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Full text of "Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik"

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'^Jrinccton  ’Unitocrsitn. 


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ot* 

(fronomifß- 


ZEITSCHRIFT 


VOLKSWIRTSCHAFT,  SOZIALPOLITIK 

l'SH 

VERWALTUNG. 


Organ  der  Gesellschaft  österreichischer 
Volkswirte. 


H EH  AUS  (iE  (iE  BEN’ 

VON 

EUGEN  V.  BÖHM-BAWEKK,  KAHL  THEODOR  V.  IN AMA  STERNEGG, 
Ernst  y.  peexkk. 

ZWÖLFTER  BAND. 


WIEN  I NI.  LEIPZIG. 
WILHELM  BKA  U M Ü L L E R 

K.  V.  K.  Hop-  V,  L-'XIVKRSITÄTit-BuCIHlANüI-KR. 

1003. 


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Druck  toi  ll'tdolf  34.  R obrer  io  Brünn. 


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Inhalt  des  XII.  Bandes. 

£rltt» 

Dr.  J.  LanJmann:  Die  Xot»  nbankirage  in  der  Schweiz  . l 

H Kizzi:  Daa  österreichische  Gewerbe  im  Zeitalter  de*  Merfcantili.nnn.s TI 

Dr.  Th.  Bresiewicz:  Das  Recht  der  öffentlichen  Arbeiten 141 

Prof.  l)r.  A.  v.  Hai  bau:  Zur  Ausgestaltung  des  rechts-  und  staatswissenschaftlichen 

Studiums  in  Österreich  1 242,843 

Dr.  F.  Frh.  t.  Myrbach -Rheinfeld:  Die  Reform  Jer  österreichischen  Hauszinsateuer  279 
F.  Hertz:  Die  Diskont-  und  Devisenpolitik  der  Österreichisch-ungarischen  Bank 

{1892 — 1902) 463 

Dr.  H.  Schauer:  Die  Gewerbegerichte  in  Österreich 549 

Verhandlungen  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkswirte 102,  306,  383 

K.  Th.  v.  Inama-Sternegg:  August  Meit/,»‘n llo 

Dr.  M.  Mayr:  Über  staatliches  Archivwesen  in  Österreich . 116 

C.  D.  Carusso:  Die  vorgeschlagene  Einlührung  des  Grundbuchsystents  in  Griechenland  321 

R.  Auspitz:  Österreich -Ungarn  und  die  Brüsseler  Zuckerkonvention 409 

Dr.  Fr.  Klein wiicliter:  Die  Landwirtschaft  als  Ausgangspunkt  für  ein  System  der 

politDc  len  Ökonomie 430 

K.  v.  Webern:  Die  Einführung  der  Neunstundenschicht  beim  österreichischen  Kohlen- 
bergbau   527 

Dr.  G.  Lippcrt:  Die  neuen  Triester  Hafenbauten 535 

Dr.  K.  Braun  von  Fernwald:  Abstufung  der  Gebäude-teuer  nach  dem  Mall  der 

Verbauung  der  Grundfläche 581 

E.  v.  PI  euer,  Berichtigung 645 

Literatur: 

Dr.  R.  Mever:  Das  Zeitverhältnis  zwischen  der  Steuer  und  dem  Einkommen  und 

seinen  Teilen.  Plener 120 

B.  Fuiating:  Die  GrundzDge  der  Steuerlehre,  Meyer 122 

Dr.  0.  Müller:  Die  Einkoinmenstcuergeaetzgebung  in  den  verschiedenen  Ländern, 

Reisch 127 

Dr.  K.  Grflnberg:  Die  handelspolitischen  Beziehungen  Österreich-Ungarns  zu  den 

Ländern  an  der  unteren  Donau.  K.  Plener 12S 

M.  Godet;  Dm  Problem  der  Zentialiaatiuii  des  &chfftkeriadii:n  BaakDQteimrfcuttia. 

Dr.  La. ü_diaA»..l> , 131 

Dr.  E.  v.  Halle:  Volks-  und  Seewirtschaft,  Juraschek  134 

Neuere  Literatur  über  Wirtschaftsgeschichte,  Inama-Sternegg: 

A.  v.  Buhne  rin  cg:  Zwei  Kämmereiregister  der  Stadt  Riga 328 

W.  Stic  da:  Die  Anfänge  der  Porzellanfabrikation  auf  dem  Thüringer  Walde  328 
Q.  Brandt.  Studien  zur  Wirtachalts-  und  Verwaltungsgeschichte  der  Stadt 

Düsseldorf  im  19,  Jahrhundert  329 

F.  Lohmann:  Die  staatliche  Regelung  der  englischen  Wollindustrie  vom  15.  bis 
zu  in  15.  Jahrhundert ...... ............... 

.il:W23i3l4  3 I ■ -?69ü 


8*5 1« 

Böhm-Bawcrk:  Kapital  and  Kapitalzins 331 

L.  Braun:  Die  Frauen  frage,  ihre  geschichtliche  Entwicklung  und  ihre  wirtschaftliche 

Seite,  Bauchberg 331 

K.  Hugo:  Die  deutsche  StÄdteveiwaltung,  Bauchberg 286 

Dr.  Zacher:  Die  Arbeiterversicherung  im  Auslände.  Kogler 337 

M.  Bellom:  Les  lois  d'assurance  onvriere  a l’etranger,  Kogler 837 

Dr.  G.  Sydow:  Theorie  und  Praxis  in  der  Entwicklung  der  französischen  Staats- 
schuld seit  dem  Jahre  1870,  Braun  von  Fernwahl 339 

G.  Brodnitz:  Vergleichende  Studien  über  Betriebsstatistik  und  Betriebsformen  der 

englischen  Textilindustrie,  Zifcek 340 

L.  v.  Amran:  Englands  Land-  und  Seepolitik  und  die  orientalische  Frage  nebst 

Vorschlägen  in  Betreff  der  Meerengen  und  Isthm  n d- s Mittelländischen  und 

de»  Koten  Meere»,  L.  E.-M.  ...  342 

Dr.  A.  Buchenberger:  Finanzpolitik  und  Staatshaushalt  im  GrvUlierzogtum  Baden 

iii  den  Jahren  1850 — 1900,  B.  Piene r 444 

M.  Schippe!:  Zuckerproduktion  und  Zuckerprliuicn  bis  zur  Brüsseler  Konvention 

1002,  E.  Planer 444 

W.  Sombart:  Der  moderne  Kapitalismus,  Hilfe rding  44*1 

Püttmann;  Die  deutsche  Arbeitervemcherung,  Kögler 453 

K.  Funke  und  \V.  Hering:  Die  reichsgeaetzliche  Arbciterversioherung  Kranken-, 

Unfall-  und  Invalidenversicherung).  Kögler 4*3 

V.  Heller:  Der  Getreidehandel  und  »eine  Technik  in  Wien 454 

Dr.  X.  K.  Weill:  Die  Solidarität  der  Geldmärkte.  Braun  von  Fernwald  . . . .455 
Cli.  Znehlin:  American  Municipal,  Progress,  chaptera  in  mnnicipa!  soci(dogv, 

Braun  von  Fernwold 456 

Dr.  J.  Runzel:  Studien  zur  Sozial-  und  Wirtschaftspolitik  Ungarns,  Twardowaki  . 457 
Dr.  J.  Kün:  Sozialhistorische  Beiträge  zur  Landarbeiterfrage  in  Ungarn,  Twar- 

dowski 457 

Dr.  Th.  Spickermann:  Der  Teilbau  in  Theorie  und  Praxis,  Grünberg 459 

Dr.  L.  Sinzheim  er:  Die  Atbeiterwohnungsfrage.  Griinborg 462 

Ed.  Bugno:  Die  Rochtssprechnng  de»  Verwaltungsgerichtshofes  auf  den»  Gebiete 
des  Gesetzes  von»  25.  Oktober  1896,  R.-G.-Bl.  Nr.  220,  betreffend  die  direkten 
Personalateuern  seit  Beginn  der  Wirksamkeit  des  Gesetzes  (1898 — 1901), 

Reisch 543 

Cb.  Booth:  Life  and  Labour  of  tbe  pcople  in  London,  Ziiek 545 

Zeitscliriften-Übcrsicht 140 


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DIE  NOTENBANKFRAGE  IN  DER  SCHWEIZ. 


GESCHICHTE  UND  GEGENWÄRTIGER  STAND. 

VON 

D«-  JI  LRS  LANDMANN  (BASEL). 


Die  drei  Grundfragen  der  modernen  Notenbankpolitik:  Hankvielbeit 
oder  Monopolbank.  Bankfreiheit  oder  Bankgebundenheit,  Staatsbank  oder 
Privatbank,  sind  fflr  das  Deutsche  Reich  vor  einem  Vierteljahrhundert  gelöst 
worden.  Den  Vertretern  des  Bankföderalismus  stand  im  Reichstage  eine 
zielbewußte,  kompakte  Mehrheit  gegenüber,  die  mit  aller  Entschiedenheit 
für  die  Schaffung  eines  zentralen  Noteninstitutes  eintrat.  Selbst  die  Minder- 
heit des  Reichstages  wagte  es  nicht,  prinzipiell  gegen  die  Zentralbank  auf- 
zutreten: sie  führte  politische  und  taktische  Argumente  für  ihre  Haltung 
an.  und  wenn  der  Reichstag  schließlich  neben  der  Reichsbank  eine  Reihe 
einzelstaatlicher  Institute  fortbestehen  ließ,  so  darf  darin  weniger  eine  Kon- 
zession an  das  System  der  Bankvielheit  als  ein  Entgegenkommen  an  den 
noch  starken  staatlichen  Partikularismus  erblickt  werden.  Das  System  der 
Bankfreiheit  ist  aber  schon  durch  das  erste  Bankgesetz  des  Deutschen 
Reiches,  das  Gesetz  vom  21.  Dezember  1871.  das  fast  unverändert  die 
Bestimmungen  des  Bankgesetzes  des  Norddeutschen  Bundes  vom  27.  März 
1870  auf  das  Deutsche  Reich  übertrug,  für  immer  verlassen  worden. 

Der  von  den  Theoretikern  längst  anfgestellte  Grundsatz,  das  System 
der  Bankfreiheit  entspreche  dem  Aufangs-,  nicht  aber  dem  Reifestadium 
des  Notenbankwesens,  ist  inzwischen  auf  der  ganzen  Linie  auch  in  der 
Gesetzgebung  zum  Durchbruche  gelangt  und  für  eine  Rückentwicklung 
fehlen  selbst  die  leisesten  Ansätze.  Auch  die  in  Österreich-Ungarn  vor- 
handenen Bestrebungen  bezwecken  weder  die  Wiedereinführung  der  Bank- 
vielheit noch  der  Bankfreiheit.  sondern  lediglich  eine  Änderung  der  Or- 
ganisation der  Österreichisch-Ungarischen  Bank  nach  einer  dualistischen 
oder  föderalistischen  Richtung  hin.  und  diese  letzteren  haben,  wenigstens 
für  die  nächste  Zeit,  keinerlei  Aussicht  auf  Verwirklichung.  Auf  dem 
europäischen  Kontinente  ist  die  Schweiz  das  eiuzige  Land,  das  in  seiner 
Bankverfassung  bis  auf  den  heutigen  Tag  das  System  der  Baukvielheit  und 
mit  einigen  Beschränkungen  auch  das  der  Bankfreiheit  beibehielt,  und  die 
Ergebnisse  dieser  Bankpolitik  erscheinen  uns  auch  außerhalb  der  Landes- 
grenzen der  Beachtung  wert. 

Zelt*chrift  für  Volkswirtschaft,  Social j>olmk  und  Verwaltung.  XII.  Band.  1 


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2 


Landmann. 


Diese  Streitfragen  wurden  aber  von  einer  neuen  abgelöst;  die  Erkenntnis 
der  Snperiorität  des  Systems  der  Zentralbanken  schlietlt  noch  in  keinerlei 
Weise  eine  Antwort  auf  die  Frage  ein,  ob  das  Monopol  der  Notenausgabe 
durch  den  Staat  Reibst  ausgeübt  oder  ob  es  einer  Privatbank  tibertragen 
werden  solle.  Denn  aus  der  Tatsache,  daß  mit  einziger  Ausnahme 
Rußlands,  Schwedens,  Finnlands  und  Bulgariens  alle  europäischen  zentralen 
Notenbanken  auf  privater  Grundlage  errichtet  aind,  dürfen  nach  unserem 
Dafürhalten  keine  weiteren  Schlüsse  gezogen  werden  als  eben  diese,  daß 
die  Mehrzahl  der  Emissionsbanken,  vor  allem  die  Bank  of  England  und  die 
Banque  de  France,  zu  einer  Zeit  gegründet  worden  sind,  da  die  wirtschaft- 
liche Interessensphäre  und  der  wirtschaftliche  Interessenkreis  des  Staates 
enger  gezogen  waren,  als  dies  heute  der  Fall  ist,  und  daß  die  Ausgabe 
von  Banknoten  lange  schon,  wie  die  Ausstellung  von  Wechseln,  ein  Zweig 
des  privaten  Bankgeschäftes  war,  ehe  die  Banknote  den  Charakter  des  vor- 
nehmsten Geldsurrogates  annahm,  den  sie  heute  trägt.  Gewiß  sind  auch 
diese  Erwägungen  nicht  geeignet,  das  unbefangene  Urteil  für  eines  der 
beiden  Systeme  der  Durchführung  des  Banknotenmonopols  irgendwie  zu 
beeinflußen;  sie  sollen  lediglich  audeuten,  daß  die  gegen  das  System  der 
Staatsbank  vorgebrachten  historischen  Argumente  nicht  zwingender  Natur 
sind.  Und  wenn  auch  rflckhaltslos  zugegeben  werden  muß,  daß  im 
Deutscheu  Reiche  in  den  Jahren  1 889 ')  und  1899,’)  in  Frankreich  im 
Jahre  1897,’)  anläßlich  der  parlamentarischen  Debatten  über  die,  gelegent- 
lich der  Verlängerungen  der  Privilegien  der  zentralen  Notenbanken  dieser 
Länder  zum  Ausdruck  gekommenen  Bank-VerstaaUichungstendenzen,  sehr 
beachtenswerte  Argumente  gegen  das  System  der  Staatsbank  vorgebracht 
wurden,  so  glauben  wir  doch  nicht,  daß  die  Frage  damit  als  endgültig 
erledigt  zu  betrachten  ist.  Wir  neigen  vielmehr  zur  Überzeugung  bin, 
daß  die  Ablehnung  der  Verstaatliclmngsanträge  in  Frankreich  und  Deutsch- 
land ihren  Grund  nicht  ausschließlich  in  Erwägungen  sachlicher  und  bank- 
technischer Natur  findet,  daß  vielmehr  ihr  Motiv  vor  allem  in  der  Be- 
fürchtung zu  suchen  ist,  es  könnte  die  Verstaatlichung  der  Zentralbank 
ihre  Auslieferung  an  eine  der  politisch  einflußreichsten  wirtschaftlichen 
Interessengruppen  nach  sich  ziehen,  und  es  erscheint  uns  aus  diesem  Grunde 
der  bisherige  Verlauf  des  Streites  um  die  Frage:  Staat«-  oder  Privatbank?  in  der 
Schweiz,  wo  für  derartige  Befürchtungen  die  Voraussetzungen  in  nicht  gleich 
hohem  Grade  vorliegen,  wie  dies  in  Frankreich  oder  Deutschland  der  Fall  ist, 
eines  ziemlich  hohen  Grades  von  allgemeinem  Interesse  nicht  zn  entbehren. 

Als  das  dritte  Moment  endlich,  das  uns  veranlaßt,  der  schweizerischen 
Notenhankfrago  eine  Ober  die  Grenzen  der  Eidgenossenschaft  hinausgeheude 

')  Nasse,  Dl«  Kündigung  des  Privilegiums  der  Reichsbank  nnd  der  Privat- 
notenbanken,  Preuflische  Jahrbücher,  1889,  II.;  v.  Philippovich,  Die  Verlängerung 
dea  Reiclisbankprivilegiums,  Conrads  Jahrbücher,  N.  F.,  XX,  Rd  , S.  275  ff. 

Jj  Helfferich,  Zur  Erneuerung  des  deutschen  liankgesetzes,  Leipzig,  1899.  S.5I  ff.; 
Landtnann.  Zur  Abänderung  des  deutschen  Rankgesetzes.  Kiel  nnd  Leipzig,  1899,  S.  11  ff. 

*j  Charles  Brouillet,  Le  nouveau  rdgime  de  la  Banque  de  France,  Revue 
d'Economie  politique,  1898,  XIII.  p.  817  sniv. 


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Die  Notenbankfrage  in  der  Schweiz. 


3 


Bedeutung  beizulegen,  möchten  wir  die  währungspolitische  Seite  der  Frage 
bezeichnen.  Es  ist  allgemein,  auch  im  Auslande,  bekannt,  daß  die  Schweiz 
seit  längerer  Zeit  und  in  stets  steigendem  Grade  die  Unzutritglichkeiten 
ihrer  Zugehörigkeit  zur  lateinischen  Münzkonvention  empfindet.1)  Wenn  sie 
von  dem  ihr  vertraglich  zustehenden  Kündigungsrechte  bisher  keinen 
Gebrauch  machte,  so  liegt  die  Erklärung  hierfür  zum  Teile  gewiß  in  der 
Tatsache,  daß  die  für  die  Schweiz  günstigen  Bestimmungen  der  Liqui- 
dationsklausel  des  lateinischen  MOnzbundes  es  ihr  gestatten,  ohne  Gefährdung 
ihrer  eigenen  Lage  die  Kündigung  bis  zum  Augenblicke  zu  verschieben, 
wo  sie  für  die  Durchführung  einer  Währungsreform  genügend  gerüstet  ist; 
insbesondere  übt  sie  aber  diese  Zurückhaltung  auch  infolge  von  Erwägungen 
haukpolitischer  Natur.’)  So  oft  bisher  die  Frage  einer  Währungsreform  in 
den  eidgenössischen  Bäten  zur  Sprache  kam.  wurde  stets  von  allen  Seiten 
anerkannt,  daß  der  Austritt  der  Schweiz  aus  der  lateinischen  Münzkon- 
vention und  ihr  Übergang  zur  Goldwährung  außer  Zweifel  stehe  und 
lediglich  eine  Frage  der  Zeit  sei.  daß  aber  die  nötigen  Vorarbeiten  nicht 
eher  in  Angriff  genommen  werden  können,  als  bis  an  die  Stelle  des  dezen- 
tralisierten Notenbanksystems  eine  starke  Zentralbank  getreten  sei,  die 
durch  ihre  Diskonto-  und  Valutapolitik  genügende  Sicherheiten  für  eine 
erfolgreiche  Durchführung  der  Reform  böte.’)  Die  in  den  Kreisen  der 
schweizerischen  Wirtschaftspolitiker  vorherrschende  Ansicht  geht  dahin,  daß 
unmittelbar  nach  der  Lösung  der  Bankfrage  die  Frage  des  Austrittes  der 
Schweiz  aus  der  lateinischen  Münzkonvention  in  den  Vordergrund  tritt,  und  es 
unterliegt  wohl  keinem  Zweifel,  daß  der  Eintritt  dieses  längst  schon  erwarteten 
Ereignisses  geeignet  sein  könnte,  auch  die  Frage  der  Liquidation  des  lateinischen 
Münzbnndes  in  den  Vordergrund  zu  rücken.  Daß  aber  von  der  Art  und  Weise 
der  Lösung  dieser  Frage  die  weitere  Entwickelung  des  Wäbrungsproblems 
sehr  wesentlich  abhängt,  braucht  wohl  nicht  weiter  ausgeführt  zu  werden. 

Überblicken  wir  nun  an  dieser  Stelle  den  Komplex  der  Faktoren, 
von  welchen  der  Verlauf  der  schweizerischen  Bankfrage  bisher  beherrscht 
war.  und  deren  zum  Teile  entgegenstehende  Interessen  es  zur  Folge 
hatten,  daß  sie  bis  heute  eine  Frage  bleiben  konnte,  so  finden  wir,  daß 
hier  die  gleichen  Interessengegensätze  im  Spiele  sind,  die  auch  sonst 
einem  großen  Teil  der  politischen  und  wirtschaftspolitischen  Entwickelung 
der  Schweiz  ihre  Signatur  aufdrücken:4)  der  Antagonismus  zwischen  den 

’i  Amtlich.»  stenographische»  Bulletin  der  schweizerischen  Bundesversammlung, 
Dezembersession  1897.  8.  11170  11. 

a>  Bericht  des  eidgenössischen  Finanzdopartements  für  daa  Jahr  1889;  Schweize- 
risches Finauzjahrbucli  1900/01.  S.  11311. 

Stenographisches  Bulletin,  DezeinberscBsion  1897,  S.  1354,  1382;  Charles 
Scherrer,  La  nationalisatiou  du  Systeme  mondtaire  suisse  et  l'adoption  de  l'etalon  d’or, 
Geneve,  1893;  Crainer-Frey,  Iler  gegenwärtige  Stand  der  Münzfrage  mit  besonderer 
Berücksichtigung  der  schweizerischen  Verhältnisse.  Bern  1894. 

*j  Gustav  Colin,  Die  Bundesgesetzgebung  der  Schweiz  unter  der  neuen  Ver- 
fassung. Supplement  III  der  Jahrbücher  für  Nationalökonomie  und  Statistik,  Jena  1879 ; 
desselben  Darstellung  der  sehweizerisenen  Kisenbahnpolitik  im  Archiv  für  Eisenbahn- 
wesen, 1898,  8 1124  ff. 

1* 


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4 


Lamlmann. 


Anforderungen  der  obersten  Einheit  des  Bundesstaates  und  den  Sonder- 
bedürfnissen der  Kantone.  Eine  zentrale  Notenbank  und  eine  Bundesbank 
begegnen  auf  der  einen  Seite  der  Opposition  der  Kantone  gegen  die  Durch- 
führung des  Banknotenmonopols,  der  die  Befürchtung  zu  Grunde  liegt,  daß 
ihre  ohnehin  ungünstige  finanzielle  Lage  dadurch  noch  ungünstiger  beeinflußt 
werden  könnte,  auf  der  andern  Seite,  in  den  Kreisen  der  Föderalisten  der 
romanischen  Schweiz  und  der  konservativen  Parteien  der  deutschen  Schweiz,  der 
Abneigung  gegen  jede  weitere  Erstarkung  der  Machtbefugnisse  des  Bundes. 

Zu  diesem  Gegensätze,  der  den  Prozeß  der  Zentralisierung  des 
Notenbankwesens  in  der  Schweiz  verlangsamt,  tritt  ein  zweiter  hinzu,  auf 
dem  die  Schwierigkeit  einer  Entscheidung  der  Frage:  Staats-  oder  Privat- 
bank? beruht,  der  Gegensatz  zwischen  den  linksstehenden  politischen 
Parteien,  die  prinzipiell  den  wirtschaftlichen  Aufgabenkreis  des  Staates  viel 
weiter  ziehen,  als  die  Gruppen  der  Konservativen  und  das  liberale  Zentrum 
und  die  die  zentrale  Notenbank  als  reine  Staatsbank  organisiert  zu  sehen 
wünschen,  während  die  letzteren,  soweit  sie  Bich  mit  dem  Gedanken  der 
Monopolisierung  der  Banknotenausgabe  überhaupt  befreunden  konnten,  dieses 
Monopol  für  ein  privates  Bankinstitut  in  Anspruch  nehmen.  So  stehen  die 
antietatistischen  und  die  föderalistischen  Strömungen  der  Zentralisierung 
des  Notenbankwesens  in  der  Schweiz  entgegen. 

Die  Institution  des  Referendums  endlich  bringt  alle  diese  Gegensätze 
nicht  nur  viel  schärfer  zum  Ausdrucke,  sondern  erschwert  auch  deren 
Überwindung.  Das  Referendum  ist  nicht  nur  eine  Instanz  mehr,  deren 
Zustimmung  es  zu  erlangen  gilt,  es  ist  auch  gleichzeitig  diejenige  Instanz, 
die  sich  bei  ihren  Entscheidungen  durch  die  parlamentarische  Diplomatie 
nicht  beeinflussen  läßt  und  auf  die  gegenseitigen  Konzessionen  der  par- 
lamentarischen Parteien  keinerlei  Rücksicht  nimmt.1) 

Wir  hielten  diese  kurzen  Ausführungen  für  notwendig,  um  das 
politische  Relief  der  schweizerischen  Bankfrage  anzudeuten  und  die  Ge- 
sichtspunkte knapp  hervorzuheben,  aus  welchen  die  einzelnen  Etappen 
ihrer  Entwicklung  beurteilt  werden  wollen. 

1.  Die  Schweizerischen  Notenbanken  vor  Erlaß  des  Bankgesetzes 
vom  8.  März  1881. 

Die  erste  schweizerische  Notenbank,  die  gleichzeitig  auch  das  Recht 
für  sich  in  Anspruch  nehmen  darf,  als  erste  reine  Staatsbank  Europas 
bezeichnet  zu  werden,  ist  die  im  Jahre  1834  gegründete  Kantonalbank  von 
Bern:  es  folgten  dann  in  rascher  Folge  die  Bank  in  Zürich  (1836),  die  Bank 
in  St.  Gallen  1 1837),  die  Bank  in  Basel  (1844)  und  in  der  romanischen  Schweiz 
die  Bsnque  du  Commerce  (1843)  und  die  Ilanque  de  Gcnhve  (1848).  Die 
Gesetzgebung  über  das  Notenbankwesen  war  Sache  der  Kantone.  Im  allge- 
meinen begnügte  man  Bich  mit  der  Vorlage  der  Baukstatuten  und  nur  in 
manchen  Kantonen  setzte  man  zur  Beaufsichtigung  der  Notenbanken  einen 
Bankrat  ein.  ln  keinem  Kanton  wurde  für  die  im  Kanton  domizilierte 

’)  Curti,  Die  schweizerischen  Volksrechte.  IS48 — J900,  Bern,  1900,  S.  02  ff. 


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Di«  Notäobttnhfrage  in  der  Schweiz 


a 


Notenbank  ein  Spezialgesetz  erlasse«,  die  meisten  begnügten  sich  damit, 
einzelne  Bestimmungen  statutarisch  festzulegeu  und  die  Genehmigung  der 
Bankstatuten  galt  eo  ipso  als  Gewährung  des  Notenemissionsrechtes. 

In  Zürich,  Bern,  Luzern,  St.  Gallen,  Graubünden,  Thurgau  haftete 
der  Kanton  solidarisch  für  alle  Verbindlichkeiten  seiner  Kantonalbank;  in 
Solothurn,  wo  die  Bank  einen  gemischten  Charakter  hatte,  haftete  der 
Kanton  in  der  Höhe  der  Hälfte  der  Notenzirkulation.  In  den  meisten 
Kantonen  wurde  eine  spezielle  Notensteuer  erhoben,  von  welcher  die  kanto- 
nalen Staatsbanken  meistens  befreit  waren  und  die  für  die  Privatbanken 
zwischen  */, — 1 Proz.  der  Notenemission  p.  a.  schwankte.  Nur  der  Kanton 
Neuenburg  sah  von  einer  direkten  Besteuerung  der  Notenzirkulation  ab, 
wogegen  die  Bank  verpflichtet  wurde,  10  Proz.  des  Reingewinnes  an  die 
Kantonalkasse  abzuführen.  Die  Höhe  der  Notenemission  und  die  Art  der 
Deckung  war  von  Kanton  zu  Kanton  verschieden  geregelt.1) 


Kanton 

Umfang  der  Notenemission 

Xotendeckuug 

Bern 

— 

Zürich 

- 

| '/ 3 der  Notenzirkulation  soll  stets 
in  der  Kasse  vorrätig  sein. 

Luzern 

— 

40  Proz.  der  Notenzirkulation  j 
sollen  metallisch  gedeckt  sein,  j 

Freiburg 

Die  Kantonalbank  darf  Noten 
bis  zur  Höhe  des  Bankkapitals, 
die  Privatbanken  bis  J/,  des 
eingezahlten  Kapitals,  die  Caiase 
d'Amortissement  de  la  Dette 
Publique  bis  */3  des  Dotations- 
kapitals emittieren. 

1 

Basel-Land 

Der  Betrag  der  umlaufenden 
Banknoten  und  Kassenscheine 
soll  10  Proz.  des  Bankkapitais 
nicht  übersteigen. 

7*  der  Zirkulation  soll  metallisch, 

2 3 durch  Wechsel  gedeckt  sein,  j 

! Schaffhausen 

1 

Wird  durch  den  Großen  Rat 
bestimmt. 

- 

Graubünden 

— 

Die  Kantonalbank  ist  verpflichtet,  i 
stete  500.000  Franca  in  Gold  in  j 
ihren  Kassen  vorrätig  zu  halten,  j 

Aargau 

Bis  '/,  des  Bankkapitals. 

Thurgau 

Für  die  K&ntonalbank  unbe- 
schränkt. für  die  Hypotheken- 
bank 760.000  Francs. 

7«  der  RmisKioiissumine  soll  stets  ■ 
in  der  Kasse  vorrätig  sein.  j 

l)  X.  Sandoz,  Les  Banques  suisaes  d'emission  avant  l’entröe  en  vigueur  de  la  loi 
du  8 mar s 1881,  Zeitschrift  für  schweizerische  Statistik,  1895,  S.  189  fl.;  Fick,  Die 
schweizerische  Bankgesetzgebung,  Hildebrands  Jahrbücher.  I.  Bd„  S.  79  ff. 


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6 


Liindmann. 


Kanton  Umfang  der  Notenemission  Notendeckung 


Tessin  Der  Betrag  der  Notenzirkulation  — 

und  der  kurz  fälligen  Verbind- 
lichkeiten soll  das  Dreifache  drs 
Bank-kapital*  nicht  übersteigen. 

Waadt.  Für  die  Kantonalbank  Maxim ntn  j Xotenzirkulatinn  der  Kantonal- 

12  Mill.  Francs.  j bank  zu  */.,  die  der  Privat- 

I banken  zur  Hälfte  metallisch  zu 
decken. 


Neucbätel  Das  Doppelte  des  Bonkkapitala.  I 


I 


Infolge  dieser  mikontrollierbaren  und  uneinheitlieliun  Bankorganisation 
vermochten  sich  die  Noten,  an  deren  Solidität  inan  nicht  mit  Unrecht  Zweifel 
hegte,  nur  schwer  einzubärgeru;  sie  konnten  außerhalb  des  Heimats- 
kantons entweder  Oberhaupt  nicht  oder  nur  gegen  ein  Agio  ausgegeben 
werden.  Der  Umfang  der  Notenzirkulation  erreichte  denn  auch  nur  eine 
sehr  bescheidene  Höhe:  bei  der  Bank  in  St.  Gallen  in  den  ersten  Jahren 
ihres  Bestehens  rnnd  180.000 — 850.000  fl.,  bei  der  Bank  in  Zürich 
300.000—500.000  fl.  Die  Zahl  der  Emissionsbanken  stieg  in  einem  viel 
rascheren  Tempo  als  der  Umfang  der  Notenzirkulation. 1 


1848 

1860 

1862 

1870 

Zahl  der  Banken 8 

15 

16 

24 

Umfang  der  Notenzirkulation  in  Mill.  Kranes  7 

10 

18 

18 

Notenumlauf  per  Kopf  der  Bevölkerung  in  Kranes  8-4* 

898  j 

4-91 

6'76 

Unter  den  Firmen,  die  im  Zeiträume  bis  zum  Jahre  1870  das  Noten- 
emissionsrecht  auszuüben  begannen,  befanden  sich  solche,  die  der  ganzen 
Anlage  ihres  Geschfiftskreiscs  nach  von  vornherein  den  Voraussetzungen 
für  eine  banktechnisch  korrekte  Anlage  der  Notenemission  nicht  entsprechen 
konnten.  Es  mag  genügen,  an  die  als  Träger  des  Noteneinissionsrechtes  so 
wenig  geeigneten  Finnen  zu  erinnern,  wie  es  z.  B.  die  „Tburgauische 
Hypothekenbank  in  Frauenfeld-,  die  .Spar-  nnd  Leihkasse  von  Nidwalden  in 
Stans*  und  nicht  zuletzt  die  .Caisse  d’amortissement  de  la  Dette  Publique 
du  Canton  de  Fribourg“  gewesen  ist.  Die  Bankfreiheit  war  so  vollkommen, 
daß  sogar  ein  Privatbankier  (die  Finna  Marquardt  & Comp,  in  Bern  ) unge- 

')  Regclj',  Oie  Bewegung  für  die  Errichtung  einer  «chweizeriachen  Bundesbank, 
Conrads  Jahrbücher,  III.  F.,  X.  Bd.,  S.  419  ff. 


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Die  Notenbankfrage  in  der  Schweiz 


7 


hindert  eine  zeitlang  Noten  ausgeben  konnte  und  diesen  Geschäftskreis  nur 
wegen  mangelnder  Rentabilität  aufgab. 

Die  Deckung  der  von  diesen  Instituten  ausgegebenen  Noten  bestand, 
neben  einer  ganz  minimalen  Metallreserve,  nur  zian  geringsten  Teile  aus 
Diskontowechseln  und  sicheren  Lombardforderungen;  zum  weitaus  größten 
Teile  bestand  sie  aus  Hypothekarforderungen,  aus  Staatsobligationen,  von 
welchen  sich  besonders  die  hochverzinslichen  spanischen  einer  besonderen 
Beliebtheit  erfreuten,  aus  schwerfälligen,  nur  auf  kleinste  Märkte  angewiesenen 
Industrieaktien-  und  -Obligationen,  und  bei  einzelnen  Instituten,  die  das 
Pfandleihgewerbe  betrieben,  aus  den  Pfandbeständon. 

Der  erste  Schritt  zu  einer  Sanierung  der  Verhältnisse  geschah  durch 
das  im  Jahre  1862  abgeschlossene  Konkordat,1)  durch  welches  sich  die 
liquiden  Banken  verpflichteten,  ihre  Noten  einander  ohne  Abzug  in  Zahlung 
zu  nehmen  und  untereinander  eine  Art  Giro-  und  Mandatverkehr  einzu- 
richten. Der  Abschließung  des  Konkordats  lag  die  Absicht  zu  Grunde,  den 
Zustand  zu  beseitigen,  daß  die  Noten  einer  Bank  auf  einem  anderen  Platze 
nur  gegen  Aufgeld  eingelöst  werden  konnten;  die  Erfüllung  dieser  Aufgabe 
wurde  aber  dem  Konkordate  außerordentlich  durch  die  feindselige  Haltung 
erschwert,  welche  die  in  das  Konkordat  nicht  aufgenommenen  kleineren 
Institute  der  Ost-  und  Zcntralsehweiz  den  Konkordatsbanken  gegenüber 
einnahinen. 

Erst  die  Kriegsereignisse  des  Jahres  1870  gaben  den  Anstoß  zum  Ver- 
suche einer  bundesrechtlichen  Regelung  des  schweizerischen  Notenbankwesens. 
Der  vollständige  Mangel  an  Spannfähigkeit  des  schweizerischen  Notenumlaufes, 
mit  der  von  Grund  aus  verfehlten  Politik  der  Banken  zusammenwirkend,  führte 
zu  einer  nie  vorher  im  Lande  erlebten  Geldklemme.  Die  Banken  lösten 
selbst  die  geringsten,  ihnen  präsentierten  Beträge  ihrer  Noten  nur  wider- 
willig und  mit  Schwierigkeiten  ein,  erhöhten  ihre  Diskontsätze  bis  auf 
8 Pro?...  verweigerten  dabei  aber  jede  Diskontierung  und  waren  dennoch 
selbst  in  einer  schwierigen  Lage,  da  die  Geldreservoire  der  Schweizer 
Banken,  die  der  Schweiz  benachbarten  Filialen  der  Banque  de  France  und 
die  großen  Pariser  Geldinstitute,  die  bisher  das  Portefeuille  der  schweize- 
rischen Banken  willig  rediskontierten  und  den  Gegenwert  in  Gold-  und  Silber- 
raünzeii  nach  der  Schweiz  schickten,  teils  infolge  der  großen  Anforderungen, 
die  die  französische  Regierung  an  den  Geldmarkt  stellte,  teils  aus  Furcht 
vor  Ausschreitungen  des  Pariser  Pöbels,  diesen  Verkehr  plötzlich  unter- 
brachen und  den  schweizerischen  Geldmarkt  seinem  eigenen  Schicksal 
überließen.*) 

Die  Banken,  die  in  erster  Linie  auf  die  Sicherstellung  ihrer  eigenen 
Lage  bedacht  waren,  suchten  in  jeder  Weise  ihre  Situation  zu  stärken;  sie 
suchten  alle  möglichen  Positionen  zu  reduzieren,  wodurch  sie  die  wenigen 

’)  Burckhardt-Biaehoff,  Die  Zettölbanken  in  der  Schweiz.  2.  Auflage,  Basel, 
1881,  S.  10  ff. 

*)  Drei  Gutachten  Ober  daa  schweizerische  Banknotenwesen  (erstattet  von  Keer- 
Herzog,  Küttimann,  Keller  und  Pictct).  Bern.  1871,  S.  19  ff. 


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8 


Lamlniaim. 


noch  flüssigen  Mittel  dem  Markte  entzogen,  anderseits  lehnten  sie  es  aber 
vom  ersten  Tage  der  Krisis  an  ab,  auch  gegen  die  besten  Sicherheiten  Kredit 
zu  gewahren.  Die  Geldknappheit  stieg  zeitweise  zn  einer  Höhe,  daß  selbst 
für  Lohiiaiiszahlungen  kein  Geld  zu  haben  war,  es  kam  in  mehreren  Kantonen 
zu  behördlichen  M .ratoricn  und  zur  Schaffung  privater  Geldsurrogate  und 
erst  die  vom  Dundesrate  angeordnete  Tarifierung  englischer  Goldmünzen 
konnte  einem  weiteren  Umgreifen  der  Krise  Einhalt  gebieten. 

In  einer  Reihe  dem  Bundesrate  erstatteter  Gutachten  und  Berichte 
kam  die  allgemeine  Überzeugung  zum  Ausdruck,  daß  der  Wiederholung 
derartiger  Vorkommnisse  für  die  Zukunft  vorgebeugt  werden  müsse,  und 
selbst  diejenigen,  die  sonst  jeden  Eingriff  der  staatlichen  Gesetzgebung  in 
das  Gebiet  des  wirtschaftlichen  Verkehres  am  entschiedensten  ablehnten, 
gaben  zu.  daß  dieses  Ziel  nur  durch  eine  für  das  ganze  Gebiet  der 
schweizerischen  Eidgenossenschaft  einheitliche  Regelung  des  Notenbank- 
wesens erreichbar  sei.  Zwei  verschiedene  Gesichtspunkte  kamen  in  diesen 
Eingaben  und  Berichten  zum  Ausdruck.  Die  einen  erblickten  die  Haupt- 
aufgabe der  Gesetzgebung  in  der  Sicherung  der  stetigen  Einlösbarkeit  der 
Banknoten  und  erwarteten  von  der  Besserung  der  Qualität  der  Banknote 
eine  Hebung  ihres  Kredites  im  Verkehre,  wodurch  auch  die  Möglichkeit 
geschaffen  würde,  in  kritischen  Zeiten,  in  Fällen  eines  plötzlich  gesteigerten 
Bedarfes  au  Zirkulationsmitteln,  diesem  Bedürfnisse  ohne  Zuhilfenahme  des 
Zwangskurses  oder  Ausgabe  von  Staatspapiergeld  durch  bloße  Erhöhung 
der  Banknotenzirkulation  nachzukommen.  Als  Mittel  hierzu  schien  eine 
bloße  gesetzliche  Regelung  der  Bedingungen  der  Notenemission  und  der 
Pflichten  der  Emissionsbanken  zn  genügen.  Die  zweite  der  beiden  Ansichten 
ging  dahin,  daß  eine  bloße  gesetzgeberische  Reform,  unter  Beibehaltung 
der  bestehenden  Bankvielheit,  unmöglich  zum  erwarteten  Ziele  führen  könne 
und  trat  damals  schon  für  die  Errichtung  einer  mit  dem  Noteumouopol 
auszustattenden  Zentralbank  ein.  Sie  wurde  in  zweien  der  eingereichten 
Gutachten  vertreten:  in  dem  der  Herren  Professor  Rüttimann  und 
Nationalrat  Feer-Herzog  und  in  dem  des  Herrn  Nationalrat  Dr. 
Kaiser.  Das  erste  dieser  Gutachten  äußerte  sich  dahin:  «La  premiöie 
forme,  qui  nous  semble  digne  d'examen,  est  la  fondation  d’une  banque 
centrale  d’emission.  Ce  terme  ne  signifie  point  nöcessairement  une  banque 
föderale.  On  peilt  trouver  im  grand  nombre  de  variantes  entre  la  position 
d'une  banque  d'Etat  et  celle  d'une  banque  independante.»  Das  Gutachten 
des  Nationalrates  Kaiser  tritt  zwar  unverhohlener  für  eine  Staatsbank 
ein,  ohne  aber  eine  Privatbank  mit  Staatsbeteiligung  a priori  abzulehnen 
und  ohne  für  die  zu  schaffende  Zentralbank  ein  Notenmonopol  zu  verlangen. 

In  den  eidgenössischen  Räten  stand  eben  die  Frage  der  Verfassungs- 
rerision  im  Vordergründe  und  sie  sollte  dazu  benützt  werden,  um  auch  die 
Kompetenz  der  Notenbankgesetzgebung  dem  Bunde  zu  übertragen.1)  Schon 

l)  Beilage  IV.  zu  den  XationalrataprotökoHen  betreffend  Kevision  der  Verfassung. 
Bern,  1873. 


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Die  Notenbankfrage  in  der  Schweiz. 


i) 


am  ö.  Dezember  1870  legte  der  Bundesrat  eine  dahingehende  Vorlage  der 
Bundesversammlung  vor,  «ährend  gleichzeitig  im  Nationalvate  der  Antrag 
gestellt  wurde,  es  sei  die  Kompetenz  des  Bundes  weiter  zu  fassen  und  ihm 
das  Recht  zur  Errichtung  einer  Bundesbank  zu  erteilen.  Die  Mehrheit  der 
Bundesversammlung  war  aber  der  Ansicht,  daß  diese  Frage  Überhaupt 
noch  nicht  spruchreif  sei  und  begnügte  sich  damit,  in  die  von  ihr  ange- 
nommene neue  Bundesverfassung  einen  im  Sinne  der  bundesritlichen  Vor- 
lage ahgefaßten  Artikel  aufzunehmeu,  durch  welchen  dem  Bunde  die  Kompetenz 
ertbeilt  wurde,  allgemeine  Vorschriften  über  die  Ausgabe  und  Einlösung  der 
Banknoten  zu  erlassen.  Von  praktischer  Bedeutung  ist  aber  dieser  Artikel 
nie  geworden,  da  das  ganze  Verfassungswerk  dem  Referendum  vom  12.  Mai 
1872  zum  Opfer  gefallen  ist,  — Im  Jahre  1873,  bei  der  Wiederaufnahme 
der  Verfassungsrevisionsarbeiten,  stellte  der  Nationalrat  L)r.  Kaiser  den 
Autrag.  es  seien  in  die  Verfassung  als  Artikel  30  folgende  Bestimmungen 
aufzunehmen:  .Die  Gesetzgebung  über  die  Errichtung  von  Zettelbanken 

sowie  die  Ausgabe  und  Einlösung  der  Noten  schon  bestehender  Banken  ist 
Sache  des  Bundes.  — Der  Bund  ist  befugt,  eine  Bank,  die  zur  Emission 
von  Noten  berechtigt  ist,  zu  errichten,  ohne  jedoch  ein  Monopol  aufzu- 
stellen.“ Dieser  Antrag  wurde  nun  von  der  Bundesversammlung  soweit 
akzeptiert,  als  er  dem  Bunde  die  Kompetenz  der  Notenbankgesetzgebung 
verleiht  und  den  Grundsatz  der  Unzulässigkeit  eines  Notenmonopols  aus- 
spricht; hingegen  wurde  das  liecht,  eine  eigene  Bank  zu  begründen,  dem 
Bunde  nicht  gewährt.  Der  so  modifizierte  Artikel  39  wurde  in  die  Bundes- 
verfassung vom  29.  Mai  1874  aufgenommen  und  bildete  bis  zuui  Jahre 
1891  die  Grundlage  der  schweizerischen  Notenbankgesetzgebung.  Er  lautete: 
.Der  Bund  ist  befugt,  im  Wege  der  Gesetzgebung  allgemeine  Vorschriften 
über  die  Ausgabe  und  Einlösung  von  Banknoten  zu  erlassen.  Er  darf  jedoch 
keinerlei  Monopol  über  die  Ausgabe  von  Banknoten  aufstellen  und  ebenso 
keinerlei  Rechtsverbindlichkeit  für  die  Annahme  derselben  aussprechen.“ 

In  Vollziehung  des  Artikels  39  der  Bundesverfassung  legte  der  Bundes- 
rat schon  im  Juni  1874  der  Bundesversammlung  den  Entwurf  eines  Bank- 
gesetzes vor,1)  der  am  18.  September  1875  von  den  beiden  Räten  angenommen 
wurde.  Das  Gesetz  übertrug  dem  Bundesrate  die  Verleihung  der  Ermächtigung 
zur  Notenausgabe,  filierte  das  Bankkapital  jeder  Notenemissionsbank  auf 
mindestens  ’/s  Mill.  Francs,  begrenzte  den  Notenemissionsbetrag  auf  das 
Einfache  des  eingezahlten  Bankkapitales  und  für  eine  Bank  auf  höchstens 
12  Mill.  Francs,  es  enthielt  ein  Verbot  der  Erteilung  ungedeckter  Kredite 
und  der  Ausführung  ungedeckter  Zeitgeschäfte;  seine  sonstigen  Bestimmungen 
entsprachen  fast  völlig  jenen  des  später  zu  besprechenden  Gesetzes  vom 
Jahre  1881.  Gegen  dieses  erste  schweizerische  Notenhankgesetz  wurde  nun 

*)  S.  R.  Hlumrr,  Zar  Banknotenfrage,  eine  Kritik  des  Entwurfs  des  Banknoten, 
gesetzes,  Glarus.  1874;  A.  Burckhardt-Bischoff,  Referat  aber  den  Entwurf  eines 
schweizerischen  Banknotengesetzes,  Basel,  1875;  Rapport  ä la  socidtd  industrielle  et 
commerciale  du  ranton  de  Vaud,  sur  la  queation  des  biliets  de  banque  eu  Suisse, 
Lausanne,  1875. 


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10 


Landmaim. 


ein  Referendum  augerufen  und  am  23.  April  1870  wurde  es  vom  Volke  mit 
einer  Majorität  von  73.000  Stimmen  verworfen. 

Auf  dem  Wege  der  Gesetzgebung  schien  man  also  zu  keinem  Resultate 
kommen  zu  können,  während  andererseits  die  früher  schon  vorhandenen  Miß- 
stände immer  größere  Dimensionen  annahmen.  Mit  der  Zahl  der  Banken 
nahm  auch  der  Umfang  der  Notenzirkulation  ständig  zu  und  fast  parallel 
mit  der  Vermehrung  der  fiduziären  Geldsurrogate  ging  die  Verschlechterung 
ihrer  Qualität  und  Deckung.  Einige  Zahlen  mögen  diese  Entwickelung  knapp 
skizzieren. 


4871 

1872 

1878 

1874 

1875 

1876 

1877 

187«, 

1879  1880 

Zahl  der  Banken 

28 

29 

29 

32 

32 

32 

,34 

35 

36 

36 

Einiaeionasnmme  in  Mill.  Francs  . . 

24'8; 

310 

47-8 

65-3 

77-2 

80*6 

H3-1 

82-6. 

837 

92  9 

Notenumlauf  per  Kopf  der  Be- 
völkerung in  Fraucs 

9-2 

11-7; 

170 

28  9 

28  1 

29  l1 

298 

29  9 

29-7 

32'7 

Gewiss  liegt  der  Gruud  dieser  zum  Teile  (z.  11.  im  Zeiträume  1871 
bis  1875)  überraschend  starken  Notenvermehrung  auch  auf  währungs- 
politischem Gebiete1);  zum  weitaus  größten  Teile  alter  ist  er  in  der  Politik 
der  Banken  zu  suchen,  die  unter  Außerachtlassung  aller  bankpolitischen 
Prinzipien  alle  erdenklichen  Geschäfte  machten,  um  nur  eiuen  möglichst 
großen  Teil  ihrer  Noten  in  den  Verkehr  zu  bringen.  Daran  konnte  auch 
ein  neues,  am  8.  Juli  1870  abgeschlossenes  Konkordat  nicht  viel  ändern, 
dem  24  von  den  damals  bestehenden  32  Banken  heitraten,  und  welches 
durch  Verpflichtung  zur  gegenseitigen  Noteneinlösung  und  zur  gegenseitigen 
Zusendung  von  Wochen-  und  Monatsbilanzen  eine  Besserung  erzielen  wollte. 
Von  durchgreifendem  Erfolge  konnte  dieses  Konkordat  schon  deshalb  nicht 
begleitet  sein,  weil  die  ihm  nicht  angehörenden  Banken  ihre  eigenen  Wege 
gingen  und  auch  die  Konkordatsbanken  selbst  in  ihrer  Geschäftsführung 
den  bescheidensten  Anforderungen  nicht  zu  entsprechen  vermochten. 

Von  den  21  Konkordatsbanken  befaßten  sich; 

alle  mit  der  Erteilung  von  Krediten  im  Kontokorrent  gegen  Hinterlage 
von  Effekten. 

IS)  mit  der  Erteilung  von  Krediten  gegen  Bürgschaft. 

II  mit  der  Erteilung  von  Krediten  gegen  Verpfändung  von  Waren. 

5 mit  der  Erteilung  von  Blankokrediten. 

17  mit  Übernahme  oder  Beteiliguug  an  Anleihen. 

je  1S4  mit  der  Ausstellung  laugsichtiger  Tratten  auf  das  ln-  und  Aus- 
land, mit  Hypothekardarlehen  und  mit  Akzeptation  von  Tratten, 

l)  Burekhardt- Bischof  f.  Das  schweizerische  Münzwesen.  Jahrbücher  für  National- 
0 konomie  und  Statistik,  Bd.  XXXII. 


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,ie  Notenbankfrage  in  der  Schweiz. 


11 


5 mit  Kontrahierung  von  Anleihen, 

4 mit  Reportgeschäften  in  Börseueffekten, 

1 mit  Ausgabe  von  Obligationen  mit  Gewinnanteil. 

Die  Fonds  wären  in  allen  möglichen  Geschäften  festgelegt  und  nicht 
realisierbar,  und  die  nach  Form.  Inhalt.  Währung,  Betrag,  Sprache,  Große 
und  Farbe  verschiedenen  Noten  konnten  als  Symbol  der  Buntscheckigkeit 
der  Bankorganisation  angesehen  werden.  Womöglich  noch  regelloser  ge- 
staltete sich  die  Gesrhäftsgeharung.  Die  Metalldeckung  der  Noten  schwankte 
zwischen  02  und  18  l’roz.  der  Zirkulation  und  wie  wenig  einheitlich  die 
Diskontpolitik  geleitet  wurde,  kann  aus  der  Tatsache  ersehen  werden, 
daß  während  eine  Züricher  Bank  im  Jahre  1878  17  mal  ihre  Rate  änderte, 
eine  andere  Konkordatsbank  in  Genf  sich  nur  8tnal  zu  eine  Änderung  des 
Diskontsatzes  veranlaßt  sah. 

Um  die  Mitt  der  70er  Jahre,  fast  gleichzeitig  mit  der  Verwerfung 
des  Gesetzes  vom  18.  September  1875.  beginnt  sich  in  der  schweizerischen 
Bankfrage  ein  neues  Moment  bemerkbar  zu  machen.  Bis  dahin  wurde  der 
Frage  lediglich  in  fachmännischen  Kreisen  ein  größeres  Interesse  entgegen- 
gebracht,  das  Volk  verhielt  sich  ihr  gegenüber  ziemlich  passiv  und  folgte 
bei  den  Abstimmungen  ohne  viel  eigenes  Urteil  den  Weisungen  seiner 
politischen  Vertrauensmänner.  In  den  führenden  politischen  Kreisen  hatten 
die  Freunde  des  Bestehenden  eine  sehr  große  Majorität  und  so  konnte  auch 
die  parlamentarische  Tätigkeit  der  Anhänger  einer  Zentralisierung  des  Noten- 
bankwesens nicht  von  Erfolg  begleitet  sein.  Die  Nationalräte  Dr.  Jons 
und  Curti  versuchten  es  nun,  die  Frage  ins  Volk  hineinzutragen,  um  so 
ihre  Lösung  dem  ausschließlichen  Einflüsse  der  kantonalen  Politiker  zu 
entziehen.1)  Ihre  Tätigkeit  richtete  sich  in  erster  Linie  auf  die  Aufhebung 
des  in  der  Verfassung  festgelegten  Verbotes  des  Notenmonopols,  dessen 
Beseitigung  notwendigerweise  einer  im  Sinne  der  Zentralbankfreunde  ge- 
haltenen Legislativarbeit  voransgehen  mußte.  Sie  veranlaßten  zuerst  den 
schweizerischen  Volksverein,  an  die  Bundesversammlung  das  Begehren  zu 
richten,  es  sei  eine  Revisiou  der  Bundesverfassung  in  der  vorhin  ange- 
deuteten Richtung  vorzunehtnen,  und  nachdem  der  Bundesrat  sich  in  seiner 
Botschaft  vom  28.  November  1879*  grundsätzlich  gegen  ein  Notenmonopol 
und  eine  Staatsbank  ausgesprochen  hatte  und  auch  die  Bundesversammlung 
diesen  Standpunkt  zu  dem  ihrigen  machte,  allerdings  nicht  ohne  daß  sich 
in  der  nntionalrätlichen  Kommission  eine  starke,  dem  Begehren  günstige 
Strömung  geltend  gemacht  hätte,  entfalteten  Joos  und  Curti  eine  Volks- 
agitation. die  zu  dem  Ergebnisse  führte,  daß  bis  zum  8.  August  1880  in 
der  Bundeskanzlei  54.000  Unterschriften  von  Schweizerbürgern  eingingen, 
die  eine  Revision  des  Artikels  39  der  Bundesverfassung  im  Sinne  einer 

9 Curti,  Daa  Hanknotenmonopol,  die  zweizerische  I, änderbar, k und  die  Initiative, 
Zürich,  1879;  Argumente  gegen  dae  Hanknotenmonopol,  Antwort  auf  eine  Rede  des 
Herrn  Th.  Curti,  I.urem,  1*79;  Kaiser.  Dichtung  und  Wahrheit  oder  der  Hanknoten- 
»pektakel  in  der  Schweiz  im  Herbst  1879.  „Schweizerische  Zeitfragen“,  Heft  9,  Zürich,  1880. 

*,  Schweizerisches  Bundeeblatt.  1879,  Bd.  III,  S.  107 1 ff 


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12 


Landmaim. 


Aufhebung  des  Notenmonopolsverbotes  und  der  Errichtung  einer  Staatsbank 
forderten. 

Gemäß  den  Bestimmungen  des  Artikels  120  der  Bundesverfassung 
soll  über  jedes  im  Wege  der  Volksinitiative  geltend  gemachte  Begehren 
eine  Volksabstimmung  stattfinden.  Der  damalige  Wortlaut  dieses  Artikels 
bestimmte  aber  auch,  es  könne  dein  Volke  nur  die  Frage  vorgelegt  werden, 
ob  eine  Revision  stattfinden  solle  oder  nicht,  nicht  aber  die  Frage  der  Ab- 
änderung eines  bestimmten  Artikels.  Auf  diese  Bestimmung  gestützt  und 
dessen  bewußt,  daß  das  Volk,  des  vor  kurzem  erst  abgeschlossenen  Ver- 
fassungskampfes müde,  die  Frage  einer  Verfassungsrevision  nicht  wieder 
werde  entfachen  wollen,  formulierten  im  Nationalrate  die  Gegner  des  Be- 
gehrens die  Fragestellung  an  das  Volk  folgendermaßen:  .Soll  eine  Revision 
der  Bundesverfassung  stattfinden?*1)  Das  erwartete  Ergebnis  konnte  nicht 
ausbleiben.  In  der  Volksabstimmung  vom  31.  Oktober  1880  wurde  das 
Begehren  mit  260.126  gegen  128.090  Stimmen  abgelelmt. 

Aber  auch  in  den  Kreisen,  di#  unter  Beibehaltung  des  Systemes  der 
ßankvielheit  eine  gesetzliche  Regelung  anstrebten,  fehlte  es  an  Einheit- 
lichkeit.’) Die  Vertreter  des  Handels  wollten  in  dem  zu  erlassenden  Gesetze 
die  Bestimmungen  aufgenommen  sehen,  daß  das  Recht  der  Notenemission 
lediglich  den  reinen  Diskontobanken  erteilt  werden  könne;  sie  wollten  den 
Geschäftskreis  der  Noten  ausgebenden  Banken  beschränken  und  verlangten 
die  Deckung  der  gesammton  Notenzirkulation  durch  Hartgeld  und  Wechsel. 
Die  Vertreter  der  Kantone  forderten  dagegen  Freigebung  der  Geschäfte  der 
Banken,  und  Deckung  der  gesamten  Noteuzirkulathm  durch  Hartgeld 
und  Wertschriften.  Jene  legten  das  Hauptgewicht  auf  die  jederzeitige 
Einlösbarkeit  der  Banknoten,  für  welche  das  Wechselportefeuille  die  beste 
Gewähr  bietet,  diese  dagegen  auf  die  Sicherheit  der  Noten,  die  sie  durch 
Deckung  des  metallisch  nicht  gedeckten  Teiles  der  Zirkulation  durch 
Effekten  am  besten  zu  erreichen  glaubten.  Im  Juni  des  Jahres  1880  legte 
nun  der  Bundesrat  den  eidgenössischen  Räten  den  zweiten  Entwurf  eines 
Gesetzes  „über  die  Ausgabe  und  Einlösung  der  Banknoten*  vor,  in  welchem 
er  zwar  nach  Möglichkeit  den  verschiedenen  Wünschen  und  Forderungen 
gerecht  zu  werden  bestrebt  war,  sich  in  der  Hauptsache  aber  auf  den 
Standpunkt  der  Vertreter  des  Handels  stellte  und  demgemäß  eine  Deckung 
der  Noten  und  der  sonstigen  kurz  fälligen  Veibindlichkeiten  zu  50  Proz. 
durch  Metallgeld  und  zu  50  Proz,  durch  Wechsel  verlangte.  Daneben 
nahm  der  Entwurf  die  Schaffung  einer,  allerdings  nicht  mit  dem  Noten- 
monopol ausgestatteten  Bundesbank  in  Aussicht  oder  wollte  ihr  wenigstens 
einen  Weg  eröffnen.  Der  Ständerat,  der  in  der  Beratung  dieses  Gesetzes 

')  Schweizerisches  Bundesblatt,  1880,  Bd.  III,  S.  605  IT  and  607. 

*)  W.  Speiser,  Die  Neuordnung  des  Notenbankwesens  in  der  Schweiz,  Zeitschrift 
für  schweizerische  Statistik  1891,  Bd.  XXVII,  S.  140  ff.;  Craroer-Frej’,  Die  Regulierung 
Uea  Bankwesens  in  der  Schweiz,  Schweizerische  Zeitfragen,  Heft  11,  Zürich,  1880; 
Girard,  L'article  39  de  la  constitutiun  federal, :■  et  les  banqueB  d'Sndssion  en  Sei- He, 
Cham  de  Fonds,  18:0. 


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Die  Notenbankfrage  in  (ier  Schweiz. 


13 


die  Priorität  hatte,  eliminierte  nun  nicht  nur  diese  letztere  Bestimmung, 
sondern  formte  auch  den  ganzen  bundesrätlichen  Entwurf  derart  um.  daß 
der  Hauptzweck  des  Gesetzes,  nämlich  die  Herstellung  einer  gut  fundierten 
stets  einlösbaren  Banknote,  gegenüber  dem  fiskalischen  Interesse  einer 
größeren  Anzahl  von  Kantonen  völlig  in  den  Hintergrund  gedrängt  wurde. 
Die  im  bundesrätlichen  Entwürfe  vorgesehene  Beschränkung  des  Geschäfts- 
kreises der  Notenbanken  wurde  gestrichen,  die  metallische  Deckung  von 
50  Proz.  auf  40  Proz.  der  Zirkulation  reduziert  und  für  die  übrigen 
60  Proz.  eine  Deckung  in  Wertscbriften  vorgesehen.  Der  Bericht  der 
nationalrätlichen  Kommission  äußerte  sich  Uber  die  Beschlüsse  des  Stände- 
rates folgendermaßen:  „Wir  können  dem  Ansmerzen  aller  auf  eine 
eventuelle  Bundesbank  bezüglichen  Bestimmungen  um  so  weniger  bei- 
stimmen. als  wenig  oder  gar  keine  Aussicht  vorhanden  ist.  in  dem  vorlie- 
genden Gesetze  denjenigen  Kegeln  Geltung  zu  verschaffen,  welche  in  den 
anderen  Staaten  für  den  Bankr.otenverkehr  als  die  richtigen  erkannt  sind. 
Es  ist  deshalb  sehr  zweifelhaft,  ob  nicht  früher  oder  später  der  Gedanke 
der  Zentralisierung  der  Notenemission  in  Bundeshand  mit  oder  ohne 
Monopol  behufs  durchgreifender  Sanierung  der  dannzumaligen  Umstände 
Oberwasser  bekommt,  und  wir  gestehen,  daß  so  sehr  wir  geneigt  sind, 
mit  den  bestehenden  Verhältnissen  zu  rechneu  und  bestehende  legitime 
Interessen  zu  berücksichtigen,  wir  den  ständerätlichen  Anträgen,  insofern 
dieselben  nicht  modifiziert  würden,  ein  Zentralinstitut  auf  gesunder,  be- 
währter Grundlage,  eine  Bundesbank,  die  reine  Emissionsbank  wäre,  bei 
weitem  vorziehen  würden“.  Die  Kommission  selbst  schlug  eine  Beihe  von 
Abänderungen  gegenüber  den  ständerätlichen  Beschlüssen  vor.  wagte  es 
aber  nicht,  an  Stelle  dieser  die  Bestimmungen  des  bundesrätlichen  Entwurfes 
wieder  einztisetzen.  Sie  willigte  in  die  Reduzierung  der  Metalldeckung 
auf  40  Proz.  der  Zirkulation  ein  und  statuierte  als  Deckung  für  die 
weiteren  60  Proz.  das  Wechselportefeuille  bei  den  Banken,  die  den  Charakter 
reiner  Diskontobanken  haben,  für  alle  sonstigen  Banken  entweder  Hinterlage 
von  Effekten  oder  eine  Garantie  des  Heimatskantons. 

Am  15.  Februar  1881  gelangte  der  Entwurf  der  Kommission  zur 
Beratung  vor  den  Nationalrat.  Am  gleichen  Tage  legte  Nationalrat 
Dr.  Alfred  Esc  her  einen  von  ihm  und  dem  späteren  Nationalrat 
Cramer-Frey  ausgearbeiteten  Entwurf  eines  Bankgesetzes  vor,  welcher 
vom  Entwurf  der  Kommission  darin  abwich,  daß  er  eine  getrennte  Ver- 
waltung der  Notenausgabe  von  den  übrigen  Geschäften  der  Bank  verlangte, 
als  Deckung  neben  dem  Hartgeld  nur  Wechsel  gellen  lassen  wollte  und 
endlich  den  Banken  die  Verpflichtung  auferlegen  wollte,  10  Proz.  ihrer 
Notenemission  beim  Bund  in  Effekten  zu  deponieren.  Mit  68  gegen  21 
Stimmen  beschloß  der  Nationalrat  das  Eintreten  in  die  Debatte  auf 
Gruud  des  Entwurfes  der  Kommission,  und  als  dann  der  Entwurf  von 
dieser  Behörde  am  28.  Februar  erledigt  wurde,  konnte,  nachdem  über 
gewisse  Differenzen  zwischen  dem  National-  und  dem  Ständerat  Einigung 
erzielt  war,  am  7.  März  1881  das  Gesetz  von  beiden  Käten  definitiv 


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u 


Lftndm&nn. 


angenommen  und  mit  dem  1.  Jänner  1882  in  Kraft  tretend  veröffentlicht 
werden. 

Das  Gesetz,  welches  — was  nicht  geleugnet  werden  soll  — die 
wildesten  Auswüchse  aus  der  Zeit  der  Kailtonssouveränität  auf  diesem 
Gebiete  beseitigte,  kann  nicht  anders  aufgefaßt  werden,  als  ein  Kompromiß 
zwischen  den  Anforderungen  des  sich  entwickelnden  Großverkehrs  auf  der 
einen  Seite  und  den  fiskalischen  und  politischen  Sonderinteressen  der 
Kantone  auf  der  andern.  Das  Gesetz  beschränkt  sich  darauf,  die  bereits 
bestehenden  Verhältnisse  zu  kodifizieren,  und  allgemeine,  für  alle  Banken 
gültigen  Normen  aufzustellen,  und  zwar:  1.  über  die  Berechtigung  zur 
Notenausgabe  und  den  Umfang  derselben;  2.  Aber  die  Deckungs-  und 
Einlösungspflicht,  Sicherstellung  und  die  Privilegien  der  Noteninhaber: 
3.  Ober  die  Beziehungen  der  Notenbanken  unter  sich  und  den  Geschäftskreis 
derselben;  4.  über  die  Form  der  Banknoten  und  die  Größe  der  einzelnen 
Abschnitte;  5.  über  die  Kontrole  durcli  die  Buudesbehörden;  6.  Ober  die 
Besteuerung  der  Notenemission. 

Seme  Huuptbestiiumungeu  sind  die  folgenden.  Jedes  Bankinstitut  mit 
einem  Kapital  von  mindestens  öOO.OOO  Francs,  das  sich  gewissen  Normen 
unterwirft,  hat  das  Recht,  vom  Bundesrate  die  Einwilligung  zur  Banknoten- 
emission im  doppelten  Betrage  des  Bankkapitals  zu  verlangen.  Vom  je- 
weiligen Betrage  der  zirkulierenden  Notenmenge  muß  die  Bank  40  Proz. 
in  ihren  Kassen  in  Barem  liegen  haben,  ohne  daß  sie  diese  Barschaft  zu  irgend 
welchen  andern  Zwecken  als  nur  zur  Notenoinlösung  verwenden  dürfte. 
Als  „verfügbare  Reserve“  gilt  nur  der  Betrag,  der  über  40  Proz.  des 
Notenumlaufes  hinaus  in  den  Kassen  der  Bank  vorhanden  ist.  Die  restlichen 
60  Proz.  der  Notenzirkulation  können  in  dreifacher  Weise  gedeckt  werden: 
durch  Hinterlage  von  Wertschrifleu,  durch  Kantonsgarantic  und  endlich 
durch  Verpfändung  des  W'echselportefeuilles  als  Spezialsicherheit  für  die 
Noteninhaber.  Nur  die  Banken  mit  der  zuletzt  gedachten  Deckungsart  sind 
auf  die  regulären  Geschäfte  einer  Notenbank,  Diskonto-  und  Lombard- 
geschäft Giroverkehr  u.  8.  w.  beschränkt:  die  übrigen  dürfen  alle 

Arten  von  Geschäften  betreiben:  sie  sind  Kreditbanken,  gewähren  hypo- 
thekarische Darlehen,  erfüllen  die  Funktion  von  Sparkassen,  beteiligen 
sich  an  industriellen  Unternehmungen,  übernehmen  die  Emission  staat- 
licher und  industrieller  Werte,  kurz:  sie  erfüllen  alle  Funktionen  einer 
Eflektenbank. 

Dem  Bedürfnisse  nach  Vereinheitlichung  der  Notenzirkulation  wurde 
in  der  Weise  Rechnung  getragen,  daß  die  Banken  zum  Gebrauche  einheitr 
licher  Notenformulare,  deren  Herstellung  und  Bezug  vom  Bunde  überwacht 
wird,  verpflichtet  wurden.  Ungleich  bedeutsamer  für  die  Einheitlichkeit  des 
Notenumlaufes  ist  die  Bestimmung,  daß  jede  Emissionsbank  verpflichtet 
ist.  jederzeit  nicht  nur  ihre  eigenen  sondern  auch  die  Noten  aller  anderen 
schweizerischen  Emissionsbanken,  solange  letztere  ihre  eigenen  Noten 
pünktlich  einlösen,  vollwertig  in  Zahlung  zu  nehmen,  und  außerdem  die 
Verpflichtung  hat,  die  an  ihren  Schaltern  präsentierten  Noten  aller  andern 


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Die  Votenbankfrage  in  der  Schweiz. 


15 


.Voteninstitute  binnen  längstens  3 Tagen  ohne  irgend  welchen  Abzug  ein- 
zulösen. Die  Bilanzen  aller  Banken  sind  periodisch  unter  der  Kontrolle  der 
Kundesbehörde  ’>  zu  veröffentlichen.  Zur  Bestreitung  der  Kosten  dieser 
Kontrolle  entrichten  die  Banken  1 Promille  vom  Betrage  der  ihnen  bewilligten 
Emissionssumme  an  die  Bundeskasse.  Die  Kantone  sind  ermächtigt,  eine 
Steuer  bis  zu  6 Promille  jährlich  vom  gleichen  Betrage  zu  erheben. 

Wir  werden  im  nachfolgenden  Gelegenheit  haben,  die  Wirkungen 
einzelner  dieser  Bestimmungen  genauer  zu  untersuchen.  An  dieser  Stelle 
wollen  wir  lediglich  die  hauptsächlichsten  Mängel  des  Gesetzes  feststellen. 

Vierzig  Prozent  der  jeweiligen  Notenzirkulation  einer  Bank  müssen 
stets  durch  Barvorrat  gedeckt  sein,  der  von  den  übrigen  Kassenbeständen 
der  Bank  getrennt  gehalten  und  gebucht  wird.  Diese  Bardeckung  darf 
nicht  für  den  sonstigen  Geschäftsveikehr  der  Bank,  sondern  nur  zur  Ein- 
lösung ihrer  Noten  in  Anspruch-  genommen  werden  und  haftet  den  Noten- 
inhabern als  Spezialfonds.  Die  Reserve,  die  anderwärts  überall  ein  Sicherheits- 
ventil darstellt,  das  man  im  Notfälle  öffnen  kann,  ist  hier  demnach 
unangreifbar,  und  selbst  der  Rnndesrat  besitzt  nicht  die  Kompetenz, 
den  Banken  den  Gebrauch  des  Ventils  zu  gestatten.  Angesichts  eines 
Kassenbestande3  von  40  Proz.  ihrer  Notenzirkulation  kann  eine  Bank  zur 
Zahlungseinstellung  gezwungen  werden,  ln  dieser  Bestimmung  kommt  am 
deutlichsten  die  das  ganze  Gesetz  beherrschende  Tendenz  zum  Ausdruck, 
nicht  so  sehr  die  ständige  Einlösungsfähigkeit  der  Notenbanken  zu  sichern, 
als  vielmehr  für  den  Fall  einer  eventuellen  Liquidation  die  Noteninhaber 
voi  einem  definitiven  Verluste  zu  bewahren.  Die  gleichen  Erwägungen 
liegen  auch  den  Bestimmungen  des  Artikels  12  des  Gesetzes  zu  Grunde, 
wonach  der  bar  nicht  gedeckte  Betrag  der  Notenzirkulation  durch  Effekten 
oderauch  bloß  durch  einen  Garantieschein  seitens  einer  Kantonregierung  gedeckt 
werden  soll.  Sind  schon  Effekten  in  kritischen  Zeiten  oft  sehr  schwer  zu  reali- 
sieren, so  ist  an  die  Realisierung  einer  Kantonsgarantie  im  Augenblicke  einer 
Krise  nicht  zn  denken.  Fast  alle  kantonalen  Staatsbanken  haben  von  dieser 
Scbeindeckung  Gebrauch  gemacht,  und  doch  unterliegt  es  keinem  Zweifel, 
daß  man  aus  allen  diesen  Scheiuen  zusammen  im  Falle  einer  Geldkrise, 
d.  h.  wenn  die  Kantone  für  die  Zahlungsbereitschaft  ihrer  Banken  eintreten 
müssten,  nicht  zehn  Millionen  Francs  Hartgeld  herauspressen  könnte. 

Der  ganze  Kassenvorrat  von  40  Proz.  der  Notenzirkulation  haftet 
als  Spezialfond  den  Noteninhabern;  über  die  Verpflichtung  der  Noten- 
banken, die  sonstigen  kurzfalligen  Verbindlichkeiten  in  ähnlicher  oder  sonst 
irgend  einer  zufriedenstellenden  Weise  zu  decken,  enthält  das  Gesetz  keinerlei 
Bestimmungen,  ln  seinen  Folgen  muß  dieser  Mangel  zu  einer  Gefährdung 
der  ununterbrochenen  Einlösbarkeit  der  Noten  führen,  insbesondere,  wenn 
eine  Reihe  von  Banken,  wie  dies  tatsächlich  der  Fall  ist,  auf  der  Sollseite 
ihrer  Ausweise  kurzfristige  Verbindlichkeiten  in  der  Höhe  von  mehreren 

1 Die  Kontrdle  wurde  durch  Vollziehungeverordnung  vom  21.  Dezember  1881  dem 
eidgenössischen  Finanzdepartcment  übertragen.  welche»  hierzu  ein  Inspektorat  der 
Emmiesionsbanken  („Banknoteninapektorat“)  ins  Leben  rief. 


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16 


Landmann. 


Millionen  Francs  verzeichnet,  deren  Deckung  zum  Teile  jeden  Augenblick 
telegraphisch  gefordert  werden  kann,  ohne  daß  aber  Aber  die  unantastbare 
Reserve  von  40  Proz.  der  Notenzirkulation  hinaus  mehr  als  einige  Hundert- 
tausend Francs  in  den  Kassen1)  vorhanden  wären.  Hierzu  kommt,  daß  ein  sehr 
großer  Teil  der  schweizerischen  Emissionsbanken  auch  die  Funktion  von 
Sparkassen  erfüllt,  was  selbstverständlich  gefährdend  auf  die  Situation  der 
Banken  einwirkt,  da  die  Erfahrung  lehrt,  daß  Sparkassenglänbiger.  wo  nicht 
gefährlicher,  so  doch  gewiß  dringlicher  sind,  als  die  Banknoteninhaber. 

Endlich  sei  hier  noch  der  in  ihren  Folgen  bedeutungsvollen  Be- 
stimmung gedacht,  wonach  die  Kantone  das  Recht  haben,  eine  Steuer  bis 
zu  6 Promille  der  bewilligten  Emissionssumme  zu  erheben.  Wir  werden 
im  nachfolgenden  Gelegenheit  haben,  nachzuweisen,  wie  ungünstig  diese 
Bestimmung  die  gesamte  Entwickelung  beeinflußte. 

2.  Die  Entwickelung  des  Schweizerischen  Notenbankwesene  unter 
dem  Bankgesetz  vom  8.  März  1881. 

Bevor  wir  an  die  Schilderung  der  Entwickelung  gehen,  die  sich  unter 
dem  Gesetze  vom  8.  März  1881  vollzog,  wollen  wir  den  Zustand  festhalten. 
der  im  Augenblicke  des  Inkrafttretens  des  Gesetzes  herrschte. 

Es  bestanden  im  Augenblicke  des  Inkrafttretens  des  Gesetzes: 


Zahl 

(kr  Banken 

’ 

Hauptgeschäft 

Bank- 

(Dotation«-) 

Kapital 

Durchschnittliche 

Notenzirkulation 

in  1000  Francs 

6 

Diskontohanken 

30.000 

39.762 

10 

Handelsbanken 

20.500 

14.459 

H 

Hypothekenbanken  

17.398 

10.233 

ii 

Verschiedene  Geschäfte  . . . . 

57  700 

34.208 

1 

Caisse  d’amortisseiuent  de  la 
publique 

Dette 



739 

36  Batiken 

125.598 

99.401 

davon  24 

im  Konkordat  mit 

11G.650 

92.262 

davon  11 

Staatsbanken  mit 

• • •! 

87.398 

83.659 

Zur 

Beurteilung  der  Bedeutung 

h 

und  der  Situation 

der  einzelnen 

Banken  mögen  die  Ziffern  der  Spezialtabelle  dienen. 

')  Beispielshalber  6ei  angeführt,  daß  die  Freiburger  Kantonalbank  (rund  1 Mill. 
bis  1,250.01)0  Franca  Noteuzirknlation  und  rund  6 Mül.  Francs  kurzfälliger  Verbindlich- 
keiten) im  Durchschnitte  des  Jahres  1901  eine  verfügbar«  Barschaft  von  93.000  Francs 
aufweist;  die  ßamjue  cantonale  Neuchäteloise,  weist  bei  einem  Notenumlauf  von  rund 
8 Mill.  Kranes  und  einem  Bestände  von  kurzfälligeu  Verbindlichkeiten  im  Betrage  von 
rund  13-5  Mill.  Francs  im  Jahresdurchschnitt  eine  verfügbare  Barschaft  von  513.000 
Francs  auf.  Zu  Zeiten  großer  Anspannung  sank  der  Betrag  der  verfügbaren  Barschaft 
bei  der  Freiburger  Kantonaibank  bis  auf  29/00  Francs,  bei  der  Ncuenburger  bis  auf 
190.01.10  Francs. 


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Die  Notenbank  frage  in  der  Schweiz. 


17 


Durchschnittliche 

Firma 

Noten- 

zirkulation 

Kassen- 

bestand 

Deckung 
der  Noten  in 

in  1000 

Francs 

Zirkulation 

*Kantonalbank  vou  Bern 

7.257 

2.876 

39-7 

•Bank  in  Zürich 

4.502 

4.001 

88# 

Ersparniskause  des  Kantons  Uri 

287 

in 

38-7 

•Bank  in  St.  Gallen 

8.995 

1.448 

362 

•Bank  iu  Basel 

7.505 

3.751 

508) 

•Banque  du  Commerce  in  Genf 

14  074 

4.757 

83-8 

•Banque  cantonale  vaudoise 

5172 

2.114 

408 

•Banque  de  Geneve 

4 080 

1.041 

25-8 

Spar-  und  Leihkuste,  Luzern  

982 

871 

887 

•Banque  cantonale  Fribourgeoise 

1-703 

697 

409 

•Thurgauer  Hypothekenbank 

725 

812 

430 

•Glarner  Bank 

1.160 

870 

31-9 

Banque  populaire  de  la  Gruyi*re 

160 

54 

33-7 

•Bauque  cantonale  N»  urk&tcloUc  .... 

5.656 

1.661 

29-4 

Caisse  hyputh«kaire  de  Fribourg 

26 

CO 

h- 

6654 

•Aargauische  Bank 

2.326 

836  ‘ 

85-9 

•Luzerner  Kantonalbank 

1.953 

881 

451 

•Solothumische  Bank  

1.878 

855 

455 

Banca  cantonale  ticinesc 

2.060 

318 

154 

•Bank  in  Schaffhauaen 

652 

259 

39-8 

•Graubündner  Bank  . 

285 

180 

63-2 

Leihkasse  Glarus 

293 

134 

45  7 

•Eidg.  Bank,  A.  G 

4 783 

2.24« 

470 

• Toggenburger  Bank 

970 

386 

84-6 

Banque  populaire  de  la  Broye 

18 

29 

1611 

Crldit  agricole  et  industriel  de  la  Broye  . 

214 

74 

34-5 

•St.  Gallische  Kantonalbank 

5980 

2.374 

397 

Caisse  d'ainort.  de  la  Dette  Publique  . . 

789 

163 

221 

•Basellandschaftliche  Kantonalbank  . . . 

690 

290 

42  0 

•Thurgauer  Kantonalbank 

1.806 

551 

422 

Graubündner  Kantonalbank 

1.958 

657 

836 

•Züricher  Kantonalbank 

12.276 

7.109 

57-9 

•Banca  della  Srizzera  italiana,  Lugano  . . 

1.437 

516 

860 

Credit  Gruyärien . 

165 

27 

16-4 

•Appenzell  a.  Rh.  Kantonalbank 

1.947 

704 

361 

Kantonale  Spar-  und  Leihkasse  von  Nid- 
walden, St;»  na 

237 

73 

30-8 

Zusammen 

99.401 

42.851 

48  1 

Die  mit  einem  * versehenen  Banken  gehörten  dem  Konkordate  an. 

Zeitschrift  für  Volkuwlrtacbaft,  Sozialpolitik  und  Verwaltung.  XII.  Hand. 

2 

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18 


Landmann. 


Nach  Inkrafttreten  des  Gesetzes  stellten  von  den  angeführten  36  Banken 
29  an  den  Bundeerat  das  Autorisationsbegehren  zur  Ausgabe  von  Bank- 
noten. Diese  Autorisation  ist  an  26  Banken,  welche  sich  Ober  die  gesetzlichen 
Vorbedingungen  ausgewiesen  haben,  vor  dem  1.  Juli  1882  erteilt  worden; 
an  die  übrigen  3 Banken  konnte  sie  erst  später  erteilt  werden,  und  zwar 
an  eine  am  11.  Juli,  an  die  zwei  übrigen  am  1.  September  1882.  Von 
diesem  Tage  an  unterstanden  dem  Gesetze  29  Emissionsbanken  mit  einer 
effektiven  Notenzirkulation  von  102,174.055  Francs.  Über  die  Entwickelung 
während  der  bald  20  Jahre,  die  seither  verflossen,  sollen  die  nachfolgenden 
Tabellen  Auskunft  geben.1) 


Decknngsart 

Jahr 

Zahl  fl  er 
| Banken 

Eingezahltes 
1 Kapital  in 

In  Proz. 
der  Gesamt- 
kapital«- 

Effektiv© 
Emission  in 
, Mill.  Francs 

Iu  Proz 
der  Gesamt-  1 
emission*- 

stimme 

i 

1885 

17 

13-0 

19-91 

68  5 

.50*7 

Kantons-  ] 
garantie  j 

1890 

19 

71-2 

53  00 

82-5 

470 

1 

1901 

22 

124*7 

88-70 

1455 

60*6 

i 

1885 

10 

17-3 

26-49 

11-6 

8*6 

Effekten-  1 
binterUge  I 

1890 

10  , 

19*6 

1500 

141 

8*0 

l 

1901 

10 

80*0  | 

15*30 

21-0 

8-7 

| 

r 

1885 

6 

350 

53-60 

550 

407 

Wechsel-  J| 
! portefeuille  j j 

1890 

6 

43-0 

410 

3200 

775 

450 

1901 

4 

1 

2100 

74  0 

308 

Bewilligte 
Emissions- 
summe  in 
Mill.  Francs 

18  8 5 

18  9 0 

19  0 1 

s 

3 S 
«1 
ts 
• 
TS 

Betraf  der 
KinUaion  io 
Kill.  Franca 

W <s  8 

SuBi 

Mi 

Zahl 

der  Banken 

R«irac  der 
Eralaaion  in 
Mill.  Franca 

liii 

a £ a 

a 

• 

b 

Im  ~ ß 
Betraf  der  Io  u g « 
Koiiaaion  in  £ £ J S 
Mill.  Fraoca;  - ~ 

bis  2 

17 

196 

1409 

19 

22*4 

1234 

12 

1675 

0-95 

2 bis  5 

8 

29-5 

21  21 

8 

81-2 

17-18 

12 

43-75 

1818 

5 , 10 

5 

420 

8027 

* 

290 

15-96 

5 

8800 

ab 

o 

10  . 20 

8 

47-0 

34-48- 

3 

750 

41*29 

4 

6400 

2661 

20  , 25 

— 

— 1 

> 

240 

18-28 

2 

48  00 

19-95 

über  25 

_ 

— 

— | 

• — ' 

— 

1 

8000 

12-51 

| Zusammen 

33 

1881 

100-00# 

85 

1816 

100-00 

.36 

240  50 

100  00 

Zwei  Entwickelungstendenzen  kommen  in  diesen  Zahlen  zum  Ausdruck. 
Vorerst  die  Tendenz  der  Zuräckdrängung  der  durch  Kffektenhinterlage  oder 


l)  Alle  Zahlenangaben  der  nachfolgenden  Darstellung  sind  den,  in  den  Geschäfts- 
berichten des  Bundesrates  an  die  Bundesversammlung  erscheinenden  Jahresberichten 
des  Banknoteninspcktoratea  und  den  Jahresberichten  der  einzelnen  Banken  entnommen 


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Die  Notenbankfrage  in  der  Schweil. 


19 


Wechselportofeuille  ihre  Noten  deckenden  Danken  durch  die  diese  Deckung  in  der 
Forui  einer  Kantonsgarautie  leistenden.  Der  Anteil  der  letztem  an  der  Gesamt- 
emission stieg  von  50'7  Proz.  ira  Jahre  1885  aufßO'5  Proz.  im  Jahre  1901.  Hand 
in  Hand  ging  damit  auch  eine  Vermehrung  der  Zahl  dieser  Banken  von  17  auf22, 
während  die  Zahl  der  erstgenannten  im  gleichen  Zeiträume  von  16  auf  14  sank. 

Die  zweite  Tendenz,  die  wir  konstatieren,  ist  ein  Steigen  des  Anteiles 
der  großen,  kapitalkräftigen  Institute  auf  Kosten  der  kleinen.  Auch  auf 
diesem  Gebiete  vollzieht  sich  langsam  der  Prozess  der  Konzentration  des 
Bankbetriebes  durch  die  Großbanken.  Der  Anteil  der  Banken  mit  einer 
Emissionssumme  bis  5 Mill.  Francs  sank  von  35.30  Proz.  an  der  Gesamt- 
emission im  Jahre  1885  auf  25' 13  Proz.  im  Jahre  1901;  im  gleichen  Zeit- 
räume stieg  der  Anteil  der  Banken  mit  einer  Emissionssumme  von  mehr 
als  10  Mill.  Francs  von  34'43  Proz.  auf  59  07  Proz.  War  im  Jahre  1885 
das  Maiimum  der  EraiBsionssumme  einer  Bank  20  Mill.  Francs,  so  stieg  es 
bis  1901  bis  auf  30  Mill.  Francs  und  die  eine  Bank  mit  dieser  bewilligten 
EmisBionssumme  nimmt  auch  absolut  eine  höhere  Stellung  ein  als  die 
12  Banken  mit  einer  Emissionssumme  von  je  bis  2 Mill.  Francs. 

Seit  dem  Inkrafttreten  des  Gesetzes  stieg  der  Gesamtbetrag  der 
bewilligten  Emission  von  108  auf  240-5  Mill.  Francs.  Zur  Beurteilung  der 
Frage,  mit  welchem  Wahrscheinlichkeitsgrade  aus  den  Betrage  der  bewilligten 
Emissionssumme  Schlösse  auf  die  effektive  Zirkulation  gezogen  werden  dflrfen, 
fOgen  wir  hier  die  Zahlen  för  das  Jahr  1901  ein. 


Durchschnitt  j 

Maximum 

i Minimum 

i n 

Mill.  Franca 

Angewiesen«  lj  Zirkulation  . . . . 

...  | 2145 

2336 

2055  | 

Effektive*)  Zirkulation 

...  197-5 

2204 

1B6-7 

Xotenreüere«*) 

...  I 25-5 

400 

141  j 

Auf  den  Kopf  der  Bevölkerung  gerechnet  weist  demnach  die  Schweiz 
gegenwärtig  einen  Notenumlauf  vou  64  05  Francs  per  Einwohner  auf,  gegen  einen 
solchen  von  30  Francs  im  Deutschen  Reiche,  und  25  Francs  in  Großbritannien. 

Die  unverhältnismäßige  Ausdehnung  der  Notenzirkulation,  die  durch 
die  Art  der  Stflckelung  seitens  der  Banken  bewußt  gesteigert  wurde,  ist 
durch  die  Art  der  Erhebung  der  Notensteuer  kausal  bedingt  und  hängt  in 
ihren  Folgen  so  eng  mit  der  Diskontpolitik  zusammen,  daß  es  am  zweck- 
mässigsten  erscheint,  diese  drei  Erscheinungen  zusammen  zu  behandeln. 

’)  Die  „ausgewiesene  Zirkulation“  repräsentiert  den  Betrag  der  von  ailen  Banken 
dem  Verkehre  übergebenen  Noten,  mit  Einschluß  der  in  den  BankkaBsen  liegenden  -nicht 
eigenen)  Noten  anderer  schweizerischen  Emissionsbanken. 

3)  Die  „effektive  Zirkulation“  repräsentiert  die  ausschließlich  in  H&ndcn  Dritter 
befindliche  Notensnmme. 

3)  Die  „Noteureserve“  stellt  den  Betrag  der  in  den  Kassen  der  Banken  vorhandenen 
eigenen  Banknoten  and  der  anderer  schweizerischen  Emissionsbanken  dar. 

o. 


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20 


Landmann. 


Da  die  schweizerischen  Notenbanken,  wie  vorhin  ausgeführt,  nicht  nach 
dem  Umfange  der  effektiven  Zirkulation,  sondern  nach  dem  Betrage  der 
bewilligten  Emissionesumme  besteuert  werden,  so  haben  sie  die  natür- 
liclie  Tendenz,  ihre  Notenemission  möglichst  auszudehnen,  da  sie  ja  die 
ganze  bewilligte  Emission  versteuern  mdssen,  was,  beim  Brachliegen  eines 
Teilbetrages  dieser  Summe,  einen  direkten  Verlust  bedeuten  würde.  Die 
Banken  müssen  40  Proz.  der  Zirkulation  unbedingt  haar  in  den  Gewölben 
liegen  lassen,  und  wenn  da  eine  Bank  etwa  20  Proz.  ihrer  Emissionssumme 
überhaupt  nicht  in  Zirkulation  hat,  so  sind  nur  40  Proz.  der  Emissions- 
Summe  nutzbringend  angelegt,  was  im  Resultate  einen  Gewinn  von  etwa 
2 — 2'/j  Proz.  der  Emissionssumme  bedeutet.  Wenn  nun  die  Bank  gleichzeitig 
bis  zu  6 Promille  der  ganzen  bewilligten  Emissionssumme  an  den  Kanton, 
1 Promille  an  den  Bund  versteuert,  so  macht  dies  rund  1 Proz.  Abzug 
vom  berechneten  Gewinne,  der  dann  auf  etwa  1 — lls  Proz.  sinkt  Es  ist 
deshalb  uur  zu  leicht  begreiflich,  daß  die  Emissionsbanken  bestrebt  sind, 
das  ganze  bewilligte  Kontingent  in  die  Zirkulation  zu  bringen,  damit  wo- 
möglich jede  steuerbare  Note  auch  wirbt,  und  sie  erreichen  dies  auch,  aller- 
dings nur  auf  Kosten  einer  doppelten  Verletzung  der  Prinzipien  jeder 
gesunden  Diskontopolitik;  der  Prinzipien  der  Auswahl  des  DiBkontomateriales 
und  der  Prinzipien  der  Regelung  der  Bankrate. 

Nach  den  Berichten  des  eidgenössischen  Banknoteninspektorates 
gliederte  sich  die  Anlage  der  schweizerischen  Emissionsbanken  im  Jahres- 
durchschnitte folgendermaßen: 


J a 

h r 

_ : 

1885 

1895 

1901 

1885 

1895 

1901 

In  Mill.  Francs  j 

In  Proz.  der 
Gesamtanlage 

1.  Kurzfristige  Anlagen: 

* 

a)  Diskont-Schweizwechsel 

14982 

16311 

163  36 

21  88 

15  97 

10-95 

b)  Diskontdevisen 

3086 

15-56 

45-79 

4 49 

1*52 

307 

c)  Lombardwechsel 

31-34 

48-50 

48-21 

4 53 

4-26 

3-23 

d)  Guthaben  bei  anderen  Banken  . . 

100 

288 

5-70 

0-18 

0-28 

038 

e)  Koiresp.- Debitoren 

2928 

25  83 

56-22 

433 

2*52 

3-77 

f)  Diverse 

1 94 

2-50 

2-58 

032 

024 

0-17 

Summe  a)  bis  f)  . . . . 

243-74 

253-88 

821-86 

3578 

24  79 

21-57 

2.  Langfristige  Anlagen: 

a)  Konto- Kurrent -Debitoren 

65-23 

11336 

223-83 

960 

1109 

1500 

b)  Schuldscheine 

61-61 

9612 

143-90 

907 

941 

9*64 

c)  Anlage  in  Hypotheken 

23675 

408  65 

656-86 

54-78 

39-99 

44-03 

d)  Anlage  in  Effekten 

74*99 

14926 

144-47 

10-74 

1461 

9-69 

e)  Diverse 

024 

113 

l-oa 

008 

O-Il 

0-07 

Summe  a)  bis  e)  ...  . 
Geaamrotsumme 

488-82 

768-52 

117008 

64  27 

7521 

78-43 

682  56  1021  90  1491  94 

100  00  100  00  100  00 

1 1 1 

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Die  Notenb&nkfrage  in  der  Schweiz. 


21 


Das  Verhältnis  zwischen  der  Summe  der  kurz-  und  der  der  langfristigen 
Anlagen  verschob  sich  von  86  : 64  im  Jahre  1885  auf  25  : 75  im  Jahre 
1895  und  bis  auf  22  : 78  im  Jahre  1901.  Dabei  ist  aber  stets  die  Tat- 
sache im  Auge  zu  behalten,  daß  die  in  der  vorstehenden  Zusammenstellung 
als  kurzfristige  Anlage  bezeichneten  Diskonto-  und  Lombardwechsel  diese 
Eigenschaft  durchaus  nicht  in  einem  gleich  hohen  Grade  besitzen  als  die 
gleichen  Werte  in  den  Portefeuilles  der  großen  Zentralnotenbanken.  Der 
Kreis  der  als  bankfähig  betrachteten  Wechsel  ist  in  der  Schweiz  viel  weiter 
gezogen  als  anderswo;  infolge  der  ewigen  Wechselsuche,  auf  welcher  sich 
die  Banken  befinden,  ist  der  Diskont  demokratisiert  und  demgemäß  steht 
auch  die  Qualität  des  schweizerischen  Wechselportefeuilles' durchaus  nicht 
auf  der  gleichen  Höhe  mit  der  Diskontanlage  etwa  der  Deutschen  Keichs- 
bank  oder  der  Bank  von  Frankreich.  Den  besten  Beweis  hierfür  liefert  die 
Tatsache,  diß  während  bei  der  Deutschen  Keichsbauk  auf  je  1000  Mark 
durchschnittlicher  Wechselanlage  nur  0'09  Mark  Verlust  kommen,  bei  der 
Bank  von  Frankreich  auf  je  1000  Francs  0'02  Francs  Verlust;,  bei  den 
schweizerischen  Emissionsbanken  auf  je  1000  Francs  durchschnittlicher 
Wechselanlage  in  dem  gleichen  Jahre  (1901)  2p46  Francs  verloren  gegeben 
werden  mußten. 

Auch  die  Anlage  in  Lorabardwecbseln  verlor  nach  und  nach  infolge 
der  von  seiten  der  schweizerischen  Emissionsbanken  im  umfangreichsten 
Maße  geübten  Prolongationspraxis  völlig  ihren  kurzfristigen  Charakter 
und  stellt  heute  in  Wirklichkeit  eine  nur  schwer  realisierbare  lang- 
fristige Anlage  dar.  Zur  Ausdehnung  ihres  Umfanges  trug  nicht  wenig 
der  Umstand  bei,  daß  die  schweizerischen  Emissionsbanken  - eine 
in  der  gesamten  Bankgeschichte  einzig  dastehende  Tatsache  — ihren 
eigenen  Diskontosatz  durch  einen  niedriger  gehaltenen  Lombardsatz 
unterboten. 

Betrachten  wir  endlich  das  Tempo  des  Anwachsens  der  einzelnen 
Positionen  der  beiden  Teile  der  Anlage,  so  erhalten  wir  folgende  charak- 
teristischen Resultate: 


Anlage 

im  Jahresdurchschnitt 

Jahr 

Schweizer-  ! 
Wechsel 

Devisen 

Lombard - 
wechsel 

Wechsel  || 

1 aller  Art 

Alle 

kurzfristigen 

Anlagen 

Mül. 

Franc« 

106 
= KO 

Mil] 

Franca  i 

JflHft 
« 1U0  || 

Min.  ; 

Kran>*a 

I8&’> 
cs  HO 

Min.  | 
Franc*  1 

1885 
= 100 

'HU. 

Frau«« 

IO&  | 
=»  1UU  j 

1885 

149-82 

! 100-00, 

30'8« 

10OOO 

80  14 

100-00 

210  32 

100  00 

248-74 

1 00*00 j 

7895 

16311 

109  47 

15-56 

51*86 

43-50 

14500 

222  1 7 ! 

105  80 

253*38 

103-42: 

1901 

163*36 

109*64 

4579 

152-63 

48-21 1 

1 00-70  257-30 

122  65 

321*861 

131-84 

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Lundm&on. 


22 


Anlage  im  Jahresdurchschnitt 


a li  r 

Schuldscheine 

Hypotheken 

Effekten 

Alle 

langfristigen 

Anlagen 

MIO 

Knuir* 

188A 

<s  1110 

Mills 

Kraue* 

IHK?» 
= 100 

*•111.  j I8H5 

Kt  aucs  =3  11» 

Will. 

Kraue* 

IHM?» 
= |(U 

1885 

«1-61 

100  00 

236  75 

100  00 

74-99  100  00 

438-82 

100-00 

1895 

98  12 

15757 

408t>5 

187  16 

149  26  201-70 

768-52 

175  45 

1901 

14390 

235-90 

«56-86 

278-33 

144-47  195-23 

1170*08 

267-14 

Wahrend  die  Wechselanlage,  mit  Einschluß  der  Lonibardwechsel,  in 
den  Jahren  1885 — 1900  von  100  auf  122,  und  die  Summe  der  gesamten 
kurzfristigen  Forderungen  von  100  auf  131  stieg,  stieg  die  Anlage  in 
Hypotheken  von  100  auf  278,  die  in  Effekten  von  100  auf  195  und  die 
Gesamtsumme  der  langfristigen  Anlagen  von  100  auf  267. 

W'elchen  Einfluß  eine  derartige  Gliederung  der  Anlage  auf  die  Liquidität 
der  Banken  ausQbt,  wird  in  den  nachfolgenden  Untersuchungen  zu  Tage  treten. 

Der  zweite  der  beiden  erwähnten  Verstöße  gegen  die  Prinzipien  einer 
gesunden  Diskontopolitik  betrifft  die  Art  der  Festsetzung  der  Bankrate. 

Das  1881er  Gesetz  begnügte  sich  mit  einer  äußern  Itegelung  der 
Notenausgabe;  die  innere  Itegelung  wurde  nicht  in  den  Kreis  seiner  Auf- 
gaben gezogen.  Eine  gemeinsame,  für  alle  schweizerischen  Notenbanken 
verbindliche  Festsetzung  der  Bankrute  sieht  das  Gesetz  nicht  vor,  und  es 
war  infolgedessen  unvermeidlich,  dass  die  einzelnen  Banken,  vom  Wunsche 
beseelt,  einen  möglichst  großen  Notenbetrag  in  der  Zirkulation  zu  erhalten, 
in  ihren  Diskontosätzen  einander  unterboten.  Jeder  Bankplatz  publizierte 
einen  eigenen  Diskontosatz  und  es  kam  nicht  selten  vor,  daß  eine  Bank 
ihren  Diskontosatz  ermäßigte,  während  eine  andere  ihn  gleichzeitig  erhöhte. 
Es  kam  sogar  vor.  daß  auf  ein  und  demselben  Bankplatze  zwei  Banken 
verschiedene  Sätze  aufstellen  zu  sollen  glaubten.  Der  Diskontoarbitrage 
zwischen  den  einzelnen  Bankplätzen  war  Ttir  und  Tor  geöffnet  und  im 
Zusammenhänge  damit  gingen  wirtschaftlich  völlig  ungerechtfertigte  Hin-  und 
Herschiebungen  von  Hartgeld  zwischen  den  einzelnen  Plätzen  vor  sich.  Hierzu 
kam  erschwerend  dei  Umstand,  daß  die  mit  einer  großen  Notenemission 
ausgerüsteten  Banken  auf  kleineren  Plätzen  für  den  Teil  ihrer  Notenemission 
der  für  den  Verkehr  des  betreffenden  Platzes  keine  Verwendung  finden 
konnte,  auf  den  großen  Verkehrszentren,  in  Basel,  Genf,  Zürich.  St.  Gallen, 
Anlage  suchen  und  durch  ihr  Geldangebot  oft  die  Bankrnten  dieser  Plätze 
herunterdrücken  mußten. 

Erst  im  Jahre  1893’)  beschlossen  28  von  den  damals  bestehenden  35 
Banken  „um  die  Barbestände  im  Lande  zu  schützen,  den  Diskontosatz  auf 

*)  Gygai,  Kritische  Betrachtungen  über  das  schweizerische  Notenbank» eseu 
mit  Beziehung  auf  den  Pariser  Wechselkurs,  Zürich,  1901,  S.  192  ff. 


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Die  Nolenbankfrage  in  der  Schweiz. 


28 


einer  entsprechenden  Höhe  zu  halten*,  und  setzten  ein  aus  5 der  größten  Banken 
bestehendes  Komitee  ein.  dem  die  Aufgabe  zugewiesen  wurde,  einen  einheit- 
lichen offiziellen  Diskontosatz  festzusetzen,  welcher  allen  Diskontgeschäften 
als  Basis  dienen  sollte.  Mit  der  Einführung  des  einheitlichen  offiziellen  Diskonto 
satzes  wurde  eine  entschiedene  Wendung  zu  einer  Besserung  der  Verhältnisse 
vollzogen.  Doch  bald  schon  erwies  sich  diese  Vereinbarung  als  ungenügend. 

Fast  alle  Notenbanken,  mit  Ausnahme  der  Bank  von  England,  betrachten 
ihre  offizielle  Kate  nicht  als  Minimal-  sondern  als  Maximalsatz.1)  Sie 
gewinnen  dadurch  die  Möglichkeit,  ihre  offizielle  Rate  längere  Zeit  hindurch 
stabil  erhalten  zu  können,  ohne  durch  die  oft  vorkommenden,  in  der  realen 
Situation  des  Geldmarktes  ungenügend  begründeten  lokalen  und  temporären 
Schwankungen  des  Privatsatzes  eine  Einbuße  am  Umfang  oder  an  der 
Qualität  ihres  Wechselportefeuilles  erleiden  zu  müssen:  sie  kommen  dadurch 
in  die  Lage,  ihr  Diskontogeschäft  mehr  den  Bedürfnissen  der  einzelnen, 
lokalen  Geldmärkte  anzupassen,  ohne  deshalb  doch  ihre  einheitliche  Diskonto- 
politik preiszugeben ; sie  steigern  ihre  Konkurrenzfähigkeit  gegenüber  den 
privaten  Bankinstituten,  sie  erweitern  das  ihren  werbenden  Mittel  offen- 
stehende Operationsgebiet,  sie  ziehen  auch  Primabank-  und  Kommerzdis- 
konten in  ihr  Portefeuille,  ohne  sich  deshalb  doch  den  privaten  Instituten 
unterzuordnen,  ohne  ihre  den  Geldmarkt  beherrschende  Stellung  aufzugeben- 

Auch  die  schweizerischen  Notenbanken,  die  auf  dem  Diskontomarkte 
einer  scharfen  Konkurrenz  der  großen  Kreditinstitute  in  Zürich,  Basel  und 
Genf  ausgesetzt  sind,  müssen  notwendigerweise  ebenfalls  einen  Privatsatz 
handhaben,  wenn  sie  nicht  Gefahr  laufen  wollen,  daß  ihnen  das  erstklassige 
Wechselmaterial  vorweggenommen  wird  und  sie  für  ihr  Portefeuille  lediglich 
minderwertiges  Papier  erhalten.  Doch  ist  es  klar,  daß  auch  dieser  Privatsatz 
einheitlich  festgesetzt  werden  mußte,  wenn  nicht  sonst  alle  Vorteile  der 
Übereinkunft  über  den  offiziellen  Satz  verloren  gegeben  werden  sollten.  Es 
schlossen  denn  auch  im  Mai  des  Jahres  1894  22  Bauken  ein  Konkordat 
zur  Festsetzung  eines  einheitlichen  Minimums  des  Privatdiskontosatzes  ab. 
Doch  schon  im  Dezember  desselben  Jahres  wurde  diese  Übereinkunft,  der 
von  Anfang  an  die  beiden  Bauken  von  Neuenburg  und  die  von  Aarau, 
Solothurn.  Liestal  und  Chur  nicht  angehörten,  aufgehoben,  und  der  alte 
zügellose  Zustand  trat  von  neuem  ein. 

Angesichts  dieses  Mißerfolges  ist  es  begreiflich,  daß  man  die  Ange- 
legenheit nun  ein  paar  Jahre  nihen  ließ  und  nur  unter  dem  Drucke  der 
fortwährenden  Verschlechterung  der  Valuta  sie  neuerdings  in  Angriff  nahm.’) 
Erst  im  März  des  Jahres  1898  versuchten  es  die  Emissionsbanken  zum 
zweitenmale.  ein  Einverständnis  auf  diesem  Gebiete  zu  erzielen,  aber  schon 
im  Oktober  des  Jahres  1900  mußten  die  damals  aufgestellten  Bestimmungen 
abgeändert  werden,  und  zwar  in  der  Weise,  daß  die  durch  das  Komitee 
erfolgende  Festsetzung  des  Minimums  des  Privatdiskontosatzes  für  die  ein- 
zelnen Banken  nicht  verbindlich  sein  sollte;  das  festgesetzte  Minimum  sollte 

: Landmann.  System  üer  Diskontopolitik.  Kiel  un-l  Leipzig.  190(1,  S.  117  ff. 

*)  GjgftX,  a,  a.  0.  S.  204  ff. 


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24 


Lamlmsmn 


den  Banken  telegraphisch  mitgeteilt  und  jeder  einzelnen  Bank  überlassen 
werden  zu  beurteilen,  wie  weit  sie  in  der  Anwendung  dieses  Satzes  gehen 
will.  Zum  Überflufle  enthielt  die  Übereinkunft  noch  die  Bestimmung,  daß 
jede  einzelne  Bank  lediglich  .soviel  als  möglich“  verpflichtet  sei.  diese 
Minimalgrenze  zu  beachten,  und  das  Recht  habe,  .für  Bankwechsel  und 
erstes  kommerzielles  Papier  oder  zum  Zwecke,  ihren  Wechselbestand  auf 
der  von  ihren  Statuten  vorgeschriebenen  Höhe  zu  halten,  bis  1 4 Proz.  unter 
dem  festgesetzten  Minimum  zu  diskontieren.“ 

Es  bestanden  sonach  in  der  Schweiz  drei  .offizielle*  Bankraten:  1.  der 
sogenannte  offizielle  Bankdiskont  für  die  breiten  Schichten  des  Handels  und 
der  Industrie;  2.  der  nicht  minder  offizielle  Privatdiskont  für  die  Wechsel 
erstklassiger  Kaufleuteund  Industriellen  und  fflr  diejenigen,  die  ihrem  Wechsel 
eine  zweite  oder  dritte  tTnterschrift  gehen  konnten,  auch  fßr  die  Rediskon- 
tierungen durch  kleinere  Bankiers  und  Banken:  3.  der  ebenfalls  offizielle 
Minimaldiskont  fflr  erstklassige  Bankunterschriften. 

ln  den  Jahren  1899/1900  schien  sich  diese  Regelung  zu  bewähren. 
Der  große  Geldbedarf,  der  sich  in  diesen  Jahren  geltend  machte,  milderte 
den  Konkurrenzkampf  der  Emissionsbanken  auf  dem  Diskontomarkte,  dem 
Privatsatze  war  eine  untere  Grenze  gesetzt,  wodurch  auch  der  offizielle 
Diskontosatz  einen  größeren  Halt  bekam,  und  die  daraus  resultierende 
größere  Beherrschung  des  offenen  Geldmarktes  kam  den  Banken  in  ihren 
Anstrengungen  zur  Bekämpfung  der  mißlichen  Folgen  der  ungünstigen 
Wechselkurse  zu  statten.  Wie  alle  anderen  Vereinbarungen  der  schweizeri- 
schen Emissionsbanken  litt  aber  auch  diese  darunter,  daß  sie  keinen  obliga- 
torischen Charakter  hatte.  Nicht  alle  Banken  schloßen  sich  dem  Konvenium 
an,  angeblich  weil  es  ihnen  nicht  möglich  gewesen  wäre,  ihr  Portefeuille  zu 
ergänzen,  wenn  sie  nicht  unter  das  vom  Komitee  festgesetzte  Minimum  hinabgehen 
dürften.  Auch  von  den  29  Banken,  die  anfänglich  dem  Konvenium  beitruteu, 
konnten  sich  einige  fflr  die  Dauer  dem  Regime  des  Diskontokomitees  nicht 
unterordnen  und  erklärten  ihren  Austritt,  wodurch  natürlich  die  den  Kon- 
veniuinbankon  auf  dem  Diskontomarkte  entgegentretende  Konkurrenz  bedeutend 
verstärkt  wurde.  Zu  der  Konkurrenz  der  der  Vereinbarung  nicht  angehörenden 
Emissionsbanken  und  der  sonstigen  Bankinstitute  trat  noch  die  verschiedener 
Verwaltungen  hinzu,  die  ihre  verfügbaren  Kassenbestände  in  Diskontowechseln 
anlegen  wollten,1)  während  anderseits  seit  Anfang  des  Jahres  1001  die 
geschäftliche  Stagnation  eine  Verminderung  des  Wechselangebotes  nach 
sich  zog.  Die  Stellung  der  dem  Konvenium  treu  gebliebenen  Institute 
gestaltete  sich  so  schwierig,  daß  eine  neue  Revision  der  Konveniums- 
bestimmungen  in  Aussicht  genommen  wurde,  die  den  einzelnen  Banken 
eine  größere  Bewegungsfreiheit  sichern  sollte.  Diesem  vermittelnden  Plane 
trat  jedoch  die  von  einer  sehr  großen  Anzahl  der  Banken  gehegte  Abneigung 
gegen  dieses  Konvenium  entgegen  und  in  der  am  23.  November  1901 

*)  Vor  allem  kommt  Her  in  Betracht  das  nicht  unbedeutende  Diskontogeschkft 
der  eidgenössischen  Staatskasse,  dessen  Rentabilität  dauernd  um  etwa  1 Proient  unter 
dem  Diskontosatre  der  Emissionsbanken  bleibt,  vgl.  Landmann,  a.  a.  0.,  S.  26  ff. 


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Die  Notenbaiikfrage  in  der  Schweiz. 


abgehaltenen  Generalversammlung  der  Emissionsbanken  wurden  die  Bestim- 
mungen betreffend  den  Minimalsatz  vollständig  aufgehoben,  wodurch  der 
frohere  Zustand  der  Zügellosigkeit  wieder  hergestellt  ist. 

Die  Wirkungen  dieser  Verhältnisse  auf  den  Diskontoverkehr  kommen 
am  deutlichsten  in  der  realen  Gestaltung  der  Diskontosätze  zum  Ausdruck. 
Zwei  Momente  möchten  wir  von  diesem  Gesichtspunkte  ans  in  den  Vorder- 
grund rücken.  Als  ersten  die  Tatsache,  daß  es  zeitweilig  möglich  ist,  auf 
dem  offenen  Geldmärkte  in  der  Schweiz  zu  niedrigeren  Sätzen  zu  diskontieren, 
als  es  die  der  Geldmärkte  von  Paris,  Berlin  oder  London  sind,  ohne  daß 
hierfür  ein  anderer  Grund  vorhanden  wäre  als  lediglich  die  Konkurrenz  der 
Banken  unter  einander.  Als  zweite  Wirkung  trat  die  Tatsache  hervor,  daß 
das  Verhältnis  zwischen  dem  durchschnittlichen  Diskontosatze  und  der 
durchschnittlichen  Rentabilität  der  Wechselanlage  in  der  Schweiz  sich 
wesentlich  anders  gestaltet  als  bei  den  großen  Notenbanken.  Während  z.  B. 
die  Rechnungsergebnisse  für  das  Jahr  1901  für  die  Deutsche  Reichsbank 
einen  den  durchschnittlichen  Üiskontosatz  um  005  Proz.  übersteigenden 
Gewinn  des  Portefeuilles  aufweisen,  der  der  Banque  de  France  deren  durch- 
schnittlichen Diskontosatz  um  O'll  Proz.  überschreitet,  steht  die  Rentabilität 
das  Wechselportefeuilles  der  schweizerischen  Emissionsbanken  um  0'05  Proz. 
unter  ihrem  durchschnittlichen  Diskontosatze.  Daraus  darf  zum  mindesten  der 
Schluß  gezogen  werden,  daß  der  Kreis  der  Wechsel,  die  in  der  Schweiz  unter  dem 
officiellen  I »iskontosatze  diskontiert  werden,  viel  weiter  gezogen  ist  als  dies  z.  B. 
im  Deutschen  Reiche  der  Fall  ist,  ohne  daß  auch  hierfür  eine  andere  Erklärung 
gefunden  werden  könnte  als  die  der  Konkurrenz  der  Banken  untereinander. 

Diese  drei  Grundsätze  ihrer  Politik:  das  gegenseitige  Unterbieten  auf 
dem  Diskontomarkte,  die  Anlage  großer  Summen  in  langfristigen  Geschäften 
und  endlich  das  Diskontieren  beziehungsweise  die  Erteilung  von  Lombard- 
krediten unter  dem  offiziellen  Satze,  ermöglichte  es  den  Banken,  größere 
Mengen  ihrer  Noten  in  Zirkulation  zu  erhalten,  als  es  den  realen  Bedürf- 
nissen der  schweizerischen  Volkswirtschaft  entsprechen  würde.  Dies  konnten 
sie  allerdings  nur  auf  Kosten  der  Elastizität  des  Notenumlaufes  erreichen, 
was  seinerseits  wieder  zur  Unmöglichkeit  führt,  zu  Zeiten  eines  gesteigerten 
Geldbedarfes  dem  Markte  größere  Mittel  zur  Verfügung  zu  stellen.  Die 
nachstehende  Tabelle  mag  hierfür  den  Beweis  erbringen 


Ausgewiesene  Zirkulation 

Schweiz.  Emissions- 
banken 

Deutsche  Reichsbank 

1800 

189S 

1901 

1890 

1895 

1901 

Mill.  Francs 

Mill.  Mark 

1.  Durchschnittliche  Zirkulation  . 

152*4 

179*2 

214*5 

983-88 

1095-59 

1109-26 

2.  Höchste  Zirkulation  ..... 

168*3 

189!) 

233-6 

1131-73 

1320-08 

1465-78 

3.  Niedrigste  Zirkulation  .... 

144- 1 

169*5 

205*5 

886-05 

968*21 

1044*82 

4.  Spannung  zwischen  2 und  2 . 

24*2 

20-4 

28-1 

245-68 

351-87 

420*96 

5.  Spannung  in  Proz.  der  durch- 
schnittlichen Zirkulation  . . . 

15-92 

11*39 

13  12 

26-19 

82-13 

37*95 

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26 


Lnndmann. 


Stellt  mau  diese  Zahlenreihen  nebeneinander,  so  tritt  auf  den  ersten 
Blick  die  Erscheinung  entgegen,  daß  die  in  ihnen  für  die  schweizerischen 
Emissionsbanken  zum  Ausdruck  kommende  Entwickelungstendenz  eine  völlig 
andere  Kichtung  einschlfigt.  als  die  gleiche  Tendenz  im  Geschäfte  der 
Heichsbank.  Während  die  Spannung  zwischen  dem  Maximum  und  dem 
Minimum  der  Notenzirkulation  bei  den  schweizerischen  Emissionsbanken 
im  Laufe  der  letzten  elf  Jahre  von  15  9 auf  13-1  Proz.  sank,  stieg  sie  zur 
gleichen  Zeit  bei  der  Heichsbank  von  26'1  auf  3T-0  Proz.  Uber  die 
Bedeutung  dieser  Verschiebung  kann  keine  Meinungsverschiedenheit  obwalten, 
sobald  man  sich  den  unbestrittenen  Grundsatz  in  Erinnerung  ruft,  daß  es 
eine  der  wichtigsten  Aufgaben  der  Notenbankpolitik  ist,  dem  Zahlungsmittel- 
Umlauf.  ohne  seine  Sicherheit  zu  beeinträchtigen,  eine  größere  Elastizität 
zu  verleihen,  als  sie  ein  rein  metallischer  Zahlungsmittelumlauf  besitzen 
kann.  Die  Schwankungen  des  Geldbedarfes,  sowohl  innerhalb  längerer 
Perioden  als  auch  innerhalb  der  einzelnen  Jahre  sind  in  dem  gegenwärtigen 
Entwickelungsstadium  der  Volkswirtschaft  gegenüber  den  früheren  Ver- 
hältnissen außerordentlich  groß  geworden.  Der  Grad  der  Möglichkeit  aber, 
diesen  Schwankungen  des  Bedarfes  nachzukommen  hängt  für  eine  Notenbank 
vom  Grade  der  Elastizität  ihres  Notenumlaufes  ab:  der  der  schweizerischen 
Emissionsbanken  sinkt  kontinuierlich  von  Jahr  zu  Jahr.1) 

Treffend  charakterisierte  Kalkmann  diese  Politik  mit  folgenden  Worten: 

.Indem  die  Notenbanken  bei  geringer  Nachfrage  nach  Umlaufsmittel 
eine  möglichst  große  Zahl  ihrer  Noten  in  den  Umlauf  pressen,  berauben 
sie  sich  der  Möglichkeit,  bei  vermehrter  Nachfrage  den  Bedürfnissen  des 
Verkehrs  entgegenzukommen;  denn  dem  Notenumlauf  ist  eine  starre  obere 
Grenze  gezogen;  die  einzelne  Bank  daif  das  Kontingent,  das  ihr  von  Bundes 
wegen  bewilligt  ist,  nicht  überschreiten.  Unter  solchen  Umständen  sind  denn 
die  Banken  genötigt,  um  ihre  Geschäftsverbindung  aufrecht  erhalten  zu 

■)  Der  Vollständigkeit  halber  mag  au  dieser  Stelle  erwähnt  werden,  daß  die  für 
das  Jahr  1901  mitireteilten  Zahlen  nicht  mehr  als  völlig  zuverlässige  Gradmesser  der 
Spumiungafühigkeit  des  schweizerischen  Banknotcnumlaufes  angesehen  werden  dürfen.  — 
Sehen  in  der  zweiten  Hälfte  der  90er  Jahre  tauchte  in  den  Kreisen  der  Emissionsbanken 
der  Plan  auf.  in  der  Bekämpfung  der  ungünstigen  Wechselkurse  die  Diskontopolitik 
durch  eine  direkte  Notenpolitik  zu  unterstützen.  In  Zeiten  eines  großen  Geldbedarfes 
— wurde  Ausgeführt  — besitzen  die  Emissionsbanken  bei  hohen  Diskontosätzen  eine 
gewisse  Kontrolle  über  den  Geldmarkt;  bei  sinkendem  Bedarf  sinken  auch  die  Sätze,  was 
daun  ungünstig  auf  die  Wecheelkurse  eiuwirkt.  Um  dem  vorzuheugen.  wurde  beantragt, 
sei  in  seichen  Zeiten  die  Notenemission  zu  reduzieren;  der  dadurch  entstehende  Verlust 
konnte  durch  höhere  Diskontosätze  wettgemaeht  werden.  Der  Vorschlag  begegnete  zuerst 
einer  lebhaften  Opposition  seitens  der  ihren  Gewinn  bedroht  sehenden  Banken,  die  erst 
durch  die  ständig  sich  verschlimmernden  Wechselkurse  bewogen  werden  konnten,  ein 
Bpczialabkoimneu  zu  treffen,  dein  anläßlich  der  am  9.  Juni  1900  in  Basel  abgehaltenen 
Generalversammlung  27  Institute  beitrsten.  .Das  Komitee  ist  befugt,  sobald  die  allgemeine 
Lage  des  Geldmarktes  es  erheischt,  nnd  die  Summe  der  Noten  in  den  Kassen  der 
Emissionsbanken  stark  anwächat,  eine  Beschränkung  der  gesamten  Notenzirkulation 
anzuordnen.  Eine  einmalige  Beschränkung  darf  5 Proz.  dor  bewilligten  Emissiotissumme 
nicht  übersteigen,  eine  weitere  Beschränkung  ist  vor  Ablanl  von  vier  Wochen  vom 
Datum  der  vorhergehenden  nicht  zulässig,  die  Beschränkung  daTf  im  ganzen  10  Proz.  der 


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Die  Notenbankfiage  in  der  Schweiz. 


27 


können,  ihre  Haibestände  anzugreifen,  was  ihnen  aber,  da  ihr  Vorrat  das 
gesetzliche  Minimum  nicht  allzusehr  zu  überschreiten  pflegt,  sehr  unangenehm 
ist  Zur  Beschaffung  von  Bargeld  präsentieren  sie  sich  gegenseitig  ihre 
Roten  zur  Einlösung,  sie  jagen  sich  gegenseitig  die  Barschaft  ab  und  ver- 
suchen aus  dem  In-  und  Ausland  Barmittel  an  sich  zu  ziehen.  Allgemein 
wird  über  Notenmangel  geklagt,  woraus  dann  einzelne  Notenbanken  die 
Notwendigkeit  ableiten,  ihr  Aktien-  oder  Dotationskapital  zu  erhöhen,  um 
sich  vom  Bunde  ein  größeres  Kontingent  bewilligen  lassen  zu  können. 
Damit  fängt  aber  der  Tanz  von  vorne  an;  die  neuen  Noten  müssen  in  den 
Umlauf  gebracht  und  darin  erhalten  werden,  dazu  noch  gewöhnlich  in  einer 
Zeit,  in  welcher  der  Geldbedarf  wieder  abgenommen  hat:  die  Banken  unter- 
bieten sich  abermals  durch  niedrige  Diskontosätze;  es  kommt  wiederum  zu 
Auswanderung  von  Kapital  und  zu  Goldabflüssen  ins  Ausland;  und  wenn 
dann  eine  stärkere  Geschäftstätigkeit  einen  größeren  Umlauf  verlangt,  so 
stellt  sich  auch  der  Notenmangol  wieder  ein,  womit  das  Signal  zu  aber- 
maliger Erhöhung  der  Emission  gegeben  ist.  Infolgedessen  hat  die  Schweiz 
immer  zu  viel  Geld,  wenn  sie  keines  braucht,  und  keines,  wenn  sie  desselben 
bedarf.  So  geht  es  nun  schon  seit  fünfzehn  Jahren:  im  ersten  Halbjahr  Geldüber- 
fluß. im  zweiten  HalhjahrNotenmangel!  Jahr  für  Jahr  wird  die  Emission  erhöht, 
Jahr  für  Jahr  wachsen  der  effektive  und  der  ungedeckte  Notenumlauf,  und  Jahr 
für  Jahr  steht  der  Wechselkurs  auf  Frankreich,  dessen  Diskontosatz  eine 
große  Stabilität  zeigt,  im  ersten  Halbjahr  erheblich  schlechter  als  im  zweiten.* 
Nach  dieser  Übersicht  der  Entwickelung  des  schweizerischen  Notenbank- 
wesens unter  dem  Gesetze  vom  8.  März  1881  wollen  wir  noch  zwei  Seiten  der 
Frage  erörtern,  die  uns  ein  abschließendes  Urteil  ermöglichen  sollen  über  das 
Gesetz  selbst  und  seine  Wirkungen : wir  untersuchen  den  Grad  der  Liquidität  der 
schweizerischen  Emissionsbanken  *)  und  sodann  die  Frage,  ob  und  bis  zu  welchem 

bewilligten  Emissionssumtne  nicht  ubersteigen.*  Über  die  Art  der  Durchführung  dieser 
Vereinbarung  mögen  die  nachfolgenden  Zahlen  für  das  Jahr  1901  ein  Urteil  erlauben. 


Datum 

Zahl 

1 der  Tu» 

He*rbrtükno(  in  Prot. 
Em'aaioDMUinm* 

1.  Jänner  bin 

25.  Jänner  . . 

25 

— 

25.  Jänner  „ 

1.  März  . . . 

.85 

5 

1.  März  * 

25.  März  . . . 

24 

10 

25.  März  * 

1.  Juni  . . . 

«0 

•V 

1.  Juni  * 

23.  September 

114 

10 

23.  September  „ 

18.  Dezember  . 

86 

5 

18.  Dezember  „ 

31.  Dezember  . 

1.8 

361 

— 

Es  liegt  durchaus  nicht  in  unserer  Absicht,  die  günstigen  Wirkungen  dieses 
Spezialabkommens  leugnen  zu  wellen;  anderseits  dürfen  wir  aber  nicht  verschweigen, 
daü  wir  seinen  Wert  allzu  hoch  nicht  veranschlagen,  und  zwar  aus  dem  Grunde,  weil 
das  Abkommen  einen  freiwilligen  Charakter  trägt,  jede  einzelne  von  den  ihm  beigetretenen 
27  Banken  jederzeit  austreten  kann,  und  die  bisherigen  Erfahrungen  mit  derartigen 
freiwilligen  Vereinbarungen  der  schweizerischen  Emissionsbanken  es  befürchten  lassen, 
daü  es  gerade  im  Augenblicke,  wo  es  am  notwendigsten  wire,  den  Dienst  versagt. 

