rediskontieren, ein Institut
dagegen wie die Züricher Kreditanstalt oder der Schweizerische Bankverein hätte dieses
Recht nicht und müßte, wenn es sein Wechselportefeuille rediskontieren wollte, dies bei
einer akkreditierten Bank tun, die ihm an wirtschaftlicher Bedeutung unendlich
nachsieht.
Die Diskontopolitik würde nach wie vor in den Händen der 36 kantonalen Institute
liegen; der offizielle Satz der Bundesbank käme nur für die akkreditierten Banken in
Betracht, die dem ganzen übrigen Verkehre den Satz zu diktieren vermöchten. Sie wtiiden
ihn notwendigerweise höher halten müssen als die Rate der Bundesbank, und der aus
dieser Differenz resultierende Gewinn der akkreditierten Banken erhielte das Gepräge
einer vom Verkehr an diese entrichteten Steuer. Die Sanierung der Geldmarktvcrhältniase,
die von der Errichtung einer Zentralbank erwartet wird, müßte auBbleiben, sobald diese
Bank nach den Godetschen Vorschlägen organisiert würde. Voraussetzung einer solchen
Sanierung ist eine Reduktion des Notenumlaufes und Säuberung der Portefeuilles von
den langfristigen Anlagen. Beides wäre undurchführbar, da die 36 akkreditierten Banken
das größte Interesse daran hätten, möglichst viel Noten möglichst lange im Verkehre
zu halten, da die Höhe ihrer Reingewinne davon abhängt, und die Zentralbank selbst
dem gegenüber völlig machtlos wäre. Sie würde nicht direkt mit den Zedenten verkehren,
könnte infolgedessen die Qualität nnd den Charakter der ihr zum Rediskonto vorgelegten
Wechsel nicht beorteilen und in der Folge würden die Finanzwechsel, Gefälligkeits-
akzepte etc. etc. nach wie vor von Jahr zu Jahr zunehtnen und v^n Jahr zu Jahr den
Umfang der Bauknotenzirkulation zuin Schaden des Landes steigern.
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Literaturbericht.
Wir können infolge all dieser Erwägungen nicht umhin, zu erklären, daß die
Godetschen Vorschläge durchaus ungeeignet sind, den bevorstehenden Debatten zur
Basis zu dienen: sie stehen formell im Widerspruche mit den Bestimmungen der Bundes-
verfassung und materiell würde ihre Verwirklichung von vornherein den Verzicht auf die
Erfüllung der vornehmsten Aufgaben einer zentralen Notenbank bedenten.
Es wird heute von keiner Seite verkannt, daß die Errichtung einer zentralen
Notenbank nnr dann möglich ist, wenn dies ohne Schädigung der kantonalen Finanzen
und mit möglichster Schonung der Interessen der bestehenden Emissionsbanken geschehen
kann. Man ist bereit, nach dieser Seite hin soweit eutgegenznkommen. als es recht und
billig ist, vielleicht noch etwaB weiter. Dagegen erscheint es uhb als eine arge Verkennung
des Ganges der historischen Entwicklung und Mißachtung der vitalsten Interessen des
Landes, wenn der Versuch gemacht wird, den 36 Emissionsbanken, deren Politik zu den
gegenwärtig bestehenden, anerkanntermaßen unhaltbaren Verhältnissen führte, ein Privileg
zn erteilen, das in der Folge nicht nur keine Besserung, sondern zweifellos eine Ver-
schärfung der vorhandenen Mißstände nach sich ziehen würde.
Basel. Dr. Julius Landmann.
Dr. Ernst v. Halle, Volks- und Seewirtschaft. Reden und Aufsätze.
Berlin 1902. E. S. Mittler & Sohn. 2. Bde.
Ein vielseitiges, inhaltliches Werk liegt vor uns, das sein Antor. getragen von
dem Bewußtsein. Mitglied einer großen, zukunftsfrohen Nation zu sein, geschrieben
hat. Immer wieder liest man zwischen den Zeilen, daß der Verfasser ein größeren
Deutschland fordert, und daß er seinem Vaterlan de zutraut, das höchste Ziel zu erreichen,
wenn es nnr will. Man begreift hier unmittelbar, wie sich Deutschland in den letzten
Jahrzehnten entwickelt hat; denn vor 50 Jahren wäre ein solches Buch nicht möglich
gewesen. Es ist ja kein Weckruf, sondern ein Bericht darüber, daß Deutschland in den
Kampf an» die Teilnahme an der Weltherrschaft eingetreten ist, und ein Nachweis der
Mittel und Ziele, die in diesem Ringen Erfolg verheißen.
Wohl ist zwischen den einzelnen Abschnitten des Werkes kein äußerlicher Zusam-
menhang bemerkbar, obschon die Untertitel der beiden Bände „Die deutsche Volkswirt-
schaft an der Jahrhundertwende**, and „Weltwirtschaftliche Aufgaben und weltpolitische
Ziele- bedeutungsvoll gewählt sind. Hervorgegangen ans Gelegcnheitsreden ond Aufsätzen
eines vierjährigen Zeitraumes (1897 — 1900), können die verschiedenen Abschnitte kc*in
einheitliches Gepräge haben, und darf es nicht verwundern, daß selbst der Standpunkt
des Verfassers in dieser Zeit sich fortschreitend entwickelt hat, wie z. B. in seiner
Stellungnahme zu Holland; nber trotzdem ist eine innere Einheit unverkennbar. Der
Verfasser unterrichtet uns in den ersten vier Aufsätzen über das wirtschaftliche und
soziale Leben in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts sowie über seine Ent-
wicklung in den letzten Jahrzehnten, sodann weist er in sechs weiteren Aufsätzen die
wirtschaftlichen Verhältnisse und deren Entwicklung in Holland, England, Nordamerika
und Mexiko auf und zeigt an der Hand seiner Darstellungen sowie zum Schlüsse, was
Deutschland vermeiden, was es anstreben müsse, um sich jene Geltung unter den welt-
beherrschenden Nationen wieder zu erringen, die ihm nach seiner Volkszahl und kultu-
rellen Höhe gebührt.
Wirken die Aufsätze zur Beleuchtung und Schilderung wirtschaftlicher Verhältnisse
durch die Überreiche Ausstattung mit statistischen Daten bei zu geringer Verarbeitung
derselben etwa« ermüdend, so sind die übrigen Aufsätze, selbst wenn sie Bekanntes in
anderer Form sagen, durch die Kühnheit des ausgesteckten Zieles und die Offenheit
der Darstellung ebenso anregend als interessant.
Gleich im dritten Aufsatze „Die Seeinteressen Deutschlands- treten diese
Vorzüge hervor. Energisch bekämpft er hier die moderne, vom Kla-seninteresse diktierte
Anschauung, daß der Kaufmann zwar möglicherweise früher eine Kulturmission gehabt
habe, heute aber in der nationalen Organisation ein unnützes Glied sei, und daß speziell
der Außenhandel Deutschlands ebenso wie anderer Länder in die ungesunden Bahnen
des Industrialismus lenke. Zunächst widerlegt er diese Anschauung in einem knappen
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Literaturbericht.
185
historischen Eikurs, den er zu einem gelungenen Seiteuhieb auf den in Deutschland,
leider auch in Österreich nngenügf nden historischen Unterricht benützt, der die Jugend
nicht vertrant mache mit den großen Problemen der Weltgeschichte, mit der Verteilung
des internationalen Schwergewichtes in den verschiedenen Zeiten und mit den Gründen
für dessen Wechsel, denn „lieber erzählt man von den Siegen Friedrichs des Großen
oder von der Schlacht von Leipzig, als davon daß die Früchte der Siege schließlich
verloren gegangen sind, weil die großen Welt- und Seemächte die Beute unter sich
teilten * ln diesem Exkurse zeigt er, wie in allen Zeiten die Großmachtstellung der
Staaten Hand in Hand ging mit der Blüte ihrer Seemacht; wie die Vormachtstellung
Frankreichs zu sinken begann seit Ludwig XIV. die Politik Colberts aufgab und
gegen den Rat eines Leibniz, den Schwerpunkt »einer Macht auf die See zu verlegen
uni durch koloniale Erwerbungen sich den Welthandel und die Seeherrschaft zu sichern,
in kontinentalen Kriegen Frankreichs Kraft erschöpfte; er schildert ferner wie schmach-
voll Deutschland während seiner Zersplitterung von den Seemächten behandelt wurde
und wie weder Kaiser Josef II. noch Friedrich II. im Stande waren die wirtschaft-
lichen Interessen ihrer Staaten gegen die Seemächte zu schützen; wie endlich erst wieder
mit dem Emporkommen der politischen Macht Deutschlands sein Außenhandel insbesondere
als Seehandel sich hob, und zwar in der für die Wirtschaft vorteilhaftesten Richtung
durch Vergrößerung des Anteiles am internationalen Zwischenhandel und durch Ein-
führung und Erweiterung des direkten Bezuges überseeischer Produkte für den Bedarf
des inländischen Konsums und der heimischen Industrien. Das Ergebnis dieser Dar-
stellung, daß Seehandel und politische Macht sich wechselseitig erhalten und stützen,
gilt dem Verfasser somit als unwiderlegbare, historische Tatsache, der sich auch das
deutsche Volk erkennend fügen müsse.
Aber nicht bloß freiwillig treibt und stärkt Deutschland seinen Seehandel, sondern
gezwungen. Seine große und für die Erhaltung der Staatskraft notwendige Volksver-
mehrung verlangt fortgesetzt wachsende Zufuhren von Konaumartikeln, die weiterhin nur
bezahlt werden können durch die Export« einer kräftigen Industrie, deren Blüte um so
nötiger ist, als sie die Verproletarisierung des Volkes verhindert und weiterhin kauf-
kräftige Abnehmer der landwirtschaftlichen Produkte schafft. So wird der Handel zur
Stütze der Volkswirtschaft und um dieser die überseeischen Importe und den freien
Export zu sichern, muß der Staat eine große koloniale Politik treiben und die Interessen
seines Handels und seiner Volkswirtschaft durch eine entsprechende Machtentfaltung zur
See schützen.
Wenn das deutsche Volk das nicht will, dann, meint der Verfasser, muß es seine
Stammesgenossen wieder auswandern und die Kraft fremder Nationen verstärken lassen
wie ehedem, dann muß es wieder wie ehedem „ohne Kolonien, ohne Hochseefischerei,
ohne starke Handelsflotte, ohne eine Marine zu Schutz und Trutz, ohne mächtig werbende
Kapitalskräfte, die im Ausl&nde arbeiten, die Brosamen verzehren, die andere übrig
ließen*. Ein hartes Wort, das aber auch uns als Warnung gesagt sein könnte.
In dem nächstfolgenden Aufsatz „Deutschlands wirtschaftliche Entwick-
lung* ergänzt und erweitert Halle seine Widerlegung jener merkwürdigen Anschauung,
indem er die Haltlosigkeit ähnlicher Behauptungen in verschiedenen Publikationen, so
insbesondere von Blondei, Oldenberg, Kautsky u. s. w. dartut. Ihren Anschauungen
von der Produktion um des Exportes willen und von der steigenden Tendenz nach einer
ExportinduBtrie hält Halle entgegen, daß solche Auschauungen bestenfalls für einzelne
Klassen von Industriellen in manchen Gebieten zu gewissen Zeiten, nie aber allgemein
zutreffen können, mache man ja doch vom patriotischen Standpunkte aus allgemein dem
Kaufmann zum Vorwurf, daß er lieber importiere als exportiere. In der Tat sind eine
Anzahl von Staaten und darunter in erster Reihe England und Deutschland durch ihre
BevölkerungH-, Kultur- und Bodenverhältnisse auf wachsende Importe angewiesen. Haupt-
sächlich um diese xu erlangen respektive zu bezahlen wird exportiert, nicht also wegen
des Exportes an sich. Es geht dies schon daraus hervor, daß die wirtschaftlich am
höchsten stehenden Staaten regelmäßig eine größere Einfuhr als Ausfuhr besitzen und
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136
Literaturbericht.
diese ständig ungünstige Handelsbilanz nur dadurch ertragen, weil sie im Auslande
werbende Kapitalien besitzen, mit deren Zinsen sie die Einfuhrüberschüsse bezahlen. An
der Hand von zahlreichen statistischen Daten weist Halle insbesondere für Deutschland
nach, daß in den letzten Jahrzehnten seine hinfuhr in viel höherem Maße gewachsen
ist als seine Ausfuhr, daß also nicht die Ausfuhr der Einfuhr, sondern diese jener vor*
angehe. Und ebenso zeigt er. drß in den letzten Jahren die inländische Produktion
einiger großer Exportartikel viel stärker emporgewachsen ist als der Export, daß somit
in erster Linie für den Konsum, nicht für den Kaufmann und den Export produziert
wurde. Wie allenthalben, so wird auch von Deutschland exportiert, was es billiger oder
besser produzieren kann, um das zu bezahlen und zu erlangen, was es benötigt aber
gar nicht oder nur teurer produzieren kann. So ist der Kaufmann und insbesondere der
im Seehandel beschäftigte für die Volkswirtschaft ein nützliches und notwendiges Glied,
das zu erhalten, Deutschland allerdings guten Grund hat.
Bei der Erörterung der wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands geht aber
Halle weit hinaus über die Behandlung dieser Frage. Wiederum mittels statistischen
Materials zeigt er. daß in Deutschland wie auch vielfach in anderen hochentwickelten
Staaten eine blühende Industrie in erster Linie für den steigenden inländischen Konsum
arbeite, ja arbeiten müsse, darin wurzle hauptsächlich ihre Kraft. Für Deutschland
zeigt er, daß sie in den letzten Jahren sogar zu wenig exportierte, so daß sich
eine ungünstige Zahlungsbilanz einstellte, wodurch dann Deutschland genötigt wurde,
werbende Kapitalien aus dem Auslande heraus zu ziehen, was eine gewisse Gefahr mit
»ich bringt und wofür er die seiner Meinung nach verkehrte Börsenpolitik verant-
wortlich macht.
Besonders interessant ist, was Halle im Zusammenhang damit von der in den
letzten Jahrzehnten in Deutschland besonders mächtig hervorgetretenen Entwicklung der
auf maschineller Kraftleistung aufgebauten Industrie und von ihren Rückwirkungen sagt.
Obschon er nicht verkennt, daß sie eine Hauptsache ist für die wachsende Akkumulation
des Kapitals in der Hand weniger, so glaubt er doch, daß das ihre erstzeitliche Wirkung
gewesen ist und daß sie die Hebung der sozialen Lage der mittleren und unteren Klassen
bewirkt habe und fernerhin noch in größerem Maße bewirken werde. Bei dieser großen
Bedeutung dieser eigenartigen modernen Industrie findet er aber, daß es unzulässig sei,
hinsichtlich der Gründung neuer Konkurrenzunternehmen, auch wenn sie auf einer
vervollkommneten maschinellen Technik aufgebaut sind, die freie Privatwillkür herrschen
zu lassen. Ein übereiltes, die möglichen Wirkungen nicht ervrägendei Vorgehen in dieser
Richtung kann zu vorzeitigem Aufgeben nutzbringender Kapitalsanlagen, zur Vergeudung
von Kapitalien, zu Krisen führen, so daß die Willkür des Einzelnen der Volkswirtschaft
schwere Schäden zufügen kann. Deshalb fordert er in dieser Beziehung eine nationale
Organisation, für welche ihm die Kartelle und Trusts Anhaltspunkte zu bieten scheinen,
obwohl er deren Auswüchse, so die Tendenz der amerikanischen Trusts, den Export-
industrialismus zu fördern und die Weltmärkte zu erobern, strenge verurteilt. Er fordert
nur eine nationale Organisation der Wirtschaft, dieser aber vindiziert er das Recht, sich
ihre Bedürfnisse, ihre Abrundung auch auswärts selbst durch wirtschaftliehe Ausbeutung
einer minder kräftigen, wirtschaftlich minder hoch entwickelten Nation zu sichern. Hier-
durch findet er die neuzeitlichen Unternehmungen in Ostasien, die Kolonialbestrebungen
der Vereinigten Staaten, die Aufteilung Afrikas u s f. erklärt and gerechtfertigt. Da
Deutschlands Volkswirtschaft zu ihrer Abrundung der Erzeugnisse wohl auch die Märkte
fremder Länder benötigt, so müssen diese in der einen oder der anderen Weise gesichert,
eventuell die Länder wirtschaftlich oder politisch dem Reiche angegliedert werden.
Weiterhin muß sich deshalb Deutschland eine entsprechende militärische und maritime
Macht verschaffen, um auch eine gewaltsame Störung der naturgemäßen Fort- und
Ausbildung der nationalen Wirtschaft durch die konkurrierenden Weltmächte erfolgreich
verhindern zu können. So gelangt Halle auch hier wieder zu der Forderung des Aus-
baues der deutschen Seemacht als notwendiger Konsequenz der gegenwärtigen und
künftigen Wirtschaftsent Wicklung.
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Literaturbericht.
137
Durch die folgenden Aufsitze gewinnen diese allgemeinen Sätze teilweise ein
bestimmteres Ziel. In den Aufsätzen über „Die volks- und seewirtschaftlichen Beziehungen
zwischen Deutschland und Holland*, „Die deutschen Kapitalinteressen in der ostasiatischen
Inselwelt und die politische Lage* und „England als Beschützer Hollands* geht Halle
ron den Gedanken Fichtes über die für die Staaten bestehende Notwendigkeit, natür-
liche, den wirtschaftlichen Bedürfnissen entsprechende Grenzen zu erlangen, aus und stellt
die deshalb der Losung durch das Deutsche Reich in Ost und West harrenden Probleme
auf. Von dem östlichen Problem, unter welchem Halle in kühnem Ideenflug die Aus-
dehnung der deutschen Wirtschaftssphftre Uber das Stromgebiet der Donau und die
Balkanstaaten verstellt, wird nicht weiter gesprochen, dagegen wird das westliche
Problem, das in der Angliederung des Rheinstromgebietes gelegen ist, eingehend erörtert.
In den genannten, mit statistischen Daten reich ausgestatteten Abhandlungen, welche die
volkswirtschaftlichen Verhältnisse Hollands und seiner Kolonien nach den verschiedensten
Seiten beleuchten, bemüht sich der Verfasser darzutun. daü diese Verhältnisse Holland
in fortgesetzt steigendem Maße an Deutschland anknüpfen. Seine Ausfuhr nach Deutsch-
land ist beständig im Wachsen und beträgt jetzt mehr als die Hälfte seiner gesamten
Ausfuhr. Seine Einfuhr aus Deutschland ist absolut in der Zunahme relativ in Abnahme
begriffen, weil die Zufuhren ans anderen Ländern, insbesondere aus den oatindischen
Kolonien und den Vereinigten Staaten, sehr stark angewachsen sind; aber von den
Zufuhren selbst geht ein immer größerer Teil wieder nach Deutschland ab, so daü
Holland sich tatsächlich als Seehafen Deutschlands darstellt, dessen Handelsbilanz durch
den wachsenden deutschen Konsum sich fortgesetzt zu Gunsten Hollands verschiebt.
Ähnlich ist der Anteil der deutschen Kapitalien an den Unternehmungen in den holländischen
Kolonien, und der Anteil der deutschen Schiffahrt an dem Schiffahrtsverkehr dieser Kolonien
im Wachsen und jedenfalls bedeutender als der anderer Staaten.
So wie also Holland das größte Interesse hat. nicht vom deutschen Markte aus-
gesperrt zu werden, ebenso hat Deutschland ein wachsendes Interesse dafür, daß die
holländischen Außenbesitxungen nicht in fremden Besitz geraten und daß Hollands
Küste nicht infolge militärischer Ohnmacht unter die Kontrolle eines anderen Staates
kommt oder zum Ausgangspunkt militärischer Operationen werden kann. Unter Hinweis
auf die Nachteile, welche Holland erlitten hat, als England sich zu seinem Beschützer
aufgeworfen hat und unter Hinweis auf die Verloste, welche Spanien in jüngster Zeit
erlitt und schwachen Seemächten fortgesetzt drohen, verlangt der Verfasser direkt, »laß
zwischen Holland und Deutschland eine Militär- und Marinekonvention sowie ein Zoll-
und Verkehrsbflndnis abgeschlossen werde, wodurch die innere Bewegungsfreiheit Hollands
nicht weiter berührt werden sollte. Nur dafür müßte ausreichend gesorgt werden, daß
die Küsten 'und der koloniale Besitz durch ein starkes Heer und eine große Flotte sowie
die nötigen Verteidigungsmittel unantastbar w'erden und daß die Entwicklung der weiterhin
gemeinschaftlichen Volkswirtschaft nicht durch territoriale Schranken gehindert werde.
So kühn auch der Gedanke der Angliederung Hollands an Deutschland erscheinen
mag. so entbehrt er doch nicht einer gewissen realen Basis; auch ist er. von verschiedenen
Seiten besprochen, nicht inehr ganz neu, was aber au den vorliegenden Aufsätzen über-
rascht, das ist das Eingehen in die Details der Fragen, woraus hervorgeht, daß man in
manchen Kreisen dem Ziele näher zu sein glaubt, als der unbefangene Beobachter ver-
mutet. Und in der Tat dürfte der Zusammenschluß für beide Völker, wohl auch für die
Menschheit als Ganzes gerechnet, weniger für die mit Deutschland konkurrierenden
Mächte als ein ungeheurer Gewinn zu betrachten sein, er könnte für die Welt und ihre
friedliche wirtschaftliche Entwicklung die gleiche Bedeutung erlangen, die das deutsch-
österreichische Bündnis von 1878 für Europa und sein politisches Leben erlangt hat.
Minder groß angelegt ist der nächstfolgende Aufsatz des Verfassers über „Die
wirtschaftliche Entfaltung Mexikos*. Durch eine ausführliche, teilweise auf
persönlicher Kenntnisnahme beruhende Schilderung der wirtschaftlichen Verhältnisse des
Landes sucht der Verfasser zu zeigen, daß Financiers, Kaufleute und industrielle Unter-
nehmer in Mexiko ein Feld gewinnbringender Tätigkeit finden können, daß aber Bauern.
Z«iU«hrift Wr Volkswirtschaft, SoclalpoUtlk un<l Verwaltung. XII. Band. Iß
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138
Literatnrbericht.
industrielle Arbeiter oder Träger geistigen Lebens doit nichts zu suchen haben. Darnach
müsse sich auch die deutsche Politik richten, die sich bemühen solle, für eine weiter-
gehende Erleichterung und .Sicherung des wirtschaftlichen Verkehres zu sorgen, nicht
aber die Ansiedlung von Volksgenossen oder weiterausgreifende volkswirtschaftliche
Pläne zu fördern, denn „politisch, gesellschaftlich oder kulturell ist \ on einer Förderung
der Beziehungen zu Mexiko gar nichts zu erwarten". Und noch ein anderes steht den
hochfliegenden Plänen des Verfassers schroff gegenüber, die Monroe-Doktrin, von der er
allerdings nicht spricht, die aber sein Urteil wohl beeinflußt haben dürfte.
Die Monroe-Doktrin behandelt eingehend der zehnte Aufsatz, in dem Halle „Die
Bedeutung des nordamerikanischen Imperialismus" bespricht und in einem
kurzen historischen Überblick darstellt, wie das angeblich den ewigen Frieden pro-
pagierende Volk der Nordamerikaner zu der rohesten Form des Imperialismus gelangte,
der auf die widerspruchslose Alleinherrschaft über die ganze Erde abzielt. Die relativ
lescheidene Monroe-Doktrin, die nur Amerika den Amerikanern sichern wollte, erlangte
so eine Auslegung, wonach nicht bloß ganz Amerika für die Niclitamerikaner politisch
und wirtschaftlich verschlossen sein boII, sondern auch der ganze stille Ozean und seine
outasiatische» Küstengebiete als das ausschließliche Dominium der Nordamerikaner zu gelten
hat. Wie diese aus Befreiern Kubas und der Philippinen zu Tyrannen dieser Inseln
geworden sind, so werden sie künftighin aus Vorkämpfern für die Freiheit der Welt zu
Beherrschern der Welt Haben sie, meint Halle, „frühzeitig erkannt daß die Weltmacht
sich nicht allein auf eine Militirhierarchie stützen kann, sondern heutzutage mehr
als je einen Rückhalt an einem gewaltigen, kapitalistisch und technisch hoch entwickelten,
gewerbestarken Gemeinwesen haben müsse", so haben sie gegenwärtig bereits einge-
sehen, daß der Staat „nicht im freien Wettbiwerb auf dem Weltmarkt in ewigem Frieden
seine Stellung wahren und erweitern kann, sondern künftig um Macht und Märkte werde
kämpfen müssen* und deshalb vergrößern sie ihr Landheer und bauen eine starke Flotte.
Die Gefahr, die dadurch den übrigen Weltmächten droht, hält Halle mit Recht für
größer als jene, die von England ausgeht, dessen große Übermacht zur See er in dem
neunten Aufsatz „Englands Machtstellung auf dem Meere* beleuchtet, dessen
Kriegsflotte in der Tat größer ist als jene von Deutschland, Frankreich und Rußland
zusammengenoromen, dessen Tendenz noch immer dahin geht, das offene freie Meer
zu einer geschlossenen englischen See zu machen und dem er zutrant. sich auch über
das Völkerrecht hinwegzusetzen, wo es das kann. Dennoch gilt es, England gegenüber
nur die Unabhängigkeit der Seeintcressen auf allen Gebieten, speziell die Offcnbaltung
der beiderseitigen Kolonien zum freien Wettbewerbe in der Arbeit zu wahren und als
starker Feind und Freund auftreten zu können. Anders die Vereinigten Staaten, welche
durch die Beherrschung der Kornkammern der Welt und durch eine künstlich empor-
geschraubte Exportindustrie fortgesetzt mehr exportieren können als sie zu importieren
brauchen und dadurch zu Gläubigern der ganzen Welt, weiterhin aber durch
Umwandlung der finanziellen Verpflichtungen in politische eben zu Herren der Welt
werden können.
Es scheint, daß der Verfasser hier in Fnrcht um die holländischen Kolonien doch
allzusehr grau in grau malt; denn wie hoch man auch die Rücksichtslosigkeit und den
Tatendrang der Nordamerikaner einschätzen mag, sllzurasch dürfte das hier ausgesteckte
Ziel nicht zu erreichen sein; welche Kräfte aber sich während des Marsches auf dem
langen Wege dahin noch entwickeln werden, das entzieht sich jeder Kenntnis, so daß man
Prophezeiungen auch in dieser Beziehung besser unterläßt. Nichtsdestoweniger möchten
wir aber doch dem Verfasser beistimmen, wenn er meint, daß es sinnlos für Europa
wäre, gegen Amerika eine Absperrungspolitik zu verfolgen, und verlangt, Europa solle
durch Wahrung seiner politischen Machtiüstung und durch fortschreitende innere
Reformen in der Verwaltungsorganisation in technischer und sozialpolitischer Beziehung
sein bisheriges Übergewicht sichern und dauernd erhalten. Keine chinesische Mauer
schützt ein Volk vor dem Untergang, wohl aber hebt es fortgesetzte Kulturarbeit und
erhöhte Schlagkraft zu Wasser und Land an die Spitze der Menschheit!
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Literaturbericht
139
In dem Aufsatz «Die Verteilung der Industrien auf die klimatischen
Zonen“ revidiert der Verfasser die bislang festgehaltene Anschauung, daß die Ver-
schiedenheiten des Klimas mit all seinen Einflüssen auf die Lebenskraft und Lebens-
bet&tigung der Menschen einerseits und die Produktionskraft des Bodens anderseits
eine bestimmte Verteilung der Industrien und der landwirtschaftlichen Produktionen
geradezu vorher bestimmt hat Das Ergebnis dieser Revision geht dahin, daß die zahl-
reichen Erfindungen und bedeutenden Fortschritte auf dem Gebiete der Technik die
Widerstände des Klimas vielfach durchbrochen haben und die Allgemeingültigkeit jenes •
Satzes keineswegs mehr behauptet werden kann. Tatsächlich haben sich ja auch in den
heißen Zonen Indiens und Mittelanierikas derzeit bereits mancherlei Industrien ent-
wickelt, die man ehedem nur für nördliche Zonen bestimmt erachtete. Obwohl der Ver-
fasser davor znrückschreckt, daß man deshalb anuehinen düife, die tropischen Zonen
würden im Laufe der Zeiten wieder ein wirtschaftliches Übergewicht erlangen, denn es
müsse erst noch erwiesen werden, daß durch das Tropenklima die physische und geistige
Kraft der Rassen uicht erschlaffe und eine Kultnrblüte in diesen Zonen ohne fnsche Zuflüsse
aus den nördlichen Zonen erhalten werden könne: so meint er doch, daß durch jene
Erfahrung der Gedanke, daß der Staat keine Kolonien, der heimische Arbeiter und die
heimische Arbeit keinen Schutz benötige, da inan immer und überall im freien Austausch
das Notige bekommen respektive zu vergeben haben werde, hinfällig geworden sei. Es
konnte die Zeit kommen, in der die Gebiete, welche die notwendigen Nahrungs- und
Genußmittel der nördlichen Kulturvölker erzeugen, selbst auch die ihnen notigen Industrie-
artikel erzeugen oder unter die Herrschaft einer der Nationen gefallen sind (der Ver-
fasser denkt hier offenbar an Amerika und England), denen es gelungen ist, sich die
Errungenschaften der modernen Technik vollkommen zu Nutze zu machen. Daher bandle
es sich für die emporstrebeuden Nationen gar nicht darum, ob sie Exportindustriest&aten
sind und sein wollen, sondern darum, «ob sie es vermögen, rechtzeitig sich einen Macht-
bereich durch alle Klimazonen za schaffen, der sie durch die Natur seiner Bodenerzeug-
nisse in Stand setzt, die Bedürfnisse ihrer Bevölkerungen an Rohprodukten und Industrie-
Erzeugnissen nach allen Richtungen hin selbst zu decken“. Auch hier ist also das
allerdings unausgesprochene Endergebnis der Abhandlung, Deutschland müsse sich
industriell entwickeln, eine kräftige Flotte und entsprechende Kolonien schaffen, wenn
es sich selbständig unter den Vormächten der Welt behaupten wolle.
Dem gleichen Ziele strebt auch der letzte Aufsatz des Werkes «Weltpolitik
und Sozialreform“ zn. Von den vielen Parteien Deutschlands steht eine ganze Anzahl
anf dem Standpunkt, daß die Machterweiterung angestrebt werden solle, nicht aber die
Sozialreform, die vielleicht auf diesem Wege sogar zu umgehen wäre. Ein anderer Teil
fordert wiederum die Sozialreform in der Hoffnung, dadurch der Machterweitcrungspolitik
zu entgehen. An diese nun wendet sich der Verfasser und bemüht sich darzutun, wie
Weltpolitik und Sozialreform der gleichen Quelle entstammen und sich wechselweise
bedingen und unterstützen. Beide gehen aus dein brennenden Verlangen hervor, das eigene
Volk in seinem Wohlstand, seiner Stärke und Kultur zu heben. Dieses Verlangen kann
nur dadurch erreicht werden, meint der Verfasser, daß der Staat politisch auf der
breitesten Unterlage, dem ganzen Volke aufgebaut bleibt, daß der Wohlstand, die Lebens-
haltung und Kultur der tieferen, breiten Schichten des VolkeB in Industrie und Land-
wirtschaft gehoben wird und daß anderseits die Bezugsquellen der für die Ernährung
der Massen und die Versorgung der Industrie notwendigen Rohprodukte und ebenso die
Absatzmärkte der erstarkten Industrie offen gehalten und für alle Eventualitäten, eventuell
also durch Besitzergreifung gesichert werden. Durch die Hebung des Wohlstandes in den
Arbeitermassen. der physischen und geistigen Kräfte des einzelnen Arbeiters hofft der
Verfasser die Güte und Konkurrenzfähigkeit der industriellen Produkte und damit die
Erleichterung des Kampfes um die Beherrschung der Märkte zu gewinnen, rückwirkend
aber, durch die Erfolge der Weltmachtpolitik den Wohlstand der Massen fester zu gründen.
So schließt das Werk mit einem mächtigen Appell an alle Parteien, insbesondere die
sozialdemokratische, iin wohlverstandenen eigenen Interesse wie im .Staatsinteresse die
Sozialreform zu fördern und die Weltmachtpolitik zu unterstützen.
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14U
Literaturbericht.
Wie immer man sich dem lcühnen Gedankenflug, den auf ferne Zeiten hinaus
berechneten Planen des Verfassers entgegenstellen mag, »ei es, daß man sich in chau-
vinistischer Weise über die Schwierigkeiten ihrer Verwirklichung hinwegsetzend sie
billigt, sei es, daß man sie als Phantasmagorien erklärt, sei es, daß man sie als der
betroffene Fremde entrüstet zurückweist: immer wird man das eine zugeben müssen,
daß der Autor mit packenden Worten eine mögliche Entwicklung der Weltwirtschafta-
zustände schildert und mit Recht verlangt, daß sich die Völker für diese Entwicklung,
diesen möglicherweise nahe bevorstehenden Kampf, rüsten. Aber dieser Appell ist nicht
bloß an das deutsche Volk gerichtet, er richtet sich mehr noch an andere Völker; denn die
Völker werden sich in einem solchen Kampfe nur dann behaupten, wenn sie die eigene
Kraft aufs höchste gesteigert und das vom Schicksal zugewiesene Gebiet vollkommen
auszunützen verstanden haben. Andernfalls könnte ihnen nach den Worten deB Evangeliums
das vergrabene Pfund, das W’enige, das sie haben, von den Mächtigen genommen werden.
Das möchten die Parteien und Fraktionen wohl erwägen, die ihrer Interessen wegen die
Entwicklung der Staats- und Volkswirtschaft zurückhalten. Juraschek.
ZEITSCHRIFTEN- ÜBERSICHT.
Bei den Redaktion eingelaufene Bücher und Schriften.1)
Slnnstem A. i Di« F,at<t*hnDf «irr gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung im deutschen Sattlergewerbe.
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Bunul J.\ Studien iur Sozial- und Wirtschaftspolitik Ungarns. Leipzig, Dunrker& liamblot. 1902. (231 S )
<V.: Die holländischen Arbeitskammeni, Ihr»' Entstehung, Organisation und Wirksamkeit TübSugcn,
Mohr, 1903.
JuUttti'trgx Die Kartelle und die deutsche Kartellgesetzgebnng. Berlin, Vablro F., 1903.
A *«<»// Tk.x (iesaminelte Beiträge zur Rechts' und Wirtschaftsgeschichte, vornehmlich de* deutschen
Bauernstandes . Tübingen, H. Laupp, 1902. (485 S )
l.aytr M. I Prinzipien des Enleiguungsrechtes. Leipzig, Dunrkrr it llumblot, 1902. (660 8)
Menzel AH.' Die Kartelle and die Rechtsordnung. Leipzig, Duncker & llumblot, 1902. (79 8.)
O/Rel A.t Die Baum wolle nach Geschichte, Anbau, Verarbeitung und Handel sowie nach ihrer Stellung
im Volksleben und in der Staatswirtsehalt. Leipzig, Duncktr tc llumblot, I9U2- 74.% 8 )
Orter R. : Wie stellen wir uns zu «len Kartellen und Syndikaten ? Frankfurt a. M., Sanerl&nder, 1902. (29 8.)
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Jugendliche Arbeiter in Fabriken. (Schriften der Gesellschaft für soziale Reform.) iHell 7 und 8.)
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Sehwikler s Die städtischen Hausdienstboten in Graz. ( Veröffentlichungen des statistischen .semiuar* der
Universität Ora». Heft 1.) Graz, Verlagsbuchhandlung .8 jrrla, 1903. (40 8.)
Seelman w tf.i Die preußische Ministerialanweisung vom 6. Dezember 1899. Berlin-Gronewald, Troecbel A.,
1903. (180 S.)
Seel mann H. j Di« preußische Ministerialanweisung vom 17. November 1899. Beriln-Grunewalii. Trosche! A-,
1908. (139 8.)
i ‘eye E, i Über die Hübe der verschiedenen Zinsarten und ihre wechselsoitige AbbEngigkeil, Jena, 1902. (94 8.)
U etffH.i Die russische Naphtbaindustrie und der deutsche Petroleumnurkt. Tübingen, Mohr, 1902. (918.)
Zetffl G.. Nationalökonomie der teeboisrhen Betriebs kraft. Erstes Buch: Grundlegung Jena. Fischer O.,
1908. (228 8.)
CnuJerlirr E. : I/Kroliillon £eonomtque du zlx slfrcle, Anglaterre, Relfciquc, France, Etats Unis. Bruxelles,
Lamertin II., 1303. (948 8.)
f fettete y. und VanHervtlHe E. t Le 8»ciaii*ine en Bcdgique Paris (5c), Giard & E. llrlöre, 191*3 (498 8)
Offite Hi Trav.*il\ L es Industries 4 Domicile en Belgique. Volume IV. Bruxelles, 1902. (315 8.)
’) Autler den hier genannten Ist bei der Redaktion noch eine größere Zahl von Büchern und
Schriften cingelaufen, die sich bereits ln den HXnden der Rezensenten befinden
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DAS RECHT DER ÖFFENTLICHEN ARBEITEN.
VON
DR THADDÄUS BRESIEWICZ,
K. K. LANDESG ER1CHT8RAT IN KRAKAU.
öffentliche Verwaltungsorgane müssen 7,nr Ausführung der für die
Verwaltung notwendigen Arbeiten und Erreichung des beabsichtigten Erfolges
die geistigen und körperlichen Kräfte der Menschen sowie die sachlichen
Mittel in Anspruch nehmen. Diese Inanspruchnahme ist den öffentlichen
und privaten Arbeiten gemeinsam. Die Arbeiten, welche von der Verwaltung
zum öffentlichen Vorteile unternommen werden, haben außerdem einige nur
ihnen eigentümliche Merkmale:
1. Es ist zuerst die Menge und tlroßartigkeit der öffentlichen Arbeiten,
welche sie von Privatarbeiten absondern;
2. dann ist es die Person des Unternehmers, welche gewöhnlich die
Verwaltungsverbände vorstellen;
3. vor allem ist es aber der Zweck des öffentlichen Wohles, welcher
diesen Arbeiten ein besonderes Gepräge aufdrückt.
Dieser Zweck führt hauptsächlich herbei, daß öffentliche Arbeiten ein
Stück öffentlicher Verwaltung bilden. Zur Erlangung dieses Zweckes sind
aber die Vorschriften des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches unzu-
reichend; die ans obigen Arbeiten entstehenden Verhältnisse werden demnach
dem Privatrechte entzogen und dem Verwaltungsrechte zugewiesen. Das
Verwaltungsrecht hat besondere, nur den öffentlichen Arbeiten eigentümliche
Vorschriften ausgebildet zur Regelung der Rechtsverhältnisse:
1. der Staatsverwaltung und der Selbstverwaltung zum Unternehmer;
2. der an den Arbeiten Beteiligten untereinander:
3. des Unternehmers gegenüber dritten, sowohl bei don Arbeiten
mitwirkenden, als auch den durch sie berührten Personen.
Die Enthüllung und Entwicklung der Vorschriften, welche die öffent-
lichen Arbeiten beherrschen, und die systematische Ordnung der gemeinsamen
Rechtsgrundsätze ist der Zweck dieser Abhandlung. Die nachfolgende Dar-
stellung beruht auf einer großen Anzahl von Reichs- und Landesgesetzen;
meistenteils wurden sie für einzelne Fälle erlassen und sind auf analoge
ZelUcbrlft ftir VolkivrirUchaft, KoxlalpoUtik and Verwaltung. XII. Band. 1 1
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142
Bresiewicz.
Verhältnisse unanwendbar. Mit der zunehmenden Anzahl der öffentlichen
Arbeiten wiederholen sie sich jedoch so oft, dal! sie als AustliiU derselben
Ideen erscheinen müssen und dem aufmerksamen Leser eine unerwartete
Rechtsfölle aufweisen.
I. Beirrilf der öffentlichen Arbeiten.
Der Ausdruck .öffentliche Arbeiten* wird in der österreichischen
Gesetzgebung nicht angewendet, obwohl es in Österreich ein Ministerium
für öffentliche Bauten gegeben hat.1) Sein Wirkungskreis in Bausachen
umfaßte sämtliche Agenden des Straßen-, Wasser- und Hochbaues sowie
der Eisenbahnen, vorbehaltlich der dem Ministerium des Innern zustehenden
Einflußnahme auf die Baupolizei und Enteignungen. Mit Auflösung dieses
Ministeriums im Jahre 1851! verliert sich auch der Begriff .öffentliche
Arbeiten*. Unsere Aufgabe wird wesentlich erleichtert durch die Unter-
suchung, was fßr ein Inhalt mit diesem Ausdrucke in anderen Ländern
verbunden wird:
In Deutschland versteht man unter .öffentlichen Arbeiten* die gesamte
Bautätigkeit des Staates, mag dieselbe nur im fiskalischen oder im gesell-
schaftlichen Interesse sich vollziehen. Sie umfaßt den Hochbau, Straßenbau.
Wasserbau und Neubau der Eisenbahnen. Dagegen werden zu öffentlichen
Arbeiten nicht gerechnet: die Arbeiten der Kommunalverhände. das Landes-
meliorationswesen, der Festungsbau, wie auch die Unterhaltung und der
Betrieb der Eisenbahnen. Der Ausgangspunkt des Begriffes ist also nicht
rechtlicher, sondern technischer Art.*)
Desgleichen ist in Italien trotz des vorhandenen Gesetzbuches3) weder
im Gesetze noch in der Literatur der Begriff der öffentlichen Arbeiten zu
finden: man kennt nur den Wirkungskreis des Ministeriums der öffentlichen
Arbeiten, welcher umfaßt:
’) Das Ministerium für Handel. Gewerbe und öffentliche Bauten wurde mit Aller-
höchster Entschließung vom 12. .September 1859. R.-G.-Bl. Nr. 193. aufgelöst.
7) In Deutschland finden sich die Vorschriften für das öffentliche Bauwesen zum
Teil in den Wege- und Wassergesotzen sowie im Knteignungsgesetze, ihrem größeren
Teile nach bestehen sie in Dienstanweisungen technischer und Hnanzwirtschaftlicher
Natur über den Umfang des Bauwesens, die Grundsätze fflr die technische Herstellung
und Unterhaltung der Bauwerke, das Verdingen ganzer Bauten oder einzelner Arbeiten,
die Beschaffenheit des zu verwendenden Materials, die Veranschlagung und Revision der
Bauten, die Kassen- und Kechnurtgsgebarung. (Leuthold in Stengels Wörterbuch des
Deutschen Verwaltungsreehts, I., S. 183.)
*) Nur iu Italien bestellt ein umfangreiches Gesetz über öffentliche Arbeiten
„Codice dei luvori pubblici* vom 20. Mftrs 1865; cs enthält in 882 Artikeln Bestimmungen
über den Wirkungskreis des Ministeriums der öffentlichen Arbeiten. Hinrichtung der
Zivilgeuiebchörden, über Staat«- und Provin/ialstraßen. Gemeinde- und Ortswege, über
Wasserbauten an Flüssen. Bachen. Seen und Kanälen, über Häfen und Lenchttünne, über
Staats- und Privateisenbaiinen, schließlich über Verträge, betreffend die Arbeiten des
Staates und deren vollzug. Dieses Gesetzbuch hat durch nachträgliche Gesetze und
Verordnungen so viele Änderungen und Zusätze erfahren, daß die Aufzählung dieser
Nachträge allein im Werke von Artur Lion (Trattato Rulla legislaxionc dei lavori
pubblici. Torino, 1900) 28 Seiten in 8ft einnimmt.
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Da« Recht der öffentlichen Arbeiten.
143
1. den Bau und die Erhaltung der Nationalstraßen, der Staatsbahnen,
der Staatskanäle für Schiffahrt und Bewässerung, der Staatshäfen und Leucht-
tflrme, der zum öffentlichen Gebrauche bestimmten Gebäude und die tech-
nische Konservation der öffentlichen Denkmale;
2. die Aufsicht über die konzessionierten Eisenbahnen und subven-
tionierten Gesellschaften für öffentliche Arbeiten, um die Erfüllung der
Konzessionsbedingungen zu sichern, das volkswirtschaftliche Interesse des
Staates, die Sicherheit und Regelmäßigkeit des öffentlichen Dienstes zu
fördern ;
3. die Aufsicht über die Arbeiten der Provinzen, der Städte und
Genossenschaften, welche die Wege, Kanäle, Wasserschutz, Entsumpfung
der Grundstücke und Handelshäfen zum Gegenstände haben: sie beschränkt
sich auf Prüfung und Genehmigung der technischen Entwürfe und Sicherung
der Erfüllung der auferlegten Bedingungen;
4. die Verwaltung und Polizei der Staatsstraßen, der Staatsbahnen,
der Staatshäfen und Leuchttürmc. der öffentlichen Gewässer, der Schiffahrts-
einrichtungen und Staatskanäle.
Das Gesetzbuch umfaßt also nicht nur Vorschriften über Staatsarbeiten,
sondern auch einige Vorschriften über Provinzial-, Gemeinde- und Privat-
arbeiten, insoweit sie der Aufsicht der Staatsverwaltung unterliegen. Die
Artikel 319 bis 382 behandeln die Verwaltung der Staatsarbeiten allein;
diese Vorschriften wurden durch besondere Gesetze1) auf alle Provinzial-
und Gemeindearbeiten anwendbar erklärt. Demnach werden in Italien als
öffentliche Arbeiten betrachtet: alle Staatsarbeiten für öffentliche Zwecke
und die pflichtschuldigen Arbeiten der Provinzen, Gemeinden*) und kon-
zessionierten Gesellschaften.
Auch in Frankreich, wo die Gesetzgebung3) Über öffentliche Arbeiten
so sehr ausgebildet erscheint, wird der rechtliche Begriff der öffentlichen
Arbeiten von keinem Gesetze gegeben; das Herkommen und die reichhaltige
Rechtsprechung des Conseil d’Ktat ersetzen das Fehlende: Als öffentlich
wird jede Arbeit anerkannt, welche die Schaffung, Einrichtung und Instand-
*) Gemeinde- und Provinzialgesetz vom 4. Mai 1898, Artikel 166, und Vollzugs-
Verordnung vom 19. September 1899, Artikel 112.
*) Zu den obligatorischen Arbeiten der Gemeinden werden jene gezählt, «eiche die
Geraeindewege, Wasserleitungen, kleinere Handelshäfen, andere öffentliche Anlagen,
öffentliche Rauten, Bezirksgefungnis und Kirchhöfe, für die Provinzen nur Provin2ialwege
znm Gegenstände haben (Gemeinde- und Provinzialgesetz Artikel 175 und 286.)
*) In Frankreich bestehen einige Gesetze, welche auf alle öffentliche Arbeiten
Anwendung finden. Zu diesem zählt das Gesetz vom 28. Pluviose an VIII betreffend die
Zuständigkeit des Präf, kturrates in allen aus Anlall der öffentlichen Arbeiten entstandenen
Streitsachen, das Gesetz vom 8. Mai 1841, betreffend die Enteignung der Grundstücke,
das Dekret vom 18, November 1882 und die Verordnung vom 14. November 1887, betreffend
die Vergebung öffentlicher Arbeiten, die Gesetze vom 16. September 1807 über die
Trockenlegung der Sümpfe und vom 29. Dezember 1892 über die am Privateigentums
durch Ausführung öffentlicher Arbeiten verursachten Beschädigungen. Anllerdem bestehen
zahlreiche besondere Vorschriften für einzelne Arbeiten, wie für Wege, Kanäle, Eisen-
bahnen. Handels- und Kriegshäfen u s. w.
11*
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144
Br#*»iewicT.
haltung eines dem öffentlichen Dienste gewidmeten unbeweglichen Gegen-
standes bezweckt und von einem öffentlichen Verbände oder einer öffent-
lichen Anstalt pflichtgemäß ausgeführt wird.1) Der Begriff enthält folgende
Merkmale:
1. Die Arbeit muß einen unbeweglichen Gegenstand betreffen; es macht
keinen Unterschied, ob die Anlage von neuem hergestellt, verbessert, geändert
oder nur erhalten wird, ob sie bestimmt ist ein Kinkommeu abzuwerfen
oder nicht.
2. Als Unternehmer kann der Staat, ein Departement, eine Gemeinde
oder sonst eine andere den Verwaltungsdienst dieser Verbände besorgende
Anstalt auftreten. Der Charakter öffentlicher Arbeiten wird auch dadurch
nicht geändert, dall die Arbeiten nicht von der Verwaltung selbst, sondern
von einem Vertragsschließer auf Rechnung der Verwaltung oder von einem
belieheneii Unternehmer auf dessen Rechnung verrichtet werden. Diese
Unternehmer müssen jedoch in Ausübung der öffentlichrechtlichen Ver-
pflichtung handeln; die Arbeiten, welche von den allgemein nützlichen
Gesellschaften oder Anstalten aus eigenem Antriebe unternommen werden,
zählen nicht zu den öffentlichen.
8. Der Gegenstand der Arbeit muH dem öffentlichen Dienste gewidmet
sein. Der Begriff öffentlicher Arbeiten umfufft aber nicht nur die Verrichtungen
am öffentlichen Gute (an Gassen, Wegen, Flüssen und Kanälen i, sondern
auch den Bau der öffentlichen Denkmale, der Schulen. Amtsgebäude,
Markthallen n. s. w.; hingegen sind die Arbeiten betreffend die Staatsgüter
und Forste sowie auch das Privateigentum anderer öffentlicher Verbände
nicht inbegriffen.
Der Rechtebegrifr öffentlicher Arbeiten, welchen die französische Rechts-
wissenschaft. ausgebildet hat, lädt sich auf das österreichische Recht nicht
einfach auwenden. Unzweifelhaft ist nur, dali jene Arbeiten als öffentliche
zu betrachten sind, durch welche die öffentliche Verwaltung geführt wird.
Sie erweisen ihren Zusammenhang mit dem öffentlichen Rechte dadurch,
daß sie in den Verhältnissen nach außen nach öffentlichem Rechte beurteilt
werden. Es ist also am richtigsten: die induktive Untersuchungsmethode
anzuwenden und zu beachten, welche Arbeiten in der Wirklichkeit nach den
Regeln des Verwaltuugarechtes behandelt werden, um danach den Bereich
der öffentlichen Arbeiten Schritt für Schritt zu bestimmen.*) Zu diesem
Zwecke sind die Subjekte und Gegenstände der öffentlichen Arbeiten näher
zu untersuchen.
A. Die Person des Unternehmers.
1. Der Ausdruck .öffentliche Arbeiten“ fällt oft mit dem Begriffe
der Staatsarbeiten zusammen; unter letzteren versteht man alle Arbeiten,
!) Ducrocq: Cour« de droit adminmtratif. Paria, 1897, II., S. 24C, ff. H. Ber-
thdlemy: Traito ebunentaire de droit udminiatratif. Pari«, 1901, S. .735 11’.
*) Vergl. Otto Mayer, im Arcliiv für Offentl. Hecht, 1901, 8. (15,
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Da« Recht der Öffentlichen Arbeiten
145
welche vom Staate verrichtet werden, also sowohl die Arbeiten Itir Staats-
güter und Forste wie auch den Bau öffentlicher Gebäude, der Staatshahnen,
die Flutiregulierungen. die Hafenarbeiten, Festungsbauten u. s. w. Allen
diesen Arbeiten ist gemeinsam, daß sie auf Kosten des Staates ausgeführt,
oft von denselben Behörden geleitet werden, und daß die Art und Weise
der Ausführung ähnlich sein können. Ks ist also kein Wunder, daß für alle
diese Arbeiten gewisse gemeinsame Vorschriften vorhanden sind. Ein flüchtiger
Überblick läßt jedoch erkennen, daß /.wischen dem Bau eines Wirtschafts-
hauses für die Güterverwaltung und einer Flußregulierung sowohl in Bezug
auf den Zweck als auch auf ihre rechtliche Folgen gewaltige Unterschiede
bestehen; es ist also einleuchtend, daß alle diese Arbeiten nicht denselben
rechtlichen Vorschriften unterworfen werden können. Nicht alle .Staatsarbeiten
sind als öffentliche Arbeiten zu betrachten.
Auch ist der Inhalt der öffentlichen Arbeiten mit dem Begriffe der
Staatsarbeiten nicht erschöpft: die öffentliche Verwaltung wird nicht nur
vom Staate, sondern auch vom Laude, Bezirke, der Gemeinde u. s. w. geführt,
und alle diese Verwaltungskörper können auch auf dem Gebiete der öffent-
lichen Arbeiten mitwirkeu. Ob die Herstellung und Erhaltung eines öffentlichen
Weges vom Reiche, einem Lande oder einer Gemeinde besorgt wird, kann nur
einen quantitativen, aber keinen qualitativen Unterschied hervorrufen. Die öster-
reichische Gesetzgebung kennt indessen keinen alle diese Arbeiten umfassenden
Begriff'; sie kennt nur Staats-, Landes-, Bezirks- und Gemeindearbeiten,
also nur den technischen Begriff öffentlicher Arbeiten; der rechtliche Begriff
hat sich noch nicht herausgebildet. — Wir erhalten auf diese Weise den
weiteren Grundsatz, daß öffentliche Arbeiten nicht nur vom Staate, sondern
auch von Selbstverwaltungskörpern ausgeführt werden können, und in allen
diesen Fällen bleibt ihr rechtlicher Charakter derselbe; es sind jedoch nicht
alle von diesen Verwaltungskörperu verrichteten Arbeiten als öffentliche zu
betrachten.
2. Außerdem gibt es Arbeiten, welche zwar von Privatpersonen
unternommen werden, jedoch das öffentliche Beste sehr nahe berühren. Wenn
das Zustandekommen gewisser Arbeiten einzelnen Bürgern oder einem Kreise
der Grundeigentümer notwendig oder nützlich erscheint, ist es nicht die
öffentliche Verwaltung, welche diese Arbeiten durchführen soll und nicht
auf Kosten aller Steuerzahler; es ist der Interessenten Sache, die Arbeiten
auf eigene Kosten herzustelleu. Die Rolle der Verwaltung beschränkt sich
auf Erleichterung der gemeinsamen Tätigkeit und auf Veranlassung der
Arbeiten. Die Unternehmungen, durch welche die Grundstücke gegen Wasser-
verheerungen geschützt oder in ihrer Ertragsfähigkeit gehoben werden, liegen
unmittelbar im Privatinteresse der Grundeigentümer. Deswegen werden die
betreffenden Arbeiten von Wassergeuossenschaften ausgeführt, welche ent-
weder freiwillig oder unter Mitwirkung der Behörde auf Grund eines Mehr-
heitsbeschlusses gebildet werden. Dieser Mehrheitsbeschluß kann die Arbeiten
durchführen oder auch von dercu Vornahme abstehen; die Genossenschaft
hat keine Pflicht zur Vornahme der Arbeiten und kann sieh jederzeit nach
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14«
Breeiewicz.
Erfüllung ihrer Verbindlichkeiten gegen dritte Personen auflösen.1) Diese
Arbeiten werden zwar im genossenschaftlichen Interesse ausgeführt, aber
die öffentliche Verwaltung hat dabei kein entscheidendes Wort, weil die
gehofften Vorteile nicht über die Mitglieder der örtlichen Genossenschaft
hinausreichen; diese Arbeiten sind nicht als öffentliche zu betrachten.
Diese Sachlage ändert sich vollkommen, wenn die Genossenschaft im
Gesetzeswege’) gebildet wurde, oder wenn die Arbeiten zwar von der
Genossenschaft verrichtet, jedoch als ein aus Landes- oder Staatsmitteln zu
unterstützendes Unternehmen erklärt werden.3) In dieseu Fällen wird ausge-
sprochen, daß die Arbeit im öffentlichen Interesse liegt, der Vollzug der
Arbeit wird allenfalls im Zwangswege gesichert, der Regierung oder der
I «Indesselbstverwaltung wird eine angemessene Einflußnahme auf den Gang
des Unternehmens eingeräumt, und die künftige Erhaltung der herzustollenden
Anlagen wird in genügender Weise gesichert. Durch die Gesetze, welche
die Ausführung obiger Arbeiten amrdnen. wird die Genossenschaft der
Grundeigentümer mit ihren Organen der öffentlichen Verwaltung einverleibt,
und die von ihr geführten Arbeiten gewinnen einen öffentlichrechtlichen
Charakter. Öffentliche Arbeiten können also auch von den zu diesem Zwecke
gebildeten Genossenschaften ausgeführt werden, wenn sie auf Grund einer
öffentlichen Verpflichtung haudeln.
3. Die Erfahrung lehrt, daß die Arbeiten für öffentliche Zwecke auch
ohne gesetzliche Verpflichtung oft von Privatpersonen und Privatgesell-
schaften ausgeführt werden. Zahlreich sind die Beispiele besonders auf dem
Gebiet« des Verkehrswesens; Öffentliche Wege, Brücken. Überfuhren. Schiff-
fahrtskauäle, Eisenbahnen, Telegraphen- und Femsprechleitungeu werden oll
auf Grund der Bewilligung der Staatsorgane von Privaten gebaut und
betrieben. Neben ihnen bestehen Staatsanlagen derselben Gattung. Sowohl
die Staats- als die Privatanlagen verfolgen denselben Zweck und verrichten
gleichzeitig denselben öffentlichen Dienst. Soll z. B. der Bau einer Eisenbahn
durch eine Aktiengesellschaft anders behandelt werden als der Bau einer
Staatsbahn? Wäre es überhaupt möglich, daß die Aktiengesellschaft die
Eisenbahn erbaue, ohne die Gewalt der öffentlichen Verwaltung in Anspruch
zu nehmen? Nein. Die Arbeiten des Konzessionärs müssen den Arbeiten der
Verwaltungskörper gleichgestellt werden und sind somit öffentliche Arbeiten.
Es muß jedoch hervorgehoben werden, daß nicht jede einem Privat-
unternehmer erteilt« Baukouzession den betreffenden Arbeiten den Charakter
der öffentlichen Arbeiten verleiht, da mit dem Namen .Baukonzessionen*
verschiedenartige Bewilligungen der Behörde bezeichnet werden, welche mit
der Verleihung öffentlicher Arbeiten keine Ähnlichkeit besitzen.3) Die meisteu
') g 24 des Reichswasserrechtsgesetzes.
*) § 41 Steiermark., § 42 lmkow., § 43 niedcrOstcrr., § 46 liühm., § 45 sonstiger
Wasserrechtsgesetze.
>) Gesetz vom 30. Juni 1884, R.-G.-BI. Sr. 116, § 4.
‘i Vergl. Greste Ranelletti: Teoria generale delle autorizzazioni e concessioni
amuiiuistrative. Torino, 1894.
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Da« Hecht der öffentlichen Arbeiten. 147
Kaliwerke und Anlagen erfordern die Genehmigung der Baubehörde; nie ist
nur eine einfache Bestätigung, daß der beabsichtigte Bau den Gesetzen
entspricht; ist letzteres festgestellt, so muß die Genehmigung erteilt werden.
Bei anderen Bauten, wo die Möglichkeit des Widerspruches mit dem öffent-
lichen Wolile besteht, entscheidet die Baubehörde auf Grund des freien
Ermesseus, ob die Ausübung des Baurechtes den diesbezüglichen Vorschriften
des Gesetzes entspricht; diese Erlaubnis räumt nur das Hindernis des polizei-
lichen Verbotes weg, aber sie gibt dem Bauwerber kein neues Recht, welches
er bis jetzt nicht besaß. Es kommen aber auch Fälle vor, wo die Verwaltung
zur Förderung der wirtschaftlichen Zwecke dem Unternehmer neue öffent-
liche Hechte verleiht, wie z. B. die Wasser- und Straßenbenutzungsrechte.
Er kann jedoch die verliehenen Hechte benutzen oder unbeuutzt lassen. Wenn
auch im einzelnen Falle noch die Pflicht zur Ausübung des Hechtes hinzu-
tritt, werden daraus keine öffentlichen Arbeiten, weil sie nur einen privat-
wirtschaftlichen Zweck verfolgen. Öffentliche Arbeiten sind nur dann vor-
handen:
a) wenn die Herstellung oder Erhaltung eines gemeinnützigen Unter-
nehmens beabsichtigt wird, welches sonst der öffentlichen Verwaltung
obliegen würde;
!>) wenn die öffentliche Verwaltung diese Arbeiten dem Unternehmer
überträgt:
rj wenn der Beliehene die Verpflichtung übernimmt, das Unternehmen
auszuführen und zu verwalten. Der Unternehmer tritt hier in die
Hechte des Verleihenden ein.
Der Unternehmer der öffentlichen Arbeiten muß also immer auf Grund
einer öffentlichen Verpflichtung handeln; es macht dabei keinen Unterschied,
ob die Verpflichtung vom Gesetze auferlegt oder freiwillig durch öffentlich-
rechtliches Obereinkommen, Konzessionsannahme u. s. w. übernommen wurde.
B. Der Gegenstand des Unternehmens.
Alle Arbeiten, welche vom Staate oder den Selbstverwaltungskörpern
vorgenommen werden, dienen schließlich der öffentlichen Verwaltung. Nicht
bei allen jedoch ist der Zweck so wichtig, daß er die Ausschließung des
Privatrechtes rechtfertigen könnte.
1. Vor allem gilt da» bei Arbeiten, welche eine Lieferung der beweg-
lichen Sachen bezwecken. Die Lieferanten des Staates genießen zwar Vor-
züge der Unpfändbarkeit1) bezüglich der Lieferungsgegenstände, aber die
Anschaffung derselben erfolgt nach allgemeinen privatreclitliclieii Grund-
sätzen; denn diese Sachen kommen nur mit ihrem Vermögenswert in Betracht,
und es genügt ihnen vollkommen der Schutz, den solche Werte durch das
Zivilrecht erhalten. Öffentliche Arbeiten haben also zum Gegenstände nur
unbewegliche Sachen, wie im französischen Rechte.
*) Hoflickrete v,nn 13. Mai IHM. ,1. Ü.-S., 10» 6. und vom 15. Februar 1S15.
J. fi.-S., 1132.
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118
Bresiewicz.
2. Die Arbeiten des Staates und der Selbstverwaltungsverbände werden ent-
weder am Patrimonialgute oder an anderen Gutem ausgeführt. Die ersteren
dienen mittelbar auch dem öffentlichen Nutzen, weil sie doch den Zweck haben,
das Stammvermögen der Verwaltungsverbände zu vermehren, und dieses
Vermögen dient zur Deckung öffentlicher Auslagen. Unmittelbar handelt es
sich jedoch um einen wirtschaftlichen Zweck der genannten Verbände und
nicht um öffentliche Verwaltung. Die Arbeiten, welche das Stammvermögen
öffentlicher Verbände betreffen, sind nur I’rivatarbeiten. Das Privatrecht reicht
vollkommen aus, uiu den Zweck dieser Arbeiten zu sichern, und es ist kein
Grund vorhanden, um sie den Bestimmungen des Privatrechtes zu entziehen.
3. Außer dem Stammvermögen besitzt der Staat und die Selbstver-
waltungsverbände ein Verwaltungsvcrmögen, welches den Zwecken des öffent-
lichen Dienstes gewidmet ist. Der Staat haut Amtsgebäude, Universitäten
und Mittelschulen, das Land Spitäler, die Gemeinden Rathäuser, die Kon-
kurrenzpflichtigen die Kirchen und Pfarrgebäude. Allen diesen Bauten*) ist
gemein, daß sie dem öffentlichen Dienste gewidmet sind, und daß die Geld-
mittel zum Baue auf die Art uud Weise der Steuer aufgebracht werden ;
die Kirchen- und Schulkonkurrenzen können zur Herstellung oder Krhaltung
der betreffenden Bauten von Staats wegen gezwungen werden. Trotzdem werden
sie dem Privatrecht nicht entzogen; der Unternehmer erwirbt die nötigeu
Grundstücke und errichtet die Bauten nach denselben Grundsätzen wie sein
Nachbar. Der Grund dieser Erscheinung*) liegt darin, daß bei obigen Bauten, in
welchen sächliche und persönliche Mittel zu einem öffentlichen Zwecke ver-
einigt werden, der Schwerpunkt der Leistungen in den persönlichen Mitteln
liegt. Wenn das Privatrecht die Herstellung oder weitere Benutzung dieser
Gebäude unmöglich macht, so mag die Anstalt anderwärts untergebracht
werden. Der Zweck dieser Gebäude ist an sich selber nicht genug wichtig
und zugleich gegen die privatrechtlichen Störungen derart emptindlich, daß
die betreffenden Arbeiten dem Privatiechte entzogen werden müßten.
Daraus erhellt, daß unsere Gesetzgebung grundsätzlich den Hochbau zu
den öffentlichen Arbeiten nicht zählt. Einige unbedeutende Ausnahmen bestehen
nur hinsichtlich jener Hochbauten, bei denen der Zweck so ernst ist. daß
seine unbedingte Aufrecbthaltuug zur guten Ordnung des Gemeinwesens
gehört. Ein Beispiel liefern die Festungswerke. Auch bei Anstalten, welche
nur durch Betrieb der Öffentlichkeit dienstbar gemacht werden können, ist
die Ausführung und Erhaltung der für die Betriebszwecke unumgänglichen,
mit der Anstalt innig verbundenen Gebäude als öffentliche zu betrachten.
Als Beispiele gelten die Betriebsgebäude der Eisenbahnen,5) die Leucht-
türme und die Bauten für Schiffahrtskaual- und Wasserleitungszwecke.
') Im französischen Rechte werden sie als domaine pnblic und die betreffenden
Arbeiten als travauz publica betrachtet.
*) Vergl. Otto Mayer: Eisenbahn- und Wegerecht. (.Archiv für dffcntl. Recht,
1901, S. 65. ff.)
3) Gesetz roiu 18. Februar 1878, R.-G.-Bl. Sr. 30, 9 3. Der Verwaltungsgerichtshof
bat die Enteignung auch zum Zwecke der Herstellung eines Wohnhauses für die Balm-
heamten der htatiun zugcstaudeu. (Erkenntnis vom 11. Mai 1887, Budwidski Nr. 3525.)
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Du Recht der öffentlichen Arbeiten.
140
4. Eit gibt auch «ine Menge öffentlicher Unternehmungen, in welchen
der Zweck wesentlich durch die geeignet helgerichtete Sache erreicht wird
und in ihr sicli verkörpert, wie Museen, Markthallen, Parkanlagen. Volks-
bäder. Diese dienen unmittelbar dem öffentlichen Zwecke und erfüllen den
öffentlichen Dienst durch ihre Beschaffenheit, ihr bloßes Bestehen: der
Staat und die Selbstverwaltungskörper verwalten diese Sachen. Öffentliche
Arbeiten werden hier aberall nicht daraus, weil die Wucht des öffentlichen
Vorteiles an der Herstellung und an dem unversehrten Bestände dieser Sachen
fehlt. Dasselbe gilt von Denkmalen, Kunstgebäuden u. s. w.1)
Nach obiger Ausscheidung bleiben als Gegenstand öffentlicher Arbeiten
nur jene Sachen, welche dem gewöhnlichen privatrechtlichen Verkehre ent-
zogen und als öffentliches Gut betrachtet werden. — Unter dem Ausdrucke
.öffentliches Gut* kann man jedoch nicht nur jene Sachen begreifen, welche
im Sinne des bürgerlichen Gesetzbuches*) als privatrechtliches, durch den
usus publicus beschränktes Eigentum des Staates oder der Selbstverwaltungs-
körper aufgezählt werden, sondern alle Sachen,*) welche vermöge ihrer
Beschaffenheit bestimmt sind, dem wichtigen öffentlichen Interesse unmittelbar
zu dienen.4' Das öffentliche Interesse ist mit dem usus publicus nicht
erschöpft. Der usus publicus an Wegen. Plätzen. Gassen, Flössen u. s. w.
ist nur ein Merkmal, durch welches das öffentliche Gut sich erkennen läßt.
Die Bedeutung des öffentlichen Gutes besteht darin, daß durch dasselbe
unmittelbar öffentliche Verwaltung geführt wird. Der Natur des öffentlichen
Gutes tut es keinen Eintrag, wenn eine amtliche Tätigkeit noch dazwischen
kommt, um die Leistung der Sache jedesmal zugänglich zu machen und
zu vermitteln, wie z. B. beim Eisenbahnbetrieb und bei der Schleußen-
bedienung; durch diese Vermittlung leistet der Eisenbahn- und Kanalkörper
seine Dienste. Die selbständige Bedeutung der Sache für den öffentlichen
Vorteil tritt auch dann noch genügend in den Vordergrund.
Außerdem gibt es öffentliches Gut, welches dem Einzelnen keine
Dienste leistet, das jedoch durch seine Beschaffenheit das öffentliche Interesse
selbständig befriedigt. Dazu gehören vor allem die Festungswerke. Ander-
seits gibt es auch Sachen, welche als Privateigentum der einzelnen Bürger
oder Gesellschaften betrachtet werden, aber einzig und allein dazu bestimmt
sind, um öffentliche Dienste zu leisten. Das Hauptbeispiel gehen die kon-
zessionierten Eisenbahnen.5) Das Yerwaltungsreeht verleiht sowohl den
‘(.Otto Mayor: Archiv für öffcütl. Recht, 1901, sä. 71 ff. Derselbe ; Deutsches
Yerwaltungsreeht, U., S. 74.
* Sä 287 and 288.
*) 'Otto Mayer (Deutsches Verwaltungsrecbt. II., 8. 60. 84 ff.), dem wir in
obiger Darstellung folgen, hat für dieses Verhältnis die unzutreffenden Begriffe des
öffentlichen (Besitzes und Eigentums angewendet. Vor ihm hat es schon Eisclc (Über
das Rechtsverhältnis der res publivae iu pubticu oau. Schriften der Universität Basel,
1873) und Burckhard (Gröubuts Zeitschrift, XV., 1887, S. 644) getan.
4) Der anstaltsmäUigc (Iharakter des Öffentlichen Gutes wird mit Recht von
Ulbrich (im 'Staatsworterbuch von Mischler, I., S. 519 ff.) hervorgehoben.
*) Die Eisenbahnen sind Öffentliche Verkehrswege und wurden mit Hofdekreten
vom 15. September 1845 und vom 18. Februar 1847, J. G.-S. Nr. 904 und 1036 als
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150
Brealewicz.
Festungen als auch «len Eisenbahnen die Vorzüge und den Schulz des
öffentlichen Gutes.
5. Es kommt nur ausnahmsweise vor, daß das öffentliche Gut von
Natur aus die entsprechende äußere Beschaffenheit besitzt, um für die Ver-
wirklichung des bestimmten öffentlichen Zweckes unmittelbar verwendet
werden zu können (z. B. Meerosufer); öfters geschieht es durch Bearbeitung,
durch öffentliche Arbeiten. l)as Verhältnis dieser Arbeiten zum öffentlichen
Gute ist nicht immer gleich; es lassen sich unterscheiden:
a) die Herstellungsarbeiten, welche den Zweck verfolgen, etwas Neues
zu schaffen, was bisher nicht bestanden hat, oder das Bestehende
derart zu ändern, daß ein neuer Zweck damit erreicht wird:
b) die Verbesserungsarbeiten, welche die Vermehrung der Nutzungen
bezwecken, und
<y die Instandhaltungsarbeiten, welche nur auf Erhaltung des Bestehenden
im guten Zustande abzielen.
Sind alle diesen Arbeiten bei einer öffentlichen Anlage oder Anstalt
als öffentliche zu betrachten? Vom rechtlichen Standpunkte besteht zwischen
diesen Arbeiten ein Unterschied nur bezüglich der Menge, nicht der Beschaffen-
heit: zur Beurteilung des Charakters der öffentlichen Arbeiten ist es also
vollkommen gleichgültig, ob die Arbeiten die Herstellung, Verbesserung
oder Instandhaltung bezwecken, ln Gesetzen und Verordnungen wird jedoch
nur von Herstellung und Erhaltung gesprochen; da die zur Ausführung
dieser Arbeiten Verpflichteten oft verschieden sind, ist es wichtig festzu-
stellen, was unter dem einen und dem anderen Begriffe verstanden wird.
Eine gesetzliche Begriffsbestimmung ist nicht gegeben. Laut Rechtsprechung
des Verwaltungsgerichtshofes1) kann von Herstellung eiuer Anlage überhaupt
nur dort gesprochen werden, wo sie nicht vorhanden und ihrem Zwecke noch
nicht zugeführt ist. Ist dies geschehen, so müssen alle späteren Arbeiten
in den Kähmen der Erhaltung fallen. Es gehören hieher also nicht nur die
gewöhnlich und regelmäßig vorkommenden Konservierungsarbeiten, sondern
auch alle außerordentlichen Herstellungen iz. B. Neuherstellung einer Brücke
im Straßenzuge), welche erforderlich sind um den den Gesetzen oder beson-
deren Verpflichtungen entsprechenden Zustand der Anlage dauernd zu sichern.
— Die Begriffe der Herstellung und Erhaltung decken sich nicht mit den
ordentlichen und außerordentlichen Auslagen des Staats-, Landes- oder
Gemeindevoranschlages; «lenn zu den außerordentlichen Auslagen zählen
nicht nur diese, welche die Ausführung neuer Anlagen bezwecken, sondern
auch den Umbau und die Verbesserung der bestehenden; aus ordeutlicheu
Krediten werden nur die Kosten der Erhaltungsarbeiten und der Verwaltung
der Anlagen bestritten.*)
öffentliches Gut erklärt. Dieser Betrachtungsweise widerspricht nicht das Gesetz veni
19. Mai 1*74 über die Eiseiibuhnbilcher, da das Eigentum und die Widmung für den
öffentlichen Dienst nebeneinander bestehen können.
:) Erkenntnis dös Verwaltungsgericktshofcs vom 20. Mai 1*H7, Hud winski Nr. 3553.
*J Ital. codinc dei lavori pubblici Art. 320.
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Da» Recht doi affentUchcn Arbeiten.
151
Demnach sind in Österreich als öffentliche Arbeiten jene zu betrachten,
welche vom Staate, von Selbst» erwaltungskörpern, Zweckverbänden oder
vom beliebenen Unternehmer auf Grund einer öffenlliciirechtliehen Ver-
pflichtung zur Herstellung, Änderung und Instandhaltung einer unbewegli-
chen Anlage für die gemeinnützigen Zwecke unternommen werden. Diese
Begriffsbestimmung unterscheidet sich wesentlich vom Begriffe der öffentli-
chen Arbeiten in Deutschland, Frankreich uud Italien. Die angeführten Merk-
male treffen zu beim Wegebau, bei Eröffnung und Erweiterung der Gassen
und Plätze, beim Bau der Eisenbahnen, Telegraphen und Telephone, der
Kanäle, der Häfen und Festungswerke, bei der Kegulierung und Schiffbar-
machung der fließenden Gewässer, bei der Abwehr der Binnengewässer und des
Meeres, bei der Entwässerung großer Sümpfe, Verbauung der Gebirgsbäche,
bei der Kanalisation, Wasserleitungen und alleu Assanierungsarbeiten in
Städten. In Gesetzen und Verordnungen, welche für einzelne hier aufgezählte
Arbeiten erlassen wurden, siud die Vorschriften zu suchen, welche das
Gebiet der öffentlichen Arbeiten in Österreich beherrschen.
Viele Grundsätze über öffentliche Arbeiten finden Anwendung:
<i> beim Bergbaue,
b ) bei der Wasserabwehr uud Benützung für Privatzwecke, und
c) bei der Zusammenlegung der Grundstücke.
Es findet seine Kechtfertigung darin. d..ti auch der öffentliche Nutzen
befördert wird, weun die Bergwerke abgebaut, die nützlichen Wasserkräfte
ausgebeutet und die schädlichen Wirkungen entfernt suwie auch wenn die
Bewirtschaftung der Grundstücke erleichtert wird. Der unmittelbare Zweck
dieser Arbeiten bleibt jedoch immer der Nutzen einer Privatwirtschaft uud
die Arbeiten werden somit nach den Grundsätzen des Privatrechtes beurteilt.
II. Der Unternehmer.
Als Unternehmer öffentlicher Arbeiten gilt derjenige, welcher die Aus-
führung derselben auf Grund der öffentlichen Berechtigung im eigenen Namen
besorgt. Sowohl im täglichen Leben als auch in der Gesetzessprache wird
auch derjenige ein Unternehmer der öffentlichen Arbeiten genannt, welcher
die Ausführung derselben von der Verwaltung vertragsmäßig übernommen
hat; er verrichtet sie jeduch im Namen der Verwaltung und auf Grund
einer privatrecbtlichen Verpflichtung. Die diesbezüglichen Verhältnisse werden
im V. Abschnitte behandelt; hier kommt nur die rechtliche Stellung der
unternehmenden Verwaltung zur Besprechung.
I. Verhältnis des Unternehmers zum Gegenstand der Arbeiten.
.4. Der größte Unternehmer der öffentlichen Arbeiten ist der Stuut.
Die oberste Leitung und Beaufsichtigung aller Arbeiten, welche vom Staate
ausgefflhrt werden, ist nicht in den Händen einer Behörde vereinigt; sie
wird vielmehr von mehreren Staatsbehörden und verschiedenen Ministe; ien
verrichtet.
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IÜ2
Bresiewiez,
1. Das Ministerium des Innern besorgt die Verwaltung des öffentlichen
Bauwesens mit Ausnahme der dem Dienstbereiche einer anderen Zentral-
behörde ausdrücklich zugewiesenen Bausachen. Insbesondere gehört zu seinem
Wirkungskreise: *)
a) die Leitung, Pflege und Überwachung der lamd- und Wasserstraßen
überhaupt;
lij die unmittelbare Verwaltung der aus dem Ärarialstralien- und Wasser*
baufonds dotierten Baulichkeiten und Anschaflungen.
Als Organe des öffentlichen Bauwesens in den Ländern und Bezirken
fungieren die politischen Landes- und Bezirksbehörden. Dem Ministerium
des Innern und seinen Unterbehörden werden Baukundige zugeteilt, welche
als Mitglieder derselben die ihnen zugewiesenen technischen Geschäfte zu
besorgen haben. Zu diesem Zwecke sind beim Ministerium drei technische
Departements (für Straßen- und W'asserbau, für Hochbau und für technisch-
ökonomische Geschäfte aller Baulacher , bei den Statthaltercien je zwei
solche Departements bestellt; mehrere Bezirkshauptmannsehaften werden
zu einem Baubezirk vereint, technische Kräfte aus Baubeamten, Unterbeamten
und Dienern zugeteilt.
2. Dem Kisenbahnministerium sind zugewiesen : ’j
a) die staatliche Aufsicht über alle Eiseubahnbauten. und
h) die oberste Leitung des Staatseisenbahubaues, der Erhaltung und des
Betriebs.
Diesem sind die Staatsbahndirektionen, Eiseubaliubauleitungen und Bahn-
crhaltungsektioneu untergeordnet. Zur Besorgung der großen Buhnbaulen*)
wurde im Ministerium eine eigene Geschäftsabteilung ,k. k. Eisenbahn-
baudirektion* gebildet.
3. ln die Kompetenz des Handelsministeriums fallen:
a) die Telegraphen- und Fernsprechleitungen. Zur Verwaltung des betref-
fenden Dienstes bestehen in einzelnen Ländern die Post- und Telegra-
pheudirektioneu,4 1 denen für die Agenden des Baues und der Erhaltung
der Anlagen und Leitungen technische Abteilungen beigegeben sind;
h) die leitende Fürsorge für Herstellung, Verbesserung und Instandhaltung
aller Anstalten, welche als Schutz- und Förderuugsmittel des See-
schiffahrtsbetricbes dienen. Als untergeordnete Organe5; fungieren die
Seebehörde in Triest, die Hafen- und Seesanitätskapitanate, Seesanitäts-
depututionen und -agentien;
r) alle Angelegenheiten, welche sich auf die Feststellung und Ausführung
der Entwürfe der großen Wasserstraßen beziehen.* Zu diesem Zwecke
■) Verordnung des Staatsrainisteriums vom 8. Dezember 18ÖU, K.-G.-Bl. Nr. Ztib.
S) $5 1 bis 3 Jes Organisationsstatutes vom 19. Jauner 1896. K.-G.-Bl. Nr. 16.
’j Verordnung dee Eisenbahnmimatcriums vom 6. Oktober 1901, K.-G.-Bl. Nr. 167.
4 1 Erlali des Handelsministeriums vom 16. Dezember 1883 (Post- und Tel. -V. -Bl.
8. 783), 1 und 74.
*) Kundmachung des Handelsministeriums vom 3. Juni 1871, K.-G.-Bl. Nr. 46.
*) § 13 des Gesetzes vom 11 .Tun; 1901, K.-G.-Bl. Nr. 66.
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Da« Recht der öffentlichen Arbeiten.
153
wurde im Handelsministerium eine besondere Geschäftsabteilung „k. k.
Direktion fflr den Hau der Wasserstraßen* errichtet. Behufs Durchführung
der Bauten werden je nach Bedarf eigene Bauleitungen aufgestellt.')
4. Der Wirkungskreis des Ackerbauministeriums umfaßt die oberste
Leitung der Angelegenheiten der Landeskultur;*) öffentliche Arbeiten kommen
liier nur bei Wasserabwehr, *) bei Verbesserung, Entsumpfung und Bewässerung
des Bodens vor. Dieses Ministerium entfaltet eine sehr rege Tätigkeit seit
Veröffentlichung der Gesetze,4) betreffend die Förderung der Landeskultur
auf dem Gebiete des Wasserbaues und die Vorkehrungen zur unschädlichen
Ableitung von Gebirgswässern.
Dag Ackerbauministerium bedient sich in den Angelegenheiten der
Landeskultur der Landesstellen und Bezirkshnuptmannschafteu als Mittel-
und Unterbehörden. Außerdem bestehen besondere Behörden. Auf Grund
des Gesetzes, betreffend Vorkehrungen zur unschädlichen Ableitung von
Gebirgswässern wurde eine ,k. k. forsttecbnische Abteilung för Wildbach-
verbauung* aus zwei5) und später aus fünf“) Sektionen gebildet. Zur Durch-
führung der Aufforstungsarbeiten im Karstgebiete und im Gebiete der oberen
Beczwa wurden im Wege der Landesgesetzgebung 7) besondere Aufforstungs-
kommissionen ins Leben gerufen.
5. Vom Kriegsministerium ressortieren die Bauangelegenheiten der
festen Plätze und der Kriegsliäfen. Der Baudienst für die fortiflkatorischen
und nicht fortifikatorischen Baulichkeiten und Liegenschaften wird getrennt
betrieben ; zur Ausübung der ersteren sind die Geniedirektionen und die fall-
weise aufzustellenden Befestigungsbaudirektionen berufen8’ sowie das Marine-
land- und WasBerbauamt in Pola.
Schon aus dieser Übersicht läßt sich entnehmen, welche Mannigfaltigkeit
von Arbeiten vom Staate verrichtet werden. Es ist auch ganz natürlich, daß der
Staat als der oberste Verwalter in allen Verwaltungszweigen wirkend auftritt.“)
*, Verordnung des Handelsministeriums vom 11. Oktober 1901, U.-G.-Bl. Nr. 163.
*) Verordnung vom 29. Jänner 1868, R -G.-Bl. Nr. 12.
3j Landeawaaserrechtsgesctze SS 72 krain.. § 8 7 ateiermärk., $ 88 bukow., <S 90
niederOsterr., § 93 istrian.. § 95 bohm., $ 94 sonstige.
*) Gesetze vom 30. Juni 1884, R.-G.-Bi. Nr. 110 und 117.
l) Erlall des k. k. Ackerbauministera vom 5. Juni 1884. (Gesetze und Verord-
nungen aus dem Dienstbereiche des Ackerbauministeriums, Jahrg. 1884. 8, 24.)
®) Dienstinstruktiou vom 2. September 1888, abgeändert mit Erlali vom 8. Jänner
1895. (Gesetze und Verordnungen aus dem Dienstbereiche des Ackerbauministeriums,
Jahrg. 1888, S.t&4, Jahrg. 1895, S. 129.)
*) Sieh Mayrhofers Handbuch, I., S. 645, wo die betreffenden Landesgesetze
aufgezählt aind, und Gesetz vom 12. Oktober 1896, L.-G.-Bl. für Mähren Nr. 52 ex 1897.
*) Bandienatvorsehriften für das k. u. k. Heer, 1. Teil, § 1.
*) Im Auslände bestehen meistenteils Ministerien der Öffentlichen Arbeiten, ln
Frankreich wirkt als Organ des letzteren die Administration .des pouts et chaussdes“,
iu Italien die ZivilgeniebehOrdcn, welche alle Öffentlichen Staatsarheiten mit Ausnahme
der Arbeiten des Heer- und Marinewesens besorgen. Diese letztere Ausnahme besteht
auch in Deutschland, wo die Baubehörden (wie in Österreich) keine Selbständigkeit
besitzen, sondern den Behörden der allgemeinen Landesvcrwaltung untergeordnet sind.
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154
Bresiewici.
Ti. Als Landesangelegenheiten wurden erklärt die öffentlichen Bauten,
welche aus Landesmitteln bestritten werden.') Die Kronlünder haben bis in
die neueste Zeit hinein nur eine begrenzte Wirksamkeit auf dem Gebiete
der öffentlichen Arbeiten entfaltet;*) erst seit der Veröffentlichung der
Meliorationsgesetze und des Lokalbahngesetzes ist diese Tätigkeit im Auf-
schwung begriffen, da die Länder selbst gewisse wirtschaftliche Aufgaben
übernehmen.
1. Zn den obligatorischen Aufgaben zählt die Erhaltung der Landes-
strallen; eine Verpflichtung zur Neuanlage solcher Straßen besteht nicht;’)
die Landesausschüsse haben jedoch auf dem Gebiete des Wegebaues erheb-
liche Leistungen aufzuweisen.
2. Die Länder verwalten unmittelbar die Unternehmungen zur Hebung
der Landeskultur, wenn sie durch Landesgesetze als aus Landesmitteln
auszuführende1) oder doch wenigstens zu unterstützende Unternehmen erklärt
wurden. Man kann sie in drei Kategorien zusammenstellen :
a) die Regulierung größerer Ströme und Flüsse, bei welchen außer dem
Beitrage des Meliorationsfonds mit Rücksicht auf die Interessen der
Schiffahrt der staatliche Baufonds beteiligt ist;
h) eigentliche Meliorationen i wie Regulierung kleinerer Bäche, Eindämmung
der Flüsse und Entsumpfungen der Grundstücke), deren Kosten vom
Meliorationsfonda, vom Lande und von Interessenten bestritten werden;
c) die Verbauung der Wildbüche und Aufforstung der- Abhänge im
Gebirge, deren Kosten vom Meliorationsfonds und vom Lande zur
Hälfte gedeckt werden.
3. In der Mehrzahl der Kronländer wurde im Gesetzgebnngswege 5)
die Mitwirkung des Landes bei Förderung des Lokalbahnwesens geregelt.
Der Landesausschuß beziehungsweise das Landesbureau für Eisenbahnen
prüft die vorgelegten Entwürfe und führt alle Verhandlungen, welche die
Sicherstellung der für das Landesinteresse bedeutenden Lokalbahnen bezwecken.
Das Land kann auch den Kau der Lokalbahnen selbst übernehmen, ohne
Rücksicht darauf, ob die Konzession von Aktiengesellschaften oder vom
Landesausschusse erworben wurde, oder wirkt doch wenigstens bei Vergehung
des Baues und der Ausführung mit. Der Betrieb und die Instandhaltung der
Lokalbahnen wird gewöhnlich der Staatseisenbahnverwaltung anvertraut. Die
Durchführung der Landesbauten, die gesamte technische und ökonomische
Verwaltung gehören in den Wirkungskreis des Landesausschusses.8)
C. Die Bezirke als Selbstverwaltuugskörper bestehen nur in Böhmen,
Galizien und Steiermark ; ihre Tätigkeit auf dem Gebiete öffentlicher Arbeiten
') § 18 der Landesordnungen.
*) In Frankreich haben die Provinzialarbeiten nnr die Departenientswege und
Brücken, größere Vizinalwege, Lokalbahnen und Departcmcntsgebäude zum Gegenstand.
*; Vergl. irn StaatswOrterbuche von Mi schier, II.. S. 589.
') § 4, Z. 1. des Gesetzes vom 80. Juni 1884, R.-G.-BI. Nr. 116.
Diese Landesgesetze sind im Han.lbuche von Mayrhofer, V., 8. 612, zusammen-
gestellt. Sehr eingehend ist das galizische Gesetz vom 17. Juli 1893, R.-G.-Bl. Nr. 42.
bi § 26 der Landesordrtungen.
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Pas Recht der öffentlichen Arbeiten. ]5fi
ist unbedeutend, weil sie keine selbständige und ergiebige Einnahmequellen
besitzen.
1. Die wichtigste pflichtschuldige Aufgabe des Bezirkes bezieht sich
auf den Bau und die Erhaltung der Bezirksstraßen : sie wurde den Bezirken
durch Straßengesetze ') in einzelnen Ländern auferlegt, ln jenen Kronländern,
in welchen die Bezirksvertretungen nicht eingeführt wurden, erfüllen dieselbe
Aufgabe die Straßenkonkurrenzverbände.
2. Andere gemeinwirtschaftliche Unternehmungen können infolge eines
von der Bezirksvertretung gefaßten Beschlusses errichtet werden, wenn ihre
Kosten ans Bezirksmitteln bestritten werden und wenn sie die gemeinsamen
Interessen des Bezirkes und seiner Angehörigen betreffen.*) Dahin gehören
insbesondere die Arbeiten auf dem Gebiete der Landeskultur, wie Wasser-
schutzanlagen. Regulierung der Bäche u. s. w.
Die vom Bezirke zu verrichtenden Arbeiten werden vom Bezirksaus-
schüsse verwaltet und vollzogen.
D. Öffentliche Arbeiten, welche von Gemeinden verrichtet werden
können, weisen nach den Staatsarbeiten die größte Mannigfaltigkeit auf.
1. Zu Angelegenheiten des selbständigen Wirkungskreises der Gemeinde
gehört die Sorge für die Erhaltung der Gemeindestraßen, Wege, Plätze.
Brücken sowie für die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs. Besondere
Wichtigkeit erlangen diese Arbeiten in Städten,*) wenn im Interesse des
Verkehrs, der Feuersicherheit oder der Assanierung die Eröffnung neuer
Straßen und Gassen notwendig wird oder wenn es sich um Erweiterung
und Regulierung bestehender Gassen handelt. Laut Vorschrift der Straßen-
gesetze ist die Ortsgemeinde Konkurrenz verpflichtet, notwendige Gemeinde-
wege innerhalb ihres Gebietes herzustellen und zu erhalten, und kann zur
Erhaltung gezwungen werden.4)
2. Zur Herstellung der Hauptkanäle in volksreichen Ortschaften sind
die Gemeinden laut Bauordnungen verpflichtet, da die Gesundheitspolizei
und somit auch die Veranlassung der die öffentliche Gesundheitspflege
bedingenden Einrichtungen naeli der Gemeindeordnung zu dem Pflichtenkreise
der Gemeinde gehört. Wenn der Gemeindeausschuß es unterläßt oder ver-
weigert, sind die politischen Behörden nicht nur berechtigt, sondern auch
verpflichtet, die Gemeinde tut Herstellung der Hauptkanäle zu verhalten
und auf ihre Gefahr und Kosten Abhilfe zu treffen.'’) In neueren Zeiten
ergehen Landesgesetze für einzelne Städte, s( welche die Eigentümer der
’) Mayrhofers Handbuch. V., S. 545 ff.
') BezirksTertretungsgeselze für Rühmen §§ 50 and 51, für Galizien 20 and 21,
für Steiermark §§ 4* and 49.
J) Mayrhofer» Handbuch. III., S. 948 ff.
4) Erkenntnis de» Yerwaltungsgeriditshofes vom 16. Juni 1880, Budwinski
Nr. 796, nnd vom 31. Marz 1882, Budwinski Nr. 1856.
5 ) Erkenntnis des Verwaltungsgerichtahofes vom 12. Dezember 1877. Bndwiäeki, I.,
Nr. 175.
6> Znsammengestellt im Staatswürterbucli von Misrhler, II.. S 1136.
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156
Bresiewicx.
Häuser zur Verbindung ihrer Kealitäten mit dem öffentlichen Kanäle und
Entrichtung einer Taxe für Gemeindezwecke verpflichten.
3. Die Wasserversorgung ist nach Maßgabe des Gemeindegesetzes
eine Angelegenheit der Gemeinden und Ortschaften, wo an dem zum
Trinken, Kochen, Waschen, Tränken und zu anderen wirtschaftlichen Zwecken
oder zum Feuerlöschen nötigen Wasser ein dauernder Mangel herrscht und
die Versorgung damit die Kräfte der einzelnen Gemeindemitglieder über-
steigt.1) Ältere Erkenntnisse des Vorwaltungsgerichtshofes*) stehen auf dem
Standpunkte, daß obige Bestimmung der Wasserrechtsgesetze eine gesetz-
liche Verpflichtung der Gemeinden zur Wasserversorgung begründe. In
neuerer Zeit hat sich der Verwaltungsgerichtshof dahin ausgesprochen,®)
daß die fragliche Bestimmung nur die Voraussetzungen der Zulässigkeit
der Enteignung zu Zwecken der kommunalen Wasserversorgung aufstelle;
weder aus den Vorschriften des Wasserrechtsgesetzes noch des Sanitäts-
gesetzes, noch der Gemeindeordnung kann eine bindende Verpflichtung der
Gemeinde zur Herstellung von Wasserversorgungsanstalten für wasserarme
Gebietsteile abgeleitet werden. Wenn auch die Wasserversorgung die
Interessen der Gemeindemitglieder wesentlich berührt, gehört sie dennoch
zum selbständigen Wirkungskreise der Gemeinde, in welchem sie nach freier
Selbstbestimmung verfügen kann. Die gesetzliche Pflicht der Gemeinde zur
Wasserversorgung besteht nur dort, wo sie von besonderen gesetzlichen
Vorschriften festgesetzt wurde.4)
In neueren Zeiten wurden viele Landesgesetze, betreffend die städti-
schen Wasserleitungen, erlassen;®) ihren Inhalt bildet die Verpflichtung der
Hauseigentümer zur Verbindung der Häuser mit der städtischen Wasser-
leitung und Berechtigung der Gemeinde zur Einhebung eines Wasserzinses.
4. Die Assanierungsarbeiten umfassen jene Maßnahmen, welche die
Reinigung und Reinhaltung des Bodens und des Wassers sowie die Luft-
heschafl'ung betreffen und die Herbeiführung besserer Gesundheitsverhältnisse
bezwecken. Sie wird durch die oben erwähnten Arbeiten (Straßenregulierung,
Kanalisation, Wasserversorgung) bewirkt; Assanierungsarbeiten werden sie
dann genannt, wenn sie alle im größeren Umfange auf einmal durchgeführt
werden. Als Beispiel seien die großen Assanierungsarbeiten der Stadt Prag
erwähnt.6) Hieher gehört auch die Durchführung örtlicher Vorkehrungen
zur Verhütung ansteckender Krankheiten und ihrer Weiterverbreitung, ’) wenn
sic die Herstellung gewisser Bauten oder deren Änderung bedingen.
5. Nach Vorschrift der Gemeindeordnung ist die Gemeinde berechtigt,
alle Arbeiten und Anlagen durchzuführen, welche zwar nicht ausdrücklich
’) § 35 der Wasserreclitagcsetze der meisten Länder; Keichswasserrechtsgcsetz § 16.
Mayrhofer, V„ S. 1287 ff.
*) Erkenntnis vom 27. Februar 1897, ßudwiüski Nr. 10.447.
§ 19 des istrian. Gesetzes vom 14. November 1864, L.-G.-B1. Nr. 18; § 14 des
dalmat. Gesetzes vom 5. August 1892, L.-G.-BJ. Nr. 19.
J) Z. B. Gesetz vom 25. November 1900, L.-G.-Bl. für Galizien Nr. 16 ei 1901.
(l) Gesetz vom 11. Februar 1893. B.-G.-Bl. Nr. 22.
7) Gesetz vom 30. April 1870. R.-G.-Bl. Nr. 6s, $ 4, Ijt. «).
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Das F.'-rht der öffentlichen Arbeiten.
157
ihrem Wirkungskreise zugewiesen sind, durch welche jedoch die Interessen
der Gemeinde gewahrt, die Lösung von Aufgaben ihres Wirkungskreises
gefördert und för die Sicherheit der Person und des Eigentums gesorgt
werden soll. Es gehört liieher z. B. die Regulierung eines in der Gemeinde
fließenden Wassers, welches den Dferbesitzern Schaden verursacht. Obwohl
die Verpflichtung zur Tragung des obigen Aufwandes durch Wassergesetze
den Interessenten auferlegt wird, ist die Übernahme der Arbeiten nicht
außerhalb des Wirkungskreises der Gemeinde gelegen, wenn nur obige
Bedingungen zutreffen.1)
Die unmittelbare Ausführung und Verwaltung der Gemeindearbeiten
gehört in den Wirkungskreis des Gemeindevorstandes.
E. Die Wassergenossenschaften, welche durch freiwilligen Zusammen-
tritt der Grundbesitzer oder auf Grund von Mehrheitsbeschlüssen zwangs-
weise gebildet werden, sind Organe der betreffenden Grundbesitzer, deren
Geschäfte sie verwalten. Öffentliche Verwaltungsorgane werden sie dann
wenn sie durch ein Gesetz gebildet oder als solche anerkannt und dem
öffentlichen Verwaltungswesen eingereiht worden. Die betreffenden Unter-
nehmungen haben zum Zwecke:
1. den Schutz des Grundeigentums gegen Wasserverheerungen oder
die Erhöhung der Ertragsfähigkeit der Grundstücke durch Entwässerung
oder Bewässerung, deren Ausführung im öffentlichen Interesse liegt;*)
2. die unschädliche Ableitung von Gebirgswässern.*)
Aus dem Inhalte dieser besonderen Gesetze muß entnommen werden,
ob und inwieweit auf derlei Verbände die Bestimmungen der Landeswasser-
rechtsgesetze über Genossenschaften Anwendung zu finden haben. Es ist
zwar möglich, daß eine solche Genossenschaft im Gesetzeswege gebildet
und ihr nur allein die Durchführung der Arbeiten anvertraut wird : praktisch
wird jedoch immer die Mitwirkung des Staates und des Landes eingreifen,
durch welche besondere, im nächsten Abschnitte zu erörternde Verhältnisse
geschaffen werden.
F. Die Ausführung öffentlicher Arbeiten durch den beliehenen Unter-
nehmer weist im Verhältnisse desselben zur Staatsverwaltung und in der
Aufbringung der Geldmittel wesentliche Unterschiede auf; deswegen ist es
angezeigt, dieses Verhältnis in einem besonderen Abschnitte (VI) zu behandeln.
Als Vorbild und Hauptgegenstand dieses Verhältnisses erscheint die
Eisenbahnkonzession; andere Konzessionen haben nur eine untergeordnete
Bedeutung.
Aus dieser Darstellung erhellt, daß nicht alle Arbeiten von jedem
beliebigen Unternehmer verrichtet werden können. Der Staat, die Länder,
die Gemeinden, die Konzessionäre u. s. w. können sich nur in dem ihnen
gesetzlich zugewiesenen Wirkungskreise bewegen. Der Unternehmer muß
*) Erkenntnis iles Verwaltungsgerichtshofei vom 30. März 1887, Budwinski
Nr. 8464. Für Dalmatien: Gesetz vom 25. Juli 1885, L.-G.-B1, Nr. 22.
*) § 1 des Gesetzes vom 30. Juni 1884, R.-G.-B1. Nr. 116.
*)5 9 des Gesetzes vom 80. Juni 1884, R.-G.-B1. Nr. 117.
Zeiuchrift für Volkawlrucbaft, 8ogi«Jp»1ltik and Verwaltung. XII. Bao<I. 12
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158
Breni**wicT.
zur Ausführung der Arbeit die öffenUichrecbtUche Befugnis besitzen; ohne
diese Berechtigung kann er nicht ein Stück der öffentlichen Verwaltung
führen, und die Arbeiten außerhalb dieses Wirkungskreises sind keine öffent-
liche Arbeiten. Diese Berechtigung hat ihre Quelle in gesetzlichen Vor-
schriften ; sie ist natürlicherweise am umfangreichsten heim Staate : hei
anderen Verwaltungskörpern wird sie sachlich und örtlich viel enger.
Einige dieser Arbeiten sind dem Staate ausschlielilich vorbehalteif, wie
der Bau der Telegraphen- und Fernsprechleitungen1) sowie der Festungen.
Auf sonstigen Gebieten wirkt der Staat mit anderen Unternehmern iz. B.
heim Eisenhahnbaue mit Landern und anderen beliehenen Unternehmern)
zusammen.
II. Pflichtgemäße und freiwillige Arbeiten.
Um öffentliche Arbeiten in Angriff' zu nehmen, muß beim Unternehmer
uußer der Berechtigung noch der Wille hinzutreten. Der Privatunternehmer
kann sich immer frei entschließen, ob er eine Arbeit ausführen will; er
kann im Zuge der Arbeit die weitere Ausführung aufgehen, weil der
Beschluß und dessen Betätigung in einer Person vereinigt erscheinen.
Anders verhält es sich beim Unternehmer öffentlicher Arbeiten, wo diese
zwei Handlungen getrennt sind. Die Beschlußorgane der Verwaltungskörper
bestimmen, oh gewisse öffentliche Arbeiten vorgenommen werden sollen, und
bewilligen die nötigen Mittel. Die Verwaltungsorgane hingegen besorgen
die Durchführung sowie die gesamte technische und ökonomische Ver-
waltung öffentlicher Arbeiten. Sie sind an die Bestimmungen der Beschluß-
Organe gebunden. In welcher Form der Ausfülirungsheschluß zur Erscheinung
kommt und inwieweit er an bestehende Gesetze und erlassene Verwaltungs-
anordnungen gebunden ist, hängt von der inneren Einrichtung des betreffenden
Verwaltungskörpers ab.
.1. Die Durchführung öffentlicher Arbeiten auf Staatskosten setzt
immer ein die Regierung hiezu ermächtigendes Gesetz voraus.*) Deswegen
sind alle öffentlichen Arbeiten des Staates obligatorisch, d. h. durch das
Gesetz angeordnet. Diese gesetzliche Ermächtigung wird entweder für ganze
Gattungen von Arbeiten (z. B. Wegebau. Flußregulierungen) oder für ein-
zelne Arbeiten erlassen. Wenn in einem gewissen Zweige der Verwaltung
genaue Vorschriften über die Ausführung öffentlicher Bauten bestehen, ist
zur Vornahme derselben nur die Einstellung der bewilligten Ausgabe in
den Staatsvoranschlag ausreichend: das gilt insbesondere für Straßen- und
Brflckenbauten. Wasserregulierungs- und Meliorationsbauten, Befestigungs-
und Hafenbauten. Telegraphen- und Fernsprechleitungen, schließlich für
alle Arbeiten, welche nur die gewöhnliche Instandhaltung5» der bestehenden
*) Hofkanzleidekret vom 25. Jänner 1847, P. G.-S. 9, und Gesetz vom 29. Dezember
1892, R -G.-Bl. Nr. 234.
*) Ähnlich auch in Frankreich. (Gesetz vom 27. Jnli 1870.)
*) Französische Ordonnanz vom 10. Mai 1829. Art. 3 nnd 4.
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Das Recht der Öffentlichen Arbeiten.
159
öffentlichen Hauten betreffen und aus der Jahresbandotation für den laufenden
Verwaltungsdienst bestritten werden. Wenn es sich hingegen :
a) um größere Herstellungen handelt, welche nicht in den gewöhnlichen
Einkünften des Staates ihre Bedeckung finden, also den Kredit in
Anspruch nehmen ;
b) um Festsetzung eines Bau- und Investitionsprogramms für längere Zeit;
r) um Bauten, für welche keine allgemeine Vorschriften bestehen, ist
ein Spezialgesetz erforderlich ;
(1) dasselbe gilt vom Baue einer neuen Eisenbahn auf Staatskosten.
Die diesbezüglichen besonderen Gesetze enthalten die Bezeichnung
der Arbeiten und die nähere Spezialisierung der Ausführungsart, weichen
aber bezüglich des sonstigen Inhalts wesentlich voneinander ab. In der
Mehrheit der Fälle wird der Höchstbetrag der Errichtungskosten angegeben,
dann die Endfrist der Vollendung der ganzen Anlage oder der einzelnen
Teile; häufig gesellt sich hiezu die Bewilligung des erforderlichen Kredits
für die Vorarbeiten und die Bedeckungsweige desselben, endlich die Bestim-
mungen, betreffend die eventuelle Betriebsführung. ’)
II. Bei Selbstverwaltungskörpern ist das Verhältnis des Beschlußwillens
teilweise in anderer Art und Weise geregelt.
1. Es gibt oft Vorschriften, welche den betreffenden Selbstverwaltungs-
körper zur Vornahme gewisser Arbeiten verpflichten. Zn diesen Arbeiten
zählen die Landes-, Bezirks- und Konkurrenzstraßen, Gemeindewege und
-kanäle. Wird die Arbeit nicht verrichtet, so tritt die Einstellung der not-
wendigen Auslagen im Voranschläge von Amts wegen ein oder die zwangs-
weise Durchführung auf Kosten des Verpflichteten.
2. Die Verrichtung anderer Arbeiten ist dem freien Entschlüsse des
Selbstverwaltungskörpers überlassen. Sie bilden ein weites Gebiet, auf welchem
die Tätigkeit der Selbstverwaltung die größten Dienste der Öffentlichkeit
bieten kann. Der Beschluß eines Verwaltungskörpers, betreffend die Schaffung
einer öffentlichen Anlage, bindet ihn selbst als eine freiwillige Übernahme
der Last.
Bezüglich der Voraussetzungen für die Gültigkeit des Ausführungs-
beschlusses läßt sich auf La u d e s a r b e i t e n alles anwendeu. was über
die Staatsarbeiten oben gesagt wurde. Wenn ein Gebiet der öffentlichen
Arbeiten durch allgemeine Gesetze beherrscht wird (wie der Wege- und
Eisenbahnbau), so ist zu einzelnen Arbeiten auf diesem Gebiete nur die
Bewilligung der Mittel im L&ndesroranschlage erforderlich; sonst muß ein
Gesetz erlassen werden. Diese besonderen Gesetze kommen gewöhnlich nur
auf dem Gebiete der Wasserbauten vor; diese Bauten werden jedoch vom
Lande allein ohne Beteiligung anderer Faktoren nicht verrichtet ; das besondere
Verhältnis dieser Mitwirkung wird im nächsten Abschnitte behandelt.
In jenen Kronländern, wo Bezirksvertretungen bestehen, beschließt der
Bezirksrat über die Notwendigkeit und die Errichtung neuer Anlagen. Zur
!) Dem ausgezeichneten Aufsätze von Bröf im St&&t*wOrterbueh von Miachler,
1., 8. 340, entnommen.
12*
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IfiO
Bresiewicz
Wirksamkeit der Besclilüsse, durch welche die Zuschläge zu den unmittel-
baren Steuern über 15 Proz. beziehungsweise 20 Proz. erhöht oder größere
Darlehen aufgenommen werden sollen, ist die Genehmigung des Landes-
ausschusses beziehungsweise ein Landesgesetz erforderlich.1) Wenn die
Bezirksvertretung die Krrichtung oder Unterhaltung der nötigen Bezirksstraßen
verweigern sollte, hat die Statthalterei auf Kosten und Gefahr des Bezirkes
die entsprechende Abhilfe zu treffen. In anderen Ländern, wo die Bezirks-
vertretungen nicht bestehen, bleibt die Bestimmung über Anlage neuer
Konkurrenzstraßen oder Auflassung derselben der Landesvertretung (Gesetz
oder Beschluß) Vorbehalten.
Bezüglich der öffentlichen Arbeiten einer Gemeinde beschließt die
Gemeindevertretung über die Herstellung. Abänderung und Auflassung der
Anlagen.8) Die Gemeindevertretung kann ohne weitere Genehmigung die
Inangriffnahme aller Arbeiten beschließen, wenn sie die ordentlichen und
außerordentlichen Einnahmen der Gemeinde nicht Übersteigen.*) Wenn die
notwendigen Auslagen höher sind, wenn sie besondere Einnahmequellen in
Anspruch nehmen oder die Aufnahme eines Darlehens notwendig machen,
muß der Auslagebeschluß der Genehmigung der Aufsichtsbehörde unter
breitet werden.4) Diese Behörde hat also auf die Entwürfe und Ausführungsart
nur einen mittelbaren Einfluß. In Frankreich ist dieser Einfluß unmittelbar,
da in diesem Falle die Entwürfe, die Voranschläge und alle Urkunden vom
Präfekten bestätigt werden müssen.5)
Die öffentlichen Arbeiten der Gemeinde werden vom Gemeindevorstande,
und zwar im selbständigen Wirkungskreise ausgefflhrt.
Daraus erhellt, daß alle öffentlichen Arbeiten auf Grund einer öffent-
lichen Verpflichtung ausgeführt werden; die unternehmende Verwaltung hat
uicht nur das liecht, sondern auch die Pflicht zur Ausführung der öffentlichen
Arbeiten. Diese Verpflichtung kann ihre formelle Quelle entweder im Gesetze
oder in einem bindenden Beschlüsse eines Selbstverwaltungskörpers haben.
III. Rechte und Obliegenheiten des Unternehmers.
Der Unternehmer ist der Träger der betreffenden öffentlichen Arbeit.
A. Er ist verpflichtet, die Arbeiten auf seine Kosten durchzuführen,
wenn nicht etwas anderes im einzelnen Falle bestimmt wurde. Zahlreiche
Ausnahmen von dieser Kegel werden im folgenden Abschnitte eingehend
behandelt. Die Mittel zur Ausführung der öffentlichen Arbeiten werden auf
verschiedene Art aufgebracht;
*) Benirkavertretongsgesetze für Böhmen §$ 54 nnd 55, für Galizien §§ 23 onJ 24,
für Steiermark §§ 53 nnd 54. in dem durch nachträgliche Gesetze abgeänderten Wortlaute.
*) § 80 beziehungsweise 31 der Geineindegesetze.
3t Französisches Gemeindegesetz Art. 139 und 141.
4I Sieh die betreffenden, im Wortlaute sehr voneinander abweichenden Gemeinde-
gesetze und Novellen im Handbuche von Mayrhofer, II., S. 016 bis 671, 682 bis 699.
s) Französisches Gemeindegesetz Art. 1 14 nnd 115 und Ordonnanz vom 14. November
1887. Art. 10.
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Dm Recht der Öffentlichen Arbeiten. |til
1. Die notwendigen Kosten können aus den laufenden Einkünften des
Unternehmers bestritten werden. Bei Bauten, welche mehrere Jahre dauern,
werden auch die Kosten auf mehrere Jahre verteilt und alljährlich in den
Voranschlag eingestellt Dieser Fall bildet die Kegel bei den Erhaltungs-
arbeiten oder bei kleineren Neubauten, welche ihre Bedeckung in den
ordentlichen Einkünften des Unternehmers finden.
2. Die Kosten der öffentlichen Arbeit werden im Wege einer Kredit-
operation gesammelt. Das Anlehen wird entweder vom Unternehmer selbst
aufgenommen oder dessen Aufnahme durch eiu Kreditinstitut mittels Über-
weisung der Verzinsuugs- und Tilguugsannuitäten an dieses letztere durch-
geführt. Der Gebrauch solcher Anlagen kann entweder unentgeltlich den
Bürgern überlassen oder mit einer Abgabe belegt werden. Diese Abgabe
dient zur Aufbringung aller Herstellungs- und Ei haltungskosten oder nur
zur Deckung der letzteren. So sind bei Staatsbahneu, Telegraphen- uud
Fernsprecbanstalten die Beförderungsabgaben, bei SchiffahrtskauiUen die
Kanalgebübren eingeführt. So werden auch zur Deckung der Kosten der
Herstellung, Erhaltung und Verwaltung der städtischen Kanüle und Wasser-
leitungen Kanaleinmündungsgebühren und Wasserzinse eingehoben. Zur
Instandhaltung der lindes-, Bezirks- und Gemeindewege dienen die ilaut-
gebübreu. Die Erhebung der Abgabeu kann uur auf Grund einer Ermächtigung
erfolgen, welche in allgemeinen oder in besonderen Gesetzen enthalten ist.
Dem Unternehmer liegen auch die Kosten für die fernere Erhaltung
des Werkes ob.1) Wenn das Eigeutum der Anlagen auf Grund eines Gesetzes
auf jemanden anderen übergeht, übernimmt der neue Eigentümer auch die
Lasten der weiteren Erhaltung.*) Dieser Fall kommt oft bei Übertragung
öffentlicher Staatsstralien an Selbstverwaltungskörper vor.“' ln einzelnen
Fällen kann jedoch die Pflicht zur Erhaltung der Anlagen im Wege eines
Gesetzes oder eines Übereinkommens in anderer Weise geregelt werden.4'
li. Der Unternehmer bestimmt die Art der Ausführung, wenn sie
nicht gesetzlich vorgesebrieben ist. Er kann sie nämlich in eigener Kegie
ausführen oder die Ausführung im Vertragswege vergeben. Er bestellt die
Organe der Bauleitung beziehungsweise auch der Bauführung. besorgt die
Abnahme der Arbeiten und die Verrechnung des Baufonds. Der Unternehmer
übt die Rechte der öffentlichen Verwaltung dritten Personen gegenüber. Er
legt die Entwürfe der Arbeiten vor, nimmt in Anspruch die Grundstücke
und Hechte, welche zu Gunsten des Unternehmens enteignet beziehungs-
weise belastet werden sollen, und betreibt die Krlassuug betreffender Anord-
') Eisenbabnbetriebsorduung § 3; §§ 4b. 44 und 85 der meisten Was.errechfcs-
geeelze; Wildbachverbaunugsgesetz $ 18.
§ 1Ü des Gesetzes vom 4. Jänner 18'J‘J, K..G.-B1. Nr. 5, betreffend die Donau-
regulierung.
») Gesetz rom 21. Mai 1874, R.-G.-Bl. Nr. 78, vom 21. März 1876, K -G.-Bl
Nr. 46; preuüisches Gesetz vom 8. Juli 1875, 4 18, Abc. 2; italienisches Gesetz über
Öffentliche Arbeiten Art. 11 und 88.
4 Wildimcbvcrbauungigcsetz 4 18.
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162
Bresiewict.
nungen seitens der Staatsbehörde. Anderseits übernimmt er auch die l’tlicht
zur Zahlung einer Geldausgleichung für alle durch die Ausführung der
öffentlichen Arbeiten in ihren Hechten betroffenen Personen und die Pflicht
zur Ausführung der Arbeiten im Sinne der darüber bestehenden Vorschriften.
Der Unternehmer erwirbt grundsätzlich das Eigentum der geschaffenen
Anlagen, wenn nicht anders durch ein Spezialgesetz angeordnet wurde, ln
jedem Falle bleibt der öffentliche Charakter der Anlagen und deren Zugäng-
lichkeit für jedermann, der dieselben unter den hiefür vorgeschriebenen
Bedingungen benutzen will, immer aufrecht.1) Der Unternehmer verwaltet
schließlich die fertig gestellte Anlage den allgemeinen oder den für den
einzelnen Fall erlassenen Vorschriften gemäß.
III. Verhältnis der Verwaltung zu Drittem.
Aus der Nachbarschaft der Grundstücke ergeben sich für die Anrainer
verschiedenartige Eigentumsbeschränkungen, welche den wechselseitigen
Bedürfnissen der Grundnachbarn Rechnung tragen, ihr wirtschaftliches
Interesse gegenseitig fördern und in Kollisionstallen in billiger Weise aus-
gleichen.*) Dieses sogenannte Nachbarrecht umfaßt:*)
n) die Beschränkungen der Benutzung des Eigentums durch Verbot
unmittelbarer Eingriffe in das Eigentum des Nachbars und Duldung
der gewöhnlichen Immissionen ;
b) Duldung gewisser Vorkehrungen zu Gunsten des Nachbars oder seiner
Handlungen, wie die Errichtung der Notwege. Verfolgung flüchtiger
Tiere u. s. w. ;
r) Verpflichtung zu wirklichen Leistungen zu Gunsten des Nachbars,
wie Erhaltung verfallender Mauern und Planken, Zurüekleitung des
unverbrauchten Wassors in das ursprüngliche Bett u. s. w.
Das Rechtsverhältnis bleibt vollkommen gleich, wenn auch die Ver-
waltung des Staats-, Landes- oder Gemeindevermögens als Nachbar auftritt.*)
Die daraus entstehenden Ansprüche können in der Regel im Rechtswege
geltend gemacht werden.
Wenn aber diese Verwaltungsverbüude oder andere Personen öffentliche
Arbeiten ausführen, sind die privatrechtlichen Grundsätze des Nachbarrechtes
nicht anwendbar. Die öffentlichen Arbeiten als ein Stück der Verwaltung
bringen die Grundsätze des Verwaltuugsrechtes zur Bestimmung des Ver-
hältnisses der Verwaltung zu dritten Personen mit Deswegen bestehen
besondere Vorschriften sowohl bezüglich der Nachteile als auch der Vor-
teile. welche den Anrainern durch öffentliche Arbeiten entstehen ; sie lassen
sich in folgende Gruppen zusammenfassen : Enteignung, Duldung von Lasten
und Verrichtung von Leistungen, Beschädigungen und Zwangsbeiträge.
') S 12 de* Gesetzes vom 4. Jänner 1899, R.-G.-B1. Nr. 5.
*) Banda: Kigentmnsrecht S, 104, Note S.
*) Stubenrauch: Kommentar 1902, 1.. S. 486 bis 441.
*) § 290 des a. b. G.-B.
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Das Recht ler nft'entliclieu Arbeiten.
163
A. Enteignung.
Die Enteignung ist ein obrigkeitlicher Eingriff in das Eigentum, um
es dem Untertanen ganz oder teilweise aus Gründen des öffentlichen Wohles
zu entziehen. Die meisten Enteignungen finden wohl zu Gunsten eines
öffentlichen Unternehmens statt: diese beiden Begriffe decken sich jedoch
nicht immer.*) Es gibt eine bedeutende Anzahl von Fällen, in welchen die
Enteignung zur Förderung der ökonomisch wichtigen privatwirtschaftlichen
Vorteile gewährt wird, wie für Bergbau-, Bewässerung^- und Wasserleitungs-
zwecke. Anderseits ist die Enteignung nicht ein notwendiges Merkmal der
öffentlichen Arbeiten ; sie können auch ohne Enteignung ausgeführt werden,
wenn die Ausführung auf dem Grund und Boden des Unternehmers erfolgt,
z. B. eine Trambahn auf städtischen Straffen.
Vom rechtlichen Standpunkte wäre es möglich, dali öffentliche Anlagen
auf fremdem Grund und Boden ohne Enteignung ausgefflhrt werden. Wenn
keine begründete Zweifel bestehen, dall der für Errichtung des Zweckes der
Arbeit erforderliche Zustand dauernd nicht erhalten werde, wird zur Ent-
eignung nicht geschritten.1) Den Untertanen wird nur so viel genommen,
als unumgänglich notwendig ist um die Zustandebringuug und den Betrieb
des öffentlichen Unternehmens zu ermöglichen. Sur wenn sich die Rechte des
Untertans der Ausführung einer öffentlichen Arbeit derart eutgegenstellen,
dall die Ausführung ohne Eingriff in diese Rechte unmöglich wird, müssen die
Frivatrechte weichen: denn es handelt sich hier um die öffentliche Verwaltung.
Das Enteignungsrecht umfaßt insbesondere3) das Recht:
1. auf Abtretung von Grundstücken:
2. auf Überlassung von Quellen und Privatgewässern ;
:t. auf Einräunuug von Dienstbarkeiten und anderen dinglichen Rechten
an unbeweglichen Sachen sowie auf Aufhebung derartiger Rechte;
1. auf Duldung der Beschränkungen des Eigentumsrechtes oder auderer
Hechte an einem Grundstücke.
Die Enteignung ist also lediglich gegen das Eigentum an Grundstücken
gerichtet. Der Enteignungsanspruch des Unternehmers richtet sich weiter nur
gegen das privatrechtliche Eigentum ; wenn die Sache dem privatreclitlichen
Verkehre entzogeu ist, wenn sie bereits einem öffentlichen Interesse dient
(z. B. das öffentliche Gut), kann sie nicht zwangsweise einem anderen öffent-
lichen Gebrauch gewidmet werden — die Enteignung wird unmöglich.*)
*) Wie es Otto Mayer (Deutsches Verwaltungsrecht, II., S. 3} definiert. Auch
Grän hat (Enteignungsrecht, S. 3i stellt „die Übertragung in das öffentliche Gut“ als
wesentlich für die Enteignung auf.
*) Wildbachverbaunngpgesetz § 4.
*) EUenbahnkonzessionsgesetz § 9» iit, c)\ Gesetz vom 18. Februar 1878, K.-G.-B1.
Nr. 30, § 2. Reichswasserrechtsgeseti § 15; Wasaerrechtogesetze: § 29 des kraiu.. § 43
steiennftrk , § 44 bukow., § 49 böhm., § 48 sonstiger Gesetze; § 14 des Melioration*-
gesetzes von 1884; § 18 des Gesetzes vom 11. Juni 1901, R.-G.-Bl. Nr. 66.
4) Grünhut: Enteignungsrecht S. 76 ff. Otto Mayer: Deutsches Verwaltuugs-
reeht II. , 8, 23. Die entgegengesetzte Meinung behauptet Praftäk (Das Recht der Ent-
eignung, Prag, 1877, S. 75 ff).
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164
Bresiewicz.
Wenn zum Bau einer öffentlichen Anlage die Mitbenutzung des öffentlichen
Gutes oder eines öffentlichen Werkes notwendig erscheint, so muß ein
Übereinkommen mit dem Verwalter des Gutes geschlossen werden.1) Das
gilt insbesondere für Lokalbahnen*) auf Landes- oder Bezirksstraßen, Tram-
bahnen auf städtischen Gassen und Gasleitungen.
Der Enteignungsausspruch wird ausschließlich von staatlichen Ver-
waltungsbehörden gefällt, ohne Rücksicht darauf, ob der Staat, die Selbst-
verwaltungskörper oder der Konzessionär als Unternehmer auftreten. Die
letzteren haben nur einen Anspruch auf AusQbung des Enteignungsrechtes
durch den Staat’) und können die betreffenden Anträge stellen; selbst
enteignen können sie nicht.*) Die Amtshandlungen bei der Enteignung
umfassen folgende Tätigkeiten :
1. Anerkennung der Zulässigkeit der Enteignung;
2. Bezeichnung der in Anspruch genommenen Grundstücke und Rechte;
8. Verhandlung bezüglich des Gegenstandes und Umfanges der Ent-
eignung ;
4. Fällung der Enteignungserkenntnisse;
5. Feststellung der Geldausgleichung;
6. Vollzug der Enteignung.
Die Zulässigkeit der Enteignung muß immer durch ein Gesetz aus-
gesprochen werden. Sie erfolgt entweder für ein besonders bezeichnetes
Unternehmen oder im allgemeinen für eine Gattung von Unternehmungen.
Im letzteren Falle wird von der Regierung ausgesprochen, daß das beab-
sichtigte Unternehmen allgemein nützlich ist und das Enteignungsrecht in
Anspruch nehmen kann. Die Bezeichnung der zu enteignenden Gegenstände
ist Sache des Unternehmers. Auf Grund der von ihm vorgelegten
Verzeichnisse wird ein Ediktalverfahren eingeleitet und über die Not-
wendigkeit, den Gegenstand und Umfang der Enteignung verhandelt Auf
Grund dieser Verhandlung fällt die Verwaltungsbehörde die Enteignungs-
erkenntnisse.5)
r) Eisenbahnkonzessionigesetz § 10, lit. d).
*) Gesetz vom 31. Dezember 1894, K.-G.-Bl. Nr. 2 ex 1895, Art XIV.
*) W. v. Rohland: Zar Theorie and Praxis des deutschen Enteignungsrecbtes,
Leipzig, 1875, S. 14.
4) v. Rohland bemerkt ($. 12j mit Recht, daü die „Verleihung des Entciguaugs-
rechtes“ an den Unternehmer nie stattfindet, obwohl sie von Gesetzen ausgesprochen wird.
*) Tn Frankreich wird die Erklirung der öffentlichen Nützlichkeit vom Gesetze
oder einem Dekrete ausgesprochen; die zu enteignenden Grundstücke werden vom Prä-
fekten bezeichnet. Die Enteignung kann nur der Gerichtshof ausspreilien, wobei er zu
untersuchen hat, ob die gesetzlichen Formen des Verfahrens eingehalteu wurden. Der
Ausgleichungsbetrag wird von Geschworenen festgestellt; nach Zahlung oder Hinter-
legung des Betrages ist der Antragsteller der Enteignung zur Besitznahme des Grund-
stückes ermächtigt (Gesetz vom 3. Mai 1841). In Italien wird der Enteignungsplan vom
Präfekten bestätigt und die Höbe des Ersatzes über Anordnung des Bezirksgerichtes
von drei Sach verständigen festgestellt; nach Zahlung oder Hinterlegung des bestimmten
Betrages wird die Enteignung vom Präfekten ausgesprochen und der Enteigner zur
Besitzergreifung der Grundstücke ermächtigt (Gesetz vom 25. Juni 1865).
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Daa Recht der öffentlichen Arbeiten.
165
Die Enteignung legt dem Betroffenen eine Lust auf, welche ihm allein
einen Vermögensnachteil verursacht; da jedoch die öffentlichen Lasten im
Staate gleichmäßig verteilt werden sollen, wird dem Betroffenen vom Unter-
nehmer der Wert der entzogenen Sache entrichtet und dadurch eine Aus-
gleichung der Vermögenswirkungen der Enteignung bewirkt.
Das ist die Idee, welche die Zahlung des Wertes der euteigneteu
Sache an den Eigentümer vermittelt. Das Wort .Entschädigung*, welches
in den Gesetzen und in der Wissenschaft') anstatt .Ausgleichung* benutzt
wird, ist zu verwerfen, weil es notwendig den Eindruck hervorruft, als ob
dem Eigentümer durch die Enteignung ein Schaden zugefügt worden wäre.
Die Entziehung des Eigentums und der dinglichen Rechte veranlaßt
wohl einen vermögensrechtlichen Nachteil wie jede Steuerzahlung ; sie ist
aber so wie diese keine eigenmächtige Beschädigung, sondern Auflegung
einer öffentlichen Last.
Die endgültige Ermittlung und Feststellung der Ausgleichungen erfolgt
immer auf gerichtlichem Wege. Da jedoch die Gesetze über öffentliche
Arbeiten aus verschiedenen Epochen stammen, liefern sie ein buntes Bild
verschiedener Systeme.
1. Es kommt vor, daß die Ermittlung der Ausgleichung ausschließlich
auf gerichtlichem Wege erfolgen kann : die maßgebenden Tatumstände
werden nach den Grundsätzen des Verfahrens außer Streitsachen an Ort
und Stelle unter Zuziehung von Sachverständigen erhoben und der Aus-
gleicbungsbetrag vom Gerichte festgestellt. Als Vorbild dient das Gesetz
vom 18. Februar 1878, K.-G.-Bl. Nr. 30, betreffend die Enteignung zum
Zwecke der Herstellung und des Betriebes von Eisenbahnen.*)
2. Bedeutend öfter sind jedoch Fälle, in welchen die Ausgleichuugs-
ansprnche vorläufig im Verwaltungswege festgesetzt werden.*) Jedem, welcher
sich durch die Entscheidung der politischen Behörde über eine Ausgleichungs-
frage nicht für befriedigt hält, stellt es frei, die gerichtliche Ermittlung
der Ausgleichung zu begehren. Diese erfolgt;
a) entweder unter sinngemäßer Anwendung der für die Eisenbahnen
geltenden Vorschriften;1)
') Otto Mayor (Deutsches Verwaltungsrecht, II.. 8. 13 ff., 345 ff.) erfaßt das
Wesen der Geldausgleichang ganz richtig, macht aber die Darstellung unklar durch
Anwendung der dem Privatrechte entlehnten Ausdrücke.
*) Gesetz über die Regulierung des Assanierungsrayons von Prag rom 11. Februar
1893, R.-G.-B1. Nr. 22. g§ 23 ff.; Geseta, betreffend die Donaureguliernng, vom
4. Jänoer 1899, R.-G.-B1. Nr. 5. § 16; Gesetz, betreffend den Bau von Wasserstraßen,
vom 11. Juni 1901, R.-G.-B1. Nr. 66, 6 13.
9) Z. B. bei Enteignungen rum Straßenbau (Hofkanzleidekret vom 27. September
1793. P.G.-S. Bd. 3, S. 38, vorn 11. Oktober 1821, P. G.-S. Bd. 49, S. 306, und Ver-
ordnung des Ministeriums des Innern vorn 21. April 1857, R.-G.-Bl. Nr. 82, § 2;, bei
der Wildbacbverbanung (Gesetz g 14) und bei Wasserbauten (Gesetz vom 30. Mai 1869,
B.-G.-Bl. Nr. 93. g 17).
4) Wildhachverbauungsgeaetz >8 15 und 16.
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lfifi
Bresiewicz.
h) oder durch gerichtliche« Befund nach den Gruudsfitzen des Etit-
eignungsverfahrens: *)
e) oder schließlich im ordentlichen Rechtswege.1
Die Zuständigkeit der Gerichte zur Ermittlung der Ausgleiehungs-
heträge ändert nicht den öfl'entlichiechtlichen Charakter der Forderung.
Der Vollzug der Enteignung ist erst nach Entrichtung der festgestcllteu
Geldausgleichuug zulässig: er wird durch Übergang des Eigentums an einen
dritten oder Anfechtung der Feststellung des Ausgleichungsbetrages im
Rekurswege nicht gehemmt. Auf Ansuchen des Unternehmers hat die poli-
tische Behörde die zwangsweise Einführung des Unternehmers in den Besitz
der enteigneten Liegenschaften zu veranlassen. — Die unmittelbare Ver-
wendung fremden Grund und Bodens zu ötfentliciieu Bauzwecken ist nicht
anders als nach durchgeführter Enteignung statthaft und die politischen
Behörden sind lediglich zum Ausspruche und zur Durchführung der Ent-
eignung berufen. Wenn also die unmittelbare Verwendung fremden Besitzes
zu Bauzwecken ohne Enteignung stattgefunden hat, ist es eine eigenmächtige
Handlung, über dereu Folgen im ordentlichen Rechtswege abgesprocheu wird.3»
H. Duldung von Lasten und Verrichtung von Leistungen.
Die Unternehmer öffentlicher Arbeiten sind verpflichtet.4) allen Bau-
anlagen eine so entsprechende Rinrichtuug und Ausführung zu geben, daß
die angrenzenden Gebäude und Grundstücke gegen jeden Nachteil sieber-
gestellt sind. Ungeachtet dessen ist gewöhnlich die Errichtung der öffent-
lichen Anlagen ohne Eingriff in die benachbarten Grundstücke unausführbar.
Auf diese Eingriffe können die Grundsätze der Enteignung nicht angewendet
werden, weit sie keine vollständige Entziehung des Eigentums der Grund-
stücke und keine Einräumung dinglicher ständiger Rechte veranlassen. Diese
Eingriffe sind öffentliche Lüsten, Ober deren Zulässigkeit im einzelnen Falle
die politischen Behörden entscheiden. Sie können vorübergehend oder
ständig, mittelbar oder unmittelbar sein und sind von den Verwaltungs-
gesetzen folgendermaßen geregelt:
1. Der Eigentümer muß unschädliche Änderungen seiner Liegenschaften
unentgeltlich dulden. Infolge der Straßengesetze sind die Besitzer der an
öffentliche Straßen anstoßenden Grundstücke gehalten, die Pflanzung von
Baumalleen3) von Seite der Gemeinde längs des Straßenzuges auf ihren
Gründen zu gestatten. Im Verbauuiigsgehiete der Wildbäche*) muß der
Besitzer dulden, daß die zur Herbeiführung des zweckentsprechenden
*) Keichsgeaetz über du Wasserrecht g 17.
*l Bei Enteignungen für fttraRenzwecke (vcrgl. oben angeführte Vorschriften).
3) Erkenntnis des Venvaltungsgerichtahofee rum 9. Juli 1885. Budwiüsk i Nr. 9656
und 2657.
*) Eisenbatiukonzessionsgezetz § 10 lit. b).
3) I)aa Eigentum der Bäume steht selbstverständlich stete dem Grundbesitzer zu
fg 420 a. b. G.-lS.i. Banda: Das Eigentum S. 108.
4j Wildbaehverbauungagesetz § 6.
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Das Keeht der öffentlichen Arbeiten.
1R7
Zustandes diese» Grundstücke» festgestellten Vorkehrungen i z. B. Herstellung
von Sickergräben oder anderen Entwässerungsanlagen, Aufforstung, Berasung
u. s. w.) durchgeführt werden. Für Meliorntionsunternehinungen kann die
teilweise Entziehung des Wassers stattfinden, wenn gleichzeitig durch eine
auf Kosten der Unternehmer auszuführende Änderung der Vorrichtung zur
Wasserbenutzung der vorbestandene Nutzerfolg ungeschmälert erhalten und
für den mit dieser Änderung etwa verbundenen Mehraufwand zu ßetriebs-
oder Erhaltungskosten angemessene Entschädigung geleistet wird.')
Die Eisenbahnuuternehmungen haben die Errichtung einer Stuatstele-
graphenleitung längs der Eisenbahn auf ihrem Grund und Boden unentgelt-
lich zu gestatten.’) In anderen Ländern’) ist die Telegraphenverwaltung
außerdem befugt, nicht nur die öffentlichen Wege. Plätze. Brücken, öffent-
liche Gewässer und deren Ufer für ihre Leitungen zu benutzen, sondern
auch die betreffenden Telegraphenlinien durch den Luftraum beliebiger
Grundstücke zu führen. In Frankreich4) und in Italien '■ ist auch die zwangs-
weise Inanspruchnahme der Privatgrundstflcke zur Aufstellung der Stangen
und die sonstige Anbringung von Stützpunkten für die Leitungen an Gebäuden
gestattet, insoweit sie von außen zugänglich sind. Ein Geldersatz wird nur
für Erschwerung der Instandhaltung, für Beeinträchtigungen in der Benutzung
des Grundstückes oder Hauses und für wirkliche Beschädigungen gewährt.
Diese Ersatzansprüche werden vorläufig von der Verwaltungsbehörde, end-
gültig vom Gerichte festgestellt.
2. Zar Ausführung und Instandhaltung der öffentlichen Bauten. müssen
die Grundeigentümer die Benutzung der zur Zufuhr, Ablagerung und Bereitung
der Materialien sowie zur Herstellung der Uuterkunftsräume für die Bau-
leitung und die Arbeiter erforderlichen Grundparzellen gestatten.'1 Für die
mit diesen Gestattungen verbundenen Nachteile haben die Grundbesitzer
Ansprnch auf angemessenen Ersatz.
Materialien, welche zu den Herstellungen notwendig sind und auf den
zum Arbeitsfelde gehörigen oder benachbarten Grundstücken vorhanden
sind, müssen vou den Eigentümern zu diesem Zwecke gegen einen ange-
messenen Preis überlassen werden.’) Bei Straßen und Eisenbahnen beschränkt
sich das Hecht auf Gewinnung des notwendigen Schüttungsrohsteines und
Schottermateriales.®) Obige Lasten werden in der Gesetzgebung als eine
') § 14 des Meliorationsgesetzes von 1884.
7 Eisenbahnkonzessionsgesetz § 10, lit. h).
*) Deutsches Telegraphenwege-Gesctz vom 1». Dezember 1809, gg 1 und 12.
*) Gesetz vom 28. Jnli 1885, Art. 8.
Gesetz vom 7. April 1892, Art. 5.
*) Wildbachverbauungsgesetz g 8; Wasserrecbtsgesetze: § 30 kraiu., § 44 Steier-
mark. und niederOtterr., § 45 bukow., 5 50 bölim., § 49 sonstiger Gesetze: Gesetz vom
18. Februar 1878 (betreffend die Enteignung für Eisenbalinzwcckel, g 3.
’) Wildbachverbaunngsgesetz § 3; Wasserrechtagesetze : § 29 krain., g 48 Steier-
mark., g 44 bukow., { 49 bObm-, g 48 sonstiger Gesetze.
*) Hofkauzleidekret vom 11. Oktober 1821, P. G.-S. Bd. 49, S. 306; Gesetz vom
18. Februar 1878, g 3.
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1«R
ßresiewicz.
teil- und zeitweise Enteignung betrachtet und dementsprechend behaudelt.1)
In Frankreich wird der Geldersatz vom Präfekturrate, *) in Italien vom
Präfekten3) auf Grund eines Sachverständigenbefundes festgestellt. Es gelten
jedoch Oberall folgende Beschränkungen :
dj Das liecht, die Abtretung eines Grundstückes zu einer vorübergehenden
Benutzung zu begehren, erstreckt sich weder auf Gebäude noch auf
solche Grundstücke, deren Substanz durch die beabsichtigte Benutzung
voraussichtlich wesentlich uud dauernd verändert würde.
b) Die zeitweise Benutzung darf nicht länger dauern als sechs Monate
nach dem Zeitpunkte der Beendigung der Arbeiten und zum Zwecke
der Iustandhaltungsarbeiten nicht länger als zwei Jahre.
3. Für die Zwecke der Errichtung und Iustaudhaltuug der öffentlichen
Anlagen sind die Eigentümer der angrenzenden Grundstücke in ihrem
Gebrauchsrechte au gewisse MaUregeln gebunden. In der Umgebung öffent-
licher Anlagen dürfen von den Anrainern Anstalten nicht getroffen oder
Herstellungen nicht ausgefübrt werden, welche den Bestand der öffentlichen
Bauten, ihres Zugebörs oder die regelmäßige und sichere Benutzung der-
selben gefährden oder eine Feuersgefahr herbeiführen könnten, ln der Nähe
von Straßen und Eisenbahnen') sind alle Handlungen verboten, welche diese
Anlagen beschädigen könnten, wie das Austreiben des Viehes auf die Weide,
Lagerung von feuerfangenden Stoffen, Anlegung und Abtreiben von Waldungen,
die Gewinnung von Schotter, das Graben von Lehm uud überhaupt jede
Auflockerung des Erdreiches. Bei Anlegung neuer Straßen, welche durch
Waldungen führen, oder bei Anlegung neuer Wälder und Aufforstung abge-
triebener Waldflächen ist eine gewisse Bodenfläche an beiden Seiten der
Straße bäum- und buschfrei zu halten. Diese Lichtuugsbreite ist von der
politischen Behörde zu bestimmen.5) Im Verbauungsgebiete der Wildbäche
muß der Eigentümer den in Betreff' der künftigen Benutzung des Grundstückes
und der Bringung der Produkte erlassenen Anordnungen vollständig nach-
kommen. Ist mit diesen Vorkehrungen oder Anordnungen eine dauernde
Herabminderung des Reinertrages des Grundstückes im Vergleiche zu seiner
bisherigen Verwendung oder der Entgang einer für die Wirtschaft des
Berechtigten wesentlichen Nutzung verbunden, so ist hiefür eine angemessene
Entschädigung zu leisten.11)
Die größten Beschränkungen erleidet das Baurecbt. Durch die Bau-
ordnuugen werden die Baubehörden ermächtigt, die den örtlichen Verhält-
nissen angemessenen oder durch dieselben als notwendig bedingten Kegu-
*) EisenbahneuteignuugsgescU § 8, Hufkauzleidekret vom 11. Oktober 1821,
Verordnuug vom 21. April 1857. K G - Bl. Nr. 82, §§ 5 und 6.
-) Gesetz vom 22. Juli 1889, Art. 10.
S) Gesetz vom 2 ä. Juui 1865, Art. 69.
') Die .Straßenpolizeiordnungen; Kisenbabubetriebsorduung § 100.
') ErlaO des Handelsministeriums vom 14. Juni 1859, Z. 2988, L.-G.-Bl. fdr
Krain Nr. 20.
•) WildbarliverbauUHgsgesetx 5 6.
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Das Recht der nflentlichen Arbeiten. Ifi9
lierungslinien für die Neu-, Zu- oder Umbauten au ermitteln und festzu-
stellen. Banlinien, welche die (lassen und Plätze begrenzen, müssen bei
jeder Ballführung strengstens eingehaiten werden, und die Grundeigentümer
können und dürfen ihr Baurecht nur innerhalb dieser Schranken ausüben.
Noch strenger sind die Bauverbote, welche für alle Eisenbahnen1) in dem
als feuergefährlich erklärten Bereiche, für Straßen3) sowie für befestigte
Plätze und Pulvermagazine“) bestehen. Innerhalb des gesetzlich hezeichneten
Kreises darf überhaupt nicht gebaut werden; die Grenzen dieses freien
Feldes werden für verschiedene Anlagen enger oder weiter gezogen. Die
Ausmittlung derselben erfolgt durch die Verwaltungsbehörden. Alle obigen
Anordnungen stellen sich nicht als Verpflichtungen zur zwangsweisen
Abtretung des Eigentums im Sinne des g 365 des a. b. G.-B. dar, sondern
sie sind in der Bedeutung des g 364 ebendort als eine in den Gesetzen zur
Erhaltung und Beförderung des allgemeinen Wohles vorgeschriehene Ein-
schränkungin der Ausübung des Eigentumsrechtes aufzufassen; wegen solcher
Einschränkungen kann aber mit Ausnahme jener Fälle, in welchen das
Gesetz anders bestimmt, eine Geldausgleichung nicht beansprucht werden.*)
4. Außerdem gibt es Verpflichtungen zu wirklichen Handlungen: die
zur Offenhaltung des Verkehrs notwendige Schneeabränmung auf den Reichs-
straßen liegt den nachbarlichen Gemeinden gegen einen üblichen Taglohn
ob.-'i Wenn zur augenblicklichen Verhütung großer Gefahr durch Ufer- oder
Dammbrflcke oder durch Überschwemmungen schleunige Maßregeln ergriffen
werden müssen, so sind auf Verlangen der politischen Behörde oder des
Vorstehers des bedrohten Gemeindebezirkes die benachbarten Gemeinden
verpflichtet, die erforderliche Hilfe zu bieten. Die für solche Hilfeleistungen
geforderte Entschädigung wird von der politischen Behörde festgestellt und
auf die bedrohten Gemeinden nmgelegt.“) Auf Grund besonderer Gesetze
sind die nötigen Arbeits- und Zugkräfte unentgeltlich beizustellen. ’)
Durch Einzelgesetze können die Hauseigentümer im Bereiche der
Städte verpflichtet werden,") ihre Häuser auf eigene Kosten mit der städti-
schen Wasserleitung und mit dem bestehenden öffentlichen Kanäle zu
verbinden.
*) Eisenbahnbetriebsordnung 5 üb.
*) Gubemialdekret vom 23. Juni 1887, Prov. G.-S. für Tirol, Bd. 24, S. 825, Nr. 64.
Hofkanzleidekret vom 28. April 1848, P. Q.-S. Nr. 51, und Verordnung de«
Ministeriums des Innern vom 7. Juli 1876, R.-G.-R1. Nr. 99; Erlall des Ministeriums des
Innern u. s. w. vom 21. Dezember 1859, ß.-G.-BL Nr. 10 ex 1860.
*) V.-G.-H. vom 18. Mürz 1880, vom 16. Juli 1880 und 14. April 1882, Bud-
winski Nr. 783, 889 und 1374.
ij Gesetz vom 2. Jänner 1877, R.-G.-ßl. Nr. 83.
*) Landeswasserrechtsgesetze; § 81 krain., 4 45 steiermirk. und niederasterr.,
$ 46 bukow., 4 51 böhm.. 4 50 sonstiger Gesetze.
4 9 des Gesetzes vom 30. April 1895. Nr. 45, L.-G.-BI. für Galizien, betreffend
die Erhaltung der Regutiernngsarbeiteu am Trzesnidvrkallusse.
*) Beispiele: Gesetze vom 13. Jänner 1897 und vom 16. August 1897, Nr. 13 und
65, L.-G.-B. für Mähren; Gesetz vom 26.- Dezember 1900, I. -G.-B. für Galizien Nr. 17
ei 1901.
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170
Breaiewicr.
Die öfters gebrauchte Benennung aller obigen Lasten als , Legalservi-
tuten“, „öffentliche Beschränkungen des Eigentumsrechtes“ ist unrichtig,
weil Bie an die privatrechtlichen Dienstbarkeiten und Nachbarrechte erinnert.
Es sind Vorzugslasten der betreffenden Liegenschaften. Sie finden ihre
Begründung :
a) darin, dal! das Eigentum der Untertanen nie derart ausgeübt werden
kann, daß die Verwaltung in ihrer Tätigkeit gestört werde;
b) darin, daß der Betroffene an dem Bestände uud der Instandhaltung
der öffentlichen Anlage als Nachbar besonders beteiligt ist.1) Diese
besondere Beteiligung liegt in der Möglichkeit öfterer Benutzung der
öffentlichen Anlage — also in der Erreichung mittelbarer Vorteile.
Alles dies sind Opfer, für welche die Vorteile des geregelten staatli-
chen Verbandes dem Eigentümer vollauf Vergütung gewähren.*)
C. Beschädigungen.
1. Außer obigen unmittelbaren Eingriffen gibt es auch Belästigungen,
welche aus den öffentlichen Arbeiten mittelbar hervorgehen. Ihre Behandlung
ist verschiedenartig und läßt sich uur am praktischen Beispiele erläutern.
Wenn bei der Enteignung eines Grundstückes nur ein Teil davon
genommen wird, muß bei Ermittlung des Geldersatzes auch auf die Ver-
minderung des Wertes, welche der zurückbleibende Teil des Grundbesitzes
erleidet, Hücksieht genommen werden. Es kommt jedoch auch der Fall vor,
daß dem Eigentümer gar nichts genommen wird, daß jedoch sein Eigentum
durch Ausführung der öffentlichen Arbeiten bedeutend an Wert verliert.
Durch den Bau einer Eisenbahn kann dem benachbarten WohnhauBe die
Aussicht genommen und den Bewohnern durch Betrieb eine Störung der
häuslichen Stille bereitet werden ; einer Wirtschaft werden durch Umlegung
der Wege oder Schließung der Rampen bei Durchfahrt der Züge bedeutende
Erschwernisse verursacht. Alles dieses sind mittelbare Belästigungen, welche
vom Unternehmer zwar nicht beabsichtigt werden, aber als eine Rückwirkung
der Errichtung öffentlicher Anlagen sich ergeben; den Eisenbahndamm hat
die Unternehmung auf eigenem Grund und Boden errichtet und der nicht
enteignete Nachbar kann gegen dessen Bau nichts einwenden; den Rauch
der Maschine und das Geräusch muß der Nachbar als gewöhnliche Im-
missionen dulden ; so hat die Errichtung und der Betrieb der Eisenbahn ihm
Belästigungen verursacht, aber seine Eigentumsrechte nicht berührt. Vorher
hat er einen kürzeren Weg benutzt, um in die Stadt zu gelangen; aber er
hat kein Privatrecht zur Benutzung dieses kurzen Weges erworben ; wird
der Weg verlegt, so hat der Grundbesitzer das öffentliche Recht nur zur
Benutzung dieses längeren Wreges. Alle diese Belästigungen berühren keine
Privatrechte des Grundeigentümers und geben ihm keinen Anspruch auf
Entschädigung. Daraus ist der Grundsatz zu entnehmen, daß mittelbare
’) Otto M :i _y e r : Deutsch?« VerwAltun gt recht, II , S. 277.
’) Rauda: Das Eigentumsrecht S. 104.
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Pa* R-rht der öffentlichen Arbeiten.
171
Belästigungen durch öffentliche Arbeiten nur dann ersetzt werden, wenn sie
sich einem unmittelbaren Kingriffe anschlieflen; wenn dieses nicht der Fall
ist, werden sie nicht ersetzt.
Es ist unzweifelhaft, daß öffentliche Anlagen in der Art ausgeführt
werden sollen, daß sie so wenig als möglich Belästigungen verursachen. Zur
Herbeiführung dieses gesetzlichen Zustandes dient die onquete de commodo
et incoramodo, bei welcher alle Beteiligten ihre Einwendungen Torbringen
und eine unschädliche Errichtungsart beantragen können.
Diese Einwendungen müssen bei Genehmigung der öffentlichen Arbeiten
insoweit berücksichtigt werden, als sie ohne Beeinträchtigung des Zweckes
der Anlagen sich vermeiden lassen. In jenen Fällen, wo die Besitzer
angrenzender Grundstücke durch eine nicht entsprechende Einrichtung und
Ausführung einer öffentlichen Bauanlage gefährdet werden, kann die politi-
sche Behörde die zur Sicherstellung vor Gefahr nötigen und möglichen
Einrichtungen oder Änderungen solcher Anlagen verfügen.1)
2. Alle bisher besprochenen Eingriffe haben dieses gemeinsame Merkmal,
daß sie rechtlich gestattet sind; der Unternehmer, welcher sie gemacht hat,
hat keine widerrechtliche Handlung begangen und nur sein Kocht ausgeflbt.
Wenn aber der Unternehmer ans dem Kreise seiner Berechtigungen herans-
tritt und die Rechte der Privatpersonen verletzt, was fflr ein Rechtsver-
hältnis ist in diesem Falle entstanden? Nach welchen Vorschriften wird es
beurteilt? Wenn der Unternehmer eine Handlung begeht, zu welcher ihn
das Verwaltungsrecht nicht berechtigt, bewegt er sich nicht mehr im Kreise
der öffentlichen Arbeiten und wird ein Privatmann. Derlei Verletzungen der
Privatrechte sind kein notwendiger Bestandteil der öffentlichen Arbeiten; sie
bilden widerrechtliche Handlungen des Unternehmers und müssen den all-
gemeinen Grundsätzen folgen. Diese Beschädigungen können entweder an
Personen oder an Gütern, aus böser Absicht oder aus Versehen verursacht
werden. Ihre Folgen werden nach dem Strafgesetze oder nach dem all-
gemeinen bürgerlichen Gesetzbuche beurteilt Wenn z. B. durch Nichtbeob-
achtung der notwendigen Vorsichtsmaßregeln Körperverletzungen der Menschen
verkommen, wenn durch unvorsichtiges Fahren mit Langhölzern ein Gebäude
beschädigt wird, so ist das ordentliche Gericht zur Entscheidung der
Streitigkeiten zuständig Die strafrechtlichen Ansprüche können nur gegen
den Schuldigen, die privatrechtlichen gegen den wirklichen Unternehmer
erhoben werden. Sind die Arbeiten vergeben, so ist es nur der Unternehmer,
welcher seine und seiner Angestellten Tätigkeiten verantwortet; nie können
diese Ansprüche hilfsweise gegen die Verwaltungskörper angestrengt werden.
D. Zwangsbeiträge.
Öffentliche Anlagen verfolgen den Zweck der Beförderung des allge-
meinen Wohles; sie erfüllen ihn in der Art, daß sie die Bürger vor dem
*) Erkenntnis des Verwaltnngsgcriebtshofes Tom 9. Jnli 1885, Budwihski 2656
und 2657 (bezüglich der ätraiieiibauanlageii,.
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172
Brewewie*.
bevorstehenden Schaden schützen oder ihnen einen Vorteil zuwenden ; das
letztere kann entweder ohne Mitwirkung des einzelnen geschehen oder durch
Benutzung der Anlage, welche unentgeltlich oder gegen Entgelt stattfindet.
Kann der beteiligte Borger fordern, daß der Staat oder die Selbstverwaltungs-
körper notwendige Öffentliche Anlagen errichten? Er hat in dieser Hinsicht
gegen die Allgemeinheit kein persönliches, im Yerwaltungs- oder im Rechts-
wege verfolgbares Recht: die Verwaltung kann zu öffentlichen Arbeiten
von Privaten nicht gezwungen werden. Auf Ansuchen des Bürgers kann
jedoch die Vorgesetzte Behörde einschreiten, wenn gegebene öffentliche
Arbeiten bindend sind. Ist schon die Ansfflhmng der öffentlichen Arbeiten
beschlossen worden (auch vom Gesetze!, so wird den einzelnen nur während
der Entwurfsfeststellung die Möglichkeit geboten, Anträge auf Änderung
der Anlage zu stellen. Sonst haben die Beteiligten kein Recht, daß die
Anlage so hergestellt werde, daß ihnen ein größtmöglichster Vorteil daraus
erwachse. Desgleichen sind die Normalbestimmungen über die Art und
Weise der Errichtung nur allgemeine Vorschriften für die öffentlichen
Organe, aus welchen die Parteien ein Recht auf die Einhaltung der Vor-
schrift in einzelnen Fällen für sich nicht ableiten können.1) Die Vorteile,
welche dem einzelnen aus der Ausführung der öffentlichen Anlagen erwachsen;
sind also nur eine Reflexwirkung des objektiven Rechtes. Die Nachbarn
einer Eisenbahnstation ziehen aus der Erleichterung des Verkehrs bedeutende
Vorteile. Es sind jedoch nur willkürliche. Jeder kann Gebrauch von der
Eisenbahn machen oder nicht; wenn er ihn macht, muß er so wie ein
anderer die Transportkosten zahlen. Er hat also nur die Möglichkeit der Ver-
kehrserleichterung, aber sein Eigentum hat an wirklichem Wert nichts
gewonnen.
Anders stellt sich die Sache dar, wenn durch öffentliche Arbeiten den
Anrainern ein zwar mittelbarer, aber wirklicher Nutzen zu statten kommt.
Wenn ein neuer Weg gebaut wird, den der Eigentümer benutzen muß, oder
ein Damm, der ihn von alljährlichen Überschwemmungen schützt, so hat sein
Eigentum an Wert unzweifelhaft gewonnen. Es entspricht vollkommen den Grund-
sätzen über die Tragung deröffentlichen Lasten, daß diese, welche mittelbar einen
wirklichen Nutzen aus öffentlichen Arbeiten ziehen, auch zu besonderen
Lasten herangezogen werden. Das französische Gesetz2) stellt in dieser
Hinsicht den Grundsatz auf: .Wenn durch Entsumpfung der Grundstücke,
Eröffnung neuer Gassen, Bildung neuer Plätze, neuer .Strandplätze und durch
andere öffentliche Arbeiten, welche vom Staate, vom Departement oder von
der Gemeinde unternommen und von der Regierung genehmigt werden, das
beiliegende Privateigentum an Wert erheblich gewinnt, können die Eigen-
tümer zu Beiträgen bis zur Hälfte der erworbenen Vorteile herangezogen
werden. Die Beiträge werden durch eine besondere Kommission auf Grund
') Bezüglich der Straßenbreite: Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom
24. November 1876, Btidwihski Nr. 5.
*) Vom 16. September 1807, Art. 38. Diese Vorschrift wurde jedoch nur selten
angewendet.
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t>M Recht der öffentlichen Arbeiten.
173
der Schätzung bestimmt* Auch zu den Schutzarbeiten gegen Überschwem-
mungen der Städte sollen die Departements, die Gemeinden und Eigentümer
nach Maßgabe ihres Interesses beitragen.1) Dieser Grundsatz des französischen
Hechtes wurde im österreichischen Rechte in dieser allgemeinen Fassung
nicht angenommen. Es bestehen jedoch für einzelne Arten der öffentlichen
Arbeiten besondere Vorschriften, welche denselben Gedanken znm Ausdruck
bringen :
1. Werden öffentliche Wasserbauten aus Reichs- oder Landesmitteln
unternommen und gereichen dieselben zugleich den Besitzern der angren-
zenden Liegenschaften durch Zuwendung eines Vorteiles oder durch Abwendung
eines Nachteiles in erheblichem Grade zum Nutzen, so können die erwähnten
Besitzer im Verwaltungswege verhalten werden, einen angemessenen Beitrag
zu den Baukosten zu leisten *) Denselben Gedanken, betreffend die Heran-
ziehung der Interessenten, spricht auch das Gesetz über den Bau der
Wasserstraßen aus.’) Ob der Bau den gedachten Personen in erheblichem
Grade zum Nutzen gereiche oder erheblichen Nachteil abwende, dann die
Ziffer des angemessenen Beitrages ist im Verwaltungswege zu ermitteln
und auszusprechen, und wenn die Beteiligten sich dabei nicht beruhigen,
vom Richter zu bestimmen.1) Die Einbringung der ermittelten Beiträge ist
jedoch nicht bis znr richterlichen Bestimmung der Beitragspflicht auf-
zuschieben.1’)
Manchmal wird die Ziffer dieses Beitrages durch besondere Gesetze
bestimmt’) oder das nicht zu überschreitende Höchstausmaß desselben an-
gegeben.’) Eigentümlich sind diese Verhältnisse in Italien geregelt, wo das
Maß der Beiträge gewöhnlich in allgemeinen Gesetzen*) angegeben ist, wie
für Arbeiten des Staates an eingedämmten Flüssen, bei Flußregulierungen,
Provinzialkanälen, an Handelshäfen und bei Einsumpfungen aus Sanitäts-
rücksichtcn. Die Provinzen, Gemeinden und Genossenschaften, welche die
Beiträge leisten, haben nur das Recht, dieselben zu repartieren und einzu-
ziehen; sie sollen nur dann einveruommen werden, wenn es sich um neue
außerordentliche Arbeiten handelt.9) Auch für Herstellung eines Eisenbahn
netzes wurde den Provinzen und Gemeinden ein Zwangsbeitrag von ■/,„ der
Kosten auferlegt.10)
’) Gesetz vom 28. Mai 1858, Art. 1.
*) <ä 26 des Keichswassergesetzes.
>) Vom 11. Jani 1901, R.-G.-Bl. Nr. 66, § 1.
A) § 26 des IteichswsBsergesetzes.
5) 1 13 des MeliorationsgesetzeB von 1864, Erkenntnis des Verwaltungsgerichts-
liofes vom 10. doli 1879, ßudwinski Nr. 536, vom 11. Jänner 1888, ßudwifiski Nr. 3868.
6) Beispiel: Gesetz vom 15. September 1900, T.-G.-Bi, für Tirol Nr. 64.
’J Beispiel; Gesetz vom 25. Juli 1898, L.-G.-B1. für Niederösterreich Nr. 51.
N Art. 95 des Gesetzes über öffentliche Arbeiten; Art. 7 bis 9 und Art. 23deskönigl.
Dekret* vom 2. April 1885; Art 6 und 25 des königl. Dekrets vom 22. März 1900.
*) Art 113 des Gesetzes aber öffentliche Arbeiten; Art. 13 des königl. Dekrets vom
2. April 1885.
'") Gesetz vom 29. Juli 1879, Art. 4 und 7.
ZetlUcliriA für VoUuwirUcbaft, SoiUIpolltlk uud Verwaltung. XII- Bind. ]$
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174
Bredevict.
2. Bei den Reichsstraßen und in einigen Ländern auch hei Bezirks-
straßen sollen die Gemeinden jene Mehrkosten der Herstellung und Erhaltung
tragen, welche sich durch eine kostspieligere Konstruktionsart der Durch-
fahrtsstraßen bloß aus Rücksicht für die Ortsbewohner ergeben. ') Bei Landes-
straßen können von den durchschnittenen Bezirken oder Gemeinden entweder
zu den Kosten der Herstellung oder der Erhaltung Beiträge gefordert
werden.’) Nach den Straßengesetzen einiger Kronläuder können einzelne
Beteiligte, z. B. GemeindeaLteilungen. Industrielle. Wald-, Steinbruch und
Fabriksbesitzer u. s. w., welche öffentliche, nicht ärarische und nicht bemautete
Straßenstrecken in außergewöhnlichem Maße benutzen, behufs Erhaltung
derselben im Verhältnis der Benutzung zu einem außerordentlichen Beitrage
herangezogen werden.’) Die Einbringung rückständiger Beiträge und Lei-
stungen für die Zwecke der öffentlichen Straßen findet durch die politische
Exekution statt.
3. Alle Bauordnungen stimmen darin überein, daß die Eigentümer der
Grundflächen, welche durch die Anlegung neuer Stadtteile zu Bauplätzen
werden, verpflichtet sind, die zur Herstellung neuer Straßen oder Gassen
erforderlichen Flüchen an die Stadtgemeinde zu überlassen; die Abtretung
hat im ganzen oder bis zum Höchstausmaße von 12 bis 23 Meter außer-
halb der bestimmten Baulinie unentgeltlich stattzuflnden. Einige Bauord-
nungen’) heben weiter hervor, daß der Grundeigentümer die aus Anlaß der
Gassenregulierung von ihm an die Gemeinde abzntretende Grundfläche auf
seine Kosten auf das festgesetzte Niveau zu bringen hat: einige fordern
auch die Ausführung des Trottoirs der Gasse und der Hauptkanäle. Den
Bauherren in den Städten liegt nach den meisten Bauordnungen''1 ob, längs
der neuerbauten Häuser gepflasterte Gehwege auf ihre Kosten herzustellen.
In einigen Bauordnungen *t wird der Gemeinde, welche aus Anlaß der Er-
öffnung neuer Straßen zum Vorteile des Verkehrs, der Feuersicherheit oder
Assanierung Ankaufskosten ausgelegt hat, das HOekanspruchsrecht gegen-
über jenen Realitätenbesitzern Vorbehalten, welche aus der Neueröffnung der
Straßen Vorteil ziehen. Die Hauseigentümer in Städten werden auf Grund
besonderer Gesetze’ t verpflichtet, für die Verbindung der Hauakanäle mit
den öffentlichen Kanälen eine einmalige Gebühr zu entrichten, deren Höhe
nach der Größe der verbauten Fläche bemessen wird.
Daraus ist zu entnehmen, daß die Privateigentflmer der Liegenschaften,
welche durch Ausführung öffentlicher Arbeiten erheblich anWert gewinnen,
*) Hofkanzleidekret vom 26. September 1885, P. G.-S. Bd. C3. S. 420, Nr. 158.
*) Mayrhofers Handbuch, V., S. 568.
*) Mayrhofers Handbuch, V., S. 562.
4) Sieh Mayrhofer« Handbuch, III,, S. 982 und 933, und die dort angeführt«
Entscheidung de« Verwaltungsgerichtshofen vom 2. April 1891, BndViiiski Nr. 5857.
*) Mayrhofer, HL, 8. 998.
•) Bauordnungen für Prag, Brünn, Laibach und für Mähren (Mayrhofer HL.
S. 944).
7) Z. B.: Gesetz vom 20. Dezember 1900, betreffend die Hauakanäle in der Stadt
Podgdrze (L.-G.-Bl. für Galizien Nr. 17 ex 118)1).
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Das Recht der öffentlichen Arbeiten.
175
zu Beiträgen für diese Arbeiten im Verwaltungswege herangezogen werden.
Die Leistung dieser Beiträge bildet eine öffentlichrechtliche Pflicht, worüber
im Verwaltungswege erkannt wird; die rückständigen Beiträge werden im
Verwaltungswege nach Art und Weise der Öffentlichen Steuern eingezogen.
Die Zwangsbeitriige kommen nicht bei öffentlichen Arbeiten vor, welche dem
Gesamtwesen nur gegen Entgelt zum Gebrauche verstattet werden (z. B.
Eisenbahnen).
IV. Freiwillige Beiträge und Anteilnahme.
Einen anderen Rechtsgrund weisen diese Leistungen auf, welche für
öffentliche Unternehmungen freiwillig gemacht werden. Vom rechtlichen
Standpunkte aus muß man die Beitrugsleistung von der Beteiligung an
öffentlichen Arbeiten absondern, da die Rechtsfolgen beider Arten der Unter-
stützung einen bedeutenden Unterschied aufweisen.
I. Beitragsleistung.
Die Beiträge können entweder von Verwaltungskörpern oder von
Privatpersonen gegeben werden:
A. Die Beiträge des Staates und der größeren Verbände gewinnen im
Haushalte der kleineren Verbände eine mit jedem Tage wachsende Bedeu-
tung. Besonders mit der Erweiterung des Aufgabekreises der Gemeinden
verfolgen diese Zuweisungen den Zweck, eigene Einnahmen der Gemeinden
zu ergänzen und sie zur Erfüllung der durch das allgemeine Interesse auf-
erlegten Aufgaben fähig zu machen, ln Deutschland werden diese Zuwei-
sungen nach dem Grundsätze der Dotation oder der Beteiligung gegeben,
je nachdem die Verteilung ohne Beziehung auf bestimmte Auslagen oder
im Verhältnisse zu dem für die Erfüllung der bezüglichen Aufgaben not-
wendigen Aufwande vorgenommen wird.1) ln Preußen ist der Grundsatz der
Dotation, in süddeutschen Staaten der Grundsatz der Beteiligung vorherr-
schend. In Österreich besteht die Einrichtung ständiger Überweisungen aus
bestimmten Quellen herstammender Mittel des Staates an die Selbstver-
waltungskörper nur in einem sehr begrenzten Umfange zu Recht.’) In desto
größerem Umfange bestehen frei vorgenommene Überweisungen unter dem
Namen von Subventionen, welche besonders auf dem Gebiete öffentlicher
Arbeiteu eine wichtige Rolle spielen. Unter Subventionen werden materielle
Leistungen des Staates beziehungsweise auch der Selbstverwaltungskörper
an ihnen nicht gehörende Unternehmungen verstanden, welche den Zweck
verfolgen, das Zustandekommen, die vorteilhaftere Kapitalbeschaffung oder
günstigere Betriebsergebnisse der betreffenden Unternehmung zu ermöglichen.
■) Näheres darüber von Reitzenstein: Über finanzielle Konkurrenz von Gemeinden,
Koinmnnalverbündcn und Staat in Schmoltera Jahrbuch, Jahrg. 1888, XI., S. 123 ff.
Vom Standpunkte des österreichischen Rechtes mtlssin wir den Ausdruck „Beteiligung“
in einem ganz anderen Sinne gebrauchen.
’) Gesetz vom 25. Oktober 1898, R.-G.-Bl. Nr. 220, betreffend die direkten
Personaltteuern, Art. IX. und X.
13*
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176
Brrsiewiez.
Im weiteren Sinne werden unter den Begriff der Subventionen noch Befrei-
ungen der Unternehmungen von Steuern und Gebühren einbezogen (negative
Subventionen). Die Geldsubventionen können entweder in einem festen Be-
trage oder in einem Prozentansatze der veranschlagten Kosten der Arbeit
zugesichert werden.1)
Alle Verwaltung« verbände, welche an der Ausführung der öffentlichen
Arbeiten mitwirken, können sich wechselseitig unterstützen, wenn die Zu-
standebringung der betreffenden Arbeiten den vou ihnen vertretenen Kreisen
zum Nutzen gereicht. Jeder Jahresvoransehlag des Staates und der Selbst-
verwaltungskörper weist bedeutende Summen für Subventionierung öffent-
licher Anlagen auf. Die Hauptfülle sind folgende:
1. die Staats- *i und Dandesstibventionen für Bezirks- (Konkurrenz-)
und Gemeindewege1) und Brücken;
2. die wichtigsten von allen sind Subventionen für Eisenbahnen. Es
kommen sowohl Subventionen des Bandes für Staatsbahnen ‘,i als auch
Subventionen des Staates, des Landes, der Bezirke und Gemeinden für
Lokalbahnen1) vor.
Sie bestehen entweder:
a) in Kapitalzuwcndungen oder
b) in rückzahlbaren Vorschüssen,
c) in Steuer- und Gebührenbefreiungen,
ä) in Erleichterungen bei Herbeischaffung des Bau- und Betriebsmaterials,
e) in der Zulassung der Benutzung der Straßen für die Anlage der Bahn
oder schließlich
f) in der Übernahme der Halmeu in den Staats- oder Landesbetrieb.
Die Subventionierung der Eisenbahnen hat in größerem oder kleinerem
Umfange überall stattgefunden. *) In B'rankreich und in Italien, wo jede
■) Brat in Miscblers StaatswGrterbuch, I., 8. 337 ff. In diesem lehrreichen
Artikel wird zwischen Beitrag»leistnngen und Beteiligung am Unternehmen kein Unter-
schied gemacht.
J) Z. B.: Gesetz vom 22. Augnst 1 «07. betreffend den Bau der Konkurrenz-
straßen, L.-G.-Bl. fiir Tirol Nr. 31.
*) Gesetz vom 19. April 1894, L.-G.-Bl. für Niederösterreich Nr. 20. § 8; Gesetz
vom 15. Mai 1890, L.-G.-BI. für Oberösterreieh Nr 21. Art. I. S 10; Gesetz vom
5. Juli 1897, L.-G.-Bl. für Galizien Nr. 43, ä 28. Tn Frankreich werden Subventionen
vom Staate (Gesetz vom 12. März 1880 und viele nachfolgende) und von Departements
(Gesetz vom 21. Mai 1836, Art 8) für den Bau der Genieindewege verliehen, ln Preußen
ist mit Gesetz vom 18. Juli 1875 die Unterhaltung und der Neubau der Straßen den
Provinzen übertragen worden, welche den Neubau durch die Kreise mittels Gewährung
von Prämien und Beihilfen unterstützen.
4) Z. B. für die böhmisch-mährische Transversalhahn (Gesetz vom 25. November
1883. B.-G.-Bl. Nr. 173, Art. III).
6) Gesetz über Bshnen niederer Ordnung von 1894, Art VI, Vll bis X; Gesetz vom
1. Juli 1901, lt.-G.-Bl. Nr. 85. Art. IX
®) Ein allgemeines Gesetz besteht für Lokalbahnen in Frankreich (vom 11. Juni 1880,
Art. 13 bis 15), welchen eine jährliche Subvention von 500 Fr. pro Kilometer und des
znr 5proz. Verzinsung de« Einlagekapitals fehlenden Ertrages zug. standen wird. In
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Dftt liecht der öffentlichen Arbeiten.
177
größere Eisenbahn einer gesetzlichen Genehmigung bedarf, wurden die Sub-
ventionen nur als Ausfluß des Übereinkommens Aber öffentliche Arbeiten
betrachtet1)
3. Staatliche Subventionen für öffentliche Arbeiten kommen auch in
der Form der Steuerbefreiuungen für Gebäude vor, welche infolge der Re-
gulierung ganzer Stadtteile zur llehebung der bestehenden sanitären Übel-
stände bewilligt werden — jedoch nur dann, wenn die Regulierung nicht
vereinzelt der Privatwillkür überlassen,*) sondern als ein Stadtunternebmen
zwangsweise5) durcbgeführt wird.
Nur in vereinzelten Fällen werden Subventionen auch für die Wasser-
versorgung mehrerer Gemeinden gewährt.4)
B. Wenn die Subventionen von Privatpersonen geleistet werden, er-
halten sie den Namen „freiwilliger Konkurrenzbeiträge“. Der Anlaß zu diesen
Beiträgen kann sehr verschieden sein. Es ist möglich, daß die betreffende
Partei zu gesetzlichen Beiträgen verpflichtet ist und nur eine größere, das
gesetzliche Maß überschreitende Last freiwillig übernimmt. Die Partei kann
aber auch ohne jede gesetzliche Verpflichtung einen Beitrag zusichern.5)
Dies kann entweder in einer an die Behörde gerichteten Eingabe oder im
Protokolle aus Anlaß der Konknrrenzverhandlung geschehen. Das Ergebnis
der Verhandlungen kann nachher in einer Verfügung der Verwaltungsbehörde
oder auch im Gesetze“) (wenn es zur Ausführung der Arbeiten notwendig
ist) festgestellt werden.
C. Der gangbaren Anschauung5) nach werden die Beitragsleistungen
als Darlehen oder als Schenkungen betrachtet, welche bedingungslos oder
unter Bedingungen gewährt werden. Folgerichtig müßten zu den durch
Beitragsleistungen geschaffenen Verhältnissen alle privatrechtlichen Vor-
schriften über die Form, das Maß und den Widerruf der Schenkung, die
Form des Schuldscheines, Zinsen u. s. w. Anwendung linden. Es ist jedoch
einleuchtend, daß es nicht so ist, daß der Beitragende nicht die Absicht
hat, den Unternehmer zu bereichern oder ihm die Möglichkeit zu ver-
Italien ist eine Staatsmibvention bis 6000 Lire vom Kilometer jährlich xulässig (Gesetz
vom 30. Juni 1889); die Lokalbahnen werden auch von Provinzen und Gemeinden sub-
ventioniert (Gesetz vom 27. Dezember 1896, Art. 38).
l) H. Berthelemy. Traitd llcmentaire S. 584.
*) Wie im Gesetze vom 25. Mar/. 1880. R.-G.-Bl. Nr. 89.
*) Wie z. 11. die Regulierung der Stadt Prag (Gesetze vom II. Februar 1898,
fc-G-fel. Nr. 22 und 23,.
4) Gesetze vom 13. und 17. August 1895, L.-G.-Bl. für Krain Nr. 26 und 27.
a) Beitragsleistungeu der Interessenten werden im Art. V des Gesetzes vom
I. Juli 1901, R.-G.-Bl. Nr. 85. erwähnt.
*) So spricht § 3 des Gesetzes vom 26. April 1896, L.-G.-Bl. für Käruten Nr. 18,
von einem freiwilligen Beitrage von 127.000 Kroueu, zugesichert von der Franz S trutz-
in au n scheu Agrikulturstiftung zum Ausbau der Regulierung des Gailflusses.
T) Bräf in Mischlers Staats Wörterbuch (I., S. 338) betrachtet die Beihilfen der
Gemeinden (wie Grundabtrctungeii. Geldbeiträge) fiir Eisenbahnen als Privatabmachungen
behufs Erlangung lokaler Vorteile. Desgleichen Otto Mayer im Deutachen Verwaltungs-
recht. II., S. 27* fl'.
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178
Break wie*
schaffen, durch Xutzenziehung aus den Beiträgen vermögcnsrecbÜiclie Vor-
teile für sich zu gewinnen: der einzige Zweck der Beiträge ist die Ermög-
lichung des Öffentlichen Unternehmens und seine Zustandebringung, also
ein Zweck, welcher außerhalb des Privatrechtskreises des Unternehmers und
des Beitragsleistenden liegt. Es ist ein öffentlicher Zweck und auch die
rechtliche Natur der Beiträge ist eine öffentlicbrechtliche. Die Beitrags-
leistung zu den öffentlichen Unternehmungen ist eine Einrichtung des öffent-
lichen Rechtes, welche wohl den privatrechtlichen Formen der Schenkung
und des Darlehens ähnelt, aber ihre Natur nicht im geringsten teilt. Es
macht dabei keinen Unterschied, ob die Beiträge vom Staate, von Selbst-
verwaltungs- und Zweckverbänden oder von Privatpersonen zngesichert
werden. Auch die freiwillig zugesicherten Beiträge der letzteren Personen
sind Konkurrenzleistungen für öffentliche Zwecke und es hat nach dem
Hofdekrete vom 4. Jänner 1836, Nr. 113 J. G.-S., die Eintreibung der-
selben nach den für die unmittelbaren Steuern bestehenden Vorschriften
zu erfolgen. Die politischen Behörden entscheiden auch darüber, ob den
der Verpflichtungserklärung beigesetzteu Bedingungen Genüge geschehen ist.1)
D. Allen Beitragsleistungen sind folgende Grundsätze gemeinsam:
1. Sie werden immer freiwillig gegeben: der Unternehmer hat kein
gesetzliches Recht auf diese Zuschüsse; die Pflicht zur Leistung besteht
nur nach Maßgabe der freiwillig übernommenen Verpflichtung, welche ein
öffentlichrechtliches Übereinkommen bildet.
2. Der Gewährende erhält nur das Recht auf Erfüllung der allenfalls
gestellten Bedingungen, aber sonst gewinnt er weder auf das Zustande-
kommen noch auf die Art der Ausführung und des Betriebes einen
besonderen Einfluß. Dadurch unterscheidet sich rechtlich die Subveuiionierung
von der im nachfolgenden zu behandelnden Beteiligung an öffentlichen
Arbeiten.
3. Immer muß aber das Zustandekommen des Unternehmens und
die richtige Verwendung der Beiträge gesichert erscheinen. Dies geschieht
dadurch, daß das Unternehmen entweder von Organen der öffentlichen Ver-
waltung ausgeführt oder auf Grund allgemeiner Gesetze beaufsichtigt wird.
4. Über die Verpflichtung zur Leistung der freiwilligen Beiträge er-
keuneii die Verwaltungsbehörden und das Vorwaltungsgericht. Nur dann,
wenn Abtretungen von Grundstücken und anderen unbeweglichen Gütern 8 1
zugesichert werden, müßten im Streitfälle die ordentlichen Gerichte ent-
scheiden.
*) Erkenntnis des Verwaltungagerichtshofes vom 23. April 189t. Budwihtki
Nr. 3909. Vergleiche auch die Gesetze vom 6. August 1900, L.-G.-Bl. für Oberöaterreich,
Nr. 29 bis 36, §6 S und 6. Biese Anschauungsweise stimmt vollkommen mit dem fran-
zösischen Hechte überein, laut welchem die offres de coucours für die Zwecke Öffent-
licher Arbeiten als Offentlichrechtliche Leistungen betrachtet werden, worüber im Streit-
fälle die Verw<nngsgerichte (conseils de prüfecture) za erkennen haben.
3) Auch in Frankreich ist die Sache streitig (Ducrocq: Cours de droit admini-
stratif, Paris, 1897, II., S. 260); in Österreich können bezüglich der Übertragung des
Eigentums an unbeweglichen Sachen nur die ordentlichen Gerichte entscheiden.
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l>a* Hecht i!«*r offen tlidien Arbcit>u.
179
Wir kommen also zum Schlüsse, daß die rechtliche Natur der Kon-
kurreuzbeiträge zu öffentlichen Arbeiten eine und dieselbe bleibt, ob Bie
auf Grund des Gesetzes, der Verwaltungsverfügung oder eines freiwilligen
Übereinkommens geleistet werden.
II, Beteiligung an öffentlichen Arbeiten.
Wenn die Beiträge so bedeutend werden, daß sie einen großen Teil
der Kosten des Unternehmens decken, so müßte bei Anwendung der privat-
rechtlichen Grundsätze auf gemeinsame Kosten ein Werk geschaffen werden,
welches im Miteigentum« der Teilnehmer stände. Indesseu tritt hier die
prhatrechtliche Frage, wem das Eigentum des Werkes gehören soll, voll-
kommen in den Hintergrund: die Ableitungsgräben zur Trockenlegung der
Sümpfe bleiben Eigentum der unternehmenden Wassergenossenschaft, die
l.okalbahuen Eigentum des Konzessionärs und dennoch beteiligt sich der
Staat und das Land an dem Zustandebringen dieser Arbeiten: die Haupt-
sache bleibt, daß die als öffeutlichnDtzlieh anerkannte Anlage geschulten
wird. Was ist der rechtliche Charakter dieser Leistungen und weiche Folgen?
.4. Rechtlicher Charakter.
Der Grundsatz, daß die Kosten der öffentlichen Arbeiten vom Unter-
nehmer zu bestreiten sind, wurde in neuester Zeit durchbrochen. Die Ver-
waltungsorgane des Staates, der Selbstverwaltung uud der Zweckverbände
sind Organe derselben öffentlichen Verwaltung, welche in verschiedenen
Wirkungskreisen sich bewegen, aber dennoch denselben Zweck verfolgen,
den allgemeinen Nutzen zu fördern. Die Wirksamkeit dieser verschiedenen
Organe läuft nicht in entgegengesetzten Richtungen, sondern nebeneinander.
Es ist also ganz natürlich, daß die öffentlichen Arbeiten, welche verschiedenen
Kreisen zum Nutzen gereichen, auf Kosten dieser Interessenten ausgefülirt
werden. Große öffentliche Anlagen der Neuzeit, welche bedeutende Summen
in Anspruch nehmen, könen nut viribus unitis zu stände gebracht werden.
So erklärt sielt eine neue Erscheinung auf dem in Rede stehenden Gebiete,
daß sich an manchen öffentlichen Arbeiten verschiedene Fonds und Ver-
waltungsorgane beteiligen. Au» dem Zusammenwirken verschiedener Ver-
bände uud der Verschiedenheit der Anteile entsteht eine große Anzahl von
verschiedenartigen Rechtsverhältnissen. Der in Gesetzen und Verordnungen
augewendete Ausdruck „Beiträge* entspricht der Sachlage nicht, da die
Rolle des zahlenden Staates oder Selbstverwultuugskörpers mit der Leistung
der Zuschüsse für öffentliche Unternehmungen nicht endet. Sie gewinnen
dadurch uicht nur etwa die Rechte der Mitunternehmer, lJ sondern die
Aufsichtsrechte Ober die Unternehmung. *) Denn sie müssen die Sicherheit
') Z. B bei Übernahme eines Teiles der Stammaktien einer Lokalbahn.
J) Es ist nicht nnr hei wirtschaftlichen Unternehmungen der Fall, datt durch
Beitragsleistungen Öffentliche Aufsichtsrcchtc erworben werden. Z. B in England steht
den Stfdten und den Grafschaften der Anspruch auf KQckersatz der Hälfte aller Poliiei-
kosten ans dem Staatsschätze zu unter der Bedingung, dall die Stadtgemeinde be/w.
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180
Bresiewicx.
haben, daß die gewährten Beiträge ihren Interessen gemäß verwendet
werden. Zu diesem Zwecke wird ihnen ein entsprechender Einfluß auf den
Entwurf und die Ausführung des Werkes eingeräumt. Die Einflußnahme
aller Beteiligten auf die Ausführung der Aulagen bildet das charakteristische
dieser Ausführungsart öffentlicher Arbeiten. Dasselbe gilt im Falle einer
rückzahlbaren Bitragsbürgschaft, wo der Garant nicht nur das Recht auf
Hückersatz des Vorschusses, sondern hauptsächlich die Aufsichtsrechte
gewinnt. Dieses Verhältnis kann man passender als Beteiligung1) oder
Anteilnahme bezeichnen. Diese Beteiligung ist ein verwaltungsrechtlicher
Begriff, welcher sich uuter die privatrechtlichen Begriffsformen der donatio,
mutuum, commodatum oder tidejussio nicht unterziehen läßt. Vielmehr ist
das Rechtsverhältnis ein Ausfluß des verwultungsrechtlichen Grundsatzes,
daß durch Zuwendung der Vermögeusvorteile öffentliche Machtrechte be-
gründet werden köunen. Durch Beteiligung an öffentlichen Arbeiten wird
einerseits ein Machtverhältnis, anderseits ein Unterwerfungsverhältnis ge-
schaffen. Das ganze Verhältnis ist ein öffentlichrechtlicheg und diesen
Charakter tragen an sich alle daraus fließenden Rechte und Verbindlichkeiten,
die vermögensrechtlichen Ansprüche nicht ausgenommen.*) Deswegen werden
die bei Bezirken, Gemeinden und Interessenten rückständigen Beiträge durch
Verwaltungseiekution eingetrieben. a)
li. Begründung der Anteilnahme.
Da die Beteiligten keine gemeinsamen Beschluß- und Verwaltungs-
organe besitzen, kann ein derartiges Verhältnis im Wege einer Verwaltungs-
verfügung nicht geschaffen werden; kann es iin Wege eines Gesetzes
geschehen? Die Gesetzgebung ist in Österreich zwischen dem Reichsrate
und den Landtagen derart geteilt, daß der Reichsrat auf manchen Rechts-
gebieten keine Gesetze erlassen kann, auf anderen aber kann er nur die
grundsätzlichen Bestimmungen treffen. Zu den von den Landtagen zu
regelnden Angelegenheiten gehören alle Anordnungen in Betreff der Landes-
kultur und der öffentlichen Bauten, welche aus Landesmitteln bestritten
werden, also die Gebiete, auf welchen die Auteilnahme an öffentlichen
Arbeiten gewöhnlich vorkommt. Da in den Grenzen dieses Wirkungskreises
der Gralscliaftir.it den Zustand ihre« gesamteu Polizeiwesens jährlich der Inspektion
durch einen Beamten des Home office unterwirft, und dati letzterer bei dieser Prüfung
der betreffenden Lokalverwaltung das Zeugnis genügender effektiver Stärke und Leistungs-
fähigkeit ausstellt; verzichtet aber die Lokaiverwaltung auf den 8taat«zuschuß, so ent-
fällt auch das Hecht der lnspektion. (Br. Josef Kedlich: Englische Lokalverwaltnng,
Leipzig, 1901, S. 348.)
*) Der richtige Ausdruck .Der Staat beteiligt sich* wird z. B. im Art. II des
Gesetzes vom 18. Juli 1892, K.-G.-Bl. Nr. 109, und in vielen anderen angewendet.
*} Streitigkeiten aus dein .Staatsgarantieverhältnisse mit Eisenbahngesellschafteu
sind vom Rechtswege ausgeschlossen. (Erkenntnis des Verwnltnngsgerichtshofes vom
1. Juli 1892, Budwinski Nr. 0711.)
*) Gesetz vom 17. Jnli 1893, betreffend die Förderung des Baues der Lokalbahnen,
L.-G.-Bl. für Galizien Nr. 42, fi 9.
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Das Recht '1er Öffentlichen Arbeiten.
181
die Länder selbständig bandeln, muH zur Schaffung des Beteiligungsver-
hültnisses der Wille des Staates und des Landes ff herein kommen; denn das
Übereinkommen ist überhaupt die einzige mögliche Form, um den über-
einstimmenden Willen der unabhängigen Beteiligten zum Ausdruck zu
bringen.1) Das Übereinkommen ist nur materielle Grundlage der Pflichten
der Beteiligten; formell wird es gewöhnlich in der Gestalt des Gesetzes
erscheinen :
1. Die Gewährung der Leistungen seitens des Staates an Unter-
nehmungen, welche nicht vom Staate ausgeführt werden, setzt ein Gesetz
voraus, welches der Regierung die Ermächtigung entweder irn allgemeinen
oder für ein einzelnes Unternehmen erteilt. Allgemeine Ermächtigungen
wurden erlassen:
a) rücksichtlich von Vorschüssen an garantierte Eisenbahnen;*)
b) rücksichtlich gewisser Erleichterungen. Begünstigungen und Beitrags-
leistungen für Lokalbahnen;*)
t) rückaichtlich der finanziellen Unterstützungen für Unternehmungen,
welche den Schutz der Grundstücke gegen Wasserverheerungen oder
die Erhöhung des Ertrages derselben durch Entwässerung und Be-
wässerung zum Zwecke haben.4)
Andere Begünstigungen und Unterstützungen der öffentlichen Unter-
nehmungen sind nicht im Wirkungskreise der Verwaltung gelegen und
werden im Bedarfsfälle durch ein besonderes Gesetz bestimmt. *1 Jedenfalls
wird die verfassungsmäßige Genehmigung der Mittel durch das Finanzgesetz
erfordert.
Die Beiträge aus Staatsmitteln «erden nur daun zugesichert, wenn die
beteiligten Länder und andere Interessenten zur Unterstützung des Unter-
nehmens in gewissem Maße beitragen.4) Zur Beitragsleistung des Landes-
fonds ist nur die Genehmigung der Mittel im Landesvoranschlage er-
forderlich, wenn allgemeine Gesetze bestehen, wie es bezüglich der Lokal-
bahnen1) der Fall ist. Sonst gilt die Kegel, daß derartige Arbeiten ein
Landesgesetz erheischen: jeder Jahrgang der Laudesgesetz und Verordnungs-
blätter gibt uns eine große Anzahl von Gesetzen und Verordnungen, welche
die Ausführung öffentlicher Arbeiten zum Gegenstände haben. Der wesent-
liche Inhalt dieser Gesetze ist folgender: die Bezeichnung des Gegenstandes
') Kelim in Hirths Annalen. 1885. S. 118 ff. Jcllinek: Syetem der subjektiven
öffentlichen Rechte, Freiburg i. B , 1892, S. 198.
*) Gesetz vom 14. Dezember 1877. R.-G.-Bl. Nr. 112. § 1.
*) Gesetz vom 81. Dezember 1894. R.-G.-B1. Nr. 2 ei 189.r>, Art. V bis X vl.okal-
bahngesetz).
*) Gesetz vmn 30. Juni 1884, R.-G.-Bl. Nr. 116.
*) Art. XI des Lokalbalmgesctzes
*) 6 4 des Gesetzes vom 30. Juni 1884. R.-G.-B1. Nr. 116: Art II, letzter Abs.
des Gesetzes vom 18. Juli 1892, R.-G.-Bl. Nr. 109; Art. V und IX des Gesetzes vom
1. Juli 1901, R.-G.-Bl. Nr. 85.
*) Die betreffenden Landesgesetze sind ira Haudbucbe Mayrhofers, V.. 8. 612,
zusammengestellt
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182
Brcsicwiex.
öffentlicher Arbeiten, de» Entwurfes und die allgemeine Angabe des Umfanges,
die Bezeichnung des Unternehmers und der Beteiligten, der Anteile in
Prozentsätzen der Kosten oder im festgestellten Betrage, die Fälligkeit der
Anteilssummen, schlielilich die Bestimmung Ober die zukünftige Erhaltung
der Anlagen. Die Durchführungsverordnungen, welche zwischen den Inter-
essenten vereinbart werden, enthalten die näheren Bestimmungen Ober die
Dauer der Bauzeit und (Iber die Art und Weise der Ausführung des Unter-
nehmens. daun Bestimmungen hinsichtlich der Bauleitung und der Einfluß-
nahme der Beteiligten auf den Gang der technischen und ökonomischen
Angelegenheiten des Unternehmens. Diese Verordnungen werden oft bis
aufs Wort übereinstimmend verfaßt.
Das besprochene Verhältnis der Beteiligung an öffentlichen Arbeiten
kommt in Italien nur seitens des Staates und der Provinzen vor: die Ge-
nossenschaften, welche zur Errichtung örtlicher Schutzdämme, für Zwecke der
Grundstflckbewässerung oder Sumpfentwässerung gebildet werden, können
vom Staate und von den Provinzen Beiträge erhalten:') desgleichen gibt
die Provinz den Gemeindeverbänden Beiträge fftr Wegebau.’) Die Kegierung
und die Provinz müssen jedoch in der Generalversammlung und im Ver-
w altungsrate der Genossenschaft vertreten sein; die Beschlüsse, welche
Auslagen veranlassen, unterliegen der Genehmigung des Präfekten und der
Provinziaideputation. Die Beiträge werden in jedem Jahre erst nach durch-
geführter Untersuchung der Arbeiten bezahlt. Bei Entsumpfungen hat die
Hegierung auch das Recht, die nachlässige Genossenschaftsverwaltung auf-
zulösen und die Arbeiten seihst durchzufahren.*) ln Frankreich zeigt der
Bau der konzessionierten Eisenbahnen eine sehr genaue Form des Betei-
ligungsverhältnisses, indem der Staat auf eigene Kosten den ganzen Unterbau
herstellt oder alle Baukosten gegen einen ständigen Beitrag der Bahn-
gesellschafl bestreitet.*) Die subventionierte Aufforstung der Gebirge wird
unter der Kontrolle und Aufsicht der Forstbeamten ausgefährt. die .Sub-
ventionen des Staates oder der Departements an Gemeinden aber erst nach
Endabnahme der Arbeiten ausbezahlt.5)
C. Form der Beteiligung.
Die Form, in welcher die Beteiligung erscheint, ist verschieden, je
nachdem oh die Leistung iu einem im voraus genau bestimmten Verhält-
nisse geschieht oder oh ihre Feststellung erst von der Gestaltung des
Verkehrs abhängig gemacht wird. Die Haupltälle sind folgende:
’j Art 9b urul 97 de« Gesetzes über öffentliche Arbeiten: Art. 10 des künigl.
Dekrets vom Februur l»8tj und Art. 17 dea künigl. Dekrets vom 92. Mürz 1900.
• Art. 49 und 50 des Gesetzes über Öffentliche Arbeiten.
’) Art. 50 und 115 des Gesetzes über öffentliche Arbeiten; Art. 28 dea künigl .
Dekrets rein 22. Mürz 1900.
') Vergl. die Geschichte der Eisenbahngesetzgebung in Itertbelemys Traite
eleinentaire, S. 033 bis 651.
Gesetz vom 4. April fft»2, Art 5: Dekret vom II. Juli 1*82. Art. 15.
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Da* Recht der riffentliehen Arbeiten
183
1. Die Zuschüsse ä fonds perdu, welche ohne Pflicht zur Zurück-
stellung geleistet werden. Ihre Höhe wird entweder in einem festen
Betrage oder in Prozenten der veranschlagten Herstellungskosten bestimmt;
die letzteren können im voraus auf Grund des Voranschlages auf einen
unübersebreitbaren Betrag beschränkt werden.
2. Bei Unternehmungen, welche einen Gewinn abwerfen, ist die Be-
teiligung auch in der Form einer jährlichen Subvention möglich. Davon
unterscheidet sich nur unwesentlich der Fall, wenn der Beteiligte die Ver-
zinsung und Tilgung des vom Unternehmer aufzunehmenden Anlehens
übernimmt. *)
3. Die Beteiligung des Staates, der Länder, Bezirke und Gemeinden
an einem öffentlichen Unternehmen kann auch in der Weise stattfinden,
daß die Stammaktien der zu bildenden Aktiengesellschaft zum vollen Nenn-
werte in einem bestimmten Betrage übernommen werden. Dem Beteiligten
werden dadurch gleiche Rechte mit den übrigen Aktionären eingeräumt, *)
also die Rechte eiues Mitunternehmers.
4. Die Beteiligten können auch nur unverzinsliche oder verzinsliche
Vorschüsse leisten mit der Pflicht des Unternehmers zur Rückzahlung. ’)
5. Die Garantie des jährlichen Erträgnisses verpflichtet die garan-
tierende Verwaltung zur Ergänzung des Fehlenden, wenn die Reinerträge
des Unternehmers die ihm garantierten Beträge nicht erreichen sollten.
Die Höhe des garantierten jährlichen Reinerträgnisses entspricht dem Er-
fordernisse für die 4 Proz. nicht überschreitende Verzinsung und die
Tilgungsquote des Anlagekapitals oder des zum Zwecke der Geldbeschaffung
aufzunehmenden Anlehens. Manchmal wird die Garantie nur auf den durch
Prioritätsaktien angeschafften Teil des Anlagekapitals.*) aber gewöhnlich
nur auf eine bestimmte Anzahl von Jahren eingeschränkt.') Die Garantie
wird nur ausnahmsweise ä fonds perdu gewährt; gewöhnlich werden dio
geleisteten Vorschüsse mit 4 Proz. Zinsen rückgezahlt, sobald ein Überschuß
des Reinerträgnisses eintritt.
Die Subventionsbeträge dürfen nur nach Maßgabe des genehmigten
Staats- beziehungsweise Landesvoranschlages verausgabt werden; sie werden
in diese Voranschläge in gleichen Jahresraten eingestellt. Die Einzahlung
der Jahresraten in den Banfonds hat während der Dauer des Baues nur
nach Maßgabe des tatsächlichen Bedarfes der Arbeiten zu erfolgen. Manchmal
wird die Flüssigmachung der Staats- und Laudeszuschüsse durch die vorher-
gängige Zahlung der Zuschüsse der Gemeinden und Wassergenossenschaften
bedingt.*) Die zugesicherten Leistungen des Staates und des Landes zu
*) Z. B.: Gesetz vom 18. Juli 1892. R.-G.-BI. Nr. 109. Art. II.
*) Gesetz vom 1. Juli 1901. R.-G.-Bl. Nr. 85, Art. VIII und IX.
*) Gesetz vom 14. Dezember 1877, R.-G.-B1. Nr. 112, ä 3; Gesetz vom 30. Juni
1884, K.-G.-B1. Nr. 116. (jj 6 und 7.
*) Z. B. : Gesetz vom 8. Jänner 1892, R.-G.-Bl. Nr. 10, Art. II.
*) Gesetz vom 1. Juli 1901, li.-G.-Bl Nr. 85, Art. III.
*) 5 4 der Verordnung der Landesregierung in Krain vom 7. September 1896.
L-G.-Bi. Nr. 39.
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Brosiewicz.
18 t
einem von ileu Gemeinden, Bezirken oder Wasseigenossenschatlen geleiteten
Unternehmen werden nach vorgenommener Schlußabrechnung flüssig gemacht;
ausnahmsweise können sie während der Arbeit nach Maßgabe des Baufort-
schrittes vorschußweise überwiesen werden,') und zwar folgendermaßen:
n) während der Bauzeit werden je 50 bis 75 Proz. des Zuschusses zur
Zahlung angewiesen; der jeweilige Baufortschritt ist durch Verdienst-
zeugnisse nachzuweisen, welche vom Bauleiter bestätigt sein müssen:
!>) auf Grund der Abnahme einzelner Gegenstände kann jedoch vom
Minister im Einvernehmen mit dem Landeeausschusse die Flüssig-
machung von Zuschüssen bis zur Höhe von 75 und höchstens von
110 Proz. bewilligt werden;
<■) außer diesem Falle ist die Kollaudierungsquote (25 beziehungsweise
wenigstens 10 Proz.: bis zum Zeitpunkte der Endabnahme der Ar-
beiten zurückzubehalten. *)
' D. E r h a 1 1 u n g s a u s 1 a g e n.
Die Kosten der Erhaltung werden nur selten von allen an der Aus-
führung Mitbeteiligten getragen.
1. Die vom beliehenen Unternehmer errichteten Arbeiten sind von
ihm allein in Stand zu halten.
2. Der staatliche Meliorationsfonds trägt nie die Erhaltungskosten,
vielmehr müssen sie in anderer Weise gesichert erscheinen.3) Bei Ein-
deichungen. Ent- und Bewässerungen und Verbauungen der Wildbäche sind
ilie Erhaltungskosten fertiger Anlagen von den interessierten Gemeinden,
Bezirken und Eigentümern zu tragen.4) Zu diesem besonderen Zwecke
werden oft auf Grund gesetzlicher Anordnungen Konkurrenzen gebildet.')
welche die Eigentümer der durch die Anlagen geschützten Grundstücke
umfassen. Die Aufteilung der Erhaltungskosten wird im Verwaltungswege
festgestellt. Wenn die Gemeinden in die Konkurrenzpflie.ht einbezogen
werden, bleibt es ihnen Vorbehalten, den teilweisen Ersatz ihrer bezüglichen
Auslagen von den Besitze™ der durch die Anlagen geschützten oder
begünstigten Liegenschaften anzusprechen. Das Ausmaß der hienuch auf
die einzelnen Interessenten entfallenden Beitragsleistung ist im Wege eines
gütlichen Übereinkommens der Beteiligten oder in Ermangelung eines
solchen von der zuständigen politischen Behörde nach Analogie des Wasscr-
rechtsgesetzes festzustellen.8)
*) Kundmachung der Statthaltern fiir Österreich u. d. Knus vom 19. Jänner 1896,
L.-G.-Bl. Nr. 7.
. s) Böhmische Laudeagesctze vom -4. April 1900, L.-G.-lll Nr. 45, § 3, vom
92. August 1900, L.-G.-Bl. Nr. 50 und 51, §3; Kundmachung der Statthalterci in
Böhmen vom 17. Juli 1900, L.-G.-Bl. Nr. 44, § 13.
3) Meliorationageaetz 9 5, Z. 3.
4) 9 44 der meisten Landeawasserreehtsgesctzc.
i) B.: Gesetz vom 16. Mai 1896, L.-G.-BI. für Galizien Nr. 37, § 6.
*) 99 5 und 6 der Gesetze vom 6. August 1900, L.-G.-Bl. für Oberösterreich
Nr. 29 l.is 36.
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Das Hecht der öffentlichen Arbeiten.
185
3. Nur in Salzburg besteht eine allgemeine gesetzliche Bestimmung,1)
laut welcher die ordentliche Erhaltung der an den Flüssen und Bächen mit
Beihilfe des Staates oder des Landes von Wassergenossenschaften herge-
stellten Regulierungsbauten als eine bleibende Verpflichtung der Wasser-
genossenschafteu erklärt wurde, die Kosten der Erhaltung jedoch zu einem
Dritteile vom Landesfonds zu bestreiten seien. Die Entwertung, Leitung
und Kollaudierung der betreffenden Arbeiten liegt dem Landesausschusse ob.
4. Sonst wird oft zur Erhaltung der Anlagen ein besonderer Fonds
gebildet.') In diesen Erhaltungsfonds fliehen ein:
a) die Einkünfte aus der Verpachtung der Schutzdeiche, Böschungen
sowie des durch Regulierung gewonnenen Grund und Bodens;
b) der erzielte Erlös für die durch Regulierung gewonnenen Gründe.
Die nicht gedeckten Kosten werden entweder von den Besitzern von
Liegenschaften und Anlagen eingehoben5 > oder zum Teile vom Lande,4)
zum Teile von Interessenten bestritten. Die Höhe der Beiträge wird
manchmal für einige Jahre durch das Gesetz bestimmt und die weiteren
Jahresbeiträge aus dem Durchschnitte des wirklichen Erfordernisses aus-
gemittelt. Die Verwaltung des Erhaltungsfonds wird vom Landesausschusse
geführt.
E. Ein fl ul! nah me der Beteiligten.
Obwohl mehrere Verbände an den Kosten der öffentlichen Arbeiten
beteiligt sind, haben sie nur selten gemeinsame Organe zur Ausführung des
Unternehmens. Ausnahmsweise kommt es bei der Donaureguliernng und den
Wiener Verkehrsanlagen vor, wo die Leitung der Arbeiten den von allen
Mitbeteiligten gewählten Kommissionen übertragen wurde.6) Gewöhnlich
mul! die Ausführung einem der Beteiligten anvertraut werden. Anderen Be-
teiligten wird eine angemessene Einflußnahme auf die Art und Weise der
Ausführung des Unternehmens, den Kostenvoranschlag und auf den Gang
des Unternehmens eingeräumt.8} Grundsätzlich haben alle Interessenten
gleichen Einfluß auf die Festsetzung näherer Bestimmungen über die Dauer
der Bauzeit, dann über die Art und Weise der Ausführung des Unternehmens.
Allen Interessenten steht desgleichen das Recht zu, sich zu jeder beliebigen
Zeit durch ihre Organe von dem Fortschritte der Arbeiten und von deren
Beschaffenheit zu überzeugen, und es müssen diesfalls die Bauleitungs-
und Aufsichtsorgane den betreffenden, hiezu abgeordneten Personen alle ge-
wünschten Auskünfte erteilen.')
') Gesetz vom 12. November 1896, L.-G.-Bl. Nr. 37.
*) Z. B. zur Erhaltung der Gailregulierung (Gesetz vom 11. August 1900, L.-G.-Bl.
für Kärnten Nr. 28).
s> Z. B.: Gesetz vom 26. April 1896, L.-G.-B1. für Kärnten Nr. 18.
*) Z. B.: Gesetz vom 30. April 1895, L.-G.-Bl. für Galizien Nr. 45.
*) Gesetz vom 6. Juni 1882, R.-G.-BI Nr. 68, betreffend die Regulierung der Donau,
§3; Gesetz vom 18. Juli 1892, R.-G.-Bl. Nr. 109, Art. VII des beigeschlossenen Programms.
*) Gesetz vom 30. Juni 1884, H.-G.-Bl. Nr. 116, § 5; Gesetz vom 21. Dezember 1898.
R.-G.-Bl. Nr. 283, Art. XII.
') Beispiel: Verordnung vom 25. Juli 1901, I..-G.-B1. für Galizien Nr. 12, § 18
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Rresienica
18fi
Sonst ist die Einflußnahme verschiedenartig, je nach der Stellung des
Unternehmers:
1. Wenn die Staats- oder Landesverwultting als Unternehmer Auftritt,
haben die interessierten Bezirke, Gemeinden und Wassergenossenschaften
kein Kocht der Entscheidung in Bezug auf den Gang des Unternehmens
und der Kollaudierung der ausgeführten Arbeiten — sie können nur An-
träge stellen. Ganz abweichende Bestimmungen1) wurden fflr den Bau der
Wasserstraßen erlassen, laut welchen die Durchfflhrung der Bauten einer
im Handelsministerium errichteten, von der Kegierung ernannten Direktion
anvertraut, neben derselben aber zur Erstattung von Gutachten und Stellung
von selbständigen Anträgen ein Wasserstraßenbeirat errichtet wurde: der
letztere besteht aus den von der Regierung und von den beteiligten Landes-
ansschössen ernannten Mitgliedern.
2. Bedeutend stärker ist der Einfluß, welchen der Staat und das Land
auf die von Bezirken, Gemeinden, Wassergenossenschaften und beliehenen
Unternehmern geführten Arbeiten ausüben. Die Aufgabe dieses behördlichen
Einflusses ist im allgemeinen die Fürsorge, daß die vom Staate und vom
Lande gewährten Anteile in einer zweckmäßigen, dem genehmigten Entwürfe
entsprechenden Weise Verwendung finden und daß die Vorschriften des das
Zustandekommen des Unternehmens sichernden Gesetzes genau beobachtet
werden.*) Dieser Einfluß gestaltet sich im einzelnen folgendermaßen:
a) Die Ausführung der Unternehmung darf nur auf Grund des von den
Behörden genehmigten Entwurfes erfolgen. Die während des Baues als
notwendig erkannten Abänderungen oder Ergänzungen am Entwürfe
können nur mit der jeweilig einzuholenden Genehmigung der Staats-
verwaltung und des Landesausschusses vorgenommen werden. Wenn
sich infolge dieser Änderungen Überschreitungen des Voranschlages
ergeben sollten, ist der überschreitende Kostenbetrag aus eigenen Mit-
teln des Unternehmers zu decken. Im Falle sich an dem vorbezifferten
Höchstbetrage der Kosten eine Ersparung heraussteilen sollte, so hat
eine verhältnismäßige Abminderung beziehungsweise Rückerstattung
der Beiträge des Landesfonds und des staatlichen Fonds einzutreten,5)
h) Die Bauvergebungsverträge einschließlich der Bedingungen für Sub-
unternehmer unterliegen der Zustimmung dieser Behörden.
c) Sowohl der Staats- als der Landesverwaltung steht das Recht zu, zu
den Beratungen des Ausschusses, welche die Ausführung des Entwurfes
betreffen, je einen Vertreter zu entsenden, welchem eine entscheidende
Stimme zukommt.
(I) Die Staats- und Landesverwaltung muß von allen wichtigen Vorkomm-
nissen bei der Ausführung des Unternehmens rechtzeitig verständigt,
*) Gesetz vom 11 Jaiii 1901. R.-G.-Bl. Nr. 06, § 3. und Verordnung des Handels-
ministeriums vom 11. Oktober 1901, R.-G.-Bl Nr. 163.
3) Vergl. die Kundmachung des Statthalters von Rühmen vom 3. Februar 1899,
I..-G.-BI. Nr. 17.
a/ Gesetz vom 4. April 1900. L.-G.-BL für Böhmen Nr. 45, g 4.
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I)ax Recht der öffentlichen Arbeiten.
1*7
deren Vertretern alle erforderlichen Behelfe zur Verfügung gestellt,
alle gewünschten Auskünfte wahrheitsgemäß erteilt und deren Da-
zwischentreten anstandslos zugelassen werden.
>■) Der Staats- uud Landesverwaltung steht das Recht zu, sich zu jeder
beliebigen Zeit von dem Fortgange uud der Beschaffenheit der Arbeiten
durch eigens hiezu bestimmte Vertreter zu überzeugen.
3. Der Einfluß des Staates uud der Länder auf die vom beliehenen
Unternehmer verrichteten Arbeiten entspricht obigen Grundsätzen, aber er
ist durch besondere Gesetze geregelt. Hauptsächlich kommen hier die Lokal-
hahnunternehmungen in Betracht. Als Bedingung der staatlichen Beteiligung
wird die unmittelbare Ingerenz der Regierung auf die Aufstellung des Ein-
zelentwurfes und Kostenvoranschlages sowie die Vergebung des Baues und
der Lieferungen aufgestellt. ') Das Land, welches sich am Baue einer Lokal-
bahn beteiligt, fordert auch, daß der Bahubau den Interessenten des Landes
entsprechend und unter unmittelbarer Mitwirkung des Landesansschusses
ausgeführt werde.*)
V. Durchführung öffentlicher Arbeiten.
Öffentliche Arbeiten können:
1. entweder in eigener Regie der Verwaltung.
2. oder durch einen Unternehmer,
3. oder im Wege der Konzessionserteilung durchgeführt werden. Die
Art und Weise der Durchführung muß natürlicherweise verschiedene recht-
liche Verhältnisse zwischen der Verwaltung und den bei der Durchführung
der Arbeit beteiligten Personen hervorrufen — sie ändert jedoch nicht den
Charakter der öffentlichen Arbeit Nach welchen Vorschriften werden die
daraus entstehenden Verhältnisse beurteilt? Obwohl die öffentlichen Arbeiten
dem öffentlichen Rechte gehören, ist nicht jede Lebensäußerung, die irgend-
wie damit zusammenbängt, als Stück der öffentlichen Verwaltung nach
öffentlichem Rechte zu beurteilen. Namentlich wenn es sich um die Be-
schaffung und Bereithaltung der Mittel handelt, welche dieser öffentlichen
Verwaltung dienen sollen, wird es immer darauf ankommen, wohin diese
Tätigkeiten, für sich betrachtet, gehören. Privatwirtschaftlicher und zivil-
rechtlicher Natur ist die Herrschaft des Staates über die erworbenen Sachen,
welche solchen öffentlichen Unternehmungen als Mittel dienen, und der
Staat in der Stellung des Vergebers der Arbeiten wird grundsätzlich nach
dem Zivilrecht zu beurteilen sein.’) Dieses bezieht sich insbesondere auf
die Durchführung der öffentlichen Arbeiten in eigener Regie und durch pinen
Unternehmer. Die dritte Ausführungsart durch Konzessionserteilung weist
wesentliche Unterschiede auf und wird deswegen in einem besonderen Ab-
schnitte behandelt.
x) Gesetz vom 31. Dezember 1^94, R.-G.-Bl. Nr. 2 ex 1895, Art, XII; Gesetz
vom 1. Juli 1901, R.-G.-Bl Nr. 85, Art. XII.
*) Gesetz vom 17. Juli 1893. L.-G.-Bl. fQr Galizien Nr. 42. 9»G.
*j Otto Mayer: Deutsches Verwaltuiigarecht, II., S. 74.
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188
ßresiewicz.
I. Eigene Regie.
Unter Kegiearheiten sind jene Arbeiten zu verstehen, welche von der
Verwaltung selbst durch in ihren unmittelbaren Dienst gestelltes Personal
ausgeführt werden.') Diese Ausführungsweise setzt voraus, daß die Verwal-
tung verfügbare Kräfte zur Leitung und Beaufsichtigung der Arbeiten be-
sitzt Sie wird ordentlich nur dann gewählt, wenn andere Ausführungsarten
einen vorteilhaften Erfolg nicht voraussehen lassen, was meistenteils von
Bedingungen wirtschaftlicher Natur abh&ngt. In der Hegel werden in eigener
ltegie verrichtet :*i
1. die Arbeiten im Palle dringender Not, wenn Gefahr am Verzüge
haftet, und
2. die gewöhnlichen Instandhaltungsarbeiten.
Mit der Ausführung der Arbeiten, ferner mit der Ausübung des technisch-
administrativeu Dienstes wird ein beeideter technischer Beamter unter der Auf-
sicht der Baubehörde betraut. Zur Unterstützung dieses Bauleiters in Angelegen-
heiten administrativer Natur, namentlich durch Vermittlung bei Verhandlungen
bezüglich des Geldersatzes für eingenommene Gründe, bei Vereinbarungen
bezüglich der Materialpreise, Arbeitslöhne u. dgl„ dann zur Buchführung bei
den Bauarbeiten wird für jede Bauabteilung ein Ingenieur bestellt, welchem
hinsichtlich der Bauleitung eine beratende Stimme zukoramt. Außerdem werden
nach Bedarf die technischen und Rechnungsgehilfen ernannt. Die Bauzulagen,
Tagegelder und Reisekosten des Bauleiters, der Gehalt desselben während
des Baues, die Reisekostenvergütungen und Zehrgelder der Ingenieure, die
Bezüge der Bauaufseher und Hilfsarbeiter sowie überhaupt alle Kosten der
Verwaltung und Bauleitung werden aus dem Baufonds bestritten. Zur Be-
streitung dieser und weiterer Bauauslagen als Scliichtenlöhne, Verdienste
durch Akkordarbeit. Auslagen für Werkzeuge. Materialien und Professionisteu-
arbeiten werden für die Dauer der jährlichen Arbeitsperiode beim Steuer-
amte monatliche Bauverläge angewiesen. Die Höhe der für die einzelnen
Monate erforderlichen Verläge ist vom Bauleiter nach Maßgabe der für das
Baujahr genehmigten Arbeiten und der hiefür verfügbaren Mittel vor Be-
ginn der Arbeitsperiode zu veranschlagen. Der Bauleiter hat vor Erschöpfung
der angewiesenen Verläge eine Baurechnung rechtzeitig zusammenzustellen
und mit allen Belegen der anweisenden Behörde cinzusenden. Diese ver-
anlaßt die Überprüfung der Baurechnung durch die Rechnungsabteilung und
die erforderliche Ergänzung des ßauverlages.
Außer der Baurecbnung sind folgende Aufzeichnungen zu führen:
<t) die Arbeiterverzeichnisse und Zahlungslisten;
b) die Akkorddienstansweise, welche mit Quittungen belegt werden;
c) die Verzeichnisse der Werkzeuge und Hilfsmittel;
A) die Verzeichnisse der Baumaterialien;
') % 2 de» Gesetzes rom 2S. Juli 1902, It.-G.-Bl. Nr. ISO, betreffend die Regelung
des Arbeitsrerliältniases bei den Kegiebautcn von Eisenbahnen u. s. w.
*) Sehr genaue Bestimmungen über liegiearbeiten enthalten die Art. fiff bis 90 des
italienischen kflnigl. Dekrets vom 25. Mai 1H95, Nr 350.
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Das Recht der öffentlichen Arbeiten.
189
v) das Bauprotokoll, und zwar abgesondert für die Regie- und für die
sonstigen Arbeiten. Es enthält die Darstellung des Baufortsebrittes, d. i.
aller auf den Beginn und Betrieb sowie anf die Vollendung des Baues
wesentlich Einfluß nehmenden Tatsachen, den Witterungszustand, die Zahl
der Arbeiter und Fuhrwerke sowie die Übernahme der Baumaterialien.
Weiter enthält es verläßliche Ergänzungen zur Herstellung der Schluß-
abrechnung. wie die Ausmaße, welche nachträglich nicht leicht festgestellt
werden können, die Abweichungen vom genehmigten Entwürfe und deren
Begründung, die vereinbarten Preise der Leistungen u. s. w. Das Bauproto-
koll ist mit Ende einer jeden Woche abzuschließen und der Baubehörde
vorzulegen.
Auf Grund dieses Baujournals wird jeden Monat ein Bericht Ober den
Banfortschritt zusammengestellt. Am Schlüsse eines jeden Baujahres hat der
Bauleiter seiner Vorgesetzten Behörde einen Bericht Ober die Bautätigkeit
und deren Erfolge sowie Ober etwaige andere wichtige Wahrnehmungen
vorzulegen. Demselben ist auch eine mit den erforderlichen Belegen ver-
sehene Rechnung Ober die Einnahmen und Ausgaben des verflossenen Zeit-
abschnittes und am Ende des letzten Baujahres nebst der Rechnung för das
verflossene Jahr eine alle Baujahre umfassende Schlußrechnung beizuschließen.
Bei der Durchführung der Arbeiten in eigener Regie wird vor allem
die Arbeit gegen Vergfltung nach Ausmaß empfohlen, während die Arbeit
gegen tägliche Vergütung nur in solchen Fällen einzutreten hat, wenn deren
Durchführung nach Ausmaß unmöglich oder unzweckmäßig wäre. Es bleibt
jedoch dem Bauleiter überlassen, einzelne Arbeitsleistungen auf der Grund-
lage von Einheitspreisen im Akkordwege ausführen zu lassen.’) Die zweite
Modalität der Ausführung besteht darin, daß die Arbeiten im Wege schrift-
licher Akkorde an Akkordanten vergeben werden; diese Art der Sicherstel-
lung der Arbeiten darf nur bei Ausführungen geringeren Umfanges, für
welche ihrer Natur nach keine weitläufigen Bedingungen zu stellen sind,
angewendel werden. Übereinkommen über Arbeiten und Lieferungen, welche
den Betrag von 1000 Kronen nicht übersteigen und die so dringend sind,
daß mit ihrer Verwirklichung bis zum Einlangen der Entscheidung der
Baubehörde nicht gewartet werden kann, werden vom Bauleiter mit dem
Uuternehmer abgeschlossen und übergibt derselbe die Arbeiten und Liefe-
rungen gegen nachträgliche ehebaldigste Rechtfertigung zur Ausführung.
Alle anderen Übereinkommen und Anerbieten der Unternehmer, besonders
solche, welche den Bau von Objekten, wie Brücken. Schleusen und Durch-
lässe betreffen, legt der Bauleiter vor Beginn der Arbeiten der Baubehörde
zur Genehmigung vor.1)
Die Verhältnisse der Verwaltung zum Lohn-, Stück- oder Akkordarbeitcr
werden nach den Bestimmungen des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches
') Kundmachung der Statthaltern vom 5. September 1000, L.-G.-Bl. für Ober-
uat erreich Nr. 38, § 6.
t)j9 der Verordnungen der Statthalterei vom 17. Dezember 1897 und vom
19. Dezember 1900, L.-G.-Bl. für Galizien Nr. 1 ex 1898 ond Nr. 19 ex 1901.
Zeitschrift für Volkswirtschaft, gngUlpAlllik und Verwaltung. XII. Band. 14
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194) Rresiewinc.
Uber den Lohuvertrag beurteilt Ausnahmen bestehen bezüglich der Arbeiter
bei Regiearbeiten au Eisenbahnen und beim Baue von grollen Wasserstraßen,
deren Verhältnisse den Vorschriften des VI. Hauptstflckes der Gewerbeord-
nung entsprechend geregelt wurden.1)
II. Ausführung der Arbeiten durch Vertragschließende.
Die Unternehmung öffentlicher Arbeiten ist ein Vertrag, wodurch sich
eine Privatperson zur Herstellung öffentlicher Arbeiten in Unterwerfung unter
die Organe der Verwaltung gegen eine Geldsumme verpflichtet. Es macht
hiebei keinen Unterschied, ob der Unternehmer nur Arbeitskräfte beistellt
oder auch die zur Vollendung des Werkes notwendigen Materialien liefert.
Der rechtliche Charakter der Vergebung der Arbeiten ist der einer privat-
rechtlichen Dienstmiete. Trotzdem gibt es bei Vergebungsverträgen zahl-
reiche Abweichungen vom Privatrechte, und zwar sowohl formelle als mate-
rielle. Sie sind dadurch gerechtfertigt, daß der Unternehmer auf Grund des
privatrechtlichen Vertrages die Arbeiten für die Verwaltung besorgt und
daß an der Ausführung derselben die öffentliche Verwaltung beteiligt ist.
A. Die Beding u ngshefte.
Was die Form der Verträge anbelangt, so gilt als Kegel, daß sie auf
Grund der vorgeschriebenen Bedingungshefte im Wege der öffentlichen
Versteigerung abgeschlossen werden. Diese Bedingungshefte !) werden in
Österreich Iflr jeden Verwaltungszweig abgesondert ausgegeben. Filr die
Vergebung von Straßen- und Wasserbauarbeiten bestellen: Allgemeine tech-
nische und administrative Baubedingnisse,1) Vertragsbedingungen für die
Anfertigung. Lieferung und Aufstellung von eisernen Keichsstrattenhrflcken*)
und Bedingnisse für die Ausführung größerer Wasserbauten. Allgemeine und
besondere Bedingungen für die Militärarbeiten wurden mit Verordnung des
k. u. k. Kriegsministeriums vom 21. November 1895 vorgeschrieben.5 1 Für
') Gesetz vom 28. Juli 1902. K.-G.-Bl. Nr. 156; (ieiotx vom 11. Juni 1901,
R. -G.-B1. Nr. 66. § 15.
ln Preußen wurden mit Erlalt des Ministers der öffentlichen Arbeiten vom
17. J inner 1900 (Verw.-Min.-Bl. S. 107) „Allgemeine Vertragsbedingungen für die Aus?
fiihrung von Stantsbauten- eingetührt. welche genullt Verfügung de» Ministers des
Innern vom 22. März 1900 auch für seinen Geschäftsbereich anzuwenden sind. In Frank-
reich dienen als Vorbild die Bedingungshefte für die Verwaltung der Brücken und
Strafen vom 16. Februar 1892 fCahier des clauses et condition* generales itnposles aux
entrepreneurs des travaux des ponts et chaussles). Ke bestehen auch ähnliche Bedingungs-
hefte für die Arbeiten der Militärgenic. der Kriegsmarine und den Bau der Amts-
gebäude. — In Italien wurden fiir den Dienstbereich des Ministeriums iler öffentlichen
Arbeiten allgemeine Vertragsbedingungen (Capitolato generale per gli appalti) mit
Ministeriabiekret vom 28. Mai 1895. für Militärarbeiten aber (Be condizioni generali
per l'appalto dei lavori dcl genio militarei mit Dekret vom 9 Oktober 1900 erlassen.
*) Verordnung der ehemaligen Generalbaudirektion vom 15. Dezember 1851. Ver-
ordnungsblatt des Handelsministeriums vom Jahre 1852 Nr. 2.
*) Verordnung des .Ministeriums des Innein vom 31. Dezember 1892, Z. 21.817.
a) Die Baudienstrorscbriften für das k u. k. Heer. Wien, 1896, I. T., IV. Absohn.,
S. 91 bis 183.
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Das Hecht der Affeutlichen Arbeiten.
191
die dem Wirkungskreise des Handelsministeriums augehörende Post- und
Telegraphen Verwaltung bestehen keine besonderen Normen Aber das Unter-
bietungswesen. Das Eiseubahnministerium hat „Allgemeine Bedingnisse für
die Anbieter und Unternehmer von StaatseisenbahnbautenV
Ein noch bunteres Bild liefern uns die öffentlichen Arbeiten der
Selbstverwaltungskörper: In Niederösterreich. Oberösterreich, Salzburg, Steier-
mark, Kärnten. Görz und Gradiska, Istrien und Dalmatien bestehen keine
Vorschriften Ober das Unterbietungsverfahrem die für die autonome Landes-
verwaltung erforderlichen Arbeiten werden im Wege des freihändigen Ver-
fahrens vergeben beziehungsweise in eigener Regie ausgeföhrt. In anderen
Kronländem werden die Vertragsbedingnisse vom Landesausschusse aufge-
stellt und es ist leicht erklärlich, daß sie nicht vollkommen Qbereinstimmen
können: meistenteils sind sie jedoch den für Staatsbauten geltenden Vor-
schriften oft wörtlich nachgebildet.1) Das gleiche gilt bezüglich der Regelung
des Unterbietungswesens der Gemeinden; vielfach ist eine allgemeine Norm
für die Vergebung städtischer Arbeiten überhaupt nicht vorhanden, vielmehr
werden die Bedingnisse von Fall ztt Fall besonders festgesetzt. Eine Ausnahme
machen nur die größeren Städte und besonders die Reichshaupt- und Residenzstadt
Wien, wo für den Bau der Hauptsammelkanäle, der Verkehrsanlagen und der
städtischen Gaswerke besondere Unterbietungsbedingnisse getroffen wurden.
Die Ausbietungsbedingungen sind keine allgemein verbindlichen Vor-
schriften: sie sind nur innerliche Weisungen für die Behörde, welche im
Namen der Verwaltung die Verträge mit Unternehmern abzuschließen bat
Diese Behörde besitzt nicht die natürliche Handlungsfreiheit eines Privat-
mannes im Verkehre, sondern sie muß die als gut anerkannten Maßregeln
anwenden. Da die Verwaltung nur auf Grund der vorgeschriebenen Bedin-
gungshefte Verträge abschließt, so muß ein jeder Unternehmer diese Be-
dingungen annehmen. Sie bilden also für den Unternehmer ein Recht, aber
nur ein Vertragsrecht. Aus diesem Charakter der Versteigerungsbedingungen
fließt, daß sie nichts den zwingenden Vorschriften des Privatrechtes wider-
sprechendes enthalten können. Anderseits werden die Vertragsbedingungen
seitens der Verwaltung im vi rhinein festgestellt und es ist nicht zulässig,
daß von den Bewerbern Abänderungen oder Gegenbedingungen beantragt
werden. Obwohl also die Vergebung der Arbeiten die äußere Form eines
Privatvertrages besitzt, innerlich weist sic einen anordnungsmäßigen Charakter
auf. Die Vertragsbedingungen teilen sich in allgemeine und besondere.
u) Allgemeine Vertragsbedingungen enthalten diese Bestimmungen, welche
bei allen Verträgen des betreffenden Verwaltungszweiges Anwendung
finden; sic regeln das Verhältnis des Unternehmers zur Verwaltung,
zu den Arbeitern und zu dritten Personen, sowohl die gegenseitigen
Rechte als auch die Pflichten aus dem Vertrage.
*) Der Arbeiterschutz bei Vergebung öffentlicher Arbeiten und Lieferungen, Wien,
1900, S. 196 ff. ßei Vergebung des Baues der vom Staatsschätze subventionierten Lokal-
bahnen ist es gesetzlich geboten. (Art. XU des tiesetzes vom 21. Dezember 1»9S,
Nr. 233 R.-G.-Bl.)
14*
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192
Rreni^wicz.
b) Die besonderen Vertragsbedingungen bestehen wieder aus zwei vonein-
ander verschiedenen Teilen: der erste Teil enthält jene Angaben, welche
bei der besonderen Gattung der Arbeiten immer Anwendung linden und
sonach den wesentlichsten Inhalt des abgeschlossenen Vertrages hilden,
d. i.: die Gattung der Arbeiten, Beschaffenheit der Materialien und
den Ort der Ausführung des Baugegenstandes, die Summe, welche als
Reugeld von den Bewerbern vor der Versteigerung erlegt werden muß.
die Höhe der Sicherheitsleistung des Unternehmers, die zur Ausfflhrung
der Arbeiten bestimmte Zeit, die Haftzeit nach Vollendung des Baues
und die Zahl der Fristzahlungen. Den zweiten Teil der besonderen Be-
dingnisse bilden alle technischen Bedingungen, welche sich einzig und
allein auf den betreffenden Baugegenstand und dessen eigentümliche
Verhältnisse beziehen. Die besonderen Baubedingnisse sollen überhaupt
alle einzelnen Andeutungen und Vorschriften enthalten, welche ver-
bunden mit den allgemeinen technisch-administrativen Baubedingnissen
notwendig und genügend sind, um einem Bauverständigen die Pflichten
und Rechte des Vertragschließenden bestimmt und unzweideutig er-
sichtlich zu machen.
Sowohl die allgemeinen als auch die besonderen Bedingnisse bilden
bei der Ausbietung keinen Gegenstand der Verhandlung: sie dürfen nicht
geändert werden und sind die feste Grundlage des Vertrages. Den Gegen-
stand der Verhandlung bildet nur der Preis der Leistungen. Zur Ermittlung
dieses Preises dienen die von der technischen Behörde verfaßten Verzeich-
nisse, und zwar:
a) der summarische Kostenüberschlag, welcher aus der Zusammenstellung
der verschiedenen Gattungen von Bauerfordernissen, ihrer Menge und
den Gesamtkostenbetr&gen besteht:
b) die Preisverzeichnisse, in welchen die Einheitspreise sämtlicher Mate-
rialien und sonstiger Bauerfordernisse ausgeführt werden.
Die Hintangabe eines Unternehmens erfolgt:
a) nach Gesamtkosten, wenn eine vorbestimmte Arbeit um einen fest-
gesetzten Betrag übernommen wird;
b) nach Einheitspreisen, wenn die Verbindlichkeit übernommen wird, den
Bau gegen bestimmte Preise für einzelne Leistungen herzustellen:
c) teils nach Gesamtkosten, teils nach Einheitspreisen: in diesem Falle
ist dag Unternehmen gemischt.
Es kann ferner die Vergebung sämtlicher Arbeiten an einen einzigen
Unternehmer oder die gruppenweise Vergebung an verschiedene Unternehmer
stattflnden.
B. Die Hintangabe der Arbeiten.
Die öffentliche Ausbietung hat den Zweck, durch Zulassung mehrerer
Mitbewerber möglichst günstige Bedingungen für die Verwaltung zu erreichen
und diese vor dem Vorwurf der Parteilichkeit zu schützen. Ausnahms-
weise kann eine beschränkte Bewerbung oder der Abschluß des Vortrages
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Das Kcclit der Offeutlicbcu Arbeiten.
193
mit einem bestimmten Unternehmer ohne Ausbietung1) angeordnet werden,
wie ■/.. B. bei ungünstigen Gewerbeverhältnissen, in technisch schwierigen
Fällen oder bei Kunstleistungeil.
Im Ausbietungsverfaliren’ lassen sich sechs Abteilungen unterscheiden:
1. Öffentliche Bekanntmachung der Ausbietung.