*)  Schweizer,  Zur  Beurteilung  des  schweizerischen  Notenbankwesens,  Zeit- 
schrift für  schweizerische  Statistik,  1888, 2.  Quartalheft,  und  Speiser,  Einige  Bemerkungen 
betreffend  die  Schrift  von  F.  F.  Schweizer:  .Zur  Beurteilung  des  schweizerischen 
Noetnbankwesens“,  Zeitschrift  für  schweizerische  Statistik.  1888.  8.  Quartnlbcft. 


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28 


Landmann. 


Grade  sie  der  vornehmsten  Aufgabe  einer  Notenbank,  der  Verteidigung  und 
der  Hochhaltung  der  Valuta  ihres  Landes,  gerecht  zu  werden  vermochten. 


Deckungsvsrhfiltnisse  der  schweizerischen  Emissionsbanken  auf  Grund 
der  Generalbilanzen  vom  31.  Dezember  der  Jahre  1885  und  1901. 


1885 

1901 

Passiven. 

In  Mill 

Francs 

60  Pro»,  der  eigenen  Noten  in  Zirkulation 

82 

134 

Andere  kurzfällige  Schulden 

89 

188 

Kurzfälliger  Teil  der  Spareinlagen  . * 

39 

118 

Total  der  stets  fälligen  Verbindlichkeiten 

209 

440 

Aktiven. 

VerfQgbare  Barschaft 

13 

22 

Andere  Kassenbestände  und  kurzfällige  Guthaben 

19 

62 

Verfügbare  Kasse  und  kurzfäJlige  Guthaben 

32 

84 

Portefeuille  (Diskontwechsel  und  Devisen) 

191 

233 

Bankmäßige  Deckung  

223 

317 

In  runden  Prozenten 

Deckung  der  ungedeckten  Zirkulation  durch  die  verfügbare  Barschaft 

16 

16 

w * * * und  der  kurzfälligen  Ver- 
bindlichkeiten dnreh  die  verfügbare  Barschaft 

6 

5 

Deckung  der  ungegeckten  Zirkulation  und  der  kurzfälligen  Schulden 
durch  die  verfügbare  Barschalt  und  die  kurzfälligen  Guthaben 

15 

18 

Bankmäßige  Deckung  aller  stets  fälligen  Verbindlichkeiten  . . 

106 

95 

Zur  Ergänzung  der  vorstehenden  Zahlen  fügen  wir  noch  eine  Über- 
sicht des  Gesamtstatus  der  schweizerischen  Emissionsbanken  am  81.  Dezem- 
ber 1001  bei,  der  nach  anderen  Grundsätzen  als  die  vorstehende  Tabelle 
aufgestellt  ist.  In  der  letztem  wurden,  gemäß  den  Bestimmungen  des  Batik- 
gesetzes, 40  Proz.  der  Notenzirkulation,  die  nicht  der  freien  Verfügung  der 
Bank  unterstehen,  von  der  Summe  der  Kassenbestände,  und  ebenso  auch 
der  gleiche  Betrag  von  der  Summe  der  Notenzirkulation  in  Abzug  gebracht. 
In  der  nachfolgenden  Tabelle  ist  diese  Position  an  beiden  Stellen  mit- 
berücksichtigt worden,  wodurch  die  Möglichkeit  gegeben  ist,  die  Wirkungen 
der  erwähnten  Gesetzesbestimmung  auf  die  Liquidität  der  Banken  am  deut- 
lichsten wahrzunehmen.  Es  schien  uns  außerdem  geboten,  uns  bei  der 
nachfolgenden  Tabelle  nicht  lediglich  mit  der  Reproduktion  der  vom  Inspektorat 
der  schweizerischen  Emissionsbanken  aufgestellten  Generalbilanz  aller  36 
Banken  zu  begnügen,  vielmehr  sollte  diese  Generalbilanz  durch  drei  weitere 
ergänzt  werden,  von  welchen  jede  ein  Urteil  über  eine  der  drei,  gesetzlich 
zulässigen  Bankkategorien  erlaubt,  und  die  auf  Grund  der  Jahresschlußbilanzen 
der  einzelnen  Banken  berechnet  wurden. 


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Generalstatus  den  schweizerischen  Emissionsbanken  am  31.  Dezember  1901. 


30 


I.tn<lmami. 


Deckungsverhältnisse  nach  Maßgabe  des  Generalstatus  vom 
31.  Dezember  1901. 


Art  der  Notendeckung 

Alle 

Banken 

Kantons- 

garantie 

Effekten- 

hinterlage 

Wechsel- 

portefeuille 

Deckung  in 

Prozenten 

Deckung  durch  den  Barvorrat: 
a)  der  Notenzirkulation * . . . 

52-82 

00*69 

4607 

5066 

b)  der  Notenzirkulation  und  der  kurzfälligen 
Schulden 

16-24 

10-93 

36-28 

1825 

c)  aller  .Schulden  an  Dritte 

6 10 

4-07 

85-78 

750 

Deckung  durch  Barvorrat,  sonstige 
Kassen  bestände  und  kurz  fällige  Gut" 
haben: 

a)  der  Xotenzirknlation  und  der  kurzfälligen 
Schulden 

4844 

48  45 

41'87 

46  11 

b)  aller  .Schulden  an  Dritte 

16-82 

21-68 

41-41 

1903 

Bankmäßige  Deckung: 

a)  der  Notenzirkulation  und  der  knrzfälligen 
Schulden  

79-81 

79  63 

9670 

82  13 

b)  aller  Schulden  an  Dritte 

29-85 

30*41 

95-23 

83  77 

Nach  Abzug  von  40  Proz.  von  der  Noten- 
zirkulation und  vom  Kassen  bestand: 

Deckung  durch  den  Barvorrat: 

der  Notenzirkulat  ion  und  der  kurzfälligen 
Schulden 

6-77 

552 

832 

6*00 

Deckungdnrch  Kasse  und  kurzfällige 
Guthaben: 

der  Notenzirkulalion  und  der  kurzfälligen 
Schulden 

32-54 

54  05 

15*27 

33-60 

In  mehr  als  einer  Beziehung  erscheinen  uns  die  vorstehenden  Zahlen 
beachtenswert.  Vor  allem  drängt  sich  uuserer  Aufmerksamkeit  die  Tatsache 
auf,  daß  die  bankmäßige  Deckung  aller  kurzfälligen  Verbindlichkeiten  von 
106  auf  95  Proz.  zurüekging  und  daß  die  Progression  im  Steigen  der 
Position  »verfügbare  Barschaft*  und  „kurztällige  Guthaben*  fast  um  die 
Hälfte  langsamer  war  als  die  der  Positionen  .ungedeckte  Notenzirkulation* 
und  „kurz fällige  Verbindlichkeiten*;  nicht  unbedeutend  erscheint  uns  dabe 
auch  der  Umstand,  daß  innerhalb  dor  letzterwähnten  Position  es  gerade 
der  kurzfällige  Teil  der  Sparkasseneinlagen  war,  der  die  stärkste  Ver- 
mehrung erfuhr,  was  qualitativ  die  Deckung  ungünstiger  erscheinen  läßt 
als  dies  hei  bloß  quantitativer  Betrachtung  der  Zahlenverhältnisse  den 
Anschein  hätte. 


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Die  Nntenbankfrage  io  der  Schweiz. 


31 


Wie  nicht  anders  zu  erwarten,  gestalten  sich  die  Verhältnisse  bei 
den  einzelnen  Bankkategorien  sehr  verschieden.  Während  die,  die  metallisch 
ungedeckten  60  Proz.  der  Notenzirkulation  durch  Wechsel  deckenden  Banken 
in  jeder  Beziehung  nahe  an  den  Status  heranreichen,  den  man  als  den 
Normalstatus  einer  Notenbank  bezeichnen  darf,  weichen  die  diese  60  Proz. 
durch  Kantonsgarnntie  deckenden  Banken  von  diesem  Normalstatus  am 
weitesten  ab.  Bei  den  ersteren  sind  Notenzirkulation  und  alle  sonstigen  kurz- 
fälligen  Verbindlichkeiten  mit  35*73  Proz.  metallisch  gedeckt,  bei  den 
letzteren  mit  16*21  Proz.;  die  metallische  Deckung  aller  Schulden  an  Dritte 
erreicht  bei  den  ersteren  36  bei  den  letzteren  bloß  610  Proz.,  die  bank- 
mäßige Deckung  aller  Schulden  an  Dritte  hei  den  ersteren  95*23  Proz.  bei 
den  letzteren  bloß  29*85  Proz.  Zieht  man  endlich  die  gesetzlich  festgelegten 
40  Proz.  der  Notenzirkulation  von  der  Summe  der  Kassenbestände  ab,  so 
weisen  bei  den  Wechselbankeu  die  verbleibenden  60  Proz.  der  Noten- 
zirkulation und  die  kurzfälligen  Verbindlichkeiten  eine  metallische  Deckung 
von  8*32  Proz.,  bei  den  Banken  mit  Kantonsgarantie  eine  solche  von  6*77 
Proz.  auf. 

Diese  Verschiedenheiten  sind  aber  nicht  allein  fflr  die  einzelnen, 
schwachsituierten  Banken  gefahrdrohend,  sondern  gefährden  die  Lage  des 
ganzen  schweizerischen  Notenbankwesens.  Wenn  einige  Banken  hundert- 
tausenden  von  sofort  rOckzahlbaren  Passiven  einen  verfügbaren  Kassenhestand 
von  nur  wenigen  tausend  Francs  gegenüberzustellen  vermögen,  so  stellen  sie 
hierdurch  nicht  allein  ihre  eigene  Liquidität  in  Frage  sondern  gefährden  auch 
die  Stellung  der  Gesamtheit;  den  es  unterliegt  keinem  Zweifel,  «laß  wenn  bei 
einer  einzelnen  Bank  die  Fatalität  der.  wenn  auch  nur  vorübergehenden 
Zahlungsstockung  eintreten  sollte,  die  Wirkungen  einer  Bolchen  auch  für 
alle  anderen  Banken  sich  fühlbar  machen  würden,  und  zwar  in  solchem  Maße, 
daß  auch  für  die  Zahlungsbereitschaft  der  mit  stärksten  Barbeständen  aus- 
gerüsteten Institut«  sich,  wenn  auch  allerdings  nur  vorübergehend,  Schwierig- 
keiten ergeben  würden. 

Fassen  wir  nun  nochmals  den  Gesamtstatus  aller  Banken  ins  Auge 
so  erregt  vorerst  der  Umstand  unsere  Aufmerksamkeit,  daß  von  je  100 
Francs  der  Aktiva  nur  16*16  auf  die  Barbestände  entfallen,  nur  12*65  auf 
das  Wcchselportefeuille,  und  der  ganze  Best  auf  langfristige  Anlageu,  von 
welchen  wieder  die  am  schwierigsten  realisierbaren  Hypothekenanlagen,  die 
der  Hauptsache  nach  die  Position  .andere  Forderungen  auf  Zeit*  bilden, 
57*08  Proz.  ausmachen.  Auch  hier  ist  nicht  außer  Acht  zu  lassen,  daß  diese 
Gliederung  der  Anlage  sich  bei  den  einzelnen  Kategorien  verschieden 
gestaltet.  Bei  den  Banken  mit  Wechseldeckung  der  Noten  entfallen  von  je 
100  Francs  der  Aktiven  63*31  auf  die  bankmäßige  Deckung,  1204  auf 
Effekten,  und  vom  verbleibenden  Best  nehmen  die  .anderen  Forderungen 
auf  Zeit*  nur  9*83  Francs  in  Anspruch;  hingegen  beträgt  von  100  Francs 
der  Aktiven  bei  den  Banken  mit  Kantonsgarantie  die  bankmäßige  Deckung 
nur  26*68  Francs,  die  EflVktenanlage  7*09  Francs,  und  die  .anderen  For- 
derungen auf  Zeit*,  der  Hauptsache  nach  also  die  Hypothekuranlagen, 


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32 


L&mlmann. 


62-90  Francs.  In  der  Mitte  zwischen  den  beiden,  ebenso  ihrer  Bedeutung 
als  der  Qualität  ihres  Status  nach,  stehen  die  Banken,  die  die  metallisch 
nicht  gedeckten  60  Proz.  ihrer  Notenzirkulation  durch  Hinterlage  von  Wert- 
papieren den  Koteninhabern  sicherstellen. 

Zum  Zwecke  einer  abschließenden  Beurteilung  dieser  Zahlen  stellen 
wir  dem  Gesamtstatus  der  schweizerischen  Emissionsbanken  vom  31.  De- 
zember der  Jahre  1886  und  1901  den  der  Deutschen  Beichsbank,  der 
Banque  de  France  und  der  Belgischen  Nationalbank  von  gleichem  Datum, 
und  den  der  Niederländischen  Bank  vom  31.  März  der  Jahre  1886  und  1902 
gegenüber.  (Siehe  Tabellen  S.  35  und  36.) 

Zu  allererst  drängt  sich  unserer  Beobachtung  bei  Betrachtung  dieser 
Zahlen  die  Erscheinung  auf,  daß  auf  der  ganzen  Linie  die  Deckungsver- 
hältnisse eine  Verschiebung  nach  unten  erfuhren.  Es  sank  die  metallische 
Deckung  der  Noten  bei  den  schweizerischen  Emissionsbanken  von  53  auf 
51  Proz.,  bei  der  Beichsbank  von  66  auf  59  Proz.,  bei  der  Bank  von 
Frankreich  von  88  auf  87  Proz.,  bei  der  Belgischen  Nationalbank  von  27 
auf  18  Proz.  und  bei  der  Niederländischen  Bank  von  77  auf  61  Proz.;  es 
sank  ferner  die  bankmäßige  Deckung  aller  kurzfälligen  Schulden  bei  den 
schweizerischen  Emissionsbanken  von  111  auf  82  Proz.,  bei  der  Deutschen 
Beichsbank  von  96  auf  81  Proz.,  bei  der  Banque  de  France  von  87  auf 
86  Proz..  bei  der  Belgischen  Nationalbank  von  95  auf  91  Proz.  und  hei  der 
Niederländischen  Bank  von  90  auf  86  Proz.  Fragen  wir  nach  den  Ursachen 
dieser  Verschiebungen,  so  erhalten  wir  eine  für  die  Beurteilung  der  Qualität 
des  Stätus  für  die  einzelnen  Institute  verschiedene  Antwort.  Wir  sehen 
hierbei  von  der  Belgischen  Nationalhank  ab,  die  in  mancher  Beziehung  eine 
Ausnahmstellung  einnimmt,  da  sie  einen  großen  Teil  ihrer  speziellen  Noten- 
deckung statt  in  gesetzlicher  Barschaft  oder  Barren  in  Devisen  halten  darf; 
ebenso  sehen  wir  von  der  Niederländischen  Bank  ab,  bei  der  die  Ver- 
schiebungen sich  in  sehr  engen  Nahmen  bewegen  und  die  überhaupt  keine 
bedeutendere  Änderungen  ihres  Status  aufweist.  Es  verbleiben  demnach 
die  schweizerischen  Emissionsbanken,  die  Banque  de  France  und  die  Beichs- 
bank, für  die  dieses  Sinken  des  Deckungsverhältnisses  erklärt  werden  soll. 
Ein  Blick  auf  die  tabellarische  Übersicht  genügt,  um  die  Antwort  zu 
finden:  bei  der  Banque  de  France  und  der  Deutschen  Beichsbank  rührt  die 
Verschiebung  von  der  außerordentlich  raschen  Vermehrung  der  dem  Giro- 
verkehr zu  Grunde  liegenden  unverzinslichen  Depositengelder  her,  die  auf 
der  Sollseite  der  Bilanz  eine  bedeutende  Steigerung  der  Position  der  stets 
Billigen  Verbindlichkeiten  nach  sich  ziehen,  während  ihnen  auf  der  gegen- 
überstehenden Seite  keine  entsprechende  Vermehrung  der  stets  verfügbaren 
Mittel  entspricht,  und  auch  aus  banktechnischen  Gründen  nicht  in  gleich 

hohem  Grade  wie  den  Noten  zu  entsprechen  braucht;  denn  es  ist  ehen  der 

durch  diese  unverzinslichen  Depositeneinlagen  getragene  Giroverkehr,  der 
die  Differenz  zwischen  der  Summe  der  Umsätze  auf  der  einen  und  der 

Summe  der  für  diese  Umsätze  benötigten  Zirkulationsmittel  auf  der 

anderen  Seite  immerfort  erweitert  und  dadurch  der  Bank  die  Möglichkeit 


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Schweizerische  Emissionsbanken  und  ausländische  Notenbanken. 

Summarische  Bilanzen  auf  Jahresschluss  1886  und  18U1. 


Die  Notcnbankfra^e  in  der  Schweiz. 


33 


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Gliederungs-  und  Deckungsverhältnisse  nach  Maßgabe  der  summarischen  Berichte. 


34 


Landm&nn. 


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Die  Noten  bank  frage  in  der  Schweis. 


35 


gibt,  hei  der  Zusammensetzung  ihrer  bankmäßigen  Deckung  das  Verhältnis 
zwischen  Bargeld  und  Wechselportefeuille  zu  Gunsten  des  letzteren  zu 
verschieben.  Von  je  100  Francs  der  Aktiven  betrug  denn  auch  der  Kassen- 
bestand bei  der  Reichsbank  im  Jahre  1886  58  Francs,  im  Jahre  1901 
46  Francs,  während  gleichzeitig  der  Anteil  des  Wechselportefeuilles  an 
der  Gesamtsumme  der  Aktiven  von  32  auf  44  Proz.  stieg.  — Anderswo  liegt 
die  Erklärung  bei  den  schweizerischen  Emissionsbanken.  Mit  wenigen  Aus- 
nahmen gehört  der  Giro-  und  Umschreibuugsverkehr  nicht  in  den  Kreis 
ihrer  Geschäfte  und  es  erscheint  deshalb  von  vornherein  ausgeschlossen, 
daß  bei  ihnen  der  gleiche  Grund  wie  bei  den  beiden  vorerwähnten  Banken  zur 
Erklärung  der  Verschiebung  der  Deckungsverhältnisse  herangezogen  werden 
könnte.  Bei  ihnen  liegt  der  Grund  in  einer  von  der  der  anderen  Banken 
völlig  abweichenden  Entwickelung  der  Gliederung  der  Anlage  auf  der  einen 
und  der  Entwickelung  der  Passivgeschäfte  auf  der  anderen  Seite.  Wohl 
stieg  bei  ihnen  die  Summe  der  Kassenbestände  und  der  disponiblen  Gut- 
haben von  96  auf  180  Mill.  Francs,  d.  h.  fast  um  das  Doppelte,  aber 
andererseits  stieg  auch  die  Summe  der  Notenzirkulation  und  der  stets  fälligen 
Verbindlichkeiten  ebenfalls  um  fast  das  Doppelte,  während  das  Wechsel- 
portefeuille lediglich  von  203  auf  223  Mill.  Francs  stieg,  und  somit  die 
bankmäßige  Deckung  der  kurzfälligen  Verbindlichkeiten  von  111  Proz.  im 
Jahre  1886  auf  82  Proz.  im  Jahre  1901  sinken  mußte.  Der  völlig  ver- 
schiedenartige Charakter  dieser  Verschiebungen  kommt  am  deutlichsten  in 
der  Tatsache  zum  Ausdruck,  daß  während  die  bankmäßige  Deckung  der 
Banknoten  bei  der  Deutschen  Reichsbank  von  124  auf  130  Proz.  stieg,  sie 
hei  den  schweizerischen  Emissionsbanken  von  223  auf  185  Proz.  sank,  ob- 
wohl die  Banknoten  bei  der  Reichsbank  immer  noch  71  Proz.  aller  kurz- 
fälligen Verbindlichkeiten,  bei  den  schweizerischen  Emissionsbanken  nur 
42  Proz.  derselben  bilden.  Ebenso  sehen  wir  auf  der  Seite  der  Aktiven  die 
ungünstigste  Zusammensetzung  im  Statns  der  schweizerischen  Emissions- 
banken. Von  je  100  Francs  der  Aktiven  entfallen  auf  die  bankmäßige 
Deckung  bei  der  Deutschen  Reichsbank  85,  bei  der  Banque  de  France  81, 
bei  der  Belgischen  Nationalbank  81,  bei  der  Niederländischen  Bank  77 
und  bei  den  schweizerischen  Emissionsbanken  24  Francs. 

Die  einzige  Lichtseite,  welche  die  schweizerischen  Emissionsbanken 
aufweisen,  ist  das  Verhältnis  zwischen  den  eigenen  Geldern  ' Aktienkapital 
plus  Kevervefond)  und  den  Schulden  an  Dritte:  dies  ist  darauf  zurOckzu- 
fflhren,  dass  das  Gesetz  vom  8.  März  1881  das  Notenkontingent  jeder  ein- 
zelnen Bank  auf  die  doppelte  Höhe  des  Aktien-  beziehungsweise  Dotations- 
kapitals limitiert,  was  in  der  Folge  ein  starkes  Steigen  der  eigenen  Bank- 
kapitalien bewirkte.  Die  eigenen  Gelder  bilden  bei  den  schweizerischen 
Emissionsbanken  rund  14  Proz.  der  Passiven,  hei  der  deutschen  Reichshank 
nur  rund  8 Proz.,  bei  der  Banque  de  France  kaum  5 Proz.;  es  liegt  außer 
aller  Wahrscheinlichkeit,  auch  wenn  sehr  pessimistisch  gerechnet  wird,  daß 
annähernd  der  siebente  Teil  aller  Aktiven  der  schweizerischen  Emissions- 
banken endgültig  verloren  gehen  könnte  — und  für  so  viel  bieten  die  eigenen 

8* 


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36 


Landmann. 


Gelder  Sicherheit.  Die  schließlich«  Liquidität  der  Banken,  auf  die  es 
den  Gesetzgebern  im  Jahre  1881  hauptsächlich  ankam.  erscheint  demnach 
über  jeden  Zweifel  sichergestellt.  Dieses  Resultat  wird  auch  durch  die 
Prüfung  der  einzelnen  Posten  auf  ihre  Disponibilität  hin  nicht  beeinträchtigt. 
Es  ist  aber  auch  nie  in  Frage  gestellt  worden. 

Für  die  anderen  in  Frage  kommenden  Punkte  ergibt  die  vergleichende 
Untersuchung  folgendes  Resultat:  1.  bezüglich  der  Bardeckung  der 
Noten  Zirkulation  stehen  die  schweizerischen  Emissionsbanken  hinter 
der  Keichsbank,  der  Ranque  de  France  und  der  Niederländischen  Bank,  und 
nur  die  Belgische  Nationalbank  weist  hierfür  ein  noch  ungünstigeres  Ver- 
hältnis auf;  2.  bezüglich  der  metallischen  Deckung  aller  kurz- 
fälligen Schulden  nehmen  sie  ebenfalls  den  vierten  Platz  ein  und 
werden  auch  hier  nur  von  der  Belgischen  Nationalbank  unterboten;  3.  be- 
züglich der  metallischen  Deckung  aller  Schulden  an  Dritte 
nehmen  die  schweizerischen  Emissionsbanken  den  letzten  Rang  ein:  sie 
beträgt  bei  ihnen  7 Proz..  bei  der  Belgischen  Nationalbank  15  Proz.,  bei 
der  Reichsbauk  42  Proz.,  bei  der  Niederländischen  Bank  60  Proz.,  bei  der 
Banque  de  France  69  Proz.;  4.  bezüglich  der  bankmäßigen  Deck'ung 
aller  Schulden  nehmen  die  schweizerischen  Emissionsbanken  ebenfalls 
den  letzten  Rang  ein,  und  es  ist  hier  die  Differenz  zwischen  ihnen  und  den 
sonstigen  Banken  am  allergrößten:  sie  beträgt  33  Proz.  gegenüber  einer 
zwischen  90  und  81  Proz.  sich  bewegenden  Deckung  bei  den  vier  übrigen 
untersuchten  Instituten. 

Wir  fassen  das  Ergebnis  dieser  Untersuchungen  in  den  Worten  zu- 
sammen: der  Zweck  des  Gesetzes  vom  8.  März  1881,  die  Noteninhaber  vor 
definitiven  Verlusten  zu  bewahren,  ist  in  vollem  Umfange  erreicht  worden; 
von  dem  Normalstatus  einer  Notenbank,  der  nicht  bloß  die  definitive,  sondern 
die  aktuelle  Liquidität  der  Bank  jederzeit  sichert,  haben  sich  die  schweizerischen 
Emissionsbanken  seit  dem  Inkrafttreten  des  Gesetzes  je  länger  je  mehr 
entfernt. 

Der  Wertgang  der  schweizerischen  Valuta  kommt  am  deutlichsten  in 
der  Entwickelung  des  Kurses  der  Devise  Paris  zum  Ausdruck.  Paris  ist 
der  Platz,  auf  dem  über  den  weitaus  größten  Teil  der  schweizerischen 
Verbindlichkeiten  im  internationalen  und  besonders  im  überseeischen  Ver- 
kehr abgerechnet  wird.  Die  meisten  Bezüge  von  Korn,  Baumwolle,  Seide, 
Kaffee,  Öl,  Petroleum  u.  s.  w.,  die  aus  Italien,  Nord-  und  zum  Teil  auch 
Südamerika,  Rumänien,  Rußland  stammen,  können  nur  durch  Rimessen  auf 
Paris  reguliert  werden;  ein  Teil  der  Bezüge,  namentlich  der  aus  Indien 
und  Südamerika,  wird  zwar  in  London  zahlbar  gestellt,  im  Resultate  aber 
fast  stets  durch  Vermittlung  des  Pariser  Platzes  beglichen.  Betrachten  wir 
nun  die  Entwickelung  des  französischen  Wechselkurses,  so  bietet  sich  uns 
ein  überraschend  ungünstiges  Bild  dar. 


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Die  Notenbankfrage  in  der  Schweiz. 


87 


Jahr 

Durchschnittlicher 

Kurs 

Niedrigster 

Kurs 

Höchster 

Kurs 

1889  . 

. . . 10014 

99-90 

100-32 

1890  . 

. . . 10016 

100-00 

100-32 

1891  . 

. . . 100-22 

100-00 

100-45 

1892  . 

. . . 10010 

9985 

100-31 

1893  . 

. . . 10013 

99-90 

100-39 

189  t . 

. . . 100  04 

99-89 

100-26 

1895  . 

. . . 10010 

99S5 

100-34 

1896  . 

. . . 100-24 

99-85 

100-48 

1897  . 

. . . 100-35 

100-00 

100-69 

1898  . 

. . . 100-36 

10012 

100-71 

1899  . 

. . . 100-49 

10022 

100-80 

1900  . 

. . . 100-54 

100-29 

100-80 

1901  . 

. . . 100  -14 

9975 

100-52 

Diese  Zahlen  sprechen  eine  selten  deutliche  Sprache.  Sie  bezeugen, 
daß  der  Kurs  der  Devise  Paris  auf  den  schweizerischen  Börsen  seit  dem 
Jahre  1804  bis  inkl.  1900')  in  einem  ununterbrochenen  Steigen  begriffen 
ist;  er  erreichte  im  Jahre  1900  einen  Durchschnittsstand,  der  höher  ist,  als 
der  höchste  Kurs  der  Jahre  1889 — 1896,  und  auch  der  niedrigste  Kurs 
des  Jahres  1900  steht  über  dem  Goldpnnkte  und  ist  höher  als  der  Durch- 
schnittskurs der  Jahre  1889 — 1896. 

Vergleichen  wir  nun  mit  dem  Kurse  der  Devise  Paris  die  Kurse  auf 
London  und  auf  die  deutschen  Bankplätze,  so  ersehen  wir,  daß  zwischen 
den  beiden  letzteren  und  dem  erstgenannten  ein  vollständiger  Parallelismus 
vorherrscht. 


Jahr 

Durchschnittlicher  Jahreskurs  der  Devisen  auf 

Paris  >) 

London  *) 

Deutsche  Bankplätze4) 

1892  . 

. . 10013 

100-72 

12354 

1893  . 

. . 10013 

100-84 

123-63 

1894  . 

. . 10004 

100-64 

123-38 

1895  . 

. . 10010 

100-96 

123-51 

1896  . 

. . 100-24 

100-92 

123-71 

1897  . 

. . 100-35 

100-92 

123-88 

1898  . 

. . 100-36 

10140 

12106 

1899  . 

. . 100-49 

101-32 

12391 

1900  . 

. . 100-54 

101-04 

123-48 

1901  . 

. . 10014 

100-76 

123-33 

Zur  Erklärung  dieser  steigenden  Tendenz  der  auswärtigen  Wechselkurse 
wurde  vor  allem  die  dauernde  Steigerung  der  Passivität  der  schweizerischen 


*)  Die  Besserung  des  Jahres  1901  findet  ihre  ursächliche  Erklärung  bei  der  Dar- 
stellung der  Geldmarktverhältnisse  des  überhaupt  eine  Ausnahmestellung  einnehmenden 
Jahres  1901  auf  8.  48.  47. 

7)  Für  100  Francs. 

*)  Für  4 Pf.  Sterl. 

*)  Für  100  M. 


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88 


Land  mann. 


Handelsbilanz  und  als  deren  Folge  eine  ungünstige  Gestaltung  des  Saldos 
der  Zahlungsbilanz  herangezogen. 

Es  ist  bekannt,  daß  die  schweizerische  Handelsbilanz  sich  in  den 
letzten  15  Jahren  wesentlich  verschlechtert  hat.  Eine  Keilte  der  das  Land  sie 
umgebenden  Staaten  ist  zum  Schutzzoll  flbergegangen  und  es  konnte  in  der 
Folge  eine  Reihe  von  Artikeln  nicht  mehr  in  den  früheren  Quantitäten  oder 
überhaupt  gar  nicht  mehr  nach  Frankreich.  Deutschland,  Österreich  und 
Italien  ausgeführt  werden;  auf  der  anderen  Seite  nahm  die  Einfuhr  der 
fremden  Produkte  stets  zu  und  es  konnte  nicht  ausbleiben.  daß  das  Saldo 
der  Handelsbilanz  ein  immer  größeres  Minus  aufweist.  Die  Mehreinfuhr, 
die  im  Jahre  1885  bloß  47  Mil).  Francs  betrug,  stieg  bis  zum  Jahre  1899 
bis  auf  363  Mill.  Francs.  Zur  Beurteilung  dieser  Ziffern  darf  allerdings 
nicht  unerwähnt  bleiben,  daß  die  Steigerung  der  Mehreinfuhr  nur  zum 
weitaus  geringsten  Teile  auf  die  Steigerung  der  Einfuhr  von  Fabrikaten 
zuröckzuführen  ist,  vielmehr  in  der  Hauptsache  ihren  Grund  in  der  seit 
Mitte  der  90er  Jahre  in  der  Schweiz  vor  sich  gehenden  bedeutenden  wirt- 
schaftlichen Expansion  findet,  die  die  Festlegung  größerer  Mittel  in  aus- 
ländischen Maschinen  etc.,  eine  gesteigerte  Bautätigkeit  und  einen  sehr 
gesteigerten  Bedarf  nach  ausländischen  Rohstoffen  und  Halbfabrikaten 
nach  sich  zog.  Gegenwärtig  sind  auch  schon  die  Früchte  der  Gründung 
neuer  und  der  Erweiterung  der  bestehenden  Industrien  zu  erblicken.  Seit 
Mitte  des  Jahres  1898  ist  der  Export  der  Schweiz  unausgesetzt  von  Quartal  zu 
Quartal  gestiegen;  wäre  nicht  der  gewaltige  Aufschlag  in  den  Preisen  der  Roh- 
stoffe eingetreten,  so  wüide  schon  int  Jahre  1899  eine  Abnahme  der  Mehreinfuhr 
zu  konstatieren  gewesen  sein;  trotz  dieser,  noch  1900 andauernden  Hausse  sank 
der  Betrag  der  Mehreinfuhr  von  rund  363  Mill.  Francs  im  Jahre  1899  auf 
375  Mill.  Francs  im  Jahre  1900  und  auf  213  Mill.  Francs  im  Jahre  1901. 

Betrachten  wir  die  ziffermüßige  Entwickelung  des  Saldos  der  Handels- 
bilanz mit  der  Entwickelung  des  französischen  Wechselkurses,  so  ist  ein 
Parallelismus  zwischen  den  beiden  Entwickelungsreihen  unverkennbar. 


Jahr 

Einfuhr  ( 

1 

Ausfuhr 

übem-hull 
der  Einfuhr 

Mehreinfuhr 
in  Proz.  der 

Durch* 
schnittakure 
der  Devise 

i n 

Mill.  F r a n c 8 

auf  Paris 

1895 

915*85 

663  8G 

252-49 

381 

100-10 

1896 

993-85 

668*26 

305-59 

457 

100-24 

1897 

1081-21 

693-17 

338-04 

48-8 

100-35 

1898 

1065-30 

728-82 

841-47 

47-2 

100-36 

1899 

1159  94 

796-01 

863-93, 

31-5 

100-49 

1900 

1111-11 

836-08 

27.V03 

32-8 

100-54 

1901 

1050  00 

836-56 

213-43 

25-5 

100-14 

1902') 

529- 

417-85 

111*16 

26-8 

100  39 

*)  Erstes  Halbjahr;  provisorische  Werte. 


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Die  Notenbankfrage  in  der  Schwein. 


39 


Es  unterliegt  wohl  keinem  Zweifel,  daß  diesem  Parallelismus  ein 
Kausalnexus  zwischen  den  beiden  Erscheinungen,  der  Verschiebung  des 
Saldos  der  Warenbilanz  und  der  Gestaltung  der  auswärtigen  Wechselkurse,  zu 
Grunde  liegt.  Zu  ihrer  Erklärung  diente  in  der  Schweiz  längere  Zeit  hindurch 
eine  .Verschulduiigstheorie*,  die  mit  einer  scharfen  Zuspitzung  auf  die 
Warenbilanz  am  geschicktesten  von  Dr.  Geering1'  vertreten  wurde;  er 
erblickt  in  der  Handelsbilanz  den  ziffermäßig  am  sichersten  greifbareu 
und  fflr  die  Schweiz  den  weitaus  wichtigsten  Teil  der  Zahlungsbilanz 
und  nimmt  daher  keinen  Anstand,  die  Bewegung  der  schweizerischen 
Wechselkurse  im  besondern  Maße  vom  Saldo  der  Handelsbilanz  abhängig 
zu  erklären. 

Gegen  Ende  der  !>0er  Jahre  beginnen  die  der  G e e r i n g’schen  Theoiie 
gegenflberstehendcn  skeptischen  Stimmen  laut  zu  werden.’)  Der  Jahresbericht 
des  schweizerischen  Handels-  und  Industrievereines  fflr  das  Jahr  1898  bemerkt: 
,Es  scheint  fast,  als  ob  die  ungflnstige  Handelsbilanz  der  Schweiz  gegenüber 
dem  Auslande  zur  Begründung  der  Entwertung  der  Valuta  nicht  mehr  aus 
reichte.*  Die  weitere  Entwickelung  scheint  die  Geering’sche  Theorie 
nicht  zu  stützen:  nach  der  in  den  Jahren  1899  und  1900  eingetretenen 
beispiellosen  Besserung  der  schweizerischen  Handelsbilanz  ist  der  durch- 
schnittliche Jahroskurs  der  Devise  Paris  nicht  entsprechend  gesunken,  und 
sein  Sturz  im  Jahre  1901  kann  nicht  ausschließlich  durch  die  Besserung 
der  Handelsbilanz  erklärt  werden.  — In  einer  anderen  Variante  wurde  die 
Verschuldungstheorie  von  W.  Speiser  vertreten,  der  im  Gegensätze  zu 
Geering  den  Hauptnachdruck  nicht  auf  die  Passivität  der  Schweiz  im 
Warenverkehr«,  sondern  auf  die  Passivität  in  der  internationalen  Kapital 
bilanz  legte.  Er  schiebt  die  starke  Verschuldung  der  Schweiz  dem  AuBlande 
gegenüber  in  den  Vordergrund,  die  auf  die  starke  Beteiligungen  ausländischer, 
besonders  französischer  Kapitalien  an  schweizerischen  Unternehmungen,  und 
auf  den  sehr  bedeutenden  Anteil  der  im  Auslande,  speziell  in  Frankreich 
untergebrachten  schweizerischen  Wertpapiere  zurflekzufflhren  ist.  Das  durch 
die,  die  Unternehmungslust  im  eigenen  Lande  einschläfernde  Wirtschafts- 
politik Herrn  M e 1 i n e s freigewordene  französische  Kapital  habe  sich  dem 
Auslande,  und  aus  einer  Beibe  teils  historischer,  teils  wirtschaftlicher 
Gründe  in  ganz  besonders  hohem  Grade  der  Schweiz  zugewendet,  und  zwar 
ebenso  in  der  Form  fester  Anlagen,  als  zur  vorübergehenden  Verwendung. 
Die  in  der  Folge  nach  Frankreich  zu  leistenden  Zinszahlungen,  die  nach 
Frankreich  remittierten  Dividenden  und  endlich  die  gelegentlich  vorkommenden 
Kapitalsrückzahlungen  steigern  in  sehr  hohem  Grade  den  Umfang  der  nach 
Frankreich  zu  leistenden  Zahlungen  und  damit  natürlich  auch  den  Stand  der 
Devisenkurse. 


')  Geering,  Die  Statistik  der  auswärtigen  Wechselkurse,  Zeitschrift  für  schwei- 
zerische Statistik.  1897,  6.  Lieferung,  und  Derselbe,  Die  Vaintsfrage,  Separatabdruck 
aus  der  Neuen  Züricher  Zeitung  vom  8 — 20.  Juni  1900. 

’)  Eggenberger,  Zur  Beurteilung  unserer  Handelsbilanz,  Schweizerische  Blatter 
fflr  Wirtschafte-  und  Sozialpolitik,  1898,  8.  3 l't ff . 


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40 


Landiuann. 


Was  von  vornherein  gegen  die  , Verschuldungstheorie*  in  der  von  Geering 
vertretenen  Fassung  zu  sprechen  scheint,  ist  die  Tatsscfce.  daß  wenn  die 
schweizerische  Volkswirtschaft  tatsächlich  von  Jahr  zu  Jahr  so  erhebliche 
Defizite  machen  würde,  wie  es  der  durch  diese  Theorie  erklärten  Hohe 
der  auswärtigen  Wechselkurse  entspräche,  dies  notwendigerweise  im  Lande 
selbst  nach  zwei  Seiten  hin  uicht  ohne  Wirkung  verbleiben  könnte:  es  müßte 
mit  Notwendigkeit  zu  einer  Abnahme  der  Steuerkraft  des  Landes  und  zu 
einer  Verschlechterung  der  Lebensführung  der  breiten  Massen  des  Volkes 
fahren.  Nun  ist  aber  in  fast  allen  Kantonen  die  Steuerkraft  in  einem  kon- 
tinuierlichen Steigen  begriffen,  und  es  läßt  sich  kaum  beweisen,  daß  die 
steigenden  Anforderungen  an  den  Standard  of  life,  von  Rückschlägen  in 
Zeiten  der  Krise  abgesehen,  nicht  befriedigt  werden  könnten. 

Beide  Theorien  sind  wohl  geeignet,  eine  Erklärung  der  steigenden 
Devisenkurse  zu  geben,  keine  der  beiden  genügt  aber,  um  die  Tatsache 
zu  erklären,  daß  der  Kurs  der  Devise  Paris  sich  in  den  Jahren  1896  bis 
1900  im  Jahresdurchschnitte  um  4 (1896)  bis  34  (1900)  Punkte  über  dem 
Goldpunkte  zu  halten  vermochte,  daß  die  Kursmaxima  lange  Zeit  hindurch 
über  dem  Goldpunkte  standen  und  daß  selbst  die  Kursminima  in  den  Jahren 
1899/1900  den  Goldpunkt  nicht  erreichen  konnten. 

Eine  Erklärung  dieser  Erscheinung  gab  zum  ersten  Male  Kalkmanu 
in  seinen  .Untersuchungen  über  das  Geldwesen  der  Schweiz  und  die  Ursachen 
des  hohen  Standes  der  auswärtigen  Wechselkurse*,  die  zwar  von  mancher 
Seite  einer  scharfen  Kritik  begegneten,  bis  heute  aber  keine  Widerlegung 
erfuhren.  Seine  Ausführungen  liegen  den  nachfolgenden  in  der  Hauptsache 
zu  Grunde,  ohne  daß  wir  aber  seinen  Standpunkt  in  allen  Details  zu  teilen 
vermöchten.1) 

Das  System  der  Goldprämienpolitik  der  Bank  von  Frankreich  ist 
bekannt;  es  ist  auch  bekannt,  daß  die  Goldprämienpolitik  bisher  in  Frank- 
reich selbst  keine  ungünstigen  Folgen  hatte,  und  zwar  aus  dem  einfachen 
Grunde,  weil  Frankreich,  angesichts  des  günstigen  Saldos  seiner  Zahlungs- 
bilanz, einer  Goldprämienpolitik  eigentlich  nicht  bedarf.’)  Bei  dem  zeitweilig 
sich  umstellenden  größeren  Geldbedarf  für  Zahlungszwecke  nach  dem  Aus- 
land macht  es  der  mit  Gold  gesättigte  französische  Geldumlauf  möglich, 
Gold  aus  dem  freien  Verkehre  zu  ziehen,  wodurch  dem  Steigen  der  Gold- 
prämie eine  Grenze  gesetzt  ist:  zur  Zeit  dauernd  ungünstiger  Gestaltung 
des  internationalen  Geldmarktes  hat  die  Bank  von  Frankreich  stets  die 
Goldprämienpolitik  verlassen  und  zu  einer  Diskontoerhöhung  schreiten 
müssen,  da  die  Goldprämienpolitik  nicht  im  stände  war,  die  Goldbestände 
zu  verteidigen. 

Anders  sind  die  Wirkungen  der  französischen  Goldprämienpolitik  auf 
die  Schweiz,  die  als  Mitglied  der  lateinischen  Münzkonvention  in  inniger 
Verbindung  zum  französischen  Geldmarkt«  steht,  und  infolge  ihrer  ßank- 

*)  Kalkmann,  a,  a.  0.,  passim. 

’)  Itosendorff,  Die  Goldprämienpolitik  der  Banque  de  France  und  ihre  deutschen 
Lobredner,  Conrads  Jahrbücher,  Ul.  F..  XXI.  Bd  , S.  682  ff. 


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Die  Notcnbaulifrago  in  der  Schweiz. 


41 


Verfassung  zwar  die  Nachteile,  nicht  aber  die  Vorzüge  dieser  Verbindung 
geniefit. 

Seit  Jahren  rüstet  man  sich  in  der  Schweiz  für  den  Übertritt  zur 
Goldwährung  und  in  Anbetracht  dieses  bevorstehenden  Währungsweehsels 
und  der  starken  Entwertung  der  silbernen  5 Francs-Stücke  sahen  sich  die 
Banken  veranlaßt,  ihre  Silberbestände  abzustofien.  Während  ihre  gesamte 
Metallreserve  vom  Jahre  1883  bis  1901  von  57  auf  117  Mill.  Francs  stieg, 
sanken  im  gleichen  Zeiträume  die  Silberbestände  von  35  auf  11  Mill.  Francs 
und  bilden  gegenwärtig  nur  noch  etwa  10  Proz.  der  gesamten  Barbestände. 

Es  sind  nun  zwei  Gründe,  die  die  Banken  veranlassen,  trotz  dieser 
reichen  Goldbestände  kein  Gold  in  die  Zirkulation  zu  setzen  und  die  im 
Resultate  dazu  führen,  daß  die  Schwankungen  des  Barvorrathes  sich  fast 
ausschliefilich  an  den  Silberheständen  vollziehen.  Die  Banken  halten  das 
Gold  fest,  um  bei  Einführung  der  Goldwährung  gerüstet  dazustehen  und 
sind  obendrein  durch  die  französische  Goldprämie  zu  dieser  Politik  gezwungen. 

Da  infolge  der  Bestimmungen  der  lateinischen  Mttnzkonventiou  die 
französischen  und  schweizerischen  Goldmünzon  und  silbernen  5 Francs-Stücke 
in  beiden  Ländern  unbegrenzte  Zahlungskraft  haben,  so  würde  der  französische 
Verkehr  beim  Vorhandensein  einer  Goldprämie  in  Paris  und  bei  gleichzeitig 
vorhandener  Möglichkeit,  an  den  Schaltern  der  schweizerischen  Banken  Gold 
ohne  Prämie  zu  erhalten,  seine  gesamten  Zahlungsverpflichtungen  nach 
dem  Auslande  auf  dem  Umwege  über  die  Schweiz  begleichen;  die  inter- 
nationale Arbitrage  würde  gewiß  auch  nicht  versäumen,  Vorteil  aus  einer 
derartigen  Sachlage  zu  ziehen,  sie  würde  aus  Frankreich  Silbergeld  nach 
der  Schweiz  versenden,  es  hier  al  pari  gegen  Gold  einwechseln,  das  Gold 
dann  nach  Frankreich  importieren,  dort  mit  einem  Aufgeld  verkaufen,  und 
diese  Operationen  würden  sich  so  lange  wiederholen,  bis  der  Goldbestand 
der  schweizerischen  Banken  auf  Nichts  geschmolzen  wäre.  Ist  nun  die 
Schweiz  Deutschland  oder  England  gegenüber  zahlungsverpflichtet,  oder 
bewirken  Differenzen  zwischen  der  Anspannung  des  schweizerischen  und  der 
der  fremden  Geldmärkte  Kapitalabfluß  nach  dem  Ausland  und  übersteigt 
der  Betrag  der  nach  dem  Auslande  zu  leistenden  Zahlungen  die  Summe  der 
in  der  Schweiz  befindlichen  Devisen,  so  muß  der  Fehlbetrag  durch  Gold- 
versendung erfolgen.  Da  aber  die  Notenbanken  kein  Gold  al  pari  heraus- 
geben, dieses  auch  im  Verkehre  nicht  vorhanden  ist  und  deshalb  nicht,  wie 
in  Frankreich,  aus  dem  Verkehre  gezogen  werden  kann,  so  erhöhen  sich  die 
Kosten  des  Goldexportes  um  den  Betrag  der  Goldprämie,  was  im  Besultate 
gleichbedeutend  ist  mit  einer  Erhöhung  des  Goldpunktes  um  den  gleichen 
Betrag.  Da  jedoch  stets  die  Möglichkeit  vorhanden  ist,  mit  den  Silber- 
münzen des  lateinischen  Mflnzbundes  gegen  Bezahlung  der  Prämie  Gold 
aus  Frankreich  zu  beziehen,  so  ist  dem  Steigen  der  Devisenkurse  auf  die 
dem  lateinischen  Mflnzbunde  nicht  angehörenden  Staaten  eine  obere  Grenze 
gesetzt,  die  stets  gefunden  werden  kann,  wenn  man  dem  Betrage  der  Kosten 
der  Versendung  von  Gold  aus  Frankreich  nach  dem  die  Zahlung  empfangenden 
Lande  und  der  Umwandlung  derselben  in  Zahlungsmittel  des  betreffenden 


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42 


LamiinRnn. 


Landes  den  Betrag  der  Versendungskosten  des  Silbers  aus  der  Schweiz  nach 
Frankreich  und  den  der  in  Paris  zu  bezahlenden  Prämie  zuzählt. 

In  der  Zugehörigkeit  der  Schweiz  zur  lateinischen  Münzkonvention  und 
in  den  Wirkungen  der  französischen  Goldprämienpolitik  Hegt  demnach  die 
Erklärung  der  Steigerung  der  Devisenkurse  auf  alle  dem  Münzbunde  nicht 
angehörenden  Staaten  über  den  Goldpunkt.  Die  Frage  ist  nun:  wie  ist  die 
Tatsache  zu  erklären,  daß  auch  der  Kurs  der  französischen  Devisen  trotz 
der  Währungseinheit  die  Goldpunkte  so  beträchtlich  überschreiten  konnte? 

Der  Zahlungsverkehr  zwischen  der  Schweiz  und  Frankreich  gestaltet 
sich  in  der  Regel  in  der  Weise,  daß  die  zu  leistenden  Zahlungen  durch 
Devisen  und  Checks  nach  Frankreich  remittiert  werden.  Da  in  der  Regel 
aus  den  aHsgefflhrten  Gründen  der  Betrag  der  nach  Paris  zu  leistenden 
Zahlungen  größer  ist  als  der  Betrag  der  schweizerischen  Guthaben,  so  kann 
die  Nachfrage  nicht  gedeckt  werden  und  der  Kurs  der  Devise  Paris  schnellt 
empor.  Erreicht  er  100  25.  so  wird  Silbereiport  nach  Frankreich  rentabel. 

Die  meisten  großen  Notenbanken,  so  vor  allem  die  Deutsche  Reichs- 
bank und  die  Österreichisch-Ungarische  Bank  gehen  in  ähnlichen  Situationen 
folgendermaßen  vor:  sie  werfen  einen  Teil  der  in  ihren  Portefeuilles  liegenden 
Devisen  auf  den  Markt,  wodurch  der  Kurs  der  Devise  gedrückt  wird 
und  die  Gefahr  eines  Goldeiportes  fürs  nächste  abgewendet  ist.  Diese  den 
Devisenkurs  drückende  Wirkung  der  Devisenverkäufe  seitens  der  Zentral- 
bank wird  durch  ein  weiteres  Moment  unterstützt:  da  eine  langjährige 
Erfahrung  lehrt,  daß  im  Augenblicke,  wo  die  Reichsbank  z.  B.  englische 
Devisen  zu  verkaufen  beginnt,  der  Devisenkurs  auf  London  schon  seinen 
Höhepunkt  erreicht  hat  und  eine  weitere  Steigerung  nicht  mehr  wahr- 
scheinlich, vielmehr  ein  Sinken  des  Kurses  mit  Sicherheit  zu  erwarten  ist, 
so  hat  sich  die  Gewohnheit  herausgebildet,  daß,  sobald  die  Reichsbank 
Devisen  abzugeben  beginnt,  auch  alle  anderen  Institute  dasselbe  tun,  da 
sie  wissen,  daß  in  diesem  Augenblicke  der  beste  Kurs  zu  erzielen  ist. 
Durch  dieses  Steigen  des  Angebotes  sinkt  natürlich  der  Kurs  der  Devise 
und  wenn  es  sich  wirklich  nur  um  eine  momentane  ungünstige  Verschiebung 
des  Wechselkurses  handelte,  so  ist  auch  die  Gefahr  des  Goldabßusses 
beseitigt,  ohne  daß  die  Reichsbank  es  uötig  gehabt  hätte,  ihren  Diskont- 
satz zu  erhöhen. 

Dieser  Politik  direkt  entgegengesetzt  ist  die  der  schweizerischen  Noten- 
banken iD  den  gleichen  Fällen.  Die  Bardeckung  des  Notenumlaufes  beträgt, 
wie  vorhin  ausgeführt,  etwa  50  bis  bestenfalls  55  Proz.,  wovon  etwa  40  Proz. 
der  jeweiligen  Zirkulation  unangreifbar  sind.  Da  diese  Bardeckung  obendrein 
zu  etwa  90  Proz.  aus  Gold  besteht,  die  Banken  aber  den  Goldvorrat  nicht 
angreifen  dürfen,  es  sei  denn  auf  die  Gefahr  hin,  den  Goldbestand  an 
Frankreich  abgeben  zu  müssen,  so  ist  es  in  Wirklichkeit  der  auf  86  Banken 
zersplitterte  minimale  Silberbestand,  auf  dem  der  gesamte  gchweizerisch- 
französische  Zahlungsverkehr  basiert.  Überschreitet  der  Kurs  der  Devise 
Paris  100'20/25  und  wird  infolge  dessen  Silber  zum  Eiport  entzogen,  so 
müssen  die  schweizerischen  Notenbanken,  um  nicht  ganz  ohne  verfügbare 


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!>ic  Xotenbankfrage  in  der  Schweir. 


48 


Barschaft  dazustehen,  Wechsel  auf  Frankreich  kaufen,  uni  das  ihnen  ent- 
zogene Silber  so  bald  als  möglich  nieder  zu  importieren.  Während  also 
die  Keicbsbank  oder  die  Österreichisch-Ungarische  Bank  im  Augenblicke, 
wo  der  Goldpunkt  überschritten  wird,  Devisen  zum  Verkauf  anbieten,  um 
dadurch  den  Kurs  zu  drücken,  treten  die  schweizerischen  Emissionsbanken 
bei  der  gleichen  Situation  selbst  als  Devisenkäufer  auf  und  treiben  durch 
ihre  Ankäufe  den  Kurs  nur  umso  höher  hinauf. 

Dies  die  Erklärung  der  Möglichkeit  einer  Überschreitung  des  Gold- 
punktes der  Devise  Paris  trotz  vorhandener  Währungseinheit:  die  durch 
Silberexporte  eintretende  Entlastung  des  Wechselmarktes  wird  durch  die 
Devisenaukäufe  seitens  der  Emissionsbanken  kompensiert.  Für  die  Steigerung 
des  französischen  Wechselkurses  ist  keine  obere  Grenze  mehr  vorhanden, 
denn  jeder  Export  von  Silber  nach  Frankreich  zieht  eine  neue  Steigerung 
der  Nachfrage  nach  französischen  Wechseln  nach  sich  und  parallel  damit  ein 
weiteres  Steigen  des  Kurses  dieser  Devise.  Trägt  schon  die  Abhängigkeit 
des  Wertganges  der  schweizerischen  Valuta  von  der  Höhe  der  französischen 
Goldprämie  viel  dazu  bei,  daß  der  Goldpunkt,  eine  sonst  stabile  Größe, 
in  der  Schweiz  einen  variablen  Charakter  aufweist  und  parallel  mit  der  Höhe 
der  Pariser  Goldprämie  steigt  und  fällt,  so  hat  die  vorhin  geschilderte  Sach- 
lage vollends  zur  Folge,  daß  für  die  Steigerung  des  Kurses  der  Devise 
Paris  der  Goldpunkt  überhaupt  nicht  mehr  in  Betracht  kommt  und  daß 
die  schweizerische  Währung  in  dieser  Hinsicht  völlig  den  Charakter  einer 
unterwertigen  Papierwährung  aunahm. 

Es  konnte  nicht  lange  ausbleiben,  und  die  Spekulation  begann  diese 
Situation  auszunfltzen.  Wir  denken  dabei  nicht  an  die  Ausfuhr  von  Metall- 
geld zur  Tilgung  von  geschäftlichen  Verbindlichkeiten,  vielmehr  an  den 
berufsmäßigen  Transport  silberner  5-Fiancsstücke  über  die  französische 
Grenze,  der  in  den  Geschäftskreisen  als  .Drainage*  bezeichnet  wird.  Der 
ganze  Vorgang  ist  höchst  einfach,  für  den  Spekulanten  mit  keinem  Kisiko 
verbunden,  und  trägt  einen  zwar  nicht  großen  aber  sichern  Gewinn,  der 
durch  die  Möglichkeit  einer  sehr  häufigen  Wiederholung  der  Spekulation 
nicht  unbeträchtlich  gesteigert  werden  kann.  Die  Manipulation  ist  die 
folgende:  der  Spekulant  präsentiert  an  den  Schaltern  einer  schweizerischen 
Emissionsbank  schweizerische  Banknoten  und  läßt  sich  diese,  wozu  die 
Bank  gesetzlich  verpflichtet  ist.  in  Hartgeld  einlösen;  dieses  Hartgeld 
spediert  er  über  die  französische  Grenze,  wo  es  ebenfalls  gesetzliches 
Zahlungsmittel  ist.  tauscht  es  dort  gegen  Noten  der  Bank  von  Frankreich 
ein  oder  kauft  dafür  Checks  auf  Paris.  Diese  bringt  er  nach  der  Schweiz,  wo  es 
ihm  nie  schwer  fällt,  sie  wieder  zu  verkaufen,  was  mit  einem,  je  nach  der  Höhe 
des  Kurses  der  Devise  Paris  größeren  oder  kleineren  Gewinn  verknüpft  ist.  Die 
in  Zahlung  erhaltenen  schweizerischen  Banknoten  werden  an  den  Schaltern  einer 
schweizerischen  Emissionsbank  wieder  in  Hartgeld  nmgetausclit,  und  das  Ge- 
schäft beginnt  von  neuem.  Die  zweifellose  .Legitimität“  der  Drainage  macht 
jeden  direkten  Kampf  gegen  sie  unmöglich.  Die  kleinen  Mittelchen  aber,  deren 
sich  anfangs  die  Banken  gegen  sie  bedienten,  konnten  keinerlei  Wirkung  augülren. 


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4 


Laadmann. 


Über  den  Umfang  dieser  Schiebungen  mag  die  nachfolgende  Tabelle 
eine  Auskunft  geben : *) 


Ein-  und  Ausfuhr  von  .Silbergeld  aus.  beziehungsweise  I 

nach  der  Schweiz  in  Mill.  Francs  ! Wechselkurs  auf 


Jahr 

J Paria 

Gesamtverkehr 

Schwei  g.-frausö«iMh*r 
Verkehr 

Einfuhr 

Ausfuhr 

Mahr  *3  (+)  oder 
Minder  = (-) 
Einfuhr 

Ein- 

fuhr 

Aus- 

fuhr 

Mehr-  Durch- 

ei.fnhr  „choitt 

1892 

SIS 

266 

+ * 7 

27-9 

24-2 

4-  3-7  100-10  100-31 

1893 

33  & 

42-6(31  2)  — 91  (4-2*3) 

29-7 

27-3 

+ 2-4  100  13  100-39 

1894 

26-3») 

340(16  5) 

- 7-7  (+9-8) 

22-6 

141 

4-  8-5|  100  04  100-26 

1895 

44-2 

23-9 

4-20-3 

41-9 

20-8 

4-211;  100  10  100-34 

1896 

49-3 

28-6 

+20-7 

47-6 

27-3 

f 20-3  100-24  100-48 

1897 

67 '0 

37-2 

+29-8 

53-3 

34-1 

4-19-2  100-35  100-69 

1898 

76-9 

40-5 

-f3«-4 

68-9 

37-2 

4-81-7  100-36  100-71 

1899 

110-2 

453 

4-649 

1030 

41-7 

4-61-3  10049  100-80 

1900 

840 

32-0 

4-52-0 

75-5 

28-2 

4-47-3:  100-54  100-80 

1901 

343 

11-3 

4-23-0 

80-2 

8-7 

+21-.3  100  14  100-52 

1902*) 

27  4 

8-5 

18-9 

28-9 

8-0 

+ 15-9  100-39  100-70 

Über  die  Ursachen  dieser  exorbitanten  Vorgänge  im  schweizerisch- 
französischen  Metallgeldverkehr  brauchen  wir  an  dieser  Stelle  kein  weiteres 
Wort  zu  verlieren;  ihre  Erklärung  ist  im  vorstehenden  gegeben  worden.4) 


*)  Bei  der  Beurteilung  der  vorstehenden  Zahlen  darf  nicht  auUcr  Betracht 
gelassen  werden,  da  13  die  EinfuhrziffVrn  einen  viel  zuverlässigeren  Maßstab  darstellen 
als  die  AQsfuhrzahlen.  l>a  die  Drainage  sich  der  Ausfuhrkontrolle  ihrem  ganzen  Wesen 
nach  zu  entziehen  bestrebt  ist,  entgeht  sie  zum  weitaus  größten  Teile  den  Organen 
der  Handelsstatistik.  Während  somit  dieser  Maaßtab  versagt  darf  die  Einfuhr  von 
gemünzten  Silber  nicht  nur  als  viel  zuverlässiger  ermittelt,  sondern  gleichzeitig  auch 
als  Ausdruck  für  die  Stärke  des  Silberabflusses  einschließlich  der  ganzen  Drainage 
angesehen  werden.  — Znr  Bekräftigung  dieser  Ansicht  führen  wir  besonders  die  Zahlen 
für  das  Jahr  1899  an,  in  welchem  die  deklarierten  Exporte  nur  um  4'5  Mill.  Francs 
dem  Vorjahre  gegenüber  gestiegen  sind,  die  nicht  deklarierten  dagegen  um  zirka  30  Mill. 
Francs,  d.  h.  nahezu  um  das  doppelte  des  Vorjahres.  Vgl.  Öeering,  Die  Valutafrage,  S.  4 ff. 

*)  Die  starken  Kiporte  der  Jahre  1893/94  erklären  sich  aus  der  vertragsmäßigen 
Abstoßung  von  zirka  29  Mill.  Francs  italienischer  Scheidemünzen.  Die  einge klammerten 
Zahlen  stellen  den  Verkehr  nach  Abzug  der  schweizerisch-italienischen  Umsätze  dar. 

*)  Erstes  Halbjahr;  provisorische  Werte. 

4)  Einer  Erklärung  bedarf  lediglich  die  mit  dem  .Sinken  des  Kurses  der  Devise 
Paris  parallel  verlaufende  Verschiebung  der  Jahre  1901/02.  Wir  Anden  sie,  wenn  wir, 
neben  der  Verschiebung  des  Saldos  der  schweizerischen  Handelsbilanz,  die  Vorgänge 
auf  dem  schweizerisch- französischen  Geldmärkte  ins  Auge  fassen.  Ende  Februar  1901 
sank  der  Kur«  der  Devise  Frankreich  zum  ersten  Male  seit  2*/^  Jahren  wieder  unter 
den  Goldpunkt,  und  hielt  sich  bis  etwa  anfangs  Oktober  auf  einem  so  günstigen  Staude, 
daß  Goldbeztige  aus  Frankreich  ohne  Aufgeld  möglich  und  zeitweilig  sogar  für  Frank- 
reich rentabel  waren.  Forschen  wir  nach  den  Ursachen  dieser  Erscheinung,  so  finden  wir 
sie  im  starken  Zuflüsse  französischer  Kapitalien  nach  der  Schweiz  zu  Anlagezwecken. 
Nachdem  schon  im  Oktober  1900  eiu  Berner  Anlehen  von  20  Mill.  Francs  in  Paris 


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Die  Xotenbankfrage  in  tier  Schweiz. 


45 


Was  ihre  Wirkungen  und  ihren  Einfluß  betrifft,  so  müssen  hierbei  zwei 
Seiten  der  Frage  unterschieden  werden:  ihr  Einfluß  auf  die  Emissions- 
banken selbst  und  ihr  Einfluß  auf  die  schweizerische  Volkswirtschaft. 

Für  die  Emissionsbanken  bedeutet  diese  Sachlage  eine  so  ungeheuere 
finanzielle  Belastung,  daß  sie  sieb,  unter  dem  Drucke  dieser  Verhältnisse, 
entgegen  allen  ihren  sonstigen  Gepflogenheiten  zu  einer  Verteidigung  der 
Valuta  aufrafften,  und  eine  Reihe  von  Spezialabkommen  abschlossen. 
Wie  groß  diese  Opfer  für  die  einzelnen  Banken  sind,  ist  aus  der  Tat- 
sache zu  ersehen,  daß  z.  B.  die  Berner  Kantonalbank  ihre  an  der 
französischen  Grenze  in  Pruntrut  gelegene  Filiale  schließen  mußte,  und 
daß  die  Banque  de  Genfcve.  die  der  Drainage  am  meisten  ausgesetzt  war, 
im  Frühjahr  des  Jahres  1899  auf  ihr  Notenemissionsrecht  verzichtete, 
nachdem  sie  in  den  Jahren  1895 — 1899  für  Bezüge  von  rund  173  Hill. 
Francs  Silbergeld  aus  Frankreich  nicht  weniger  als  1.070.000  Francs  auf- 
zuwenden gezwungen  war. 

Schon  im  Jahre  1893  trat  innerhalb  der  Konkordatsbanken  der  Plan 
zu  Tage,  die  Kosten  des  Importes  von  Silbermünzen,  welche  infolge  der 
geographischen  Lage  der  Banken  von  Genf,  Neuenbnrg,  Basel  und  Bern 
hauptsächlich  von  diesen  getragen  wurden,  auf  alle  Banken,  pro  rata  ihrer 
Notenemission  zu  verteilen,  da  die  Bargeldeinfuhr  im  Interesse  der 
Gesamtheit  erfolgt,  und  auch  die  Noten,  die  die  Draineure  den  Grenz- 
banken  zur  Einlösung  präsentiereu.  sich  auf  alle  BaukeQ  verteilen.1)  Es 
ist  begreiflich,  daß  die  unmittelbar  nicht  beteiligten  Banken  lange  Zeit 

aufgelegt  und  vom  französischen  Kapital  vollständig  aufgenommen  wurde,  sind  im  Laufe 
des  Jahres  1901  viel  bedeutendere  Beträge  von  Seiten  Frankreichs  zum  Ankauf  der 
beiin  Rückkauf  der  Zentralbalin  neu  kreierten  4proz.  eidgenössischen  Eisenbahnrente 
verwendet  worden,  die  für  den  französischen  Kapitalisten  eine  günstige  Anlage  dar* teilt, 
während  sie  sich  in  der  Schweiz  selbst  einer  nur  mäßigen  Vorliebe  erfreut.  Hierzu 
kamen  endlich  auf  hunderte  Millionen  geschützte  Überführungen  französischer  Kapitalien 
nach  der  Schweiz,  die  seitens  französischer  Orden  unter  dem  Eindrücke  des  neuen 
Vereinsgesetzes  vorgenommen  wurden.  All  dies  bewirkte  eine  Verschiebung  im  Angebot 
und  Nachfrage  schweizerischer  und  französischer  Wechsel  in  einer  für  die  Schweiz 
günstigen  Richtung.  Wie  wenig  aber  diese  ausnahmsweise  günstige  Sachlage  während 
einiger  kurzer  Monate  an  der  Totalität  der  Situation  zu  Andern  vermochte,  beweist  die 
Weiterentwicklung  seit  Oktober  1901.  Im  Zufluß  der  französischen  Kapitalien  trat  eine 
Stockung  ein,  während  sich  gleichzeitig  infolge  starker  Investierung  dieser  Kapitalien 
in  schweizerischen  Werten  eine  vermehrte  Zinsen-  und  Dividendenleistungspflicht  nach 
Frankreich  bereits  geltend  zu  machen  begann;  hierzu  kam  ein  vermehrter  Einfuhrbedarf 
infolge  der  schlechtem  einheimischen  Ernten,  und  so  ist  denn  inzwischen  das  Disagio 
der  schweizerischen  Valuta  zeitweilig  bis  auf  7 Promille  gestiegen,  was  wieder  an  die 
Situation  der  Jahre  1899/900  lebhaft  erinnert.  Während  in  den  ersten  9 Monaten  des 
Jahres  1901  der  Kurs  der  Devise  Paria  durchschnittlich  100*11  betrug  und  sich  während 
der  Monate  Juli,  August  und  September  sogar  um  12 — 15  Punkte  unter  Pari  hielt, 
stieg  er  im  Durchschnitte  des  letzten  Quartals  1901  auf  100  52.  im  ersten  Quartal  1902 
auf  10057.  Dementsprechend  stellte  sich  im  letzten  Quartal  1901  von  neuem  die 
Drainage  ein,  und  die  seitherige  Entwicklung  der  Verhältnisse  scheint  den  Schluß  zu 
rechtfertigen,  daß  der  schweizerischen  Valuta  für  die  nächste  Zeit  eher  ein  Sinken 
als  eine  Besserung  bevorsteht. 

*)  Gvgai,  a.  a.  0.  S.  39 ff. 


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46 


Landmann. 


hindurch  diesem  Plane  ihre  Zustimmung  versagten  und  erst  unter  dem 
Eindrücke  der  Ereignisse  des  Jahres  1899  wurde  ein  von  den  Grenzbanken 
ausgearbeiteter  Vereinbavungsentwurf  angenommen,  dessen  Restimmungen 
im  wesentlichen  die  nachfolgenden  Bind:  „Die  Banken  kommen  überein, 
denjenigen  unter  ihnen,  welche  Barschaft  vom  Auslande  kommen  lassen 
einen  Teil  ihrer  bezüglichen  Auslagen  zu  vergüten.  Auf  diese  Vergütung 
haben  ebenfalls  Anspruch  die  Banken,  welche  durch  besondere  Abmachungen 
den  Bareiport  verhindern.  Das  Komitee  wird  durch  ein  besonderes  Regulativ 
das  Nähere  festsetzen.  Zu  diesem  Zwecke  verpflichtet  sich  jede  Bank,  einen 
jährlichen  Beitrag  zu  leisten  in  der  Höhe  von  Mazimum  1 Promille  ihrer 
wirklichen  durchschnittlichen  Emissionssumme.*  Die  Vereinbarung  trat  am 
1.  Juli  1899  in  Kraft.  Über  ihre  Wirksamkeit,  die  Kosten  der  Silber- 
bezüge und  die  Belastung  der  Banken  vor  und  nach  ihrem  Inkraftreten 
enthält  die  nachfolgende  Tabelle  die  nötigen  Angaben. 


Kosten  d*  r SilberbezQge  in  Franca 

Banqoedu 

Commerce 

Zdrieher 

Bank  in 
Baael 

Jahr 

Ranqno  da 
Comnirrc# 

Züricher 

Bank  in 
Baue] 

Alle 

Jahr 

bank 

Kantonal - 
bank 

Banken 

Heit  raff  tu  den  gemeimamen 
Kotten  in  Franc« 

1897 

226.000 

75.000 

60.000 



1900 

23.794 

26.304 

23.496 

1901 

22.548 

25.991 

22.375 

1899 

ZZd.UGV 

438.000 

170.000 

133  000 

Betrag  der  Kdckeralauuncen 

• — 

1900 

365,000 

153.151 

116.489 

896.899 

1900 

1901 

100.333 

54419 

42.035 

16.069 

31.975 

26.875 

1901 

80.955 

19  941 

26.084 

170.134 

Effektive  Belastung 

1900 

289.014 

137.420 

108.010 

1901 

49.084 

29.866 

21.584 

Bedeutungsvoller  als  diese  den  Banken  erwachsenden  Verluste  ist  die 
Schädigung  der  schweizerischen  Volkswirtschaft  und  die  Gefährdung  des 
schweizerischen  Zahlungsverkehres,  die  sich  aus  der,  in  der  Geschichte  des 
Bankwesens  wohl  vereinzelt  dastehenden  Erscheinung  ergeben,  daß  die 
Notenbanken  eines  Landes  mit  geordneten  Wirtschafte  Verhältnissen  ihre 
Zahlungsbereitschaft  nur  dadurch  aufrecht  erhalten  können,  daß  sie  fort- 
während und  mit  großen  Kosten,  zu  den  ungünstigsten  Bedingungen  und 
mit  Schädigung  ihres  eigenen  Wirtschaftsgebietes  Metallgeld  aus  dem 
Auslande  beziehen  müssen.  Für  die  schweizerische  Volkswirtschaft  wirkt 
diese  Entwertung  ihrer  Valuta  in  gleicher  Weise  wie  prohibitive  Zoll- 
schranken. Wenn  der  Jahresbericht  der  Züricher  Seideninuustriegesellschaft 
für  1898  konstatiert:  „Unser  Dröge-Import  aus  Ostindien  empfindet  das 
Disagio  gegen  die  französische  Valuta  als  eine  bedeutende  Erschwerung 
und  Belästigung*,  so  ist  dies  lediglich  ein  Ausdruck  für  die  allgemein 
vorhandene,  wenn  auch  vielleicht  nicht  allgemein  empfundene  Belastung 
des  Bezuges  aller  ausländischen  Waren,  die  auf  Grund  der  Ausweise  der 


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Die  Notenbank  frei.'*-  in  der  Schweiz. 


47 


Handelsstatistik  bei  einem  Disagio  von  6 — 7 Promille  auf  rund  eine  halbe 
Mill.  Francs  im  Durchschnitte  der  letzten  Jahre  berechnet  wird. 

Für  den  schweizerischen  Zahlungsverkehr  bedeuten  die  geschilderten 
Verhältnisse  die  ständige  Gefahr  einer  im  Gefolge  einer  Geldkrisis  drohenden 
Zahlungseinstellung  der  Notenbanken.  Es  ist  blott  nötig,  daß  durch  ein 
starkes  Anwachsen  der  Spekulation,  im  Vereine  mit  anderen  ungQnstigen 
Momenten,  eine  solche  Steigerung  des  Silberexportes  eintritt,  daß  die 
Notenbanken  gezwungen  sind,  Gold  abzugeben  und  ftlr  Wechsel  auf 
Frankreich  jeden  Preis  zu  zahlen,  daß  die  Differenz  zwischen  Wechselkurs 
und  Goldpunkt  die  Entnahme  größerer  Mengen  Metallgeld  aus  dem  Umlaufe 
lohnt.  Es  liegt  durchaus  nicht  außerhalb  des  Bereiches  der  Möglichkeit,  daß 
den  schweizerischen  Notenbanken  an  einem  Tage  10  bis  15  Mill.  Francs 
Metallgeld  abverlangt  werden.  Geschieht  dies,  und  es  kann  geschehen, 
wenn  der  spekulative  Silberexport  uud  die  Devisenspekulation  planmäßig 
in  großem  Maßstabe  betrieben  wird,  dann  müssen  sich  die  Banken  um 
jeden  Preis  mit  Metallgeld  versehen,  sie  werden  jeden  von  der  Spekulation 
verlangten  Preis  für  französische  Wechsel  bezahlen,  sie  werden  sich  gegen- 
seitig in  größter  Eile  ihre  Noten  zur  Einlösung  präsentieren:  sie  müssen 
Gold  für  die  Ausfuhr  hergeben,  womit  der  Export  von  Bargeld  natürlich 
nur  noch  einträglicher  wird,  sie  bieten  jedem,  der  ihnen  Bargeld  für  ihre 
Noten  abgibt  ein  Aufgeld  an,  und  einzelne,  besonders  exponierte  Banken 
sehen  sich  vielleicht  gezwungen,  da  sie  die  40proz.  Notendeckung  nicht 
angreifen  dürfen  und  die  Spekulation  ihnen  neben  ihren  Noten  ebenso  gut 
andere  Forderungen  zur  Honorierung  präsentieren  kann,  ihre  Zahlungen 
einzustellen. 

So  gelangen  wir  denn  zum  Schluß  der  Untersuchung  der  Leistungen 
der  schweizerischen  Emissionsbanken  auf  dem  Gebiete  der  Valutapolitik  zu 
einem  für  sie  ebenso  ungünstigen  Resultate  wie  bei  der  Untersuchung  des 
Grades  ihrer  Liquidität.  Der  vornehmsten  Aufgabe  der  Notenbanken,  der 
der  Verteidigung  und  Hochhaltung  der  heimischen  Valuta,  vermochten  sie 
nicht  gerecht  zu  werden,  und  wenn  sie  auch  nicht  im  Ganzen  für  die 
ungünstige  Gestaltung  der  auswärtigen  Wechselkurse  verantwortlich  gemacht 
werden  dürfen,  so  ergaben  doch  die  vorstehenden  Untersuchungen  zur 
Genüge,  daß  sie  durch  ihre  Deckungs-  und  ihre  Anlagepolitik  an  dieser 
Gestaltung  mitschuldig  sind. 

3.  Der  Kampf  um  die  Zentralisierung  des  Notenbankwesens. 

Von  politischen  und  kantonalfiskalischen  Rücksichten  beeinflußt,  gehört 
das  Bankgesetz  von  1881  zu  jener  Art  von  Koinpromißgesetzen,  die  schon 
bei  Erlaß  niemand  ganz  befriedigen  und  von  allem  Anbeginn  an  den  Keim 
der  Revisionsbedflrftigkeit  in  sich  tragen.  Zu  wiederholten  Malen  wurde,  be- 
sonders vom  Nationalrat  Cramer-Frey.  auf  das  Unbefriedigende  des  durch 
das  Bankgesetz  geschaffenen  Zustandes  hingewiesen1),  und  er  war  es  auch, 

l)  Cramor-Frey,  Zur  Keform  de»  schweizeriachen  Notenbankweaena,  Zürich,  1886; 
Keller,  Die  Kegulierung  des  schweixerisehe»  Hanknotenweaena,  Wald,  1888;  Siedler, 


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48 


Landmanu. 


der  im  Nationalrate  zum  ersten  Male  die  Notwendigkeit  einer  Reform  zur 
Sprache  brachte.  Seine  am  4.  Juni  1885  gestellte  Motion  lautete:  „Der 
Bundesrat  wird  eingeladen,  die  Frage  zu  prüfen  und  darüber  baldmöglichst 
Bericht  zu  erstatten:  ob  nicht  Artikel  89  der  Bundesverfassung  ira  nach 
stehenden  Sinne  zu  revidieren  sei:  »Die  Gesetzgebung  über  das  Banknoten- 
wesen ist  Bundessache.  Der  Bund  ist  befugt,  einer  seiner  Aufsicht  und 
Leitung  zu  unterstellenden  Bank  das  ausschließliche  Recht  zur  Ausgabe 
von  Banknoten  zu  verleihen“.  In  der  Begründung  der  Motion  wies  Cramer-Frey 
zuerst  auf  die  durch  das  Banknotengesetz  vermehrten  Übelstände,  auf  die 
Dnhaltbarkeit  und  die  zum  Teile  durch  das  Gesetz  geschallenen  Gefahreu  der 
schweizerischen  Bankverfassung  hin;  er  zeigte  sodann,  daß  das  Cbel  in 
dem  System  der  Vielheit  der  Banken  mit  ihren  verschiedenartigen  Aufgaben 
und  widerstreitenden  Einzelinteressen  wurzle,  welches  die  vitalsten  Verkehrs- 
interessen dem  Spiele  des  Zufalls  und  der  Konkurrenz  preisgebe;  daß  end- 
lich mit  dem  System  selbst  gebrochen  werden  müsse,  da  mit  bloßen  Än- 
derungen am  Banknotengesetz  nicht  geholfen  werden  könne. 

Mit  71  gegen  43  Stimmen  wurde  die  Motion  Cramer-Frey  abge- 
lehnt. Eine  Widerlegung  hat  die  Begründung  seiner  Motion  nicht  gefunden. 
Den  von  ihm  ziffermäßig  erbrachten  Nachweis  der  Unhaltbarkeit  der  be- 
stehenden Zustünde  glaubte  man  mit  der  Behauptung  abtun  zu  können: 
.daß  die  Solvabilität  unserer  Banken  über  jeden  Zweifel  erhaben  und  der- 
jenigen jeder  Bank  des  Auslandes  vorzuziehen  sei.“ 

Die  allernächste  Zeit  sollte  schon  den  schweizerischen  Notenbanken 
die  Möglichkeit  geben,  die  Frage  zur  Entscheidung  zu  bringen,  ob  die  gegen 
sie  erhobenen  Vorwürfe  berechtigt  seien  oder  nicht.*)  Schon  gegen  Ende 
des  Jahres  1886  tauchten  Kriegsgerüchte  auf  und  zu  Anfang  des  Jahres  1887 
war  die  politische  Situation  so  düster,  daß  das  eidgenössische  Finanzdepar- 
tement sich  veranlaßt  sah,  an  die  Emissionsbanken  ein  vertrauliches  Zirkular 
ddto.  1.  März  1887  zu  versenden,  in  welchem  die  Befürchtung  ausgesprochen 
wurde,  daß  die  stetige  und  sofortige  Einlösbarkeit  der  Noten  in  kritischen 
Zeiten  in  Hinblick  auf  die  vielerorts  unzureichenden  Barbestände  und  den 
teilweisen  Mangel  an  auderen  kurzfälligen  oder  leicht  realisierbaren  Aktiven 
nicht  bei  allen  schweizerischen  Emissionsbanken  gesichert  sei;  die  Banken 
wurden  im  gleichen  Zirkular  aufgefordert  „auf  eine  Verminderung  der  Noten- 
zirkulation hinzuarheiten  und  gleichzeitig  ihre  Barreserven  zu  verstärken, 
um  auch  genugsam  mit  Barschaft  versehen  zu  sein,  für  den  Fall,  daß  es 
infolge  unerwarteter  Ereignisse  einmal  nicht  möglich  sein  sollte.  Barschaft 
aus  Frankreich  zu  beziehen*:  es  schloß  mit  der  Erklärung,  daß  der  Bund 
im  Falle  kriegerischer  Verwicklungen  keine  Verantwortlichkeit  für  die  Ver- 

Zur  Revision  des  Banknotengesetzeg,  Luzern,  1887;  derselbe.  Über  die  Dringlichkeit 
der  Revision  des  Banknotengeseue»,  Luzern,  1888:  W.  Speiser,  Untersuchungen  Ober 
das  Bankuoteuwesen  der  Schweiz,  Zeit»  chrift  für  schweizerische  Statistik,  1888;  J.  Wolf, 
Zur  Reform  des  schweizerischen  Banknotenweseus.  Zürich,  1888. 

b Das  schweizerische  Banknotenweseu.  Gutachten  des  schweizerischen  Handels- 
und lndustriercreines.  Zürich.  1887. 


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Die  Notenbankfrage  in  der  Schweiz. 


40 


bindlichkeiten  der  Banken  übernehmen  könne  und  sich  strikte  an  die  Be- 
stimmungen des  Gesetzes  halten  müsse.  — Im  Augenblicke,  als  dieses  Zir- 
kular versandt  wurde,  oszillierte  der  Kurs  der  Devise  Paris  knapp  um  den 
Goldpunkt;  der  Metallimport  aus  Frankreich  war  nur  mit  nicht  unbeträcht- 
lichen Verlusten  möglich,  und  trotz  der  von  militärischer  Seite  laut  gewor- 
denen Drohung,  es  werde  die  Silberansfuhr  verboten  werden,  konnte  man  es 
nicht  verhindern,  datl  mehrere  hunderttausend  Francs  nach  Frankreich  ab- 
flossen.  Gleichzeitig  machten  sich  auch  weitere  Geldentzflge  an  den  Schaltern 
der  Emissionsbanken  bemerkbar:  dem  Zirkular  des  Finanzdepartements  folgten 
unmittelbar,  gleichsam  zu  dessen  Bekräftigung,  Bezöge  von  Barschaft  und 
Kündigung  der  Depositen  seitens  der  Buudesknssen,  die  zur  Bezahlung  der 
Einkäufe  der  eidgenössischen  Verwaltung  von  Kohlen,  Lebensmitteln,  Getreide 
und  Fuurage  dienen  sollten;  gleiche  Geldentzflge  erfolgten  auch  seitens  sonstiger 
öffentlichen  und  privaten  Verwaltungen  und  zu  ihnen  gesellten  sich  bedeutende 
Anforderungen,  die  an  die  Banken  seitens  der  Privaten  und  Industriellen 
gestellt  wurden,  welche  gleich  bei  Beginn  der  drohenden  politischen  Lage  sich 
zum  Teil  sehr  große  Barreserven  anzulegen  bestrebt  waren. 

Die  Krisengeschichte  kennt  mehrere  Fälle,  wo  eine  starke  Zentral- 
notenbank spielend  leicht  eine  derartige  Panik  in  den  Anfängen  niederzu- 
halten vermochte.')  Es  ist  nur  nötig,  daß  die  Bank,  wenn  auch  bei  er- 
höhten Diskontosätzen,  liberal  und  koulant  diskontiert,  um  in  jeder  Weise 
das  Aufkommen  der  Befürchtung  zu  verhindern,  es  sei  überhaupt  kein  Geld 
zu  haben.  In  klassischen,  heute  noch  durchwegs  zutreffenden  Worten  schildert 
diese  Politik  der  Governor  der  Bank  von  England  während  der  Tage  der 
Panik  im  Jahre  1825;  „Wir  verliehen  von  allen  möglichen  Mitteln  und  in 
vorher  nie  dagewesener  Weise;  wir  nahmen  Werte  gegen  Sicherheit,  wir 
kauften  Staatsschatzscheine,  gaben  Vorschüsse  darauf,  und  diskontierten 
nicht  nur  drauf  los,  sondern  machten  auch  Vorschüsse  gegen  deponierte 
Wechsel  zu  ungeheueren  Beträgen;  mit  allen  möglichen  Mitteln,  die  mit 
der  Sicherheit  der  Bank  verträglich  erschienen,  und  manchmal  waren  wir 
nicht  sehr  gewissenhaft,  suchten  wir  dem  Geldbedürfnisse  nachzukommen. 
Und  nach  zwei  Tagen  eines  solchen  Verfahrens  legte  sich  die  Panik  und 
die  City  war  wieder  ganz  ruhig.“ 

Anders  war  die  Politik  der  Schweizerbanken:  mehrere  Institute  wiesen 
alle  Diskontobegehren  rundweg  ab,  andere  erschwerten  sie  durch  exorbitant 
hohe  Sätze  und  durch  eine  übertrieben  rigorose  Prüfung  der  eingereichten 
Wechsel:  obendrein  machte  eine  Reihe  von  Banken  Schwierigkeiten  bei  der 
Noteneinlösung*),  was,  wenn  durchaus  nicht  zu  entschuldigen,  so  doch  zu 
verstehen  ist,  da  eine  Reihe  der  großen  Banken,  die  mehrere  Millionen 


'i  Landmaun,  a.  a.  0.  S.  144fT. 

*)  Es  sind  Fälle  vorgekommen,  wo  die  Emiasionabanken,  unter  Berufung  auf  den 
Wortlaut,  aber  faktisch  im  Widerspruche  zuin  Sinne  des  Artikels  21  des  Bankgeseties 
sich  weigerten,  für  die  ihnen  per  Post  zur  Einlösung  eingcBandten  Noten  den  Gogenwcrt 
in  Metall  zuruckzuschicken,  indem  eie  erklärten,  sie  seien  zur  Einlösung  ihrer  Noten  nur 
„gegen  Vorweisung  an  ihren  Kassen*  verpflichtet. 

Zeitschrift  fflr  Volkswirtschaft,  SoclalpoUlIk  und  Verwaltung.  XII.  Baad.  4 


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50 


I.IQ'imiDD. 


Hartgeld  in  ihren  Kellern  liegen  hatten,  hart  an  der  Grenze  der  40proz. 
Notendeckung  angelangt  war,  die  sie  nicht  überschreiten  durften.  — Erat 
nachdem  es  bekannt  wurde,  daß  der  Bundesrat  den  Beschluß  faßte,  für 
den  Fall  einer  ernsten  Verwicklung  die  Ausgabe  von  Bundeskassenscheinen 
anzuordnen,  legte  sich  die  Panik,  aber  mit  elementarer  Gewalt  gelangte  in- 
zwischen flberall  die  Erkenntnis  zum  Ausdruck,  daß  ein  auf  einer  so  hohen 
Stufe  der  wirtschaftlichen  Kultur  stehendes  Land  wie  die  Schweiz  unmög- 
lich für  die  Dauer  bei  dieser,  beim  geringsten  Anlaß  den  Dienst  ver- 
sagenden Bankverfassung  verbleiben  köune. 

Unmittelbar  nach  der  Klärung  der  politischen  Lage  begann  mit  Wucht 
der  Kampf  um  Reform.  Im  April  1887  wurde  die  Frage  in  der  in 
Lausanne  abgehaltenen  Delegiertenversammlung  des  schweizerischen  Handels- 
und Industrievereines  erörtert,  und  im  Oktober  des  gleichen  Jahres  erstattete 
der  Verein  auf  Grund  einer  von  ihm  veranstalteten  Enquete  dem  Bundes- 
rate ein  Gutachten  über  das  schweizerische  Banknotenwesen.  Es  wurden 
ferner  im  Laufe  des  Jahres  1887  die  Emissionsbanken  selbst  seitens  des 
BanknoteninspektoratS  aufgefordert.  Vorschläge  zu  einer  Revision  des  Gesetzes 
zu  erstatten,  von  Bankdirektoren  und  Gelehrten  wurden  Gutachten  eingeholt 
und  im  ganzen  Lande  eine  Reihe  von  Versammlungen  abgehalten. 

In  dem  für  die  damals  herrschenden  Ansichten  typischen  Gutachten 
des  schweizerischen  Handels-  und  Industrierereines  standen  sich  zwei  An- 
schauungen entgegen.  Die  eine  kam  zum  Teile  im  Resume  des  Vorortes 
selbst  zum  Ausdruck,  das  zwar  im  Postulat  der  Errichtung  einer  Zentral- 
bank gipfelte,  aber  auch  den  Fall  vorsah.  dass  dieses  Postulat  nicht  durch- 
dringen könnte  und  für  diesen  Fall  die  als  Minimum  anzusehenden  Kevisions- 
begehren  darlegte.  Als  solche  wurden  bezeichnet:  1.  Erhöhung  des  Minimums  des 
eingezahlten  Kapitals  jeder  zur  Notenausgabe  berechtigten  Bank  auf  mindestens 
2 Mill.  Francs;  2.  Erhöhung  der  speziellen  Metalldeckung  der  Noten  von  40  Proz. 
der  Emissionssumme  auf  50  Proz.  der  Zirkulation  unter  gleichzeitiger  Auf- 
hebung der  unbedingten  Unangreifbarkeit  der  Bardeckung  und  Ermächtigung 
der  Banken,  unter  Anzeige  an  das  Banknoteninspektorat  für  die  Dauer  von 
höchstens  acht  Tagen  die  Bardeckung  bis  auf  80  Proz.  der  Zirkulation  sinken 
zu  lassen;  3.  Deckung  der  übrigen  ßO  Proz.  der  Notenzirkulation  und  des 
gesamten  Betrages  der  stets  fälligen  Verbindlichkeiten  durch  das  Wechsel- 
portefeuille; 4.  Beschränkung  des  Geschäftskreises,  bezw.  Ausscheidung  der 
für  eine  Notenbank  nicht  geeigneten  Geschäfte;  5.  Erhebung  der  Noten- 
steuer vom  durchschnittlichen  Zirkulationsbetrage,  an  Stelle  der  bisherigen 
Erhebung  von  der  bewilligten  Emissionsumme. 

Die  zweite  Richtung,  die  vornehmlich  durch  die  Nationalräte  Cramer- 
Frey,  Joos  und  Cur  ti  vertreten  war.  stellte  sich  die  Begründung  einer  zentralen 
Notenbank  zur  Aufgabe,  wobei  die  Nationalrate  Joos  und  Cnrti  die  Be- 
gründung einer  Staatsbank,  Nationalrath  Craraer-Frey  die  einer  privaten 
Zentralbank  im  Auge  hatten;  Voraussetzung  hierfür  war  die  Abänderung 
des  Artikels  39  der  Bundesverfassung. 


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Die  Noten  bankfrage  in  der  Schweiz. 


51 


Der  Bundesrat  selbst  wartete  mit  der  Ausarbeitung  eines  Gesetzes- 
entwurfes, bis  das  damals  in  Beratung  stehende  Bundesgesetz  Ober  Schuld- 
betreibung und  Konkurs,  welches  einem  wesentlichen  Teile  des  Banknoten- 
gesetzes zur  Basis  dienen  sollte,  verabschiedet  war.  Inzwischen  wurden  Vor- 
arbeiten in  Angriff  genommen,  eine  Kommission  nach  Bern  einberufen  und 
ihr  ein  Vorentwurf  zur  Beratung  und  Begutachtung  vorgelegt.  Erst  am 
23.  Juni  1890  wurde  den  eidgenössischen  Käthen  der  Entwurf  eines  Gesetzes, 
betreffend  die  Revision  des  Bankgesetzes  vom  8.  März  1881  vorgelegt,  in 
welchem  der  Bundesrat  sich  zwar  auf  die  Seite  der  Befürworter  einer 
bloßen  Revision  des  bestehenden  Gesetzes,  unter  Beibehaltung  des  Systems 
der  Bankvielheit,  stellte,  und  die  vorgeschlagenen  Reformen  im  wesent- 
lichen auf  das  Gutachten  des  schweizerischen  Handels-  und  Industrievereines 
stützte,  gleichzeitig  aber  in  der  Botschaft  die  Neigung  zu  Gunsten  einer 
Zentralbank  durchblicken  ließ.  Es  war  nicht  zu  verwundern,  daß  bei  den 
vielerlei  Interessen,  die  bei  einer  Revision  notwendigerweise  berührt  werden 
mußten,  der  Entwurf  vereinzelt  heftigem  Widerspruche  begegnete.  Im  all- 
gemeinen herrschte  aber  die  Ansicht  vor.  daß  eine  Revision  des  bestehenden 
Gesetzes  lediglich  als  Übergangsstadium  zur  Monopolisierung  des  Noten- 
bankwesens aufzufassen  sei. 

Indessen  ist  dieser  Entwurf  überhaupt  nicht  zur  parlamentarischen 
Behandlung  gelangt;  eine  Volksbewegung,  und  die  inzwischen  in  der  Bundes- 
versammlung selbst  stark  angewachsene  Strömung  zu  Gunsten  einer  Zentral- 
bank schoben  ihn  in  den  Hintergrund. 

Der  im  April  1890  in  Olten  abgehaltene  allgemeine  schweizerische 
Arbeitertag  faßte  auf  Antrag  des  Nationalrates  Joos  die  Resolution:  „Der 
schweizerische  Arbeitertag  spricht  die  Erwartung  aus,  daß  die  eidgenössischen 
Räte  in  der  kommenden  Junisession  den  Artikel  89  der  Bundesverfassung 
einer  Revision  unterziehen  im  Sinne  der  Einführung  des  Banknotenmonopols. 
Sollte  dieser  Erwartung  nicht  entsnrochen  werden,  so  wird  der  schweizerische 
Arbeiterbund  die  Sammlung  von  50.000  Unterschriften  in  die  Hand  nehmen, 
um  auf  dem  Wege  der  Volksbewegung  die  verlangte  Verfassungsänderung 
durchzusetzen. ‘ Die  schon  durch  die  Botschaft  des  Bundesrates  beein- 
flußten Mitglieder  der  eidgenössischen  Räte  setzten  nun  zwar  in  der 
Junisession  je  eine  Kommission  zur  Beratung  des  bundesrätlichen  Gesetzes- 
entwurfes ein,  bevor  aber  diese  Kommissionen  ihre  Arbeiten  begonnen 
hatten,  wurde  in  der  Herbstsession  der  Bundesversammlung  im  Nationalrate 
mit  großer  Mehrheit  eine  Motion  Keller  erheblich  erklärt,  welche  den 
Bundesrat  einlud,  Bericht  und  Antrag  über  die  Revision  des  Artikels  89 
der  Bundesverfassung  im  Sinne  der  Monopolisierung  der  Notenausgabe  und 
Schaffung  eines  zentralen,  mit  dem  Notenmonnpol  auszustattenden  Bank- 
institutes zu  erstatten.  Der  Bundesrat,  der  hierfür  nur  die  Initiative  der 
Bundesversammlung  abwartete,  erstattete  schon  am  30.  December  1890 
Bericht  und  Antrag  im  Sinne  der  Motionssteller,  und  nachdem  die  Samm- 
lung von  Unterschriften,  die  von  Joos  inzwischen  eifrig  betrieben  wurde, 
zum  Resultate  führte,  daß  82.000  Schweizerbürger  das  Begehren  nach 

4* 


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52 


Landm&Jiu. 


einer  Abänderung  des  Artikels  39  der  Bundesverfassung  im  Sinne  eines 
Monopols  und  einer  Bundesbank  stellten,  arbeitete  der  Bundesrat  einen 
neuen  Artikel  39  der  Bundesverfassung  aus.  der  das  Notenmonopol  aus- 
sprach,  und  die  Lösung  der  Frage  der  Verwirklichung  dieses  Monopols  der 
Legislative  überließ.  Nach  langen  parlamentarischen  Debatten  gelangte  die 
Vorlage  an  das  Volk,  und  am  18.  Oktober  1891  wurde  mit  einem  Mehr 
von  73.000  Stimmen  der  revidierte  Artikel  39  in  die  Bundesverfassung  auf- 
genommen. Er  lautet: 

»Das  Hecht  7.ur  Ausgabe  von  Banknoten  und  anderen  gleichartigen 
Geldzeichen  steht  ausschließlich  dem  Bunde  zu. 

Der  Bund  kann  das  ausschließliche  Hecht  zur  Ausgabe  von  Bank- 
noten durch  eine  unter  gesonderter  Verwaltung  stehende  Staatsbank  aus- 
tlben,  oder  es,  vorbehaltlich  des  Kfickkaufsrechtes,  einer  zu  errichtenden 
zentralen  Aktienbank  flbertragen,  die  unter  seiner  Mitwirkung  und  Aufsicht 
verwaltet  wird. 

Die  mit  dem  Notenmonopol  ausgestattete  Bank  hat  die  Hauptaufgabe, 
den  Geldumlauf  des  Landes  zu  regeln  und  den  Zahlungsverkehr  zu  er- 
leichtern. 

Der  Reingewinn  der  Bank,  über  eine  angemessene  Verzinsung  beziehungs- 
weise eine  angemessene  Dividende  des  Dotations-  oder  Aktienkapitals  und 
die  nötigen  Einlagen  in  den  Reservefonds  hinaus  kommt  wenigstens  zu 
zwei  Dritteln  den  Kantonen  zu. 

Die  Bank  und  ihre  Zweiganstalten  dürfen  in  den  Kantonen  keiner  Be- 
steuerung unterzogen  werden. 

Eine  Rechtsverbindlichkeit  für  die  Annahme  von  Banknoten  und  an- 
deren gleichartigen  Geldzeichen  kann  der  Bund,  außer  bei  Notlagen  in 
Kriegszeiten,  nicht  aussprechen. 

Die  Bundesgesetzgebung  wird  über  den  Sitz  der  Bank,  deren  Grund- 
lagen und  Organisation  sowie  über  die  Ausführung  dieses  Artikels  über- 
haupt das  Nähere  bestimmen.“ 

• * 

* 

ln  der  Botschaft  zum  Revisionsentwurfe  erklärte  der  Bundesrat.  daß 
obwohl  er  sich  keineswegs  der  Überzeugung  verschließe,  es  könne  durch 
eine  Revision  des  auf  dem  System  der  Vielheit  der  Banken  beruhenden 
Bankgesetzes  eine  durchgreifende  Reform  des  schweizerischen  Notenbank- 
wesens nicht  erzielt  werden,  eine  solche  vielmehr  nur  durch  die  Zentrali- 
sierung der  Notenausgabe,  durch  die  Schaffung  einer  mit  dem  Notenmonopol 
ausgestatteten  schweizerischen  Landesbank  zu  erreichen  wäre,  er  dennoch 
nur  den  Entwurf  eines  revidierten  Banknotengesetzes  auf  Grundlage  des 
bestehenden  Systems  einbringe,  .weil  wir  daran  zweifeln  müssen,  daß 
weitergehende,  durchgreifende  Reformanträge,  denen  eine  Revision  des 
Artikels  39  der  Bundesverfassung  voranzugehen  hätte,  Aussicht  auf  An- 
nahme finden  würden,  und  zu  befürchten  wäre,  daß  mit  der  Ablehnung 
auch  diejenigen  Verbesserungen  an  dem  gegenwärtigen  Zustande,  welche 


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Die  Notenbankfrage  in  der  Schweiz. 


63 


eine  blotäe  Revision  de3  Gesetzes  bringen  kann,  in  die  Ferne  gerückt 
würden.“  :i . 

Seit  der  Annahme  des  neuen  Artikels  39  der  Bundesverfassung  sind 
nun  bald  12  Jahre  ins  Land  gegangen;  die  im  Jahre  1891  vom  Bundes- 
rate geäußerten  Befürchtungen  trafen  vollinhaltlich  zu:  eg  ist  bisher  den 
Trägern  der  schweizerischen  Souveränität  nicht  gelungen,  sich  auf  ein  Bank- 
gesetz zu  einigen  und  die  Mängel  und  Schäden  des  schweizerischen  Bank- 
notenwesens, die  durch  eine  Revision  des  Gesetzes  zum  Teile  wenigstens 
hätten  beseitigt  werden  können,  konnten  sich  ungehindert  zu  einer  direkten 
wirtschaftlichen  Kalamität  herausentwickeln. 

Das  Prinzip  des  Notenmonopols  war  ausgesprochen;  die  Frage:  Staats- 
oder Privatbank  blieb  der  Entscheidung  der  Legislative  überlassen;  um  diese 
Frage  entbrannte  nun  ein  leidenschaftlicher  Kampf,  der  bald  ins  politische 
Gebiet  überschlug.  In  unzähligen  Brochüren,  Flugschriften  und  Zeitungs- 
artikeln wurde  die  Frage  erörtert;  die  großen  wirtschaftlichen  Interessen- 
verbände der  Schweiz,  der  Grütliverein,  der  Bauernbund  und  der  schweizerische 
Handels-  und  Industrieverein  beteiligten  sich  intensiv  an  der  Agitation. 
Der  Bundesrat  selbst  nahm  vorerst  eine  abwartonde  Stellung  ein  und  gab 
den  Vertretern  der  verschiedenen  Anschauungen  Gelegenheit,  sieb  zu  äußern. 
Nicht  weniger  als  10  verschiedene  Vorschläge  sind  nun  dem  Bundesrate 
zugegangen:  1.  Projekt,  eingereicht  von  den  Freunden  einer  reinen  Staats- 
bank (von  Mitgliedern  der  Bundesversammlung  ausgehend':  2.  Bemerkungen 
und  Vorschläge  von  Herrn  W.  Speiser;  3.  Gutachten  des  Herrn  National- 
rates Forrer;  4.  Eingabe  des  Banknoteninspektorats;  5.  Leitende  Ge- 
danken zum  Ausführungsgesetz  zum  Artikel  39  der  Bundesverfassung,  dem 
Finanzdepartement  eingereicht  vom  Banknoteninspektor  Schweizer; 
6.  Projekt  der  Bank  in  Basel,  eingereicht  namens  der  Gruppe  der  reinen 
Privatbanken;  7.  Gutachten  der  gemischten  Banken,  eingereicht  durch  die 
Kantonalbank  von  Waadt:  8.  Organisationsprojekt  der  Gruppe  dev  Kantonal- 
banken; 9.  Projekt  des  Herrn  Dr.  Konrad  Esc  her;  10.  Projekt  des  Alt- 
Nationalrates  J.  J.  Keller. 

ln  diesen  verschiedenen  Eingaben  kamen  im  wesentlichen  drei  Gesichts- 
punkte zum  Ausdruck.  Für  die  reine  Staatsbank  traten  der  linke  Flügel  der 
freisinnigen  Partei,  vertreten  durch  Nationalrat  Hirter  in  Bern,  die  sozial- 
politische Gruppe  der  Bundesversammlung,  vertreten  durch  Nationalrat 
Curti,  der  schweizerische  Grütliverein  und  der  schweizerische  Bauernbund 
ein.  Die  treibenden  Motive  waren  der  allerverschiedensten  Natur:  bei  den 
einen,  so  vor  allem  bei  den  Fachmännern,  die  für  die  Staatsbank  eintraten, 
waren  es  rechtliche  und  volkswirtschaftliche  Erwägungen,  bei  den  anderen 
Abneigung  gegen  das  Privatkapital  und  staatssozialistische  Tendenzen,  boi 
der  großen  Masse  Abneigung  gegen  die  Börse  und  Spekulation  und  im 
Hintergründe  — dies  darf  nicht  verschwiegen  werden  — schlummerten 
unklare  Hoffnungen  auf  billigen  Zins  und  leichten  Kredit.  Für  eine  private 
Zentralbank  traten  vor  allem  die  Kreise  der  haute  finance  ein  und  unter 
der  Führung  des  schweizerischen  Handels-  und  Industrievereines  der  Handels- 


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54 


Laniimann. 


stand;  politisch  vertraten  diesen  Standpunkt  der  rechte  Flügel  der  frei- 
sinnigen Partei  und  unter  der  Führung  von  Cramer-Frev  das  liberale 
Zentrum  und  ein  Teil  der  Liberal  Konservativen,  bei  welchen  auch  die 
Abneigung  gegen  eine  Verstärkung  der  Bundesgewalt  mitwirkte,  ln  der 
französischen  Schweiz  endlich  und  in  den  Kreisen  der  kantonalen  Finanz- 
politiker erhoben  die  alten  Gegner  der  Zentralbank  die  Forderung  einei 
.Notenbank  mit  föderalistischer  Basis*  aufs  Schild.  Sie  schlugen  die 
Errichtung  einer  .Bank  der  Eidgenossenschaft*  vor,  die  die  Noten  aus- 
fertigen sollte,  um  sie  sodann  an  die  bestehenden  Emissionsbanken  zu  ver- 
teilen; diese  worden  ihre  besonderen  Finnen  opfern  und  zu  Filialen  des 
Zentralinstituts  werden,  im  übrigen  aber  ihre  Selbständigkeit  wahren,  eine 
eigene  Direktion  und  einen  eigenen  Verwaltungsrat  beibehalten,  solidarisch 
lediglich  für  die  Noteneinlösungspflicht  haften  und  in  einer  Delegierten- 
versammlung  und  einem  Zentralbureau  gemeinsame  Organe  besitzen. 

Bedeutungsvoll  für  den  ganzen  weiteren  Verlauf  der  Frage  war  der 
im  Jahre  1891  vollzogene  Wechsel  in  der  Leitung  des  schweizerischen 
Finanzdepartements ; auf  den  Bundesrat  Hammer,  einen  entschiedenen 
Freund  des  Gedankens  einer  mit  dem  Notenmonopol  auszustattenden  Privatbank, 
folgte  ein  Demokrat,  der  frühere  Vorsteher  des  Finanzdepartements  des  Kantons 
Zürich,  Bundesrat  Hauser,  eine  Persönlichkeit  mit  ausgebreitetem  fach- 
männischen Wissen  und  von  ausgeprägt  autoritativem  Charakter.  Nachdem 
er  zuerst  die  verschiedenen  Vorschläge  und  Projekte  einer  sorgfältigen 
Prüfung  unterzogen  hatte,  trat  er  zuletzt  ganz  auf  die  Seite  der  Staatshank- 
freunde und  legte  schon  am  30.  November  1893  dem  Bundesrate  seine 
Anträge  zur  Entscheidung  der  Frage:  Staatsbank  oder  Privatbank?  vor,  in 
welchen  er  sich  zu  Gunsten  der  reinen  Staatsbank  aussprach  und  gleich- 
zeitig in  einer  Reihe  von  Thesen  die  Art  der  Ausführung  vorzeichnete. 
Diese  Thesen,  auf  Grund  welcher  der  Gesetzentwurf  nachher  ausgearbeitet 
wurde,  lauteten:  .Als  Sitz  der  Bank  ist  Bern  in  Aussicht  genommen. 

Hauptaufgabe  der  Bank  ist,  durch  eine  einheitliche  und  vorsorgliche 
Diskontpolitik  den  Geldumlauf  des  Landes  zu  regeln  und  durch  Ausbildung 
des  Giro-  und  Mandatverkehres  den  Zahlungsverkehr  zu  erleichtern.  Sie  hat 
ferner  den  ganzen  Knssenverkchr  des  Bandes  uneutgeltlich  zu  besorgen.  Der 
Goschäftskreis  der  Staatsbank  wird  zu  diesem  Zwecke  auf  denjenigen  einer 
reinen  Noten-,  Giro-  und  Diskontobank  beschränkt;  insbesondere  sollen  das 
Darlehensgeschäft  in  laufender  Rechnung  (Kreditoren-Kontokorrent),  der 
Hypothekarverkehr,  das  Sparkassewesen,  An-  und  Verkauf  von  Wertpapieren 
für  Rechnung  Dritter  den  Kantonalbanken  beziehungsweise  Privatbanken 
erhalten  bleiben.  Die  Kantonalhanken,  welche  sämtlich  kantonalen  Gesetzen 
unterworfen  und  kantonalen  Behörden  verantwortlich  sind  und  Geschäfte 
betreiben,  welche  der  Staatsbank  verboten  werden  sollen,  können  nicht 
Filialen  dieser  letzteren  sein.  Dagegen  wird  die  Staatsbank  vorzugsweise 
mit  den  Kantonalbanken  in  enge  Verbindung  treten  betreffend  die  Rück- 
diskontierung von  Wechseln,  die  Belehnung  von  Wertpapieren,  den  Verkehr 
in  Check-  und  Girorechnung,  den  Inkasso-  und  Mandatverkehr.  Die  Staats- 


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Die  Notenbankfrage  in  der  Schweiz.  55 

bank  ist  ferner  befugt,  bereits  bestehende  Notenbanken  (staatliche  oder 
private)  mit  Aktiven  und  Passiven,  soweit  sich  deren  Übernahme  mit  dem 
der  Staatsbank  vorgeschriebenen  Geschäftskreis  verträgt,  vertraglich  zu 
erwerben  und  als  Filialen  der  Staatsbank  zu  organisieren.  In  diesem  Sinne 
sind  mit  der  Inkrafttretung  des  Ges-etzes  die  Unterhandlungen  zu  eröffnen. 
Die  unentgeltliche  Besorgung  des  Kassewesens  des  Bundes  ist  nicht  als 
blotler  Giroverkehr  zu  betrachten,  sondern  als  eine  Verpflichtung  der  Staats- 
bank und  als  ein  besonderer  Geschäftszweig  derselben  zn  behandeln;  sie  ist 
zu  verpflichten,  für  Rechnung  des  Bundes  kostenfrei  Zahlungen  anzunehmen 
und  zu  leisten,  beziehungsweise  die  Zahlungsmandate  der  Staatskasse  an 
ihrer  Hauptkasse  und  allen  Filialen  einzulösen,  immerhin  aber  nur  bis  zur 
Höhe  des  jeweiligen  Guthabens  der  Staatskasse.  Sie  kann  ferner  verpflichtet 
werden,  die  Verwaltung  der  dem  Bunde  gehörenden  Wertschriften  zu  über- 
nehmen. Abgesehen  vom  Zweidrittelanteil  am  Reingewinn,  welchen  der 
Verfassungsartikel  den  Kantonen  zusichert,  sollen  letztere  an  der  Beschaffung 
des  Gründungskapitals  der  Staatsbank  partizipieren  dürfen.  Die  Verwaltung 
der  Bank  soll  innerhalb  der  aufzustellenden  gesetzlichen  Vorschriften  eine 
durchaus  selbständige,  jedem  Einfluß  der  politischen  Behörden  entzogene 
sein.  Immerhin  steht  die  Bank  unter  der  Oberaufsicht  und  Kontrolle  der 
Bundesversammlung.  Nach  Ablauf  einer  angemessenen  Frist  für  den  Rück- 
zug der  alten  Noten  wird  die  Staatsbank  zur  Einlösung  aller  noch  zirku- 
lierenden Noten  verpflichtet,  wogegen  die  bisherigen  Emissionsbanken  den 
Gegenwert  in  bar  und  Diskontowechseln  an  erstere  abzuliefern  haben.  Die 
Bestimmung  des  gegenwärtigen  Bankgesetzes,  daß  nach  Ablauf  einer 
30jährigen  Frist  der  Gegenwert  der  nicht  zur  Einlösung  vorgewiesenen 
Noten  dem  schweizerischen  Invalidenfonds  verfalle,  wäre  auch  in  das  neue 
Gesetz  wieder  aufzunehmen.* 

In  der  Sitzung  des  Bundesrates  vom  21.  Jänner  1891  gelang  es  dem 
Bundesrat  Hauser  eine  Abstimmung  des  Bundesrates  zu  erzielen,  in 
welcher  mit  3 gegen  3 Stimmen  und  Stichentscheid  durch  das  Votum  des 
Präsidenten  die  Thesen  des  Finanzdepartements  angenommen  und  dieses 
beauftragt  wurde,  den  Entwurf  eines  Staatsbankgesetzes  auszuarbeiten.  Das 
Finanzdepartement  legte  nun  am  24.  Mai  1894  dem  Bundesrate  einen 
Gesetzesentwurf  vor,  der  vom  Bundesrate  in  der  Sitzung  vom  5.  Juli  1894 
behandelt  und  angenommen  und  sodann  von  dieser  Behörde  mit  Botschaft 
vom  23.  Oktober  1894  der  Bundesversammlung  vorgelegt  wurde.  Der 
Nationalrat,  der  in  dieser  Angelegenheit  die  Priorität  batte,  beschloß  in 
der  außerordentlichen  Frühlingssession  1895,  unter  Ablehnung  der  Rück- 
weisungsauträge, das  Eintreten  auf  den  bundearätlichen  Entwurf  und  ging 
in  der  nächsten  Sommersession  zur  Einzelberatung  über.  Die  hauptsäch- 
lichsten vom  Nationalrate  am  bundesrätlichen  Entwurf  vorgenommenen 
Änderungen  bestanden  iu  Zugeständnissen  an  die  Kautone  und  betrafen  die 
Teilnahme  derselben  an  der  Beschaffung  des  Grundkapitals  und  der  Wahl 
des  Bankrates,  die  Herabsetzung  der  Verzinsung  des  Grundkapitals  von 
4 auf  37j  Proz.  und  die  Erhöhung  des  Anteils  des  Kantone  am  Reingewinn 


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56 


Landmann. 


von  zwei  Drittel  auf  drei  Viertel.  Im  Dezember  1895  kam  die  Vorlage  an  den 
Ständerat,  der  den  meisten  der  vom  Nationalrate  angenommenen  Ände- 
rungen zustimmte,  sich  jedoch  fflr  die  Wahl  aller  Mitglieder  des  Bank- 
rates durch  den  Bundesrat  und  die  Zuweisung  des  ganzen  Beingewinnes 
an  die  Kantone  auBsprach.  In  der  nächsten  außerordentlichen  Märzsession 
und  in  der  Junisession  1896  erfolgte  zwischen  den  beiden  Räten  eine 
Verständigung  auch  Ober  diese  strittigen  l’unkte;  es  wurde  beschlossen, 
25  statt  nur  15  Proz.  des  Reingewinnes  an  den  Reservefonds  abzufübren, 
den  ganzen  verbleibenden  Gewinn  aber  den  Kantonen  zu  überlassen,  welchen 
man  10  Kantonsdelegierte  im  Bankrate  zugestand,  wählbar  durch  ein  Wahl- 
kollegium, in  welchem  jeder  Kanton  und  Halbkanton  durch  je  ein  Mitglied 
vertreten  sein  sollte.  Das  Gesetz  wurde  vom  Nationalrat«  in  der  Sitzung 
vom  16.  Juni  1896  mit  89  gegen  27  Stimmen,  bei  3 Stimmenthaltungen 
und  26  Abwesenden,  im  Ständerate  am  18.  Juni  1896  mit  24  gegen 
17  Stimmen,  bei  2 Stimmenthaltungen,  angenommen  und  mit  dem  Datum 
vom  18.  Juni  1896  als  .Gesetz  über  die  Errichtung  der  schweizerischen 
Bundesbank*  am  10.  Juli  1896  im  Bundesblatte  veröffentlicht. 

Unmittelbar  nach  der  Verabschiedung  des  Gesetzes  wurde  seitens  der 
Gegner  des  Staatsbankgesetzes  eine  rege  Referendumsbewegung  ins  Leben 
gerufen,1)  an  der  sich  natürlich  auch  die  Gegner  der  Zentralbank  überhaupt 
in  jeder  Form  lebhaft  beteiligten,  und  angesichts  der  seit  Jahren  schon 
vorhandenen  Erhitzung  der  Gemüter  fiel  es  nicht  schwer,  in  kurzer  Zeit 
mehr  als  die  doppelte  Anzahl  der  gesetzlich  erforderlichen  30.000  Unter- 
schriften aufzubringen.  Obwohl  schon  im  Oktober  1896  in  der  Bundeskanzlei 
die  mit  79.123  Unterschriften  bedeckten  Referendumsbogen  eingelaufen  waren, 
setzte  der  Bundesrat  durch  Beschluß  vom  30.  Oktober  die  Volksabstimmung 
erst  auf  den  28.  Februar  des  nächsten  Jahre3  an,  während  welcher  langen 
Zwischenfrist  die  Agitationsreisen  und  Vorträge  für  das  beanstandete  Gesetz 
nicht  aufhörten.  Ungeachtet  dieser  Anstrengungen  wurde  dasselbe  jedoch  mit 
255.984  gegen  195.764  Stimmen  verworfen  und  was  noch  ausschlaggebender 
war,  von  der  Mehrheit  in  16  Kantonen  und  Halbkantonen;  bejahend  stimmte  bloß 
die  Volksmehrheit  in  Zürich,  Bern,  Glarus,  beiden  Basel,  Schaffhausen,  Appen- 
zell a.  Rh.,  Aargau  und  Thurgau.  Die  romanische  Schweiz  stimmte  völlig 
geschlossen  dagegen;  in  Züiich,  Bern.  Aargau  ergaben  sich  starke  Minderheiten. 

Je  nach  dem  politischen  Standpunkte,  den  man  einnimmt,  wird  man 
das  Zahlenergebnis  dieser  Volksabstimmung  verschieden  zu  interpretieren 
geneigt  sein;  das  Eine  steht  aber  fest:’)  daß  die  200.000  Schweizerbürger, 

V;  Dubois,  Une  Banque  centrale,  Chaux  de  Fonds,  1896;  Lombard.  Contra  la 
banque  d’etat,  (lenere.  1896;  r.  Watten wyl,  Staatsbank  and  Kriegsgefahr  Bern,  1896; 
Richard,  (legen  die  .Staatsbank,  Zürich,  1897;  r.  Wattcnwyl,  (legen  die  .Staatsbank, 
v.  Steiger,  Der  Sprang  ins  Ungewisse  and  Därrenmatt,  Eidgenössische  Staatsbank 
und  Berner  Kantonalbank,  in  .Zur  Tagesfrage!!*,  Bern,  1896. 

*)  Bundesrat  Hauser  im  Protokoll  über  die  Verhandlungen  der  vom  Bundes- 
rat bestellten  Expertenkommission  betreffend  Ausführung  von  Artikel  69  der  Bundes- 
verfassung, Bern,  1999,  8.  22  ff.;  Hartnng,  Die  schweizerische  Bundesbank,  Conrads 
Jahrbücher,  III.  K„  XIII.  BJ„  8.  31  ff. 


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Die  Notenbankfrage  in  der  Schweiz. 


die  sieh  zu  Gunsten  einer  reinen  Staatsbank  aussprachen,  eine  homogenere 
Masse  darstellen  als  die  260.000,  die  gegen  das  Gesetz  stimmten.  Unter 
den  Annehmenden  können  drei  Gruppen  unterschieden  werden:  die  Linke, 
die  grundsätzlich  gewisse  Aufgaben  dem  Bunde  zuweisen  will,  die  über- 
zeugten .Staatsbankfreunde  und  endlich  diejenigen,  und  ihre  Zahl  war  nicht 
gering,  welche,  nur  um  den  herrschenden  Zuständen  ein  Ende  zu  setzen, 
mit  ,ja*  stimmten,  obwohl  sie  einer  Privatbank  den  Vorzug  gegeben  hätten. 
Unter  den  Verwerfenden  können  vier  Gruppen  unterschieden  werden:  die 
Kreise  der  politischen  Opposition,  die  bei  jedem  Referendum  grundsätzlich 
mit  .nein*  stimmen  und  deren  Zahl  auf  etwa  150.000  veranschlagt  wird; 
die  zweite  Gruppe  der  Verwerfenden  lieferte  in  der  Hauptsache  die  romanische 
Schweiz,  die  von  der  Bundesbank  eine  Stärkung  der  zentralistischen  Bundes- 
gewalt befürchtete  und  in  der  unbeschränkten  Haftbarkeit  des  Bundes  eine 
Vermischung  des  Bundes-  mit  dem  Bankkredite  erblickte;  bei  der  dritten 
Gruppe  waren  es  Erwägungen  kantonal-finanzpolitischer  Natnr.  Befürchtungen 
einer  Schmälerung  der  Kantonseinnahmen  infolge  des  Sinkens  der  Rendite 
der  Kantonalbanken;  als  vierte  Gruppe  traten  endlich  die  Kreise  des 
schweizerischen  Handels-  und  Industrievereines  auf,  die  grundsätzlich  nur 
einer  auf  privater  Grundlage  aufgebauten  Zentralnotenbank  ihre  Zustimmung 
zu  geben  bereit  waren. 

Der  Artikel  39  der  Bundesverfassung  verlangte  auch  nach  der  Volks- 
abstimmung die  Schaffung  einer  zentralen  Notenbank  und  eine  ganze  Reihe 
von  Anzeichen  sprach  dafür,  daß  auch  die  Gegner  des  verworfenen  Ent- 
wurfes oder  wenigstens  ein  Teil  derselben  von  der  Notwendigkeit  der 
Zentralisierung  der  Emission  trotz  des  negativen  Volksentscheides  durch- 
drungen seien.1) 

In  der  unmittelbar  nach  der  Volksabstimmung  abgehaltenen  außer- 
ordentlichen Märzsession  1897  der  Bundesversammung  sind  im  Nationalrate 
gerade  aus  Kreisen,  aus  welchen  die  schärfsten  Angriffe  gegen  die  Staats- 
bank ausgingen,  zwei  Motionen  eingebracht  worden,  die  beide  die  Errichtung 
eines  zentralen  Noteninstituts  im  Auge  hatten.  Die  erste  dieser  Motionen. 
Motion  Gaudard  und  Genossen,  lautete:  .Der  Bundesrat  wird  eingeladen, 

in  einer  der  nächsten  Sessionen  Bericht  und  Gesetzentwurf  betreffend  die 
Errichtung  einer  Nationalbank  vorzulegen,  welche  beschränkte  Haftbarkeit 
und  eine  vom  Staate  unabhängige  juristische  Persönlichkeit  besitzen  und 
deren  Kapital  durch  den  Bund,  die  Kantone  und  eventuell  die  Kantonal- 
banken geliefert  werden  soll.  Die  Nationalbank  soll  ihren  Sitz  in  Bern 
haben.  Das  Gesetz  wird  den  Wahlmodus  ffir  die  Organe  der  Bank  fest- 
stellen, welche  unter  der  Leitung  und  Aufsicht  des  Bundes  stehen  soll.* 
Die  zweite  Motion  ging  vom  Nationalrat  C r a m e r- Fr  ey,  Präsidenten 
des  schweizerischen  Handels-  und  Industrievereines,  aus  und  lautete:  .Der 
Bundesrat  wird  eingeladen,  unter  Würdigung  des  Volksentscheides  vom 

l)  Feibelmann.  DU  swriierUchen  Notenbanken  und  der  gegenwärtige  Stand  der 
Zentralisationsfrage.  Zeitschrift  für  die  gesamte  Staatawissensehaft,  1397,  S.  633  tf 


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Laadmann 


28.  Februar  1897  und  mit  möglichster  Beförderung  einen  neuen  Gesetzes- 
entwurf betreffend  die  Ausführung  des  Artikels  .89  der  Bundesverfassung 
vorzulegeu.* 

Auch  der  schweizerische  Handels-  und  Industrieverein  bat  schon  während 
der  Campagne  gegen  das  Staatsbankgesetz  die  förmliche  Verpflichtung  über- 
nommen, dem  Bundesrate  unverzüglich  den  Entwurf  eines  neuen,  auf  dem 
Boden  der  zweiten  im  Artikel  39  vorgesehenen  Alternative  (zentrale  Aktien- 
bank unter  Mitwirkung  des  Bundes  bei  der  Aufsicht  und  Verwaltung) 
stehenden  Baukgesetzes  vorzulegen.  Im  Mürz  des  Jahres  1898  wurde  dieser 
Entwurf  dem  Bundesrate  eingereicht;  er  wurde  zuvor  durch  die  am  5.  März 
1898  abgehaltene  Delegiertenversammlung  des  schweizerischen  Handels-  und 
Industrievereines  einstimmig  gutgeheißen. 

Der  Entwurf  dos  Handels-  und  Industrievereines  sah  eine  gemischte 
Bank  vor:  zwei  Fünftel  des  Bankkapitals  sollten  von  den  Kantonen,  ein 
Fünftel  von  den  bestehenden  Emissionsbanken  und  zwei  Fünftel  vom  Privat- 
kapital aufgebracht  werden.  Auf  die  finanzielle  Beteiligung  des  Bundes 
wurde  völlig  Verzicht  geleistet,  und  zwar  mit  der  Begründung,  daß  das 
Scheitern  der  Bundesbankvorlage  zunächst  auf  die  Abneigung  eines  großen 
Teiles  des  Volkes  gegen  die  finanzielle  Haftbarkeit  des  Bundes  und  gegen 
die  Verknüpfung  des  Kredits  des  Bundes  mit  dem  einer  Bank  zurückgeführt 
werden  müsse.  Als  Hauptsitz  der  Bank  wurde  Zürich  in  Aussicht  genommen, 
ihr  Geschäftskreis  auf  den  einer  reinen  Giro-,  Noten-  und  Diskontobank 
beschränkt;  die  Dividende  wurde  mit  4 Proz.  nach  oben  limitiert  und  der 
ganze  verbleibende  Gewinn  den  Kantonen  zugewiesen.  Neben  einer  General- 
versammlung, der  im  wesentlichen  bloß  Formalien  überlassen  werden 
sollten,  sah  der  Entwurf  als  Organe  der  Bank  einen  Bankrat  vor,  zu 
welchem  die  Generalversammlung  25,  der  Bundesrat  20  Mitglieder  und 
den  Präsidenten  wählen  sollte  und  dem  die  Feststellung  der  Geschäfts- 
berichte und  der  Jahresrechnung,  die  Vorbereitung  der  Vorlagen  für  die 
Generalversammlung  und  Beschlußfassung  bei  Abschluß  von  Geschäften 
über  5 Hill.  Francs  obliegen  sollte,  ferner  einen  durch  den  Baukrat  zu 
wühlenden  Bankausschuß,  der  zusammen  mit  der  ebenfalls  durch  den  Bank 
rat  zu  wählenden  Bankdirektion  die  Geschäfte  der  Bank  zu  leiten  hätte. 