Sobald ein Bauentwurf von der zuständigen Behörde genehmigt ist,
hat die Baubehörde, welcher die Oberleitung des Baues zusteht, die Aus-
hietungskundmachung zu verlautbaren, ln dieser Kundmachung ist anzugeben:
n ; die Beschaffenheit, der Ort und Kostenbetrag des Baues. Zeitangabe
und Geschäftszahl der Baubewilligung uud die Behörde, von welcher
dieselbe erteilt wurde;
h) ob der Bau nach den Gesamtkosten oder nach Einheitspreisen oder
oh er teilweise in der einen und in der anderen Art vergeben wird;
<■) der Betrag, welcher zur Sicherung des Anbotes und welcher nachher
als Sicherheitsleistung zu erlegen ist;
il) Ort und Behörde, wo, daun Tag und Stunde, wann die Ausbietung
abgehalten wild;
cj Angabe der Stunden und des Ortes, wo die Entwurfsui künden ein-
gesehen werden können.
Die Aiisbiet-iingskundniachnng wird in der Gemeinde, wo der Bau
ausgefflhrt werden soll, in dem betreffenden Bezirke und an dem Sitze der
politischen Landesbehörde veröffentlicht und zugleich in das Anzeigeblatt
der Kegierungszeitung eingeschaltet. Bei Arbeiten vou höherem Betrage
(fiber 10. onu Kronen) ist diese Kundmachung außerdem auch in den angren-
zenden Kronländern zu verbreiten und in der Wiener Zeitung zu ver-
öffentlichen.
Vom Tage der Kundmachung bis zur Vergebungsverhandlung muH
die Zeitinst so bemessen werden, daß den Bewerbern Zeit zur Prüfung der
Behelfe und Bedingungen bleibt. Zu diesem Zwecke werden am Sitze der
hauleitenden Behörde folgende Entwurfsurkiiiiden zur Einsicht ausgelegt:
a) der summarische Kostenübcrschlag,
b) das Verzeichnis der Einheitspreise,
c / die altgerueiuon technisch administrativen Baubedingnisse, und
d) die besonderen Baubedingiiisse mit den allenfalls notwendigen Zeich-
nungen.
') ln Frankreich (Dekret vom IS. November 1882, Art. IS, und Ordonnanz vom
14. November 1887. Art. 2) und Italien (Dekret über die .Staatsverwaltung und Ver-
rechnung vom 17. Febtuar 1K84, Art. 4) ist die Vergebung der Arbeiten aus freier
Hand nur in genau bestimmten Fällen gestattet
V) Das Verfahren ist mit Instruktion der gcw. Generalbaudircktion vom 15. De-
zember 1851 (Verordnungsblatt des Handelsministeriums vom Jahre 1H52, 3M. 1, 8. 8,
Form. A. i geregelt. In Frankreich sind die betreffenden liestimmungen in der Verordnung
vom 14. November 1837 für Gemeindesrbeiteu und im Dekret vom 18. November 1882
für Staatsarbeiten zusammengestellt. Für ltalieu bat das Dekret vom 17. Februar 1884
(l.egge soll amministrazione dello Stale in Art. 3 bis 12 und die Volhngeverordnnng vor
■I Mai 1885 in Art. 37 bis 122 wehr genaue und klare riestiuimuogen gegeben.
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Bresiewicz.
1!'4
2 Pie Zusammensetzung der Vergebungskommission.
Die Ausbietung wird abgehalteu: gewöhnlich ira Lokal der Behörde,
welche den Vertrag abschließt. oder nach Umständen bei der politischen
Behörde im Orte, wo der Bau ausgeführt werden soll. Die Verhandlung ist.
eine konrniissionelle. Die Zusammensetzung der Kommission ändert sich je
nach dem Gegenstände der Verhandlung und der sie abbaltenden Behörde.
Grundsätzlich werden als Mitglieder Bau- und Recbnungsbeamte zugezogen.
Den Vorsitz hat der Vorstand der Baubehörde, bei welcher die Versteigerung
stattfindet oder ein von ihm beauftragter Baubeamtcr zu fahren.
3. Einreichung der Anbote.
Zur öffentlichen Ausbietung wird in der Kegel jedermann zugelassen:
ii) der nach den Bestimmungen der bürgerlichen Gesetze die Befähigung
zum Abschlüsse eines gültigen Vertrages besitzt: es kann sowohl eine
einzelne Person als auch eine aus mehreren Personen bestehende
Genossenschaft sein;
h) der das vorgeschriebene Reugeld erlegt:
r) gegen dessen Redlichkeit kein Anstand obwaltet: dieses muß durch ein
Rechtlichkeits- und Leistungstalngkeitszeugnis der Handels undGcwerbe-
kamnicr oder der zuständigen politischen Behörde bewiesen werden;
d) der nicht etwa schon bei irgend einer öffentlichen Bauunternehmung
als vertragsbröchig erklärt worden ist.
Die Anbote können schriftlich oder »ländlich gemacht werden, je
nach der in der Kundmachung der Verhandlung zugelassenen Art und
Weise. Die schriftlichen Anbote müssen, abgesehen von etwaigen in der
Ausschreibung besonders geforderten Punkten, enthalten:
n ) genaue Bezeichnung des Bewerbers, seiner Beschäftigung und seines
Wohnortes; seitens gemeinschaftlich bietender Personell die Erklärung,
daß sie sich für das Angebot zur ungeteilten Hand verbindlich machen
und die Bezeichnung des für die Geschäftsführung Bevollmächtigten;
b) Angabe der geforderten Preise, und zwar sowohl die Angabe der
Einheitssätze ads des Gesamtpreises. Bei den Arbeiten, welche in
Bausch und Bogen hintangegeben werden, muß die angebotene Summe
oder der Nachlaß oder Zuschuß auf die Kostenüberschläge, bei den
Anboten nach Einheitspreisen die Aufzählung des Nachlasses in Pro-
zenten genau angegeben werden:
c ) eine Erklärung, daß der Bewerber von den in der Ausschreibung
bekannt gegebenen Bedingungen, Entwürfen u. s. w. genaue Kenntnis
genommen hat und dieselben ohne Vorbehalt als maßgebend anerkennt;
dj die amtliche Bestätigung über den Erlag des Reugeldes von 5 Proz.
des gesamten Baukostenbetrages im Baren oder in pupiUarinäßigen
Wertpapieren.
Die Einreichung der Angebote muß längstens bis zu der in der Aus-
schreibung festgesetzten Stunde des daselbst bestimmten Tages erfolgen.
Später einlangende Angebote sind von der Verhandlung ausgeschlossen.
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I>M Hecht der öffentlichen Arbeiten.
195
Hei «1er mündlichen Verhandlung, nenn sie angeordnet wurde, muß
«las Heugeld vor der Ausbietung erlegt werden. Denjenigen Unternehmungs-
lustigen. welche bei der öffentlichen Vergebung aus was immer filr Ursachen
zu erscheinen verhindert sind, ist gestattet, sich durch einen Bevollmächtigten
vertreten zu lassen; dieser hat sich bei der Kommission mit einer gesetz-
lichen Vollmacht auszuweisen. Die Bietenden sind aufzufordern, ihre Anbote
abzugeben. Diese Anbote lauten wie bei schriftlichen auf Nachlaß von Ein-
heitspreisen oder vom Gesamtbeträge. Das Ergebnis der mündlichen Ver-
handlung ist im Protokolle festzustellen.
4. Eröffnung «1er Anbote.
Allsogleich nach dem Schlüsse der mündlichen Vergebungsverhandlung
oder nach Ablauf der zur Überreichung der schriftlichen Angebote fest-
gesetzten Zeit werden die schriftlichen Anträge eröffnet.
Wenn die Behörde, welche die Ausbietung vernimmt, das Ergebnis
derselben für den Baufonds nicht vorteilhaft findet, kann sie sämtliche
Angebote zurückweisen: es bleibt ihr freigestellt, eine zweite und selbst
eine dritte Vergebuugsverhandlung zu veranstalten. Zwischen je zwei solchen
Verhandlungen soll ein Zeitraum von mindestens zwei und höchstens dreißig
Tagen liegen, welcher Zeitraum nach Maßgabe der größeren oder geringeren
Wichtigkeit und Dringlichkeit des Baues zu bemessen ist. Sonst hat die
Kommission das Bestbot sofort festzustellen und unter Erwägung aller
maßgebenden Verhältnisse das begründete Gutachten zu Protokoll zu geben.
Gewöhnlich wird der Mindestfordernde als Ersteher kundgemacht. Die ver-
gebende Behörde hat jedoch das itecht völlig freier Wahl, ob das Bestbot
oder etwa ein anderes Anbot empfehlenswert sei. Das Reugeld wird den-
jenigen. deren Anträge nicht angenommen wurden, nach erfolgter Hintangabe
der Arbeiten unverzüglich zurückgestellt, das des Meistbieters jedoch zur
Sicherstellung der Verwaltung bis zur gänzlichen Erfüllung der Vertrags-
verbindlichkeiten zurüekbehalteu.
Der Ersteher und sämtliche Mitglieder «1er Vergebungskommission
haben das Verhandln ngsprotokoll und alle Urkundenstücke, welche die Bei-
lagen desselben bilden, zu unterfertigen. Im Falle der schriftlichen Angebote
werden die Bewerber mittels schriftlicher Bescheide von der Annahme oder
Ablehnung ihrer Auträge verständigt. Der Bauersteher wird au sein Anbot
von dem Augenblicke an gebunden, als sein Antrag von der Vergebungs-
komurissiou angenommen wurde, die Verwaltung erst vom Tage der
Genehmigung des Anbotes durch die höhere Behörde.
5. Genehmigung der Vergebung* Verhandlung.
Die Zuerkennung «les Baues hat immer uuter dem Vorbehalte der
höheren Genehmigung zu geschehen. Zu diesem Zwecke hat die Behörde,
welche die Ausbietung eines Baues besorgt, das Vevgebungsergebnis behufs
Genehmigung desselben der Vorgesetzten Behörde vorzulegen, dabei sowohl
über die Rechtlichkeit und den Hilf «les Erstehers ihre Äußerung abzugeben
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Brcuiewicz.
I9B
uud einen bestimmten Antrag zu stellen. Nur iu Fällen, wo offenbare Gefühl'
am Verzüge haftet, kann die Arbeit, wenn dieselbe erstanden ist, in Uewür-
tigung der Genehmigung sogleich unternommen werden.
Die Mitbietenden haben gegen den Beschluß der Ausbietungskoumiissiou
keine Berufung wegen vermeintlicher Verletzung ihrer Beeilte, auch iu dem
Falle, wenn die Vorschriften bei der Verhandlung irrig angewendet werden
sollten; diese Vorschriften bestehen nur zu Gunsten der Verwaltung und
haben uur den Zweck, dieselbe vor Schaden zu sichern; sie gehen aber den
Vertragsbewcrborn keine persönlichen Beeilte. Etwaige Beschwerden wird
jedoch die zur Genehmigung berufene Behörde prüfen und wenn sie das
Interesse der Verwaltung verletzt erachtet, wird sie die Genohmiguug einem
anderen Mitbietenden erteilen können.
6. Abschluß des Vertrages.
Sobald das Ausbietuugsergebnis von Seite der berufenen Behörde
bestätigt ist, hat die Behörde den Unternehmer innerhalb einer angemessenen
Frist zum Abschlüsse des Vertrages und der Leistung der Kaution aufzu-
fordern. Wenn der Unternehmer am bestimmten Tage nicht erscheint, ver-
liert er die Hälfte seines Beugeides. Die Behörde hat in diesem Falle eine
neuerliche Frist zum Abschlüsse des Vertrages anzuberaumen. Bei Ver-
säumung dieser Frist wird der Unternehmer als vertragsbrüchig erklärt,
die zweite Hälfte des Beugeides eingezogen uud die Arbeiten werden nach
dem Ermessen der Verwaltung ausgeführt. Es hat jedoch die Verwaltung
das Hecht und die Wahl, den Unternehmer auf Grund seines genehmigten
Antrages und der von ihm unterschriebenen Vertragsbedingungen und Bau-
behelfe zur Erfüllung des Vertrages auf gesetzlichem Wege zu verhalten.
Beim Abschluß des Vertrages muß der Unternehmer zur Sicherstellung
für alle Forderungen beziehungsweise Ersatzansprüche und Haftungen aus
dem Vertrage einen Betrag erlegen, welcher im Vereine mit dem Beugeide
die Kaution zu bilden hat. Bei Bestimmung der Kautionssumme wird nicht
allein auf den Kostenbetrag, sondern auch auf die Gattung des Baues und
die Zufälligkeiten, welchen derselbe unterliegt, Kflcksicht genommen und
nach Maßgabe dieser Umstände die Höhe der Kaution auf 5 Proz. bis
10 l’roz. des Erstehungsbetrages der Bauherstellungen bestimmt. Die Kaution
ist in Bargeld oder in öffentlichen Wertpapieren nach dem Börsekurse
berechnet, zu erlegen. Nur ausnahmsweise, mit besonderer Bewilligung der
Oberbehörde, kann eine grundbücherlicb gesicherte Kaution oder eine
Geaamtbürgschuft angenommen werden. Die Kaution dient als Sicherstellung
für Erfüllung aller Vertragsbedingungen, als Fonds für Entschädigung aller
durch Nichterfüllung entstandenen Schäden und Bückersatz der über den
Endabrechnuiigshetrag geleisteten Vorauszahlungen.
Als wesentliche Beilagen und Bestandteile des Vertrages sind das
Vergebungsprotokoll mit seinen Belegen und eine beglaubigte Abschrift des
GenehmigungserlasBes zu betrachten. Im Vertrage ist sodann die Zeit zu
bestimmen, wann dem Unternehmer der Bau übergeben wird und wann
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Das Recht <ler ßffentlirhen Arbeiten- 1*>7
derselbe iu Angriff zu nehmen ist. Ferner muh erklärt werden, ob und in
welcher Art und Weise der Ereteher die Kaution geleistet hat. Der Bau-
vertrag ist der Oberbehörde ebne Verzug zur Genehmigung vorzulegcn und
wenn diese erfolgt ist, dem Ersteher eine beglaubigte Abschrift desselben
mitzuteilen. Sobald der Vertrag zu stände gekommen ist, kann der Bau
unternommen werden, wenn auch dessen Bestätigung noch aussteht, und es
ist letztere nur in jenen Fällen abzuwarten, wenn dies besonders ange-
orduet wird.
C. Die Rechtsfolgen des Vertrages.
Jede der vertragsschließenden Parteien bat das privatrechtliche Recht
auf genaue Erfüllung des Vertrages. Insbesondere:
1. der Unternehmer, welchem von der Bauleitung der Tag der Über-
gabe der Arbeiten bei Zeiten bekannt gegeben wird, bleibt für jeden
Schaden, welcher aus der verspäteten Übergabe und Einleitung der Arbeiten
der Verwaltung zugelien sollte, verantwortlich und zu entsprechender Ent-
schädigung verpflichtet. Außerdem wird die Bauleitung einen anderen Tag
zur Übernahme mit dem Bedeuten festsetzen, daß der Unternehmer, wenn
er sich auch dieser Anordnung nicht fügen sollte, ohne weiteres als vertrags-
brüchig zu behandeln und mit dem Verluste der geleisteten Kaution von
der Unternehmung auszuscliließen ist.
2. Der Unternehmer muß die Arbeiteu mit Fleiß und Genauigkeit und
nach den anerkannt zweckmäßigsten Grundsätzen ausfübrj?n. Er ist ver-
pflichtet, sich strenge nach allen bestehenden Vorschriften zu richten und
alle einschlägigen VerwaltungsmaUregeln zu beachten. Er bat die Arbeiter
zu verteilen, ihnen jene Arbeiten zuzuweisen, in welchen sic geübt sind,
sie mit geeigneten Arbeitsmitteln und Gerätschaften zu versehen und über
sie zu wachen.
3. ln Fällen, wo die Verzögerung in der Ausführung der Arbeiten
von Seite des Unternehmers nicht gerechtfertigt werden kann, bat derselbe
als geringste Strafe für die ganze überschrittene Zeit die Kosten der Bau-
Überwachung durch den Bauführer, der Bauleitung und der Kommission,
welche infolge jener Verzögerung au Ort und Stelle entsendet wordeu ist.
zu tragen. Wenn jedoch durch die Verzögerung auch Nachteile hervor-
gerufen wurden oder wenn es notwendig ist, den Unternehmer seiner Ver-
tragsverbindlichkeiten zu enthebeu und die Arbeiten in einer anderen Art
forizusetzen, so ist derselbe zur Vergütung der genannten Schäden und zur
Zahlung aller Mehrkosten, die zur Beendigung der Arbeiten notwendig sein
sollten, verpflichtet
Außerdem wird im Vertrage für je 15 Tuge der überschrittenen Bau-
zeit eine angemessene Vertragsstrafe zu Gunsten des Baufonds festgesetzt,
welche bei der nächsten Fristzahlung iu Abzug gebracht werden soll.
Dem Unternehmer liegeu bis zu dem Zeitpunkte, zu welchem die
hergestellten Arbeiten durch die Kollaudierung in allen ihren Teilen als
dem Vertrage vollkommen entsprechend anerkannt sein werden, der Schutz
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I9X
Bnwicwicz.
und die Überwachung seiner Leistungen dergestalt ob. daß er bis dahin
alle daran sich zeigenden Mängel und Gebrechen aus Eigenem zu ergänzen,
nachzu tragen und zu verbessern hat. Zur Deckung von derlei Ausfällen sind
die rückständigen Verdienstsiimmen und die geleistete Kaution des Unter-
nehmers zu verwenden.
4. Vertragsmäßig kann bestimmt werden, daß der Unternehmer auch
eine gewisse Zeit nach Vollendung der Arbeiten für das ausgefertigte Werk
eine Haftung übernimmt. Die Haftzeit ist nicht notwendige Bedingung für
alle Bauten, wohl aber für solche, welche von großem Belange sind oder
welche ihrer Natur gemäß in kurzer Zeit nach ihrer Vollendung einer
Nachbesserung bedürfen, endlich für Herstellungen von ungewöhnlicher Art,
deren gute Ausführung oder Erfolg erst nach einiger Zeit beurteilt werden
kann. In diesem Falle wird in den besonderen Bedingnissen die Kaution
bezeichnet, welche der Unternehmer für die Haftzeit zu erlegen hat.
5. Bei Verträgen in Bausch und Bogen wird der bedungene Preis in
bestimmten gleichen Teilen nach Maßgabe des Baufortschrittes an den
Unternehmer ausbezahlt. Die Zahl der Fristzahlungen richtet sich nach der
Größe der Gesamtkosten. Bei kleineren Arbeiten werden drei bis sechs
Katen, hei größeren mich mehrere festgesetzt, so daß eine ltate von 5 bis
10 Proz. der Gesamtsumme beträgt. Kür Herstellungen nach Einheits-
preisen wird die Verabfolgung der Fristzahl ungen nach Verlauf von gewissen
Zeitabschnitten i eine oder mehrere Wochen) festgesetzt und hiebei auf den
Umfang der Arbeiten Rücksicht genommen. Die Auszahlung während des
Raues erfolgt immer nur nach Maßgabe des wirklichen Arheitsfortschrittes;
der Unternehmer, welcher eine Abschlagszahlung beansprucht, hat den
erzielten Verdienstbetrag durch eine genaue Rechnung gehörig zu begründen.
Sie wird vom Bauleiter geprüft und bestätigt.
Von jeder Abschlagszahlung werden immer 5 Proz. zurückbehalten,
um die Schlußrate zu bilden: sie wird zur Sicherstellung der Verwaltung
für etwaige Unzuträglichkeiten und sonstige Mängel zurüeklielialten.1) Diese
letzte Rate wird erst naeli erfolgter Genehmigung der Endabnahme und
Endabrechnung ausgefolgt. Zugleich wird auch die geleistete Kaution
zurückgestellt.
6. Etwaige Ansprüche des Bauunternehmers auf Entschädigung für
angebliche Mehrauslagen, für Wiederherstellungen, die nicht durch sein
Verschulden herbeigeführt wurden, endlich für Gegenstände überhaupt,
welche weder im ursprünglichen Bauentwürfe, noch in den nachträglich ver-
faßten Entwürfen, Überschlägen und Buurechnuugen berücksichtigt worden
sind, müssen spätestens bei der Endabnahme der Arbeiten erhoben werden,
da sic sonst ausgeschlossen werden.
7. Für alle aus dem Vertrage etwa entspringenden Bechtsstreitigkeiteu.
welche nicht kraft des Gesetzes vor einen ausschließlichen Gerichtsstand
gehören, wird das sachlich zuständige Gericht am Sitze der k. k. Finanz-
prokuratur des betreuenden lindes als ausschließlich zuständig festgesetzt.
lu Frankreich wird 10 Proz. der Zahlungen verlüutig zurückbehalten.
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Das liecht der Affent licheu Arbeiten.
|*)«i
D. Die materiellen Sonderrechte der Verwaltung.
Sie haben den Zweck, die gute Beschaffenheit der Materialien und
die pünktliche Ausführung der Arbeiten zu sichern und den Streitigkeiten
möglichst vorzubeugen. In Österreich sind diese Rechte der Verwaltung
nicht in allgemeinen Gesetzen enthalten, sondern nur in den Vertrags-
bedingungen, uud bilden dementsprechend ein Vertragsrecht. Diese beson-
deren Rechtsfolgen aus einem Vertrage über Ausführung öffentlicher Arbeiten
äußern sich im Verhältnisse der Verwaltung zum Unternehmer, im Ver-
hältnisse des letzteren zu den Arbeitern und im Verhältnisse des Unter-
nehmers zu dritten Persoueu.
Das Verhältnis der öffentlichen Verwaltung zum Unternehmer bewirkt :
1. Die Notwendigkeit der persönlichen Ausführung der Arbeiten.
Der Abschluß des Vertrages erfolgt intuitu persouae und die Ausführung
desselben muß persönlich erfolgen. Die Übertragung der übernommenen Arbeiten
oder auch eines Teiles derselben au einen andern ohue vorher eingeholte
Bewilligung der Verwaltung ist durchaus untersagt. Ein Unternehmer, welcher
die bereits übernommenen Arbeiten ohne Erlaubnis weiter überläßt, ist so
zu betrachten, als wenn er die Arbeiten aufgegeben hätte.
Die die Versteigerung besorgende Behörde kann deswegen den Vertrag
auflösen im Falle des Ablebens des Unternehmers, im Falle der Zahlungs-
unfähigkeit oder im Falle der Verurteilung wegen einer aus Gewinnsucht
begangenen strafbaren Handlung. Nach Auflösung des Vertrages wird
Abrechnung gepflogen, indem die Behörde den auf die ausgefertigten Arbeiten
entfallenden Kostenbetrag sowie den Wert jener Vorgefundenen Materialien,
welche zur Benutzung bei Fortsetzung der Arbeiten geeignet befunden
werden, ausbezahlt.
Der Unternehmer muß sich beständig am Arbeitsorte betindeu oder
sich durch einen Bevollmächtigten vertreten lassen, welcher diu volle Macht
besitzt, allen Verpflichtungen des Unternehmers ohue irgeud einen Vorbehalt
Genüge zu leisten.
2. Die Unterwerfung des Unternehmer» unter die Leitung der HaubchOrde.
Durch den Abschluß des Vertrages unterwirft sich der Unternehmer
der Aufsichtsgewalt der Baubehörde, und zwar:
a) der Unternehmer muß sich auf der Baustelle persöulich eiiitinden, so
oft es von der Verwaltung gefordert wird; er ist verpflichtet, jederzeit
die geforderten Auskünfte zu erteilen, von wichtigeren Ereignissen
(z. B. Behinderung der Bauausführung. Vollendung der nicht mehr
nachzumessenden Arbeiten) sofort Anzeige zu erstatten und die den
Bau kontrollierenden Aufzeichnungen zu unterschreiben;
b) die sämtlichen auf dem Bau beschäftigten Bevollmächtigten, Gehilfen
und Arbeiter des Unternehmers sind bezüglich der Bauausführung und
der Aufrechterhaltnng der Ordnung auf dem Bauplätze den Anord-
nungen der Verwaltung unterworfen. Im Falle der Unfähigkeit oder
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200
Bresiewicx.
Widerspenstigkeit dieser l’ersonuii kann ihre sofortige Entfernung von
der Baustelle verlangt werden ;
c) die Tauglichkeit der Materialien wird vor dem Verbrauche von der
Bauleitung untersucht; im Falle sich der Unternehmer schlechter
Materialien bedient oder selbe schlecht ins Werk gesetzt haben sollte,
muß der auf diese Art hergestellte Teil der Arbeit abgetragen und
auf Kosten des Unternehmers vorschriftsmäßig neu errichtet werden;
d) der Unternehmer muß jenen Vorschrillen entsprechen, welche ihm die
Bauleitung während der Arbeiten von Fall zu Fall erteilen wird und
welche die Art und Weise der Ausführung der Arbeiten betreffen.
Insbesondere bestimmt die Bauleitung den Zeitpunkt des Beginnes
der übernommenen Arbeiten. Wenn der Unternehmer die Arbeiten mit
geringerer Kraft betreibt als unumgänglich notwendig ist. um erstere
in der festgesetzten Frist zu Ende zu bringen oder aus was immer
für einer Ursache die Arbeiten verzögert, so hat die Bauleitung die
Verpflichtung, ihn nicht nur sogleich schriftlich darauf aufmerksam
zu machen, sondern auch die Leistungen zu bestimmen, welche von
ihm geliefert werden müssen, um das Versäumte nachzuholen. Wenn
der Unternehmer in dem ihm von der Bauleitung auf 3— 10 Tage
vorher bestimmten Zeiträume dieser Aufforderung nicht entspricht, wird
üher Bericht der Bauleitung zur kommissionsweisen Erhebung des
Sachverhaltes geschritten. Auf Grund dieses Befundes wird die Kom-
mission, wenn Gefahr am Verzüge haftet, sogleich die ihr als zweck-
mäßig erscheinenden Einleitungen zur gehörigen Fortsetzung des
Baues treffen; wenn aber ein Aufschub zulässig ist, die geeigneten
Anträge der Vorgesetzten Baubehörde vorlegen. Wenn die letztere
die Vorkehrungen der Kommission genehmigt, erhalten sie ihre volle
und unwiderrufliche Gültigkeit;
c) in jedem Falle steht es der Baubehörde frei, alle jene Maßregeln zu
ergreifen, welche zur unaufgehaltenen Erfüllung des Vertrages führen.1)
Wenn der Bauunternehmer sich weigern sollte, die von ihm geforderten
Arbeiten, Nachbesserungen, Ergänzungen und Umänderungen vorzu-
nehmen, so ist diese Arbeit uaeh vorausgegaugencr fruchtloser Auf-
forderung dem Vertrage gemäß auf Kosten und Gefahr des Bauunter-
nehmers durch die Bauleitung zu vollziehen. Die betreffenden Auslagen
werden von dem Guthaben des Bauunternehmers in Abrechnung
gebracht;
f) im Falle sich der Unternehmer während der Dauer der Arbeiten durch
die Beamten bei der Überwachung, Prüfung oder Übernahme der
Arbeiten in seinen Kochten geschädigt erachtet, hat er bei der Behörde,
welche den Vertrag abgeschlossen hat, darüber Beschwerde zu führen
beziehungsweise deren Entscheidung anzurufen. Gegen diese Ent-
scheidung kann er au die höhere Verwaltungsbehörde Berufung
’) Hnfkiuiileidekiwt vom 2!l Jnnl 1820. 1». G.-S. IM. IS, Nr. 80, 8. HO.
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Pas Recht 1t Öffentlichen 4 rbriten.
201
ergreifen und erst dann, wenn er eich Mich dieser Entscheidung nicht
fügen will, steht ihm die Betretung des Rechtsweges ollen ;
ij) überhaupt hei Zweifeln oder Meinungsverschiedenheiten zwischen der
Bauleitung und Bauunternehmung über den Sinn und die Anwendung
der allgemeinen oder besonderen Baubedingnisse oder des Vertrages,
wird die Entscheidung über derlei Streitpunkte im Instanzenzuge von
den Verwaltungsbehörden gefüllt. Es bleibt jedoch dem Bauunternehmer,
nachdem er in allen Instanzen eingeschritten ist. unbenommen, den
Rechtsweg einzuschlagen.1'! Der vertragsmäßige Verzicht auf den
Rechtsweg ist unzulässig5) und wäre rechtlich unwirksam.
Daraus ist zu entnehmen, datl die Verwaltungsbehörden im admini-
strativen Instanzenzuge alle Entscheidungen fällen und vollziehen, welche
die Erfüllung des Vertrages und die beiderseitigen Rechte betreffen. Dieses
in allen lindern bestehende Recht der Verwaltung zur Vollziehung der
noch nicht rechtskräftigen Anordnungen hei Vergebung der öffentlichen
Arbeiten wird in Frankreich sehr richtig „privilhge du preable* genannt.
Es ist ein Ausfluß des tledankens, laut welchem die die öffentlichen Pflichten
bestimmenden Anordnungen sofort vollstreckbar sind, damit der (lang der
öffentlichen Verwaltung durch Beschwerden nicht gehemmt werde. Diese
Entscheidungen sind zwar nur ad interim bindend — es ist jedoch die
große Wirkung einer vorläufigen Entscheidung nicht zu verkennen. Die
Verwaltung macht ihre Rechte selbst geltend und setzt sie in Vollzug; der
Vertragschließer muß die schwierigere Rolle des Klägers im gerichtlichen
Streite übernehmen und die gerichtliche Entscheidung abwarten. Nicht jeder
ist ökonomisch so mächtig, um die mögliche Auflösung des Vertrages und
den Verlust der Kaution sowie der Verdienstbeträge zu wagen, und wird
sich lieber den Anordnungen der Verwaltung fügen. Die endgültigen Ent-
scheidungen werden immer nur von Gerichten gefallt, weil die gesetzlichen
Bestimmungen über die Grenzen der administrativen und richterlichen
Zuständigkeit zwingender und nicht bloß willkürlicher Natur sind, so daß
sie weder durch die Ausübung der Behörden noch durch Privatübereinkünfte
der Parteien verrückt werden können." i
■) Pas französische Hecht weist alle Streitigkeiten aus den Verträgen über Offent-
liehe Arbeiten den Verwaltnngagerichten zu (Gesetz vom 28. Ploviose de Tan VIII,
Art. 4). In Preußen entscheidet ein von beiden Parteien berufene- Schiedsgericht (die
Vertragsbedingungen 8 29); in Italien ein au» höheren Beamten berufenes Schieds-
gericht (Capitolato generale del genio cirile Art 42; condizioni generali de! genio
miiitare Art. 79). Überall muß jedoch die Streitsache zuerst im Verwaltungswege aus-
getragen werden. In Preußen gilt die Entscheidung der Verwaltungsbehörde als aner-
kannt. falls der Unternehmer nicht binnen vier Wochen eine schiedsrichterliche Ent-
scheidung beantragt : in diesem Palle entscheiden die von den Parteien ernannten
•Schiedsrichter (die Vertragsbedingungen § 29). In Italien beträgt die Frist zum Anträge
auf schiedsrichterlich'' Entscheidung SO Tage (Capitolato generale Art. 45; condisioni
generali Art. 82).
*) Hofdekret vom 10. Dezember 1819, J. G.-S. 1685. Anh. 4.
3! Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 21. Dezember 1881, Rudwinski
Nr. 1242.
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202
Bresiewicz.
3. Die Zulässigkeit gewisser Änderungen des Vertrages.
Während der Ausführung eines Baues dürfen keine wesentlichen
Änderungen eintreten, d. i. solche, welche das Wesen und die Natur
desselben berühren: es kann z. B. anstatt einer eisernen Brücke keine
steinerne gefordert werden. Die zulässigen Änderungen können also nur die
Menge der Arbeiten und die Zeit der Ausführung betreffen.
n) Im Zuge eines Banes kann sich die Notwendigkeit von Mehrarbeiten
heraussteilen, ln diesem Falle werden vom Bauführer und Bauleiter
mit Zuziehung des Unternehmers Erhebungen gepflogen, um dasjenige,
was zu geschehen hat. zu ermitteln und ordnungsmäßig zu berechnen.
Solche Erhebungen sind protokollarisch zu behandeln, mit der Angabe
der Hauptveranlassungen, mit der Beschreibung und den Zeichnungen
der aiiszuführenden Mehrarbeiten zu versehen und mit Überschlägen
der höheren Baubehörde vorzulegen, welche darüber entscheidet. Wenn
die Notwendigkeit einer Mehrarbeit nnvorgesehen eintritt und ohne
daß die Zeit zur Einholung einer höheren Genehmigung zu den zu
treffenden Vorkehrungen vorhanden ist. indem Gefahr am Verzüge
haftet., berichtet die Bauleitung hierüber sogleich an die Vorgesetzte
Behörde, weist aber zu gleicher Zeit den Unternehmer an. die nut-
wendigen Arbeiten sofort zu beginnen.
In beiden Fällen ist der Unternehmer verbunden, der Anordnung
der Baubehörde zu entsprechen und die geforderten Mehrarbeiten urn den
im Vertrage verabredeten l’reis auszuführen.1) Wenn solche Arbeiten
notwendig sind, welche in den ursprünglichen Voranschlägen nicht
bewertet erscheinen, so kann die Baubehörde die bezüglichen Arbeiten
den Unternehmer ausfflhren lassen oder sie einem andern Unternehmer
übergeben. Die Preise werden auf Grund der im Vertrag bewerteten
ähnlichen Arbeiten und der üblichen Tagespreise mit dem Unternehmer
vereinbart oder von der höheren Baubehörde einstweilen festgestellt.
Falls eine Arbeit ausgeführt werden mußte, welche sich nicht bewerten
läßt, wird sie im Taglohne ausgeführt und dem Unternehmer auf
Grund der von dem Bauführer bestätigten Zahlungsbogen mit einem
lOproz. Zuschlag für Werkzeuge und Aufsiehtskosten entlohnt. Nie
darf die Arbeit wegen der noch nicht erfolgten endgültigen Entscheidung
betreffs der Notwendigkeit derselben oder des Preises vom Unter-
nehmer aufgehalten werden.
Wenn während der Ausführung der Arbeiten Umstände eintreten,
welche nach dem Urteile der die oberste Leitung der Arbeiten
besorgenden Behörde die Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit einer
Verminderung der Arbeiten herbeiführen, ist der Unternehmer ver-
pflichtet, die Leistungen in der ihm von der Bauleitung vorgezeichneten
Art einzuschränken und sich daher auch die entsprechende Verminderung
*) In Preußen kennen dem Unternehmer keine in den Bauentwürfen nicht vor-
gesehene Arbeiten ohne deasen Zustimmung übertragen werden (§ 1, Z, 2 der Vertrags-
bedingungen).
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Da* Rächt '1er öffentlichen Arbeiten. 20R
der Zahlung gefallen zu lassen.') Nur bei gänzlicher Einstellung der
Arbeiten ohne Verschulden des Vertragschließers, wenn die ermittelte
Verdienstsunmie nicht zwei Drittel der veranschlagten Bausumme
erreicht, wird ihm eine Entschädigung gewöhnlich in einem Prnzent-
hetrage des Unterschiedes zugesichert ;*)
bi die fflr die Ausführung der Arbeiten im Vertrage genau angegebene
Zeit muß strengstens eingehalten werden. Bei der Bemessung dieser
Zeit ist iui vorhinein jener Zuschuß einzubeziehen, welcher mit Kiicksicht
auf die wahrscheinlichen gewöhnlichen Unterbrechungen in der Arbeit
notwendig ist.
Der Zeitpunkt des Beginnes der Arbeiten wird mittels eines von der
Bauleitung mit dem Unternehmer nufgenomnienen Übergabsprotokolles
urkundlich festgesetzt und die Zeit der Ausführung wird nach unmit-
telbar aufeinander folgende Tage oder Monate, ohne Ausnahme und
ohne irgend einen Vorbehalt, gerechnet. Für gewöhnliche Unter-
brechungen, wie sie z. B. durch Kegenwetter verursacht werden, wird
keine weitere Nachsicht zugestanden. Eine Ausnahme besteht nur
dann, wenn während der Ausführung einer hintangegehenen Arbeit
die Notwendigkeit einer Mehrarbeit hervortritt oder die Elementar-
ereignisse an dem schon hergestellten Teile der Arbeit einen erweis-
lichen Schaden verursachen. In dem einen wie im andern Falle wird
dem Unternehmer die Frist um diejenige Zeit hinaus gerückt, welche
der bezüglichen Mehrarbeit entspricht. Die Verwaltung kann hingegen
die Arbeiten zeitweise einstellen (jedoch nicht über ein volles Jahrl
und der Vertragschließer hat aus Anlaß dieser Einstellung keinen
Anspruch auf eine Entschädigung. Durch die zeitweise Unterbrechung
wird die verabredete Beendigungsfrist der Arbeiten um die Dauer der
Unterbrechung verlängert.
Das Verhältnis des bauführenden Unternehmers zu dritten an
den Arbeiten nicht beteiligten Personen ist grundsätzlich eine Privat-
sache, welche im Streitfälle auf den Rechtsweg gehört. Bei öffentlichen
Arbeiten trachtet jedoch die Verwaltung danach, daß diese nicht-
beteiligten Personen keine Vermögensnachteile erleiden. Die Bauunter-
nehmung wird vertragsmäßig verpachtet, den Privaten des Ortes, wo
die Arbeit ausgeführt wird, alle ihnen während der Ausführung, sei es
durch Gewinnung und Transport der Materialien oder durch irgend
eine Besitznahme, zugefügten zeitweiligen Nachteile oder Beschädigungen
zu vergüten. Die für solche Entschädigungen im vorhinein berechnete
') In Preußen hat der Unternehmer in diesem l alle Anspruch auf den Ersatz, des
Hon daraus nachweislich entstandenen wirklichen Schadens (Vertragsbedingungen § 5).
In Italien (Codice dei lavori pubblici Art. 344 > muß sich der Unternehmer eine Ver-
mehrung oder eine Verminderung der Arbeiten um '/» de» Preises gefallen lassen; in
Frankreich um t (Art. 30. 31, 32 cahieri. Sonst kann er die Auflösung des Vertrages
verlangen.
’) I» Italien 10 Prot. (Codice dei lavori pobblici Art. 345).
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201
BreMMrir*.
Summe wird von dem Unternehmer in jedem Kalle in Bauseh und
Bogen übernommen. Sobald die Arbeiten ihrer Beendigung nahe sind,
wird es von der Bauleitung der politischen Ortsbehörde angezeigt,
damit diese öffentlich kundmache. die verletzten Privateigentümer,
welche die ihnen gebührende Entschädigung nicht erhalten haben
sollten, mögen innerhalb zweier Wochen ihre Forderungen gegenüber
dem Unternehmer der Bauleitung angeben, welch letztere den Unter-
nehmerdavon sogleich in Kenntnis zu setzen hat. Wären die besagten Ent-
schädigungen nicht geleistet, so wird dem Unternehmer sein Guthaben
so lange zurückbehalten, bis derselbe die volle Erfüllung dieser Ver-
bindlichkeiten darzutun vermag. Die Ausgleichungsheträge für die
bleibende Grundbesitznahme und für die immerwährenden Eigentums-
verluste werden von der Verwaltung unmittelbar an die betreffenden
Beschädigten geleistet. Die für zeitweilige Beschädigungen an Private
berechnete Summe wird dem Unternehmer erst dann ausbezablt, wenn
die Bauleitung demselben das Zeugnis ausstellt, daß die Arbeiten
vollendet oder so weit vorgeschritten sind, daß kein Anlaß zu weiteren
Beschädigungen vorhanden ist, und wenn der Unternehmer über die
seinerseits geleisteten Entschädigungen sich mit Bestätigungen der
Beteiligten auszuweisen vermag.
VI. Verleihung öffentlicher Unternehmungen.
Bei Arbeiten, welche in eigener Kegie oder vom Unternehmer aus-
geführt werden, gibt die Verwaltung die Geldmittel. Der Staat und die
öffentlichen Verwaltungskörper besitzeu aber nicht immer die nötigen Geld-
vorräte, um gemeinnützige und notwendige Arbeiten, welche viele Millionen
kosten, herzustellen : auch ist es nicht immer ratsam, diese Geldmittel im
Darlehenswege aufzubringen, weil dadurch der öffentliche Kredit zu sehr
in Anspruch genommen wäre. Die größten öffentlichen Arbeiten der Neuzeit
wären nicht zu stände gekommen, wenn mau Privutkapitalien nicht heran-
ziehen könnte. Die Privatpersoneu oder Gesellschaften übernehmen die Last
der Arbeiten, wenn sie die Zusicherung erhalten, daß sie während gewisser
Zeit den Nutzen des Werkes ziehen können werden, um ihr Anlagekapital
zu amortisieren und die Verzinsung desselben zu erreichen. Diese Zusicherung
wird ihnen in der Verleihung gegeben.
Der Zweck der Verleihung ist, ein öffentliches Unternehmen ins Lebe«
zu rufen. Die Verleihung ist also nur eine Art der Sicherstellung der öffent-
lichen Unternehmung. Das ist die Auffassung des österreichischen Hechtes,1)
') Lehrreich in dieser Hineicht iet Art. I de» Gesetze* vom 25. November 1 8.-3,
K.-G.-Bl. Nr. 173, über die bOlnmsch-in&hrischen Transversalbahnen, und Art. YFliI des
.lern Gesetze vom 13. Juli Ibt(2. R.-G.-B1. Nr. 109, Ober die AuslQhnmg Öffentlicher
Verkehrsanlagen in Wien beigeschlossenen Programme, laut welchen gewisse Bahn-
strecken auf Kosten des Staates beziehungsweise der Kommission für Wiener Anlagen
hergestellt werden sollen, insoweit es nicht möglich ist, die Ausführung derselben im
Wege der Konsessionserteilung an eine Privatuuternehrnung sieherzustellrn.
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Das Recht der öffentlichen Arbeiten.
205
welche vollkommen mit dem französischen und italienischen Beeilte über-
einstimmt; es ist aber nicht die Auffassung der österreichischen und
meistenteils auch nicht der deutschen Rechtswissenschaft.1)
A. Gegenstand der Verleihung.
Die Verleihung öffentlicher Unternehmungen ist nur dort möglich, wo
das fertige Werk einen Geldnutzeil abzuwerfen im stände ist; fast alle Ver-
leihungen beziehen sich auf Verkehrsanstalten, wie Straßen, Brücken, Über-
fuhren, Schiffahrtskanüle, Eisenbahnen. Trambahnen und Fernsprechanlagen ;
es kommen noch die Wasser- und Gasleitungen sowie die Stadtkanäle
hinzu. In früheren Jahrhunderten waren die Verleihungen sehr häufig; in
der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts wurden jedoch vielo dieser Anlagen
eingelöst und werden weiter von der öffentlichen Verwaltung selbst
geführt. Mit der Zeit sind jedoch neue Anstalten und neue Verleihungen
entstanden.
1. Die wichtigste von allen ist die Eisenbahnkonzession; sie zeigt
auch in den Gesetzen die allseitigste Ausbildung und ergibt deswegen den
natürlichen Faden für die weitere Darstellung. Das Konzessionswesen der
Eisenbahnen ist in Österreich mit Verordnung des Ministeriums für Handel
und öffentliche Bauten vom 14. September 1854, K.-G.-Bl. Nr. 238,’) mit
Gesetz vom 31. Dezember 1894, B.-G.-B1. Nr. 2 ei 1895, über Bahnen
niederer Ordnung, und mit Verordnungen des Handelsministeriums vom
25. Jänner 1879, K.-G.-Bl. Nr. 19, und vom 29. Mai 1880, K.-G.-Bl. Nr. 57,
geregelt. Die Eisenbahnen waren zuerst lediglich Gegenstand von Privat-
unternehmungen. Die steigende Bedeutung des Verkehrs und Gewährung
der Zinsgarantien und Zuschüsse seitens des Staates an die Unternehmungen
hat jedoch bald der Verstaatlichung den Weg gebahnt, so daß heutzutage
fast überall Staats- und Privateisenbahnen nebeneinander bestehen. Das
Verhältnis der einen zu den anderen bat sich in Mitteleuropa sehr ungleich-
mäßig geformt9 1 und damit ist auch die Bedeutung des Eisenbahnkonzessions-
wesens nicht überall eine und dieselbe.
'■ Eino Ausnahme macht nur Otto Mayer (Deutsches Verwaltungsrecht, II,
S. 294 ff.), welcher sich in mancher Hinsicht der französischen Wissenschaft nShert.
7) Sie wird als Eiseubalinkonzessionsgesetz angeführt.
*) In Österreich-Ungarn hat das Eisenbahnnetz 36.883 km Länge: davon etil fallen
auf Priratbahnen 30.593 km. Im Deutschen Reiche bestehen in Sachsen nur Staats-
bahnen, in Barem. Württemberg und Baden ist der Besitz der Stsatshahn-n ein sehr
überwiegender, ln Preußen und in Elsaß beträgt das Priratbahnnetz nur 3617 km gegen
30.347 km der Staatsbahnen. In England sind alle Eisenbahnen (35.296 km) in Prirat-
hünden, in Frankreich (42.826 km) ihre überwiegende Mehrzahl. Desgleichen sind die
italienischen Bahnen (15.787 km) meistenteils durch Konzessionen vergeben, obwohl
viele von ihnen vom Staate gebaut wurden. (Die statistischen Ziffern sind der „Statistik
der Lokoinotiveisenbahnen“, III. Bd., Wien, 1901, S. 60 bis 129, dem „Ungarischen stati-
stischen Jahrbuche“, VIII., Budapest, 1902, S. 218, dem „Bulletin de statistique“, Paris,
1902, S. 698, und den „Annalen des Deutschen Reichs“, 1901, Bd. 34, S. 395 bis 400.
entnommen und beziehen sieh alle auf den Stand am Ende des Jahres 1900.)
Zeitschrift für V<tlk*'*irtiMbafi, $oci*l|>r>Utlk. und Verwaltung. XU. Bnnd.
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20fi
Rretiewicz.
2. Die Verleihung der Wege-, Brücken- und Überfuhrkonzessionen ist
in Österreich unter dem Namen der Mautkonzessionen bekannt. Ähnliche
Mauten bestehen auch auf öffentlichen Landes- und Bezirksstraßen, wo sie
auf Grund besonderer Gesetze erhoben werden: sie dienen denselben Zwecken,
wie die Mauten an Wegen, Brücken und Überfuhren, welche von beliehenen
Unternehmern eingehoben werden. Äußerlich besteht zwischen diesen Mauten
kein Unterschied, wohl aber in der rechtlichen Grundlage. Die Errichtung
öffentlicher, d. h. von den Ländern, Gemeinden, Konkurrenzen für öffentliche
Straßen unterhaltener Wege. Brücken und Überfuhranstalten bedarf keiner
Verleihung.1) sondern einer allgemeinen Genehmigung, welche für jede
öffentliche Arbeit unumgänglich nötig ist. Diese Genehmigung ist daher
nicht dem freien Ermessen der Staatsbehörde anheimgestellt, sondern sie
muß gegeben werden, wenn keine öffentlichen Kücksichten dagegen sprechen.
Wenn auch die Einhebung der Mautgehühren bewilligt wird, ist dadurch
noch keine Verleihung der öffentlichen Arbeiten geschaffen.
Solche Verleihungen an Private können bezüglich der öffentlichen
Wege und Brücken nur noch aus älteren Zeiten herstammen: die betreffenden
Mautbezugsrechle bleiben auf die Dauer jener Privilegien aufrecht.*) Noch
heute ist die Errichtung der Überfuhranstalten mit gewerbsmäßigem Betriebe
auf Grund behördlicher Genehmigung zulässig.*) Mit behördlicher Geneh-
migung der Anstalt ist aber die Konzession nicht vollkommen; es muß
dazu noch die Bewilligung der überfuhrgehühren hinzutreten.4) Bei Fest-
stellung dieser Gebühren darf man sich keinesfalls an die ärarischen Maut-
tarifsätze unbedingt binden, sondern es ist einzig und allein an dem
Grundsätze festzuhalten, daß durch die Privatmaut die Herstellungs- und
ErhaltnngskoBten gedeckt werden sollen. %)
Die Brückenkonzessionen von National- und Departementswegen werden
in Frankreich seit dem Gesetze vom :tO. .Juli 1880 nicht mehr erteilt und
die baldigste Einlösung der bestehenden ist ungebahnt worden: jetzt können
sie nur für Gemeindewege erteilt werden. In Deutschland wurde der
Chausseebau von Aktiengesellschaften gegen Verleihung angemessener
Abgaben übernommen. l!l Die Wege- und Brückenkonzessionen können nur
für Brücken Vorkommen, welche von Gemeinden, höheren Kommunal-
verbänden. Aktiengesellschaften und Privatpersonen unterhalten werden.’)
') Stenographische Protokoll« des Reichsrates vom 27. April 1*89.
*) Gesetz vom 2. April 1867, L.-G.-Bl. fär Böhmen Nr. 32, § 4; Gesetz vom
17. Mai 1866, L.-G.-Bl für NiedorOsterreich Nr. 10, § 3 u. s. w.
*} Waaserrechtagesetz vom 20. Mai 1869, It.-G.-Bl. Nr. 93. g 7.
1 j Diese wird in Galizien durch einen vom Kaiser genehmigten Landtagsbeacbluß
(§ 9 des Gesetzes vom 5. Juli 1897. L.-G.-Bl. Nr. -43), sonst von der Landesregierung
bezw. vom Ministerium des Innern erteilt (Verordnungen des Ministeriums des Innern
vom 27. August 1*79, L.-G.-BL für Böhmen Nr. 44).
*) Hotkanzleidekret vom 17. Mai 1*47, Prov. G.-S. für Tirol, Bd. 34, Nr. 36;
Erkenntnis des Verwaltungsgcrichtshofes vom 9. März 1882, Budwinski Nr. 1333.
s; Das Material darüber hei v. Könne: Verfassung und Verwaltung des preußischen
Staates. T. IV , Bd. IV., Abt. 2. S. 178 ft'.
’) Stengel: Wörteibueb, II., S. 909.
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i>as Recht 4er Öffentlichen Arbeiten.
207
3. Die Verleihungen betreffs der SchilTahrtskanäle kommen in Österreich
nicht vor, weil bisher fast keine künstlichen Wasserstraßen ') vorhanden
waren. Die kurzen Kanäle, welche in Handelshäfen zur Erleichterung der
Schiffsauf- und -abladung vorhanden sind, wurden auf Staatskosten errichtet,
ln Frankreich werden die Kanalverleihungen seit 40 Jahren eingelöst;*)
die Einlösung kann nur im Wege eines besonderen Gesetzes und eines
Übereinkommens stattfinden. In Italien wurden alle Sehiffahrtskanälc vom
Staate erbaut. In Deutschland*) können öffentliche Kanäle auch durch
Privatunternehmer hergestellt werden, welchen dafür der Betrieb und die
Erträgnisse derselben überlassen werden. Das Verhältnis ist ein ähnliches
wie bei den Privateisenbahnen.
4. Die Stadtkanäle und Stadtwasserleitungen werden bei uns nur von
Stadtgemeinden gebaut und bestehen als städtische Anstalten. Die betreffenden
Arbeiten sind als öffentliche zu betrachten, aber sie bilden keinen Gegen-
stand der Verleihung. Die Gesetze, welche zur Einnahme der Kanal-
einmündungsgebühren4 i und des Wasserzinses s) die bezüglichen Gemeinden
berechtigen, schaffen eine öffentliche Last, eine Gebühr, sie begründen aber
keine Verleihung der öffentlichen Arbeiten, da die Errichtung der Wasser-
leitungen im eigenen Geschäftskreise der Gemeinden liegt. In Frankreich
verleiht die Gemeinde wirkliche Konzessionen zum Baue der üurats-
kanäle.8)
5. In Frankreich können auch die Entsumpfungsarbeiten der Grund-
stücke verliehen werden. Der Unternehmer führt die Arbeiten auf eigene
Kosten und erst nach Abnahme derselben wird der Mehrwert der ent-
sumpften Grundstücke zwischen dem Eigentümer und dem Unternehmer
nach dem in der Konzession bestimmten Verhältnisse geteilt.1) In Italien
wird für die Entsumpfung der Grundstücke auch eine Konzession 'erlichen,
aber sie hat einen andern Charakter, welcher sie der Unternehmung öffent-
licher Arbeiten nähert, da die Kosten in jährlichen Annuitäten an den
Unternehmer zu zahlen sind.8) Bpi uns sind die Entsumpfungsarbeiteu durch
Wasserrechts- und Meliorationsgesetze geregelt; die Verleihung dieser
Arbeiten findet nicht statt.
6. Desgleichen bildet in Frankreich die Gasbeleuchtung der Städte
den Gegenstand der Verleihung; sie wird seitens der Gemeinden gewährt
*) Der Lundkaual Klagenfurt— Wörthersee (41 km) and der Wiener-Neustidter-
kanal <63-4 km) haben für die Schiffahrt keine nennenswerte Bedeutung.
b Auf Grund der Gesetze vom 1. August 1860 und vom 20. Mai 1863.
*) Stengel: WOrterbnch, I., 8. 703.
4) Z. B. Gesetz vom 29. April 1894, L.-G.-Bl. für Mahren Nr. 54. Pie Zusammen-
stellung der betreffenden Landesgesetze im StantewOrterbucbe von Mischler, II., 8. 1136.
ft) Z. B : Gesetz vom 16. August 1897, L.-G.-Bl. für Mähren Nr. 65, § 11; Gesetz
vom 12. August 1899. L.-G.-Bl. lür Galizien Nr. 94, § 6.
4) Art. 115 des Gemeindegesetzes vom 5. April 1884.
'•) Dekret vom 7. Fructidor an XII, Art. 15 und Gesetz vom 16. September 1807,
Art. 20.
b Gesetz Qi -er die Entsumpfung der Grundstücke vom 22. März 1900, Art. 6 und 25.
lö*
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20H
Br^Biewic*.
und bedarf in gewissen Fällen einer höheren Genehmigung.1) In Österreich
wird von Gemeinden nur die Benutzung der öffentlichen Plätze und Gassen
zur Anlage der Gasrohrleituugen verliehen. Die Ausführung der Beleuchtungs-
anlagen* ist nur vom gewcrb- und Sicherheitspolizei liehen Standpunkte
geregelt.
7. In Italien kann auch der Fernsprechdienst entweder von der
Regierung unmittelbar oder von einem beliehenen Unternehmer ausgeflbt
werden.-’) Die Konzessionsdauer ist auf höchstens 25 Jahre festgesetzt;
nach deren Ablauf gehen die Leitungen mit allen Hinrichtungen in das
Eigentum des Staates (Iber. In anderen Lindern wurden die ersten Fern-
sprechleitungen auch von beliehenen Unternehmern errichtet; sie sind jedoch
vom Staate übernommen und monopolisiert worden.4) Die Telephonie wird
überall als ein Stück der Telegrapheneinrichtung angesehen.-')
Damit sind die Verleihungsarten der öffentlichen Unternehmungen
nicht erschöpft; die öffentliche Verwaltung übernimmt mit jedem Tage
weitere Kreise der Tätigkeit, schallt neue öffentliche Anstalten und damit
die Möglichkeit neuer Verleihungen.
B. Der Verleiher.
Die Konzessionen dürfen nur von der öffentlichen Verwaltung aus-
gehen, da sie die Ausführung der öffentlichen Arbeiten besorgt. Da jedoch
die Organe dieser Verwaltung verschieden sind, entsteht die Frage, welche
Verwaltungsorgane zur Konzessionserteilung berechtigt sind? Die Antwort
scheint sehr einfach: diese Organe, in deren Wirkungskreise die betreffenden
Arbeiten gelegen sind, weil sie nur ihre Rechte zur Verwaltung in Betreff
des bestimmten Gegenstandes zeitweise aufgeben können. Dieser SchlulS
wird jedoch nur im französischen uud im italienischen Hechte gezogen.
Die Verkehrsverleihungen werden als Bewilligung zur zeitweisen Benutzung
des öffentlichen Weges und zur Einnahme der Abgaben betrachtet. Des-
wegen wird die Verleihung vom Staate, von der Provinz oder von der
Gemeinde gewährt, je nachdem, wessen Verwaltung der Gegenstand der
Verleihung untersteht.8) Das gilt insbesondere bezüglich der Verleihungen
der Eisenbahnen, welche nicht auf eigener Unterlage, sondern am Wege-
’) Art. 115 des Gemeindegesetzes.
*) Mit Verordnung der Minister des Handels nnd de« Innern vom 9. Mai IS75,
R.-O.-Bl. Nr. 76.
*) Gesetz vom 7. April 1692, Art. 4,
4) In Österreich mit Gesetz vom 29. Dezember 1 SS*2, ll.-G.-ill. Kr. 234: in Frank-
reich mit Gesetz vorn 10. Juli 1889; in Deutschland meistenteils Taktisch (Stengels
Wörterbuch, Ü..S. 617 ff.); rergl. auch das Telegraphcnwege,Gesetz vom 18. Dezember 1899.
*) Meili: Das Teiephonreclit, 1885, S. 47 ff.
*) In Frankreich werden die Konzessionen der Trambahnen vom Staate, vom
Departement oder von der Gemeinde (Gesetz vom 11. Juni 1880, Art. 27(, der Über-
fuhrsanstalten an Nationalwegen vom Staatzhaupte (Gesetz vom 14. Florcal an X), an
Departementawegcn von Generalr&tcn (Gesetz vom 10. August 1871, Art, 46, 4 13)
verliehen.
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Das R.-eht '1er nffriitli'hen Arbeiten,
209
körper gebaut werden.1) Die Verleihungen der Beleuchtung, der Gag- und
Wasserleitungen sowie der Kanalisation werden vom Gemeinderate erteilt:
wenn sie den Bewohnern Leistungen auferlegen, müssen sie vom Präfekten
beziehungsweise dem Staatshaupte bestätigt, werden.8
Die österreichische Gesetzgebung kennt nicht den inneren Zusammen-
hang zwischen der Verleihung und dem Körper der Anlage. Wenn auch
zmn Baue einer öffentlichen Anlage ilie Benutzung des StraBengnindes not-
wendig erscheint, muH der Bewerber vor der Verleihung sich ausweisen,
datl er vom Verwalter des Weges die Benutzungsbewilligung erlangt hat,
Nichtärarische öffentliche Straften können nur mit Zustimmung der zur
Erhaltung Verpflichteten zur Anlage der Lokalbahnen in Anspruch genommen
werden.5) In zahlreichen diesbezüglichen Landesgesetzen4) sind ähnliche
Grundsätze ausgedrückt: die Bewilligung zur Benutzung der Straße wird
entweder der Landes-, Bezirks- oder Gemeindevertretung, jeder bezüglich
der von ihr verwalteten Straßen, oder nur dem Landesausschusse znge-
standeu. Die Selbstverwaltungsvprhände in Österreich und in Deutschland
haben zwar das Beeilt, gewisse öffentliche Arbeiten zu verrichten, ja sie
können auf Grund gesetzlicher Ermächtigung für die Benutzung der Anstalten
für sich Abgaben fordern,1 aber sie haben nicht die Möglichkeit, diese
Berechtigungen an andere abzutreten und können keine Konzessionen ver-
leihen, wenn auch sonst der Gegenstand des Unternehmens in ihren
Wirkungskreis fallen würde. So erklärt sich die Erscheinung, daß in Öster-
reich die Konzessionen nur von Organen der Staatsverwaltung verliehen
werden können.0) Welche Organe der Staatsverwaltung die Verleihung
gewähren, hängt von der Art derselben und ihrer Wichtigkeit ab. Für
Eisenbahnen wird die kaiserliche Verleihung gesetzlich gefordert.8! für
Überfuhrskonzessionen die Verleihung seitens der politischen Landesbehörde.'
Eine Ausnahme machen nur die Verleihungen an nicht ärarischen Straßen
und Wegen, welche in den meisten Kronländern eines Gesetzes, eines
Beschlusses des Landtages oder des Landesausschusses bedürfen.5)
Die Verleihung öffentlicher Arbeiten liegt im freien Ermessen des
dazu Berufenen; der Staat ist nicht gehalten, die Konzession unter bestimmten
Voraussetzungen zu erteilen.
*) Italienisches Gesetz vom 27. Dezember 1896, Art. 1 und 10
3) Französisches Geiueindegesetz. Art. llä, 68, 133 and 145.
5) Loknlbahngesetz vum 31. Dezember 1894. R.-G.-Bl. Nr. 2 ei 1805, Art. XIV-,
preußisches Gesetz vom 28. Juli 1832, 6 und 7.
*) Mayrhofers Handbuch, V., S. 616 ff.
s) Gemeindegesetze, sieh Mayrhofer. II., S. 586 bis 596.
*1 Für Eisenbahnen Konzessionsgesetz t) 2. Für PreuUcn sieh § 1 des Gesetzes
vom 3, November 1838, für Bayern $ 2 der Verordnung vom 20 Juni 1855, für Württem-
berg Gesetz vom 18. April 1843. Die Genehmigung zur Herstellung der Kleiubahueu
in Preußen wird durch die Pruvinzial-VerwaUungshehOrden erteilt <£$ 2 und 3 des
Gesetzes vorn 28. Juli 1892).
T) Kisenhahnkouzessionsgesetx 4 2.
4i 6 76 der meisten Wasserrerhtsgesetze.
.8ieb dir Zusammenstellung hei Mayrhofer, V., 8. 1017 ff.
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210
Bresi- wir/
Die Erteilung der Konzession kann sowohl an einzelne, au Länder
und Gemeinden als auch an gesetzlich anerkannt« Vereine erfolgen; es kann
auch die Übertragung der erteilten Konzession an die zu bildende Aktien-
gesellschaft erlaubt werden.')
C. Die Fprm der Verleihung.
1. Zur Erwirkung einer Verleihung öffentlicher Arbeiten ist immer unum-
gänglich notwendig, daß der Bewerber darum ansuche. Das Ansuchen kann
schriftlich oder mündlich zu Protokoll gestellt werden. Die Grundlage dieses
Ansuchens bilden allgemeine Vorschriften, welche für die betreffenden Unter-
nehmen erlassen wurden: dann brauchen keine näheren Bedingungen der
Verleihung gestellt zu werden. Wenn es sich jedoch um Begünstigungen
handelt, welche nicht jedem Unternehmer vorschriftsmäßig zukommen,
müssen sie besonders angesucht werden. Die öffentliche Verwaltung kann
ihrerseits dem Verleihungswerber besondere Bedingungen stellen. Es werden
die Verhandlungen geführt, bis vollkommene Einigkeit über die Bedingungen
der Verleihung erzielt wird und der Bewerber erklärt, alle vereinbarten
Bedingungen annehmeu zu wollen. Auf dieser Grundlago wird erst die Ver-
leihung gegeben, und zwar immer schriftlich in der Form einer einseitigen
Verwaltungsverfügung. Von Verhandlungen, welche zur Verleihung geführt
haben, geschieht in der Urkunde keine Krwähnuug. Die Eisenbahnver-
leihungen, welche für die Volkswirtschaft wichtiger sind als die übrigen
Verleihungen, ergehen in einer mehr feierlichen Form eines Privilegs:
grundsätzlich ist es immer ein Verwaltungsakt. Wichtigere Verleihungen
oder wenn es sonst vorgesehrieben ist, werden in Gesetzblättern zur allge-
meinen Kenntnis gebracht.*) In den übrigen Fällen reicht die Zustellung
der Verleiliungsurkunde an den Bewerber aus.
Die Verleihungen haben in Österreich sehr selten die gesetzliche
Form allein. Es kommt nur vor in jenen Ländern, wo Privatmautkonzes-
sionen durch ein Landesgesetz verliehen werden.*) Die Verleihungen setzen
jedoch die gesetzliche Ermächtigung zur Erlassung des Verwaltungsaktes
voraus. Gewöhnlich wird sie für ganze Gattungen von Verleihungen gegeben.
Wenn für einzelne Verleihungen besondere Zugeständnisse gewährt werden
sollen, welche in allgemeinen Gesetzen nicht begründet sind, muß der Ver-
leihung ein besonderes Gesetz vorangehen, welches die Regierung zu dieser
Verleihung ermächtigt.*) Es bestehen hier zwei besondere Akte, ein Gesetz-
und ein Verwaltungsakt. Der letztere ist jedoch immer der eigentliche
Konzessionsakt. welcher die Rechte und die Pflichten begründet. Es kann
jedoch auch Vorkommen, daß sich die Verleihung aus zwei besonderen
Akten zusamraensetzt: es gibt zwei Verwaltungsakte, wenn z. B. bei Über-
Vl B. : Konzessionsurkunde vom 28. Koreniber 1877, R.-G.-B1. Nr. 12 ex 1878, § 15.
*j Z B.: Verleihung der Eisenbahnen, der Mauten u. s. w.
*) In der Bukowina, in Mähren und OberOsterrehh.
*) Gesetz vom 31 Dezember 1894, R.-G.-Bl. Nr. 2 ex 1895, Art. IX und X.
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Dtu> Hecht der öffentlichen Arbeiten.
211
fubrsanstalteu zuerst die wasserrechtliohe Bewilligung und dann mit einem
zweiten Erlaß die Genehmigung des Überfuhrtarifs erteilt wird.
2. Eine ganz andere Form haben die Verleihungen öffentlicher Arbeiten
in Frankreich und in Italien, und zwar die Form eines Übereinkommens,
welches zwischen der Verwaltung und dem lielielienen abgeschlossen und
von beideu Parteien unterschrieben wird. Diese Übereinkommen haben sehr
verschiedenen Inhalt und regeln das Verhältnis des Verleihenden zum Unter-
nehmer. Wir finden darin Bestimmungen Ober Beiträge des Verleihenden,
Garantien, Vorschüsse, etwaige Teilnahme am Gewinn u. s. w. Dem Über-
einkommen werden die Submissionsheiliugiingen angeschlossen.1) welche die
Vereinbarung Ober Ausführung öffentlicher Arbeiten bilden. Diese bestehen
aus zwei Teilen: einer bezieht sich auf die Bauart der Anlage und die
Beschaffenheit des Baumaterials, der andere auf den Betrieb, Maximal-
tarife u. s. w. Zur Gültigkeit dieses Übereinkommens wird noch die
Genehmigung gefordert: die Form und die Bedingungen der Genehmigung
wechseln je nach der rechtlichen Handlungsfähigkeit des Verleihenden: Das
Gesetz oder Dekret für die Staatsverleihungen. Erlaß des Präfekten für
Verleihungen der Departements, schließlich der Erlaß des Gemeinde-
vorstandes in Ausführung des Gemeinderatsbeschlusses, genehmigt vom
Präfekten für Gemeindeverleihungen.
Im Falle, daß die Verleihung von Staatsorganen nicht erteilt wird,
bleibt immer den letzteren die Anerkennung der öffentlichen Nützlichkeit
des Unternehmens und die Ermächtigung zum Betriebe Vorbehalten. Diese
Anerkennung wird durch ein Gesetz oder ein Dekret erlassen, welches das
abgeschlossene Übereinkommen bestätigt.*) Sowohl das Übereinkommen als
auch die Bedingungen bilden einen wesentlichen Bestandteil des Gesetzes
oder Dekrets und haben dieselbe Wirkung.
Bei Erteilung der Konzessionen wird gewöhnlich keine öffentliche
Bewerbung zugelassen. Sie ist jedoch nicht ausgeschlossen: so war es mit
den ersten Bahnen in Frankreich :*) so ist es noch jetzt möglich bei Fern-
sprechverleihungen in Italien,4 welche an denjenigen vergeben werden,
welcher den Betrieb der Anstalt für niedrigere Tarife übernimmt. Die Ver-
längerung der Konzession geschieht in derselben Form wie die Verleihung;
') Ala Master für Bahnverleihangen dienen in Frankreich die Bedingungen, welche
den Gesetzen vom 4. Dezember 1975 (Eisenbahn von Alais zur Rhöne) und vom
27. Juli 1886 (Linie von Vivarais) beigelegt sind; für Lokalbahnen wurden die Bedin-
gungen mit Dekret vom 6. August 1881 bestätigt. Filr Italien sieli das wichtigste
Gesetz vom 27. April 1885, genehmigend die Übereinkommen betreffs der Verleihungen
für mittelländische, adriatisebe und sizilische Eisenbahnen und kOuigl. Dekret vom
1. April 1883, welches die 8ubmissiotisbedingungeu für den Fernsprechdienst bestätigt.
ll Das französische Gesetz vom 3. Mai 1841 überläßt dem Dekrete nur die Ver-
leihung der Abzweigungen von Eisenbahnen unter 20 km Länge. Italienisches Gesetz
über öffentliche Arbeiten Art. 203 und 246 und Gesetz vom 27. Dezember 1896 über
Lokalbahnen Art. 1 und 13.
*) Block Mantice: Dictionnaire de rsdministration francaise. V. Chemins de fer,
*/ Eonigl. Dekret vom 16. Juni 1892, Art. 4.
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212
Brosicwicz.
sie ist dunu begründet, wenn vom Unternehmer neue Herstellungen (z. B.
der Bau eiuer eisernen Brücke anstatt einer hölzernen, neuer verlust-
bringender Eisenbahnlinien) gefordert oder wenn er durch unverschuldete
Elementarereignisse im Betriebe längere Zeit hindurch verhindert war.
D. Inhalt der Verleihungsurkunde.
Für einzelne wichtigere Arten von Verleihungen hat das Gesetz allge-
meine Regeln aufgestellt; dies ist vor allem durch die Kisenbahngesetze
für Eisenbahnkonzessionen geschehen. Diese Bestimmungen bilden den
gesetzlichen Inhalt jeder Konzession und werden in ihren Wortlaut nicht
aufgenommen. Die Verleihungsurkunde enthält teils Hinweise auf die in
allgemeinen Konzessionsgesetzen enthaltenen Bestimmungen, teils aber auch
besondere Vorschriften, welche sich hauptsächlich auf das Verhältnis des
Staates zum Beliehenen beziehen. Gewöhnlich enthält die Urkunde noch
die Verpflichtung des Beliehenen, sich späterhin den von der Staatsgewalt
zu erlassenden allgemeinen Vorschriften zu unterwerfen. Der besondere Teil
einer Verleihungsurkunde enthält Bestimmungen Uber die Eintluliuahme des
Staates auf die Einrichtung und Verwaltung der Unternehmung, die Fest-
setzung der Baupflicbt und einer Baufrist, die besonderen technischen
Bedingungen, Bestimmungen Uber die Betriebspflicbt und Instandhaltung
der Anlage, Uber die Verpflichtung zur Vorlage und Veröffentlichung der
Beförderungspreise und Fahrordnungen, Ober die Maximaltarife wie die
Verpflichtung zur Ergänzung der Anlage in bestimmten Fällen. Auflerdem
werden dem Unternehmer durch die Verleihungsurkunde Pflichten zu gewissen
Leistungen für öffentliche Zwecke, z. B. gegenüber der Militär-, l’ost ,
Telegraphen- und Zollverwaltung sowie gegenüber den Staatsaufsichts-
behörden auferlegt.1) Endlich enthält die Urkunde oft auch Zusicherungen
von Begünstigungen, welche dem Unternehmer seitens des Staates gewährt
werden, wie Beihilfen, Befreiungen von Gebühren und Steuern, Zinsgarantien,
Zulässigkeit der Betriebsübernahme seitens des Staates u. s. w.
Für Wege- und Brückenverleiliungen finden sich die Bestimmungen
in den Mautvorschriften. Die Bewilligung von Überfuhren und Übcrfuhr-
gebühreu wurde mit Erlali des Ministeriums des Innern vom 27. August 1879
(L.-G.-Bl. für Böhmen Nr. 44) näher geregelt.
Aus der Verleihung erwirbt der Unternehmer Rechte, er übernimmt
aber auch Pflichten; da dem Rechte einer Person eine diesbezügliche Ver-
pflichtung einer andern Person entsprechen muH, sind die aus der Ver-
leihung entspringenden Hechte und Pflichten gegenseitig.
1. Die Berechtigungen des Unternehmers sind folgende:
n) die Verwaltung verleiht dem Unternehmer das ihr allein’) zustehende
Rocht zur Ausführung einer bestimmten öffentlichen Anlage und ver-
’) r. Neumann in Miechlers StaatewOrtorbaeb, I., S. 336.
’) Eisenbahn konxessionsgesetz §Olit. a). Die Deutsche Verfassung 'Art. 41) um! das
französische Gesetz über Lokalbahnen vom 11. Juni 1880 (Art. 8t kennen nicht die
AneschlieSlichkeit
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Da> Recht der öffentlichen Arbeiten.
213
zictitet aut' die Möglichkeit, iu der festgesetzten Zeit eiue sulche
selbst auszuführen;1)
b) sie stattet den Unternehmer mit der Kraft der Öffentlichen Gewalt
aus, um die Ausführung des Werkes zu ermöglichen, sie gibt ihm
das Recht der Anspruchnahme der Enteignung und der öffentlichen
Lasten;1)
et die Verwaltung gibt dem Unternehmer das Recht, während der Dauer
der Verleihung den Betrieb der öffentlichen Anlage zu führen und
eine Abgabe zu erheben;9)
<l) sie verleiht ihm die Polizeigewalt des öffentlichen Gutes; 4 1
e) manchmal gibt sie ihm Ansprüche auf besondere Gewährungen,9)
Zuschüsse, Zinsgarantien, Steuerbefreiungen u. s. w.
Die Verleihung der öffentlichen Arbeiten ist also eine Handlung der
öffentlichen Gewalt; sie stattet den Beliehenen mit der Fähigkeit aus, ein
Stück öffentlicher Verwaltung zu führen. Die verliehenen Rechte haben
einen öffentlichrechtlichen Charakter; sie begründen für den beliehenen
Unternehmer öffentliche persönliche Rechte auch gegenüber dem Verleihenden.
2. Der Beliehene hat jedoch folgende Pflichten :
u) die öffentlichreehtliche Pflicht, das Unternehmen dem Edtwurfe gdinäß
und in der festgesetzten Frist ins Werk zu setzen und durchzu-
führen:‘)
b) die Kosten der Ausführung und Instandhaltung der Arbeiten während
der Konzessionsdauer zu tragen;’)
c) die durch Ausführung der Arbeiten zugefügten Schäden um fremden
Gute zu ersetzen und die durch den Bau gestörten Wege. Brücken
und sonstige Verkehrsmittel anderweitig wieder herzustellen; ’ 1
dt den Betrieb gegen die festgestcllten Preise zu führen, die bezüglich
des Betriebes bestehenden Vorschriften zu beobachten und sich der
Regulierung der Beförderungspreise seitens des Staates zu unter-
ziehen;*)
e) nach Ablauf der Konzessionszeit das Bauwerk lasten- und kostenfrei
an den Staat zu übergeben.9) Die letztere Pflicht wird hei diesen
Aulagen nicht auferlegt, welche für Gemeindezwecke errichtet werden.
’) Kiacnbahukonzessionsgesetz § 9 lit. b.)
*) KiseubahnkonzesBionsgesetz § 9 lit. c) uml Gesetz roin IS. Februar 1878, lt.-G.-Bl.
Sr. 30.
*> Eisenbahnkonxessionsgcaetz § 9 lit. d).
4) Die Eiaenbahnbetriebsordnung vom 16. November 1851, R.-G.-Bl. Nr. 1 ex
1*58, § 101.
a) Gesetz vom 81. Dezember 1894. R.-G.-Bl. Nr. 2 ex 1895, Art. IV bis VIII und XX.
Bezüglich der deutschen Halmen sich Stengels Wörterbuch. Ergilnz.-Rd. III, S. 81 und 82.
1 Eisenbahnkonxcssionsgesetz 44 10 lit a) und 11 tit. b).
’) Eisenbahnkonzessionsgesetz 44 9 lit. a) und 8.
*) Kisenbahnkonzessionsgesetz 4 10 lit. e); bezüglich der Privatbrücken das Uubernial-
dekret vom 8. Juni 1847, Prov. G.-S. für Tirol, Bd. 84. S. 847.
8 ) Eisenbahnkonzesaionsgesetz 4 8. ln Preußen ist nur das Einlöcungsrecht bekannt.
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214
Bresiewicz.
wie Trambahnen, städtische Wasser- und Kanalleitungen. Die Sanktion
dieser Pflichten bildet das Recht des Staates, die Kaution einzuziehen, 1 '
die aufgetragenen Arbeiten auf Kosten des beliehenen Unternehmers
auszuführen,11) die Einnahmen zu sequestrieren5) und schließlich den
Widerruf der Verleihung auszusprechen.
3. Der Unternehmer darf von der Konzession nicht einseitig zurück-
treten. Auch der Verzicht auf die verliehenen Rechte setzt eine Genehmigung
voraus, um wirksam zu sein. In gleicher Weise kann die Verleihung ohne
Zustimmung des Staates einem Dritten nicht abgetreten werden. Diese Be-
willigung wird manchmal schon in der Verleihungsurkunde gegeben, und zwar:
u) bei kleineren Unternehmungen wie Brücken, Fähren, wo die Verleihung
an den Unternehmer und seine Rechtsnachfolger geschieht;
b) bei Eisenbahnverleihungen, wenn dem Unternehmer gestattet wird,
die durch Verleihung begründeten Rechte und Verpflichtungen an
eine zu diesem Zwecke zu bildende Aktiengesellschaft zu übertragen.4)
4. Die Verleihung wird nur auf eine bestimmte Zeit erteilt, nach
welcher sie erlischt. ’’) Vor Ablauf dieser Zeit darf sie jedoch ohne einen
gesetzlich zulässigen Grund nicht zurückgezogen werden; während der
Konzessiousdauer kann sie erlöschen;
aj durch beiderseitiges Übereinkommen ;
h) durch Erklärung der Behörde im Falle der in der Verleihungsurkunde
vorbehaltenen Einlösung und im Falle der Verwirkung der Konzession,
wenn mit den Arbeiten in der festgesetzten Frist nicht begonnen wurde,
oder wenn der Konzessionsinhaber seine Pflichten schwer verletzt.
E. Rechtlicher Charakter der Verleihung.
Man kann die Verleihung keineswegs als eine gewerbepolizeiliche Erlaubnis
auffassen. *! Der Unterschied zwischen beiden Begriffen fällt bei Eisenbahnen
sofort ins Auge. Eine Eisenbahn, welche nur zum eigenen Gebrauche des
Unternehmers auf eigenem Grund und Boden oder mit Zustimmung des
Grundeigentümers angelegt werden soll, bedarf keiner Verleihung, nur einer
polizeilichen Erlaubnis, welche nach Erwägung der Sanitäts- und Sicherheits-
rflcksichten erteilt werden kann. Zur Anlage einer Eisenbahn dagegen, welche
bestimmt ist, als öffentliches Verkehrsmittel zu dienen oder öffentliche
Straßen benutzt, ist die Verleihung notwendig.’)
*) Eisenbahnkonzcssiensgesetx § 11 lit. b.J
■) Eisenbahnkonzessionegesetz $ 13.
3) Eisenbahnkonzessionsgesetz § 12; Gesetz vont 14. Dezember 1877, R.-G.-Bl.
Nr. 112, §§ 2 and 4.
*) Z. B.: Konzessionsurkunde für die Eisenbahn Wien — Aspang vom 28. November
1877, B.-G.-BL Nr. 12 ei 1878, § 15.
5; Eisenbabnkonzessionsgesetz si 7, i! und 12. Diese Begrenzung besteht nicht
in Preußen bezüglich der Hauptbahnen und in Württemberg.
•) Wie schon im ersten Abschnitte dargelegt wurde.
') Eizenbabnkonzessionsgesetz 4 1. Italienisches Gesetz über öffentliche Arbeiten
Art. 207 und 209.
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Das R*-cht dpr Öffentlichen Arbeit«».
215
Die Verleihung der öffentlichen Unternehmungen unterliegt in der
Rechtswissenschaft einer verschiedenen juristischen Beurteilung.1
1. Der ersten Ansicht nach ist die Verleihung ein privatrechtlicher
Vertrag, welchen der Staat mit dem Unternehmer abschließt und aus
welchem privatrechtliche Ansprüche beiderseits entstehen.’) Der Vertrags-
charakter der Verleihung wird in der französischen Literatur nicht beanständet.
Dieser Vertrag wird als ein ,acte de gestion* betrachtet, weil die Verwaltung
dabei von seiner Gewalt keinen Gebrauch macht-1 Diese Anschauung läßt
sich auf den historischen Entwicklungsgang der französischen Bahnen
zurückführen. Bei den ersten Bahnen hat der Staat für den Bau enteignet
und auf seine Kosten den Unterbau geliefert;4) den Eiseubahngesellschaflen
wurde der Gebrauch des fertigen Bahnkörpers fibergeben, welcher als öffent-
licher Weg und öffentliches Gut betrachtet wurde und immer im Eigentums
des Staates verbleibt. Da jedoch durch diese wissenschaftliche Anschauung
das Euteignungsrecht und die Ausübung der Polizei sich nicht erklären
lassen, hat sich eine abgeschwächte Vertragstheorie gebildet, welche den
Konzessionsakt in zwei Teile zerlegt; durch deu eigentlichen Konzessionsakt
werden öffentlichrechtliche Befugnisse begründet und die Konzession im
weiteren Sinne enthält alle übrigen Bestimmungen, die eben den privatrecht-
lichen Vertrag darstellen.-') Diese letztere Anschauung ist in der italienischen
Literatur vorherrschend, wo die Konzessionen der öffentlichen Arbeiten
wegen dieses doppelten Charakters „concessioni-contratti“ genannt werden.4)
2. Die zweite Ansicht verfährt gerade umgekehrt. .Die Verleihung,*
sagt sie, .ist ein öffentlicher, ein hoheitlicher Akt, aus welchem ffir den
Unternehmer keine Rechte entstehen körnten.*’) Der Staat kann insbesondere
jederzeit die gemachte Einräumung wieder einschränken und zurficknehmeu
ohne jede Entschädigung, Diese Schlüsse beruhen auf einer Überspannung
des Begriffs der allmächtigen Staatsgewalt und stimmen nicht mit dem
bestehenden Rechte fiberein. Der Staat kann die Verleihung zurncknehmen,
aber es geschieht immer nur in gewissen, im Gesetze vorgesehenen Fällen,
wenn der Belieheue die ihm gestellten Bedingungen nicht erfüllt.
') Mrili: Da* Recht der modernen Verkehrs- und Trauxportanitalten, Leipzig,
1888, 8. 22.
3 Kultiuiaun: Das uordainerikanische BuudesstaaUrecht, Zürich, 1878, II. 2,
8. 129 ff.
*) H. Bcrthclemv: Traitc cldinentaire de droit administrativ Paris, 1901, 8. 47
und -'>83; Haurioa Maurice: Prccis de droit administrativ Paris, 1901, 8. 819,
Anm. 2; Block Maurice; Diedonuaire V. Trutauz public« Art. 0.
*) Gesetz vom 11. Juui 1842.
b> Carrard und Hiltp: Drei Rechtsgutachten über die rechtliche Natur der
Eisenbabukonzessionen, Basel, 1877, 8. H bezw. IG. Ebenso H oberer; Österreichisches
Eisenbahnrecht. Wien, 1885. 8. 24.
4) Mantellini Giuseppe: I.o stxto e il codice cirile, Firenze. 1882, II.,
8. 505 bis 508, 521, 524 ff.; Giorgi Uiozgio: La dottrina delle persone. giuridiche.
Firenze, II. (i891), S. 4G1 ff. III. (1892), S. 278 ff.
’) U. Seiler; Über die rechtliche Katar der Eiseubahnkonzessio» »sch schweize-
rischem Recht. Zürich, I8S9, S. 24.
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21 fi
Kresiewicz.
3. Die dritte herrschende Ansicht ist die, daß allerdings die Verleihung
eine Handlung öffentlichrechtlicher Natur ist, 1 daß aber gleichwohl nicht
bloß Pflichten, sondern auch Hechte des Beliehenen dadurch gegründet
werden können. Man erklärt die Konzession als Privilegium, welches rein
öffentlichrechtlicher Natur ist. dessen Wirkung aber gemischt ist, d. i.
teils öffcntlichrechtlich, teils privatrechtlich.
Zur Begründung der Hechte genügt der Verwaltungsakt ( die Verleihung :
zur Auflegung der Verpflichtungen wäre eine gesetzliche Grundlage erforder-
lich: sie wird ersetzt durch die freiwillige Unterwerfung des Betroffenen, die
in dessen Gesuch oder in der Annahme der Verleihung enthalten ist.1)
Jede dieser Anschauungen hat etwas Richtiges an sich; sie sind jedoch
nicht im stände, das Wesen der Verleihung und alle ihre Wirkungen zu
erklären. Die Verleihung gibt dem Unternehmer die Hechte, welche der
Staat allein besitzt und welche er selbst ausüben kann, sie erlaubt dem
Unternehmer ein Stück öffentlicher Verwaltung im eigenen Namen und für
eigene Rechnung zu führen. Die Stellung des beliehenen Unternehmers hat
die größte innere Verwandtschaft mit der des Selbstverwaltungskörpers.5) Die
Konzessionserteilung ist also unzweifelhaft ein Akt der öffentlichen Gewalt.
Die verliehenen Hechte haben einen öffeutliehrechtlichen Charakter; sie
begründen für den Unternehmer öffentliche persönliche Rechte auch gegen-
über dem Verleihenden. Der Unternehmer übernimmt aber auch Pflichten:
in erster Linie die Pflicht, die verliehenen Rechte auszuüben: weiter noch
viele andere öffentliche Lasten, welche ihn allein treffen. Der Staat kanu
diese Lasten nicht jedem beliebigen Bürger auferlegen, weil öffentliche
Lasten nur allen Untertanen gleichmäßig auferlegt werden können: ohne
ein besonderes Gesetz kann man die Ausübung der betreffenden Pflichten
nur von jenem Bürger fordern, der sie freiwillig übernimmt. Wenn aber
der Staat vom Untertan gewisse Leistungen fordert, zu welchen er gesetzlich
nicht verpflichtet ist, und der Untertan freiwillig diese Leistungen gegen
dio ihm zugesicherten Vorteile übernimmt, so ist der freie Wille des Staates
und des Bürgers übereingekommen, um ein Rechtsverhältnis zu Stande zu
bringen. Solche übereinstimmende Willensäußerung wird im Privatrechte
„Vertrag“ genannt. Die Konzession ist jedoch kein privatrechtlicher Vertrag,
weil die öfl'entlichcn Hechte, welche dem Unternehmer verliehen werden, den
Gegenstand des privatrechtlichen Verkehrs nicht bilden können. Den Gegen-
stand der Vereinbarung bilden öffentliche Rechte und Pflichten. Deswegen
ist cs nicht ratsam, den Ausdruck „öffentlichrechtlicher Vertrag“ zur
*) Hcusler: Drei Hechtsgutachten S. IS; Eger: I’reuliisclies Eisenbahnrecht,
Breslau, 18*9, I„ S 1)8; ti. Meyer: Lehrbuch des Verwaltnugs rechts, I, 8. 582;
Loening: Lehrbuch des Verwaltungsrochts S. 028.
J; Ulbrich: Österreichisches Staatsrecht, Freiburg i. U., 1892, S. 126; 11a-
nclletti Oreste: Teoria generale «leite autorizzazioni e coneessioui, Tonne», 1894
S, 80 ff.; Otto Mayer: Deutsches Verwaltungsrecht, Leipzig, DJ- L, 1895, S. 98, und
lld. II., 1896, S. 307; Cummeo Federico: La volontu individuale e i rapporti di
diritto pubblico, Torino, 1900, S. 24.
-1) Otto Mayer: Dentsehes Verwaltnngsreeht. II., S. 295.
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Pa* Recht der Öffentlichen Arbeiten.
217
Bezeichnung der Verleihung anzuwenden, weil er sofort die entwickelten
Grundsätze des I’rivatrechtes über Verträge in das Verwaltungsrecht mit-
bringt und wider Willen die Meinung hervorruft, dal) diese Grundsätze auch
im Verwaltungsrechte angeweudet werden müssen.1) Im Vcrwaltungsrechte
finden wir indessen die vollkommen entsprechenden Ausdrücke „Vereinbarung“
und „Übereinkommen“. Es ist zwar dasselbe, nur mit etwas anderen Worten;
die Worte sind jedoch hier besondere wichtig, weil die ungenaue Ausdrucks-
weise so viele falsche Ansichten über die Natur der Konzession hervorge-
rufen hat. Die Grundlage der Verleihung der öffentlichen Arbeiten bildet
immer ein öffentlichrechtliches Übereinkommen, womit sich der Unternehmer
zur Fertigstellung einer Öffentlichen Arbeit sowie zum Betriebe des Werkes
verpflichtet und dafür das Hecht erhält, durch eine festgesetzte Zeit ein
Stück der Öffentlichen Verwaltung im eigenen Namen zu führen und
bestimmte Abgaben zu beziehen. Das Hechtsgeschäft ist zweiseitig; — ein-
seitig ist nur die Form, in welcher es erscheint. Die Konzession selbst ist
die Form, in welcher der Staat die Annahme des vom Unternehmer gestellten
Antrages erklärt, sie ist die amtliche Bestätigung des abgeschlossenen
Übereinkommens. Da die vorangehenden Verhandlungen nach aullen nicht
hervortreten, wird die Verleihungsurkunde die einzige Quelle der beider-
seitigen Hechte und Pflichten; so ist die Ansicht entstanden, als ob das
ganze Geschäft ein einseitiger Verwaltungsakt wäre. Es ist ein Verwaltungs-
akt (weil er die Feststellung der Öffentlichen Hechte und Pflichten betrifft) —
aber ein zweiseitiger. Wenn auch das Übereinkommen die Grundlage des
Rechtsverhältnisses bildet, weiden die Parteien nicht wie bei einem privat-
rechtlichen Vertrage ihre Rechte im ordentlichen Rechtswege verfolgen.1
Das ganze Verhältnis hat nur einen Offentlichrechtlichen Charakter*) und
seine Wirkungen bleiben dieselben, als wenn es vom Staate durch einen ein-
seitigen Verwaltungsakt geschaffen wäre. Für das einmal entstandene Recht
ist der Verpflichtungsgrund ohne Belang. Der beliehene Unternehmer gewinnt
zwar durch den Ahschluü des Übereinkommens öffentliche persönliche
Berechtigungen, aber er bleibt doch immer dem Staate untertan. Die Ver-
waltung, welche ein Übereinkommen über öffentliche Rechte und Pflichten
abschliellt, wird dadurch nicht zu einem Privatmann herabgedrflekt; sie ist
zwar an die Bestimmungen des Übereinkommens gebunden, aber sie verzichtet
doch nicht auf seine Herrschaftsgewalt: der Staat bleibt immer das herr-
schende Wesen, welches über öffentliche Hechte und Pflichten selbst erkennt.
Das weitere Verhältnis zwischen dem Staate und dem beliehenen Unternehmer
*) Jellinek (System der öffentliche« subjektiven Hechte S. 62) will ganze Kate-
gorien von Vorschriften de» Priiatrechtes über Irrtum, Arglist, Verschulden, Befristung,
Bedingungen, Abrechnung, ungeteilte Haftung, Bürgschaft und Verjährung auf die
Offentlichrechtlichen Leistungen anwenden.
5; Eisenhahnkonzessionsgesetz § Li.
*) Unbegreiflich erscheint die Vorschrift des Art. II. $ 23 de» Gesetzes vom
6. September 1BS5, R.-G.-Bl. Nr. 122, welche fiir etwaige, nicht dem Schiedssprüche
vorbehaltenc Privatrechtsanspriiche aus dem Konzessionsverhältnisse den Rechtsweg Vor-
behalt, als oh Privalreciitsanspriiche aus der Konzession möglich wären.
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Breriewicz.
wird gewöhnlich eine Reihe von obrigkeitlichen, einseitigen Verfügungen
darstellen. Es darf uns also gar nicht befremden, daß der das Übereinkommen
abschließende Staat das Aufsichtsrecht Ober das Unternehmen ausObt, sich
die gehörige Instandhaltung und Fortführung durch obrigkeitliche Maßregeln
sichert, daß er obrigkeitlich feststellt, was zu den verleihungsmäßigen
Pflichten des Unternehmers gehört und seinen Anordnungen durch Zwangs-
mittel Geltung verschafft.1)
Dadurch wird die Möglichkeit eines neuen Übereinkommens nicht
ausgeschlossen. Fast jeder .Jahrgang des Reichsgesetzblattes bietet in dieser
Richtung zahlreiche Beispiele.*) Sie betreffen gewöhnlich den Bau neuer
Eisenbahnlinien, StaatsbQrgschaft, Änderung ihrer Bedingungen, die Berech-
nung der gegenseitigen Forderungen aus diesem Titel, die Einlösung der
Bahn und ihre Bedingungen, ja selbst die Verlängerung der Konzession.
Die Verleihung der Konzession kann auch vereinbart werden *) und erst auf
Grund dieses Übereinkommens wird die Konzession verliehen. Wenn die
Grundlage dieser zweiten Verleihung ein Übereinkommen bildet, so ist es
auch ganz dasselbe bei der ersten. Solche Übereinkommen sind manchmal
unumgänglich nötig, wie z. B. bei Abtretungen des durch die Bahn durch-
schnittenen Staatsgebietes an einen andern Staat.1)
Daß diese Betrachtungsweise nicht staatsgefährlich ist und der öffent-
lichen Gewalt keinen Abbruch tut, beweist wohl am besten die' Vergleichung
der ausländischen Gesetzgebungen. In Frankreich und in Italien bestätigt
nur das Gesetz das abgeschlossene Übereinkommen; in Österreich und in
Deutschland wird die Konzession in der Form eines Privilegs von dem
Landesherrn verliehen; trotz dieses formellen Unterschiedes bleibt das Ver-
hältnis des beliehenen Unternehmers zum Staate grundsätzlich ftherall ein
und dasselbe.
VII. Arbeiterschutz.
Eine alle Arbeiter umfassende Schutzgesetzgebung besteht Oberhaupt
nirgends; sie bezog sich bisher immer nur im wesentlichen auf diejenigen
Berufsgruppen, bei welchen die Gefährdung am größten ist, d. i. auf die
im Kleingewerbe, in den Fabriken sowie im Handel beschäftigten Arbeiter,6)
und war hauptsächlich durch das Gewerbegesetz, die Novelle vom 8. März
1885, R.-G.-Bl. Nr. 22, das Gesetz vom 15. Jänner 1895, R.-G.-Bl. Nr. 21,
ilber die Sonntagsruhe und die Arbeiterversicherungsgesetze geregelt. Die
gewerberechtlichen Vorschriften gelten jedoch nur fflr alle gewerbsmäßig
l) Otto Mayer: o. s. c. II., S. SOS ff.; Eisenbabnkonzessionsgesetz §§ 11 bia 13.
*) 7,. B.: Gesetze vom 17. April 1876, R.-G.-Bl. Nr. 68, vom 6. Jänner 1878,
R.-G.-Rl. Nr. 10. vom 22 März 1890, R.-G.-Bl. Nr. 49, und vom 25. November 1891,
R.-G.-Bl. Nr. 164.
*) Gesetz vom 6. September 1885, bestätigend das mit der Nordbahn abgeschlossene
Übereinkommen ddto. Wien, 10. Jänner und 17. Jnli 1885.
•) Sieh die Übereinkommen des Staates mit der Seilbahn vom 20. November 1861,
K.-G.-Bl. Nr. 113 und vom 25. Februar 1876, R.-G.-Bl. Nr. 36 ei 1877.
*) Vergl. den Artikel von Miseiiler über den Arbeiterschutz im Staatswörter-
buche, I., S. 47 ff
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r>*8 R*cht der flffentlirhen Arbeiten.
219
betriebenen Beschäftigungen, finden also keine Anwendung auf öffentliche
Arbeiten, welche regelmäßig keinen finanziellen Gewinn bezwecken; es muß
noch hervorgehoben werden, daß auch diese öffentlichen Anstalten, welche
Einkünfte abweifen, wie Eisenbahnen, Überfuhren und Dampfschiffalirts-
nntemehrnungen. dem Bereiche des Gewerbegesetzes entnommen sind. ')
Die Arbeiterschutzvorschriften stellen sich dar als unmittelbare Ein-
schränkungen des Unternehmers in der Benutzung der ihm zur Verfflgung
stehenden menschlichen Arbeitskräfte, mit den Verboten der Arbeitsverwen-
dung und mit den Regeln über die Dauer. Länge und Unterbrechung der
Arbeitszeit,’) sowie als Pflichten des Unternehmers zu Leistungen zu Gunsten
«ler Arbeiter. Man hat sich lange gesträubt, die Verwaltung bei Durch-
führung der zur allgemeinen Wohlfahrt dienenden öffentlichen Arbeiten
einzuschränken und man fürchtete eine' bedeutende Erhöhung der Kosten.
In neuester Zeit hat sich jedoch die Anschauung Geltung verschafft, daß
die Verwaltung, welche durch öffentliche Arbeiten die allgemeine Wohlfahrt
fördert, die Wohlfahrt der bei diesen Arbeiten beschäftigten Arbeiter doch
nicht vernachlässigen kann. Die Erfahrung hat außerdem die wichtige Tat-
sache ins volle Licht gesetzt, daß durch die Einführung der Arbeiterschutz-
vorschriften und insbesondere der Lohnklausel die Kosten der öffentlichen
Arbeiten in keinem nennenswerten Maße erhöht werden. •’) Aus diesen
Erfahrungen entwickelt sich vor unseren Augen ein neues Hechtsgebiet des
Arbeiterschntzes bei öffentlichen Arbeiten.
I. Es gibt Vorschriften über den Arbeiterschutz, welche auf öffentliche
Arbeiten ohne Rücksicht auf die Ausführungsart derselben (Abschnitt V
und VI) Anwendung finden.
1. Die Gesetze über Unfall- und Krankenversicherung der Arbeiter*)
haben alle bei der Ausführung von Kauten beschäftigten Arbeiter als ver-
sicherungspflichtig erklärt und somit auch die bei öffentlichen Bauten ange-
stellten. Sie umfassen jedoch nicht diejenigen Personen, die bei Jnstand-
haitungsarheiten und anderen beschäftigt sind, welche nicht als Bauten
angesehen werden können.
Es sind fast die einzigen allgemeinen Vorschriften, welche für alle
öffentlichen Bauten und in allen Ländern eingeffihrt wurden.4)
2. Einen weiteren Schritt vorwärts hat das Abgeordnetenhaus in der
Resolution vom 8. Juli 1892 gemacht, wodurch die Regierung aufgefordert
wurde, dafür Sorge zu tragen, daß hei Herstellung großer Verkehrs-
anlagen in Wien die Bestimmungen des VI. Hauptstückes der Gewerbe-
1 ) Kais. Patent vom 20. Dezember 1859, R.-G.-Bl Nr 227, Art. IV, V lit. !). nj.
’) Alfred Weber im Jahrbuch,- von Schmoller, XXI, 1897, S. 1146.
’) Office da travail, Note sar le niininiam de aalairc dan« le» traranz public«.
Paris. 1897. S. 34.
*) Gesetz vorn 28. Dezember 1887, R.-G.-Bl. Nr. 1 ez 1888, und rom 80. M a 17 1888,
R.-G.-Bl. Nr. 33.
’) Bezüglich der Einzelheiten muß an das in Paria erschienene Werk von M. Bellom:
„Lea loia d'asaurance oavriere u l’etranger« oder an die in Berlin erscheinende Bibliothek
von Zacher: .Die Arbeiterveraiehernng im Aualaude" verwieeen werden.
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220
Bresiewicz.
Ordnung strenge gehandbabt werden. Diese Anforderungen haben eine
gesetzliche Weihe erhalten im Gesetze über den Bau von Wasserstraßen, ')
welches sämtliche Bestimmungen des VI. Hauptstückes der Gewerbeord-
nung, einschließlich der für die Fabriken vorgesehenen Sonderbestimmungen,
auf alle Arbeiter ausdebut, die bei der Ausführung der Wasserstraßen
beschäftigt werden sollen. Dadurch finden die Vorschriften über die Hygiene
der Arbeitsräume, Normalarbeitstag, Arbeitspausen, Sonntagsruhe, Feiortags
heiligung, Lohnzahlung. Kündigung des Arbeitsverhältnisses und Entlassung
aus demselben, über Arbeitsordnungen, Arbeitsverzeichnisse, Arbeitsbücher,
über jugendliche Hilfsarbeiter und Frauen, auch auf die Taglöhner Anwen-
dung. welche dieses Schutzes bis jetzt nicht teilhaftig waren.
:t. Beim Baue der Schiffahrtskanäle und der Kanalisierung der Flüsse
sind, soweit dies mit dem gedeihlichen Fortgang der Arbeit vereinbar ist,
inländische Arbeiter zu beschäftigen. *)
4. Die Gewähr für die Durchführung des Arbeiterschutzes wurde aus
Anlaß der größeren Arbeiten (wie die Wiener öffentlichen Verkehrsanlagen
und die großen Wasserstraßen) durch Errichtung*) besonderer Gewerbe-
inspektoren gegeben. Sie sind insbesondere verpflichtet, die gewerbe-hygie-
nischen Einrichtungen der Arbeit«, und Wohnräume, die Verhältnisse der
Arbeiter, das Vorhandensein der vorgeschriebenen Aufzeichnungen zu unter-
suchen und bei Erhebung der Ursachen über vorgefallene Unglücksfälle
teilzunehmen. In den alljährlich zu erstattenden Berichten sollen sie genaue
Angaben über die Lohn-, Wolmungs- und SanitätBverhältnisse der bei der
Ausführung der bezeichneten Bauten beschäftigten Arbeitspersonen sowie
über die Art der Arbeitsvergebung und über die Arbeitszeit zusammenstellen,
wodurch der Gesetzgebung iu der gedachten Hichtung vorgearbeitet werden
soll. Außerdem sind zur Überwachung des Gesundheitszustandes unter den
bei der Ausführung der bezeichneten Bauten beschäftigten Arbeitspersonen
besondere ärztliche Organe zu bestellen.
Sonstige Vorschriften beziehen sich teils auf Regiearbeiten, teils auf
andere durch Vertrüge an Privatunternehmer vergebene Arbeiten.
II. Die Regiearbeiten werden durch unmittelbar im Dienst« der Ver-
waltung stehendes Personal für Rechnung derselben verrichtet; es mag
dieses die Staats-, Landes-, Gemeinde- oder vom beliehenen Unternehmer
aufgestellte Verwaltung sein. Für die dabei ständig oder zeitweise ange-
stellten Beamten, Unterbeamten und Diener ist in den Dienstordnungen
Vorsorge getroffen worden. Die beschäftigten Arbeiter hielt man dadurch
genug geschützt, daß sich diese Arbeiten unter Aufsicht der Behörden voll-
ziehen, und man hat bis vor kurzem an die Regelung von Arbeitszeit und
Arbeitslohn gar nicht gedacht. Durch den Mangel der bezüglichen Vor-
') Gesetz vom 11. Juni 1901, E -G.-lil. Nr. 66, § 15.
5) Gesetz über Wasserstraßen § 7.
3, Gesetz vom 27. August 1892. R.-G.-BI. Nr. I58, und Gesetz rom 11. Juni 1901,
R.*ti.*Bl Nr. 60. $ 14. Über die „Gewcrboinapektinn1* sieb den Artikel von Miacbler
iiu StaatswOrterbucbe, 1 , 8. 915 bis 925.
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Du Recht der öffentlichen Arbeiten.
221
Schriften wurde eine große Ungleichmäßigkeit in der Behandlung der
Arbeiter hervorgerufen. Die Verwaltung hat jedoch nicht nur das Recht,
sondern auch die Pflicht, ein Musterarbeitgeber zu sein und mit gutem
Beispiele voranzugehen.
Den Anfang auf diesem Gebiete hat erst das Gesetz vom 28. Juli
1902, R.-G.-B1. Nr. 156, gemacht, welches die Arbeitsverhälthisse der bei
den Regiebauten aller Eisenbahnen (sowohl Staats- als auch Privatbahnen)
verwendeten Arbeiter geregelt hat. Das Gesetz umfaßt nur die Arbeiten,
welche von der Bahnverwaltung selbst unmittelbar ausgeführt werden und
nicht die an Unternehmer vergebenen Arbeiten; auch nicht diejenigen, welche
in dem Rahmen der gewöhnlichen Bahnerhaltung bewirkt werden; es besitzt
also nur einen begrenzten Wirkungskreis. Da es jedoch den ersten Grund-
stein auf diesem Gebiete bildet, die neuesten Rechtsanschauungen abspiegelt
und voraussichtlich weiteren gesetzlichen Bestimmungen als Vorbild dienen
wird, werden seine Vorschriften im folgenden kurz dargestellt: ')
A. Verbote, einen Vertrag abzuschließen oder bestimmte Arbeiten zu
verrichten, bestehen für jugendliche Arbeiter und Frauen. Bei den ltegie-
bauten dürfen die Knaben vor dem vollendeten 14. Lebonsjahre und die
Frauenspersonen vor dem vollendeten 16. Lebensjahre Oberhaupt nicht ver-
wendet werden. Bei der Nachtarbeit und bei der Überstundenarbeit kann
man jugendliche Arbeiter (vor dem vollendeten 16. Lebensjahrei und Frauens-
personen auch nicht beschäftigen: sonst können ihnen nur leichtere Arbeiten
anvertraut werden, welche fflr die Gesundheit dieser Arbeiter nicht nach-
teilig sind.
B. Die Eingehung des Vertrages ist durch privatrechtliche Vorschriften
geregelt. Der Arbeitgeber ist jedoch verbunden:
1. vor Antritt der Arbeit dem Arbeiter deu Lohnsatz bekannt zu geben
und in die Lohnlisten einzutragen;
2. die Arbeitsordnungen aufzustellen, welche die wesentlichen Bestim-
mungen des Arbeitsvertrages enthalten müssen: sie werden von der Auf-
sichtsbehörde geprüft und bestätigt. Die bestätigte Arbeitsordnung ist in
einer den Arbeitern verständlichen Sprache an jeder Arbeitsstätte und in
jedem Arbeitsraume anzuschlagen und jedem Arbeiter beim Eintritte gegen
schriftliche Bestätigung eiuzuhändigen.
C. Der Inhalt des Arbeitsvertrages wird grundsätzlich durch freie
Übereinkunft der Parteien bestimmt, jedoch nur innerhalb der durch die
Gesetze vorgeschriebenen Einschränkungen bezüglich der Besehäftigungszeit,
des Lohnes, der Sicherheitsvorkehrungen und der Arbeitsbücher.
1. Die Arheitsdauer darf ohne Einrechnung der Arbeitspausen nicht
mehr als höchstens 11 Stunden binnen 24 Stunden betragen. Diese Bestim-
mung findet keine Anwendung:
a) auf die notwendigsten Hilfsarbeiten, welche der eigentlichen Arbeit
vor- oder nachgeheu müssen:
■) ln der Gruppierung des Stoffes folgen wir grundsätzlich der Einteilung von
J. II. v. Zanten (Die Arbeiterichutzgesetigebung in den europäischen Ländern. Jena. 1!0‘> .
ZeiWchrin fiir V'uik« vlrttclmft, So* k und Wmaltim*. XII- lifcud. jtj
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222
Bre*iewicz.
bj auf jene Verrichtungen, bei denen eine genaue Abgrenzung der
täglichen Arbeitszeit und der Arbeitspausen nicht durchführbar
erscheint und
r) bei unvorhergesehenen zwingenden Umständen, wenn die ungestörte
Aufrechterhaltung des Verkehrs ein vermehrtes Arbeitsbedürfnis zur
Folge hat.
Zwischen den Arbeitsstunden sind den Arbeitern angemessene Ruhe-
pausen zu gewähren, welche zusammen nicht weniger als anderthalb Stunden
betragen dürfen. Bei Bauten, bei welchen eine Unterbrechung der Arbeit
beziehungsweise des Betriebes untunlich ist. können hinsichtlich der Arbeits-
pausen besondere Bestimmungen getroffen werden.
An Sonntagen bat die Arbeit zu ruhen. Von dieser Bestimmung sind
ausgenommen:
a) die an den Arbeitslokalen und Werksvorrichtnngen vorzunehinenden
Säuherungs- und lustandbaltungsarbeiten, welche an Wochentagen
nicht verrichtet werden können;
h) die erforderliche Bewachung der Bauten und der Hilfsanstalten;
r) sonstige unaufschiebbare Arbeiten in Notfällen;
d) schließlich kann für Regiebauten, bei welchen eine Unterbrechung
der Arbeit untunlich ist, diese Arbeit an Sonntagen im Verordnungs-
wege gestattet werden.
Ben Arbeitern, welche am Besuche des Vormittagsgottesdienstes ver-
hindert wurden, ist am nächstfolgenden Sonntag freie Zeit zu gewähren
und bei längerer Beschäftigung eine Ruhezeit an einem Wochentage.
2. Wenn über die Zeit der Entlohnung der Arbeiter nichts anderes
vereinbart ist, wird die Bedingung wöchentlicher Entlohnung vorausgesetzt.
Im Verordnungswege können Maximaltermine für die Lohnzahlung festgestellt
werden. Die Löhne sind in barem ("leide auszubezahlen und dürfen insbe-
sondere nicht an Stelle des Lohnes Anweisungen für den Warenbezug aus
bestimmten Geschäften ausgegeben werden. Von den Verdienstbeträgen
der Arbeiter dürfen nur folgende Abzüge gemacht werden:
a) das mit Zustimmung des Arbeiters im voraus bedungene, einen
Gewinn aiisschlietfende Entgelt für Wohnung, Beleuchtung«- und
ßelieiznngsmatcrialien für häusliche Zwecke, für Benutzung der Grund-
stücke und für bezogene Lebensmittel;
b) zur Abstattung von Lohnvorschüssen;
c) Beiträge für die Krankenkassa und für das Provision«- oder Alters-
versorgungsinstitut;
d) die Konventionalstrafgelder für Übertretung der Arbeitsordnung (welche
nur in Fällen besonders strafbaren Leichtsinnes die Höhe eines halben
Tagesverdienstes innerhalb des Zeitraumes einer Woche überschreiten
können);
e) die Entschädigungsbeträge für die nicht zurückgestellten Arbeitsmittel.
Unstatthaft ist die Lohnzuräckhaltung zur Hereinbringung oder
Sicherstellung anderer Forderungen der Eisenbahnverwaltung. Die Verdienst-
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Das liecht der öffentlichen Arbeiten.
223
beträge der Arbeiter können auch vor dem Auszahlungstage mit Eiekutions-
verfügungen zu Gunsten dritter Personen nicht getroffen werden, wenn es
sich nicht um die Steuern und öffentliche Abgaben oder um gesetzliche
Ansprache auf Leistung des Unterhaltes handelt.
3. Jede Bahnverwaltung ist verpflichtet, die Banarbeiten derart zu
regeln, daß die daselbst beschäftigten Arbeiter gegen Gefahren für Leben
und Gesnndheit nach Möglichkeit geschätzt sind; ebenso ist für die erste
Hilfeleistung bei ünglücksfallen und hygienische Einrichtungen Sorge zu
tragen. Der Eisenbahnminister ist ermächtigt, besondere diesbezügliche
Anordnungen im Verordnungswege zu erlassen. Das Aufsichtspersonal der
Bahnverwaltungen hat die Verpflichtung, die Arbeiter mit den bestehenden
Sicherheit« maßregeln und den Schutzvorkehrungen vertraut zu machen.
4. Jeder Arbeiter muß bei Eintritt mit einem Arbeitsbuche versehen
sein: bezüglich dieser Arbeitsbücher gelten die jeweiligen für gewerbliche
Hilfsarbeiter vorgeschriebenen Bestimmungen. Die Bnhnverwaltungen sind
verpflichtet, dem Arbeiter auf Verlangen beim ordnungsmäßigen Austritte
aus dem Arbeitsverhältnisse ein Zeugnis auszustellen und haften für die
aus Verweigerung oder wahrheitswidriger Erteilung entspringenden Nachteile.
D. Die Dauer und das Ende des Vertrages werden in erster Linie
durch Vereinbarung der Parteien bestimmt. Mangels vertragsmäßiger Be-
stimmungen endet der Vertrag durch eine vierzehntägige Kündigung seitens
einer der Parteien. Insofern eine andere Kündigungsfrist vereinbart wird,
muß sie für beide Teile gleich sein. Vor Ablauf der bedungenen Dauer
des Arbeitsverhältnisses kann der Arbeiter nur aus den im Gesetze taiativ
aufgezähltcn wichtigen Gründen ') die Arbeit ohne Kündigung verlassen
beziehungsweise sofort entlassen werden. Die unbegründete Verlassung der
Arbeit beziehungsweise Entlassung gibt der andern Partei Anspruch auf
Entschädigung, welche dem Arbeitslöhne für die Kündigungsfrist gleich ist.
E. Die Entscheidung der Streitigkeiten aus dem Arbeits- und Lohn-
verhältnisse gehört zur Zuständigkeit des Gewerbegerichtes (wo ein solches
bestellt ist) oder des Bezirksgerichtes, ohne Rücksicht auf den Wert des
Streitgegenstandes.
F. Der Vollzug der Gesetze ist in ähnlicher Weise wie bei Gewerbe-
unternehmungen gesichert Die Überwachung der Durchführung der Be-
stimmungen über den Arbeiterschutz liegt jedoch der Generalinspektion der
Eisenbahnen ob. Die Bahnverwaltungen sind verpflichtet, den Organen der
Aufsichtsbehörde die notwendigen Aufklärungen zu geben, den Eintritt in
sämtliche Arbeitsräume zu gestatten und den Anordnungen auf das genaueste
nachzukommen.
1. Zum Zwecke der erfolgreichen Aufsichtsausübung sind von den
Bahnverwaltungen folgende Verzeichnisse zu führen und der Aufsichts-
behörde auf Verlangen vorzuweiseu:
l) §| 87 und 38 des Gesetzes vom 28. Juli 1902, welche den
der Gewerbeordnung gleichlautend sind.
82 und 82 a)
16*
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224
Breaiewie*.
aj eia Verzeichnis aller verwendeten Arbeiter mit Angabe des Alters,
des Eintrittes in den Dienst und des Austrittes, der Verwendungsart
und der Krankenkassa;
U) ein Verzeichnis aller am Sonntage beschäftigten Arbeiter, mit Angabe
des Ortes, der Art und der Dauer ihrer Beschäftigung;
<) ein Verzeichnis der jugendlichen Hilfsarbeiter:
d) ein Tarif der Wohnungen. Beheizuugsinaterialien und Lebensmittel,
welche von der Hahnverwaltung geliefert und vom Lohne in Abzug
gebracht werden;
e) die Lohnlisten, mit besonderer Angabe der Itezüge eines jeden Arbeiters
und der Abzüge.
2. Der Aufsichtsbehörde muh die Anzeige erstattet werden:
n) Aber das die Überschreitung oder Verlängerung der Maximalarheits
dauer hervorrufende Bedürfnis und
h) (Iber die Vornahme der unaufschiebbaren Arbeiten am Sonntag.
8. Die Aufsichtsbehörde muh bewilligen beziehungsweise bestätigen:
n) die Bestimmung der wöchentlichen Maximalarbeitszeit in ununter-
brochenen Betrieben;
b) die Verlängerung der täglichen Arbeitszeit im Palle eines vermehrten
Arbeitsbedürfnisses;
<•) den Tarif der Wohnungen. Beheizungsmaterialien und L ebensmittel,
welche dem Arbeiter geliefert und vom Lohne in Abzug zu bringen sind;
dj die Arbeitsordnungen.
Bei Übertretungen des Gesetzes weiden jene Personen, welche für
die Einhaltung der betreffenden Vorschriften nach Mall gäbe der Tatumstände
verantwortlich erscheinen, von der Aufsichtsbehörde mit Verweisen oder
mit Geldstrafen bis zum Betrage eines Monatsgehaltes geahndet. Diese
Strafen werdeu unbeschadet einer anfälligen disziplinären Behandlung aus-
gesprochen; sie sind jedoch ausgeschlossen, wenn eine den Gerichten zuge-
wiesene strafbare Handlung oder Unterlassung vorliegt. Zur Durchführung
des Gesetzes und der erlassenen Anordnungen können die Bahnunter-
nehmungen nach vorati8gegangeuer Androhung durch Ordnungsstrafen bis
zur Höhe von 5(100 Kronen verhalten weiden. Die Konventional- lind
Ordnungsstrafgelder sind solchen im Verordnungswege zu bezeichnenden
Einrichtungen zuzuwenden, die zum Dosten der Arbeiter dienen.
III. Bei Vergebung der öffentlichen Arbeiten an Privatunternehmer hat
man bis in die jüngste Zeit mir an die Sicherstellung der Hechte der
Verwaltung gedacht: die sozial politischen Anforderungen einer wirksamen
Fürsorge für den Schutz der Arbeiter waren der Verwaltung vollkommen
fremd. Die Regelung des Verhältnisses des Unterbieters zu den Arbeitern
war der freien Übereinkunft der Parteien überlassen: so war das Verhältnis
des Unternehmers und des Arbeiters nur vom wirtschaftlichem Gesetze von
Angebot und Nachfrage beherrscht. Dieses inulite hei grotlem Wettbewerb
und bei übertriebenen Unterboten der Unternehmer eine Verschlechterung
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Da* H**cht *it*r ftffentliclien ArH«t<*n.
225
der Lohnverhältnisse und Versäumung jedweder Schutzeinrichtungen der
Arbeiter im Gefolge haben.
Die Gewerbenovelle vom H. März 188.r>, welche eine sehr bedeutsame
sozial-politische Regelung der gewerblichen Arbeit hervorgebracht hat, ')
konnte auf dem Gebiete der öffentlichen Arbeiten nur kaum nennenswerte
Wirkungeu hervorbringen, und zwar aus folgenden Gründen:
<i> manche öffentliche Arbeiten (wie z. B. Eisenbahnarbeiten) sind aus
dem Begriffe des Gewerbes ausgeschlossen;
h) nicht für alle Unternehmungen öffentlicher Arbeiten gelten die Bestim-
mungen des Gewerbegesetzes, sondern nur für solche, welche einen
regelmätiigen Erwerb der Unternehmer bilden; bei gelegentlicher Unter-
bietung und Vornahme der öffentlichen Arbeiten kann der Unternehmer
nicht als Gewerbsmann betrachtet werden;
e> die Gewerbeordnung findet keine Anwendung auf die Lohnarbeit der
gemeinsten Art. welche bei öffentlichen Arbeiten eine sehr bedeutende
Rolle spielt.
Diese feinen Unterschiede, welche der Arbeiter nie erkennen konnte,
haben bewirkt, daß der Arbeiterschutz bei öffentlichen, an die Unternehmer
vergebenen Arbeiten ganz unzureichend geworden ist. Das Recht und die
Pflicht des Staates und der öffentlichen Korporationen, hei Vergebung von
Arbeiten an private Unternehmer auf den Schutz der bei der Ausführung
derselben beschäftigten Personen Bedacht zu nehmen und liiefür Vorsorge
zu treffen, ist in den westlichen Industriestaaten ziemlich allgemein aner-
kannt. *) Trotzdem ist dieser Arbeiterschutz bis jetzt fast nirgends gesetzlich
geregelt. Zur teilweisen Ersetzung dieser gesetzlichen Lücke, um wenigstens
die größten Härten der überwiegenden Stellung des Unternehmers auszu-
gleichen. werden vou der Verwaltung den Unternehmern öffentlicher Arbeiten
vertragsmäßig verschiedene Bestimmungen zu Gunsten der Arbeiter auferlegt.
Sie beziehen sich auf die Zahl der anzustellenden Arbeiter, auf die Art der
Lohnzahlung, auf das Vorrecht der Arbeiter an den dem Unternehmer von
der Verwaltung geschuldeten Geldern, auf die Fürsorge und die Hilfe-
leistungen hei Unglücksfällen, schließlich auf die Sonntagsruhe und die
Akkordarbeit. 3 Die wichtigsten Arbeitsbedingungen bei Vergebung öffent-
licher Arbeiten in Österreich sind folgende:
1. Der Unternehmer ist verpflichtet, stets die nötigen Vorsichtsmaß-
regeln zu ergreifen, damit die Arbeiter keiner körperlichen Verletzung oder
gar einer Lebensgefahr ausgesetzt werden: er muß deswegen denjenigen
Anordnungen entsprechen, welche zur Sicherung der Gesundheit seiner
*) In Deutschland hat die Novelle zur Gewerbeordnung vom SO. Juni 1900 in den
Art ü hie 14 für einen noch ausgiebigeren Schutz der Arbeiter gesorgt.
J) Der Arbeiterschutz bei Vergebung öffentlicher Arbeiten uud Lieferungen. Wien.
1900, S. VL
*) Vergl. das Werl von Oubert (übersetzt von Franz Hauptvogel): Arbeits-
bedingungen bei Submissionen, Leipzig, 1902, S 4. und von Carraro dott. Gins.: Le
clausole tutrici dcl lavoro negli appalti puhhliri. I'adova. 1903.
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Bre&iewicz.
Arbeiter und zur Wahrung der Reinlichkeit von der Verwaltung getroffen
werden. ') Einige Vertragsbedingungen *) stellen außerdem die Verpflichtung
des Unternehmers fest, für die Unterkunft, Pflege und Heilung erkrankter
oder verwundeter Arbeiter Sorge zu tragen. Bei größeren Wasserbauten und
bei Staatseisenbahnbautcn wird der Erstelier durch die Bediugnishefte ver-
halten, durch Errichtung von Baracken für die Unterkunft, und von Speise-
anstaltcn für die gesunde und billige Verköstigung seiner Arbeiter zu sorgen.’)
2. Um die Umgehung der Vertragsbestimmungen, betreffend den
Arbeiterschutz, zu verhindern, wird allgemein anerkannt, daß die Weiter-
vergebung der erstandenen Arbeiten an Zwischenunternehmer ohne ausdrflck-
liehe Genehmigung der vergebenden Behörde nicht stattfinden kann und
daß der Unternehmer für die Einhaltung der Bedingnisse durch den Zwischen-
unternchmer haftet. *)
:i. Den Unternehmern der Staatseisenbahnbauten wird zur Pflicht
gemacht, ’) die Arbeiter in der Kegel alle vierzehn Tage oder in noch
kürzeren Zeitabschnitten regelmäßig zu bezahlen. Im Falle nachgewiesener
Säumnis des Unternehmers hat die Bauleitung das Recht, die Arbeiter auf
seine Kosten zu befriedigen und die hiezu verwendete Summe als eine an
den Unternehmer selbst geleistete Abschlagszahlung zu behandeln.
4. Allen Unternehmern bei den Wiener Verkehrsanlagen wird schon
durch die Offertbedingnisse die Beobachtung der aufgestellteu Arbeitsord-
nungen vorgeschrieben, welche den Bestimmungen des VI. Hauptstückes
der Gewerbeordnung Rechnung tragen.') Bei Staatseisenbahnbauten ist
wenigstens die Aufstellung und Kundmachung einer behördlich genehmigten
Arbeitsordnung vorgeschrieben.
In England wurden seit einem Beschluß dos Unterhauses vom 13. Fe-
bruar 1891 uach und nach von Staatsbehörden die Bedingungen über
Verbot der Weitervergebung der Arbeiten an Zwiscbenunternebmer und
Bezahlung der Arbeiter nach dem gangbaren Lohnsätze des betreffenden
Gewerkes in die Bedingungsheftc der öffentlichen Arbeiten aufgenommen.
Diese Lohnsätze werden von der Genossenschaft der Unternehmer mit den
Gewerkvereinen vereinbart.') Ähnliche Bestimmungen werden auch bei
') Allgemeine üanbedingnisse für Wasser- und Ktraßcnarbciten § Iü; allgemeine
Bedingungen für Militärarbeiten Art. XXXV.
') Vertragsbedingungen für die Anfertigung u. ». w. vou eisernen Iieichsstraßeu-
brückeu § 37 (Erlaß des Ministeriums des Innern vorn 31. Dezember 1*92, X. 21.817).
Allgemeine Bedinguisse für die Offerenten und Unternehmer von Staatseisenbaiinbauten
Art. 20 bis 22.
’) Der Arbeitersehutz bei Vergebung öffentlicher Arbeiten 8. 131 und 134.
*) Allgemeine Baubediugnisse für Wasser- und , Straßenarbeilen § 5; allgemeine
Bedingungen für Militiirarbeiten Art. XXX.
’) Sieh die oben erwähnten allgemeinen Bedingnisse für Staateeisenhalmbaiiten.
*) Der Wortlaut dieser Arbeitsordnung findet sich im Berichte der Kommission
für Verkehrsanlagen in Wien (Wien, 1824), S. 08 ff.
') Uber die „Tarifverträge zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern" sieh den
Artikel von Philipp Lotmar in Brauns Archiv für soziale Gesetzgebung, 1200,
S. 11 bis 122.
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Lias Recht der öffentlichen Arbeiten.
227
Arbeiten des Londoner Grafschafte rate« und der größeren Städte in die
Bedingungshefte aufgenommeu. ') Auch bei uns wird der Zusammenstellung
von den den Orts- und jeweiligen Zeitverbältnissen entsprechenden Preis-
tarifen der Arbeiten eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet, sie haben
jedoch nur den Zweck, für die Vergebuugsverhandlungen eine richtige
Grundlage zu erzielen.*) In Frankreich wurde schon durch das Dekret vom
2. März 1848 die den Arbeiter ausbeutende Akkordarbeit unterdrückt.
Seit 18663) besteht die Pflicht des Unternehmers, die Arbeiter in ent-
sprechenden Zeitabschnitten zu zahlen und das Recht der Verwaltung, die
Lohnansprüche auf Rechnung des Unternehmers unmittelbar zu bestreiten;
außerdem wird dem Unternehmer von jeder Abschlagszahlung ein Hundertstel
der jeweiligen Summe für die Zwecke der Unterstützung der verunglückten
oder erkrankten Arbeiter, ihrer Witwen und Kinder zurückbehalten. Seit
1882 führte der .Stadtrat von Paris mit der Regierung einen Streit4) Ober
Feststellung des Normalarbeitstages, eines Ruhetages in der Woche und
der Lohnhöhe hei Vergebung der Stadtarbeiten r diese Bestrebungen
scheiterten durch lange Zeit an der herrschenden Rechtsanschauung über
die Freiheit der Arbeit. Erst ein Dekret vom 10. August 1899 ordnet an.
daß in die Lastenhefte der Verträge über öffentliche Arbeiten des Staates
folgende Bedingungen aufgenommen werden müssen;
a) die Gewährleistung eines Ruhetages den Arbeitern in der Woche;
bj die Anstellung ausländischer Arbeiter nur in einem von der Verwaltung
bestimmten Verhältnisse;
r. ) die Beschränkung der täglichen Arbeitszeit auf die gebräuchliche
Arbeitsdatier;
A) die Auszahlung der gangbaren Normallöbne, welche zwischen den
Verbänden der Arbeitgeber und uehiner vereinbart, oder von gemischten
Kommissionen ausgemittelt worden sind, und deren Verzeichnis jedem
Lasteuhefte beigelegt werden muß. Die Verwaltung ist befugt, den
Unterschied zwischen dem gezahlten und dem gangbaren Lohne den
Arbeitern selbst auszuzahlen und dem Unternehmer von dem Ver-
dienstbetrage oder von der Kaution in Abzug zu bringen.
Zwei andere, an demselben Tage erlassene Dekrete haben den
Departements, den Gemeinden und den Woblt&tigkeitsanstalten die Freiheit
gelassen, obige Klauseln in ihre Lastenhefte einzuführen.
ln Preußen und in Baden ist die Verwaltung befugt, die Verdienst-
beträge der Handwerker und Arbeiter unmittelbar zu zahlen, wenn der
Unternehmer die Verpflichtungen aus dem Arbeitsvertrage nicht pünktlich
l) Arbeiterschutz bei Vergebung öffentlicher Arbeiten, $. I bis 14.
*) Hau tienst Vorschriften für das Heer § 23.
’) Cahier de elauses et conditions generales artete le 16. uuveeobre 1866, Art. 16
und 16.
4) l>r. Viktor Mataja: Städtische Sozialpolitik. (Zeitschrift für Volkswirtschaft,
Sozialpolitik und Verwaltung, III. Hd. 1894, S. 56- ff ) ; Hubert: Arbeitshedingnngen
bei Submissionen S. S bis 26.
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228
ßrcsii wie«.
erfüllt und das angemessene Fortschreiten der Arbeiten dadurch in Frage
gestellt werden sollte.1) Boi städtischen Arbeiten in Berlin ist die Arbeits-
zeit durchweg auf 10 Stunden herabgesetzt und die Mindestlahne auf
3'50 Mark erhoben worden; Überstunden werden entsprechend höher ent-
lohnt.’) Im Jahre 1901 wurde vom Ausschüsse der bayrischen Abgeordneten-
kammer beschlossen,’! daß bei Vergebung von staatlichen Arbeiten den
Arbeitern mindestens der orts- und berufsübliche oder in vereinbarten
Tarifen festgesetzte Tagclohn bezahlt werden muH; die Arbeitszeit darf in
der Regel 10 Stunden täglich nicht überschreiten; Überstunden sind mit
mindestens 25 Proz. Zuschlag zu vergüten; die Ruhezeit an Sonn- und
Feiertagen dauert mindestens ununterbrochen 30 Stunden; in erster Reihe
sind inländische Arbeiter zu beschäftigen; die Verwendung anderer Arbeiter
darf nur zu den gleichen Lohn- und Arbeitsbedingungen stattfinden. Den
Behörden der Kreise und Gemeinden wird empfohlen, bei Ausführung und
Vergebung ihrer Arbeiten nach gleichen Grundsätzen zu verfahren.
In Italien ist dem Unternehmer nicht erlaubt, ohne behördliche
Genehmigung den Vertrag an Zwischenunternehmer abzutreten. Die Zahluug
der Löhne soll wenigstens alle 15 Tage erfolgen; falls der Unternehmer
mit der Zahlung im Ausstande bleibt, ist die Verwaltung ohne weiteres
befugt, die Löhne auf seine Kosten zu begleichen.4) Außerdem muß der
Unternehmer seine Arbeiter auf eigene Kosten gegen UuglOcksfälle ver-
sichern.5)
Durch Umstellung obiger Bedingungen in die Vergebungsverträge
wird die Freiheit der Verträge und der freie Wettbewerb nicht verletzt, da
es doch einem jeden Unternehmer freisteht, den Vertrag mit der Ver-
waltung abzuschließen oder nicht, und alle Unternehmer gleichmäßig behandelt
werden. Ks wird dadurch auch in die gesetzliche Regelung der Arbeits-
verhältnisse nicht eingegriffen,*) da der Verwaltung das Recht nicht ahge-
sprochen werden kann, den Unternehmern Bedingungen aufzulegen, welche
den zwingenden Vorschriften des bürgerlichen Gesetzbuches nicht zuwider-
laufen. Die große rechtliche Wichtigkeit dieser Arbeiterschutzbestimmungen
läßt sich nicht verkennen. Sie bilden zwar für die Parteien kein Gesetzes-,
sondern ein Vertragsrecht und können nur in der Art wie andere Vertrags
klausein durchgefflhrt werden. Es ist jedoch die öffentliche Verwaltung,
welche die Erfüllung dieser Bedingungen überwacht und ohne gerichtliches
Verfahren erzwingt. Schließlich sproßt aus diesen tausendmal wiederholten
Vertragsverhältnissen die rechtliche Überzeugung von der Notwendigkeit
') Preußische allgemeine Vertragsbedingungen für Staatsbauten J 11; badische
Ministerialverordnung vom 7. Juni 1890, 0.- und V.-Bl. S. 293.
•) Soziale Präzis, XI. Jahrg., Sp. 351 ff. und 1299 (T.
*) Soziale Präzis. XI., Sp. 154.
9 Legge sui Invori pubblici Art. 339 and 357.
Gesetz vom 17. Mürz 1898, Art. 7; Capitolato generale Art 22; Condizioni
generali Art. 18 und 19.
•j Wie es BrJmond (Revue Critique, 1391, S. 147 bis 153) behauptet.
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1 >as Ki'cht 4c r offriitlicben Arbeiten.
220
eines gedeihlichen Arbeiterschutzes, welche diese Schutzklauseln in der
Zukunft zum Gesetzesrechte umzuwandeln geeignet ist. Diese Rcchts-
bildung wird in den westlichen Ländern Europas rascher Platz greifen, da
in diesen Ländern fast durchwegs hei öffentlichen Arbeiten viel weiter-
gehende Arbeiterschntzbestimmungen1) Anwendung finden, als sie sonst für
die Arbeiterschaft der privaten Industrie gelten. Bei uns hingegen ist der
Kechtszug auf Erweiterung der gewerberechtlichen Schutzbestimmungen auf
die Unternehmungen der öffentlichen Arbeiten gerichtet.
VIII. Verwaltung öffentlicher Arbeiten.
Das Verfahren, welches bei Durchführung öffentlicher Arbeiten etu-
gehalten wird, weist wesentliche Unterschiede auf, je nachdem es sich um
Herstellung oder um Erhaltung handelt. Dieser Unterschied ist durch die
Möglichkeit des gröberen oder kleineren Einflusses auf die Beeilte dritter
Personen gerechtfertigt.
I. H e r s t e 1 1 u n g s a r b e i t e n.
Im Verfahren. welches bei Herstellung öffentlicher Arbeiten beobachtet
wird, lassen sich mehrere Cbergangsstufen unterscheiden:
A. Vorarbeiten.
B. Vorlegung und vorläufige Prüfung des Entwurfes,
C. Beratsehlagungsverfahren,
D. Genehmigung des Entwurfes und Fällung der Enteignungs-
erkenntnisse,
E. Ausführung,
F. Prüfung und Betriebserlaubnis.
A. Vorarbeiten.
.Sind behufs der Ausführung öffentlicher Arbeiten Vorarbeiten auf
fremden Grundstücken notwendig und will der Grundeigentümer die Vor-
nahme derselben nicht gestatten, so entscheidet die politische Bezirksbehörde
auf Ansuchen des Unternehmers sowohl über die Notwendigkeit als auch
die Zulässigkeit der beabsichtigten Handlung.*) Die politische Bezirks-
behörde bestimmt auf Ansuchen des Beteiligten die Sicherheit, welche die
Unternehmung zu leisten hat. und die Höhe der zu entrichtenden Entschä-
digung, die letztere vorbehaltlich der Entscheidung im urdentlicheu Rechtswege.
Zur Vornahme der Vorarbeiten wird eine angemessene Frist festgesetzt;
nach Beendigung dieses Zeitraumes ist die Bewilligung als erloschen anzu-
*) Der Arbeiterschntz bei Vergebung öffentlicher Arbeiten, S. VII.
•) § 55 krain.. § 71 stelermlrk., $ 72 bukow., 5 73 niederösterr.. § 75 istrian.,
e 77 sonstiger Landeawaaaerreehtsgesetze ; § 42 des Eiienbahuenteigntingsgcsetzes. Die
Bewilligung f(ir die Vorarbeiten einer Eisenbahn wird vom Eisenhahnniiimteriiim erteilt
($ 2 des Eisenbahnkonzessionsgesetzes.t Italienisches Gesetz über öffentliche Arbeiten Art. 242
und 243 und Gesetz vom 26. Juni 1865. Art. 7. Französisches Gesetz vom 22. Juli
1880. Art. 1.
Hresiewiez.
.'Hfl
sehen: sic kann jedoch wiederholt angesucht und erteilt werden.1) Durch
die Bewilligung zu den Vorarbeiten erhält der Unternehmer weder ein Vor-
recht auf Konzession der Anlage noch eine sonstige ausschließliche Befugnis;
es kann daher die Bewilligung zu den Vorarbeiten verschiedenen Personen
erteilt werden. Die Bewilligung zu den Vorarbeiten gibt bloß das Beeilt,
auf Kosten des Unternehmers die Vorerhebungen für die künftige Ausführung
der beabsichtigten Arbeiten unter Aufsicht der Behörden zu pflegen und
die nötigen Vermessungsarbeiten vorzunebmen.*)
Den Vorarbeiten, welche von Staatsbehörden oder den Selbstverwaltungs-
körpern verrichtet werden, muß ein Antrag der Vollzugsorgane an die be-
schließende Behörde vorangehen. Diese Anträge5) werden entweder über
höheren Auftrag von den Baubehörden verfaßt oder sie entspringen aus
eigenem Antriebe der unteren Baubehörden. Im letzteren Falle wird ihre
Verfassung durch Bedürfnisse und Zweckmäßigkeitsrücksichten oder durch
zwingende Umstände (z. B. durch Elementarereignisse, durch eingetretpne
Gefahr u. dgl.) begründet.
Anträge über Neubauten sind stets, andere Anträge aber hei einem
höheren Kostenerfordernisse besonders zu begründen; sie umfassen:
a) die Darstellung der Veranlassung, Notwendigkeit, Zweckmäßigkeit und
Tragweite der beabsichtigten Arbeiten;
hj die Darstellung der technischen Einzelheiten, der Bauerfordernisse und
die Vorbereitung der Behelfe für die Ausführung;
c) den Kostenvoranschlag.
Zur Verfassung eines Bauautrages sind kommissioneile Vorverhandlungen
durchzuführen, an welchen die Vertreter jener Behörden teilzunehmen haben,
welche zur Wahrung der in Frage stehenden Interessen bestimmt sind.
Wenn durch die vorgeachlagenen Arbeiten nachbarliche oder sonstige fremde
Hechte berührt werden, sind unter Beiziehung der Aurainer und sonstiger
Interessenten Verhandlungen zu führen, um die Bedingungen der entwurfs-
mäßigen Ausführung zu erheben und mögliche Ansprüche der Anrainer
auszntrngen.
/#. Vorlegung und Prüfling des Entwurfes.
Die Entwürfe und Berichte, betreffend die auf Staatskosten anszufüh-
renden Arbeiten, sind der höheren Baubehörde zur Genehmigung vorzulegen.
Bei anderen öffentlichen Arbeiten hat der Unternehmer bei der zuständigen
Behörde ein Bewilligungsgesuch4) einzubringen. Die betreffende Vorlage muß
enthalten:
*) Verordnung des Handelsministeriums vom 25. Jänner IST II. It.-Ii.-HL Nr. 19, § I.
*1 1 4 <les Eisenbahnkonzessionsgesetzes.
3) Üüer die Verfassung von Banuuträgeu bestehen besondere Vorschriften z. 1t. in
den Baudieiistvorschriften für das h. und k. Heer, I. T., 20 bis 37.
§ 78 der meisten Wasserreehtsgesetze: Gesetz über Ableitung von Gebirgs-
wässem §9; Eisenbahukonxessionsgesetz vom 14, September 1854, It.-G. Bl. Nr. 238, § 5,
uml Verordnung des Handelsministeriums vom 25. Jänner 1879, K.-G.-Bl. Nr. 19, § 1.
Gesetz vom 18. Febril sr 1»78, It.-G.-Bl. Nr. 30, § 12.
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Das Hecht d* r ftffVutlicheii Arbeiten.
2*» 1
1. die Angabe de« Zweckes und Umfanges der Unternehmung;
2. die von einem Sachverständigen verfallen Entwürfe und Zeichnungen ;
3. die Art und Weise der Ausführung;
4. die Darstellung der zu erwartenden Vorteile und der im Falle der
Unterlassung zu besorgenden Nachteile;
5. eine Schätzung der mutmaßlichen Baukosten :
0. die Aufzählung der Mittel zur Deckung der erforderlichen Kosten;
7. die Angabe der Interessenten, deren liechte durch die beabsichtigte
Unternehmung berührt werden;
8. die Angabe der Grundstücke und Liegenschaften, welche abzutreten
oder mit Dienstbarkeiten zu belasten wären.
Bei den Arbeiten, welche vom Staat« oder von Selbstverwaltungs-
körpern entworfen werden und vom Unternehmer ausgefülirt werden sollen,
zerfallen die Entwurfsbelege in zwei Teile:
1. in rein technische: in diese ist alles aufzuuehmen, was zur Erläuterung
der Notwendigkeit, Zweckmäßigkeit, Beschaffenheit und Form, ferner zur Dar-
stellung der Kosten des beantragten Baugegenstandes erforderlich ist. Diese
Belege sind zunächst lediglich zum Gebrauche der Baubehörden bestimmt;
2. in technisch-administrative Belege, welche als Grundlage der Ver-
träge für die Unternehmer zu dienen haben.
Die näheren Bestimmungen über die Einrichtung und Vorlage der
technischen Entwürfe für Unternehmungen, welche aus dem staatlichen Me
liorationsfonds unterstützt werden sollen oder die unschädliche Ableitung
von Gebirgswässern betreffen, enthalten zwei Verordnungen des Ackerbau-
ministeriums vom 18. Dezember 1885, R.-G.-Bl. Nr. 1 und 2 ei 1886.
Die Verfassung von Eisenbahnentworfen und des hierüber einzuhaltenden
Verfahrens ist in den Verordnungen des Handelsministeriums vom 25. Jänner
1879, R.-G.-Bl. Nr. 19, und vom 29. Mai 1880. K.-G. B1. Nr. 57, geregelt.
Das weitere Verfahren ist dasselbe bei den Staatsbauten1 und anderen
öffentlichen Arbeiten. Ergibt sicli schon aus dem Iuhalte des Gesuches auf
unzweifelhafte Weise die Unzulässigkeit des Unternehmens aus öffentlichen
Rücksichten, wird das Gesuch ohne weitere Verhandlung ahgewiesen. Wenn
dies nicht der Fall ist, werden nötigenfalls an Ort und Stelle Erhebungen
gepflogen. Ergeben sich bei der Vorprüfung Bedenken, ob der angestrebte
Zweck überhaupt oder doch in der angegebenen Weise erreicht werden könne,
so sind diese Bedenken dem Bauweiber zur Abgabe einer Erklärung init-
zuleilen.’ Auf Grund des vorgelegten Generalentwurfes und der gepflogenen
Erhebungen entscheidet’) die zuständige Behörde:
1. Über die öffentliche Nützlichkeit des beabsichtigten Unternehmens
im allgemeinen,
l) Verordnung des Handelsministeriums vom 25. Jfuiner 1879, K.-G.-Bl. Nr. 19.
§§ 5 und 16.
*) § 80 der meisten LanJeswaaserrcchtsgegetze.
WiMbachverbauungsgeaetz §§ 10 bis 11; § 79 ff. «ler meisten Landeswagserreehts-
gesetze; Eiseubahnkonxessionwgesetz $ 6.
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232
Brdirffirz
•2. sowie darüber, ob sieh insbesondere der vorgelegte Gencralentw urf
in seiner ursprünglichen oder in seiner einveruebmlicli mit dem Unternehmer
abgeänderten Form zur weiteren Verhandlung eignet.
C. Ueratsohlagungsrerfahrcn.
Der ergänzte Entwurf wird von der politischen liehörde in den betei-
ligten Gemeinden durch H Tage bis zu f> Wochen zur allgemeinen Einsicht
aufgelegt und in ortsüblicher Weise verlautbnrt. In der öffentlichen Bekannt-
machung ist auch der Tag und der Ort zu bezeichnen, an welchem die
kommissioneile Verhandlung über den aufgelegten Entwuif beginnen wird.
Von dem Inhalte der Verlautbarung sind auch alle bekannten Interessenten
persönlich zu verständigen. Den Gemeindevertretungen und den einzelnen in
irgend einer Weise Beteiligten steht es frei, etwaige Einwendungen gegen
den Entwurf im ganzen oder gegen einzelne Teile desselben bei der poli-
tischen Bezirksbehörde einzubringen. Nach Ablauf dei* in der öffentlichen
Vorladung bestimmten Fristen findet an Ort und Stelle eine kommissioneile
Verhandlung statt. Bei derselben ist anzuetrehen:
1. vor allem die volle Klarstellung der voraussichtlichen Einwirkung
des beabsichtigten Unternehmens auf die allgemeinen Interessen;
2. die Berücksichtigung der im Öffentlichen Interesse erhobenen Ein-
wendungen durch entsprechende Änderungen und Ergänzungen des Entwurfes:
:t. die Klarstellung der voraussichtlichen Einwirkung auf die beteiligten
privaten Interessen;
4. die gütliche Einigung der Beteiligten hinsichtlich der im privaten
Interesse erhobenen Einwendungen;
5. oft auch die Erhebung der Verhältnisse, welche für die Entschei-
dung der mit dem beabsichtigten Unternehmen verbundenen Ausgleichnngs-
fragen von Belaug sind.
Die kommissionelle Verhandlung mit den Parteien ist mündlich zu
führen und sind zu derselben nach Erfordernis Sachverständige von Amts
wegen beizuziehen. Uber die ganze Verhandlung ist ein Protokoll aufzu-
nehmen, welches alle wesentlichen Umstände der Verhandlung, insbesondere
die erzielten Übereinkommen und die sonstigen Ergebnisse der mündlichen
Erörterung, unter Angabe der für und gegen den Entwurf vorgebrachten
Grunde zu enthalten hat.
I). Genehmigung des Entwurfes.
Das Yerhandlungsprotokoll wird samt allen darauf bezüglichen Behelfen
in der Regel der politischen Uandesbehörde vorgelegt, welche die Entschei-
dung fällt :
a) über den Entwurf überhaupt und dessen einzelne Teile;
h) über die zur Ausführung desselben vorzunelmienden Enteignungen oder
sonstige Vorkehrungen:
c) manchmal auch über die Geldausgleichung hei Enteignungen.
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Pas Recht der öffentlichen Arbeiten.
2ÜÜ
Gegen die Entscheidungen der Landesbehörde stellt die Berufung an
den betreffenden Minister offen, welcher mit Ausnahme der sub c) erwähnten
Fragen alle anderen emlgfiltig entscheidet. Der Yerwaltungsgericlitshof kann
die ministerielle Entscheidung nur in der Dichtung überprüfen, ob die ge-
setzlichen Formen des Enteignungs Verfahrens eingehalten worden sind. Aus
der Entscheidung der Behörde über die kommissionelle Verhandlung ergibt
sich die Bauhewillignng ‘) und der Bau darf in Angriff genommen werden.
Bei Privatunternehmungen bleibt zur Austragung der privatrechtlichen Ein-
wendungen der Rechtsweg Vorbehalten, wenn sie auch in öffentlicher Be-
ziehung als zulässig erkannt wurden.’) Bei öffentlichen Arbeiten ist dieser
Rechtsweg ausgeschlossen, da durch die entgegenstehouden privatrechtlichen
Einsprüche die Ausführung öffentlicher Arbeiten nicht gehemmt werden
kann; sie lösen sich auf in Ausgleichungsansprflche. welche im Enteignung«-
wege geltend gemacht werden müssen.’)
Die Genehmigung der öffentlichen Arbeiten, welche nicht auf Staats-
kosten zu stände kommen, ist ein Ausflull des staatlichen Aufsichtsrechtes.
Andere Bedeutung hat die Genehmigung der Staalsarbeiten: sie wird auch
nicht notwendig von den die Aufsicht über alle öffentliche Arbeiten führenden
politischen Behörden, sondern von diesen Behörden erteilt, in deren Geschäfts-
kreis die vorgeschlagenen Arbeiten fallen. PieseBehörden entscheiden selbständig
über alle in Frage stehenden öffentlichen Rücksichten.
Die Landesbehörden des betreffenden Yerwaltung.-zweiges genehmigen*)
aile Arbeiten, welche bloll die Instandhaltung zum Gegenstände haben, wenn
der jährliche Beitrag 1000 Kronen nicht übersteigt, und alle Neu- oder Um-
bauten. deren Gesamtkosten 10.000 Kronen nicht übersteigen. Die Geneh-
migung anderer Bauten bleibt dem Ministerium Vorbehalten, (n jedem Falle
muff der notwendigen Auslage die Bedeckung hielür in den gehörigen Orts
genehmigten Jaliresvoranschlägen zu Grunde liegen. Die Genehmigung der
Staatshauten enthält also immer auch die Bewilligung der notwendigen
Auslagen.
Bei Staatsbauten beschränkt sich die Tätigkeit der politischen Behörden
(wenn sie nicht zugleich als Baubehörden eingreifen i auf die Fällung der
Enteignu ngserkenntnisse nach Durchführung des auf diese sich beziehenden
Verfahrens. ■') Das Enteignungsverfabren bat im wesentlichen denselben Gang,
wie oben dargestellt wurde; es entfällt nur die Verhandlung bezüglich der
Nützlichkeit und Ausführbarkeit des Unternehmens.
fi § 86 der meisten Landeswasscrrechtsgesetze : s 14 des Gesetzes aber Ableitung
der Gcbirpswässer; Verordnung des Handelsministeriums vom 25. Jauner 1870, K.-G.-Ul.
Nr. 19. § 19.
’) S ss der meisten Landeswasserrechtspesetzc.
*1 Kisenbahuenteignungsgesetz § 2. Z.
*1 §§ 31 und 33 der Verordnung vom 8. Dezember 1860. K.-G.-B1. Nr. 268. Bei
Staatseisrnbahnen (Organisationsstatut § 6, Punkt 17) und bei Militarbauten (Bauvor-
schriften för das k. und k. Heer. I. T., § -3) ist der Betrag höher.
fi Nur in Mähren bedürfen die Wasserbauten auf Staatskosten der Bewilligung
der politischen Behörde.
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234
Breaiewicz.
E. Ausführung des Unternehmens.
Auf Grund der Genehmigung wird zur Ausführung der Arheiten go-
aehritten. Die Arten der Ausführung und die dabei vorkommenden Rechts-
verhältnisse sind schon im V. und VI. Abschnitte behandelt worden; es
erübrigt noch, die dabei beteiligten Organe der Verwaltung und die Vor-
schriften, welche ihre Handlungen bestimmen, näher zu betrachten:
1. Die mit der Ausführung der Arbeiten betrauten Organe, ihre Anzahl,
rechtliche Stellung und ihr Wirkungskreis wechseln je nach der Wichtig-
keit der Arbeiten, nach der Person des Unternehmers n. s. w. Dem Unter-
nehmer gegenüber sind sie an die erteilten Weisungen gebunden. Ohne
jedoch in die minder wichtigen Einzelheiten einzugehen. muH die rechtliche
Stellung des Bauführers und des Bauleiters hervorgehoben werden. Der
Bauführer ist das unmittelbar ausübende Organ des Unternehmens. Dem
mit der Ballführung betrauten Techniker liegt insbesondere ob:*)
ii) die Aussteckung jeder einzelnen Arbeit nach Maßgabe des genehmigten
Entwurfes und die Baueinteilung der einzelnen Gegenstände;
h) die Wahrnehmung der auf die Ausführung der Arbeiten Einfluß aus-
übenden Umstände, der Gattung und Menge des dabei in Verwendung
zu nehmenden Materials und der Güte der Arbeit;
r) die Führung eines den Fortschritt der Arheiten genau nachweisenden
und alle wichtigen Wahrnehmungen enthaltenden Tagebuches und die
Verfassung der dazu sowie überhaupt zur Zusammenstellung der Ver-
dienstausweise und der Ausführungskostenberechnung erforderlichen
Behelfe;
ilj die rechtzeitige Verständigung des Unternehmers und der Bauleitung
von allen wichtigeren Vorkommnissen bei dem Baue, schließlich die
Unterstützung der letzteren bei Besichtigung und Endabnahme.
Wenn der Bauführer die wirkende Hand des Unternehmens vorstellt,
ist der Bauleiter die Seele, welche alle Handlungen bewältigt.
a) Der Bauleiter hat anfangs eines jeden Baujahres das Arbeitsverzeichnis
für das laufende Jahr mit den nötigen Plänen und Voranschlägen der
Baubehörde vorzulegen;
b) er hat die Verteilung der Arbeiten zu veranlassen und für die plan-
end fachgemäße sowie ökonomische Ausführung derselben Sorge
zu tragen;
r) er hat die Arbeiten zu besichtigen und deren Ausführung zu prüfen;
d) der Bauleiter prüft und unterfertigt sämtliche Urkunden, auf Grund
welcher die Auszahlungen zu bewerkstelligen siud, er führt ein Tage-
buch des Schriftenwechsels, Ausweise der Materialien. Gebührenaus-
weise für ausgeführte Arbeiten und erhält in Ordnung die Bauakten;
r) in unaufschiebbaren Fällen trifft der Bauleiter die nötigen Vorkehrungen
unter eigener Verantwortung und rechtfertigt dieselben unverzüglich
vor der Baubehörde;
’) Vergl. die Kundmachung der Slatthalterei vom 25. April 1900, L.-G.-B1, fur
Böhmen Nr. 30, § 7.
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Dm Reicht der nffentliehen Arbeiten. 23.r>
f) er legt der Baubehörde periodische Berichte Ober die Bautätigkeit und
deren Erfolge vor und begutachtet die beabsichtigten Abweichungen
vom genehmigten Entwürfe.
Wenn es sich gut Arbeiten von geringem Umfange oder nur um In-
standhaltuugsarbeiten handelt, kann die Baufahrung und Bauleitung in der
Person eines Ingenieurs vereinigt werden. Von großer Wichtigkeit ist der
obige Unterschied dann, wenn die Organe der Bauführung und der Bauleitung
nicht vom Unternehmer allein, sondern auch von anderen an den Arbeiten
Beteiligten beigestellt werden.
2. Während der Ausführung eines Baues darf keine wesentliche Än-
derung desselben vorgenomineu werden, wenn hiezu nicht von der Behörde,
welche den ursprünglichen Entwurf genehmigte, vorher die ausdrückliche
Bewilligung erteilt wurde. Ausgenommen hievon sind nur jene Fälle, wo
Gefahr im Verzüge ist: der Bauleiter ist aber für die wegen Dranges der
Umstände von ihm angeordneten Änderungen verantwortlich.
Ergibt sich hei Ausführung des Unternehmens das Bedürfnis neuer,
im Entwürfe nicht vorhergesehener Vorkehrungen, so hat die politische Be-
zirksbehörde mit den Beteiligten zu verhandeln und den Erfolg der bewilli-
genden Behörde vorzulcgen.1 welche darüber entscheidet
3. Die Bauführungen für Öffentliche Zwecke*; des Staates, eines Landes
oder Bezirkes, dann der in ihrer Verwaltung stehenden Fonds sind hinsicht-
lich der Bauart an materielle Bestimmungen der Bauordnung gebunden:
die Baubewilligung wird in diesen Fällen von der hauführenden Behörde
gegeben, weiche nur in Bezug auf die Begulienings- und Niveaulinie und
die Sicherheitspolizei mit der Gemeindebehörde das Einvernehmen zu pflegen
hat. Bei Ballführungen der Gemeinde oder der Fonds, welche in der Ver-
waltung der Gemeinde stehen, erteilen die Baubewilligung die Organe der
Gemeinde selbst oder die dazu ahgeordneten Behörden des Staates.
ln ähnlicher Weise sind die allgemein verbindlichen Vorschriften der
Wasserrechtsgesetze nicht nur zu den Wasserbauten für Privatzwecke,
sondern auch für öffentliche Zwecke anwendbar.
F. Prüfung der Arbeiten und Hetriebserlaubnia
Die Prüfung der Arbeiten’) ist eine Amtshandlung vorwiegend tech-
nischer Natur und hat zum Zwecke, genau zu erheben und festzustellen:
aj ob die Arbeiten nach den Kegeln der Kunst und den Vorschriften
entsprechend verrichtet wurden;
h) ob sie dem Vertrage und den allenfalls bestätigten Änderungen des-
selben entsprechen;
') Mayrhofer, III.. S. 966 ff.
3; Vorschrift, 'ii über die Prüfung der Arbeiten sind in der Verordnung der ehe-
maligen Generalhaudirektion vom 15. Dezember 1851, Z. 5980 (Verordnungsblatt dea
Handelsministeriums vom Jahre 1852. Bd. I.. Nr. 2), und in Bauvorschriften für dos
k. und k. Heer, I. T.. 53 bis 56, enthalten. Kör Italien das kOnigl. Dekret vom
25. Mai 1895, Nr. 350, Art. 91 bis 117.
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23fi
Bresiewiez.
e) oh die Rechnungen und Ausgabsurkunden mit den tatsächlichen Erfolgen
übereinstimmen, und zwar nicht nur bezüglich der Form und der Menge,
sondern auch bezüglich der Beschaffenheit der Materialien und der
Leistungen :
d) ob in der Endabrechnung die Preise dem Vertrage gemäß angegeben
wurden:
r) ob die Hegiearbeiten zum Vorteile der Verwaltung geführt und die
vergebenen Arbeiten vorschriftsmäßig beaufsichtigt wurden.
Wird der Bau in Regie geführt, so hat sich der den Bau leitende
Ingenieur diesfalls selbst an die ihm Vorgesetzte Baubehörde zu wenden.
Im Falle einer Vergebung des Baues hat der Bauleiter dem Bauunternehmer
ein Zeugnis auszustellen, wodurch bestätigt wird, daß der Bau beendigt sei
und der Prüfung unterzogen werden könne. Auf Grund dessen hat der Unter-
nehmer bei der Baubehörde um die Bestimmung einer besonderen Kommission
das Ansuchen zu stellen.
Ordentlich ist die Prüfung durch die zu entsendenden technischen
Organe der unternehmenden Verwaltung vorzunehmen; wenu mehrere an
Kosten der Arbeiten beteiligt sind, müssen sie bei der Kommission ent-
sprechend vertreten sein. Mit der Vornahme von Prüfungen einzelner Gegen-
stände oder einzelner Partien von Arbeiten, falls sich solche während einer
Bauperiode als unabweislich ergehen sollten, kann der Bauleiter betraut
werden. Die Prüfung findet statt:
a) am Schlüsse der jährlichen Arbeitsdauer und
h) nach erfolgter Ausführung des ganzen Unternehmens, d. i. am Ende
des letzten Baujahres (Schlußkollandierung).
Der vertragschließende Unternehmer ist zur geeigneten Zeit aufzu-
fordern, zur Prüfung an dem bestimmten Tage zu erscheinen. Wenn er der
Verhandlung nicht beiwohnt, so findet die Untersuchung und Erhebung der
Tatsachen dennoch statt und der Unternehmer kann dann seine allfälligen
Bemerkungen nachträglich im Protokolle beifügen. Die Untersuchung hat
mit der genauen Besichtigung und Beschreibung, dann mit der Abmessung
der Baugegenstände zu beginnen. Die Güte der verwendeten Materialien und
die Genauigkeit der Ausführung ist dabei insoweit zu prüfen, als sie durch
die äußerliche Besichtigung des Werkes und die Abmessung festgestellt werden
können. Wenn jedoch die Bauleitung oder die Prüfungskommission bei der
Abnahme einen genügenden Verdacht schöpfen kann, daß der Bau nicht ver-
tragsmäßig geführt wurde, daß unbrauchbare Materialien verwendet oder die
Arbeit schlecht hergestellt worden ist, so ist sie befugt, behufs Feststellung
des Tatbestandes die nötige Abtragung eines Teiles der Arbeiten anzuordnen.
In dem über den Befund aufgenommeneu Protokolle ist die Menge und
Güte der tatsächlich ausgeführten Arbeiten sicherzustellen, mit den Entwürfen
zu vergleichen, der ganze Kostenaufwand, welchen die aufgeführten Arbeiten
erfordert haben, darzustellen und der ökonomische Erfolg anzugeben. Wenn
die Arbeiten von der Prüfungskommission ohne irgend einen Vorbehalt voll-
kommen entsprechend ausgeführt befunden werden und der Unternehmer
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bas Hecht der öffentlichen Arbeiten.
237
keine Ansprüche erhebt, wird das Ergebnis im Protokolle ersichtlich gemacht.
Wenn aber die Arbeit nicht nach den genauen Bestimmungen des Vertrages
bergestellt und vollendet worden ist, so ist zu unterscheiden:
a) Wenn die erhobenen Mängel der Arbeit nur untergeordnete Verbesse-
rungen erheischen, wird zur Abnahme geschritten und im Protokoll
nur die geeignete Bemerkung gemacht, daß die erforderlichen Nach-
arbeiten sogleich in Angriff genommen werden müssen.
ist dieses geschehen, so stellt der Bauleiter darüber ein Zeugnis
aus und auf Grund dieser Urkunde wird die Abnahme als endgültig
angenommen.
h) Sollten jedoch die erhobenen Mängel von solcher Wichtigkeit sein,
«laß die Arbeit nicht abgenommen werden kann, so wird die Prüfungs-
kommission den Zustand der Arbeiten protokollarisch erheben, die
Mängel beschreiben und erklären, ob sich Belbe auf die schlechte Aus-
führung oder Nichtvollendung der Arbeiten beziehen oder durch zu-
fällige Ursachen nach deren Beendigung herbeigeführt worden seien.
Zugleich wird das zu Geschehende angegeben und die Zeit zur Be-
seitigung der Mängel bestimmt. Nach Bewirkung der Nacharbeiten
wird eine Nachprüfung vorgenommen.
Dio bei dieser Tätigkeit etwa Vorgefundenen Anstände, welche die
Verantwortlichkeit des Bauleiters oder des Bauführers betreffen, werden im
Protokolle festgestellt und im Verwaltungswege auBgetragen.
Nach Beendigung der Prüfung wird das darüber aufgenommene Pro-
tokoll von allen Anwesenden unterfertigt und zum Schlüsse das eigene be-
gründete Gutachten der Kommission abgegeben, ob und inwiefern der Bau-
unternehmer den eingegangenen Verpflichtungen nachgekommen ist. ob und
mit welchem Vorbehalte die Bestätigung der Empfangnahme erfolgen kann,
endlich in welchen Beträgen die zur Ausgleichung mit dem Bauunternehmer
entfallenden Gebühren sich darstellen. Der Prüfungsakt wird mit sämtlichen
Behelfen und Beilagen dieser Baubehörde zur Genehmigung vorgelegt, welche
bei den betreffenden Bauten als Unternehmer auftritt.
Falls der Vertragschließende im Sinne der Vertragsbestimmungen eine
Haftpflicht für einige Zeit nach Übergabe der Arbeiten übernommen hat,
ist nach Ablauf der Haftzeit eine Nachprüfung vorzunehmen, wobei im all-
gemeinen in analoger Weise wie bei der ersten Prüfung vorzugehen ist.
Bei Ausführung der Unternehmungen, welche in Betrieb gesetzt werden
sollen, ist vor Eröffnung des Betriebes eine Benutzungsbewilligung der
Staatsbehörde1 zu erwirken. Zum Behufc der Erwirkung der Erflffnungs-
bewilligung’) muß von der Unternehmung ausgewiesen weiden, daß ein
regelmäßiger, ungestörter und sicherer Betrieb mit vollem Gruude erwartet
werden kann, insbesondere:
*) Eisenbah nbetriobsordnung vom 16 November 1851. R.-G.-Bl. Nr. 1 ex 1852. § 1.
*) Eiseubahnbetriebsorduung § 2; Verordnung des Handelsministerium* vom
25. Jänner 1879, H.-O.-Bl Nr. 19, 25 bis 34.
Keilschrift fdr Volfcswlracbaft, äoalaJpsHitik und Verwaltung. XII. Band. 17
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238
Breflfcwirz
a) daß die Anlagen den diesfölligen Sicherheitsvorschriften entsprechen;
b) daß die Betriebsmittel in gehöriger Beschaffenheit vorhanden sind und
c) daß zur Abwendung von Gefahren die nötige Vorsorge getroffen wurde.
Die besondere Prüfung der Herstellungen zum obigen Zwecke erfolgt
in diesem Falle inaner durch die Staatsbehörde.
II. I n s t a n d h a 1 1 u n g s a r h e i t e n.
Durch Prüfung und Beuutzungsbcwilligung wird festgestellt, daß der
Unternehmer der Pflicht zur Errichtung der öffentlichen Anlage Genüge
geleistet hat. Bezüglich der weiteren Auslagen sind zwei Fälle möglich:
1. Die Kegel bildet, daß der Unternehmer auch die Kosten für die
fernere Erhaltung des Werkes zu tragen hat. Durch Empfangnahme wird
dann nur die Verrechnung der Auslagen geändert : etwaige weitere Auslagen
belasten nicht mehr den Baufonds, sondern die für Erhaltungszwecke ange-
wiesenen Beträge.1)
2. Wenn in einzelnen Fällen eine besondere Pflicht zur Erhaltung eintritt.
wird die fertige Anlage nach Beendigung der Prüfung vom Unternehmer
dem Erhaltungspflichtigen übergehen und vom Tage der protokollarischen
Übergabe beginnt seine Erhaltungspflicht.
Die Instandhaltungsarbeiten werden in ordentliche und außerordent-
liche geteilt.
1. Die gewöhnlichen lnstaudhaltungsarbeiten sind solche, welche durch
gewöhnliche Abnutzung der Anlagen hervorgemfen werden und in jedem
Verwaltungsjabro sich wiederholen. Sie werden aus der Jahresausstattung und
gewöhnlich in eigener Kegie durchgeführt. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen,
daß die Erhaltung vom Unternehmer vertragsmäßig übernommen, ja selbst
daß eine Konzession zu diesem Zwecke verliehen werde; als Beispiel dienen
die Mautkouzessionen mit der Verpflichtung zur Erhaltung eines Bezirks-
oder Gemeindeweges.
Wenn die Erhaltungsarbeiten keine Änderungen im Zustande der öffent-
lichen Anlagen hervorrufen und die liechte Dritter nicht berühren, bedürfen
sie keiner besonderen behördlichen Bewilligung. Wenn zum Zwecke der *
Erhaltung öffentlicher Anlagen die Pflichten den Anrainer zu gewissen Hand-
lungen oder zur Duldung von Eingriffen in Anspruch genommen werden,
hat sich der Verwalter der Anlage an die politische Behörde zu wenden,
welche im Streitfälle darüber entscheidet.
2. Außerordentliche Krluiltungskosten finden keine Bedeckung im Jahres-
voranschlage der Verwaltiingskörper und müssen besonders bewilligt werden:
nur im Falle, wenn Gefahr am Verzüge haftet, ist der Verwalter berechtigt,
die nötige Auslage gegen nachträgliche Kechtfertigung anzuordnen.
Wenn im Interesse der guten und zweckentsprechenden Erhaltung des
Werkes nachträglich noch weitere Vorkehrungen (Um- und Zubauten) er-
forderlich erscheinen, finden auch in Betreif solcher Vorkehrungen die für
Vergt. die Bsaüienatvorechriften für dae k. u. k. Heer § 14
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Du Recht der öffentlichen Arbeiten.
289
die Herstellung des Werkes selbst gegebenen Vorschriften Anwendung. E9 wird
also auch in diesem Falle eine Verhandlung an Ort und Stelle mit den Inter-
essenten vorgenommen ; mit Rücksicht jedoch auf den verhältnismäßig geringeren
Umfang dieser Vorkehrungen findet ein abgekürztes Verfahren statt.1)
Wenn auch die Herstellungsarbeiten im einzelnen Falle nicht obliga-
torisch erscheinen können, bilden die Instandhaltungsarbeiten immer die
Pflicht des Unternehmers, welche im Verwaltungswege erzwungen werden
kann. Mit der Aufsicht über die Instandhaltung ist die Staatsbehörde betraut.
III. Aufsicht über öffentliche Arbeiten.
Die politischen Behörden besorgen:*)
1. die Leitung und Überwachung des Staatsbauwesens:
2. die Aufsicht über alle nicht ärarischen öffentlichen Arbeiten;
3. die Einflußnahme auf die unter Beitragsleistung des Staatsschatzes
ausgefübrten Bauten.
Dasselbe gilt auch vom Eisenbahnministerium.*)
Da alle diese Handlungen oft von denselben Organen ausgeflbt werden,
erscheint es schwierig, im einzelnen Falle sie rechtlich abzusondern. Diese
Absonderung ist jedoch notwendig, um den rechtlichen Charakter der be-
treffenden Handlung zu bestimmen.
1. Die Organe, welche zur Leitung und Überwachung der auf Staats-
kosten gemachten Arbeiten berufen sind, wurden schon im II. Abschnitte
näher besprochen.
2. Der politischen Behörde kommt das Aufsichtsrecht über alle öffent-
lichen Arbeiten zu. Es wird nach folgenden Grundsätzen ausgeübt:
n) Vor Inangriffnahme jeder Anlage muß die' politische Staatsbehörde
vernommen werden und deren Zustimmung muß in Bezug auf die
öffentlichen Rücksichten vorangehen. Sie prüft die Enteignungsanträge
und fällt die betreffenden Erkenntnisse. Dadurch hat sie die Möglich-
keit, das bestimmte Unternehmen als ein öffentliches Unternehmen
anzuerkennen oder nicht.
b) Die politische Verwaltung gewährt nach Maßgabe der darüber beste-
henden besonderen Anordnungen die Unterstützung bei Entwerfung und
Ausführung öffentlicher Bauten;4) insofern die für derlei Verrichtungen
zunächst bestimmten, nicht in landesfürstlichen Diensten stehenden
Techniker örtlich und zeitlich hiefür nicht zu Gebote stehen. Hieher
gehört auch die Übernahme des Betriebes der Lokalbahnen.5)
l) Wildbachverbauungsgesetz § 20; för Eisenbahnen § 39—41 des Gesetzes vom
18, Februar 1878, R.-G.-Bl. Nr. 30; Verordnung des Handelsministeriums vom 25. Jftnner
1879, R.-G.-B1. Nr. 19f § 18; Erlaß des Eisenbahnministeriuma vom 17. Juni 1897,
Verordnungsblatt für Eisenbahnen Nr. 77.
*) Verordnung vom 8. Dezember 1860, R.-G.-Bl. Nr. 268, § 2.
*) Organisationsstatut vom 19. Jftnner 1896, R.-G.-Bl. Nr. 16, § 6.
4) Z. B. för die Unternehmen, welch«? die unschädliche Ableitung von Gebirgs-
wftssern bezwecken (Gesetz vom 7. Februar 1888, R.-G.-Bl. Nr. 17).
•) Lokalbahngeseta vom Jabre 1894, Art IX, Abs. 2.
17*
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240
Brrsievriez.
e) Die politische Behörde übt das Aufsichtsrecht in der Richtung aus,1)
daß die die öffentlichen Arbeiten führenden Organe ihren Wirkungskreis
nicht überschreiten und nicht gegen die bestehenden Gesetze Vorgehen.
Die Regierung kann nicht nur jene Arbeiten, welche außerhalb des
Wirkungskreises des betreffenden Unternehmers liegen, verbieten,
sondern aucli die Ausführung der Arbeiten anordnen, welche auf
Grund einer gesetzlichen Verpflichtung oder auf Grund eines mit
der Regierung abgeschlossenen Übereinkommens dem Unternehmer
obliegen.
il) Außerdem ist die politische Behörde berechtigt und verpflichtet, darauf
zu dringen, daß die öffentlichen Anlagen im gesetzlich vorgeschriebenen
Zustande erhalten werden und daß die Benutzung derselben (insoweit
sie stattfindet) für jedermann ungehindert bleibe. Ks liegt ihr oh. in
Fällen, in welchen durch das Vorgefundene Gebrechen der Anlage der
Verkehr gehemmt oder die Sicherheit der l’erson oder des Eigentums
gefährdet wird, die erforderliche Abhilfe von den hiezu verpflichteten
Organen in Anspruch zu nehmen und hei Gefahr im Verzüge oder
wenn die Abhilfe nicht rechtzeitig geleistet wird, dieselbe unmittelbar
auf Kosten der Verpflichteten zu treffen.
<■) Zur Auflassung beteheuder Anlagen ist die Zustimmung der politischen
Behörde erforderlich.
Die Staatsaufsicht über öffentliche Arbeiten, welche nicht vom Staate
ausgeführt werden, ist eingehender als über sonstige Geschäftsführung der
Selbstverwaltnngskörper. Bei den letzteren wird die Regierung von der un-
mittelbaren positiven und sachlichen Einflußnahme aut die Besorgung der
in den selbständigen Wirkungskreis der Gemeinden gehörigen Angelegen-
heiten möglichst fern gehalten: sie übt nur das Aufsichtsrecht dahin aus,
daß die Selbstverwaltungsorgane ihren Wirkungskreis nicht überschreiten
und nicht gegen die bestehenden Gesetze vergehen sowie mich daß sie die
ihneu gesetzlich obliegenden Leistungen und Verpflichtungen erfüllen.*) Bei
den öffentlichen Arbeiten hingegen führt die Regierung aucli die eigentliche
Verwaltungsaufsicht, daß die Organe der Ausführung ihre Aufgaben voll-
ständig, sachgemäß und ohne ungerechtfertigte Verletzung der persönlichen
Interessen der einzelnen vollziehen
3. Bedeutend stärker ist noch die Einflußnahme des Staates auf jene
Bauten, welche unter Beteiligung der Ärarial-. Straßen-, Wasserbau- und
Meliorationsfonds oder anderer vom Staatsschätze ausgestatteten und sonst
der Verwaltung oder Aufsicht der politischen Behörden unterstehender
öffentlicher Fonds ausgeführt oder erhalten werden. Hier behält sich der
Staat außer der Aufsicht auch die Leitung’) der betreffenden Arbeiten, die
unmittelbare Einwirkung auf die besonderen Entwürfe. Kostenroranschläge
’) Wasserrechtsgesetze: ft 74 krsin., § *9 Steiermark.. $ 90 bukow., t» 92 nieder-
futerr.. § 95 istrian.. $97 t>ohm., $97 sonstiger Gesetze. Wildhudiverbanungsgesetz $ 19.
*) ülutli in Mischlers StaatswO: lerbacb, 1., 8. 706 ff.
5) $ 45 der Verordnung vom 8. Dezember 1*60, R.-G.-Rl. Nr. 268.
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Ha* Recht der öffentlichen Arbeiten.
241
und die Vergeltung der Arbeiten vor.1) Die daraus entspringenden Rechts-
Verhältnisse wurden schon im IV. Abschnitte besprochen.
Aus der obigen Darstellung ist zu entnehmen, daß die österreichische
Gesetzgebung auf dem Gebiete der öffentlichen Arbeiten sehr zerstückelt
ist und hinter den Bedürfnissen des Lebens weit zurückbleibt. Der Fort-
schritt der öffentlichen Verwaltung lädt sich jedoch nicht auflialten. Die
großartige Entwicklung der öffentlichen Arbeiten der Neuzeit hat das Be-
dürfnis und die Notwendigkeit, daß die neu entstehenden Rechtsverhältnisse
geordnet und daß die Verwaltung der öffentlichen Arbeiten einheitlicher ge-
regelt und geleitet werde, recht fühlbar gemacht. Möge obiger Aufsatz zur
Förderung dieser Ansicht beitragen!
') Gesetz vom 1. Juli lütll, R.-G.-BI. Nr. 85, Art. Xll.
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- ZUR AUSGESTALTUNG DES
RECHTS- UND STAATSWISSENSCHAFTLICHEN
STUDIUMS IN ÖSTERREICH.
VON
PROF. D« ALFRED v. HALBAN
Vorbemerkung.
Wir wollen die etwas mißliche Aufgabe unternehmen, die ohnehin
starke Zahl von Aufsätzen, die sich mit dem juristischen Sludicnwesen
befassen, zu vermehren, ohne dabei eine polemische Auseinandersetzung mit
den vorgebrachten Meinungen anzustreben. Es sollen die von den akademischen
Lehrern und der Unterrichtsverwaltung, zum Teile von der studierenden
Jugend selbst empfundenen Übel von den Grundlagen aus untersucht und
eine Besserung der Lage vorgeschlagen werden, soweit sie ohne Umwälzung
erreichbar ist. Mit einem Worte: wir planen keinen Neubau, nicht einmal
einen Umbau, sondern bloß einen Ausbau des Bestehenden, der geeignet
wäre, den wissenschaftlichen Forderungen der Neuzeit im Rahmen der vor-
handenen Einrichtungen gerecht zu werden.
Darin liegt vielleicht der wichtigste Unterschied zwischen den meisten
ähnlichen Schriften und der vorliegenden. Reformvorschläge leiden nur zu
oft an dem Fehler, daß sie dem Besseren, das sie wünschen, das bestehende
Gute opfern. Leicht bricht man den Stab Aber alles, was man genau kennt,
und ist nur zu sehr geneigt, die Vorzüge des Bestehenden zu mißachten,
die Nachteile mit besonderer Schärfe zu betonen. Nur ein Schritt und man
entwirft Idealpläne, ohne ihre Durchführbarkeit zu bedenken. So schwer es
auch fällt, bei Besserungsvorschlägen Maß zu balteu, so sehr muß man,
soll nicht ganz Unpraktisches vorgeschlagen werden, sich auf Schritt und
Tritt sagen, daß ein mittelmäßiger Vorteil immerhin besser ist als gar
keiner. Zu Umwälzungen, wie sie hie und da verlangt werden, wird sich
kein gesetzgebender Körper und keine Verwaltung entschließen. Und mit
Recht. Man kann einem wenn auch noch so schön motivierten Experimente
zuliebe das Bestehende nicht fallen lassen, namentlich wenn niemand zu
bärgen vermag, daß das empfohlene Experiment wirklich durchführbar ist
und man eher bezweifeln muß, ob sich Hörer und Lehrer in eine grund-
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Zar Ausgestaltung de* rechts- and *iaa(«wL*eii»idiuftli<dien Studiams etc. 243
sätzlich ueue Lage hineintinden könnten. Mau versuche vielmehr im Bereiche
der jetzigen Einrichtungen alles durchzuröhren, was durchgeföhrt werden
kann und was dem Geiste dieser Einrichtungen nicht nur nicht widerspricht,
sondern von ihm sogar gefordert wird. Auf diesem Wege, der langsam, aber
sicherer zum Ziele führt, mut! der Boden för weitergehende Reformen geebnet
werden. Wir sind also darauf gefallt, daß man von mancher Seite die nach-
folgenden Ausführungen als Flickwerk bezeichnen wird, glauben aber der
Sache seihst besser zu dienen, als durch Aufführung eines Idealplanes, för
dessen Verwirklichung niemand die nötigen Kräfte und Mittel finden würde.
Dieselbe Rücksicht auf die Möglichkeit der Durchführung veranlaßt
uns, hier ausschließlich österreichische Verhältnisse ins Auge zu fassen,
obwohl gewiß mancher Vorschlag durch eine auf ausländische Erfahrungen
gestützte Begründung gewinnen könnte. Sollten die nachfolgenden Bemer-
kungen zu einer Debatte Anlaß geben, dann wären die einschlägige Literatur,
sowie ausländische Einrichtungen und Erfahrungen in den Kreis der Betrach-
tung zu ziehen. Vorläufig erscheint uns ein solches Vorgehen nicht
geboten. Argumente, die durch Hinweis auf ausländische Verhältnisse
begründet werden, begegnen oft dem Einwande, daß eben dort die Ver-
hältnisse anders geartet sind. Wir möchten solchen Einwänden entgehen sind
übrigens in der Lage, dasjenige, was wir anregen, auf Grund des in Öster-
reich schon Bestehenden vertreten zu können.
Es muß bemerkt werden, daß die österreichischen Studieneinrichtungen
ihrem Geiste nach und speziell hinsichtlich des Studienplanes Vorzüge
aufweisen, die jede Ausgestaltung ermöglichen. Als günstig wirkender Faktor
ist das Einverständnis zwischen den Bestrebungen der Hochschulen und der
Staatsgewalt zu nennen; wo dasselbe nicht zutrilft, liegen gewöhnlich finan-
zielle Hindernisse vor. Uber eine von Goldschmidt und anderen
namhaften Rechtslehrern Deutschlands oft gerügte Rücksichtslosigkeit,
mit der man Anregungen aus Professorenkreisen als Professorenweisheit
abfertigte, darf man in Österreich seit T li u n s Zeiten wohl keine ernste
Klage führen: weder die Unterrichtsverwaltung noch der Reichsrat können
eines geringschätzenden Vorgehens gegenüber wissenschaftlichen Anregungen
bezichtigt werden.
Der rechts- und staatswissenschaftliche Studienplan ist von richtigem
Geiste beseelt, und man muß anerkennend hervorheben, daß in dem öster-
reichischen Studien- und Prüfungswesen die Kluft zwischen den Anforderungen
der Wissenschaft und der Praxis in keiner Weise zum Ausdruck kommt.
Man fordert, daß in den praktischen Berufen Leute lütig sind, die möglichst
wissenschaftlich ausgebildet wurden. Hinsichtlieh dieser wissenschaftlichen
Ausbildung bietet das österreichische Studienwesen Gelegenheit zu Erwei-
terungen, wie sie jeweils als wissenschaftlich begründet erachtet werden
könnten. Diesu prinzipielle Anerkennung darf nicht hindern, Einzelheiten
zu bemängeln. Gerade der Umstand, daß eine Kluft zwischen Wissenschaft
und Praxis dem Geiste der Studienordnung fremd ist, muß den Ausgangs-
punki von Besserungs Vorschlägen bilden, damit nicht mit der Zeit infolge
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Halhan
von Unterlassungssünden diese Kluft entstehe. Es muß an der wissenschaft-
lich vorteilhaften Grundlage festgehalten werden; sie ist die einzig richtige,
wenn man erwägt, daß ein wissenschaftliches Plus dem künftigen Praktiker
niemals schaden, ein wissenschaftliches Minus aber lähmend wirken kann.
Die österreichische Studienordnung geht ferner von der Auffassung aus, daß
die gesamt« Jurisprudenz organisch gegliedert und organisch gelehrt werden
soll. Dieser Auffassung entspricht die Reichhaltigkeit der Vorleseordnung,
die Verbindung der rechts- und staats wissenschaftlichen Bildung und das
Streben nach gerechterem Verhältnisse der einzelnen Disziplinen zu einander.
Ist auch in beiden Beziehungen vieles einer Besserung bedürftig, so ist
doch die Besserung leicht durchführbar; dem Geiste der Studieneinrichtungen
würden Verbesserungen nicht widersprechen, vielmehr den eigentlichen
Wert des Studienplanes in neuem Lichte erscheinen lassen.
Unsere Vorschläge sollen vor allem wissenschaftlichen Rücksichten
Rechnung tragen; nur wo es unbedingt notwendig ist, wird diese Grenze
überschritten. Es ist z. B. klar, daß der beste Studienplan, die beste Ein-
richtung von Kollegien und Seminaren, ebenso wie die zweckmäßigste
Prüfungsordnung die verhängnisvolle Belastungsprobe der falsch aufgefaßten
lernfreiheit nicht aushalten wird. Die anregendsten Vorlesungen werden
den Studierenden, der außerhalb der Universitätsstadt weilt oder aus anderen
Gründen nicht frequentieren will, niemals in den Hörsaal locken. So erfreulich
es ist, daß man sich in den letzten Jahren gerade in Deutschland mit der
Beseitigung der Nachteile der falsch verstandenen Lernfreiheit befaßt, so
wolleu wir doch an diese vorwiegend administrative Frage nicht herantreten und
vom akademisch-wissenschaftlichen Standpunkte nur darauf eingeiien, was
dem gewissenhaften Lehrer die Lösung seiner Aufgabe zu erleichtern
und dem gewissenhaften Hörer erfolgreiches Studium zu ermöglichen
vermag.
Nur eines administrativen Übelstandes muß im akademischen Interesse
gedacht werden. Die übliche Semestereinteilung bringt es mit sich, daß
das Sommersemester unverhältnismäßig kurz ist und in die heißeste Jahres-
zeit ausgedehnt wird. Schwer ist es, einen regelrechten Studienplan durch-
zuführen, wenn man mit dieser Unzukömmlichkeit zu rechnen hat: es ist
nicht abzusehen, warum man die schwankende Ostergrenze als maßgebend
betrachtet, ebensowenig aber, warum man bis über die Hälfte Juli (gesetz-
lich bis Ende Juli < Professoren und Studenten zu wenig ersprießlicher
Tätigkeit zwingt. Man könnte das Studienjahr, welches erfahrungsgemäß
nie vor dem 15. Oktober beginnt, um einen Monat früher beginnen lassen
und um einen Monat früher schließen, innerhalb dieser Zeit aber eine Ein-
teilung treffen, die das Sommersemester doch nicht so illusorisch machen
würde.
I.
Aufgabe des Studiums. — Hauptursachen der Übelstände.
Die Aufgabe des Studiums besteht in der Erziehung zu selbständigem
Denken. Nicht die Summe des dem Hörer vermittelten positiven Wissens
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Zar Ausgestaltung des rechts- und Staat sv issensrhaftlicheii Studiums etc. 24 »
ist maßgebend für die Vorzüge de» Lehrplänen, sondern die ihm gebotene
Möglichkeit, juristisch denken zu lernen, um demgemäß wissenschaftlich
oder praktisch vorgeheu zu können. Man kann bei bestem Willen und
größtem Fleiße, auch wenn das Studium doppelt so lange währen würde,
niemandem die Gesamtheit des juristischen Wissens bieten, ebensowenig
aber, ihn zu einem gewandten Praktiker machen. Man kann nur die Grund-
bedingungen für beides schaffen und den Hörer derart auBrüsten, daß er
später theoretisch oder praktisch selbständig und richtig zu arbeiten
in der Lage sei. Die rechts- und staats wissenschaftliche Fakultät kann
weder eine reine Gelehrtenschnle noch auch eine Abrichtungsanstalt für
Praktiker sein. Im ersten Falle wäre sie filr Staat und menschliche
Gesellschaft zwar von schätzbarem Werte, würde aber einer Entfremdung
zwischen Rechtswissenschaft und Rechtsleben Vorschub leisten; im zweiten
Falle würde sie der Präzis den ewig jungen wissenschaftlichen Boden
entziehen.
Wenn wir diese banal gewordene Frage berühren, so geschieht es
leider nicht ohne Grund. In unserer so überwiegend praktisch denkenden
Zeit hört man immerwährend, daß die Fakultät der Aufgaben der Präzis
zu wenig gedenkt, daß der die Schule verlassende Jurist zu wenig ausge-
bildet ist u. s. w. Man muß diesen zum Teil übertriebenen Klagen energisch
entgegentreten. Bereitwilligst geben wir zu, daß die Fakultät die nötige
Vorbildung für die Präzis bieten soll, doch muß man diese Vorbildung, in
ihrem höheren Sinne, unterscheiden von einer Abrichtung für die nächsten,
momentanen Bedürfnisse der Praiis: denn nur die erstere, und nicht- die
letztere, obliegt der Hochschule. Ebensowenig «s Aufgabe der philoso-
phischen Fakultät ist, speziell Mittelschullehrer heranzubilden, ebensowenig
darf die juristische Fakultät daran denken, fertige Beamte. Richter. An-
wälte u. s. w. zu produzieren. Selbst die medizinische Fakultät, die ihre
Doktoren mit dem Recht* zur sofortigen Ausübung praktischer Tätigkeit
entläßt, kann für praktische Gediegenheit nicht bürgen und immer häutiger
mehren sich auch dort Reformpläue. die für eine obligatorische Probeprazis
dos jungen Arztes eintreten. Man muß sich darüber klar werden, daß bei
noch so intensivem Hinübersehielen nach den unmittelbaren Aufgaben der
Praxis dennoch an der Universität keine guten Praktiker
erzogen werden können, wohl aber durch Hintansetzung
der Wissenschaft die Zukunft der Jurisprudenz gefährdet
werden müßte. Man darf also einer Aufgabe zuliebe, die an der
Universität unmöglich gelöst werden kann, nicht dasjenige opfern, was man
zu erzielen vermag. Die Forderung, die Universität möge den Bedürfnissen
der Praiis so wie es eben die Praktiker verstehen I in höherem Grade
gerecht werden, entspringt derselben Wurzel, der wir die Anfeindung
wissenschaftlicher Bestrebungen des Gymnasiums verdanken, nämlich dem
immer mehr überhand nehmenden Streben noch faehmäßiger. um nicht zu
sagen handwerksmäßiger Schulung, im Gegensätze zu wissenschaftlicher
Erziehung und Bildung.
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246
Haihfll!.
Staat und menschliche Gesellschaft Italien kein Interesse au der
Abrichtung juristischer Handwerker, wohl aber an der Erziehung von
Hfltcrn der Hechtsidee; mögen sie auch iu der ersten Zeit ihren unmittel-
baren praktischen Aufgaben wenig gewachsen sein, wichtiger ist, daß sie
durch ihre Vorbildung für etwa aufkeimende, künftige Aufgaben tauglich
gemacht werden. Die vollkommenste Abrichtung zur Handhabung derzeit
bestehender Gesetze kann niemals den Mangel theoretischer Ausbildung
ersetzen; nur die letztere macht cs dem Praktiker möglich, sich in Situa-
tionen zurechtzufinden, die man zur Zeit seiner Studien nicht berücksichtigte,
vielleicht nicht einmal ahnte. Läßt man dies ans dem Auge, dann geht man
der Gefahr des flachen Wissens entgegen, das womöglich verderblicher wäre
als volle Unwissenheit. Wird dem Juristen nicht frühzeitig Verständnis für
höhere Zwecke eröffnet, in der Präzis wird er es aus sich heraus nur aus-
nahmsweise finden, und ein handwerksmäßiges Beamtentum würde einen
Tiefstand herbeiführen, an den mau lieber nicht denken mag. Die wert-
vollsten Erfolge für die Praxis sind gerade dann zu erreichen, wenn man an
der Universität nicht unmittelbar praktische Zwecke anstrebt.
Man könnte eher sagen, daß die juristische Fakultät aus anderen
Gründen ihre Aufgabe nicht gelingend erfüllt. Sie gibt, da ihr Studienplan
trotz der an und für sich günstigen Reform (durch das Gesetz vom
20. April 1893) zu wenig entwickelt wurde, nicht mehr die wissenschaftliche
Grundlage, die mit Rücksicht auf die jetzigen und künftigen Bedürfnisse
des Rechtslebens erwünscht wäre. Der Studienplan ist überholt, und es ist
eine Scheidewand zwischen der Wissenschaft, wie sie an den juristischen
Fakultäten betrieben wird, und dem Lehen schon im Entstehen begriffen,
was nicht nur der Wissenschaft und den Anforderungen der Praxis in ihrem
höheren Sinne, sondern auch dem Geiste der Studienordnung entschieden
zuwiderläuft.
Es ist natürlich nicht zu verlangen, daß die Hochschule jeder Strömung
nachgebe und allen, mitunter kurzlebigen Bedürfnissen folge. Sie muß viel-
mehr im Interesse der Wissenschaft und ebenso im Interesse der wirklichen
Anforderungen des Lebens für jetzt und später, als wissenschaftlicher Curutor
posteritatis ihre Selbständigkeit wahren. Sie kann es verschmerzen, wenn
kurzsichtige Praktiker von ihr etwas verlangen, was momentan vielleicht
nützlich, für die Zukunft aber schädlich ist; anders, wenn es sich um eine
Auffrischung des Studienplanes handelt, die nicht durch momentane Strö-
mungen, sondern durch die glücklich erfolgte Entwicklung der Wissenschaft
und durch das Überwinden früherer Felder geboten ist. Da ergibt sich die
Notwendigkeit zahlreicher Änderungen, die für Wissenschaft und Praxis in
gleicher Weise wichtig erscheinen; für die Wissenschaft, weil sic ihrem
gegenwärtigen Niveau entsprechen; füi die Praxis, weil nur moderne, all-
seitige Vorbildung die Grundlage für verständige, der Versumpfung ent-
rückte praktische Tätigkeit bilden kann.
Dieser Gesichtspunkt fordert eine Überprüfung der Studieneinrichtungen
sowohl hinsichtlich der vertretenen als auch der nicht vertretenen Wissens-
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Zur Au»ge»talUii£ Je» recht*- un»l ft. raus wisse lisch erblichen Studium» etc. 2 1 7
zweige und hinsichtlich der Lehrmethode. Jedes Fach muh die ihm im
Hinblicke auf den Gesamtzweck der juristischen Bildung gebührende Stellung
erhalten; die Bedeutung der einzelnen Fächer aber ist nach ihrem Werte
für die R e ch t s b i 1 d u n g und nicht nach ihrem Werte für die Rechts-
kunde zu beurteilen.
Nichtsdestoweniger muß man. selbst wenn es gelingen sollte, einen
geradezu unanfechtbaren Lehrplan herzustelien. mit der Tatsache rechnen,
daß dadurch noch lange nicht das erwünschte Ziel erreicht wird. Es gilt,
daneben Mängel zu beseitigen, die zum Teile schon vor dem Betreten der
Hochschule das Studium an derselben erschweren, zum Teile nach Verlassen
der Universität ihre Wirkung äußern.
Es ist bekannt, daß das juristische Studium als das leichteste betrachtet
wird. Mediziner, Theologe, Philosoph, Techniker u. s. w. wird in der
Regel nur derjenige, der eine Vorliebe für das betreffende Studium hegt,
während an die juristische Fakultät auch diejenigen gehen, die eigentlich
für gar kein Studium ausgesprochene Vorliebe zeigen. Wenig zahlreich sind
jene, die der Beruf zur Jurisprudenz an die juristische Fakultät führt. Die
Mehrzahl wählt diesen Wissenszweig als einen, der die meisten Aussichten
bietet und die geringste Summe von Mühe verlangt. Man betrachtet sogar
die Vorlesungen als überflüssig, und an keiner Fakultät ist die Frequenz so
schlecht, wie gerade an der rechts- und staatswissenschaftlichen. Wir werden
selbstverständlich kein Wort verlieren, um die einfach nicht diskutable
Anschauung von der Überflüssigkeit der Vorlesungen zu entkräften. Es
handelt sich vielmehr darum, Wege zu suchen, um diesen Zuständen in
erfolgreicher Weise zu begegnen.
Einen Teil der Schuld muß mau dem Umstande beimessen, daß, wie
erwähnt, die rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät zum großen Teile
von Abiturienten bezogen wird, die keine Vorliebe für dieses Studium
empfinden, keine Ahnung von der Bedeutung desselben haben und entweder
nicht in der Lage sind, sich für dasselbe zu interessieren oder auch nicht
einmal die Absicht haben, ein Interesse zu gewinnen. Einen weiteren Teil
der Schuld muß man dem Lehrplane sowie der Art und Weise, wie gewisse
Fächer gelehrt werden, beiinessen, nicht minder auch dem Prufungssystem.
Der Rest der Schuld fällt auf das bureaukratische System, welches leider
an dem jungen Beamten nichts so sehr schätzt, als die Leichtigkeit, mit
der er sich den Aratsgepflogenheiten unterwirft und auf sein Wissen zu
geringen Wert legt. — Wir » ollen die angeführten Übelstände der Reihe nach
besprechen und gleichzeitig Vorkehrungen gegen dieselben anregen.
II.
Die Vorbereitung des künftigen Hörers der Rechte.
Der übermäßige Zudrang zum Rechtsstudium ist wohl in erster Linie
den sogenannten Vorteilen des Rechtsstudiums zuzuschreiben. Doch ist
dies nicht der einzige Grund. Es muß darauf hingewiesen werden, daß
das Gymnasium eigentlich für alle Berufe vorbereitet
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Malta».
JI8
ii n il über alle Studien informiert, nur n i c li t Aber da»
R ec h ts s t u di u ni. Der Gymnaaialschüler findet Gelegenheit, wenigstens
in bescheidenem Malle mit den Grundbegriffen der Theologie, der Sprach-
wissenschaft, der Geschichte, der Mathematik und Naturwissenschaft ver-
traut zu werden. Kr vermag sich also, insofern dies in jungen Jahren
Oberhaupt möglich ist, zu Oberzeugen, ob ihm die eine oder die andere
Wissenschaft zusagt. Deshalb sehen wir. daU diejenigen, die sich der
theologischen, medizinischen oder philosophischen Fakultät zuwenden, in
ernsterer Weise ihren Beruf wühlen; sie haben wenigstens einen allgemeinen
Begriff von dem Charakter der Beschäftigung, der sie sich zuwenden. Der
zukünftige Jurist weill vom Rechtsstudium gar nichts: die Schwierigkeiten,
die das medizinische oder philosophische Studium bereitet, sind ihm
gewöhnlich sogar in übertriebenen) Malle bekannt; hinsichtlich der Juris-
prudenz dagegen weil! er, daß viele seiner Freunde und Bekannten ohne
große MOhe ihre Prüfungen bestanden und Anstellungen erhalten haben:
daß man, um Jurist zu werden, ebenso wie für jedes andere Studium einer
bestimmten Veranlagung bedarf, liegt ihm vollkommen ferne. Wir hören
doch so oft, daß ein Kandidat, dem das Rechtsstudium die größten
Schwierigkeiten bereitet, die Erfolglosigkeit seiner Bestrebungen einfach
nicht begreift: hat er doch die Maturitätsprüfung, vielleicht sogar mit sehr
gutem Erfolge, bestanden und dadurch die Berechtigung erhalten, eine
beliebige Fakultät zu beziehen. Es ist ihm nicht eingefallen, Philologe zu
werden, denn er hat bereits im Gymnasium die Erfahrung gemacht, daß er
dafür nicht taugt: er ist auch nicht Mathematiker geworden, und zwar aus
ähnlichem Grunde; aber darüber, ob er zum Juristen taugt, hat er nicht
nachgedaclit und eigentlich auch keine Gelegenheit zu solchem Nachdenken
gefunden.
Und das ist noch nicht alles; denn seihst während des ersten Hien-
niums ist er mitunter auch noch nicht in der Lage, sich zu überzeugen,
ob er zum Juristen taugt. War er im Gymnasium guter Historiker, so wird
er in den ersten zwei Jahren, namentlich wenn ihm die rechtshistorischen
Fächer mehr historisch als juristisch vorgetragen werden, keinen richtigen
Begriff von den Eigenheiten der Jurisprudenz erhalten. Wir sind gewiß
weit davon entfernt, gegen die Rechtsgeschichte auftreten zu wollen, doch
muß Diun bemerken, dali viele akademische Lehrer in dieser Beziehung
weit über das gebotene Maß gehen und ihre Vorlesungen mehr historisch
als juristisch einricliten. Das Gesetz vom 20. April 1808 hat diesen Übel-
stand teilweise dadurch beseitigt, daß das deutsche Privatrecht obligat
wurde und einen Prüfungsgegenstand bildet, ferner dadurch, daß die
Geschichte Österreichs, die früher ausschließlich historisch vorgetragen
wurde, nunmehr eine andere Bedeutung gewonnen hat. Es sei dem wie
immer, so viel ist klar, daß mit Ausnahme der Pandekten die übrigen
Fächer des ersten Bieuniums keinen richtigen llegrifl von der Schwierigkeit
der Jurisprudenz geben. Diese Schwierigkeiten treten in umfassenderer
Weise erst später zu Tage, doch hat der Kandidat inzwischen zwei Jahre
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Zur AnBgeataltung doa rerhta- und fttaatawinaeni'rliArtlicheti Stadium« ,‘to. 2if)
geopfert, er will oder kann nicht mehr zurück und tröstet sich mit der
Hoffnung, dal! hei einiger Arbeit und einigem Glück die Prüfung über-
wunden werden kann. In der Praxis hält einen solchen Juristen der
Schimmel und eine gewisse Portion von Gewissenhaftigkeit aufrecht und
schließlich ist er selbst überzeugt, daß er Jurist ist.
Der Vorwurf, den wir gegen das Gymnasium erheben, kann auffallen.
Wir verlangen, daß das Gymnasium ebenso wie für andere Wissenszweige
auch für die Jurisprudenz vorarbeite. Sollte entgegnet werden, daß das
Gymnasium vor allem allgemeine Bildung und erst in zweiter Linie eine
Vorbereitung für das Universitätsstudium bietet, so pflichten wir dieser
Anschauung hei, meinen aber, daß gewisse Kenntnisse aus dem Gebiete der
Rechts- und Staatswissenschaften sowie der Volkswirtschaft zum mindesten
ebenso in den Kähmen des allgemeinen Wissens gehören wie Trigonometrie
oder Analytik: denn auch als Schulung des Denkens hat die Jurisprudenz
denselben Wert wie die Mathematik.
Es ist selbstverständlich, daß man diese Frage ausschließlich
vom Standpunkte der Aufgaben des Gymnasiums zu behandeln hat. Der
Cmstand, daß eine solche Vorbereitung den juristischen Fakultäten die
Lösung ihrer Aufgabe erleichtern würde, könnte niemals ausschlaggebend sein.
Wir verlangen also nicht, daß die Hauptzwecke der Mittelschulbildung ver-
kannt oder zu Gunsten der Bequemlichkeit der Hochschule abgeändert werden.
Zweifellos ist die sogenannte allgemeine Bildung und die Befähigung zu
selbständiger Fortbildung der Hauptzweck des Gymnasiums. Die Fortbildung
selbst besorgen, insofern es sich um spezielle Berufe handelt, die Hoch-
schulen: jene Fortbildung aber, die gewissermaßen die Fortsetzung der im
Gymnasium erhaltenen allgemeinen Bildung bedeutet, die also für jedermann
ohne Rücksicht auf seinen Lebensberuf von Wichtigkeit ist, bleibt persön-
licher, eigener Arbeit überlassen, da niemand behaupten wird, daß die
allgemeine Bildung mit dem Augenblicke abgeschlossen ist. wo man das
Gymnasium verläßt. Dieser Umstand läßt das zuletzt erwähnte Gebiet per-
sönlicher Arbeit zum Zwecke der Fortführung der allgemeinen Bildung als
besonders wichtig erscheinen; deshalb muß man die Weckung von Lust
und Fähigkeit zu solcher Arbeit als wertvollsten Teil der Gesamtaufgabe
des Gymnasiums beze;chnen. Das Gymnasium muß seine Schüler nicht nur
positiv belehren, sondern zu eigenem Denken anregen und für alles, was
unter den Begriff der allgemeinen Bildung fällt, derart interessieren, daß
diese Schüler, namentlich in späteren Jahren, neben dem Berufe, dem sie den
größten Teil ihrer Zeit widmen, sich veranlaßt sehen, sich Ober die Fort-
schritte der Kultur und der Wissenschaft auf anderen Gebieten zu infor-
mieren. Das, was die Mittelschule bieten soll, ist bestimmt, ein Gegen-
gewicht zu bilden gegen die Einseitigkeit rein berufsmäßiger Arbeit, die
Bildung selbständigen Urteiles zu ermöglichen und die Erweiterung des
Gesichtskreises zu erleichtern.
Wenn wir von diesem Standpunkte Zweck und Ergebnis des Gymnasial-
studiums betrachten, muß es unliebsam auffallen, daß die Schule unxweifel-
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250
Halbst).
haft vieles bietet, daß sie aber weder direkte Kenntnisse rechtlicher, wirt-
schaftlicher. sozialer und politischer Verhältnisse gibt, noch auch eine
Anregung zu späterer selbständiger Erwerbung derselben. Diese Kenntnis
betrachtet man offenbar als zu speziell und gibt sich der Hoffnung hin,
daU die berufsmäßige Ausbildung, nämlich an der rechts- und staatswissen-
schaftlichen Fakultät, diese Lücke ausffillen wird. Fdr die zukünftigen
Juristen trifft ja das zum Teile zu. Im übrigen aber ist eine solche Auf-
fassung, die vielleicht im absoluten Staate gerechtfertigt werden könnte, in
einem konstitutionellen Staate unhaltbar. In einem absoluten Staatswesen
sind derartige Kenntnisse und selbständiges Denkvermögen in dieser Hinsicht
für die Bevölkerung überflüssig; denn nur die Staatsgewalt und ihre
unmittelbaren Organe kommen in die Lage, sich mit öffentlichen Angelegen-
heiten zu befassen. Anders in einem konstitutionellen Staate. Abgesehen
davon, daß da fast jeder Staatsbürger ohne Rücksicht auf Stellung und Rang
schon als Wähler berufen ist, an der Lösung der Staatsaufgaben mitzuwirken,
muß man besonders betouen. daß namentlich die gebildeten Schichten vor
Aufgaben gestellt werden, die ebenso wichtig sind wie diejenigen, die den
Juristen zufallen. Der Wirkungskreis der Vertretuugskflrper wächst, es ent-
stehen immer neue Kammern und Beiräte, die über wichtige Fragen entscheiden
oder wenigstens befragt werden. Es ist zu erwarten, daß der Wirkungskreis
solcher Körperschaften zunehmen und in gleicher Weise der Wirkungskreis
der Beamtenschaft, d. h. der fachmännisch gebildeten Organe, abnehmen wird.
Dennoch haben sogar die gebildeten Stände, die die Mittelschule, und
zwar überwiegend das Gymnasium absolvieren, nicht die geringste Quali-
fikation zur Erfüllung solcher Aufgaben. Jahrhundertelanger Absolutismus,
der sich ausschließlich auf seine eigenen Organe stützte, hat die Bevölkerung
von jeder Teilnahme an dem öffentlichen Leben ferngehalten und dadurch
eine Verkümraeruug juristischer und politischer Anlagen bewirkt. Die
französische Revolution und alles, was ihr folgte, hat großen Schichten der
Bevölkerung einen Anteil an dem Staatsleben revindiziert, vermochte aber
nicht, die inzwischen zum großen Teile abgestorbenen Fähigkeiten neu zu
erwecken. So kommt es. daß die Bureaukratie, die sich in absolutistischer
Zeit als eine streng geschiedene und über der Bevölkerung stehende Kaste
fühlte, bis auf den heutigen Tag einiges von diesem Gefühle behalten hat
und einem gesunden öffentlichen Leben bis nuuzu einigermaßen fremd
gegenübersteht; zur Rechtfertigung dieses Zustandes muß man aber anführen,
daß angesichts der verwirrten Begriffe, die in dieser Beziehung selbst unter
Gebildeten herrschen, die Beamtenschaft mit vollem Rechte nur sich selbst
als Träger des Rechtes, der Ordnung und der Wohlfahrt betrachten darf.
Diese Verhältnisse sind so allgemein, juristische und politische Bildung so
selten, daß die Bureaukratie nur zu oft in < ie Lage kommt, mit gutem
Grunde allgemein erhobene Forderungen mit der Bemerkung abzutun, daß
man Hachen verlange, die man nicht verstehe.
Es muß als betrübend bezeichnet werden, daß die Schule, die bemüht
ist. in der Jugend Sinn für Kunst, für Geschichte und Kultur zu wecken,
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Zur Ausgestaltung des rechts- und staatswissensrliafttirhen Studiums etc. 2 ■> 1
die Schiller in Frageu der Naturwissenschaft und der Hygiene einzuführen,
nicht daran denkt, daß die Jugend bestimmt ist. in verschiedenen Berufen
neben Juristen und Beamten Ihr Lund und Reich zu wirken, daß sie
mittelbar oder unmittelbar die Öffentliche Meinung des Staates bilden mul
leiten wird, daß viele dieser Schüler in die Lage kommen werden, über die
wichtigsten Staatsangelegenheiten, Ober wirtschaftliche Fragen und soziale
Bewegungen zu urteilen. Da genügt nicht einfacher Menschenverstand, denn
auch der verständigste Mann muß sein Urteil auf irgend etwas stützen; die
hiefür notige Grundlage wird er im späteren Leben schwer linden, wenn die
allgemeine Bildung, die er genossen, in dieser Beziehung versagt, ihn nicht
einmal anregt, über solche Fragen zu deukeu und sich zu informieren. Die
Berufsarbeit gibt zwar die Möglichkeit, gewisse Rechts- und Lebensverhält-
nisse aus eigener Erfahrung kennen zu lernen, fördert aber auch die schäd-
liche Einseitigkeit, die kastenmäßigen Charakter annehmen kann ; der
Fortschritt des Rechtslebens, die Entwicklung der wirtschaftlichen und
sozialen Verhältnisse fordert im Gegenteile gerechte Beurteilung allgemeiner
Bedürfnisse.
Man darf behaupten, daß eine allgemeine Bildung, die so wichtige
Gebiete gänzlich außer acht läßt, nicht mehr den Namen einer allgemeinen
verdient, und daß sie den so Gebildeten weder die nötigen Kenntnisse
noch auch die Grundlage für die Erwerbung derselben auf den Lebensweg
mitgibt. Die Hochschule kann sich damit nicht mehr befassen, denn sie
bietet nur spezielle Ausbildung in einer bestimmten Richtung. So wird also
diese Lücke nie mehr ausgefüllt, und die zur Anteilnahme an dem öffent-
lichen Leben notwendigen Kenntnisse bleiben ebenso wie im absoluten
Staate ausschließliche Domäne der Juristen.
Es war uns darum zu tun, einen l'belstand zur Spruche zu bringen,
den die rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät empfindet; nun können
wir aber auch behaupten, daß das. was diesem C belstande zu Grunde liegt,
nicht nur im Interesse der rechts- und Staat «wissen-
schaftlichen Fakultät, sondern vor allem im Interesse
der eigentlichen Aufgabe der Mittelschule seihst aus-
gemerzt werden muß. Es kann uns also nicht der Vorwurf treffen, als
ob wir von der Mittelschule etwas fordern würden, was ausschließlich den
Interessen des Rechtsstudiums dienen soll. Die Beseitigung der erwähnten
Lücke würde dem Mittelschüler einen allgemeinen Begriff von der Bedeutung,
aber auch von der Schwierigkeit des Rechtsstudiums beibringen und gewiß
manchen von der Wahl dieses Studiums abhalten. Zweifellos aber würde
die allgemeine Bildung und das öffentliche Lehen dadurch viel gewinnen.
Die praktische Durchführung dieses Gedankens ist nicht leicht, und
man darf die pädagogischen Schwierigkeiten nicht gering anschlagen. Des-
halb ist es unmöglich, diese Angelegenheit hier eingehend zu besprechen.
Es wäre darauf hinzuweisen, daß die Idee einer sachgemäßen Berück-
sichtigung der Staatswissenschaften in Deutschland infolge der kaiserlichen
Botschaft vom Jahre 188ß mehrmals behandelt wurde; doch wurde da vor
2r>2
Hullmn.
allem au die Bekämpfung des Sozialismus gedacht, was natürlich wissen-
schaftlichen /wecken nicht voll entspricht und in der Lehrerwelt Bedenken
herrorrufen mußte. Die Einimpfung vielleicht einseitiger Urteile würde das
anzustrebende Verständnis der Jugend für wissenschaftliche Fragen nicht
fördern; denn es kann sich nicht darum handeln, einen Gymnasialkatechismus
für rechts- und staatswissenschaftliche Fragen zu schaden, sondern dämm,
der Jugend die nötige Basis und Anregung zu vermitteln, um sie mit der
/eit zu einem selbständigen Urteile gelangen zu lassen. Angesichts der
Veränderlichkeit politischer Urteile und mit Rücksicht auf die Fortschritte
der Wissenschaft hat nur eine Basis und nur die Entwicklung des Denk-
vermögens bleibenden Wert. Eine katechismusartige Zusammenstellung
gewisser Prinzipien und Argumente wäre vollkommen wertlos und überdies
trocken, so dal! sie zur Weckung des Interesses kaum beitragen könnte;
deshalb sind Versuche, eine sogenannte Bürgerlehre einzuführen, als
unpassend zu betrachten. Leichter erscheint es, dasjenige, was zur Ent-
wicklung des juristisch-politischen Denkvermögens nötig ist, gelegentlich
beim Unterrichte in jenen Fächern, die hiefür taugen, zu bieten. Mau
entgeht dadurch der Gefahr, den Gymnasiallehrplan durch Anfügung eines
neuen und trockenen Gegenstandes zu belasten und gewinnt gleichzeitig die
Möglichkeit, die betreffenden Fächer durch eine so geartete Erweiterung
interessanter zu gestalten.
Wir denken dabei an den Unterricht in Religion, Geschichte
und Philologie.
Die Religionslehre gibt die erwünschte Gelegenheit, da jede
rechts- und stautswissenschaftliche Bildung im weitesten Sinne des Wortes
auf ethischer Grundlage beruhen muß. Der ethische Inhalt aller juristischen
und staatlichen Institute, der Zusammenhang zwischen Recht und Pflicht,
der in der Sozialpolitik immer mehr zu Worte kommt und die Gesetzgebung
in günstiger Weise beeinflußt, das alles, was wir hier natürlich nur streifen
können, vermag recht wohl Gegenstand des Religionsunterrichtes zu bilden,
ohne gegen die Hauptaufgabe desselben zu verstoßen: namentlich im Ober-
gymnasium. Die konfessionellen Unterschiede würden in dieser Beziehung
wenig bedeuten, da es sich um Dinge handelt, die jeder Lehre in fast
gleicher Weise naliostehen.
Die Hauptaufgabe würde natürlich dem Geschichtsunterrichte
zufallen. Er kann mit Leichtigkeit den Schülern Kenntnisse vermiiteln, die
sie zu ersprießlicher Teilnahme am öffentlichen Leben befähigen, in ihnen
ein tieferes Interesse und die Möglichkeit gründlichen Erfassens der öffent-
lichen Angelegenheit entwickeln. Die allseitig behandelte Geschichte würde
durch eine Berücksichtigung politischer Strömungen und Bewegungen,
juristischer, wirtschaftlicher und sozialer Einrichtungen, nur an Wert
gewinnen, die historischen Tatsachen den Schülern in ganz anderer Be-
leuchtung erscheinen. Die treibenden Kräfte des staatlichen und sozialen
Lebens werden am besten an Völkern studiert, deren Geschichte abge-
schlossen und dem Parteigetriebe entrückt ist. Es ist zuzugeben, daß die
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Zar Ausgestaltung des rechts- und stsatswissensehaftlkhen Studiums etc. J 5 -i
jüngere Lehrergeneration bestrebt ist, in dieser Weise vorzugehen, man
müßte also diese Richtung unterstützen und in den Lehrbüchern zum Aus-
drucke bringen. Selbstverständlich könnte es sieb nur um den Unterricht
in den obersten Kiassen handeln. Daß der Geschichtsunterricht durch eine
derartige Erweiterung nicht verlieren, sondern gewinnen müßte, ist klar.
Es mag auffallen, daß wir in diesem Zusammenhänge auch die
Philologie nennen. Die Gegner des sogenannten Klassizismus »erden
gewiß nicht zngeben wollen, daß man überhaupt noch neue Vorteile dieses
Unterrichtes zu finden vermag; die Anhänger dagegen könnten möglicher-
weise geneigt sein, in dem Gedanken, den wir vertreten wollen, ein Attentat
auf die wesentlichen Aufgaben des klassischen Unterrichtes zu erblicken.
Es sei gestattet, zu betonen, daß wir zu den unbedingten Anhängern
des sogenannten Klassizismus gehören, weil wir, ganz abgesehen von allen
genügend bekannten Vorteilen, in den alten Sprachen, die alles wesentlich
besser unterscheiden als die modernen und allen Begriffen schärfer au den
Leib gehen, somit also für die Ausbildung des präzisen Denkens von unge-
heuerem Werte sind, ein unersetzliches Bildungsmittel erblicken. Wir sind
uns also auch über die eigentlichen Zwecke dieses Unterrichtes klar. Man
muß aber bemerken, daß der Gymnasinllehrplan, und zwar überall, den
wichtigen Unterschied zwischen der Tätigkeit der Griechen und Römer und
den Unterschied des Anteiles, der beiden Völkern an dem großartigen
Gebäude der antiken Kultur gebührt, außer acht läßt; es unterliegt doch
keinem Zweifel, daß in Bezug auf Philosophie, KunBt und Literatur im
engeren Sinne, die Griechen derart die Römer überragen, daß alles, was
das Altertum auf diesem Gebiete unvergänglich Großes geleistet bat, ent-
weder direkt griechischen Ursprungs ist oder wenigstens auf griechischen
Einfluß zurückgeht Unbegreiflich erscheinen uns von diesem Standpunkte
die allgemein üblichen Angriffe gegen den griechischen Unterricht, aber
noch unbegreit lieber der Umstand, daß e3 selbst Philologen gibt, die diesen
Angriffen nachgebend, den Klassizismus dadurch zu retten versuchen, daß
sie sich mit der Streichung des Griechischen einverstanden erklären, um
nur das Latein zu behalten. Mit Rücksicht auf diesen ungleichen Anteil,
den beide Völker hinsichtlich der anliken Kultur nahmen, müsseu die
Mängel des Gymnasiallehrplanes ganz besonders hervortreten. Die Bedeutung
der Römer beruht doch wesentlich darauf, daß sie eine Sprache von unver-
gleichlicher Logik und ein besonderes Recht geschaffen haben. Die Ent-
wicklung der anliken Philosophie und der schönen Literatur hat ihnen viel
weniger zu verdanken. Betrachtet man es als notwendig, der Jugend die
Grundbegriffe der antiken Philosophie und K’un-t in direkter Weise zugänglich
zu machen, dann kann diese Aufgabe folgerichtig nur durch den griechischen
Unterricht gelöst werden; die Jugend, die Gelegenheit findet, Homer zu
lesen, kann füglich Virgil und Ovid entbehren. Die Jugend gewinnt hin-
sichtlich der Römer eine falsche Auffassung, wenn sie im Gymnasium
lernt, ihre Tätigkeit auf Grund ihrer literarischen Produktion zu beurteilen
und nicht auf Grund der wirklich originellen Produktion auf anderen
ZclUcbrlft fdr Volk»»»irUcl»»ft, Bosi*lf>olitik uod V«rw«ltuag. XII. Bäu 1. lg
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254
Hiill'un
Gebieten, auf dein Gebiete des Staats- und Kechtswesens. Die Hörner haben
auch in anderen Hinsichten, so z. B. für Kriegswissensebaft und Technik,
viel geleistet, doch kann dies nicht Gegenstand des Gymnasial Unterrichtes
sein und hat überdies für die moderne Kultur keine unmittelbare Bedeutung.
Will man die Philologie so auffassen, wie sie die Schöpfer dieser Wissen-
schaft, die grollen Humanisten aufgefaüt haben, als Mittel zum Erforschen
der Gesamtheit des Geisteslebens eines Volkes, so mutt man zugeben, dal)
es sich iu erster Linie um die Tätigkeit eines Volkes handelt, in der das-
selbe seinen Geist am mächtigsten und am selbständigsten offenbart hat.
Nicht in der Dichtung und auch nicht in der Rhetorik, wohl aber im
Rechte hat der Geist des römischen Volkes seine größten Triumphe gefeiert
und nicht für Dichtung oder Rhetorik hat das römische Volk seine unnach-
ahmliche Sprache entwickelt.
Die Lektüre lateinischer Schriftsteller im Gymnasium sollte also den
Zweck verfolgen, die Schüler mit dem rechtspolitischen Sinn der Römer
vertraut zu machen, mit dem bürgerlichen Gedanken, sie auf die Höhen
der originellen römischen Leistungen zu führen. Wenn man Zeit findet, um
bei Besprechung der sogenannten Realien eine Menge ziemlich gleich-
gültiger, wenn auch archäologisch interessanter Informationen über Leben
und Sitten zu bieten, so könnte man auch daran denken, die Schüler mit
den Rechtssitten und den Grundlagen der römischen Kechtstechnik bekannt
zu machen. Dasjenige, was schon im ersten Semester des juristischen
Studiums möglich ist, kann in der siebenten oder achten Klasse nicht
unmöglich sein, namentlich hei Verwendung einer richtigen pädagogischen
Methode, an die an der Universität nicht gedacht werden kann, die man
aber im Gymnasium anzuwenden vermag. Das Lesen der Institutionen von
Gaius, ja sogar von Justinian wäre durchführbar, und wenn die Sprache der
römischen Juristen den Fachphilolngeu nicht so entzückt wie die Sprache
Ciceros, so muß man entgegenhalten, daß die Sprache der römischen
Jurisprudenz in weit höherem Grade vorbildlich war als die Ciceros. Es
darf ferner daran erinnert werden, daß bei den Römern selbst die Schule
das Recht berücksichtigte, daß auch später die Schulen der Rhetoren und
Grammatiker, die in der Hauptsache römischen Traditionen entsprachen,
das Recht niemals ignorierten, daß schließlich die Humanisten des XV'.
und XVI. Jahrhunderts Philologen und Juristen waren und niemals daran
vergaßen, daß die wahre Größe Roms nur auf diesem Gebiete gesucht
und auf andere Weise gar nicht verstanden werden kann.
Das, was wir hier anregen, liegt also durchaus nicht außerhalb der
Grenzen der Philologie, sondern innerhalb ihres Wirkungskreises. Und es
ist nicht zu übersehen, daß dadurch auch die Lehre der sogenannten
Realien eine ganz andere Grundlage gewinnen würde. Die Schüler würden
von den Römern einen wesentlich anderen Begriff erhalten, und wenn daneben
dank dieser Ausdehnung des philologischen Unterrichtes auch der juristische
Gesichtskreis detjenigen. die nicht die Absicht haben. Juristen zu werden,
erweitert würde, so darf man wohl darin keinen Schaden erblicken. Nur
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Zar Ausgestaltung des rechts* and staatswissenschaftHchen Studiums etc. 255
nebenbei sei noch bemerkt, daß auch in den Augen der leider so zahl-
reichen Gegner des Klassizismus eiue solche Behandlung des Stoffes der
angefeindeten Philologie eine neue und praktische Bedeutung verleihen würde.
Man muß also behaupten, daß eine derartige Änderung der Lehr-
methode in erster Linie den betreffenden Gegenständen selbst Nutzen
bringen, ihrem Wesen entsprechen und daneben durch die Abrundung des
Wissens auch der allgemeinen Bildung Früchte tragen würde. Die Juristen
könnten einwenden, daß auf diese Weise das römische Recht, von dessen
Herrschaft wir uns in moderner Zeit immer mehr emanzipieren, eine Stärkung
erfahren würde; da aber auch jetzt die Schüler Gelegenheit haben, bei der
Lektüre der Klassiker Begriffe und Rinrichtungen kennen zu lernen, die
unserem Empfinden nicht entsprechen und dennoch diese Begriffe nicht zu
den ihrigen machen, so wäre auch diese Befürchtung übertrieben. Es hängt
natürlich das meiste vom Lehrer und von der Darstellung ab.
Halten wir daran fest, daß die Gegenstände, die am Gymnasium
gelehrt werden, die Möglichkeit bieten, die mehrfach erwähnte Lücke in
der sogenannten allgemeinen Bildung zu beseitigen, ohne daß dadurch die
eigentlichen Zwecke der betreffenden Fächer tangiert werden, so erscheint
die Einführung eines neuen Gegenstandes — man mag ihn Bürgerlehre
oder anders nennen — überflüssig, abgesehen davon, daß ein solcher
Gegenstand durch seine Trockenheit für die Jugend ungenießbar und infolge
der unabweisliehen Abstraktion ungeheuer schwer, daher wahrscheinlich
ebensowenig nützlich wäre wie z. B. die philosophische Propädeutik. Die
Reform des Unterrichtes in Religion. Geschichte und Philologie in der
angedeuteten Richtung ist möglich, und, was die Geschichte anbelangt, ist
ja dieser Weg schon zum guten Teile betreten worden. Es ist zuzugeben,
daß der von uns für die Rechtslehre im Gymnasium vorgeschlagene Weg
ein langsamer ist. Doch ist auf andere Weise ein nennenswertes Resultat
gar nicht zu erreichen. Bei direktem Lossteuern auf ein bestimmtes Ziel
könnte höchstens eine schablonenhafte Kenntnis der gegenwärtigen Rechts-
zustände, beziehungsweise eine Abrichtung im Sinne der gerade zur Zeit
herrschenden Ansichten, erreicht werden. Der wahren Bildung kann es
nicht um augenblickliche, sondern um dauernde Erfolge zu tun sein, und
die sind nur möglich, wenn das Interesse geweckt und die Denkfähigkeit
gesteigert wird. Das Gymnasium würde dadurch überhaupt an erziehlichem
Werte gewinnen und dem künftigen Staatsbürger eigene Weiterbildung,
daher eigenes Urteilen ermöglichen.
Es ist eingangs bemerkt worden, daß das Gymnasium auch den
zweiten Zweck, den es neben der allgemeinen Bildung erfüllen soll und
den es hinsichtlich der meisten Wissenszweige auch wirklich erfüllt, in
unserem Falle nicht einmal anstrebt, daß es nämlich für alle Arten der
Berufsbildung gewisse Vorkenntnisse bietet, nur nicht für das Rechts-
studium, so daß der Abiturient in Bezug auf die Jurisprudenz ohne jede
Information bleibt. Wir beanspruchen nicht, daß man diese zweite Aufgabe
des Gymnasiums in den Vordergrund stelle, und wolleu deshalb auf gewisse
IS*
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25fi
Halban.
Vorschläge betreffs der Erleichterung des Überganges vom Gymnasium zur
Universität gar nicht eingehen. weil diese Vorschläge zum größten Teile
schwer durchföhrbar sind, vor allem aber weil uns die allgemeinen Ziele
der Mittelschule höher stehen. Jedenfalls muß man den Umstand, daß der
Abiturient keinen Begriff vom llechtsstudiuin hat, ffir die Überflutung der
rechts und staatswissenschaftlichen Fakultäten mitverantwortlich machen.
Allerdings Wörde selbst die beste Durchführung der angedeuteten Reformen
den Übeln nicht steuern. Aber abgesehen davon, daß wenigstens eine
Besserung eintreteu könnte, müßte doch derjenige, der schon im Gymna-
sium Gelegenheit hatte, die Schwierigkeiten und den Ernst des Rechts-
studiums wenigstens teilweise keimen zu lemen und denuoch dasselbe
wählte, obwohl es seinen Aulagen nicht entspricht, die Konsequenzen tragen,
während er gegenwärtig mit Recht darüber klagen darf, daß er sein Fach-
studium wählte, ohne Gelegenheit gehabt zu haben, seine Tauglichkeit für
dasselbe zu untersuchen.
Aus diesen Gründen wäre eine derartige Reform, deren Einzelheiten
natürlich erwogen werden müßten, von prinzipieller Bedeutung. Eine ent-
sprechende Auslese der studierenden Jugend bildet wohl die wichtigste
Basis für jede Besprechung des Universitätslehrplanes. Wenn Professoren
anderer Fakultäten uns so häutig Vorhalten, daß wir Elementarunterricht
betreiben, während sie seihst, namentlich an der philosophischen Fakultät,
ihre Vorlesungen ganz wissenschaftlich gestalten, so dürfen wir entgegnen,
daß wir einem Auditorium gegenüberstehen, welches ganz unvorbereitet ist.
nicht einmal über populäre Kenntnisse verfügt, ja nicht einmal weiß, ob es
für dieses Studium überhaupt taugt.
III.
Pädagogische Mängel des rechts- und staatswissenschaftlichen
Studiums.
Der weitere Teil der Schuld an den ungenügenden Ergebnissen des
Uechtsstudiums ist den Fakultäten selbst, nämlich der Einrichtung des
Unterrichtes und des Lehrplanes zuzuschreiben.
Auch die Universität ist in erster Linie Schule; namentlich die rechts-
und staatswissenschaftliche Fakultät, die eiuen Wissenszweig vertritt, der
den Hörern gänzlich unbekannt ist. Deshalb hat auch der Lehrplan an
keiner Fakultät diese Bedeutung; dies wird immer mehr anerkannt, trotz-
dem aber nicht entsprechend berücksichtigt. Es bestellt dabei eine prinzipielle
Schwierigkeit, um die man schwer herumkommt. Der akademische Lehrer
ist nicht Pädagog, und man darf von ihm keine pädagogische Tätigkeit im
engen Sinne des Wortes fordern. Ist auch die Universität vor allem eine
Schule, so ist sie doch daneben eine Stätte der Wissenschaft. Die aka-
demischen Dozenten haben die Pflicht, die Wissenschaft durch selbständige
Forschung zu fördern, und sie werden allgemein gerade von diesem Stand-
punkte aus gewürdigt. Jeder Universität gereicht cs zur Ehre. Männer zu
berufen, die sich wissenschaftlich bewährt haben und bei Berufungen spielt
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Zur Ausgestaltung <lee rechts- und staatswiggeuschartliehen Studiums etc. 257
die eventuelle pädagogische Eignung keine wesentliche Rolle. Sie ist auch
schwer zu beurteilen; Aufsichtsorgane sind durch die Stellung des Hoeh-
scliulunterrichtes von vornherein ausgeschlossen. Erst bei der Prüfung kann
man sich überzeugen, ob die Lehrtätigkeit von Erfolg war; aber auch da
in ungenügender Weise, denn gute Prflfungsergebnisse bilden keinen Beweis
für pädagogisches Vorgehen und umgekehrt; viel bängt von dem Vor-
handensein entsprechender Handbücher, von der Auffassungsgabe des
Kandidaten u. s. w. ab. Die mangelhafte Frequenz schließt überhaupt
präzise Schlußfolgerungen von der Prüfung auf den Vortrag aus; übrigens
ist es klar. daß. nachdem die Prüfung über viele Fächer erst lange nach
Absolvierung des betreffenden Kollegiums abgelegt wird, selbst fleißig
besuchte Vorlesungen schon teilweise vergessen seiu können.
Eine Änderung dieser Verhältnisse ist weder möglich noch erwünscht.
Die akademischen Lehrer können nicht verhalten werden, pädagogisch vor-
zugehen, man muß vielmehr Wert darauf legen, daß sie in erster Linie
Gelehrte bleiben, und die Verbindung von Lehre und Forschung bildet eine
wertvolle Charaktereigenschaft der Universität. Was dem akademischen
Unterrichte an pädagogischen Eigenschaften abgeht, soll ersetzt werden
durch das Wirken der wissenschaftlichen Selbständigkeit. Ausgeschlossen
erscheint die Forderung pädagogischer (Qualifikationen, ebenso wie irgend
eine Aufsicht. Selbstverständlich ist es auch unmöglich, die Professoren zu
verpflichten, während der Vorlesungen durch Stellung von Fragen sich zu
überzeugen, ob die Hörer das Vorgebraclite richtig auffassen, denn abge-
sehen von allem anderen, steht dem einfach Zeitmangel entgegen. Der
Charakter der Vorlesungen verbietet es ferner, daß man bestimmte Lehr-
bücher zur Grundlage wähle und die Vorlesung denselben anpasse. Die
Darstellung muß dem Professor Vorbehalten bleiben, den man in dieser
Beziehung nie und nimmer fesseln darf.