Zu  gleicher  Zeit  wurde  dem  Bundesrate  ein  zweiter  Entwurf  ein- 
gereicht: .Grundzüge  für  die  Errichtung  einer  schweizerischen  Bundesbank. 
Als  Vorschlag  unter  Ausschluß  des  Privatkapitals  eingereicht  von  einer 
Gruppe  von  Mitgliedern  der  Bundesversammlung.'  Dieser  Entwurf  ging 
von  den  Freunden  des  vom  Volke  verworfenen  Projektes  einer  reinen  Staats- 
bank aus,  den  Nationalräten  Fa  von,  Gaudard,  Heller.  Hirter  und 
Jordan  - Martin;  das  Grundkapital  dieser  Bundesbank  sollte  zu  einem 
Drittel  durch  die  Kantone  aufgebracht  werden,  ein  Drittel  durch  diejenigen 
der  bestehenden  Emissionsbanken,  die  unter  Mitwirkung  der  kantonalen 
Behörden  verwaltet  werden,  und  ein  Drittel  durch  den  Bund,  dem  eventuell 
auch  der  durch  die  Kantone  beziehungsweise  Kantonalbanken  nicht  gezeichnete 
Teil  der  Anteilscheine  zufallen  sollte.  Indem  aus  60 Mitgliedern  bestehenden 


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Die  Notenbankfraffe  iii  der  Schweiz. 


59 


Bankrate  sollten  die  Kantonalbanken  durch  5.  die  Kantone  durch  25  und  der 
Bund  durch  30  Mitglieder  vertreten  sein. 

Endlich  reichte  der  Alt-Nationalrat  J.  J.  Keller  einen  dritten  Ent- 
wurf ein:  es  sollte  eine  mit  subsidiärer  Haftung  des  Bundes  ausgestattete 
Bundesbank  begründet  werden,  der  das  Notenmonopol  zu  übertragen  wäre; 
ihr  Notenemissionsrecht  sollte  mit  250  Mill.  Francs  limitiert  werden,  wovon 
sie  180  Mill.  Francs  den  zur  Zeit  bestehenden  Kantonalbanken  unverzinslich 
zu  überlassen  hätte.  Die  privaten  Emissionsbanken  sollten  des  Notenemissions- 
rechtes verlustig  gehen  und  als  Organe  der  Bundesbank  erklärt  werden. 

Diese  drei  Entwürfe  lagen  der  durch  das  eidgenössische  Finanz- 
departement nach  Bern  einberufenen  Expertenkommission  vor,  die  in  der 
Zeit  vom  9.  Juli  bis  zum  24.  November  1898  tagte.  Schon  in  den 
Eröffnungsworten  brachte  der  Bundesrat  Hauser  seinen  Standpunkt  zum 
Ausdruck,  der  im  wesentlichen  dahin  ging,  die  Ergebnisse  der  Volks- 
abstimmung vom  24.  Februar  1897  dürften  nicht  in  dem  Sinne  gedeutet 
werden,  als  ob  nun  lediglich  die  Alternative  einer  mit  dem  Notenmonopol 
auszustattenden  privaten  Aktienbank  noch  offen  wäre.  .Sie  werden  es  mir 
nicht  fibelnehmen,  wenn  ich  sage,  daß  ich  dem  Bundesrate  von  mir  aus 
nichts  empfehlen  werde,  was  ich  vor  mir  nicht  verantworten  kann.  Das 
Maß  der  Verantwortlichkeit  ist  bei  mir  ein  größeres  als  bei  Ihnen  und 
mit  einer  solchen  Gesetzesvorlage  bleibt  mehr  oder  weniger  für  alle  Zeiten 
der  Namen  des  betreffenden  Departementchefs  verknüpft.  — Ich  bin  bereit, 
Konzessionen  zu  machen,  es  fragt  sich  nur,  welcher  Art  dieselben  sind.“ 
Im  wesentlichen  durch  die  Haltung  des  Bundesrates  Hauser  beeinflußt, 
faßte  die  Kommission  über  eine  Reihe  der  Streitpunkte  Beschlüsse,  mit 
welchen  auch  die  Freunde  einer  Staatsbank  sich  befreunden  konnten,  ohne 
daß  aber  das  Privatkapital  von  der  Beteiligung  an  der  zu  errichtenden 
Zentralbank  völlig  ausgeschlossen  worden  wäre.  Auf  Grund  dieser  Ergebnisse 
arbeitete  das  Finanzdepartement  den  Vorentwurf  eines  Bundosgesetzes  über 
die  Errichtung  einer  zentralen  Notenbank  aus  und  nachdem  dieser  Vor- 
entwurf durch  eine  engere  Expertenkommission  begutachtet  wurde,  wurde 
am  24.  März  1899  den  schon  im  voraus  bestellten  parlamentarischen 
Kommissionen  der  definitive  Gesetzesentwurf  überwiesen. 

Der  neue  Entwurf  suchte  nach  beiden  Seiten  hin  Konzessionen  zu 
machen,  allerdings  ohne  die  größere  Zuneigung  seines  Urhebers  zur  Staats- 
bank zu  verleugnen.')  Je  ein  Drittel  des  mit  36  Mill.  Francs  angesetzten 
Grundkapitals  der  mit  eigener  juristischer  Persönlichkeit  auszustattenden 
.Schweizerischen  Bundesbank*  sollte  durch  den  Bund,  die  Kantone  und  das 
Privatkapital  aufgebracht  werden;  der  von  den  Kantonen  nicht  beanspruchte 
oder  bei  der  öffentlichen  Subskription  nicht  gezeichnete  Teil  sollte  dem 
Bunde  zufallen.  Der  Geschäftskreis  der  Bank  wurde  analog  den  Vorschlägen 
des  schweizerischen  Handels-  und  Industrievereines  beschränkt,  ffir  die  Noten- 
deckung war  eine  Metalldeckung  durch  40  Proz.  und  eine  Deckung  der 

')  Ssjoui.  De  U Creation  en  Suiese  d'unc  banque  centrale  d'emission,  Paris,  1900. 


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60 


Landmann 


öbrigen  60  Pro z.  durch  Banen,  Diskontowechsel  und  Devisen  vorgesehen. 
Vom  Reingewinn  sollten  15  Proz.  vorweg  dem  Reservefonds  zuflie&en,  so- 
lange dieser  30  Proz.  des  Grundkapitals  nicht  erreichte,  Bodann  eine  Dividende 
von  4 Proz.  verteilt  und  der  ganze  übrige  Rest  an  die  Kantone  abgefQhrt 
werden.  Unter  Ablehnung  jeder  Generalversammlung  wurde  als  oberstes 
Organ  der  Bank  ein  aus  75  Mitgliedern  bestehender  Generalrat  bestimmt, 
der  zu  je  ein  Drittel  durch  den  Bund,  die  Kantone  und  die  privaten  Anteils- 
eigner bestellt  werden  sollte  und  dessen  Präsident  und  Vizepräsident  vom 
Bundesrate  zu  ernennen  wären.  Diesem  Generalrate  wurden  die  Rechte 
zugewiesen,  die  sonst  eine  Generalversammlung  ausflbt.  Der  Generalrat 
sollte  ferner  aus  seiner  Mitte  13  Mitglieder  des  im  ganzen  aus  15  Mit- 
gliedern bestehenden  Bankrates  wählen;  die  weiteren  zwei  Mitglieder,  die 
die  Funktionen  des  Präsidenten  und  Vizepräsidenten  ausüben  sollten,  wären 
vom  Bundesrate  zu  ernennen.  Der  Bankrat  hätte  sich  mindestens  einmal 
vierteljährlich  zu  versammeln  und  erhielt  als  Aufgaben  die  Feststellung  des 
Geschäftsberichtes,  die  Vorbereitung  der  Vorlagen  an  den  Geneialrat  und 
die  Ausarbeitung  der  vom  Bundesrate  zu  genehmigenden  Reglements  zu- 
gewiesen; außerdem  erhielt  er  ein  unverbindliches  Vorschlagsrecht  für  die 
vom  Bundesrate  zu  vollziehende  Wahl  des  Direktoriums.  Der  Präsident 
und  Vizepräsident  des  Bankrates  und  drei  weitere  vom  Bankrate  aus  seiner 
Mitte  gewählten  Mitglieder  bildeten  den  Bankausschuß,  der  die  Aufsicht 
und  die  Kontrolle  über  die  Geschäftsführung  auszuüben,  bei  der  Festsetzung 
der  Bankrate  sein  Gutachten  abzugeben  und  die  Lokalkomitees  zu  wählen 
gehabt  hätte.  Das  Direktorium,  die  eigentliche  leitende  Behörde,  sollte  auf 
unverbindlichen  Vorschlag  des  Bankrates  durch  den  Bundesrat  für  eine 
Amtsperiode  von  sechs  Jahren  gewählt  werden;  es  sollte  aus  3 — 5 Mit- 
gliedern bestehen  und  gemeinsam  mit  dem  Bankausschusse  operieren.  Der 
Bundesrat  nahm  für  sich  auch  das  Recht  der  Wahl  der  Lokaldirektoren  in 
Anspruch,  während  die  Revisionskommission  vom  Generalrate  zu  wählen 
gewesen  wäre.  Das  Privilegium  sollte  der  Bank  für  20  Jahre  erteilt  und 
in  den  Obergangsbestimmungen  den  bestehenden  Emissionsbanken  2 '/j  Jahre 
FriBt  zum  Einzug  ihrer  Noten  gegeben  werden.  Als  Sitz  der  Bank  wurde 
Bern  bestimmt. 

Die  nationalrätliche  Kommission  behandelte  den  Entwurf  in  den  Tagen 
vom  19 — 22.  April,  das  Plenum  des  Nationalrates  hatte  ihn  in  der  Juni- 
session durchberaten  und  in  der  Schlußabstimmung  vom  13.  Juni  1899 
mit  92  Ja  gegen  23  Nein  und  30  Stimmenthaltungen  angenommen. 

Die  vom  Nationalrate  am  bundesrätlichen  Entwurf  vorgenommenen 
Änderungen  wareu  bloß  nebensächlicher  Natur.  Er  ersetzte  den  in  der 
Vorlage  gebrauchten  Ausdruck  .Hauptsitz*  durch  .Zentralsitz*,  von  der 
Erwägung  ausgehend,  daß  dieser  Ausdruck  zutreffender  und  für  die  Be- 
deutung der  einzelnen  Plätze  weniger  präjudizierend  sei;  der  Zentralsitz, 
d.  h.  der  Sitz  der  Zentralverwaltung,  könne  gesetzlich  in  Bern  festgelegt 
werden,  zu  Hauptsitzen  würden  sich  aber  naturgemäß  die  großen  Handels- 
plätze entwickeln,  Zürich,  Basel,  Genf.  St  Gallen.  Ferner  hat  der  National- 


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Die  Xotenbankfr&ge  in  der  Schweiz.  61 

rat  die  Wahl  des  Vizepräsidenten  des  Qeneralrates  der  Kompetenz  des 
Bundesrateg  entzogen  und  sie  dem  Qeneralrate  selbst  zugewiesen  und 
die  Dauer  des  Privilegiums  auf  15  Jahre  reduziert. 

Die  ständerätliche  Kommission  hatte  sich  zwar  auch  rechtzeitig  zur 
Beratung  des  Entwurfes  versammelt,  beantragte  aber,  nachdem  der  National- 
rat das  Gesetz  bereits  verabschiedet  hatte,  zu  Beginn  der  Dezembersession 
1899,  in  dieser  Session  in  die  Beratung  des  Gegenstandes  nicht  einzu- 
treten. Es  schien  den  Mitgliedern  des  Ständerates  nicht  opportun,  ihre 
Beratungen  Aber  die  Baukvorlage  in  einem  Augenblicke  zu  beginnen,  da 
der  Wechselkurs  auf  Frankreich  50  Punkte  über  dem  Goldpunkte  stand, 
da  diese  Tatsache  wohl  geeignet  gewesen  wäre,  ihre  Vertretung  der 
Interessen  der  Kantonalbanken  und  der  kantonalen  Bankpolitik  in  einem 
ungünstigen  Lichte  erscheinen  zu  lassen. 

Erst  in  der  Dezembersession  1900  gelangte  die  Vorlage  im  Ständerate 
znr  Beratung  und  konnte  in  der  gleichen  Session  schon  von  ihm  verab- 
schiedet werden.  In  sieben  Punkten  wiesen  die  Beschlüsse  des  Ständerates 
wesentliche  Änderungen  gegenüber  der  bundesrätlichen  Vorlage  und  den 
Beschlüssen  des  Nationalrates  auf.  Im  Interesse  der  Privat-  und  Kantonal- 
banken nahm  der  Ständerat  der  Bundesbank  das  Recht  der  Annahme 
verzinslicher  Depositen,  mit  einer  Ausnahme  für  den  Verkehr  mit  der 
Bundesverwaltung,  und  das  Recht  der  Annahme  von  Wertschriflen  zur  Ver- 
wahrung und  Verwaltung;  er  erhöhte  die  Dividende  auf  41/,  Pro'z.;  er  übertrug 
die  Wahl  der  dem  Direktorium  am  Hauptsitze  der  Bank  unterstellten  Beamten 
und  Angestellten  dem  Bankausschuß  und  die  des  Personals  der  Filialen  den 
lokalen  Bankkomitees;  er  verlängerte  die  erstmalige  Dauer  des  Bankprivilegiums 
von  15  auf  20  Jahre,  mit  zehnjähriger  Prolongationsperiode  und  die  Frist 
zum  Rückzug  der  bisher  zirkulierenden  Noten  von  2%  auf  3 Jahre  mit 
entsprechender  Reduktion  der  vierteljährlichen  Einlflsungsquoten  von  l/,0  auf 
*/„  der  Emissionssumroe;  außerdem  sollte  die  Bundesbank  den  bisherigen 
Notenbanken  den  Rückzug  der  Noten  durch  Vorschüsse  auf  Wertpapiere 
nach  Möglichkeit  erleichtern;  endlich  sollte  die  Bezeichnung  Zentralsitz 
wieder  durch  .Hauptsitz*  ersetzt  und  dieser  von  Bern  nach  Zürich  verlegt 
werden,  wofür  die  Stadt  Zürich  einen  geeigneten  Bauplatz  für  das  Bank- 
gebäude oder  einen  entsprechenden  Geldbetrag  zu  leisten  verpflichten 
werden  sollte. 

Im  Mai  1901  wurden  die  Abänderungen  des  Ständerates  vom 
Nationalrate  behandelt  und  in  der  Junisession  des  gleichen  Jahres  sollten 
die  noch  bestehenden  Differenzen  ausgeglichen  werden.  Die  Ausgleichs- 
Verhandlungen  begannen  im  Nationalrate.  Er  hielt  fest  an  seinen  Beschlüssen 
betreffend  die  Bezeichnung  .Zentralsitz*,  den  Sitz  der  Zentrale  in  Bern,  die 
Annahme  von  Wertschriften  zur  Verwahrung  und  die  Dividende  von  4 Proz.; 
er  stimmte  hingegen  den  ständerätlichen  Beschlüssen  zu,  wonach  der 
Bank  nur  im  Verkehre  mit  den  Bundesbehörden  das  Recht  zur  Annahme 
verzinslicher  Deposition  zustehen  sollte.  In  den  weiter  folgenden  Verhand- 
lungen stimmte  der  Ständerat  zuerst  der  Bezeichnung  .Zentralsitz*  zu, 


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62 


Lantlmann. 


hielt  jedoch  an  der  Dividende  von  41/,  Pro*.,  am  Verbot  der  Annahme  der 
Wertschriften  zur  Aufbewahrung  und  Verwaltung  und  an  der  Verlegung 
des  Zentralsitzes  nach  Zürich  fest  Nachdem  dann  der  Nationalrat  seine 
Beschlösse  in  Bezug  auf  diese  drei  Punkten  als  definitiv  erklärt  hatte, 
stimmte  der  Ständerat  zwar  in  der  ersten  zwei  Punkten  den  Beschlössen 
des  Nationalrates  zu,  entschied  sich  aber,  in  vollem  Bewußtsein,  daß  die 
Vorlage  dadurch  zum  Scheitern  gebracht  wird,  abermals  für  Zürich  als 
Zentralsitz,  worauf  der  Präsident  des  Ständerates  kalt  lächelnd  verkünden 
konnte:  „Sie  haben  sich  somit  för  Zürich  als  Sitz  der  Bank  ausgesprochen. 
Da  der  Nationalrat  erklärt  hat.  definitiv  bei  seinem  Beschlüsse  zu  beharren, 
so  ist  das  Gesetz  somit  nicht  zu  Stande  gekommen“.1) 

Das  Scheitern  der  Vorlage  hat  innerhalb  der  Kreise  der  Bundes- 
versammlung selbst  eine  verschiedene  Interpretation  gefunden:  die  einen 
erklärten  das  Verhalten  des  Ständerates  als  Ausfiull  einer  starken  Abneigung 
der  Mehrzahl  seiner  Mitglieder  gegen  die  Idee  der  Zentralbank  überhaupt; 
die  anderen  wollten  es  aus  lediglich  taktischen  Erwägungen  heraus  erklären: 
das  Gesetz,  gegen  welches  das  Referendum  gewili  angerufen  worden  wäre, 
hätte  gar  keine  Aussicht  gehabt,  beim  Volke  dnrehzudringen,  die  romanische 
Schweiz  und  die  durch  die  Konzession  an  das  Privatkapital  gegen  das  Gesetz 
voreingenommene  äußerste  Linke  hätten  gemeinsam  mit  den  Vertretern  der 
kautonalen  Finanzinteressen  bei  der  Volksabstimmung  das  Gesetz  mit  Wucht  ver- 
worfen, und  es  seien  daher  Opportunitätserwägungen  gewesen,  die  den  Ständerat 
veranlaßt  hätten,  die  zwischen  den  beiden  Räten  vorhandene  Differenz  zum  Vor- 
wand zu  nehmen,  um  deu  Gesetzentwurf  zum  Scheitern  zu  bringen,  statt  ihn 
durch  ein  Referendum  verwerfen  und  den  damit  verbundenen  erbitterten  und 
unerquicklichen  Kampf  zum  zweiten  Male  das  Land  durchziehen  zu  lassen. ’) 

')  Es  hat  somit  drn  Anschein,  daß  die  Bankvorlage  lediglich  an  der  Rivalität 
der  Städte  Bern  und  Zürich  scheiterte.  Betrachtet  man  aber  genaner  die  Resultate  der 
einzelnen  Abstimmungen,  so  sieht  man,  daß  diese  Rivalität  lediglich  zum  Mittel  anderer 
Interessen  verwertet  wurde. 

Datum  <l»r  Abstimmung.  Zahl  <tor  abgegebenen  Stimmen  ffln 


7.  Dezember 

1900  . 

. . . St.-R.  Zürich 

24 

Bern 

16 

18.  Juni 

1901  . 

. . . N.-K.  „ 

58 

69 

26.  Juni 

1901  . 

. . . St.-R.  „ 

29 

14 

27.  Juni 

1901  . 

. . . N.-K.  „ 

50 

81 

28.  Juni 

1901  . 

. . . St.-R.  „ 

•24 

„ 

17 

In  der  Abstimmung  des  Nationalrates  vom  18.  Juni  erhielt  Bern  69  Stimmen,  in 
der  vom  ’Si.  Juni  81  Stimmen;  woher  rührt  dieser  Zuwachs?  Die  dein  Gedanken 
einer  Zentralbank  mehr  oder  weniger  feindlich  gegeniiberstehendeii,  im  Ständerate  über 
die  Majorität  verfügenden  und  auch  im  Nationalrate  stark  vertretenen  Sachwalter  der  kanto- 
nalen Finanzinteressen,  die  ein  Scheitern  der  Vorlage  wünschten,  stimmten  im  St&nderate 
am  26.  Juni  geschlossen  fiir  Zürich,  im  Nationalrate  tag«  darauf  geschlossen  für  Bern, 
und  abermals  tags  daran!  im  Ständerate  für  Zürich.  Da  sie  ferner  im  Nationalrate  für 
die  Definitiverklärung  des  Beschlusses  stimmten,  und  eine  Majorität  für  Bern  im  «Stänie- 
rate  ausgeschlossen  war,  so  war  ein  Scheitern  der  Vorlage  unvermeidlich,  ohne  daß  der 
Ständerat  es  nötig  gehabt  hätte,  in  den  rein  sachlichen  Fragen  dem  Nationalrate 
seine  Zustimmung  zu  versagen,  was  immerhin  einen  schlechten  Eindruck  gemacht  hätte. 

*)  Sten.  Bull.,  Aprilseision  1902,  S.  95. 


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Die  Notenbankfrage  in  der  Schweiz. 


63 


Durch  das  Scheitern  der  Vorlage  ist  der  Kampf  um  die  Zentralbank, 
der  die  letzten  15  Jahre  der  schweizerischen  ßaukpolitik  beherrschte,  zum 
toten  Punkte  gelangt.  Beide  im  neuen  Artikel  .19  der  Bundesverfassung 
vorgesehenen  Alternativen  versuchte  man  nach  einander  zu  verwirklichen, 
ohne  daß  es  gelungen  wäre,  die  Frage  um  einen  Schritt  vorwärts  zu 
bringen:  sie  befindet  sich  heute  in  demselben  Stadium  wie  unmittelbar  nach 
der  Verfassungsrevision  vom  Jahre  1891.  Heute,  wie  vor  elf  Jahren,  wird 
das  verfassungsmäßig  ausschließlich  dem  Bunde  zustehende  Hecht  der 
Banknotenausgabe  von  36  kantonalen  und  privaten  Instituten  ausgeübt,  und 
so  sehen  wir  uns  dem,  jedenfalls  nicht  normalen  Zustande  gegenüber  daß 
die  Bestimmungen  der  Bundesverfassung  und  die  zu  Hecht  bestehende 
Organisation  des  Notenbankwesens  sich  in  direktem  Widerspruche  befinden. 

Nachdem  die  zweite  Vorlage  eines  Bankgesetzes  am  Widerstande  des 
Ständerates  gescheitert  war.  machte  sich  auf  der  ganzen  Linie  große 
Verzagtheit  geltend;  mancherorts  wurde  die  Frage  aufgeworfen,  ob  es 
überhaupt  möglich  sein  werde,  einen  Ausweg  zu  finden,  der  allen  einander 
widerstreitenden  Interessen  gerecht  werden  könnte.  Aus  den  Kreisen  der 
Gegner  einer  Zentralbank  wurden  nun  Stimmen  laut,  das  Scheitern  der 
Vorlage  bedeute  nicht  notwendigerweise  einen  Schiffbruch  aller  Hofinungen, 
die  sich  an  die  Annahme  des  Gesetzes  knöpften:  die  zweifellos  vorhandenen 
Mängel  der  heutigen  Bankverfassung  könnten  beseitigt  und  eine  lieihe  von 
Verbesserungen  könnte  durchgefflhrt  werden,  wenn  die  gesetzgebenden 
Behörden  die  Schaffung  einer  zentralen  Notenbank  ffirs  erste  in  den  Hinter- 
grund rflckeu  und  eine  Hevision  des  Bankgesetzes  vom  Jahre  1881  in  Angriff 
nehmen  wollten.  Ihren  parlamentarischen  Ausdruck  fand  diese  Strömung  in 
der  am  17.  Dezember  1901  im  Ständerate  eingebrachten  Motion  von  Arz 
und  Mitunterzeichner,  die  in  der  Sitzung  des  Ständerates  vom  18.  April 
1902  erheblich  erklärt  und  dem  Bundesrate  Oberwiesen  wurde. 

Die  Motion  von  Arx  lautet:  .Der  revidierte  Artikel  39  der  Bundes- 
verfassung sieht  die  Gründung  einer  mit  dem  Banknotenmonopol  ausge- 
rösteten Bundesbank  vor.  Alle  bisher  zur  praktischen  Durchführung  dieser 
Forderung  gemachten  Anstrengungen  sind  entweder  am  Widerstand  des 
Volkes  oder  an  der  Uneinigkeit  der  Behörden  gescheitert.  Ob  eine  Aus- 
gleichung der  bestehenden  Gegensätze  in  absehbarer  Zeit  gefunden  werden 
kann,  scheint  dermalen  mehr  als  zweifelhaft.  Anderseits  haften  unserem 
Banknotenwesen  Übelstände  an,  welche  dringend  der  Abhilfe  rufen  und 
deren  Abstellung  nicht  auf  Jahre  hinaus  verschoben  werden  sollte.  Die 
Unterzeichneten  laden  deshalb  den  Bundesrat  ein,  zu  untersuchen  und  der 
Bundesversammlung  Bericht  zu  erstatten,  ob  nicht  das  Gesetz  vom  8.  März 
1881  Ober  die  Ausgabe  und  Einlösung  von  Banknoten  einer  Revision  zu  unter- 
werfen sei,  und  ihr  bejahendenfalls  einen  bezüglichen  Gesetzesentwurf  zu  unter- 
breiten. Unbeschadet  der  Hevision  des  Banknotengesetzes  soll  die  Durchführung 
des  revidierten  Artikels  39  der  Bundesverfassung  weiter  verfolgt  werden.“ 

Als  die  wesentlichsten  Punkte,  die  anläßlich  einer  derartigen  Hevision 
ins  Auge  zu  fassen  wären,  wurden  in  der  Sitzung  des  Ständerates  vom 


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H4 


Landmann. 


18.  April  1902  durch  den  Ständerat  von  Arx  die  folgenden  bezeichnet: 
1.  Begrenzung  der  Notenemission  durch  den  Bundesrath  oder  die  Bundes- 
versammlung; 2.  Festsetzung  der  prozentualen  Anteile  der  Kantone  an  der 
Gesamtemission,  nach  Maßgabe  ihrer  bisherigen  Notenausgabe,  der 
Bevölkerungszahl  und  ihrer  wirtschaftlichen  Bedeutung;  3.  Einräumung  der 
Befugniß  an  den  Bundesrat,  nötigenfalls  eine  Beschränkung  der  Gesamt- 
notenemission anordnen  und  die  einzelnen  Emissionsbanken  zu  einer  ver- 
hältnismäßigen Reduktion  ihrer  Notenzirkulation  anhalten  zu  dOrfen; 

4.  Deckung  der  gesamten  Notenzirkulation  durch  Barschaft  und  Wechsel; 

5.  Verpflichtung  der  Banken,  die  Beschlösse  des  Diskontokomitees  als  ver- 
bindlich anzuerkennen  und  zu  befolgen;  6.  Gründung  einer  zentralen 
Abrechnungsstelle  als  staatliches  Organ;  7.  Besteuerung  der  Emissionsbanken 
nach  der  Höbe  der  wirklichen  Notenzirkulation  statt  der  bisherigen  Besteuerung 
nach  Maßgabe  der  bewilligten  Emissionssumme:  8.  Schaffung  einer  ein- 
heitlichen schweizerischen  Banknote,  zu  deren  Einlösung  alle  bestehenden 
Emissionsbanken  solidarisch  verpflichtet  wären. 

Über  die  Nützlichkeit  der  hier  vorgeschlagenen  Reformen  ist  es  kaum 
nötig,  ein  Wort  zu  verlieren;  es  unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  wenn  es 
gelingen  würde,  diese  Reformvorschläge  zu  verwirklichen,  die  krassesten  der 
heute  vorhandenen  Auswüchse  der  schweizerischen  Bankverfassung  beseitigt 
werden  könnten.  Daß  aber  mit  dem  Erlaß  einer  Novelle  zum  bestehenden 
Bankgesetz  nicht  alle  diese  Auswüchse  beseitigt  werden  könnten,  und  daß 
vor  allem  auch  dann  die  36  Banken  nicht  in  der  Lage  wären,  den  währungs- 
politischen Aufgaben  einer  zentralen  Notenbank  gerecht  zu  werden,  kommt 
in  der  eingangs  wiedergegebenen  Motion  von  Arx  selbst  zum  Ausdruck,  die 
in  einer  Revision  des  bestehenden  Bankgesetzes  lediglich  eine  Vorarbeit  für 
die  Schaffung  einer  zentralen  Notenbank  sehen  will. 

Fragen  wir  nach  den  Aussichten  der  Motion  von  Arx,  so  scheinen  uns 
drei  Reihen  von  Gründen  dafür  zu  sprechen,  daß  weder  der  Bundesrat  noch  der 
Nationalrat  geneigt  sein  dürften,  dieser  Anregung  Folge  zu  leisten.  Sie  stößt 
auf  Schwierigkeiten  verfassungsrechtlicher,  prinzipieller  und  politischer  Natur. 

Der  Artikel  39  der  Bundesverfassung  vom  Jahre  1874  gab  dem  Bunde 
die  Kompetenz,  im  Wege  der  Gesetzgebung  Vorschriften  über  die  Ausgabe 
und  Einlösung  von  Banknoten  zu  erlassen;  er  wurde  durch  die  Verfassungs- 
änderung vom  Jahre  1891  aufgehoben,  und  das  gegenwärtige  eidgenössische 
Verfassungsrecht  überträgt  dem  Bunde  das  Monopol  der  Banknotenausgabe, 
überläßt  der  Legislative  die  Entscheidung  über  die  Art  der  Ausübung  dieses 
Monopolrechtes,  enthält  aber  keinerlei  Bestimmungen,  die  als  verfassungs- 
mäßige Grundlage  einem  auf  der  Basis  des  Systemes  der  Bankvielheit 
stehenden  Bankgesetze  dienen  könnten.  Zwar  wurde  anläßlich  der  Beratung 
der  Motion  von  Ari  im  Ständerat  die  Ansicht  geäußert,  der  alte  Artikel  39 
der  Bundesverfassung  stehe  solange  in  Kraft,  bis  der  neue  nicht  durch- 
geführt ist,1)  doch  steht  diese  Ansicht  in  direktem  Widerspruche  zum 
Ingreß  des  neuen  Verfassungsartikels:  .Artikel  39  der  Bundesverfassung 

')  Stand, -rat  Usteri  in  der  Sitzung  rout  18.  April  1902,  Sten.  Bull.  S 101  ff. 


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Die  Notenbankfrage  in  der  Schweiz. 


65 


wird  aufgehoben  und  an  seine  Stelle  folgender  Artikel  gesetzt*:  wenn  ferner 
im  Ständerate  die  Ansicht  zum  Ausdruck  kam.  der  neue  Artikel  39  der 
Bundesverfassung  bedeute  eine  Erweiterung  der  Bundeskompetenzen  und 
schliesse  deshalb  eo  ipso  die  früheren  Kompetenzen  der  Bundesgewalt 
implicite  ein,  so  wurde  dieser  Auflassung  mit  Recht  entgegengehalten, >) 
der  neue  Artikel  39  sei  keine  Erweiterung  des  alten,  die  beiden  schließen 
vielmehr  einander  aus,  und  es  unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  weder  der 
Bundesrat  noch  der  Nationalrat  sich  bereit  linden  werden,  um  zu  einer  so 
flagranten  Verfassungsverletzung  die  Hand  zu  bieten,  wie  dies  eine  Revision  des 
Bankgesetzes  auf  Grund  eines  außer  Kraft  gesetzten  Verfassungsartikels  wäre. 
Eine  Revision  des  Bankgesetzes  würde  eine  neuerliche  Abänderung  des  Artikels  39 
der  Bundesverfassung  voraussetzen,  für  die  weder  in  den  eidgenössischen 
Räten  und  noch  viel  weniger  im  Volke  eine  Majorität  zu  finden  wäre. 

Zwei  weitere,  schwerwiegende  Reihen  von  Erwägungen  scheinen  uns 
gegen  eine  Revision  des  Gesetzes  zu  sprechen. 

Vorerst  Erwägungen  politischer  Natur:  es  ist  klar,  und  wird  selbst  von 
den  Vertretern  der  Idee  einer  Revision  des  Gesetzes  vom  Jahre  1881  zu- 
gegeben, daß  eine  derartige  Revision,  wenn  sie  wirklich  eine  Sanierung 
der  Verhältnisse  nach  sich  ziehen  sollte,  notwendigerweise  tiefeinschneidend 
sein  müßte,  eine  Beschränkung  des  Geschäftskreises  der  Banken,  eine 
Erhöhung  der  metallischen  Notendeckung  und  eine  Verschiebung  in  der 
Gliederung  der  Anlage  zu  Gunsten  der  weniger  rentablen  kurzfristigen 
Anlagen  zur  unumgänglichen  Voraussetzung  hätte,  was  in  der  Folge  ein 
Sinken  des  Erträgnisses  dieser  Banken  nach  sich  ziehen  würde.  Damit 
wäre  aber  auch  die  Opposition  der  Vertreter  der  fiskalischen  Interessen  der 
Kantone  wachgerufen,  die  sich  gegen  eine  derartige  Revision  des  Gesetzes 
ebenso  sträuben  würden,  wie  gegen  den  Plan  einer  Zentralbank.  Und  nicht  mit 
Unrecht  wurde  denn  auch  hervorgehoben,  daß  die  eventuellen  Vorteile  einer 
Revision  des  Gesetzes  nicht  bedeutend  genug  wären,  um  den  Aufwand  der 
politischen  Kräfte  zu  lohnen,  der  nötig  wäre,  um  diese  Opposition  zu  überwinden. 

Zuletzt  sprechen  Erwägungen  prinzipieller  und  taktischer  Natur  gegen 
eine  Gesetzesrevision.  Denn  wenn  auch  in  der  Motion  von  Arz  der  Hoffnung 
Ausdruck  gegeben  wurde,  es  könne  unbeschadet  einer  späteren  Durchführung 
des  Artikels  39  der  Bundesverfassung  eine  Revision  des  gegenwärtig  zu 
Kraft  bestellenden  Bankgesetzes  vorgenommen  werden,  so  würde  doch 
tatsächlich  eine  Revision  des  Gesetzes  den  Erfolg  haben,  daß  sie  die 
Errichtung  einer  zentralen  Notenbank  wenn  nicht  völlig  verhindern  so 
doch  gewiß  in  weite  Zukunft  rücken  würde.  Eine  künstliche  Verlängerung 
des  gegenwärtig  herrschenden  Zustandes  aber  ist  weder  im  Interesse  der 
schweizerischen  Volkswirtschaft  gelegen,  noch  mit  den  Ergebnissen  der 
Volksabstimmung  vom  18.  Oktober  1891  in  Einklang  zu  bringen. 

Wir  glauben  deshalb  nicht  fehl  zu  gehen,  wenn  wir  auf  Grund  all  dieser 
Bedenken  den  Schluß  ziehen,  daß  einer  Verwirklichung  der  in  der  Motion  von 
A r i zum  Ausdruck  gelangten  Tendenzen  kaum  geringere  Schwierigkeiten 

•)  Ständerat  Scherl)  in  derselben  Sitzung,  a.  a.  0.  S.  103  !f 

2eit«rbrlfl  fAr  VolkiwiriMhtft,  Koeiilpolitlk  und  Verwraltnng.  XII.  Hand.  5 


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66 


Landrnann. 


entgegenstehen  als  es  jene  waren,  die  bis  heute  die  Errichtung  einer  Zentralbank 
unmöglich  machten.  Daß  dieser  letztere  Plan  aber,  trotz  der  Hindernisse,  die 
seiner  Verwirklichung  entgegenstehen,  immer  noch  hochgehalten  wird,  beweist 
die  Antwort,  die  aus  den  Kreisen  des  Nationalrates  der  ständerätlichen  Majorität 
nach  dem  Scheitern  der  zweiten  Hankvorlage  erteilt  wurde. 

Nachdem  am  28.  Juni  1901  der  Präsident  des  Ständerates  die  Bank- 
vorlage als  nicht  zu  stando  gekommen  bezeichnete,  wurde  am  29.  Juni 
durch  mehrere  Mitglieder  der  gouvernementalen  Linken  und  der  socialpoliti- 
schen Gruppe  des  Nationalrates  folgende  Motion  gestellt: 

»Der  Bundesrat  wird  eingeladen,  den  eidgenössischen  Bäten  be 
förderlich  einen  neuen  Gesetzentwurf  zur  Ausfflhrung  des  Artikels  39  der 
Bundesverfassung  vorzulegen,  wesentlich  auf  Grundlage  des  verworfenen 
ßundesgesetzes  vom  18.  Juni  1896  (reine  Staatsbank!  und  unter  möglichster 
Berücksichtigung  der  Interessen  der  Kantonalbanken.* 

Wir  dürfen  an  dieser  Stelle  von  der  Tendenz  der  Motionsteller,  an  das 
Gesetz  vom  18.  Juni  1896  anzuknöpfen,  fflglich  abseben:  wie  so  oft  schon  wird 
auch  diesmal  ein  Kompromiß  zwischen  den  beiden  Parteien  geschlossen  werden 
können,  und  wenn  dieses  Kompromiß  mehr  zu  Gunsten  der  Anhänger  einer  reinen 
Staatsbank  ausfallen  sollte,  so  wäre  dies  nur  eine  natürliche  Konsequenz  der 
Erfahrungen,  diewährend  der  Beratungen  der  zweiten  Bankgesetzvorlage  gemacht 
wurden,  und  die  geeignet  waren,  den  Nachweis  zu  erbringen,  daß  Konzessionen 
nach  der  Seite  des  Privatkapitals  eine  Verstimmung  in  einem  Teile  der  Freunde 
der  Idee  einer  Zentralbank  zur  Folge  haben,  ohne  gleichzeitig  für  diese  Idee 
von  der  zweiten  Seite  her  eine  entsprechende  Anzahl  neuer  Anhänger  zu  werben. 

Überblicken  wie  die  Gruppierung  der  Machtfaktoren  von  der  zuerst 
in  den  eidgenössischen  Räten  der  weitere  Verlauf  der  Bankfrage  abhängt,  und 
die  bei  eventuellen  Volksabstimmungen  entscheidend  sein  wird,  so  scheint 
uns  die  Situation  gegenüber  der  Gruppierung  anläßlich  der  Volksabstimmung 
vom  24.  Februar  1897  nur  nach  einer  Richtung  hin  eine  Verschiebung 
erlitten  zu  haben.  Heute  wie  damals  würden  für  eine  zentrale  Notenbank 
die  Kreise  der  politisch  linksstehenden  Parteien  stimmen,  ein  großer  Teil 
der  Kreise  des  Handels  und  der  Industrie,  ein  Teil  des  Bauernstandes 
und  endlich  alle,  die  die  Bankfrage  nicht  vom  politischen  sondern  vom 
volkswirtschaftlichen  Gesichtspunkte  aus  zu  betrachten  vermögen:  dagegeu 
würde  sich  eine  Mehrheit  der  Stimmen  der  französischen  Schweiz  ergeben, 
die  Stimmen  der  konservativen  Parteien  und  falls  ein  Gesetz  auf  der 
Basis  einer  reinen  Staatsbank  zu  stände  käme,  der  Anhang  des  schweizerischen 
Handels-  und  Industrievereincs.  Entscheidend  wären  somit  die  Stimmen 
derjenigen,  für  deren  Haltung  die  finanzpolitischen  Interessen  der  Kantone 
ausschlaggebend  sind,  und  hier  scheint  uns  eine  Verschiebung  sich  dahin 
vollzogen  zu  haben,  daß  ihre  Zahl  heute  größer  ist  als  im  Jahre  1897. 

Die  finanzielle  Lage  der  Kantone  hat  sich  in  den  letzten  Jahren 
erheblich  verschlechtert: 1 1 während  ihre  Verwaltungsausgaben  im  Jahre 

')  Steiger,  Betrachtangen  über  den  Finanzhaushalt  der  Kantone  and  ihre 
Beziehungen  zum  Bund,  Zeitschrift  für  echweizerische  Statistik,  1899,  S.  29S  IT.: 
Schweizerisches  Finanzjahrbuch.  1901,  S.  73  ff,  S.  95  ff.;  1902,  S.  89  ff. 


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Die  Notenbankfmgc  in  der  Schweiz. 


67 


1885  nur  66  MilL  Francs  betrugen,  stiegen  sie  bis  zum  Jahre  1891  auf 
81  Mill..  bis  zum  Jahre  1898  auf  11S  Mül.  und  erreichten  für  das  Jahr 
1901  rund  das  Doppelte  der  Summe  für  das  Jahr  1885,  während  die 
Bevölkerung  im  gleichen  Zeiträume  nur  um  rund  15  Proz.  zunahm.  Weitaus 
das  Hauptkontingent  der  Steuervermehrung  fallt  auf  neue,  direkte  Steuern 
mit  Einschluß  von  verschärften  Erbschaftssteuern  und  einem  immer  strafferen 
Anziehen  der  Gemeindesteuerschraube.  Nicht  weniger  als  12  Kantone  er- 
ließen seit  dem  Jahre  1885  neue  Steuergesetze,  in  5 Kantonen  steht  die 
Steuerreform  auf  der  Tagesordnung,  in  8 Kantonen  steht  sie  unmittelbar 
bevor.  Wenn  es  nun  auch  keinem  Zweifel  unterliegt,  daß  die  Steuerkraft 
in  einem  viel  rascheren  Tempo  gestiegen  ist  als  die  Bevfllkerungszahl, 
so  beweisen  doch  die  Ergebnisse  der  kantonalen  Volksabstimmungen  der 
letzten  Jahre,  daß  diese  Vermehrung  der  Steuerkraft  durch  die  neuen 
Steuergesetze  bereits  antizipiert  wurde.  In  vielen  Kantonen,  so  in  Zürich, 
Bern.  Basel — Stadt,  Appenzell  a.  Rh.,  St.  Gallen,  Thurgau,  Tessin  und 
Waadt,  ist  die  Steuerschraube  bereits  am  Ende  ihrer  Ergiebigkeit  angelangt; 
neue  Steuererhöhungen  haben  hier  keine  Vermehrung  der  Einkönfte  zur 
Folge,  sondern  lediglich  größere  Steuerhinterziehungen  und  mancherorts 
Auswanderung  der  Kapitalien.  Auch  in  den  Kantonen,  in  welchen  keine 
allzu  hohen  Steuerquoten  erhoben  werden,  ist  man  steuermäde  und  reform- 
feindlich: in  Solothurn,  Bern,  Luzern  und  Aargau  sind  die  neuen  Steuer- 
gesetze vom  Volke  verworfen  worden,  während  die  bisherigen  kantonalen 
Einnahmen  zur  Bestreitung  der  großen,  den  Kantonen  zufallenden  kulturellen 
und  sozialen  Aufgaben  nicht  hinreichen.  Während  die  Rechnungsergebnisse 
noch  im  Jahre  1896  einen  Einnahmenäberschuß  von  rund  einer 

Million  Francs  ergaben,  schlossen  sie  für  das  Jahr  1898  mit  einem  Defizit 
von  etwa  74.000  Frans,  für  das  Jahr  1899  mit  einem  Defizit  von 
2,300.815  Francs.,  welches  in  den  Budgets  für  das  1901  bis  auf 
7.577.658  Francs  anstieg. 

Angesichts  einer  derartigen  Sachlage  ist  eB  erklärlich,  daß  die  Kantone 
keine  Neigung  haben,  auf  die,  wenn  auch  geringe,  Einnahme  zu  verzichten, 
die  sie  aus  den  kantonalen  Banknotensteuern  und  aus  dem  Reingewinn 
ihrer  Kantonalbanken  beziehen.  Die  Vertreter  der  Kantone  im  Ständerate 
dürfen  hier  mit  ziemlicher  Zuversicht  darauf  rechnen,  daß  bei  eventuellen 
Volksabstimmungen  eine  nicht  geringe  Anzahl  von  Stimmberechtigten  sich 
vor  allem  die  Frage  vorlegt,  welchen  Einfluß  ein  neues  Bankgesetz  auf 
die  Gestaltung  der  mit  den  Steuerverhältnissen  so  innig  verknüpften 
kantonalen  Finanzen  ausüben  würde.  Gelingt  es  in  irgend  welcher  Weise 
den  finanziellen  Ausfall  zu  decken,  den  die  Kantone  infolge  des  Verzichtes 
auf  die  kantonale  Banknotensteuer  und  der  Verminderung  der  Erträgnisse 
der  Kantonalbanken  erleiden  würden,  dann  wäre  diese  Schwierigkeit  für  die 
Annahme  eines  Bankgesetzes  beseitigt. 

Fragen  wir  nun,  wie  groß  diese  Einnahmen  sind,  so  finden  wir,  daß 
das  Totale  der  Einkünfte  der  Kantone  aus  ihren  Kantonalbanken  sich  auf 
etwa  3'5  Mill.  Francs  beläuft. 


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Einnahmen  der  Kantone  aus  den  Kantonalbanken, 


68 


Landinann. 


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III.  Kantonale  Bnnknotenstcner  der  14  pri-  | 2,997.1 18’69 

raten  Emnmsionsbanken . . . I 474.871*66 

jl  Total  der  Einkünfte  der  Kantone  au«  dem  Notcnemiasioiwgeschäft  . ' 3, 4?  1.4 DÜ- 85 


Die  Notrnbaukfrage  in  der  Schweiz. 


69 


Diese  Summe  setzt  sich  aus  zwei  Positionen  zusammen:  aus  den 
Nettoablieferungen  der  Kantonalbanken  an  die  Kantonkassen  und  aus  dem 
Ertrage  der  kantonalen  Bunknotensteueru.  Der  weitaus  größte  Teil, 
2'9  Mill.  Francs,  entfällt  auf  die  Kantone  mit  Kantonalbanken,  und  nur 
eine  knappe  halbe  Million  Francs  auf  die  Kantone,  in  welchen  die  Noten- 
emission den  Privatbanken  überlassen  wurde,  und  die  nur  durch  die  Banknoten- 
steuer an  der  Erhaltung  des  gegenwärtigen  Zustandes  interessiert  sind. 

Bei  Beurteilung  der  Frage,  wie  hoch  der  Ausfall  sich  belaufen 
dürfte,  der  den  Kantonen  durch  den  Entzug  des  Einissionsrechtes  ihrer 
Kantonalbanken  erwachsen  wird,  darf  natürlich  nicht  die  Gesamtsumme 
von  2'9  Mill.  Francs  zu  Grunde  gelegt  werden:  schon  der  letzte  Entwurf 
eines  Bankgesetzes  bewies  die  durchgehende  Tendenz,  den  Kantonalbanken 
durch  die  zentrale  Notenbank  so  wenig  Konkurrenz  als  möglich  zu  bereiten; 
diese  Tendenz  dürfte  in  einem  künftigen  Gesetze  noch  stärker  zum  Ausdruck 
gelangen,  und  so  darf  man  annehmen,  daß  die  Kantonalbanken  bei  Er- 
richtung einer  zentralen  Notenbank  nur  durch  Wegfall  des  Gewinnes  aus 
der  Notenemission  betroffen  werden. 

Wir  schlagen  bei  der  Berechnung  dieses  Gewinnes  das  gleiche  Ver- 
fahren ein.  das  Hclfferich  für  die  Deutsche  Reichsbank  zum  ersten 
Male  mit  Erfolg  eingeschlagen  hat.1)  Verteilt  man  die  verfügbare  Barschaft 
und  die  sonstigen  Kassenbestände  der  Kantonalbanken  auf  die  Deckung  der 
60  Proz.  der  Notenzirkulation  und  die  Deckung  der  sonstigen  täglich 
fälligen  Verbindlichkeiten  nach  dem  Verhältnis  dieser  beiden  Passivposten, 
so  erhält  man  auf  Grund  der  Durchschnittszahlen  für  das  Jahr  1901  bei 
einem  Notenumlauf  von  rund  141  Mill.  Francs  eine  spezielle  Notendeckung 
von  rund  62  Mill.  Francs,  so  daß  sich  als  ungedeckter  Notenumlauf  in 
diesem  besonderen  Sinne  ein  Betrag  von  rund  79  Mill.  Francs  ergiebt. 
Veranschlagen  wir  die  durchschnittliche  Rentabilität  der  Notenanlage  auf 
4 — ö Proz..  so  erhalten  wir  einen  Betrag  von  3 — 4 Mill.  Francs,  den  wir 
als  Bruttoertrag  der  Notenemission  der  Kantonalbanken  ansehen  dürfen. 
Ziehen  wir  von  diesem  Betrage  den  Teil  der  Verwaltungskosten  ab,  der 
sich,  nach  Maßgabe  des  Verhältnisses  des  Bruttoertrages  aus  dem  Noten- 
emissionsgeschäft zum  Gesamtenbruttoertrag,  als  spezielle  Verwaltungs- 
kosten der  Notenausgabe  qualifiziert,  ziehen  wir  die  Kosten  der  Anfertigung 
der  Banknoten  und  den  Betrag  der  an  den  Bund  entrichteten  Banknoten. 
Steuer  ab,  so  verbleibt  als  Nettoertrag  aus  dem  Notenemissionsgeschäft 
ein  Betrag  von  rund  2-5  Mill.  Francs.  Stellen  wir  nuu  diesem  Verluste 
den  Gewinn  gegenüber,  den  die  Banken  über  den  heutigou  hinaus  dadurch 
erzielen  könnten,  daß  sie  nicht  mehr  verpflichtet  sein  werden,  einen  Betrag, 
der  40  Proz.  der  jeweiligen  Notenzirkulation  entspricht,  in  ihren  Kellern  liegen  zu 
lassen,  so  glauben  wir  eher  zu  hoch  denn  zu  niedrig  den  finanziellen  Ausfall 
der  Kantone  mit  2 Mill.  Francs  veranschlagen  zu  dürfen.  Wie  gering  diese 
Summe  an  sich  auch  sein  mag.  sie  ist,  in  Anbetracht  der  sehr  bedrängten 

*)  Helffcrich.  a.  a.  0.,  S.  55. 


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70 


Landmann. 


Finanzlage  der  Kantone  groß  genug,  um  sie  zur  Opposition  gegen  ein  Gesetz 
zu  veranlassen,  das  einen  Ausfall  dieser  Summe  nach  sich  ziehen  würde. 
Und  wenn  es  auch  gesetzlich  festgelegt  wurde,  daß  der  ganze  Reinertrag 
der  zentralen  Notenbank  nach  Verzinsung  des  Bankkapitals  den  Kantonen 
zufallen  soll,  so  sind  von  ihrer  Seite  nicht  ganz  ohne  Berechtigung  Zweifel 
daran  geäußert  worden,  oh  die  Bank  in  den  ersten  Jahren,  in  welchen  sie 
naturgemäß  größere  Aufwendungen  für  Organisations-  etc.  Kosten  wird 
machen  müssen,  überhaupt  einen  über  eine  normale  Verzinsung  des  Bank- 
kapitals hinausreichenden  Gewinn  ergeben  wird.  Für  die  kantonalen  Finanzen 
aber,  die  mit  steigenden  Defiziten  nnd  dem  Mangel  an  neuen  Einnahms- 
quellen zu  kämpfen  haben,  fällt  ein  Ausfall  der  Einnahme  gerade  für  die 
nächsten  Jahre  schwer  in  die  Wagschale. 

Aus  diesen  Erwägungen  heraus  stellte  im  Dezember  1900  anläßlich 
der  Beratung  des  zweiten  Bankgesetzentwurfes,  eine  Minorität  der  stände- 
rätlichen  Kommission  folgenden  Antrag:  „Als  Ersatz  für  die  den  Kantonen 
durch  Entzug  der  Emission  von  Banknoten  eiwachsende  Einbuße  hat  der 
Bundesrat  von  den  zur  Ausgabe  gelangenden  Banknoten  der  zentralen 
Notenbank  alljährlich  eine  Steuer  von  '/«  Proz.  zu  erheben,  welche  an  die 
Kantone  nach  Maßgabe  ihrer  Wohnbevölkerung  zu  verteilen  ist".  Der 
Ertrag  einer  solchen  Steuer  wurde  auf  1,200.000  Francs  jährlich  geschätzt. 
Daß  dieser  Antrag  nicht  angenommen  werden  konnte,  ist  selbstverständlich, 
wollte  man  nicht  der  Bank  von  vornherein  ihre  Aufgabe  erschweren;  der 
Antrag  zeigt  aber  den  Weg,  auf  dem  es  gelingen  konnte,  die  Opposition 
der  Kantone  gegen  die  Monopolisierung  der  Banknotenausgabe  zu  überwinden; 
wühl  bestimmt  der  oft  zitierte  Artikel  5 des  Banknotengesetzes  vom 
8.  März  1881 : „Die  Ermächtigung  znr  Notenausgabe  begründet  keinen 
Entschädigungsanspruch  der  Emissionsaustalteu  für  den  Fall,  daß  das 
Emissionsrecht  durch  spätere  verfassungsmäßige  und  gesetzliche  Bestim- 
mungen ganz  oder  teilweise  wieder  aufgehoben  oder  durch  Bundesbeschluß 
eingeschränkt  werden  sollte",  doch  scheint  sich  der  Kreis  derjenigen  stets 
zu  erweitern,  die  zur  Ansicht  neigen,  daß  bei  der  gegenwärtigen  Lage  der 
Verhältnisse  Gründe  der  Billigkeit  dafür  sprechen,  daß  der  finanziell  ver- 
hältnismäßig günstig  situierte  Bund  den  finanziell  bedrängten  Kantonen  in 
irgend  welcher  Form  ein  Entgelt  für  die  Einnahmeneinbuße  ihrer  Kantonal- 
bauken  angedeihen  läßt.  Ist  dies  geschehen,  so  ist  auch  die  grüßte 
Schwierigkeit  für  die  Verwirklichung  des  Artikels  39  der  Bundesverfassung 
beseitigt,  und  wir  glauben  am  Schlüsse  dieser  Ausführungen  der  festen 
Überzeugung  Ausdruck  geben  zu  dürfen,  daß  der  nüchterne  Sinn  des 
Schweizervolkes  sich  eben  so  wenig  über  die  Gefahren  des  gegenwärtigen 
Zustandes  wird  hinwegtäuschen  lassen,  als  er  auf  die  Dauer  dieser  einen 
Schwierigkeit  wegen  auf  die  Vorteile  des  zentralisierten  Notenbankwesens 
wird  Verzicht  leisten  wollen. 


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das  Österreichische 

GEWERBE  IM  ZEITALTER  DES  MERKANTILISMUS  ') 

VON 

HANS  R1ZZI  (WIEN). 


Inhaltsübersicht. 

Stil« 

I.  Vorbemerkungen 71 

II.  Das  Österreichische  Gewerbe  bis  1650  .* 72 

III.  Gewerbeverfassung  und  -Politik  bis  1731 74 

IV.  Das  Gencr&lpatent  von  1731  und  seine  Durchführung 82 

V.  Die  tberesianiach-joseflnischen  Reformen 87 

VI.  Sonnenfels’  Grundzüge  der  Gewerbepolitik 94 

VII.  Soziale  und  Ökonomische  Lage  des  Österreichischen  Gewerbes  in  der  zweiten 

H&lftc  des  18.  Jahrhundert*  95 

VIII.  Schluflbemerkungen 100 


I. 

Gegenstand  meiner  Untersuchungen  bildet  die  gewerbliche  Produktion 
und  Verfassung  jenes  Länderkomplexeg,  den  wir  Westösterreich  nennen  können. 

Ungarn,  dessen  Volkswirtschaft  bis  vor  kurzer  Zeit  auf  rein  agrarischer 
Basis  stand,  das  sich  überdies  nie  in  so  engem  staatsrechtlichen  Konnex 
mit  den  österreichischen  Erblanden  befand,  der  eine  einheitliche  Volkswirt- 
schaftspolitik gestattet  hätte,  muß  selbstverständlich  wegbleiben.  Ebenso 
aber  auch  die  östlichen  Kronländer,  Galizien,  Bukowina  und  Dalmatien; 
ihre  Vereinigung  mit  Österreich  vollzog  sich  zu  einer  Zeit,  in  der  die 
gewerbepolitischen  Reformen  in  ihren  Grundzflgen  zum  Abschluß  gekommen 
waren;  sie  wurden,  im  Sinne  des  damaligen  Zentralismus,  den  neuerworbenen 
Gebieten  dekretiert,  in  der  stillschweigenden  Voraussetzung,  daß  die  gewerb- 
liche Entwicklung  jener  Länder  der  der  westlichen  Provinzen  konform  sei. 

■)  Vorliegende  Abhandlung  bildet  einen  Teil  einer  größeren  Arbeit,  die  ich  auf 
Anregung  und  unter  Leitung  des  Herrn  Professors  Dr.  Karl  Oriinberg  in  dessen  Seminar 
in  Wien  seit  dem  Winter  1901  unternommen  habe.  Das  archivalisebe  Material,  auf  dem 
sie  beruht,  entstammt  dem  Archiv  des  k.  k.  Ministeriums  des  Innern  in  Wien.  Ebenso 
sind  die  ohne  nähere  Quellenangabe  zitierten  Patente  und  Verordnungen  der  Patent-  und 
Zirknlarien-Sammlung  desselben  Ministeriums  entnommen. 


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72 


Rizxi. 


Dali  sie  hier  wesentlich  noch  in  ihrem  ersten  Stadium,  dem  des 
Hausfleißes,  sich  befand,  wußte  oder  beachtete  man  nicht. 

Haben  wir  so  das  Untersuchungsfeld  räumlich  abgegrenzt,  so  erübrigt 
noch  die  Bestimmung  des  Zeitraumes,  auf  den  die  Untersuchung  sich 
erstrecken  soll.  Da  die  gewerbliche  Entwicklung  im  Anschluß  an  die  gewerbe- 
politischen Regierungsmaßnahmen  zur  Darstellung  kommen  soll,  können  wir 
als  Anfangspunkt  die  Mitte  des  17.  Jahrhunderts,  den  Regierungsantritt 
Leopolds  I..  festsetzen,  als  den  Zeitpunkt,  in  dem  zum  ersten  Male  eine  ziel- 
bewußte Regierungspolitik  systematisch  in  das  Wirtschaftsleben  eingreift  zur 
Hebung  des  .Kommerzes  und  Flors  der  Länder*. 

Als  Endpunkt  nehmen  wir  die  Wende  des  18.  Jahrhunderts.  Hier 
beginnt  eine  neue  Kntwicklungsreihe:  auf  politischem  Gebiet  die  gewerbe- 
politische Reaktion  unter  Franz  1..  die  der  Anfang  vom  Ende  der  zQnftlerisch 
merkantilistischen  Regierungspolitik  wurde,  auf  gewerblichem  der  Kampf 
des  Kleingewerbes  mit  der  Maschine,  in  dem  wir  heute  noch  stehen,  und 
dessen  Endergebnis,  in  Österreich  wenigstens,  sich  noch  nicht  abschätzen  läßt. 

II. 

Zuerst  einiges  zur  Vorgeschichte. 

Österreich  war  nie  ein  gewerbereiches  Land.  Während  des  ganzen 
Mittelalters  und  auch  in  den  folgenden  Jahrhunderten  hatte  sich  die  gewerb- 
liche Entwicklung  enge  an  die  des  Städtewesens  angeschlossen.  Auf  städti- 
schem Boden  entstand  das  Handwerk,  hier  wuchs  es  im  Kampfe  mit  den 
älteren  Betriebsformen,  Heimwerk  uud  Stör,  heran.  Die  Schließung  der 
Zünfte  im  15.  Jahrhundert  bedeutet  das  vorläufige  Ende  dieses  Prozesses. 

Österreich  hatte  sich  von  dieser  Entwicklung  nicht  ausschließen  könneu; 
es  hatte  die  deutsche  Agrarverfassung,  die  dem  Gewerbe  am  Land  den 
Boden  entzog  und  es  nur  in  seinen  kümmerlichsten  Betriebsformen  leben 
ließ,  nach  und  nach  mit  dem  Vordringen  des  Deutschtums  übernommen. 
Aber  die  Entwicklung  des  Städtewesens  hielt  mit  der  im  Deutschen  Reich 
nicht  Schritt;  während  sich  hier  in  Entfernungen  von  nur  wenigen  Meilen 
Stadt  au  Stadt  drängte,  konnten  es  in  Österreich  nur  wenige  Munizipien  zu 
verhältnismäßiger  Bedeutung  bringen.  Der  Umstand,  daß  der  ganze  Boden 
erst  schrittweise  besetzt  und  kultiviert  werden  mußte,  die  fortwährenden 
Kämpfe,  die  das  Land  als  Grenzmark  zu  besteheu  hatte,  in  den  Alpcnländern 
die  natürliche  Bodenbeschalfenheit  ließen  jene  Bevölkerungsverdiclitung  nicht 
zu,  als  deren  Ergebnis  Stüdtebildung  und  Wachstum  erscheinen. 

Dazu  kam  die  in  den  Grenzmarken  früher  und  stärker  ausgobildete 
landesherrliche  Macht,  die  allen  autonomen  Gewalten  einen  Damm  entgegen- 
setzte. Das  einzige  städtefördernde  Element  war  hier  der  Handel;  wichtige 
Handelsstraßen,  von  den  adriatischen  Häfen  nach  Deutschland,  die  Ost  und  West 
verbindende  Donaustraße,  bildeten  den  Stützpunkt,  an  dem  sich  Städte  ent- 
wickeln konnten  und  entwickelten.  Das  Hauptelement  derselben  bildete  dem- 
gemäß der  Handel.  Die  Gewerbe  kamen  nie  zu  jener  führenden  Rolle,  die  sie  in 
den  Städten  des  deutschen  Südens  und  Westens  einnahmen.  Sie  konnten 


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Da*  österreichische  Gewerbe  im  Zeitalter  «les  Merkantilismus. 


73 


nur  den  gewöhnlichen  Bedarf  der  Bewohner  decken;  bezog  ja  Wien  sogar 
in  seiner  glänzendsten  mittelalterlichen  Periode  unter  den  ersten  Habsburgern 
alle  feineren  Gewerbeprodukte  aus  den  Niederlanden  und  aus  Deutschland.1 

Die  Hauptproduktionselemente  in  den  österreichischen  Ländern  waren 
somit  die  Urproduktion  und  in  den  Städten  daneben  der  Handel.  Mit  den 
Überschüssen  derselben,  Wein  und  Erzen,  sowie  mit  den  im  Transithandel 
gewonnenen  Werten  zahlte  man  die  Einfuhr,  die  übrigens  wohl  ziemlich 
unbedeutend  war. 

In  den  Sudetenländern  setzt  die  Städtebildung  zwei  Jahrhunderte 
später  als  in  Deutschland,  zu  Beginn  des  13.  Jahrhunderts,  unter  Haupt- 
mitwirkung deutscher  Elemente  ein  und  hier  scheint  es.  als  ob  die  rasch 
emporschießenden  Neugründungen  den  Vorsprung  ihrer  deutschen  Mutter- 
und  Schwesterstädte  bald  erreichen,  ja  diese  überflügeln  wollten;  so  sehr 
waren  sie  von  der  zentralen  Lage  des  Landes,  seinen  reichen  Bodenschätzen 
wie  von  der  trefflichen  Merkantilpolitik  der  ersten  Luxemburger  begünstigt.  — 
Aber  der  erste  nationale  Kampf  in  Böhmen,  die  Hussitenkriege,  machte 
diesem  Aufschwung  ein  jähes  Ende. 

Das  Jahr  1453,  der  Fall  Konstantinopels,  bedeutet  in  der  Entwicklung 
des  österreichischen  Städtewesens  eine  Katastrophe.  Seine  Hauptlehensadem, 
die  beiden  Handelswege,  waren  durchschnitten.  Die  Vereinigung  der  öster- 
reichischen mit  den  böhmischen  Ländern,  70  Jahre  später,  konnte  den 
Vorteil,  den  sonst  ein  größeres  Staatswesen  der  Volkswirtschaft  bietet,  nicht 
gewähren,  solange  diese  Gebiete  verwaltungstechnisch  getrennt,  wirtschaftlich 
fremd  sich  gegenüber  standen.  Die  Errichtung  einer  gemeinsamen  Hof- 
kammer 1527  hatte  dagegen  wenig  zu  bedeuten;  sie  hatte  anfangs  nur 
finanzielle  Agenden.  Während  aber  die  österreichischen  Länder  das  ganze 
folgende  Jahrhundert  durch  die  fortwährenden  Türkenkriege  zerrüttet  und 
finanziell  erschöpft  wurden,  regte  sich  in  den  Sudetenländern  wieder  der 
gewerbliche  Eifer.  Die  Einführung  der  Spinnerei  und  Spitzenklöppclei  sowie 
der  Glasindustrie  iu  Böhmen,  das  Emporblühen  des  Iglauer  Tuchmacher- 
gewerbes fällt  in  jene  Zeit  ln  Schlesien  stieg  die  Leinenindustrie  rasch  zu 
solcher  Höhe,  daß  sich  ein  schwunghafter  Export  entwickeln  konnte  und 
die  Nachbarländer  ihre  Leinenwaren  nach  Schlesien  zur  Veredlung  brachten. 

Und  als  der  Dreißigjährige  Krieg  seine  verheerenden  Fluten  Ober  ganz 
Deutschland  ergoß  und  alle  Kultur  so  gründlich  in  den  Boden  stampfte, 
daß  sie  sich  ein  volles  Jahrhundert  nicht  zu  erheben  vermochte,  da  bildete 
der  Norden  Böhmens,  das  .Königreich  Wallenstein*,  bis  gegen  Schluß  des 
Krieges  ein  friedliches  Eiland,  auf  dem  dank  der  genialen  Industriepolitik 
des  Friedländers  und  der  gewaltigen  Bedürfnisse  seiner  Armee  üevyerbe  aller 
Art  emporblflhten.'l 

Währenddessen  hatte  im  benachbarten  Österreich  die  katholische 
Reformation  die  fähigsten  Elemente  des  Bürgerstandes,  die  betriebsamen 

’)  Vgl.  Fr.  Kalenbarg,  Dm  Wiener  Zunftwesen.  «Zeitschrift  für  Surial-  und 
Wirtschaftsgeschichte.  Bd.  I..  S.  264  ff  und  11..  S.  62  ff.) 

*)  Vgl.  Hallwich,  Anfänge  der  Großindustrie  in  Österreich.  Wien  1898,  S.  14—24. 


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74 


Rizzi. 


Arbeiter  der  Bergwerke  und  Gewerkschaften,  zur  Auswanderung  genötigt  und 
so  die  innere  Glaubenseinheit  um  den  teueren  Preis  des  bürgerlichen  Wohl- 
standes erkauft. 

Als  Leopold  1.  die  Kegierung  seiner  Länder  antrat,  konnte  er  mit 
Recht  beklagen,  datt  .aller  Flor  in  den  Kommerzien  und  Manufakturen  und 
alle  Tüchtigkeit  im  Handwerk  nur  in  der  Fremde  zu  sehen  seien.* 

III. 

Das  österreichische  Gewerbe  weist  um  die  Mitte  des  17.  Jahrhunderts 
noch  ausschließlich  kleingewerhlichen  Betrieb  auf:  in  den  größeren  Städten 
war  es  bürgerliches  Handwerk,  das  in  einigen  Zweigen  und  in  ganz  kleinem 
Umfang  auf  Verlag,  zum  größten  Teil  aber  auf  Bestellung  arbeitete;  in 
kleineren  Orten  war  es  überwiegend,  am  Land  ausschließlich  Lobnwerk. 
Die  Organisation  war  in  fast  allen  Zweigen  zünftlerisch.  Nur  die  eigent- 
lichen Landgewerbe,  Bader.  Müller,  Leinweber,  Halter,  Schäffler,  hatten  es 
als  Qrundhörige  zu  keiner  Organisation  gebracht  und  galten  daher  beim 
bezunfteten  Stadthandwerk  als  unehrlich.1)  Die  Zunftprivilegien  waren 
meist  noch  mittelalterlichen  Ursprungs,  von  den  verschiedenen  territorialen 
Gewalten  verliehen.  Sie  hatten  die  öfteren  Zunftverbote,  ein  Charakteristikum 
der  älteren  österreichischen  Gewerbepolitik,  überdauert,  waren  immer  bald 
nach  jeder  Zunftauflösung  wieder  aufgetaucht  und  vom  selben  Landesherrn, 
der  sie  annulliert,  auf  ewige  Zeiten  wieder  bestätigt  worden.*)  Natürlich 
enthielten  sie  in  ihrem  konkreteren  Teile  viele  gänzlich  veraltete  Bestim- 
mungen. 

Alle  Handwerksmißbräuche,  die  wir  aus  der  Geschichte  des  deutschen 
Gewerbes  kennen,  sind  auch  in  Österreich  zu  finden:  Erschwerung  des 
Zutritts  zum  Gewerbe  durch  hohe  Aufnahmsgebühren  und  Unehrlicherklärung, 
willkürliche  Preistaxen,  steigende  Auflagegelder,  Gesellenaussperrung  und 
übermäßige  Lehrlingszüchtung  von  Seite  der  Meister,  Ausstände,  Schelten 
und  Auftreiben,  Feiern  unter  der  Woche,  übermäßige  Handwerksgeschenke 
und  daran  anschließende  Gelage  der  Gesellen.*)  — Sie  deuten  auf  eine 
unbefriedigende  materielle  Lage  des  Handwerks  hin. 

Versuchen  wir  nun,  die  Tendenzen  zu  charakterisieren,  die  in  der 
nächsten  Zeit,  von  innen  und  außen  an  das  Gewerbe  herantretend,  seine 
Weiterentwicklung  beeinflußten.  Wir  müssen  zu  diesem  Zwecke  unsern  Blick 
auf  das  Ausland,  vor  allem  auf  den  europäischen  Westen,  werfen.  Denn 
schon  hatte  Deutschland  an  diesen  seine  ehemals  in  ökonomischer  wie 
geistiger  Beziehung  führende  Rolle  abtreten  müssen.  Während  in  langem, 
unheilvollem  Kriege  die  deutschen  Stämme  sich  zerfleischten,  hatte  der 
Westen  Fortschritte  gemacht,  die  nicht  mehr  einzuholen  waren.  Der  über- 
seeische Handel  und  das  Aufkommen  der  Manufakturen  hatten  den  Anstoß 
gegeben  zu  jener  Wirtschaftspolitik,  die  wir  die  merkantilistische  nennen;  das 

‘)  Cod.  Aastr.,  I.  Bd..  S.  508  u.  ff. 

2 Vgl.  Euleobarg  (a.  a,  0.  I.  Bd.,  8.  275  ff) 

>)  Cod.  Austr.,  1 Bd.,  8.  508  u.  ff. 


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Dm  Österreichische  Gewerbe  im  Zeitalter  ilee  Merkantilismus. 


75 


goldene  elisabethinische  Zeitalter  und  die  Ara  Crom  well  und  in  seiner 
prägnantesten  Ausbildung  das  System  Colberts  in  Frankreich  bezeichnen 
die  Siegeslaufbahn  einer  Richtung,  die  an  der  Wiege  der  Volkswirtschaft 
gestanden  und  sie  durch  mehr  als  zwei  Jahrhunderte  begleitet  und  groß- 
gezogen hat.  Dies  dürfen  wir  nicht  vergessen,  wenn  wir  von  unserem 
heutigen  Standpunkt  aus  geneigt  sind,  die  Weisheit  der  damaligen  Staats- 
männer und  Nationalökonomen  als  ein  mehr  oder  minder  geistvolles  Equi- 
librieren  anzusehen;  für  seine  mechanische  Gesellschaftsauffassung  künnen 
wir  dieses  juristische  Zeitalter  nicht  verantwortlich  machen. 

Die  allgemeine  Bekanntheit  mit  den  Grundsätzen  des  Merkantilismus 
enthebt  mich  der  Aufgabe,  auf  dieselben  näher  einzugehen.  Ebenso  bekannt 
ist.  daß  die  deutschen  Fürsten,  kaum  daß  sich  die  Wunden  des  Krieges 
geschlossen,  sich  auf  ein  System  stürzten,  daß  ihrem  Machtbedürfnis  ent- 
gegenkam und  bereits  anderwärts  so  glänzende  Resultate  gezeitigt  hatte. 
Nur  auf  einen  Unterschied  müchte  ich  hinweisen.  der  seine  Erklärung  in 
den  anders  gearteten  Bedingungen  diesseits  des  Rheins  findet. 

Während  die  Merkantilpolitik  des  Westens  ihr  Hauptaugenmerk  auf 
die  Vermehrung  des  Geldes  richtet,  ist  in  den  deutschen  Staaten,  die  hier 
in  Betracht  kommen  — Österreich,  Preußen  und  Sachsen  — die  Bevölkerungs- 
vermehrung der  Angelpunkt  aller  wirtschaftlichen  Bestrebungen.  Die  Ursache 
ist  klar:  Frankreich  hatte  mit  Geld  Krieg  geführt,  Deutschland  sein  Volk 
zum  Kampf  gestellt.  Hier  wie  in  Österreich  war  die  Entvölkerung  das 
Haupthindernis  des  wirtschaftlichen  Aufschwungs,  ln  einem  Erlaß  Leopolds  I. 
wird  darüber  geklagt,  daß  die  Türkenkriege  den  Bevölkerungsstand  Nieder- 
österreichs so  dezimiert  hätten,  daß  sieb  nicht  einmal  die  Handwerker  zum 
Wiederaufbau  der  nötigsten  Wohnstätten  fänden,  und  es  wird  gestattet,  bis 
auf  weiteres  Ausländer  ohne  Unterschied  und  auch  Unzftnftige  dazu  zu 
verwenden. 

Hier  konnte  nur  die  neue  Regierungskunst  helfen  und  so  verschrieb 
man  sich  deren  Adepten  aus  dem  Deutschen  Reiche.1) 

Im  Jahre  1666  kam  J o h an n Joachim  Becher  nach  Wien.  Ein 
Jahr  vorher  hatte  man  schon  den  Wirkungskreis  für  die  neuen  Lenker 
einer  neuen  Wirtschaftspolitik  geschaffen,  das  Hofkommerz-Kolleg.  Becher, 
nach  ihm  Philipp  W’ilhelm  v.  Hörnigk  und  Wilhelm  v.  Schröder 
wirkten  an  demselben. 

Dem  Kaiser  handelte  es  sich  vor  allem  um  die  Hebung  der  Steuerkraft  der 
Bevölkerung;  er  hatte  im  Osten  seine  Erbländer  gegen  die  drohende  Türken- 
gefahr zu  schützen,  im  Westen  den  Übergriffen  Frankreichs  zu  begegnen, 
und  aus  jener  Zeit  stammt  ja  der  berühmte  Ausspruch  Montecuccolis 
über  das  wichtigste  Kriegsbedfirfnis  — Geld.  Daß  sich  unter  solchen  Ver- 
hältnissen eine  Industriepolitik  großen  Stils  nicht  durchführen  ließ,  ist 
begreiflich.  Von  den  verschiedenartigen  staatssozialistischen  Ideen  Bechers*): 

l)  Vgl.  für  das  Folgende:  Hoicher,  Die  österreichische  Nationalökonomie  nnter 
Kaiser  Leopold  1.  (Hildebrauds  Jahrbücher,  1.  Bd.,  8.  455). 

*)  J.  J.  Bechere,  Politischer  Diskurs  III.  K iit  . Frankfurt  16SH,  8.  ‘J44  H 


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76 


Rilii. 


Errichtung  von  Provianthäusern  zum  Absatz  der  Bodenprodukte,  von  Werk- 
hausern. die  gleichzeitig  der  Strafpflege  und  Arbeitslosenversorgung  dienen 
sollten,  von  Kaufhäusern  zui  Organisation  des  Groflhandels  und  einer 
Landesbank  zur  Regelung  des  Oeldverkehres  kam  nur  dag  Wiener  Manu- 
fakturenhaus zur  Ausführung.  Es  war  für  die  damalige  Zeit  eine  Muster- 
austalt,  faßte  den  Großbetrieb  und  Absatz  einer  Anzahl  von  Gewerben  in 
sich,  wurde  aber  bei  der  Türkenbelagerung  (1686)  in  Brand  geschossen. 
Becher  hatte  schon  vorher  (1678)  Wien  verlassen  müssen.  Oie  Vorschläge 
Hörnigks  bewegten  sich  wesentlich  in  derselben  Richtung  wie  jene 
Bechers.  Schräder  war  durch  und  durch  Fiskalist.  Von  ihm  stammt 
der  Gedanke  der  Errichtung  einer  Notenbank,  die  den  Staat  mit  Papiergeld 
versorgen  und  dem  Handel  durch  Wechseleskomtierung  Zahlungsmittel  ver- 
schaffen sollte. 

Charakteristischer  Weise  kamen  nur  die  kleinen  Mittel  des  Merkan- 
tilismus zur  Ausführung.  Schon  1659  war  ein  Einfuhrverbot  für  Luxuswaren, 
1665  ein  Münzausfuhrverbot,  1689  eine  ungemein  ausführliche  Taxordnung 
für  alle  möglichen  Waren  und  Arbeiten  erlassen  worden. 

In  jene  Zeit  Rillt  für  Österreich  das  Aufkommen  der  Manufakturen, 
einer  gewerblichen  Betriebsform,  die,  durch  die  Regierung  eingeftthrt,  das 
ganze  folgende  Jahrhundert  hindurch  das  Schoß-  und  Sorgenkind  der 
wechselnden  Staatsleiter  wurde. 

Machen  wir  uns  zuerst  klar,  was  darunter  zu  verstehen  ist. 

Der  amtliche  Sprachgebrauch  des  18.  Jahrhunderts  wendetdie  Bezeichnung 
Manufakturen  und  Fabriken  bald  abwechselnd,  bald  gleichzeitig  als  gleich- 
bedeutend an.  Dies  ist  irreführend.  Manufaktur  ist  der  weitere  Begriff  und 
bezeichnet,  wie  8 o n n e n f e 1 s*  i richtig  bemerkt,  die  Herstellung  gewerblicher 
Produkte  für  den  Verlag.  Allerdings  setzt  derselbe  Schriftsteller  dann  aus- 
einander. Manufakturant  im  engsten  Sinne  sei  gleichbedeutend  mit  Fabrikant, 
demjenigen,  der  den  ganzen  Produktionsprozeß  vom  Rohprodukt  bis  zum 
Kaufgut  leite.  Dies  war  aber  bei  den  Mannfakturanten  jener  Zeit  größtenteils 
nicht  der  Fall.  Daher  hat  sich  auch  die  falsche  Anschauung  von  dem  Auf- 
kommen der  Fabriksindustrie  zu  Beginn  des  18.  Jahrhunderts  und  von  der 
Beeinträchtigung  des  Kleingewerbes  durch  dieselbe  gebildet.  Aber  es  ist 
doch  merkwürdig,  daß  mau  erst  gegen  Ende  des  18.  Jahrhunderts  und  da 
nur  vereinzelt  Klagen  des  Handwerks,”)  das  doch  sonst  eifersüchtig  auf 
Wahrung  seiner  Rechte  und  Interessen  bedacht  war,  gegen  die  Manufakturen 
oder  Fabriken  begegnet  und  daß  sie  erst  im  19.  Jahrhundert  ständige 
InvcntarstOcke  der  zünftlerischen  Beschwerden  werden.  Tatsächlich  berührten 
manche  dieser  neuen  Betriebe,  und  zwar  diejenigen,  die  man  allenfalls  als 
Fabriken  bezeichnen  kann,  Zuckerralfinerien,  Glashütten,  Ölfabriken,  die  bis- 
herige Domäne  des  Kleingewerbes  gar  nicht,  die  weitaus  größt«  Anzahl  aber, 

1 Vgl.  Sonnenfel»,  Grundsätze  der  Polizey,  Handlung  und  Finanz.  3.  Anfl  Wien 
1787.  n.  Bd„  8.  149,  150. 

*)  Vgl.  Beer,  Die  österreichische  Industriepolitik  unter  Maris  Theresia. 
Wien  1894.  S.  16. 


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Das  Österreichische  Gewerbe  im  Zeitalter  des  Merkantilismus.  77 

nämlich  die  Textilmaniifakturen.  waren  ihm  eher  förderlich.  Sie  stellten  ihre 
ganze  Produktion  im  Verlage  durch  durchwegs  selbständige  Meister  her, 
übernahmen  nur  gewisse  technische  Verbesserungen,  die  man  bisher  nicht 
gekannt  hatte  und  besorgten  den  Vertrieb  im  gTOßen.  So  kam  es.  daß  im 
18.  Jahrhundert  Spinner  und  Weber  es  zu  einer  Zunftorganisation  brachten, 
was  doch  für  die  persönliche  Unabhängigkeit  der  Meister  spricht.  Aber 
auch  dort,  wo  der  Betrieb  sich  konzentrierte,  wie  in  den  Gewerkschaften 
und  Hammerwerken,  behielten  die  Meister  ihre  volle  Selbständigkeit  und 
Organisation.  Es  fehlte  eben  das  wesentliche  der  fabriksmäßigen  Produktion, 
der  maschinelle  Betrieb  und  die  Arbeitszerlegung. 

Daß  die  Manufakturen,  die  als  kapitalistische  Unternehmungen  alle 
Vorteile  der  Technik  sich  zu  eigen  machen  konnten,  durch  Aufnahme  des 
maschinellen  Betriebs  zu  Fabriken  wurden,  ist  unbestreitbar.  Ebenso  scheinen 
sie  einen  zersetzenden  Einfluß  auf  die  handwerksmäßige  Organisation  aus- 
geübt  zu  haben,  indem  in  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  die 
Zilnfte  in  der  Textilindustrie  wieder  verschwanden.  Es  zog  eben,  ein  sehr 
gewöhnlicher  Prozeß,  die  sachliche  Abhängigkeit  vom  Verleger  und  Kapi- 
talisten die  persönliche  nach  sich.  — Ich  schließe  mich  also  vollinhaltlich  dem 
Urteil  Bochers  an.  wenn  er  behauptet5):  .Vor  100  Jahren  beherrschte 
das  Handwerk  konkurrenzlos  alles  das.  was  es  vom  Mittelalter  übernommen 
und  im  16.  und  17.  Jahrhundert  noch  dazu  gewonnen  hat.* 

Die  Kegierungspolitik  jener  Zeit  suchte  uun  auf  jede  Weise  die  Ein- 
fohrung  der  Manufakturen,  in  denen  sie  eine  Zeitlang  eine  Panacee  gegen 
die  allgemeine  wirtschaftliche  Stagnation  erblickte,  zu  fördern.  Da  dies  im 
Kähmen  des  Zunftwesens  nicht  möglich,  auch  in  österreichischen  gewerb- 
lichen Kreisen  das  zum  Großbetrieb  nötige  Kapital  nicht  aufzutreiben  war. 
sah  man  sich  gezwungen,  ftlr  derartige  Unternehmungen  privilegia  privativa 
zu  erlassen.  Sie  hatten  sowohl  den  Zweck,  den  Unternehmer  von  den  Zunft, 
schranken  zu  eximieren.  als  ihm  durch  ein  auf  eine  Reihe  von  Jahren  ein- 
geräumtes Monopol  einen  sicheren  Gewinn  zu  garantieren.  Solcher  Privilegien 
wurden  zu  Ende  des  17.  und  im  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  eine  große 
Anzahl  verliehen.')  So  wurde  1691  die  erste  Wollzeugfabrik  Böhmens  in 
Osseg,  1701  eine  Spiegelfabrik  in  Neuhaus,  1709  eine  Ölfabrik  in  Wien, 
1710  eine  Tuchmantifaktur  in  Planitz  mit  Privilegien  und  weitgehenden 
Verkaufs-  und  Alleinverkaufsrechten  ausgestattet.  Ja,  der  Staat  schritt  selbst 
zur  Anlegung  von  Manufakturen  und  einzelne  Länder  ahmten  ihm  darin  nach. 

Von  der  Gründung  des  Wiener  Manufakturenhauses  war  schon  die 
Rede.  Im  Jahre  1672  wurde  in  Linz  eine  staatliche  Tuchmanufaktur  errichtet, 
die  es  bald  zu  großer  Blüte  brachte  und  um  1720  gegen  80.000  Webern 
in  Oberösteneich  und  Böhmen  Verdienst  gab:5)  später  ging  sie  in  Privat- 

s)  Vgl.  Bücher,  Entstehung  der  Volkswirtschaft.  8.  Auf!.,  S.  208. 

')  Vgl.  Cod.  Aostr.,  lU.Bd.,  S.  782  f.— Hall  wich  a a.  0„  8. 40  ff.  K.  L.  Neumann, 
Entwurf  einer  Geschichte  der  Zuckerindustrie  in  Böhmen.  Prag  1891,  S.  2.  Bujatti, 
Geschichte  der  Seidenindustrie  iu  Österreich. 

*)  Vgl.  F.  Nieht,  Für  da»  Kleingewerbe.  Wien  1888,  HL,  S.  4. 


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78 


Rizzi. 


besitz  (Iber,  Auch  die  kärntnerischen  Lundstände  errichteten  in  Klagenfurt 
eine  Landesmanufaktur,  die  jedoch  bald  einging.  1718  wurde  eine  staatliche 
Porzellanmanufaktur  errichtet  und  die  von  Karl  VI.  ins  Leben  gerufene 
orientalische  Kompagnie  mit  einer  Reihe  von  Fabriksprivilegien  aus- 
gestattet. 

Hier  glaubte  man  den  gegen  die  Zünfte  zu  Felde  geführten  Grundsatz 
der  Bekämpfung  des  Monopolismus  nicht  durchführen  zu  sollen;  und  in  der 
Tat  waren  ja  diese  Monopolien  anfangs  der  stärkste  Hebel  zur  Überwindung 
der  Schwierigkeiten,  die  sich  in  eiuem  kapitalsarmen,  volkswirtschaftlich 
unentwickelten  Staate  dem  Dnternehmungsgeist  entgegenstellten. 

Gegen  die  Zünfte  kam  es  unter  Leopolds  Regierung  noch  nicht  zu 
den  erforderlichen  durchgreifenden  Maßregeln.  Zwar  hatte  schon  Becher 
ihre  Beibehaltung  nur  bei  gleichzeitiger  Abschaffung  der  zutage  getretenen 
Übelstände  befürwortet  und  als  solche  bezeichnet;  .Das  Monopolium,  das  die 
Populosität,  das  Polipolium.  das  die  Nahrung  hemme  und  das  Propolinm, 
das  die  Gemeinschaft  zertrenne.*  Es  wurden  auch  einzelne  Schritte  unter- 
nommen, die  ärgsten  Mißbräuche  abzustellen;  aber  es  zeigte  sich,  wie  auch 
das  ganze  folgende  Jahrhundert  hindurch,  daß  den  Zunftmißbräuchen  mit 
gesetzgeberischen  Maßnahmen  nicht  beizukommen  sei.  Außerdem  machte 
sich  auch  jene  ängstliche  Scheu,  an  überkommenen  und  wie  man  glaubte, 
wohlerworbenen  Rechten  zu  rütteln,  bemerkbar,  die  dem  ganz  von  juristischen 
Anschauungen  durchsetzten  Charakter  jener  Zeit  eigen  war.  Die  römisch- 
rechtliche  Auffassung  der  Zunftprivilegien  als  privatrechtlicher  Eigentums- 
objekte, die  im  schroffen  Widerspruch  zur  deutschen  stand,  welche  in  den 
Zünften  Ämter,  ständische  Organisationen  sah,1)  verhinderte  jede  Reform, 
die  an  der  Handwerksverfassung  selbst  Hand  anlegen  wollt«. 

In  der  Richtung  der  drei  eben  angeführten  Grundsätze  Bechers 
bewegten  sich  einige  Verordnungen,  die  jedoch  nur  auf  dem  Papier  blieben. 

Nachdem  der  Kaiser  schon  1661  von  der  niederösterreichischen 
Regierung  und  den  Ständen  sowie  von  Städten  und  Märkten  Gutachten 
eingefordert  hatte,  kam  es  endlich  1689  zum  Erlaß  einer  Verordnung,  welche 
die  schreiendsten  Mißbräuche,  besonders  jene,  die  auf  Abschließung  der  Zunft 
und  Hochhaltung  der  Preise  zielten,  abstellte. *)  Zur  Hintanhaltung  des  Poli- 
poliums  sollte  wohl  jene  Verordnung  dienen,  die  den  Bauersleuten  .Hand- 
thierung  und  bürgerliche  Gewerb  mit  allerley  Pfennwerthen  zu  treiben,* 
durch  die  .denen  Städten  und  Märkten  an  ihren  Gewerben  Abbruch  geschieht,* 
verbot.’)  Ebenso  wird  das  Verbot  des  Fürkaufs  von  Lebensmitteln  und 
Rohprodukten  in  den  Bauernhäusern  erneuert.* i Die  unzähligen  Wieder- 
holungen aller  dieser  Verbote  durch  das  ganze  18.  Jahrhundert  werfen  ein 
Schlaglicht  auf  ihre  Wirksamkeit. 

')  Vgl.  Bruder.  Über  den  Verfall  der  Zünfte  zur  Zeit  des  Absolutismus.  (Histo- 
risches Jahrbuch  der  Gürres-Gesellschaft,  1.  Bd.) 

1 Cod.  Austr..  I.  Bd.,  S.  462. 

*)  Cod.  Austr..  I.  Bd.,  S.  455. 

*)  Gleichlautende’ Verbote  1640,  1568.  1570,  1571.  (Cod.  Austr.  I.  Bd..  S.  455). 


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Das  Österreichische  Gewerbe  im  Zeitalter  des  Merkantilismus. 


79 


Die  kurte,  durch  Kriegssorgen  ausgefüllte  Regierungstätigkeit  Josefs  I. 
bewegt  sich  in  derselben  Richtung. 

Hervorzuheben  wäre,  daß  er  1709  dem  bisher  unbezunfteten  Gewerbe 
der  Schäffler  (Schafscherer)  eine  Zunftordnung  verlieh.  Diese  waren  noch  bei 
Lebzeiten  Kaiser  Leopolds  darum  eingekommen,  man  möge  sie  „in  den 
Ehrenstand  versetzen*  und  ihnen  Iunungsartikol  verleihen.  Leopold  hatte 
zwar  jenen,  die  mit  der  Abdeckerei  des  gefallenen  Viehes  sich  nicht  beschäf- 
tigten, die  Ehrenverwahrung  erteilt,  die  andere  Bitte  um  Zunftprivileg  jedoch 
zurückgewiesen.  Josef  verleiht  ihnen  nun  auch  Zunftartikel  in  Anbetracht 
dessen,  daß  .durch  solches  ihr  Begehren  die  Ehre  Gottes  nicht  allein 
befördert,  sondern  auch  unter  ihnen  Zucht  und  Ehrbarkeit  erhalten  werden 
könnte.*  Die  Bestimmungen  dieser  Artikel  sind  die  damals  noch  allgemein 
flblichen.  Interesse  verdient  nur  Artikel  IV  der  Ordnung,  der  begagt:  Die 
Obrigkeit  ist  berechtigt.  Freimeister  und  Gesellen  zu  machen,  die  die  Zunft 
dann  anerkennen  müsse,  .maßen  eine  jede  Obrigkeit  am  besten  wüßte,  wer 
derselben  tauglich  und  anständig  sei.“  Hiemit  ist,  da  die  Schäffler  ein  länd- 
liches Gewerbe  waren,  jedenfalls  die  Grundobrigkeit  gemeint  und  es  läßt 
sich  diese  Durchbrechung  der  Zunftschranken  allenfalls  aus  dem  Verhältnisse 
der  Grundhörigkeit  erklären.  Die  Annahme  aber,  daß  die  Institution  der 
Freimeister  bei  den  bürgerlichen  Gewerben  viel  älter  ist  als  das  bekannte 
Scbutzdekreterpatent  Karl  VI.,  findet  ihre  Bestätigung  in  einer  Goldschmied- 
ordnung aus  dem  Jahre  1562,  die  allen  Unbezunfteten  die  Verarbeitung  von 
Gold  und  Silber  verbietet,  mit  Ausnahme  derer,  denen  es  vom  König 
gestattet  ist.  Vermutlich  war  diese  Bestimmung  in  allen  neueren  Zunft- 
ordnungen enthalten. 

In  der  Regierung  Karls  VI.  gelangte  der  Merkantilismus  in  seinem 
vollen  Umfange  zum  Sieg.  Sie  bedeutet  den  Anfang  jener  wirtschafts- 
politischen Ära,  die  sich  unter  ihm  und  seinen  beiden  Nachfolgern  in  steter 
Entwicklung  fortbildet,  bis  ihr  Abschluß  unter  Josef  II.  eine  vom  Anfang 
wesentlich  verschiedene  Prägung  aufweist.  Das  wirtschaftliche  Prinzip  blieb 
während  dieses  Zeitraumes  von  fast  100  Jahren  dasselbe:  Vermehrung  des 
sich  in  einer  möglichst  großen  Summe  wirtschaftlicher  Güter  äußernden 
Volkswohlstands  durch  staatliche  Maßnahmen,  deren  erste  und  wichtigste 
die  Hebung  der  Bevölkerungsziffer  war.  Was  sich  änderte,  waren  die 
treibenden  Ideen  und  die  leitenden  Persönlichkeiten.  Zu  Beginn  des  Jahr- 
hunderts das  in  der  römischen  Juristenschule  und  im  Kampf  um  das  Welt- 
imperium herangereifte  Machtbedürfnis  eines  durch  und  durch  konservativen 
Herrschers,  an  der  Neige  des  Jahrhunderts:  salus  publica  — suprema  lex. 

Mit  voller  Energie  setzte  Karl  die  Vermehrung  der  Manufakturen, 
die  Hebung  des  Handels  durch  Errichtung  der  orientalischen  und  ostindischen 
Kompagnie,  durch  Anlegung  von  Verkehrswegen  zwischen  Zentrum  und 
Peripherie  des  Reiches.  Ausbau  der  Häfen  und  Kreierung  zweier  Freihäfen 
— Triest  und  Fiume  — durch. 

Besonderes  Augenmerk  wandte  er  der  in  den  Sudetenländern  schon  zu 
hoher  Blüte  gelangten  Leinen-  und  Tuchroanufaktur  zu. 


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80 


Kiiii. 


Schon  1660  war  auf  die  Beschwerde  der  holländischen  Generalstaaten, 
dalt  schlesische  Kaufleute  ein  an  Länge  und  Zahl  minderwertiges  Garn 
verkauften,  die  Aufstellung  von  Garnbeschauern  in  den  größeren  Orten 
nngeordnet.  damit  dem  guten  Rufe  der  Landesmanufakturen  bei  fremden 
Nationen  kein  Eintrag  geschehe.  Patente  in  den  Jahren  1698,  1708.  1711 
hatten  sich  eingehend  mit  Qualität  und  Quantität  des  zu  verkaufenden 
Garns  beschäftigt.  Am  27.  September  1714  erging  ein  ausfflhrlicheres  Patent. 
Als  Illustration  zur  merkantilistischen  Gesetzgebung  fahre  ich  hier  seine 
wesentlichsten  Bestimmungen  an:  ZuerBt  erinnert  es  an  das  schon  öfter 
erflossene  Gebot:  Garne  streng  nach  Maß  und  Zahl  herzustellen,  und  regelt 
ausführlich  die  Art  der  Herstellung.  Die  Weber  werden  beauftragt,  falls 
das  von  ihnen  gekaufte  Garn  nicht  genau  den  Bestimmungen  entspreche, 
dies  bei  der  Obrigkeit  anzuzeigen.  Diejenigen,  die  sich  das  Sammeln  des 
Garns  zum  Beruf  machen,  haben  künftig  sich  dazu  einen  Erlaubnisschein 
ausstellen  zu  lassen.  Damit  aber  durch  diese  Zwischenhändler  den  Garn- 
verarbeitern  in  den  Städten  kein  Eintrag  geschehe,  sei  diesen  an  Markttagen 
durch  eine  bestimmte  Anzahl  von  Stunden  der  Vorkauf  Vorbehalten.  Auch 
solle  kein  Garn  außer  Landes  geführt  werden  dürfen,  damit  es  den  ein- 
heimischen Fabricatores  möglich  sei,  ihren  Bedarf  im  Land  zu  decken.  Nur 
mit  königlichem  Amtspaß  versehenes  Garn  darf  die  Grenze  passieren.  Am 
Lande  dürfen  keine  Packhäuser  errichtet  werden.  Bauern  und  Dorfschulzen 
sollen  keine  Garne  oder  Leinwänden  versenden  oder  damit  ein  negotium 
außer  Landes  treiben,  damit  das  städtische  Commercium,  die  beste  Quelle 
des  bürgerlichen  Reichtums,  blühe,  die  königlichen  Städte  dadurch  aus 
ihrem  tiefen  Verfall  gehoben,  die  Stenern  einträglicher  würden. 

Mehrere  Erlässe  in  den  nächsten  Jahren  beschäftigen  sich  mit  dem- 
selben Gegenstand.  So  suspendiert  eine  Verordnung  aus  1725  das  im  Gam- 
patent  enthaltene  Ausfuhrverbot  für  Flachs  wegen  mehljähriger  reicher 
Ernten,  deren  Erträgnis  im  Lande  nicht  mehr  verarbeitet  werden  könne. 

Auch  die  mährische  Tuchmanufaktur,  die  im  17.  Jahrhundert  durch 
die  Iglauer  Tuchmucherkompaguie  zu  hoher  Blüte  gelangt,  später  aber  durch 
betrügerische  und  leichtsinnige  Manipulationen  heruntergekommen  war,  wird 
mit  einer  Tuchordnung  für  Händler  und  Fabrikanten  bedacht.  Außerdem 
werden  an  jedem  Fabrikationsort  Beschauer  aufgestellt,  die  jedes  Stück 
Tuch  prüfen  und  nur  das  fehlerfreie  mit  dem  Siegel  versehen  sollten. 
1724  erhält  Schlesien  eine  Leinwandordnung.  in  der  besonders  den  Nego- 
tianten eingeschärft  wird,  gutes  Maß  zu  geben,  da  diesbezüglich  Klagen 
aus  dem  Ausland  eingelaufen  seien.  Ferner  enthält  sie  ausführliche  Bestim- 
mungen über  Beschau. 

Der  Schaumeister  wird  in  den  Städten  vom  Magistrat,  am  Land  von 
der  Obrigkeit  ernannt  und  beeidigt  und  soll  ein  anständiger  Mann  sein. 
Jede  Leinwand  muß  gleich  nach  Verfertigung  zur  Schau  gebracht  und  vom 
Beschauer  mit  dem  an  jedem  Ort  verschiedenen  Stempel  von  roter  Ölfarbe 
bezeichnet  werden.  Waren,  denen  der  Stempel  fehlt,  werden  am  Markte 
konfisziert.  Streitigkeiten  zwischen  Webern  und  Schaumeistem  werden  von 


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Das  östeiri'ichisfhe  Gewerbe  im  Zeitalter  des  Merkantilismus. 


81 


einer  Versammlung  anderer  Schaumeister  und  Weber,  in  letzter  Instanz 
vom  Kommerzkollegium  ausgetragen. 

Die  Anzahl  der  Mäkler  auf  den  Wochenmärkten  wird  festgesetzt  und 
ihnen  ein  Eid  vorgeschrieben.  Der  Handel,  heißt  es  weiter,  gehört  zwar  in 
die  Städte,  da  die  Bauern  aus  dem  Landbau  und  der  Manufaktur  ihren 
Unterhalt  zögen.  Da  aber  die  gänzliche  Abschaffung  des  Handels  auf  dem 
Lande  Inkonvenienzen  nach  sich  zöge,  werden  die  Landleute  auf  gewisse 
Märkte  beschränkt  und  ihnen  verboten,  nach  Italien  und  dem  Reich  zu 
exportieren. 

1731  wird  den  schlesischen  Tuchmachern  gestattet,  neben  ihren  bis- 
herigen Webstflhlen  holländische  aufzustellen;  doch  darf  auf  denselben 
nur  holländisches  oder  feines  Aachener  Tuch  gemacht  werden.  Zur  Beför- 
derung der  Einführung  dieser  Stühle  werden  folgende  Bestimmungen 
erlassen:  diejenigen,  die  den  neuen  Stuhl  einführen,  erhalten  das  Prädikat 
.Kunstreich“;  nur  aus  ihrer  Mitte  darf  in  einer  Reihe  namentlich  auf- 
geführter  Städte  der  Zunftälteste  gewählt  werden  und  die  Erlangung  der 
Meisterschaft  ist  künftig  an  die  Anschaffung  eines  solchen  Stuhls  gebunden. 
Zur  Durchführung  dieser  Bestimmungen  wurde  aus  dem  Kommerzkolleg 
eine  eigene  Kommission  ernannt. 

Ein  wichtiger  Schritt  auf  dem  Gebiete  der  Gewerbeförderung  geschah 
1734:  zur  Förderung  des  Handels  und  Einführung  neuer  Manufakturen 
wurde  in  Prag  ein  eigenes  Kommerzkolleg  für  Böhmen  und  Glatz  geschaffen. 
Es  sollte  aus  kaiserlichen  Räten  und  Sachverständigen  bestehen  und  mit 
Rat  und  Tat  den  Fabrikanten  und  Händlern  zur  Seite  stehen.1)  Besonders 
wichtig  aber  ist  eine  gleichzeitige  Bestimmung,  durch  die  fremden  Fabrikanten 
und  Artisten,  die  eine  neue  Manufaktur  in  Böhmen  einführen  wollten,  ohne 
Rücksicht  auf  ihr  religiöses  Bekenntnis,  Privilegien  und  Immunitäten  zuge- 
sagt wurden.  Wurde  doch  dadurch  mit  dem  bisher  ängstlich  gehüteten 
Konfessionalitätsprinzip  gebrochen. 

Weniger  energisch  und  durchgreifend  war  das  Verhalten  der  Regierung 
gegen  die  Zünfte.  Es  war  die  Regelung  und  Ordnung  des  Zunftwesens  auch 
in  der  Tat  ein  äußerst  schwieriges  Problem,  das  durch  einzelne,  zusammen- 
hangslose Maßregeln  nicht  zu  lösen  war.  Das  Wandern  der  Gesellen  hatte 
eine  enge  Verbindung  hergestellt  zwischen  dem  österreichischen  Handwerk 
und  dem  im  Reiche.  Gebräuche  und  Mißbräuche  waren  hier  wie  dort  die- 
selben. Wollte  man  nicht  diese  Verbindung  durchschneiden,  wogegen  sich 
aber  das  gesamte  Handwerk  wie  ein  Mann  erhoben  hätte,  so  war  man 
gezwungen,  eine  gemeinsame  Regelung  für  das  ganze  Reich  zu  treffen 
bei  dem  Mangel  einer  durchgreifenden  Reichsgewalt  und  dem  unentwickelten 
Solidaritätsgefühl  der  Stände  eine  äußerst  schwierige  Sache. 

Mit  der  ökonomischen  Hebung  des  Handwerks  glaubte  man,  sich 
damals  nicht  beschäftigen  zu  müssen.  Hatte  man  ja  doch  durch  Einführung 

')  Seit  1714  hatte  schon  ein  Merkantilkollegium  als  iudiciuin  delegatum  der 
böhmischen  Hofkanzlei  mit  ziemlich  beschränkten  Kompetenzen  bestanden.  Vgl.  A.  Pfibram. 
Das  böhmische  Komraerakollegium  and  seine  Tätigkeit.  Prag  1868.  8.  27  (f. 

Zritdchrlfl  für  VnlktwIrUoh&fi,  Soclalpolltlk  nnd  V«?rw»lluDf.  ZU.  n*nd.  6 


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82 


Rixzi. 


und  Begünstigung  der  Manufakturen  den  Weg  gezeigt  und  eingeschlagen, 
der  dem  Wohl  des  einzelnen  wie  dem  des  Staatssäckels  am  förderlichsten 
schien.  Es  blieb  also  nur  die  soziale  Frage  zu  lösen,  die  damals  wesentlich 
Gesellenfrage  war,  und  den  Konsumenten  gegen  Übergriffe  der  Zünfte  zu 
schützen  übrig. 

1724  erschien  ein  kaiserliches  Reskript,  welches  die  Behörden  mit 
den  Vorerhebungen  zur  Erlassung  einer  allgemeinen  Zunftordnung  betraute; 
gleichzeitig  wurden  die  Verhandlungen  mit  den  deutschen  Reichsständen 
eingeleitet.  Das  Ergebnis  war  der  Reichstagsschluß  vom  IC.  August  1731, *) 
der  in  Österreich  als  Generalzunftpatent  am  16.  November  desselben  Jahres 
publiziert  wurde. 

IV. 

Er  bildete  den  Abschluß  jener  langen  Kette  politischer  und  ökono- 
mischer Ereignisse,  die  von  dem  stolzen  Baue  mittelalterlich  deutscher 
Zunftherrlichkeit  Stein  um  Stein  abgebröckelt  hatten.  Kam  er  zur  Durch- 
fflhrung,  so  war  die  Zunft  tatsächlich  nur  mehr  behördliche  Polizeianstalt 
und  Dekorationsstück  für  kirchliche  Feste  und  Prozessionen. 

Die  erste  Bestimmung  behielt  dem  Herrscher  das  Recht  der  Zunft- 
bestätigung vor  — ein  Recht,  welches  dieser  in  Österreich  schon  seit  jeher 
in  Anspruch  genommen  und  seit  Josef  I.  auch  tatsächlich  beständig  aus- 
geübt hatte.  Demzufolge  mußten  bei  jedem  Thronwechsel  alle  Zunfts-  wie 
auch  die  übrigen  Privilegien  zur  Bestätigung  eingereicht  werden. 

Jedes  korporative  Vorgehen  der  Meister  einer  Zunft,  noch  mehr  aber 
das  Zusammengehen  verschiedener  örtlich  getrennter  Handwerke  erscheint 
streng  verpönt.  Durch  dieses  Verbot  sollen  vor  allem  die  Preisverabredungen 
der  Meister,  die  sehr  beliebte  Fassung  geheimer  Handwerksschlüsse,  die 
sich  einerseits  auf  Beschränkungen  der  Meisterstellen,  anderseits  auf  gemein- 
sames Vorgehen  gegen  die  Gesellen  bezogen,  verhindert  werden.  Zum 
Zwecke  der  Überwachung  sollte  jeder  Zunftversammlung  der  Zuuftinspektor 
beiwohnen.  Korrespondenzen  der  Handwerke  untereinander  seien  überhaupt 
überßüssig.  Sollten  sie  sich  aber  doch  einmal  nötig  erweisen,  so  müssen 
sie  der  Ortsbehörde  vorgelegt  werden.  War  auf  diese  Weise  den  Meistern 
jedes  korporative  Vorgehen  unmöglich  gemacht,  so  mußte  konsequenterweise 
den  Gesellen  gegenüber  dasselbe  Verfahren  eingehalten  werden.  Da  die 
Gesellenverbände  oder  Bruderschaften  tatsächlich  nicht  zum  Wesen  der 
Zunft  gehörten,  sondern  sich  nur  als  das  Ergebnis  einer  späteren  socialen 
Entwicklung  darstellten. ’)  da  sie  ferner  eben  auch  in  Konsequenz  dieser  Ent- 
wicklung und  der  von  der  Meisterschaft  und  den  lokalen  Gewalten  dagegen 
ausgehenden  Reaktion  einen  teilweise  revolutionären  und  turbulenten 
Charakter  angenommen  hatten,  so  wurden  sie  schlechtwegs  untersagt  und 
jede  Gesellenvcrsammlung  sowie  das  schon  damals  viel  gebrauchte  Kampf- 

*)  Vgl.  Mäscher.  Das  deutsche  Gewerbewesen  vou  der  frühesten  Zeit  bis  aof  die 
Gegenwart  Potsdam  1866. 

3)  Vgl.  Schanz,  Zur  Geschichte  der  Gesellenverbände.  Leipzig  1*77. 


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Das  Gsterrcirhiache  Gewerbe  im  Zeitalter  des  Merkantilismus.  K3 

mittel  des  Ausstands  als  Aufruhr  mit  Leibes-  und  Zuchthausstrafe  bedroht. 
Von  wie  weittragender  Bedeutung  diese  ultima  ratio  der  Staatraison  war, 
da  sie  auch  die  bisherigen  sozialen  Funktionen  der  Gesellenverbände  unter- 
band, werden  wir  bei  Besprechung  der  Durchführung  des  PatentB  ersehen. 

War  so  einerseits  das  korporative  Wirken  des  Handwerks  in  seinem 
Nerv  getroffen,  anderseits  die  bisherigen  öffentlich-rechtlichen  Funktionen 
der  Zünfte  bis  auf  kleine  Überreste  beseitigt,  so  mußte  die  Staatsgewalt 
daran  denken,  wenigstens  für  diese  öffentlich-rechtlichen  Funktionen  Ersatz 
zu  schaffen.  Das  Verhältnis  zwischen  Meister  und  Gesellen,  bisher  ein 
Zunftinternum,  wurde  zum  Lohnvertrag  und  als  solcher  der  staatlichen 
Normierung  und  Gerichtsbarkeit  unterworfen.  Nur  kleine  Disziplinarstrafen 
im  Höchstbetrage  von  2 fl.  rh.  sollte  der  Zunftälteste  noch  verhängen  können, 
ja  selbst  bei  diesen  stand  der  Rekurs  an  die  Behörde  offen. 

Die  zünftige  Lebensmittel-  und  Warenpolizei  war  in  Österreich  schon 
lange  der  Beschau  gewichen.  Nur  gingen  diese  staatlich  angestellten  Beschau- 
meister früher  aus  ihrem  Gewerbe  hervor.1)  Jetzt  aber  sollten  sie  als 
behördliche  Polizei  organisiert  werden. 

Auf  die  Finauzgebarung  der  Zünfte,  bisher  nur  durch  die  Handwerks- 
versammlungen kontrolliert,  sicherte  sich  der  Staat  weitgehenden  Einfluß. 
Den  Jahresversammlungen,  an  denen  die  Zunftältesten  Rechenschaft  ablegen 
mußten,  sollte  der  Zunftinspektor  beiwohnen.  Er  erhält  einen  Schlüssel  zur 
Zunftkasse.  Die  politischen  Behörden  sind  jederzeit  berechtigt,  Vorlegung 
der  Zunftrechnungen  zu  verlangen.  Die  Überschüsse  werden  anstatt  wie 
bisher  auf  Gelage  aufzugehen,  durch  den  Staat  ad  pias  cansas  verwendet. 

Die  Gesellenfrage  glaubte  man  nicht  durch  Beschränkung  der  Lehr- 
lingszahl. wie  dies  von  vielen  Behörden  vorgeschlagen  worden  war,*)  lösen 
zu  sollen  — hätte  dies  doch  der  Populosität  Eintrag  getan  — man  erleichterte 
vielmehr  den  Zugang  zum  Meisterrecht.  Es  wird  daher  den  Zünften  nicht 
mehr  gestattet,  die  Zahl  der  Meister  oder  Gesellen  festznsetzen.  Dies  kann 
fortan  nur  mehr  durch  die  Obrigkeit  geschehen,  die  aber  jederzeit  berechtigt 
ist.  von  der  so  festgesetzten  Zahl  wieder  abzugehen.  Die  Meisterstücke 
dürfen  nicht  zu  kostbar  und  müssen  leicht  verkäuflich  sein.  Die  bei  der 
Meisterwerdung  üblichen  Schmausereien  haben  ganz  wegzufallen.  „Mutungs- 
jahre“  — das  waren  ein  oder  zwei  Jahre,  die  zugereiste  Gesellen  auf  die 
Meisterwerdung  warten  mußten,  um  vorher  bekannt  zu  werden  — werden,  wo 
sie  bisher  üblich  waren,  abgeschafft.  Verheirateten  Gesellen  darf  das  Meister- 
recht nicht  verweigert  werden. 

Um  den  Zutritt  zum  Gewerbe  zu  erleichtern,  wird  angeordnet,  daß 
für  mittellose  Lehrlinge  die  Obrigkeit  das  Lehrgeld  herahsetzen  könne,  und 
daß  dem  Meister,  der  auf  das  Lehrgeld  Verzicht  leiste,  der  Lehijunge  nach 
seiner  Freisprechung  noch  ein  Jahr  unentgeltlich  dienen  müsse.  Alle  die 
verschiedenen  Makel  aus  dem  Stande  der  Eltern  und  aus  sittlichen  Ver- 

*)  Vgl.  Euletibnrg  (a.  a.  0.,  1.  Bd„  S.  308.) 

T)  Berichte  de«  königlichen  Tribunals  von  Mahren  snm  35.  Jänner  und  0.  Mürz  1727. 

«• 


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84 


Riizi 


geben  werden  mit  einer  Ausnahme  — der  Kinder  von  Schindern  — abge- 
achaft't.  Der  tatsächlichen  Überfüllung  vieler  Gewerbszweige  wurde  also 
nicht  Rechnung  getragen,  der  Grundsatz  der  Nahrungs-  und  Volksvermehrung 
war  allein  maßgebend.  Eine  Theorie  darüber,  wie  diese  zu  bewirken  sei, 
wie  wir  sie  am  Ausgang  des  Jahrhunderts  treffen,  war  noch  nicht  aus- 
gearbeitet. 

Dem  hier  geschilderten  Prinzip  entsprach  auch  das  Verhalten  gegen 
Winkelarbeiter  und  Stöhrer,  die  besonders  auf  dem  Lande  einen  großen 
Prozentsatz  der  Gewerbetreibenden  bildeten. 

Die  Regierung  hatte  hier  zwar  schon  1725  durch  die  Einführung  der 
Schntzdekrete  teilweise  Abhilfe  geschaffen:  gegen  Zahlung  einer  jährlichen 
Taxe  wurden  Schutzbefugnisse  an  Gewerbetreibende,  die  den  zünftigen 
Anforderungen  nicht  entsprachen,  verliehen  und  diese  so  berechtigt,  ihr 
Gewerbe  unabhängig  von  den  Zünften  auszuüben.  Aber  diese  Dokrcte 
scheinen  nicht  weit  über  Wien  oder  Niederösterreich  hinausgedrungen  zu 
sein.  Auch  erfaßten  sie  jene  proletarischen  Eiistenzen  nicht,  denen  die 
Zahlung  der  Taie  oder  die  damit  verbundene  Überwachung  unbequem 
erschien.  Der  Regierung  jedoch  lag  es  daran,  alle  Gewerbetreibenden  in 
Körperschaften  zu  vereinigen,  da  sich  so  die  Überwachung  leichter  gestaltete. 
So  wurde  denn  festgelegt,  daß  Stöhrer  und  Winkelarbeiter  zwar  nirgends 
geduldet  und  ihnen  im  Betretungsfall  ihr  Werkzeug  konfisziert  werden 
sollte,  zugleich  aber  auch,  daß  ihnen  der  Eintritt  in  die  Zünfte  auf  jede 
Weise  erleichtert  werden  solle. 

Was  schließlich  die  Konfession  der  Gewerbetreibenden  betrifft,  so  setzt 
die  Aufoahme  in  die  Zunft  nach  wie  vor  römisch-katholisches  Bekenntnis 
voraus.  Wir  haben  aber  schon  bei  den  Manufakturen  eine  Durchbrechung 
dieses  Prinzips  konstatiert.  Ebenso  enthielt  das  Schutzdekreterpatent  keine 
Bestimmung  über  die  Konfession.  Da  aber  das  katholische  Bekenntnis  als 
Voraussetzung  der  Erlangung  des  Bürgerrechts  zugleich  Bedingung  der 
Aufnahme  in  die  Zunft  bildete,  letzteres  aber  bei  den  Dekretern  nicht 
gefordert  wurde,  so  können  wir  annehmen,  daß  bei  ihnen  vom  Bekenntnis 
abgesehen  wurde.1) 

Wollen  wir  in  wenigen  Worten  den  Charakter  dieser  ganzen  Zunft- 
gesetzgebung  feststellen,  so  können  wir  zusammenfassend  sagen:  Man  ging 
von  einigen  a priori  feststehenden  Grundsätzen  aus,  ohne  sich  um  das  von 
den  Unterbehörden  reichlich  beigeschaffte  Tatsachenmaterial  zu  kümmern. 
Nicht  auf  Grund  der  tatsächlichen  Verhältnisse,  die  eine  so  detaillierte  ein- 
heitliche Regelung  gar  nicht  gestatteten  und  ohne  Abschätzung  der  Macht- 
mittel, die  zu  ihrer  Durchführung  zur  Verfügung  standen,  wandte  man 
schablonenhaft  die  Grundsätze  eines  Staatsabsolutismus  an,  den  Roscher 
den  despotischen  nennt. 

Es  ist  allerdings  nicht  wahrscheinlich,  daß  der  Staat  durch  eine  wie 
immer  geartete  Regelung  des  Zunftwesens  den  Verfall  der  Zünfte  hätte 

’)  Vgl.  Ite schauer.  Geschichte  des  Kampfes  der  Handwerkerzünfte  und  Kauf- 
manusgremien  mit  der  Bureaukratie,  S.  10. 


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Da*  österreichische  Gewerbe  im  Zeitalter  des  Merkantilismus. 


85 


aufhalten  können.  Die  ökonomische  Entwicklung  drängte  zur  Gewerbefreiheit, 
wie  ja  jede  Entwicklung  in  ihrer  Jugendzeit  vor  allem  der  Freiheit  bedarf 
und  erst,  wenn  das  Gleichgewicht  zwischen  den  ihr  innewohnenden  Eipan- 
äionsbestrebungen  und  den  ihrer  Befriedigung  dienenden  Wirtschaftselementen 
hergestellt  ist,  im  Zustand  der  volkswirtschaftlichen  Sättigung  also,  sich 
staatlicher  Normierung  und  Beschränkung  fügt. 

Auch  war  der  Staat  damals  noch  nicht  in  der  Lage,  der  Zünfte 
gänzlich  entraten  zu  können.  Das  Behördenwesen  stand  noch  in  seinen 
Kinderschuhen  und  war  zu  einer  so  fein  ausgebildeten  Funktion,  wie  sie 
die  Gewerbepolizei  des  18.  Jahrhunderts  darstellt,  absolut  nicht  befähigt. 
Schon  die  Anforderungen  des  Generalpatents  waren,  wie  wir  sehen  werden, 
viel  zu  hoch  gestellt.  Als  Registrierungsbehörde  fOr  alle  Veränderungen 
des  gewerblichen  Status,  als  Machtmittel,  dessen  sich  die  Regierung  zur 
Durchführung  ihrer  merkantilistischen  Grundsätze,  zur  Regelung  von 
Angebot  und  Nachfrage  bedienen  konnte,  waren  die  Zünfte  noch  immer 
unentbehrlich. 

Zur  Prüfung  und  Rektifizierung  der  von  den  Zünften  vorzulegenden 
Innungsartikel  wurde  beim  Gubernium  eines  jeden  Landes  eine  Kommission 
eingesetzt,1)  die  für  jeden  Handwerkszweig  einen  Referenten  zu  ernennen 
hat.  Sie  soll  .das  utile  ab  inutili*  separieren  und  jenes  in  einem  Aufsatz 
dem  Kaiser  zur  Bestätigung  vorlegen.  Hierbei  solle  man  sich  an  die  Grund- 
sätze des  Generalpatents,  die  aber  in  die  Spezialartikel  keine  Aufnahme 
finden  sollten,  halten.  Was  in  den  Generalartikeln  Normierung  allenfalls 
nicht  gefunden  habe,  sei  beizurücken  und  „sensui  et  menti  des  General- 
patents zu  konformieren.“  Die  mallgebenden  Grundsätze  dabei  seien:  eines- 
teils .die  Ersprießlichkeit  und  Aufhelfung  der  Zünfte  selbst“,  anderseits 
das  „darunter  waltende  bonurn  publicum  et  commerciale“. 

Es  ist  anzunehmen,  daß  sich  die  Zünfte  ohne  Widerspruch  in  die 
Neuregelung  der  Verhältnisse  fügten.  Die  Kommission  fand  wenigstens  an 
den  eingereichten  Artikeln  nicht  viel  zu  ändern.1)  Das  System  der  behörd- 
lichen Überwachung  hatte  sich  schon  zu  sehr  eingelebt  und  die  Zünfte 
durften  hoffen,  es  werde  künftig  nicht  strenger  als  bisher  durchgeführt 
werden.  Denn,  welche  Organe  wollte  man  damit  betrauen?  Staatlich 
waren  nur  die  oberen  Behörden  in  den  Frovinzhauptstädten.  Die  Magistrate 
der  kleineren  Städte  und  Märkte  dagegen  waren  viel  zu  sehr  mit  gewerbe- 
treibenden Elementen  durchsetzt,  um  sich  über  die  widerstreitenden  Einxel- 
interessen  erheben  zu  können. 

Die  kaiserlichen  Hauptleute  in  den  königlichen  Städten  und  auf  den 
Domänen,  die  Herrschaftsbeamten  in  den  untertänigen  Orten  und  am  Lande 
schließlich  waren  so  sehr  mit  Agenden  überhäuft,  daß  sie  den  gewerb- 
lichen Verhältnissen  nur  geringe  Aufmerksamkeit  schenken  konnten. 

')  Patent  vom  18.  Jänner  1782,  Direktiven  für  die  bandesstelle  zur  Einrichtung 
der  Innungsartikel. 

*)  Kommissiousanfsätze  der  böhmischen  Kommission  vom  24.  Juli  1734  und 
26.  September  1736. 


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86 


Kiiti. 


Za  Zunftinspektoren  wurden  meist  Leute  in  untergeordneten  Stellungen, 
wie  Stadtschreiber  und  Marktaufseher,  bestellt,  die  von  finanzieller  Gebarung 
womöglich  noch  weniger  verstanden  als  die  Gewerbetreibenden  und  mit  den 
Zünften,  wenn  sie  nicht  mit  denselben  im  Einverständnis  oder  wohl  auch 
direkt  bestochen,  alle  Ausgaben  passieren  lieben,  das  ganze  Jahr  wegen  der 
ihnen  aus  der  Zunftlade  zukommenden  Pauschalvergütung  für  ihre  Mühe- 
waltung im  Streite  lagen.1)  Rechnungen  wurden  nicht  geführt  und  so  kam 
es  auch  zu  keinen  Überschüssen  ad  pias  causas.  Ja.  was  früher  doch  teil- 
weise der  Dnterstützung  armer  und  kranker  Gesellen  zugeführt  worden  war, 
das  wanderte  jetzt,  da  man  die  vermittelnde  Organisation  aufgehoben  hatte, 
in  die  Herberge.  Es  kam  daher  schon  1788  zu  einem  Notenwechsel  zwischen 
der  böhmischen  und  österreichischen  Hofkanzlei,  als  dessen  Ergebnis  die 
Abänderung  des  Artikels  betreffend  die  Gesellenzusammenkünfte  für  die  neu 
zu  erlassenden  Generalzunftartikel  beschlossen  wurde.  Es  sollen  aucli  künftig, 
wie  dies  bisher  Sitte  gewesen,  die  Gesellen  unter  Beiziehung  von  zwei 
Meistern  wöchentlich  oder  monatlich  einmal  sich  versammeln  und  für  die 
genannten  Zwecke  die  Auflage  von  2 — 4 kr.  leisten  dürfen.  Doch  sollte  auf 
diesen  Versammlungen  kein  Erkenntnis  gefällt  werden  dürfen  und  das  Geld 
abgesondert  von  der  Zunfllade  aufbewahrt  werden. 

Die  Handwerkserkenntnisse  oder  Beschlüsse  machten  überhaupt  der 
Regierung  schwere  Sorgen.  Sie  hatten  nach  Erlassung  des  Patents  keines- 
wegs aufgehört,  nur  wurden  sie  geheimer  gehalten  und  schienen  dem  ent- 
sprechend noch  gefährlicher.  So  fordert  die  Regierung  in  einem  Intimatum 
vom  Jahre  1766  von  der  kärntnerischen  Landeshauptmannschaft  einen  Bericht 
über  die  unter  den  dortigen  Zünften  bestehenden  Handwerksschlüsse.  Die 
Landeshauptmannschaft  läßt  durch  die  Kreisämter  die  Erhebung  gleich  bei 
deu  Zunftladen  selbst  anstellen  und  erhält  natürlich  zur  Antwort:  sie  hätten 
keinerlei  geheime  Schlüsse,  sondern  hielten  sieb  streng  nach  den  General- 
artikeln. Statt  der  zu  meldenden  Mißbräuche  kommt  dieser  interessante 
Enquetebericht  mit  einer  Unzahl  von  Handwerksbeschwerden  und  Bitten 
zurück. 

Ebensowenig  hatten  sich  die  Zustände  in  der  Gesellenschaft  gebessert, 
Handwerksgeschenke,  Schmähen.  Schelten  und  Auftreiben  standen  nach  wie 
vor  in  Schwung.  Bei  einer  schon  1727  eingeleiteten  Erhebung  über  Hand- 
werksgeschenke in  den  Sudetenländern  kamen  die  ungeheuerlichsten  Dinge 
zum  Vorschein  und  hierin  hatte  sich  bis  1740  so  wenig  geändert,*)  daß  die 
Ergebnisse  der  damaligen  Umfrage  als  Grundlage  neuer  gesetzgeberischer 
Maßrogeln  gegen  Gesellenmißbräuche  genommen  werden  konnten. 

Da  die  Normierung  der  einzelnen  Bestimmungen  des  Generalpatents 
für  die  böhmischen  Länder,  in  denen  die  gewerbliche  Produktion  am  weitesten 
fortgeschritten  war,  zu  wenig  eingehend  erschien,  da  Bich  überdies  bei  der 

*)  Kaiserliches  Reskript  ex  Augusto  1763.  Hofdekret  an  das  böhmische  Guberniuni 
ex  Julio  1769. 

Berichte  des  mährischen  Tribunals  und  des  böhmischen  Guberniums;  Referat 
an  die  Kaiserin  ex  Aprili  1740. 


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Du  Österreichische  Gewerbe  im  Zeitalter  des  Merkantilismus. 