Man braucht die Vorzüge dieser seit Jahrhunderten erprobten Ein-
richtungen nicht lierrorzuheben; zweifellos kann man nur auf diese Weise
für die Universitäten Gelehrte gewinnen, die sich unter keiner Bedingung
irgend einer, wenn auch pädagogisch noch so richtigen Einschränkung
unterwerfen könnten. Wenn es aber unmöglich ist. die pädagogischen
Obeistände abzustellen, da jeder Versuch in dieser Hiusicht einer Ver-
nichtung der wesentlichen Vorzüge der Hochschule gleich käme, so muß
man einen anderen Weg suchen, um wenigstens teilweise den auch auf
dieser Stufe nötigen pädagogischen Rücksichten zu entsprechen. Es ist
nicht abzusehen, warum man nicht das Bestreben äußern soll, wenigstens
den Lehrplan möglichst pädagogisch richtig zu ge-
stalten.
Der Lehrplan der rechts- und staatswissenschnftlicheu Fakultät ist
derart mangelhaft, daß er nicht wenig zur Steigerung der an und für sich
durch die Natur des Hochschulunterrichtes gegebenen pädagogischen
Schwierigkeiten beiträgt. Wir verstehen darunter die Reihenfolge, in welcher
die einzelnen Disziplinen vorgetragen, beziehungsweise von den Studenten
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258 HiiHin.
gehört werden »ollen. Vom Standpunkt« der Hochschule müßte man aller-
dings auch jede Idee eines Lehrplanes perhorreszieren uud den Hörern
vollkommene Freiheit gewähren. Bekanntermaßen ist dies aber nicht mehr
der Fall. Man braucht also den Vorwurf, als ob man die akademische
Lernfreiheit schädigen wollt«, nicht au befürchten, wenn man angesichts
des Umstandes, daß diese Freiheit ohnedies schon durchbrochen ist, auf
dem einmal betretenen Wege nur folgerichtig weitergeheu will. Wir ver-
weisen darauf, daß gewisse Fächer nicht vor der ersten Staatsprüfung
gehört werden dürfen, beziehungsweise wenn sie gehört werden, nicht
anrechenbar sind. Man hat das Prinzip der akademischen Freiheit in dieser
Hinsicht nicht nur bei uns, sondern auch anderwärts in höherem oder
geringerem Grade fallen lassen, so daß dieselbe eigentlich nur noch an den
philosophischen Fakultäten besteht, au den anderen aber stark eingeschränkt
ist. Es ist nicht abzusehen, warum man in dieser als gut und praktisch
anerkannten Richtung nicht noch weiter gehen sollte. Wenn es als untunlich
betrachtet wird, beispielsweise Nationalökonomie vor Ablegung der ersten
Staatsprüfung zu hören, so erscheint es unbegreiflich, warum dasselbe
Prinzip nicht z. B. für die Statistik gilt, oder warum es im Kähmen eines
Bienniums den Hörern freigestellt ist, die sinnwidrigsten Kombinationen
durebzuführen. Vom Standpunkte der bestellenden Gesetze und Verordnungen
könnte z. B. deutsches Privatrecht vor deutscher Hechtsgeschichte. Straf-
prozeß vor Strafrecht, der zweite Teil des Zivilprozesses vor dem ersten
u. s. w. gehört werden. Wenn dies nicht geschieht, wenn die Studenten
trotzdem in traditioneller Weise die Reihenfolge der Fächer richtiger wählen,
so ist das ein Beweis dafür, daß sie die Notwendigkeit einer geordneten
Reihenfolge anerkennen, und daß die Schlußsätze der §§ 1 und 5 der
Ministerialverordnung vom 2t. Dezember 1893, die bekanntlich die weitest-
gehende Freiheit innerhalb eines Bienniums statuieren, unpraktisch geworden
sind. Nichts hindert daher die Fakultäten und die Unterrichtsverwaltung,
eine einheitliche Reihenfolge der zu liöi enden Kollegien festzustellen. Es
würde darin niemand einen Angriff auf die ohnehin nur noch in der Theorie
bestehende freie Wahl der Fächer erblicken, und für die Freizügigkeit der
Studierenden, die ein Semester an der einen, das andere an einer anderen
Hochschule zubringen wollen, würde sich ein wesentlicher Vorteil ergeben. —
Wir wollen zunächst den Studienplan des ersten Bienniums ins Auge fassen.
IV.
Das erste Biennium. — Rechtsgeschichte als Einführung in das
Studium.
Das Rechtsstudium wird eingeleitet durch Vorlesungen über rechts-
historische Fächer, d. i. über römisches, deutsches und Kircheurecbt, öster-
reichische Reicbsgeschichte uud über Philosophie; außerdem wird an deu
polnischen Universitäten polnische und an der böhmischen Universität böhmi-
sche Rechtsgeschichte vorgetragen. Diese Fachgruppe hat durch die Ein-
führung von Vorlesungen über österreichische Reichsgeschichte eine Berei-
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'Zur Ausgestaltung de? recht«- mul staatawisgeuschafttichen Stadium? etc. 2511
cherung erfahren; sie hat auch au juristischem Werte angenommen, seitdem
mau das deutsche Privatrecht als obligat erklärt hat: inan muß zugeben,
daß dadurch bei uns diese Gruppe den wissenschaftlichen Anforderungen
wesentlich besser entspricht als anderwärts: denn beispielsweise in Frank-
reich wird Geschichte des Kirehenrechtes nicht vorgetragen, in Deutschland
fehlt das Obligatkolleg über die Rechtsgeschiclite des betreffenden Staates.
Man könnte also annehmen, daß wenigstens in dieser Beziehung der Lehr-
plan vorwurfsfrei erscheint.
Nun ist aber xu bedenken, daß die Aufgabe der Hechtsgeschichte
darin besteht, die Entwicklung bis auf den heutigen Tag darzustellen. Die
Keehtägeschichte behandelt die Entstehung moderner Rechtsverhältnisse, sie
bespricht ihre Schicksale zu verschiedenen Zeiten; sie operiert also mit
Begriffen, die den Anfängern gänzlich fremd sind. Wer Rechtsgeschiclite
vorträgt und dabei bemüht ist., sich in die Luge seiner Zuhörer zu ver-
setzen, gelangt nach einiger Zeit zur Überzeugung, daß ihm nur zwei Wege
offen stehen: entweder wirklich wissenschaftlich vorzutragen und Gefahr zu
laufen, daß ihm die Hörer nicht zu folgen vermögen, oder aber aufs Niveau
der Hörer herabzusteigen, mithin geradezu Elementarunterricht zu treiben.
Darunter leidet der wissenschaftliche Charakter der Vorlesungen, ganz
besonders aber der juristische Inhalt derselben. Ist es doch ganz unmöglich,
eine wissenschaftliche Darstellung z. B. des germanischen Gerichtswesens
Hörern zu bieten, die von der Bedeutung des Gerichtswesens im Staate
noch keine Ahnnng haben, oder von öffentlichen und privaten Abgaben und
verschiedenen Zwitterbildungen auf diesem Gebiete zu sprechen, wenn die
Hörer weder die nationalökonomische noch die öffentlichrechtliche Bedeutung
dieser Dinge kennen. Der Rechtshistoriker muß seinen Hörern die Geschichte
von Begriffen und Einrichtungen schildern, deren Wesen ihnen noch ganz
unbekannt ist. Dies heißt ebensoviel, wie Geschichte der Malerei einem
Auditorium vortragen, das noch nie ein Bild gesehen hat. ja nicht einmal
weiß, was ein Bild ist. oder, um einen näherliegenden Vergleich zu wählen,
etwa Paläontologie denjenigen, die den anatomischen Körperbau der Tiere
nicht kennen und das zoologische Studium auf diese Weise beginnen wollen.
Da darf es nicht uuffallen. daß manche Dozenten der rechtshistorischen
Fächer nur obeiflächlich auf die wirtschaftlichrechtliche Entwicklung ein-
gelien und (Iberwiegend die äußere Entwicklung behandeln, ohne in das
Wesen der Sache einzudringeu. Allerdings wird häutig auch der Modus
gewählt, bei Gelegenheit der Besprechung der ältesten, primitiven Rechts-
verhältnisse die historische Darstellung mit der rechtsvergleichenden und
soziologischen zu verbinden, dadurch also den Vortrag gewissermaßen enzy-
klopädisch zu gestalten. Dieser Vorgang ist aher mit Rücksicht auf die
beschränkte Zeit für die Gesamtheit des zu besprechenden Stoffes undurch-
führbar. Eine sorgfältige Darstellung des Entstehens der staatlichen Kräfte,
der wirtschaftlichen und juristischen Keime nimmt so viel Zeit in Anspruch, daß
die weitere Entwicklung natürlich nur noch ganz kurz gewürdigt werden
kann. Der gewissenhafte Dozent eines rechtshistorisr.hen Faches hat fort-
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260
Halban.
während mit den hier angedeuteten Schwierigkeiten zu kämpfen, und diese
Schwierigkeiten gelten nicht nur fOr die eigentliche Rechtsgeschiehte, also
fflr Geschichte des deutschen, beziehungsweise des polnischen oder böhmi-
schen Rechtes. Auch die Vorlesung über römische Rechtsgeschichto und
Geschichte des Kirchenrechtes ist denselben Gefahren ausgesetzt, und wenn
man in diesen beiden Fällen die vorhandenen Schwierigkeiten leichter über-
windet, so geschieht dies deshalb, weil man üblicherweise den Schwerpunkt
des römischen und des Kircbenrechtes einigermaßen verschiebt Wer daran
geht, seinen Hörern die ursprüngliche, älteste Entwicklung des römischen
Rechtes wissenschaftlich vorzuführen, begegnet jedenfalls denselben Hinder-
nissen, ebenso derjenige, der Kirchenrechtsgeschichte zum Gegenstände seiner
Vorlesung macht.
Verlangt man, und dieses Verlangen ist ja richtig, von einem Rechts-
historiker, daß er die Hörer in die historische Entwicklung der einzelnen
Zweige allseitig einführe, so muß man ihm die Lösung dieser Aufgabe
ermöglichen, indem man ihn vor ein entsprechend vorbereitetes Auditorium
stellt, nämlich vor Hörer, die bereits die allgemeinen Rechtsbegriffe beherr-
schen. Denn es ist selbstverständlich, daß die Rechtsgeschichte nur erfaßt
wird von demjenigen, der über das Weseu des Rechtes, über seine allgemeine
Stellung in der menschlichen Gedankenwelt und speziell Ober seine Stellung
im Leben der Völker einigermaßen informiert ist. Die Rechtsgeschichte
umfaßt in organischer Weise alle Teile des Rechts- und Staatslebens, sie
setzt also, wenn sie überhaupt verstanden werden soll, wenigstens eine pri-
mitive Kenntnis dieser Teile, ihres inneren Inhaltes und ihrer gegenseitigen
lleziehungen voraus. Sie soll die physiologische, biologische und zum Teile
auch die pathologische Forschung ersetzen, kann also nur denjenigen
zugänglich sein, die bereits von der Anatomie etwas wissen.
Man entgegnet in solchen Fällen gewöhnlich, daß das römische Recht
die Aufgabe hat, die Hörer in die juristische Gedankenwelt einzuführen.
Nun haben wir schon bemerkt, daß es hinsichtlich der Rechtsgeschichte
diese Aufgabe nicht erfüllen kann. Es erfüllt sie auch tatsächlich nur hin-
sichtlich eines Teiles der Jurisprudenz, nämlich hinsichtlich des Privat-
rechtes, denn es gibt die Möglichkeit, die Grundbegriffe der privatrechtlichen
Verhältnisse zu besprechen. Geht aber der Romanist dabei gründlich vor,
so überschreitet er eigentlich die Grenzen seines Spezialfaches und betritt
das Gebiet der Rechtsenzyklopädie, natürlich nur für das Privatrecht, also
ohne Rücksicht auf alle anderen Gebiete des juristischen Denkens und
Schaffens. Mag er für das Privatrecht seine Hörer noch so gut vorbilden,
man wird ihn, da er nur Privatrecht betreibt, von dem Vorwurfe nicht frei-
sprechen können, daß er dadurch von vornherein in dem Hörer die irrige
Überzeugung erweckt, als ob das Privatrecht ein von der übrigen Juris-
prudenz und von den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen ganz
abgeschiedenes Leben führen würde. Die Gestalt, in der die privatrechtlichen
Verhältnisse im römischen Rechte erscheinen, kommt dem Anfänger geradezu
als obligatorisch vor. und er gelangt zu der irrigen Annahme, als ob jedes
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Zur Au>£e*taltung d»».s recht«- und «taatawissunselinfllichen Studiums etc. 201
Privatreclit nur so uml nicht anders gestaltet werden dürfte. Der Gedanke,
daß das römische Privatrecht nur einen Teil der römischen juristischen
Gedankenwelt bildet, ferner der Gedanke, daß es an und für sich nur eines
der vielen Privatrechtssysteme der Welt ist und anderweitige Lösungen
von derlei Fragen durchaus nicht ausschließt, diese Gedanken werden hei
dem Anfänger nicht geweckt, eher unterdrückt. Wer also in dem römischen
Rechte ein brauchbares Mittel zur Beseitigung des besprochenen Übels
erblicken wollte, müßte diesen falschen Standpunkt des Anfängers ein-
nehmen. einen Standpunkt, der historisch unrichtig und praktisch für die
Zukunft schädlich ist, und er müßte die prinzipielle Wahrheit verkennen,
daß man das Wesen und die große Aufgabe des Rechtes im allgemeinen
nie und niemals an dem Beispiel eines Volkes und eines Rechtssystems
studieren kann. Hiezu tritt, daß, wie in diesem Falle, nicht das gesamte Recht
der Römer, sondern überwiegend nur ein Teil desselben in Frage kommt.
Und wir können getrost hinzufflgen, daß auch von diesem Teile, nämlich
vom Privatrechte, auch nur sein letztes Entwicklungsstadium eingehend
gewürdigt wird, so daß der Hörer die Entwicklung ungenügend kennen
lernt und sich eigentlich nur mit dem römischen Privatrechte, so wie es
theoretisch durch die späteren Juristen ausgebildet wurde, beschäftigt.
Wir gelange!) zur Überzeugung, daß die Rechtsgeschichte keine richtige
Einführung in das Studium abgibt. Wohl können die treibenden Kräfte des
politischen, staatlichen und sozialen Lebens am besten an Organismen gelehrt
werden, deren Ausbildung abgeschlossen und daher den politischen Strömungen
entrückt ist. Doch kann der Zweck des rechtshistorischen Unterrichtes nur
dann erreicht werden, wenn der Hörer entsprechend vorbereitet wurde. Die
Aufgabe der Rechtsgesciiichte bestellt nicht in der Vermittlung der Kennt-
nisse rechtshistorischer Tatsachen. Die genaueste Kenntnis von Tatsachen
ist noch keine Wissenschaft; sie wird erst zur Wissenschaft, wenn
man die Kräfte begreift, die den rechtshistorischen Tatsachen zu Grunde,
liegen, und die Ursachen des Entwicklungsprozesses zu verstellen vermag.
Der höhere Zweck der Uechtsgeschiclitc besteht nicht darin, den Hörern
zu zeigen, daß das Recht wechselt, sondern zu erklären, warum es wechselt,
und sie in diesem Sinne bis zur Pforte des modernen Rechtes zu führen,
ja sogar in dasselbe einzudringen und die historische Kontinuität bloßzu-
legen. Daran, wie Rechtsveränderungen in historischer Reihenfolge eintreten,
und wodurch sie bedingt werden, soll der künftige Jurist lernen, die Not-
wendigkeit des Zusammenhanges zwischen der Entwicklung der Lebensver-
häitnisse und den Fortschritten des Rechtes zu begreifen, und in diesem
Verständnisse soll er einen Schutz gegen die einseitige Auffassung lies
positiven Rechtes finden. Wir dürfen uus darüber nicht wundern, daß unsere
unvorbereiteten Hörer über die Rechtsgeschichte klagen. Die Lehre von den
Quellen beispielsweise erscheint ihnen als totes Wissen, weil sie nicht auf
theoretischem Verständnisse für die Entstehung des Rechtes und sein
Wirken in der menschlichen Gesellschaft beruht; zu seltenen Ausnahmen
gehören diejenigen, die die Beziehungen zwischen Gesetz und Gewohnheits-
Digitized by Google
2«2
Hillbali
recht historisch erfassen können ; die meisten ei blicken in der Quellenkunde
eine Sammlung von Namen und Jahreszahlen ohne inneren Zusammenhang.
Deswegen vermag die Rechtsgeschiehte den Hörer nicht so zu fesseln, wie
sie sollte und könnte.
Es ist vielfach bemerkt worden, dall im Sinne pädagogischer Grund-
sätze das Fortschreiten vom Näheren zum Ferneren empfehlenswert ist,
daher das geltende Recht, namentlich interessante Teile desselben, z. H.
Strafrecht, zuerst, die rechtshistorischen Fächer aber zuletzt vorgetrageu
werden sollten. Jeder Rechtshistoriker würde darauf ciugohen, denn seine
Aufgabe wäre dann leichter. Da aber eine wissenschaftliche Behandlung des
modernen Hechtes ohne rechtshistorische Kenntnisse unmöglich ist, müßte
man höchstens das Studium in zwei Stufen teilen und die meisten Fächer
zweimal vertragen. Es ist klar, welche Folgen sich aus einer Umkehrung der jetzt
bestehenden Reihenfolge ergehen müßten; die Lehre des geltenden Rechtes
würde herabgedrückt werden, und man würde einer besseren Darstellung der
Rechtsgeschiehte zulieb auf eine wissenschaftliche Behandlung des geltenden
Rechtes verzichten, oder, wie gesagt, nach Absolvierung der Rechtsgeschichte
■ias geltende Recht zum zweiten Male vorzunehmen gezwungen sein. Zu
bemerken ist ferner, daß die sofortige Einführung des Anfängers in weit-
verzweigte Spezialfächer, oder auch nur in einzelne derselben, das wissen-
schaftliche Gleichgewicht stört, weil dadurch die Erfassung der Rechts-
wissenschaft als einer organischen Einheit erschwert wird. Mau kann nicht
zu früh und nicht eindringlich genug betonen, daß alles, was vorgebracht
wird, ia dem Gesamtbau der Jurisprudenz einen nicht willkürlichen, sondern
ideell gebotenen Platz einnimmt.
Den Aufgaben des juristischen Unterrichtes kann also weder die Bei-
behaltung der jetzigen Reihenfolge noch die erwähnte Umstellung derselben
gerecht werden. Man muß einen Ausweg suchen, der keinen Teil des Studiums
schädigt, sondern alle Teile fördert. Dies ist nur dann erreichbar, wenn
man dem Gesamtstudium eine Grundlage gibt, an die sich alle Teile gut
und sicher anlehneu.
V.
Die Facher des ersten Bienniums.
Das Rechtsstudium kann sich mit viel größerem Erfolge auf eine
Grundlage stützen, die unserem Lehrplane durchaus nicht fremd ist und nur
einer entsprechenden Verwendung bedarf. Wir denken au die Kechts-
enzyklopädie. die ja vorgetragen wird, aber nicht obligat ist, keinen
bestimmten Platz ciunimint und daher selbstverständlich von den Studierenden
mit Geringschätzung behandelt wird. Die Enzyklopädie der Rechts- und
Staatswissenschaften sollte durch Erhebung zum Range eines Obligatfuches
die ihr gebührende Stellung erhalten, überdies aber durch allseitige Ent-
wicklung an innerem Werte zunehuien. Sic darf sich nicht darauf beschränken,
den Hörern die Kategorien, in die die Jurisprudenz zerfällt, darzustellen.
Diese Kategorien, die vorwiegend auf römischer Auffassung beruhen, gestalten
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Zur Ain-gMtaltang des reclits- und stMtnriisnncbalUiclirn Studimns etc. 2Ö' ■
sicli iu den Augen der Hörer zu unabänderlichen Größen und die Hörer
werden zu Sklaven von Definitionen, welche sich seil Jahrhunderten in der
Wissenschaft eingebürgert haben, in der inoderneu Zeit aber einer heftigen
Kritik ausgesetzt sind und für die Zukunft vieles ton ihrem Werte einbnßen
werden. Eine so gestaltete Enzyklopädie kann höchstens als technische
Einleitung dienen, insofern als sie den Anfängern das Verständnis der
Terminologie und die landläufige Bedeutung der einzelnen Rechtsgebiete
erklärt, sie gibt aber keiuen Begriff von den rechtserzengenden Kräften und
von den Bedingungen der Reehtsentwickluug, ebensowenig von dem Zusammen-
hänge, der zwischen den rechtserzeugenden Kräften und den mittelbar
wichtigen Faktoren besteht; sie isoliert also das Hecht, das seinem Wesen
nach nicht isolierbar ist und vermag, ungeachtet der zuzugesteheudeu tech-
nischen V orteile, die Kluft zwischen der Jurisprudenz und dem Leben nicht
zu öberbrückeu. Die Aufgabe der Enzyklopädie besteht, wenn man die
Bedürfnisse der Anfänger ins Auge faßt, vor allem darin, ihnen einen orien-
tierenden Einblick in die Hauptteile der Rechtswissenschaft zu bieten,
gleichzeitig aber die organische Verbindung dieser Teile darzulegen. Sie
muß also bestrebt sein, das Recht an seiner Wurzel zu fassen, die Ver-
bindung zwischen den primitiven Einrichtungen der Familie und des Volkes
einerseits und dem wirtschaftlichen und kulturellen Leben der Gesamtheit
anderseits zu zeigen und hiebei die in den sozialen, wirtschaftlichen und
kulturellen Verhältnissen keimenden Anfänge staatlichen und rechtlichen
Lebens bloßzulegen. Auf diese Weise kann man dem Hörer vergegenwärtigen,
welche Momente für das Anfkeimen und für die Entwicklung staatlicher
und rechtlicher Ordnung bestimmend sind, welche Bedeutung das primitive
Rechtsleben hat, wodurch die Störung oder Abtötung einzelner Teile erfolgt,
welche Rolle die Differenzierung und die Integrierung spielt, mit einem
Worte, unter welchen Umständen und Einflüssen Kechtseinriclitungen ent-
stehen. Nicht mit Definitionen darf begonnen und operiert werden, man muß
sich vielmehr zur Definition durchringen, und nicht fertige Kategorien darf
man dem Hörer vorführen, sondern ihre Ausbildung erklären. Es kann wohl
nichts pädagogisch Schädlicheres geben als die übliche aprioristische Hand-
habung der Begriffe des öffentlichen und des l’rivatrechtes, die man schon
dem Anfänger förmlich wie zwei verschiedene Welten vorfflhrt. Wissen wir
doch, daß die Grenze zwischen privatem und öffentlichem Rechte zu allen
Zeiten schwankend war und sein wird. Der Hörer, dem man einen prinzi-
piellen Unterschied in dieser Beziehung eingeprägt hat. kan» es nicht fassen,
daß man z. B. im Mittelalter öffentlichrechtliche Befugnisse den privatrechtlichen
gleich behandelt; weun er selbständig über diese Frage nachdenkt, so
gelangt er zweifellos zur Überzeugung, daß ein Rechtssystem, welches die
Möglichkeit solcher Rechtsgeschäfte bietet, falsch ist; nur ausnahmsweise
dürfte der Anfänger die wissenschaftliche Keife besitzen, lim sich zu sagen, daß
nicht alles falsch ist. was iu die üblichen Kategoiieu nicht hiueinpaßt, und
daß diese Kategorien bei jedem Volke, also auch in jedem Kechtssysteme
anders geartet sein können. Eine dogmatisch behandelte Enzyklopädie muß
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subjektiv sein, sie kiiiin nicht allseitig bilden, sondern nur einseitig verbilden.
Es filllt keinem Sprachforscher ein. ?.. B. bei Behandlung der Sprache der
Basken oder Kelten die lateinische Grammatik zur einzigen Grundlage zu
wühlen, denn er weiß ganz wohl, daß jede Sprache ihre eigenen Entwicklungs-
gesetze und ihren eigenen Geist hat, und daß die Prinzipien einer, wenn
auch noch so hochstehenden Grammatik keineswegs generalisiert werden
dürfen; aber die ltechtsenzyklopädie bietet ihren Hörern sofort fertige
Definitionen, eine Kechtsgraiunmtik, als oh es möglich wöre, eine für alle
Zeiten und alle Völker anwendbare detaillierte Kechtsgrammatik auszu-
arbeiten, und als oh irgend ein Zweifel darüber obwalten könnte, daß ebenso
wie die Grammatik nur für ein bestimmtes Volk paßt, ja sogar mitunter
nur für eine bestimmte Zeitperiode, auch eine Bechtsgramtuatik nur bestimmte
Kechtszustünde in Definitionen und Einteilungen zu fassen vermag.
Eine entsprechend erweiterte Enzyklopädie der Rechts- lind Staats-
Wissenschaften würde den besten Übergang vom Gymnasialstndium zu dem
Rechtsstndium bilden. Im Gymnasium lernt der Schüler die äußere Geschichte
der Völker kennen. Würde der Gymnasiallehrplan in der oben angeregten
Weise erweitert und vertieft wrerden, so könnte der Schüler die historische
Entwicklung gründlicher verstehen und die Bedeutung wirtschaftlicher und
rechtlicher Strömungen einigermaßen kennen lernen: er würde auch gewisse
allgemeinjuristische Kenntnisse erlangen und wäre für eine allseitige Enzy-
klopädie der Hechts- und Staatswissenschaft vorbereitet. Dieses Fach würde
pädagogisch wirken, denn es würde daran anknttpfen. was im Gymnasium
geboteu wurde, und zum Itecbtsstiidium führen, während dermalen vom
Gymnasialstndium zum Itechtsstudium ein Sprung gemacht werden muß,
der durch nichts erleichtert wird. Die Rechtsgeschichte ist dem Hörer
hiebei nicht behilflich; aber auch eine zu eng gefaßte Enzyklopädie, die
sich überwiegend mit der Klassifizierung juristischer Begriffe, die den Hörern
natürlich ganz unbekannt sind, beschäftigt und weder die Entstehung dieser
Begriffe noch auch ihr Verhältnis zu den übrigen Gebieten des mensch-
lichen Lehens erklärt, ist ebensowenig geeignet, einen Übergang zu bilden.
Die weitere Bedeutung der Enzyklopädie würde darin bestehen, daß die
rechtshistorischen Disziplinen au dieselbe ankntlpfen könnten, sich also
nicht mehr in dem circulus vitiosus von unverständlichen Begriffen und
unbekannten Verhfdtnissen zu bewegen hätten.
Ein so gedachtes enzyklopädisches Kolleg müßte vor allen anderen
Vorlesungen zu Ende geführt werden ; es erfüllt seine Aufgabe nicht, wenn
es etwa im dritten oder vierten Semester geboten wird; es erfüllt seine
Aufgabe aber auch nicht gut. wenn es parallel mit anderen Fächern vorgetragen
wird. Es ist weiters selbstverständlich, daß eine allseitig erweiterte Enzyklo-
pädie viel Zeit beanspruchen, aber dennoch die Absolvierung in einem
Semester erfolgen müßte, damit im folgenden Semester das eigentliche
Kechtsstudium beginnen könne. Nachdem auch aus naheliegenden Gründen
eine Teilung des enzyklopädischen Kollegs nach Materien untunlich ist, weil
die einheitliche Darstellung der Gesamtheit der einschlägigen Fragen wichtig
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Zur Ausgestaltung *les recht*- lind staatswissenscliaftlichen Studium - etc. 2 f> '>
ist, so gelangt man zum Schlüsse, daß man die Enzyklopädie der Rechts-
und Staatswissenschaft in einem etwa ßstündigen Kolleg, bestimmt für die
Hörer des ersten Semesters, zu erledigen hätte. Dermalen wird die Enzy-
klopädie trotz ihres wesentlich geringeren Inhaltes als der, den wir wünschen,
doch 3 — 4 ständig gelesen; sie ist nicht obligat, wird aber doch von
den meisten Hörern inskribiert. Die Änderung würde somit darin bestehen,
daß dieses ohnehin von den meisten Hörern belegte Kolleg obligat werde
und nicht etwa 3 Stunden, sondern das Doppelte angewiesen erhalte. Von
Zeitverlust kann man dabei nicht sprechen; die 2 — 3 Stunden, um
die die Enzyklopädie zu verstärken wäre, würde man bei der Darstellung
sämtlicher übrigen Fächer hereinbringen; alle Disziplinen würden durch eine
tüchtige enzyklopädische Schulung gefördert werden.
Den so gestalteten Vorlesungen über Enzyklopädie wären Vorlesungen
über Philosophie an die Seite zu stellen. Wir wissen, daß für die
Juristen ein vierstündiges Kolleg besteht, doch ist es kein Geheimnis, daß
dasselbe seinen Zweck nicht erfüllt. Überdies hören die Juristen ein zweites
philosophisches Obligatkolleg, nämlich Vorlesungen über Geschichte der
Rechtsphilosophie, ebenfalls vierstündig. Beide Kollegien können von Hörern
verschiedener Semester besucht werden, so daß der Vortragende vor ein
Auditorium gestellt wird, in dem ältere und jüngere Studenten vermischt
siud. was namentlich für die Vorlesungen über Geschichte der Rechts-
philosophie störend wirkt. Das streng philosophische Kolleg könnte, angesichts
der Erfahrungen, die in dieser Beziehung vorliegen, fallen gelassen werden ;
dagegen müßte die Rechtsphilosophie, die parallel mit der Enzyklopädie
vorzutragen wäre, einerseits an die Philosophie im allgemeinen angelehnt,
anderseits aber, so wie es übrigens auch geschieht, historisch vorgetragen
werden. Die Aufgabe der Rechtsphilosophie, den Begriff des Rechtes über-
haupt anschaulich zu machen und zu erklären, inwiefern dieser Begriff die
Grundlage wechselnder Erfahrungen in Wissenschaft und Praxis zu bilden
vermag, kann unbeschadet der philosophischen Zwecke am besten au der
Hand der Geschichte der Rechtsphilosophie gelöst werden, weil bei histori-
schem Vorgehen die Gefahr subjektiver Systeme vermindert wird; diese
Gefahr, die jedem philosophischen Studium anhattet, ist in keinem Falle
von so wesentlicher Bedeutung wie hier, wo das philosophische Studium
nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zu tieferem Erfassen der Rechts-
wissenschaft dient. Selbstverständlich bliebe es dem Vortragenden unbe-
nommen. bei der Darstellung der rechtsphilosophischen Systeme durch
kritische Bemerkungen und schließlich hei Besprechung der modernen Hechts-
philosophie durch entsprechende Zusammenfassung seine eigenen systemati-
schen Gesichtspunkte zur Geltung zu bringen. Selbstverständlich müßte
darauf Gewicht gelegt werden, daß die Geschichte der Rechtsphilosophie
nicht auf halbem Wege stehen bleibe, sondern bis auf die Neuzeit vorsebreite.
somit kein Leichenfeld philosophischer Doktrinen bilde und dem Juristen
durch die Einführung in die moderne Gedankenwelt für sein weiteres Studium
die allgemeinen Gesichtspunkte biete. Das Verhältnis zwischen Enzyklopädie
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Halhan.
L>6<i
und Rechtsphilosophie stellen wir uns in der Weise vor, daß die Enzyklopädie
bestimmt ist. die Entstehung des Rechtes in Gesellschaft und Staat, das
Wirken reehtserzengender Faktoren, innerer Kräfte und Oberhaupt aller
Momente, die für die Entwicklung der sozialen und rechtlichen Verhältnisse
wichtig sind, darzustellen, uni endlich zur Klassifikation und Definition der
juristischen Begriffe zu gelangen; die Rechtsphilosophie dagegen hat sich
mit dem Rechte nur, insoweit sich dasselbe aus dem Wesen der Persönlich-
keit und den juristisch relevanten Grundformen des Verhaltens der Person
ergibt, zu befassen ; sie scheidet also das Individuelle, wie cs sich historisch
hei den einzelnen Völkern äußert, aus, bespricht nur dasjenige, was dem
Rechte an und für sich sowie den Grundformen seiner Erscheinungen ent-
spricht und ergänzt auf diese Weise die von der Enzyklopädie gebotene
Grundlage der weiteren rechtshistorischen und dogmatischen Behandlung.
So wie sie die Veränderlichkeit der philosophischen Begriffe im Laufe der
Zeit darlegt, findet sie auch Gelegenheit, mit der Geschichte der Begriffe
eine Auseinandersetzung derselben zu verbinden. So wie die Enzyklopädie
die Stellung des Rechtes und seiner einzelnen Teile innerhalb aller anderen
Lebensverhältnisse ergründet, so hat wieder die Rechtsphilosophie, nachdem
sie sich hauptsächlich in dem Gebiete der philosophischen Gedankenwelt
bewegt, ilie Beziehungen zwischen dem Rechtsgedanken und seinen philoso-
phischen Gestaltungen einerseits und der Gesamtheit des menschlichen
Denkens in den verschiedenen Zeiten anderseits zum Gegenstände. Wir
glauben daher, daß diese beiden Wissenszweige sich sehr gut ergänzen
würden. Die Enzyklopädie würde positives Denken und praktische Auffassung
der Rechtseinrichtungen, in denen der Hörer nicht feste Größen, sondern
das Ergebnis der allgemeinen, also nicht nur juristischen Entwicklung
erblicken würde, lehren; die Philosophie würde ihn in die Welt der Abstrak-
tion und des logischen Denkens führen. Dadurch würde der Hörer die zwei
wichtigsten Grundlagen erlangen, die ihm dermalen fehlen. Selbstverständlich
müßte auch ein derartiges philosophisches Kolleg, für die Hörer des ersten
Semesters bestimmt, mehr Zeit beanspruchen als jetzt: aber doch weniger
als die beiden philosophischen Kollegien zusammen: an Stelle der beiden
philosophischen Kollegien im Gesamtansmaße von 8 wöchentlichen Stunden
würde ein fistfiudiges Kolleg über eine so gestaltete Geschichte der
Rechtsphilosophie treten. Nebenbei ist zu bemerken, daß somit das für die
Enzyklopädie verlangte Plus von 2 — 3 Stunden hier durch eine Ersparnis
von 2 Stunden an philosophischen Kollegien wettgemacht wird.
Als Korrelat der llechtsenzyklopJdie und der Rechtsphilosophie erscheint
die allgemeine G e s e 1 1 s c li a ft s 1 e h re. die Lehre von den Kräften,
die nicht nur die Gesellschaftsordnung, sondern weiter in derselben die
Variabilität der Einrichtungen bestimmen. So aufgefaßt, ist die allge-
meine Gesellselmflslehre Grundlage jeder Kechtsgeschichte, aber auch der
Staatswissensehaft und der Rechtspolitik, sowie ein besonders förderliches
Mittel zur Vertiefung des rechtsdogmatischen Verständnisses, insofern man
darunter das Eingehen auf die Funktionen des modernen Rechtes in der
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Znr Ansgestftltnne des rechts- und stft»t«wiasen»chafiliehpn Studiums etr. 207
modernen Gesellschaftsordnung versteht.. Die Gesellschaftslehre soll sich
mit den sozialen Formen und ihren Funktionen im sozialen Dasein, also
mit der Entwicklungsgeschichte der gesellschaftlichen G nippen, mit ihren
Beziehungen zueinander, sowie mit den Einflössen, denen sie in ihrer
Gestaltung unterworfen sind, schließlich mit dem Einflüsse, den sie selbst
auf die Rechtsentwicklung ausöhen, befassen. Wer für das historische und
das dogmatische Studium reif gemacht werden soll, dem kann die Gesell-
schaftslehre gute Dienste leisten. Denn sie verbindet die fflr den historischen
Sinn wichtige Betrachtung aufeinanderfolgender Erscheinungen mit der fflr
das dogmatische Studium nützlichen Betrachtung verschiedener, aber gleich-
zeitig auftretender Verhältnisse. Als Wissenschaft der Kollektiverscheinungen
und Bewegungen der Menschen berührt sie sich mit der Rechtsphilosophie,
die im umfassendsten Rinne betrachtet, eigentlich als praktische Kollektiv-
psychologie bezeichnet werden darf. Beide zusammen geben die Grundlage
für das Verständnis jener teilweise materiellen, teilweise ideellen Erscheinung,
die wir Recht nennen. Besonderen Wert muß man darauf legen, daß gerade
Gesellschaftslehre im Vereine damit, was die Enzyklopädie zu bieten vermag,
die für das rechtshistorische Studium nötigen Kenntnisse aus dem Gebiete
der sozialen und Wirtschaftslehre vermitteln könnte. Es ist ja vielfach der
Wunsch ausgesprochen worden, die Nationalökonomie in das erste Biennium
zu verlegen, und zwar nicht mir um das zweite zu entlasten, sondern in richtiger
Erwägung des Umstandes, daß das rechtshistorische Studium nationalökono-
mischer Kenntnisse bedarf. Die Sarhe scheitert daran, daß man doch
unmöglich die Nationalökonomie zum Gegenstände der ersten Staatsprüfung
machen kann, weil es nicht angeht, sie aus dem Zusammenhänge mit den
übrigen Disziplinen der staatswissenschaftlichen Gruppe zu reißen: die
Erfahrung lehrt aber, daß sich die Hörer in erster Linie fflr Fächer inter-
essieren, die sie zur Staatsprüfung brauchen. Deshalb glauben wir eben
durch die allgemeine Gesellschaftslehre die von allen Seiten gerügte Lücke
am besten ausfßllen zu können.
Die erwähnten drei Kollegien würden das erste Semester ausfflllen.
Und dieses Semester könnte als eine eigene Abteilung des juristischen
Studiums betrachtet werden, nämlich als Vorstufe zu demselben. Hücksicht-
Iich der erwähnten Fächer darf als hekannt vorausgesetzt werden, daß die-
selben sich einerseits großer Unterschätzung, anderseits einer ebensowenig
begründeten Überschätzung erfreuen. Man darf selbstverständlich nicht dafür
blind sein, daß eine Überschätzung geeignet wäre, uns auf die Abwege des
Naturrechtes zurückzuführen, denn sowohl bei der Enzyklopädie wie auch
hei der Philosophie, am allermeisten aber bei der allgemeinen Gesellachafts-
lelirc kann die Gefahr nicht übersehen werden, daß Probleme heterogenster
Art von einem gewissen Gesichtspunkte aus zusammengefaßt werden, daher
eine subjektive Beleuchtung naheliegt. Trotz dieser Gefahr wird man nichts-
destoweniger die evidenten Vorteile einer solchen Vorbildung nicht unter-
schätzen dürfen. Die Voranstellung der Enzyklopädie, der Geschichte der
Hechtsphilosophie und der Gesellschaftslehre macht es sodann dem Hechts-
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268
H&lban
historiknr möglich, alle rechtserzeugenden Kräfte in ihrem historischen
Wirken zu zeigen und ihren Einfluß auf die Bildung ehemaliger und moderner
Rechtsinstitute darzustellen. Das niodemrechtliche und das staatswissen-
sehaftlichc Studium erfahren eine analoge Förderung.
Man könnte \iellcicht sagen, daß die erwähnten drei Kollegien für
das erste Semester nicht passen, weil sie ja ihrerseits einer Vorbildung
bedürfen. Es ist im allgemeinen richtig, daß man diese Fächer erst dann
gründlich /u verstehen vermag, wenn man bereits in die einzelnen Zweige der
Rechts- und Staatswissenschaft eingeweiht ist. Doch gilt dasselbe schließlich
von allen Wissenszweigen ; unzweifelhaft würde der absolvierte Jurist, wenn
er Zeit fände, von vorn anzufangen, die Vorlesungen mit viel mehr Erfolg
besuchen können als der Student. Dieser Gesichtspunkt kann also nicht
maßgebend sein, denn daun gäbe cs gar kein Fach, welches man für den
Anfänger bestimmen könnte. Maßgebend muß vielmehr die Erwägung sein,
ob ein gewisses Fach an der Stelle, die wir ihm im Lehrplane anweisen, Ober-
haupt mit Aussicht auf Erfolg vorgetragen weiden kann, und man muß sich
von vornherein mit dem geringeren Cbel zufriedenstellen. Von diesem
Standpunkte wird man sich sagen dürfen, daß sowohl die Enzyklopädie als
auch die Rechtsphilosophie und Gesellschaftslehre möglich, für das weitere
Studium aber jedenfalls vorteilhaft sind. Es wird der Anfänger gewiß in
diese drei Disziplinen nicht bj eindringen, wie es der erfahrene Jurist tun
könnte: es wird also der wissenschaftliche Zweck einer Ausbildung in diesen
Fächern an und für sich kaum erreicht werden. Aber vom Standpunkte des
gesamten Studiums betrachtet, kommen ja diese Fächer nicht als Selbstzweck,
sondern als Einleitung in die Jurisprudenz und als Grundlage für ein erfolg-
reiches Hören aller Fächer in Betracht: diesen Zweck würden sie gewiß in
bester Weise erfüllen; die einzelnen Disziplinen vorteilhaft, d. h. verständlich
zu gestalten, hängt schließlich immer vom Dozenten ab. Pädagogisch könnte
auch das Bedenken laut werden, daß die erwähnten drei Kollegien ihrem
Wesen nach abstrakt sind, infolgedessen dem Grundsätze widersprechen,
demzufolge man vom besonderen ausgehen und zum allgemeinen aufsteigen
müsse. Dies ist richtig, doch dürfte man entgegnen, daß die abstrakten
Eigenschaften eines jeden Stoffes bei entsprechender Behandlung gemildert
werden können und sollen, und schließlich darauf hinweisen, daß, wenn das
Gymnasium seine Pflicht in der vorher besprochenen Weise erfüllt, auch
diese abstrakten Kollegien nicht unverständlich erscheinen werden.
Auf diese Weise wäre ein Semester Vorlesungen gewidmet, die eigent-
lich jetzt nur als Nebenfächer in Betracht kommen und nirgends ein ganzes
Semester füllen. Es könnte anscheinend mit Recht entgegengehalten werden,
daß dadurch ein ganzes Semester dein eigentlichen Studienplan entzogen
wird, und daß die wichtigsten Fächer des ersten Bienniiuns zu kurz kommen,
wenn ihnen nur drei Semester verbleiben.
Da ist zu bemerken, daß auch der jetzige Studienplan mit der Mög-
lichkeit rechnet, die rechtshistorischen Studien in drei Semestern zu absol-
vieren, obwohl ein 4 ständiges philosophisches Kolleg, das wir ja schon
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Zur Ausgestaltung des rechts- und staitswiasenschaftüchen Studiums etc. 269
ausgesehieden haben, auch in diese drei Semester fällt. Die Ablegung der
ersten Staatsprüfung ist bekanntlich schon nach drei Semestern gestattet.
Fragen wir 8ber, welche Vorteile dem Studenten erwachsen, der von diesem
Rechte Gebrauch macht, so füllt es schwer, eine zufriedenstellende Antwort
zu geben. An der Gesamtdauer der Studien ändert die Tatsache, daß jemand
schon nach drei Semestern die erste Staatsprflfung abgelegt hat. gar nichts.
Die Möglichkeit aber, sich desto intensiver den Fächern des zweiten Bien-
niums zu widmen und auf dieselben fünf anstatt vier Semester zu verwenden,
ist illusorisch. Denn das vierte Semester, also das erste nach abgelegter
Staatsprflfung, ist in der Regel ein Sommersemester und da sind die Vor-
lesungen des zweiten Bienniums. die natürlich mit dem Wintersemester
einsetzen, so weit vorgeschritten, daß der Student höchstens die Möglichkeit
hätte, den zweiten Teil des österreichischen Privatrechtes, ferner Strafprozeß
und Volkswirtschaftspolitik zu hören, ohne den ersten Teil des österreichi-
schen Privatrechtes, das materielle Strafrecht und Nationalökonomie gehört
zu haben. Die fleißigen Hörer, die nach drei Semestern die erste Staatsprüfung
abgelegt haben, befinden sich daher in Verlegenheit und sind gezwungen,
dieses Semester nebensächlichen Vorlesungen zu widmen. Man kann sagen,
daß die Möglichkeit, die Staatsprflfung nach drei Semestern nbzulcgen. ohne
daß allseitig dieser Möglichkeit und ihren Konsequenzen Rechnung getragen
wird, nur zur Verwirrung des Lehrplanes beigetragen hat. Bekanntlich ist
die Fassung der betreffenden Bestimmung aus einem Kompromiß zwischen
der Regierungsvorlage und reichsrütlichen Abänderungsanträgen hervorge-
gangen. Die Erfahrung lehrt übrigens, daß nur ein sehr geringer Teil
der Studentenschaft von diesem Rechte Gebrauch macht, und daß der Früh-
jahrstermin überwiegend von solchen Kandidaten benutzt wird, die nicht
drei, sondern fünf Semester absolviert und die Pröfung nach Ablauf von
vier Semestern versäumt haben, oder schließlich von solchen, die fflr ein
halbes Jahr reprobiert wurden. Die Entziehung des Rechtes, nach drei
Semestern die erste Staatsprüfung ablegen zu dürfen, würde also niemand
treffen, da es niemandem Vorteil bringt. Auch die Vorleseordnung rechnet
nicht mit den Bedürfnissen von Studenten, die schon im vierten Semester
an die zweite Studienabteilung herantreten, rechnet vielmehr mit dem regel-
mäßigen Falle des Studienbeginnes im Wintersemester.
Daß die rechtshistorischen Studien ganz gut im Verlaufe von drei
Semestern erledigt werden können, ist zweifellos und ist sowohl durch den
Regierungsentwurf für das Gesetz vom Jahre 1893 wie auch im Laufe der
Verhandlungen zugegeben worden. Destomehr kann man dies behaupten,
wenn den rechtshistorischen Studien die erwähnten drei vorbereitenden
Kollegien vorangehen würden. Die Absicht, eventuell das vierte Semester
für die Zwecke des zweiten Studionabschnittes zu benutzen, läßt sich nicht
verwirklichen und infolgedesseu kann das vierte Semester viel besser auf
andere Weise verwertet werden, indem es von den recbtshistorischen Studien
getrennt, allgemeinen Studien gewidmet und als erstes dem ganzen Studien-
lauf vorangesetzt wird.
Zeltachrift fflr VolkawirUctiaft, Soiialpolilik und Verwaltung. XII. Rand, 19
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270
Halhan.
Nun bleibt Liber noch die Frage der Summe aller während des
ersten lliennimns 7.11 hörenden Vorlesungsstunden. Das erste Semester
wflrde, obigen Anregungen gemäß. sechs Stunden Enzyklopädie der
Rechtswissenschaften, ebensoviele Stunden der Ueschiebte der Rechtsphilo-
sophie und 8 — 4 Stunden der allgemeinen Gesellschnfltslehrc umfassen.
Zusammen 15 — 16 Stunden, während es bisher Prinzip ist. daß in den drei
ersten Semestern je 20, im vierten 12, zusammen 72 Stunden obligat zu
hören sind. Es würde sich also selbstverständlich bei Entlastung des ersten
Semesters eine größere Belastung der folgenden drei Semester, namentlich
aber des vierten, welches bisher mit Rücksicht auf die Vorbereitung zur
Staatsprüfung privilegiert erscheint, ergeben. Nur muß mau bedenken, daß
dieses durch die Rücksicht auf die Vorbereitung zur Staatsprüfung motivierte
Privileg der Hörer des letzten Semesters ohnehin für diejenigen, die die
Staatsprüfung schon nach drei Semestern ablogen, nicht besteht. Eine
geringere Slundenanznhl für Hörer des ersten Semesters wäre hingegen
vielleicht eher am Platze. Man vergesse nicht, daß das üniversitätssludium
sich derart prinzipiell von «lein Gymnasialunterrichte unterscheidet, daß ein
Übergang ersprießlich und eine Überlastung des Anfängers mit einer großen
Anzahl von Vorlesungen nicht das richtige Mittel ist, ihn an die neue
Studienart zu gewöhnen. Wir sprechen vom eifrigen Hörer, und für den
ist die sofortige Verpflichtung, 20 24 Stunden schwer begreiflicher Fächer
zu hören, schon mit Rücksicht auf die ihm ganz neue Art des Vortrages
gewiß eine harte Pflicht. Es ist übrigens bekannt, daß S 6 des Ministerial-
erlasses vom 24. Dezember IS! '3 den Rechtsliörern die Pflicht auferlegt, im
Verlaufe des Quadrienniums Vorlesungen an der philosophischen Fakultät
zu hören. Man könnte diese Pflicht, wenn man durchaus für das erste
Semester eine größere Stundenanzahl verlangt, auf dieses Semester überwälzen.
Namentlich die Hörer des ersten Semesters sind gewiß leichter dazu zu
bewegen, allgemein bildende Kollegien zu hören, vor allem dann, wenn man
im Gymnasium ihr Interesse für Geschichte. Literatur u. s. w. entsprechend
geweckt hat. Die Einstellung dieser frei zu wählenden Kollegien für das
erste Semester hätte auch den Zweck, den jungen Studierenden den Zusammen-
hang der Rechtswissenschaft mit der allgemeinen Bildung nahezulegen.
Selbstverständlich ist aber, daß diese philosophischen Kollegien auf Philo-
sophie. Geschichte, Literaturgeschichte und Philologie zu beschränken wären.
Die erwähnte gesetzliche Bestimmung ist zu allgemein. Ist es auch nicht
zu verkennen, daß jedes Studium bildet, so muß man doch den Wert eines
kurzen naturwissenschaftlichen oder mathematischen Kollegs entschieden
bezweifeln: für die allgemeine Bildung des Juristen wird durch eine ein-
malige Abstreifung auf ein ihm gänzlich ferneliegendes Gebiet nichts gewonnen.
Man kann ihn nicht daran hindern, beliebige Vorlesungen zu hören; der
Absicht der erwähnten gesetzlichen Bestimmungen entspricht es gewiß nicht,
daß man solche Kollegien in die vorgeschriebene Minimalzahl einrechnet.
Die vorgeschlagenen, sachlich gewiß vorteilhaften Abänderungen lassen
sich auch vom Standpunkte der Zeiteinteilung im Lehrplane rechtfertigen.
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Zur Aoigeataltuiig de* rechts- und •tutswissenschufttichen Studiums etc. 271
Wie schon erwähnt, wird ja Rechtsenzyklopädie auch jetzt vorgetragen und
von einem großen Teile der Hörer belegt; Philosophie wird im Gesamt-
ausmaße von 8 Stunden vorgetragen, Enzyklopädie 3 — 4 Stunden; frei
wählbare Kollegien allgemeiner Natur, die aber bekanntermaßen zur
Erlangung des Absolutoriums notwendig sind, nehmen auch mindestens
drei, häufig mehr Stunden in Anspruch. Durch die vorgeschlagene Änderung
würde die Anzahl der Enzyklopädiestunden erhöht, die der Philosophiestunden
aber vermindert werden und die Anzahl der den frei wählbaren Vorlesungen
der philosophischen Fakultät gewidmeten Stunden würde keine Änderung
erfahren. Es käme also nur das 3 — 4stündige Kolleg über allgemeine Gesell-
schaftslehre als ein Novum hinzu. Wenn man die frei wählbaren, an der
philosophischen Fakultät zu hörenden Kollegien, die in einem beliebigen
Semester absolviert werden, in das erste Semester verlegt, erlangt man eine
Entlastung der späteren. Eine wesentliche Änderung würde also darin liegen,
daß die bisher nicht obligate Enzyklopädie den Hang eines Obligatfaches
erhalten und ein neues 3— 4 ständiges Kolleg über allgemeine Gesellschafts-
lehre eingeführt werden müßte: eine Überlastung würde daraus nicht
resultieren. —
Auf einer so gearteten Grundlage könnte dann das Studium der
rechtshistorischen Disziplinen beginnen. Jeder Dozent derselben wäre in
der Lage, sich auf seine eigentliche Aufgabe zu beschränken und in wissen-
schaftlicher Art die Geschichte desjenigen Hechtes, mit dem er sich befaßt,
darzustellen, denn er könnte selbst in schwierigen Fragen, auf die er jetzt
kaum einzugehen vermag, auf Vorkenntnisse rechnen und wäre nicht ver-
pflichtet, auf die Erörterung von Grundbegriffen Zeit zu verwenden. Das
rechtshistorische Studium würde also eine technische Vereinfachung erfahren.
Noch richtiger ist es aber, daß es gleichzeitig auch juristisch höher gestellt
werden könnte, weil die der Entwicklungsgeschichte zu widmende Zeit
angesichts schon vorhandener allgemeiner Kenntnisse für die dogmatische
Erörterung der einzelnen Rechtsinstitute ansgenützt werden könnte. Von
großem Vorteil ist es, daß man auf diese Weise allen Schäden der Ein-
seitigkeit, die man nicht mit Unrecht der historischen Richtung zum Vor-
wurfe macht, auszuweichen in der Lage wäre. Tatsächlich kann die techts-
historische Richtung auf Abwege geraten, wenn sie das eigentliche Wesen
des Stoffes, der rechtshistorisch erörtert wird, verkennt; sie gerät auf diese
Abwege notgedrungen, wenn es sich um Hörer handelt, bei denen man gar
keine Vorkenntnisse voraussetzen darf. An Vorkenntnisse, wie wir sie uns
denken, ankuüpfend, kann aber die Rechtsgeschichte Unschätzbares für die
juristische Begriffsentwicklung leisten; es wird sie dann nicht der Vorwurf
treffen, daß sie den Gesichtskreis einengt, indem sie den Hörer veranlaßt,
nach rückwärts in die Vergangenheit anstatt vorwärts in die Zukunft zu
blicken. Überdies müßte dann das rechtshistorische Studium eine andere
Gestalt annehmen; es wird ja mit Recht bemängelt, >laß die systematischen,
allgemein gehaltenen Vorlesungen über Rechtsgeschichte sich zu wenig an
das Quellenmaterial anlehnen; mit Fug und Recht darf man fordern, daß
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272
Halban.
die Darstellung, ohne die durch die moderne Wissenschaft geforderte
Gruppierung anfzugeben, sich durch Anlehnung an Quellenstilcke belebe,
ebenso wie man bei dem systematischen Vortrage des geltenden Hechtes
Gesetzesstellen bespricht: denn es ist klar, da!) eine systematische Vorlesung,
ohne Anlehnung an die Quellen, die communis opinio flber die einzelnen
Fragen vermitteln kann, aber nicht im stände ist, den nötigen Einblick in
die in jedem Falle originelle Gestaltung des Rechtes zu gewähren. Wenn
man richtigerweise der Ansicht huldigt, dat) keine Übersetzung den
klassischen philologischen Unterricht ersetzen kann, so muß man dasselbe
für die Rechtsgeschichte behaupten. Jetzt findet man keine Zeit für Ein-
flechten und Erörtern interessanter Quelleustellen; baut man aber den
rechtshistorischen Unterricht auf der richtigen Grundlage auf. dann wird
sich Zeit und Verständnis für die Quellen finden. Es muß übrigens betont
werden, (laß auch der Unterricht im modernen Hechte keineswegs vorwurfs-
frei dasteht Wenn man sagt, daß die Rechtsgeschichte den Gesichtskreis
des Juristen einengt, somit also ihre eigentlichen Zwecke nicht erfüllt, so
gilt dasselbe von der Dogmatik, weil auch sie den Gesichtskreis nicht
erweitert, wenn sie in einseitiger lletonung des geltenden Rechtes von der
früheren Entwicklung und den künftigen Aufgaben absieht. Das Recht
befindet sich in niemals ruhender Entwicklung; unvollkommen ist jede
Behandlung, die einseitig rechtshistorisch oder einseitig dogmatisch vorgebt,
indem sie im ersten Falle das Recht als einen festen Körper behandelt, im
zweiten Falle ihr Gebiet als abgeschlossenes Ganzes betrachtet, ohne
genügende Berücksichtigung der treibenden Kräfte, die den Fortschritt
bestimmen. Die Möglichkeit, eine Grundlage für die rechtshistorische und
die dogmatische Richtung herzustellen, ist in hohem Grade von der ange-
regten Vorbildung abhängig.
Was nun die r e c h t s h i s t o r i s c h e n Studien selbst anbelangt,
so muß als wichtiger Fehler der Art und Weise, wie sie betrieben werden,
das Übergewicht des Privatrechtes, vor allem natürlich der Pandekten
gerügt werden. Die Rechtsgeschichte hat so umfassende Aufgaben, daß
man sie nicht zur Privatrechtsgeachichte machen darf. Das Huuptflhel
besteht darin, daß der Hörer auf Grund des Pandektenrechtes den Eindruck
gewinnt, daß die privatrechtlichen Verhältnisse im Vordergründe stehen
und ferner den Eindruck, daß die einzelnen privatrechtlichen Verhältnisse
eine bestimmte, unabänderliche Fassung annehmen müssen. Auf dein ent-
gegengesetzten Pole steht dann das deutsche Recht, welches, wie alles
mittelalterliche Recht, weniger Definitionen aufweist als das römische, und
dessen Institute weder so abgeschlossen sind wie die römischen noch auch
so gleichförmig kristallisiert, ja zum Teile gar nicht kristallisiert erscheinen,
so daß der Hörer dieselben als ein Chaos betrachtet, mit dem nichts anzu-
fangen ist. Man bietet ihm Antithesen und verlangt von ihm die Durch-
führung der Synthese, was nicht nur pädagogisch unrichtig, sondern auf
dieser Altersstufe und mit diesen Kenntnissen einfach unmöglich ist. Das
römische. Recht soll vor allem auf die Rechtsgeschichte Nachdruck legen
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Zur Ausgestaltung ü*e rechte- und stuaUwisseuschaftlichen Studiums etc. 273
Die reebtshistoriscbe Ausbildung wird dadurch ergänzt und harmonisch
gestaltet, wenn man den Hörern gleichzeitig römische und deutsche Hechts-
geschichte vorträgt und daneben die Geschichte des Kirchenrechtes. Sind
auch die römisebrechtlieheu Grundlagen vor allem für das bürgerliche Hecht
wichtig, so erscheint dennoch die überwiegende Betonung des privatrecht-
lichen Elements schädlich, weil sie geeignet ist. die falsche Vorstellung
von dem nicht bestehenden Fbergewiehte des Privatrechteg und noch mehr
eine begrifflich gefährliche Lostremmng des l’rivatrechtcs von dem gesamten
Hechte zu fördern. Unsere Studienordnung, rechnet ja eiuigermaUen, aber
viel zu wenig, mit der eigentlichen Holle der Pandekten; hoffentlich wird
man jetzt, wo im Deutschen Reiche nach Zustandekommen des neuen
bürgerlichen Gesetzbuches endlich auch die Überschätzung der Pandekten
zugegeben wird, in Österreich den Weg betreten, den man leicht schon
seit 1811 hätte betreten können. Das deutsche Privatrecht hat trotz allem,
was dagegen vorgebraeht wurde, prinzipiell dieselbe bildende Bedeutung
wie das römische Privatrecht. Gerechtfertigte Bedenken können sich nur
gegen das System des sogenannten gemeinen deutschen Rechtes geltend
machen, und zwar aus demselben Grunde wie gegen das Pandektenrecht.
Die Vorlesungen über deutsches Privatrecht sollen ja allerdings in der
Darstellung der deutsehrechtlichen Grundlagen des geltenden Hechtes gipfeln;
mau darf aber über diese Aufgabe nicht an die Darstellung des Geistes des
deutschen Privatrechtes, wie er sich konsequeut auch in den für das moderne
Recht nebensächlichen Teilen offenhart, vergessen. Sowohl bei der Dar-
stellung des römischen wie auch des deutschen Privatrechtes mag man
an das praktisch Wichtige denken; man darf es aber nicht in den Vorder-
grund stellen; sonst ist es keine vollständige, wissenschaftlich ebenmäßige
Erörterung, sondern eine Reihe von Prolegomena zum modernen Hechte;
das ist und darf nicht der Zweck des rechtshistorischen Unterrichtes sein.
Gestützt darauf, was er in der Enzyklopädie und Philosophie erfahren, soll
der junge Jurist sowohl im römischen als auch im mittelalterlichen Hechte
immer nur eines der vielen möglichen Reelitssysteme der Menschheit
erblicken: er muH sich darüber klar werden, daii die eine oder die andere
Gestalt eines Heehtsinstituts nicht obligatorisch ist für die Zukunft,
sondern den Bedürfnissen einer bestimmten Zeit und eines bestimmten
Volkes mit Rücksicht auf seine Kultur und seine Gesellschaftsordnung
entspricht, so datl dieses Rechtsinstitut hei anderen Völkern oder zu anderen
Zeiten gegenüber anderen kulturellen und gesellschaftlichen Zuständen seine
Pflicht nur daun erfüllt, wenn es sich diesen Zuständen akkomodiert. Bei
jedem Fache muß das Prinzip, daß Rechtswissenschaft nicht Hechtskunde
ist, in erste Unit« treten; die Hechtsgeschichte darf nicht zur Kunde oder
zum Kultus alten Hechtes werden; ebenso wie die Lehre des positiven
Hechtes niemals identisch werden darf mit der bloßen Kunde desselben,
weil davon nur noch ein kleiner Schritt zum Erstarren des Rechtsgeistes
führt Selbstverständlich können diese Erwägungen durch keinen Lehrplan
direkt berücksichtigt werden; übrigens ist es angesichts der Stellung des
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Halbftn.
Universitätsunterrichtes unmöglich, den Dozenten Verhaltungsmaßregeln zu
geben. Rs kann also der beste Lehrplan nicht verhüten, daß einzelne Fächer
in einer zweckwidrigen, ganz einseitigen Weise gelehrt werden. Wir denken
auch gar nicht an irgend eine Einschränkung der weitgehendsten Lehr-
freiheit der akademischen Dozenten, weil die daraus resultierende Gefahr
weit schlimmer wäre als alles andere: doch glauben wir, daß, wenn einmal
für die Schaffung der nötigen Vorbildung gesorgt wird, auch die Dozenten
ihrerseits das Möglichste beitragen werden, um von der gewonnenen Grund-
lage aus die Erreichung der wahren Zwecke anzustreben.
Die Keihenfolge der rechtshistorischen Disziplinen könnte fast unver-
ändert bleiben; es würde das zweite Semester die Stellung einnehmen, die
jetzt das erste hat. Man könnte also dem römischen Rechte 10 Stunden
und dem deutschen 5 widmen. Als passend würden wir es erachten, daß man
parallel mit diesen beiden Fächern auch die Darstellung des Kirchen rechtes
verbinde, keineswegs aber die der österreichischen Reichsgeschichte. Es unter-
liegt zwar keinem Zweifel, daß die Geschichte des Kirchenrechtes mit
teilweise größerem Erfolge vorgetragen wird, wenn schon römische und
deutsche Rechtsgeschichte vorangegaugeu sind; doch würden wir den Vorteil,
der sich aus geeintem rechtshistorischen Studium für die Auffassung ergibt,
vorziehen und ihm zulieb manche Unbequemlichkeit hinnehmen; es könnte
der Hörer auf diese Weise die drei Rechte, deren Entwicklung für das
moderne europäische Recht von nahezu gleicher Hedeutung ist, io engen
Zusammenhang bringen. Auf Grund dessen, was er in der Enzyklopädie
gelernt hat, wird er in ihnen die historischen Illustrationen der Rechts-
ontwicklung in verschiedenen Organismen und in verschiedenen Richtungen
erblicken: auf Grund dessen, was ihn die Rechtsphilosophie gelehrt, wird
er die theoretischen Unterschiede der verschieden gearteten Denkweise mit
Vorteil studieren können; die Bedeutung der allgemeinen Gesellschaftslehre
aber ist für alle drei Gebiete die gleiche. Es muß übrigens erwähnt werden,
daß auch jetzt Kirclienrccht gesetzlich im ersten Semester gehört werden
darf; denn nur die Institutionen des römischeu Rechtes werden gesetzlich
als notwendiger Beginn des Keehtsstudiums hingestellt. Natürlich könnte
es sich nicht um das gauze Kirchenrecht haudeln: aber ein Teil desselben,
z. B. die Geschichte der Kirchenverfussung und der Quellen, könnte ganz
gut im zweiten Semester gehört werden. Dieses Semester würde also
römisches Recht (10 Stunden), deutsches Recht (5 Stunden) und einen Teil
des Kirchenrechtes i 3 — 4 Stunden umfassen.
Das dritte Semester würde die Fortsetzung des zweiten bilden, so wie
jetzt das zweite sich dem ersten anreiht; es würde also die Fortsetzung
des römischen, deutschen und kanonischen Rechtes bieten. Die Einteilung
des Stoffes müßte der Entscheidung des Dozenten Vorbehalten bleiben
und würde auch wahrscheinlich so ausfallen wie jetzt. Es wäre nur eine
Änderung erwünscht, nämlich die Bestimmung, daß das Kirchenrecht,
welches dermalen entweder im Laufe eines Semesters, oder verteilt auf
zwei Semester vorgetragen wird, prinzipiell auf zwei Semester verteilt werde.
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Zur Ausgestaltung das rächt*- tuid staatswisseuscUaftlirtien Studium* etc. ß7.">
Die Darstellung der österreichischen Rciclisgeschiehte möchten wir aber aus
wichtigen Gründen dein letzten Semester des ersten Bienniums Vorbehalten.
Denn zweifellos bedarf das Verständnis dieses Faches einer Keihe von Kennt-
nissen aus dem Gebiete des deutschen und kanonischen Rechtes; Österreich
ist während des ganzen Mittelalters ein deutschrerhtliches Territorium und
auch die weitere Entwicklung vollzieht sich, wenigstens zum großen Teile,
unter dem Einflüsse der wichtigsten Ereignisse der deutschen Reichs- und
Hechtsgeschichte sowie der Geschichte des Kirchenrechtes. Es bliebe
schließlich noch die Unterbringung der an den polnischen Universitäten
vorgetragenen polnischen Recbtsgeschichte beziehungsweise der au der
böhmischen Universität gelehrten böhmischen Recbtsgeschichte zu besorgen,
ln beiden Fällen erscheint die Kenntnis der deutschen Rechtsgeschichte
sowie der Geschichte des kircheurechtlichen Organismus notwendig; infolge-
dessen können diese Fächer nicht im zweiten, sondern erst im dritten uud
vierten Semester mit Erfolg gehört werden, am vorteilhaftesten wohl im
vierten: um aber einer zu großen Belastung des letzten Semesters zu
entgehen, wäre eine Verteilung der polnischen, beziehungsweise böhmischen
Rechtsgeschicht« auf zwei Semester ratsam.
Somit wäre das römische, deutsche und kanonische Hecht im zweiten
und dritten Semester, die österreichische Keichsgeschichte im vierten und
die polnische beziehungsweise böhmische Rechtsgeschichte, die an den
betreffenden Universitäten mit vollem Rechte als obligates Fach zu gelten
hätte, im dritten und vierten Semester untergebracht. Weder das zweite
noch das dritte Semester könnten als überlastet betrachtet werden, im
vierten dagegen bliebe noch Raum für eine Reibe anderer Vorlesungen. Es
könnte beispielsweise mit großem Nutzen ein exegetisches romanistisches
Kolleg, so wie es in Deutschland jetzt gefordert, in Frankreich aber seit
jeher üblich ist. untergebraeht werden. —
Überdies aber wäre an einen entsprechenden Abschluß des rechts-
historischen Studiums zu denken. So wie durch eine zweckmäßig erweiterte
Enzyklopädie und eine den Bedürfnissen des Studiums augepaßte Rechts-
philosophie und Gesellschaftslehre der Ausgangspunkt gewonnen wird, so
müßte auch ein wirklich vorteilhafter Abschluß, also ein solcher gefunden
werden, der nicht nur hinsichtlich der schon vorgetragenen Fächer, sondern
auch hinsichtlich der künftigen von bleibendem Werte wäre. Eine solche,
nach beiden Seiten hin wichtige Stellung nimmt die vergleichende
Rechtswissenschaft ein. Es erscheint mit Rücksicht darauf, daß
auch unsere Studienordnung die Sicherstellung von Vorlesungen über ver-
gleichende Rechtswissenschaft den Fakultäten förmlich zur Pflicht gemacht
hat, überflüssig, eine Motivierung dieser Anregung zu gehen. Abgesehen
von der mit jedem Jahre wachsenden Redeutung der vergleichenden Rechts-
wissenschaft, die man mit vollem Rechte als die wichtigste Disziplin der
künftigen Jurisprudenz bezeichnen darf, ist zu bemerken, daß ja ohnehin
dasjenige, was die Hörer über die Geschichte einzelner Rechte gehört
haben, einer Rcassumierung bedarf, und zwar in einer Weise, die eine
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276
Halb&n.
Ergänzung der allgemeinen Lehren der drei Fächer dos ersten Semesters
bedeuten würde. Dafür taugt eben die vergleichende Rechtswissenschaft am
besten und sie findet ihren natürlichen Platz im vierten Semester, für Hörer,
die bereits im ersteu Semester die allgemeine Vorbei eituug durchgemacht
und dann während des zweiten und dritten Semesters die Entwicklung des
Rechtes in drei verschiedenen Organismen betrachtet haben. Hörer, die
bereits auf die wechselnden Erscheinungen des Rechtes bei verschiedenen
Völkern und zu verschiedenen Zeiten aufmerksam gemacht worden sind,
können für die Aufgaben und Ergebnisse der vergleichenden Rechtswissenschaft
das nötige Interesse und Verständnis finden. Die vergleichende Rechtswissen-
schaft bietet aber gleichzeitig den besten Übergang zum speziellen Studium
des modernen Rechtes, denn sie fördert die Fähigkeit, die Aufgaben des Rechtes
von einem allgemeineren Standpunkte ins Auge zu fassen und rüstet den Juristen
mit einem grollen Maße praktischer Objektivität aus. Diesen allgemeinen Auf-
gaben könnte ein 4 — 5 ständiges Kolleg über ausgewählte Lehren der ver-
gleichenden Rechtswissenschaft wenigstens in anregender Weise gerecht werden.
Aus dem Vorgcbraohten geht hervor, daß man im Rahmen des
Bestehenden eine Reihe von Änderungen vornehmen könnte, ohne die
Studierenden zu belasten und ohne den dermaligen Studienplan prinzipiell
zu ändern. Ungeämlert bliebe ja sogar die im Auslande vielfach gerügte
Einrichtung, wonach bei uns die Hauptkollegien in einem größeren Stundeu-
ausmaße gelesen werden. Man könnte in dieser Beziehung tatsächlich
manche Einschränkung vornehmen; wir selten davon ab, weil es uns, wie
in der Vorrede gesagt, darum zu tun ist, die bestehenden Einrichtungen
so schonend als möglich zu behandeln. Eine wichtige äußere Änderung
bestellt nur darin, daß mit Rücksicht auf diese Entwürfe die Möglichkeit,
die Staatsprüfung schou nach drei Semestern akzulegen, Wegfällen müßte,
was aber, wie erwähnt, praktisch bedeutungslos ist. Wichtiger erscheint
dagegen der Umstand, daß bei einer durch diesen Entwurf geschaffenen
Sachlage der Beginn des Studiums nur mit dem Wintersemester eintreten
könnte, ln dieser Beziehung aber sei es gestattet, auf § 4 der Ministerial-
Verordnung vom 24. Dezember 18M hinzu weisen; steht es auch dem
Studenten dermalen frei, seine Studien entweder im Winter- oder im Sommcr-
semester zu beginnen, so wird doch diese Freiheit infolge der erwähnten
Bestimmung eingeschränkt, weil das Rechtsstudium prinzipiell mit dem
Institutionenkolleg zu beginnen bat; das Iustitutionenkolleg aber wird an
den meisten Universitäten bekanntlich nur im Wintersemester gelesen;
läßt mau trotzdem Immatrikulationen im Sommersemcster zu. so geschieht
dies, falls nicht für ein zweites Institutionenkolleg im Sommersemester
vorgesorgt wird, ungesetzlich. Deshalb darf man schon auf Grund der jetzt
bestehenden Vorschriften damit rechnen, daß das Rechtsstudium nur im
Wintersemester beginnen kann und darf auf dieser Grundlage den ganzen
Studienplan des ersten Bienniums aufbauen.
Im allgemeinen tragen wir durch den entworfenen Studienplan allen
Bedenken, die im Jahre 18S12 bei Gelegenheit der parlamentarischen Debatten
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Zar Ausgestaltung <les recht»- uml staatawiftscnschaftlichen Studium» etc.
377
und überdies auch in der Literatur geltend gemacht wurden, Rechnung.
Wir meinen da den Vorwurf, daü ausschlielllieh das rechtehistorische
Studium zur Basis des Kechtsunterricbtes gemacht wird und dal! es hin-
sichtlich seiner Ausdehnung gegenüber den Staubswissenschuften und dem
modernen Rechte privilegiert ist. Wir schlagen eben als Basis des Studiums
nicht die Rechtsgeschichte, sondern die erwähnten allgemeinen Fächer vor.
beschränken ferner die Rechtsgeschichte auf drei Semester, wobei überdies
im dritten rechtshistorischen Semester, d. i. im vierten Semester des
gesamten Studiums, noch ein Fach, nämlich die vergleichende Rechtswissen-
schaft, Platz findet, die auch für die gesamten weiteren Disziplinen von
grober Bedeutung ist.
Der Studienplan würde also folgeudcrmaUen aussehen:
Erstes Semester:
1. Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschatten . . 6 Stunden
'2. Geschichte der Rechtsphilosophie t> ,
3. allgemeine Gesellschaftslebre 3 — 4 .
Eventuell könnten, wie erwähnt, auch die an der philosophischen
Fakultät frei zu wählenden Kollegien in diesem Semester uutergehracht
werden; wenn man dieselben mit 3 Stunden hemibt, wären im ganzen im
ersten Semester 18 — 19 Stunden zu hören.
Zweites Semester:
1. Komisches Recht 10 Stunden
2. deutsches Recht 5 ,
3. Kirchenrecht 3
zusammen ... 18 Stunden
Drittes Semester:
1 . Römisches Recht 8 Stunden
2. deutsches Recht *> ,
3. Kirchenrecht 4 .
zusammen ... 17 Stunden
auiierdeni in Krakau und Lemberg polnische, an der Prager
böhmischen Universität böhmische Kechtsgeschichte . . 3—4 Stunden
Viertes Semester:
1. österreichische Reich sgeschicbte 5 Stunden
2. ein romanistiseh-cxegetischcs Kolleg 2 ,
3. vergleichende Rechtsgeschichte 4 — 5 ,
zusammen . . . 11 — 12 Stunden
in Krakau und Lemberg polnische, in Prag böhmische
Rechtsgeschichte 3-4 Stunden
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27S
Haltan.
Nun ist es ja bekannt, dal! behufs Zulassung zur ersten Staatsprüfung
Kollegien im Gesaintausmalie von 72 Stunden naehgewiesen werden müssen,
obwohl die betreffenden Obligatfüeher (römisches, deutsches, kanonisches
Hecht und österreichische Keichsgeschichte) zusammen nur 42 Stunden
erfordern; wenn wir noch die erwähnten Fächer des ersten Semesters im
Gesamtausmalie von 15— 16 Stunden, sowie die neu hinzutretende vergleichende
Rechtswissenschaft im vierten Semester 4 — 5 Stunden dazu rechnen, so
erhalten wir zu den schon obligaten 42 Stunden noch weitere 19- 21 Stunden,
so daß also noch immer 11 — 13 Stunden für frei zu wählende Kollegien und
Übungen übrig bleiben, ohne daß das gesetzlich geforderte Minimalausmaß
von 72 Stunden überschritten wird. (Fortsetzung folgt.)
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DIE REFORM DER ÖSTERR. HAUSZINSSTEUER.')
VI IN
ft* FRANZ FREIHERRX v. M Y KBAO II -RHEIN FELD.
(I, Ö. PROCESSOR AN »ER UNIVERSITÄT IN I N NMlRlTK
Zwanzig Jahr« sind verflossen, seitdem ich eiuer Monographie Aber
die Besteuerung der Gebäude und Wohnungen iu Österreich*) auch die Frage
in Erwägung zog. inwieweit unsere Hauszinssteuer reformbedürftig sei und
in weicher Richtung sich die Reform zu bewegen habe. Meine Arbeit hat
in fachwissenschaftlichen Kreisen Anerkennung gefunden, sie hat aber nicht
einmal den praktischen Erfolg gehabt, eine Bewegung für die von mir
damals schon als höchst dringend bezeiclmete Reform anzubahuen. Der
gewaltige Druck dieser Steuer wurde schon längst von allen Beteiligten
empfunden, es geschah aber gar nichts, um auf die Milderung dieses Druckes
hi n zu wirken.
Wie es scheint hat erst die teilweise Vermehrung der Steuerlast
durch die lang angestrebte und endlich im Jahre 1 806 verwirklichte Reform
der sogenannten Persoualsteueru und noch mehr durch die rapid steigenden
Bedürfnisse der Selhstverwaltnngskörper, die Geister aufgerflttelt und sie
veranlaßt, an die Stelle dumpfen Murrens endlich tatkräftiges Handeln zu
setzen. Wie auf so vielen Gebieten, hat auch auf diesem die Organisation
erst Wandel geschaffen. Die in neuester Zeit entstandenen Vereine der
Hausbesitzer haben die Frage der Gebüudesteuerreform in Fluß gebracht
und die Städtetage haben sich mit ihr ernstlich befaßt.
Naturgemäß nehmen die Hausbcrrenvereine dieser Frage gegenüber
einen ziemlich einseitigen Interessentenstandpunkt ein. Es soll ihnen daraus
kein Vorwurf gemacht werden, denn die Gemeinsamkeit eines bestimmten
Interesses hat sie zusamiiieugeführt und ihre Existenzbedingung ist die
gemeinsame Verfechtung ihres Interesses. Wenn sich ihr Interesse mit
jenem der Gesamtheit begegnet, dann ist es desto besser, und größtenteils ist
dies wirklich der Fall.
Die Stüdtetage stehen iiu allgemeinen auf einem objektiveren Stand-
punkt. immerhin kann aber auch da der große Einfluß, den die Hausbesitzer
Vortrag gehalten in der Gesellschaft österreichischer Volkswirte.
a) „Die Besteuerung der Gebäude und Wohnungen in Österreich und deren
Reform- in der Zeitschrift für die gesamte Staat* Wissenschaft; 1S*6 auch in Buchform
bei H. I.yupj» iu Tübingen erschienen.
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Myrk»ch-Rlioinf»M.
•280
auf die Zusammensetzung der Gemeindevertretungen üben, nicht gänzlich
verschwinden und gerade die hohe Gehäudesteuer sichert ja den Haus-
besitzern als privilegierten Wühlern diesen Einflult.
Nun sind aber, wie ich zeigen will, bei dem besprochenen Gegenstände
nicht die Hausbesitzer, sondern die Mieter die in erster Linie betroffenen.
Es handelt sich also um eine Angelegenheit des öffentlichen Interesses, und
da kann Klassenvertretungen nicht der entscheidende Einfluß zugestanden
werden, wenn sie auch als rührige Kampfer willkommen sind, soweit sie
eben M i t käuipfer sind.
Um so lebhafter ist es zu begrüßen, daß eine Vereinigung von der
Iiedeutuug und der Zusammensetzung der Gesellschaft österreichischer
Volkswirte in die Erörterung der Frage der Gebäudesteuerreforin eiutritt.
In dieser hochaugesebenen Körperschaft wird diese Frage zweifellos eine
streng objektive Behandlung erfahren und wird der Gesichtspunkt eiuer
gesunden Sozialpolitik der allein richtunggebende sein.
Zur besonderen Ehre rechne ich es mir an, daß ich vom Vorstande
dieser Gesellschaft berufen w urde, diese hoffentlich fruchtbringende Diskussion
durch einen Vortrag zu eröffnen. Meine heutige Aufgabe kann ich auch
nur so auffassen, daß ich sachliches Material vorzubringen und für die
Diskussion eine Grundlage zu liefern habe. Weit entfernt von der Annahme,
als ob ich den einzig richtigen Schlüssel für die Lösung des schwierigen
Problems in Händen hätte, werde icli vollkommen zufrieden sein, wenn es
mir gelingt, einige brauchbare Gesichtspunkte für die weitere Behandlung
der Frage zu liefern. Dabei muß ich gleich bemerken, daß ich in der
Hauptsache noch heute auf demselben Boden stehe, wie vor zwanzig
Jahren. Daran mag allerdings der Umstand schuld seiu. daß mir inzwischen
wenig Gelegenheit geboten wurde, andere Ansichten auf ihren Wert zu prüfen.
Als Provinzbewohner hatte ich auch wenig Gelegenheit, die junge, auf
eine Reform der Gebäudesteuer gerichtete Bewegung zu verfolgen, deshalb
bin ich leider außer stände, hierüber eingehend zu referieren ; ich werde mich
darauf beschränken müssen, Bruchstücke, die zu meiner Kenntnis gelangten,
gelegentlich zu berühren. Trotzdem werde ich ihre Geduld wegen der Natur
des Gegenstandes ziemlich lange in Anspruch nehmen müssen, wenn ich
mich auch auf die Besprechung der Hauszinssteuer beschränken und die
Hausklassensteuer außer Betracht lassen werde. Die Grundsätze der Besteue-
rung der Gebäude nach dem Zinsertrag darf ich dabei wohl als allgemein
bekannt voraussetzen.
Klie ich daran gehe, unsere Hauszinssteuer auf ihre Reformbedürftig-
keit zu prüfen, muß ich noch einige Worte über das Wesen dieser
Steuer vorausscbickeu.
Die österreichische Hauszinssteuer ist, wie jede Gehäudesteuer. eine
sogenannte E r t r ags s t e u e r, das heißt sie erfaßt die Erträgnisse aus
Häusern ganz objektiv, ohne Rücksicht auf die Person und die persönlichen
Verhältnisse des oder der Eigentümer, ohne Rücksicht auf die Verteilung
dieser Erträgnisse auf mehrere Subjekte, insbesondere auch ihre Verteilung
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Tlie Heform 'l'r AO-rr Hftu*?ins*tener
281
unter Eigentümer und Gläubiger. Die moderne Theorie anerkennt eine solche,
ursprünglich recht rohe Besteuerungsfonu, weil angenommen werden muß.
daß durch die Besteuerung der verschiedenen objektiven Erträgnisse gleich
bei ihrem Entstehen, schließlich doch die persönlichen Einkommen, die sich
aus Erträgnissen und Ertragsteilen zusammenfügen. getroffen werden.
Diese Begründung gilt aber niemals für Steuern auf einreine Arten
von Ertragsobjekten, sondern nur dann, wenn ein ganzes System solcher
Steuern so zusammenwirkt, daß auch alle Wurzeln des Einkommens, also
die Erträgnisse aus allen Quellen, mag es sich um Verwendung von Ver-
mögen oder um Verwertung der Arbeitskraft handeln, tunlichst gleichmäßig
durch die Steuern gekürzt werden, weil auch nur dann die Einkommen
gleichmäßig durch sie getroffen werden.
Nur selten wurden die ursprünglich einzelnen und daher fehlerhaften
direkten Objektsteuern zu ganzen Ertragstenersystemen ergänzt. England
in seiner Income-tax und Württemberg haben solche Systeme: das österrei-
chische, der englischen Gesetzgebung nachgehildete System, das in seiner
Anlage als ziemlich korrekt bezeichnet werden konnte, hat durch die Gesetz-
gebung des Jahres 1896 an Einheitlichkeit viel eingebüßt und litt schon
früher unter unrichtigen Steueisätzcn und einem sehr mangelhaften Verfahren.
Ein gut eingerichtetes Ertragsteuersystem gehört sicher nicht zu den
schlechten Besteuerungsmethoden, weil es mit möglichster Umgangnahme
von Schätzungen alle Einkommensquellen' wenigstens mit annäherungsweiser
Richtigkeit und Gleichmäßigkeit erfaßt. Allerdings gestattet es nur eine
proportionale Besteuerung. Die schlechte Behandlung, welche den Ertrags-
steuem in der neueren deutschen Literatur zu teil wird, erklärt sich daraus,
daß man meistens nur Bruchstücke eines Systems vor Augen hatte und
anch diese nur unzulänglich eingerichtet waren.
Die ganze Liebe hat sich der Personaleinkommensteuer zugewendet
und dies geht so weit, daß der in der Entwicklung des Steuerwesens jetzt
führende Staat, Preußen, für sich unter den direkten Steuern bekanntlich
nur noch die Einkommensteuer in Anspruch nimmt und die Erträgnisse
aus den dort allerdings wenig ausgebildeten Ertragsteuern bekanntlich den
Selbstverwaltungskörpern, besonders den Gemeinden, überläßt.
Eine gleiche Entwicklung schwebte gelegentlich der letzten Steuerreform
auch den maßgebenden Faktoren in Österreich vor, aber die Verwirklichung
hat bei uob noch gute Wege. Ist ja doch schon das Verhältnis der Ergebnisse
dieser Steuergruppen in Österreich und in Preußen ein total verschiedenes.
In Preußen betrug 1898/9 die Einnahme an
Einkommensteuer 1641/, Mill. Mark
jene aus der Grund-, Gebäude- und Gewerbesteuer nur 93 Mill. Mark
in Österreich brachte 1898 die Personal-
einkommensteuer ein 36 Mill. Kronen
die Ertragsteuern dagegen über 222 Mill. Kronen.
Allerdings umfaßt die preußische Einkommensteuer auch die Steuer
der Aktiengesellschaften. Aber wenn man hei uns auch die zirka 42 Mill. Kronen,
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282
MvrWh-RheiiiOltl.
welche die der öffentlichen Rechnungslegung unterworfenen Unternehmungen
zu zahlen hatten, von den Ertragsteuern ab- und der Einkommensteuer
zurechnet, so ändert dies nichts au der Tatsache, daß für unsere Finanzen
die Ertragsteuern die ungleich wichtigere Einuahmenquelle bilden. Und jene
ans den Krtragsteuern ist so bedeutend, daß darauf nicht leicht ein Staat
verzichten könnte, das finanziell bedrängte Österreich aber am allerwenigsten.
Wir müssen also damit rechnen, daß filr absehbare Zeit unser Staat
sein Ertragstenersjstein behalten wird, und da die Gebäudesteuer einen
integrierenden Bestandteil desselben bildet, kann er auch diese einzelne
Steuergattung nicht aufgeben. Um so wichtiger ist es aber, daß endlich
ernstlich an die Beseitigung ihrer grellen 1 beistünde geschritten werde.
Nach drei Richtungen will ich nun untersuchen, ob und inwiefern
unsere Hauszinssteuer einer durchgreifenden Reform zu unterziehen wäre:
1. Rilcksicbtlich des Umfanges der Steuerpflicht, d. i. also der ihr
unterliegenden Objekte:
2. rflcksichtlich der Steuersätze und
3. rflcksichtlich der Art der Veranlagung.
Die Steuerpflicht erstreckt sich bekanntlich auf verschiedene
Objekte in den beiden Ortskategorien, welche das Gesetz unterscheidet.
In jenen Städten und Orten, wo die Hauszinssteuer 2fi*/> Proz. beträgt
und welche im Gesetz ausdrflcklicli benannt sind, dann in jenen Orten, in
welchen wenigstens die Hälfte der Häuser und zugleich wenigstens die
Hälfte der Wolmräume einen Zinsertrag durch Vermietung wirklich ahwirft.
sind alle Gebäude zur Gänze zinssteuerpflichtig, ohne Unterschied, wie
und durch wen sie benützt werden ln allen übrigen Orten unterliegen der
Zinssteuer nur jene Gebäude beziehungsweise Gebäudeteile, welche tatsäch-
lich vermietet sind, und auch davon gibt es noch Ausnahmen.
Neuerdings ist wieder behauptet worden, daß der Gebäudesteuer Ober-
haupt nur Wohngebäude unterliegen. Diese Ansicht, welche sich auf eine
ungenaue Textierung des alten Gebäudesteuerpatents vom Jahre 1820
stützte, konnte allenfalls früher vertreten werden, seit dem Gesetze vom
9. Februar 1882 kann über ilire Unrichtigkeit aus dem Gesichtspunkt des
geltenden Rechtes kein Zweifel mehr bestehen.
Eine andere Frage ist es. ob es richtig und zweckmäßig sei,
alle unter die erwähnte Bestimmung fallenden Gebäude, ohne Rücksicht auf
ihre Verwendung, mit einer Ertragstcuer zu belegen. Das ist eine Frage
de iure ferendo und sie soll uns zunächst beschäftigen.
Zu diesem Zwecke wollen wirdie verschiedenen Verwendungen der Gebäude
nach der technischen und nach der ökonomischen Seite unterscheiden.
Im technischen Sinne dienen die Gebäude entweder zur Bewoh-
nung oder als geschützte Örtlichkeiten zur Ausführung von Arbeiten, zur
Aufbewahrung der verschiedensten Gegenstände oder zur Versammlung einer
größeren Zahl von Menschen. Die letztere Art der Verwendung kann sehr
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Hi.' Reform der öit.rr. Jlan«yin*«teu*-r.
283
mannigfaltig nein. Werkstätten der grollen und kleinen Industrie und des
Handwerks, Magazine, Kontors, Kanzleien, Ordinationsräume der Ärzte, Ver-
kaufsgewölbe. Gast- und Kaffeehäuser, Theater, Hall- und Konzertsäle und
viele andere Gebäude und Gebäudeteile gehören in diese Kategorie.
Bei der Verwendung im ökonomischen Sinne müssen wir unter-
scheiden zwischen Baulichkeiten, welche der A u f w a n d w i r t s c h aft. und
solchen, die der E r w e r b wi r tsc h a ft dienen, ln diesem Sinue kommt
für uns nur die Verwendung seitens des Eigentümers oder Nutznießers in
Betracht, Dieser benützt sein Haus in der. A u f w an d wi r tsc h aft ent-
weder als Wohnung oder zur Unterbringung von Gegenständen, welche dem
unmittelbaren Gebrauche dienen, wie z. B. Gewächsen, Pferden u dgl.
Einen Teil des Aufwandes bildet diese Verwendung deshalb, weil das
Subjekt Mittel, die ihm bereits frei verfügbar sind, unmittelbar zur Befrie-
digung von Bedürfnissen benützt. Wollte man etwa die Bezeichnung als
.Aufwand* nicht gelten lassen, so müßte mau doch zugeben, daß im Selbst-
bewohnen eine Aufwandersparung gelegen sei.
In der Erwerbwirtschaft kommen wieder zweierlei Verwetidungs-
arten vor:
Entweder das Haus soll dienen zur Erzielung einer Rente, indem
man dasselbe an andere vermietet,
oder als Mittel irgend einer Erwerbtätigkeit des Besitzers
selbst.
Im ersten Falle ist das Haus ein Objekt selbständiger reiner
Kapitalanlage und bat als solches den gleichen wirtschaftlichen Charakter
wie ein verpachtetes Landgut oder eine Darlehensforderung. Wie der Mieter
das Haus technisch verwendet, ist dabei vom Standpunkt des Vermieters
ökonomisch irrelevant.
Im zweiten Falle hat das Haus durchaus keine wirtschaftliche
Selbständigkeit, denn es wirft für sich allein keinen Ertrag ab, es ist in
gleicher Weise Betriebsmittel wie eine Maschine, ein Werkzeug, ein Zugtier,
nnd wie diese Dinge nur ein integrierender Bestandteil einer
ganzen Betriebsanlage. Ein Ertrag wird dann nur erzielt durch
gleichzeitige Verwendung aller zusammengehörigen Betriebserfordemisse und
es läßt sich auch nicht eine bestimmt« Quote des Unternehmungsertrages
gerade auf die Verwendung des bestimmten Gebäudes oder der bestimmten
Räume zurückführen. Von einer Hausrente kann also da nicht die Rede
sein, man müßte denn an eine sogenannte Lageren te denken, die ich aber
als eine selbständige wirtschaftliche Erscheinung auch nicht anerkennen kann.
Nun bilden den Gegenstand der Besteuerung nach den Grundsätzen
der Krtragsbesteuerung alle Erträgnisse im weiten Sinne des Wortes, also
die Renten von Gebäuden ebenso wie die Gewinne aus den verschieden-
artigen Erwerhsunternehmungen. Daraus folgt, daß alle Zinserträg-
nisse auB vermieteten Gebäuden und Gebäudeteilen, ohne
Rücksicht auf die technische Verse» düng dieser Objekte,
einer Ertrags t e uer, die wir am zutreffendsten wohl als .Hans
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2R4
Myrbacti-ltlielnMd.
rentonsteuer“ bezeichnen können, unterzogen werden sollen.
Insofern ist also unsere Gesetzgebung vollkommen richtig.
Ob der Hausbesitzer seinen Zins fflr eine Wohnung, für einen Laden
oder fflr eine Werkstätte erhält, ändert an der Rente gar nichts. Deshalh
kann dem von Rieh. H a r k u p auf dem Städtetag zu St. Pölten im Jahre
1S01 gemachten Vorschläge nicht zustimmen, daß die gewerblichen Zwecken
dienenden Qebäude und Werkstätten schlechthin nur mit dem halben Prozent-
satz der Gebäudesteuer belegt werden sollen. Dabei setze ich eine Gebäude-
steuer voraus, die nicht ilberwälzt werden kann.
Mir scheint unsere Gesetzgebung aber auch richtig hinsichtlich der
Art, wie sie die von den Eigentümern selbst benützten Wohnungen
mit ihrem Zugehör behandelt. Sie unterwirft dieselben der Zinssteuer in
jenen Orten, wo das Wohnen in Miete in umfassendem Malle stattfindet,
wo somit Wohnungen einen Markt und einen Marktpreis haben, so dafl sie
zu einem bestimmten Zinse leicht vermietet und leicht gemietet werden
können. Wer in einem solchen Orte im eigenen Hause wohnt, der genießt
in der Wohnung ein Äquivalent des ihm entgehenden Zinses, er könnte
da ebensogut aus seinem Hanse durch Vermietung eine Rente ziehen und
in einem fremden Hanse in Miete wohnen: er kann eine Wohnung nach
seinen persönlichen liedürfnissen wählen und ist nicht, wie es oft auf dem
Lande der Pall ist. auf eine bestimmte, ihm nicht passende Wohnung
angewiesen. Auch ist der Nutzwert einer selbst benützten Wohnung durch
Vergleichung mit den wirklich vermieteten leicht festzustellen. Der ganzen
ökonomischen Sachlage entspricht es. daß man in solchen Fällen den Genuß
der eigenen Wohnung einem Erträgnis des Hauses gleichstellt und dem-
entsprechend behandelt.
Ich kann deshalb der von mehreren Seiteu gestellten Forderung, es
möge die eigene Wohnung des Hausbesitzers niedriger oder gar nur mit
der Hälfte des fflr vermietete Wohnungen erzielten Zinses veranschlagt
werden, keineswegs beistimmen. Diese Begünstigung wird gefordert, um
den Besitzer fflr die Milbe der Verwaltung schadlos zu halten. Ich sehe
davon ab. daß sich viele Hausbesitzer eine solche .Schadloshaltung“ contra
legem ohnedies verschaffen und will anderseits zugeben, daß die Haus-
besitzer durch eine Reihe von Verwaltungsgesetzerl fflr öffentliche Zwecke
stark in Anspruch genommen und nahezu zu Organen der öffentlichen Ver-
waltung gemacht worden. Aber eine solche Art der Entschädigung würde
bei der großen Masse der Unbeteiligten gewiß weder ethisches noch
ästhetisches Gefallen erwecken und würde auch höchst ungerecht wirken.
Jener, der ein großes Zinshaus mit vielen kleinen Parteien besitzt, somit
die mühsamste Verwaltung zu besorgen hat, aber selbst in einem fremden
Hause in Miete wohnt, ginge vollständig leer ans, die Besitzer der größten
und schönsten Palais, denen die öffentliche Verwaltung fast gar keine
Pflichten auferiegt. würden dagegen glänzend begünstigt!
Als korrekt erkenne ich unsere Gesetzgebung auch darin, daß sie in
jenen Orten, wo die Mietwohnungen nicht flberwiegen, somit auch keine so
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Di*' Reform der 0«terr. Hanezinstteurr.
285
festen Preise haben, die Besteuerung der selbstbenützten Wohnungen nach
dem Zinse unterläßt und auf dieselben die Hausklassensteuer anwendet.
Dagegen scheint es mir nicht richtig, daß in den Orten mit Oberwie-
genden Vermietungen auch die nicht vermieteten Betriebs-
lokalitäten mit der Zinsstener belegt, sind. Da fehlt, nicht nur die
Rente, sondern auch ein Äquivalent derselben, man besteuert das Betriebs-
mittel, das Werkzeug der Erwerbstätigkeit. Dies ist theoretisch nicht
richtig und führt auch zu praktischen Unrichtigkeiten, denn der wirkliche Unter-
nehmungsertrag entspricht gar häufig nicht d m Umfange der Betriebsmittel.
Die Anomalie dieser Bestimmung zeigt sich aber auch klar bei ihrer
praktischen Anwendung. Mag man auch von Geschäftsläden. Kanzleien und
Handwerkstätten annehmen können, daß sie wie die Wohnungen. Marktpreise
haben, so gilt dies gewiß nicht von Fabriksgebäuden. Magazinen u. dgl.
Bei der sogenannten Parifikation ergeben sich da immer Verlegenheiten und
die Annahme irgend eines „Zinswertes* ist eigentlich immer ein Akt der
Willkür. Das trifl't noch mehr zu bei Theatergebäuden. Vergnüguugslokalitäten
u. dgl. Schon bei Gasthäusern und Hotels ist die Veranlagung sehr schwierig,
einfach weil die rationelle Grundlage für eine Schätzung, der Marktpreis fehlt.
Nach meiner Meinung sollten somit alle jene Gebäude und
Gebäudeteile, welche vom Hausbesitzer selbst nicht zu
A u f w a n d z w e c k e n, sondern in Ausübung irgend einer Er-
werbstätigkeit benützt werden, von der Besteuerung in
allen Orten freigelassen werden.
Der sich ergebende Ausfall am Steuereingang sollte in einem korrekten
Ertragsteuersystem dadurch wettgemacht werden, daß die Steuer von den
Erwerbsuntemehmungen entsprechend mehr trägt, was bei den der öffentlichen
Rechnungslegung unterliegenden Unternehmungen auch der Fall wäre. Da
nun aber unsere allgemeine Erwerbsteuer kontingentiert ist. würde ein großer
Teil dieses Ausfalles, der übrigens nach der bestehenden Statistik auch nicht
annähernd beziffert werden könnte, endgiltig verloren sein. Sollten einschlä-
gige Erhebungen einen gar zu empfindlichen Ausfall ergeben, dann könnte
man allenfalls für jene Arten von Geschäftslokalitäten, die in großer Zahl
gemietet zu werden pflegen, wie Verkaufsläden. Kanzleien u. dgl. einen
mäßigen Steuersatz zngestehen.
Ich glaube aber ein Mittel angeben zu können, durch welches ein
solcher Ausfall unter Wahrung des Prinzips vielleicht ganz gedeckt werden
könnte. Ich denke dabei an eine Erweiterung des Kreises jener
Objekte, die der Gebäudesteuer zu unterziehen sind.
Mit zahlreichen Mietwohnungen ist der Genuß eines Hausgartens
verbunden, sehr oft werden dem Mieter amli gewiße bewegliche Gegen-
stände zur Benützung überlassen. Nach den gegenwärtig geltenden Ver-
anlagungsgrundfätzen ist aber nur der reine üebäudemietzins als Besteuerungs-
grnndlage anzunehmen, für die Überlassung von Gärten und Fahrnissen darf
der Hauseigentümer deshalb eine entsprechende Quote seiner Gesamteinnahme
ahziehen. Dies wird nun vielfach dazu benützt, um den steuerpflichtigen
Zeit»«.' Drift für Volk* wirUchaft, gotlidfiolilik und VenvAltunf. XII. Bnnd. 20
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28fi
Myrhaeh-Rh^infetd.
Zins möglichst herabzudrücken und tatsächlich wird das Recht einer Garten-
benfltzung von den Mietern oft sehr hoch bewertet und gut bezahlt. Die
Hausgärten werfen deshalb einen weit größeren Ertrag ab, als den zur
Grnndsteuerhemessung eingeschätzten Katastralertrag, der überhaupt etwas
ganz FiktUes ist. Der Hausgarten liefert kein landwirtschaftliches Erträgnis,
er kommt in der Hegel Oberhaupt nur als Zugebör des Hauses in Betracht
und es wäre ganz gerechtfertigt, wenn man nebst der Bauarea und den
Hofräumen auch dieHausgärten von der Grundsteuerbefreien,
die wirklichen Einnahmen für mietweise Verwertung der-
selben aber der Hauszinssteuer unterziehen würde. Man
kann annehmen, daß die Hauseigentümer auch daun, wenn sie Fahrnisse
mitvermieten, davon einen gewißen Nutzen haben und wird deshalb keinen
Verstoß begehen, wenn mau auch diese Arten von Erträgnissen
in die Besteuerung ein bezieht. Jedenfalls würde aber ein Anlaß
zu übertriebenen Abzügen abgeschnitteu und ich meine, daß der Erfolg ein
überraschend günstiger vom Standpunkt der .Steuerverwaltung wäre. Zugleich
würde noch die Veranlagung vereinfacht und an Sicherheit gewinnen.
Natürlich empfehle ich diesen Vorgang nur unter der Voraussetzung
einer sehr ausgiebigen Reduktion des Steuersatzes.
* •
Ich komme nun zum zweiten und wichtigsten Punkte der Untersuchung
der Höhe der Steuer.
Betrachten wir zunächst die Ziffern der Steuersätze. Bekanntlich wird
von der Bruttozinseinnahme zunächst die sogenannte Erhaltungs- und Amor-
tisations<|iiote abgezogen: diese beträgt in den Orten der ursprünglichen
Hauszinssteuer 15 Proz., in den übrigen Orten 30 Proz.; vom restlichen
sogenannten reinen Zinsertrag wird die Steuer in den erstgenannten Orten,
dann in Innsbruck und Wüten mit 2ßVs Proz., in den übrigen Orten mit
20 Proz., in Tirol und Vorarlberg mit 15 Proz. bemessen.
Da die Abzugsrpiote mit den wirklichen Erhaltungs- und Verwaltungs-
kosten der Häuser in gar keinem Zusammenhänge steht, bildet sie mit ihrem
festen Satze nichts anderes, als eine Reduktion der Bruttoeinnahme als
Besteuerungsgrundlage; man wird die Sache richtiger beurteileu, wenn
man annimmt, daß die Bemessung von der Br u tto zinseinnahme erfolgt
und die Steuersätze nur 22*/, Proz., 14 Proz. lind I I)1/, Proz. betragen.
Davon ist jetzt der Nachlaß mit 121/. Proz. = ’/„ der Steuer abzurechnen.
Zu dieser an und für sich schon exorbitant hohen Steuer, die unter
den direkten Steuern in der Welt nicht ihres Gleichen hat. kommen nun noch
die Zuschläge oder Umlagen der verschiedenen Selbstverwaltuugskörper,
die von Land zu Land, von Bezirk zu Bezirk, von Gemeinde zu Gemeinde
äußerst verschieden sind. Bis vor kurzem konnte man sich gar keine Vor-
stellung machen, in welchem Maße die Bevölkerung durch die Kosten der
Selbstverwaltung belastet wird, denn die auch noch nicht lange erscheinen-
den Tabellen der k. k. statistischen Zentralkommission über die Finanzen der
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Di® Reform der örtert. Haufzinfstener.
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autonomen Verwaltung beschränkten sich rücksichtlieh der Bezirke und
Gemeinden auf die Angabe, in wie vielen dieser Körper Zuschläge Ton ge-
wisser Höhe eingefordert wnrdeu. Umsomehr mtlssen wir dem Finanz-
ministerium dafür dankbar sein, daß es in seinen .Mitteilungen* ein reiehes
ziffermäßiges Material publiziert. Die Ergebnisse dieser fleißigen Zusammen-
stellungen sind geradezu verblüffende, ich möchte sogar sagen erschreckende:
die Gesamtsumme (über 235-7 Mill. Kronen) der Zuschläge allein zu den
direkten Steuern überstieg im Jahre 1900 bereits die Vorschreibung an
den betreffenden Staatssteuern um nahezu 6 Proz.! Das beängstigende
dabei ist aber insbesondere das rapide Anwachsen dieser Zuschläge,
welche allein in den vier Jahren von 1897 bis 1900 um 13'5 Proz. seit dem
Jahre 1862 aber um 4192 Proz. gestiegen sind. Allein die Vorschreibung
an Zuschlägen zur Hauszinssteuer und zur 5 proz. Steuer von zeit-
lich steuerfreien Gebäuden, ist seit 1898 bis 1900 von ca. 66‘/s Mill. Kronen
auf nahezu 75 Mill. Kronen, also um 81/» Mill. Kronen gestiegen.
Das sind aber nur die Gesamtzahlen, im Einzelnen sieht es teilweise
noch viel schlimmer aus. Die Landeszuschläge zur Hauszins-
steuer bewegten sich 1900 von 17 bis 82 Proz.; in 11 Ländern wurden
über 40 Proz., in 8 Ländern 50 und mehl- Prozente eingehoben.
In jenen Ländern, wo D e z irk s v er t r e t u n ge n bestehen, werden
für deren Zwecke auch bis zu 50 und 60 Proz. an Umlagen eingehoben.
Besonders rasch steigen die Gemeindezuschläge zur Hauszinssteuer.
Es hoben ein:
1888 au Zuschlägen bis 20 Proz. : 11.779 Gemeinden,
, , über 20 Proz.: 10.600 Gemeinden, darunter
, . über 100 Proz.: 702 Gemeinden.
1900 . . bis 20 Proz.: 5.792 Gemeinden,
, . über 20 Proz.: 15.983 Gemeinden, darunter
. , über 100 Proz.: 1.183 Gemeinden.
Im letzteren Jahre gab es schon 4 Gemeinden mit über 800 Proz.,
worunter 2 mit über 1000 Proz.
Auch zur 5 proz. Steuer kommen schon Zuschläge bis über 300 Proz.
vor. Zudem weisen die „Mitteilungen* aber auch noch .Andere Konkurrenz-
beiträge* aus, die in 617 Gemeinden bis über 200 Proz. ausmacheu.
Die höchsten Umlageziffern kommen wohl hauptsächlich bei kleineren
Gemeinden vor: aber auch Städte, die der hohen Hauszinssteuer unterliegen,
haben zum Teil horrende Zuschlagsprozente, so
Salzburg im ganzen 138 Proz., dazu 5 Zinskreuzer;
Troppau , , 99-4 Proz., „6 .
Zara , „ 110 Proz.
Linz , , 91 Proz. und 2 — 7 Zinskreuzer.
lu Salzburg hat also der Hausbesitzer mit Berücksichtigung des
Nachlasses 51 Proz. seiuer B r u t to zinseinnahme an öffentlichen Abgaben zu
zahlen, ohne daß die den Mieter treffenden Zinskreuzer berücksichtigt sind.
20*
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Myrhnch-Rheinfeld.
Unter den größeren Städten hat außer Innsbruck und Triest Wien
die niedrigsten Zuschläge, nämlich 25 und 25 Proz., zu zahlen, so daß da
die Oesamtsteuer ohne Zinskreuzer per 8 V4 Prozi nach Herflcksichtignng des
Nachlasses 31 Proz.. also schon nahezu ein Drittel!
Betrachten wir nun die Gesamtleistung an öffentlichen Abgaben
von den grundsätzlich der Hauszinssteuer unterliegenden Gebäuden, so be-
trug dieselbe 1900:
an Hauszinssteuer nach Abrechnung des 12'/i proz. Nachlasses, dann
der Abschreibungen wegen Leersteh ung und Demolierung 62-8 Hill. Kronen
und an 5 Proz. Steuer von den zeitlich befreiten Gebäu-
den unter Berücksichtigung der Abschreibungen ... 5' 7 Will. Kronen
zusammen an Staatssteuer 68 5 Will. Kronen
ferner an Zuschlägen zu beiden Steuergattungen 74 0 Mill. Kronen
Gesamtsumme 143-4 Mill. Kronen
Das gibt, verglichen mit der Gesamtsumme der zur Steuerbemessung
ermittelten Bruttozinserträguisse von 524 2 Mill. Kronen eine Quote von
27-3 Proz. Also Über ein Viertel ihrer rohen Einnahmen müssen die Haus-
besitzer in ihrer Gesamtheit steuern. Würde die 5proz. Steuer in die Berechnung
nicht einbezogen, dann würde die Quote noch bedeutend höher ausfallen.
Damit sind aber die Lasten, welche die Hausbesitzer zu tragen haben,
noch keineswegs erschöpft. Ich sehe ah von den Zinskreuzern, welche die
Mieter tragen sollen, und die offenbar in der erwähnten Summe von 524 2 Mill.
nicht enthalten sind, ich sehe auch ah von den verschiedenen sonstigen Ver-
pflichtungen gegenüber den Gemeinden, die nicht in die Kategorie der Zu-
schläge gehören, ich muß aber einer empfindlichen Last gedenken, welche
die Personalsteuergesetzgcbung von 18116 den verschuldeten Hausbesitzei u,
deren es doch gewiß nicht wenige gibt, gebracht hat
Bekanntlich muß sich jeder Kealitätenbesitzer. der ein Hypothekar-
darlehen aufnimmt. vertragsmäßig verpflichten, dem Gläubiger alle jene
Steuern und Abgaben zu vergüten, welche letzterem von den Darlehenszinsen
vorgeschriebeu werden. Das hatte früher nur bei solchen Darlehen Bedeu-
tung, die auf steuerfreien Liegenschaften hypotheziert waren. Das Gesetz
von 1896 unterwirft aber der Rentensteuerptlicht auch jene Darlehens-
zinsen, die bereits beim Schuldner dadurch getroffen sind, daß sie von
der Besteuerungsgrundlage nicht abgezogen werden dürfen.
Der Schuldner muß also neben der Steuer vom vollen Bruttoertrag
seines Objektes auch noch die dem Gläubiger vorgeschriebene 2proz. Keuten-
steuer nebst allen Fondszuschlägen aus seinen Mitteln tragen, uud das
ist keine geringe Last. Ist die Nichtubzugsfahigkeit der Schuldzinsen im
Prinzip der Ertragsbesteuerung vollkommen begründet, so ist andererseits
die Einforderung einer Reutensteuer von denselben Zinsen beim Gläubiger
ein eklatanter Fall einer fehlerhaften Doppelbesteuerung.
Die größte Anomalie liegt aber darin, daß solcherweise der schuldende
Hausbesitzer oft einem Lande und einer Gemeinde tributär wird, mit welcher
er weiter absolut nichts zu tun hat, als daß doit, sein Gläubiger domiziliert
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I'it Kefomt der Osterr. Hauszinssteoer. 289
Die ganz enorme Belastung des Hausbesitzeg mit öffentlichen Abgaben
stebt somit außer aller Frage.
Eine Steuer uud ihre Wirkungen können erst dann richtig beurteilt
werden, wenn man darüber Klarheit erlange hat, wer sie trägt. Indem
wir uusere Hauszinssteuer aus diesem Gesichtspunkt prüfen, werden wir
auch erfahren, inwiefern sie überhaupt in Wirklichkeit eine Ertrags-
steuer ist
Die zahlreichen Emanationen der Hausherrenvereine weisen allerdings
auch auf die Verteuerung der Mietobjekte durch die Steuer hin, sie
schildern die Sache aber doch so, als ob die Hausbesitzer diejenigen
wären, welche unter ihrer Last hauptsächlich leiden. Man möge es mir
nicht verübeln, wenn ich mir erlaube, die vom Standpunkt der Haus-
besitzer vorgebrachten Klagen, meiner Oberzeugung gemäß, als übertrieben
zu bezeichnen.
Ich habe sch in zugestanden, daß die Hausbesitzer durch verschiedene
Vernaltungseinrichtnngen sehr stark und in unangenehmerWeise in Anspruch
genommen sind, es steht auch außer Zweifel, daß sie eine sehr schwere
Steuerlast zu tragen haben, das letztere Schicksal teilen sie aber mit allen
Bürgern des österreichischen Staates. Was ich leugne ist, daß der Haus-
besitzer wesentlich mehr belastet ist, als die Angehörigen der übrigen
crwerbeuden Klassen. Er ist es deshalb nicht, weil er nicht höher belastet
sein kann.
Es gibt ein sog. Gesetz in der Volkswirtschaft, das als jenes der
Gewinnausgleichu ug zu bezeichnen ist und welches überall seine
Wirkung äußert, wo eine Konkurrenz stattfinden kann. Nun ist es zweifel-
los, daß das Kapital, welches rentenmäßige Anlage sucht, hei den ver-
schiedenen Anlagearten konkurriert, so daß dorthin, wo gute Erträgnisse
winken, viel Kapital zufließt und die Erträgnisse lierahdrückt, dagegen kein
Zufluß, wo möglich ein Abströmeu. von jenen Anlagearten stattfindet, wo die
Erträgnisse klein sind, so daß da wieder ein Steigen der Erträgnisse
eintreten muß. Wie der börsenmäßige Eftektenverkehr bewirkt, daß in
einem bestimmten Moment alle Effekten, welche gleich sichere Anlage
bieten, auch einen gleichen prozentuellen Gewinn bringen, so verhält es
sich im großen auf dem allgemeinen Kapitalsmarkt, das Erträgnis aller
Anlagen von gleicher Sicherheit muß sich beiläufig auf ein gleichmäßiges
Niveau stellen. Das muß auch von den Hauserträgnisseu gelten, denu die
Miethäuser bilden eine rein rentenmäßige Anlage von Kapital.
Es wird nun behauptet, daß Häuser sich nur mit 2 — 3 Proz. ver-
zinsen und daß infolge der hohen Besteuerung die Bautätigkeit gänzlich
stagniere. Das letztere müßte auch die unausbleibliche Folge seiu, wenn
das in Gebäuden angelegte Kapital sich schlechter verzinsen würde als das
sonstig angelegte nnd die Stagnation müßte solange dauern, bis das Miß-
verhältnis ausgeglichen ist.
Betrachten wir nun, was für eine Bewandtnis es mit diesen beiden
Argumenten hat.
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M/rbarli-KheiiifelH.
Die gleiche Klage Aber geringe Verzinsung hört man auch immer
von den Besitzen! landwirtschaftlicher Güter. Es würde somit der unbeweg-
liche Besitz überhaupt die gleichen niedrigen Erträgnisse abwerfeu. Es ist
nun unmöglich festzustellen, wie groß die wirklichen Erträgnisse aus diesen
Anlagen sind, beziehungsweise nach welchen Grundsätzen dieselben von
den Besitzern ermittelt werden. Kommt es doch z. B. oft vor, daß Land-
wirte das, was sie im eigenen Haushalt verzehren, gar nicht zum Erträgnis
rechnen. In vereinzelten Fällen weiß man, daß Zinshäuser 5 und 6 I’roz.
Reinertrag abwerfen. Das würde aber allerdings für die Gesamtlage nichts
beweisen.
Man muß aber fragen: welche Verzinsung erwarten die Kapitalisten
von Zinshäusern? Da hört man eben auch wieder: ja Häuser tragen nicht
mehr als 3 Proz., man kann nicht mehr erwarten; und darnach werden sie
vielfach zu Kapital bewertet. Ein Beispiel für viele: In der nächsten Nähe
meiner Wohnung befindet sich ein Haus, das noch 6 Jahre steuerfrei sein
dürfte und bei ziemlich hoch gespannten Zinsen 4000 Kronen Brattozins ein-
trägt. Unter Berücksichtigung der Erhaltungskosten und der Abgaben berechne
ich den Reinertrag nach Eintritt der vollen Steuerpflicht mit etwas über
2600 Kronen, die vorläufige Steuerersparnis mit ca. 4300 Kronen und so gelange
ich bei Zugrundelegung einer 4 proz. Verzinsung zu einem Kapitalswert
von etwas über 70.000 Kronen. Den jetzigen Eigentümer hat das Haus nicht
so viel gekostet, so daß er eine mehr als 4 proz. Verzinsung hatte. Nun
werden für dieses Haus bis zu 90.000 Kronen geboten, d. h. dem Käufer wird
das Haus nur 3-1 Proz. tragen! Wer ist nun schuld an der niedrigen
Verzinsung? Doch niemand anderer als der Käufer, der dafür ein so
großes Kapital aufwendet. Dieser Fall steht nun keineswegs vereinzelt da.
er entspricht nur dem allgemeinen Zuge, der dahin geht, rententragende
Immobilien hoch zu schätzen. Man haut und man kauft Häuser mit einem
solchen Aufwande an Mitteln, daß das Erträgnis perzentuell nur ein kleines
sein kann. Gewiß ist aber der weitaus größte Teil der zinstragenden
Häuser seit jener Zeit, wo die hohe Hauszinssteuer besteht, gebaut worden
oder im Kaufwege in andern Besitz übergegangen. Die Mehrzahl der
Hausbesitzer trägt somit die Schuld an der niedrigen Verzinsung, denn die
Erträgnisse (Mietzinsei sind absolut genommen, stetig gestiegen; relativ
sind sie gesunken, weil die nutzbringenden Objekte eine progressiv steigende
Bewertung erfahren haben.
Diese hohe Bewertung erklärt Bich zum größten Teil aus dem Gefühl
größerer Sicherheit der Anlage und aus der noch immer bestehenden höheren
gesellschaftlichen Achtung, die dem Besitzer von Grand und Boden ent-
gegengebracht wird. Der Erwerbung von Immobilien wendet sich aus diesen
Gründen sehr viel Kapital unter Verzicht auf die sonst erhältlichen höheren
Zinsen zu: man baut und kauft nun fast allgemein auf Grundlage der
niederen Verzinsung. Wen dazu nicht eigene Überlegung veranlaßt, der
folgt dem Nachahmungstrieb, diesem wichtigen Faktor im wirtschaftlichen
Leben.
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Die Reform der österr. Hauezin »Steuer.
2'J1
Würde die erreichbare Verzinsung als unzureichend befunden, dann
müßte die Erwerbung bestehender, besonders aber die Erbauung ueuer
Häuser unterbleiben. Ist es nun wahr, daß nicht gebaut wird!- In dieser
Beziehung kann ich Ziffern sprechen lassen.
Die Gesamtzahl der zinssteuerpflichtigen Häuser im
ganzen Keiche hat sich in der kurzen Zeit von 1895 bis 1900 ver-
mehrt von 535.865 auf 576.559, also um 10.694 oder zirka 7 Proz.
Von diesem Zuwachs entfallen aber alleiu auf die der 36*/, Proz. Steuer
unterliegenden Städte und Orte 11.833 Gebäude oder 18-81 Proz.
Daß die Bautätigkeit in jenen Orten, wo die Bedingungen dazu vor-
handen sind, nicht nur nicht stagniert, sondern vielmehr eine sehr lebhafte
ist, geht auch aus den Daten der einzelnen Orte hervor, aus welchen ich
nur einige wenige hervorheben will. In dem Dezennium von 1890 bis 1900
vermehrte sich die Zahl der bewohnten Häuser:
in Wien um 8826. d. i. 13-47 Proz.,
in Wiener-Neustadt um 23-15 Proz.,
im ganzen Bezirke Baden um 16-56 Proz.,
in Linz um 15-94 Proz.,
in Salzburg um 25-26 Proz.,
in Graz um 15 69 Proz..
in Marburg um 21 Proz.,
in Klagenfurt um 13-33 Proz..
in Laibach um 19 36 Proz.,
in Bräun um 14'38 Proz.,
in Troppau um 13-66 Proz.,
in Bielitz um 15 Proz.,
in Czernowitz um 18-3 Proz.,
in Krakau um 26-96 Proz.,
in Lemberg gar um 31-82 Proz.
Dabei ist aber noch zu berücksichtigen, daß die alten städtischen
Territorien zum Teil schon ganz verbaut sind und sich somit die Bautätig-
keit in den benachbarten Gemeinden entfaltet. So hatte die Stadt
Prag nur einen Zuwachs von 374 Häusern oder 9'12 Proz., mit Hinzu-
rechnung der Vororte aber einen Zuwachs von 2910 Häusern oder 19 4 Proz.,
wozu Zizkow allein mit 57 Proz. beitrug: die Stadt Brünn nebst dem ganzen
Gerichtsbezirk hatte einen Zuwachs von 21 '24 Proz. ßeichenberg mit
seinem Gerichtsbezirk hatte einen Zuwachs von 8 88 Proz.. was ich deshalb
besonders erwähne, weil der dortige Hausherrnverein das gänzliche Versiegen
der Bautätigkeit in Nordbölimen stark betonte.
Kiicksichtlich Tirols stehen mir noch lehrreichere Daten zur Ver-
fügung.
In Innsbruck und Wilten, welche rücksichtlich der Besiedlung
zusainmengefalit werden müssen, hat sich seit dem Jahre nach der Ein-
führung der Gebäudesteuer, d. i. seit 1883. bis 1902 die Zahl der Steuer
pflichtigen Häuser von 946 auf 1798 erhobt, also in diesen 19 Jahren um
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Mjrrba. b ßhcinfeld.
circa 90 Proz. zugenomuien. In Meran und Untermal« stieg sie von 155
auf 860. Das auffallendste Verhältnis finde ich in Vorarlberg, wo die
Zahl aller zinssteuerpflicbtigen Häuser des ganzen Landes in derselben
Epoche um 55'63 Proz. gestiegen ist
Aber auch in den Industriegebieten Böhmens weisen die ganzeu poli-
tischen Bezirke Zuwächse von 7 — 10 Proz. in den zehn Jahren von 1890
bis 1900 auf.
Ein treues Bild der baulichen Entwicklung geben aber auch diese
Zahlen noch nicht, denn die neu hinzukommenden Häuser sind ja, wenigstens
in den größeren Orten, meist viel umfangreicher als jene des alten Bestandes
und auch die Umbauten lassen gewöhnlich viel größere Häuser entstehen,
als die demolierten waren. Und wie oft wird an Stelle mehrerer kleiner
niedergerissener Häuschen ein großer Zinspalast aufgeffihrt! Würde man
diese Umstände statistisch erfassen, dann würde es noch viel klarer zu
Tage treten, daß trotz der enormen Steuerlast überall dort, wo Aufschwung
besteht, auch die Bautätigkeit eine ganz bedeutende ist.
Ich frage nun, oh so viel gebaut werden würde, wenn die Erbauer
der Häuser wirklich nur eine so kümmerliche Kente von dem auzulegenden
Kapital erwarten dürften? Und dabei darf auch nicht übersehen werden,
daß die Neubauten fast durchwegs mit steigendem Komfort, ja Luxus aus-
gestattet sind, was die Baukosten ganz namhaft erhöht.
Man darf ja wohl annehmen, daß Einzelne sich durch die zeitliche
sogenannte Steuerbefreiung irreführen lassen, aber es kann doch eben nur
Einzelnen zugemutet werden, daß sie so schlechte Rechner sind. Wird doch
anderseits behauptet, daß, z. B. in Lemberg zahlreiche Häuser so gebaut
werden, daß sie gerade nur die Periode der Steuerfreiheit überdauern und
sich in dieser Zeit vollständig bezahlt machen.
Ich halte mich also für berechtigt zu der Schlußfolgerung, daß das
in Häuseru angelegte Kapital jene Verzinsung finden
muß, die man überhaupt von der Anlage in Immobilien
erwartet und diese kann nicht sehr viel niedriger sein, als die bei
anders gearteter Kapitalsanlage erzielbare Kente.
Das hat aber zur Voraussetzung, daß die Hausbesitzer von den Haus-
renteu auch keine namhaft höhere Abgaben zu tragen haben, als jene
Kapitalisten, die andere Kenten beziehen.
Da nun die nominelle tiebäudesteuer ganz bedeutend höher ist, als
die sonstigen, die Kenten belastenden Steuern, so müssen die Hausbesitzer
für den Überschuß schadlos gehalton werden in höheren Mietzinseinnahmen,
mit anderen Worten: dieser ganze Überschuß an Steuer samt Umlagen wird
auf die Mieter überwälzt.
Es ist aber keine einfache Überwälzung, denn bei unserer Steuer,
die nach dem Preise der Ware, d. i. nach den Mietobjekten bemessen wird,
kommt hinzu, daß jede Überwälzung der Steuer wieder zu einer Erhöhung
der letzteren führt, daß diese Erhöhung wieder eine Überwälzung, d. h.
Erhöhung der Mietzinse veranlaßt und so fort ad infinitum.
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hie Reform der foterr. Hau&rinssteuer.
SäiW
Wie grüß die Quote der Steuer ist, welche der Hausbesitzer zu tragen
hat, wie viel somit auf die Mieter überwälzt wird, das ist bei unserem jetzt
so komplizierten Ertragsteuersystem unmöglich mit Sicherheit anzugeben.
Dieses System umfaßt so vielerlei Steuersätze, die zum Teil nicht einmal
in einem bestimmten Verhältnis zum Erträgnis ausgedrückt sind, daß mau
uicht sagen kann, von Vermögensnutzungen sei im allgemeinen diese oder
jene Quote an den Staat und an die Selbstverwaltungskörper abzugeben.
Wenn man demnach gezwungen ist. eine Berechnung aufznstellen, ist man
also auf eine, ich möchte sagen, geföhlsmäßige Annahme angewiesen.
Ich kann mir aber bei dem folgenden ohne eiue, wenn auch nur ganz
rohe Berechnung nicht helielfen und will zu diesem Zweck eine Quote
annehmen, die mir auch eine ziemlich geeignete Grundlage für die anzu-
bahuende liefern) zu geben scheint Ich gehe also davon aus, daß die
Hausbesitzer von ihren Haus reuten 5 Proz. an den Staat und eben
so viel an die Selbstverwaltungskörper abzugeben haben, der Rest über diese
10 Proz. ist dann als Qberwälzt anzusehen, d. h. um ihn sind die Miet-
zinse höher, als wenn die Steuer samt Zuschlägen auf die erwähnten
10 Proz. beschränkt sein würde.
Ich will zuerst ein Haus in Wien als Beispiel wählen.
Von einer Bruttozinseinnahme per 1000
sind zu zahlen an den Staat 226*67
weniger den 12'/,proz. Nachlaß 28*33
die Zuschläge betragen 88*40
zusammen an Abgaben 286*74
Die Erhaltungs- und Verwaltungskosteu nehme ich an mit . . 150* —
Es verbleibt somit eine reine Rente von 563*26
Will ich nun berechnen, wie groß die Bruttoeinnahme, also die
Summe der Mietzinse bei gleicher Hausrente und ungeänderten Erhaltungs-
kosten sein würde, wenn die Abgaben nur 10 Proz. der Bruttoeinnahme
betragen würden, dann erhalte ich folgenden Ansatz, wobei ich das Erfordernis
an Bruttozins mit x bezeichne:
x = 563 + 150 +
10 i
100
90 x = 71.300 = x = 792
Nur diesen Zins hätten somit die Mieter zu zahlen.
Sie zahlen somit tatsächlich inehr um 203 pro Mille, das ist ein
Fünftel.
Viel größer gestaltet sich diese überwälzte Quote in jenen
Orten der ersten Kategorie, welche höhere Zuschläge haben, sic kann auf
die Hälfte und höher steigen, ja sich verdoppeln (wie es für Salzburg
zutrifft) und selbst vervielfachen.
Ich will nun auf derselben Grundlage berechnen, um wie viel die
gesamten Mietzinse im ganzen Reich durch die Hauszinssteuer
mit Zugehör verteuert werden und ziehe dabei auch die sogenannten zeit-
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Mjrrbach* Rheinfeld.
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lieh steuerfreien Häuser in Betracht, wodurch das Ergebnis namhaft lierab-
gedrflekt wird.
Die ganze richtiggestellte Bemessungsgrundlage, also die Gesamt-
summe der Zinse betrug im Jahre 1900 524-2 Mill. Kronen
die gesamte Hauszinssteuer nach Abrechnung der Nach-
lässe und Abschreibungen einschlieOlich der 5proz. Steuer (>8'5 Mill. Kronen
die sämtlicher Zuschläge 74'9 Mill. Kronen
Die wirklich bestrittenen Kosten nehme ich an mit 80 Mill. Kronen
Somit bleibt an Hausrente 000 8 Mill. Kronen.
Bei blot! lOproz. Besteuerung erhalte ich:
10 x
x — 3008 -f 80 + j())( = 423’ 1 Mill. Kronen.
Die durch die Steuer Aber 10 Proz. verursachte Belastung beläuft
sich somit auf rund 100 Mill. Kronen
daran partizipiert der Staat mit 47-7 Mill. Kronen
und die Selbstverwaltungskörper mit 523 Mill. Kronen.
Eine Bestätigung dieser Wirkung der Hauszinssteuer sehe ich auch
in dem Umstande, dali in Tirol und Vorarlberg, wo, wie erwähnt, die
Gebäudesteuer erst im Jahre 1882 eingeföhrt worden ist, die Höhe der
Mietzinse sich in viel stärkerem Verhältnis erhöht hat. als die Zahl der
steuerpflichtigen Gebäude.
ln Innsbruck samt Wüten stieg von 1883 auf 1902 die
Häuserzahl um 90 Proz., die Mietzinse um 151 Proz.;
in Meran und Untermais die Häuser um 91 Proz., die Zinse
um 194 Proz,;
in Kufstein die Häuser um 24 Proz., die Zinse um 149 Proz.;
iu Kiva die Häuser um 19 Proz., die Zinse um 44 Proz.;
in ganz Tirol die Häuser um 39 Proz.. die Ziuse um 123 Proz.;
in ganz Vorarlberg die Häuser um 55*/, Proz., die Zinse um
114 Proz.
Dali die Mietzinse rascher steigen als die Zahl der Häuser ist aller-
dings eiue fast allgemeine Erscheinung, von der Wien eine Ausnahme macht.
Aber es zeigt sich da ein eigentümliches Verhältnis.
Im ganzen Bei che haben sich von 1895 auf 1900 die steuer-
pflichtigen Häuser vermehrt um 7-6 Proz., die Zinse um 191 Proz.
Diese verhältnisuiäliige Steigerung betrifft aber nur zum kleineu Teile
die grollen Orte, denn in jenen, welche der 26*/»proz. Steuer unterliegen.
ist die Zahl der Häuser gestiegen um 18-8 Proz.
die Summe der Mietzinse aber nur um 19-6 Proz.
Dagegen wuchs in den ganz liausiinssteuerpflicbtigen Orten
mit 20proz. Steuer die Zahl der Häuser um 0-07 Proz.
die Summe der Zinse um 16-4 Proz.
und iu den übrigen Orten die Zahl der Häuser um .... 0'14 Proz.
die Summe der Mietzinse um 24 21 Proz.
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I*ie Reform >lttr öiterr. Iiiuszin*»teiu-r.
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Wir fitideu somit eine sehr starke relative Steigerung der Zinse haupt-
sächlich in den kleinsten Orten. Ich glaube, daß sich hierin die Wirkung
der gerade in diesen Orten so rapid zunehmenden Gemeindezuschläge
erkennen läßt. Keine dieser Zifferngruppen zeigt uns aber eine so starke
relative Zunahme der Zinse wie jene der Länder, wo die Steuer neu eiu-
geführt wurde.
Hei all dem ist die weitere Belastung der Mietobjekte durch die
„Zinskreuzer' noch gar nicht berücksichtigt.
Richard Harkup schätzte in seinem Referate auf dem St. Pöltener
Städtetage von 1901 die Verteuerung der Wohnungen auf 70 — 90 Proz.
Dies trifft fßr einzelne Orte mit besonders hohen Umlagen gewiß zu. über-
schreitet aber sicher weitaus den Durchschnitt.
Ich glaube aber, daß eine durchschnittliche Verteuerung
aller Wohnungen der in Miete wohnenden Bevölkerung
um ein Fünftel schon genügenden Anlaß gibt, um gegen
eine Steuer, welche eine solche Wirkung übt, mit allem
Nachdruck aufzutreten.
Die Hauszinssteuer mit ihrem ganzen Anhänge von Zuschlägen ist
zweifellos zum weitaus überwiegenden Teile eine Wohn st euer, zum
kleinen Teile nur eine Ertragsteuer von den Hausrenten.
Das Schlimme daran ist nicht die Tatsache an sich, daß der Wohnungs-
aufwand zum Gegenstände der Besteuerung gemacht wird. Der Wohnungs-
aufwand kann von einer gewissen Hfihe an die gesamte Leistungsfähigkeit
des Wirtschaftsobjektes klarer zum Ausdruck bringen, als die meisten anderen
Aufwandzweige und eine nach demselben bemessene Steuer kann vielleicht
richtiger wirken, als eine mittelmäßig veranlagt« Einkommensteuer. Ich
halte die Besteuerung nach Maßgabe des Wohmingsaufwundes geradezu für
eine den besten möglichen Steuern, wenn sie auch, wie jede, ihre Schwä-
chen hat.
Was aber hei unserer Steuer das geradezu verderbliche ist, das ist
der traurige Umstand, daß sie wahllos und in drückendster Höhe de»
ganzen Bevölkerungen auferlegt ist. Sie belastet ein absolut notwendiges
Lebenserfordemis auch dort, wo nur der äußerste Notbedarf gedeckt werden
kann und drängt solche, die vermöge ihrer Mittel sonst noch gerade
menschenwürdig und gesund wohnen könnten, in die traurigsten Wohuvei-
hältnisse.
Die Wohnungsfrage bildet heute den Gegenstand so vielfacher
Untersuchungen und Erörterungen, daß es gänzlich überflüssig wäre, sie
mit einer Schilderung der unendlich traurigen Erscheinungen, welche unzu-
längliche Wohnungen bei den unbemittelten Volksschichten herbeiführen,
aufzuhalten. Die Wohnuugsfürsorge ist ja allseitig als eine der dringendsten
Aufgaben moderner Sozialpolitik anerkannt Anderwärts wetteifern alle öffent-
lichen Faktoren und die private Wohlfahrtspflege, um die an und für sich
schon viel besseren Wohnverhältnisse zu verbessern und auch in Österreich
greift eine dahin gerichtete Bewegung nnter der kräftigen Führung ihres
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Mvrbach- Rheinfeld.
verehrten Vorstandes un. sich. Aber was soll diese Bewegung für Erfolge
haben, wenn die öffentlichen Gewalten das meiste dazu beitragen, um die
Wohnungsverhältnisse recht, recht sclilecht zu gestalten?
Bei dem Bestände der jetzigen Verhältnisse ist das äußerste, was un
sozialer Hilfe geleistet werden kann, die vorübergehende Hinwegräumung
unseres Hauptübels, der Gebäudesteuer.
.Zeitliche Steuerbefreiung,“ also Herstellung jenes Zustandes, der
sonst ohnedies besteht und bei dem die sozialpolitische Tätigkeit erst ein-
zusetzen beginnt! Das kennzeichnet am besten diese unglückliche Steuer,
daß man an eine V e r w a 1 1 u u g s e i n r i c h t u n g z u er s t die Axt anzu-
legen hat, wenn mau Notleidenden Hilfe bringen will. Und wenn es geschieht,
wie schwachmütig geht man an das Werk! Für eine beschränkte Zeit, für
einen eng begrenzten Berufskreis oder für ein eng begrenztes Territorium
und unter drückenden, beengenden Bedingungen wird die Begünstigung
gewährt ; während die allgemein geltende zeitliche Befreiung oder
richtiger Ermäßigung, eine verfehlte Maßregel ist, die nur geeignet ist, den
Häuser- und Wohnungsmarkt zu beirren und ungesunde Spekulationen zu
fördern.
Ich glaube kaum, mich einer Übertreibung schuldig zu machen, wenn
ich behaupte; die dringendste sozialpolitische Aufgabe in
Österreich ist die Ile form der Hauszinssteuer im Sinne
einer gründlichen Heduktiou der Steuersätze, nebst einer
nicht minder durchgreifenden Regelung der Zuschläge
zu dieser Steuer.
Leider hat man schon viel zu lange damit gezögert und jedeB Jahr
weiter erschwert die Durchführung.
Ich komme nun zur Frage, w i e die Reform durehzuführen sei.
Die mir bekannt gewordenen, von anderer Seite berrfihrenden Vor-
schläge laufen soweit es sich um die Höhe der Steuer handelt, sämtlich
darauf hinaus, daß die Hauszinssteuer unter Beseitigung der Verschiedenheit
nach Ürtskategorien, einfach auf einen entsprechend niedrigen Satz reduziert
werde. Meist wurde der Steuersatz von 5 Proz. genannt, den ich ohne weiters
als angemessen annehmen will. Da man aber wußte, daß die Finanzverwaltung
ohne einen einigermaßen genügenden Ersatz auf eine solche Einnahmenver-
niiuderung niemals eingeheu würde, schlug man als Deckungsmittel für den
Ausfall eine Erhöhung der Personaleinkommensteuer jener Personen, deren
Einkommen 96.000 Kronen übersteigt, vor.
Leider haben die Proponenten, wie ich annehmen muß, seinerzeit ver-
gessen, den Reclieustift in die Hand zu nehmen. Sie haben sich weder
darüber Rechenschaft gegeben, wie groß der Ausfall sein würde, noch was
die Einkommensteuererhöhuug einbringe» könnte.
Nach meiner früheren, wenn auch ziemlich rohen Berechnung, betrüge
der Ausfall für den Staat bei -18 Mill. Kronen, während anderseits die Ein-
kommensteuer von allen schon 80.000 Kronen übersteigenden Einkommen nur
rund 11% Mill. Kronen ausmachte. Würde man also die Einkommensteuer
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Pie Reform der Raterr. HanstinMtoner.
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dieser Klassen selbst verdoppeln können. dann wäre erst der vierte Teil
des Ausfalles gedeckt. Um die ganze entgehende Summe hereinzubringen,
mußten jedenfalls gewaltige Einnahmequellen eröffnet werden, die nicht nur
die Reichsten, sondern die ganzen Bevölkerungen in Mitleidenschaft ziehen
mußten.
Dabei ist es den Proponenten entgangen, daß an der Hauszinssteuer
Fondszuschläge hängen, welche eine noch höhere Summe ansmachen
als die Staatssteuer!
Da sich nun der 5 Proz. Obersteigende Betrag an staatlicher Hauszins-
steuer nicht einfach streichen läßt, wurde ein anderer, höchst beachtungs-
werter Vorschlag zur Ermöglichung der Reduktion gemacht, und zwar
vom Ingenieur R i c h a rd Harkup in dem schon erwähnten St. Pöltener
Städtetag. dann vom Reichsratsabgeordneten Glöckner in den nordböh-
mischen Hausbesitzervereinen, ein Vorschlag, den neuestens auch der Zentral-
verband der Wiener Hansbesitzervereine angenommen hat und seinen Aktionen
zu Grunde legt.
Nach diesem Vorschläge soll die Deckung des Ausfalles in der
Hauszinssteuer selbst gefunden werden beziehungsweise in ihrem
natürlichen Zuwachs. .Der gegenwärtige Ertrag der Hauszinssteuer soll
kontingentiert werden und der Steuersatz soll in dem Maße, als im Laufe
der folgenden .Jahre der Ertrag dieser Steuer wächst, solange herabgesetzt
werden, bis der Steuersatz von 5 Proz. erreicht ist.* Das ist der Hauptpunkt
des jetzigen Programms. Es wurde angenommen, daß dieses Ziel in 18
bis 25 Jahren erreichbar sei. Die Zuschläge werden auch in diesem
Programm außer Betracht gelassen.
Gegen die einfache Reduktion des Steuersatzes habe ich nun das ge-
wichtige Bedenken, daß ihr Erfolg in der Hauptsache gar nicht jenen zu-
gute käme, um derentwillen mir die Reform so unbedingt notwendig er-
scheint. nämlich den Mietern der kleineren Wohnungen, sondern ganz anderen
tauten, und daß dieses Ergebnis um so sicherer im Falle der Kontingentie-
rung eintreten wflrde.
Mit der Wirkung einer sofortigen Herabsetzung der ganzen Steuer
auf 5 Proz. brauche ich mich gar nicht zu befassen, da dieser Vorschlag
keinerlei Aussicht auf Verwirklichung hat. Das Kontingontierungsprojekt
dagegen kommt praktisch in Betracht, ich will daher nur dieses mit Be-
ziehung auf die Preisbildungen untersuchen.
Reduktion der Steuer bedeutet zunächst: Erhöhung des
Erträgnisses des Steuerpflichtigen, also in diesem Falle, Zuwendung
eines Gewinnes an die sämtlichen Besitzer steuerpflichtiger Häuser.
Wer einen solchen Gewinn macht, der ist nicht sofort bereit, ihn
einem anderen abzutreten, er trachtet ihn fflr sich zu behalten. Nur ge-
zwungen gibt er ihn ah. In unserem Falle sollen nun die Hauseigentümer
durch die Konkurrenz gezwungen werden, mit ihren Ziosforderungen
herahzugehen, so daß der Steuernachlaß den Mietern zu gute käme. Die
Konkurrenz soll aber durch die Steigerung der Hau sren ten ange-
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Myrbftch-Rheinfelrt.
2<tR
lockt worden Also namhafte Vermehrung und Erweiterung der verfügbaren
Wohnungon bei billigeren Zinsen, alles was man wünschen kann, würde die
Wirkung sein und die Rente der Hausbesitzer würde auf ihr jetziges Maß
wieder herabgedrückt, sie hätten also keinen Gewinn davon.
Wir haben aber gerade in der letzteren Zeit Erfahrungen mit
der Herabsetzung von Stenern und deren Wirkungen gemacht.
Der ZeitungsBteuipel wurde ganz aufgehoben, bei der Grund-, Ge-
bäude- und Erwerbsteuer wurden Nachlässe gewährt. Und der
Erfolg? Die Zeitungen kosten mit wenigen Ausnahmen das gleiche wie
früher, die Lebensmittel. Industrieartikel und Wohnungen sind teurer ge-
worden. Vielleicht wird auf die Preise der Zeitungen noch ein Druck
durch die Konkurrenz geübt werden, der Preis der Nahrungsmittel und
Handwerkserzengnisse bildet sich unter dem Einflüsse des Weltmarktes,
ich will daher diese Dinge nicht weiter berühren. Aber bei den Preisen der
Wohnungen hätte sich ein lß'/sProz. Steuernachlaß unbedingt bemerkbar
machen müssen, wenn die hergebrachten Preistheorien auch nur einigermaßen
Geltung haben sollen.
Die Hausherren behaupten nun, der Nachlaß sei , minimal- gewesen
und durch neue Lasten, besonders die Einkommensteuer, absorbiert worden.
Das .Minimal“ kann ich nicht gelten lassen, ein Achtel einer so hohen
Steuer ist schon etwas ansehnliches, es macht über 2’8 Proz. des
Bruttozinses und ft1/» Proz. des sogenannten steuerbaren Zinses
und soviel wird die Einkommensteuer (die übrigens mit den Zinsen gar
nicht« gemein haben sollte i auch nicht bei den meisten Hausbesitzern be-
tragen haben.
Viel minimaler würde die jährliche Abnahme der Steuer bei Anwen-
dung des Kontingentierungssystems ausfallen und es ist nicht abzusehen,
wann sich dann der Moment einstellen würde, in welchem die Hausbesitzer
sich veranlaßt sehen würden, die Zinsforderungen herabzusetzen.
Die neu zu schaffende Konkurrenz würde sich auch nur sehr
langsam geltend machen und wenig energisch einsetzen. Dagegen
würde um so sicherer eine Eskomptierung des allmählich zunehmenden
Mehrertrages aus Häusern von Seite jener erfolgen, die zur Verbauung
geeignete Gründe bcsitzeu und diese Steigerung der Grün d-
p rei s e würde sich auch auf die schon verbauten Flächen erstrecken.
Wenn auch die eigentlichen Baukosten kaum eine namhafte Erhöhung aus
diesem Anlasse finden würden, so würde doch schon die Verteuerung der
Baugründe ausreichen, um eine kräftige Konkurrenz durch Neubauten zu
verhindern. Mit einem Worte: den Gewinn aus der Steuerherab-
setzung würden die Besitzer von Baugründen machen,
natürlich mit Einschluß jener, die schon überbaute Gründe besitzen.
Dafür daß eine Steigerung der Grundpreise in einem solchen Maße
statttinden kann, um die ßaulust wesentlich zu hemmen, werden sich wohl
in allen aufstrebenden Gemeinwesen Beispiele finden. Ich will nur anführen,
daß zu Anfang der 1880er Jahre von Spekulauten ausgedehnte Wiesengründe
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Pi* Reform 4er ö*t«rr. Haanni»*stv'n<kr-
200
und Äcker in der Gemeinde Wilteu hei Innsbruck um SO— 40 Kreuzer
pro angekauft wurden, deren wenige verfügbare Reste jetzt nicht unter
SO Gulden für die Klafter zu haben sind.
Wenn aber auch eine belangreiche Konkurrenz durch Neubauten
entstehen sollte, könnt« sich ihre Wirkung nur auf die an den Peripherien
gelegenen Gebäude erstrecken. Das würde aber den Preis der zentral oder
an den Hauptverkehrsadern gelegenen Wohnungen und Geschäftslokalitäten
sehr wenig berühren, denn diese haben ihren eigenen Markt, ihre eigenen
Abnehmer, die mindestens in den einigermaßen größeren Städten für das
peripherische Angebot gar nicht in Betracht kommen. Die Besitzer der
Häuser in verkehrsreicher Lage haben ein Monopol, das sich ganz gewaltig
ansnützen läßt.
Auch den ungeheuren Einfluß, welchen das Trägheitsmoment im wirt-
schaftlichen Lehen, speziell die Gewohnheit, hei den Preisphänomen übt,
darf man ja nicht übersehen. Der eine ist gewöhnt, so und so viel zu neh-
men, der andere, ebensoviel zu zahlen, und da müssen ganz besondere
Ereignisse eintreten. damit der eiue und der andere von seiner Gewohnheit
abweicht. Auch ist der Wohnungswechsel und gar der eines Geschäftslokales
keine bequeme und billige Sache. All dies würde die Tendenz nach Fest-
haltung der herkömmlichen Preise sehr stark unterstützen, zumal ja die
als Ersatz für den Ausfall von den Steuergewalten nen aufzulegen-
den Lasten gewiß auch den Hausbesitzern in irgend einer Form neue
Leistungen verursachen würde.
Sicher müßte der Erfolg der Aktion als verfehlt bezeichnet werden,
wenn er nur in einer starken Steigerung der städtischen Grundrente und
einer Bereicherung der Bodenspekulanten bestünde.
Kurz, es ist sehr schwierig, eine alte, eingelebte Steuer mit einem Vor-
teil (ür die Gesamtheit zu beseitigen. Turgot schon sagte: „tout nouvel
impöt est mauvais, tout vieil impöt est hon.*
Gut ist nun unsere alte Steuer nicht, aber in dem Sinne findet Tur-
gots Ausspruch auch auf sie Anwendung, als ihre einfache Beseitigung
kaum ohne Schädigung der Gesamtheit möglich ist.
Daran knüpft nun mein K efo r m v o r s ch 1 ag an: Die Abgabe soll
vorläufig zur Gänze beibehalten werden, aber sie soll offen und klar
als das behandelt werden, was sie jetzt zwar verdeckt,
aber vermöge ihrer Wirkung in Wirklichkeit ist: eine
Kombination aus einer Ertragsteuer und einer Aufwand-,
nämlich einer Mietsteuer. Diese beiden Teile sollen aus-
einandergelegt, vollkommen geschieden werden und dann
kann der Gesetzgeber mit jedem der Teile so verfahren,
wie es im Interesse der Gesamtheit nützlich scheint. Es
wird dann insbesondere möglich gemacht werden, das was man geben will,
unmittelbar jenem zu gehen, dem es zngedacht ist, und nicht einem Dritten
der erst durch die Verhältnisse gezwungen werden soll, die Gabe dem an-
deren zuzuweudeu.
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300 M\ rbMh-Rheinfeld.
Vielleicht ermöglicht mein Vorschlag auch, die noch schwierigere,
bisher gar nicht erörterte Frage der Zuschläge zu lösen und zugleich den
finanziell so sehr bedrängten Gemeinden eine solide und selbständige Grund-
lage für ihre Wirtschaft zu verschaffen.
Ich komme somit in der Hauptsache auf mein altes Projekt zurflck,
nämlich die Teilung der jetzigen Hauszinssteuer in eine Hausrenten-
steuer, d. i. eine Ertragsteuer von dem wirklichen und möglichen Erträgnis
der Häuser und in eine Mietsteuer, welche die Mieter nach Maßgabe
des von ihnen für die Bestandobjekte gemachten Aufwandes zu treffen hätte.
Zunächst wäre der volle gegenwärtige Betrag der Hauszinssteuer
in dieser Weise aufznteilen. .Ta noch mehr, um mit der Aktion auch die
Regulierung der Fondszuschläge verbinden zu können, mflßte auch
die gegenwärtige Summe aller dieser Zuschläge zur Hauszinssteuer für
Rechnung des Staates übernommen und der Hauszinssteuer zugeschlagen
werden, wogegen den Ländern, Bezirken und Gemeinden dasjenige als Fixum
aus Staatsmitteln auszubezahlen wäre, was ihnen jetzt in Form von
Umlagen znfließt.
Der wichtigste aber auch schwierigste Punkt wäre dann die Reduktion
der vertragsmäßig vereinbarten Mietzinse auf jene Höbe, welche der neu
geschaffenen Sachlage entspricht. Jetzt ist ja tatsächlich ein großer Teil
dessen, was formalrechtlicli als Mietzins erscheint, in Wahrheit Steuer des
Mieters und diese Quote müßte aus dem formalen Mietzins entfernt und
auch rechtlich zur Steuer gemacht werden. Ich verweise diesfalls auf die
früher angestellten Berechnungen, ln Wien z. B. müßten die Mietzinse
für jedes Tausend Kronen auf 792 Kronen herabgesstzt werden, da in
diesen 1000 Kronen 208 Kronen an Mietstener stecken und von nun an
als Mietsteuer behandelt werden müßten.
Eine solche Änderung des Mietvertrages könnte aber natürlich den
Vertragsparteien nicht vom Steuergesetze oktroyrt werden: es ist auch
kaum anzunehmen, daß alle Hausbesitzer die nötige Einsicht besitzen, um
freiwillig auf die entsprechende Mietzinsreduktion einzugehen, wenn auch
Vereine und Gemeinden eine aufklärende Tätigkeit entfalten würden. Somit
wäre man zur Anwendung einer douce violance genötigt und als Mittel
einer solchen wäre wohl das beliebte Optionsrecht geeignet. Die Durch-
führung stelle ich mir dann in der Weise vor, daß gemischte Kommissionen
die Ermittlung bei den einzelnen Objekten vornehmen, die Parteien auf-
klären und deren bindende Erklärungen in Veitragsform anfnebmen.
Schlimm wäre es, wenn sich noch immer Hausbesitzer in größerer
Zahl finden würden, die mit Hinblick auf gewisse Zinsertragsbekenntnisse
eine begründete Scheu vor solchen Verhandlungen haben sollten: doch
könnto ein Generalpardon vielleicht darüber hinaushelfen und wer weiß,
ob daraus nicht ein hübscher Steuerzuwachs resultieren würde!
Von dem Momente an, wo diese Regulierung der Zinse allgemein
durchgeführt ist. könnte zur getrennten Vorschreibung der neu kreierten
Steuern flhergegangen werden.
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Pie Reform der Osterr. Hauszinsstcuer.
301
Die Hausrentensteuer müßte einen entsprechend niedrigen
Steuersatz haben. Wie schon bemerkt, läßt sich nicht angeben, mit
welcher Quote bei uns die Renten aus Vermögensverwendung belastet sind,
um diese Quote auch als Steuersatz der Hausrentensteuer anwenden zu
können: ich würde aber der vielseitig ausgesprochenen Ansicht beitrcten,
daß der Steuersatz 5 Proz. betragen solle. Eine Differenzierung
nach Ovtskategorien dürfte natürlich nicht bestehen, denn ob die
Rente in diesem oder in jenem Orte bezogen wird, das hat nicht den
mindesten Einfluß auf die Leistungsfähigkeit des Rentners und gibt ja
auch bei den anderen Ertragsteuern keinen Anlaß zu einer verschiedenen
Besteuerung.
Als Bemessungsgrundlage der Hausrentensteuer könnte der
reine oder der rohe Zinsertrag benutzt werden. Das erstere wäre
theoretisch richtiger. Wenn man aber den jetzigen Fehler vermeiden und
nicht eine willkürlich angenommene Kostenquote ganz allgemein anwenden
will, daun müßte man die individuell so uugemein verschiedenen und zeitlich
wechselnden Kosten für jedes Objekt einzeln ermitteln, eine Arbeit, die
außer Verhältnis zu dem praktischen Erfolge stände. Darum schiene mir bei
dem niedrigen Steuersatz die Vereinfachung statthaft, daß die Steuer
schlechthin von der Bruttozinseinnahme bemessen würde. Würde man
dies aber nicht für annehmbar halten, dann würde ich auf meinen alten
Vorschlag zurückgreifen, die Gebäude in .Zustandsklassen“ einzureihen und
für diese Klassen besondere Abzugsquoten zu bestimmen.
Natürlich hätte die zeitliche Steuerbefreiung für Neu-, Um-
und Zubauten zu entfallen. Nur die jetzt bestehenden permanenten
Befreiungen wären beizubehalten.
Ich würde auch den Anspruch auf eine Steuerabschreibung
wegen Leerstehung auf die Fälle länger dauernder Nichtbenfltzung
beschränken. Die subtile Berücksichtigung jeder, auch der kürzesten Leer-
stehung, ist bei dem jetzigen hohen Steuersätze geradezu eine Notwendigkeit,
wenn es sich aber um eine niedrige Steuer handelt, stehen die der Behörde
und den Hausbesitzern verursachten Mühen und Kosten außer Verhältnis
zu dem Erfolge. Man könnte etwa unter analoger Anwendung der Prinzipien,
welche für die Abschreibung der Hausklassensteuer gelten, den Anspruch
auf solche Leerstehungen beschränken, welche länger als drei Monate währen.
Diese Beschränkung hätte auch den sozialpolitischen Vorteil, daß manche
Hausbesitzer es sich besser überlegen würden, durch übermäßige Zins-
ansprüche öftere Leerstehungen zu provozieren.
Wie schon erwähnt, würde die Hausrentensteuer einen merklichen
Zuwachs dadurch erhalten können, daß auch die nicht landwirtschaftlich
benützten Hausgärten und die mitvermieteten Mobilien unter die
Objekte der Hausrentensteuer einbezogen würden.
Von der reduzierten Hausrentensteuer wären den Hausbesitzern auch
die Fondszn schlüge in dem Ausmaße vorzuschreiben, welches in jedem
Zeitschrift für Vn1k«wlfta<*baft, SosialpoMtik und Verwaltung. XII. Band.
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8<12
Myrhaeh-Rheinfeld.
Orte gerade Geltung hat, doch würden dieselben den Selbstvervvaltungskörpern
vorläufig in jenen fixen Beträgen zufließen. welche ich früher erwähnt habe.
Höchst wünschenswert wäre die Beseitigung der Doppelbesteuerung
der Zinsen hypothezierter Darlehen durch Änderung der gesetzlichen
Bestimmungen über die Rentensteuer.
. Dnd nun zur Mietsteuer. Dieser Teil der alten Hauslinssteuer
müßte von der Hausrenteusteuer völlig unabhängig gemacht werden, so daß
sie eine gänzlich für sich bestehende Aufwandsteuer würde, die nicht mehr
indirekt eingehoben und somit nicht mehr dem Spiel der wirtschaftlichen
Kräfte überlassen bliebe. Sie könnte in allmählicher Ausgestaltung mit den
Grundsätzen einer vernünftigen und gerechten Besteuerung in Einklang
gebracht werden, weil sie vom beabsichtigten Kontribuenten nach individuell
festznstellenden Merkmalen der Leistungsfähigkeit einzufordern wäre.
Den Grundsätzen der Aufwandbesteuerung entsprechend, sollte diese
Steuer nur insoweit gefordert werden, als ein persönlicher Aufwand,
jener für die Wohnung gemacht wird. Das würde aber einerseits zu einem
sehr beträchtlichen Steuerausfall führen, denn die Zinse für Geschäftsloka-
litäten machen in den größeren Städten sehr bedeutende Summen aus und
die Ersparnis der Geschäftsinhaber würde bei der bestehenden Kontingen-
tierung der allgemeinen Erwerbsteuer nicht mehr heranzuziehen sein.
Aus diesen praktischen Gründen könnte auch von gemieteten Lokalitäten,
die Erwerbszwecken dienen, die Mietsteuer, aber in einem geringeren Ausmaße,
eingefordert werden.
Ich habe schon erwähnt, daß icli eine nach dem Wohuuiigsaufwand
veranlagte Aufwandsteuer für eine der besten Steuern halte, weil sich
bekanntlich in diesem Aufwands, wie in keinem anderen, die materielle
Leistungsfähigkeit der Individuen spiegelt. Aber der Wohimngsaufwand ist
auch ein für jedem Kulturmenschen völlig unvermeidlicher, er muß auch
von jenen gemacht werden, die absolut keine Steuerkruft besitzen. Cher
das Minimum hinaus aber muß ein größerer Aufwand gemacht werden, um
ein gesundes und behagliches Wohnen, die Grundbedingung allgemeiner
Volkswohlfahrt, zu ermöglichen. Die diesbezügliche Grenze darf ja nicht
niedrig angenommen werden, wie cs einige Gemeinden tun. welche mir die
allerbilligsten Wohnungen von den .Zinskreuzern* freilasscn. Bis zu
jener Grenze, welche durch den für alle wünschenswerten
W o h n n n g s gen u U bestimmt wird, darf eine Besteuerung
überhaupt nicht stattfiuden.
Wras den darüber hin ausgehenden Wohnungsaiifwand betrifft,
ist vor allem die bekannte Erscheinung zu berücksichtigen, daß die Quote
des Gesamtaufwandes, welche für die Wohnung verwendet wird, desto kleiner
wird, je größer die dem Haushalte verfügbaren Mittel sind. Die Wohnung-
steuer muß daher progressiv eingerichtet sein.
Ferner muß vermieden werden, daß die Angehörigen der Mittelklassen
durch die Steuer in mindere Wohnungen gedrängt werden lind deshalb soll
die Steuer mit sehr niedrigen Sätzen beginnen und anfänglich
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Die Reform vier taten*. HauBiiassteuer.
303
nur sehr langsam steigen, dagegen Heide sie in den oberen Stufen die
Anwendung sehr hoher Steuersätze zu, ohne daß deshalb eine starke Beein-
trächtigung des Steuereinganges zu befürchten wäre. Natürlich müßten die
ron den Hausbesitzern selbst benützten Wohnungen
ebenso dieser Steuer unterliegen, wie die effektiv gemieteten.
Hinsichtlich derDetailausführung ergeben sich so viele Probleme,
daß ich auf deren Erörterung hier nicht eingehen kann, ich will nur bemerken,
daß sie mir sämtlich lösbar erscheinen, wenn man nicht pedantisch Vor-
gehen will.
Nun muß die Freilassung der kleinen, und die mäßige Besteuerung
der mittleren Wohnungen notwendig zu einem beträchtlichen Steuerausfall
für den Staat und die Selbstverwaltuugskörper führen, denn der größere
Teil der Umlagen fiele ja auch der Deckung durch die Mietsteuer zu,
beziehungsweise bliebe ungedeckt.
Da nun möchte ich den Gedanken der K on t in ge n t i er u n g ver-
wenden.
Der gesamte gegenwärtige Ertrag an Hauszinssteuer und 5proz. Steuer
nebst allen jenen Summen, die gegenwärtig an Umlagen eingehoben werden,
hätte ein festes Kontingent für solange zu bilden, bis die angestrebte end-
gültige Ordnung hergestellt ist. Die gesamten Zahlungen wären an die
Staatskassen zum Teil als Hausrentensteuer, zum Teil als Mietsteuer zu
leisten. Der Staat würde von diesem Kontingent zunächst die fixen Ent-
schädigungen an die Selbstverwaltungskörper abführen und den Rest für
sich behalten. Der sich ergebende Zuwachs würde aber dazu benützt werden,
um sukzessive die Mietsteuer auf den gewünschten Stand zu bringen, das
heißt sie für die kleinen Wohnungen aufzuheben, für die mitt-
leren aber zu ermäßigen und schließlich auch dazu, um die von den
Besitzern selbst zu Erwerbszwecken benützten Lokalitäten
auch von der Hausrentensteuer zu befreien.
Damit möglichst rasch sichtbare Erfolge eintreten und die
Hausbesitzer nicht etwa dazu gereizt werden, die Gelegenheit allmählicher
kleiner Nachlässe an der Mietsteuer zu einer Steigerung der Mietzinse
zu benützen, wfi:de ich vorschlagen, daß die jeweilig verfügbaren Summen
dazu benützt werden sollen, kategorien weise mit der sofortigen
Herstellung des endgültigen Zustandes vorzugehen, so daß also
die ersten Überschüsse dazu dienen sollten, um die allerkleinsten (oder
allerbilligsten) Wohnungen in den Großstädten ganz zu befreien, in gleicher
Weise die nächst verfügbaren Summen den kleinsten Wohnungen in den
übrigen Orten zu gute kommen lassen u. s. f.
Wenn dann der beabsichtigte definitive Zustand erreicht ist. würde
das Kontingent aufgehoben, der Staat träte dann in den freien Bezug der
inzwischen staik angewachsenen Hausrentenstener nebst dem natürlichen
ferneren Zuwachs, sowie der Mietsteuer; den Selbstverwaltungskörpern
würden die Zuschläge unmittelbar wieder zufließen, wenn nicht eine noch
weitergebende Regelung damit verbunden werden sollte.
21*
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Myrhach-Rheinfeld.
804
Als Endziel sehwebt mir nämlich vor die g ä u z 1 i c h e Über-
lassung der vollständig geregelten Mietsteuer an die
Gemeinden als deren vorwiegeudo Finanzquelle. Es würde damit endlich
auch ein Mittel geschallen, diesen finanziell so arg bedrängten Wirtscbafts-
körpem eine ergiebige und selbständige Einnalmien<|uelle \erfflgbar zu machen,
die unabhängig wäre von den Staatssteiiern, während anderseits auch die
letzteren in ihrer Entwicklung nicht durch das Kleigewicht der Zuschläge
in dem Maße wie bisher gehemmt würden. Diese Mietsteuer würde dann
mit den jetzt schon so verbreiteten kommunalen Zinskreuzern zusammen-
fiießen und könnte den lokalen Verhältnissen vollkommen angepaßt werden.
Im Anschluß daran sollte auch die Hausklassensteuer, welche in das staat-
liche Ertragateuersystem ohnedies nicht paßt, in eine Woluis teuer umge-
staltet und den Gemeinden überwiesen werden.
Itflcksichtlich des letzten Punktes, der Art der Veranlagung
unserer Steuer, kann ich mich ganz kurz fassen. Mir ist die österreichische
Hauszinssteuer mit ihrer genauen Anpassung an den wechselnden wirklichen
Ertrag der Häuser i von der summarischen Berücksichtigung der Kosten
abgesehen! immer als die idealste unter den bestehenden Ertragsteuern
erschienen. Die Einführung der zweijährigen Bemessung hat schon störend
gewirkt, indem damit die Anwendung eines, wenn auch nur kurzen Durch-
schnittes erfolgt ist. Heute findet man diese Veraulagungsinethode veraltet
Ich kann mich dieser Ansicht nicht anschließen und meine, daß jede Pau-
schalierung, jede Durchschniltsberechnung und jede Vereinfachung zur l’n-
genauigkeit, zur Unwahrheit führt und daher keineswegs einen Fortschritt
bedeutet, sondern ein Zurückgreifen auf primitivere Formen.
Mit Rücksicht auf mein Projekt der teilweisen Umwandlung unserer
Steuer in eino Mietsteuer muß ich mich um so mehr für die Beibehaltung
der jetzigen Veranlagungsgruudsätze aussprechen, weil dadurch nicht allein
die Einnahme des Hausbesitzers, sondern auch die Zinse der einzelnen
Mieter zur Kenntnis der Behörde gebracht werden und damit gleich die
Grundlage für die individuelle Bemessung der Mietsteuer gegeben ist.
Ein Teil der Hallsbesitzerorganisationen propagiert neuesteiis eine
radikale Änderung der Veranlagungsgruudsätze. Den Aus-
gangspunkt soll der von 10 zu 10 .lalircn durch Kommissionen festzustel-
lende Kapital s wert der Häuser bilden. Von diesem Kapitalswelt soll
unter Anwendung des jeweiligen landesüblichen Zinsfußes die Hausrente
berechnet und von letzterer sodann die Steuer bemessen werden. Gegen die
kommis8ionelle Schätzung soll die Berufung an eine gerichtliche Schätzung
zulässig sein.
Nun ist es klar, daß reine Schätzungen, hei welchen dem Arbitrium
der weiteste Spielraum gelassen ist, bei welchen deshalb auch große Un-
gleichmäßigkeiten unvermeidlich sind, nur als Notbehelf dann in Anwendung
kommen sollen, wenn jedes Mittel zur unmittelbaren Feststellung der ent-
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Die Reform der österr. Haiiazinssteaer. 805
scheidenden Tatsachen mangelt. Der erwähnte Vorschlag stellt überdies die
Verhältnisse geradezu auf den Kopf und steht mit den rationellen Bewer-
tungsgrutidsätzeu in krassem Widerspruch. Anstatt von den leicht zu er-
mittelnden wirklichen Erträgnissen auszugehen und darnach den Wert des
nutzbringenden Objektes zu berechnen, soll der umgekehrte Weg eingeschla-
gen werden: das Bekannte soll aus einem Unbekannten, das Sichere aus
etwas Arbiträrem berechnet werden! Da mähten sich notwendig große In-
kongruenzen zwischen dem berechneten und dem wirklichen Erträgnis heraus-
steilen. l'nd es ist noch fraglich, ob dies den Hausbesitzern zum Vorteil
gereichen würde, denn die Finauzverwaltung würde schon dafür sorgen, daß
man den Schätzungen wirklich vorgefallene Käufe und Belehnungen zu
eirunde legt und bei der erwähnten Tendenz zur Ü b e r Schätzung von Häusern
könnte sich leicht ein den Besitzern unerwünschtes Ergebnis herausstellen.
Inwiefern mir unter der Voraussetzung einer starken Heduktion der
Steuersätze Vereinfachungen des Veranlaguugsverfahrens zulässig er-
scheinen, habe ich bereits im Laufe der früheren Auseinandersetzungen
dargestellt.
■* »
*
Ich bin somit am Ende meiner Ausführungen angelangt.
Wollen Sie überzeugt sein, daß mir die Meinung sehr fern liegt,
eiu vollkommen einwandfreies Projekt vor Ihnen aufgerollt zu haben. Ich
hin mir selbst am besten bewußt, daß dasselbe zahlreiche Schwächen ent-
hält. daß vielleicht auch seine gänzliche Undurchführharkeit nachgewiesen
werden kann. Aber angesichts der großen Schwierigkeiten, welche die Lo-
sung des Problems hei dem Stande aller ütl'entlichen Finanzen in Österreich
bietet, angesichts der geringen Aussicht auf Verwirklichung, welche den
sonst gemachten Vorschlägen zugesprochen werden kann, glaubte ich mit
meinem bisher noch nicht diskutierten Gedanken, der sich auf theoretische
und praktische Befassnng mit dem Gegenstände gründet, noch einmal her-
vortreten zu sollen, um wenigstens eine vertiefte Erörterung der Frage in
einem derselben objektiv gegenüberstehenden Kreise von Fachmännern an-
zuregen.
Ich schließe mit dem Wunsche, daß die Gesellschaft österreichischer
Volkswirte als Korporation, daß aber auch die einzelnen Mitglieder dieser
hochansehnlichen Vereinigung mit allem Nachdruck auf die Beseitigung der
schweren Cbelstände auf dem Gebiete unserer Gebäudebesteuerung hin-
wirken und daß die diesßlligeu Bestrebungen von wirklichen Erfolgen be-
gleitet sein mögen.
Dann erst wird auch iu Österreich der Weg für eiue gedeihliche
Wohnuugsfürsorge frei sein.
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VERHANDLUNGEN DER GESELLSCHAFT
ÖSTERREICHISCHER VOLKSWIRTE.
CXIX. und CXX. Plenarversammlung.
Am H. und 15. November 1902 hielt Herr Dr. Viktor Graetz
einen Vortrag : über da* Problem der amerikanischen Trusts, in
dem er ungefähr folgendes ans führte:
Das Problem der amerikanischen Trusts ist sowohl ein europäisches Problem
wie ein amerikanisches. Für Europa sind die Fragen zu stellen: inwieweit ist
die Entwicklung, die sich in Amerika vollzogen hat und vollzieht, typisch, so
daß wir aus der amerikanischen Gegenwart auf die europäische Zukunft schließen
können. Und ferner, inwieweit sind die Trusts die Träger der .sogenannten
amerikanischen Konkurrenz? Die Wichtigkeit der Trusts für die Volkswirtschaft
der Vereinigten Staaten von Amerika erfordert keim* längere Darlegung, in
ökonomischer und politischer Beziehung entstehen Fragen, deren Lösung große
Schwierigkeiten bietet.
Vor allein muß der Begriff festgestellt werden; der ursprünglich juristische
ist zu einem wirtschaftlichen Terminus geworden, dessen Merkmale schwanken.
Aus den Definitionen der Gesetze, der Literatur und dem Sprachgebrauch des
täglichen Lebens läßt sich nur ein gemeinsames Element hervorheben, nämlich
die Beschränkung der Konkurrenz. Wichtig ist ferner, daß die strenge, in der
europäischen Literatur übliche Unterscheidung von Kartell und Trust nicht
gerechtfertigt ist. Unter Trusts sind sowohl Vereinbarungen von selbständigen
Unternehmungen zu verstehen als auch Fusionen, in denen die Selbständigkeit
gänzlich aufgehoben ist.
Das Charakteristiken des Begriffes Trust ist die Bildung eines einheitlichen
Unternehmerwillens; dies trifft sowohl bei Kartellen wie bei Fusionen zn. Während
im Kartell neben dem einheitlichen Unternehmerwillen die zersplitterten Unter-
nehmerwillen der einzelnen Unternehmungen weiter bestehen bleiben, hat bei der
Fusion der einheitliche Untemehmerwille die zersplitterten gänzlich anfgezehrt.
Der Begriff King ist dem Begriffe Trust und Corner übergeordnet. Ein King
ist dann vorhanden, wenn durch die Bildung eines einheitlichen Unternehmer-
willens für einen bestimmten Markt der Bezug respektive die Lieferung von
Waren oder Leistungen zu günstigeren Bedingungen, als dieser einheitliche Unter-
nehmerwillo festsetzt, ökonomisch nicht in Betracht kommt. Nimmt man diesem
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CXIX. nnd CXX Plenarversammlung. ;^)7
Begriffe King das genetische Element, nämlich: Bildnng des einheitlichen Unter-
nchmerwillens, dann liegt ein Zustand, das ausschließende Marktverhältnis, vor.
I>ie dem Begriffe Ring untergeordneten Begriffe Trust und Corner unterscheiden
sich durch die Dauer, für welche der einheitliche Unternehmerwille berechnet ist;
während der Corner eine Wirtschaftsperiodo dauern soll, soll der Trust mehrere
Wirtschaftsperioden bestehen.
Diese „Bildung des einheitlichen Unternehmerwillens“ kann in ganz ver-
schiedenen Kechtsformen vor sich gehen. Doch versagt in vielen Fällen die
juristische Unterscheidung, die Einheitlichkeit des Unternehmerwillens wird häufig
auch durch rein tatsächliche Verhältnisse hergestellt. Und gerade diese Trusts
sind von besonderer Bedeutung; denn sie sind die Zufluchtsformen, zu denen
Trust- oder Kartellgesetze zwingen. Der verpönte Trust setzt in neuer, juristisch
unfaßbarer Form seine wirtschaftlichen Funktionen fort.
Aus dieser Wandelbarkeit und Vielgestalt ergibt sich die Schwierigkeit, ja
die Unmöglichkeit, eine Morphologie der Trusts anfzn stellen, welche der Wirklichkeit
gerecht wird. Derselbe wirtschaftliche Zweck kann eben in ganz verschiedenen
Formen erreicht werden. So kann /.. B., wie dies heim Whisky trust geschehen
ist, durch Pachtung der zu vereinigenden Unternehmungen die Einheitlichkeit
ihrer Leitung bewirkt werden. Die Einheitlichkeit des Unternehmerwillens kommt
auch durch «las sogenannte factor agreemeiit zu Stande, eine Vereinbarung, in
welcher der Produzent den UAndlern die Verkaufspreise vorschreibt. Die Händler
bewerben sich sogar in manchen Fällen um solche Vereinbarungen, weil damit
die Konkurrenz der Händler untereinander gehemmt wird.
Besonders mannigfaltige Arten der Bildung des einheitlichen Unternehmer-
Willens schließen sich an die Uechtsforin der Aktiengesellschaft an. Auch die
Kechtefonn „Trust" fand besonders hier häufige Anwendung. Indem die Aktionäre
der Unternehmungen, welche einheitlich geleitet werden sollen, ihre Aktien, zum
mindesten aber — mathematisch, nicht wirtschaftlich gesprochen — die Majorität
der Aktien einem Vertrauenakomitee, dem board of trustees übergeben, konzentriert
sich die mit dem Besitze der Aktien verbundene Uuteniehnierstellung in diesem
Ausschuß. Die Dividendenberechtignng bleibt bei den Aktionären, die für ihre
Aktien Trustzertifikate erhalten haben.
Zwei andere typische Formen, in denen die Aktiengesellschaft zur Trust-
bildung verwertet wird, unterscheiden sich dadurch, daß in einem Falle juristische
und wirtschaftliche Einheit durchgeffihrt wird, während im andern Falle die
wirtschaftliche Einheit einer juristischen Mehrheit gegen übersteht Im ersten
Falle tritt eine neue Aktiengesellschaft an Stelle der schon bestehenden Unter-
nehmungen. so daß die Gliedunternehmungen als solche ganz verschwinden; im
zweiten Falle bleiben die Gliedgesellschaften bestellen, aber die Majorität ihrer
Aktien ist einer Zentralgesellschaft ausgeliefert, die wirtschaftlich nur den Zweck
hat, die einheitliche Leitung dnrchzuführen. Dieser zweite Typus ist nur ein
.Spezialfall der Großaktionärschaft, nämlich Großaktionärschaft durch eine juristische
Person. In manchen Fälleu ist aber auch physische Großaktionärschalt ausreichend.
Die Tendenz geht im allgemeinen dahin. Trustformen zu schaffen, in denen
größere Gebundenheit herrscht, der Kollektivwilli» des Kartells wird ersetzt durch
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;i08 Verhandlungen der Geselteehaft österreichischer Volkswirte.
den Einzelwillen der Großunternehmung. Dies ergibt sich aus der geschichtlichen
Betrachtung der Trusts. Doch stehen sowohl der historischen wie statistischen
Betrachtung grolle Schwierigkeiten entgegen. Die Vieldeutigkeit des Begriffes
Trust, das Fehlen der juristischen Merkmale erschwert eine statistische Erfassung.
Eine Geschichte der Trusts muH sich auf mehr oder weniger ausführliche Notizeu
beschränken.
So zeigt uns die Geschichte der Standard Oil Co. eine dramatische Auf-
einanderfolge voll Kartellahscblüssen und -auflüsungen. eine Kette von Kartellen
der Petroleumraflinerieii und der Eisenbahnen, ln ganz verschiedenen Formen
hat dieser Trust dieselbe wirtschaftliche Funktion erfüllt. Die Truststatistik,
welche anläßlich des Zensus im Jahre 1900 aufgeiiomuien wurde, führt den
Titel : Industrial Combinations. Sie umfaßt bei weitem nicht alles, was üblicher-
weise uud in dem vorliegenden Vortrage als Trust bezeichnet wurde, nämlich
nur solche Trusts, „dio durch Vereinigung einer Zahl früher selbständiger Betriebe
in einer Gesellschaft durch eine zu diesem Zwecke erwirkte Charter zu stände
gekommen sind“. Aus dieser Statistik ergibt sich, daß in vielen Fällen im
Gebiete der Vereinigten Staaten mehrere gleichartige Trusts bestehen; dies ist
begreiflich, denn jeder Trust bezieht sich ja nur auf einen bestimmten Mark t.
der nicht immer mit einen Staats- oder Verwaitungsgebiete znsamiiieiifällt. Aus
dieser Statistik ergibt sich weiters, daß in den Trusts nicht nur gleichartige
Industrien, sondern auch verwandte und Hilfsindustrien vereinigt sind. Wenn die
europäischen Kartelle als homogene bezeichnet werden, kann man in Amerika von
homogenen und allogenen Trusts sprechen.
Die Ursachen der Trustbildung sind nicht identisch mit den l'rsachen der
Kartellbildung in Europa Entstehen die europäischen Kartelle in ihrer Mehrzahl
zur Zeit der sinkenden Konjunktur, sind genule die Trusts der jüngsten Jahre
in der Zeit der steigendeu Konjunktur entstanden; den organisatorischen Trusts
lassen sich die spekulativen an die Seite stellen. Der spekulative Trust entsteht
durch „Gründung“. Die aus der Bildung des einheitlichen Unternehmerwillens
erhofften Vorteile werden kapitalisiert, scholl in der Gegenwart flüssig gemacht.
Pie Überkapitalisierung, die Verwässerung des Aktienkapitals ist das Mittel, um
Gründer und Kursgewinne zu erzielen.
Bei Betrachtung der Voraussetzungen der Trustbildung muß man zwischen
spekulativen und organisatorischen Trusts unterscheiden. Die spekulativen Trusts
haben eine Keibe von Voraussetzungen, deren Darlegung eigentlich eine
Charakteristik der amerikanischen Volkswirtschaft wäre; die organisatorischen
Trusts beruhen im großen und ganzen auf denselben Voraussetzungen wie die
koiitineutal-europäischen Kartelle; doch haben die spezifisch amerikanischen Fracht-
begünstigungen an der raschen Trustentwicklung besonderen Anteil. Nur Schutzzoll
uud Frachtbegünstigung sollen als Voraussetzungen der Trusts erörtert werden.
Der Zusammenhang von Trust und Schutzzoll ist in Amerika wohl ein
doppelter. Durch die schnelle Aufeinanderfolge der Zollerhühuugen wurde eine
überrasche Industrieentwicklung veranlaßt und so eine Überproduktion herbei-
gefübrt, die in dem Zusammenschluß der Konkurrenten endigen mußte. Ferner
aber wird das ausschließende Marktverhältnis der Trusts durch den Ausschluß
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CXIX. und CXX. Plenarversammlung- ;u 1 1, 1
oder diu Erschwerung der ausländischen Konkurrenz gefestigt. Dies zeigt sich
besondere in den Trostpreisen.
Die Frachtbegünstigungen, die „railroad discriminationa“ , bestehen in
ihrer einfachsten Form darin, daB einem einzelnen Verfrachter günstigere Tarife
gewährt werden als anderen. Die Konkurrenten dieses begünstigten Verfrachters
sind auller stände den Wettbewerb auszubalten und müssen trachten, im Vertrags-
wege mit dem begünstigten Verfrachter derselben Vorteile teilhaftig zu werden,
sie streben eine Interessengemeinschaft in irgend einer Form an.
In der jüngsten Zeit werden die Wirkungen der spekulativen Trusts in viel
höherem Grade fühlbar als die der organisatorischen Trusts. Dies ergibt sich
zum Teil aus der großen Elastizität der amerikanischen Volkswirtschaft, zum
größeren Teil aber ans der besonders günstigen Konjunktur der letzten Jahre.
Eino Analyse der Wirkungen der Trusts ist deshalb schwierig, weil dio
Trusts meistens in kapitalintensiven Industrien entstehen, so daß sich die
Wirkungen der Kapitalintensität und der Trusts nicht gut sondern lassen. Besondere
Vorteile bietet die Organisationsart, welche oben als allogen bezeichnet wurde,
die Vereinigung korrelativer Industrien. Wenn verschiedene Stufen der Produktion
innerhalb derselben Unternehmung durchlaufen werden, entfällt, juristisch
gesprochen, die Notwendigkeit in vielen Verträgen, wirtschaftlich gesprochen, der
Kampf um den Vertragsinhalt (Preise, Lieferzeiten, Vertragsdauer). Dadurch wird
die Widerstandsfähigkeit der Organisation gegen Konjunkturschwankungen gehoben.
Die Preisbildung der Trusts beruht sicher auf den Erwägungen, die den
Monopolpreis herbeifübren. Doch erfährt der Monopolpreis gewisse Modifikationen,
da die Prämissen, unter denen der reine Monopolpreis zu stände kommt, hier nicht
zntrefTen. Es wird vor allem nicht der größte unmittelbare Tauschvorteil ange-
strebt. sondern nur die größt« Rentabilität. Zweitens aber ist das Absatzgebiet
eines Trust nicht als ein unter gleichartigen Bedingungen stehender Markt auf-
zufassen, sondern als eine Gruppe verschiedener Märkte, deren Preise auch ver-
schieden sein müssen. Aus den lokalen Preisverschiedenheiten erstehen den Trusts
viele Gegner.
In diesen Zusammenhang gehören auch die billigeren Auslandspreise und
die sogenannten Ausfuhrprämien der Trusts, die aber mit den staatlichen Export-
prämien nur den Namen gemeinsam haben.
Das Verhältnis der Trusts zu der Arbeiterschaft ist nicht ganz klarzu-
stellen. Das prinzipielle Wohlwollen der Gewerkvereine beruht im wesentlichen auf
der Analogie von Trust und Gewcrkverein; die Lohnstatistik ist nicht genügend
eindeutig, um darauf Schlüsse basieren zu können. Die Erfahrungen aber, welche
bei den großen Ausständen der letzten Jahre gemacht wurden, scheinen für die
Arbeiter ungünstig zu sein.
Eine Antitrustpolitik mit wirtschaftlichen Mitteln ist in den Vereinigten
Staaten noch nicht inauguriert worden, die Bewegung zu Gunsten einer Tarif-
ermäßigung hat in nächster Zukunft nicht viel Aussicht auf Erfolg. Die vielen
Antitrustgesetze, welche versuchten mit den Mitteln des Zivil- und Strafrechtes
die Trusts zu bekämpfen, hatten nicht die gewünschte Wirkung. Es wurde zwar
eine rechtliche Umformung der Trusts erzielt, aber wirtschaftliche Änderungen
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810 Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkiwirte.
traten nur insofern ein, als da« Trustproblem durch die Probleme des Aktien-
rechtes kompliziert wurde. Die Gründe für die Erfolglosigkeit dioser Gesetzgebung
liegen zum Teil in der Verfassung der Vereinigten Staaten, zum Teil in der
Materie selbst. Die Begriffe, mit denen die Gesetzgebung und Rechtssprechung
operieren mußte, sind zn wenig präzis, um eine konsequente Judikatur zu ermög-
lichen; die Merkmale der Begriffe restruint of trade, public policy, monopoly,
werden den Anschauungen des Richters entnommen, der so meist nach national-
ökonomischen Vorurteilen Recht spricht.
Die Trusts sind insofern ein europäisches Problem, als die Frage gilt, ob
die Trustbildung typisch ist. ob die Bildung einheitlicher Unternehmerwillen auch
in Europa .statttindet. Es braucht nicht weiter erörtert zu werden, daß dies der
Fall ist. Inwieweit die Trusts Träger der amerikanischen Konkurrenz sind, diese
Frage bezieht sich nur auf die Überlegenheit der amerikanischen Organisations-
fortuen ; zweifellos ist besonders der allogene Trust den europäischen Formen
überlegen; wenn wir die Anfänge zu solchen Organisationen, die sich in
Europa zeigen, fördern, dann werden wir in der Lage sein, die amerikanische
Konkurrenz mit ihren eigenen Waffen zu bekämpfen, neben dem wirtschaft-
lichen Festungskrieg auch die offene Feldschlacht aufzunehmen.
Außerordentliche Generalversammlung.
Am 16. Dezember 1902 — dem 80. Geburtstag August Meitze ns
— hielt die Gesellschaft eine außerordentliche Generalversammlung zur Ehrung
August Meitzens ab.
Präsident Hofrat Professor Dr. von Philippovicli gibt zunächst den
Zweck der Einberufung einer außerordentlichen Generalversammlung bekannt, den
80. Geburtstag Professor August Meitzens zu feiern, der als einer der
hervorragendsten Agrarhistoriker auch für uns in Österreich eine besondere Be-
deutung besitze; Meitzen habe den Ansiedlungsform en auch auf österreichischem
Boden seine Aufmerksamkeit gewidmet, er habe wiederholt unser Vaterland bereist,
mit österreichischen Gelehrten Fühlung genommen, um in die Ansiedluiigsver-
lialtnisse auf österreichischem Boden Einblick zu gewinnen. Der Vorsitzende bittet
hierauf, den Antrag des Vorstandes, August Meitzen zum Ehrenmitglied der
Gesellschaft zu ernennen, zu erwägen, und ersucht Se. Exzellenz Herrn Dr. von
I ii a in a - S t e r n e g g einen Vortrag über Meitzen zu halten. Der Text dieses
Vortrages ist in dein l. Hefte dieses Jahrganges veröffentlicht.
Nach Schluß dieses Vortrages wurde der Antrag. August Meitzen zam
Ehrenmitglied der Gesellschaft zu ernennen, mit Akklamation und unter lebhaftem
Beifalle angenommen, worauf der Präsident sagte: Wir wollen Meitzen noch eine
kleine Huldigung darbringeu. indem wir anknüpfend an jene Arbeiten Meitzens.
von denen uns Exzellenz von luaina erzählte, uns eine Skizze dessen entwerfen lassen,
was sich an jenes Alte anschließt und sich als Gegenstand der heutigen Agrarpolitik
darstellt. Wir kamen deshalb auf die Idee, an den Vortrag, der uns die Person
Meitzens schildert, eine kurze Darstellung der agrarischen Operationen in
Österreich folgen zu lassen, insbesondere jener agrarpolitischen Arbeiten, welche
unmittelbar Zusammenhängen mit den Forschnngsaufgaheu. denen Meitzen «ddag.
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CXXI. Plenarveraammlang.
311
Hierauf eröffnet« der Vorsitzende die
CXXI. Plenarversammlung.
in welcher, dieser Anregung Folge leistend, Herr Dr. Walter Schiff einen
Vortrag über die agrarischen Operationen in Österreich hielt. Der
Vortragende führte ans:
Die Flurverfassung in der Mehrzahl der Gemeinden Österreichs leidet an
einer Reihe großer Übelstände. Diese sind verschieden einerseits hinsichtlich der
extensiven, anderseits hinsichtlich der intensiven Kulturen; die extensiven Kul-
turen. leiden an einer 7.u starken Konzentration des Besitzes oder doch an einer
zu starken Gemeinsamkeit der Nutzungen; die intensiven Kulturen hingegen
umgekehrt an einer zu starken Zersplitterung. Die Nachteile des erstgenannten
Zustandes sind gegenseitige Konflikte zwischen den mehreren nutzungsberechtigten
Personen, ökonomische Abhängigkeit, schlechte Bewirtschaftung. Raubbau, infolge
dessen Verschlechterung der Landeskultur; die Nachteile der Zersplitterung bei
den intensiven Kulturen sind Verlust an produktivem Boden, Steigerung der
Bestellungskosteil, wechselseitige ökonomische Abhängigkeit.
I. Die extensiven Kulturen befinden sich in gemeinsamer Nutzung aller
oder doch einer großen Anzahl von Bauern; diese sind berechtigt, im Wald sich
das erforderliche Holz schlagen, die notwendige Streu zu sammeln, ihr Vieh in
die Wälder, auf die Alpen oder Hutweiden zur Weide zu treiben. Diese Natural-
nutzungen sind heilte vielfach noch, namentlich in den Alpciilämlcm, für die
bäuerliche Wirtschaft unentbehrlich. Die Formen dieser gemeinsame)! Nutzungen
sind sehr verschied**» : bald steht das Eigentum am Walde und au der Alpe
einer einzelnen physischen oder juristischen Person zu, und die Bauern haben
au dom Boden jura in re aliena, also subjektive Privatrecht«, Dienstbar-
keiten; bald liegt Gemeindegut vor, wobei alle GemeindegeitosBen oder bestimmte
Klassen derselben berechtigt sind, das Gemeiudegut zu benutzen, und zwar nicht
kraft eines subjektiven Privatrechtes, sondern als Ausfluß der Geiiieiudeangehörigkeit,
demnach als eine öffentlich-rechtliche Befugnis ; oder endlich der gemeinsam ge-
nutzte Boden steht im Eigentum der Nutzungsberechtigten selbst, die Nutzungen
sind hier Ausfluß des Miteigentums.
Im ersten Falle, dem der Forst- und Weideservituten, besteht der Übelstaud.
daß beide Teile einander ökonomisch schädigen können, daß sie sich in einer
wechselseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeit befinden. Die Servitutsberechtigten
gehen schonungslos mit dein fremden Walde, der fremden Weide um; die Dienstbarkeit
hindert den Gutsbesitzer, den Betrieb rationell zu gestalt«», intensivere Wirtschafts-
methoden einzuführen. Anderseits befindet sich auch der Servitutsberechtigte Bauer
in einer stark wirtschaftlichen Abhängigkeit von dem Grundherrn. Dieser hat nebst
den ungesetzlichen auch eine groß*- Anzahl von ganz gesetzlichen Mitteln, um den
Servitutsberechtigten die Nutzungen zn verleiden; er kann diesen dabei so
chikanieren, ihn so sehr schädigen, daß er auf die Ausübung seines Rechtes ver-
zichten und damit die Grundlage seiner wirtschaftlichen Existenz aufgeben muß.
Andere Übelständ« liegen dort vor, wo der extensiv benutzte Boden Ge-
meingut ist oder einer der unorganisierten Gemeinschaft von Bauern gehört.
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:S12 Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirt*.
Dioso beiden Formen kann man unter dem Kamen der agrarischen Ge-
meinschaften zusamineufassen. Es ist vielfach kein Organ, keine Autorität
da, die für eine ordentliche Bewirtschaftung und für eine 'pflegliche Behandlung
der Kulturen sorgen würde. Die Nutzungsrechte der einzelnen Genossen sind in
der Regel nicht ziffermiiällig bestimmt, sondern sie lauten auf den Haus- und
Gutsbedarf, wodurch der Willkür, dem Eigennutz Tür und Tor geöffnet ist Der
wirtschaftliche Zustand der meisten agrarischen Gemeinschaften ist ein elender;
die Wälder werden devastiert, die Alpen und Weiden mit Vieh überstellt, so
daß sich ihre Ertragsfähigkeit immer mehr vermindert. Durch die Devastiernng
der Wälder sind in vielen Gebirgsgegenden neue Wildbäche entstanden und die
alten au Gefährlichkeit gewachsen.
II. Das Acker- und Wiesenland kann auf sehr verschiedene Weise unter
die einzelnen Bauerngüter verteilt sein. Boi uns herrscht die Gemengelage,
der Streubesitz vor; d. h. das Bauerngut besteht aus einer sehr großen Anzahl
von Parzellen, die ganz zerstreut in den verschiedenen Teilen der Dorfflur gelegen
sind. Es ist durchaus nichts Seltenes, daß ein Bauerngut, aus 50, 00, 70 Stücken
besteht, die oft mehrere Kilometer weit voneinander entfernt sind. Außerdem
sind die einzelnen Besitzstückc irrationell geformt, and sie stoßen nicht au Wege
oder Straßen an. Diese Flureinteiluug hat zahlreiche und schwerwiegende Nach-
teile zur Folge.
Aus je mehr einzelnen Parzellen ein Besitz von gegebener Grüße besteht,
um so länger muß der gesamte Umfang, die gesamte Länge der Grenze wordeu.
Damit steigt aber einerseits die Möglichkeit für fremde Eingriffe von Mensch nnd
Vieh und für die Invasion von Pflanzenschädlingen, vor allem aber der Verlust an
produktiven Boden, denn die Grenze von zwei Grundstücken ist keine ganz mathe-
matische Linie, sondern ein Kain oder eine Furche von wenigstens SO cm Breite.
Auch die ungünstige Form der Parzellen erhöht die Betriebskosten und
den Flächenverlust, denn auch sie steigert die Länge der Grenze. Denn je un-
gleicher die Seiten bei rechteckiger Form des Grundstückes sind, um so gröfler
ist dessen Umfang. Ganz besonders nachteilig sind Parzellen mit stumpfen oder
spitzen Winkeln. Diese können mit den gewöhnlichen Ackergeräten nicht bestellt
werden, sondern müssen auf mühselige und kostspielige Weise mit der Hand be-
arbeitet werden.
Auch die gegenseitige Entfernung der Parzellen erschwert die Bodenbe-
stellung aufierordeiitlich; sie macht eine große Anzahl von unproduktiven Gängen
und Fuhren notwendig, welche die Betriebskosten erhöhen müssen.
Endlich stoßen nicht alle Parzellen an Wege nnd Straflen an, können also
nur über das Grundstück eines Nachbars betreten werden. Übertritts- und Über-
falirtsrechte können natürlich nur zu solchen Zeiten ausgeübt werden, wo dies
für das zwischeniiegeude Feld unschädlich ist. Dadurcli wird der eine Landwirt
in der Bestellung seines Bodens davon abhängig, was sein Nachbar baut ; es
besteht, wenn auch nicht rechtlich, so doch faktisch, ein Flurzwang, der dem
Fortschritt auf landwirtschaftlichem Gebiete so auflerordeutlich hinderlich ist
Die Servitutswälder haben gegenwärtig eine Ausdehnung von l'/j Millionen
Hektar, 15 Proz. der gesamten Waldfläclic. Die agrarischen Gemeinschaften
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i A \ I. Plenarversammlung.
313
bedecken in zwölf Kronländern eine Fliehe von mehr ak 3,000.000 Hektar, d. h.
mehr als 31 Proz. der Untweiden, Alpen and Wilder. Von 25.000 Katastral-
gemeinden haben nur 4700 oder 21 Proz. überwiegend arrondierten Besitz,
2000 = 9 Pmz. Hofsystem mit Gemengelage, 17.000 = 70 Proz. Dorfsystem
mit Gemengelage. Der Streubesitz dominiert demnach in mehr als V, aller
Katastralgemeinden Österreichs, und zwar auch in den Alpenländem.
Wenn gegenwärtig der Bauernstand sich, zwar nicht überall aber doch
großenteils, in einer bedrängten Lage befindet, so ist dies nach Ansicht des
Beferenten wesentlich mit auf die besprochene Flurrerfassung, auf die Servituten*
nnd Gemeinschaftsverhältnisse, auf die irrationelle Flureinteilung zurückzuführen.
Sicherlich spiele auch die geringe allgemeine technische und ökonomische
Bildung des Bauernstandes sehr stark mit und das Sinken der Getreidepreise.
Doch könne man behaupten, daß die hier besprochenen Übelstände den Bauern-
stand weit mehr gefährden als jene Dinge, welche die agrarischen Parteien in
den letzten Jahrzehnten so sehr bekämpfen: Freiteilbarkeit, gleiches Erbrecht,
freie Verschuldbarkeit der Bauerngüter oder dei Tenninhandel. Es sei daher
zweifellos Pflicht des Staates einzngreifen, um die herrschenden Übelstände zu
beseitigen. Es könne dabei zwar nicht ohne die Ausübung eines gewissen Zwanges
abgehen, bei den Servitnten und bei den agrarischen Gemeinschaften int Sinne
einer gänzlichen Beseitigung des Rechtsverhältnisses oder doch im Sinne einer
genauen Regulierung desselben, hinsichtlich der Finreinteilnng im Sinne einer
zwangsweisen Zusammenlegung der Parzellen in der ganzen Flur; aber da dieser
Zwang nur ausgeübt werde für die wirtschaftliche Freiheit des Landwirtes, so
bewege mau sich damit durchaus in der Linie des ökonomischen Liberalismus.
In Preußen hat denn auch die Beseitigung der in Rede stehenden Überreste
der alten Agrarverfassung in unmittelbarer Folge der Bauernbefreiung und Grund-
entlastnng sehr radikal stattgefunden.
In Österreich hat man nur die Forst- und Weideservitnton mit
einer gewissen Energie angepackt. Ein Patent vom Jahre 1853 ordnet an. dall
alle solche Dienstbarkeiten von Amt* wegen entweder durch Ablösung beseitigt
oder doch reguliert werden müssen, und tatsächlich ist diese Operation im großen
und ganzen in allen Kronländern schon längst beendigt.
Allein deren Wirkung war in weiten Teilen Österreichs von großem Schaden
für die nutzungsberechtigten Bauern. Das Gesetz nimmt so einseitig Partei
zu Gunsten der großen Wald- und Alpenbesitzer und zum Nachteile der Bauern,
daß diese dort, wo Ablösungen vorgenommen wurden, für die Aufhebung ihrer
Rechte kein entsprechendes Äquivalent erhielten und so materiell geschädigt
wurden. In den Alpenländern, daun auch in Galizien sind viele Bauern an der
Servitutenablösung zu Grunde gegangen.
Die Regulierung, die in vielen Kronländern die Kegel gebildet bat. war
vielfach eine so ungenügende, die Bauern wurden dabei oft so benachteiligt, daß
auch gegenwärtig trotz der durchgeführten Regulierung die Bedrückung der
nutzungsberechtigten Itanem fortdauert, daß auch jetzt keineswegs Ruhe und
Ordnung herrscht, vielmehr der Jahrhunderte alte heftige Kampf um die Wald-
und Weideuutzu ugen weiter gekämpft wird.
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314
Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte.
Dieser für die Kulturen so schädliche Kampf kann nur durch eine neuer-
liche Operation beseitigt werden. Die unablösharen Servituten müssen überall dort
für ablösbar erklärt und auch abgelöst werden, wo dies möglich ist, ohne den
Wirtscbaftsbetrieb der berechtigten Dauern au schädigen. Wo dagegen auch heute
noch die Bauern auf die Naturalnutznngcn nicht verzichten können, dort müßte
eine neuerliche und viel genauere Regelung der Verhältnisse vorgenommen
werden.
Das Bedürfnis nach Beseitigung oder Regulierung der agra-
rischen Gemeinschaften und nach einer Neneinteilung der Feld-
fluren hat in Österreich viel später zu gesetzlichen Normen geführt, die bisher
leider noch nicht von besonders großer Wirksamkeit gewesen sind.
Der Keim für die geringe praktische Wirksamkeit dieser Gesetzgebung liegt
schon darin, daß sie bloße Rahmengesetze sind, die nnr dann und dort
in Kraft traten, wann und wo ausführende Landesgesetze erlassen werden. Nun
hätte allerdings die Regierung auf die Landtage einen Druck in der Richtung
ausüben können, daß diese möglichst rasch die notwendigen Landesgesetze be-
schließen; aber das geschah leider nicht. Der Kifer der Regierung war offenbar
erkaltet. Nur in einigen wenigen Landtagen wurden sofort Regierungsvorlagen
eingebracht. Manche Länder, wie z. B. Galizien, mußten erst viele Jahre lang
inständig bitten, ehe sie Regierungsvorlagen erhielten. Die Salzburger Landes-
gesetze. die im Jahre 1892 publiziert wurden, sind heute — nach 10 Jahren
— noch nicht in Wirksamkeit, weil die Durchführungsverordnung hiezu derzeit
noch nicht erlassen ist!
So sind denn ßemeinheitsteilungs- und Kommasaationsgesetze zunächst nur
in Niederösterreich. Schlesien und Mähren zu stände gekommen — das Salz-
burgische zählt ans dem angeführten Grunde nicht mit — , außerdem Gesetze
über Teilung und Regulierung von agrarischen Gemeinschaften in Kärnten und
Krain. Krst in den allerletzten Jahren ist wieder ein gewisser Fortschritt be-
merkbar; in den beiden zuletzt genannten Kronländem wurden Zusammenlegungs-
gesetze erlassen, in Galizien kam endlich sowohl ein Kommassationsgesetz als
auch ein Gesetz über agrarische Gemeinschaften zu stände. In den anderen
Kronländem hat die Regierung Vorlagen überhaupt nicht eingefiracht, mit Aus-
nahme von Böhmen, wo der Landtag eine solche teils aus unbegründeten staats-
rechtlichen Kompetenzbedenken, teils aus nicht unberechtigten sachlichen Hin-
wendungen gegen das Kommassationsgesetz verworfen hat.
Der oberste Grundsatz der Gesetze ist, daß diese Operationen in der
Regel nur über Verlangen eines Teiles der Grundbesitzer vorgenommen werden
dürfen, und daß die überstimmten Beteiligten sich dem Zwange der Zustimmenden
fügen müssen. Man mnß es außerordentlich bedauern, daß die Regulierung
der agrarischen Gemeinschaften nicht imperativ, von Amts wegen angeordnet
worden ist. Kür die Provokation ist mit gewissen lokalen Ausnahmen die Zu-
stimmung der Hälfte der Beteiligten erforderlich. Diese Norm erschwere, meint
der Referent, die Provokation sehr.
Ist die Einleitung der agrarischen Operation erfolgt, so wird dnreh eigens
bestellte Behörden (Lokal-, Landes-, Ministerialkoinmission) in einem ziemlich
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CXXI. Plenam »Sammlung.
315
komplizierten Verfahren die Operation durchgefübrt. Sie besteht bei der Regelung
der Gemeinschaft in einer genauen Festeteil ong der Nutzungsrechte selbst, in der
Aufstellung der Verwaltungsnonnen und in der Schaffung von Verwaltungs-
organen für die Gemeinschaft Bei der Teilung der Gemeinschaft wird nach dem
gegenseitigen Wert Verhältnis der Nutzungsrechte das gemeinschaftliche Grund-
stück geteilt. Für die Zusammenlegung der Grundstücke muß für jede einzelne
Parzelle die Fläche und deren Wert festgestellt werden; hierauf werden in der
Flur die gemeinsamen Anlagen (Wege. Brücken, Entwässerungen. Bachregnlierungen
u. s. w.) projektiert, endlich wird ein Plan für eine neue Flureinteilung verfaßt,
wobei die neuen Besitzungen aus einigen wenigen, möglichst rationell geformten
und leicht zugänglichen Abtindungsstücken bestehen sollen. Die einzelnen Fest-
stellungen und Bewertungen, die der Lokal kommissär vomimmt, müssen in der
Form von Registern und Plänen öffentlich kund gemacht und durch eine längere
Frist zu jedermanns Einsicht aufgelegt werden. Gegen sie können die Beteiligten
Rechtemittel an die Landeskoinmission und die Ministerialkominissiou ergreifen.
Ist über diese Rechtsmittel rechtskräftig entschieden, daun wird der Teilungs-
oder Regnlierungsplan ausgeführt, für die Zusammenlegung der Grundstücke muß
hingegen erst in diesem Stadium noch eine zweite Abstimmung der
Grundbesitzer vorgenommen werden, wobei ein Zusammenlegungsplan nur
dann als angenommen gilt, wenn sich mehr als die Hälfte der Grundbesitzer
dafür ausspricht, und wenn auf die den letzteren gehörigen Grundstücke wenigstens
*/a des Katastralertrages der zu kom massierenden Fluren entfallen. Kommt diese
qualifizierte Majorität nicht zu stände, so sind die ganzen langjährigen Arbeiten
nmsonst gewesen, die Zusammenlegung wird nicht durchgeführt, und die Antrag-
steller haben nach den meisten Landesgesetzen auch noch die Kosten zu tragen.
In dieser Bestimmung erblickt Referent einen ernstlichen Fehler des Ge-
setzes. Die ganzen Kommassationsarbeiten worden dadurch auf das Niveau eines
bloßen Experimente herabgedrückt. Die Notwendigkeit der zweiten Abstimmung
müsse auch das Verfahren selbst beeinflussen. Diese soll nur durch die Grund-
sätze der Gerechtigkeit und der technischen Zweckmäßigkeit bestimmt sein. Wegen
der zweiten Abstimmung müsse der ausfühlende Beamte, will er nicht umsonst
gearbeitet haben, auch die unberechtigten Ansprüche und unzweckmäßigen Wünsche
derjenigen Grundbesitzer berücksichtigen, welche durch ihren größeren Besitz
ihrer Abstimmung einen besonderen Nachdruck verleihen können.
Die Erfolge der agrarischen Operationen waren in qualitativer Beziehung
durchaus sehr gute. Die Teilung der Gemeinschaften hat zu einer besseren Aus-
nützung des Bodens und zu einer sorgfältigeren Pflege desselben geführt. Aus
der Zusammenlegung der Grundstücke sind für die betreffenden Gemeinden außer-
ordentlich große, wirtschaftliche Vorteile erwachsen.
Zu bedauern ist, daß der quantitative Erfolg dieser Gesetzgebung hinter den
gehegten Erwartungen und den berechtigten Wünschen weit zurückgeblieben ist.
Bis zun\ Jahre 1897 waren erst 56 Zusammenlegungen beantragt, 24
davon durchgefübrt.
Bis Ende 1901 waren noch nicht 100.000 Hektar agrarischer Gemein-
schaften reguliert oder geteilt.
Digitized by Google
316
Verhandlungen dar (MMllft österreichischer Volkswirt«.
Referent schloß: Kine hochwichtig«, für das Gedeihen der bäuerlichen
Landwirtschaft entscheidende Aufgabe haben Gesetzgebung und Verwaltung in
Österreich zu lösen bisher erst begonnen. Ks ist von der allergrößten volkswirt-
schaftlichen Wichtigkeit, daß alle Faktoren Zusammenwirken, um die Flurver-
fassnng in rationeller Weise umzugestalten. Hiezu ist nötig
1. hinsichtlich der Servitutengrundstücke die Durchführung einer neuerlichen
Ablösung»’ und Regulierungsaktion von Amts wegen;
2. hinsichtlich der agrarischen Gemeinschaften die Vornahme von Re-
gulierungen von Amts wegen in all den Fällen, wo die Teilung nicht provoziert wird;
3. die Erleichterung der Voraussetzungen für die Teilung dadurch, daß
die Provokation von einer Minorität der Beteiligten genügt;
4. das zuletzt Gesagte gilt anch von den Zusammenlegungen, bei denen
insbesondere die zweite Abstimmung nach Durchführung des ganzen Verfahrens
zu entfallen hätte;
3. in allen Kronländem, in welchen ein Bedürfnis nach Gomeinheita-
reguliernng. Teilungen der Kommassationen besteht, müßte energisch auf das
Zustandekommen der betreffenden Landesgesetze hingewirkt werden, die Durch-
führungsverordnungen müßten schleunigst erlassen und für die Bereitstellung eines
genügenden technischen Personals müßte gesorgt werden;
6. endlich müßten alle Mittel angewendet werden, nm die ländliche Be-
völkerung von den großen Vorteilen der agrarischen Operationen zn überzeugen.
Erst wenn alle diese Postulats erfüllt sein werden, werden die Vorbe-
dingungen geschaffen sein, damit auch die österreichische bäuerliche Landwirtschaft
sich die ökonomischen und technischen Errungenschaften der Gegenwart aneigne,
daß sie trotz Ungunst der Konjunktur sich im Kampfe ums Dasein behaupte;
denn vorübergehend mag es möglich sein, auch das Untüchtige durch künstliche
Schranken und Stützen zn erhalten; auf die Dauer muß jeder Einzelne nnd so
anch jede Klasse durch eigene Kraft die Daseinsberechtigung sich erkämpfen.
CXXII. Plenarversammlung.
Am 13. Jänner 1903 hielt Herr Reichsratsabgeordneter Wrabetz einen
Vortrag über die Reform des Gesetzes über die Erwerbs- und
Wirtschaftsgenossenschaften. Dem Wosen und dem Zweck der
Genossenschaften liegt, wie der Referent ausfuhrt. der Satz zn Gründe, daß
mehrere kleine Kräfte vereint eine große Kraft bilden, und daß, wenn man
etwas für sich allein nicht zn vollbringen vermag, man sich zu diesem Zwecke
mit anderen verbinden soll. Die Genossenschaft soll ohne Ertötung der Selb-
ständigkeit des Individuums jedem, besonders dem wirtschaftlich Schwachen
lohnende Tätigkeit gewähren oder das Erträgnis seiner eigenen Tätigkeit
lohnender gestalten, nicht aber eine Form der Assoziation für kapitalistische Kreise
abgeben.
Die Genossenschaften zerfallen in die zwei Hauptarten der Produktions- und
Distributivgenossenschaften. Der Zweck der Produktionsgenossenschaften ist die
Vermehrung der Einnahmen, und ihre Hanptarten sind Vorschuß- und Kredit-
genossenschaften, Rohstoff- und Maguzinsgenossenschaften. di« sämtlich mit der
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CXXIf. Plenarversammlung. :(I7
gewerblichen oder landwirtschaftlichen Produktion Zusammenhängen, nnd endlich
die Produktivgenossenschaften im engeren Sinn des Wortes. Die Distribntiv-
gennssenschaften haben lediglich den Zweck der Verminderung der Ausgaben
durch Förderung der Wirtschaft der Mitglieder im engeren Sinne, es sind dies
Konsumvereine und Baugenossenschaften. Das Hauptmerkmal aller Genossen-
schaften ist. daß die Mitglieder die Träger des Unternehmens sind, und daß sie
auch — die Produktiv- und Magazinsgenossenschaften ausgenommen — die
Kunden des Unternehmens sein sollen. Dies unterscheidet die Genossenschaft
von der Aktiengesellschaft. Unser Genossenscbaflsgesetz hat sich auch nur
physische Personen als Mitglieder gedacht. Allerdings sind die Meinungen über
diese Frage in den letzten Jahren vielfach auseinandergegangen. Keferent steht
auf dem Standpunkte, daß das Genossenschaftswesen nur zur Hebung des
materiellen Wohles physischer Personen gedacht ist.
Die praktischen Erfahrungen in den 29 Jahren der Geltung des Gesetzes
haben Mängel mehrfacher Art gezeigt: Dispositionsmängel und Unklarheit im
Gesetze seihst. Mißbräuche und Auswüchse in den Genossenschaften, Mißbräuche
der genossenschaftlichen Form durch Kreise, für welche sie nicht bestimmt ist,
und prinzipiell unrichtige Auffassung der genossenschaftlichen Tätigkeit seitens
der staatlichen Behörden. Ein neues Genossenschaftsgesetz soll hier Abhilfe
schaffen. Die Regierung bat im Jahre 1897 dem Abgeordnetenhause ein
solches Gesetz vorgelegt; seit vorigem Jahre liegen auch zwei Gesetzentwürfe
von Abgeordneten vor. Unser Gesetz vom Jahre 1873 gewährt den Genossen-
schaften vollständige Autonomie und Bewegungsfreiheit; es enthalt wenig zwingende
Bestimmungen, überläßt das meiste vollkommen dem freien Ermessen und der
Einsicht der Mitglieder, ja es geht soweit, daß nicht einmal der Anfsichtarat
für die Genossenschaft obligatorisch vorgeschrieben ist. Man glaubt«, die Mit-
glieder würden sich selbst um ihr Interesse kümmern.
Die internen Mißbräuche, die durch die Beschaffenheit der meisten genossen-
schaftlichen Statute bedingt und befördert wurden, sind Allteilshäufungen in
einer Hand, ungleiches Stimmrecht, Zulassung von Stellvertretern in der General-
versammlung dadurch bedingt* Strohmännerwirtschaft — Entziehung des
Stimmrechtes der Mitglieder nnter irgend welchen anstichhältigen Gründen, Ver-
sagung der Dividenden, ein autokratisches Regime des Vorstandes, der sich in
solchen Fällen meist .Direktion“ nennt. Infolge dieser Mängel kann man manche
Genossenschaften von Aktiengesellschaften trotz der großen prinzipiellen Ver-
schiedenheit überhaupt nicht mehr auseinander kennen. Der große Unterschied
zwischen ihnen soll nun im neuen Genossenschaftsgesetze nicht nur theoretisch
festgehalten, sondern mehr als bisher praktisch verwirklicht werden. Gründungen,
wie Bräuhäuser, Kartelle n. dgl. in genossenschaftlicher Form sollen in Zukunft
verhindert werden, denn das kann man nicht mehr Entwicklung, sondern nnr Miß-
brauch der genossenschaftlichen Form nennen. Die Genossenschaft soll in erster
Linie die Möglichkeit der Existenzverbesserung der kleinen, unbemittelten oder
nur schwach bemittelten Leute bieten, sie soll aber nicht der Deckmantel sein
für kapitalistische Vereinigungen, die vielleicht die Erlaubnis zur Bildung einer
Aktiengesellschaft nicht bekommen.
Zeitschrift für VolkawlrtMha/t, Sozialpolitik und Vi>rtraltiiD(. XII. Band. 22
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31*
Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte.
Um solche Mißbräuche zu vermeide», wird es notwendig sein, daß der
Reform des Ueuosseuschaftsgesetzes eine Reform des Gesetzes über die Aktien-
gesellschaften und die Schaffung eines Gesetzes für Gesellschaften mit beschrankter
Haftpflicht vorausgehen. Die kapitalistischen Genossenschaften und ihr ganzes
Gebaren führen zu einer unrichtigen Auffassung der genossenschaftlichen Tätig-
keit seitens der politischen und der Finanzbehörden. Sie sehen in der Regel in
allen Genossenschaften Erwerbsunteiuehinuugen. Ks ist dies im Hinblick auf die
Besteuerung deshalb wichtig, weil Erweibsgenossonschaften doch nur jene sind,
welche ihre Tätigkeit über den Kreis ihrer Mitglieder hinaus erstrecken. Alle
übrigen fördern doch nur das ohnehin schon besteuerte selbständige Unternehmen
des einzelnen Mitgliedes der Genossenschaft. Die Distributivgenossenschaften
erwerben aber gar nichts, sondern haben lediglich den Zweck der Verminderung
der Ausgaben. Diese sollte aber keinesfalls Gegenstand der Besteuerung sein,
weil sie keine Vermehrung des Einkommens bedeutet, und hier eigentlich eine
Steuer für die Sparsamkeit, für eine vernünftige und ordentliche Wirtschaft im
Hause verlangt wird. Die kapitalistischen Answüchse im Genossenschaftswesen
verhindern jedoch das Platzgreifen dieser Ansichten hei uns. Die Auswüchse im
Genossenschaftswesen haben auch dazu geführt, daß unsere Juristen sich eine
andere unrichtige Konstruktion zurecht gelegt haben : nicht der Erwerb des
Mitgliedes werde gefordert, nicht die Ausgaben des Mitgliedes werden ver
mindert, nein, die Genossenschaft als juristische Person produziere einen
Gewinn, und dieser Gewinn werde an die Mitglieder verteilt. Auch wirtschaft-
liche Körperschaften, wie die Handelskammern, sind sich übei diese Frage
nicht klar. 4 her auch unser Handelsministerium hat in dieser Beziehung
eiuen falschen Standpunkt. Durch das Steuorgesetz vom 25. Oktober 18%
wurden die Erwerbs- und Wirtschaftsgeiiossenschafteu wieder in das zweite
Hauptstück betreffend die Krwerbsteuer von den der öffentlichen Rechnungs-
legung unterworfenen Unternehmungen eingeruiht und zur Entrichtung einer
Krwerbsteuer verhalten. Dadurch ist eigentlich das frühere Gesetz vom 27. De-
zember 1880. das die Genossenschaften von der Erwerbgteuer des Jahres 1812
befreite mit der Begründung, daß hier ein Erwerb nicht vorliege, illusorisch
gemacht. Es wurde aber eine Unterabteilung geschaffen und im Absätze II des
§ 83 des zweiten Hauptstückes die auf Selbsthilfe beruhenden Unternehmungen
im Gesetze als gemeinnützige Unternehmungon angeführt: das Finanzministerium
hat bekannt gegeben, daß die im zweiten Hanptstücke genannten Genossen-
schaften zu den Haiidelskamniorumlageu nicht heranzuziehen seien. Das Handels-
ministerium zieht sie aber jetzt alle heran. Das Handelsministerium sagt hier:
»Der Konsumverein hat nach seinen Statuten den Zweck, für seine Mitglieder
Waren gegen Barzahlung anzuschaffen und Kapitalien zu sammeln** — das
Ersparnis bei Einkäufen nennt das Ministerium eine Sammlung von Kapitalien —
„was sich zweifellos als der Betrieb von Handelsgeschäften Im Sinne des
Artikels 271 des Handelsgesetzbuches darstellt“. Indessen besitzen wir zwei Ent-
scheidungen des Obersten Gerichtshofes, welche gerade das Gegenteil dessen besagen.
Alle diese Fragen müssen bei der Schaffung eines neuen Genossenschafts-
gesetzes zur Lösung kommen. Dieses solle aber auch noch folgende Bestimmungen
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CXXU. Plenarversammlung.
310
enthalten : Schatz der Mitglieder und der Gläubiger, Mininialuntgliederzahl,
Sicherung des Stimmrechtes, Festsetzung einer Verechuldungsgrenze, aber nicht
etwa durch das Gesetz, sondern so, daß der Generalversammlung das Recht
zuerkannt oder vielmehr die Pflicht auferlegt wird, die Verschuldungsgrenze
selbst zu bestimmen; denn jene, welche die Haftung für die Verbindlichkeiten
tragen, sollen auch die Macht haben, zu bestimmen, wie weit sie mit dieser
Haftung gehen. Ferner müsse der Aufsichtsrat als obligatorische Institution
ausgesprochen, die obligatorische Revision eingeführt werden. Auch solle man
die diesbezügliche Bestimmung des Revisionsgesetzes herübernehmen. Es müsse
weiters die volle Einzahlung der Geschäftsanteile normiert werden, damit das
manchmal sehr zweifelhafte Gebaren mit den gezeichneten Geschäftsanteilen,
welche nie eingezahlt werden, aber immer als Aktiven in der Bilanz figurieren,
a u führe. Es müsse die Nichtbelaatnng der Geschäftsanteile ansgesprochen werden,
weil sic, wenn sie mit Vorschüssen belastet sind, für die Gläubiger keinen Wert
haben. Es müsse die Nichtzulassung von Prokuristen zum gesamten Geschäfts-
betrieb ausgesprochen werden, denn dadurch werden rein kapitalistische Unter-
nehmungen hintangehalten, um welche sich weder die Leitang noch die Mit-
glieder viel kümmern. Es müssen ltispositivnormen bezüglich der Veröffentlichung
der Bilanz und einer Minimalmitgliederzahl, ferner solche mit Bezug auf die
Verlustdeckungen im Falle der Liquidation getroffen werden; nnd endlich sei es
der Wnnsch der genossenschaftlichen Kreise, daß die anbeschränkte Solidarhaft
dnreh die Beseitigung des Einzelangriffes im Falle des Konkurses, durch die
Solidarbürgschaft, ersetzt werde.
Die Genossenschaften brauchen auch einen Schatz vor den allzn zahlreichen
nnd oft allzu starken staatlichen Anforderungen. Bisher waren die Genossen-
schaften lediglich Drangsalierung* und Stenerobjekte. Nach Erlassung des Ge-
setzes vom 27. Dezember 1880 wurden sofort wieder Versuche gemacht, die
Errungenschaften dieses Gesetzes illusorisch zu machen oder doch zu schmälern.
Man ist mit der Auffassung gekommen, daß die Zulassung von Bürgen bei Er-
teilung von Vorschüssen einen Verkehr mit Nichtiuitgliedem bedeute, das Gesetz
»Iso in diesem Falle nicht mehr gelte. Mit dem Steuergesetze vom 25. Oktober
1890 konnten die Genossenschaften im großen nnd ganzen zufrieden sein. Es
ist gelangen, für jene Genossenschaften, die den Verkehr auf die Mitglieder be-
schränken. eine ganz bedeutende Herabsetzung der Stenern, und zwar um mehr
als die Hälfte, durchzusetzen. Aber kaum ist das Gesetz in Geltung, werden
wieder Versuche gemacht, die Begünstigungen des Gesetzes möglichst illusorisch
zu machen.
In dieser Beziehung ist insbesondere das Kronland Galizien einfach groß-
artig. Die Leistungen daselbst übertreffen alles bisher Dagewesene. Es werden
da Vorschußvereine als nicht begünstigte erklärt, weil die Mitglieder nach dem
Statut erst dann eine Dividende bekommen, wenn ihr Geschäftsanteil, der sich
nur auf 50 Kronen beläuft, voll eingezahlt ist. Die Steuerbehörde erklärt: weil
die Betreffenden keine Dividende bekommen, sind sie nicht Mitglieder, ergo ver-
kehrt die Genossenschaft mit Nichtmitgliedern, ergo genießt sie keine Begün-
stigung. Also von der Ezisteuz eines Genossenscbaftsgosetzes, das genau sagt,
22*
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320
Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte
wie jemand Mitglied einer Genossenschaft wird, und welche Pflichten er damit
zu übernehmen hat, wissen manche HezirkshanptmaniiKchaftei! in Galizien bis
heute nichts.
Diese und andere Hedrängiiiigeu der Genossenschaften, die auf der reinen
Selbsthilfe beruhen, vertragen sich durchaus nicht mit der staatlicherseits so oft
zur Schau getragenen oder vielleicht auch wirklich beabsichtigten Forderung des
Genossenschaftswesens. Den Gipfelpunkt hnreaukratischer Auffassung bildet aber
jener Vorfall, der die Sparkassa in Cattaro, eine Kreditgenossenschaft, betraf.
Diese Genossenschaft wurde vom Handelsgerichte anstandslos registriert, die
Statthalterei von Zara sistierte aber die Tätigkeit mit der Begründung, daß ihr
verschiedene Bestimmungen des Statutes nicht entsprechen. Unter anderem ist
darunter auch ein Paragraph angeführt, in welchem bestimmt wird, daß die Ge-
nossenschaft für ihre Mitglieder die Umwechslung von Geldsorten und derlei
Bankgeschäfte vornehme. Die Statthalterei von Zara sagt, daß Bankgeschäfte nicht
in den Wirkungskreis solcher Genossenschaften gehören. Die Einstellung der
Tätigkeit dieser Genossenschaft erfolgte auf Grund des § 7 des kaiserlichen
Patentes vom 20. April 1854!
Unseren ganzen Verwaltnngskörper durchdriugt schon großenteils der Geist
des § 14. Heben dieser ewigen Bedrängung der selbständigen Genossenschaften
geht ein auffälliges Protegieren aller mehr oder weniger abhängigen und aller
staatlicherseits oder ländiicherseit* oder von Handelskammern subventionierten Ge-
nossenschaften. Diese erfreuen sich jeder Gunst; diesen wird jede Steuer-
und Gebührenerleichterung gewährt. Es erweckt förmlich den Eindruck, daß man
abhängige Genossenschaften will, und man jene Unabhängigkeit, die das Ge-
nossenschaftswesen bis heute besessen hat, nicht gerne sieht und beseitigen will.
Und doch ist diese Staatsunterstützuug ein sehr zweischneidiges Schwert, sie ist
ein Linsengericht gegenüber der Gesamtheit und ein Danaergeschenk gegenüber
der einzelnen Genossenschaft, denn im Jahre 1809 betrugen die Betriebsmittel
der «sonstigen Genossenschaften- 681/* Millionen Kronen. Die Staatsunterstützung
für die Jahre 1898 und 1809 beträgt nur 140.000 Kronen. Im allgemeinen
macht sonach die Unterstützung wenig aus, trotzdem kommen aber einzelne Ge-
nossenschaften vor, bei denen ein sehr schlechtes Verhältnis des eigenen Ka-
pitals zum fremden bestand. Man gründet auch in neuerer Zeit gewerbliche
Kreditgenossenschaften unter der Patronanz des HandelNininisteriums, die an-
geblich Kaiffeisenkassen sein sollen, es aber gewiß nicht sind, zumal das System
der Raiffeisenkassen ausschließlich für die Landwirtschaft und nicht für das Ge-
werbe berechnet ist. Diese Kassen haben eine recht zweifelhafte ökonomische
und kaufmännische Unterlage.
Von einem neuen Genossciischaflsgcsetze ist zu verlangen, daß es gegen
jede mißbräuchliche Anwendung der genossenschaftlichen Formen Sicherheit ge-
währe, daß es aber der volkswirtschaftlichen, echten genossenschaftlichen Tätigkeit
hindernde Schranken nicht ziehe und daß die bisherige Autonomie der Genossen-
schaften auch in einem neuen Gesetze keine Schmälerung erfahre.
Nach einer kurzen Diskussion wurde die Versammlung geschlossen.
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DIE VORGESCHLAGENE EINFÜHRUNG DES GRUND-
BUCHSYSTEMS IN GRIECHENLAND.
VON
C. 1>. C A R U SSO.
An anderer Stelle1) erwähnten wir. daß die griechische Regierung unter
Ministerpräsidenten Trikupis im Jahre 1888 auC Grund der Erkenntnis, daß
die dem bayrischen Hypotheken- und dem französischen Transskriptiousgesetze
nachgebildeten griechischen Gesetze den Forderungen des Rechtsverkehrs mit
Immobilien und des Hypothekarkredits nicht entsprechen, deu prinzipiellen Ent-
schluß faßte, zu einer durchgreifenden Reform des geltenden Immobiliarrochtes
zu schreiten. Zwar führten die diesbezüglich gepflogenen Vorberatungen nicht zu
einem endgültigen Ergebnis, doch wurde beschlossen, als nötige Grundlage für
die Reform eine Vermessung aller Grundstücke durchzufuhren und diese auf eine
neue Landestriangnlierung zu stützen — nachdem die älteren Triangulierungs-
arbeiten unzureichend waren. Letztere Arbeit — zu deren Leitung und Aus-
führung einige in geodätischen Arbeiten erfahrene Offiziere ans der österreichisch-
ungarischen Armee beigezogen wurden — ist sofort in Angriff genommen worden,
und es wurde seither das Netz erster Ordnung im ganzen Lande durchgeführt;
auch sind gegenwärtig die Triangulierungen niederer Ordnung in Ausführung be-
griffen. Hingegen blieb die Frage der Reform des Immobiliarrechtes • 9 Jahre
laug in vollem Stillstand, wofür auch außerordentliche Regebenheiten kaum eine
genügende Rechtfertigung zu bieten vermögen.
Im Jahre 1898 erwog die Regierung, unter Ministerpräsidenten Zaiuiis,
die zur Bekämpfung der Krisis in den korintheuproduzierendeii Laiidesteilen zu
ergreifenden Maßregeln. Hiebei wurde der Schaffung gesunder Grundkreditver-
hältnisse die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt, es wurde zu diesem Zwecke
eine entsprechende Umgestaltung des geltenden Immobiliarrechtes als nötig er-
kannt und eine solche grundsätzlich wieder beschlossen. Es wurden dabei zwar
das Ziel und das Wesen der Reform festgestellt, zu näheren Bestimmungen kam
es jedoch nicht, da die diesbezügliche Tätigkeit durch den Regierungswechsel
') Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft (Tübingen; - l'JOO • I. H* ft.
„Grundeigentum, Flaclicnstener etc. in Griechenland.*4
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322
Carusso.
unterbrochen wurde. Es folgte sodann eine dreijährige Stillatandspcriode, über
deren Berechtigung deneit noch kein Urteil abzugeben ist.1;
Als Ende des Jahres 1901 das Ministerium Zaimis wieder zur Leitung
der Regierungsgeschäfl* berufen wurde, beschloß es die ungesäumte Wiederauf-
nahme der Vorbereitungen zur Reform des Immobiliarrechtes. Die bereits im
Jahre 1898 hierüber festgestellten Grundsätze sowie die vergleichende Übersicht
der ausländischen Gesetzgebungen führten zur Überzeugung, daß in Griechenland
ein Grundhuchsystem nach Vorbild des in Österreich und in Deutschland geltenden
cinzuführen ist.*)
Eine besondere Kommission unter dem Vorsitze des Justizministers wurde
mit der Ausarbeitung eines Gesetzentwurfes betraut, worin die Reform in ihren
Grundzügen zu bestimmen war. Innerhalb einiger Monate verrichtete die Kom-
mission ihre Arbeit und es wurde der Kammer ein Entwurf betreffend „die Ein-
führung des Grundbuchsystems“ vorgelegt (April 1902).
In der Begründung wird angeführt, daß die vorgescblagene Vervollkommnung
des Immobiliarrechtes sich auf die Gnindbucheinführung stützen werde, denn nur
eine solche könne den erhöhten Forderungen des Rechtsverkehrs mit Immobilien
und des llypothekarkredits genügen. Allen Rechten auf unbewegliches Eigentum
soll in gleichem Maße Schutz geboten werden, die Entscheidung von Streitig-
keiten soll möglichst erleichtert, Betrug und Chikano möglichst erschwert werden.
Auch wird, um irrigen Auffassungen zuvorzukommen, erwähnt, daß ein auf dem
Grundbuchsystem beruhendes Immobiliarrecht zwar die Form der Immobiliar-
geschäfte neu regeln müsse, daß dadurch jedoch nicht der freie Gebrauch oder
die Ausdehnung der verschiedenen Rechte auf unbewegliche Sachen berührt
werden. Neben ihrer Bedeutung als Justizmaßregel wird die wirtschaftliche Trag-
weite der vorgeschlagenen Reform folgendermaßen hervorgehoben. Die geklärten
und gesicherten Rechtsverhältnisse werden dem Grundeigentnine einen leichteren und
gesünderen Kredit znführen und den Verkehrswert der Grnndstücke erheben.