87 


praktischen  Anwendung  mancher  Artikel  Unzukömmlichkeiten  herausgestellt 
hatten,  sah  man  sich  veranlaßt,  fflr  die  böhmischen  Länder  1739  eigene 
Generalzunftartikel  herauszugeben  als  Erläuterung  und  Ergänzung  des  General' 
Patents.  Sie  sollten  in  den  Zunftordnungen  der  verschiedenen  Orte  Gleich- 
förmigkeit schaffen  in  Bezug  auf  Lehrzeit,  Wanderjahre,  Gebühren  u.  a.  m. 
Denn  die  Bestimmung  des  Generalpatents:  daß  der  einmal  erlangte  Meister- 
titel überall  Geltung  haben  solle,  erforderte  auch  gleiche  Vorbedingungen 
seiner  Erlangung.  Zur  Durchführung  teilte  man  die  Städte  in  vier  Größen- 
klassen, die  auch  bei  Bemessung  der  Gebühren  verschieden  behandelt  wurden. 
In  der  dritten  und  vierten  Klasse  sollten  die  Generalzunftartikel  unum- 
schränkte, in  den  beiden  anderen  Klassen  subsidiäre  Geltung  neben  den 
Spezialprivilegien  haben. 


V. 

Das  folgende  Jahrzehnt  bildet  einen  Kuhepunkt  im  Flusse  der  gewerbe- 
politischen Entwicklung.  Der  österreichische  Erbfolgekrieg  und  nach  dessen 
Beendigung  die  von  Maria  Theresia  durchgeführte  Bebördenorganisation 
nahmen  alle  Kräfte  der  Verwaltung  in  Anspruch.  Als  dann  nach  ihrem 
Abschluß  die  Frage  der  Gewerbereform  von  neuem  an  die  Staatsleiter  her- 
antrat, fand  sie  einen  wesentlich  neuen  Geist  und  frische  Kräfte  zu  ihrer 
Lösung. 

Die  Beamtenschaft  war  überall  vom  ständischen  Einfluß  losgelöst  und 
durch  Errichtung  der  Kreisämter  der  Bevölkerung  und  ihren  materiellen 
Interessen  näher  gerückt.  Daß  aber  nicht  nur  eine  bureaukratisch  polizeiliche 
Verwaltung  die  ständische  Interessenpolitik  ablöse,  dafür  sollten  im  Gebiet 
des  Gesamtstaates  das  Kommerzdirektorium,  in  den  einzelnen  Provinzen  die 
Kommerzkonsesse  sorgen.  Sie  waren  kollegial  zusammengesetzt,  hatten 
alle  gewerblichen  Erhebungen  einzuleiten,  Beschwerden  entgegenzunehmen, 
Reformvorschläge  zu  erstatten  oder  zu  begutachten  und  Ober  alle  Gewerbe 
Protokoll  zu  führen.  Hatte  man  sich  so  exekutive  und  beratende  Organe 
geschaffen,  so  konnten  die  diesbezüglichen  Funktionen  der  Zünfte  mehr  und 
mehr  überflüssig  erscheinen  und  in  der  Tat  richtete  Maria  Theresia 
schon  1751  eine  Rundfrage  an  die  Behörden:  ob  es  nicht  in  Anbetracht  der 
allenthalben  obwaltenden  Zunftmißbräuche  geraten  sei,  das  Zunftwesen 
gänzlich  abzuschaffen?1)  Gegen  einen  so  radikalen  Schritt  erhoben  sich  aber 
allerorts  Bedenken  und  so  wurde  vorläufig  nur,  eine  allerdings  äußerst 
folgenreiche  Einrichtung,  die  Trennung  des  Gewerbes  in  zwei  Gruppen, 
Polizei-  und  Kommerzialgewerbe,  durchgeführt. 

t)  Kaiserliches  Reskript  an  die  gesamten  Länderrepräsentationen,  nnd  Kammern 
vom  4.  Dezember  1751,  .daß  in  Ansehung  deren  durch  allseitige  erbländische  Hand- 
werkszünfte dem  Public»  und  Commercio  zugewachacnen  Bedrückungen  nnd  Incon- 
venienzen,  nnd  ob  dahero  aothane  Zünften  nnd  Innungen  gänzlich  aufgehoben,  was  für 
Bedenklichkeiten  etwa  hierbei  gcmachct,  oder  wie  bei  deren  alienfaltigen  Beibehaltung 
eine  bessere  Ordnung  eingeleitet  werden  konnte,  im  geheimb  and  mit  aller  Behutsamkeit 
hierüber  deliberieret  und  gutachtlicher  Bericht  erstattet  werden  solle. “ 


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88 


Rizzi. 


Sonnenfels  und  seit  ihm  meines  Wissens  alle  Schriftsteller,  die 
Bich  mit  dem  Gegenstand  befaßten,  geben  als  Einteilungsgrund  die  Absatz- 
verhältnisse an:  Die  Kommerzialgewerbe  suchten  mit  ihren  auf  Verlag 
hergestellten  Produkten  den  nationalen  und  internationalen  Markt,  die  Polizei- 
gewerbe den  örtlichen  auf.1)  Dies  kann  jedoch  nur  teilweise  festgehalten 
werden.  In  erster  Linie  maßgebend  waren  verwaltungspolitische  Momente. 
Alle  Gewerbsarten,  die  wir  heute  unter  dem  Namen  Approvisionierungs- 
gewerbe  zusammenfassen  oder  die  jetzt  einer  Konzession  bedOrfen,  erscheinen 
in  der  Liste  der  Polizeigewerbe,  da  man  bei  ihnen  staatliche  Überwachung 
für  unentbehrlich  hielt;  ferner  jene  Gewerbe,  die  ein  geringes  oder  gar  kein 
Anlagekapital  und  keino  große  Geschicklichkeit  erfordern  oder  die  in  persön- 
lichen Dienstleistungen  bestanden.  Hier  wollte  man  den  für  Kommerzial- 
gewerbe aufgestellten  Grundsatz  der  unbeschränkten  Vermehrbarkeit  nicht 
zulassen,  da  man  wegen  der  geringen  Anforderungen  eine  Überfflllung 
befürchtete.  Alle  anderen  Gewerbe,  darunter  die  meisten  mit  Kleinbetrieb, 
die  damals,  wie  teilweise  heute  noch,  auch  nur  für  den  lokalen  Markt 
produzierten,  wurden  als  Kommerzialgewerbe  erklärt.’) 

Die  Kommerzialisten  unterstanden  in  gewerblichen  Angelegenheiten 
den  Kommerzkonsessen,  in  letzter  Instanz  dem  Kommerzdirektorium,  später 
der  Hofkammer.  Sie  erhielten  keine  Zunftprivilegien  mehr,  sondern  Ordnungen 
für  Meister  und  Gesellen,  die  den  Bedürfnissen  der  Zeit  besser  angopaßt 
waren  als  die  alten  Innungsartikel.5)  Die  ganze  Tendenz  ging  dahin,  die 
Kommerzialgewerbe  nach  und  nach  zu  voller  Gewerbefreiheit  überzuleiten. 
Zu  diesem  Zwecke  wurden  seit  1754  überhaupt  keine  neuen  Zünfte  mehr 
errichtet.  Das  hatte  zur  Folge,  daß  bei  der  starken  Spezialisierung  dieser 
Gewerbe  in  größeren  Städten,  besonders  in  Wien,  die  freien  bald  die  zünftigen 
Gewerbe  an  Zahl  übertrafen  Auch  entließ  man  nach  und  nach  eine  große 
Anzahl  von  Gewerben,  zuerst  die  Textilgewerbe,  dann  zwischen  1760  und 
1780  eine  ganze  Reihe  anderer  Beschäftigungen  aus  dem  Zunftzwang. 

Die  Polizeigewerbe  sollten  den  politischen  Behörden,  in  letzter  Instanz 
dem  Directorium  in  publicis  et  cameralibus.  später  der  vereinigten  Hofkanzlei 
unterstehen.  Sie  sollten  je  nach  Bedarf  von  den  Behörden  geschlossen  und 
wieder  geöffnet  werden.  Auch  bei  den  Kommerzialgewerben  war  den  Landes- 
behörden schon  im  Jahre  1754*)  für  Inländer,  fünf  Jahre  darauf5)  auch 
für  Ausländer  die  Befugnis  zur  Verleihung  von  Bürger-  und  Meisterrecht 
erteilt  worden;  doch  mußte  dieses  immer  verliehen  werden,  wenn  die  gesetz- 
lichen Erfordernisse  Vorlagen. 

')  Sonnenfels,  Ausarbeitung  über  die  Grundsätze  wegen  Aufnahme  der 
Handwerker  und  Gewerbsleute  in  den  Städten  ex  1793. 

b Profeseionistentabellen  in  den  bobmilchen  und  innerösterreichischen  Gubernial- 
berichten. 

’)  Die  erste  Profeseionsordnung  erhielten  die  Papiermacher  am  ‘23.  November  1754. 
die  letite  die  Knrtenmaler  iin  Jahre  1787. 

*)  Reskript  vom  13.  Juli  1754  an  alle  Repräsentationen  und  Kammern. 

*)  Reskript  ex  Martin  1759. 


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Das  österreichische  Gewerbe  im  Zeitalter  des  Merkantilismus. 


89 


Auf  die  ungemein  zahlreichen  Eingriffe  der  Kegierung  in  die  Gewerbe- 
verfassung ist  hier  nicht  der  Raum  näher  einzugehen.  Sie  bestanden  teils 
in  Wiederholungen  der  in  Vergessenheit  geratenen  Bestimmungen  des 
Generalpatents  und  Mallregeln  zu  ihrer  Durchführung,  teils  gingen  sie  dar- 
über hinaus.  Immer  wieder  mußten  die  Verbote  gegen  Zunft-  und  Gesellen- 
mißbräuche eingeschärft  werden  und  fast  wie  Ironie  klang  os,  wenn  1782 
die  österreichische  Regierung  auf  ein  Promemoria,)  des  preußischen  Residenten 
v.  Jakobi  über  gemeinsame  Abschaffung  der  Handwerksmißbräuche  in  den 
beiderseitigen  Grenzländern  zur  Antwort  gab:  man  habe  ja  ohnehin  die 
Generalartikel,  die  streng  beobachtet  würden. 

Andere  Aufgaben  boten  den  Behörden  die  sehr  oll  von  den  Handwerkern 
selbst  gewünschte  Zusammenlegung  schwächerer  Zünfte,')  die  Inkorporierung 
der  Landmeister,  die  diese,  um  den  Zunftabgaben  zu  entgehen,  auf  jede 
Weise  zu  hintertreiben  suchten,  überhaupt  die  Regelung  der  Verhältnisse 
zwischen  städtischem  und  ländlichem  Gewerbe. 

Die  Generalartikel  hatten  die  Einzünftung  aller  Meister  angeordnet, 
sowohl  der  Überwachung  als  auch  gewisser  Abgaben  wegen,  die  von  den 
Gewerbetreibenden  in  corpore  getragen  wurden.  Im  Interesse  des  städtischen 
Gewerbes  lag  es,  die  Landmeister  daran  mittragen  zu  lassen;  im  Interesse 
dieser  dagegen  frei  zu  bleiben.  Das  hatte  aber  auch  zur  Folge,  daß  viele 
städtische  Gewerbetreibende  aufs  Land  zogen  und  die  Städte  so  noch  weiter 
beeinträchtigt  wurden.')  Die  staatlichen  Behörden,  die  ja  auch  auf  dem 
Lande  die  Meisterrechte  zu  vergeben  hatten,  scheinen  dies  stillschweigend 
geduldet  zu  haben,  bis  Maria  Theresia  endlich  auf  die  Klagen  der 
Städte  energisch  die  Inkorporation  der  Landmeister  in  die  nächstgelegene 
Zunftlade  befahl.  Ja,  es  sollte  überhaupt  die  Ansiedlung  einer  Reihe  von 
Gewerben  auf  dem  Lande  verboten  werden. 

Dies  geschah  auch  tatsächlich  in  Niederösterreich  im  Jahre  1764.*)  ln 
Böhmen  aber  machten  die  Behörden  Schwierigkeiten.  Mehrmals  mußte  hier 
die  Kaiserin  ein  Verzeichnis  der  auf  die  Stadt  zu  beschränkenden  Pro- 
fessionisten  und  Kaufleute  fordern.  Auf  die  erste  Note  1771  erwiderte  das 
Gubernium  erst  1774;  die  Kreisämter  seien  zu  sehr  beschäftigt,  um  diese 
Aufnahme  durchführen  zu  können;  es  genüge,  wenn  sie  jeden  unbefugten 
Kaufmann  oder  Krämer  auswiesen.  Erst  auf  eine  nochmalige  Mahnung1 * * * 5) 
wird  der  von  der  Kommerzkommission  ausgearbeitete  Bericht  eingesandt.®)  Er 
beschränkt  sich  auf  die  Kommerzialzünfte.  da  Professionisten  ohnehin  nur 


1 ; Das  Promemoria  beabsichtigte  hauptsächlich  Ausgleichung  der  beiderseitigen 
Gesetzgebungen  mit  den  letzten  ReichsschlQssen  von  1771  und  1772. 

b Berichte  des  böhmischen  Gnberniums  ex  1752  und  1753,  1754,  1755. 

*)  Vortrag  des  böhmischen  Kommerxkonsesses  ex  1753.  Protokoll  der  kämtcerischen 
Repräsentation  ex  Maio  1754. 

*!  Kaiserliches  Reskript  ex  Maio  1771. 

Im  September  1774;  sie  enthält  eine  Abschwächnng  des  1771  ergangenen 
Reskripts. 

*)  Gubernialbericht  ex  Januario  1775. 


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«0 


Ritii. 


dort  sich  niederließcn,  wo  man  ihrer  bedürfe,  aber  auch  unter  den  Komraer- 
zialisten  sollen  die  Großbetriebe  nicht  einbezogen  werden,  da  sie  sich  dort 
niederließen  mußten,  wo  sie  am  besten  und  billigsten  einkaufen  konnten. 
Krämer  sollten  in  jedem  Ort  zwei  zugelassen  werden,  damit  kein  Monopol 
entstände,  außerdem  der  Hausierhandel  am  Lande  den  Juden  gestattet  sein. 
Der  Komraerzkonseß  bemerkte  zu  diesen  Vorschlägen,  sie  würden  den  Nieder- 
gang der  Städte,  der  auf  andere  Ursachen  zurückzuführen  sei,  nicht  aufhalten. 
Das  Gubernium  hinwiederum  meint,  man  solle  lieber  auf  Ausbreitung  der 
Hausindustrie,  Leinen-,  Woll-  und  Baumwollspinnerei.  Weberei  und  Strickerei 
bedacht  sein.  Doch  schloß  sich  die  Kaiserin  trotz  des  durchaus  ablehnenden 
Gutachtens  des  Hofkommerzialrates  den  Anträgen  der  Kommerzkommission 
an.  Nur  sollte  auf  dem  Dorf  ein  Krämer  genügen. 

Noch  mehrmals  hatten  die  Behörden  Gelegenheit,  eine  freiere  Auf- 
fassung der  Gewerbepolitik  gegen  oben  zu  bekunden. 

Auf  die  Anfrage,  ob  man  nicht  den  Übergang  von  der  Landwirtschaft 
zum  Handwerk,  der  dieser  viele  tüchtige  Kräfte  entzöge  und  unter  den 
Professionisten  ein  Polipolium  schaffe,  erschweren  solle,*)  wird  geantwortet: 
dieser  Übergang  komme  nur  selten  vor,  da  die  Grundherren  schon  selbst  auf 
Erhaltung  ihrer  Arbeitskräfte  bedacht  seien,  die  Zahl  der  Professionisten 
aber  regle  sich  von  selbst  nach  dem  Bedürfnis.  Ein  andermal  zieht  gegen 
die  geplante  Festsetzung  der  Zahl  von  Professionisten  und  Kaufleuten  der 
Kommerzialrat  mit  ganz  manchesterlich  klingenden  Argumenten  zu  Felde. 
Beidemale  war  der  Erfolg  auf  Seite  der  Behörden.*) 

Wenden  wir  uns  nun  jenen  Regierungsmaßregeln  zu,  die  auf  direkte 
Förderung  des  Gewerbes  zielten.5) 

Den  Großbetrieben  widmete  die  Regierung  nach  wie  vor  besonderes 
Augenmerk.  Den  Behörden  wurden  wiederholte  Weisungen  gegeben,  die  Eine 
Wanderung  fremder  Fabrikanten  und  Artisten  auf  jede  Weise  zu  fördern; 
neu  errichteten  Manufakturen  wurde  Abgabenfreiheit  auf  eine  Reihe  von 
Jahren  zugesichert,  die  Arbeiter  erhielten  Befreiung  von  der  Militärdienst- 
pflicht. Dem  Adel,  der  besonders  in  Böhmen,  aber  auch  in  Innerösterreich 
auf  seinen  Gütern  großgewerblicbe  Betriebe  einführte,  wurden  Staatsvor- 
schflsse  gewährt  und  der  Staat  ging  nach  wie  vor  durch  Errichtung  von  Staats- 
manufakturen mit  gutem  Beispiel  voran.  I)a  jedoch  diese  merkantilistischen 
Experimente  mehr  kosteten  als  sie  Nutzen  brachten  und  sehr  bald  den 
mühsam  angesammelten  Kommerzialfundus  erschöpften.*)  so  wurde  man 
in  der  späteren  Regierungszeit  Maria  Theresias  namentlich  mit  den 
Staatsvorschüssen,  die  gewöhnlich  nicht  zurückgezalilt  wurden,  vorsichtiger. 
Auch  die  Staatsmauufakturen  rentierten  sich  meist  schlecht  und  wurden 
teilweise  wieder  aufgelassen.5)  Mit  dem  Monopoliensystem  der  vorangegangenen 

*)  Note  an  das  böhmische  Gubernium  und  den  Kommerzkonsetl  ex  Martio  1771. 

*)  Gutachten  des  Kommerzialrates  und  Protokoll  der  Hofkanzlei  ex  1774. 

*)  Vgl.  Beer,  Die  Österreichische  Industriepolitik  unter  Maria  Theresia.  Wien  1894. 

«)  Vgl  Beer  a a.  0.,  I.,  S.  11  ff. 

9)  Vgl.  Beer  a.  a.  0.,  I.,  ebendaselbst. 


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I>as  Österreichische  Gewerbe  im  Zeitalter  des  Merkantilismus 


91 


Periode  wurde  jetzt  allmählich  gebrochen.  Man  hatte  eingesehen,  daß  es 
das  Gemeinwohl  auf  Kosten  einiger  weniger  schädigte.  Das  Prinzip  der 
freien  Konkurrenz  innerhalb  des  Staatsgebiets  gewann  immer  mehr  an 
Boden.  Neue  Privativprivilegien  wurden  nicht  mehr  bewilligt,  die  alten  nach 
Ablauf  nicht  erneuert.  Statt  dessen  suchte  man  die  Industrie  durch  ein 
kompliziertes  System  staatlicher  Maßregeln  zu  kräftigen  und  exportfähig  zu 
machen.  Man  gewährte  hohe  Ausfuhrprämien,  Zollerraäßigungen  für  die 
Ausfuhr  und  den  Transit;  Rohprodukte,  die  im  Staat  verarbeitet  werden 
konnten,  wurden  mit  Ausfuhrverboten  belegt,  der  Import  von  Fertigfabrikaten 
durch  hohe  Einfuhrzölle  verhindert. 

Ein  anderes  Mittel  der  Gewerbeförderung  waren  staatliche  Lohntaxen. 
So  wurde  in  Mähren  der  Preis  fflr  die  Gespinste  festgesetzt.  Ober  den  der 
Verleger  bei  Strafe  nicht  hinausgehen  durfte.1)  In  einer  andern  böhmischen 
Industrie,  der  Glasfabrikation,  die  sich  durch  hohe  technische  Vollendung 
einen  europäischen  Ruf  errungen  hatte,  wird  der  Mindestlohn  fOr  die 
Gesellen  festgesetzt,*)  um  tüchtige  Kräfte  heranzuziehen,  gleichzeitig 
aber  Fabrikanten  und  Gesellen  strenge  verboten,  das  Land  zu  verlassen. 
Ja,  zur  besseren  Überwachung  dürfen  sie  sogar  in  Böhmen  nur  mit 
behördlichen  Pässen  reisen.*)  Als  Schlesien  an  Preußen  verloren  gegangen 
war.  schloß  man  es  durch  Prohibitivzölle  von  Böhmen  ab4)  und  brachte 
so  in  kurzer  Zeit  die  nordböhmische  Leinenindustrie  zu  ungeahnter 
Blüte. 

In  Brünn  wurde  1751  ein  staatliches  Manufaktnrenaint  eröffnet.*)  Es 
hatte  über  Befolgung  der  Generalartikel  zu  wachen,  Vorschläge  über  Neu- 
errichtung gewerblicher  Korporationen  zu  erstatten,  für  Ausbreitung  der 
gewerblichen  Schulung  zu  sorgen  und  Warenproben  vorzunehmen.  Auch 
sollte  es  eine  ständige  HandwerkBberutschlagung  unter  Beisitz  von  sechs 
Repräsentanten  der  Gewerbe  organisieren.  Zur  Vermittlung  des  Kredits 
diente  die  Btüuner  königliche  Lehenbank,  die  auch  als  Kommissionär  der 
einzelnen  Fabrikanten  und  Weberschaften  den  Warenverkauf  besorgte.6) 

Die  Seidenindustrie  war  in  Österreich  schon  länger  eingeführt.  Ein 
Gewerbescheins  für  Wien  aus  dem  Jahre  1728  zählt  schon  20  Seiden- 
fabricatores  auf.1  Damit  aber  das  Geld  für  die  Rohseide  nicht  ins  Ausland 
wandere,  bemüht  sich  die  Regierung  den  Bau  des  Maulbeerbaumes  in  Öster- 
reich heimisch  zu  machen.  Nachdem  von  ihr  selbst  angestellte  Versuche  in 
Böhmen,  Mähren  und  Kiederösterreicb  günstig  ausgefallen  sind,  ergeht  an 
alle  Städte,  Obrigkeiten  und  Klöster  der  Auftrag,  auf  ihren  Gründen 
Baumschulen  anzulegen:  den  erforderlichen  Samen  stellt  das  Ärar  bei; 

*)  Hofdekret  iom  19.  Dezember  1768. 

3)  Reglement  för  die  Glasmeister  und  Glasarbeiter  vom  5.  Oktober  1765. 

*)  Patent  vom  17.  August  1752. 

4)  Vgl.  Bach  mann.  Österreichische  Reichsgeschichte,  S.  394. 

*)  Patent  vom  16.  Jänner  1751,  dazu  Nachtragspatent  vom  20.  Oktober  1751. 

•)  Patent  vom  15.  Man  1762. 

3)  Bei  S.  Mayer,  Die  Aufhebung  des  Befähigungsnachweises  in  Österreich,  S.  257. 


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92 


Kiui. 


günstige  Erfolge  sollen  durch  Prämien  belohnt,  die  jungen  Bäume  an  die 
Untertanen  verteilt  und  diese  über  ihre  Pflege  belehrt  werden.1) 

Nicht  mindere  Sorgfalt  wurde  der  Ausbreitung  der  Garn-  und  Woll- 
spinnerei zugewandt.  Kein  Haus  in  Österreich  sollte  ohne  Spinnrad  sein, 
alle  Städte,  am  Land  die  Obrigkeiten,  Spinnschulen  errichten,')  die  Kommer- 
zialkonsesse  der  einzelnen  Länder  durch  Prämiierung  besonders  schöner 
Gespinste  und  unentgeltliche  Verteilung  der  neuesten  Spindeln  und  Web- 
stQhle  die  Betriebsamkeit  fördern.  In  Mähren,  wo  die  Gespinste  vielfach 
von  Spinnfaktoren  gesammelt  und  verlegt  wurden,  sollten  diese  Faktoren  den 
Spinnunterricht  leiten,  von  Zeit  zu  Zeit  alle  Spinner  visitieren  und  ihre 
Bäder  ausbessern  lassen.3)  Beschränkungen  der  Anzahl  der  WebstQhle,  die 
ein  Meister  aufstellen  durfte,  wurden  untersagt. 

Auch  für  die  Metallindustrien  tat  der  Staat,  was  er  konnte,  indem  er 
seine  von  der  K.  Bergwerksprodukten-Direktion  verschleißten  montanistischen 
Produkte  zu  besonders  günstigen  Preisen  abließ.') 

Nicht  vergessen  darf  man  ferner  die  indirekte  Förderung  des  gewerb- 
lichen Fortschritts  durch  die  theresianische  Schulreform. 

Von  besonderer  Wichtigkeit  aber  ist  das  allmähliche  Fallen  der  Binnen- 
zölle, zuerst  für  einzelne  Länder  und  Warenkategorien,6)  bis  zum  Ende  der 
Regierungszeit  Maria  Theresias  fflr  das  ganze  Staatsgebiet.') 

Die  Regierung  Josefs  II.  setzte  auch  hier,  wie  auf  allen  Gebieten 
des  staatlichen  Lebens:  mit  radikalen  Maßregeln  ein.  Anfangs  trug  sich  der 
Kaiser  mit  dem  Gedanken,  das  Zunftwesen  überhaupt  abzuschaffen,7)  aber  seine 
Ratgeber,  vor  allem  Sonnenfels,  rieten  ihm  davon  ab.  So  kam  es  denn 
nur  zur  Auflassung  einiger  Zünfte,  merkwürdigerweise  auch  aus  den  Appro- 
visionierungsgewerben,  die  bisher  des  Zunftzwanges  am  wenigsten  entraten  zu 
können  schienen.  Die  Gelder  der  aufgehobenen  Zünfte  wurden  den  Armen- 
instituton  überwiesen.  Alle  Meisterrcchtsverleihungen  sollten  künftig  von  den 
Obrigkeiten  und  Magistraten  vorgenommen  werden  können,*)  die  Ordnungen 
der  Kommerzialgewerbe  der  Bestätigung  nicht  mehr  bedürfen.9)  Verwendung 
von  Zunftgeldein  für  kirchliche  Festlichkeiten  sowie  für  alle  nicht  rein 
gewerblichen  Zwecke  ist  untersagt-19)  Meister,  bei  denen  an  den  aufgehobenen 
Feiertagen  nicht  gearbeitet  wird,  werden  mit  Geldstrafen  belegt.11)  Die 

’)  Patent  vom  16.  August  1763  für  Böhmen  und  Österreich. 

T)  Patent  für  die  Erblande  vom  27.  November  1765.  Vgl.  auch  das  Hofdekret  an 
das  mährisch«!  Gubcmium  vom  17.  Februar  1753  bei  Grönberg,  Studien  zur  öster- 
reichischen Agr&rgcschichte.  Leipzig  1901,  S.  193  f. 

*)  Instruktion  fßr  die  mährischen  Spinnfaktoren  vom  19.  Oktober  1765. 

4)  Hofdekrete  vom  8.  Dezember  1769. 

s)  Hofdekret  vom  2.  Oktober  1769  und  27.  Jänner  1772  für  Textilwaren. 

e)  Durch  die  Zollordnung  vom  15.  Juli  1775.  Vgl.  Hallwich  a.  a.  0.,  S.  58. 

7)  Sitzungsprotokoll  der  Hofk&nxlei  ex  Septembri  1782.  Ordre  an  das  inneröster- 
reichische  Gnbernium  ex  Aprili  1784. 

•)  Hofdekret  ex  Aprili  1791. 

*)  Kaiserliche  Resolution  ex  1781. 

10)  Zirkular  vom  17.  Oktober  1785. 
n)  Gubernialverordnung  vom  24.  Juli  17  6 fQr  Böhmen. 


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Das  österreichische  Gewerbe  im  Zeitalter  <les  Merkantilismus. 


93 


Wanderpflicht  der  Gesellen  aller  Gewerbe  wird  abgeschafft.1)  Alle  Inländer, 
die  in  ein  Gewerbe  eintreten  wollen,  haben  den  zweijährigen  Besuch  einer 
Normalschule  nachzuweisen.' i Dies  neben  Wiederholung  vieler  froherer 
Verordnungen  die  wesentlichsten  neuen  Bestimmungen  der  josefinischen 
Gewerbepolitik.  Als  die  wichtigste  und  folgenreichste  Maßregel  aber  erscheint 
wohl  auch  auf  gewerblichem  Gebiet  die  Aufhebung  der  Leibeigenschaft.  Sie 
sollte  besonders  dem  gewerblichen  Großbetrieb  zu  gute  kommen;*)  war 
sie  ja  die  erste  Vorbedingung  seiner  Entwicklung  zur  modernen  Fabriks- 
industrie. 

Auch  dem  Toleranzpatent  kann  man  nicht  jede  Bedeutung  für  die 
gewerbliche  Entwicklung  absprechen,  obwohl  es  jedenfalls  an  der  bisher 
schon  sehr  toleranten  Präzis  nicht  viel  änderte. 

Wenn  wir  Josef  II.  in  seiner  staatspolitischen  Tätigkeit  als  von  den 
Ideen  der  Wol fachen  Glflckseligkeitstheorie,  die  in  Österreich  ihren  Ver- 
treter in  Justi  gefunden  hatte,  und  der  von  der  W o 1 fschen  Schule  aus- 
gehenden Aufklärung  beeinflußt,  auf  ffnanz-  und  agrarpolitischem  Gebiet  als 
Physiokraten  erklären  können,  so  war  er  in  seiner  Handels-  und  Industrie- 
politik Merkantilist  reinsten  Wassers. 

Die  verkehrsfreundliche  Richtung,  die  die  theresianische  Politik  in 
ihren  letzten  Jahren  eingeschlagen  hatte,  wurde  wieder  verlassen. 

Alle  Waren,  von  denen  man  annahm,  daß  sie  in  Österreich  in  genügender 
Menge  erzeugt  wflrden,  wurden  außer  Handel  gesetzt,  d.  h.  ihre  Einfuhr 
wurde  verboten.4)  Diejenigen  österreichischen  Gewerbsprodukte,  die  den 
Bedarf  noch  nicht  deckten,  durch  hohe  Einfuhrzölle  geschlitzt.  Um  fremde 
Waren  von  den  einheimischen  unterscheiden  zu  können,  wurden  er stere  bei 
ihrem  Eintritt  in  das  Reich  einer  Zollstempelung,  letztere  nach  Verfertigung 
der  Kommerzialstempelung  unterzogen.5)  Ja  selbst  die  erst  erworbene  Zoll- 
einheit wurde  diesem  Prinzip  zuliebe  wieder  aufgegeben,  Tirol  zollpolitisch 
als  Ausland  erklärt.'1)  für  manche  Waren  die  Transitzölle  wieder  hergestellt. 
Die  Zollgesetzgebung  dieser  zehn  Jahre  kam  keinen  Augenblick  zur  Ruhe. 
Ausfuhr-  und  Einfuhrzölle,  Zollerhöhungen  und  Herabsetzungen,  Einführung 
und  Abschaffung  von  Ausfuhrprämien  folgten  einander  in  kurzer  Zeit  und 
konnten  schon  wegen  ihrer  Kurzlebigkeit  keine  Erfolge  erzielen. 

Das  letzte  Jahrzehnt  des  18.  Jahrhunderts  bringt  auf  wirtschaftspoli- 
tischem Gebiet  nichts  Neues.  Wenn  irgendwo,  so  kann  man  hier  sagen, 
daß  große  Ereignisse  ihre  Schatten  vorauswerfen.  Der  Geist  der  Demokratie, 
in  Frankreich  entfesselt,  hatte  ein  wirtschaftlich  gedrücktes,  politisch  unreifes 
Volk  getroffen  und  war  in  Anarchie  umgeschlagen.  Die  europäischen  Staats- 
lenker. wie  gewöhnlich  die  mitten  in  einer  Bewegung  stehenden,  sahen 

5i  Kaiserliches  Reskript  ex  Majo  1780. 

*)  Hofdekret  vom  27.  August  1787. 

*)  Vgl.  Grünberg,  „Bauernbefreiung“.  1.  Bd.,  8.  272  IT.;  II.  ßd.,  S.  360  ff. 

In  einer  Reihe  von  Patenten  aus  den  Jahren  1787  und  1788. 

5)  Patent  vom  SO.  Jänner  1789. 

*1  Zirkulare  vom  20  Oktober  1783. 


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94 


Rini. 


wohl  die  Wirkungen,  nicht  aber  die  Ursachen  und  konzentrierten  all  ihre 
Bestrebungen  darauf,  das  Feuer  auf  seinen  Herd  zu  beschränken.  In  Öster- 
reich wirkten  noch  die  inneren  Unruhen,  die  den  josefinischen  Neuerungen 
gefolgt  waren  und  finanzielle  Kalamitäten  ruit,  die  Kegierung  aller  Initiative 
zu  berauben.  So  beließ  man  alleB  auf  dem  Status  quo  und  ließ  nur  die 
Zügel  lockerer. 

Ein  größerer  Versuch,  die  ganze  gewerbliche  Verfassung  einer  Neu- 
regelung zu  unterziehen,  der  seine  Entstehung  der  Initiative  Sonnenfels’' 
verdankt,  scheiterte  wegen  seiner  praktischen  Undurchführbarkeit  in  seinen 
Anfängen.  Es  fehlte  jener  Zeit  in  der  Tat  der  Beruf  zur  Gesetzgebung.  Sie 
sah  nur  das  Allgemeine,  wo  der  Gesetzgeber  den  Einzelbedürfnissen  Rechnung 
tragen  sollte. 

Als  letzte  Lebensäußerung  des  scheidenden  Merkantilismus  und  als 
Kompromiß,  das  dieser  in  seinem  geistvollsten  Vertreter,  Sonnenfels, 
mit  der  kommenden  Entwicklung  schloß,  verdient  er  dennoch  eine  nähere 
Betrachtung. 

VI. 

1793  hatte  der  Kaiser  von  allen  Läuderstollen  Berichte  abgefordert, 
wie  Handwerker  und  Gewerbsleute  in  die  Städte  einzureihen  seien,  damit 
eine  gerechte  Verteilung  zwischen  Stadt  und  Land  platzgreife. 

Über  diese  Grundsätze  hatte  Hofrat  v.  Sonnen  fei s ein  Gutachten 
ausgearbeitet,  das  den  Länderstellen  als  Grundlage  ihrer  Berichte  zugeschickt 
wurde. 

Seine  Grundzüge  will  ich  hier  kurz  mitteilen. 

Es  bestellen  zwei  entgegengesetzte  Meinungen;  die  eine  würde  durch 
Kleinfögigkeit  in  Vorschriften  und  Anstalten  Zwang  und  bedrückende 
Beschränkungen,  die  andere  durch  unrichtig  angewandte  Begriffe  von  Freiheit 
Ungebundenheit  und  Unordnung  herbeiführen. 

Produzent  und  Konsument  werden  durch  beide  gleicherweise  geschädigt. 

Die  Mittellinie  kann  nur  aus  der  Beobachtung  der  tatsächlichen  Ver- 
hältnisse durch  die  Verwaltung  gewonnen  werden. 

Angebot  und  Nachfrage  werden  durch  das  Bedürfnis  hervorgerufen  und 
richten  sich  auf  dasselbe  Objekt.  Nur  in  der  Preisbestimmung  gehen  sie 
auseinander.  Die  Dringlichkeit  des  Bedürfnisses  entscheidet  in  letzter  Linie 
über  den  Preis.  Die  Verwaltung  hat  für  keinen  von  beiden  Teilen  Partei  zu 
ergreifen.  Sie  hat  nur  zu  sorgen,  daß  die  freie  Preisbildung,  die  schließlich 
beiden  Teilen  gerecht  wird,  ungehindert  vor  sich  gehe.  Dies  ermöglicht  die 
freie  Konkurrenz,  die  Verkäufer  und  Käufer  voneinander  unabhängig  macht. 
Die  öffentliche  Verwaltung  hat  die  Aufgabe,  dieses  freie  Spiel  der 
Kräfte,  wo  es  besteht,  gewähren  zu  lassen,  wo  es  gehemmt  ist,  wieder 
herzustelien.  Es  entsteht  also  die  Frage:  bei  welchen  Handwerken  und 
Gewerben  besteht  das  freie  Spiel  der  Kräfte  ? Bei  diesen  wären  Zwang  und 
Vorkehrungen  nur  von  Nachteil.  Bei  welchen  besteht  es  nicht?  Hier  ist 
die  Regierung  berechtigt,  Vorkehrungen  zu  treffen. 


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Das  Oatfrreichiselie  Gewerbe  im  Zeitalter  des  Merkantilismus, 


95 


Zu  unterscheiden  sind  vier  Arten  von  Gewerben: 

1.  Gewerbe,  die  allein  auf  Geding  arbeiten,  ohne  selbst  den  Stoff 
beizustellen : 

2.  Gewerbe  die  auf  Geding  mit  eigenem  Stoffe  arbeiten: 

3.  Gewerbe,  die  hauptsächlich  auf  Verlag  arbeiten; 

4.  Handelsgewerbe. 

Die  ersten  zwei  Klassen  können  wir  als  Handwerk  zusammenfassen. 
Sie  erfordern  den  Befähigungsnachweis,  doch  darf  dieser  nicht  durch  Taxen 
und  andere  Erschwerungen  ausarten.  Würde  er  fehlen,  so  wäre  das  betreffende 
Gewerbe  wegen  des  geringen  Erfordernisses  an  Kapital  und  Geschicklichkeit 
bald  Oberfüllt.  .Man  sage  nun  nicht,  diese  Vorkehrungen  legen  der  Fähigkeit 
Fesseln  an,  beschränken  die  Geschicklichkeit,  verschließen  die  Wege  der 
Erwerbung,  nehmen  in  Ansehung  des  einzelnen  Bürgers  eine  Sorgfalt  über 
sich,  die  jeder  am  besten  für  sich  selbst  trage,  da  jeder  sich  gegen  Beschädigung 
vorsehen  wird.  — Vorschriften,  welche  nur  Beweise  der  zureichenden  Geschick- 
lichkeit zum  Augenmerke  nehmen,  legen  der  Fähigkeit  keine  Fesseln  an, 
schließen  die  Geschicklichkeit  nicht  aus;  sie  versichern  vielmehr  der  Geschick- 
lichkeit vor  der  Unfähigkeit  den  Vorzug,  worauf  sie  gewiß  einen  billigen 
Anspruch  hat.*  Die  Zünfte  seien  in  diesen  zwei  Klassen  beizubehalten,  doch 
dürfen  sie  nicht  geschlossen  werden. 

Die  Gewerbe,  der  dritten  Klasse,  die.  auf  Verlag  arbeitend  größere 
Geschicklickbeit  und  größeres  Kapital  erfordern,  sollten  frei  sein,  da  die 
Kombination  dieser  zwei  Umstände  die  nötigen  Garantien  für  ihre  Keellität 
und  gegen  allzu  starkes  Anwachsen  gebe.  Es  ist  hier  nur  Anmeldung  und 
Nachweis  eines  genügenden  Kapitals  erforderlich. 

Bei  den  Handelsgewerben  endlich  sind  zu  unterscheiden: 

1.  Die  dem  täglichen  Bedarf  dienen;  sie  sollen  frei  sein,  müssen  sich 
aber  zur  Haltung  der  nötigen  Vorräte  verpflichten. 

2.  Die  Luxusgewerbe  sind  frei. 

3.  Krämer  sind  frei,  dürfen  aber  keinen  Vorkauf  ausfiben. 

4.  Gastwirtgewerbe  erfordern  Beschränkung  der  Zahl. 

5.  Wandernde  Gewerbe  sind  wegen  Unkoutrollierbarkeit  und  Vorkauf 
immer  nachteilig,  daher  möglichst  zu  beschränken.  Vererbliche  Personal- 
gewerbe, radizierte  und  verkäufliche  Gewerbe  .sind  unglückliche  Geburten 
einer  an  echten  Hilfsquellen  unfruchtbaren  Finanz.* 

So  S o n n e n f e 1 s. 

Von  den  Antworten  der  Gubernien.  habe  ich  nur  die  des  kärntnerischen 
und  krainischen  gefunden.  Sie  erklären  zwar  im  allgemeinen  ihre  volle 
Zustimmung  zu  den  hier  ausgedrückten  Grundsätzen  und  wollen  auch  die 
Möglichkeit  ihrer  Anwendbarkeit  auf  Wien  nicht  in  Frage  stellen,  erklären 
sich  aber  gegen  ihre  Ausdehnung  auch  auf  ihre  Länder. 

VII 

Nachdem  wir  so  der  Gewerbeverfassung  durch  alle  Phasen  des  Merkan- 
tilismus nachgegangen  sind  und  sie  bis  an  die  Schwelle  der  ökonomischen 


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Rizzi. 


96 

Neuzeit  begleitet  haben,  wollen  wir  in  knappen  Zogen  das  Bild  zu  zeichnen 
versuchen,  das  uns  im  Gewerbe  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts, 
in  seiner  Verbreitung,  seinen  Betriebsformen  und  seiner  Bedeutung  fOr  die 
Gesamtwirtschaft  entgegentritt. 

Beginnen  wir  beim  städtischen  Handwerk. 

Es  stellte  zu  jener  Zeit  noch  immer  den  größten  Prozentsatz  zur 
städtischen  Bevölkerung,  aber  es  war  schon  lange  nicht  mehr  reine  Kunden- 
arbeit. In  sehr  vielen  Gewerben  hatte  der  Meister  bereits  einen  kleinen 
Laden  neben  der  Werkstatt,  indem  er  seine  Arbeiten  zum  Verkaufe  ausbot. 
Eine  feste  Abgrenzung  der  Befugnisse  bestand  in  den  Kommerzialgewerben, 
die  die  Polizeiprofessionen  an  Zahl  und  Bedeutung  überragten,1)  nicht  Ja, 
auch  bei  letzteren  verschwand  sie  in  der  josefinischen  Periode  mehr  und 
mehr  und  Sonnenfels  konnte  es  geradezu  als  Aufgabe  des  Staates 
erklären,  Gewerbe,  die  zur  Fertigstellung  eines  Arbeitsproduktes  erforderlich 
seien,  womöglich  in  einer  Hand  zu  vereinigen.9) 

Die  Meisterstellen  vererbten  sich  meist  vom  Vater  auf  den  Sohn,  der 
Zuzug  zum  Gewerbe  war  gering  und  kam  größtenteils  aus  dem  Ausland. 
Denn  die  Landbevölkerung  war  bis  1783  an  die  Scholle  gebunden  und  die 
Aufhebung  der  Leibeigenschaft  kam  vorerst  hauptsächlich  dem  Großbetrieb 
zu  gute.  Ein  Wiener  Professionistenschema3')  aus  dem  Jahre  1736  zählt  3345 
bürgerliche,  d.  i.  bezunftete  Professionisten,  3216  Dekretor.  301  Hofbefreite 
und  2941  Störer  auf.  Interessant  ist  hier  erstens  die  große  Anzahl  der 
Dekreter  elf  Jahre  nach  Erlassung  des  Schutzpatents,  zweitens  die  der 
Störer.  Da  diese  sich  jedoch  kaum  einer  Zahlung  unterworfen  haben,  so 
läßt  die  genaue  Zahlangabe  nicht  auf  allzu  große  Zuverlässigkeit  des 
Berichtes  schließen.  Tatsache  ist.  und  die  vielen  Erlässe,  die  sich  mit  den  Störern 
beschäftigten,  bestätigen  es,  daß  die  Stör  das  ganze  18.  Jahrhundert  nicht 
nur  auf  dem  Lande,  ihrer  eigentlichen  Heimstätte,  sondern  auch  in  den  Städten 
verbreitet  ist.  Die  Behörden  mochten  weder  die  Macht  noch  den  Willen  haben, 
biegegen  ernstlich  einzusclireiten,  und  eine  gewaltsame  Keaktion  der  Zünfte, 
wie  sie  in  Deutschland  in  weitgehendem  Maß  erfolgte,  war  bei  dem  Charakter 
und  der  Entwicklung  des  österreichischen  Zunftwesens  nicht  denkbar. 

Das  hier  fflr  Wien  angeführte  Zahlenverhältnis  galt  wohl  nur  für  die 
Reichshnupt8tadt  und  vielleicht  noch  Prag  und  Brünn.  In  den  kleinen  Städten 
konnte  sich  der  Meister  nicht  so  leicht  der  Zunft  entziehen.  Sie  bot  auch 
in  ihrem  ökonomischen  Stillstand  keinen  Anldß  dazu.  Hier  wurde,  besonders 
in  den  Alpenländern,  der  gewerbliche  Betrieb  vielfacb  noch  neben  der  Land- 
wirtschaft ausgeübt.  Arbeit  auf  Bestellung  mit  oft  noch  vom  Auftraggeber 
beigestelltem  Material  herrschte  fast  ausschließlich.  Das  ganze  gewerbliche 
Leben  spielte  sich  in  viel  kleinlicheren  Verhältnissen  ab.  Streitigkeiten  wegen 
Befugnisüberschreitung  kamen  häufiger  vor. 

*)  Ein  Verzeichnis  der  kärntncrischen  Polizei-  und  Kommemalgewcrbc  enthalt  von 
ersteren  37.  von  letzteren  50  Professionen. 

*)  In  dem  Gutachten  über  die  Verteilung  der  Gewerbe. 

*)  Vgl.  Bujatti  a.  a.  0..  8.  22. 


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Das  Österreichische  Gewerbe  im  Zeitalter  des  Merkantilismus. 


97 


Die  Anzahl  der  Gesellen  nahm  mit  der  Größe  der  Städte  und  von  den 
Kommemal-  zu  den  Polizeigewerben  ab.  So  kamen  1756*  i in  ganz  Kärnten 
in  den  Kommerzialgewerben  auf  1845  Meister  1366  Gesellen,  doch  ist  die 
Verteilung  sehr  ungleich.  Die  stärksten  Gesellenzahlen  weisen  die  Groß- 
betriebe der  montanistischen  Industrie  und  die  Textilgewerbe  auf,  während 
bei  den  eigentlich  städtischen  Professionen  immer  zwei  oder  drei  Meister 
auf  einen  Gesellen  kommen.  Ein  Beispiel  der  ungemein  rasch  fortschreitenden 
Spezialisierung  der  Kommerzialgewerbe  liefert  die  Vergleichung  der  Tabellen 
von  1756  und  1793:*)  während  erstere  13  Kommerzialgewerbe  nennt,  sind 
auf  letzterer  schon  50  vertreten. 

Die  Lage  und  Verfassung  des  ländlichen  Gewerbes  richtete  sich 
natürlich  nach  der  der  bäuerlichen  Bevölkerung,  aus  der  es  hervorging,  und 
war  demgemäß  in  den  verschiedenen  Ländergruppen  verschieden.  In  den 
Sndetenländern,  in  denen  das  System  der  gewerblichen  Gutsuntertänigkeit 
in  seiner  strengsten  Form  ausgebildet  war.  der  Boden  größtenteils  in  den 
Händen  des  Großgrundbesitzes  sich  befand  und  der  Untertan  einen  großen 
Teil  seiner  Zeit  und  Kraft  dem  Herrendienste  widmen  mußte,  konnte  sich 
bis  gegen  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  kein  eigentlicher  Gewerbestand 
am  Lande  entwickeln.  Der  Grundherr  ließ  die  gewöhnlichen  Handwerksarbeiten 
durch  die  robotpflichtigen  Untertanen  verrichten,  feinere  gewerbliche  Produkte 
bezog  er  aus  der  Stadt  oder  aus  dem  Ausland.  Die  Untertanen  hinwiederum 
deckten  ihren  ganzen  gewerblichen  Bedarf  im  hauswirtschaftlichem  Betrieb. 

Nur  die  Textilgewerbe  erscheinen  seit  alter  Zeit  auf  dem  Lande  heimisch. 
Sie  gaben  dem  Bauer  Beschäftigung  während  des  Winters  und  mit  ihren 
Erzeugnissen  konnte  er  in  manchen  Gegenden  einen  Teil  seiner  untertänigen 
Schuldigkeit  bezahlen.1)  Zu  intensiverem  Betrieb  gelangten  sie  aber  auch 
erst  durch  den  Verlag.  Mit  der  allmählichen  Milderung  des  Untertänigkeits- 
verhältnisses und  der  gleichzeitigen  Bedürfnissteigerung  im  Laufe  des 
18.  Jahrhunderts  begannen  nach  und  nach  auch  die  übrigen  Gewerbe  am 
Lande  Fuß  zu  fassen.  Die  Generalartikel  hatten  zwjr  nur  für  die  ländlichen 
Leinweber  Zünfte  vorgesehen,  den  übrigen  Landhandwerkern  Inkorporation 
in  die  städtischen  Zünfte  befohlen.  Aber  bald  kommen  auch  Bestätigungen 
ländlicher  Zünfte  vor,*)  wohl  in  Verbindung  mit  der  Entstehung  der  Groß- 
betriebe. die  sich  mit  Vorliebe  auf  dem  flachen  Lande  ansiedelten. 

’)  Tutaltabella  deren  gesamten  Kommerzprofessionisten  im  ganzen  Land  Kärnten 
pro  1756. 

*)  Verzeichnis  der  kSmtnerischen  Kommerzialgewerbe  im  kämtneriechen  Gubernial- 
bericht  ex  1793 

■*)  Vgl.  Grünberg,  Bauernbefreiung.  I.  Bl..  3.  183  f,  und  Brentano,  Über  den 
grnndherrlichen  Charakter  des  hausindustriellen  Leinengewerbes  in  Schlesien  (in  der 
Zeitschrift  für  Sozial-  und  Wirtschaftsgeschichte.  I.  Bd-,  S.  325  ff);  derselbe.  Über  den 
Kinüub  der  Grundherriichkeit  und  Friedrichs  des  Großen  auf  das  schlesische  Leinen- 
gewerbe (ebendaselbst  II.  Bd.,  8.  299  ff.;  Grünhagen,  Über  den  angeblich  grundherr- 
lichen  Charakter  des  hausindustriellen  Leinengewerbes  in  Schlesien  (ebendaselbst  II.  Bd-, 
S.  241  ff.). 

*)  Bericht  des  bobmischen  Guberniums  und  Kommerxialkonsesses  ex  1753. 

/.HUchrlft  fflr  Volkswirtschaft,  Hucialpolitik  und  Verwaltung.  XII.  Rand.  7 


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98 


Rizxi. 


In  Nieder-  und  Innerösterreicb,  wo  das  Untertänigkeit« Verhältnis  ein 
viel  loseres  war,  der  Großgrundbesitz  lange  nicht  die  wirtschaftliche  Macht 
wie  in  den  Sudetenländern  besaß,  sowie  in  Deutschtirol  mit  seinem  freien 
Bauernstände  bestand  ein  ziemlich  reich  entwickeltes  ländliches  Gewerbe: 
wir  finden  da  Professionen  auf  dem  Lande,  die  heute  wieder  rein  städtisch 
geworden  sind,  z.  B.:  Lederer,  Hutmacher,  Körschner,  Färber,  Hafner.1) 
Doch  sind  sie  nirgends  so  zahlreich  vertreten,  um  eigene  Zünfte  bilden  zu 
kennen.  Die  Meister  sind  in  die  Laden  der  größeren  Orte,  die  sogenannten 
Viertelladen,  eingegliedert  und  diese  unterstehen  wieder  der  Hauptlade  in  der 
Landeshauptstadt.  Lohnwerk  überwiegt  hier  weit,  nur  ein  geringer  Teil 
wird  auf  Kirchtagen  und  Märkten  zum  Verkauf  gebracht  Die  Teitilgewerbe 
arbeiten  Bchon  größtenteils  für  den  Verlag. 

Die  materielle  Lage  des  Handwerks  in  Stadt  und  Land  ist  keineswegs 
befriedigend.  In  vielen  Städten  Böhmens  stehen  oft  große  Bruchteile  ein- 
zelner Gewerbe  vollständig  beschäftigungslos.  Die  Meister  müssen  sich  durch 
Taglöhnern  ihr  Brot  verdienen,  die  Gesellen  ziehen  fechtend  im  Land  herum. 
In  den  meisten  behördlichen  Berichten  aus  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahr- 
hunderts ist  von  dem  Darniederliegen  des  Handwerks  die  Rede.  Rin  Bericht 
über  das  ländliche  Gewerbe  eines  Kärntnerkreises  erzählt,  die  Löhne  im 
Gewerbe  seien  so  schlechte,  daß  jeder  lieber  in  die  Gewerkschaften  oder 
zum  Holzfällen  gehe.1) 

Die  Ursachen  liegen,  wie  schon  oben  gezeigt,  nicht  im  Aufkommen 
der  Großbetriebe.  Auch  die  Steuern  waren  nicht  übermäßig.  Außer  den 
geringen  Kealsteuern  und  der  Klassensteuer  hatten  die  Gewerbetreibenden 
nur  ihre  Zunftabgaben  und  Taxen  zu  zahlen,  von  denen  die  Regierung  einen 
Prozentsatz  für  sich  erhob.  Die  Schuld  liegt  vielmehr  in  den  gewerblichen 
Verhältnissen  selbst.  Ich  nenne:  die  Überfüllung  vieler  Gewerbe8)  die  Anzahl 
der  Gewerbetreibenden  stieg  zu  rasch,  als  daß  das  Bedürfnis  zu  folgen 
vermochte,  ferner  die  technische  Rückständigkeit  und  die  vielen  alteinge- 
wurzelten Mißbräuche,  die  Zeit-  und  Geldverschwendung  bedeuteten.  Auch 
die  sprunghafte  Zollpolitik  der  Regierung,  die  eine  Stabilisierung  der  Markt- 
verhältnisse nicht  zuließ,  mochte  in  gleicher  Richtung  wirksam  gewesen  sein. 

Über  die  Cntstehung  des  Großbetriebes  und  seine  Betriebsforra  wurde 
schon  das  Nötigste  gesagt.  In  den  wichtigsten  Industriezweigen  anfangs 
Verlag,  nähert  er  sich  durch  Vereinigung  der  Arbeitskräfte  in  einer  Betrieb- 
stätte, durch  Anwendung  des  maschinellen  Betriebs  und  Arbeitszerlegung 
immer  mehr  der  Fabrik  — ein  Prozeß,  der  in  manchen  Gegenden  noch  heute 
nicht  zum  Abschluß  gekommen  ist.  Ich  verweise  mir  auf  die  Leinenweber 
Schlesiens,  Nordböhmens  und  Niederösterreichs,  deren  niedere  Entlohnung 
die  Konkurrenz  mit  der  Fabrik  noch  immer  gestattet.  Auch  einige  Misch- 
formen des  großgewerblichen  Betriebes  finden  sich:  die  Tuchmacherkompanie 

’)  HaupttAbel  über  die  in  Hörzogthumb  Kärnthen  des  oberen  Kreisen  befindliche  Pro- 
fessiouisten,  welche  mit  ihren  fabricatis  einen  Kinschlag  ins  Commercium  haben,  ex  1754. 

*)  Gutachten  des  gräflich  Lodronschen  Land-  and  Stadtgerichtes  Gmund,  ex  1793. 

*)  Bericht  dea  kämtnerischen  und  krainischen  Gubemiunts.  ex  1793. 


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Das  Österreichische  Gewerbe  im  Zeitalter  dee  Merkantilismus.  <|{> 

in  Iglau,  die  teilweise  genossenschaftlich  produzierte  und  genossenschaftlich 
absetzte  und  eine  besonders  interessante  Form,  die  Ferlacher  Gewerkschaft 
in  Kärnten.  Sie  lieferte  hauptsächlich  Gewehre,  und  zwar  wurden  die  ein- 
zelnen Gewehrteile  von  den  verschiedenen  Meistern  spezialisiert;  sie  wurden 
dann  von  den  reichsten  Meistern  angekauft,  zusammengesetzt  und  genossen- 
schaftlich dem  Großabnehmer  abgegeben.*) 

Die  rechtliche  Grundlage  des  Großbetriebes  bildete  in  der  ersten  Hälfte 
des  18.  Jahrhunderts  das  Privilegium  privativum,  in  der  zweiten  die  fabriks- 
mäßige Befugnis.  Beide  kamen  nur  der  Person  des  Begünstigten  zu.  Dieser 
bedurfte  weder  des  Bürger-  noch  des  Meisterrechts.*)  War  er  Akatholik,  so 
hatte  er  bis  1781  um  Dispens  anzusuchen.  Juden  waren  schon  seit 
Maria  Theresia  allgemein  zu  Erlangung  von  Befugnissen  befähigt. 

Man  unterschied  am  Ende  des  Jahrhunderts  zweierlei  Befugnisse:*) 
Einfache  fabriksmäßige  Befugnisse,  die  für  den  Begünstigten 
eine  Anerkennung  der  Nützlichkeit  seiner  Unternehmung,  die  Befreiung  von 
allem  Zünftigkeitszwang  und  das  Recht  alle  Arten  gewerblicher  Hilfsarbeiter 
in  seinem  Betrieb  zu  vereinen  in  sich  schlossen,  und  .Landesfabriks- 
befugnisse*. Diese  bildeten  eine  Anerkennung  der  besonderen  Wichtigkeit 
und  Solidität  des  Unternehmens.  Sie  berechtigten  zur  Führung  des  kaiserl. 
Adlers,  zur  Errichtung  von  Niederlagen  in  allen  Hauptstädten4)  und  zur 
Aufdingung  und  Freisprechung  von  Lehrjungen,  was  bei  der  ersten  Klasse 
den  Zünften  Vorbehalten  war. 

Der  Absatz  der  gewerblichen  Produkte  erfolgte,  wo  diese  nicht  Kunden- 
arbeit waren,  fast  ausschließlich  durch  die  Gewerbetreibenden  selbst.  li> 
größeren  Städten  im  Laden,  in  kleineren  am  Wochenmarkt,  am  Land  auf 
den  Kirchtagen.  Der  Kaufmannsstand  war  mit  Ausnahme  des  Großhandels 
noch  ganz  unentwickelt  Er  galt  als  volkswirtschaftlich  schädlich,  da  er, 
ohne  selbst  zu  produzieren,  einen  Gewinn  bezog.  Die  wenigen  Kaufleute  in 
Städten  und  Märkten  waren  teils  Krämer  und  Höcker,  die  Pfennwerte.  Gegen- 
stände des  täglichen  Bedarfs,  mit  deren  Anschaffung  man  nicht  bis  zum 
nächsten  Wochenmarkt  warten  konnte,  verkauften;  teils  handelten  sie  mit 
importierten  Waren.  Kolonialwaren  u.  a. 

Am  wenigsten  beliebt  bei  den  Behörden,  wie  bei  der  Bevölkerung 
war  der  Hausierhandel.  Man  ließ  ihn  nur  bestehen,  wo  man  seiner  nicht 
entraten  konnte. 

Nachdem  eine  Reihe  von  Verordnungen  Maria  Theresias  Bestim- 
mungen für  den  Hausierhandel  in  den  einzelnen  Provinzen  enthalten  hatten, 
kam  es  endlich  unter  Josef  11.  zu  einer  einheitlichen  Regelung  für 
die  böhmischen  und  österreichischen  Erblande:5)  Fremden  Untertanen  sollte 
das  Hausieren  Oberhaupt,  den  eigenen  aber  nur  das  mit  fremden  Waren 

*)  Vgl.  Kränil,  Statistik.  Wien  1841.  III.  Bit,  S.  838. 

*1  Vgl.  Wildner,  Das  Österreichische  Fahrikenrecht.  Wien  1838,  S.  14  u.  ff. 

*)  Vgl,  Wildner  a.  a.  0.,  S.  4. 

4)  Vgl.  Wildner  a.  a.  0.,  S.  55. 

\ Hausierpatent  vom  20.  Jnni  1785. 

7* 


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100 


Rirzi. 


untersagt  sein.  Mit  inländischen  Waren  dürfen  sie  hausieren,  müssen  sich 
jedoch  von  den  Kreisäintern  Erlaubnisscheine  aussteilen  lassen,  die  nur  für 
den  betreffenden  Kreis  gelten,  ln  Städten  und  grelleren  Märkten,  die  mit 
Kaufleuten  versehen  sind,  sowie  zwei  Stunden  innerhalb  der  Landesgrenze 
darf  überhaupt  nicht  hausiert  werden. 

Die  Märkte  als  jener  Ort.  an  dem  sich  Produzent  und  Konsument 
direkt  trafen,  fanden  zunehmend  Pflege  und  Berücksichtigung  seitens  der 
Regierungen.  Unter  Josef  II.  wurde  der  Besuch  der  Jahrmärkte  in  den 
Landeshauptstädten  Inländern  und  Ausländern  und  für  alle  Waren  freige- 
gegeben.1)  Man  wollte  grolle  Handelsplätze,  wie  es  die  deutschen  Messen, 
vorzüglich  Leipzig  und  Frankfurt,  waren,  schaffen. 

Betrachten  wir  schließlich  die  Stellung  des  Gewerbes  in  der  Gesamt- 
wirtschafl. 

Österreich  erzeugte  seinen  Bedarf  an  Massenprodukten  vollkommen. 
Ja.  es  lieferte  noch  für  den  Export  nach  Italien  und  dem  Osten.  Luxus- 
waren, gegen  Ende  des  Jahrhunderts  auch  Maschinen,  bildeten  die  Haupt- 
importartikel in  Fabrikaten.*' 

Die  Scheidung  zwischen  dem  gewerbereichen  Korden  und  dem  gewerbe- 
armen,  viehzüchtenden  Süden  war  noch  nicht  eingetreten.  Böhmische  Waren 
kamen  höchstens  im  Transithandel  in  die  Alpenländer,  denn  die  Textil- 
industrie war  hier  weit  verbreitet,  die  montanistische  Produktion  und 
Metallwarenindustrie  übertraf  die  der  Sudetenländer.  Die  Elemente,  welche 
diese  Scheidung  im  19.  Jahrhundert  herbeiführten,  Steinkohle,  Baumwolle 
und  eine  rücksichtslose  kapitalistische  Spekulation,  kamen  damals  noch 
nicht  zur  Geltung. 

VIII. 

Stellen  wir  uns  zum  Schlüsse  die  Frage,  welches  die  eigentlichen 
Ursachen  waren,  die  die  Entwertung  der  sozialen  Organisation  des  Gewerbes, 
den  Verfall  der  Zünfte  herbeigeführt  haben  Denn,  daß  Regierungsmaßnahmen 
dies  nicht  vermochten,  daß  sie  ohne  die  in  den  konkreten  Verhältnissen 
liegende  Berechtigung  gar  nicht  auf  die  Dauer  Bestand  haben  konnten, 
liegt  auf  der  Hand.  Um  hierauf  antworten  zu  können,  müssen  wir  auf  die 
Entstehung  des  Zunftwesens  zurückgreifen. 

Die  Zünfte  waren  als  Schutz-  und  Rechtsorganisationen  des  Gewerbe- 
standes entstanden  und  sie  hatten  diesen  Charakter  beibehalten,  solange  Rechts- 
schutz und  Interessenvertretung  ausschließlich  durch  ständische  Organisation  zu 
erlangen  waren.  Die  ökonomische  Bedeutung  des  Zunftwesens  kam  erst  an 
zweiter  Stelle  und  konnte  die  natürliche  Produktionsentwicklung  nur  in 
geringem  Maße  beeinflussen.  Als  aber  daun  der  Ständestaat  vom  absolutistischen 
Einheitsstaat  abgelöst  wurde,  da  wurden  auch  die  ständischen  Organisationen 
überflüssig.  Neben  der  neuen,  immer  mehr  erstarkenden  Zentralgcwalt 
konnten  sie  nur  ein  Schattendasein  fristen.  Nicht  mehr  dem  Bedürfnisse, 

1)  Zirkular  \om  20.  September  1788. 

*)  Vgl  Fränzl  a.  a.  0.,  III.  Bd„  S.  460  u.  ff. 


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Das  österreichische  Gewerke  im  Zeitalter  des  Merkantilismus.  101 

sondern  staatlicher  Wohlmeinung  verdankten  sie  ferner  ihre  Existenz.  Der 
Staat  war  es  fortan,  der  den  Umfang  ihrer  Wirksamkeit  bestimmte  und 
dabei  zum  Gradmesser  das  bonum  publicum  et  commerciale  nahm.  Der 
ökonomische  Stand  des  Kleingewerbes  hält  sich  vom  Ende  des  Dreißig- 
jährigen Krieges  bis  zu  Beginn  des  19.  Jahrhunderts  fast  auf  der  gleichen 
Stufe  und  dennoch  der  rasche  Rückgang  in  der  Bedeutung  des  Zunftwesens. 

Der  Rechtsstaat  des  19.  Jahrhunderts  mußte  auch  mit  den  letzten 
Resten  rechtlicher  Ausnahmestellung  und  sozialer  Gebundenheit  aufräumen. 
Er  mußte  die  Gewerbefreiheit  gewähren.  Wo  er  daun  wieder  an  die  Organi- 
sation des  Gewerbes  schritt,  war  dies  nur  soweit  von  Erfolg  begleitet,  als 
er  die  freie  Genossenschaft  auf  ökonomischer  Basis  schuf.  Die  Wieder- 
herstellung der  Zunft,  der  geschlossenen  Standesvertretung  erwies  sich  in 
der  Tat  als  mittelalterliches  Anachronistikon. 

Der  jetzt  im  Werden  begriffene  soziale  Staat  wird  nur  soweit  an  eine 
geschlossene  Organisation  des  Gewerbestandes  schreiten  können,  als  er  sie 
mit  rein  sozialen  Elementen  zu  erfüllen  vermag.  Die  rechtliche  und  politische 
Gestaltung  der  gewerblichen  Verhältnisse  wird  er  sich  Vorbehalten,  die 
ökonomische  der  freien  Assoziation  überlassen  müssen. 


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VERHANDLUNGEN  DER  GESELLSCHAFT 
ÖSTERREICHISCHER  VOLKSWIRTE. 


CXVIII.  Plenarversammlung. 

Über  einige  wünschenswerte  Richtungen  der  Gebühre n- 
reforin  hielt  am  28.  Oktober  1902  Herr  Oberfinanzrat  Dr.  r.  Koczynski 
einen  Vortrag. 

Die  sehr  beklagte  Kompliziertheit  entstamme  lediglich  einem  Kedaktions- 
fchler  bei  Abfassung  des  Gebührengesetzes  vom  9.  Februar  1850,  und  käme  es 
sonach  darauf  an.  diesen  Fehler  wieder  gut  zu  machen. 

Die  Gebühren  im  österreichischen  Sinne  sind  eine  spezifisch  österreichische 
Einrichtung:  außerhalb  Österreichs  kommen  Abgaben  dieses  Namens  entweder  gar 
nicht  vor,  oder  sie  sind  völlig  verschiedener  Natur.  Auch  in  der  Finanzwissenschaft 
hat  die  Bezeichnung  „Gebühr"  einen  ganz  anderen  Sinn.  Sieht  man  aber  anf 
Objekt,  Anlaß  und  Wesen  unserer  Gebührenabgabe,  so  korrespondiere  ihr  ander- 
wärts nicht  eine  einzelne  Abgabe,  sondern  eine  ganze  Reihe  verschiedenartiger 
Abgaben.  So  war  os  auch  im  alten  vormärzlicbcn  Österreich.  Im  Jahre  1840 
gab  es  bei  uns  Rechtstaxen,  Laude  mien,  Papi  erstem  pel  und  Erb- 
steuer. 

1.  Die  Rechtstazen  bestehen  aus  Verleibungstaxen  und  Sportel- 
taxen. Die  Verleihungstaxen  sind  die  Gaben,  welche  aus  Anlaß  der  Belehnung 
an  den  verleibenden  Landesherrn  zu  leisten  waren,  ihrem  Wesen  nach  eher  ein 
Geschenk  als  ein  Entgelt.  Auch  die  Sporteltaxen  reichen  weit  in  das  altdeutsche 
Recht  hinein.  Sie  waren  regelmäßig  in  fixen  Beträgen  bestimmt;  nnr  drei  der- 
selben hatten  prozentuelle  Gestalt:  die  D e p o s i t e n t a x e für  die  gerichtliche 
Verwahrung,  die  Raittaxe  für  die  Prüfung  von  Verwaltungsrechnungen  und 
das  Mortuar  für  die  Pfiege  von  Verlaßabhandlungen. 

Die  Verleihungstaxen  waren  eine  ganz  eigenartige,  mit  dem  Lehonswesen 
im  Zusammenhang  stehende  Gattung  von  landesherrlichen  Einnahmen,  die 
Sporteltaxon  Gebühren  im  Sinne  der  Wissenschaft.  Letzteres  ist  allerdings 
für  die  proportionalen  Depositen-,  Rait-  und  Sterbetaxen  zweifelhaft.  Nach  der 
überwiegenden  wissenschaftlichen  Lehre  soll  die  Gebühr  reine  Kostenvergütung, 
ein  gewinnloses  Entgelt  sein;  erübrigt  ein  Gewinn,  so  sei  das  Ganze  oder 
mindestens  der  Überschuß  eine  Steuer.  Dies  würde  hier  zutreffen,  und  es  müßten 
diese  Taxen  als  Verkehrsstenern  angesehen  werden.  Dies  geht  wieder  nicht  an, 


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CXVm.  Plenarversammlung. 


103 


weil  es  an  einem  zu  besteuernden  Verkehrsakte  völlig  mangelt.  So  wird  man  dazu 
gedrängt,  zu  erwägen,  ob  nicht  eine  Revision  jenes  wissenschaftlichen  Gebühren- 
begriffes  statthaft  wäre.  Tatsächlich  gibt  es  in  der  Praxis  Gebühren  in  diesem 
Sinne  der  Wissenschaft  gar  nicht:  bei  jeder  Gebühr  bleibt  ein  kleinerer 
oder  größerer  Gewinn  übrig.  Ein  absolutes  Gleichgewicht  von  Kosten  und  Gebühr 
herzustellen  ist  technisch  unmöglich.  Kur  die  Tendenz  besteht,  sie  so  niedrig 
als  möglich  zu  halten,  was  aber  eine  Konsequenz  der  Forderung  ist,  daß  das 
Gemeinwesen  bei  der  Erfüllung  seiner  Aufgaben  seinen  Gliedern  so  wenig  als 
möglich  Kosten  verursachen  solle. 

2.  Landenden  sind  die  im  Falle  von  Veränderungen  im  Haupte  des  Unter- 
tanen zu  entrichtenden  Veränderungsgebühren.  Sie  sind  öffentlich-rechtlicher 
Matur.  Die  Gntsherrschaften  waren  im  Patrimonialstaat  die  untersten  Glieder  der 
öffentlichen  Verwaltung;  das  Laudemialbezngsrecht  und  das  heutige  Besteuerungs- 
recht der  Gemeinden  entspringen  sonach  der  gleichen  Wurzel.  Unter  den  Steuern 
werden  die  Laudemien  ihrer  Katur  nach  den  Verkehrssteuern  zuzuweisen  sein. 
Sie  hatten  eine  für  unsere  Vorstellungen  exorbitante  Höhe.  Zumeist  betrugen  sie 
10  Proz.,  mitunter  aber  bis  zu  einem  Drittel  des  Sachwertes. 

3.  Infolge  der  Türkennot  entwickelte  sich  von  der  Mitte  des  XVI.  Jahrhunderts 
an  ein  reiches  Aufschlagswesen;  es  entstand  im  Jahre  1675  ein  Papieraufschlag, 
welcher  je  nach  Format  und  Qualität  des  Papiers  abgestuft  war.  Im  Jahre  1686 
wurde  er  durch  die  Siegelabgabe  ersetzt:  alle  rechtlich  bedeutsamen  Schriften 
mußten  auf  einem  mit  gewissen  Stempelzeichen  versehenen  Papier  geschrieben 
werden.  Die  Abgabe  batte  drei  Abstufungen,  zu  3 kr.,  15  kr.  und  60  kr.  Jeder 
stempelpflichtige  Gegenstand  war  einer  dieser  Stempelklassen  zugewiesen,  so  daß 
die  bezügliche  Schrift  zur  Gänze  anf  Stempelpapier  dieser  Klassen  geschrieben 
sein  mußte.  Die  stempelpflichtigen  Schriften  zerfielen  in  Einschreiten  nnd  Ver- 
bescheidungen.  Ungestempelte  Schriften  unterlagen  strengen  Sanktionen:  Urkunden 
waren  nichtig;  über  ungestempelte  Eingaben  durfte  nicht  beamtshandelt  werden. 
Mach  kaum  sechsjährigem  Bestände  wieder  abgeschafft,  wurde  sie  im  XVIII.  Jahr- 
hundert erst  in  Innerösterreich  und  später  in  den  Ländern  der  böhmischen  Krone 
neuerlich  eingeführt,  um  durch  Maria  Theresia  wieder  auf  alle  Erblande  aus- 
gedehnt zu  werden.  Hierbei  wurde  eine  weitere  Stempeltaxe  zu  2 ft.  geschaffen. 
1802  wurde  die  Zahl  der  Stempelklassen  auf  14  vermehrt  bis  zu  100  fl.  per  Bogen. 

Diese  Abgabe  von  Urkunden  und  Eingaben  ist  das  Schmerzenskind  der 
Theorie.  Keiner  der  bisherigen  Versuche,  dieselbe  theoretisch  zu  konstruieren,  hat 
ein  einwandfreies  Ergebnis  geliefert.  Die  Qualifizierung  des  Eingabenstempels  als 
Gebüb r muß  aus  historischen  Gründen  verworfen  werden.  Für  den  Urkunden- 
stempel ist  die  gleiche  Ansicht  von  vornherein  bedenklich,  weil  die  Urkunde 
gestempelt  werden  nmß,  ohne  daß  ein  Objekt  des  Entgelts,  eine  Amtshandlung, 
irgend  wie  in  Betracht  käme.  Der  Urkundenstempel  ist  aber  auch  keine  Verkehrs- 
steuer, weil  die  Stempelpflicht  von  der  Realisierung  des  Verkehrsaktes  ganz  unab- 
hängig ist  und  die  Abgabe  sich  mit  jedem  Exemplar  und  jedem  Bogen  der 
Schrift  wiederholt,  während  nur  e i n Verkehrsakt  hinter  der  Urkunde  steht. 

Referent  schlägt  eine  neue  Erklärung  und  den  Namen  „Schriftsteuer* 
vor.  Er  geht  dabei  von  der  Wiederholung  der  Abgabe  mit  jedem  Exemplar  und 


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104 


Verhandlungen  der  Gesellschaft  Österreichischer  Volkswirte. 


sogar  mit  jedem  Bogen  der  rechtlich  relevanten  Schrift  aus.  Ke  müsse  angenommen 
werden,  daß  nnr  dort  die  Abgabe  mehrmals  eingehoben  wird,  wo  mehrere  Steuer- 
objekte vorliegen.  Daraus  folge,  daß  der  hinter  dem  Schriftstücke  stehende  recht- 
lich relevante  Vorgang  nicht  das  Steuerobjekt  sein  könne.  Anch  nicht  die  Beur- 
kundung selbst,  da  die  Abgabe  sich  mit  jedem  Bogen  der  Schrift  wiederhole. 
Objekt  der  Steuer  sei  vielmehr  der  rechtlich  relevante  Verbrauch 
von  Schreibmaterial;  es  liegt  also  eine  Konsumsteuer  auf  den  Verbrauch 
von  Schreibstoffen  zu  rechtlich  relevanten  Zwecken  vor.  Deshalb  ist  von  einem 
schriftlichen  Kaufverträge  über  eine  Realität  neben  der  Immobiliargebühr  auch 
der  Orkundenstempel  zu  zahlen;  darum  ist  dio  Stempelabgabe  von  der  Realisie- 
rung des  beurkundeten  Geschäftes  oder  vom  Erfolg  des  Einschreitens  ganz  unab- 
hängig, Befristungen  und  Bedingungen  sind  irrelevant. 

4.  Die  Erbsteuer  ist  gleichfalls  eine  Besteuerung  des  Rechtslebens,  und  zwar 
eine  Verkohrssteuer.  Die  Landenden  beschränkten  sich  auf  Immobilien  und  auf 
die  Erfassung  ihres  Bruttowertes,  traten  aber  bei  allen  Arten  von  Über- 
tragungen ein.  Die  Erbetener  stellt  die  Beteiligung  des  Gemeinwesens  am  Znfalls- 
gewinne  des  Einzelnen  (Bereicherungsgebühr)  dar.  Sie  tritt  daher  nicht  nur  bei 
der  Erbfolge,  sondern  bei  allen  unentgeltlichen  VermGgenserwerbungen  unter 
Lebenden  und  von  Todes  wegen  ein,  sie  trifft  nur  die  reine  Zuwendung  nach 
Abschlag  aller  Lasten,  läßt  den  aus  entgeltlichen  Rechtsgeschäften  resul- 
tierenden Gewinn  unbestenert  und  macht  zwischen  Erwerbungen  von  Immobilien 
und  von  Fahrnissen  keinen  Unterschied.  Die  Steuer  betrag  regelmäßig  10  J’roz., 
Übertragungen  zwischen  Aszendenten  nnd  Deszendenten  waren  ganz,  solche 
zwischen  Eheleuten  hinsichtlich  eines  Drittels  des  Vermögens  befreit.  Vom  Ver- 
mögen der  toten  Hand  war  ein  Erbsteueräquivalent  zu  entrichten.  Die  Steuer 
wurde  im  Jahre  1810  reformiert. 

Die  vier  dargestellten  Abgaben  vom  Rechtsleben  bestanden  vor  dem  Jahre 
1840  nicht  nur  nebeneinander,  sondern  sie  konkurrierton  auch  oft  mitein- 
ander. In  den  ersten  Jahrzehnten  des  XIX.  Jahrhundorts  wurde  der  Ruf  nach 
einer  Reform  der  Besteuerung  des  Rechtslebens  immer  Unter.  So  entstand  das 
Stempel-  und  Taxgosotz  vom  27.  Jänner  1840.  Alle  Abgaben  vom  Itechtsleben 
wurden  zu  einer  einzigen,  einheitlichen  Abgabe  vereinigt;  an  die  Stelle  der  Erb- 
etener, der  Schriftsteuer  und  deijenigen  Sporteltaien,  die  dem  landesfürstlichen 
Taxfonds  zufließen,  trat  eine  einheitliche,  nur  im  Falle  der  Verwendung  der 
Schriftlichkeit  zu  entrichtende  Stempelabgabe.  Die  Schriftsteuer  war  der  großen 
Aufgabe,  die  ihr  derart  zngemutet  wurde,  nämlich  nahezu  die  gesamte  Besteuerung 
des  Rechtslebens  zu  vertreten,  umsoweniger  gewachsen,  als  gleichzeitig  auch  das 
Stempelwesen  eine  erhebliche  Reduktion  erfuhr,  indem  alle  höheren  Stempelklassen 
von  mehr  als  20  fl.  abgeschafft  wurden.  Es  gab  keine  prozentuelle  Erbsteuer 
nnd  vor  staatlichen  Gerichten  kein  prozentuelles  Horlnar  mehr.  Selbst  von  Mil- 
lionenerbschaften war  keine  höhere  Abgabe  zu  entrichten  als  der  Stempel  von 
20  fl.  zum  Einantwortungsdekrete,  wie  er  auch  zu  einem  Nachlasse  von  5000  fl. 
schon  notwendig  war.  In  einem  zweiten  Teile  des  Stempeltaigesetzes  wurden  die 
Verleihungsgebühren  einer  zusammoufassenden  Kodiflzierung  unterzogen.  Nach 
bloß  zehnjähriger  Dauer  wurde  das  Stempeltaigeaetz  von  dem  jetzt  geltenden  Ge- 


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CXVIII.  Plenarversammlung'. 


105 


bä  hren  ge.se  tze  vom  9.  Februar  1850  abgelöst.  Es  realisiert  «len  Grundsatz  der 
Allgemeinheit  und  Gleichmäßigkeit  der  Besteuerung  des  Rechtslebens  in  einem 
bisher  noch  nicht  dagewesenen  Umfange.  Mit  der  Übernahme  der  Kosten  der 
gesamten  Gerichtsbarkeit  auf  den  Staat  war  dieser  zum  alleinigen  Taxbezugsberech- 
tigten  geworden  und  vermochte  jetzt  eine  allgemeine  Reform  der  Sporteltaxen 
eintreten  zu  lassen.  Mit  der  Aufhebung  des  Untertansverbandes  hatten  ferner  alle 
Urbariallasten  einschließlich  der  Laudemien  gegen  Entschädigung  der  bisherigen 
Gutsherrschaften  sofort  aufzuhören.  Hierdurch  wurde  eine  immense  Besteuerungs- 
fahigkeit  frei,  die  vom  Staate  ausgenützt  wurde. 

Die  Elemente  der  Reform  des  Jahres  1850  waren  daher:  Reaktivierung 
der  Erbsteuer,  Erweiterung  der  Schriftsteuer,  Reform  der  nunmehr  ausschließlich 
staatlichen  Sporteltaxen  und  Inkamerierung  der  Laudemien.  Dabei  wurde  versucht, 
diese  Ziele  durch  ein  einziges  Gesetz  und  durch  die  Zusammenfassung  aller  dieser 
Abgaben  unter  die  gemeinsame  Bezeichnung  „Gebühren u zu  erreichen.  In  Wirk- 
lichkeit ist  hier  aber  keine  einheitliche  neue  Abgabe  entstanden.  Unsere  Gebühren 
sind  vielmehr  nichts  anderes  als  ein  mechanisches  Gemenge  aus  allen  den  er- 
wähnten Abgaben,  nur  zusammengehalten  durch  den  schwächlichen  Kitt  eines 
gemeinsamen  Namens  und  durch  die  Zusammenfassung  in  ein  einheitliches 
Gesetz.  Den  zweiten  Teil  des  Stenertaxgesetzes  ließ  man  ungeändert  und  er 
besteht  als  solcher  noch  heute  zu  Recht.  Bald  machte  es  sich  geltend,  daß  es  ein 
großer  Fehler  war,  den  Schein  einer  einheitlichen  Abgabe  zu  schaffen.  Man  nahm 
jetzt  allgemein  den  Schein  für  das  Wesen  und  mühte  sich  begreiflicherweise 
ganz  vergeblich  ab,  eine  passende  Definition  für  die  österreichischen  Gebühren 
zu  finden.  Aber  auch  die  Praxis  und  sogar  die  Gesetzgebung  der  Folgezeit 
wurden  durch  den  Glauben,  daß  es  sich  um  eine  einheitliche  Gebühren abgabe 
bandle,  oft  auf  Irrpfade  geleitet.  In  Wahrhoit  leben  die  alten  Abgaben  im  heu- 
tigen Gebührenrecht  trotz  des  neuen  gemeinschaftlichen  Namens  in  ihrem  Wesen 
unverändert  fort.  Blieb  doch  sogar  das  alte  Stempelpapier  der  Emission  1836  in 
Geltung,  welches  die  Reform  des  Jahres  1840  unbeirrt  überdauert  hatte.  Die 
Erbsteuer  finden  wir  in  den  Bereicherungsgebühreil  wieder,  da  hier  alle  charak- 
teristischen Züge:  die  Besteuerung  der  unentgeltlichen  Übertragungen,  die  Be- 
messung nach  dem  reinen  Werte,  die  Einforderung  eines  Äquivalents  vom  Ver- 
mögen der  toten  Hand,  die  unterschiedslose  Heranziehung  von  beweglichem  und 
unbeweglichem  Vermögen,  ja  sogar  die  ganze  für  die  Erbsteuer  ausgebildete 
Technik  des  Verfahrens  wiederkehren.  Die  Laudemien  sind  in  der  Inimobiliar- 
gebühr  zu  erkennen,  wie  die  Beschränkung  auf  Immobiliarübertragungen 
und  die  Bemessung  nach  dem  Bruttowerte  ergeben.  In  Hinsicht  auf  die  Objekte 
hat  diese  Steuer  eine  große  Erweiterung  erfahren,  da  nunmehr  alle  Immobilien 
und  nicht  bloß  die  ehemals  laudemialpflichtigen  Bauerngüter  die  Steuer  zu  tragen 
haben.  Die  größten  Veränderungen  aber  wurden  im  Sporteltaxwesen  vorgenommen. 
Die  Zahl  der  reaktivierten  Sporteltaxen  reduzierte  sich  auf  zwei,  denen  prozentuelle 
Gestalt  verliehen  wurde:  die  Urteils-  und  die  Eintragungsgebühren.  Ihr  Gebühren- 
Charakter  (im  wissenschaftlichen  Sinne)  dokumentiert  sich  darin,  daß  sie  an  Amts- 
handlungen geknüpft,  durch  deren  Gültigkeit  bedingt  und  von  der  Realisierung 
des  ihnen  zu  Grunde  liegenden  Vermögenserwerbes  ganz  unabhängig  sind. 


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l(Mi  Verhandlungen  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkswirte. 

In  zahlreichen  Beziehungen  hat  die  Zusammenschweißung  der  erwähnten 
zier  so  verschiedenen  Abgaben  (einer  Gebühr,  einer  Konsutnsteuer  und  zweier 
Verkehrsstenem)  Verwirrung  angerichtet.  Besonders  auch  dadurch,  daß  diese  von 
Hang  aus  verschiedenartigen,  nunmehr  so  bedenklich  miteinander  vermischten 
Abgaben  in  dem  alphabetischen  Tarife  unseres  Gebührengesetzes  auf  die  banteste 
Art  durcheinander  gewürfelt  sind;  so  ist  unser  Gebührenrecht  zu  einem  förm- 
lichen Irrgarten  geworden. 

Hauptforderung  an  die  kommende  Gebührenreform  sei  daher,  daß  der  Bo- 
daktionsfebler  aus  dem  Jahre  1850  wieder  gutgemacht,  die  nichtssagende  Sammel- 
bezeichnung „Gebühr“  aufgelassen,  die  Vereinigung  der  differenten  Abgaben, 
welche  keinerlei  Vorteil  gebracht  und  nur  Verwirrung  gestiftet  hat,  beseitigt  und 
die  Nounormierung  dieser  Abgaben  in  separaten  Gesetzen  vorgenommen 
werde.  Ks  sollten  drei  solcher  Gesetze  erlassen  werden ; eines  für  die  Schrift- 
steuer, eines  für  die  Gerichtsgebühren  (die  Urteils-  und  Eintragungsgebühren) 
und  eines  für  die  Verkehrsstenem,  worin  die  Bereicherungs-  und  die  Immo- 
biliargebüliren  zusammenzufassen  wären. 

Unter  den  Rechtstaxen  ist  die  Entwicklung  der  Verkehrstaxen  entschieden 
eine  rückläufige;  dieser  Abgabenzweig  ist  offenbar  in  der  Auflösung  begrifTon, 
und  dieser  Prozeß  müßte  durch  die  bevorstehende  Reform  mit  einem  Schlage  zu 
Ende  geführt  werden;  dieser  Abgabenzweig  wäre  gänzlich  zu  beseitigen.  Eine 
Anzahl  von  Verleihungstaxen  wird  wohl  in  Abgaben  anderer  Natur  übergeführt 
werden  können.  Die  unleugbare  Anomalie,  die  hinsichtlich  der  Staatsbeamten 
besteht,  könnte  damit  beseitigt  werden. 

Auch  die  außerhalb  des  Steuertaxgesetzes  bestehenden  Verleihungstaxen : so 
die  Lottotaxe,  die  Bergwerkstaxen  und  die  Heimats-  und  Bürgerrechtstaxen,  sollten 
einer  solchen  Umgestaltung  entzogen  werden. 

Die  zweite  Art  der  Rechtstaxen  — die  Sporteltaxen  — hat  auf  dem 
•Gobiete  der  autonomen  Verwaltungen  eine  reiche  Zukunft.  Es  sind  auch  schon 
Ansätze  hierzu  vorhanden,  z.  B.  die  Taxordnung  der  Stadt  Triest,  und  die  Ko- 
tierungsgebnhren  an  den  drei  österreichischen  Effektenbörsen. 

Die  Verkehrssteuern  sind  offenbar  noch  in  aufsteigender  Entwicklung  be- 
griffen. Sic  waren  seit  1850  geradezu  das  Lieblingsfeld  der  gesetzgeberischen 
Betätigung,  und  es  ist  auf  diesem  Gebiete  eine  ganze  Anzahl  von  Keuschöpfungen 
zu  verzeichnen.  Die  Novelle  vom  Jahre  1862  normiert  gewisse  fixe  und  skala- 
mäßige Gebühren,  auch  wenn  kein  Schriftstück  ausgefertigt  wurde;  Anzahl  und 
Umfang  der  Ausfertigungen  sind  dann,  wenn  sie  einmal  wirklich  statthaben,  ohne 
Einfluß  auf  die  Höhe  der  Gebühr.  Damit  ist  eine  Verschiebung  des  Steuerobjektes 
eingetreten;  dieses  ist  nicht  mehr  der  Schriftakt,  sondern  der  Verkehrsakt.  Da- 
durch wurde  eiue  neue  Klasse  von  Verkehrssteuern  geschaffen,  welche  man  als 
„denaturierte  Stempelgebühren"  bezeichnen  könnte.  Ferner  emanzipierte  man  sieh 
für  Fälle  größerer  Steuerkraft  von  der  herkömmlichen  fixen  und  skalamäßigen 
Abgabe  und  setzte  für  dieselbe  prozentuelle  Sätze  fest,  so  für  die  Eisenbahn- 
hillettgebühr  und  für  die  Gebühr  von  Lotterie-  und  Totalisateurgewinsten.  An 
diese  neuartige  Verkehrsbesteuerung  auf  das  bewegliche  Vermögen  reihte 
sich  dann  die  Effektenumsatzsteuer  und  die  Fahrkartensteuer.  Diese  Richtung  der 


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CXVUI.  Plenarversammlung. 


107 


Gesetzgebung,  die  intensivere  Heranziehung  des  beweglichen  Vermögens  zur 
Tragung  der  Abgakenlast,  ist  von  der  Erkenntnis  geleitet,  daß  das  Gebührengesetz 
in  seiner  ursprünglichen  Anlage  den  Wertungen  einer  früheren,  heute  bereits  in 
voller  Umwandlung  begriffenen  Wirtschaftsordnung  entsprach. 

Die  Reform  der  Verkehrssteuern  wird  sich  wahrscheinlich  auch  mit  dem 
Progressionsprinzip  und  mit  der  Forderung  einer  differenzierenden  Behandlung 
der  Verkehrsobjekt«  je  nach  ihrer  wirtschaftlichen  Funktion  auseinandersetzen 
müssen. 

Die  Schriftsteuer  hat  während  ihrer  Entwicklung  meist  nur  Einschränkungen 
ihres  objektiven  Anwendungsgebietes  erfahren;  so  die  grundsätzliche  Beseitigung 
der  Stempelpflicht  von  Amtsbescheiden  im  Jahre  1850  und  die  Einführung  der 
denaturierten  Stempelgebühren.  Da  letzteren  falls  Verkehrssteuern  geschaffen  wurdeu, 
sind  jetzt  die  betreffenden  Schriftstücke  gegen  die  allgemeine  Regel  stempelfrei. 
Auch  bezüglich  der  Amtsausfertignngen  wäre  die  Rückkehr  zu  einem  mäßigen 
Stempel  angezeigt.  Seit  1850  hat  eine  weitgehende  Differenzierung  und  Spezia- 
lisierung der  Schriftsteller  stattgefunden,  zum  großen  Schaden  dieser  Abgaben- 
gattung, deren  Natur  dieser  Richtung  der  Ausbildung  stracks  zuwiderlief.  Die 
Schriftsteuer  ist  von  vornherein  auf  die  Solbstentrichtung  durch  die  Parteien  ein- 
gerichtet gewesen.  Dies  setzt  aber  voraus,  daß  die  Abgabe  nur  wenige  Sätze 
sowie  einfache  und  durchsichtige  Bestimmungen  besitze,  welche  sich  leicht  ein- 
prägen und  mit  Sicherheit  zu  einer  Tatsache  des  allgemeinen  Bewußtseins 
werden.  Bei  nns  ist  man  von  diesem  Kardinalerfordernis  weit  abgekommen,  da 
die  Schriftsteuer  in  ihrer  Verquickung  mit  den  übrigen  Gebühren  lim  öster- 
reichischen Sinne)  an  deren  Schicksal  teilgenommen  hat.  Unser  Stempolrecht  wird 
allgemein  für  eine  Art  Geheiinlebre  angesehen,  die  nnr  wenigen  Eingeweihten 
zugänglich  ist. 

Die  künftige  Reform  müßte  hier  gründlich  anfränmen.  Je  einfacher  die 
Stempelsätze  sind,  desto  sicherer  kann  auf  ihre  allgemeine  Beachtung  gerechnet 
werden;  jede  Ermäßigung  derselben  würde  durch  die  Masse  der  Fälle  hundert- 
fältig wioder  eingebracht  werden.  Die  Vereinfachung  und  Verbilligung  der  Schrift- 
steuer sollte  soweit  als  nur  irgend  tunlich  ist  gehen.  Man  könnte  etwa  für  die 
große  Masse  der  Schriftstücke  bloß  zwei  Stempelsätze,  einen  ganz  kleinen  von 
2 oder  3 Hellem,  für  die  rücksichtswürdigen  Fälle,  in  denen  heute  gar  nichts 
entrichtet  wird,  und  einen  hohen  zu  1 oder  2 Kronen  für  normale  Verhältnisse 
einfübreu.  Den  kleinen  Satz  sollte  schlechthin  alles  Geschriebene,  was  rechtliche 
Bedeutung  hat.  tragen.  Es  muß  doch  in  allen  diesen  Fällen  das  Papier  an  sich 
gekauft  werden,  da  es  selbst  den  Armen  niemand  herschenkt,  und  es  würden  einige 
Heller  in  keinem  dieser  Fälle  als  eine  erhebliche  Mehrbelastung  erscheinen.  Im 
ganzen  aber  würden  sie  sich  zu  eiuem  großen  Betrag  zusammensummieren,  da 
ja  bekanntlich  bei  uns  sehr,  sehr  viel  geschrieben  wird. 

Eine  solche  wesentliche  Ermäßigung  der  Abgabenlast  würde  auch  die 
Handhabe  ergeben,  um  die  unzähligen  Befreiungen  zu  beseitigen,  durch  welche 
die  Gebührennormen  fast  schon  überwuchert  worden  sind.  Die  Gebührenbefreiung 
ist  dadurch  so  sehr  zu  einem  förmlichen  Attribut  der  Gemeinnützigkeit  geworden, 


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108 


Verhandlungen  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkswirte. 


daß  man  beinahe  sagen  könnte:  wer  beute  noch  Gebühren  stahlt,  ist  dadurch 
fast  schon  als  gemeinschädlich  gekennzeichnet. 

Mit  der  Reduktion  der  Stempelsätze  sollte  die  Wiedereinführung  des 
Stempelpapiers  erfolgen.  Dabei  könnte  der  Staat,  wenn  er  dieses  Stempelpapier 
in  einer  staatlichen  Fabrik  herstellen  ließe,  auch  einem  andeien,  immer  drin- 
gender werdenden  öffentlichen  Interesse  gerecht  werden,  nämlich  der  vom  Stand- 
punkte der  Rechtssicherheit  zu  stellenden  Forderung  nach  einem  haltbaren  Papier 
für  die  rechtlich  wichtigen  Aufzeichnungen.  Endlich  erschiene  es  geraten,  für 
manche  Urkunden,  die  im  Rechtsleben  oft  in  gleichförmiger  Gestalt  Vorkommen, 
Spezialstempelzeichen  zu  schaffen.  Solche  Spezialstempelzeichen  sind  auch  für  die 
Statistik  und  für  die  Rechtspolitik  wichtig,  weil  sie  den  Abgabenertrag  jeder 
einzelnen  Urkundengattung  ersehen  lassen.  Auch  erscheint  es  nicht  empfehlens- 
wert, die  bisherige  Zweiteilung  der  Entrichtungsart,  geringere  Gebühren  mittels 
des  Stempels,  größere  hingegen  bar,  beizubehalten.  — 

Wichtig  sei  endlich  die  Trennung  der  Gebührenjudikatur  von  der  Ver- 
waltung des  Gebührengefälles;  die  administrative  und  die  jndizierende  Tätigkeit 
wären  verschiedenen  Behörden  anzuvertrauen. 

Bei  der  an  diesen  Vortrag  anknüpfenden  Diskussion  bemerkte  Hof-  und 
Gerichtsadvokat  Dr.  T b u m i m,  die  Reform  des  Gebührongesetzes  müsse  das 
Gesetz  und  seine  Handhabung  in  klare,  durchsichtige  und  einfache  Formen 
bringen.  Das  Verfahren  soll  ein  mündliches  sein,  dem  in  mancher  Beziehung 
auch  die  Öffentlichkeit  zuzugestehen  wäre. 

Reichsrateabgeordneter  Dr.  Ofner  erklärt:  Der  vom  Referenten  vorgetragene 
Reformgedanke  sei  zu  abstrakt  entwickelt  worden,  unser  Interesse  an  der  Ge- 
bührenreform sei  aber  ein  sehr  konkretes.  Jede  Steuer  und  jede  Gebühr  soll  im 
Verhältnisse  stehen  zu  dem  Vermögen  und  dem  Einkommen  der  betreffenden 
Person,  während  heute  die  Erbsteuer,  die  Grundsteuer,  die  Gebäudesteuer  u.  s.  w. 
den  Ärmeren  genau  so  trifft  wie  den  Reichen.  Das  Gleiche  gilt  von  allen  Arten 
der  Verkehrssteuer.  Und  doch  müssen  diese  von  dem  Gesichtspunkte  ihres  Zu- 
sammenhanges mit  dem  Vermögen  und  Einkommen  der  davon  betroffenen  Per- 
sonen aus  anfgefaßt  und  bemessen  werden.  Nach  dieser  Richtung  muü  sich  die 
Kritik  und  die  Reform  der  Verkehrssteuern  vertiefen,  mit  einer  blofien  Neuein- 
teilung der  Gebühren  ist  nichts  erreicht.  Viel  wichtiger  als  die  Einfachheit  einer 
Steuer  ist  deren  Größe  und  die  Art  ihrer  Progression.  Wenn  nicht  eine  ent- 
sprechende Proportionalität  der  Verkehrssteuern  eingeführt  wird,  so  hätten  wir 
lediglich  das  jetzige  Gebührengesetz  in  einer  anderen  Fassung.  Wir  dächten  aber 
doch,  daß  der  Gedanke  einer  Gebührenreform  nicht  bloß  formell,  sondern  vielmehr 
materiell  zu  fassen  wäre,  auch  nach  der  Richtung  hin,  daß  die  Entrichtung  der 
Steuer  nur  mit  dem  wirklichen  Vermögenserwerb  verknüpft  sein  soll,  was  nach 
der  heutigen  Präzis  nicht  zutrifft.  Was  die  Schriftgebühr  betrifft,  so  muß  man 
sich  doch  fragen,  warum  denn  eigentlich  eine  solche  — und  wäre  sie  noch  so 
gering  — überhaupt  entrichtet  werden  soll.  Der  Gedanke  einer  Gebührenreform 
ist  dahin  zusammenzufasseu : Zusammenhang  der  Gebühr  mit  dem  wirklichen 
Vermögenserwerb  und  Aufnahme  einer  Progression,  welche  die  Reicheren  inehr 
heranziebt,  um  die  Armen  zu  entlasten. 


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CXVIII.  Plenarversammlung. 


109 


Sektionschef  Or.  Inania  v.  Sternegg  wünscht  gleichfalls,  daß  die 
Reform  einen  sozialen  Einschlag  erhalte:  darin  sei  die  Berechtigung  der  Pro- 
gression. ebenso  aber  auch  die  Berechtigung  des  Vorschlages  des  Referenten  zu 
sehen,  die  vielen  Einzelfälle  auf  allgemeine  Formeln  zu  reduzieren.  Dadurch 
werde  die  Gebühr  den  wirtschaftlichen  Verhältnissen  der  Einzelnen  und  der  ver- 
schiedenen Klassen  angepaltt  und  für  die  ganze  Bevölkerung  leichter  erträglich 
werden. 

Nach  einigen  Bemerkungen  des  Oberbuchhalters  Sch  m i d (Österreichisch- 
nngarische  Bank)  replizierte  noch  Oberfinanzrat  Dr.  v.  Koczynski,  worauf 
Herr  I)r.  Ritter  v.  Dorn  die  Versammlung  schloß. 


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AUGUST  MEITZEN. 


VORTRAG,  GEHALTEN  VON  DR  v.  INAM A-STERNEGG  IN  DER  GESELL- 
SCHAFT ÖSTERREICHISCHER  VOLKSWIRTE. 


August  Meitze  n ist  aui  16.  Dezember  1822  zu  Breslau  gekoren, 
wo  er  auch  seine  erste  Jugend  verbrachte.  Nach  Vollendung  seiner  Studien 
machte  er  zunächst  praktischen  Jnstiz-  und  Finanzdienst.  Aber  schon  bald  drang 
seine  vielseitige,  aber  doch  spezifische  Begabung  durch.  Als  Achtundzwanzig- 
jähriger  wurde  er  mit  der  Leitung  der  Deichregulierungsgeschäfte  in  Schlesien 
betraut;  mit  seinen  geodätischen  und  agronomischen  Kenntnissen  war  der  junge 
Jurist  eine  Spezialität.  Als  er  später  als  Kommissar  für  die  Grundsteuerregelung 
in  Schlesien  wieder  das  Land  bereiste,  ging  ihm  auch  das  Verständnis  auf  für 
das  historische  Werden  der  Au  Siedlungen  und  ihrer  Feld- 
fluren. Unter  AVattorbachs  sachkundiger  Führung  drang  Meitzen  in  die 
Quellenforschung  ein  und  gab  1863  die  Urkunden  der  Kolonisation  von  Schlesien 
heraus,  womit  er  seinen  Ruhm  als  bahnbrechender  Entdecker  der  in  den  Flur- 
plänen verborgenen  Zeuguisse  der  Ansiedlung  des  Landes  begründete.  So  vor- 
bereitet übernahm  er  die  Leitung  dos  grollen  amtlichen  Werkes  »Der  Boden 
und  die  landwirtschaftlichen  Verhältnisse  des  prenlliscben  Staates“,  von  dem  er 
eben  jetzt  nach  35jähriger  Arbeit  den  sechsten  und  letzten  Band  akschliefit. 
Inzwischen  weitete  Meitzen  sein  Forschungsgebiet  zeitlich  und  räumlich  immer 
mehr  aus;  auf  seilten  Reisen  durch  ganz  Europa  schaute  er  mit  Scharfsinn  und 
Genauigkeit  der  Beobachtung  nach  den  Esistenzbedingungon  der  Landwirtschaft 
aus,  immer  zugleich  den  lebendigen  Zuständen  wie  ihrer  Entstehung  aus  kaum 
mehr  erkennbaren  Urformen  seine  Aufmerksamkeit  zuwendend.  Reiche  Schätze 
an  Urkunden.  Zeichnungen.  Plänen  brachte  er  nach  Hanse,  wo  er  sie  wohlgeordnet 
der  Wissenschaft  und  der  Lehre  zugänglich  machte.  Ich  war  noch  ein  ganz 
junger  Mann,  als  ich  von  ihm  dort  eingeführt  wurde.  Mich  ergriff  die  Tatsache, 
daß  hier  aus  der  ganzen  europäischen  Welt  die  ältesten  Spuren  der  Besiedlungs- 
weisen vor  mir  lagen,  fast  ebenso  sehr,  wie  Meitzen  selbBt  davon  erfüllt  war, 
der  ja  in  der  Entzifferung  dieser  Pläne  eine  Lebensaufgabe  sah.  Es  ist  ein, 
wenn  auch  ganz  bescheidener  Beitrag  zur  Charakterisierung  dieses  Mannes,  wenn 
ich  mir  gestatte,  hier  zu  sagen:  schon  bei  dieser  ersten  Begegnung  hat  er  mich 
dauernd  für  derartige  Forschungen  zu  fesseln  und  mir  sofort  sehr  intensiv  die 
Erkenntnis  nnd  die  Tragweite  dieser  Untersuchungen  zu  eröffnen  gewußt,  so  daß 
es  fernerhin  nur  ein  Genuß  war,  seinen  späteren  Arbeiten  zu  folgen.  Bis  spät 


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August  Meitzen. 


111 


iu  die  Nacht  hinein  waren  wir  beisammen,  Mitternacht  war  längst  vorüber,  auf 
der  Erde  lagen  Flurpläue  von  Italien  mid  Gallien,  von  Schottland  nnd  Finnland 
au  «gebreitet,  lind  wir  krochen  auf  allen  Vieren  — die  kleine  Lampe  neben  uns  — 
um  Kaum  genug  zu  haben,  uns  in  dieser  weiten  Welt  zu  bewegen.  Sein  reiches, 
bis  ins  einzelne  getreues  Wissen  von  der  Besiedelung  Europas  umspannte 
schließlich  dessen  ganze  Kulturzeit.  In  diesem  Sinne  ist  Meitzen  unzweifelhaft 
der  universellste  Forscher  unserer  Zeit.  Sein  oberstes  und  größtes  Verdienst  ist 
aber  die  geniale  Entzifferung  der  Runen,  welche  die  Menschen  der  ältesten 
Knlturperiode  mit  ihren  Ansiedtungen,  ihren  Hansformen,  ihren  Flurabteilnngs- 
nnd  Feldstreifen  unzerstörbar  in  den  Boden  eiugegraben  haben.  Seit  Meitzen 
uns  diese  stumme  Sprache  gelehrt  hat.  erzählen  sie  uns,  woher  sie  gekommen,, 
wohin  sie  gewandert  sind  und  welche  elementaren  Gedanken  die  bedeutsamsten 
aller  gesellschaftlichen  Lebensäußernngen  beherrscht  haben  — die  Begründung 
dauerhafter  Gemeinwesen,  den  Ausbau  der  Heimat.  Es  ist  ein  eigener  Reiz  für 
jeden,  dessen  Interesse  nicht  mit  den  Grenzen  seines  Vaterlandes  anfhören  und. 
der  gerne  auch  einen  Blick  werfen  möchte  über  die  engen  Grenzen  seiner  eigenen 
Lebenszeit  zurück  zu  den  Anfängen  menschlicher  Kultur,  an  Meitzens  sach- 
kundiger Hand  sich  iti  die  Zeiten  zu  versetzen,  als  zuerst  nach  der  großen  Eis- 
zeit, als  noch  die  Polartiere  in  den  Pyrenäen  und  den  Alpen  hausten,  die 
Menschen  ihre  Holmen  und  Pfahlbauten  errichteten.  Aus  Afrika,  von  dem  vor- 
dringenden  Wüstensaude  über  das  Mittelmeer  getrieben,  kamen  die  einen  (Iberer 
und  Ligurer?)  aus  dem  Nordosten,  mit  zunehmender  Begrasung  und  Bewaldung 
der  Moränen,  die  anderen  (Finnen?)  nach  Europa  und  entfalteten  hier  die  erBte 
Kultur.  Dann  schieben  sich  die  Kelten,  die  Germanen  und  Slaven,  alle  zuerst 
weidend  nnd  dann  erst  fest  angesiedelt,  von  Osten  her  durch  ganz  Mitteleuropa 
vor.  Jeder  der  drei  großen  Volksstämme  bringt  eine  eigenartige  wirtschaftliche 
Kultur  hervor;  aus  der  Tiefe  der  Volksseele  entspringt  sie;  in  bestimmten  festen 
Formen  prägt  sie  sich  aus,  die  zähe  festgehalten,  selbst  jetzt  noch  an  den 
Ansiedlungen,  dem  Uansbau,  der  Flureinteilung  erkennbar  sind. 

Da  vor  allem  setzt  Meitzens  eigenartige  Forschung  ein.  Wenn  uns  die 
Prähistoriker  ans  den  mit  Steinen  bedeckten  Höhlen,  den  Dolmen,  aus  den 
Überresten  der  Pfahlbauten,  aus  den  Knochen  der  Haustiere  und  aus  den 
Spuren  von  Artefakten  die  älteste  Kulturwelt  anschaulich  zu  machen  versuchen, 
wenn  die  Archäologen  aus  den  Keilschriften  der  Assyrer  nnd  Babylonier  uns  die 
Grnndzüge  einer  längst  verschollenen  Bildung  wieder  erwecken,  so  hat  Meitzen 
die  stummen  Zeugen  der  Fluranpassung  wieder  zum  Sprechen  gebracht.  Ana 
loquuntur,  kann  er  über  sein  Lebenswerk  schreiben. 

Wo  immer  sich  menschlicher  Haushalt  und  menschliche  Arbeit  dauernd  an 
dem  Boden  fixiert,  eine  planmäßige  Siedelang  zu  einer  Austeilnng  des  Bodens 
gelangt,  ist  damit  eine  Tatsache  geschaffen,  die  in  aller  Regel  den  Wechsel  der 
äußeren  Schicksale  der  Menschen  überdauert,  weil  wohlerworbene  Rechte  und 
der  gleiche  Kreislauf  des  landwirtschaftlichen  Betriebes  sie  erhalten;  alles  ist 
eher  nmzustürzen  als  die  Urform  einer  Volksansiedlung  mit  der  dnreh  sie  gegebenen 
Ordnung  der  Feldfluren.  Nun  finden  sich  bis  in  unsere  Zeit  hinein  in  dem  alten 
Keltenlande  die  Einzelhöfe  mit  vollkommen  arrondierter  Feldflur,  auf  reinem 


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112 


Inama-Sternegg. 


Germanenboden  die  Haufendörfer  mit  regulärer  Gewanneinteilung  und  Gemenge- 
lage der  zu  einem  Gehöfte  gehörigen  Parzellen,  in  den  Slavengebieten  die  Rund- 
dörfer mit  ganz  ungeregelter  Felderteilung,  aber  sehr  festen  Gemarkungen  au 
sehr  vorherrschend,  daß  von  drei  deutlich  unterscheidbaren  Typen  der  Ansiedlung 
gesprochen  werden  kann.  Und  dieselbe  Anordnung  ihrer  Ansiedelungen  läßt  sich 
zurück  verfolgen  bis  in  die  Zeit  des  Überganges  aus  der  Nomadenwirtschafi  in 
feste  Niederlassung  mit  Ackerbau.  Als  der  Urgrund  dieser  verschiedenen  Formen 
der  Ansiedlnng  und  Flnreinteilung  aber  ergibt  sich  dio  sehr  differente  politische 
Veranlagung  der  drei  Völkerschaften.  Bei  den  Kelten  sind  die  politischen 
Abteilungen,  die  Klanes  und  Tates,  auch  zum  Anfangs-  und  Endpunkt  der  Band- 
teilung geworden;  dem  festen,  hordenmäßigen  Zusammenhalt  des  Klan  unter 
starker  Obrigkeit  entspricht  die  gleichförmige  mechanische  Landabteilung  ebenso 
wie  dem  ausgeprägten  Familiensinn  die  volle  Absonderung  der  einzelnen  Tates 
in  Einzelhüfen.  Bei  den  Germanen  entspricht  die  vor  allem  auf  vollkommene 
Gleichwertigkeit  des  Landloses  berechnete  Gewanneinteilung  bei  sehr  verschiedener 
Form  der  Fluranlage  dem  entwickelten  politischen  Freiheits-  und  Unabhängig- 
keitssinn des  Volkes;  bei  den  Slaven  ist  die  rein  patriarchalische  Form  ihrer 
ältesten  politischen  Verfassung  zugleich  in  der  Flurverfassung  ausgeprägt,  die 
aus  dem  starken  Übergewicht  hausväterlicher  Gewalt  über  Individualrechte  und 
Individualinteressen  zu  erklären  ist. 

Führt  uns  so  Meitzen  an  der  liand  der  Flurpläue  und  der  Kataster- 
operate  des  XIX.  Jahrhunderts  mit  sicherem  Schritte  bis  zu  den  Uranfängen  der 
gegenwärtigen  Besiedlung  Europas  zurück,  welche  noch  durch  kein  schriftliches 
Denkmal  erhellt  werden,  so  geleitet  er  uns  anderseits  durch  die  Jahrhunderte 
des  Mittelalters  und  der  neueren  Zeit  bis  zn  den  agrarpolitischen  Pro- 
blemen der  Gegenwart.  Aus  dem  gesamten  Entwicklungsgänge  des  Agrar- 
wesens erklärt  er  die  agrarpolitischen  Maßregeln  der  modernen  Knlturstaateu. 
Mit  unerreichter  Klarheit  stellt  Meitzen  in  knappster  Form  dar,  was  an  Ein- 
richtungen der  älteren  Agrarverfassung  abgestorben  und  daher  zu  beseitigen,  was 
noch  entwicklungsfähig  und  daher  beizubehalten  ist.  Ein  überzeugter  Verfechter 
der  bürgerlichen  Freiheit  in  Besitz  und  Erwerb  betrachtet  Meitzen  die  Bauern- 
befreiung von  dem  Joche  der  Hörigkeit  und  den  Lasten  der  Gutsuntertänigkeit 
als  den  Anbruch  einer  neuen,  wesentlich  gebesserten  Zeit  der  Landwirtschaft. 
Die  Herstellung  der  persönlichen  Freiheit  des  Landmannes  erlangte  ihre  volle 
Bedeutung  aber  doch  erst  durch  die  Grundentlastnng  und  die  Beseitigung  der 
Reallasten,  deren  volle  und  endgültige  Überwindung  nur  mehr  eine  Frage  der 
Zeit  ist.  Mit  großem  Nachdrucke  tritt  Meitzen  für  die  Regelung  der  Servituten 
und  für  eine  einheitliche  durch  die  Obrigkeiten  zu  leitende  Kommassation  ein; 
aber  er  verkennt  nicht,  daß  der  Erfolg  von  darauf  sbtielenden  Gesetzen  wesent- 
lich abhängig  ist  von  der  alten  Art  der  Flurverfassung  sowie  von  der  Bodenlage 
und  den  herrschenden  Kulturarten.  Gesetze,  welche  diese  Verschiedenheiten  der 
Voraussetzungen  von  Kommassationen  unbeachtet  lassen,  bergen  den  Keim  des 
Mißerfolges  in  sich. 

Ebenso  spricht  sich  Meitzen  zwar  gegen  jede  prinzipielle  Beschränkung 
der  Freiteilbarkoit  von  Liegenschaften  ans,  in  der  er  eine  unberechtigte  Ein- 


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August  Meitzen. 


113 


mischung  der  öffentlichen  Gewalt  in  die  Sphäre  der  privatwirtschaftlichen  und 
daher  freien  Entschließung  des  Grundbesitzers  erblickt;  aber  er  erkennt  es  doch 
für  notwendig  an,  Parzellierungen  von  ganzen  Gütern  zo  erschweren,  um  nicht 
Unordnung  in  dein  Kreise  der  Öffentlichen  Rechte  und  Pflichten  der  Grundstücke 
einreiflen  zu  lassen  und  Landgüter  nur  zu  Spekulationszwecken  zu  zerschlagen. 

Einen  besonderen  Fürsprecher  fand  in  Meitzen  die  neuerdings  auch  hei 
uns  geschaffene  Einrichtung  der  Kombinationen  von  Kataster-  und  Grundbuch, 
hauptsächlich  wegen  des  dadurch  erleichterten  Verkehres  mit  Liegenschaften.  Die 
Furcht  von  einer  dadurch  begünstigten  Mobilisierung  des  Grundbesitzes  teilt  er 
nicht:  eine  solche  müßte  das  gesamte  agrarpolitische  Streben  treffen,  das  darauf 
.abzielt,  dem  Grundbesitzer  freie  Verfügung  über  sein  Grundstück  zu  schaffen. 
Es  liegt  vielmehr  im  Wesen  der  fortschreitenden  humanen  Kultur,  daß  auch  im 
Grundbesitz  der  Charakter  des  Kapitals  immer  mehr  zur  Geltung  kommt  Was 
von  bestimmten  Nutzungswerten  und  Anrechten  das  allgemeine  Wohl  gegenüber 
dem  Grund  und  Boden  fordert,  anf  dem  die  gesamte  bürgerliche  Gesellschaft 
besteht  und  verkehrt,  kann  und  soll  der  Staat  im  vollen  und  fortschreitenden 
Maße  als  notwendige  Beschränkungen  für  alles  Grundeigentum  zur  Geltung 
bringen.  Der  nicht  notwendig  beschränkte  Anteil  an  demselben  aber,  der  der 
individuellen  Verfügung  überlassen  bleibt,  erfüllt  nur  dann  seinen  Zweck  genügend, 
wenn  er  möglichst  in  die  naturgemäßen  Funktionen  des  Kapitals  eintritt.“ 

Von  anderen  Gebieten  seiner  auf  die  Lösung  praktischer  Aufgaben  der 
Wirtschaftspolitik  gerichteten  wissenschaftlichen  Arbeit  sei  nur  kurz  des  Problems 
der  Binnenwasserstraßen  gedacht,  mit  dessen  gründlicher  Behandlung 
Meitzens  Namen  eng  verknüpft  ist  Seine  Bearbeitung  der  Stromgebiete  des 
Deutschen  Reiches  führt  Meitzen  auch  jetzt  noch  rastlos  weiter  und  auf  Grund 
seiner  genauesten  Kenntnis  der  orographischen  und  hydrographischen  Verhältnisse 
Preußens  hat  er  schon  vor  mehr  als  30  Jahren  der  praktischen  Durchführung  des 
norddeutschen  Kanalsystems  wesentliche  Dienste  geleistet. 

Es  gehört  zu  den  Eigentümlichkeiten  von  Meitzens  Vortragsweise,  daß 
er  die  Ergebnisse  seiner  Forschungen  immer  begleitet  mit  der  Darstellung 
des  Verfahrens,  durch  welches  sie  gewonnen  sind.  Tiefe  Ein- 
blicke in  die  Werkstatt  seiner  Geistesarbeiten  sind  dadurch  ermöglicht,  welche 
die  Treue  und  Gewissenhaftigkeit  seiner  Forschungen  erkennen  lassen.  Aus  den 
Flurplänen  rechnet  er  uns  die  Zahl  der  Hufen  vor,  die  bei  der  ersten  Besiedlnng 
einer  Gemarkung  gebildet  sein  mußten;  an  der  Hand  der  Niederschlagsmengen, 
der  Niveanmessungcn  und  Wasserstandsbeobachtungen  demonstriert  er  die  Mög- 
lichkeit der  Kanäle,  wie  ans  den  Verkehrsmengen  des  Zufahrtsgebietes  seine 
ökonomische  Rechtfertigung.  Seine  vorsichtig  abwägonden  agrarpolitischen  Urteil*' 
beruhen  auf  sorgsamster  Beobachtung  der  Zustände  der  Landwirtschaft  wie  der 
historischen  Notwendigkeiten  im  Verlaufe  der  Agrargesetzgebung.  Kurz,  er  ver- 
läßt nie  den  Boden  der  gegebenen  Tatsachen,  auch  wo  er  reformierend  auf  sie 
einwirken  will  und  hinterläßt  eben  deshalb  stets  den  Eindruck  voller  Sicherheit 
in  seinen  Ausführungen.  Meitzen  ist  eben  ein  historisch  wie  statistisch  gleich 
gut  geschnlter  Nationalftkonom.  der  dazu  von  der  Naturwissenschaft  hinlänglich 
gelernt  hat,  um  zu  wissen,  daß  sorgsam  und  verständig  beobachtete  Tatsachen 

/.eiuchrift  f«lr  VoUuwtmchaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  XII.  Band.  g 


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114 


Ioama*Sternegg. 


die  Wissenschaft  mehr  fördern  als  bodenlose  Spekulationen  und  voreilig  gezogene 
Schlüsse. 

Seine  streng  methodische  Schulung  tritt  am  deutlichsten  hervor  in  seinem 
Werke  „Geschichte,  Theorien  und  Technik  der  Statistik“,  von 
dem  ebon  jetzt  eine  neue  Auflage  erschienen  ist  Es  ist  der  geistige  Niederschlag 
einer  fast  40jährigen  unentwegten  Arbeit  im  Dienste  der  amtlichen  Statistik  des 
Deutschen  Reiches  und  einer  fast  ebenso  langen  akademischen  Lehrtätigkeit. 
Was  Meitzen  in  diesem  Werke  bietet,  ist  nicht  eines  der  langläufigen  Schul- 
bücher über  Statistik,  sondern  eine  ernsthafte,  von  der  grollen  Wichtigkeit  der 
Aufgabe  erfüllte  Darlegung  der  großen  und  kleinen  Pflichten,  welche  die  Statistik 
dem  Staate,  dem  öffentlichen  Leben  überhaupt  und  der  Wissenschaft  insbesondere 
gegenüber  zu  erfüllen  bat.  Nie  sind  eindringlichere  Worte  über  den  Beruf  der 
Statistik  und  gegen  ihren  so  häufigen  Mißbrauch  geschrieben  worden.  Für  den 
praktischen  Statistiker  ist  es  wie  ein  lebendiges  Gewissen,  das  ihn  auf  Schritt 
und  Tritt  begleitet,  um  ihn  an  seine  Pflichten  zu  mahnen;  für  die  große  Masse 
derer,  die  Statistik  gebrauchen,  ein  beständiger  lauter  Warner  gegen  leichtfertigen, 
dilettantischen  Gebrauch  wie  gegen  tendenziösen  Mißbrauch  dieses  hervorragenden 
Werkzeuges  politischer  Erkenntnis. 

Wer  Meitzen  aber  nur  ans  seinen  Schriften  kennt,  der  kennt  ihn  nur 
halb.  Die  vollendete  Liebenswürdigkeit  seines  Wesens,  sein  unermüdlicher  Eifer 
zu  lernen  und  zu  lehren,  seine  bescheidene  Selbstkritik  offenbaren  sich  doch  voll- 
kommen erst  im  persönlichen  Verkehr.  Darum  hängen  auch  seine  Schüler  so 
sehr  an  ihm  und  bereiten  ihm  honte  in  Berlin  ein  schönes  Fest.  Einige  kleine 
Züge  aus  seinem  Leben  sollen  dafür  Zeuge  sein.  Als  ich  ihn  vor  fünf  Jahren 
in  Berlin  besuchen  wollte,  fand  ich  ihn  au  einem  herrlichen  Augusttage  endlich 
in  Frankfurt  a.  0.  inmitten  von  Fiurplänen  nnd  Katasterprotokollen  vergraben: 
-Ich  suche  hier  die  Hufen,  welche  Albrecht  der  Bär  seinen  Bittern  ausgetan 
und  — ich  finde  sie.“  Im  henrigen  Frühjahr  forschte  er  hier  nnd  in  Brünn 
monatelang,  um  endlich  die  Grundzüge  der  Kolonisation  der  Ostmark  festzolegen. 
über  die  er  noch  von  niemanden  sicheren  Bescheid  erlangen  konnte.  Als  ich 
ihn  damals  bat,  einem  jüngeren  Forscher  einige  Anleitnng  za  geben,  wie  er  die 
alten  Slavenansiedelungen  im  Gailtale  am  sichersten  auffinden  könne,  ergriff  den 
alten  Herrn  die  Aufgabe  so  sehr,  daß  er  sich  gleich  entschloß,  mit  ihm  zu  gehen, 
und  verbrachte  mehrere  Wochen  in  Arnoldstein  mit  dem  Studium  der  Fluren  und 
der  alten  Gerichtsakten.  Und  dann  ging  er,  veranlaßt  durch  die  neuesten  aufge- 
tauchten Zweifel  über  das  Alter  der  südslavischen  Hanskommunion  nach  W i n- 
dischmatrei  and  Lienz,  am  ihre  Spuren  in  diesem  altslavischen  Siedlungs- 
gebiete von  Tirol  zu  verfolgen. 

Als  ich  mit  ihm  vor  Jahren  von  der  zunehmenden  Not  der  Landwirtschaft 
sprach,  bemerkt«  Meitzen,  ganz  ernsthaft  geworden,  der  Boden  gehöre  dem 
Bauer,  er  allein  kann  ihn  heute  noch  mit  Erfolg  bewirtschaften,  aber  auch  er 
muß  es  erst  lernen.  Und  bei  einem  Besuch  in  den  Botkschildgärten,  während  wir 
die  herrlichen  Blumen  nud  Früchte  bewunderten,  sagte  er  plötzlich,  nach  einer 
kleinen  Pause  im  Gespräch;  „Wenn  er  seine  Diners  in  Kcchnung  stellt,  kommt 
Rothschild  auch  mit  seinen  Gärten  anf  seine  Kosten.*  Ihn  beschäftigen  fortwährend 


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August  Meitzen. 


115 


die  aktuellen  Frage»  der  Wirtschaft  ebensosehr  wie  die  entlegensten  Probleme 
aus  den  Anfängen  menschlicher  Kultur.  Es  ist  nicht  zn  viel  gesagt,  wenn  ich 
meine,  ganz  Europa  ist  Meitzen  hente,  an  seinem  80.  Geburtstage,  vielen 
Dank  schuldig  für  die  wesentliche  und  grundlegende  Bereicherung  der  Kenntnis 
seiner  Urgeschichte  und  seiner  ganzen  agrarischen  Entwicklung.  Wir  Österreicher 
haben  noch  einen  besonderen  Grund  dafür:  Kein  einheimischer  Forscher  hat 
bisher  für  die  Aufhellung  der  Besiedlungsgeschicbte  und  der  Agrarverfassung 
Österreichs  soviel  geleistet  als  Meitzen.  Ein  warmer  Freund  unseres  Vaterlandes, 
ebenso  vertraut  mit  unserer  deutschen  Art  wie  mit  den  slavischen,  magyarischen 
und  romanischen  Verhältnissen,  hat  er  anch  viele  Freunde  bei  uns,  die  am 
heutigen  Tage  dankbar  zn  ihm  aufblicken  für  all  das  Wertvolle,  das  er  reichlich 
und  freigebig  spendend  in  seiner  selbstlosen  Weise  für  Österreich  geleistet  hat. 
zur  Aufhellung  unserer  Vergangenheit,  zum  Verständnis  unserer  Gegenwart,  ja 
selbst  für  den  Ausbau  unserer  Zukunft.  Denn  die  eine  Wahrheit  leuchtet  aus 
Meitzens  Lebenswerk  auf:  nicht  im  Kampfe  der  Volker,  sondern  in  saurer 
Arbeit  um  des  Lebens  Notdurft  baut  sich  ein  Volk  seine  Heimat  auf. 