Es werde aber außer der unmittelbaren Hebung des Grundkrodits auch der For-
sonalkrcdit der Grundeigentümer unterstützt werden, die Wirksamkeit der ver-
schiedenen Krediturganisationen werde sich besser entfalten, cs werde gegen den
Wucher ein harter Schlag geführt, dio Erhaltung der hochwichtigen Klasse von
kleinen Grundeigentümern gefördert und den besonderen Interessen der Land-
wirtschaft gedient werden. Auch werde im allgemeinen die Grnndstückverinessnug
und die Einführung des Grundbuches jene amtliche Kenntnis filier die Grundstücke
und die daran bestehenden Rechtsverhältnisse gewähren, deren Mangel bisher in
*) Um wieder das allgemeinere Interesse für die Frage anzuregen, hatten wir im
Jahre 1901 bei der juridischen Abteilung des Vereines „Parnassos“ sowie bei der sta-
tistischen, der landwirtschaftlichen und geographischen Gesellschaft in Athen die Aus-
schreibung voo Preisen veranlaßt für kurze Aufsätze über verschiedene auf die geplante
Reform bezügliche Themata. Wir erfahren soeben, daß im ganzen nur drei Aufsätze ein-
gesendet wordeu seien und man sich gegenwärtig mit der Beurteilung derselben behufs
Preiserteilung befasse.
*J Bereits im Jahre 1889 hatte die griechische Regierung amtliche Informa-
tionen Ober die Einführung des Grandbuchsystems in Bosnien und der Herzegowina
schöpfen lassen.
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Die vorgeachlageuc Einführung des Grund buchayttem» in Griechenland. 323
Griechenland die richtige Lösung manches das unbewegliche Eigentum betreffenden
Problems verhindert hat.
Nach den Bestimmungen des Entwurfes wird im gesamten Lande die Ver-
messung und Kartierung der Grundstücke angeordnet und es ist diese Arbeit auf
die von der Kriegsverwaltung bereits ausgeführte und weiterhin zu vervollstän-
digende Triangulierung höherer und niederer Ordnung zu stützen. Mit der Her-
stellung der Karte und mit der Flächen berechnung der Grundstöcke wird der
kartographische Dienst des Kriegsministeriums betraut; diese Arbeiten und die
Fortführung des Kartenwerkes ist durch königliche Verordnung zu regeln. Auf
der Karte sind alle Linien. Objekte und Zeichen anzugebeu. wodurch auf dem
Erdboden die Grenzen von Bezirken und Gemeinden sowie der einzelnen Grund-
stücke bestimmt sind. Zur Unterscheidung der Grundstücke untereinander "erhält
jedes derselben auf der Karte eine besondere Bezeichnung mittels Nummern
oder Buchstaben; es wird ein amtliches (ȟterverzeichnis aufgestellt, auf welches
sich die Anlegung der Grundbücher zu stützen hat. In dem Güterverzeichnisse
können aulier den für die Grundbuchsanlogung erforderlichen Angaben über die
Grundstücke und deren Besitzer (vermutliche Eigentümer) auch andere Dateu
über das unbewegliche Eigentum aufgenoinineii werden, und ist di« Bestimmung
über alles diesbezügliche durch königlich« Verordnung zu treffen.
Besonderen Kommissionen, worin die Staats-. Gerichts- und Gemeinde-
behörden sowie der Vermessungsdienst vertreten sind und denen ortskundige
Leute zum Anweisen der Grenzen und die Feldhüter des betreffenden Bezirkes
zugeteilt werden, liegt die Aufstellung der erwähnten Güterverzeichnisse ob sowie
das Feststellen der Bezirks-, Gemeinde- und Eigentumsgrenzen. Uiefür werden
die Vorstände der angrenzenden Gemeinden sowie die faktischen Besitzer der
angrenzenden Grundstücke aufgefordert, an Ort und Stelle persönlich zu erscheinen
oder sich vertreten zu lassen. Sind die beteiligten Grenziiachbarn einig über den
Lauf ihrer gemeinschaftlichen Grenzen, so ist darüber ein besonderes Protokoll
anfzunehinen und wird danach der Grenzlauf auf der Karte verzeichnet. Unzu-
reichende Grenzvermarkuiig auf dem Erdboden ist durch Setzen von GrHtizzeichen
zu ergänzen; die Kosten sind zu gleichen Teilen von den Grenznachbarn zu
tragen. Findet hingegen zwischen den Grenznachbarn keine Einigung statt oder
Anden sich die Beteiligten bei der Grenzfee Stellung nicht ein, so sind die von
der Kommission als wahrscheinlich angenommenen Grenzlinien auf der Karte als
solche zu verzeichnen. Der dadurch Beeinträchtigte darf innerhalb bestimmter
Frist vor Gericht Klage führen; die Verhandlung darüber hat nach einem eigenen
raschen Verfahren statt/u finden. Durch besondere Anordnungen und Strafbe-
stimmungen wird bezweckt, der Kommission und dem Vermessungspersonale den
freien Zugang zu den Grundstücken zu sichern, die für die Vennessungsarbeiten
und für die Grenzvermarkung dienlichen Signale und Zeichen gegen Entfernen
oder Beschädigung zu schützon, die Grenzanweiser zu wahrheitsgetreuen Angaben
zu veranlassen u. s. f.
Mit der Anlegung und Führung der an Stelle der bisherigen Hypotheken-
und Transskriptionshnrher tretenden Grundbücher wird die Justizverwaltung be-
traut.. worin eine für dieso Angelegenheiten besondere Dienstabteilung geschaffen
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324
Carusso.
werden darf. Im allgemeinen ist in jedem Friedensgorichtsbezirko ein Grand-
bachamt za errichten und ist der betreffende Friedensrichter der Leiter des
Grandbachamtes; in den Grundbuchämtern werden die nach Gemeindebezirken
angelegten Grundbücher der in dem Bezirke liegenden Gemeinden geführt; Ans-
nahmebestimmungen sind durch königliche Verordnung zu treffen und darf auf
solchem Wege auch die Anlegung und Führung besonderer Bücher für Berg-
werke u. s. f. angeorduct werden. Alle Grundstücke sind buchungspflichtig, aus-
genommen die zum öffentlichen Gebrauche dienenden staatlichen oder gemeindlichen
Bodenflächen. Im allgemeinen erhält im Grundbuchs jedes Grnndstück eine eigene
aus mehreren Abteilungen bestehende Stelle Grundbachsblatt); jedoch kann auch
über mehrere demselben Eigentümer gehörende und im Bezirke desselben Grnnd-
buchaintes liegende Grundstücke ein gemeinschaftliches Blatt geführt werden.
Weitere Bestimmungen des Entwurfes betreffen die Vereinigung mehrerer Grund-
stücke zu einem Grundstücke, die Zuschreibung eines Grundstückes als Be-
standteil eines andereu, die Belastung eines Grundstückteiles, den Fall, wo ein
Grundstück sich über die Grenzen eines Grnndbuchbezirkes hinausdebnt; die
öffentliche Einsicht in die Grundbücher, die Verantwortlichkeit des Grimdbucbs-
führers hinsichtlich der Erledigung von Anträgen auf Eintragung in das Grund-
buch, die durch höhere richterliche Funktionäre über die Grandbnchämter aus-
zuübende Aufsicht, die Haftung des Staates für die richtige Führung der Grundbücher.
Nach Erwähnung der in das Grundbuch zur Eintragung gelangenden
Hechte wird der Satz ausgesprochen, dafl die Eintragung in das Grundbuch eine
wesentliche Voraussetzung für die Übertragung von Eigentum und von dinglichen
Rechten an Grundstücken ist; auch ist zur Aufhebung eines Rechtes an einen)
Grundstücke die Löschung des Rechtes im Grundbuche, zur Änderung des Inhaltes
eines Rechtes die Eintragung derselben im Grundbuche erforderlich. Weitere Vor-
schritten haben zum Gegenstände: das Uangvorhältnis unter mehreren ein Grund-
stück belastenden Rechten; die Vormerkung zur Sicherung des Anspruches auf
Einräumung, Aufhebung, Änderung des Inhaltes oder des Rangverhältnisscs
eines Rechtes an einem Grundstücke oder einem das Grundstück belastenden
Rechte; das Nicliterlöschen eines Rechtes an einem fremden Grundstücke durch
die Vereinigung des Eigentumes und des Rechtes am Grundstücke in einer
Person. Ferner wird der Satz von dem öffentlichen Glauben des Grundbuches
aufgestellt und der Auspruch auf Berichtigung des Grundbuches und die Ein-
tragung eines Widerspruches gegen die Richtigkeit des Giundbuclios zugelasseii;
die Ersitzuug des Eigentumes sowie eines anderen zntn Besitze des Grundstückes
berechtigenden Rechtes wird geregelt zu Gunsten desjenigen, der, ohne Be-
rechtigter zn sein, als solcher im Gruudbnche eingetragen ist; es wird allge-
ordnet, daß durch Voijäbrung ein mit Unrecht im Grnudbuchc gelöschtes Recht
au einem fremden Grundstücke erlischt; desgleichen auch ein krall Gesetzes ent-
standenes, jedoch in das Grundbuch nicht eingetragenes Recht; allgemein unter-
liegen die Ansprüche aus eingetragenem oder durch Eintragung eines Wider-
spruches gewahrten Rechte der Verjährung nicht.
Bezüglich der Ausführung nnd der Reihenfolge der verschiedenen Arbeiten
sind jeweilig durch königliche Verordnung zu bestimmen: die Bezirke, in denen
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Di« vorgetchlagene Einführung des Grundbuchsystema in Griechenland. 325
die Verdichtung des Triangulieningsnetzes, die Vermessung und die Kartierung
der Grundstücke und die Anlegung des Grundbuches stattzufinden hat; für jedeu
solchen Bezirk die Zoitfrist für den Übergang von der bisher geltenden Gesetz-
gebung zu dem Grundbuchsrechte und der Zeitpuukt des Inkrafttretens der
Grundbücher, Feststellung und Vermarkung der Grenzen sind bezirksweise inner-
halb einer durch Verfügung des Justizministers zu bestimmenden Zeitfrist vor
Beginn der Grundstückmessung durchzuführen und ist nach Fertigstellung der
Karte in einem Bezirke, dieselbe sofort für die Anlegung der Grundbücher zu
benützen und im Fortlaufenden zu halten.
Zur Deckung der Kosten für die Herstellung der Karte und die Anlegung
der Grundbücher ist jährlich ein besonderer Posten iu den Staatsvoranschlag
aufzunehmen. Für die Ausführung dieser Arbeiten iu den korinthenproduzierendeu
Laudesteilen jedoch wird die Korintheubank1) zu einem bestimmten jährlichen
Beitrage verpflichtet.
Zur Ergänzung und näheren Ausführung oberwähnter der neuen deutschen
Keichsgesetzgebung entnommenen wesentlichen Sätze des Entwurfes über das
materielle Grundbuchsreclit sind offenbar weitere Gesetze und Verordnungen notwendig.
Der Entwurf stellt auch solche in Aussicht und erwähnt jene betreffend die zur
Eintragung der Rechts&nderungen in das Grundbuch erforderlichen Voraussetzungen,
den Übergang von dem gegenwärtigen zu dem neuen Imntobiliari echte, die
Eintragung von Rechten auf Bergwerke, ferner das Verfahren für die Herstellung
und die Fortführung der Karte, für di« Aufstellung der Güterverzeichnisse, für
die Anlegung der Grundbücher, die Führung derselben und der Hilfsregister, die
innere Einrichtung der Grundbücher u. s. f.
Der Entwurf wurde jedoch nicht zum Gesetze, er gelangte nicht einmal
zur Beratung. Dies war vorausznsehen bei den Schwierigkeiten, gegen welche zu
jener Zeit jedwede Arbeit im Parlamente zu kämpfen hatte: auch wurde der
Entwurf mitten in einer stürmischen Budgetdebatte und knapp vor Schluß der
Session der Kammer vorgelegt. Trotzdem ist der Entwurf von Bedeutung iin
Entwicklungsgänge der in Betracht kommenden Frage, denn im Entwurf« wird
dieselbe viel genauer bestimmt als je zuvor, so daß nunmehr die Parteinahme
für oder gegen die Reform erleichtert wird und der Erörterung engere Greuzen
gezogen sind.
Grundsätzlich wurde vermieden au die vorgeschlagene Reform irgend welche
Steuermaßregel anznknüpfen. obwohl es in Griechenland sehr not tut auf dem
Gebiete der Grnudbestenernng fund nicht minder auf den anderen Steuergebieten)
umgestaltend einzugreifen; und das völlige Mißlingen der in letzter Zeit ge-
machten Versuche. Flächenstenern einzuführen, mag allen jenen, welche die
Notwendigkeit amtlicher Feststellung der Steuerobjekte und -Subjekte verkeimen, wohl
ein Besseres gelehrt haben. Offenbar werden durch die Grundbucheinführung
wichtige Daten für die Lösung einzelner Steucrproblenic gewonnen, doch ist dies
nicht Zweck der vorgeschlagenon Reform; nunmehr, da deren Wesen und Ziel
genau bestimmt ist, kann man allen jenen Meinungen entgegentreten, die Mol)
*) Siehe den auf Seite 321 erwähnten Aufsatz.
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L.uuat'j
:t2ii
auf Grund französischer Katasterverhältnisse zu einer Verwirrung von Grund-
steucrkatastcr- un<l Grundhnchwcscn gelangen und dadurch auch zur Irreführung
weiterer Kreise von Beteiligten beitragen. Die Vorteile, welche die Grundbücher
dem Grundcigentumc bieten, beeinflussen dessen Steuerkraft günstig, worin die
Berechtigung für die Kosten der Grundbucbreform gelegen ist. Die Deckung der-
selben soll nicht dnreh Schaffung von neuen Steuerlasten, sondern nach dem
Geiste der die Kostendeckung betreffenden Bestimmung des Entwurfes soll in
Anbetracht der gegenwärtigen Besteuerung des unbeweglichen Vermögens (um
so mehr wenn man diese Besteuerung jener der übrigen Roichtumsqncllen gegen-
üherstellt) ein Teil des .Steuerbeitrages verwendet werden für die Durchführung
der hier besprochenen, solch bedeutende Vorteile anfweisenden Reform.
Der Entwurf bildet bezüglich des dariu enthaltenen Stoffes jene erste
Aufstellung, auf welche sich nunmehr vorteilhaft eine sorgfältige Umarbeitung an-
lebuen muH. Neben einigen, dem Sinne oder dem Worte nach und konsequen-
terer oder genauerer Fassung wegen, nötigen Änderungen kommt auch die
Frage einer Erweiterung des Inhaltes des Entwurfes in Betracht mit Bezug auf
die uberwähnten weiterhin nötigen Ergänzungsvorschrifteil, wobei doch nicht alle
Eiiizelnbestinimniigeii im vorhinein getroffen werden können und für das An-
passen einzelner davon an die Lokalforderungen die Erfahrungen aus dem Gange
der ersten Arbeiten und zum Teile auch aus versuchsweisen Vorgehen abzu-
warten sind.
Bezüglich der ferneren vorbereitenden Tätigkeit hat der Justizminister der
nntor seinem Vorsitze mit der Ausarbeitung des Entwurfes zu einem bürgerlichen
Gesetzbncbe tätigen Kommission anheimgestellt, heim Entwerfen des Sachenrechtes
die vorgeschlagene Grundburhseinfiihrung zu berücksichtigen und danach auch die
in der übrigen Gesetzgebung nötigen Umgestaltungen zu regeln. Fenier ordnet« die
Regierung das Sammeln von ausführlichen amtlichen Informationen über das Grund-
buchwesen und einigen damit zusammenhängenden Snnderfragen im Auslände au
und ist die diesbezügliche Tätigkeit im besten Vorschreiten begriffen. Eine zweck-
tnäflige Verwertung dieser Informationen ist für die weitere Gestaltung der vor-
geschlagenen Reform nötig und wird ancli dienlich sein, um den von der Re-
gierung in der Frago eingenommenen Standpunkt fernerhin zu behaupten. Auf
letzteres ist besonderes Gewicht zu legen, denn in der Weise, wie gesetzgeberische
Arbeiten vorbereitet nnd von der Kammer verrichtet werden, lädt sieh in Griechen-
land manchmal noch die schädliche Einwirkung voll Faktoren erkennen, welche
den Sitten und Gebränchen der inneren Politik nicht fremd sind. Dabei tritt
auch das Unzulängliche jener Einrichtungen hervor, Welche der Verwaltung, dem
Parlamente nnd auch der Krone streng sachgemälie Auskunft nnd Rat für die Be-
urteilung der geseztgeberischcn Maßregeln vermitteln sollten.
Im Interesse des objektiven Vorgehens in der Frage der Grnndbuchoin-
führung ist der Regierung wiederholt aiiheimgestclll worden. Erhebungen rorzu-
nehmen, um auf statistischer Grundlage die lokalen Verhältnisse festznstellen und
zu beleuchten, für deren Beurteilung man nur auf subjektive Anschauungen an-
gewiesen ist. Dies wäre einerseits dienlich znr genaneren Bestimmung der Wir-
kungen der Torgesr.hlagenen Reform, anderseits nötig für die Aufstellung einiger
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Die rorgeschlagent Einführung Je« Grundbechsjslems in Griechenland :(27
den Lokalverhältnissen anzupassenden Vorschriften der neuen Gesetzgebung and
für das Regeln gewisser, hauptsächlich in das wirtschaftliche Gebiet fallenden
Konsequenten der Grnndbucbeinführnng. Die Durchführung solcher Erhebungen
ist leider bisher ausgeblieben.
Desgleichen ist es tu bedauern, daü die Verdichtung des Triangulierungs-
nettes in letzter Zeit nicht das für die hier besprochene Frage erwünschte Vor-
schreiten aufzuweisen hatte und es erweckt dieser Umstand das Bedenken, ob
au Stelle der allerdings vorteilhaften und auch beabsichtigt gewesenen Zontral-
organisation für staatliche kartographische Arbeiten nicht eine andere Organisation
treten müßte.
Es ist im allgemeinen ratsam, die Frage der Grundbuchcinführnng als eine
nach allen Seiten hin möglichst genau abgegrenzte, in sich abgeschlossene Frage
anzusehen und einer praktischen Lösung zuznfnhren. ohne sie von anderen all-
gemeineren oder spezielleren Problemen, mit denen sich diese Frage berührt, ab-
hängig zu machen. Ein solches Abhängigkeitsverhältnis würde unberechenbare
Aufschübe nach sich ziehen und könnte die vorgeschlagene Reform sogar zum
Scheitern bringen. Zwar folgt der Entwurf dem Gedanken, die Reform selbständig
in Angriff zu nehmen, doch müßte diese Selbständigkeit noch bestimmter bekundet
und sichergestellt werden.
Die praktischen Resultate in der Frage der Grundbucheiiifübrnng in Griechen-
land seit dem Jahre 1888 sind allerdings gering, doch wäre es nicht gerecht, dies
ausschließlich gewissen spezifisch lokalen Umständen zuzuschrciben: man muß anch
jene Schwierigkeiten in Rechnung setzen, gegen welche die Vorbereitung und die
Durchführung einer solchen Rcfnrm zu kämpfen hat und welche zwar in verschiedenem
Maße, jedoch in jedem Lande und zu jeder Zeit auftreten. Erfreulich ist es
jedenfalls, daß die Frage der Gruudbucheinfdhrnng in Griechenland nunmehr be-
deutend geklärt und sogar zu einer Reife gelangt ist. welche bald zur prak-
tischen Lösung zu führen verspricht. Anerkennung verdient diu im Jahre 11102
von der Regierung entfaltete diesbezügliche vorbereitende Tätigkeit und cs ist
zu heffeti, daß der eingeschlageue Weg auch weiter befolgt werde.
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LITERATUR BERICHT.
Neuere Literatur über Wirtschaftsgeschichte.
Bulmerinc<i, Stieda, Brandt, Lohmann.)
Besprochen von Inania- Stern egg.
August v. Buliucrliicq, Zwei Kämmereiregister der Stadt Riga. Ein
Beitrag zur deutschen Wirtschaftsgeschichte. Leipzig, Duncker & H timblot, 1902. 280 8.
August v. Bulmerincq hat sich um die Verfassnngsgeschichte seiner Vaterstadt
schon mehrfach verdient gemacht. Seine Schriften über den Ursprung der Stadtverfassung
Rigas 1894 und die Verfassung der Stadt Kiga im ersten Jahrhundert der Stadt sind
wertvolle Beiträge zur deutschen .Städtegeschichte. Mit der vorliegenden Arbeit eröffnet
der Verfasser einen tieferen Einblick in die Finanxverwaltuug der Stadt im 16. Jahr-
hundert. Die beiden Kämmereiregister v«»u 1514/16 und von 1555/56 geben zwar kein
vollständiges Bild der Stadttinanzcn. aber sie enthalten in reichem Detail einen so
wesentlichen Teil derselben. daß sie eine Publikation wohl verdienten. Der Natur des
Amtes entsprechend, von dem sie geführt sind, enthalten die Kämmereiregister alle Ein-
Uuguugen über die laufenden täglichen oder wöchentlichen Zahlungen und Eingänge
eines Wirtschaftsjahres. Es ist sehr bezeichnend für die ganze Art der Finanzverwaltung,
daß diese Rechnungen regelmäßig mit einem Fehlbetrag abscli ließen, da die dem
Kämmerer zur Verfügung gestellten Einkünfte nie zur Befriedigung der gewöhnlichen
Anforderungen an seine Kasse ausreichten, alle außergewöhnlichen Ausgaben dagegen
zunächst von dem Kämmerer vorschußweise bestritten werden mußten und erst nach der
Abrechnung ihm wieder vergütet wurden, wie der Kümmerer auch innerhalb des Wirt-
schaftsjahres laufende Ausgaben aus seiner Tasche bestreiten mußte, insoweit die ihm
zugewiesenen laufenden Einnahmen sich zeitlich nicht mit seinen Ausgaben deckten.
Abgesondert von den Käimnereirechuungen wurden in Riga alle Einnahmen verrechnet,
welche an bestimmten Terminen erhoben wurden, wie Miet- und Pachtgelder. Grundzinse
und Kenten, die im über reddituum eingetragen sind, welche J. G. Napiersky schon
1881 veröffentlicht hat, ferner Schoß und später auch Akzisen, die Einkünfte der
besonders verwalteten Wirtschaftsgebiete und alle Zahlungen, welche, erst nach Ablauf
des Jahres eingeteilt, für das ganze Jahr oder während des Jahres in bestimmten Beträgen
au bestimmten Tagen zu machen waren; diese Einnahmen und Ausgaben werden entweder
unmittelbar vuu den Bürgermeistern verwaltet oder von besonderen Beamten der einzelnen
Verwaltungszweige. Es ist sehr verdienstlich, daß der Herausgeber auch die Einkünfte
der Stadt an Zinsen, Reuten, besouders Wirtschaftsführung sowie über einzelne Ver-
waltungszweige anhangsweise mitgeteilt hat. um den Überblick über die Finanzlage der
Stadt zu erweitern. Aber auch die volkswirtschaftlichen Verhältnisse, Produktion. Löhne,
Preise etc. erhalten aus den Registern eine wertvolle Beleuclituug.
Die Edition der beiden Register ist sehr sorgfältig und besonders verdient
Anerkennung, dall sich der Verfasser die Mühe nicht verdrießen ließ, eine vollständige
statistische Aufarbeitung derselben durchzuführen, wodurch derartige Quellen erst recht
benutzbar werden
Wilhelm Stleda. Die Anfänge der Porzeilanfabrikation auf dem
Thüringer Walde. Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Thüringens. I. Band. Jena,
Ü. Fischer, 1902. VIII und 425 8.
Der Industriezweig, dessen Anfänge der gelehrte Verfasser für das Gebiet des
Thüringer Waldes untersucht, ist dermalen auf diesem Gebiete sehr st alt lieh vertreten.
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Literatnrberirht.
320
Derzeit bestehen in ileu thüringischen Staaten nicht weniger als 112 Porzellaufabiiken,
darunter einige, die Hunderte von Arbeitern beschäftigen. Die Einbürgerung dieser erst
seit dem Anfang des 18. Jahrhundert« auf gekommenen, bald aber von den Höfen wie
ira wohlhabenden Bürgertume sehr begünstigten Industrie scheint aber speziell in
Thüringen unter sehr großen Schwierigkeiten sich vollzogen zu haben. Nachdem im
Jahre 1710 auf der Albrechtsburg in Meißen die erste deutsche Porzellanuiauufaktur
eingerichtet war und bald zu \ ielbcneidetem Weltruf gedieh, erscheint auch bald, im
Jahre 1718 die erste Porzellan fahrik des Thüringer Waldes in Saalfeld, ini selben Jahre,
in welchem auch die nachmals berühmte Wiener Porseilaumanufaktur entstand Aber
sowohl diese, wie die bald nachfolgenden Gründungen in Rudolstadt. Ilmenau und Coburg
konnten trotz der ausgiebigen fürstlichen Patronanz während der ersten 40 Jahre der
Geschichte dieses Industriezweiges zu keiner irgend namhaften Leistungsfähigkeit kommen.
Rr>t den Bemühungen zweier tüchtiger und unternehmender Männer, welche, unabhängig
von Böttgcrs Entdeckung, das Geheimnis der Fabrikation von Hartporzellan fanden,
gelang es seit 1760 bi« znm Ansgange des 18. Jahrhunderts 12 Fabriken in Thüringen
anzulegen, von denen die Mehrzahl sich bis auf den heutigen Tag erhalten hat. Über
die technische und kunstgewerbliche Seite der altthüringischen Porzellanmanufaktur
vermag der Verfasser bei dem Mangel an Aktenmaterial und bei dein sehr spärlichen
Vorkommen älteren Porzellans thüringischer Provenienz leider mir sehr wenig zu berichten.
Dennoch kann er es sich zum Verdienst anrechnen, daß er soviel als möglich die
Anhaltspunkte gesammelt hat, welche es den Museen und Liebhabern ermöglichen, das
thüringische Porzellan zu erkennen, auch wenn eine Marke fehlt Eine Reihe von
interessanten Aktenstücken, zum Teil mit genauen Kostenberechnungen, Lohnlisten u. n.,
auch der Text eines Kartellvertrages sieben thüringischer Porzcllaufabriken aus dem
Jahre 1814 geben tiefen Einblick in die wirtschaftlichen Verhältnisse dieses Industrie-
zweige« und seine wechselnden Schicksale im ersten Jahrhundert seines Bestände«.
Otto Brandt, Studien zur Wirtschaft«- und Verwaltungsgeschichte
der Stadt Düsseldorf im 19. Jahrhundert. Düsseldorf, A. Bagel. 1902.
XIII und 436 S.
Mit der vorliegenden Schrift hat die Stadt Düsseldorf allen gröberen Kommanal-
verwaltungen ein sehr gutes* Beispiel gegeben, indem sie einen geschichtlichen Überblick
über die wichtigsten Lebcnsgebicte der Stadt während des ganzen abgelaufenen Jahrhunderts
bietet. Unsere Städte sind lange Zeit hindurch sozusagen ins blaue hinein gewachsen,
ohne sich über die Tragweite dieser Tatsache eine weitere Rechenschaft zu geben und
ohne sich selbst klare Ziele ihrer eigenen Entwicklung zu setzen. Heute ist es allerdings
schon allgemein zum Bewußtsein gekommen, welch große Bedeutung die Stftdte-
verwalt urigen für das ganze Wirtschaftsleben der Nation haben. Die Dinge liegen in
mancher Hinsicht heute wieder ebenso wie schon im späteren Mittelalter, wo ja auch
die Städte und ihre wirtschaftliche Verwaltung vorbildlich für die folgende landes-
herrliche Wirtschaftspolitik geworden sind. Insbesondere dürften die wirtschaftlichen
Unternehmungen der Städte heutzutage als die Pfadfinder auf dem weiten Gebiete der
öffentlichen Unternehmungen bezeichnet werden und mit Recht bat der Verfasser der
vorliegenden Studie dieser Seite der Kommunalverwaltung ganz besonders seine Auf-
merksamkeit zugewendet. — Es ist ein besonderer Vorzug dieser Darstellung, daß sie
auch die Statistik soviel als möglich herbeigezogen hat, utn die Dimensionen des
Wachstums der Stadt klarzustellen; das Material ist zwar lückenhaft und gewiß nicht
leicht zu beschaffen gewesen, aber cs ist damit doch wieder einmal der Beweis geliefert,
daß sich die volkswirtschaftliche Entwicklung des 19 Jahrhunderts doch, wenigstens in
großen Zügen, immerhin auf statistischer Grundlage rekonstruieren läßt, wenn man nur
die Muhe nicht scheut, die in den Verwaltungsakten aufgespeicherten Materialien äun-
zugraben und mit wissenschaftlichem Geiste zu bearbeiten Wir kOnneu es uns nicht
versagen, einige der besonders sprechenden Zahlen aus dem Werke mittu teilen, um die
gewaltigen Dimensionen zu ersehen, welche eine Stadt vom Hange Düsseldorfs im Laufe
de« Jahrhunderts angenommen hat.
st*-
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330
Literaturbericht.
Einwohner 1*00: 16.000 19DÖ: 213.71 1
Gesamt gäterverkehr im Dussel*
dorfer Hafen 1881: 7.106 Tonnen 1900 : 620.802 Tonnen
Verkehr bei der Düsseldorfer
Anstalt der Preußischen Bank
beziehungsweise der Reichsbank 1*60: 33,109.200 Taler 1900: 2.109,325.100 Mark
Briefe angekommen 1883: 487.516 1900: 30,912.408
Eisenbahnverkehr:
Personen 1845 : 234.370 1900 : 2,845.972
Güter 1845: 1,001.145 Zentner 1900 : 8,220.345 Tonnen
Telegramme aufgegeben und ein-
gelangt 1869: 81.202 1900: 1,661.367
Friedrich Lohmaim, Die staatliche Regelung der englischen Woll-
industrie vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. (Schindlers staats- and sozial-
wissenschaftliche Forschungen, XVIII, 1.) Leipzig, Dunckler & Hamblot, 1900.
X und 100 S.
.Seit sich die Nationalökonomie daran gewöhnt hat, der Morphologie der volks-
wirtschaftlichen Verhältnisse ein schärferes Augenmerk zuzuwenden, fördert auch die
Wirtschaftsgeschichte immer mehr fruchtbare Analogien zu unseren modernen volkswirt-
schaftlichen Zuständen durch eine genauere Klarstellung der inneren Struktur der älteren
Wirtschaftfrverfnssung zu Tage. Vieles, was noch bis vor kurzem als ein spezifisches
Erzeugnis moderner wirtschaftlicher Kultur gegolten hat, erscheint nunmehr, nachdem
das beobachtende Ange an den Tatsachen des Lebens geschärft ist, auch bcIioq in älterer
Zeit in ähnlichen Formen vorhanden, als ein mehr oder weniger notwendiges Durchgangs-
Stadium in dem unablässigen Prozett der Entwicklung menschlicher Einrichtungen. So
verhält es sich z. B. mit dem in dem vorliegenden Buche anschaulich geschilderten Ver-
lagssystem in der englischen Wollindustrie, welches, mindestens vom Beginne der zweiten
Hälfte des 15. Jahrhundert« angefangen, dieser Industrie zum groüen Teil ihr charakte-
ristisches Gepräge gegeben hat und nicht nur in einem heftigen Kampfe mit dem alten
Wollenhandwerk, sondern auch bald in einer Reihe von Konflikten mit der öffentlichen
Gewalt sich durchzusetzen versuchte. Gerade die frühreife englische Gesetzgebung and
Wirtschaftspolitik hat es aber zuwege gebracht, daß die Verlagsorganisation neben dem
allgflnstigen Wollhandwerk und der gleichfalls schon frühzeitig auftretenden selbständigen
Hausindustrie zum raschen Aufblühen der englischen Tuchindustrie beitrug und nicht in
selbstsüchtige Ausbeutung ausartete. Als mit dem Anfang des 16. Jahrhunderts die alt-
heriihmte deutsche Tuchindustrie in unverkennbaren Verfall geriet, wurde die englische
Gesetzgebung in den Reichspolizeiordnungen nachgeahmt, Verbote der Wollausfuhr, der
Verfälschung der Tuche, der Anwendung neuer Farben erlassen. Vorschriften über Technik
und Handel mit Tuchen aufgerichtet, wie das alles die englische Gesetzgebung seit
zweihundert Jahren, aber allerdings unter ganz anderen Voraussetzungen gehandhabt
hatte. Aber der Geist, in dem diese Ordnungen der Reicbapolizci erlassen wnrden, war
ein wesentlich anderer als jener, von dem die englische Wirtschaftspolitik geleitet war.
Hier kleinliche Reglementierung, die noch dazu jeder einheitlichen Exekutive entbehrte,
in jedem Territorium anders verstanden und gehandhabt wurde, dort ein großer ethischer
Zug, der vor allem unehrliche Gesinnung und betrügerisches Gebaren bekämpfte und die
Ehre der Nation darein setzte, daß englisches Tuch im Auslande dem englischen Namen
und dem königlichen Stempel keine Schande mache; und das alles durchgesetzt durch
eine Organisation, welche eine glückliche Mischung von Selbstverwaltung und staatlicher
Aufsicht war und in dieser Verbindung daB Bewußtsein nie abhanden kommen ließ, wie
große Güter der Nation in dem staitlichen Schutze der Wollindustrie zu ver-
teidigen waren.
Die Schrift ist eine Vorstudie zur Geschichte der älteren preußischen Gewerbe-
politik, deren Verständnis durch historische Analogien aus anderen Ländern erleichtert
werden soll. Diesen Zweck wird sie auch erreichen, der Wert der Wirtschaftspolitik des
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Literaturbericbt.
331
absoluten Königtums in l’reufieu wird diesen aus Knglaml geholten Maßstab nicht zu
scheuen haben. J.
Blihm-Bawerk, Kapital und Kapitalzins, 2. Auflage, II. Abteilung. Positive
Theorie des Kapitals, Innsbruck. Wagner 11X12, 46S S.
Der zweiten Auflage der ersten Abteilung dieses Werkes, welche vor zwei Jahren
erschienen ist, sollte baldigst eine Neubearbeitung auch der zweiten Abteilung folgen.
Die Übernahme des österreichischen Finanzportefeuilles durch den Verfasser hat aber
bisher die Verwirklichung dieses Planes unmöglich gemacht und ihn gezwungen, die letztere
auf gelegenere Zeit zu verschieben. Die vorliegende, unveränderte, zweite Auflage der
zweiten Abteilung wurde dadurch veranlaßt, daß die erste vergriffen ist, die Nachfrage
nach dem Werke aber ungeschwächt andauert Diese Zeilen haben nur den Zweck, auf
das Erscheinen der zweiten Auflage aufmerksam zu machen.
Lily Braun, Die Frauenfrage, ihre geschichtliche Kntwicklung und
ihre wirtschaftliche Seite. Leipzig 1901, 557 S. ft*.
Frau Braun will in dem hier anzuzeigenden Werke die Frauentage in ihrem
ganzen Umfange darstellen. Es soll zwei Bände umfassen. Der erste ist vorläufig allein
erschienen. Er bringt eine gedrängte Geschichte der Frauentage und der Frauenbewe-
gung und eine sehr eingehende Darstellung der Frauentage nach ihrer wirtschaftlichen
und sozialpolitischen Seite hin Der zweite Band soll die rechtliche Stellung der Frau
sowie die psychologische und ethische Seite der Frauentage behandeln. Daß die wirt-
schaftliche Seite als die grundlegende zuerst erledigt wird, ist kein Zufall, sondern eine
notwendige Konsequenz des Standpunktes der Verfasserin, die als überzeugte Sozial-
demokratin auf dein Boden der materialistischen Geschichtsauffassung steht. Über diesen
Standpunkt läßt sich nicht rechten. Jeder Autor hat das Recht, seine allgemeine Welt-
anschauung den Untersuchungen seines speziellen Arbeitsgebietes xu Grunde zu leger».
Ist doch überhaupt die Forderung voraussetzungsloser Forschung auf keinem Gebiete
weniger erfüllbar, als auf dem der Frauentage, wo schon durch das Geschlecht des
Forschers eine ganze Menge von Voraussetzungen von vornherein gegeben ist. Immer
aber muß volle Beherrschung, objektive Darlegung und gerechte Würdigung der Tat-
sachen gefordert werden. Das ist auch die Meinung der Verfasserin. Sie sagt im Vorwort:
„ Eines aber darf ich für mich geltend machen: daß die Darstellung auf einem umfas-
senden Studium der Literatur, insbesondere auch soweit es sich um die Ermittlung der
tatsächlichen Zustande handelt, auf der Benutzung der amtlichen Statistiken, staat-
lichen wie privaten Enqueten, kurz so weit als möglich auf quellenmäßigen Unter-
suchungen beruht.“
In der Tat zeugt das Buch von einer — nicht nur bei Frauen — ganz ungewöhn-
lichen Bildung, von voller Kenntnis und Beherrschung des Stoffes, von emsigem Heiß
und großem Darstellungstalent. Es ist an und für sich ein wichtiges Dokument, der
Frauenfrage, indem es das Vorurteil von der wissenschaftlichen oder geistigen Minder-
wertigkeit der Frauen schlagend widerlegt. Gar mancher von jenen Männern, die dieses
Argument mit Vorliebe wiederholen, ist unfähig zu einer ähnlichen Leistung. Das Buch
ist aber zugleich ein Beleg dafür, daß die weibliche Begabung, wenn auch der männ-
lichen gleichwertig, doch nicht mit ihr gleichartig ist. Das Gefühl überwiegt: das leiden-
schaftliche Verlangen, die sittliche, geistige und wirtschaftliche Lage der Frauen zu
heben, herrscht so sehr vor, daß es den Maßstab für die Beurteilung der Vergangenheit
und Gegenwart verrückt und den Blick in Bezug auf die Möglichkeiten der Zukunft
verwirrt. Das verleiht zwar der Darstellung einen oft hinreißenden pathetischen Schwung,
verleitet aber die Verfasserin dazu, die Dinge nicht mit dem ihnen innewohnenden,
eigenen ^faße, sondern an ihren, der Verfasserin, hochgespannten Idealen zu messen und
führt zu übertriebenem Pessimismus in der Beurteilung des Bestehenden und Gewesenen
und zu maßlosem Optimismus in Bezug auf die durch den Sieg der Sozialdemokratie zu
realisierenden Möglichkeiten der Zukunft.
Frau Braun gehört darin ganz dem orthodoxen Flügel der wissenschaftlichen
Sozialdemokratie an, der die Augen vor vielen ihm ungelegenen Tatsachen hartnäckig
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382
Literaturbericht.
verschließt, uin nur die „lteiuhcit der Lehre** aufrecht zu halten. Dadurch wird auch
der „quellenmäßige“ Charakter der Untersuchung arg beeinträchtigt. Frau Braun sieht
die Dinge nicht unbefangen, sondern durch die Brille der traditionellen sozialdemokra-
tischen Parteiauffassung an. Sie ist gewiß ein origineller, selbständig denkender Kopf,
aber dein Parteikanon gegenüber versagt ihre sonst so scharfe und vielfach treffende
Kritik. Daa beeinträchtigt auch den historischen Teil des Buches, worin die Verfasserin
bei der Schilderung der primitiven Verhältnisse den Morgan- En gelsschen Konstruktionen
folgt, ohne von den entgegengesetzten Ergebnissen neuerer Forscher Notiz zu nehmen.
Die Frauenfrage ist für die Verfasserin ganz einheitlich und umfassend. Das Ziel
ist: „die Frauen durch selbständige Arbeit aus ihrer wirtschaftlichen Versklavung zu be-
freien.“ Arbeit, die Befreierin des Weibes! Das ist der Grundgedanke. Die restlose
Durchführung dieses Gedankens würde allerdings eine so tiefgreifende Änderung der
Produktionsweise, des Familienleben* und der Konsumtionssitten bedingen, wie sie auf
dem Boden der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung undenkbar ist. Es ist daher ganz
folgerichtig, wenn Frau Braun die Frauenfrage in einen so engen Zusammenhang mit
der sozialen Frage bringt, daß sie die Lösung der cineii nur durch die andere für mög-
lich erklärt. Die Verwirklichung ihres Programme» erwartet die Verfasserin nur vom
sozialistischen Zukunftsstaate. Ja, es scheint, daß sie diesen nur oder doch in erster
Linie nur um seiner Verheißungen für die Frauen willen herbeiwünscht. Sie ist Sozial-
demokratin, weil sie an der Lösung der Frauenfrage durch die bürgerliche Gesellschaft
verzweifelt.
Vom Standpunkte der Frauenarbeit aus betrachtet, zerfällt die Frauenfrage in
zwei große Abschnitte, denen auch die Einteilung des Buches entspricht: in die bürger-
liche Frauen frage und in die proletarische Frauen frage oder die Arbeiterinnen frage. Bei
der ersteren handelt es sich bisher ganz überwiegend um die Versorgung unverheirateter
Frauen aus der bürgerlichen Schichte durch Erwerbstätigkeit. Sie ist also in erster
Linie eine Heirat«- oder alte Jungfernfrage. Auch Frau Braun faßt sie, wenigstens
praktisch, so auf, indem sie den Frauenüberschuß, das spätere Heiratsalter und die
Heiratsunlust der Männer in den bürgerlichen Kreisen als die Hauptursachen der
bürgerlichen Frauenfrage hinstellt. Hier gilt es also den Frauen, die bei der Ehe zu
kurz gekommen sind, Erwerbsgelegenheiten zu eröffnen, die sie nicht deklassieren.
Insofern das letztere der Fall ist, geht die bürgerliche Frauenfrage in die prole-
tarische über. Theoretisch scheint Frau Braun allerdings der Ansicht zu sein, daß
auch die bürgerlichen Frauen nur durch die Berufs-, d. h. Erwerbsarbeit zur vollen Ent-
faltung aller ihrer Fähigkeiten gelangen können, und daß demnach alle Frauen diesen
Weg einschlagen sollten, auch die bürgerlichen, auch die es nicht nötig haben. Sie be-
grüßt den Eintritt der Frauen in das öffentliche Leben als ein neues belebendes Prinzip,
indem dadurch die Fülle der bisher noch nicht voll erkannten und ausgenützten spezifisch
weiblichen Begabung den Menschheitszwecken zugefiihrt werde. Auch wer diese Anschau-
ung nicht teilt, wird den kritischen Bemerkungen der Verfasserin über Fraucncrziehung
und Lehensansprüche, über die Vorurteile, die der bürgerlichen Frauenarbeit entgegen-
stehen, Über die Härte und Ungerechtigkeit der Entlohnung zustimmen müssen, und der
Freund der Frauenbewegung wird sich über die eindringliche und treffende Art des
Vortrages freuen.
Ganz besonders begrüße ich es, daß die Verfasserin sich nicht etwa auf den me-
chanischen Konkurrenzstandpunkt stellt und für die Frauen schlechtweg die bisher
männlichen Berufe und Beschäftigungen in Anspruch nimmt, sondern daß sie, von der
verschiedenen natürlichen Veranlagung der beiden Geschlechter ausgehend, eine ver-
feinerte gesellschaftliche Arbeitsteilung anbahnen möchte, wonach den Frauen jene
Funktionen und Beschäftigungen zufallen, die ihrer besonderen Begabung entsprechen.
Auch ich habe immer den Gedanken vertreten, daß die Zunahme der Frauenarbeit nicht
ohneweitera als eine Einengung des männlichen Arbeitsfeldes anfzufassen sei, sondern
stets Hand in Hand gehe mit Fortschritten der Arbeitsteilung zwischen den beiden Ge-
schlechtern, so daß jedes Geschlecht diejenigen Funktionen zugewiesen erhält, zu welchen es
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Literaturbericht.
besser veranlag ist. Pas gilt sowohl für die bürgerliche als auch für die proletarische
Frauenarbeit. Vom Standpunkte technischer Arbeitsteilung aus dörfte die Frauenarbeit
demnach als ein gesellschaftlicher Gewinn gelten. Darin stimme ich mit der Verfasserin
uberein.
Aber der Standpunkt der tcchnichen Arbeitsteilung ist nicht der maßgebende. Ich
teile durchaus nicht die Ansicht der Verfasserin, daß Erwerbsarbeit das einzige oder
überhaupt das geeignete Mittel sei. um die spezifisch weibliche Genialität zu wecken
und die weiblichen Anlagen oder die allgemein menschlichen Anlagen im Weibe voll zu
entwickeln. Ich erblicke in der Nötigung zu hartem Erwerb vielmehr ein Hindernis
dieser Entwicklung, das zu schweren Schäden führt. Das ist eine Konsequenz meiner vol
der Verfasserin völlig abweichenden Gesellschaftsauffassung. Ich stehe eben nicht auf dem
atnmistischen Standpunkt, der Mann und Weib immer für sich betrachtet, sondern halte die
Familie für die wahre Einheit der gesellschaftlichen Organisation. Auch in wirtschaft-
licher Hinsicht: für Erwerb und Verbrauch. Damit will ich die Frauen keineswegs ins
Haus bannen Mit der Verfasserin bin ich der Ansicht, daß sowohl die gesellschaftlichen
Interessen als auch die individuelle Ausbildung durch einen erweiterten Bildungs- und
Wirkungskreis der Frau nur gewinnen können. Aber die Erwerbsarbeit der Frau ist nicht
das geeignete Mittel dazu. In den bürgerlichen Kreisen ist sie doch regelmäßig die
Folge eines Notstandes. Ich begrüße daher alles, wodurch die Erwerbsgelegenheit der Frauen
erweitert, ihre Ausbildung hiefür verbessert, ihr Einkommen daraus erhöht wird. Sehr erheb-
liche Fortschritte werden auf diesem Gebiete zweifelsohne möglich sein, wofür die westlichen
Kulturstaaten ja mannigfache Belege bieten. Allerdings kann ich das Bedenken nicht unter-
drücken, daß Frau Braun die Erfolge des Auslandes, insbesondere hinsichtlich der Bildungs-
gelegenheiten einigermaßen überschätzt. Allein eine erweiterte Erwerbstätigkeit derjenigen
bürgerlichen Frauen, die nicht durch iie Ungunst der Vermögenslage datauf angewiesen sind,
halte ich nicht für wünschenswert. Sie würden ja doch nur den minder günstig Gestellten das
Brot wegnehmen. Frau Braun übersieht auch keineswegs, daß die hauswirtschaftlichen und
Mutterpflicht en verheirateter Frauen die Ausübung eine» Erwerbebernfes sehr erschweren. Sie
will diesen Schwierigkeiten durch eine Umbildung der hauswirtschaftlichen Sitten und
der Erziehungsweise begegnen: durch Wirtschaftsgemeinschaften mit Zentralküchen und
durch gemeinsame Beaufsichtigung, wo nicht Erziehung der Kinder. Das Lehen in derartigen
Pensionen mag ja für alleinstehende Personen, auch für einzelne Familien, wo besondere
Verhältnisse obwalten, ganz praktisch sein. Aber Frau Braun ist in einer großen Täu-
schung befangen, wenn sie glaubt, die allgemeinen Wirtschaftssitten in dieser Richtung
umbildcu uud so die geistige Befreiung der Frauen fördern zu können. Viel mehr Aussicht
auf Erfolg scheinen mir die Bestrebungen zu haben, das geistige und sittliche Niveau
der bürgerlichen Frauen von innen aus zu heben, durch Erziehung und Bildung, durch
Erweiterung der Weltkenntnis und Weckung des sozialen Pflichtbewußtseins, aber ohne
die Zuchtrute der Erwerbsarbeit. Bei ernster Lebensauffassung und Pflichterfüllung ist
der Lebensinhalt einer Fran, die Mutter ist, reich genug, um jene gewaltsame Aufrütte-
lung des Interesses entbehren zu können, welche der Erwerb mit sich bringt und bedingt.
Ist die bürgerliche Frauenfrage wirklich eine Heiratsfrage, so darf die Lösung nicht nur
auf der Frauenseite gesucht werden, sondern sie muß auch von der Münnerseite aus in
Angriff genommen werden. Auf der Frauenseite gilt es. Arbeit und Erwerb für die Un-
verheirateten oder durch die Ehe nicht vor Not Geschützten zu finden. Von der Männer-
seite aus betrachtet, besteht das Problem darin, die Zahl der auf eigenen Erwerb ange-
wiesenen Frauen durch häufigeres und frühzeitigeres Heiraten zu vermindern. Die hohe
Zahl der alten Jungfrauen ist nicht so sehr durch den Frauer.ühcrschuß bedingt
als wie vielmehr durch »las spätere Heiratsalter und die Ehescheu der Männer. Für da«
Entscheidende halte ich den Alt ersah stand zwischen Alaun und Frau, der in Deutschland
und hier insbesondere in den bürgerlichen Kreisen abnorm hoch ist. Dadurch wird die
Zahl der unverehelichten und der vorzeitig verwitweten Frauen außerordentlich erhöht.
Das kann freilich nicht durch Moralpredigten geändert werden, wohl aber durch eine
allmähliche Änderung der Sitten und Anschauungen, durch eine ernstere, frohere und
ZWUrhrlU für Volkswirtschaft, Sntlalpnlltlk nn<1 Verwaltung. XII. Hand. 2
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334
Llteratnrbe rieht.
stöbere Lebensauffassung, welche, leerem „gesellschaftlichen" Scheine abbold, sich der
wahren und unverwüstlichen Grundlagen menschlichen Lcbensglilckes bewußt wird.
I>ie Verfasserin irrt übrigem, wenn sie auf Grund der nach Jahrzehnten berech-
neten Durchschnittszahlen annimmt, daß die Heirat »zitier allenthalben im Rückgänge, die
Zahl der uuversorgttMi Jungfrauen daher im Zunehineii begriffen sei. Eingehen auf das
Detail des letzten Jahrzehntes belehrt uns vielmehr darüber, dalt die Heiratsziffer wieder
wichst, daß im Durchschnitt etwas jünger geheiratet wird wie früher, daß der Alters-
abstand zwischen Mann und Frau abnimmt, und daß endlich die zweiten Kheschlieflnngen
gegenüber den ersten mehr in den Hintergrund treten. Es geht also im allgemeinen ein
frischerer Zug durch die Weit, wo man lieht und freit. Daß das auch für die bürger-
lichen Kreise gelte, wage ich nicht zu behaupten. Denn die Wandlung ist offenbar in
erster Linie darauf zuriickzufiilireii, daß die Industriearbeiter ab maßgebende* Element
in die Volksbewegung eingetreten sind. Die Großindustrie bietet aber, insbesondere mit
dem Handwerk und der Landwirtschaft verglichen, ihrer Arbeiterschaft die Möglichkeit
relativ frühzeitiger Eheschließung. Aber auch auf die anderen sozialen Schichten gewinnt
die groBindustrielle Entfaltung immer mehr Einfluß. Sie wird die von «len alten leitenden
Klassen übernommenen ehehindernden Vorurteile mit diesen seihst immer mehr zurück -
drängen. Ich hoffe, kein blinder Optimist zu sein, wenn ich aniiehiue, daß unser Volks-
leben sich in ansteigender Linie bewegt and daß «las auch in d«*r Zunahme der Ehen
und in der Abnahme der alten Jungfrauen «um Ausdruck gelangen wird. Die fortgesetzte
Zunahme der arbeitenden bürgerlichen Frauen steht keineswegs in Widerspruch rnit
einer solchen Wendung «1er Dinge. Denn der Notstand bleibt noch immer groß
genug, «ler Zugang zum Erwerb eng; nur Wenigen gelingt es, sich durch das Tor
zu drängen. Der Fortschritt der Frauenbewegung wird die Krwerbswege sicherlich
erweitern und vervielfältigen. Wächst dann die Zahl der berufstätigen Frauen, so
wird es kein Beweis für die Zunahme «ler Bedürftigen »ein, sondern für die Besserung
ihrer Lage.
Ganz anders geartet wie die bürgerliche Frauenfrage ist die proletarische. Hier
handelt es sich nicht um die Erschließung des Erwerbes, sondern um die Bekämpfung der
Gefahren, die mit «ler weiblichen Erwerbstätigkeit verbunden sind. Der Arbeiterinnen-
frage ist die bei weitem größere Hälfte des Buches gewidmet. Mit vollem Rechte. Denn
die Zahl der Lohnarbeiten nnen ist ganz unvergleichlich großer als die der erwerbstätigen
bürgerlichen Frauen. Bei diesen handelt es sich nur um eine Minderzahl, zumeist um
Unverehelichte, bei jenen um die breitesten Schichten, auch um «iie Ehefrauen und
Mütter. So wichtig und dringlich die bürgerliche Frauenfrage für die hiemn Betroffenen,
vom prinzipiellen Standpunkte aus auch für «lic Gesamtheit sein mag. sie rührt doch
nicht an die Grundlagen der Volkskraft: an das Leben und di«* Tüchtigkeit der kom-
menden Generation. Das ist aber gerade bei der Arbeiterinnenfrage der Fall. Denn in
den sogenannten unteren Schichten sind so ziemlich alle Kranen zur Erwerbsarbeit ge-
zwungen, die M«dirznhl auf Lebenszeit oder bis zur Erwerbsunfähigkeit, eine glücklichere
Minderzahl «loch bis zur Verehelichung o«ler bis zur Erfüllung der Mutterpflichteu. Und
auch jene Frauen des Proletariats, die nicht mehr erwerbstätig sind, sind doch durch die Er-
werbsarbeit gegangen: Allen «Irückt sie ihren Stempel auf. Und es erhebt sieh die Frag«-,
wie sie zurückwirkt auf die Eignung der Frauen zu Müttern und Erzieherinnen der kom-
menden Generation. Das ist's was die Arbciterinncufrage zu einer der dringlichsten
unserer nationalen Angelegenheiten macht.
Die Verfasserin wi«lmct «ler proletarischen Frauenfrage 7 Kapitel ihres Buches.
Sie schildert die Kutwickelung der proletarischen Frauenarbeit, gibt eine sehr fleißig
und geschickt zusammengest eilte Statistik derselben, beschreibt die wirtschaftliche und
kulturelle Lage der Arbeiterinnen in den verschiedenen Produktionszweigen und legt den
Gang und die Ziele der A rbeiterinnen beweg ung dar. Das vorletzte Kapitel erörtert das
Verhältnis der bürgerlichen Frauenbewegung zur Arbeitcrinnenfrage unter prinzipieller
Ablehnung aller Wohltätigkeitsverauche und aller Organisationen, die auf anderer als auf
sozialdemokratischer Grundlage beruhen. Im letzten Kapitel wird ein Programm tiir «lic
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Literaturbericht.
335
sozial politische Gesetzgebung unter Jen Gesichtspunkten Je« Arbeiterinnenschutzes und
der Arbeiterinnenversicherung entworfen. Die Zielpunkte sind durchaus zu billigen oder
Juch diskutabel. Es handelt sich dabei im wesentlichen nur darum, die bisher bereits ein-
geschlagenen Wege weiter zu verfolgen. Beachtenswert ist insbesondere der zuerst von belgi-
scher Seite ausgesprochene und von der Verfasserin warm vertretene Gedanke einer Mutter-
tfchaftsTcrsicherung. Wie weit das Heformprogramm der Verfasserin durchführbar ist,
hängt allerdings von der Aufbringung der Mittel ab. Auf diese Frage gebt leider die
Verfasserin nicht naher ein. Sie begnügt sich damit, prinzipiell gehaltene Anforderungen
an die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit aufzustellen.
Das umfangreichste Kapitel ist jenes, das von der Lage der Arbeiterinnen handelt.
Hier inalt die Verfasserin grau in grau, wie das ja schon uach ihrem ParteUtandpuukt
und ihren agitatorischen Absichten nicht anders zu erwarten ist. Selbr-t wenn man ein
gut»** Stück Übertreibung mit iu Rechnung stellt, bleibt noch immer genug des Trauri-
gen und Düsteren, noch immer dringende Veranlassung zu raschem und durchgreifendem
Eingreifen der Gesetzgebung in der Lichtung de* Frauenschutzes.
Wenn ich von Übertreibung spreche, so will ich damit durchaus keinen Zweifel
an der boua fides der Verfasserin aussprechen. Mehrfache Umstände wirken dabei mit.
Zuuächat ist zu bedenken, daß die Schriften, die sich mit Jer Lage der Arbeiterinnen
befassen, auch wenn sie nicht von der sozialdemokratischen Seite ausgehen, Keformab-
*icht»*n verfolgen, demnach die krassesten Fälle hervorheben und die ungünstigsten Ver-
hältnisse schildern. Nicht die guten, sondern die schlechten Lolinverhiltnisae und Arbeits-
bedingungen sind die interessanten; nur aus ihnen läßt sich publizistisch und sozialpoli-
tisch Kapital schlagen. .So kommt es, daß wir mehr schlechte als gute Zeugnisse besitzen,
und daß die an sich gewiß keineswegs befriedigende Lage der Arbeiterinnen nach der
Literatur beurteilt noch schlimmer erscheint, als sie es in Wirklichkeit ist. Ein zweites
Moment, welches Frau Braun zu Übertreibungen, zumindest im Tone des Vortrages
verleitet, ist zugleich jenes, worauf ihre Stärke ais Schriftstellerin und Rednerin zuin
guten Teil beruht: die Kraft ujpl Phantasie ihres Mitleids, die leidenschaftliche und
leideusvolle Anteilnahme an der Lage aller bedrückten und leidenden Frauen sowie der
glühende Wunsch, das Niveau der Frauen überhaupt zu heben. Diese Stimmung ist es
ja, die der Verfasserin die Feder in die Hand gedrückt, die sie in die Öffentlichkeit ge-
führt und ihre sozialpolitische Stellung bestimmt hat. Aber diese Stimmung bringt es auch
mit sich, daß die Verfasserin die Dinge nicht vom Standpunkte der Arbeiterin, sondern
vom Standpunkte ihrer eigenen hochgespannten Anforderungen aus beurteilt. Lebens- und
Arbeitsverhältnisse, die ihr, der geistig, sittlich und ä>thetisch hochstehenden und fein-
fühlenden Frau, unerträglich erscheinen, sind es nicht für jene Tausenden, die aus noch
dunkleren Verhältnissen sich emporarbeiten. Die idealen Ziele der Verfasserin weiß ich
gewiß zu würdigen. Aber die subjektive Lage der Arbeiterinnen, der Grad von Lust oder
Unlust, die sie empfinden, darf uicht au jenem idealen Maßstabe gemessen werden, son-
dern nur an dem gegenwärtigen Niveau der betreffenden Arbeiterinnen und an dem sozialen
Milieu, dem sie entstammen.
So kräftig auch die Verfasserin die Schattenseiten der Frauenarbeit hervorzuheben,
weiß, so liegt ihr doch der Gedanke völlig fern, ob nicht eine prinzipielle Einschränkung der
weiblichen Arbeit, wenigstens jene der verheirateten Frauen und der Mütter, wünschenswert
und möglich sei. Ihr Reformprogramm beschränkt sich auf die Arbeitsbedingungen, auf
den Ausbau des Frauenschutzes und des Versicherungswesens. Das entspricht dem sozial-
demokratischen Gedankengang, der beide Geschlechter mit gleichen Rechten und Pflichten
in die gesellschaftliche Produktion einstellen will. Dem gegenüber bedeutet schon die
Anforderung eines speziellen Frauenschutzes einen Fortschritt. Wer jedoch nicht auf
dem Boden der sozialdemokratischen Weltanschauung steht, wird die von der Hauswirt-
schaft losgelöste Erwerbarbeit der Frauen, insbesondere die Fabriksarbeit, keineswegs als
eine gleichsam selbstverständliche Sache mischen, in die mau sich ohneweiters finden
muß. Insbesondere die eheweiblicbe Arbeit ist, wie auch die Verfasserin mehrfach zugibt
regelmäßig die Folge von Not. Reicht Jas vom Manne erworbene Einkommen zum Untcr-
2d*
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Literaturbericht.
rm
halt der Familie aus, so braucht die Frau nicht mit zu erwerben, wenigstens nicht als voll-
tätige Fabriksarbeiterin, und sie tut es dann in der Regel auch nicht. Bei der Besichtigung
von Arbeiterwohnhäusem, die allerdings in der Regel von der Elite der Arbeiterschaft
bewohnt sind, traf ich in den verschiedensten Teilen Deutschlands die Frauen zu Hans
an. Eine Umfrage ergab, daß allenthalben die Frauen zu Hause bleiben, sobald nur der
Verdienst des Maunes es gestattet. Die Lohngrenze, bei der das der Fall ist, schwankt
je nach den Ansprüchen und Bedürfnissen. Aber cs besteht kein Zweifel darüber, daß in den
besseren Arbeiterkreisen die Krwerbsarbeit der Ehefrauen ebenso als MiOstand empfunden
und nach Möglichkeit vermieden wird wie in den bürgerlichen Kreisen. Wenn auch in den
Ländern, deren technisch-industrielle Entfaltung der sozialen vorausgeeilt ist, die prole-
tarische Frauenarbeit vorläufig noch wächst, so ist es duch keineswegs ausgemacht, daß dies in
aller Zukunft so bleiben werde. Ich halte es vielmehr für wahrscheinlich, daß die Frauenarbeit,
sobald nur eine gewisse Höhe der sozialen Entwicklung erreicht ist, zurückgehen werde.
Denn der technische und soziale Fortschritt hat die Wirkung, mit der Hebung der Pro-
duktivität und des Lohnes der männlichen Arbeit die weibliche Arbeit sowohl volkswirt-
schaftlich als auch privatwirtschaftlich immer entbehrlicher zu machen. Anzeichen einer
solchen Wendung habe ich an anderer Stelle nachgewieseu. lj Es gehört sicherlich kein
größerer Optimismus zu der Annahme, daß die Lage der Arbeiterfrauen auf diesem Wege
werde gehoben werden, als zu der sozialistischen Verheißung, die alle Frauen durch
Arbeit „befreien“ will. Befreiung durch die Arbeit oder Befreiung von der Arbeit? So
steht dis Frage. Ich halte die letztere Lösung für die wünschenswertere und für die
wahrscheinlichere.
Ich habe das Buch der Frau Braun ausführlicher besprochen, wie dies bei
Litcraturanzcigen sonst üblich ist, weil es als eine klassische Formulieruug der Frauen-
frage vom sozialistischen Standpunkt aus zu prinzipieller Stellungnahme auffordert. Mußte
ich auch die prinzipiellen Voraussetzungen und Folgerungen des Buches ablehnen, so
möchte ich doch dringendst wünschen, daß es in den bürgerlichen Kreisen fleißig gelesen
werde. Mögen insbesondere die bürgerlichen Frauen daraus lernen, wie hohe Kulturzielc
einu Bewegung verfolgt, über welche viele von ihnen noch immer spotten zu dürfen
vermeinen. H. Kauebbe rg.
C. Hugo, Die deutsche Städteverwaltung. Ihre Aufgaben auf den Gebieten
der Volkshygiene, des Städtebaues und des Wohnungswesens. Stattgart 1901, 512 S. 8®.
C. Hugo (Dr. Lindemann) ist der Kommunalpolitiker der deutschen Sozial-
demokratie. Er hat für den 1902 zu München abgehaltenen sozialdemokratischen
Parteitag ein umfängliches Programm für die Stellung der Sozialdemokratie zur Kommunal-
politik auagearbeitet, dessen Durchberatung allerdings auf einen spätereu Parteitag
verschoben worden ist. Nicht unvorbereitet ist der Verfasser an diese Aufgabe b cran-
getreten. Schon 1897 hat er ein Werk über „Städfteverwaltung lind Munizipalsozialismus
in England“ veröffentlicht. Zu den neuen Untersuchungen des Vereines für Sozialpolitik
über die Wohnungsfrage hat er die Wohuungastatistik geliefert. Nunmehr hat er sich
zur Aufgabe gestellt, das ganze Gebiet der deutschen Städteverwaltung wissenschaftlich
durchzuarbeiten, um daran von seinem Parteistandpunkte au» Reform Vorschläge uud
•Forderungen zu knüpfen. In dem vorliegenden Bande werden Volkahvgiene, Städtebau
und Wohnungswesen behandelt. Einer für später in Aussicht genommenen Fortsetzung
des Werkes bleiben Wirtschaftspflege, Volksbildung, Armenwesen sowie die Sozial- oder
Arbeiterpolitik der Gemeinden Vorbehalten.
Die Gemeindeverwaltung ist bisher sowohl von der wissenschaftlichen Verwaltungs-
lehrc als auch von den politischen Parteien Deutschlands einigermaßen vernachlässigt
worden. In Theorie und Praxis steht die staatliche Verwaltung im Vordergrund des
Interesses: an den Staat pflegen sich die Männer der Wissenschaft mit ihren Ratschlägen,
die politischen Parteien mit ihren Anliegen in erster Linie zu wenden. So kommt es.
daß die deutschen und noch mehr die österreichischen Stadtverwaltungen, von dein
*) Vergl. da« Kapital „Din Htallnaf dnr Kraann im ErwerMnbnn* in meiner Haarbeltung der
UcuUcbes Beruf»- uud licwerbfibUuiti vom 14. Juni 1810. Berlin 1901, H. 181 ff.
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Literaturbericht.
337
.Strome der geistigen und politischen Bewegung weniger beeinflußt wie die Staats-
verwaltung, nach eigener Einsicht und Kraft ihre Aufgaben wählten und lösten, häufig
wohl auch in träger Routine verharrend, ihre Augen vor dringenden Bedürfnissen des
gesteigerten städtischen heben» verschlossen. Nimmt man noch dazu die große Mannig-
faltigkeit der örtlicheu Verhältnisse, so ist es leicht begreiflich, daß die Schwierigkeit.
Übersicht über das Bestellende zu gewinnen und einheitliche Gesichtspunkte für diu
weitere Entwicklung aufzuatellen, groß genug war, um bislang eine einheitlich zusammen-
fassende wissenschaftliche Bearbeitung der Probleme der Stadtverwaltung in der deutschen
Literatur zu verhindern.
Die Arbeit C. Hugos entspricht daher einem wirklichen und dringenden Bedürf-
nisse. Sie beruht auf dem ausgedehnten und mühsamen Studium städtischer Verwaltunga-
berichte, von Denkschriften, Rechnungsabschlüssen, statistischen und andereu Publikationen,
mit welchen man sich sonst nicht abzugeben liebt. Schon deswegen ist sie höchst
verdienstlich. Auf die Behandlung der einzelnen Probleme einzugehen und mich mit
dem Verfasser darüber auseinander zu setaen, ist mir an dieser Stelle natürlich nicht
möglich. Ich muß mich darauf beschränken, den allgemeinen Eindruck wiederzugebcii,
den ich beim Lesen des Buches gewonnen habe. Es ist der, daß der Verfasser die
einzelnen Probleme technisch beherrscht und daß seine Reformvorschlüge im allgemeinen
sachlich begründet sind, daß ihn aber sein radikaler sozialpolitischer Standpunkt einer-
seits hindert, historisch begründete Zustände gerecht zu beurteilen, anderseits oft genug
dazu verleitet, Forderungen aufzustellen, für deren Durchführung die wirtschaftlichen,
sozialen uni politischen Voraussetzungen nicht oder noch nicht zutreffen, C. Hugo
ist der Vertreter eines fcjtadtsozialismus, der nicht minder einseitig und doktrinär
ist, wie der Staatssozialismus seiner Partei. Manches, da» sich in einem Parteiprogramm
vielleicht ganz gut macht, verträgt doch nicht den strengeren Maßstab, den inan an ein
wissenschaftliches Werk anlegt. Insbesondere die Behandlung der Wohnungsfrage leidet
unter dem Prinzip des Gemeindesozialismus. Nur aus der parteipolitischen Vorliebe für
dieses Prinzip kann ich ea mir erklären, daß der Verfasser ohne Bedenken die Lösung
der Wohnungsfrage ausschließlich den Gemeinden zuweisen will und die sehr beachtens-
werten Versuche und Vorschläge zu anderen Lösungen teils mit Stillschweigen übergeht,
teils mit ungerechtfertigter Geringschätzung abfertigt. Den Schwierigkeiten, welche sich
der Verwaltung von Wohnhäusern durch die Städte entgegenstellen, will der Verfasser
durch Mictergenossenschaften begegnen.
Leider hat sich der Verfasser durch seinen Parteiatundpunkt mitunter auch dazu
verleiten lassen, seine Kritik durch gehässige Angriffe und öde Schimpfereien zu ver-
stärken. Da» schadet nur der Sache und beeinträchtigt das Niveau des Buche». Und doch
liegt auch diesen Verirrungen eine berechtigte Empfindung zu Grunde. Es ist da» Gefühl,
daß Stadtverwaltung und Stadtverfassuug innerlich Zusammenhängen und daß die Ver-
waltung im großen und ganzen immer im Sinne derer geführt werden wird, welchen die
Verfassung die Macht in der Stadt und über die Stadt verliehen hat. Diemm Zusammen-
hang wissenschaftlich darzulcgen gehört allerdings mit in den Rahmeu eines Buches
über Stadtverwaltung. Vielleicht holt der zweite Teil nach, was der erste in dieser
Hinsicht versäumt hat.
Durch diese Bedenken soll aber der Wert des Buches in Bezug auf die technische
Behandlung der einzelnen Verwaltungsprobleme keineswegs herabgesetzt worden. Nicht
nur da» große Publikum, sondern vor allein das Verwaltungsperaonal der Städte selbst,
sowohl das ehrenamtliche als auch da» berufsanitliche, wird darin vielfache Anregung
und Belehrung finden. Der Fortsetzung des Werkes sehen wir mit Interesse entgegen.
H. 1! auchberg.
I)r. Zacher, kais. geh. Regiernngsrat und ScnaUvorsitzcndcr iin Reichsversiclic-
rungsamt, Die Arbeiterversicherung im Auslande, Verlag der Arbeitervcrsorguiig,
A. Troschel, Berlin-Grunewald I8ü8-DM)2, 18 Hefte.
Maurice Ilellom, Ingenieur au Corps des Mines, Les lois d'assurance
ouvricre a lVtranger, A. Rousseau, Paris, 5 Bände, 18U2— 1901.
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Literaturbericht.
:S38
Die Darstellung der Arbeitervereicherung hat in dem /.acli er scheu Werke betreffs
der europäischen Staaten ihren vorläufigen Abschluß gefunden, so daß ein Rückblick auf
das groß angelegte Werk am Platze ist. Die Arbeiterversichcrnng im .Auslande wurde
ein unentbehrlicher Schelf für jeden, welcher dem Studium dieses Zweiges der sozialen
Verwaltung obliegt. Zacher erbringt betreff» der einschlägigen Gesetzgebung jedes Landes
die gesamten in den Gesetzentwürfen und Motiveuberichtcu aufgespeicherten und ver-
arbeiteten Materialien sowie den Text der zur Geltung gelangten Gesetze in der Ur-
sprache und abgesehen von den französischen Gesetzen auch in der deutschen Übersetzung.
Er ermöglicht hiedurch die Kenntnis des Entwicklungsganges der Gesetzgebung und der
in den einzelnen .Staaten abweichenden Methoden, welche bei der Lösung der Arbeiter-
vereieherungsl'rageu angeweudet wurden. Insbesondere Frankreich nahm durch lange Zeit
einen dem deutschen Prinzip des Vereicherungazwanges entgegengesetzten Standpunkt
ein, und erst in den letzten Jahren wurde auch dort diese Gegnerschaft aufgegeben, denn
es wird wohl kein einsichtsvoller Betriehsuntemebmer verabsäumen, sich auch ohne den
ausgesprochenen Versicherungszwang gegen die Lasten durch Versicherung zu schützen,
welche ihm das französische Versicherungsgesetz vom 9. April 189?* aufnftrdet. Die
neuesten Gesetzentwürfe zur Invalidenversicherung fußen ausdrücklich auf dem Prinzip
der Zwangsveraicherung. Auch die Beratungen des Internationalen Kongresses für Arbeiter-
Versicherung, welche das uächstemal (1905) in Wien stattfinden werden, zeigen, unter
französischem Einflüsse stehend, diese Wandlung. In früheren Jahreu widerhallten sic
von dem Rufe nach freiwilliger Versicherung und der Negierung jede» Zwange«, wogegen
diese Stimmen jetzt nur mehr selten zu vernehmen sind. Zacher ist demnach berechtigt,
den Sieg dem deutschen Prinzipe des Vereicherungszwanges zuzuspreehen. In Österreich
verdient es betont zu werden, daß in der Gesetzgebung jener Staaten, wie Norwegen,
Luxemburg, die Niederlande, in welchen die Unfallversicherung gleichwie in Deutsch-
land and Österreich nach dem Grundsätze des Vereicherungszwanges und der Zwangs-
kassen durchgeführt wurde, in den Details das österreichische Vorbild Nachahmung ge-
funden hat.
Zacher verweist hei «1er Besprechung des Ausgabserfordeniisses der Arbeiter-
Versicherung, welches oft als Hindernis gegen die Erweiterung der Versicherung wirkt,
mit vollem Recht auf die Unsummen, welche in Deutschland 'und leider auch anderwärts)
für den AlkoholgennB verausgabt werden. Wahrend die deutsche Arbeiterversichemng
selbst im Reharnmgsznstande kaum eine halbe Milliarde Mark jährlich erfordern werde,
verwende das deutsche Volk für alkoholische Getränke alljährlich den enormen Betrag
von fast drei Milliarden Mark. Innerhalb eines Jahrzehnts stieg der Verbrauch au Brannt-
wein von 4*6 auf 8'4, an Bier von 99*2 auf 125 Liter auf den Kopf der Bevölkerung,
wogegen Amerika nur 49 und 60‘6 Liter auf weist! Man kann also mit Recht sagen, we-
niger wäre auch da mehr, sowohl für die Volksgesundheit und die Verminderung des
Elends wie auch für den Aushau der Arbeiterversicherung und die Besserung der so-
zialen Verwaltung überhaupt; was könnte auf dem noch vernachlässigten Gebiete der
Wohuungsfüreorge für die Minderbemittelten geschehen, das vor allem an der Unzuläng-
lichkeit der Mittel krankt.
Zachers Werk ist und bleibt von aktuellem Interesse, den» die Arbeiterver-
vereichemng stellt mitten in ihrer Entwicklung, so daß jeder, welcher mit ihr sich zu
befassen hat, ein Buch schätzen wird, das ihm über die zu diesem Gegenstände schon
gemachten Vorschläge und über die anderwärt* zusamm engetragenen reichen Materialien
Aufschluß erteilt.
Der schätzenswerten Arbeit Zacher* schließt sich das umfangreiche Werk des
Franzosen ßellom würdig an. Auch dieses ist ein Denkmal emsigsten Fleißes. Bellom
wendet seine besondere Aufmerksamkeit nicht nur der Erläuterung der Bestimmungen,
sondern auch den Details der Durchführung der Kranken- und Unfallversicherungflgesetze
zu und hat hierüber ein sehr umfangreiches und vollkommen erschöpfendes Material
beigebracht. Sein verdienstliches Werk bildet demnach einen unentbehrlichen Behelf für
jene, welche sich für die Durchführung der Arbeit eneraicherung in ihren Einzelheiten
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Literat urb er icbt.
339
interessieren. Es verdient anerkennend hervorgehoben zo werden, das Bcllotn speziell
die Durchführung der Österreichischen Arbeitorversicherung mit besonderer Aufmerksam-
keit verfolgt»- and die hiebei beobachteten Prinzipien überaus eingehend schilderte. Er
hat demuach wesentlich dazu beigetragen, die Österreichische Arbeiter Versicherung in
ihren Details iin Aaslande bekannt zu machen. Kogler.
l)r. Gforf Sydow, Theorie und Praxis in der Entwicklung der franzö-
sischen Staatsschuld seit dem Jahre 1870. i Mit einem Vorwort von Adolf
Wagner.’: Verlag von (instar Fischer in Jena 1903.
Der erste Teil dieser Monographie ist der Theorie des .Staatsschuldenwesens ge-
widmet; zunächst wird die Entwicklung de« staatlichen Finanzbedarfes und das erste
Auftreten des Staatskredits geschildert, woran sich der Versuch einer Abgrenzung der
Besteuerung gegen die Benützung des Staatskredits schließt. Im Gegensatz zu Dietzel
und Malchus tritt der Autor warm ftir die Schaffung eines Kriegsschatzes ein, dem er
eine hohe Bedeutung für die militärische Schlagfertigkeit beimißt. Bei Besprechung der
verschiedenen Formen der staatlichen Schuldaufnahme, der schwebenden und der fundierten
Schuld, sowie der Unterarten der letzteren: der rückzahlbarer» und der nicht rückzahl-
baren oder Rentenschuldeu macht er auf die Bedenken aufmerksam, die der Aufnahme von
Anlehen mit Bäckzahlung des Kapital* zu bestimmten Terminen, namentlich wenn es
sieh um größere Summen handelt, entgegenstehen, da durch das Versprechen der Regie-
rung. zu bestimmtem Termine größere Rückzahlung»'!! vorzunehmen, ein Moment der
Unsicherheit in die Finanz Wirtschaft hineingebracht wird: „Die Regierung verfügt im
voraus über eineii vielleicht nicht unbeträchtlichen Teil ihrer künftigen noch nicht fest-
stehenden Einnahmen, ohne in der Lage zu sein, die Wirkung dieser Ausgabe auf die
Finanzwirtschaft voraus zu sehen. Kann sie dafür dann in einer kritischen Zeit die Mittel
nicht beschaffen, so muß sie entweder den RückzHhlungfitermin hinaus schieben und unter
Fortzahlung der Zinsen die Last weiterschleppen. bis diese durch Fälligkeiten späterer
Termine so angewachsen ist, daß eine Anleihe meist unter ungünstigen Bedingungen unver-
meidlich ist, oder die Rückzahlung einstweilen auf die schwebende .Schuld übernehmen
und dem Defizit Tür und Tor Offnen, Diese Behauptungen beweist der Autor im /weiten
Teile seiner Darstellung, indem er die Entstehung der französischen Defizitwirtschaft auf
die Vorliebe der französischen Staatsmänner für die Anleihen mit bestimmten Tilgungs-
terminen zurückführt. B**i der Frage, ob eine Begehung durch Vermittlung der Bank-
häuser oder eine direkte Begebung der Anleihen vorteilhafter ist, spricht er die Ansicht
au«, daß die ersten* Art mehr den kapitalannen Ländern, die letztere aber den kapital-
reichen, wohlhabenden entspräche. Für die Wahl eines niederen Zinsfußes spricht der
Umstand, daß der Staat hiebei das Geld billiger bekommt und auf ein rascheres Ein-
gehen der erforderlichen Summen rechnen kann, während Anleihen mit höherem Zinsfuß
wieder die Möglichkeit bieten, sie unter günstigeren Verhältnissen in eine niederer ver-
zinsliche zu konvertieren.
Im zweiten Teile ist ein anschauliches Bild der Entwicklung der französischen
Staatsschuld seit dem Jahre 1870 entrollt. Es wird die aufopfernde Unterstützung des
Staates durch die Bank von Frankreich geschildert, die einen großen Teil der Kriegs-
kosten vorstreckt, deren Noten aber trotz der hohen Kreditgewährung an den bedrohten
Staat infolge der frühzeitigen Verhängnng des Zwangskurses vor einer eigentlichen Ent-
wertung bewahrt werden. Hierauf folgt die Zahlung der Milliarden-Kriegsentschädigung
wo der starke Bedarf an Edelmetall eine vorübergehende Steigerung des Goldkurses be-
wirkt. Die Schulden au die Bank von Frankreich werden durch eine Anleihe zurück-
gezahlt und zur Rekonstruktion des Kriegsmaterials in dem Compte de Liquidation ein
außerordentliche« Budget geschaffen, das im weiteren Vei laufe durch das Budget des
ddpenses extraordinaires stark erweitert wurde. Die Schaffung des Budget extraordinaire
erklärt Sydow für einen der verhängnisvollsten Fehler der französischen Finanzpolitik,
da dadurch verhindert wurde, daß der Volksvertretung ein klares Bild von dem Mißver-
hältnis der ordentlichen Einnahmen zu dem staatlichen Gesamtbedarf geboten wurde, wie
es die Gesamtdarstellung von Einnahme und Ausgabe in einem einheitlichen Etat gewährt
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340
Literaturberieht.
bitte. Wäre «lies geschehen, so wäre manche iler itn Budget extraordinaire enthaltenen
Ausgaben durch ordentliche Kinnahmen gedeckt worden, manche Steuerrermehrungen
wären bewilligt, manche Mchuldaufnahmen vermindert worden. Dieses Budget des depenses
extraordinaire* war 1878 geschaffen worden, als man nach Tilgung der Kriegsschulden
bei der Bank von Frankreich infolge der erhöhten Steuer Aber eine FQllc von Hinnahmen
verfügte, die man zur Verstaatlichung und zum Ausbau des Eisenbahnnetzes und zur Vor
nähme von Wasserbauten zu benützen beschloß. Da der Aufwand für diese Investitionen
die ursprünglichen Berechnungen weit überstieg und infolge der scheinbar günstigen
Finanzlage eine Reihe von äteuererlässen bewilligt worden war, so wuchs die schwebende
Schuld ungemein, und es stellte sich im Jahre 1882 ein deutliches Defizit ein. Die
schwebende Schuld wurde zunächst durch Ausgabe von amortisabler dreiprozentiger
Rente konsolidiert, die jedoch nicht auf den Markt gebracht, sondern von der Depositen-
knsse (Caisse des depöts et consignations) übernommen wurde, deren Depositen größtenteils
aus Spnrkassaguthaben bestehen-, ein Vorgang, dessen Bedenklichkeit Sjdow hervorhebt.
Durch weitere Anleihen und Konversionen gelingt es, das Defizit im Jahre 1888 aus
dem Budget verschwinden zu machen. Als endlich im Jahre 1892 das Budget extra-
ordinaire aufgehoben wird, zeigt sich wieder das Defizit; erst durch neue Anleihen und
.Steu Erhöhungen wird der Staatshaushalt wieder ins Gleichgewicht gebracht; da aber
die Anleihen Tilgungen zu bestimmten Terminen featsetsen, so glaubt 8 y d o w, daß
dadurch die französische Finanzwirtschaft in ernste Gefahren geraten könne, denen
selbst der Reichtum Frankreichs vielleicht nicht gewachsen wäre.
Braun von Fernwald.
Vergleichende Studien über ßetricli.sstntiHtik und Betrlebsformen der
englischen Textilindustrie von Pr. Georg Bmdnitz, Privatdozent in Halle a. S.
Jena, Verlag von Gustav Fischer, 1902.
Die Arbeit von Dr. G. Brodnitx sucht eine höchst bedauerliche Lücke in den
Materialien zur Kenntnis der englischen Wirtschaft auszufülleu. England besitzt keine
offizielle gewerbliche Betriebsstatistik. Wir können daher ein Bild der relativen Bedeutung
der einzelnen Betriebsformen und Betriebsgrößen nicht auf statistischer Grundlage,
sondern lediglich für einzelne Industriezweige beiläufig auf Grund von Enqueten, Mono-
graphien, Schätzungen etc. gewinnen Dr. Brodnitz konnte in einer privaten Arbeit
nicht daran denken, das ganze Gebiet der englischen Industrie in Angriff zu nehmen;
er wählte die Textilindustrie und schuf für dieselbe eine Betriebsstatistik auf Grund der
ihm vom Leiter der englischen Fabriksinspektion zur Verfügung gestellten Mit-
teilungen der einzelnen Fabrikanten, die in neuerer Zeit verpflichtet sind, der
Zentralfabriksinspektion die von ihnen im Jahresdurchschnitte beschäftigte Arbeiterzahl
bekanntzugeben. Das auf diese Weise gewonnene Material vergleicht Dr. Brodnitz sohin *
in methodologischer und meritorischer Hinsicht mit der Betriebsstatistik des Deutschen
Reiches.
•Dieser Vergleich wird allerdings in mehreren Fällen durch verschiedene Klassi-
fizierung der Gewerbe erschwert, indem die deutsche Reichsstatistik im Gegensätze xum
englischen Material zwischen der Verarbeitung von Streich- und Kamingarn nicht
unterscheidet, Bleicherei, Färberei, Druckerei und Appretur zusammenfaßt, ebenso Spitzen-
verfertigung und Weißzeugstickerei etc.
Als Einleitung gibt uns Dr. Brodnitz eine gedrängte Darstellung der Geschichte
der englischen Textilindustrie mit Rücksicht auf die in derselben vorherrschenden
Betriehsformen, das doraestic System einst, die große Industrie in neuerer Zeit.
Die große industrielle Umwälzung im 18. und 19. Jahrhundert hat vielfach in der
englischen Literatur die Anschauung gezeitigt, der fabrikmäßige Großbetrieb werde und
müsse allgemein alle anderen Betriebsformen verdrängen.
Dr. Brodnitz führt uns jene spärlichen englischen Schriftsteller vor, welche auf Grund
näherer Untersuchung ein richtigeres Bild der tatsächlichen- Verhältnisse geben konnten,
so insbesondere Charles Booth in seinem Kolossalwerke „Life and labour of the people
<»f London*. Interessante zeitgemäße Formen des Kleinbetriebes stellen insbesondere die
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Literaturbericlit.
341
„gemeinschaftlichen Fabriken“ dar, die wir in der Baumwollwcberei Anden, nnd das in
der Nottinghamer Spitzenindustrie ausgebildete System der Maachinenmiete.
Pr. Brodniti berichtet uns aber auch über die neuesten Bestrebungen, die
textilen Hausgewerbe xu unterstützen und neu zu beleben, Bestrebungen, die von Ruskin
und Albert Fleming ausgingen, ton der Home arts and industries association. der
Irish, Scottish and Walsh association propagiert werden und sich der besonderen
Unterstützung des Königs erfreuen.
Per Vergleich der englischen Betriebsstatistik mit der deutschen xeigt uns auf
den ersten Blick, daß sich die Überbleibsel der englischen textilen Hausindustrie mit
Einschluß ähnlicher moderner Neubildungen auch nicht annähernd mit der gewaltigen
Zahl der deutschen textilen Zwergbetriebe yergleichen lassen; wir finden aber den
Mittelbetrieb auch in England stark verbreitet, teilweise stärker wie in Peutschland. Ein
Vergleich der Zahl der Betriebe in den verschiedenen Größenklassen (Kleinbetriebe
1-5 Personen, Mittelbetriebe 6-50. Großbetriebe 5t nnd mehr Personen) wäre freilich
für sich allein ungenügend gewesen. Besondere Vorsicht bei der Wahl des Vergleichs-
msßstabes war infolge der großen Zahl der deutschen Alleinbetriehe geboten, die von
allen Haqptbetrieben der deutschen Textilindustrie mehr als die Hälfte ansmachen die
aber in England nahexu ganz fehlen. Stellte man daher x B. ohne weiteres die Zahl
der Arbeiier, die in den beiden Ländern in einxelnen Gewerbexweigen durchschnittlich
auf einen Betrieb kommen, nebeneinander, ao würde England infolge Fehlens der den
deutschen Purcbsehnitt berabdrüekenden Alleinbetriebe weit mehr xum Großbetriebe
entwickelt erscheinen als richtig ist. Per Vergleichungsmaßstab, den Pr. Brodnitx
gewählt hat. ist die Verteilung der Personenzahl auf die verschiedenen Größenkategorien
der Betriebe.
Dr. Brodnitx stellt auf diesem Wege fest, daß im großen and ganzen dem
Großbetriebe anf dem _ Gebiete der Textilindustrie in Peutschland nahezu eine ebenso
große relative Bedeutung zukoromt wie in England. In verschiedenen Industriezweigen
.st das Verhältnis freilich ein verschiedenes. Es sind in der englischen Baumwollspinnerei
«5-95 Proz. der Personen im Großbetrieben tätig, in der deutschen 92'8 Proz , obwohl
in Peutschland nur 15-3 Proz. der Betriebe, in England hingegen 78 9 Proz. der Betriebe
Großbetriebe sind; Kleinbetriebe gibt es in England 1 Prox., in Peutschland 759 Proz
Pte enghsche Baumwollspinnerei beschäftigt 9V52 Proz. der Arbeiter in Großbetrieben',
die deutsche bloß 67 Proz. der Arbeiter; von den deutschen Betrieben sind 96-8 Proz
Kleinbetriebe von den englischen 1-8 Proz. Aber sowohl in der Baumwollspinnerei »U
such in der Baomwollweberei haben die Betriebe mit über 100 Personen in Deutschland
eine höhere durchschnittliche Personenzahl pro Betrieb als in England
Auch in der Wollspinnerei und der Wollweberei finden wir in England nur um
einige wenige Prozente mehr Personen in Großbetrieben beschäftigt wie in Deutschland
Wieder aber beschäftigt innerhalb des Großbetriebes in der Wollweberei der ein
zelne Betrieb durchschnittlich in England 51, in Deutschland 145 Personen. Man kann
also wohl atmehmen, daß die Tendenz zu konzentriertem Großbetrieb in Deutschland
sogar stärker ist als in England
Emen größeren Anteil des Großbetriebes wie England weist Deutschland nur iu
einigen weniger wichtigen Zweigen (Shodd.rhe Stellung. Wollbereitnng) auf. Die Jute-
Spinnerei ist in beiden Ländern so ziemlich gleich organisiert. Die Juteweberei ist schon
"* tngi“d„etwa3 mehr konI,-'ntriert W» P'M- der Personen arbeiten in Großbetrieben
gegen 98 8 Proz. in Peutschland). aber wieder ist der Großbetrieb in Deutschland stärke'
konzentriert, indem er durchschnittlich 288, der englische Großbetrieb nur 221 Personen
beschäftigt Stärker in größeren Betrieben konzentriert sind in England insbesondere
die Strunipfwirentndustne, die Spitzenindustrie und die Leinen weher,,, die in Deutschland
noch vtel ach h.uimdustneU betrieben werden, die Seidenspinnerei, schließlich die Seiden-
Weberei, letztere jedoch wied.r in Deutschland mit größerer durchschnittlicher Peraonen-
sahl innerhalb des Großbetriebe«. Betrieb« mit mehr als 500 Personen weist England in
der Seidenweberei nur 3, Deutschland dagegen 14 auf.
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Literaturbericht.
342
Betrachten wir die Riesenbetriebe der Textilindustrie mit wehr als 1000 Personen
gesondert, io finden wir, daß England deren 20 mit 38.89*2 Personen zählt. Deutschland
32 mit 42.777 Personen.
Der verdienst vollen Arbeit Ober die Betriebsfonnen der englischen Textilindustrie
soll eine Studie über die englischen Kleingewerbe im allgemeinen folgen. Ziiek.
L. r. Amran, Englands Land- und Seepolitik und die orientalische
Frage nebst Vorschlägen in Betreff der Meereugen und Isthmen des Mit-
telländischen und des Roten Meeres. Berlin. W. 35, Fußingen Buchhandlung.
Preis 1 Mark.
Das Büchlein ist ein schöner Beweis dafür, daß selbst am Anfänge des 20. Jahr-
hunderts der Idealismus noch nicht ganz abgestorben ist; denn abgesehen von einer
wirklich sehr klaren und übersichtlichen Darstellung der jetzigen Macht Englands und
ihrer Fundamente, kann man füglich die Vorschläge de» Verfassers zur Lösung der
orientalischen Frage ebenso wie die zur Neutralisierung der wichtigsten, maritimen Welt-
straßen durch Schaffung von Neutralstaaten an den betreffenden Meerengen und Isthmen
im besten Falle als schöne Traume bezeichnen, die durch Hineinziehung der Judenfrage
und des Zionismus nicht an Realität gewinnen. Alle in diesem Büchlein niedergelegten
Ideen können zu wunderbaren Diskussionen an den .Stammtischen der Provinzst&dte
Anlaß geben, wo die Fragen der internationalen Politik hinter den Bierkrügen rasch und
endgültig entschieden werden, und wo gewiß auch die Idee, alle Juden an der Straße
Bab-el-Mandeb in einem Neutralstaatskäfig zusamiuenzupferchen, und zwar unter einem
christlichen Oberhaupt, ebensolchen Ministern und Heerführern (!), ebensoviel Bewunderung
als Widerspruch erregen würde. Wie ideal gedacht ist es auch, den Abyssiniern als
Experiment eventuell den Bab-el-Mandebstaat zu übergeben und zu versuchen, „ob nicht
auch diese Menschen- mit ihren höheren Zwecken wachsen können. Der Verfasser träumt
mit einer wahren Wollust von internationalen Konferenzen, Bündnissen, Verträgen etc.
etc., kurz von einer Regelung aller Fragen im Einvernehmen zu mindestens aller Kon-
tinentalstaaten, die alle seine Vorschläge durchzuführen und dann auch noch inte» national
zu garantieren hätten. Leider läßt sich Herr v. Amran wohl infolge der Kürze der
Darstellung nicht in eine nähere Ausführung der Durchführung dieser Gesaintaktionen
ein; vielleicht hat er ein näheres Eingehen darauf schon deshalb vermieden, um nicht
damit selbst das Fundament aller seiner weiteren Vorschläge von vornheiein zu zer-
stören. Gewiß wurde dieses mit soviel Fleiß und Umsicht verfaßte Vorachiäge-Mosaik
auch dem ernstesten Politiker — ein Lächeln abnötigen, aber er würde wohl vom Ver-
fasser dasselbe denken müssen, was dieser selbst von den Zionisten und Antisemiten
sagt „Beide haben den Boden der realen Tatsachen v-u lassen und bewegen sich in den
luft- und lichtlecren Regionen der Phantastereien.- L. K.-M.
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ZUR AUSGESTALTUNG I»ES
RECHTS- UNI) STAATS WISSENSCHAFT LICHEN
STUDIUMS IN ÖSTERREICH.
VON
PP.OP. T>H ALFRED V. HALBAN
(FORTS ETIL’NO.)
VI. Das staatswissenschaftliche Studium.
Die zweite Studienabteilung, der jetzt 4 - !>, in der Regel doch nur
4 Semester gewidmet werden, umfallt die Staatswissenschaften und das
moderne Recht.
Was die Staats Wissenschaften anbelangt, so bedarf es keiner
speziellen Auseinandersetzung, um das mangelhafte Gleichgewicht zwischen
der juristischen und staatswissenschaftlichen Bildung näher zu schildern;
dieses Übel ist genügend anerkannt und man darf sich darüber durch den
Hinweis darauf, daß es anderwärts auch nicht besser, teilweise sogar noch
Viel schlechter stehe, nicht hinwegsetzen. Wenn wir sehen, wie häufig die
neuen, von modernen Ideen getragenen Verwaltungsgesetze in der Praxis
einfach nicht durchdringen, so sind wir nur zu oft geneigt, in dem Mangel
einer verwaltungsrechtlichen Kodifikation die Ursache zu suchen. Gewiß
spielt auch dies eine Rolle. Aber die Hauptursache ist doch eine andere.
Wie soll sich der vorwiegend juristisch, eigentlich aber nur zivilistisoh vor-
gebildete Beamte in Wesen und Zweck der Staatsaufgaben hineindenken? Hat
er überhaupt Veranlagung zu selbständigem Denken und wird diese Veranlagung
durch seine Vorgesetzten gelordert, so hindert ihn doch die überwiegend zivi-
listische Schulung an voraussetzungslosem Eingehen auf den wesentlich anderen
Gedankengang der öffentlichen Verwaltung, ihres Rechtes und ihrer Politik.
Das Gleichgewicht zwischen privatem und Öffentlichem Rechte muß endlich
durchgeführt werden. Die Zurückstellung des öffentlichen Rechtes und
aller Verwaltnngsaufgnben. die sieh in der früheren Jurisprudenz aus der
einseitigen Pflege des römischen Rechtes ergab, ist durch die Lebens-
verhältnisse längst überholt. Wir sind, wie schon erwähnt, gewiß weit
davon entfernt, zu verlangen oder auch nur zuzugehen, daß sich die
Wissenschaft und ihre Lehre an der Universität jeder Mode anschließe;
aber hier handelt es sich um ein Bedürfnis, dessen wissenschaftliche
Berücksichtigung dringend ist, wenn die weitere Entwicklung des öffentlichen
Zeitschrift fdr Volkswirtschaft, Sozialpolitik and Verwaltung. XII. Band. 24
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344
Halhan
Leben« sich nicht in vollkommenem Gegensätze zur Rechtswissenschaft
vollziehen soll. Neben die zwei bisher so gut wie ausschließlich vertretenen
Richtungen, die rechtshistorische und die moderne dogmatische, muß die
staatswissenschaftliche nicht nur de nomine, sondern auch de facto, eben-
bürtig hinzutreten, was sich aus dem Geiste unserer Studienordnung ergibt.
Die einleitenden Kollegien des ersten Semesters würden die nötige Grund-
lage bieten und es wäre erwünscht und möglich, daß sodann auch die
lieclitsgeschichte wirtschaftliche und staatsrechtliche Fragen in höherem
Grade berücksichtigt als dies jetzt der Fall ist. Im ersten Bienniunt wäre
auf diese Weise das gerechte Ebenmaß zwischen rechts und staatswissen-
schaftlichen Gesichtspunkten leicht herzustellen. Im zweiten Biennium fallt
dies bei der jetzigen Sachlage schwerer; denn die Beschäftigung mit dem
modernen Rechte hat nach der jetzt herrschenden Ansicht derart spezielle
Zwecke, daß eine harmonische Mitberücksichtigung der Staatswissenschaften
bei Behandlung des modernen Rechtes schwierig erscheint. Wir gehen
uns nicht der Hoffnung hin. daß inan die gesamte Lehre des modernen
Rechtes, bei welcher iin Gegensätze zur Rechtsgeschichte von vornherein
Spezialgebiete in Angriff genommen werden müssen, so ändern könnte, daß
auch die Staatswisseuschaften zu ihrem Rechte gelangen würden. Wir
wollen den Vertretern der modernen österreichischen Fächer keinen Vorwurf
machen, denn nachdem jeder von ihnen nur ein bestimmtes Gebiet zu
behandeln hat und nicht in der Lage ist, das gesamte moderne Recht ein-
heitlich durzustellen, ist es ihm auch nicht möglich, auf das öffentliche
Hecht und die staatswissenschaftlichen Aufgaben näher einzugehen; eB kann
höchstens die staatswissenschaftliche Bedeutung des betreffenden Faches
und auch die nur nebenher gewürdigt werden. Da erscheint es denn
dringend notwendig, den Staatswissenschaften auf eine andere Weise die
ihnen im Lehrplane gebührende Stellung zu sichern.
So wie die Dinge jetzt stehen, werden die staatswissenschaftlichen
Fächer bei uns in ziemlich großem Umfange vorgetragen, gelten aber doch
nur als eine untergeordnete Beigabe der sogenannten jtidiziellen Fächer.
Dem Hörer des zweiten Bienniums steht nach Absolvierung desselben vor
allem die zweite, nämlich die judizielle Staatsprüfung bevor und ist auch
die Reihenfolge der zweiten und dritten Staatsprüfung gesetzlich nicht
bestimmt, so daß der Hörer die Wahl hat, entweder die judizielle oder die
staatswissenschaftliche Prüfung abzulcgen, so wird doch bekanntermaßen
der judiziellen Staatsprüfung eine größere Bedeutung beigelegt und dieselbe
wird durchwegs vor der staatswissenschaftlicben gemacht Es kommt hinzu,
daß bei vielen Behörden, selbst bei Verwaltungsbehörden, der Nachweis
der judiziellen Staatsprüfung zur Aufnahme in die Präzis genügt; infolge-
dessen wird die dritte Staatsprüfung vielfach von Kandidaten abgelegt,
di« bereits in der Praxis tätig sind und weder Zeit noch Lust finden, sich
zu dieser Prüfung eingehend vorzubereiten. Unwillkürlich muß der Kandidat,
der ohne staatswissenscliaftliche Staatsprüfung dennoch hei einer Ver-
waltungsbehörde Aufnahme gefunden hat. die erwähnte Prüfung als weniger
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Zur Ausgestaltung des rechts- und staat8wi«senschaftlichen Studiums etc. 345
wichtig betrachten als die judizielle; wird er doch als Verwaltungsbeamte
verwendet, ohne Aber die betreffenden Fächer geprüft worden zu sein;
überdies wird ihm in der Begel die Pflicht auferlegt, binnen sechs Monaten
diese Prüfung nachzuholen; es wird also gewissermaßen offiziell konstatiert,
daß zur Vorbereitung für diese Prüfung trotz der Beschäftigung im Amte
sechs Monate genügen, während für die judizielle Staatsprüfung die Vor-
bereitung viel gründlicher betrieben und überdies zu einer Zeit vorgenommen
wird, wo der Kandidat noch nicht im Amte ist und dem Studium mehr
Zeit widmen kann. Nicht unberücksichtigt bleibt schließlich der Umstand,
daß die staatswissenschaftliche Prüfung über Fächer abgelegt werden soll,
die der Kandidat meistens während des dritten Studienjahres gehört
hat. also lauge vor dem Prüflingstermin. Dahingestellt lassen wir es, ob
gleichzeitige Verwendung im Amte und emste Vorbereitung für eine Prüfung,
die doch auch den Namen einer theoretischen führt, möglich und er-
sprießlich ist. —
Allen diesen Schwierigkeiten wäre leicht abzuhelfen, wenn man die
staatswissenschaftlichen Disziplinen, ebenso wie es mit den rechtshistorischen
geschieht, in eine eigene Gruppe znsammenfassen würde, so daß nach
Absolvierung der nötigen Vorlesungen die staatswissenschaftlic.he Staats-
prüfung noch vor derjudiziellen abgelegt werden könnte. Es wären
den Staatswissenschaften zwei Semester vorzubehalten, nämlich das fünfte
und sechste; in diesen zwei Semestern hätten sich die Hörer ausschließlich
mit den auch jetzt schon vertretenen staatswissenschaftlichen Fächern zu
beschäftigen, die dadurch schon äußerlich als eiu gleichberechtigter Teil
des gesamten Studiums erscheinen würden.
Was die einzelnen Fächer anbelangt, so wäre die Frage zulässig, oh die
separate Behandlung der Volkswirtschaftspolitik nicht einigermaßen
der Verwaltungslehre abträglich ist. Es unterliegt doch keinem Zweifel,
daß die Volkswirtschaftspolitik, die eines der allerwichtigsten Gebiete des
Staats- und Volkslebens behandelt, mit der Vcrwaltnngslehre in ihrem
höheren Sinne in innerem Zusammenhänge stellt. Es ist klar, daß die
Grundlagen der Volkswirtschaftspolitik in der Volkswirtschaftslehre zu suchen
sind; nichtsdestoweniger muß die Verwaltungslehre auf Schritt und Tritt
mit den Aufgaben der Volkswirtschaftspolitik rechnen. Die Trennung der
Verwaltungslehre von der Volkswirtschaftspolitik kann daher nicht als er-
sprießlich bezeichnet werden, da wir im Gegenteile bestrebt sein müssen,
den Bedürfnissen der Volkswirtschaftspolitik in der Verwaltung und im
Verwaltungsrecbte Kecliming zu tragen. Es scheint, daß eine Vereinigung
beider Disziplinen angezeigt wäre; fraglich ist es nur, ob man die Ver-
waltungslehre mit der Volkswirtschaftspolitik in der Hand des National-
ökonomen oder umgekehrt in der Hand des Vertreters der Verwaltungslehre
und des Verwaltungsrechtes vereinigen soll. Es lassen sich mit Rücksicht
auf die persönliche Veranlagung der betreffenden Dozenten nicht leicht
prinzipielle Regeln aufstellen; im allgemeinen würde die Überweisung der
Volkswirtschaftspolitik an die Verwaltungslehre als das passendere erscheinen,
24*
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346
Haiban.
wogegen auch in der theoretischen Volkswirtschaftslehre ein von diesem
Standpunkte erwünschtes Eingehen auf die Aufgaben der Volkswirtschafts-
politik angebracht und leicht durchführbar ist. Eine Folge dieser Ver-
einigung wäre die Ausscheidung des österreichischen Verwaltungsrechtes,
welches dann ein separates Kolleg zu bilden hätte. Die Verwnltungslehre
mltlite bedeutend ausgestaltet werden; ist auch das Verwaltungsrecht bei
uns, wie übrigens auch anderwärts noch zu wenig kodifiziert, und ist aus
diesem Grunde eine detaillierte Darstellung desselben vom akademischen
Standpunkte weniger erwünscht, so muß desto größeres Gewicht auf die
allgemeine Verwaltungslehre gelegt werden, weil nur auf diese Weise das
nötige Verständnis für zahlreiche wichtige Zweige des Staatslebens vermittelt
werden kann. Verwaltungsrechtliche Details werden zum Teile mit liecht
als Gedächtnisballast bezeichnet: sollten sie diesen Charakter verlieren, dann
mflßte dem Verwaltungsrechte mindestens dreimal soviel Zeit gewidmet
werden als einem kodifizierten Rechte, was natürlich im Rahmen des
Hochschulunterrichtes unmöglich und mit Rücksicht auf die häufigen Ver-
änderungen verwaltnngsreehtlicher Normen auch nicht nötig ist. Aber über
die theoretischen Grundlagen der Verwaltung und über die verwallungs-
politischen Aufgaben darf der Hörer nicht im Unklaren gelassen werden
und wäre dabei auch auf die anderwärts beobachteten Grundprinzipien
Rücksicht zu nehmen. Der Hörer erhält jetzt eine beiläufige Ausbildung
in der Volkswirtschaftspolitik, wogegen die Ausbildung in Verwaltungslehre
und Verwaltnngsrecht eine ganz ungenügende ist. Man könnte sogar
bemerken, daß durch die besondere Hervorhebung der Volkswiitscbafts-
politik, ohne daß dieselbe mit der Verwaltungslehre verbunden wird, sich
eine Störung des Gleichgewichtes ergibt, wobei das Verständnis für die
Verwaltungslehre, also das Allgemeinere, Schaden leidet und auch das
Verständnis für das Besondere, nämlich für die Volkswirtschaftspolitik selbst,
nicht gefordert wird.
Was das Staatsrecht anbelangt, welches seiner modernen Ge-
staltung nach eigentlich eine streng juristische Disziplin ist, so möchten
wir es dennoch im Zusammenhänge mit den Staatswissenschaften belassen,
ebenso wie das Völkerrecht. Wir glauben, daß Staatswissonsrhatten,
die für .Juristen vorgetragen werden, doch nicht ohne diese juristische
Weihe, die ihnen eben nur das Staatsrecht in höchster Potenz zu verleihen
vermag, belassen werden dürfen. Ist auch das Staatsreeht zweifellos vor
allem Recht, so schöpft es doch seinen Inhalt und das Verständnis für
seine Zwecke aus den Staatswissenschaften, gehört also teilweise begrifflich
hieher, namentlich wenn nmn sich gemäß den Intentionen unserer Studien-
nrdnnng nicht bloß auf das österreichische Staatsrecht beschränkt, sondern
auch das allgemeine in den Kreis der Heobachtungen zieht. Docli müßte
selbstverständlich für das Staatsrecht mehr geschehen als bisher. Wir
haben schon auf den Mangel des Gleichgewichtes zwischen Privat- und
öffentlichem Rechte hingewiesen: dieser Mangel trifft namentlich für dag
Staatsrecht zu. Privatreeht hört der .Jurist eigentlich dreimal: nämlich
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Zur Ausgrbtaltuug -tes rechte- und staats wissenschaftlichen Studiums etc. 347
römisches, deutsches und österreichisches Privatrecht Das römische Privat-
recht, oder eigentlich das gemeine römische Hecht, führt ihn bis an die
Pforte des modernen Privatrechtes; die Darstellung des deutschen Privat-
rechtes legt begreiflicherweise den größten Wert auf diejenigen Einrichtungen,
die trotz der Rezeption des römischen Rechtes sich auf deutschrechtlicher
Grundlage entwickelt und bis in die moderne Zeit erhalten haben; also auch
von dieser Seite her gelangt der Hörer hart an die Grenze des zeitgenös-
sischen Privat- und Handelsrechtes; nichtsdestoweniger bieten wir ihm eine
lSstöndige Vorlesung über österreichisches Privat- und eine 7stflndige über
österreichisches Handels- und Wechselrecht. Das Staatsrecht dagegen lernt
der Hörer im ersten Biennium in weit geringerem Grade kennen. Wir
sehen ab von der Enzyklopädie und Philosophie, weil diese Fächer in
gleicher Weise alle Reehtsgebiete betreffen und für alle in gleicher
Weise vorbilden sollen; seihst wenn dabei dem Staatsrechte ein gewisses
Plus zutällt, was übrigens durchaus nicht allgemein der Fall ist, so
vermag dieses Plus noch keineswegs die Privilegierung des Privatrechtes
aufzuwiegen. Die rechtshistorische Darstellung gibt allerdings auch staats
rechtliche Lehren, aber selbst da erscheint wieder das Privatrecht privilegiert;
denn die Rechtsgeschichte behandelt alle Rechtsgebiete und während daneben
für das deutsche und römische Privatrecht Spezialkollegien bestehen, die
ebensoviel Raum fordern wie die gesamte übrige Rechtsgeschichte, ist ein
spezielles Kolleg über Geschichte des römischen oder deutschen Staatsrechtes
bekanntermaßen nicht vorhanden. Und trotz alledem soll dann das Staatsrecht
mit 5 Stunden auskommen, wobei, wie erwähnt, nicht nur das österreichische,
sondern auch das allgemeine Staatsrecht zur Darstellung zu gelangen hat.
Es erscheint also nur gerecht, wenn mau für das Staatsrecht eine größere
Stuudeuanzahl fordert, desto mehr, als ja eine ersprießliche Erörterung
desselben doch auch auf ausländische Einrichtungen eingehen muß.
Was die Statistik anbelangt, so hat dieselbe nach übereinstim-
mender moderner Auffassung, als Geschichte und Methodik der Statistik,
deu Zweck, den Studierenden die Kenntnis der allgemeinen Gesichtspunkte
und der wissenschaftlichen und praktischen Aufgabe dieser heutzutage als
eiakt zu betrachtenden Wissenschaft zu ermöglichen.
Der staatswissensebaftliche Studieoabschnitt, der sich dem rechts-
historischeu anzureihen hätte, würde der jetzigen Einrichtung gemäß obligate
Fächer im Gesamtausmaße von 2b wöchentlichen Stunden umfassen. Durch
die Ausscheidung des österreichischen Verwaltungsrechtes würde sich die
Notwendigkeit eines neuen etwa dreistündigen Kollegs ergehen, wodurch aber
keine Belastung einzutreten hätte, weil die Vereinigung der Volkswirtschafts-
politik mit der Verwaltungslebre eine Ersparnis bewirken würde. Dagegen
müßte das staatsrechtliche Kolleg erweitert und das völkerrechtliche als
obligat anerkannt werden. Es ist ferner Rücksicht zu nehmeu auf das schon
jetzt an allen Universitäten vorgetragene Kolleg über österreichisches Finanz-
recht, auf das durch § 5 der Ministerialverordnung vom 24. Dezember 1893
mit Recht empfohlene Kolleg über österreichisches Agrarrecht sowie auf
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348
Haiban.
das ebenfalls richtigerweise empfohlene Kolleg über Bergrecht, welches
übrigens wegen seiner historischen Entwicklung ebensogut im ersten Bien-
nium, etwa im Anschlüsse an das deutsche 1‘rivutrecht, also im vierten
Semester gebürt werden könnte und auch tatsächlich an vielen Universitäten
in diesem Zusammenhänge vorgetragen wird.
Auf tirund des Angeregten würde also der zweite Studienabschnitt
folgenden Lehrplan benötigen:
Fünftes Semester:
1. allgemeines österreichisches Staatsrecht 8 Stunden
2. Nationalökonomie 6
3. Statistik 4 ,
zusammen ... 18 Stunden
Sechstes Semester:
1. Verwaltungslehre und Volkswirtschaftspolitik 7 Stunden
2. Finanzwissenschaft 3
3. österreichisches Verwallungsreclit 3 .
4. Völkerrecht 3 .
zusammen ... 18 Stunden
Überdies kämen als nicht obligate Vorlesungen in Betracht:
1. österreichisches Finanzrecht 3 Stunden
2. , Agrarrecht 2 — 3 .
3. . Wasserrecht 1 — 2 .
eventuell österreichisches Bergrecht (falls es nicht schon
im ersten Biennium gehört wird i 3 ,
Die Staatsverrechnungswissenschaft gehört natürlich auch dieser Gruppe
an, wird aber bekanntermaßen von Juristen nicht gehört, kann also in diesem
Lehrplane unberücksichtigt bleiben. Im ganzen hätten wir somit während
dieser zwei Semester Obligatkollegien im Oesamtausinaße von 36 Stunden
und nichtobligate Kollegien im Oesamtausmaße von 9 — 11 Stunden unter-
zubringen, wobei übrigens schon das Bergrecht mitgerechnet erscheint,
welches, wie erwähnt, vielfach während des ersten Bienniums gehört wird.
Aber selbst dann erscheint die Summe aller obligaten und nichtobligaten
Kollegien dieses Studienabschnittes nicht zu groß, um während der Dauer
von zwei Semestern bequem bewältigt werden zu können, so daß daneben
noch immer für das eine oder andere Seminar Zeit verbleiben würde. Den
Abschluß dieses Studienabschnittes würde wieder eine Staatsprüfung, näm-
lich die politische als zweite bilden, so daß das Aufsteigen in den nächst
höheren Jahrgang von dem Ablegen derselben abhängen müßte.
VII.
Die judiziellen Fächer.
Wir gehen zu dem letzten Studienabschnitte, der dem geltenden Rechte
gewidmet ist, über. Es handelt sich hiebei um bürgerliches Recht
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Zur Ausstattung de« rechts- und »taatswissrnsrhuftlichen Studiums et« rt40
und Z i v i 1 1» r o z e ß, Handels- und VV ec h s u 1 r e cli t, Strafrecht
und Strafprozeß, denen nach dem geltenden Studienplane insgesamt
47 Stunden gewidmet werden. Überdies gehört in diesen Studienabschnitt
eine Keilte von niehtobligaten Vorlesungen, unter denen bekanntlich gericht-
liche Medizin, G e fä n g n i s k u n d e, G r u n d b u c h s r e ch t. Kou-
kurs recht u. s. w. seit jeher vorgetragen und mit Hecht als besonders
wichtig betrachtet werden. Diese nichtobligaten Vorlesungen erfordern zu-
sammen nach der jetzigen Praxis mindestens 12 Stunden, so daß das Ganze
in diesem Abschnitte zu absolvierende Pensum auf zirka 60 Vortragsstunden
zu veranschlagen ist, wobei natürlich praktische Übungen und Seminare
nicht mitgerechnet sind. Diese Menge von Vorlesungen in zwei Semestern
nnterzubringen. erscheint gewiß sehr schwierig, namentlich wenn dem Hörer
- und es handelt sich gerade um die Berücksichtigung der pflichteifrigen
Studenten — noch die nötige Zeit zur Beschäftigung in dem einen oder
dem andern Seminar und zum Privatstudium übrig gelassen werden soll.
Diesem Übel könnte mau auf zweierlei Art begegnen. Es wäre entweder
die den einzelnen Eichern jetzt gewidmete Zeit einzuschränken oder aber
noch ein Semester hinzuzufflgen. mithin die Gesamtdauer des Studiums von
acht auf neun Semester zu erstrecken. Es läßt sich für jede der beiden
Eventualitäten vieles Vorbringen.
Die große Stundenzahl, die den sogenannten judiziellen Fächern in
Österreich gewidmet wird, beruht auf der seit langer Zeit eingebürgerten
Überzeugung, daß gerade diese Fächer die größte Bedeutung und für die
Präzis den größten Wert haben. Diese privilegierte Stellung haben die judi-
ziellen Fächer zu einer Zeit gewonnen, wo man die übrigen Gebiete der
Jurisprudenz und vor allem die Staatswissenscliallen nicht genügend wür-
digte und wo man auch im Bereiche der Hechtsgeschichte vor allem das
Privatrecht als das Wichtigste betrachtete. Die Folge dieser auch bisher
noch immer vertretenen Überzeugung scheu wir auf Schritt und Tritt. Die
judiziellen Fächer werden bei uns in einer Ausdehnung vorgetragen, die
ihresgleichen sucht; es kommt die im Interesse der Wissenschaft so sehr
erwünschte Ebenmäßigkeit des gesamten Studiums zu Gunsten der judiziellen
Fächer, vor allem aber des Privatrechtes, ins Schwanken; es fehlt auch
nicht an arideren unzweckmäßigen Äußerungen der erwähnten Überzeugung;
denn, wie erwähnt nimmt man absolvierte Rechtshörer ohne politische
Staatsprüfung selbst hei Verwaltungsbehörden auf, so daß auch von dieser
Seite her die judiziellen Fächer und die judizielle Staatsprüfung besonders
gewürdigt werden. Unter den judiziellen Fächern wieder genießt das Privat-
recht eine entschieden bevorrechtete Stellung und dies gilt nicht nur für
den Studienplan, sondern in ebensolchem Grade für die Praxis. Gilt es doch
gewissermaßen als natürlich, daß die besten Kräfte dem Zivilgerichte, die
minder guten dem Strafgerichte überwiesen werden; auf die Durchführung
der Zivilprozeßgesetze legt die Justizverwaltung weit größeren Nachdruck
als auf die gute Durchführung der Strafprozeßordnung. Teils der alten Über-
zeugung, teils den unrichtigen Anforderungen naebgebend, ist auch der
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3">0
Halban
Lehrplan der rechts- und staatswissensehattlichen Fakultät in diesen Fehler
verfallen. Können wir uns auch damit trösten, dali es anderwärts nicht viel
besser steht, so folgt noch daraus nicht, daß inan diesen Mangel gänzlich
übersehe und ihm nicht abzuhelfen trachte.
Es ist schon im vorigen Kapitel hei Besprechung des ungerechten
Verhältnisses der Staatswissenschaften gegenüber den Rechtswissenschaften
darauf hingewiesen worden, daß, wie ja übrigens von allen Seiten anerkannt,
von den einen getadelt, von den anderen gefordert wird, der gesamte
Studiengaug eigentlich auf das privatrechtliche Ziel losgeht. Vergleichen wir
die Behandlung des Privatrechtes mit der des Strafrechtes. Wie erwähnt,
hört der Student Privatrucht drei-, eigentlich viermal; nach dem ausführ-
lichen Kolleg über römisches, folgt das Kolleg über deutsches Privatrecht;
und dann soll der Hörer noch 18 Stunden österreichisches Privatrecht und
7 Stunden Haudels- und Wochseirecht hören. Weit weniger ist er für das
Strafrecht vorbereitet; abgesehen davon, was er darüber in den vorbereitenden
Kollegien des ersten Semesters hören konnte und was wir gerecliterweise
nicht mit in Rechnung zielten dürfen, weil in diesen Kollegien dieselbe Vor-
bildung für alle Fächer geboten werden soll, kann er nur in der Geschichte
des deutschen und kanonischen Rechtes einige strafrechtliche Kenntnisse
erwerben; die römische Recht. «geschieh te läßt ja konsequent das Strafrecht
außer Betracht. Dennoch werden 5 .Stunden als genügend betrachtet, um
den Juristen in die Geheimnisse des Strafrechtes einzuweihen; überdies
müssen aber, uud zwar mit Recht, viele Wochen des dem Strafrechte gewid
nieten Kollegs für die Besprechung der philosophischen Grundlagen des-
selben entfallen. Dasselbe gilt für den Prozeß; die dogmatische Besprechung
der beiden Prozeßarten ist für den Hörer in gleicher Weise neu; doch ist
er durch das übliche, wenn auch nicht obligate Kolleg über römischen
Zivilprozeß schon einigermaßen für den Ideengang des Zivilprozesses vor-
bereitet; dennoch sollen 5 Stunden für die dogmatische Darstellung des
Strafprozesses genügen, wälireud für den Zivilprozeß mehr als das Doppelte,
nämlich 13 Stunden, gefordert werden.
Es ist ja selbstverständlich, daß eine genaue, theoretisch und praktisch
vollkommen genügende Darstellung des österreichischen bürgerlichen Rechtes
selbst in 18 Stunden unmöglich ist und daß eine für die Präzis hinreichende
zivilprozessuale Schulung in 12, ja sogar noch mehr Stunden nicht erzielt
werden kann. Wir fragen aber, ob es möglich ist, hei einem fünfstündigen
Kolleg, von dem wie erwähnt ein guter Teil den philosophischen Grund-
lagen gewidmet wird, das Strafrecht und in weitereu 5 Stunden den Straf-
prozeß beherrschen zu lernen. Man muß da wieder daruul hinweisen, daß
es niemals Zweck des akademischen Unterrichtes sein kann, geschulte
Praktiker zu produzieren. Wie gesagt, auch das 18 ständige privatrechtliche
Kolleg, dem die ziemlich eingehende Vorbildung roinauistischer uud germa-
nistischer Art vorangeht, kann den Zweck, um den es den Praktikern zu
tun ist, nicht erreichen; wir können getrost sagen, daß selbst eine. Ver-
doppelung dieser schon so großen Stundenanzahl die Erfüllung dieses Zweckes
Digitized by Google
Zur Aasgestaltaag des rechts- und staatsvie&ensch&ftiiehen Studiums etc. 351
ebensowenig sichern würde. Es spricht also vom akademischen Standpunkte
entschieden gar nichts dafür, daß mau dem einen Fache gegenüber den
andern eine so übermäßige Ausdehnung gebe. Entweder ist eine so ein-
gehende Darstellnug des geltenden Hechtes notwendig, dann trifft diese Not-
wendigkeit in demselben Grade wie für Privatrecht und Zivilprozeß auch
für Strafrecht uud Strafprozeß zu — oder aber genügt die Art und Weise, in
der Strafrecht und Strafprozeß vorgetragen werden, dann ist nicht eiuzu-
sehen, warum dem Privatrechte und dem Zivilprozeß, namentlich angesichts
der romanistischen und germanistischen Vorbereitung noch dieses weitere
Privileg im zweiten Bicunium zugestanden werden soll. Es wird doch nie-
mand im Ernste behaupten wollen, daß das eine leichter, das andere
schwerer sei. Der größere stoffliche lieiclitum des Privatrechtes gegenüber
dem einigermaßen tatsächlich beschränkten Gebiete des Strafrechtes kann
keinen prinzipiellen Unterscheidungsgrund bilden; denn er wird mehr als
genügend aufgewogen durch die größere Bedeutung der strafrechtlichen
Verhältnisse und durch die ihnen speziell eigene Schwierigkeit der Auf-
fassung. Die llülic, die Lehrer und Hörer darauf verwenden, um in die
Details des Privatrechtes einzudringeu, ist theoretisch nur zu kleinem Teile
gerecht fertigt, für die Praxis aber überwiegend wertlos oder wenigstens
ganz ungenügend. Muß der absolvierte Jurist auf Grund der weniger um-
fassenden Vorlesungen über Strafrecht und Strafprozeß sich dennoch praktisch
in die Strafrechtspflege einleben, so kann man dasselbe hinsichtlich des
bürgerlichen Hechtes und Verfahrens fordern. Und so weit wir wissen, ist
dies möglich: es ist uns nicht bekannt, daß man, wenn von den Mängeln
unserer Strafrechtspflege die Hede ist, in der geringen Stundcuanzahl der
kriminalistischen Kollegien den Grund dieser Übel gesucht und gefunden
hätte; fügen wir hinzu, daß bekanntermaßen auch die Pflege des Zivil-
rechtes trotz weit besserer Vorbereitung zu Klagen Anlaß gibt, die gewiß
nicht geringer und nicht weniger berechtigt sind als die Klagen über die
Strafrechtspflege. Vom akademischen Standpunkte kann man in dieser Un-
gleichmäßigkeit ein direktes Übel linden. Unwillkürlich gewinnt der Hörer
die Überzeugung, daß das Zivilrecht wichtiger ist als das Strafrecht und
pflanzt dann in seiner praktischen Tätigkeit diese von Generation zu Gene-
ration flbernommeue Auffassung fort. Die ausgedehnten Vorlesungen gebeu
ihm Gelegenheit, nebst theoretischem Wissen auch das Gesetz näher kennen
zu lernen; ist dies gewiß ein Vorteil, so muß doch mit Nachdruck betont werden,
daß dabei unwillkürlich der Schwerpunkt nicht des Vortrages, wohl aber des
Studiums auf das Gesetz, nicht auf die wissenschaftliche Auffassung gelegt
wird. Immer häutiger begegnen wir Kandidaten, die nicht nur bei der Staats-
prüfung, sondern sogar beim Kigorosiim neben einer hinreichenden Kenntnis
des Gesetzes ein ganz ungenügendes theoretisches Verständnis aufweisen.
Es liegt uns gewiß ferne, die betreffenden Dozenten dafür verantworllich zu
machen; die Jugend aber neigt mit Rücksicht auf die ihr bevorstehenden
praktischen Aufgaben znm Studium des bloßen Gesetzes und findet in den aus-
gedehnten Vorlesungen gewiß eine Art Vorscbubleistung für dieses Übel.
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Haibau.
352
Es darf also yesagt werden, daß eine Einschränkung der Vorlesungen
Ober bürgerliches Hecht und Zivilprozeß vom akademischen Standpunkte
unschädlich wäre, ja sogar insofern Vorteil bringen könnte, als dadurch
Lehrer und Hörer förmlich gezwungen wären, vor allem das Theoretische
und nicht das Praktische zu berücksichtigen. Aber auch die Zwecke der
Praxis würden darunter nicht leiden; es würde der absolvierte Jurist bei
seinem Eintritte in den praktischen Dienst weniger Detailkenntnisse, die er
übrigens nicht anzuwenden weiß, mitbringen, aber er wäre vielleicht theore-
tisch besser geschult, von der Bedeutung der wissenschaftlichen Auffassung
des Hechtes mehr durchdrungen, er wäre nicht wie jetzt unzureichender
Praktiker und verschulter Theoretiker; er würde an die Aufgaben der Praxis
voraussetzungslos herantreten und würde doch für das künftige Leben die
Hochschätzung der Theorie behalten. Eine entsprechende Kürzung, bei der
man auf deutsche Muster verweisen könnte, wo z. B. Zivilprozeß in einem
Semester 4stündig vorgetragen wird, würde die Unterbringung der judiziellen
Fächer in swei Semestern ermöglichen. Man brauchte nicht einmal radikal
zu verfahren; es würde genügen, die Stundenanzahl für Privatrecht und
Zivilprozeß um ein Drittel einztischränkeu, so daß immer noch dem Zivil-
prozeß 8 anstatt 12, dem Privatrechte 12 anstatt 18 Stunden verbleiben
würden: dio Gesamtsumme der obligaten und nichtobligaten Fächer dieses
Studienabschnittes wäre schon dadurch von 60 auf 48 heruntergedrückt,
was für zwei Semester nicht abnorm ist, namentlich wenn man berück-
sichtigt. daß es sich überwiegend um Fächer handelt, die für den Hörer
kein Novum bilden.
Sollte aber die bisherige Gepflogenheit und die Überzeugung, auf der
sie beruht, weiter erhalten bleiben, so gäbe es keiu anderes Mittel, als
das vorhin erwähnte, nämlich die Hinzufflgung des neunten
Semesters. Es ist klar, daß dieses Auskunftsmittel im ersten Moment
unpopulär erscheinen müßte. Aber abgesehen von vielen Vorteilen, die es
bieten würde, glauben wir. daß man über kurz oder lang dennoch dazu
wird greifen müssen. Bei näherer Betrachtung ist einziisehen, daß die
Hinzufflgung des neunten Semesters praktisch keine erhebliche Ver-
längerung der Gesamtdauer des Studiums bedeuten würde. Denn auch jetzt
dauert das Studium, wenn man die für die Vorbereitung zu den Staats-
prüfungen nötige Zeit mitrerhnet. 4’ Jahre. Es ist bekannt., daß in neuester
Zeit die Ablegung der zweiten Staatsprüfung vor den Sommerferien, d. h.
am Schlüsse des achten Semesters erschwert wurde; somit werden viele
Kandidaten frühestens im Oktober die zweite Staatsprüfung ablegen, und
zwar entweder die judizielle. oder die staatswissensehaftliche. Wird der
Eintritt in den praktischen Beruf, was geradezu geboten erscheint, erst
nach Ablegung der dritten Staatsprüfung gestattet, so kann der Kandidat
erst mehrere Monate naeli Ablegung der zweiten Staatsprüfung sich der
dritten unterziehen. Es wird ihm also in der Kegel nicht möglich sein, vor
Ablauf von nenn Semestern (seit Ablegung der Maturitätsprüfung) in die
Praxi- eiuzutreten. Nun haben wir in dem vorigen Kapitel den Vorschlag
Digitized by Google
Zn Ausgestaltung des rechts- and stautswissenscbaftliclicn Studiums etc. 353
gemacht, die zweite Staatsprüfung (und zwar die staat-wissenschaftliche),
im unmittelbaren Anschlüsse an die dem staats wissenschuft liehen Studium
gewidmeten zwei Semester ablegen zu lassen, so dab der Hörer heim Ein-
tritte in das vierte Studienjahr nur noch eine Staatsprüfung vor sich hätte,
die er. wenn das Studium um ein Semester verlängert werden sollte, zum
Schlüsse des neunten Semesters ablegen könnte, also zur selben Zeit,
in der er sich auch jetzt gewöhnlich der dritten Staats-
prüfung unterzieht. Wir sehen, dalt die Gesamtdauer des Studiums
und der Vorbereitung zu den Prüfungen keine Veränderung erleiden würde.
Es ist sogar anzunehmen, das viele Hörer mit einer solchen Zeiteinteilung
einverstanden wären, weil sie nach AbschluU der Studien nicht mehr an
zwei, sondern blob an eine Staatsprüfung zu denken hätten.
Dieser Ausweg wäre aber auch aus vielen anderen Gründen praktisch;
es könnte die allgemein beliehte, wenn auch von uns kritisierte Ausdehnung
der Vorlesungen beibehalten werden und es könnte, was gewitl von grobem
Nutzen wäre, auch eine lleihe von Spezialvorlesungen über die modernsten
Rechtsgebicte gelesen und gehört werden. Sowohl vom Standpunkte der
liedürfnisse der Praxis, als auch vom wissenschaftlichen Standpunkte wird
mit Recht gerügt, dab beispielsweise an den wenigsten Fakultäten Vor-
lesungen über internationales Pr ivatrecht, über Urheberrecht,
über modernes V e r k e h r s re eh t u. s. w. gehalten werden. Solche Vor-
lesungen würden gerade für diesen Studienabschnitt passen, weil die vor-
angegangeue staatswissenschaftliche Ausbildung das Verständnis für diese
modernen Hechtsgebiete, auf denen die Volkswirtschaftspolitik eine Rolle
spielt, gleichtun würde. Jedenfalls sollte man, wenn die bisherige Ausdehnung
privatrechtlicher Kollegien beibehalten und infolgedessen ein neues Semester
hinzugefügt werden sollte, auch daran denken, den Hörem bei Besprechung
der einzelnen judiziellen Fächer einen Überblick über die einschlägigen
Einrichtungen im Auslande, namentlich über die deutsche und französische
Gesetzgebung zu bieten. Die grobe Ausdehnung macht dies den zivilrechtlichen
Kollegien auch jetzt schon möglich; es ist aber ebenso die Ausdehnung
des strafrechtlichen Unterrichtes erwünscht.
Einen passenden Ahschlub des modernrechtlichen Studiums würde ein
zweites Kolleg aus dem Gebiete der vergleichenden Rechts Wissen-
schaft bilden. Es hätte natürlich andere Zwecke zu verfolgen, als das für
das neunte Semester bestimmte. Gegenstand einer im neunten Semester zu
hörenden rechtsvergleichenden Vorlesung mflbten Materien des modernen
Rechtes bilden, deren Auswahl dem Ermessen der Dozenten Vorbehalten
wäre. Ist es auch nicht möglich, das Gesamtrecht in den Kreis vergleichender
Betrachtung zu ziehen, so könnte doch ein 3— Istflndiges Kolleg über
besonders interessante Institutionen ungemein anregend und bildend wirken.
Der Studienplan des judiziellen Studionabschnittes mühte je nachdem,
ob derselbe zwei oder drei Semester umfassen soll, verschieden ausfallen.
Im ersten Falle mübten, wie schon erwähnt, die Vorlesungen über Privatrecht
und Zivilprozeb auf zwei Drittel der jetzigen Stundenanzahl reduziert werden:
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Halban.
354
das Handels- und Wechselrecht könnte in der Weise geteilt werden, daß
vier Stunden auf das siebente and drei auf das achte Semester zu entfallen
hätten. Wenn dagegen, wie zu wünschen wäre, drei Semester dem letzten
Studienabschnitte angewiesen werden, würde der Studieuplau folgendermaßen
aassehen :
Siebentes Semester:
1. Österreichisches Privatrecht 9 Stunden
2. Österreichisches Strafrecht 7 ,
3. Zivilprozeß 6 ,
zusammen ... 22 Stunden
Achtes Semester:
1. österreichisches Privatrecht 9 Stunden
2. Strafprozeß 6 ,
3. Zivilprozeß 6 ,
4. gerichtliche Medizin 3 ,
zusammen ... 24 Stunden
Neuntes Semester:
1. Handels- und Wechselrecht 7 Stunden
2. Gefängniskunde 2 .
3. Spezialkollegien über moderne Kechtsgebiete .... 3 — 5 ,
4. Ein rechtsvergleichendes Spezialkolleg 3—4 .
zusammen . 15 — 18 Stunden
sodann in den letzten vier Wochen dieses Semesters die dritte Staats-
prüfung.
VIII.
Die Konsequenzen der Veränderung des Studienplanes.
Eine derartige Ausgestaltung des Lehrplanes, die sich doch zum
größten Teile an die bestehenden Einrichtungen anlehnt und nicht als zu
weitgehend bezeichnet werden darf, würde hinsichtlich des Prfifuugswesens
keine einschneidenden Änderungen erfordern.
Das österreichische Prüfungswesen unterscheidet sich vom deutschen
hauptsächlich durch die Einrichtung der sogenannten Zwischenprüfung,
die hei uns ein gesetzliches Erfordernis behufs Aufsteigens in höhere Jahr-
gänge bildet.
Wir wollen uns nicht mit der Frage beschäftigen, ob Zwischenprüfungen
gut oder schlecht sind und lehnen uns einfach an das bestehende an. Jede
Zwischenprüfung ist allerdings für den eifrigen Studenten insofern von
Nachteil, als sie ihn gerade zur Zeit, wo er vielleicht selbständig zu arbeiten
Gelegenheit hätte, zum Prüfungsstudium zwingt. Durch jede Zwischenprüfung
wird ferner der Anschein erweckt, als ob die Fächer, über welche eine
Prüfung abgelegt wurde, damit schon für alle Zukunft abgetan wären. Es
wird also der wissenschaftliche Zusammenhang zwischen den einzelnen Teilen
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Zar AaiigpftaHnne de« recht*- und sUst*wis*enschaftlichen Stadium« etc. 355
der Reihten issensihaft gestört und auf diese Gefahr sollte man ein Augenmerk
richten. Sie ließe sieh beheben, wenn man, ebenso wie es in den Vorlesungen
über die weiteren Fächer geschieht, auch bei den Prüfungen über die
später an die Reihe kommenden Disziplinen der zweiten und' dritten Staats-
prüfung auf das frühere, natürlich nur allgemein, eingehen würde. Sowie
zwischen den einzelnen Teilen der Jurisprudenz ein organischer Zusammen-
hang besteht, so soll er auch zwischen den Prüfungen über diese Teile
aufrechterhalten werden. Nur auf diese Weise ist es möglich, die Vorteile
der Zwischenprüfungen zu wahren, ohne den wissenschaftlichen Charakter
des Gesamtstudiums zu gefährden. Der Hörer soll einsehen, daß er das
betreffende Fach nicht bloß für die eine Prüfung lernt, sondern desselben
zum Verständnisse der späteren Vorlesungen bedarf, mithin die nötigen
Kenntnisse auch weiter behalten und pflegen. In der Überzeugung, daß die
Vorteile der Zwischenprüfung im allgemeinen größer sind als die Nachteile,
haben wir auch vorhin den Vorschlag gemacht, die staatswissenschaftliche
Prüfung während des Studiums, also in Form einer Zwischenprüfung, ein-
zuschalten. —
Was nun die einzelnen Staatsprüfungen anbelangt, so soll die erste
lieben ihrem eigentlichen Zwecke, im Interesse der Studierenden selbst, zur
Sichtung der Hörer dienen. Man muß das Studium so einrichten, daß dem
Hörer auf Schritt und Tritt Gelegenheit geboten werde, an sich selbst die
Frage zu stellen, ob er für das gewählte Stadium tauge. Wir haben auf
die Cbelstäude hingewiesen, die sich daraas ergeben, daß die Mehrheit der
Hörer von den Schwierigkeiten des Rechtestudiums keine Ahnung hat und
in der Regel erst in späteren Jahrgängen, wo es zu spät ist, einen andern
Beruf zu wählen, ihre üntauglichkeit einsieht. Deshalb soll, wie angeregt,
schon das Gymnasium in dieser Beziehung seine Pflicht erfüllen; es sollen
ferner die vorbereitenden Kollegien des ersten Semesters dem Hörer einen
Begriff' von der Eigenartigkeit der Jurisprudenz beibringen und es soll auch
das rechtshUtorische Studium, w enn dasselbe auf Grund der vorgeschlagenen,
im ersten Semester zu bietenden Vorbildung ein juristisch höheres Niveau
erreicht, den Studierenden über die Schwierigkeiten der Jurisprudenz nicht
mehr täuschen. Sind diese Vorbedingungen erfüllt, ist der Studierende durch
den Gymnasialunterricht, noch mehr aber durch die vorbereitenden Kollegien
des ersten Semesters, auf den Charakter des Rechtestudiums aufmerksam
gemacht worden und ist ihm sodann die Rechtsgeschichte, ihrer eigentlichen
Aufgabe gemäß, mehr juristisch vorgetragen worden als jetzt, dann kaun
auch das Niveau der ersten Staatsprüfung gehoben und ihr wahrer Zweck
erreicht werden. Dann wird man mit Recht den Kandidaten als angehenden
Juristen behandeln und ein Urteil darüber zu gewinnen vermögen, ob er zum
Juristen geschaffen ist. Auch der Kandidat selbst wird diese Frage besser
beurteilen können, als es dermalen geschieht.
Soll die rechtshistorischc Staatsprüfung die Bedeutung einer Sichtung
haben, dann kann die mündliche Prüfung allein schwerlich genügen und
es wäre gerade bei der ersten Staatsprüfung eine Klausurarbeit einzuführeu,
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356
Halban.
nicht allein wegen der Bedeutung de» rechtehistorischen Studiums an und
für sich, sondern um die Fähigkeit des Kandidaten, sich auch nur einiger-
maßen präzis juristisch anszudrüeken, schon in diesem Zeitpunkte erproben
zu können. Es würde also eine Klausurarbeit aus einem Fache genügen
und es müßten Themen gewählt werden, die überwiegend juristischen, nicht
historischen Charakter hätten, also aus dem Gebiete des Privat- oder Straf-
rechtes, aus dem Gebiete der Geschichte des öffentlichen Rechtes nur
solche, die zu präzisem juristischen Ausdrucke Anlaß geben. Die Kom-
mission hätte einfach zu beschließen, aus welchem Fache der einzelne
Kandidat seine Klausurarbeit zu machen hat.
Was die I’rüfungsgegenstände anbelangt, so wäre eine Änderung der
bisherigen Vorschriften überflüssig. Haben wir auch im Lehrplan dem ersten
Rienuium neue obligate Fächer hinzugefügt, so muß doch gesagt werden,
daß sich dieselben zu Prüfungsgegenständen nicht eignen. Eine Prüfung
über Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaft, über Rechtsphilo-
sophie, allgemeine Gesellschaftslehre und vergleichende Rechtswissenschaft
müßte entweder sehr eingehend sein, was einfach unmöglich ist, oder aber
wieder so flüchtig, daß dieselbe der wissenschaftlichen Bedeutung dieser
Fächer höchstens Abbruch tun könnte. Die Bedeutung dieser Fächer besteht
ja in der Kräftigung der Auffassungsgabe, in der Gewährung des nötigen
Überblickes und in der Erweiterung des Gesichtskreises. Die Prüfungskom-
mission wäre in der Lage, sich bei Gelegenheit der Prüfung über rechts-
geschichtliche Fächer zu vergewissern, ob der Kandidat auf diese allgemeinen
Fächer eingegangen ist. Schon der Umstand, daß diese Fächer vorgetragen
würden und obligat wären, würde die Prüfungskommission berechtigen,
wirklich wissenschaftliche Anforderungen zu stellen und ein tieferes Ver-
ständnis der rechtshistorischen Disziplinen vorauszusetzen. Somit wäre nicht
zu befürchten, daß diese allgemeinen Disziplinen vernachlässigt werden, ln
dem wissenschaftlichen Charakter der Prüfungen müßte sich der Erfolg der
allgemein vorbereitenden Kollegien ausdrücken.
Nur an den beiden galiziachen Universitäten und an der böhmischen
Universität in Prag wäre eine Änderung der ersten Staatsprüfung in der
Richtung erwünscht, daß auch das nationale Recht zum Prüfungsgogenätaude
gemacht werde; denn man kann nicht behaupten, daß die polnische oder
böhmische Kechtsgcschichto für die Juristen dieser Länder überflüssig wäre;
die rechtshistorische Ausbildung des künftigen galizisehen oder böhmischen
Juristen ist unvollkommen, wenn die Kunde der speziellen Rechtsgeschichte
des betreuenden Landes mangelt
Hinsichtlich der Fächer der zweiten Staatsprüfung, die mit
Rücksicht auf das eben Erwähnte nach Schluß des sechsten Semesters, und
zwar über die staatswissenschaftlichen Fächer nbzuhalteu wäre, müßte wohl
der Wunsch ausgedrückt werilen, daß wenigstens die Grundzflge des Völker-
rechtes und die Theorie der Statistik von den Kandidaten studiert werden;
allerdings könnte dieser Erfolg erreicht werden, wenn man bei der Prüfung
Ober Staatsrecht auf das Völkerrecht und ebeoso bei der Prüfung über
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Zu r Au»*r*»tj»!tnng <les recht*- und *ta*t<wi^en*chaftHchcn Studium* etc. 357
Nationalökonomie oder auch hei der Prüfung über Verwaltungsrecht auf die
Theorie der Statistik einginge.
Am wenigsten wäre au der j u d i z i e 11 e n Staatsprüfung, die
nach unserem Vorschläge als letzte an die Reihe käme, zu ändern. Wir
haben zwar dem Wunsche Ausdruck gegeben, daß auch spezielle Vorle-
sungen über die allermodernsten Rechtsgebiete sichergestellt werden, doch
könnten Fragen über derartige Materien ganz gut bei Gelegenheit der
Prüfung über Privatrecht oder Handelsrecht gestellt werden. Die Anzahl der
Prüfungsfächer bliebe unverändert. Es bedarf keiner besonderen Erwähnung,
daß auch das Niveau der judiziellen Staatsprüfung gehoben werden muß.
Es muß, namentlich bei dieser letzten Prüfung, der Zusammenhang aller
Teile der Jurisprudenz hervortreten und jede Möglichkeit einer Gering-
schätzung der früher absolvierten Fächer ausgeschlossen werden. —
Im Zusammenhänge damit muß aber eine besondere Frage berührt
werden. Schon bei der rechtshistorischen Staatsprüfung kommt es vor. daß
außer Professoren und Dozenten der betreuenden Fächer Prüfungskommissäre
aus nicht akademischen Kreisen beigezogen werden; noch häufiger ist dies
bei der staatswissenschaftlichen und judiziclleu Prüfung der Fall. Wir sind
weit davon entfernt, die wissenschaftlichen Kenntnisse hervorragender Prak-
tiker in Zweifel zu ziehen. Doch wird man zugeben müssen, daß namentlich
der vielbeschäftigte Praktiker einfach nicht in der Lage ist. die Fortschritte
der Wissenschaft zu verfolgen. Dies gilt nicht nur für die rechtshistorischeu
Disziplinen, in denen während der letzteu Dezennien geradezu Umwälzungen
statttindeu, sondern auch für die dem Praktiker naturgemäß näher liegenden
Wissenszweige, weil auch da Theorie und Systematik derartige Fortschritte
gemacht haben, daß eine mitunter kaum geahnte stoffliche Bereicherung
erfolgt ist. Der akademische Lehrer hält es für seine Ehrenpflicht, seinen
Hörern das Beste zu bieten und er ist moralisch verpflichtet, auch die
neuesten Theorien, so weit sie dem Anfänger zugänglich gemacht werden
können, zu berücksichtigen. Daraus ergibt sich eine Inkongruenz zwischen
Lehre und Prüfung; der Dozent trägt nach wissenschaftlicher Überzeugung
das Modernste vor: der nicht, fachmännische Prüfer ist vielfach schon wegen
Zeitmangels nicht in der Lage, diese neuesten Stadien des wissenschaftlichen
Fortschrittes zu kennen. Ein weiterer Nachteil bestellt darin, daß der Prak-
tiker, der seltener prüft als der akademische Dozent, die Aufnahmsfälligkeit
der Kandidaten nicht so zu beurteilen vermag, wie der Professor, der bei
Kolloquien, Seniinarübungen. Rigorosen u. s. w. seine Erfahrungen sammelt.
Darin liegt wahrscheinlich der Grund, warum Praktiker als Prüfungskom-
migsäre überwiegend Gesetzeskenntnis fordern und sich seltener auf theore-
tische Gebiete begeben. Der Student akkomodiert sich erfahrungsgemäß den
Anforderungen der Prüfungskommissionen; er ist zwar in keinem Falle sicher,
ob er von einem Professor oder von einem Praktiker geprüft wird; doch
weiß er, daß er für den Praktiker vor allem das Gesetz genau kennen muß.
für den Professor dagegen Gesetz und Theorie; das Gesetz muß er also
unter allen Fällen zu beherrschen trachten und in dieser Beziehung darf
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358
Halban.
er sich keinem Risiko aussetzen: hinsichtlich der Theorie ist das ltisiko
zulässig.
Es ist übrigens unverständlich, warum gerade bei juristischen Staats-
prüfungen ein Gewicht auf die Beteiligung der Praktiker gelegt wird. Diese
Prüfungen werden doch sogar theoretische Staatsprüfungen genannt; sie
verleihen kein praktisches Recht, wie etwa das medizinische Doktorat oder
die Lehramtsprüfung und dennoch werden weder heim medizinischen
Doktorat, noch bei der' Lehramtsprüfung Praktiker beigezogen. Man macht
ans der juristischen Staatsprüfung ein Zwitterding; man läßt die Grenzen
des Prflfungagebietes verschieben, indem man die Studenten von der Theorie,
die sie lernen können nnd sollen, abwendet und sie zur Praxis treibt, die
sie nicht verstehen können. Man benimmt also der Prüfung den theoretischen
Wert, ohne ihr einen wirklich praktischen zu verleihen. Überdies erfolgt
die Ernennung der Prüfungskommission aus den Reihen der Praktiker ohne
jede Ingercnz des Professorenkollegiums. einfach über Vorschlag des Präses
der Prüfungskommission, der häufig Praktiker ist. Das Prflfungsamt ist vom
staatlichen Standpunkte gewiß ebenso wichtig wie das Lehramt; man müßte
doch also zum mindesten verlangen, daß sich die Professorenkollegien über
jede Ernennung eines Praktikers zum Prüfungikommissär äußern.
Selbstverständlich würde die Ausschließung oder auch nur die geringere
Heranziehung von Praktikern eine größere Belastung der Professoren ver-
ursachen. Um diesem Übel zu steuern, wäre vielleicht auf die früheren
Bestimmungen zurückzugreifen, wonach das Rigorosem die betreffende
Staatsprüfung ersetzen konnte. Nachdem das Rigorosum gegenüber der
Staatsprüfung ein Plus bildet und bei einer Reform des Doktorats gewiß
wesentliche Verschärfungen uintreten werden, ist nicht einzusehen, warum
die umfassendere Prüfung nicht als Ersatz der weniger umfassenden gelten
sollte. Theoretische Prüfungen sind sie beide.
Nebenbei wäre noch darauf hinzuweisen, wie zweckwidrig die Abstim-
mungsart der Prüfungskommissionen ist. Gesetzlich soll sich jeder Prfifuugs-
kommissär über das Gesamtergebnis der Prüfung aussprechen und es ist
der Kandidat, der auch nur aus einer Partie eines Faches ganz ungenügende
Kenntnisse an den Tag gelegt hat. zu reprohieren; nichtsdestoweniger stimmt
bekanntermaßen jeder Prfifungskommissär faktisch nur über sein Fach ab
und die Folge davon ist, daß per majora Kandidaten approbiert werden, die
aus einem Fache geradezu verblüffende Unkenntnisse aufweisen. Man will
eben, wenn die Vorbereitung in den übrigen Fächern eine genügende war,
nicht sofort zur Reprohation schreiten. Es wäre passender, dasjenige Fach,
welches ungenügend beherrscht wurde, zum Gegenstände einer Nachtrags-
prüfung zu machen; natürlich aber auch nur dann, wenn die Unkenntnis
keine gar zu krasse war. Man würde dadurch den zahlreichen Approbationen
per majora Vorbeugen und ein Nachholen der Kenntnisse erzwingen. Selbst-
verständlich dürfte das Institut der Nachtragsprflfung nicht etwa dazu miß-
braucht werden, daß die Kandidaten gewissermaßen den Prflfungsstoff teilen;
dieser Gefahr könnte mau begegnen, wenn man bei der Nachtragsprüfung
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7ut Ausgestaltung des rechts- und staats Wissenschaft liehen Studiums etc. 351)
auch darauf sehen würde, oh dem Kandidaten der Zusammenhang dieses
Faches mit der ganzen Studiengruppe gegenwärtig ist. —
Sehen wir, dall die Erweiterung des Lehrplanes keine Veränderungen
des Prüfungswesens zur Folge haben würde, so muß mit Nachdruck betont
werden, daß die Durchführung eines solchen Lehrplanes an die Professoren-
kollegien Anforderungen stellt, die mit den jetzt vorhandenen Kräften,
namentlich an den kleineren Universitäten, unmöglich bewältigt werden
können. Es müßte unbedingt eine Vermehrung der Lehrkanzeln eintreten.
Schon heute ist ungleichmäßige Verteilung der Pflichten und Oberbflrdung
der einzelnen Professoren wahrnehmbar. Es genügt beispielsweise, das dem
Romanisten oder Zivilisten obliegende Pensum mit dem des Statistikers
oder auch Kanonisten zu vergleichen. Die Verhältnisse liegen in dieser Hin-
sicht sehr verschieden.
Am krassesten tritt die Überbürdung an kleinen Universitäten zum
Vorscheine, wo die wenig zahlreichen Professoren nicht nur ihre Nominal-
facher in der ganzen Ausdehnung vertreten, sondern auch andere Fächer,
die durch keinen Fachmann repräsentiert werden, Übernehmen müssen. So
z. B. muß der Kanonist in Ozernowitz Kechtsenzjklopädie, und bis vor
kurzem mußte der Prozessualist gar Rechtsphilosophie vortragen. Es ist
klar, daß eine Vereinigung von Fächern, die wissenschaftlich nicht verwandt
sind, der akademischen Auffassung widerspricht. Man kann doch nicht den
Standpunkt vertreten, daß der Professor zu einer bestimmten Stundenanzahl
verpflichtet ist. Will man aber dieses der Volks- oder Mittelschule ent-
sprechende Prinzip durchführen, dann möge man auch beachten, daß selbst
für die Mittelschule Gruppeneinteilungen bestehen, die sich mehr oder
weniger wissenschaftlich verteidigen lassen und daß man in dem Umstande,
daß der Mittelschullehrer für die Fächer geprüft, daher qualifiziert ist, die
Entschuldigung für die Vereinigung finden kann. Es käme niemand auf die
Idee, den Philologen zur Erteilung mathematischen Unterrichtes zu ver-
pflichten. An den juristischen Fakultäten werden aber in dieser Hinsicht
Fehler begangen, die an der Mittelschule ausgeschlossen wären. Es wird
nicht nur eine uuakademische Überbflrdung hervorgerufen, indem mau ein-
zelnen Professoren ein Arbeitspensum vorschreibt, welches an das Maximum
der Lehrverpflichtung an Mittelschulen grenzt, sondern überdies noch eine
zweckwidrige Vereinigung heterogener Fächer bewirkt, für welche der be-
treffende Professor nicht qualifiziert ist, für die er sich vielleicht nicht
interessiert und in denen er niemals wissenschaftlich zu arbeiten beabsichtigt.
Die Vereinigung der Lehrverpflichtung für Privat- nnd Handelsrecht, wie
sie manchmal üblich ist, verpflichtet den Professor, wenn man noch Seminar-
übungen dazurechnet. zur Abhaltung von mindestens 27 Vorlesungen, so daß
auf ein Semester 14, auf das andere 13 entfallen; hält dieser Professor,
wie es erwünscht ist, noch Spezialkollegien ab, dann erreicht er das
Maximum der mittelschulmäßigen Lehrverpflichtung. Die Vereinigung so
weit auscinandcrgehender Fächer wie z. B. Zivilprozeß und Rechtsphilosophie,
wäre an der Mittelschule mit der Vereinigung von Philologie und Mathe-
Zdtachrift für VoHuwlrucWk, Soiialpolltlk und Verwaltung. XII. 25
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360
Halban.
matik zu vergleichen und würde dort als pädagogisches Horrendum be-
trachtet werden. Es ist doch eine bescheidene Forderung, wenn man für
den Hochschulunterricht nur diejenige Rücksicht verlangt, die dem Mittel-
schulunterrichte seit jeher zu statten kommt. Ganz anders verhalten sich
die Dinge an der medizinischen oder philosophischen Fakultät; es gibt auch
dort Lehrkanzeln, die man als überbürdete bezeichnen muß; doch ergibt
sich dort die Überbürdung regelmäßig aus der Natur des Faches, aus der
Notwendigkeit vielstündiger Übungen u. s. w. Es ist uns nicht bekannt,
daß mau in irgend einem Falle noch besonders dazu beigetragen hätte, eine
Überbürdung zu schaffen; es kommt niemand auf die Idee, etwa zwei
Fächer, die in wenigen Stunden vorgetragen werden, in einer Hand zu ver-
binden. Im Gegenteile nimmt die Anzahl der Lehrkanzeln an den medizini-
schen und philosophischen Fakultäten' beständig zu. denn für diese Fakul-
täten wird das wissenschaftliche Prinzip beobachtet, wonach jeder Wissens-
zweig ohne Rücksicht darauf, ob derselbe in einer vierstündigen oder zwanzig-
stflndigen Vorlesung behandelt wird, selbständig in Betracht kommt. Wenn
in der Tat die Vorlesungen hoher stehen als ein Kompendium, wenn der
Professor, der in erster Linie selbständiger Forscher ist, Zeit und Lust
finden soll, neben seiner eigenen Arbeit auch die Vorlesungen auf wissen-
schaftlicher Hohe zu erhalten, dann muß man entschieden mehr Professoren
und von jedem einzelnen weniger Vorlesungen fordern. Die Verbindung
mehrerer Fächer, selbst wenn dieselben verwandt sind, ist in höchstem
Grade unakademisch; reicht schon das Leben nicht aus, um ein Gebiet all-
seitig zu beherrschen, so ist die Beherrschung mehrerer Gebiete selbstver-
ständlich ganz ausgeschlossen; deijenige, der verpflichtet wird, mehrere
Fächer zu vertreten, muß entweder auf allen Gebieten Dilettant bleiben
oder aber auf dem einen Gebiete, welches ihm näher liegt, arbeiten, das
andere dagegen vernachlässigen. Wenn man einen Dozenten, der in seinem
Fache ein tüchtiger Gelehrter ist. veranlaßt, daneben noch ein Fach zu
übernehmen, für welches er sich niemals interessiert hat, so muß man sich
wohl auch sagen, daß das betreffende Kolleg auf Jabre hinaus zu einem
inferioren gemacht wird, und daß die.Hnrer auf Jahre hinaus in diesem Fache
keinen wissenschaftlich vollwertigen Unterricht empfangen werden.
Eb ist unbegreiflich, warum gerade die rechts- und staatswissen-
schaftlichen Fakultäten zum Gegenstände von Versuchen gemacht werden,
denen in der Regel budgetäre Rücksichten zu Grunde liegen. Man darf
doch einerseits hervorheben, daß gerade diese Fakultäten die meistfrequen-
tierten sind und in höchstem Grade unmittelbar für staatliche Zwecke
arbeiten, anderseits aber auch bemerken, daß die Ausgaben, die mit der
Schaffung neuer Lehrkanzeln an unseren Fakultäten verbunden sind, ver-
hältnismäßig geringfügig ausfallen. weil dahei weder Institute, noch Instituts-
personal in Frage kommen.
Das alles mußte gesagt weiden, weil, wie eingangs bemerkt, die Ein-
führung der in den vorigen Kapiteln angeregten Neuerungen keineswegs
durch «eitere Überbürdung erfolgen kann. Eine weitere ßberbfirdung ist iu
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Zur Ausgestaltung des rechts* nnd staatswissenschaftlicben Studiums etc. 30 1
den meisten Fällen einfach unmöglich; sie ist auch akademisch unpassend,
wenn man nicht die Wissenschaftlichkeit der Vorlesungen opfern will. Über-
dies handelt es sich, wie wir gleich sehen werden, um Auslagen, die man,
wenu es um medizinische oder philosophische Fakultäten zu tun wäre, gewiß
als geringfügig bezeichnen würde.
Wir haben seinerzeit bemerkt, daß die Enzyklopädie der Rechts-
und Staatswissenschaften erweiterungsbedürftig ist und daß dieselbe ihren
Zweck nur bei entsprechender Erweiterung erfüllen kann. Es ist selbstver-
ständlich, daß eine Vorlesung von grundlegender Bedeutung für das gesamte
Studium nicht als Anhängsel betrachtet werdeu darf. Man kann sie auch
mit der Rechtsphilosophie nicht verbinden, weil nur ganz ausnahmsweise
die eigenartige Individualität eines Philosophen den speziellen Aufgaben der
Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaft gerecht zu werden vermag;
überdies wäre eine solche Vereinigung schon deshalb ausgeschlossen, weil
die Vorlesungen über Rechtsenzyklopädie mit denen über Rechtsphilosophie
parallel im ersten Studiensemester unterzubringen sind, mithin der betreffende
Professor in einem Semester 12 Obligatvorlesungen zu halten hätte. Ebenso
kann die vergleichende Rechtageschichte als eine selbständige und an den
Dozenten die grüßten Anforderungen stellende Disziplin nicht in dauernde
Verbindung mit irgend einem Obligatfaehe gebracht werden; höchstens mit
der allgemeinen Uesellschaftslehre. Es müßte also eine spezielle Lohrkanzel
für Enzyklopädie der Rechts- und Staats wissen schäften, eine zweite für
Rechtsphilosophie und eine dritte für vergleichende Rechtswissenschaft und
allgemeine Gesellschaftalehre geschaffen werden. Es ist ja selbstverständlich,
daß in jedem Professorenkolleginm sich Männer linden künnen, die ihrer
ganzen Geistes- und Studienanlage gemäß sich nicht nur für ihr Spezial-
fach, sondern nebenbei auch für enzyklopädische, philosophische und rechts-
vergleichende Fragen interessieren. Daraus folgt aber nicht, daß man diese
Männer von ihrem eigentlichen Arbeitsgebiete ahlenke nnd sie zwinge, einen
Teil ihrer Arbeit obligaten, jährlich wiederkehrenden Vorlesungen über
Enzyklopädie, Philosophie oder vergleichende Rechtswissenschaft zu widmen.
Seihst die theologischen Fakultäten haben heute ihre eigenen philosophischen
Lehrkräfte: wir dürfen mit Fug und Recht dasselbe beanspruchen. Der
Umstand, daß der Professor für Enzyklopädie nur sechs, der für Philosophie
ebensoviel und der für vergleichende Rechtsgeschichte und Gesellschafts-
lehre IO bis 12 Stunden zu lesen hätten, daß sie also nach heutigen Be-
griffen zum Teile wenig beschäftigt wären, kann nicht ins Gewicht fallen;
denn diese Stundenanzahl betrifft ja nur die Obligatkollegien, an die sich
selbstverständlich Spezialkollegien und Übungen anzuschließen hätten. Die
beiden erstgenannten Dozenten wären im Wintersemester wohl genügend
beschäftigt, weil ein sechsstündiges Obligatkolleg gewiß als ein vollkommen
hinreichendes Pensum betrachtet werden darf; sie könnten im Sommer-
semester Spezialkollegien lesen und es würden sich gewiß Hörer höherer
Jahrgänge eventuell auch anderer Fakultäten Huden, die ein rechtsphilo-
sophisches oder enzyklopädisches oder methodologisches Kolleg. auch wenn
26»
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362
H&lban.
dasselbe nicht obligat ist, hören; der Professor für vergleichende Rechts-
wissenschaft und allgemeine Gesellschaftslehre hätte in beiden Semestern
Obligatkollegien zu lesen, in dem einen ein 3stiindiges für Hörer des I.
und ein 3 — 4stflndiges für Hörer des IX. Semesters, in dem andern ein
4 — 5 ständiges für Hörer des IV. Semesters, daneben selbstverständlich auch
Spezialkollegien und Übungen.
Der Wirkungskreis der rechtshistorisclien Lehrkanzeln könnte unver-
ändert bleiben, doch bedarf die österreichische Reichsgeschichto ganz ent-
schieden einer separaten Vertretung, und zwar vor allem an den deutschen
Universitäten. Ihre Verbindung mit dem deutschen Rechte könnte vom
Standpunkte wissenschaftlicher Verwandtschaft verteidigt werden; man
bedenke aber, daß dadurch dem Germanisten eine Pflicht auferlegt wird,
die zeitraubend ist und ihn von seiner eigentlichen Aufgabe abzieht, ihm
es auch schwer macht, dentschrechtliche Spezialkollegien zn lesen und
ferner die weitere Folge, daß niemals Spezialkollegien aus dem Gebiete der
österreichischen Reichsgeschichte abgehalten werden. Gegen die dauernde
Verbindung dieser beiden Fächer spricht unter andern auch der Umstand,
daß in dem deutschen Rechte neben allgemeinen rechtshistorischen Fragen
besonders das Privatrecht in den Vordergrund tritt, während die öster-
reichische Reichsgeschichte in ihrer jetzigen Gestalt eine Grundlage für das
österreichische Staats- und Verwaltungsrecht enthält. Ihr Vertreter sollte
deshalb ein ltechtshistoriker sein, der überwiegend Sinn für öflentlichrecht-
liche Fragen hat. Dasselbe huzieht sich auf die Verbindung der österreichi-
schen Reichsgeschichle mit der polnischen beziehungsweise böhmischen
Rechtsgeschicbte; nachdem aber diese Verbindung über ausdrücklichen
Wunsch der betreffenden Fakultäten cingeführt wurde, müssen wohl wichtige
Umstände für dieselbe sprechen. Dennoch darf man sagen, daß der Übel-
stand derselbe ist und daß vor allem der Mangel von Spezialkollegien und
Seminarübungen aus dem Gebiete der österreichischen Reichsgeschiehte nur
durch Schaffung neuer Lehrkanzeln behoben werden könnte.
Was den staatswissenschaftlichen Studienabschnitt anbelangt, so liegt
hier das Redürf'nis nach Vermehrung der Lehrkanzeln in einem andern
Sinne vor. Es würde sich hier nicht so sehr um Schaffung neuer, selbstän-
diger Lehrstellen handeln als vielmehr um die Verdoppelung der bestehenden.
Die Fächer dieses Studienabschnittes sind teilweise national-ökonomischer,
teilweise öffentlichrcchtüoher Art. Es ist natürlich unmöglich, alle ökonomi-
schen Fächer durch einen Profossor der Nationalökonomie und alle öffentlich-
rechtlichen Disziplinen durch einen Professor des Staats- und Venvaltungs-
rcchtcs vertreten zu lassen. Es wäre vor allem eine Dnppelbesetzung des
Lehramtes für Staats- und Verwaltungsrecht erforderlich, so daß ein Professor
Staatsrecht und Völkerrecht, der andere Verwaltnngslolire und österreichisches
Verwaltungsrecht, eventuell auch Statistik zu übernehmen hätte. Die letzte
Verbindung wäre, obwohl sie prinzipiell auch nicht gebilligt werden könnte,
erträglich, wenn die Verwaltungslelirc, wie seinerzeit gesagt, mit der Volks-
wirtschaftspolitik vereinigt werden könnte; deuu die Verwandtschaft der so
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Zur Auug*‘«tal(uni' des recht-** uu*l atautswisüeliicharttjrhen Stadium« ctr ;dtr.*t
gearteten Verwaltungslehre mit der .Statistik liegt ja nahe. Es würde also
der Professor für Staatsrocht im Wintersemester allgemeines und österrei-
chisches Staatsrecht, im Sommersemester Völkerrecht vortragen, eventuell
noch das eine oder andere nichtobligato Kolleg Der Professor für Verwal-
tungslehre und Venvaltungsrecht hätte im Wintersemester Statistik, im
Sommersemester das Kolleg über Verwaltungslehre und Volkswirtsehafts-
politik, sowie das kürzere Kolleg über österreichisches Verwaltuugsrecht zu
lesen. Die Verdoppelung der Lehrstellen für Nationalökonomie erscheint uns
erwünscht, weil die grundverschiedenen modernen Strömungen, die sich auf
diesem Gebiete mehr als auf jedem andern äußern, nur auf diese Weise
Vertretung linden könnten; es wäre dringend erwünscht, dal! wenigstens die
zwei Hanptrichtungen, die theoretische und die historische, in jeder Fakultät
ihre Vertreter finden.
Was den judizielleu .Studienabschnitt anbelangt, ist eigentlich nur
die Schaffung einer speziellen Lehrkanzel für Handels- und Wechselrecht
erforderlich. Dieses Bedürfnis ist zu sohr bekannt, als datl eine Dcgründung
notwendig wäre. Die seinerzeit angeregte lterücksichtigung der Spezialgebiete
des modernen Hechtes würde sowohl dem Zivilisten, als auch dem Handels-
rechtslehrer zufalleu, so daß eine weitere Fortdauer der Verbindung des
Handelsrechtes mit einem anderen Fache zu ganz unzweckmäßiger Cber-
bürdung führen müßte.
Das ist auch alles. Die wesentliche Bereicherung des Lehrplanes wäre
also mit geringen Kosten verbunden. Es muß ja bemerkt werden, daß die
Forderung einer zweiten nationalökonomischen Lehrkanzel nicht mit den von
uns angeregten Neuerungen zusammenhängt, sich vielmehr aus der Ver-
schiedenheit der wissenschaftlichen Richtungen ergibt, so daß sie auch ohne
die vorgeschlagenen Neuerungen dringend notwendig ist: an einigen Uni-
versitäten besteht sie übrigens schon. Dasselbe gilt für die handelsrechtliche
Lehrkanzel; auch ihre Notwendigkeit steht mit den vorgescblagenew Neu-
erungen in keinem Zusammenhänge; übrigens existiert auch diese Lehrkanzel
dermalen schon an den meisten österreichischen Fakultäten: die Forderung
hinsichtlich der zweiten öffentlichrechtlichen Lehrkanzel ist ebenfalls nicht
neu und wäre namentlich, wenn man die statistische Lehrkanzel in diese
Kombination bringen würde, leicht zu erfüllen. Wir dürfen also von diesen
Forderungen abselien, so daß als unmittelbare Konsequenz der von uns
angeregten Neuerungen eigentlich nur die Forderung, betreffend die Schaffung
von eigenen Lehrkanzeln für Keebtsenzyklopädie, für Hechtsphilosophie und
für vergleicliende Rechtswissenschaft und Gesellscliaftslchre erübrigt. Das
Bedürfnis einer eigenen Lehrkanzel für österreichische Heicbsgescbiclite ist
prinzipiell durch die Unterrichtsverwaltung anerkannt worden, wenn auch bis
nun nur in Wien und in Graz solche Lehrkanzeln bestehen.
Wenn mau das gesamte, in diesem Zusammenhänge als notwendig und
als neu erscheinende Erfordernis überblickt und dabei, wie erwähnt, von der
zweiten Lehrkanzel für Nationalökonomie, von der für Handelsrecht und
für österreichische Reichsgesehichte absieht, gelangt man zur Überzeugung,
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364
Halban.
daß' durch die Annahme unserer Vorschlüge bloß das Erfordernis von je
drei neuen Lehrkanzeln an den in Österreich bestehenden acht juristischen
Fakultäten entsteht. I)ie für ganz Österreich erforderlichen 24 Lehrkanzeln
würden, selbst wenn sie sofort alle mit Ordinarien besetzt würden, eine
Auslage von 180.960 K erfordern. Dabei ist aber zu berücksichtigen,
daß manche der in Frage kommenden Fächer an einigen Universitäten gegen
spezielle Remunerationen gelesen werden, die natürlich zu entfallen hätten,
daß ferner durch die Belegung der diesen Fächern gewidmeten Vorlesungen
das dem Staate zufalleude Kollegiengeld eine Steigerung erfahren würde, so
daß ein beträchtlicher Teil der erwähnten Gesamtsumme in Wegfall käme.
Wir glauben, daß wenn mit diesem Betrage die Ausbildung so zahlreicher
Studenten gefördert werden kann, das Opfer wahrhaftig nicht zu groß ist.
Wir gehen nunmehr zur Besprechung der juristischen Lehrmittel über,
also zur Erörterung der Bedeutung der Vorlesungen und Übungen.
IX.
Die Lehrmittel und Lehreinrichtungen des rechts- und staatswissen-
schafthchen Studiums.
Der entworfene Lehrplan kann natürlich nur als Minimum betrachtet
werden: es ist Unmöglich, bei Entwertung eines allgemein aiizuwendenden
Lehrplanes auch Spezialkollegicn. die gewiß vom wissenschaftlichen Stand-
punkte die größte Bedeutung haben, gehörig zu berücksichtigen: in dieser
Beziehung sind die Personal veibültnisse der einzelnen Professorenkollcgien
maßgebend: einseitiges Verordnen hilft nichts und man könnte auf § 7 der
Ministerialverordnung vom 24. Dezember 1893 hinweiseu, wo die Vorsorge
für mehrere Spezialkollegien den Fakultäten förmlich zur Pflicht gemacht
wird, ohne daß es namentlich an kleinen Universitäten, möglich gewesen
wäre, dieser Pflicht liachzukomraeu. In noch höherem Grade gilt dies für die
eigentlichen Spezialkollegien, die nach individuellem Wunsche des Dozenten
gehalten werden sollen. Angesichts der großen Überbürdung der meisten
Professoren spielen diese vom wissenschaftlichen Standpunkte mitunter
unschätzbaren Vorlesungen im Lehrplane leider eine zu kleine Rolle: auch
an größeren Universitäten ist ein Rückgang sichtbar und derselbe steht mit
dem Wegfalle des Kollegiengeldcs einigermaßen im Zusammenhänge.
Hinsichtlich der Bedeutung der Spezialkollegieu herrschen allerdings
verschiedene Ansichten. Man hört manchmal, daß namentlich kleinere
Spezialkollegien überflüssig sind, weil sie eigentlich gesprochene Monographien
darstellen: dabei vergißt man an die Vorteile des lebendigen Wortes, ferner
daran, daß wissenschaftliche Monographien von Studierenden nur selten
gelesen werden, weil sie in der Regel den Anfängern schwer verständlich
sind und sich vielmehr an die Fachleute wenden. Das Spezialkolleg aber,
namentlich, wenn cs vou einem Dozenten gelesen wird, der in der Lage
ist, die Aufnahmsfähigkeit der Hörer zu beurteilen, bietet sclion dadurch,
daß es auf interessante Details cingeht, literarische Streitigkeiten, Hypothesen
und die Forschungsmethode berücksichtigt, den Hörern vielfach Anregung.
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Zar Au'ßeitftltuup <ies rechte- und .stamtewisjtenscbaftlichni Studiums etc 36»ri
Die Le ii r m e t li o <1 e, mit der wir uns liier belassen wollen, uiuU
also jedenfalls mit den drei Lehrmitteln des akademischen Unterrichtes,
nämlich dem allgemeinen Kolleg, dem Spezialkolleg und den Übungen
rechnen. Daraus folgt, dal!, obwohl man vom akademischen Dozenten kein
pädagogisches Vorgehen fordern darf, dennoch auf die Eigenheiten der drei
Arten von Lehrmitteln Rücksicht genommen werden muB.
Das allgemeine Kolleg hat offiziell als Lehnnittel im weiteren
Sinne des Wortes die größte Bedeutung. Wir halten die radikalen Vorschläge,
die sich gegen die bisherigen systematischen Vorlesungen aussprechen, für
teilweise unbegründet, teilweise undurchführbar. Ohne System kann die
Rechtswissenschaft nicht betrieben und es muU dem Anfänger eine syste-
matische Darstellung geboten »erden. Man verkennt den Wert dieser Vor-
lesungen. wenn man meint, dat! die auf diesem Wege erfolgende Mitteilung
durch Lehrbücher ersetzt werden könnte; mau darf die aufklärende Bedeutung
des freien Wortes (es soll eben frei gesprochen werden) und den pädagogischen
Wert langsamer Mitteilung nicht unterschätzen, weil nur auf diese Weise
die Kenntnisse ohne Überstürzung, langsam, aber sicher geboten werden.
Hinsichtlich der Details kann und soll das Kolleg mit einem Hnndbuche
nicht in Wettbewerb treten: was belehrenden Wert anbclangt. steht cs
unvergleichlich höher als das beste Hand- oder Lehrbuch; allerdings nur
dann, wenn die allgemeinen, systematischen und kritischen Gesichtspunkte
hervortreten und nicht vom Detail überwuchert werden. Der Vorwurf zweck-
loser Weitschweifigkeit ist vielfach begründet.
Praktische und exegetische Übungen können sich erst auf dieser Grund-
lage aufbauen; bei zahlreicher Zuhörerschaft ist die Verlegung des Schwer-
punktes von der systematischen Vorlesung in die Übungen unmöglich. Die
hervorragende Stellung des Gesamtkollegs beruht darauf, daß dasselbe als
ObligalkoUeg für alle Hörer, ohne Rücksicht auf ihre persönlichen Fähig-
keiten. bestimmt ist und demgemäß gehalten werden soll. Darin liegt aber
auch die Schwierigkeit Selbst wenn die Reform des Gymnasialunterrichtes
in der vorher angeregten Weise durchgeführt und dem Professor dadurch,
wie auch durch die einleitenden Kollegien des ersten Semesters Entlastung
geboten wird, werden dennoch die prinzipiellen Schwierigkeiten nicht behoben;
denn auch dann fehlt die Möglichkeit, sich zu überzeugen, oh die Hörer
zu folgen vermögen, ebenso die Möglichkeit, die einzelnen individuell zu
berücksichtigen. Diese Schwierigkeiten sind nicht zu beheben, doch könnte
eine Linderung eintreten. wenn z. B. zu Beginn des Semesters Vorlesungs-
programme, wie sic auch heute teilweise üblich sind, unter die Hörer
verteilt würden; ein entsprechend ahgefaßtes Programm gibt dem Hörer
Gelegenheit, einen Überblick über die gesamte Darstellung zu gewinnen und
diesen Überblick während des Semesters im Auge zu behalten; das vom
Professor seihst verfaßte, ausführliche Programm könnte doch nicht als
Schmälerung der Lehrfreiheit betrachtet werden, würde vielmehr die indivi-
duelle Richtung zum Ausdrucke bringen. Wichtig wäre es, wenn der Ver-
fasser eines solchen Programmes wenigstens hei schwierigeren Fragen die
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Halban.
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dem Hörer zugänglichen literarischen Hilfswerke augehen würde, weil dann
sowohl vor der Vorlesung, als nach derselben, das Nötige nachgelesen werden
könnte. Soweit es der Stoff gestattet, könnte man, wie es ja ab und zu
geschieht, die Hörer zu direkter Beteiligung zulassen, indem man sie zur
Stellung von Fragen bei Zweifeln geradezu auffordern und ermächtigen
würde. Wird entsprechende Vorbildung geboten und durch ein genügendes
Programm sowohl der Überblick als auch das kontinuierliche Fortarbeiten
erleichtert, dann werden gewitl auch die heute mit Kocht gerügten Unzu-
länglichkeiten des systematischen (iesamtkollegs zum grollen Teile ver-
mindert werden.
Die Spczialkollegien »ollen auf einer wissenschaftlich höheren
Stufe stehen, als das allgemeine Kolleg, denn sie dienen ihrem Wesen
nach anderen Zwecken. Hier soll der Professor, unbeengt durch zeitliche
Schranken, Fragen erörtern, die nach seiner Überzeugung besonders interessant
sind, oder ihm speziell wissenschaftlich nahe liegen, vor allem aber solche,
die die Eigenart der betreffenden Disziplin besonders hervortreten lassen.
Hier ist Raum für die Entfaltung der vollen Individualität des Lehren.
Selbstverständlich denken wir dabei nicht an Kollegien, die ihrerseits
Gesamtdarstellungen bilden, wie namentlich die verschiedenen nichtobligaten
Kollegien, z. B. Bergrecht, Geßngniskunde u. s. w. und auch nicht an
jene, welche den Hörern einen Teil der in dem Obligatkolleg wegen Zeit-
mangels nicht erschöpften Gesamtdarstellung bieten. Diese Kollegien sind
eben nicht Spczialkollegien im echten Sinne des Wortes. Das eigentliche
Spezialkolleg soll von dem Hauptkolleg unabhängig sein, die Hörer in die
wissenschaftliche Werkstätte einfflhren und sie bei Darstellung irgend einer
Materie darüber belehren, wie wissenschaftliche Meinungen entstehen u. s. w.
Eine solche Vorlesung wird also nur für einen Teil der Studierenden
interessant, überhaupt nur einem Teile derselben zugänglich sein: sie kann
aber mit Erfolg selbst von solchen Hörern besucht werden, die noch nicht
die gesamte Darstellung des betreffenden Faches zu Ende gehört haben;
denn es handelt sich ja hier nicht um die Ergänzung von Elementar-
kenntnissen, sondern um die Vertiefung der allgemeinen wissenschaftlichen
Begriffe, wofür der Hörer durch die Kollegien des ersten Semesters genügend
vorgebildet ist und um die Einführung in die Literatur des Faches, was
alles auch ohne Gesamtkenntnis der betreffenden Disziplin möglich ist,
wenn nur das wissenschaftliche Interesse und die Denkfähigkeit nicht fehlt.
Wenn wir den Zweck des Spezialkollegs so auffassen, dann brauchen wir
den Vergleich mit einer Monographie nicht zu fürchten. Die Monographie
erörtert ausschließlich eine bestimmte Streitfrage und wenn sie dabei, wie
cs ihrer Aufgabe zukommt, die eng gezogene Grenze nicht überschreitet,
ist sie für den Anfänger zum großen Teile wertlos; die Spezialvorlesung
dagegen, mag sie auch äußerlich einer Monographie ähnlich sehen, unter-
scheidet sich von derselben dadurch, daß sie das Verständnis für wissen-
schaftliche Arbeit, für wissenschaftliche Forschungsmethode ermöglicht und
die Bedeutung wissenschaftlichen Streites zeigt; so ist das Spezialkolleg
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Zur Ausgestaltung des rechts- und staatBwissenschaftliehen Studiums etc- 3157
ein Mittelding zwischen Vortrag und Übung; cs kanu auf die Übungen
vorbereiten und das in den Übungen Gewonnene ergänzen.
Die Übungen bilden den schätzbarsten Teil des akademischen
Unterrichtes und das wichtigste akademische Lehrmittel; leider werden sie
stiefmütterlich behandelt, obwohl die an den philosophischen Fakultäten
gemachten Erfahrungen gegen eine solche Behandlung sprechen. Wir haben
schon an anderer Stelle,1) wenn auch kurz, über diese Frage gesprochen,
überdies der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät in Czernowitz
eine Beihe von motivierten Anträgen vorgelegt, die durch das Professoren-
kullegium einstimmig angenommen und dem Ministerium sowie allen anderen
Universitäten übermittelt wurden. Durch Ministerialerlab vom 7. Februar 11100
wurden alle Professorenkollegien der rechts- und staatswissenschaftlichen
Fakultäten zur Berichterstattung über dieselben aufgefordort. Mull dieses
Eingreifen der Untcrrichtsvorwaltung dankbar hervorgehoben werden, so
kann man gerade aus den Berichten der einzelnen Professorenkollegien
ersehen, daii eine Reform der Seminare und anderer Übungen notwendig
ist, leider aber auch erkennen, daß die Bedeutung der Übungen nicht
überall gehörig gewürdigt wird. Aus einzelnen Berichten kann man die
Befürchtung herauslesen, daß die auch jetzt unangenehm empfundene Über-
bürdung der Professoren noch weiter gesteigert werden könnte. Man kann
sich darüber nicht wundern, es auch nicht verübeln; wohl aber darf man
bedauern, daß manche Professorenkollegien anstatt die Überbürdungsfrage
direkt in den Vordergrund zu stellen, es vorgezogen haben, Argumente,
deren Stichhaltigkeit keineswegs einleuchtet, gegen die Notwendigkeit der
betreffenden Reform ins Feld zu führen.’) Es sei hier gestattet, die
wichtigsten Fragen wenigstens kurz zu erörtern.
Es ist bekannt, daß Seminarübungen zunächst an den philosophischen
Fakultäten, und zwar vor allem für Philologen geschaffen worden sind.
Heute bestehen sie fast für alle Wissenszweige. Und mit Recht; denn die
allgemeine Vorlesung vermag den Hörer nicht in die Werkstätte zu führen
und lehrt ihn nicht selbständig zu arbeiten. Die Fortschritte der Wissen-
schaft haben eine Methodologie geschaffen, die fortwährend verbessert wird.
Ohne den mitunter mit großem Erfolge tätigen Autodidakten nahezutreten,
muß man doch im allgemeinen behaupten, daß wissenschaftliche Arbeit nur
bei Beherrschung der Methode gut möglich ist; natürlich kann die Methode
allein nicht genügen, und cs wird auch der methodisch geschulte, im
übrigen unfähige Mann nichts leisten; der fähige, methodisch nicht geschulte
aber läuft Gefahr, auf Abwege zu geraten und jahrelang erfolglos zu arbeiten.
*) ln Grünhuts Zeitschrift für das Privat- und Öffentliche Hecht, 1t. XXIV,
S. 709 ff.
’) Der Verfasser ist durch die rechts- und staatawissenschatliicho Fakultät der
Czernowitzer Universität beauftragt worden, ein ausführliches Memorandum ausznarbeilen,
um den von manchen Fakultäten vorgebrachten Hinwendungen zu begegneu; dieses
Memorandum ist, nachdem es von der Fakultät einstimmig angenommen wurde, dem
Ministerium vorgelegt und allen Fakultäten, mitgeteilt worden.
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ftalSan
Die Verteile von philosophischen, historischen uml anderen Seminarnbungen
sind so einleuchtend, di« Wissenschaft verdankt ihnen eine so rege Belebung
der Forschung, da 11 ein weiteres Eingehen auf diese Frage überflüssig
erscheint.
Nur an den rechts- und staatswissenschaftlichcu Fakultäten konnte
sich diese Wahrheit trotz zahlreicher Beweise keinen Eingang verschaffen.
Es hat fast den Anschein, als ob unsere Wissenschaft und ihre praktische
Entwicklung immer zurückzubleiben und erst schneckenartig nachzukommen
bestimmt wäre. Wir haben später als alle anderen wissenschaftlich zu
arbeiten begonnen; unsere Forscher haben es endlich aufgegeben, bloß
Gesetzesinterpretatoren zu sein: aber daran, daß man. sowie es hei
Philologen und Historikern geschieht, die gewonnene und bewährte Methode
allen zugänglich machen soll, wird noch immer zu wenig gedacht.
Man hat im Jahre 1875 in Österreich rechts- und staatswissen-
schatt liehe Seminare geschaffen. Es ist der damaligen l'nterrichtsverwaltung
wegen der Unzulänglichkeit dessen, was geschehen ist, kein Vorwurf zu
machen; es muß anerkannt werden, daß die österreichische Unterrichts-
Verwaltung in dieser Beziehung, wie in manchen anderen, dem Auslande
mit gutem Beispiele voranging. Die Fehler, die der im Jahre 1875
geschaffenen Einrichtung anhaften, sind vom damaligen Standpunkte, nament-
lich wenn man berücksichtigt, daß es sich um eine Neuerung handelte,
entschuldbar und vermögen das Verdienst, welches in der Einführung der
Seminare überhaupt liegt, nicht zu schmälern. Aber eigentümlich berührt
es, daß mau nach 27jähriger Erfahrung an die Beseitigung der ursprüng-
lichen Mängel nicht geht und, . wie den Berichten mancher Professoren-
kollegicii zu entnehmen ist, nicht geben will ■ Es war ein Mißgriff, daß man
nur zwei Seminare eingeführt hat. nämlich das rechtswissenschuftliche, in
dem Übungen aus allen juristischen Disziplinen unterbracht werden, und
das staatswissenschaftlich«. in dem ebenfalls Seminarflbungen aus allen
Disziplinen dieser Gruppe Unterkunft finden. Ein weiterer Mißgriff wurde
dadurch begangen, daß die Professoren nur zu einstflndigen und auf ein
Semester beschränkten Übungen verpflichtet wurden. Wenn die Seminure
sich dennoch bewährt haben, so verdanken sie es nicht dieser Verfassung,
man kann eher sagen, daß alle Vorteile trotz dieser Verfassung zuwege
gebracht wurden. Es wäre also jedenfalls an der Zeit, die ursprünglich
begangenen Fehler gutzumachen, für jede selbständige Disziplin ein eigenes
Seminar zu bilden, für dasselbe eine entsprechende Bibliothek zu schaffen,
weiters eine Anzahl von Seminarstipeudien nach dem Muster der philo-
sophischen Fakultät sicherzustellen und die kontinuierliche Fortführung der
Übungen während des ganzen Studienjahres zur Pflicht zu machen. Die
Konzentrierung von Seminarübungen aus verschiedenen Wissensgebieten
hat nebst administrativen Folgen auch die. daß die Bibliotheksdotation
gering ausföllt. offenbar deshalb, weil immer von einer Bibliothek die
Rede ist, während tatsächlich im rechtswissenschaftlichen Seminar allein
sieben bis acht separate Bibliotheken zu unterscheiden wären; infolgedessen
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Zur Ausgestaltung des rechts- und staateirissenschaftlicheu Studiums etc. 369
entfällt- auf jede dieser gesetzlich nicht anerkannten Bibliotheken eine
Quote, die man keiner einzigen selbständigen Bibliothek der philosophischen
Seminare oder eines medizinischen Institutes anbieten würde. Dasselbe
gilt hinsichtlich des Prämienfonds, der so gering ist. daß nicht einmal
für jedes Seminar eine entsprechende Prämie entfallt.
Diese administrativen Mängel lassen sich leicht belieben, sind also
nicht in dem Maße verhängnisvoll wie der Umstand, daß die Übungen
selbst nicht das ganze Jahr hindurch fortgeführt werden. Hs ist einleuchtend,
daß dieses fbel die wissenschaftlichen Vorteile des Seminars geradezu in
Frage stellt. Der Hörer besucht das Seminar nährend eines Semesters,
und zwar gemäß der üblichen Einrichtung, nur einmal wöchentlich während
einer Stunde. Wer den Universitätskalender kennt, weiß, daß nach Abzug
aller Feiertage und Ferien kaum 12 — 15 Übungsstundcn abgehalten werden
können, und daß namentlich im Sommersemester vielfach nicht einmal diese
Anzahl erreicht wird. Da kann man doch fragen, oh es überhaupt möglich
ist, eine nennenswerte Tätigkeit in einer so kurzen Zeit zu entfalten und
eine Einführung in die Forschungsmethode auch nur annäherungsweise zu
erreichen. Und selbst wenn hei besonderer Bemühung des Seminarieitcrs
und bei besonderem Eifer und großen Fähigkeiten der Hörer die wenigen
Stunden von Erfolg waren, so geht doch dieser ganze Erfolg wieder ver-
loren, weil die Übungen im nächsten Semester nicht weiter geführt werden,
im übernächsten aber kaum ein Teil der schon einmal etwa eingeachultcn
Teilnehmer zurüekkehrt. vielmehr wieder neue Anfänger eintreten und dem
Professor dieselbe Ahriclitungsarbeit mit demselben fraglichen Erfolge bevor-
steht. Der fleißige Seminarist hat auch tatsächlich wenig davon, wenn er
nach halbjähriger Unterbrechung wieder in dasselbe Seminar eintritt; denn
mit ihm zusammen erscheinen ja Anfänger, und der Seminarleiter ist nicht
in der Lage, sich ausschließlich jenen zu widmen, die schon einmal das
Seminar besucht haben, sondern er muß in erster Linie die Anfänger
berücksichtigen, so daß in jedem Seminarsemester sich dasselbe Schauspiel
wiederholt und es verhältnismäßig selten zu wirklicher Ausbildung und
nocli seltener zur Abfassung wissenschaftlicher Arbeiten im wahren Sinne
des Wortes kommt. Ist der Student strebsam und fähig, so tritt er nach
Ahsolvierung eines einsemestrigen Seminars, in dem er, wie gesagt, nicht
viel lernen konnte, im nächsten Semester womöglich in ein ganz anderes
Seminar ein, in welchem er, nachdem es ja auch nur während eines
Semesters geführt wird, ebenfalls nur ein Semester verbleibt. So kann er,
als Gast auf eine Weile, möglicherweise in allen Seminaren der Fakultät
je ein Semester zugebracht haben und verläßt die Hochschule ohne diejenige
wissenschaftliche Ausbildung, die er sich, wenn er nur ein Seminar, dafür
aber konstant während 1 1 , — 2 Jahren besucht hätte, gewiß in höherem
Grade hätte verschaffen können. Die auf ein Semester beschränkten Seminar-
übungen haben also nur geringen Wert; denn erat nach Überwindung der
ersten Schwierigkeiten vermag der Teilnehmer das nötige Interesse zu
gewinnen, lind da ist gewöhnlich dann schon die Zeit zu kurz, um an
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Halban.
selbständige Arbeit zu denken. Dazu kommt, daß wissenschaftliche Debatten,
die wieder jeweils auf nur eine Stunde, d. h. eigentlich auf */« Stunden
beschränkt werden, aussichtslos sind. Wahren Vorteil können nur häutigere,
also wenigstens zweistündige, und das ganze Jahr hindurch dauernde
Übungen gewähren. Die l’rcfessoren, die so verfahren, ohne dermalen dazu
verpflichtet zu sein, wissen, daß die Seminarteilnehmer ihnen lange erhalten
bleiben, manchmal sogar während des gauzen Quadrienuiums in einem
Seminar arbeiten, so daß sic nach einigen Semestern an wirklich wissen-
schaftliche Aufgaben schreiten können.
Selbstverständlich muß man aber dem Hörer neben den Seminar-
Übungen die nötigen Studienbeholfe und eine gewisse Ancifcrung bioten;
man raut! also anstatt der kleinen und geradezu zwecklosen Seminar-
bibliotheken wirkliche Handbibliotheken schaffen, wie sie in allen philo-
sophischen Seminaren und Instituten bestehen, sowie die nötigen Arboits-
räume. Man betrachtet es als ganz selbstverständlich, daß man z. R. in
einem zoologischen Institute alle Redtlrfnisso der Hörer berücksichtigt,
ihnen nicht nur Präparate, Bücher und Zeitschriften, sondern die teuersten
Instrumente zur Verfügung stellt, ja sogar mit Eilziige» Seetierc verschafft;
und gleichzeitig erträgt man es ruhig, daß dem Rechtshörer, der unter
Leitung eines Professors ernst arbeiten will, weder die nötigon bescheidenen
Räume, noch auch die unumgänglichen Bücher und Zeitschriften geboten
werden. Die rechts- und staats wissenschaftlichen Seminare werden durch-
schnittlich mit je 100 K jährlich dotiert; wenn man damit dio Sominar-
bibliothek auf dem Laufenden erhalten will, so entfällt für die einzelnen
Fächer der Teilbetrag von etwa CO K jährlich.
Es fehlt auch die kleine materielle Ancifcrung, die in den philosophischen
Seminaren durch sogenannte Scininarstipcndien erreicht wird. Die Seminar-
stipendien werden den ordentlichen Mitgliedern verliehen, also denjenigen,
die durch eine wissenschaftliche Arbeit den Beweis geliefert haben, daß sie
Lust und Fähigkeit zur Betätigung haben. Diese Stipendien sind an und
für sieh so geringfügig, daß sie keineswegs den Charakter einer ausgiebigen
Unterstützung, vielmehr den Charakter von wissenschaftlichen Prämien haben.
Die rechts- und staatswissenschaftüclien Seminare erhalten ebenfalls einen
Prämicnfoud; da wir aber de jure nur zwei Seminare haben, so ist diese
Dotation eine ungenügende und was noch schlimmer wirkt, es ist die Höhe
der einzelnen Prämien nicht so sehr von dem Werte der Arbeit, als vielmehr
von der Anzahl der in dem betreffenden Studienjahr gelieferten Arbeiten
abhängig. Ist diese Anzahl groß, so müssen vorzügliche Arbeiteu mit lächerlich
kleinen Beträgen prämiiert werden; ist dagegen diese Anzahl gering, so
werden selbst weniger gute Arbeiten höher prämiiert. Man müßte auch in
dieser Beziehung das Beispiel der philosophischen Fakultäten nachahmen,
wobei zu bemerken ist, daß die Einführung dor Scheidung in ordentliche
und außerordentliche Mitglieder des Seminars überdies den Vorteil bietet,
daß im Seminar eine Anzahl von ständigen Mitgliedern verbleibt, wodurch
die ganze Arbeitsführung auf ein höheres Niveau gebracht wird.
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Zur Ausgestaltung des rechts- und staatswirsensehaftlicheu Studiums etc. 1171
Im Zusammenhangs damit hat Verfasser auch die Einführung von
Proseminaren fßr Anfänger angeregt. Die Proseminare wären erwünscht,
um Anfängern die elementaren Anleitungen 7.11 geben. Mangels solcher
Proseminare müssen die Seminarleiter in jedem Semester ab ovo beginnen,
wobei viel Zeit verloren geht und die richtige Schulung doch nicht geboten
werden kann; frühere Seminarteilnehmer werden also während dieser den
Anfängern gewidmeten Zeit zur Untätigkeit verurteilt, die Anfänger selbst
aber erhalten nicht diese Anleitung, die sie in einem eigenen Proseminar
gründlich und allseitig gewinnen könnten. Die Seminararbeit muß richtiger-
weise abgestuft werden; es ist nicht möglich eine volle Individualisierung
durchzuführen und es werden sich immer störende Unterschiede zwischen
Teilnehmern, die z. B. schon zwei Jahre lang in dem betreffenden Seminar
arbeiten und solchen, die erst seit einem Semester in demselben tätig sind,
ergeben; aber wenigstens die erste Abrichtung und die daraus für die
Vorgeschrittenen sicli ergebende Störung müßte entfallen, d. h. dem Pro-
seminar überwiesen werden. Im Seminar selbst sollen wissenschaftliche
Prägen unter Benutzung wissenschaftlicher Mittel ergründet werdeu; über
die Methode seihst und die verschiedene Art der Mittel sollen die Hörer
schon vorher im Proseminar belehrt werden ; bei wissenschaftlicher Erörterung
der Materie, die in dem betreffenden Seminar verhandelt wird, muß doch
die Möglichkeit bestehen, das ganze wissenschaftliche Arsenal zu benutzen;
man kann sieh nicht dabei auflmlten, dio Frage zu besprechen, was eine
Quello ist, in welchem Verhältnisse einzelne Qucllengattungen zu einander
stehen, u. s. w. Mit Rücksicht auf die Einheitlichkeit wissenschaftlicher
Methode ist ein Proseminar namentlich für die rechtshistorischen Seminar-
übungen notwendig und nützlich; doch glauben wir, daß auch für die
Staatswissenschaften, vor allem aber für die Statistik und Volkswirtschaft
ein Prosominar ebenso vorteilhaft wäre.
Das alles hängt zusammen; die nicht vorbereiteten Seminarteilnehmer
können vom Seminar keinen Vorteil davontragen und der Professor selbst
verliert infolgedessen das Interesse am Seminar; selbst wenn er. ohne nach
der jetzigen Einrichtung hiezu verpflichtet zu sein, das gauze Jahr hindurch
Seminarühungen hält, kann er doch ungeschälte Anfänger nicht abweisen
und muß immer wieder zum Nachteile der Vorgeschrittenen ihnen viel Zeit
widmen. Viel ärger steht es natürlich, wenn die Übungen überhaupt nur
ein halbes Jahr dauern; denn dann muß man entweder den größten Teil
des Semesters der Einschulung der Anfänger widmen, so daß für wissen-
schaftliche Arbeit keine Zeit übrig bleibt oder aber man muß versuchen,
wissenschaftliche Arbeit mit Leuten, deneu dio Vorbildung fehlt, in Angriff'
zu nehmen, was wohl nicht als Schulung, sondern als Verschulung zu
bezeichnen ist; im ersten Palle arbeitet der Seininarieiter pädagogisch richtig,
erreicht aber den Zweck der Seminarübungeti nicht, sondern deu Zweck
eines Proseminars; im andern Falle erreicht er überhaupt gar keinen Erfolg.
Es bedarf keines Beweises, daß schon die Hörer des ersten Semesters ein
Proseminar besuchen könnteu.
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H&lban.
Wir gelangen also zur Überzeugung, daß für jedes selbständige Fach
ein eigenes Seminar errichtet werden muß, ebenso wie dies au der philo-
sophischen Fakultät der Fall ist: nur übergangsweise könnte man auf
eine Vereinigung, aber auch nur der nächstverwandten Fächer eingeheu,
obwohl man prinzipiell auf die Selbständigkeit der einzelnen Seminare Gewicht
legen muß. An den philosophischen Fakultäten bestehen selbständige Semi-
nare für klassische l’hilologie, für germanische, romanische und slavische
Philologie, obwohl die Verwandtschaft der einzelnen philologischen Gebiete
die denkbar nächste ist; jedenfalls kann man die Verwandtschaft, die etwa
zwischen römischem liechte und österreichischem Handelsrechte besteht,
doch nicht vergleichen mit der Verwandtschaft zwischen allgemeiner und
beispielsweise alter Geschichte; nichtsdestoweniger verlangt inan die Unter-
bringung so verschiedener juristischer Disziplinen in einem Seminar, während
für die philosophischen Disziplinen ohne Rücksicht auf ihre Verwandtschaft
eigene Seminare bestehen. Jedes Seminar muß eine entsprechende Bibliothek
besitzen, dieselbe ergänzen, überdies abor über einen eigenen Prümieufond
beziehungsweise über Seminarstipendien verfügen. Die Übungen müssen
das ganze Jahr hindurch, und zwar zweistündig abgolialten werden uml der
Eintritt in das Seminar sollte nur denjenigen freistelien, die bereits in
dem entsprechenden Proseminar die nötige Vorbildung erhalten haben. Die
Beteiligung an den Seminarübungen muß auch ganz anders kontrolliert
werden, als die Frequenz von Vorlesungen; der Seminarleiter muß diejenigen,
die nicht fleißig besuchen, oder selbst wenn sie besuchen, nicht mitarbeiteu,
einfach entfernen, um dadurch unangenehme Störungen in der Fortführung
der Arbeit zu beseitigen. Man fürchte nicht, daß durch eine angestrengt«
Tätigkeit im Seminare der Student das Interesse für die übrigen Fächer
verliere. Im Gegenteile; er wird, wenn die Seminarbescliäftigung nicht zu
einseitig gewählt ist, den Zusammenhang der einzelnen Disziplinen mit
dem gesamten juristischen Studiengehiete erst recht merken und schätzen.
Die Abhaltung von Proseminaren müßte von den einzelnen Professoren im
Einvernehmen mit den übrigen regelmäßig stattfinden, wobei, wie schon
erwähnt, wohl keine Notwendigkeit vorliegen würde, für jedes Fach besondere
Proseminare einzurichten, sondern vielmehr ein gemeinsames Proseminar für
mehrere verwandte Fächer genügen könnte.
Bei dieser Reform wäre es, namentlich an größeren Hochschulen,
möglich, mit der Zeit gelehrte Seminare für reifere Teilnehmer zu errichten,
die eine wirklich produktive Tätigkeit entfalten könnten. Denn es ist ein-
leuchtend, daß man selbst von dem Studenten, der ein Proseminar besucht
und dann mehrere Semester in einem Seminar zugehracht hat, so lange er
sich dem eigentlichen Studium und der Vorbereitung für Prüfungen widmen
muß. keine wissenschaftlich selbständige Arbeit erwarten darf. Erst nach
Abschluß seiner allgemeinen rechts- und stuatswisscnschuftliclien Ausbildung
kann daran gedacht werden. Dann muß ihm aber auch ein, seiner
Gcsamtausbildung entsprechendes Seminar geboten werden, was dermalen
nicht der Fall ist. Zu erwägeu wäre in diesem Zusammenhänge die
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Zur Auagestaltang «1« rechts- and staatswiuenschaftlichen Studium« etc. 373
Sicherstellung von Mitteln Ihr die Publikation hervorragender wissenschaft-
licher Arbeiteu.
Natürlich würde dies zu eiuer weiteren Überbflrdung der Professoren
führen; während dermalen die Professoren nur zu einstündigen Übungen in
jedem zweiten Semester verpflichtet, ja sogar manche auch dazu nicht ver-
pflichtet sind, würde bei einer so gearteten Neuordnung die gesamte Lehr-
verpflichtung um 3 Stunden im Jahre erhöht werden, was namentlich für
die Vertreter ausgedehnter Disziplinen, die zu zahlreichen Obligatvorlesungen
verpflichtet sind, als eine Überbflrdung betrachtet werden müßte. Es wäre
nur recht und billig, wenn man zu demselben Mittel greifen würde, welches
an den philosophischen Fakultäten üblich ist, nämlich zu spezieller Reniune-
rierung. Es sei schließlich bemerkt, daß die Kosten einer entsprechenden
Dotierung selbständiger Seminare nach der durch die Lemherger Fakultät
entworfenen Berechnung für alle österreichischen rechts- und staatswissen-
schaftlichen Fakultäten zusammen 60.000 — 80.000 K betragen müßten, also
kaum mehr als oftmals ein einziges naturwissenschaftliches oder medi-
zinisches Institut kostet; die Hebung des ganzen wissenschaftlichen Lebens,
die sich daraus ergeben würde, wiegt wohl diese Ausgabe auf.
Neben eigentlichen Seminarübuugen bestehen bekanntlich noch kon-
versatorische und praktische Übungen im engeren Sinne des
Wortes. Sie werden sehr mit Unrecht als Seminarflbungen betrachtet und
denselben gleichgestellt Die Aufgabe der eigentlichen Seminarflbungen be-
stellt in der methodischen Schulung der Teilnehmer behufs Ermöglichung
selbständiger wissenschaftlicher Forschung; als Mittel hiezu dient nicht nur
die Lektüre und Kritik der Quellen, sondern auch die weitgehende logische
Kombination, die schließlich zur wissenschaftlichen Konstruktion führt.
Konversatorium und Praktikum haben eine wesentlich andere Bestimmung.
Das Konversatorium soll vor allem in die Literatur eines Faches
einführen; man beschäftigt sich also im Konversatorium mit der Zusammen-
stellung und Inhaltsangabe literarischer Erscheinungen, die sich auf eine,
den Teilnehmern einigermaßen bekannte Frage beziehen. Die Nützlichkeit
dieser Arbeit ist unbestreitbar; Anfänger, die naturgemäß nur ungerne
wissenschaftliche Werke zur Hand nehmen, werden mit der Literatur ver-
traut gemacht und es kann sich an Referate über den Inhalt interessanter
Schriften eine Debatte knüpfen, so daß auch diejenigen, die das betreffende
Werk nicht kennen, sicii veranlaßt schon, dasselbe oder andere nachzuschlagen.
Ja man kann sagen, daß für gewisse Disziplinen gerade diese Form von
Übungen besonders geeignet ist, so z. B. für Rechtsphilosophie, für theore-
tische Nationalökonomie, zum Teile auch für das allgemeine Staatsrecht
und für manche Gebiete des modernen Rechtes, namentlich wenn es sich
darum handelt, mit den Teilnehmern neue Richtungen, neue Gesetzesvor-
iagen u. s. w. zu besprechen. Von den Seminarübungen aber unterscheiden
sich die konversatorischeu Übungen dadurch, daß sie keine wissenschaftliche
Arbeit der Teilnehmer anstreben und sich überwiegend mit dem Studium
der Literatur begnügen. Es wäre zu wünschen, daß lür eine Reihe von
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Halban.
Fächern konversatorische Übungen häufiger als es bis jetzt geschieht, abge-
halten werden.
Während die letztgenannten Übungen sich doch eines indirekt wissen-
schaftlichen Charakters erfreuen, muß dies hinsichtlich der sogenannten
Praktika wenigstens zum Teile fraglich erscheinen. Die Praktika haben
eine eigenartige Bedeutung. Es sollen praktische Fragen, wie sie iin Leben
Vorkommen und Gegenstand der Judikatur bilden, verhandelt werden.
Natürlich kann auch ein Praktikum wissenschaftlichen Wert haben, nament-
lich wenn man bei Besprechung des Falles den Zusammenhang desselben
mit dem Kechtsleben berücksichtigt und den theoretischen Hintergrund nicht
vernachlässigt; betrachtet man einen speziellen Rechtsfall allseitig, so hat
man dabei Gelegenheit, die Hörer auf den Zusammenhang zwischen Theorie
und Praxis aufmerksam zu machen und auf die Schwierigkeiten, denen die
Anwendung einer Rechtsnorm im Leben begegnet; das hat wissenschaft-
lichen Wert, weil es den Hörer in das Verständnis der Gesetzgebungstechnik,
ihrer Mängel und Lücken einführt. Nur gehe man sich nicht der Hoffnung
hin, daß eine so geartete Übung einer praktischen Schulung gleichkommt.
Leider ist diese Auffassung häufig vertreten und so kommt es, daß die
Praktika im engsten Sinne des Wortes praktisch abgehalten wurden. Man glaubt
damit den Zwecken der Praxis zu dienen; ebenso wie kein pädagogisches
Seminar praktische Schulmänner hervorbringt, ebensowenig vermag ein noch
so eifrig geführtes Praktikum den jungen Juristen wirklich zum Praktiker
zu machen. Man kann, selbst weuu das Praktikum nicht ein Semester,
sondern länger dauert und wenn demselben mehrere Stunden wöchentlich
gewidmet werden, dennoch in der Regel nur eine kleine Anzahl praktischer
Fälle gründlich und allseitig durchnehmen, namentlich wenn man das richtige
Prinzip beobachtet, die Hörer denken und zu Worte kommen zu lassen.
Nun wird niemand behaupten, daß das Durchnehmen einiger praktischer
Fälle, auch wenn sie noch so interessant sind, jemanden für die Praxis reif
machen könnte. Dem geringen Vorteil stehen aber gewisse Nachteile gegen-
über. Zunächst entwickelt sich unwillkürlich bei den Teilnehmern eine
Überschätzung des praktischen Elements auf Kosten des wissenschaftlichen;
je weniger jemand wissenschaftlich ausgebildet ist, desto mehr neigt er zu
unberechtigter Skepsis gegenüber der Theorie. Der junge Student fühlt sich
förmlich als Richter oder als Mitglied eines Spruchkollegiums und nicht
unbeachtet bleibe die Erwägung, daß der theoretisch wenig sattelfeste An-
fänger geneigt ist, in dem verfrühten Streben nach selbständigem Urteile auf
Abwege zu geraten. Die Praktika sind nicht geeignet, die wünschenswerte
Sicherheit eines methodischen Vorgehens, wie es für jeden Beruf wichtig
ist, anzuerziehen; sollte dieser Zweck erreicht werden, dann müßten die
Praktika jahrelang dauern und nicht auf wenige Stunden beschränkt sein.
Es ist vielfach der Unterricht im Praktikum mit dem klinischen
Unterrichte verglichen worden und man bat mehrmals den Vorschlag
gemacht, juristische Kliniken zu errichten. Der Vergleich ist unrichtig
und der Vorschlag undurchführbar. Man vergißt daran, daß der medizinische
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Zur Ausgestaltung des rechts- und staatswisaenschaftlichen Studiums etc. 375
Student stunden- und tagelang auf der Klinik weilt, bei interessanten Füllen
auch die Nächte dort zubringt, daß an jeder größeren Klinik eine Schar
von Assistenten und Eleven vorhanden ist, um dem Studenten fortwährend
an die Hand zu gehen. Man vergleiche damit ein Praktikum von 1 — 2
wöchentlichen Stunden während eines Semesters! Aber auch der Vorschlag
wegen Errichtung juristischer Kliniken, d. h. juristischer Sprechstunden, in
denen namentlich das ärmere Publikum sich beim Professor in Gegenwart
der Studenten Kat holen würde, ist nicht durchführbar. Man vergesse nicht
daran, daß an die Klinik in dor Regel nur sogenannte interessante Fälle
kommen, bei denen der Student Beobachtungen machen kanu, wie er sie
als durchschnittlicher Arzt in der Praxis kaum machen könnte; eine solche
Sortierung der Fälle ist bei der Jurisprudenz viel schwieriger; auch ist die
Diagnose eines juristischen Falles auf Grund einseitiger Aussage eines Inter-
essenten in der Kegel unmöglich, während man zur klinischen Diagnose
doch nur des Patienten bedarf. Man müßte also, um einen Kechtsfall zu
untersuchen und zu entscheiden, auch die andere Partei, eventuell auch die
Zeugen zur Verfügung haben und es ist mehr als zweifelhaft, ob sieb die
gegnerische Partei oder gar die Zeugen in den Yortragssaai begeben und
ihre geschäftlichen oder strafrechtlichen Geheimnisse vor einem großen
Auditorium aufzurollen geneigt wären; ganz abgesehen davon, daß dies viel-
leicht den Interessen der Justiz in manchem Falle zuwiderlaufen könnte.
Wir bringen das alles vor, nicht um die Praktika etwa als wertlos
zu bezeichnen, sondern vielmehr um ihren geringen Wert für dasjenige, was
sie auzustreben vorgeben, nämlich für die wirkliche praktische Ausbildung,
zu kennzeichnen. Die Praktika können höchstens, wenn der eiuzelne Fall,
wie eingangs erwähnt, allseitig und wissenschaftlich behandelt wird, von
Vorteil sein, weil sie dann ebeu dem rein theoretisch gebildeten Studenten
eineu Einblick in die Schwierigkeit der Kechtsanwendung geben; mehr ver-
mögen sie nicht zu erreichen, Übrigens ist es uns iu erster Linie darum
zu tun, die Praktika ebenso wie vorher die Konversatorien von deu Seminar-
übuugeu im wahren Sinne des Wortes gehörig zu unterscheiden.
Wie erwähnt, spielt hinsichtlich der Art der Übungen die Natur des
betreßeuden Faches eine wichtige Kollo. Wir können uns beispielsweise ein
Praktikum aus dem Gebiete der Kechtsgeschichte nicht gut vorstellen; es
wäre höchstens eine praktisch sein sollende Spielerei. Wir vermögen uns
auch nicht leicht ein Konvorsatorium aus dem Gebiete der Kechtsgeschichte
vorzustellen; denn das Verständnis der rechtshistorischen Literatur setzt
vieles voraus, was bei einem jungen Studenten nicht vorausgesetzt werden
kann; es ist viel leichter, in einem Konvorsatorium die Tätigkeit der modernen
italienischen kriminalistischen Schule oder die neueste Wendung auf dem
Gebiete der sozialen Frage auf Grund der einschlägigen Hauptwerke zu
besprechen, als beispielsweise die rechtshistorische Richtung von Julius
Ficker u. s. w. So gelangen wir zur Überzeugung, daß es Fächer gibt,
für die sich nur Semiuarübungen im eigentlichen Sinne des Wortes eignen,
andere Fächer, über die man nicht uur Semiuarübungen, sondern auch Kon-
ZeiUchrlft f Jr VolktwlrtMbaft, Sozialpolitik and Verw«Uuog. XU Baad 2ü
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376
Ralbtn
versatorion, andere, (Iber die man alle drei Arten von Übungen abhalten
kann. Die Hörer, die sich für ein gewisses Fach interessieren, könnten also
Gelegenheit finden, im Seminar Aber dasselbe speziell wissenschaftlich zu
arbeiten, im Praktikum die Anwendung der betreffenden Norm im Rochts-
leben zu studieren u. s. w. Auch da könnte auf das Reispiel der philosophi-
schen Fakultäten hingewiesen werden; es bestehen dort bekanntlich neben
eigentlichen Seminarübungen Übungen im Schill vortrage, die fAr künftige
Pädagogen bestimmt sind.
In diesem Zusammenhänge tritt nun die Redeutnng der einzelnen
akademischen Lehrmittel hervor. Das allgemeine Kolleg bildet eine breite,
wenn auch nicht intensive Grundlage, Das Spezialkolleg ist einem Teile des
Faches gewidmet und soll wie eine Monographie, aber nilseitiger als eine
solche, die Hörer mit der Art und Weise vertraut machen, wie man zu
wissenschaftlichen Ergebnissen gelangt. Ist es insofern mit dem Seminar
verwandt, so besteht doch der Unterschied, daß im Seminar der Professor
die Arbeit der Seminarteilnehmer leitet, somit den Ergebnissen, zu denen
die Teilnehmer gelangen können, nicht vorgreift, im Spezialkolleg dagegen
nicht als la-iter fremder Arbeit, sondern als selbständiger Darsteller eines
wissenschaftlichen Problems vorgeht. Deshalb legen wir auf das Spezial-
kolleg einen großen Wert und räumen demselben trotz des Bestehens von
Setiiinarfibungen eine eigene Stellung ein; es soll im Spczialkolleg in
gewisser Hinsicht mehr geleistet werden als wn Seminar, mit RAcksicht
darauf, daß in demselben die Hörer die Hauptarbeit zu verrichten haben.
Man muß sofort liinzufAgeii, daß die DiirchfAhrung eines so gearteten
Programms und eine genögend reiche Anwendung aller akademischen Lehr-
mittel, also Obligatkolleg. Spezialkollegien und Übungen verschiedener Art,
praktisch schwer ist. Haben wir doch erwähnt, daß fAr manche Fächer die
Abhaltung von zweierlei, ja sogar dreierlei Übungen passend und nAtzlich
wäre. Bei den heutigen Verhältnissen ist das physisch unmöglich, nachdem
an den meisten Fakultäten nicht einmal jedes Fach durch einen hiclAr
ernannten Professor vertreten ist. Selbst da, wo fAr jedes Fach eine eigene
Lehrkanzel besteht, fftr die wichtigeren sogar mehrere, entspricht doch diese
große Anzahl von Professoren einer übergroßen Frequenz, so daß auch da
eine Arbeitsteilung schwer möglich ist, für Übungen aber eben mit Rück-
sicht auf die auf jeden Professor entfallende kolossale HOreranxahl aus-
geschlossen erscheint. Selbstverständlich darf man Übungen nicht obli-
gatorisch machen; deunoch würde sich namentlich an größeren Universitäten
immer eine so zahlreiche Teilnahme ergeben, daß eine erfolgreiche Leitung
durch einen Professor nicht bewerkstelligt werden könnte.
Diesen Schwierigkeiten weicht man unter den heutigen Umständen
nur dadurch aus, daß man entweder die eine oder die andere Art von
Übungen, um nicht zu sagen, alle Arten derselben vernachlässigt. Die
eigentlichen SemiuarAbungcn müssen überall bestehen, selbst wenn dadurch
die Abhaltung von Konversatorien und Praktika unmöglich gemacht würde.
Man muß den Standpunkt vertreten, daß das wissenschaftliche Seminar,
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Zur Ausge?UUung dea rechte- und ataatawHaonachaftliehen Studiums etc. 377
welches für die Ausbildung und methodische Schulung durch nichts anderes
ersetzt werden kann, im Programme niemals fehlen darf. Eher kann das
Konversatorium oder das Praktikum entbehrt werden, denn viel leichter
kann sich derjenige, der Seminarfibungen mitgemacht hat, selbständig das-
jenige. was Konversatorium oder Praktikum bieten, sichern; das Umgekehrte
ist dagegen schwer. Die Möglichkeit wissenschaftlich arbeiten 7.11 lernen,
muß unbedingt dem Studierenden, der dies wünscht, geboten werden;
geschieht dies nicht, dann ist die Universität keine Hochschule im wahren
Sinne des Wortes. Kann man ihm daneben auch ein Konversatorium oder
Praktikum bieten, desto besser; denn es ist auch Pflicht der Universität,
für solche Übungen zu sorgen. Wenn aber die vorhandenen Kräfte eine
allseitige Durchführung des groß angelegten Programms unmöglich machen,
dann muß man im Zweifel das geringere Übel vorziehen und ein geringeres
Übel ist es, wenn man Übungen, die keinen wissenschaftlichen Charakter
im eigentlichen Sinne des Wortes bähen, fallen läßt, um wenigstens das
wirklich Wissenschaftliche zu retten.
Der einzige Ausweg wäre, wenn man sich zu einer Neuerung, die
allerdings eine Neuerung im vollen Sinne des Wortes wäre, entschließen
könnte, nämlich zu einer Ausgestaltung des Lehrkörpers durch Schäftung
von Assistentenstelle 11. Der Lehrkörper der rechts- und staats-
wissenschaftlichen Fakultäten besteht aus Professoren und Privatdozenten.
Die Anzahl der Privatdozenten ist niemals groß, was nicht überraschen
darf. Für die Stellung der Privatdozenten geschieht nichts, es werden nicht
einmal die Dozenturjahre angerechnet und die einzige Entlohnung des
Privatdozenten besteht in dem oft ganz fragwürdigen Kollegiengelde. Dadurch
werden die meisten Privatdozenten gezwungen, neben der Dozentur eineu
andern Beruf zu wählen und den größten Teil ihrer Zeit unwissenschaft-
lichen Berufen zn widmen; die Fakultät hat angesichts dieser Umstände
nicht das geringste Recht, auf die Tätigkeit des Dozenten Einfluß zu
nehmen, so daß es zu einer Arbeitsteilung zwischen Professor und Dozent
mir in seltenen Fällen kommt. Die medizinischen und naturwissenschaft-
lichen Lehrkanzeln sind von Assistenten umgeben und es kommt häufig
vor. daß der Assistent auch nach seiner Habilitierung in der früheren
Stellung verbleibt; er hat. übrigens schon als Assistent das Recht, Übungen
zu halten. Es wäre von größtem Nutzen, wenn man an den rechts- und
staatswissenschaftliclicn Fakultäten besoldete Assistentenstellen schallen und
den Assistenten gewisse elementare Kollegien, namentlich aber die Abhaltung
von Konversatorien oder praktischen Übungen überweisen würde, so daß
die Professoren entlastet, dafür aber in desto höherem tirade zur Abhaltung
eigentlicher SeininarObungen verpflichtet werden könnten. Auf diese Weise
wäre viel zu erreichen. Wenn von mancher Seite, wie erwähnt, für einen
völligen Umschwung des Universitätsunterrichtes plaidicrt, die systematischen
Kollegien bekämpft, praktische Übungen in den Vordergrund gestellt und
eine Kombination der systematischin Darstellung mit Übungen gefordert
wird, so ist dies nur dann durchführbar, wenn mehrstündige und verschieden
26*
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378
Halban
abgestufte Übungen eingeftihrt werden. Erscheint auch die zu weitgehende
Bekämpfung der systematischen Kollegien ungerechtfertigt und vom Stand-
punkte der Jurisprudenz verfehlt, so muh man doch zugehen, dah eine
gewisse Verschiebung des Schwerpunktes des Unterrichtes nur eine Frage
der Zeit, vielleicht nicht einmal allzulanger Zeit ist. Nicht Abschattung,
aber Einengung der systematischen Kollegien wäre möglich, ebenso eine
Verstärkung der Spezialkollegien und eine bedeutende Ausgestaltung der
Übungen. Dies alles ist. so wie die Dinge sich jetzt verhalten, ganz
undurchführbar und deshalb glauben wir, daß man Ober kurz oder lang
wird daran denken müssen, nicht nur die Anzahl der Lehrkanzeln zu ver-
größern, sondern daueben im Interesse der Professoren und der Studenten,
nicht zum geringsten Teile aber auch im Interesse des wissenschaftlichen
Nachwuchses, an die Schaffung von Assistenturen zu denken. Soll die
Tätigkeit der Assistenten wissenschaftlichen Bedürfnissen voll entsprechen,
dann dürfte auch die Auzahl derselben nicht zu gering sein. Prinzipiell
sollte jede Lehrkanzel ihren Assistenten haben. Dies würde für ganz
Österreich etwa 90—100 Assisten bedeuten. Veranschlagt man die
Dotierung jeder Assistentur mit etwa 1000 K, so ist dies immer noch
kein unerschwinglicher Betrag, namentlich, wenn gleichzeitig für alle
Übungen ein Kollegiengeld eingeführt würde, was keinem Bedenken unter-
liegen könnte.
Damit sind, was die eigentliche Ausbildung anbelangt, unsere Vor-
schläge erschöpft. Man wird denselben keine Unbescheidenheit vorwerfen
können und zugestehen müssen, daß auch die finanziellen Erfordernisse
nicht übermäßig ausfallen würden, wenn man alles, was hier vorgeschlagen
wurde, durchführen wollte. Es handelt sich ja im wesentlichen nur um
drei neue Lehrkanzeln, abgesehen von solchen, die schon ohnedies als not-
wendig anerkannt sind. Es handelt sich vor allem um einen zweckmäßigen
Lehrplan, welcher wiederum nur dann durchführbar ist, wenn die nötigen
Lehrkräfte vorhanden sind. Hiezu tritt die angeregte Reform der Übungen,
die, wenn sie für den Anfang bescheiden durchgeführt wird, wie erwähnt,
nicht mehr als 60 — 80.000 K für ganz Österreich beanspruchen würde.
Dazu käme allerdings noch die Auslage für die Assistenturen. die sich auf
etwa 150.000 K belaufen würde. Somit würde das gesamte Mehrerfordernis
für die durch den erweiterten Lehrplan geforderten drei neuen Lehrkanzeln,
für die sachgemäße Reform der Übungen und für die Assistenturen etwa
400.000 K jährlich betragen, eine Summe, die iu Anbetracht der hervor-
ragenden Bedeutung des rechts- und staats wissenschaftlichen Studiums
gewiß nicht hoch ist. Aber selbst diese an und für sich nicht übermäßige
Summe würde sich tatsächlich geringer stellen. Die Erweiterung des Lehr-
planes müßte sich in einer Mehreinnahme des dem Staate zufallenden
Kollogiengeldes ausdrücken, ebenso die leicht durchführbare Entgeltlichkeit
der bis jetzt unentgeltlichen l'htingen; wir halten sie für leicht durch-
führbar. weil selbst dann die Kosten des juridischen Studiums sich noch
immer niedriger stellen würden, als z. 13. die des medizinischen.
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Zur AuftgeMaltnng do* rechts- uml staatswis'.enjtehaftlichen Studium» etc. 379
Es sei gestattet, noeli einige Worte über die letzte Stufe der Aus-
bildung, wie sie nach dem Eintritte in die Praxis erfolgt und erfolgen soll,
hinzuzuftigen. *
X.
Die Praxis als Abschluß des Studiums.
.Sollen die Vorteile eines zweckmäßig durchgefil Irrten rechts- und
staatswissenscliaftlichen Studiums nicht verloren gehen, so darf auch die
Praxis ihre Unterstützung nicht versagen. Daß die Universität für die Praxis
die nötige Grundlage bieten soll, ist selbstverständlich und wird niemals
aus dem Auge gelassen. Die theoretische Ausbildung hat ja den Zweck,
juristisch Brauchbares zu schaffen und wenn wir darunter vielleicht etwas
anderes verstehen, als jene Praktiker, die gewohnt sind, nur die aller-
nächsten Zwecke ihres Berufes zu beachten. Ho glauben wir den wahren
Interessen des Ilechtslebens für Gegenwart und Zukunft besser zu dienen,
als durch übermäßige Detailabrichtung, die. wie die Erfahrung lehrt, ohnehin
für praktische Bedürfnisse nicht genügt.
Es ist selbstverständlich, daß die Ausbildung niemals abgeschlossen
ist. Wird dieser Grundsatz von jedem Gewerbetreibenden anerkannt, der
trotzdem, daß er die Berechtigung zur Ausübung seines Gewerbes erhalten
hat, dennoch trachtet, Fortschritte zu machen, so sollte man annehmen dürfen,
daß dasselbe für die geistigen Berufe mindestens ebenso gilt. Das Absolvieren
der Prüfungen ist nicht als Abschluß des Itechtsstudiums aufzufassen,
sondern bloß als Abschluß eines, wenn auch des wichtigsten Abschnittes,
worauf im praktischen Berufe die Fortsetzung der Ausbildung folgt.
Nun muß man fragen, ob die Praxis dieser Aufgabe gerecht wird, ob
sie nicht vielmehr der Erfüllung derselben auch in den Fällen, in denen
der einzelne sie erfüllen möchte, Schwierigkeiten in den Weg setzt? Man
wird die letztere Frage wohl bejahen müssen. Vielos trägt dazu bei. Die
Majorität der Praktiker ist von der Überzeugung durchdrungen, daß die
Wissenschaft für das praktische Leben keine Bedeutung hat. Man wird nicht
fehlgehen, wenn man die Geringschätzung der Wissenschaft bei zahlreichen
Praktikern darauf zurückfflhrt. daß dieselben wissenschaftlich ganz unge-
nügend ausgebildet sind. Geringschätzung geht eben häufig mit geringer
Bildung Hand in Hand. Jene Praktiker, die der Wissenschaft achsel-
zuckend begegnen, haben während ihrer Studien an der Universität die Nähe
der Wissenschaft nicht gesucht, eher gemieden; sie haben wohl die Wissen-
schaft nur als maluni nccessarium betrachtet uud sich mit dem Minimum
begnügt, dessen sie zur Ablegung der Prüfung bedurften; und dieses Mini-
mum ist in vielen Fällen wirklich mikroskopisch klein. Solche Praktiker
können dann, wenn sie dennoch zu Stellung gelangen, von ihrem Stand-
punkte mit Fug und Recht behaupten, daß die Wissenschaft ihnen gänzlich
überflüssig war. Diese Geringschätzung der Theorie verbreitet sich in
manchen Dienstzweigen unter dem Einflüsse der älteren Beamten auch in
den Reihen der jüngeren. Der Anfänger ist von Natur aus geneigt, die
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380
Halban.
praktischen Handgriffe, die er natürlich nicht kennt und deren Unkenntnis
ihm von den routinierten Vorgesetzten zum Vorwurfe gemacht wird, zu
überschätzen. Kr fühlt sich gedemfitigt, daß er trotz intensiver Studien fort-
während zurechtgewiesen wird und praktisch so wenig taugt; er überschätzt
die Bedeutung dessen, was im fehlt und was einfach durch Kinarbeitung
gewonnen wird und verfällt uach kurzer Zeit in die übliche Unterschätzung
des Wissens. Wir wollen uns keine Kritik der einzelnen Ämter und Dienst-
zweige erlauben; es ist aber kein Geheimnis, daß viele Gesetze hei uns nicht
zweckmäßig durchgeführt werden, weil das Beumtenpersonal mancher Ämter
auf die theoretischen und sozialpolitischen Grundsätze eines solchen Gesetzes
einzugehen nicht in der Lage ist. Die Medizin hat uns in dieser Beziehung
stark überflügelt; vom praktischen Arzte verlangen wir mit liecht, daß er
bei der Behandlung des Kranken nicht nur das kranke Organ, sondern den
ganzen Menschen ins Auge fasse; für viele juristische Praktiker bildet die
einzelne Angelegenheit noch immer nichts anderes, als ein Exhibit, hei
dessen Erledigung sie sich des Zusammenhanges mit dem gesamten sozialen
und Kechtslehen gar nicht bewußt sind.
Insofern dies auf älteren Sünden und traditionellen Fehlern beruht,
ist eine Abhilfe schwer, namentlich da zu allem noch die Übermäßige L’ber-
bürdung hinzutritt, die alle Kräfte derart in Anspruch nimmt, daß zu
allgemeinerem Nachdenken oder weiterer Fortbildung die Zeit fehlt. Das
alte Sprichwort, daß mau vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht, bewährt
sich auch hier; die Überlastung mit Details, die für wissenschaftliche Aus-
bildung schädlich ist, ist es nicht minder auch für die praktische Tätigkeit;
in beiden Fällen wird dadurch diu Übersicht über das Gauzo und die Unter-
scheidung des Wichtigen vom Unwichtigen erschwert.
Doch ließe sich so manches pro futuro ändern. Vor allem müßte man
es klar heraussagen, daß die praktische Tätigkeit in der ersten Zeit. z. B.
wahrend zweier Jahre, ausschließlich vorbereitenden Charakter hat Die ein-
seitige Beschäftigung eines frisch eingetretenen Juristen in irgend einem Amte,
wo er sofort so behandelt wird, wie wenn sein ganzes Leben keinen andern
Zweck hätte, als den Interessen dieses speziellen Departements zu dienen,
muß verhängnisvoll einwirken. Der Anfänger kommt gar nicht dazu, einen
Überblick über die gesamte, für den Staat wichtige Tätigkeit des betreffenden
Dienstzweiges zu gewinnen: man richtet ihn für den Detaildienst ab; os ist
möglich, daß man ihn auf diese Weise für dieses Amt, richtiger gesagt,
für den betreffenden Teil des in Frage kommenden Dienstes, brauchbar
macht; daß dies auf Kosten seines allgemeinen Wertes geschieht, ist selbst,
verständlich. Man soll die ersten Jahre der Praxis als praktische Schulung
betrachten und fordern, daß der Anfänger die Möglichkeit habe, sich eine
eigene Ansicht auf Grund eines allgemeinen Überblickes zu verschaffen,
somit das theoretisch Gelernte zu vertiefen. Dieser Zweck könnte nur durch
eine umfassende, verschiedene Gebiete berührende Praxis erreicht werden.
Ohne Rücksicht darauf, welchem Dienstzweige der Kandidat sielt zu widmen
beabsichtigt, wäre vom künftigen Richter uud Anwalt, ebenso vom künftigen
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Zur Ausßrataltung Ü--, rechts- und .■‘taaUwisgenschaftliehen Studiums etc. :{H 1
Verwallungsbeamteu gerichtliche uud administrative Praxis tu fordern. Auf
jedem praktischen Gebiete lernt man andere Verhältnisse kennen, aber alle
vereinigen sich im lebendigen Organismus der Gesellschaft und es gibt fast
keinen Fall, wo eine gerichtliche Angelegenheit nicht auch soziale und
wirtschaftliche Momente, ebenso eine vcrwaltungsrechtliche auch streng
juristische aufweisen würde. Im Leben kreuzen sich die juristischen Kate-
gorien derart, daß es unmöglich erscheint, in einer Richtung praktisch tätig
zu sein, ohne die andere wenigstens einigermaßen zu verstehen. Es ist ja
klar, das eine kurze Verwaltungspraxis dem künftigen Richter nicht die
Vorzüge eines Verwaltungsbeamten, ebenso eiue kurze Gerichtspraxis dem
Verwaltungsbeamtem keine richterlichen Vorzüge sichern wird; aber sie
können auf diese Weise wenigstens einen Begriff erlangen von der Richtung
anderer praktischen Tätigkeiten und auf diese Weise ihren Gesichtskreis
erweitern, während heutzutage der Eintritt in die Praxis sofort eine beklagens-
werte Einseitigkeit zur Folge hat Man darf die Frage stellen, ob es denn
einem Zufall zu verdanken ist, daß hei uns die Beamten der Finanzprokuratur,
wenn sie sodanu sei es zu Gericht, sei es zur Verwaltung übertreten, all-
gemein geschätzt und als gute Kräfte betrachtet werden? Dies beruht
darauf, daß der Dienst bei der Finanzprokuratur Gelegenheit bietet, gericht-
liche, administrative, finanzielle und kirchliche Rechtsverhältnisse kennen
zu lernen. Diese Erfahrung wäre auszunützen und deshalb für alle Praktiker
ein mindestens zweijähriger, allgemein gehaltener Vorbereitungsdienst anzu-
ordnen. Nach Absolvierung dieses Vorbereitungsdienstes würde der Kandidat
die praktische Prüfung ablegen und daun könnte er sich schon ausschließlich
dem gewählten Berufe widmen. Aber selbst da wäre noch immer in den
ersten Jahren darauf Gewicht zu legen, daß er, sowie es ja hinsichtlich
des richterlichen Vorbereitungsdienstes angeordnet ist, womöglich alle Teile
der Agenden kennen lerne.
Zweifellos wäre eiue so geartete praktische Verwendung den Vorge-
setzten einigermaßen unbequem; sie könnten die ihnen für kurze Zeit zuge-
teiltcn Beamten nicht so benutzen, wie es jetzt geschieht: wir geben zu, daß
derartige Hilfskräfte geradezu als Ballast für das betreffende Amt betrachtet
werden können. Mit der Zeit würde man sich au diese Unbequemlichkeit
gewöhnen uud ihre weiteren Vorteile, die sich im späteren Stadium äußern
würden, wären gewonnen.
Ein guter Lehrplan und eine entsprechend eingerichtete praktische
Vorbereitung würden sich gegenseitig ergänzen zu wahrem Vorteile beider.
* *
•
Hieinit beschließen wir diese Erörterungen, die. wie in der Einleitung
gesagt, durchaus nicht als gänzlich genügende betrachtet werden können.
Es fehlt in der einschlägigen Literatur nicht an weitergehenden Vorschlägen,
die manchen Leser gewiß sympathisch berühren und eine ideale Gestaltung
der Dinge anstreben, der man schwerlich die vollste Zustimmung versagen
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382
H&lban.
kann. Wir möchten insbesondere das Reformprojekt des Prof. Dr. J. von
Rose li mann- Hörbnrg (Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und
Verwaltung X) erwähnen, weil dasselbe ebenfalls allo hier behandelten Fragen
ins Auge faßt.
Pie Durchführbarkeit berücksichtigend, waren wir, im Gegensätze zu
radikalen und — wie rückhaltlos zugestanden werden soll — vielfach
besseren Vorschlägen, bemüht, den Roden der bestehenden .Einrichtungen
nicht zu verlassen. Es galt nachzuweisen, datl auf Grund des Beste-
henden noch sehr viel geleistet werden kann, gewiß mehr als
man gewöhnlich annimmt — lind daß alle diese wesentlichen
Fortschritte verhältnismäßig leicht durchführbar sind. —
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VERHANDLUNGEN DER GESELLSCHAFT
OST E RRE IC H I SCHE R VOL KSW IRTE.
CXXIII. Plenarvarsammlung.
Am 20. Jänner 1903 referierte Herr 1)r. Franz Oppenheimer aus
Berlin „über innoro Kolonisation*.
Als die zcntralo Tatsache des gegenwärtigen Kulturlebens ist die Urbani-
sierung der Bevölkerung anzusehen. Die firoltstadtbildung hat in keinem
Lager Freunde. Si« ist vom Standpunkte der höchsten Leistung der Volkswirtschaft
eine bedenkliche Erscheinung. Nahrungsmittel müssen ans immer größeren
Entfernungen herbeigeführt werden, um diese großen Gebilde zu speisen. Die
Großstadt ist immer ein hygienisch höchst mangelhaftes Gebilde. I)io Mortalität
in den günstigsten Landhezirkeu steht tief unter der der ausgezeichnetsten
Großstädte. Die Ursache der ürbanisiernng ist die Abwanderung vom platten
Lande, die die Agrar- und dio Industriearbeiterfrage erklärt.
Dio Not der Großgrundbesitzer und der großen Bauern ist durch den
Preissturz der Agrarprodukte und das Steigen der Arbeiterlöhne hervorgerufen.
Beides ist Folge der Wanderung. Durch die Auswanderung konnten in Amerika
die Felder unter den Pflug gebracht werden, deren Ernten heute dio europäischen
Preise niederwerfen, wurden die europäischen Landarbeiter vom Lande fortgeführt,
der Lohn der zurückgebliebenen erhöht.
Die inländische Abwanderung ist eine der wichtigsten Ursachen der sozialen
Frage. Die Ansicht, daß das , Kapital respektive dio Maschine Arbeiter freisetzt“, ist
sichtlich falsch. Die Theorie bricht vor jeder statistischen Prüfung zusammen,
denn überall wächst die Zahl der industriellen Arbeiter in allen kapitalistisch
entwickelten Ländern viel stärker als die Gesamtbevölkerung. Dio Industrie
als Ganzes setzt nicht nur — absolut genommen — keine Arbeit frei, sic
vermehrt die Zahl der Arbeitsplätze, nicht nur im Verhältnis des eigenen inneren
Zuwachses ihrer Bevölkerung, sondern weit darüber hinaus.
Der Druck auf dem Arbeitsmarkte rührt nur von der ungeheuren Abwan-
derung her, diese schafft jeno „Snrplus-Bovölkernng“, ohne deren Vorhandensein
Geld respektive Produktionsmittel gar nicht „Kapital“, d. h. Mehrwert, heckender
Wert wären. Ohne Stopfung dieser Zuwanderung in die Industriebezirke ist eine
Heilung der sozialen Lage der Arbeiter oder auch nur eine gründliche Besserung
dieser Lage nicht möglich.
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Verhandlungen der Gesellschaft rtstt-rreichischer Volkswirte.
*384
„As luiig a* Immigration endurot, it wonld be must diflicult and almost
wholly iinpossible tu organize unskilled labor.“
Nun ist aber die Wanderung eine direkte Folge derGrund-
e i ge ii t u m » v e r t e i 1 u u g. Die Wanderung ist immer starker vom Groß-
grundbesitze als vom Bauerubesitze und vom größeren Bauern besitz immer
größer als vom kleinen. „Die Wauderung wächst mit dem Quadrate des Groß-
gruiideigeutums.“ Von den zirka 14 Millionen Auswanderern, die in den letzten
80 Jahren des 19. Jahrhunderts sich in Amerika angesicdelt haben, sind mindesten.“
10 bis 11 Millionen Auswürflinge aus den Bezirken des Großgrundeigeiitumy,
(Irland, Ostelbien, Italien, in neuerer Zeit Galizien, Rußland, Ungarn). Die Rache
dieser Ausgestoßeiien war die „amerikanische Konkurrenz“, die die Preise warf,
und der jetzt ihre alten Herren wehrlos gegenüber stehen. Dieselbe Auswanderung
und die noch viel stärkere inländische Abwanderung hat die Arbeitskräfte fort-
geliihrt. mit denen die europäische Landwirtschaft allein jener Konkurrenz durch
Übergang zum intensiveren Betriebe sich hätte entziehen können. Wo diese
Arbeitskräfte vorhanden sind, d. h. im Bauernbezirk, namentlich in der mittleren
bäuerlichen Wirtschaft, hat diese Konkurrenz keinen Schaden, sondern nur Nutzen
gebracht, wie die dänische Bauernwirtschaft beweist, die ihre Kdclproduktion an
Vieh und namentlich Molkerei-Erzeugnissen geradezu auf dem Import des billigen
amerikanischen Kornes und Maises aufgebaut hat und heute noch ohne jeden
Schutzzoll im höchsten Flor dastellt.
Dein Großbetrieb fehlen dafür qualitativ und quantitativ genügende Arbeits-
kräfte; er muß der Konkurrenz, der er nicht ausweichen kann, erliegen. Alle
Schutzzölle werden da nicht helfen; sie werden den Fall nicht aufhaltcn, sondern
nur verzögern, der aber dann nur um so härter sein wird.
Darum sind Groß grundoigon tum in irgend größerem Um-
fange und Freizügigkeit völlig unvereinbar. Der Großgrundbesitz
ist eine feudale Machtposition, der letzte Rest einer überwundenen Gesellschafts-
Verfassung, und stört als solcher die Harmonie der sozialen Funktionen. Diese
Störungen nennen wir die soziale Frage. Da es nun unmöglich sein wird, die
Freizügigkeit den Völkern Westeuropas wieder zu nehmen, gibt es nur ein Heil-
mittel : innere Kolonisation; aber nicht eine Kolonisation von Häuslern,
von Arbeitern, die dauernd auf Lohnarbeit bei dem Großgrundbesitzer angewiesen
bleiben, sondern durch eine entschiedene Verminderung des großen Grundeigentums.
Eine Kolonisierung in geringerem Maßstabe kommt nur auf eine Sanierung
verkrachter adediger Vermögen hinaus; aber große Mengen auf einmal zu parzel-
lieren, dagegen wehren sich die Herren.
Das Tempo, in welchem die preußischen Behörden die innere Kolonisation
betreiben, ist durchaus kein solches, das dem Junkertum irgend welche Gefahr
brächte.
Trotzdem sie mit unbegrenzten Mitteln arbeiten, ihre Beamten aus Staats-
mitteln erhalten werden und eine große Anzahl unbesoldeter Beamter sie ehren-
amtlich unterstützt, sind die Resultate winzig. Nach dem Rentengütergesetz sind
im ganzen 9214 Bauern angesiedelt worden: von der Ansiedlungskommission
wurden in toto zirka 40U0 bäuerliche Güter geschaffen. Der Versuch, auf diesem
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fXXIIL Plenarversammlung.
385
Wege io getniaiiisiereii, liictet sehr wenig Aussichten auf Gelingen. Das Resultat
der Tätigkeit der Ansiedlnngskommission war eine enorme Steigerung der
Güterpreise gewesen, toii der diu Polen profitiert haben. Ferner haben polnische
Großgrundbesitzer, die toii der Ausiodlnngskonimissioti ausgekauft waren, sich
sofort mit dem hoben Erlös an anderer Stelle derselben Provinzen wieder angekauft,
zum Teil auf Gütern, die vorher in deutscher Hand gewesen waren. Das Ergebnis
war hier also die Schäftung einer starken national polnischen Wirtschaft an Stelle
einer schwachen. Überdies hat die Politik der Ansiedlungskoiiiinission. im wesent-
lichen größere Bauerngüter zu schäften, die Gesinde bedürfen, geradezu
zu einer Polonisierung der iieugcschalfouen deutschen Ortschaften geführt, da
deutsches Gesinde nicht zu erhalten ist und poluischos billiger und williger ist.
Die Polonisierung schreitet am stärksten in den Grollgrundbesitzen vor.
Germanisierung und Erhaltung des Groügrundeigentums in den polnischen
Provinzen können nebeneinander nicht bestehen.
Innere Kolonisation und Gennanisation bei gleichzeitiger Erhaltung des
grollen Grundeigentums in bedeutendem Einfang ist unmöglich.
Enter der Voraussetzung, dal! man sich klar macht, daß das grolle Grund-
eigentum geopfert werden mall, läßt sich eine Methode der Besiedlung linden, die
den heutigen Methoden Torzuziehen wäre. Jetzt schafft mau selbständige Bauern,
die ein römisch-rechtliches Eigentum erhalten. Dieses Verfahren ist von vielen
Gesichtspunkten ans unbequem. Ein Gut zu parzellieren, ist eine sehr heikle,
sehr kostspieligo und sehr zeitraubende Arbeit. Viele Werte werden vernichtet,
Kapital geht verloren, die Schwierigkeit, Ansiedler zu bekommen, ist sehr groß.
Man muß von den einzelnen ein bedeutendes Investitionskapital verlangen, und
das den Leuten zur Verfügung stehende Kapital reicht oft nicht aus. Wir sehen
also eine ganze Reihe von Schwierigkeiten bei der Parzellierung.
Dem gegenüber empfiehlt Redner mindestens als Übergangsstadiiiui die
Organisation von Arbeiterproduktivgenossenschaften in etwas modifizierter Form.
Eine solche Arbeiterprodnktivgenossenschaft bietet, wenn sie auch keine oder
nnr geringe Anzahlung leistet, eine glänzende Kreditbasis. Wenn man die Leute
in den ersten zehn Jahren abhält, Dummheiten zu machen, stramme Disziplin
hält, sie während dieser Zeit nur insofern als Genossen behandelt, als an sie
der gesamte Reinertrag pro rata ihrer Leistungen verteilt wird, wenn man
dann noch kleinere Genossenschaften für Konsnmartikel, Düngereinkanf, für
Viehzucht, für Samenankauf etc. einrichtet und den Leuten dabei in gewisser
Richtung freie Hand läßt, um sie allmählich zu einer vernünftigen, selb-
ständigen Wirtschaft heranzuziehen, so werden sich die Vorteile einer solchen
Organisation bald zeigen. In Westfalen besteht ein ähnliches Arbeitsvorhältnis
zwischen den großen Gütern und den sogenannten Heuerlingen. Diese haben
vom Gute Land, zirka 8 bis 12 Morgen gepachtet, sie sind verpflichtet, gegen
einen bestimmten Lohn jeden Tag auf dem Gute zu arbeiten und zahlen ihrerseits
eine bestimmte Pachlsumme für das Haus und Grundstück, das sie in Pacht
haben. Das ist eine ganz ansgezeichnet bewährte Wirtschaftsform.
Die reine Arbeiterproduktivgenossenschaft soll mit einer dieser Heucrlings-
Verfassung angenäherten Organisation verbunden werden; die Arbeiter Genossen
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386
Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte.
sollen nicht bloß Teilarbeiter des großen Zcutralbctriebes werden, sondern die
Mehrzahl von ihnen soll kleine Stellen, je nach der Bodenqualität 1 */* his
3 Hektar, in Erbpacht erhalten, die sie unter eigener Verantwortung bewirtschaften.
Der Best des Objektes bleibt im Gemeinbesitz und zunächst im Gemeinbetrioh«,
wobei der Heinertrag pro rata der Löhne zu verteilen wäre. Die Durchführung
dieses Vorschlages sei leicht und rasch möglich, sie erspart Bauten, Land und
Inventar bietet und begünstigt das Zuströmen neuer Arbeiter. Wenn auch der
bäuerliche Betrieb dum privaten Grollbetrieb überlegen ist. gilt dies doch
nicht gegenüber dem genossenschaftlichen Großbetrieb. Ist es möglich, die
Arbeiter eines Großbetriebes zu derselben Sorgfalt, Arbeitsenergie und Sparsamkeit
zu erziehen, wie sie der einzelne Bauer aufwendet, dann werden diese Vorteile
die landwirtschaftliche Produktivgenossenschaft der Produzentengenossenschaft
selbständiger Bauern überlegen machen.
Wo heute herrschaftlicher Großbetrieb besteht, dort wird der genossen-
schaftliche Großbetrieb mindestens für die Anfangszeit und vielfach auf die Dauer
eine der Zerteilung vorzuzioheude Form der inneren Kolonisation darstellen.
Denn die angesiedelteu Genossen haben hier an dem Reinerträge dasselbe oder
doch fast dasselbe Interesse wie der einzelne Bauer, da auch ihnen der volle
Rrtrag ihres Arbeitsfleißes znfließt Es dürfte sich das Großkapital in der aller-
nächsten Zeit dieses Gedankens bemächtigen. Schon heute legt eines der größten
Geldinstitute Kapital in der genossenschaftlichen Kolonisation au, allerdings noch
nicht in Produktivgenosseiischaflen. sondern in rroduzcntengenossenschaften.
Bei genossenschaftlicher Kolonisation besteht auch nicht die Möglichkeit, das
Gut zu verkaufen oder zu verschulden.
Das Bedenken, daß man für die Disziplin der Genossenschafter nicht
einsteheu könne, werde durch die Geschichte der bisherigen Versuche widerlegt.
Der Bauer ist das Mark der Bevölkerung, die Grundlage jeder politischen
Gesundheit und Kraft. Wir haben alle Ursache, Bauern überall hinzusetzen, wo
dies nur möglich ist. Wir können nichts Besseres tun, als mit vereinten Kräften
zu fördern, was die Schärfe der sozialen Frage zn mildern, vielleicht zu lösen
geeignet ist: die innere Kolonisation!
CXXIV. Plenarversammlung.
Am 27. Jänner 1903 hielt Herr Universitätaprofessor Dr. Schwiedland
einen Vortrag „Ober Mindostlohnsätze für Heimarbeiter“.
Einleitend wies der Vorsitzende Hofrat Prof. v. Philippovich auf den
Streik der Konfektionsarbeiter hin. Eine Erhellung des arbeitsstatistischen Amtes hat
die Verbesserungsbedürftigkeit ihrer Lage dargetan, aber eine Verbesserung könne
nicht einseitig erzwangen werden. Nun seien zwischen den Unternehmern, den
Stückmeistern und Arbeitern Verhandlungen im Gange, auf allen Seiten sei das
ernste Bestreben vorhanden, zu einem befriedigenden Abschlüsse zu gelangen. Dies
sei nur dann erreichbar, wenn die Organisation der Unternehmer und diu Organisation
der Arbeiter einander als zwei vertragschließende Teile gegenüberstehen. Derartige
Vereinbarungen gehen schließlich zum Wohle der Beteiligten aus uud schaffen
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(.'XXIV Plenarversammlung.
387
«in gute« Verhältnis zwischen Unternehmern und Arbeitern. Solche Tarifver-
einbarnugcn bestehen auswärts in größerem, bei nns in kleinerem Maßstabe, aber
nnr dort, wo gute Organisationen auf beiden Seiten vorhanden sind. Wir sehen
jetzt die merkwürdige Erscheinung, daß Arbeiter, deren Arbeitsverhültnisse außer-
ordentlich kompliziert sind, deren Organisationsfähigkeit man sehr oft bezweifelt
hat, eine Organisation schaffen, am die vereinbarten Arbeitsbedingungen dauernd
zu erhalten. Anf Seite der Unternehmer wird dieses Bestreben durchaus nicht
mißgünstig beurteilt, der Zweck des heutigen Vortrages ist, zu zeigen, daß solche
Vereinbarungen nnr nnter gewissen Voraussetzungen möglich sind, und daß es
außerordentlich wünschenswert sei, daß jene Tendenzen, die heute in Wien inner-
halb der Konfektioiisbranche als herrschende bezeichnet werden dürfen, auch zu
eiuem praktischen Erfolge gelangen.
Professor Dr. Scbwiedland zeigt, wie seine Forderung von verbindlichen
Mindestlohnsatzuugen für Hausindustrie oder Verlagsarbeit in der Literatur Anklang
gefunden habe. Er unterscheidet private und öffentliche Mindestlohnsatzungen, ln
den filteren Weltteilen haben sie sich bisher in vertragsmäßigen Formen verwirklicht:
kraft Vereinbarung zwischen den unmittelbar Beteiligten (Tarifgemeinschaften,
rKollektive Arbeitsverträge“;, oder kraft der vertragsuiäßig respektierten Willens-
äußerung öffentlicher Körperschaften als Besteller (Fairwages-Klausol). Hingegen
sind staatliche Mindestlohnsatzuugen die Einführung von Grenzen, unter welche
der Einheitslohn kraft öffentlich-rechtlicher Verfügung nicht sinken darf. Es (luden
sich dafür zwei Systeme in Australien. In Viktoria haben Kommissionen von
fachkundigen Unternehmern nnd Arbeitern Vorschriften für das ganze Gewerbe
zn erlassen; in Neuseeland haben Eiuigungsämter und ein Schiedsamt Tarifgemein-
schaften zu befördern beziehungsweise die Arbeitsbedingungen durch Schiedsspruch
zu regeln. Zweck ist dort Hebung der Löhne und die Festsetzung der Yerhältnis-
zabl zwischen Arbeitern und Lehrlingen, hier Beseitigung des barbarischen Lohn-
kauipfes , Arbeitseinstellungen und -aussperrungetr) durch ein besonderes Verfahren,
dort Überwachung« durch Inspektoren, hier Erzwingbarkcit des Vertrages vor dem
Zivilgericht. In Viktoria werden die Konimissionen von Staats wegen für bestimmte
Gewerbe eingesetzt. Dio Satzung gilt jeweils für die Ortschaften, für welche sie
kniidgemacht wird. In Neuseeland bestehen sieben lokale Einigungsämter nnd
ein Schiedsamt. Das zuständige Einigungsamt bemüht sich, einen Tarifvertrag
zwischen den Streitteilen zn stände zn bringen. Mißlingt dieser Versuch, so wird
die Angelegenheit von Amts wegen an das Schiedsamt geleitet. Dieses kann die
Arbeite- und Lohnbedingungen für sämtliche Arbeiter nnd Unternehmer des Gewerbes
und aucli der verwandten Gewerbe verbindlich festsetzen, und zwar die Löhne
in ihrer konkreten, tatsächlichen Höhe, oder zulässige unterste Lohngrenze bestim-
men. Auf Grund staatlicher Ermächtigung setzen somit diese Behörden — Kommis-
sion beziehungsweise Schiedsamt — den Inhalt der Arheitsverträge autoritativ
fest. — Die Minimalsätze sind in Neuseeland in der Hegel so, wie durchschnitt-
liche Arbeiter sie tatsächlich bereite flüher bezogen haben, die Gewerkschaften
hingegen sind bestrebt, diesen Satzungen den Verdienst guter Arbeiter zu Grund«
legen zu lassen. In Viktoria wurden starke Erhöhungen der unteren Löhne in
lokalen Gewerben Bäckerei. Maßschneiderei) ohueweiters beschlossen.
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Verb Rn dlnngeo der Gesellschaft Asterreichisoher Volkswl rte
S88
Die Folgen einer solchen Maßregel können sein: Umgehung der Satzung;
Verteuerung des Erzeugnisses; Entfaltung der maschinellen Ausrüstung; Auslese
unter den Arbeitskräften ; Anslese unter den Betriehen (Untergang der leistungs-
unfähigsten).
Vorteile solcher staatlicher Mindestlohnsatzungen sind: Allgemeinheit der
Wirkung; Versuche einer gütlichen Vereinbarung; Billigkeit des Unparteiischen,
der die Entscheidung fällt; Kontrolle der Öffentlichkeit; Ruhe der Verhandlung
ohne Arbeitsunterbrechung; geringer Zeitaufwand; Vermeidung aller Verluste, der
Erbitterung des Lohnkampfes. Speziell in der Verlagsindustrie können die Arbeiter
aus eigener Kraft durch ihre Organisation 7.u Tarifverträgen mit den Faktoren,
'/.wisehenmeistoni und Verlegen! nicht gelangen.
In Ktfropa hat man es mit freien Tarifvereinbarungen probiert. Sie waren
in der Hausindustrie nicht von Dauer. So beruhte der „Zentralverband der
Ktickcreiindnstrie der Ostschweir. und des Vorarlbcrges“ auf der ausschließlichen
Beschäftigung von Verbandsmitgliodern, einem Normalarbeitstag und einem Mini-
mallohn. Als der Verband zerfiel, wurde das Lohnminimum aufgehoben.
In Gablonz haben die Erzeuger von Lnsterbehängen und Waren aus
Kristallglas 1897 die Mindestpreise, zu welchen sie an die Exporteure liefern,
sowie die Mindestlöhtic, die sie den Arbeitern bezahlen sollten, durch eine
Konvention festgelegt. Seit die Vereinbarung seitens der Exporteure gesprengt
wurde, vollzog sich rasch die Abbröckelung; man beschäftigt nur die wohl-
feilsten Vcrlagsarheiter; das Arbeitseinkommen der Leute sank in kurzer Zeit
bei der gleichen Leistung auf die Hälfte. Die Mindestlöhne sind den Arbeitern,
anderseits den bereits eingefübrten Verlegern von Vorteil. Dagegen unterbietet
jeder aufstrebende Verleger die bestehenden Löhne. Fflr die nämliche Arbeit
bestehen für verschiedene Verleger Lohndifferenzeil bis zu 30 Proz. Der kleine
Verleger beeinflußt die Lohnbewegung entscheidend.
Bei Einführung verbindlicher Mindestlohnsätze würde man wissen, wie
weit das Untergebot aufstrebender kapitalloser Verleger gehen kann. Da besser
bezahlte Leute besser arbeiten, würde die Qualität der Erzeugnisse sich heben;
Der Anteil der Arbeit an den Gestehungskosten ist in den verschiedenen Gewerben
sehr verschieden. Kr ist in der Leinen- nnd Ranmwollweherci sehr gering, in
der Glaskur/.warenindustrie, bei der Erzeugung ganz feiner Fleehtwaren oder Spitzen
hoch. So betrügt der Lohn des mährischen Webers bloll Iß1/, Proz. des Preises.
Hier wäre eine „starke“ Lohnerhöhung zulässig.
Die Lohnsatzung müßte zugleich Preissatzung sein, weil das Kaufverhältnis
in der Verlagsarboit sehr häufig ist: ebenso dort, wo die Arbeiter den Rohstoff
selbständig kanfen, wo sic ihn ans der eigenen Wirtschaft (Stroh, Holz) beistellen.
Eine organisatorische Schwierigkeit begründen jene, die hinter dem Durchschnitt
der Arbeiterschaft Zurückbleiben, die Mindertücbtigen. Schwachen. Alten, Unintelli-
genten. Der Warenverkäufer muß bei gleichen Preisen eine entsprechendere
Qualität, der Arbeiter seinem Käufer mehr Produkte bieten.
Eine besondere Schwierigkeit ist, daß unsere Hausindustrien vielfach Waren
hersteilen, welche der Mode ausgesetzt sind. Hier ist es nun auch äußerst schwierig,
autoritäre LohnsStze in Vorschlag zu bringen, es könnte höchstens eine Auseinander-
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fXXIV. Plenarversammlung.
3B9
svtzung uiit einem Ausschuß der eigenen Arbeiterschaft in Betracht kommen. Solche
Arbeiterausschüsse linden sich aber bisher in der Hausindustrie nicht. Es müßten
tlaher organisatorische Bestimmungen in die Arbeitsordnung aufgenommen werden.
Eine weitere erhebliche Schwierigkeit würden in Gegenden armer und
wirtschaftlich einsichtsloser Verlagsarbeiter sinkende Konjunkturen begründen,
da bei solchen die Arbeitsbedingungen derart verschlechtert werden, daß sie
auch bei einer Besserung des Marktes sich nur äußerst schwer heben lassen.
I.olinsatznngen würden sicher häufig umgangen werden.
Die Gefahr, daß eine Verlagsindustrie abgewamlert, wenn ihre Lehne erhöht
werden, ist nicht schlechthin zu verallgemeinern.
Lohusatzungen haben besonders zwei Vorteile: die Verlagsindustrien würden
zu höheren Prodnktionsformen — zu motorischem Betrieb, zur Werkstatt oder
Fabrik — übergehen; dadurch käme der Vorteil halbwegs gerechter Löhne.
Ileferent rekapituliert; Die Lohnsatzungen müssen öffentlich rechtliche sein. Sie
dürfen keine starren schematischen Verfügungen sein und dürfen nicht allznrasch
verallgemeinert werdeu. Die Gesetzgebung hat die rechtlichen Handhaben znr Ein-
führung von Mindcstlohnsatzungen zu schaffen. Die Einleitung des Verfahrens
wäre der Initiative der Interessenten zu überlassen, die Festsetzung der Satzung
durch die Beteiligten individualisierend vorzuuehmen, ihre Durchführung aber
durch die Machtmittel des Staates auf dem Gebiet« der Justiz wie der Verwaltung
zu gewährleisten. (Lebhafter Beifall und Händeklatschen.)
In der hierauf folgenden Diskussion macht Kommerzialrat Siegmnnd Mayer
vom Stand des Schneiderstreiks Mitteilung und erklärt, daß am Vormittag ein Lohn-
tarif vereinbart worden sei (Bravo!), wenn auch unter schweren Kämpfen. Dieser Kampf
sei nicht so sehr zwischen den Konfektionären und den Arbeitern, als vielmehr unter
den Konfektionären selbst geführt worden. Die Exporteure zahlen ohnedies Löhne,
welche den Tarif übersteigen, da sie besonders auf gute Ware halten müssen. Auch die
Kngroskonfektionäre zahlen zum größten Teile keine schlechten Löhne. Erst die Detail-
konfektionäre und von diesen wieder nur die kleinen Detailkonfektionäre, besonders
draußen in den Vorstädten, zahlen Schundlöhne. Die Schwierigkeit lag darin,
diese verschiedenen Interessenten nuter einen Hut zu bringen und eine Kontrolle
über die Einhaltung der Lohntarife auzuführen. Es unterliegt nicht dem
geringsten Zweifel, daß, wenn die Konfektionäre den Kampf aufgenommen hätten,
die Arbeiter sofort unterlegen wären ; sie waren aber zu allen Konzessionen bereit,
vorausgesetzt, daß an der Institution der Stückmoister nicht gerührt werde.
Kaimnersekretär-Stellvertreter Dr. v. Tayenthal meint, von Tarifverein-
harungen in der österreichischen Konfektionsbranche könne ein dauernder Erfolg
kaum erwartet werden. Es fehlt an gesetzlichen Mitteln, um den Vereinbarungen
der Interessenten die Dnrchsetzbarkeit zu gewähren. Die Schwierigkeiten bereiten
feiner die große Anzahl der Beteiligten, die Kontrolle und dio Schwäche der
Itevölkorungskreise, die dem Lohndrncke leicht nachgebon. Der Staat müßte
eine Vereinbarung, die ausschließlich aus der Initiative der Interessenten bervor-
geht und die Zustimmung der Majorität derselben gefunden hat, zwangsweise
durchführen, wie er z. It. Gemeinden und Ländern bei Durchführung ihrer autonom
gefaßten Beschlüsse mit seiner Zwaugsgewalt zur Seite steht.
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300 Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte.
Redner weist noch auf einen Vcrsnch hin. der gemacht wurde, um Mindest-
lohnsätze in einer Branche durchzusetzen, und der darauf abzielt, «in einzelnes
Zwischenglied zwischen den Verleger und den Arbeiter zu setzen: die Verknufs-
geuossenschaft in der Perlenbranche der Gablonzer Industrie, deren Krfolg ein
grullartiger war.
Es wäre doch zn erwägen, ob nicht im Wege einer ähnlichen Organisation
auch in der Koufektionshranche ein günstiger Krfolg zn erzielen wäre.
Vorsitzender Hofrat Prof. Dr. v. Ph iiippovich verweist darauf, daß in
Genf im Jahre 1900 ein Gesetz erlassen wurde, das Tarifvereinbarungen zwischen
organisierten Unternehmern und organisierten Arbeitern bindende Kraft für die
ganze Branche, auch für solche, welche der Organisation nicht angehören, gibt.
Wer die Vereinbarungen nicht einhält, wird mit Polizei- eventuell mit Strafen
nach dem Strafgesetze behandelt. Kr befürwortet, daß wenn Vereinbarungen nicht
zu stände gekommen sind, nachdem der Behörde das ganze Material der beider-
seitigen Interesaentengruppen vorgelegt wurde, schlieslicU auch durch einen
behördlichen Kutscbeid eine Lohnfivierung .stattfinden könne. Das Koalitionsgesctz
sei für die Einhaltung der Vereinbarung kein Hindernis. Wenn Unternehmer
und Arbeiter miteinander Vereinbarungen treffen, seien das privatreehtlich bindende
Verträge. In einem solchen Vertragsbrüchigen Vergehen des Unternehmers liege
ein nnlaulerer Wettbewerb. Auch sollten die Genossenschaften gegen Mitglieder,
die in solcher Weise die Standesehre verletzen, dis/.iplinarweise Vorgehen.
Solange eine Strafsanktion für die Nichteinhaltung nicht besteht, wäre es
nicht unmöglich, unlauteren Wettbewerb der Unternehmer öffentlich kund zn
machen.
C XXV. Plenarversammlung.
Am 10. Februar 1 903 stand ein Referat des Herrn Alfred Ostersetzer:
.Uber die Aufnahme der Barzahlungen" auf der Tagesordnung.
Das Thema, sagt der Vortragende, ist ein so ungeheures, daß nicht die
Möglichkeit vorhanden ist, es nach allen Seilen hin zu erschöpfen. Ks soll nur
die Hauptfrage behandelt werden: Sind wir heute befähigt, die Barzahlungen
aufzunehmen, und ist der gegenwärtige oder ein nulie bevorstehender Moment
hiezu geeignet? Sie hängt auf das engste mit der Zahlungsbilanz zusammen.
S p i t z m ü 1 1 e r bezeichnet sie als passiv, indem er alle übersehbaren ständigen
Verpflichtungen der Monarchie im internationalen Zahlungsverkehr den überseh-
baren ständigen Eingängen gegenüberstellt. Gleichwohl aber hat. sich während der
letzten Jahre ein kolossaler Importüberschuß an Gold bei uns angesammelt und
in diesem Sinne bat man sagen müssen, die Aufnahme der Barzahlungen werde
ins Auge gefaßt werden können, wenn unsere Zahlungsbilanz sich als dauernd
übel wiegend aktiv erweisen werde. Freilich, das bloße Faktum der Aktivität
der Zahlungsbilanz in diesem Sinne genügt nicht. Wenn die Elemente der
Zahlungsbilanz besonders heftigen Schwankungen ausgesetzt sind, nützt alle
durchschnittliche Aktivität der Zahlungsbilanz unter Umständen nicht, und die
gefährlichen Elemente der Zahlungsbilanz können in gewissen Momenten auch
die beste Währung auf eine zu harte Probe stellen. Der Zahlungsverkehr mit
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( XXV. Plenarversammlung.
891
Jen) Anslande beruht auf dem Warenverkehr mit dem Aaslande (Handelsbilanz), den
Zinsen für fixe Schulden an Kffekten und Kapitalien, den Einnahmen aas dem Transit-
verkehr, dem Saldo aas dem Verkehr von Vergnügungsreisenden, den Kemittierungen
von Auswanderern n. s. w. Von 1891 bis 1901 hat unser Warenverkehr einen Aktiv-
saldo von durchschnittlich rund 217 Millionen Kronen ergeben ; die tproz. Zinsen auf
die 6 — 9 Milliarden Kronen Kffcktenschulden an das Ausland sind dnreh den Aktiv-
saldo unserer Handelsbilanz bei weitem nicht gedeckt. Spitz mdller gelangt zu
einem Gesauitpassivum der Zahlungsbilanz von 130 — 18U Millionen Kronen; das
bedeutet, daß wir darauf angew iesen wären, um günstige Wechselkurse zu erhalten und
einen angemessenen Goldschatz zu bewahren, entweder flottierende Kapitalien in
nennenswertem Umfange ständig bei uns festzuhalten, oder alljährlich dnreh neue
Kdekteneiporte, durch neue ständige Verschuldung im Anslande das Passivem der
Zahlungsbilanz in diesem Sinne zu begleichen. Dazu kommen die starken Schwan-
kungen in der Handelsbilanz: innerhalb der 11 Jahre war ein Jahr mit einem
Aktivsaldo von 372 Millionen Kronen, vier Jahre später wieder eins mit einem
Aktivsaldo von nur 81 Millionen Kronen, drei Jahre später ohne den Veredlungs-
verkehr gar ein Passivum der Handelsbilanz, um dann wieder einen Aktivsaldo
von zirka 300 Millionen Kronen zu sehen. Womit haben wir unsere schon an
sich passive Zahlungsbilanz in Jahren beglichen, wo der Aktivsaldo der Waren-
bilanz völlig wegliel? Ein Aktivsaldo der Warenbilanz 1893/94 von durchschnitt-
lich 280 Millionen Kronen konnte nicht die Agioepoche verhindern, während die
Jahre 1895/9G mit einem geringen Aktivsaldo das Verschwinden des Agios und
starken Goldznftuß brachten! Die Warenbilanz spielt eben heute eine außer-
ordentlich geringe Rolle in der Zahlungsbilanz. Ihre Aktivität oder Passivität
ist bei weitem nicht von solchem Einflüsse für die Wechselkurse, als die unbe-
rechenbaren, oft jäh eintretenden Bewegungen des Effekten- und Kapitalienverkehrs.
Auch kann man die Warenbilanz am wenigsten beeinflussen. Denn Diskont und
Wechselkurs üben auf den Warenverkehr keinen wesentlichen Einfluß aus. Vom
Standpunkt der Währungspolitik aus spielt die Warenbilanz eine äußerst geringe
Rolle. Es ist nicht wahr, daß ein verschuldeter Staat eine aktive Handelsbilanz
haben muß, und man kann nicht Staaten mit rein agrarischem Charakter uiit
industriellen Staaten oder gemischten Staaten wie wir vergleichen. Verschuldete
Staaten, wie Serbien oder Bulgarien, haben meist aktive Handelsbilanz, Rumänien
fast immer eine passive Warenbilanz; entwickelte passive Staaten, wie Rußland
und Österreich-Ungarn, haben aktive Warenbilanz und ähnlich entwickelte
verschuldete Staaten, wie Italien, seit jeher passive Warenbilanz. Allerdings
haben fast alle Gläubigerstaaten passive Warenbilanz, aller es ist auch interessant
zn sehen, wie Amerika, welches eben den Übergang vom schuldneriscben zum
Gläubigerstaat vollzieht, immer noch mit riesig aktiver Warenbilanz arbeitet.
Es gibt also da keine Kegel und keine Notwendigkeit, alles richtest sieb bei
jedem einzelnen Wirtschaftsgebiet nach spezifischen Umständen, deren etwa
vorhandener tiefliegender Zusammenhang uns nicht klar ist, sich bisher wissen-
schaftlicher Erfassung entzieht. Nicht nur, daß sich die aktiven Staaten von den
Schuldnerstaaten monetär dadurch wesentlich unterscheiden, daß sie im Bedarfs-
fälle zur Begleichung des Saldos Effekten abstoßeu oder Außenstände an
Z«iuohrk/i für VolaawrlrUahaii, desitlpolUlk und Verwaltung, XXI. Baad. 27
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H!>2
Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirt*
Schuldfnrderungen rin/it'hrn , während umgekehrt die passiven Staaten stete
gewärtig sein müssen, daß ihnen von ihren im Auslands nntsrgehrarhten
Effekten Gestände zurückgesendet, geborgte Kapitalien znrnckgefordert werden;
auch innerhalb der passiven Staaten gibt es Verschiedenheit bezüglich der Art
nml des Grades der Wirksamkeit der schwankenden Faktoren der Zahlungsbilanzen.
Man kann die primitiven verschuldeten Staaten nicht unter demselben Gesirhts-
pnukt betrachten, wie etwa Italien nnd Österreich-Ungarn. In Serbien oder
Bulgarien können die Titres dieser Staaten im Kurse sinken; aber heimgesdiirkt
werden können sie nicht, weil niemand da ist, der sie kauft. Wo aber in dem
verschuldeten Lande selbst eiu Börsenverkehr, ein freier Anstausch in Staatstitres
und flottierenden Kapitalien bestellt, da wirken diese beweglichsten Faktoren der
Zahlungsbilanz ganz anders.
Ist unsere Zahlungsbilanz so wie S p i t z m ü 1 1 e r sie berechnet, so ist sie
vom Standpunkte der Aufnahme der Barzahlung ans ungünstig. Um günstige
Wechselkurse zu haben und den Passivsaldo unserer Zahlungsbilanz zu begleichen,
müssen entweder flottierende Kapitalien von zirka 150 bis 20 > Millionen Kronen
bei uns festgehalten werden oder ständig unsere auswärtige Schuld durch
Effektanexport in solcher Höhe vergrößert werden; denn sonst müßten wir ständig
schlechte Wechselkurse haben, stetigem Goldahflnß ansgesetzt sein. Das ist keine
Situation, welche die Aufnahme der Barzahlungen nnd deren Anfrechtorhaltung
als leicht erscheinen läßt. Und dabei ist der Aktivsaldo der Handelsbilanz, kein
verläßlicher Faktor in einem Momente, wo wir in einen Weltkampf um Hnrh-
schutzzollpolitik eingetreten sind. Wir haben heute keine Ahnung, ob wir nicht
zu grnndumwälzenden Zollkriegen, zn ganz neuen Wegen unserer Handelsbilanz
gelangen werden. Auch hat die Handelspolitik mit der auswärtigen Verschuldung
sehr viel zn ton! Auch das Festhalten einer Diskontpolitik, welche den Znfluß
ausländischen Kapitals, mit allen Kräften fördert, ist schwierig. Eine weitere
Bedingung ist nach Spitzmüller „die tnnlichste Femhaltung aller Störungen,
welche auf die Zahlungsbilanz eine ungünstige Rückwirkung üben können. Als
ein störender F.intlnß müßte nach den Erfahrungen früherer dahre insbesondere
das vorzeitige Ueraligehen anf einen niedrigeren Zinsfuß hei dem Gros unserer
Anlagetitres betrachtet werden.“ Aber kürzlich wurden Gerüchte verbreitet, mau
plane eine Konversion der 4'2proz. Renten im Ausmaße von 5 Milliarden Kronen
auf 8 7, oder überhaupt unter 4 Proz. Die Renten haben kaum erst durch den
Knnversionsrunitnel das pari erreicht nnd schon soll der 4proz. Zinsfuß obsolet sein?
Im Momente, wo wir die Barzahlungen aufnehinen wollen mit einer
Zahlungsbilanz, welche anf zwei Säulen ruht: fester Bestand nnseror Titres im
Anslande und möglichst hoher Zinsfaß im Inlande znr Festhaltnng der flottie-
renden Kapitalien, wollte man auswärtigen Gläubigern einreden. daß sie 3 oder
3’/4proz. österreichische Kronenrente nehmen und festhaiton sollen. Wenn wir
oder Ungarn aber einen solchen Fehler begehen, so schickt man uns unsere
Werte zurück und wir müssen sie auch bezahlen. Es ist an Barzahlungen nicht
zu denken, solange mau nicht sicher ist. daß Ungarn etwa anf eigene Kunst
eine den allgemeinen Interessen der Monarchie znwiderlaufcndc Kreditpolitik
betreiben sollte.
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CXXV. Plenarversammlung.
893
Di* Ungarn glauben ganz, daß die Aufnahme der Barzahlungen ihnen
ungeahnte Vorteile bringen werde, und daß die Aufnahme der Barzahlungen ein
Kinderspiel sei und unmöglich mißglücken könne. Ich seihst habe oft Gelegenheit
gehabt, mit maßgebenden Persönlichkeiten der anderen Reichshälfte über das
Thema zu sprechen, und darum kenne ich den Untergrund der felsenfesten
Überzeugung sehr genau.
Es ist dies die Theorie des Geldwesens, welche Theodor Hertzka
vertritt, und die besagt: wenn ein Währungsmetall in verschiedenen Staaten
allgemein rezipiert ist, richten sich allenthalben alle Preise genau nach der
Menge des Goldes, dieses strömt von seihst in alle Länder, welche es brauchen,
auf Grund des Verhältnisses /.wischen Preisniveau und Geldbedarf, welcher
allenthalben stetig wachsen muß; man brauche sich daher um den Zufluß des
Goldes nicht zu kümmern und ohne jede Rücksicht auf Handels- und Zahlungs-
bilanz nicht vor Goldabfluß zu fürchten. Denn aus keinem Land kann mehr
Gold abfließen als der Verkehr entbehren kann, denn es entsteht sofort ein
solcher Preisdruck im Inlande, daß Export wieder rentiert und das entfließende
Gold festhält, das entflohene wieder zurückführt. Aber für den Geldbedarf
eines Landes ist auch die Emission an unbedeckten Noteu und die ganze
Kredit/ahlungsorganisation als Geldcrsparnngsmittol in Rechnung zu stellen, und
da ist schon die Berechnung des Effektes mit Bezug auf das Verhältnis zwischen
Edelmetall und Preisgestaltung eine sehr komplizierte, kaum durchführbare.
An sich ist die Theorie richtig, und so beweist sie die ökonomische Wid ersinn ig-
keit der Metallwährung, da dadurch die Preisgestaltung von den Zufälligkeiten der
Produktion dieses Metalle» abhängig ist. Das ist der Widersinn der freien Prägung.
Nur wird übersehen, daß die ziffermäßige Menge des Geldmetalles auf den kleinen
und mittleren Warenverkehr überhaupt nicht oder außerordentlich langsam wirkt,
auf den großen Verkehr zwar unter Umständen sehr stark, aber es wirken auch
andere Faktoren (Kreditorganisation, Effekten- und Kapitalienverkehr), Als in Italien
die kleine Münze infolge der lateinischen Münznnion und des Agios nach Frank-
reich wandert«, sind die Preise im kleinen Verkehr nicht gefallen. Dasselbe
geschah in Amerika 1893. Man behalf sich eben mit Privatpapiergeld. Uud
ganz so würde es sich bei uns in praxi abspielen. Schickt man uus infolge
innerer oder äußerer Krisen Effekten herein oder zieht Kapitalien ab und gehen
dadurch etwa 200 Millionen Gold rasch über die Grenze, so kann das unter
Umständen ganz ruhig abgehen. Die Preise werden fallen, zunächst jene der Effekten,
vielleicht auch Preise spekulativer Waren. Der übrige Handel wird in den Preisen
zunächst gar nichts davon merken, und ist sonst alles im Wirtschaftsleben
gesund, so kann die Parität der Währung erhalten bleiben; aber greift nur
ein wenig Spekulation und Mißtrauen um sich, uud das tritt meistens in solchen
Fällen ein, so hat der Preisfall der Effekten hier nicht Export, sondern nur
um so regeren Import zur Folge und immer stärker wird die Spannung und
der Diskont mag noch so hoch gehen, er wird die ausländischen Kapitalien hier
nicht festhalten, sondern inan wird sie aus Mißtrauen zunickzichen, uud greift
das Mißtrauen auch im Innern um sich und versagt die Kreditorganisation, der
künstlich organisierte Zahlungsverkehr, so entsteht eine solche Panik, daß die
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35)4
Verhandlungen der Gesellschaft fltterreichischer Volkswirte.
Bank weder mit 6. noch mit 7, noch mit 10 Proz. Diskont etwas erreichen
kann, sondern sich sofort an die Regierung um Suspension der Akte wenden
und Noten ausgeben moß, bis die durch den Goldabfluß und durch das Versagen
der Kreditorganisation entstandene Lücke wieder ausgcfflllt ist. Das Gold wird
fort sein, der Umlauf, die Zirkulation wird numerisch gleich geblieben, eher erhöht
sein. Aber was auch dahin sein wird, das ist der Kredit der Monarchie und ein
gutes Stück Volksrerinögen. Man darf die Wirkung des Diskonts gegenüber Fak-
turen, wie sie unsere Zahlungsbilanz beherrschen, nicht überschätzen; er hat in
sehr vielen Fällen, in viel reicheren Ländern, wie Deutschland und England,
völlig versagt. Bedner ist gegen die baldige Aufnahme der Barzahlungen, weil
eine Reihe der wichtigsten Bedingungen, welche biefür gestellt werden mußten,
nicht erfüllt wurde. Die finanztechnischen und rein innerlich monetären Bedin-
gungen sind, von Nebensachen abgesehen, mit Glück und Geschick über alle
Erwartung erfüllt worden. Aber was uns scheinbar so reich und mächtig macht,
ist geborgtes, zum großen Teil kurz fällig geborgtes Gold. Aber fast alle
Bedingungen allgemein ökonomischer, moralischer Natur, die uns neben der
technischen Vorbereitung virtuell barzahluugsfuhig hätten machen sollen, sind
absolut nicht erfüllt Hat irgend jemand bemerkt, daß in unserer inneren, unserer
äußeren, unserer Steuerpolitik, Kreditpolitik auf die Währungsreform auch nur
die kleinste Rücksicht genommen worden sei? Was ist seit 1892 erfolgt? Sofort
durch die Gesetze von 1892 die unnütze Brüskiernng unserer auswärtigen Gläubiger
durch die Art der Festsetzung der Relation, dann durch die Konversion, gleich-
zeitig der Streit der Staatshahn um den Coupon ihrer Prioritäten. Die Folge war
das Agio. Seither auf finanziellem Gebiete bis in die allerletzte Zeit nichts als
Verstaatlichung und Verstadtlichung, was sich bei uns gewöhnlich mit Verge-
waltigung verdeutschen läßt. Nicht einen Finger hat der Staat gerührt, um zu
hindern, daß hunderte von Millionen fremden Kapitals an Südbahnaktien verloren
gingen; er hat die Gelegenheit benützt, um sich durch eine Anleihe der Südbaltn
seine Kassenbestände zu füllen, im übrigen sieht er ruhig zu, daß ein Unter-
nehmen. das schwere Millionen an Steuer, aber nichts an Dividende zahlt, zu
Grunde gehl und läßt die garantierten Prioritäten dafür sorgen, daß dieses
Milliardenunternehmen nicht ganz bankerott wird. Ich brauche nicht von allen
Eingriffen zu sprechen, die sich das Eisenbahnministerinm unter dem Vorwand
des staatlichen Aufsichtsrechtes gestattet hat. Von der Nordwestbahn, der Böh-
mischen Nordbahn, der Ferdinands-Nordbahn, der Graz-Kßflaehcr Balm u. s. f.
Ist das der Weg, die Schnldverschreibungen im Anslande geschätzt zu machen?
Ich streife nur die Wirkungen des neuen Stenergesetzes auf die Bahnen und
anderen der öffentlichen Rechnungslegung unterliegenden Unternehmungen und den
Geist der Judikatur des Vcrwaltungsgericbtshofes. Ist das der Weg, das bestehende
Kapital zu schützen, neues Kapital zu Unternehmungen heranznziehenV Soll
jemand liier eine Aktiengesellschaft gründen, wenn er die Fallstricke der Steuer-
gesetzgebung für die erste Bilanz einer Aktiengesellschaft kennt, dann sieht, wie
ihr bei Lebzeiten 30 Proz. des Gewinnes konfisziert werden und schließlich der
Fiskus sich wie ein Geier auf die Liqnidationsergrbnisse stürzt? Wie haben wir
seit 1892 unserem inländischen mobilen Kapital initgespielt? 1893 die Konversion
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CN V V Plenarversammlung.
305
um nahezu ein volles Prozent, 1807 das neue Steuergesetz ; and Leute. die noch
wenige Jahre vorher von ihren Ersparnissen 5 Proz. Erträgnis hatten, mußten
auf einmal von den 1 Proz.. die man ihnen gelassen Uattte, die Personaleinkominen-
steuer und noch dazn eine vexatorische. mit peinlichen Inquisitionen verbundene
Iicutcnsteuer zahlen. War das der Weg, das heimische Kapital zu stärken, ihm
die Kraft zu gehen. Überschüsse zn bilden, mit welchen es unsere auswärtige Ver-
schuldung absorbieren soll? Ich habe von den Konversionen nnd der Kreditpolitik
schon oben gesprochen. Brauche ich noch zu erinnern, was dem Verkehr des mobilen
Kapitals, dem Handel durch die Börsensteuer und deren Erhöhung, durch die
Judikatur über Differenzgeschäfte, durch den Terminhandel, durch Differenzierung
von Steuerzuschlägen, durch die Gebührennovclle, durch die ununterbrochen
fortgesetzt* sogenannte „ wirtschaftliche Gesetzgebung* zugefügt worden ist?
Haben wir nicht die Resultate all dessen in der entsetzlichen Stagnation der
letzten Jahre deutlich geling gesehen und hieße es nicht der Häufung der
ökonomischen Irrtümer die Krone unfsetzon. wenn man aus dem durch solche
Mißhandlung entstandenen Marasmus der Volkswirtschaft, aus der dadurch ent-
standenen Anhäufung mutlosen, toten Kapitals die Folgerung ziehen wollte,
wir seien reicher geworden und seien nun fähiger als 1892 in den Wettkampf
mit den vorgeschrittenen Nationen einzutreten, weil wir eben infolge dieses Marasmus
und infolge der unrichtigen Politik fortwährend Schulden zn großenteils unproduk-
tiven Zwecken im Ausland auhäufeu, anstatt Schulden zurückzuziehen, ein
paar hundert Millionen unverwendbaren Goldes bei ans angehänft haben? Nein,
das war nicht der richtige Weg, und mit einem su geschwächten Organismus, mit
solchen Prinzipien der Wirtschaftspolitik und Kreditpolitik und einer kritiklosen
öffentlichen Meinung, wie sie sich jetzt wieder gezeigt hat, dürfen wir nicht die
Barzahlungen aufnehmen. Bei dieser konsequenten, alles wirtschaftliche Leben
ertötenden antikapitalistischen Politik mit solchen Tendenzen die denkbar größte
kapitalistische üntemeluuung, die reine Goldwährung, verwirklichen zu wollen,
das wäre ein Widerspruch sondergleichen. Und die Barzahlungen aufnehmen zu
wollen, in den freien Wettstreit mit den großen kapitalistischen Staaten treten
zu wollen, wo nnser ganzes Wirtschaftsleben auf dem Tiefpunkte augelangt ist,
als Folge nur dieser verfehlten wirtschaftlichen Politik und unserer innerpolitischen
Verhältnisse, das wäre ein verhängnisvoller Irrtum. Und wozn denn diese offenbar
übereilte Aufnahme der Barzahlungen? Was kann sie nns bringen? Wir haben
die Stabilität des Wechselkurses in ungeahnter Weise, wir haben billiges Geld
erreicht, nnser auswärtiger Kredit steht so gut. als er berechtigterweise nur
irgend stehen kann, wir haben die Konzentrierung des Goldes bei der Bank
und strikteste Beherrschung des Wechselkurses durch die Bank im Wege ihrer
ausgebildeten Devisen- und Goldpolitik. Was man sonst noch alles von der
Aufnahme der Barzahlungen erwartet, ist Chimäre. Wo bestehen denn noch die
Barzahlungen in Gold im vollen Sinne? Die Bank vou England wehrt sich schon
seit vielen Jahren gegen die Barzahlung, so viel sie nur irgend kann, nämlich
nach außen hin, indem sie ein offenkundiges Agio zuläßt. Frankreich zahlt
nach außen hin bekanntlich nie bar in Geld nnd läßt lieber kräftiges Agio
entstehen. Deutschland hat noch kaum je nach außen hin schlank bar gezahlt.
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306
Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte
Wir aber, wenn wir die Barzahlungen erklären, müssen als Schulduerstaat
har zahlen, wir dürfen uns auch nicht die geringste Abweichung vom oberen
Goldpunkt des Wechselkurses gestatten, sonst sind wir sofort verloren. Auch
nur das kleinste wirkliche Disagio, und es beginnen die Arbitragen init den
Coupons und Renten und die geringste Abweichung vom Wechselkurse bringt uns
durch Mißtrauen Effekten herein, desto mehr, je mehr wir wieder durch die
Vorgänge der letzten Zeit flottierendes Materiale und Rentenspeknlation geschaffen
haben. Was alle die starken großkapitalistischen Staaten nicht durchführen können,
dazu fühlen wir uns stark genug? Wenn draußen nicht bar gezahlt wird, wird
eben einfach gestundet und in kolossalstem Maße international giriert. Das
Gold kommt von den l’mduktionsstaaton gar nicht mehr wie früher nach Europa,
sondern Australien sendet Gold direkt nach Indien, Südafrika nach Argentinien.
Mit jedem Jahr deutlicher bildet sich der internationale Giro- und Abrechnungs-
verkehr heraus, dem die Zukunft gehört. Und wenn die Österreichisch-ungarische
Bank an 200 Millionen Devisen hält, so hat auch sie bereits in dieses System
eingegriffen, und zwar in der praktischesten Weise; denn das heißt, daß sie
England oder anderen Staaten Forderungen in dieser Höhe, welche sie in Gold
einkassieren könnte, gestundet hat; dieses System, welches wir für die Bar-
zahlung aufgeben wollen, ist das richtige, vom monetären Standpunkt des einzelnen
Landes wie vom internationalen Standpunkt aus. Schon hat die Deutsche Reichs-
hank begonnen, es uns nachzmnachen, und andere werden folgen, ln dieses große
internationale Getriebe mit unseren veralteten Begriffen über Barzahlungen eili-
greifen, wäre unüberlegt und unsachverständig.
Vorsitzender Hofrat Prof. I)r. v. Phil ippov ich:
Der schöne Vortrag, den wir soeben gehört haben, hat eine so starke
Überzeugung zum Ausdruck gebracht und barg so viel Temperament in sich, daß
ich nicht glauben kann, daß er ganz ohne Widerspruch geblieben ist. Ich halte
eine Diskussion darüber gerade wegen der Stärke, mit der der Vortragende seiner
Meinung Ausdruck gegeben, die vielleicht von vielen als einseitig angesehen
werden wird, für unbedingt notwendig. Ich schlage vor, daß wir die Diskussion
heute beginnen, vielleicht wird es möglich sein, sie auch heute zuiu Abschlüsse
zu bringen.
In der an diesen Vortrag anknüpfenden Diskussion erklärt Herr Richard
Lieben, daß auch er das bereits Erreichte, diu dauernde Erhaltung der Parität,
für das wesentlichste Ziel der Valutarefonn halte. Trotzdem siebt er die Aufnahme
der Barzahlungen als etwas Nützliches und Wünschenswertes an. Er sagt: Trotz dieser
meiner Anschauung betone ich gleich hier ausdrücklich, daß auch ich keineswegs
darauf dränge, daß das möglichst rasch geschehe; denn das ist nicht wesentlich.
Ich glaube aber, daß die Barzahlungen kommen, daß sie sich durch ihr eigenes
Gewicht durchsetzen werden und daß sie nicht so sehr durch akademische
Diskussionen, als vielmehr durch die Logik der Tatsachen werden herbeigeführt
werden. Doch sollen sie nicht in politisch oder wirtschaftlich bedrohlichen
Zeiten erfolgen. In wirtschaftlicher Hinsicht findet er den gegenwärtigen Zeitpunkt
nicht so bedrohlich wie manchen anderen, der hinter uns. und manchen, der
vielleicht noch vor uns liegt, wenn auch nicht gerade besonders günstig. Das
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'XXV, Plenarversammlung
307
wesentlichste Bedenken des Vortragenden sei, daß unsere Zahlungsbilanz für die
Aufnahme der Barzahlungen nicht geeignet sei; dies sei aber unrichtig. Das
, Auspumpen des Goldes“ muß automatisch aufhören, sobald die Geldmittel
einigermaßen knapp werden. Er könne daher die furchtbare Gefahr, die in der
EfTektonrückstrümung liegen soll, nicht sehen. Auch der Zustand der Notenbank
sei sehr beruhigend. Allerdings müßten wir bei offenen Kassen zahlen, ohne Schwierig-
keiten irgend welcher Art machen zu dürfen. Wenn wir die Barzahlungen nicht
aufnehmen, wie würde eine Millionenrücksendung von Effekten und die ent-
sprechende Goldabströuiung wirken? Aber wir würdet! sofort ein Agio bekommen.
Ob das aber gerade wünschenswert wäre und ob dafür die großen Opfer ge-
bracht wurden, weiß ich nicht. Wenn es uns aber gestattet wird, der Bank das
Gold zu entnehmen, damit zu zahlen und das Gold dem Zwecke znznführeti,
für den es gekauft wurde, um nämlich ungünstige Konstellationen der Zahlungs-
bilanz aushalten zu können, dann entgehen wir der Gefahr des Agios, dann
hat die Valutaregulierung ihren Zweck erreicht und wir brauchen nicht durch
eine kopflose Nervosität das ganze Werk zu gefährden. Wie uns di« Geld-
beschaffung gelungen ist, so werde uns auch die Golderhaltung gelingen.
Herr Hof- und Gerichtsadvokat Dr. Wilhelm Kosenberg tritt für die
Aufnahme der Barzahlungen ein. Diese müssen ein gewaltiges Moveiis für
die Ausgestaltung unserer wirtschaftlichen Verhältnisse im medernen Sinne
bilden, weil die Regierung all« Maßnahmen, die die Zahlungsbilanz verschlechtern
könnten, insbesondere jede rückschrittliche Produktionspolitik, mit der größten
Schärfe bekämpfen müßte.
Aus der Zahlungsbilanz, welche lediglich die Gegenüberstellung der
Geldeinnahmen und Geldansgaben eines Staates in einer bestimmten Wirt-
schaflsepoche darstelle, könne auf die ökonomische Lage des Staates anch
nicht im entferntesten ein zulässiger Rückschluß gezogen werden. Die Krage der
Aufrechterhaltung der Barzahlungen hänge iui wesentlichen davon ab, wie man
von einem plötzlichen Rückströmen der Effekten aus dem Auslande denkt. Bei
solchem Herein strömen von Effekten liermche entweder ini Inlande große Geld-
plethora — dann haben wir nichts zu fürchten — , oder die Effekten kommen
herein, obwohl hier Geldknappheit herrscht, und das werde auf die Dauer nur
dann möglich sein, wenn das Ausland den Kaufschilling, durch den die Effekten
berichtigt werden sollen, stundet. Wir werden die Effekten nur dann kaufen,
wenn wir die Preise für nutzbringende halten und wir uns gleichzeitig das dazu
erforderliche Geld noch ausleihen können. Wenn das Ausland ans nicht mehr
kreditieren würde, so würde in solchen Fällen eine Panik die Felge sein; aber
das Horeinstrüiiieii der Effekten hätte wohl sein Ende erreicht.
Vorsitzender Hofrat Prof. Dr. v. Philippovich ist persönlich der Meinung,
daß der psychologische Moment für die Aufnahme der Barzahlungen nicht
gekommen ist. Wir haben heute nicht die Beruhigung, daß die wirtschaftliche
Entwicklung in Österreich in der nächsten Zeit unbedingt eine aufsteigende sein
w erde. Wir haben keine Beruhigung über jene Wirkung, welche die Handelsverträge
auf die Österreichische Zellpolitik auszuiihen vermögen, und haben auch keine
Beruhigung über die Wirkung der Brüsseler Zockorkoiivention — durchgehend.«
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Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte
Momente, die für unsere Zahlungsbilanz schwer ins Gewicht fallen. AH diese
Dinge lassen, wenn sic auch jetzt für uns ungünstig ausfallcn, sich wieder
ausgicichen und wir werden zu einer Zahlungsbilanz und zu einer solchen
Gestaltung der wirtschaftspolitischen Verhältnisse kommen, die uns das Vertrauen
gehen, daß wir die Barzahlungen dann aufnehinen könnten. Wenn aber so
wichtige Grundlagen unserer l’rnduktionsorganisation unsicher sind und wir
nehmen die Zahlungen auf und es kommt daun irgend eine Störung, die uns
zu einem starken Goldabflusse zwingt — wie wird dann jene ruhige Hand in
Österreich zu linden sein, die nicht zittert und die ruhig das kaum erworbene
Gold hinausfließen läßt, ohne zu überstürzten Maßregeln zu greifon? Es wäre
ein unglücklicher Moment, für die Aufnahme der Barzahlungen jenen Zeit-
punkt zu wählen, wo die Grundlagen unserer l’roduktion im lulaude voll-
kommen neu geordnet werden sollen. Nicht der 1. März 1903, sondern etwa
der 1, März 1901, wenn wir die Handelsverträge abgeschlossen haben nnd
wissen werden, wie sie wirken werden, wäre vielleicht der hiezu geeignetere
Moment.
Auch vom taktischen Gesichtspunkte aus wäro der gegenwärtige Zeitpunkt
schlecht gewählt. Wie sollen unsere Unterhändler hoi den Handelsvertragsver-
handlnngen mit Erfolg anftreten, wenn die auswärtigen Unterhändler wissen, daß
wir auf den Export in gewissen Artikeln förmlich brennen, um unsere Zahlungs-
bilanz möglichst günstig zu gestalten? Auch das Verhältnis Österreichs zu Ungarn
ist heute noch ein unbestimmter Faktor — aber ein Faktor, mit dem man
rechnen muß — von dem man nicht weiß, ob er ein positiver oder negativer
Grund sein wird. Uentc ist Ungarn in hohem Maß auf den österreichischen
Kapitalsmarkt angewiesen. Im Falle der Aufnahme der Barzahlungen würde sich
dieses Verhältnis ändern, Österreich-Ungarn würde ein einheitliches Geldgebarungs-
gchict sein und es würde Ungarn dann viel leichter auf die auswärtigen Märkto
kommen können. Ob nun Ungarns volkswirtschaftliche Entwicklung eine auf-
steigende sein wird, ob dort immer Besonnenhoit herschen, ob nicht Gründungs-
hewegnngeu und Spekulationen zu einer ungünstigen Gestaltung unserer Zahlungs-
bilanz führen werden, bei der dann wir das Bad mitausgießon müssen, das
weiß mau nicht. Auch dieser Faktor verdient Erwägung und wirkt dahin, dio
Frage zu vertagen.
Wie steht es ferner mit unseren Finanzen? Sind wir so weit gekräftigt,
daß wir Störungen unsoror Währungsvorhältnisse mit Ruhe aushalten können, so
daß wir uns nicht davor zu scheuen brauchen, im Anslande Schulden zu machon?
Wir haben in Österreich und in Ungarn ein Budget, das nur formell und mit
Mühe aktiv bilanziert, so daß sich bei näherer Betrachtung das Budget als ein
solches hcrausstellen würde, das ein Defizit involviert Die Steucrbelastung
kann nicht gemindert werden. Die Produktion Österreichs wird noch weiter
mit den gegebenen Lasten zu rochnen haben. Auch das ist etwas, was den
gegenwärtigen Augenblick für die Aufnahme der Barzahlungen nicht geeignet
erscheinen läßt.
Referent Ostersetzer erklärt in seinem Schlußworte, daß es ihm ferne
gelegen gewesen sei, von einer Vertagung der Barzahlungen ad calendas graecas
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( 'XXV Plenarversammlung.
399
sprechen za wollen. Er wünsche nur. daß kein Husarenstück aufgefnhrt werde,
wie es von mancher Seite intendiert zu sein scheint. Wie der Vorsitzende, so
überlasse auch der Berichterstatter alles dem Laufe der Zeit: wir wollen den
Abschluß der Handelsverträge sowie insbesondere auch die Klärung de» Verhält-
nisses zn Ungarn abwarten. Wenn der Berichterstatter, der von Anfang an der
wärmste Förderer aller positiven Schritte zur Einführung der Goldwährung gewesen
sei, heute vom Optimisten zum Skeptiker geworden sei, ao liege der Grund eben
darin, daß er gesehen habe, wie unzweckmäßig die wichtigsten Fragen der
Kreditpolitik bei uns behandelt werden. Der llefcrent schließt sich daher der
Meinung des Vorsitzenden an, dahingehend, daß zunächst eine Klärung der Ver-
hältnisse abzuwarten sei.
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ÖSTERREICH-UNGARN
UND DIE BRÜSSELER ZUCKERKONVENTION.
VON
RUDOLF AU 8 PITZ.
1. Einleitung.
Nachdem in diesen Blattern die Vorgeschichte der Brüsseler Znckerkon-
veution und dies« seihst schon von berufener Seite1) eingehend besprochen worden
sind, erübrigt noch dar/.ulegen, wie und unter welch besonderen Begleit-
umständen der Beitritt unserer Monarchie zu dieser Konvention sich vollzogen hat.
Vorher sei es gestattet, ganz kurz auf eine merkwürdige, historische Koinzi-
denz hinzuweisen.
Am 28. Jänner 1903 wurde im österreichischen Abgeordneten hause jener
Ausschußbericht verteilt, welcher den Beitritt zur Brüsseler Zuckerkonvention und
somit die Festsetzung eines Zolles von 6 Frcs. für 100% raffinierten Zuckers
empfahl, und in derselben Sitzung wurde der neue österreichisch-ungarische Aus-
gleich und mit demselben jener Zolltarif eingebracht, welcher nebst anderen
Merkwürdigkeiten einen Weizenzoll von 7 K 50 h, beziehungsweise für jene
Staaten, welche geneigt sein sollten, Handelsverträge mit uns abzusclilicßen, einen
solchen von 0 K 30 h und einen Roggenzull von 7 K. beziehungsweise
5 K 80 h enthalt, also bei dem Rohprodukt Weizen ein Zoll von beinahe. 50
beziehungsweise 40 Proz. des dermaligen Wertes und gleichzeitig bei raffiniertem
Zucker, einem Fabrikate, an dessen Gestehungskosten der Rohstoff mit kaum
50 l*roz. partizipiert, ein Zoll von beiläufig 20 Proz. ad valorem. Erwähnenswert
ist auch, daß der Zoll für ein auf der Stufenleiter industrieller Gestehungskosten
so hochstehendes Fabrikat, wie raffinierter Zucker, um 25 Proz. niedriger sein
wird als jener Begünstigungszoll von 8 Frcs. für das Naturprodukt Wein, wegen
dessen für unsere Winzer angeblich unerträglicher Niedrigkeit der italienische
Handelsvertrag gekündigt worden mußte. Was würde Friedrich List, der
geniale Begründer der modernen Schutzzulltheurie. zu solchen Mißan Wendungen
seiner Lehre wob! sagen? Verlockend wäre es, noch andere ähnlich verfängliche
Fragen aufzuwerfen, z. B. warum diese exorbitante Erhöhung der Zölle auf Weizen
*) E. v. Plencr: „Die Brüsseler Zuckerkonvention“, XL Band, S. 894 ff. der Zeit-
schrift für Volkswirtschaft, •Sozialpolitik und Verwaltung.
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Österreich-Ungarn und die Brüsseler Znck'-rkonvention.
401
and Koggen gerade jetzt, gerade zu einer Zeit notig sein soll, in welcher ohne-
dies eine wesentliche Erhöhung des inländischen Preisniveaus für Brotgetreide in
naher und sicherer Aussicht steht? Österreich-Ungarn war bis vor kurzem und
ist bei sehr guter Ernte auch heut« noch für Brotgetreide ein Exportland, in
welchem der Inlaiidpreis sich regelt nach der Formel: „Weltmarktpreis minus
Fracht zum Weltmarkt*; Österreich- Ungarn wird aber durch die stetige Zunahme
der Bevölkerung und des Wohlstandes ganz von selbst sehr bald auch bei noch
so guter Ernte an Brotgetreide ein Importland werden, für dessen Inlaiidpreis
die Formel gilt:
„Weltmarktpreis plus Fracht vom Weltmarkt plus Zoll.“
Es wird also •dinedies eine Erhöhung des inländischen Preisniveaus um
das Doppelte der Fracht und um den bisher nur auf dem Papiere gestandenen,
fortab aber wirksam werdenden, bestehenden Zollsatz von l1/* fl» in Gold, d. i.
3 K 57 h, Platz greifen.
2. Warum in Österreich-Ungarn die Produktion von Inlandkonsum-
zucker kontingentiert wird.
Österreich- Ungarn vollzieht seinen Beitritt zur Brüsseler Konvention in
anderer Weise als die vier anderen Zucker exportierenden Signatannflehte. Diese
suchen ihrer Zuckerindustrie für den voraussichtlichen Kntgang au Export dadurch
einen Ersatz zu bieteu, daß sie, um den lulandkonsum zu beben, ihre Zucker-
steiler herabsetzen, und zwar Frankreich von 60 auf 25 Frcs., Deutschland von
20 auf 14 Mark, Belgien von dem infolge des sogenannten Abonnements aller-
dings nur nominellen Steuersatz von 45 auf 15 Frcs. und die Niederlande von
27 auf 24 fl. Bei uns dagegen besteht die staatliche Fürsorge für die von der
Aufhebung der Ausfuhrprämie und der Herabsetzung des Kingangszolles betroffene
Zurkeriudustrie darin, dal] es derselben ermöglicht werden soll, au dem Inland-
konsum den verbliebenen Sechsfrancs-Zollschutz möglichst vollständig auszunützen,
und zwar geschieht dies durch die hier bcigedruckteu Gesetze, von welchen das
eine für beide Teile der österreichisch-ungarischen Monarchie, das andere, welches
die individuelle Kontingentierung regelt, aber nur für Österreich gilt, während
die analoge ungarische Gesetzesvorlage noch iin Stadium der parlamentarischen
Behandlung sich befindet.
Welches sind nun die Gründo, durch welche die beiden Regierungen
Österreich-Ungarns veranlaßt wurden, einen von dein Vorgehen der übrigen Zucker
exportierenden Signatarstaaten so ganz und gar abweichenden Wog ciiizuschlagen?
Gewiß war die Rücksicht auf die beiderseits nur mühsam iui Gleichgewicht
erhaltenen Staatsbudgets hiebei wesentlich inithestimmeiid, und ich für meinen
bescheidenen Teil könute, so sehr ich auch von der Konsum steigernden Wirkung
eines niedrigen Zuckerpreises und somit auch einer Herabsetzung unserer sehr
hoheu Zuckersteuer überzeugt bin, doch denjenigen mich durchaus nicht anschließen,
welche unserem Fiuanzminister seine ptliclitmflüige Obsorge für die Aufreclit-
haltung des budgetären Gleichgewichtes förmlich zum Vorwurf machen und von
der Inkamcriornug des bisher für Zuckerausfuhr-Bouifikatioiieu aufgewendeten
Betrages beinahe wie von ein^r unmoralischen Handlung sprechen.
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402
Auspitz
Aber bei allem Respekt vor den budgetären Kücksichh-ii, halte ich mich
doch fiir überzeugt, daß der wahre, der eigentliche, der Ausschlag gebende Grund
dafür, daß unter allen Zucker exportierenden .Signatarstaaten gerade nur wir einen
ganz besonderen Weg eiuschlagen, ganz wo anders, und zwar lediglich in der
inneren, staatsrechtlichen Gestaltung der Monarchie und in dem steten llestrcbcli
Ungarns zu suchen ist. seine staatliche Selbständigkeit auf wirtschaftlichem
Gebiete auch innerhalb der aus hochpolitischen Gründen noch belassenen Zoll-
geineinsainkeit so weit als nur irgend möglich nuszndchnen, ein llestreben. welches
im vorliegenden Kalle durch die nationalen Gegensätze innerhalb des diesseitigen
Itoichsteiles nur noch unterstützt wnrde.
ln der Drüsseler Konvention heißt es Art. 7, Abs. 0: „Österreich und
Ungarn werden jedes für sich als vertragschließender Teil betrachtet“, und
ferner im Schlußprolukoll zu Art 3: „In der Krwägung, daß der Zweck des
Überzolles darin besteht, den inneren Markt der Krzengungslünder wirksam zu
schützen“ u. s. w.
Ob und inwieweit die zuerst zitierte Bestimmung mit der doch wenigstens
nach außen fcstznhaltenden Einheitlichkeit der Österreichisch. ungarischen Monarchie
vereinbar ist, das zu erörtern muß ich Diplomaten und Staatsrechtslehren! über-
lassen; aber das eine ist mir als Laien auf dieseu Gebieten doch vollkommen
klar und muß jedem, der unsere transleitlianischen Brüder nur halbwegs kennt,
unbedingt klar sein, daß nämlich aus dein Zusammenhalte der beiden, soeben
angeführten Bestimmungen mit unabweisbarer Notwendigkeit der ungarische
Ausprncli erwachsen mußte, daß der gesamte ungarische Zuckerkutisum ausschließ-
lich nur durch die ungarische Produktion gedeckt werden dürfe.
Bisher war dies bekanntlich nicht der Kali, ln der Erzeugungsperiode
1900/Ul, der letzten, für welche diu Ergebnisse des Überweisungsverkehres mir
bekannt geworden sind,
wurden in Ungarn versteuert ......
und davon ansgeführt:
nach Österreich
. Bosnien
zusammen . .
während zu den iu Ungarn verbliebenen .
i »higelührt wurden:
aus Österreich
* Bosnien
„ dem Zollauslaud
so »laß also in Ungarn verbraucht wurden
Konsumzucker
Rohzucker
i in Meterzentner
in Meterzentner
! 550.807-75
3.461-39
r
92.194*43
0-20
26.486 23
—
il 118.68066
0-20 1
432.17709
3.46119
| 360.155-48
3.376-54
4.070 03
—
313 —
—
796.724 60
6.837-73
j
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Österreich-Ungarn nud die Brüsseler Zuckerkonvention.
408
«ler, den Rohzucker zu 00 Proz. gerechnet, zusammen 802.879 q Konsumzucker-
wert repräsentierte. Von dieser letzteren Ziffer gelangt man durch Zuschlag von
jo 2*5 Proz. für jedes der drei zwischenliegenden Jahre zu der pro 1003/4
normierten, ungarischen Kontingentziffer von 863.600 q; während aber, wie aus
Jen vorstehenden Zahlen hervorgeht, der ungarische Zuckerverbrauch in der
Erzeugungsperiode 1 900/1 nur zu 69 Proz. aus ungarischen und zu 31 Pro/.,
aus österreichischen Raffinerien gedeckt wurde, soll künftig die Deckung des
ungarischen Konsums ausschließlich den ungarischen Raffinerien zufallen.
Um nun diesem durch das oberwähnte, staatsrechtliche Zugeständnis unab-
weisbar gewordenen, ungarischen Anspruch gerecht zu werden, ohne jedoch gegen
die unbedingt aufrecht zu erhaltende Einheitlichkeit des österreichisch-ungarischen
Wirtschaftsgebietes irgendwie zu verstoßen, blieb in «ler Tat nichts anderes übrig,
als für jedes der innerhalb der österreichisch-ungarischen Monarchie zollgeeinten
Staatsgebiete die Produktion von Inlandkonsumzucker zu kontingentieren. Eine
weitere Folge hievon ist dann die Kontingentierung auch der von jeder einzelnen
Zuckerfabrik für den Inlandkonsnm zu erzeugenden, beziehungsweise zu ver-
steuernden Zuckermenge; denn z. B. die österreichische Regierung kann der
ungarischen Regierung gegenüber die Verpflichtung, «laß, von allen Österreichischen
Zuckerfabriken zusammengenonnnen, nicht mehr als das diesseitige Kontingent
beziehungsweise nicht mehr als das davon jeweilig liberierte Teilquantum, auf
den Inlandmatkt gebracht werden wird, nur daun übernehmen, wenn sie es auch
kraft des Gesetzes in der Hand hat, bestimmen zu können, welche dieser Fabriken
überhaupt und wie viel jede der hiezu berechtigten Fabriken in jeder Erzeugnngs-
periode auf den Inlaudmarkt bringen darf.
Wenn ich oben erwähnt habe, daß das ungarische Bestreben nach größt-
möglicher, wirtschaftlicher Selbständigkeit im vorliegenden Falle durch die in
Österreich herrschenden, nationalen Gegensätze nur noch unterstützt wurde, so
bängt dies folgendermaßen zusammen. Die Kontingentierung der Produktion wird
als ein Mittel gepriesen — und ist auch in der Tat ein geeignetes Mittel
uni kleinere, manchmal einigermaßen rückständige Betriebe gegen die überlegene
Konkurrenz größerer, besser investierter Etablissements zu schützen; gerade hierin
liegt aber auch ein schwerer, gegen das Prinzip der Kontingentierung zu er-
hebender Vorwurf, der gerade dann sich anfdrängen muß, wenn es sich darum
handelt, eine bisher durch Ausfuhrprämien unterstützte Industrie auch ohne
Prämie exportfähig zu erhalten, wozu ja naturgemäß nur die bestausge nisteten
Betriebe geeignet erscheinen. An dieser staatswirtschaftlich gewiß nicht un-
berechtigten Erwägung scheint im Deutschen Reiche die von der Mehrheit «ler
Fabriken auch dort gewünschte Kontingentierung zu scheitern, während bei uns
die gleiche Erwägung dadurch von vornherein aus dem Felde geschlagen wurde,
daß das Interesse der kleineren Fabriken infolge ihrer tatsächlichen, geogra-
phischen Verteilung zu dem Range einer tschechisch-nationalen Parteifrage erhoben
wurde. Auch die polnische Fraktion des Abgeordnetenhauses ist für di«» Kontingen-
tierung — allerdings nur für eine nach ihrem provinziellen Sonderinteresse zu-
geschnittene Kontingentierung — förmlich mit Vehemenz eingetreten. Nachdem
zuvor Ungarn ein Junktim zwischen der allein unbedingt nötigen und kurz
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404
Auspttz.
befristeten Annahme <ter Brüsseler Konvention und der keineswegs ebenso eiligen
Kontingentierung der Zuckerproduktion in jedem der drei, in der österreichisch-
ungarischen Monarchie zollgeeinten Staatsgebiet« durchgesetzt hatte, haben die
polnischen Politiker durch Obstruktionsdrohungen auch noch ein weiteres Junktim
für die schon gar nicht eilig«, individuelle Verteilung des österreichischen Zucker-
kontingentes erzwungen. Anderseits fanden die Tschechen mit der weitgehenden, in
der Regierungsvorlage den kleineren Rohzuekerfabriken auf Kosten der größeren,
insbesondere aber der sogenannten, gemischten Fabriken zugewendeten, sehr nam-
haften Begünstigung sich noch nicht zufriedengestellt, warfen sich zu Paladinen
der Rohzuckerindustrie überhaupt anf und machten im letzten Augenblick am
29. Jänner, also unmittelbar vor der am 1. Februar ablaufcnden Ratiflkationsfrist
der Brüsseler Konvention, ihre Znstimmung, ja ihren Veracht auf eine Obstruktion
von einer vorausgogangenen, die Kohznckorfabriken befriedigenden Einigung der-
selben mit den Raffineuren abhängig. Diese Einigung ist bekanntlich am fol-
genden Tage gegen 12 Uhr mittags erfolgt; wäre aber die Entrüstung der
deutschen Volkspartei darüber, daß znm Zwecke des Zustandeliriiigens dieser
Einigung die Vertreter der beiden genannten Industriebranchen — selbstver-
ständlich nicht aus eigener Anmaßung, sondern nur über an sie von einer
Stelle, welche sie für kompetent halten mnßten, ergangene Aufforderung — in
den Nebeiiräumcn des Parlamente selbst sich zusaiumengefunden hatten, eine
halbe Stunde früher ausgebrochen, wäre sonach der Hinauswnrf der Zucker-
industriellen aus dem Budgetsaale eine halbe Stunde früher erfolgt, so wäre
diese Einigung und mit derselben die parlamentarische Erledigung der Brüsseler
Konvention, zur großen Blamage unseres Vaterlandes vor ganz Europa, in die
Brüche gegangen. Es hat sich eben, wie schon öfter bei früheren ähnlichen
Anlässen, diesmal wieder gezeigt, daß tschechische und polnische Politiker, wenn
sie auch die herrschende Mode des Gebrauches antikapitalistischer Redensarten
im allgemeinen gerne rnitmachen, doch überall dort, wo es um materielle Inter-
essen ihrer Kon nationalen nnd selbst auch größerer Unternehmer, wie ja selbst
der kleinste Rohzuckerfabrikant doch ein solcher noch ist, sich handelt, dieselben
mit aller Energie und ohne Rücksicht auf sonst beliebte, antikapitalistische
Allüren zu vertreten nicht anstehen; nur di« deutschen Parteien gönnen sich
den in unserem relativ kapitalsarmen Vaterlande recht bedenklichen Luxus, es
mit dem Antikapitalismns bitter ernst zu nehmen, und unr die deutschen, größeren
Unternehmer sind es daher, welche auf eine wirksame Vertretung im Abgeordneten-
hause nicht rechnen können, welche vielmehr dort, statt den gebührenden
Schulz zu linden, sogar noch Verunglimpfungen ausgesetzt sind.
3. Singularkontingentierung und Doppelkontingentierung.
Die individuelle Aufteilung des Zuckerkontingentes erfolgt in Österreich
und Ungarn nach verschiedenen Grundsätzen; es sind eben auch die einschlägigen
Verhältnisse dies- und jenseits der Leitha sehr verschieden. Wir haben in
Österreich im ganzen 211 — wie der amtliche Ausdruck lautet — Zucker-
erzeugungsstätten. Davon sind 14 reine K a f fi n e r i e n, welche den zu ver-
arbeitenden Rohzucker aus anderen Fabriken ankaufen; eine weitere Raffinerie
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Österreich-Ungarn und die Brüsseler Zackerkonvention, 405
wird, weil dieselbe nebst Rohzucker auch fremde Melasse verarbeitet, d. h.
entzückert., zu der Kategorie der sogenannten gemischten Fabriken gerechnet.
Wir haben ferner 28 gemischte Fabriken, welche Rübe verarbeiten and daraus —
mit oder ohne Zukauf von Rohzucker — Konsumzucker, und zw ar entweder ausschließlich
Inlandkonsumzncker oder daneben auch Exportkonsumzacker herstellen. Dabei
sei bemerkt, daß nur einige, weniger ins Gewicht fallende Konsumzuckersorten, Würfel,
Mehl und Pile, sowohl im Inland als auch zum Export, verkauft werden, wahrend
di»* Hauptmasse des inländischen Zuckerbedarfcs auf sehr feinkörnige Zuckerbrote
oder -Hute sich erstreckt, welche ein spezielles, für den Export ungeeignetes
Produkt bilden, zu dessen Herstellung besondere, kostspielige Werksvorriclitungen
erforderlich sind. Endlich haben wir in Österreich eine weit überwiegende Zahl,
nämlich 1 138 reine Roh Zuckerfabriken, welche Rühe verarbeiten und
daraus bisher entweder nur Rohzucker oder daneben auch Exportkonsamzucker
hergestellt haben. Dagegen gibt es in Ungarn im ganzen nur 21 Zuckererzeugnngs-
stätten. darunter gar keine reine Raffinerie, 10 gemischte und 11 reine Rohzucker-
fahriken. von welch letzteren jedoch die Mehrzahl durch ihre Eigentümer mit
gemischten Fahriken Zusammenhängen. Daher kommt es, daß das in Österreich
so zahlreich vertretene und gegen die anderen Zweige der Zuckerindustrie mehr
oder weniger antagonistisch sich geltend machende, spezifische Rohzuckerinteresse
in Ungarn nur durch drei oder vier Fabriken repräsentiert erscheint. Auch der
Unterschied und somit auch der Interessengegensatz zwischen groß und klein
ist in Ungarn weit geringer als in Österreich, wo die größte der Rüben ver-
arbeitenden Fabriken — zufällig eine gemischte Fabrik — in Rohzucker berechnet
154.000 fl, d. i. das 17fache der kleinsten Rohzuckerfabrik mit bloß 9000 q,
produziert, während die analogen, ungarischen Zahlen 217.000 und 31.000 im
Verhältnis von nur 7 : 1 zueinanderstehon; nicht weniger als 42 österreichische
Fabriken .stehen mit ihrer Erzeugung hinter der kleinsten, ungarischen Fabrik
zurück. Endlich sind die 21 ungarischen Fabriken Eigentum von bloß 12 Firmen,
während in Österreich die Falle, daß mehrere Fabriken gemeinsame Eigentümer
haben, verhältnismäßig weit seltener sind.
Nimmt inan zu alledem noch hinzu, daß für die individuelle Verteilung des
ungarischen Zuckerkontingentes eine gegen bisher um rund 300.000 tj oder
beinahe 53 Proz. erhöhte Kontiiigentziffer znr Verfügung steht, so wird es
begreiflich, daß die ungarische Regierung — wie in ihrem Motiven berichte ans-
geführt wird — es gar nicht nötig hatte, für diese Verteilung irgend eine
theoretische Grundlage anfzustellen. daß vielmehr die bei diesem Anlaß offiziell
gerühmte „patriotische Einsicht“ der ungarischen Zuckerfabrikanten genügt hat,
um eine freiwillige Vereinbarung der Interessenten zu stände zu bringen. Dieselbe
beruht, auf dein Prinzipe der sogenannten Singularkontingentierung, wonach die
10 gemischten Fabriken in ihrer Eigenschaft als Raffinerien vorweg ein Prüzipnnm
von 25 Proz. des ungarischen Kontingentes erhielten und der Rest dieses
Kontingentes auf sämtliche 21 Fabriken im Verhältnisse ihrer Kobznckcrproduktion,
jedoch mit einer gewissen Benachteiligung der jüngsten Fabriken, aufgeteilt
wurde. Die reinen Rohzuckerfabriken werden dadurch, soweit sie nicht durch ihre
Eigentümer mit einer gemischten Fabrik Zusammenhängen, vor die Alternative
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406
Auapiti,
gestellt, entweder die zur Selbsterzengang der anf sie entfallenden Inland-Konsum-
zuckermengen notigen Werks Vorrichtungen anzuschaffen, also gerade zur Zeit der
durch die Brüsseler Konvention ungünstig beeinflußten Konjunktur kostspielige
Investitionen zu machen oder aber ihre Kontingentanteile an eine der mit diesen
Wo rks Vorrichtungen schon hinlänglich versehenen, gemischten Fabriken abzutreten
oder dieselben dort in Lohn herstellen zu lassen. Ilis nun ist eine solche Transaktion
noch nicht zum Abschlüsse gelangt und es bleibt abzuwarten, oh eine solche zu Gunsten
der Rohzuckerfabriken Ausfallen wird, da dieselben dabei anf den kleinen Kreis der
gemischten, ungarischen Fabriken, tatsächlich, wie die Dingo liegen, auf bloß drei,
als Abnehmer angewiesen sind und den letzteren die Zwangslage, in der sich die
reinen Kohznckerfahrjken befinden, selbstverständlich sehr wohl bekannt ist.
Unter den weit schwierigeren, weit komplizierteren, weit mehr und größere
Interessengegensätze in sich bergenden. Österreichischen Verhältnissen hat man
sich bei uns für die sogenannte Doppelkontingentierung entschlossen, welche
den großen Vorzug hat, dem bei jeder wirtschaftlichen Gesetzgebung vor allem
hochzuhal lenden Prinzipe tunlichster Schonung des Bestehenden zu entsprechen,
während bei der Singularkontingentierung sprunghafte Änderungen und Produktions-
Verschiebungen nur schwer vermeidlich sind. An diesem Fehler leidet auch die
ungarische Singularkontingentierung, und dieselbe dürfte nur dämm unbedenklich
sein, weil sie ja auf einer freiwilligen Vereinbarung hoiuht und weil infolge der
starken Erhöhung der Erzeugung von Inlandkonsumzucker schmerzliche Produktious-
einschränkungen dort nicht, Vorkommen werden; hei uns dagegen würde die Singular-
kontingentierung — ganz abgesehen davon, daß an eine diesbezügliche, freiwillige
Vereinbarung der so viel zahlreicheren und in ihren Interessen weit disparateren,
österreichischen Fabrikanten gar nicht gedacht werden könnte — geradezu eine
Gefahr bedeutet haben. Es hätten nämlich höchstwahrscheinlich, obwohl ein
nüchterner Kalkül hievon abraten müßte, doch viele bisherige reine Rohzucker-
fabriken — schon weil dies der Eitelkeit der Direktoren schmeichelt — die
hei der Siugularkoiitingenticrnng ihnen zufallenden Inlandkonsumzncker- Anteile
auch seihst erzeugen wollen und daher die zu deren Herstellung nötigen, besonderen
Werksvorrichtungen anschaffen müssen; dies wäre aber vorn Standpunkte der
Volkswirtschaft geradezu eine Vergeudung gewesen; denn die bestehenden, öster-
reichischen Raffinerien, deren Werksvorrichtungen für die Erzeugung des ganzen
österreichischen Kontingente», ja solbst auch eines weit größeren Quantums
vollkommen ausreichen, hatten, da ja hei uns nicht, wie in Ungarn, eine Erhöhung
der Produktion an Inlandkonsmnzucker, sondern im Gegenteile eine Verminderung
um mnd 100.000 7 Platz greift, ihren Betrieb wesentlich eiuschräiikeii müssen.
Also unnötige, neue Investitionen auf der einen und partielle Lahmlegung beste-
hender, gleichartiger Investitionen anf der andern Seite, da« war doch wahrlich
unter unseren nicht gerade an Kapitalüberfluß leidenden Verhältnissen unbedingt
zn vermeiden. Dazu kommt aber noch eins: für den Zweck der ganzen Kontiu-
gentieruugam aßregel, welcher außer daß der ungarische Znckerkonsum für die
dortige Produktion Vorbehalten wird — darin besteht, der heimischen Zucker-
industrie die möglichst vollständige Ausnützung des Sechs-Franes-Schutzzolles zu
sichern, ist die Kontingentierung allein noch nicht genügend; es muß vielmehr
Österreich-Ungarn and die Brüsseler Znckerkonvention.
407
noch eine Zentralisierung des inländischen ZuckerverkanfeB dnrch eine sogenannte
Verkaufsvereinignng hinzukommen. Sonst würde nämlich jede Raffinerie dort ver-
kaufen wollen, wo nach der geographischen Lage der Znckerpreis am höchsten
sein wird, also z. B. in Wien, während niemand nach Triest würde verkaufen wollen,
weil trotz der hohen Kosten für die Fracht seihst von der nächstgelegenen
Raffinerie der Znckerpreis in Triest besonders niedrig wird gehalten werden müssen
und das Rindringen von französischer Raffinade oder von ägyptischem Rohzucker,
der, weil aus Zuckerrohr stammend, unmittelbar konsumtionsfähig ist, hintanzn-
halten. Kine Verkaufsvereinignng wird nun unter den 43 österreichischen Raffinerien
wnlil zu stände gebracht werden können, schwerlich aber wenn dnrch den ilinzutritt
bisher reiner Rohzuckerfabriken die Zahl derjenigen, die unter „Einen Hut“
gebracht werden müssen, sich vielleicht verdoppelt oder verdreifacht oder gar
noch mehr vervielfältigt hätte.
Was ist nun die Doppelkontingentiernng und worin besteht dieselbe? Ein-
fach darin, «lall das ganze österreichische. Zuckerkontingent zweimal, und zwar:
das eine Mal auf alle Raffinerien, das sind die reinen Raffinerien und
die gemischten Fabriken,
das andere Mal auf alle Rohzuckerfabriken, das sind die reinen Roh-
zuckerfabriken und wieder die gemischten Fabriken, aufgeteilt wird,
dall ferner jede Rohzuckerfahrik vom Finanzminister eine ihrer Quote ent-
sprechende Menge sogenannter Berechtigungsscheine erhält und
daß endlich jede Raffinerie ihre Quote an dem Zuckerkontingent nur gegen
dem in den freien Inlandverkehr setzen darf, daü dieselbe ebenso, wie über die
erfolgt«! Versteuerung, auch darüber sich ausweise, daü sie die diesem Quantum
entsprechende Menge von Berechtigungsscheinen, welche nur von den Rohzucker-
fabriken erhältlich sind, erworben habe. Oie aus den beiden Aufteilungen sich
ergebenden, beidemale in sogenannten Beteilungs mall stäben zum Aus-
druck kommenden Quoten sind in ihrer wirtschaftlichen Bedeutung auüerordentlich
verschieden. Wenn eine Raffinerie aus der ersteren Aufteilung einen Beteilungs-
maßstah von z. B. 01.166 erhalten hat, so bedeutet dies, da die Summe der
BeteilungsmaBstäbe aller Raffinerien 3,058.285 beträgt, «laß diese Raffinerie «las
Recht und bei Verlust dieses Rechtes auch die Pflicht hat, in jeder der fünf
Erzeugungsperioden, für welche das Kontingentierungsgesetz gilt, von jenem
Quantum lulandknnsumznrker, welches der Finanzminister zuui Verkaufe in einer
Erzeugungsperiode freigeben (liberieren) wird, 2 Proz. zu versteuern und im
Inland zu verkaufen; erzeugen darf diese Raffinerie an Inlandkonsumzucker aller-
dings auch mehr, aber sie müßte das Plus für die nächste Erzeugungsperiode
in ihren Magazinen zurückbehalten. Der Beteilungsmailstab einer Raffinerie ist
also auch für den Umfang ihrer Produktion an Inlaudkonsumzucker maßgebend:
demselben kommt eine sehr wesentliche, technische Bedeutung zu. (ianz anders
die aus der zweiten Aufteilung für die Rohzuckerfabriken hervorgehenden Quoten,
beziehungsweise Beteilungsmallstäbe; wenn einer Rohzuckerfabrik ein solcher
Retcilungsmaflstab in der Höhe von z. B. 48.070 angewiesen ist, so hat dies
lediglich die Bedeutung, daß — da die Summe der Beteilungsmaßstäbe aller Roh-
zuckerl'abriken 0.615.800 ist — diese Fabrik mit */, Proz. an jenem Gesamtbeträge
Zeitschrift für Voikawlmchaft, Sozialpolitik und Verwaltung. XII. Band. 28
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408
Awpiti.
partizipiert, welchen sämtliche Raffinerien für die von denselben benötigten
Berechtigungsscheine an sämtliche Robzuckerfabrikon zu entrichten haben. Dieser
Betrag ergibt sich aus der Multiplikation der aus allen österreichischen Raffinerien
in einem Jahre hinweggebrachten Inland konsumauckerm enge mit dem am
30. Jänner d. J. im Budgetsaale des Abgeordnetenhauses zwischen den beiden
Zweigen der Zuckeriudustrie vereinbarten Einheitssätze von 3 K 30 h per 100 ky
versteuerten Konsuinzucker. Eine technische Bedeutung in dem Sinne, daß die
Höhe des einer Kohzuckerfabrik zugewiesenen Beteilungsmaßstabes irgend wie
begrenzend auf den Produktionsumfang und somit auf die Rübeneinkaufstnenge
der betreffenden Rohzuckerfabrik einwirken würde, kommt also diesen Beteilungs-
maßstäben in keiner Weise zu, obwohl es bei der leider wenig glücklichen, für
den Nichtfachmann oft kaum verständlichen Diktion des Kontingentierungsgesetzes
begreiflich ist. daß die gegenteilige Meinung, als ob ebeuso, wie den Raffinerie-
hetmlungsmaßstäben, auch den RohzuckerbeteilungsmaßstAben eine wichtige, tech-
nische Bedeutung zukfnne, entstehen kann. Vielmehr ist der Umstand, ob eine
Rohzuckerfabrik einen noch so großen oder noch so kleinen Beteilungsmaßstab
hat, für die Grüße ihrer Produktion vollkommen gleichgültig und ist vielmehr
nur dafür maßgebend, mit welcher Quote diese Fabrik an dem soeben erwähnten
Geldbeträge partizipiert. Nur in einer Hinsicht — es sei dies der Vollständigkeit
wegen bemerkt — hat der einer Kohzuckerfabrik zugewiesene Beteiluiigsinaßstab
auch eine technische Bedeutung, aber nicht im Sinne einer Begrenzung der
Produktion nach oben, sondern vielmehr in detn Sinne, daß durch denselben für die
Produktion eilt Minimum festgesetzt wird. Es wird nämlich im § 7, Abs. 3 des
Gesetzes, betreffend die Regelung der individuellen Verteilung des Zuckerkontingentes,
eine Strafe darauf gesetzt, wenn z. B. die oberwähnte Fabrik, deren Rohzacker-
beteilungsmaßstab 48.079, d. i. gerade '/* Proz. der Summe aller Hohzucker-
boteilungsinaßstäbe beträgt, in einer Betriebsperiode weniger Zucker fertigstellen
würde, als einem halben Prozent des ganzen, in derselben Betriebsperiode libe-
rierten Konsum zuckerquantums entspricht; das wäre, wenn gerade das ganze
Kontingent von 2,770.340 q liberiert würde, 13.852 q Konsumzucker oder
15.391 7 Rohzucker. Die Strafe besteht darin, daß, wenn die Erzeugung der
Fabrik hinter diesem Minimum z. B. um 10 Proz. zurückgeblieben wäre, ihr
Kolrzuckcrheteilungsmaßstab für die nächste Betriebsperiode um 10 Proz. gekürzt
wird. Praktische Bedeutung dürfte dieser Bestimmung wohl kaum jemals
zukommen.
Um das Gesagte noch klarer zu machen, mögen für das liberierte Konsuin-
zuckerqnantum und für den daraus erzielten Erlös bestimmte Ziffern angenommen
werden. Gesetzt, es würden in der Betriebsperiode 1903/4 gerade das ganze
Kontingent voll 2,770.340 q liberiert, und es würde für dieses Quantum ein Erlös
erzielt werden, von welchem nach Bestreitung aller Verkaufsspesen und aller
Frachten von den Uaffineriestationen zu den Konsumplfitzen gerade 200 Mill.
Kronen übrig bleiben würden; das wären also 72 K 19 h per Meterzentner
Konsuinzucker. Voll diesen 200 Mill. Kronen haben die Raffinerien abzugeben
38 X 2,770.340 = 105,272.920 K an den Fiskus und 3*3 X 2,770.340 =
9,142.142 K an die Rohzuckeriudustrie. so daß denselben verbleiben 85,584.985 K
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Österreich-Ungarn und die Briüneler Zuckerkonveution
409
oder 30 K 89 h per Meterzentner Inlandkonsumzucker. Ob hievon nach Bestreitung
der Rohzuckerbeschaffuugs- und der Raffinierungskosten, nach Verzinsung des
Betriebs- und Anlagekapitals und nach angemessener Amortisation des letzteren noch
irgend etwas und wie viel erübrigt, das wird jede einzelne Raffinerie erst nachträglich
ans ihrer Bilanz erfahren. Dagegen weiß jode Rohznckorfabrik im vorhinein ganz
genau, wie viele Heller ans jedem vom Finanzminister liberierten Zentner Konsum -
zucker ihr, und zwar völlig unabhängig von Quantum und Quäle ihrer eigenen
Produktion, lediglich dank dem Sechs-Franca-Zollscbutz zn gehen werden; der inehr-
erwähnten Fabrik mit dom Uobzuckerbetcilungsmaßstab von 48.079 z. B. gerade
Vs Pro», von 3 K 30 /i, da« ist 1*05 h.
Ganz ähnlich so hat es sich auch bisher verhalten. Auch jetzt fungieren
die Raffinerien, indem sie den ganzen Inlandkonsumzucker zum Verkauf bringen,
als Einnehmer sowohl der staatlichen Verhrauchsabgabe, als auch des den Roh-
zuckerfahriken nach den bestehenden Vereinbarungen zukommenden Anteiles an
dem Kartellnutzen. Auch bisher ist dieser Anteil für jede einzelne Rohzueker-
fabrik prozentuell von vornherein genau bestimmt und dem gesamten, inländischen
Zuckerverbrauch genau proportional. Ein Unterschied besteht darin, daß die
Höhe dieses Anteiles bis nun auch noch von der Differenz abhing, um welche
der jeweilige Rohzuckerpreis hinter einem im voraus garantierten Preisniveau
zurückblieb, während fortab an die »Stelle diese« schwankenden Faktors der fixe
Satz von 3 K 30 h tritt.
4. Begünstigungen und Benachteiligungen.
Von dem durch die Doppelkontingentierung zu verwirklichenden Grundsätze
der Erhaltung des Bestehenden sind in zwei Richtungen Ausnahmen gemacht
worden, und zwar einerseits zu Gunsten der galizisch-bukowinaer Fabriken und
anderseits zu Gunsten der kleinen, vorwiegend böhmischen, reinen Rohzucker-
fabriken.
Die erstere Ausnahme bestand in der Regierungsvorlage darin, daß nebst
den 43 Raffinerien — 14 reinen Raffinerien und 29 gemischten Fabriken —
welche bis nun in Österreich tatsächlich allein Zucker in den freien Inlandverkehr
gesetzt haben nud für welche die höchste Versteuerung in einer der drei Erzeu-
gungsperioden 1898/9, 1899/1900 und 1900/1 als Beteilnngsmaßstab festgesetzt
ist, noch die 3 östlichen, bisher reinen Rohzuckerfabrikeil mit Individualanteilen
an «lein Konsnnizuckerkontingent bedacht wurden. Es sind dies die ostgalizische
Fabrik Tlnmacz und die hukowinaer Zuckerfabriken Lnzan und Zuczka, von welchen
die beiden ersteren der Chropiner Aktiengesellschaft, das ist der Gesamtheit
der österreichisch-ungarischen Raffineure, die letztere aber der galizisch-huko-
winaer Zuckeriiidustrie-Aktiengesollschaft in Przeworsk gehören, und es ist dies
aus dem Grunde geschehen, weil es unwirtschaftlich erscheint, den in diesen
drei so weit östlich liegenden Fabriken erzeugten Rohzucker nach der einzigen
galizischcn. im westlichen Landesteile gelegenen Raffinerie Przeworsk oder gar
nach der nächsten, schlesischen Raffinere Chjbi zu verfrachten und dann die
daraus erzeugte Raffinade wieder nach den ustgalizischen und hukowinaer
Konsumplätzen zurückzuführen. Es mag ja sein, daß trotz der Ersparnis
23*
410
A Ulpits.
dieser Frachtkosten die Errichtung einer neuen Raffinerie den Besitzern der drei
iiatlich gelegenen Fabriken nicht rentabel erscheinen und es daher bei dem eben
erwähnten Hin- und Herverfrachten nach wie vor bleiben wird ; aber eine Ent-
scheidung, durch welche so etwas perpetuiert wird, sollte doch wenigstens von
der Gesetzgebung nicht getroffen werden. Dies wurde auch in der am 12. bis
14. Jänner d. J. im Finanzministerium abgehaltenen Enquete allseitig, und /.war
dadurch anerkannt, daß kein Widerspruch dagegen sich erhob, daß den genannten
drei östlich gelegenen Fabriken IiafÜneriebeteilungsmaßstäbe in der GesamthOhe
von 100.000 zugewiesen würden. Wenn die Regierung noch etwas weiter, nämlich
auf 120.000, gegangen ist, so befremdet dies weit weniger als die höchst eigen-
tümliche Art der Verteilung dieser Ziffer, daß nämlich die der polnischen Aktien-
gesellschaft l’rzeworsk gehörige Fabrik Zuczka 100.000 erhalten hat. während
die beiden der vorwiegend deutschen Chropiner Gesellschaft gehörenden Fabriken
Lnzan und Tlnmacz mit je 10.000 sich zu begnügen haben. Es ist eine gute
Illustration dessen, was — über die seitens unseres Abgeordnetenhauses den
größeren Unternehmern, je nachdem dieselben einer slavischen oder der deutschen
Nationalität angehören, zuteil werdende, ungleiche Behandlung — oben gesagt
wurde, daß an dieser Begünstigung der Przoworsker Aktiengesellschaft der Zucker-
stencrausschuß nicht nur keinen Anstoß genommen, sondern im Gegenteil in
dieser Richtung noch weiter zu gehen für nötig gefunden hat.
Der Zuckersteuerausschuß hat an der Kontingentierungsvorlage der Regierung
zwei Änderungen, beide im § 4. vorgenommen; dieser Paragraph bestimmt, was
zu geschehen hat, wenn infolge einer Zunahme des österreichischen Zucker-
konsmns das österreichische Zuckcrkontingent, sei es schon in der Erzeugnngs-
periode 190:1/4 oder in einer der späteren Erzeugungsperioden 1004/5 bis
1907/8, über die ursprüngliche Ziffer von 2,770.340 7 erhöht werden sollte.
Nach der Regierungsvorlage sollte in solchem Falle das Plus an Kontingent den
46 Raffinerien — den 14 reinen Raffinerien, den 29 gemischten Fabriken
und überdies noch den drei östlichen Fabriken — verhältnismäßig znge-
wiesen werden, während die 197 Rolizuckerfahriken, das sind die nach Ausschluß
der letzteren drei Fabriken mir mehr 165 reinen Rohznckerfabriken, dann wieder
die 29 gemischten nnd die drei östlichen Fabriken zu gleichen Teilen an
dem Kontingentzuwachg partizipieren sollten. Diese letztere Bestimmung ist liebst
anderen, die noch zu besprechen sein werden, eine Begünstigung der kleinen
auf Kosten der größeren Rohznckerfabriken.
Der Zuckerstenerausschuß hat, wie gesagt, an diesem § 4 zwei Änderungen
vorgenommen. Die eine, welche im Ansschußberichte mit den Worten „daß der
Schatz der Kleinen auch bei den kleinen Raffinerien zum Siege gelangte und daß
denselben eine Aufbesserung ihrer Zuckerkontingente bis zur Quote von je
70.000 7 bewilligt wurde- — man kann wohl nicht sagen — begründet wurde,
ist bei der zweiten Lesung im Plenum, sonderbarerweise und gegen alle
Geschäftsordnung über Antrag des Berichterstatters, sang- und klanglos gefallen;
es würde auch in der Tat recht schwer sein, für den Schutz der Kleinen, welcher
bei Rohznckerfabriken nnr mit dem Interesse der Landwirtschaft an der Konser-
vierung jeder bestehenden Rühoiieinkaafsstelle motiviert werden kann, bei
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Österräch-thigani und die Brüsseler Zuckerkonventiou. ; ] [
Raffinerien, wo jede derartige Krwägung vollkouiuieii weglallt, auch nur einen
halbwegs plausiblen Grund zu linden. Überdies wäre die Begünstigung der „kleinen
Raffinerien* mehreren der allergrößten Zuckerfirmen zu gute gekommen. Die
andere Änderung, welche der Ausschuß, und zwar zu Gunsten der Przeworsker
Aktiengesellschaft, vnrgenonimen hat, ist dagegen Gesetz geworden. Dieselbe
bedeutet nichts anderes, als daß, wenn das österreichische Zuckerkontingent
erhöht wird, diese Krhühuug, sw lange diesolbe nicht mehr als 63.900 7 Konsum-
zucker = 71.000 7 Rohznckerwert beträgt, zwar den Raffinerien im Sinne der
Kegierungsvurlagc, aber, was die Rolizuckerfahriken aubelangt, nur den beiden,
derselben Aktiengesellschaft gehörenden Fabriken Przeworsk und Zuczka und
der von der Leipnik-Luudenburger Aktiengesellschaft in Leopoldsdorf neu
errichteten Fabrik, welche wohl, um die Begünstigung der erstereu Aktiengesellschaft
minder grell erscheinen zu lassen, mit herangezogen wurde, zu gute kommen
soll; erst wenn das österreichische Zuckerkontingent die ursprüngliche Ziffer von
2,770.340 um mehr als 63.900 7 überstiegen, wenn dasselbe also die Ziffer
von 2,834.240 7 überschritten haben wird, erst dann tritt hinsichtlich der Roh-
znckerfahrikeli die Bestimmung der Regierungsvorlage, daß nämlich au dem Plus
alle Rohzuckerfabriken zu gleichen Teilen zu partizipieren haben, wieder in Kraft.
Die hier in Betracht kommenden Kohzuckerbeteilungsmaßstäbe sind für Przeworsk,
nach der noch weiter unten zu besprechenden Regel für schon während einer
der drei Krzeuguiigsperioden 1898 99, 1899/1000 und 1900/01 in Betrieb gewesene
Fabriken 74.250, für Zuczka und für Leopoldsdorf, welche beide erst im Jahre
1901/2 in Betrieb gesetzt wurden, 102.000 beziehungsweise 39.000, und es ist
eine weitere, schon in der Regierungsvorlage enthaltene Begünstigung der Przeworsker
Aktiengesellschaft, daß von den drei Fabriken, welche im Jahre 1901/2 in
Betrieb gesetzt wurden, gerade nur Zuczka den hohen Bcteilungsmaßstab von
102.000, die beiden anderen Luran und Leopoldsdorf aber nur je 39.000 erhalten
haben. Der Kffekt der in Rede stehenden, vom Zuckersteneransschuß beschlossenen
und Gesetz gewordenen Änderung ist nun der folgende;
Solange das österreichische Zuckerkontingent die Ziffer von 2,770.340 7
nicht übersteigt, partizipieren die Przeworsker Aktiengesellschaft für ihre beiden
1 7Ö
Fabriken Przeworsk und Zuczka mit -■ . = I ’83 Proz., die Leopoldsdorfer
9, 61. >.800
39.000
Fabrik mit , -- = 0'41 Proz. au der von allen Raffinerien für die bouö-
9,615.800
tigteu Berechtigungsscheine an alle Rohzuckerfabriken zu zahlenden Summe, das ist
bei voller Liberierung des Kontingentes der oben angeführte Betrag von 9,142. 1 22 K,
voll welchem also in diesem Falle erhalten würden: die Przeworsker Aktien-
gesellschaft 167.567 K und die Fabrik Leopoldsdorf 37.079 K. Steig! nun das
österreichische Zuckerkontingent um oberwähnte 63.900 7 und somit der bei
voller Liberierung von den Raffinerien für die erforderlichen Berechtigungsscheine
zu entrichtende Betrag uin 3'3 X 63.900 — 210.870 K, so wäre hievon nach
der Regierungsvorlage auf jede der 197 Rohzuckerfabriken ein Betrag vou 1070 K
entfallen; es hätte also die Przeworsker Aktiengesellschaft für ihre zwei Fabriken
2140 K und Leopoldsdorf 1070 K mehr, als soeben berechnet, erhalten. Durch
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412
Auspitz.
die vom ZuckereteuerauBBchdß beschlossene und seither Gesetz gewordene Änderung
kommt dagegen der Mehrbetrag von 210.870 K ausschließlich den genannten
drei Fabriken zu gut«*, und zwar wird derselbe unter diese drei Fabriken im
Verhältnis von 32 : 02 : 7 oder zwischen den zwei Aktiengesellschaften Przeworek
einerseits und Leipnik-Luiidenhurg anderseits im Verhältnis von Gl : 7 geteilt;
die erstere erhält also 190.080 K. die letztere 20.790 K , so .laß ans der an
der Regierungsvorlage vorgenonuueiien Änderung der erstcron Aktiengesellschaft
ein Gewinn von jährlich 187.940 K. der letzteren aber ein solcher von 19.720 K,
den übrigen 194 Rohzuckerfabrikon aber ein Nachteil von je 1070 K erwächst.
Außer dieser rein pekuniären Bedeutung «ler au der Regierungsvorlage
vorgenommenen Änderung kommt derselben nur noch «li«-* praktisch ganz gleich-
gültige Bedeutung zu, daß für die begünstigte’« Fabriken das durch § 7., Abs. 5
des Kontingeutierungsgesetzes normierte Krzeuguiigsmiiiiiiiuin sich erhöht, und es
ist daher geradezu erstaunlich, daß hervorragende Parlamentarier, wie A. v.
J a w o r s k i, 1). v. Abraham «wict und Prof. G 1 a I» i n s k i, hieran bei der
ersten Lesung im Abgeordnetenhaus««, dann im Zuckersteuerausschuß und wieder
bei der zweiten Losung im Plenum so große Worte gewendet haben. Man muß
beinahe an nehmen, daß dieso Abgeordneten ungenügend informiert und wirklich
der Meinung waren, als handelt«; «*s sich für die galiziscli-bukowinaer Zuckerindustrie
und den dortigen Rübenbau um eine Lebensfrage, während doch tatsächlich die
betreffenden Fabriken in ihrer R«>hznckerproduktion auch durch die Bestimmungen
der Regierungsvorlage in keiner Weise beschränkt waren und dieselben durch
die erlangte, von dem Umfange ihrer Produktion ganz unabhängige Sonderbegün-
stigung sich schwerlich veranlaßt sehen werden, Rnbenpreise anzulogon, welche
durch den Wert des Produkt«?« nicht gedekt sein würden. Für die Verwertung
des Rohzuckers ist aber nicht die Höh«? des RohzuekerbeteiluugsmaUstabcs, sondern
lediglich die Höhe des Kaffineriebeteilungsmaßstabes ausschlaggebend, und in
letzterer Hinsicht war ja die Przeworsker Aktiengesellschaft schon in der
Regierungsvorlage nicht eben karg bedacht.
Die andere der beiden oben erwähnten Abweichungen von dein Grundsätze
der Erhaltung des statu.« quo ant«? besteht im folgenden: es würde diesem
Grundsätze entsprechen, wenn für alle die 194 Rolizuckerfabriken, welche schon
in einer der Erzcugungspcri«»dcii 1898/99, 1899/1900 und 1900/01 im Betriebe
waren, nämlich 165 reine Rohzuckerfabriken und die 29 gemischten Fabriken,
die höchste Erzeugung an Rohzuckerwert in einem dieser drei Jahre als Roh-
zuckerbeteilungsmaßstah gelten würde. Dies wird jedoch durch § 3 des Kon-
tingentierungsgesetzes nur hinsichtlich jener 51 reinen Rohznckurfahrikeu ange-
ordnet, deren höchste Erzeugung zwischen 45.000 und G0.000 q liegt; die 89
kleineren, reinen Rolizuckerfabriken werden begünstigt, und zwar werden den
sieben kleinsten, der«?» Höclisterzeugung kleiner als 19.500 q ist. Beteilungsinaß-
stäbe in der Höhe des Doppelten ihrer Höchsterzeugung zugewiesen. Es folgen
dann 47 Fabriken mit H<Öchstorzeugniig«n» zwischen 19.500 und 36.700' 9,
welche alle den gleichen Betcilungsmaßstah 39.000 erhalten, und weitere 35
Fabriken mit Höchsterzeugungen zwischen 36.700 und 45.000, welche in abfal-
lender Skala um 6 Proz., dann um 3 Pruz. und zuletzt nur eben auf 45.000
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Österreich-Ungarn und die Brüsseler Zuckerkonvention 41.3
erhöht werden. Dagegen werden sieben reine Rohzuekerfabrikeii mit Höcbst-
erzeugungen zwischen (50.000 nnd 07.000 q auf 60.000 und diu restlichen 18
reinen Kohzuckerfabriken mit Höchsterzeugungen zwischen 07.000 und 124.3<tü
am 12*46 Pr>»z. herabgesetzt, während die 29 gemischten Fabriken noch
ungünstiger behandelt und denselben Btdeilungsmaßstäbe zugewiesen werden,
welche um 22*33 Pro/., niedriger sind, als ihre in Rohzuckerwert berechne hui
H<"»chs terzengungeii in einem der mehrerw&hnten drei Jahre.
Der finanzielle Effekt dieser Bestimmungen ist aus der nachfolgenden Tabelle
ersichtlich; dieselbe beruht auf der Annahme. daß das österreichische Zucker-
kontingent Ton 2,770.340 q voll liberiert werde, daß also sämtliche 197 Roh-
zuckerfabriken zusammen den früher erwähnten Betrag von 9,142.122 K erhalten.
Hievon entfallen, nach Ausscheidung der drei erst in der Erzeugungsperiode
1901 2 in Betrieb gesetzten Fabriken Leopoldsdorf. Lnzan und Znczkn mit
Rücksicht auf deren Rohzuckerbeteilungsmaßstäbe per zusammen 180 000, auf die
194 filteren Fabriken rund 9,125.000 K. ln der folgenden Tabelle ist für jede
Gruppe von Fabriken berechnet, in Spalte I wie viel dieselbe erhalten würde,
wenn für alle diese 194 Rohzuckerfabriken die höchste Erzeugung in einer der
mehrerwähnteil drei Erzeugungsperioden als Beteilungsmaßstab festgesetzt worden
wäre, und in Spalte II wie viel dieselben Gruppen von Fabriken infolge der
tatsächlichen Anordnungen des § 3 des Ko.itingentierungsgesetzes erhalten werden.
Siehe Tabelle S. 414.)
Daß von den reinen Rohzuckerfabrikeii die kleinen so sehr begünstigt, die
großen aber benachteiligt werden, wird damit begründet, daß die Erhaltung der
«rsteren im Interesse der Landwirtschaft gelegen ist, und daß die letzteren ver-
hältnismäßig geringere Betriebskosten haben. Dies ist richtig, dürfte aber zur
Rechtfertigung der daraus gezogenen, so weitgehenden Konsequenzen doch kaum aus-
reichen. Die Betriebskosten sind neben den beiden anderen, für den Gestehungsprcis
des Rohzuckers maßgebenden Faktoren — Rübenpreis und Uübenqualität — von
untergeordneter Bedeutung, und insbesondere die letztere ist in verschiedenen
Gegenden so verschieden, daß eine große Fabrik trotz ihrer geringeren Betriebs-
kosten ganz w'obl teurer produzieren kann als eine viel kleinere Fabrik, wenn
derselben ein besseres Rübenmaterial zur Verfügung steht. Auch ist nicht zu
übersehen, daß die große Fabrik ihren größeren Rübenbedarf nicht in nächster
Nähe decken kann, sondern wenigstens teilweise zu entlegenerer Rübe mit höheren
Frachtkosten greifen muß. Für die besonders starke Benachteiligung der ge-
mischten Fabriken wird geltend gemacht, daß dieselben durch die lokale Ver-
einigung der beiden Betriebe — Rübenvorarbeitung und RolizuckerrafHnierung —
all Frachten nnd Betriebskosten wesentlich sparen; auch das ist richtig, aber cs
fehlt auch hier nicht an einschränkenden Momenten. Die Ersparnis an Rohzucker-
fracht nimmt in dem Maße ab, als die gemischte Fabrik mehr fremden Rohzucker
zukauft, und es gibt gemischte Fabriken, die dies eigentlich nur dem Namen
nach siud, indem die beiden Betriebe in je zwei getrennten, nur innerhalb der-
selben Umfriedung stehenden Gebäuden stattfinden und nur das Kesselhaus ge-
meinsam ist; d:t können dann die Betriehsersparnisse nicht sehr erheblich sein.
Anderseits macht sich dort, wo Rohzuck ererzeugung und -raffinerie wirklich in
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414
Au spitz.
5>
m
u.
Höchst* rzeuguug
in Meterzentner
i
11 j' Begünstigung Benachteiligung!
von
bis
K r o
n e .i
Kronen
l*roz.
Kronen
Proz.
A. Keine Robzuckerfabriken.
7
8.800
19.500
110.060
220.120 '
110.060
ioo-o
10
19.500
24.300
211.470
377.150
165.680
78-3
—
-
10
24.800
27.000
250.720
877.150
126.430
50 4
—
- 1
10
27.000
30.340
283.100
377.150
94.050
33 2
—
- i
10
30.340
35.000
317.560
377.150
59.500
18-8
-
1
35.000
36.700
243.140
264.010
20.870
8-6
—
—
-
7
36.700
38.000
254.560
260.830
15.270
60
—
5
38.900
40 ODO
190.600
199.310
8.710
4-6
18
40.000
43.700
720.450
742.070 ii
21.620
30
—
5
43.700
45.000
214.510
217.590 ||
3.080
1-4
—
51
45.000
60.000
2,531.480
2,531.480 |j
—
—
7
60.000
67.000
432.510
406.170 1
~
-
26.340
61
Iß
67.000
124.350
1,544.780
1,352.240 ||
~
192.540
12 46
/>. Gemischte Fabriken.
29
1 16.800
1
154.400
1,820.060
1,413.580 j
-
406.480
2233
104
1
zusammen . . .
9,125.000
9,125.000
625.360
-
625.360
1 1 I i S i
einem Gebäude vereinigt sind, oft der Übelstand geltend, daß die letztere viel
länger dauert als die Rübenarbeit und also dann die Raffinerie in einem für
ihre speziellen Zwecke zu großen Gebäude und daher mit unnütz großen Wärme-
verlusten, d. h. mit zu großem Kohlenverbrauch, arbeitet. Endlich darf nicht
übersehen werden, daß os volkswirtschaftlich ganz verkehrt wäre, den Vorteil,
welchen der rationellere Betrieb — und dies gilt gleichmäßig von der großen
wie von der gemischten Fabrik — seinem Unternehmer bietet, zu konfiszieren;
der Unternehmungsgeist ist ohnedies in Österreich nicht allzu rege und sollte
nicht noch dadurch abgeschreckt werden, daß. wenn jemand doch etwas unter-
nimmt, die Frücht« seines Wagemutes ihm weggonoiumen werden.
5. Einwendungen.
Bei der Beratung der KontingenticrangHYorlage sind gegen dieselbe in
beiden Häusern des Reichsrates mehrfache Einwendungen erhoben worden.
Der Haupteiiiwand geht dahin, daß lür die bestehenden Raffinerien ein
Monopol geschaffen werde, daß eine neue Raffinerie nicht errichtet werden
k^nne, weil dieselbe kein Inlandkontingent erhalten und also auf den unrentabel«
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Österreich-Ungarn und die Brüsseler Zuckerkonvention. 415
Export angewiesen sein würde, daß ancli die Errichtung neuer Rohzuckerfabrikeu
indirekt dadurch verboten sei, daß hiezu nur Genossenschaften, deren Teilnehmer
die Rübe liefern, berechtigt sein sollen, während doch gerade mit solchen Genos-
senschaften recht zahlreiche und nichts weniger als zur Nachahmung ermunternde
Erfahrungen gemacht worden sind, daß überhaupt die freie Bewegung gehindert,
mit einem Worte, die ganze heimische Zuckerindustrie petriti ziert werde.
Daran ist allerdings etwas Wahres. Aber ich meine, der darin liegende Vorwurf
geht an eine falsche Adresse; derselbe sollte nirht gegen die durch die jetzige
Lage unserer Zuckerindustrie — ich will nicht geradezu sagen — gebotene,
aber doch der Gesetzgebung' in sehr kräftiger Weise suggerierte Kontin-
gentierung, als vielmehr gegen all das gerichtet werden, was seit Jahren und
Jahren geschehen und nicht geschehen ist und wodurch die heutige, kritische
Situation der Znckeriuduslrie verursacht, ja man kann sagen, verschuldet wurde.
Man hat es nicht nur geschehen lassen, ja mau bat es goradezn gerne gesehen und
es gefördert, daß unsere Zuckerindustrie weit, sehr weit über ihr natürliches Ausmaß
hinaus gewachsen und dahin gekommen ist, daß in der Hetriebsperiode 1901/2 die
Produktion mehr als dreimal größer war als der heimische Verbrauch. Wenn dann
allerdings anch schon durch den infolge dur allgemeinen Überproduktion ein-
getretenen Rückschlag, aber doch jedenfalls außerdem auch noch durch die
Brüsseler Konvention plötzlich und durch letztere dauernd dio Notwendigkeit
einer empfindlichen l'rndnktionscinschriinknug über unsere Industriellen hereinbricht,
ist es da nicht begreiflich, daß sic für ihr gutes Recht es halten, zu verlangen,
daß diese ihnen unterlegte Restriktion wenigstens nicht durch im Inlande neu
binzutretende Konkurrenten noch gesteigert und verschärft werde? Übrigens ist
ja die durch die Brüsseler Konvention geschaffene Lage ohnedies nicht darnach
angetan, die Errichtung neuer Zuckerfabriken rentabel erscheinen zu lassen, so
daß, wenn die Gesetzgebung solchen Neuerrichtungen Schwierigkeiten bereitet,
hiedurch nichts gesetzt wird, was nicht ohnedies geschehen würde, und also gegen
die Gesetzgebung der Vorwurf wohl nicht erhoben werden kann, daß dieselbe
dem freien Walten der wirtschaftlichen Kräfte gewaltsam entgegentreto.
Es gibt Viele, und ich glaube, denselben mich anschließen zu sollen, welche
der Meinung sind, daß ohne Prämie die Kühe, dieses bescheidene Produkt der
gemäßigten Zone, welches so viele, durch Maschinen bisher und wohl auch
weiterhin nicht ersetzbare menschliche Arbeit erheischt, mit dem beinahe ohne
Zutun dos Menschen sich entfallenden Produkt der Tropensolino, dem Zuckerrohr,
auf die Dauer den Wettbewerb auf dem englischen Markte nicht werde aufrecht
erhalten können. Wenn dies richtig ist, dann hat unsere Zuckcriudnstric in der
weiteren Zukunft wesentlich nur die Aufgabe, unseren eigenen Zuckerbedarf zu
befriedigen; es wird aber einer viel längeren als der fünfjährigen Gültigkeits-
dauer des Kontingentierungsgesetzes und es wird einer viel ausgiebigeren Herab-
setzung unserer Zuckerstener als der vom Finanzministor anläßlich der Resolution
H Hornreit hör in Aussicht gestellten bedürfen, um diese Übereinstimmung
zwischen unserem Zuckervoi brauch und unserer Zuckererzeugung herzustellen.
Ganz unabsehbar lang dürft« dieser Zeitraum übrigens denn doch nicht sein.
In der Betriebsperiode 1889/90, der ersten, in welcher das Znckorsteucrgcsetz
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416
Auspitz.
vom 20. Juni 1888, R.-G.-Bl. Nr. 97, nach überwundener Übergangszeit voll zur
Geltung gekommen ist, wurden 2,668.281 q Konsuinzuckcr und 22.978 7 Roh-
zucker, zusammen 2,588.911 7 Konsumzuckerwert versteuert; in der Betriebs-
Periode 1901/2 waren die entsprechenden Zahlen 3,479.82-1, 37.833, beziehungs-
weise 3,518.374, also in 12 Jahren, trotz der in diesen Zeitraum fallenden
Erhöhung der Steuer von 22 auf 38 K und trotz der in dieselbe Zeit fallenden,
verteuernden Wirkung der Bildung des Kartells, eine Verbrauchszunahme um
929.463 7 oder rund 36 Proz., das entspricht einer von Jahr zu Jahr ein-
trutciiden Steigerung um je 2*59 Proz.
Es ist nun vielleicht doch nicht allzu kühn, anzunehinen, daß infolge der
bevorstehenden Preisermäßigung um 10 — 12 K, dann der in Aussicht gestellten,
allmählichen Reduktion der Zuckersteuer fortab der Verbrauch von Jahr zu Jahr
um jo 5 Proz., also nicht ganz um das Doppelte der bisherigen jährlichen
Zunahme, wachsen wird; dann würde unser Zuckerverbrauch in 20 Jahren auf
9,322.000 steigen, so daß unsere Produktion, welche in der Betriebsperiode
1901/2 zur Zeit der stärksten Überproduktion rund 11,619.000 7 Konsuinznckcr-
wert erreicht hat. nur um 20 Proz. reduziert zu worden brauchte, um das Gleich-
gewicht zwischen Verbrauch und Erzeugung herzustellen. Eine ähnliche Reduktion
dürfte gegen 1901/2 schon die laufende Kampagne 1902 3 aufweisen.
Schon einige Zeit vor der Erreichung dieses Gleichgewichtszustandes wird
man aber der heimischen Zuckerindustrie die Krücken, welche ihr jetzt fiir die
Übergangszeit geliehen werden — die Erschwernisse der Errichtung neuer Fabriken,
die ganze Kontingentierung und schließlich wohl auch das Ganze oder doch einen
großen Teil des Schutzzolles — entziehen können, so daß dann unsere Zneker-
fabrikanten von dem beschämenden Gefühle. Opfer von ihren Mitbürgern heischen
zu müssen, endlich befreit sein werden. Dann wird man auch allseits die für die
Züchtung und Erhaltung der ganzen, kontinentalen Zuckerindustrie von den Staaten
und Völkern Europas gebrachten Opfer als nicht ganz vergeblich gebracht aner-
kennen; denn, welch große Meinung von der Entwicklungsfähigkeit der tropischen
Zuckerproduktion mau auch haben mag. zur Deckung des ganzen Weltkonsums
wird dieselbe vielleicht doch niemals allsreichen, so daß also neben ihr auch auf
die Dauer die Kubonzuckerprodiiktiou eine berechtigte Stellung behaupten und
das Verdienst für sich wird in Anspruch nehmen können, daß ohne dieselbe zum
Nachteile der Konsumenten der ganzen Welt der Zuckerpreis ein viel höherer sein
würde, als er es bei dem Neheiieinanderhestehen der Rohr- und der Rühen-
prodnktion dauernd sein wird.
Berechtigter als der bisher besprochene Einwand erscheint es mir, wenn
Anstoß daran genommen wurde, daß durch § 5, Abs. 3 des Kontingentierungs-
gesetzes jedem Besitzer einer Fabrik, welche mit einem Rolizuckerboteilniigxniaß-
stab versehen ist, das Recht eingeräumt wird, denselben ganz oder teilweise au
eine andere derartige Fabrik zu verkaufen. Allerdings ist die Ausübung dieses
Rechtes an die Bedingung geknüpft, daß der Rohzuckcrbcteilungsmaßstab der
kaufenden Fabrik nicht über 80.000 sttdgeu und daß hievon nur dann eine
Ausnahme und auch nur bis zur MaximalzifTer von 150.000 gemacht werden
darf, wenn die Entfernung der beiden Fabriken 25 km Luftlinie nicht über-
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Österreich- Ungarn and die Brüsseler Zuckerkonvention. 417
schreitet Wenn also eine der 47 Fabriken, welche einen Rohzuckerboteilnngs-
maßstah von 39.000 haben, ihren Betrieb einstellen und dieson Maßstab ver-
kaufen will, so kann dies nur an eine Fabrik geschehen, welche bei mehr als
25 km Entfernung eitlen Rohznckerbcteilnngsmaßstah von höchstens 41.000 oder
bei weniger als 25 hm Entfernung einen solchen von höchstens 1 1 1 .000 hat.
Es ist also die Befürchtung so ziemlich ausgeschlossen, daß durch diese Befugnis
eine weitgehende Aufsaugung der kleinen durch ganz große Fabriken — ein
förmliches Bauernlegen — Platz greifen werde. Immerhin bleibt es sonderbar,
daß namhafte Opfer den größeren, reinen Rohzuckerfabrikon und insbesondere
den gemischten Fabriken zu Gunsten der kleineren, reinen RohzurkerfahriKcii
auferlogt werden, um angeblich im Interesse der Landwirtschaft die Betriebs-
einstellung dieser einigermaßen rückständigen Betriebe hintanzuhalten, und wenn
im Gegensatz hiezu dem Besitzer einer solchen kleinen Fabrik das Hecht einge-
räumt wird, dieselbe zu sperren und dennoch den Geldwert des an derselben
haftenden Hohzuckerbetoilungsmaßstabes einzustreichen. Es ist in der Debatte iin
Herronhause nicht mit Unrecht darauf hingewiesen wurden, daß hiebei die Land-
wirte der betreffenden Gegend, in deren angeblichem Interesse die kleine Fabrik
bei der Zuweisung der RohznckerbeteilungsinaflstAbe so sehr begünstigt wurde,
eigentlich nur das Nachsehen haben. Wenn hierauf Se. Exzellenz der Herr
Finanzminister erwidert hat, daß durch die Übertragbarkeit der Rohzuckerbeteilongu-
maßstübe verhindert werden soll, daß au die Betriebseinstellung einer kleinen
Fabrik der wirtschaftliche Ruin ihres Besitzers sich anschließe, und daß für die
Landwirte einer Gegend, in welcher zwei Fabriken .4 und li bestehen, die
Betriehseinstelhiug der erstereil nur die Folge haben werde, daß die Rübenprodu-
zenteti, welche bisher nach .4 lieferten, nun nach B liefern werden, so möchte
ich mir denn doch gestatten zu entgegnen, daß es unter den Besitzern kleiner
Fabriken sehr viele gibt, deren Vermögensverliältnisso jeden Gedanken an wirt-
schaftlichen Ruin vollkommen ansschließen, daß ferner der Staat außer stände ist,
allen seinen Bürgern eine Gewähr gegen wirtschaftliche Unfälle zu bieten, und
endlich, daß es für die Landwirte der erwähnten Gegend keineswegs ganz gleich-
gültig ist, ob daselbst zwei Fabriken, welche einander beim Rnbeneinkauf even-
tuell Konkurrenz machen, fortbestehcii, oder ob durch das Verschwinden der
einen die Rfibeneinkanfsposition der anderen Fabrik wesentlich verbessert wird.
Allerdings in dem vom Herrn Finanzminister zuletzt angeführten Fall«*, daß die
Besitzer von zwei benachbarten Fabriken beide den Betrieb einskdtcn wollen, und
daß die Inbetrieberhaltung wenigstens einer dieser Fabriken von der Zusammen-
legung der beiderseitigen Rohzuckerbeteilungsinaßstäbe abhängig gemacht würde,
in einem solchen Falle würden daran, daß diese Zusammenlegung gestattet werde,
in der Tat auch die Landwirte der betreffenden Gegend ein wesentliches Interesse
haben. Es wäre daher vielleicht richtig gewesen, die Übertragbarkeit der Roh-
zuckerbeteilnngsmaßstäbe nicht allgemein ausznsprechen, sondern fallweise von der
Genehmigung des Fiuanziniiiisters abhängig zu machen.
Die letzten Betrachtungen führen von selbst zu der von agrarischer Seite
jetzt so leidenschaftlich bekämpften Rüben rayonierung. Der derselben zu Grunde
liegende Gedanke, daß jede Rübe derjenigen Fabrik zugeführt werden solle, welche
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418
Auspit*.
von den» Acker, auf dem die Rübe gewachsen ist. am leichtesten, d. h. mit der
geringsten Tran spurt lei* tu ng erreichbar ist — dieser Gedanke ist gewiß gesund und
richtig und entspricht dem allgemeinen, volkswirtschaftlichen Interesse. Die Lage,
welche durch die bezüglichen Verabredungen der Fabrikanten den einzelnen
Landwirten bereitet wird und welche von agrarischer Seite in den düstersten
Farben geschildert und geradezu als moderner Robot bezeichnet wird, ist genau
dieselbe, in welcher alle jene Landwirte sich befinden, welche hinsichtlich ihres
Rübenahsatzes wegen zu großer Entfernung von allen anderen Fabriken auf eine
einzige Fabrik angewiesen sind. Von einer — wie in den agrarischen Ausführungen
immer und immer wieder behauptet wird — unerhörten Zwangslage kann in
keinem Falle die Rede sein; denn, wenn ein Landwirt mit der Fabrik, welcher
seine Rübe zugewiesen ist, sich nicht einigen kann und also derselben keine Kühe
liefern will, so ist er um nichts schlechter daran, als jene Tausende und Tausende
vmii Landwirten, bei welchen wegen zu großer Entfernung von allen Fabriken der
Zuckerrübenbau überhaupt von vornherein ausgeschlossen ist. Wie immer übrigens
das von den Agrariern so stürmisch geforderte gesetzliche Verbot der Rüben rayo-
nierung formuliert werden mag. das eine wird unzweifelhaft eintreten, daß dasselbe
nämlich als ein würdiges Glied jener Reihe von Enttäuschungen sich anschließen
wird, welche von den die Führung der Landwirte usurpierenden Agitatoren denselben
bereitet werden. Geradeso, wie die Aufhebung des Mahlverkehres zwar der Mühlen-
industrio geschadet, aber keinem Landwirte irgend etwas genützt hat, und geradeso,
wie das Verbot des Teriuinhandels an der Wiener Getreidebörse zwar den großen
Handel von Wien nach Budapest verdrängen, aber den Promptpreis von Weizen
nicht um einen Heller erhöhen wird, geradeso wird auch die neueste, das Verbot
der Rübenrayonierung aussprechend« Gesetzgebung zwar vielleicht mancherlei für
beide Teile wenig förderliche Konflikte zwischen Küheuproduzeiitcn und Fabrikanten
berheiführen, aber doch daran ganz gewiß nichts zu ändern vermögen, daß bei
der durch die Brüsseler Konvention geschaffenen Konjunktur die hohen Rtiben-
preise von ehedem nicht mehr werden gezahlt werden können.
Schließlich muß angesichts der im Ansland gegen unsere Kontingentierung
laut werdenden Stimmen wohl auch noch der Einwand, daß dieselbe gegen die
Brüsseler Konvention verstoße, besprochen werden. Da gereicht es mir denn zu
großer Freude, daß hingegen niemand geringerer als der Finanzininister und
scharfsinnige Gelehrte Dr. v. Böhm-Bawerk ein Argument gebraucht hat,
welches ich in der unter Vorsitz des Sektionschefs Freih. v. Jorkasch -Koch
abgehalteiien Enquete vorzubringen mir erlaubt habe, daß nämlich nach Art. I,
lit. f der Brüsseler Konvention zu den verbotenen Dingen jene Vorteile gehören,
welche der Znckerindustrie eines Staates aus einem Eingangszeile von mehr als
6 Francs erwachsen würden. Es sind also jene Vorteile, welche der Zucker-
industrie aus dem gestattetem Sechs-Francs-Zoll erwachsen, vollkommen berechtigt,
und etwas anderes als die Sicherung dieses legitimen Nutzens wird ja durch unsere
Kontingentierung nicht angestrebt.
Ein weiter hier anzuführendes Argument besteht darin, daß es ja einer
der wenigen unbestrittenen Lehrsätze der Volkswirtschaft ist, daß der Inlandpreis
einer Ware, welche in starkem Maße exportiert wird, voll einem auf diese Ware
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Österreich-Ungarn und die Brllwcler Znckerkonventiou. 410
etwa gelegten Eingangszeile insolauge ganz unabhängig bleibt, als die inländischen
Erzeuger dieser Ware in wirklich freiem Wettbewerb zueinander stehen und
nicht organisiert sind. Nun ist aber in Brüssel zwischen Großbritannien einerseits
und Österreich und Deutschland anderseits eine lebhafte Kontroverse über die
zulässige Hübe des von diesen beiden Zucker exportierenden Staaten auf etwaige
Zuckerein fuhren zu legenden Zolles geführt worden. Wozu das, wenn dieser Zoll
ohne jeden Einfluß auf die Preisbildung von Zucker in Österreich und Deutschland
bleiben soll, wie er ja bleiben muß. wenn es nicht gestattet sein soll.
Vorkehrungen, wie unsere Kontingentierung, zu treffen, um denselben wirksam
zu machen.
Endlich ist in dieser Hinsicht noch hervorzuheben, daß ja die bei uns zur
Einführung gelangende Kontingentierung auch bei mikroskopischer Untersuchung
aller ihrer Details nicht das Geringste erkennen läßt, was als Produktionsstimu-
lierung angesehen werden könnte. Was wird denn, uni es kurz zu rekapitulieren,
die Wirkung dieser Kontingentierung sein? Es wird zum Nachteile lediglich der
heimischen Konsumenten, welchen aber trotzdem eine namhafte Preisermäßigung
•zu gute kommen wird, der inländische Zuckerpreis um einen im vorhinein nicht
genau zu bestimmenden, jedenfalls aber hinter dem Zoll von 6 Francs = 5 K 70 h
zuriickbleibenden Betrag höher sein, als derselbe ohne diese Maßregel sein würde;
es wird ferner der Gesamtbetrag, um welchen infolgedessen die Konsumenten
für ihren Zuckerverbrauch mehr als sonst zahlen werden, znnächst gerade so wie
die an den Staat abznführende Steuer den Raffinerien zugehen, von denselben
jed<H*h znm größeren Teile, nämlich 3 K 30 h per Meterzentner Konsumzucker, an
die Rohznckerfabriken abgeftihrt werden. Der Anteil einer jeden dieser Fabriken
an jenem Gesamtbeträge ist prozentuell itn vorhinein genau festgesetzt und hängt
seiner absoluten Höhe nach, entspiechend der Provenienz aus einem Schutzzölle,
nor noch von der Größe des inländischen Zuckerkonsuuies ab; ganz unabhängig
ist dieser Anteil von der Größe der Produktion der betreffenden Fabrik, sowie
auch umgekehrt der Umfang dieser Produktion von der Höhe dieses Anteiles ganz
und gar unabhängig ist Nicht im allereutferntesten besteht ein Zusammenhang
zwischen dem Geldbeträge, welchen jede einzelne Kohzurkerfahrik und alle
zusammen aus dem Zollschutze beziehen, und der Größe ihrer Zuckerproduktion,
und es ist daher ganz und gar unbegreiflich, aus welchem Titel irgend ein
ausländischer Staat gegen diese Kontingentierung, durch welche die Exportfiihigkeit
unserer Znckerindustrie in keiner Weise gesteigert wird, irgend etwas sollte
einwenden können.
Wie unmöglich dies wäre, zeigt sich auch ans folgendem: Nach Art. 4 der
Brüsseler Konvention ist von prämiiertem Zucker „ein besonderer Zoll“ (Strafzoll)
einznheben, und zwar mindestens in der Höhe der direkten oder indirekten
Prämie, welche der Zucker in seinem Heimatslande genießt, wnhei ein f> Francs
übersteigender Schutzzoll surtaxe) mit der Hälfte des Mehrbetrages als Prämie
anzurechnen ist. Wo ist aber und wie hoch ist bei uns die direkte oder indirekte
Prämie und wo ist der die 6 Francs überschreitende Schutzzoll? Jeder, der
unsere Kontingentierung angreifen und gegen unseren Zucker einen Strafzoll
fordern wollte, müßte in die größte Verlegenheit geraten, wenn er aufgefordert
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420
Auspitz.
würde, die der zitierten Bestimmung entsprechende Höhe dieses Strafzolles
anzugeben.
Welch mißverständlichen Auffassungen trotzdem unsere Kontingentierung im
Auslande begegnet, dafür hat die gestern atn (5. März 1. J. im deutlichen Reichstage
geführte Debatte einen drastischen Beleg geliefert. Freund und Feind haben da
an Unrichtigkeiten und schiefen Urteilen einander überboten. Wenn Graf
C armer seine Anregung, daß eine der unseligen ähnliche Kontingentierung
auch im deutschen Reiche eingeführt werden möge, unter anderem damit be-
gründet hat, daß ansonst die deutsche Zuckerindustrie im Kxportwettbowerb gegen
die österreichische ungünstig gestellt sein werde, wenn derselbe also der Meinung
Ausdruck gibt, als ob durch die Kontingentierung unserer Industrie für den
Export eine wirksame Waffe in die Iland gegeben werde, so hat dieser Redner
hiemit, gewiß ganz gegen seine Absicht, nur Wasser auf die Mühle der Gegner
der Kontingentierung getrieben. Tatsächlich hat unsere Kontingentierung mit
einer Exportförderung gar nichts gemein; denn da die Betrüge, welche unsere
Rühen verarbeitenden Fabriken aus dem Zollscliutznutzeu beziehen werden, nur
von der Größe des inländischen Konsums, ganz und gar nicht aber von ihrer
eigenen Produktion und also auch durchaus nicht von ihren Exportquantitäteii
abhängen werden, so wird durch diesen Zuschuß gewiß keine Fabrik sich ver-
anlaßt sehen, einen Export, bei welchem die Gestehungskosten nicht gedeckt
sein würden, zu pflegen oder gar noch auszudehnen. Anderseits nimmt der
Staatssekretär Freiherr v. Thiel mann keinen Anstand, unserer Kontingentierung
nachzusagen, dieselbe bezwecke eine Einschränkung des Inlandverbrauches,
während doch unser mit der Handhabung der Liberiemng betraute Finanzminister
ganz gewiß niemals vergessen wird, daß jeder Zentner Konsnmzucker, den er
freigibt, seinem Fiskus jo 38 K zuführt und während doch auch die ganze
Zuckerindustrie und beide Zweige derselben an der möglichsten Steigerung des
Inland Verbrauches ein sehr lebhaftes Interesse haben, die Raffinerien, weil dadurch
ihre Produktion größer und somit rentabler wird, und die Rohznckerfabriken,
weil dadurch ganz direkt die ihnen aus dein Zollschutznutzen zugehcndcu Be-
träge sich erhöhen. Herr Freiherr v. Thielmanu verschmäht es auch nicht,
das abgegriffene Argument, daß durch die Kontingentierung für die bestehenden
Fabriken ein Monopol geschaffen werde, zu wiederholen und die deutsche Land-
wirtschaft anzurufen, was sie zu der Erschwernis der Errichtung neuer Fabriken
wohl sagen würde. Nun, ich denke, bei richtiger Überlegung müßte dieselbe
wohl antworten, daß einerlei, ob gesetzlich erschwert oder erleichtert, neue
Fabriken in den nächsten 5 Jahren wegen voraussichtlich völlig mangelnder
Rentabilität ohnedies nicht werden gebaut werden und daß es weit wichtiger sei,
durch die Kontingentierung die ansoust sehr ernstlich drohende Betriehseinstellung
zahlreicher bestehender Fabriken hiiitauzuhalten.
Was soll man vollends dazu sagen, daß Herr Prof. P aase he — der-
selbe, welcher so wesentlich mit Schuld daran war, daß im Jahre 1806 das
Deutsche Reich jene Erhöhung der Zuckerausfuhrprämie vorgenommen hat.
welche zum Signal für den letzten Paroxysmns des internationalen Ausfuhrprämien-
Steeple-cliases und für jene Überproduktion, deren Rückschlag schließlich zur
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Österreich •Ungarn und die Brüsseler Zupkerkonrention.
421
Biüssclcr Konvention geführt hat. geworden ist — daß dieser Mann nun auf
das Piedestal der Perhorreszierang jeder staatlichen Intervention zn Gunsten der
Zucken nd 08 trie sich stellt?
Die Absicht ist klar und deutlich; die Herren glauben, der deutschen
Zuckerindostrie besser als durch eine Nachahmung unseres Beispieles vielmehr
dadurch dienen zu können, daß sie uns aus der Konvention hinaus und dadurch
von dem englischen Markte hinwegzudrängen suchen. Ganz unmöglich ist es ja
auch nicht, daß dies gelingen könnte; denn so zweifellos es auch ist, daß ein
unparteiischer Gerichtshof jede gegen unsere Kontingentierung gerichtete Beschwerde
als in dem Wortlaute der Brüsseler Konvention nicht begründet abweisen müßte,
s» wenig sicher ist dies bei der nicht aus Richtern, sondern aus Vertretern von
Interessenten und Konkurrenten bestehenden Kommission, welche über eine solche
Beschwerde zu befinden haben wird. Die Herren, welche hierauf rechnen, werden
sich aber doch irren; denn dazu, daß wir aus der Brüsseler Konvention, der
wir nach reiflicher Überlegung und auf Grund der dadurch gewonnenen Über-
zeugung, daß dies das kleinere Übel sei, beigetreten sind, hinausgedrängt würden,
werden wir — so denke ich wenigstens — es nicht kommen lassen. Ehpr wäre
auf den durch die Kontingentierung angestrebten Schutz der kleinen Fabriken zu
verzichten und das österreichische Gesetz, betreffend die individuelle Verteilung
des Kontingentes, wieder atifxnbeben — eventuell unter Anwendung des § 14, der
dann schwerlich jemals mit mehr Berechtigung angerufen worden wäre — und
in Ungarn ist ja die analoge Vorlage noch nicht Gesetz geworden. Kirn» Mög-
lichkeit. trotzdem dennoch das beiden Staaten gemeinsame Gesetz und die in
dessen § 5 normierten Kontingente aufrecht zu erhalten, wird sich iiu Notfälle
vielleicht doch finden lassen; es könnte z. B., wenn ich dies auch keineswegs
empfahlen möchte, für die Amtshandlungen, welche der Überweisungsverkehr in
Zucker zwischen den beiden Staatsgebieten nötig macht, eine nach der jedes-
maligen Zuckermenge zu bemessende Gebühr von solcher Höhe eingehoben werden,
daß dadurch dieser Verkehr gänzlich beseitigt würde.
Es wird die gemeinsame Aufgabe des österreichischen und des ungarischen
Vertreters hei der internationalen Brüsseler Kommission sein, nicht nnr die voll-
knmmene Vereinbarlichkeit unserer Kontingentierung mit den Bestimmungen der
Brüsseler Konvention darzutun, sondern anderseits auch keinen Zweifel darüber
auf kommen zu lassen, daß Österreich und Ungarn unter gar keinen Umständen
und koste es seihst das Opfer einer Änderung ihrer internen Gesetzgebung —
aus der Brüsseler Konvention sich hinansdrängen lassen werden, daß also ein
etwa gegen unsere Kontingentierung gerichtetes Verdikt der internationalen
Kommission zwar diesen beiden Staaten einige Verlogenheit, aber gar keinem
anderen Staat* irgend einen Nutzen bereiten würde. Wenn es gelingt, die Über-
zeugung hiervon den Vertretern dieser anderen Staaten heizuhringen, dann werden
dieselben gerne bereit sein, die Rechtsbeugung, welche in jedem gegen unsere
Kontingentierung gerichteten Votum liegen würdo, zu vermeiden; denn niemand
tut gerne Unrecht, wenn es ihm Oder seinem Kommittenten nicht einmal
etwas nützt.
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422
Auspitz.
I.
Gesetz vom 31. Jänner 1903, betreffend einige Abänderungen und
Ergänzungen der Bestimmungen Ober die Zuckerbesteuerung.
Mit Zllstimimiini Imiiler Hänsrr ilrs Rrirhsrales timle Ich atizarrdnen.
wie folgt:
§ 1.
Der Einfuhrzoll für Zucker der im § 1, Z. I des Znckersteuergesetzes
bezeichnet«?!) Art wird wahrend der Dauer des am 5. Mär/. 1902 in Brüssel
abgeschlossenen Vertrages« betreffend die Znckergesetzgebung, unbeschadet der
gegen prämiierten Zucker gemäß Art. 4 dieses Vertrages zu treffenden besonderen
Maßnahmen in dem höchsten Betrage eingehoben, welcher nach den Bestimmungen
eben dieses Vertrages zulässig ist.
Der Ursprung des Zuckers ist hei der Einfuhr nachzuweisen.
§ 2.
Für jenen Zucker, welcher als solcher oder in zuckerhaltigen Waren nach
dem 31. August 1903 über die Zollinie ausgeführt wird, wird eine Ausfuhr-
bonilikation nicht mehr geleistet.
§ 3-
Als Betriebsperiode 1902/3 wird der dreizehnnmnatliche Zeitraum vom
1. August 1902 bis 31. August. 1903 erklärt. Tn der Folge wird unter Betriebs-
periode der Zeitraum vom 1. September des einen bis 31. August des unmittel-
bar darauffolgenden Jahres verstanden.
Der Finanzminister ist ermächtigt, unter den im Vollzugswege festzusetzenden
Bedingungen zu bewilligen, daß die gesetzliche Ausfuhrboniflkation in dem rest-
lichen Teile der Betriebsperiode 1902/3 auch für solchen Zucker gewährt wird,
welcher in einer öffentlichen Niederlage oder in einer Privatniederlage unter
amtlicher Mitsperro eingelagert wird.
Der so eingelagerte Zucker kann in den inländischen freien Verkehr nur
gegen Entrichtung der Verbranchsahgabe und Hückersatz der gewährten Ausfuhr-
houifikation, in eine Zuckererzengungsstätte oder in ein Zuckerfreilager dagegen nur
gegen Rückerstattung der gewährten Ansfuhrhonifikation gebrarht werden. Der
eingelagerte Zucker haftet, ohne Rücksicht auf die Hechte dritter für die etwa
zurückznzahlende Ausfuhrhonifikation.
Die erteilte Bewilligung kann jederzeit mit der Wirkung widerrufen weiden,
daß der eingelagerte Zucker hinnen längstens vier Wochen aus der Niederlage
weggebracht werden muß.
8 4.
Die Summe des von den Unternehmern der Znckererzeugnngsstätten im
österreichisch-ungarischen Zollgebiete zu leistenden Rückersatzes an Ausfnhr-
bonifikation für die Betriebsperiode 1902/3 wird auf jenen Betrag beschränkt,
um wfdehen die Gesamtsumme der Ausfnhrbonilikation für den während dieser
Betriehsperiode in dem österreichisch-ungarischen Zollgebiete mit dem Ansprüche
auf Ansfuhrhi'iiifikation ahgefertigten Zucker die Summe von einundzwanzig Still.
Kronen übersteigt.
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Österreich-Ungarn uml die Brüsseler Zuckerkonvention.
423
§ 5.
Um die Versorgung des In landsmark tos mit Zucker in den einzelnen Länder-
gebieten des österreichisch-ungarischen Zollgebietes im Geiste des Schlußprutokolles
zu Art- 3 des ain 5. Mürz 1902 in Brüssel abgeschlossenen Vertrages, betreffend
die Zuckergesetzgebung, zu regeln, wird jene Menge Zucker der im $ 1, Z. 1
des Znckersteuergesetzes bezeichnet«!! Art, welche in den einzelnen Ländergobieten
im Laufe je einer Bvtriebsperiode ans den Zuckererzeugungsstütton und Zucker-
freilagern gegen Kntrichtung der Verbrauchsabgabe weggebracht werden darf,
kontingentiert.
Das Zuckerkontingent für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und
Länder wird für die Betriebeperiode 1903/4 mit 2,770.340 q Konsumzucker fest-
gesetzt. Das Zuckerkontingent für die Länder der ungarischen Krone beträgt für
die genannte Betriebsperiode 863.660 q Konsnmzucker und jenes für die Läuder
Bosnien und Herzegowina 26.000 q Konsumzucker.
Für die folgenden Betriebsperioden werden die Zuckerkontingente der drei
Ländergebiete des Österreichisch-ungarischen Zollgebietes auf Basis des Konsums
in der jeweilig unmittelbar vorausgegangeneu Betriebsperiode von dem k. k. Finanz-
minister und dem königlich ungarischen Finanzminister einvernehmlich festgesetzt,
wobei jene Menge, um welche der jeweilig ermittelte Konsuln der Länder Bosnien
uml Herzegowina das für diese Länder für die Betriebsperiode 1903/4 festgesetzte
Zuckerkontingent übersteigt, den ermittelten Konsuiuziflem der beiden anderen
Lfuidergebietu verhältnismäßig zugeschlagen wird.
Als Zuckerkonsnm der einzelnen Ländergebiete hat jene Zuckermenge zu
gelten, welche sich ergibt, wenn zu der in dem betreffenden Ländergebiete gegen
Kntrichtung der Verbrauchsabgabe weggebrachten Zuckermenge die in diesem
Ländergebiete zur Einfuhrverzollung gelangte und die ans den .beiden anderen
Ländergebieten iin Übergangsverfahren bezogenen Zuckermengen zugeschlagen,
dagegen die an die beiden anderen Ländergebiete im Übergangsverfahren abge-
gebene Zuckermenge abgezogen wird.
Diejenigen Personen, welche am Schlüsse der jeweiligen Betriebsperiode
einen fünf Meterzentner übersteigenden Vorrat an versteuertem Zucker besitzen,
sind verpflichtet, diesen Zuckervorrat über fallweise zu treffende Anordnung des
Finanzministers auf die im Vollzugswege näher zu bestimmende Art auezuweisen.
Sollte der so ausgewiesune Zuckervorrat im Geltungsgebiete des gegenwärtigen
Gesetzes zehn Proz. des Kontingente« der betreffenden Betriebsperiode übersteigen,
so ist der Überschuß von der in Gemäßheit der Bestimmungen des vorstehenden
Absatzes ermittelten Zuckermenge in Abzug zu bringen.
Rohzucker ist stets unter Zugrundelegung einer Ausbeute von 90 hg Kon-
sumzucker aus 100 hg Rohzucker auf Konsumzucker umzoroebnen.
Der k. k. Finanzminister bestimmt nach Anhörung von zwei Sachverstän-
digen im Einvernehmen mit dem königlich ungarischen Finunzminister periodisch,
und zwar wenigstens für einen einmoiiatliched Zeitraum jene Teilmenge des
Zuckerkontingentes, welche in den freien Verkehr gebracht werden darf und ist
ermächtigt, das jeweilige Zuckerkontingent behufs Anpassung an den tatsächlichen
Bedarf des Konsums in» Laufe der einzelnen Betriebsperioden mit Zustimmung des
Zeiucbrift fUr Volkswirtschaft, SozialiKtlltik ud<1 Verwaltung. Xll. Band. 2t#
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42t
Anspiti.
königlich ungarischen Finauznunisters zn •■rhühcii oder allenfalls auch herab-
ZUsetzeil.
Zucker, welcher ohne Einrechnung in da» Kontingent aus einer Zucker-
erzeugungsstätte oder ans einem Znckerfreilager weggebracht wird, darf nur im
Falle der nachträglichen Umrechnung in das Kontingent in den inländischen
Verkehr gebracht werden.
Die Regelung der individuellen Verteilung der Zuckerkontingente wird jedes
Lilndergebiot selbständig im Woge der Gesetzgebung vornehmen.
8 6.
Die Frist zur Einzahlung der am Tage des Wirksamkeitsbeginnes der gegen-
wärtigen Bestimmung bereits geborgten und der in Hinkunft zn borgenden Zucker-
verbrauchsabgahe wird mit sechs Monaten, von dem dem Vorschreibungsmonate
unmittelbar folgenden Kaleiidermonate an gerechnet, festgesetzt.
Von der im vorhinein bar eingezahlten Zurkerverbrauchsabgabe wird ein
Diskonto nicht mehr gewährt.
§ 7.
Der k. k. Finanzminister wird ermächtigt, jenen Zucker, welcher zur
Fütterung von Tieren oder zur Herstellung von Fabrikaten anderer Art als Ver-
xehrnngsgegenstände verwendet wird, unter den zum Schutze des Staatsschatzes
erforderlichen Bedingungen und Vorsichten von der Verbraoehsahgabc zu befreien.
§ 8-
Als schwere Gefällsühertretnng ist zu bestrafen:
a) wenn Zucker verbotswidrig aus einer Zuckererzeugungsstätte oder einem Zucker-
freilager ohneEinrechnnng in das Kontingent in don freien Verkehr gebracht wird;
h) wenn Zucker, welcher auf Grund des ■? 7 zur Verwundung für bestimmt*
Zwecke abgabefrei abgelassen wurde, zu anderen Zwecken verwendet wird.
Die Strafe ist nach der Verbrauchsabgabe zu bemessen, welche für die den
Gegenstand der Übertretung bildende Znckermenge entfällt.
Amlere Übertretungen des gegenwärtigen Gesetzes oder der zum Vollzüge
desselben erlassenen Bestimmungen unterliegen einer Ordnungsstrafe von 10
bis 10O0A’.
8
Das gegenwärtige Gesetz tritt bezüglich der tjlj 3, 7 und 8 mit dem Tage
der Kundmachung, im übrigen gleichzeitig mit dem am 5. März 1902 in Brüssel
abgeschlossenen Vertrage, betreffend die Zuckergesetzgehung, in Kraft; mit dem
Vollzüge desselben ist bezüglich des § 1 Mein Finanzminister und Mein Handels-
minister, bezüglich der übrigen Bestiniinniigen Mein Finanzminister beauftragt.
n.
Gesetz vom 31. Jänner 1903, betreffend die Regelung der indivi-
duellen Verteilung des Zuckerkontingentes.
Mit Zustimmung der beiden Häuser des Reichsrates finde Ich anzuordnen,
wie folgt:
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Österreich-Ungarn and die Brüsseler Zuckerkonvention.
425
8 1.
Das lant § 5 des Gesetzes vom 31. Jilnner 1903, E.-G.-B1. Nr. 26, für
die Betriebsperiode 1903/4 mit 2,770.340 q Konsumzucker festgesetzt« Zucker-
kontingent wird
n) jenen Zuckcrerzongnngsstätten, ans welchen wenigstens in einer der Betriebs-
Perioden 1898 99, 1899/1900 nnd 1900/01 mehr als zehntausend Meter-
zentner Konsumzncker gegen Entrichtung der Yerbrauchsabgabe weggebracht
worden sind,
V) den Zuckererzengungsstätten Lnzan und Zuczka in der Bukowina und
Tlumacz in Galizien
nach Maligabe der Bestimmungen des § 2 zugewiesen.
Der Bohznckerwert des Znckerknntingentes wird jenen Zuckeren, eugnngs-
stätten, in welchen aus Rübe oder fremder Melasse Zucker erzeugt wird, im
Verhältnisse der gemäll § 3 festzustellenden Beteilnngsmaßstäbc mit der Wirkung
zugewiesen, die dem Zuckerkontingente nach dem Ausbeuteverhaltnisse von 90 hj
Konsumzucker aus 100 kg Rohzucker entsprechende Rohzuckermengc mit dem
Ansprüche auf Anrechnung auf die gegen Entrichtung der Verbranchsabgabe
wegzubringeude Zuckermenge erzeugen zu dürfen. Die nach dem 1. September
1903 neu errichteten Erzeugungsstätten sind nur dann anspruchsberechtigt, wenn
dieselben gesellschaftliche Unternehmungen sind, deren Teilhabern die Verpflichtung
obliegt, für die Znckererzengungs&tiitte selbst Rübe zu bauen und zu liefern.
Jede Zuckorerzeugungsstätte bat ihren Anspruch auf Beteilung mit einem
Individnalanteile an dem Znrkerkontingente beziehungsweise an dem Rohzucker-
werte desselben spätestens am 1. August 1903, sofern aber die Anspruchs-
herechtigung in einem späteren Zeitpunkte eintritt, spätestens vier Wochen vor
Beginn der Betriebsperiode, von welcher an die Anspnicbsberechtignng eintritt,
bei der zuständigen Finanzbehörde erster Instanz anzumelden.
Die aus einem Individnalanteile an dem Znrkerkontingente oder an dem
Rohzuckerwerte des Zuckerknntingentcs gemäll den Bestimmungen des gegenwärtigen
Gesetzes für die Dauer der Wirksamkeit desselben fließende Berechtigung haftet
an der Erzeugnngsstätt« und steht dem jeweiligen Unternehmer derselben zu.
Mit dem etwaigen Erlöschen des gegenwärtigen Gesetzes in einem früheren als
dem im § 4 bestimmten Zeitpunkte erlischt diese Berechtigung ohne jedweden
Anspruch auf Entschädigung.
8 2.
Für die gemäß § 1, UL n) an dem Zuckerkontingente ansprnchsberechtigten
Zuckererzeugungsstätten bildet die in den Betriebsperioden 1898/99, 1 899 T 900
und 1901) 01 erzielte größte Versteuerung einer Betriebsperiode, ausgedrnckt in
Meterzentner Konsnmzncker, den Reteilnngsmaßstah. Die aus den Ztickerfreilagern
gegen Entrichtung der Verbrauchsabgabe weggebrachten Znckermergcn werden
der Versteuerung jener Zuckererzeugungsstätten zugeschlagen, aus welchen der
versteuert weggebracht« Zucker nachweislich stammt.
Für die im § l, lit. b) genannten Zuckererzeugungsstätten werden die
Beteilungsmallstäbe an dem Zuckerkontingente wie folgt festgesetzt:
29»
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42C
Auspitz.
für die Zockererzeugungsstätte Luzan . . . 10.000,
„ „ „ Tlumacz . . 10.000,
„ „ „ Zuczka . . . 100.000.
8 3.
Die Beteilungsmaßstübe der mit einem Individnalanteile an dem Ilolizucker-
wertc des Zuckerkontingontcs zu betoilenden Znckererzeugnngsstätten werden aul
felgende Weise bestimmt:
1. Für jene anspruclisborechtigten Krzougungsstätten, welche wenigsten« in
einer der Betriebsperioden 1898/99, 1899/1900 und 1900 Ol im Betriebe gewesen
sind, wird die in diesen Betriebsperioden erzielte größte Ncttoerzongung einer
Betriebsperiode vorn Finanzministerium ermittelt. Unter Nettoerzeugung einer
Zuckererzeugnngsstütte wird jene in Meterzentner Uolirnckerwert ausgedriiekt«
Zuckermenge verstanden, welche sich ergibt, wenn von der laut Aufschreibung 1
(ij 83, Z. 1 des Zuckersteuergesetzes) fertiggestellten Zuckermenge der umge-
arbeitete und der laut Aufschreibung 2 (g 33, Z. 2 des Zuekersteuergesetzes i
verwendete Zucker in Abzug gebracht wird.
a) Die Maßzahl der ermittelten größten Nottoerzengung bildet ohneweiter* den
Beteilungsmaßstab für jene Zuckorerzeugungsstätten, deren größte Netto-
erzeugung 45.000, jedoch nicht 60.000 übersteigt, und welche zugleich die
Anspruchsberechtigung auf Beteilnng mit einem Individnalanteile an dem
Zurkerkontingente nicht besitzen oder nicht geltend machen.
b) Insofern die größte Nettoerzeugung jener Znckcrerzougungsstätten. welch«
die Ansprurhsberechtigung an dem Znckerkontingente nach § 1, lit. a)
nicht besitzen oder nicht geltend machen, 15.000 nicht übersteigt, werden
die ermittelten Zahlen der größten Ncttoorzcngmig wie folgt erhöht:
na I Für Znckererzeugungsstätten mit einer größten Nettoerzengung von
40.000 bis 45.000 am 3 Pro/.., jedoch nicht auf mehr als 45.000.
Mi) Für Zuckereizeugungsstätten mit einer größten Nettoerzeugnug von
35.000 bis 40.000 um 6 Proz., mindestens aber anf 39.000 und
nicht auf mehr als die kleinste der durch die im Sinne des vor-
stehenden Absatzes na) vorgenummene Erhebung gewonnene Zahl.
re) Für Zuckererxeugungsstßtten mit einer größten Nettoerzengung von
weniger als 35.000 auf 39.000, jedoch nicht anf mehr als das
Doppelte der größten Nettomengung.
Die so gefundenen Zahlen bilden die Ueteilnngsmaßstäbe der unter
lit. b) fallenden Erzeugnngsstätten.
r) Die mehr als 60.000 betragenden Maßrahlen der grüßten Nettoerzengung
jener Znckererzengungsstätten. welche die Anspruchsberechtigung an dem
Znckerkontingente nicht besitzen oder nicht geltend machen, werden um
35 Proz. der Summe der gemäß lit. b) vorgenommenen Erhöhungen ver-
hältnismäßig. jedoch nicht auf weniger als 60.000 vermindert. Die restlichen
65 Proz. der erwähnten Krhöhnngssurnme werden von den Maßzahlen der
größten Nettoerzeugnng jener Zuckererzeugungsstfitten, welche zugleich die
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ftsterreirh-Ungam und die Brüsseler Zackerkonvention
427
Anapruchsburechtiguog an dem Zackcrkontingunte gemäß § 1, lit. a) besitzen
und geltend machen, verhältnismäßig allgezogen.
Die so gefundenen Zahlen bilden die Uoteilungsmaßstäbe der unter
lit c) fallenden Erzen gungsstfttten.
2. Für die nachbenannten erst in der Botriebsperiode 1901/2 in Betrieb
gesetzten ZuckererzeugungMt&tten werden die Beteilnngstnaßstäbe wie folgt fest-
gesetzt :
Für die Zuckererzeugungsstätte Leopoldsdorf (Niederosterreich) mit 89.000
für die Zuckererzeugungsstätte Lnzan mit 89.000
, * „ Zuczka „ 102.000.
Für jene Zuckererzeugungsstätten, deren Ansprnchsherechtigung nach dem
1. September 1903 Eintritt (§ 1. zweiter Absatz', wird der Beteilnngsmaßstah vom
Finanzminister nach Anhörung von drei Sachverständigen, von welchen zwei vom
Finanzminister und einer von den Unternehmern der betreffenden Erzeugungs-
stätte zu bestimmen sind, festgesetzt.
Die vom Finanzminister zu bestimmenden Beteilnngsmaßstäbu dürfen einzeln
60.000 nicht übersteigen.
8 4.
Die im Sinne des § 2 festgcstellten Beteiiungsmaßstäbc behalten auch für
die individuelle Verteilung des Zuckerkontingentes in den Betriehsperiodeii 1904/5
bis einschließlich 1907/8 Gültigkeit. Falls das Zuckerkontingent im Laufe einer
Betriobsperiode erhöht oder herabgesetzt werden sollte, werden die individuellen
Anteile an dem Zuckerkontingente verhältnismäßig erhöht beziehungsweise herab-
gesetzt.
Der Rohzuckerwert der für die Betriebsperiode 1908/4 zu gewärtigenden
Erhöhung des Zuckerkontingentes wird bis zur Menge von 71.000 q Kobzuckerwert
den Zuckererzengungsstätteii : Przeworsk bis 32.000 q. Zuczka bis 32.000 q und
Leopoldsdorf bis 7000 q. der Rest dieses Robznckerwertes sämtlichen an dem
Kohzuckerwerte des Zmkerkontingentes ansprnchsberechtigten Krzeugungsstätten zu
gleichen Teilen zugewiesen.
Den an dem Kohzuckerwerte des Zuckerkontingeiites anspruchsboreclitigten
Znckerer/.eugungsstätten wird für die Botriebsperioden 1904/5 bis einschließlich
1907 8 der dem für die Botriebsperiode 1903 4 mit § 5 des Gesetzes vom
31. Jänner 1903, R.-G.-B1. Nr. 26, festgesetzten Zuckerkontingente entsprechende
Rohznckerwert im Verhältnisse der gemäß § 3 des gegenwärtigen Gesetzes fest-
gestellten Beteilungsmaßstäbe zugewiesen.
Von dem Rohzuckerwerte jener Kontingentineiige, um welche das jeweilige
Zuckerkoutiiigent der Betriehsperioden 1904 5 bis einschließlich 1907 8 das mit
§ 5 des Gesetzes vom 81. Jänner 1908. R.-G.-Bl. Nr. 26, für diu Butriebsperiode
1903/4 bestimmte Zuckerkontingent übersteigt, wird die Teilmenge von 71.000 q
Rohzuckerwert dun Zuckurer/.eugnngsgtätteu Przoworsk, Zuczka und Leopoldsdorf,
und zwar Przeworsk und Zuczka je bis 32.000 q und jener in Leopoldsdorf bis
7000 q, der Rest sämtlichen an d**m Rohzuckerw'ertu des Zuckerkontingentes
ansprachsberechtigten Zuckererzoogungsstätbii für die jeweilige Botriebsperiode zu
gleichen Teilen zugewiesen. Im Falle einer Herabsetzung des Zuckerkontingentes
428
Autpitz.
unter das mit § 5 des Gesetzes vom 31. Jänner 1903, R.-G.-BI. Nr. 26, für
die Betriebsperiode 1903/4 bestimmte Ausmali werden die lndividualanteile an
dem Rohzuckerwerte des Zuckerkuntiugentes verhältnismäßig vermindert.
S 5.
Die Unternehmer von ZuotererzengungsstäUen dürfen den für ihre Erzeugungs-
stätte zugewiesenen Individualanteil an dem Zuckerkontingente au eine oder
mehrere mit einem Individualanteil an dein Zuckerkuntingeiite oder an dem
Rohzuckerwerte dosseiben beteilte Erzcugungsslütto ganz oder teilweise für eine
oder mehrere Hetriobsperioden übertragen.
Der Pinaiizmin'ister kann den Unternehmern der mit einem lndividualanteile
an dem Zuckerkontingente bcteilteu Zuckurerzcuguugsstätten auch im Laufe einer
lietriebsporiudo diu Übertragung eines nicht in Anspruch genommenen Koiiüngent-
teiles an eine andere mit einem lndividualanteile am Zuckurkuntingonto beteilte
Erzeugungsstätte bewilligen.
Die Unternehmer der mit einem lndividualanteile am Ruhzuckerwert des
Zuckerkontingeiites beteilten Zuckererzengungsstätten sind berechtigt, ilireu Indi-
vidualanteil ganz oder teilweise au eine andere mit einem lndividualanteile am
Ruhzuckerwerto des Kontingentes beteilte Zuckererzeugungsstätto für eine oder
mehrere Uetriebsperiodcn zu übertragen, wenn die Summe der Beteilnngsmaßstäbe
für den Rohzuckerwert des Znckorkontingcntos 80.000 nicht übersteigt oder wenn
die Summe der IJotcilnngsmallstäbe zwar 80.000, aber nicht 150.000 übersteigt
und zugleich die Entfernung der beiduu Erzeugungsstätten 25 km Luftlinie nicht
überschreitet.
Jede Übertragung eines Individualanteiles an dem Zuckerkontingente oder
an dem Rohzuckerwert« desselben ist dom Finanzministerium anzuzeigen, und zwar
spätestens am 1. September jener Betriebsperiode, für welche oder von welcher
ab die Übertragung wirksam sein soll.
§ 6.
Die Wegbringung von Zucker gegon Entrichtung der Verbrauchsabgabe
darf nur nach .Maligabe der vom Finauzmiuister jeweilig liberierten Mengen und
nur insoweit erfolgen, als das Verfügungsrecht über den der wegzubringenden
Zuckermenge unter Zugrundelegung der Ausbeute von 90 hj Konsumzucker ans
100 kij Rohzucker entsprechenden Rohzuckerwert des Zuckerkontingeiites nachge-
wiosen wird.
Bildet Rohzucker den Gegenstand der gegen Entrichtung der Vcrhrauchs-
abgabc stattfindenden Wegbringuug, so ist nicht das wirkliche Gewicht desselbon,
sondern nnr der dem im vorstehenden Absätze bezeichnten Ansbeutcverhältnisse
entsprechende Konsumzuckcrwcrt in das Kontingent einzurechnen.
Die jeweilig liberierten Teilmengen des Znckerkontingentos können nur iiu
Laufe der betreffenden Betriebsperiode weggebracht werden.
Wenn Unternehmer der mit einem lndividualanteile an dein Zuckerkontingente
beteilten Erzengungsstätten durch Zurückhalten von liberierten Mengen des
Zuckerkontingentes die regelmäßige Versorgung des Marktes stören und die
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Österreich-Ungarn und die Brüsseler Znckerkonvention.
429
zurückgebaltenen Zuckonnengcu nicht binnen einer fallweise mit mindestens
14 Tagen zu bestimmenden Frist in den Verkehr bringen, so kann der Finanz-
minister das Recht zur Versteuerung der zurückgehaltenen Zuckermengen anderen
mit einem ludividualanteile au dem Zuckerkontingente beteilten Zuckererzeuguugs-
stätteu einräumen.
Es ist gestattet, den gegen Kinrechnnng in das Kontingent wegzubringenden
Zucker unversteuert unter dem Hände der Verbrauchsabgabo in ein ZuckcrfreUager
einzulageru. Derart eingelagerter Zucker muß vor Ablauf der betreffenden Betriebs-
periode gegen Entrichtung der Verbrauchsabgabe weggebracht werden, wenn der
L'ntcraehmer des Freilagers zugleich Unternehmer der Zuckererzeugungsstätte ist,
aus welcher der uingelagerte Zucker stammt und wenn in dieses Freilager nur
Zucker aus dieser Erzeugungsstätte eingelagert wird. In allen anderen Fällen
muß der in ein Freilager eingelagerte Koutiugentzucker spätestens vier Wochen
uach dem Tage der Einlagerung gegen Entrichtung der Verbrauchsabgabo weg-
gebracht werden.
§ V.
Den mit einem ludividualanteile am Rohzuckorwerto des Zuckerkontiugeiites
bctcilteu Erzeugungsstätten werden spätestens zu Beginn jeder Betriebsperiode
für jeden Monat derselben Berechtigungsscheine ansgefolgt. Diese Berechtigungs-
scheine dienen zur Erbringung des im § Ö, erster Absatz, gefordertem Nach-
weises.
Der Fiuauzminister ist ermächtigt, von den Unternehmern der mit einem
lndividnalanteile au dem Kohzuckerwert« des Zuckerkontiugeiites beteilteu Zucker-
erzeugungsstätten den Nachweis über die bestimmungsgemäße Verwendung der
ausgefolgten Berechtigungsscheine zu verlangen und wenn diesem Verlangen binnen
einer fallweise mit mindestens 14 Tagen zu bestimmenden Frist uicht entsprochen
wird, die Berechtigungsscheine, hinsichtlich welcher der geforderte Nachweis uicht
erbracht wird, einzuzieheu mul zu gestatten, daß die entsprechende Menge des
Zitckerkontingcntes ohne Beibringung des im § ti, Absatz 1, geforderten Nach-
weises weggebracht werden darf.
Sollte sich nach Schloß der Betriebsperiodu herausstetleu, daß die in einer
Znckererzeugungsstätt« während dieser Betriebsperiode erzeugte Zuckermenge, aus-
gedrückt in Kohzuckerwert, geringer ist als der Didividualanteil au dem Kuh-
zuckerwerte des Zuckerkoiitingentes für die betreffende Betriebsperiode, so wird
der Individualanteil der betreffenden Znckererzeuguugsstätte an dem ltohzucker-
werte des Zuckerkontingentes für die darauffolgende Betriebsperiode um diesen
Unterschied vermindert, insofern der Unternehmer nicht uachweist, daß diu
Mindererzeugung in einem unvorhergesehenen Ereignisse oder in einer zulässigen
Kontiiigeutübertragung ihren Grand hatte. Derart verfügbar werdende Teilmengen
werden vom Finanzminister anderen Zuckererzeugungsstätten zugewieseu.
8 8.
Mit dem Vollzüge dieses Gesetzes, welches am Tage der Kundmachung in
Kraft tritt, ist Mein Finanzminister beauftragt.
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DIE LANDWIRTSCHAFT
ALS AUSHANGS PUNKT FÜR EIN SYSTEM
DER POLITISCHEN ÖKONOMIE.')
VON
PR FRIEDRICH KLEINWÄCHTER.
K K HOFBAT UND PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT CZ BRNO WITZ.
Es gibt wohl kein wirtschaftliches Gut, welches seit jeher eine so ent-
gegengesetzte lleurteilnng erfahren hätte wie das Geld. Während fast alle Religions-
Stifter das Geld gewissermaßen als Ausgeburt der Hölle bezeichnen und das
Jagen nach Gold auf das Strengste verdammen, strebt im gewöhnlichen Leben
ein jeder nach Geld und glaubt nie genug desselben erwerben zu können; und
doch erscheint anderseits wieder jedem von uns der Geizhals, der auf seinen
Geldsäcken sitzt, oder der Wucherer als eines der verabscheoungswürdigsten
Wesen. Nicht anders liegen die Dinge auf dem Gebiete derjenigen Wissenschaft, die
ej r professo vom Gelde nnd Geldeswert handelt — der Nationalökonomie. Während
das Merkantilstem sozusagen eine Apotheose des Geldes repräsentiert, wollen die
Vertreter des Kommunismus und Sozialismus vom Gelde nichts wissen. In Uto-
pien kennt man kein Geld nnd werden — um die Edelmetalle so recht verächt-
lich erscheinen zu lassen — die Ketten der Verbrecher aus Gold und Silber
angefertigt und gibt man goldenes nnd silbernes Geschmeide, soviel sie dessen
verlangen, den Irrsinnigen und Kindern als Spielzeug; desgleichen soll im sozial-
demokratischen Volksstaat der Zukunft kein Metall, sondern nur „Arbeitspapier-
geld4* zirkulieren. Und selbst ein Mann wie der alte Boisguillebert, der den
kommunistischen oder sozialistischen Ideen ganz fern steht, spricht vom „mandit
arrrent dessen Dienst lediglich in der Vermittlung der Tauschoperationen be-
steht und das daher ebensogut durch ein „ morccau tle papier u ersetzt werden kann.
Dieser Widerspruch ist nie ganz geschwunden, sondern hat sich bis auf den
heutigen Tag erhalten. Er wird heute repräsentiert durch dasjenige, was die
Engländer als „woneg intercsl u und als „land inlerrst u bezeichnen, d. i. durch
den Gegensatz von Industrie und Handel auf der einen und der Landwirtschaft
auf der anderen Seite, nnd aus ihm erklärt sich auch die Abneigung, mit der
*) Dr. G. Ruh land, o. ö. Professor der politischen Ökonomie an der Universität
Freiburg (Schweiz): „System der politischen Ökonomie. I. u. II. Band: Allgemeine
Volkswirtschaftslehre. Bd. I.“ Berlin, Wilhelm Isslcib, 1903.
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Die Landwirtschaft als Ausgangspunkt für ein System etc.
431
alle sogenannten konservativen Elemente — die Landwirte an der Spitze — dem-
jenigen Orte gegenüberstehen, an dem das Geld die hervorragendste Rolle spielt:
der Börse.
Der letzte Grund dieser eigentümlichen Erscheinung ist ein ziemlich tief
liegender. Das Geld sieht auf den ersten Blick ganz harmlos aus. es besteht aus
blanken Metallstücken, denen der Staat seinen Stempel aufgeprägt hat und es
erscheint ganz unbegreiflich, warum diese glanzenden Metallstücke verabscheuungs-
würdig sein sollen. Auch die wirtschaftliche Funktion des Geldes ist zunächst
eine ganz unverfängliche, denn sie besteht darin, die Schwierigkeiten zu beseitigen,
die sich dein Natural tausche entgegenstellen. Man vergegenwärtige sich nur —
um mit Roscher zu sprechen — einen Nagelschmied, der nichts anderes an-
znbieten hat als seine Nägel und der eine Kuh zu erwerben wünscht. Wie lange
wird der Mann suchen müssen, bis er einen Besitzer einer Kuh findet, der just
so viele Nägel braucht als die Kuh wert ist! Tritt jedoch das Geld dazwischen,
so verkauft der Mann seine Nägel in kleinen Partien gegen Gold und legt
die Münzen zusammen so lange, bis er die Summe hat, die die Kuh kostet.
Wenn also trotzdem das Geld von so vielen natioiialökonomischen Schriftstellern
verabscheut wird, so muß ein tieferer Grund vorliegen, der jene Abneigung
rechtfertigt.
Dieser Grund liegt auch tatsächlich vor und bestellt darin,* daß das Geld
heute zum wesentlichsten Herrschaftsmittel geworden ist. Die Bedeutung dieses
Wortes wird klar, wenn man sich das Wesen der Güterproduktion vergegen-
wärtigt. Fast jede menschliche Produktion beruht auf dem gleichzeitigen harmo-
nischen Zusammenarbeiten mehrerer Personen nach einem einheitlichen Plane; ein
derartiges Zusammenarbeiten mehrerer Personen aber ist nur denkbar, wenn die
Betreffenden sieb einem einheitlichen leitenden Willen unterwerfen. Mit anderen
Worten: eine der wesentlichsten Voraussetzungen fast jeder Produktion ist der
Gehorsam der zusammonwirkenden Personen, und damit ist von selbst die Frage
gegeben, auf welche Weise mau die Menschen zum Gehorsam veranlassen kann.
Die Antwort ist eine naheliegende: derartiger Mittel gibt es vier.
Es ist zunächst möglich, daß die Menschen freiwillig gehorchen. Ein der-
artiger Gehorsam kommt aber bekanntlich nicht leicht vor, denn er setzt einen
relativ hohen Grad von Einsicht und Selbstbeherrschung voraus. Er setzt nämlich
einmal voraus, daß die Menschen die Notwendigkeit des Gehorchens einsehen,
und er setzt zum zweiten voraus, daß die Betreffenden den angestrebten Zweck
der fraglichen Produktion klar erkennen und richtig zu würdigen wissen. Speziell
diese letztere Voraussetzung wird in den meisten Fällen und ganz besonders
dann nicht zutreffen, wenn es sich um die Verwertung einer neuen Erfindung
handelt. Man versuche es doch beispielsweise, Leuten, die von der Bedeutung
der Elektrizität keine Ahnung haben, die Vorteile eines Elektrizitätswerkes klar
zu machen und sie dazu zu bewegen, daß sie sich zusammoiitun und etwa die
dazu erforderlichen Wasseranlagen samt den notwendigen Maschinen hersteilen,
l’nd wenn — was ja kaum zu vermeiden ist — der orsto derartige Versuch
mißlingt und die erste Anlage sich als verfehlt erweist, so unternehme man
es, die Leute dazu zu bringen, daß sie das ganze Werk zum zweiten Male hersteilen.
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432
Kleinw&chter.
Dur Gehorsam kann zum zweiten auf dem Antoritäbsgefülile, <1. i. auf dem-
jenigen Gefühle beruhen, «reiches die Staminesangehörigen ihrem Patriarchen,
die Soldaten ihrem sieggewohnten Heerführer odor die Angehörigen einer reli-
giösen Sekte ihrem Propheten cntgegeubriugen. Ein derartiger blinder Gehorsam
kann unter Umstünden geradezu Wunder bewirken, aber er ist zumeist einem
Strohfeuer zu vergleichen und erlischt nur zu leicht, wenn der Prophet oder der
Heerführer stirbt oder wenn er sich eine bedeutende Blöße gibt, überdies ist
das Autoritätsgefühl — speziell das der Staminesangehörigen — zumeist auf
einen engen Kreis (der persönlichen Bekanntschaft) beschränkt.
Ist auf diese Weise von den beiden gedachten Arten des Gehorsams nicht viel
zu erwarten, so bleiben nur die zwei anderen Mittel übrig, d. i. der Zwang und
das Inaussichtstellen eines Vorteils, Dio rohe physische Gewalt, d. i. also die
Sklaverei, ist zwar geeignet den Gehorsam zu erzwingen, sie hat bekanntlich auch
in der Geschichte der Menschheit eine sehr große Bolle gespielt, aber der Ge-
horsam des Sklaven ist doch nur ein widerwilliger und äußerlicher, d. h. der
Sklave arbeitet nicht freudig und arbeitet nur soviel als er unbedingt muß.
Ganz anders dagegen, wenn man dem Betreffenden einen selbstverständlich ent-
sprechenden) Vorteil in Aussicht stellt, weil auf diese Weise der Arbeitende eiu
Interesse au seiner Leistung gewinnt. Er ist bestrebt, die Zufriedenheit des
sogenannten Arbeitgebers zu erringeu und trachtet daher, die Arbeit so gut
auszuführen als er kann. Will man den Arbeitenden dauernd au sich fesseln,
d. h. will man ihn zum dauernden Gehorsam veranlassen, so muß man ihm be-
greiflicher Weise einen dauernden Vorteil in Aussicht stellen, und dies kann auf
dreifache Weise geschehen.
Wir pflogen heute bekanntlich dem Dienenden eiue bestimmte Geldzahlung
zu versprechen, diese Summe wird jedoch selbstverständlich nicht anf einmal,
solidem in Wochen-, Monatsraten o. dg!, ansgezahlt, und jedesmal wird dio
Zahlung der nächsten Kate davon abhängig gemacht, daß der Betreifende in der
Zwischenzeit seinen Verpflichtungen zur Zufriedenheit des Dienstherrn uaclige-
kommen ist.
Vielfach in Verbindung mit diesem wird das zweite Auskunftsmittcd in An-
wendung gebracht, welches darin besteht, daß die Erlangung gewisser (größerer;
Rechte von der gewissenhaften Erfüllung der geforderten Pflichten abhängig ge-
macht wird. Es ist dies der bekannte Anspruch der Fixangestelltcn auf Dienst-
altersznlagen, auf Beförderung auf höhere Dienstposten, auf Altersversorgung
u. dg]., der namentlich für den öffentlichen Dienst von so ungeheuer weittragen-
der Bedeutung ist. Auch für sich allein wird dieses Auskunftsmittel in Anwendung
gebracht und dient beispielsweise auf dem Gobiete des öffentlichen Unterrichts-
wesens dazu, die Disziplin unter der studierenden Jugend aufrecht zu erhalten
und die jungen Leute zum ernsten .Studium zu veranlassen. Beiläufig bemerkt,
war vor der Einführung der schrankenlosen Gewerbefreiheit auch dies das Mittel,
um die Handwerkslehrlingn und -Gesellen zur strengen Pflichterfüllung zu ver-
halten, weil der junge Mann weder zum Gcsellou noch zum Meister emporsteigen
konnte, wenn er von seinem Lehr- beziehungsweise Dionstherm nicht das ent-
sprechende Zeugnis erhielt.
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Die Landwirtschaft als Ausgangspunkt für ein System eto.
433
Die periodische Auszahlung einer bestimmten Geldsumme setzt aber selbst-
verständlich voraus, daß man Geld hat, d. h. dal! eine genügende Menge baren
Geldes im Volke zirkuliert. Im Mittelalter und speziell in seiner ersten Hälfte
war dies nicht der Fall, und aus diesem Grunde mußt«! man sich eines anderen
AuskunflstnitUds bedienen, wenn man jemandem einen materiellen Vorteil bieten
wollte, um ihn dauernd an sich zu fesseln. Dieses Ausknnftsinittel bot sich dar
im Grundbesitz oder präziser ausgedrückt iiu Lehenwesen. Wollte der Herr einen
Vasallen dauernd an sich fesseln, so übergab er ihui Grundstücke, aber nicht
ins freie Eigentum, sondern nur zur Nutzung. Der Herr übergab dem Vasallen
Grundstücke zu erblichen Nutzung, aus denen der Vasall, solange er seinen Ver-
ptlichtungcn gewissenhaft nachkam, sich — um einen modernen Ausdruck zu
gebrauchen — sein Gehalt gewissermaßen herausackeru durfte. Das sogenannte
Ohereigentum behielt der Herr für sich, und au dieser Schnur hielt er seinen
Vasallen fest, denn sobald dieser sich's beifallen lassen wollte, seine Vasallenpflichten
zu vernachlässigen, konnte der Herr kraft seines Obcreigenluins das Nutzungs-
oder Untcreigeutum an sich ziehen — und der Vasall war au die Luft gesetzt.
Das alles ist ziemlich bekannt, was aber bisher vielleicht weniger gewür-
digt wurde, ist der Umstand, dafl die vorstehenden Erwägungen geeignet sind,
gewisse grolle volkswirtschaftliche Tatsachen in einem uoncu Lichte erscheinen
zu lassen und demgemäß die gangbare nationalekonoinische Theorie teilweise
richtig zu stellen. In allen nationalükouomiscbcn Lehr- und ' Handbüchern
werden die sogenannten drei „staatswirtschaftlichon Systeme“, d. i. der In-
begriff jener Maßregeln eingehend gewürdigt, die von den Regierungen der
verschiedenen Kulturvölker seit dem Beginn der sogenannten Neuen Zeit in An-
wendung gebracht wurden, um die Wirtschaft der ihrer Leitung auvertraoten
Völker zu heben. Das erste dieser Systeme ist das sogenannte Merkautilsystem ;
die Beurteilung jedoch, die dasselbe in der volkswirtschaftlichen Literatur im
Laufe dor Zeit erfahren hat, ist eiuo ziemlich verschiedene. Daß das Merkantil-
system von seinen Anhängern und ersten Vertretern als ein Arcanum, als ein
unfehlbares Mittel gepriesen wurde, die Völker reich uud glücklich zu machen,
ist selbstverständlich und bedarf keiner weiteren Begründung. Mit der Zeit kamen
jedoch die Gegner uud die Kritiker.
Die ersten unter ihnen erblickten im Merkautilsystem nichts andores als
ein ganz unvernünftiges nnd unsinniges Haschen nach Geld und Silber, also eino
Art Midas-Fabid. Die Kegierungeu — so lehren jene Autoren — seien unter der
Herrschaft der merkantilistischen Ideen ungefähr auf dem Standpunkte gestanden,
den der einfache Mann aus dem Volke einniuunt, wenn er sagt: „Reich ist der-
jenige, der viel Geld hat.“ b'nd um das Volk in diesem Sinne „reich“, d. Ii.
reich an Gold und Silber zu machen, seien die Regierungen bestrebt gewesen,
die Produktion und den Export von hochwertigen ßanzfabrikaten zu fördern, weil
ja der Export beziehungsweise der Überschuß des Exportes über den Import
durch Sendungen von Gold nnd Silber aus dein Auslande nach dem lnlande be-
glichen werden muß.
Die späteren Beurteiler geben zu, daß eine zwecklose Vermehrung der
Menge des umlaufenden Geldes in einem Lande ein Unding wäre, sio lehren
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Kleinwächter.
jedoch, daß jenes Streßen der Regierungen nach Vermehrung des Geldreichtum»
im Lande sozusagen nur die äußere Schale des Merkaiitilsystems repräsentiere,
daß jedoch dessen eigentlicher und vernünftiger Kern in dem berechtigten Streben
der Regierungen zu erblicken sei, die Industrie ihrer Länder — die bis dahin
nur unbedeutend, nur Handwerk war — auf eine höhere Stufe zu heben, also
eine eigentliche Großindustrie im Lande zn schaffen, l'nd gewissermaßen zur
Entschuldigung führen sie all, daß auch jenes Streben nach Gold und Silber
eine gewisse — durch die Zeitumstflnde bedingte — Horechtigung gehabt habe,
weil einmal speziell in jener Zeit der Übergang von der Natural- zur Geldwirt-
schaft sich zu vollziehen begann, dann weil die Regierungen jener Zeit bemüht
gewesen seien, eine stramme staatliche Verwaltung zu organisieren, zu der man
Beamte und Soldaten brauchte, die selbstverständlich mit Geld bezahlt werden
mußten.
Die neuesten Schriftsteller endlich, wie namentlich Schmoll er und
Bücher, erblicken im Merkantil System das Bestreben der Regierungen, eine ein-,
heitliche Volkswirtschaft zu schaffen. Das Mittelalter besaß koino einheitliche
Volkswirtschaft im heutigen Sinne des Wortes, sondern nur eine Anzahl lokaler
Stadtwirtschaften. Straßen und sonstige Kommunikationsanstalten fehlten im Mittel-
alter fast gänzlich, und infolgedessen mußte jede Stadt, was sie und ihre nächste
Umgebung an gewerblichen Erzeugnissen brauchte, selbst erzeugen. Außerdem
fällt in die sogenannte Neue Zeit die Kntstohnng der heutigen Großstaaten in
der Weise, daß verschiedene, bis dahin selbständige Territorien unter einem
Scepter vereinigt wurden. Diese heterogenen Volkselemente, die eine verschie-
dene Steuer- und sonstige Gesetzgebung besaßen, mußten zu einem einheit-
lichen Staatsganzen verschmolzen werden, und dies geschah durch die Anwendung
der merkantilistischen Regiermigsmaßregeln.
Auf dies« Darstellung und Kritik des Merkaiitilsystems folgt dann in den
Lehrliüchorn der Nationalökonomie die Erörterung des physiokratischen Systems,
welches den natürlichen Rückschlag auf die Loliron der Merkantilsten bildet.
Der Gcilankeninhalt der physiokratischen Lehre läßt sich in zwei kurze Sätze
zusammenfassen: 1. Der Reichtum eines Volkes besteht nicht im Besitze von
Gold und Silber, sondern darin, daß jeder einzelne im Volke mit allen denjenigen
Gütern möglichst reichlich versorgt ist, die man im Leben braucht. Die Stoffe,
aus denen diese Güter allgefertigt werden, werden der Natur entnommen und
aus diesem Grunde ist die Natur die einzige Quelle des Wohlstandes ; ist die
Landwirtschaft im weitesten Sinne des Wortes, also mit Einschluß der Forstwirt-
schaft, der Viehzucht, der Jagd und Fischerei sowie des Bergbaues) die einzig
produktive Beschäftigung. 2. Weil die Landwirtschaft unter der merkantilis tischen
einseitigen Begünstigung von Handel und Industrie vielfach benachteiligt war
und sich nicht frei entfalten konnte, wird die Forderung aufgcstellt, daß sich
der Staat so wenig als möglich in das wirtschaftliche Leben eininischen soll.
Unter der Devise: James faire, laissee passer, la wo mir ra de tut mime“ gedeiht
die Landwirtschaft nnd das ganze wirtschaftliche Leben am besten.
Als drittes wird sodann das sogenannte „Indnstriegystem“ des A d a in S m i t h
behandelt. S m i t li berichtigt einerseits die Lehre der lMiysiukratcn. Hatten diese
Dit* Landwirtschaft als Ausgangspunkt für sin System etc.
4.35
den Satz aulgestelit, (lad nur die landwirtschaftliche Arbeit produktiv sei, so
lehrt Ad. Smith, daß die „ Produktivität* jeder materiellen Arbeit anerkannt
werdeu müsse, „welche den Wert des Stoffes, an den sie gewendet wird, erhöht.“
Anderseits schließt sich Smith den Physiokraten an, indem er erkennt, daß
die vielfache Reglementierung nnd Bevormundung des wirtschaftlichen Lebens
durch die Staatsgewalt, wie sie unter der Herrschaft der merkantilistischen Ideen
an der Tagesordnung war, überflüssig und schädlich ist. Er fordert daher mit
den Physiokraten die möglichst geringe Einmischung des Staates in das Wirt-
schaftsleben.
Hie, Smithsche Lehre wurde im Laufe der Zeit von seinen Nachfolgern
- — wie Gustav Cohn sich gelegentlich in überaus zutreffender Weise aus-
drnckt — zu einer „Nationalökonomie der Börse“ umgestaltet. Schon Smith
hatte bekanntlich den Fehler begangen, daß er die Ungleichheiten der einzelnen
Menschen im wirtschaftlichen Leben unberücksichtigt ließ, d. h. daß er von der
stillschweigenden Voraussetzung ausging, daß die Menschen bei Geschäfts-
abschlüssen sich ausschließlich von der Rücksicht auf ihren Vorteil (also vom
KigenintereSse) leiten lassen, und zweitens, daß doch jeder selbst am besten
wisse, was ihm frommt, oder mit anderen Worten, daß jeder ein gewisses Quan-
tnm von Verstand nnd Einsicht mitbringe. Anf dieser Grundlage wurde von
seinen Nachfolgern — ganz besonders von dem Bankier Ricardo — weiter
gebaut, und so gelangte man dazu, das ganze Wirtschaftsleben der Menschen
als eine ununterbrochene Reihe von Kauf- uud Verkaufgeschäften aufzufassen,
bei denen sich jedesmal zwei unabhängige gleichgewiegt« Kanfleutc gegenüber-
stehen, die — mit reichem kaufmännischen Wissen ausgerüstet — miteinander
regelrechte Börsengeschäfte, u. zw, selbstverständlich nach dein ewigen nnd un-
abänderlichen „Gesetze“ von Angebot nnd Nachfrage, abschließen. Unter solchen
Umständen muß jeder Eingriff der Staatsgewalt in das Wirtschaftsleben nur
störend wirken und von Nachteil sein, denn das gesamte Wirtschaftsleben regu-
liert sich unter der Herrschaft der Naturgesetze von selbst. Haß die gedachten
Voraussetzungen im wirklichen Lehen fast nie zutreffen, daß zumeist auf der einen
Seite eine unabhängige wirtschaftliche Position, anf der anderen Seite eine
wirtschaftliche Not oder eine Zwangslage vorliegen — daß auf der einen
Seite der rücksichtsloseste Egoismus, auf der anderen Seite alle erdenklichen
Rücksichten anf die Vorschriften der Religion, der Gesetzgebung, der Moral, der
Staudessitten n. dgl. mitspielen — daß auf der einen Seite die rafliniertest» ge-
schäftliche Geriebenheit, auf der anderen Seite geschäftliche Unkenntnis, Unver-
stand. Trägheit, Leichtsinn otc. herrschen kann ; kurz, daß jeder Geschäftsabschluß
das Resultat eines Kampfes ist, in welchem jeder Teil (so gut oder schlecht er
es eben versteht) die Vorteile seiner Position nach Kräften auszunutzen bestrebt
ist, nnd daß aus diesem Kampfo ( wie überhaupt aus jedem Kampfe) der stärkere
Teil als Sieger hervorgeht, von dem allen hatten die guten Herren auch nicht
die leiseste Ahnung.
Au dieser Dreiheit der sogenauuten „staatswirtschaftiichen Systeme“ —
Merkantilsystem, System der Physiokraten, Industrie- oder Freihandelsystem —
hat die gangbare Lehre seither festgehalten, sieht inan jedoch etwas genauer
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Klein Wächter.
hin, so erscheint einigermaßen fraglich, ob man an dieser Dreiheit auch fernerhin
festhalten darf. Anf den ersten Klick scheint nämlich zwischen der Lehre des
Ad. Smith und seiner Nachfolger und zwischen dem Merkantilsystem eine un-
überbrückbare Kluft zu gähnen. Die Merkantilisten erblicken den Reichtum des
Volkes in dem Besitze von möglichst viel Gold und Silber — Smith dagegen
lehrt, daß die Arbeit allein die Quelle des Volkswohlstandes ist. Die Merkantilsten
verlangen, daß der Staat nach allen erdenklichen Richtungen hin eingreifen und
reglementieren soll, um die Industrie auf jede mögliche Weise zu fördern — die
Vertreter der Freihandelslehre hingegon fordern, daß der Staat sich jeder Ein-
mischung in das Wirtschaftsleben möglichst enthalten soll. Das sind die denkbar
schärfsten Gegensätze, wo also soll das verbindende und einigende Moment
liegen? — Und doch ziehen beide an demselben Strang.
Das Merkantilsystem ist der ungezügelte Durst nach Gold und Silber
und dieses Streben — so widersinnig es anf den ersten Blirk zu sein scheint
— erklärt sich ungezwungen aus der Tatsache, daß man zu jener Zeit, wenn
auch vielfach unklar und unbewußt, die Bedeutung des Geldes für das Wirt-
schaftsleben nnd seine Macht zu ahnen begann. Wie bereits oben erwähnt wurde,
beruht fast die gesamte Produktion auf dem Zusammenwirken mehrerer Menschen
nach einem einheitlichen Plane. Es handelt sich also darum, die Menschen
zusammenzufassen und sie zur Unterwerfung unter den einheitlichen leitenden
Willen zu veranlassen, und gerade dieses Bedürfnis trat mit dem Beginn der
sogenannten Neuen Zeit mit besonderer Intensität hervor. Auf der einen Seite
waren es die Landesfürsten, die ergebene Beamten nnd Soldaten brauchten, um
die ihrem Sceptcr unterworfenen heterogenen Ländergebiete stramm zu administrieren
nnd zu einem Einheitsstaate zusammenzuschweißen. Anf der andern Seite standen
die aufkeimenden industriellen Großuntemehmnngen, die sogenannten „Manufak-
turen“, an welche die Aufgabe herantrat, immer größere Scharen von Arbeitern
zusammenzufassen nnd in ihren Betrieben zum harmonischen Zusammenwirken
zu vereinigen. Nun war aber zu jener Zeit die Sklaverei in Europa längst abge-
schafft und an eine Wiederherstellung derselben nicht zu denken. Das Lehen-
wesen hatte sich — wenn man so sagen darf — ausgelebt, d. h. der Grund
und Boden war verteilt, und es waren keine Ländereien mehr vorhanden, die
man hätte als Lohen ansteilen können; überdies war in der Stadt selbstverständ-
lich mit dem Lehenwesen erst recht nichts anzufangen. Man mußte sieb daher
nach einem anderen Ausknnl'tsmittcl Umsehen, um die Menschen zum Gehorsam
und zum Zusammenarbeiten zu veranlassen, und als solches tat sich sozu-
sagen von selbst das Geld dar, das ja in der Stadt schon seit längerer Zeit
zur Lohnzahlung, speziell an die Handwerksgesellen, verwendet wurde. Soll aber
das Geld in größerem Maßstabe zur Lohnzahlung verwendet werden, so maß man
es selbstverständlich vorerst haben, d. h. es müssen — was im geldarnien Mittelalter
bekanntlich nicht der Fall war — entsprechende Mengen zirkulierenden Geldes im
Lande vorhanden sein, nnd die Mittel nnd Wege, wie ein Land in den Besitz von
Gold und Silber gelangen kann, die lehrte nnd wies uhen das Merkantilsystem.
Hierin liegt die eigentliche Bedeutung dieses Systems. Die Menschheit der
damaligen Zeit brauchte Geld, aber nicht — wie die späteren Nationalökonomen
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Pie Landwirtschaft al« Anegangepnnkt fUr ein System etc.
437
lehrten — weil iui Anfänge der ««genannten Nenen Zeit «ich der Übergang von
der Natural- zur Goldwirtschaft z.n vollziehen beginnt, sondern man brauchte das
(leid als Herrschaftsmitte], um die Menschen speziell unter den Willen des in-
dustriellen Großunternehmers (denn in den landw irtschaftlichen Großbetrieben
behalf man sich noch immer mit lehenartigen Verhältnissen! r,u zwingen und
sie zur Arbeit in den gewerblichen Großbetrieben zu nötigen. Kine derartige
Produktion, bei der eine größere Anzahl von Arbeitern produziert und durch
Zahlung eines Geldloh lies zum Gehorsam und zum Zusammenarbeiten nach dem
Plane und dem Willen eines „Herrn* verhalten wird, bezeichnet inan als „kapi-
talistische Produktion“. Pas Merkantilstem diente somit dazu — und das war
sein eigentlicher Zweck und seine eigentliche Bedeutung — die sogenannte kapi-
talistische Produktion in die Welt zu setzen; dein gleichen Zwecke aber dient
die Freihandelslehre. Die Lehre nämlich, daß jeder, der Arbeiter wie der Guts-
besitzer und wie der Kaufmann ein Warenverkäufer sei, und die stillschweigende
Annahme, daß die jedesmaligen Käufer und Verkäufer sich als gleich starke und
ebenbürtige Kontrahenten gegemiberstehen, oder init anderen Worten, der kind-
lich-naive Glaube, daß der Preis aller Gütor durch das ewige und unabänderliche
„Gesetz“ von Angebot und Nachfrage gebildet werde, bot eine überaus bequeme
Handhabe, um alle Schritte und Maßnahmen aller Kapitalisten 'Unternehmer''
gegenüber ihren Arbeitern zu rechtfertigen und als vollkommen legitim hinzu-
stellen. Für den Starken bildet ja der Grundsatz der wirtschaftlichen Freiheit
den überaus wertvollen Rerhtstitel, um den Schwachen in aller Form Rechtens
nach Herzenslust und nach allen Richtungen hin ansbeuten zu dürfen. Wnltl
waren nnter der Herrschaft der merkantilistischen Ideen die Regierungen bestrebt,
durch alle erdenklichen Eingriffe und Maßregein die Industrie zu fördern, während
die Staatsgewalt unter der Herrschaft der „liberalen* Ideen sich jeder Ein-
mischung in die Wirtschaft der Individuen tunlichst enthält. Aber im Wesen
dienten alle Regierungsmaßregeln der merkantilistischen Epoche nur dazu, die
Unternehmer — und nicht etwa die Arbeiter — zu unterstützen und zu för-
dern, und dem gleichen Zwecke dient nnter der Herrschaft der „Freiheit“ die
Nichteinmischung der Staatsgewalt, weil sie die Arbeiter als den schwächeren
Teil den Unternehmern schutzlos ausliefert.
Anderseits aber kann nicht geleugnet werden, daß die kapitalistische
Produktion — wenigstens in der heutigen Welt — bis zu einem gewissen Grade
geradezu unentbehrlich ist. Der Reichtum eines Volkes und sein Fortschritt be-
steht in der Herrschaft über die Naturkräfte. Hiezu aber sind zumeist Anlagen
erforderlich, deren Herstellnng die Kräfte eines einzelnen weit übersteigt, die
also das Zusammenwirken einer größeren Anzahl von Menschen erfordert. Sollen
daher derartige Anlagen hergestellt und in Betrieb gesetzt werden, so muß mail
die Macht besitzen, die Menschen zur Arbeit und zum Gehorsam zu verhalten,
und dies geschieht heute am einfachsten und kürzesten durch die Zahlung eines
Geldlohnes. In Utopien wäre die Regierung, wenn sie größere Anlagen Eisen-
bahnen, .Schiffahrtskanäle, Elektrizitätswerke u. dgl.) hersteilen lassen wollte, auf
den freiwilligen Gehorsam der Bürger angewiesen, und wenn diese die fraglichen
Arbeiten nicht auf sich nehmen wollten, weil sie den Zweck und die Vorteile
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Kleinwäehter.
der neuen Anlagen nicht einsehen, so niüflte die Regierung — nenn es ihr
nicht gelingt, die Bürger zu belehren und zu überzeugen — auf die Durch-
führung ihrer I’lj'tm* verzichten, ln der heutigen Welt vollführt der Kapitalist
(der Unternehmer) mit seinen blanken Gold- und Silberstücken dieses Kunststück
sozusagen iin Handumdrehen. Kr verspricht den betreffenden Personen einen an-
gemessenen I.ohn, und da heute jeder darauf angewiesen ist, zu verdienen, so
greift jeder bereitwilligst zu und vollführt die gewünschte Leistung, ohne weiter
nach ihrem Zweck zu fragen. Besitzt der Unternehmer selbst die erforderliche
Geldsumme, so kann er sofort an die Ausführung seiner Pläne schreiten, und
besitzt er das Geld nirht, so wird es immer noch verhältnismäßig leicht fallen,
ein paar Kapitalisten für die Idee zu gewinnen, die dann das nötige Geld zu-
sammenschießen. — Hierin liegt die ungeheure Bedeutung der kapitalistischen
Produktion in der heutigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.
Merkantilismus und ökonomischer Liberalismus repräsentieren also nicht
zwei verschiedene „staatswirtschaftliche Systeme“, sondern sind zwei Entwicklungs-
Stadien eines und desselben staatswirtschaftlichcn Systems, nämlich der sogenannten
.kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung“ oder — präziser aus-
gedrückt — : des Industrialismus, denn diesen beiden sogenannten „Systemen“
ging es in erster Reihe nur darum, die Industrie um jeden Preis in die Höhe
zu bringen. Will man die Sache mit anderen Worten ausdrücken, so kann man
sagen, daß mau es hier mit dem uralten Gegensatz von Stadt und Laud oder von
Gewerbe und Landwirtschaft zn tun hat. Der Merkantilismus und der ökonomische
Liberalismus (das sogenannt« „Industriosystcm des Ad. Smith*) repräsentieren
die Interessen der Industrie und des Handels — der sogenannt« Physiokratisinus
die der Landwirtschaft.
Fast die gesamte nationalökonomische Literatur nach Ad. Smith hat
sich darin gefallen, dem Industrialismus und Kapitalismus zu dienen, und speziell
die sogenannte liberale Nationalökonomie hat das gesamte Wirtschaftsleben immer
nur so aufgefaßt, als wäre die ganze Welt ein einziger großer Börsensaal, in
welchem alle Menschen von ihrer Geburt bis zu ihrer Sterbestunde eine ununter-
brochene Reihe vou Börsengeschäften abschließen. Später kam wohl die moderne
(deutsche) sogenannte kathedersozialistische Richtung der Nationalökonomie, und
diese hat nach zwei Richtungen hin segensreich gewirkt, weil sie die bisherige
Theorie und Praxis berichtigte. Sie hat einmal die theoretischen Grundlagen des
ökonomischen Liberalismus einer eingehenden Kritik unterzogen und hat — wie
bereits oben angedeutet wurde — gezeigt, daß das wirkliche menschliche Leben
sich nicht ausschließlich nach den Regeln dor kaufmännischen Berechnung ali-
spielt; sie hat damit den Nachweis erbracht, daß das Bild, welches die liberale
Ökonomie VOtl dem Wirtschaftsleben entwarf, ein einseitiges und somit schiefes
war. Sie hat zum zweiten erkannt, daß die stillschweigende Annahme, von der
die liberale Richtung ausging, als ständen sich bei jedem Geschäftsabschlüsse zwei
gleiche und ebenbürtige Partner gegenüber, eino irrige war und bat nachgewiesen,
daß zumeist zwei ungleich starke Gegner im wirtschaftlichen Kampfe sich gegen-
überstehen, und daß daher dieser Kampf in der Regel zum Vorteile des stärkeren
und zum Schaden des schwächeren Teiles ausschlägt. Und indem die moderne
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Die Landwirtschaft als Ausgangspunkt für ein System etc.
439
sogenannte kathedersozialistische Richtung diesen Nachweis erbrachte, hat sie
wesentlich mit dazu beigetragen. daß die heutige Arbeifcerschutzgesefczgebnng ent-
stand. die sich’s zur Aufgabe stellt, den wirtschaftlich Schwachen gegenüber dem
wirtschaftlich Starken zu schützen. Die moderne nationalökonomische Richtung
ist also zwar bestrebt, dem Kapitalismus einigermaßen entgegenzutroten und seine
Auswüchse zu beschneiden, aber im Industrialismus ist sie trotzdem stecken ge-
blieben, denn sie bat sich (allerdings unter dem Drucke der sozialistischen Lehre)
fast ausschließlich darauf beschränkt, die Vorgänge auf dem Gebiete der Industrie
und des Handels und insbesondere das Verhältnis der Arbeiter zu ihren Arbeit-
gebern einer Erörterung zu unterziehen — die Frage der Landwirtschaft dagegen
ist (fiat wäre man geneigt zn sagen:) unberücksichtigt geblieben, lind dies ist
aus einem zweifachen Grunde unrichtig.
Zunächst ist die theoretische Grundlage des Indnstrialismns eine teilweise
irrige. Wenn nämlich Ad, Smith im Gegensätze zu den Physiokraten den Satz
aufstellte, daß nicht nur die landwirtschaftliche, sondern überhaupt jede mate-
rielle (also auch die gewerbliche,) Arbeit produktiv ist, wenn sie den Wert
des betreffenden Stoffes erhöht, so hat er — rein theoretisch gesprochen —
unbedingt recht, denn unsere gesamte sogenannte Produktion besteht (da wir
bekanntlich auch nicht ein einziges Stäubchen ans Nichts zu schaßen vermögen)
lediglich darin, daß wir gewisse, für uns wünschenswerte Naturstoffe oder -Gegen-
stände herbeischaffen, daß wir sie in eine uns wünschenswerte (chemische oder
mechanische) Verbindung bringen oder ans einer derartigen Verbindung heraus-
lösen, oder daß wir ihnen eine uns wünschenswerte Form geben. Und das tut
der Gewerbetreibende ebensogut wie der Landwirt, der Jäger oder der Bergmann.
Und ebenso richtig ist es, daß uns mit der bloßen Rohproduktion nur wenig ge-
dient ist, weil die meisten Rohstoffe — ehe sie unseren Bedürfnissen dienen
können — vorher einer gewissen Be- oder Verarbeitung bedürfen. Mit anderen
Worten, wenn wir unsere materiellen Bedürfnisse befriedigen wollen, so müssen
Rohproduktion und gewerbliche Arbeit Hand in Hand gehen.
Wenn jedoch Ad. Smith lehrte, daß die Arbeit allein Reichtum schaffe,
und wenn seine Nachfolger, gestützt anf diese Behauptung, die Lehre von der
„ernährenden Kraft“ der industriellen Arbeit aufstellten, so war dies nicht nnr
ein kolossaler, sondern ein überaus folgenschwerer Irrtum. Unsere gesamte
„Arbeit“ ist nichts weiter als Bewegung und sich bewegen, d. h. laufen, springen,
mit den Armen in der Luft herumfuchteln kann jeder soviel er will. Wenn
jedoch nnr diese Muskelanstrengnng sich nicht an irgend einem Stoffe verkörpert,
so ergibt sie auch kein greifbares Resultat, sondern bleibt eine einfache Turn-
übung. Die Arbeit „an sich“ ist also, wirtschaftlich betrachtet, gar nichts und
am allerwenigsten eine „Quelle des Reichtums“; zu einer solchen kann sie erst
werden, wenn sie ein wertvolles Produkt liefert, allein auch dies nur bedingungs-
weise. Der Mensch muß nämlich bekanntlich — wenn er leben will — zunächst
essen; wenn er also durch seine Arbeit keine Lebensmittel, sondern sonstige Ge-
nußgüter produziert, so kann er verhungern, ln unserer heutigen arbeitsteiligen
und verkebrswirtschaftlich organisierten Volkswirtschaft kann allerdings nicht nur
der Gewerbetreibende, sondern auch der Seiltänzer. Kunstreiter oder Luftspringer
Zeitschrift für VolkavrirtachaO, Soitatpolitlk und Verwaltung XU. Band. 30
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440
Klahiwächter.
nicht bloß leben, sondern unter Umständen auch ein reicher Mann «erden, kann
also auch diese „Arbeit“ Quelle des Reichtums sein, aber immer nur unter einer
Voraussetzung, nämlich dann, wenn der Mann andere findet, die ihm seine
Leistungen mit sonstigen Gätern, und zwar insbesondere auch mit Lebensmitteln
bezahlen. Und dieser Satz, dessen Richtigkeit so handgreiflich ist, daß sie keines
weiteren Beweises bedarf, gilt selbstverständlich nicht nur von einzelnen, sondern
ebenso von einem ganzen Volke. Ein Volk kann sich nur dann zu einem soge-
nannten lndustrievolke answachsen und nur so lange als solches existieren,
wenn und so lange andere Völker vorhanden sind, die geneigt sind, ihm seine
überschüssigen Industrieprodukte abzunehmen und ihm hiefür die notwendigen
Lebensmittel zu liefern. Fehlt diese Voraussetzung oder fällt sie fort, so muß
die ganze Industrieberrlichkeit — so sicher wie zweimal zwei vier ist — zn-
sammenbrechen.
Bet Industrialismus ist aber anderseits wie ein gefräßiges niniinersattes
Ungeheuer und hat im Gegensatz, zur Landwirtschaft die Tendenz, ins ungemessene
zu wachsen. Der landwirtschaftlichen Produktion sind durch die Natur der Dinge,
d. i. durch die Menge und Beschaffenheit des Bodens im Lande, ziemlich enge
Grenzen gezogen, welche nur bedingungsweise (durch eine intensivere Boden-
kultur i bis zu einem gewissen Grade überschritten werdon können, und hieraus
ergeben sich für die Gestaltung der gesamten Volkswirtschaft zwei schwer-
wiegende Konsequenzen. Kin ausschließlich ackerbautreibendes Land kann einmal
selbstverständlich nichts anderes exportieren als Bodenprodukte und dies nur
so lange als es untervölkert ist. Nimmt seine Bevölkerung zu, so wird sich sein
Getreideeiport sukzessiv vermindern, bis er schließlich ganz aofhört, weil dio
gesamte landwirtschaftliche Produktion zur Krnälirung der heimischen Bevölkerung
verbraucht wird. Nimmt die Bevölkerung weiter zu, so wird dieses Land Menschen
exportieren müssen, d. b. die überschüssige Bevölkerung, die in der Landwirte
Schaft kein Unterkommen mehr linden kann, wird abziehen. Zum zweiten ist in
einem ausschließlich ackerbautreibenden Laude auch der Vermögeiisansaminlnng
in der Hand der einzelnen eine gewisse Grenze gezogen, denn die einzige Form,
in der Vermögen angesainnudt werden kann, besteht im Grundbesitz. Ist aber
einmal der gesamte Grand ond Boden in den Privatbesitz übergegangen, so
kann der einzelne in der Hauptsache sein Vermögen nur durch Ankauf von
Grandstücken vergrößern und würde - wenn er Grandkäufe in größerem Maße
vornehmen wollte — die Bodenpreise bald so sehr in die Höhe treiben, daß
das Geschäft bald aufhöreu würde, rentabel zu sein.
Gerade umgekehrt verhalten sich dio Dinge auf dem Gebiete dos Handels
und der Industrie. Industrielle und Handelsunternohmungen können — wie man
zn sagen pflegt — in beliebiger Menge ins Leben gerufen werden und weil
jeder Unternehmer die theoretische Möglichkeit hat, reich zu werden, finden sich
auch immer Personen, die derartige Unternehmungen nen ins Lehen rufen. Ferner
kann jede kaufmännische oder indnstricdle Unternehmung beliebig vergrößert
werden, weil jedor Unternehmer tancli wieder theoretisch i die unbegrenzte Mög-
lichkeit hat oder doch zn haben glaubt, Abnehmer für seine Produkte oder
Leistungen zu finden. Auf der andern Seite fehlt hier das Korrektiv für die
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Die Landwirtschaft als Ansgangspunkt für ein System etc.
441
Bevölkenmgsznnahme. Die wachsende Industrie zieht immer größere Scharen
von Arbeitern an sich und die Ernährung dieser Massen verursacht niemandem
Sorgen» denn selbst wenn diese Massen so zahlreich werden, daß die heimische
Landwirtschaft sie nicht mehr zu ernähren vermag, nun gut. so sucht man die
Industrieprodukto im Auslande abzusetzen und bezieht das fehlende Brotgetreide
von dort. — Die Welt ist ja groß genug!
So ungefähr ging die Sache bis vor kurzem, denn tatsächlich war bis dahin
die Welt rgroß genug“, und dasjenige Land, welches auf dein Gebiete des
Handels und der Industrie am ersten und ain kecksten zugegriffen hat —
England — hat bekanntlich auf diesem Wege ganz erkleckliche Keiehtümer eiu-
geheimst. Allgemach aber beginnt das Blatt sich zu wenden, die Welt hört auf
„groß genug“ zu sein und beginnt zu klein zu werden. Die Seelenzahl der ehe-
mals dünn bevölkerten Agrikultu rstaaten — Amerika voran — wächst, die
Leute dort fangen au einzusehen, daß sie ebensogut industrielle Produkte er-
zeugen können wie die Bewohner der alten europäischen Kulturstaaten und jene
Länder beginnen sich durch hohe Einfuhrzölle gegen die Überschwemmung
mit europäischen Industrieprodukten zu schützen. In den alten europäischen In-
dustriestaaten wird dadurch ein Prozeß ausgelöst, den ich mit den Worten kenn-
zeichnen möchte, daß die europäische Industrie aufäugt, sich selbst totznschlageu.
Anfänglich exportierte man — wie R u h 1 a n d in seinem eingangs zitierten
Werke S. 101 treffend andeutet — die fertigen Fabrikate (fertige Genußgnterl,
welche die früheren Agrikulturstaaten brauchten. Als diese letzteren dann sich
gegen die Einfuhr der Fabrikate sperrten, begann man in Europa die Maschinen
zu exportieren, mit welchen jene Genußgüter hergestellt werden. Später expor-
tierte man die Werkzeugmaschinen, mit welchen die Arbeitsmaschinen erzeugt
werden, l'nd wenn auf diese Weise die Möglichkeit eines Exportes erst recht
untergraben ist, dann tun sich zum Überflüsse noch europäische Kapitalisten zu-
sammen und errichten selbst in den fraglichen Läudern alle erdenklichen Fabriken,
um für sieb, wenigstens für einige Zeit noch, einen Dividendetibezng von dort
zu retten.
Diese Seite der Frage ist von der bisherigen nationalökonomischen Literatur
viel zu wenig gewürdigt worden. Die zünftige Nationalökonomie hat sich viel
zu einseitig mit dem Handel und der Industrie beschäftigt, sie hat in der
Schaffung unserer modernen industriellen RiesenetahlissemenLs und unserer Ver-
kehrsanlaget) eine kolossale Steigerung des Volkswohlstandes erblickt, sie hat die
wirtschaftlichen Vorgänge, die sich auf dem Gebiete des Handels und der Industrie
abspielen (Geld- und Kreditwesen, Verkehr, Verbände der Unternehmer wie der
Arbeiter u. dgl.) genau verfolgt und aufmerksam studiert. Aber weil sie immer
von dein Smith sehen Gedanken erfüllt war, daß die Arbeit allein die Quelle
des Keichtumes sei (als ob Gehirntätigkeit und Mnskelanstrengung für sich allein
im stände wären, greifbare Güter zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse her-
vorzubringen!), hat sie sich nie die Frage vorgelegt, ob es möglich ist, den
Reichtum, d. i. die Wohlfahrt eines Volkes ausschließlich auf der Grundlage des
Handels und der Industrie aufzubauen. Die Tatsache, daß die Güter, die wir
tagtäglich brauchen, aus irgend welchen Naturstoffen augefertigt werden müssen,
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Klelnwlchter
and die weitere Tatsache, daß ein Volk — genau ebenso wie ein einzelner —
nicht einmal existieren kann, wenn ihm der Bezug dieser Naturstoffe nicht ge-
sichert ist. d. i. als» der Zusammenhang von Handel und Industrie auf der einen
und der Landwirtschaft (Urproduktion) auf der andern Seite, blieb unberück-
sichtigt und die Frage, wie sich der Entwicklungsgang und der Verlauf einer
bestimmten Volkswirtschaft gestalten wird und muß, wenn in dem betreffenden
Lande Kapitalismus und Industrialismus überwuchern und die Landwirtschaft
vernachlässigt wird, wurde bis vor kurzem nicht einmal aufgeworfen.
Erst in der allerletzten Zeit sind einzelne Nationalökonomie!, wie Ad.