8* 


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ÜBER 

STAATLICHES  ARCHIVWESEN  IN  ÖSTERREICH. 


VO.N 

PROF.  DK.  MICHAEL  MAYR  (INNSBRUCK). 


Uer  eben  beendigte,  von  den  Fachkreisen  mit  Spannung  verfolgte  Adels- 
fälscherprozcß  in  Prag  warf  auch  auf  gewisse  Mängel  des  österreichischen  Archiv- 
wesens ein  wenig  freundliches  Licht  Sie  sollen  im  besonderen  hier  ebensowenig 
erörtert  werden  als  die  im  In-  und  Anslande  vielbeklagte  Rückständigkeit  des 
österreichischen  Herolds-  oder  Adelsamtes,  soweit  es  auf  die  unbedingt  erforder- 
liche wissenschaftliche  Qualität  desselben  ankommt.  Es  ist  übrigens  für 
die  selbst  in  wissenschaftlichen  Kreisen  vorhandene  Geringschätzung  des  letzt- 
genannten Verwaltungszweiges  bezeichnend  genug,  daß  sogar  ein  anerkannter 
Lehrer  des  öffentlichen  Rechtes  in  einem  kürzlich  erschienenen  Artikel  in  der 
„Neuen  Freien  Presse*  die  hauptsächliche  Bedeutung  des  Adelsamtes  in  der 
Befriedigung  der  menschlichen  Eitelkeit  erblicken  konnte.  Er  übersah,  welch 
wichtige  reelle  Werte  (Stiftungen  und  Stipendien  aller  Art)  wohl  den  Großteil 
der  Parteien  zur  Benützung  dieses  Amtes  veranlassen. 

Viel  beachtenswerter  als  dieser  archivalische  Sonderzweig  erscheint  uns  die 
allgemeine  Situation,  in  welcher  sich  das  österreichische  Staatsarchiv- 
wesen größtenteils  befindet.  Hier  hat  freilich  gleich  die  notige  Einschränkung 
Platz  zu  greifen.  Die  großen  Archive  dor  (gemeinsamen)  Reichsbehörden,  Haus-, 
Hof-  und  Staatsarchiv  und  Hofkummerarchiv,  entziehen  sich  von  selbst  dieser 
Besprechung,  da  Organisation  und  Aufgaben  dieser  Anstalten  wesentlich  andere 
sind  als  jene  der  Archive  der  österreichischen  Staatsbehörden.  Das  Haus-,  Hof- 
und  Staatsarchiv  ist  anerkannt  trefflich  geleitet  und  bildet,  seit  es  vor  kurzem 
in  sein  neues,  luxuriös  ausgestattetes  und  allen  modernen  Anforderungen  ent- 
sprechendes Heim  übersiedelt  ist,  eine  wahre  Zierde  der  Monarchie.  Auch  die 
Archive  einzelner  österreichischer  Zentralstellen  fallen  aus  dem  Rahmen  der 
nachstehenden  Erörterungen,  weil  sie  einerseits  genügend  organisiert  sind,  ander- 
seits auch  einen  verhältnismäßig  einfachen  und  beschränkten  Wirkungskreis  haben. 
Es  handelt  sich  hier  vorzugsweise  uni  die  staatlichen  Archive  in  den  Kronländern, 
welche  den  Landesregierungen  angegliedert  sind.  Diese  sind,  ein  paar  Ausnahmen 


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über  staatliche*  Archivwesen  in  Österreich. 


117 


abgerechnet,  im  allgemeinen  wenigor  berufen  der  historischen  Wissenschaft  zu 
dienen;  die  Katar  ihrer  Bestünde  bringt  es  mit  sich,  daß  sie  für  die  Verwaltung 
selbst  eine  ungleich  größere  Bedeutung  besitzen.  Diese  Bedeutung  wächst  aber, 
wie  die  Beispiele  lehren,  im  Verhältnisse  zur  unablässigen  Erweiterung  dieser 
Anstalten.  Je  mehr  die  Provinzialarchive  ihrem  natürlichen  Berufe  entsprechen: 
Sammelstätten  für  die  wichtigen  älteren  Akten  und  Urkunden  aller  staatlichen 
Behörden  eines  Kronlandes  zu  werden,  desto  eindringlicher  wird  ihr  Wert  und 
Nutzen  für  eine  geregelte  Verwaltung  zutage  treten.  Die  wissenschaftliche  Auf- 
gabe braucht  darum  keinerlei  Beeinträchtigung  zu  erfahren. 

Leider  sind  wir  von  den  anzustrebenden  Zielen  sehr  weit  entfernt.  Vielfach 
fehlt  uns  noch  das  richtige  Verständnis  für  die  wahre  Bodcutung  eines  Archives 
überhaupt.  Während  unsere  westlichen  Nachbarn  namentlich  auch  ihr  Provinzial- 
archivwesen, in  Erkenntnis  der  hohen  Wichtigkeit  desselben  für  eine  moderne 
Verwaltung,  längst  geregelt  haben,  stecken  wir  damit  noch  tief  in  den  Kinder- 
schuhen. In  gewissem  Sinne  bestätigt  das  der  Prager  Prozeß  neuerdings.  Jeder 
Eingeweihte  weiß,  wie  leicht  es  einem  geriebenen  Betrüger,  und  das  gilt  nicht 
bloß  von  Adelsfälschern,  in  unseren  Archiven,  sogar  in  den  öffentlichen,  ermöglicht 
ist,  ihr  dunkles  Handwerk  zu  treiben,  ohne  daß  in  den  meisten  Fällen  die  Archiv- 
beamten irgend  eine  Schuld  trifft.  Viel  bedauerlicher  erscheint  uns  aber  gegen- 
über den  seltenen  Fällen  der  Fälschung  der  Umstand,  daß  die  Becht  oder 
Auskunft  suchenden  Parteien  oder  der  Staat  selbst  wegen  mangelhafter 
Organisation  der  Archive  oft  genug  die  Grundlage  ihrer  Rechte  oder  Besitztitel 
entweder  gar  nicht  oder  mangelhaft  oder  nur  durch  blinden  Zufall  erfahren. 
Viele  langwierige  Prozesse,  Streitigkeiten,  Erhöhungen,  Verluste  an  Geld  und 
Arbeit  könnten  erspart  werden,  wenn  unsere  Archive  tadellos  funktionieren 
würden,  oder  auch,  wenn  der  Weg  zu  den  Archiven  Parteien  und  Behörden 
geläufiger  wäre.  Jeder  einigermaßen  praktisch  tätige  Archivbeamte  besitzt  hierüber 
reichliche  Erfahrung.  Auf  diesem  Gebiete  herrscht  bei  uns  meist  noch  große 
Unkenntnis  und  Uqerfahrenheit.  Kaum  ein  Lichtstrahl  moderner  Verwaltungs- 
grundsätze  hat  bisher  dieses  Dunkel  erhellt,  und  nur  selten  sieht  man  dort  und 
da  eine  gewisse  Erkenntnis  von  den  großen  Vorteilen  eines  modern  geregelten 
Archivwesens  für  die  Verwaltung  dämmern. 

Bloß  nach  einer  Seite,  in  wissenschaftlicher  Beziehung,  suchen  die 
bestehenden  Archive  im  allgemeinen  ihrer  Aufgabe  zu  entsprechen.  Aber  auch 
da  Herrscht  vielfach  Planlosigkeit  und  Willkür.  Die  vorhandene  Besserung  auf 
diesem  Gebiete  verdanken  wir  dem  vielversprechenden  ersten  Anlaufe,  der  im 
Jahre  1896  mit  der  staatlichen  Archivorgauisation  gemacht  wurde.  Seither  sind 
wenigstens  nur  wissenschaftlich  genügend  vorgebildete  Beamte  angestellt  worden. 
Die  Hauptsache,  mindestens  für  die  Provinzialarchive,  die  Sorge  für  die  Bedürf- 
nisse des  Staates  und  seiner  Untertanen,  wurde  entschieden  hintangesetzt. 
Einzelne  wissenschaftliche  Kreise  gingen  in  der  allzu  ausschließlichen  Betonung 
ihres  rein  wissenschaftlichen  Standpunktes  wohl  zu  weit  und  sahen  sogar  eine 
andere  intensivere  Betätigung  der  Archive  nicht  besonders  gerne.  Für  ihre  Aus- 
gestaltung zu  wichtigen  Hilfsorganen  der  staatlichen  Verwaltung  scheint  uns 
eben  das  richtige  Verständnis  noch  zu  fehlen.  Deshalb  sind  die  meisten  Archive 


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118 


Mayr. 

nach  dieser  Richtung  im  Grunde  genommen  auch  heute  noch  nichts  anderes  als 
etwas  besser  behandelte,  wenig  benützte  Registraturen  der  politischen  Verwaltung. 
Vielleicht  hängt  es  mit  dem  Hangei  besserer  Erkenntnis  einigermaßen  zusammen, 
daß  die  glücklich  angebahnte  Reform  von  1896  stecken  blieb,  daß  bisher  nicht 
einmal  für  jedes  Kronland  ein  staatliches  Archiy  besteht,  was  einer  anderwärts 
kaum  denkbaren  Bedürfnislosigkeit  gleichkommt,  daß  endlich  auch  die  normale 
Weiterbildung  der  wenigen  bestehenden  Archive  wiederum  sehr  in  Frage  gestellt 
wird.  Die  damals  und  seither  angestellten  jungen  Beamten,  von  welchen  mit 
Recht  eine  hohe  wissenschaftliche  Vorbildung  verlangt  wird,  müssen  mit  ihrer 
Stellung  und  den  trostlosen  Aussichten  unzufrieden  werden.  Die  Vereinigung  der 
Archivbeamten  mit  Bibliotheksbeamten  zu  einem  Konkretalstatns  erscheint  uns 
überhaupt  als  ein  Fehler,  weil  die  Aufgaben  beider  grundverschieden  sind.  Da 
der  erhoffte  Nutzen  für  die  praktische  Verwaltung  größtenteils  ausgeblieben  ist 
und  für  die  wissenschaftlichen  Leistungen  allein  weniger  Verständnis  herrscht, 
muß  man  gerade  die  tüchtigsten  der  jungen  Beamten,  auf  denen  die  Zukunft 
ruht,  wegziehen  sehen  und  froh  sein,  daß  dadurch  wenigstens  wieder  Platz  für 
andere  wird.  Gewiß  ein  recht  bedenkliches  Symptom 

Nach  unserer  bescheidenen  Anschauung  fehlt  es  in  den  Grundlagen. 
Der  wissenschaftlich  gut  vorgebildete  Aspirant  bringt  naturgemäß  nur  geringes 
Verständnis  für  die  seiner  harrenden  praktischen  Aufgaben  mit.  Er  findet  im 
Dienste  selbst  keine  oder  nur  ungenügende  Schulung  dafür.  In  jeder  einzelnen 
Anstalt  gelten  andere  oder  gar  keine  rechten  Normen.  Meist  geschieht  alles 
uach  einer  gewissen,  schon  vorhandenen  Tradition.  Jedes  Archiv  lebt  darnach 
für  sich  und  kennt  keine  gemeinsamen  Interessen.  Es  fehlt  eben  eine 
übergeordnete  Behörde,  welche  überall  verständnisvoll 
regelnd  eingreift.  Allerdings  besteht  seit  einigen  Jahren  der  Archivrat. 
Er  ist  gewiß  berufen,  in  Zukunft  viel  Ersprießliches  zu  leisten.  Die  Aufgabe  und 
der  Wirkungskreis  dieses  schon  seiner  Zusammensetzung  nach  rein  wissen- 
schaftlichen Beirates  ist  und  kann  aber  nur  auf  diese  eine  Seite 
beschränkt  bleiben.  Kr  vermag  unmöglich  einen  genauen  Einblick  in  den  Betrieb  einer 
Archiv werkstutte.  wie  es  z.  B.  ein  Kronlandsarchiv  sein  soll,  zu  gewinnen.  Gerade 
in  den  wichtigsten  Fragen  des  Amtes  kann  doch  nur  den  ausübenden  Archiv- 
beamten selbst  ein  richtiges  Urteil  zuerkannt  werden.  Manchmal  wird  sogar  die 
rein  theoretische  Anschauung  einer  solchen  fernestehenden  Behörde  unangenehme 
Verwirrung  hervorrufen,  mag  sie  noch  so  gut  gemeint  sein. 

Ein  wahrer  Fortschritt  in  der  Ausgestaltung  unseres  Archivwesens  und  die 
Behebung  der  angesammelten  Übelstände  wird  sich  dock  nur  erzielen  lassen, 
wenn  vorerst  die  genauen  Kenner  der  wirklichen  Verhältnisse  und  Bedürfnisse 
gemeinsame  Beratung  pflegen  und  eine  feste,  mit  den  kleinsten  Details  vertraute 
Hand  die  jetzt  isolierten  und  nach  Belieben  schaltenden  Anstalten  nach  bestimmtet) 
Grundsätzen  leitet  Erst  dann  vermag  auch  der  bestehende  Archivrat  eine  seiner 
Aufgabe  entsprechende  Bedeutung  zu  erlangen. 

Wesen  und  Aufgaben  der  gleichartigen  Archive  sind  im  grossen  und  ganzen 
überall  dieselben.  Anerkannt  erprobte  Muster  sollten  deshalb  auch,  wenigstens  in 
ihren  Grundzügen,  für  uns  maßgebend  sein.  Am  nächsten  liegt  uns  wohl  die 


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Über  staatliches  Archivwesen  in  Österreich.  1 19 

preußische  oder  bayerische  Organisation,  welche  übrigens  von  jener  anderer 
Kultnrstaaten  nicht  erheblich  abweicht.  Auch  bei  uns  werden  endlich  Kronlands- 
archive  bei  allen  Landesregierungen  erstehen  müssen.  Diese  haben  allmählich 
die  Archivalien  nicht  bloß  der  politischen,  sondern  aller  staatlichen  Landesbehörden 
aufzunehmen  und  zu  verwalten.  Die  Übernahmen  müßten  periodisch  geschehen 
und  sich  bis  auf  ungefähr  die  letzten  dreißig  Jahre  erstrecken,  damit  die  ver- 
schiedenen Registraturen  entlastet  werden  und  Behörden  und  Parteien  für  alle 
mehr  als  ein  Menschenalter  zurückliegenden  Fragen  stets  auf  raschen  und  gründ- 
lichen Aufschluß  vom  Archiv  rechnen  könnten.  Nur  der  Praktiker  vermag  zu 
ermessen,  wieviel  Zeit  und  Arbeit  durch  eine  derartige  Einrichtung  erspart 
wird.  Die  geringen  Kosten  derselben  würden  sich  von  selbst  decken.  Diese 
Provinzialarchive  hätten  auch  belebend  und  beispielgebend  auf  das  Landes-, 
Gemeinde-  und  Privatarchivwesen,  dessen  Wichtigkeit  auch  bei  uns  mehr  und 
mehr  erkannt  wird,  einzuwirken  und  selbstverständlich  ihre  eigene  wissenschaft- 
liche Aufgabe  nicht  zu  vernachlässigen.  In  zweiter  Linie  sollten  die  heute  zer- 
streuten und  wohl  auch  ungenügend  untergobrachten  Archive  der  verschiedenen 
Zentralstellen  zu  einem  Archiv  der  k.  k.  Ministerien  vereinigt  werden,  wodurch 
die  jetzige  komplizierte  Verwaltung  wesentlich  vereinfacht  und  verbilligt,  die 
Benützung  für  alle  Interessenten  sehr  erleichtert  würde. 

Die  Oberleitung  der  Provinzialarchivo  und  des  Archives  der  k,  k.  Ministerien 
wäre  wie  bei  allen  Fachanstalten  einem  aus  1 — 2 Fachmännern  bestehenden 
Direktorium  der  k.  k.  Staatsarchive  anzu vertrauen;  denn  nur  auf  diese  Weise 
ist  es  möglich  den  einzelnen  Anstalten  Geist  und  Leben  einznhauchen  und  ihrer 
Tätigkeit  ein  richtiges  Ziel  zu  geben.  Für  wissenschaftliche  Fragen  hätte  der 
bereits  bestehende  Archivrat  als  Beirat  des  Direktoriums  zu  fungieren. 

Da  die  Provinzialarchive  und  das  Archiv  der  k.  k.  Ministerien  Urkunden 
und  Akten  aller  Staatsbehörden  verwalten,  erscheint  es  selbstverständlich,  daß 
die  ganze  Organisation,  respektive  das  Direktorium,  nach  preußischem  Muster 
dem  Ministerratspräsidium,  nicht  inehr  dem  Ministerinm  des  Innern  unter- 
zuordnen wäre. 

Wir  schließen  mit  der  begründeten  Überzeugung,  daß  nur  diese  oder  eine 
ähnliche,  anderwärts  bereits  erprobte  Organisation,  die  sich  mit  Aufwendung 
unerheblicher  Mittel  leicht  durchführen  läßt,  die  berechtigten  Hoffnungen  und 
Erwartungen  für  Verwaltung  und  Wissenschaft  erfüllen  nnd  Leben  in  heute 
ziemlich  trostlose  Zustände  bringen  werde. 


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LITERATÜRBERICHT. 


Dr.  K.  Meyer,  Das  Zeitverhältnis  zwischen  der  Steuer  und  dem  Ein- 
kommen und  seinen  Teilen.  Wien.  1901  (Manz),  X und  186  S. 

Die  moderne  Steuergesetzgebung  vertieft  und  verfeinert  Bich  gerade  so  wie  andere 
wichtige  Zweige  des  Verwaltungsrechtes,  und  auch  das  heutige  Steuerrecht,  strebt  bereits 
eine  Formvollendung  und  Präzision  an,  welche  vor  einer  Generation  ausschließlich  das 
Vorrecht  der  strengen  Zivilistik  bildete.  Wesentlich  hat  hierzu  auch  die  Verwaltungs- 
gerichtbarkeit beigetragen,  vor  welcher  die  Verwaltungsbehörden  auf  der  Hut  sein 
müssen.  Aber  ebenso  bat  sich  auch  das  allgemeine  Niveau  der  Verwaltung  gehoben,  und 
dieser  Entwicklung  verdanken  wir  Monographien  wie  die  vorliegende,  in  welcher  ein 
Fachmann  ersten  Ranges  auf  dein  Gebiet  des  direkten  Steuerwesens  eine  interessante 
Detailfragc  der  Steuergesetzgebung  in  streng  wissenschaftlicher  Fonn  behandelt  und 
teilweise  neue  Vorschläge  macht.  Ks  handelt  sich  uni  die  Fragen  und  Schwierig- 
keiten, welche  sich  aus  der  Nichtübereinstimmung  des  der  Einkoinmensbemessung 
zu  Grunde  gelegten  Jahres  mit  dem  Steuerjahr  d.  i.  dem  Jahre  der  Veranlagung  und 
Entrichtung  der  Steuer  ergeben.  Die  Regierungsvorlage  hatte  für  die  Persunaleinkommen- 
steuer  von  feststehenden  Einkommen  die  Besteuerung  nach  dem  Einkommenstande  im 
Steuerjahre  und  für  schwankende  Einkommen  den  Stand  des  Vorjahres  vorgeschrieben. 
Dies  war  rationell,  die  feststehenden  Einnahmen,  namentlich  fixe  Bezüge  sind  in  der 
Regel  für  das  ganze  Steuerjahr  sicher  und  bekannt  und  können  daher  auch  zu  Beginn 
des  Jahres  als  Bemessungsgrundlage  für  das  laufende  Jahr  richtig  veranlagt  werden, 
umsomehr  als  die  Steuer  hier  meistens  direkt  bei  der  Auszahlung  der  Bezugsraten  im 
Wege  des  Abzugs  erhoben  wird.  Ebenso  wäre  das  Vorjahr  für  schwankende  Einkommen 
ausreichend  gewesen,  weil  im  früheren  dreijährigen  Durschschnitte  immer  eine  Fehler- 
quelle und  eine  gewiBBe  Ungerechtigkeit  liegt.  Der  Steuerausschuß  hat  trotzdem  in 
Anknüpfung  an  die  frühere  Praxis  für  schwankende  Einnahmen  wieder  den  dreijährigen 
Durchschnitt  und  für  feststehende  Einnahmen  das  Vorjahr  zur  Grundlage  bestimmt.  Das 
einfachste  allerdings  wäre,  wenn  mau  gar  keine  Unterscheidung  machen  und  für  alle  Ein- 
kommensteile  gleichmäßig  das  Vorjahr  zu  Grunde  legen  würde,  dann  wäre  die  Steuer  eine 
aufgeBchobene  Last  des  Voijahres,  die  im  nächsten  Jahre,  dem  Steuerjahr  fällig  würde.  Die 
Rechtsanschauung  des  Verwaltungsgerichtshofes,  daß  das  Steuerobjekt  das  Einkommen 
des  Steuerjahrea  ist,  steht  mit  dem  Gesetz  in  Widerspruch,  welches  ganz  ausdrücklich 
die  Besteuerung  nach  der  Vergangenheit  vorschreibt,  es  Bcheint  jedoch  durch  mehrere 
Entscheidungen  tatsächlich  im  Falle  der  Verzögerung  der  Veranlagung  bis  zum  Zeit- 
punkt, wo  das  wirkliche  Ergebnis  des  Steuerjahres  bekannt  ist,  dieses  letztere  zur 
Grundlage  gelegt  zu  werden.  Der  Verfasser,  welcher  der  Berücksichtigung  der  Verhält- 
nisse des  Steuerjahres  unter  gewissen  Umständen  nicht  abgeneigt  erscheint,  proponiert 
schließlich  als  Reform  Vorschlag  den  dreijährigen  Durchschnitt  für  Einkummen  aus  dem 
Betrieb  von  Landwirtschaft,  Bergwerken,  gewerblichen  und  HandeUuntemehmungen,  weil 
hier  das  einzige  für  den  dreijährigen  Durchschnitt  anzuführendc  Moment’  der  Verlust- 
auBgleichnng  eine  Berechtigung  habe;  für  alle  anderen  Einkommen,  also  nicht  bloß  für 
fixe  Bezüge,  sondern  auch  für  Kapitalrenteneinkommen,  wie  Zinsen,  Dividenden  empfiehlt 
er  mit  Recht  das  Vorjahr.  Eine  sehr  eingehende  Kasuistik  erfährt  die  Behandlung  der 


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Literaturbericht. 


121 


Anfang-  und  Endstücke  des  Einkommens.  Die  drei  verschiedenen  Methoden  (voraus- 
sichtlicher Erfolg  im  Steuerjahr,  Vorjahr  oder  dreijähriger  Durchschnitt)  ergeben  nach 
•der  Meinung  des  Verfassers  das  gemeinsame  Resultat,  die  Anfangstücke  im  Entstehungsjahr 
frei  zu  lassen,  dagegen  die  Endstücke  mindestens  in  diesem  Jahre  mit  der  Steuer  fiir 
•einen  vollen  Jahresbetrag  zu  treffen,  da  gesetzlich  Änderungen  im  Steueijahr  nicht  für 
dieses,  sondern  für  die  folgenden  Veranlagungsperioden  in  Betracht  kommen;  eine  Aus- 
nahme von  diesem  nach  der  Meinung  des  Verfassers  unbilligen  Grundsatz  wird  nur  in 
besonderen  Fällen  der  Bedürftigkeit  zugestanden.  Die  Berechnung  der  Steuer  für  das 
Anfangstück  im  Steuerjahr  wird  nach  den  drei  Methoden  verschieden  sein,  die  Besteuerung 
nach  dem  Toraassichtlichen  Ertrag  trifft  das  ganze  neue  Einkommen  des  Steuerjahres, 
der  Besteuerung  nach  Voijahr  unterliegt  erst  jetzt  das  Anfangstück,  also  regelmäßig 
weniger  als  ein  Jahreseinkommen,  die  dreijährige  Durchschuittskerechnung  unterwirft 
im  zweiten  Jahr  (d.J.  hier  das  Steueijahr)  erst  ein  Drittel  des  Anfaug>tückes  u.  s.  w., 
so  daß  hier  die  Einnahmen,  solange  sie  nicht  drei  Jahre  bestauden  haben,  wie  ein  mehr- 
jähriges Anfangstück  drei  Jahre  hindurch  wirken.  Diese  Unzukömmlichkeiten  bedürfen 
einer  Korrektur,  diese  sei  zwar  durch  den  Absatz  2 des  § 156  des  Personaleinkommensteuer- 
gesetzes gegeben,  welcher  sagt,  daß  solche  neue  Einkommen  nach  dem  Darchschnitt  des 
Zeitraumes  ihres  Bestehens,  nötigenfalls  nach  dem  mutmaßlichen  Jahresertrag  in  Ansatz 
zu  bringen  sind.  Der  Verfasser  hält  dies  aber  nicht  für  genügend  und  proponiert,  aus 
dem  Betrag  des  Anfangstückes  verhältnismäßig  das  Ergebnis  einer  Jahresgebarung  zu 
berechnen  und  dieses  als  Einkommen  in  die  Besteuerung  einzubeziehen.  Dieser  Vorschlag, 
der  wohl  mit  Absicht  keinen  Uuterschied  zwischen  fixem  und  schwankendem  Einkommen 
macht,  ist  aber  meines  Erachtens  auch  nicht  einwandfrei,  denn  die  Besteuerung  eines 
nur  einen  Monat  lang  bezogenen  Einkommens  nicht  nach  seinem  wirklichen  Betrag 
sondern  nach  einer  willkürlich  fingierten  J&hresxiffer  ist  auch  nicht  gerecht.  Ist  die 
Besteuerung  nach  dem  Vorjahre  die  gesetzliche  Grundlage,  dann  soll  auch  nur  so  viel 
besteuert  werden,  als  im  Vorjahr  wirklich  eingekommen  ist,  nicht  mehr,  geradeso  wie 
der  Verfasser  selbst  zeitweilige,  anperiodische  und  kurz  dauernde  periodische  Einnahmen 
nur  mit  dem  tatsächlich  im  Vorjahr  erreichten  Ansmaß  in  die  Besteuerungsgrundlage1 
des  Steuerjahres  einbeziehen  will.  Dies  ist  die  richtige  Lösung.  Alles  was  gegen  die 
dreijährige  Durchschnittsberechnung  gesagt  wird,  ist  vollkommen  richtig,  denn  diese 
ergibt  zu  wenig  Steuer  bei  Anfang  des  Einkommens  und  zu  viel  Steuer  bei  seinem 
Erlöschen. 

Die  Darstellung  greift  dann  weiter  aus  und  behandelt  die  Frage  der  verschiedenen 
Einkommensquellen.  Bekanntlich  legen  die  Personaleinkommensteuergesetze,  im  Bestreben 
sich  möglichst  von  den  Objektertragssteuern  zu  entfernen,  das  Hauptgewicht  auf  die 
Einheit  des  persönlichen  Einkommens  und  „lassen  nicht  nur  die  Teileinkommen,  sondern 
auch  den  ganzen  Prozeß  der  Ertragsbildung  außer  Acht  und  führen  an  deren  Stelle  in 
sachlich  unzutreffender  Weise  Elemente  der  Eiukommensbildung  viel  zu  niedrigen  Hanges, 
nämlich  die  Einnahmen  und  Ausgaben  ein“.  Die  gesetzliche  Terminologie  wendet  das 
Wort  Einkommen  sowohl  auf  das  Gesamteinkommen  als  auf  die  EinkommeDspartialen 
an.  legt  aber  kein  Gewicht  auf  diese  letztere,  obwohl  sich  ökonomisch  nur  aus  ihnen  das 
Gesamteinkommen  konstruieren  läßt,  und  atomisiort  statt  dessen  das  Einkommen  in 
Einnahmen  und  Ausgaben.  Der  tatsächliche  wirtschaftliche  Vorgaug  und  die  geschäft- 
liche Auffassung  des  Einkommenempfängers  läßt  aber  diese  Einkommensteile  als  das 
Beeile  und  die  Einheit  deB  Einkommens  nur  als  Abstraktion  erscheinen.  Der  Verfasser 
ist  der  Meinung,  daß  daher  Abgaben  und  Schuldzinsen  von  dem  Ertrag  jener  Einkommens- 
partialen abzuziehen  sind,  auf  welche  sie  sich  beziehen,  nur  Lebensversicherungsprämien 
und  rein  persönliche  Zinsen  und  Lasten  seien  erst  am  Schluß  vom  Gesamteinkommen 
abzuziehen.  Die  so  gewonnenen  Resultate  wendet  dann  der  Verfasser  auf  sein  eigent- 
liche« Thema,  auf  die  Zeitfrage  des  Einkommens  an  und  verwirft  mit  Recht  die  Behand- 
lung der  einzelneu  Einnahmen  nur  nach  ihrer  allgemeinen  gleichartigen  Ein  n ahm  e- 
eigenschaft,  er  verlangt  statt  dessen  ihre  Einreihung  bei  den  verschiedenen  Einkommens- 
zweigen,  deren  wirtschaftlicher  Charakter  dann  darüber  zu  entscheiden  hat,  ob  eine 


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122 


Literaturbericht. 


einzelne,  einem  ihnen  zugehörige  Einnahme  als  fixe  oder  schwankende,  als  neu  entstandene 
oder  als  periodische  anzasehen  ist.  Bei  Erhöhung  fixer  Bezüge  entsteht  die  Frage,  ob  das 
neue  Teilstück  nnd  der  entsprechende  Teil  des  alten  Bezugs  zusammen  nach  dem 
tatsächlichen  Ausmaü  des  Vorjahrs  oder  ob  der  neue  Bezug  als  neues  Einkommen,  das  die 
allgemeine  Leistungsfähigkeit  verändert,  nach  seinem  neuen  höheren  Gesamtausmaß  sofort  zu 
versteuern  ist.  ln  der  ersten  Vollzugsvorschrift  war  diese  letztere  Auffassung  enthalten, 
welche  für  die  Beamten  anläßlich  der  allgemeinen  Gehaltserhöhung  die  ungünstigere 
war;  der  Verfasser,  welcher  überhaupt  die  Tendenz  hat,  für  Bezüge  den  Standpunkt  der 
Vorjahrsbesteuerung  zu  verlassen,  erklärt  die  Erhöhung  eines  Bezugs  als  eine  Erlangung 
einer  neuen  Einnahmsquelle  und  will  den  ganzen  Jahresbetrag  des  neuen  Dienstbezugs 
der  Besteuerung  zu  Grunde  legen.  Angesichts  einer  lebhaften  Agitation  in  Beamten  kreisen 
gegen  diese  Auffassung  gab  die  Finanzverwaltung  bekanntlich  nach  und  erließ  einen 
Nachtrag  zur  Vollzugsvorschrift,  welcher  der  Gehaltserhöhung  die  Eigenschaft  der 
Erlangung  einer  neuen  Einkommensquelle  wieder  absprach  und  im  Steuerjahr  nach  der 
Erhöhung  nur  das  höhere  Teilstück  des  Vorjahrs  heranzog.  was  meines  Erachtens  dem 
Grundsatz  der  Vorjahrbesteuerung  mehr  entspricht  als  die  Bestimmung  der  ersten  Voll- 
zugsvorschrift. Der  Verfasser  nimmt  auch  Anlaß,  sich  ausführlich  mit  der  iu  Preußen 
entwickelten  sogenannten  Quellentheorie  auseinanderzusetzen,  die  das  Einkommen  aus 
einzelnen  dinglichen  Quellen  hervorgehen  läßt,  die  selbst  wieder  als  Einzelnutzobjekte 
innerhalb  der  verschiedenen  Einkon  mensteile  selbständig  erscheinen.  Die  Besteuerung 
darf  dort  nnr  nach  dem  Bestand  der  Quellen  zu  Beginn  des  Steuerjahres  stattfinden, 
und  insbesondere  darf  ein  Einkommen  aus  einer  Quelle,  die  zu  Beginn  des  Steuerjahres 
nicht  mehr  vorhanden  war,  auch  nicht  in  Anschlag  gebracht  werden,  ebensowenig  ein 
Verlust  aus  eiuer  solchen  erloschenen  Quelle,  ein  Grundsatz  der  unserer  Voijahrbesteuerung 
direkt  widerspricht.  Der  Verfasser  will  für  Dienstbezüge  die  Quellentheorie  überhaupt 
nicht  gelten  lassen,  wohl  aber  für  Kapitaleinkoraroen,  er  weist  aber  mit  Recht  auf  die 
Schwierigkeiten  hin,  die  sich  hieraus  der  Unterscheidung  zwischen  festen  und  schwankenden 
Einnahmen  ergeben.  Am  Schluß  wird  eine  neue  Formulierung  des  § 156  des  Personol- 
einkommensteuergesetzes  vorgeschlagen,  welche  durch  eine  vielleicht  allzu  scharfsinnige 
Kasuistik  einen  etwas  komplizierten  Eindruck  macht  Das  beste  wäre,  man  kehrte  zu 
der  alten  Regierungsvorlage  zurück,  fixe  Bezüge  nach  dem  Ausmaß  des  Steueijahrs,  alle 
andern  nach  dem  Ausmaß  des  Vorjahrs.  Das  Buch  ist  unter  allen  Umständen  eine 
besonders  lesenswert«  interessante  Denkarbeit,  die  hoffentlich  auch  zu  einer  neuen 
Gesetzformuliernng  und  geänderten  Spruchpraxis  beitragen  wird.  E.  P len  er. 

B.  Fulstlng,  Wirklicher  Geheimer  Ober-Regienmgsrat  und  Seuatspräsident  des 
königlich  preußischen  Oberverwaltungsgericbtes.  Die  Grundzüge  der  Steuerlehre. 
Berlin,  Karl  Hey  in  an  ns,  Verlag,  1902,  XVI  und  445  S. 

Das  vorliegende  Werk  folgt  als  vierter  Band  den  bekannten  ansgezeichneten 
Kommentaren  deB  Verfassers  zum  preußischen  Einkommensteuer-,  Ergänznngsstener-  and 
Gewerbesteuergesetze  und  soll  von  einem  fünften  Bande,  einer  geschichtlich-systematischen 
Darstellung  des  preußischen  Systems  der  direkten  Steuern,  gefolgt  sein.  Die  „Grund- 
züge* sind  aber  gleichzeitig  mit  besonderem  Titel  auch  außerhalb  der  Koimueiitarreihe 
erschienen. 

Die  allgemeinste  Aufmerksamkeit  wird  der  letzte  Abschnitt  der  Werkes  in  An- 
spruch nehmen:  er  hat  die  Fortbildung  des  Systems  der  direkten  Steuern  zum 
Gegenstände  und  enthält  meines  Wissens  zum  ersten  Male  seit  der  Miquelschen 
Steuerreform  den  Vorschlag,  an  Stelle  der  VermOgensergänzungssteuer  zn  den  — 
allerdings  gründlich  un. zugestaltenden  — Ertragssteuern  zurückzukehren. 

Dem  Umfang  nach  weit  überwiegend  ist  die  systematische  Darstellung  des  Rechts- 
stoffes der  Einkommensteuer. 

Der  Gegenstand  in  seinem  gesamten  Umfange  hat  meines  Wissens  bisher  noch 
keine,  die  rechtliche  und  steuerpolitische  Seite  so  innig  verbindende  Behandlung  erfahren; 
dieser  Teil  des  Werkes  ist  für  den  Fachmann,  in  erster  Linie  für  den  Praktiker  eine 
reiche  Fundgrube. 


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Literaturbericht. 


123 


Trete«  gegenüber  der  Einkommensteuer  schon  die  Ertragssteuern  an  Umfang  und 
Eindringlichkeit  der  Behandlung  bedeutend  zurück,  so  stellen  die  Abschnitte  über  die 
Zolle,  Verbrauchssteuern  und  Verkehrssteuem  (S.  30 — 80)  kaum  mehr  als  eine  allerdings 
klare  aber  recht  kurte  Übersicht  dar. 

Kaum  ausführlicher  sind  die  allgemeinen  finanzwissenschaftlichen  Kapitel  über 
Begriff  und  Wesen  der  Steuer,  Grundregeln  der  Steuerverteilung  und  das  Steuersystem 
(S.  1-28). 

Am  Titel  gemessen,  bieten  diese  Abschnitte  kaum  das  Notwendigste,  während  der 
Hauptinhalt  des  Werkes  in  seiner  eindringlichen  Behandlung  einzelner  Teile  des  Steuer- 
rechtes  und  der  Steuerpolitik  das  Maß  von  „Grundzügen“  weit  überschreitet. 

Auf  die  Art  der  Darstellung  werfen  die  in  dem  Vorworte  enthaltenen  Erklärungen, 
daß  der  „Verfasser  seiner  Überzeugung  von  der  Unhaltb&rkeit  einzelner  theoretischen 
Meinungen  lebhaften  Ausdruck  gegeben“,  „eine  Polemik“  aber  „schon  wegen  der  Be- 
schränkung auf  eine  übersichtliche  Darstellungsweise  ausgeschlossen“  habe  (S.  VII),  ein 
bezeichnendes  Licht.  Er  ist  auch  in  seiner  wissenschaftlichen  Darstellung  der  Vorsitzende 
geblieben,  der  dirimicrt;  schade,  daß  der  Leser  die  Referate  nicht  gehört  hat!  Wenn 
auch  bereitwillig  xugestanden  werden  mag,  daß  der  Verfasser,  wenn  auch  nicht  in  allen 
Fällen,  „auf  eine  überzeugende  Begründung  besonderes  Gewicht  gelegt“  habe  (S.  VII), 
so  ist  doch  diese  Methode,  die  den  Gegner  nie  zum  Wort  kommen  läßt,  nicht  ohne 
Gefahren,  denen  der  Verfasser  auch  keineswegs  immer  entgangen  ist. 

Nach  diesem  allgemeinen  Überblicke  über  das  Buch  wende  ich  mich  nun  den 
beiden  Hauptteilen  seines  Inhaltes  zu. 

Die  Ansichten  des  Verfassers  über  die  Fortführung  der  Steuerreform  stimmen 
insoweit  mit  der  herrschenden  Lehre  überein,  daß  er  in  der  Einkommensteuer  das  Rück- 
grat der  direkten  Steuern  erblickt  (§  125),  und  weder  die  Ertragsteuem  in  ihrer  der- 
zeitigen, historisch  gegebenen  Gestalt  noch  eine  allgemeine  Zuscblagsbesteuerung  der 
mehr  za  belastenden  Einkommen  im  Rahmen  der  Einkommensteuer  für  durchführbar  hält. 
Sowohl  über  das  Maß  als  die  Richtung  der  Ergänzungsbedürftigkeit  der  Einkommensteuer 
hingegen  hat  er  seine  eigene  Meinung.  Der  eingehendsten  Beachtung  wert  sind  die 
gründlichen,  wenn  auch  nicht  in  jeder  Beziehung  einwandfreien  (s.  unten)  Ausführungen 
§ 127  ff.,  welche  den  Verfasser  zur  Überzeugung  führen,  daß  die  Einkommensteuer  über- 
haupt nicht  die  geeignete  Steuerreform  für  die  unteren  Klassen  sei,  und  za  unverhältnis- 
mäßiger Belastung  der  unteren  Volksklassen,  insbesondere  der  kleinen  Landwirte  und 
Gewerbetreibenden  führe.  Gegenüber  den  Schlüssen,  die  Fr.  Wieser  aus  der  Vergleichung 
der  preußischen  und  österreichischen  Veranlagungsergebniss«-  gezogen  hat,  mahnen  diese 
Erklärungen  eines  so  gewiegten  Kenners  der  preußischen  Praxis,  die  durch  die  Angaben 
S.  857  eine  noch  nähere  Beleuchtung  erfährt,  zur  größten  Vorsicht. 

Abgesehen  davon,  daß  Fuisting  hiernach  das  Gebiet  der  Einkommensteuer  ein- 
geschränkt sehen  will,  sieht  er  anch  den  Grund  der  Ergänzungsbedürftigkeit  weniger 
in  einer  ungleichmäßigen  Erfassung  der  Leistungsfähigkeit,  als  darin,  daß  neben  der 
Leistungsfähigkeit  die  Besteuerung  nach  dem  Interesse  ihren  Platz  zu  finden  habe. 
Keinem  der  Gesichtspunkte  scheint  ihm  aber  die  Vermögenssteuer,  insbesondere  mit 
Rücksicht  auf  die  in  Preußen  gemachten  Erfahrungen  zu  entsprechen  (§  142,  166). 

Sein  Vorschlag  geht  dahin:  e9  seien  der  Einkommensteuer  Ertragssteuern,  und 
zwar  Grundsteuer,  Gebäudeateuern  Erwerbsteuer  (Gewerbe  und  freie  Berufe)  mit  Kapital- 
rentensteuer  zur  Seite  zu  stellen. 

Die  Ertragaateuem  sollen  in  der  Regel  den  wirklichen  durch  Rechnung  oder 
Schätzung  zu  erhebenden  Ertrag,  jedoch  in  weit  ausgedehnterem  Maße  als  bei  der  Ein- 
kommensteuer durch  Rücksicht  auf  die  Ertragsfähigkeit  ergänzt,  zur  Grundlage 
haben.  Die  praktisch  wichtigste  Seite  des  Vorschlages  ist  wohl  jene,  die  sich  auf  die 
Errichtung  besonderer  fachkundiger  Schätzungekommisaionen  für  Grund-,  Gebäude-  und 
Gewerbeertrag  bezieht;  ihre  Festsetzungen  sollen  für  die  Einkommensteuerkommission, 
bindend  sein,  nur  der  Kapitalsertrag  soll  von  der  Einkummenschätzungskommission  un- 
mittelbar festgestellt  werden ; auch  sollen  der  Kapitalsrentensteuer  Einkünfte  aus 


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124 


Literaturbericlit. 


j)  rsönlichen  lUbungsrechten,  die  steuerlich  nicht  anders  behandelt  werden  können,  als 
die  Erträge  reiner  Arbeitstätigkeit  (§  159)  (?)  entzogen  bleiben.  Passivzinsen  und  Lasten 
sollen  bei  der  Grund-,  Gebäude-  und  Erwerbsteuer  nur  insoweit  in  Betracht  kommen, 
als  der  wirtschaftliche  Zusammenhang  mit  der  Quelle  nachgcwn-gen  wird,  alle  übrigen 
jedoch  bei  der  Kentensteuer  abzugsfällig  sein. 

Dieser  gewiß  auffallende  Vorschlag  ist  nur  ein  Glied  in  einer  Reihe  von  Äußerungen, 
die  uns  bei  dem  Srerfasser  — sagen  wir  eine  ganz  besondere  Ängstlichkeit  — gegenüber 
den  Einkünften  des  mobilen  Kapitals  entdecken  lassen;  wir  werden  im  weiteren  Verlaufe 
darauf  noch  zurückkonunen.  Merkwürdig  ist  in  dieser  Richtung  unter  anderen  die 
Ablehnung  einer  höheren  Belastung  der  Aktiengesellschaften  mit  dem  Argument,  man 
würde  zu  der  offenbaren  Widersinnigkeit  gelangen,  daß  diejenigen,  welche  wegen  unzuläng- 
licher eigener  Kapitalskr&ft  sich  zuB&mmenschließen  ....  eben  auB  diesem  Grunde  stärker 
belastet  werden  müßten,  als  solche,  deren  eigene  Kapitalski  aft  aasreicht;  das  wäre  eine 
Belastung  mangelnder  zu  Gunsten  vorhandener  Kapitalskraft  ($.  392; ; ebenso  gehört 
hierher,  daß  er  den  Grad  des  Interesses  bei  dem  einen  räumlichen  Teil  des  Staats- 
gebietes einnehmenden  Grund-  und  Hauskesitz  am  höchsten,  beim  Kapitalsvermögen- 
hingegen  am  geringsten  veranschlagt  u.  a.  in. 

Der  Steuerfuß  dieser  Krtragsateuern  soll  ein  gleichmäßiger  sein  und  von  etwa 
*/2  Proz.  des  Ertrages  progressiv  bis  3 Proz.  ansteigen. 

Eine  eigenartige  Gestaltung  gewinnt  der  Vorschlag  des  Verfass««  durch  die 
veischiedenartige  Feststellung  der  Untergrenze  der  Steuerpflicht  und  der  Einrichtung 
der  „ Interessebesteuerung“ ; der  Verfasser  versteht  darunter  die  Norm,  daß  der  Steuer- 
träger jedenfalls  eine  gewisse  Minimalsteuer  nach  der  „Ertragsfähigkeit“  zu  ent- 
richten habe. 

Die  „Ertragsfähigkeit“  soll  von  den  Kommissionen  individuell  für  jede  Quelle  er- 
mittelt werden  für  den  Grund-  und  Hausbesitz:  bei  Aktiengesellschaften  sollen  4—5  Proz. 
des  Grundkapitals,  bei  den  mit  Erwerbsvermögen  ausgestatteten  privaten  Gewerbetreibenden 
die  Zinsen  dieses  Vermögens  die  „Ertragsf&higKeit“  darstellen,  kapitallose  Gewerbe- 
treibende und  Kapitaizins  und  Renteneinkommen  sind  von  jeder  Minimalbesteueruog 
befreit. 

Bei  der  Grundsteuer  soll  der  zum  vollständigen  Lebensunterhalte  nicht  ausreichende 
Kleinbesitz  freigelassen,  doch  darf  die  Grenze  nicht  zu  weit  gezogen  werden  (§  172;; 
bei  der  Geb&udesteuer.  die  als  Wohnhaussteuer,  jedoch  mit  Ausschluß  der  landwirt- 
schaftlichen und  gewerblichen,  wenn  auch  nebensächlich  den  Wohnungszweckeu  des 
Landwirtes  oder  Gewerbetreibenden  dienenden  Gebäude,  gedacht  ist,  soll  eine  weitere 
ziffertnäßige  Befreiung  nicht  statttinden. 

Bei  der  Erwerbsteuer  sollen  die  Grenzen  der  preußischen  Gewerbesteuer  (1500  Mark 
Ertrag,  3000  Mark  Vermögen)  durch  die  Erhöhung  des  Vermögensbetrages  auf  5000  Mark 
etwa«  erweitert  werden;  auch  bei  der  Kapitalrentensteuer  soll  ein  Einkommen  von 
1500  Mark  die  Untergrcnze  für  die  sodann  progressiv  ansteigende  Besteuerung  bilden. 

Dies  die  Grundzüge  der  Steuerreform  des  Verfassers. 

Ist  auch  eine  erschöpfende  Kritik  der  Vorschläge  an  dieser  Stelle  von  vorneherein 
ausgeschlossen,  so  braucht  doch  nicht  verschwiegen  zu  werden,  daß  uns  gar  manches 
befremdlich  aninutet.  Mit  dem  großen  Gewichte,  welches  der  Verfasser  dem  Gegensätze 
zwischen  Besteuerung  nach  der  Leistungsfähigkeit  und  Interessebelastung  beilegt,  steht 
es  nicht  im  Einklänge,  daß  in  der  Ertragsbestcuerung  gerade  uur  der  sogenanute  Mindest- 
betrag der  Interessebelastung  entsprechen  und  jede  höhere  Belastung  vou  Rücksichten 
der  Leistungsfähigkeit  abhängig  sein  soll.  Diese  Mindeststeuer  scheint  uns  auch  kein 
ausreichender  Grund,  die  Vorschläge  des  Verfassers  als  Ertragssteuersystem  init  der 
Zuschlagebelastung  iin  Rahmen  der  Einkommensteuer  in  Gegensatz  zu  stellen.  Ja,  die 
Forderung,  daß  die  Feststellungen  der  Steuerausschüsse  für  die  Einkommensteuer- 
behörderi  bindend  sein  sollen,  scheint  einem  solchen  Gegensätze  geradezu  zu  wider- 
sprechen. Es  bleibt  von  demselben  nichts  anderes  übrig,  als  daß  er  die  Erträge  zuerst 
ermittelt  und  daraus  das  Einkommen  zusammengesetzt  wissen  will,  während  er 


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Literaturberkhi. 


125 


die  Ableitung  der  besonders  zu  belastenden  Erträge  aus  dem  einheitlich  ermittelten 
Einkommen  ablehnt.  Ob  dieser  formale  Unterschied  durch  den  Gegensatz  Ertrag-  und 
Einkommensteuer  zutreffend  bezeichnet  wird,  bleibe  dahingestellt.  In  Bezug  auf  die 
Ausführbarbeit  bleibt  uns  Verfasser  eine  nähere  Erklärung  schuldig,  wie  sich  der  Steuer- 
träger ohne  allzuweit  gehende  Belästigung  mit  so  vielen  Kommissionen  auseinander- 
setzen soll  und  wie  diese  Komm  iss  io  non  ihre  Arbeit,  deren  Schwierigkeiten  ja  dem  Ver- 
fasser so  wohl  bekannt  sind,  in  der  zur  Veranlagung  zur  Verfügung  stehenden  Zeit 
bewältigen  können. 

Nach  einer  anderen  Richtung  hin  vermissen  wir  in  dem  Werke  jegliche  Aus- 
führung darüber,  wie  die  angeregte  Reform  an  die  in  Preußen  bereits  vollzogene  Über- 
weisung der  Ertragsteuem  an  die  KommunalkOrper  angegliedert  werden  soll;  auch  über 
den  finanziellen  Erfolg  derselben  im  Vergleich  mit  der  bestehenden  staatlichen  Ergänzung»- 
steuer  spricht  »ich  der  Verfasser  nicht  aus. 

Als  der  zweite  Hauptgegenstand  des  Werkes  stellt  sich,  wie  gesagt,  die  rechtliche 
und  kritische  Behandlung  der  Einkommensteuer  dar. 

Die  Fülle  der  in  knappster  Form  gehaltenen,  sowohl  die  Fragen  des  materiellen 
Steuerrechtes  als  des  Verfahrens  umfassenden,  in  alle  Einzelheiten  eingehenden  Aus- 
führungen schließt  eine  Widergabe  an  dieser  Stelle  aus.  Die  reichste  Erfahrung  des  seit 
vielen  Jahren  am  obersten  Tribunal  tätigen  Richters  ist  hier  niedergelegt.  Es  muß  ge- 
nügen, einige  Hauptpunkte  bervorzuheben. 

Wenn  ich  den  vortrefflichen  Ausführungen  des  Verfassers  über  die  Bedeutung 
des  Ertrages  für  die  Einkommensermittlung  (§§29,  dann  51  ff  , 78,  mit  denen  mir  allerdings 
§75  in  einem  gewissen  Widerspruche  zu  stehen  scheint!  vollkommen  zustimme,  so  darf  ich 
mich  zur  näheren  Begründung  auf  meine  im  vorigen  Jahre  erschienene  Arbeit  BDas 
Zeitverhältnia  zwischen  der  Steuer  und  dem  Einkommen“  berufen,  in  welcher  ich  auf 
Grund  eingehender  Untersuchungen  zu  übereinstimmenden  Ergebnissen  gelangt  hin.  Ob 
sie  auch  vom  Verfasser,  der  ihrer  keine  Erwähnung  tut,  benutzt  wurden,  bleibe  dahingestellt. 
Auf  die  von  mir  ausführlich  erörterte  Frage,  wie  sich  denn  die  einzelnen  Quellen  indi- 
vidualisieren, ist  der  Verfasser  diesmal  nicht  eingegangen. 

Jede  sozialpolitische  Funktion  der  Besteuerung  lehnt  Fuisting  mit  Nachdruck 
ab.  Er  beschränkt  das  Einkommen  auf  das  „quellenmäßige  Einkommen“  <§  41)  und  weist 
die  Besteuerung  außerordentlichen  und  zufälligen  Einkommens,  der  Konjunkturengewinne 
ete.  energisch  zurück. 

Solche  Gewinne  sollen  aber  merkwürdigerweise  auch  durch  die  Verkehrssteuern 
nicht  getroffen  werden  (§§  25,  27).  Die  auch  nur  subsidiäre  Einschätzung  nach  dem  Auf- 
wand« ist  ihm  ein  Grenel  und  ein  Widerspruch  gegen  den  Grundgedanken  der  Ein- 
kommensteuer (§  102).  Meines  Erachtems  liegt  schon  in  diesen  Ansichten  des  Verfassers 
Ober  die  Grundlagen  der  Besteuerung  die  Gefahr,  daß  eine  so  geartete  Einkommensteuer 
die  Leistungsfähigkeit  nicht  gleichmäßig  erfassen,  sondern  gerade  sehr  leistungsfähige 
Elemente  frei  ansgehen  lassen  werde. 

Diese  Gefahr  wird  nun  durch  gewisse  Meinungen  des  Verfassers  über  das  Ver- 
anlagungsrerfahren  in  hohem  Maße  verstärkt.  Nach  seiner  Meinung  sollen  nämlich 
Schätzungen  überhaupt  aufs  äußerste  eingeschränkt  und  die  genaue  Beiechnung  des 
Einkommens  der  Veranlagung  zu  Grunde  gelegt  werden.  Die  Veranlagung  darf  nicht 
dahin  ausgedehnt  werden,  das  Vorhandensein  einer  Quelle  ohne  vollkommen  zwingende 
Beweise,  „Unterlagen“,  zu  behaupten.  Soweit  nicht  der  Stand  des  Kapitalvermögens  be- 
kannt ist,  wird  deshalb  den  Angaben  des  Pflichtigen  über  den  Gesamtertrag  seines 
Kapitalvermögens  zu  folgen  sein  {§  101). 

Diese  übrigens  über  die  Kechtsanschauungen  des  preußischen  Oberverwaltungs- 
gerichtes noch  hinausgehenden  Ansichten  im  Zusammenhang  mit  den  oben  angeführten 
Grundsätzen  führen  in  ihrem  praktischen  Resultate  doch  wohl  unvermeidlich  zu  einer 
weitgehenden  Steuerentlastung  der  Einkünfte  des  mobilen  Kapitals  überhaupt  und  ganz 
besonders  des  Einkommens  aus  spekulativen  Geschäften,  sei  es  in  BOrseeffekten  oder 
Realitäten,  aus  Provisionsgeschäften  u.  s.  w. 


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126 


Literaturbericht. 


Dein  auch  von  Fnisting  anerkannten  Gesichtspunkte  gleichmäßiger  Inanspruch- 
nahme der  Leistungsfähigkeit  wird  hierdurch  keineswegs  entsprochen. 

Damit  stimmt  es  dann  freilich  überein,  wenn  Fuistiug  eine  Überlastung  der 
kleinen  und  insbesondere  der  landwirtschaftlichen  Einkommen  durch  die  Einkommensteuer 
befürchtet  )§§  126  ff..  12H).  Einseitig  und  unrichtig  ist  ea  aber,  wenn  er  dies  auf  eine 
objektive  Überlastung  durch  das  Schätzungsweseu  zurückführt,  anstatt  auf  die  objektive 
Entlastung,  welche  das  mobile  Kapital  durch  die  von  ihm  geforderte  ungleichmäßige  An- 
wendung des  Schätzungswesens.  nämlich  die  Exemtion  der  Einkünfte  des  beweglichen 
Vermögens  von  demselben  erfährt.  Andere  Stellen  lassen  allerdings  darauf  schließen, 
daß  sich  der  Verfasser  über  die  Faltbarkeit  den  Einkommens  aus  mobilem  Kapital  nach 
den  von  ihm  gutgeheißenen  Kegeln  einem  ziemlich  weitgehenden  Optimismus  hingibt 
(Vgl.  in  dieser  Beziehung  n.  a.  § 126:  „Die  Unterlagen  liir  eine  zahlenmäßige  Berechnung 
des  Einkommens  sind  hiermit  (nämlich  durch  das  Bekenntnis)  regelmäßig  gegeben**, 
ferner  den  Schluß  des  § 27  betr.  Erbschaftssteuer).  Gewiß  ist  es  auch  charakteristisch, 
daß  er  dein  Strafwesen  kein  einziges  Kapitel  widmet,  meines  Wissens  die  einzige  Lücke 
in  diesem  Teile  des  Werkes.  Ganz  gelegentlich  kommt  die  allerdings  bedeutungsvolle 
Bemerkung  vor  (S.  249) : „der  Staat  sei  hinreichend  geschätzt  durch  die  im  Strafverfahren 
gebotene  Möglichkeit,  die  Bücbereinsicht  zu  erzwingen.“ 

Iti  der  Frage,  oh  die  Besteuerung  nach  dem  Durchschnitte  der  Vorjahre,  nach  dem 
Vorjahre  o.  a.  w.  stattfinden  solle,  nimmt  Verfasser  — nach  Jastrows  Vorgang  — fiir 
die  ausschließliche  Besteuerung  nach  Vorjahr  ohne  jede  Korrektur  Partei  (§§  44,  45).  Ich 
habe  meine  in  vielen  Punkten  entgegenBtehenden  Ansichten  schon  vorher  in  der  oben 
erwähnten  Arbeit  entwickelt  und  kann  mich  daher  kurz  fassen.  Den  entscheidenden 
Punkt  meiner  Darlegungen,  daß  das  wirkliche  Einkommen  des  Vorjahres  nicht  die 
wirkliche  Leistungsfähigkeit  der  Gegenwart  erkennen  lasse,  hat  der  Verfasser,  der  auch 
in  diesem  Falle  „jede  Polemik  vermeidet“,  ebensowenig  berührt,  wie  den  Hinweis  darauf1, 
daß  nach  seiner  Methode  bei  anentgeltlichem  Bcsitzwechel  jeweils  bis  zu  einem  ganzen 
Jahreseinkommen  aus  der  Besteuerung  ausfällt. 

Die  schon  von  Jastrow  vertretene  Formel,  es  handle  sich  um  allgemeine  Nach- 
zahlung der  Steuer  (S.  133),  widerspricht  den  tatsächlichen  Wertungsvorgängen  und 
euthält  nur  eine  Umgehung  der  wirklich  vorhandenen  praktischen  Schwierigkeiten.  Es  ist 
merkwürdig,  daß  der  Verfasser  die  Fehler  der  Besteuerung  nach  dem  Stande  der  Quellen 
zu  Beginn  des  Steuerjahres  genau  wahrnimmt  (§  47, i,  aber  gänzlich  übersieht,  daß  einige 
derselben  noch  schlimmer  werden,  wenn  man  die  Besteuerungsgrundlage  noch  weiter, 
nämlich  ins  Voijahr  zurückzieht. 

Auch  mit  den  Ausführungen  über  die  Notwendigkeit  von  Korrekturen  bei  den 
Ertragssteuern  scheint  mir  seine  einseitige  Haltung  bei  der  Einkommensteuer  in  Wider- 
spruch zu  stehen.  Tatsächlich  unrichtig  uud  durch  die  von  mir  mitgeteilten  Vorgänge 
bei  der  österreichischen  Steuerreform  widerlegt  ist  die  Behauptung,  die  dreijährige 
Durchschnittsbr-rochnung  beruhe  auf  einer  doktrinären  Schrulle  (S.  122). 

Die  Kommissionen  will  Verfasser  von  den  Behörden  ganz  unabhängig  stellen  und 
insbesondere  die  Beamten  auch  von  dem  Vorsitze  ausschließen.  Wie  weit  hierbei  die 
grundsätzliche  Auffassung  der  „Judikatur  in  Verwaltongssachen“  im  Spiele  ist,  will  ich 
hier  nicht  untersuchen.  Vom  praktischen  Standpunkte  ist  mir  nicht  klar,  wie  unter 
solchen  Umständen  der  Geschäftsgang  in  den  Kommissionen  aufrecht  erhalten  werden 
soll;  auch  in  Preußen  dürfte,  nach  der  Praxis  zu  urteilen,  die  geschäftskundige  Hand  des 
Beamten  tatsächlich  als  anentbehrlich  betrachtet  werden. 

Seine  Ausführungen  scheinen  mir  überhaupt  auf  einer  allzu  vorteilhaften  Meinung 
von  den  Tugenden  der  Kommissionen  zu  beruhen. 

Das  eigentliche  Kreuz  der  Einkommensteuer,  das  Beanstandungswesen,  die  erfor- 
derlichen „Unterlagen“  zu  einer  vom  Bekenntnisse  abweichenden  Veranlagung  und  die 
Mittel  und  Wege  späterer  Richtigstellung  zu  niedrigen  Veranlagungen,  findet  eine  der 
Bedeutung  der  Sache  entsprechende  sehr  eingehende  Behandlung. 


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Literaturbericht 


127 


Auch  in  diesem  Abschnitte  zolle  ich  der  Fülle  reicher  Erfahrungen  und  feiner 
Beobachtungen  bereitwillig  meine  Anerkennung.  Den  Ergebnissen  vermag  ich  nicht  in 
allen  Punkten  zuzustimraen.  Sie  bringen  meine«  Erachtens  doch  zu  sehr  das  formale  In- 
teresse de«  einzelnen  Steuerträgers  zum  Ausdruck,  der  durch  die  Beanstandung  leicht 
beleidigt  ist  und  möglichst  bald  Kühe  haben  will. 

Daß  sich  hinter  diesem  formal  berechtigten  Interesse  sehr  oft  materielles  Unrecht 
einer  unrichtigen  Veranlagung  verbirgt,  wird  ebenso  unterschätzt,  wie  das  nicht  minder 
berechtigte  und  gerade  für  den  moralischen  Erfolg  der  Einkommensteuer  entscheidende 
Interesse  der  redlichen  Steuerträger,  daß  ihre  minder  gewissenhaften  Mitbürger  nicht 
durch  die  Normen  des  Veranlagungsverfahrens  den  materiellen  Erfog  ihrer  unrichtigen 
Bekenntnisse  gesichert  finden.  Das  Veranlagungsverfahren  darf  die  Einkommensteuer 
nicht  zu  einer  Extrabelastung  für  die  Ehrlichen  machen.  Das  aber  ist  die  unausweich- 
liche Folge,  wenn  die  Beweislast  allzusehr  zu  Lasten  der  Veranlagungsorgane  ver- 
schoben wird. 

Aufs  Geratewohl  seien  endlich  noch  einige  Äußerungen  hervorgehoben,  die  nach 
verschiedenen  Richtungen  Interesse  erwecken  können,  z.  B.:  Alle  untergeordneten 
politischen  Verbände  „können  das  Recht  der  Abgabenforderung  uur  vom  Staate 
ableiten  “ (S.  2.) 

Die  Ausübung  des  Besteuerungsrechtes  des  Staates  muß  „auf  das  Maß  des  Not- 
wendigen beschrankt  bleiben.  Hierbei  muß  das  gegenwärtige  Bedürfnis  entscheidend 
sein.“  (S.  5.) 

„Das  Hauptziel  praktischer  Steuerpolitik  muß  stets  die  Zufriedenheit  der  großen 
Masse  der  Bevölkerung  mit  den  bestehenden  Einrichtungen  sein.“  (S.  26,  ähnlich  S.  212.) 

Recht  merkwürdig  ist  die  grundsätzliche  Ablehnung  einer  höheren  Leistungsfähigkeit 
des  Besitceinkommens  (§  31),  dann  aber  doch  der  Vorachlag  einer  geringeren  Belastung 
des  reinen  Arbeitseinkommens  aus  Rücksichten  der  Billigkeit  und  Zweckmäßigkeit  (§  83). 

Den  mir  nicht  recht  einleuchtenden  Ausführungen  über  die  verschiedenartige  Be- 
handlung der  selbstverbrauchten  Erzeugnisse  in  der  Landwirtschaft  und  gewerblichen 
Produktion  (§  43)  steht  die  ziemlich  durchgreifende  Ansicht  gegenüber,  daß  bei  der  Wald- 
wirtschaft das  Erträgnis  der  Abstockung  — im  Gegensatz  zum  geltenden  preußischen 
Recht  — schlechthin,  ohne  jede  Unterscheidung,  ob  es  eine  gewöhnliche  oder  außer- 
gewöhnliche war,  als  Einkommen  zu  veranschlagen  sei  u.  s.  w. 

Den  Zweck  der  Anzeige,  auch  dem  Nichtleser  des  Buches  eine  möglichst  zutreffende 
Schilderung  desselben  zu  geben  und  sie  recht  bald  zu  Lesern  zu  machen,  glaube  ich 
hiermit  erfüllt  zu  haben.  Robert  Meyer. 

Dr.  Otto  Müller,  Die  Einkominenstenergesetzgebung  in  den  ver- 
schiedenen Ländern.  104  8.  XXXIV.  Band  der  Sammlung  national-ökonomischer 
und  statistischer  Abhandlungen  des  staatswissenschaftlichen  Seminars  zu  Halle,  heraus- 
gegeben von  Dr.  Job.  Conrad.  Jena  1902. 

Die  Arbeit  setzt  sich  zum  Ziele,  die  Einkommcnbesteuernng  in  den  verschiedenen 
Ländern  darzustellen,  zu  vergleichen  und  ein  .Schlußurteil  über  die  beste  Regelung 
abzugeben.  Bei  der  großen  Bedeutung,  welche  der  direkten  Besteuerung  heute  in  den 
Steuersystemen  fast  aller  Staaten  zukonimt,  und  der  hervorragenden  Stellung,  welche 
innerhalb  der  direkten  Steuern  die  Einkonimenbesteuerung  einnimrat,  gewiß  ein  sehr 
berechtigtes  und  im  Falle  des  Gelingens  auch  «ehr  dankenswertes  Unternehmen.  Wie 
ein  Großteil  des  Themas  selbst,  so  ähnelt  aber  leider  auch  die  Ausführung  desselben  in 
vielen  Beziehungen  der  kürzlich  hier(Bd.  XI,  S.  617)  besprochenen  Arbeit  Feitelbergs,  — 
auch  sie  läßt  es  an  einer  festen  Grundlegung  über  den  Begriff  des  Einkommens  fehlen 
und  kann  es  daher  naturgemäß  auch  nicht  zu  einer  richtigen  Abgrenzung  des  Begriffes 
der  Einkommensteuer  bringen.  So  behandelt  denn  die  Arbeit  tatsächlich  die  englische 
income  tax,  die  italienische  imposta  sui  redditi  della  riech  ez  za  mobile  und  die  holländische 
Vermögensteuer  als  ungefähr  auf  einer  Stufe  mit  der  preußischen  oder  österreichischen 
Personaleinkommensteuer  stehend.  Das  englische  Gesetz  wird  sogar  als  für  die  Um- 
schreibung des  „Einkommenbegriffes“  (!)  mustergültig  hingestellt,  „weil  es  in  seinen  fünf 


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128 


Literaturbericht. 


Verzeichnissen  ganz  genau  zwischen  den  einzelnen  Einkommen  quellen  unterscheidet* 
(S.  101),  and  als  Vorzug  dieser  als  reine  Einkommensteuer  charakterisierten  income  t&r 
gerühmt,  „an  der  Quelle  erhoben  zu  werden“  (S.  10);  von  der  italienischen  Steuer  wird 
behauptet,  daß  sie  „im  ganzen  auf  den  Grundsätzen  der  Einkoinmcnbesteuerung  der 
deutschen  Gesetze“  beruhe  (8.  4),  u.  ».  w.!  Wir  sehen  also  die  engen  subjektiven 
Beziehungen,  welche  die  Einnahmen  erst  zum  Einkommen  des  Steuersubjektes  werden 
lassen,  ebenso  vollständig  ignoriert,  wie  die  für  jede  wahre  Einkommensteuer  unerläß- 
liche Einheit  des  Einkommens,  welche  doch  über  der  Aufzählung  der  einzelnen  möglichen 
Einkommenszweige  nicht  vergessen  werden  darf.  Letzteres  geschieht  aber  in  der  immer 
wiederkehrenden  Betonung  der  Notwendigkeit,  innerhalb  des  Einkommens  zu  .speziali- 
sieren“, ebenso  wie  in  dem  ernsthaften  Vorschläge,  zwar  die  juristischen  Personen  der 
Einkommensteuer  zu  unterwerfen,  hingegen  den  Dividendenertrag  beim  Aktionär  aus 
dessen  Einkommen  auszuscheiden.  Durch  letzteres  würde  — von  vielen  anderen  abge- 
sehen — nicht  nur  eine  durch  gar  nichts  gerechtfertigte  Bresche  in  das  Prinzip  der 
Besteuerung  nach  der  Höhe  des  Gesamteinkommens  unter  Berücksichtigung  der 
individuellen  V erbältnisse  gelegt,  sondern  auch  der  Praxis  jede  Kontrolle  für  eine  richtige 
Einschätzung  des  Gesamteinkommens  verlöten  gehen,  überdies  aber  die  sehr  schwierige 
Frage  der  Aufteilung  etwa  vorhandener  Lasten  provoziert. 

Bei  dem  eben  hervorgehobenen  Mangel  eines  richtunggebenden  Einkomnienbegriffes 
werden  natürlich  auch  im  Detail  viele  nicht  anzuerkennende  Thesen  verfochten,  — z B. 
die  Abrechenbarkeit  der  Verluste  am  Vermögensstamro  vom  Einkommen,  .da  das  Ein- 
kommen tatsächlich  dadurch  vermindert  wird“  (S.  15),  — bei  gleichzeitiger  Freilassung 
auüerordentlicher  Einnahmen  von  der  Einkommensteuer,  da  dieselben  .keine  Einkommens- 
vennehrung, sondern  einen  Vermögenszuwachs“  darBtellen  (S.  22);  oder  die  „Abrechen- 
barkeit der  gesetz-  und  vertragsmäßigen  Ausgaben“  schlechthin,  — jedoch  mit  Aus- 
schluß der  Koinmunal&bgaben  .wegen  ihrer  großen  Ungleichmäßigkeit“  (S.  23),  — durch 
welch  letztere  Ausnahme  eine  theoretisch  offenbar  ganz  unhaltbare  Bestimmung  des 
preußischen  Gesetzes  verteidigt  werden  soll. 

Die  Zusanimentragung  der  einzelnen  positiv-rechtlichen  Bestimmungen  ist  im 
großen  ganzen  sorgfältig  durchgeführt,  wenn  freilich  eine  einseitige  Bevorzugung  der 
doch  hinlänglich  bekannten  preußischen  und  einiger  anderer  deutschen  Gesetze  gegen- 
über den  englischen  und  amerikanischen  Gesetzen  nicht  zu  verkennen  ist  und  auch 
Systematik  und  Übersichtlichkeit  dieser  Zusammenstellung  zu  wünschen  übrig  läßt.  So 
werdeu  viele  Fragen  von  verhältnismäßig  untergeordneter  Bedeutung  (Abzugsposten, 
Steuerhühe,  Kommissionen,  Verfahren)  ausführlich,  hingegen  sehr  wichtige  Prinzipien- 
fragen  kursorisch  behandelt;  in  dieser  Richtung  hätte  das  noch  in  den  Kinderschuhen 
steckende  internationale  Steuerrecht  einer  Vertiefung  bedurft  und  das  so  wichtige 
Moment,  ob  Subjekt  der  Einkommensteuer  das  einzelne  Individuum,  die  Familie  oder 
die  Haushaltung  sein  solle,  nicht  mit  der  Bemerkung  abgetan  werden  dürfen,  daß  sich 
„die  Veranlagung  des  Haushaltungsvorstandes  unter  Hinzurechnung  des  Einkommens  der 

Familienglieder durch  die  Vereinfachung  des  Verfahrens“  rechtfertigen  lasse 

<S.  38) ! 

Nach  dem  Gesagten  wird  die  vorliegende  .Seminararbeit  als  handlicher  Behelt  zu 
einem  vergleichenden  Studium  mancher  Einzelfragen  in  den  verschiedenen  Einkommen- 
steuergesetzen Dienste  leisten,  jedoch  als  Förderung  der  theoretischen  Erkenntnis  auf 
dem  Gebiete  der  Einkommenbesteuerung  nicht  angesehen  werdeu  können.  Reisch. 

I)r.  Karl  Grünberg,  Die  handelspolitischen  Beziehungen  Österreich- 
Ungarns  zu  den  Ländern  an  der  unteren  Donau.  Leipzig,  Duncker  & H um- 
blot, 1902.  VH  und  317  8.  M.  6 60. 

Ein  sehr  interessantes  Buch,  das  gerade  zu  rechter  Zeit  erscheint,  da  die  Handels- 
verträge nicht  bloß  mit  Deutschland  und  Italien,  sondern  auch  mit  den  Balkanliindem 
in  der  nächsten  Zukunft  zur  Diskussion  kommen  werden.  Der  Außenhandel  der  Monarchie 
mit  diesen  Ländern  nimmt  in  der  gesamten  Handelsbewegung  zwar  nur  einen  geringen 
Teil  ein  (ungefähr  5 Proz.  der  Ausfuhr),  allein  trotzdem  hat  sich  die  öffentliche  Meinung 


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Literaturbericht.  129 

von  froher  her  gewöhnt,  dieBe  Länder  als  das  natürliche  Absatzgebiet  nnscrcr  Industrie 
anzusehen  und  ist  darum  gegen  jede  Zuriickdrängung  unserer  Ausfuhr  nach  jenen 
Märkten  besonders  empfindlich.  Und  leider  geht  die  Entwicklung  nicht  aufwart«,  unser 
Absatz  wird  durch  fremde  Konkurrenz,  Schaffung  einheimischer  Industrien  eingeengt,  und 
wenn  sich  auch  hie  und  da  eine  Zunahme  findet,  so  ist  diese  relativ  gegen  andere 
Länder  nicht  bedeutend  und  steht  nicht  im  Verhältnisse  zu  der  wenn  auch  nur  langsam 
steigenden  Konsumkraft  jener  Länder.  Der  Verfasser  schildert  an  der  Hand  amtlicher 
und  anderer  Publikationen  die  Geschichte  unserer  Handelsbeziehungen  zu  Rumänien, 
Serbien  und  Bulgarien.  In  der  alten  Zeit  hatte  die  Monarchie  geradezu  eine  Vorzugs- 
stellung, allmählich  wurde  sie  im  besten  Fall  auf  formelle  MeiBtbegQnstigungsverträge 
gestellt,  die  aber  durch  den  Fortbestand  autonomer  Tarifpositionen  gerade  für  Österrei- 
chische Importe  eine  ungünstigere  Lage  für  einzelne  wichtige  österreichische  Produkte 
schufen.  Der  Verfasser  benützt  für  seine  statistische  Darstellung  ausschließlich  die  Ziffern 
der  Handelsausweise  jener  Länder,  welche,  wie  dies  ja  immer  der  Fall  ist,  mit  den 
Ziffern  der  österreichisch- ungarischen  Handelsstatistik  nicht  übereinstimmen.  So  gibt  z.  B. 
die  rumänische  Handelsstatistik  für  1900  eine  Ausfuhrwertziffer  nach  Österreich-Ungarn 
von  44  27  Mill.  Lei  und  eine  Einfuhrwertziffer  aus  der  Monarchie  von  69  29  Mill.  Lei, 
während  unsere  Handelsstatistik  für  jenes  Jahr  eine  Einfuhr  aus  Rumänien  im  Werte 
von  nur  33  3 Mill.  Kronen  und  eine  Ausfuhr  nach  Rumänien  im  Werte  von  nur  48‘8  Mill. 
Kronen  ausweist.  Unser  Verkehr  mit  Rumänien  bewegt  sich  auf  absteigender  Linie,  im 
Durchschnitt  der  Jahre  1861 — 1865  betrug  der  Anteil  der  Monarchie  an  der  Gesamteinfuhr 
Rumäniens  48’27  Prot.,  in  jenem  der  Jahre  1871 — 1875  39  Pro* , die  Ausfuhr  Rumäniens 
nach  der  Monarchie  betrug  in  jenen  Zeitabschnitten  19  und  37*6  Pro*,  der  Gesamtausfuhr. 
Die  Regulierung  der  Donaumündungen  brachte  vor  allein  einen  Aufschwung  des  Handels 
mit  England,  dessen  Tonnengehalt  von  1865  auf  1875  von  14  auf  49  Pro*,  aller  aus- 
gehenden Schiffe  Btieg.  Die  Handelskonvention,  welche  die  Monarchie  1875  mit  Rumänien 
schloß,  war  für  unsere  Beziehungen  günstig,  unser  Anteil  an  der  rumänischen  Einfuhr 
stieg  in  der  Zeit  von  1876—1886  wieder  auf  48  6 Proz.  und  England  und  Frankreich 
traten  wieder  etwas  zurück,  Deutschland  fing  erst  an  in  Textil-  und  Metallwaren  steigend 
abzusetzen.  Der  günstige  Zustand  dauerte  jedoch  nicht  lange.  Zunächst  rief  die  deutsche 
Viehsperre  gegen  österreichisch-ungarische  Provenienzen  die  weitere  Maßregel  der  Sperrung 
unserer  Grenze  gegen  rumänisches  Rindvieh  hervor,  darauf  antwortete  Rumänien  mit 
Zollplackereicn.  man  versuchte  neue  Verhandlungen  aber  ohne  Erfolg  und  so  trat  nach 
Ablauf  der  Konvention  (Juni  1886)  der  Zollkrieg  ein.  Rumänien  wendete  seinen  inzwischen 
lertiggestellten  hohen  autonomen  Zolltarif  auf  österreichisch-ungarische  Waren  an,  während 
für  andere  Staaten  noch  die  Konventionaltarife  galten.  Die  autonomen  Sätze  waren  zum 
großen  Teile  direkt  gegen  österreichische  Importe  gerichtet,  insbesondere  gegen  Zucker, 
Mehl,  Kleider,  Sattler-  und  Schuh  waren.  Österreich- Ungarn  sperrte  dafür  seine  Grenze 
gegen  rumänisches  Vieh  aller  Art,  sogar  im  Durchfuhrverkehr,  und  legte  einen  30proz. 
Strafzoll  auf  alle  rumänischen  Eintrittsgüter.  Der  Zollkrieg  brachte  im  gangen  keine 
Einbuße  des  rumänischen  Außenhandels,  sowohl  die  Einfuhr  als  die  Ausfuhr  stieg  während 
dieser  Zeit,  allerdings  sank  der  Viehexport  rapid,  30.654  Stück  Hornvieh  in  1879  auf 
3464  in  1891,  Schweine  von  153.607  auf  5237  Stück.  Nach  anderen  Ländern  konnte 
Rumänien  sein  Vieh  auch  nicht  bringen,  der  Versuch  einer  Beschickung  des  italienischen 
Marktes  mißlang  uud  die  ganze  Viehzucht  des  Landes  erlitt  einen  Schlag,  von  dem  sie 
sich  überhaupt  nicht  mehr  erholte.  Dies  scheint  übrigens  auch  sein  einziger  Nachteil 
infolge  des  Zollkrieges  geweseu  zu  sein.  Zum  Ersatz  für  den  Rückgang  der  Viehzucht 
wurde  Weideland  in  Ackerboden  umgewandelt,  der  Getreideexport  möglichst  forciert 
und  tatsächlich  die  Unabhängigkeit  Rumäniens  von  Österreich- Ungarn  in  der  Verwertung 
»einer  Cerealien  erwiesen.  Die  Ausfuhr  Rumäniens  nach  unserer  Monarchie  fiel  von 
85  Proz.  seiner  Gesamtausfuhr  in  der  Konventionsperiode  auf  7 Proz.  während  der  Zoll- 
kriegaperiode.  Die  österreichisch- ungarische  Einfuhr  nach  Rumänien  sank  v..n  48  auf 
18  Proz.  der  Gesamteinfuhr.  Wesentlich  traten  Deutschland  und  England  an  unsere 
Stelle,  insbesondere  in  Leder,  Möbel,  Konfektions-  und  Blechwaren.  Es  ist  selbstver- 

KelUchrift  frtr  Volkswirtschaft,  Suclalpolitik  und  Verwalt  uns.  XII.  Baad.  9 


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130 


Literaturbericht. 


stündlich  sehr  schwer  ziffermäßig  auszudrücken,  welcher  der  beiden  Staaten  mehr  unter 
dein  Zollkrieg  gelitten  hat,  der  Verfasser  meint,  daß,  wenn  kein  Zollkrieg  entstanden 
wäre  und  unsere  Ausfuhr  sich  auf  der  Höhe  der  Konventionsperiode  erhalten  hätte,  der 
Ausfall  zu  Ungunsten  der  Monarchie  mit  420  Mill.  Francs  zu  veranschlagen  Bei,  wogegen 
der  rumänische  Verlust  am  Viehexport  fast  vollständig  verschwindet.  Nach  fünf  Jahren 
endete  der  Zollkrieg,  unsere  Waren  wurden  nicht  mehr  der  differentiellen  Behandlung 
unterworfen,  die  österreichisch-ungarische  Ausfuhr  hob  sich  zwar  wieder,  konnte  aber 
Deutschland  von  der  ersten  Stelle  nicht  sobald  verdrängen.  Indessen  hatte  auch  eine 
nachdrückliche  staatliche  Industrie-Förderungsaktion  stattgefunden.  Steuerbefreiungen* 
Frachtbegünstigungen,  direkte  Subventionen  und  ähnliche  Maßregeln,  die  Erfolge  dieser 
Aktion  waren  übrigens  nicht  sehr  groß,  für  die  Deckung  seines  Bedarfes  an  Textil-  und 
Metallwaren  bleibt  Rumänien  auf  absehbare  Zeit  auf  ausländischen  Bezug  angewiesen, 
besser  gelang  die  Förderung  der  heimischen  Industrie  bei  Zucker,  Spiritus,  Bier,  Mehl, 
wohlfeilem  Glas  und  gemeiner  Konfektionsware.  1891  wurde  ein  neuer  Konventionaltarif 
eingeführt,  wieder  mit  der  Spitze  gegen  österreichisch*ungarische  Provenienzen.  1893 
schloß  Rumänien  einen  Vertrag  mit  Deutschland  ab,  dessen  Sätze  Österreich-Ungarn 
in  einer  einfachen  Meistbegünstigungskonvention  annehmen  mußte,  während  für  alles 
nmlere  der  autonome  Tarif  in  Geltung  blieb  und  gerade  für  solche  Artikel,  welche 
speziell  österreichische  Ausfuhrartikel  sind,  wie  Leder,  Schuhe,  Textilkonfektion,  Wüsche, 
Papier,  Glas.  Wenn  trotzdem  Österreich -Ungarn  wieder  relativ  an  die  erste  Stelle  im 
rumänischen  Import  gerückt  ist,  so  Bind  die  absoluten  Ziffern  nicht  sehr  befriedigend, 
indem  sie  weit  hinter  jenen  der  früheren  Jahre  Zurückbleiben,  wozu  allerdings  auch  die 
infolge  mehrmaliger  Mißernten  verminderte  Konsumkraft  des  Landes  beigetragen  bat. 
Auch  sind  die  Artikel,  in  welchen  wir  einen  Vorsprung  gewonnen  haben,  nicht  gerade 
solche,  auf  welche  eine  Exportindustrie  besonderen  Wert  legt,  wie  Kolonialwaren,  Mineralien 
Halbfabrikate  und  Papier;  in  den  zwei  Hauptartikeln,  den  Textil-  und  Metallwaren, 
bleibon  wir  auch  jetzt  hinter  Deutschland  und  England  zurück.  Ein  gewisses  Verschulden 
scheint  auch  in  der  mangelhaften  Initiative  unserer  Exporteure  zu  liegen,  wenn  man 
liest,  daß  Deutschland  in  einem  Jahre  3309  Reisende  nach  Rumänien  Bendete  und 
Österreich- Ungarn  nur  154;  in  der  Metallbranche  war  das  Verhältnis  ein  österreichischer 
Reisender  gegen  478  deutsche!  Für  die  Zukunft  hofft  der  Verfasser  eine  Besserung  durch 
einen  neuen  Handelsvertrag,  der  wesentlich  auf  österreichisch-ungarische  Produkte  Rück- 
sicht nähme  gegen  Konzessionen  für  Getreide  und  Vieh.  Um  das  Argument  ungarischer 
Handelspolitiker  gegen  solche  Konzessionen  zu  entkräften,  die  angeblich  die  ungarische 
Landwirtschaft  zu  Gunsten  der  österreichischen  Industrie  hart  treffen  würden,  führt  der 
Verfasser  Daten  an,  wonach  sich  gerade  die  Ausfuhr  ungarischer  Industrieprodukte  nach 
Rumänien  im  Laufe  der  Jahre  außerordentlich  gehoben  hat  und  heute  85  Proz.  der 
Gesamtausfuhr  der  Monarchie  nach  diesem  Lande  beträgt. 

Serbiens  Gesamtbandel  ist  viel  geringer  als  jener  Rumäniens,  im  Durchschnitt  der 
Jahre  1894—1900  betrug  die  Gesamteinfuhr  Rumäniens  337*2  Mill.  Lei,  aus  Österreich- 
Ungarn  94*9  Mill.  Lei,  seine  Ges&mt&uafuhr  259  8 Mill.  Lei,  nach  Österreich -Ungarn 
48  8 Mill.  Lei,  während  in  der  Zeit  von  1893 — 1900  die  Gesamteinfuhr  Serbiens 
40  5 Mill.  Dinar  betrug,  davon  aus  Österreich- Ungarn  22*7  Dinar,  die  Gesamtauafuhr 
Serbiens  54*5  Mill.  Dinar,  davon  nach  Österreich- Ungarn  47*6  Mill.  Dinar.  Der  Verfasser 
gibt  auch  hier  eine  interessante  geschichtliche  Darstellung  der  Handelsbeziehungen 
zuerst  bis  und  nach  dem  Handelsvertrag  von  1881,  ursprünglich  hatte  ein  Teil  unseres 
Imports  nur  den  halben  Zoll  zu  entrichten,  wogegen  die  bekannten  Grenzverkehts- 
erleichterungen  für  serbisches  Getreide  gewährt  waren.  Die  Eisenbahn  nach  »Saloniki 
brachte  keine  wesentliche  Änderung  der  Handelsrichtungen,  die  serbische  Ausfuhr  nach 
der  Monarchie  betrug  in  der  Zeit  bis  1891  immer  noch  86*5  Proz.  der  Gesamtausfubr. 
die  Einfuhr  der  Monarchie  Bei  allerdings  von  70  auf  61*5  Proz.  der  Gesamteinfuhr 
Serbiens.  Eine  Erschwerung  unseres  Absatzes  bedeuten  auch  die  internen  städtischen 
Akziseabgaben.  1892  kam  ein  neuer  Vertrag  zu  Stande,  welcher  hohe  Gewichtszölle  ein- 
führte, die  bisherige  differentielle  Begünstigung  einiger  österreichischer  Artikel  aufhob, 


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Literaturbericht. 


131 

dagegen  das  serbische  Getreide  zu  begünstigten  iwenn  auch  etwas  höheren)  Zollsätzen 
zuließ.  Das  Resultat  dieses  ungünstigen  Vertrages  ist  der  Rückgang  der  prozentuellen 
Quote  Österreich-Ungarns  an  dein  serbischen  Import  um  10  Proz.,  die  deutsche  Ausfuhr, 
die  unmittelbar  von  unserem  serbischen  Vertrag  Vorteil  zog,  hat  sich  dagegen  erheblich 
gesteigert.  Dagegen  hat  die  Ausfuhr  Serbiens  nach  der  Monarchie  außerordentlich  zuge- 
noinmen,  89  Proz.  seiner  Gesaintauafuhr  geht  nach  Österreich- Ungarn.  Da  Serbien  in 
seiner  Ausfuhr  absolut  auf  die  Monarchie  angewiesen  ist,  andere  Absatzwege  für  Beine 
Cerealien  noch  lange  nicht  finden  wird  und  geographisch  großenteils  von  der  Monarchie 
eingeschlossen  ist,  so  sei  es  die  Aufgabe  unserer  künftigen  Handelspolitik,  diese  günstige 
Position  auch  wirklich  auszuniitzen  und  hält  der  Verfasser  wieder  eine  differentiell 
günstigere  Behandlung  unseres  Imports  für  durchsetzbar. 

Das  Verhältnis  zu  Bulgarien  ist  gegenwärtig  durch  den  Vertrag  von  1896  geregelt, 
mit  Wertzollabstufungen  für  verschiedene  Warenklassen,  wobei  gerade  die  meisten 
österreichisch-ungarischen  Aitikel  in  die  höchste  Stufe  fallen,  dazu  kommen  noch  Akzise- 
abgaben.  Bulgarien  genießt  eine  besonders  günstige  geographische  Lage,  die  Monarchie 
partizipierte  im  Durchschnitte  der  letzten  Jahre  mit  32*5  Proz.  an  der  Gesamteinfuhr, 
die  rund  75  Mill.  Lei  beträgt,  die  einzelne  Jalireszifftr  nimmt  aber  stetig  ab,  während 
jene  Deutschlands  zunimmt,  unser  Zucker  wird  durch  rumänischen  verdrängt,  Konfektions- 
waren teilweise  durch  selbständige  Industrioförderung.  Der  Vertrag  ist  Ende  Dezember 
1902  gekündigt  worden.  Wenn  man  hört,  dat5  Bulgarien  selbst  den  früheren  Wunsch 
nach  einer  Veterinärkonvention  nicht  mehr  erneuern  will,  so  steht  vermutlich  eine  noch 
stärkere  Ahschließung  bevor. 

Am  Schluß  wird  auch  das  handelspolitische  Verhältnis  zwischen  Österreich  und 
Ungarn  kurz  aber  charakteristisch  besprochen  und  verdient  das  angezeigte  Buch  die  Auf- 
merksamkeit aller  jener,  die  sich  um  die  Handelspolitik  der  Monarchie  interessieren. 

E.  Ploner. 

Marcel  Godet,  Da»  Problem  der  Zentralisation  des  schweizerischen 
Banknoten wesens.  'Staats-  und  sozialwissenschaftliche  Forschungen.  Herausgegeben 
von  Gustav  Schmoller,  Bd.  XXI.,  Heft  I.)  86  SS.  Leipzig,  Verlag  von  Duncker  und 
Huroblot.  1902. 

Adolf  Wagner  hat  gelegentlich  in  einer  seiner  Abhandlungen  über  österreichische 
Valuta-  und  Bank  Verhältnisse  mit  Bedauern  der  Tatsache  gedacht,  daß  niemand  diese 
ohne  eingehende  Kenntnis  der  politischen  Einflüsse  lediglich  anf  Grund  volkswirtschaft- 
licher Erwägungen  zu  beurteilen  im  Stande  »ei.  Dasselbe  gilt  auch  von  der  Valuta-  und 
Bankfrage  in  der  Schweiz.  Nur  muß  mau  hinzufügen,  daß  die  Kenntnis  der  politi- 
schen Strömungen  der  Schweiz  allein  kein  zutreffendes  Urteil  über  bankorganisatorische 
Fragen  gewährleistet. 

Zu  diesen  Bemerkungen  fühlt  man  sich  veranlaßt,  wenn  inan  sich  mit  der  neuesten 
Schrift  auf  diesem  Gebiete,  jener  von  Marcel  Godet,  näher  beschäftigt.  Sie  ist  in  ihrer 
Art  ein  vortreffliches  Produkt  der  historischen  Forschungsmethode.  Sie  orientiert  in  ver- 
läßlicher Weise  über  die  Vorgeschichte.  Allein  das  Interesse,  das  man  an  dieser  Arbeit 
nimmt,  gilt  weniger  den  zwei  ersten  Abschnitten,  die  einen  historisch-kritischen  Abriß  der 
Entwicklung  des  schweizerischen  Notenbankwesens,  des  bisherigen  Verlaufes  der  Bestre- 
bungen um  die  Zentralisierung  der  Notenbankverfassung  und  eine  ziemlich  knapp  gehaltene 
Darstellung  der  gegenwärtigen  Noten-  und  Geldmarktverbältnisse  bieten,  alB  ihrem  dritten 
Teile,  in  welchen  der  Verfasser  positive  Vorschläge  zur  Lösung  des  Problems  vorbringt 
Es  darf  angenommen  werden,  daß  die  Frage  der  Durchführung  der  in  Art.  39  der 
Bundesverfassung  gestellten  Aufgabe  der  Errichtung  einer  zentralen  Notenbank  in  nächster 
Zeit  abermals  Gegenstand  der  Verhandlungen  der  eidgenössischen  Räte  bilden  wird,  und 
es  erscheint  uns  aus  diesem  Grunde  umsomehr  geboten,  die  positiven  Vorschläge  Godets 
kritisch  zu  würdigen,  als  diese  Vorschläge  den  Versuch  darstellen,  die  bisherigen  Gegner 
durch  ein  weitgehendes  Entgegenkommen  für  den  Gedanken  einer  zentralen  Notenbank 
zu  gewinnen. 

9* 


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132 


Literaturbericht 


Wie  wir  tn  anderer  Stelle  ausführen,  findet  der  Gedanke  der  Errichtung  einer 
mit  dem  Monopol  der  Notenausgabe  auszustattenden  Zentralbank  die  heftigsten  Gegner 
in  den  Kreisen  der  Vertreter  der  kantonalen  Finanzen,  die  insbesondere  angesichts  der 
seit  Jahren  sich  verschlimmernden  kantonalen  Finanzverhiltnisse  sich  dagegen  wehren, 
die  zwar  nicht  großen  aber  sicheren  Einkünfte  der  kantonalen  Notensteuer  und  die  in 
einzelnen  Kantonen  nicht  unbeträchtlichen  Reingewinne  der  Kantonalbanken  preiszugeben. 
Diesen  Kreisen  sucht  Godet  entgegenzukommen,  indem  er  für  die  zu  gründende  Zentral- 
bank eine  Organisation  verschlägt,  die  die  Möglichkeit  einer  Einkünfteeinbuße  für  die 
kantonalen  Fisken  von  vorneherein  ausschließt.  Seine  Vorschläge  betreffen:  1.  die  Art  der 
Beschaffung  des  Grundkapitals,  2.  den  Geschäftskreis  der  künftigen  Bundesbank. 

Der  Art.  39  der  Bundesverfassung  sieht  bekanntlich  zwei  Eventualitäten  für  die 
Beschaffung  des  Grundkapitals  vor:  der  Bund  kann  das  ausschließliche  Recht  zur  Ausgabe 
von  Banknoten  durch  eine  unter  gesonderter  Verwaltung  stehende  Staatsbank  auBÜhen 
oder  es  einer  zu  errichtenden,  unter  seiner  Mitwirkung  und  Aufsicht  verwalteten  zentralen 
Aktienbank  übertragen.  Der  Versuch  der  Errichtung  einer  reinen  Staatsbank,  deren 
Grundkapital  der  Bund  anfzubringen  gehabt  hätte,  scheiterte  an  der  Volksabstimmung 
vom  28.  Februar  1897;  der  zweite  Versuch  einer  gemischten  Bank,  deren  Grundkapital 
zu  je  einem  Drittel  durch  den  Bund,  die  Kantone  und  das  Privat  kapital  aufiubringen 
gewesen  wäre,  kam  im  Ständerate  in  der  Junisession  190t)  zom  Falle.  Godet  stellt  sich 
auf  den  Stadtpunkt  der  Anhänger  der  reinen  Staatsbank ; als  „Staat“  gilt  ihm  aber  in 
diesem  Falle  nicht  der  Bund  sondern  die  Kantone.  Das  Grundkapital  der  zu 
errichtenden  zentralen  Notenbank  Bollte,  mit  völliger  Außerachtlassung  des  Bundes,  zu 
zwei  Dritteilen  durch  die  Kantone  und  zu  einem  Dritteil  durch  die  bestehenden  Emissions- 
banken aufgebracht  werden. 

Dieser  Vorschlag  ist  nicht  neu.  Er  lehnt  sich  an  den  im  Jahre  1898  vom  schweize- 
rischen Handels-  and  Industriedepartement  herausgegebenen  Gesetzentwurf  an,  der  die 
Aufbringung  des  Grundkapitals  zu  je  einem  Drittel  durch  die  Kantone,  das  Privatkapital 
und  die  bestehenden  Emissionsbanken  vorsah.  Godet  übergeht  das  Privatkapital  und 
weist  dieses  eine  Drittel  den  Kantonen  zu. 

Ob  diese  Art  der  Aufbringung  des  Grundkapitals  eine  glückliche  Lösung  des 
Konfliktes  darstellt,  bleibe  dahingestellt.  Es  genügt  auf  die  Tatsache  hinzuweisen,  daß 
nicht  alle  heute  bestehenden  Emissionsbanken  kantonale  Staatsinstitute  sind:  an  zweien 
(Aarau  und  Waadt)  ist  der  Staat  nur  mit  der  Hälfte  des  Kapitals  beteiligt,  fünfzehn  sind 
reine  Privatbanken,  darunter  die  zwei  größten  Institute  in  Basel  und  Genf.  Will  man 
von  einer  Beteiligung  des  Privatkapitals  absehen,  dann  entsteht  die  Frage:  wo  liegt  der 
Grund  für  die  Bevorzugung  der  privaten  Emissionsbanken?  und  diese  Frage  würden  sich 
auch  gewiß  die  prinzipiellen  Anhänger  der  reinen  Staatsbank  stellen,  während  auf  der  andern 
Seite  der  völlige  Ausschluß  des  Privatkapitals  nur  geeignet  ist.  die  Opposition  der  rechts 
und  iin  Zentrum  stehenden  Parteien  und  wirtschaftlichen  Interessenvertretungen  zu  stärken. 

Der  zweite  Vorschlag  Godets  betrifft  die  Beschränkung  des  Geschäftskreiseg  der 
zu  errichtenden  Zentralbank.  Eine  Beschränkung  des  Geschäftskreises  einer  Notenbank 
ist  die  natürliche  Konsequenz  des  obersten  Prinzips  der  Bankpolitik,  wonach  eine  Bank 
keinen  andersgearteten  Kredit  erteilen  darf  als  sie  selbst  nimmt,  und  wonach  alle  lang- 
fristigen Kreditgeschäfte  für  eine  korrekt  geleitete  Notenbank  von  vornherein  ausge- 
schlossen sind.  Zu  Gunsten  der  am  Ertrage  der  Kantonalbanken  interessierten  kantonalen 
Fisken  wurde  in  den  ersten  zwei  Entwürfen  eines  Bundesbankgesctzes  der  Geschäftskreis 
der  geplanten  Zentralbank  enger  abgesteckt,  als  dies  bei  den  meisten  anderen  zentralen 
Notenbanken  der  Fall  ist;  es  sollte  dadurch  einer  Unterbindung  der  Entwicklung  der 
Kantonalbanken  durch  die  Konkurrenz  der  Zentralbank  nach  Möglichkeit  vorgebeugt  und 
ersteren  die  Möglichkeit  gegeben  werden,  auch  nach  Verlust  deB  Notenemissionsrechtes 
ihren  Geschäftskreis  aaszudehnen  und  finanziell  günstige  Abschlüsse  zu  erzielen.  Es 
war  auch  oftmals  betont  worden,  daß  die  kantonalen  Bankinstitute  ebenso  für  den  Giro- 
verkehr als  auch  für  das  Diskontgeschäft  der  Zentralbank  in  erster  Linie  in  Betracht 
kommen  sollen. 


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Literaturb»  rieht. 


133 


Godel  geht  nun  bedeutend  weiter  auf  diesem  Wege.  Die  Zentralbank  soll  nur 
zu:  1.  Ausgabe  von  Banknoten.  2.  Annahme  von  Depositen  im  Giroverkehr,  3.  Diskont- 
geschäften befugt  werden.  Um  aber  durch  ihr  Diskontgeschäft  den  bestehenden  Emissions* 
banken  keine  Konkurrenz  zu  machen,  soll  die  Zentralbank  nur  die  ihr  vou  den  „akkre- 
ditierten" Banken  eingeieichten  Wechsel  rediskontieren;  als  „akkreditierte  Banken"  gelten 
aber  die  am  Tage  des  Erlasses  des  Bankgesetzes  vorhandenen  Emissionsbanken. 

Auch  dieser  Vorschlag  ist  nicht  neu;  er  entspricht  vollständig  dem  im  Jahre  1H96 
anfgestellten  Projekte  des  ehemaligen  Direktors  der  Banque  Cantonale  Neuchateloiae, 
Herrn  Dubois,  der.  ebenso  wie  Godet,  die  Bundesbank  als  eine  Rediskont-,  Depositcn- 
und  Girostelle  der  bisherigen  Emissionsbanken  organisiert  sehen  wollte.  Die  Zentralbank 
hätte  weder  Filialen  noch  Agenturen,  sie  käme  mit  dem  Verkehre  überhaupt  nicht  in 
unmittelbare  Berührung,  sie  würde  lediglich  den  akkreditierten  Banken  gegen  zum 
Rediskont  eingereicht  Wechsel  ihre  Noten  überlassen,  die  von  diesen  Banken  in  den 
Verkehr  gebracht  und  an  deren  Schaltern  eingelöst  würden. 

Nach  Art.  39  der  Bundesverfassung  hat  die  mit  den  Notenmonopol  ausgestattete 
Zentralbank  die  Hauptaufgabe,  den  Geldumlauf  des  Landes  zu  regeln  und  den  Zahlungs- 
verkehr zu  erleichtern.  Es  erscheint  uns  ausgeschlossen,  daß  eine  nach  den  Godetschen 
Voi Schlägen  organisierte  Notenbank  diesen  Aufguben  nachzukommeu  vermöchte.  Die 
einheitliche  Regelung  des  Geldumlaufes  wird  mit  dem  Augenblick  unmöglich,  wo  die 
Zentralbank  nur  formell  das  Notenmonopol  ausübt,  dieses  aber  tatsächlich,  in  einer  völlig 
verfassungswidrigen  Weise,  einer  Vielheit  der  akkreditierten  Banken  ausgeliefert  ist,  was 
unbedingt  cintreten  würde,  sobald  diese,  und  nicht  die  Zentralbank  selbst,  die  Noten  in 
den  Verkehr  zu  bringen  hätten. 

Und  weiter:  die  Bundesbank  könnte  die  Ausgabe  ihrer  Noten  nur  durch  die  Ver- 
mittlung und  mit  Hilfe  der  akkreditierten  Banken  bewerkstelligen;  für  die  Einlösung 
der  Nuten  wäre  sie  dagegen  allein  verantwortlich.  Die  Einlösung  erfolgt  an  den  Schaltern 
der  akkreditierten  Banken  und  folglich  müßten  die  Barbestände  der  Bank  auf  etwa 
36  Stellen  dezent ralisieit  werden,  was  eine  Hemmung  der  Bewegungsfreiheit  der  Bank 
und  eine  wirtschaftlich  nicht  tu  rechtfertigende  Erhöhung  der  K&ssenbestände  bedeutet. 

Die  Monopolstellung,  die  nach  den  Godetschen  Vorschlägen  «len  akkreditierten 
Banken  eingeräutnt  würde,  müßte  notwendigerweise  ein  Gefühl  der  Erbitterung  in  den 
weitesten  Kreisen  erwecken.  Die  Spar-  und  Leihkasse  des  Kantons  Niedwalden  in  Stans 
hätte  das  Recht,  ihr  Wechselportefeuille  bei  der  Bundesbank  zu  rediskontieren,  ein  Institut 
dagegen  wie  die  Züricher  Kreditanstalt  oder  der  Schweizerische  Bankverein  hätte  dieses 
Recht  nicht  und  müßte,  wenn  es  sein  Wechselportefeuille  rediskontieren  wollte,  dies  bei 
einer  akkreditierten  Bank  tun,  die  ihm  an  wirtschaftlicher  Bedeutung  unendlich 
nachsieht. 

Die  Diskontopolitik  würde  nach  wie  vor  in  den  Händen  der  36  kantonalen  Institute 
liegen;  der  offizielle  Satz  der  Bundesbank  käme  nur  für  die  akkreditierten  Banken  in 
Betracht,  die  dem  ganzen  übrigen  Verkehre  den  Satz  zu  diktieren  vermöchten.  Sie  wtiiden 
ihn  notwendigerweise  höher  halten  müssen  als  die  Rate  der  Bundesbank,  und  der  aus 
dieser  Differenz  resultierende  Gewinn  der  akkreditierten  Banken  erhielte  das  Gepräge 
einer  vom  Verkehr  an  diese  entrichteten  Steuer.  Die  Sanierung  der  Geldmarktvcrhältniase, 
die  von  der  Errichtung  einer  Zentralbank  erwartet  wird,  müßte  auBbleiben,  sobald  diese 
Bank  nach  den  Godetschen  Vorschlägen  organisiert  würde.  Voraussetzung  einer  solchen 
Sanierung  ist  eine  Reduktion  des  Notenumlaufes  und  Säuberung  der  Portefeuilles  von 
den  langfristigen  Anlagen.  Beides  wäre  undurchführbar,  da  die  36  akkreditierten  Banken 
das  größte  Interesse  daran  hätten,  möglichst  viel  Noten  möglichst  lange  im  Verkehre 
zu  halten,  da  die  Höhe  ihrer  Reingewinne  davon  abhängt,  und  die  Zentralbank  selbst 
dem  gegenüber  völlig  machtlos  wäre.  Sie  würde  nicht  direkt  mit  den  Zedenten  verkehren, 
könnte  infolgedessen  die  Qualität  nnd  den  Charakter  der  ihr  zum  Rediskonto  vorgelegten 
Wechsel  nicht  beorteilen  und  in  der  Folge  würden  die  Finanzwechsel,  Gefälligkeits- 
akzepte etc.  etc.  nach  wie  vor  von  Jahr  zu  Jahr  zunehtnen  und  v^n  Jahr  zu  Jahr  den 
Umfang  der  Bauknotenzirkulation  zuin  Schaden  des  Landes  steigern. 


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134 


Literaturbericht. 


Wir  können  infolge  all  dieser  Erwägungen  nicht  umhin,  zu  erklären,  daß  die 
Godetschen  Vorschläge  durchaus  ungeeignet  sind,  den  bevorstehenden  Debatten  zur 
Basis  zu  dienen:  sie  stehen  formell  im  Widerspruche  mit  den  Bestimmungen  der  Bundes- 
verfassung und  materiell  würde  ihre  Verwirklichung  von  vornherein  den  Verzicht  auf  die 
Erfüllung  der  vornehmsten  Aufgaben  einer  zentralen  Notenbank  bedenten. 

Es  wird  heute  von  keiner  Seite  verkannt,  daß  die  Errichtung  einer  zentralen 
Notenbank  nnr  dann  möglich  ist,  wenn  dies  ohne  Schädigung  der  kantonalen  Finanzen 
und  mit  möglichster  Schonung  der  Interessen  der  bestehenden  Emissionsbanken  geschehen 
kann.  Man  ist  bereit,  nach  dieser  Seite  hin  soweit  eutgegenznkommen.  als  es  recht  und 
billig  ist,  vielleicht  noch  etwaB  weiter.  Dagegen  erscheint  es  uhb  als  eine  arge  Verkennung 
des  Ganges  der  historischen  Entwicklung  und  Mißachtung  der  vitalsten  Interessen  des 
Landes,  wenn  der  Versuch  gemacht  wird,  den  36  Emissionsbanken,  deren  Politik  zu  den 
gegenwärtig  bestehenden,  anerkanntermaßen  unhaltbaren  Verhältnissen  führte,  ein  Privileg 
zn  erteilen,  das  in  der  Folge  nicht  nur  keine  Besserung,  sondern  zweifellos  eine  Ver- 
schärfung der  vorhandenen  Mißstände  nach  sich  ziehen  würde. 

Basel.  Dr.  Julius  Landmann. 

Dr.  Ernst  v.  Halle,  Volks-  und  Seewirtschaft.  Reden  und  Aufsätze. 
Berlin  1902.  E.  S.  Mittler  & Sohn.  2.  Bde. 

Ein  vielseitiges,  inhaltliches  Werk  liegt  vor  uns,  das  sein  Antor.  getragen  von 
dem  Bewußtsein.  Mitglied  einer  großen,  zukunftsfrohen  Nation  zu  sein,  geschrieben 
hat.  Immer  wieder  liest  man  zwischen  den  Zeilen,  daß  der  Verfasser  ein  größeren 
Deutschland  fordert,  und  daß  er  seinem  Vaterlan  de  zutraut,  das  höchste  Ziel  zu  erreichen, 
wenn  es  nnr  will.  Man  begreift  hier  unmittelbar,  wie  sich  Deutschland  in  den  letzten 
Jahrzehnten  entwickelt  hat;  denn  vor  50  Jahren  wäre  ein  solches  Buch  nicht  möglich 
gewesen.  Es  ist  ja  kein  Weckruf,  sondern  ein  Bericht  darüber,  daß  Deutschland  in  den 
Kampf  an»  die  Teilnahme  an  der  Weltherrschaft  eingetreten  ist,  und  ein  Nachweis  der 
Mittel  und  Ziele,  die  in  diesem  Ringen  Erfolg  verheißen. 

Wohl  ist  zwischen  den  einzelnen  Abschnitten  des  Werkes  kein  äußerlicher  Zusam- 
menhang bemerkbar,  obschon  die  Untertitel  der  beiden  Bände  „Die  deutsche  Volkswirt- 
schaft an  der  Jahrhundertwende**,  and  „Weltwirtschaftliche  Aufgaben  und  weltpolitische 
Ziele-  bedeutungsvoll  gewählt  sind.  Hervorgegangen  ans  Gelegcnheitsreden  ond  Aufsätzen 
eines  vierjährigen  Zeitraumes  (1897 — 1900),  können  die  verschiedenen  Abschnitte  kc*in 
einheitliches  Gepräge  haben,  und  darf  es  nicht  verwundern,  daß  selbst  der  Standpunkt 
des  Verfassers  in  dieser  Zeit  sich  fortschreitend  entwickelt  hat,  wie  z.  B.  in  seiner 
Stellungnahme  zu  Holland;  nber  trotzdem  ist  eine  innere  Einheit  unverkennbar.  Der 
Verfasser  unterrichtet  uns  in  den  ersten  vier  Aufsätzen  über  das  wirtschaftliche  und 
soziale  Leben  in  Deutschland  am  Ende  des  19.  Jahrhunderts  sowie  über  seine  Ent- 
wicklung in  den  letzten  Jahrzehnten,  sodann  weist  er  in  sechs  weiteren  Aufsätzen  die 
wirtschaftlichen  Verhältnisse  und  deren  Entwicklung  in  Holland,  England,  Nordamerika 
und  Mexiko  auf  und  zeigt  an  der  Hand  seiner  Darstellungen  sowie  zum  Schlüsse,  was 
Deutschland  vermeiden,  was  es  anstreben  müsse,  um  sich  jene  Geltung  unter  den  welt- 
beherrschenden  Nationen  wieder  zu  erringen,  die  ihm  nach  seiner  Volkszahl  und  kultu- 
rellen Höhe  gebührt. 

Wirken  die  Aufsätze  zur  Beleuchtung  und  Schilderung  wirtschaftlicher  Verhältnisse 
durch  die  Überreiche  Ausstattung  mit  statistischen  Daten  bei  zu  geringer  Verarbeitung 
derselben  etwa«  ermüdend,  so  sind  die  übrigen  Aufsätze,  selbst  wenn  sie  Bekanntes  in 
anderer  Form  sagen,  durch  die  Kühnheit  des  ausgesteckten  Zieles  und  die  Offenheit 
der  Darstellung  ebenso  anregend  als  interessant. 

Gleich  im  dritten  Aufsatze  „Die  Seeinteressen  Deutschlands-  treten  diese 
Vorzüge  hervor.  Energisch  bekämpft  er  hier  die  moderne,  vom  Kla-seninteresse  diktierte 
Anschauung,  daß  der  Kaufmann  zwar  möglicherweise  früher  eine  Kulturmission  gehabt 
habe,  heute  aber  in  der  nationalen  Organisation  ein  unnützes  Glied  sei,  und  daß  speziell 
der  Außenhandel  Deutschlands  ebenso  wie  anderer  Länder  in  die  ungesunden  Bahnen 
des  Industrialismus  lenke.  Zunächst  widerlegt  er  diese  Anschauung  in  einem  knappen 


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Literaturbericht. 


185 


historischen  Eikurs,  den  er  zu  einem  gelungenen  Seiteuhieb  auf  den  in  Deutschland, 
leider  auch  in  Österreich  nngenügf nden  historischen  Unterricht  benützt,  der  die  Jugend 
nicht  vertrant  mache  mit  den  großen  Problemen  der  Weltgeschichte,  mit  der  Verteilung 
des  internationalen  Schwergewichtes  in  den  verschiedenen  Zeiten  und  mit  den  Gründen 
für  dessen  Wechsel,  denn  „lieber  erzählt  man  von  den  Siegen  Friedrichs  des  Großen 
oder  von  der  Schlacht  von  Leipzig,  als  davon  daß  die  Früchte  der  Siege  schließlich 
verloren  gegangen  sind,  weil  die  großen  Welt-  und  Seemächte  die  Beute  unter  sich 
teilten  * ln  diesem  Exkurse  zeigt  er,  wie  in  allen  Zeiten  die  Großmachtstellung  der 
Staaten  Hand  in  Hand  ging  mit  der  Blüte  ihrer  Seemacht;  wie  die  Vormachtstellung 
Frankreichs  zu  sinken  begann  seit  Ludwig  XIV.  die  Politik  Colberts  aufgab  und 
gegen  den  Rat  eines  Leibniz,  den  Schwerpunkt  »einer  Macht  auf  die  See  zu  verlegen 
uni  durch  koloniale  Erwerbungen  sich  den  Welthandel  und  die  Seeherrschaft  zu  sichern, 
in  kontinentalen  Kriegen  Frankreichs  Kraft  erschöpfte;  er  schildert  ferner  wie  schmach- 
voll Deutschland  während  seiner  Zersplitterung  von  den  Seemächten  behandelt  wurde 
und  wie  weder  Kaiser  Josef  II.  noch  Friedrich  II.  im  Stande  waren  die  wirtschaft- 
lichen Interessen  ihrer  Staaten  gegen  die  Seemächte  zu  schützen;  wie  endlich  erst  wieder 
mit  dem  Emporkommen  der  politischen  Macht  Deutschlands  sein  Außenhandel  insbesondere 
als  Seehandel  sich  hob,  und  zwar  in  der  für  die  Wirtschaft  vorteilhaftesten  Richtung 
durch  Vergrößerung  des  Anteiles  am  internationalen  Zwischenhandel  und  durch  Ein- 
führung und  Erweiterung  des  direkten  Bezuges  überseeischer  Produkte  für  den  Bedarf 
des  inländischen  Konsums  und  der  heimischen  Industrien.  Das  Ergebnis  dieser  Dar- 
stellung, daß  Seehandel  und  politische  Macht  sich  wechselseitig  erhalten  und  stützen, 
gilt  dem  Verfasser  somit  als  unwiderlegbare,  historische  Tatsache,  der  sich  auch  das 
deutsche  Volk  erkennend  fügen  müsse. 

Aber  nicht  bloß  freiwillig  treibt  und  stärkt  Deutschland  seinen  Seehandel,  sondern 
gezwungen.  Seine  große  und  für  die  Erhaltung  der  Staatskraft  notwendige  Volksver- 
mehrung  verlangt  fortgesetzt  wachsende  Zufuhren  von  Konaumartikeln,  die  weiterhin  nur 
bezahlt  werden  können  durch  die  Export«  einer  kräftigen  Industrie,  deren  Blüte  um  so 
nötiger  ist,  als  sie  die  Verproletarisierung  des  Volkes  verhindert  und  weiterhin  kauf- 
kräftige Abnehmer  der  landwirtschaftlichen  Produkte  schafft.  So  wird  der  Handel  zur 
Stütze  der  Volkswirtschaft  und  um  dieser  die  überseeischen  Importe  und  den  freien 
Export  zu  sichern,  muß  der  Staat  eine  große  koloniale  Politik  treiben  und  die  Interessen 
seines  Handels  und  seiner  Volkswirtschaft  durch  eine  entsprechende  Machtentfaltung  zur 
See  schützen. 

Wenn  das  deutsche  Volk  das  nicht  will,  dann,  meint  der  Verfasser,  muß  es  seine 
Stammesgenossen  wieder  auswandern  und  die  Kraft  fremder  Nationen  verstärken  lassen 
wie  ehedem,  dann  muß  es  wieder  wie  ehedem  „ohne  Kolonien,  ohne  Hochseefischerei, 
ohne  starke  Handelsflotte,  ohne  eine  Marine  zu  Schutz  und  Trutz,  ohne  mächtig  werbende 
Kapitalskräfte,  die  im  Ausl&nde  arbeiten,  die  Brosamen  verzehren,  die  andere  übrig 
ließen*.  Ein  hartes  Wort,  das  aber  auch  uns  als  Warnung  gesagt  sein  könnte. 

In  dem  nächstfolgenden  Aufsatz  „Deutschlands  wirtschaftliche  Entwick- 
lung* ergänzt  und  erweitert  Halle  seine  Widerlegung  jener  merkwürdigen  Anschauung, 
indem  er  die  Haltlosigkeit  ähnlicher  Behauptungen  in  verschiedenen  Publikationen,  so 
insbesondere  von  Blondei,  Oldenberg,  Kautsky  u.  s.  w.  dartut.  Ihren  Anschauungen 
von  der  Produktion  um  des  Exportes  willen  und  von  der  steigenden  Tendenz  nach  einer 
ExportinduBtrie  hält  Halle  entgegen,  daß  solche  Auschauungen  bestenfalls  für  einzelne 
Klassen  von  Industriellen  in  manchen  Gebieten  zu  gewissen  Zeiten,  nie  aber  allgemein 
zutreffen  können,  mache  man  ja  doch  vom  patriotischen  Standpunkte  aus  allgemein  dem 
Kaufmann  zum  Vorwurf,  daß  er  lieber  importiere  als  exportiere.  In  der  Tat  sind  eine 
Anzahl  von  Staaten  und  darunter  in  erster  Reihe  England  und  Deutschland  durch  ihre 
BevölkerungH-,  Kultur-  und  Bodenverhältnisse  auf  wachsende  Importe  angewiesen.  Haupt- 
sächlich um  diese  xu  erlangen  respektive  zu  bezahlen  wird  exportiert,  nicht  also  wegen 
des  Exportes  an  sich.  Es  geht  dies  schon  daraus  hervor,  daß  die  wirtschaftlich  am 
höchsten  stehenden  Staaten  regelmäßig  eine  größere  Einfuhr  als  Ausfuhr  besitzen  und 


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136 


Literaturbericht. 


diese  ständig  ungünstige  Handelsbilanz  nur  dadurch  ertragen,  weil  sie  im  Auslande 
werbende  Kapitalien  besitzen,  mit  deren  Zinsen  sie  die  Einfuhrüberschüsse  bezahlen.  An 
der  Hand  von  zahlreichen  statistischen  Daten  weist  Halle  insbesondere  für  Deutschland 
nach,  daß  in  den  letzten  Jahrzehnten  seine  hinfuhr  in  viel  höherem  Maße  gewachsen 
ist  als  seine  Ausfuhr,  daß  also  nicht  die  Ausfuhr  der  Einfuhr,  sondern  diese  jener  vor* 
angehe.  Und  ebenso  zeigt  er.  drß  in  den  letzten  Jahren  die  inländische  Produktion 
einiger  großer  Exportartikel  viel  stärker  emporgewachsen  ist  als  der  Export,  daß  somit 
in  erster  Linie  für  den  Konsum,  nicht  für  den  Kaufmann  und  den  Export  produziert 
wurde.  Wie  allenthalben,  so  wird  auch  von  Deutschland  exportiert,  was  es  billiger  oder 
besser  produzieren  kann,  um  das  zu  bezahlen  und  zu  erlangen,  was  es  benötigt  aber 
gar  nicht  oder  nur  teurer  produzieren  kann.  So  ist  der  Kaufmann  und  insbesondere  der 
im  Seehandel  beschäftigte  für  die  Volkswirtschaft  ein  nützliches  und  notwendiges  Glied, 
das  zu  erhalten,  Deutschland  allerdings  guten  Grund  hat. 

Bei  der  Erörterung  der  wirtschaftlichen  Entwicklung  Deutschlands  geht  aber 
Halle  weit  hinaus  über  die  Behandlung  dieser  Frage.  Wiederum  mittels  statistischen 
Materials  zeigt  er.  daß  in  Deutschland  wie  auch  vielfach  in  anderen  hochentwickelten 
Staaten  eine  blühende  Industrie  in  erster  Linie  für  den  steigenden  inländischen  Konsum 
arbeite,  ja  arbeiten  müsse,  darin  wurzle  hauptsächlich  ihre  Kraft.  Für  Deutschland 
zeigt  er,  daß  sie  in  den  letzten  Jahren  sogar  zu  wenig  exportierte,  so  daß  sich 
eine  ungünstige  Zahlungsbilanz  einstellte,  wodurch  dann  Deutschland  genötigt  wurde, 
werbende  Kapitalien  aus  dem  Auslande  heraus  zu  ziehen,  was  eine  gewisse  Gefahr  mit 
»ich  bringt  und  wofür  er  die  seiner  Meinung  nach  verkehrte  Börsenpolitik  verant- 
wortlich macht. 

Besonders  interessant  ist,  was  Halle  im  Zusammenhang  damit  von  der  in  den 
letzten  Jahrzehnten  in  Deutschland  besonders  mächtig  hervorgetretenen  Entwicklung  der 
auf  maschineller  Kraftleistung  aufgebauten  Industrie  und  von  ihren  Rückwirkungen  sagt. 
Obschon  er  nicht  verkennt,  daß  sie  eine  Hauptsache  ist  für  die  wachsende  Akkumulation 
des  Kapitals  in  der  Hand  weniger,  so  glaubt  er  doch,  daß  das  ihre  erstzeitliche  Wirkung 
gewesen  ist  und  daß  sie  die  Hebung  der  sozialen  Lage  der  mittleren  und  unteren  Klassen 
bewirkt  habe  und  fernerhin  noch  in  größerem  Maße  bewirken  werde.  Bei  dieser  großen 
Bedeutung  dieser  eigenartigen  modernen  Industrie  findet  er  aber,  daß  es  unzulässig  sei, 
hinsichtlich  der  Gründung  neuer  Konkurrenzunternehmen,  auch  wenn  sie  auf  einer 
vervollkommneten  maschinellen  Technik  aufgebaut  sind,  die  freie  Privatwillkür  herrschen 
zu  lassen.  Ein  übereiltes,  die  möglichen  Wirkungen  nicht  ervrägendei  Vorgehen  in  dieser 
Richtung  kann  zu  vorzeitigem  Aufgeben  nutzbringender  Kapitalsanlagen,  zur  Vergeudung 
von  Kapitalien,  zu  Krisen  führen,  so  daß  die  Willkür  des  Einzelnen  der  Volkswirtschaft 
schwere  Schäden  zufügen  kann.  Deshalb  fordert  er  in  dieser  Beziehung  eine  nationale 
Organisation,  für  welche  ihm  die  Kartelle  und  Trusts  Anhaltspunkte  zu  bieten  scheinen, 
obwohl  er  deren  Auswüchse,  so  die  Tendenz  der  amerikanischen  Trusts,  den  Export- 
industrialismus  zu  fördern  und  die  Weltmärkte  zu  erobern,  strenge  verurteilt.  Er  fordert 
nur  eine  nationale  Organisation  der  Wirtschaft,  dieser  aber  vindiziert  er  das  Recht,  sich 
ihre  Bedürfnisse,  ihre  Abrundung  auch  auswärts  selbst  durch  wirtschaftliehe  Ausbeutung 
einer  minder  kräftigen,  wirtschaftlich  minder  hoch  entwickelten  Nation  zu  sichern.  Hier- 
durch findet  er  die  neuzeitlichen  Unternehmungen  in  Ostasien,  die  Kolonialbestrebungen 
der  Vereinigten  Staaten,  die  Aufteilung  Afrikas  u s f.  erklärt  and  gerechtfertigt.  Da 
Deutschlands  Volkswirtschaft  zu  ihrer  Abrundung  der  Erzeugnisse  wohl  auch  die  Märkte 
fremder  Länder  benötigt,  so  müssen  diese  in  der  einen  oder  der  anderen  Weise  gesichert, 
eventuell  die  Länder  wirtschaftlich  oder  politisch  dem  Reiche  angegliedert  werden. 
Weiterhin  muß  sich  deshalb  Deutschland  eine  entsprechende  militärische  und  maritime 
Macht  verschaffen,  um  auch  eine  gewaltsame  Störung  der  naturgemäßen  Fort-  und 
Ausbildung  der  nationalen  Wirtschaft  durch  die  konkurrierenden  Weltmächte  erfolgreich 
verhindern  zu  können.  So  gelangt  Halle  auch  hier  wieder  zu  der  Forderung  des  Aus- 
baues der  deutschen  Seemacht  als  notwendiger  Konsequenz  der  gegenwärtigen  und 
künftigen  Wirtschaftsent Wicklung. 


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Literaturbericht. 


137 


Durch  die  folgenden  Aufsitze  gewinnen  diese  allgemeinen  Sätze  teilweise  ein 
bestimmteres  Ziel.  In  den  Aufsätzen  über  „Die  volks-  und  seewirtschaftlichen  Beziehungen 
zwischen  Deutschland  und  Holland*,  „Die  deutschen  Kapitalinteressen  in  der  ostasiatischen 
Inselwelt  und  die  politische  Lage*  und  „England  als  Beschützer  Hollands*  geht  Halle 
ron  den  Gedanken  Fichtes  über  die  für  die  Staaten  bestehende  Notwendigkeit,  natür- 
liche, den  wirtschaftlichen  Bedürfnissen  entsprechende  Grenzen  zu  erlangen,  aus  und  stellt 
die  deshalb  der  Losung  durch  das  Deutsche  Reich  in  Ost  und  West  harrenden  Probleme 
auf.  Von  dem  östlichen  Problem,  unter  welchem  Halle  in  kühnem  Ideenflug  die  Aus- 
dehnung der  deutschen  Wirtschaftssphftre  Uber  das  Stromgebiet  der  Donau  und  die 
Balkanstaaten  verstellt,  wird  nicht  weiter  gesprochen,  dagegen  wird  das  westliche 
Problem,  das  in  der  Angliederung  des  Rheinstromgebietes  gelegen  ist,  eingehend  erörtert. 
In  den  genannten,  mit  statistischen  Daten  reich  ausgestatteten  Abhandlungen,  welche  die 
volkswirtschaftlichen  Verhältnisse  Hollands  und  seiner  Kolonien  nach  den  verschiedensten 
Seiten  beleuchten,  bemüht  sich  der  Verfasser  darzutun.  daü  diese  Verhältnisse  Holland 
in  fortgesetzt  steigendem  Maße  an  Deutschland  anknüpfen.  Seine  Ausfuhr  nach  Deutsch- 
land ist  beständig  im  Wachsen  und  beträgt  jetzt  mehr  als  die  Hälfte  seiner  gesamten 
Ausfuhr.  Seine  Einfuhr  aus  Deutschland  ist  absolut  in  der  Zunahme  relativ  in  Abnahme 
begriffen,  weil  die  Zufuhren  ans  anderen  Ländern,  insbesondere  aus  den  oatindischen 
Kolonien  und  den  Vereinigten  Staaten,  sehr  stark  angewachsen  sind;  aber  von  den 
Zufuhren  selbst  geht  ein  immer  größerer  Teil  wieder  nach  Deutschland  ab,  so  daü 
Holland  sich  tatsächlich  als  Seehafen  Deutschlands  darstellt,  dessen  Handelsbilanz  durch 
den  wachsenden  deutschen  Konsum  sich  fortgesetzt  zu  Gunsten  Hollands  verschiebt. 
Ähnlich  ist  der  Anteil  der  deutschen  Kapitalien  an  den  Unternehmungen  in  den  holländischen 
Kolonien,  und  der  Anteil  der  deutschen  Schiffahrt  an  dem  Schiffahrtsverkehr  dieser  Kolonien 
im  Wachsen  und  jedenfalls  bedeutender  als  der  anderer  Staaten. 

So  wie  also  Holland  das  größte  Interesse  hat.  nicht  vom  deutschen  Markte  aus- 
gesperrt zu  werden,  ebenso  hat  Deutschland  ein  wachsendes  Interesse  dafür,  daß  die 
holländischen  Außenbesitxungen  nicht  in  fremden  Besitz  geraten  und  daß  Hollands 
Küste  nicht  infolge  militärischer  Ohnmacht  unter  die  Kontrolle  eines  anderen  Staates 
kommt  oder  zum  Ausgangspunkt  militärischer  Operationen  werden  kann.  Unter  Hinweis 
auf  die  Nachteile,  welche  Holland  erlitten  hat,  als  England  sich  zu  seinem  Beschützer 
aufgeworfen  hat  und  unter  Hinweis  auf  die  Verloste,  welche  Spanien  in  jüngster  Zeit 
erlitt  und  schwachen  Seemächten  fortgesetzt  drohen,  verlangt  der  Verfasser  direkt,  »laß 
zwischen  Holland  und  Deutschland  eine  Militär-  und  Marinekonvention  sowie  ein  Zoll- 
und  Verkehrsbflndnis  abgeschlossen  werde,  wodurch  die  innere  Bewegungsfreiheit  Hollands 
nicht  weiter  berührt  werden  sollte.  Nur  dafür  müßte  ausreichend  gesorgt  werden,  daß 
die  Küsten 'und  der  koloniale  Besitz  durch  ein  starkes  Heer  und  eine  große  Flotte  sowie 
die  nötigen  Verteidigungsmittel  unantastbar  w'erden  und  daß  die  Entwicklung  der  weiterhin 
gemeinschaftlichen  Volkswirtschaft  nicht  durch  territoriale  Schranken  gehindert  werde. 

So  kühn  auch  der  Gedanke  der  Angliederung  Hollands  an  Deutschland  erscheinen 
mag.  so  entbehrt  er  doch  nicht  einer  gewissen  realen  Basis;  auch  ist  er.  von  verschiedenen 
Seiten  besprochen,  nicht  inehr  ganz  neu,  was  aber  au  den  vorliegenden  Aufsätzen  über- 
rascht, das  ist  das  Eingehen  in  die  Details  der  Fragen,  woraus  hervorgeht,  daß  man  in 
manchen  Kreisen  dem  Ziele  näher  zu  sein  glaubt,  als  der  unbefangene  Beobachter  ver- 
mutet. Und  in  der  Tat  dürfte  der  Zusammenschluß  für  beide  Völker,  wohl  auch  für  die 
Menschheit  als  Ganzes  gerechnet,  weniger  für  die  mit  Deutschland  konkurrierenden 
Mächte  als  ein  ungeheurer  Gewinn  zu  betrachten  sein,  er  könnte  für  die  Welt  und  ihre 
friedliche  wirtschaftliche  Entwicklung  die  gleiche  Bedeutung  erlangen,  die  das  deutsch- 
österreichische  Bündnis  von  1878  für  Europa  und  sein  politisches  Leben  erlangt  hat. 

Minder  groß  angelegt  ist  der  nächstfolgende  Aufsatz  des  Verfassers  über  „Die 
wirtschaftliche  Entfaltung  Mexikos*.  Durch  eine  ausführliche,  teilweise  auf 
persönlicher  Kenntnisnahme  beruhende  Schilderung  der  wirtschaftlichen  Verhältnisse  des 
Landes  sucht  der  Verfasser  zu  zeigen,  daß  Financiers,  Kaufleute  und  industrielle  Unter- 
nehmer in  Mexiko  ein  Feld  gewinnbringender  Tätigkeit  finden  können,  daß  aber  Bauern. 

Z«iU«hrift  Wr  Volkswirtschaft,  SoclalpoUtlk  un<l  Verwaltung.  XII.  Band.  Iß 


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138 


Literatnrbericht. 


industrielle  Arbeiter  oder  Träger  geistigen  Lebens  doit  nichts  zu  suchen  haben.  Darnach 
müsse  sich  auch  die  deutsche  Politik  richten,  die  sich  bemühen  solle,  für  eine  weiter- 
gehende Erleichterung  und  .Sicherung  des  wirtschaftlichen  Verkehres  zu  sorgen,  nicht 
aber  die  Ansiedlung  von  Volksgenossen  oder  weiterausgreifende  volkswirtschaftliche 
Pläne  zu  fördern,  denn  „politisch,  gesellschaftlich  oder  kulturell  ist  \ on  einer  Förderung 
der  Beziehungen  zu  Mexiko  gar  nichts  zu  erwarten".  Und  noch  ein  anderes  steht  den 
hochfliegenden  Plänen  des  Verfassers  schroff  gegenüber,  die  Monroe-Doktrin,  von  der  er 
allerdings  nicht  spricht,  die  aber  sein  Urteil  wohl  beeinflußt  haben  dürfte. 

Die  Monroe-Doktrin  behandelt  eingehend  der  zehnte  Aufsatz,  in  dem  Halle  „Die 
Bedeutung  des  nordamerikanischen  Imperialismus"  bespricht  und  in  einem 
kurzen  historischen  Überblick  darstellt,  wie  das  angeblich  den  ewigen  Frieden  pro- 
pagierende Volk  der  Nordamerikaner  zu  der  rohesten  Form  des  Imperialismus  gelangte, 
der  auf  die  widerspruchslose  Alleinherrschaft  über  die  ganze  Erde  abzielt.  Die  relativ 
lescheidene  Monroe-Doktrin,  die  nur  Amerika  den  Amerikanern  sichern  wollte,  erlangte 
so  eine  Auslegung,  wonach  nicht  bloß  ganz  Amerika  für  die  Niclitamerikaner  politisch 
und  wirtschaftlich  verschlossen  sein  boII,  sondern  auch  der  ganze  stille  Ozean  und  seine 
outasiatische»  Küstengebiete  als  das  ausschließliche  Dominium  der  Nordamerikaner  zu  gelten 
hat.  Wie  diese  aus  Befreiern  Kubas  und  der  Philippinen  zu  Tyrannen  dieser  Inseln 
geworden  sind,  so  werden  sie  künftighin  aus  Vorkämpfern  für  die  Freiheit  der  Welt  zu 
Beherrschern  der  Welt  Haben  sie,  meint  Halle,  „frühzeitig  erkannt  daß  die  Weltmacht 
sich  nicht  allein  auf  eine  Militirhierarchie  stützen  kann,  sondern  heutzutage  mehr 
als  je  einen  Rückhalt  an  einem  gewaltigen,  kapitalistisch  und  technisch  hoch  entwickelten, 
gewerbestarken  Gemeinwesen  haben  müsse",  so  haben  sie  gegenwärtig  bereits  einge- 
sehen, daß  der  Staat  „nicht  im  freien  Wettbiwerb  auf  dem  Weltmarkt  in  ewigem  Frieden 
seine  Stellung  wahren  und  erweitern  kann,  sondern  künftig  um  Macht  und  Märkte  werde 
kämpfen  müssen*  und  deshalb  vergrößern  sie  ihr  Landheer  und  bauen  eine  starke  Flotte. 
Die  Gefahr,  die  dadurch  den  übrigen  Weltmächten  droht,  hält  Halle  mit  Recht  für 
größer  als  jene,  die  von  England  ausgeht,  dessen  große  Übermacht  zur  See  er  in  dem 
neunten  Aufsatz  „Englands  Machtstellung  auf  dem  Meere*  beleuchtet,  dessen 
Kriegsflotte  in  der  Tat  größer  ist  als  jene  von  Deutschland,  Frankreich  und  Rußland 
zusammengenoromen,  dessen  Tendenz  noch  immer  dahin  geht,  das  offene  freie  Meer 
zu  einer  geschlossenen  englischen  See  zu  machen  und  dem  er  zutrant.  sich  auch  über 
das  Völkerrecht  hinwegzusetzen,  wo  es  das  kann.  Dennoch  gilt  es,  England  gegenüber 
nur  die  Unabhängigkeit  der  Seeintcressen  auf  allen  Gebieten,  speziell  die  Offcnbaltung 
der  beiderseitigen  Kolonien  zum  freien  Wettbewerbe  in  der  Arbeit  zu  wahren  und  als 
starker  Feind  und  Freund  auftreten  zu  können.  Anders  die  Vereinigten  Staaten,  welche 
durch  die  Beherrschung  der  Kornkammern  der  Welt  und  durch  eine  künstlich  empor- 
geschraubte Exportindustrie  fortgesetzt  mehr  exportieren  können  als  sie  zu  importieren 
brauchen  und  dadurch  zu  Gläubigern  der  ganzen  Welt,  weiterhin  aber  durch 
Umwandlung  der  finanziellen  Verpflichtungen  in  politische  eben  zu  Herren  der  Welt 
werden  können. 

Es  scheint,  daß  der  Verfasser  hier  in  Fnrcht  um  die  holländischen  Kolonien  doch 
allzusehr  grau  in  grau  malt;  denn  wie  hoch  man  auch  die  Rücksichtslosigkeit  und  den 
Tatendrang  der  Nordamerikaner  einschätzen  mag,  sllzurasch  dürfte  das  hier  ausgesteckte 
Ziel  nicht  zu  erreichen  sein;  welche  Kräfte  aber  sich  während  des  Marsches  auf  dem 
langen  Wege  dahin  noch  entwickeln  werden,  das  entzieht  sich  jeder  Kenntnis,  so  daß  man 
Prophezeiungen  auch  in  dieser  Beziehung  besser  unterläßt.  Nichtsdestoweniger  möchten 
wir  aber  doch  dem  Verfasser  beistimmen,  wenn  er  meint,  daß  es  sinnlos  für  Europa 
wäre,  gegen  Amerika  eine  Absperrungspolitik  zu  verfolgen,  und  verlangt,  Europa  solle 
durch  Wahrung  seiner  politischen  Machtiüstung  und  durch  fortschreitende  innere 
Reformen  in  der  Verwaltungsorganisation  in  technischer  und  sozialpolitischer  Beziehung 
sein  bisheriges  Übergewicht  sichern  und  dauernd  erhalten.  Keine  chinesische  Mauer 
schützt  ein  Volk  vor  dem  Untergang,  wohl  aber  hebt  es  fortgesetzte  Kulturarbeit  und 
erhöhte  Schlagkraft  zu  Wasser  und  Land  an  die  Spitze  der  Menschheit! 


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Literaturbericht 


139 


In  dem  Aufsatz  «Die  Verteilung  der  Industrien  auf  die  klimatischen 
Zonen“  revidiert  der  Verfasser  die  bislang  festgehaltene  Anschauung,  daß  die  Ver- 
schiedenheiten des  Klimas  mit  all  seinen  Einflüssen  auf  die  Lebenskraft  und  Lebens- 
bet&tigung  der  Menschen  einerseits  und  die  Produktionskraft  des  Bodens  anderseits 
eine  bestimmte  Verteilung  der  Industrien  und  der  landwirtschaftlichen  Produktionen 
geradezu  vorher  bestimmt  hat  Das  Ergebnis  dieser  Revision  geht  dahin,  daß  die  zahl- 
reichen Erfindungen  und  bedeutenden  Fortschritte  auf  dem  Gebiete  der  Technik  die 
Widerstände  des  Klimas  vielfach  durchbrochen  haben  und  die  Allgemeingültigkeit  jenes  • 
Satzes  keineswegs  mehr  behauptet  werden  kann.  Tatsächlich  haben  sich  ja  auch  in  den 
heißen  Zonen  Indiens  und  Mittelanierikas  derzeit  bereits  mancherlei  Industrien  ent- 
wickelt, die  man  ehedem  nur  für  nördliche  Zonen  bestimmt  erachtete.  Obwohl  der  Ver- 
fasser davor  znrückschreckt,  daß  man  deshalb  anuehinen  düife,  die  tropischen  Zonen 
würden  im  Laufe  der  Zeiten  wieder  ein  wirtschaftliches  Übergewicht  erlangen,  denn  es 
müsse  erst  noch  erwiesen  werden,  daß  durch  das  Tropenklima  die  physische  und  geistige 
Kraft  der  Rassen  uicht  erschlaffe  und  eine  Kultnrblüte  in  diesen  Zonen  ohne  fnsche  Zuflüsse 
aus  den  nördlichen  Zonen  erhalten  werden  könne:  so  meint  er  doch,  daß  durch  jene 
Erfahrung  der  Gedanke,  daß  der  Staat  keine  Kolonien,  der  heimische  Arbeiter  und  die 
heimische  Arbeit  keinen  Schutz  benötige,  da  inan  immer  und  überall  im  freien  Austausch 
das  Notige  bekommen  respektive  zu  vergeben  haben  werde,  hinfällig  geworden  sei.  Es 
konnte  die  Zeit  kommen,  in  der  die  Gebiete,  welche  die  notwendigen  Nahrungs-  und 
Genußmittel  der  nördlichen  Kulturvölker  erzeugen,  selbst  auch  die  ihnen  notigen  Industrie- 
artikel erzeugen  oder  unter  die  Herrschaft  einer  der  Nationen  gefallen  sind  (der  Ver- 
fasser denkt  hier  offenbar  an  Amerika  und  England),  denen  es  gelungen  ist,  sich  die 
Errungenschaften  der  modernen  Technik  vollkommen  zu  Nutze  zu  machen.  Daher  bandle 
es  sich  für  die  emporstrebeuden  Nationen  gar  nicht  darum,  ob  sie  Exportindustriest&aten 
sind  und  sein  wollen,  sondern  darum,  «ob  sie  es  vermögen,  rechtzeitig  sich  einen  Macht- 
bereich durch  alle  Klimazonen  za  schaffen,  der  sie  durch  die  Natur  seiner  Bodenerzeug- 
nisse in  Stand  setzt,  die  Bedürfnisse  ihrer  Bevölkerungen  an  Rohprodukten  und  Industrie- 
Erzeugnissen  nach  allen  Richtungen  hin  selbst  zu  decken“.  Auch  hier  ist  also  das 
allerdings  unausgesprochene  Endergebnis  der  Abhandlung,  Deutschland  müsse  sich 
industriell  entwickeln,  eine  kräftige  Flotte  und  entsprechende  Kolonien  schaffen,  wenn 
es  sich  selbständig  unter  den  Vormächten  der  Welt  behaupten  wolle. 

Dem  gleichen  Ziele  strebt  auch  der  letzte  Aufsatz  des  Werkes  «Weltpolitik 
und  Sozialreform“  zn.  Von  den  vielen  Parteien  Deutschlands  steht  eine  ganze  Anzahl 
anf  dem  Standpunkt,  daß  die  Machterweiterung  angestrebt  werden  solle,  nicht  aber  die 
Sozialreform,  die  vielleicht  auf  diesem  Wege  sogar  zu  umgehen  wäre.  Ein  anderer  Teil 
fordert  wiederum  die  Sozialreform  in  der  Hoffnung,  dadurch  der  Machterweitcrungspolitik 
zu  entgehen.  An  diese  nun  wendet  sich  der  Verfasser  und  bemüht  sich  darzutun,  wie 
Weltpolitik  und  Sozialreform  der  gleichen  Quelle  entstammen  und  sich  wechselweise 
bedingen  und  unterstützen.  Beide  gehen  aus  dein  brennenden  Verlangen  hervor,  das  eigene 
Volk  in  seinem  Wohlstand,  seiner  Stärke  und  Kultur  zu  heben.  Dieses  Verlangen  kann 
nur  dadurch  erreicht  werden,  meint  der  Verfasser,  daß  der  Staat  politisch  auf  der 
breitesten  Unterlage,  dem  ganzen  Volke  aufgebaut  bleibt,  daß  der  Wohlstand,  die  Lebens- 
haltung und  Kultur  der  tieferen,  breiten  Schichten  des  VolkeB  in  Industrie  und  Land- 
wirtschaft gehoben  wird  und  daß  anderseits  die  Bezugsquellen  der  für  die  Ernährung 
der  Massen  und  die  Versorgung  der  Industrie  notwendigen  Rohprodukte  und  ebenso  die 
Absatzmärkte  der  erstarkten  Industrie  offen  gehalten  und  für  alle  Eventualitäten,  eventuell 
also  durch  Besitzergreifung  gesichert  werden.  Durch  die  Hebung  des  Wohlstandes  in  den 
Arbeitermassen.  der  physischen  und  geistigen  Kräfte  des  einzelnen  Arbeiters  hofft  der 
Verfasser  die  Güte  und  Konkurrenzfähigkeit  der  industriellen  Produkte  und  damit  die 
Erleichterung  des  Kampfes  um  die  Beherrschung  der  Märkte  zu  gewinnen,  rückwirkend 
aber,  durch  die  Erfolge  der  Weltmachtpolitik  den  Wohlstand  der  Massen  fester  zu  gründen. 
So  schließt  das  Werk  mit  einem  mächtigen  Appell  an  alle  Parteien,  insbesondere  die 
sozialdemokratische,  iin  wohlverstandenen  eigenen  Interesse  wie  im  .Staatsinteresse  die 
Sozialreform  zu  fördern  und  die  Weltmachtpolitik  zu  unterstützen. 


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14U 


Literaturbericht. 


Wie  immer  man  sich  dem  lcühnen  Gedankenflug,  den  auf  ferne  Zeiten  hinaus 
berechneten  Planen  des  Verfassers  entgegenstellen  mag,  »ei  es,  daß  man  sich  in  chau- 
vinistischer Weise  über  die  Schwierigkeiten  ihrer  Verwirklichung  hinwegsetzend  sie 
billigt,  sei  es,  daß  man  sie  als  Phantasmagorien  erklärt,  sei  es,  daß  man  sie  als  der 
betroffene  Fremde  entrüstet  zurückweist:  immer  wird  man  das  eine  zugeben  müssen, 
daß  der  Autor  mit  packenden  Worten  eine  mögliche  Entwicklung  der  Weltwirtschafta- 
zustände  schildert  und  mit  Recht  verlangt,  daß  sich  die  Völker  für  diese  Entwicklung, 
diesen  möglicherweise  nahe  bevorstehenden  Kampf,  rüsten.  Aber  dieser  Appell  ist  nicht 
bloß  an  das  deutsche  Volk  gerichtet,  er  richtet  sich  mehr  noch  an  andere  Völker;  denn  die 
Völker  werden  sich  in  einem  solchen  Kampfe  nur  dann  behaupten,  wenn  sie  die  eigene 
Kraft  aufs  höchste  gesteigert  und  das  vom  Schicksal  zugewiesene  Gebiet  vollkommen 
auszunützen  verstanden  haben.  Andernfalls  könnte  ihnen  nach  den  Worten  deB  Evangeliums 
das  vergrabene  Pfund,  das  W’enige,  das  sie  haben,  von  den  Mächtigen  genommen  werden. 
Das  möchten  die  Parteien  und  Fraktionen  wohl  erwägen,  die  ihrer  Interessen  wegen  die 
Entwicklung  der  Staats-  und  Volkswirtschaft  zurückhalten.  Juraschek. 


ZEITSCHRIFTEN- ÜBERSICHT. 


Bei  den  Redaktion  eingelaufene  Bücher  und  Schriften.1) 

Slnnstem  A.  i Di«  F,at<t*hnDf  «irr  gewerkschaftlichen  Arbeiterbewegung  im  deutschen  Sattlergewerbe. 
I Üblngen,  Mohr,  ÜJ02.  (139  8.) 

Bunul  J.\  Studien  iur  Sozial-  und  Wirtschaftspolitik  Ungarns.  Leipzig,  Dunrker&  liamblot.  1902.  (231  S ) 
<V.:  Die  holländischen  Arbeitskammeni,  Ihr»'  Entstehung,  Organisation  und  Wirksamkeit  TübSugcn, 
Mohr,  1903. 

JuUttti'trgx  Die  Kartelle  und  die  deutsche  Kartellgesetzgebnng.  Berlin,  Vablro  F.,  1903. 

A *«<»//  Tk.x  (iesaminelte  Beiträge  zur  Rechts'  und  Wirtschaftsgeschichte,  vornehmlich  de*  deutschen 
Bauernstandes . Tübingen,  H.  Laupp,  1902.  (485  S ) 

l.aytr  M.  I Prinzipien  des  Enleiguungsrechtes.  Leipzig,  Dunrkrr  it  llumblot,  1902.  (660  8) 

Menzel  AH.'  Die  Kartelle  and  die  Rechtsordnung.  Leipzig,  Duncker  & llumblot,  1902.  (79  8.) 

O/Rel  A.t  Die  Baum  wolle  nach  Geschichte,  Anbau,  Verarbeitung  und  Handel  sowie  nach  ihrer  Stellung 
im  Volksleben  und  in  der  Staatswirtsehalt.  Leipzig,  Duncktr  tc  llumblot,  I9U2-  74.%  8 ) 

Orter  R. : Wie  stellen  wir  uns  zu  «len  Kartellen  und  Syndikaten  ? Frankfurt  a.  M.,  Sanerl&nder,  1902.  (29  8.) 

i'iefer  A.  und  Simen  H. ; Die  Herabsetzung  der  Arbeitszeit  für  Frauen  und  die  Erhöhung  des  Schutzalter*  ftlr 
Jugendliche  Arbeiter  in  Fabriken.  (Schriften  der  Gesellschaft  für  soziale  Reform.)  iHell  7 und  8.) 
Jena,  Fischer  O , 1902.  (164  8.) 

Sehwikler s Die  städtischen  Hausdienstboten  in  Graz.  ( Veröffentlichungen  des  statistischen  .semiuar*  der 
Universität  Ora».  Heft  1.)  Graz,  Verlagsbuchhandlung  .8  jrrla,  1903.  (40  8.) 

Seelman w tf.i  Die  preußische  Ministerialanweisung  vom  6.  Dezember  1899.  Berlin-Gronewald,  Troecbel  A., 
1903.  (180  S.) 

Seel  mann  H.  j Di«  preußische  Ministerialanweisung  vom  17.  November  1899.  Beriln-Grunewalii.  Trosche!  A-, 
1908.  (139  8.) 

i ‘eye  E,  i Über  die  Hübe  der  verschiedenen  Zinsarten  und  ihre  wechselsoitige  AbbEngigkeil,  Jena,  1902.  (94  8.) 

U etffH.i  Die  russische  Naphtbaindustrie  und  der  deutsche  Petroleumnurkt.  Tübingen,  Mohr,  1902.  (918.) 

Zetffl  G..  Nationalökonomie  der  teeboisrhen  Betriebs  kraft.  Erstes  Buch:  Grundlegung  Jena.  Fischer  O., 
1908.  (228  8.) 

CnuJerlirr  E. : I/Kroliillon  £eonomtque  du  zlx  slfrcle,  Anglaterre,  Relfciquc,  France,  Etats  Unis.  Bruxelles, 
Lamertin  II.,  1303.  (948  8.) 

f fettete  y.  und  VanHervtlHe  E.  t Le  8»ciaii*ine  en  Bcdgique  Paris  (5c),  Giard  & E.  llrlöre,  191*3  (498  8) 

Offite  Hi  Trav.*il\  L es  Industries  4 Domicile  en  Belgique.  Volume  IV.  Bruxelles,  1902.  (315  8.) 


’)  Autler  den  hier  genannten  Ist  bei  der  Redaktion  noch  eine  größere  Zahl  von  Büchern  und 
Schriften  cingelaufen,  die  sich  bereits  ln  den  HXnden  der  Rezensenten  befinden 


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DAS  RECHT  DER  ÖFFENTLICHEN  ARBEITEN. 

VON 

DR  THADDÄUS  BRESIEWICZ, 

K.  K.  LANDESG ER1CHT8RAT  IN  KRAKAU. 


öffentliche  Verwaltungsorgane  müssen  7,nr  Ausführung  der  für  die 
Verwaltung  notwendigen  Arbeiten  und  Erreichung  des  beabsichtigten  Erfolges 
die  geistigen  und  körperlichen  Kräfte  der  Menschen  sowie  die  sachlichen 
Mittel  in  Anspruch  nehmen.  Diese  Inanspruchnahme  ist  den  öffentlichen 
und  privaten  Arbeiten  gemeinsam.  Die  Arbeiten,  welche  von  der  Verwaltung 
zum  öffentlichen  Vorteile  unternommen  werden,  haben  außerdem  einige  nur 
ihnen  eigentümliche  Merkmale: 

1.  Es  ist  zuerst  die  Menge  und  tlroßartigkeit  der  öffentlichen  Arbeiten, 
welche  sie  von  Privatarbeiten  absondern; 

2.  dann  ist  es  die  Person  des  Unternehmers,  welche  gewöhnlich  die 
Verwaltungsverbände  vorstellen; 

3.  vor  allem  ist  es  aber  der  Zweck  des  öffentlichen  Wohles,  welcher 
diesen  Arbeiten  ein  besonderes  Gepräge  aufdrückt. 

Dieser  Zweck  führt  hauptsächlich  herbei,  daß  öffentliche  Arbeiten  ein 
Stück  öffentlicher  Verwaltung  bilden.  Zur  Erlangung  dieses  Zweckes  sind 
aber  die  Vorschriften  des  allgemeinen  bürgerlichen  Gesetzbuches  unzu- 
reichend; die  ans  obigen  Arbeiten  entstehenden  Verhältnisse  werden  demnach 
dem  Privatrechte  entzogen  und  dem  Verwaltungsrechte  zugewiesen.  Das 
Verwaltungsrecht  hat  besondere,  nur  den  öffentlichen  Arbeiten  eigentümliche 
Vorschriften  ausgebildet  zur  Regelung  der  Rechtsverhältnisse: 

1.  der  Staatsverwaltung  und  der  Selbstverwaltung  zum  Unternehmer; 

2.  der  an  den  Arbeiten  Beteiligten  untereinander: 

3.  des  Unternehmers  gegenüber  dritten,  sowohl  bei  don  Arbeiten 
mitwirkenden,  als  auch  den  durch  sie  berührten  Personen. 

Die  Enthüllung  und  Entwicklung  der  Vorschriften,  welche  die  öffent- 
lichen Arbeiten  beherrschen,  und  die  systematische  Ordnung  der  gemeinsamen 
Rechtsgrundsätze  ist  der  Zweck  dieser  Abhandlung.  Die  nachfolgende  Dar- 
stellung beruht  auf  einer  großen  Anzahl  von  Reichs-  und  Landesgesetzen; 
meistenteils  wurden  sie  für  einzelne  Fälle  erlassen  und  sind  auf  analoge 

ZelUcbrlft  ftir  VolkivrirUchaft,  KoxlalpoUtik  and  Verwaltung.  XII.  Band.  1 1 


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142 


Bresiewicz. 


Verhältnisse  unanwendbar.  Mit  der  zunehmenden  Anzahl  der  öffentlichen 
Arbeiten  wiederholen  sie  sich  jedoch  so  oft,  dal!  sie  als  AustliiU  derselben 
Ideen  erscheinen  müssen  und  dem  aufmerksamen  Leser  eine  unerwartete 
Rechtsfölle  aufweisen. 

I.  Beirrilf  der  öffentlichen  Arbeiten. 

Der  Ausdruck  .öffentliche  Arbeiten*  wird  in  der  österreichischen 
Gesetzgebung  nicht  angewendet,  obwohl  es  in  Österreich  ein  Ministerium 
für  öffentliche  Bauten  gegeben  hat.1)  Sein  Wirkungskreis  in  Bausachen 
umfaßte  sämtliche  Agenden  des  Straßen-,  Wasser-  und  Hochbaues  sowie 
der  Eisenbahnen,  vorbehaltlich  der  dem  Ministerium  des  Innern  zustehenden 
Einflußnahme  auf  die  Baupolizei  und  Enteignungen.  Mit  Auflösung  dieses 
Ministeriums  im  Jahre  1851!  verliert  sich  auch  der  Begriff  .öffentliche 
Arbeiten*.  Unsere  Aufgabe  wird  wesentlich  erleichtert  durch  die  Unter- 
suchung, was  fßr  ein  Inhalt  mit  diesem  Ausdrucke  in  anderen  Ländern 
verbunden  wird: 

In  Deutschland  versteht  man  unter  .öffentlichen  Arbeiten*  die  gesamte 
Bautätigkeit  des  Staates,  mag  dieselbe  nur  im  fiskalischen  oder  im  gesell- 
schaftlichen Interesse  sich  vollziehen.  Sie  umfaßt  den  Hochbau,  Straßenbau. 
Wasserbau  und  Neubau  der  Eisenbahnen.  Dagegen  werden  zu  öffentlichen 
Arbeiten  nicht  gerechnet:  die  Arbeiten  der  Kommunalverhände.  das  Landes- 
meliorationswesen, der  Festungsbau,  wie  auch  die  Unterhaltung  und  der 
Betrieb  der  Eisenbahnen.  Der  Ausgangspunkt  des  Begriffes  ist  also  nicht 
rechtlicher,  sondern  technischer  Art.*) 

Desgleichen  ist  in  Italien  trotz  des  vorhandenen  Gesetzbuches3)  weder 
im  Gesetze  noch  in  der  Literatur  der  Begriff  der  öffentlichen  Arbeiten  zu 
finden:  man  kennt  nur  den  Wirkungskreis  des  Ministeriums  der  öffentlichen 
Arbeiten,  welcher  umfaßt: 

’)  Das  Ministerium  für  Handel.  Gewerbe  und  öffentliche  Bauten  wurde  mit  Aller- 
höchster Entschließung  vom  12.  .September  1859.  R.-G.-Bl.  Nr.  193.  aufgelöst. 

7)  In  Deutschland  finden  sich  die  Vorschriften  für  das  öffentliche  Bauwesen  zum 
Teil  in  den  Wege-  und  Wassergesotzen  sowie  im  Knteignungsgesetze,  ihrem  größeren 
Teile  nach  bestehen  sie  in  Dienstanweisungen  technischer  und  Hnanzwirtschaftlicher 
Natur  über  den  Umfang  des  Bauwesens,  die  Grundsätze  fflr  die  technische  Herstellung 
und  Unterhaltung  der  Bauwerke,  das  Verdingen  ganzer  Bauten  oder  einzelner  Arbeiten, 
die  Beschaffenheit  des  zu  verwendenden  Materials,  die  Veranschlagung  und  Revision  der 
Bauten,  die  Kassen-  und  Kechnurtgsgebarung.  (Leuthold  in  Stengels  Wörterbuch  des 
Deutschen  Verwaltungsreehts,  I.,  S.  183.) 

*)  Nur  iu  Italien  bestellt  ein  umfangreiches  Gesetz  über  öffentliche  Arbeiten 
„Codice  dei  luvori  pubblici*  vom  20.  Mftrs  1865;  cs  enthält  in  882  Artikeln  Bestimmungen 
über  den  Wirkungskreis  des  Ministeriums  der  öffentlichen  Arbeiten.  Hinrichtung  der 
Zivilgeuiebchörden,  über  Staat«-  und  Provin/ialstraßen.  Gemeinde-  und  Ortswege,  über 
Wasserbauten  an  Flüssen.  Bachen.  Seen  und  Kanälen,  über  Häfen  und  Lenchttünne,  über 
Staats-  und  Privateisenbaiinen,  schließlich  über  Verträge,  betreffend  die  Arbeiten  des 
Staates  und  deren  vollzug.  Dieses  Gesetzbuch  hat  durch  nachträgliche  Gesetze  und 
Verordnungen  so  viele  Änderungen  und  Zusätze  erfahren,  daß  die  Aufzählung  dieser 
Nachträge  allein  im  Werke  von  Artur  Lion  (Trattato  Rulla  legislaxionc  dei  lavori 
pubblici.  Torino,  1900)  28  Seiten  in  8ft  einnimmt. 


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Da«  Recht  der  öffentlichen  Arbeiten. 


143 


1.  den  Bau  und  die  Erhaltung  der  Nationalstraßen,  der  Staatsbahnen, 
der  Staatskanäle  für  Schiffahrt  und  Bewässerung,  der  Staatshäfen  und  Leucht- 
tflrme,  der  zum  öffentlichen  Gebrauche  bestimmten  Gebäude  und  die  tech- 
nische Konservation  der  öffentlichen  Denkmale; 

2.  die  Aufsicht  über  die  konzessionierten  Eisenbahnen  und  subven- 
tionierten Gesellschaften  für  öffentliche  Arbeiten,  um  die  Erfüllung  der 
Konzessionsbedingungen  zu  sichern,  das  volkswirtschaftliche  Interesse  des 
Staates,  die  Sicherheit  und  Regelmäßigkeit  des  öffentlichen  Dienstes  zu 
fördern ; 

3.  die  Aufsicht  über  die  Arbeiten  der  Provinzen,  der  Städte  und 
Genossenschaften,  welche  die  Wege,  Kanäle,  Wasserschutz,  Entsumpfung 
der  Grundstücke  und  Handelshäfen  zum  Gegenstände  haben:  sie  beschränkt 
sich  auf  Prüfung  und  Genehmigung  der  technischen  Entwürfe  und  Sicherung 
der  Erfüllung  der  auferlegten  Bedingungen; 

4.  die  Verwaltung  und  Polizei  der  Staatsstraßen,  der  Staatsbahnen, 
der  Staatshäfen  und  Leuchttürmc.  der  öffentlichen  Gewässer,  der  Schiffahrts- 
einrichtungen und  Staatskanäle. 

Das  Gesetzbuch  umfaßt  also  nicht  nur  Vorschriften  über  Staatsarbeiten, 
sondern  auch  einige  Vorschriften  über  Provinzial-,  Gemeinde-  und  Privat- 
arbeiten, insoweit  sie  der  Aufsicht  der  Staatsverwaltung  unterliegen.  Die 
Artikel  319  bis  382  behandeln  die  Verwaltung  der  Staatsarbeiten  allein; 
diese  Vorschriften  wurden  durch  besondere  Gesetze1)  auf  alle  Provinzial- 
und  Gemeindearbeiten  anwendbar  erklärt.  Demnach  werden  in  Italien  als 
öffentliche  Arbeiten  betrachtet:  alle  Staatsarbeiten  für  öffentliche  Zwecke 
und  die  pflichtschuldigen  Arbeiten  der  Provinzen,  Gemeinden*)  und  kon- 
zessionierten Gesellschaften. 

Auch  in  Frankreich,  wo  die  Gesetzgebung3)  Über  öffentliche  Arbeiten 
so  sehr  ausgebildet  erscheint,  wird  der  rechtliche  Begriff  der  öffentlichen 
Arbeiten  von  keinem  Gesetze  gegeben;  das  Herkommen  und  die  reichhaltige 
Rechtsprechung  des  Conseil  d’Ktat  ersetzen  das  Fehlende:  Als  öffentlich 
wird  jede  Arbeit  anerkannt,  welche  die  Schaffung,  Einrichtung  und  Instand- 

*)  Gemeinde-  und  Provinzialgesetz  vom  4.  Mai  1898,  Artikel  166,  und  Vollzugs- 
Verordnung  vom  19.  September  1899,  Artikel  112. 

*)  Zu  den  obligatorischen  Arbeiten  der  Gemeinden  werden  jene  gezählt,  «eiche  die 
Geraeindewege,  Wasserleitungen,  kleinere  Handelshäfen,  andere  öffentliche  Anlagen, 
öffentliche  Rauten,  Bezirksgefungnis  und  Kirchhöfe,  für  die  Provinzen  nur  Provin2ialwege 
znm  Gegenstände  haben  (Gemeinde-  und  Provinzialgesetz  Artikel  175  und  286.) 

*)  In  Frankreich  bestehen  einige  Gesetze,  welche  auf  alle  öffentliche  Arbeiten 
Anwendung  finden.  Zu  diesem  zählt  das  Gesetz  vom  28.  Pluviose  an  VIII  betreffend  die 
Zuständigkeit  des  Präf,  kturrates  in  allen  aus  Anlall  der  öffentlichen  Arbeiten  entstandenen 
Streitsachen,  das  Gesetz  vom  8.  Mai  1841,  betreffend  die  Enteignung  der  Grundstücke, 
das  Dekret  vom  18,  November  1882  und  die  Verordnung  vom  14.  November  1887,  betreffend 
die  Vergebung  öffentlicher  Arbeiten,  die  Gesetze  vom  16.  September  1807  über  die 
Trockenlegung  der  Sümpfe  und  vom  29.  Dezember  1892  über  die  am  Privateigentums 
durch  Ausführung  öffentlicher  Arbeiten  verursachten  Beschädigungen.  Anllerdem  bestehen 
zahlreiche  besondere  Vorschriften  für  einzelne  Arbeiten,  wie  für  Wege,  Kanäle,  Eisen- 
bahnen. Handels-  und  Kriegshäfen  u s.  w. 

11* 


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144 


Br#*»iewicT. 


haltung  eines  dem  öffentlichen  Dienste  gewidmeten  unbeweglichen  Gegen- 
standes bezweckt  und  von  einem  öffentlichen  Verbände  oder  einer  öffent- 
lichen Anstalt  pflichtgemäß  ausgeführt  wird.1)  Der  Begriff  enthält  folgende 
Merkmale: 

1.  Die  Arbeit  muß  einen  unbeweglichen  Gegenstand  betreffen;  es  macht 
keinen  Unterschied,  ob  die  Anlage  von  neuem  hergestellt,  verbessert,  geändert 
oder  nur  erhalten  wird,  ob  sie  bestimmt  ist  ein  Kinkommeu  abzuwerfen 
oder  nicht. 

2.  Als  Unternehmer  kann  der  Staat,  ein  Departement,  eine  Gemeinde 
oder  sonst  eine  andere  den  Verwaltungsdienst  dieser  Verbände  besorgende 
Anstalt  auftreten.  Der  Charakter  öffentlicher  Arbeiten  wird  auch  dadurch 
nicht  geändert,  dall  die  Arbeiten  nicht  von  der  Verwaltung  selbst,  sondern 
von  einem  Vertragsschließer  auf  Rechnung  der  Verwaltung  oder  von  einem 
belieheneii  Unternehmer  auf  dessen  Rechnung  verrichtet  werden.  Diese 
Unternehmer  müssen  jedoch  in  Ausübung  der  öffentlichrechtlichen  Ver- 
pflichtung handeln;  die  Arbeiten,  welche  von  den  allgemein  nützlichen 
Gesellschaften  oder  Anstalten  aus  eigenem  Antriebe  unternommen  werden, 
zählen  nicht  zu  den  öffentlichen. 

8.  Der  Gegenstand  der  Arbeit  muH  dem  öffentlichen  Dienste  gewidmet 
sein.  Der  Begriff  öffentlicher  Arbeiten  umfufft  aber  nicht  nur  die  Verrichtungen 
am  öffentlichen  Gute  (an  Gassen,  Wegen,  Flüssen  und  Kanälen i,  sondern 
auch  den  Bau  der  öffentlichen  Denkmale,  der  Schulen.  Amtsgebäude, 
Markthallen  n.  s.  w.;  hingegen  sind  die  Arbeiten  betreffend  die  Staatsgüter 
und  Forste  sowie  auch  das  Privateigentum  anderer  öffentlicher  Verbände 
nicht  inbegriffen. 

Der  Rechtebegrifr öffentlicher  Arbeiten,  welchen  die  französische  Rechts- 
wissenschaft. ausgebildet  hat,  lädt  sich  auf  das  österreichische  Recht  nicht 
einfach  auwenden.  Unzweifelhaft  ist  nur,  dali  jene  Arbeiten  als  öffentliche 
zu  betrachten  sind,  durch  welche  die  öffentliche  Verwaltung  geführt  wird. 
Sie  erweisen  ihren  Zusammenhang  mit  dem  öffentlichen  Rechte  dadurch, 
daß  sie  in  den  Verhältnissen  nach  außen  nach  öffentlichem  Rechte  beurteilt 
werden.  Es  ist  also  am  richtigsten:  die  induktive  Untersuchungsmethode 
anzuwenden  und  zu  beachten,  welche  Arbeiten  in  der  Wirklichkeit  nach  den 
Regeln  des  Verwaltuugarechtes  behandelt  werden,  um  danach  den  Bereich 
der  öffentlichen  Arbeiten  Schritt  für  Schritt  zu  bestimmen.*)  Zu  diesem 
Zwecke  sind  die  Subjekte  und  Gegenstände  der  öffentlichen  Arbeiten  näher 
zu  untersuchen. 


A.  Die  Person  des  Unternehmers. 

1.  Der  Ausdruck  .öffentliche  Arbeiten“  fällt  oft  mit  dem  Begriffe 
der  Staatsarbeiten  zusammen;  unter  letzteren  versteht  man  alle  Arbeiten, 

!)  Ducrocq:  Cour«  de  droit  adminmtratif.  Paria,  1897,  II.,  S.  24C,  ff.  H.  Ber- 
thdlemy:  Traito  ebunentaire  de  droit  udminiatratif.  Pari«,  1901,  S.  .735  11’. 

*)  Vergl.  Otto  Mayer,  im  Arcliiv  für  Offentl.  Hecht,  1901,  8.  (15, 


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Da«  Recht  der  Öffentlichen  Arbeiten 


145 


welche  vom  Staate  verrichtet  werden,  also  sowohl  die  Arbeiten  Itir  Staats- 
güter und  Forste  wie  auch  den  Bau  öffentlicher  Gebäude,  der  Staatshahnen, 
die  Flutiregulierungen.  die  Hafenarbeiten,  Festungsbauten  u.  s.  w.  Allen 
diesen  Arbeiten  ist  gemeinsam,  daß  sie  auf  Kosten  des  Staates  ausgeführt, 
oft  von  denselben  Behörden  geleitet  werden,  und  daß  die  Art  und  Weise 
der  Ausführung  ähnlich  sein  können.  Ks  ist  also  kein  Wunder,  daß  für  alle 
diese  Arbeiten  gewisse  gemeinsame  Vorschriften  vorhanden  sind.  Ein  flüchtiger 
Überblick  läßt  jedoch  erkennen,  daß  /.wischen  dem  Bau  eines  Wirtschafts- 
hauses für  die  Güterverwaltung  und  einer  Flußregulierung  sowohl  in  Bezug 
auf  den  Zweck  als  auch  auf  ihre  rechtliche  Folgen  gewaltige  Unterschiede 
bestehen;  es  ist  also  einleuchtend,  daß  alle  diese  Arbeiten  nicht  denselben 
rechtlichen  Vorschriften  unterworfen  werden  können.  Nicht  alle  .Staatsarbeiten 
sind  als  öffentliche  Arbeiten  zu  betrachten. 

Auch  ist  der  Inhalt  der  öffentlichen  Arbeiten  mit  dem  Begriffe  der 
Staatsarbeiten  nicht  erschöpft:  die  öffentliche  Verwaltung  wird  nicht  nur 
vom  Staate,  sondern  auch  vom  Laude,  Bezirke,  der  Gemeinde  u.  s.  w.  geführt, 
und  alle  diese  Verwaltungskörper  können  auch  auf  dem  Gebiete  der  öffent- 
lichen Arbeiten  mitwirkeu.  Ob  die  Herstellung  und  Erhaltung  eines  öffentlichen 
Weges  vom  Reiche,  einem  Lande  oder  einer  Gemeinde  besorgt  wird,  kann  nur 
einen  quantitativen,  aber  keinen  qualitativen  Unterschied  hervorrufen.  Die  öster- 
reichische Gesetzgebung  kennt  indessen  keinen  alle  diese  Arbeiten  umfassenden 
Begriff';  sie  kennt  nur  Staats-,  Landes-,  Bezirks-  und  Gemeindearbeiten, 
also  nur  den  technischen  Begriff  öffentlicher  Arbeiten;  der  rechtliche  Begriff 
hat  sich  noch  nicht  herausgebildet.  — Wir  erhalten  auf  diese  Weise  den 
weiteren  Grundsatz,  daß  öffentliche  Arbeiten  nicht  nur  vom  Staate,  sondern 
auch  von  Selbstverwaltungskörpern  ausgeführt  werden  können,  und  in  allen 
diesen  Fällen  bleibt  ihr  rechtlicher  Charakter  derselbe;  es  sind  jedoch  nicht 
alle  von  diesen  Verwaltungskörperu  verrichteten  Arbeiten  als  öffentliche  zu 
betrachten. 

2.  Außerdem  gibt  es  Arbeiten,  welche  zwar  von  Privatpersonen 
unternommen  werden,  jedoch  das  öffentliche  Beste  sehr  nahe  berühren.  Wenn 
das  Zustandekommen  gewisser  Arbeiten  einzelnen  Bürgern  oder  einem  Kreise 
der  Grundeigentümer  notwendig  oder  nützlich  erscheint,  ist  es  nicht  die 
öffentliche  Verwaltung,  welche  diese  Arbeiten  durchführen  soll  und  nicht 
auf  Kosten  aller  Steuerzahler;  es  ist  der  Interessenten  Sache,  die  Arbeiten 
auf  eigene  Kosten  herzustelleu.  Die  Rolle  der  Verwaltung  beschränkt  sich 
auf  Erleichterung  der  gemeinsamen  Tätigkeit  und  auf  Veranlassung  der 
Arbeiten.  Die  Unternehmungen,  durch  welche  die  Grundstücke  gegen  Wasser- 
verheerungen geschützt  oder  in  ihrer  Ertragsfähigkeit  gehoben  werden,  liegen 
unmittelbar  im  Privatinteresse  der  Grundeigentümer.  Deswegen  werden  die 
betreffenden  Arbeiten  von  Wassergeuossenschaften  ausgeführt,  welche  ent- 
weder freiwillig  oder  unter  Mitwirkung  der  Behörde  auf  Grund  eines  Mehr- 
heitsbeschlusses gebildet  werden.  Dieser  Mehrheitsbeschluß  kann  die  Arbeiten 
durchführen  oder  auch  von  dercu  Vornahme  abstehen;  die  Genossenschaft 
hat  keine  Pflicht  zur  Vornahme  der  Arbeiten  und  kann  sieh  jederzeit  nach 


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14« 


Breeiewicz. 


Erfüllung  ihrer  Verbindlichkeiten  gegen  dritte  Personen  auflösen.1)  Diese 
Arbeiten  werden  zwar  im  genossenschaftlichen  Interesse  ausgeführt,  aber 
die  öffentliche  Verwaltung  hat  dabei  kein  entscheidendes  Wort,  weil  die 
gehofften  Vorteile  nicht  über  die  Mitglieder  der  örtlichen  Genossenschaft 
hinausreichen;  diese  Arbeiten  sind  nicht  als  öffentliche  zu  betrachten. 

Diese  Sachlage  ändert  sich  vollkommen,  wenn  die  Genossenschaft  im 
Gesetzeswege’)  gebildet  wurde,  oder  wenn  die  Arbeiten  zwar  von  der 
Genossenschaft  verrichtet,  jedoch  als  ein  aus  Landes-  oder  Staatsmitteln  zu 
unterstützendes  Unternehmen  erklärt  werden.3)  In  dieseu  Fällen  wird  ausge- 
sprochen, daß  die  Arbeit  im  öffentlichen  Interesse  liegt,  der  Vollzug  der 
Arbeit  wird  allenfalls  im  Zwangswege  gesichert,  der  Regierung  oder  der 
I «Indesselbstverwaltung  wird  eine  angemessene  Einflußnahme  auf  den  Gang 
des  Unternehmens  eingeräumt,  und  die  künftige  Erhaltung  der  herzustollenden 
Anlagen  wird  in  genügender  Weise  gesichert.  Durch  die  Gesetze,  welche 
die  Ausführung  obiger  Arbeiten  amrdnen.  wird  die  Genossenschaft  der 
Grundeigentümer  mit  ihren  Organen  der  öffentlichen  Verwaltung  einverleibt, 
und  die  von  ihr  geführten  Arbeiten  gewinnen  einen  öffentlichrechtlichen 
Charakter.  Öffentliche  Arbeiten  können  also  auch  von  den  zu  diesem  Zwecke 
gebildeten  Genossenschaften  ausgeführt  werden,  wenn  sie  auf  Grund  einer 
öffentlichen  Verpflichtung  haudeln. 

3.  Die  Erfahrung  lehrt,  daß  die  Arbeiten  für  öffentliche  Zwecke  auch 
ohne  gesetzliche  Verpflichtung  oft  von  Privatpersonen  und  Privatgesell- 
schaften ausgeführt  werden.  Zahlreich  sind  die  Beispiele  besonders  auf  dem 
Gebiet«  des  Verkehrswesens;  Öffentliche  Wege,  Brücken.  Überfuhren.  Schiff- 
fahrtskauäle,  Eisenbahnen,  Telegraphen-  und  Femsprechleitungeu  werden  oll 
auf  Grund  der  Bewilligung  der  Staatsorgane  von  Privaten  gebaut  und 
betrieben.  Neben  ihnen  bestehen  Staatsanlagen  derselben  Gattung.  Sowohl 
die  Staats-  als  die  Privatanlagen  verfolgen  denselben  Zweck  und  verrichten 
gleichzeitig  denselben  öffentlichen  Dienst.  Soll  z.  B.  der  Bau  einer  Eisenbahn 
durch  eine  Aktiengesellschaft  anders  behandelt  werden  als  der  Bau  einer 
Staatsbahn?  Wäre  es  überhaupt  möglich,  daß  die  Aktiengesellschaft  die 
Eisenbahn  erbaue,  ohne  die  Gewalt  der  öffentlichen  Verwaltung  in  Anspruch 
zu  nehmen?  Nein.  Die  Arbeiten  des  Konzessionärs  müssen  den  Arbeiten  der 
Verwaltungskörper  gleichgestellt  werden  und  sind  somit  öffentliche  Arbeiten. 

Es  muß  jedoch  hervorgehoben  werden,  daß  nicht  jede  einem  Privat- 
unternehmer erteilt«  Baukouzession  den  betreffenden  Arbeiten  den  Charakter 
der  öffentlichen  Arbeiten  verleiht,  da  mit  dem  Namen  .Baukonzessionen* 
verschiedenartige  Bewilligungen  der  Behörde  bezeichnet  werden,  welche  mit 
der  Verleihung  öffentlicher  Arbeiten  keine  Ähnlichkeit  besitzen.3)  Die  meisteu 

')  g 24  des  Reichswasserrechtsgesetzes. 

*)  § 41  Steiermark.,  § 42  lmkow.,  § 43  niedcrOstcrr.,  § 46  liühm.,  § 45  sonstiger 
Wasserrechtsgesetze. 

>)  Gesetz  vom  30.  Juni  1884,  R.-G.-BI.  Sr.  116,  § 4. 

‘i  Vergl.  Greste  Ranelletti:  Teoria  generale  delle  autorizzazioni  e concessioni 
amuiiuistrative.  Torino,  1894. 


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Da«  Hecht  der  öffentlichen  Arbeiten.  147 

Kaliwerke  und  Anlagen  erfordern  die  Genehmigung  der  Baubehörde;  nie  ist 
nur  eine  einfache  Bestätigung,  daß  der  beabsichtigte  Bau  den  Gesetzen 
entspricht;  ist  letzteres  festgestellt,  so  muß  die  Genehmigung  erteilt  werden. 
Bei  anderen  Bauten,  wo  die  Möglichkeit  des  Widerspruches  mit  dem  öffent- 
lichen Wolile  besteht,  entscheidet  die  Baubehörde  auf  Grund  des  freien 
Ermesseus,  ob  die  Ausübung  des  Baurechtes  den  diesbezüglichen  Vorschriften 
des  Gesetzes  entspricht;  diese  Erlaubnis  räumt  nur  das  Hindernis  des  polizei- 
lichen Verbotes  weg,  aber  sie  gibt  dem  Bauwerber  kein  neues  Recht,  welches 
er  bis  jetzt  nicht  besaß.  Es  kommen  aber  auch  Fälle  vor,  wo  die  Verwaltung 
zur  Förderung  der  wirtschaftlichen  Zwecke  dem  Unternehmer  neue  öffent- 
liche Hechte  verleiht,  wie  z.  B.  die  Wasser-  und  Straßenbenutzungsrechte. 
Er  kann  jedoch  die  verliehenen  Hechte  benutzen  oder  unbeuutzt  lassen.  Wenn 
auch  im  einzelnen  Falle  noch  die  Pflicht  zur  Ausübung  des  Hechtes  hinzu- 
tritt, werden  daraus  keine  öffentlichen  Arbeiten,  weil  sie  nur  einen  privat- 
wirtschaftlichen Zweck  verfolgen.  Öffentliche  Arbeiten  sind  nur  dann  vor- 
handen: 

a)  wenn  die  Herstellung  oder  Erhaltung  eines  gemeinnützigen  Unter- 
nehmens beabsichtigt  wird,  welches  sonst  der  öffentlichen  Verwaltung 
obliegen  würde; 

!>)  wenn  die  öffentliche  Verwaltung  diese  Arbeiten  dem  Unternehmer 
überträgt: 

rj  wenn  der  Beliehene  die  Verpflichtung  übernimmt,  das  Unternehmen 
auszuführen  und  zu  verwalten.  Der  Unternehmer  tritt  hier  in  die 
Hechte  des  Verleihenden  ein. 

Der  Unternehmer  der  öffentlichen  Arbeiten  muß  also  immer  auf  Grund 
einer  öffentlichen  Verpflichtung  handeln;  es  macht  dabei  keinen  Unterschied, 
ob  die  Verpflichtung  vom  Gesetze  auferlegt  oder  freiwillig  durch  öffentlich- 
rechtliches  Obereinkommen,  Konzessionsannahme  u.  s.  w.  übernommen  wurde. 

B.  Der  Gegenstand  des  Unternehmens. 

Alle  Arbeiten,  welche  vom  Staate  oder  den  Selbstverwaltungskörpern 
vorgenommen  werden,  dienen  schließlich  der  öffentlichen  Verwaltung.  Nicht 
bei  allen  jedoch  ist  der  Zweck  so  wichtig,  daß  er  die  Ausschließung  des 
Privatrechtes  rechtfertigen  könnte. 

1.  Vor  allem  gilt  da»  bei  Arbeiten,  welche  eine  Lieferung  der  beweg- 
lichen Sachen  bezwecken.  Die  Lieferanten  des  Staates  genießen  zwar  Vor- 
züge der  Unpfändbarkeit1)  bezüglich  der  Lieferungsgegenstände,  aber  die 
Anschaffung  derselben  erfolgt  nach  allgemeinen  privatreclitliclieii  Grund- 
sätzen; denn  diese  Sachen  kommen  nur  mit  ihrem  Vermögenswert  in  Betracht, 
und  es  genügt  ihnen  vollkommen  der  Schutz,  den  solche  Werte  durch  das 
Zivilrecht  erhalten.  Öffentliche  Arbeiten  haben  also  zum  Gegenstände  nur 
unbewegliche  Sachen,  wie  im  französischen  Rechte. 

*)  Hoflickrete  v,nn  13.  Mai  IHM.  ,1.  Ü.-S.,  10» 6.  und  vom  15.  Februar  1S15. 
J.  fi.-S.,  1132. 


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118 


Bresiewicz. 


2.  Die  Arbeiten  des  Staates  und  der  Selbstverwaltungsverbände  werden  ent- 
weder am  Patrimonialgute  oder  an  anderen  Gutem  ausgeführt.  Die  ersteren 
dienen  mittelbar  auch  dem  öffentlichen  Nutzen,  weil  sie  doch  den  Zweck  haben, 
das  Stammvermögen  der  Verwaltungsverbände  zu  vermehren,  und  dieses 
Vermögen  dient  zur  Deckung  öffentlicher  Auslagen.  Unmittelbar  handelt  es 
sich  jedoch  um  einen  wirtschaftlichen  Zweck  der  genannten  Verbände  und 
nicht  um  öffentliche  Verwaltung.  Die  Arbeiten,  welche  das  Stammvermögen 
öffentlicher  Verbände  betreffen,  sind  nur  I’rivatarbeiten.  Das  Privatrecht  reicht 
vollkommen  aus,  uiu  den  Zweck  dieser  Arbeiten  zu  sichern,  und  es  ist  kein 
Grund  vorhanden,  um  sie  den  Bestimmungen  des  Privatrechtes  zu  entziehen. 

3.  Außer  dem  Stammvermögen  besitzt  der  Staat  und  die  Selbstver- 
waltungsverbände ein  Verwaltungsvcrmögen,  welches  den  Zwecken  des  öffent- 
lichen Dienstes  gewidmet  ist.  Der  Staat  haut  Amtsgebäude,  Universitäten 
und  Mittelschulen,  das  Land  Spitäler,  die  Gemeinden  Rathäuser,  die  Kon- 
kurrenzpflichtigen die  Kirchen  und  Pfarrgebäude.  Allen  diesen  Bauten*)  ist 
gemein,  daß  sie  dem  öffentlichen  Dienste  gewidmet  sind,  und  daß  die  Geld- 
mittel zum  Baue  auf  die  Art  uud  Weise  der  Steuer  aufgebracht  werden ; 
die  Kirchen-  und  Schulkonkurrenzen  können  zur  Herstellung  oder  Krhaltung 
der  betreffenden  Bauten  von  Staats  wegen  gezwungen  werden.  Trotzdem  werden 
sie  dem  Privatrecht  nicht  entzogen;  der  Unternehmer  erwirbt  die  nötigeu 
Grundstücke  und  errichtet  die  Bauten  nach  denselben  Grundsätzen  wie  sein 
Nachbar.  Der  Grund  dieser  Erscheinung*)  liegt  darin,  daß  bei  obigen  Bauten,  in 
welchen  sächliche  und  persönliche  Mittel  zu  einem  öffentlichen  Zwecke  ver- 
einigt werden,  der  Schwerpunkt  der  Leistungen  in  den  persönlichen  Mitteln 
liegt.  Wenn  das  Privatrecht  die  Herstellung  oder  weitere  Benutzung  dieser 
Gebäude  unmöglich  macht,  so  mag  die  Anstalt  anderwärts  untergebracht 
werden.  Der  Zweck  dieser  Gebäude  ist  an  sich  selber  nicht  genug  wichtig 
und  zugleich  gegen  die  privatrechtlichen  Störungen  derart  emptindlich,  daß 
die  betreffenden  Arbeiten  dem  Privatiechte  entzogen  werden  müßten. 

Daraus  erhellt,  daß  unsere  Gesetzgebung  grundsätzlich  den  Hochbau  zu 
den  öffentlichen  Arbeiten  nicht  zählt.  Einige  unbedeutende  Ausnahmen  bestehen 
nur  hinsichtlich  jener  Hochbauten,  bei  denen  der  Zweck  so  ernst  ist.  daß 
seine  unbedingte  Aufrecbthaltuug  zur  guten  Ordnung  des  Gemeinwesens 
gehört.  Ein  Beispiel  liefern  die  Festungswerke.  Auch  bei  Anstalten,  welche 
nur  durch  Betrieb  der  Öffentlichkeit  dienstbar  gemacht  werden  können,  ist 
die  Ausführung  und  Erhaltung  der  für  die  Betriebszwecke  unumgänglichen, 
mit  der  Anstalt  innig  verbundenen  Gebäude  als  öffentliche  zu  betrachten. 
Als  Beispiele  gelten  die  Betriebsgebäude  der  Eisenbahnen,5)  die  Leucht- 
türme und  die  Bauten  für  Schiffahrtskaual-  und  Wasserleitungszwecke. 

')  Im  französischen  Rechte  werden  sie  als  domaine  pnblic  und  die  betreffenden 
Arbeiten  als  travauz  publica  betrachtet. 

*)  Vergl.  Otto  Mayer:  Eisenbahn-  und  Wegerecht.  (.Archiv  für  dffcntl.  Recht, 
1901,  S.  65.  ff.) 

3)  Gesetz  roiu  18.  Februar  1878,  R.-G.-Bl.  Sr.  30,  9 3.  Der  Verwaltungsgerichtshof 
bat  die  Enteignung  auch  zum  Zwecke  der  Herstellung  eines  Wohnhauses  für  die  Balm- 
heamten  der  htatiun  zugcstaudeu.  (Erkenntnis  vom  11.  Mai  1887,  Budwidski  Nr.  3525.) 


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Du  Recht  der  öffentlichen  Arbeiten. 


140 


4.  Eit  gibt  auch  «ine  Menge  öffentlicher  Unternehmungen,  in  welchen 
der  Zweck  wesentlich  durch  die  geeignet  helgerichtete  Sache  erreicht  wird 
und  in  ihr  sicli  verkörpert,  wie  Museen,  Markthallen,  Parkanlagen.  Volks- 
bäder. Diese  dienen  unmittelbar  dem  öffentlichen  Zwecke  und  erfüllen  den 
öffentlichen  Dienst  durch  ihre  Beschaffenheit,  ihr  bloßes  Bestehen:  der 
Staat  und  die  Selbstverwaltungskörper  verwalten  diese  Sachen.  Öffentliche 
Arbeiten  werden  hier  aberall  nicht  daraus,  weil  die  Wucht  des  öffentlichen 
Vorteiles  an  der  Herstellung  und  an  dem  unversehrten  Bestände  dieser  Sachen 
fehlt.  Dasselbe  gilt  von  Denkmalen,  Kunstgebäuden  u.  s.  w.1) 

Nach  obiger  Ausscheidung  bleiben  als  Gegenstand  öffentlicher  Arbeiten 
nur  jene  Sachen,  welche  dem  gewöhnlichen  privatrechtlichen  Verkehre  ent- 
zogen und  als  öffentliches  Gut  betrachtet  werden.  — Unter  dem  Ausdrucke 
.öffentliches  Gut*  kann  man  jedoch  nicht  nur  jene  Sachen  begreifen,  welche 
im  Sinne  des  bürgerlichen  Gesetzbuches*)  als  privatrechtliches,  durch  den 
usus  publicus  beschränktes  Eigentum  des  Staates  oder  der  Selbstverwaltungs- 
körper aufgezählt  werden,  sondern  alle  Sachen,*)  welche  vermöge  ihrer 
Beschaffenheit  bestimmt  sind,  dem  wichtigen  öffentlichen  Interesse  unmittelbar 
zu  dienen.4'  Das  öffentliche  Interesse  ist  mit  dem  usus  publicus  nicht 
erschöpft.  Der  usus  publicus  an  Wegen.  Plätzen.  Gassen,  Flössen  u.  s.  w. 
ist  nur  ein  Merkmal,  durch  welches  das  öffentliche  Gut  sich  erkennen  läßt. 
Die  Bedeutung  des  öffentlichen  Gutes  besteht  darin,  daß  durch  dasselbe 
unmittelbar  öffentliche  Verwaltung  geführt  wird.  Der  Natur  des  öffentlichen 
Gutes  tut  es  keinen  Eintrag,  wenn  eine  amtliche  Tätigkeit  noch  dazwischen 
kommt,  um  die  Leistung  der  Sache  jedesmal  zugänglich  zu  machen  und 
zu  vermitteln,  wie  z.  B.  beim  Eisenbahnbetrieb  und  bei  der  Schleußen- 
bedienung;  durch  diese  Vermittlung  leistet  der  Eisenbahn-  und  Kanalkörper 
seine  Dienste.  Die  selbständige  Bedeutung  der  Sache  für  den  öffentlichen 
Vorteil  tritt  auch  dann  noch  genügend  in  den  Vordergrund. 

Außerdem  gibt  es  öffentliches  Gut,  welches  dem  Einzelnen  keine 
Dienste  leistet,  das  jedoch  durch  seine  Beschaffenheit  das  öffentliche  Interesse 
selbständig  befriedigt.  Dazu  gehören  vor  allem  die  Festungswerke.  Ander- 
seits gibt  es  auch  Sachen,  welche  als  Privateigentum  der  einzelnen  Bürger 
oder  Gesellschaften  betrachtet  werden,  aber  einzig  und  allein  dazu  bestimmt 
sind,  um  öffentliche  Dienste  zu  leisten.  Das  Hauptbeispiel  gehen  die  kon- 
zessionierten Eisenbahnen.5)  Das  Yerwaltungsreeht  verleiht  sowohl  den 

‘(.Otto  Mayor:  Archiv  für  öffcütl.  Recht,  1901,  sä.  71  ff.  Derselbe ; Deutsches 
Yerwaltungsreeht,  U.,  S.  74. 

* Sä  287  and  288. 

*)  'Otto  Mayer  (Deutsches  Verwaltungsrecbt.  II.,  8.  60.  84  ff.),  dem  wir  in 
obiger  Darstellung  folgen,  hat  für  dieses  Verhältnis  die  unzutreffenden  Begriffe  des 
öffentlichen  (Besitzes  und  Eigentums  angewendet.  Vor  ihm  hat  es  schon  Eisclc  (Über 
das  Rechtsverhältnis  der  res  publivae  iu  pubticu  oau.  Schriften  der  Universität  Basel, 
1873)  und  Burckhard  (Gröubuts  Zeitschrift,  XV.,  1887,  S.  644)  getan. 

4)  Der  anstaltsmäUigc  (Iharakter  des  Öffentlichen  Gutes  wird  mit  Recht  von 
Ulbrich  (im 'Staatsworterbuch  von  Mischler,  I.,  S.  519  ff.)  hervorgehoben. 

*)  Die  Eisenbahnen  sind  Öffentliche  Verkehrswege  und  wurden  mit  Hofdekreten 
vom  15.  September  1845  und  vom  18.  Februar  1847,  J.  G.-S.  Nr.  904  und  1036  als 


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150 


Brealewicz. 


Festungen  als  auch  «len  Eisenbahnen  die  Vorzüge  und  den  Schulz  des 
öffentlichen  Gutes. 

5.  Es  kommt  nur  ausnahmsweise  vor,  daß  das  öffentliche  Gut  von 
Natur  aus  die  entsprechende  äußere  Beschaffenheit  besitzt,  um  für  die  Ver- 
wirklichung des  bestimmten  öffentlichen  Zweckes  unmittelbar  verwendet 
werden  zu  können  (z.  B.  Meerosufer);  öfters  geschieht  es  durch  Bearbeitung, 
durch  öffentliche  Arbeiten.  l)as  Verhältnis  dieser  Arbeiten  zum  öffentlichen 
Gute  ist  nicht  immer  gleich;  es  lassen  sich  unterscheiden: 

a)  die  Herstellungsarbeiten,  welche  den  Zweck  verfolgen,  etwas  Neues 
zu  schaffen,  was  bisher  nicht  bestanden  hat,  oder  das  Bestehende 
derart  zu  ändern,  daß  ein  neuer  Zweck  damit  erreicht  wird: 

b)  die  Verbesserungsarbeiten,  welche  die  Vermehrung  der  Nutzungen 
bezwecken,  und 

<y  die  Instandhaltungsarbeiten,  welche  nur  auf  Erhaltung  des  Bestehenden 
im  guten  Zustande  abzielen. 

Sind  alle  diesen  Arbeiten  bei  einer  öffentlichen  Anlage  oder  Anstalt 
als  öffentliche  zu  betrachten?  Vom  rechtlichen  Standpunkte  besteht  zwischen 
diesen  Arbeiten  ein  Unterschied  nur  bezüglich  der  Menge,  nicht  der  Beschaffen- 
heit: zur  Beurteilung  des  Charakters  der  öffentlichen  Arbeiten  ist  es  also 
vollkommen  gleichgültig,  ob  die  Arbeiten  die  Herstellung,  Verbesserung 
oder  Instandhaltung  bezwecken,  ln  Gesetzen  und  Verordnungen  wird  jedoch 
nur  von  Herstellung  und  Erhaltung  gesprochen;  da  die  zur  Ausführung 
dieser  Arbeiten  Verpflichteten  oft  verschieden  sind,  ist  es  wichtig  festzu- 
stellen, was  unter  dem  einen  und  dem  anderen  Begriffe  verstanden  wird. 
Eine  gesetzliche  Begriffsbestimmung  ist  nicht  gegeben.  Laut  Rechtsprechung 
des  Verwaltungsgerichtshofes1)  kann  von  Herstellung  eiuer  Anlage  überhaupt 
nur  dort  gesprochen  werden,  wo  sie  nicht  vorhanden  und  ihrem  Zwecke  noch 
nicht  zugeführt  ist.  Ist  dies  geschehen,  so  müssen  alle  späteren  Arbeiten 
in  den  Kähmen  der  Erhaltung  fallen.  Es  gehören  hieher  also  nicht  nur  die 
gewöhnlich  und  regelmäßig  vorkommenden  Konservierungsarbeiten,  sondern 
auch  alle  außerordentlichen  Herstellungen  iz.  B.  Neuherstellung  einer  Brücke 
im  Straßenzuge),  welche  erforderlich  sind  um  den  den  Gesetzen  oder  beson- 
deren Verpflichtungen  entsprechenden  Zustand  der  Anlage  dauernd  zu  sichern. 
— Die  Begriffe  der  Herstellung  und  Erhaltung  decken  sich  nicht  mit  den 
ordentlichen  und  außerordentlichen  Auslagen  des  Staats-,  Landes-  oder 
Gemeindevoranschlages;  «lenn  zu  den  außerordentlichen  Auslagen  zählen 
nicht  nur  diese,  welche  die  Ausführung  neuer  Anlagen  bezwecken,  sondern 
auch  den  Umbau  und  die  Verbesserung  der  bestehenden;  aus  ordeutlicheu 
Krediten  werden  nur  die  Kosten  der  Erhaltungsarbeiten  und  der  Verwaltung 
der  Anlagen  bestritten.*) 

öffentliches  Gut  erklärt.  Dieser  Betrachtungsweise  widerspricht  nicht  das  Gesetz  veni 
19.  Mai  1*74  über  die  Eiseiibuhnbilcher,  da  das  Eigentum  und  die  Widmung  für  den 
öffentlichen  Dienst  nebeneinander  bestehen  können. 

:)  Erkenntnis  dös  Verwaltungsgericktshofcs  vom  20.  Mai  1*H7,  Hud  winski  Nr.  3553. 
*J  Ital.  codinc  dei  lavori  pubblici  Art.  320. 


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Da»  Recht  doi  affentUchcn  Arbeiten. 


151 


Demnach  sind  in  Österreich  als  öffentliche  Arbeiten  jene  zu  betrachten, 
welche  vom  Staate,  von  Selbst»  erwaltungskörpern,  Zweckverbänden  oder 
vom  beliebenen  Unternehmer  auf  Grund  einer  öffenlliciirechtliehen  Ver- 
pflichtung zur  Herstellung,  Änderung  und  Instandhaltung  einer  unbewegli- 
chen Anlage  für  die  gemeinnützigen  Zwecke  unternommen  werden.  Diese 
Begriffsbestimmung  unterscheidet  sich  wesentlich  vom  Begriffe  der  öffentli- 
chen Arbeiten  in  Deutschland,  Frankreich  uud  Italien.  Die  angeführten  Merk- 
male treffen  zu  beim  Wegebau,  bei  Eröffnung  und  Erweiterung  der  Gassen 
und  Plätze,  beim  Bau  der  Eisenbahnen,  Telegraphen  und  Telephone,  der 
Kanäle,  der  Häfen  und  Festungswerke,  bei  der  Kegulierung  und  Schiffbar- 
machung der  fließenden  Gewässer,  bei  der  Abwehr  der  Binnengewässer  und  des 
Meeres,  bei  der  Entwässerung  großer  Sümpfe,  Verbauung  der  Gebirgsbäche, 
bei  der  Kanalisation,  Wasserleitungen  und  alleu  Assanierungsarbeiten  in 
Städten.  In  Gesetzen  und  Verordnungen,  welche  für  einzelne  hier  aufgezählte 
Arbeiten  erlassen  wurden,  siud  die  Vorschriften  zu  suchen,  welche  das 
Gebiet  der  öffentlichen  Arbeiten  in  Österreich  beherrschen. 

Viele  Grundsätze  über  öffentliche  Arbeiten  finden  Anwendung: 

<i>  beim  Bergbaue, 

b ) bei  der  Wasserabwehr  uud  Benützung  für  Privatzwecke,  und 

c)  bei  der  Zusammenlegung  der  Grundstücke. 

Es  findet  seine  Kechtfertigung  darin.  d..ti  auch  der  öffentliche  Nutzen 
befördert  wird,  weun  die  Bergwerke  abgebaut,  die  nützlichen  Wasserkräfte 
ausgebeutet  und  die  schädlichen  Wirkungen  entfernt  suwie  auch  wenn  die 
Bewirtschaftung  der  Grundstücke  erleichtert  wird.  Der  unmittelbare  Zweck 
dieser  Arbeiten  bleibt  jedoch  immer  der  Nutzen  einer  Privatwirtschaft  uud 
die  Arbeiten  werden  somit  nach  den  Grundsätzen  des  Privatrechtes  beurteilt. 

II.  Der  Unternehmer. 

Als  Unternehmer  öffentlicher  Arbeiten  gilt  derjenige,  welcher  die  Aus- 
führung derselben  auf  Grund  der  öffentlichen  Berechtigung  im  eigenen  Namen 
besorgt.  Sowohl  im  täglichen  Leben  als  auch  in  der  Gesetzessprache  wird 
auch  derjenige  ein  Unternehmer  der  öffentlichen  Arbeiten  genannt,  welcher 
die  Ausführung  derselben  von  der  Verwaltung  vertragsmäßig  übernommen 
hat;  er  verrichtet  sie  jeduch  im  Namen  der  Verwaltung  und  auf  Grund 
einer  privatrecbtlichen  Verpflichtung.  Die  diesbezüglichen  Verhältnisse  werden 
im  V.  Abschnitte  behandelt;  hier  kommt  nur  die  rechtliche  Stellung  der 
unternehmenden  Verwaltung  zur  Besprechung. 

I.  Verhältnis  des  Unternehmers  zum  Gegenstand  der  Arbeiten. 

.4.  Der  größte  Unternehmer  der  öffentlichen  Arbeiten  ist  der  Stuut. 
Die  oberste  Leitung  und  Beaufsichtigung  aller  Arbeiten,  welche  vom  Staate 
ausgefflhrt  werden,  ist  nicht  in  den  Händen  einer  Behörde  vereinigt;  sie 
wird  vielmehr  von  mehreren  Staatsbehörden  und  verschiedenen  Ministe;  ien 
verrichtet. 


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IÜ2 


Bresiewiez, 


1.  Das  Ministerium  des  Innern  besorgt  die  Verwaltung  des  öffentlichen 
Bauwesens  mit  Ausnahme  der  dem  Dienstbereiche  einer  anderen  Zentral- 
behörde ausdrücklich  zugewiesenen  Bausachen.  Insbesondere  gehört  zu  seinem 
Wirkungskreise:  *) 

a)  die  Leitung,  Pflege  und  Überwachung  der  lamd-  und  Wasserstraßen 
überhaupt; 

lij  die  unmittelbare  Verwaltung  der  aus  dem  Ärarialstralien-  und  Wasser* 
baufonds  dotierten  Baulichkeiten  und  Anschaflungen. 

Als  Organe  des  öffentlichen  Bauwesens  in  den  Ländern  und  Bezirken 
fungieren  die  politischen  Landes-  und  Bezirksbehörden.  Dem  Ministerium 
des  Innern  und  seinen  Unterbehörden  werden  Baukundige  zugeteilt,  welche 
als  Mitglieder  derselben  die  ihnen  zugewiesenen  technischen  Geschäfte  zu 
besorgen  haben.  Zu  diesem  Zwecke  sind  beim  Ministerium  drei  technische 
Departements  (für  Straßen-  und  W'asserbau,  für  Hochbau  und  für  technisch- 
ökonomische Geschäfte  aller  Baulacher , bei  den  Statthaltercien  je  zwei 
solche  Departements  bestellt;  mehrere  Bezirkshauptmannsehaften  werden 
zu  einem  Baubezirk  vereint,  technische  Kräfte  aus  Baubeamten,  Unterbeamten 
und  Dienern  zugeteilt. 

2.  Dem  Kisenbahnministerium  sind  zugewiesen : ’j 

a)  die  staatliche  Aufsicht  über  alle  Eiseubahnbauten.  und 

h)  die  oberste  Leitung  des  Staatseisenbahubaues,  der  Erhaltung  und  des 
Betriebs. 

Diesem  sind  die  Staatsbahndirektionen,  Eiseubaliubauleitungen  und  Bahn- 
crhaltungsektioneu  untergeordnet.  Zur  Besorgung  der  großen  Buhnbaulen*) 
wurde  im  Ministerium  eine  eigene  Geschäftsabteilung  ,k.  k.  Eisenbahn- 
baudirektion* gebildet. 

3.  ln  die  Kompetenz  des  Handelsministeriums  fallen: 

a)  die  Telegraphen-  und  Fernsprechleitungen.  Zur  Verwaltung  des  betref- 
fenden Dienstes  bestehen  in  einzelnen  Ländern  die  Post-  und  Telegra- 
pheudirektioneu,4 1 denen  für  die  Agenden  des  Baues  und  der  Erhaltung 
der  Anlagen  und  Leitungen  technische  Abteilungen  beigegeben  sind; 

h)  die  leitende  Fürsorge  für  Herstellung,  Verbesserung  und  Instandhaltung 
aller  Anstalten,  welche  als  Schutz-  und  Förderuugsmittel  des  See- 
schiffahrtsbetricbes  dienen.  Als  untergeordnete  Organe5;  fungieren  die 
Seebehörde  in  Triest,  die  Hafen-  und  Seesanitätskapitanate,  Seesanitäts- 
depututionen  und  -agentien; 

r)  alle  Angelegenheiten,  welche  sich  auf  die  Feststellung  und  Ausführung 
der  Entwürfe  der  großen  Wasserstraßen  beziehen.*  Zu  diesem  Zwecke 

■)  Verordnung  des  Staatsrainisteriums  vom  8.  Dezember  18ÖU,  K.-G.-Bl.  Nr.  Ztib. 
S)  $5  1 bis  3 Jes  Organisationsstatutes  vom  19.  Jauner  1896.  K.-G.-Bl.  Nr.  16. 
’j  Verordnung  dee  Eisenbahnmimatcriums  vom  6.  Oktober  1901,  K.-G.-Bl.  Nr.  167. 
4 1 Erlali  des  Handelsministeriums  vom  16.  Dezember  1883  (Post-  und  Tel. -V. -Bl. 
8.  783),  1 und  74. 

*)  Kundmachung  des  Handelsministeriums  vom  3.  Juni  1871,  K.-G.-Bl.  Nr.  46. 

*)  § 13  des  Gesetzes  vom  11  .Tun;  1901,  K.-G.-Bl.  Nr.  66. 


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Da«  Recht  der  öffentlichen  Arbeiten. 


153 


wurde  im  Handelsministerium  eine  besondere  Geschäftsabteilung  „k.  k. 

Direktion  fflr  den  Hau  der  Wasserstraßen*  errichtet.  Behufs  Durchführung 

der  Bauten  werden  je  nach  Bedarf  eigene  Bauleitungen  aufgestellt.') 

4.  Der  Wirkungskreis  des  Ackerbauministeriums  umfaßt  die  oberste 
Leitung  der  Angelegenheiten  der  Landeskultur;*)  öffentliche  Arbeiten  kommen 
liier  nur  bei  Wasserabwehr, *)  bei  Verbesserung,  Entsumpfung  und  Bewässerung 
des  Bodens  vor.  Dieses  Ministerium  entfaltet  eine  sehr  rege  Tätigkeit  seit 
Veröffentlichung  der  Gesetze,4)  betreffend  die  Förderung  der  Landeskultur 
auf  dem  Gebiete  des  Wasserbaues  und  die  Vorkehrungen  zur  unschädlichen 
Ableitung  von  Gebirgswässern. 

Dag  Ackerbauministerium  bedient  sich  in  den  Angelegenheiten  der 
Landeskultur  der  Landesstellen  und  Bezirkshnuptmannschafteu  als  Mittel- 
und Unterbehörden.  Außerdem  bestehen  besondere  Behörden.  Auf  Grund 
des  Gesetzes,  betreffend  Vorkehrungen  zur  unschädlichen  Ableitung  von 
Gebirgswässern  wurde  eine  ,k.  k.  forsttecbnische  Abteilung  för  Wildbach- 
verbauung* aus  zwei5)  und  später  aus  fünf“)  Sektionen  gebildet.  Zur  Durch- 
führung der  Aufforstungsarbeiten  im  Karstgebiete  und  im  Gebiete  der  oberen 
Beczwa  wurden  im  Wege  der  Landesgesetzgebung 7)  besondere  Aufforstungs- 
kommissionen ins  Leben  gerufen. 

5.  Vom  Kriegsministerium  ressortieren  die  Bauangelegenheiten  der 
festen  Plätze  und  der  Kriegsliäfen.  Der  Baudienst  für  die  fortiflkatorischen 
und  nicht  fortifikatorischen  Baulichkeiten  und  Liegenschaften  wird  getrennt 
betrieben ; zur  Ausübung  der  ersteren  sind  die  Geniedirektionen  und  die  fall- 
weise aufzustellenden  Befestigungsbaudirektionen  berufen8’  sowie  das  Marine- 
land- und  WasBerbauamt  in  Pola. 

Schon  aus  dieser  Übersicht  läßt  sich  entnehmen,  welche  Mannigfaltigkeit 
von  Arbeiten  vom  Staate  verrichtet  werden.  Es  ist  auch  ganz  natürlich,  daß  der 
Staat  als  der  oberste  Verwalter  in  allen  Verwaltungszweigen  wirkend  auftritt.“) 

*,  Verordnung  des  Handelsministeriums  vom  11.  Oktober  1901,  U.-G.-Bl.  Nr.  163. 

*)  Verordnung  vom  29.  Jänner  1868,  R -G.-Bl.  Nr.  12. 

3j  Landeawaaserrechtsgesctze  SS  72  krain..  § 8 7 ateiermärk.,  $ 88  bukow.,  <S  90 
niederOsterr.,  § 93  istrian..  § 95  bohm.,  $ 94  sonstige. 

*)  Gesetze  vom  30.  Juni  1884,  R.-G.-Bi.  Nr.  110  und  117. 

l)  Erlall  des  k.  k.  Ackerbauministera  vom  5.  Juni  1884.  (Gesetze  und  Verord- 
nungen aus  dem  Dienstbereiche  des  Ackerbauministeriums,  Jahrg.  1884.  8,  24.) 

®)  Dienstinstruktiou  vom  2.  September  1888,  abgeändert  mit  Erlali  vom  8.  Jänner 
1895.  (Gesetze  und  Verordnungen  aus  dem  Dienstbereiche  des  Ackerbauministeriums, 
Jahrg.  1888,  S.t&4,  Jahrg.  1895,  S.  129.) 

*)  Sieh  Mayrhofers  Handbuch,  I.,  S.  645,  wo  die  betreffenden  Landesgesetze 
aufgezählt  aind,  und  Gesetz  vom  12.  Oktober  1896,  L.-G.-Bl.  für  Mähren  Nr.  52  ex  1897. 

*)  Bandienatvorsehriften  für  das  k.  u.  k.  Heer,  1.  Teil,  § 1. 

*)  Im  Auslände  bestehen  meistenteils  Ministerien  der  Öffentlichen  Arbeiten,  ln 
Frankreich  wirkt  als  Organ  des  letzteren  die  Administration  .des  pouts  et  chaussdes“, 
iu  Italien  die  ZivilgeniebehOrdcn,  welche  alle  Öffentlichen  Staatsarheiten  mit  Ausnahme 
der  Arbeiten  des  Heer-  und  Marinewesens  besorgen.  Diese  letztere  Ausnahme  besteht 
auch  in  Deutschland,  wo  die  Baubehörden  (wie  in  Österreich)  keine  Selbständigkeit 
besitzen,  sondern  den  Behörden  der  allgemeinen  Landesvcrwaltung  untergeordnet  sind. 


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154 


Bresiewici. 


Ti.  Als  Landesangelegenheiten  wurden  erklärt  die  öffentlichen  Bauten, 
welche  aus  Landesmitteln  bestritten  werden.')  Die  Kronlünder  haben  bis  in 
die  neueste  Zeit  hinein  nur  eine  begrenzte  Wirksamkeit  auf  dem  Gebiete 
der  öffentlichen  Arbeiten  entfaltet;*)  erst  seit  der  Veröffentlichung  der 
Meliorationsgesetze  und  des  Lokalbahngesetzes  ist  diese  Tätigkeit  im  Auf- 
schwung begriffen,  da  die  Länder  selbst  gewisse  wirtschaftliche  Aufgaben 
übernehmen. 

1.  Zn  den  obligatorischen  Aufgaben  zählt  die  Erhaltung  der  Landes- 
strallen;  eine  Verpflichtung  zur  Neuanlage  solcher  Straßen  besteht  nicht;’) 
die  Landesausschüsse  haben  jedoch  auf  dem  Gebiete  des  Wegebaues  erheb- 
liche Leistungen  aufzuweisen. 

2.  Die  Länder  verwalten  unmittelbar  die  Unternehmungen  zur  Hebung 
der  Landeskultur,  wenn  sie  durch  Landesgesetze  als  aus  Landesmitteln 
auszuführende1)  oder  doch  wenigstens  zu  unterstützende  Unternehmen  erklärt 
wurden.  Man  kann  sie  in  drei  Kategorien  zusammenstellen : 

a)  die  Regulierung  größerer  Ströme  und  Flüsse,  bei  welchen  außer  dem 
Beitrage  des  Meliorationsfonds  mit  Rücksicht  auf  die  Interessen  der 
Schiffahrt  der  staatliche  Baufonds  beteiligt  ist; 
h)  eigentliche  Meliorationen  i wie  Regulierung  kleinerer  Bäche,  Eindämmung 
der  Flüsse  und  Entsumpfungen  der  Grundstücke),  deren  Kosten  vom 
Meliorationsfonda,  vom  Lande  und  von  Interessenten  bestritten  werden; 
c)  die  Verbauung  der  Wildbüche  und  Aufforstung  der- Abhänge  im 
Gebirge,  deren  Kosten  vom  Meliorationsfonds  und  vom  Lande  zur 
Hälfte  gedeckt  werden. 

3.  In  der  Mehrzahl  der  Kronländer  wurde  im  Gesetzgebnngswege 5) 
die  Mitwirkung  des  Landes  bei  Förderung  des  Lokalbahnwesens  geregelt. 
Der  Landesausschuß  beziehungsweise  das  Landesbureau  für  Eisenbahnen 
prüft  die  vorgelegten  Entwürfe  und  führt  alle  Verhandlungen,  welche  die 
Sicherstellung  der  für  das  Landesinteresse  bedeutenden  Lokalbahnen  bezwecken. 
Das  Land  kann  auch  den  Kau  der  Lokalbahnen  selbst  übernehmen,  ohne 
Rücksicht  darauf,  ob  die  Konzession  von  Aktiengesellschaften  oder  vom 
Landesausschusse  erworben  wurde,  oder  wirkt  doch  wenigstens  bei  Vergehung 
des  Baues  und  der  Ausführung  mit.  Der  Betrieb  und  die  Instandhaltung  der 
Lokalbahnen  wird  gewöhnlich  der  Staatseisenbahnverwaltung  anvertraut.  Die 
Durchführung  der  Landesbauten,  die  gesamte  technische  und  ökonomische 
Verwaltung  gehören  in  den  Wirkungskreis  des  Landesausschusses.8) 

C.  Die  Bezirke  als  Selbstverwaltuugskörper  bestehen  nur  in  Böhmen, 
Galizien  und  Steiermark ; ihre  Tätigkeit  auf  dem  Gebiete  öffentlicher  Arbeiten 

')  § 18  der  Landesordnungen. 

*)  In  Frankreich  haben  die  Provinzialarbeiten  nnr  die  Departenientswege  und 
Brücken,  größere  Vizinalwege,  Lokalbahnen  und  Departcmcntsgebäude  zum  Gegenstand. 
*;  Vergl.  irn  StaatswOrterbuche  von  Mi  schier,  II..  S.  589. 

')  § 4,  Z.  1.  des  Gesetzes  vom  80.  Juni  1884,  R.-G.-BI.  Nr.  116. 

Diese  Landesgesetze  sind  im  Han.lbuche  von  Mayrhofer,  V.,  8.  612,  zusammen- 
gestellt.  Sehr  eingehend  ist  das  galizische  Gesetz  vom  17.  Juli  1893,  R.-G.-Bl.  Nr.  42. 
bi  § 26  der  Landesordrtungen. 


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Pas  Recht  der  öffentlichen  Arbeiten.  ]5fi 

ist  unbedeutend,  weil  sie  keine  selbständige  und  ergiebige  Einnahmequellen 
besitzen. 

1.  Die  wichtigste  pflichtschuldige  Aufgabe  des  Bezirkes  bezieht  sich 
auf  den  Bau  und  die  Erhaltung  der  Bezirksstraßen : sie  wurde  den  Bezirken 
durch  Straßengesetze ')  in  einzelnen  Ländern  auferlegt,  ln  jenen  Kronländern, 
in  welchen  die  Bezirksvertretungen  nicht  eingeführt  wurden,  erfüllen  dieselbe 
Aufgabe  die  Straßenkonkurrenzverbände. 

2.  Andere  gemeinwirtschaftliche  Unternehmungen  können  infolge  eines 
von  der  Bezirksvertretung  gefaßten  Beschlusses  errichtet  werden,  wenn  ihre 
Kosten  ans  Bezirksmitteln  bestritten  werden  und  wenn  sie  die  gemeinsamen 
Interessen  des  Bezirkes  und  seiner  Angehörigen  betreffen.*)  Dahin  gehören 
insbesondere  die  Arbeiten  auf  dem  Gebiete  der  Landeskultur,  wie  Wasser- 
schutzanlagen. Regulierung  der  Bäche  u.  s.  w. 

Die  vom  Bezirke  zu  verrichtenden  Arbeiten  werden  vom  Bezirksaus- 
schüsse verwaltet  und  vollzogen. 

D.  Öffentliche  Arbeiten,  welche  von  Gemeinden  verrichtet  werden 
können,  weisen  nach  den  Staatsarbeiten  die  größte  Mannigfaltigkeit  auf. 

1.  Zu  Angelegenheiten  des  selbständigen  Wirkungskreises  der  Gemeinde 
gehört  die  Sorge  für  die  Erhaltung  der  Gemeindestraßen,  Wege,  Plätze. 
Brücken  sowie  für  die  Sicherheit  und  Leichtigkeit  des  Verkehrs.  Besondere 
Wichtigkeit  erlangen  diese  Arbeiten  in  Städten,*)  wenn  im  Interesse  des 
Verkehrs,  der  Feuersicherheit  oder  der  Assanierung  die  Eröffnung  neuer 
Straßen  und  Gassen  notwendig  wird  oder  wenn  es  sich  um  Erweiterung 
und  Regulierung  bestehender  Gassen  handelt.  Laut  Vorschrift  der  Straßen- 
gesetze  ist  die  Ortsgemeinde  Konkurrenz  verpflichtet,  notwendige  Gemeinde- 
wege innerhalb  ihres  Gebietes  herzustellen  und  zu  erhalten,  und  kann  zur 
Erhaltung  gezwungen  werden.4) 

2.  Zur  Herstellung  der  Hauptkanäle  in  volksreichen  Ortschaften  sind 
die  Gemeinden  laut  Bauordnungen  verpflichtet,  da  die  Gesundheitspolizei 
und  somit  auch  die  Veranlassung  der  die  öffentliche  Gesundheitspflege 
bedingenden  Einrichtungen  naeli  der  Gemeindeordnung  zu  dem  Pflichtenkreise 
der  Gemeinde  gehört.  Wenn  der  Gemeindeausschuß  es  unterläßt  oder  ver- 
weigert, sind  die  politischen  Behörden  nicht  nur  berechtigt,  sondern  auch 
verpflichtet,  die  Gemeinde  tut  Herstellung  der  Hauptkanäle  zu  verhalten 
und  auf  ihre  Gefahr  und  Kosten  Abhilfe  zu  treffen.'’)  In  neueren  Zeiten 
ergehen  Landesgesetze  für  einzelne  Städte, s(  welche  die  Eigentümer  der 

’)  Mayrhofers  Handbuch.  V.,  S.  545  ff. 

')  BezirksTertretungsgeselze  für  Rühmen  §§  50  and  51,  für  Galizien  20  and  21, 
für  Steiermark  §§  4*  and  49. 

J)  Mayrhofer»  Handbuch.  III.,  S.  948  ff. 

4)  Erkenntnis  de»  Yerwaltungsgeriditshofes  vom  16.  Juni  1880,  Budwinski 
Nr.  796,  nnd  vom  31.  Marz  1882,  Budwinski  Nr.  1856. 

5 ) Erkenntnis  des  Verwaltungsgerichtahofes  vom  12.  Dezember  1877.  Bndwiäeki,  I., 
Nr.  175. 

6>  Znsammengestellt  im  Staatswürterbucli  von  Misrhler,  II..  S 1136. 


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156 


Bresiewicx. 


Häuser  zur  Verbindung  ihrer  Kealitäten  mit  dem  öffentlichen  Kanäle  und 
Entrichtung  einer  Taxe  für  Gemeindezwecke  verpflichten. 

3.  Die  Wasserversorgung  ist  nach  Maßgabe  des  Gemeindegesetzes 
eine  Angelegenheit  der  Gemeinden  und  Ortschaften,  wo  an  dem  zum 
Trinken,  Kochen,  Waschen,  Tränken  und  zu  anderen  wirtschaftlichen  Zwecken 
oder  zum  Feuerlöschen  nötigen  Wasser  ein  dauernder  Mangel  herrscht  und 
die  Versorgung  damit  die  Kräfte  der  einzelnen  Gemeindemitglieder  über- 
steigt.1) Ältere  Erkenntnisse  des  Vorwaltungsgerichtshofes*)  stehen  auf  dem 
Standpunkte,  daß  obige  Bestimmung  der  Wasserrechtsgesetze  eine  gesetz- 
liche Verpflichtung  der  Gemeinden  zur  Wasserversorgung  begründe.  In 
neuerer  Zeit  hat  sich  der  Verwaltungsgerichtshof  dahin  ausgesprochen,®) 
daß  die  fragliche  Bestimmung  nur  die  Voraussetzungen  der  Zulässigkeit 
der  Enteignung  zu  Zwecken  der  kommunalen  Wasserversorgung  aufstelle; 
weder  aus  den  Vorschriften  des  Wasserrechtsgesetzes  noch  des  Sanitäts- 
gesetzes, noch  der  Gemeindeordnung  kann  eine  bindende  Verpflichtung  der 
Gemeinde  zur  Herstellung  von  Wasserversorgungsanstalten  für  wasserarme 
Gebietsteile  abgeleitet  werden.  Wenn  auch  die  Wasserversorgung  die 
Interessen  der  Gemeindemitglieder  wesentlich  berührt,  gehört  sie  dennoch 
zum  selbständigen  Wirkungskreise  der  Gemeinde,  in  welchem  sie  nach  freier 
Selbstbestimmung  verfügen  kann.  Die  gesetzliche  Pflicht  der  Gemeinde  zur 
Wasserversorgung  besteht  nur  dort,  wo  sie  von  besonderen  gesetzlichen 
Vorschriften  festgesetzt  wurde.4) 

In  neueren  Zeiten  wurden  viele  Landesgesetze,  betreffend  die  städti- 
schen Wasserleitungen,  erlassen;®)  ihren  Inhalt  bildet  die  Verpflichtung  der 
Hauseigentümer  zur  Verbindung  der  Häuser  mit  der  städtischen  Wasser- 
leitung und  Berechtigung  der  Gemeinde  zur  Einhebung  eines  Wasserzinses. 

4.  Die  Assanierungsarbeiten  umfassen  jene  Maßnahmen,  welche  die 
Reinigung  und  Reinhaltung  des  Bodens  und  des  Wassers  sowie  die  Luft- 
heschafl'ung  betreffen  und  die  Herbeiführung  besserer  Gesundheitsverhältnisse 
bezwecken.  Sie  wird  durch  die  oben  erwähnten  Arbeiten  (Straßenregulierung, 
Kanalisation,  Wasserversorgung)  bewirkt;  Assanierungsarbeiten  werden  sie 
dann  genannt,  wenn  sie  alle  im  größeren  Umfange  auf  einmal  durchgeführt 
werden.  Als  Beispiel  seien  die  großen  Assanierungsarbeiten  der  Stadt  Prag 
erwähnt.6)  Hieher  gehört  auch  die  Durchführung  örtlicher  Vorkehrungen 
zur  Verhütung  ansteckender  Krankheiten  und  ihrer  Weiterverbreitung, ’)  wenn 
sic  die  Herstellung  gewisser  Bauten  oder  deren  Änderung  bedingen. 

5.  Nach  Vorschrift  der  Gemeindeordnung  ist  die  Gemeinde  berechtigt, 
alle  Arbeiten  und  Anlagen  durchzuführen,  welche  zwar  nicht  ausdrücklich 

’)  § 35  der  Wasserreclitagcsetze  der  meisten  Länder;  Keichswasserrechtsgcsetz  § 16. 

Mayrhofer,  V„  S.  1287  ff. 

*)  Erkenntnis  vom  27.  Februar  1897,  ßudwiüski  Nr.  10.447. 

§ 19  des  istrian.  Gesetzes  vom  14.  November  1864,  L.-G.-B1.  Nr.  18;  § 14  des 
dalmat.  Gesetzes  vom  5.  August  1892,  L.-G.-BJ.  Nr.  19. 

J)  Z.  B.  Gesetz  vom  25.  November  1900,  L.-G.-Bl.  für  Galizien  Nr.  16  ei  1901. 

(l)  Gesetz  vom  11.  Februar  1893.  B.-G.-Bl.  Nr.  22. 

7)  Gesetz  vom  30.  April  1870.  R.-G.-Bl.  Nr.  6s,  $ 4,  Ijt.  «). 


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Das  F.'-rht  der  öffentlichen  Arbeiten. 


157 


ihrem  Wirkungskreise  zugewiesen  sind,  durch  welche  jedoch  die  Interessen 
der  Gemeinde  gewahrt,  die  Lösung  von  Aufgaben  ihres  Wirkungskreises 
gefördert  und  för  die  Sicherheit  der  Person  und  des  Eigentums  gesorgt 
werden  soll.  Es  gehört  liieher  z.  B.  die  Regulierung  eines  in  der  Gemeinde 
fließenden  Wassers,  welches  den  Dferbesitzern  Schaden  verursacht.  Obwohl 
die  Verpflichtung  zur  Tragung  des  obigen  Aufwandes  durch  Wassergesetze 
den  Interessenten  auferlegt  wird,  ist  die  Übernahme  der  Arbeiten  nicht 
außerhalb  des  Wirkungskreises  der  Gemeinde  gelegen,  wenn  nur  obige 
Bedingungen  zutreffen.1) 

Die  unmittelbare  Ausführung  und  Verwaltung  der  Gemeindearbeiten 
gehört  in  den  Wirkungskreis  des  Gemeindevorstandes. 

E.  Die  Wassergenossenschaften,  welche  durch  freiwilligen  Zusammen- 
tritt der  Grundbesitzer  oder  auf  Grund  von  Mehrheitsbeschlüssen  zwangs- 
weise gebildet  werden,  sind  Organe  der  betreffenden  Grundbesitzer,  deren 
Geschäfte  sie  verwalten.  Öffentliche  Verwaltungsorgane  werden  sie  dann 
wenn  sie  durch  ein  Gesetz  gebildet  oder  als  solche  anerkannt  und  dem 
öffentlichen  Verwaltungswesen  eingereiht  worden.  Die  betreffenden  Unter- 
nehmungen haben  zum  Zwecke: 

1.  den  Schutz  des  Grundeigentums  gegen  Wasserverheerungen  oder 
die  Erhöhung  der  Ertragsfähigkeit  der  Grundstücke  durch  Entwässerung 
oder  Bewässerung,  deren  Ausführung  im  öffentlichen  Interesse  liegt;*) 

2.  die  unschädliche  Ableitung  von  Gebirgswässern.*) 

Aus  dem  Inhalte  dieser  besonderen  Gesetze  muß  entnommen  werden, 
ob  und  inwieweit  auf  derlei  Verbände  die  Bestimmungen  der  Landeswasser- 
rechtsgesetze über  Genossenschaften  Anwendung  zu  finden  haben.  Es  ist 
zwar  möglich,  daß  eine  solche  Genossenschaft  im  Gesetzeswege  gebildet 
und  ihr  nur  allein  die  Durchführung  der  Arbeiten  anvertraut  wird : praktisch 
wird  jedoch  immer  die  Mitwirkung  des  Staates  und  des  Landes  eingreifen, 
durch  welche  besondere,  im  nächsten  Abschnitte  zu  erörternde  Verhältnisse 
geschaffen  werden. 

F.  Die  Ausführung  öffentlicher  Arbeiten  durch  den  beliehenen  Unter- 
nehmer weist  im  Verhältnisse  desselben  zur  Staatsverwaltung  und  in  der 
Aufbringung  der  Geldmittel  wesentliche  Unterschiede  auf;  deswegen  ist  es 
angezeigt,  dieses  Verhältnis  in  einem  besonderen  Abschnitte  (VI)  zu  behandeln. 
Als  Vorbild  und  Hauptgegenstand  dieses  Verhältnisses  erscheint  die 
Eisenbahnkonzession;  andere  Konzessionen  haben  nur  eine  untergeordnete 
Bedeutung. 

Aus  dieser  Darstellung  erhellt,  daß  nicht  alle  Arbeiten  von  jedem 
beliebigen  Unternehmer  verrichtet  werden  können.  Der  Staat,  die  Länder, 
die  Gemeinden,  die  Konzessionäre  u.  s.  w.  können  sich  nur  in  dem  ihnen 
gesetzlich  zugewiesenen  Wirkungskreise  bewegen.  Der  Unternehmer  muß 

*)  Erkenntnis  iles  Verwaltungsgerichtshofei  vom  30.  März  1887,  Budwinski 
Nr.  8464.  Für  Dalmatien:  Gesetz  vom  25.  Juli  1885,  L.-G.-B1,  Nr.  22. 

*)  § 1 des  Gesetzes  vom  30.  Juni  1884,  R.-G.-B1.  Nr.  116. 

*)5  9 des  Gesetzes  vom  80.  Juni  1884,  R.-G.-B1.  Nr.  117. 

Zeiuchrift  für  Volkawlrucbaft,  8ogi«Jp»1ltik  and  Verwaltung.  XII.  Bao<I.  12 


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158 


Breni**wicT. 


zur  Ausführung  der  Arbeit  die  öffenUichrecbtUche  Befugnis  besitzen;  ohne 
diese  Berechtigung  kann  er  nicht  ein  Stück  der  öffentlichen  Verwaltung 
führen,  und  die  Arbeiten  außerhalb  dieses  Wirkungskreises  sind  keine  öffent- 
liche Arbeiten.  Diese  Berechtigung  hat  ihre  Quelle  in  gesetzlichen  Vor- 
schriften ; sie  ist  natürlicherweise  am  umfangreichsten  heim  Staate : hei 
anderen  Verwaltungskörpern  wird  sie  sachlich  und  örtlich  viel  enger. 

Einige  dieser  Arbeiten  sind  dem  Staate  ausschlielilich  vorbehalteif,  wie 
der  Bau  der  Telegraphen-  und  Fernsprechleitungen1)  sowie  der  Festungen. 
Auf  sonstigen  Gebieten  wirkt  der  Staat  mit  anderen  Unternehmern  iz.  B. 
heim  Eisenhahnbaue  mit  Landern  und  anderen  beliehenen  Unternehmern) 
zusammen. 


II.  Pflichtgemäße  und  freiwillige  Arbeiten. 

Um  öffentliche  Arbeiten  in  Angriff'  zu  nehmen,  muß  beim  Unternehmer 
uußer  der  Berechtigung  noch  der  Wille  hinzutreten.  Der  Privatunternehmer 
kann  sich  immer  frei  entschließen,  ob  er  eine  Arbeit  ausführen  will;  er 
kann  im  Zuge  der  Arbeit  die  weitere  Ausführung  aufgehen,  weil  der 
Beschluß  und  dessen  Betätigung  in  einer  Person  vereinigt  erscheinen. 
Anders  verhält  es  sich  beim  Unternehmer  öffentlicher  Arbeiten,  wo  diese 
zwei  Handlungen  getrennt  sind.  Die  Beschlußorgane  der  Verwaltungskörper 
bestimmen,  oh  gewisse  öffentliche  Arbeiten  vorgenommen  werden  sollen,  und 
bewilligen  die  nötigen  Mittel.  Die  Verwaltungsorgane  hingegen  besorgen 
die  Durchführung  sowie  die  gesamte  technische  und  ökonomische  Ver- 
waltung öffentlicher  Arbeiten.  Sie  sind  an  die  Bestimmungen  der  Beschluß- 
Organe  gebunden.  In  welcher  Form  der  Ausfülirungsheschluß  zur  Erscheinung 
kommt  und  inwieweit  er  an  bestehende  Gesetze  und  erlassene  Verwaltungs- 
anordnungen gebunden  ist,  hängt  von  der  inneren  Einrichtung  des  betreffenden 
Verwaltungskörpers  ab. 

.1.  Die  Durchführung  öffentlicher  Arbeiten  auf  Staatskosten  setzt 
immer  ein  die  Regierung  hiezu  ermächtigendes  Gesetz  voraus.*)  Deswegen 
sind  alle  öffentlichen  Arbeiten  des  Staates  obligatorisch,  d.  h.  durch  das 
Gesetz  angeordnet.  Diese  gesetzliche  Ermächtigung  wird  entweder  für  ganze 
Gattungen  von  Arbeiten  (z.  B.  Wegebau.  Flußregulierungen)  oder  für  ein- 
zelne Arbeiten  erlassen.  Wenn  in  einem  gewissen  Zweige  der  Verwaltung 
genaue  Vorschriften  über  die  Ausführung  öffentlicher  Bauten  bestehen,  ist 
zur  Vornahme  derselben  nur  die  Einstellung  der  bewilligten  Ausgabe  in 
den  Staatsvoranschlag  ausreichend:  das  gilt  insbesondere  für  Straßen-  und 
Brflckenbauten.  Wasserregulierungs-  und  Meliorationsbauten,  Befestigungs- 
und Hafenbauten.  Telegraphen-  und  Fernsprechleitungen,  schließlich  für 
alle  Arbeiten,  welche  nur  die  gewöhnliche  Instandhaltung5»  der  bestehenden 

*)  Hofkanzleidekret  vom  25.  Jänner  1847,  P.  G.-S.  9,  und  Gesetz  vom  29.  Dezember 
1892,  R -G.-Bl.  Nr.  234. 

*)  Ähnlich  auch  in  Frankreich.  (Gesetz  vom  27.  Jnli  1870.) 

*)  Französische  Ordonnanz  vom  10.  Mai  1829.  Art.  3 nnd  4. 


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Das  Recht  der  Öffentlichen  Arbeiten. 


159 


öffentlichen  Hauten  betreffen  und  aus  der  Jahresbandotation  für  den  laufenden 
Verwaltungsdienst  bestritten  werden.  Wenn  es  sich  hingegen : 

a)  um  größere  Herstellungen  handelt,  welche  nicht  in  den  gewöhnlichen 

Einkünften  des  Staates  ihre  Bedeckung  finden,  also  den  Kredit  in 

Anspruch  nehmen ; 

b)  um  Festsetzung  eines  Bau-  und  Investitionsprogramms  für  längere  Zeit; 

r)  um  Bauten,  für  welche  keine  allgemeine  Vorschriften  bestehen,  ist 

ein  Spezialgesetz  erforderlich ; 

(1)  dasselbe  gilt  vom  Baue  einer  neuen  Eisenbahn  auf  Staatskosten. 

Die  diesbezüglichen  besonderen  Gesetze  enthalten  die  Bezeichnung 
der  Arbeiten  und  die  nähere  Spezialisierung  der  Ausführungsart,  weichen 
aber  bezüglich  des  sonstigen  Inhalts  wesentlich  voneinander  ab.  In  der 
Mehrheit  der  Fälle  wird  der  Höchstbetrag  der  Errichtungskosten  angegeben, 
dann  die  Endfrist  der  Vollendung  der  ganzen  Anlage  oder  der  einzelnen 
Teile;  häufig  gesellt  sich  hiezu  die  Bewilligung  des  erforderlichen  Kredits 
für  die  Vorarbeiten  und  die  Bedeckungsweige  desselben,  endlich  die  Bestim- 
mungen, betreffend  die  eventuelle  Betriebsführung. ’) 

II.  Bei  Selbstverwaltungskörpern  ist  das  Verhältnis  des  Beschlußwillens 
teilweise  in  anderer  Art  und  Weise  geregelt. 

1.  Es  gibt  oft  Vorschriften,  welche  den  betreffenden  Selbstverwaltungs- 
körper zur  Vornahme  gewisser  Arbeiten  verpflichten.  Zn  diesen  Arbeiten 
zählen  die  Landes-,  Bezirks-  und  Konkurrenzstraßen,  Gemeindewege  und 
-kanäle.  Wird  die  Arbeit  nicht  verrichtet,  so  tritt  die  Einstellung  der  not- 
wendigen Auslagen  im  Voranschläge  von  Amts  wegen  ein  oder  die  zwangs- 
weise Durchführung  auf  Kosten  des  Verpflichteten. 

2.  Die  Verrichtung  anderer  Arbeiten  ist  dem  freien  Entschlüsse  des 
Selbstverwaltungskörpers  überlassen.  Sie  bilden  ein  weites  Gebiet,  auf  welchem 
die  Tätigkeit  der  Selbstverwaltung  die  größten  Dienste  der  Öffentlichkeit 
bieten  kann.  Der  Beschluß  eines  Verwaltungskörpers,  betreffend  die  Schaffung 
einer  öffentlichen  Anlage,  bindet  ihn  selbst  als  eine  freiwillige  Übernahme 
der  Last. 

Bezüglich  der  Voraussetzungen  für  die  Gültigkeit  des  Ausführungs- 
beschlusses läßt  sich  auf  La  u d e s a r b e i t e n alles  anwendeu.  was  über 
die  Staatsarbeiten  oben  gesagt  wurde.  Wenn  ein  Gebiet  der  öffentlichen 
Arbeiten  durch  allgemeine  Gesetze  beherrscht  wird  (wie  der  Wege-  und 
Eisenbahnbau),  so  ist  zu  einzelnen  Arbeiten  auf  diesem  Gebiete  nur  die 
Bewilligung  der  Mittel  im  L&ndesroranschlage  erforderlich;  sonst  muß  ein 
Gesetz  erlassen  werden.  Diese  besonderen  Gesetze  kommen  gewöhnlich  nur 
auf  dem  Gebiete  der  Wasserbauten  vor;  diese  Bauten  werden  jedoch  vom 
Lande  allein  ohne  Beteiligung  anderer  Faktoren  nicht  verrichtet ; das  besondere 
Verhältnis  dieser  Mitwirkung  wird  im  nächsten  Abschnitte  behandelt. 

In  jenen  Kronländern,  wo  Bezirksvertretungen  bestehen,  beschließt  der 
Bezirksrat  über  die  Notwendigkeit  und  die  Errichtung  neuer  Anlagen.  Zur 


!)  Dem  ausgezeichneten  Aufsätze  von  Bröf  im  St&&t*wOrterbueh  von  Miachler, 
1.,  8.  340,  entnommen. 


12* 


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IfiO 


Bresiewicz 


Wirksamkeit  der  Besclilüsse,  durch  welche  die  Zuschläge  zu  den  unmittel- 
baren Steuern  über  15  Proz.  beziehungsweise  20  Proz.  erhöht  oder  größere 
Darlehen  aufgenommen  werden  sollen,  ist  die  Genehmigung  des  Landes- 
ausschusses beziehungsweise  ein  Landesgesetz  erforderlich.1)  Wenn  die 
Bezirksvertretung  die  Krrichtung  oder  Unterhaltung  der  nötigen  Bezirksstraßen 
verweigern  sollte,  hat  die  Statthalterei  auf  Kosten  und  Gefahr  des  Bezirkes 
die  entsprechende  Abhilfe  zu  treffen.  In  anderen  Ländern,  wo  die  Bezirks- 
vertretungen nicht  bestehen,  bleibt  die  Bestimmung  über  Anlage  neuer 
Konkurrenzstraßen  oder  Auflassung  derselben  der  Landesvertretung  (Gesetz 
oder  Beschluß)  Vorbehalten. 

Bezüglich  der  öffentlichen  Arbeiten  einer  Gemeinde  beschließt  die 
Gemeindevertretung  über  die  Herstellung.  Abänderung  und  Auflassung  der 
Anlagen.8)  Die  Gemeindevertretung  kann  ohne  weitere  Genehmigung  die 
Inangriffnahme  aller  Arbeiten  beschließen,  wenn  sie  die  ordentlichen  und 
außerordentlichen  Einnahmen  der  Gemeinde  nicht  Übersteigen.*)  Wenn  die 
notwendigen  Auslagen  höher  sind,  wenn  sie  besondere  Einnahmequellen  in 
Anspruch  nehmen  oder  die  Aufnahme  eines  Darlehens  notwendig  machen, 
muß  der  Auslagebeschluß  der  Genehmigung  der  Aufsichtsbehörde  unter 
breitet  werden.4)  Diese  Behörde  hat  also  auf  die  Entwürfe  und  Ausführungsart 
nur  einen  mittelbaren  Einfluß.  In  Frankreich  ist  dieser  Einfluß  unmittelbar, 
da  in  diesem  Falle  die  Entwürfe,  die  Voranschläge  und  alle  Urkunden  vom 
Präfekten  bestätigt  werden  müssen.5) 

Die  öffentlichen  Arbeiten  der  Gemeinde  werden  vom  Gemeindevorstande, 
und  zwar  im  selbständigen  Wirkungskreise  ausgefflhrt. 

Daraus  erhellt,  daß  alle  öffentlichen  Arbeiten  auf  Grund  einer  öffent- 
lichen Verpflichtung  ausgeführt  werden;  die  unternehmende  Verwaltung  hat 
uicht  nur  das  liecht,  sondern  auch  die  Pflicht  zur  Ausführung  der  öffentlichen 
Arbeiten.  Diese  Verpflichtung  kann  ihre  formelle  Quelle  entweder  im  Gesetze 
oder  in  einem  bindenden  Beschlüsse  eines  Selbstverwaltungskörpers  haben. 

III.  Rechte  und  Obliegenheiten  des  Unternehmers. 

Der  Unternehmer  ist  der  Träger  der  betreffenden  öffentlichen  Arbeit. 

A.  Er  ist  verpflichtet,  die  Arbeiten  auf  seine  Kosten  durchzuführen, 
wenn  nicht  etwas  anderes  im  einzelnen  Falle  bestimmt  wurde.  Zahlreiche 
Ausnahmen  von  dieser  Kegel  werden  im  folgenden  Abschnitte  eingehend 
behandelt.  Die  Mittel  zur  Ausführung  der  öffentlichen  Arbeiten  werden  auf 
verschiedene  Art  aufgebracht; 

*)  Benirkavertretongsgesetze  für  Böhmen  §$  54  nnd  55,  für  Galizien  §§  23  onJ  24, 
für  Steiermark  §§  53  nnd  54.  in  dem  durch  nachträgliche  Gesetze  abgeänderten  Wortlaute. 

*)  § 80  beziehungsweise  31  der  Geineindegesetze. 

3t  Französisches  Gemeindegesetz  Art.  139  und  141. 

4I  Sieh  die  betreffenden,  im  Wortlaute  sehr  voneinander  abweichenden  Gemeinde- 
gesetze und  Novellen  im  Handbuche  von  Mayrhofer,  II.,  S.  016  bis  671,  682  bis  699. 

s)  Französisches  Gemeindegesetz  Art.  1 14  nnd  115  und  Ordonnanz  vom  14.  November 
1887.  Art.  10. 


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Dm  Recht  der  Öffentlichen  Arbeiten.  |til 

1.  Die  notwendigen  Kosten  können  aus  den  laufenden  Einkünften  des 
Unternehmers  bestritten  werden.  Bei  Bauten,  welche  mehrere  Jahre  dauern, 
werden  auch  die  Kosten  auf  mehrere  Jahre  verteilt  und  alljährlich  in  den 
Voranschlag  eingestellt  Dieser  Fall  bildet  die  Kegel  bei  den  Erhaltungs- 
arbeiten oder  bei  kleineren  Neubauten,  welche  ihre  Bedeckung  in  den 
ordentlichen  Einkünften  des  Unternehmers  finden. 

2.  Die  Kosten  der  öffentlichen  Arbeit  werden  im  Wege  einer  Kredit- 
operation gesammelt.  Das  Anlehen  wird  entweder  vom  Unternehmer  selbst 
aufgenommen  oder  dessen  Aufnahme  durch  eiu  Kreditinstitut  mittels  Über- 
weisung der  Verzinsuugs-  und  Tilguugsannuitäten  an  dieses  letztere  durch- 
geführt.  Der  Gebrauch  solcher  Anlagen  kann  entweder  unentgeltlich  den 
Bürgern  überlassen  oder  mit  einer  Abgabe  belegt  werden.  Diese  Abgabe 
dient  zur  Aufbringung  aller  Herstellungs-  und  Ei  haltungskosten  oder  nur 
zur  Deckung  der  letzteren.  So  sind  bei  Staatsbahneu,  Telegraphen-  uud 
Fernsprecbanstalten  die  Beförderungsabgaben,  bei  SchiffahrtskauiUen  die 
Kanalgebübren  eingeführt.  So  werden  auch  zur  Deckung  der  Kosten  der 
Herstellung,  Erhaltung  und  Verwaltung  der  städtischen  Kanüle  und  Wasser- 
leitungen Kanaleinmündungsgebühren  und  Wasserzinse  eingehoben.  Zur 
Instandhaltung  der  lindes-,  Bezirks-  und  Gemeindewege  dienen  die  ilaut- 
gebübreu.  Die  Erhebung  der  Abgabeu  kann  uur  auf  Grund  einer  Ermächtigung 
erfolgen,  welche  in  allgemeinen  oder  in  besonderen  Gesetzen  enthalten  ist. 

Dem  Unternehmer  liegen  auch  die  Kosten  für  die  fernere  Erhaltung 
des  Werkes  ob.1)  Wenn  das  Eigeutum  der  Anlagen  auf  Grund  eines  Gesetzes 
auf  jemanden  anderen  übergeht,  übernimmt  der  neue  Eigentümer  auch  die 
Lasten  der  weiteren  Erhaltung.*)  Dieser  Fall  kommt  oft  bei  Übertragung 
öffentlicher  Staatsstralien  an  Selbstverwaltungskörper  vor.“'  ln  einzelnen 
Fällen  kann  jedoch  die  Pflicht  zur  Erhaltung  der  Anlagen  im  Wege  eines 
Gesetzes  oder  eines  Übereinkommens  in  anderer  Weise  geregelt  werden.4' 

li.  Der  Unternehmer  bestimmt  die  Art  der  Ausführung,  wenn  sie 
nicht  gesetzlich  vorgesebrieben  ist.  Er  kann  sie  nämlich  in  eigener  Kegie 
ausführen  oder  die  Ausführung  im  Vertragswege  vergeben.  Er  bestellt  die 
Organe  der  Bauleitung  beziehungsweise  auch  der  Bauführung.  besorgt  die 
Abnahme  der  Arbeiten  und  die  Verrechnung  des  Baufonds.  Der  Unternehmer 
übt  die  Rechte  der  öffentlichen  Verwaltung  dritten  Personen  gegenüber.  Er 
legt  die  Entwürfe  der  Arbeiten  vor,  nimmt  in  Anspruch  die  Grundstücke 
und  Hechte,  welche  zu  Gunsten  des  Unternehmens  enteignet  beziehungs- 
weise belastet  werden  sollen,  und  betreibt  die  Krlassuug  betreffender  Anord- 

')  Eisenbabnbetriebsorduung  § 3;  §§  4b.  44  und  85  der  meisten  Was.errechfcs- 
geeelze;  Wildbachverbaunugsgesetz  $ 18. 

§ 1Ü  des  Gesetzes  vom  4.  Jänner  18'J‘J,  K..G.-B1.  Nr.  5,  betreffend  die  Donau- 
regulierung. 

»)  Gesetz  rom  21.  Mai  1874,  R.-G.-Bl.  Nr.  78,  vom  21.  März  1876,  K -G.-Bl 
Nr.  46;  preuüisches  Gesetz  vom  8.  Juli  1875,  4 18,  Abc.  2;  italienisches  Gesetz  über 
Öffentliche  Arbeiten  Art.  11  und  88. 

4 Wildimcbvcrbauungigcsetz  4 18. 


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162 


Bresiewict. 


nungen  seitens  der  Staatsbehörde.  Anderseits  übernimmt  er  auch  die  l’tlicht 
zur  Zahlung  einer  Geldausgleichung  für  alle  durch  die  Ausführung  der 
öffentlichen  Arbeiten  in  ihren  Hechten  betroffenen  Personen  und  die  Pflicht 
zur  Ausführung  der  Arbeiten  im  Sinne  der  darüber  bestehenden  Vorschriften. 

Der  Unternehmer  erwirbt  grundsätzlich  das  Eigentum  der  geschaffenen 
Anlagen,  wenn  nicht  anders  durch  ein  Spezialgesetz  angeordnet  wurde,  ln 
jedem  Falle  bleibt  der  öffentliche  Charakter  der  Anlagen  und  deren  Zugäng- 
lichkeit für  jedermann,  der  dieselben  unter  den  hiefür  vorgeschriebenen 
Bedingungen  benutzen  will,  immer  aufrecht.1)  Der  Unternehmer  verwaltet 
schließlich  die  fertig  gestellte  Anlage  den  allgemeinen  oder  den  für  den 
einzelnen  Fall  erlassenen  Vorschriften  gemäß. 

III.  Verhältnis  der  Verwaltung  zu  Drittem. 

Aus  der  Nachbarschaft  der  Grundstücke  ergeben  sich  für  die  Anrainer 
verschiedenartige  Eigentumsbeschränkungen,  welche  den  wechselseitigen 
Bedürfnissen  der  Grundnachbarn  Rechnung  tragen,  ihr  wirtschaftliches 
Interesse  gegenseitig  fördern  und  in  Kollisionstallen  in  billiger  Weise  aus- 
gleichen.*)  Dieses  sogenannte  Nachbarrecht  umfaßt:*) 
n)  die  Beschränkungen  der  Benutzung  des  Eigentums  durch  Verbot 
unmittelbarer  Eingriffe  in  das  Eigentum  des  Nachbars  und  Duldung 
der  gewöhnlichen  Immissionen ; 

b)  Duldung  gewisser  Vorkehrungen  zu  Gunsten  des  Nachbars  oder  seiner 
Handlungen,  wie  die  Errichtung  der  Notwege.  Verfolgung  flüchtiger 
Tiere  u.  s.  w. ; 

r)  Verpflichtung  zu  wirklichen  Leistungen  zu  Gunsten  des  Nachbars, 
wie  Erhaltung  verfallender  Mauern  und  Planken,  Zurüekleitung  des 
unverbrauchten  Wassors  in  das  ursprüngliche  Bett  u.  s.  w. 

Das  Rechtsverhältnis  bleibt  vollkommen  gleich,  wenn  auch  die  Ver- 
waltung des  Staats-,  Landes-  oder  Gemeindevermögens  als  Nachbar  auftritt.*) 
Die  daraus  entstehenden  Ansprüche  können  in  der  Regel  im  Rechtswege 
geltend  gemacht  werden. 