Wagner, Olden berg u. a. hervorgetreten, welche auf die Gefahren hin-
weisen, denen ein Volk entgegengeht, wenn es die Industrie und den Handel
überwuchern läßt und die Landwirtschaft soweit vernachlässigt, daß das Land
nicht mehr im stände ist, seine Bevölkerung zu ernähren. Ein zusammen fassend es
und systematisches Werk jedoch, welches kontinuierlich auf den Zusammenhang
der genannten drei Wirtschaftsgebiete hinweist und die Schäden anfdeckt, die
ein treten müssen, wenn die Landwirtschaft eines Volkes zurückgeht, hat bisher
in der nationalökonomischen Literatur gefehlt. Ein solches Werk zu liefern unter-
nimmt G. Rn hl and, der unermüdliche Vorkämpfer für die agrarischen In-
teressen in Deutschland, in seinem oben genannten Buche, dessen ersten Band
er soeben der Öffentlichkeit übergeben hat.
Er beginnt mit der Entstehungsgeschichte der bisherigen nationalökono-
misehen Schulsysteme — des Merkantiisysteius, des physiokratisrhen Systems,
der Freihandelslehre und des modernen sozialistischen Systems — uud erklärt sie
als das Produkt der jeweiligen Zeit- und Wirtschaftsverhältnisse. Sehr beachtens-
wert ist, was Ruhland in dem folgenden Kapitel „Das Getreide als Ausgangs-
punkt des Systems“ über die Kultur der verschiedenen Handelsgewächse sagt,
weil er entgegen der vielfach verbreiteten Meinung, daß der Landwirt heute in
der Zeit der sinkenden Getreidepreise zur Kultur von Handelsgewächsen über-
gehen müsse, den Nachweis erbringt, daß di« Fliege dieser Kulturen nicht im
stände ist. der europäischen Landwirtschaft aufzuhelfen. Der „zweite Teil“ des
Buches beschäftigt sich mit der „Entwicklungsgeschichte der Völker“ (des Alter-
tums). speziell der .Inden, der Griechen und der Römer, und sucht zu zeigen,
wie diese Völker an der Vernachlässigung der Landwirtschaft und dem fiber-
wuchern des Kapitalismus zu Grunde gegangen sind.
Vorläufig liegt nur der erste Band des Kühl and sehen „Systems“ vor
und dieser bildet nur die historische Einleitung zum Ganzen, ein abschließendes
Urteil über das Werk ist also noch nicht möglich, allein trotzdem möchte ich
meine Meinung schon heilte dahin aussprechen, daß mir der Grundgedanke, von dem
Ruhland ausgeht, ein richtiger zu sein scheint, weil ich der Anschauung hul-
dige, daß ein Volk, welches in einem bestimmten Lande sitzt und dort eine
selbständige Existenz führen will, auch eine in der Hauptsache in sich abge-
schlossene Wirtschaft führen muß. ' Es fällt mir selbstverständlich nicht entfernt
ein, behaupten zu wollen, daß ein Volk auf allen Handel und Verkehr mit anderen
Völkern verzichten, d. h. daß es keine anderen Produkte an das Ausland al -
setzen und sozusagen auch nicht eine einzige .Stecknadel von dort beziehen solle.
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Die Landwirtschaft als Ausgangspunkt für ein System etc.
443
Aber wenn ein Volk seine wirtschaftliche Selbständigkeit verliert nnd bezüglich
der Deckung seines allcrdringendstcn Bedarfes, des Bedarfes an Lebensmitteln,
von anderen Völkern wirtschaftlich abhängig wird, so liegt — wie ich glaubt?
— die Gefahr überaus nahe, daß auch die politische Selbständigkeit dieses Volkes
bei nächster Gelegenheit verloren geht. Allerdings ist es möglich, daß das frag-
liche Industrieland — wie der Vorgang Englands lehrt — Kolonien erwirbt, die
ihm das notwendige Brotgetreide liefern, aber trotzdem bleibt meines Erachtens die
Frage eine offene, ob ein derartiger Kolonialbesitz auf die Dauer Vorhalten besw. den
Interessen des sogenannten Mutterlandes dienen kann. Staatengehilde können
sich nur so lange erhalten, als dies den Bedürfnissen der zu einem Staatsganzen
verbundenen Völkerschaften entspricht. Und ob es auf die Dauer den Interessen
der Kolontalländer entspricht, sich von dem sogenannten Mutterlande beherrschen
zu lassen oder doch mit ihm verbunden zu bleiben, ist eine andere Frage.
Hiezu kommt ein zweites: Jedes Land und daher auch jedes Kolonialland muß
das Bestreben haben, eine angemessene Bevölkerung zu besitzen, weil es nur
dann eine achtunggebietende Stellung erlanget! kann, wenn es über eine ent-
sprechende Zahl von Menschen verfügt. Und da Kolonialländer begreiflicherweise
anfänglich nur eine dünne Bevölkerung besitzen, so wird jedes Kolonialland
bestrebt sein, durch Begünstigung der Einwanderung u. dgl. auf eine Zunahme
seiner Bewohner hinzuwirken. Je mehr aber die Bevölkerungsziffer wächst, um so
weniger wird die Kolonie in. staude sein, das Mutterland mit Brotgetreide zn
versorgen, nm so weniger wird sie auch geneigt sein, die Industrieerzeugnisse des
Mutterlandes aufzunehmen. Indes, wie dem auch sei, die in Rede stehende Frage
ist gegenwärtig in der Literatur nun einmal angeregt und man darf auf ein
Werk gespannt sein, welches sich’s zur Aufgabe setzt, die Bedeutung der Land-
wirtschaft für die gesamte Volkswirtschaft systematisch und nach allen Rich-
tungen hin zu erörtern.
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LITERATUR BERICHT.
l)r. Adolf BuehenUerger. Finanzpolitik and Staatshaushalt im Groß-
herzogtum Baden in den Jahren 1S50 — 1900. Heidelberg, Winter, 1902.
Das Großheraogtum Baden gilt in Deutschland als ein Musterland und es ist beson-
ders dankenswert, daß der in der Wissenschaft und der Verwaltungspraxis gleich rühmlich
bekannte Fiuanzminister Buchenberger aus Anlaß des 50jährigen Regierungsjubiläutna
de» Großh erzog* eine Darstellung der Finanz Verwaltung seines Landes veröffentlicht
hat. Das kleine Buch ist voll interessanter Daten und sein Wert wird noch erhöht durch
die eingestrenten Bemerkungen und Urteile des erfahrenen Verfasser*. Die süddeutsche
zweijährige Budgetperiode wird gebilligt, da sie sich als ein Hemmschuh gegen das
übermäßig rapide Anschwellen der Ausgaben erwiesen habe. Der Verfasser macht einige
sehr zutreffende Bemerkungen über die Ausgabeninitiative der parlamentarischen Körper-
schaften; » ine Ausgabenerhöhung, welche der Landtag gegen das Verlangen der Regierung
beschließt, verpflichtet trotz ihrer Aufnahme in das Finanzgesetz die Regierung nicht
zur Leistung dieser Ausgabe. Die Überschüsse eines Rechnungsjahres werden nicht, wie
bei den deutschen Reichsfinanzen, im nächstjährigen Budget in Kinnahntc gestellt, sondern
dem Betriebefonds der allgemeinen Staatsverwaltung einverieibt, von welchem noch ein
bestimmter Betrag von 9*5 Millionen Mark als „ eiserner“ Betriebsfonds zur Erleichterung
des Kassenverkehrs ausgeschieden wird. I)»e übrigen Betriebafondsübersclnisse werden
zur Deckung außerordentlicher Aufgaben benützt. Das System der Matriknlarbei träge
und Überweisungen wird scharf kritisiert wegen seiner Schwankungen, welche den Haus-
halt der Einzelstaaten stören und dort jede voraussehende Finanzpolitik unmöglich
machen. Das Anwachsen der Staatsausgaben infolge der modernen gesteigerten staatlichen
Tätigkeit auf allen Gebieten wird sehr anschaulich, wenn auch mit einer gewissen
Besorgnis geschildert. Die Staatacisenbahn Verwaltung ist vom übrigen Staatshaushalt
getrennt, ihr Reinertrag sollte ursprünglich nicht zu allgemeinen .Staatsbedürfnissen, sondern
dauernd zur Verzinsung und Tilgung der Eisenbalinschuld und sonach für allgemeine
Eisenbahnzwecke verwendet werden. Die große Ausdehnung des Bahunetzes und der
Kisenbahnauslagen überhaupt jedoch machten die Aufrechterhaltung dieses Systems
unmöglich, es muß vielmehr, um die Tilgungsquote der amortisabeln Eisenbahnanlehcn
zu bedecken, eine Dotation von mehr als 2 Millionen Mark aus dem allgemeinen Staatsbudget
(wesentlich aus den Post- und Telegrapheuerträgnissen) an den Eisenbahnetat geleistet
werden. Die Steuerreform wird ausführlich geschildert, an dem Widerstand der Landtage,
insbesondere der ersten Kammer, sind die größer angelegten Regierungsentwürfe teilweise
gescheitert. Es bestehen noch die alten Ertragsteuern, die aber durch neue Katastrierung,
insbesondere bei der Grundsteuer durch Aufnahme des Verkehrsprintip», sich zu Partial-
vermögenssteuern entwickeln sollen, daneben die Peraonaleinkouiro engteuer, auch hier ist
die Landwirtschaft mit dem niedrigsten Prozent (11) und das Einkommen auB Dienst-
bezögen mit dem höchsten Prozent (56) am .Steuerertrag beteiligt, gerade sowie in
Österreich. Das Buch enthält sehr übersichtliche Tabellen und ist ein Rechenschafts-
bericht, welcher der Finanzverwaltung des Landes nur zur Ehre gereichen kann.
E. Plener.
Max Sr-hlppel, Zuckerproduktion und Znckerprimien bis zur Brüsseler
Konvention 19U2. Stuttgart, J. H. W. Dietz Nachfolger, 1903. VIII u. 419 S. 6 Mark.
Eine lebendig geschriebene Geschichte der Zuckerproduktion, insbesondere der
Anfänge der Rübenzuckerfabrikation. Die Steuergesetzgebung wird mit Ausnahme der
Literaturbericht.
445
deutschen sehr kursorisch behandelt. Eine ausführliche Darstellung des Prämienwesens
fehlt gänzlich, weder die interessanten französisch* n Steuerprämien, wie sie insbesondere
durch das Gesetz von 1884 geschaffen wurden, noch die deutschen und österreichischen
Kartell prämien werden irgend wie eingehend erörtert, während gerade eine solche Ziffer*
madige Darstellung der Prämien und eine Schilderung ihrer ökonomischen Wirkungen
in einem Buche, das auf seinem Titelblatt die Zuckerprämien als Inhalt angibt, einen
geräumigen Platz einnehmen müßte.
Dagegen werden interessante Daten aus der überseeischen Produktionsstatistik
gegeben, die Versuche. Rübenzucker in den Vereinigten Staaten zu erzeugen, werden
ausführlich geschildert. Michigan. Kalifornien. Kolorado und Utah haben 259.513 acres
Kubenfläche, 47 Fabriken und produzieren 195.000 Tonnen. Rohrzucker wird in den
Vereinigten Staaten hauptsächlich in Louisiana erzeugt, viele primitive Fabriken (275),
doch in letzter Zeit Fortschritte der Technik. Produktion von 280.000 Tonnen, der
Gesamtverbrauch der Union ist aber 21/* Mül. Tonnen, also heimische Produktion im
besten Fall ein Fünftel davon. Hawaii eiportiert 317.000 Tonnen, Portoriko erzeugt
lOü.QOÖ, Kuba 850. 1?0 Tonnen, der Portorikozucker gehl zollfrei ein, während Kuba eine
2Üproz. Ermäßigung erhielt. Die Produktion der Philip} inen soll sich auf der Höhe jener
von Hawaii halten. Die Zölle auf Rohzucker und Raffinade sind ziemlich hoch und außerdem
werden bekanntlich Ausgleichszölle auf prämiierten Rübenzucker gelegt, die interessante
Berechnung dieser amerikanischen Ausgleichszölle wird im Detail nicht angegeben. Noch
immer verhält sich die Itübenzuckereinfuhr zur Rohrzuckereinfuhr wie 1 : 3. Die Entwick-
lung und der Umschlag der öffentlichen .Meinung in England bezüglich der Ausgleichs-
zölle wird sehr anziehend geschildert. Erst die Raffineure, dann die Gewerkvereiue, welche
vom Produzentfnstandpunkt die Prämien als ein unerlaubt«' Unterbieten der fremden
Produzenten mißbilligten, endlich die zunehmende Notlage der Westindischen Kolonien
bringen allmählich jenen Umschwung der öffentlichen Meinung hervor, welche die neue
imperialistische koloniale Schutzpolitik mit großer Energie in eine ganz konkrete Aktion
umsetzt. Vorgearbeitet wurde der Bewegung durcli das Vorgehen der indischen Regie-
rung, welche in erster Linie die weitverbreitete einheimische Rohrzuckererzeugung
schützen wollte. Die große Masse der eingeborenen Bevölkerung konsumiert nur Roh-
zucker, als aber selbst dieser durch den massenhaften Import europäischer Raffinade int
Preise zurückging, legte die indische Regierung auf diese letzteren Ausgleichzölle aus,
womit sie zugleich der Zuckerproduktion von Mauritius, welche gleichfalls nach Indien
stark importiert, unter die Arme greifen wollte. Bekanntlich lut die indische Regierung
diese Ausgleichszölle im vorigen Jahre noch erhöht und das mit Anwendung der in der
Brüsseler Konvention gegen den Prämienzucker aufgestellten Berechnung, obwohl sie
seihst der Konvention gar nicht beigetreten ist. Die davon getroffenen Staaten ließen
sich diesen willkürlichen Vorgang ruhig gefallen und seitdem nimmt der Zuckereiport
Österreich' -Ungarns nach Indien auffallend ab. Der Verfasser schließt seine Ausführungen
mit dem Datum der Brüsseler Konferenz vom 5. März 1902 und unterläßt daher, obwohl
das Buch mehr als ein Jahr später erscheint, eine Besprechung der infolge der Kon-
vention in den verschiedenen Staaten beschlossenen Steuergesetze, die gerade aktuell
gewesen wäre. In der europäischen Publizistik wurde bisher nur die Frage der Verein-
barkeit der neuen österreichischen Kontingentierung mit den Bestimmungen der Brüsseler
Konvention erörtert, dagegen hat sich niemand damit beschäftigt, ob die durch das neue
französische Gesetz vom 27. Jänner 1993 verfügte Wiederherstellung der von 1884 geltenden
gesetzlichen Bestimmungen über die Aufzeichnungen der Rohzuckcrfabriken und die
gesetzliche Ausbeute des Zuckersaftes in der Tat ein wirkliches exercice der Fabriken
im Sinne der Konvention und nicht vielmehr ein Zurückgreifen auf das Abonnement des
Gesetzes vom 23. Mai 1860 bedeute, welches keineswegs eine wirkliche Produkten*
besteuerung war. Auf diese und ähnliche interessante Fragen, wie z. B. die Kontroverse,
ob die russische Normirofka wirklieh eine Exportprämie bedeute, ob Ausgleichszölle mit
dem System der Meistbegünstigung verträglich sind u. s. w., geht der Verfasser nicht
ein und beschränkt sich am Schlüsse der Rühenzuckerproduktion die tröstende Versiehe-
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Literaturbericht.
446
rang ru geben, daß ihr Eiport durch kolonialen Rohrzucker nicht bedroht sei, da im
internationalen Wettbewerb nicht die klimatischen Voraussetzungen, sondern die höhere
Kultur den Sieg erringe. K. Piene r.
Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus. Leipzig, Duncker & Hum-
blot, 1902, 2 Bände.
In seinem großen, zweibändigen Werke, dem „modernen Kapitalismus** unter-
nimmt Professor Werner Sombart den Versuch „das kapitalistische Wirtschafts-
system von seinen Anfängen bis zur Gegenwart zu verfolgen“ Sein Buch stellt Bich uns
also zunächst als eine geschichtliche Darstellung der kapitalistischen Wirtschaft dar,
eine Arbeit, schon deswegen dankenswert, weil sie eine fühlbare Lücke unserer wirt-
schaftshistorischen Literatur auszufüllen geeignet ist. War doch schon lauge gegenüber
dem Anschwellen der Einzeldarstellungen und Detailforschungen auf dem Gebiete der
Wirtschal tsgeschicbte der Wunsch nach einer das große, an gesammelte Material zusamuien-
fassenden Darstellung rege geworden. Namentlich die Entstehung des Kapitalismus, wie
sie Marx für England in den Kapiteln über ursprüngliche Akkumulation schildert,
vollends der Siegeszug der modernen Wirtschaftsweise im letzten halben Jahrhundert,
war ein von der Forschung etwas stiefmütterlich behandeltes Gebiet. Ist es doch eine
oft schmerzlich empfundene, eigentümliche Erscheinung, daß das Wirtschaftsleben des
Mittelalters uns vielfach vertrauter ist als das Leben unserer eigenen Zeit.
Darin schafft nun der „moderne Kapitalismus** gründlich Wandel. Wir erhalten
mit stets besonderer Berücksichtigung deutscher Verhältnisse eine Darstellung des
gewerblichen Lebens, wie es das Wirtschaftssystem des Handwerks geschaffen hat. Es
wird gezeigt, wie der Grundgedanke de« Handwerkers, durch eigene, zunächst nur
gewerbliche Arbeit für andere sich die standesgemäße, traditionelle Nahrung zu sichern,
die ganze Wirtschaftsverfassung ergreift, und diese uns in ihren Einzelheiten geschildert.
Vor uns entsteht ein lebendiges Bild vom Handwerker, wie er produziert und wie er als
Händler seine Waren zu Markte bringt. Denn auch der Handel des Mittelalters trägt, soweit
er berufsmäßig ausgeübt wird, durchaus handwerksmäßiges Gepräge, während die großen
gewinnreichen Unternehmungen als Gelegenheitshandel Nichtkaufleuten Vorbehalten werden,
den Bauherren und Bürgermeistern, den reichen Geschlechtern oder den Stiften
und Orden.
Dann geht die Darstellung dazu über, uns das Aufkommen der kapitalistischen
Wirtschaft vorzuführen. Hier ist ein große*, zum Teil neues Material in klarer und über-
sichtlicher Darstellung verarbeitet. Besonderes Gewicht legt Sombart dabei auf die
Rolle, die die Vermögensübertragnng bei der Entstehung des Kapitalismus spielt; die
Anteilnahme der aufkoramenden Händler und Wucherer an den öffentlichen Einkünften
des Staates sowohl als an den Renten der Feudalherren durch Erwerb privater Gruml-
eigentuinsberechtigungen, das Anwachsen und die Akkumulation vor allem der städtischen
Grundrente, die Urbanisierung des Landadels, die Kolonialwirtschaft und ihre Bedeutung
für die Geldakkumulation werden ausführlich geschildert.
Dies die objektiven Bedingungen des Kapitalismus. In dem so entstandenen sozialen
Milieu wird nun die subjektive Bedingung der kapitalistischen Wirtschaft wirksam. Der
Erwerbstrieb erwacht, das Streben nach Gewinn, dieses prävalente Motiv der kapitalistischen
Wirtachaftasobjekte, welche« da» Motiv des Handwerkers, sein Streben nach standesgemäßer
Nahrung ablüst Der ökonomische Rationalismus, die „Recheiihaftigkeit“ wird ausgebildet.
Ein Vergleich zwischen dem Wirtschaftsleben Deutschlands um die Mitte des
19 Jahrhunderts, der Periode des Frühkapitalismus, mit dem Deutschland zu Ende des
Jahrhunderts zeigt dann den Sieg des Kapitalismus zunächst auf dem Gebiete der
gewerblichen Produktion und wir erhalten damit ein interessantes Stück Wirtschafts-
geschichte der neuesten Zeit. Den Schluß des ersten Bandes bildet eine auf dem großen
Material, das die Untersuchungen des Vereines für Sozialpolitik zu Tage gefördert haben,
fußende Darstellung der Lage de« Handwerks und der Handwerker in der Gegenwart.
Der zweite Band zeigt uns dann die Neubegründung und Neugestaltung des Wirtschaft»-
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Literaturbericht.
447
lebens. In einem neuen Recht schafft es sich die Form, die seinem Inhalt angemessen
ist, und die Entwicklung der neuen Technik, die hier vom ökonomischen Gesichtspunkt
au« gewürdigt wird, schafft die immer reichere Entfaltung dieses Inhalts. Das stürmische
Dahinfluten des Stromes des modernen Lebens wird in dem glanzend geschriebenen
Kapitel .Der neue Stil des Wirtschaftslebens“ lebendig veranschaulicht, die Durchdrin-
gung alles Tuns mit dem Streben nach Gewinn aufgezeigt. Die Entstehung der modernen
Landwirtschaft und die Auflösung ihrer alten Wirtschaftsverfa.ssung wird verfolgt, um
dann in dem folgenden Abschnitt die städtische Entwicklung — den Ursprung und das
Wesen der modernen Stadt — darzustellen.
Die folgenden Kapitel beschäftigen sich mit der Neugestaltung des Bedarfes und
der Neugestaltung des Güterabsatzes, welcher die geänderten Bedürfnisse des Konsums
nunmehr zu befriedigen hat.
Den Abschluß des Bandes bildet eine .Theorie der gewerblichen Konkurrenz.“
Hat Sombart bereits im früheren geschildert, «laß der Kapitalismus auf allen Linien
das alte Handwerk überwunden hat, so gibt er hier in systematischer Darstellung die
Gründe, warum sein Sieg ein notwendiger war.
Sombart stellt die Diskussion zunächst auf eine neue, rationelle Basis. Nicht inehr
um die Frage der Überlegenheit von Kieiu- oder Großbetrieb handelt ea sich, sondern um
die verschiedene Anpassungsfähigkeit zweier Wirtschaftssysteme, dem des Handwerks und
dem des Kapitalismus. Dieser Unterscheidung zwischen Betrieb und Wirtschaft legt
Sombart große Wichtigkeit bei und ihre Herausarbeitung hat er als Einleitung seinem
Werk vorangestellt. Betrieb ist ihm eine Anstalt zum Zweck fortgesetzter Werkverrichtung.
Er ist also bloßes Mittel, um Bedarfsgegenstände herznstellen. Unter Wirtschaft aber
▼ersteht er, die Organisation, welche ein Wirtschaftasubjekt schafft, um einen seinem
Wirtschaftsprinzip entsprechenden Nutzeffekt zu erzielen. Diese Unterscheidung erweist
sich so fruchtbar, weil sie die einseitige Betrachtung vom Standpunkt nur technischer
Überlegenheit, wie sic bei der Frage nach Klein- oder Großbetrieb allein gestellt werden
kann, zu Gunsten einer alle im Konkurrenzkampf zur Geltung kommenden Momente
umfassenden Darstellung zu verlassen gestattet. Und nuu wird im einzelnen untersucht,
in welchen Beziehungen die Überlegenheit der kapitalistischen Wirtschaftsorganisation
zu Tage tritt. Sie zeigt sich in der Qualität der Darbietung — das Kapital liefert
rascher, massenhafter, in gefälligerer Form — wie in der Qualität des Dargebotenen; hier
erreicht es größere Vollkommenheit durch die Verfügung über hochqualifizierte Arbeit,
die heute nur mehr dem Kapital zur Verfügung steht. Ist doch, wie Sombart in dem
interessanten Kapitel übcrKunH-.handwerk“ nachweist, das Kunstgewerbe fast ausschließlich
hochkapitalistisch organisiert. Und ebenso wie im Kampf um die beste Leistung, siegt
das Kapital auch im Preiskarapf, was ausführlich im einzelnen nachgewicsen wird. Das
Handwerk ist mehr und mehr einem zunehmenden Verkrüpplungsprozesse verfallen und
es ist ein Traum, zu glauben, seinen Untergang durch Zwangsgenossensehafien und der-
gleichen verhindern zu können. Auch die mißbräuchliche Verwendung der jugendlichen
Arbeitskraft kann darin nichts ändern. Die Auslieferung des Lehrlings an das Haudwerk
bildet nur eine Gefahr für unsere industrielle Zukunft, deren immer dringendere Aufgabe
die Sorge für die nötige Zahl gut ausgebildeter, qualifizierter Arbeiter ist, deren Heran-
bildung das verkommende Handwerk längst nicht mehr leisten kann.
Es sind aber gerade diese Kapitel, welche das größte Interesse gerade für uns
hier in Österreich, dem von allen Zünftlern gelobten Lande der Mittelstandspolitik, bieten.
Was das vortreffliche Buch Waontigs1) in seiner deskriptiven Art im einzelnen dartut,
die vollständige Nutzlosigkeit der Mittelstandspolitik und ihre Schädlichkeit lür die
allgemeine gewerbliche Fortentwicklung, wird uns hier im Zusammenhang der kausalen
Ableitung als Notwendigkeit bewiesen. Den zwingenden Argumenten Soiubarts. der
hier alles einheitlich zusammenfaßt, was gegen die MittelstAndspolitik vom wisse lisch aftlich-
ökonomischen Standpunkt aus angeführt werden kann, wird man sich schwer entziehen
1 ) Heinrich Waentig, Gewerblich« MlttclalandspoHtifc. 18W.
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448
Literaturbericht.
können. Die Vertretung dieser Politik wird fürder kaum mit wissenschaftlichen Argu-
menten geführt werden können. Die österreichischen Volkswirtschaftspolitiker haben alle
Ursachen, diesem Abschnitt des Buches ihre volle Beachtung zu schenken.
* *
Aber mit dieser bei dein groben Umfang des Werkes naturgemäß flüchtigen
Inhaltsangabe ist unsere Aufgabe noch kaum begonnen. Denn Sombart will mehr geben
als Wirtschaftsgeschichte. Sein Buch erhebt den Geltungaansprucli, zugleich Theorie zu
»ein, und zwar, wie Sombart die« näher bestimmt, historische Sozialtheorie.
Damit hofft Sombart, wie er in seinem Geleitwort auaführt, den Widerspruch
zwischen Empirie und Theorie zu versöhnen und der ökonomischen Forschung ueue
Bahnen gewiesen zu haben.
Worin besteht nun das Wesen dieser historischen Sozialtlieorie? Sombart erblickt
das „Spezifische der Theorie in der Ordnung unter dem Gesichtspunkt eines einheitlichen
Krklärungsprinzipes* (S. XIII). Erwählt zwischen den beiden hier zur Verfügung stehenden
Krkläruugsmöglichkeiten die kausale. Dies deshalb, weil die kausale Betrachtung dem
Wesen der modernen Wirtschaft mit ihrer Abhängigkeit von den sie beherrschenden
Marktgesetzen, welche analog den Naturgesetzen sich um die Zwecksetzung der einzelnen
nicht kümmern, besser entspricht als die teleologische Erklärung. Es ist also die bestimmte
historische Struktur der kapitalistischen Gesellschaft, welche für die Wahl der Kausal-
erklärung entscheidet, während etwa die geschichtliche Beschaffenheit einer von den
Organen der Gesellschaft bewußt geleiteten Wirtschaft zu ihrer Erklärung die teleologische
Betrachtung erforderte. An den Beginn der Kausalreihe setzt Sombart die menschlichen
Motive in ihrer bestimmten historischen Gestalt. Kr sieht die Welt des Handwerkes kausal
gestaltet durch das Streben des Handwerkers nach standesgemäßem Unterhalt, während
die Welt des Kapitalismus beherrscht wird vom Erwerbstrieb, vom Streben nach Gewinn,
dessen Träger, die kapitalistischen Wirtschaftssubjekte, Händler und Unternehmer, die
Welt des Handwerkers nun nach ihren Wünschen umgestalten. Freilich, diese Motive
können sich nicht beliebig verwirklichen Sie sind gebunden an eine bestimmte Gestaltung
der äußeren Verhältnisse, unter denen sic auftreten. Diese objektiven Bedingungen müssen
gegeben sein, um die Wirksamkeit der Motive, der subjektiven Bedingungen, begreifen
zu können. Nur in einer so eigentümlichen Welt, wie es das sinkende Mittelalter war,
konnte der aufkornmende, kapitalistische Geist unsere heutige eigentümliche Wirtschafts-
Verfassung hervorbringen. Es gibt somit nur für jeweils verschiedene soziale Zustände
jeweils verschiedene Theorien, eben nur historische und keine allgemeinen Sozialtheorien.
Es gibt eine Theorie des modernen Kapitalismus, aber keine Theorie des Kapitalismus
überhaupt. Die Wahl des Ordnungsprinzipes ist somit keine subjektive, vielmehr ent-
scheidet über das jeweils ordnende Prinzip die Geschichte. Der Merkantilismus, dem die
Wirtschaft als von gesellschaftlichen Organen bewußt geregelt erscheinen mußte, ging
naturgemäß aus vom Zweckgedauken. Bei den Klassikern geht kausale und teleologische
Betrachtung nebeneinander her, bis dann Karl Marx das Wirtschaftssystem streng kausal
zu erklären unternimmt.
Die strenge Unterscheidung der Wirtschaftsprinzipiell legt Sombart auch seiner
Systematik der Wirtschaftssysteme zu Grunde, deren er zwei unterscheidet, die Bedarf-
deckung«- und die Krwerbswirtsehuft, je nach dem herrschenden Wirtschaftsprinzip.
Hiemit erscheint ein Gedanke, auf den Karl Marx großes Gewicht legt, rezipiert; der
Gedanke nämlich, daß der Zweck der einfachen Warenproduktion, wie sie historisch
z. B. in der mittelalterlichen Wirtschaft entwickelt war, der Gebrauchswert ist, während
Zweck des Kapitalismus der Tauschwert ist, daß di« kapitalistische Gesellschaft nur
verstanden wird, wenn man als ihr treibendes Motiv das Streben nach Mehrwert begriffen
hat. Aber während bei Marx diese Motivation, wie wir noch später sehen werden,
Resultat, erwachsend aus den jeweiligen Produktionsverhältnissen ist, stellt Sombart
sie als Voraussetzung für die Bildung dieser Produktionsverhältnisse auf. Wird dadurch
der wissenschaftliche Zweck, den Sombart verfolgt, gefördert? Sein Werk soll ja eine
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Literaturbiricht.
449
■ Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung" geben (S. XXVlll). Er sieht eine Haupt-
aufgabe in der ursächlichen Erklärung objektiver Tatbestände de» Wirtschaftsleben«: die
Untersuchung führt somit „mit Notwendigkeit auch zeitlich stets ?on einem Phänomen
der Gegenwart au einem Phäuomen der Vergangenheit zurück“. Eine Feststellung, womit,
wie Sombart meint, der „erste Versuch einer theoretischen Begründung historischer
Betrachtungsweise im Gebiete der Nationalökonomie unternommen wäre“. Dabei läßt
sich freilich kaum die skeptische Frage unterdrücken, wozu in aller Welt historische
Betrachtungsweise für die Darstellung der Wirtschaftsgeschichte erst theoretisch begründet
Werden soll.
Aber erfüllt Sein hart» Betrachtungsweise auch wirklich die Aufgabe, die er ihr
gestellt hat? Soll die historische Entwicklung wirklich in ihrem kontinuierlichen Verlaufe
dargestellt werden, so erhebt sich naturgemäß die Frage, wie entwickelt sich ein
Wirtschaftssystem aus dem anderen, ihm vorhergehenden. Hier läßt uns aber Sombart»
Theorie vollständig im Stich. Seine beiden Wirtsehaftsprinzipien stehen sich in voller
Schilfe unvermittelt gegenüber, ohne daß nur ein Versuch gemacht wird, einen Zusamtneu-
hang hcrzustellen. Und Sombart muß dies selbst zugeben, wenn er plötzlich erklärt,
nur wie das Wirtschaftsprinzip sich die Wirtschaftsordnung nach seinem Bedürfnis
gestattet, stellen wir unter dem Gesichtspunkt der Notwendigkeit dar, die Genesis des
Wirtschaftsprinsipcs selbst aber unter der» Gesichtspunkt der Zufälligkeit.1/ Damit erscheint
uns Aber das Zugeständnis gemacht zu sein, daß Sombarts historische Sozialtheorie
eben nicht eine Entwicklungstheorie ist. Dies beweist gerade das Kapitel, das die Ent-
stehung des „neuen Geistes,“ also der subjektiven Bedingung des Kapitalismus behandelt
Der „neue Geist“ erscheint zu unserer Verwunderung als alter Geist, als die atiri sacra
faines, womit die Menschheit konstitutionell behaftet sei, davon uns die Märchen von
Midas und den Argonauten schon erzählen. Aber dieser Geist, die Sucht nach dem Golde,
nach immer mehr und mehr des gleißenden Metalle» erfaßt nun plötzlich, „als die Zeit
erfüllet war,“ wie die von einem historischen Standpunkt aus nicht ganz genaue Zeit-
angabe lautet, die Menschheit. Kaubrittertuin und Ablaßkräinerci, Goldgräbertum und
Alchymie suchen die Sucht nach dem Golde zu befriedigen und da entsteht nun der
Gedanke, auch die wirtschaftliche Tätigkeit in den Dienst dieses Zweckes zu stellen.
Nicht mehr die standesgemäße Nahrung, sondern Geldmachen wird Leitmotiv des Wirt-
schaften«. „Wann, wo und wie dieser Gedanke zuerst in die Welt kam, wird sieh wohl
immer in undurchdringliches Dünkel hüllen“ (1, S. 888). Und in dieser Finsternis ver-
läßt der grausame Verfasser plötzlich den ängstlichen Leser, während er selbst in dem
schützenden Dunkel den Salto mortale über den Abgrund schlägt, der die Welten des
Handwerkes und des Kapitalisten voneinander trennt.
Man kann cs dem Leser nicht verargen, wenn er sich weigert, diesen Todessprung
der historischen Sozialtheorie mitzumachen. Mühsam, allein in» Dunkeln tappend, sucht
er nach Mitteln, die Finsternis zu erhellen und die Brücke über die Kluft zn schlagen.
Und cs gelingt nicht allzu schwer. Kr findet diese Mittel in den zahlreichen Kapiteln,
die uns die objektiven Bedingungen schildern, unter welchen nun der „neue Geist“ seine
Wirksamkeit entfalten soll. Ein Beginnet» freilich, auf das der kühne Springer, der längst
mit kühnem Satz die Schwierigkeit genommen, nur verächtlich wird blicken wollen. Aber
es schreckt den Verlassenen nicht' mehr, hier mit Sombart in Widerspruch zu geraten.
In »einem Geleitwort hat Sombart behauptet, daß die Motivation lebendiger
Menschen die letzten, primär wirkenden Ursachen sind, auf die wir zurückgehen können.2)
Um nicht in eine extrem-idealistische und damit die Tatsachen vergewaltigende
Auffassung zu geraten, sucht er diese Motive historisch zu erfassen. Aber dadurch, daß
er sie als primäre Faktoren ansieht, wird er gezwungen, sie nur nacheinander folgen zu
lassen, wahrend es Aufgabe einer Entwicklungstheorie sein müßte, sie auseinander abzu-
leiten. Die Einheit der menschlichen Praxis ist zerstört, aus der die verschiedenen
>) Bä. i. *. 3W.
») n<i. i, s. xvm.
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450
Literaturbericht.
Maximen als Folge jeweils verschiedener determinierender Faktoren hätten erkannt
werden können. Die Erklärung hat dort plötzlich eine Lücke, wo ein Motiv das andere
ersetzt; hier hört. was. wie wir schon oben konstatiert haben, Sombart selbst zugeben
muß, die kausale Ableitung auf.
Und der Standpunkt So in bar ts mußte mit Notwendigkeit zu diesem Resultat
führen. Wir dürfen, heißt es im Geleitwort (8. XIX), nicht weiter als auf menschliche
Motive zurückgehen, weil wir sollt t za einem unbegrenzten Regrcssus gezwungen werden,
„der «ein Ende erst bei der Einsicht in die Bewegung der kleinsten Teile und der
Gesetze, welche diese regeln, finden könnte.“ Hiebei stießen wir „auf die noch nicht
überbrückte Kluft der psychologischen Verursachung, die eine andere als die mechanische
Kausalität ist.“ Sombart scheint uns hier die ontologische i metaphysische) Frage nach
dem Verhältnis von Geist und Materie mit der Frage nach der Determination mensch-
lichen Wollen« durch die Gestaltung der Außenwelt zu verwechseln. Während aber die
erste Frage eine solche ist, deren unlösbaren metaphysischen Charakter und falsche
Problemstellung die kritische Philosophie nachgewiesen, ist die zweite Frage vielmehr
eine solche, deren richtige Beantwortung die Grundbedingung aller Sozialwiasenschaft
bildet. Durch die Kimfundierung beider Probleme schließt sich Sombart nicht nur
nicht an Karl Marx an. er bringt sich vielmehr methodisch in schärfsten Gegensatz zu
dem Begründer der materialistischen Geschichtsauffassung.
Denn die materialistische Geschichtsauffassung — und man sollte doch heute nicht
noch zu sagen brauchen, daß diese wissenschaftliche Betrachtung der Geschichte auch
nicht das geringste mit irgend einer materialistischen Metaphysik zu tun hat — erklärt
das gesellschaftliche Sein und Handeln der Menschen, also die Menschen in der für die
geschichtliche Entwicklung relevanten Tätigkeit aus ihren Produktionsverhältnissen als
dein grundlegenden Verhältnis aller Vergesellschaftung. Die Frage, ob die Motive da»
„Primäre“ sind oder die objektiven Bedingungen, eine Fragestellung, die so recht die
Wiederholung der Frage der dogmatischen Metaphysik nach dem Primat von „Geist“
und „Materie“ ist. existiert für diese Auffassung gar nicht. Vielmehr, ebenso wie die
kritische Philosophie die Möglichkeit der Erfassung der Natur erst dadurch Legreiflich
macht, daß sic uns die Welt als unsere Vorstellung und damit als unserem Denk n
adäquat und in die Einheit des Denkens einreihbar nachweist, stellt auch die materialistische
Geschichtsauffassung nichts anderes dar als die Begründung det Möglichkeit des sozialen
Monismus. Die« geschieht, indem die ganze Umwelt des Menschen als auf rein geschicht-
liches Verhalten erst dann wirksam nachgewiesen wird, sobald sie in die Einheit seines
Handelns aufgenommeii, das heißt sobald sie Bestandteil seines gesellschaftlichen Lebens
geworden ist.
Die Grundlage des gesellschaftlichen Daseins des Menschen aber, dasjenige, was
ihn, der von Natur aus als Cui'iv koXctixov vergesellschaftet iät, in dieser Vergesellschaftung
und damit in seiner Entwicklung weiter treibt, sind die Produktionsverhältnisse; mensch-
liche „subjektive“ Verhältnisse und keine „objektiven“ Bedingungen, die es von diesem
Standpunkt schließlich so wenig gibt, wie etwa vom Standpunkt der kritischen Philosophie
objektive Größen, die nur aus den subjektiven Anschauungsformen entspringen. Indem
die Natur, da» „Milieu“, die „objektiven Bedingungen“ gefaßt sind als biolies »Substrat
für das grundlegende, gesellschaftliche Verhältnis von Mensch zu Mensch — wie die
Menschheit es eiugehen muß zur Gewinnung ihre» Lebensunterhaltes — erscheint in dem
Produktionsprozeß die Einheit des Prozesse« zwischen Men&oh und Natur, dessen dialek-
tische Entfaltung den wechselnden Inhalt der Geschichte ausmacht.
Sombart aber, der angeblich die „revolutionistischen“ Begriffe von Marx weiter
entwickeln und cvolutionistisch ausgestalten will, geht in Wirklichkeit weit hinter ihn
zurück, wenn er an Stelle des Monismus in der WeiBc des Dualismus objektive und
subjektive Bedingungen scheidet, die dann im konkreten Verlauf der Geschichte ihre
Vereinigung feiern, man weiß nicht wie und wann und warum.
Aber Sombart wird noch weiter getrieben. Der Dualismus zieht sich durch die
ganze Geschichte. Aber zu diesem Dualismus tritt auf der einen »Seite, auf Seite der
Literaturberieht. 451
subjektiven Bedingungen, uoch eine Vielheit von Motiven je nach den geschichtlichen
Zeitaltern, die ganz unvermittelt einander gegenöheratehen. Die Einheit der menschlichen
Psyche ist so verloren gegangen und wir bekommen für jede geschichtliche Epoche eine
andere Psyche. Das Verhallen der Menschen wird etwa nicht als in einer bestimmten
geschichtlichen Periode auf besondere Weise determiniert geiaht; umgekehrt, das Ver-
halten der Menschen ist zu verschiedenen Epochen ein wesen »anderes und bildet sich
dann nach seinen jeweiligen verschiedenen Zwecken eine jeweils verschiedene Geschichte
aus. Die kausale Betrachtung schlägt hier notwendig in die teleologische um. Dies ist
nicht anders möglich, wenn von psychischen Faktoren als den primären „Ursachen*
ausgegangen wird. In Wirklichkeit ist es der verschiedene Zweck, den die Wirtschafts-
subjekte zu verschiedenen Zeiten verfolgen, der das Wirtschaftsleben erfaßt und diesem
Zweck dienstbar macht. An dieser im Grunde eben doch teleologischen Betrachtung
ändert es nichts, daß das telos jeweils geschichtlich verschieden, nicht das tele» Som-
hart». sondern das einfacher Handwerkerseelen oder geriebener Kapitalisten ist. Die
kausale Betrachtung wäre nur dann vorhanden, wenn diese Motive als historisches
Resultat dargestellt worden wären, während sie bei So m hart vielmehr als Voraussetzung
gefaßt weiden. Da aber die Verschiedenheit der Motive in Wirklichkeit nur Produkt einer
langen geschichtlichen Entwicklung ist, ist sie als Voraussetzung für eine geschichtliche
Entwicklungstheorie direkt falsch, während sie — einmal als historisches Produkt
begriffen — wohl Ausgangspunkt fiir eine systematische Ordnung deB Wirtschaftssystems
darstellen kann. Dadurch aber, daß Sombart die Motive, die bei ihm notwendigerweise
als Zwecke erscheinen, die nicht weiter abgeleitet werden können, in diametralen Gegen-
satz zueinander stellt, statt sie nur als verschieden determinierte Momente in der
Einheit des menschlichen Willens zu begreifen, unterbricht er vollkommen die Kontinuität
der geschichtlichen Entwicklung und wird zu einer wirklich „revolutionistischcn“, um das
Sombartsche Wort zu gebrauchen, Darstellung gezwungen. Das Entstehen der Moti-
vation, die ja eine historisch bestimmte sein soll, bleibt unerklärt. Die Motive erscheinen
bei ihm wie der deus ei machina oder vielmehr die dii ex machina — denn der weltfrohe
Soinbart ist Polytheist — und gegen den Vorwurf der Willkürlichkeit, der so leicht
gegen die Auswahl der Motive erhoben werden könnte, gibt es wirklich keine andere als die
von Sombart gebrauchte Abwehr, versuche es ein anderer anders, die typische Ausrede
schlechter Dichter gegen die Einwände ihrer Kritiker, die sie nicht zu entkräften wissen.
Diese unvermittelte Gegenfiberstellung aberscheint ihren Ursprung in der Abneigung
Sombarts gegen die „diakursive Nationalökonomie“ zu haben, deren Ergebnisse allerdings
unserer Meinung nach im stände sind, diese Vermittlung herzustellen. Das Betriebs-
ergebnis des Handwerkers ist im vorhinein fixiert. Denn die fortwährende Änderung der
Technik, also die qualitative Änderung der Produktion, dieses Charakteristikum der
modernen Wirtschaft, ist unmöglich. Auch der quantitativen Ausdehnung der Produktion
sind enge Greuzen gezogen, sowohl was die Zahl der Hilfskräfte als was die Verlängerung
der Arbeitszeit anbelangt. Die persönliche Mitarbeit des Meisters wirkt als Schranke, die
die unbegrenzte Venuehrongsmöglichkcit des Ertrage» der Wirtschaft im vorhinein aus-
schließt. Dies macht Konkurrenz im heutigen Sinn unmöglich Dem Handwerker tritt so
das Ergebnis im vorhin ein als mehr weniger unveränderlich entgegen; nur um verhältnis-
mäßig geringe Unterschiede in seiner herkömmlichen Lebenshaltung kann es “ich ihm
handeln. Anders beim Kapitalisten. Die Trennung von Besitz der Produktionsmittel und
der Arbeit — und das Verhältnis von Produktionsmittel und Arbeiter eischeint bei Marx
als das objektive Kriterium für die Unterscheidung der Wirtschaftssysteme, aus dessen
Verschiedenheit die Verschiedenheit der Maximen der Wirtschaftssubjekte abgeleitet
werden maß — diese Trennung ermöglicht die unbegrenzte Vermehrbarkeit des Erträg-
nisses. Die qualitative und quantitative Änderung des Produktionsprozesses geben die
Grundlage für die kapitalistische Konkurrenz, deren Gesetz dem Kapitalisten fortwährende
Verbesserung und Erweiterung seiner Wirtschaft als Gebot seiner Erhaltung mit Not-
wendigkeit aufzwingen. Soweit er wirtschaftlich handelt, kann er gar nicht anders
handeln, als ob Vermehrung des Gewinnes sein einziges Motiv wäre, was auch immer im
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Literaturbericht.
individuellen Fall das Gemüt einer schönen KapitaiistcnM'-ele bewegen mag. Rein öko-
nomisch gesprochen: Das konservative Wirtschaftsprinzip des Handwerkers, das revo-
lutionäre des Kapitalisten, sie folgen mit Notwendigkeit aus dem Umstand, daß im ganr.cn
großen Reproduktion auf einfacher Stufenleiter das Bewegungsgesetz der handwerker-
lichen, Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter das Gesetz der kapitalistischen Wirt-
schaftsweise ist.
Die Umwandlung des psychischen Verhaltens aber vollzog sich allmählich und
nicht allzu schwierig, öfters auch wohl bei denselben oder doch derselben Klasse ange-
hörigen Personen. Und in» Anfang war die ökonomische Tat. Zuerst wurde die Wirtschaft,
namentlich der Handel einträglich, dann wurde sic fortgesetzt und ausgedehnt, weil sie
einträglich war und zunächst eine besser« Lebenshaltung erlaubte. Aus dem Streben
nach besserer Lebenshaltung wurde allmählich daB Streben nacli Gewinn als ursprünglich
dem Wesen nach gleiches, aber gesteigertes Streben nach dem gewohnheitsgemäßen
Unterhalt. Erst die weitere Entwicklung des Kapitalismus macht das Mittel, den
Gewinn, zum Zweck durch die Gesetze des Wirtschaftslebens selbst, welche das Gewinn-
streben zur Notwendigkeit machen bei Strafe des Unterganges im kapitalistischen Kon-
kurrenzkampf.
Es ist somit gerade für historische Darstellung, die zugleich Entwicklungsgeschichte
sein will, unerläßlich, den inneren Zusammenhang eines Wirtschaftssystems erkannt zu
haben. Das heißt aber, es ist theoretische oder, wie Sombart sagt, diskursive National-
ökonomie nötig gerade auch für die Vollständigkeit de« geschichtlichen Erfassens. Dies
kann auch Sombart nicht ganz in Abrede stellen. Er ist denn doch methodisch zu
geschult, um blindlings das plumpe Dogma der historischen Schule zu reproduzieren,
das Theorie und Geschichte verwechselt und Nationalökonomie nur alt» Geschichte für
möglich erklärt. Aber Sombart will die ,db»kursive“ Ökonomie zur Propädeutik
erniedrigen, die die notwendige Begriffsbildung besorgt, nnd bezeichnet es al« Unge-
schicklichkeit des Autors, wenn er den Leser merken läßt, wieso er zu diesen Begriffen
gekommen sei. Kann cs aber etwas Bezeichnenderes geben, als daß hier Sombart die
theoretische Ökonomie zur Privatsache erklärt, von der Rechenschaft abzugeben etwas
Überflüssiges sei?
Wir haben gesehen, wie dieser Standpunkt bei der geschichtlichen Darstellung
versagt. Sein Ausgangspunkt, die prävalenten Motive, er ist zu eng, um den ganzen
Umkreis des geschichtlichen Werdens einzuschließen. Wenn dies in spiner Darstellung
wenig hervortritt, so weil Sombart in seiner geschichtlichen Darstellung im I. Band im
wesentlichen sich darauf beschränkt, die objektiven Eutstehungsbedingangen des Kapi-
talismus zu schildern, wo auf Motive überhaupt kein Bezug genommen wird, und dann
weiter nur die Sphäre des gewerblichen Lebens in ihrer Entwicklung verfolgt. Hier ist
da» Gewinnstreben ein geeignetes Ordnungsprinzip für die Darstellung, weil es sich hier
auch in Wirklichkeit entfaltet. Die Theorie braucht fiir die Ableitong ihrer Gesetze auf
nicht.» anderes Rücksicht zu nehmen, anders aber die Entwicklungsgeschichte. Hier
bedeutet das Ausgelien von diesem einzigen Motiv eine Einseitigkeit, die tatsächlich die
Fülle des Lebens vergewaltigt. Die Geschichte ist in Wirklichkeit Resultat von Kämpfen,
bei denen die Kämpfenden zu großen, in letzter Instanz nach ihren wirtschaftlichen
Interessen geordneten Gruppen zusammengeballt sind, deren Handeln von verschiedenen,
oft entgegengesetzten Interessen und daraus entspringenden Motiven geleitet wird, die
alle in fördernder oder hemmender Weise ihre Wirksamkeit für die geschichtliche Ent-
wicklung entfalten.
Sombart unterstellt mit seinen prävalenten Motiven, die aber bei ihm zu den
einzig wirksamen werden, die alleinige, unumschränkte Herrschaft einer einzigen Klasse
und vernachlässigt die Wirksamkeit »Iler anderen. Bedeutet das schon einen Mangel für
den engeren Kreis der Wirtschaftsgeschichte selbst — und wir führen es darauf zurück,
daß Sombart z. B. über die Entstehung des modernen Proletariats und seine oft durch
die gewaltsamsten Methoden erfolgte Schaffung aus früher selbständigen Schichten fast
achtlos hinweggleitet — so macht es die Herstellung eines Zusammenhang«-* zwischen
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Literaturbericht.
453
der Wirtschaftsgeschichte und der allgemeinen historischen Entwicklung erst recht
unmöglich. Freilich wird Sombart dazu verleitet durch seine wirtachaftspolitische Haltung,
durch seine Tendenz, auch die künftige Entwicklung sich als eine kampflos durch sozial-
politische Maßnahmen der Kapitalistenklaace erfolgende vorzustellen, durch sein Bestreben,
den Gegensatz zwischen bürgerlicher und sozialistischer Gesellschaftsordnung theoretisch
aus der Welt zu schaffen.
Wo aber Sombart zur systematischen Darstellung übergeht, besonders in dem
Abschnitt, den er als „Theorie der gewerblichen Konkurrenz“ bezeichnet, verläßt er
vollends seine Methode und legt der ganzen Darstellung und Beweisführung eine Pro-
duktionskostentheorie zu Grunde. Man wird ohneweiter» »geben, daß dieser ganze
Abschnitt uicht möglich gewesen wäre ohne die Arbeit der theoretischen Ökonomie, auf
deren Resultaten sie beruht. Sombart kann in Wirklichkeit die theoretische Ökonomie
x so wenig entbehren, daß er sic vielmehr als selbstverständlich voraussetzt, eine Huldigung
wider Willen.
Woher kommt es nun aber doch, daß Sombarts Werk trotzdem soviel Aufklärung
bringt und viele Einblicke in die wirtschaftlichen Zusammenhänge gewährt? Unseres
Erachtens aus nichts anderem, als daß der Erfinder der historischen Sozialtheorie sich
in Wirklichkeit gehütet hat, seine Methode allzu strenge anzuwenden. Nicht die „Geschichte“
hat für Sombart die Wahl der Urdnungsprinzipien vorgenommen. Hinter dem Pseudo-
nym „Geschichte“ verbirgt sich vielmehr der Name Karl Marx.
Schon daß Sombart die Triebkraft für die Entwicklung des Wirtschaftslebens
nur in der rein wirtschaftlichen Sphäre sieht, ist ein MArxscher Grundsatz. Die Formu-
lierung seiner Wirtschaftsprinzipiell ist nichts anderes als Anwendung wieder Marxscher
Lehren. Nur daß Sombart die Einheit der Manschen Geschichtsauffassung dualistisch
spaltet und so zu dem Gegensatz von objektiven und subjektiven Bedingungen gelangt,
den zwar oft die Praxis seiner Darstellung, nicht aber seine Theorie zu fiberhriieken
weiß. Es wäre falsch, diese Theorie Sombart« als idealistisch oder als psychologisch
der materialistischen Geschichtsauffassung gegenüberstellen zu wollen. Sie ist beides
nicht, weil sie in letzter Instanz indeterministisch ist, weil die Motive als selbständige
Mächte unabhängig nacheinander gestellt sind, statt auseinander abgeleitet zu werden.
Aber immerhin. Einmal ihre Existenz zugegeben — und daß sie so existieren und
existieren müsset», hat nach unserer Meinung der Marxismus bewiesen — erweisen sie
sich als glückliches Ordnungsprinzip der geschichtlichen Darstellung.
In jenen zahlreichen Kapiteln aber, wo das Spezifische seiner Theorie überhaupt
nicht zur Geltung kommt und es sind dies die meisten des Buches, welches daher trotz
Sombarts Streben nach Einheitlichkeit gleichfalls einen dualistischen Charakter auf-
weist.. werden dem Leser selbst die Anhaltspunkte gegeben, die ihm gestatten, die
Kontinuität der geschichtlichen Entwicklung herzustellen.
Der Wirtschaftshistoriker Soinbart war glücklicher als der Sozialtheoretiker.
Dr. Rudolf Hilferding.
Regierung»™! IMIttiniinn, Vorsitzenlerder Landesversicherungsanstalt Oldenburg,
Die deutsche Arbeiterversicherung. 2. Ausgabe, Verlag Dr Ludwig Huborti,
Leipzig. 124 S., 8°. Preis M. 2-75.
Ernst Funke und Walter Hering, kais. expedierende Sekretäre im Reichs-Vcr-
sicherungsamte. Die reichsgesetzliche Arbeiterversicherung (Kranken-, Un-
fall- und Invalidenversicherung». Berlin, Franz Vahlen, 1903. 116 S., kl. 8*.
Preis 50 Pfennig.
Die beiden Bücher orientieren den Arbeitgeber und Arbeitnehmer über die Rechte
und Pflichten aus den deutschen Arbeiterveraicberungsgesetxen in praktischer Art. Das
zuerst genannte Werkelten, welches in Dr. Hubertis moderner kaufmännischer Bibliothek
erschien, zieht auch die wichtigsten einschlägigen Bestimmungen aus der Gesetzgebung
des Auslandes zum Vergleiche heran und enthält ein Verzeichnis der Berufsgenossen-
schaften, lnvalidenversicherungnanstalten und Schiedsgerichte für die Arbeiterversicherung.
Die Entschädigungssätze betreffs der hauptsächlichsten Unfallsfolgeu, welche auf Grund
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Literaturbericht.
der Reknrsentscheidungen des Reichs- Veraicberungsamtes zusammengcstellt worden, bilden
eine für die beabsichtigte allgemeine Orientierung hinreichende Beigabe. Auch das an-
gesehlossene Sachregister ist ein erwünschter Behelf.
Die beiden Bücher kennen jenen empfohlen werden, welche sich rasch über die
Bestimmungen der deutschen Arbeiterveraicherungsgeseti’e unterrichten beziehungsweise
im Eimelfalle Auskunft erhalten wollen.
Beide Werkchen bringen aber auch ein Merkmal der deutschen Arbeiterversicherung
zur Erkenntnis, nämlich ihre Kompliziertheit, eine Folge des sei) rittweisen Ausbaues
und der Unvollkommenheit, welche dein auf einem neuen Gebiete unternommenen ersten
Versuche stets anhaftet. Dies ist auch für Österreich von aktueller Bedeutung, da ja
hier die Deform und Vervoltotändigurg der Arbeiterversichcrung durch die gesetzliche
Regelung der Invalidenversicherung für die nahe Zukunft angekiindigt wurde. In Öster-
reich ist die Vereinfachung der Arbeiterversicherung dadurch erleichtert, dall die Unfall-
versicherung territorial organisiert wurde, so dall die Verwaltung der Invalidenversicherung
ohneweiter* an die bestehenden Zweige der Arbeiterversicherung angegliedert werden
kann. Die deutschen Berufisgctiossenschaften bilden ein wesentliches Hindernis für die
Vereinfachung der Versieherungsdurchfuhrung in Deutschland, da denselben die Invaliden-
versicherung nicht übertragen, die Unfallversicherung auch nicht weggenommen und sohin
deu territorialen luvalidenversicherungsanstalten zugewiesen werden kann, weil für die-
selbe zufolge des Umlageverfahrens die kapitalische Bedeckung mangelt. Die beiden
ürundgebrecheu der deutschen Unfallversicherung (Beiufsgenossenschaften und Umlage-
verfahren) verhindern demnach die im Interesse aller Beteiligten gelegene Vereinfachung
der Arbeiterversicherung. Wenn auch in Österreich das gesetzliche Kapilaldeckunga-
prinzip faktisch nicht durchgeführt ist, vielmehr nur ein Uralagev erfahren mit starken
Reserven besteht, so kann doch, dank dem Territorialprinzip, die Arbeiterversicberung mit
Einschluß der Invalidenversicherung einfach organisiert und durchgeführt werden, ohne
daß es notig wäre, die vom »Standpunkte der kapitalischeu Bedeckung der Hentenaus-
zahiungen passiven Territorialanstalten aufzulösen
Der deutschen Arbeitcrver.iicherung würden die erwähnten Schwierigkeiten erspart
geblieben sein, wenn der Gesetzgeber von der Invaliden- und Krankenversicherung aus-
gegangen wäre und die Unfallentschädigung nur als Ergänzung der Invalidenversicherung
etwa derart eiugefiihrt haben würde, daß den IJnfallinvaliden nach Abschluß der
Kraukenunteratutzung jene Invalidenentacbädigung gebührt hätte, welche bei Fortbe-
zahlung der Versicherungsbeitrag« bis zum Schlüsse der Maximalbeitragszeit resultieren
würde. Für die Entschädigungsbcrechtigung im Unfälle hätten im übrigen dieselben
Voraussetzungen wie betreffs der sonstigen Invaliden zu gelten gehabt. Kögl er.
Viktor Heller. Der Getreidehandel und seine Technik in Wien. Wiener
staatswissenschaftiiche Studien, herausgegeben von Edmund Bernatzik und Eugen
v. Philippe vich. Wien, bei Manz, 1Ö02.
Wien bat viele Jahre hindurch im tietreidehandcl Europas eine hervorragende
Holle gespielt; namentlich zu der Zeit, als Ungarn noch die „Kornkammer41 Europas
bildete, besaß Wien einen blühenden Getreide-Exporthandel und iin Zusammenhänge
damit einen für sämtliche europäische Getreidebörsen tonangebenden Tenninhandel.
Die Veränderungen und Verschiebungen, welche sieb in den Getreideliandelsverhältnissen
in dem Maße vollzogen, als einerseits Kuliland und Amerika sich des Getreide- Welt-
marktes mehr und mehr bemächtigten, anderseits die Monarchie infolge Zunahme der
Bevölkerung und Wachsen der Konsumkraft aus einem Getreide- Exportland allmählich
in ein Getreide-Importland geworden ist; dies und der Rückgang des Termingeschäftes,
der teils eine natürliche Folge de« Exportrückganges, teils der zur Eindämmung des
Börsenspieles in Getreide erfolgten gesetzlichen Einschränkung der Teilnehmer an dem
börsenmäßigen Terminhandcl in Getreide ist, hatten die Stellung Wiens als Getreide-
handelsplatz selbstverständlich nicht unberührt gelassen. Aber immer blieb ihm die
Vermittlung der sk-ts wachsenden Getreideeinfuhr aus Ungarn und dein Grient nach den
nördlichen und westlichen Provinzen Österreichs und blieb ihm die Vermittlung des »ich
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Literaturbericht.
455
put entwickelnden Exporte« von Braugerste. Gleichwohl verfiel der Getreidehandel Wiens
immer mehr, weil nicht« oder so gut wie nichts zur Pflege dieses Handelszweiges
geschah, obgleich es der einzige Groflhandelszweig von Bedeutung ist, den Wien, and
der bedeutendste, den Österreich überhaupt besitzt. Es oblag dem Verfasser, aufzuzeigen,
wie die Gebrechen der dem Wiener Getreidehandel zur Verfügung stehenden technischen
Einrichtungen, der Hafenanlagen. Landungsplätze, Lagerhäuser etc., den Handelsverkehr
sichtbar schädigen, die Hemmnisse hloßzulegen. welche einer Gesundung der Verhältnisse
entgegenstehen, und ßeformvorschUge zu machen, deren rasche Ausführung der Verfasser
um so dringlicher verlangen zu müssen glaubte, als ungarische und deutsche Städte, die
Situation wahrnebmend, den Getreidehandel Wiens Stück um Stück an sich ziehen.
Verfasser verlangt eine rasche und intensive staatliche und kommunale Aktion,
um diese nicht nur für Wien, sondern für die ganze österreichische Volkswirtschaft be-
deutsame Frage zu einer gedeihlichen Losung za bringen. Bisher ist durch den Beschluß
der Donau-Regulierangskominission. den neuen Freuden auer Winterhafen zu einem
Handelshafen ausriisten zu wollen, wenigstens ein Punkt des von dem Verfasser auf-
gestellten Keorgauisatiousprogrammes erfüllt worden.
Dr. \. E. Weill: Die Solidarität der Geldmärkte, eine Studie über die
Verschiedenheit der gleichzeitigen Diskontsätze verschiedener Länder Frankfurt a. M.,
J. D. .Stoerlindtr« Verlag. 1903.
Noch im Anfänge de» neunzehnten Jahrhunderts diente der internationale Geld-
verkehr hauptsächlich zur Leistung fälliger Schuldverpflichtungen; ein Teil dieser Zah-
lungen war wohl zum Zwecke der Investierung von Geldsummen im Auslande auf eine
längere Periode bestimmt, zum Zwecke kurzfristiger Anlagen waren sie äußerst selten.
Jetzt sucht man schon den geringsten Vorteil einer kurzfristigen Anlage im Auslände
auszunutzen, so daß dieser Geschäftsbetrieb die großen Handelsplätze der ganzen Welt
umspannt. Dies bewirkt, daß die Diskontsätze der einzelnen Geldmärkte einen immer
lebhafteren Einfluß aufeinander ausüben.
Weill hat »ich das Verdienst erworben, auf Grund der praktischen Erfahrungen der
letzten zehn Jahre nachzuprüfen, inwieweit die Ansicht der Theorie, daß zwischen den
Hisk ontsätzen verschiedener Länder eine Tendenz gegenseitiger Ausgleichung bestehe,
als» eine Solidarität der Geldmärkte zu erkennen sei. auf Richtigkeit beruhe. Da
die offiziellen Bankdiskontsätze Bich nicht immer genau der Marktlage an passen, sondern
aut autonomen Verfügungen der Bankleitungen beruhen, so können sie für die Beurteilung
der Frage, ob eine Solidarität der Geldmärkte besteht, nicht als maßgebend angesehen
werden; es sind dies vielmehr die „Marktdiekontsätze“ oder „Privatdiskontsätze“, d. h.
jene Diskontsätze, welche in den Geldmärkten für absolut erstklassige Wechsel in
Anrechnung gebracht werden. Weill gelangt zu folgen len Ergebnissen: der Markt-
diskontsatz eines Landes bestimmt sich, wenn weder eine Furcht vor politischen Verwick-
lungen noch eine Furcht vor einer wirtschaftlichen Krisis besteht, nach dem Verhältnis
des internationalen Leihgeldbedarfes zum internationalen Leihgeldangebot, das nur in
dem Maße, in welchem das Risiko der Valatadifferenzen oder die Höhe der Kosten des
Edelmetalltransportea eine Geldüberweisung verbieten, eine Modifizierung erfahren kann.
Die Marktdiskontsätze verschiedener Länder müssen (den Fall einer Kriegsgefahr oder
einer wirtschaftlichen Krisis ausgeschlossen) in Ländern gleicher Valutaverhältnisse,
welche in räumlicher Vereinigung gleichzeitig eine einheitliche Volkswirtschaft bilden,
gleich sein; können in Ländern gleicher Valutaverhältnisse, welche jedoch räumlich
und volkswirtschaftlich getrennte Gebiete darstellen, nur verschieden sein innerhalb der
durch die Höhe der Transportkosten bedingten Grenzen ; können in Ländern ungleicher
Valntaverhältnisse nur verschieden sein innerhalb der durch das Risiko der Valuta-
differenzen und die Höhe der Edelnietalltransportkosten bedingten Grenzen. Bei der
Besprechung der Einwirkung der Valutadifferenzen und der Kosteu des Edelmetall-
transportes bemerkt der Autor, daß, wenn und solange beide Länder, zwischen denen
der Wechselverkehr stattfindet, unbedingt in Gold zahlen, den Schwankungen des die
Zahlungsbilanz beider Länder au «drückenden Wechselkurses sehr enge Grenzen gezogen
Zoittchrift fir Vjltrv Irlich* ft, Sozialpolitik and Verwaltung- XII. Band. 31
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Literaturbericht.
4-.6
sind, s» daß da» Risiko der Valuta nach üben und unten sehr eng begrenzt ist. Ist
jedoch auch eine Zahlung in Silber möglich, so erweitert sich der Spielraum der
Schwankungen des Wechselkurses und damit das Risiko der Valuta ganz bedeutend;
es ei hellt daraus das grolle Interesse, welches das internationale Geldgeschäft au dem
Bestand möglichst vieler reiner Goldwährungen hat. Schließlich werden die ziffermiißigen
Grenzen 1er Differenz der gleichzeitigen Diskontsätze ei örtert.
Braun v. Fernwald.
t'barlcM Ziieblin, Professor of Sociology in the Univemty of Chicago: American
M u nie i pal Progress, chapters in municipal sociology, New York, The Macmill an
Company, 1902.
Die Vereinigten Staaten von Nordamerika gewinnen als politische und wirtschaftliche
Macht eine immer größere Bedeutung. Infolgedessen wendet sich die öffentliche Aufmerksam-
keit Europas mehr und mehr den dortigen Zuständen und Verhältnissen zu, uin die Ursachen
dieses so staunenswert raschen Aufschwunges zu ergründen. Sofern sich dieser Aufschwung
bei den Fortschritten in den Stadt gemeiuden äußert, wird er in Zue bl ins Werk in
belehrender Weise beleuchtet. Wo die in dem Bulletin of the Department of Labor
enthaltene amtliche Statistik den Autor im Stiche ließ, hat er versucht, durch Aussendiing
von Fragebogen an die Städte mit mehr als 80.000 Einwohnern die wünschenswerten
Ergänzungen und Aufklärungen zu beschaffen; doch erhielt er nur selten entsprechende
Auskünfte, da auch in den Vereinigten Staaten die Statistik der Gemeinden wenig
entwickelt ist und es daher sehr schwer fällt, von ihnen statistische Daten in größerem
Umfange zu erlangen. Wie der Autor sagt, hat er für seine Arbeit drei Hilfsmitte
angewendet: Dokumente, persönliche Beobachtung und Interviews, so daß seine Angaben
vielfach auf unmittelbarem Studium beruhen, was ihren Wert erhöht. Er schildert den
großartigen Aufschwung, den die Verkehrsmittel in vielen Städten genommen haben; er
verhehlt aber auch nicht, mit welcher Rücksichtslosigkeit gegen die Sicherheit von Men-
schenleben hei deren Betrieb besonders in früherer Zeit vorgegangen wurde. Beim
Lesen dieser Schilderungen steigt einem der Gedanke auf. ob nicht gerade in dieser
schonungslosen Rücksichtslosigkeit zum Teil die ungemeine Raschheit der Fortschritte
begründet ist. da die Handlungsfreiheit durch keine Rücksicht auf die Nebemnenschen
eingeengt war. Dieselbe Geringschätzung von Menschenleben und menschlicher Ge-
sundheit zeigt sich auf dem Gebiete des Sanitdtswcaens, so daß der Autor schließlich
in den Ausruf ausbricht: „Wir werden uns der Langlebigkeit erfreuen, sobald mensch-
liches Leben wertvoller wird als Privateigentum. “ So wurde in manchen Städten bei
der Wasserversorgung nur auf die Menge der Wasserzufuhr gesehen, die Zuträglichkeit
des Trinkwassers aber mit wahrhaft mittelalterlicher Gleichgültigkeit behandelt, so daß
sogar durch Unratkanille verseuchtes Wasser für diesen Zweck nicht verschmäht wurde.
Erst die letzten Jahre haben Besserung gebracht. Von aani täten Maßnahmen sind Vor-
kehrungen zur Verhinderung der übermäßigen Rauchentwicklung erwähnenswert: auch sei
ein guter Einfall angeführt, wie der sonst oft schwierige Beweis für derartige Übertretungen
durch Photographieren der qualmenden Schornsteine durch die behördlichen Organe herge-
stellt wurde. Schließlich sei noch des freilich vergeblichen Kampfes gedacht, der in einigen
Städten mit Geld- und Arreststiafen gegen das Ausspucken an öffentlichen Orten geführt
wurde. Entsprechend dem amerikanischen Geschäftsgeist steht die Verwertung des Kehrichts
und der sonstigen Ahfallstotle vielfach auf hoher Stufe. In der Darstellung des Unter-
richtswesens erweckt besonders die Mitteilung eines Planes Interesse, die Schule nicht
so sehr der Vermittlung von Kenntnissen dienstbar zu machen, sondern sie zu einer
Vorschule für das praktische, wirtschaftliche und politische Leben zu gestalten. Von den
öffentlichen Bibliotheken fordert Zueblin, daß sie möglichst allgemein und bequem zugäng-
lich gemacht werden und die Besucher zur Selbstbedienung angeleitet werden. Auch öffent-
liche Gebäude, Parks und Boulevards sowie öffentliche Erholungsstätten sind in den
Kreis der Betrachtung gezogen, besonders ist der Jugendfürsorge liebevolle Aufmerk-
samkeit geschenkt In der großen .Streitfrage, ob die öffentlichen Anstalten möglichst
den Pri vatunternehmungen zu überlassen sind oder besser in den Eigenbetrieb der
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Literatnrbericht.
457
Gemeinde übernommen werden, entscheidet sich der Antor dahin, daß die Begründung
ron gemeinnützigen Anlagen mit Vorteil dem privaten Unternehmungsgeiste überlassen
werden kann, daß aber die fertigen Anlagen besser in das Eigentum der Gemeinde
übernommen werde, wodurch noch der weitere Vorteil erzielt werde, daß das darin
investierte Privatkapital für neue Unternehmungen frei werde. Jedenfalls sei die öffent-
liche Überwachung nur dann wirksam, wenn ihr die Möglichkeit einer Übernahme in
das städtische Eigentum als Korrektiv zur Seite stehe. So enthält das Buch vieles, das
auch für europäische Leser von großem Interesse ist, indem dadurch ein Einblick in
die Licht- und Schattenseiten der amerikanischen Gemeindeverwaltung gewährt wird.
Braun v. Fernwald.
J)r. JuliunBunzel, „Studien zur Sozial- und Wirtschaftspolitik Ungarns.“
Beiträge zu den Ausgleichs- und Zolltarifverhandlungen zwischen Österreich und Ungarn.
Leipzig. Duncker & H umblot, 1902.
Br. Emil Ktin, „Sozialhistorisehe Beiträge zur Landarbeiterfrage in
Ungarn“. Jena, Gustav Fischer, 1903. (Zugleich 37. Band der von Dr. Johanu Gonrad
heraasgegebenen Sammlung nationalOkonomischer und statistischer Abhandlungen dcB
staatswissenschaftlichen Seminars zu Halle a. d. S.)
Zwei nach Anlage und Durchführung ganz verschiedene Publikationen über un-
garische Wirtschaftspolitik, deren Titel dem Leser bloß fragmentarische Forschungs-
ergebnisse in Aussicht stellen. Hunzel verspricht „Studien“ und vereinigt in dem Bande
tatsächlich Aufsätze über verschiedene Gegenstände, deren erste Veröffentlichung im
«Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik“, in Conrads „Jahrbüchern“, Schmo Ilers
„Jahrbuch“, in vorliegender Zeitschrift u. h. w. stattgefunden. (Der Untertitel „Beiträge
zu den Ausgleichsverhandlungen“ hat nur zum geringen Teil Berechtigung und wohl
vielmehr den Zweck, dem S&mnielLand Aktualität zu verleihen.) In anderem Sinne
sind die loiialhistorischen «Beiträge“ Küns zu verstehen, der ein genau umgrenztes
Thema methodisch durchführt; hier kann nicht die Art der Darstellung, sondern bloß
die Tatsache, daß die* derzeit erschlossenen Quellen eine systematisch erschöpfende
Behandlung der ungarischen Landarbeitei frage nicht gestatten, den Titel bestimmt
haben. Bunzel wendet sich mit seinen temperamentvoll geschriebenen Artikeln, deren
polemische Grundtendenz gegen das „magyarische System Potemkin" gerichtet ist, an
jeden Information suchenden Leser, wobei jedoch sein „unbefangenes Wort“ bisweilen
auch dort, wo es bei aller Schärfe durchaus berechtigt ist. vermöge des mit Animo, häufig
selbst aninios gefärbten Vortrages Zweifel wachrufeu mag, ob der Autor nicht nach der andern,
schwarztnalendeii Richtung übertreibt. In Wahl und Benützung von Quellen ist Bunzel.
sicht allzu streng. Er schöpft wohl auch aus amtlichen Materialien, zum mindesten aber
neben«« gern aus allerlei offiziösen Berichten, Privatarbeiten, selbst aus Tagesblittern, z. B
der „Arbeiterzeitung“, dein« Pester Lloyd“; Parlamentsreden werden nach dem letztgenannten
Blatt zitiert. So ist denn beim Gebrauche dieser mehr journalistischen Aufsätze etwas
Vorsicht aui Platze. Anderseits wird durch Mitteilung der betreffenden Gesetze ein
sicheres Fundament geboten, so daß sich der Leser ohne Ermüdung annähernd unter-
richten kann. Eingestreute Pikanterien — wie z. B. die Erinnerung an Baron Bänffys
„heiligen Simon“, womit der ungarische Ministerpräsident Saint-Sinmn meinte — gestalten
die Lektüre noch leichter.
Kun dagegen hat für den Sozialhistoriker geschrieben. Zu zeigen, daß in
Uugarn schon vor der Bauernbefreiung eine Klasse der ländlichen Arbeiter als besondere«
Glied des gesellschaftlichen Organismus vorhanden gewesen, ist Zweck seiner analytisch-
historischen Untersuchung. Indem er die Organisation der landwirtschaftlichen Arbeits-
kraft Ungarns aus ihrer Entwicklung heraus pragmatisch schildert, zeigt Verfasser —
ähnlich wie es Theodor v. d. Goltz bezüglich der ländlichen Arbeiterklasse in Preußen
getan — „daß die Rechtsorganisation durch den gesellschaftlichen Bildungsprozeü hervor-
gerufen wurde und nicht umgekehrt“. Krstere greife gewöhnlich erst dann sanktionierend
beziehungsweise reglementierend ein. weun letzterer in Überbildung übergeht und Übelstände
zeitigt. Es liegt auf der Hand, daß einem solchen Thema nur mit ernsten Wissenschaft'
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Litermturbericht
458
liehen Mitteln heizukomiuen ist: Kün hat solche zu beschaffen gewußt und ein auf
authentische Rechtaqnellen gestutztes, objektiv und streng sachlich gehaltenes Stück
ungarischer Sozial- und Rechtagesehichte ab ovo erstellt.
Was den Inhalt der beiden Publikationen im besonderen betrifft, so handelt
Runzel über die Lage der ungarischen Landarbeiter, zwei Gesetze über den Agrar-
sozialisii.tts, die Lage der gewerblichen Arbeiter, das Annenwesen und bringt Bemerkungen
über den Ausgleich und über di»- ungarische Industriepolitik.
Von einer Besprechung des Aufsatzes über „Die Lage der gewerblichen
Arbeiter in Ungarn“ kann hier abgesehen werden, da derselbe in dieser Zeitschrift
<11. u. III. Heft des XL ßnudes. 1902, S. 252 ff.) zum erstenmal veröffentlicht worden
und daher den Lesern bekannt ist. Der Aufsatz über das Armen wesen, welches in
Ungarn infolge der unbestimmten Verpflichtung der Gemeinden fast ausschließlich den
einzelnen überlassen sei. ist in der Hauptsache einer in französischer Sprache veröffent-
lichten Abhandlung des ungarischen Ministerialrates Kanüsz gewidmet. Die Aus-
führungen über die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Österreich und
Ungarn gelten hauptsächlich der Beweisführung, daß die Sicherung der Zollgemeinschaft
weit mehr im ungarischen als im österreichischen Interesse gelegen sei, wobei die
haudels , fiuanz-, imiustrie- und verkehrspolitischen Verhältnisse, die Quotenfrage etc.
mit reichein Datenmaterial beleuchtet werden.
Der ungarischen Industriepolitik macht Verfasser den Vorwurf, daß sie
anstatt för eine Verbesserung der allgemeinen Produktionsbedingungen zu sorgen nnd
durch soziale Reformen die Kaufkraft der Bevölkerung zu erhöhen, sich auf die För-
derung einzelner Unternehmungen verlege, was nur eine Bereicherung einzelner, meist
ausländischer Unternehmer, eine Schädigung des Kleingewerbes sowie der Hausindustrie
und die Belastung breiter Volksschichten zur Folge habe. Vielmehr müsse der theoretisch
als richtig erkannte Grundsatz, daß sich die ungarische Großindustrie in erster Linie
aus der Agrikultur entwickeln solle, auch in die Praxis Eingang finden. Die erwähnte, auf
Gesetzen ans den Jahren 1881 und 1890 ruhende Förderung einzelner Unternehmungen betrifft
langjährige Steuer- und Gebührenfreiheit, Subventionen, zinsenfreie Darlehen. Beteilung
mit staatlichen Lieferungen, unentgeltliche Überlassung von Grund und Boden, Tarif-
und sonstige Begünstigungen, hat aber nach Ansicht des Verfassers nicht die gewünschten
Resultate gezeitigt. Mehr Erfolg schein»'ii die Bestrebungen auf Sicherung den heimischen
Marktes fiir die Industrieprodukte gehabt zu haben. (Im Jahre 1899 wurden bereits
88-7 Proz. de» Bedarfes der Verkehrsanstalten an Industrieerzeugiiisseu im lolande
gedeckt.) Da aber auch diesen Bemühuugen die geringe Konsumfälligkeit der ohnehin
nicht dichten Bevölkerung im Wege stehe, mußten Versuche, den Export ins Ausland
zu heben, unternommen werden: diesem Zwecke diente vor allem die ungarische Eisen-
bahnpolitik. dank welcher der Staat nunmehr seit einem Jahrzehnte über das ganze
Eisenbahnsystetn des Landes selbständig entscheidet. Zu beklagen sei der infolge weit-
gehender Begünstigung der Gründung von Aktiengesellschaften (1901/02 500 industrie-
aktiengesellschaften) fühlbare Mangel an Einzelunternetimungcii. Die Zahl der Gewerbe-
treibenden betrug im Jahre 1890 5*26 Proz. der Gesamtbevölkerung gegen 4-2 Proz. iin
Jahre 1870. 97 03 Proz. aller Unternehmungen waren Kleinbetriebe (mit 0 — 5 Arbeitern),
1 87 Proz. Mittelbetriebe (6—20 Arbeiter) und nur 0 4 Proz. Großbetriebe (über 20
Arbeiter). Im Jahre 1899 wurden in Ungarn 2.364 Fabriken mit zirka 245.500 Angestellten
gezählt. Am stärksten entwickelt sind jene Industrien, welche entweder die Rohprodukte
des Landes verarbeiten, wie die Nahrung»- und Genußmittcl- sowie die Holzindustrie,
oder welche staatliche Bedürfnisse zu befriedigen vermögen, wie die Eisen-, Metall- und
Masehinenindustrie; dagegen sei die besonders unterstützte Textilindustrie höchstens in
Siebenbürgen lebensfähig. Als besonders hinderlich für die Induslrieentwicklung in Ungarn
erscheinen dein Verfasser der Mangel an Kapital (dieses sei größtenteils durch landwirt-
schaftliche Investitionen gebunden), das mehrfache Fehlen einer fachmännischen Leitung,
der Mangel an billigen Rohstoffen sowie an geschulten Arbeitskräften (der ungarische Arbeiter
pflege in einem gewissen Alter wieder zur bäuerlichen Beschäftigung zurückzukehreui.
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Literatorbericht.
450
Von diesen aktuellen Erwägungen wenden wir uns nun zu den historischen
Untersuchungen Küns. Bei den nomadisierenden Ungarn und noch zur Zeit der Land-
nahme (900) war jeder Soldat (in Nachwirkung der römischen militär-agrarischen Formen)
Eigentümer eines Grundstückes, das von den Ureinwohnern (Avareu, Deutschen, Slaven)
und /«Wanderern bestellt wurde. Christentum und Monarchie lieUcn einen erbunter-
täuigen Dienerstand und aus diesem eine Klasse freizügiger Schutzunterütneu entstehen
— den ersten Vorläufer des heutigen Gesindes. Die durch wachsende Bodenkultur
bewirkte reichere Gliederung des arbeitenden Volkes — auch die Anfänge einer Klein-
grundbesitzerklasse (freie Ungarn und Kolonisten) zeigten sich bereits — ging in den
Tartaren- und Türkenstürmen wieder unter. In der Folge war der Bauer theoretisch
zwar frei, «loch schutzlos, da der infolge königlicher Schenkung emporstrebende feudale
Großgrundbesitz eine derartige Ausbreitung der Hörigkeit mit sich brachte, daß sich
alsbald alle freien und unfreien Ackerbauer in der großen Klasse der grundholden
Hörigen zu«ammenfanden. Dieses von Ludwig d. Gr. 1351 gesetzlich geregelte Institut
der Jobbagyien — (eventuell erbberechtigte) Nutznießer der herrschaftlichen Felder —
bestand im Wesen bis 1*50 fort. Mit dem Sieg des Hochadels über die Königsgewalt
(nach dem Tode Matthias' Corvinus) verlor auch die Freizügigkeit ihre praktische Be-
deutung; es kam zum großen Bauernaufstand 1514, nach dessen Niederwerfung die
erbliche Hörigkeit vom Reichstag dekretiert wurde. Nachdem Verfasser schon für
das 15. Jahrhundert einen freien Feldtaglöhnerstamm in Ungarn festgestellt, bezeichnet
er die Zeit von 1514 bis auf Maria Theresia als eine Periode ökonomischen, moralischen
und — hauptsächlich infolge der Pest 1707 — auch physischen Verfalles. Die Hebung
und Befreiung der Bauernschaft wird vom Verfasser ebenso konzise wie klar dargestellt.
Innerhalb dieses hier nur ganz leicht angedeuteten Rahmens unterzieht Kan die einzelnen
Laadarbeiterkategorien nach ihren historischen, wirtschaftlichen, politischen, sozialen und
rechtlichen Faktoren einer gründlichen Untersuchung. In einer abschließenden, objektiv
formulierten Betrachtung Über ungarisches Arbeiterrecht und Arbeiterfürsorge wird erst die
Möglichkeit geboten, die Ausführungen dieses Autors mit dem der Gegenwart und jüngsten
Vergangenheit gewidmeten Aufsatz Bunzels über die Lage der ungarischen Landarbeiter in
Vergleich zu ziehen. Wohl ergänzen einander die b« ideu Arbeiten in gewissem Belange, so
insbesondere iu den statistischen Angaben, dann in den Mitteilungen über die agrarsozialistische
Bewegung der letzten Jahre, ergeben jedoch kein Ganzes. Einer einfachen Zusammen-
legung der beiden Abhandlungen steht vor allem ihr unter anderem durch die oben
erwähnte Verschiedenheit der benutzten Informationsquellen bedingter disparater Charakter
entgegen. (Übrigens verweist K ün mehrfach auf den Aufsatz Bunzels.) Beide Autoren
klagen über den Mangel beziehungsweise die Mängel des für ihre Arbeiten notwendigen
statistischen Materials, doch ist es Kün gelungen, selbst für weit zurückliegende
Perioden reichere und verläßlichere Daten aufzuspüren. Besonders Rillt es auf, daß
Hunzel in seinem Aufsatz, der zuerst im „Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik“,
Baud XVII, 1902 erschienen ist, die ungarische agrarstatistischc Konskription vom
Jahre 1895, ^ worüber die ersten Bände 1897, die letzten zwei 1900 veröffentlicht
wurden, nicht verwertet.
Sowohl die sozial- und nationalökonomischen Feuilletons Bunzels wie die
wissenschaftliche Monographie Kün’s tragen zur Verkleinerung einer großen Lücke bei.
Dali dieselbe nicht ausgefüllt ist. vielmehr noch anderen Forschem Arbeitsgelegenheit
bietet, liegt an der Art des Gegenstandes wie an der Beschaffenheit des Materials.
Dr. Julius Twardowski.
Dr. Theodor Spickenunnn. Der Teilhau in Theorie und Praxis. Ein Bei-
trag zur Lösung der ländlichen Arbeiterfrage. („Volkswirtschaftliche und wirtschaftsge-
schichtliche Abhandlungen“ herausgegeben von Prof. Dr. W. Stieda. IV. Heft). Leipzig,
Verlag von Jfthn und Schanke, 1902, 8°, 68 8.
<) Vgl. blerOb-r den Auf-nu vuo ProffMor v. Heb « Iler n • Sch re tle n ho. e n in der vom k. k.
Arbriuumtlsil scheu Aiat h-r ju*geg«t>c,n .Sotlelru Kundseh Mi", Aprilhe/l lÄJt, «. 4ill ff.
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460
Literaturbericht.
Nicht ohne günstige Vorurteil nahm ich das angezeigte Schriftchen zur Hand.
Ein interessant«-1» Thema, mit wohltuender Kürze and ohne weitwendigen literarischen
Apparat behandelt. Offenbar, sagte ich mir, hat der Verfasser über den Gegenstand
eigene Gedanken vorzutragen und begniigt sich auch damit. Das erweckte meine
»Spannung um so mehr, als bekanntlich die Meinungen über das juristische Wesen des
Teilbaues sowohl wie über seinen produktionstechnischen und sozialpolitischen Wert sehr
auseinandergellen. So begann ich denn zu lesen — und das Gelesene nachzuprüfen.
Hier ist das Ergebnis dieser Prüfung:
In einer kurzen Einleitung (8. 1 — 2), bietet der Verfasser einen Überblick Ober
die Verbreitung des Teilbaues. Die betreffenden Angaben sind zur Gänze entlehnt
den — übrigens bereits 1894 und nicht erst 1897 erschienenen — .Studien über den
Teilbau in der Landwirtschaft“ u. s. w. von Pappafava, S. 2—34. Herr Spickermann
nennt aucli keinen andern Gewährsmann, diesen aber nur zu zwei speziellen Punkten.
Dadurch wir«! der Anschein erweckt, d«*r Best der Darstellung beruhe auf Eigeuforschung.
Zudem ist der Auszug nicht nur höchst flüchtig, was bei seiner Kürze — 1 aus 34 Seiten
— kaum zu vermeiden war, sondern auch ungenau.
Der erste Abschnitt der eigentlichen Darstellung behandelt den Teilbau in
Italien (S. 3-21).
Er beginnt mit einer Skizze der .geschichtlichen Entwicklung und Ausdehnung
des Teilbaues“ (S. 3 — 9). Eingangs derselben verweist der Verfasser auf die in der
.Zeitschrift für Staat» Wissenschaft“ (er meint die .Zeitschrift für die gesamte Staats-
wissenschaft.“) 1884—1885 erschienenen Abhandlungen H. Dietzels: .Über Wesen und
Bedeutung des Teilbaue» in Italien“, welche der Verurteilung des Teilbaues namentlich
durch deutgehe Gelehrte den Boden entzogen hätten, und fügt hinzu: „Da von allen
Arbeiten über die italienische Knquüte (von 1877), welche auch den Teilhau eingehend
würdigen, die von Dietzel und Eheberg anerkannte rmaUen die beuten sind, so stützt
sich Verfasser unter Mitberücksichtigung der umfangreichen sonstigen
Literatur hauptsächlich auf diese beiden Autoren.“ (8. 3 Text und Anm. 1.) Nun ist
bekanntlich die Untersuchung Dietzels in drei Abteilungen erschienen (a, a. O., 40. Bd.,
S. 219—284 und 59“»— 639; 4L Bd., S. 29 — 86), deren erste: Verbreitung, Wesen, legis-
lative Behandlung und Stabilität des Teilbausystems schildert, während die beiden
andern .das Entwicklungsgesetz der colonia parziaria“ und «len Prozeß der Entstehung
uud Ausbreitung derselben zur Darstellung bringen.
Der entwicklungsgeschichtliche Teil der Dietzelachen Untersuchung wird von
Herrn Spick ermann überhaupt nicht und speziell in d«»r erwähnten historischen
Skizze (S. 4—9) kein einziges Mal zitiert, trotzdem die letztere vollständig und
noch dazu höchst ungeschickt, ja in vielfach sinnstörender oder sinnloser Weise aus-
schließlich von Dietzel abgeschrieben ist. Dagegen bezieht ersieh auf eine ganze
Reihe anderer Gewährsmänner: Bertagnolli, Curtius, Appian, Cato, Mommsen,
Pohl mann sowie auf da» Florentiner Statut von 1415. Kr hat jedoch zweifellos aus
keiner einzigen der angeführten Quellen unmittelbar geschöpft. Er hat vielmehr wie den
Text so aucli die Anmerkungen mechanisch Dietzel .entlehnt“. Es decken sich
nämlich bei:
Spickermann
3. 4, Anm. 2
. 3
» 4
5, . 1
„ 2
- 3
„ 4
6 . 1
« p 1
* 2
Dietzel
a. a. 0. 40. Bd , S. 597 Text
598 Amu. 2
599 Anm. 2
603 Text
601 Anm. 2
611 „ 1
Cll „ 6
617 . 1
41. Bd., S. 63 . 1
64 „ 3
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Literaturbericht.
461
Originell ist unser Autor nur darin, daß die Anmerkungen mitunter Überhaupt
nicht zum Teit passen.
Dafür sind die Daten über die «Bedeutung des Teil baue»* (in der Gegenwart.
S. 9 — 11), ohne dali überhaupt eine (Quelle zitiert wäre, von Dietzel a. a. 0.
40. Hd., S. 22S ff.) abgesch rieben Kinen drolligen Kindruck macht es, wenn mau die
Ausführungen auf S. 11 und 8. 21 vergleicht. Hier bringt nämlich Herr Sp ick ermann
nach Asairelli, Le metayage cn Italie, eine Gegenüberstellung der gesamten und der
teilbaumaßig bewirtschafteten Anbauflächen sowie der Produktion auf beiden für die
wichtigsten ßodenerzeugnisso (Getreide, Mais, Wein, Oliven. Gemüse). Dort hingegen
bemerkt er: .Am vorteilhaftesten wäre es, uin die Bedeutung des Teilbaues voll
würdigen zu können, wenn Jie von den Teilbauern bewirtschaltete Flüche bekannt wäre.
Die KnquMe verrät hierüber nichts und eine Schätzung würde wohl kaum das Richtige
treffen/ Es braucht wohl kaum gesagt zu werden, dali diese Bemerkung Dietzel
(a. a. 0. S. 234 f) und Eheberg (Agrarische Anstände in Italien S. 125 f.) entstammt.
Es überrascht förmlich, dali unser Autor seine Schilderung des „Wesens des
Teilbaues* (S. 11 — 18), nicht wieder stillschweigend Dietzel und Eheberg entnommen
hat, sondern diesen einmal, jenen sogar dreimal fitiert. Allerdings wieder nur zu speziellen
Punkten. Dagegen steht er, wenn aus dem Mangel jeglicher Literaturangabe geschlossen
werden sollte, in der .Beurteilung“ (S. 18—21), durchaus auf eigenen Füßen. Ein fataler
Zufall fügt es aber, dali auch schon Eheberg (a. a. O. S. 133 — 137) zu genau deiu gleichen,
vielfach wörtlich übereinstimmenden Urteil gelangt ist. Ergänzt hat dasselbe Herr
Spickermaiin nur durch die schon erwähnte Tabelle aus Asairelli, aus der er jedoch
die die Seidenkultur betreffenden Ziffern weggelaasen hat. (Vgl. „La rdforme sociale“
vom Juni 1893, S. 874).
Noch leichter hat sich unser Autor die Sache gemacht im zweiten Abschnitt
(8. 22—32), der dem Teilbau in Frankreich gewidmet ist. Die vorhandene, so überaus
reiche Literatur kennt or offenbar gar nicht; ja nicht einmal die doch wahrlich unschwer
zugänglichen Artikel in dem „Nouveau dictiounaire de ricoiiomie politique“ und in „La
grande Kncyclopddie“. Kr nennt nur — und zwar insgesamt in der uns bereits be-
kannten Art zu ganz nebensächlichen Punkten — Roger Merlin, Le metayage en
France dreimal. Mlplain, Dialogucs snr le metayage und Reitze uste ins Landwirtschaft
Frankreichs je einmal. Die beiden ersterwähnten Werke sind mir nicht zugänglich. Ich
kann also nicht im Detail nachprüfen, ans welchem von beiden sein Auszug stammt, über
dessen Wert das von dem früheren Gesagte gilt. Hervorgehoben sei nur, daß der ge-
schichtlichen Entwicklung des Teilbaues in Frankreich 34 Zeilen gewidmet sind, darunter
sieben der Erwähnung einer Urkunde aus dem Jahre 800 über eine .Schenkung an den „Abbl
Friedegia*(!) Aus welchem Grunde Herr Spickermann seine geschichtliche Skizze mit der
„zweiten Hälfte des Mittelalters“ abschließt und sie erst 1832 wieder einsetzen läüt,
weil) ich nicht.
In» dritten Abschnitt (8. 43—48) wird die Beteiligung der Arbeiter am Roh-
uud Reinertrag eines landwirtschaftlichen Betriebes in Deutschland behandelt. Neu siud
nur die Daten über die Anteilwirtschaft beim Tabakbau auf drei Mecklenburgischen
Gütern nach Mitteilungen der Verwaltung derselben. Den Rest verdankt der Verfasser
wieder ausschließlich den „Yerhandlnngcn der XXV. Plenarversammlung des deutschen
Landwirtschaftsrates“. Außerdem findet sich die Wiedergabe der Auffassung von der
Goltz über die Berechnung de» Reinertrages von landwirtschaftlichen Unternehmungen
durch ein Zitat aus Böh inert. Gewinnbeteiligung, belegt (8. 40).
Im vierten Abschnitt (S. 47 — 52) werden die bisherigen deutschen Versuche
zur Begründung bäuerlicher Stellen und zur Lösung der ländlichen Arbeiterfrage äußerst
flüchtig besprochen. Für die Zeit vor dein preußischen Rentengütergesetz vom 26. April
1886 ausschließlich an der Hand von Rirnpler — wobei aus den Zitaten nicht zu
ersehen ist, ob dessen Schritt: Domäuenpolitik etc. in Preußen, oder die im 32. Bande der
„Schriften des Vereines für Sozialpolitik“ enthaltene Abhandlung benützt wurde — für
die spätere Zeit an der Hand von Aal, das preußische Reutengut. Sonst finden Bich in
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462
Literaturbericht.
diesem Abschnitt nur außerordentlich spärliche, dazu nicht immer richtige Literatur-
angaben. Von Aal S. 92, ist jedenfalls die verstümmelte Anmerkung 2 auf S. 50 über-
nommen. Das Zitat aus von der Goltz S. 50, Anm. 5 ist falsch. Es soll dort heißen
statt S. 07: S. 90. bes. S. 154.
Auf Aal gestützt, steht Spickermann der preußischen Bentenguta-Gesctzgebung
skeptisch gegenüber. Die Lösung der ländlichen Arbeiterfrage erwartet er auch nicht
von der Begründung von Arbeiter-Renteiigiitem oder Arbeit er- PachUtellcn, wohl aber
von der Einführung des Teilbaues in die deutsche Landwirtschaft. Dieser würde, meint
Herr Spickermann, eine Interessengemeinschaft zwischen Gutsherrn und Bauern
schaffen, einen Damm gegen die cigentumsfeindliche Sozialdemokratie bilden und „das
Deutschtum des Ostens vor einer Verdrängung durch das polnische Element bewahren
helfen.“ Zwar bestünde begrifflich die Gefahr der Ansetzung deutscher Teilbauern auf
polnischen Gütern und damit der Polonisierung jener. Aber „ein Deutscher, der noch
die Hälfte seines Deutschtums besitzt, wird sich nicht so leicht in die Abhängigkeit
eines Polen begeben“ — und überdies „hat es die Regierung in der Hand dafür
zu sorgen, daß Deutsche auf polnischen Gütern als Teilbauern nicht ange-
nommen werden können“ (S. 62). Mit der Einführung des Teilbaues soll der Staat
auf seinen Domänen vorangchen. Der Privatgroßgrundbesitz wird folgen, namentlich wenn
der Staat den Gutsbesitzern ein unverzinsliches oder niedrig, zu 1—2 Proz. verzinsliches
Kapital zur Bestreitung der Anaiedlnngskosten vorschießen würde. Übrigens empfiehlt der
Verfasser keineswegs volle Zerschlagung, sei es auch nur der Domänen. Sie soll vielmehr
nur in arbeiterarnien Gegenden und auch da in erster Linie für die wenig oder gar nicht
rentablen Außenscbläge statttinden.
Es ist höchst befremdlich, daß eine Arbeit wie die Spickernianns in der von
Prof. Stieda herausgegebenen Sammlung erscheinen konnte. Nur dieses Gefühl der
Bcfremdung mag die Ausführlichkeit dieser Besprechung rechtfertigen, die wahrlich
im umgekehrten Verhältnis zum Wert ihres Gegenstandes steht.
Wien. Karl Grünberg.
Br. Ludwig Slnzhelmer. Privatdozent an der Universität München. Die Arbeiter-
wohnungsfrage (Bd. 2 u. 3 der „Volksbücher der Rechts- und Staatskunde“), Stuttgart,
bei Ernst Heinrich Moritz, 1902, 190 S.
Das vorstehend angezeigte Werkelten ist aus einer Reihe von Vorträgen hervor-
gegangen, welche der Verfasser im November und Dezember 1901 im Münchener Volks-
hochschulvereine gehalten hat. Es zerfällt in sechs Kapitel. Im ersten wird einleitend auf
den durchaus modernen Charakter der Wohnungsfrage als allgemeines Problem hingewiesen
mul die Differenzierung in den Anschauungen über die Mittel zu ihrer Lösung skizziert.
Die nächsten vier Kapitel schildern: die Methoden zur Beurteilung von Wohuungszu-
standen; die Geschichte der Gesetzgebung und Verwaltung auf dem Gebiete des Wohnungs-
wesens in England: die Verwaltung und Gesetzgebung in Deutschland; die Entwicklung
und Funktionierung baugenossenschaftlicher Tätigkeit. Im Schluükapitel werden die zu-
künftigen Aufgaben gegenüber der Wohnungsfrage auch in Deutschland behandelt.
Die der Popularisierung der Erkenntnisse und Bestrebungen zur Bekämpfung
der Wohnungsnot in allen ihren Erscheinungsformen gewidmete .Schrift erfüllt ihren
Zweck vortrefflich — trotz der durchaus nicht immer einwandfreien, vielfach zu sehr
die Spuren des freien Vortrages an sich tragenden Form, die sich in Sprache und
übermäßiger Länge bemerkbar macht. Sie wird aber auch dem Kenner nicht uninter-
essant sein.
Wien. Karl Grünberg.
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DIE DISKONT- UND DEVISENPOLITIK
DER ÖSTERREICHISCH-UNGARISCHEN BANK')
(1892—1902).
VON
FRIEDRICH HERTZ.
Das Jahr 1892 bildet den Ausgangspunkt der neuereu Entwicklung
auf dem Gebiete des österreichischen Geld- und Kreditwesens. Zahlreiche
Umstande wirkten zusammen, um die Ordnung des Geldwesens zu begün-
stigen. Die große Zunahme der Goldproduktion durch die Erschließung der
südafrikanischen Minen, die Preissteigerung des Silbers durch die währungs-
politischen Experimente der Vereinigten Staaten (1890/91) schufen eine
Situation, die an die beginnenden Fünfzigerjahre erinnerte, in die der erste
Versuch Österreichs zur Goldwährung überzugehen, fällt,*) Das Sinken des
Agios brachte selbst die agrarischen Exporteure auf die Seite der Gold-
währung,8) der Industrielle und Kaufmann hatte genug unter den fort-
währenden Wertschwankungen des Geldes zu leiden gehabt, um die Reform
freudig zu begrüßen. Die Staatsfinanzen waren in einem bisher nicht
erreichten günstigen Zustand, das Budget wies beträchtliche Überschüsse auf
die Besserung des Staatskredits und die Einstellung der Staatsanleihen äußerten
sich in einem rapiden Steigen der Rentenkurse. Dazu kam noch, daß Österreich
*) Die Daten der nachfolgenden Darstellung lieferten hauptsächlich folgende
Quellen: „Neue Freie Presse", „Fester Lloyd“, „der Tresor“, „Zeitschrift für Volkswirtschaft
und Finanzwesen“ (offiziöses Organ der Bank), „Zeitschrift für Staats- und Volkswirtschaft“,
Wien; „Der Kompafi“, finanzielles Jahrbuch für Österreich -Ungarn. Salings Börsenpapiere;
die wöchentlichen Bankausweise, Rechnungsabschlüsse und Generalversainmlungsberichte
der Österreichisch-ungarischen Bank, ferner die offizielle Statistik, aus der die „Tabellen
zur Währungsstatistik“ und die „Statistik der Banken“ hervorzuheben sind. Einen guten
Bericht über den Geldmarkt enthielt bis 1900 der „Bericht über Handel. Industrie und
Verkehr in Niederösterreich, erstattet von der Wiener Handels- und Gewerbekainmer“.
Seit 1901 erscheint ein eigener „Jahresbericht der Wiener Börsenkammer über den
Verkehr an der Wiener Börse und den Geldmarkt“.
*) Vergl. Karl Helfferich, Geschichte der deutschen Geldreform. Leipzig 1898.
Seite 21 und 102.
Vergl. Bericht des ValutaausschoBses S. 7 (in Beilagen zu den atenogr. Proto-
kollen des Abgeordnetenhauses, XI. Session 1892. Nr. 491).
ZaiUchrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung. XII Band. 3*2
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464
Hertz.
von der industriellen Depression 1891 92 verschont blieb. Das Handels-
aktivum wuchs beständig. Die großen Verluste, die das europäische Kapital
an exotischen Papieren — besonders an Südamerikanern, Griechen, Portugiesen,
Spaniern u. s. w. — erlitten hatte, und der infolge der Krise fallende Zins-
fuß schufen der Emission von Staatsrenten und der Geldbeschaffung die
günstigsten Vorbedingungen. Da überdies die Regierungen eine in wirt-
schaftlichen Dingen sonst ungewohnte Energie entwickelten — was vor allem
auf die Rechnung der Finanzminister Steinbach und Weckerle zu setzen
war — so gelang es in überraschend kurzer Zeit, die Goldwährung gesetzlich
festzulegen.1 Auch die sofort eingeleitete GoldbeschafTuug hatte einen großen
Erfolg aufzuweiseu. Um so mehr mußte die langsame Fortsetzung der Reform
Verwunderung hervorrufen. Die gegenwärtige Lage macht die Aufnahme
der Barzahlungen im nächsten Jahre 1 1904) sehr wahrscheinlich und ein
Rückblick auf die Ereignisse der Zwischenzeit wird einesteils die Gründe
der Verzögerung, andemteils die erreichte sichere Fundierung des großen
Werkes erkennen lassen. — Trotz wiederholter Anstrengungen und einer kurzen
Episode 1858 — 59 hatte die österreichisch-ungarische Bank — resp. ihre Vor-
gängerin die österreichische Nationalbank — die 1848 eingestellten Barzahlungen
nicht mehr aufnehmen können. Gleichzeitig mit der Einstellung der freieu
.Silberprägung im Jahre 1879 war auch die Verpflichtung der Bank, Silber
gegen Noten einzulöseu, suspendiert worden, so daß seither die Bank weder
zur Annahme noch zur Abgabe von Metall verpflichtet war. Hiedurch war
zwar die Bank gegen alle Gefahren geschützt, die barzahleuden Banken
aus den Diskontverhältnissen erwachsen können. Doch hat schon der hoch-
verdiente Generalsekretär W. v. Luc am den Grundsatz ausgesprochen,
daß mit Rücksicht auf die Wiederaufnahme der Barzahlungen die Bank
bis dahin nichts tun dürfe, was einer barzahlenden Bank nicht gestattet
wäre, und nichts unterlassen, was Pflicht einer barzahlenden Bank sei,
ein auch später oft wiederholter Grundsatz,’) der freilich heftigem Wider-
spruch nicht entgehen konnte. Man behauptete, Österreich befinde sich
infolge seiner Währungsverhältnisse gleichsam auf einem Isolierschemel
und die Bank könne unbekümmert um den W eltmarkt die Zinsrate dauernd
beliebig niedrig halten.
Schon Lucam hat auf das Irrtümliche dieser Behauptung hingewiesen.
Ein küustlich niedergehaltener Zinsfuß äußert sich alsbald in einem
Einströmen der Effekten, deren Kurs getrieben wird, und in einer
Zurückziehung ausländischer Guthaben, wodurch Geld sofort knapper wird
und der Zinsfuß neuerlich steigt. Da Österreich aber des Kapitalzullusses
bedarf, liegt ein niedriger Zinsfuß schon deshalb nicht im Interesse der
‘) Vergl. die Darstellung in der Schrift des Hufrates Dr. Alexander Spiti-
raüller. Die Österreichisch-ungarische Währungsreform, Wien 1902. (In dieser Zeit-
schrift IX. Jahrg.).
*i Vergl. W. v. Lucam, Die Österreichische Natiuualbank während der Dauer des
drittes Privilegs 1876, S. 66 und E. v. Mecenseffy, Verwaltung der Österreichisch-
ungarischen Bank 1896. 3. 28.
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Die Diskont- und Devisenpolitik der Österreichisch-ungarischen Bank et«. 465
Industrie. Auch ist es zweckmäßig, die Gewöhnung des Publikums an den
Zustand einer barzahlenden Bank schon vor seinem Eintreten anzustreben.
Ganz besonders mußte dieser Gesichtspunkt während des Übergangsstadiums
seit 1892 zur Geltung kommen. Was die vorhergehende Epoche anbelangt,
so ist freilich seit der Umwandlung der Nationalbank in die Österreichisch-
ungarische Bank jenem strengen Grundsatz selten Genüge getan worden.
Ein Blick auf die Tabellen der Diskontändernngen zeigt, daß die Bank mit
wenigen Ausnahmen eine von den Schwankungen des Weltmarktes ziemlich
unabhängige Diskontrate eingehalten hat. Doch kann ihr der Vorwurf eines
übermäßig niedrigen Zinsfußes nicht gemacht werden, es fehlte mehr die
Beweglichkeit als die absolute Höhe.
In der ersten Auflage der .Statistischen Tabellen zur Währungsfrage*1)
findet sich eine graphische Darstellung des Diskonts der europäischen
Hauptplätze, des Silberpreises und des Wiener Goldkurses. Es geht daraus
hervor, daß die österreichisch-ungarische Bank während der Dauer ihres
ersten Privilegs (1878 — 87) eine Oberaus konstante Bankrate hatte. Während
der 91 t Jahre fanden nur zwei Hinaufbewegungen und zwei Herabsetzungen
des Diskonts statt. Vom Mai 1879 an blieb die Rate von 4 Proz. durch
3 Jahre und 5 Monate, 4 Monate herrschte der Satz von 5 Proz., worauf
bis gegen Ende des Privilegs durch 4 Jahre und 8 Monate*) der Normal-
zinsfuß von 4 Proz. aufrecht blieb. Bemerkenswerterweise fällt genau in
diese Epoche das gewaltige Anwachsen des Agios, das sich in einer Stei-
gerung der Devisen und des Goldknrses ausdrückte.’) Allerdings ist es,
wenn man den Gang des Privatdiskonts verfolgt, nicht sehr wahrscheinlich,
daß eine straffere Diskontpolitik die Wirkungen des sinkenden Silberpreises
auf die nicht völlig isolierte österreichische Währung hätte paralysieren
können. Stets hätten die Regierungen es in der Hand gehabt, durch Redu-
zierung ihrer Kassenbestände und Rückziehung von Salinenscheinen ein
riesiges Quantum von Staatsnoten auf den Markt zu bringen und die
Diskonterhöhung wirkungslos zu machen. Während des zweiten Privilegs
(1887 1897) befolgte die Bank eine beweglichere Diskontpolitik, die aller-
dings fast nur die periodischen Schwankungen des inneren Bedarfes wieder-
spiegelt. Der Normalsatz war 4 Proz. im September oder Oktober ging
man auf 41/, oder 5 Proz., bereits im Januar oder Februar erfolgte die
Rückwendung zum Diskont von 4 Proz. — Immerhin ist eine größere
Annäherung an den Privatdiskont und an den internationalen Zinsfuß dicht
zu verkennen. — Es ist nun unsere Aufgabe, jenen Teil dieser Epoche, der
nach der Valutareform liegt, und die ersten Jahre des neuen Regimes ein-
gehender darzustellen. Vorher seien jedoch die gesetzlichen Grundlagen der
') Verfallt im k. k. Finanrminiiteriom 1892 (in der iweiten Anflage 1896/99 weg-
gelassen).— Vergl. ferner Mecenseffy, a. a. O., S. 8182.
*) Von Februar 1883 bis September 1887.
») Die Jahresdurchschnitte der Devise London betrugen: 1879: 117-708; 1883:
120 167: 1887: 126-968. Der Wiener Goldkurs (Preis von 260 Franken ip Napoleons in
Noten 0. W.) stand: 1879: 116-26; 1888: 118-93; 1887: 125 28.
82*
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466
Hertz.
Diskontpolitik kurz wiederholt. — Da die Bestimmungen des neuen Privilegs
(kaiserliehe Verordnung vom 21. September 1899. R.-G.-Bl. Nr. 176, bezie
hungsweise ungarischer Gesetzartikel XXXYI1 ex 1899; von jenen des alten
(Gesetz vom 21. Mai 1887, R.-G.-Bl. Nr. 51,resp. ungarischer Gesetzartikel XXVI
ex 1887) in dieser Hinsicht wenig abweichen,1) mögen sie gemeinsam
dargestellt werden. — „Der Generalrat setzt nach freiem Ermessen den
einheitlichen Zinsfull im Kskomptegeschäft sowie im Darlehensgeschäft
fest.* (N. Art. 25 al. f). „Die Eskomptierungen der Bank haben bei allen
Bankanstalten in der Hegel nur zu dem vom Gencralrat einheitlich
festgesetzten Zinsfüße, welcher öffentlich und an den Schaltern der Bank
bekannt zu machen ist, zu geschehen; Ausnahmen sind nur auf Grund
eines Beschlusses des Generalrates oder eines von diesem hiezu beauftragten
Komitees zulässig* (N. Art. 60 al. c). „Die österreichisch-ungarische Bank
wird in beiden Teilen des Reiches von der Wirksamkeit jeder die Höhe
des Zinsfußes beschränkenden gesetzlichen Verfügung losgezählt“ (A. N.
Art. 57). — Hieher gehört ferner die 5proz. Notensteuer, die bei einer
Überschreitung des steuerfreien Kontingents von 400,000.000 K in Kraft
tritt (A. N. Art. 84 al. d). Insoweit hat das neue Privileg keine Änderung
des bestehenden Zustandes bewirkt, jedoch diesen in einigen Punkten
ausdrücklich festgelegt. — Einfluß auf die Diskontpolitik können noch die
neuen Bestimmungen der Art. 55 al. d) und 75 haben, die die Bank
zur unentgeltlichen Verwaltung von Staatsgeldern verpflichten und ihr die
Annahme verzinslicher Depositen gestatten. — Eine wichtige Änderung
ist jedoch folgende; Der Staatseintluß ist iin neuen Privileg dadurch bedeutend
verstärkt, daß nunmehr jedem Regierungskommissär ein Einspruchsrecht
„aus dem Grunde der Wahrung des Staatsinteresses* zusteht, worauf die
endgültige Entscheidung beim Gesamtministerinm des einsprucherhebenden
Staates liegt. (Art. 52, 53 N.) — Während der Verhandlungen zwischen
den Regierungen und der Bank war insbesondere die ungarische Regierung
lebhaft bemüht, dieses Einspruchsrecht ausdrücklich auch auf den Zinsfuß
zu erstrecken.'; Dies gelang nicht; im Art. 25 al. f.) N.) wird ausdrücklich
festgestellt, daß der einheitliche Zinsfuß vom Generalrat nach freiem
Ermessen festgesetzt wird und die Kommissäre der Regierungen nur über-
wachen, „ob die diesfölligen Beschlüsse f o r m e 1 1 den Statuten entsprechend,*
d. h. ob sie unter Einhaltung der angezogenen Geschäftsordnungsbestimmungen,
die Art. 37 für die Sitzungen des Generalrates aufstellt, gefaßt wurden. — Sehr
wichtig ist nun, daß diese Einschränkung sich nur auf den einheitlichen
Zinsfuß bezieht, daß aber der Eskompte auf offenem Markte
ebenso wie alle sonstigen Maßnahmen der Diskont politik
dom Regierungseinspruch nunmehr unterliegen.
') D*s alle Privileg wird im folgenden mit (A.)„ daa neue mit (N.) bezeichnet.
— Im neuen Ausgleich von 1908 erscheint das Privileg von 1899 unverändert rezipiert
(vide 1624 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Abgeordnetenhauses, XVII.
Session 1903, S. 97).
*) Yergl. „Neue Freie Presse- vom 27. Juni 1895 und vom 17. September 1896.
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Die Diskont- und Devisenpolitik der Österreichisch-ungarischen Bank etc. 467
Der Art. 87 (A.), der die Bank zur Silbereinlösung verpflichtet,
war für die Dauer der Einstellung der freien Prägung suspendiert und
wurde auf Grund der Valutagesetze (Gesetz vom 2. August 1892, R.-G.-Bl.
Nr. 129, und Gesetzartikel XX ex 1892) durch einen Zusatz vermehrt, der
die Bank zur Goldeinlösung verpflichtet, womit das Einströmen von Gold
bei günstigen Wechselkursen befördert wurde.1) Dagegen ist die Verpflichtung
zur Barzahlung in Gold (Art 83 N.) durch den Art. 111 solange
suspendiert, als der Zwangskurs der Staatsnoten besteht. Sobald dieser
wegfallt kann die Barzahlung durch eine Beschlußfassung der Gesetz-
gebungen beider Staatsgebiete in Kraft gesetzt werden. Laut Ministerial-
verordnung vom 10. August 1901 erlosch der Zwangskurs der Staatsnoten
am 28. Februar 1903 und die erwähnte Schlußfassung sollte überdies nach
einer Regierungsvereinbarnng sofort nach diesem Termin veranlaßt werden.
Sehr wichtig für die Diskontverhältnisse sind auch die l’artial-
hvpothekaranweisungen *), die auf drei oder sechs Monate mit wechselndem
Zinsfuß ausgestellt und ihrer hypothekarischen Sicherstellung auf öster-
reichische Staatssalinen wegen auch Salinenscheine genannt werden. Ihre
Maximalhölie wurde 1853 auf 100,000.000 fl. fixiert und 1856 aus finanziellen
Gründen eine Verbindung der Salinenscheine mit den Staatsnoten herge-
stellt, so daß die österreichische Regierung jene Summe, um die der
Salinenumlauf unter dem Maximum von 100,000.000 fl. zurflckblieb, durch
Staatsnoten ersetzen konnte.’) Ein Rückfluß der Salinenscheine hatte daher
eine Vermehrung der Staatsnotenzirkulation zur Folge, während die für die
Salinen eingezahlten Beträge in Metall und Papier zum größten Teil in
den Staatskassen und daher der Zirkulation entzogen blieben. Da der
Zinsfuß der Salinenscheine niedrig gehalten wurde, bewirkte der ganze
Mechanismus eine automatische Regulierung der Zettelmenge. Wenn der
Zinsfuß fiel, strömten Salinenscheine aus und dafür Geld in die Staats-
kassen, wenn er stieg sank der Umlauf, dafür erhielt der Verkehr Geld-
mittel zurück. Der Erfolg war also ebenso, als wenn der Finanzminister bei
Geldiiberfluß eine Anleihe aufgenommen, bei knapperem Geldstand dem
Markt Geld zur Verfügung gestellt hätte. Durch die Festsetzung des
Salinenzinsfußes hatte der Minister gleichzeitig einen indirekten Einfluß auf die
Diskontpolitik. Die Verwaltung der Salinenscheine geschah durch die öster-
reichisch-ungarische Bank für Rechnung des Staates, seit 1. November 1900
durch die Kreditanstalt, seit l. November 1902 durch die Postsparkasse.4)
0 Nach dem neuen Statut Art. 65 ist fortan jede Anschaffung oder Belehnung
von Silber durch die Bank an die Zustimmung beider Finanzminister gebunden. Der
erwähnte Zusatz bildet nunmehr allein den Art. 87.
’) Vergl. „Salinenscheine* in Mischler-Ulbrichs „Österreichisches Staats-
wörterbuch“ 1897. Ferner Spitzmiiller, a. a. 0., S. 31 ff.
*) Neuestens wurde die Verbindung der Salinenscheine und Staatsnoten auf-
gehoben und daa Maximum seihst durch Tilgung bedeutend herabgesetzt.
4) Die ungarischen Staatskassaanweisungen fTreeorscheine) sollen im folgenden
nicht berücksichtigt werden, da ihr Umlauf nicht bedeutend und vor allem nur geringen
Schwankungen unterworfen war. (Vergl. Tabellen zur Währungsstatistik, II. Ausgabe,
1896 bis 1899, I. Teil, S. 189.)
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468
Hertz.
Seitdem der Generalsekretär Lucam durch eine kühne und der
Öffentlichkeit verborgene Handlungsweise in den Siebzigerjahren einen
nicht unbeträchtlichen Goldschatz für die Bank erworben hatte, war eine
Vermehrung des Goldes nicht mehr eingetreten. Seit Anfang der Achtziger-
jahre war der Goldvorrat sogar im Rückgang begriffen und die silber-
freundliche Bankleitung versäumte selbst die günstige Gelegenheit, die die
durch die amerikanischen Experimente bewirkte Preistreiberei des Silbers
bot, um einen Teil ihres weißen Metalls zu günstigen Bedingungen los zu
werden. Der in den Valutagesetzen enthaltene Zusatz zu Art. 87 der
ßankstatuten verpflichtete die Bank zur Einlösung von Goldbarren und
gesetzlichen Goldmünzen gegen Banknoten. Ferner wurde die Bank gegen-
über Privaten dadurch begünstigt, daß ihre Münzgebflhr mit 4 K per Kilo-
gramm Feingold (gegen 6 K) fixiert wurde i Finanzministerialverordnung vom
1 1. August 1892, B.-G.-Bl. Nr. 132). Die Bank ging über ihre gesetzliche
Verpflichtung hinaus, indem sie ihrerseits sofort einen sehr günstigen
Tarif für den Ankauf fremder Goldmünzen aufstellte.1) Schließlich wurden
einige Grenzfilialen zur Übernahme des Goldes bestimmt und im größeren
Matlstabe zinsfreie Vorschüsse auf Goldeinlieferungen gewährt. Die Wechsel-
kurse stellten sich den Rest des Jahres hindurch günstig und obwohl die
Differenz gegen Pari die Bezugskosten zeitweilig nicht deckte, machten
doch die geschilderten Maßnahmen der Bank und der .Patriotismus* der
Importeure den Goldbezug ununterbrochen möglich. Vom August bis
Jahresschluü gelangten so 40,394.000 fl. Gold zum Ankauf.’) Um Raum
für die zum Goldankauf verwendeten Banknoten zu schaffen, beob-
achtete die Bank auch große Zurückhaltung beim Eskompte, was sich in
dem gegen das Vorjahr bedeutend niedrigeren Wechselportefeuille aus-
drflckte.3) Allerdings nahm die Bank vom November angefangen einen großen
Betrag von Salincnseheinen ins Ell'ektenportefeuille, was im folgenden Jahre
einer lebhaften Kritik unterzogen wurde. Gegen Jahresende verschlechterten
sich die Wechselkurse, ohne daß man anfangs diesem Umstande Gewicht
beigelegt hätte. Im Jahre 1893 trat ein sehr rasch anwachsendes Agio auf,
das im Mai und August ein plötzliches Aufsteigen mit darauffolgender
Abschwächung zeigte, im November den Höhepunkt erreichte,*) hierauf
bedeutend fiel und in den Jahren 1894/95 langsam geringer wurde,
endlich im Oktober 1895 ganz verschwand.
Diese merkwürdige Erscheinung hat mehrere Erklärungen gefundeu,
vou denen wir die Theorie des Dr. Tb. H e r t z k a zuerst skizzieren wollen.1’)
‘l Abgedruckt bei Meceuieffy, a. a. 0., S. 171.
’) Unter den angekauften Goldmünzen befanden sieb: 18,761.000 fl. in amerikanischen
Eagles, 1,917.000 fl. in deutschen Reichsgoldmünzen. 1,230.00011. in Sovereigns, 729.000 fl.
in Zwanzigfranksstückcn. 434.000 fl. in japanischen Vena und 246.000 fl. in diversen
Münzen. (Generalrersannnlungsbericht 1893, S. 12.)
3) Vergl. die Zahlen bei Mecenseffy, a. a. 0., S. 61.
*) Die Entwertung betrug gegenüber der Parität London 6’3 Proz., gegen Paris
5-97 Proz., gegen Berlin 6-71 Proz.
*) Hertzka, Wechselkurs und Agio, Wien 1894.
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Pie Diskont- nnii Devisenpolitik der Österreichisch-ungarischen Bank etc. 469
H e r 1 z k a siebt im Agio eine Inflationserscheiming. Nicht die vermehrte
Nachfrage nach Devisen war es, was deren Kurs znm Steigen brachte,
sundern die Zirkulationsmittel haben sich entwertet und das erst rief eine
Wertsteigerung der fremden Valuten hervor (S. 125). Eine aus der Zahlungs-
bilanz entspringende gröbere Nachfrage nach Devisen und folgende Preis-
steigerung müsse vermehrte Exporte, verminderte Importe zur Fcdge haben.
Die Zahlungsbilanz regle sich also unbedingt automatisch. Dies sei nur
dann nicht möglich, wenn gleichzeitig mit dem Steigen der Devisen die
Inlandspreise derart steigen, dab ein vermehrter Export nicht möglich und
die Importvermehrung sogar begünstigt wird — also im Falle einer
Inflation. Als Hauptgrund einer solchen betrachtet Hertzka die durch
das eingeflossene Gold vermehrte Banknotenmenge, womit dem Verkehr
40.000.000 fl. von ihm nicht verlangte Zirkulationsmittel zur Verfügung
gestellt wurden, ferner das Flüssigwerden früher gebundener Staats- und
Bankengelder. In einem Lande mit geregelter Währung würde der Metall-
abfluß alsbald den Geldüberflub und damit den Grund der Inflation beseitigen.
Zettel aber können nicht abfließen. Daher fordert Hertzka. Staat und
Bank sollten Gold abgeben und Noten einziehen. Der Diskontpolitik ist
er dagegen nicht günstig gesinnt. In ganz abstrakter Weise deduziert er,1!
dab ungünstige Wechselkurse als Anzeichen einer Geldflberfülle die Banken
zur Diskontherabsetzung, günstige aber als Zeichen der Knappheit
zur Hinaufsetzung mahnen müßten (vergl. S. 61 <.
Die ganze Hertzkasche Hypothese ermangelt bei aliem Scharfsinn
völlig der realen Grundlagen. In Ländern mit noch nicht ganz bankrotter
Valuta beeinflussen Konjunkturen, handelspolitische Maßnahmen, Ernte-
ansfall, NotverkäuVe, Kartellpolitik u. dergl. die Handelsbilanz und damit
die Wechselkurse in viel stärkerer Weise als die Einwirkung der Geld-
menge. Es ist wohl wahr, daß z. B. hohe Devisenkurse den Export erleichtern.
Was aber, wenn wir gerade nicht exportbereit sind? Gerade in agrarischen
Ländern drängt sich der Expoit in ganz bestimmten Zeiten zusammen. Oft
ist der hohe Wechselkurs auf ein Land durch eine dort herrschende Geld-
') Vergl. auch Seite 78: .Mit allem Nachdruck null hier nochmals darauf hin-
gewiesen werden, dal] dieses Bestreben der Zettelbanken, zeitweilig im Wege ihrer
Diskontpolitik den Edelmet&UstrOmungen entgegenzutreten, weit entfernt davon ist, im
allgemeinen zu den Aufgaben guter und vorsichtiger Bankpolitik zu gehören: als Regel
muü gelten, daß sich eine gut geleitete Bank, d. i. also eine solche, bei welcher die
Begünstigung von Finanz- oder Reitwechseln nicht in Frage kommen kann, am die
Wechselkurse direkt überhaupt nicht zu kümmern hat; sie soll den Zinsfuß erhoben,
wenn die Krediteinreichungen überhandnehmen. ihn herabsetzen, wenn das Gcgehteil
der Fall ist; Zn- und Abßnß von Edelmetall haben damit direkt nichts zu tun. Indirekt
allerdings, insofern nämlich als Geldabfluii Gcldfülle, Geldzufluß Geldknappheit anzeigt:
sofern daher die Banken den Wechselkursen symptomatische Bedeutung für ihren eigenen
Geschäftsbetrieb beilegen, haben sie in schlechten Wechselkursen ein Argument für
ZintfußermMignug, in guten ein solches für Zinsfußerhohung zu erblicken. Damit soll
natürlich nicht gesagt werden, daß sie bei schlechten Wechselkursen den Zinsfuß wirklich
allemal ermäßigen, bei guten allemal erhoben sollen, denn es spielten hier noch zahl-
reiche andere Faktoren mit.1* Ein Musterbeispiel verschrobener Deduktion!
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Hertz.
krise bedingt, in der wohl keine große Lust zu vermehrten Importen
herrschen dürfte. So ist denn die „Selbstregulierung der Zahlungsbilanz*
eine recht fragliche Sache.
Speziell für 1890 und Österreich fehlen die Grundvoraussetzungen
der H e r t z k a schon Hypothese :
X. ist ein wesentlich vermehrter Geldumlauf gerade während der
Agioperiode keineswegs nachweisbar;
2. ist von der vorausgesetzten Preisinflation und stimulierten Im-
porten nichts zu bemerken;
3. auch die Produktion entwickelte sich in diesem Jahre in ruhiger
aber stetiger Weise. Kein Zeichen einer Krise oder Produktionseinschränkung
war wahrnehmbar,1) so daß auch eine relative Geldüberffllle nicht ange-
nommen werden darf;
4. schließlich bat Kalk mann*) den genauen Zusammenhang des
Agios mit dem Zustande des Londoner (und später des Berliner und
Amsterdamer) Geldmarktes in gründlicher Weise nachgewiesen. Im folgenden
werden die Kalk m a n n sehen Ergebnisse nur kurz rekapituliert, dagegen
die Lage des inneren Marktes, die Beziehungen des Agios zur Valutareform
sowie die Haltung der Bank und der Regierungen eingehender dargestellt
als bei dem genannten Autor.
Das Jahr 1893 erölfnete mit einem außerordentlich flüssigen Geld-
stande. Bereits am 4. Jänner nahm die österreichisch-ungarische Bank den
Eskompte auf offenem Markte auf und eskomptierte zunächst zu 3 Proz.,
während sich der Privatdiskont alsbald auf 3 Proz. stellte. Gleichzeitig war
eine ungewöhnliche Goldfülle bei den Kotenbanken sichtbar. Am 11. Jänner
weigerte sich die Bank von Frankreich Gold unter den gewöhnlichen
Bedingungen anzunehmen, da sie sich der Marimalgrenze ihrer Kotenemission
näherte. Die Folge war, daß die Pariser Devise London unter den Gold-
punkt fiel, ohne daß Goldimporte stattfinden konnten, und daß die Marimal-
emission schnell gesetzlich erweitert werden mußte. Das durch den Panaina-
prozeß und den italienischen Bankenkrach erzeugte Mißtrauen trug zu dieser
Geldfülle ebenso bei wie die großen Goldexporte aus Amerika. So war es
denn möglich, daß das Goldbeschaffungskonsortium, das zunächst 30.000.000
Kominale 4proz. Goldrente übernommen hatte, bereits 14 Tage nach dem
Übereinkommen mit der Regierung den ganzen Gegenwert in effektivem
Gold einlieferte und während dieser Frist sogar die Bank von England und
die deutsche Reichsbank den Diskont herabsetzten. Die Roth schild-
gruppe übernahm weitere 30,000.000 11. und begann sofort mit der Gold-
beschaffung. Es ist möglich, daß durch die Einzahlung der inländischen
Mitglieder der Gruppe das Steigen der Devisen mit verursacht wurde. Der
') Im Gegenteil war das Wirtschaftsjahr 1893 günstiger als das vorhergehende.
Vergl. Wiener Handelskaimnerbericht pro 1893, S. 7, and „Neue Freie I’ resse- vom
81. Dezember 1893. (Ökonomist.)
3) Vergl. Knlkmann. Die Entwertung der Österreichischen Valuta im Jahre 1893
und ihre draschen. Freiburg 1899 Wiener staatswissenachaftliche Studien, I., 3.)
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Die Diskont- and Devisenpolitik der Österreichisch-ungarischen Bank etc. 471
Hauptgrund liegt wohl in den Kfl'ekteniraporten, was sich auch darin
äußerte, daß die Wiener Effektenkurse in den ersten Monaten großenteils
höher notierten als die Berliner Paritäten.1)
Die Subskription auf die 60,000.000 österreichischer Qoldrente fand
am 27. Februar statt, und zwar hauptsächlich im Auslande, um eine
Besserung der Devisenkurse zu bewirken. Aus diesem Grunde erhielten die
inländischen Zeichner nur 5 Proz. ihrer Zeichnungen, die ausländischen
11 Proz., in absoluten Werten zirka 5,000.000 fl. gegen 55,000.000 fl.
Im Jänner und Februar vollzog sich auch die große österreichische
und ungarische Konversion von 5 Proz. auf 4 Proz. Der Nominalbetrag
der zu konvertierenden Effekten machte Ober 782,500.000 11. aus, von
denen mehr als 97 Proz. (759.100.000 fl.i tatsächlich umgetauscht wurden.
Während die gleichzeitig emittierte Goldrente auf alte Goldgulden
i ä 2 50 Frks.), also eigentlich auf fremde Währung lautete, wurde die im
Konversionswege emittierte Hente in Kronenwährung ausgestellt Die Sub-
skription schloß am 7. Februar.
Am 29. März wurden weitere 40,000.000 4proz. österreichischer Gold-
rente zum Kurs von 97 Proz. Berliner Usance begeben, während noch die
ersten 60.000.000 nur zu 95*5 Proz. abgegeben worden waren, wozu noch
die Beteiligung des Staates am Kursgewinne kam.’) Das Konsortium begann
sofort mit den Goldkäufen, wozu es die aus den ersten 60,000.000 11.
erlösten Devisen verwenden konnte.3) Die inzwischen eingetretenen Ver-
hältnisse bewogen es, diesen Betrag nicht zur Subskription aufzulegen,
sondern ihn freihändig zu verkaufen. Dies verzögerte sich jedoch infolge des
inzwischen auftretenden Agios bis 1894. Das Fehlen des Gegenwertes für
diese Anleihe auf dem Markte trug wieder einigermaßen zur Steigerung
des Agios bei.
Von Mitte April bis Mitte Mai erfolgte ein starkes Steigen des Agios.
K a 1 k m a n n hat nachgewiesen, daß die Wechselkurse dabei genau den
Schwankungen des Londoner Privatdiskontes folgten, der sich unter dem
Einflüsse des großen australischen Bankenkraches hob. Die durch dieses
Ereignis erzeugte große Geldknappheit führte zur Zurückziehung englischer
Guthaben im Auslande sowie zu einer starken Nachfrage nach englischen
Wechseln, welche eine höhere Verzinsung boten.1) Während jedoch die
Devisen barzahlender Länder sich nur bis zum oberen Goldpunktc hoben,
eiistierte ein solcher für Österreich nicht, da freies Gold nicht vorhanden
war und die Bank ihren Barschatz nicht opfern wollte. Die Devise London
erreichte am 16. Mai den Höhepunkt von 124 fl. (gegen die Parität
120'087 fl). Die österreichisch-ungarische Bank versuchte anfangs das Agio
durch Verleihung von Devisen zu mildern. Der wöchentliche Betrag dieser
Verleihungen betrug gewöhnlich zirka 700.900 bis 800.000 fl. Im ganzen
') Vide Kalktnann, a. a. 0.. Tafel 6 and 7.
3) Vergl. .Neue Freie Presse* vom SO. Murr 1893.
*) Die effektive Beschaffung dieses Goldbetragea war Ende April vollendet.
*) Vergl. Kalkmann, S. 15.
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Hertz.
Jahre 1893 wurden 30,(500.000 fl. österr. Währung ausgeliehen, ohne dali
ein großer Einfluß auf die Kurse bemerkbar gewesen wäre. Eine wirksame
Bekämpfung des Agios wäre uur möglich gewesen durch größere Gold-
Verkäufe oder durch eine energische Zinsfußerhöhung. Zu keinem wollte
sieh die Bank verstehen, was ihr scharfen Tadel eintrug, der nur zum
Teil berechtigt war. Die der Ko t h s c h i ld gruppe angehörende Kredit-
anstalt stellte dem Markte wiederholt Devisenbeträge zur Vertilgung, so
am 3. Mai allein 6,000.000 bis 7,000.000 M„ ohne einen wesentlichen
Eindruck zu erzielen. Um so mehr mußte es sich die Bank mit Rücksicht
auf die Valutaaktion überlegen, ihren eben erworbenen Goldschatz ohne
Gewißheit eines Erfolges zu opfern. Der niedrige Bankdiskont lenkte eines-
teils die Nachfrage auf ausländische Devisen hin, beförderte anderseits die
Höherbewertung österreichischer Effekten und den darauffolgenden Import
derselben. Erst am 12. Mai, als das Agio bereits dem Höhepunkt nahekam,
stellte die Bank den Eskompte unter der Bankrate von 4 Proz. ein, die
um dieselbe Zeit auch in London und Berlin erreicht und in London sogar
zeitweilig vom Privatdiskont überschritten wurde.
Die Kritiker dieser passiven Diskontpolitik konnten selbst nicht umhin,
der Bank wenigstens mildernde Umstände zuzugestehen. Aus den dargelegt en
Finanzoperationen ergibt sich der Grund für das Interesse der ltegierung
an der Niederhaliung des Zinsfußes, die zu Gunsten des Staatskredits und
zum Schaden der Volkswirtschaft geübt wurde. Mit den Budgetüberschössen
waren auch die KassenbeBtände der Regierungen außerordentlich ange-
wachsen und ein Teil davon wurde gegen niedrige Verzinsung bei privaten
Geldinstituten eloziert. Der Betrag dieser Guthaben, die nicht jedes
politischen Hintergrundes entbehren, wird in den Rechnungsabschlüssen
nicht gesondert nachgewiesen.1) Doch enthält der Einnahmenausweis des
Finanzministeriums eine Post .Verschiedene Zuflüsse“, in der nach den
.Erläuterungen“ sich .Zinsen aus der Fruktifizierung von Barbeständen
beziehungsweise von schwebenden Vorschüssen“ befinden, deren Betrag
z. B. 1892 mit 625.186 fl. 501/» kr., 1893 mit 741.171 fl. 18 kr. angegeben
wird.*) Da diese stets fälligen Guthaben nur zu 2'5 Proz. ausstehen, ergibt
sich ein durchschnittlicher Jahresbetrag pro 1893 von 29,600.000 fl., was
auch mit der Angabe der .Neuen Freien Presse“ übereinstimmt, die am
16. April 1893 die österreichischen Regierungsguthaben auf 25,000.000 fl.,
die ungarischen auf 30.000.000 fl. schätzt. In der dritten Märzwoche über-
wies der österreichische Finanzminister einem Wiener Institut allein
6,000.000 fl. in Silber gegen eine Verzinsung von 2'/4 Proz. Das Institut
legte sie vorläufig auf Girokonto in die Österreichisch-ungarische Bank,
ein Teil wurde in Salinenscheinen investiert, für die der Staat 3 Proz.
*) Über die Art ihrer Verrechnung vergl. G. Scidler, Lehrbuch der Österreichischen
Staatsverrechnung, 3. Auf!., 1897, S. 233/4. Der Verfasser findet, daß die geübte Ein-
reihung der Guthaben in die schwebenden Gebarungsreste nicht zu billigen sei.
*) Vergl. Erläuterungen zum ZentralrcclinungsabschluU über den Staatshaushalt
pro 1898 (Wien 1896). 8, 151, pro 1892 (Wien 1895), S. 171.
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Die Diskont- und Devisenpolitik der Österreichisch-ungarischen Hank etc. 478
zahlte, während er selbst nur 2 '/4 Proz. für das Guthaben erhielt Die
Salinenscheine erreichten zu gleicher Zeit den Maximalumlauf von
100,000.000 fl., trotzdem die dreimonatlichen Scheine nur mit 2*/t Proz..
die sechsmonatlichen mit 3 Proz. verzinst wurden. Erst später wurde bekannt,
daß die Notenbank einen großen Teil dieser Effekten eskomptiert hatte.
Nicht nur die Presse1), auch politische Faktoren und die Bank selbst
haben den störenden Einfluß der Hegierungsguthaben auf die Diskontpolitik
tadelnd hervorgehoben. Eine Zinsfußerhöhung zum Schutze der Wechsel-
kurse' ist nicht möglich, solange die Regierungen privaten Banken bedeutende
Beträge zu billigem Zins überlassen uud im stände sind, aus den zinslos
liegenden Kassenbeständen diese Summen jederzeit zu vermehren. So
besprach am 15. April Abgeordneter Dr. Rosenberg im ungarischen
Abgeordnetenhaus das Agio und bezeichnete als eine .Hauptursache des
Geldüberflusses" die Regierungsguthaben und die Eskomptierung unter der
Bankrate. Er beklagte auch die durch den Geldüberfluß und die hohen
Effektenkurse beförderte große Ausdehnung des Börsenspieles unter dem
Publikum des ganzen Landes, eine Tatsache, die der Finanzminister
Dr. Weckerl e in einer bemerkenswerten Rede bestätigte Bei einer am
22. April im Finanzministerium abgehaltenen Konferenz wurde die Aus-
dehnung der Regierungsguthaben vom Generalsekretär Mecenseffy
getadelt und mit Entschiedenheit die Einheitlichkeit der Zinsfußpolitik
gefordert. Der Finanzminister behauptete dagegen, die Guthaben seien
ohnedies geringer als früher.
Auch die Bank selbst weist in ihrem Dezennalberichte mit großer
Schärfe auf diese Cbelstände hin.*) Einige Sätze aus dieser offiziellen
Darstellung mögen hier Platz linden: „Gerade von der Zeit an, als die
Finanzen der beiden Staaten der Monarchie unter der Obhut ausgezeichneter
Männer einen ungeahnten Aufschwung nahmen und die Staatsverwaltungen
von Jahr zu Jahr über größere Überschüsse verfügten, machte sich trotz
der durch die Vorsicht gebotenen Zurückhaltung der Bank häufig eine
auffallende Geldfttlle. die doch nur eine künstliche sein kounte. bemerkbar:
Anträge von Geldinstituten überschwemmten das Land, das Geld wurde
förmlich aufgedrängt. Der Zinsfuß auf dem Geldmärkte sank, allen Erfahrungen
entgegen, oft tief unter den Banksatz, zeitweilig sogar unter 3 Proz., während
der Banksatz zu dieser Zeit 4 Proz. betrug und aus wohlerwogenen Gründen
nicht herabgesetzt werden konnte: dazwischen trat unvermittelt Geldknapp-
heit ein, der Zinsfuß schnellte in die Höhe, bis an den Banksatz. Es war
ein wechselvolles Bild.* .Den unmeßbaren und unkontrollierbaren Einflüssen
plötzlich zuströmender und abströmender Mittel auf dem Geldmärkte stand
jedoch die Bank nach wie vor wehrlos gegenüber; von einer Zinsfußpolitik
*) Vergl. .Neue Freie Presse“ vom 13. April 1893: „Die Lage des inländischen
Geldmarktes hängt wesentlich von dem Guthaben der beiden Regierungen in den Bank-
institnten ab.“ VergL auch Nr. 10.287 u. s, w.
*) Mecenseffy, Die Verwaltung der Österreichisch-ungarischen Bank 1886— 1895,
Wien 1896. S. 29—31 and S. 149
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H<WtZ
im strengen Sinne des Wortes konnte unter solchen Verhältnissen nicht
die Bede sein. Die schwierigsten Jahre waren 1802 und 1803.* Auch in
einer Note der Bank an die Regierungen vom 6. Juli 1894 wird die
nachdrückliche Forderung aufgestellt, die Finanzverwaltungen sollten der
Österreichisch-ungarischen Bank die Möglichkeit bieten, eine einheitliche
und richtige Zinsfuflpolitik zu verfolgen.
Von Mitte Mai bis Anfang Juni sank das Agio auf den Stand von
Anfang Mai. um von da an bis Ende August andauernd und schnell zu
steigen. Am 25. August erreichte die Devise London den Stand 126-80.
Nach einem zeitweiligen Rückgänge Ende Augnst und Anfang September
setzte sie das Steigen fort und erreichte am 9. November mit 127'65
ihren höchsten Stand, der eine Entwertung um 6‘3 Proz. gegenüber der
Relation bedeutete.
Die öffentliche Diskussion brachte diese Steigerung mit verschiedenen
Umständen in Verbindung. Es lag am nächsten, in den Valutaoperationen
einen Grund zu erblicken. Die Regierungen und dag Konsortium sollten
durch Devisenankäufe den Kurs gesteigert haben, die Konversion hätte
die auswärtigen Gläubiger Österreichs beunruhigt und zur Effektenrück-
sendung bewogen.
Die Goldbeschaffung für die 40,000.000 Goldrente fiel freilich zeit-
lich mit der ersten Steigerung des Agios im April zusammen und da das
Konsortium infolge Zurückbehaltung der Anleihe in den Kassen den Devisen-
betrag, deu es zum Ankäufe von Gold verwendet hatte, vom Auslande
nicht ersetzt erhielt, so kann dies ja wirklich mindernd auf den Devisen-
vorrat und dadurch verschärfend auf die spätere Kurssteigerung eingewirkt
haben. Erwähnt muß aber werden, daß gerade die Kreditanstalt, die der
Gruppe angehörte, wiederholt größere Devisenbeträge abgegeben hatte und
überhaupt seit Ende April keine Goldkäufe mehr erfolgt waren.1) Ebenso-
wenig begründet waren die Beschuldigungen gegen die Regierungen, die
schon längere Zeit keine Goldkäufe vorgenommen hatten. Die Kursbewegung’)
beweist, daß vom April bis Mitte August große Effektenimporte stattgefunden
haben, bezüglich deren wir auf die sorgsamen Untersuchungen Kalkmanns
liinweisen (S. 35 ff. ). Der oft behauptete Zusammenhang mit den Konversionen
ist jedoch sehr bestreitbar. Die Konversionen waren ja freiwillig und trotzdem
hatte nur ein sehr geringer Bruchteil der Gläubiger Rückzahlung verlangt.
Auch in der späteren Epoche waren gerade die hier in Betracht kommenden
Kenten fast gar nicht nach Österreich hereingekommen.3) Die Gründe der
Effekteneiuströmung sind vielmehr 1. der plötzlich auftretende starke
Geldbedarf der auswärtigen Märkte, 2. die ungerechtfertigte Oberwertung
*) Vergl. die Besprechung des Zusammenhanges zwischen Geldbeschaffung und
Devisenpreis in der „N. Fr. Pr.“ v. 24. Mai 1893 und Artikel vom Direktor v. Mauthner
in der Nummer vom 21. Mai.
a) Vergl. Kalkm an na Tabelle.
*i Die Wiener Bürsenkammer äußert in ihrem Bericht die gegenteilige Ansicht
(Wiener Handelskammerbericht pro 1893, S. 54).
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Die Diskont* und Devisenpolitik der Österreichisch- ungarischen Hank etc. 475
der österreichischen Effekten in Österreich. 3. die verschärfende Tätigkeit
der Berliner Baissespekulation. 4. vielleicht auch die Furcht vor den)
Steigen des Agios, das den Geldwert der in ö. \V. verzinsten Papiere
verminderte.
K a 1 k m a n n ist der Meinung, daß die Effekteneiufuhr, die etwa bis Anfang
November dauerte, weniger zum Auftreten als zum langen Beharren des
Agios beigetragen habe, indem die Abwicklung der Geschäfte im Wege
des Reports hinausgeschohen wurde. Eine eingehende Erörterung hat die
Frage in einer Artikelserie von Professor Emil Sachs gefunden,1) auf die
wir für manche Einzelheiten verweisen. Sachs hat insbesondere darauf
aufmerksam gemacht, daß die Emissionen und EfTektenverkäufe seitens der
Regierungen seit 1889 fast aufgehört hatten, während gerade seither das
Anlagebedflrfnis bedeutend wuchs. Auch die Industrieelfekten erfuhren
infolge der engherzigen Konzessionspraxis nur eine ganz geringe Vermehrung.
Daher finden wir seit 1889 eine lebhafte Kurssteigerung der Renten,*) für
die wir als Beispiel die Jahresdurchschnitte des Kurses der gemeinsamen
Notenrente anführen. Diese betrugen:
1869 61 28
1879 66 36
1889 8440
1890 88-68
1891 91-92
1892 95-97
1892 i letzter Börsentag) .... 97 80
1893 (I. Semester) 98-47
Diese rasche Steigerung, der die auswärtigen Geldmärkte im gleichen
Schritte nicht folgen konnten, mußte Effektenimporte verursachen, deren
Betrag die .Neue Freie Presse- vom 1. Jänner 1894 für das ganze Jahr 1893
und für den Wiener Platz auf 252,610.000 fl. schätzt, denen 137,920.000 fl.
an Effekteneiporten gegenflberstehen. Dazu wären noch 15,000.000 fl. fflr
direkte Budapester Bezüge zu rechnen, so daß der gesamte Mehrimport
zirka 130,000.000 fl. betragen hätte.
Eine wesentliche Verschärfung der Lage bewirkte der Umstand, daß
die im vorigen Jahre eingeführten 40,000.000 fl. Gold nicht bezahlt worden
waren und infolge der knappen Geldverhältnisse der ausländischen Märkte
nunmehr die Guthaben aus Österreich bezogen wurden.
Der Grund dieser Geldknappheit ist noch zu erörtern. Kalkmann hat
nachgewiesen, daß der hohe Zinsfuß in London durch die nordaraerikanische
Krise, deren Höhepunkt in die Monate Juli bis September fiel, verursacht
wurde. Unter dem Einfluß des enormen Diskonts und der großen Not-
*> Vide Sachs, .Agio, Zahlungsbilanz. Kapitalsvrandirung,* .Neue Freie Presse*
27, 28. Juli, 2., S., 8. August 1894.
*) Der Erfolg der Konversionen hatte ebenfalls eine grolle Kurssteigerung aller
Effekten zur Folge (Handelskammeibericht S. 544).
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476
Hertz.
Verkäufe von Getreide fand im August eine starke Goldeinfuhr in New York
statt ln den letzten Monaten des Jahres war es der Berliner Diskont, der
die europäischen Kapitalsströmungen beherrschte und die österreichischen
Wechselkurse am Sinken verhinderte, obwohl England bereits wieder zu
einem niedrigeren Diskont zurückgekehrt war.
Welche Politik verfolgten nun die Bank und die Regierungen unter
diesen Verhältnissen?
Zunächst versuchte man es wieder mit Verleihung von Goldwechseln,
die zeitweise größere Beträge in Anspruch nahm. Am 10. August, als da»
Agio sich bereits dem Höhepunkte näherte, beschloß der Generalrat den
Diskont nicht zu erhöhen. Das Agio betrug damals bereits 5 Proz., der
deutsche Diskont von 5 Proz. war um 1 Proz. höher als der österreichische,
dem der englische gleichstand. Dabei hatte die englische Bank weitere
Erhöhungen in Aussicht gestellt und am 11. August erklärte der Vize-
präsident der Reichsbank, diese werde ihren Diskont immer nach dem
englischen richten, um ihren Goldschatz zu schützen. Der Generalrat
begründete seinen Entschluß damit, daß in nächster Zeit kein drängender
Geldbedarf zu erwarten sei und die Bank an ihrem Salinenscheinbesitz eine
Reserve habe, sonach ausschließlich mit der Lage des inneren Marktes. Am
24. August stieg der englische Diskont wirklich auf 5 Proz., obwohl die
Bank noch über mehr als 15,000.000 £ Reserve verfügte und in den letzten
Tagen sogar Goldeingänge bei nicht ungünstigen Wechselkursen erfolgt waren.1)
Es mußte auffallen, daß die Österreichisch-ungarische Bank auf dem 4proz.
Diskont beharrte, trotzdem ihre steuerfreie Notenreserve Ende August auf
einem für diese Jahreszeit ganz ungewöhnlich niederen Stand angelangt
war. Sie betrug am 23. August 15,800.000 fl. (gegen 48,500.000 fl. im Vor-
jahre), am 31. August 0,500.000 fl. i gegen 50,700.000 fl.). Dies wurde weiteren
Kreisen erst durch die Erklärung der Bank verständlich, sie habe gegen
60,000.000 fl. in Partialhypothekaranweisungen angelegt und betrachte
diese als eine Reserve für den Fall größerer Ansprüche.*) Diese Handlung
wurde nun Gegenstand einer lebhaften Diskussion. Man bezweifelte, ob sie
mit den Bankstatuten sich vereinbaren lasse,1) man wies darauf hin. daß
der Staat für die Salinenscheine Zinsen zahle, um Geld aus dem Markte
zu heben und eine Kontraktion zu bewirken, was aber nicht erreicht werde,
wenn die Bank ihre innerhalb des Kontingents kostenlosen und beliebig
vermehrbaren Noten einzahle. Außerdem bedeute dies eine Verschleierung
des Eskomptebestandes.
0 Oie Bank von England griff sogar zu dein Mittel, dem offenen Markte Geld
gegen Verzinsung bis zu 4 •/, and 5 Proz. zu entlehnen.
*) Den Höehstbetrag wieB der Juni 1898 auf. In diesem Monate betragen die im
EskompteportefeniUe befindlichen Saliuenschoinc 60,200.000 fl., dazu kamen aber noch
1,150.000 fl., die dem Iteeervefond gehörten. Vergl. Mecenseffj a. a. 0., S. 84.
*) Vergl. Zuschrift des Abgeordneten Dr. Schwab in „Neue Freie Presse“
Nr. 10.462. Der Vorgang führte auch zu einer Interpellation (Stenographische Protokolle
des Abgeordnetenhauses, XI. Seesion. X. Band, S. 11.128.)
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Die Diskont- und Devisenpolitik der Österreichisch-ungarischen Bank etc. 477
Die Kritiker der Bauk forderten also die Einstellung dieser Praxis,
die Erhöhung des Salinenzinsfußes, damit Salinenscheine auch von anderen
Kapitalisten gekauft würden als von der Bank, schließlich die Anlegung
der Regierungsguthaben in Salinenscheinen, Alle diese Maßregeln würden
erst eine energische Diskontpolitik und Bekämpfung des Agios ermöglichen.
Wenn aber die Bank die Salinen. reserve* zur Einlösung bringe, so werde
sich natürlich kein weiterer Abnehmer zu 21/» und 3 Proz. finden, es würden
also Staatsnöten im gleichen Betrage ausströmen und damit die schädliche
Geldfülle nur vermehrt werden.
Die Bank rechtfertigte ihr Vorgehen im Generalrutsbericht an die
XVI. regelmäßige Generalversammlung (1894) folgendermaßen (s. XL) :
.Ohngeachtet der Zinsfuß auf offenem Markte bis tief in den August hinein
stets unter der Bankrate und in den ersten Monaten des Jahres vereinzelt
selbst unter 3 Proz. notierte, hat sich die Bank zu ihrem geschäftlichen
Nachteil uud nur im Interesse der Allgemeinheit nicht bestimmen lassen,
aus ihrer schon im Jahre 1892 auf dem Eskomptemarkte beobachteten strengen
Zurückhaltung herauszutreten. Im Zusammenhang mit dieser Tatsache stellt
sich die größere Anschaffung von zumeist 2l/,proz. Partialhypothekaran-
weisungen als eine ausnahmsweise bankpolitische Maßregel dar. Die Anschaf-
fungen haben schon im letzten Drittel des Jahres 1892 begonnen. Ohne
diese Maßregel, die keineswegs den Bezug von Partialhypothekaranweisungen
durch Dritte ain Schalter der Bank iu Wien als Emissionsstelle behinderte,
wäre die steuerfreie Notenreserve öfters auf mehr als 100,000.000 fl., also
über das halbe Notenkontingent emporgewachsen; und unter dem
Drucke einer so enormen Reserve wäre der Zinsfuß auf offenem Markte
ins Bodenlose gefallen. Die Bank mußte das. soweit tunlich, hintanhalten.*
Und im Dezennalbericht S. 31 betont Mecenseffy noch besonders das
Verdienst, das sich die Bank derart um den höheren Zinsfuß und die
Valuta erworben habe.
Diese Argumentation ist freilich anfechtbar. Wir müssen bezüglich
der Salinenscheine 3 Fälle unterscheiden:
1. Ein Privater erwirbt Salinenscheine vom Staat durch Vermittlung
der Bank. Der strengen Jnterpretation des Gesetzes nach kann er dies nur
gegen Einzahlung von Staatsnoten ; doch wurde davon häufig Abstand
genommen und erst 1897 die genaue Erfüllung der Vorschrift angeordnet.
Die Folge ist eine Verminderung der Umlaufsmittel.
2. Die Bank erwirbt Salinenscheine vom Staat. Bei der niedrigen
Verzinsung derselben ist dies nur im Falle einer sehr hohen Notenreserve über-
haupt möglich. Da die Banknoten, in denen die Bauk die Einzahlung leistet,')
früher nicht im Verkehr waren und die Staatsnoteneinziehung mit der
Wiederausgabe der Banknoten zusammenfällt, so findet keine oder nur eine
sehr schwache Kontraktion statt. Der einzige Erfog ist, daß im Verkehr
an die Stelle eines Staatsnotenbetrages Banknoten getreten sind.
') Wenn die Bank die Einzahlung in Staatsnoten leistet, mul) sie diese vorher
durch Banknotenausgabe erworben haben.
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478
Hertz.
3. Die Bank erwirbt Saliuenscheine von Privaten. Da sie dafür Bank-
noten ausgibt und eine Ruckziehung von Staatsnoten Oberhaupt nicht
stattfindet, ist nicht bloß keine Kontraktion, sondern sogar eine Erweiterung
der Zirkulationsniittelmenge die Folge.
Nun ist aber nach § 35 der Statuten, abgesehen von der unter
gewissen Kautelen gestatteten Eskomptierung von Regierungswechseln, der
Bank jedes Geschäft mit den Regierungen verboten, mit dem eine Dar-
lehens- oder Kreditgewährung seitens der Bank verbunden ist. Geschäfte
mit Dritten werden natürlich nicht betroffen. Das Resultat ist also: Die
Erwerbung der Salinenscheine vom Staat wäre statuten-
widrig gewesen, hätte aber weder eine Kontraktion noch
eine Inflation bewirkt. Die Erwerbung von den gesetz-
lichen Bedingungen entsprechenden1) Salinenscheiuen
durch Ankauf auf dem Markte wäre zwar erlaubt gewesen,
hätte aber keine Kontraktion, sondern eine bedeutende
Vermehrung des Umlaufes bewirkt. Es ist nicht bekannt, welcher
von beiden Wegen von der Bank gewählt worden war. Man darf annehmen,
daß die Bank teilweise die rückströmenden Salinenscheine vom Publikum
übernommen hat.* > In diesem Fall hätte sie zwar das Ausströmen von Staats-
noten verhindert, selbst aber eine gleiche Quantität Banknoten in Verkehr
gesetzt
Die oberwähnte Erklärung der Bank gibt aber noch in einem Punkte
Anlaß zur Kritik. Der Privatdiskont hatte sich im Juli und im August
bedeutend gehoben und der Satz für Kommerzwechsel erreichte bereits
während des ganzen Monats August die volle Bankrate. Wenn es möglich
gewesen wäre, die Salinenscheine im Publikum zu plazieren, so hätte dies
auf offenem Markte eine ganz andere einengende Wirkung geübt als in der
unergründlichen Papierreserve der Bank. Diese hätte sofort die führende
Rolle erhalten und wäre auch finanziell nicht schlechter gefahren. Die
Voraussetzung hiefflr wäre aber die Erhöhung des Salinenzinsfußes gewesen,
die dem österreichischen Finanzininister zustand. Auch hätten die Regierungen
ihre Guthaben in Salinenscheinen anlegeu können, die man noch immer
auf zusammen 30,000.000 fl. schätzte. (.Neue Freie Presse* 27. August.)
Am 31. August beschloß nun der Generalrat den Zinsfuß nicht
zu erhöhen und die .Salinenreserve* nach Maßgabe der Herbstansprüche
flüssig zu machen. Die starke Abnahme der Reserve, die wir oben angeführt
haben, hatte diesen Beschluß offenbar herbeigeführt. Gleichzeitig verlautete,
der österreichische Finanzminister werde einen Teil der Salinenscheine
aufnehmen, um den Zinsfuß nicht zu drücken. Es wurde als Tatsache
') Das sind also Salinenscheine mit dreimonatlicher Fälligkeit und sechsmonatlicbe,
die bereite mindestens 3 Monate im Verkehre respektive in irgend einem Fond der Bank
waren.
3) Fs ergibt sieh dies aus einer Vergleichung der monatlichen Stande des Salinen-
Umlaufes mit den Beständen der Bank während des Jahres 1892, in dessen letztem
Drittel nach der Aussage der Bank die Operationen begonnen wurden.
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Di« Diskont- und Devisenpolitik der Österreichisch-ungarischen Bank etc. 4 7 -*
berichtet, die Regierung habe ihre Guthaben gekündigt und die Postspar-
kasBa sowie einzelne Fonds angewiesen. Salinenscheine zu kaufen.
Bereits Ende August wurde der Betrag der Salinenscheine um
ungefähr 10,000.000 fl. vermindert Im Verlaufe des September wurden
noch weitere 31,000.000 fl. Salinenscbeine realisiert. Es ist uun bemerkens-
wert, daß der Besitz der Bank an Staatsnoten genau gleichen Schritt
hält. Es geht daraus hervor, daß die Regierung nur einen geringen Teil
oder gar keine Salinenscheine als Anlage aufgenommen hatte. Während
der Salinenscheinumlauf von Ende August bis Ende Dezember von
95,900.000 fl. auf 39,900.000 sank, stieg die Staatsnotenzirkulation fast
genau um dieselbe Differenz. Freilich blieb ein Teil der ausgegebenen
Staatsnoten im Portefeuille der Bank und gelangte daher vorläufig nicht in
den Verkehr. Gleichzeitig stellte die Bank wieder größere Beträge an
Devisen dem Markte leihweise zur Verfügung, ohne das Steigen des Agios
mildern zu können. Das Bedürfnis nach einer Zinsfußerhöhung wurde immer
dringender. Noch aber schienen die Regierungen nicht geneigt, die Voraus-
setzungen dafür zu schaffen. Der Ökonomist der .Neuen Freien Presse*
schrieb: »Von der Kündigung der Regierungsguthaben ist es völlig still
geworden.* Von großer Bedeutung sind hiefür die Aufklärungen, die der
ungarische Finanzminister Dr. W e c k e r 1 e am 27. September in seinem
Expose gab. Unter stürmischen Eljenrufen konnte er erklären, daß der
weitaus größte Teil des Valntagoldes bereits beschafft sei. Zur Bekämpfung
des Agios gebe es zwei Mittel: Goldabgabe und Zinsfußerhöhung. Bezüglich
der ersteren erklärte der Minister energisch, sie unter keiner Bedingung
anwenden zu wollen, da sie nur zum Abflüsse des Goldes, nicht aber zum
gänzlichen Verschwindeu des Agios führe und höchstens einen Druck um
V, oder 1 Proz. ausüben könne.1) Über den Zinsfuß äußerte sich der
Minister : »In industriellen Staaten, in welchen sich die Einnahmen und
Ausgaben auf verschiedene Epochen des Jahres proportionell verteilen, pflegt
der Zinsfuß nicht von solcher Einwirkung zu sein wie in landwirtschaftlichen
Staaten“, er sei deshalb gegen eine Zinsfußerhöhung. Die .Neue Freie Presse*
bemerkt hiezu: .Wo die Politik beginnt, hören auch richtige Grundsätze
der Valutaregulierung auf und die Scheu vor einer großangelcgten Diskont-
politik ist die Konzession, welche der Ministerpräsident Dr. Weckerle,
der in einem Kampfe auf Tod und Leben mit der Kurie über die konfes-
sionellen Gesetze begriffen ist. wahrscheinlich schweren Herzens von dem
ehrlichen und innerlich des Fehlers bewußten Finanzminister Weckerle
fordert und erlangt.* In derselben Rede gab der Ministerpräsident Dr.
Weckerle das Goldguthaben der Regierung hei den Banken auf 29.000.000 K
an, wozu noch die beträchtlichen Guthaben an Bankvaluta kamen. Am
2. Oktober interpellierte der Abgeordnete Armin Neu mann im unga-
*) Im November 1893 machte der Finanzminister Weckerle die interessant«*
Mitteilung, daß der österreichische Finanzminister Stein b ach 7,000.000 fl. Gold veräußert
habe, nm das Agio zu drücken. Dieser Versuch habe sich als vollständig wirkungslos
erwiesen. Über den Zeitpunkt, wann dies stattgefunden hat, sagte der Minister nichts.
Zeitschrift für Volkswirtschaft. Soilalpolltik und VcrtvaHaui;. XII- Rand 33
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480
Hertz.
rischen Abgeordnetenhause, ob der Minister sich für eine Erhöhung des
Diskonts einsetzen wolle, wobei er die Summe der Regierungsguthaben auf
25.000.000 fl. bezifferte. Dr. Weckerle antwortete unter anderem: .Ich
leugne nicht, daß ich meinerseits alles getan habe, damit die Notwendigkeit
einer Erhöhung des Zinsfußes nicht eintrete,“ hiezu habe er moralische,
doch auch andere Mittel angewendet, z. B. dem Markte ansehnliche Betrüge
aus den Kassabestünden zur Verfügung gestellt, ja er habe selbst große Betrüge
an Salinenscheinen, gegenwärtig zirka 10,000.000 fl., in die Staatskassen auf-
genommen und die Zinsen ebenfalls dem Markte zur Verfügung gestellt.
Doch werde er, sobald die Grenzen erreicht seien, nichts tun, um einer
Erhöhung des Zinsfußes entgegenzuwirken.
Diese Angaben besagen offenbar, daß der Minister Salinenscheine vom
Publikum gekauft habe, wodurch eine Ausdehnung des Geldumlaufes bewirkt
wurde.
Ende September nahm die steuerfreie Notenreserve rasch ab und
anfangs Oktober trat ein steuerpflichtiger Notenumlauf ein, der am 7. Oktober
bereits mit 6.500.000 fl. ausgewiesen wurde, was gegen die Vorwoche einen
Abfluß von 10.700.000 fl. bedeutete. Diese rasche Abnahme war großen-
teils durch spekulative Einreichungen bedingt, die in Erwartung der Zinsfuß-
erhöhung sich noch Geld zu billigerem Satze sichern wollten, was mit
großer Deutlichkeit aus der Vermehrung der Giroeinlagen erhellt Am
5. Oktober erhöhte die Bank endlich den Zinsfuß auf 5 Proz.. wärend die
Bank von England am selben Tage von 3l/s auf 8 Proz. herabging. Als
Begründung wurden ausschließlich Argumente des inneren Marktes ange-
führt: der erhöhte Herbstbedarf, die Stockung im Getreidehandel infolge
der amerikanischen Notverkäufe und die allgemein geringere Geldflflssigkeit.
Die Devisenkurse stiegen übrigens mit einer kurzen Unterbrechung fort-
während, sie erreichten am 10. November ihren Höhepunkt. An diesem
Tage betrugen die Geldkurse der Vistadevisen :
London 1 27-60 ')
Paris 50-70
Deutsche Bankplätze 62’75
Von da an beginnt ein allgemeines Fallen, das um die Mitte des
Monats in einen rapiden Sturz übergeht. Am 20. November erreichen
alle 3 Devisen den tiefsten Stand, und zwar:
London 123-80
Paris 4D*225
Deutsche Bankplätze 60-95
Zur Erklärung des weiteren Anwachsens des Agios dient die Kal k-
m an u sehe Ausführung, daß in den letzten Jahresmonaten nicht mehr der
Londoner Diskont, sondern der höhere Berliner und Amsterdamer Diskont
auf die Devisenkurse wirkte (vergl. S. 27 und 41). Doch legt Kalkmann
') Am Tage vorher wurden 127.Ü.') notiert. Der Warenkurs an beiden Tagen
war 127-90.
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Di« Diskont- an] Devisenpolitik der Österreichisch-ungarischen Dank etc. 481
diesem Umstande zuviel Gewicht bei; denn einerseits stand der Wiener
Privatdiskont zeitweilig höher als der Berliner und Amsterdamer, anderseits
blieb der Berliner Privatdiskont bis zum Jahresende auf gleicher Höhe,
während schon Mitte November der große Kurssturz einsetzte. Das Zusammen-
treffen des Falles des Amsterdamer Privatdiskonts mit dieser Bewegung ist
doch wohl mehr zufällig.
Einerseits bewirkte der hohe Privatdiskont in Wien, verstärkt durch
die Wirkungen des beträchtlichen Deports auf Marknoten, einen großen
Zufluß von deutschen Noten.
Der Deport erreichte im September ein Maximum von 12 kr. (per
100 M. und Monat), sank seither infolge des Zuflusses von ausländischer
Valuta bis Mitte Oktober auf etwa 4‘/j kr. und verschwand am 81, Oktober
nach langer Zeit zum ersten Mal. Anfang November wurde sogar ein nicht
unbedeutender Report von zirka I kr. beobachtet. Wenn nun trotz dieses
Zuflusses die Devisenkurse nicht sanken, so ist dies in mehreren Umständen
begründet, die zufällig zusammenwirkten. Gegen Mitte Oktober (etwa vom
9. an) wurde ein heftiger Vorstoß seitens der Berliner Spekulation gegen
die österreichischen Effekten gemacht, von denen große Partien auf den
Wiener Markt geworfen wurden. In der zweiten Oktoberwoche kauften
Zuckerexporteure, die infolge des Stillstandes der Elbeschiffahrt nicht liefern
konnten, ihre Ware zurück, wodurch die fremden Valuten gesteigert wurden.
Schon am 17. Oktober bewirkte der Regenfall eine Besserung der Kurse.
Verschiedene Arbitrageoperationen wirkten in ähnlicher Richtung, so
am 18. Oktober Käufe Wiener Getreidehändler, die den Fall des Rubel-
kurses in Berlin zu Rubelkfiufen benutzten und den Gegenwert in Mark in
Wien anschafften. Der größere Zufluß an auswärtiger Valuta wurde vielfach
zur Abwicklung alter Engagements benutzt, wodurch die direkte Wirkung
auf die Kurse abgeschwächt wurde. Schließlich waren es die Goldkäufe der
Regierungen für den Jänner- und Februarcoupon, die die Kurse hoben. Am
<i. November wurde gemeldet, daß die ungarische Regierung in den letzten
Wochen zirka .'10,900.000 M. Devisen und Valuten gekauft hätte. Dies
und die Anforderungen der Effektenarbitrage waren die Hauptgründe dafür,
daß das Agio mit mannigfachen Schwankungen und wechselnder Stärke noch
bis Mitte November stieg.
Nachdem schon vom 9. November an die Kurse rückläufig waren,
beginnt am 17. November ein rapider Fall der deutschen Devisen, zu dem
der Anstoß von den Wiener Banken der Kothschildgruppe gegeben worden zu
sein scheint, die anscheinend planmäßig größere Devisenverkäufe vornahm. Die
Kreditanstalt und Bodenkreditanstalt stellten etwa 5.000.000 — 9,000.000 M.
zur Verfügung. Die Kontremine schloß sich an, Wechselmaterial, das
von kaufmännischen Firmen bisher zurückgehalten oder von Exporteuren
als Versicherung gegen weiteres Steigen gekauft worden war. kam zum
Vorschein, während anderseits die Nachfrage geringer wurde. Auch die
auswärtigen Märkte folgten der von Wien ausgehenden Bewegung, die
österreichischen Effektenpreise besserten sich zusehends. Günstig wirkte
33*
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482
Hertz.
ein, daß an den fremden Plätzen ein äußerst Massiger Gelds tand herrschte,
während er in Wien sehr knapp war. der Privatdiskant sich nahe der Hank-
rate hielt und ein sehr hoher Report bestand. Insbesondere groß war der
Rudapester Geldbedarf, was auch darin zum Ausdrucke kam. daß Ende
November das ungarische Portefeuille der Österreichisch-ungarischen Bank
zum ersten Mal beinahe so groß war wie das österreichische 1 80,540.000 fl.
gegen 81,590.000 fl.). Der .Salinenscheinumlauf war außerordentlich niedrig.
Eine Folge de» hohen Reports äußerte sich in dem ungewöhnlichen
Anwachsen des Lombards zu J a h r es s c h 1 u ß. der im Dezember von
28.360.000 fl. auf 43,810.000 fl. sich hob.
Erwähnenswert ist ein Versuch der österreichischen Regierung, dadurch
ausgleicbend auf die Devisenkurse zu wirken, daß die Käufe für die Coupon-
augzahlungen, die in Österreich bisher in kurzen Zeiträumen vorgenommen
wurden, Ober das ganze Jahr verteilt wurden, eine schon früher in Ungarn
geübte Praxis. Der Finanzmiuister machte davon in seiner Rede vom
15. Dezember 1893 Mitteilung. Doch stand man infolge der geringen
Wirkung bald wieder davon ab. ln derselben Rede teilte der Finanzminister
auch mit, daß die Bank küuftig von den gemeldeten Operationen mit Salinen-
acheinen absehen und er im Januar den Salinenscbeinzinsfuß erhöhen werde.
Wir haben das Agio bis zum 29. November verfolgt, an welchem
Tage es den niedrigsten Stand arreicht. In den letzten 20 Tagen war das
Agio der deutschen Devisen von 6.75 Proz. auf 3.67 Proz., das der Londoner
von 6.29 Proz. auf 3.09 Proz. gesunken. Im Dezember hob es sich wieder,
stand jedoch Ende des Monats tiefer als am Anfang. Im Monate Jänner
erfolgte eine neue jähe Steigerung und am 1. Februar wurde ein Höhepunkt
erreicht, der bei den deutschen Devisen 61.60, bei den französischen 5010
und bei den englischen 126 ausmachte. Von diesem Tage an begann ein
allgemeines, langsames, von zahlreichen wellenförmigen Auf- und Abbewegungen
begleitetes Sinken des Agios, welches das ganze Jahr 1894 hindurch anhielt
und im Jahre 1895 ein etwas schnelleres Tempo annahm. Im allgemeinen
bietet diese Bewegung wenig Interesse. In ihr spielt sich die langsame
Abwicklung der während des stürmischen Jahres 1893 eingegangenen
Effekten Verbindlichkeiten ab.’)
Das neue Jahr eröffnete mit einem bedeutend flüssigeren Geldstande.
Die Bank von England trat mit einem 3proz., die französische mit einem
21/, proz.. die Reichsbank mit einem 4proz., die Österreichisch-ungarische
Bank mit einem 5proz. Zinsfuß in das neue Jahr ein. Die Einschränkungen
des Kredits, die die Bank in der ungarischen Provinz vornahm, wo bei
einzelnen Geldinstituten arge Mißstände aufgedeckt worden waren, riefen
eine Interpellation im ungarischen Reichstage hervor, bei der jedoch der
Finanzminister die Haltung der Bank verteidigte. Am 24. Jänner wurde der
Zinsfuß für sechsmonatliche Salinenscheine auf 3l/j Proz.. für dreimonatliche
’) Beachtung verdient du Diagramm 3 bei Kalkmann 8. 65. du den engeren
Zusammenhang der Schwankungen der Devise London nnd de* Privatdiakonts während
der Monate Dezember 1893 bi* März 1894 vor Aug-n fahrt.
\
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Die Diakont- and Devisenpolitik der Österreichisch-ungarischen Bank etc. 483
auf 3 Proz. hinaufgesetzt. Bereits am Tage zuvor hatte die österreichisch-
ungarische Bank ihren Diskont um '/* Pro z. ermäßigt. Anfang Februar
ging die Deutsche Reichsbank auf 3 Proz. die englische auf 21/, Pro*,
herab. Diese Situation bewirkte sofort eine bedeutende Zunahme des Salinen-
sebeinumlanfes; er stieg in der letzten Jännerwoche um 5,000.000 fl., die
zum großen Teile von Sparkassen und ähnlichen Instituten aufgenommen
wurden. Daß der gegenflber dem Auslande beträchtlich höhere Zinsfuß in
Wien dag Steigen der Devisenkurse nicht verhindern konnte, ist auf spe-
kulative Vorgänge auf dem Effektenmärkte zurQckzufflhrcn. Am 9. Februar
erfolgte eine Herabsetzung auf 4 Proz., am 20. Februar nahm die Bank
den Eskompte auf offenem Markte, u. zw. zunächst zum Satze von 3'/a Proz.
wieder auf. Die Notenreserve, die am 3. Februar den Höhepunkt des ganzen
Jahres mit 88,100.000 fl. erreicht hatte, fand dadurch im ausreichenden
Maße Verwendung. Am 13. März fand die Subskription auf die 40.000.000 fl.
österreichischer Goldrente statt, die das Konsortium bisher in den Kassen
behalten hatte und die zur Schonung der Devisenkurse nur im Auslande
aufgelegt wurde. Damit wurden dem Markte jene Devisen wieder ersetzt,
die die österreichischen Mitglider des, Konsortiums im Vorjahre zum Gold-
ankaufe verwendet hatten und deren Fehlen besonders oft von der ungarischen
Regierung mit Übertreibung als Ursache des Agios bezeichnet worden war.
Am 14. März 1894 wurde im Budgetausschusse das Kapitel: .Staats-
schuld* behandelt. Das Referat Neuwirths verurteilte die Salinenschein-
operation der Bank im Jahre 1893 schärfstens. Der Finanzminister bemerkte
in seiner Erwiderung mit Bezug hierauf: ,cr habe es fflr seine Pflicht
gehalten, die Sache zu ordnen und dies sei durch ein formales Übereinkommen
geschehen, welches die Regierung mit der Bankleitung abgeschlossen habe,
ein Übereinkommen, worin die Bank ausdrücklich sich dabin erkläre, daß
sie in Hinkunft die beanstandete Eskomptierung der Salinenscheine nicht
weiter vornehmen wolle*. Gegenflber dieser zweifelfreien Erklärung des
Finanzministers ist es ein absoluter Widerspruch, wenn in dem 1896
erschienenen Dezennalberichte der Bank unbedingt die Berechtigung der
Bank zu den beanstandeten Operationen behauptet und das vom Finanz-
minister angezogene Übereinkommen einfach in Abrede gestellt wird. Es
heißt dort (S. 46): .Die Bank hat sich daher weder verpflichtet, noch kann
sie sich fflr die Zukunft verpflichten, von diesem ihr zustehenden Rechte
keinen Gebrauch zu machen; ob und in welchem Umfange sie davon Gebrauch
macht und machen darf, hängt allein von den verfügbaren Mitteln, der
I.age des Geldmarktes und der zu beobachtenden Zinsfußpolitik ab.*
Eine interessante Erscheinung bot die Anlage fremder Kapitalien in
Salinenscheinen, die zum ersten Mal außerhalb Österreichs erschienen. Am
12. März wurde aus London, wo damals ein lproz. Privatdiskont herrschte,1)
gemeldet, daß dort 6,000.000 fl. .Salinenscheine aufgenommen wurden. Größten-
teils blieben übrigens die Effekten selbst in Wien, der Gegenwert in
*) Ende Februar war die Londoner Bankrate auf 2 Proz. gesunken.
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484
Herta.
Devisen mußte natürlich Wirkung auf die Kurse ausüben. Bis 14. März
war der Betrag bereits auf 8,000.000 fl. gewachsen und die Meldungen Aber
weitere Bezüge reichen bis Ende Juli. Ende März wurde auch für Pariser
Rechnung gekauft, hauptsächlich handelte es sich um 81 tproz. in sechs Monaten
fällige Scheine. Der Umlauf hob sich im Mai bereits nahe an die Maxi-
malgrenze.
Im März wurde die grolle Wiener Verkehrsanleihe von 100,000.000 K
zum Teil an eine Bankgruppe (Unionbank und Mendelsohn) begeben und
20,000.000 K zur öffentlichen Subskription aufgelegt, was aber wenig auf
die Wechselkurse einwirkte. Eine leichte Verschlechterung der Devisenkurse
im Mai und Juni bewirkte die Zurückhaltung der Zuckerexporteure, die zu
den herrschenden niedrigen Preisen nicht verkaufen wollten und bedeutende
Bezüge inländischer Raffinerien an Herbstware aus dem Ausland, wofür Ende Mai
ein Gegenwert von 600.000 £ angegeben wurde. Anfangs Juli wurde bekannt,
daß der ungarische Finanzminister seine Bankguthaben bis auf za. 0,000.000
bis 7,000.000 fl. zurückgezogen hatte und auch* der österreichische Finanz-
minister tat sukzessive dasselbe. Bei der herrschenden Geldfülle konnte
dies keinen merkbaren Einfluß auf den Markt üben.
Das ganze Wirtschaftsjahr 1894 zeigte ohne ernste Symptome doch
keine befriedigende Lage der Erwerbstätigkeit. Die niedrigen Preise der
landwirtschaftlichen Produkte und der Exportrückgang bei wachsender
Einfuhr ließen auf eine Stockung im Absatz schließen, die in allen Gebieten
des Wirtschaftslebens herrschte. Mit Rücksicht hierauf erklärt es sich,
daß die im zweiten Halbjahr in Anspruch genommenen Mittel der Bank
länger als gewöhnlich festgehalten wurden, was sich einesteils in der
längeren Durchschnittslaufzeit der Wechsel, anderntoils in dem bisher nicht
beobachteten Notenmaximum von 517,700.000 fl. (höchster Stand vom
31. Oktober) äußerte.
Die Bank selbst schildert die Lage wie folgt: .Die Lage des Geld-
marktes war in diesem Jahre insofern eine befriedigendere als Geldstand
und Zinsfuß eine größere Stetigkeit als im Vorjahre zeigten. Der Herbst
brachte keine übermäßigen Ansprüche und die in der letzten Oktoberwoche
ausgegebenen 2,000.000 11. steuerpflichtiger Noten verschwanden schon in
der ersten Novemberwoche wieder aus dem Umlauf. Die Rückströmung
nahm weiter zu und ermöglichte es der Bank, die ebenfalls nur mäßigen
kommerziellen Ansprüche im Dezember innerhalb des steuerfreien Noten-
kontingeuts und ohne Erhöhung des Zinsfußes vollkommen zu befriedigen.*
In eigentümlichem Gegensätze hiezu stand der stark bewegte Effektenmarkt,
auf dem ein sehr knapper Geldstand herrschte, während die auswärtigen
Märkte fortwährend Geldüberfluß zeigten. Im Zusammenhänge damit war die
große Kurssteigerung österreichischer Reuten besonders in Paris und London,
die bei den in Wien herrschenden Geldverhältnissen zu größeren Ett'ekten-
exporten führte. Im letzten Jahresdrittel erreichten alle österreichischen
Kenten den Paristand. Die 4proz. österreichische Goldrente überschritt an
der Wiener Börse am 1. September den Paristand dauernd. Die einheitliche
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Di« Diskont- and Devisenpolitik der Österreichisch-ungarischen Bank etc. 48 "!
Notenrente i Mairente), die am 7. Jänner 18W) zuerst mit 614 Proi. notiert
worden war und während des deutsch-französischen Krieges einen Tiefstand
von 5175 Proz. erreicht hatte, stand am 6. November 1894 zum ersten
Mal auf 10035. die einheitliche Silberrente auf 100 40. Die österreichische
Kronenrente überschritt am 17. November den Paristand, auch die ungarischen
Renten notierten nur um ein Geringes tiefer als die österreichischen. Die
fortgesetzten Käufe des Auslandes bewirkten einen Devisenzufluß, der die
Kurse im August und September senkte. Vom Ende September bis Jahres-
schluß vollzog sich dann eine neuerliche übrigens nicht bedeutende Hebung
und Senkung, so dafi das Agio zu Ende des Jahres ungefähr ebenso hoch
war wie zu Anfang, jedoch bedeutend geringer als Ende Jäuner.
Der starke Geldbedarf auf dem Effektenmärkte drückte sich in seinen
hohen Reports aus. Bereits anfangs September stieg der Marknotenreport
bei einzelnen Abschlüssen bis 10' , kr., was ein Abströmen von Marknoten
zur Folge hatte. Auch in der Folge blieb der Zinsfuß im Effektengeschäfte
zwischen 7—10 Proz.
Am 27. Dezember steigerten sich die Prolongationssätze in der Kulisse
bis nahe zu 20 Proz. Es ist dies umso bemerkenswerter, als die Bank
selbst konstatierte, daß die kommerziellen Ansprüche und die Geschäfts
tätigkeit einen mäßigen Umfang nicht überschritten. Der Spekulation gegenüber
nahm die Bank eine ziemlich energische Haltung ein. Bereits am 24. September
hatte die Bank auf ofTenem Markte nur mehr zur offiziellen Rate von
4 Proz. eskomptiert. Um dieselbe Zeit stellten die Bankinstitute für die
Prolongation verschiedener Industriewerte erschwerende Bedingungen. Einzelne
wurden von der Prolongation völlig ausgeschlossen und bei anderen Effekten
die Heportierung nur zu stark reduzierten Kursen vorgenommen. Trotzdem
dauerte die spekulative Kurssteigerung fort. Als Gründe der starken
Nachfrage können das geringe Kreditbedürfnis der Regierung, die unbedeutende
Vermehrung der Aktiengesellschaften und die Pläne der Eisenbahnverstaat-
lichunggelten, die eine besonders starke Hebung der Transportwerte bewirkten,
auf die man den Rentenzinsfuß anwendete. Besonders in Ungarn nahm die
Spekulation einen ungewöhnlich großen Umfang an; Mitte November wieder-
holten sich die Maßregeln mehrerer größerer ungarischer und österreichischer
Institute gegen Kursübertreibungen, die wir erwähnt haben. Es war eine
eigentümliche Situation: bei großer Geldfülle ein Zinsfuß im Effektengeschäft,
der zeitweilig über 10 Proz. stieg. In der Generalratssitzung vom 6. Dezember
teilte der Generalsekretär Meeenseffy mit, daß das Verhältnis zwischen
Lombard und Escompte sich so verschoben habe, daß die Bank ihren
Lombard einschränke, Industriewerte zurückweise und sich bis Wiederher-
stellung normaler Verhältnisse auf Belehnung von Renten beschränke, eine
Zinsfußerhöhung sei in nächster Zeit nicht beabsichtigt.
Am 27. Dezember wies die Bank sogar Renten bei der Lombardierung
zurück, allerdings nur gegenüber einzelnen Börsenfirmen, während Privat-
leuten Renten und andere Effekten belehnt wurden. Erwähnenswert ist
noch, daß die Gruppe der Unionbank in der zweiten Hälfte des Dezember
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Hertz
70,000.000 K der 3proz. Lokalhahn priori täten größtenteils in das Ausland
verkaufte.
Das Jahr 1894 nimmt in der ttankgeschichte einen wichtigen Platz
in Anspruch, da in ihm die Verhandlungen um das neue Privileg begannen.
Für die Diskontpolitik ist die Note der Finanzminister vom 8. JSnner 1894
bemerkenswert, in der die Grundlage für eine künftige energische Devisen-
politik vorgezeichnet erscheint1)
Das neue Jahr 1895 brachte alsbald einen sehr flüssigen Geldstand,
besonders auf den westlichen Märkten, der durch einen Goldzufluß aus
Amerika noch verstärkt wurde. Wieder ergriffen die französische und englische
Bank die üblichen Maßregeln gegen den übergroßen Goldzufluß. Der
Londoner Privatdisbont stand während des ganzen Jänner zwischen */» und
V8 Proz., während er in Wien zwischen 3 5 und 3'6 schwankte. Eine Folge
war der neuerliche Eflekteneiport, an dem auch Salinenscheine teilnahmen.
Ihr Umlauf war während des knappen Geldstandes der letzten Monate
zurückgegangen und betrag Ende Dezember nur 38,600.000 fl..’) hob sich
aber aus den angeführten Gründen bis Ende Jänner auf 60,900.000 fl. Die
anhaltende große Geldflüssigkeit in der ersten Jahreshälfte bewirkte, daß er
bis Ende Juni noch auf 76,700.000 II. stieg; von da aber begann wieder
die Abnahme. Die Devisenkurse waren in einem langsamen aber anhaltenden
Fallen begriffen, sie erreichten um die Mitte des Oktober ihren tiefsten
Stand. Die Devise Paris unterschritt — bereits am 20. September — die
Parität und stand im Oktober am tiefsten. Die Devise London folgte erst
am 17. Oktober, an dem sie 120 notierte, während der deutsche Kurs
erst am 28. Oktober die Parität passierte und sieh auf 58'75 stellte. Vom
Oktober an schlugen alle Kurse wieder eine aufsteigende Richtung ein.
Die einzelnen Bewegungen des Jahres 1895 gewäliren nicht viel Interesse.
Ebensowenig bietet die Wirtschaftslage des Jahres 1895 eine besondere
Abwechslung:3) ein ruhiger und mäßiger Fortschritt der Industrie, eine
Durchschnittsernte und das Fehlen ungesunder Erscheinungen auf dem
Gebiete der Produktion sind dio charakteristischen Züge des zu besprechenden
Wirtschaftsjahres.
Der Februar brachte einen etwas knappen Geldstand,4) am 11. diosos
Monats wurde der Vertrag der Regierung mit der Rothseliildgruppe über
die Begebung von 50,000.000 fl. Goldrente geschlossen. Die günstige
Stimmung des Geldmarktes und die gesunde Kraft der österreichischen
') Vide: Generalversammlungsbericht 1894, S. XXI. Die Finanzminiater drücken
darin den Wunsch aus, die Österreichisch-ungarische Bank möge ihrem Devisen- und Valuta-
geschäfte die möglichste Ausdehnung geben und es durch organische Einrichtungen
ermöglichen, daß das legitime Geschäft regelmäßig darauf rechnen könne, einen Teil seines
Geldbedarfes zur Abwicklung des ausländischen Zahlnngarerkehres durch die Mithilfe
der löblichen Bank decken zu können.
*j Gegen Jahreaschluß hatte der Finanzniinistcr 10.000.000 ß. Salinenscheine aus
den Kassabeständen getilgt.
*) abgesehen von dem sehr unruhigen Effektenmärkte.
*) Amcriksn. Anleihe von 162.HOO.OOO Dollar, cliines. Anleihe etc.
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Di« Diskont- und Devisenpolitik der llsterreichisch-nn^eriecben Bank etc. 487
Staatswirtschaft drückte sich darin aus, daß der Finanzminister den Parikurs
und eine Gewinnbeteiligung bei einem Mehrerlös Ober 1.4 Proz. erzielte.
In der dritten und vierten Februarwoche schlug die optimistische Tendenz
der Börse plötzlich um. es kam insbesondere am 25. bis 27. Februar zu starken
Kursrückgängen, die sich anfangs März wiederholten. Den unmittelbaren
Anlaß dazu boten die Schwierigkeiten einiger Zuckerfabriken. Da jedoch
die auswärtigen Märkte die gesunkenen Preise zu Käufen benutzten, fand
sogar eine Ermäßigung der Devisenkurse statt: die Kurse der Kenten wurden
kaum berührt Nach diesen Vorfällen entwickelte sich die Haussebewegung
ruhig weiter, die sich in dem bedeutenden Report (Ende März 8 — 10 Proz.)
deutlich ausdrückte. Auch der Privatdiskont war im Steigen und betrug
während des ganzen Monats März den vollen 4 proz. Banksatz, während er sich in
Berlin im Monatsdurchschnitt vom Februar bis März von 1’/, auf 1 */a
ermäßigte. Die Folge war ein Zufluß von Marknoten nach Wien und das
Entstehen bedeutender Reports für diese. Die Zinsfußdifferenz einerseits, die
fortgesetzten Effektenpxporte anderseits bewirkten im März einen starken Fall
der Devisen. Der englische Kurs fiel von 123-80 auf 122-40. der französische
von 49-075 auf 48-425, der deutsche von 60-525 auf 59'80. Die Effekten-
eiporte betrafen vor allem Renten und Transportwerte. Im März fand die
Emission von 100,000.000 M. 3proz. Staatsbahnprioritäten statt, die zur
Hälfte behufs Einlösung älterer Anleihen zur Hälfte aber neuemittiert
wurden und auf Markwährung lauteten.
Die Haussebewegung wurde durch das Projekt einer großen Eisenbahn-
verstaatlichung stimuliert.1) Die Transportwerte stiegen und wirkten auf
die anderen Kurse steigernd ein. Der große Kontrast zwischen dem Wiener
und den auswärtigen Märkten verschärfte sich noch in den Sommermonaten.
Während der Privatdiskont in London unter 1 Proz. stand, mußten in Wien
4 Proz. gezahlt werden. Im Juli zeigten die Ausweise der Österreichisch-
ungarischen Bank eine für diese Zeit sehr geringe Reserve, was hauptsächlich
dadurch bewirkt wurde, daß die Banken ihre Portefeuilles bei der öster-
reichisch-ungarischen Bank reeskomptieren ließen. Die Salinenscheine dienten
wieder als Ventil, ihr Umlauf sank vom Ende Juni bis Ende Juli von 76,700.000
auf 52,900.000 fl. und bis Ende August auf 48,200.000 fl. Außerordentlich
hohe Reports, die bis 10 Proz. stiegen, kennzeichnen die Haltung der
Wiener Börse. Trotz zeitweiliger Kurssteigerungen der Devisen im Juni und
Juli, die mit großen Anleihen im Aüslande’) und den Wassereinbrüchen
im Brüxer Bergbau5) zusamraenhingen, blieb die Tendenz der Wechselkurse
vorwiegend günstig. Im August fanden Tauschoperationen der österreichisch-
ungarischen Bauk in französischen Valuten statt, die ein Steigen des Wechsel-
') Vergl. die Schilderung im Wiener Handelskanunerberichte pro 1895, 8. 426 ff.
*) Große chinesische, chilenische, brasilianische, mexikanische u. a. Anleihen. Dem-
gegenüber fiel die am 21. Juli subskribierte Eiserne Toranleihe, die gröfitenteils ins
Ausland ging, nicht ins Gewicht. (Nominale 45,000.000 K).
*) Die Katastrophe fand am 19. und 20. Juli statt und hatte einen Kurssturz der
Effekten zur Folge.
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488
Hertz.
kurses wirksam verhinderten und noch im seihen Monate beendet wurden.
Eine interessante Erseheinung bot Ende August der Ankauf von 300.000 fl.
sechsmonatlicher Salinenscheine seitens des Auslandes, da diese Operation
um diese Zeit bisher noch nicht vorgekommen war und die Ansichten flber
die Zukunft der Geldverhältnisse beleuchtete.
Der Report gab zwar im August nach, gleichzeitig aber stieg der
Privatdiskont und die Rankreserve sank auf einen in dieser Jahreszeit
ungewöhnlich niedrigen Stand. Jedoch muß bemerkt werden, daß weder die
eskomptierten noch lombardierten Effekten eine übermäßige Zunahme erfuhren.*)
Die Spekulation wurde durch das Steigen des Privatdiskonts nicht einge-
schflchtert. Seit Monaten beobachtete man die seltsame Erscheinung, daß
zur Aufrechterhaltung von Engagements in Effekten, die kaum mehr eine
4proz. Verzinsung trugen, mindestens 6 Proz. und oft viel mehr gezahlt
werden mußten. Am 7. September wies die Bank nur mehr eine Reserve
von 14,000.000 fl. aus, die bis zur Monatsmitte auf 8.600.000 fl. sank. Daher
ging die Bank bereits am 17. September mit einer Erhöhung des Bankzins-
fußes von 4 Proz. auf 5 Proz. vor. Die Geldknappheit bewirkte einen
bedeutenden Zufluß ausländischer Valuten und ein weiteres Steigen ihrer
Reports.*) Im Zusammenhänge damit und mit den bedeutenden Effekten-
eiporten steht der erwähnte Tiefstand der Devisenkurse, die kurze Zeit
sogar unter die Parität fielen.*)
') Nach der Bankstatistik (Österreichische Statistik vol. XLVIII) betrugen die
Veränderungen : (Abnahme oder Zunahme in Millionen Gulden und Prot.) gegen das Vorjahr:
Wechseleskompte
Vorschüsbe auf Effekten
und Waren
1894 1895
1894
1895
Bei der Österr.-ung. Bank
+ 8,600.000 8. ■ 39.200.000 8.
+ 4-98 Proz. +21-76 Proz.
— 4,800.0008.
— 1111 Proz.
+ 7,800.000 8.
4-20 19 Proz.
Bei den änderet) Banken
+ 11,100.0008. + 24,400.0008
| 5 47 Proz. +11-45 Proz.
-j- 85.700 000 fl.
4-29 40 Proz.
— 46,800.0008.
— 29-74 Proz.
Nach diesen Zahlen scheint die Österreichisch-ungarische Bank tatsächlich eine große
Krediterweiterung vorgenotnmen zu haben, während die anderen Banken gerade 1895
eine bedeutende Abnahme der EfTcktenrorsehOsse aufweisen. Es ist dies jedoch nur eine
Folge davon, daß in den letzten Monaten alle Banken ihr Reportgeschäft im Zusammenhänge
mit der Börsenkrise einschränkten, während die Österreichisch-ungarische Bank, die nur
erstklassige Papiere belehnte, nach in dieser Zeit eine Zunahme des Vorschußgeschftftes
aufwies. (Vide Rechnungsabschlüsse pro 1894/95, S. 53).
*) Vielleicht steht mit den Vorsichtsmaßregeln auch die Einschränkung des
Reeskomptes der Sparkassen in Verbindung, den die Bank am dieselbe Zeit vomahtn.
*) Näheres über diesen Effektenexport enthält ein Artikel der „Nenen Freien Presse“
vom 25. September 1895, Nr. 11.166; daraus geht hervor, daß Dividendenpapiere nur in
geringem Maße emittiert wurden, wohl aber große Mengen ron Pfandbriefen, Renten und
dergleichen.
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Die Diskont- und Devisenpolitik der Österreichisch-ungarischen Bank etc. 439
Infolge der Zinsfußerhöhung war die Bankreserve zwar vom 15. bis
23. September um 2,600.000 fl. gestiegen, fiel aber in der folgenden Woche
um 9,400.000 fl., so dall ein steuerpflichtiger Notenumlauf von 6,800.000 fl.
auftrat, der Ende Oktober den höchsten bisher nie dagewesenen Stand von
38,000.000 fl. erreichte nnd bis Jahresende blieb. Um die Ende September
herrschende Geldknappheit zu mildern, griff die ungarische Regiening ein.
Am 21. September wurde gemeldet, dall der ungarische Finanzminister
einigen Instituten zusammen 10,000.000 fl. zu den gewöhnlichen Bedingungen
angeboten und tatsächlich übergeben habe, und am letzten Septembertage
erlegte er denselben Betrag bei der Budapester Hauptanstalt der Österreichisch-
ungarischen Bank mit dem Aufträge, diese Summe hauptsächlich für das
ungarische Geschäft zu verwenden. Die Bank selbst berichtet, dall dieses
Vorgehen sie der Notwendigkeit einer weiteren Zinsfußerhöhung enthoben
habe. Der große Geldbedarf in Budapest, der sich auch in dem ungewöhnlich
hohen Stande des Budapester Portefeuilles ausdrückte, entstammte übrigens
keineswegs vorwiegend dem Effektenmärkte, sondern zum großen Teile den
landwirtschaftlichen Industrien (Zucker und Spiritus), deren Hauptbedarf in
diese Zeit fällt und außerdem dem Geldbedflrfnis vieler Grundbesitzer, die
bei dem herrschenden niedrigen Preise nicht verkaufen wollten und ihre Produkte
belehnen ließen. Auch die ungarische Industrie war mit den Vorarbeiten für die
Ausstellung voll beschäftigt Eine weitere Ursache des knappen Geldstandes
war der niedere Wasserstand der Flüsse, der große Mengen von Zucker,
Getreide, Holz, Kohlen u. s. w. festhielt und ihre Verkäuflichkeit herabsetzte.
Es ist nicht mit Sicherheit zu konstatieren, ob das Gerücht, das der
Bank die Absicht einer weiteren Zinsfußerhöhung zuschrieb, auf Wahrheit
beruhte; jedenfalls stand die Bank von dieser Maßregel, die auch in ihrem
publizistischen Organ befürwortet wurde, ab. Die Geldknappheit stieg
während des Oktober, die Reports erreichten 10 — 15 Proz.,1) während
gleichzeitig die meisten Devisen auf dem Paristand verharrten. Mitte Oktober
forderte die Neue Freie Presse, der Finanzminister möge den November-
coupon vor Fülligkeit einlösen. Tatsächlich geschah dies bereits am
14. Oktober. Wie der österreichische Finanzminister Bilinski 10 Tage
später mitteilte, war von der gesamten, zirka 18.000.000 fl. betragenden
Fälligkeit bis zum 23. Oktober nur 5.200.000 fl. flüssig gemacht worden.*)
Im übrigen lehnte der Finanzminister es ab, dem Beispiele seines ungarischen
Kollegen folgend, größere Summen zur Verfügung zu stellen, da man soust
Gefahr laufe, die Spekulation zu unterstützen.
Im letzten Quartal des Jahres 1895 erfolgte schließlich die große
Liquidation, die durch die übertriebene Haussebewegung unvermeidlich gew orden
') In der Kulisse stiegen sie bis 20 Proz.
*) ln derselben Hede machte der Finanetninister einige Mitteilungen über die
Hohe der Regierungeguthaben. Nach dem Berichte aber das Budget des Finanzministeriums,
der im Dezember erstattet wurde, waren Ende August bei Wiener Kreditinstituten and
Bundesbanken Iiegiemngaguthabeu von 13,465.000 fl. zu 2 Proz. eloziert, außerdem
1,625.700 fl. in Gold zu 1 V , Proz.
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490
Herti.
war. Gegen Ende Oktober erreichten die Prolongationssätze eine unerhörte
Höhe, da gleichzeitig Handel und Industrie bedeutende Summen in Anspruch
nahmen. Die Regierungsguthaben waren schon seit langer Zeit beträchtlich
reduziert.1) Nun begannen auch die Wiener Banken mit empfindlichen Ein-
schränkungen. Am 30. Oktober und in noch größerem Maßstabe am 9. November
erfolgte ein plötzlicher und fiberaus heftiger Kursfall aller Werte an der
Wiener Börse, der mit den Vorgängen an den auswärtigen Börsen eng
verknüpft war*) und natürlich bei den besonders im Kurse übertriebenen
Transportwerten am empfindlichsten wurde. Die unmittelbare Veranlassung
wurde durch den Zusammenbruch der Goldminenspekulation in Paris und
London, durch die Schwierigkeiten der Ottomanbank und die Verstimmung
zwischen England und Rußland gegeben. Eine Notiz des .Petersburger
Regierungsboten*, die sich überaus scharf gegen England richtete, wurde
fälschlich als offizielle Note telegraphiert und gab den ersten Anstoß zum
Kursfall am letzten Oktober, der sich am 9. November in den Formen
einer Panik wiederholte. Die Krise wurde dadurch in ihrer Dauer beschränkt,
daß die niedrigen Kurse vom Publikum und besonders auch vom Auslande
zu Käufen benutzt wurden und nach dem zweiten Ausbruche auch große
Wiener Banken bedeutende Effektenkäufe Vornahmen.3 Das Portefeuille der
Österreichisch-ungarischen Bank, das noch im August auf der. Höhe des
Vorjahres gestanden war, war vom September an bedeutend gestiegen.
W echt
elportefonill
e
Tage
1894
i
1895
23. Oktober
. . . 169.800.000
205.400.000
31. Oktober
. . . 188.000.000
227,700.000
7. November . . . .
. . . 190.000.000
227,400.000 |
1.5. November . . . .
. . . 180.800.000
222.600.000
31. November . . . .
... I 180,200.000 .
J 1
219,500.000
Die Österreichisch-ungarische Bank erleichterte somit in dieser kritischen
Zeit die Geldbeschaffung, während die Deutsche Reichsbank am 11. November
den Diskont von 3 auf 4 Proz. erhöhte. Unmittelbar nach dem Zusammenbruch
der Spekulation trat eine Erleichterung des Geldstandes ein. der sich eines-
■) Nach dem Bericht über das Budget de» österreichischen Finanzministeriums
betragen sie Ende 1895: beim Qiro- and Kasaenverein 450 000 fl., bei Landes- oud
Priratgeidinstitnten : 17.500.000 fl., auUerdem bei Privatbanken Goldguthaben von
4.000.000 fl. Die ungarischen Guthaben konnte ich nicht ermitteln.
3> Vergl, näheres itn Wiener HandeUkammerbericbt pro 1895. S. 431 ff.
5 Vergl. .Neue Freie Presse* r. 11. und 12. November 1895.
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Die Diskont- and Devisenpolitik der österreichisch-ungarische» Dank etc. 491
teils in dem Fallen des Reports und Privatdiskonts (Ende November auf
4*/» respektive 6 Proz.), andernteils in dem zeitweise ungewöhnlich hohen
Girostande der Österreichisch-ungarischen Bank ausdrückte. Die Devisenkurse
hatten Mitte Oktober, wie bereits erwähnt, den tiefsten Stand erreicht und
zeitweilig selbst die Parität unterschritten, was teilweise durch die An-
ziehungskraft der hohen Effektenreports begründet erscheint. Von da an stiegen
sie zwar etwas, insbesondere anfangs Dezember infolge der Zurückziehung
auswärtiger Guthaben, aber im allgemeinen übte die Börsenkrise wenig
Wirkung auf sie aus. Zeitweilig kam es sogar während des Effektensturzes
zu Rückgängen der Devisenkurse, indem auswärtige Märkte als Käufer
auftraten und die Effektenarbitrage, um eine Valutaspekulation zu vermeiden,
Devisen verkaufte. Mit dem Schwinden der übermäßigen Reports fiel auch
der Anreiz zum Valutenzufluß fort, was ebenfalls die wenig bedeutende
Steigerung der Devisenkurse erklärt, ln der dritten Dezemberwoche kam
es zu neuen großen Kursrückgängen, deren Anlaß hauptsächlich in der
Niederlage der Italiener in Afrika und in dem drohenden Ausbruch eines
Konfliktes zwischen England und Venezuela lag. Die Panik auf dem ameri-
kanischen Markte pflanzte sich nach Europa fort uud bewirkte am 21. Dezember
eine völlige Deroute, von der besonders der geschwächte Wiener Markt
betroffen wurde. Auch diesmal kam es zu sehr bedeutenden Effekten-
anschaffungen für Deutschland.
Bemerkenswert ist noch, daß am 23. Dezember die österreichisch-
ungarische Bank ihren Börsenvertreter auf dem Wechselmarkte abberief.
Schon seit vielen Monaten hatte die Bank auf offenem Markte nur mehr
langfristige für den Reservefond geeignete Wechsel erworben, sich aber
von einer Ergänzung ihres Portefeuilles ferngehalten.1)
Über die Gründe der Börsenkrise von 1895 enthält die „Neue Freie
Presse* vom 1. Jänner 1890 interessante Materialien. Bereits im Neujahrs-
artikel des vorhergehenden Jahres hatte dieses Blatt auf die enorme Über-
kapitalisation und die drohende Katastrophe hingewiesen. Darnach nahmen
von 1893 — 1894 alle österreichischen Effekteu um 221.000.000 fl. Nominal-
wert und 1137,000.000 fl. Kurswert zu; während der Rentenzinsfuß 1894
4 02 Proz. ausmachte, betrug die Verzinsung der Effekten bei den: Bahnen
3-80 Proz.. Textilindustrien 3"25 Proz., Brauereien 2 63 Proz., Tramways
3'30 Proz., Eisen- und Kohlenwerken 3 44 Proz., Ballgesellschaften 3 74 Proz.
Insgesamt betrug die Verzinsung der ludustriewerte in Wien 3'85 Proz.,
in Berlin 4’57 Proz., in Paris 4 63 Proz., in London 4'92 Proz. Im folgenden
Jahre setzte sich die Überwertung noch fort. Nach derselben Quelle war
bei einer Gesamtnominale von 1273,000.000 fl. der höchste Kurswert 1895:
2419,000.000 fl., der Wert in der Panik vom 20. Dezember 1888,000.000 fl .
der Gesamtverlust also 531,000.000(1. oder 2 1 ‘9 Proz. des Nominales. Das
gesamte eigene und fremde Kapital dar Wiener, Prager und ßudapester
Banken stieg von 1883 bis 1894 um 404,600.000 fi, davon entfallen
’) Aach in den Jahren 1 89' and 1896 wurden je 10,000 000 fl. an SaUnenscheinen
aus den Kassabestäaden getilgt.
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Hertz
269,800.000 fl. auf Österreich, 107,800.000 fl. auf Budapest, ln den 11 Jahren
von 1888 bis 1894 stieg aber infolge der engherzigen Konzessionspraxis
die Zahl der österreichischen Aktiengesellschaften nur um 11 Stöck (also
jährlich eine Neugründung!), das Nominalkapital um 97.000 fl., das
eingezahlte Kapital um 60,782.000 fl. — Erst 1895 bewirkte die Eifersucht
gegen Ungarn, wohin zahlreiche Gesellschaften ihren Sitz verlegten, daß
19 Gesellschaften mit einem Kapital von 11,000.000 fl. bewilligt wurden.
Dagegen betrug der Zuwachs des Gesamtkapitales der Budapester Aktien-
gesellschaften von 1885 bis 1895 174.200.000 fl., wovon 100.900.000 fl.
auf Industriegesellschaften entfielen. — Diese wenigen Ziffern lassen die
tieferen Gründe der großen Katastrophe von 1895 klar erkennen. Das nach
Anlage verlangende Kapital findet in der Industrie keine Verwertung, es
entwickelt sich eine von der Wirtschaftslage ganz unabhängige Kursüberbietung,
das Spiel tötet die Arbeit, das Endresultat ist die Verdrängung der kleineren
Kapitalisten, die ihre Effekten zu Tiefpreisen abgeben müssen, eine schwere
Entmutigung des Geldmarktes und die Diskreditierung unserer Börse. Es
fragt sich nun, ob die schweren Angriffe, die seitens eines Teiles der Presse
gegen die Österreichisch-ungarische Bank gerichtet wurden und die in der
Beschuldigung einer übermäßigen Krediterweiterung gipfelten, berechtigt
waren. Allerdings war der Eskompte und Lombard der Bank zu jener Zeit
höher als zuvor.1) Aber die Krediterweiterung der anderen Geldinstitute,
die auch noch über ziemlich bedeutende — wenn auch bereits reduzierte —
Begierungseinlagen verfügten, war ebenfalls groß. Es muß daher der Zweifel
ausgesprochen werden, ob eine Restriktion seitens der Notenbank großen
Einfluß auf den Markt gehabt hätte. Jedenfalls aber hätte eine Diskont-
erhöhung zur rechten Zeit einen großen moralischen Eindruck gemacht und
ein allgemein beachtetes Warnungszeichen abgegeben. Die Bank selbst räumt
ein. daß bereits seit August gefahrdrohende Anzeichen wahrgenommen wurden,
die Gefahr der Cberspekulation wurde aber bereits seit vielen Monaten in
der ernstesten Weise öffentlich diskutiert. Wenn die Bank schon im Sommer
eine Diskonterhöhung vorgenommen hätte, wäre sie nicht in die von ihr
selbst zngegebene Lage versetzt worden, nur durch Regierungshilfe die
Krise ohne weitere Geldverteuerung überstehen zu können. Eine solche
Maßregel hätte die schwersten Konsequenzen nach sich gezogen und es
gehört zu den Aufgaben der Notenbanken, in kritischen Lagen aus eigener
Kraft eine Kreditreserve zu bilden.
Das Jahr 1896 war in wirtschaftlicher Hinsicht nicht ungünstig, wenn
auch der kräftige Aufschwung, den die deutsche Industrie nach dem
russischen Handelsvertrag nahm, in Österreich nicht erreicht wurde. Ernte
und Handelsaktivum besserten sich, in Ungarn begann eine lebhafte
industrielle Bewegung. Der Geldmarkt erholte sich nur langsam von dem
Zusammenbruch des Vorjahres.- Der Zinsfuß blieb das ganze Jahr hindurch
relativ billig.
l) Vergl. S. 490.
*) Die Effrktenunmtz^tener betrag 1895: 1,650.000 K.% 1896: 670.000 K.
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Die Diskant- and Devisenpolitik der Österreiehisch-angsrisrhen Hank etc. 493
Im Oktober 1895 hatten die Devisenkurse ibren niedrigsten Stand
erreicht und zeitweilig selbst die Parität unterschritten. Die Versteifung
im Ausland — in Deutschland durch die industriellen Ansprüche verstärkt —
das Schwinden der hohen Reports und die folgende Rückziehung von Gut-
haben aus Österreich bewirkten während der Krisenepoche ein langsames
Steigen um etwa l1/, Proz. Am 7. Dezember 1895 war der höchste Stand
erreicht*) und von da an beginnt — hauptsächlich unter dem Einfluß fort-
gesetzter Effektenexporte — ein beständiges und langsames Fallen, bis
im Mai, Juni und Juli die Paritäten unterschritten wurden. Erst im letzten
Jahresdrittel begann wieder eine langsame Hebung.
Die übliche Geldfülle zu Jahresbeginn bewirkte, daß der steuerbare
Notenumlauf bereits im zweiten Jännerausweis verschwand, doch blieb die
Notenreserve noch lange auf einem verhältnismäßig niederen Staude und
erreichte erst im zweiten Quartal die normale Höhe. Der höchste Stand in
jedem der drei ersten Monate betrug40.200.000 fl., 55.500.000 fl.. 62, 700.000 fl.,
die höchsten Stände des Vorjahres 55,600.000 fl., 68.400.000 fl., 72,200.000 fl.
— Dabei ist aber von den Beträgen des Jahres 1896 die Regierungseinlage
von 10,000.000 fl. abznziehen, so dafl die lange Bindung großer Beträge
noch deutlicher wird. — Zum schnelleren Anwachsen des Portefeuilles
trugen die Zinsfußherabsetzungen bei. Bereits am 23. Jänner ermäßigte
man den Diskont um */, Proz., mit Rücksicht auf die Spannung in Berlin
wollte man eine rasche Senkung vermeiden. Als diese Ende Jänner
wich, die Deutsche Reichsbank auf 3 Proz. herabging und auch die Devisen-
kurse günstig wurden, erfolgte am 13. Februar bereits die unerwartete
Herabsetzung um ein weiteres halbes Prozent auf den 4proz. Normalsatz.
Noch am selben Tage waren viele Abschlüsse zum Privatdiskont von
4 */, Proz. gemacht worden und man forderte, die Bank solle das Publikum
auf ihre Entschlüsse vorbereiten. Selbst der .Tresor“ vom selben Tage hielt
die Herabsetzung für nicht wahrscheinlich.
Ende April war der Geldstand bereits wieder so normal, daß der
ungarische Finanzmiuister seine Einlage von 10,000.000 fl. kündigte und
sie auf Wunsch der Bank wegen der großen Ultimoverbindlichkeiten in
zwei Raten zu 5,000.000 fl. zurückgezahlt erhielt.
Am 18. und 19. Mai verschlechterte sich die Stimmung des Geld-
marktes neuerlich infolge der Schwierigkeiten einer ungarischen Sparkassa,
die ihre Mittel immobilisiert hatte, durch welchen Umstand auch die Öster-
reichisch-ungarische Bank berührt wurde. Dieser Vorfall und die Verlegen-
heiten einiger unbedeutender Industrieunternehmungen in Ungarn lenkten
die Aufmerksamkeit auf den ungarischen Markt und erregten eine lebhafte
Agitation selbst gegen gute Anlagen.
Es kam zu Kursrückgängen, bald aber gelang es, den Markt zu
beruhigen und das Institut zu stützen. Als Zeichen der großen Empfindlichkeit
und Schwäche des Wiener Geldmarktes, den selbst die Zufälle eines wenig
*) Die Kurse betrugen: 5955, 121*95, 48*87:>.
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494
Hertz.
bedeutenden Provinzinstitutes angreifen konnte, ist der Vorfall bemerkens-
wert. Das Schlagwort .weg mit den ungarischen Werten* das bei dieser
Gelegenheit auftauchte, führte dazu, daß ungarische Institute die von ihnen
emittierten Werte aufnehmen mußten um Kursrückgänge zu vermeiden. Um
ihre Mittel wieder Hott zu machen, begannen sie den ungarischen Werten
ein neues Absatzgebiet zu eröffnen, indem sie große Emissionen in Deutschland
veranstalteten. Das Einströmen des Gegenwertes trug in der Folgezeit am
meisten zum Tiefstand der Devisenkurse hei. Auch die Aufnahme von
Eisenbahnanleihen, die teilweise mit Konversionen verbunden waren und zu
verschiedenen Zeiten des Jahres stattfanden, waren hierauf von Einfluß.1)
In denselben Tagen erreichten dio Devisenkurse endlich die Parität.
Der Markkurs unterschritt sie am 18. Mai, der Sterlingkurs zwei Tage
später, während die Pariser Devise, die sich ganz in der Nähe der Parität
hielt, doch erst am 22. Juli für längere Zeit unter sie fiel. Die Bank hatte
schon seit einiger Zeii die günstigen Kurse zu Devisenkäufen benutzt und
sogar durch gelegentliche Abgaben versucht, den Kurs noch mehr zu drücken.
Ein Goldimport war vorläufig, trotzdem die Devisenkurse unter Parität
standen, nicht möglich, da die Bank keine zinsfreien Vorschüsse auf Gold
gewähren wollte, wie sie 1891' getan hatte. Besonders stark und lang
anhaltend war das Angebot der Devise London, die zum Teil aus Deutschland
und Frankreich als Kffektenrembours nach Wien gelangte. Speziell die
Jproz. Lokalbahnprioritlten und Eiserne Torobligationen übten Einfluß.
Doch auch die allgemeine Geldfülle in London machte sich hierin geltend.
Im ganzen kaufte die Bank im Juni etwa 10.000.000 fl. Devisen, wovon
ein Teil wieder abfloß, so daß der Devisenstand des Metallschatzes vom
30. Mai bis 30. Juni sich von 8,700.000 auf 10,600.000 fl. hob.*) Anfang Juli
hörte die Bank auf zu kaufen und verkaufte sogar größere Posten Devisen.*)
Obwohl der untere Goldpunkt noch nicht erreicht wurde, begannen doch
von jetzt an Goldimporte, da einesteils infolge der großen Goldzufuhr der
Londoner Goldpreis sich ermäßigte, anderseits Londoner Bankiers fortdauernd
Guthaben in Wien erwarben. Zu diesem Zwecke kauften sie Salinenscheine
l) Anesig-Teplitxer Prioritätsanleihe im Äugest (45,000.000 M. ausschließlich in
Deutschland aufgelegt), die BuschUhrader und Frag-Duxer Konversionen u. s. w.
*) Die Bewegung der .sonstigen Aktiven* stimmt dntnit überein, sie vermehrten
sich um 4,700.000 S.
5) Dies spiegelt sich in der Abnahme der .sonstigen Aktiven“ vom 30. Juni bi«
7. Juli um 6,500.000 fl Im weiteren Verlaufe des Juli trat wieder eine Vermehrung der
Devisenvorräte ein. Die Batik hat, solange die Suspension der Barxahlungen dauert das
Recht. 30,000.000 fl. Golddevisen in den Metallschatx einxurechnen, die gesondert ans-
gewiesen werden. Sie hat aber auch stets einen beträchtlichen Devisenvorrat unter den
.sonstigen Aktiven* deren Bewegungen die Devisengeschäfte der Bank erkennen lassen,
übrigens werden sie auch Ton anderen Gründen bestimmt. Eine Abnahme, die mit einer
Zunahme der Scbatxdevisen korrespondiert, xeigt x. B. eine Übertragung langfristiger
Devisen in den Schatz an, die dnreh Zeitablauf die Qualifikation als Schatzdevisen
erhalten haben. Die umgekehrte Bewegung (besonders zu f'ltimo) kann darauf bedeuten,
daß Wechsel auf dem Wege xum Inkasso sind und vorläufig aus dem Schatz ab und den
.sonstigen Aktiven* ingeschrieben wurden n. s. w.
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Di* Diskout- und Devisenpolitik der Österreichisch-ungarischen Bank etc. 495
und ungarische Schatzscheine. Die Wiener Firmen, die dieses Geschäft
vermittelten, brachten zur Kurssicherung sofort Sichtwechsel zum Verkauf
und kauften zugleich lange Sichten auf London. Diese stellten sich um
etwa 2 Proz. teurer als Sichtwechsel und Cheks, (Report),1) so daß von
der 3‘ ;proz. Verzinsung der erworbenen Papiere nur l1/, Proz. Qbrig blieben
die aber gegentlber dem Londoner Privatdiskont noch immer vorteilhaft
waren.
Mitte Juli stockte der Goldeingang infolge des Anziehens des Gold-
preises5 in London. Eigentümlich war die Situation in Amerika. Die Furcht
vor dem Erfolg der Silberagitation bewirkte eine große Effektenrücksendung
und entsprechende Goldexporte nach Europa. Die amerikanischen Hanken
bemühten sich daher, den Goldexport zu verhindern, es bildete sich ein
Syndikat zum Schutze der Goldreserve, das darnach strebte, durch Devisen-
operationen den Wechselkurs zu drücken. Nach Mitte Juli wurde der
Wiener Geldmarkt sehr tiüssig, besonders da die Kreditanstalt nach längerer
Zeit wieder zum ersten Mal auf offenem Markte eskomptierte. Der reichliche
Devisenzufluß und die hohen Reports im Devisengeschäft mußten schließlich
die Kurse beeinflussen. Anfangs August fielen diese bis nahe an den Gold-
punkt. Es kam zu Goldimporten, die aber dadurch beschränkt waren, daß
trotz des hohen Standes der Kurse das Gold in Amerika künstlich zurück-
gehalten wurde. Der Getreidemarkt entfaltete bereit« Mitte August eine
viel lebhaftere Tätigkeit als sonst um diese Zeit, so daß auch aus diesem
Geschäft Valuten und Devisen zuflossen. Überdies hat die Bank, wie aus
den Ausweisen ersichtlich ist. Devisen verkauft und so den Kurs weiter
gedrückt. Insbesondere wurden Napoleons für das Balkangeschäft abgegeben.
Obwohl sich der Londoner Goldpreis unter dem Einfluß der amerikanischen
Maßnahme hob. fanden doch im weiteren Verlaufe des Augustes große
Goldeinfuhren statt. — Im September versteifte sich der auswärtige Markt,
der Privatdiskont ging voran, am 7. September setzte die deutsche Reichs-
bank den Diskont von 3 auf 4 Proz. hinauf, die Bank von England erhöhte
ihn am 10. von 2 auf 21/, Proz. Gleichzeitig erreichte der Goldpreis das
Maximum von 78 sh iam 17. September!. — Die Devisenkurse hoben sich
und die Goldeinfuhr hörte auf. Noch im selben Monat, am 24. September,
setzte die Bank von England den Diskont um noch ein halbes Prozent
auf 3 Proz. hinauf. Trotzdem blieb der Londoner Kurs ständig und der
Pariser größtenteils bis Jahresschluß unter der Parität, während die deutsche
Devise sie um ein kleines überstieg.
' Uber die Teeboik diese« in Wien üblichen Deckungsverfahrens und de« „uueigent-
iichen Reports“ vergl. I.oti „ Wl h rang sfr age in Österreich-Ungarn.“ (Schmoilers Jahr-
buch für Gesetzgebung. XIII.. 4. 1889. (Sonderabdruck S. 24 und 25.)
*) X ach den Berichten von Pixlev und Abel! betrag der Goldpreis im Juni
77 sh 9 d per stand, os., stieg Ende Juni auf 77 sh 9*/4 d und betrag im Juli 77 sh9*/j d.
Die folgenden Wochenausweise geben in: ö. August: 77 sh 9 J/4 d, 18. August: 1 7 sh 10 d,
20. August: 77 sh 10Vs d, 8. September: 77 sh 10*/4 d, 17. September: 78 eh (Maximum).
Den Reet des Jahres schwankte er zwischen 77 sh 10* ? d (1. Oktober) und 77 sh 1 1 */2 d.
(8. und 15. Oktober).
Zeiiwbrift (Sr Volk*wlrt»ch«ft. Sozialpolitik uo*l Verwaltung. XII. Ran'l 1^4
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496
Hertz
Am 15. September beschloß der Generalrat in allen Filialen Gold
einznlösen und sie mit den nötigen Einrichtungen 7.11 versehen. Die Importeure
erhielten also die Möglichkeit, Gold bei den Gren7filialeu einzuliefern und
dadurch Zinsen und Transportkosten zu sparen. Übrigens war diese Erleich-
terung fflr dieses Jahr nicht mehr von Bedeutung. Zinsfreie Vorschüsse
waren während der ganzen Zeit nicht gewährt worden. Im September
gab die Hank größere Beträge au Devisen und Valuten ab. Insbesondere
wurden Mark abgegeben, anderseits aber Sterliugdevisen gekauft. Gerade
in dieser Zeit der steigenden Kurse vermehrte die Bank ihren Devisen-
besitz sehr beträchtlich. Vom 31. August bis 31. Oktober stieg der im
Metallschatz betindliche Devisenbesitz von 18.800.000 fl. auf 25.000.000 fl.,
nahm aber von da an bis Jahresende wieder um 4.600,000 fl. ab. — Auch
die .sonstigen Aktiven* bewegten sich in gleicher Weise, indem sie von
Anfang August bis Ende Oktober sich um 6,000.000 11. vermehrt und von
da ab bis Jahresschluß wieder 7.500.000 fl. abpben. — Die Wechselkurse
wiesen zwar eine unbedeutende Hebung auf, blieben aber fortdauernd günstig.
Wie weit dies den umfangreichen Devisenverleihungen seitens der Bank
zuzuschreiben war, ist nicht zu konstatieren.
Der Herbst brachte hohe Geldanforderungen denen jedoch die Bank
ohne Zinsfußerhöhung begegnen konnte, da die Regierungen, die bereits
früher größere Golderläge zur Noteneinlösung gemacht batten. Anfang Oktober
16.000. 000 fl.1) in Gold unverzinslich und jeder Zeit rückziehbar bei der
Bank einlegten, wodurch ihre Notenreserve bedeutend stieg. Hauptsächlich
waren es Anforderungen der Industrie, die die Bank zu befriedigen hatte,
da der Export gegen das Voijahr wesentlich gestiegen war. Den größten
Anteil an dieser Steigerung nahmen die Ganzfabrikate.*
Im Auslande nahm die Geldknappheit zu. Am 10. Oktober stieg der
deutsche Diskont von 4 auf 5 Proz. am 22. Oktober der englische von
3 auf 4 l’roz. Beide Erhöhungen hatten übrigens den Hauptzweck, den
Metallschatz zu schützen und nicht dem inneren Markt zu entsprechen.
Die Wechselkurse wurden dadurch wenig berührt, ja große Effektenverkäufe
bewirkten sogar Ende Oktober einen leichten Rückgang der Londoner
und deutschen Kurse. Der gegenüber Wien außerordentlich knappe Geld-
stand in Berlin5) verursachte eine lebhafte Nachfrage nach Marknoten und
das Auftreten von Reports für sie. Sowohl durch Übertragung von öster-
reichischen Guthaben im Auslande auf deutsche Plätze als auch durch
direkten Export von Reichsmark, die die Österreichisch-ungarische Bank
verlieh, entstand eine Kapitalströniung von Wien nach Berlin.
Die derart entstandenen vorübergehenden Guthaben der österreichischen
und ungarischen Institute in Deutschland wurde Ende Dezember auf zirka
100.000. 000 bis 120,000.000 M.. die der österreichischen Institute allein
1 ) Davon Österreich 10,000.000 fl., Ingarn 6,000.000 fl.
5) Vergl. Tabellen mr Wührungsstatistik, 2. Ausgabe. 1900, Tabelle 174.
*) Der Zinsfuß im Report stieg über 7 Pro*. Über die Gründe vergl. u. a. den
Wiener HandeDkaiunierbericht, 1896, S. 564.
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Die Diskont- und Devisenpolitik der Öaterreichiadi-ungiuiBehen Bank etc. 497
auf zirka 80,000.000 bis 100,000.000 M. goschätzt Die Monge des aus
diesem Anlaß effektiv nach Deutschland versendeten Goldes schätzen wir
bloß für den Monat Dezember auf zirka 8,000.000 bis 9,000.000 M. Im
ganzen Jahre 1896 hatte sich der Goldschatz der Bank um 88.800.000 fl.
vermehrt, wovon 27.600.000 fl. von den beiden Finanzverwaltungen im
Verlaufe der Valutaoperationen erlegt, 16.600.000 fl. tarifmäßig angekauft
und der Rest in Geschäften erübrigt wurde.1) Die angekauften Goldfor-
derungen, Devisen und Valuten machten 250.100.000 fl. aus (gegen
154,900.000 fl. im Vorjahr). Verkauft wurden davon: 248,400.000 fl.,
verliehen 47.300.000 fl. ln diesen Zahlen ist die Wirkung der aktiven
Goldpolitik und des durch die Effektenexporte geschaffenen günstigen Kurs-
standes unserer Währung zu erkennen.
Das Jahr 1897 brachte eine sehr schlechte Ernte, außerordentlich
hohe Getreidepreise, einen großen Ausfall in der Handelsbilanz und den
Ausbruch der nationalen Kämpfe, die auf das gesamte Wirtschaftsleben
ungünstig wirkten. Der Überschuß der Ausfuhr über die Einfuhr betrug
(ohne edle Metalle und Münzen) nur 10,984.000 fl. (gegen 68.217.000 fl.
im Vorjahre). Mit Einrechnung des Edelmetallverkehrs ergibt sich ein Saldo
von — 37,200.000 fl. (gegen +41,900.000 fl.). Gerade dieses ungünstige
Wirtschaftsjahr hat, was die Valuta anbelangt, gute Erfolge und einen
durch den Stand der Wechselkurse erzeugten bedeutenden Goldzufluß auf-
zuweisen gehabt. Der französische und englische Kurs waren seit dem
Vorjahre unter der Parität, der deutsche, der sich gegen Jahresende zeit-
weilig über Pari gehoben hatte, kehrte anfangs Jänner wieder auf seinen
günstigen Stand zurück und alle drei Kurse fielen, bis in der zweiten Februar-
woche eine plötzliche aber kurz dauernde Hebung eintrat. Von da an sanken
alle Kurse wieder unter Pari, am tiefsten der Eondoner.*) Erst im Dezember
trat wieder eine starke Hebung ein. Der Zinsfuß der Österreichisch-ungarischen
Bauk blieb das ganze Jahr hindurch 4 Proz.
Im Jänner erfolgte die gewöhnliche Erleichterung des internationalen
Geldmarktes. Die Reichsbank setzte zuerst den Diskont von 5 auf 4 Proz.
herab, die Bank von England folgte am 21. Jänner und am 4. Februar
mit je einer '/„proz. Ermäßigung bis auf 3 Proz. Die günstige Verzinsungs-
gelegenheit zog alsbald fremdes Kapital nach Österreich. Anfangs Jänner
erfolgte ein Fall der Markdevisen.’) der in Verbindung mit der preußischen
Konversion (von 4 auf 8'/j Proz.) stand, indem österreichische Besitzer
ihre preußischen Werte verkauften, oder den Kapitalbetrag zurückforderten,
um österreichische 4proz. Renten zu kaufen, der erhaltene Wert in Mark
aber auf die Kurse drückte. Der starke Fall der englischen Devise hing
teilweise mit dem Ankauf von 4 proz. sechsmonatlichen ungarischen Schatz-
') Vergl. die Tabelle HI bei Spitzmüller a. a. 0.
*) Die deutsche Devise erreichte vom Februar Mb Juni wiederholt den tiefsten
Stand mit 58*60, die englische von April bis August den ihrigen mit 1 19*45. die französische
aber erst im September und Oktober mit 47*475.