Wenn  aber  diese  Verwaltungsverbüude  oder  andere  Personen  öffentliche 
Arbeiten  ausführen,  sind  die  privatrechtlichen  Grundsätze  des  Nachbarrechtes 
nicht  anwendbar.  Die  öffentlichen  Arbeiten  als  ein  Stück  der  Verwaltung 
bringen  die  Grundsätze  des  Verwaltuugsrechtes  zur  Bestimmung  des  Ver- 
hältnisses der  Verwaltung  zu  dritten  Personen  mit  Deswegen  bestehen 
besondere  Vorschriften  sowohl  bezüglich  der  Nachteile  als  auch  der  Vor- 
teile. welche  den  Anrainern  durch  öffentliche  Arbeiten  entstehen ; sie  lassen 
sich  in  folgende  Gruppen  zusammenfassen : Enteignung,  Duldung  von  Lasten 
und  Verrichtung  von  Leistungen,  Beschädigungen  und  Zwangsbeiträge. 

')  S 12  de*  Gesetzes  vom  4.  Jänner  1899,  R.-G.-B1.  Nr.  5. 

*)  Banda:  Kigentmnsrecht  S,  104,  Note  S. 

*)  Stubenrauch:  Kommentar  1902,  1..  S.  486  bis  441. 

*)  § 290  des  a.  b.  G.-B. 


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Das  Recht  ler  nft'entliclieu  Arbeiten. 


163 


A.  Enteignung. 

Die  Enteignung  ist  ein  obrigkeitlicher  Eingriff  in  das  Eigentum,  um 
es  dem  Untertanen  ganz  oder  teilweise  aus  Gründen  des  öffentlichen  Wohles 
zu  entziehen.  Die  meisten  Enteignungen  finden  wohl  zu  Gunsten  eines 
öffentlichen  Unternehmens  statt:  diese  beiden  Begriffe  decken  sich  jedoch 
nicht  immer.*)  Es  gibt  eine  bedeutende  Anzahl  von  Fällen,  in  welchen  die 
Enteignung  zur  Förderung  der  ökonomisch  wichtigen  privatwirtschaftlichen 
Vorteile  gewährt  wird,  wie  für  Bergbau-,  Bewässerung^-  und  Wasserleitungs- 
zwecke. Anderseits  ist  die  Enteignung  nicht  ein  notwendiges  Merkmal  der 
öffentlichen  Arbeiten ; sie  können  auch  ohne  Enteignung  ausgeführt  werden, 
wenn  die  Ausführung  auf  dem  Grund  und  Boden  des  Unternehmers  erfolgt, 
z.  B.  eine  Trambahn  auf  städtischen  Straffen. 

Vom  rechtlichen  Standpunkte  wäre  es  möglich,  dali  öffentliche  Anlagen 
auf  fremdem  Grund  und  Boden  ohne  Enteignung  ausgefflhrt  werden.  Wenn 
keine  begründete  Zweifel  bestehen,  dall  der  für  Errichtung  des  Zweckes  der 
Arbeit  erforderliche  Zustand  dauernd  nicht  erhalten  werde,  wird  zur  Ent- 
eignung nicht  geschritten.1)  Den  Untertanen  wird  nur  so  viel  genommen, 
als  unumgänglich  notwendig  ist  um  die  Zustandebringuug  und  den  Betrieb 
des  öffentlichen  Unternehmens  zu  ermöglichen.  Sur  wenn  sich  die  Rechte  des 
Untertans  der  Ausführung  einer  öffentlichen  Arbeit  derart  eutgegenstellen, 
dall  die  Ausführung  ohne  Eingriff  in  diese  Rechte  unmöglich  wird,  müssen  die 
Frivatrechte  weichen:  denn  es  handelt  sich  hier  um  die  öffentliche  Verwaltung. 

Das  Enteignungsrecht  umfaßt  insbesondere3)  das  Recht: 

1.  auf  Abtretung  von  Grundstücken: 

2.  auf  Überlassung  von  Quellen  und  Privatgewässern ; 

:t.  auf  Einräunuug  von  Dienstbarkeiten  und  anderen  dinglichen  Rechten 
an  unbeweglichen  Sachen  sowie  auf  Aufhebung  derartiger  Rechte; 

1.  auf  Duldung  der  Beschränkungen  des  Eigentumsrechtes  oder  auderer 
Hechte  an  einem  Grundstücke. 

Die  Enteignung  ist  also  lediglich  gegen  das  Eigentum  an  Grundstücken 
gerichtet.  Der  Enteignungsanspruch  des  Unternehmers  richtet  sich  weiter  nur 
gegen  das  privatrechtliche  Eigentum ; wenn  die  Sache  dem  privatreclitlichen 
Verkehre  entzogeu  ist,  wenn  sie  bereits  einem  öffentlichen  Interesse  dient 
(z.  B.  das  öffentliche  Gut),  kann  sie  nicht  zwangsweise  einem  anderen  öffent- 
lichen Gebrauch  gewidmet  werden  — die  Enteignung  wird  unmöglich.*) 

*)  Wie  es  Otto  Mayer  (Deutsches  Verwaltungsrecht,  II.,  S.  3}  definiert.  Auch 
Grän  hat  (Enteignungsrecht,  S.  3i  stellt  „die  Übertragung  in  das  öffentliche  Gut“  als 
wesentlich  für  die  Enteignung  auf. 

*)  Wildbachverbaunngpgesetz  § 4. 

*)  EUenbahnkonzessionsgesetz  § 9»  iit,  c)\  Gesetz  vom  18.  Februar  1878,  K.-G.-B1. 
Nr.  30,  § 2.  Reichswasserrechtsgeseti  § 15;  Wasaerrechtogesetze:  § 29  des  kraiu..  § 43 
steiennftrk  , § 44  bukow.,  § 49  böhm.,  § 48  sonstiger  Gesetze;  § 14  des  Melioration*- 
gesetzes  von  1884;  § 18  des  Gesetzes  vom  11.  Juni  1901,  R.-G.-Bl.  Nr.  66. 

4)  Grünhut:  Enteignungsrecht  S.  76  ff.  Otto  Mayer:  Deutsches  Verwaltuugs- 
reeht  II. , 8,  23.  Die  entgegengesetzte  Meinung  behauptet  Praftäk  (Das  Recht  der  Ent- 
eignung, Prag,  1877,  S.  75  ff). 


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164 


Bresiewicz. 


Wenn  zum  Bau  einer  öffentlichen  Anlage  die  Mitbenutzung  des  öffentlichen 
Gutes  oder  eines  öffentlichen  Werkes  notwendig  erscheint,  so  muß  ein 
Übereinkommen  mit  dem  Verwalter  des  Gutes  geschlossen  werden.1)  Das 
gilt  insbesondere  für  Lokalbahnen*)  auf  Landes-  oder  Bezirksstraßen,  Tram- 
bahnen auf  städtischen  Gassen  und  Gasleitungen. 

Der  Enteignungsausspruch  wird  ausschließlich  von  staatlichen  Ver- 
waltungsbehörden gefällt,  ohne  Rücksicht  darauf,  ob  der  Staat,  die  Selbst- 
verwaltungskörper  oder  der  Konzessionär  als  Unternehmer  auftreten.  Die 
letzteren  haben  nur  einen  Anspruch  auf  AusQbung  des  Enteignungsrechtes 
durch  den  Staat’)  und  können  die  betreffenden  Anträge  stellen;  selbst 
enteignen  können  sie  nicht.*)  Die  Amtshandlungen  bei  der  Enteignung 
umfassen  folgende  Tätigkeiten : 

1.  Anerkennung  der  Zulässigkeit  der  Enteignung; 

2.  Bezeichnung  der  in  Anspruch  genommenen  Grundstücke  und  Rechte; 

8.  Verhandlung  bezüglich  des  Gegenstandes  und  Umfanges  der  Ent- 
eignung ; 

4.  Fällung  der  Enteignungserkenntnisse; 

5.  Feststellung  der  Geldausgleichung; 

6.  Vollzug  der  Enteignung. 

Die  Zulässigkeit  der  Enteignung  muß  immer  durch  ein  Gesetz  aus- 
gesprochen werden.  Sie  erfolgt  entweder  für  ein  besonders  bezeichnetes 
Unternehmen  oder  im  allgemeinen  für  eine  Gattung  von  Unternehmungen. 
Im  letzteren  Falle  wird  von  der  Regierung  ausgesprochen,  daß  das  beab- 
sichtigte Unternehmen  allgemein  nützlich  ist  und  das  Enteignungsrecht  in 
Anspruch  nehmen  kann.  Die  Bezeichnung  der  zu  enteignenden  Gegenstände 
ist  Sache  des  Unternehmers.  Auf  Grund  der  von  ihm  vorgelegten 
Verzeichnisse  wird  ein  Ediktalverfahren  eingeleitet  und  über  die  Not- 
wendigkeit, den  Gegenstand  und  Umfang  der  Enteignung  verhandelt  Auf 
Grund  dieser  Verhandlung  fällt  die  Verwaltungsbehörde  die  Enteignungs- 
erkenntnisse.5) 

r)  Eisenbahnkonzessionigesetz  § 10,  lit.  d). 

*)  Gesetz  vom  31.  Dezember  1894,  K.-G.-Bl.  Nr.  2 ex  1895,  Art  XIV. 

*)  W.  v.  Rohland:  Zar  Theorie  and  Praxis  des  deutschen  Enteignungsrecbtes, 
Leipzig,  1875,  S.  14. 

4)  v.  Rohland  bemerkt  ($.  12j  mit  Recht,  daü  die  „Verleihung  des  Entciguaugs- 
rechtes“  an  den  Unternehmer  nie  stattfindet,  obwohl  sie  von  Gesetzen  ausgesprochen  wird. 

*)  Tn  Frankreich  wird  die  Erklirung  der  öffentlichen  Nützlichkeit  vom  Gesetze 
oder  einem  Dekrete  ausgesprochen;  die  zu  enteignenden  Grundstücke  werden  vom  Prä- 
fekten bezeichnet.  Die  Enteignung  kann  nur  der  Gerichtshof  ausspreilien,  wobei  er  zu 
untersuchen  hat,  ob  die  gesetzlichen  Formen  des  Verfahrens  eingehalteu  wurden.  Der 
Ausgleichungsbetrag  wird  von  Geschworenen  festgestellt;  nach  Zahlung  oder  Hinter- 
legung des  Betrages  ist  der  Antragsteller  der  Enteignung  zur  Besitznahme  des  Grund- 
stückes ermächtigt  (Gesetz  vom  3.  Mai  1841).  In  Italien  wird  der  Enteignungsplan  vom 
Präfekten  bestätigt  und  die  Höbe  des  Ersatzes  über  Anordnung  des  Bezirksgerichtes 
von  drei  Sach  verständigen  festgestellt;  nach  Zahlung  oder  Hinterlegung  des  bestimmten 
Betrages  wird  die  Enteignung  vom  Präfekten  ausgesprochen  und  der  Enteigner  zur 
Besitzergreifung  der  Grundstücke  ermächtigt  (Gesetz  vom  25.  Juni  1865). 


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Daa  Recht  der  öffentlichen  Arbeiten. 


165 


Die  Enteignung  legt  dem  Betroffenen  eine  Lust  auf,  welche  ihm  allein 
einen  Vermögensnachteil  verursacht;  da  jedoch  die  öffentlichen  Lasten  im 
Staate  gleichmäßig  verteilt  werden  sollen,  wird  dem  Betroffenen  vom  Unter- 
nehmer der  Wert  der  entzogenen  Sache  entrichtet  und  dadurch  eine  Aus- 
gleichung der  Vermögenswirkungen  der  Enteignung  bewirkt. 

Das  ist  die  Idee,  welche  die  Zahlung  des  Wertes  der  euteigneteu 
Sache  an  den  Eigentümer  vermittelt.  Das  Wort  .Entschädigung*,  welches 
in  den  Gesetzen  und  in  der  Wissenschaft')  anstatt  .Ausgleichung*  benutzt 
wird,  ist  zu  verwerfen,  weil  es  notwendig  den  Eindruck  hervorruft,  als  ob 
dem  Eigentümer  durch  die  Enteignung  ein  Schaden  zugefügt  worden  wäre. 

Die  Entziehung  des  Eigentums  und  der  dinglichen  Rechte  veranlaßt 
wohl  einen  vermögensrechtlichen  Nachteil  wie  jede  Steuerzahlung ; sie  ist 
aber  so  wie  diese  keine  eigenmächtige  Beschädigung,  sondern  Auflegung 
einer  öffentlichen  Last. 

Die  endgültige  Ermittlung  und  Feststellung  der  Ausgleichungen  erfolgt 
immer  auf  gerichtlichem  Wege.  Da  jedoch  die  Gesetze  über  öffentliche 
Arbeiten  aus  verschiedenen  Epochen  stammen,  liefern  sie  ein  buntes  Bild 
verschiedener  Systeme. 

1.  Es  kommt  vor,  daß  die  Ermittlung  der  Ausgleichung  ausschließlich 
auf  gerichtlichem  Wege  erfolgen  kann : die  maßgebenden  Tatumstände 
werden  nach  den  Grundsätzen  des  Verfahrens  außer  Streitsachen  an  Ort 
und  Stelle  unter  Zuziehung  von  Sachverständigen  erhoben  und  der  Aus- 
gleicbungsbetrag  vom  Gerichte  festgestellt.  Als  Vorbild  dient  das  Gesetz 
vom  18.  Februar  1878,  K.-G.-Bl.  Nr.  30,  betreffend  die  Enteignung  zum 
Zwecke  der  Herstellung  und  des  Betriebes  von  Eisenbahnen.*) 

2.  Bedeutend  öfter  sind  jedoch  Fälle,  in  welchen  die  Ausgleichuugs- 
ansprnche  vorläufig  im  Verwaltungswege  festgesetzt  werden.*)  Jedem,  welcher 
sich  durch  die  Entscheidung  der  politischen  Behörde  über  eine  Ausgleichungs- 
frage nicht  für  befriedigt  hält,  stellt  es  frei,  die  gerichtliche  Ermittlung 
der  Ausgleichung  zu  begehren.  Diese  erfolgt; 

a)  entweder  unter  sinngemäßer  Anwendung  der  für  die  Eisenbahnen 

geltenden  Vorschriften;1) 

')  Otto  Mayor  (Deutsches  Verwaltungsrecht,  II..  8.  13  ff.,  345  ff.)  erfaßt  das 
Wesen  der  Geldausgleichang  ganz  richtig,  macht  aber  die  Darstellung  unklar  durch 
Anwendung  der  dem  Privatrechte  entlehnten  Ausdrücke. 

*)  Gesetz  über  die  Regulierung  des  Assanierungsrayons  von  Prag  rom  11.  Februar 
1893,  R.-G.-B1.  Nr.  22.  g§  23  ff.;  Geseta,  betreffend  die  Donaureguliernng,  vom 
4.  Jänoer  1899,  R.-G.-B1.  Nr.  5.  § 16;  Gesetz,  betreffend  den  Bau  von  Wasserstraßen, 
vom  11.  Juni  1901,  R.-G.-B1.  Nr.  66,  6 13. 

9)  Z.  B.  bei  Enteignungen  rum  Straßenbau  (Hofkanzleidekret  vom  27.  September 
1793.  P.G.-S.  Bd.  3,  S.  38,  vorn  11.  Oktober  1821,  P.  G.-S.  Bd.  49,  S.  306,  und  Ver- 
ordnung des  Ministeriums  des  Innern  vorn  21.  April  1857,  R.-G.-Bl.  Nr.  82,  § 2;,  bei 
der  Wildbacbverbanung  (Gesetz  g 14)  und  bei  Wasserbauten  (Gesetz  vom  30.  Mai  1869, 
B.-G.-Bl.  Nr.  93.  g 17). 

4)  Wildhachverbauungsgeaetz  >8  15  und  16. 


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lfifi 


Bresiewicz. 


h)  oder  durch  gerichtliche«  Befund  nach  den  Gruudsfitzen  des  Etit- 

eignungsverfahrens:  *) 

e)  oder  schließlich  im  ordentlichen  Rechtswege.1 

Die  Zuständigkeit  der  Gerichte  zur  Ermittlung  der  Ausgleiehungs- 
heträge  ändert  nicht  den  öfl'entlichiechtlichen  Charakter  der  Forderung. 

Der  Vollzug  der  Enteignung  ist  erst  nach  Entrichtung  der  festgestcllteu 
Geldausgleichuug  zulässig:  er  wird  durch  Übergang  des  Eigentums  an  einen 
dritten  oder  Anfechtung  der  Feststellung  des  Ausgleichungsbetrages  im 
Rekurswege  nicht  gehemmt.  Auf  Ansuchen  des  Unternehmers  hat  die  poli- 
tische Behörde  die  zwangsweise  Einführung  des  Unternehmers  in  den  Besitz 
der  enteigneten  Liegenschaften  zu  veranlassen.  — Die  unmittelbare  Ver- 
wendung fremden  Grund  und  Bodens  zu  ötfentliciieu  Bauzwecken  ist  nicht 
anders  als  nach  durchgeführter  Enteignung  statthaft  und  die  politischen 
Behörden  sind  lediglich  zum  Ausspruche  und  zur  Durchführung  der  Ent- 
eignung berufen.  Wenn  also  die  unmittelbare  Verwendung  fremden  Besitzes 
zu  Bauzwecken  ohne  Enteignung  stattgefunden  hat,  ist  es  eine  eigenmächtige 
Handlung,  über  dereu  Folgen  im  ordentlichen  Rechtswege  abgesprocheu  wird.3» 

H.  Duldung  von  Lasten  und  Verrichtung  von  Leistungen. 

Die  Unternehmer  öffentlicher  Arbeiten  sind  verpflichtet.4)  allen  Bau- 
anlagen  eine  so  entsprechende  Rinrichtuug  und  Ausführung  zu  geben,  daß 
die  angrenzenden  Gebäude  und  Grundstücke  gegen  jeden  Nachteil  sieber- 
gestellt  sind.  Ungeachtet  dessen  ist  gewöhnlich  die  Errichtung  der  öffent- 
lichen Anlagen  ohne  Eingriff  in  die  benachbarten  Grundstücke  unausführbar. 
Auf  diese  Eingriffe  können  die  Grundsätze  der  Enteignung  nicht  angewendet 
werden,  weit  sie  keine  vollständige  Entziehung  des  Eigentums  der  Grund- 
stücke und  keine  Einräumung  dinglicher  ständiger  Rechte  veranlassen.  Diese 
Eingriffe  sind  öffentliche  Lüsten,  Ober  deren  Zulässigkeit  im  einzelnen  Falle 
die  politischen  Behörden  entscheiden.  Sie  können  vorübergehend  oder 
ständig,  mittelbar  oder  unmittelbar  sein  und  sind  von  den  Verwaltungs- 
gesetzen folgendermaßen  geregelt: 

1.  Der  Eigentümer  muß  unschädliche  Änderungen  seiner  Liegenschaften 
unentgeltlich  dulden.  Infolge  der  Straßengesetze  sind  die  Besitzer  der  an 
öffentliche  Straßen  anstoßenden  Grundstücke  gehalten,  die  Pflanzung  von 
Baumalleen3)  von  Seite  der  Gemeinde  längs  des  Straßenzuges  auf  ihren 
Gründen  zu  gestatten.  Im  Verbauuiigsgehiete  der  Wildbäche*)  muß  der 
Besitzer  dulden,  daß  die  zur  Herbeiführung  des  zweckentsprechenden 

*)  Keichsgeaetz  über  du  Wasserrecht  g 17. 

*l  Bei  Enteignungen  für  fttraRenzwecke  (vcrgl.  oben  angeführte  Vorschriften). 

3)  Erkenntnis  des  Venvaltungsgerichtahofee  rum  9.  Juli  1885.  Budwiüsk  i Nr.  9656 
und  2657. 

*)  Eisenbatiukonzessionsgezetz  § 10  lit.  b). 

3)  I)aa  Eigentum  der  Bäume  steht  selbstverständlich  stete  dem  Grundbesitzer  zu 
fg  420  a.  b.  G.-lS.i.  Banda:  Das  Eigentum  S.  108. 

4j  Wildbaehverbauungagesetz  § 6. 


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Das  Keeht  der  öffentlichen  Arbeiten. 


1R7 


Zustandes  diese»  Grundstücke»  festgestellten  Vorkehrungen  i z.  B.  Herstellung 
von  Sickergräben  oder  anderen  Entwässerungsanlagen,  Aufforstung,  Berasung 
u.  s.  w.)  durchgeführt  werden.  Für  Meliorntionsunternehinungen  kann  die 
teilweise  Entziehung  des  Wassers  stattfinden,  wenn  gleichzeitig  durch  eine 
auf  Kosten  der  Unternehmer  auszuführende  Änderung  der  Vorrichtung  zur 
Wasserbenutzung  der  vorbestandene  Nutzerfolg  ungeschmälert  erhalten  und 
für  den  mit  dieser  Änderung  etwa  verbundenen  Mehraufwand  zu  ßetriebs- 
oder  Erhaltungskosten  angemessene  Entschädigung  geleistet  wird.') 

Die  Eisenbahnuuternehmungen  haben  die  Errichtung  einer  Stuatstele- 
graphenleitung  längs  der  Eisenbahn  auf  ihrem  Grund  und  Boden  unentgelt- 
lich zu  gestatten.’)  In  anderen  Ländern’)  ist  die  Telegraphenverwaltung 
außerdem  befugt,  nicht  nur  die  öffentlichen  Wege.  Plätze.  Brücken,  öffent- 
liche Gewässer  und  deren  Ufer  für  ihre  Leitungen  zu  benutzen,  sondern 
auch  die  betreffenden  Telegraphenlinien  durch  den  Luftraum  beliebiger 
Grundstücke  zu  führen.  In  Frankreich4)  und  in  Italien  '■  ist  auch  die  zwangs- 
weise Inanspruchnahme  der  Privatgrundstflcke  zur  Aufstellung  der  Stangen 
und  die  sonstige  Anbringung  von  Stützpunkten  für  die  Leitungen  an  Gebäuden 
gestattet,  insoweit  sie  von  außen  zugänglich  sind.  Ein  Geldersatz  wird  nur 
für  Erschwerung  der  Instandhaltung,  für  Beeinträchtigungen  in  der  Benutzung 
des  Grundstückes  oder  Hauses  und  für  wirkliche  Beschädigungen  gewährt. 
Diese  Ersatzansprüche  werden  vorläufig  von  der  Verwaltungsbehörde,  end- 
gültig vom  Gerichte  festgestellt. 

2.  Zar  Ausführung  und  Instandhaltung  der  öffentlichen  Bauten. müssen 
die  Grundeigentümer  die  Benutzung  der  zur  Zufuhr,  Ablagerung  und  Bereitung 
der  Materialien  sowie  zur  Herstellung  der  Uuterkunftsräume  für  die  Bau- 
leitung und  die  Arbeiter  erforderlichen  Grundparzellen  gestatten.'1  Für  die 
mit  diesen  Gestattungen  verbundenen  Nachteile  haben  die  Grundbesitzer 
Ansprnch  auf  angemessenen  Ersatz. 

Materialien,  welche  zu  den  Herstellungen  notwendig  sind  und  auf  den 
zum  Arbeitsfelde  gehörigen  oder  benachbarten  Grundstücken  vorhanden 
sind,  müssen  vou  den  Eigentümern  zu  diesem  Zwecke  gegen  einen  ange- 
messenen Preis  überlassen  werden.’)  Bei  Straßen  und  Eisenbahnen  beschränkt 
sich  das  Hecht  auf  Gewinnung  des  notwendigen  Schüttungsrohsteines  und 
Schottermateriales.®)  Obige  Lasten  werden  in  der  Gesetzgebung  als  eine 

')  § 14  des  Meliorationsgesetzes  von  1884. 

7 Eisenbahnkonzessionsgesetz  § 10,  lit.  h). 

*)  Deutsches  Telegraphenwege-Gesctz  vom  1».  Dezember  1809,  gg  1 und  12. 

*)  Gesetz  vom  28.  Jnli  1885,  Art.  8. 

Gesetz  vom  7.  April  1892,  Art.  5. 

*)  Wildbachverbauungsgesetz  g 8;  Wasserrecbtsgesetze:  § 30  kraiu.,  § 44  Steier- 
mark. und  niederOtterr.,  § 45  bukow.,  5 50  bölim.,  § 49  sonstiger  Gesetze:  Gesetz  vom 
18.  Februar  1878  (betreffend  die  Enteignung  für  Eisenbalinzwcckel,  g 3. 

’)  Wildbachverbaunngsgesetz  § 3;  Wasserrechtagesetze : § 29  krain.,  g 48  Steier- 
mark., g 44  bukow.,  { 49  bObm-,  g 48  sonstiger  Gesetze. 

*)  Hofkauzleidekret  vom  11.  Oktober  1821,  P.  G.-S.  Bd.  49,  S.  306;  Gesetz  vom 
18.  Februar  1878,  g 3. 


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1«R 


ßresiewicz. 


teil-  und  zeitweise  Enteignung  betrachtet  und  dementsprechend  behaudelt.1) 
In  Frankreich  wird  der  Geldersatz  vom  Präfekturrate,  *)  in  Italien  vom 
Präfekten3)  auf  Grund  eines  Sachverständigenbefundes  festgestellt.  Es  gelten 
jedoch  Oberall  folgende  Beschränkungen : 

dj  Das  liecht,  die  Abtretung  eines  Grundstückes  zu  einer  vorübergehenden 
Benutzung  zu  begehren,  erstreckt  sich  weder  auf  Gebäude  noch  auf 
solche  Grundstücke,  deren  Substanz  durch  die  beabsichtigte  Benutzung 
voraussichtlich  wesentlich  uud  dauernd  verändert  würde. 
b)  Die  zeitweise  Benutzung  darf  nicht  länger  dauern  als  sechs  Monate 
nach  dem  Zeitpunkte  der  Beendigung  der  Arbeiten  und  zum  Zwecke 
der  Iustandhaltungsarbeiten  nicht  länger  als  zwei  Jahre. 

3.  Für  die  Zwecke  der  Errichtung  und  Iustaudhaltuug  der  öffentlichen 
Anlagen  sind  die  Eigentümer  der  angrenzenden  Grundstücke  in  ihrem 
Gebrauchsrechte  au  gewisse  MaUregeln  gebunden.  In  der  Umgebung  öffent- 
licher Anlagen  dürfen  von  den  Anrainern  Anstalten  nicht  getroffen  oder 
Herstellungen  nicht  ausgefübrt  werden,  welche  den  Bestand  der  öffentlichen 
Bauten,  ihres  Zugebörs  oder  die  regelmäßige  und  sichere  Benutzung  der- 
selben gefährden  oder  eine  Feuersgefahr  herbeiführen  könnten,  ln  der  Nähe 
von  Straßen  und  Eisenbahnen')  sind  alle  Handlungen  verboten,  welche  diese 
Anlagen  beschädigen  könnten,  wie  das  Austreiben  des  Viehes  auf  die  Weide, 
Lagerung  von  feuerfangenden  Stoffen,  Anlegung  und  Abtreiben  von  Waldungen, 
die  Gewinnung  von  Schotter,  das  Graben  von  Lehm  uud  überhaupt  jede 
Auflockerung  des  Erdreiches.  Bei  Anlegung  neuer  Straßen,  welche  durch 
Waldungen  führen,  oder  bei  Anlegung  neuer  Wälder  und  Aufforstung  abge- 
triebener Waldflächen  ist  eine  gewisse  Bodenfläche  an  beiden  Seiten  der 
Straße  bäum-  und  buschfrei  zu  halten.  Diese  Lichtuugsbreite  ist  von  der 
politischen  Behörde  zu  bestimmen.5)  Im  Verbauungsgebiete  der  Wildbäche 
muß  der  Eigentümer  den  in  Betreff' der  künftigen  Benutzung  des  Grundstückes 
und  der  Bringung  der  Produkte  erlassenen  Anordnungen  vollständig  nach- 
kommen.  Ist  mit  diesen  Vorkehrungen  oder  Anordnungen  eine  dauernde 
Herabminderung  des  Reinertrages  des  Grundstückes  im  Vergleiche  zu  seiner 
bisherigen  Verwendung  oder  der  Entgang  einer  für  die  Wirtschaft  des 
Berechtigten  wesentlichen  Nutzung  verbunden,  so  ist  hiefür  eine  angemessene 
Entschädigung  zu  leisten.11) 

Die  größten  Beschränkungen  erleidet  das  Baurecbt.  Durch  die  Bau- 
ordnuugen  werden  die  Baubehörden  ermächtigt,  die  den  örtlichen  Verhält- 
nissen angemessenen  oder  durch  dieselben  als  notwendig  bedingten  Kegu- 

*)  EisenbahneuteignuugsgescU  § 8,  Hufkauzleidekret  vom  11.  Oktober  1821, 
Verordnuug  vom  21.  April  1857.  K G - Bl.  Nr.  82,  §§  5 und  6. 

-)  Gesetz  vom  22.  Juli  1889,  Art.  10. 

S)  Gesetz  vom  2 ä.  Juui  1865,  Art.  69. 

')  Die  .Straßenpolizeiordnungen;  Kisenbabubetriebsorduung  § 100. 

')  ErlaO  des  Handelsministeriums  vom  14.  Juni  1859,  Z.  2988,  L.-G.-Bl.  fdr 
Krain  Nr.  20. 

•)  WildbarliverbauUHgsgesetx  5 6. 


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Das  Recht  der  nflentlichen  Arbeiten.  Ifi9 

lierungslinien  für  die  Neu-,  Zu-  oder  Umbauten  au  ermitteln  und  festzu- 
stellen.  Banlinien,  welche  die  (lassen  und  Plätze  begrenzen,  müssen  bei 
jeder  Ballführung  strengstens  eingehaiten  werden,  und  die  Grundeigentümer 
können  und  dürfen  ihr  Baurecht  nur  innerhalb  dieser  Schranken  ausüben. 
Noch  strenger  sind  die  Bauverbote,  welche  für  alle  Eisenbahnen1)  in  dem 
als  feuergefährlich  erklärten  Bereiche,  für  Straßen3)  sowie  für  befestigte 
Plätze  und  Pulvermagazine“)  bestehen.  Innerhalb  des  gesetzlich  hezeichneten 
Kreises  darf  überhaupt  nicht  gebaut  werden;  die  Grenzen  dieses  freien 
Feldes  werden  für  verschiedene  Anlagen  enger  oder  weiter  gezogen.  Die 
Ausmittlung  derselben  erfolgt  durch  die  Verwaltungsbehörden.  Alle  obigen 
Anordnungen  stellen  sich  nicht  als  Verpflichtungen  zur  zwangsweisen 
Abtretung  des  Eigentums  im  Sinne  des  g 365  des  a.  b.  G.-B.  dar,  sondern 
sie  sind  in  der  Bedeutung  des  g 364  ebendort  als  eine  in  den  Gesetzen  zur 
Erhaltung  und  Beförderung  des  allgemeinen  Wohles  vorgeschriehene  Ein- 
schränkungin der  Ausübung  des  Eigentumsrechtes  aufzufassen;  wegen  solcher 
Einschränkungen  kann  aber  mit  Ausnahme  jener  Fälle,  in  welchen  das 
Gesetz  anders  bestimmt,  eine  Geldausgleichung  nicht  beansprucht  werden.*) 

4.  Außerdem  gibt  es  Verpflichtungen  zu  wirklichen  Handlungen:  die 
zur  Offenhaltung  des  Verkehrs  notwendige  Schneeabränmung  auf  den  Reichs- 
straßen  liegt  den  nachbarlichen  Gemeinden  gegen  einen  üblichen  Taglohn 
ob.-'i  Wenn  zur  augenblicklichen  Verhütung  großer  Gefahr  durch  Ufer-  oder 
Dammbrflcke  oder  durch  Überschwemmungen  schleunige  Maßregeln  ergriffen 
werden  müssen,  so  sind  auf  Verlangen  der  politischen  Behörde  oder  des 
Vorstehers  des  bedrohten  Gemeindebezirkes  die  benachbarten  Gemeinden 
verpflichtet,  die  erforderliche  Hilfe  zu  bieten.  Die  für  solche  Hilfeleistungen 
geforderte  Entschädigung  wird  von  der  politischen  Behörde  festgestellt  und 
auf  die  bedrohten  Gemeinden  nmgelegt.“)  Auf  Grund  besonderer  Gesetze 
sind  die  nötigen  Arbeits-  und  Zugkräfte  unentgeltlich  beizustellen. ’) 

Durch  Einzelgesetze  können  die  Hauseigentümer  im  Bereiche  der 
Städte  verpflichtet  werden,")  ihre  Häuser  auf  eigene  Kosten  mit  der  städti- 
schen Wasserleitung  und  mit  dem  bestehenden  öffentlichen  Kanäle  zu 
verbinden. 

*)  Eisenbahnbetriebsordnung  5 üb. 

*)  Gubemialdekret  vom  23.  Juni  1887,  Prov.  G.-S.  für  Tirol,  Bd.  24,  S.  825,  Nr.  64. 

Hofkanzleidekret  vom  28.  April  1848,  P.  Q.-S.  Nr.  51,  und  Verordnung  de« 
Ministeriums  des  Innern  vom  7.  Juli  1876,  R.-G.-R1.  Nr.  99;  Erlall  des  Ministeriums  des 
Innern  u.  s.  w.  vom  21.  Dezember  1859,  ß.-G.-BL  Nr.  10  ex  1860. 

*)  V.-G.-H.  vom  18.  Mürz  1880,  vom  16.  Juli  1880  und  14.  April  1882,  Bud- 
winski  Nr.  783,  889  und  1374. 

ij  Gesetz  vom  2.  Jänner  1877,  R.-G.-ßl.  Nr.  83. 

*)  Landeswasserrechtsgesetze;  § 81  krain.,  4 45  steiermirk.  und  niederasterr., 
$ 46  bukow.,  4 51  böhm..  4 50  sonstiger  Gesetze. 

4 9 des  Gesetzes  vom  30.  April  1895.  Nr.  45,  L.-G.-BI.  für  Galizien,  betreffend 
die  Erhaltung  der  Regutiernngsarbeiteu  am  Trzesnidvrkallusse. 

*)  Beispiele:  Gesetze  vom  13.  Jänner  1897  und  vom  16.  August  1897,  Nr.  13  und 
65,  L.-G.-B.  für  Mähren;  Gesetz  vom  26.- Dezember  1900,  I.  -G.-B.  für  Galizien  Nr.  17 
ei  1901. 


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170 


Breaiewicr. 


Die  öfters  gebrauchte  Benennung  aller  obigen  Lasten  als  , Legalservi- 
tuten“, „öffentliche  Beschränkungen  des  Eigentumsrechtes“  ist  unrichtig, 
weil  Bie  an  die  privatrechtlichen  Dienstbarkeiten  und  Nachbarrechte  erinnert. 
Es  sind  Vorzugslasten  der  betreffenden  Liegenschaften.  Sie  finden  ihre 
Begründung : 

a)  darin,  dal!  das  Eigentum  der  Untertanen  nie  derart  ausgeübt  werden 
kann,  daß  die  Verwaltung  in  ihrer  Tätigkeit  gestört  werde; 

b)  darin,  daß  der  Betroffene  an  dem  Bestände  uud  der  Instandhaltung 
der  öffentlichen  Anlage  als  Nachbar  besonders  beteiligt  ist.1)  Diese 
besondere  Beteiligung  liegt  in  der  Möglichkeit  öfterer  Benutzung  der 
öffentlichen  Anlage  — also  in  der  Erreichung  mittelbarer  Vorteile. 
Alles  dies  sind  Opfer,  für  welche  die  Vorteile  des  geregelten  staatli- 
chen Verbandes  dem  Eigentümer  vollauf  Vergütung  gewähren.*) 

C.  Beschädigungen. 

1.  Außer  obigen  unmittelbaren  Eingriffen  gibt  es  auch  Belästigungen, 
welche  aus  den  öffentlichen  Arbeiten  mittelbar  hervorgehen.  Ihre  Behandlung 
ist  verschiedenartig  und  läßt  sich  uur  am  praktischen  Beispiele  erläutern. 

Wenn  bei  der  Enteignung  eines  Grundstückes  nur  ein  Teil  davon 
genommen  wird,  muß  bei  Ermittlung  des  Geldersatzes  auch  auf  die  Ver- 
minderung des  Wertes,  welche  der  zurückbleibende  Teil  des  Grundbesitzes 
erleidet,  Hücksieht  genommen  werden.  Es  kommt  jedoch  auch  der  Fall  vor, 
daß  dem  Eigentümer  gar  nichts  genommen  wird,  daß  jedoch  sein  Eigentum 
durch  Ausführung  der  öffentlichen  Arbeiten  bedeutend  an  Wert  verliert. 
Durch  den  Bau  einer  Eisenbahn  kann  dem  benachbarten  WohnhauBe  die 
Aussicht  genommen  und  den  Bewohnern  durch  Betrieb  eine  Störung  der 
häuslichen  Stille  bereitet  werden ; einer  Wirtschaft  werden  durch  Umlegung 
der  Wege  oder  Schließung  der  Rampen  bei  Durchfahrt  der  Züge  bedeutende 
Erschwernisse  verursacht.  Alles  dieses  sind  mittelbare  Belästigungen,  welche 
vom  Unternehmer  zwar  nicht  beabsichtigt  werden,  aber  als  eine  Rückwirkung 
der  Errichtung  öffentlicher  Anlagen  sich  ergeben;  den  Eisenbahndamm  hat 
die  Unternehmung  auf  eigenem  Grund  und  Boden  errichtet  und  der  nicht 
enteignete  Nachbar  kann  gegen  dessen  Bau  nichts  einwenden;  den  Rauch 
der  Maschine  und  das  Geräusch  muß  der  Nachbar  als  gewöhnliche  Im- 
missionen dulden  ; so  hat  die  Errichtung  und  der  Betrieb  der  Eisenbahn  ihm 
Belästigungen  verursacht,  aber  seine  Eigentumsrechte  nicht  berührt.  Vorher 
hat  er  einen  kürzeren  Weg  benutzt,  um  in  die  Stadt  zu  gelangen;  aber  er 
hat  kein  Privatrecht  zur  Benutzung  dieses  kurzen  Weges  erworben ; wird 
der  Weg  verlegt,  so  hat  der  Grundbesitzer  das  öffentliche  Recht  nur  zur 
Benutzung  dieses  längeren  Wreges.  Alle  diese  Belästigungen  berühren  keine 
Privatrechte  des  Grundeigentümers  und  geben  ihm  keinen  Anspruch  auf 
Entschädigung.  Daraus  ist  der  Grundsatz  zu  entnehmen,  daß  mittelbare 

’)  Otto  M :i _y e r : Deutsch?«  VerwAltun  gt  recht,  II  , S.  277. 

’)  Rauda:  Das  Eigentumsrecht  S.  104. 


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Pa*  R-rht  der  öffentlichen  Arbeiten. 


171 


Belästigungen  durch  öffentliche  Arbeiten  nur  dann  ersetzt  werden,  wenn  sie 
sich  einem  unmittelbaren  Kingriffe  anschlieflen;  wenn  dieses  nicht  der  Fall 
ist,  werden  sie  nicht  ersetzt. 

Es  ist  unzweifelhaft,  daß  öffentliche  Anlagen  in  der  Art  ausgeführt 
werden  sollen,  daß  sie  so  wenig  als  möglich  Belästigungen  verursachen.  Zur 
Herbeiführung  dieses  gesetzlichen  Zustandes  dient  die  onquete  de  commodo 
et  incoramodo,  bei  welcher  alle  Beteiligten  ihre  Einwendungen  Torbringen 
und  eine  unschädliche  Errichtungsart  beantragen  können. 

Diese  Einwendungen  müssen  bei  Genehmigung  der  öffentlichen  Arbeiten 
insoweit  berücksichtigt  werden,  als  sie  ohne  Beeinträchtigung  des  Zweckes 
der  Anlagen  sich  vermeiden  lassen.  In  jenen  Fällen,  wo  die  Besitzer 
angrenzender  Grundstücke  durch  eine  nicht  entsprechende  Einrichtung  und 
Ausführung  einer  öffentlichen  Bauanlage  gefährdet  werden,  kann  die  politi- 
sche Behörde  die  zur  Sicherstellung  vor  Gefahr  nötigen  und  möglichen 
Einrichtungen  oder  Änderungen  solcher  Anlagen  verfügen.1) 

2.  Alle  bisher  besprochenen  Eingriffe  haben  dieses  gemeinsame  Merkmal, 
daß  sie  rechtlich  gestattet  sind;  der  Unternehmer,  welcher  sie  gemacht  hat, 
hat  keine  widerrechtliche  Handlung  begangen  und  nur  sein  Kocht  ausgeflbt. 
Wenn  aber  der  Unternehmer  ans  dem  Kreise  seiner  Berechtigungen  herans- 
tritt und  die  Rechte  der  Privatpersonen  verletzt,  was  fflr  ein  Rechtsver- 
hältnis ist  in  diesem  Falle  entstanden?  Nach  welchen  Vorschriften  wird  es 
beurteilt?  Wenn  der  Unternehmer  eine  Handlung  begeht,  zu  welcher  ihn 
das  Verwaltungsrecht  nicht  berechtigt,  bewegt  er  sich  nicht  mehr  im  Kreise 
der  öffentlichen  Arbeiten  und  wird  ein  Privatmann.  Derlei  Verletzungen  der 
Privatrechte  sind  kein  notwendiger  Bestandteil  der  öffentlichen  Arbeiten;  sie 
bilden  widerrechtliche  Handlungen  des  Unternehmers  und  müssen  den  all- 
gemeinen Grundsätzen  folgen.  Diese  Beschädigungen  können  entweder  an 
Personen  oder  an  Gütern,  aus  böser  Absicht  oder  aus  Versehen  verursacht 
werden.  Ihre  Folgen  werden  nach  dem  Strafgesetze  oder  nach  dem  all- 
gemeinen bürgerlichen  Gesetzbuche  beurteilt  Wenn  z.  B.  durch  Nichtbeob- 
achtung der  notwendigen  Vorsichtsmaßregeln  Körperverletzungen  der  Menschen 
verkommen,  wenn  durch  unvorsichtiges  Fahren  mit  Langhölzern  ein  Gebäude 
beschädigt  wird,  so  ist  das  ordentliche  Gericht  zur  Entscheidung  der 
Streitigkeiten  zuständig  Die  strafrechtlichen  Ansprüche  können  nur  gegen 
den  Schuldigen,  die  privatrechtlichen  gegen  den  wirklichen  Unternehmer 
erhoben  werden.  Sind  die  Arbeiten  vergeben,  so  ist  es  nur  der  Unternehmer, 
welcher  seine  und  seiner  Angestellten  Tätigkeiten  verantwortet;  nie  können 
diese  Ansprüche  hilfsweise  gegen  die  Verwaltungskörper  angestrengt  werden. 

D.  Zwangsbeiträge. 

Öffentliche  Anlagen  verfolgen  den  Zweck  der  Beförderung  des  allge- 
meinen Wohles;  sie  erfüllen  ihn  in  der  Art,  daß  sie  die  Bürger  vor  dem 

*)  Erkenntnis  des  Verwaltnngsgcriebtshofes  Tom  9.  Jnli  1885,  Budwihski  2656 
und  2657  (bezüglich  der  ätraiieiibauanlageii,. 


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172 


Brewewie*. 


bevorstehenden  Schaden  schützen  oder  ihnen  einen  Vorteil  zuwenden ; das 
letztere  kann  entweder  ohne  Mitwirkung  des  einzelnen  geschehen  oder  durch 
Benutzung  der  Anlage,  welche  unentgeltlich  oder  gegen  Entgelt  stattfindet. 
Kann  der  beteiligte  Borger  fordern,  daß  der  Staat  oder  die  Selbstverwaltungs- 
körper notwendige  Öffentliche  Anlagen  errichten?  Er  hat  in  dieser  Hinsicht 
gegen  die  Allgemeinheit  kein  persönliches,  im  Yerwaltungs-  oder  im  Rechts- 
wege verfolgbares  Recht:  die  Verwaltung  kann  zu  öffentlichen  Arbeiten 
von  Privaten  nicht  gezwungen  werden.  Auf  Ansuchen  des  Bürgers  kann 
jedoch  die  Vorgesetzte  Behörde  einschreiten,  wenn  gegebene  öffentliche 
Arbeiten  bindend  sind.  Ist  schon  die  Ansfflhmng  der  öffentlichen  Arbeiten 
beschlossen  worden  (auch  vom  Gesetze!,  so  wird  den  einzelnen  nur  während 
der  Entwurfsfeststellung  die  Möglichkeit  geboten,  Anträge  auf  Änderung 
der  Anlage  zu  stellen.  Sonst  haben  die  Beteiligten  kein  Recht,  daß  die 
Anlage  so  hergestellt  werde,  daß  ihnen  ein  größtmöglichster  Vorteil  daraus 
erwachse.  Desgleichen  sind  die  Normalbestimmungen  über  die  Art  und 
Weise  der  Errichtung  nur  allgemeine  Vorschriften  für  die  öffentlichen 
Organe,  aus  welchen  die  Parteien  ein  Recht  auf  die  Einhaltung  der  Vor- 
schrift in  einzelnen  Fällen  für  sich  nicht  ableiten  können.1)  Die  Vorteile, 
welche  dem  einzelnen  aus  der  Ausführung  der  öffentlichen  Anlagen  erwachsen; 
sind  also  nur  eine  Reflexwirkung  des  objektiven  Rechtes.  Die  Nachbarn 
einer  Eisenbahnstation  ziehen  aus  der  Erleichterung  des  Verkehrs  bedeutende 
Vorteile.  Es  sind  jedoch  nur  willkürliche.  Jeder  kann  Gebrauch  von  der 
Eisenbahn  machen  oder  nicht;  wenn  er  ihn  macht,  muß  er  so  wie  ein 
anderer  die  Transportkosten  zahlen.  Er  hat  also  nur  die  Möglichkeit  der  Ver- 
kehrserleichterung, aber  sein  Eigentum  hat  an  wirklichem  Wert  nichts 
gewonnen. 

Anders  stellt  sich  die  Sache  dar,  wenn  durch  öffentliche  Arbeiten  den 
Anrainern  ein  zwar  mittelbarer,  aber  wirklicher  Nutzen  zu  statten  kommt. 
Wenn  ein  neuer  Weg  gebaut  wird,  den  der  Eigentümer  benutzen  muß,  oder 
ein  Damm,  der  ihn  von  alljährlichen  Überschwemmungen  schützt,  so  hat  sein 
Eigentum  an  Wert  unzweifelhaft  gewonnen.  Es  entspricht  vollkommen  den  Grund- 
sätzen über  die  Tragung  deröffentlichen  Lasten,  daß  diese,  welche  mittelbar  einen 
wirklichen  Nutzen  aus  öffentlichen  Arbeiten  ziehen,  auch  zu  besonderen 
Lasten  herangezogen  werden.  Das  französische  Gesetz2)  stellt  in  dieser 
Hinsicht  den  Grundsatz  auf:  .Wenn  durch  Entsumpfung  der  Grundstücke, 
Eröffnung  neuer  Gassen,  Bildung  neuer  Plätze,  neuer  .Strandplätze  und  durch 
andere  öffentliche  Arbeiten,  welche  vom  Staate,  vom  Departement  oder  von 
der  Gemeinde  unternommen  und  von  der  Regierung  genehmigt  werden,  das 
beiliegende  Privateigentum  an  Wert  erheblich  gewinnt,  können  die  Eigen- 
tümer zu  Beiträgen  bis  zur  Hälfte  der  erworbenen  Vorteile  herangezogen 
werden.  Die  Beiträge  werden  durch  eine  besondere  Kommission  auf  Grund 

')  Bezüglich  der  Straßenbreite:  Erkenntnis  des  Verwaltungsgerichtshofes  vom 
24.  November  1876,  Btidwihski  Nr.  5. 

*)  Vom  16.  September  1807,  Art.  38.  Diese  Vorschrift  wurde  jedoch  nur  selten 
angewendet. 


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t>M  Recht  der  öffentlichen  Arbeiten. 


173 


der  Schätzung  bestimmt*  Auch  zu  den  Schutzarbeiten  gegen  Überschwem- 
mungen der  Städte  sollen  die  Departements,  die  Gemeinden  und  Eigentümer 
nach  Maßgabe  ihres  Interesses  beitragen.1)  Dieser  Grundsatz  des  französischen 
Hechtes  wurde  im  österreichischen  Rechte  in  dieser  allgemeinen  Fassung 
nicht  angenommen.  Es  bestehen  jedoch  für  einzelne  Arten  der  öffentlichen 
Arbeiten  besondere  Vorschriften,  welche  denselben  Gedanken  znm  Ausdruck 
bringen : 

1.  Werden  öffentliche  Wasserbauten  aus  Reichs-  oder  Landesmitteln 
unternommen  und  gereichen  dieselben  zugleich  den  Besitzern  der  angren- 
zenden Liegenschaften  durch  Zuwendung  eines  Vorteiles  oder  durch  Abwendung 
eines  Nachteiles  in  erheblichem  Grade  zum  Nutzen,  so  können  die  erwähnten 
Besitzer  im  Verwaltungswege  verhalten  werden,  einen  angemessenen  Beitrag 
zu  den  Baukosten  zu  leisten  *)  Denselben  Gedanken,  betreffend  die  Heran- 
ziehung der  Interessenten,  spricht  auch  das  Gesetz  über  den  Bau  der 
Wasserstraßen  aus.’)  Ob  der  Bau  den  gedachten  Personen  in  erheblichem 
Grade  zum  Nutzen  gereiche  oder  erheblichen  Nachteil  abwende,  dann  die 
Ziffer  des  angemessenen  Beitrages  ist  im  Verwaltungswege  zu  ermitteln 
und  auszusprechen,  und  wenn  die  Beteiligten  sich  dabei  nicht  beruhigen, 
vom  Richter  zu  bestimmen.1)  Die  Einbringung  der  ermittelten  Beiträge  ist 
jedoch  nicht  bis  znr  richterlichen  Bestimmung  der  Beitragspflicht  auf- 
zuschieben.1’) 

Manchmal  wird  die  Ziffer  dieses  Beitrages  durch  besondere  Gesetze 
bestimmt’)  oder  das  nicht  zu  überschreitende  Höchstausmaß  desselben  an- 
gegeben.’) Eigentümlich  sind  diese  Verhältnisse  in  Italien  geregelt,  wo  das 
Maß  der  Beiträge  gewöhnlich  in  allgemeinen  Gesetzen*)  angegeben  ist,  wie 
für  Arbeiten  des  Staates  an  eingedämmten  Flüssen,  bei  Flußregulierungen, 
Provinzialkanälen,  an  Handelshäfen  und  bei  Einsumpfungen  aus  Sanitäts- 
rücksichtcn.  Die  Provinzen,  Gemeinden  und  Genossenschaften,  welche  die 
Beiträge  leisten,  haben  nur  das  Recht,  dieselben  zu  repartieren  und  einzu- 
ziehen; sie  sollen  nur  dann  einveruommen  werden,  wenn  es  sich  um  neue 
außerordentliche  Arbeiten  handelt.9)  Auch  für  Herstellung  eines  Eisenbahn 
netzes  wurde  den  Provinzen  und  Gemeinden  ein  Zwangsbeitrag  von  ■/,„  der 
Kosten  auferlegt.10) 

’)  Gesetz  vom  28.  Mai  1858,  Art.  1. 

*)  <ä  26  des  Keichswassergesetzes. 

>)  Vom  11.  Jani  1901,  R.-G.-Bl.  Nr.  66,  § 1. 

A)  § 26  des  IteichswsBsergesetzes. 

5)  1 13  des  MeliorationsgesetzeB  von  1864,  Erkenntnis  des  Verwaltungsgerichts- 
liofes  vom  10.  doli  1879,  ßudwinski  Nr.  536,  vom  11.  Jänner  1888,  ßudwifiski  Nr.  3868. 

6)  Beispiel:  Gesetz  vom  15.  September  1900,  T.-G.-Bi,  für  Tirol  Nr.  64. 

’J  Beispiel;  Gesetz  vom  25.  Juli  1898,  L.-G.-B1.  für  Niederösterreich  Nr.  51. 

N Art.  95  des  Gesetzes  über  öffentliche  Arbeiten;  Art.  7 bis  9 und  Art.  23deskönigl. 
Dekret*  vom  2.  April  1885;  Art  6 und  25  des  königl.  Dekrets  vom  22.  März  1900. 

*)  Art  113  des  Gesetzes  aber  öffentliche  Arbeiten;  Art.  13  des  königl.  Dekrets  vom 
2.  April  1885. 

'")  Gesetz  vom  29.  Juli  1879,  Art.  4 und  7. 

ZetlUcliriA  für  VoUuwirUcbaft,  SoiUIpolltlk  uud  Verwaltung.  XII-  Bind.  ]$ 


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174 


Bredevict. 


2.  Bei  den  Reichsstraßen  und  in  einigen  Ländern  auch  hei  Bezirks- 
straßen  sollen  die  Gemeinden  jene  Mehrkosten  der  Herstellung  und  Erhaltung 
tragen,  welche  sich  durch  eine  kostspieligere  Konstruktionsart  der  Durch- 
fahrtsstraßen bloß  aus  Rücksicht  für  die  Ortsbewohner  ergeben. ')  Bei  Landes- 
straßen können  von  den  durchschnittenen  Bezirken  oder  Gemeinden  entweder 
zu  den  Kosten  der  Herstellung  oder  der  Erhaltung  Beiträge  gefordert 
werden.’)  Nach  den  Straßengesetzen  einiger  Kronläuder  können  einzelne 
Beteiligte,  z.  B.  GemeindeaLteilungen.  Industrielle.  Wald-,  Steinbruch  und 
Fabriksbesitzer  u.  s.  w.,  welche  öffentliche,  nicht  ärarische  und  nicht  bemautete 
Straßenstrecken  in  außergewöhnlichem  Maße  benutzen,  behufs  Erhaltung 
derselben  im  Verhältnis  der  Benutzung  zu  einem  außerordentlichen  Beitrage 
herangezogen  werden.’)  Die  Einbringung  rückständiger  Beiträge  und  Lei- 
stungen für  die  Zwecke  der  öffentlichen  Straßen  findet  durch  die  politische 
Exekution  statt. 

3.  Alle  Bauordnungen  stimmen  darin  überein,  daß  die  Eigentümer  der 
Grundflächen,  welche  durch  die  Anlegung  neuer  Stadtteile  zu  Bauplätzen 
werden,  verpflichtet  sind,  die  zur  Herstellung  neuer  Straßen  oder  Gassen 
erforderlichen  Flüchen  an  die  Stadtgemeinde  zu  überlassen;  die  Abtretung 
hat  im  ganzen  oder  bis  zum  Höchstausmaße  von  12  bis  23  Meter  außer- 
halb der  bestimmten  Baulinie  unentgeltlich  stattzuflnden.  Einige  Bauord- 
nungen’) heben  weiter  hervor,  daß  der  Grundeigentümer  die  aus  Anlaß  der 
Gassenregulierung  von  ihm  an  die  Gemeinde  abzntretende  Grundfläche  auf 
seine  Kosten  auf  das  festgesetzte  Niveau  zu  bringen  hat:  einige  fordern 
auch  die  Ausführung  des  Trottoirs  der  Gasse  und  der  Hauptkanäle.  Den 
Bauherren  in  den  Städten  liegt  nach  den  meisten  Bauordnungen''1  ob,  längs 
der  neuerbauten  Häuser  gepflasterte  Gehwege  auf  ihre  Kosten  herzustellen. 
In  einigen  Bauordnungen *t  wird  der  Gemeinde,  welche  aus  Anlaß  der  Er- 
öffnung neuer  Straßen  zum  Vorteile  des  Verkehrs,  der  Feuersicherheit  oder 
Assanierung  Ankaufskosten  ausgelegt  hat,  das  HOekanspruchsrecht  gegen- 
über jenen  Realitätenbesitzern  Vorbehalten,  welche  aus  der  Neueröffnung  der 
Straßen  Vorteil  ziehen.  Die  Hauseigentümer  in  Städten  werden  auf  Grund 
besonderer  Gesetze’ t verpflichtet,  für  die  Verbindung  der  Hauakanäle  mit 
den  öffentlichen  Kanälen  eine  einmalige  Gebühr  zu  entrichten,  deren  Höhe 
nach  der  Größe  der  verbauten  Fläche  bemessen  wird. 

Daraus  ist  zu  entnehmen,  daß  die  Privateigentflmer  der  Liegenschaften, 
welche  durch  Ausführung  öffentlicher  Arbeiten  erheblich  anWert  gewinnen, 

*)  Hofkanzleidekret  vom  26.  September  1885,  P.  G.-S.  Bd.  C3.  S.  420,  Nr.  158. 

*)  Mayrhofers  Handbuch,  V.,  S.  568. 

*)  Mayrhofers  Handbuch,  V.,  S.  562. 

4)  Sieh  Mayrhofer«  Handbuch,  III,,  S.  982  und  933,  und  die  dort  angeführt« 
Entscheidung  de«  Verwaltungsgerichtshofen  vom  2.  April  1891,  BndViiiski  Nr.  5857. 

*)  Mayrhofer,  HL,  8.  998. 

•)  Bauordnungen  für  Prag,  Brünn,  Laibach  und  für  Mähren  (Mayrhofer  HL. 
S.  944). 

7)  Z.  B.:  Gesetz  vom  20.  Dezember  1900,  betreffend  die  Hauakanäle  in  der  Stadt 
Podgdrze  (L.-G.-Bl.  für  Galizien  Nr.  17  ex  118)1). 


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Das  Recht  der  öffentlichen  Arbeiten. 


175 


zu  Beiträgen  für  diese  Arbeiten  im  Verwaltungswege  herangezogen  werden. 
Die  Leistung  dieser  Beiträge  bildet  eine  öffentlichrechtliche  Pflicht,  worüber 
im  Verwaltungswege  erkannt  wird;  die  rückständigen  Beiträge  werden  im 
Verwaltungswege  nach  Art  und  Weise  der  Öffentlichen  Steuern  eingezogen. 
Die  Zwangsbeitriige  kommen  nicht  bei  öffentlichen  Arbeiten  vor,  welche  dem 
Gesamtwesen  nur  gegen  Entgelt  zum  Gebrauche  verstattet  werden  (z.  B. 
Eisenbahnen). 


IV.  Freiwillige  Beiträge  und  Anteilnahme. 

Einen  anderen  Rechtsgrund  weisen  diese  Leistungen  auf,  welche  für 
öffentliche  Unternehmungen  freiwillig  gemacht  werden.  Vom  rechtlichen 
Standpunkte  aus  muß  man  die  Beitrugsleistung  von  der  Beteiligung  an 
öffentlichen  Arbeiten  absondern,  da  die  Rechtsfolgen  beider  Arten  der  Unter- 
stützung einen  bedeutenden  Unterschied  aufweisen. 

I.  Beitragsleistung. 

Die  Beiträge  können  entweder  von  Verwaltungskörpern  oder  von 
Privatpersonen  gegeben  werden: 

A.  Die  Beiträge  des  Staates  und  der  größeren  Verbände  gewinnen  im 
Haushalte  der  kleineren  Verbände  eine  mit  jedem  Tage  wachsende  Bedeu- 
tung. Besonders  mit  der  Erweiterung  des  Aufgabekreises  der  Gemeinden 
verfolgen  diese  Zuweisungen  den  Zweck,  eigene  Einnahmen  der  Gemeinden 
zu  ergänzen  und  sie  zur  Erfüllung  der  durch  das  allgemeine  Interesse  auf- 
erlegten Aufgaben  fähig  zu  machen,  ln  Deutschland  werden  diese  Zuwei- 
sungen nach  dem  Grundsätze  der  Dotation  oder  der  Beteiligung  gegeben, 
je  nachdem  die  Verteilung  ohne  Beziehung  auf  bestimmte  Auslagen  oder 
im  Verhältnisse  zu  dem  für  die  Erfüllung  der  bezüglichen  Aufgaben  not- 
wendigen Aufwande  vorgenommen  wird.1)  ln  Preußen  ist  der  Grundsatz  der 
Dotation,  in  süddeutschen  Staaten  der  Grundsatz  der  Beteiligung  vorherr- 
schend. In  Österreich  besteht  die  Einrichtung  ständiger  Überweisungen  aus 
bestimmten  Quellen  herstammender  Mittel  des  Staates  an  die  Selbstver- 
waltungskörper nur  in  einem  sehr  begrenzten  Umfange  zu  Recht.’)  In  desto 
größerem  Umfange  bestehen  frei  vorgenommene  Überweisungen  unter  dem 
Namen  von  Subventionen,  welche  besonders  auf  dem  Gebiete  öffentlicher 
Arbeiteu  eine  wichtige  Rolle  spielen.  Unter  Subventionen  werden  materielle 
Leistungen  des  Staates  beziehungsweise  auch  der  Selbstverwaltungskörper 
an  ihnen  nicht  gehörende  Unternehmungen  verstanden,  welche  den  Zweck 
verfolgen,  das  Zustandekommen,  die  vorteilhaftere  Kapitalbeschaffung  oder 
günstigere  Betriebsergebnisse  der  betreffenden  Unternehmung  zu  ermöglichen. 

■)  Näheres  darüber  von  Reitzenstein:  Über  finanzielle  Konkurrenz  von  Gemeinden, 
Koinmnnalverbündcn  und  Staat  in  Schmoltera  Jahrbuch,  Jahrg.  1888,  XI.,  S.  123  ff. 
Vom  Standpunkte  des  österreichischen  Rechtes  mtlssin  wir  den  Ausdruck  „Beteiligung“ 
in  einem  ganz  anderen  Sinne  gebrauchen. 

’)  Gesetz  vom  25.  Oktober  1898,  R.-G.-Bl.  Nr.  220,  betreffend  die  direkten 
Personaltteuern,  Art.  IX.  und  X. 

13* 


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176 


Brrsiewiez. 


Im  weiteren  Sinne  werden  unter  den  Begriff  der  Subventionen  noch  Befrei- 
ungen der  Unternehmungen  von  Steuern  und  Gebühren  einbezogen  (negative 
Subventionen).  Die  Geldsubventionen  können  entweder  in  einem  festen  Be- 
trage oder  in  einem  Prozentansatze  der  veranschlagten  Kosten  der  Arbeit 
zugesichert  werden.1) 

Alle  Verwaltung« verbände,  welche  an  der  Ausführung  der  öffentlichen 
Arbeiten  mitwirken,  können  sich  wechselseitig  unterstützen,  wenn  die  Zu- 
standebringung der  betreffenden  Arbeiten  den  vou  ihnen  vertretenen  Kreisen 
zum  Nutzen  gereicht.  Jeder  Jahresvoransehlag  des  Staates  und  der  Selbst- 
verwaltungskörper weist  bedeutende  Summen  für  Subventionierung  öffent- 
licher Anlagen  auf.  Die  Hauptfülle  sind  folgende: 

1.  die  Staats- *i  und  Dandesstibventionen  für  Bezirks-  (Konkurrenz-) 
und  Gemeindewege1)  und  Brücken; 

2.  die  wichtigsten  von  allen  sind  Subventionen  für  Eisenbahnen.  Es 
kommen  sowohl  Subventionen  des  Bandes  für  Staatsbahnen ‘,i  als  auch 
Subventionen  des  Staates,  des  Landes,  der  Bezirke  und  Gemeinden  für 
Lokalbahnen1)  vor. 

Sie  bestehen  entweder: 

a)  in  Kapitalzuwcndungen  oder 

b)  in  rückzahlbaren  Vorschüssen, 

c)  in  Steuer-  und  Gebührenbefreiungen, 

ä)  in  Erleichterungen  bei  Herbeischaffung  des  Bau-  und  Betriebsmaterials, 

e)  in  der  Zulassung  der  Benutzung  der  Straßen  für  die  Anlage  der  Bahn 

oder  schließlich 

f)  in  der  Übernahme  der  Halmeu  in  den  Staats-  oder  Landesbetrieb. 

Die  Subventionierung  der  Eisenbahnen  hat  in  größerem  oder  kleinerem 
Umfange  überall  stattgefunden. *)  In  B'rankreich  und  in  Italien,  wo  jede 

■)  Brat  in  Miscblers  StaatswGrterbuch,  I.,  8.  337  ff.  In  diesem  lehrreichen 
Artikel  wird  zwischen  Beitrag»leistnngen  und  Beteiligung  am  Unternehmen  kein  Unter- 
schied gemacht. 

J)  Z.  B.:  Gesetz  vom  22.  Augnst  1 «07.  betreffend  den  Bau  der  Konkurrenz- 
straßen, L.-G.-Bl.  fiir  Tirol  Nr.  31. 

*)  Gesetz  vom  19.  April  1894,  L.-G.-Bl.  für  Niederösterreich  Nr.  20.  § 8;  Gesetz 
vom  15.  Mai  1890,  L.-G.-BI.  für  Oberösterreieh  Nr  21.  Art.  I.  S 10;  Gesetz  vom 
5.  Juli  1897,  L.-G.-Bl.  für  Galizien  Nr.  43,  ä 28.  Tn  Frankreich  werden  Subventionen 
vom  Staate  (Gesetz  vom  12.  März  1880  und  viele  nachfolgende)  und  von  Departements 
(Gesetz  vom  21.  Mai  1836,  Art  8)  für  den  Bau  der  Genieindewege  verliehen,  ln  Preußen 
ist  mit  Gesetz  vom  18.  Juli  1875  die  Unterhaltung  und  der  Neubau  der  Straßen  den 
Provinzen  übertragen  worden,  welche  den  Neubau  durch  die  Kreise  mittels  Gewährung 
von  Prämien  und  Beihilfen  unterstützen. 

4)  Z.  B.  für  die  böhmisch-mährische  Transversalhahn  (Gesetz  vom  25.  November 
1883.  B.-G.-Bl.  Nr.  173,  Art.  III). 

6)  Gesetz  über  Bshnen  niederer  Ordnung  von  1894,  Art  VI,  Vll  bis  X;  Gesetz  vom 
1.  Juli  1901,  lt.-G.-Bl.  Nr.  85.  Art.  IX 

®)  Ein  allgemeines  Gesetz  besteht  für  Lokalbahnen  in  Frankreich  (vom  11.  Juni  1880, 
Art.  13  bis  15),  welchen  eine  jährliche  Subvention  von  500  Fr.  pro  Kilometer  und  des 
znr  5proz.  Verzinsung  de«  Einlagekapitals  fehlenden  Ertrages  zug.  standen  wird.  In 


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Dftt  liecht  der  öffentlichen  Arbeiten. 


177 


größere  Eisenbahn  einer  gesetzlichen  Genehmigung  bedarf,  wurden  die  Sub- 
ventionen nur  als  Ausfluß  des  Übereinkommens  Aber  öffentliche  Arbeiten 
betrachtet1) 

3.  Staatliche  Subventionen  für  öffentliche  Arbeiten  kommen  auch  in 
der  Form  der  Steuerbefreiuungen  für  Gebäude  vor,  welche  infolge  der  Re- 
gulierung ganzer  Stadtteile  zur  llehebung  der  bestehenden  sanitären  Übel- 
stände bewilligt  werden  — jedoch  nur  dann,  wenn  die  Regulierung  nicht 
vereinzelt  der  Privatwillkür  überlassen,*)  sondern  als  ein  Stadtunternebmen 
zwangsweise5)  durcbgeführt  wird. 

Nur  in  vereinzelten  Fällen  werden  Subventionen  auch  für  die  Wasser- 
versorgung mehrerer  Gemeinden  gewährt.4) 

B.  Wenn  die  Subventionen  von  Privatpersonen  geleistet  werden,  er- 
halten sie  den  Namen  „freiwilliger  Konkurrenzbeiträge“.  Der  Anlaß  zu  diesen 
Beiträgen  kann  sehr  verschieden  sein.  Es  ist  möglich,  daß  die  betreffende 
Partei  zu  gesetzlichen  Beiträgen  verpflichtet  ist  und  nur  eine  größere,  das 
gesetzliche  Maß  überschreitende  Last  freiwillig  übernimmt.  Die  Partei  kann 
aber  auch  ohne  jede  gesetzliche  Verpflichtung  einen  Beitrag  zusichern.5) 
Dies  kann  entweder  in  einer  an  die  Behörde  gerichteten  Eingabe  oder  im 
Protokolle  aus  Anlaß  der  Konknrrenzverhandlung  geschehen.  Das  Ergebnis 
der  Verhandlungen  kann  nachher  in  einer  Verfügung  der  Verwaltungsbehörde 
oder  auch  im  Gesetze“)  (wenn  es  zur  Ausführung  der  Arbeiten  notwendig 
ist)  festgestellt  werden. 

C.  Der  gangbaren  Anschauung5)  nach  werden  die  Beitragsleistungen 
als  Darlehen  oder  als  Schenkungen  betrachtet,  welche  bedingungslos  oder 
unter  Bedingungen  gewährt  werden.  Folgerichtig  müßten  zu  den  durch 
Beitragsleistungen  geschaffenen  Verhältnissen  alle  privatrechtlichen  Vor- 
schriften über  die  Form,  das  Maß  und  den  Widerruf  der  Schenkung,  die 
Form  des  Schuldscheines,  Zinsen  u.  s.  w.  Anwendung  linden.  Es  ist  jedoch 
einleuchtend,  daß  es  nicht  so  ist,  daß  der  Beitragende  nicht  die  Absicht 
hat,  den  Unternehmer  zu  bereichern  oder  ihm  die  Möglichkeit  zu  ver- 

Italien  ist  eine  Staatsmibvention  bis  6000  Lire  vom  Kilometer  jährlich  xulässig  (Gesetz 
vom  30.  Juni  1889);  die  Lokalbahnen  werden  auch  von  Provinzen  und  Gemeinden  sub- 
ventioniert (Gesetz  vom  27.  Dezember  1896,  Art.  38). 

l)  H.  Berthelemy.  Traitd  llcmentaire  S.  584. 

*)  Wie  im  Gesetze  vom  25.  Mar/.  1880.  R.-G.-Bl.  Nr.  89. 

*)  Wie  z.  11.  die  Regulierung  der  Stadt  Prag  (Gesetze  vom  II.  Februar  1898, 
fc-G-fel.  Nr.  22  und  23,. 

4)  Gesetze  vom  13.  und  17.  August  1895,  L.-G.-Bl.  für  Krain  Nr.  26  und  27. 

a)  Beitragsleistungeu  der  Interessenten  werden  im  Art.  V des  Gesetzes  vom 
I.  Juli  1901,  R.-G.-Bl.  Nr.  85.  erwähnt. 

*)  So  spricht  § 3 des  Gesetzes  vom  26.  April  1896,  L.-G.-Bl.  für  Käruten  Nr.  18, 
von  einem  freiwilligen  Beitrage  von  127.000  Kroueu,  zugesichert  von  der  Franz  S trutz- 
in au n scheu  Agrikulturstiftung  zum  Ausbau  der  Regulierung  des  Gailflusses. 

T)  Bräf  in  Mischlers  Staats  Wörterbuch  (I.,  S.  338)  betrachtet  die  Beihilfen  der 
Gemeinden  (wie  Grundabtrctungeii.  Geldbeiträge)  fiir  Eisenbahnen  als  Privatabmachungen 
behufs  Erlangung  lokaler  Vorteile.  Desgleichen  Otto  Mayer  im  Deutachen  Verwaltungs- 
recht. II.,  S.  27*  fl'. 


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178 


Break  wie* 


schaffen,  durch  Xutzenziehung  aus  den  Beiträgen  vermögcnsrecbÜiclie  Vor- 
teile für  sich  zu  gewinnen:  der  einzige  Zweck  der  Beiträge  ist  die  Ermög- 
lichung des  Öffentlichen  Unternehmens  und  seine  Zustandebringung,  also 
ein  Zweck,  welcher  außerhalb  des  Privatrechtskreises  des  Unternehmers  und 
des  Beitragsleistenden  liegt.  Es  ist  ein  öffentlicher  Zweck  und  auch  die 
rechtliche  Natur  der  Beiträge  ist  eine  öffentlicbrechtliche.  Die  Beitrags- 
leistung zu  den  öffentlichen  Unternehmungen  ist  eine  Einrichtung  des  öffent- 
lichen Rechtes,  welche  wohl  den  privatrechtlichen  Formen  der  Schenkung 
und  des  Darlehens  ähnelt,  aber  ihre  Natur  nicht  im  geringsten  teilt.  Es 
macht  dabei  keinen  Unterschied,  ob  die  Beiträge  vom  Staate,  von  Selbst- 
verwaltungs-  und  Zweckverbänden  oder  von  Privatpersonen  zngesichert 
werden.  Auch  die  freiwillig  zugesicherten  Beiträge  der  letzteren  Personen 
sind  Konkurrenzleistungen  für  öffentliche  Zwecke  und  es  hat  nach  dem 
Hofdekrete  vom  4.  Jänner  1836,  Nr.  113  J.  G.-S.,  die  Eintreibung  der- 
selben nach  den  für  die  unmittelbaren  Steuern  bestehenden  Vorschriften 
zu  erfolgen.  Die  politischen  Behörden  entscheiden  auch  darüber,  ob  den 
der  Verpflichtungserklärung  beigesetzteu  Bedingungen  Genüge  geschehen  ist.1) 

D.  Allen  Beitragsleistungen  sind  folgende  Grundsätze  gemeinsam: 

1.  Sie  werden  immer  freiwillig  gegeben:  der  Unternehmer  hat  kein 
gesetzliches  Recht  auf  diese  Zuschüsse;  die  Pflicht  zur  Leistung  besteht 
nur  nach  Maßgabe  der  freiwillig  übernommenen  Verpflichtung,  welche  ein 
öffentlichrechtliches  Übereinkommen  bildet. 

2.  Der  Gewährende  erhält  nur  das  Recht  auf  Erfüllung  der  allenfalls 
gestellten  Bedingungen,  aber  sonst  gewinnt  er  weder  auf  das  Zustande- 
kommen noch  auf  die  Art  der  Ausführung  und  des  Betriebes  einen 
besonderen  Einfluß.  Dadurch  unterscheidet  sich  rechtlich  die  Subveuiionierung 
von  der  im  nachfolgenden  zu  behandelnden  Beteiligung  an  öffentlichen 
Arbeiten. 

3.  Immer  muß  aber  das  Zustandekommen  des  Unternehmens  und 
die  richtige  Verwendung  der  Beiträge  gesichert  erscheinen.  Dies  geschieht 
dadurch,  daß  das  Unternehmen  entweder  von  Organen  der  öffentlichen  Ver- 
waltung ausgeführt  oder  auf  Grund  allgemeiner  Gesetze  beaufsichtigt  wird. 

4.  Über  die  Verpflichtung  zur  Leistung  der  freiwilligen  Beiträge  er- 
keuneii  die  Verwaltungsbehörden  und  das  Vorwaltungsgericht.  Nur  dann, 
wenn  Abtretungen  von  Grundstücken  und  anderen  unbeweglichen  Gütern 8 1 
zugesichert  werden,  müßten  im  Streitfälle  die  ordentlichen  Gerichte  ent- 
scheiden. 

*)  Erkenntnis  des  Verwaltungagerichtshofes  vom  23.  April  189t.  Budwihtki 
Nr.  3909.  Vergleiche  auch  die  Gesetze  vom  6.  August  1900,  L.-G.-Bl.  für  Oberöaterreich, 
Nr.  29  bis  36,  §6  S und  6.  Biese  Anschauungsweise  stimmt  vollkommen  mit  dem  fran- 
zösischen Hechte  überein,  laut  welchem  die  offres  de  coucours  für  die  Zwecke  Öffent- 
licher Arbeiten  als  Offentlichrechtliche  Leistungen  betrachtet  werden,  worüber  im  Streit- 
fälle die  Verw&ltnngsgerichte  (conseils  de  prüfecture)  za  erkennen  haben. 

3)  Auch  in  Frankreich  ist  die  Sache  streitig  (Ducrocq:  Cours  de  droit  admini- 
stratif,  Paris,  1897,  II.,  S.  260);  in  Österreich  können  bezüglich  der  Übertragung  des 
Eigentums  an  unbeweglichen  Sachen  nur  die  ordentlichen  Gerichte  entscheiden. 


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l>a*  Hecht  i!«*r  offen  tlidien  Arbcit>u. 


179 


Wir  kommen  also  zum  Schlüsse,  daß  die  rechtliche  Natur  der  Kon- 
kurreuzbeiträge  zu  öffentlichen  Arbeiten  eine  und  dieselbe  bleibt,  ob  Bie 
auf  Grund  des  Gesetzes,  der  Verwaltungsverfügung  oder  eines  freiwilligen 
Übereinkommens  geleistet  werden. 

II,  Beteiligung  an  öffentlichen  Arbeiten. 

Wenn  die  Beiträge  so  bedeutend  werden,  daß  sie  einen  großen  Teil 
der  Kosten  des  Unternehmens  decken,  so  müßte  bei  Anwendung  der  privat- 
rechtlichen Grundsätze  auf  gemeinsame  Kosten  ein  Werk  geschaffen  werden, 
welches  im  Miteigentum«  der  Teilnehmer  stände.  Indesseu  tritt  hier  die 
prhatrechtliche  Frage,  wem  das  Eigentum  des  Werkes  gehören  soll,  voll- 
kommen in  den  Hintergrund:  die  Ableitungsgräben  zur  Trockenlegung  der 
Sümpfe  bleiben  Eigentum  der  unternehmenden  Wassergenossenschaft,  die 
l.okalbahuen  Eigentum  des  Konzessionärs  und  dennoch  beteiligt  sich  der 
Staat  und  das  Land  an  dem  Zustandebringen  dieser  Arbeiten:  die  Haupt- 
sache bleibt,  daß  die  als  öffeutlichnDtzlieh  anerkannte  Anlage  geschulten 
wird.  Was  ist  der  rechtliche  Charakter  dieser  Leistungen  und  weiche  Folgen? 

.4.  Rechtlicher  Charakter. 

Der  Grundsatz,  daß  die  Kosten  der  öffentlichen  Arbeiten  vom  Unter- 
nehmer zu  bestreiten  sind,  wurde  in  neuester  Zeit  durchbrochen.  Die  Ver- 
waltungsorgane des  Staates,  der  Selbstverwaltung  uud  der  Zweckverbände 
sind  Organe  derselben  öffentlichen  Verwaltung,  welche  in  verschiedenen 
Wirkungskreisen  sich  bewegen,  aber  dennoch  denselben  Zweck  verfolgen, 
den  allgemeinen  Nutzen  zu  fördern.  Die  Wirksamkeit  dieser  verschiedenen 
Organe  läuft  nicht  in  entgegengesetzten  Richtungen,  sondern  nebeneinander. 
Es  ist  also  ganz  natürlich,  daß  die  öffentlichen  Arbeiten,  welche  verschiedenen 
Kreisen  zum  Nutzen  gereichen,  auf  Kosten  dieser  Interessenten  ausgefülirt 
werden.  Große  öffentliche  Anlagen  der  Neuzeit,  welche  bedeutende  Summen 
in  Anspruch  nehmen,  könen  nut  viribus  unitis  zu  stände  gebracht  werden. 
So  erklärt  sielt  eine  neue  Erscheinung  auf  dem  in  Rede  stehenden  Gebiete, 
daß  sich  an  manchen  öffentlichen  Arbeiten  verschiedene  Fonds  und  Ver- 
waltungsorgane beteiligen.  Au»  dem  Zusammenwirken  verschiedener  Ver- 
bände uud  der  Verschiedenheit  der  Anteile  entsteht  eine  große  Anzahl  von 
verschiedenartigen  Rechtsverhältnissen.  Der  in  Gesetzen  und  Verordnungen 
augewendete  Ausdruck  „Beiträge*  entspricht  der  Sachlage  nicht,  da  die 
Rolle  des  zahlenden  Staates  oder  Selbstverwultuugskörpers  mit  der  Leistung 
der  Zuschüsse  für  öffentliche  Unternehmungen  nicht  endet.  Sie  gewinnen 
dadurch  uicht  nur  etwa  die  Rechte  der  Mitunternehmer,  lJ  sondern  die 
Aufsichtsrechte  Ober  die  Unternehmung. *)  Denn  sie  müssen  die  Sicherheit 

')  Z.  B bei  Übernahme  eines  Teiles  der  Stammaktien  einer  Lokalbahn. 

J)  Es  ist  nicht  nnr  hei  wirtschaftlichen  Unternehmungen  der  Fall,  datt  durch 
Beitragsleistungen  Öffentliche  Aufsichtsrcchtc  erworben  werden.  Z.  B in  England  steht 
den  Stfdten  und  den  Grafschaften  der  Anspruch  auf  KQckersatz  der  Hälfte  aller  Poliiei- 
kosten  ans  dem  Staatsschätze  zu  unter  der  Bedingung,  dall  die  Stadtgemeinde  be/w. 


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180 


Bresiewicx. 


haben,  daß  die  gewährten  Beiträge  ihren  Interessen  gemäß  verwendet 
werden.  Zu  diesem  Zwecke  wird  ihnen  ein  entsprechender  Einfluß  auf  den 
Entwurf  und  die  Ausführung  des  Werkes  eingeräumt.  Die  Einflußnahme 
aller  Beteiligten  auf  die  Ausführung  der  Aulagen  bildet  das  charakteristische 
dieser  Ausführungsart  öffentlicher  Arbeiten.  Dasselbe  gilt  im  Falle  einer 
rückzahlbaren  Bitragsbürgschaft,  wo  der  Garant  nicht  nur  das  Recht  auf 
Hückersatz  des  Vorschusses,  sondern  hauptsächlich  die  Aufsichtsrechte 
gewinnt.  Dieses  Verhältnis  kann  man  passender  als  Beteiligung1)  oder 
Anteilnahme  bezeichnen.  Diese  Beteiligung  ist  ein  verwaltungsrechtlicher 
Begriff,  welcher  sich  uuter  die  privatrechtlichen  Begriffsformen  der  donatio, 
mutuum,  commodatum  oder  tidejussio  nicht  unterziehen  läßt.  Vielmehr  ist 
das  Rechtsverhältnis  ein  Ausfluß  des  verwultungsrechtlichen  Grundsatzes, 
daß  durch  Zuwendung  der  Vermögeusvorteile  öffentliche  Machtrechte  be- 
gründet werden  köunen.  Durch  Beteiligung  an  öffentlichen  Arbeiten  wird 
einerseits  ein  Machtverhältnis,  anderseits  ein  Unterwerfungsverhältnis  ge- 
schaffen. Das  ganze  Verhältnis  ist  ein  öffentlichrechtlicheg  und  diesen 
Charakter  tragen  an  sich  alle  daraus  fließenden  Rechte  und  Verbindlichkeiten, 
die  vermögensrechtlichen  Ansprüche  nicht  ausgenommen.*)  Deswegen  werden 
die  bei  Bezirken,  Gemeinden  und  Interessenten  rückständigen  Beiträge  durch 
Verwaltungseiekution  eingetrieben. a) 

li.  Begründung  der  Anteilnahme. 

Da  die  Beteiligten  keine  gemeinsamen  Beschluß-  und  Verwaltungs- 
organe besitzen,  kann  ein  derartiges  Verhältnis  im  Wege  einer  Verwaltungs- 
verfügung nicht  geschaffen  werden;  kann  es  iin  Wege  eines  Gesetzes 
geschehen?  Die  Gesetzgebung  ist  in  Österreich  zwischen  dem  Reichsrate 
und  den  Landtagen  derart  geteilt,  daß  der  Reichsrat  auf  manchen  Rechts- 
gebieten keine  Gesetze  erlassen  kann,  auf  anderen  aber  kann  er  nur  die 
grundsätzlichen  Bestimmungen  treffen.  Zu  den  von  den  Landtagen  zu 
regelnden  Angelegenheiten  gehören  alle  Anordnungen  in  Betreff  der  Landes- 
kultur und  der  öffentlichen  Bauten,  welche  aus  Landesmitteln  bestritten 
werden,  also  die  Gebiete,  auf  welchen  die  Auteilnahme  an  öffentlichen 
Arbeiten  gewöhnlich  vorkommt.  Da  in  den  Grenzen  dieses  Wirkungskreises 

der  Gralscliaftir.it  den  Zustand  ihre«  gesamteu  Polizeiwesens  jährlich  der  Inspektion 
durch  einen  Beamten  des  Home  office  unterwirft,  und  dati  letzterer  bei  dieser  Prüfung 
der  betreffenden  Lokalverwaltung  das  Zeugnis  genügender  effektiver  Stärke  und  Leistungs- 
fähigkeit ausstellt;  verzichtet  aber  die  Lokaiverwaltung  auf  den  8taat«zuschuß,  so  ent- 
fällt auch  das  Hecht  der  lnspektion.  (Br.  Josef  Kedlich:  Englische  Lokalverwaltnng, 
Leipzig,  1901,  S.  348.) 

*)  Der  richtige  Ausdruck  .Der  Staat  beteiligt  sich*  wird  z.  B.  im  Art.  II  des 
Gesetzes  vom  18.  Juli  1892,  K.-G.-Bl.  Nr.  109,  und  in  vielen  anderen  angewendet. 

*}  Streitigkeiten  aus  dein  .Staatsgarantieverhältnisse  mit  Eisenbahngesellschafteu 
sind  vom  Rechtswege  ausgeschlossen.  (Erkenntnis  des  Verwnltnngsgerichtshofes  vom 
1.  Juli  1892,  Budwinski  Nr.  0711.) 

*)  Gesetz  vom  17.  Jnli  1893,  betreffend  die  Förderung  des  Baues  der  Lokalbahnen, 
L.-G.-Bl.  für  Galizien  Nr.  42,  fi  9. 


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Das  Recht  '1er  Öffentlichen  Arbeiten. 


181 


die  Länder  selbständig  bandeln,  muH  zur  Schaffung  des  Beteiligungsver- 
hültnisses  der  Wille  des  Staates  und  des  Landes  ff  herein  kommen;  denn  das 
Übereinkommen  ist  überhaupt  die  einzige  mögliche  Form,  um  den  über- 
einstimmenden Willen  der  unabhängigen  Beteiligten  zum  Ausdruck  zu 
bringen.1)  Das  Übereinkommen  ist  nur  materielle  Grundlage  der  Pflichten 
der  Beteiligten;  formell  wird  es  gewöhnlich  in  der  Gestalt  des  Gesetzes 
erscheinen : 

1.  Die  Gewährung  der  Leistungen  seitens  des  Staates  an  Unter- 
nehmungen, welche  nicht  vom  Staate  ausgeführt  werden,  setzt  ein  Gesetz 
voraus,  welches  der  Regierung  die  Ermächtigung  entweder  irn  allgemeinen 
oder  für  ein  einzelnes  Unternehmen  erteilt.  Allgemeine  Ermächtigungen 
wurden  erlassen: 

a)  rücksichtlich  von  Vorschüssen  an  garantierte  Eisenbahnen;*) 

b)  rücksichtlich  gewisser  Erleichterungen.  Begünstigungen  und  Beitrags- 
leistungen für  Lokalbahnen;*) 

t)  rückaichtlich  der  finanziellen  Unterstützungen  für  Unternehmungen, 
welche  den  Schutz  der  Grundstücke  gegen  Wasserverheerungen  oder 
die  Erhöhung  des  Ertrages  derselben  durch  Entwässerung  und  Be- 
wässerung zum  Zwecke  haben.4) 

Andere  Begünstigungen  und  Unterstützungen  der  öffentlichen  Unter- 
nehmungen sind  nicht  im  Wirkungskreise  der  Verwaltung  gelegen  und 
werden  im  Bedarfsfälle  durch  ein  besonderes  Gesetz  bestimmt. *1  Jedenfalls 
wird  die  verfassungsmäßige  Genehmigung  der  Mittel  durch  das  Finanzgesetz 
erfordert. 

Die  Beiträge  aus  Staatsmitteln  «erden  nur  daun  zugesichert,  wenn  die 
beteiligten  Länder  und  andere  Interessenten  zur  Unterstützung  des  Unter- 
nehmens in  gewissem  Maße  beitragen.4)  Zur  Beitragsleistung  des  Landes- 
fonds ist  nur  die  Genehmigung  der  Mittel  im  Landesvoranschlage  er- 
forderlich, wenn  allgemeine  Gesetze  bestehen,  wie  es  bezüglich  der  Lokal- 
bahnen1) der  Fall  ist.  Sonst  gilt  die  Kegel,  daß  derartige  Arbeiten  ein 
Landesgesetz  erheischen:  jeder  Jahrgang  der  Laudesgesetz  und  Verordnungs- 
blätter gibt  uns  eine  große  Anzahl  von  Gesetzen  und  Verordnungen,  welche 
die  Ausführung  öffentlicher  Arbeiten  zum  Gegenstände  haben.  Der  wesent- 
liche Inhalt  dieser  Gesetze  ist  folgender:  die  Bezeichnung  des  Gegenstandes 

')  Kelim  in  Hirths  Annalen.  1885.  S.  118  ff.  Jcllinek:  Syetem  der  subjektiven 
öffentlichen  Rechte,  Freiburg  i.  B , 1892,  S.  198. 

*)  Gesetz  vom  14.  Dezember  1877.  R.-G.-Bl.  Nr.  112.  § 1. 

*)  Gesetz  vom  81.  Dezember  1894.  R.-G.-B1.  Nr.  2 ei  189.r>,  Art.  V bis  X vl.okal- 

bahngesetz). 

*)  Gesetz  vmn  30.  Juni  1884,  R.-G.-Bl.  Nr.  116. 

*)  Art.  XI  des  Lokalbalmgesctzes 

*)  6 4 des  Gesetzes  vom  30.  Juni  1884.  R.-G.-B1.  Nr.  116:  Art  II,  letzter  Abs. 

des  Gesetzes  vom  18.  Juli  1892,  R.-G.-Bl.  Nr.  109;  Art.  V und  IX  des  Gesetzes  vom 

1.  Juli  1901,  R.-G.-Bl.  Nr.  85. 

*)  Die  betreffenden  Landesgesetze  sind  ira  Haudbucbe  Mayrhofers,  V..  8.  612, 
zusammengestellt 


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182 


Brcsicwiex. 


öffentlicher  Arbeiten,  de»  Entwurfes  und  die  allgemeine  Angabe  des  Umfanges, 
die  Bezeichnung  des  Unternehmers  und  der  Beteiligten,  der  Anteile  in 
Prozentsätzen  der  Kosten  oder  im  festgestellten  Betrage,  die  Fälligkeit  der 
Anteilssummen,  schlielilich  die  Bestimmung  Ober  die  zukünftige  Erhaltung 
der  Anlagen.  Die  Durchführungsverordnungen,  welche  zwischen  den  Inter- 
essenten vereinbart  werden,  enthalten  die  näheren  Bestimmungen  Ober  die 
Dauer  der  Bauzeit  und  (Iber  die  Art  und  Weise  der  Ausführung  des  Unter- 
nehmens. daun  Bestimmungen  hinsichtlich  der  Bauleitung  und  der  Einfluß- 
nahme der  Beteiligten  auf  den  Gang  der  technischen  und  ökonomischen 
Angelegenheiten  des  Unternehmens.  Diese  Verordnungen  werden  oft  bis 
aufs  Wort  übereinstimmend  verfaßt. 

Das  besprochene  Verhältnis  der  Beteiligung  an  öffentlichen  Arbeiten 
kommt  in  Italien  nur  seitens  des  Staates  und  der  Provinzen  vor:  die  Ge- 
nossenschaften, welche  zur  Errichtung  örtlicher  Schutzdämme,  für  Zwecke  der 
Grundstflckbewässerung  oder  Sumpfentwässerung  gebildet  werden,  können 
vom  Staate  und  von  den  Provinzen  Beiträge  erhalten:')  desgleichen  gibt 
die  Provinz  den  Gemeindeverbänden  Beiträge  fftr  Wegebau.’)  Die  Kegierung 
und  die  Provinz  müssen  jedoch  in  der  Generalversammlung  und  im  Ver- 
w altungsrate  der  Genossenschaft  vertreten  sein;  die  Beschlüsse,  welche 
Auslagen  veranlassen,  unterliegen  der  Genehmigung  des  Präfekten  und  der 
Provinziaideputation.  Die  Beiträge  werden  in  jedem  Jahre  erst  nach  durch- 
geführter  Untersuchung  der  Arbeiten  bezahlt.  Bei  Entsumpfungen  hat  die 
Hegierung  auch  das  Recht,  die  nachlässige  Genossenschaftsverwaltung  auf- 
zulösen und  die  Arbeiten  seihst  durchzufahren.*)  ln  Frankreich  zeigt  der 
Bau  der  konzessionierten  Eisenbahnen  eine  sehr  genaue  Form  des  Betei- 
ligungsverhältnisses, indem  der  Staat  auf  eigene  Kosten  den  ganzen  Unterbau 
herstellt  oder  alle  Baukosten  gegen  einen  ständigen  Beitrag  der  Bahn- 
gesellschafl  bestreitet.*)  Die  subventionierte  Aufforstung  der  Gebirge  wird 
unter  der  Kontrolle  und  Aufsicht  der  Forstbeamten  ausgefährt.  die  .Sub- 
ventionen des  Staates  oder  der  Departements  an  Gemeinden  aber  erst  nach 
Endabnahme  der  Arbeiten  ausbezahlt.5) 

C.  Form  der  Beteiligung. 

Die  Form,  in  welcher  die  Beteiligung  erscheint,  ist  verschieden,  je 
nachdem  oh  die  Leistung  iu  einem  im  voraus  genau  bestimmten  Verhält- 
nisse geschieht  oder  oh  ihre  Feststellung  erst  von  der  Gestaltung  des 
Verkehrs  abhängig  gemacht  wird.  Die  Haupltälle  sind  folgende: 

’j  Art  9b  urul  97  de«  Gesetzes  über  öffentliche  Arbeiten:  Art.  10  des  künigl. 
Dekrets  vom  Februur  l»8tj  und  Art.  17  dea  künigl.  Dekrets  vom  92.  Mürz  1900. 

• Art.  49  und  50  des  Gesetzes  über  Öffentliche  Arbeiten. 

’)  Art.  50  und  115  des  Gesetzes  über  öffentliche  Arbeiten;  Art.  28  dea  künigl . 
Dekrets  rein  22.  Mürz  1900. 

')  Vergl.  die  Geschichte  der  Eisenbahngesetzgebung  in  Itertbelemys  Traite 
eleinentaire,  S.  033  bis  651. 

Gesetz  vom  4.  April  fft»2,  Art  5:  Dekret  vom  II.  Juli  1*82.  Art.  15. 


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Da*  Recht  der  riffentliehen  Arbeiten 


183 


1.  Die  Zuschüsse  ä fonds  perdu,  welche  ohne  Pflicht  zur  Zurück- 
stellung geleistet  werden.  Ihre  Höhe  wird  entweder  in  einem  festen 
Betrage  oder  in  Prozenten  der  veranschlagten  Herstellungskosten  bestimmt; 
die  letzteren  können  im  voraus  auf  Grund  des  Voranschlages  auf  einen 
unübersebreitbaren  Betrag  beschränkt  werden. 

2.  Bei  Unternehmungen,  welche  einen  Gewinn  abwerfen,  ist  die  Be- 
teiligung auch  in  der  Form  einer  jährlichen  Subvention  möglich.  Davon 
unterscheidet  sich  nur  unwesentlich  der  Fall,  wenn  der  Beteiligte  die  Ver- 
zinsung und  Tilgung  des  vom  Unternehmer  aufzunehmenden  Anlehens 
übernimmt.  *) 

3.  Die  Beteiligung  des  Staates,  der  Länder,  Bezirke  und  Gemeinden 
an  einem  öffentlichen  Unternehmen  kann  auch  in  der  Weise  stattfinden, 
daß  die  Stammaktien  der  zu  bildenden  Aktiengesellschaft  zum  vollen  Nenn- 
werte in  einem  bestimmten  Betrage  übernommen  werden.  Dem  Beteiligten 
werden  dadurch  gleiche  Rechte  mit  den  übrigen  Aktionären  eingeräumt, *) 
also  die  Rechte  eiues  Mitunternehmers. 

4.  Die  Beteiligten  können  auch  nur  unverzinsliche  oder  verzinsliche 
Vorschüsse  leisten  mit  der  Pflicht  des  Unternehmers  zur  Rückzahlung. ’) 

5.  Die  Garantie  des  jährlichen  Erträgnisses  verpflichtet  die  garan- 
tierende Verwaltung  zur  Ergänzung  des  Fehlenden,  wenn  die  Reinerträge 
des  Unternehmers  die  ihm  garantierten  Beträge  nicht  erreichen  sollten. 
Die  Höhe  des  garantierten  jährlichen  Reinerträgnisses  entspricht  dem  Er- 
fordernisse für  die  4 Proz.  nicht  überschreitende  Verzinsung  und  die 
Tilgungsquote  des  Anlagekapitals  oder  des  zum  Zwecke  der  Geldbeschaffung 
aufzunehmenden  Anlehens.  Manchmal  wird  die  Garantie  nur  auf  den  durch 
Prioritätsaktien  angeschafften  Teil  des  Anlagekapitals.*)  aber  gewöhnlich 
nur  auf  eine  bestimmte  Anzahl  von  Jahren  eingeschränkt.')  Die  Garantie 
wird  nur  ausnahmsweise  ä fonds  perdu  gewährt;  gewöhnlich  werden  dio 
geleisteten  Vorschüsse  mit  4 Proz.  Zinsen  rückgezahlt,  sobald  ein  Überschuß 
des  Reinerträgnisses  eintritt. 

Die  Subventionsbeträge  dürfen  nur  nach  Maßgabe  des  genehmigten 
Staats-  beziehungsweise  Landesvoranschlages  verausgabt  werden;  sie  werden 
in  diese  Voranschläge  in  gleichen  Jahresraten  eingestellt.  Die  Einzahlung 
der  Jahresraten  in  den  Banfonds  hat  während  der  Dauer  des  Baues  nur 
nach  Maßgabe  des  tatsächlichen  Bedarfes  der  Arbeiten  zu  erfolgen.  Manchmal 
wird  die  Flüssigmachung  der  Staats-  und  Laudeszuschüsse  durch  die  vorher- 
gängige Zahlung  der  Zuschüsse  der  Gemeinden  und  Wassergenossenschaften 
bedingt.*)  Die  zugesicherten  Leistungen  des  Staates  und  des  Landes  zu 

*)  Z.  B.:  Gesetz  vom  18.  Juli  1892.  R.-G.-BI.  Nr.  109.  Art.  II. 

*)  Gesetz  vom  1.  Juli  1901.  R.-G.-Bl.  Nr.  85,  Art.  VIII  und  IX. 

*)  Gesetz  vom  14.  Dezember  1877,  R.-G.-B1.  Nr.  112,  ä 3;  Gesetz  vom  30.  Juni 
1884,  K.-G.-B1.  Nr.  116.  (jj  6 und  7. 

*)  Z.  B. : Gesetz  vom  8.  Jänner  1892,  R.-G.-Bl.  Nr.  10,  Art.  II. 

*)  Gesetz  vom  1.  Juli  1901,  li.-G.-Bl  Nr.  85,  Art.  III. 

*)  5 4 der  Verordnung  der  Landesregierung  in  Krain  vom  7.  September  1896. 
L-G.-Bi.  Nr.  39. 


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Brosiewicz. 


18  t 

einem  von  ileu  Gemeinden,  Bezirken  oder  Wasseigenossenschatlen  geleiteten 
Unternehmen  werden  nach  vorgenommener  Schlußabrechnung  flüssig  gemacht; 
ausnahmsweise  können  sie  während  der  Arbeit  nach  Maßgabe  des  Baufort- 
schrittes vorschußweise  überwiesen  werden,')  und  zwar  folgendermaßen: 
n)  während  der  Bauzeit  werden  je  50  bis  75  Proz.  des  Zuschusses  zur 
Zahlung  angewiesen;  der  jeweilige  Baufortschritt  ist  durch  Verdienst- 
zeugnisse nachzuweisen,  welche  vom  Bauleiter  bestätigt  sein  müssen: 
!>)  auf  Grund  der  Abnahme  einzelner  Gegenstände  kann  jedoch  vom 
Minister  im  Einvernehmen  mit  dem  Landeeausschusse  die  Flüssig- 
machung von  Zuschüssen  bis  zur  Höhe  von  75  und  höchstens  von 
110  Proz.  bewilligt  werden; 

<■)  außer  diesem  Falle  ist  die  Kollaudierungsquote  (25  beziehungsweise 
wenigstens  10  Proz.:  bis  zum  Zeitpunkte  der  Endabnahme  der  Ar- 
beiten zurückzubehalten. *) 

' D.  E r h a 1 1 u n g s a u s 1 a g e n. 

Die  Kosten  der  Erhaltung  werden  nur  selten  von  allen  an  der  Aus- 
führung Mitbeteiligten  getragen. 

1.  Die  vom  beliehenen  Unternehmer  errichteten  Arbeiten  sind  von 
ihm  allein  in  Stand  zu  halten. 

2.  Der  staatliche  Meliorationsfonds  trägt  nie  die  Erhaltungskosten, 
vielmehr  müssen  sie  in  anderer  Weise  gesichert  erscheinen.3)  Bei  Ein- 
deichungen. Ent-  und  Bewässerungen  und  Verbauungen  der  Wildbäche  sind 
ilie  Erhaltungskosten  fertiger  Anlagen  von  den  interessierten  Gemeinden, 
Bezirken  und  Eigentümern  zu  tragen.4)  Zu  diesem  besonderen  Zwecke 
werden  oft  auf  Grund  gesetzlicher  Anordnungen  Konkurrenzen  gebildet.') 
welche  die  Eigentümer  der  durch  die  Anlagen  geschützten  Grundstücke 
umfassen.  Die  Aufteilung  der  Erhaltungskosten  wird  im  Verwaltungswege 
festgestellt.  Wenn  die  Gemeinden  in  die  Konkurrenzpflie.ht  einbezogen 
werden,  bleibt  es  ihnen  Vorbehalten,  den  teilweisen  Ersatz  ihrer  bezüglichen 
Auslagen  von  den  Besitze™  der  durch  die  Anlagen  geschützten  oder 
begünstigten  Liegenschaften  anzusprechen.  Das  Ausmaß  der  hienuch  auf 
die  einzelnen  Interessenten  entfallenden  Beitragsleistung  ist  im  Wege  eines 
gütlichen  Übereinkommens  der  Beteiligten  oder  in  Ermangelung  eines 
solchen  von  der  zuständigen  politischen  Behörde  nach  Analogie  des  Wasscr- 
rechtsgesetzes  festzustellen.8) 

*)  Kundmachung  der  Statthaltern  fiir  Österreich  u.  d.  Knus  vom  19.  Jänner  1896, 
L.-G.-Bl.  Nr.  7. 

. s)  Böhmische  Laudeagesctze  vom  -4.  April  1900,  L.-G.-lll  Nr.  45,  § 3,  vom 

92.  August  1900,  L.-G.-Bl.  Nr.  50  und  51,  §3;  Kundmachung  der  Statthalterci  in 
Böhmen  vom  17.  Juli  1900,  L.-G.-Bl.  Nr.  44,  § 13. 

3)  Meliorationageaetz  9 5,  Z.  3. 

4)  9 44  der  meisten  Landeawasserreehtsgesctzc. 

i)  B.:  Gesetz  vom  16.  Mai  1896,  L.-G.-BI.  für  Galizien  Nr.  37,  § 6. 

*)  99  5 und  6 der  Gesetze  vom  6.  August  1900,  L.-G.-Bl.  für  Oberösterreich 
Nr.  29  l.is  36. 


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Das  Hecht  der  öffentlichen  Arbeiten. 


185 


3.  Nur  in  Salzburg  besteht  eine  allgemeine  gesetzliche  Bestimmung,1) 
laut  welcher  die  ordentliche  Erhaltung  der  an  den  Flüssen  und  Bächen  mit 
Beihilfe  des  Staates  oder  des  Landes  von  Wassergenossenschaften  herge- 
stellten Regulierungsbauten  als  eine  bleibende  Verpflichtung  der  Wasser- 
genossenschafteu  erklärt  wurde,  die  Kosten  der  Erhaltung  jedoch  zu  einem 
Dritteile  vom  Landesfonds  zu  bestreiten  seien.  Die  Entwertung,  Leitung 
und  Kollaudierung  der  betreffenden  Arbeiten  liegt  dem  Landesausschusse  ob. 

4.  Sonst  wird  oft  zur  Erhaltung  der  Anlagen  ein  besonderer  Fonds 
gebildet.')  In  diesen  Erhaltungsfonds  fliehen  ein: 

a)  die  Einkünfte  aus  der  Verpachtung  der  Schutzdeiche,  Böschungen 

sowie  des  durch  Regulierung  gewonnenen  Grund  und  Bodens; 

b)  der  erzielte  Erlös  für  die  durch  Regulierung  gewonnenen  Gründe. 

Die  nicht  gedeckten  Kosten  werden  entweder  von  den  Besitzern  von 
Liegenschaften  und  Anlagen  eingehoben5 > oder  zum  Teile  vom  Lande,4) 
zum  Teile  von  Interessenten  bestritten.  Die  Höhe  der  Beiträge  wird 
manchmal  für  einige  Jahre  durch  das  Gesetz  bestimmt  und  die  weiteren 
Jahresbeiträge  aus  dem  Durchschnitte  des  wirklichen  Erfordernisses  aus- 
gemittelt. Die  Verwaltung  des  Erhaltungsfonds  wird  vom  Landesausschusse 
geführt. 

E.  Ein  fl  ul!  nah  me  der  Beteiligten. 

Obwohl  mehrere  Verbände  an  den  Kosten  der  öffentlichen  Arbeiten 
beteiligt  sind,  haben  sie  nur  selten  gemeinsame  Organe  zur  Ausführung  des 
Unternehmens.  Ausnahmsweise  kommt  es  bei  der  Donaureguliernng  und  den 
Wiener  Verkehrsanlagen  vor,  wo  die  Leitung  der  Arbeiten  den  von  allen 
Mitbeteiligten  gewählten  Kommissionen  übertragen  wurde.6)  Gewöhnlich 
mul!  die  Ausführung  einem  der  Beteiligten  anvertraut  werden.  Anderen  Be- 
teiligten wird  eine  angemessene  Einflußnahme  auf  die  Art  und  Weise  der 
Ausführung  des  Unternehmens,  den  Kostenvoranschlag  und  auf  den  Gang 
des  Unternehmens  eingeräumt.8}  Grundsätzlich  haben  alle  Interessenten 
gleichen  Einfluß  auf  die  Festsetzung  näherer  Bestimmungen  über  die  Dauer 
der  Bauzeit,  dann  über  die  Art  und  Weise  der  Ausführung  des  Unternehmens. 
Allen  Interessenten  steht  desgleichen  das  Recht  zu,  sich  zu  jeder  beliebigen 
Zeit  durch  ihre  Organe  von  dem  Fortschritte  der  Arbeiten  und  von  deren 
Beschaffenheit  zu  überzeugen,  und  es  müssen  diesfalls  die  Bauleitungs- 
und Aufsichtsorgane  den  betreffenden,  hiezu  abgeordneten  Personen  alle  ge- 
wünschten Auskünfte  erteilen.') 

')  Gesetz  vom  12.  November  1896,  L.-G.-Bl.  Nr.  37. 

*)  Z.  B.  zur  Erhaltung  der  Gailregulierung  (Gesetz  vom  11.  August  1900,  L.-G.-Bl. 
für  Kärnten  Nr.  28). 

s>  Z.  B.:  Gesetz  vom  26.  April  1896,  L.-G.-B1.  für  Kärnten  Nr.  18. 

*)  Z.  B.:  Gesetz  vom  30.  April  1895,  L.-G.-Bl.  für  Galizien  Nr.  45. 

*)  Gesetz  vom  6.  Juni  1882,  R.-G.-BI  Nr.  68,  betreffend  die  Regulierung  der  Donau, 
§3;  Gesetz  vom  18.  Juli  1892,  R.-G.-Bl.  Nr.  109,  Art.  VII  des  beigeschlossenen  Programms. 

*)  Gesetz  vom  30.  Juni  1884,  H.-G.-Bl.  Nr.  116,  § 5;  Gesetz  vom  21.  Dezember  1898. 
R.-G.-Bl.  Nr.  283,  Art.  XII. 

')  Beispiel:  Verordnung  vom  25.  Juli  1901,  I..-G.-B1.  für  Galizien  Nr.  12,  § 18 


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Rresienica 


18fi 


Sonst  ist  die  Einflußnahme  verschiedenartig,  je  nach  der  Stellung  des 
Unternehmers: 

1.  Wenn  die  Staats-  oder  Landesverwultting  als  Unternehmer  Auftritt, 
haben  die  interessierten  Bezirke,  Gemeinden  und  Wassergenossenschaften 
kein  Kocht  der  Entscheidung  in  Bezug  auf  den  Gang  des  Unternehmens 
und  der  Kollaudierung  der  ausgeführten  Arbeiten  — sie  können  nur  An- 
träge stellen.  Ganz  abweichende  Bestimmungen1)  wurden  fflr  den  Bau  der 
Wasserstraßen  erlassen,  laut  welchen  die  Durchfflhrung  der  Bauten  einer 
im  Handelsministerium  errichteten,  von  der  Kegierung  ernannten  Direktion 
anvertraut,  neben  derselben  aber  zur  Erstattung  von  Gutachten  und  Stellung 
von  selbständigen  Anträgen  ein  Wasserstraßenbeirat  errichtet  wurde:  der 
letztere  besteht  aus  den  von  der  Regierung  und  von  den  beteiligten  Landes- 
ansschössen  ernannten  Mitgliedern. 

2.  Bedeutend  stärker  ist  der  Einfluß,  welchen  der  Staat  und  das  Land 
auf  die  von  Bezirken,  Gemeinden,  Wassergenossenschaften  und  beliehenen 
Unternehmern  geführten  Arbeiten  ausüben.  Die  Aufgabe  dieses  behördlichen 
Einflusses  ist  im  allgemeinen  die  Fürsorge,  daß  die  vom  Staate  und  vom 
Lande  gewährten  Anteile  in  einer  zweckmäßigen,  dem  genehmigten  Entwürfe 
entsprechenden  Weise  Verwendung  finden  und  daß  die  Vorschriften  des  das 
Zustandekommen  des  Unternehmens  sichernden  Gesetzes  genau  beobachtet 
werden.*)  Dieser  Einfluß  gestaltet  sich  im  einzelnen  folgendermaßen: 

a)  Die  Ausführung  der  Unternehmung  darf  nur  auf  Grund  des  von  den 
Behörden  genehmigten  Entwurfes  erfolgen.  Die  während  des  Baues  als 
notwendig  erkannten  Abänderungen  oder  Ergänzungen  am  Entwürfe 
können  nur  mit  der  jeweilig  einzuholenden  Genehmigung  der  Staats- 
verwaltung und  des  Landesausschusses  vorgenommen  werden.  Wenn 
sich  infolge  dieser  Änderungen  Überschreitungen  des  Voranschlages 
ergeben  sollten,  ist  der  überschreitende  Kostenbetrag  aus  eigenen  Mit- 
teln des  Unternehmers  zu  decken.  Im  Falle  sich  an  dem  vorbezifferten 
Höchstbetrage  der  Kosten  eine  Ersparung  heraussteilen  sollte,  so  hat 
eine  verhältnismäßige  Abminderung  beziehungsweise  Rückerstattung 
der  Beiträge  des  Landesfonds  und  des  staatlichen  Fonds  einzutreten,5) 
h)  Die  Bauvergebungsverträge  einschließlich  der  Bedingungen  für  Sub- 
unternehmer  unterliegen  der  Zustimmung  dieser  Behörden. 
c)  Sowohl  der  Staats-  als  der  Landesverwaltung  steht  das  Recht  zu,  zu 
den  Beratungen  des  Ausschusses,  welche  die  Ausführung  des  Entwurfes 
betreffen,  je  einen  Vertreter  zu  entsenden,  welchem  eine  entscheidende 
Stimme  zukommt. 

(I)  Die  Staats-  und  Landesverwaltung  muß  von  allen  wichtigen  Vorkomm- 
nissen bei  der  Ausführung  des  Unternehmens  rechtzeitig  verständigt, 

*)  Gesetz  vom  11  Jaiii  1901.  R.-G.-Bl.  Nr.  06,  § 3.  und  Verordnung  des  Handels- 
ministeriums vom  11.  Oktober  1901,  R.-G.-Bl  Nr.  163. 

3)  Vergl.  die  Kundmachung  des  Statthalters  von  Rühmen  vom  3.  Februar  1899, 
I..-G.-BI.  Nr.  17. 

a/  Gesetz  vom  4.  April  1900.  L.-G.-BL  für  Böhmen  Nr.  45,  g 4. 


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I)ax  Recht  der  öffentlichen  Arbeiten. 


1*7 


deren  Vertretern  alle  erforderlichen  Behelfe  zur  Verfügung  gestellt, 
alle  gewünschten  Auskünfte  wahrheitsgemäß  erteilt  und  deren  Da- 
zwischentreten anstandslos  zugelassen  werden. 

>■)  Der  Staats-  uud  Landesverwaltung  steht  das  Recht  zu,  sich  zu  jeder 
beliebigen  Zeit  von  dem  Fortgange  uud  der  Beschaffenheit  der  Arbeiten 
durch  eigens  hiezu  bestimmte  Vertreter  zu  überzeugen. 

3.  Der  Einfluß  des  Staates  uud  der  Länder  auf  die  vom  beliehenen 
Unternehmer  verrichteten  Arbeiten  entspricht  obigen  Grundsätzen,  aber  er 
ist  durch  besondere  Gesetze  geregelt.  Hauptsächlich  kommen  hier  die  Lokal- 
hahnunternehmungen  in  Betracht.  Als  Bedingung  der  staatlichen  Beteiligung 
wird  die  unmittelbare  Ingerenz  der  Regierung  auf  die  Aufstellung  des  Ein- 
zelentwurfes und  Kostenvoranschlages  sowie  die  Vergebung  des  Baues  und 
der  Lieferungen  aufgestellt. ')  Das  Land,  welches  sich  am  Baue  einer  Lokal- 
bahn beteiligt,  fordert  auch,  daß  der  Bahubau  den  Interessenten  des  Landes 
entsprechend  und  unter  unmittelbarer  Mitwirkung  des  Landesansschusses 
ausgeführt  werde.*) 

V.  Durchführung  öffentlicher  Arbeiten. 

Öffentliche  Arbeiten  können: 

1.  entweder  in  eigener  Regie  der  Verwaltung. 

2.  oder  durch  einen  Unternehmer, 

3.  oder  im  Wege  der  Konzessionserteilung  durchgeführt  werden.  Die 
Art  und  Weise  der  Durchführung  muß  natürlicherweise  verschiedene  recht- 
liche Verhältnisse  zwischen  der  Verwaltung  und  den  bei  der  Durchführung 
der  Arbeit  beteiligten  Personen  hervorrufen  — sie  ändert  jedoch  nicht  den 
Charakter  der  öffentlichen  Arbeit  Nach  welchen  Vorschriften  werden  die 
daraus  entstehenden  Verhältnisse  beurteilt?  Obwohl  die  öffentlichen  Arbeiten 
dem  öffentlichen  Rechte  gehören,  ist  nicht  jede  Lebensäußerung,  die  irgend- 
wie damit  zusammenbängt,  als  Stück  der  öffentlichen  Verwaltung  nach 
öffentlichem  Rechte  zu  beurteilen.  Namentlich  wenn  es  sich  um  die  Be- 
schaffung und  Bereithaltung  der  Mittel  handelt,  welche  dieser  öffentlichen 
Verwaltung  dienen  sollen,  wird  es  immer  darauf  ankommen,  wohin  diese 
Tätigkeiten,  für  sich  betrachtet,  gehören.  Privatwirtschaftlicher  und  zivil- 
rechtlicher  Natur  ist  die  Herrschaft  des  Staates  über  die  erworbenen  Sachen, 
welche  solchen  öffentlichen  Unternehmungen  als  Mittel  dienen,  und  der 
Staat  in  der  Stellung  des  Vergebers  der  Arbeiten  wird  grundsätzlich  nach 
dem  Zivilrecht  zu  beurteilen  sein.’)  Dieses  bezieht  sich  insbesondere  auf 
die  Durchführung  der  öffentlichen  Arbeiten  in  eigener  Regie  und  durch  pinen 
Unternehmer.  Die  dritte  Ausführungsart  durch  Konzessionserteilung  weist 
wesentliche  Unterschiede  auf  und  wird  deswegen  in  einem  besonderen  Ab- 
schnitte behandelt. 

x)  Gesetz  vom  31.  Dezember  1^94,  R.-G.-Bl.  Nr.  2 ex  1895,  Art,  XII;  Gesetz 
vom  1.  Juli  1901,  R.-G.-Bl  Nr.  85,  Art.  XII. 

*)  Gesetz  vom  17.  Juli  1893.  L.-G.-Bl.  fQr  Galizien  Nr.  42.  9»G. 

*j  Otto  Mayer:  Deutsches  Verwaltuiigarecht,  II.,  S.  74. 


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188 


ßresiewicz. 


I.  Eigene  Regie. 

Unter  Kegiearheiten  sind  jene  Arbeiten  zu  verstehen,  welche  von  der 
Verwaltung  selbst  durch  in  ihren  unmittelbaren  Dienst  gestelltes  Personal 
ausgeführt  werden.')  Diese  Ausführungsweise  setzt  voraus,  daß  die  Verwal- 
tung verfügbare  Kräfte  zur  Leitung  und  Beaufsichtigung  der  Arbeiten  be- 
sitzt Sie  wird  ordentlich  nur  dann  gewählt,  wenn  andere  Ausführungsarten 
einen  vorteilhaften  Erfolg  nicht  voraussehen  lassen,  was  meistenteils  von 
Bedingungen  wirtschaftlicher  Natur  abh&ngt.  In  der  Hegel  werden  in  eigener 
ltegie  verrichtet :*i 

1.  die  Arbeiten  im  Palle  dringender  Not,  wenn  Gefahr  am  Verzüge 
haftet,  und 

2.  die  gewöhnlichen  Instandhaltungsarbeiten. 

Mit  der  Ausführung  der  Arbeiten,  ferner  mit  der  Ausübung  des  technisch- 
administrativeu  Dienstes  wird  ein  beeideter  technischer  Beamter  unter  der  Auf- 
sicht der  Baubehörde  betraut.  Zur  Unterstützung  dieses  Bauleiters  in  Angelegen- 
heiten administrativer  Natur,  namentlich  durch  Vermittlung  bei  Verhandlungen 
bezüglich  des  Geldersatzes  für  eingenommene  Gründe,  bei  Vereinbarungen 
bezüglich  der  Materialpreise,  Arbeitslöhne  u.  dgl„  dann  zur  Buchführung  bei 
den  Bauarbeiten  wird  für  jede  Bauabteilung  ein  Ingenieur  bestellt,  welchem 
hinsichtlich  der  Bauleitung  eine  beratende  Stimme  zukoramt.  Außerdem  werden 
nach  Bedarf  die  technischen  und  Rechnungsgehilfen  ernannt.  Die  Bauzulagen, 
Tagegelder  und  Reisekosten  des  Bauleiters,  der  Gehalt  desselben  während 
des  Baues,  die  Reisekostenvergütungen  und  Zehrgelder  der  Ingenieure,  die 
Bezüge  der  Bauaufseher  und  Hilfsarbeiter  sowie  überhaupt  alle  Kosten  der 
Verwaltung  und  Bauleitung  werden  aus  dem  Baufonds  bestritten.  Zur  Be- 
streitung dieser  und  weiterer  Bauauslagen  als  Scliichtenlöhne,  Verdienste 
durch  Akkordarbeit.  Auslagen  für  Werkzeuge.  Materialien  und  Professionisteu- 
arbeiten  werden  für  die  Dauer  der  jährlichen  Arbeitsperiode  beim  Steuer- 
amte monatliche  Bauverläge  angewiesen.  Die  Höhe  der  für  die  einzelnen 
Monate  erforderlichen  Verläge  ist  vom  Bauleiter  nach  Maßgabe  der  für  das 
Baujahr  genehmigten  Arbeiten  und  der  hiefür  verfügbaren  Mittel  vor  Be- 
ginn der  Arbeitsperiode  zu  veranschlagen.  Der  Bauleiter  hat  vor  Erschöpfung 
der  angewiesenen  Verläge  eine  Baurechnung  rechtzeitig  zusammenzustellen 
und  mit  allen  Belegen  der  anweisenden  Behörde  cinzusenden.  Diese  ver- 
anlaßt die  Überprüfung  der  Baurechnung  durch  die  Rechnungsabteilung  und 
die  erforderliche  Ergänzung  des  ßauverlages. 

Außer  der  Baurecbnung  sind  folgende  Aufzeichnungen  zu  führen: 

<t)  die  Arbeiterverzeichnisse  und  Zahlungslisten; 

b)  die  Akkorddienstansweise,  welche  mit  Quittungen  belegt  werden; 

c)  die  Verzeichnisse  der  Werkzeuge  und  Hilfsmittel; 

A)  die  Verzeichnisse  der  Baumaterialien; 

')  % 2 de»  Gesetzes  rom  2S.  Juli  1902,  It.-G.-Bl.  Nr.  ISO,  betreffend  die  Regelung 
des  Arbeitsrerliältniases  bei  den  Kegiebautcn  von  Eisenbahnen  u.  s.  w. 

*)  Sehr  genaue  Bestimmungen  über  liegiearbeiten  enthalten  die  Art.  fiff  bis  90  des 
italienischen  kflnigl.  Dekrets  vom  25.  Mai  1H95,  Nr  350. 


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Das  Recht  der  öffentlichen  Arbeiten. 


189 


v)  das  Bauprotokoll,  und  zwar  abgesondert  für  die  Regie-  und  für  die 
sonstigen  Arbeiten.  Es  enthält  die  Darstellung  des  Baufortsebrittes,  d.  i. 
aller  auf  den  Beginn  und  Betrieb  sowie  anf  die  Vollendung  des  Baues 
wesentlich  Einfluß  nehmenden  Tatsachen,  den  Witterungszustand,  die  Zahl 
der  Arbeiter  und  Fuhrwerke  sowie  die  Übernahme  der  Baumaterialien. 
Weiter  enthält  es  verläßliche  Ergänzungen  zur  Herstellung  der  Schluß- 
abrechnung. wie  die  Ausmaße,  welche  nachträglich  nicht  leicht  festgestellt 
werden  können,  die  Abweichungen  vom  genehmigten  Entwürfe  und  deren 
Begründung,  die  vereinbarten  Preise  der  Leistungen  u.  s.  w.  Das  Bauproto- 
koll ist  mit  Ende  einer  jeden  Woche  abzuschließen  und  der  Baubehörde 
vorzulegen. 

Auf  Grund  dieses  Baujournals  wird  jeden  Monat  ein  Bericht  Ober  den 
Banfortschritt  zusammengestellt.  Am  Schlüsse  eines  jeden  Baujahres  hat  der 
Bauleiter  seiner  Vorgesetzten  Behörde  einen  Bericht  Ober  die  Bautätigkeit 
und  deren  Erfolge  sowie  Ober  etwaige  andere  wichtige  Wahrnehmungen 
vorzulegen.  Demselben  ist  auch  eine  mit  den  erforderlichen  Belegen  ver- 
sehene Rechnung  Ober  die  Einnahmen  und  Ausgaben  des  verflossenen  Zeit- 
abschnittes und  am  Ende  des  letzten  Baujahres  nebst  der  Rechnung  för  das 
verflossene  Jahr  eine  alle  Baujahre  umfassende  Schlußrechnung  beizuschließen. 

Bei  der  Durchführung  der  Arbeiten  in  eigener  Regie  wird  vor  allem 
die  Arbeit  gegen  Vergfltung  nach  Ausmaß  empfohlen,  während  die  Arbeit 
gegen  tägliche  Vergütung  nur  in  solchen  Fällen  einzutreten  hat,  wenn  deren 
Durchführung  nach  Ausmaß  unmöglich  oder  unzweckmäßig  wäre.  Es  bleibt 
jedoch  dem  Bauleiter  überlassen,  einzelne  Arbeitsleistungen  auf  der  Grund- 
lage von  Einheitspreisen  im  Akkordwege  ausführen  zu  lassen.’)  Die  zweite 
Modalität  der  Ausführung  besteht  darin,  daß  die  Arbeiten  im  Wege  schrift- 
licher Akkorde  an  Akkordanten  vergeben  werden;  diese  Art  der  Sicherstel- 
lung der  Arbeiten  darf  nur  bei  Ausführungen  geringeren  Umfanges,  für 
welche  ihrer  Natur  nach  keine  weitläufigen  Bedingungen  zu  stellen  sind, 
angewendel  werden.  Übereinkommen  über  Arbeiten  und  Lieferungen,  welche 
den  Betrag  von  1000  Kronen  nicht  übersteigen  und  die  so  dringend  sind, 
daß  mit  ihrer  Verwirklichung  bis  zum  Einlangen  der  Entscheidung  der 
Baubehörde  nicht  gewartet  werden  kann,  werden  vom  Bauleiter  mit  dem 
Uuternehmer  abgeschlossen  und  übergibt  derselbe  die  Arbeiten  und  Liefe- 
rungen gegen  nachträgliche  ehebaldigste  Rechtfertigung  zur  Ausführung. 
Alle  anderen  Übereinkommen  und  Anerbieten  der  Unternehmer,  besonders 
solche,  welche  den  Bau  von  Objekten,  wie  Brücken.  Schleusen  und  Durch- 
lässe betreffen,  legt  der  Bauleiter  vor  Beginn  der  Arbeiten  der  Baubehörde 
zur  Genehmigung  vor.1) 

Die  Verhältnisse  der  Verwaltung  zum  Lohn-,  Stück-  oder  Akkordarbeitcr 
werden  nach  den  Bestimmungen  des  allgemeinen  bürgerlichen  Gesetzbuches 

')  Kundmachung  der  Statthaltern  vom  5.  September  1000,  L.-G.-Bl.  für  Ober- 
uat erreich  Nr.  38,  § 6. 

t)j9  der  Verordnungen  der  Statthalterei  vom  17.  Dezember  1897  und  vom 
19.  Dezember  1900,  L.-G.-Bl.  für  Galizien  Nr.  1 ex  1898  ond  Nr.  19  ex  1901. 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  gngUlpAlllik  und  Verwaltung.  XII.  Band.  14 


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194)  Rresiewinc. 