') Ihr höchster Kurs im Dezember betrng 58*95. ihr niedrigster im Jänner 58*65.
84*
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Hertz.
cheine» zusammen, die in ähnlicher Weise, wie früher Salinenscheine, vom
englischen Kapital erworben wurden. Anfangs Februar nahm die Bank die
Goldkäufe wieder auf. indem sie ohne Gewfihrung von zinsfreien Vorschüssen
sich zum tarifmäßigen Ankauf bereit machte.
Mitte Februar ain 11., 15., 19. u. 20. fand an allen Börsen ein Kurs-
rückgang statt, der mit dem Beginn der griechisch-türkischen Feindselig-
keiten zusammenhing und der Befürchtung eines großen Weltkrieges im
Falle eines griechischen Sieges entsprang. Wie stets in solchen Situationen
entstand eine lebhafte Nachfrage nach sicheren Golddevisen und die Gefahr
eines beträchtlichen Agios lag nahe. Da grill' die österreichisch-ungarische
Bank ein und gab insgesamt 17,000.000 fl. Devisen ab, wodurch
das Entstehen eines Agios wirksam verhindert wurde. Die Kurse hoben
sich nur unbedeutend: der Londoner, dessen tiefster Stand im Jänner
1 1 9’70 gewesen war, auf 120‘25, der Berliner von 58'fiO auf 58-82, der
französische Kurs von 47-50 auf 47*70. Die Operationen der Bank') fanden
einstimmiges Lob und es wurde rühmend hervorgehoben, daß die öster-
reichische Valuta zum ersten Mal eine Kriegsgefahr ohne Agio fiber-
standen habe. Nach dieser kurzen Unterbrechung setzte der allgemeine Fall
der Wechselkurse sich weiter fort. Ende Februar setzte die Keichsbank
den Diskont auf 3'/j Proz. herab. Die Spannung zwischen den Wiener und
den auswärtigen Privatdiskonten betrug bald 1 — 2 Proz. Die im Vorjahre
ausgewanderten österreichischen Kapitalien kehrten zurück, es entstand ein
Report auf Marknoten und ein Kttekgang der Devisenkurse. Am 4.. 5. und
6. März wurde die Börse neuerdings durch Nachrichten aus Griechenland
in Unruhe versetzt und die Bank opferte zirka 2,500.000 fl. in Goldforde-
rungen, wodurch dem Entstehen eines Agios vorgebeugt wurde. Im ganzen
soll die Bank bis zur Verhängung der Blockade über Kreta, die die Märkte
beruhigte, etwa 23.000.000 fl. in Devisen abgegeben haben.*) Anfangs April
folgten Diskontherabsetzungen der Keichsbank von 3*/, auf 3 Proz.. der
Baak von England von 3 auf 21/, Proz. Am 13 Mai fiel die englische
Batikrate bis 2 Proz.. während der Londoner Privatdiskont den Tiefstand
von % Proz. erreichte. Nach einer leichten Hebung stellte sich der englische
Privatdiskont von Mitte Juli bis Mitte August auf */4 Proz. i für 60 day’s
bankers drafts).
Der englische Wechselkurs fiel bereits im März bedeutend (von
119*95 auf 119-55) und da sich anfangs März der Londoner Goldpreis
senkte, stand die Wiederaufnahme des Goldimportes nahe bevor. Doch
seit Mitte März begannen die Goldkäufe der russischen und japanischen
Regierungen zum Zwecke der Valutaregulierung von neuem und der Gold-
*) In den Bankausweisen linden sich wenig Spuren davon, da die Verkaufe mm
Teil auf Zeit gemacht wurden und die Abnahme des Devisenstandes inzwischen durch
Käufe verhindert wurde.
*) Es wurde damals auch hervorgehoben, datl ohne diesen Eingreifen die Effekten-
börse weit tiefer gefallen wären, da jedes Agio sofort eine Kffektenriiekströmung hervor-
gerufen hätte.
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Die Diskont- und Devisenpolitik der Österreichisch-ungarischen Bank etc. 490
preis1) hob sich rasch. Trotz des hohen Goldpreises begannen im April die
Goldimporte nach Österreich, die aber ohne Verbindung mit anderen
Operationen nicht gewinnbringend gewesen wären. Nach einer Berechnung
von Mitte April kostete damals bei dem Preis von 78 und dem Kurs-
stand von 119-55 das Kilogramm Feingold inklusive Spesen in Wien
1638-19 fl., während der Bankpreis nur 1638 fl. war. Man verband daher
den Goldimport mit einem Export von Salinenseheiueu in Form eines Metall-
geschäftes. doch muli auch ohne diese Verbindung Gold importiert worden
sein, da die Zunahme der Salinenscheine hinter dem Werte des Goldimportes
zurückblieb.
Am 24. April geschah der erst« große Goldexport aus New York.*)
Der Goldpreis fiel von 78 00 bis 77-11 (6. Mai, da gleichzeitig die
japanische Nachfrage aufhörte) als aber Ende Mai die russische Nach-
frage wieder einsetzte, stieg er neuerdings bis 77'11% t3. Juni).
Die Salinenscheinoperationen wurden dadurch erschwert, daß das Finanz-
ministerium anfangs Mai anordnete, Salinenscheine seien in strenger Inter-
pretation des Gesetzes nur mehr gegen Staatsnoten auszugeben, deren
Umlauf doch schon beträchtlich restringiert war.’) Da die rasche Abwicklung
der Arbitragegeschäfte .dadurch gehindert wurde, hörten die Salinenschein-
exporte im Sommer auf; im nächsten Jahre trat überdies als erschwerendes
Moment die 2proz. Rentensteuer hinzu, die den Ertrag der Salinenscheine
herabsetzte.4)
Trotz dieser Umstände begann nun erst ein sehr lebhafter Goldimport,
hervorgerufen durch den außerordentlich günstigen Stand der Londoner
Devise. Am 17. Mai fand die Subskription auf die österreichische Investitions-
anleihe statt,6) die wegen der für Österreich noch nicht geeigneten 3%proz.
Verzinsung hauptsächlich vom Ausland aufgenommen wurde, wodurch das
Devisenangebot sich stark vermehrte. Obwohl ein Teil der Anleihe in den
nächsten Monaten wieder zurückfloß, blieben die Kurse doch günstig. Im
August begann übrigens eine neue große Nachfrage nach dieser Rente seitens
Paris und Lyon, womit die Senkung der französischen Devise gerade in
dieser Zeit, in der die anderen Kurse breits im Steigen begriffen waren.
') Nach Pixley und Abella Berichten notierte die Unze Standard Gold am
7. Jänner 7711, vom 21. bis 25. Jänner 77-101/,. Im März fiel sie zwischen dem 14. and
dem 18. von 77*10 aut 77' 91/, and hob sich hierauf bis Mitte April bis auf 78-00.
Von da an bis Oktober schwankte der Preis fortwährend um 7711’ ,.
*) Vergl. Kcouomist (London), 1897. S. 716 und 747.
*) Nach den Ausweisen der Staatsschnlden-fControllkoniinissinn waren Ende Mai
von den auf gemeinsame Kosten eiuzulosenden 312,000.000 11. Staatsnoten bereits
199,280 000 fl. ans dem Verkehr gezogen und vernichtet.
*) Dagegen blieben sic von der 1897 erfolgten Erhöhung der Effektenumsatz-
steuer frei. Diese trifft nicht die Wertpapiere mit fixen Zahlungsterminen und Beträgen.
Der ganze Devisen- und Valutenhandel wurde nicht der Steuer unterworfen, was mit
währungspolitiseben Rücksichten begründet wird. Vergl. Dr. K. Fr. v. Lempruch. Das
Gesetz betreffend die Effektenumsatzsteuer. (Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik
und Verwaltung, VII, Band, 1898, S. 306.)
4) Nominale 116,900.000 K.
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Hertz
sich erklärt.1) Von anderen größeren Emissionen, die einen Zufluß fremder
Valuten bewirkten, fanden statt: die Wiener Verkehrsanleihc II. Emission
(Nominale 88,000.000 K), übernommen am 20. Mai von der Unionbank
und dem Hause Mendelsohn & Co; Budapester Stadtanleihe (80,000.000 K,
emittiert am 3. und 5.Februar),Temes-Bega-Regulierungsanleihef33, 800.000 K,
emittiert am 6. Juli). Die im September übernommene Styproz. ungarische
Investitionsanleiho kam erst im März des nächsten Jahres auf den Markt,
Erwähnt sei noch die Bozen-Meraner Stadtanleihe (4. Juni), die den Betrag
von 3,000.000 M. ausmachte und ausschließlich in Deutschland subskribiert
und notiert wurde. Auch der Verkauf der Wiener Tramwayaktien nach
Deutschland übte einigen Einfluß.
Die Österreichisch-ungarische Bank benutzte den günstigen Kursstand,
um ihren Devisenbesitz zu vermehren. Die Schatzwechsel nahmen von
Jahresbeginn bis Ende Mai von 10,000.000 fl. auf 25,400.000 fl. zu, die
.sonstigen Aktiven* von 8,300.000 fl. auf 21,200.000 11. Im Juni, Juli und
August nahm der Devisenbesitz wieder ab. Vom höchsten Stande von
27.800.000 fl. (am 15. Juni) fielen die Schatzdevisen bis Ende August auf
21.100.000 fl, auch die „sonstigen Aktiven*, die große Schwankungen
durchmachten, verringerten sich beträchtlich. Es hing dies zusammen mit
dem langsamen Steigen des Berliner Privatdiskonts, dem sich Mitte August
auch der Londoner anschloß. Während aber der Berliner Kurs sich nur
sehr langsam hob und auch durch die Diskonterhöhung der Iieichsbank
(6. September von 3 auf 4 Proz.) nicht beeinflußt wurde, stieg Mitte August
der Londoner Kurs sprunghaft von ll‘J'45 bis auf 11980. Er sank zwar
in den folgenden Monaten wieder um 15 kr.*) aber der Goldimport hörte
Mitte August auf. — Ohnehin war der Nutzen bei dem hohen Goldpreis
(anfangs August 77" 1 1 */,) nur sehr gering, die .Neue Freie Presse* berechnet
ihn auf etwa 600 fl. bei einem Import von 1,000.000 fl. und er fand oft
nicht wegen dieses minimalen Nutzens, sondern nur in der Absicht statt,
den Preis der Wechsel nicht noch mehr zu drücken und die Guthaben
flüssig zu machen. —
Der Eskompte der Bank war während des Sommers infolge des Gold-
imports beträchtlich geringer als sonst. Trotzdem nahm sie den Eskompte
auf offenem Markte nicht auf. um den Zinsfuß nicht zu drücken. Es gelang
auch den Marksatz nahe der Bankrate zu halten, so daß eine beträchtliche
Spannung zwischen dem ausländischen und dem österreichischen Diskont
bestand und die Kurse sich günstig stellten. Mitte Juli eskomptierte der
ungarische Finanziuinister die im August 1896 erworbenen 5,000.000 fl.
Salinenscheine bei der Bank, was dieser sehr gelegen kam.
Da die europäische Ernte des Jahres 1897 sehr schlecht ausfiel, kam
es zu großen Getreidezufuhren aus Amerika, wofür teilweise Effekten retour-
niert wurden. Die Gefahr einer Goldausfuhr und der starke Herbstbedarf
fi Hauptsächlich der Credit Lyonnais versorgte seine Kundschaft mit Investi-
tionsresten.
2) Hauptsächlich infolge des Zuflusses aus dem Zuckergeschäft.
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Ilii* Diskont- und Devisenpolitik der Österreichisch-ungarischen Bank etc. 501
bewirkten eine schnelle Hinaufsetzuug der Diskontraten. Der österreichische
Privatdiskont hielt sich vom September an auf der Höhe der Bankrate, die
selbst nicht verändert wurde. Der Grund der Geldknappheit in Wien lag
in den um etwa 70 Proz. gestiegenen Getreidepreisen, die den Betrag der
um jene Zeit wichtigen Mühlenwechsel erhöhten, in den Wiener öffentlichen
Bauten und den großen Einzahlungen des Konsortiums auf die ungarische
Investitionsanleihe. Der deutsche Banksatz betrug im September 4 Proz.,
im Oktober und den folgenden Monaten 5 Proz., der englische im September
2 und 2 l/,, im Oktober und den folgenden Monaten 2'/» und 3 Proz.
Die Bank setzte die Goldabgaben, die wir bis Ende August verfolgt
haben, in den folgenden Monaten fort. Insbesondere wurden große Mengen
Napoleons für den Balkanbedarf und Oktober-Coupons der Südbahn-
prioritäten sowie Marknoten abgegeben, letztere um dem höheren deutschen
Diskont entgegenzuwirken. Auch aus Geschäften mit der Regierung ergaben
sich Änderungen des Gold- und Devisenbestandes.' Der Betrag der Gold-
wechsel nahm dabei im September und Oktober eher zu als ab; die großen
Schwankungen in ihrer Höhe zeigen, daß es sich hauptsächlich um Verleih-
ungen handelte. Im November begannen die Geldwechsel stetiger abzunehmen.
Ende November stieg der Marknotenreport bis 17» Proz., so daß es nicht
mehr rentabel war. österreichische Noteu nach Berlin zu senden. Gleichzeitig
überschritten alle Kurse wieder die Parität in aufsteigender Richtung. Die
Kurssteigerung vollzog sich rasch und erreichte am 13. Dezember den
Höhepunkt. An diesem Tage standen die 3 Hauptdevisen 59-20, 120-70
und 47 82. Von da bis .lahresschluß vollzog sich aber ein heftiger Fall,
am 30. Dezember war der Stand: 58"825. 120-00, 47 575. so daß die fran-
zösische und englische Devise also bereits wieder unter der Parität notierten.
Bemerkenswert ist, daß seit Anfang Dezember die Bank effektive Gold-
abgaben gemacht hatte. Der Goldschatz verminderte sich vom 30. November
bis 31. Dezember von 379,600.000 tl. auf 363,800.000 (1., die Schatzdevisen
fielen in derselben Zeit von 27,500.000 H. auf 18,900.000 fl., die .sonstigen
Aktiven* von 14.700.000 fl. auf 12,100.000 fl.
Im Jahre 1897 vermehrte sich der Goldschatz der Bank von 302,100.000
auf 363.800.000 fl. Tarifmäßig angekauft wurden 69,400.000 fl., in Geschäften
eingenommen 119,200.000. der Goldausgang betrug 126.900.000 fl.
Das Jahr 1898 brachte einen wesentlich höheren Zinsfuß, der durch
die kriegerischen Ereignisse, die Verschuldung des Kontinents an Amerika
und die industrielle Hochkonjunktur in Deutschland erklärt wird. Österreich
hatte eine bessere Ernte; infolge der völligen Mißernte des Vorjahres war
aber trotzdem eine große Einfuhr an landwirtschaftlichen Produkten nötig,
die bewirkte, daß zum ersten Mal nach vielen Jahren die Bilanz des
Spezialhaudels (exklusive Edelmetall und Münzen) mit 12,179.000 fl. passiv
war und ein bedeutender Abfluß von Edelmetall erfolgte. An der großartigen
') Ende September kaufte der österreichische Finanzminister für 10,000.000 fl.
Salincnscheiue gegen Erlag von Gold ans den Kassabest&nden, Ende November tauschte
er Noten gegen Gold, das aus Zellzählungen disponibel war.
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502
Heru.
Entfaltung der deutschen Industrie nahm die österreichische wenig teil.
Der Devisenkursstand zu Jahresanfang war günstig, doch schon Ende Jänner
begann der Londoner Kurs zu steigen und erreichte im April und Mai
Höhepunkte. In diesen beiden Monaten hoben sich auch die anderen Kurse
über die Parität, um im Sommer wieder unter sie zurückzusinken: erst der
Herbst brachte eine neuerliche Verschlechterung der Wechselkurse.
Im Jänner trat zunächst die gewöhnliche Erleichterung des öeldstandes
ein und die Notenreserve hob sich bis zur dritten Februarwoche auf
101,300.000 fl. Da im Jänner Nachfrage nach Londoner und Pariser Devisen
herrschte, gab die Bank größere Beträge davon ab. dagegen wurden Berliner
Wechsel stark angeboten. Am 20. Jänner wurde der deutsche Diskont von
5 auf 4 Proz. herabgesetzt, die Bank von England aber zögerte mit einer
Ermäßigung, da der New Yorker Wechselkurs sich senkte. Anfangs Februar
beschloß der Generalrat trotz der steigenden Notenreserve den Eskompte
auf offenem Markte nicht aufzunehrnen, damit die Bank nicht zum Schaden
der Valuta das Sinken des Zinsfußes beschleunige. Mitte Februar begann
der Pariser und Berliner Kurs zu fallen, da infolge der Diskontspannung
österreichische Wechsel- und Salinenscheine gesucht wurden. Am 18. Februar
setzte die Reichsbank den Diskont von 4 auf 3 Proz. herab und am 21.
nahm die österreichisch-ungarische Bank den Eskompte auf offenem Markte,
der seit 4 Jahren sistiert war, wieder auf, und zwar zunächst zwischen S’/j
und 33/„ Proz. Doth blieb dieser Satz auf feinste Wechsel und längere
Sichten beschränkt. Ende Februar wurde sogar im böhmischen Landtag
interpelliert, warum die Bank in Prag anstatt mit 3*/» bis 3’/i» Proz., wie
in Wien und Budapest, mit dem höheren Satze 35/s eskomptiere, und über
diese Zurücksetzung Prags Klage geführt. Die Behauptung, daß dieser
Beschluß mit Rücksicht auf die anfangs März stattzuliudende Subskription
der ungarischen Investitionsauleihe gefaßt wurde, ist wohl nicht begründet.
Der Wiener Privatdiskont blieb im Februar und Mürz zwischen 3‘/t und
3V4 Proz., während der Pariser zwischen 2 und 1% Proz. und der Berliner
zwischen 2’/« und 2% Proz. schwankte, somit eine wirksame Diskontspannung
vorhanden war. Von größeren Subskriptionen fanden statt: am 7. März die
3'/iproz. ungarische Investitionaanleihe, am 19. März die Wiener Gasanleihe
im Betrage von 60,000.000 K, beide brachten sehr große ausländische
Kapitalien, besonders deutscher Herkunft, nach Österreich. Die Anschaffung
der Valuta hiefflr bewirkte hauptsächlich neben der Diskontspannung, daß
der Berliner und Pariser Kurs im Februar und März unter die Relation
fielen.
Eine ungünstige Wendung nahm der Loudoner Wechselkurs, der auch
auf die anderen Kurse rflekwirkte, sein tiefster Stand im Jänner war 119-90,
im Februar erreichte er bereits den Stand von 120-30. im März 120*50 und
am 22. April den Höchststand von 121-10. In seinen heftigen und sprung-
weisen Schwankungen folgte er den Bewegungen des Londoner Privatdiskonts.
Die Gründe dieser Erscheinung waren folgende: Die großen Getreide-
exporte Amerikas von 1897 waren großenteils mit Effekten, teilweise auch
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Die Diskont* und Devisenpolitik der Österreichisch-ungarischen Bank etc 503
mit Wechseln gezahlt worden, die jetzt zur Einlösung kamen. Der ameri-
kanisch-spanische Krieg stand vor der Tflr und Amerika suchte auf jede
Weise Gold an sich zu ziehen. *i Tatsächlich fand seit Anfang März ein
wenn auch nicht beträchtlicher Goldausgang aus London statt. Die Geld-
knappheit wurde verschärft durch die Anhäufung grolier Guthaben der
englischen Regierung bei der Bank und die Aussicht auf die bevorstehenden
chinesischen und griechischen Anleihen.
Die politische Lage, der Goldausgang und das Gerächt von einer
bevorstehenden Erhöhung der Bankrate bewirkten in der ersten Hälfte der
zweiten Märzwoche ein Steigen des Londoner Diskonts bis 81/» Proz., das
ein Wachsen des Londoner Kurses in Wien bis 120-45 verursachte. Zum
ersten Mal seit der Baring-Krise floß wieder Gold aus Österreich nach
London, und zwar 160.000 £. Doch schon in der zweiten Wochenhälfte
erfolgte ein Rückgang, der Diskont fiel iu der dritten Woche bis 2w/n Proz.
der Kurs bis 120-25. Am 22. März fand die Subskription auf die chinesische
Anleihe von 16,000.000 £ statt. Am 28. bis 29. März stand der Privat-
diskont neuerdings auf 3 bis 3'/8 und der Wechselkurs auf 120-45 bis
120 50. Bis Ende März waren etwa 250.000 £ aus Österreich nach London
gegangen. Nach einer neuerlichen Senkung stiegen Diskont und Kurs wieder
rasch. Am 7. April setzte die Bank von England den Diskont auf 4 Proz.
hinauf. Am 9. folgte die Reichsbank auf dieselbe Höhe. Der Kriegszustand
zwischen Amerika und Spanien begann am 21. April. Am 22. erreichte
der Londoner Privatdiskont die volle Höhe des Banksatzes und der Wiener
Kurs auf London den Stand von 121T0. Doch schon am nächsten Tage
begann ein rascher Fall. Genau eine Woche später war der Stand 3*/s Proz.
respektive 120-65. Die Ursache davon war, daß nach Ausbruch des Krieges
alles nach Amerika bestimmte Gold in London blieb und die Rank von
England Oberdies den Goldzufluß durch zinsfreie Vorschüsse und Erhöhung
der Ankaufspreise fördert«, was zu einer großen Vermehrung ihres Metall-
schatzes und zu einem Druck auf den Diskont führte. Mitte Mai bewirkten
die griechische Anleihe und andere Umstände ein neuerliches Steigen auf
120.65. Doch der Londoner Geldstand besserte sich schnell, bis Ende Mai
fiel der Privatdiskont auf 2*/4, so daß die Bank von England am 29. Mai
ihre Rate auf 8*/» Proz. hcrabsetzte. Einen Monat später war die Privat-
rate l*/u Proz. und die Bank ging am 30. Juni auf 2' ä Proz. herab.
Auch in Paris herrscht« große Flüssigkeit, nur in Berlin verursachten große
Neuemmissionen und Getreideimporte einen knapperen Geldstand. Die Folge
davon war. daß von Juni an die Londoner und Pariser Kurse unter Parität
notierten, während der Berliner Kurs sich knapp über der Relation hielt.
Die Österreichisch-ungarische Bank hatte während der kritischen Zeit versucht,
das Agio hauptsächlich durch Devisenabgaben zu bekämpfen, die anfänglich
leihweise, später im Verkaufswege erfolgten. Da sie aber nicht mehr viel
englische Devisen hatte, gab sie überwiegend deutsche Wechsel ab, um so
Die Situation war ähnlich wie im Jahre 1861 vor Ausbruch des Bürger-Krieges
(vergl. Goschen, Theorie of foreign Exchanges).
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Hertz.
‘»04
indirekt den englischen Kurs zu beeinflussen. Die Schatzwechsel nahmen
von Anfang Jänner bis Ende Mai von 19.100.000 H. auf 2.7OO.O00 fl. ab,
der Goldbestand in derselben Zeit von 364.400.000 auf 348,400.000 fl.1)
Als Mitte Mai schon fast der ganze Devisenvorrat des Schatzes aufgebraucht
war. ersuchte die Bank die Regierung um die Bewilligung, den in Devisen
angelegten und vorläufig dem Reservefond zugeschriebenen Relationsgewinn
von 13.500.000 fl. angreifen zu dürfen, ohne damit eine Erweiterung des
Notenausgaberechtes herbeifflhren zu wollen. Die Regierung stimmte auch
zu, doch machte die bald eintretende Besserung die Ausführung unnötig.
Wie die große Empfindlichkeit des englischen Wechselkurses gegen jede
.Schwankung des Londoner Privatdiskonts beweist, hat die Devisenpolitik
keinen sehr großen Einfluß geübt. Bemerkenswert ist jedoch, daß der
Berliner Kurs während April und Mai zwar dem Londoner genau folgte,
aber uur in abgeschwächtem Maßstabe. Möglicherweise ist dies den Abgaben
der Bank an deutschen Valuten zu danken gewesen. Die Diskontschraube
hat die Bank dagegen nicht in Anwendung gebracht, obwohl sie nach der
englischen Zinsfußerhöhung am 7. April den Privateskompte einstellte und
Mitte Mai der Regierung gegenüber anerkannte, daß eine Restriktion durch
Diskonterhöhung in Aussicht zu nehmen sei.
Obwohl der Umschwung auf dem Markt« diese unnötig machte, trat
doch eine Restriktion der Umlaufsmittel als naturgemäße Folge der Devisen-
politik der Bank ein; von März bis Jahresscbluß hatte die Bank einen
bedeutend höheren Eskompte als im Vorjahre. Der Mehrbedarf betrug zu
Ende der Monate: März + 3,700.000 fl., April -f- 21,400.000 fl.. Mai
4- 43,300.000 fl., Juni 4- 63.400.000 fl., Juli 4- 64,600.000 fl., August
4- 39.500.000 fl.. September + 50,300.000 fl.. Oktober 4- 60,800.000 fl.,
November -f- 65,400.000 fl., Dezember 4- 51.600.000 fl.
Auch der Privatdiskont entfernte sich nicht sehr weit von der Bankrate.
Diese erhöhte Inanspruchnahme der Bank erklärt sich daraus, daß für die
verkauften und ins Ausland abgeflossenen Devisen- und öoldbeträge Noten
in die Bank zurflckgelangten und dadurch die außerhalb der Bank vorhandenen
Kreditmittel vermindert wurden. Der Abfluß von etwa 60,000.000 fl. Gold
und Goldforderungen ins Ausland entspricht ungefähr der höchsten Eskompte-
steigerung. Das Festhalten der Bank an dem 4proz. Zinsfuß und ihr durch
diese Verhältnisse gestärkter Einfluß trugen zur Erzeugung einer Diskont-
spannung gegenüber dem Auslande und zur Besserung der Wechselkurse
bei. Der tiefste Stand des Londoner Wechselkurses war im Juni 119'75,
im Juli 1 19*85, im August 120*00. Aber schon seit August begann er
langsam zu steigen und überschritt schon seit September zeitweilig die
Parität. Die Österreichisch - ungarische Bank hatte die günstigen Kurse
zu Devisenankäufen benutzt, die Schatzdevisen stiegen vom Ende Mai
bis Ende August von 2,700.000 fl. auf 21.700.000 fl. Die Ursache der
*) Seit dem höchsten Stande des Jahres 1897 hatte die Bank (ohne Errechnung
der Veränderungen in den , sonstigen Aktiven“) an .Schatzdevisen und Gold 52,100.000 fl.
verloren.
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Die Diskont- . t n l Devisenpolitik der Österreichisch-nn^arischen Dank etc. 505
Versteifung in London seit Mitte August lag jenseits des Ozeans, die Be-
endigung des spanisch-amerikanischen Krieges batte dort eine Steigerung der
industriellen Tätigkeit zur Folge, die Kriegsanleihe und das Erträgnis der
erhöhten Kriegssteuern lag angehäuft in den Kegierungskassen und blieb
dem Markte entzogen, während bereits eine außerordentlich günstige Ernte
ein großes Oeldbedflrfnis erzeugte.1 Der steigende New Yorker Diskont
und das Fallen des Kabelkurses rückten Ende August die Möglichkeit eines
Goldexportes aus England nahe und hoben den dortigen Privatdiskont. Am
22. September setzte die englische Bank den Diskont von 2*/u auf :t Proz.
hinauf, um der Goldentnahme entgegenzuwirken. Iw Oktober wurden zwar
die New Yorker Geldverhältnisse günstiger, doch die durch die Faschoda-
Angelegenkeit erzeugte politische Unruhe, die hohen Ansprüche der deutschen
Industrie und die künstliche Restriktion des Geldmarktes durch die Ent-
nahme von Geld seitens der Bank von England übten weiter einen Druck
aus. Der Londoner Kurs in Wien stieg ziemlich rasch weiter und er-
reichte am 27. Oktober den Höhepunkt von 120'70. Nach einem raschen
Fallen um 20 kr. hob er sich noch einigemale um kleinere Betrüge und
erreichte um Mitte Dezember neuerlich den Stand von 12070. um
dann bis JahresschluB schnell um 30 kr. zu fallen. Der französische Kurs
blieb bis JahresschluB von heftigen Schwankungen frei und hob sich nur
ein wenig über die Parität. Dagegen stieg der Berliner Kurs langsam und
ohne Sprünge von 5S'80 im August bis Ö'.H)7 Ende Dezember. Im
Gegensätze zu früher standen seine Bewegungen in keinem Ähnlichkeits-
Verhältnisse zu denen des Londoner Kurses. Diese Bewegungen waren be-
gleitet von Diskonterhöhungen der Märkte und Banken. Die Österreichisch-
ungarische Bank verminderte ihren Bestand an Schatzdevisen zwischen Ultimo
August und Ultimo Dezember von 21,700.000 fl. auf 6,700.000 11. Die
.sonstigen Aktiven* fielen von ihrem Höchststände am 15. September bis
Jahresscbluß von 28.700.000 fl. auf 8,600.000 fl. Die großen Devisenabgaben
bewirkten neuerlich eine Restriktion, die um so mehr empfunden wurde, als
das Getreide und Zuckergeschäft sowie der durch den niedrigen Wasser-
stand gehemmte Verkehr im Oktober große Ansprüche stellten. Bereits Ende
September trat ein steuerpflichtiger Notenumlauf von 8,100.000 fl. ein, der
Ende Oktober 40,200.000 fl. betrug und nach einer Abnahme im November
und Dezember zu Jahresscbluß auf 44,900.000 fl. stieg. Am 10. Oktober
erhöhte die Deutsche Reichsbank den Diskont anf 5 Proz., also um 1 Proz.
über die Wiener Rate. Der drückende Geldbedarf veranlaßte den ungarischen
Finanzminister am 4. Oktober bei Privatinstituten 6,000.000 fl. gegen 3proz.
Verzinsung zu erlegen, was nur eine unbedeutende Erleichterung bewirkte.
Trotz der schwierigen Lage des inländischen Marktes und des ungünstigen
Standes der Wechselkurse wollte der Generalsekretär der Österreichisch-
ungarischen Bank, Mecenseffy, den seit 2 *1, Jahren bestehenden Zinsfuß
von 4 Proz. nicht aufgeben, sondern schlug am 13. Oktober in der Sitzung
des Verwaltungskomitees das aus 4 Österreichern und 2 Ungarn bestand.
*, ViJe -The Economitt* (London) 1898, 8. 1281, 1377 ff.
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Hern.
506
vor. zuerst den ganzen freien Devisenvorrat zu erschöpfen und erst wenn
man zur letzten Reserve — dem Relationsgewinn — gelange, den Zinsfuii
zu erhöhen. Doch das Komitee beschloß — wie .es hieß mit 4 gegen
2 Stimmen — eine Diskonterhöhung auf 4'/» Proz. dem Generalrat in Vor-
schlag zu bringen. Auch in der Generalratssitzung blieb Mecenseffy bei
seiner Ansicht — doch ohne Erfolg. Der Zinsfuß wurde auf 4 1/4 Proz.
erhöht, am selben Tage ging London auf 4 Proz.. Petersburg auf 5l/j Proz.
Selbst die Hank von Frankreich, die den Diskont seit 1894 nicht erhöht
hatte, rückte ihn um 1 Proz. hinauf. — Es wäre um so sonderbarer gewesen,
auf 4 Proz. stehen zu bleiben, als ja die Bank von dem großen steuerbaren
Notenumlauf 5 Proz. zu zahlen hatte; die Bank hätte also den Kredit-
nehmern direkt 1 Proz. geschenkt; nach der halbprozentigen Erhöhung
betrug das Geschenk doch wenigstens nur die Hälfte, über die Gründe der
allen Kegeln der Bankpolitik widersprechenden Haltung des Generalsekretärs
herrschte die allgemeine Meinung, daß Ungarns Einfluß gegen die Diskont-
erhöhung gewesen sei. Am selben Tage, an dem die Generalratssitzung
stattfand, erklärt« übrigens auch der Obmann des Ausgleichsausschusses
und Schöpfer des neuen Privilegs, Ungarn sei gegen die Zinsfußsteigerung.
Dies bestätigte in der folgenden Sitzung der Finanzminister Dr. Kaizl.
der ungab. beide Regierungen seien Gegner der Maßregel gewesen.1)
Die Anspannung des deutschen Geldmarktes machte inzwischen weitere
Fortschritte. Die Reichsbank setzte ihren Diskont auf 5’/* Proz. tü. November)
und 6 Proz. (19. November) hinauf. Die Österreichisch ungarische Bank folgte
am 25. November mit einer Erhöhung auf 5 Proz. und opferte außerdem
einen großen Teil ihres Devisenbesitzes, wie aus den bereits angeführten
Zahlen sich ergibt. Obwohl fortdauernd große Beträge in Noten und Gold
von Wien nach Berlin flössen, gelang es doch, das Agio auf einer erträglichen
Höhe zu halten. Auffallend ist es, daß trotzdem der Berliner Diskont weit
höher stand als der Londoner, doch die englische Devise eine viel größere
Kurssteigerung durchmachte als die deutsche. Da die Schatzdevisen in die
Notendeckung eingerechnet werden, mußte ihre Abnahme eine Erhöhung der
Steuerpflicht der Bank befördern. Auch effektive Goldabgaben — doch nur
in geringerem Umfange — nahm die Bank vor, die Hauptmasse des aus-
fließenden Goldes stammte aus den seitens der Regierung bei den Privat-
instituten deponierten Beträgen. Am 13. Dezember zog der österreichische
Finanzminister für 10,000.000 fl. Salinenscbeine aus den Überschüssen des
Jahres 1897 ein und erlegte dabei denselben Betrag in Gold bei der Bank.
Gegen Jahresschluß trat auf allen Märkten eine große Geldteuerung ein. die
Bank von Frankreich wies fremde Finanztratten ab, um eine Erhöhung des
Diskonts zu vermeiden. Dies bewirkte in Berlin eine Reportsteigerung bis
8 Proz. und eine große Nachfrage nach deutschen Kassennoten in Wien.
Hier mußte bei der letzten Versorgung für alpiue Montanaktien bis 15 Proz.
Kostgeld gezahlt werden, für die übrigen Papiere 7 bis 10 Proz. Trotzdem
*) VergL die Darstellung in der , Neuen Freien Presse“ vom Oktober 1S9Ö
(^Economist- Nr. 12.259, 12.261 bi« 12.26^ j.
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Die Diskont* n»-l Devisenpolitik 'ier Österreichisch-ungarischen Bank etc. 507
war der Jahresultimo von einem Rückgänge des Diskonts und der Devisen
begleitet, da man viel zu große Reserven angeschafft hatte und der erwartete
große Bedarf ausblieb. Laut Kundmachung vom 29. Dezember tilgte der Finanz-
minister Salinenscheine für 20,050.000 ti., wodurch ihr Gesamtumlauf auf
49.500.000 fl. herabgesetzt wurde. Schließlich ist noch zu erwähnen, daß am
Jahresultimo der österreichische Finanzminister 10.000.000 fl. Steuerwechsel
bei der Bank eskomptieren ließ und außerdem die Finanzverwaltung dem
Giroverkehr der Bank beitrat, wodurch die Möglichkeit entstand, Steuer-
wechsel durch die Bank einzukassieren. Im Jahre 1898 nahm der Gold-
besitz der Bank von 368,801 >.000 fl. auf 359,400.000 fl. ab. — Die Summe
der durch den Kauf erworbenen Valuten, Devisen und anderen Forderungen
an das Ausland betrug 354.600.000 fl., anderseits gelangten 321,800.000 fl.
durch Verkauf und 89.200.000 fl. durch Verleihung wieder in den Verkehr.
Im Wege des Tausches wurden ebenfalls Valuten und Devisen dem Markte
Bberlassen. der lTmsatz betrug hier 268,000.000 fl.
Das Jahr 1899 brachte die Hochkonjunktur in Deutschland, die in
Österreich freilich keine ähnliche Bewegung hervorrief, eine gute Ernte und
gesteigerte Preise aller Produkte. Im letzten Jahresdrittel machte sich der
Einfluß des Transvaalkrieges durch Unterbindung der Goldzufuhr und starke
Anspannung des englischen Marktes fühlbar.
Hervorzuheben ist auch der Ober das ganze Jahr verteilte hohe An-
leihenbedarf auf den auswärtigen Märkten.1) Die Devisenkurse standen ent-
sprechend den internationalen Diskontverhältnissen fortdauernd über Parität
ohne jedoch (mit Ausnahme des Londoner großen Schwankungen zu unter-
liegen. Der deutsche und Pariser Kurs bildete fast das ganze Jahr hindurch
eine wenig bewegte Linie, die sich zwischen 12 und 27 kr.-) über der
Parität hielt. — Die zu Jahresanfang eintretende Erleichterung war weit
weniger ausgiebig als in früheren Jahren. Zwar setzte die Reichsbank am
17. Jänner den Diskont von 6 auf 5 Proz. herab und die Bank von England
zwei Tage später den ihrigen von 4 auf 31/, Proz., aber die Österreichisch -
ungarische Bank folgte sowohl mit Rücksicht auf die Wechselkurse als auch
infolge der Steifheit des inneren Marktes, die ungewöhnlicherweise nach
Ultimo Jänner zu einer Eskomptesteigerung führte, diesem Vorbild nicht
nach. Sie bemühte sich auch, durch Devisen- und Goldabgaben den Rück-
gang der Wechselkurse zu befördern. Die Schatzdevisen fielen im Jänner
von 11,700.000 fl. auf 5,200.000 fl., auch der Goldschatz nahm um 1,100.000(1.
ab. Mehr als einen vorübergehenden Erfolg hatte dies nicht und die Bank
begann daher vom Anfang Februar an ihren Devisenbesitz zu stärken, ohne
Rücksicht darauf, daß die Wechselkurse über der Parität standen. Zwischen
Ultimo Jänner und Anfang Juli hoben sich die Schatzdevisen von 5.200.000 fl.
auf 26.2OO.O00 fl., ohne daß die Wechselkurse sich merkbar versteift hätten.
') Vergl. die Zusammenstellung in deu Tabellen zur Withrungsstatistik II. Ausgabe
2. Teil. 1901. S. 155.
J) Je 10 kr. bedeuten bei der französischen Devise 0-21 Proz.. bei der deutschen
OlT Proz. vom Pari.
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508
Hertz.
Man darf also den Devisenoperationen auf längere Perioden keinen stark
wirkenden Einfluß zuschreiben. Dagegen kommen leichte Änderungen des
Zinsfußes unter Umständen in scharfen Kurssteigerungen zum Ausdruck.
Auch der Einfluß des öffentlichen Geldbedarfes konnte die Stetigkeit der
Wechselkurse nicht stören. Weiler die im Jänner emittierten Anleihen fflr
Bosnien und die Donauregulierung, noch die anfangs Februar subskribierten
200.000.000 Mark der deutschen und preußischen Anleihen noch die zahl-
reichen anderer deutschen Staaten machten sich in dem Stande der Valuta
fOhlbar. Die Verbilligung des Geldes machte weitere Fortschritte. Anfangs
Februar ging die englische Bank auf t) Proz. herab, die Reichsbank am
21. Februar auf 4‘lS Proz. Die österreichisch ungarische Bank bewahrte noch
immer ihre Zurückhaltung und setzte den im Herbst erhöhten Satz von
5 Proz. nicht herab. Eine Hauptursache des fflr die Jahreszeit ungewöhnlich
hohen Diskonts lag fflr Österreich in der großen Haussebewegung besonders
in Montanwerten, weitere Gründe waren eine Stockung im Getreidehandel
infolge der großen aus dem Vorjahre Testierenden Mehlvorräte, die bedeutenden
Devisenabgaben und die dadurch verursachte Restriktion, schließlich ein
durch die Steifheit der auswärtigen Märkte erzeugter Effektenrflckfluß. —
Im März und April flbte der große Budapester Weizenring einen merkbaren
Einfluß aus. Die Tendenz des Effektenmarktes zeigte sich auch in den hohen
Reports, die bei den Kulissenwerten Mitte Februar bis 16 Proz. stiegen.
Ende März 7 bis 9 Proz. betrugen und erst im April sich auf 6 Proz.
ermäßigten.
In der zweiten Aprilwoche erfolgte ein ziemlich starkes, aber nicht
lange anhaltendes Steigen des Londoner Kurses, auch die anderen Kurse
hoben sich etwas. Der Grund war in der Einzahlung auf die chinesische
Anleihe und Neuemissionen von südafrikanischen Minenaktien zu suchen.
Die Bank gab einige Millionen Devisen aus den „sonstigen Aktiven* ab. In
wenigen Tagen war der alte Kursstand wieder hergestellt. Am 9. Mai sank
die deutsche Bankrate auf 4 Proz., zehn Tage später entschloß sich die
Österreichisch-ungarische Bank zu folgen und ermäßigte ihren Diskont von
5 auf 4l/j Proz. Aber schon war die Zeit einer neuerlichen Geldverteuerung
nahe und die Bank hatte wohl in einem Vorgefühl des Kommenden bloß
eine halbprozentige Herabsetzung ihres Zinsfußes vorgenommen. Vorläufig
machte zwar die sinkende Tendenz noch Fortschritte. Seit Anfang Juni war
der New Yorker Kurs so günstig geworden, daß Gold von Amerika nach
England floß und der Privatdiskont bis 2 Proz. fiel. Der Umschwung kam
von Deutschland. Am 19. Juni setzte die Reichsbank den Diskont von 4 auf
4*/t Proz. Die Ursache lag vor allem in dem enormen Kreditbedflrfnis des
dem Gipfel sich nähernden produktiven und spekulativen Aufschwunges, ln
London bewirkte dies Vorgehen und eine RQckziehung japanischer Guthaben
vom Markte eine Versteifung, die aber bald wieder durch die reichlichen
Goldzuflflsse gemildert wurde. Die Bank von England war in letzter Zeit
mit Hinblick auf die beträchtlich zusammengeschmolzene Goldreserve stark
angegriffen worden, schon war der Transvaalkrieg im Herannahen und eine
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Die Diskont- und Devisenpolitik der Österreichisch-ungarischen Bank etc. 509
energische Stärkung der Bannittel geboten. Bereits seit der ersten Juli-
woche begann der Privatdiskont zu steigen und erreichte am 12. Juli die
Bankrate, der New Yorker Kurs wendete sich wieder nach unten und die
Bank erhöhte am 13. Juli ihre Minimalrate von 3 auf 31/» Proz.. nachdem
sie tatsächlich schon früher den neuen Satz in Anwendung gebracht hatte.
Die Österreichisch-ungarische Bank, die bis Anfang Juli Gold und Devisen
gekauft hatte, begann sofort mit bedeutenden Abgaben. Die Devise London
erzielte ein Leihgeld, das Ende Juli 11'/« kr. betrug. In Österreich machte
sich bereits der Erntebedarf fühlbar und der Privatdiskont, der sich über-
haupt nicht weit von der Bankrate entfernt hatte, erreichte Ende Juli
deren Höhe. Da der Berliner Diskont einige Zeit rückgängig war. entstand
eine Spannung, die zur Plazierung deutschen Kapitals in Wien führte. Der
deutsche Kurs war seit Mitte Juli im Sinken begriffen und stand sogar am
2. und 3. August 3 kr. unter der Parität — der einzige derartige Fall im
ganzen Jahre! Schon aber begann das Wettrennen zwischen der deutschen
und englischen Bank um die Gewinnung eines möglichst starken Geld-
vorrates.1) Am 7. August steigerte die Reichsbank ihren Diskont auf 5 Proz.
Der Berliner Kurs kehrte sofort auf seinen früheren Stand — etwa 15 kr.
über Pari — zurück. Die Spannung in den Bankraten drückte sich aber in
keinem Steigen des Berliner Kurses über das frühere Niveau aus, er notierte
sogar etwas tiefer als zur Zeit, da der frühere Reichsbanksatz galt. Es mag
dies dem Umstande, daß der Berliner Privatdiskont sich nicht gleich stark
gehoben hatte, oder auch den Devisenabgnbeu der Bank zugeschrieben werden.
Anfangs September versetzte die Transvaalfrage und der Dreyfusprozeü die
Börsen in Verstimmung. Am 18. Septeuiber erhöhte die Österreichisch-
ungarische Bank den Zinsfuß von 41/, auf 5 Proz. Anfangs Oktober begannen
die Wechselkurse scharf zu steigen, allen voran der Londoner, der von
120-65 Ende September) binnen wenigen Tagen auf 121T5 (7. Oktober!
stieg. Am 3. Oktober setzte die englische Bank den Diskont auf 41/,,
die Reichsbank auf ti Proz. und nur drei Tage später stieg die englische
Bankrate auf 5 Proz., die der östeneichisch-ungarischen Bank auf (i Proz.
Dieses energische Vorgehen und die bedeutenden Devisenabgaben be-
wirkten. daß, als am 9. Oktober der Krieg ausbrach, die Kurse bereits
wieder im Fallen waren und speziell der englische Ende des Monats wieder
die alte Höhe von 120 05 erreicht hatte. Bis Mitte Oktober war der
Eskompte der Notenbank höher gewesen als im Vorjahre. Jetzt erfolgte
ein Umschwung. Der starke Geldbedarf der letzten Zeit war offenbar zum
Teil spekulativer Natur, dies zeigte das starke Steigen der Giroguthaben
von 16,800.000 fl. (7. September) bis 30.200.000 ft. (7. Oktober). Die Ein-
reichungen waren eben hauptsächlich in der Absicht geschehen, noch vor
der Diskonterhöhung billiges Geld zu erlangen und sind die erhaltenen Betrüge
deshalb sofort auf Girokonto übertragen worden, ln den nächsten Wochen
') Die finanzielle Lage Deutschland» und Englands in jener Zeit ist oft dargestellt
worden, so daß wir nur die Ergebnisse bezüglich des Diskonts anführen. Vergl. z. B. die
Reichsbank. 187«— 1900, S. 175 ff.
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510
Hertz.
wurden diese Gelder allmählich abgehoben, ln der Mitte der dritten Oktober-
woche vollzog sich ein heftiger Kurssturz in Montanwerten, deren Kurs in
ganz Obertriebener Weise gesteigert worden war. Gleichzeitig mit diesem
schweren Zusammenbruch der Überspekulation erholten sich die Kenten-
kurse wieder, die bis dahin unter dem überschätzten Zinsfuß und einem
Rückfluß aus dem Ausland gelitten hatten. Auf den westlichen Märkten
begann der Diskont zu weichen, da ein reichlicher Goldzufluß in Aussicht
stand und die englische Bank ermäßigte selbst den Eaglepreis. In Wien
übte der infolge des flotten Ganges des Getreidegeschäftes geringere Bedarf
Budapests einen erleichternden Einfluß, die Banken hatten ihre im Report-
geschäft angelegt gewesenen Kapitalien dem Eskompte zugewendet und drei
großen Instituten (Kreditanstalt, Bankverein, Unionbankl standen infolge
ihrer Kapitalsvermehrung bedeutend gestiegene Mittel zur Verfügung. Be-
merkenswert ist auch, daß der Besitz der Bank an bOrseniuäßig nugekauften
eigenen Pfandbriefen eine ganz außerordentliche Steigerung erfahren hatte;
vom Jahresanfang bis Jahresschluß hob sich ihr Betrag von 2.600.000 fl.
auf 13,500.000 fl. Die Ursache lag in dem Bestreben, den Kurs der Pfand-
briefe, den die spekulative Übertreibung der Effektenkurse schädigte, zu
schützen. Diese Operation mußte natürlich die auf dem Markte vorhandene
Notenmenge vermehren, wenn auch der Betrag nicht sehr bedeutend war.
Seit dem Kurssturz am 18. Oktober war 'die Börse nach einer kurzen Er-
holung in gänzliche Stagnation verfallen und die Industrie schränkte unter
dem Einfluß des hohen Diskonts ihren Bedarf ein. Es kam selbst vor, daß
größere Industrielle Hypotheken aufnahmen, um von dem billigeren Hypo-
thekensatz zu profitieren. Alle diese Umstände erleichterten den inneren
Markt, der Bankeskompte war seit Mitte Oktober geringer als im Vorjahre
und diese Differenz betrug Ende November zirka 39,000.000 fl., wenn man
die 10.000.000 11. Steuerwechsel berücksichtigt, sogar 49,000.000 fl. Von
prinzipieller Wichtigkeit für die einheitliche Diskontpolitik war die durch
das 1. Kapitel des II. Teiles der kaiserlichen Verordnung vom 21. September
1899. H.-G.-Bl. Nr. 176, verfügte und vom 1. Novembar an tatsächlich
gewordene Lösung des Verhältnisses zwischen der Zirkulation der Salinen-
scheine und Staatsnoten. Durch diese Maßregel wurden die Salinenscheine
einfach Schatzanweisungen, die für die Valuta keine Bedeutung mehr besitzen.
Übrigens war durch Einlösungen der Umlauf bereits sehr herabgemindert
und der größere Teil befand sich im Besitze der Postsparkasse und diverser
Fonds, so daß in freier Zirkulation höchstens 15 bis 16,000.000 fl. standen.
Gleichzeitig wurde die durch diese Änderung nötig gemachte Erhöhung des
Zinsfußes der Scheine vollzogen.
In der Zeit der steigenden Devisen hatte die Bank große Mengen
Goldwechsel verkauft. Zwischen Anfang Juli und Jahresschluß sanken die
Schatzdevisen von 26.200.000 fl. auf 10,100.000 fl. Der Goldbesitz nahm
in den letzten Jahresmonaten infolge von Regierungserlägen l) bedeutend zu
l) Hauptsächlich laut Übercinkuimneu vom 2-1. Juli 1894 bezüglich des Austausches
von LaudesgoldmOnzen gegen Silbergulden zur l'rägnng von Fünfkronenstückeu.
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Die Diskont* und Devisenpolitik der Österreichisch-ungarischen Bank etc. 511
und betrug am 81. Dezember 398.000 000 fl. gegen 359,200.000 fl. zu
Jahresbeginn.
Im Dezember hatte die Bank noch eine harte Probe zu bestehen. Vom
1. Dezember an betrug die englische Bankrate 6 Proz. und am 19. Dezember
mußte die Beiehsbank zum Schutze ilireg Goldes den denkwürdigen Satz
von 7 Proz. einfilhren. Die Bank von Frankreich erhöhte zweimal, am
7. und 22. Dezember den Diskont, und zwar zuerst auf 31/, dann auf
4*/t Proz. Außerdem wurden noch die anderen kleinen Mittel der Gold-
politik angewendet: zinsfreie Vorschüsse und Erhöhung der Ankaufspreise
seitens der Bank von England, Prämien seitens Frankreich. Der Grund für
diese Geldverteuerung lag einesteils in den bereits geschilderten wirtschaft-
lichen und politischen Verhältnissen Englands und Deutschlands, haupt-
sächlich aber in den großen Goldabflüssen aus der englischen und französischen
Bank nach Argentinien. Der Wollpreis und der Wollimport aus Südamerika
waren in den letzten Monaten außergewöhnlich gestiegen und die Reserve
der englischen Bank sank unter dem Einfluß der sich verschlechternden
Wechselkurse bedeutend unter 20.000.000 £.') Es erregte das größte Auf-
sehen. als die Österreichisch-ungarische Bank am 6. Dezember plötzlich den
Zinsfuß auf 5‘/. Proz. herabsetzte. Die Maßregel kam so überraschend, daß
noch am selben Tage die ersten Firmen zu 6 Proz. eskomptierten und die
Stornierungsklausel für den Fall einer Ermäßigung der Banbrate allgemein
weggelassen wurde. Begründet wurde die Maßregel mit dem Verschwinden
des steuerpflichtigen Notenumlaufes, der von 14,170.000 fl. (Ultimo Oktober)
auf 6,250.000 fl. (7. November gesunken war und hierauf durch eine stetig
steigende Notenreserve ersetzt wurde, die Mitte Dezember den Höhepunkt
von 46,700.000 fl. erreichte.*) Die österreichisch-ungarische Bank hatte also
einen Zinsfuß, der tun '/, Proz. unter dem deutschen stand. Die Folge war
ein sehr scharfes Steigen der englischen uud ein etwas weniger ausgeprägtes
der französischen Kurse, während die deutsche Devise höchst merkwürdiger-
weise sehr wenig berührt wurde. Der Höchststand der englischen Wechsel
war gegen Ende Dezember 12T70, der französischen 48' 10. der deutschen
5910, was einer Entwertung unserer Valuta von respektive T34, 1'03
und 0-54 Proz. entsprach. Die Beurteilung dieser Handlung war sehr ver-
schieden. Der Zentralverband der Industriellen dankte dem Generalrat in
einer Eingabe für diese Erleichterung des industriellen Kredits und wünschte
eine weitere Ermäßigung, Theoretiker und Finanzleute übten dagegen scharfe
Kritik an diesem ungewöhnlichen Schritt, z. B. eine Versammlung von
Vertretern der nordböhmischen Sparkassen. Bezeichnend ist. daß in der
folgenden Sitzung des Geueralrates der Generalsekretär die Bank gegen den
*) Sie betrug nach den aufeinanderfolgenden tVochenausweisen seit Ende November
19.S40.000. 18,950.000, 18.010.000. 17,340.000, 17.850,000 £.
*) Am 31. Dezember war wieder ein «teucrpflichtiger Umlauf von 9,920.000 fl.
vorhanden, der aber bloß dem Umstand sein Dasein verdankte, dal) der Ultimo auf einen
Sonntag fiel, dem ein Feiertag folgte, so dal) die grollen Inkassi erst vom 2. dünner an:
zur Geltung kommen konnten.
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung. XU. Band. 35
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512
Hertz.
Vorwurf verteidigte, den Diskont nicht erhöht tu haben. Das wäre freilich
sehr zu überlegen gewesen, aber jedenfalls war eine Herabsetzung des
Diskonts in solcher Lage von recht anfechtbarem Werte. Eine sehr regel-
widrige Erscheinung war das geringe Steigen der Berliner Devise, die vom
7proz. Diskont kaum betroffen zu sein schien. Man kann hieraus schließen,
daß die ausländischen Guthaben in Österreich sehr gering1) und der Vorrat
fremder Wechsel bedeutend war oder daß die Devisenverkäufe der Bank
diese Wirkung hervorgebracht hatten. Die Schatzdevisen nahmen im Dezember
um 11,270.000 fl., die .sonstigen Aktiven* um 8,210.000 fl. ab. Seit der
dritten Dezemberwoche war der amerikanische Goldzufluß nach London
bedeutend und der Londoner Privatdiskont ging von 7 Proz. bis unter 6 Proz.
zurück, so daß in den letzten Tagen des Jahres auch die Devisenkurse zu
sinken begannen. Interessant ist, daß damals die Möglichkeit eines Gold-
vorschusses seitens der Österreichisch-ungarischen Bank an die Bank von
England erörtert wurde. Im Zusammenhänge mit den hohen Kursen erfolgte
auch ein ziemlich beträchtlicher Goldeiport ans Österreich.
Jm Jahre 1809 vermehrte sich der Goldschatz der Bank von 359,400.000 fl.
auf 393,000.000 fl. — Davon erlegten 19,600.000 fl. die beiden Finanzver-
waltungen. Durch Kauf wurden 372,300.000 fl. an Devisen und Valuten
erworben, davon 308,400.000 fl. durch Verkauf und 57,500.000 fl. durch
Verleihung wieder in den Verkehr gebracht. Im Tauschgeschäft betrug
der Umsatz 308,500.000 fl.
Das Jahr 1900 ist durch die kriegerischen Ereignisse in Transvaal und
China sowie durch den Umschwung in der Konjunktur gekennzeichnet. Die
unerhörte Preisübertreibung und Überspekulation führte zur Krise, an der
auch Österreich mehr Teil nahm als an dem vorhergegangenen Aufschwung.
Eine schlechte Ernte und eine minder günstige Handelsbilanz blieben nicht
ohne Einfluß auf die Geldverhältnisse. Einen großen Teil des Jahres hin-
durch — bis September — bestand ein bedeutendes Agio, das erst im
letzten Jahresdrittel sich schnell senkte. Die Devisenkurse wiesen dabei eine
große Ähnlichkeit ihres Ganges auf. Am höchsten stand im ganzen Jahre der
Pariser Kurs, worin sich die Wirkung der Weltausstellung auf die Zahlungs-
bilanz äußerte. Dann folgte der englische Kurs, der unter dem Einflüsse der
großen Gelderfordernisse des Krieges stand. Der deutsche Kurs notierte am
tiefsten.
Mit dem 1. Jänner trat das neue Privilegium der Bank in Kraft, das
mehrfache Änderungen in den Ausweisen hervorbrachte. Besonders wichtig
war die große Vermehrung des Goldschatzes in der zweiten Jahreswoche.
Von nun an erscheinen auch alle die Bank betreffenden Geldziffern in Kroneu.
Die Erleichterung, die sich bereits Ende Dezember angekündigt hatte,
stellte sich im Jänner ein. Der Londoner Diskont, der Ende des Jahres noch
6 Proz. betragen hatte, fiel bis Ultimo Jänner auf 3 Proz.. hauptsächlich
'•) So Dr. W. liosenberg in zwei beachtenswerten Artikeln, die die Bankpolitik
verteidigen (.Zeitschrift für Staats- und Volkswirtschaft“ Nr. 50 und öl ei 1899).
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Die Diskont- and Devisenpolitik der Österreichisch-ungarischen Bank etc. 513
unter dem Drucke der Goldzuflüsse aus Amerika und vom Kontinent. Auch
an den anderen Plätzen fiel der Diskont, so daß bereits eine Österreich
gfinstige Spannung entstand, die im Laufe des Monats den englischen und
deutschen Kurs drückte. Die Reichsbank ermäßigte im Jänner ihren Diskont
zweimal, von 7 auf 6 und von 6 auf 5*/» Proz., die englische Bank gar
dreimal, von 6 auf 5, 4*/t und 4 Proz., die Bank von Frankreich folgte von
41/» auf 4 und 3*/j Proz. Am 22. Jänner ermäßigte auch die Österreichisch-
ungarische Bank ihren Satz von 51/* auf 5 Proz. und am 6. Februar auf
4 '/» Proz. Doch bereits der März brachte wieder die ansteigende Tendenz
des Privatdiskonts, der an allen Plätzen zeitweilig die Höhe des Bank-
satzes erreichte und ihn in einigen Fällen sogar überschritt. Die Haupt-
ursache lag in den großen Kriegsanleihen der englischen Regierung,1) und
dem herannahenden Quartalschluß. Im März, April und Mai fand eine
Reihe von größeren Anlehen für deutsche Staaten (Bayern, Württemberg,
Baden. Sachsen) statt. Der Privatdiskont stand seit Februar in Wien tiefer
als in Berlin und ungefähr ebenso hoch als in London, im März wurde die
Differenz gegen Berlin bedeutend (zeitweise über 1 Proz.). Die geringere
Geldknappheit Wiens findet in der völligen Stagnation der Börse und in
dem großen Kohlengräberstreik’i während der drei ersten Monate ihre Be-
gründung. Dieser Umstand, verbunden mit der infolge der englischen Siege
wieder beginnenden Nachfrage nach Goldminenaktien bewirkten im Februar und
März ein Steigen der Wechselkurse, deren Höhepunkte in der dritten Märzwoche
liegen und für den englischen Kurs 243 (1-177 Proz. über Pari), für den deutschen
118 70 (0 967 Proz.) betrugen.’) Die französische Devise stieg noch weiter und
erreichte erst Knde April mit 96-50 (1.338 Proz.) den Höchststand — eine Folge
der am 14. April eröffneten Weltausstellung, deren Beginn naturgemäß große
Zahlungen in Paris seitens der fremden Aussteller und Besucher bewirkte.
Einiges Aufsehen erregte Mitte Mürz das Steigen der Lombarddarlehen
der Bank um 8.500.000 K nicht nur wegen dieser zu solcher Jahreszeit
ungewöhnlichen Bewegung selbst, sondern der Ursache halber, die in der
Verpfändung von 10,000.000 K Bankpfandbriefen seitens der Postsparkassa
lag. Die infolge der parlamentarischen Obstruktion uud der Anwendung des
§ 14 herbeigeführte Kassenleere der Regierung machte nämlich eine Stärkung
des Barbestandes der Postsparkasse nölig. Der hiezu gewählte Weg wurde
aber mit Hinweis auf Artikel 55 des Bankstatuts, welcher mit Ausnahme
der unter gewisse Kautelen gestellten Wechseleskomptierung jedes Darlehen
an die Finanzverwaltung verbietet, stark angefochten. Die Verteidiger
dieser nur prinzipiell bedeutsamen Maßregel beziehen sich darauf, daß die
Postsparkasse — die ein rein staatliches Institut ist — unter .Finanzver-
waltung“ nicht verstanden werden könne.
') In der zweiten Märzwoche 30.000.000 £.
*) Der Streik vernrsachte große Koldeniiuportc an Stelle der sonstigen Importe.
Nach zuverlässigen Aufstellungen soll mit 50.000 000 K der Schaden noch unterschätzt
sein. Selbst viele Fabriken maßten den Betrieb einstellen oder einschränken.
>) Die Parität beträgt: 100 M = 1 17-563 K, 100 Frks. = 95-226 K, 10 i" = 240174 K.
36*
514
Hertz.
Die Wechselkurse fielen Anfang April, hoben sich bis gegen Ende
wieder um einen Teil der verlorenen Höhe — respektive der französische
Kurs noch höher — und fielen dann den ganzen Mai. Die tiefsten
Notierungen betrugen: 11825 1 0-585 Proz. Ober Pari, Ende Mai), 212*05
(0*781 l’roz., Anfang Juni) und 06*225 (1*049 Proz., Anfang Juni). Diese
Bewegung entsprach der Spannung, die iu diesen Monaten zwischen
dem wenig veränderten österreichischen Diskont und dem weichenden der
westlichen Plätze, vor allem Berlins, auftrat. Die Beendigung des Kohlen-
gräberstreiks (Ende März) ermöglichte einen großen Export von Kohle und
eine Belebung der ganzen Wirtschaft. Seit März entwickelte sich infolge
der durch die geringe Kolonialzuckerernte beförderten amerikanischen Nach-
frage ein bedeutendes Zuckergeschäft,1) ferner aber kommen die bedeutenden
Devisenverkäufe der Bank in Betracht. Bis Ende März waren die Schatz-
devisen auf 58.000.000 K gestiegen und fielen von da an bis Ende Mai auf
30.500.000 K, auch der Goldschatz hatte sich schon während des März um
6.500.000 K vermindert.
Im Mai fiel die Londoner Bankrate auf 8*/, Proz., die französische
auf 3 Proz.. Mitte Juni setzte die Bank von England ihren Diskont neuerlich,
und zwar auf 3 Proz. herunter. Diese Bewegung war eine Folge der durch
große amerikanische und russische Goldzuflfisse hervorgebrachten Geldfölle.
In Berlin entstand dagegen im Juni eine Versteifung, die zeitweise eine
beträchtliche Spannung gegen Wien herbeifflhrte und die Kurse der deutschen
Devise hob. Veranlaßt wurde diese Geldteuerung durch den großen Fall der
Montanwerte infolge der amerikanischen und deutschen Überproduktion, ferner
durch den Beginn der Expedition gegen China. Die deutsche Devise erreichte
Ende Juni und Anfang Juli den Höhepunkt von 1 18 675 (0*946 Aber
Pari), dann aber begann sie langsam zu fallen, wozu einesteils ein Nach-
lassen des Diskonts im Juli und August,*) anderseits der Verkauf des Gegen-
wertes für den in Deutschland subskribierten Teil der 4proz. ungarischen
Kronenrente (Gesamtbetrag 70,000.000 K. aufgelegt am 23. Mai) beige-
tragen hat. — In Paris war der Diskont ebenfalls im Fallen; trotzdem stieg
der Wechselkurs bis Ende Juli und erreichte die Höhe von 96*625
(1*469 Proz. Aber der Parität). Diese Anomalie erklärte sich einfach aus
der großen Nachfrage nach Pariser Wechseln seitens der Ausstellungs-
besucher während der Reisemonate Juni und Juli. Zu dem Fallen im August
hat die größtenteils in Frankreich vollzogene Subskription von 4proz. SAd-
bahnprioritäten (50.000.000 Frks.) ebenso beigetragen, wie die große Spannung,
die zwischen dem Wiener und Pariser Diskont entstand. Um dieselbe Zeit
wurde auch die Staatsbahnprioritäts-Anleihe im Betrage von 84,000.000 Frks.
durch Vermittlung des Credit Lyonnais und der Rothschildgruppe im Wege
des freihändigen Verkaufes auf dem französischen Markte plaziert. Die
Operation war bereits im Herbst vollendet und trug ebenfalls zum Fall der
’) Bericht der Wiener Handelskammer pro 1900. Wien 1901, S. 267.
*) Herabsetzung des Reichsbankdiskonts »nf 5 Prot. (18. Juli.)
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Die Diskont- und Devisenpolitik der Österreichisch-ungarischen Bank etc. 515
französischen Devise bei. Auch in England stieg itn Juli der Diskont1)
infolge der Ankündigung weiterer Kriegsanleihen durch den Schatzkanzler,
die chinesische Lage und den großen Goldabfluß nach Frankreich. Dem-
entsprechend hob sich auch der englische Kurs bis Anfang August auf
243-05 (1-197 Proz.), um dann rasch zu fallen.
Anfang August brachte einen heftigen und übereinstimmenden Fall
aller Wechselkurse, der während des Septembers aufhörte und Mitte Oktober
neuerlich in ganz rapider Weise sich fortsetzte. Der Durchschnitt des Kurs-
standes der drei Hauptdevisen in Prozenten über dem Relationspari betrug
im August -+- 1‘153 Proz., fiel noch in diesem Monat bis 4- 0-805 Proz.,
schwankte im September um das Mittel von 4- 0-811 Proz. und fiel im
Oktober von 4- 0-844 auf 0'328 Proz., also um mehr als ein halbes Prozent.
Der Fall setzte sich in etwas weniger steiler Weise fort. Der englische
Kurs unterschritt Mitte Dezember die Parität, der deutsche Kurs gelangte
in ihre nächste Nähe schon Mitte November, nur der Pariser Kurs machte
im Dezember bei einem Stande von 0-498 Proz. über der Parität Halt.
Diese Kursbewegung entspricht ziemlich genau den Spannungen zwischen
den Privatdiskonten Wiens und des Auslandes, allerdings sind diese Differenzen
nicht groß genug, um die Heftigkeit der Schwankungen allein aus dem Streben
des Kapitals nach besserer Verzinsung zu erklären. Der führende Kurs war
offenbar der englische. Während der Kurssteigerung im Juli stand der Londoner
Diskont stets unter dem österreichischen, stieg aber doch rascher als dieser.*)
Es beweist dies, daß eine Tendenz zur Rückziehung der englischen Guthaben
aus Österreich nicht aus der Absicht höherer Verzinsung, sondern mehr aus
Dringlichkeit der Geldbeschaffung entsprang. Anfangs August fand die Emission
von 10,000.000 £ Schatzscheine statt, die zur Hälfte in Amerika begeben
wurden. Dies brachte einen bedeutenden Goldzufluß aus Amerika hervor, der
die größere Geldfiüssigkeit der folgenden Zeit beförderte. Im August hob
sich der Wiener Diskont infolge des Erntebedarfes von 41/, auf 47u Proz.,
während er sich in London von 4 */, auf 34/a Proz. senkte, womit der gleich-
zeitige Devisenfall erklärt wird. Nach einer Versteifung im September wurde
der Geldstand wieder flüssiger. Beigetragen 3 - dazu hat die deutsche Schatz-
anweisungsanleihe von 80,000.000 M. in den Vereinigten Staaten. September
und Oktober brachten die krisenhaften Vorgänge auf dem Berliner Montau-
markte, die auch den Wiener Markt beeinflußten. Gerade Mitte Oktober fand
der Sturz der Devisenkurse statt, den wir geschildert haben. Drsache war
nicht die geringe Diskontspanuung. sondern Rückfluß deutscher Effekten und
der Verkauf der für die Prioritäten erlösten französischen Valuten. In der
Folgezeit wirkten die im November begebenen restlichen 50,000.000 K
*) ZingfnßerhGlmng der Bank von England von 3 auf 4 Proz. am 19. Juli. Dies
war die letzte Zinsfutländerung einer großen europäischen Notenbank in diesem Jahre,
*) Von 2 Proz. auf 4*/t gegen ♦7« Proz. bis 4% Proz. (Im Zeitraum von
Anfang bis Ende Juli.)
3) Der im allgemeinen niedrigere ZinBstand der zweiten Jahreshälfte rührte haupt-
sächlich von der industriellen Stagnation her.
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516
Hertz.
ungarischer Investitionsrente, die vom Konsortium freihändig verkauft wurden,
im günstigen Sinne auf die Zahlungsbilanz. Auch die Handelsbilanz wies
einen beträchtlichen Aktivsaldo auf. der hauptsächlich im Herbst auf die
Wechselkurse drückte.
Die Bank hatte seit Februar ihren Zinsfuß nicht mehr verändert.
Während der günstigen Kursbewegung im April und Mai war. wie erwähnt,
ihr Devisenbesitz bedeutend gefallen, in der folgenden Zeit der steigenden
Devisenkurse vermehrte er sich aber wieder bedeutend.1 1 Die Bank scheint
also hier die Versteifung der Kurse durch ihre Käufe sogar gefördert zu
haben. Von Mitte Juli bis Ende August nahmen die Schatzdevisen wieder
um 5.200.000 K ab, ein Betrag, der bei dem ziemlich starken Kursfall nur
von nebensächlicher Bedeutung gewesen sein kann. Von Ende August an
nahm der Betrag der Schatzdevisen wieder stark zu und erreichte im Oktober
das gesetzliche Maximum von 60,000.000 K. Devisen konnten also nur mehr
unter anderen Posten sich vermehren und die .sonstigen Aktiven* nahmen
auch bis Ende November zu. wo sie das hohe Maximum von 40,900.000 K
erreichten. Der Kursfall scheint dadurch wenig berührt worden zu sein.
Wie der Geschäftsbericht der Bank uiitteiit, wurden Verleihungen in diesem
Jahre weniger vorgeuommen, vielmehr die erforderlichen Devisen prompt
verkauft.
Für die Beurteilung des hohen Agios des Jahres 1900 ist ein bisher
nicht erwähnter Umstand bemerkenswert, nämlich das Rückströmen öster-
reichischer Effekten während eines Teiles des Jahres. Die „Münchner Allg.
Zeitung“ schrieb diesbezüglich am 3. Jänner 1901: .Der Rückfluß öster-
reichisch-ungarischer Werte hat sich in solchem Umfange vollzogen, daß
förmlicher Stückebedarf besonders im Goldrentenbestand und auch die übrigen
österreichischen Schuldverschreibungen nicht entfernt mehr in solchem Maße
wie früher in deutschem Besitz vorhanden sind.“
Im Jahre 1900 vermehrte sich der Goldschatz der Bank von 786.000.000 K
auf 919,600.000 K. Die Erläge der Regierungen betrugen 98,300.000 K.
Das Jahr 1901 stand im Zeichen der Krise. Die industriellen und
finanziellen Katastrophen im Deutschen Reiche wirkten ungünstig auf Öster-
reich, das doch in keinem unmittelbaren Zusammenhänge mit den ungesunden
Wirtschaftselementen gestanden war. Die industrielle Ausfuhr ging bedeutend
zurück, die Ernte war mittelmäßig, der Arbeitsmarkt fühlte die ungünstige
Konjunktur in voller Schwere.*) Die Annahme der großen Investitionsvor-
lagen und die Emittierung der neueu Anleihen erweckte anfangs große Er-
wartungen, die aber durch das langsame Tempo der Realisierung bald ent-
täuscht wurden. Die Börse stagnierte, abgesehen von einigen besseren Tagen,
denen dann umso schwerer© Rückschläge folgten, gänzlich.3 Alle diese Ver-
■) Zwischen 31. Mai und 15. Juli von 30.500.000 K auf 48,100.000 K (nur Scbati-
devisenj.
*) Vergl. die Belege im Wiener Haiidelskammerberichte pro 1901, Wien 1902.
s. vn bi« nm
3) Vergl. Jahresbericht der Wiener Borsenkammer im Jahre 1901.
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Die Diskont* und Devisenpolitik der Österreichisch-ungarischen Bank etc. 517
hältnisse bewirkten ein andauerndes Sinken des Zinsfußes, in der zweiten
Jahreshälfte erzeugte die Gunst der Wechselkurse eine große Vermehrung
des österreichischen Goldbesitzes.
Eine Überraschung war in Anbetracht des Zeitpunktes die Erhöhung
der englischen Bankrate von 4 auf 5 Proz. am 3. Jänner, deren Ursache
in einer Deroute auf dem australischen Minenmarkte in dem andauernden
Kriegsbedarf für Südafrika i Ausgabe von 15,000.000 £ Schatzbons) und in
der Abnahme der Bankreserve (Abfluß nach Frankreich und Indien) zu suchen
war. Der Privatdiskont folgte übrigens dieser Bewegung nicht, er fiel im
Jänner von 45/s auf 4 Proz. Schon Anfang Jänner hatte der New Yorker
Sterlingskurs die günstige Richtung eingeschlagen und stieg bis an den
Goldpunkt. Da die Bank von England den Eaglepreis ermäßigte, floß aber
das Gold nach Frankreich, wo sich, wie an allen Plätzen der Diskont ver-
billigte. Während seit Mitte Jänner der französische und deutsche Kurs
fielen, stieg der englische bis Anfang Februar, doch blieb die Steigerung
infolge der geschilderten Ereignisse und der bedeutenden Devisenabgaben *)
der Österreichisch ungarischen Bank in sehr mäßigen Grenzen. Das
Maximum betrug 240-85 (0-281 Proz. über der Parität). — Die allgemeine
Verbilligung des Geldes setzte sich im Februar fort, am 7. Februar ging
die Bank von England auf 4 7, Proz., am 21. Februar auf 4 Proz. herab,
die Österreichisch ungarische Bank blieb aber, trotzdem der Privatdiskont
fortdauernd unter 4 Proz. stand, auf dem Satz von 47, Proz., wie der
Generalsekretär anfangs Februar ausführte, in Verfolgung der Tendenz, das
Publikum zu einer strengereu Diskontpolitik zu erziehen und das Ausland
von dem Ernst der Bestrebungen zur Herstellung geordneter Geldverhältnisse
zu überzeugen. Es fielen daher im Februar alle Devisen, die französische
sogar von 95-75 auf 95-30 also um beinahe ’/, Proz.*) Der deutsche Kurs
senkte sich unter die Parität. Ende des Monats wurde der deutsche
Diskont auf 4 */, Proz.. der österreichische auf 4 Proz. herabgesetzt. Mitte
März ereignete sich das Kuriosum, daß in Wien, Berlin und London
der Privatdiskont sich um 4 5/9 Proz. bewegte. Tn den Monaten März. April,
Mai erfolgte eine leichte Versteifung der auswärtigen Märkte, die sich
in einer Steigerung der Devisen um etwa 1 bis 3 pro Mille ausdrückte.
Den Anlaß haben wir einerseits in den großen Emissionen5) der Regierungen,
deren Datum ungefähr mit dem Höchststände der betreffenden Devisen
zusammenfiel, anderseits in der großen New Yorker Spekulation Mitte Mai
(Schwänze in North Pacific-Aktien) zu suchen. — Am 22. April setzte die
Reichsbauk den Diskont auf 4 Proz. herab, am 9. April hatte die Öster-
reichisch-ungarische Bank den seit drei Jahren eingestellten Eskompte auf
offenem Markte aufgenommen, der ihr bald größere Mengen langsichtiger
!) Sie betrugen im Monat Junner auf London zirka 14,000.000 K.
2) Hauptsächlich trug dazu bei die Diskontspannung Wien— Paris, die dazu
führte, daß österreichische Wechsel lebhaft für Pariser -Pension“ gesucht wurden.
*} Deutsche Anleihe von 300,000.000 M. und englische Anleihe von 60,000.000 £
(April), russische Anleihe von 425,000.000 Frks. in Paris (Ende Mai).
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518
Hertz.
Wechsel zuführte. vom April bis Juni wurden zirka 200,000.000 K unter
der Bankrate angenommen.
Vom Juni au nahm die Verbilligung des Geldes immer mehr zu. Das
durch den Zusammenbruch der Leipziger Bank und der Dresdener Kredit-
bank erzeugte Mißtrauen bewirkte zwar Ende des Monats noch eine vor-
übergehende Hebung des deutschen Privatdiskonts, aber bald entstand eine
Art künstliche Geldfülle, eine Nachfrage nach ganz zweifelfreien Sicherheiten,
die bei einer Restriktion des Kreditumfanges doch den Zinssatz drückte.
Seit Anfaug Juni waren alle Wechselkurse unter Parität') und blieben
es bis Jahresschluß. — Den tiefsten Stand erreichten sie im September und
Oktober mit 117 i0'479 Proz. unter Parität), 23805 ( — 0510 Pro*.),
94-80 ( — 0-447 Proz.). — Die Diskontspannung entsprach dieser Bewegung,
im Juni ging die englische Bank auf 31/, und 3 Proz.. die deutsche auf
3V, Proz. herab, der amerikanische Goldzufluß dauerte fort.
Die geschilderte Wirtschaftslage war der großen österreichischen In-
vestitionsanleihe überaus günstig. Billiges Geld und Nachfrage nach sicheren
Werten waren die Bürgen ihres Erfolges. Am 20. Juni wurden die ersten
125.O0O.000 K der iproz. Kronenrente aufgelegt, die im Ausland sehr
günstig aufgenommen wurde. Der hiedurch erzeugte Zufluß von Devisen
beförderte sehr das Sinken der Wechselkurse. Von sonstigen Operationen
dieser Zeit, die Devisenmengen auf den Markt brachten, sind bemerkens-
wert: die 4proz. Prioritätsanleihe des Lloyd (18,000.000 JST), Subskription
am 15. Mai und vor allem die Vereinbarung, die zwischen der Unionbank
und zwei ungarischen Hypothekenbanken getroffen wurde und die einen sehr
bedeutenden Export von Aktien und Obligationen der beteiligten Hypotheken-
institute bewirkte.*}
Anfangs Juli begannen bereits die Goldimporte, die nach einer Unter-
brechung gegen Ende des Monats bald wieder großen Umfang annahmeu.
Ein großer Teil der eiugeliefcrteu Münzen bestand aus Eagles. Die Bank
gewährte in einzelnen Fällen zinsfreie Vorschüsse und schaffte überdies
bedeutende Devisenmengen an. Auch in das Lombardportefeuille wurden
Devisen aufgenommen.
Mitte Juli mußte die Bank den börsenmäßigen Eskompte einstellen,
da die Regierung geltend machte, der Eskompte habe nach den .Statuten
in der Hegel zum einheitlichen Zinsfuß zu geschehen, der Eskompte auf
offenem Markte könne daher nur als vorübergehende Maßnahme, nicht aber
als länger dauernde Einrichtung gestattet werden. Im August wurde mehrmals
kritisiert, daß die Bank die Gewährung zinsfreier Vorschüsse ablebnte,
wodurch der Goldimport beeinträchtigt wurde.
1 ) Der deutsche Kurs stand abgesehen Tun) Jänner und einigen Tagen im M i n
nnd April das ganze Jahr unter Pari.
*) Vergl. näheres in der „Neuen Freien Presse“ vom 6 und 7. Juli 1901. Der
Betrag der nach nnd nach in Frankreich plazierten Werte dürfte etwa 60,000.000 K
betragen haben.
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Die Diskont- and Devisenpolitik der Österreichisch-ungarischen Bank etc. 519
Schon gegen Ende August machte sich infolge der Ernteansprflche ')
und den fälligen Einzahlungen auf die Kronenrente eine Versteifung be-
merkbar, die den Unterschied zwischen Rankrate und Privatdiskont beseitigte.
Oie Diskontspannung gegenßber dem Auslande wuchs mit der gleichzeitigen
Verbilligung in Paris und London, die Wechselkurse näherten sich dem
Tiefstand. Die Bank kaufte auch direkt im Ausland Gold, hauptsächlich
Münzen, während die Firmen meistens Barren einlieferten. Am 20. August
ermächtigte der Generalrat die Bankleitung nach Maßgabe ihres geschäft-
lichen Ermessens Zwanzigkronenstücke in den öffentlichen Verkehr zu bringen.
Man wünschte durch diese Maßregel die Bevölkerung mit dem neuen Oelde
vertraut zu machen und die Höhe des Thesanrierungsbodürfnisses kennen
zu lernen.’) Gleichzeitig wurde der gesamte restliche Golddienst der Re-
gierungen der Bank übertragen und seitens der Regierungen ein großer
Golderlag zu Zwecken der Staatsnoteneinlösung gemacht. Ende August
griff die Reichshank zu dem Mittel, nur abgenutzte Goldmünzen herauszu-
geben, was zu einem Stocken im Goldimport führte, obwohl die deutsche
Devise am tiefsten stand.
Mitte September wurde der Wiener Effektenmarkt durch starke Kurs-
bewegungen beunruhigt, die von Deutschland und Amerika ausgingen. Der
Geldstand blieb andauernd in nächster Nähe der Bankrate. — Eine auf-
fällige Bewegung zeigte der Pariser Kurs, der im Oktober plötzlich bis
nahe an die Relation stieg, sie im November und Dezember zeitweise
erreichte und gegen Jahresschluß wieder fiel. Auch die anderen Kurse hoben
sich in den letzten Monaten in wenig übereinstimmender Weise. Berlin und
London kehrten zum 4proz. Banksatz zurück. Das Steigen der französischen
Devise war zum Teil iu der Emission von 265,000.000 Frks. Renten be-
gründet, die am 21. Dezember subskribiert wurden. Auch in Österreich
wurden in den letzten Jahresmonaten Neuemissionen vorgenommen. Das
Konsortium optierte Ende Oktober 20,000.000 Ä' Kronenrente und am
12. Dezember nochmals 42,500.000 K, die alle freihändig verkauft wurden.
Ins Ausland wanderten ferner 1,800.000 K 4proz. Lokalbahnprioritäten, die
der niederösterreichische Landesausschuß an eine französische Bank verkaufte.
Noch zu Jahresschluß war der Diskont an allen Hauptplätzen niedrig,
die steuerfreie Notenreserve der Österreichisch-ungarischen Bank erreichte
in der dritten Dezemberwoche den an und für sich hoben und in Anbetracht der
Zeit geradezu abnormen Betrag von 331,590.000 K, was zum Teil eine Folge
der großen Goldimporte war, die den Bankmitteln Konkurrenz bereiteten.
Der Goldschatz der Bank vermehrte sich in diesem Jahre von 919,600.000/T
auf 1.116,100.000 K. Die Finanzverwaltungen erlegten 86.350.000 K, tarif-
mäßig angekauft wurden 152,980.000 K. in Geschäften eingenommen
’i Die Infolge der reichen amerikanischen Ernte auftretenden niedrigen Preise
verursachten eine Stockung im inländischen Absatz, da die Landwirte mit dem Verkant
warteten und ihre Vorräte vorläufig belehnen ließen .
*) Da sehr viel über den Mangel an kleinen Geldstückeu geklagt wurde, den die
Staatsnoteneinziehnng verursacht habe, wurden später auch Zehnkronenstücke ansgegeben.
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520
Hertt.
195.200.000 K. Der Goldausgang betrug 237,960.000 K. Außerdem wurden
aber 61,000.000 K in Landesgoldmünzen in den freien Verkehr gebracht,
von denen big Jabreaschluß nur 6,000.000 K zur Bank rückgeströmt waren.
Die krisenhafte Wirtachaftalage und der abnorm billige Zinsstand
setzten sich im Jahre 1902 fort. Dio Notenreserve der Österreichisch-
ungarischen Bank erreichte gegen Ende Jänner die volle Hohe des Noten-
kontingents von 400,000.000 K. der Privatdiskont sank unter 3 Proz. Zu
Jahresanfang hatten London. Paris und Berlin den Zinssatz von 4 Proz.
Mit Rücksicht auf die Geldfülle nahm die Österreichisch-ungarische Bank
schon am 7. Jänner den Börseneskompte auf. Mitte des Monats fiel die
Berliner und Londoner Bankrate auf 3‘/ä Proz., die Österreichisch-ungarische
Bank folgte erst am 4. Februar um gleich wieder von der englischen Bank
überholt zu werden, die am 6. Februar auf 3 Proz. berabgiug. Bis Ende
Jänner stand der Berliner Privatdiskont unter dem Wiener Satz und die Devise
Berlin wich in Wien um ein geringes. Übrigens war die Meinung allgemein,
daß dabei mit Rücksicht auf die Sproz. Reichsauleihe il 15,0000.000 M.
22. Jänner Subskription; — künstlich nachgeholfen wurde. Am selben Tage
wurde der Restbetrag der 4 proz. Kronenanleihe von 62,500.000 K an das
Konsortium gegeben und in der folgenden Zeit freihändig abgesetzt.
Am 12. Jänner setzte die deutsche Reichsbank ebenfalls ihren Diskont
auf 3 Proz. fest, so daß Berlin, Paris und London den gleichen Banksatz
besaßen. Gleichzeitig mit der Herabsetzung auf 3*/, Proz. — ein niemals
früher erreichter Satz! — hatte die Österreichisch-ungarische Bank den
börsenmäßigen Eskompte eingestellt. Im Budgetausschuß brachte der
Abg. Forscht diesen Umstand mit Rücksichten auf die ungarische Kon-
version in Verbindung. — Übrigens wurde er bereits am 25. Februar wieder
aufgenommen und die Bank eskomptierte im März sogar unter 3 Proz. Am
23. März betrug die Notenreserve der Bank die ungeheure Summe von
457.600.000 K , der Metallschatz von 1.439,400.000 K war um 71,900.000 K
größer als der gesamte Notenumlauf. Der Privatdiskont betrug fortdauernd
schon seit Februar in Wien ebensoviel wie in Paris, nämlich zwischen
2l/t und 2'/j Proz., wogegen er sich in London infolge des Kriegsbedarfes
auf 2% bis 2*/« Proz. stellte. Die Folge war ein langsames Steigen der
Londoner und Pariser Devise bis Mitte April und nach einem Fall zu Ende
des Monats, von da an bis Mitte Mai. Die Kurse auf Berlin, wo ein
überaus niedriger Zinsfuß herrschte,1) blieben das ganze Jahr unter Parität
und hoben sich in der angegebenen Zeit kaum um 0-1 Proz. Die französische
Devise stand vom Anfang Jänner bis Juni über Parität, während die
englische sie nur im April und Mai vorübergehend überschritt. Die Haupt-
Ursache der Kurssteigerung der Devisen waren übrigens nicht sowohl die
Zinsfußdiffereuzcn, obwohl insbesondere viele französische Devisen infolge
Ablaufes von Pensionen, die nicht erneuert wurden, nötig waren, sondern
der Bedarf für die Deckung gekaufter Goldshares, englischer Diskonten,
*) Anfangs Märt fiel er oaf 1 ■/, Prot.
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Die Diskont- und Devisenpolitik der Österreichisch-ungarischen Bank etc. 521
für effektiven Bezug englischer Konsols und Verwendung im Londoner
Reportgeschäft. Im April wurde ein Wiener Kommunalanlehen im Betrage
von 286,000.000 K aufgenommen, wovon 100.000.000 K zur Subskription
(davon 70,000.000 K im Ausland) aufgelegt, der Rest aber dem Credit
Lyonnais zum freihändigen Verkauf gegeben wurde. Ein Fall der Devisen
war die Folge. Anfangs Mai hoben sie sich aber wieder infolge des großen
Bedarfes an fremden Wechseln anläßlich der um diese Zeit stattfindenden
Konversionen.1)
Die Bank hat während der Devisensteigerung in der ersten Jahreshälfte
bedeutende Abgaben an Gold vorgenommeu. so daß das Agio in ganz mäßigen
Grenzen blieb. Übrigens kommen in der Abnahme des Goldschatzes auch der
Couponbedarf der Regierungen, die Balkananforderungen u. s. w. zum Ausdruck.
Seit Juni*) waren die Devisen rückgängig und blieben es bis Oktober,
am tiefsten stand die deutsche, die Ende Oktober den Stand von 116-82
erreichte, dann folgte die englische, die zur selben Zeit 239 05 notierte.
Der Pariser Kurs senkte sich dagegen seit August nur wenig unter die
Parität. Am 5. Juli fand die Subskription auf 48,000.000 K der bosnischen
Anleihe statt, die zum Teil in deutschen Besitz gelangte. Seit der dritten
Juliwoche begannen die durch die Wechselkurse verursachten Goldimporte,
obwohl die Bank zinsfreie Vorschüsse ablehnte. Mitte September herrschte
in New York eine bedeutende Geldnot und österreichisches Geld ging durch
Vermittlung deutscher und englischer Häuser nach Amerika. Man schätzte
diese Guthaben auf etwa 100,000.000 K. — Am 22. September wurde der
Eskompte auf offenem Markte eingestellt, da die große Ernte und die er-
wartete Zinserhöhung in London ein Haushalten mit den Mitteln der Bank
empfahlen. — Am 25. September wurde beschlossen, von nun an einen
variablen Ankaufstarif für Goldmünzen zu führen und die Geschäftsleitung
zu den erforderlichen Änderungen zu ermächtigen. Es sollten häufig ge-
brauchte Münzsorten begünstigt, dagegen selten verwendbare wie Eagles
und Yens herabgesetzt werden. Da die Bank für das Balkangeschäft stets
große Mengen Napoleonsdors benötigte uud die Bank von England für diese
Sorte bisher einen besseren Preis zahlte als die Österreichisch-ungarische
Bank, setzte man am 4. Oktober die Frankspreise von 2,946-47 K auf
2,951-0 K hinauf. Prinzipiell wichtig ist, daß mit der Einführung
des variablen Tarifes eine neue Waffe im Kampf um Gold
geschaffen wurde. Zu gleicher Zeit äußerten amerikanische Banken
die Absicht, von der Österreichisch-ungarischen Bank, die neben der Bank
von Frankreich allein größere Eaglemengen besitzt, amerikanische Gold-
münzen zu beziehen,3) wozu die Bank ihre Zustimmung prinzipiell gab.
Anfangs Oktober stieg der Diskont der englischen uud deutschen Bank auf
*) Ungarische Konversion und Umwandlung der Karl-Ludwigsbahn-Obligationen
(für beide Schluß der Subskription am 10. Mai).
a) Die französische Devise stieg im Juni und fiel vom Anfang Juli an bis Anfang
Oktober.
*) Vergl. .Zeitschrift für Staats- und Volkswirtschaft“. 1902. Nr XV.
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522
Hertz.
I Proz. Trotzdem der österreichische Satz nur 8'/s Proz. betrug, waren
die Devisen bis Ende des Monats rückgängig. ') — Erst vom Anfang No-
vember an hoben sie sich wieder etwas bis Jahresschluß. Die Bank sah für
den Rest des Jahres von einer Erhöhung des Diskonts völlig ab, da die
sehr große Notenreserve es nicht wahrscheinlich machte, daß der Markt der
Erhöhung Folge leisten würde.
Im Laufe des Jahres war die Bank im stände, nicht nur Gold an sich
zu ziehen, sondern auch ihren Devisenvorrat auf eine ganz außerordentliche
Höhe zu bringen.*' Der Generalsekretär erklärte dies damit, daß infolge der
Krise große Rohstoffanschaffungen unterblieben und die dafür sonst ver-
wendeten Devisenmengen der Bank zuflossen. Wiederholt wurde ferner darauf
hingewiesen, daß die ungünstige Lage der Industrie sich auch in dem
Rückfluß gerade jener Sorten von Zahlungsmitteln äußerte, die hauptsächlich zu
Lohnzahlungen und sonstigen Zwecken des Kleinverkehrs gebraucht werden.
Die ganze dargestellte Entwicklung zeigt einen stetigen Fortschritt in
der Richtung zur Einheitlichkeit und Festigkeit in der Anwendung des
Diskonts. Die jede Bankpolitik durchkreuzende automatische Regelung des
Balinenscheinumlaufes ist verschwunden, die Versorgung des Marktes mit
Geldmitteln durch die Regierungen bedeutungslos geworden. Aber auch
die Bank hat in den letzten Jahren eine früher nie beobachtete Sicherheit
und Energie in Ausübung der ihr eingoräumten Macht zum Schutze unserer
Währung bewiesen. Die folgende Tabelle gibt die Spannung zwischen den
höchsten und tiefsten Kursen der Devisen in Prozenten des Relationspari an.
Wiener
Kur» auf:
Berlin:
Paria:
London :
Berliner Kurs
auf London :
1893 . .
. . . 613
5'74
6-98
0-88
1894 . .
. . . 1'44
1-98
1-86
0-64
1895 . .
. . . 4 00
4-31
3-88
0-49
1896 . .
. . . 1-44
1 51
1-83
0-64
1897 . .
. . . 1-02
069
1-08
0-54
1898 . .
. . . 0-64
0-94
112
083
1999 . .
. . . 0-59
0-79
1 19
088
1900 . .
. . . 0-96
0-97
1*24
0 54
1901 . .
. . . 0'55
115
0-79
0-54
1902 . .
. . . 0-74
0-53
0-72
—
') Hauptsächlich infolge der noch immer aus dem Effektenezport zuströmenden
Wechsel. Fenier zogen Österreichische Firmen ihre (iuthaben aus dem Ausland in der
Erwartung eines größeren Herbstbedarfes zurück. Der französische Kurs stieg im
Oktober etwas, was vielleicht ndt dem aus politischen Gründen ^Kongregationen) ent-
springenden ItOekzieliungen von Geld aus den Banken, zum Teil auch mit anderen
Umständen zu erklären ist. — Im Oktober fand ein neuerlicher Goldimport
nach Österreich statt, und zwar hauptsächlich ans London, trotzdem die
englische Bank einen um ’/, Proz. höheren Diskont hatte als die Öster-
reichisch-ungarische! Ein Beweis dafür, daß Diskonterhöhungen durch-
aus kein unfehlbares Mittel sind.
3) Der gesamte Besitz an Devisen and Goldfordernngen stellte sich zum Jabres-
«chluB auf 208*6 Mill. K.
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Die Diskont- and Derwenpolitik der Uiterrcichisch-angariachen Bank ttc 523
Ans dieser Zusammenstellung geht hervor, daß die österreichischen
Wechselkurse heute von der Relation sich nicht viel weiter entfernen als
dies in barzahlenden Ländern der Fall zu sein pflegt. Die Schwankungen,
die früher im Laufe weniger Tage um ganze Einheiten vorkamen, bemessen
sich heute nur mehr nach zehntel Prozenten. Aus graphischen Darstellungen
des Ganges der Wechselkurse ergibt sich ferner die große Ruhe der Linien,
die früher in fortwährendem Steigen und Fallen begriffen waren. Besonders
wichtig ist aber, daß die Abweichungen von der Parität in den letzten
Jahren meist zu unseren Gunsten vorkamen und einen Goldstrom nach
Österreich führten. Ein Hauptgrund dieser Kursgestaltung liegt in den
fortgesetzten großen Effektenezporten. Natürlich werden die Passivzinsen in
künftigen Jahren unsere Zahlungsbilanz wieder ungünstig beeinflussen. Aber
eine kräftige Bankpolitik wird dennoch die Währung zu schützen vermögen,
wie sie es bisher in Jahren eines überwiegenden Effektenexportes im stände
war. Die Frage lautet nur, ob die Anwendung der Devisen- oder der Diskont-
politik vorzuziehen sei. Ein Ergebnis unserer Darstellung ist, daß beide
Mittel an ihrem Platze nützlich wirken. Gegen Störungen der Valuta, die
aus rasch vorübergehenden Ursachen entspringen (Kriegsgefahr, Börsen-
krisen n. s. w.), wird die Abgabe von Goldforderungen besser wirken als
die schwerfällige Diskonterhöhung, deren Wirkung für die ganze Laufzeit
der von ihr betroffenen Wechsel anhält. Dagegen werden aus lang
anhaltenden Ursachen i Effektenezport. schlechte Handelsbilanz, Wirtschafts-
krisen u. s. w.) entspringende Devisenschwankungen nur durch eine
Handhabung des Diskonts bekämpft werden können. Immer muß natürlich
berücksichtigt werden, daß die Lage des Marktes das Vorgehen der
Bank unterstützen muß. Eine Diskonterhöhung hat nur dann Aussicht
auf Erfolg, wenn die vorhandenen Mittel des Marktes so gering sind, daß
er wesentlich auf die Bank angewiesen ist und der Verkauf einiger Millionen
Devisen kann nichts nützen, wenn eine ungünstige Zahlungsbilanz Hunderte
von Millionen erfordert.
Wie aus unserer Darstellung hervorgeht, bewirkt übrigeus auch die
Devisenabgahe indirekt eine Versteifung, indem sie Noten aus dem Verkehr
zieht und führt so die Tendenz zum Steigen des Diskonts herbei. Auch
an die Wirkung des Reports auf die Devisenkurse sei nochmals erinnert.
Die öffentliche Meinung Österreichs, die hauptsächlich vom kleinbürger-
lichen Interesse beherrscht wird, ist einer energischen Diskontpolitik
ungünstig gesinnt. Die Wortführer des Kleinbürgertums haben immer im
billigen Kredit eine Art soziale Panacee gesehen von Proudhon angefangen
bis Professor Schlesinger. Natürlich schließen sich ihnen die Wünsche
der Agrarier an. Wiederholt ist in den Generalversammlungen die Forderung
ausgesprochen worden, die Bank möge dem .kleinen Mann* in reichlicherem
Maße billigen Kredit gewähren. Die Bankleitung hat diesem Ansinnen bisher
stets Widerstand geleistet. Wie aus unserer Darstellung hervorgeht, ist
insbesondere die ungarische öffentliche Meinung sehr für einen niedrigen
Diskont eingenommen. Auch ihre Opposition gegen die dauernde Anwendung
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524
Hertz.
<ies börseumäßigen Eskomptos entspringt offenbar dieser Tendenz.1) Die
ungarische Wissenschaft vertritt natürlich das patriotische Interesse. Pro-
fessor Heia Feldes hat in einem in der ungarischen Akademie der
Wissenschaften gehaltenen Vortrag’) u. a. folgende Bemerkungen gemacht:
, Hinsichtlich der Anwendungen der Diskontänderungen glauben wir nicht
zu irren, daß in Österreich-Ungarn diesbezüglich, ebenso wie in Frankreich,
große Sensibilität herrscht: gerade in Österreich-Ungarn kann der Fall
eintreten, daß die Erhöhung des Diskonts die Produktivität erschwert, die
in vielen Fällen das einzige endgiltige Mittel ist, um eine günstige Änderung
der Zahlungsbilanz herbeizuführen u. s. w.‘ (S 683). Fenier auf Seite 685:
.Was aber speziell die Handhabung der Diskontpolitik betrifft, so haben
wir zur Genüge gesehen, daß dieselbe auf vielfache Schwierigkeiten stößt,
viele Interessen verletzt und in ihren Resultaten auch uicht immer zuverlässig
ist. Eine lieihe von Beispielen ließen sich dafür anführen, daß die Diskont-
politik ihre Dienste versagt.* Aus dem interessanten Vortrag Földes geht
aber eher das Gegenteil seiner Schlußfolgerung hervor und die .Reihe von
Beispielen“ wird uns vorenthalten. Auf österreichischer Seite ist wiederholt
die Bank von Frankreich mit ihrer Prämienpolitik unserer Bank als Muster
vorgeführt worden, so seitens Landeshergers u. a., ja in Deutschland
hat man den Erfolg dieser Bemühungen bereits eskomptiert und glaubt —
wenigstens in gewissen Kreisen — daß die Bank bereits Goldprämien erbebe.
Die vollständige Unrichtigkeit dieser Behauptung ist offenbar,3) da ja die
Bank überhaupt noch gar nicht verpflichtet ist, bar zu zahlen. Es ist selbst-
verständlich, daß die gefährlichen Seiten einer Prämienpolitik in Österreich
viel fühlbarer werden würden als in Frankreich. Hier ein Reich, das eben
erst mit ungeheuren Opfern das Vertrauen des Auslandes für seine Valuta
und Finanzen gewonnen hat und ein schwer belastetes Schuldnerland ist,
dort ein Land von sprichwörtlichem Wohlstand, dessen riesige Aktivzinsen
die ungünstige Wirkung der Prämienpolitik auf die Devisenkurse verringern.
Merkwürdig ist, daß selbst die industriellen Kreise in Österreich zu den
Befürwortern eines niedrigen Diskonts gehören. Das zwölftel Perzent, das
eine Erhöhung von 1 Proz. im Monat ausmacht, fällt bei der großen Ren-
tabilität der meisten österreichischen Industrien gewiß nicht in die Wagschale,
während Schwankungen der Wechselkurse unsere Konkurrenzfähigkeit auf
1 Der Eskorapte unter der Bankrate kommt nämlich nur ansgesuchtem Wechsel-
material zu gute. Wenn er in Zeiten niedrigen Zinsfußes der Bank nicht freisteht, so
muß diese, um überhaupt Wechsel zu bekommen, den allgemeinen Zinsfuß, der für alle
Provenienzen gilt, herahsetzen.
5i B. Feldes. .Cher Maßregeln zum Schutze der Edelmetallreserve* in .Jahrbücher
für Nationalökonomie und Statistik* 1895, II. Folge. Band 9. S. Ö71. ff.
’) Vergl. über die Wirkung der Prämienpolitik besonders die Abhandlung Rosen-
dorffs in den .Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik.* 1901, II. Folge, 21 Band,
S. GS2 ff. Ks ist jedoch anderseits auch nicht richtig, daß. wie oft behauptet wird, die
• laterrcichische-ungarisclie Bank französische Devisen nicht als GolddeviBen betrachtet
und sie daher au» den Schatzdcrisen ausschiießt. Der relativ geringe Vorrat französischer
Devisen ist nur ihrer geringen Rentabilität zuzuschreiben.
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Die Diskont- und Devisenpolitik der österreichisch-ungarigchen Bank etc. 525
den) ungeschützten Weltmärkte sehr fühlbar treffen können. Dagegen ist
der Zwischenhandel mit Geld und Werten — also vor allem die Börse —
ebenso an jedem kleinsten Bruchteil des Zinsfußes wie an den Schwankungen
der Devisen wesentlich interessiert. Die Veränderlichkeit der
Wechselkurse, die der Industrie und dem Handel so schäd-
lich ist. ist ein Segen für den Spekulanten. Dabei ist außer der
direkten Wirkung des Zinsfußes auf Erwerb und Profit noch in Betracht zu
ziehen, daß ein im Verhältnis zum Ausland niedriger Zinsfuß zum Spiel anreizt,
einen falschen Rentabilitätsmaßstab gewährt und derart die Oberwertung
unserer Effekten und ihren Import befördert. Der höhere Zinsfuß ist daher
sowohl wegen seiner direkten Wirkung auf die Wechselkurse als wegen
seiner Tendenz, den Effektenexport zu mehren, dem Bestände der Valuta
günstig. Die von ihm betroffenen Interessenten müssen lernen, daß in seiner
Höhe eine Versicherungsprämie unserer Währung enthalten ist, die dem
Elementarereignis der Valutaschwankungen ebenso vorzuziehen ist, wie
jede Versicherungslast dem dadurch abgewehrten Obel, mag auch erstere
drückend und letzteres nicht jederzeit fühlbar sein.
Die geforderte Krediterweiterung der kleinen Landwirte und Hand-
werker ist überdies aus dem Gesichtspunkt der absoluten Sicherheit und
Mobilität der zur Notendeckung dienenden Forderungen entschieden abzu-
lehnen.
Der große Goldzuffuß der letzten Jahre hat der Bank großen Nachteil
gebracht, den sie im gemeinnützigen Interesse auf sich nahm. Das ein-
strömende Gold wurde gegen Noten getauscht, die den im Eskompte ver-
wendeten Bankmitteln Konkurrenz bereiteten. Dadurch ist die Rentabilität
der Österreichisch-ungarischen Bank unter allen Notenbanken die geringste
geworden. Der zeitweilig größere Ertrag aus den) Devisengeschäft wiegt
den Ausfall an Eskomptezinsen nicht auf.
Beachtung verdieut mit Rücksicht auf die bevorstehende Aufnahme
der Barzahlungen das Bestreben der Bank, die goldsparenden Mittel auszu-
bilden. Hieher gehört die Konzentration des gesamten Golddienstes der
Regierungen bei der Bank, die darin besteht, daß die Regierungen, die
im Zoll-, Post- und Eisenbahnverkehr eingenommenen Goldbeträge der Bank
überweist, die dafür alle in Gold zu leistenden Zahlungen der Regieruugen
ausführt. Für die übergebenen Goldbeträge leistet die Bank eine Verzinsung,
die um einen gewissen Satz hinter dem Diskont des Landes zurückbleibt,
dem die betreffenden Valuten entstammen. Durch dieses System ist der
früher erwähnte Cbelstand beseitigt, daß die Regierungen durch ihre Käufe
für das C'oupongold das Agio steigerten.1)
Ein anderes Mittel der Goldsparung sind die Zollgoldanweisungen.
Sie sind Anweisungen auf Gold lautend zu Gunsten der Staatszentralkassa,
1 Die Regierung bot «chon 189» der Bank den gesamten Golddienst all, doch
machte die Verzinaungsfrage große Schwierigkeiten. Die tatsächliche Übernahme erfolgte
am 1. Oktober 1901.
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526
Hertz.
die auf beliebige Beträge ausgestellt und zur Zahlung der in Gold normierten
Zölle benutzt werden können. Ihre Ausgabe begann am 15. Dezember 1900.
Im Jahre 1901 wurden 25,700.000 fl. ausgestellt. Der Zweck dieser Anwei-
sungen ist. die Kosten, die mit dem effektiven Bezug von Gold aus der
Bank zur Zahlung an die Begierung, die das Gold doch sofort wieder an
die Bank ahfffhrt. entfallen zu lassen.
Der Giroverkehr, dem in Deutschland eine so wichtige Bolle unter
den goldsparenden Mitteln zufällt, ist in Österreich weniger entwickelt.
Doch ist auch hierin in den letzten Jahren durch den Beitritt der Staats-
venvaltungen, der Post, der Eisenbahnen u. s. w. sowie durch zweckmäßige
Ausgestaltung mancher Fortschritt erzielt worden.
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DIE EINFÜHRUNG DER NEUNSTUNDENSCHICHT
BEI»
ÖSTERREICHISCHEN KOHLENBERGBAU.
VON
KARL v. WEBERN.
Die Beschränkung der Vertragsfreiheit zwischen Arbeitgeber ond Arbeit-
nehmer durch gesetzliche Regelung der Arbeitszeit bildet eine Pflicht des Staates,
welche in hygienischen, kulturellen und auch sozialpolitischen Rücksichten begründet
erscheint Bezüglich der letzteren ist namentlich hervorzuheben, daß der einzelne
Arbeiter dem Unternehmer gegenüber in der Regel nicht die volle Willensfreiheit
besitzt und daher znr Erreichung seiner Bestrebungen nur das Machtmittel des
Strikes besitzt, welcher aber als eine Unterbrechung der wirtschaftlichen Tätigkeit
möglichst hintatigebalten werden mufl.
Eine gesetzliche Regelung der Arbeitszeit für Erwachsene ist jedoch in
vielen Kulturstaaten noch heute nicht eingeffihrt. Der Grund hiefür dürfte teil-
weise in der besonderen Schwierigkeit gelegen sein, für diese Regelung die
richtige Grenze zu finden und dieselbe den oft so verschiedenen lokalen Ver-
hältnissen entsprechend anzupassen.
In Österreich erfolgte eine solche Regelung zunächst für den Bergbau
durch das Gesetz vom 21. Juni 1884. mit welchem eine maximale Schichtdauer
von zwölf Stunden und eine Maximalarbeitszeit von zehn Stunden innerhalb
derselben festgesetzt wurde; gleichzeitig wurde durch dasselbe auch die Frauen-
und Kinderarbeit gewissen Beschränkungen unterworfen. Seitdem wurde der Frage
der Arbeitszeit beim Bergbaubetriebe von Seite des hiezu berufenen Ackerbau-
ministeriums stets eine besondere Aufmerksamkeit zugewendet, namentlich, da
von Seite der Arbeiterschaft das Verlangen nach Einführung der Achtstundenschicht
immer häufiger und dringender erhoben wurde. Es wurde übrigens bei einem
nicht unbeträchtlichen Teile der österreichischen Bergbaue, durch verschiedene
Verhältnisse veranlaßt, freiwillig eine kürzere als die gesetzlich gestattete Schicht-
dauer eingeführt.
Die zu Beginn des Jahres 1900 bei den Kohlenbergbauen des Ostrau-
Karwiner Revieres ausgebrochene Strikebewegnng, die sich dann auch auf die
böhmischen Kohlenreviere ansdehnte, brachte neue Bewegung in die Sache; es
Zeitschrift für Vulkäwirtacbeft, Sozialpolitik and Verwaltanf. XII. Bend. 36
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528
Webern
beschäftigte sich auch das Abgeordnetenhaus mit der Frage der Verkürzung der
Schichtzeit, wobei überwiegend der Gedanke zum Ausdrucke gelangte, daß
eine solche Kürzung nur bei den Kohlenbergbauen und auch bei diesen nur für
die in der Grube beschäftigten Arbeiter einzutreten hätte. Im Laufe der Strike-
bewegong wurde auch von Seite der Regierung die Geneigtheit ausgesprochen,
eine Abkürzung der Schichtdauer auf gesetzlichem Wege eintreten zu lassen.
Mitte Mai 1900 wurde ron derselben tatsächlich der Kutwurf eines Gesetzes
eingebracht, nach welchem die Schichtdauer für die beim Kohlenbergbau in der
Grube beschäftigten Arbeiter auf neun Stunden beschränkt werden sollte. Bei
der im Monate Mai des folgenden Jahres stattgebabten Verhandlung über den
infolge Sessionsschlusses in diesem Jahre neuerlich eingebrachten Gesetzentwurf
im Abgeordnetenhause wurde an den Regierungsrertreter die Frage gerichtet, ob
die neunstündige Schichtdauer für jeden einzelnen Arbeiter zu gelten habe oder
als eine Gesamtschicht auf die gesamte Mannschaft zu beziehen sei; derselbe
gab hierüber die Erklärung ab, daß eine neunstündige Schicht eingefübrt werden
soll, welche für die gesamte Mannschaft zu gelten hat, so zwar, daU, wenn
beispielsweise bei der Mannsfahrt die erste Schale um sechs Uhr früh hinabgeht,
die letzte um drei Uhr nachmittags zu Tage gelaugt sein muß.
Auch im Herrenhause wurde bei der Verhandlung über den Gesetzentwurf
seitens des Ackerbauministers eine in demselben Sinne gehaltene Erklärung
abgegeben und wurde auf Grund der Ausführungen des Referenten, welcher
unter anderem darauf verwies, daß auch die ältere Berggesetzgebung die Schicht
stets als eine Gesamtschicht aufgefallt habe, der Antrag, die Schichtdaoer für
jeden einzelnen Arbeiter fcstzusetzen, abgelchnt und die Fassung des Abgeordneten-
hauses angenommen.
Nachdem sodann das Gesetz mit einigen geringen Änderungen von beiden
Häusern des Reichsrates angenommen worden war und die a. h. Sanktion erhalten
hatte, erfolgte am 1. Juli 1901 die Kundmachung desselben im Reichsgesetz-
blatt« und war hiemit für die Grubenarbeiter bei dem Kohlenbergbaue die Neun-
stuudenscbicht gesetzlich eingeführt.
Nach den Bestimmungen dieses Gesetzes sind in die Schichtzeit die für die
Ein- und Ansfahrt erforderliche Zeit, dann die aus der Natur des Betriebes sich
ergebenden sowie die sonstigen Ruhepausen einzurechnen, insoweit letztere
nicht über Tag zugebracht werden, in welchem Falle auch die zur bezüg-
lichen Aus- und Wiedereinfahrt erforderliche Zeit in die Schicbtdauer nicht ein-
zureebnen ist.
Ausnahmsweise kann auch eine längere als die in dem Gesetze festgesetzte
Schichtdauer bis zum Ausmaße ron zwölf Stunden mit einer zehn Stunden nicht
übersteigenden wirklichen Arbeitszeit gestattet werden, wenn bei dem betreffenden
Bergbaue zur Zeit der Kundmachung des Gesetzes eine längere Schichtdauer
bestanden bat und die Einführung der neunstündigen Schichtdauer oder eine
Abkürzung der bisherigen Schichtdauer überhaupt im Hinblicke auf die obwaltenden
betriebstechnischen oder wirtschaftlichen Verhältnisse die Aufrechthaltnng des
Betriebes unmöglich machen oder gefährden würde. Die Bewilligung einer
derartigen Ausnahme, welche entweder für sämtliche Grubenarbeiter oder für
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Die Einfährung der Neunstundenschicht heim österreichischen Kohlenbergbau. 529
einzelne Kategorien derselben gewährt werden kann, steht nach Anhörung des
Bergbauunternehmers und des Lokalarbeiterausschusses auf die Dauer der tor-
erwähnten Verhältnisse in erster Instanz der Berghauptmannschaft iin Einvernehmen
mit der politischen Landesstelle und in zweiter Instanz dem Ackerbauministerium
im Einvernehmen mit dem Ministerium des Innern zu.
Eine weitere Ausnahme von der neunstündigen Schichtdauer kann der
Ackerbauminister für hochgelegene Kohlenbergbaue der Alpenländer mit der
Maßgabe bewilligen, ilali die Gesamtdauer der von einem Arbeiter in einer
Woche verfahrenen Schichten nicht über 54 Stunden betragen darf.
Hinsichtlich des Beginnes der Wirksamkeit des Gesetzes wurde festgesetzt,
dali dieselbe ein Jahr nach der Kundmachung einzutreten hat. Diese einjährige
Übergangszeit wurde in Anbetracht dessen bewilligt, daß der Durchführung des
Gesetzes betriebstechnische Änderungen namentlich bei jenen Werken werden
vorangehen müssen, bei welchen wegen der großen Entfernung der Arbeitsorte
von der Einfahrtsstelle die Ein- und Ausfahrt eine unverhältnismäßig lange Zeit
erfordert.
Diese Frist wurde nun von einem Teile der Unternehmungen unausgenutzt
verstreichen gelassen, indem dieselben einerseits sich der Hoffnung hingaben,
eine Ausnahmsbewillignng zu erlangen, anderseits sich eine längere Schichtzeit
dadurch zu erhalten versuchten, daß sie ungeachtet der im Parlamente seitens
der Kegierung erstatteten Aufklärung die Neunstundenschicht nicht als Gesamt-,
sondern als Einzelnschicht einführten. Diesen Versuchen wurde jedoch von der
Bergbehörde entgegengetreten und unter Hinweis auf die Regierungserklärung
verlangt, daß innerhalb der neun Stunden sich die Ein- und Ansfahrt der
gesamten Mannschaft zu vollziehen habe.
Von mehreren durch diese in zweiter Instanz bestätigte Entscheidung
betroffenen Unternehmungen wurde die Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof
ergriffen. Auf Grund der über eine dieser Beschwerden am 8. Jänner 1903
durchgeführten ersten öffentlichen mündlichen Verhandlung hat nun dieser
Gerichtshof mit dem Erkenntnisse vom 21. Februar 1903 die Beschwerde als
unbegründet abgewiesen. In der Begründung dieses Erkenntnisses wird zunächst
die Einwendung wegen mangelhaften Verfahrens und wegen Gesetzwidrigkeit der
angefochtenen Entscheidung als nicht zutreffend bezeichnet and erklärt, daß
der Verwaltnngsgerichtshof sonach nur zu prüfen habe, ob die angefochtene
Verfügung mit dem Wortlaute und dem Geiste des Gesetzes im Einklänge
stehe. Die diesbezüglichen Ausführungen, welche auch in dem weiteren Erkennt-
nisse, mit welchem alle anderen die gleiche Angelegenheit betreffenden Beschwerden
als nnbegründet abgewiesen wurden, enthalten sind, lauten wörtlich:
.Die Beschwerde wendet gegen die Entscheidung in meritorischer Beziehung
ein, daß als „Schicht“ niemals und bis in die letzte Zeit nicht ein anderer
Zeitraum verstanden worden sei als derjenige, innerhalb dessen jeder einzelne
Arbeiter seine Beschäftigung vollzieht. Ans dieser Begriffsbestimmung wird in
der Beschwerde der Schluß gezogen, daß auch nach dem zitierten Gesetze die
neunstündige Schichtdauer für jeden einzelnen Arbeiter za berechnen
36*
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530
Webern.
sei. Der Verwaltungsgerichtshof hat innächst, da weder das allgemeine Berg-
gesetz vom Jahre 1X54 noch spätere Gesetze, also insbesondere das Gesetz
vom 21. Juni 1884, R.-G.-Bl. Nr. 115, und das Gesetz vom 27. Jnni 1901,
R.-G.-Bl. Nr. 81. den Begriff ausdrücklich bestimmen, an der Hand älterer
Quellen festznstellen versucht, wie der Begriff sich historisch entwickelt hat. Da
■zeigt sich denn, da# fast alle älteren Bergordnungen, welche bis mr Wirksam-
keit des allgemeinen Österreichischen Berggesetzes und der neueren deutschen
Berggesetze in Geltung waren, in Betreff der .Schichtordnungen ziemlich überein-
stimmende Vorschriften enthalten. Fast alle bezeichnen nämlich bestimmte Stunden
für den Anfang und das Ende der Schichten. In diesem Sinne sind auch die
Arbeits-, Dienst- und Schichtordnungen gehalten.
Hienach kann also eine Verschiedenheit bezüglich der Schichtberechnung
nur darin bestanden haben, ob die Scliichtzeit ausschließlich für Arbeiten in der
Grube zu verwenden ist, oder ob innerhalb der Schichtzeit sich auch die Einfahrt
oder die Ansfahrt, oder die Ein- uud Ausfahrt zu vollziehen hat. Darin gab es
aber eine Verschiedenheit nicht, daß die Schicht gleichmäßig und gleichzeitig
für die gesamte Belegschaft begann und endete. Es mag sich nun, wie in der
Enquete des sozialpolitischen Ausschusses des Abgeordnetenhauses behauptet wurde,
im Laufe der Zeit bei einzelnen, vielleicht vielen Bergbanen eine abweichende
Übung entwickelt haben.
Wenn aber in den neueren Gesetzen eine andere Begriffsbestimmung der
Schicht nicht gegeben ist, so darf wohl angenommen werden, daß der
historische Begriff beibehalten wurde, soferne sich nicht ans den betreffenden
Bestimmungen in ihrem Zusammenhänge oder ans der klaren Absicht des
Gesetzgebers ergibt, daß diese Gesetze von dem historischen Begrifft! abge-
gangen wären.
Das allgemeine Berggesetz vom Jahre 1854 bleibt in dieser Beziehung
ganz außer Betracht, weil es einschränkende Bestimmungen hinsichtlich der
Schichtdaner und Arbeitszeit beim Bergbatie überhaupt nicht enthält, sondern
sich damit begnügt, im § 200. lit. c, anzuordnen. daß in die Dienstordnung die
Bestimmungen über die Zeit und Dauer der Arbeit gebären. Erst mit dem
Gesetze vom Jahre 1884 und in weiterer Folge mit jenem vom Jahre 1901
wurden solche Einschränkungen normiert. Die Absicht des Gesetzgebers ergibt
sieh aus dem Zwecke der beiden Gesetze ; beide sind Arbeiterschutz-
gesetze. dazu bestimmt, den Bergarbeiter vor übermäßiger Ausnutzung seiner
Arbeitskraft zu schützen. Diesem Zwecke scheint nun. wenn speziell das im
vorliegenden Falle zur Anwendung gelangende Gesetz vom Jahre 1901 ins Ange
gefaßt wird, entsprochen zu sein, wenn der einzelne Arbeiter nicht länger als
9 Ständen täglich dem Arbeitgeber für die Arbeit zur Verfügung steht, arid es
würde sich daraus ergeben, daß die Interpretation der Beschwerde, wonach die
Schichtdauer für jeden einzelnen Mann berechnet werden soll, mit dem Gesetze
und dessen Absicht im Einklänge stünde.
Allein das Gesetz bezeichnet im zitierten $ 3, Absatz 2, als den Beginn
der Schicht die -Einfahrt“. Jene Zeit also, welche der Arbeiter in der Anstaltsstube
wartend zubringt, und während welcher er seinem Arbeitgeber für den Dienst zur
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Die Einführung der Neunstundenschicht beim österreichischen Kohlenbergbau. '■> 3 1
Verfügung steht, zählt hienach nicht zur Schichtdauer. Würde man nun
die Einfahrt als individuellen Anfangspunkt der Schichtdauer für jeden Arbeiter
besonders zählen, so käme man zu dem Ergebnisse, daß einzelne Arbeiter erheb-
lich länger in den Dienst gestellt wären als 9 Stunden mehr der gemein-
samen Wartezeit Würde zum Beispiel — wie ja aus den von Seite der
Beschwerde zitierten Beispielen als möglich hervorgeht — die Einfahrt der
gesamten Belegschaft 1 Stunde dauern, so hätte der letzte einfahrende
Arbeiter zu leisten:
1. Die Wartezeit des ersten Arbeiters, welche nach dem Wortlaute
des Gesetzes nicht zur Schichtdauer zählt,
2. die Zeit, bis die Reihe an ihn kommt, also eine Stunde.
3. volle 9 Stunden.
Die ganze Unzulänglichkeit des technischen Betriebes, die ganze natürliche
Beschaffenheit des Bergwerkes, die aus der Zahl der Arbeiter notwendig gewordene
oder anch nur faktisch ausgeübte Verzögerung in der Einfahrt würde dann dem
Arbeitet znr Last geschoben. Der Arbeiter in dem Bergwerke, in welchem die
Einfahrt der gleichzeitig zum Einfahrtsorte befohlenen Belegschaft wenig Zeit
beansprucht, wurde anders behandelt, als ein solcher in einem Bergwerke, in
welchem diese Einfahrt lange dauert. Nicht der Unternehmer, welcher den
Vorteil aus seinem Venndgensobjekte zieht, welcher die Gefahren und Nachteile
aus der Beschaffenheit dieses Objektes zu tragen hat, sondern der abgelohnte
Arbeiter, welcher au dem Uiiternehmergewinue keinen Anteil hat, würde hiedurch
mit Nachteilen aus der Beschaffenheit des Objektes belastet. Wenn also im
Gesetze vom Jahre 1901 im ersten Absätze bestimmt wird: „Die Schichldauer
für die beim Kohlenbergbaue beschäftigten Arbeiter darf 9 Stunden nicht über-
steigen;* und der folgende Absatz lautet: „Der Beginn der Schiebt wird nach
der Zeit der Einfahrt, die Beendigung nach der vollendeten Ausfahrt berechnet*,
so kann damit nur gesagt sein, daß für alle Arbeiter einer Belegschaft, das
ist die in eine Schicht oingeteilten Arbeiter, heim Kohlenbergbaue die Schicht
mit der Einfahrt des ersten Arbeiters beginnt und erst mit der Vollendung der
Ausfahrt des letzten Arbeiters endet.
Dagegen kann nun allerdings eingewendet werden, daß hienach fast kein
Arbeiter volle 9 Stunden in der Grube arbeitet, allein die dem Zwecke des
Gesetzes als eines Arbeiterschntzgesetes allein entsprechende Interpretation
macht dies eben zur notwendigen Konsequenz, schließt übrigens die Verwendung
des Arbeiters während der Ausfahrt und Einfahrt der anderen Arbeiter, also
während der ganzen Schichtdaner, zu anfälligen Arbeiten nicht aus.
Würde aber anch noch ein Zweifel über diese Auslegung des Gesetzes
verbleiben, so muß derselbe schwinden, wenn man die Vorgänge vor der Ab-
stimmung in beiden Häusern des Keichsrates ins Auge faßt. — In der Sitzung
vom 23. Mai 1901 stellte der Abgeordnete Eldersch zu dem Gesetzentwürfe
einen Abänderungsantrag dahin, § 3, Alinea 2, habe zu lauten: „Der Beginn
der Schicht wird nach der Zeit der Einfahrt des ersten Mannes der Schicht,
ihre Beendigung nach der vollendeten Ausfahrt des letzten Mannes der Schicht
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532
Webern.
berechnet“ Der Regierungsvertreter, Ministerialrat Z e c h n e r, gab in derselben
Sitzung zur Behebung des rege gewordenen Zweifels, ob die Bestimmung der
Regierungsvorlage so aufzufassen sei, daß die daselbst festgesetzte Schichtdaner
für jeden einzelnen Arbeiter zn gelten habe oder als eine Gesamtschicht auf
die gesamte Mannschaft zu beziehen sei, unter Beifügung einer ausführlichen
Begründung die Erklärung ab, die neunstündige Schichtdaner werde als Gesamt-
schicht aufgefaßt in der Weise, daß. wenn zum Beispiel bei der Mannsfahrt die
erste Schale um 6 Uhr früh hinabgeht, die letzte nnt 3 Uhr nachmittags zu
Tage gelangt sein muß. Mit Bernfung auf diese Erklärung zog der Abgeordnete
Eid er sch seinen Abänderungsantrag zurück und es wurde die Bestimmung
in der Fassung der Regierungsvorlage zum Beschlüsse erhoben. Hienach konnte
das Abgeordnetenhaus über die Tragweite der gesetzlichen Bestimmungon und
darüber, wie die gesetzliche Bestimmung seitens der die Vorlage einbringenden
Regierung gemeint war, nicht den mindesten Zweifel haben. Eine weitere Klärung
erfolgte im Herrenhause, und zwar nicht nur durch die mit der Erklärung des
Regierungsvertreters im Abgeordnetenhanse übereinstimmende Erklämng des
Ackerbauministers in der Sitzung vom 8. Juni 1901, sondern insbesondere auch
dadurch, daß der vom Grafen Zedtwitz in derselben Sitzung gestellte Antrag, der
erste Absatz des § 3 solle lauten: „Die Schichtdaner für jeden einzelnen beim
Kohlenbergbaue in der Grube beschäftigten Arbeiter darf täglich 9 Stunden nicht
übersteigen“, abgelehnt wurde, und daß auch schon ein gleicher in der Kommission
des Herrenhauses gestellter Antrag laut Nr. 41 der Beilagen zu dem steno-
graphischen Protokolle des Herrenhauses, XVII. Session, 1901) nicht die Majorität
erlangen konnte. Hiedurch ist nicht etwa die Frage ira Herrenhanse unentschieden
geblieben, sondern ist unzweideutig im Sinne der von der Regierung in beiden
Häusern des Reichsrates abgegebenen Erklärungen entschieden worden. — Die
aus einzelnen Bestimmungen des Gesetzes entnommenen Einwendungen vermögen
die Richtigkeit dieser Auffassung nicht zu erschüttern.
Daraus, daß der 5. Absatz des § 3 bezüglich der zulässigen Verlängerung
der Schiehidauer verfügt, eine solche Ausnahme könne entweder für sämtliche
Grubenarbeiter oder für einzelne Kategorien derselben gewährt werden,
daß also hier ausdrücklich die Gesamtheit der Grubenarbeiter ins Auge gefaßt
sei. kann ein Gegensatz zu den Bestimmungen des ersten und zweiten Absatzes
nicht abgeleitet werden; denu hier ist der Ausdruck „sämtlich“ nicht im
Gegensätze zn „einzeln“ gebraucht, sondern als Gegensatz von einzelnen
Kategorien.
Aber auch aus der Bestimmung des vorletzten Absatzes, wonach für
hochgelegene Kohlenbergbaue der Alpenländer vom Ackorbauminister auch eine
längere Schichtdaner, als die in den beiden ersten Absätzen bestimmte nur mit
der Maßgabe bewilligt werden kann, daß die Gesamtzahl der „von einem Arbeiter“
in einer Woche verfahrenen Schichten nicht über 51 Stunden betragen darf,
läßt sich der Schluß nicht rechtfertigen, daß das Gesetz einen von dem Begriffe
der Gesamtschicht abweichenden Begriff der Schicht in dem Sinne hat aufstellen
wollen, wie die Beschwerde das Gesetz auslegt. Denn hier ist nicht gesagt, daß
die Schichtdauer für jeden einzelnen Arbeiter individuell zu berechnen sei. sondern
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Die Einführung der Neunstundenschicht beim Österreichischen Kohlenbergbau. 533
es will damit nur eingeräumt werden, daß allerdings die Dauer der einzelnen
Schichten (für die Gesamtheit der Belegschaft; mehr als 9 Ständen betragen
dürfe, daß aber, wenn die Gesamtdauer der in einer Woche verfahrenen Schichten
mehr als die normale von 54 (6x9) Stunden betragen sollte, der einzelne
Arbeiter doch nicht länger als 54 Stunden in der Woche beschäftigt sein darf.
An einem Beispiel wird dies klar. Angenommen, es wird in einem solchen
hochgelegenen Bergbaue nur an 5 Tagen gearbeitet, weil für den Zugang auf
den Berg und den Abgang von demselben 2 Tage der Woche in Abschlag
kommen, und es würde die Dauer der Schichten mit 12 Stunden filiert, so
würde sich eine Gesarotdauer der Arbeit von 60 Stunden ergeben, und da
bestimmt nun das Gesetz, daß der einzelne Arbeiter mehr als 54 Stunden in der
Woche nicht beschäftigt sein dürfe.
Daß im § 4 des Gesetzes vom 21. Juni 1884. B.-G.-Bl. Sr, 115. welcher
durch das Gesetz vom 27. Juni 1901 in seiner Geltung für den Kohlenbergbau
unberührt geblieben ist. bestimmt wird, „die Sonntagsruhe hat für die gesamte
Uannschaft gleichzeitig zu beginnen,“ beweist ebenfalls nichts gegen die in der
angefochtenen Entscheidung zum Ausdrucke gelangte Auslegung des Gesetzes
vom Jahre 1901. Denn auch hier bildet der Ausdruck „gesamt« Mannschaft“
nicht den Gegensatz zum einzelnen Arbeiter; vielmehr erscheint der Ausdruck
als Gegensatz zur „Belegschaft einer Schicht“ und die Bestimmung ist darum
getroffen, weil beim Bergbaue die Arbeit am Sonntag vollständig zu ruhen hat
und der Beginn der Sonntagsruhe spätestens auf Sonntag 6 Uhr früh festgesetzt
ist. Da aber anderseits bestimmt ist, daß die Sonntagsruhe volle 24 Stunden
von ihrem Beginne an zu dauern hat, so mußte der gleichzeitige Beginn für
die gesamte Mannschaft festgesetzt werden, weil sonst die Arbeit beim Berg-
baue nicht während des ganzen Sonntags, das ist während voller 24 Stunden
ruhen würde. Nur deshalb bedient sich hier das Gesetz des Ausdruckes „gesamte
Mannschaft.“
So ist denn mit der vorstehenden Begründung an letzter Stelle der
entscheidende Ansspruch erfolgt und es erübrigt den Bergbauunternehmern nur,
sich zu fügen und darauf bedacht zu sein, die mit der Durchführung des
Gesetzes im Sinne dieser Entscheidung etwa verbundenen größeren lokalen
Schwierigkeiten zu überwinden.
Man findet in der Literatur vielfach die Ansicht ausgesprochen, daß eine
Verkürzung der Arbeitszeit nicht auch einen Ausfall in der Leistung, bezw. in
der Produktion nach sich ziehen müsse, sondern in vielen Fällen sogar eine
Steigerung derselben zur Folge habe. Wenn dies auch beim Bergbau gewiß nicht
allgemein zutrifft, so gibt es bei demselben doch auch Mittel und Wege, die
der Erhöhung der Arbeitsleistung entgegenstehenden Hindernisse als: geringe
Mächtigkeit der Lagerstätte, Vertaubungen, ungünstige Beschaffenheit der Hangend-
schichten, große Ausdehnung der Grubenräume. Schlagwetter, Feuer- oder Wasser-
gefahr etc. zu überwinden. Diese bestehen in einer richtigen Wahl der Abbau-
methode, möglichster Abkürzung der Arbeitswege. Einführung maschineller
Gewinnungsarbeit, besserer Ausnutzung der Schichtzeit der Häuer durch Bei-
- Stellung des Grubenholzes bis auf die Arbeitsort«. Verbesserung der Schacht- und
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534
Webern.
Streckenförderung durch Einbau leistungsfähigerer Maschinen und gute Erhaltung
der Förderbahnen, Beistellung einer genügenden Anzahl von Förderwagen,
Verkürzung der unfreiwilligen Arbeitspausen etc. Freilich sind hiezu zumeist
bedeutende Geldopfer erforderlich, zu welchen sich die Unternehmer ungeachtet
der Vorteile, welche dieselben unzweifelhaft bringen würden, mitunter nicht
entschliefen können; unter dem Drucke des Gesetzes ist jedoch schon manches
durchgeführt worden, was vorher unmöglich erschien und wovon man sich Übel-
stände erwartete, die daun nicht eingetreten sind. Hoffen wir, daß sich dieser
Erfahrungssatz auch bei der strikten Durchführung des Gesetzes über die Neun-
stundenschicht bewähren und sonach mit diesem Gesetze ohne Schädigung der
Industrie ein nicht geringer sozialer und hygienischer Fortschritt beim Kohlen-
bergbau erzielt werden wird.
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DIE NEUEN TRIESTER HAFEN BAUTEN.
(MIT EINER PLAN8KIZZE)
TOS
D" GUSTAV LIPPERT.
Die am 22. November 1899 dem Abgeordnetenhaus« in seiner XVI. Session
überreichte Regierungsvorlage betreffend die Erweiterung der Hafenanlagen in
Triest, wodurch die Herstellung des Sanitätsmolos, die Verbreiterung der Riven
m alten Hafen, ferner der Bau eines Molo mit einer Riva für ein Hafenbassin
bei der Spitze von St. Andrea im Anschluß an den Holzlagerplatz am die
Gesamtsumme von 12 Mill. Kronen ins Auge gefallt war. hat zwar nie gesetz-
liche Sanktion erhalten; jedoch war die Ausführung der Bauten im alten Hafen
schon zn Beginn des Jahres 1901 in Angriff genommen und für die nötigen
Auslagen durch Einstellung der jeweils erforderlichen Budgetposten vorgesorgt
worden.
Eine neuerliche Anregung, sich mit den Hafenerweiternngsfragen eingehend
zu befassen, bildete das Gesetz vom 6. Juni 1901, R.-G.-Bl. Nr, 68, betreffend
die Herstellung mehrerer Eisenbahnen auf Staatskosten und die Festsetzung
eines Bau- und Investitionspräliminares der Staatseisenbahnverwaltung für die
Zeit bis Ende des Jahres 1905.
Der biemit geplante Hau der zweiten Eisenbahnverbindung mit Triest
rückte die Frage einer allen zukünftigen Verkehrsanforderungen entsprechenden
Vergrößerung des Hafens in den Vordergrund.
In Betreff der absoluten and relativen Handelsstellung Triests während
der unmittelbar vorausgegangenen Jahrzehnte gibt der zu dem erwähnten Gesetze
erstattete technisch-kommerzielle Bericht*) eine Reihe von Zahlenübersichten,
deren bedeutsamste samt den hieraus gezogenen Schlußfolgerungen zur Beur-
teilung des Verkehrswachstums und zwecks Veranschaulichung des Umfanges
der zukünftigen Hafenausgestaltung hier Aufnahme ßnden sollen.
Zunächst zur Charakterisierung der Bedeutung von Triest als Hafenplatz
im internationalen Verkehre zur See folgende Wertzahlen:
') Beilage 60 zu den stenographischen Protokollen des Abgeordnetenhauses,
xvn. Session, 1901, S. 62 ff.
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536
Lippert.
I. Einfuhr zur See nach Triest.
1899
1898
1897
1896
1895
1894
1893
1892
1891
Wert des Gesamt*
verkehr» in Mill.
Kronen ....
3886
885*6
3680
346*8
3700
372-8
378-4
375-8
833-6
davon aus bezw.
nach österr.-nngar.
Häfen ....
28*4
296
272
28-0
28*2
26-2
24-0
25-0
25*4
daher W ert des
Außenhandels . .
3602
356 0
340 8
3188
341-8
3466
354 4
8508
8082
n.
Ansfuhr
zur See von Triest:
1899
1898
1897
1896
1895
1894
1893
1892
1891
Wert des Gesamt-
verkehrs in Mill.
Kronen ....
322-6
326-8
313 4
3034
801-0
336-6
3338
3140
3238
davon aus bezw.
nach österr.-ungar.
Häfen ....
52-6
532
56 8
560
■30
59-6
584
51-6
54-6
daher Wert des
Außenhandels . .
270-0
278 6
256-6
247-4
248 0
2770
2754
262 4
2692
Die noch weiters gebrachten Zusammenstellungen von Ziffern betreffend
den Triester Handel im Mittelmeer, im Atlantischen Ozean, im Schwarzen Meer,
im Roten Meer, mit Ost- und Südafrika. Asien jenseits des Roten Meeres, Nord-
amerika und Westindien. Südamerika und Australien zeigen, daß das Schwer-
gewicht des Triester Sechandels in den Mittelmeerlilndern liegt; mit diesen ist
auch der Handelsverkehr aktiv, in allen übrigen Beziehungen führt Triest mehr
Waren ein als es ausfährt und zeigt die Differenz, namentlich im Verkehre
mit Asien. Nord- und Südamerika, eine nicht unbedeutende Höhe. Wenn die
Bestimmung der von Triest zur Versendung gelangenden Waren im einzelnen
weiter verfolgt wird, so erweisen sich eigentlich nur die Türkei, Italien und
Griechenland sowie Ägypten und Britisch-lndien als Hauptabsatzgebiete des
Triester Verkehrs. Die für die Ausfuhr unserer Erzeugnisse so wichtigen Märkte
Ostasiens, Nord- und Südamerikas. Australiens, Ost- und Südafrikas dagegen
erscheinen entweder mit nur sehr bescheidenen Anteilen oder gar nicht. Und
darin liegt das bei weitem wichtigste Hemmnis für eine gesunde Entwicklung
von Triest. Es mangelt an Ausfracht für jene Märkte, das heißt: die Schiffe,
welche Güter von dort bringen, müssen damit rechnen, in Triest wenig oder
gar keine Fracht zu erhalten; das verteuert den Seetransport, macht regelmäßige
und Öftere Verbindungen unmöglich und drückt die Konkurrenzfähigkeit
bedeutend herab.
Die geringe Anziehungskraft des Triester Platzes zeigte sich dementsprechend
auch in den Ziffern des Eandverkehrs und noch schärfer treten diese Mängel
in der Entwicklung des Warenverkehrs von TrieBt boim Vergleiche des Triester
Handels mit jenen der konkurrierenden Seehäfen hervor, von welchen Fiume,
Venedig, Genua. Marseille, Bremen und Hamburg in Betracht gezogen werden sollen.
Es betrug der Gesamtwarenverkehr während der Jahre 1860- 1899 in
1000 Tonnen;
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Die neuen Triester Hafenbauten.
537
Davon entfallen auf
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14601 1116
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707
2851*) 3498 1618"
4209*)
j 1890—1899
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21032 1273
1
1 '1
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oder in Proz.
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I
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20 1 15, 25!
11
12
Triest hat hienach während der bezeichneten 40 Jahre fortwährend alige-
1 Kimmen nnd es beträgt sein Anteil hente fast nnr mehr die Hälfte jenes der
Sechzigerjahre. Finme, Genua und Hamburg dagegen haben ihre Koukurrenzkraft
gestärkt; Venedig blieb konstant.
Aus all diesem Zahlenmaterial zieht der technisch-kommerzielle Bericht
den Schloß, daß angesichts der während jenes Zeitraumes zwecks Besserung der
Verkehrsverhältnisso getroffenen Maßnahmen die Abnahme der Konkurrenz-
fähigkeit Triests nur durch das Fehlen der notwendigen Ausgestaltung seiner
Hinterlandsverbindungen erklärt werden könne.
Der Triester Handel bedürfe eines neuen Handelsweges mit einem ver-
größerten festländischen Attraktionsgebiete, um die ungleichmäßige Verteilung
der Zn- und Abfuhrverhältnisse auszugleichen, welche die Schiffahrt auf das
Nachteiligste beeinflussen.
Der neue Schienenweg sei berufen und geeignet, einerseits die Ausfuhr
von Textilien, Kleidern und sonstigen Konfektionen, von Papier, Leder- und
Schüttwaren, hölzernen und eisernen Möbeln. Nägeln, Holzwaren, Zement. Glas-,
Ton- und Kurzwaren u. s. w, insbesondere nach Ostasien, Zentral- und Süd-
amerika wesentlich zu fördern, anderseits die Abfuhr der für unsere Textil-
'1 Ein- und Ausfuhr zu Lande.
*) Ein- und Ausfuhr zur See.
*) Gewicht der im Hafen ein- und auegeschifften Waren.
*> Erst seit 1872 ausgewiesen, 1872 — 1879.
*1 Ungefähr.
•) 1876—1879.
’) 1861.
•> 1871—1880.
•) 1881—1890.
">) 1891—1899.
») 1867—1871.
") 1877—1881.
n, 1887—1891.
>*) 1892-1899.
1891—1898.
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538
Lippen.
Industrie nötigen Rohstoffe: Baumwolle, Schafwolle und Jute, welche bisher nur
7.um geringen Teil über den heimischen Hafen gehen, zu übernehmen, sowie
Häute, Chilisalpeter, mineralische Dungmittel, Farbhölzer, Tabak u. s. w. 711
Stapelartikeln für den Bedarf unserer Produktion dortselbst zu machen.
Gin lebhafter Schiffsverkehr mit regelmäßigen und billigen Vcrfrachtungs-
gelegenheiten nach den für die Förderung der heimischen Ausfuhr so wichtigen
Konsumplätzen Ostasiens. Ost- und Südafrikas, Amerikas und Australiens werde
sich dazu automatisch gesellen.
Über den mutmaßlichen Umfang der zu gewärtigenden Verkehrszunahmeu
werden in dem im Jänner 1903 verfaßten Berichte der bei der Seebehörde zur
Beratung der Ausgestaltung der Uafenanlagen in Triest-St. Andrea zusammen-
getretenen Kommission folgende Schätzungen angestellt:
Wie ans den letzten statistischen Ausweisen der Triester Handelskammer
über den Schiffsverkehr des Triester Hafens erhellt, hat sich der Tonnengehalt
der eingelanfenen Schilfe von 2.063.112 im Jahre 1898 auf 2,499.528 im
Jahre 1902 erhöht, ist daher um 21 Proz. gestiegen, was einem Jahreszuwachs
von durchschnittlich 5-2 Proz. entspricht.
Eine verhältnismäßig weitaus beträchtlichere Steigerung zeigt sich jedoch
im Seeverkehr des Triester Freigebietes, welcher sich von 9,560.512 Meter-
zentnern im Jahre 1898 auf 12.494.480 Meterzentner im Jahre 1902, sonach
im ganzen um 30'6 Proz. und im Jahresdurchschnitte um 7'(i Proz. erhöht hat.
Der Bahnverkehr des Freigebietes ist im gleichen Zeitraum von 5,785.600
auf 7,433.629 Meterzentner, also um 29 Proz. und im Jahresdurchschnitt um
7-25 Proz. gestiegen, wobei zu beachten ist, daß die Unterschiede zwischen den
Ergebnissen dos See- nnd Bahnverkehrs auf den lokalen Warenverkehr zurück-
zuführen sind. Es erschien hienach die Annahme begründet, daß der Triester
Hafenverkehr ohne Rücksicht auf die Wirkungen der zweiten Eisenbahnverbindung
während der nächsten fünf Jahre mindestens einen gleichen Fortschritt nehmen,
daher mit Ende des nächsten Quin<iuenninms eine 50proz. Steigerung gegenüber
dem Jahre 1898 aufweisen würde.
An die Eröffnung der neuen Eisenbahnverbindung knüpft sich aber die
berechtigte Erwartung, daß die hiedurch herbeigeführte Yerkehrssteigerung den
Yerhältnisanteil Triests an dem Gesamtverkehr der Seehäfen Triest, Yenedig,
Fiume, Genua, Marseille, Bremen und Hamburg wenigstens auf das im Jahr-
zehnt 1860 — 1870 bestandene Verhältnis, nämlich von 6 Proz. (in dem Zeit-
räume 1890 — 1898) auf 1 1*S erhöhen werde, was mit einer Verdoppelung des
gegenwärtigen Warenverkehrs gleichbedeutend wäre.
Hieran« ergibt sich notwendigerweise die Forderung, daß die neue Hafen-
anlage der gegenwärtigen an Umfang zumindest gleichkommen, au Leistungs-
fähigkeit aber überlegen sein und die Möglichkeit einer Erweiterung für die einer
ferneren Zukunft vorbehaltene Yorkehrsentwicklung bieten müsse.
Diese Forderung war um so dringender, als seitens der Konkurrenzhäfen
alle Anstrengungen gemacht werden, um durch Erweiterung und Vervollkommnung
ihrer heute schon großartigen Anlagen ihre Wirkungssphäre noch mehr aus-
zudehnen. Es war somit eine nene Hafenanlage in Aussicht zu nehmen, welche
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Die neuen Triester Hafenbauten.
539
nicht bloß den gegenwärtigen ' Verkehrsanforderungen, denen die bestehenden
Hafeneinrichtungen schon längst nicht mehr genügen, unter Berücksichtigung des
normalen Verkehrszuwachses auf absehbare Zeit hinaus vollständig entspricht,
sondern auch zur Bewältigung der außerordentlichen Verkehrssteigerung aus-
reichen soll, die sich nach Vollendung der neuen Bahnverbindungen und ins-
besondere der Tauernbahn aller Voraussicht nach einstellen wird.
Daß da der in der Regierungsvorlage vom Jahre 1899 geplante eine Molo
samt Riva in St. Andrea ganz und gar nicht ausreichen konnte, lag auf der
Hand. Deshalb wurde im Zusammenhänge mit den Bahnanlagen der alsbald in
Bau gegebenen internationalen Hanptverkehrslinie die Anlage eines neuen Hafen-
teiles mit drei senkrecht auf die Bahnriva angesetzten und durch einen Wellen-
brecher geschützten Molis projektiert.
Allein noch im allerersten Anfang der Ausführung dieses Bauplanes entstanden
wichtige Bedenken in Betreff der Angemessenheit der ganzen Anlage, nicht nur vom
nautischen Standpunkt wegen der bei Bora und Seegang zu befürchtenden Gefährdung
der Schiffsoperationen, sondern auch aus eisenbahntechnischen Gründen, indem die
Einschaltung der vielen Drehscheiben als untunlich und verkehrshinderlich erschien.
Die im Laufe d^s Jahres 1902 und anfangs 1903 in Wien und Triest
zur Beratung dieser Frage abgehaltenen Kommissionen1) fanden einen die Aus-
gestaltung des neuen Hafenteiles endgültig bestimmenden Abschluß in den vom
3. bis 9. Februar 1903 bei der Seebehörde abgehaltenen Sitzungen.
Hienach soll nunmehr, wie aus der angefügten Planskizze ersichtlich, der
Ban der drei neuen Molis in der Richtung N. 83° E. der wahren Windrose
ioder E. 7° N.), also parallel zum Durchzugsgeleiso der Staatsbahn stattfinden
und außerdem gegen die aus Südwesten kommenden Meereswogen ein sicherer
Schutz vermittels dreier staffelformig angelegter Wellenbrecher geschaffen werden. s)
*) In der am 11. November 1902 bei der Seebehörde stattgefundenen Kom-
misaionssitzung wurde beschlossen, mit der Ausarbeitung des Entwurfes ein Komitee zu
beauftragen. Das von derselben aasgearbeitete Generalprojekt wurde in der Sitzung des
Lagerhauskomitees vom 23. Dezember 1902 vorgetragen und bildete aoeh die Grundlage
der in Angelegenheit der Triester Hafenbauten im Handelsministerium vom 12. bis
17. Jänner 1903 abgehaltenen Sitzungen.
rl Für die Richtung der nautischen und technischen Linien des Hafens war vor
allem maßgebend, auf den vorherrschenden Wind und dessen Richtung streng Bedacht
zu nehmen und weiters darauf zu achten, daß die Wellenbewegung des Meeres aus jener
Weltgegend, aus welcher erfahrungsgemäß der gefährlichste Seegang fQr den Golf von
Triest kommt, möglichst geringen Einfluß auf die im Hafen vertäuten und handelstätigen
Schiffe nehmen könne. Diesem klaren Gesichtspunkte folgend, mußten die nautischen
Linien des neuen Hafens tunlichst genau der mittleren Richtung der stürmischen Bora
entsprechend veranlagt werden.
Die Erbauung eines einzigen Stückes Wellenbrecher in der ganzen erforderlichen
Länge von 2S40 Metern vor dem Hafenwerk in St. Andrea und vor der Bucht von
Muggia wäre ein Fehler kommerziell-technischer Natur gewesen, hätte auch den nautischen
Anforderungen wenig entsprochen, denn erstere erheischen die Ermöglichung tunlichst
rascher Abwicklung der bade- und Löschungstätigkeit der Schiffe, letztere verlangen die
leichte Zugänglichkeit jeder Hafenanlage unter Wahrung der nautischen Sicherheit.
Expos* zum Generalprojekte der Halenanlagen in Triest-St. Andrea. Jänner 1903.
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540
Lippert.
Die Ausdehnung und Leistungsfähigkeit der neuen Freigebiets- und Hafen-
anlage übertrifft erheblich jene des gegenwärtigen Puntofranco, wie folgende
vergleichende Zusammenstellung ersehen läßt:
Derzeitige Freigebiets-
anlagen einschließlich Molo IV
und Rangierbahnhof
Projektierte Anlage
in .8t. Andrea samt Rangier*
bahihof
Rivalänge
8260 m
4850 m
Länge der Moli ....
Molo I 19b m (durchschnittl. '
Molo V 360 m
Molo II 197 m „
Molo VI513m(durchBchnittM
Molo III 21 1 m r
Molo IV 142 m
[Molo VII 778 m *
Bassinbreiten
Bassin I 229 m
Bassin 11268 m
Bassin III 298 m
Bassin IV 280m (durchschnittl.)'
jedes der beiden Bassins 300 mj
Länge des Wellenbrechers
1086 m
500 + 500 +1600 m
Breite der Einfahrten . .
vor Molo I 95 m
vor Molo V 400 m : zwischen ^
vor Molo III 165 m
den Wellenbrechern je 233 m
Hangars. Belegfläche . .
46.000 m'
128.000 m5
Magazine, Relegfläcbe . .
153.000 in»
180.000 m ■
1 Zahl der Uferkrahne . .
54
95
| Gesamt areal
1
417.828 m»
603.000 m!
Ranm wird für etwa 30 Schiffe großen Tounengehaltes geschaffen, und
zwar bei der Meerestiefe von 12 bis 18 m gerade für solche größter Verhältnisse.
Die Kosten für sämtliche Hafenanlagen beziffern sich nach den bezüg-
lichen, allgemein gehaltenen Voranschlägen auf 87*1 Mill, Kronen, wovon 53'9
auf die eigentlichen Hafenbauten und 33‘2 Mill. Kronen auf die Freigebietsaulage
entfallen.
Als leitender kommerzieller Gesichtspunkt war bei der Anlage maßgebend
die Erwägung, daß ein möglichst rascher, einfacher und billiger Umschlag
zwischen Schiff und Land und insbesondere zwischen Schiff und Bahn zu ermög-
lichen sei. Hiebei war insbesondere darauf Bedacht zu nehmen, daß durch die
zweite Bahnverbindung mit Triest, welche eben in St. Andrea münden soll,
hauptsächlich der Durchzugsverkehr einen wesentlichen Aufschwung erfahren
wird, daß also die überwiegende Mehrzahl der Güter im zukünftigen Freigebiete
nur vorübergehend gelagert wird, somit der Warenverkehr in den allgemeinen
Lagerräumen dem im unmittelbaren Umschlag sich abwickelnden Verkehre an
Bedeutung nicht unwesentlich nachstehen werde. Auch ist es nicht wahrscheinlich,
daß die Vermietung von Lagerhausflächen an Private in demselben Verhältnis
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Die neuen Triester Uafenbauten.
541
wie derzeit im neuen Hafen Vorkommen werde. Dagegen maß auf die Ein- and
Ausfuhr der hohe Lagerzinse nicht vertragenden Massengüter sowie deren
Lagerung im Freien in weitgehendem Maße gerechnet werden. Unter diesen
Voraussetzungen war es geboten, den Hafen in St. Andrea reichlich mit Hangars
und freien Lagerplätzen auszugestalten und derart einzurichten, daß Zu- und
Abstellung der Eisenbahnwagen in ungehinderter Weise zu jeder Zeit und wo-
möglich, ohne den Verkehr der eigentlichen Lagerhäuser zu kreuzen oder zu
behindern, vor sich gehen könne.
Da. wie erwähnt, der Bedarf an Magazinen in den Hintergrund treten
dürfte, wird die Anlage einer Reihe Lagerhäuser voraussichtlich genügen. Sollte
aber diese Vermutung sich nicht verwirklichen, vielmehr der Bedarf an allge-
meinen Lagerräumen und Privatmagazinen sich in einer Weise steigern, daß die
projektierten Magazine nicht mehr ausreichen würden, so ist die Möglichkeit
gegeben, auf Anschüttnngsflächen vom Leuchtturm bis zum kleinen Bootshafen
in St. Andrea hinreichenden Raum für deren Errichtung zu gewinnen, was bei
der nicht bestehenden Notwendigkeit, unmittelbar vor den Lagerhäusern sichere
Schiffsanlegestellen zu schaffen, um so leichter wird geschehen können, wenn für
die vorderhand an jener Stelle gedachten Holzlagerplätze anderswo, nämlich in
Servola, Ersatz gefnnden wird.
Geplant sind 22 Hangars, deren benützbare Flüche zwischen 4700 und
8200 n/! beträgt, welche Verschiedenheit in der Größe nicht als ein Nachteil
bezeichnet werden kann, weil in den Hafen Schiffe verschiedenen Tonnengehalts
einlaufen.
Bei der Bestimmung des Flächenausmaßes des Hangars wurde auf die
Löschung von Schiffen bis zn 9000 Tonnen Gehalt Rücksicht genommen, so daß
eine volle Ladung in einem einzigen Hangar zur Löschung gelangen kann.
Die Gesamtbelegfläche der zu errichtenden Hangars beläuft sich sonach
anf 128.200 »t*. welche sich bei Aufführung von Obergeschossen in einzelnen
Hangars auf 160.400 mä erhöhen würde, eine Fläche, die auch im Falle eines
bedeutenden Verkehrsaufschwunges auf absehbare Zeit hinaus allen Anforderungen
genügen dürfte.
Die Hangarlängen schwanken zwischen 120 bis 207 m und worden den
verschiedenen Schiffslängen angepaßt; die Hangarbreiten wurden mit 45 m fest-
gesetzt. Vor den Hangars ist eine Riva mit 14 m Breite gedacht, auf welcher
ein Umschlagsbahngeleise angelegt wird; an der Landseite der Hangars sollen
drei Geleise den Bahnverkebr vermitteln, eines für den Umschlag, das mittlere
für die Waggonanfstellmig, das innerste als Dnrchzngsgeleise.
An den Köpfen der Moli wird ein freier Lagerraum für die einstweilige
Lagerung von Massengütern (Mineralien, Erze, Holz) belassen; als Hauptlager-
platz für diese Artikel ist übrigens das östliche, gegen das Lloydarsenal gelegene
Ende des neuen Freigebietes auserseben.
Die Magazine anlangend, sind deren acht in zwei Reiben landscits der
Hangars projektiert; sie werden mit Keller, Erdgeschoß und drei Stockwerken
vorsehen und bieten einen Belegraum von 180.000 ws. Ihre Breite wurde, ein-
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542
I.ippert.
schließlich des Perrons zu 1’50 m, mit nnr 28 m bemessen, innerhalb welcher
Grenze das Tageslicht zur Erhellung des Innern der Abteilungen ausreicht.
Die Bestimmung der neuen Hafenanlage ist die, vorzugsweise zur Bedienung
des indischen und ostasiatischen Verkehrs gewidmet zu bleiben; denn eine solche
Trennung des Verkehrs nach Weltgegenden erwies sich als angezeigt, um die
nachteiligen Folgen der abgesonderten Lage des älteren und neuen HafenteUes
zu mildern sowie um die Schwierigkeiten in der Betriebsführung des Eisenbahn-
dienstes tunlichst zu beheben.
Das gewaltige Hafenwerk wird nach seiner Vollendung Triest zu einem
der grüßten und besten Häfen des Mittelmeerbeckens emporheben und im Bereiche
desselben wird dieser Platz außerordentlich günstig Handel und Verkehr ver-
mitteln können, wie nur wenige andere Häfen einer mächtigen Entwicklung
entgegengehend.
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LITERATUR BE RECHT.
Eduard Huirno, k. k. MinUtcrial-Vizesekret&r, im Finanzministerium.
Die Bechtsaprcchnng des Verwaltungsgcrichtshofes auf dem Gebiete des
Gesetzes vom 25. Oktober 1896, R. G.-Bl. Nr. 220, betreffend die direkten
Personalsteuern «eit Beginn der Wirksamkeit des Gesetzes (1898—1901).
III. Teil des Kommentars zu diesem Gesetze, herausgegeben von Eduard Bugno
und Pr. Emil Wilmer, Wien, 1902, M. Breitenstein, 240 S.
Unter diesem — trotz einiger hier bereits durchgeführten Kürzungen noch immer
etwas zu lang geratenen — Titel ist als vollständig für sich bestehende Arbeit eine
auUerordentlich übersichtliche Zusammenstellung der Verwaltungsgerichtshof-Judikatur
nun neuen PersonalsteuergeBetze erschienen; in möglichst engem Anschlüsse an den
Wortlaut der Entscheidungsgründe ‘werden hier von Bachkundiger Hand prägnante
Rechtssätze aus etwa 1000 Erkenntnissen und Bescheiden des Verwaltungsgerichtshofes
hcransgezogen, nach den einschlägigen Paragraphen gereiht und innerhalb dieser Ordnung
wieder systematisch gruppiert, so daß sich der Xachschlagendc in der denkbar kürzesten
Zeit über den letzten Stand der Judikatur zu orientieren vermag. Hiemit hat sich der
Autor den Dank jener weiten Kreise verdient, welche über den jeweiligen Stand der
einschlägigen Judikatur informirt zu sein wünschen, ohne in der Lage zu sein, die
immer mehr anschwellende Zahl der Judikate in extenso zu studieren und sich
wenigstens die wichtigeren der — bisher nicht veröffentlichten — Beschlüsse und Be-
scheide zu verschallen. Dankbar werden aber auch alle jene die Zusammenstellung
begrüßen, welche die Entwicklung des direkten Steuerwesens in den verschiedenen
Ländern mit Aufmerksamkeit verfolgen wollen ; denn ihnen eröffnet sich hier in leicht
zugänglicher Weise eine überreiche Fundgrube praktisch vorgekommener Bestcuerungs-
fällc, aus welcher sie — auch wenn die konkret getroffene Entscheidung nicht
immer ihre Billigung wird finden können — gleichwohl gewiß Anregung und Belehrung
in vielen bisher noch wenig geklärten Fragen der Besteuerung schöpfen werden.
Einen ganz besonderen Reiz gewinnt die vorliegende Zusammenstellung dadurch,
daß sie uns einen Überblick über einen vollständig neuen Zweig der Verwaltnngs-
gerichtshof-Judikatur verschafft: Das Personalsteuergesetz hat nämlich wohl die durch-
greifendste Umgestaltung eines ganzen großen, in sich geschlossenen Verwaltungszweiges
herbeigeführt, welche seit Bestand unseres VerwaltungBgerichtshofes überhaupt stattgefunden
hat; es hat sich daher dem Verwaltungsgerichtsbofe hier auch zum ersten Mal die
Gelegenheit geboten, von allem Anfänge an auf die Entwicklung der Praxis bestimmenden
Einfluß zu nehmen. Von dieser Möglichkeit wurde tatsächlich der umfassendste Gebrauch
gemacht und mit dem Zeitpunkte des Inslebentretens des neuen Gesetzes insbesondere
auch die eigene frühere Judikatur dermaßen zur Seite geschoben, daß manche Gesetzes-
stelle, durch welche lediglich die bisherige PraxiB kodifiziert werden sollte — z. B. die
Bestimmungen über die Behandlung der Verwaltungsratsbezüge, der Couponsteropel-
gebühren, der veijährtcn Dividenden etc. etc. — nunmehr zum Ausgangspunkte ciuer
geradem gegenteiligen Praxis genommen wurde.
Die Neuerungen beschränken sich nun aber keineswegs auf das engere Gebiet
des Finanzrechtes, sondern greifen auf eine Reihe von Fragen über, welche für das
Administrativverfahren im allgemeinen von Wichtigkeit sind und daher auch außerhalb
des Kreises der Steuerpraktiker und -tlieoretikcr Aufmerksamkeit verdienen. Hieher
Zniucbrifi für VolkawirUohaft, Sozialpolitik und Verwaltung. Xtf. Rand. 37
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544
Literaturbericht.
gehören interessante und fein distinguierte Erörterungen über die Frage der Zulässigkeit
der reformatio in pejus sowie (allerdings schon in das Jahr 1902 fallend — z. B. Er-
kenntnis vom 17. April 1902, Budw. 9*10) weit ausgreifende Deduktionen über die Folgen der
Kontumaz in erster Instanz auch für das zweitinstanzliche Verfahren: hieher gehört
aber vor allem der radikale und soweit ich sehen kann, unvermittelte Bruch mit einer
dezennienlangen Judikatur, zufolge welcher eine nachträgliche Sanierung von Mängeln
des Adtninistrativverfahren« für zulässig erklärt worden war: Die neuere Judikatur stellt
sich demgegenüber auf den Standpunkt, daß „wesentliche" Mängel des Verfahrens im
Instanzenwege nicht saniert werden können, vielmehr die Wiederholung des ganzen
Veranlagungsverfahrens erfordern; hiebei wird überdies die Wesentlichkeit des Mangels
nicht so sehr nach der konkreten Bedeutung desselben für den Einzelfall als vielmehr unter
Annahme gewisser essentieller und rücksichtlich ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge un-
verrückbarer Formerfordemisse beurteilt. In weiterer Konsequenz dieser Auffassung
gelangt der V erwaltun gsger ichtahof zur Lehre von der „ursprünglichen Nichtigkeit“ der
auf Grund eines derart mangelhaften Verfahrens erlassenen behördlichen Verfügungen
und berührt damit Fragen, welche in der verwaltnngsrechtlichen Theorie bekanntlich
noch immer strittig sind und wohl auch bei einer eventuellen Reform unsere« Admini-
strativ Verfahrens noch eingehend erörtert werden müßten; denn es wird «ich darum
handeln, das tatsächliche Maß der dieser Weise augeblich bewirkten Erhöhung des
Rechtsschutzes des Einzelnen ins klare und weiter fcstzustellen, inwieweit die hiedurch
bewirkte Beeinträchtigung öffentlicher Interessen, die Vennehrung der verwalt ungs-
behürdlichcn Arbeit und die bekanntlich sehr unangenehm empfundene wiederholte
Inanspruchnahme der Zensiten mit der vermeintlichen Erhöhung des Rechtsschutzes in
richtigem Verhältnisse stehe.
Das Personalsteuergesctz hat endlich nicht nur eine radikale Reform dieser
Steuern lierbeigeführt, sondern auch das Gesetz über den VerwaUungsgerichtshof selbst
in der einschneidendsten Weise abgeändert, — da der Verwaltungsgerichtshof erst von
nun ab über die Entscheidungen der mit Laienelementen besetzten Steuerkommissionen,
ferner der aus Richtern und Verwaltungsbeamten zusammengesetzten Spruchsenate im
•Strafverfahren, sowie endlich über Beschwerden der Vorsitzenden der zweitinstanzlichen
Kommissionen gegen Entscheidungen dieser Kommissionen zu erkennen hat. Die vor-
liegende Zusammenstellung ladet daher förmlich dazu ein, festzustellen, wie der Ver-
waltungsgerichtshof sich mit diesem ihm durch das Personalsteuergesetz zugewiesenen
erweiterten Wirkungskreise abgefundeu hat, und zu untersuchen, ob Bich auf dein neu
betretenen Tätigkeitsfelde .Schwierigkeiten ergeben haben und welche Abhilfe hier etwa
geboten wäre.
Es kann selbstverständlich nicht Aufgabe dieser Anzeige sein, die hier berührten
Fragen im Detail zu verfolgen, vielmehr soll nur darauf verwiesen werden, daß in der
vorliegenden Zusammenstellung trotz der Kürze der Beobachtungszeit — welche nament-
lich auf dem Gebiete der Stenerstrafen noch gar kein Material geliefert hat, da die
hier einschlägigen, höchst bemerkenswerten Erkenntnisse (z. B. jenes vom 28. Februar
1902, B. 827) erst nach dem Jahre 1901 erflossen sind — schon Anhaltspunkte
zu ihrer Beantwortung gefunden werden können. Kurz angedeutet, dürfte sich aus der-
selben ergeben, daß die große Kluft, welche zwischen den Entscheidungen einer auf
Grund ihrer eigenen Sach- und Personenkenntnis schätzenden Kommission und der
Judikatur eines lediglich auf Grund der Akten entscheidenden Gerichtshöfe« natur-
notwendig besteht, durch die gegenwärtigen gesetzlichen Bestimmungen noch keineswegs
vollkommen befriedigend fiberbrückt ist; daß die Vorschriften über die Überprüfung des
Verfahrens bei dieser Sachlage — wie dies im Strafprozesse bei einigermaßen analogen
Verhältnissen der Jury gegenüber geschehen ist — einer wesentlichen Präzisierung
bedürften, um zwischen der Betonung des Momentes der Überprüfung« m Cgi ichkeit
einerseits und der tatsächlichen Gestaltung des auf Grund mündlicher und unmittelbarer
Verhandlungen durchzuführenden Vcranlagungsr erfahrene anderseits die Harmonie herzu-
stellen, und daß endlich auch die ■teuergesetslichen Bestimmungen über den Bedenken-
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Literatorbericht.
545
Vorhalt und über die Befugnis zur Feststellung des KinkommenstcuerBatzes einer Revision
bedürften, da sich in der Auslegung dieser für das ganze Veranlagungsvcrfahren wichtigsten
Bestimmungen gegen Wirt ig eine weitgehende Divergent der Anschauungen bemerkbar
macht. In dieser Richtung fällt in »besondere die starke Betonung der Worte: Behelfe,
welche die Hohe des einzuschätzendeu Einkommens zi ff ermäßig genau erkennen
„lassen“ und die damit verbundene überaus restriktive Auslegung des § 212 („Fest-
setzung der Kinkonunensstufe durch die Kommission auf Grund der gepflogenen Ver-
handlungen4) zu Gunsten einer extensiven Auslegung des $ 214 (Schatzung des Ein-
kommens nach äußeren Merkmalen) auf, durch welche die Gefahr entsteht, daß dieser
vom Gesetze offenbar als Notbehelf gedachte § 214 zu einer geradezu führenden Rolle
berufen werde.
Wie in diesen Punkten, so wird eine eventuelle Reform des Personalsteuergesetzes
gewiß auch in zahlreichen anderen Beziehungen mit den Ergebnissen der Vcrwaltungs-
geriebtshof- Judikatur rechnen müssen; cs wäre daher Behr zu begrüßen, wenn die der-
malen hie und da noch bemerkbaren Schwankungen in der Judikatur, welche teils in ein-
ander unmittelbar widerstreitenden Erkenntnissen zum Ausdrucke kommen, teils aber
sich iu Rechtssätzen offenbaren, welche bei konsequenter Weiterbildung zu einer in-
kongruenten Gesetzeshandhabung führen müßten, nbei wunden und durch eine streng
einheitliche Judikatur ersetzt würden. Dieses Ziel konnte meines Erachtens schon
durch die vom preußischen Oberverwaltungsgerichtshofe geübte Methode, sich jeweils
mit den in früheren Judikaten ausgesprochenen einschlägigen Rechtsanschaunngcn
auseinanderzusetzen, ferner durch die Aktivierung des schon im 1875er Gesetze vorgesehenen
eigenen Steuersenates, endlich durch Schaffung eines Judikatenbuches nach Analogie des
für den obersten Gerichtshof bestehenden Vorbildes wesentlich gefördert werden. Sollte
die dringend wünschenswerte Entlastung des Verwaltungsgerichtshofes von der Unzahl
der cauaae miserabilcs — welche gegenwärtig mit dem wohl ganz unverhältnismäßigen
Apparate einer öffentlichen mündlichen Verhandlung vor einem Vierer-Senate durch-
geführt werden müssen — über kurz oder lang zu einer Revision des Verwaltungs-
gerichtshofgesetzes den Anstoß geben,1) so dürfte wohl auch der Wunsch nach Sicherung
der Einheitlichkeit der Judikatur Berücksichtigung finden. Wert und Einfluß der
Verwaltungsgerichtshof-Judikatur fär Administrative und Praxis müßte noch erheblich
steigen, wenn die zu erhoffende Fortsetzung der vorstehend angezeigten trefflichen
Zusammenstellung künftighin das Bild einer durchaus homogenen Rechtssprechung
erschließen könnte. Reisch.
Charles Booth, Life and Labour of the people in London. Third seriös:
rcligious influeuces. 7 Bände. Macinillan and Co.
Bevor wir in die Besprechung der neuerechienenen sieben Bände des Boothschcu
Werkes eingehen, wird es zweckmäßig sein, uns den wesentlichen Inhalt der ersten
neun Bände desselben ins Gedächtnis zurückzurufen.2) Charles Booth hat dort die
Bevölkerung Londons in ihrer sozialen insbesondere wirtschaftlichen Lage statistisch
dargestellt. Er klassifizierte die ganze Bevölkerung Londons nach zwei Methoden.
Zuerst gliederte er sie auf Grund der Aufzeichnungen der School board visitors nach
Wohlstands- beziehungsweise Annutsklassen und stellte die Verteilung dieser Klassen
straßenweise kartographisch dar. Sohin teilte er die ganze Bevölkerung neuerdings auf
Grund des 1891er Zensus in soziale Klassen ein, und zwar die Armen nach Maßgabe der
Dichtigkeit in ihren Wohnungen, die Wohlhabenden nach der Zahl ihrer Dienstboten.
Mit letzterer Gliederung verband er eine eingehende Darstellung der einzelnen Londoner
Erwerbszweige. In das Werk wurden überdies eingefügt: Monographien der Gewerbe in
East London, Untersuchungen der Wohn- und Schulverhältnisse, der Einwanderung ctc.
Eine besondere moralstatistische Erfassung der Bevölkerung sollte folgen.
*) Seit «ler Niederschrift die*ei Siiih Nt im Herrenbauve tatsirblNb bereits ein Ton bernfeDster
Seit«: brrrflbrcndfcr Au trag auf Krlassung einer -lies behaglichen Ciraethesnovi-lie eingebracht worden.
’l Din ersten vier It&nde bilden in der neuen Ausgabe de* (IriimlnvrkM Serie I, betitelt Poverty
die Bünde 5— 'J Serie II, betitelt Indn»try.
37*
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546
Literaturbericht.
Als ihren ersten Teil bringen nunmehr tlie neuerschienenen sieben Bände (Serie
III des Gesamtwertes) die Resultate einer erschöpfenden Untersuchung der religiösen
Organisationen jeglicher Art. Die charakteristischen Merkmale derselben, ihre Bedeutung
für ihre engeren Anhänger, ihr EinfluU auf die Masse des Volkes, schließlich ihre
Beziehungen zueinander werden dargestellt. Die ersten sechs Bünde behandeln London
in geographischer Gliederung. Von Stadtteil zu Stadtteil wandernd, beschreibt Booth
das kirchliche Leben wio es sich im Anschlüsse an die einzelnen Gotteshäuser der
verschiedenen Konfessionen in mannigfachen Können entwickelt hat und in verschiedener
Weise auf die benachbarte Bevölkerung einwirkt. Gleichzeitig werden aber auch zahl-
lose Beobachtungen betreffend Wohnung«- und Gesondhcitaverhältnisse, Heirat lichkcit,
Sparsamkeit, Alkoholismus. Verbrechertum und Prostitution verzeichnet und die sozial-
politischen Maßregeln der autonomen Behörden besprochen. Auch neue „deskriptive
Karten der Londoner Armut“ mit den seit 1*89 eingetretenen Veränderungen sind den
Kapiteln für die einzelnen Stadtteile beigeschlossen. Der Schlußband VII faßt die
Resultate für die einzelnen religiösen Organisationen zusammen.
Zweifellos gehört das Forschungasiel, das sich Booth gesetzt hat, zu den inter-
essantesten und wichtigsten. Allerdings ist es nicht möglich, die individuelle innere
Religiosität direkt zu erfassen. Auch handelt es sich Booth nicht in erster Linie darum,
Jen moralischen Einfluß der verschiedenen Konfessionen auf ihre Anhänger qualitativ
zu vergleichen. Booth begibt sich nur ausnahmsweise auf das religionsphilosophische
Gebiet. Nicht in den ohnehin mehr oder weniger überein stimm inen den religiösen Lehr-
sätzen äußern sich die Unterschiede der verschiedenen Konfessionen. Die Verschieden-
artigkeit der religiösen Verbände hat ihren Grund vor allem in dem verschiedenen
sozialen Milieu derselben. Daher das besondere Interesse, das Booth der sozialen Lage
der Angehörigen der verschiedenen Konfessionen zuwendet. Sie ist nach seiner Meinung
maßgebend für die Richtung deB religiösen Lebens, maßgebend noch mehr für die
Betätigung der Kirchen auf dem Gebiete des Unterrichtes, der Armenpflege ctc.
Gerade anf diesen und verwandten Gebieten entfalten die Religionsgenossenschaften die
mannigfaltigste Tätigkeit und sind daher auch als soziale Entwicklungsfaktoren in
Betracht zu ziehen.
Charles Booth und seine Mitarbeiter haben alle vorhandenen Informationsquellen
zu Rate gezogen, was hei der großen Zahl der Religionsgenossenschaften keine geringe
Arbeit war. Zirka 1800 auf dem Gebiete der Religion tätige Personen der verschiedensten
Richtungen wurden eingehend befragt und ihre Angaben mit den bei dem Besuche der
betreffenden Kirchen und Organisationen gemachten Beobachtungen verglichen. Zahllose
gedruckte Berichte religiöser Anstalten, ihre Zeitschriften, Zirkulare, Versammlungs-
Protokolle ctc. wurden durchstudiert. Es liegt mehr vor als eine Enquete. Es wurden
aus der Masse der Erscheinungen nicht einzelne behufs näheren Studiums ausgewählt oder
allgemeine Gutachten eingeholt; die zahllosen lokalen religiösen Aktion »Zentren wurden
so gut wie alle auf dem Wege der Besichtigung und der Befragung ihrer Leiter erfaßt;
das gesamte statistische Material der einzelnen religiösen Vereinigungen wurde ver-
wertet; offizielles Material lag insofern keines vor, als in England bei der Volkszählung
die Frage nach dem Religionsbekenntnisse nicht gestellt wird.
Das Werk von Charles Booth kann wohl als die hervorragendste moderne
Arbeit auf dem religiösen »Spezialgebiete der »Soziologie bezeichnet werden.
Von dein Bilde der Tatsachen, das uns Booth gibt, können hier mangels
Raumes wohl nur wenige charakteristische Züge angedeutet werden.
Von allergrößter Bedeutung ist die von Booth behauptete Tatsache, daß dio
Masse der arbeitenden Klasse in Londcn im großen und ganzen außerhalb des kirchlichen
Lehens steht, sich an religiösen Übungen nicht beteiligt und von den Bestrebungen der
verschiedenen Religionsgenossenschaften unbeeinflußt bleibt.
Die englische Staat skirclic in ihren verschiedenen Richtungen und die zahlreichen
Sekten der Dissenter (Nnnkonformisten), wio die Kongregationalisten, die Baptisten, die
Wesleyaner und die Methodisten, ebenso dio Presbyterianer, die UniUrier, die Quaker etc..
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Literatur bericht
547
wurzeln alle im Mittelstände beziehungsweise den besitzenden Klassen; lediglich den
Baptisten ist es gelungen, einen Bruchteil der Arbeiterklasse zu gewinnen. Bas normale
kirchliche Lebeu aller dieser protestantischen Beligionsgenossenschaften ist dem sozialen
Milien, in dem sie wurzeln, angepaßt; letzterem entsprechend auch die den Kirchen ange-
gliederten sozialen Organisationen. Diese pflegen eine auf dem Kontinente ganz unbekannte
vielseitige Entwicklung zn nehmen. Abgesehen von der Pflege des Unterrichtes werden für die
Religionsgenossen im Anschlüsse an die einzelnen Gotteshäuser Vereine (Klubs) aller Art
gegründet, insbesondere Mäßigkeit*-, Tierschutz- und Diskussionsvereine, aber auch Ver-
eine für die Jugend zur Pflege aller möglichen Sporte, zur Veranstaltung von Ausflügen ctc.
ln allen diesen Organisationen spielt natürlich das Laienelement eine gToßc Bolle und
es ergibt sich eine gewisse soziale Homogenität ganz von selbst
Allerdings entwickeln alle diese Religionsgenosseuschaften gleichzeitig eine rege
Tätigkeit im Interesse der religiösen und sozialen Hebung der alleruntersten Klasse der
„Armen“, insbesondere durch eigens organisierte Missionen in den armen Stadtvierteln.
Auch hier wird die religiöse Propaganda unterstützt durch soziale Arbeit, wie Sonntags*
schulen, Versammlungen der Hausfrauen der NacEbarschaft (mothers Meetings, eine
ausschließlich protestantische Erscheinung), Gründung verschiedener Klubs, Besuch der
Armen in ihren Wohnungen, Volksausspeisungen etc.
Aber die Älasse der zwischen Mittelstand und Armenproletariat stehenden Arbeiter-
klasse hält sich abseits. Die Ursachen dieser Tatsache sind nach lJooth verschiedene.
Nicht daß Religiosität als rein individuelle innerliche Tatsache in der Arbeiterklasse
erloschen wäre. Aber die Betätigung der kirchlichen Förmlichkeiten wird außer acht
gelassen. Weltliche Interessen füllen die freie Zeit des Arbeiters aus. Selbstbewußtem
entspricht mehr seiner Stimmung als Selbsterniedrigung. Die Einhaltung der religiösen
Tradition ist am Lande infolge der engen Nachbarschaftsvcrhältnisse einer Kontrolle unter-
worfen, die bei der persönlichen Isoliertheit in der Großstadt fehlt. Auch fühlt sich der
Arbeiter in den normalen, dem Mittelstände an gepaßten kirchlichen Versammlungen Londons
nicht zu Hause. In den protestantischen Kirchen fällt bekanntlich der Predigt die
Hauptrolle zu und „dieselbe Predigt taugt nicht für verschiedene Klassen“. Anderseits
stölit gerade das patronisierende Auftreten uuter den Armen den selbstbewußten Arbeiter
ab. Die Bemühungen der einzelnen Sekten, unter der Armenbevölkerung durch charitative
Unterstützungen Anhänger zu gewinnen, arten nämlich nach Booth geradezu in gewerbs-
mäßigen Seelenkauf ans.
In England gehören alle Personen, die sich zu keiner anderen Kirche oder Sekte
bekennen, zur Staatskirche, so der größte Teil der Arbeiter, aber ihre Zugehörigkeit ist
eine rein theoretische.
Diese Schilderung bezieht sich »jedoch nicht auf die katholische Bevölkerung.
Die katholische Kirche allein scheint im stände zu sein, die Verschiedenheit der Klassen
zu überwinden. Es gibt in London nahezu 200.000 Katholiken, nach ihren eigenen
Schätzungen. Die Hauptmasse bilden jedoch nicht Einheimische, sondern arme Irländer
und Italiener, auch zahlreiche Franzosen und Deutsche. Die Katholiken sind kirchlich
mul sozial gut organisiert, insbesondere ihre Volksschulen wirken erfolgreich, sie ent-
wickeln aber keine nennenswerte Propaganda nach außen hin. Die Gewinnung Englands
für den Katholizismus hält Booth für ausgeschlossen.
Anderseits ist aber anch die „Free Cburch“-Bewegung. welche die Vereinigung
der Kirchen der Nonkonformisten bezweckt, bisher noch nicht weit vorgeschritten. Es
gibt momentan keine wirklich starke Strömung, welche den Status quo wesentlich zu
ändern im stände wäre. Eigenartige Religionsgenossenschaften aber von geringem
allgemeinem Einflüsse sind die Brethrcn, die „catholic apostolic Church“, die Swcden-
borgianer und die Agapemoniten, deren Haupt sich für den Messias hält.
Erwähnenswert ist schließlich der Einfluß der Positivsten und der ethischen
Gesellschaften, obgleich er sich direkt nur innerhalb eines engen Kreises äußert. Die
Heilsarmee unter der Leitung des „Generals“ Booth (nicht zn verwechseln mit dem Autor der
hicrbesprochenenBöchcrjhat von London aus ihre Organisation über die ganze angtosaxonisch
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Litemturbericht.
Kalturwelt ausgebreitet. Sie verkündet den Armen und Verlassenen das Evangelium,
sacht ihnen durch großartige humanitäre Institutionen, wie Nachtasyle, Volksküchen,
Arbeitshäuser für Arbeitslose, eine landwirtschaftliche Kolonie etc. beizustehen und
vereinigt schließlich ihre Anhänger in einem einheitlichen religiösen Verbände.
Eine ähnliche Tätigkeit wie die Heilsarmee entwickelt die Church Artny, nur mit
dem Unterschiede, daß diese letztere einen Zweig der Staatskirche bildet. Gleich den
Katholiken besitzen die meisten protestantischen Kirchen weibliche Kongregationen, ins-
besondere für Unterricht und Armenpflege. Heilsarmee, Church Anny und Kongregationen
bemühen sich uin die Kettung gefallener Mädchen und nehmen sich der entlassenen
Sträflinge an.
Im Anschlüsse an die Untersuchung der von den Religionsgenosscnichaften aus-
gehenden Einflüsse bespricht Booth die Tätigkeit der Settlements, dio mit wenigen
Ausnahmen (wie Toynbee Hall, Passmore Edwards Settlement und einige andere) auch
der religiösen Propaganda bestimmter Sekten dienen.
Nach den Darlegungen Booths ist an der weit verbreiteten religiösen Indifferenz
Londons nicht mehr zu zweifeln. Es ist die intellektuell-moralische Erziehung des
Volkes, auf dio Booth seine Hoffnungen setzt. Daher schlägt er auch vor, die Kirchen
der City, die infolge Abwanderung der Bewohner in äußere Stadtteile ihre ursprüngliche
Aufgabe nicht mehr erfüllen können, in Tempel der Volksbildung umzuwandeln. Die
zahllosen Arbeiter und Angestellten, welche tagsüber die City bevölkern, sollen dort
Abends nach Arbeitsschluß einige Stunden Erholung und Belehrung finden.
Innere Religiosität ist eine individuelle und keine Klassentatsache. Aber die
Entwicklung der religiösen Organisationen ist durch eine Reihe gesellschaftlicher
Tatsachen beeinflußt. Demographische Momente, wie Geschlecht und Alter, äußern ihren
Einfluß in der größeren Anteilnahme des weiblichen Geschlechtes und der Jugend.
Auch der nationale Faktor tritt in London hervor: Die Walliser gehören fast ausnahmslos
der methodistischen Kirche an, die ihnen auch allein den Gottesdienst in ihrer heimat-
lichen keltischen Mundart bietet; die Irländer sind gute Katholiken und die Schotten
erfüll en zweifellos religiöse Pflichten viel gewissenhafter als die Engländer. Die soziale
Differenzierung der Bevölkerung schließlich ist von der allergrößten Bedeutung für den
Entwicklungsgang der einzelnen religiösen Organisationen. Die Farbenverteilung auf der
Boothschen Londoner Armutskarte deutet gleichzeitig die Art und die Stärke des
religiösen Lebens an. In den gelben, wohlhabenden Vierteln finden wir auch reiche
meist anglikanische Kirchen mit zahlreichen Besuchern wenigstens Sonntag Morgens ;
die roten vom Mittelstände bewohnten Viertel weisen ein aktives, meist nonkonformistisches
religiöses und daran anschließendes soziales Leben auf; rosa bedeutet Arbeiterklasse
und .Mangel religiöser Betätigung, blau Armut und Missionen; je dunkler die Schattierung
wird, desto hoffnungsloser wird dort jede religiöse aber auch jede erziehliche Tätigkeit.
Der noch ausstellende Schlußband VIII soll die übrigen auf die Londoner
Bevölkerung cinwirkendeu sozial-ethischen Kräfte analysieren und die Resultate des
ganzen Werkes zusammenfassen. Zizek.
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DIE GEWERBEGERICHTE IN ÖSTERREICH.
VOM
MINISTERIALRAT D«. HUGO SCHAUER.
Ais am Ende des vorigen Jahres Ergänzungswahlen für das Gewerbe-
gericht Wien stattfanden, vereitelten die Arbeitgeber einer Gruppe durch
Wahlenthaltung den ersten Wahlgang. Unterstützt durch einige größere
Unternehmerorganisationen wollten sie damit ihrer Unzufriedenheit mit den
Gewerbegerichten überhaupt und speziell mit der Organisation und Wirksam-
keit des Wiener Gewerbegerichtes Ausdruck geben. Unter der Führung des
niederösterreii liisclien Gewerbevoreiues wurden der Kcgierung gleichlautende
Petitionen überreicht, in denen die hauptsächlichsten Beschwerdepunkte
dargelegt und Abhilfe verlangt wurde. Das Justizministerium berief eine
Enquete ein, in der zunächst Vertreter der Unternehmerverbände, die ihre
Wünsche bekanntgegeben batten, vernommeu wurden.
In den Petitionen wurden folgeude Wünsche formuliert:
1. Scheidung der Wahlkörper und der Senate des Gewerbegerichtes
in solche für handwerksmäßige und fabriksmäßige Betriebe, unbeschadet der
Notwendigkeit besonderer Abteilungen des Gewerbegerichtes für die Handels-
gewerbe im engeren Sinne;
2. Vermehrung und zweckentsprechende Zusammenlegung der Fach-
gruppen;
3. Vereinfachung der Anlegung der Wählerlisten durch Zulassung der
Anmeldung der Wähler seitens der Genossenschaltsvorstehungeu und der
industriellen Korporationen:
4. Gewährung von Diäten an die Unternebmerbeisitzer in den Senaten
für handwerksmäßige und kleingewerbliche Betriebe;
5. Aufnahme einer strikten Bestimmung über Jlutwilleusstrafen in das
Gesetz;
6. Beistellung entsprechender Lokalitäten filr das Wiener Gewerbe-
gericht und endlich
7. Novellierung des g 77 der Gewerbeordnung in dem Sinne, daß.
wenn über die Kündigungsfrist nichts anderes vereinbart ist, das Arbeits-
verhältuis jederzeit sofort aufgelöst werden kann, und des g 88 der Gewerbe-
Zeitschrift für VolkavrirUchaft, Sozialpolitik und Verwaltung. XII. lUml.
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Schauer.
550
Ordnung in der Richtung, daß der Anschlag der Arbeitsordnung genügen
solle, um deren Bestimmungen über den Arbeitsvertrag für den Arbeitgeber
und den Arbeiter rechtsverbindlich zu machen.
Gleichzeitig hat der Zentralverband der Industriellen Österreichs an
die Mitgliedsverbände eine Umfrage gerichtet, deren Ergebnis in Nr. 16 der
.Industrie“ 1903 zusammenfassend dargestellt ist und im allgemeinen
günstig lautet, ln einem Nachwort zur Gewerbegerichtsenquete in Nr. 96
des .Fremdenblatt“ vom 7. April 1903, wird dagegen summarisch und
ziemlich abfällig über die Gewerbegerichte geurteilt. Auch sonst besteht
eine lebhaft zum Ausdruck gebrachte Verschiedenheit der Meinungen über
die Wirksamkeit der Gewerbegerichte. Die Arbeiterschaft verlangt sie und
ist mit ihrer Tätigkeit zufrieden, die Unternehmer lehnen sie im Prinzip
zwar nicht ab. erklären aber, daß sie zur Zeit zu diesen Gerichten kein
Vertrauen haben. Bei solchem Widerstreit der Meinungen dürfte es von
Interesse sein, den heutigen Stand der G ewerhegerichte zu betrachten, deren
wesentlichste Einrichtungen darzustellen, über die Erfahrungen und über
die Verhandlungen der Enquete und ihre Ergebnisse zu berichten. Auf diese
Weise werden sich die Gründe der Bewegung klarstellen lassen und viel-
leicht wird auch ein Schluß auf die künftige Entwicklung möglich sein.
I.
Gewerbegerichte wurden in Österreich zuerst mit dem Gesetze vom
14. Mai 1869. R.-G.-Bl. Nr. 63, eingefflhrt. Es wurden fünf Gewerbegerichte
errichtet, von denen jedoch nur vier wirklich aktiviert wurden und bis zur
Schäftung der Gewerbegerichte neuen Stils bestanden. Zu einer reicheren
Entwicklung konnte das Gesetz wegen seiner Mängel nicht führen.
Die Kostenfrage war in diesem Gesetze nicht gelöst, nur umgangen.
Es wurde verlangt, daß schon mit dem Antrag auf Errichtung eines Gewerbe
gerichtes der Nachweis erbracht wird, auf welche Weise die Kosten bedeckt
sein sollen. Der Staat trug nichts dazu bei. Dies hinderte die Errichtung
neuer Gerichte. Der wesentlichste Mangel war aber der, daß der Vorsitzende
des Spruchkollegiums, dessen Stimme bei Streitverhandlungen den Aus-
schlag gab, wenn die Arbeiter- und Unternehmerbeisitzer verschiedener
Ansicht waren, in der Versammlung der Mitglieder des Gewerbegerichtes
aus ihrer Mitte gewählt werden sollte. Daran scheiterte sogar die Aktivierung
des schon errichteten Gewerbegerichtes in Reichenberg.
Gewerbegerichte waren nur für Orte, in welchen Gewerbe fabriksmäßig
betrieben wurden, in Aussicht genommen. Für die Kleingewerbe, denen
eine sachkundige, rasche und billige Justiz ganz besonders notwendig
gewesen wäre, waren die Gewerbegerichte nicht bestimmt. Ihre Kompetenz
war keine ausschließliche. Das Verfahren war ein unmittelbares und münd-
liches, doch konnten die Gewerbegerichte Zeugen nicht mit Zwangsbefugnis
laden und Eide nicht almehmen. In Streitsachen bis zu SO 11. entschieden
sic endgültig, größere Ansprüche konnten ungeachtet des gewerbegerichtliehen
Urteils vor den ordentlichen Gerichten neuerlich geltend gemacht werden.
Die Gewrerbegerichte in Österreich. 5«il
Obwohl auch die alten Gewerbegerichte befriedigend gewirkt haben,
so konnte sich die Einrichtung wegen ihrer organisatorischen Mängel doch
nicht recht entwickeln und dem Bedürfnisse des Rech tslebens entsprechen.
Gelegentlich der Verhandlungen im Abgeordnetenhause Aber die neue
Zivilprozeßordnung hat Abgeordneter Dr. Baernreither einen Initiativ-
antrag auf Einführung von Gewerbegericliten nach dem von ihm vorgelegten
Entwürfe eingebracht (Nr. 950 der Beilagen zu den stenographischen Proto-
kollen. XI. Session 1894). Der Antrag wurde dem Permanenzausschusse
zur Vorberatung der Zivilprozeßvorlagen zugewiesen und gleichzeitig mit
diesen beraten und verabschiedet. Berichterstatter war der Antragsteller.
Sein Bericht i Nr. 1837 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen.
XI Session 1895) enthält eine vorzügliche Darstellung des Standes der
Frage und die legislativpolitischen Erwägungen für die Reform der Gewerbe-
gerichte nach dem Vorbilde des deutschen Gesetzes vom 29. Juli 1890. Es
sei gestattet, im allgemeinen auf diesen höchst instruktiven Bericht zu ver-
weisen. (Separataiisgabe des Gewerbegerichtsgesetzes hei Manz, Wien. 1898).
Die Gewerbegerichte neuen Stils sind staatlich organisierte
Schöffengerichte. Der Vorsitzende sowie dessen Stellvertreter, müssen für
das Richteramt befähigte, wenn auch nicht aktive richterliche Beamte sein:
sie werden vom Justizminister ernannt Tatsächlich versehen bei allen zur
Zeit bestehenden Gewerbegerichten aktive Richter die Funktion des Vor-
sitzenden. Neben ihm walten als Richter in den Fällen, die nicht schon bei
der ersten Tagsatzung (durch Vergleich, Verzicht, Zurückweisung der Klage
wegen prozeßhindernder Einreden, durch Zurücknahme der Klage, oder
durch Urteil über Anerkenntnis, Verzicht oder Versäumnis) erledigt »erden.
($5 28 Gewerbegerichtsgesetz) zwei Beisitzer, die von den Unternehmern und
Arbeitern der dem Gewerbegerichte unterstellten Betriebe für eiue vierjährige
Funktionsdauer gewählt werden. Sie werden vom Vorsitzenden des Gewerbe-
gerichtes auf Grund der von ihm festgestellten Dienstliste (Ministcrialver-
ordnung vom 23. April 1898, R.-G.-B1. Nr. 57) oder mittels besonderer Ein-
ladung von Fall zu Fall (§ (5 der zitierten Verordnung) zugezogen, und zwar je
einer aus dem Stande der Arbeitgeber und aus dem Stande der Arbeitnehmer.
Die Zuständigkeit der Gewerbegerichte ist eine obligatorische und aus-
schließende (§ 23 des Gewerbegerichtsgesetzes). Der Bereich der örtlichen Zu-
ständigkeit und der Umfang der sachlichen Zuständigkeit wird durch die
Verordnung bezeichnet, mit der das Gewerbegericht errichtet wurde. Bei
sämtlichen Gewerbegerichten, die bisher errichtet worden sind, ist der vom
Gesetze zugelassene Umfang der sachlichen Zuständigkeit voll in Anspruch
genommen. Die sachliche Zuständigkeit umfaßt bei allen Gewerbe-
gerichten alle im Sprengel bestehenden gewerblichen Betriebe, und zwar
sämtliche der Gewerbeordnung unterliegenden Beschäftigungen und Unter-
nehmungen und die gewerblichen Unternehmungen des Staates imit Aus-
nahme der militärischen Etablissements).1)
9 Die Zuständigkeit kann sich auch auf die Eisenbahn- und BinnendampfschilT-
fahrts-Cntemehmungen erstrecken, doch sind für diese Unternehmungen die Gewcrbe-
88*
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Schauer.
552
II.
ln Wien, Brünn, Bielitz und Reichenberg mußten schon infolge der
Anordnung des Gesetzes (§ 2, Absatz 2, Gewerbegerichtsgesetz) Gewerbe-
gerichte errichtet werden, uud mit Beginn der Wirksamkeit des ueuen
Gesetzes, d. i. mit I. Juli 1898 in Tätigkeit treten. Im übrigen ist die
Errichtung von Gewerbegerichten ziemlich umständlich und von einem Faktor
abhängig, auf den die mit der Errichtung betrauten Ministerien keinen
unmittelbaren Einfluß haben. Die Errichtung erfolgt nach eingeholtem Gut-
achten des Landtages und nach der bisher nur im Falle der Errichtung
eines böhmischen Bezirksgerichtes verlassenen Auslegung der gleichlautenden
Bestimmung des § 2 des Gesetzes vom I. Juni 1868, R.-G.-BI. Nr. 59.
wird diese Vorschrift dahin verstanden, daß zwar ein negatives Votum des
Landtages kein rechtliches Hindernis bildet, ein Gericht zu errichten, daß
aber die Errichtung nicht erfolgen kann, wenn der Landtag Oberhaupt kein
Gutachten abgibt. Dadurch wird nun die Errichtung der Gewerbegerichte
mitunter zum mindesten verzögert.1)
Im ganzen wurden bisher 15 Gewerbegerichte aktiviert, und zwar in
Wien, Brünn, Bielitz und Reichenberg (1898 , Lemberg. Krakau, Mährisch-
Ostrau, Mährisch-Schönberg (1899), Prag, Pilsen, Teplitz, Aussig, Graz,
Leoben und Jägerndorf (1900).
Auch nach dem neuen Gewerbegerichtsgesetz ist es die Kostenfrage,
die die Ausbreitung der Gewerbegerichte einigermaßen hemmt. Die sach-
lichen Erfordernisse, nämlich die mit der notwendigen Einrichtung vei
»ebenen Amtslokalitäten, dann Beheizung, Beleuchtung und sonstige sach
liehe Erfordernisse (insbesondere Drucksorten und Schreibmaterialien) haben
die Gemeinden, für deren Gebiet ein Gewerbegericht errichtet wird,
im Verhältnis der ihrem Gebiete vorgeschriebenen Erwerb- und Einkommeu-
steuerleistung zu bestreiten. Alle übrigen Kosten, insbesondere den Auf-
wand für das Personal, für die Präsenzgelder der Beisitzer, für Zeugen-
und Sachverständigengebühren in Armenrechtssachen trägt der Staat (§ 6
Gewerbegerichtsgesetz). Die Gemeinden scheuen nun die auf sie entfallenden
geeichte noch nirgends aktiviert, da ca bisher an einer brauchbaren uud sicheren Ab*
grenzung des Arbeiterbegriffes mangelt. Es ist auf Grund des geltenden Rechts nicht
zu ermitteln, welche Kategorien von Bediensteten als Beamte und Unterbeamte der
Zuständigkeit der Geweibegeiichte entrückt und welche als Arbeiter ihnen unter-
stellt sein sollen. Der Entwurf einer Gesetzesnovelle, die diese Lücke auszufülleu
bestimmt wäre, wurde unter Nummer (336 in der XVI. Session, daun neuerlich unter
Nummer f»37 in der XVII. Session des Reichsrates im Abgeordnetenhause einge-
bracht. Eine Verhandlung hat aber über diesen Entwurf bis heute noch nicht statt-
gefunden.
*) Beispielsweise wurde das Projekt der Eriicbtuug von vier neuen Gewerbe-
gerichten in Niederösterreich, nämlich in Liebing, Schwechat, Wiener-Neustadt und
Neunkirchen schon einmal dem niederösterreichischen Landtag zur Begutachtung vor-
gelegt. ohne dall es zur Erstattung des Gutachtens gekommen wäre. Die Session wurde
geschlossen, ehe im Plenum des Landtages das zustinimend lautende Gutachten des
Ausschusses auf die Tagesordnung gestellt war.
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-
Die Gewerbegerichte in Österreich. 558
Kosten und verhalten sieh aus diesem Grunde nicht selten gegen ein ihnen
sonst keineswegs unsympathisches Projekt ablehnend.3)
Die von den Gemeinden zur Vertilgung gestellten Atntslokalitäten
entsprechen nicht überall dem Bedarf und ihrem Zweck. Insbesondere sind
seit jeher über die Unterbringung des Gewerbegerichtes in Wien in einem
der Gemeinde Wien gehörigen Hause in der Florianigasse lebhafte Klagen
laut geworden. Deren Berechtigung wurde von den Funktionären der Stadt-
gemeinde Wien in der Enquete vom 30. März 1903 nicht in Abrede gestellt.4)
Die Rücksicht auf die Kostenfrage führte dazu, einen neuen Typus
von Gewerbegerichten zu schaffen, bei dem sich diese Schwierigkeiten ver-
meiden lassen. Man war darauf bedacht, einerseits den Gemeinden größere
Kosten zu ersparen, anderseits aber die Arbeitskraft des zum Vorsitzenden
bestellten Richters, die hei weniger beschäftigten Gewerbegerichten nicht
ganz in Anspruch genommen wird, voll verwerten zu können. Zu diesem
Behufe wurden Gewerbegerichte mit voraussichtlich kleinerem Geschäfts-
umfange derart an das Bezirksgericht angeschlossen, daß es weder eines
besonderen Personales noch weiterer Räumlichkeiten bedarf. Es handelt
sich da nur formell um die Errichtung eines selbständigen Gewerbegerichtes,
tatsächlich wird lediglich bei dem Bezirksgerichte das schöffengerichtliche
Äi Da mittlerweile die Steuerreform durchgeführt warde, war auch der im Gesetze
aufgestellte Verteilungsschlüssel nicht mehr zutreffend und mußte durch interne Erlässe
den neuen Steuerkategorien »allgemeine und besondere Erwerbssteuer) angepaßt werden.
Auch der formelle Vorgang bei Durchführung der Aufteilung bedurfte erst der näheren
Regelung.
*) Es sind zu wenig Verh&ndlungasäle vorhanden, infolgedessen müssen die Senate,
um die Verhandlungen zeitgerecht durchführen zu können und Rückstände zu vermeiden,
jeden Tag der Woche, auch den Samstag zu Verhandlungen benutzen, obwohl es an
diesem Tage wegen der Lolmauszahlung den Parteien und Zeugen beschwerlich ist, vor
Gericht zu erscheinen. Die Verhandlnnguftle sind zu klein, verdienen diesen Namen gar
nicht, Warteräume sind nicht vorhanden. Für die Parteien ist es daher mißlich, auch
nur eine Viertel- oder eine halbe Stunde zu warten, zumal die zahlreichen Verhandlungen
eine unverhältnismäßig große Anzahl von Rechtsuchenden zu gleicher Zeit in den Gängen
nnd auf den Stiegen des alten, demolierungsreifen Hauses zusammen führt. Die Parteien
sind dadurch genötigt, vor den Verhandlungszimmern mit ihren Prozeßgegnern in
Berührung zu treten, woraus sich, wie in der Enquete mitgeteilt wurde, mitunter unlieb-
same, selbst peinliche Erörterungen und Auftritte ergeben.
In demselben Verhältnis als würdevolle, ernste aber nicht unbehagliche Räumlich-
keiten durch ihren unverkennbaren Einfluß auf das Verhalten aller Beteiligten die Ver-
handlungen nnd deren Ergebnis fördern, wirken unpassende und zweckwidrige Lokalitäten
im entgegengesetzten Sinne. Der Aufenthalt im Gerichtshause wird dadurch den Parteien
noch mehr verleidet, als dies ohnehin schon die Notwendigkeit, zu warten, der Anlaß
des Erscheinens und die unvermeidlichen Erörterungen mit sich bringen. Die Vor-
stellung von der Bedeutung und Wichtigkeit des Vorganges, von der Würde des Gericht«
und von der Notwendigkeit besonders anständigen Verhaltens wird geradezu gehemmt,
wenn sich in einem schlecht gelüfteten,’ engen, ungeeigneten Raume Richter, Parteien
und Zuhörer zusamm»*ndrüngen müssen.
Die Vertreter der Gemeinde haben ührigens in der Enquete mitgeteilt, daß die
Demolierung des Hauses, in dem das Gewerbegericht untergebracht ist, in Aussicht steht
und daß man sich damit beschäftigte, einen den Anforderungen entsprechenden Ersatz
zu beschaffen.
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Schmier.
554
Verfahren für gewerbliche Reehtsstreitigkeiten eingeführt. Der Bezirksrichter
uiler ein Einzelrichter des Bezirksgerichtes ist zugleich Vorsitzender des
Gewerbegerichtes und kann zu der Zeit, da er mit gewerbegerichtlicheu
Sachen nicht beschäftigt ist, in den bezirksgerichtlichen Geschäften arbeiten.
Dieser Typus von Gewerbegericliten, der z. B. bei den Gewerbegerichten
Jägerndorf, Bielitz, Mährisch-Schönberg schon besteht, und bei den Gewerbe-
gerichten Neunkirchen und Schwechat angewendet werden soll, ermöglicht
mit geringen Kosten auch an solchen Orten Gewerbegerichte zu errichten,
die sich sonst wegen der geringen Anzahl von gewerblichen Streitigkeiten
dazu nicht eignen würden.
III.
Die Verordnung, durch die ein Gewerbegericht errichtet wird, bezeichnet
den Sprengel des Gewerbegerichtes sowie den Umfaug seiner Zuständig-
keit (§ 2 des Gewerbegerichtsgesetz i, d. h. jene Kategorien von gewerb-
lichen Unternehmungen, für die das konkrete Gewerbegericht geschaffen
wird. Damit ist auch der Kreis der Personen umschrieben, deren Streitig-
keiten vor das Gewerbegericht gehören. Das Gewerbegericht ist nämlich be-
rufen. zur Austragung von gewerblichen Streitigkeiten, die in § 4 des Gewerbe-
gerichtsgesetz taxativ aufgezählt sind, und zwar zwischen gewerblichen Unter-
nehmern und Arbeitern, ferner zwischen Arbeitern solcher Betriebe unter-
einander. Wer als Arbeiter im Sinne des Gewerbegerichtsgesetzes anzu-
sehen ist, bestimmt § 5 des Gesetzes, im wesentlichen im AnschluU an
den Arbeiterbegriff der Gewerbeordnung. Als Arbeiter im Sinne des Gewerbe-
gerichtsgesetzes sind aber auch Personen anzusehen, die nach der Gewerbe-
ordnung als Arbeiter nicht in Betracht kommen. Es gelten auch die Werk-
meister, Werkfflhrer und Vorarbeiter als Arbeiter. Desgleichen aber auch
Taglöhner (Art. V, lit. d) der Gewerbeordnung),1 1 Heimarbeiter, ferner beim
Handelsgewerbe alle zu kaufmännischen Diensten verwendeten Personen,
auch wenn sie nach § 73 der Gewerbeordnung nicht unter die Kategorie der
gewerblichen Hilfsarbeiter fallen, weil sie höhere Dienste leisten, wie Buch-
halter, Kassiere, Expedienten, Reisende u. dgl.
Während somit allerdings beim Handelsgewerbe im engeren Sinne alle
zu kaufmännischen Diensten verwendeten Personen als Arbeiter im Sinne
des Gewerbegerichtsgesetzes betrachtet und dem Gewerbegerichtc unterstellt
werden, ist dies hinsichtlich der beim Produktionsgewerbe beschäftigten
Personen nicht der Fall, insoweit sie höhere Dienste leisten.*1)
■"') Die Gewerbegerichte verlangen mit Recht, daU der im Tagluhn beschäftigte
Arbeiter, regelmäßig beim Gewerbe Verwendung findet, auf die Qualifikation der
geleisteten Hilfsarbeit wird kein Gewicht gelegt. Kntscheidung Nr. 349, 495, Sammlung.
Andere Tagelöhner sind nicht als gewerbliche Hilfsarbeiter anzusehen und unterstehen
nicht dem Gewerbegerichte.
*) Dr. Siegmund Gränberg (Der Arbeiterbegriff des Gewerbegericlitagesetzes
„Gerichtazeitung“ Nr. 33, 1901) vertritt die Ansicht, daü die Handlungsgehilfen und
Handlungslehriinge, die beim Produktionsgewcrbe beschäftigt sind, als Arbeiter im Sinne
den Gewerbegerichtsgesetzes nicht- anzuschcn sind. Sie leisten dem Unternehmer zwar
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Die Gewerbegerichte in Österreich. 555
Diese sachlich nicht begründete Verschiedenheit der Behandlung von
Personen gleicher Beschäftigung und gleicher Stellung wurde schon hei der
Enquete im Jahre 1898, die von der Wiener Handelskammer durchgeführt
wurde, bemerkt und getadelt. Sie würde zum Teil wenigstens verschwinden,
wenn die Gewerbenovelle (Nr. 1102 der Beilagen zu den stenographischen
Protokollen Abgeordnetenhaus XVII.. Session 1901) Gesetzeskraft erlangen
würde. Nach der vorgeschlagenen neuen Fassung des § 78 der Gewerbe-
ordnung fällt nämlich unter den Begriff Hilfsarbeiter das gesamte kauf-
männische Hilfspersonal (Handlungsgehilfen) der Handels- und Produktions-
gewerbe mit Ausnahme der Prokuristen. Disponenten und sonstigen leitenden
Beamten. Dadurch wird dann auch die sachliche Zuständigkeit der Gewerbe-
gerichte in zutreffender Weise auf die Angestellten der Prodnktionsgewerbe
ausgedehnt. Der unmotivierte Unterschied in der jurisdiktionelien Behandlung
von Dienststreitigkeiten der Reisenden. Kassiere und Buchhalter heim Pro-
duktions- uud beim Handelsgewerbe würde entfallen.
IV.
In erster Linie stellt man an das gewerbegerichtliche Verfahren die
Anforderung, daß es schleunige und leicht erreichbare Justiz
biete. Der Ausschußbericht äußert sich darüber folgendermaßen: »Die wirt-
schaftliche Entwicklung hat einmal dahin geführt, daß viele gewerbliche
Arbeiter schon eine relativ gesicherte Existenz haben, wenn sie auf Wochen-
verdienst rechnen können, während eine gewiß nicht geringere Anzahl auf
Tagesverdienst angewiesen ist. Bei Streitigkeiten, wo es sich in solchen
Verhältnissen um Lohnabzüge. Entlassung, Ausfolgung der Arbeitsbücher
oder Eintragungen in dieselben etc. handelt, kommt richterliche Hilfe zu
spät, wenn sie nicht sofort angerufen werden, und wenn sie nicht unmittelbar,
sicher ohne jede Verzögerung eingreifeu kann.*
Hierauf mußte schon bei Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit
Bedacht genommen werden. Die Gewerbegerichte dürfen keinen zu großen
Sprengel haben und es wäre geradezu verfehlt, wie bei den Verhandlungen
über die Errichtung einzelner Gewerbegerichte des öfteren vorgeschlagen
wurde, ihnen etwa das ganze Gebiet eines Gerichtshofes zuzuweisen. Die
Sprengel der Gewerbegerichte, die bisnun errichtet wurden, erstrecken sich
zumeist nur auf das Gebiet der am Sitze des Gewerbegerichtes befindlichen
Bezirksgerichte' oder auf benachbarte durch gute Kommunikation mit dem
kaufmännische Dienste, aber sie seien nicht in seinem Gewerbebetrieb beschäftigt. Dieser
Ansicht ist nicht zuzustimmen, da das Produktionsgewerbe auch den Vertrieb der Er-
zeugnisse umfaßt. Die hiebei verwendeten Hilfspersonen sind somit allerdings im Gewerbe-
betrieb beschäftigte Hilfsarbeiter und daher Arbeiter im Sinne des § 5 lit. b des Gewerbe-
gerichUgesets.
7) Reichenberg: Gerichtsbezirk Reichenberg.
Mähr.-Ostrau: Gerichtsbezirk Mähr.-Üstrau.
Pilsen: Gerichtsbezirk Pilsen.
Teplitx: Gerichtsbezirk Teplitz.
Graz: Gerichtsbezirke Stadt Graz und Umgebung Graz.
Lemberg: Gerichtsbezirke Lemberg und Umgebung Lemberg
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556
Schauer.
Gewerbegerichtsortc verbundene Gemeindegebiete oder Gerichtsbezirke.8) Der
Sprengel des Gewerbegericlites Prag umfaßt das Gebiet von Prag und den
Vororten (Gerichtsbezirkc: Karolinenthal. Königliche Weinberge, Smichov
und Ziikov). Sehr groß ist der Sprengel des Gewerbegerichtes Mährisch
Schönberg. Er umfaßt drei Gerichtsbezirke und fünf Gemeinden eines
vierten Bezirkes.9)
V.
Die Gewerbegerichte sollen nicht nur schleunigen Rechtsschutz gewähren,
sondern auch gute Justiz Oben. „In den gewerblichen Streitigkeiten handelt
es sich um eine ganz bestimmte Kategorie von Rechtsgeschäften, bei der
Erfahrung, Herkommen, Kenntnis der Gewohnheiten, von technischen Vor-
gängen. von sprachlichen Spezialitäten und Ausdrücken eine große Rolle
spielen. Soll die Rechtsprechung rasch und sachgemäß zugleich sein, so ist
unerläßlich, daß sie ihre notwendigen Informationen nnmittelbar aus dem
Geschäfts- und Lebenskreis schöpfe, in dem sich die Streitigkeiten bewegen.
Es ist die Heranziehung des Laienelements eine Notwendigkeit* (Ausschuß-
bericht). Die Mitwirkung an der Rechtsfindung durch die Beisitzer aus dem
Kreise der rechtsnehmenden Unternehmer und Arbeiter soll der ursprüng-
lichen. lebensfrischen Auffassung der beteiligten Kreise Einfluß verschaffen.
Die Bedürfnisse des Geschäftsverkehres, die wirtschaftliche Lage der
Beteiligten, die Übungen und Gewohnheiten im Gewerbebetriebe sollen bei
der Rechtssprechung zur Geltung kommen. Allein das Gesetz deutet mit
keinem Worte an, daß die Beteiligung von fachkundigen Beisitzern an der
Rechtsfindung als eine Art von Interessenvertretung aufgefaßt
werden dürfe, eine Auffassung, die in der Enquete vom Jahre 1898 und bei
der letzten Enquete wieder in der Forderung zum Vorschein kam. daß jede
Art von Gewerbe im Gewerbegerichte „vertreten sein soll* und daß ein
Zusammenhang hergestellt werden müsse zwischen den Berufsorganisationen
der Gewerbe und den Wahlen. Den Gewerbegerichten ist nicht die Aufgabe
gestellt, über die Gesetze hinweg speziellen Interessen zu dienen, sondern
sie haben auf Grund der bestehenden Gesetze Recht zu sprechen. Für den
Vertreter einseitiger Standes- oder Klasseninteressen ist auf der Richterbank
kein Platz. Ein Beisitzer, der mit der vorgefaßten Absicht, so gut als
möglich Klasseninteressen zur Geltung zu bringen, sein Amt verwalten
möchte, würde pflichtwidrig handeln, und müßte nach § 17 lit. b des Gewerbe-
gerichtsgesetzes wegen grober Verletzung seiner beschworenen Amtspflichten
vom Amte enthoben werden. Glücklicherweise ist diese mißverständliche
*') Wien: Gebiet der Stadt Wien und Gemeindegebiet von Floridsdorf und Stadlau.
Brünn: Stadtgebiet und 15 angrenzende Gemeinden.
Bielitz: Bielitz und 8 Gemeinden.
Jägerndorf: J&gemdorf und 4 Gemeinden.
Krakau: Gerichtsbezirke Krakau und Podgörze.
Aussig: Gerichtsbezirke Aussig und Karbitz.
Leoben: Gerichtsberichte Leoben und Bruck an der Mur.
’*> Mähr.-Schünberg: Sprengel der Bezirksgerichte Miihr. -Schönberg, Wiesenberg und
Hohenstadt, ferner 5 Gemeinden des Gerichtsbezirkes Mäbr.-Neustadt.
Die Gewerbegerichte in Österreich.
557
Auffassung bisher nur vereinzelt im Publikum, nicht aber bei den Beisitzern
der Gewerbegerichte zu finden. Diese haben ihre Aufgabe richtig erfaßt
und das ihnen entgegengebrachte Vertrauen gerechtfertigt.
Auch in der Richtung wird die Stellung der Beisitzer nicht zutreffend
beurteilt, daß man ihren Fachkenntnissen eine zu große Bedeutung
beilegt. Das Gesetz hat den Gedanken, daß es vorteilhaft ist. wenn im
Richterkollegium Träger fachmännischer Kenntnisse vorhanden sind, keines-
wegs übertrieben. Es enthält nur die Vorschrift, daß gegebenenfalls für die
Streitigkeiten zwischen Handeltreibenden und ihren Bediensteten eine besondere
Abteilung des Gewerbegerichtes zu bilden ist, und das die Wahl der Bei-
sitzer für diese Abteilung getrenut von den anderen Wahlen in einem
besonderen Wahlkörper zu geschehen hat (§ 21 Gewerbegerichtsgesetzl.
Dagegen ist nirgends vorgeschrieben, daß die Beisitzer aus den einzelnen
dem Gewerbegerichte unterworfenen Betriebsarten genommen werden müßten.
Das Gesetz (§ 10, Absatz 4) läßt es nur zu, die Wahlkörper nach der
Größe der Betriebe zu teilen, wenn sich die Zuständigkeit des Gewerbe-
gerichtes auf verschiedenartige Kategorien von großen und kleinen Betrieben
erstreckt. Die Verordnung über die Errichtung der Gewerbegerichte in Wien,
Brünn. Kcichenberg, Graz. Krakau, Lemberg und Prag teilt die Betriebe in
Gruppen verwandter Betriebe ein und bestimmt im Sinne des § 21 der
Ministerinlverordnung vom 23. April 1898. R.-G.-Bl. Nr. 56. daß eine
bestimmte Anzahl von Beisitzern aus den Wahlberechtigten dieser Betriebs-
gruppen zu wählen ist. Diese Teilung wurde aber, wie bemerkt, extra
legem vorgeschrieben, sie ist in gewissem Umfang zweckmäßig, ja selbst im
Sinne des Gesetzes gelegen. Man darf aber den Wert der fachmännischen
Kenntnisse eines Beisitzers nicht überschätzen. Dieselbe Erfahrung wie im
Deutschen Reiche wurde auch bei uns gemacht. Die gewerblichen Streitig-
keiten betreffen nur höchst selten technische Fragen des Arbeitsprozesses,
oder nur in Gewerben gewisser Art gestellte Anforderungen an den Arbeiter,
oder nur in einem bestimmten Betriebe vorkommende sonstige tatsächliche
Verhältnisse. Zumeist handelt es sich um die Entscheidung typischer Fragen,
die bei allen oder doch sehr vielen Gewerben Vorkommen. Streitigkeiten
wegen grundloser Entlassung, wegen Nichtbeschäftigung (sogenanntes Aus-
setzen), Streitigkeiten über den Lohn, über die Kündigung, über das Zurfiek-
behalten der Arbeitsbücher und dergleichen bilden die Regel.
Auch in der Enquete vom März und April d. J. wurde unumwunden zuge-
geben, daß mit wenigen Ausnahmen regelmäßig solche RechtsfiUUe Vorkommen,
die jeder Beisitzer, ohne daß er einer bestimmten Fachgruppe angehören
müßte, zu beurteilen vermag. Die häufig auftauchende Frage, welcher Betrag
als Entschädigung für Verdienstentgang mit Rücksicht auf den üblichen
Tage- und Wochenlohn angemessen ist, kann gleichfalls so ziemlich jeder
Beisitzer beantworten, da die Lobnverhältnisse allgemein bekannt sind.
Besondere Fachkenntnisse sind somit nur selten notwendig. Erheischt
aber einmal ein Fall solche Fachkenntnisse, so ist es fast ein Zufall, wenn
sich unter den Beisitzern gerade ein Mann findet, der den Anforderungen
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Schauer.
un einen Sachverständigen auch wirklich entspricht. Denn die Beisitzer
werden nicht bloß mit Kncksicht auf ihre technischen Kenntnisse gewählt,
sondern für die Wahl ist eine ganze Keilie anderer Erwägungen maßgebend,
insbesondere das Vertrauen der Wählerschaft, vielleicht auch die größere
Betriebsamkeit des Kandidaten, oder doch seine Bereitwilligkeit, das Amt
zu übernehmen u. a. m.
Wenn der Wahlvorgang nicht bis zur l’ndurchfahrbarkeit kompliziert
werden soll, ist es auch gar nicht möglich, die Aufteilung der Beisitzer
unter die verschiedenen Gewerbe so einzurichten, daß auf jede Betriebsart
oder auch nur Betriebsgruppe ein Beisitzer entfällt.1")
In schwierigen Fällen ist, wie die Erfahrung gezeigt hat, die Bei-
ziehung eines vom Gerichte bestellten Sachverständigen nicht zu ver-
meiden.
Es ist ganz unmöglich, schon durch die Art der Wahl eine Gewähr
dafür zu geben, daß für jeden Rechtsstreit ein mit aller erforderlichen
Sachkenntnis ausgestatteter Beisitzer zur Verfügung steht; diese Forderung
ist unberechtigt, undurchführbar und es heißt, einen gesunden Gedanken
zu Tode hetzen, wenn man dieses Verlangen mit dem Argumeut vertritt,
man brauche die ganzen Gewerbegerichte nicht, falls nicht die Sachkenntnis
der Beisitzer die Zuziehung von Sachverständigen überflüssig macht. Tat-
sächlich sind auch außerhalb Wiens bisher von keiner Seite in dieser
Richtung Beschwerden laut geworden, obwohl bei keinem Gerichte die
Gliederung der Wahlkörper unter dem Gesichtspunkte der fachlichen Scheidung
so kompliziert ist wie in Wien. Bei der Mehrzahl der Gewerbegerichte sind
überhaupt die Betriebe nur in Groß-, Klein- und Handelsbetriebe unter-
schieden. Bielitz, Aussig, Jägerndorf, Leoben, Mähr.-Ostrau. Mähr.-Schönberg.
Pilsen, Teplitzi. ll)
Die Forderung nach einer weiteren fachlichen Gliederung der Wahl-
gruppen des Gewerhegerichtes in Wien, die in den Petitionen gestellt
worden ist, wurde denn auch in der Enquete vom 30. März d. J. außer
von jenen Experten, die von der Vorstellung einer Interessenvertretung im
Gewerbegerichte beeinflußt schienen, nicht weiter urgiert. Die Teilung der
Gruppen des Wiener Gewerbegerichtes in solche nach Groß und Klein-
betrieben wurde aber auch in der Enquete einmütig gefordert.
*") Nach der Klassifikation der Unternehmungen and Beschäftigungen (Beilage I,
zur Vollzugsforschrift zum l’ersnnalsteuergesetz, R.-G.-Bl. Kr 35, 1897; sind ungefähr
350 Gruppen und Arten von Betrieben zu zählen, die dem Geirerbegericht unterstellt
sind. Wenn man sich bloü darauf beschränken würde, die Klasseneinteilung der Kin-
teilung der Wahlgruppen zu Grunde zu legen, so würde man XXIV Wablgruppen
erhalten, die aber anch wieder die verschiedensten Betriebe in sich vereinigen würden,
wie z. B. in der Klasse IV die Gold- und .Silberarbeiter, die Nagelschmiede und
Klempner n. a. m.
U) Die Einteilung des Gewerbegerichtes in Reicbenberg ist nur .scheinbar reicher
gegliedert als jene des Gewerhegerichtes in Wien. In Wien bestehen sechs Fachgruppen,
in Reichenherg, wo die Gruppe der Textilindustrie und der Metallindustrie nach Groß-
und Kleinbetrieben untergeteilt ist. bestehen eigentlich nur fünf Gruppen.
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Die liewerbegerichte in Österreich. 559
Die Berechtigung dieser Forderung ist eigentlich niemals in Abrede
gestellt worden, wie sich daraus ergibt, daß bei den meisten Gewerbegerichten
eine solche Scheidung angeordnet ist.18)
Schon in der Enquete vom Jahre 1898 vertraten die Experten der
Unternehmer vieler Betriebsgruppen die Forderung nach Teilung in Groß-
und Kleinbetriebe. Die Arbeitnehmer perhorreszierten allerdings damals
ausnahmslos jede Trennung.” i Die Handels- und Gewerbekammer in Wien
befürwortete im Jahre 1898 nach dem Ergebnisse der Enquete die Teilung
im Wahlkörper der Unternehmer, sprach sich jedoch gegen die Teilung
im Wahlkörper der Arbeitnehmer aus.
Die Regierung hat bei Aktivierung des Gewerbegerichtes in Wien
wegen der Erschwerung der Wahlen, die zum ersten Mal nach dem neuen
Gesetze für alle Gewerbebetriebe in Wien durchzufOhren waren, von der
Trennung der Betriebe abgesehen und reine Fachgruppen gebildet. Hieför
war auch maßgebend, daß ein Teil der Unternehmer eine Scheidung nur
von dem Gesichtspunkte aus durchgefOhrt wissen wollte, ob der Betrieb
fahriksinlßig betrieben wird, während allerdings der größere Teil der Unter-
nehmer-Experten mit der Teilung nach dem Steuersatz zufrieden gewesen
wäre. Der Bund der österreichischen Industriellen erneuerte schon im Jahre
1898 die Forderung nach Trennung der Wahlkörper, erklärte aber auch da
ganz entschieden, daß eine Teilung nach dem Steuersätze nicht befriedigen
würde. Der Magistrat hingegen betonte ebenso bestimmt, daß eine Unter-
scheidung nach fabriksmäßigen und nicht fabriksmäßigen Betrieben nicht
durchführbar wäre. Trotzdem wurde auch in der letzten Petition wieder
diese Art der Scheidung verlangt und die Teilung nach dem Steuersätze
ausdrücklich abgelehnt. Allenfalls erklärte man sich damit einverstanden,
daß die Wähler optieien dürfen. Erst als in der Enquetesitzung vom 30. März
von den Vertretern der Gemeinde Wien neuerlich erklärt wurde, daß Wahlen
**) Beine Fachgruppen, ohne Teilung nach der Grölte des Betriebes, weisen nur
die Gewerbegerichte in Wien, Graz, Lemberg und Krakau auf. Bei allen übrigen
Gewerbegerichten sind entweder alle oder doch einige Gattungen von Betrieben uacki
der Höhe der Steuerleistung in Groß- und Kleinbetriebe zusammengefaßt. Bei allen
Gewerbegerichten bildet der Erwerbsteuersatz von 300 K das Unterscheidungsmerkmal.
'*) Sie wiesen auf die bedeutende Fluktuation des Arbeiterpersonals hin. Irgend-
eine Unterscheidung iu der manuellen Geschicklichkeit oder im intellektuellen Verständnis
bestehe zwischen Arbeitern der Groß- und Kleinbetriebe nicht. Die Wahl werde durch
die Trennung, für die sich übrigens kein zutreffendes Merkmal finden lasse, rerzögeit.
erschwert und verteuert. Entscheidend war aber für ihre Ablehnung wohl die Befürchtung,
daß ein Arbeiterbeisitzer, der aus der Gruppe der Großindustrie gewählt ist, gemäß
§ 18 Gewerbegerichtsgesetz sein Mandat verlieren könnte, wenn er während seiner
F'unktionsdauer in einen Kleinbetrieb übertreten würde. Diese Besorgnis ist aber offenbar
ganz unbegründet, weil § 18 des Gesetzes nach seinem ganz klaren, nicht mißzuver-
stehenden Wortlaut nur den Fall iln Auge hat, daß der Beisitzer durch Übertritt zu
einem anderen Berufe (z. B. als Kedakteur einer Zeitschrift oder Sekretär einer Arbeiter*
Organisation u. dgl.) dauernd seine Arbeitereigonschaft einbüßt oder seit drei Monaten
bei Unternehmungen in Arbeit gestanden ist, fiir welche das Gewerbegericht überhaupt
nicht zuständig ist.
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560
Schauer.
auf dieser Grundlage nicht durchgeführt werden können und daß gegen
die Selbsteinschätzung manche Bedenken bestünden, wurde das Verlangen
der Scheidung nach dom Merkmale der Fabriksmäßigkeit dps Betriebes
endgültig fallen gelassen. Die Knquete erklärte sich nun einmütig mit der
Teilung der Wahlkörper nach dem Steuersätze einverstanden. Hätte man
sich auf diesen einzig möglichen Standpunkt früher gestellt, wäre dem
Verlangen nach Vornahme der Wahlen in getrennten Gruppen für Groß-
und Kleingewerbe sicherlich längst entsprochen worden.
Für die Scheidung ist nämlich tatsächlich manches anzufflhren. Nicht
nur die Verschiedenheit in der Organisation der Arbeit und in den An-
forderungen an den einzelnen Arbeiter sowie das Vorhandensein von Arbeits-
ordnungen, die dem Arbeitsverhältnis zu Grunde liegen, auch die ökonomische
Situation des Unternehmens, das Milieu des Betriebes ist ein anderes. In
den Großbetrieben, die überhaupt den Gewerbegerichten wenig Arbeit geben,
kommen Streitigkeiten, wie sie in den Kleingewerben an der Tagesordnung
sind, fast gar nicht vor. Hier hat der rechtliche Verkehr zwischen Unter-
nehmer und Arbeiter noch mit Schwierigkeiten zu kämpfen, da auf beiden
Seiten große Unkenntnis über die Rechte und Pflichten besteht. In den
Großbetrieben dagegen ist das Arbeitsverhältnis in der Regel ein geordnetes.
Streitigkeiten, nie lediglich in der Nachlässigkeit hei Begründung und Auf-
lösung des Arbeitsverhältnisses, bei der Uohnbestimmung ihren Grund haben,
sind da selten. Hienaeh ist die Forderung, daß an der Entscheidung von
Streitigkeiten in den Großbetrieben nur Beisitzer aus diesen Betrieben teil-
nehmen sollen, bis zu einem gewisseu Grade nicht unbegründet. Auch
läßt sich nicht bestreiten, daß die in der Minderzahl befindlichen Unter-
nehmer von Großbetrieben bei den Wahlen von der großen Zahl der Klein-
meister majorisiert werden können.
VI.
Der Wahlapparat für die Gewerbegerichte wurde durch die Ministerial-
verordnung vom 23. April 1898, R.G.-B1. Nr. 56, geregelt und ist ein
recht umständlicher. Die Unternehmer werden mittels Kundmachung zur
Anmeldung ihrer Betriebe und der darin beschäftigten wahlberechtigten
Arbeiter aufgefordert, d. i. der Arbeiter männlichen und weiblichen Ge-
schlechtes, die mindestens 20 Jahre alt und seit einem Jahre im Inland
beschäftigt sind (§ 8, Absatz 4, Gewerbegerichtsgesetz). Die Gewerbebehörden
verfassen auf Grund der Anmeldungen die Wählerlisten, diese werden im
Wege des Reklamationsverfahrens ergänzt und berichtigt. Den Wahlbe-
rechtigten werden Wahllegitimationen zugestellt. Die Wahl geschieht durch
persönliche Abgabe eines Stimmzettels (§ 10 Gewerbegerichtsgesetz). Die
Anlegung einer Wählerliste ad hoc ist nicht zu vermeiden, weil die Wahl-
berechtigung von speziellen Erfordernissen abhängt und eine starke Fluk-
tuation in der Arbeiterschaft besteht. Erfahrungsgemäß findet nur ein
kleiner Teil der Wahlberechtigten in der Wählerliste Aufnahme, insbe-
sondere erstatten nicht alle Unternehmer rechtzeitig die Anmeldung. Auch
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Die Gewerbegerichte in Österreich. 5fil
die Beteiligung an der Wahl auf Seite der Unternehmer ist eine außer-
ordentlich geringe, ln dieser Hinsicht wird sich aber in Hinkunft, wenn
auch den Unternehmer-Beisitzern, wenigstens jenen der untersten Erwerb-
steuerklasse, Präsenzgelder gewährt werden, vieles bessern. Man darf übrigens
die schwache Wahlbeteiligung der Unternehmer nicht mißverstehen. Häufig
vereinbaren die Unternehmer unter sich, wen sie wählen wollen. Die Wahl
ist von vornherein sicher und daher die Beteiligung einer größeren Anzahl
von Wählern nicht notwendig.
In der Enquete vom 80. März d. J. wurde der Vorschlag unterstützt,
der in den Petitionen der Gewerbetreibenden angeregt wurde, wonach die
Genossenschaften zur Mitwirkung bei der Aufstellung der Wählerlisten heran-
gezogen werden sollen. Ob dieser Vorschlag durchführbar ist. steht noch
dahin. Allzu viel darf man davon nicht erwarten, weil viele Gewerbe-
treibende außerhalb des Genossenschaftsverbandes stehen und von den
Genossenschaften über das Alter der Arbeiter und die Dauer der Beschäftigung
im Inlaude keine Aufzeichnungen geführt werden. Die Anregung behufs
Vereinfachung des Wahlvorganges die Einsendung der Stimmzettel mittels
Post zu gestatten, fand bei der Enquete eine drastische Widerlegung durch
die Teilnehmer, die in Wahlsachen über eine große Erfahrung verfügen und
versicherten, daß dieser Wahlmodus die ärgsten Mißbräuche ermögliche.
Das Ergebnis der Wahl sei hiebei eigentlich nur von der Höhe der für
Wahlzwecke zur Verfügung steheuden Summe abhängig.
VII.
Während J 18 des Deutschen Gewerbegerichtsgesetzes vom 29. Juli
1890 den Beisitzern ohne Unterschied ihrer bürgerlichen Stellung eine Ent-
schädigung für Zeit Versäumnis zusichert und die Zurückweisung
des Entschädigungsbetrages sogar für unstatthaft erklärt, gibt das öster-
reichische Gewerbegerichtsgesetz (§ 13) nur den Beisitzern und Ersatzmännern
aus dem Wahlkörper der Arbeiter eiuen Anspruch auf Eutschädigung für
den Verdienstentgaug. Die Höhe der Entschädigung ist im Verordnungswege
festgestellt. 14 1
Diese Bestimmung hat zweifellos der Popularität der Gewerbegerichte
in den Kreisen der Unternehmer sehr geschadet. Von allem Anfänge an
wurde in den Enqueten iu Wien und Graz, vom VI. allgemeinen österreichischen
Gewerbetage im Jahre 1899, dann in den Gutachten der Handelskammern
Wien und Graz, endlich iu einem Initiativanträge der Abgeordneten Dr.
Hofmann, Pommer und Genossen (Nr. 215 der Beilagen zu den steno-
graphischen Protokollen des Abgeordnetenhauses, XVII. Session, 1901) die
u) Die Entschädigung beträgt beim Gewerbegerichte: Wien K 6- — für de» halbe»
und K 10"— för de» ganze» Tag; Graz und Prag K 4- — für den halben und A' 8* —
für den ganzen Tag; Leuben A' 4- — für den halben und A" (>• — fflr den ganze» Tag;
Ausaig, Ilriin», Krakau, Mährisch-Ostrau, Pilsen und Tepliu K 8- — für den halben und
K 0 — für den ganzen Tag: hei den übrigen Gewerbegerichten; K 2 — für den halben
und K 4- — für den ganzen Tag.
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Schauer.
562
Gewährung von Diäten an die Unternelmierbeisitzer verlangt. Insbesondere
wurde einmütig auf die ungünstige ökonomische Lage der Kleingewerbe-
treibenden hingewiesen. Im Interesse der ganzen Institution ist es somit
nur zu begrüßen, daß von Seite der Finanzverwaltung laut der Erklärung
ihres Vertreters in der Enquetesitzung vom 3. April d. J. kein Widerstand
dagegen erhoben wird, daß den Unternehmerbeisitzern, die in die 4. Erwerb-
steuerklasse eingereiht sind, Präsenzgelder gerade so wie den Arbeiter-
beisitzern bewilligt werden. Die finanzielle Bedeutung dieses Zugeständnisses
ist nicht allzu groß. Die ablehnende Haltung der Regierung war augenscheinlich
auf die Besorgnis zurückzuführen, daß die Gewährung von Prüscnzgeldern
an die Unternelmierbeisitzer eine gewisse präjudizielle Bedeutung erlangen
könnte. Die Finanzverwaltung hat denn auch in der erwähnten Sitzung
mit Nachdruck betont, daß sie mit ihrer Zusicherung kein Präjudiz für
eine Änderung des ehrenamtlichen Charakters ähnlicher öffentlicher Funk-
tionen geschaffen wissen wolle. 16 1
VIII.
Über die Wirksamkeit der Oewerbegerichte lassen sich aus der
Statistik einige sichere Anhaltspunkte gewinnen. Hiebei muß jedoch beachtet
werden, daß die Gewerbegerichte staffelweise in den Jahren 1898, 1899
und 1900 errichtet wurden. Hieraus erklärt sich die sprunghafte Zunahme
dor Klagen.
Die Zahl der Klagen betrug:
im Jahre 1898 2.944
. , 1899 11.389
„ „ 1900 18.028
. . 1901 24.282
, . 1902 23.981
Die vier ältesten mit 1. Juli 1898 errichteten Gewerbegerichte weisen
folgende Geschäftsfrequenz nach:
Jahr
Wien
Reichenberg
Brünn
Bülitz
1898
1.984
182
607
161
1899
9.404
401
1198
386
1900
10.453
405
1080
285
1901
11.590
874
1155
506
1902
10.906
415
1102
382
ls) Die besprochene Zusage wurde mittlerweile durch
vom 5. August 1903, K.-O.-Bl. Nr. 165. eingehalten.
die Miui&terialverordnung
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Die Gewerbc^erichte in Österreich.
563
Abgesehen von Bielitz, wo sich wegen der absolut geringen Anzahl
der Klagen einzelne lokale Ereignisse in der Klagenfrequenz stärker bemerkbar
machen, ist die Geschäftsbewegung eine konstante; eine ausgesprochen
steigende Tendenz ist nirgends zu bemerken.
Auch bei den übrigen Gerichten, abgesehen von Prag, wo die Zahl
der Klagen von 755, 3265 auf 4131 im .lalire 1902 stieg, ist eine bemerkens-
werte Zunahme nicht zu konstatieren. Diese Erscheinung spricht, wenngleich
man sich wegen der Kürze der Beobachtungsreihe eine gewisse Keserve im
Urteile auferlegen muß, doch gegen die von mancher Seite vorgetragene
Ansicht, daß die Gewerbegerichte eine nur im einseitigen Interesse einer
Klasse wirkende Einrichtung seien. Denn, wenn dies der Fall wäre, würde eine
lebhafte Agitation nicht zögern, sie diesen Klasseninteressen durch möglichst
zahlreiche und immer zunehmende Inanspruchnahme dienstbar zu machen.
in welcher Weise sich die Arbeitgeber und Arbeitnehmer an den
Klagen vor den Gewerbegerichten beteiligen, ergibt folgende Tabelle:
A
n z a h 1
der Klagen
Jahr
überhaupt
von Arbeitgebern
von Gehilfen oder
Artiei tf-rn
von Lehrlingen
absolut
in Proz.
absolut in Proz.
absolut
in Proz.
1900 1S.273
506
2-77
17.199 94 13
,568
310
1901 I 24.474
704
290
! 22.973 93 90
797
3-20
1902 23.9*1
702
, 2-90
|
22.521 93 90
li
758
3-20 |
Das aus der vorstehenden Tabelle ersichtliche Verhältnis besteht mit
geringfügigen Abweichungen auch bei den einzelnen Gewerbegerichten, z. II.:
A n z
a h 1 d
er K 1 a
gen
Gewerbegericht 1901
der Arbeitgeber
der Oelitlfra oder
Arbeiter
der Lehrlinge
absolut
in Proz.
absolut
iu Proz.
absolut
iu Proz.
Wien
139
118
11.853
96-31
285
2-51
P«!?
83
254
3.040
93-26
136
4-20
Brünn
39
1
3-37 ]
8
1.084
9384
32
2-79
Von den bei den österreichischen Gewerbegerichten eingebrachten
Klagen sind somit nur ungefähr 3 Proz. solche von Arbeitgebern.
In Preußen (Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Keich, 1902.
S. 180) wurden eingebracht:
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564
Schauer.
lin Jahre 1900 von 50.061 Klagen 8770 oder 17 2 Proz. von den
Arbeitgebern und 16.894 oder 828 Proz. von den Arbeitnehmern.
Im ganzen Deutschen Reiche betrug die Zahl der gewerbegerichtlichen
Klagen 81.164 und hievon 8068 oder 10 Proz. von den Arbeitgebern
und 76.096 oder 90 Proz. von den Arbeitnehmern.
Die Klagen der Arbeitgeber sind somit flberall verhältnismäßig selten.
Die Erklärung für diese auffallende Erscheinung liegt nicht darin,
daß die Ursache des Streites zumeist in einem gesetz- oder vertragswidrigen
Verhalten des Arbeitgebers zu suchen sei oder daß, wie behauptet wurde,
die Arbeitnehmer klagen, auch wenn sie gar keinen Grund zur Klage haben,
sondern sic ist unschwer in der verschiedenen ökonomischen und rechtlichen
Position der beiden Teile zu finden. Die in der Kegel ungünstige Lage des
Arbeitnehmers benimmt der Klage des Arbeitgebers zumeist jede Aussicht
auf Realisierbarkeit. Wirtschaftlich ist ein günstiges Urteil gegen den
Arbeiter zumeist ohne Wert, während die Arbeiter hoffen können, einen
gerichtlich zuerkannten Anspruch gegen den Arbeitgeber auch durchsetzen
zu können.16)
Noch wichtiger ist aber folgendes. Im Falle eines Vertrags- oder
gesetzwidrigen Verhaltens des Arbeiters sieht der Unternehmer davon ab.
den Arbeiter zu klagen, er entläßt ihn oder macht ihm einen Abzug
vom Lohn. Der Arbeitgeber stellt sich damit gewissermaßen selbst klaglos,
schafft sich selbst Recht und nötigt den Arbeiter, die Rolle des Klägers zu
übernehmen. Der Streit kommt daun in der Form einer Klage des Arbeiters
auf Entschädigung für den Entgang der Kündigungsfrist wegen ungerecht-
fertigter Entlassung oder auf Zahlung des voreuthalteuen Lohnes vor Gericht.
Daß fast immer der Arbeiter als Kläger auftritt, ist somit durchaus
nicht in einer besonderen Gestaltung des gewerbegerichtlichen Verfahrens
oder, wie behauptet wurde, in den den Arbeitern günstigen Urteilen der
Gewerbegerichte begründet. Dieselbe Erscheinung wäre auch bei den politischen
Behörden, solange diese noch die Judikatur in Gewerbegericktssachen hatten,
und auch bei den ordentlichen Gerichten zu konstatieren, wenn sie eine
Statistik über die Zahl der Klagen vou Unternehmern und Arbeitern führen
würden.
Sieber ist allerdings, daß die Arbeiter vor den Gewerbegei ichten
häufiger klagen als vor den ordentlichen Gerichten, weil, wie später
noch darzulegen sein wird, das Verfahren vor den Gewerbegerichten rascher
ist als jenes der ordentlichen Gerichte. Zudem ist vermöge der besonderen
1S] Der höhere Prozentsatz der Klagen von Arbeitnehmern gegen Arbeiter im
Deutschen Reiche ist darauf zurückzuf&hren, daß nach % 2 des Deutschen Gewcrbe-
gerichtsgesetzes als Arbeiter im Sinne dieses Gesetzes auch Betriebsbeamtc, Werkmeister
und mit höheren technischen Dienstleistungen betraute Angestellte, deren Jahresverdienst
au Lohn oder Gehalt 2000 M. nicht übersteigt, anzusehen sind. Es gehören somit
zu den der Zuständigkeit der Gewerbegerichte unterworfenen Personen solche mit größerem
Einkommen als dies in Österreich der Kall ist. Die Möglichkeit, ein Urteil gegen den
Arbeiter durchsetzen zu können, ist somit in Deutschland in mehr Fällen gegeben als
in Österreich.
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Die Gewerbegerichte in Österreich.
565
Gebührenbegünstigungf die Eingaben, Protokolle und Vergleiche sind gebühren-
frei und die Urteilsgebühr ist sehr niedrig, § 34 Gew.-Ger.-Ges.)17) das
gewerbegerichtliche Verfahren billiger. Die GelXlhrenbefreiung der Protokolle.
Eingaben und Vergleiche fiberhebt den Arbeiter der Notwendigkeit, sich ein
Armutszeugnis zu verschaffen, was immerhin mit Umständlichkeiten, mit Zeit-
verlust und Wegen verbunden ist. Endlich mag wohl auch dazu der Umstand
beitragen, daß die Gewerbegericlite sich des besonderen Vertrauens der
Arbeiterschaft erfreuen.
IX.
Es wurde schon zu wiederholtenmalen behauptet, daß das besondere
Vertrauen der Arbeiterschaft zu den Gewerbegerichten auf die besonders
günstige Haltung der Gewerbegerichte gegen Ansprüche der Arbeiter zurück-
zuftthren sei. Man hat den Gewerbegerichten sogar den Vorwurf nicht erspart,
daß sie nicht unparteiisch ihres Amtes walten, sondern im Zweifel leicht zu
Gunsten des Anspruches des Arbeiters entscheiden. Dieser Vorwurf wurde
in den Petitionen der Unternehmerverbünde, die zur letzten Enquete geführt
haben, nicht mehr aufrecht erhalten. Er ist auch durchaus unbegründet.
Im Jahre 1901 wurden von den Streitsachen erledigt:
bei allen beim Gewerbe-
Gewerbegerichten gerichte Wien
durch Urteil auf Grund Versäumnis,
Verzicht und Anerkenntnis . . . 2577 1710
durch anderes Endurteil 5014 1346
Der Klageanspruch wurde
gänzlich zuerkannt 2861 (87’7 Proz. i 1487 (48-6 Proz.i
teilweise zuerkannt 1480 (19-5 Proz.) 266 ( 8-7 Proz.)
gänzlich abgewiesen 3250 (42-8 Proz.) 1304 (42-7 Proz. )
Urteile auf Grund Verzichtes sind nur sehr selten, Versäumnisurteile
fast immor, Urteile auf Grund Anerkenntnis immer stattgebend. Die zahl
reichen Urteile dieser Kategorie bilden somit einen großen Druchtcil der
stattgebenden Urteile. Von den an sich nicht zahlreichen stattgebenden
Urteilen (37 7 Proz. i entfällt somit nur ein kleiner Teil auf die Urteile, die
nach Durchführung der Streitverhandlung gefällt worden sind, von den
streitig verhandelten Fällen schließt daher nur ein kleiner Teil mit einem
für den Kläger günstigen Urteil. Da nun in der überwiegenden Zahl der
Fälle der Arbeiter als Klüger auftritt, so dringt dieser, wenn sich sein
Gegner, der Unternehmer, in den Streit einläßt, nur selten mit seinem
Anspruch durch. Schon damit ist die Behauptung einer einseitigen Begün-
stigung der Arbeiter widerlegt.
17) Oie rrteilsgebühr betragt bei Streitsachen im Werte
b«i den ordmtllcheii
Gerichten
bei den Gewerbe*
jrcrfchlen
bis 50 K
über 50 bis 100 K
. 100 „ 400 K
. 400 . 1600 K
K 1 —
A' 2 —
K .V-
K 10 -
K 1 —
K 1 —
K 2-50
A' 5 -
Zelurkrift ftlr VolkxntrUchkft, Soxia],,°lüik uns Vera-alluaf. XU. llsnS.
39
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5615
Schauer.
Wen» tatsächlich die Gewerbegerichte Klassenjustiz treiben würden,
so müßten ferner in der Hegel die Unternehmerbeisitzer für den Unternehmer, die
Arbeiterbeisitzer für den Anspruch des Arbeiters stimmen und der Vor-
sitzende zu Gunsten des Arbeiterklägers entscheiden. Tatsächlich zeigt
aber eine von den Gewerbegerichten geführte Aufschreibung, in die der
Verfasser Einsicht zu nehmen Gelegenheit hatte, daß das Urteil regel-
mäßig auf Grund einhelligen Beschlusses der Stimmführer zu stände
kommt. Nur bei ungefähr 10 Proz. aller Urteile ergibt sich eine Meinungs-
verschiedenheit und ein Majoritätsbeschluß. Dieser Prozentsatz entspricht
nun aber dem Verhältnis, in dem die wirklich zweifelhaften Fälle zu jenen
stehen, in denen ein Urteil mit größerer Sicherheit gefüllt werden kann.
Die Objektivität der Gewerbegerichte kann also nach den
bisherigen Erfahrungen nicht i n Zwei fei gezogen w erde n.18)
X.
Eine wiederholt gegen die Einrichtung der Gewerbegeriehte erhobene
Beschwerde richtet sich dagegen, daß sie die Erhebung mutwilliger
Klagen begünstige.
Dieser Vorwurf ist nur in einem Punkte nicht ganz unbegründet. Die
weitgehende Gebfihrenbegünstigung(sieh die Anmerkung Nr. 17 1, insbesondere
der Umstand, daß der Arbeiter, ohne ein Armutszeugnis beizubringen, kostenlos
und mündlich Bein Begehren anbringen kann, erleichtert es ihm, Klage zu
erheben. Es mag infolgedessen wirklich hie und da Vorkommen, daß ein mit
Hecht entlassener Arbeiter trotz aller Belehrung über die Aussichtslosigkeit
seines Anspruches die Aufnahme der Klage verlangt und darauf spekuliert, daß
der Arbeitgeber die erste Tagsatzung versäumt und kontumaziert werden
kann. Die Gebührenbegünstigung ist aber auch der einzige Punkt, in dem
die gewerbegerichtlicheu Klagen im Vergleich zu jenen der ordentlichen
Gerichte begünstigt sind. Auch bei den Bezirksgerichten kann der Kläger
ohne Anwaltszwang schriftlich oder mündlich seine Klage anbringen. Mut-
willige Klagen und Prozesse kommen in der Tat leider auch bei den ordent-
lichen Gerichten vor. Es ist eben der Nachteil jeder leicht zugänglichen
Einrichtung, daß sie auch leicht mißbräuchlich in Anspruch genommen
werden kann. Diese Erfahrung macht man bekanntlich auch bei der Ge-
währung von unentgeltlicher ärztlicher Hilfe. Man steht da nur vor der
Wahl, diesen Übelstaud mit in Kauf zu nehmen oder wegen des vereinzelten
Mißbrauches die im allgemeinen wohltätige Einrichtung fallen zu lassen.
Das wirksamste und verhältnismäßig um wenigsten schädliche Mittel
zur Abhilfe wäre die Beseitigung der Gebührenbegünstigung. In der Enquete
l,l Nach der Mitteilung der »Industrie* Xr. )6, 1903, über eine Umfrage bei den
IlitgUedsverb&nden des ZcntraU erbendes der Industriellen Österreichs wurde die Stellung des
Vorsitzenden der Gewerbegerichte bei Entscheidung der Rechti fülle beinahe durchgehend«
als objektir bezeichnet Nur ron einzelnen Seiten, insbesondere von Prager und Wiener
Industrielien, wird darüber geklagt, daß die Entscheidungen der Gewerbegerichte zu sehr mit
sozialpolitischem Ul getränkt seien. Diese Behauptung wird aber durch die geringe Zahl der
stattgebeuden Urteile in Streitfällen nnd die Zahl der einhellig gefäliten Urteile widerlegt.
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Die Gewerbegerichte in Österreich.
:»i37
vom 3. April d. J. verhielten sieh jedoch alle Experten gegen eine darauf
abzielende Anregung entschieden ablehnend. Die Enquete erklärte sich damit
zufrieden, wenn die in der Zivilprozeßordnung gebotenen Mittel gegen mut-
willige Prozeßführung Anwendung finden. Es ist dies die Verhängung einer
Mutwillensstrafe bei mutwilliger Bestreitung der Echtheit einer Urkunde
i§ 313 Z.-P.-O.) und die Zuerkennung eines Entscbädigungsbetrages für den
Schaden, der durch die mutwillige Prozeßfflhruug verursacht wurde (§ 408
Z.-P.-O.). Der in mehreren Petitionen geäußerte Wunsch nach Einführung einer
allgemeinen, in Arrest umwandelbaren Mutwillensstrafe oder nach Zulassung
der Zurückweisung einer mutwillig scheinenden Klage durch den Richter
wurde in der Enquete auch von den Unternehmerezperten als undurchführbar
fallen gelassen. Solche Zurückweisung könnte in Willkür ausarten und
würde, wie die »Industrie* Nr. 16, 1903, treffend bemerkt, auch mit dem
Grundsatz dos beiderseitigen Gehörs in Widerspruch stehen. Die Zulassung
einer Freiheitsstrafe als allgemeine Folge mutwilliger I’rozeßiührung. nicht
spezieller im Gesetze schon heute geregelter Mutwiileustatbestände, wäre
ein nicht zu rechtfertigendes Privilegium odiosum der arbeitenden Klassen.
Man darf aber überhaupt daran zweifeln, ob es hinsichtlich der mut-
willigen Prozeßführung vor den Gewerbegerichten so schlimm steht, als
behauptet wurde. Wenn in den wirklich streitig verhandelten Füllen auch
nur ungefähr die Hälfte der Klagen von Erfolg ist, so läßt sich nicht be-
haupten, daß die Klageführung dort mutwillig war, wo dem Klagebegehren
nicht stattgegeben worden ist. Denn sonst könnte man mit ebenso viel Be-
rechtigung auch gegen die beklagten Unternehmer den Vorwurf erheben,
ihre Verteidigung gegen die Klage sei in jenen Fällen mutwillig gewesen,
in denen sie sachfallig geworden sind.
Die Klage ist zudem nicht bloß dort von Erfolg, wo durch Urteil ein
Anspruch zuerkannt wird. Denn ein großer Teil der zahlreichen Vergleiche
führt zu einer teilweisen Befriedigung des klagenden Arbeiters. Außerdem
werden erfahrungsgemäß viele der weder durch Urteil noch durch Vergleich
erledigten Klagen infolge außergerichtlicher Befriedigung des Klägers bei-
gelegt. Schließlich ist aber noch folgendes in Erwägung zu ziehen. Wenn
man vollkommen verläßlich darüber urteilen wollte, ob mutwillige Klagen
der Arbeiter verhältnismäßig häufig sind, so müßte man auch darüber eine
Ermittlung pflegen und eine Statistik fülireu, in wie viel Fällen der ge-
klagte Arbeitgeber offenbar gegen das Gesetz den Arbeiter vorzeitig ent-
lassen, ihm das Arbeitsbuch vorenthalten, den Lohn verweigert oder verkürzt
hat. Denn das, was dem Arbeiter das Klagen erleichtert, die Billigkeit und
Raschheit des Verfahrens, die leichte Zugänglichkeit des Gerichtes, das
macht es natürlich auch dem Arbeitgeber leichter möglich, es auf ein ge-
richtliches Verfahren aukommeu zu lassen. Keinesfalls läßt sich somit aus
den zur Zeit gegebenen Grundlagen und aus vereinzelten Beschwerden der
einen oder anderen Partei ein sicherer Schluß darauf ziehen, daß das
gewerbegerichtliche Verfahren mutwillige Prozeßführung in ungewöhnlichem
Maße begünstigte.
39*
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Schauer.
568
XI.
Unter den Erlediguugsarten liimnit im gewcibegerichtlichen Verfahren
der Vergleich eine auffallende Stelle ein. Die Anzahl der dnrch Vergleich
erledigten Klagen ist bei den Gewerbegerichteil erheblich größer als bei
den Bezirksgerichten. Dies ergibt sich ans der nachstehenden Tabelle, in
der den Klagen und Vergleichen des Gewerbegerichtes die Klagen und
Vergleiche bei den Bezirksgerichten des Gewerbegerichtsgebietes gegenüber -
gestellt sind. Die Tabelle enthält die Daten der sechs größten Gewerbe-
gerichte aus dem Jahre 1901.
Gewerbegerichtliches _ ,, Ordentliches bezirk«-
Verf ähren Bagatell verfahren gerichtliches Verfahren
Gewerbe-
gerichtsort
Anzahl
Vergleiche
Anzahl
Vergleiche
Anzahl
Vergleiche
der
Klagen
ab-
solut
..in
Proz.
der
Klagen
ab-
solut
in
Proz.
der
Klagen
ab- i in
solut j Proz.
Wien
11.632
5056
43-4
92.459
17.558
19-0
53.059
9.806 18*5
I’rag
3.336
1582
47 4
22.120
2.562
11 '6
13 734
2.398; 17-5
Brünn ....
1.154
584
46-2
7362
647
8-8
4.825
528j 109 1
Mähr. -Ostrau .
1.104
369
33-4
3.312
539
163
1.679 i
431 25-6
Krakau ....
2.202
841
«8*1
10.625
1.214
114
4 945
794 16 1
Lemberg . . .
1.812
150
8-2
19.707
8.183
16-2
7.218
2.157 299
In allen 15 Ge-
werbegerichts-
orten ....
24.882
9650
39-5
172.174
28.141
16-8
99.323
18.689, 188
i
Nach der vorstehenden Tabelle ist die Zahl der Vergleiche fast bei
allen Gewerbegei ichten mit Ausnahme von Lemberg mehr als doppelt so
groß als bei den ordentlichen Gerichten. Diese Zahlen werden aber erst
dann in das rechte Licht gerückt, wenn man sie mit den Ergebnissen der
Gewerbegerichte des Deutschen Reiches (1900) vergleicht (Statistisches Jahr-
buch für das Deutsche Reich, 1902).
Vergleiche
Staaten
Erledigte
Klagen
absolut in Proz. ,
Preußen
48.859
21.377
43*7
Bayern
6.032
2.726 |
452
Sachsen
12.271
5.880
47-9
Württemberg
2.440
1.248
511
Baden . .
3.004
948
31*5
Deutsches Reich . . .
81.931
36.265
44*2
I
I
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Die Ge.verbegericbte in Österreich. 561)
Danach besteht zwischen der Zahl der Vergleiche der Gewerbegerichte
in Österreich und im Deutschen Keiche eine auffallende Übereinstimmung.
Ks ist daher nicht bloß auf einen größeren Druck der Gewerbegerichts-
vorsitzenden zurückzufühlen, wenn bei den Gewerbegerichten sehr viele und
mehr Vergleiche zu stände kommen als vor den ordentlichen Gerichten.
Eine solche Einwirkung würde den großen Unterschied zwischen der Zahl
der Vergleiche vor den ordentlichen Gerichten und vor den Gewerbegerichten
nicht erklären. Übrigens sind ja bei uns staatliche Richter mit derselben
Vorbildung da und dort tätig, bei den kleinen Gewerbegerichten sind es
sogar dieselben Richter. 13 1
Der Grund dieser Verschiedenheit ist vielmehr folgender:
Von den Klagen, die bei den ordentlichen Gerichten eingebracht werden,
hat die Mehrzahl überhaupt nicht streitige Ansprüche oder ein streitiges
Rechtsverhältnis zum Gegenstand. Es handelt sich zumeist um energische
Mahnung gegen einen säumigen Schuldner, die sofort zur außergerichtlichen
Uefriedigung führt, oder um Klagen gegen zahlungsunfähige Schuldner als
Einleitung zur unvermeidlichen Exekution. Daraus erklärt sich die große
Zahl der Versäumnisurteile und der auf andere Weise als durch Vergleich
erledigten Sachen bei den Bezirksgerichten. Im Jahre 1900 wurden im
Bagatellverfahren 62-9 Proz. aller Klagen durch Versäumnisurteil und auf
andere Weise erledigt, im ordentlichen bezirksgerichtlichen Verfahren 62 8 Proz.
aller Fälle.
Diese beiden Gruppen von Klagen geben selbstverständlich zu einem
Vergleich keinen Anlaß. Bei den Gewerbegerichten dagegen handelt es
sich zumeist wirklich um streitige Ansprüche, streitige Tatsachen und
Rechtsverhältnisse. (Die Zahl der durch Versäumnisurteil und auf andere Weise
erledigten Fälle betrug bei den Gewerbegerichten im Jahre 1900 nur 3!1'7 Proz.
gegen annähernd 63 Proz. im Verfahren vor den Bezirksgerichten.! Nun
sind von den bei den Gewerbegerichten angebrachten Klagen viele nur zum
Teil begründet. Bei der Verhandlung überzeugt sich der Kläger nach der
Aussprache mit dem Gegner unter Leitung des Richters, daß ihm nicht
alles gebührt, wus er angesprochen hat, der Beklagte aber, daß er nicht
alles verweigern darf. Es liegt dann nahe, daß der haltlose Teil des
Begehrens fallen gelassen, der andere aber durch Vergleich festgestellt wird.
In anderen Fällen zeigt sich zwar, daß bei Anwendung des strengen
Rechtes dem Kläger nichts gebührt, der beklagte Arbeitgeber läßt sich aber
doch aus Gründen der Billigkeit zu einer teilweisen Leistung herbei. Endlich
kommt vor den Gewerbegerichten auch dann ein Vergleich leichter zu
stände, wenn wirklich für und wider den Standpunkt eines jeden Streitteiles
manches spricht, weil zumeist die Parteien persönlich anwesend sind, während
im ordentlichen Verfahren häufig Anwälte intervenieren und diese ein Zu-
**1 Die „Industrie- konstatiert auch, half nach den übereinstimmenden Iterichten
bei den Verhandlungen vor den Gewerbegerichten kein grellerer Druck auf das Zustande-
kommen von Vergleichen ausgeübt wird, als es im Verfahren vor den ordentlichen
Gerichten der Full ist.
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Schauer.
570
geständnis ihrem Klienten gegenüber nicht rechtfertigen zu können ver-
meinen. Nicht selten hindert auch bei Intervention von Anwälten die Frage,
wer die Anwaltskosten zu tragen hat, das Zustandekommen eines Vergleiches.
Letzteres Hindernis entfällt aber bei den Gewerbegerichten, da dort Anwälte
als Parteieuvertreter nicht zugelassen sind und daher beträchtliche Kosten
im Stadium der Vergleichsverhandlung nicht in Frage kommen.
XII.
Die Gewerbegerichte erfreuen sieh gewisser für die Raschheit der
Erledigung besonders günstiger Verhältnisse, die den ordentlichen Ge-
richten nicht im gleichen Maße zu statten kommen.
In allen Streitigkeiten, auch in jenen, die einen Gegenstand im Werte
von über 100 K betreffen, kommt das bagatellgerichtliche Verfahren zur
Anwendung. Die Vereinfachungen dieses Verfahrens wirken im Sinne der
Beschleunigung. So insbesondere die Erleichterung der Protokollierung, die
sich nicht auf die Darstellung der Ergebnisse der Verhandlung erstreckt
und die Wirksamkeit des Urteiles vom Zeitpunkt« der Verkündung. Wenn
beide Teile bei der Urteilsverkündung zugegen waren, wird eine Urteils-
ausfertigung nur auf ausdrückliches Verlangen zugestellt. Der Zustellungs-
dienst wird von den Gemeinden in zumeist musterhafter Weise besorgt.
Die Konzentrierung der gewerblichen Streitigkeiten eines größeren
Gebietes bei demselben Gerichte macht die Richter mit allen für die Ent-
scheidung wesentlichen Momenten vertraut. Ihnen macht die Verhandlung
und Entscheidung sowohl in der Tat- wie in der Rechtsfrage weniger
Schwierigkeiten als dem Richter des ordentlichen Gerichtes, dem nicht
nur die betreffenden gesetzlichen Bestimmungen und deren Auslegung weniger
geläufig, sondern auch die tatsächlichen Verhältnisse nicht in dem Maße
bekannt sind wie dem Fachrichter des Gewerbegerichtes. Die Arbeitsteilung
macht auch hier ihre arbeitfördernde Wirkung geltend.
Die Anwesenheit sachkundiger Beisitzer erleichtert die Ermittlung und
Feststellung der Tatsachen und ihre Sachgemäße Beurteilung. Häufig kann
das Gewerbegericht auf Grund der bei ihm notorischen Verhältnisse ohne
Beweisaufnahme entscheiden. So insbesondere, wenn es sich um die Be-
stimmung der Entschädigung für die entgangene Kündigungsfrist, für vor-
enthaltenen Lohn u. dgl. handelt, wo die ordentlichen Gerichte genötigt
wären, erst Sachverständige zu vernehmen.
Sehr wichtig ist zudem, daß vor den Gewerbegerichten eine Vertretung
durch Advokaten nicht statthat. Die Parteien müssen ihre Sache selbst führen
oder sich durch unmittelbar informierte Angehörige. Angestellte oder Berufs-
genossen vertreten lassen (§ 25 Gew.-Ger.-Ges.l. Unter Umständen mag es
allerdings den Parteien unbequem sein, daß sie selbst oder durch einen
Angestellten vor Gericht erscheinen müssen. Dio persönliche Beteiligung
der Parteien bietet aber Vorteile, die diesen Nachteil üherwiegen. Namentlich
wird dadurch manche Vertagung, die sonst zur Einholung einer Information
unvermeidlich ist. erspart.
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Die tiewerbegerichte in ÖBierTeich. ")7 1
Dem raschen Verlauf des Verfahrens kommt auch der Umstand zu
gute, daß regelmäßig gleichartige, verhältnismäßig einfache Rechtssachen
das Gewerbegericht beschäftigen, deren Dauer im voraus ziemlich sicher
abgeschätzt werden kann. Die Aufstellung eines die Arbeitszeit ganz aus-
füllenden Verhandlungsprogrammes ist daher bei den Gewerbegerichten
leichter als bei den ordentlichen Gerichten, bei denen Streitsachen von ganz
verschiedener Tragweite und Ausdehnung bunt durcheinander fallen. Last
not least kommt noch in Betracht, daß die Gewerbegerichte — wenige Aus-
nahmen abgerechnet — mit Richter- und Kanzleipersonal gut dotiert sind.
Alles das wirkt zusammen, um das gewerbegerichtliche Verfahren
merklich rascher verlaufen zu lassen, als das bei einem ordentlichen Gerichte
in Österreich möglich wäre, obwohl auch diese anerkanntermaßen an Rasch-
heit des Verfahrens die Gerichte aller Staaten Europas überholt haben.
Den Beweis für diese Behauptung liefert die folgende Tabelle. Sie
enthält eine Statistik der Gewerbegerichte !0j über die im Jahre 1902 in
1, 2 — 3. 4 — 7 und über 7 Tagen erledigten Fälle, die leider die Daten des
Gcwerbegerichtes Wien nicht enthält. Beim Gewerbegerichte Wien werden
die erforderlichen Aufzeichnungen nicht geführt, aber es ist bekannt, daß
auch dort die Erledigung der Streitfälle eine außerordentlich rasche und
vollkommen kurrente ist.
Erledigte Fälle
Dauer des Verfahrens
Gewerbegericht
Im
1 Tag ) 2-3 Tage
4-7 Tage
über 7 Tage
ab-
solut
m ab-
Proz. aulut
in
Proz.
ab-
solut
in
Pro*.
ab-
solut
in
Proz.
Frag
4138
869
210 2402
580
758
18 3
109
2-7
Aussig
264
77
29 2 99
37-5
75
28-4
13
49
Pilsen
439
241
54 9 167
38-0
27
62
4
09
Reichenberg . . .
387
81
20 9 210
543
83
21*4
13
3*4
Teplitx
490
90
13 4 258
52 7
118
241
24
4-8
Brünn
1023
546
53-4 .367
35 9
100
98
10
09
Bieiiti
806
26
8-5 1 93
304
151
493
36
11-8
Jägemdorf ....
28
—
- 1' 23
821
3
10 7
2
72
Mibr.-Ostrau . . .
724
153
21-1 387
535
176
24 3
8
11
Mähr.-Schönberg
102
6
5-9 j 43
42-1
30
294
23
22-6
Graz
66*»
122
18-3 339
51 0
174
26*2
so
4 5
Leoben
270
71
26-3 143
530
39
14-4
17
6-3
Krakau
2167
1125
51 9 1 706
32-6
299
138
37
17
Lemberg
1731
57
3-3 240
13-9
1
759
43-8
67o
39-0
”) ln der Statistik der ordentlichen Gerichte werden nur die Fälle ausgewiesen
deren Krledigung bis 1 Monat, Uber 1— S Munate, 3—6 Monat«, 6 Monate bis 1 Jahr.
1—2 Jahre und über 2 Jahre gedauert haben. Sie umfaltt übrigens nur die Fälle, die
durch L'rteil und Vergleich erledigt wurden, nicht die auf andeie Weise erledigten Fälle.
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572
Schauer.
Nach der vorstehenden Tabelle wird, abgesehen von den Gewerbe-
gerichten Mähr.-Schönberg, Bielitz und Lemberg, der überwiegende Teil der
Klagen in längstens drei Tagen erledigt. Besonders bemerkenswert sind ins-
besondere die Ergebnisse der grollen Gewerbegerichte, bei denen unter drei
Tagen erledigt wurden:
in Prag 79 l’roz. der Klagen
, Brünn 90 „ „ „
„ Mähr.-Ostrau 75 „ „ „
, Krakau“ i 84 „ „ „
Damit stimmen auch die vom Zentralvcrbande der Industriellen ein
geholten Berichte überein. („Industrie“ Nr. 16, 1903.) Dort wird nämlich
mitgeteilt, daß man dem Verfahren vor den Gewerbegerichteu vor jenem der
odentlichen Gerichte den Vorzug gebe, und zwar wegen der Raschheit der
Erledigung und der größeren Erfahrenheit der Richter hei Beurteilung fach-
licher Fragen. Die gegenteilige Behauptung in dem Artikel Gewerbegerichte
.Fremdenblatt“ Nr. 96. 1902, wird durch die oben angeführten Gründe und
durch die Statistik widerlegt. Das Verfahren vor den ordentlichen Gerichten
kann unmöglich so rasch sein wie jenes vor den Gewerbegerichten und es
ist auch nicht so prompt. Die Gewerbegerichte haben in dieser Richtung
den Erwartungen vollständig entsprochen. Die Raschheit des Verfahrens
kommt natürlich beiden Parteien zu gute.
XIII.
Ober die Qualität der Judikatur der Gewerbegerichte läßt sich
nicht so sicher urteilen, wie über die vorerwähnten Seiten ihrer Recht-
sprechung.
Vielleicht ist der Vorwurf nicht unbegründet, daß sie noch nicht so
sicher ist wie man wünschen möchte. Gewiß wäre die Unsicherheit aber
eine noch größere, wenn nur die ordentlichen Gerichte mit gewerblichen
Lohnstreitigkeiten befaßt wären und die ausschließlich mit derartigen Fragen
beschäftigten Gewerbegerichte den ordentlichen Gerichten in der praktischen
Verarbeitung des Rechtsstoffes nicht beispielgebend vorausgehen würden.
Ein Blick auf die verbreiteten Ausgaben der Gewerbeordnung zeigt, welch
spärliche Ergebnisse bis zur Übertragung der Lohn Streitigkeiten an die
Gerichte die praktische Anwendung der gesetzlichen Bestimmungen zu Tage
gefördert hat. Das Recht des Lohnvertrages ist auch in der Literatur wenig
gepflegt, es fehlte der wissenschaftlichen Betrachtung das reiche Material,
das die Klinik des Rechtslebens, das gerichtliche Verfahren, schafft. Die
politischen Behörden waren nach ihrer ganzen Organisation, wegen ihres
3I) Die verhältnismäßig weniger günstigen Ergebnisse von Mähr.-Schönberg sind
offenbar darauf zurückzuführen. dali dieses Gewerbegericht einen über mehrere Gerichts-
bezirke ausgedehnten übergroüen Sprengel hat und deshalb die Ladung der Parteien
und Zeugen einen gröberen Zeitaufwand erfordert. Die weniger günstigen Verhältnisse
in Lemberg finden wahrscheinlich in der gröberen Belastung dieses Gerichtes ihre Er-
klärung.
Die Gewerbegerichte in Österreich. 578
zumeist übergrolien Sprengel« u. a., nicht geeignet, in privatrechtliclieu
Streitigkeiten Hecht zu sprechen. Die Entscheidung erheischt nicht selten
eine wohlgeordnete Parteienrerhandlung und umständliche Tatsachenfegt-
stellung; dazu fehlten der politischen Behörde nahezu alle Mittel, ins-
besondere Zeugniszwang mit Wahrheitspflicht und Eid. Die streitenden
Parteieu mögen bei den ihnen früher zugänglich gewesenen Instanzen manchen
guten Kat und freundlichen Zuspruch gefunden haben, aber regelrechte Justiz
wurde in gewerblichen Lohnstreitigkeiten nicht geübt.”}
Diese Zustände muhten natürlich auch die Auffassung über die recht-
liche Position des Unternehmers und Arbeiters beeinflussen, da ihren Lebens-
beziehuugen der Regulator einer nach Kechtsgrundsätzen gehandhabten, leicht
zugänglichen, rasch und sicher funktionierenden Rechtssprechung fehlte.
Der Ausschuft des Abgeordnetenhauses hat in seinem Bericht klarsehend die
Verhältnisse rückhaltslos geschildert und die Erfahrungen der Gewerbe-
gerichtsvorsitzenden haben ihm vollkommen Recht gegeben, wenn er behauptete :
„Die Gewerbegerichte haben die wichtige soziale Funktion, daß Unternehmer
und Arbeiter zur Achtung der gegenseitigen Rechte, welche die Grundlage
jedes Vertragsverhältnisses ist, erzogen werden.“ Durch die Rechtssprechung
mutt erst .das Lohnverhältnis nicht nur ökonomisch, sondern auch rechtlich
auf ein höheres Niveau gehoben werden“. Daß dieser Erziehungsprozeft in
der kurzen Zeit von wenigen Jahren noch nicht vollendet sein kann, darüber
darf man sich nicht wundern. Er ist auch in der Tat noch nicht abgeschlossen.
Denn noch heute herrscht, wie die Vorsitzenden der Gewerbegerichte bestätigen,
namentlich im Kleingewerbe eine erstaunliche Unkenntnis der wichtigsten
Vorschriften des gewerblichen Lohnrechtes und es gibt noch immer Arbeit-
geber, die sich in den Gedanken erst hineinflndeu müssen, daß ihnen in
der Person des Arbeiters ein Vertragsgenosse gegenübersteht, über dessen
Recht man nicht durch genossenschaftliche Beschlüsse und einseitige Änderung W
Der Bericht de» Ausschüsse? des Abgeordnetenhauses (zu Nr. 1337 der Beilagen
zu den stenographischen Protokollen, Abgeordnetenhaus, XI. Session. 1895) Äuliert sich
über diesen 1 unkt in folgender Weise:
,.Mit der Durchsetzbarkeit der privatrechtlichen Ansprüche, die sich aus dem neuen
Lohnrecht ergeben, ist es jedoch schlechter bestellt als mit der Durchsetzbarkeit irgend
eines anderen privatrechtlichen Anspruches. An Instanzen ist wahrhaft kein Mangel, wohl
aber an jeder sicheren Rechtshilfe. Wahrend der Dauer des Arbeitsverhältnisses oder
vor Ablauf von 30 Tagen nach seinem Aufhören sind die politischen Behörden zur Ent-
scheidung von Lohn- und anderen Streitigkeiten aus dem Arbcitsverhältnis kompetent.
Von dieser Judikatur wollen wir den Schleier nicht hinwegziehen. Man wird zugeben,
daß dieselbe für die ohnehin überlasteten politischen Behörden eine Tätigkeit bedeutet,
die nicht in ihre Sphäre palit. Seit dein Bestehen von Gewerbeinspektoren ist es daher
auch ausgedehnte Praxis. Arbeiter mit solchen Klagen einfach zum Gewerbeinspektor zu
schicken, der natürlich in rein priTatrechtlichen Fallen auch nur die Achsel zuckt ....
Nach Ablauf der oben angedeuteten Frist endlich kann der Arbeiter allerdings die
ordentlichen Gerichte, also in seinem Fall Bagatellgerieht oder Bezirksgericht, anrof.;n.
Aber in manchen Fällen ist er dann wegen Arbeitsmangel weggezogen, in anderen Fallen
hat er anderweitig am selben Orte Arbeit gefunden und kann Arbeit«- und Lohnentgang
eines oder mehrerer Tage, die er zur Vertretung seiner Sache vor Gericht bedarf, nicht
opfern, weil er Weib und Kinder zu ernähren hat.“
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Schauer.
f>74
der Arbeitsordnungen verfügen kann. Dieser Mangel an Kechtakenntnis und
Gewöhnung an die Formen des Rechtsverkehres inacht sich auch in den
unklaren und ungenauen Erklärungen sowie in den vieldeutigen Rechtshand-
lungen bemerkbar, die im Verkehr zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer
Vorkommen. Zahlreiche Rechtsstreitigkeiten entstehen lediglich daraus, daß
man es unterläßt, sich präzise darüber auszusprechen, ob der Arbeiter auf-
uenommen ist, gegen welchen Lohn, für welche Zeit, was bezüglich der
Kündigungsfrist gelten soll; desgleichen kommt es häufig zum Streite, weil
eine beabsichtigte Entlassung oder Kündigung in einer allen Auslegungen
zugänglichen Fassung ausgedrflckt wird.*3)
Diese Erziehung zum Verständnis der beiderseitigen Rechte und Pflichten
und zu einem dementsprechenden Verhalten ist natürlich keine schmerzlose,
denn sie muß vom Uelehrten in der Regel mit der Sachfälligkeit bezahlt
werden. Sie ist auch nicht in wenigen Jahren vollendet, da es an der er-
forderlichen Belehrung der Gewerbetreibenden fehlt.*4)
Das mißliche Übergangsstadium ist somit noch nicht überwunden.
Die Gewerbegerichte haben aber auch deshalb mit großen Schwierig-
keiten zu kämpfen, weil offenbar unter dem Mangel einer zivilgerichtlichen
Judikatur das gewerbliche Lohnrecht bisher ziemlich primitiv und wenig
ausgehildet ist. Schon das halbe Tausend veröffentlichter Entscheidungen
der Gewerbegerichte weist eine reiche Kasuistik von Fällen auf, für deren
Entscheidung man in der Gewerbeordnung nur wenig Anhaltspunkte fand,
die man unter Heranziehung von Grundsätzen des bürgerlichen Rechtes und
unter Bedachtnahme auf die natürlichen Rechtsgrundsätze zu entscheiden
genötigt war. Daß unter solchen Umständen nicht alle Entscheidungen
übereinstimmen und nicht joden überzeugen können, ist begreiflich. Über
ganz naheliegende Fragen gibt das Gesetz keine Auskunft, zu ihrer Lösung
nicht einmal genügende Anhaltspunkte. So Ober die Frage, ob im Falle
der Krankheit sofort gekündigt werden kann, ob es genügt, das Arbeitsbuch
eines entlassenen Arbeiters bei der Gewerbebehörde oder bei der Polizei zu
hinterlegen, ob die Folgen des Kontraktbruches zeitlich unbegrenzt sind,
ob cs zulässig ist, ein Aushilfe- oder Probedienstverhältnis mit zeitlich
unbegrenzter Dauer zu begründen, welchen Einfluß die unverschuldete
Arbeitsunfähigkeit auf den Lohnanspruch hat, ob ein Zeugnis auszustellen
ist. auch wenn es ungünstig lauten müßte, u. a. m.
*3) Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis zu der vom Justizministerium herausgegebenen
Sammlung geworbegcrichtlicher Entscheidungen zeigt eine Fülle solcher Erklärungen,
z. B.: .Wenn es Ihnen hier nicht gefällt, so können Sie sich einen andern Dienst
suchen'*, .wenn Ihnen die Arbeit nicht pnlit. können Sie gehen*, .jetzt sind wir schon
fertig-, .gehen Sie nach Hans und schlafen Sic sich aus-, .Sie können auch gehen-,
.gehen Sie hin, wohin Sie wollen-, .kommen Sie mir heute nicht mehr unter die Augen"
.wenn Sie nicht arbeiten wollen, können Sie gehen“ u. a. m.
24 ) Wenn es die Genossenschaften unternehmen worden, iltre Mitglieder Ober die
wichtigsten Fragen des gewerblichen Lohnrecbtcs ebenso zu unterrichten, wie dies die
Arbeiterorganisationen besorgen, so würde dies den Arbeitgebern sehr nutzen und die
aufgewendete Mühe gewiß lohnen.
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Die Gewerbegerichte in Österreich.
575
Trotzdem muß ein unbefangener Beurteiler den Gewerbegerichten die
Anerkennung geben, daß ihre Judikatur im großen und ganzen eine über-
einstimmende und zutreffende ist.,s)
Die Gewerbegerichte haben insbesondere in der wichtigen Frage, unter
welchen Voraussetzungen die in der Arbeitsordnung enthaltenen Bestimmungen
als Bestandteil des Arbeitsvertrages anerkannt werden sollen, eine überein-
stimmende und auch den Bedürfnissen des Lebens entsprechende sichere
Haltung bekundet. Mit der Herausgabe der amtlich publizierten Entscheidung
der Gewerbegerichte seit 4 Jahren betraut, kann der Verfasser dieses Artikels
bestätigen, daß ihm die Entscheidungen dieser Gerichte fast durchwegs
natürlich und überzeugend begründet zu sein scheinen und daß auch ein
erhebliches Schwanken nicht zu bemerken ist. Allerdings kommen auch
Entgleisungen vor und Entscheidungen, denen man sich nicht so ohneweite rs
anschließen kann. Aber das ist bei allen übrigen Gerichten, auch jenen der
höchsten Instanz, der Fall und ist übrigens nicht immer ein Beweis dafür,
daß das Urteil nicht richtig gewesen ist. Häufig ist nur die Darstellung
im Urteil ungenau oder sonst mangelhaft.
Alles in allem bedeutet die Judikatur der Gewerbe
gerichte einen großen Fortschritt in der rechtlichen Behand-
lung des gewerblichen Lohureehtes. Die Änderung in der Handhabung der
Rechtsnormen mußte sich freilich für die Gewerbetreibenden nicht scdten
Die ..Industrie“ Nr. 16, 1903. resümiert die Äußerungen der Verbandsvereine Uber
diesen Punkt in folgendem: „Die Spruchpraxis wird in der überwiegenden Anzahl der
eingelangten Antworten als stabil und unter Rücksichtnahme auf Präjudikate bezeichnet
und dabei hervorgehoben, daß die Präjudikate nicht schablonenmißig angewendet, sondern
die Eigentümlichkeit des speziellen Kalles gewahrt wird.*
Die Vorwürfe, die in dieser Richtung im Artikel „Gewerbegerichte* in Nr. 96 des
„Fremdenblatt“ vom Jahre 1903 enthalten waren, sind unbegründet und beruhen auf
einem Mißverständnis über das Wesen und die Tragweite des gerichtlichen Urteilee. Der
Verfasser des Aitikels verlangt, daß die gerichtlichen Urteile für die Beteiligten ein
festes und unabänderliches Regulativ gewähren sollen, übersieht aber, daß das ganz
unmöglich ist. wenn das Gesetz Belbst für die individuelle Beurteilung einen weiten
Spielraum läßt. Darüber, was z. B. grobe Ehrenbeleidigung ist, läßt sich nicht ein für
alle Fälle gültiges Normale aufstellen. Das hängt vom Bildungsgrade der Beteiligten,
von dem in diesen Kreisen Gebräuchlichen oder doch Geduldeten, vom Grade der Ver-
traulichkeit, der zwischen Ihnen besteht, ab. Wenn man beachtet, wie wenig tragisch
in gewissen Schichten die bekannte Aufforderung Götzen* an den Feldhauptmann
genommen wird, so kann man sich auch darüber nicht wundern, daß das Gewerbegericht
Wien anfänglich geschwankt hat, ob es diesen Zuruf wirklich als grobe Ehrenbeleidigung
und nicht bloß als einen gedankenlos hingeschleuderten rohen Ausdruck des Unwillens
aufzufassen habe. Wie können ferner die Entscheidungen der Gewerbegerichte darüber
was beharrliche Pflichtverletzung ist. in einem kurzem Rechtssatz derart wiedergegeben
werden, daß dieser auch immer dem wirklichen Sachverhalte entspricht? Die Entscheidung
hängt da von hundertfältig verschiedenen Umständen ab, die auf das Urteil Einfluß nehmen,
aber nicht einmal in der Begründung des Urteils immer ihren Ausdruck finden. Wer über
ein gerichtliches Urteil, ohne den Tatbestand des einzelnen Falles zu studieren, bloß nach
der Überschrift der veröffentlichten Entscheidung urteilt, verfährt ebenso unkritisch und
ungriindlich wie jener, der glaubt, über die Angemessenheit einer vom Gerichte verhängten
.Strafe absprechen zu können, ohne bei der Verhandlung anwesend gewesen zu sein.
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Schauer.
576
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Schauer.
580
in für sie unerwünschter Richtung fühlbar machen. Denn durch die
Gerichte werden nun auch jene Bestimmungen der Gewerbeordnung durch-
ge führt und angewendet, die früher nicht in diesem Maße praktisches Recht
waren. Die Tragweite mancher Bestimmung der Gewerbeordnung kommt
jetzt erst den Beteiligten, und zwar zumeist den Arbeitgebern, zum vollen
Bewußtsein. Der prompte Rechtsschutz, den die Gerichte gewähren, führt
bei vorzeitiger Entlassung, bei Aussetzenlassen mit der Arbeit, bei unbe-
rechtigten Lohnabzügen u. ä. unvermeidlich zur tatsächlichen Ersatzleistung,
während früher der Anspruch zwar auch bestand, aber nicht geltend
gemacht wurde. Die gesetzliche Kündigungsfrist (§ 77 Gewerbeordnung)
besteht seit langer Zeit. Die Arbeitnehmer sahen aber früher darin
nur ein Hindernis für ihre Freizügigkeit und für die beliebige Einstellung
der Arbeit. Die Arbeitgeber waren dagegen mit der Kündigungsfrist nicht
unzufrieden, da sich für sie daraus eigentlich nur Vorteile ergaben.
Die Arbeitgeber wurden nur selten auf KOndigungsentsehädigung belangt,
konnten aber doch, wenn sie die damit verbundenen Wege und Kosten nicht
scheuten, im Falte des Koutraktbruches des Arbeiters gegen diesen Strafe
und Exekution zur Rückkehr in die Arbeit erwirken. Nun auf einmal das
dringende Verlangen der Arbeitgeber nach Beseitigung der Kündigungsfrist
und anderseits das warme Eintreten der Arbeiterschaft für diese Bestim-
mung! Diese Änderung in der Auffassung erklärt sich zwanglos dadurch,
daß nun das Gesetz nach beiden Seiten gehandhabt wird und daß dessen
Vor- und Nachteile zu Tage treten. Daß die Arbeitgeber ihre Interessen
zu wahren suchen und für eine Änderung dieser Bestimmung eintreten.
kann ihnen sicherlich nicht znm Vorwurf gemacht werden, es wäre aber
ungerechtfertigt, wenn sich ihr Unwille gegen die Gerichte kehren würde,
die nichts anderes als ihre Pflicht tun, indem sie das Gesetz anwenden.
Wenn man den Gewerhegerichten Zeit läßt, sich einzuleben, wenn man sie
als eine Justizeinrichtung, frei von dem Einflüsse politischer Partei- und sozialer
Klasseuintcressen, sich betätigen und entwickeln läßt, so werden Arbeitgeber und
Arbeitnehmer die Vorteile der Gewerbegerichte immer mehr und mehr würdigen.
Zu dieser Hoffnung berechtigen die Erfahrungen im Deutschen Reiche.
Die .Kreuzzeitung“ Nr. 48, 11)03, gewiß kein Organ, das sozialdemokratische
Tendenzen vertritt, faßt ihr Urteil über die Gerichte in folgendem zusammen:
.Die Zeiten haben sich auch hier geändert. Die Vorsitzenden der Gewerbe-
gerichte haben sich als stark genug erwiesen, um unzulässigen Übergriffen
pflichtwidriger Beisitzer erfolgreich entgegenzutreten. Das politische Moment,
das der Wahl zu Grunde lag, trat bei Ausübung ihrer Funktionen als Richter
immer mehr und mehr zurück, und heute trefl'en die Entscheidungen der
Gewerbegerichte ebensogut das Richtige, sind ebensogut begründet und
rechtlich haltbar, wie diejenigen der ebenfalls aus Vertretern der Arbeitgeber
und Arbeiter zusammengesetzten Schiedsgerichte für Arbeiterversicherung,
wie die der ordentlichen Gerichte.“ Die .Kreuzzeitung“ anerkennt die
unbestrittenen Vorzüge des gewerbegerichtlichen Verfahrens „schnell, billig
und b c q u e m“.
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ABSTUFUNG DER GEBÄUDESTEUER NACH
DEM MASS DER VERBAUUNG DER GRUNDFLÄCHE.1)
RIN VORSCHLAG ZIJK ABÄNDERUNG DER GEBÄUDESTEUERN BEHUFS
FÖRDERUNG DER ASSANIERUNG MIT BESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG DER
ÖSTERREICHISCHEN HAUSZINSSTEUER UND FÜNFPROZENTIGEN STEUER.
VON
D« RAOUL BRAUN von FERN WALD.
Vordem wa rn die Straßen der Städte meist eng nnd winkelig, die Kana-
lisation und andere hygienische Vorkehrungen waren sehr ungenügend oder
fehlten ganz, wie überhaupt die öffentliche Gesundheitspflege sehr im argen lag.
Gegenwärtig werden gemäfl den Anforderungen der Wissenschaften von den
öffentlichen Gewalten grolle Anstrengungen und Aufwendungen zu Gunsten der
Assanierung gemacht: die Straften verbreitert, öffentliche Gärten angelegt, für
zweckmällige Kanalisation und die Zufuhr gesunden Trinkwassers gesorgt, so dafl
es gelungen ist, vielen früher verheerenden Krankheiten einen großen Teil ihrer
Furchtbarkeit zu nehmen und sie auf einige verhältnismäflig seltene Fälle zu
beschränken. Leider fehlt aber such die Kehrseite nicht; besonders wird oft der
Erfolg der Bemühungen der Allgemeinheit durch die rücksichtslose Geltendmachung
des Privatinteresses schwur beeinträchtigt. Früher hatten die Häuser selten eine
gröflere Höhe, so dafl auf dor gleichen Grundfläche weniger W'ohnraum und
daher auch nur Platz für eine geringere Anzahl Menschen war. Wo nicht
besondere Verhältnisse, wie Raummangel infolge einengender Festnngsinauern,
obwalteten, waren bei den Häusern in der Kegel geräumige Höfe, die oft mit
ein paar Bäumen bepflanzt waren, welche mit ihrem Grün das Auge erfrischten
und auch ein wenig zur Verbesserung der Luft beitrugen. Auch darf man nicht
vergessen, dafl früher der Umfang der heutigen Großstädte unendlich geringer
war und eine geringe Luftströmung genügte, utn allen Teilen des Ortes frische
unverdorbene Luft zuzuführen, während jetzt ganze Stadtteile nur Luft bekommen
können, die bereits über weit«, diclttbewohnte Gebiete hingestrichen und dadurch
verunreinigt und verdorben worden ist, wie ja überhaupt die Luft durch den
stärkeren Verbrauch von Brennmaterial und durch die anderen Emanationen der
Industrie mit Unreinigkeiten und schädlichen Gasen erfüllt wird und der uner-
meßlich gesteigerte Verkehr immer neue Staubuiassen aufwirbelt Das Gemeinwesen
hat da im Kampfe um die Wahrung der Gesundheit seiner Bewohner oinen
*) Da dieser Artikel sich schon seit März bei der Redaktion befand, konnte die
spätere Literatur nicht mehr verwertet werden
Zeitschrift für Vollem Irocbift, SosialpolUlk und Verwaltung. XII. UauJ. 40
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582
Mraun von Fernwahl.
schworen Stand. Mau muß daher von den Privaten verlangen, daß sie es in
dieser Bedrängnis nach Kräften unterstützen. Leider wird aber nur zu oft aus
Selbstsucht oder Unverstand gegen diese Pflicht gefehlt.
Der ungemein gesteigerte Wert der Bodenfläche in den günstig gelegenen
Stadtteilen drängt dazu ihn auszunützen, soweit es irgend rechtlich und technisch
möglich ist. Die Häuser werden bis zur größten, gestatteten Hölle gebaut und
der Hofraum auf ein Minimum beschränkt. Was die Allgemeinheit durch Straßen-
verbreiterung und Gartenanlagen mühsam an freiem Luftraum errungen hat.
geht wieder durch die stete Verkleinerung der Hofränme und Hausgärten verloren.
Auch wird durch eine so rücksichtslose Verbauung der Peripherie der zentrale
Teil der Städte immer ungesunder, da ihm die Zufuhr von frischer Luft ganz
abgeschnitten wird. Ebenso nachteilig sind die engen Höfe für die einzelnen
Häuser und ihre Bewohner. Abgesehen davon, daß die Lichtliöfo bei Feuers-
brünsten oft wie Schlote wirken und die rasche Ausbreitung und da» Umsich-
greifen der Flammen begünstigen, verkümmern siu ihren Bewohnern Luft und
Licht. Infolgo ihrer Enge ist die Luft in ihnen wenig bewegt und stagnierend,
nur ein besonders kräftiger Windstoß vermag aus ihnen die verbrauchte, ver-
unreinigte Luft und die angesammelten Miasmen zu vertreiben und sie mit frischer,
sanerstoffreicher Luft zu füllen. Die Sonnenstrahlen, deren heilsamo Wirkung
immer mehr geschätzt wird, können nnr im Sommer während weniger Tagesstunden
eindringen, im Winter aber sind die unteren Stockwerke in ewiges Dunkel getaucht.
Glücklich, wem es seine Mittel erlauben eine Wohnung zn haben, von der
wenigstens einige Fenster auf die Straße gehen und der frischen Luft Einlaß
gewähren. Wer aber verdammt ist, seine Tage in einer Hofwohnung hinznhringen.
deren Fenster auf einen engen Lichthof hinausgehen, der bleibt der frischen
Luft und des hellen Tageslichtes beraubt. Besonders bedenklich sind daher die
engen Höfe dann, wenn hinter dem Vorderhausc noch ein Hinterhaus eingebaut
ist, dessen sämtliche Fenster sich auf solche enge Höfe öffnen, da dann dieses
ganze Gebäude unter den erwähnten i'belständen leidet und eine gründliche
Ventilation vollkommen ausgeschlossen ist.
Xiomaud wird leugnen, dal) angesichts der lebhaften Bautätigkeit eine
Abhilfe gegen eine solche übermäßige Ausnützung des Baugrundes unbedingt und
dringend not tut. Es fragt sich, welche Mitte] am raschesten und besten zur
Erreichung dieses Zieles führen. Zunächst kommt natürlich eine entsprechende
Verschärfung und strengere Handhabung der Bauordnungen in Betracht, wodurch
wenigstens bei den Neubauten diesen sanitären Forderungen liechnung getragen
werden könnt«.1) Die schon bestehenden Bauten würden dadurch natürlich nicht
*) Die Wichtigkeit der Berücksichtigung der Forderungen der Hygiene bei
Erlassung neuer Bauordnungen hat die volle Würdigung des österreichischen k. k. Obersten
Sanitätsrates gefunden und war bei ihm Gegenstand eingehender Beratungen. Bereits
im Jahre 1893 wurden in einem Bericht seiner Mitglieder Franz Bitter von Gruber
und Dr. Max Gruber genaue „Anhaltspunkte für die Verfassung neuer Bauordnungen
in allen die Gesundheitspflege betreffenden Beziehungen“ (Wissenschaftliche Abhandlungen
aus dem k. k. Obersten Sanitätsrate II) ausgearbeitef. In diesem Berichte ist auf die
genügende Erhellung und direkte Liiftbarbeit der Innenräume der Gebäude großes
Gewicht gelegt. Für die Erhellung ist darin in der Weise Sorge getragen, daß die
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Abstufung der Gebfiudesteuer nach dein Maß der Verbauung der Grundfläche. 588
berührt. Auch dürfte es selbst bei der besten Formulierung der diesbezüglichen
Vorschriften nicht za vermeiden sein, daß in vielen einzelnen Fällen Meinungs-
verschiedenheiten und Streitigkeiten über die Zulässigkeit einer Hauführung ent-
stehen. deren Erledigung wieder einen großen Verwaltungs* und Judikatnrapparat
beansprucht
Es wäre demnach auf ein Mittel zu sinnen, welches die Bauordnung
ergänzt und die Verbauung möglichst automatisch regelt und dadurch die Häufig-
keit der Beschwerden und Rekurse vermindert.
Bedenkt inan, welchen weitgehenden Einfluß gewisse Rcalstenern auf die
Bauweise geübt haben, wie die Fenstersteuer1) es bewirkte, daß mit den Licht-
öffnnngen in einer Weise gespart wurde, die der Gesundheit der Bewohner
schädlich war. wie anderseits eine Besteuerung nach der Zahl der Wohnräume
eine Bauart veranlaßt, bei der ohne Rücksicht auf die Zweckmäßigkeit nur möglichst
wenige Räume hergestellt werden, wo man dann deren geringe Zahl durch ihre Größe
ersetzen muß, so liegt der Gedanke nahe, im Kampfe gegen dio
übermäßige Verbauung der Bauplätze die Gebäudestener
zu Hilfe zu nehmen und durch ihre entsprechende Organisierung d i e
Wirkung der Bauordnungen zu unterstützen. Diesen heil-
samen Einfluß der Besteuerung könnte man erzielen, wenn
man die Gebäude, bei denen zu wenig unverbauter Raum
übrig gelassen ist, mit einer höheren Steuer belegt. Es würde
dann der durch die stärkere Vorbanung erzielte Vorteil durch den Nachteil auf-
gewogen werden, eine größere Steuerquote zahlen zu müssen. Wenn nun der
Bauführer dort, wo die Fenstersteuer besteht, um möglichst wenig Steuer zu
zahlen, entgegen den Wünschen seiner Mieter die Zahl der Fenster auf das
Mindestmaß herabsetzt. so ist anzunehmen, daß er auch, wenn er für die über-
mäßige Verbauung mehr Steuer zahlen umß, darauf verzichtet, seinen Baugrund
bis aufs äußerste auszunützen und den Parteien luftige und gut erleuchtete
Wohnräume schafft und so ihren Bedürfnissen entgegenkotnmt. Natürlich würde die
Steuererhebung nur dann wirksam sein, wenn sie den Gewinn aus der stärkeren
Verbauung aufhebt. Da die Belastung des Hausbesitzes in der Regel und speziell
in Österreich sehr hoch ist. so kann an eine weitere Steuererhöhung nicht gut
gedacht werden. Man wird daher die Abstufung durch Gewährung von Steuer-
nachlässen für die Gebäude mit genügend großen Höfen durch-
führen müssen. Es soll später auf diese Frage zurückgekommen und ihre Lösung
versucht werden, vorläufig sei der Einfachheit halber davou abgesehen und der
Fall einer Steuererhöhung erörtert. Es ist zunächst festzustellen, wo inan mit
Auflegung der Zuschläge zu beginnen hat, welches Minimalmaß von unverbauter
Fläche die Freiheit von den Zuschlägen begründen soll. Diese Frage kann aber
erst nach genauen, eingehenden Untersuchungen und Erwägungen entschieden
Festsetzung bestimmter Verhältnisse der Abstände des Hauses von den umgebenden
Gebäuden zu deren Höhe verlangt wird, wodurch für jedes Fenster eine entsprechende
Erhellung gesichert werden kann.
•) Vgl. P. I.eroy- Beaulieu, Tratte de la seiend* des finances, 5. Auflage. I. Band,
S. 364, und Adolf Wagner, Fiuanzwissensrhaft, III. S. 2f>6 und 464.
40*
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584
Braun von Fernwahl.
worden. Beispielsweise sei hier angenommen, dalt die Befreiung von diesen Steuer-
zuschlägen dann gegeben sei, wenn die unverbaute Fläche: Hofranm, Hausgarten,
Vorgarten u. s. w. wenigstens die Hälfte des gesamten Bauplatzes ausmacht.
Weitere Steuerbegünstigungen für Gärten und Höfe zu gewähren, welche dem
verbauten Grund nicht nur gleiclikommeu. sondern greller sind, würde sich
vielleicht weniger empfehlen, da das eine gewisse Bevorzugung der Reichen
wäre, obwohl der Wert großer Privatgärten für die Allgemeinheit nicht unter-
schätzt werden soll. Auch muH mau es vermeiden, in Fisttalismus zu verfallen,
indem man ein zu hohes Minimalmall voll unverbauter Fläche annimmt.
Die Hohe des Zuschlages muß so bestimmt werden. daH er den durch
weitergehende Verbauung erzielten Gewinn ganz oder zum größten Teil aufhebt:
natürlich kann man da nicht jedem einzelnen Fall gerecht werden, sondom muH
eine allgemeine Schätzung zur Grundlage wählen. Beispielsweise kann man einen
Maximalzuschlag von 10 Proz. des bisherigen Steuerbetrages annehmen. Dieser
wäre von Häusern ohne allen unverbautem Grund zu entrichten. Ks wäre aber
unbillig, jede noch so geringe Überschreitung der zulässigen Normalverbauung
mit dem gleich hohen Strafzuschlag zu belegen, es dürften daher die Zuschläge
nach dem Mafle der Mehrverbauung abzustnfen sein. z. B. in der Weise: Für die
Verbauung von 50 — 55 Proz. des Baugrundes 1 1‘ruz. Zuschlag, für 55 — 00 Proz.
2 Proz. Zuschlag, für 60 — 65 3, für 65 — 70 4. für 70 — 75 5, für 75 — 80 6.
für 80 — 85 7. für 85 — 90 8, für 90 — 95 9, endlich hei einer Verbauung von
über 95 Proz. der Fläche der volle Zuschlag von 10 Proz. Diese Ziffern
machen natürlich keinen Anspruch, den tatsächlichen Verhältnissen und Erforder-
nissen zu entsprechen, sondern sollen nur den Gedanken veranschaulichen.
Wie früher erwähnt, wird eine derartige Strnrrerhiihnng nur dann eine
stärkere Verbauung hindern, wenn dadurch der durch die grellere Ausnutzung
der Baufläche entstandene Gewinn dem Hausbesitzer entzogen wird, l'm dieses
Ziel zu erreichen, müßte man feststellen können, wie groll dieser Gewinn etwa
per Quadratmeter der verbauten Fläche ist. Dies wäre aber äußerst schwierig
und müßte für jedes einzelne Haus besonders ermittelt werden. Es kommen da
nämlich sehr viele Momente in Betracht. Bei einem Hanse, das an einer Haupt-
verkehrsader, in einem geschäftlich oder gesellschaftlich bevorzugten Viertel
liegt, wird sich das Publikum mit einer Bauart zufrieden gehen, die in einer
andern Gegend nicht rentabel wäre. Auch hängt es sehr davon ab. ob das
Haus Geschäftszwecken oder zu Wohiiräumen oder zu beiden dienen soll, und
bei Wohtlbäusom macht es einen großen Unterschied, ob sic für die bemittelte
Klasse, die sich Annehmlichkeiten gönnen kann, oder für arme Leute, die froh sein
müssen, wenn sie ein Obdach bezahlen können, berechnet sind. Auch die Nationalität
und Herkunft der Mieter fällt ins Gewicht, da die Ansprüche und Gewohnheiten bei
den einzelnen sehr verschieden sind. Natürlich sind für die Annehmlichkeit
einer Wohnung noch sehr viele andere Umstände maßgebend als dio Größe der
Höfe, die es bewirken können, daß selbst eine übergroße Verbauung noch Gewinn
bringt. Fenier ist die Höhe des Hauses von Bedeutung. Ein Hof, der hinlänglich
groß für ebenerdige Gebäude wäre, erweist sich als ganz ungenügend, wenn ihn
vierstöckige Zinskasernen umgeben. In der Regel ist hei einem Hans die Ver-
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Abstufung der Gebäudesteucr nach dom Maß der Verbauung der Grundfläche. 5H5
bauuug des Grundes nur bis zu einer bestimmten kritischen Grenze gewinn-
bringend. die von den oben angedenteten Umständen abhängt. Wird diese Grenze
überschritten, so tritt nicht mehr eine Steigerung, sondern eine Minderung des
Erträgnisses ein. Freilich gibt es Ausuahmsfulle, z. 13. daß ein Haus so zwischen
zwei oder mehreren Straßen gelegen ist, daß ein Uofrauui überhaupt entbehrlich
ist. Da kann freilich die ganze Fläche vorteilhaft ausgenutzt werden.
Kine Ermittlung der Steigerung des Erträgnisses durch eine stärkere Ver-
bauung stößt also auf große Hindernisse und würde unverhältnismäßige Mühe
und Kosten verursachen. Es dürfte jedoch genügen, wenn der Unterschied in
der Besteuerung einen beträchtlichen Teil der Steuersumme, die im ganzen auf
das Haus entfällt, ausmacht. Hei einem Neubau wird dann der umsichtige Hau-
führer zu berechnen trachten, inwieweit ein durch eine stärkere Verbauung erzielter
Gewinn ihm selbst verbleiben und wie viel davon durch die Steuererhebung
absorbiert würde, und wird danach den Hauplan einrichten. Natürlich wird er,
wenn es in seinem Interesse ist, trotz der höheren Steuer stark verbauen. Es
ist dann der Zweck dieser Abänderung der Gebäudesteuer nicht erreicht, doch
betrifft dies nur einen Teil der Gebäude, und zwar einen um so kleineren, je
größer der Unterschied in der Besteuerung ist, so daß man es in der Hand
hat, die Zahl solcher Gebäude mit übergroßer Verbauung durch entsprechende
Differenzierung der Steuersätze nach Bedarf zu verringern. Anderseits wird durch
eine solche Art der Besteuerung selbsttätig eine Anpassung an die Lokalver-
hältnisse bewirkt. In den Zentren des Geschäftslebons und des Verkehres wird
die Hautlächc so stark verbaut werden als es irgend zulässig, da jeder Fußbreit
Hoden äußerst wertvoll ist und für Geschäftsräume, die in der Regel nur während
einiger Stauden benützt werden, Licht und Luft nicht die gleiche Wichtigkeit
haben wie für Wohnräuine. Dagegen wird es sich in den Gegenden, wo der
Grund weniger Wert hat, nicht rentieren, die Verbauung zu weit zu treiben und
es werden Hofräume entstehen, die den sanitären Anforderungen an ihre Größe
entsprechen. Damit eine solche annähernd richtige Vorausberechnung des Erträg-
nisses mit Rücksicht auf die größere oder geringere Verbauung möglich sei,
ist es natürlich notwendig, daß die Summe der ganzen auf das Haus entfallenden
Steuer möglichst konstant ist und nicht von Jahr zu Jahr Schwankungen unterliegt.
Wenn alle Häuser einer derart nach der Verbauung abgestuften Besteuerung
unterworfen werden, so bildet dies bei alten Häusern, deren Hofräume aus irgend
einem Grunde sohr klein gemacht wurden, einen Ansporn zur Demolierung der-
selben und zur Erbauung von sanitären Häusern, indem dadurch eine verhältnis-
mäßig geringere Besteuerung erzielt werden kann.
I)a die vorgeschlagene Abänderung der Gobäudesteuer nur eiue Seite der
städtischen Sanitätspolizei, die Verhinderung einer übermäßigen Verbaunng,
berührt, kann sie natürlich die hygienischen Bestimmungen der Bauordnungen
nicht ersetzen, sondern diese nur ergänzen und unterstützen. Dies geschieht
dadurch, daß sie in zweierlei Hinsicht automatisch wirkt:
1. durch Verminderung der Streitigkeiten und Rekurse betreffend das zulässige
Maß der Verbauung der Bodenfläelie und 2. durch die Anpassung der Bauweise an
die Verkehrs- und Geschäftsverhältnisse des betreffenden Ortsteiles.
Digitized by Google
Brau» Ton Femwald.
:>«•!
l)a der für die Gewährung einer Steuerbegünstigung geforderte Minimal-
hofrauin stet» bedeutend größer festgesetzt werden kann als der durch die Ban-
ordnungen vorgeschriebene, so wird bei allen den Häusern, wo der Bauführer
freiwillig auf eine gegen die Bauordnung verstoßende stärkere Verbauung ver-
zichtet, um nicht unter einen höheren Steuersatz zu fallen, diesbezüglich keine
Meinungsverschiedenheit zwischen Bauführer und Baubehörde vorhanden sein,
während sonst in vielen Fällen der Bauführer geglaubt hätte, eine stärkere Ver-
bauung durchsetzen zu können und gegen die Kutscheidung der Baubehörde den
Rekurs ergriffen hätte. Streitfälle werden sich nur dann ereignen können, wenn
der Bauführer auch die höheie Besteuerung nicht scheut und seinen Grund sogar
über das von der Bauordnung gestattete Maß verbauen will. Ks wird demnach
oine bedeutende Anzahl von Fällen, wo sonst der Kekursweg beschritten worden
wäre, von selbst bcigclegt und so alle Faktoren, die am Reknrsverfahrcn beteiligt
sind, entlastet und viel au Arbeit, Zeit und Kosten erspart, so daß. wenn auch
nicht im einzelnen Ressort, doch in der Volkswirtschaft der Aufwand für die
Mehrarbeit, welche die Einführung der abgestuften Gebändesteuer verursacht,
dadurch einigermaßen aufgewogen würde. Außerdem ist nicht zu übersehen, daß
durch diese Besteuernngsart der Bauführer veranlaßt wird, selbst sich für eine
den sanitären Anforderungen entsprechende Verbauung seines Grundes zu ent-
scheiden und so viel Anlaß zu Mißstimmung und Klagen über behördliche
Bevormundung und Schikane vermieden wird. Bei dein Spielraum, den die Bau-
ordnungen für ausnahmsweise Erleichterungen im Sinne einer stärkeren Ausnützung
des Grundes gewähren müssen, ist es auch vorteilhaft, daß durch die erwähnte
Steuerform die Art der Verbauung von der größeren oder geringeren Strenge der
einzelnen Baubehörden unabhängiger gestellt wird und so eine größere Gleich-
förmigkeit erzielt wird.
Was die zweite Richtung aulangt, in der die Rcstenernng nach Maßgabe
der Verbauung automatisch wirkt, so ist zunächst darauf hinzuweisen, daß die
Vorschriften der Bauordnungen über das höchste Maß der zulässigen Verbauung
in der Regel schematisch sind. Gewöhnlich ist nur bestimmt, daß mindestens ein
gewisser Prozentsatz des Bangrundes, z. B. l.r> Proz.. unverbaut hloiben soll. Bei
kleineren Orten erweckt eine solche gleichmäßige Normierung weniger Bedonken,
da die Unterachiede der Verhältnisse bei den einzelnen Ortschaflsteilen meist
nicht so groß sind. Anders bei einer Großstadt. Im Zentrum wird mau wohl
sich billigerweise mit einem ziemlich geringen Minimalhofraum begnügen müssen,
für dio Peripherie aber ist eine höhere Anforderung gerechtfertigt. Mail könnte
nun versuchen dem abzuhelfen, indem man für die verschiedenen Stadtteile ver-
schiedene prozentuelle Ausmaße der Hofräumo als Minima festsetzt. Da es aber
äußerst schwierig ist, die örtlichen Verhältnisse richtig zu würdigen um! ihnen
entsprechend Rechnung zu tragen, so würde eine solche Ravunnierung immer
etwas willkürlich ansfallen. Es wird daher dio Bauordnung in wünschenswerter
Weise durch don hier behandelten Vorschlag ergänzt, so daß sie sich mit der
einheitlichen Fixierung des technisch und sanitär zulässigen Minimums begnügen
kann. Wenn die Besteuerung nach Maßgabe der Verbauung erfolgt, wird eine
richtige Regulierung durch die Rücksicht der Bauherren auf ihr eigenes Interesse
Digitized by Google
Abstufung der Gebäudesteuer nach dem il.iU der Verbauung der Grundfläche. 587
ointreten. Dort, wo es privatwirt-scbaftlicli und wohl auch nationalftkonuluisch
gerechtfertigt ist, alsn in den Geschäfts- und Verkehrszentren, wird die kostbare
Grundfläche im höchsten zulässigen Malle verbaut werden, dagegen werden an
den weniger vorteilhaft gelegenen Stellen Häuser mit großen, luftigen Höfen
entstehen. Gegenüber der Festsetzung von verschiedenen Hofranmgröflen für die
einzelnen Stadtteile hat dies noch den Vorteil, datt keine starre Abgrenzung
in einzelne Gebiete notwendig ist. sondern daß die Hanweise sich den speziellen
Verhältnissen anschmiegen und ihnen hei jedem Hanse Rechnung tragen kann.
Uei einem an einer Hauptverkehrsader gelegenen Hans wird die Fläche möglichst
ansgenützt werden, bei dem in einer stillen Seitengasse gelegenen Nachbarhause
wird es vielleicht schon nicht mehr vorteilhaft sein, so da# der Banherr es
vorzieht, einen geräumigen Hof frei zu lassen. Ändern sich die Verhältnisse im
Laufe der Zeit in einem bestimmten Stadtgebiete, so kann dem bei Bestimmung
fixer Ausmaße für die Hofräume nur durch Änderung der Bauordnung Rechnung
getragen werden. Ist jedoch die Gebäudesteuer nach der Verbauung abgestnft,
so erfolgt die Anpassung allmählich von selbst. Entsteht durch Anlage eines
Bahnhofes oder Hafens ein neues Verkchrszcntrnm, so werden die Hausbesitzer
lieber eine höhere Steuer zahlen und ihre Gebäude nach Möglichkeit ansbauen,
um den höchsten erreichbaren Nutzen zn erzielen. Wird dagegen eine Gegend
vom Verkehrs- nnd Geschäftsleben abgeschnitten, so werden die Hausbesitzer, um
der hohen Besteuerung zn entgehen, ihre alten Hänser. sobald es deren Bau-
znstaud irgend rechtfertigt, durch andere gesündere, an denen nicht so sehr mi
dem Hofrauin gespart ist, zu ersetzen trachten oder doch durch Niederreißcn
von Seitentrakten nnd Anbauen die Höfe vergrößern. So bewirkt die reformierte
tiebündestener, daß die Bauweise nicht nur im einzelnen Falle den Verkehrs-
und Geschäfts verhnltnis>eu vollkommen entspricht, sondern auch, daß sie den
Änderungen derselben allmählich folgt. Natürlich bleibt es den Bauordnungen
gänzlich unbenommen, für gewisse Gebiete weitergeheudo Anordnungen zu erlassen,
z. B. sie zu Villenvierteln zn bestimmen.
Es darf nicht übersehen werden, daß die geschilderten Wirkungen nicht
immer eintreten werden. Bis jetzt wurde angenommen, daß die Bauführer genug
Umsicht und Gescliäftskonntnis besitzen, um ziemlich richtig vorans zu berechnen,
welche Bauweise unter den betreffenden 8tsnerverhältnissen die gewinnbringendste
ist. und danach Vorgehen. Bei den gewerbsmäßigen Bauunternehmern wird dies
wohl in der Regel zutreffeii. Bei den Rcalitätenbesitzern, die nur ausnahmsweise
in die Lage kommen, einen Neubau ausführen zu lassen, wird es wohl nicht
immer der Fall sein, doch dürften viele durch den Rat nnd das Beispiel anderer
auf den zweckmäßigen Weg geleitet werden. Nützen sie eine günstige Lage nicht
vollständig ans und geizen nicht mit dem Hofraum, so ist das natürlich für die
Allgemeinheit voll Vorteil, wenn auch die Hausbesitzer und die Steuerbehörde
dadurch etwas geringere Einnahmen haben. Verhauen sie ihren Grund aus wirt-
schaftlichem Unverstand oder Eigensinn unvernünftig stark, so müssen sie dafür
büßen, indem daun ihr Haus unter einen höheren Steuersatz fällt, so daß das
etwa erzielte Mehrerträgnis und oft noch mehr durch die Erhöhung des Steuer-
betruges anfgezehrt wird. Endlich kann es aber Vorkommen, daß ein Baugrund
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Braun von Fernwahl.
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gar nicht besonders günstig gelegen ist, daß sein Besitzer es dennoch vorteil-
haft findet, ihn sehr stark zo verbauen, weil er das Haus zu besonderen Zwecken
bestimmt hat, wo ihm eine solche Bauweise trotz der höheren Besteuerung doch
noch einen höheren Gewinn verspricht, z. B. weil er sein Haus auf Mieter
berechnet, die von anderen Hausbesitzern nicht gern aufgenommeu werden und
dadurch gezwungen sind, selbst bei geringer Annehmlichkeit der Wohnung so
hohe Zinse zu zahlen, daß dem Hausbesitzer nach Bezahlung der höheren Steuer
ein beträchtlicher Mehrgewinn bleibt. Immerhin ist der Gewinn erzielt, daß ein
bedeutender Teil des Mehrertrages der Steuerbehörde znfließt und so der Allge-
meinheit zu gute kommt. Ks kann also Vorkommen, daß mitten # unter lauter
geräumigen Höfen ein oder das andere Haus mit einem engen und ungenügenden
Hofe vorkommt. übrigens dürfte dies kein so großer Schade sein, wenn nur
wenigstens die Mehrzahl der Häuser größere und gesündere Hofrftnme hat, als
man durch bloße Anwendung der Bauordnung hätte erzielen können. Will man
jedoch eine vollständige Gleichförmigkeit in der Verbauung der Grundflächen
in einem bestimmten Stadtteil erlangen, so müssen Bauordnung und Baupolizei
eingreifen.
Nun entsteht die Frage.' ob eine derartige auf das Maß der Verbauung
begründete verschiedene Steuerbehandlung auch den Grundsätzen der
Billigkeit entspricht. Das ist wohl anzunehmen. Es ist gerecht, daß derjenige,
welcher durch große Ausnutzung seines Grundbesitzes die Allgemeinheit schädigt,
höher besteuert wird, so daß der durch ihn verursachte Schaden dadurch einiger-
maßen ausgeglichen wird. Wenn es ihm schon erlaubt sein soll, rücksichtslos
einen höheren Gewinn herauszuschlagen, so soll wenigstens die Allgemeinheit
daran Teil haben. Wird die Abstufung der Gebäudesteucr durch eine prozentuelle
Herabsetzung der bisherigen Steuer durebgeführt. so wird wohl nichts dagegen
einzuwenden sein, daß diese Begünstigung den Besitzern der gesünder gebauten
Häuser zugewendet wird. Es ist ja den anderen Hausbesitzern die Möglichkeit
geboten, durch entsprechende Neu- oder Umbauten derselben Vorteile teilhaftig
zu werden. Auch in Bezug auf Neubauten liegt darin keine Härte und es ist
kein nachteiliger Einfluß auf die Bautätigkeit zu besorgen. Und wenn vielleicht
jemand, der die löbliche Absicht hatte, ein Massenquartier mit engen Höfen ohne
Luft und Licht zu bauen, es infolgedessen nicht mehr profitabel findet und den
Plan aufgibt und gar nicht baut, so ist dies auch gerade kein Unglück. -
Bedenklicher ist die Sache, wenn die Differenzierung durch Zuschläge zur
bisherigen Gebäudesteuer erfolgt. Den Besitzern der bestehenden Häuser mit
zu kleinen Höfen wird dadurch, daß sie höhere Steuern zahlen müssen, tat-
sächlich ein Teil ihrer Einnahme» weggenommen und man kann da von einer
teilweisen Vermögenskonfiskation*) sprechen. Gegenüber einer andern Steuer-
erhebung besteht jedoch der Unterschied, daß die Hausbesitzer cs durch einen
Neubau oder Umbau erreichen können, daß sie wieder nach dem alten Steuerfuß
behandelt werden und ihnen so das konfiszierte Vermögen wenigstens teilweiso
restituiert wird. Was die Neubauten anbelangt, so würde eine partielle Steuer-
*) Vgl. das grundlegende Werk von F. Frh. von Myrhach, Die Besteuerung der
Gebäude und Wohnungen in Österreich und deren Reform, S. 180.
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Abstufung: der GebäucWateuer nach dem Maß der Verbau m»g der Grundfläche. .‘»8*1
crhöhnng wohl die Wirkung haben, daß ein Teil der Häuser, die sonst mit
kleinen Hofen gebaut worden wären, überhaupt nicht gebaut wird und so die
Bautätigkeit etwas verringert wird. Dadurch würde die Nachfrage nach Bau-
gründen ein wenig sinken und deren Preis ungünstig beeinflußt werden. Anch
würden dadurch die Baugewerbe einigermallen in Mitleidenschaft gezogen werden.
Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dal* dadurch nur die Erbauung unsanitärer
Häuser verhindert wird, deren Vorhandensein schädlich gewesen wäre. Übrigens
hat es auf die Errichtung von Neubauten dieselbe Wirkung, wenn durch eine
Bauordnung ein gewisser Minimalhofraum vorgeschrieben und diese Anordnung
streng durchgeführt wird. Daun ist noch zu berücksichtigen, daß die Bau-
gewerbe in der durch den Druck, der auf die Besitzer nnsanitärer Häuser durch
die höhere Steuer ausgeübt würde, bewirkten Erhöhung der Bautätigkeit einigen
Ersatz linden würden. Wird jedoch die Reform gelegentlich einer Herabsetzung
der Gebäudesteuer vorgenommen, so bestehen alle diese Bedenken nicht. Endlich
kommt noch in Betracht, daß der aus der günstigen Lage entspringende Teil
des Ertrages eines Hauses, die sogenannte Rente der Lage, wie schon Schaeffle1)
bemerkt, keine Erhaltungskosten verursacht, während allen anderen Einnahmen
aus dem Haosbesitz ein gewisser Kostenaufwand gegen übersteht, der bei der
Besteuerung nur nuvotlkommen berücksichtigt werden kann. Es entspricht daher
der Billigkeit, wenn solche kostenlose Einnahmen höher besteuert werden, wie
es geschieht, wenn der Besitzer wegen der Gunst der Lokalverhältnisso seinen
Grund stark verbaut und infolgedessen seiu Haus unter einen höheren Steuer-
satz fällt.
Wenn eine neue Steuer einge führt oder eine alte abgeändert wird, so
strengen viele Leute ihren Scharfsinn an, um herauszuflnden, wie sie unter den
neugeschaffenen Verhältnissen am wenigsten .Steuer zu zahlen brauchen und wie
sie cs anstellen, um behufs Erlangung einer günstigeren Steuerbehandlung
gebrachte Opfer wieder hereinznbekommeu. Dies würde jedenfalls auch bei
Durchführung der vorgeschlagenen Abänderung der Gebäudesteuer ointreten.
Insbesonders liegt die Gefahr nahe, daß der Bauherr das, was er zur
Erlangung einer niedrigeren Besteuerung an Raum für den Hof geopfert hat,
bei anderen Teilen des Gebäudes zu ersparen sucht, also Wohnräume, Küchen,
Gänge, Stiegen u. s. w. möglichst klein macht. Das wird besonders bei jenen
Räumen der Fall sein, wo die betreffende Bauordnung keine Mindestmaße vor-
schreibt. Es würde dann der Vorteil, der durch die Vergrößerung des Hofes für
die Assanierung errungen wurde, durch die sanitäre Verschlechterung der übrigen
üausteile verloren geben. Um das zu verhindern, könnte man die Bestimmung
Albert Schaeffle, Die Grundsätze der Steuerpolitik, S. 314 — 316. Da der
Bruttomietzins von der Grundrente stark beeinflußt wird, schlägt er vor, den Brutto*
mietwert per Quadratmeter periodisch zu berechnen, dann nach einer bestimmten, auf
Grund konkreter Erhebungen konstruierten Skala im Maße dots Steigen s oder
Fallens der Einheitsrente per Quadratmeter Grundfläche eine Erniedrigung oder
Steigerung des Unterhaltungskostenprozentes durchznführen und demgemäß auch einen
Zuschlag oder Abschlag an den Gebüudesteuersätzen pro Quadratmeter Grundfläche
vorzunehmcii, um der wechselnden Grundrente bei der Besteuerung gerecht zu werden.
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Braun von Fernwald.
590
treffen, daß dio günstigere Steuerbehaiidlung einem Hause nur dann gewährt
werde, wenn eine Kommission das Haus ganz allgemein als sanitär erklärt oder
sich wenigstens dahin ausspricht, daß gewisse Bedingungen erfüllt sind, wie sie
z. B. im Gesetze vom 8. Juli 1902, R.-G.-Bl. Xr. 144, betreffend Begünstigungen
für Gebäude mit gesunden und billigen Arbeiterwohnungen und in der dazu
erflossenen Durchführungsverordnung der Ministerien der Finanzen und de«
Innern vom 7. Jänner 1903, R.-G.-Bl. Xr. 6, gestellt sind. Um eine Erhöhung
der Kosten zu vermeiden, könnte diese kommissionelle Entscheidung mit der
Erteilung des Ban- oder Benützungskopsenses verbunden werden. Es ist jedoch
zu bedenken, daß dann das subjektive Ermessen der Kommissionsmitglieder eine
große Rolle spielen würde. Selbst bei einem vollkommen unparteiischen Vorgehen
kann man im einzelnen Fall über die sanitäre Zulässigkeit der Bauart und Ein-
teilung eines Gebäudes verschiedener Meinung sein. Es wird daher die Ent-
scheidung oft von Zufallsmehrheiten abhängen und daher selbst im Gebiet einer
und derselben Kommission nicht immer ganz gleichförmig ausfallen. Für das
gesamte Staatsgebiet kann natürlich von einer Gleichförmigkeit keine Rede sein.
Es ist sogar möglich, daß aus mißbräuchlicher Schonung mit Rücksicht auf die
Steuervorschriften Zustände als sanitär zulässig erklärt werden, die es eigentlich
nicht sind. Die Entscheidung hei der Baukonsenserteilung zu fällen, ist deshalb
mißlich, weil auf dem Plan vieles anders aussieht, jedenfalls für solche, die
nicht Bantechniker sind, weniger klar hervortritt, als wenn es wirklich ansgeführt
ist. .Wird sie erst bei der Erteilung des Benützungskonsciiscs gefällt, so erfahrt
der Hausbesitzer erst, wenn der Bau fertig ist, ob ihm die Opfer, die er für
die Vergrößerung des Hofraumes gebracht hat, auch wirklich die erhoffte Steuer-
begünstigung verschaffen. Es würde dadurch der ganze Erfolg der Abänderung
der Gehäudesteuer in Frage gestellt, da der Bauherr nicht mehr mit annähernder
Sicherheit voraus berechnen könnte, welche Bauweise für ihn am einträglichsten
ist, da alles von der Entscheidung der Kommission ahhüngt. Es muß daher den
Bauordnungen und der Baupolizei überlassen bleiben, dafür zu sorgen, daß eine
Vergrößerung der Hofräume nicht den sonstigen sanitären Zustand eines Hauses
schädlich beeinflusse. Überhaupt kann ja die Steuergesetzgebung wohl die Bau-
polizei unterstützen, aber nicht sie ersetzen.
Außerdem ist es möglich, daß eine Abstufung der Gehäudesteuer nach der
unverbauten Fläche zunächst nur eine Änderung der Hofraumgeometrie einer
Hänsergruppe bewirkt. Grenzen z. B. au den sehr großen Hofraum eines Hauses
andere mit zu kleinen Höfen, so würde das eine die volle Steuerbegünstigung
genießen, während die anderen von einer höheren Steuer getroffen würden. Es
liegt nun für die Besitzer dieser Häuser nahe, ihre Höfe durch Zukauf von
Teilen des großen Hofes so zu vergrößern, daß auch ihre Häuser unter einen
niedrigeren Steuersatz fallen. Dadurch würde natürlich ein Steuerausfall bewirkt
werden. Es ist jedoch zu bedenken, daß bei den gegenwärtigen Steuerbestiinmnngen
den Eigentümer des großen Hofes nichts gehindert hätte, diesen, soweit es die
Bauordnung znläßt, zu verbauen, wodurch für die ganze Hänsergruppe weit
schlechtere sanitäre Bedingungen geschaffen würden. Es ist auch nicht unbillig,
•laß die angrenzenden Hausbesitzer veranlaßt werden, Teile der unverbauten
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Abstufung dei GcbäudeMtcucr nach dem Mali der Verbauung der Grundfläche. yi i
Fläche zu erwerben, deren Luftraum ihren Häusern zu gute kommt und so dur
Aufwand beziehungsweise Erträgnisverlust, den diese freie Fläche verursacht,
gloichmäbiger verteilt wird. Es bleibt also nur das fiskalische Moment des Steueraus-
falles. Hiebei ist jedoch zu erwägen, dali die Abtrennung und der Verkauf einzelner
Teile des grollen Hofrauiiies nur dann für den Hesitxer vorteilhaft sein wird, wenn
dadurch nicht die Steuer , des eigenen Hauses so stark erhöht wird, dali ihm
kein Gewinn bleibt. Dies wird nun davon abhängen, welche Minimalhofräuuic
für die einzelnen Steuersätze festgestellt sind. Jo gröber sie angenommen sind,
desto weniger wird abgesondert werden können. Pie Steuergesetzgebung kann
daher auf solche Verschiebungen dnreh die Bestimmungen über das für einen
gewissen Steuersatz erforderliche Verhältnis zwischen unverbauter und verbauter
Fläche einen tiefgreifenden Einfluß nehmen.
• *
*
Es wurde bis jetzt nur die Einwirkung einer Abstufung der Gebäudesteuern
nach dem Verhältnis der verbauten und unverbauten Fläche im allgemeinen ohne
näheres Eingehen auf das Steuersystem, in das sich diese Abänderung einfugen
soll, erörtert. Nun sei es gestattet» darauf einzugehen, wie diesbezüglich die
Verhältnisse in Österreich liegen. Da die Reformbestrebungen zur Frage der
gerechten Besteuerung der Gebäude noch zu keinem Abschluß gebracht sind, so
kann hier nur die bestehende Gesetzgebung in Betracht kommen. Anderseits ist
natürlich dadurch die Möglichkeit geboten» die hier vertretene Anregung hei
einer allgemeinen Reform zu berücksichtigen. Bevor man die Frage erörtert, wie
sich die vorgeschlagene Abänderung bei den bestehenden Gebündesteuern durch-
führen ließe, mögen die betreffenden gesetzlichen Bestimmungen kurz angedeutet
werden.1) Die Grundgesetze für die österreichische Gebnudesteuer bilden das
allerhöchste Patent vom 23. Februar 1820 und die zur Durchführung desselben
erlassenen Instruktionen und außerdem das Gesetz vom 9. Februar 1882,
R.-G.-Bl. Nr. 17, durch das einige Abänderungen eingefuhrt wurden. Danach
bestehen in Österreich zwei Gebäudestenersy>teme nebeneinander: die Hauszins-
Steuer, welche durch die oproz. Steuer vom Ertrage der aus dem Titel
der Ballführung gänzlich oder teilweise von der Hauszinssteuer für eine bestimmte
Zeit, die sogenannte Baufreijahrsperiode, befreiten Gebäude ergänzt wird, einerseits
und die Hausklassensteuer anderseits.*) Die Hauszinssteuer trifft den
Ertrag sämtlicher in den als hauszinssteuerpflichtig erklärten Orten gelegenen und
der außerhalb dieser Orte befindlichen ganz oder teilweise vermieteten Gebäude.
Die hauszinssteuerpflichtigen Orte werden teils im erwähnten Gesetze vom
9. Februar 1882. der sogenannten Gebäudestonemovelle, namentlich angeführt,
teils werden als solche im allgemeinen jene erklärt, in welchen sämtliche Gebäude
oder wenigstens die Hälfte derselben und außerdem dio Hälfte der Wolinbestand-
’) Mit Rücksicht auf den beschränkten Kaum wurde von einer Anführung von
Übergangsbestimmungen ganz abgesehen.
*) Vgl. besonders Gustav Freiberger, Handbuch der österreichischen direkten
Steuern. 2. Auflage, S. 191 ff.» und in Mayrhofer-Graf Pace. Handbuch für den
politischen Verwaltungsdienst, 5. Anfl., VII. B l.. S. 787 ff.
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Braun von Fernwald.
teil«; <;ii»ei» Zinsertrag durch Vermietung ab werfen. Die Hauszins* teuer wird vom
tatsächlichen oder angenommenen Zinserträge der Gebäude nach Abzug der
gesetzlichen Erhaltung»- und Amortisationskosten, und zwar gegenwärtig in der
Hegel *) nach einem zweijährigen Durchschnitt, für die zwei folgenden Stoner-
jalire berechnet. Es ist hier nicht der Ort. um auf <li«; Detailvorschriften und
AusiiaUmsbestimmungen «‘inzugehen, doch muß hervorgehoben werden, daß die
Hauszinssteuer in den namentlich als hauszinssteuerptiiehtig genannten Orten
mit 26*/s Proz. des nach Abzug von 15 Proz.2) für Erhaltung«- und Amor-
tisationskosten ermittelten steuerbaren reinen Zinsertrages (Nettozinses) festgesetzt
ist, während sie für die hauszinsstouerpflichtigen Gebäude iu anderen Orten in
der Kegel 20 Proz.8) des nach Abzug von 30 Proz. für Erhaltung»- und
Amortisationskosten vom Bruttozinse verbliebenen Nettozinses beträgt. In gleicher
Weise wird die 5 proz. Steuer bei den Gebäuden, welche ein zeitliche
Befreiung von der Hauszinssteuer aus dem Titel der Bauführung genießen,
ermittelt; es ist also auch bei ihr die H«~die d«»r Abzugsprozente für Erhaltnngs-
uud Amortisationskosten verschieden. Diese fünfprozentige Steuer ist durch die
Eigentümlichkeit der österreichischen Steuergesetzgebung veranlaßt, daß infolge
v«»n Bauführungen auf eine lange Reihe von Jahren eine Befreiung von den
Gebäudesteuern gewährt wird. Bei den hauszinssteuerpflichtigen Gebäuden wurde
diese weitgehende Begünstigung durch Einführung der 5 proz. Steuer eingeschränkt.
Auf ganz anderen Prinzipien beruht die H a u s k I as s e u s t e u e r. Sic
erfaßt die nicht vermieteten Wohngebäude außerhalb der hauszinssteuer-
pllichtigeu Orte, also nicht wie die Hausziussteuer alle Gebäude, sondern nur
die Wohngebäude, d, h. im »Sinne der österreichischen Steuergesetze solche Gebäude,
welche Bestandteile in sich fassen, die als Wohnung wirklich benutzt werden
oder zu dieser Benutzung bestimmt sind. Auch bildet bei ihr nicht der Ertrag
die Grundlage der Besteuerung, sondern die Anzahl der Wohnhcstandteile. Von
diesem Gesichtspunkte aus werden die Häuser iu 10 Klassen geteilt, für jede
Klasse ist ein bestimmter Steuerbetrag festgesetzt, und zwar beträgt dieser für
die niedrigste Klasse: Häuser mit einem Wohuraum 3 K . für die höchste:
Häuser mit 36 bis 40 Wohubrstandteilcii 440 K. Bei jenen Gebäuden, w'elche
über 40 Wohnbestandt«.*ile enthalten, sind dem Tarifsätze der höchsten Klasse
für je einen mehr vorhandenen Bestandteil 10 K zuzurechnen. Die Größe der
Wohnräume. die Anzahl der Stockwerke, der eventuelle Zinsertrag kommen für
die Besteuerung. gar nicht in Betracht. Auch bei der Uausklassensteuer gibt es
ans dem Titel der Bauführung Baufreijahrsperioden, doch bleiben da die Gebäude
tatsächlich steuerfrei und besteht keine der 5 proz. analoge Steuer.
Diese staatlichen Steuern sind jedoch nicht die einzige Belastung des
Gehäudebesitzes, sondern sie werden sehr wesentlich erhöht durch die von ihnen
für autonome Körperschaften, besonders die Länder und Gemeinden, und für
verschiedene Konkurrenzbeiträge erhobenen prozentuellen Zuschläge, die «»ft
ein Vielfaches der Staatssteuer ausmaclien.
l) Nämlich in den hauszinssteuerpflichtigen Orten.
s,i In Zara und Czernowitz (innere Stadt) 30 Proz.
3) In Tirol und Vorarlberg (außer Innsbruck und Witten) 15 Proz.
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Abstufung der Gebäudesteuer nach dem Maß der Verbauung der Grundfläche. 503
In Würdigung der außerordentlich hohen Steuerbelastung der Gebäude wird
nach dein Personalsteuergesetze vom 25. Oktober 1896. R.-G.-Bl. Nr. 220, den
Hausbesitzern ein jährlicher Nachlaß an der vorgeschriobonen Gebäudesteuer,
jedoch nur von der Hauszins- und Hausklassensteuer, nicht aber von der 5proz. Steuer,
in der Hohe von 10 bis 12T» Proz. der Jahressteuer ans den Mehrerträgnissen
der Personalsteuern zugewendet. Dieser Nachlaß betrifft aber nur die Staats-
steuer, die erwähnten Fondszuschläge bleiben davon unberührt und werden nach
der ursprünglich vorgeschriebenen Staatssteuer berechnet und eingehoben.
Die steuerpolitische Behandlung der verhauten Flächen Bauarea) und der
Hofräume1) war bis zum Jahre 1880, wo das Gesetz vom 24. Mai 1869, K.-G.-Bl.
Nr. 88. über die Grundsteuerregelung vollständig durchgeführt wurde, nach den
einzelnen Ländern verschieden, ln den Ländern des stabilen Katasters waren sie
in der Regel der Grundsteuer unterworfen und nur in den der sogenannten
ursprünglichen Hauszinsstcner (von 26*/s Proz.) unterliegender. Orten steuerfrei.
Dagegen gehörten sie in den anderen Ländern, wo nur Grundstouerprovisorien
bestanden «Tirol, Vorarlberg, Galizien und Bukowina), durchwegs zu den steuer-
freien Grundflächen. Durch die Grundsteuerregelung wurden in allen Ländern
Österreichs die Bauarea und die Hofräume von der Grundsteuer frei. Die Haus-
gärten wurden jedoch immer von der Grundsteuer getroffen und unterliegen ihr
auch gegenwärtig. Diese gleichmäßige Behandlung der Hofräume und der Banarea
hatte auf die Finanzstatistik die Wirkung, daß kein Interesse nach der Unter-
scheidung derselben bestand nnd die Flächenmaße für beide gemeinsam festgestellt
wurden, dagegen wurden die Hausgärten einfach dein Gartenlande zugerechnet.
Während dio Hofräume von der Steuergesetzgebung als bloßes Zubehör
der Häuser keine selbständige Berücksichtigung fanden, wurden für sie in Bau-
ordnungen mehrfach Vorschriften ans hygienischen und anderen Rücksichten
erlassen.2) Sie sollen so angeordnet sein, daß sie den anstoßenden Räumen
ausreichendes, womöglich direktes Licht nnd genügenden Luftzutritt gewähren.
Ihre erforderliche Größe hängt daher von der Lage und Hohe der sie umgebenden
Gebäude. von der Situierung der Nachlmrhöfe und der Bestimmung der anstoßenden
Lokalitäten ah. Die Erkenntnis der Wichtigkeit eines entsprechend großen Haus-
liofes hat es bewirkt, daß in den neueren Bauordnungen vorgeschrieben wurde,
daß von der Gesamtbaufläche mindestens ein gewisser Prozentsatz unverbaut
bleiben müsse, wovon der größere Teil auf den Haupthof zu entfallen hat So
verlangen die Bauordnungen für das Land Mähren, für Brünn, Wien, Innsbruck,
Trient, Laibach und Prag 15 Proz., die für Krakau 20, dio für Lemberg gar
25 Proz. der Fläche für den Hofraum. Auch über die Anbringung von Lichthöfen
bestehen einschränkende Bestimmungen. Bei Baustellen, welche nicht vorzugs-
weise zu Wohnzwecken verhaut werden sollen, sowie «lort, wo Haus- und Licht-
höfe mehrerer Baustellen Zusammenstößen, endlich bei solchen zwischen schon
bestehenden Gebäuden liegenden Baustellen, deren Verbauung ohne ein Herab-
l) Vgl. von In ama-Stcrnegg. Die definitiven Ergebnisse der Grundsteuerregelung
in Österreich.
J) Vgl. Mayrhofer- Graf Pace, Handbuch fiir den politischen Verwaltungs-
dienst, ö. Auf!., III. Bd., S. 98’».
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Braun von Fernwald.
594
geholt „unter die bestehenden Normen“ unmöglich war«, bleibt den Baubehörden
Vorbehalten, in Bezug auf die Grüße der Höfe die liaeh den lokalen Verhältnissen
notwendigen Erleichterungen zu gewähren. Es ist klar, daß diese Erleichterungen
selbst dort, wo bestimmte Größen für die Höfe gefordert werden, zu einer sehr
starken Verbauung der Fläche führen können. Die letzte dieser Bestimmungen ist
natürlich unvenneidlich, doch läßt sich nicht verkennen, daß es in vielen Fällen vom
Ermessen der Baubehörde abhängen wird, ob eine vorschriftsmäßige Verbauung
als unmöglich angesehen wird. Die Bestimmungen über die Baustellen, welche
nicht vorzugsweise zu Wohnzwecken verbaut werden sollen, und über die zusammen-
stoßenden Höfe sind nicht in der Natur der Sache begründet und es kann auch
ihre Berechtigung angezweifelt werden. Wenn mehrere Höfe Zusammenstößen, so
ist den Häusern wohl gesichert, daß jede der einmüudenden Öffnungen einen
entsprechend großen Luftraum vor sich hat. doch ist dieser eine natürlich allen
gemeinsam und es wird von der Bauart und sonstigen Lage der Häuser abhängen,
ob diese Luftzufuhr als genügend anzusehen ist. Jedenfalls kann auf diese Weise
Grundfläche und Luftraum erheblich stärker ausgenutzt werden, so daß eine
höhere Besteuerung gerechtfertigt ist. Gegen die Gestattung einer stärkoren
Verbauung bei Gebäuden, welche nicht vorzugsweise zu Wohnzwecken dienen
sollen, ist darauf hinzuweisen, daß die Bedingung „nicht vorzugsweise“ etwas
zu mild ist und es besser wäre, wenn es hieße: „ganz oder nahezu ausschließlich
nicht zu Wohnzwecken verbaut werden sollen“, so daß nur etwa ausnahmsweise
eine Wohnung, z. B. für das Aufsichtspersonal, sich darinnen befinden dürfte, für
deren sanitäre Lage aber auch Sorge getragen werden müßte. Daß die hygienische
Baupolizei bei nicht zu Wohnzwecken erbauten Häusern weniger strenge Anfor-
derungen stellt, ist wohl in dem Gedanken begründet, daß solche Häuser nicht
so vielen l’ersonen und während so vieler Tagesstunden Unterkunft gewähren
als Wohngchäude. Dies ist aber nicht immer richtig, so beherbergen z. B.
Fabriksräume, in denen Tag- und Nachtarbeit geleistet wird, auch viele Leute
durch viele Stunden. Dazu kommt noch, daß die Bestimmung eines Hauses im
Laufe seines Bestandes geändert werden und daß ein nicht zu Wohnzwecken
erbautes, dann als Wohnhaus verwendet werden kann. Es ist daher hilligenswert
wenn auf die Bauherren durch die Steuergesetzgebung ein Druck ausgeübt wird,
auf diese Erleichterungen nur dort Anspruch zu machen, wo es durch die lokalen
oder speziellen Verhältnisse gerechtfertigt ist.
Um die Tragweite einer Abänderung der Gobäudestenern richtig zu erfassen,
ist es notwendig festzustelleu, welche Bedeutung ihnen im Finanzwesen zukommt.
Es seien deshalb hier einige statistische Nachweisungen über die österreichischen
Gebäudesteuem, welche den Mitteilungen des k. k. Finanzministeriums (VIII. Jahr-
gang, 2. Heft, S. Olli ff.) entnommen sind, wiedergegeben. Es sind zwei Jahre
in Betracht gezogen worden, um durch den Vergleich derselben Unregelmäßig-
keiten, die sich bei einem derselben durch zufällige Umstände ergeben haben,
klarstellen und auf ihre wahre Bedeutung zurückführen zu können. Die Nach-
weisungen beziehen sich auf die Jahre 1899 und 1900. Die Zahl der Gebäude,
welche in diesen Jahren der Hausklassensteuer und der Hanszinssteuer unterlagen,
ist in den Tabellen 1 und II angeführt:
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Die gesamten Objekte der Gebäudesteuer im Jahre 1899
Abstufung der Geb.udesteuer nach dem Maß der Verbauung der Grundß&elie. 595
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Tabelle II.
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1 Die liebkude Mn'l zum Teile «feuerfrei, wenn «ich «Ile Itefrelunir nur n«f einen Teil Ihrer Ifeatendfeile beschrankt.
Abstufung der Gebäudesteuer nach dem Mali der Verbauung der Grundfläche. 597
Neben den steuerpflichtigen Gebäuden sind auch jene ausgewiesen, die
überhaupt und permanent von den Gebfiudesteuern befreit sind sowie diejenigen,
welchen ans dem Titel der Baufübrung eine zeitliche Befreiung von den regel-
mäßigen Gebäudesteuern genießen. Die in das Gebiet der Hausklassenstener
fallenden, bleiben tatsächlich ganz steuerfrei und kommen nicht weiter in Betracht,
während die für die Baufreijahrsperiode von der Hauszinssteuer befreiten der
oproz. Steuer unterliegen, bei deren statistischen Darstellung sie Berücksichtigung
finden werden. Die nächsten Tabellen (DI und IV) enthalten die Nachweisungen
über die gesamte Steuervorscbreibung an Hausklassen- und Hauszinssteuer
lur 1899 und 1900, wobei die Hauszinssteuer im ganzen und gesondert für die
namentlich als hauszinssteuerpflichtig genannten Orte, ferner für die Orte, in denen
sämtliche Gebäude oder wenigstens die Hälfte derselben und außerdem die Hälfte
der Wohnbestandteile einen Zinsertrag durch Vermietung abwerfen 1 § 1 a der
durch Gesetz vom 1. Juni 1890, R.-G.-Bl. Nr. 150 abgeänderten Gebäudesteuer-
novelle vom 9. Februar 1882, K.-G.-BI. Nr. 17) endlich für die vermieteten
Gebäude in nicht hauszinssteuerpflichtigen Orten § 16 der genannten Novelle)
angegeben ist. Aus den Tabellen erhellt dio bedeutend höhere Bedeutung der
Hauszinssteuer, indem für sie 68,985.111 A' im Jahre 1899 und 72,594.352 K
zur Einzahlung vorgeschrieben wurden, während die Vorschreibung für die Haus-
klassensteuer nur 11,705.940 K im Jahre 1899 und 1 1,757.568 K im Jahre 1900
betrug. Neben den Steuern, di© für dio Gebäude an den Staat bezahlt werden
müssen, sind auch die Beträge ausgewiesen, die für die zeitlich befreiten Gebäude
an Gebäudestcuern berechnet werden, deren Einzahlung während dor bewilligten
Baufreyahre unterbleibt; sie beliefen sich im Jahre 1899 auf 31,813.778 im
Jahre 1900 auf 28,598.7 17.1) Bedenkt man. daß die Vorschreibung für die
zahlbare Hausklassen- und Hausziussteuer im orsteren Jahre SO, 691. 051. itn
folgenden 84,351.920 K ausmachte, so sieht man. welch großer Teil des möglichen
Steuererträgnisses durch die langen Baufreijahre dem Staate entzogen wird.
Die oproz. Steuer vom Ertrage der aus dein Titel der Bauführung von der
Hauszinssteuer befreiten Gebäuden ist in den Tabellen V und VI dargestellt.
Darnach ist die Zahl dieser Gebäude von 96.180 im Jahre 1899, auf 90.934
im Jahre 1900 herabgesunken. Dementsprechend betrug die Vorech reibfing für
die 5proz. Steuer im Jahre 1899 6,485.550 A" im Jahre 1900 nur 5.873.391 K.
Dieser starke Ausfall ist jedoch größtenteils auf die durch Einführung der zwei-
jährigen Bemessung verursachte Störung in der Berechnung zurückzuführen.
Werden die infolgedessen nicht berücksichtigten, zugewachsenen Neubauten mit
in Rechnung gezogen, so beträgt nach den vorläufigen Berechnungen des Finanz-
ministeriums die 5proz. Steuer nach dem Stande mit Beginn des Jahres 1901
6,316.177 K. so daß nur ein Ausfall von 169.373 K übrig bleibt, der damit
erklärt wird, daß eine Anzahl von Gebäuden mit größerem Mietzinsertrage in die
volle Steuerpflicht getreten ist.
l) Die Verminderung ist zum Teil darauf zurrickzuführen. «laß infolge der Neu-
einführung der zweijährigen Bemessung der Hauszinssteuer wohl der Abfall infolge
Erlöschens der zeitweiligen Steuerbefreiung, nicht aber der Zuwachs infolge Neubauten
berücksichtigt erscheint.
Zeitschrift fUr Volks wlruchaft, .Sozialpolitik und Verwaltung. XII Baud. 41
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Braun ?<*n Femwald,
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Die gesamte Geb&udeiteuerrorschreibuug im Jahre 1900 mit Ausnahme der 5pro*. Steuer
Abstufung der Gebäudesteuer nach dem Maß der Verbauung der Grundfläche. 590
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6U0
Braun von Fernwald.
Tabelle V.
Die 5proz. Steuer vom Ertrage hauszinssteuerfrvier Gebäude im Jabre 1899
1 2
3
4
5
6 "
||
Land
o ij
Anzahl der
ganz i teilweise sämtlichen
von der Hauszinssteuer befreiten Gebäude
An 5proz.
Steuer
entfallen
in Kronen
1 Niedere iterreich ....
11.748
9.143
20.891
3,489.066
j 2 OberOsterreicb
2.099
1.178
3.277
91.858
3 Salzburg
1.106
336
1.442
55.836
4 Steiermark
3.544
1.044
4.588
237.844
5 Kärnten
901
452
1.358
41.996
6 Krain
780
343
1.123
39.292
7 Küstenland
2.027
696
2.723 l)
106.848
1 8 Tirol und Vorarlberg . .
2.554
1.031
8.585
112.036
9 Böhmen
2G.303
5.777
32.080
1,303.202
10 Mähren
6.099
1.876
7.975
305.992
1 1 Schlesien
3.584
672
4.256
89.63*
12 Galizien
8.811
2.437
11.248
562.646
13 Bukowina
752
357
1.109
34.742
14 Dalmatien
377
153
530
14.560
Summe ....
70.685
25.495
96.180
6,485.550
'i
*) Unter Berücksichtigung der Übergangsbestimmungen der Gesetze vom
9. Februar 1882 (§ 15) und vom 12. Juli 1896, beziehungsweise vom 9. April I960
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l'ustiHimiiier
Abstufung der Gebäudesteuer nach dem Maß der Verbauung der Grundfläche. (JO 1
Tabelle VI.
i
i:
5
I 6
8
9
10
11
13
14
!
Dl« 5pros. Steuer vom Ertrage hanszinssteuerfreier Gebäude im Jahre 1900*)
2 | 3
4
5 1
6
1
Land
Anzahl der
ganz teilweise sämtlichen
von der Hauszinssteuer befreiten Gebäude
An 5proz.
Steuer
entfallen
in Kronen j
Niederösterreich ....
10.041
8.542
i 18.583
3,056.890 j
Oberösterreich
2.006 i
1.093
3.099 J
85.862
Salzburg
1.150
348
1.498
55.121 ]
Steiermark
3.541
1.071
4.612
224.825
Kärnten
893
479
1.372
40.226
Krain
817
337
1.154
39.718
Küstenland |
1.956
045
2.601
98.167
Tirol und Vorarlberg . . '
2.576
1.010
3.586 |
108.700
Böhmen ■
25.275
5.373
30.648
1,222.125
Mähren j
5.739
1.783
7.522 ,
282.381
Schlesien
3.600
606
4.206
87.534
Galizien
8.266
2.245
10.511
525.021
Bukowina
723
294
1.017
32.339
Dalmatien
372
153
525
14.482
Summe ....
66.955
|
23.979
90.934
i
5.873.391 !
l) Das gegenüber dem Vorjahre zu Tage tretende Minderergebnis des Jahre«
1900 erklärt sich dadurch, daß infolge der zweijährigen Bemessungen (Gesetz vom
12. Juli 1896) der in den Jahren 1899 und 1900 eintretende Abfall an der 5proz.
Steuer — infolge Erlöschens der Steuerfreiheiten — berücksichtigt ist, hingegen der in
den gleichen Jahren eintretende Zuwachs — infolge Neu-, Zu- und Umbauten —
naturgemäß erst im Vorschreibungsergebnissc für die Steuerjahre 1901/02 zum Aus-
drucke kommt.
*) Unter Berücksichtigung der Übergangsbestimmungen der Gesetze vom
9. Februar 1882 (§ 15) und vom 12. Juli 1896, beziehungsweise vom 9. April 1900.
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602
Hraun von Fernwald.
Bis jetzt wurden die Vorschreibungen der Gebäudesteuer zur Darstellung
gebracht; wesentlich anders gestaltet sich das Bild, wenn man nicht die Vor-
schreibungen, sondern die tatsächlichen Eingänge, den Nettoertrag, berücksichtigt.
Unter Nettoertrag ist in den Mitteilungen des Finanzministerium»') die
gesamte, sowohl auf die Rückstände aus den Vorjahren, als auch auf die
laufende Schuldigkeit erfolgte Einzahlung nach Abrechnung jener Steuerüber-
zahlnngen verstanden, welche in dem betreffenden Jahre den Parteien gutgerechnet,
beziehungsweise har rückvergütet wurden. Die Nachweisungen über die Netto-
erträge der Hausklassen- und Hauszinssteuer sowie der 5proz. Steuer in den
Jahren 1899 und 1900 sind in den Tabellen VII und VIII enthalten. In beiden.
Jahren blieben die tatsächlichen Eingänge stark hinter den Verschreibungen
zurück, nur bei der 5proz. Steuer des Jahres 1900, deren Vorschreibung durch
Tabelle VII.
Nettoertrag sämtlicher Gebäudesteuem im Jahre 1899.
1
2
3
4
5
5
1
9
S
Länder
Hausklassen-
steuer
Hauszins-
steuer
Äproi. Siobw
vom £ftr*(r
hkuaalna»u>ii*r-
frvtor
£
Kronen
i
Niederüsterreich
751.456
27,475.982
3,853.6s»
2
Oberösterreich
611.86«
1,348.906
90.180
3
Salzburg
102.262
448.118
53.904
4
Steiermark . . '
.'.91.498
2,778.162
268.324
5
Kärnten
174.422
489.110
48.412
6
Kraiu
258.976
383.460
46.340
7
Küstenland
287.S76
2,981.758
115.550
darunter Triest
19.342
2.416.394
61.926
„ Istrien
157.792
292.210
39.448
„ Görs und Gradiska .
110.742
292.15 4
14.176
8
Tirol und Vorarlberg
475.440
1,313.594
116.734
darunter Tirol
381.862
1.191.232
101.296
„ Vorarlberg
93.578
122.362
15.438
9
Böhmen
2,801.670
11.155.148
1,232.882
10
Mähren
1,011.166
3,488.260
293.338
11
Schlesien
217.662
745.114
92.750
12
Galizien
2,956.220
4,151.516
490.498
13
Bukowina
357.382
586.236
34.696
14
Dalmatien
160.400
347 184
18.594
Summe
10,258.296
57,642.607
6,745.890
') VIII. Jahrgang, 2. Heft, 8. 483 (T.
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Abstufung der Gebäudesteuer nach dem Mali der Verbauung der Grundfläche 50d
Tabelle VIII.
Nettoertrag sämtlicher Gebäudeateuern im Jahre 1900.
1
2
3
4
5
'z
5
0
X
Länder
Hausklassen-
steuer
Hauszins-
steuer
5 pro*. Steuer
vom Kr trag*
hftuulti'Mi-.irr-
freier nebln de
£
Kronen
1
Niederösterreieh
758.257
28,748.157
3,742.503
2
Oberösterreich
604.949
1.867.918
108.019
s
Salzburg
106.403
476.510
53.509
4
Steiermark
592.001
2,8*8.725
273 689
5
Kärnten
177.871
498.522
45.989
6
Krain
251.862
417 294
48.039
7
Küstenland
301.184
3,006.466
106.552
darunter Trient .......
20.866
2,387.736
49.023
, Istrien
160.788
309.720
45.881
„ Gore und Gradiska .
119.530
309 010
11.648
8
Tirol und Vorarlberg
478.006
1.297.699
109.940
darunter Tirol
383.026
1.172.204
94.855
„ Vorarlberg
94.980
125.495
15.085
9
Böhmen 1
2.348.579
11,531.717
1,269.167
10
Mähren . .
1,006.278
3.506.416
380.208
11
Schlesien
214.017
796.764
93.781
12
Galizien ,
2,964.471
4.262307
574 543
13
Bukowina
880.952
530 951
88.190
14
Dalmatien
162.186
369.450
17.665
Summe
10,347.011
59,693.896
i
6,811.789
die Einführung der zweijährigen Bemessung beeinflußt ist, stellt sich das tat*
sächliche Erträgnis bedeutend günstiger als diese. Der auffallend starke Unter-
schied zwischen Vorschreibung und Nettoertrag bei der Hausklassen- und der
Hauszinssteuer erklärt sich zum Teil durch die Nachlässe, die infolge des Personal-
steuergesetzes vom 25. Oktober 1896. K.-G.-Bl. Nr. 220 bei diesen gewährt
wurden, da im Jahre 1899 Nachlässe von 11*2 Proz. und im Jahre 1900 solche
von 12*5 Proz. gewährt wurden, die natürlich im Erträgnis zum Ausdruck
kommen.
Um die Entwicklung der österreichischen Gcbüudesteuer in den letzten
Jahren zu veranschaulichen, seien schließlich in Tabelle IX die aus ihnen in den
Jahren 1891 bis 1900 erzielten Staatseinnahmen nachgewiesen.1) Das Erträgnis
xf S. Österreichisches statistisches Handbuch, 1902. S. 374.
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Braun von Fernwal J.
004
Tab
«11« IX.
Übersicht der Staatseinnahmen aus den Gebäudesteuern
1891—1900
Jahr
Haasklassen-
»teuer
L_
Hatmins-
steuer
5 proz. Steuer ;
vom Ertrage
hauszinssteuer- 1
freier Gebäude
Kronen
1991
\
11,279 904
19.870.1M
4,035.338
1892
11,177.566
50,545.486
4,256.686
1x93
11,170.878
51.402.180
4,499.692
1891
10,591.908
50.510.446
4,364.656
1895
11,515.180
54,710.012
4,741.578
1896
11,588.896
56,959.828
1.706.598 1
1897
11,260.271
59,442.764
4,801.210
|
1898
10.233.021
55,079.348
5,974.371
1899
10,258.297
57,642.607
6,745.889 I
1900
10.347.011
59,693.896
6,811.788
i
d‘*r Hausklassenstener, das im Jahre 1891 11,279.904 K betragen hatte, stieg
1892 auf 11,477.566 K, um dann 1893 auf 11,170.878 und weiter 1894
auf 10,591.908 K zu sinken. Das Jahr 1895 brachte eine Steigerung auf
11.515.180 K. das Jahr 1896 eine weitere auf 11,583.896 K , worauf itn
Jahre 1897 wieder ein Zurückgehen auf 11,260.274 K folgte. Da im
Jahre 1898 infolge des Personalsteuergesetzes ein Nachlaß von 10 Proz.
gewahrt wurde, sank der Ertrag auf 10,233.021 K, um dann im Jahre 1899
trotz eines Nachlasses von 11*2 Proz. auf 10,258.287 K, endlich im
Jahre 1900 trotz eines Nachlasses von 12*5 Proz. auf 10,347.011 K zu
steigen. Von der Einwirkung der Nachlässe des Porsonalsteuergeset/.es abge-
sehen, blieb also die Einnahme aus der Hausklassenstener in diesem Jahrzehnt
ziemlich stationär.
Der Ertrag der Hauszinssteuer betrug im Jahre 1891 49.870.154 K ,
stieg dann bis zum Jahre 1893 auf 51,402.160 K, sank im Jahre 1894 auf
50,510 446 K, um sich dann im Jahre 1895 auf 54,710.012 K zu erheben. Von
da an stieg er weiter bis zu 58.442.764 K im Jahre 1897. Infolge des Steuer-
nachlasses des Personalsteuergesetzos von 10 Proz. zeigt sich im Jahre 1898 ein
Rückyang auf 55,079.348 IST. Trotzdem sich der Nachlaß 1899 auf 11*2 Proz.
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Abstufung der Gebäudesteuer nach dem Maß der Verbauung der Grundfläche. (jliA
erhöhte, stieg der Ertrag der Hauszinssteuer in diesem Jahre auf 57,642.607 K.
Im Jahre 1000 erreichte der Ertrag, obwohl ein Nachlaß von 12 5 Proz.
gewährt wurde, die Höhe von 59,692.896 K, war also trotz des starken Nach-
lasses höher als im Jahre 1897, wo kein solcher Nachlaß zugestanden worden
war. Die Einnahmen ans der Hauszinssteuer zeigten somit in dem betrachteten
Jahrzehnt, von einzelnen Schwankungen abgesehen, eine stark steigende Tendenz,
indem sie sich von 49,870.154 K im Jahre 1891 auf 58.442.764 K im
Jahre 1897 und endlich, trotzdem ein Nachlaß von 12'5 Proz., also einem
Achtel, gewährt wurde, im Jahre 1900 auf 59,693.896 K erhöhten, was nur
zum Teil durch die infolge von Übergangsbestimmungen allmählich gesteigerte
Itosteuerung von früher günstiger behandelten Gebieten verursacht ist.
Die Einnahmen ans der fiproz. Steuer beliefen sich im Jahre 1891 auf
4.035.338 K, wuchsen dann bis zum Jahre 1893 auf 4,499.692 K. worauf sie
im Jahre 1894 auf 4.364.656 K zurückgingen. Auf dieses Sinken folgte 1895
eine Erhöhung auf 4.744.578 K, wogegen das Jahr 1896 mit einem Ertrag
von 4,706,598 K unmerklich zurückblieb. Von 1896 bis 1898 stiegen die Ein-
nahmen aus der 5proz. Steuer allmählich'auf 5.974.371 K, um dann im Jahre
1899 auf 6,745.889 K hinaufznschncllen. Das Erträgnis des Jahres 1900
zeigt nur die geringe Steigerung auf 6,811.783 K. was in dem Ausscheiden
einer größeren Anzahl Häuser mit hohem Zinserträge ans dem Bereich der
5 proz. Steuer begründet erscheint. Gegenüber dem Erträgnis des Jahres 1891
ist also das des Jahres 1900 nm 2,776.450 K. demnach um 68'8 Proz.
gestiegen.
Die Staatssteuom bilden jedoch nicht die einzige finanzielle Belastnng des
Gebändebesitzes, sondern es gesellen sieb zu ihnen prozentuelle Zuschläge:
die sogenannten Fondsbeiträge, zu Gunsten autonomer Körperschaften und für
Konkurrenzbeiträge. Da diese für den Umfang des Gebietes einer jeden Körperschaft
nnd eines jeden Konknrrenzbezirkcs verschieden sind, so gestaltet sich die auf
einem Gebäude ruhende Steuerlast je nach den lokalen Verhältnissen sehr ver-
schieden. Um die Größe der Belastung und die Art ihrer Verteilung zu ver-
anschaulichen, seien einige statistische Daten für die Jahre 1899 und 1900 ans
den -Mitteilungen des k. k. Finanzministeriums. VIII. Jahrgang. 2. Heft. S. 739 ff."
angeführt.
Zunächst kommen hier die Länder in Betracht, die einen großen Teil
ihrer Bedürfnisse durch Zuschläge zu den staatlichen Steuern decken. Da jedes
Land selbständig vorgeht, ist Art und Maß der Znschlagserhebung sehr verschieden.
Viele Länder ließen in den Jahren 1899 nnd 1900 die 5proz. Steuer von
Zuschlägen frei : dahin gehören Oberösterreich, h’rain, Istrien, Görz und Gradiska
Vorarlberg. Böhmen. Schlesien, Bukowina und Dalmatien, wo nur Landeszuschläge
zur Hauszins- und Haosklassonstoner Vorkommen. Von diesen erhob Oberösterreich,
wo für verschiedene Fonde verschiedene Umlagen vorgeschrieben werden, für den
Landesfond im Jahre 1899 14'5, im Jahre 1900 13 5 Proz., für den Landes-
schulfond aber 1899 22, 1900 23. endlich für den Landesaidehenfond in beiden
Jahren je 7 5 Proz. Auch ziemlich nieder waren die Zuschläge für den Landes-
fond in Görz nnd Gradiska (1899 12, 1900 17 Proz.) und Vorarlberg 1899 12,
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Braun von Fernwahl.
606
1900 20 Proz.; ; dagegen bedeutend höher in Istrien ije 35 Proz.) und Krain
(je 40 Prot.). In der Bukowina worden in beiden Jahren für den Laudesfoud
42 Proz. erhoben, für den Landesschulfond. zu dem jeduch die Stadt Czemuwitz
nebst ihren Vorstädten, insolange sie die Erhaltung der Volksschulen aus eigenen
Mitteln bestreitet, nicht beitragspflichtig ist, in beiden Jahren je 40 Proz. In
Dalmatien stieg der Zuschlag für den Landesfond in beiden Jahren auf je 50.
in Böhmen gar auf je 55 Proz. Endlich wurden in Schlesien im Jahre 1899
57'3 Proz. an Zuschlägen für alle Landcsfonde erhoben, im Jahre 1900 aber
wurden sic auf 52'4 Proz. ermäßigt. In Salzburg, Steiermark. Mähren und Galizien
werden alle Gebändcsteuorn gleichmäßig von den Landeszuschlägen getroffen. Den
allerhöchsten Zuschlag hat Salzburg, wo er in beiden Jahren 65 Proz. erreichte,
in Galizien wurden für den Landesfond in der Stadt Krakau und den politischen
Bezirken Krakau und Chrzanöw 49 Proz. im Jahre 1899 und 54 im Jahre 1900
erhoben, sonst aber in Ost- und Westgalizien 60 Proz. im Jahre 1899 und 65
im Jahre 1900. In Mähren stieg der Zuschlag für den Landesfond von 54 Proz.
im Jahre 1899. im Jahre 1900 auf 57 Proz., in gleicher Weise in Steiermark
von 40 auf 44 Proz. In Kärnten waren im- Jahre 1899 alle Gebäudesteuern mit
einem Laudesfoudzuschlag von 60 Proz. belegt, im Jahre 1900 wurde dasselbe
nur für die 26!/aProz. Hauszinssteuer in der bisherigen Höhe belassen, für all«
übrigen direkten Steuern aber auf 65 Proz. erhöht, so daß auf diese Weise den
von der Staatssteuer besonders hart getroffenen Gebäuden eine Schonung gewährt
wurde. In Niederösterreich wurde in beiden Jahren ein Zuschlag von 25 Proz.
bei den Gebäudesteuern erhoben, von der 5proz. Steuer vom Ertrage gewisser
steuerfreier Häuser aber wurde der Zuschlag mit 30 Proz. bemessen. In Tirol
betrug der Landesfondzuschlag 1899 und 1900 prinzipiell 36 Proz. bei allen
direkten Steuern, doch wurden folgende Ausnahmen gemacht: Der Zuschlag zur
Hauszinssteuer wurde in Innsbruck und Willen nur von der Hälfte, in den übrigen
Städten und Orten aber von zwei Dritteln der bemessenen Steuer, der zur Haus-
klassensteuer jedoch im ganzen Lande gar nur von einem Drittel der Gebühr
berechnet. Im Triester Gebiet werden keine besonderen Landesfondzuschläge
erhoben. Die von den Ländern eiugehobenen Zuschläge kommen bei vielen der-
selben ungefähr der Hältte der .Staatssteuer gleich, was eine empfindliche Mehr-
belastung der Gebäude verursacht.
Außer den Landeszuschlägen bestehen aber noch mannigfaltige andere
Fondsbeiträge, die in Prozenten der Staatsstenern berechnet werden. Soweit sie
die Gebäudesteuem belasten, müssen auch sie hier berücksichtigt werden, um
einen ungefähren Oberblick über die Besteuerung der Häuser zu ermöglichen.
Da ihre Höhe sehr wechselt, so sei hier die Anzahl der Steuergemeinden angegeben,
bei denen sich gewisse Beiträge innerhalb bestimmter Grenzen bewegen und
dann der Gesamtbetrag der Zuschläge, die in den einzelnen Ländern zu jeder
der Gebäudesteuern hinzakommeu.
Zuerst seien die Zuschläge für Bezirksbedürfnisse der
Betrachtung uutorzogen. Über ihre Höhe bei der Hauszins- und Hausklassensteuer
geben unterstehende Tabellen X und XI) Aufschluß:
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Abstufung* der Geb&udesteuer nach dem Maß der Verbauung der Grundfläche. (J07
Tabelle X.
s Zuschlag für Bezirksbedürfnisse
'S'g zur Hausklassensteuer
Land
|
Jalu
§ § ’ .
l>is einschließlich
c
*
1 s
| u 5 10
rt -
* s
W V
15
1 20 .30 1 40
Prozente
50 | 60
in
einer Anzahl vor» Hteuergemeinden
|
Niederösterreich .
. (1899
8.184 — -
52
2.613I
338 —
3.003
1900
3.184 — ! — .
378
2.255
367 -
- I-
3.000
•Steiermark . . .
. 1899
2.690 53 188
71
552
1.095 509
130: 47
,645
1900
2.690 53 242
21
554;
1.072 544
92 66
2.644
: Krain
. 1899
932 — 41 1
.38
114
478' 229;
- 21
921
1900
932 — —
67
165,
533 97
59 -
921
Istrien
. 1899
333 14 168
98
70
— —
— , —
350
1900
333 14 107
112
117
— j -
_ | _
350
Görz und Gradiska
. 1899
284 4 50
71
71
62j 2i
18 -
278
1900
285 - 461
62
74
57 l!
19 20
279
Tirol
. 1899
974 113 65
—
- -
178
1900
974 68 66]
-
- 1
- -
- -
134
Böhmen
. 1899
9.117 — 17dl
715
954
3.822 2.177
934 27
8.807
1«0U
9.120 - 178
624
681
8.8171 2.406
.019 94
8.819
Mähren ....
. i 1899
3.139 —1 —
59
378,
1.516 871
203 —
3.027
,1900
3.14« — | —
124
315!
1.421 704
467
3.031
Schlesien ....
. 1890
584'— 120
35
108
147 89,
40 -
539
1900
584 — 100,
17
167
95 90
72. —
54.
Galizien
. 1899
5.947. — 104
356
304
3.630 1.658
133 -
6.185
11900
5.9471 — 64]
295
189
2.894 2.397j
356j —
0.195
Bukowina ....
. 1899
335 - 41
66
221
— , — *
— I —
328 1
1900
335, — 41
66
70j
151 — 1
— —
32h
Zusammen .
. 1899
30.788 184 955|
.561
5.38;.
11.088 5.585 1.458 95 26.2611
I
1900
30.793 135 844 1.766
4.587
0.407 0.239 2.084 180 26.242
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Braun von Femwald.
Zuschlag für Bezirk'bedärfnisse
zur Hauszinssteuer
bis einschließlich !> 5
l| s I
0 15 20 30 40 50 60 § I
Prozente ^ I
io einer Anzahl von Stcuergemeinden
Niedcrösterreicb . .
. 1899
3.184 —
7
63, 2.176
306
1
2.552
1900
3.184!! —
8
301
1.863
387
-
_
-
2.559
Steiermark . . . .
. 1899
2.690 49 123
57
340
697
282
104
31
1.683
1900
2.690 52
166
18
356
621
335
66
47
1.661
Krain
. 1899
932 —
41
31
87
353
167
—
19
698
!l900
932 —
-
65
135
404
72
39
715
Istrien
. 1899
333 13 106
49
33
—
—
201
1900
35&! 14
77
56
53
-
-
200
Gflrx und GrAdiska .
. 1899
284 1 4
3X
58
58
32
1
14!
_
205
1900
285 1 —
41
47
61
31
-
n
15
206
Tirol5) ......
. 1899
974 100
46
—
_
_
-
—
I
146
1900
974 82
44
_
1
-
2!
_
136
Böhmen
. 1899
o.injj —
166
789
875
3.826
1.868
873
25
T.>72
11000
9 120 -
165
659
631
3.369
2.U94
923
75
7.916
Mähren
. 1899
3.139 —
—
70
375
1.401
777
163
_ j
2.786
1900
8.140 —
_
136
315
1.309
626
4oo:
2.786
Schlesien
. 1899
W4 _
112
40
111
151
89
42
545
11900,
. |l899
581 -
93
17
163
118
118
22
~
531
Galizien
5.9471: -
84
235
179
2.340
1.042
37!
3.917
jll900
5.947 —
55
167
157
1.841
1.550
176
— 1
3.946
Bukowina
. 1899!
835 j —
41
64
215
—
320
II19001
335 —
38
64
67
147
—
816
Zusammen . .
. 1899 30.788 166j704
1.406
4 449
I
8.606; 4.226
1.288
20.925
1900,
30.793 148 687
1.530
3.801
8.228
4.795
1.639 137
20.972
*) Zuschlag für Bezirksbedürfnisse bis einschließlich
80 Proz.
bis 100 Proz.
über 100 bis 150 Proz,
B 150 bif 200 Proz.
. 300 bin 400 Proz.
1 Steuergemeinde,
2 Steuergemeinden,
2 Steuergemeinden,
1 Steuergemeinde,
1 Steuergeineinde.
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Abstufung der Gebäudesteuer nach dem Mab der Verbauung der Grundßüche. (Ji b.t
Die Beitrüge für Bezirksbedürfniwe kommen also bei der Hauskl assensteuer
nur in Tirol, Niederösterreich, Istrien, Bukowina, ferner mit hühereu Beträgen
in Steiermark, Krain. Gör?, and Gradiska, Böhmen, Mähren, Schlesien und Galizien
vor. ln den genannten Ländern werden sie auch von der Hanazinsstcuer erhoben
und zeigen bei ihr, was Höhe and Häufigkeit anbelangt, einen gewissen Paral-
lelismus zn denen bei der Hansklassensteuer; nur in Tirol kommen einige ganz
ausnahmsweise hohe Hauszinssteuerzuschläge vor, in einem Fall sogar über
300 Proz. Tirol ist auch das einzige Land, in welchem für Bezirksbedürfnisse
Zuschläge zur 5 proz. Steuer erhoben worden, während sie in den übrigen
Ländern davon frei bleibt. Übrigens sind diese Zuschläge nicht hoch und kommen
nur bei verhältnismällig wenigen Steuergemeinden vor. Von den 074 Steuer-
gemeinden Tirols waren im Jahre 1890 19 mit einem solchen Zuschlag bis ein-
schließlich 5, 15 mit einem bis einschließlich 10 Proz., im Jahre 1900 18 mit
eineu Zuschlag bis einschließlich 5 und 10 mit einem bis zu 10 Proz. belegt.
Zuschläge zu don Gebäudesteuern für den Bezirksschul-
fond sind nur für Niederösterreich, Steiermark. Görz und Gradiska sowie für
Böhmen und Galizien naebzuweiseu. ' ) In Niederüsterreicb bewegten sich die zur
Hausklassensteuer vorgeschriebenen im Jahre 1899 bei 384, 1900 bei 573
Stenergemeinden zwischen 10 und 20 l’roz., im Jahre 1899 bei 2619 Stener-
geiueinden und im Jahre 1900 bei 2428 zwischen 20 und 30 l’roz. In Steiermark
und Böhmen blieben sie in beiden Jahren zwischen 5 und 10 Proz., and zwar
kommen sie in Steiermark bei 2645 Steuergeineindcn im Jahre 1899 und bei
2644 im Jahre 1900 vor; im Böhmen ist die Zaiil der betroffenen Steuer-
gemeinden von 8801 im Jahre 1899, im Jahre 1900 auf 8813 gestiegen.
Noch niedriger waren sie in Galizien. (1899 bei 6185, 1900 bei 6195 Steuer-
gemeinden bis einschließlich 5 Proz.) Höhere Prozentsätze erreichten sie nur in
Görz und Gradiska (1899 4, 1900 5 Steuergomeinden 40 bis 50 Proz., 1899
59, 1900 58 Steuergemeinden 50 bis 60, 1899 88, 1900 89 Stenergemeinden
70 bis 80, 1899 keine, 1900 69 Steuergemeinden 80 bis 90, 1899 69 Stener-
gemeinden, 1900 dagegen keine 90 bis 100, endlich in beiden Jahren 58 Stouer-
gemeinden 100 bis 150 Proz. Zuschläge zur Hausklassensteuer.) Gauz ähnlich
verhält es sich mit den Bezirksschulfondznschlägeu zur Uauszinssteuer, nur sind
sie iti Böhmen in einigen Fällen etwas höher, indem sie 1899 bei 9 Stener-
gemeinden, 1900 bei 8 bis zn 20 Proz. stiegen, sonst bewegten sie sich in diesem
Lande zwischen 5 und 10 Proz. (1899 bei 7865, 1900 bei 7909 Stenergemeinden).
ln denselben Grenzen waren sie in Steiermark 1899 bei 1683 Stenergemeinden.
1900 bei 1661. In Galizien blieben sie bei 3917 Steuergemeinden, bei denen
sie 1899, und bei den 3946, bei denen sie 1900 vorkamen, unter 5 Proz. In
Niederösterreich hatten 1899 382, 1900 596 Stenergemeinden Bezirksscbul-
f'iudzuschläge zur Hauszinsstener zwischen 10 und 20 Proz., 1899 2169.
1900 1962 Steuergemeinden solche zwischen 20 und 30 Proz. Am höchsten
waren sie in den Berichtsjahren ebenso wie bei der Hausklassenstener in Görz
9 Die Schulbezirksbedärfnisse werden in einzelnen Ländern ganz oder doch soweit
sie bestimmte Prozentsätze (10 Proz.) der Steuern übereteigen, teils aus dein Gemeinde-,
teils sns den Lsudesschulfoudumlagen bestritten.
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Braun von Fernwahl.
und Gradiska (bei 4 und 5 Steuergemeinden zwischen 40 und 50 Proz., bei
57 und 56 zwischen 50 und 60, bei je 71 zwischen 70 und 80 Proz.: zwischen
80 und 90 Proz. 1899 bei keiner, 1900 aber bei 40 Steuergenieinden, dagegen
zwischen 90 und 100 Proz. 1899 bei 37, jedoch 1900 bei keiner Steuergemeinde;
über 100 bis zu 150 Proz. waren diese Zuschläge in Gdrz und Gradiska bei
36 Steuergemeinden im Jahre 1899 und bei 34 im Jahre 1900). Die verhältnis-
mäßig geringe Häufigkeit dieser Zuschläge in den genannten Ländern kann mau
ersehen, wenn man diese Ziffern mit den bei den Tabellen über die Zuschläge für
Bezirksbedürfnisse (X und XI,> angegebenen Gesamtzahlen der Steuergemeinden
dieser Länder vergleicht. Zur 5 proz. Steuer sind keine Bezirksschulfondznschläge
nachzuweisen.
Ferner werden noch zur Hausklassen- und Hauszinssteuer. jedoch gleichfalls
nicht zur 5 proz. Steuer Zuschläge für den Bezirksarme nfond erhoben.
Diese sind in den Mitteilungen des k. k. Finanzministeriums nur für Nieder-
österreich angegeben. Sie betrugen bei der Hausklassensteuer im Jahre 1899 bei
40 Steuergemeinden unter 5 Proz. bei 2960 zwischen 10 und 15 Proz., im
Jahre 1900 bei 40 unter 5 Proz., bei 118 zwischen 5 und 10, bei 2839 aber
zwischen 10 und 15 Proz. Bei der Hauszinssteuer blieben sie 1899 bei 59,
1900 bei 52 unter 5 Proz., dagegen schwankten sie 1899 bei 2490 Stener-
gtuneinden zwischen 10 und 15 Proz., im Jahre 1900 jedoch boi 138 Steuer-
gemeinden zwischen 5 und 10 und bei 2366 Steuergemeinden zwischen 10 und
15 Proz. Die Zuschläge für den Bezirk sänne nfond sind also nicht hoch und
haben daher für die Gesamtsteuerbelastung der Gebäude weniger Bedeutung, doch
mußten sie der Vollständigkeit halber erwähnt werden.
Von ungleich höherer Wichtigkeit sind die Zuschläge für Gemeind e-
bedürfnisse, die, wie aus den Tabellen XII, XIII und XIV zu ersehen ist,
zu der Hausklassen- und der Hauszinssteuer in allen Ländern, zur 5 proz. Steuer
aber in Niederösterreich, Salzburg, Steiermark, Kärnten, Tirol, Vorarlberg, Mähren
und Galizien erhoben werden. Sowohl bei der Hausklassensteuer, als bei der
Hauszinssteuer zeichnen sie sich nach den Mitteilungen des k. k. Finanzministeriums
durch ihre ungeheure Häufigkeit und die manchmal erschreckende Höhe ihrer
Prozentsätze aus. Von den 30.788 im Jahre 1899 bestehenden Steuergemeinden
hatten 27.959 Gemeindezuschläge zur Hausklassensteuer. Von diesen hatten 6023
Zuschläge für Gemeindebedürfnisse von 50 bis 100 Proz., wo also diese Zuschläge
allein den halben Betrag der Staatssteuer übersteigen. In 951 Gemeinden steigt
die Höhe dieser Zuschläge über den Betrag der Staatssteucr, indem die Zuschläge
sich zwischen 100 und 150 Proz. bewegen. Bei 394 Gemeinden sind sie über
150 Proz., bei 235 über 200 Proz., bei 27 gar zwischen 200 und 300, bei 7
zwischen 300 und 400, bei 7 anderen zwischen 400 und 500, bei 6 zwischen
500 und 600 Proz., bei 2 Steuergemeinden zwischen 700 und 800, bei 2
anderen zwischen 800 und 900 Proz., die Gemeinde Torebach im Bezirk Reutte
in Tirol hatte 1899 gar Zuschläge in der Höhe von 1123 Proz. Vergleicht inan
damit die Zuschläge zur Hansklassensfceuer, die im Jahre 1900 für Gemeinde-
bedürfnisse vorgeschrieben wurden, so findet man, daß die Zahl der Steuergemeinden,
in denen sie verkamen, gegen das Vorjahr auf 28.060 gestiegen ist, während
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Abstufung der Gebindesteuer nach dem Maß der Verbauung der Grundfläche. Oll
sich die Gesamtzahl aller Steuergemeinden nur unbedeutend vergrößert hatte.
Was die Zahl der Gemeinden mit hohen Zuschlägen anbelangt, so hat sich die
Zahl der Gemeinden mit Zuschlägen von 50 bis 100 Proz. um beinahe 400,
nämlich auf 6421 vermehrt, die mit Zuschlägen von 100 bis 150 Proz. sind
auf 1032 gestiegen. Die mit Zuschlägen von 150 bis 200 sind auf 378 her-
untergegangen, dafür die mit Zuschlägen von 200 bis 300 Proz. auf 249 gestiegen.
Die Zahl der Gemeinden mit Zuschlägen von 300 bis 400 Proz. ist auf 18
gesunken, die deijenigen, bei denen sich die Zuschläge zwischen 400 und 500 Proz.
bewegten, ist sich gleich geblieben. Die Gemeinden mit Zuschlägen zwischen 500
und 600 Proz. sind auf 4. die mit 600 bis 700 Proz. auf 3 zurückgegangen.
Mit Zuschlägen zwischen 700 und 800 Proz. kamen 1900 überhaupt keine Gemeinden
vor. dafür 2 wie im Vorjahre mit Zuschlägen zwischen 800 und 900 Proz., endlich
gar 3, in welchen die Gemeindezoschläge zur Hansklassensteuer 1000 Proz.
überstiegen, es waren dies die Gemeinden Giovo im Bezirke Lavis in Tirol mit
1061 Proz. Zuschlägen und Dellana und Kakolno im Bezirke Mies in Böhmen
mit 1223 Proz. Zuschlägen. Durch solche entsetzlich hohe Zuschläge gestaltet sich
die Hausklassensteuer zu einer drückenden Last und wenn man diese Ziffern liest,
so begreift man nicht, wie eine so furchtbare Belastung überhaupt ertragen
werden kann. Bei der Vergleichung der Ziffern in den einzelnen Spalten sind
sehr starke Schwankungen in den Zahlen zu bemerken, auch fällt es auf, daß die
Gemeinde Torchaeh im Jahre 1899 Zuschläge über 1000 Proz. hatte, während
sie im folgenden Jahre nicht unter denen mit so hohen Zuschlägen genannt ist.
und daß an ihrer Stelle drei andere Gemeinden angeführt sind. Tatsächlich wird
das Drückende der hohen Zuschläge dadurch einigermaßen gemildert, daß sie
zum Teil nur vorübergehend so auffallend hoch sind, indem gewisse außerordent-
liche Ausgaben einfach auf die Steuerträger umgelegt werden. Aber selbst wenn
man von diesen auffallend hoben Zuschlägen absieht, so wird doch die Belastung
der hausklassHistenerpflichtigen Gebäude durch die Gemeindezuschtäge sehr
wesentlich erhöht Übrigens ist zu beachten, daß Zuschläge über 300 Proz. nur
in wenigen Landern: in Tirol. Vorarlberg. Böhmen und Mähren und in einem
vereinzelten Falle in Schlesien vorkamen.
Zu der Hauszinssteuer wurden in nicht so vielen Gemeinden wie zur Haus-
klassensteuer Geineindezuschläge erhoben, nämlich bei 21.495 Gemeinden im
Jahre 1899 und bei 21.775 im Jahre 1900. Zuschläge von 50 bis 100 Proz.
hatten 1899 4519 Steaergemeinden. 1900 4797, solche von 100 bis 150 im
Jahre 1899 705, im Jahre 1900 752, solche von 150 bis 200 Proz. 1899
286, 1900 257 Gemeinden, solche von 200 bis 300 Proz. 1899 158, 1900
147 Gemeinden, über 300 bis 400 Proz. Zuschläge hatten 1899 nur 26, 1900
noch 11 Gemeinden, über 400 bis 500 Proz. Zuschläge hatten 7 Gemeinden
iin Jahre 1899 und ?> im Jahre 1900. Im Jahre 1899 hatten 10 Gemeinden
Zuschläge zur Hanszinsstener zwischen 500 und 600 Proz., während im selbe»
Jahre nur 7 Gemeinden gleich hohe Zuschläge zur Hansklassensteuer hatten. Es
ist dies der einzige Fall, wo bei der Ilauszinssteuer in einer Spalte eine höhere
Gesamtziffer ansgewiesen ist, wie bei der Hausklassensteuer; im Jahre 1900
gab es nur mehr 4 Gemeinden mit derselben Höhe der Zuschläge. Zwischen
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Zuschlag für Geiiieindebedürlni&ic
Braun von Fernwald,
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Braun von FemuralJ.
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Abstufung der Gebäudesteuer nach dem Maß der Verbauung der Grundfläche. H | 7
600 und 700 Proz. betrogen die Zuschläge bei 5 Gemeinden im Jahre 1800,
bei 3 im Jahre 1900. Zuschläge zwischen 700 und 800 Proz. hatte nur
1 Gemeinde im Jahre 1899, sulche -/.wischen 800 und 900 Proz. 1 im Jahre 1800
und 2 im Jahre 1900. Zuschläge über 1000 Proz. sind nach den Mitteilungen des
Finanzministeriums im Jahre 1890 bei keiner Gemeinde vorgeschriebeu worden,
dagegen 1000 bei den 2 Gemeinden Oellana und Iiakolno 1223 Proz. wie hei der
Hausklaxsenstener. In den Orten, wo der Steuersatz der Hauszinssteuer 20 Proz. vom
Nettozins nach 30 Proz. Kostenabschlag, somit 14 Proz. vom Bruttozins beträgt,
hat der Besitzer, sobald die Zuschläge 600 Proz. etwas übersteigen, mehr an
Steuern und Umlagen zu zahlen, als er überhaupt im ganzen an Zins eingenommen
hat, wie es im Jahre 1000 bei 4 Steuergemeinden Böhmens vorkam. Daß eine
solche Belastung ertragen werden kann, ist nur durch den vorübergehenden
Charakter derselben erklärlich und cs gilt hier das bei der Hausklassensteuer
Gesagte. In den Mitteilnngen des Finanzministeriums sind die hanszinssteuer-
pflichtigen Orte mit denen, wo die Hanszinsstener nur von einzelnen Gebäuden
infolge Vermietung erhoben wird, znsainmen nachgewiesen, so daß sich kein Bild
von der Höhe der Zuschläge in den hauszinsstenerp nichtigen Orten
gewinnen läßt Zuschläge zur Hauszinssteuer über 300 Proz. kommen nur in
denselben Ländern wie bei der Hausklassensteuer vor.
Bescheidener sind die Zuschläge, die für Geineindebedürfnisse zur 5 proz.
Steuer erhoben werden; sie kommen nur in einigen Ländern vor, über 100 Proz.
erheben sie sich nur in Salzburg, Kärnten, Tirol und Vorarlberg, während sie in
Niederösterreich, Steiermark. Mähren und Galizien unter 50 Proz. bleiben.
Um die Übersicht der Belastung der Gebäude mit Zuschlägen zu vervoll-
ständigen. müssen noch die Zuschläge für andere bisher nicht berücksichtigte
Konkurrenzbeiträge angeführt werden, die in den Mitteilungen des Finanzministeriums
nicht namentlich, solidem nur alle gemeinsam nachgewiesen sind. Soweit sie zur
Hausklassensteuer und zur Hauszinssteuer erhoben werden, sind sie in den Tabellen
XV nnd XVI enthalten. Zur Sproz. Steuer werden sie nur in 2 Ländern erhoben:
in Kärnten und Tirol, nnd zwar blieben sio in Tirol stets unter 10 Proz. Im
Jahre 1899 kamen sie in 76, im Jahre 1900 in 54 Steuergeineinden dieses
Landes vor. In Kärnten waren sie häufiger, nämlich 1899 in 147, 1900 in
109 Steuergemeinden. Unter 10 Proz. blieben sie dort 1899 bei 90, 1900 bei
73 Steuergemeinden, zwischen 10 und 50 Proz. bewegten sie sich 1899 bei 47,
1900 bei 27 Gemeinden, zwischen 50 und 100 Proz. 1899 bei 4, 1900 bei 8
zwischen 100 und 150 Proz. 1899 bei 6. 1900 hei 1 Steuergemeinde Kärntens.
Schließlich seien noch in den Tabellen XVII nnd XVIII die Gesamtbeträge
aller Zuschläge zu den Gebäudestenem in den Jahren 1899 und 1900 wieder-
gegeben, aus denen die Belastung des Hausbeäitzes durch die Zuschläge zu
ersehen ist. Daneben ist noch das Ausmaß der Zuschläge in Prozenten der
Umlagsbasis angeführt. Im Jahre 1899 beliefen sich die auf die Hausklassen-
sleucr umgelegten Zuschläge auf 15,003.656 K, 1900 stiegen sie 15,616.591 K.
Da dio Vorschreibung für die Hausklassensteuer (Tabelle III und IV) im Jahre 1899
nur 11,705.940 K nnd im Jahre 1900 11,757.568 K ausmachte, so ist zu
ersehen, daß die Zuschläge zur Hausklassensteuer um ein Bedeutendes, im Jahre 1900
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Tabelle XVII.
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Salzburg ....
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50.862
110-9
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Steiermark ...
822.522
1131
4,070.718
92-2
1.860
189-8
5
Kärnten ...
233.960
110 8
431.978
78-0
45.114
107-8
6
Krain
292.354
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326.496
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Triest
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100
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Görx und Gradiska .
237.616
178-5
299.452
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60-7 73.550
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Tirol
347.180
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829.370
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Vorarlberg ....
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Böhmen
150.560
143-0
224.916
162-8
2.690
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12
3,568.734
125-2
19.778.706
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Mähren
1,507.158
128*8
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Schlesien
401.43*
161-3
1,570.806
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Galizien ....
4,575.656
130-8
5,859.962
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330.672
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Bukowina ....
568.356
1391
642.418
82-3
—
—
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Dalmatien ....
339.332
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636 084
136-4
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Zusammen ...
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825.860
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Abstufung der Gebiudesteucr nach dem Maü der Verbauung der Grundfläche. 621
Tabelle XVIII.
• Jesamtbetrag aller Zuschläge zu den Gebäudeateuern im Jahre 1900
Betrag der umgelegten Zuschläge, und zwar:
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Niederösterreich . .
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Oberösterreich
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Saliburg
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882.084
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Steiermark ....
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Kärnten
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575.538
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Triest .....
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286.588
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318.674
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Tirol
844.638
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844.979
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182.984
172-3
237.268
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Mähren
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384.222
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1,606.821
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Galizien
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6.191.704
107-3 |j
389.241
76-6
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Bukowina ...
6*27.979
140-2
672.869
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622
Braun von Fernwald.
nahezu um 4,000.000 höher sind als diese selbst. Sämtliche auf die Hauszinssteuer
eingelegten Zuschläge betrugen 1809 67,061.962 K, 1900 aber 70,286.084 K.
so daß eine Steigerung um mehr als 2,000.000 zu konstatieren ist. Da die Haus-
zinssteuervorsclireibuiig (Tabelle 111 und 1 Y 68,985.111 K im Jahre 1899 und
72,594.052 K im Jahre 1900 ausmachte, so zeigt es sich, daß die Belastung mit
Zuschlägen etwas geringer ist wie bei der Hausklassensteuer, indem deren Gesamt-
betrag den der Hauszinssteuer nicht ganz erreicht. Weil Zuschläge zur Sproz. Steuer
mir in einigen Ländern Vorkommen, so kann man nirht deren Gesamtbetrag mit
der Summe der Verschrei bungen für die 5proz. Steuer vergleichen, sondern muß
selbst zu einer oberflächlichen Orientierung auf die einzelnen Länder eingehen.
Um jedoch nicht zu weitschweifig zu werden und mit Rücksicht darauf, daß die
Vorschreibungen an 5proz. Steuer für das Jahr 1900 durch außergewöhnliche
Umstände gestört wurden, sei nur das Jahr 1899 in Betracht gezogen. In Nieder-
österreich stehen einer 5proz. Steuer von 3,489.060 K nur Zuschläge hiezu im
Ausmaße von 309.594 K gegenüber, dagegen ist in Salzburg der Betrag der
Zuschläge (50.862 K nur wenig niederer als der der Sproz. Steuer (55.836 K.
In Steiermark machen die Zuschläge 1860 K aus, die Sproz. Steuer aber
237.844 K. Dagegen umfaßt sie in Kärnten nur 41.996 K, während ihre
Zuschläge im Betrage von 45 114 K sie stark überragen, ln Tirol und Vorarl-
berg. wo die Steuer 112 036 K beträgt, kommen auf die Zuschläge 76.240 K.
In Mähren betrugen sie 11.018 K. die Sproz. Steuer 305.992 K, in Galizien
die Zuschläge 330.672 A*. die Steuer 562.646 K.
Nachdem die Belastung der Gebände mit Steuern und Zuschlägen dargestellt
worden ist. wäre cs für die Beurteilung der Wirkung der vorgeschlagencn
Abstufung der Gobäudestonern von großem Wert, wenn möglichst vollständige
Nachweisungen über das Ausmaß der verbauten Flächen, der Höfe, der Haus-
gärten und der anderen zu den Gebäuden gehörigen unverbauten Gründe sowie
über das Verhältnis der verbauten und unverbauten Fläche bei den einzelnen
Gebäuden gegeben werden könnten. Leider haben diese Funkte bisher in Öster-
reich wenig Beachtung gefunden, so daß derartige statistische Angaben sehr
schwierig zu beschaffen sind. Für die Zwecke der Grundsteuer werden zwar für
ganz Österreich sehr detaillierte Nachweisungen über die Verteilung der Bodoufläche
auf die einzelnen Kulturarter geführt, bei denen die Gärten eine selbständige
Gruppe bilden, doch ist keine Unterscheidung zwischen privaten und öffentlich
zugänglichen Gärten gemacht und auch nicht ersichtlich, oh die Gärten zu
Gebäuden gehören oder nicht. Da die verbaute Fläche und die Höfe vou der
Grundsteuer befreit sind und der Gebüudestener unterliegen, so werden die
Flächenmaße für Häuser nnd Hofräume nur gemeinsam dargestellt, ohne daß zu
entnehmen wäre, welcher Teil davon tatsächlich von Gebäuden eingenommen ist. Es
kann daher keine Übersicht über das Gesamtausmaß der verbauten Fläche gegeben
werden. Leider war es auch nicht möglich, wenigstens für einzelne Orte statistische
Darstellungen über das Ansmaß der verhauten Fläche und das Verhältnis derselben
zur ganzen zugehörigen Grundfläche bei den einzelnen Gebäuden zu beschaffen.
In Czernowitz, der Landeshauptstadt der Bukowina, wird nach dem Gesetze
vom 11. November 1893. L.-G.-Bl. Nr. 34. eine jährliche Kanalgebühr im
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Abstufung der Gebftndesteuer nach dem Maß der Verbauung der Grundfläche. 623
Höchstbetrage von 7 Kreuzer (14 Heller) von jedem Quadratmeter der ver-
bauten Fläche, vervielfacht mit der Auzahl der Gescboße, eingehoben. In
§ 22 des zu diesem Gesetze erflossenen Regulativs vom 1. Dezember 18%,
L.-G.-Bl. Nr. 27, sind diese Bestimmungen folgendermaßen erläutert: „Die Grund-
lage der Bemessung der Kanalgebühr bildet das Maß der verbauten Fläche
sämtlicher Gebäude, wobei alle Räume ohne Ausnahme, somit auch sämtliche
Mauern, Stiegenhäuser. Vestibüle, Korridore, Aborte, Speisekammern etc. mit
einzurechnen sind. Die festgestellte Quad ratnieterzahl der verbauten Fläche ist
bei stockhohen oder mehrstöckigen Baulichkeiten zur Ermittlung der der Abgabe
unterliegenden Gesamtfläche mit der Anzahl der Geschoß« zu vervielfältigen; die
sich darnach ergebende Gesamtzahl der Quadratmeter bildet die für die Vor-
schreibung und Einhebung der Abgabe maßgebende verbaute Fläche. Keller und
Dachböden kommen hiebei nicht als Geschoße in Betracht, es ist jedoch von
allen im Keller- oder Dachbodenbereiche befindlichen hergerichteten Räumlichkeiten,
insoweit sie bewohnbar sind, das Flächenmaß gleichfalls zu erheben und dem
nach dem Vorangeschickten ermittelten verbauten Flächenraume zuzuschlagen.
Bei einer allfalligen Verschiedenheit der in den einzelnen Geschoßen verbauten
Fläche ist die verbaute Fläche jedes Geschoßes abgesondert in Rechnung zu
stellen und die aus der Summierung der auf jede Geschoßllächo entfallenden
Gebühren sich ergebende Gesamtgebühr vorzuschreiben.“ Da für diese Kanal-
gebühr die verbaute Fläche festgestellt wird, so könnte leicht eine Darstellung
der verbauten Flächen in den kanalisierten Straßen gegeben werden. Bis jetzt
waren aber keine diesbezüglichen statistischen Nachweisniigen zu erlangen.1)
Da keine statistischen Darstellungen über die verbauten Flächen erhältlich
sind, so sei an einem Beispiel veranschaulicht, welcher Anteil an der Gesamt-
grundfläche einer Großstadt auf die Häuser und Hofräume zusammen entfallt
und wie sich der Rest auf die anderen Benützungsarten verteilt. In Tabelle XIX
ist nach den Nacbweisnngen in den Statistischen Jahrbüchern der Reichshaupt-
und Residenzstadt Wien für die Jahre 1891 lind 1900 eine Zusammenstellung
über die Verteilung der Grundfläche des Gemeindegebietes in diesen beiden
Jahren auf die einzelnen Benützungsarten gegeben, und zwar sind die Daten
für jeden Bezirk gesondert geliefert. Am meisten interessieren die ersten beiden
Spalten „Häuser und Hofrflume“ und „Haus-, Obst- und Gemüsegärten und öffent-
liche Anlagen“. Die ersteren umfaßten im Jahre 1891 im ganzen 2.097*8420 ha,
im Jahre 1900 aber bereits 2.337*3347 ha. Wie viel von dieser Fläche von
Gebänden bedeckt ist und wie viel nnverbaut geblieben ist, kann gegenwärtig
nicht angegeben werden. Die Gruppe der Gärten wies 1891 einen Flächenraum
von 2356' 7493 ha auf. der bis zum Jahre 1900 auf 2240*2440 herabsank.
Das Jahrbuch für 1900 gibt an, daß in diesem Jahre hievon 965’8959 ha auf
öffentliche Gartenanlagen entfielen. Von diesen öffentlichen Anlagen waren
12*5687 ha bloße Zieranlagen, die dein Publikum nicht zugänglich sind, also für
die Öffentlichkeit ungefähr den Wert von Privatvorgärten haben, die dem Vor-
') Nach Drucklegung dieser Arbeit ist eine Zusammenstellung über die verbauten und
unverbauten Flächen in einigen Straßen von Czernowitz eingelangt, die leider nicht m«*hr berück,
siehtigt werden konnte In einzelnen Fällen kommt eine Verbauung von über 90 Pro*, vor.
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Verteilung der Grundfläche im Geineindegebiete der Keichshnupt- und Residenzstadt Wien in den Jahren 1891 und 1900 mit Rücksicht auf die
Art der Benützung.*)
624
Braun von Fernwahl.
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Abstufung der GebSiidestener nach dem Maß der Veibauung der Grundfläche. 625
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62G
Braun von Fertiwuhl.
übergehenden vollen Einblick gewähren. Von sämtlichen öffentlichen Anlagen
standen im Eigentmn des Hof- und Staatsärars 699 4330 ha, in dem von
Fonds und Privaten 172 0028 ha, in dem der Gemeinde nur 94-4601 ha; von
diesen letztgenannten waren 10-4967 ha bloße Zieranlagen. Im Jahrbuch für
das Jahr 1891 sind keine entsprechenden Nachwcisungeu über die öffentlichen
Anlagen enthalten. Nach Abzug der Fläche sämtlicher öffentlicher Anlagen
verbleiben für die Haus-, Obst- und Gemüsegärten im Jahre 1900 noch
1274-3481 lia, doch ist nicht zu entnehmen, wie viel davon die Hausgärten
ausmachen. Der prozentuelle Anteil der Häuser und Hofräume an der Grund-
fläche des Gemeindegebietes, der 1891 11*78 I’roz. betrug, ist 1900 auf
1312 Proz. gestiegen, dagegen ist der Prozentanteil der Gärten und öffent-
lichen Anlagen in derselben Zeit von 1 3' 23 Proz. auf 12'58 Proz. gesunken.
Die Zunahme und Abnahme der den einzelnen Benützungsarten gewidmeten
Flächenrüunie von 1891 bis 1900 zeigt Tabelle XX. Was das ganze Gemeinde-
gebiet betrifft, so haben die Häuser und Hofräuine mit einer Flächenvermehmng
von 239-4927 ha den größten Zuwachs zu verzeichnen. Ihnen zunächst kommen
die Straßen und Wege mit einer Zunahme von 128 0731 ha. Dagegen ist
nach den Äckern, Wiesen und Weiden, die 262-0836 ha verloren haben, die
stärkste Abnahme in der Flächenausdehnung der Haus-, Obst- und Gemüsegärten
und öffentlichen Anlagen zu bemerken, die um 116-5053 Zw kleiner geworden
ist. Was die einzelnen Bezirke betrifft, so zeigen Häuser und Hofräume in den
meisten Bezirken eine Zunahme, so im II. Bezirk sogar um 52-7412 Ä«, im
X. um 34-7268 ha, im XVI. Bezirk um 24 4879 und im XIII. um 23 4661 ha,
in den anderen Bezirken ist die Vermehrung geringer; eine Abnahme bei
den Häusern und Hofräumen bat nur beim 1. Bezirk um nicht ganz ein
1 ha und im VI. um etwas inehr als 1 ha stattgefunden. Die Gärten und
öffentlichen Anlagen haben in allen Bezirken eine Verminderung ihrer Flüche
erfahren, nur im I. Bezirk ist bei ihnen ein Znwachs von 6 0383 ha ans-
gewieson. Die Straßen und Wege haben naturgemäß in allen Bezirken an Gebiet
gewonnen, nur im I. Bezirk ist bei ihnen im Jahre 1900 eine um 5 8058 ha
kleinere Fläche angegeben. Die große Zunahme der Flächen der Häuser und
Höfe beweist ein starkes Fortschreiten der Verbauung. Die kleine Abnahme bei
den Häusern und Hofräuinen im VI. Bezirk ist, da in diesem Bezirk nur die
Straßen einen Flächenzuwachs erfahren haben, offenbar auf Nenanlage und Ver-
breiterung von Straßen und Plätzen zurückzuführen. Auf der gleichen Ursache
beruht wohl auch die Verminderung der Häusergründe im I. Bezirk; weil die
Vermehrung der Flächo der Gärten und Anlagen gleich ist der Summe der
Flächen, welche bei den Häusern und bei Straßen weggefallen sind, ist es wahr-
scheinlich, daß Gebiete, die früher zu den Straßen gehörton, jetzt unter den
öffentlichen Anlagen erscheinen. Die Tabellen XIX und XX zeigen das rasche
Wachstum der Verbauung dos Stadtgebietes; wie weit aber der einzelne Grund
ausgenützt und wie viel für Hofräume übrig gelassen worden ist. kann man aus
ihnen nicht ersehen. Aber gerade dies wäre wichtig zu wissen, um die Wirkung
einer Abstufung der Gebäudesteuer nach der Stärke der Verbauung der Grund-
fläche im voraus zu beurteilen.
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Nummer
628
Braun von Fernwald.
Tabelle XXI.
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im I. Bezirk, Innere Stadt.
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Abstufung ‘1er Gebäudeateuer nach dem Maß der Verbauung der Grundfläche. 629
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1860
Zeitschrift für V«IW*wlrUcb*ft, Sozialpolitik und Vcrwoltuntf- XII IUb<I.
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Ö30 Braun ton Fernwald.
Tabelle XXII.
Verzeichn« der verbauten und unverbauten Flächen der in den letzten 20 Jahren um gebauten
Häuser in der Alserstraüe von der Kochgasse bis zur Blindengasse im VIII. Bezirke, Josefstadt
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Abstufung der Gebäudesteuer nach dem Mali der Verbauung der Grundfläche. 631
Tabelle XX111.
Verzeichnis der verbauten und unterbauten Flächen der in den letzten 20 Jahren umgebauteu
Häuser in der Alscrstralk» ton der Spitalgasse bis zur Zimniermanng&sse im IX. Bezirke.
Alsergrund.
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Orientierung*-
Nn tiimer
632 Braun von Fernwald.
Tabelle XXIV.
Verzeichnis der verbaoten und unverbauten Flächen der in den letzten Jahrzehnten erbauten
Häuser in der Schellhatninergaase im XVI. Bezirke, Ottakring.
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Abstufung der Gebäudesteuer nach dein Maß der Verbauung der Grundfläche. (533
Weil aber auch für Wien keine statistischen Nachweisungen über die
verbauten Flachen besteheu, muß man sich mit einigen Stichproben begnügen.
Cher Krauchen wurden vom Wiener Magistrat Verzeichnisse über die ver-
bauten und unverbauten Flächen der in den letzten Jahrzehnten neuerrichteten
Häuser1) in drei Wiener Straßen zusammengestellt, die in den Tabellen XXI bis
XXIV wiedergegeben sind. Von den drei gewählten Straßen liegt eine, die
Kärntnerstraße, im I. Bezirk, der das Gebiet der ehemals befestigten alten Stadt
umfaßt. Biese Straße, die eine Hauptverkehrsader bildet, wurde in den letzten
Jahrzehnten stark verbreitert. Leider war es nicht möglich, Angaben über das
Maß der Verbauung der früher bestandenen Hänser zu erbalten; es ist dies sehr
zu bedauern, weil man durch den Vergleich der Verbauung bei den alten und
den neuen Gebäuden hätte ersehen können, welche Wirkung die Verbreiterung
der Straße auf die Größe der Hofräume gehabt hat. Die nächste Straße, die
Alserstraße. bildet die Grenze zwischen der Josefstadt und dem Alsergrund, welche
zu den Bezirken gehören, die aus den unbefestigten Vorstädten der alten Festungs-
stadt erwachsen sind. Die dritte Gasse endlich, die Schellhamergasse, liegt in Ottak-
ring (XVI. Bezirk), welchor einer jener peripherischen Bezirke ist, die aus den
außer der alten Verzehrungssteuerlinie gelegenen Vororten gebildet und erst im
Jahre 1891 der Stadt Wien einverleibt wurden. Die folgende Tabelle XXV gibt
eine Übersicht über das Maß der Verbauung in den einzelnen angeführten Straßen
und Straßenteilen.
Tabelle XXV.
Übersicht über «las Maß der Verbauung bei den Häusern, deren verbaute und unverbaute
Flächen in den Tabellen XXI bis XXIV ausgewiesen sind.
Bezirk
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Anzahl der Gebäude, bei denen
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Von den 5:1 ausgewiesenen Häusern der Kärntnerstraßo sind 32 stärker verbaut
als es der Wiener Bauordnung entspricht, die, wie oben angeführt, nur ansnahmt •
weise eine Verbauung von mehr als 85 Proz. der Grundfläche gestattet. Es
mußte der durch die Verbreiterung der Straße bewirkten Verkleinerung der Bau-
gründe Kechnnng getragen werden, weshalb Erleichterungen gewährt wurden.
Von diesen 32 Häusern haben 14 Höfe, die kleiner sind als 10 Proz. der Grund-
’) In «1er Kümthnerstraße sin«l auch die Maße der älteren Gebäude angegeben.
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634
ßraun von Femwald.
fläche, hei zwei Häusern bleibt der unverbaute Teil sogar unter 5 Proz. der Grund-
fläclie. In der Alserstraße ist bei 4 von 22 Häusern eine Verbauung über das
vorschriftsmäßige Maximum hinaus ausgewiesen. In der Schellhammergasse ist
die Vorschrift der Bauordnung hei allen angeführten Häusern befolgt. Nur bis
zur Hälfte verbaut ist der Grund bei einem Hause der Alserstraße und bei dreien
der Schcllhainmcrgasse; in der Kärntnerstraße kommt eine so schwache Ausnützung
der Bodcnflllche überhaupt nicht vor. Zwischen 50 und 75 Proz. beträgt die
Verbauung bei 6 Häusern der Kärntnerstaße. bei 9 der Alserstraße und bei 7
der Schellhammergasse. Den Forderungen der Krakauer Bauordnung, die einen Hof
von 20 Proz. verlangt, würden im ganzen 33 Häuser genügen. Im allgemeinen
ist zu bemerken, daß die Stärke der Verbauung der Grundflächen mit der Ent-
fernung vom Zentrum abnimint. Wollte man die günstigste Behandlung bei Bemes-
sung der Hauszinssteuer von dem Vorhandensein eines Hofes gleich der Hälfte
des ganzen Grundes abhängig machen, so würden derselben nur 4 von den ange-
führten 92 Häusern teilhaftig werden, so daß nur bei ihnen der volle durch einen
etwaigen Nachlaß bewirkte Steuerausfall eintreten würde. Es darf aber nicht
übersehen werden, daß die angeführten Beispiele lediglich einen Wert als Stich-
proben haben und daß man ans ihnen keine weitgehenden Folgerungen ableiten
darf. In den ländlichen Stadteilen sind natürlich viele Häuser mit großen unver-
bauten Flächen. Anderseits ist nicht ausgeschlossen, daß anch au der Peripherie
in einzelnen Fällen eine sehr weitgehende Ausnützung des Grundes vorkommt. Darüber
könnte nur oine vollständige Statistik der verbauten Flächen und detaillierte Nach-
weisungeu darüber, wie das Verhältnis derselben zur ganzen Grundfläche bei den
einzelnen Häusern ist, Auskunft geben. Diese Fragen hatten aber bis jetzt in
Österreich von der Statistik wenig Beachtung gefunden. Erst in neuester Zeit
wendet sich ihnen das Interesse zn. So hat die am 28. Februar 1903 in Wien unter
dem Vorsitze des Präsidenten der k. k. statistischen Zentralkommission abgehaltene
Konferenz für Städtestatistik beschlossen, die Erhebung der verbauten
und unverbauten Flächen bei den nach dem 1. Jänner 1903 fertiggestellten Ge-
bäuden Neubauten und Umbauten) anzuregen, im „Österreichischen Städtebuch“
die so gewonnenen Summen ausznweisen und Übersichten über das Verhältnis der
verbauten Fläche znr Gesamtfläche bei den einzelnen neuerrichteten Gebäuden
zu veröffentlichen, so daß für eine Keihe von Städten für die Zukunft eine stati-
stische Erfassung der bei den Bauführungen eingehaltenon Bauweise zn erhoffen
ist Die Lieferung derartiger Nachweisungen über die bestehenden Gebäude wurde
als untunlich abgelehnt, so daß auch von dieser Seite keine vollständige Aufklärung
der Verbauungsverhältnisse zu erwarten ist.
Wenden wir uns nun der Erörterung der Anwendbarkeit der vor-
geschlagenen Abstufung der Gebäudesteneru nach Maßgabe
der Verbauung der Grundfläche auf die österreichischen
G e b ä n d es t e n e r n zu, so ist zunächst zu bemerken, daß bei den der Haus-
klassenstener unterliegenden Gebäuden weniger Bedürfnis nach einem
Schatz gegen allzu starke Verbauung bestehen dürfte, da diese meist in kleineren
Urten gelegen sind, wo der Bangrund keinen so besonders hohen Wert hat und
daher der Anreiz zur Einengung der Hofränme geringer ist. Da es sich aus-
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Abstufung der Gebändesteuer nach dem Maß der Verbauung der Grundfläche, 635
schließlich um nicht vermietete Wohngebäude handelt, die also vom Besitzer
selbst, seinen Angehörigen und Bediensteten bcnfitzt werden, so dürften die Besitzer
in der Regel wenigstens dort, wo es sich um ihre eigene Wohnung und die
ihrer Angehörigen handelt, schon aus Egoismus eine zu ungesunde Bauweise
vermeiden. Da bei der Hausklassensteuer die Besteuerung nach der Zahl der
Wohnbestandteile erfolgt, so liegt die Versuchung nabe, diese möglichst einzn-
schräuken, ohne viel Rücksicht auf Bequemlichkeit und moralische Anschauungen
sowie die Möglichkeit einer Isolierung der Kranken hei Infektionskrankheiten zu
nehmen. Dafür werden aber der einzelnen Wobnräume groß und geräumig gemacht.
Wird nun die Steuer nach Maßgabe die unverbauten und verbauten Fläche
ahgestuft, so kann dies gerade dort, wo die verfügbare Fläche nicht groll ist,
zu einer Verkleinerung der Wobnräume führen, die vielleicht ungesunder ist als
ein kleiner Hofraum Es empfiehlt sich demnach nicht die Hausklassensteuer der
vorgeschlagenen Reform zu unterziehen; es wird so die Sache vereinfacht, indem
nur mehr die öproz. und die Hauszinssteuer zu berücksichtigen bleibeu. Übrigens
wird gerade dort, wo der Raum wertvoll ist. die Gelegenheit zur Vermietung
vielfach günstig sein, so daß es dem Bauherrn ualiegelegt wird, sein Haus, das
zunächst der Hausklassensteuer unterliegt, so zu bauen, daß der Steuersatz der
Hauszinssteuer, wenn es durch Vermietung unter dieselbe fällt, nicht allzu
ungünstig ist.
Bei der Hauszinssteuer und der 5proz. Steuer von den von
der Hauszinssteuer befreiten neu errichteten Baulichkeiten1)
ist das Bedenken wegen einer etwaigen Verkleinerung der W'ohnräume infolge
der Vergrößerung der Höfe weniger vou Belang, da in den größeren Orten
ohnedies der hohe Grundwert hiezu verlockt, um möglichst viel Wobnräume
herauszubekonnnen, so daß ein Eingreifen der Bauordnung und der Baupolizei
auch bei der gegenwärtigen Besteuerungsart notwendig ist und dadurch also keine
neue Schwierigkeit geschaffen wird.
Die Abstufung der Steuersätze nach dem Verhältnis der verbauten Fläche zur
ganzen Grundfläche kann in dreierlei Weise erfolgen:
1. durch Einführung verhältnismäßiger Zuschläge zur bisherigen Steuer,
2. durch Gewährung verhältnismäßiger Nachlässe,
3. dadurch, daß die Spannung zwischen höchstem und niedrigstem Steuersatz
so gewählt wird, daß die bisherige Steuer zwischen beiden zu liegen kommt.
Dieser letztere Vorgang würde sich aber weniger empfehlen, da es sehr
schwer wäre im vorhinein festzustellen, ob er eine Erhöhung oder Verminderung
des Stenerertrages bewirken würde oder ihn ungefähr unverändert ließe und auch
dadurch dio Umrechnung der bisherigen Steuervorschreibungen bedeutend erschwert
würdo. Es bleibt also die Möglichkeit, dio Steuer durch Zuschläge zu erhöhen
oder durch Nachlässe zu vermindern. Welcher dieser Wege zu wühlen ist, hängt
von der allgemeinen Finanzlage und der relativen Höhe der Gebäudestcner im
Verhältnis zur Belastung anderer Stenerobjekte ab. Wie groß die Spannung
’) Neu-, Uni- und Znhauten. im Folgenden ist der Kurze halber vielfach nur von
Neubauten gesprochen, worunter dann auch die Um> and Zabauten zu verstehen sind.
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636 Brann Ton Femwald.
«wischen dem höchsten nnd dem niedrigsten Steucrfuß sein muß, ntn eine Beein-
flussung der Bauweise im Sinne einer Assanierung zu bewirken, kann nur nach
eingelienden Untersuchungen entschieden werden, zum Teil wird es erst die
Erfahrung lehren. Es wird die Spannung teilweise auch davon abhangen müssen,
welches Ziel man vor Augen hat, ob man sich damit begnügen will, daß der
Baugrund wenigstens an abgelegeneren Stellen nicht übermäßig verbaut wird oder
ob man ganz allgemein eine gewisse Größe der Höfe durchsetzen will. Steigt
z. B. die Besteuerung rapid, sobald der Hof kleiner ist als ein Viertel der
Grundfläche, so wird eine weitergehende Verbauung nur ausnahmsweise stattfinden.
Damit hängt auch die Frage zusammen, ob die Steigerung der Besteuerung
gleichmäßig mit der größeren Verbauung erfolgen soll .oder ob sie progressiv
nach Graden der Verbauung eingerichtet werden soll. Beispielsweise sei ange-
nommen. daß ein Zuschlag bis zu 10 Proz. vom Steuerbetrag bei einer Ver-
bauung von mehr als der Hälfte der Grundfläche erfolge. Da kann die Abstufung
so erfolgen, daß bei einer Verbauung zwischen 50 und 55 Proz. der Fläche ein
Zuschlag von 1 Proz., bei einer zwischen 55 und 60 Proz. einer von 2 Proz,
n. s. f. erfolgt, so daß bei einer Steigerung der Verbauung um 5. Proz. auch
der Zuschlag um 1 Proz. steigt bis er endlich bei vollständiger Verbauung 10 Proz.
erreicht Sic kann aber auch progressiv erfolgen, z. B. in der Weise, daß bei einer
Verbauung über die Hälfte bis zu drei Viertel je 5 Proz. mohrverbanUT Fläche ein
Zuschlag von '/, Proz., bei einer Verbauung über drei Viertel je 5 Proz. der mehrvcr-
bauten Fläche ein Zuschlag von 1 '/» Proz. entspricht ialso 50 — 55 Proz. Verbauung
'/, Proz. Zuschlag, 55 — 60 Proz. 1 Proz., 60 — 65 Proz. I1/, Proz-, 65 — 70 Proz.
2 Proz., 70 — 75 Proz. 2’/j Proz.. aber 75 — 80 Proz. t Proz., 80 — 85 Proz.
5*/* Proz., 85 — 90 Proz. 7 Proz., 90 — 95 Proz. 8 */, Proz., endlich bei einer
Verbauung von 95 — 100 Proz. 10 Proz. Zuschlag). Erfolgt die Progression in
solcher Weise nach Abschnitten, so liat dies die Folge, daß in dem günstiger
behandelten Abschnitt der Verbauung noch ein größerer Spielraum gewährt wird,
während eine Verbauung über die Grenze hinaus, bei der die Progression einsetzt, sehr
erschwert wird; es würde also eine Verbauung über diese Grenze hinaus, in den
gewählten Beispiel drei Viertel der Fläche, nur ausnahmsweise eintreton. Es wäre
ohne diesbezügliche Bemühung der Baubehörden annähernd dasselbe erreicht, wie
wenn in der Bauordnung eine bestimmte Verbauungsgrenze, z. B. 75 Proz. fest-
gesetzt wäre. Außerdem würde innerhalb derselben der mäßigere Zuschlag regulierend
wirken. In jedem Falle würde die durch die Steuerbehörden vertretene Allgemein-
heit an dem Gewinn aus der stärkeren Verbauung teil haben. Natürlich kann
die Progression auch nicht nach Abschnitten, sondern allmählich steigend einge-
richtet werden.
Das finanzielle Ergebnis der Einführung derartiger Zuschläge oder Nachlässe
wird größtenteils von dein Ausmaß der unverbauten Fläche abbängen, die als
Bedingung für die Gewährung der günstigsten Stcuerbehandlung festgesetzt wird.
Je größer es ist, desto weniger Gebäude werden ihrer teilhaftig werden und desto
besser wird sich das Erträgnis gestalten. Durch die Forderung großer Höfe
wird es auch hintaugehalten, daß der große Hof eines Hauses zum Schaden der
Steuerbehörde teilweise an die Nachbarhäuser mit kleineren Höfen abgetreten
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Abstufung der Gebändcateuer nach dem Maß der Verbauung der Grundfläche. iY.\l
werde. I!ci gleicher Spannung /wischen höchstem und niedrigstem Steuersau wird
die Steigerung immer unmerklicher, je höhere Korderungen man an die Ausdehnung
der unverbauten Fläche stellt. Bei einem Maximalzuschlag von 10 Pro/., der
gleichmäßig ansteigt, beträgt sie, wenn für den niedrigsten Steuersatz ein Hofraum
gleich der Hälfte der Grundfläche verlangt wird, bei je 5 l’roz. Verbauung l
Pro/., soll aber der Hof doppelt so groß sein wie die Bauarea, würde dieselbe
Steigerung erst bei einer Verbauung von je 7'5 Pro/, eintreten. Knüpft man
die Begünstigung an das Vorhandensein sehr großer unverbauter Flächen, so ist
dies auch eine Bevorzngung der Luxusbauten wie der Villen, Paläste mit großen
Gärten u. s. w. Man wird also einen mittleren Weg einschlagen müssen. Hans-
gärten und Hofräume erfuhren /war von der österreichischen Steuergesetzgebung
eine ganz verschiedene Behandlung: die Hofrännie teilten alle Schicksale der
Bauarea, während die Uansgärten ohne Rücksicht auf ihre Zugehörigkeit zu
einem Hause wie alles übrige Gartenland der Grundsteuer unterworfen wurden;
für den sanitären Zustand eines Hauses ist aber ein Hausgarten keineswegs weniger
wertvoll wie ein Hof, vielmehr hat er, von Ansnahmsfällen wie übermäßige animalische
Düngung abgesehen, viel größeren Wert Für die Gewährung einer günstigeren
Steuerbehandlung ist daher lediglich die unverbaute Fläche die zum Gebäude
gehört iin Betracht zu ziehen ohne Rücksicht darauf, oh sie Hofraum oder
Hansgarten ist; ebenso ist es gleichgültig, ob der Hausgarten nur ein mit
Gewächsen bepflanzter Hof ist oder das Hans von allen oder mehreren Seiten
umgibt. Daß der Hofraum als Zubehör des Hanses von der Grnndsteuer frei
bleibt, der Hausgarten aber von ihr getroffen wird, braucht kein Bedenken
zu erregen, da die Gebändesteueni von der Grundsteuer gänzlich unabhängig
sind. Hing cs ja doch oft von zufälligen Umständen ab, ob ein mit Pflanzen
besetzter Hof oder Hofleil als Garten oder Hoframn qualifiziert wurde. So
wird z. B. bei einem Hause in Wien, das ursprünglich in einer ländlichen
Umgebung sich befand, die aber infolge Verbauung jetzt ganz städtisch
geworden ist, ein bepflanzter Teil des keineswegs die gewöhnliche Größe über-
schreitenden Hofes noch immer als Garten behandelt und mit der Grundsteuer
belegt. Das kann nnr auf zufällige Umstände zurückgeheu, es ließe sieb doch
nicht rechtfertigen, einen Hof von gewöhnlicher Größe als Garten zu bestenem,
wenn einige Bäume hinein gepflanzt sind.1) Der sanitäre Wert eines Gartens oder
Hofes kann natürlich auch die Art der Benützung vernichtet werden, wenn z. B.
der Hof zu einer Lagerstätte von staubigem Bauholz oder von Kohlen oder gar
von Kehricht oder Hadem verwendet wird. Das hintanznhalten ist aber Sache
der Itan- und Sanitätspolizei, bei der Bemessung der Gcbändestenem kann es
selbstverständlich nicht Berücksichtigung finden.
Wenn in einem Hofe ebenerdige Znhanten, z. 11. Waschküchen, Wagenremisen.
Veranden, Terrassen, sich befinden, so entsteht die Frage, ob der von ihnen einge-
nommene Raum ebenso als verbaut anzusehen ist wie die Bauarea des vielleicht vicl-
*) Die ßehandluug eines Holes als Garten kann auch für die Steuerbehörde nach-
teilig sein, da der für Benützung des Hofes etwa bedungene Zius immer der Hauszins.
Steuer unterliegt, der für Gartenbenützung gezahlte aber von derselben frei bleibt, Virl.
v Myrbach, a a. O. S. 1C1.
Digitized by Google
638
Braun von Fernwahl.
stückigen Hauses. Obwohl darin einige Unbilligkeit liegt, wird man diese Frage doch
bejahen müssen, weil sonst die Berechnung der Gcbändesteuer leicht sehr kom-
piliert werden könnte. Ob ein Hof den sanitären Anforderungen genügt, wird
oft von seiner Form und besonders von der Höhe der Häuser die ihn nmgeben,
ahhängen. Einer, der bei ebenerdigen Gebäuden genügt, wird sanitär gänzlich
unzulänglich, wenn noch 4 Stockwerke anfgebaut werden. Man könnte Vor-
schlägen. dies bei der Besteuerung zu berücksichtigen, indem die geforderte
Größe der Hofräume oder die Steuersätze nach der Anzahl der Stockwerke
verschieden normiert würde; doch wird man wohl darauf verzichten müssen,
da die Steuerbemessung dadurch schwieriger würde. Man darf nicht vergessen,
daß die eigentliche Aufgabe der Steuerbehörden die zweckmäßige und genaue
Besorgung des Steuerdienstes ist und eine beabsichtigte assanierende Wirkung
einer Steuer nur Nebenzweck sein kann und als solcher behandelt werden muß.
Man muß daher bei einer dahin zielenden Abänderung trachten, alles möglichst
einfach einznrichten, damit dadurch die Geschäftsgebarung der Steuerbehörden
nicht behindert werde.
Nunmehr ist zu erwägen, ob bei der Hauszinssteuer und der 5 proz. Steuer
ein ganz gleichmäßiges Vorgehen anzuwenden ist oder wie die Abstufung bei
jeder durchzufüliren ist. l)a die Hauszinssteuer sehr hoch ist, kann nicht daran
gedacht werden, sie noch durch Zuschläge zu steigern; man würde sich daher
entschließen müssen, Nachlässe zu gewähren. Nimmt man an. daß die Finanzlage
es gestatte, einen Nachlaß im Höchstbetrage von 10 Proz. der Steuer zu gewähren,
und diese Differenzierung anch genüge, die Banweisc wirksam zu beeinflussen,
so würde sich die Ermäßigung in den namentlich als hauszinssteuerpflichtig
angeführten Orten höchstens anf 2‘67 Proz. des durch Abzug von 15 Proz.
Erhaltungs- und Amortisationskosten ermittelten Nettozinses stellen, während die
anderen der Hauszinssteuer unterliegenden Gebäude in Tirol und Vorarlberg eine
Ermäßigung um höchstens 1'5 Proz., in den übrigen Ländern um höchstens 2‘0 Proz.
des Nettozinses erfahren würden, der aber in diesen Fällen durch Abzug von 30 Proz.
Erhaltungs- und Amortisationskosten berechnet wird. Rechnet man diese Nach-
lässe in Prozente des Brnttnzinses um. so beträgt der Nachlaß für die Gebäude der
namentlich angeführten Orto 2"27 Proz., für die übrigen hanszinssteuerpflich-
tigen Gebäude in Tirol und Vorarlberg 1 05 l’roz.. in den anderen Ländern
1'4 Proz. des Bruttozinses. Der faktische Gewinn wäre also für die verschiedenen
Gruppen verschieden groß: da aber die Intensität der Besteuerung verschieden
ist, so scheint es nur billig, daß bei Gebäuden, die strenge besteuert sind, auch
eine größere Ermäßigung eintrete. Dazu kommt noch, daß diese Differenzierung
in der Besteuerung hauptsächlich auf historischen Gründen beruht und den gegen-
wärtigen Verhältnissen nicht mehr immer entspricht. Bei der Sproz. Steuer werden
bei allen ihr unterworfenen Gebäuden ohne Unterschied 5 Proz. vom Nettozinse
erhoben. Dieser wird jedoch auf verschiedene Weise ermittelt, indem analog der
Hauszinsstener bald 15, bald 30 Proz. Erhaltungs- und Amortisationskosten abge-
rechnet werden; es werden also in dem einen Falle 4’25 Proz,. in dem anderen
3‘5 Proz. vom Kruttn/.inse als Steuer eingehoben. Wollte man da gleichfalls wie
bei der Hauszinsstener eine Steuerermäßigung bis zu 10 Proz. des .Steuerbetrages
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Abstufung der Gebäudcstouer mich dem Mail der Verbauung der Grundfläche. (j3<)
gewähren, so würde der Unterschied zwischen dem höchsten und niedrigsten mög-
lichen Steuersatz nur O'ö 1‘roz, des Nettozinses ausmachen und dies würde gänzlich
ungenügend sein um die Art und Grüße der Verliannng wirksam zu beeinflussen.
Und gerade bei der öproz. Steuer ist eine starke Differenzierung bei den Steuer-
sätzen dringend notwendig, da sie allein für den Bauherrn unmittelbar fühlbar
wird, da eine Abstufung, bei der Uauszinssteuer allein durchgeführt, meist nur
andere, spätere Besitzer treffen würde und daher anf die Bauführung nur geringen
Einfluß hätte. Um annähernd die gleiche Wirkung auf das Erträgnis eines Gebäudes
zu haben, müßte der Nachlaß bis zu 50 l'roz. des Steuerbetruges gesteigert
werden, so daß er 2'ö Proz. des Nettozinses betragen würde. Er würde so
zwischen den zwei niedersten (l"ö nnd 2'0 Proz.) und dem höchsten Nachlaß bei
der Hanszinssteuer (2 (57 Proz.) liegen, sich jedoch dem letzteren sehr stark nähern.
Diese Annäherung ist ratsam, da sonst der Unterschied in der Besteuerung leicht
zu wenig fühlbar sein würde und gerade bei Neubauten eine energische Beeinflussung
der Bauweise nötig ist Di den Fällen, wo der volle Nachlaß eintritt, würde
dies aber einer Herabsetzung der öproz. Steuer auf 2';> Proz. glcichkommen.
Das würde einen bedeutenden Steneransfall verursachen. Anßerdem ist noch zn
berücksichtigen, daß diese Wirkung einer Steuerermäßigung bei der öproz. Steuer
viel rascher und fühlbarer eintreten würde wie bei der Hanszinssteuer. Denn
diese trifft schon bestehendo Gebäude und es hängt von der herrschenden Bau-
weise und dem Grad der Verbauung ab. wie viele Häuser einer bedeutenden
Ermäßigung teilhaftig würden. Bei dem Beste würde gar keine und nur eine
geringe Veränderung in der Stenerleistnng eintreten. Erst bei einem Umbau
könnten auch sie eine günstigere Steuerbehandlung erlangen. Der Steueraosfall
wird sich daher zunächst innerhalb gewisser Grenzen halten nnd sich nur allmählich
im I.aufe der Jahre dem theoretisch möglichen Maximum nähern. Anders bei der
öproz. Steuer! Bei Einführung einer Abstufung in den Steuersätzen würden
wohl in der Übergangszeit die bereits bestehenden von der Hauszinsstener freien
Gebäude natürlich je nach ihren Verbannngsverhältnissen von der abgestuften
Steuer erfaßt werden und diese würde auf sie ebensowenig eine unmittelbare
Einwirkung ausüben wie bei den hauszinssteuerpflichtigen; bei der Neuerrichtung
von Gebäuden wird jedoch der Unterschied in der Besteuerung bereits die Bsuweise
bestimmen, so dat! die Mehrzahl derselben einer bedeutenden Ermäßigung der
Steuer sich erfreuen würde. Sind einmal die Tor der Abänderung der Gebäude-
steuer erbauten Häuser durch Ablanf der Baufreijahre hausziiissteuerptlichtig und
so der öproz. Steuer entzogen worden, so wird die öproz. Steuer die Tendenz
zeigen, sich in ihrem Erträgnis dein niedrigsten Steuersätze zn nähern, ohne ihn
allerdings vollständig zu erreichen. Es würde dann ihr Ertrag nahezu um das
volle Ausmaß der Nachlaßprozente verringert werden; in dem angeführten Beispiel
käme dies beinahe einer Verminderung des Ertrages anf die Hälfte gleich, was
im Jahre 1899 einen Minderertrag bis zu 3,372.940 Kronen, im Jahro 1900
einen solchen bis zu 3,40ö.H99 Kronen bedeutet hätte. Da dies ein großer Steuer-
ansfall wäre, könnte die Finanzverwaltnng schwer darauf eingehen, weil die
Nachlässe bei der Hauszinssteuer gleichfalls eine namhafte Minderung der Ein-
nahmen verursachen würden. Gegen die Gewährung langer Baufreijahrsperioden
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Braun von FernwaM.
besteht seit langem eine heftige Opposition,1) die eben zur Kinführung der 5 pro/..
Steuer geführt hat. Der gleiche Gedanke zeigt sich darin, dal! aus den Erträgnissen
der Personaleinkominenstetier wohl bei der Hauszins- und Hausklassenstcuer,
nicht aber bei der 5proz. individuelle Nachlässe gewährt werden. Endlich treffen
manche Gemeinden in der Höhe der erhobenen Zuschläge Unterscheidungen; so
belegte die Stadt Wien die 5proz. Steuer im Jahre 1901 mit einem Zuschlag von
BO, die Hauszinssteuer aber mit einem von 25 Proz. Es ist demnach auch die
allgemeine Stimmung einer Herabsetzung der 5 proz. Steuer nicht günstig. Wollte
man die Spannung so einrichten, dali der bisherige Steuersatz zwischen dem
niedrigsten und höchsten neuen liegen würde, so würde dies, sobald einmal die
bereits fertigen Häuser ausgnschieden sind, aus den oben angeführten Gründen
darauf hiuauslaufen, dalJ wieder eine Herabsetzung der 5 proz. Steuer, wenn auch
in geringerem Malle, einträte. Es bleibt also nur der Ausweg, zur 5 proz.
Steuer nach Maßgabe des Grades der Verbauung Zuschläge*) einzuführen.
Um wirksam zu sein, müßte der höchste Zuschlag ziemlich hoch augesetzt sein,
z. B. mit 50 Proz. des bisherigen Steuerbetrages, so daß sich dann der höchste
Steuersatz auf 7*5 Proz. des Nettozinses stellen würde. Rechnet man dies in
Prozente des Bruttozinses um, so beträgt es bei den Gebäuden, bei denen nur 15 Proz.
für Erhaltung«- und Amortisationskosten abgerechnet wird, 6 375 Proz. vom Ilrutto-
zins, bei denen aber, denen ein Abzug von 30 Proz. gestattet wird. 5*25 Proz.
Die Spannung zwischen dem höchsten und niedrigsten Steuersatz beläuft sich
somit bei den Gebäuden mit 15 Proz. Abzug auf 2*125 Proz., bei denen mit
30 Proz. Abzug auf 1*75 Proz. vom Bruttozins, während die Spannung infolge
der 10 proz. Nachlässe an der Hauszinssteiier bei ersteren Gebäuden 2*27, bei
letzteren 1*05 und 1*4 Proz. ausgemacht hatte. Die Spannung, in der sich die
Steuererhebung bei der 5 proz. Steuer ausdrückt, wäre also bei den Gebäuden in
den namentlich als hauszinssteuerpßiclitig angeführten Orten, wo der Abzug
für Erhaltungs- und Amortisationskosten nur 15 Proz. ist, etwas geringer wie
die Hauszinssteuerermälligung bei derselben Kategorie (und zwar um 0*14 Proz.
des Bruttozinsesi. bei den übrigen Gebäuden etwas größer (in der Regel um
0*35. in Tirol und Vorarlberg um 0*7 Proz. des Bruttozinses).
Wie die angeführten Beispiele zeigen, würden die Zuschläge zur 5proz.
Steuer bei den nicht namentlich als hauszinssteuerpflichtig angeführten
Orten, besonders in Tirol und Vorarlberg, viel energischer anf die Bauweise
pinwirken als die Ermäßigungen bei der Hauszinssteuer und das. was diesen an
Wirksamkeit fehlt, in wünschenswerter Weise ersetzen. Daß die stärkste Erhöhung
der 5proz. Steuer (um 2*125 Pro/., des Bruttozinses"’ bei den namentlich als
hauszinsstouerptlichtig genannten Orten etwas niedriger ist, als der stärksten
l)Vergl. i. B. v. Myrbach, a. a. O., 8. 198 und A. Schaeffle, a. a. 0., S. 318, ferner
Adolf Beer, Der Staatshaushalt Österreich-Ungarns, S. 70, der behauptet, die Gowiilining
langfristiger Steuerbefreiungen hätte nicht der Wohnungsnot abgeholfen, sondern wäre
nur den Grundbesitzern zu gute gekommen, indem sie eine Steigerung der Preise der
Baugründe bewirkte.
*) Mit dein Worte „Zuschläge“ soll hier lediglich die Art der Erhöhung der
Steuer bezeichnet werden, mit den Zuschlägen zu Gunsten der autonomen Körperschaften
und Pondc bat es natürlich nichts zu tun.
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Abstufung der Gebäudesteuer nucb dem Muß der Verbauung der Grundfläche. f,4 I
Ermäßigung ihrer Hauszinssteuer entsprechen würde, beeinträchtigt bei der Kleinheit
des Unterschiedes <0*14 Proz. des Brnttozinses) die Wirksamkeit der Abänderung
der Steuer nicht; es wird doch bei dieser Kategorie die 5 proz. Steuer um
2' 125 Proz. vom liruttozins erhöht, während sie bei den Häusern init 30 Proz.
Abzug für Krhaltungs- und Amortisationskosten nur um 1’75 Proz. vom Bruttozinse
gesteigert wird. Da die gegenwärtige Sproz. Steuer wohl Verschiedenheiten beim
Ausmaß der Abzugprozente, nicht aber sowie die Hauszinssteuer in den Steuer-
sätzen der einzelnen Kategorien kennt, würde durch Erhöhung der 5 proz. Steuer
eine Milderung der Härten dieser Ungleichmäßigkeit der Steuersätze nach Kate-
gorien eintreten. Die Gebäude mit besonders günstiger Lage würden, wenn diese
durch starke Verbauung ausgenützt wird, höher besteuert werden und es würden
da die tatsächlichen Verhältnisse, nicht die mehr und minder willkürliche Annahme
der Bestandes günstiger Bedingungen für die ganze Ortschaft für die Höhe des
Steuersatzes entscheidend sein. Die Stärke der Erhöhung von 5 auf 7'5 Proz.
vom Nettozins braucht, wenn das für die Gewährung des niedrigsten Steuersatzes,
also in diesem Falle für die Belastung der Besteuerung mit 5 Proz.. geforderte
Ausmaß an unverbauter Fläche nicht zu hoch bemessen wird, kein Bedenken zu
erregen, da dann die Mehrzahl der Neubauten genügend Kaum freilassen wird,
so daß die bisherige Besteuerung gar nicht oder nur wenig überschritten wird
uud nur jene Hänser, bei denen durch stärkere Verbauung ein höherer Gewinn
erzielt werden soll, einen Teil dieses Gewinnes abgeben müssen.
Was die praktische Durchführbarkeit der vorgeschlageuen Abstu-
fung der Gebäudesteuern nach dem Verhältnis der verbauten Fläche zur gesamten
Grundfläche anbelangt, so handelt es sich hauptsächlich um authentische Fest-
stellung dieses Verhältnisses bei jedem Gebände. dessen stete Evidenzhaltung
und endlich nm die Vornahme der Umrechnung des bisherigen Steuersatzes in den
neuen, nach dem dann die Bemessung erfolgt. Durch das gleichzeitige Bestehen
zweier Steuersysteme in Österreich ist die Sache insofern vereinfacht, als die Hans
klassenstener überhaupt unverändert bleiben kann, da bei den ihr unterliegenden
Gebäuden wenig Bedürfnis nach Schutz gegen übermäßige Verbauung besteht.
Es kommen sonach nur die Hauszinssteuer und die 5proz. Steuer in Betracht.
Da die 5 proz. Steuer neuerrichtete Gebäude betrifft, bietet die Feststellung der
Größe der unverbauten und der verbauten Fläche eines Gebäudes keine Schwierig-
keit, indem bei Erteilung der Baubewilligung einfach die Beibringung von Plänen
verlangt werden kann, welche die entsprechenden Daten, eventuell das Verhältnis
der verbauten Fläche zur gesamten Grundfläche bereits ausgerechnet, enthalten
müssen. Auch die genaue Kvidenzhaltung kann leicht erfolgen, weil zu jeder
baulichen Veränderung die Baubewilligung erforderlich ist, deren Erteilung
an die Mitteilung der dadurch bewirkten Veränderung in dem Ausmaße der
Verbauung geknüpft werden kann. Ist das prozentuelle Verhältnis der verbauten
Fläche bekannt, so kann leicht berechnet werden, nm welche Zuschläge der
nach den bisherigen Bestimmungen ermittelte Steuerbetrag zu erhöhen ist.
Die ganze Geschäftsgebarung ist also sehr einfach und verursacht wenig
Mehrarbeit. Bei den zur Zeit des Inkrafttretens der Abänderung der Gebäude-
stcuervorschrift bereits bestehenden, aus dem Titel der Baufühl ung von der
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Braun toii Fernwahl.
Hauszinssteuer befreiten Gebäuden kann wohl die Gproz. Steuer während des
Beates der Baufroijahrsperiode unverändert gelassen werden, da infolge des
guten Bauzustandes derselben eine Abstufung wenig Wirkung haben wurde und
eine nutzlose Erhöhung als Härte empfunden würde. Bei den der Hausziussteuer
unterworfenen Gebäuden würde die UerbeischafTung und vollständige Ergänzung
und Richtigstellung der Bauplatte oft, besonders wenn die Häuser schon vor
langer Zeit erbaut sind, sehr schwierig sein und eine Neukatastrierong der
Grundfläche der hauszinsstouerpflichtigon Gebäude würde große Kosten verursachen
Man darf jedoch nicht verzichten, auch bei der Hauszinssbuer Abstufungen
einzuführen, weil sonst alte Häuser, die wegen ihrer engen Höfe unsanitär sind,
aus Furcht vor einer höheren Besteuerung überhaupt nicht umgebaut würden.
Wird die Abstufung bei der Hauszinssteuer durch prozentuelle Nachlässe bewirkt,
so bietet sich ein sehr einfacher Ausweg, wenn man die Beweislast bezüglich
des Ausmaßes der Verbauung den Hausbesitzern zuschiebt, indem man nur jenen
Gebäuden die Nachlässe gewährt, für die von ihren Besitzern die entsprechenden
genauen Pläne beigebracht werden. Gewährt man die Nachlässe erst vom Zeitpunkt
der Beibringung der Pläne und ohne Rückwirknng bis zum Zeitpunkt des Inkraft-
tretens der Abänderung der Gebäudesteuer, so würde dadurch ein nur allmäh-
liches Sinken des Ertrages der Hauszinssteuer bewirkt werden, da von den Häusern,
die Anspruch auf Ermäßigung hätten, für die aber die Pläne nicht beigebracht
werden, die bisherige Steuer erhoben würde.1) Nun bleibt noch zu untersuchen,
wie bei jenen Gebäuden vorzugehen ist, die durch ihre Vermietung oder dadurch,
daß in dem betreffenden Orte wenigstens die Hälfte sämtlicher Gebäude und
außerdem die Hälfte der Wohngebäude vermietet werden und so der ganze Ort
hauszinssteuerpflichtig wird, aus dem Gebiete der Hansklasseiistetier ansscheiden.
Fallen sie bereits unter die Hauszinssteuer, so sind sie nach dem höchsten
Steuersätze, also dem bisherigen, so lange zu besteuern, als nicht durch Beibringung
der Pläne der Anspruch auf einen Nachlaß nachgewiesen wird. Aber auch wenn
sie noch Banfreijahre genießen und daher unter die 5proz, Steuer fallen, sind
sie bis zur Beibringung der Pläne nach dem höchsten Steuersätze zu behandeln,
also mit dem höchsten Zuschläge zu belegen. Dadurch wird bewirkt, daß
wenigstens dort, wo dio Möglichkeit naheliegt, daß das Haus einmal hauszins-
steuerpflichtig wird, die Bauherren veranlaßt werden, beim Bau darauf Rücksicht
zu nehmen, und so die Reform der Hanszinsstener auch teilweise auf die Bau-
weise des liansklassensteuerpflichtigen Gebäude heilsam einwirkt. Für die zur
Zeit der Einführung der Abstufung bereits bestehenden steuerfreien Häuser
müßten Übergangsbestimmungen getroffen werden, damit sie, wenn sie aus
dem Bereich der Hausklassensteuer Ausscheiden, nur mit der gewöhnlichen
5proz. Steuer ohne Abstufung belegt werden.
*) Um die Steuerermäßigung zu erhalten, würde die große Mehrzahl der Besitzer
von Hausern mit genügend großen Höfen die Pläne beibringen, so daß binnen wenigen
Jahren für sehr viele hauizin »steuerpflichtigen Gebäude die genauen Nachweisungen
über das Maß der Verbauung der Grundfläche vorhanden sein werden, die unschwer zu
einem Kataster der rerbauten Flächen und Hofräume der hauszins-
steuerpflichtigen Gebäude ergänzt werden können.
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Abstufung der Gebäudesteuer nach dem Maß der Verbauung der Grundfläche. 643
l>a nach dem Personalsteuorgesetz vom 25. Oktober 1806, R.-G.-Bl. Nr. 220,
an der vorgeschriebenen Hanszinsstener jährliche Nachlässe vom 10 bis 12'5 Proz.
der Jahresstener zu gewähren .sind, so entsteht die Krage, wie diese Uestiinmnng
mit der Bewilligung von Nachlässen mit Rücksicht auf das Vorhandensein größerer
unverbauter Flächen in Einklang zu bringen ist. Erst nach Abzug der l’ersonal-
steuernachlässe die anderen zu berechnen, wäre mifllich, da sie je nach dem
Erträgnis von 10 bis 12'5 Proz. schwanken. Man könnt« allerdings von einer
etwaigen Erhöhung absehen und den Nachlaß immer mit 10 Proz. in Anschlag
bringen und vom Best den Nachlaß wegen geringer Verbauung berechnen, doch
würde dadurch die Spannung zwischen dem höchsten und niedrigsten Steuersatz
geringer. Wäre dieser Nachlaß i. B. auch 10 Proz., so würde die Spannung nicht
ein Zehntel von der ursprünglich vorgeschriebenen Steuer, sondern nnr neun
Hundertel derselben betragen. Wollte man umgekehrt zuerst diesen Nachlaß
abziehen und vom Rest den durch das Personalsteuergesetz gewährten berechnen,
so kämen gerade die Gebäude, denen wegen ihrer sanitären Bauweise ein größerer
Nachlaß gewährt wurde, zu Schaden, da bei ihnen der Personalsteuemachlaß von
einer bedeutend verkleinerten Summe berechnet würde und deshalb geringer wäre.
Es ist daher am besten, beide Nachlässe von der ursprünglich vorgeschriebenen
Steuer zu berechnen und von dieser nebeneinander zum Abzug zu bringen.
Bei der großen Rollt, welche in Österreich die Zuschläge der sogenannten
Fondsbeiträge spielen, ist es von großer Bedeutung, von welcher Stener-
souime sie berechnet werden, von der ursprünglichen, nach den bisherigen Vor-
schriften ermittelten oder zu derjenigen, zu der man unter Berücksichtigung der
hier gemachten Vorschläge gelangt. Nimmt man die bisherige Staatssteuer zur
Grundlage, so ist es für den Bauherrn einfacher zu berechnen, wie weit eine
stärkere Verbauung unter der Herrschaft der ahgeänderten Gekäudestener noch
für ihn vorteilhaft ist, indem er nur die Abstufungen der Staatsstouer zu berück-
sichtigen braucht, wärend die llöho und Zahl der Zuschläge nicht in Frage
kommen, da sic von dem Maß der Verbauung unabhängig sind. Nimmt man
hingegen die ahgestnfte staatliche Gebüudesteuer znr Berechnuugsgrundlage, so
wird deren assanierende Wirkung ungemein verstärkt, da der Unterschied zwischen
höchster und niedrigster, für ein Gebändc möglichen Gesamtsteuerschuldigkeit
sehr vergrößert wird. Beträgt der lOproz. Nachlaß bei der staatlichen Gebäude-
steuer 100 Kronen, so steigt der Unterschied bei 100 Proz. Zuschlägen auf
200 Kronen, hei 10ÖÜ Proz. aber auf 1100 Kronen. Im demselben Maße würde eine
Erhöhung der Staatsstener durch die. Foudsbeiträge hinaufgetrieben werden. l)a
die Höhe der Zuschläge sehr verschieden ist. wurde auch die Wirkung der Abstufung
der Gebäudestener große lokale Verschiedenheiten zeigen. Um die daraus sich
ergebende Ungleichmäßigkeit zn vermeiden, bleibt nichts anderes übrig, als die
Zuschläge nach der ursprünglichen Steuervorschrcibung zu berechnen. Dies empfiehlt
sich auch deshalb, weil die Höhe der Zuschläge in derselben Steuergeineinde stark
wechselt, so daß eine Vorausberechnung der Stenerbelastung nicht möglich ist.
Bis jest wurde nur die Möglichkeit ins Auge gefaßt, daß bei der staat-
lichen Gebäudesteuer mit Rücksicht auf die Stärke der Verbauung der Grund
flächen Abstufungen gemacht werden. Es kann aber auch eine znr Erhebung von
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i i
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Braun to» Fernwahl.
Zuschlägen zur Gebäudestcuer berechtigte autonome Körperschaft durch die
Gestaltung dieser Erhebung auf die Bauneise und die Intensität der Verbannng
einwirten. Es ist wohl hergebracht, daB die Zuschläge von der Steuer gleichmäßig
ohne weitere Unterscheidung erhoben werden, so daß eine Abstufung der Zuschläge
bei den Gebändesteuern nach Maßgabe der Verbauung nicht gut möglich wäre,
doch steht es den autonomen Körperschaften frei, von den ihnen znkommenden
Beträgen Nachlässe zu gewähren, und sie können dies auch bei den Gebäuden
tun, die infolge der geringen Verbauung der Grundfläche besser den sanitären
Anforderungen entsprechen. So kann z. B. eine Gemeinde, die einen SJOproz.
Zuschlag zur Hanszinssteuer einhebt, abgestnfte Nachlässe für einzelno Häuser
gewähren, indem sie z. B. auf 25 Pro:, der ihr zukommenden Summe verzichtet
Natürlich würden dadurch die Gemeindeeinnahinen sinken. Da die meisten
Gemeinden in ungünstiger finanzieller Lage sind, könnten sie aber auf diese
Hingänge nicht verzichten, ohne dafür Ersatz zu erhalten. Dieser kann entweder
in der Eröffnung oder Steigcrnng anderer Einnahmequellen bestehen oder er
müllte wieder bei der Gebäudesteuer gesucht werden. Dies könnte nur durch
Erhöhung des Prozentsatzes des Gemeindezuschlages erzielt werden. Würde
z. B. bei einem 20proz. Gemeiudezuschlag ein Nachlaß bis zn 25 Proz. gewährt
werden, so müßte dieser entsprechend erhöbt worden; wenn der Ausfall wirklich
25 Proz. betrage, was in der Wirklichkeit nicht leicht der Fall sein dürfte,
müßte die Gemeinde ihren Zuschlag zur Staatssteuer auf 26' 7 Proz. erhöhen.
Eine Einflußnahme auf die Bauweise ist hei dieser Art der Steuererhebung
natürlich nnr durch Nachlässe möglich, während Zuschläge nicht in Anwendung
kommen können. Doch kann der verschiedenen Beiastungsfähigkeit der Hauszins-
steuer und der 5 proz. Steuer dadurch Bechnung getragen werden, daß der
Gemeindeznschlag bei der 5proz. Steuer bedeutend höher angesetzt wird.
Faßt man das Ergebnis der vorliegenden Arbeit zusammen, so ist zunächst
zu betonen, daß die Förderung der Hygiene durch die Abstufung der Gebände-
steuern nur Nebenzweck sein kann. Boi der Durchführung dieser Abstufung ist
daher alles zu vermeiden, was den regelmäßigen Steuerdienst erschweren könnte,
und der Geschäftsgang möglichst einfach zu gestalten, damit jede nicht unbedingt
nötige Mehrarbeit erspait werde. Wird die Abstufung der Gebäudestener in
zweckmäßiger Weise durchgeführt, so wird den Baubehörden und allen Instanzen,
welche sich mit Rekursen in Baukonsensangelegenheiten zu befassen haben, viel
Arbeit erspart, die Rente der Lage wenigstens in den Fällen einer stärkeren
Verbauung durch eine höhere Besteuerung wirksam getroffen, endlich, was das
Ziel dieses Vorschlages ist, die Bauordnung und Baupolizei in ihrem Kampfe
gegen die starke Verbauung kräftig unterstützt, so daß eine ungesunde Ver-
kleinerung der Höfe und Hausgöttern möglichst bintangehalten wird. Mag auch
die praktische Durchführung einer solchen Abänderung der Gebäudesteueni auf
größere Schwierigkeiten stoßen, als es theoretisch scheint, so ist es doch ein
anziehender Gedanke, gleichwie die Katnrkräfte immer mehr zum Wohle der
Menschheit verwendet werden, so auch die gewaltige Kraft des auf den Gebäuden
ruhenden Steuerdruckes in den Dienst der Hygiene zu stellen und durch Erschwerung
der übermäßigen Verbauung für die Assanierung natzbar zn machen.
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BERICHTIGUNG.
Im Y. Heft dieser Zeitschrift, S- 483, im Aufsatz des Herrn Fr. Hertz
über die Diskont- und Devisenpolitik der österreichisch-ungarischen Bank
1892 — 1902 wird eine von mir im Budgetausschnß des Abgeordnetenhauses am
14. März 1894 über die Salinonscheiuoperationen der Bank in den Jahren 1892/93
abgegebene Äußerung angeführt, deren wesentlicher Inhalt übrigens schon früher
in meiner Rede im Abgeordnetenhaus vom 15. Dezember 1893 (255. Sitzung)
enthalten war und welche nach dem angeführten Zitat lautete: „Der Finanz-
minister habe es für seine Pflicht gehalten, die Sache zu ordneD und dies sei
durch ein formales Übereinkommen geschehen, welches die Regierung
mit der Bankleitung abgeschlossen habe, ein Übereinkommen, worin die Bank
ausdrücklich sich dahin erkläre, daß sie in Hinkunft die
beanständete Kskomptierung der Salinenscheine nicht
weiter vornehmen wolle.“
Gegenüber dieser zweifelfreien Erklärung des Finanzministers sei es, heißt
es in jenem Aufsatz weiter, ein absoluter Widerspruch, wenn in dem 1896
erschienenen Dezennalberichtc der Bank unbedingt die Berechtigung der Bank
zu den beanständeten Operationen behauptet und das vom Finanzminister ange-
zogene Übereinkommen einfach in Abrede gestellt wird. Es heiBt dort (S. 46):
,üie Bank hat sich daher weder verpflichtet, noch kann sie sich für die Zukunft
verpflichten, von diesem ihr zustehenden Rechte keinen Gebrauch zu machen;
ob und in welchem Umfange sie davon Gebrauch macht und machen darf,
hängt allein von den verfügbaren Mitteln, der Lage des Geldmarktes und der
zu beobachtenden Zinsfullpolitik ab.*
Diese Stelle im Bankberichte, die bisher meiner Aufmerksamkeit entgangen
war, erscheint als Widerlegung der von mir gemachten Mitteilung über die
Angelegenheit. Cm nun jeden Zweifel über die Richtigkeit meiner Mitteilung zu
beheben, sei hier der Wortlaut des im Finanzministerium über diese Angelegen-
heit aufgenommenen Protokolls abgedruckt:
Protokoll.
Am 21. November 1893 hat im Bureau Seiner Exzellenz des Herrn
k. k. Finanzministers eine Besprechung über die Praxis der Geschäftsleitung der
Österreichisch-ungarischen Bank bei Erwerbung von Salinenscheinen für das
Bankportefeuille stattgefunden, an welcher Besprechung seitens der Österreichisrh-
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Berichtigung.
646
ungarischen Bank Seine Exzellenz der Herr Gouverneur Dr. Kautz und der
Herr Generalsekretär von Mecenseffy, seitens der k. k. Finanzverwaltung
Seine Exzellenz der Herr k. k. Finanzminiater, Herr Sektionschef Freiherr von
N i c b a u e r, Herr Ministerialrat Freiherr von Winterstein und Herr Finanzrat
G r u h e r teilnahinen.
Nachdem der bisherige Vorgang der Bankleitung auf diesem Gebiete vom
juridischen und vom bankpolitischen Standpunkte eingehend erörtert worden war,
erklärte der Herr Generalsekretär unter Zustimmung Seiner Exzellenz des Herrn
Bankgouverneurs, daii die außerordentliche Vermehrung des Besitzes des Bank-
portefeuille an Salinenscheinen in dem Zeiträume 1892/93 ihren wesentlichen
nnd ausschließlichen Grund in der durch die Valutagesetze vom August 1892
geschaffenen währungspolitischen Situation, insbesondere in der durch die Gold-
eingänge bei der Bank hervorgerufenen Vermehrung des Banknotenumlaufes und
in dem Wunsche der Bankleitung hatte, den Zinsfuß nicht allzutief sinken zu
lassen, daß hingegen die Bankleitung in der gegenwärtigen
Situation, abgesehen von der statutenmäßigen Eskomptie-
rungvonSalinenscheinen auf Grundvon Parteieinreichungen
sowie auf Grund von allfälligen normalen Anlagen für den
Reservefonds, eine weitere Ausdehnung der Erwerbung von
Salinenscheinen nicht beabsichtigt.-
Diese Erklärung wurde von Seiner Exzellenz dem Herrn Finanzminister
zur Kenntnis genommen und hierauf das gegenwärtige Protokoll von den
Anwesenden gefertigt.
Wien, am 21. November 1893.
Kautz m. p.
Gouverneur der Österreich i»di-u Dorischen Bank.
Mecenseffy m. p.
OiomUHmtir.
Wien, im Oktober 1903.
E. Plener.
E. Plener m. p.
Niebauer in. p.
Wlntersteln m. p.
l)r. Ignatz Gruber m. p.
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