Uber  den  Lohuvertrag  beurteilt  Ausnahmen  bestehen  bezüglich  der  Arbeiter 
bei  Regiearbeiten  au  Eisenbahnen  und  beim  Baue  von  grollen  Wasserstraßen, 
deren  Verhältnisse  den  Vorschriften  des  VI.  Hauptstflckes  der  Gewerbeord- 
nung entsprechend  geregelt  wurden.1) 

II.  Ausführung  der  Arbeiten  durch  Vertragschließende. 

Die  Unternehmung  öffentlicher  Arbeiten  ist  ein  Vertrag,  wodurch  sich 
eine  Privatperson  zur  Herstellung  öffentlicher  Arbeiten  in  Unterwerfung  unter 
die  Organe  der  Verwaltung  gegen  eine  Geldsumme  verpflichtet.  Es  macht 
hiebei  keinen  Unterschied,  ob  der  Unternehmer  nur  Arbeitskräfte  beistellt 
oder  auch  die  zur  Vollendung  des  Werkes  notwendigen  Materialien  liefert. 
Der  rechtliche  Charakter  der  Vergebung  der  Arbeiten  ist  der  einer  privat- 
rechtlichen Dienstmiete.  Trotzdem  gibt  es  bei  Vergebungsverträgen  zahl- 
reiche Abweichungen  vom  Privatrechte,  und  zwar  sowohl  formelle  als  mate- 
rielle. Sie  sind  dadurch  gerechtfertigt,  daß  der  Unternehmer  auf  Grund  des 
privatrechtlichen  Vertrages  die  Arbeiten  für  die  Verwaltung  besorgt  und 
daß  an  der  Ausführung  derselben  die  öffentliche  Verwaltung  beteiligt  ist. 

A.  Die  Beding u ngshefte. 

Was  die  Form  der  Verträge  anbelangt,  so  gilt  als  Kegel,  daß  sie  auf 
Grund  der  vorgeschriebenen  Bedingungshefte  im  Wege  der  öffentlichen 
Versteigerung  abgeschlossen  werden.  Diese  Bedingungshefte !)  werden  in 
Österreich  Iflr  jeden  Verwaltungszweig  abgesondert  ausgegeben.  Filr  die 
Vergebung  von  Straßen-  und  Wasserbauarbeiten  bestellen:  Allgemeine  tech- 
nische und  administrative  Baubedingnisse,1)  Vertragsbedingungen  für  die 
Anfertigung.  Lieferung  und  Aufstellung  von  eisernen  Keichsstrattenhrflcken*) 
und  Bedingnisse  für  die  Ausführung  größerer  Wasserbauten.  Allgemeine  und 
besondere  Bedingungen  für  die  Militärarbeiten  wurden  mit  Verordnung  des 
k.  u.  k.  Kriegsministeriums  vom  21.  November  1895  vorgeschrieben.5 1 Für 

')  Gesetz  vom  28.  Juli  1902.  K.-G.-Bl.  Nr.  156;  (ieiotx  vom  11.  Juni  1901, 

R. -G.-B1.  Nr.  66.  § 15. 

ln  Preußen  wurden  mit  Erlalt  des  Ministers  der  öffentlichen  Arbeiten  vom 
17.  J inner  1900  (Verw.-Min.-Bl.  S.  107)  „Allgemeine  Vertragsbedingungen  für  die  Aus? 
fiihrung  von  Stantsbauten-  eingetührt.  welche  genullt  Verfügung  de»  Ministers  des 
Innern  vom  22.  März  1900  auch  für  seinen  Geschäftsbereich  anzuwenden  sind.  In  Frank- 
reich dienen  als  Vorbild  die  Bedingungshefte  für  die  Verwaltung  der  Brücken  und 
Strafen  vom  16.  Februar  1892  fCahier  des  clauses  et  condition*  generales  itnposles  aux 
entrepreneurs  des  travaux  des  ponts  et  chaussles).  Ke  bestehen  auch  ähnliche  Bedingungs- 
hefte  für  die  Arbeiten  der  Militärgenic.  der  Kriegsmarine  und  den  Bau  der  Amts- 
gebäude. — In  Italien  wurden  fiir  den  Dienstbereich  des  Ministeriums  iler  öffentlichen 
Arbeiten  allgemeine  Vertragsbedingungen  (Capitolato  generale  per  gli  appalti)  mit 
Ministeriabiekret  vom  28.  Mai  1895.  für  Militärarbeiten  aber  (Be  condizioni  generali 
per  l'appalto  dei  lavori  dcl  genio  militarei  mit  Dekret  vom  9 Oktober  1900  erlassen. 

*)  Verordnung  der  ehemaligen  Generalbaudirektion  vom  15.  Dezember  1851.  Ver- 
ordnungsblatt des  Handelsministeriums  vom  Jahre  1852  Nr.  2. 

*)  Verordnung  des  .Ministeriums  des  Innein  vom  31.  Dezember  1892,  Z.  21.817. 

a)  Die  Baudienstrorscbriften  für  das  k u.  k.  Heer.  Wien,  1896,  I.  T.,  IV.  Absohn., 

S.  91  bis  183. 


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Das  Hecht  der  Affeutlichen  Arbeiten. 


191 


die  dem  Wirkungskreise  des  Handelsministeriums  augehörende  Post-  und 
Telegraphen  Verwaltung  bestehen  keine  besonderen  Normen  Aber  das  Unter- 
bietungswesen. Das  Eiseubahnministerium  hat  „Allgemeine  Bedingnisse  für 
die  Anbieter  und  Unternehmer  von  StaatseisenbahnbautenV 

Ein  noch  bunteres  Bild  liefern  uns  die  öffentlichen  Arbeiten  der 
Selbstverwaltungskörper:  In  Niederösterreich.  Oberösterreich, Salzburg,  Steier- 
mark, Kärnten.  Görz  und  Gradiska,  Istrien  und  Dalmatien  bestehen  keine 
Vorschriften  Ober  das  Unterbietungsverfahrem  die  für  die  autonome  Landes- 
verwaltung erforderlichen  Arbeiten  werden  im  Wege  des  freihändigen  Ver- 
fahrens vergeben  beziehungsweise  in  eigener  Regie  ausgeföhrt.  In  anderen 
Kronländem  werden  die  Vertragsbedingnisse  vom  Landesausschusse  aufge- 
stellt und  es  ist  leicht  erklärlich,  daß  sie  nicht  vollkommen  Qbereinstimmen 
können:  meistenteils  sind  sie  jedoch  den  für  Staatsbauten  geltenden  Vor- 
schriften oft  wörtlich  nachgebildet.1)  Das  gleiche  gilt  bezüglich  der  Regelung 
des  Unterbietungswesens  der  Gemeinden;  vielfach  ist  eine  allgemeine  Norm 
für  die  Vergebung  städtischer  Arbeiten  überhaupt  nicht  vorhanden,  vielmehr 
werden  die  Bedingnisse  von  Fall  ztt  Fall  besonders  festgesetzt.  Eine  Ausnahme 
machen  nur  die  größeren  Städte  und  besonders  die  Reichshaupt-  und  Residenzstadt 
Wien,  wo  für  den  Bau  der  Hauptsammelkanäle,  der  Verkehrsanlagen  und  der 
städtischen  Gaswerke  besondere  Unterbietungsbedingnisse  getroffen  wurden. 

Die  Ausbietungsbedingungen  sind  keine  allgemein  verbindlichen  Vor- 
schriften: sie  sind  nur  innerliche  Weisungen  für  die  Behörde,  welche  im 
Namen  der  Verwaltung  die  Verträge  mit  Unternehmern  abzuschließen  bat 
Diese  Behörde  besitzt  nicht  die  natürliche  Handlungsfreiheit  eines  Privat- 
mannes im  Verkehre,  sondern  sie  muß  die  als  gut  anerkannten  Maßregeln 
anwenden.  Da  die  Verwaltung  nur  auf  Grund  der  vorgeschriebenen  Bedin- 
gungshefte Verträge  abschließt,  so  muß  ein  jeder  Unternehmer  diese  Be- 
dingungen annehmen.  Sie  bilden  also  für  den  Unternehmer  ein  Recht,  aber 
nur  ein  Vertragsrecht.  Aus  diesem  Charakter  der  Versteigerungsbedingungen 
fließt,  daß  sie  nichts  den  zwingenden  Vorschriften  des  Privatrechtes  wider- 
sprechendes enthalten  können.  Anderseits  werden  die  Vertragsbedingungen 
seitens  der  Verwaltung  im  vi  rhinein  festgestellt  und  es  ist  nicht  zulässig, 
daß  von  den  Bewerbern  Abänderungen  oder  Gegenbedingungen  beantragt 
werden.  Obwohl  also  die  Vergebung  der  Arbeiten  die  äußere  Form  eines 
Privatvertrages  besitzt,  innerlich  weist  sic  einen  anordnungsmäßigen  Charakter 
auf.  Die  Vertragsbedingungen  teilen  sich  in  allgemeine  und  besondere. 
u)  Allgemeine  Vertragsbedingungen  enthalten  diese  Bestimmungen,  welche 
bei  allen  Verträgen  des  betreffenden  Verwaltungszweiges  Anwendung 
finden;  sic  regeln  das  Verhältnis  des  Unternehmers  zur  Verwaltung, 
zu  den  Arbeitern  und  zu  dritten  Personen,  sowohl  die  gegenseitigen 
Rechte  als  auch  die  Pflichten  aus  dem  Vertrage. 

*)  Der  Arbeiterschutz  bei  Vergebung  öffentlicher  Arbeiten  und  Lieferungen,  Wien, 
1900,  S.  196  ff.  ßei  Vergebung  des  Baues  der  vom  Staatsschätze  subventionierten  Lokal- 
bahnen ist  es  gesetzlich  geboten.  (Art.  XU  des  tiesetzes  vom  21.  Dezember  1»9S, 
Nr.  233  R.-G.-Bl.) 

14* 


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192 


Rreni^wicz. 


b)  Die  besonderen  Vertragsbedingungen  bestehen  wieder  aus  zwei  vonein- 
ander verschiedenen  Teilen:  der  erste  Teil  enthält  jene  Angaben,  welche 
bei  der  besonderen  Gattung  der  Arbeiten  immer  Anwendung  linden  und 
sonach  den  wesentlichsten  Inhalt  des  abgeschlossenen  Vertrages  hilden, 
d.  i.:  die  Gattung  der  Arbeiten,  Beschaffenheit  der  Materialien  und 
den  Ort  der  Ausführung  des  Baugegenstandes,  die  Summe,  welche  als 
Reugeld  von  den  Bewerbern  vor  der  Versteigerung  erlegt  werden  muß. 
die  Höhe  der  Sicherheitsleistung  des  Unternehmers,  die  zur  Ausfflhrung 
der  Arbeiten  bestimmte  Zeit,  die  Haftzeit  nach  Vollendung  des  Baues 
und  die  Zahl  der  Fristzahlungen.  Den  zweiten  Teil  der  besonderen  Be- 
dingnisse bilden  alle  technischen  Bedingungen,  welche  sich  einzig  und 
allein  auf  den  betreffenden  Baugegenstand  und  dessen  eigentümliche 
Verhältnisse  beziehen.  Die  besonderen  Baubedingnisse  sollen  überhaupt 
alle  einzelnen  Andeutungen  und  Vorschriften  enthalten,  welche  ver- 
bunden mit  den  allgemeinen  technisch-administrativen  Baubedingnissen 
notwendig  und  genügend  sind,  um  einem  Bauverständigen  die  Pflichten 
und  Rechte  des  Vertragschließenden  bestimmt  und  unzweideutig  er- 
sichtlich zu  machen. 

Sowohl  die  allgemeinen  als  auch  die  besonderen  Bedingnisse  bilden 
bei  der  Ausbietung  keinen  Gegenstand  der  Verhandlung:  sie  dürfen  nicht 
geändert  werden  und  sind  die  feste  Grundlage  des  Vertrages.  Den  Gegen- 
stand der  Verhandlung  bildet  nur  der  Preis  der  Leistungen.  Zur  Ermittlung 
dieses  Preises  dienen  die  von  der  technischen  Behörde  verfaßten  Verzeich- 
nisse, und  zwar: 

a)  der  summarische  Kostenüberschlag,  welcher  aus  der  Zusammenstellung 
der  verschiedenen  Gattungen  von  Bauerfordernissen,  ihrer  Menge  und 
den  Gesamtkostenbetr&gen  besteht: 

b)  die  Preisverzeichnisse,  in  welchen  die  Einheitspreise  sämtlicher  Mate- 
rialien und  sonstiger  Bauerfordernisse  ausgeführt  werden. 

Die  Hintangabe  eines  Unternehmens  erfolgt: 

a)  nach  Gesamtkosten,  wenn  eine  vorbestimmte  Arbeit  um  einen  fest- 
gesetzten Betrag  übernommen  wird; 

b)  nach  Einheitspreisen,  wenn  die  Verbindlichkeit  übernommen  wird,  den 
Bau  gegen  bestimmte  Preise  für  einzelne  Leistungen  herzustellen: 

c)  teils  nach  Gesamtkosten,  teils  nach  Einheitspreisen:  in  diesem  Falle 
ist  dag  Unternehmen  gemischt. 

Es  kann  ferner  die  Vergebung  sämtlicher  Arbeiten  an  einen  einzigen 
Unternehmer  oder  die  gruppenweise  Vergebung  an  verschiedene  Unternehmer 
stattflnden. 

B.  Die  Hintangabe  der  Arbeiten. 

Die  öffentliche  Ausbietung  hat  den  Zweck,  durch  Zulassung  mehrerer 
Mitbewerber  möglichst  günstige  Bedingungen  für  die  Verwaltung  zu  erreichen 
und  diese  vor  dem  Vorwurf  der  Parteilichkeit  zu  schützen.  Ausnahms- 
weise kann  eine  beschränkte  Bewerbung  oder  der  Abschluß  des  Vortrages 


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Das  Kcclit  der  Offeutlicbcu  Arbeiten. 


193 


mit  einem  bestimmten  Unternehmer  ohne  Ausbietung1)  angeordnet  werden, 
wie  ■/..  B.  bei  ungünstigen  Gewerbeverhältnissen,  in  technisch  schwierigen 
Fällen  oder  bei  Kunstleistungeil. 

Im  Ausbietungsverfaliren’  lassen  sich  sechs  Abteilungen  unterscheiden: 
1.  Öffentliche  Bekanntmachung  der  Ausbietung. 

Sobald  ein  Bauentwurf  von  der  zuständigen  Behörde  genehmigt  ist, 
hat  die  Baubehörde,  welcher  die  Oberleitung  des  Baues  zusteht,  die  Aus- 
hietungskundmachung  zu  verlautbaren,  ln  dieser  Kundmachung  ist  anzugeben: 
n ; die  Beschaffenheit,  der  Ort  und  Kostenbetrag  des  Baues.  Zeitangabe 
und  Geschäftszahl  der  Baubewilligung  uud  die  Behörde,  von  welcher 
dieselbe  erteilt  wurde; 

h)  ob  der  Bau  nach  den  Gesamtkosten  oder  nach  Einheitspreisen  oder 
oh  er  teilweise  in  der  einen  und  in  der  anderen  Art  vergeben  wird; 
<■)  der  Betrag,  welcher  zur  Sicherung  des  Anbotes  und  welcher  nachher 
als  Sicherheitsleistung  zu  erlegen  ist; 
il)  Ort  und  Behörde,  wo,  daun  Tag  und  Stunde,  wann  die  Ausbietung 
abgehalten  wild; 

cj  Angabe  der  Stunden  und  des  Ortes,  wo  die  Entwurfsui  künden  ein- 
gesehen  werden  können. 

Die  Aiisbiet-iingskundniachnng  wird  in  der  Gemeinde,  wo  der  Bau 
ausgefflhrt  werden  soll,  in  dem  betreffenden  Bezirke  und  an  dem  Sitze  der 
politischen  Landesbehörde  veröffentlicht  und  zugleich  in  das  Anzeigeblatt 
der  Kegierungszeitung  eingeschaltet.  Bei  Arbeiten  vou  höherem  Betrage 
(fiber  10. onu  Kronen)  ist  diese  Kundmachung  außerdem  auch  in  den  angren- 
zenden Kronländern  zu  verbreiten  und  in  der  Wiener  Zeitung  zu  ver- 
öffentlichen. 

Vom  Tage  der  Kundmachung  bis  zur  Vergebungsverhandlung  muH 
die  Zeitinst  so  bemessen  werden,  daß  den  Bewerbern  Zeit  zur  Prüfung  der 
Behelfe  und  Bedingungen  bleibt.  Zu  diesem  Zwecke  werden  am  Sitze  der 
hauleitenden  Behörde  folgende  Entwurfsurkiiiiden  zur  Einsicht  ausgelegt: 

a)  der  summarische  Kostenübcrschlag, 

b)  das  Verzeichnis  der  Einheitspreise, 

c / die  altgerueiuon  technisch  administrativen  Baubedingnisse,  und 
d)  die  besonderen  Baubedingiiisse  mit  den  allenfalls  notwendigen  Zeich- 
nungen. 

')  ln  Frankreich  (Dekret  vom  IS.  November  1882,  Art.  IS,  und  Ordonnanz  vom 
14.  November  1887.  Art.  2)  und  Italien  (Dekret  über  die  .Staatsverwaltung  und  Ver- 
rechnung vom  17.  Febtuar  1K84,  Art.  4)  ist  die  Vergebung  der  Arbeiten  aus  freier 
Hand  nur  in  genau  bestimmten  Fällen  gestattet 

V)  Das  Verfahren  ist  mit  Instruktion  der  gcw.  Generalbaudircktion  vom  15.  De- 
zember 1851  (Verordnungsblatt  des  Handelsministeriums  vom  Jahre  1H52,  3M.  1,  8.  8, 
Form.  A.  i geregelt.  In  Frankreich  sind  die  betreffenden  liestimmungen  in  der  Verordnung 
vom  14.  November  1837  für  Gemeindesrbeiteu  und  im  Dekret  vom  18.  November  1882 
für  Staatsarbeiten  zusammengestellt.  Für  ltalieu  bat  das  Dekret  vom  17.  Februar  1884 
(l.egge  soll  amministrazione  dello  Stale  in  Art.  3 bis  12  und  die  Volhngeverordnnng  vor 
■I  Mai  1885  in  Art.  37  bis  122  wehr  genaue  und  klare  riestiuimuogen  gegeben. 


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Bresiewicz. 


1!'4 


2 Pie  Zusammensetzung  der  Vergebungskommission. 

Die  Ausbietung  wird  abgehalteu:  gewöhnlich  ira  Lokal  der  Behörde, 
welche  den  Vertrag  abschließt.  oder  nach  Umständen  bei  der  politischen 
Behörde  im  Orte,  wo  der  Bau  ausgeführt  werden  soll.  Die  Verhandlung  ist. 
eine  konrniissionelle.  Die  Zusammensetzung  der  Kommission  ändert  sich  je 
nach  dem  Gegenstände  der  Verhandlung  und  der  sie  abbaltenden  Behörde. 
Grundsätzlich  werden  als  Mitglieder  Bau-  und  Recbnungsbeamte  zugezogen. 
Den  Vorsitz  hat  der  Vorstand  der  Baubehörde,  bei  welcher  die  Versteigerung 
stattfindet  oder  ein  von  ihm  beauftragter  Baubeamtcr  zu  fahren. 

3.  Einreichung  der  Anbote. 

Zur  öffentlichen  Ausbietung  wird  in  der  Kegel  jedermann  zugelassen: 
ii)  der  nach  den  Bestimmungen  der  bürgerlichen  Gesetze  die  Befähigung 
zum  Abschlüsse  eines  gültigen  Vertrages  besitzt:  es  kann  sowohl  eine 
einzelne  Person  als  auch  eine  aus  mehreren  Personen  bestehende 
Genossenschaft  sein; 

h)  der  das  vorgeschriebene  Reugeld  erlegt: 

r)  gegen  dessen  Redlichkeit  kein  Anstand  obwaltet:  dieses  muß  durch  ein 
Rechtlichkeits-  und  Leistungstalngkeitszeugnis  der  Handels  undGcwerbe- 
kamnicr  oder  der  zuständigen  politischen  Behörde  bewiesen  werden; 
d)  der  nicht  etwa  schon  bei  irgend  einer  öffentlichen  Bauunternehmung 
als  vertragsbröchig  erklärt  worden  ist. 

Die  Anbote  können  schriftlich  oder  »ländlich  gemacht  werden,  je 
nach  der  in  der  Kundmachung  der  Verhandlung  zugelassenen  Art  und 
Weise.  Die  schriftlichen  Anbote  müssen,  abgesehen  von  etwaigen  in  der 
Ausschreibung  besonders  geforderten  Punkten,  enthalten: 

n ) genaue  Bezeichnung  des  Bewerbers,  seiner  Beschäftigung  und  seines 
Wohnortes;  seitens  gemeinschaftlich  bietender  Personell  die  Erklärung, 
daß  sie  sich  für  das  Angebot  zur  ungeteilten  Hand  verbindlich  machen 
und  die  Bezeichnung  des  für  die  Geschäftsführung  Bevollmächtigten; 

b)  Angabe  der  geforderten  Preise,  und  zwar  sowohl  die  Angabe  der 
Einheitssätze  ads  des  Gesamtpreises.  Bei  den  Arbeiten,  welche  in 
Bausch  und  Bogen  hintangegeben  werden,  muß  die  angebotene  Summe 
oder  der  Nachlaß  oder  Zuschuß  auf  die  Kostenüberschläge,  bei  den 
Anboten  nach  Einheitspreisen  die  Aufzählung  des  Nachlasses  in  Pro- 
zenten genau  angegeben  werden: 

c ) eine  Erklärung,  daß  der  Bewerber  von  den  in  der  Ausschreibung 
bekannt  gegebenen  Bedingungen,  Entwürfen  u.  s.  w.  genaue  Kenntnis 
genommen  hat  und  dieselben  ohne  Vorbehalt  als  maßgebend  anerkennt; 

dj  die  amtliche  Bestätigung  über  den  Erlag  des  Reugeldes  von  5 Proz. 
des  gesamten  Baukostenbetrages  im  Baren  oder  in  pupiUarinäßigen 
Wertpapieren. 

Die  Einreichung  der  Angebote  muß  längstens  bis  zu  der  in  der  Aus- 
schreibung festgesetzten  Stunde  des  daselbst  bestimmten  Tages  erfolgen. 
Später  einlangende  Angebote  sind  von  der  Verhandlung  ausgeschlossen. 


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I>M  Hecht  der  öffentlichen  Arbeiten. 


195 


Hei  «1er  mündlichen  Verhandlung,  nenn  sie  angeordnet  wurde,  muß 
«las  Heugeld  vor  der  Ausbietung  erlegt  werden.  Denjenigen  Unternehmungs- 
lustigen. welche  bei  der  öffentlichen  Vergebung  aus  was  immer  filr  Ursachen 
zu  erscheinen  verhindert  sind,  ist  gestattet,  sich  durch  einen  Bevollmächtigten 
vertreten  zu  lassen;  dieser  hat  sich  bei  der  Kommission  mit  einer  gesetz- 
lichen Vollmacht  auszuweisen.  Die  Bietenden  sind  aufzufordern,  ihre  Anbote 
abzugeben.  Diese  Anbote  lauten  wie  bei  schriftlichen  auf  Nachlaß  von  Ein- 
heitspreisen oder  vom  Gesamtbeträge.  Das  Ergebnis  der  mündlichen  Ver- 
handlung ist  im  Protokolle  festzustellen. 

4.  Eröffnung  «1er  Anbote. 

Allsogleich  nach  dem  Schlüsse  der  mündlichen  Vergebungsverhandlung 
oder  nach  Ablauf  der  zur  Überreichung  der  schriftlichen  Angebote  fest- 
gesetzten Zeit  werden  die  schriftlichen  Anträge  eröffnet. 

Wenn  die  Behörde,  welche  die  Ausbietung  vernimmt,  das  Ergebnis 
derselben  für  den  Baufonds  nicht  vorteilhaft  findet,  kann  sie  sämtliche 
Angebote  zurückweisen:  es  bleibt  ihr  freigestellt,  eine  zweite  und  selbst 
eine  dritte  Vergebuugsverhandlung  zu  veranstalten.  Zwischen  je  zwei  solchen 
Verhandlungen  soll  ein  Zeitraum  von  mindestens  zwei  und  höchstens  dreißig 
Tagen  liegen,  welcher  Zeitraum  nach  Maßgabe  der  größeren  oder  geringeren 
Wichtigkeit  und  Dringlichkeit  des  Baues  zu  bemessen  ist.  Sonst  hat  die 
Kommission  das  Bestbot  sofort  festzustellen  und  unter  Erwägung  aller 
maßgebenden  Verhältnisse  das  begründete  Gutachten  zu  Protokoll  zu  geben. 
Gewöhnlich  wird  der  Mindestfordernde  als  Ersteher  kundgemacht.  Die  ver- 
gebende Behörde  hat  jedoch  das  itecht  völlig  freier  Wahl,  ob  das  Bestbot 
oder  etwa  ein  anderes  Anbot  empfehlenswert  sei.  Das  Reugeld  wird  den- 
jenigen. deren  Anträge  nicht  angenommen  wurden,  nach  erfolgter  Hintangabe 
der  Arbeiten  unverzüglich  zurückgestellt,  das  des  Meistbieters  jedoch  zur 
Sicherstellung  der  Verwaltung  bis  zur  gänzlichen  Erfüllung  der  Vertrags- 
verbindlichkeiten zurüekbehalteu. 

Der  Ersteher  und  sämtliche  Mitglieder  «1er  Vergebungskommission 
haben  das  Verhandln ngsprotokoll  und  alle  Urkundenstücke,  welche  die  Bei- 
lagen desselben  bilden,  zu  unterfertigen.  Im  Falle  der  schriftlichen  Angebote 
werden  die  Bewerber  mittels  schriftlicher  Bescheide  von  der  Annahme  oder 
Ablehnung  ihrer  Auträge  verständigt.  Der  Bauersteher  wird  au  sein  Anbot 
von  dem  Augenblicke  an  gebunden,  als  sein  Antrag  von  der  Vergebungs- 
komurissiou  angenommen  wurde,  die  Verwaltung  erst  vom  Tage  der 
Genehmigung  des  Anbotes  durch  die  höhere  Behörde. 

5.  Genehmigung  der  Vergebung* Verhandlung. 

Die  Zuerkennung  «les  Baues  hat  immer  uuter  dem  Vorbehalte  der 
höheren  Genehmigung  zu  geschehen.  Zu  diesem  Zwecke  hat  die  Behörde, 
welche  die  Ausbietung  eines  Baues  besorgt,  das  Vevgebungsergebnis  behufs 
Genehmigung  desselben  der  Vorgesetzten  Behörde  vorzulegen,  dabei  sowohl 
über  die  Rechtlichkeit  und  den  Hilf  «les  Erstehers  ihre  Äußerung  abzugeben 


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Brcuiewicz. 


I9B 

uud  einen  bestimmten  Antrag  zu  stellen.  Nur  iu  Fällen,  wo  offenbare  Gefühl' 
am  Verzüge  haftet,  kann  die  Arbeit,  wenn  dieselbe  erstanden  ist,  in  Uewür- 
tigung  der  Genehmigung  sogleich  unternommen  werden. 

Die  Mitbietenden  haben  gegen  den  Beschluß  der  Ausbietungskoumiissiou 
keine  Berufung  wegen  vermeintlicher  Verletzung  ihrer  Beeilte,  auch  iu  dem 
Falle,  wenn  die  Vorschriften  bei  der  Verhandlung  irrig  angewendet  werden 
sollten;  diese  Vorschriften  bestehen  nur  zu  Gunsten  der  Verwaltung  und 
haben  uur  den  Zweck,  dieselbe  vor  Schaden  zu  sichern;  sie  gehen  aber  den 
Vertragsbewcrborn  keine  persönlichen  Beeilte.  Etwaige  Beschwerden  wird 
jedoch  die  zur  Genehmigung  berufene  Behörde  prüfen  und  wenn  sie  das 
Interesse  der  Verwaltung  verletzt  erachtet,  wird  sie  die  Genohmiguug  einem 
anderen  Mitbietenden  erteilen  können. 

6.  Abschluß  des  Vertrages. 

Sobald  das  Ausbietuugsergebnis  von  Seite  der  berufenen  Behörde 
bestätigt  ist,  hat  die  Behörde  den  Unternehmer  innerhalb  einer  angemessenen 
Frist  zum  Abschlüsse  des  Vertrages  und  der  Leistung  der  Kaution  aufzu- 
fordern. Wenn  der  Unternehmer  am  bestimmten  Tage  nicht  erscheint,  ver- 
liert er  die  Hälfte  seines  Beugeides.  Die  Behörde  hat  in  diesem  Falle  eine 
neuerliche  Frist  zum  Abschlüsse  des  Vertrages  anzuberaumen.  Bei  Ver- 
säumung dieser  Frist  wird  der  Unternehmer  als  vertragsbrüchig  erklärt, 
die  zweite  Hälfte  des  Beugeides  eingezogen  uud  die  Arbeiten  werden  nach 
dem  Ermessen  der  Verwaltung  ausgeführt.  Es  hat  jedoch  die  Verwaltung 
das  Hecht  und  die  Wahl,  den  Unternehmer  auf  Grund  seines  genehmigten 
Antrages  und  der  von  ihm  unterschriebenen  Vertragsbedingungen  und  Bau- 
behelfe zur  Erfüllung  des  Vertrages  auf  gesetzlichem  Wege  zu  verhalten. 

Beim  Abschluß  des  Vertrages  muß  der  Unternehmer  zur  Sicherstellung 
für  alle  Forderungen  beziehungsweise  Ersatzansprüche  und  Haftungen  aus 
dem  Vertrage  einen  Betrag  erlegen,  welcher  im  Vereine  mit  dem  Beugeide 
die  Kaution  zu  bilden  hat.  Bei  Bestimmung  der  Kautionssumme  wird  nicht 
allein  auf  den  Kostenbetrag,  sondern  auch  auf  die  Gattung  des  Baues  und 
die  Zufälligkeiten,  welchen  derselbe  unterliegt,  Kflcksicht  genommen  und 
nach  Maßgabe  dieser  Umstände  die  Höhe  der  Kaution  auf  5 Proz.  bis 
10  l’roz.  des  Erstehungsbetrages  der  Bauherstellungen  bestimmt.  Die  Kaution 
ist  in  Bargeld  oder  in  öffentlichen  Wertpapieren  nach  dem  Börsekurse 
berechnet,  zu  erlegen.  Nur  ausnahmsweise,  mit  besonderer  Bewilligung  der 
Oberbehörde,  kann  eine  grundbücherlicb  gesicherte  Kaution  oder  eine 
Geaamtbürgschuft  angenommen  werden.  Die  Kaution  dient  als  Sicherstellung 
für  Erfüllung  aller  Vertragsbedingungen,  als  Fonds  für  Entschädigung  aller 
durch  Nichterfüllung  entstandenen  Schäden  und  Bückersatz  der  über  den 
Endabrechnuiigshetrag  geleisteten  Vorauszahlungen. 

Als  wesentliche  Beilagen  und  Bestandteile  des  Vertrages  sind  das 
Vergebungsprotokoll  mit  seinen  Belegen  und  eine  beglaubigte  Abschrift  des 
GenehmigungserlasBes  zu  betrachten.  Im  Vertrage  ist  sodann  die  Zeit  zu 
bestimmen,  wann  dem  Unternehmer  der  Bau  übergeben  wird  und  wann 


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Das  Recht  <ler  ßffentlirhen  Arbeiten-  1*>7 

derselbe  iu  Angriff  zu  nehmen  ist.  Ferner  muh  erklärt  werden,  ob  und  in 
welcher  Art  und  Weise  der  Ereteher  die  Kaution  geleistet  hat.  Der  Bau- 
vertrag ist  der  Oberbehörde  ebne  Verzug  zur  Genehmigung  vorzulegcn  und 
wenn  diese  erfolgt  ist,  dem  Ersteher  eine  beglaubigte  Abschrift  desselben 
mitzuteilen.  Sobald  der  Vertrag  zu  stände  gekommen  ist,  kann  der  Bau 
unternommen  werden,  wenn  auch  dessen  Bestätigung  noch  aussteht,  und  es 
ist  letztere  nur  in  jenen  Fällen  abzuwarten,  wenn  dies  besonders  ange- 
orduet  wird. 


C.  Die  Rechtsfolgen  des  Vertrages. 

Jede  der  vertragsschließenden  Parteien  bat  das  privatrechtliche  Recht 
auf  genaue  Erfüllung  des  Vertrages.  Insbesondere: 

1.  der  Unternehmer,  welchem  von  der  Bauleitung  der  Tag  der  Über- 
gabe der  Arbeiten  bei  Zeiten  bekannt  gegeben  wird,  bleibt  für  jeden 
Schaden,  welcher  aus  der  verspäteten  Übergabe  und  Einleitung  der  Arbeiten 
der  Verwaltung  zugelien  sollte,  verantwortlich  und  zu  entsprechender  Ent- 
schädigung verpflichtet.  Außerdem  wird  die  Bauleitung  einen  anderen  Tag 
zur  Übernahme  mit  dem  Bedeuten  festsetzen,  daß  der  Unternehmer,  wenn 
er  sich  auch  dieser  Anordnung  nicht  fügen  sollte,  ohne  weiteres  als  vertrags- 
brüchig zu  behandeln  und  mit  dem  Verluste  der  geleisteten  Kaution  von 
der  Unternehmung  auszuscliließen  ist. 

2.  Der  Unternehmer  muß  die  Arbeiteu  mit  Fleiß  und  Genauigkeit  und 
nach  den  anerkannt  zweckmäßigsten  Grundsätzen  ausfübrj?n.  Er  ist  ver- 
pflichtet, sich  strenge  nach  allen  bestehenden  Vorschriften  zu  richten  und 
alle  einschlägigen  VerwaltungsmaUregeln  zu  beachten.  Er  bat  die  Arbeiter 
zu  verteilen,  ihnen  jene  Arbeiten  zuzuweisen,  in  welchen  sic  geübt  sind, 
sie  mit  geeigneten  Arbeitsmitteln  und  Gerätschaften  zu  versehen  und  über 
sie  zu  wachen. 

3.  ln  Fällen,  wo  die  Verzögerung  in  der  Ausführung  der  Arbeiten 
von  Seite  des  Unternehmers  nicht  gerechtfertigt  werden  kann,  bat  derselbe 
als  geringste  Strafe  für  die  ganze  überschrittene  Zeit  die  Kosten  der  Bau- 
Überwachung  durch  den  Bauführer,  der  Bauleitung  und  der  Kommission, 
welche  infolge  jener  Verzögerung  au  Ort  und  Stelle  entsendet  wordeu  ist. 
zu  tragen.  Wenn  jedoch  durch  die  Verzögerung  auch  Nachteile  hervor- 
gerufen wurden  oder  wenn  es  notwendig  ist,  den  Unternehmer  seiner  Ver- 
tragsverbindlichkeiten zu  enthebeu  und  die  Arbeiten  in  einer  anderen  Art 
forizusetzen,  so  ist  derselbe  zur  Vergütung  der  genannten  Schäden  und  zur 
Zahlung  aller  Mehrkosten,  die  zur  Beendigung  der  Arbeiten  notwendig  sein 
sollten,  verpflichtet 

Außerdem  wird  im  Vertrage  für  je  15  Tuge  der  überschrittenen  Bau- 
zeit eine  angemessene  Vertragsstrafe  zu  Gunsten  des  Baufonds  festgesetzt, 
welche  bei  der  nächsten  Fristzahlung  iu  Abzug  gebracht  werden  soll. 

Dem  Unternehmer  liegeu  bis  zu  dem  Zeitpunkte,  zu  welchem  die 
hergestellten  Arbeiten  durch  die  Kollaudierung  in  allen  ihren  Teilen  als 
dem  Vertrage  vollkommen  entsprechend  anerkannt  sein  werden,  der  Schutz 


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I9X 


Bnwicwicz. 


und  die  Überwachung  seiner  Leistungen  dergestalt  ob.  daß  er  bis  dahin 
alle  daran  sich  zeigenden  Mängel  und  Gebrechen  aus  Eigenem  zu  ergänzen, 
nachzu tragen  und  zu  verbessern  hat.  Zur  Deckung  von  derlei  Ausfällen  sind 
die  rückständigen  Verdienstsiimmen  und  die  geleistete  Kaution  des  Unter- 
nehmers zu  verwenden. 

4.  Vertragsmäßig  kann  bestimmt  werden,  daß  der  Unternehmer  auch 
eine  gewisse  Zeit  nach  Vollendung  der  Arbeiten  für  das  ausgefertigte  Werk 
eine  Haftung  übernimmt.  Die  Haftzeit  ist  nicht  notwendige  Bedingung  für 
alle  Bauten,  wohl  aber  für  solche,  welche  von  großem  Belange  sind  oder 
welche  ihrer  Natur  gemäß  in  kurzer  Zeit  nach  ihrer  Vollendung  einer 
Nachbesserung  bedürfen,  endlich  für  Herstellungen  von  ungewöhnlicher  Art, 
deren  gute  Ausführung  oder  Erfolg  erst  nach  einiger  Zeit  beurteilt  werden 
kann.  In  diesem  Falle  wird  in  den  besonderen  Bedingnissen  die  Kaution 
bezeichnet,  welche  der  Unternehmer  für  die  Haftzeit  zu  erlegen  hat. 

5.  Bei  Verträgen  in  Bausch  und  Bogen  wird  der  bedungene  Preis  in 
bestimmten  gleichen  Teilen  nach  Maßgabe  des  Baufortschrittes  an  den 
Unternehmer  ausbezahlt.  Die  Zahl  der  Fristzahlungen  richtet  sich  nach  der 
Größe  der  Gesamtkosten.  Bei  kleineren  Arbeiten  werden  drei  bis  sechs 
Katen,  hei  größeren  mich  mehrere  festgesetzt,  so  daß  eine  ltate  von  5 bis 
10  Proz.  der  Gesamtsumme  beträgt.  Kür  Herstellungen  nach  Einheits- 
preisen wird  die  Verabfolgung  der  Fristzahl ungen  nach  Verlauf  von  gewissen 
Zeitabschnitten  i eine  oder  mehrere  Wochen)  festgesetzt  und  hiebei  auf  den 
Umfang  der  Arbeiten  Rücksicht  genommen.  Die  Auszahlung  während  des 
Raues  erfolgt  immer  nur  nach  Maßgabe  des  wirklichen  Arheitsfortschrittes; 
der  Unternehmer,  welcher  eine  Abschlagszahlung  beansprucht,  hat  den 
erzielten  Verdienstbetrag  durch  eine  genaue  Rechnung  gehörig  zu  begründen. 
Sie  wird  vom  Bauleiter  geprüft  und  bestätigt. 

Von  jeder  Abschlagszahlung  werden  immer  5 Proz.  zurückbehalten, 
um  die  Schlußrate  zu  bilden:  sie  wird  zur  Sicherstellung  der  Verwaltung 
für  etwaige  Unzuträglichkeiten  und  sonstige  Mängel  zurüeklielialten.1)  Diese 
letzte  Rate  wird  erst  naeli  erfolgter  Genehmigung  der  Endabnahme  und 
Endabrechnung  ausgefolgt.  Zugleich  wird  auch  die  geleistete  Kaution 
zurückgestellt. 

6.  Etwaige  Ansprüche  des  Bauunternehmers  auf  Entschädigung  für 
angebliche  Mehrauslagen,  für  Wiederherstellungen,  die  nicht  durch  sein 
Verschulden  herbeigeführt  wurden,  endlich  für  Gegenstände  überhaupt, 
welche  weder  im  ursprünglichen  Bauentwürfe,  noch  in  den  nachträglich  ver- 
faßten Entwürfen,  Überschlägen  und  Buurechnuugen  berücksichtigt  worden 
sind,  müssen  spätestens  bei  der  Endabnahme  der  Arbeiten  erhoben  werden, 
da  sic  sonst  ausgeschlossen  werden. 

7.  Für  alle  aus  dem  Vertrage  etwa  entspringenden  Bechtsstreitigkeiteu. 
welche  nicht  kraft  des  Gesetzes  vor  einen  ausschließlichen  Gerichtsstand 
gehören,  wird  das  sachlich  zuständige  Gericht  am  Sitze  der  k.  k.  Finanz- 
prokuratur des  betreuenden  lindes  als  ausschließlich  zuständig  festgesetzt. 

lu  Frankreich  wird  10  Proz.  der  Zahlungen  verlüutig  zurückbehalten. 


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Das  liecht  der  Affent licheu  Arbeiten. 


|*)«i 


D.  Die  materiellen  Sonderrechte  der  Verwaltung. 

Sie  haben  den  Zweck,  die  gute  Beschaffenheit  der  Materialien  und 
die  pünktliche  Ausführung  der  Arbeiten  zu  sichern  und  den  Streitigkeiten 
möglichst  vorzubeugen.  In  Österreich  sind  diese  Rechte  der  Verwaltung 
nicht  in  allgemeinen  Gesetzen  enthalten,  sondern  nur  in  den  Vertrags- 
bedingungen, uud  bilden  dementsprechend  ein  Vertragsrecht.  Diese  beson- 
deren Rechtsfolgen  aus  einem  Vertrage  über  Ausführung  öffentlicher  Arbeiten 
äußern  sich  im  Verhältnisse  der  Verwaltung  zum  Unternehmer,  im  Ver- 
hältnisse des  letzteren  zu  den  Arbeitern  und  im  Verhältnisse  des  Unter- 
nehmers zu  dritten  Persoueu. 

Das  Verhältnis  der  öffentlichen  Verwaltung  zum  Unternehmer  bewirkt : 

1.  Die  Notwendigkeit  der  persönlichen  Ausführung  der  Arbeiten. 

Der  Abschluß  des  Vertrages  erfolgt  intuitu  persouae  und  die  Ausführung 
desselben  muß  persönlich  erfolgen.  Die  Übertragung  der  übernommenen  Arbeiten 
oder  auch  eines  Teiles  derselben  au  einen  andern  ohue  vorher  eingeholte 
Bewilligung  der  Verwaltung  ist  durchaus  untersagt.  Ein  Unternehmer,  welcher 
die  bereits  übernommenen  Arbeiten  ohne  Erlaubnis  weiter  überläßt,  ist  so 
zu  betrachten,  als  wenn  er  die  Arbeiten  aufgegeben  hätte. 

Die  die  Versteigerung  besorgende  Behörde  kann  deswegen  den  Vertrag 
auflösen  im  Falle  des  Ablebens  des  Unternehmers,  im  Falle  der  Zahlungs- 
unfähigkeit oder  im  Falle  der  Verurteilung  wegen  einer  aus  Gewinnsucht 
begangenen  strafbaren  Handlung.  Nach  Auflösung  des  Vertrages  wird 
Abrechnung  gepflogen,  indem  die  Behörde  den  auf  die  ausgefertigten  Arbeiten 
entfallenden  Kostenbetrag  sowie  den  Wert  jener  Vorgefundenen  Materialien, 
welche  zur  Benutzung  bei  Fortsetzung  der  Arbeiten  geeignet  befunden 
werden,  ausbezahlt. 

Der  Unternehmer  muß  sich  beständig  am  Arbeitsorte  betindeu  oder 
sich  durch  einen  Bevollmächtigten  vertreten  lassen,  welcher  diu  volle  Macht 
besitzt,  allen  Verpflichtungen  des  Unternehmers  ohue  irgeud  einen  Vorbehalt 
Genüge  zu  leisten. 

2.  Die  Unterwerfung  des  Unternehmer»  unter  die  Leitung  der  HaubchOrde. 

Durch  den  Abschluß  des  Vertrages  unterwirft  sich  der  Unternehmer 
der  Aufsichtsgewalt  der  Baubehörde,  und  zwar: 

a)  der  Unternehmer  muß  sich  auf  der  Baustelle  persöulich  eiiitinden,  so 
oft  es  von  der  Verwaltung  gefordert  wird;  er  ist  verpflichtet,  jederzeit 
die  geforderten  Auskünfte  zu  erteilen,  von  wichtigeren  Ereignissen 
(z.  B.  Behinderung  der  Bauausführung.  Vollendung  der  nicht  mehr 
nachzumessenden  Arbeiten)  sofort  Anzeige  zu  erstatten  und  die  den 
Bau  kontrollierenden  Aufzeichnungen  zu  unterschreiben; 

b)  die  sämtlichen  auf  dem  Bau  beschäftigten  Bevollmächtigten,  Gehilfen 
und  Arbeiter  des  Unternehmers  sind  bezüglich  der  Bauausführung  und 
der  Aufrechterhaltnng  der  Ordnung  auf  dem  Bauplätze  den  Anord- 
nungen der  Verwaltung  unterworfen.  Im  Falle  der  Unfähigkeit  oder 


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200 


Bresiewicx. 


Widerspenstigkeit  dieser  l’ersonuii  kann  ihre  sofortige  Entfernung  von 
der  Baustelle  verlangt  werden ; 

c)  die  Tauglichkeit  der  Materialien  wird  vor  dem  Verbrauche  von  der 
Bauleitung  untersucht;  im  Falle  sich  der  Unternehmer  schlechter 
Materialien  bedient  oder  selbe  schlecht  ins  Werk  gesetzt  haben  sollte, 
muß  der  auf  diese  Art  hergestellte  Teil  der  Arbeit  abgetragen  und 
auf  Kosten  des  Unternehmers  vorschriftsmäßig  neu  errichtet  werden; 

d)  der  Unternehmer  muß  jenen  Vorschrillen  entsprechen,  welche  ihm  die 
Bauleitung  während  der  Arbeiten  von  Fall  zu  Fall  erteilen  wird  und 
welche  die  Art  und  Weise  der  Ausführung  der  Arbeiten  betreffen. 
Insbesondere  bestimmt  die  Bauleitung  den  Zeitpunkt  des  Beginnes 
der  übernommenen  Arbeiten.  Wenn  der  Unternehmer  die  Arbeiten  mit 
geringerer  Kraft  betreibt  als  unumgänglich  notwendig  ist.  um  erstere 
in  der  festgesetzten  Frist  zu  Ende  zu  bringen  oder  aus  was  immer 
für  einer  Ursache  die  Arbeiten  verzögert,  so  hat  die  Bauleitung  die 
Verpflichtung,  ihn  nicht  nur  sogleich  schriftlich  darauf  aufmerksam 
zu  machen,  sondern  auch  die  Leistungen  zu  bestimmen,  welche  von 
ihm  geliefert  werden  müssen,  um  das  Versäumte  nachzuholen.  Wenn 
der  Unternehmer  in  dem  ihm  von  der  Bauleitung  auf  3— 10  Tage 
vorher  bestimmten  Zeiträume  dieser  Aufforderung  nicht  entspricht,  wird 
üher  Bericht  der  Bauleitung  zur  kommissionsweisen  Erhebung  des 
Sachverhaltes  geschritten.  Auf  Grund  dieses  Befundes  wird  die  Kom- 
mission, wenn  Gefahr  am  Verzüge  haftet,  sogleich  die  ihr  als  zweck- 
mäßig erscheinenden  Einleitungen  zur  gehörigen  Fortsetzung  des 
Baues  treffen;  wenn  aber  ein  Aufschub  zulässig  ist,  die  geeigneten 
Anträge  der  Vorgesetzten  Baubehörde  vorlegen.  Wenn  die  letztere 
die  Vorkehrungen  der  Kommission  genehmigt,  erhalten  sie  ihre  volle 
und  unwiderrufliche  Gültigkeit; 

c)  in  jedem  Falle  steht  es  der  Baubehörde  frei,  alle  jene  Maßregeln  zu 
ergreifen,  welche  zur  unaufgehaltenen  Erfüllung  des  Vertrages  führen.1) 
Wenn  der  Bauunternehmer  sich  weigern  sollte,  die  von  ihm  geforderten 
Arbeiten,  Nachbesserungen,  Ergänzungen  und  Umänderungen  vorzu- 
nehmen,  so  ist  diese  Arbeit  uaeh  vorausgegaugencr  fruchtloser  Auf- 
forderung dem  Vertrage  gemäß  auf  Kosten  und  Gefahr  des  Bauunter- 
nehmers durch  die  Bauleitung  zu  vollziehen.  Die  betreffenden  Auslagen 
werden  von  dem  Guthaben  des  Bauunternehmers  in  Abrechnung 
gebracht; 

f)  im  Falle  sich  der  Unternehmer  während  der  Dauer  der  Arbeiten  durch 
die  Beamten  bei  der  Überwachung,  Prüfung  oder  Übernahme  der 
Arbeiten  in  seinen  Kochten  geschädigt  erachtet,  hat  er  bei  der  Behörde, 
welche  den  Vertrag  abgeschlossen  hat,  darüber  Beschwerde  zu  führen 
beziehungsweise  deren  Entscheidung  anzurufen.  Gegen  diese  Ent- 
scheidung kann  er  au  die  höhere  Verwaltungsbehörde  Berufung 

’)  Hnfkiuiileidekiwt  vom  2!l  Jnnl  1820.  1».  G.-S.  IM.  IS,  Nr.  80,  8.  HO. 


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Pas  Recht  1t  Öffentlichen  4 rbriten. 


201 


ergreifen  und  erst  dann,  wenn  er  eich  Mich  dieser  Entscheidung  nicht 
fügen  will,  steht  ihm  die  Betretung  des  Rechtsweges  ollen ; 
ij)  überhaupt  hei  Zweifeln  oder  Meinungsverschiedenheiten  zwischen  der 
Bauleitung  und  Bauunternehmung  über  den  Sinn  und  die  Anwendung 
der  allgemeinen  oder  besonderen  Baubedingnisse  oder  des  Vertrages, 
wird  die  Entscheidung  über  derlei  Streitpunkte  im  Instanzenzuge  von 
den  Verwaltungsbehörden  gefüllt.  Es  bleibt  jedoch  dem  Bauunternehmer, 
nachdem  er  in  allen  Instanzen  eingeschritten  ist.  unbenommen,  den 
Rechtsweg  einzuschlagen.1'!  Der  vertragsmäßige  Verzicht  auf  den 
Rechtsweg  ist  unzulässig5)  und  wäre  rechtlich  unwirksam. 

Daraus  ist  zu  entnehmen,  datl  die  Verwaltungsbehörden  im  admini- 
strativen Instanzenzuge  alle  Entscheidungen  fällen  und  vollziehen,  welche 
die  Erfüllung  des  Vertrages  und  die  beiderseitigen  Rechte  betreffen.  Dieses 
in  allen  lindern  bestehende  Recht  der  Verwaltung  zur  Vollziehung  der 
noch  nicht  rechtskräftigen  Anordnungen  hei  Vergebung  der  öffentlichen 
Arbeiten  wird  in  Frankreich  sehr  richtig  „privilhge  du  preable*  genannt. 
Es  ist  ein  Ausfluß  des  tledankens,  laut  welchem  die  die  öffentlichen  Pflichten 
bestimmenden  Anordnungen  sofort  vollstreckbar  sind,  damit  der  (lang  der 
öffentlichen  Verwaltung  durch  Beschwerden  nicht  gehemmt  werde.  Diese 
Entscheidungen  sind  zwar  nur  ad  interim  bindend  — es  ist  jedoch  die 
große  Wirkung  einer  vorläufigen  Entscheidung  nicht  zu  verkennen.  Die 
Verwaltung  macht  ihre  Rechte  selbst  geltend  und  setzt  sie  in  Vollzug;  der 
Vertragschließer  muß  die  schwierigere  Rolle  des  Klägers  im  gerichtlichen 
Streite  übernehmen  und  die  gerichtliche  Entscheidung  abwarten.  Nicht  jeder 
ist  ökonomisch  so  mächtig,  um  die  mögliche  Auflösung  des  Vertrages  und 
den  Verlust  der  Kaution  sowie  der  Verdienstbeträge  zu  wagen,  und  wird 
sich  lieber  den  Anordnungen  der  Verwaltung  fügen.  Die  endgültigen  Ent- 
scheidungen werden  immer  nur  von  Gerichten  gefallt,  weil  die  gesetzlichen 
Bestimmungen  über  die  Grenzen  der  administrativen  und  richterlichen 
Zuständigkeit  zwingender  und  nicht  bloß  willkürlicher  Natur  sind,  so  daß 
sie  weder  durch  die  Ausübung  der  Behörden  noch  durch  Privatübereinkünfte 
der  Parteien  verrückt  werden  können."  i 

■)  Pas  französische  Hecht  weist  alle  Streitigkeiten  aus  den  Verträgen  über  Offent- 
liehe Arbeiten  den  Verwaltnngagerichten  zu  (Gesetz  vom  28.  Ploviose  de  Tan  VIII, 
Art.  4).  In  Preußen  entscheidet  ein  von  beiden  Parteien  berufene-  Schiedsgericht  (die 
Vertragsbedingungen  8 29);  in  Italien  ein  au»  höheren  Beamten  berufenes  Schieds- 
gericht (Capitolato  generale  del  genio  cirile  Art  42;  condizioni  generali  de!  genio 
miiitare  Art.  79).  Überall  muß  jedoch  die  Streitsache  zuerst  im  Verwaltungswege  aus- 
getragen  werden.  In  Preußen  gilt  die  Entscheidung  der  Verwaltungsbehörde  als  aner- 
kannt. falls  der  Unternehmer  nicht  binnen  vier  Wochen  eine  schiedsrichterliche  Ent- 
scheidung beantragt : in  diesem  Palle  entscheiden  die  von  den  Parteien  ernannten 
•Schiedsrichter  (die  Vertragsbedingungen  § 29).  In  Italien  beträgt  die  Frist  zum  Anträge 
auf  schiedsrichterlich''  Entscheidung  SO  Tage  (Capitolato  generale  Art.  45;  condisioni 
generali  Art.  82). 

*)  Hofdekret  vom  10.  Dezember  1819,  J.  G.-S.  1685.  Anh.  4. 

3!  Erkenntnis  des  Verwaltungsgerichtshofes  vom  21.  Dezember  1881,  Rudwinski 
Nr.  1242. 


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202 


Bresiewicz. 


3.  Die  Zulässigkeit  gewisser  Änderungen  des  Vertrages. 

Während  der  Ausführung  eines  Baues  dürfen  keine  wesentlichen 
Änderungen  eintreten,  d.  i.  solche,  welche  das  Wesen  und  die  Natur 
desselben  berühren:  es  kann  z.  B.  anstatt  einer  eisernen  Brücke  keine 
steinerne  gefordert  werden.  Die  zulässigen  Änderungen  können  also  nur  die 
Menge  der  Arbeiten  und  die  Zeit  der  Ausführung  betreffen. 
n)  Im  Zuge  eines  Banes  kann  sich  die  Notwendigkeit  von  Mehrarbeiten 
heraussteilen,  ln  diesem  Falle  werden  vom  Bauführer  und  Bauleiter 
mit  Zuziehung  des  Unternehmers  Erhebungen  gepflogen,  um  dasjenige, 
was  zu  geschehen  hat.  zu  ermitteln  und  ordnungsmäßig  zu  berechnen. 
Solche  Erhebungen  sind  protokollarisch  zu  behandeln,  mit  der  Angabe 
der  Hauptveranlassungen,  mit  der  Beschreibung  und  den  Zeichnungen 
der  aiiszuführenden  Mehrarbeiten  zu  versehen  und  mit  Überschlägen 
der  höheren  Baubehörde  vorzulegen,  welche  darüber  entscheidet.  Wenn 
die  Notwendigkeit  einer  Mehrarbeit  nnvorgesehen  eintritt  und  ohne 
daß  die  Zeit  zur  Einholung  einer  höheren  Genehmigung  zu  den  zu 
treffenden  Vorkehrungen  vorhanden  ist.  indem  Gefahr  am  Verzüge 
haftet.,  berichtet  die  Bauleitung  hierüber  sogleich  an  die  Vorgesetzte 
Behörde,  weist  aber  zu  gleicher  Zeit  den  Unternehmer  an.  die  nut- 
wendigen  Arbeiten  sofort  zu  beginnen. 

In  beiden  Fällen  ist  der  Unternehmer  verbunden,  der  Anordnung 
der  Baubehörde  zu  entsprechen  und  die  geforderten  Mehrarbeiten  urn  den 
im  Vertrage  verabredeten  l’reis  auszuführen.1)  Wenn  solche  Arbeiten 
notwendig  sind,  welche  in  den  ursprünglichen  Voranschlägen  nicht 
bewertet  erscheinen,  so  kann  die  Baubehörde  die  bezüglichen  Arbeiten 
den  Unternehmer  ausfflhren  lassen  oder  sie  einem  andern  Unternehmer 
übergeben.  Die  Preise  werden  auf  Grund  der  im  Vertrag  bewerteten 
ähnlichen  Arbeiten  und  der  üblichen  Tagespreise  mit  dem  Unternehmer 
vereinbart  oder  von  der  höheren  Baubehörde  einstweilen  festgestellt. 
Falls  eine  Arbeit  ausgeführt  werden  mußte,  welche  sich  nicht  bewerten 
läßt,  wird  sie  im  Taglohne  ausgeführt  und  dem  Unternehmer  auf 
Grund  der  von  dem  Bauführer  bestätigten  Zahlungsbogen  mit  einem 
lOproz.  Zuschlag  für  Werkzeuge  und  Aufsiehtskosten  entlohnt.  Nie 
darf  die  Arbeit  wegen  der  noch  nicht  erfolgten  endgültigen  Entscheidung 
betreffs  der  Notwendigkeit  derselben  oder  des  Preises  vom  Unter- 
nehmer aufgehalten  werden. 

Wenn  während  der  Ausführung  der  Arbeiten  Umstände  eintreten, 
welche  nach  dem  Urteile  der  die  oberste  Leitung  der  Arbeiten 
besorgenden  Behörde  die  Notwendigkeit  oder  Zweckmäßigkeit  einer 
Verminderung  der  Arbeiten  herbeiführen,  ist  der  Unternehmer  ver- 
pflichtet, die  Leistungen  in  der  ihm  von  der  Bauleitung  vorgezeichneten 
Art  einzuschränken  und  sich  daher  auch  die  entsprechende  Verminderung 

*)  In  Preußen  kennen  dem  Unternehmer  keine  in  den  Bauentwürfen  nicht  vor- 
gesehene Arbeiten  ohne  deasen  Zustimmung  übertragen  werden  (§  1,  Z,  2 der  Vertrags- 
bedingungen). 


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Da*  Rächt  '1er  öffentlichen  Arbeiten.  20R 

der  Zahlung  gefallen  zu  lassen.')  Nur  bei  gänzlicher  Einstellung  der 
Arbeiten  ohne  Verschulden  des  Vertragschließers,  wenn  die  ermittelte 
Verdienstsunmie  nicht  zwei  Drittel  der  veranschlagten  Bausumme 
erreicht,  wird  ihm  eine  Entschädigung  gewöhnlich  in  einem  Prnzent- 
hetrage  des  Unterschiedes  zugesichert  ;*) 
bi  die  fflr  die  Ausführung  der  Arbeiten  im  Vertrage  genau  angegebene 
Zeit  muß  strengstens  eingehalten  werden.  Bei  der  Bemessung  dieser 
Zeit  ist  iui  vorhinein  jener  Zuschuß  einzubeziehen,  welcher  mit  Kiicksicht 
auf  die  wahrscheinlichen  gewöhnlichen  Unterbrechungen  in  der  Arbeit 
notwendig  ist. 

Der  Zeitpunkt  des  Beginnes  der  Arbeiten  wird  mittels  eines  von  der 
Bauleitung  mit  dem  Unternehmer  nufgenomnienen  Übergabsprotokolles 
urkundlich  festgesetzt  und  die  Zeit  der  Ausführung  wird  nach  unmit- 
telbar aufeinander  folgende  Tage  oder  Monate,  ohne  Ausnahme  und 
ohne  irgend  einen  Vorbehalt,  gerechnet.  Für  gewöhnliche  Unter- 
brechungen, wie  sie  z.  B.  durch  Kegenwetter  verursacht  werden,  wird 
keine  weitere  Nachsicht  zugestanden.  Eine  Ausnahme  besteht  nur 
dann,  wenn  während  der  Ausführung  einer  hintangegehenen  Arbeit 
die  Notwendigkeit  einer  Mehrarbeit  hervortritt  oder  die  Elementar- 
ereignisse an  dem  schon  hergestellten  Teile  der  Arbeit  einen  erweis- 
lichen Schaden  verursachen.  In  dem  einen  wie  im  andern  Falle  wird 
dem  Unternehmer  die  Frist  um  diejenige  Zeit  hinaus  gerückt,  welche 
der  bezüglichen  Mehrarbeit  entspricht.  Die  Verwaltung  kann  hingegen 
die  Arbeiten  zeitweise  einstellen  (jedoch  nicht  über  ein  volles  Jahrl 
und  der  Vertragschließer  hat  aus  Anlaß  dieser  Einstellung  keinen 
Anspruch  auf  eine  Entschädigung.  Durch  die  zeitweise  Unterbrechung 
wird  die  verabredete  Beendigungsfrist  der  Arbeiten  um  die  Dauer  der 
Unterbrechung  verlängert. 

Das  Verhältnis  des  bauführenden  Unternehmers  zu  dritten  an 
den  Arbeiten  nicht  beteiligten  Personen  ist  grundsätzlich  eine  Privat- 
sache, welche  im  Streitfälle  auf  den  Rechtsweg  gehört.  Bei  öffentlichen 
Arbeiten  trachtet  jedoch  die  Verwaltung  danach,  daß  diese  nicht- 
beteiligten  Personen  keine  Vermögensnachteile  erleiden.  Die  Bauunter- 
nehmung  wird  vertragsmäßig  verpachtet,  den  Privaten  des  Ortes,  wo 
die  Arbeit  ausgeführt  wird,  alle  ihnen  während  der  Ausführung,  sei  es 
durch  Gewinnung  und  Transport  der  Materialien  oder  durch  irgend 
eine  Besitznahme,  zugefügten  zeitweiligen  Nachteile  oder  Beschädigungen 
zu  vergüten.  Die  für  solche  Entschädigungen  im  vorhinein  berechnete 

')  In  Preußen  hat  der  Unternehmer  in  diesem  l alle  Anspruch  auf  den  Ersatz,  des 
Hon  daraus  nachweislich  entstandenen  wirklichen  Schadens  (Vertragsbedingungen  § 5). 
In  Italien  (Codice  dei  lavori  pubblici  Art.  344 > muß  sich  der  Unternehmer  eine  Ver- 
mehrung oder  eine  Verminderung  der  Arbeiten  um  '/»  de»  Preises  gefallen  lassen;  in 
Frankreich  um  t (Art.  30.  31,  32  cahieri.  Sonst  kann  er  die  Auflösung  des  Vertrages 
verlangen. 

’)  I»  Italien  10  Prot.  (Codice  dei  lavori  pobblici  Art.  345). 


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201 


BreMMrir*. 


Summe  wird  von  dem  Unternehmer  in  jedem  Kalle  in  Bauseh  und 
Bogen  übernommen.  Sobald  die  Arbeiten  ihrer  Beendigung  nahe  sind, 
wird  es  von  der  Bauleitung  der  politischen  Ortsbehörde  angezeigt, 
damit  diese  öffentlich  kundmache.  die  verletzten  Privateigentümer, 
welche  die  ihnen  gebührende  Entschädigung  nicht  erhalten  haben 
sollten,  mögen  innerhalb  zweier  Wochen  ihre  Forderungen  gegenüber 
dem  Unternehmer  der  Bauleitung  angeben,  welch  letztere  den  Unter- 
nehmerdavon  sogleich  in  Kenntnis  zu  setzen  hat.  Wären  die  besagten  Ent- 
schädigungen nicht  geleistet,  so  wird  dem  Unternehmer  sein  Guthaben 
so  lange  zurückbehalten,  bis  derselbe  die  volle  Erfüllung  dieser  Ver- 
bindlichkeiten darzutun  vermag.  Die  Ausgleichungsheträge  für  die 
bleibende  Grundbesitznahme  und  für  die  immerwährenden  Eigentums- 
verluste werden  von  der  Verwaltung  unmittelbar  an  die  betreffenden 
Beschädigten  geleistet.  Die  für  zeitweilige  Beschädigungen  an  Private 
berechnete  Summe  wird  dem  Unternehmer  erst  dann  ausbezablt,  wenn 
die  Bauleitung  demselben  das  Zeugnis  ausstellt,  daß  die  Arbeiten 
vollendet  oder  so  weit  vorgeschritten  sind,  daß  kein  Anlaß  zu  weiteren 
Beschädigungen  vorhanden  ist,  und  wenn  der  Unternehmer  über  die 
seinerseits  geleisteten  Entschädigungen  sich  mit  Bestätigungen  der 
Beteiligten  auszuweisen  vermag. 

VI.  Verleihung  öffentlicher  Unternehmungen. 

Bei  Arbeiten,  welche  in  eigener  Kegie  oder  vom  Unternehmer  aus- 
geführt werden,  gibt  die  Verwaltung  die  Geldmittel.  Der  Staat  und  die 
öffentlichen  Verwaltungskörper  besitzeu  aber  nicht  immer  die  nötigen  Geld- 
vorräte, um  gemeinnützige  und  notwendige  Arbeiten,  welche  viele  Millionen 
kosten,  herzustellen  : auch  ist  es  nicht  immer  ratsam,  diese  Geldmittel  im 
Darlehenswege  aufzubringen,  weil  dadurch  der  öffentliche  Kredit  zu  sehr 
in  Anspruch  genommen  wäre.  Die  größten  öffentlichen  Arbeiten  der  Neuzeit 
wären  nicht  zu  stände  gekommen,  wenn  mau  Privutkapitalien  nicht  heran- 
ziehen könnte.  Die  Privatpersoneu  oder  Gesellschaften  übernehmen  die  Last 
der  Arbeiten,  wenn  sie  die  Zusicherung  erhalten,  daß  sie  während  gewisser 
Zeit  den  Nutzen  des  Werkes  ziehen  können  werden,  um  ihr  Anlagekapital 
zu  amortisieren  und  die  Verzinsung  desselben  zu  erreichen.  Diese  Zusicherung 
wird  ihnen  in  der  Verleihung  gegeben. 

Der  Zweck  der  Verleihung  ist,  ein  öffentliches  Unternehmen  ins  Lebe« 
zu  rufen.  Die  Verleihung  ist  also  nur  eine  Art  der  Sicherstellung  der  öffent- 
lichen Unternehmung.  Das  ist  die  Auffassung  des  österreichischen  Hechtes,1) 

')  Lehrreich  in  dieser  Hineicht  iet  Art.  I de»  Gesetze*  vom  25.  November  1 8.-3, 
K.-G.-Bl.  Nr.  173,  über  die  bOlnmsch-in&hrischen  Transversalbahnen,  und  Art.  YFliI  des 
.lern  Gesetze  vom  13.  Juli  Ibt(2.  R.-G.-B1.  Nr.  109,  Ober  die  AuslQhnmg  Öffentlicher 
Verkehrsanlagen  in  Wien  beigeschlossenen  Programme,  laut  welchen  gewisse  Bahn- 
strecken auf  Kosten  des  Staates  beziehungsweise  der  Kommission  für  Wiener  Anlagen 
hergestellt  werden  sollen,  insoweit  es  nicht  möglich  ist,  die  Ausführung  derselben  im 
Wege  der  Konsessionserteilung  an  eine  Privatuuternehrnung  sieherzustellrn. 


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Das  Recht  der  öffentlichen  Arbeiten. 


205 


welche  vollkommen  mit  dem  französischen  und  italienischen  Beeilte  über- 
einstimmt; es  ist  aber  nicht  die  Auffassung  der  österreichischen  und 
meistenteils  auch  nicht  der  deutschen  Rechtswissenschaft.1) 

A.  Gegenstand  der  Verleihung. 

Die  Verleihung  öffentlicher  Unternehmungen  ist  nur  dort  möglich,  wo 
das  fertige  Werk  einen  Geldnutzeil  abzuwerfen  im  stände  ist;  fast  alle  Ver- 
leihungen beziehen  sich  auf  Verkehrsanstalten,  wie  Straßen,  Brücken,  Über- 
fuhren, Schiffahrtskanüle,  Eisenbahnen.  Trambahnen  und  Fernsprechanlagen ; 
es  kommen  noch  die  Wasser-  und  Gasleitungen  sowie  die  Stadtkanäle 
hinzu.  In  früheren  Jahrhunderten  waren  die  Verleihungen  sehr  häufig;  in 
der  zweiten  Hälfte  des  XIX.  Jahrhunderts  wurden  jedoch  vielo  dieser  Anlagen 
eingelöst  und  werden  weiter  von  der  öffentlichen  Verwaltung  selbst 
geführt.  Mit  der  Zeit  sind  jedoch  neue  Anstalten  und  neue  Verleihungen 
entstanden. 

1.  Die  wichtigste  von  allen  ist  die  Eisenbahnkonzession;  sie  zeigt 
auch  in  den  Gesetzen  die  allseitigste  Ausbildung  und  ergibt  deswegen  den 
natürlichen  Faden  für  die  weitere  Darstellung.  Das  Konzessionswesen  der 
Eisenbahnen  ist  in  Österreich  mit  Verordnung  des  Ministeriums  für  Handel 
und  öffentliche  Bauten  vom  14.  September  1854,  K.-G.-Bl.  Nr.  238,’)  mit 
Gesetz  vom  31.  Dezember  1894,  B.-G.-B1.  Nr.  2 ei  1895,  über  Bahnen 
niederer  Ordnung,  und  mit  Verordnungen  des  Handelsministeriums  vom 
25.  Jänner  1879,  K.-G.-Bl.  Nr.  19,  und  vom  29.  Mai  1880,  K.-G.-Bl.  Nr.  57, 
geregelt.  Die  Eisenbahnen  waren  zuerst  lediglich  Gegenstand  von  Privat- 
unternehmungen. Die  steigende  Bedeutung  des  Verkehrs  und  Gewährung 
der  Zinsgarantien  und  Zuschüsse  seitens  des  Staates  an  die  Unternehmungen 
hat  jedoch  bald  der  Verstaatlichung  den  Weg  gebahnt,  so  daß  heutzutage 
fast  überall  Staats-  und  Privateisenbahnen  nebeneinander  bestehen.  Das 
Verhältnis  der  einen  zu  den  anderen  bat  sich  in  Mitteleuropa  sehr  ungleich- 
mäßig geformt9 1 und  damit  ist  auch  die  Bedeutung  des  Eisenbahnkonzessions- 
wesens nicht  überall  eine  und  dieselbe. 

'■  Eino  Ausnahme  macht  nur  Otto  Mayer  (Deutsches  Verwaltungsrecht,  II, 
S.  294  ff.),  welcher  sich  in  mancher  Hinsicht  der  französischen  Wissenschaft  nShert. 

7)  Sie  wird  als  Eiseubalinkonzessionsgesetz  angeführt. 

*)  In  Österreich-Ungarn  hat  das  Eisenbahnnetz  36.883  km  Länge:  davon  etil  fallen 
auf  Priratbahnen  30.593  km.  Im  Deutschen  Reiche  bestehen  in  Sachsen  nur  Staats- 
bahnen, in  Barem.  Württemberg  und  Baden  ist  der  Besitz  der  Stsatshahn-n  ein  sehr 
überwiegender,  ln  Preußen  und  in  Elsaß  beträgt  das  Priratbahnnetz  nur  3617  km  gegen 
30.347  km  der  Staatsbahnen.  In  England  sind  alle  Eisenbahnen  (35.296  km)  in  Prirat- 
hünden,  in  Frankreich  (42.826  km)  ihre  überwiegende  Mehrzahl.  Desgleichen  sind  die 
italienischen  Bahnen  (15.787  km)  meistenteils  durch  Konzessionen  vergeben,  obwohl 
viele  von  ihnen  vom  Staate  gebaut  wurden.  (Die  statistischen  Ziffern  sind  der  „Statistik 
der  Lokoinotiveisenbahnen“,  III.  Bd.,  Wien,  1901,  S.  60  bis  129,  dem  „Ungarischen  stati- 
stischen Jahrbuche“,  VIII.,  Budapest,  1902,  S.  218,  dem  „Bulletin  de  statistique“,  Paris, 
1902,  S.  698,  und  den  „Annalen  des  Deutschen  Reichs“,  1901,  Bd.  34,  S.  395  bis  400. 
entnommen  und  beziehen  sieh  alle  auf  den  Stand  am  Ende  des  Jahres  1900.) 

Zeitschrift  für  V<tlk*'*irtiMbafi,  $oci*l|>r>Utlk.  und  Verwaltung.  XU.  Bnnd. 


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20fi 


Rretiewicz. 


2.  Die  Verleihung  der  Wege-,  Brücken-  und  Überfuhrkonzessionen  ist 
in  Österreich  unter  dem  Namen  der  Mautkonzessionen  bekannt.  Ähnliche 
Mauten  bestehen  auch  auf  öffentlichen  Landes-  und  Bezirksstraßen,  wo  sie 
auf  Grund  besonderer  Gesetze  erhoben  werden:  sie  dienen  denselben  Zwecken, 
wie  die  Mauten  an  Wegen,  Brücken  und  Überfuhren,  welche  von  beliehenen 
Unternehmern  eingehoben  werden.  Äußerlich  besteht  zwischen  diesen  Mauten 
kein  Unterschied,  wohl  aber  in  der  rechtlichen  Grundlage.  Die  Errichtung 
öffentlicher,  d.  h.  von  den  Ländern,  Gemeinden,  Konkurrenzen  für  öffentliche 
Straßen  unterhaltener  Wege.  Brücken  und  Überfuhranstalten  bedarf  keiner 
Verleihung.1)  sondern  einer  allgemeinen  Genehmigung,  welche  für  jede 
öffentliche  Arbeit  unumgänglich  nötig  ist.  Diese  Genehmigung  ist  daher 
nicht  dem  freien  Ermessen  der  Staatsbehörde  anheimgestellt,  sondern  sie 
muß  gegeben  werden,  wenn  keine  öffentlichen  Kücksichten  dagegen  sprechen. 
Wenn  auch  die  Einhebung  der  Mautgehühren  bewilligt  wird,  ist  dadurch 
noch  keine  Verleihung  der  öffentlichen  Arbeiten  geschaffen. 

Solche  Verleihungen  an  Private  können  bezüglich  der  öffentlichen 
Wege  und  Brücken  nur  noch  aus  älteren  Zeiten  herstammen:  die  betreffenden 
Mautbezugsrechle  bleiben  auf  die  Dauer  jener  Privilegien  aufrecht.*)  Noch 
heute  ist  die  Errichtung  der  Überfuhranstalten  mit  gewerbsmäßigem  Betriebe 
auf  Grund  behördlicher  Genehmigung  zulässig.*)  Mit  behördlicher  Geneh- 
migung der  Anstalt  ist  aber  die  Konzession  nicht  vollkommen;  es  muß 
dazu  noch  die  Bewilligung  der  überfuhrgehühren  hinzutreten.4)  Bei  Fest- 
stellung dieser  Gebühren  darf  man  sich  keinesfalls  an  die  ärarischen  Maut- 
tarifsätze unbedingt  binden,  sondern  es  ist  einzig  und  allein  an  dem 
Grundsätze  festzuhalten,  daß  durch  die  Privatmaut  die  Herstellungs-  und 
ErhaltnngskoBten  gedeckt  werden  sollen. %) 

Die  Brückenkonzessionen  von  National-  und  Departementswegen  werden 
in  Frankreich  seit  dem  Gesetze  vom  :tO.  .Juli  1880  nicht  mehr  erteilt  und 
die  baldigste  Einlösung  der  bestehenden  ist  ungebahnt  worden:  jetzt  können 
sie  nur  für  Gemeindewege  erteilt  werden.  In  Deutschland  wurde  der 
Chausseebau  von  Aktiengesellschaften  gegen  Verleihung  angemessener 
Abgaben  übernommen.  l!l  Die  Wege-  und  Brückenkonzessionen  können  nur 
für  Brücken  Vorkommen,  welche  von  Gemeinden,  höheren  Kommunal- 
verbänden. Aktiengesellschaften  und  Privatpersonen  unterhalten  werden.’) 

')  Stenographische  Protokoll«  des  Reichsrates  vom  27.  April  1*89. 

*)  Gesetz  vom  2.  April  1867,  L.-G.-Bl.  fär  Böhmen  Nr.  32,  § 4;  Gesetz  vom 
17.  Mai  1866,  L.-G.-Bl  für  NiedorOsterreich  Nr.  10,  § 3 u.  s.  w. 

*}  Waaserrechtagesetz  vom  20.  Mai  1869,  It.-G.-Bl.  Nr.  93.  g 7. 

1 j Diese  wird  in  Galizien  durch  einen  vom  Kaiser  genehmigten  Landtagsbeacbluß 
(§  9 des  Gesetzes  vom  5.  Juli  1897.  L.-G.-Bl.  Nr.  -43),  sonst  von  der  Landesregierung 
bezw.  vom  Ministerium  des  Innern  erteilt  (Verordnungen  des  Ministeriums  des  Innern 
vom  27.  August  1*79,  L.-G.-BL  für  Böhmen  Nr.  44). 

*)  Hotkanzleidekret  vom  17.  Mai  1*47,  Prov.  G.-S.  für  Tirol,  Bd.  34,  Nr.  36; 
Erkenntnis  des  Verwaltungsgcrichtshofes  vom  9.  März  1882,  Budwinski  Nr.  1333. 

s;  Das  Material  darüber  hei  v.  Könne:  Verfassung  und  Verwaltung  des  preußischen 
Staates.  T.  IV  , Bd.  IV.,  Abt.  2.  S.  178  ft'. 

’)  Stengel:  Wörteibueb,  II.,  S.  909. 


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i>as  Recht  4er  Öffentlichen  Arbeiten. 


207 


3.  Die  Verleihungen  betreffs  der  SchilTahrtskanäle  kommen  in  Österreich 
nicht  vor,  weil  bisher  fast  keine  künstlichen  Wasserstraßen ')  vorhanden 
waren.  Die  kurzen  Kanäle,  welche  in  Handelshäfen  zur  Erleichterung  der 
Schiffsauf-  und  -abladung  vorhanden  sind,  wurden  auf  Staatskosten  errichtet, 
ln  Frankreich  werden  die  Kanalverleihungen  seit  40  Jahren  eingelöst;*) 
die  Einlösung  kann  nur  im  Wege  eines  besonderen  Gesetzes  und  eines 
Übereinkommens  stattfinden.  In  Italien  wurden  alle  Sehiffahrtskanälc  vom 
Staate  erbaut.  In  Deutschland*)  können  öffentliche  Kanäle  auch  durch 
Privatunternehmer  hergestellt  werden,  welchen  dafür  der  Betrieb  und  die 
Erträgnisse  derselben  überlassen  werden.  Das  Verhältnis  ist  ein  ähnliches 
wie  bei  den  Privateisenbahnen. 

4.  Die  Stadtkanäle  und  Stadtwasserleitungen  werden  bei  uns  nur  von 
Stadtgemeinden  gebaut  und  bestehen  als  städtische  Anstalten.  Die  betreffenden 
Arbeiten  sind  als  öffentliche  zu  betrachten,  aber  sie  bilden  keinen  Gegen- 
stand der  Verleihung.  Die  Gesetze,  welche  zur  Einnahme  der  Kanal- 
einmündungsgebühren4 i und  des  Wasserzinses s)  die  bezüglichen  Gemeinden 
berechtigen,  schaffen  eine  öffentliche  Last,  eine  Gebühr,  sie  begründen  aber 
keine  Verleihung  der  öffentlichen  Arbeiten,  da  die  Errichtung  der  Wasser- 
leitungen im  eigenen  Geschäftskreise  der  Gemeinden  liegt.  In  Frankreich 
verleiht  die  Gemeinde  wirkliche  Konzessionen  zum  Baue  der  üurats- 
kanäle.8) 

5.  In  Frankreich  können  auch  die  Entsumpfungsarbeiten  der  Grund- 
stücke verliehen  werden.  Der  Unternehmer  führt  die  Arbeiten  auf  eigene 
Kosten  und  erst  nach  Abnahme  derselben  wird  der  Mehrwert  der  ent- 
sumpften  Grundstücke  zwischen  dem  Eigentümer  und  dem  Unternehmer 
nach  dem  in  der  Konzession  bestimmten  Verhältnisse  geteilt.1)  In  Italien 
wird  für  die  Entsumpfung  der  Grundstücke  auch  eine  Konzession  'erlichen, 
aber  sie  hat  einen  andern  Charakter,  welcher  sie  der  Unternehmung  öffent- 
licher Arbeiten  nähert,  da  die  Kosten  in  jährlichen  Annuitäten  an  den 
Unternehmer  zu  zahlen  sind.8)  Bpi  uns  sind  die  Entsumpfungsarbeiteu  durch 
Wasserrechts-  und  Meliorationsgesetze  geregelt;  die  Verleihung  dieser 
Arbeiten  findet  nicht  statt. 

6.  Desgleichen  bildet  in  Frankreich  die  Gasbeleuchtung  der  Städte 
den  Gegenstand  der  Verleihung;  sie  wird  seitens  der  Gemeinden  gewährt 


*)  Der  Lundkaual  Klagenfurt— Wörthersee  (41  km)  and  der  Wiener-Neustidter- 
kanal  <63-4  km)  haben  für  die  Schiffahrt  keine  nennenswerte  Bedeutung. 

b Auf  Grund  der  Gesetze  vom  1.  August  1860  und  vom  20.  Mai  1863. 

*)  Stengel:  WOrterbnch,  I.,  8.  703. 

4)  Z.  B.  Gesetz  vom  29.  April  1894,  L.-G.-Bl.  für  Mahren  Nr.  54.  Pie  Zusammen- 
stellung der  betreffenden  Landesgesetze  im  StantewOrterbucbe  von  Mischler,  II.,  8.  1136. 

ft)  Z.  B : Gesetz  vom  16.  August  1897,  L.-G.-Bl.  für  Mähren  Nr.  65,  § 11;  Gesetz 
vom  12.  August  1899.  L.-G.-Bl.  lür  Galizien  Nr.  94,  § 6. 

4)  Art.  115  des  Gemeindegesetzes  vom  5.  April  1884. 

'•)  Dekret  vom  7.  Fructidor  an  XII,  Art.  15  und  Gesetz  vom  16.  September  1807, 
Art.  20. 

b Gesetz  Qi -er  die  Entsumpfung  der  Grundstücke  vom  22.  März  1900,  Art.  6 und  25. 

lö* 


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20H 


Br^Biewic*. 


und  bedarf  in  gewissen  Fällen  einer  höheren  Genehmigung.1)  In  Österreich 
wird  von  Gemeinden  nur  die  Benutzung  der  öffentlichen  Plätze  und  Gassen 
zur  Anlage  der  Gasrohrleituugen  verliehen.  Die  Ausführung  der  Beleuchtungs- 
anlagen* ist  nur  vom  gewcrb-  und  Sicherheitspolizei  liehen  Standpunkte 
geregelt. 

7.  In  Italien  kann  auch  der  Fernsprechdienst  entweder  von  der 
Regierung  unmittelbar  oder  von  einem  beliehenen  Unternehmer  ausgeflbt 
werden.-’)  Die  Konzessionsdauer  ist  auf  höchstens  25  Jahre  festgesetzt; 
nach  deren  Ablauf  gehen  die  Leitungen  mit  allen  Hinrichtungen  in  das 
Eigentum  des  Staates  (Iber.  In  anderen  Lindern  wurden  die  ersten  Fern- 
sprechleitungen auch  von  beliehenen  Unternehmern  errichtet;  sie  sind  jedoch 
vom  Staate  übernommen  und  monopolisiert  worden.4)  Die  Telephonie  wird 
überall  als  ein  Stück  der  Telegrapheneinrichtung  angesehen.-') 

Damit  sind  die  Verleihungsarten  der  öffentlichen  Unternehmungen 
nicht  erschöpft;  die  öffentliche  Verwaltung  übernimmt  mit  jedem  Tage 
weitere  Kreise  der  Tätigkeit,  schallt  neue  öffentliche  Anstalten  und  damit 
die  Möglichkeit  neuer  Verleihungen. 

B.  Der  Verleiher. 

Die  Konzessionen  dürfen  nur  von  der  öffentlichen  Verwaltung  aus- 
gehen, da  sie  die  Ausführung  der  öffentlichen  Arbeiten  besorgt.  Da  jedoch 
die  Organe  dieser  Verwaltung  verschieden  sind,  entsteht  die  Frage,  welche 
Verwaltungsorgane  zur  Konzessionserteilung  berechtigt  sind?  Die  Antwort 
scheint  sehr  einfach:  diese  Organe,  in  deren  Wirkungskreise  die  betreffenden 
Arbeiten  gelegen  sind,  weil  sie  nur  ihre  Rechte  zur  Verwaltung  in  Betreff 
des  bestimmten  Gegenstandes  zeitweise  aufgeben  können.  Dieser  SchlulS 
wird  jedoch  nur  im  französischen  uud  im  italienischen  Hechte  gezogen. 
Die  Verkehrsverleihungen  werden  als  Bewilligung  zur  zeitweisen  Benutzung 
des  öffentlichen  Weges  und  zur  Einnahme  der  Abgaben  betrachtet.  Des- 
wegen wird  die  Verleihung  vom  Staate,  von  der  Provinz  oder  von  der 
Gemeinde  gewährt,  je  nachdem,  wessen  Verwaltung  der  Gegenstand  der 
Verleihung  untersteht.8)  Das  gilt  insbesondere  bezüglich  der  Verleihungen 
der  Eisenbahnen,  welche  nicht  auf  eigener  Unterlage,  sondern  am  Wege- 

’)  Art.  115  des  Gemeindegesetzes. 

*)  Mit  Verordnung  der  Minister  des  Handels  nnd  de«  Innern  vom  9.  Mai  IS75, 
R.-O.-Bl.  Nr.  76. 

*)  Gesetz  vom  7.  April  1692,  Art.  4, 

4)  In  Österreich  mit  Gesetz  vom  29.  Dezember  1 SS*2,  ll.-G.-ill.  Kr.  234:  in  Frank- 
reich mit  Gesetz  vorn  10.  Juli  1889;  in  Deutschland  meistenteils  Taktisch  (Stengels 
Wörterbuch,  Ü..S.  617  ff.);  rergl.  auch  das  Telegraphcnwege,Gesetz  vom  18.  Dezember  1899. 

*)  Meili:  Das  Teiephonreclit,  1885,  S.  47  ff. 

*)  In  Frankreich  werden  die  Konzessionen  der  Trambahnen  vom  Staate,  vom 
Departement  oder  von  der  Gemeinde  (Gesetz  vom  11.  Juni  1880,  Art.  27(,  der  Über- 
fuhrsanstalten  an  Nationalwegen  vom  Staatzhaupte  (Gesetz  vom  14.  Florcal  an  X),  an 
Departementawegcn  von  Generalr&tcn  (Gesetz  vom  10.  August  1871,  Art,  46,  4 13) 
verliehen. 


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Das  R.-eht  '1er  nffriitli'hen  Arbeiten, 


209 


körper  gebaut  werden.1)  Die  Verleihungen  der  Beleuchtung,  der  Gag-  und 
Wasserleitungen  sowie  der  Kanalisation  werden  vom  Gemeinderate  erteilt: 
wenn  sie  den  Bewohnern  Leistungen  auferlegen,  müssen  sie  vom  Präfekten 
beziehungsweise  dem  Staatshaupte  bestätigt,  werden.8 

Die  österreichische  Gesetzgebung  kennt  nicht  den  inneren  Zusammen- 
hang zwischen  der  Verleihung  und  dem  Körper  der  Anlage.  Wenn  auch 
zmn  Baue  einer  öffentlichen  Anlage  ilie  Benutzung  des  StraBengnindes  not- 
wendig erscheint,  muH  der  Bewerber  vor  der  Verleihung  sich  ausweisen, 
datl  er  vom  Verwalter  des  Weges  die  Benutzungsbewilligung  erlangt  hat, 
Nichtärarische  öffentliche  Straften  können  nur  mit  Zustimmung  der  zur 
Erhaltung  Verpflichteten  zur  Anlage  der  Lokalbahnen  in  Anspruch  genommen 
werden.5)  In  zahlreichen  diesbezüglichen  Landesgesetzen4)  sind  ähnliche 
Grundsätze  ausgedrückt:  die  Bewilligung  zur  Benutzung  der  Straße  wird 
entweder  der  Landes-,  Bezirks-  oder  Gemeindevertretung,  jeder  bezüglich 
der  von  ihr  verwalteten  Straßen,  oder  nur  dem  Landesausschusse  znge- 
standeu.  Die  Selbstverwaltungsvprhände  in  Österreich  und  in  Deutschland 
haben  zwar  das  Beeilt,  gewisse  öffentliche  Arbeiten  zu  verrichten,  ja  sie 
können  auf  Grund  gesetzlicher  Ermächtigung  für  die  Benutzung  der  Anstalten 
für  sich  Abgaben  fordern,1  aber  sie  haben  nicht  die  Möglichkeit,  diese 
Berechtigungen  an  andere  abzutreten  und  können  keine  Konzessionen  ver- 
leihen, wenn  auch  sonst  der  Gegenstand  des  Unternehmens  in  ihren 
Wirkungskreis  fallen  würde.  So  erklärt  sich  die  Erscheinung,  daß  in  Öster- 
reich die  Konzessionen  nur  von  Organen  der  Staatsverwaltung  verliehen 
werden  können.0)  Welche  Organe  der  Staatsverwaltung  die  Verleihung 
gewähren,  hängt  von  der  Art  derselben  und  ihrer  Wichtigkeit  ab.  Für 
Eisenbahnen  wird  die  kaiserliche  Verleihung  gesetzlich  gefordert.8!  für 
Überfuhrskonzessionen  die  Verleihung  seitens  der  politischen  Landesbehörde.' 
Eine  Ausnahme  machen  nur  die  Verleihungen  an  nicht  ärarischen  Straßen 
und  Wegen,  welche  in  den  meisten  Kronländern  eines  Gesetzes,  eines 
Beschlusses  des  Landtages  oder  des  Landesausschusses  bedürfen.5) 

Die  Verleihung  öffentlicher  Arbeiten  liegt  im  freien  Ermessen  des 
dazu  Berufenen;  der  Staat  ist  nicht  gehalten,  die  Konzession  unter  bestimmten 
Voraussetzungen  zu  erteilen. 

*)  Italienisches  Gesetz  vom  27.  Dezember  1896,  Art.  1 und  10 

3)  Französisches  Geiueindegesetz.  Art.  llä,  68,  133  and  145. 

5)  Loknlbahngesetz  vum  31.  Dezember  1894.  R.-G.-Bl.  Nr.  2 ei  1805,  Art.  XIV-, 
preußisches  Gesetz  vom  28.  Juli  1832,  6 und  7. 

*)  Mayrhofers  Handbuch,  V.,  S.  616  ff. 

s)  Gemeindegesetze,  sieh  Mayrhofer.  II.,  S.  586  bis  596. 

*1  Für  Eisenbahnen  Konzessionsgesetz  t)  2.  Für  PreuUcn  sieh  § 1 des  Gesetzes 
vom  3,  November  1838,  für  Bayern  $ 2 der  Verordnung  vom  20  Juni  1855,  für  Württem- 
berg Gesetz  vom  18.  April  1843.  Die  Genehmigung  zur  Herstellung  der  Kleiubahueu 
in  Preußen  wird  durch  die  Pruvinzial-VerwaUungshehOrden  erteilt  <£$  2 und  3 des 
Gesetzes  vorn  28.  Juli  1892). 

T)  Kisenhahnkouzessionsgesetx  4 2. 

4i  6 76  der  meisten  Wasserrerhtsgesetze. 

.8ieb  dir  Zusammenstellung  hei  Mayrhofer,  V.,  8.  1017  ff. 


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210 


Bresi-  wir/ 


Die  Erteilung  der  Konzession  kann  sowohl  an  einzelne,  au  Länder 
und  Gemeinden  als  auch  an  gesetzlich  anerkannt«  Vereine  erfolgen;  es  kann 
auch  die  Übertragung  der  erteilten  Konzession  an  die  zu  bildende  Aktien- 
gesellschaft erlaubt  werden.') 

C.  Die  Fprm  der  Verleihung. 

1.  Zur  Erwirkung  einer  Verleihung  öffentlicher  Arbeiten  ist  immer  unum- 
gänglich notwendig,  daß  der  Bewerber  darum  ansuche.  Das  Ansuchen  kann 
schriftlich  oder  mündlich  zu  Protokoll  gestellt  werden.  Die  Grundlage  dieses 
Ansuchens  bilden  allgemeine  Vorschriften,  welche  für  die  betreffenden  Unter- 
nehmen erlassen  wurden:  dann  brauchen  keine  näheren  Bedingungen  der 
Verleihung  gestellt  zu  werden.  Wenn  es  sich  jedoch  um  Begünstigungen 
handelt,  welche  nicht  jedem  Unternehmer  vorschriftsmäßig  zukommen, 
müssen  sie  besonders  angesucht  werden.  Die  öffentliche  Verwaltung  kann 
ihrerseits  dem  Verleihungswerber  besondere  Bedingungen  stellen.  Es  werden 
die  Verhandlungen  geführt,  bis  vollkommene  Einigkeit  über  die  Bedingungen 
der  Verleihung  erzielt  wird  und  der  Bewerber  erklärt,  alle  vereinbarten 
Bedingungen  annehmeu  zu  wollen.  Auf  dieser  Grundlago  wird  erst  die  Ver- 
leihung gegeben,  und  zwar  immer  schriftlich  in  der  Form  einer  einseitigen 
Verwaltungsverfügung.  Von  Verhandlungen,  welche  zur  Verleihung  geführt 
haben,  geschieht  in  der  Urkunde  keine  Krwähnuug.  Die  Eisenbahnver- 
leihungen, welche  für  die  Volkswirtschaft  wichtiger  sind  als  die  übrigen 
Verleihungen,  ergehen  in  einer  mehr  feierlichen  Form  eines  Privilegs: 
grundsätzlich  ist  es  immer  ein  Verwaltungsakt.  Wichtigere  Verleihungen 
oder  wenn  es  sonst  vorgesehrieben  ist,  werden  in  Gesetzblättern  zur  allge- 
meinen Kenntnis  gebracht.*)  In  den  übrigen  Fällen  reicht  die  Zustellung 
der  Verleiliungsurkunde  an  den  Bewerber  aus. 

Die  Verleihungen  haben  in  Österreich  sehr  selten  die  gesetzliche 
Form  allein.  Es  kommt  nur  vor  in  jenen  Ländern,  wo  Privatmautkonzes- 
sionen durch  ein  Landesgesetz  verliehen  werden.*)  Die  Verleihungen  setzen 
jedoch  die  gesetzliche  Ermächtigung  zur  Erlassung  des  Verwaltungsaktes 
voraus.  Gewöhnlich  wird  sie  für  ganze  Gattungen  von  Verleihungen  gegeben. 
Wenn  für  einzelne  Verleihungen  besondere  Zugeständnisse  gewährt  werden 
sollen,  welche  in  allgemeinen  Gesetzen  nicht  begründet  sind,  muß  der  Ver- 
leihung ein  besonderes  Gesetz  vorangehen,  welches  die  Regierung  zu  dieser 
Verleihung  ermächtigt.*)  Es  bestehen  hier  zwei  besondere  Akte,  ein  Gesetz- 
und  ein  Verwaltungsakt.  Der  letztere  ist  jedoch  immer  der  eigentliche 
Konzessionsakt.  welcher  die  Rechte  und  die  Pflichten  begründet.  Es  kann 
jedoch  auch  Vorkommen,  daß  sich  die  Verleihung  aus  zwei  besonderen 
Akten  zusamraensetzt:  es  gibt  zwei  Verwaltungsakte,  wenn  z.  B.  bei  Über- 

Vl  B. : Konzessionsurkunde  vom  28.  Koreniber  1877,  R.-G.-B1.  Nr.  12  ex  1878,  § 15. 

*j  Z B.:  Verleihung  der  Eisenbahnen,  der  Mauten  u.  s.  w. 

*)  In  der  Bukowina,  in  Mähren  und  OberOsterrehh. 

*)  Gesetz  vom  31  Dezember  1894,  R.-G.-Bl.  Nr.  2 ex  1895,  Art.  IX  und  X. 


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Dtu>  Hecht  der  öffentlichen  Arbeiten. 


211 


fubrsanstalteu  zuerst  die  wasserrechtliohe  Bewilligung  und  dann  mit  einem 
zweiten  Erlaß  die  Genehmigung  des  Überfuhrtarifs  erteilt  wird. 

2.  Eine  ganz  andere  Form  haben  die  Verleihungen  öffentlicher  Arbeiten 
in  Frankreich  und  in  Italien,  und  zwar  die  Form  eines  Übereinkommens, 
welches  zwischen  der  Verwaltung  und  dem  lielielienen  abgeschlossen  und 
von  beideu  Parteien  unterschrieben  wird.  Diese  Übereinkommen  haben  sehr 
verschiedenen  Inhalt  und  regeln  das  Verhältnis  des  Verleihenden  zum  Unter- 
nehmer. Wir  finden  darin  Bestimmungen  Ober  Beiträge  des  Verleihenden, 
Garantien,  Vorschüsse,  etwaige  Teilnahme  am  Gewinn  u.  s.  w.  Dem  Über- 
einkommen werden  die  Submissionsheiliugiingen  angeschlossen.1)  welche  die 
Vereinbarung  Ober  Ausführung  öffentlicher  Arbeiten  bilden.  Diese  bestehen 
aus  zwei  Teilen:  einer  bezieht  sich  auf  die  Bauart  der  Anlage  und  die 
Beschaffenheit  des  Baumaterials,  der  andere  auf  den  Betrieb,  Maximal- 
tarife u.  s.  w.  Zur  Gültigkeit  dieses  Übereinkommens  wird  noch  die 
Genehmigung  gefordert:  die  Form  und  die  Bedingungen  der  Genehmigung 
wechseln  je  nach  der  rechtlichen  Handlungsfähigkeit  des  Verleihenden:  Das 
Gesetz  oder  Dekret  für  die  Staatsverleihungen.  Erlaß  des  Präfekten  für 
Verleihungen  der  Departements,  schließlich  der  Erlaß  des  Gemeinde- 
vorstandes in  Ausführung  des  Gemeinderatsbeschlusses,  genehmigt  vom 
Präfekten  für  Gemeindeverleihungen. 

Im  Falle,  daß  die  Verleihung  von  Staatsorganen  nicht  erteilt  wird, 
bleibt  immer  den  letzteren  die  Anerkennung  der  öffentlichen  Nützlichkeit 
des  Unternehmens  und  die  Ermächtigung  zum  Betriebe  Vorbehalten.  Diese 
Anerkennung  wird  durch  ein  Gesetz  oder  ein  Dekret  erlassen,  welches  das 
abgeschlossene  Übereinkommen  bestätigt.*)  Sowohl  das  Übereinkommen  als 
auch  die  Bedingungen  bilden  einen  wesentlichen  Bestandteil  des  Gesetzes 
oder  Dekrets  und  haben  dieselbe  Wirkung. 

Bei  Erteilung  der  Konzessionen  wird  gewöhnlich  keine  öffentliche 
Bewerbung  zugelassen.  Sie  ist  jedoch  nicht  ausgeschlossen:  so  war  es  mit 
den  ersten  Bahnen  in  Frankreich :*)  so  ist  es  noch  jetzt  möglich  bei  Fern- 
sprechverleihungen in  Italien,4  welche  an  denjenigen  vergeben  werden, 
welcher  den  Betrieb  der  Anstalt  für  niedrigere  Tarife  übernimmt.  Die  Ver- 
längerung der  Konzession  geschieht  in  derselben  Form  wie  die  Verleihung; 

')  Ala  Master  für  Bahnverleihangen  dienen  in  Frankreich  die  Bedingungen,  welche 
den  Gesetzen  vom  4.  Dezember  1975  (Eisenbahn  von  Alais  zur  Rhöne)  und  vom 
27.  Juli  1886  (Linie  von  Vivarais)  beigelegt  sind;  für  Lokalbahnen  wurden  die  Bedin- 
gungen mit  Dekret  vom  6.  August  1881  bestätigt.  Filr  Italien  sieli  das  wichtigste 
Gesetz  vom  27.  April  1885,  genehmigend  die  Übereinkommen  betreffs  der  Verleihungen 
für  mittelländische,  adriatisebe  und  sizilische  Eisenbahnen  und  kOuigl.  Dekret  vom 
1.  April  1883,  welches  die  8ubmissiotisbedingungeu  für  den  Fernsprechdienst  bestätigt. 

ll  Das  französische  Gesetz  vom  3.  Mai  1841  überläßt  dem  Dekrete  nur  die  Ver- 
leihung der  Abzweigungen  von  Eisenbahnen  unter  20  km  Länge.  Italienisches  Gesetz 
über  öffentliche  Arbeiten  Art.  203  und  246  und  Gesetz  vom  27.  Dezember  1896  über 
Lokalbahnen  Art.  1 und  13. 

*)  Block  Mantice:  Dictionnaire  de  rsdministration  francaise.  V.  Chemins  de  fer, 

*/  Eonigl.  Dekret  vom  16.  Juni  1892,  Art.  4. 


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212 


Brosicwicz. 


sie  ist  dunu  begründet,  wenn  vom  Unternehmer  neue  Herstellungen  (z.  B. 
der  Bau  eiuer  eisernen  Brücke  anstatt  einer  hölzernen,  neuer  verlust- 
bringender Eisenbahnlinien)  gefordert  oder  wenn  er  durch  unverschuldete 
Elementarereignisse  im  Betriebe  längere  Zeit  hindurch  verhindert  war. 

D.  Inhalt  der  Verleihungsurkunde. 

Für  einzelne  wichtigere  Arten  von  Verleihungen  hat  das  Gesetz  allge- 
meine Regeln  aufgestellt;  dies  ist  vor  allem  durch  die  Kisenbahngesetze 
für  Eisenbahnkonzessionen  geschehen.  Diese  Bestimmungen  bilden  den 
gesetzlichen  Inhalt  jeder  Konzession  und  werden  in  ihren  Wortlaut  nicht 
aufgenommen.  Die  Verleihungsurkunde  enthält  teils  Hinweise  auf  die  in 
allgemeinen  Konzessionsgesetzen  enthaltenen  Bestimmungen,  teils  aber  auch 
besondere  Vorschriften,  welche  sich  hauptsächlich  auf  das  Verhältnis  des 
Staates  zum  Beliehenen  beziehen.  Gewöhnlich  enthält  die  Urkunde  noch 
die  Verpflichtung  des  Beliehenen,  sich  späterhin  den  von  der  Staatsgewalt 
zu  erlassenden  allgemeinen  Vorschriften  zu  unterwerfen.  Der  besondere  Teil 
einer  Verleihungsurkunde  enthält  Bestimmungen  Uber  die  Eintluliuahme  des 
Staates  auf  die  Einrichtung  und  Verwaltung  der  Unternehmung,  die  Fest- 
setzung der  Baupflicbt  und  einer  Baufrist,  die  besonderen  technischen 
Bedingungen,  Bestimmungen  Uber  die  Betriebspflicbt  und  Instandhaltung 
der  Anlage,  Uber  die  Verpflichtung  zur  Vorlage  und  Veröffentlichung  der 
Beförderungspreise  und  Fahrordnungen,  Ober  die  Maximaltarife  wie  die 
Verpflichtung  zur  Ergänzung  der  Anlage  in  bestimmten  Fällen.  Auflerdem 
werden  dem  Unternehmer  durch  die  Verleihungsurkunde  Pflichten  zu  gewissen 
Leistungen  für  öffentliche  Zwecke,  z.  B.  gegenüber  der  Militär-,  l’ost , 
Telegraphen-  und  Zollverwaltung  sowie  gegenüber  den  Staatsaufsichts- 
behörden auferlegt.1)  Endlich  enthält  die  Urkunde  oft  auch  Zusicherungen 
von  Begünstigungen,  welche  dem  Unternehmer  seitens  des  Staates  gewährt 
werden,  wie  Beihilfen,  Befreiungen  von  Gebühren  und  Steuern,  Zinsgarantien, 
Zulässigkeit  der  Betriebsübernahme  seitens  des  Staates  u.  s.  w. 

Für  Wege-  und  Brückenverleiliungen  finden  sich  die  Bestimmungen 
in  den  Mautvorschriften.  Die  Bewilligung  von  Überfuhren  und  Übcrfuhr- 
gebühreu  wurde  mit  Erlali  des  Ministeriums  des  Innern  vom  27.  August  1879 
(L.-G.-Bl.  für  Böhmen  Nr.  44)  näher  geregelt. 

Aus  der  Verleihung  erwirbt  der  Unternehmer  Rechte,  er  übernimmt 
aber  auch  Pflichten;  da  dem  Rechte  einer  Person  eine  diesbezügliche  Ver- 
pflichtung einer  andern  Person  entsprechen  muH,  sind  die  aus  der  Ver- 
leihung entspringenden  Hechte  und  Pflichten  gegenseitig. 

1.  Die  Berechtigungen  des  Unternehmers  sind  folgende: 
n)  die  Verwaltung  verleiht  dem  Unternehmer  das  ihr  allein’)  zustehende 

Rocht  zur  Ausführung  einer  bestimmten  öffentlichen  Anlage  und  ver- 

’)  r.  Neumann  in  Miechlers  StaatewOrtorbaeb,  I.,  S.  336. 

’)  Eisenbahn  konxessionsgesetz  §Olit.  a).  Die  Deutsche  Verfassung  'Art.  41)  um!  das 
französische  Gesetz  über  Lokalbahnen  vom  11.  Juni  1880  (Art.  8t  kennen  nicht  die 
AneschlieSlichkeit 


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Da>  Recht  der  öffentlichen  Arbeiten. 


213 


zictitet  aut'  die  Möglichkeit,  iu  der  festgesetzten  Zeit  eiue  sulche 
selbst  auszuführen;1) 

b)  sie  stattet  den  Unternehmer  mit  der  Kraft  der  Öffentlichen  Gewalt 
aus,  um  die  Ausführung  des  Werkes  zu  ermöglichen,  sie  gibt  ihm 
das  Recht  der  Anspruchnahme  der  Enteignung  und  der  öffentlichen 
Lasten;1) 

et  die  Verwaltung  gibt  dem  Unternehmer  das  Recht,  während  der  Dauer 
der  Verleihung  den  Betrieb  der  öffentlichen  Anlage  zu  führen  und 
eine  Abgabe  zu  erheben;9) 

<l)  sie  verleiht  ihm  die  Polizeigewalt  des  öffentlichen  Gutes; 4 1 
e)  manchmal  gibt  sie  ihm  Ansprüche  auf  besondere  Gewährungen,9) 
Zuschüsse,  Zinsgarantien,  Steuerbefreiungen  u.  s.  w. 

Die  Verleihung  der  öffentlichen  Arbeiten  ist  also  eine  Handlung  der 
öffentlichen  Gewalt;  sie  stattet  den  Beliehenen  mit  der  Fähigkeit  aus,  ein 
Stück  öffentlicher  Verwaltung  zu  führen.  Die  verliehenen  Rechte  haben 
einen  öffentlichrechtlichen  Charakter;  sie  begründen  für  den  beliehenen 
Unternehmer  öffentliche  persönliche  Rechte  auch  gegenüber  dem  Verleihenden. 
2.  Der  Beliehene  hat  jedoch  folgende  Pflichten : 
u)  die  öffentlichreehtliche  Pflicht,  das  Unternehmen  dem  Edtwurfe  gdinäß 
und  in  der  festgesetzten  Frist  ins  Werk  zu  setzen  und  durchzu- 
führen:‘) 

b)  die  Kosten  der  Ausführung  und  Instandhaltung  der  Arbeiten  während 
der  Konzessionsdauer  zu  tragen;’) 

c)  die  durch  Ausführung  der  Arbeiten  zugefügten  Schäden  um  fremden 
Gute  zu  ersetzen  und  die  durch  den  Bau  gestörten  Wege.  Brücken 
und  sonstige  Verkehrsmittel  anderweitig  wieder  herzustellen; ’ 1 

dt  den  Betrieb  gegen  die  festgestcllten  Preise  zu  führen,  die  bezüglich 
des  Betriebes  bestehenden  Vorschriften  zu  beobachten  und  sich  der 
Regulierung  der  Beförderungspreise  seitens  des  Staates  zu  unter- 
ziehen;*) 

e)  nach  Ablauf  der  Konzessionszeit  das  Bauwerk  lasten-  und  kostenfrei 
an  den  Staat  zu  übergeben.9)  Die  letztere  Pflicht  wird  hei  diesen 
Aulagen  nicht  auferlegt,  welche  für  Gemeindezwecke  errichtet  werden. 

’)  Kiacnbahukonzessionsgesetz  § 9 lit.  b.) 

*)  KiseubahnkonzesBionsgesetz  § 9 lit.  c)  uml  Gesetz  roin  IS.  Februar  1878,  lt.-G.-Bl. 
Sr.  30. 

*>  Eisenbahnkonxessionsgcaetz  § 9 lit.  d). 

4)  Die  Eiaenbahnbetriebsordnung  vom  16.  November  1851,  R.-G.-Bl.  Nr.  1 ex 
1*58,  § 101. 

a)  Gesetz  vom  81.  Dezember  1894.  R.-G.-Bl.  Nr.  2 ex  1895,  Art.  IV  bis  VIII  und  XX. 
Bezüglich  der  deutschen  Halmen  sich  Stengels  Wörterbuch.  Ergilnz.-Rd.  III,  S.  81  und  82. 
1 Eisenbahnkonxcssionsgesetz  44  10  lit  a)  und  11  tit.  b). 

’)  Eisenbahnkonzessionsgesetz  44  9 lit.  a)  und  8. 

*)  Kisenbahnkonzessionsgesetz  4 10  lit.  e);  bezüglich  der  Privatbrücken  das  Uubernial- 
dekret  vom  8.  Juni  1847,  Prov.  G.-S.  für  Tirol,  Bd.  84.  S.  847. 

8 ) Eisenbahnkonzesaionsgesetz  4 8.  ln  Preußen  ist  nur  das  Einlöcungsrecht  bekannt. 


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214 


Bresiewicz. 


wie  Trambahnen,  städtische  Wasser-  und  Kanalleitungen.  Die  Sanktion 
dieser  Pflichten  bildet  das  Recht  des  Staates,  die  Kaution  einzuziehen, 1 ' 
die  aufgetragenen  Arbeiten  auf  Kosten  des  beliehenen  Unternehmers 
auszuführen,11)  die  Einnahmen  zu  sequestrieren5)  und  schließlich  den 
Widerruf  der  Verleihung  auszusprechen. 

3.  Der  Unternehmer  darf  von  der  Konzession  nicht  einseitig  zurück- 
treten. Auch  der  Verzicht  auf  die  verliehenen  Rechte  setzt  eine  Genehmigung 
voraus,  um  wirksam  zu  sein.  In  gleicher  Weise  kann  die  Verleihung  ohne 
Zustimmung  des  Staates  einem  Dritten  nicht  abgetreten  werden.  Diese  Be- 
willigung wird  manchmal  schon  in  der  Verleihungsurkunde  gegeben,  und  zwar: 

u)  bei  kleineren  Unternehmungen  wie  Brücken,  Fähren,  wo  die  Verleihung 
an  den  Unternehmer  und  seine  Rechtsnachfolger  geschieht; 

b)  bei  Eisenbahnverleihungen,  wenn  dem  Unternehmer  gestattet  wird, 
die  durch  Verleihung  begründeten  Rechte  und  Verpflichtungen  an 
eine  zu  diesem  Zwecke  zu  bildende  Aktiengesellschaft  zu  übertragen.4) 

4.  Die  Verleihung  wird  nur  auf  eine  bestimmte  Zeit  erteilt,  nach 
welcher  sie  erlischt.  ’’)  Vor  Ablauf  dieser  Zeit  darf  sie  jedoch  ohne  einen 
gesetzlich  zulässigen  Grund  nicht  zurückgezogen  werden;  während  der 
Konzessiousdauer  kann  sie  erlöschen; 

aj  durch  beiderseitiges  Übereinkommen ; 

h)  durch  Erklärung  der  Behörde  im  Falle  der  in  der  Verleihungsurkunde 
vorbehaltenen  Einlösung  und  im  Falle  der  Verwirkung  der  Konzession, 
wenn  mit  den  Arbeiten  in  der  festgesetzten  Frist  nicht  begonnen  wurde, 
oder  wenn  der  Konzessionsinhaber  seine  Pflichten  schwer  verletzt. 

E.  Rechtlicher  Charakter  der  Verleihung. 

Man  kann  die  Verleihung  keineswegs  als  eine  gewerbepolizeiliche  Erlaubnis 
auffassen. *!  Der  Unterschied  zwischen  beiden  Begriffen  fällt  bei  Eisenbahnen 
sofort  ins  Auge.  Eine  Eisenbahn,  welche  nur  zum  eigenen  Gebrauche  des 
Unternehmers  auf  eigenem  Grund  und  Boden  oder  mit  Zustimmung  des 
Grundeigentümers  angelegt  werden  soll,  bedarf  keiner  Verleihung,  nur  einer 
polizeilichen  Erlaubnis,  welche  nach  Erwägung  der  Sanitäts-  und  Sicherheits- 
rflcksichten  erteilt  werden  kann.  Zur  Anlage  einer  Eisenbahn  dagegen,  welche 
bestimmt  ist,  als  öffentliches  Verkehrsmittel  zu  dienen  oder  öffentliche 
Straßen  benutzt,  ist  die  Verleihung  notwendig.’) 

*)  Eisenbahnkonzcssiensgesetx  § 11  lit.  b.J 
■)  Eisenbahnkonzessionegesetz  $ 13. 

3)  Eisenbahnkonzessionsgesetz  § 12;  Gesetz  vont  14.  Dezember  1877,  R.-G.-Bl. 
Nr.  112,  §§  2 and  4. 

*)  Z.  B.:  Konzessionsurkunde  für  die  Eisenbahn  Wien  — Aspang  vom  28.  November 
1877,  B.-G.-BL  Nr.  12  ei  1878,  § 15. 

5;  Eisenbabnkonzessionsgesetz  si  7,  i!  und  12.  Diese  Begrenzung  besteht  nicht 
in  Preußen  bezüglich  der  Hauptbahnen  und  in  Württemberg. 

•)  Wie  schon  im  ersten  Abschnitte  dargelegt  wurde. 

')  Eizenbabnkonzessionsgesetz  4 1.  Italienisches  Gesetz  über  öffentliche  Arbeiten 
Art.  207  und  209. 


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Das  R*-cht  dpr  Öffentlichen  Arbeit«». 


215 


Die  Verleihung  der  öffentlichen  Unternehmungen  unterliegt  in  der 
Rechtswissenschaft  einer  verschiedenen  juristischen  Beurteilung.1 

1.  Der  ersten  Ansicht  nach  ist  die  Verleihung  ein  privatrechtlicher 
Vertrag,  welchen  der  Staat  mit  dem  Unternehmer  abschließt  und  aus 
welchem  privatrechtliche  Ansprüche  beiderseits  entstehen.’)  Der  Vertrags- 
charakter der  Verleihung  wird  in  der  französischen  Literatur  nicht  beanständet. 
Dieser  Vertrag  wird  als  ein  ,acte  de  gestion*  betrachtet,  weil  die  Verwaltung 
dabei  von  seiner  Gewalt  keinen  Gebrauch  macht-1  Diese  Anschauung  läßt 
sich  auf  den  historischen  Entwicklungsgang  der  französischen  Bahnen 
zurückführen.  Bei  den  ersten  Bahnen  hat  der  Staat  für  den  Bau  enteignet 
und  auf  seine  Kosten  den  Unterbau  geliefert;4)  den  Eiseubahngesellschaflen 
wurde  der  Gebrauch  des  fertigen  Bahnkörpers  fibergeben,  welcher  als  öffent- 
licher Weg  und  öffentliches  Gut  betrachtet  wurde  und  immer  im  Eigentums 
des  Staates  verbleibt.  Da  jedoch  durch  diese  wissenschaftliche  Anschauung 
das  Euteignungsrecht  und  die  Ausübung  der  Polizei  sich  nicht  erklären 
lassen,  hat  sich  eine  abgeschwächte  Vertragstheorie  gebildet,  welche  den 
Konzessionsakt  in  zwei  Teile  zerlegt;  durch  deu  eigentlichen  Konzessionsakt 
werden  öffentlichrechtliche  Befugnisse  begründet  und  die  Konzession  im 
weiteren  Sinne  enthält  alle  übrigen  Bestimmungen,  die  eben  den  privatrecht- 
lichen Vertrag  darstellen.-')  Diese  letztere  Anschauung  ist  in  der  italienischen 
Literatur  vorherrschend,  wo  die  Konzessionen  der  öffentlichen  Arbeiten 
wegen  dieses  doppelten  Charakters  „concessioni-contratti“  genannt  werden.4) 

2.  Die  zweite  Ansicht  verfährt  gerade  umgekehrt.  .Die  Verleihung,* 
sagt  sie,  .ist  ein  öffentlicher,  ein  hoheitlicher  Akt,  aus  welchem  ffir  den 
Unternehmer  keine  Rechte  entstehen  körnten.*’)  Der  Staat  kann  insbesondere 
jederzeit  die  gemachte  Einräumung  wieder  einschränken  und  zurficknehmeu 
ohne  jede  Entschädigung,  Diese  Schlüsse  beruhen  auf  einer  Überspannung 
des  Begriffs  der  allmächtigen  Staatsgewalt  und  stimmen  nicht  mit  dem 
bestehenden  Rechte  fiberein.  Der  Staat  kann  die  Verleihung  zurncknehmen, 
aber  es  geschieht  immer  nur  in  gewissen,  im  Gesetze  vorgesehenen  Fällen, 
wenn  der  Belieheue  die  ihm  gestellten  Bedingungen  nicht  erfüllt. 

')  Mrili:  Da*  Recht  der  modernen  Verkehrs-  und  Trauxportanitalten,  Leipzig, 
1888,  8.  22. 

3 Kultiuiaun:  Das  uordainerikanische  BuudesstaaUrecht,  Zürich,  1878,  II.  2, 
8.  129  ff. 

*)  H.  Bcrthclemv:  Traitc  cldinentaire  de  droit  administrativ  Paris,  1901,  8.  47 
und  -'>83;  Haurioa  Maurice:  Prccis  de  droit  administrativ  Paris,  1901,  8.  819, 
Anm.  2;  Block  Maurice;  Diedonuaire  V.  Trutauz  public«  Art.  0. 

*)  Gesetz  vom  11.  Juui  1842. 

b>  Carrard  und  Hiltp:  Drei  Rechtsgutachten  über  die  rechtliche  Natur  der 
Eisenbabukonzessionen,  Basel,  1877,  8.  H bezw.  IG.  Ebenso  H oberer;  Österreichisches 
Eisenbahnrecht.  Wien,  1885.  8.  24. 

4)  Mantellini  Giuseppe:  I.o  stxto  e il  codice  cirile,  Firenze.  1882,  II., 
8.  505  bis  508,  521,  524  ff.;  Giorgi  Uiozgio:  La  dottrina  delle  persone. giuridiche. 
Firenze,  II.  (i891),  S.  4G1  ff.  III.  (1892),  S.  278 ff. 

’)  U.  Seiler;  Über  die  rechtliche  Katar  der  Eiseubahnkonzessio»  »sch  schweize- 
rischem Recht.  Zürich,  I8S9,  S.  24. 


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21  fi 


Kresiewicz. 


3.  Die  dritte  herrschende  Ansicht  ist  die,  daß  allerdings  die  Verleihung 
eine  Handlung  öffentlichrechtlicher  Natur  ist, 1 daß  aber  gleichwohl  nicht 
bloß  Pflichten,  sondern  auch  Hechte  des  Beliehenen  dadurch  gegründet 
werden  können.  Man  erklärt  die  Konzession  als  Privilegium,  welches  rein 
öffentlichrechtlicher  Natur  ist.  dessen  Wirkung  aber  gemischt  ist,  d.  i. 
teils  öffcntlichrechtlich,  teils  privatrechtlich. 

Zur  Begründung  der  Hechte  genügt  der  Verwaltungsakt  ( die  Verleihung  : 
zur  Auflegung  der  Verpflichtungen  wäre  eine  gesetzliche  Grundlage  erforder- 
lich: sie  wird  ersetzt  durch  die  freiwillige  Unterwerfung  des  Betroffenen,  die 
in  dessen  Gesuch  oder  in  der  Annahme  der  Verleihung  enthalten  ist.1) 

Jede  dieser  Anschauungen  hat  etwas  Richtiges  an  sich;  sie  sind  jedoch 
nicht  im  stände,  das  Wesen  der  Verleihung  und  alle  ihre  Wirkungen  zu 
erklären.  Die  Verleihung  gibt  dem  Unternehmer  die  Hechte,  welche  der 
Staat  allein  besitzt  und  welche  er  selbst  ausüben  kann,  sie  erlaubt  dem 
Unternehmer  ein  Stück  öffentlicher  Verwaltung  im  eigenen  Namen  und  für 
eigene  Rechnung  zu  führen.  Die  Stellung  des  beliehenen  Unternehmers  hat 
die  größte  innere  Verwandtschaft  mit  der  des  Selbstverwaltungskörpers.5)  Die 
Konzessionserteilung  ist  also  unzweifelhaft  ein  Akt  der  öffentlichen  Gewalt. 
Die  verliehenen  Hechte  haben  einen  öffeutliehrechtlichen  Charakter;  sie 
begründen  für  den  Unternehmer  öffentliche  persönliche  Rechte  auch  gegen- 
über dem  Verleihenden.  Der  Unternehmer  übernimmt  aber  auch  Pflichten: 
in  erster  Linie  die  Pflicht,  die  verliehenen  Rechte  auszuüben:  weiter  noch 
viele  andere  öffentliche  Lasten,  welche  ihn  allein  treffen.  Der  Staat  kanu 
diese  Lasten  nicht  jedem  beliebigen  Bürger  auferlegen,  weil  öffentliche 
Lasten  nur  allen  Untertanen  gleichmäßig  auferlegt  werden  können:  ohne 
ein  besonderes  Gesetz  kann  man  die  Ausübung  der  betreffenden  Pflichten 
nur  von  jenem  Bürger  fordern,  der  sie  freiwillig  übernimmt.  Wenn  aber 
der  Staat  vom  Untertan  gewisse  Leistungen  fordert,  zu  welchen  er  gesetzlich 
nicht  verpflichtet  ist,  und  der  Untertan  freiwillig  diese  Leistungen  gegen 
dio  ihm  zugesicherten  Vorteile  übernimmt,  so  ist  der  freie  Wille  des  Staates 
und  des  Bürgers  übereingekommen,  um  ein  Rechtsverhältnis  zu  Stande  zu 
bringen.  Solche  übereinstimmende  Willensäußerung  wird  im  Privatrechte 
„Vertrag“  genannt.  Die  Konzession  ist  jedoch  kein  privatrechtlicher  Vertrag, 
weil  die  öfl'entlichcn  Hechte,  welche  dem  Unternehmer  verliehen  werden,  den 
Gegenstand  des  privatrechtlichen  Verkehrs  nicht  bilden  können.  Den  Gegen- 
stand der  Vereinbarung  bilden  öffentliche  Rechte  und  Pflichten.  Deswegen 
ist  cs  nicht  ratsam,  den  Ausdruck  „öffentlichrechtlicher  Vertrag“  zur 

*)  Hcusler:  Drei  Hechtsgutachten  S.  IS;  Eger:  I’reuliisclies  Eisenbahnrecht, 
Breslau,  18*9,  I„  S 1)8;  ti.  Meyer:  Lehrbuch  des  Verwaltnugs  rechts,  I,  8.  582; 
Loening:  Lehrbuch  des  Verwaltungsrochts  S.  028. 

J;  Ulbrich:  Österreichisches  Staatsrecht,  Freiburg  i.  U.,  1892,  S.  126;  11a- 
nclletti  Oreste:  Teoria  generale  «leite  autorizzazioni  e coneessioui,  Tonne»,  1894 
S,  80  ff.;  Otto  Mayer:  Deutsches  Verwaltungsrecht,  Leipzig,  DJ-  L,  1895,  S.  98,  und 
lld.  II.,  1896,  S.  307;  Cummeo  Federico:  La  volontu  individuale  e i rapporti  di 
diritto  pubblico,  Torino,  1900,  S.  24. 

-1)  Otto  Mayer:  Dentsehes  Verwaltnngsreeht.  II.,  S.  295. 


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Pa*  Recht  der  Öffentlichen  Arbeiten. 


217 


Bezeichnung  der  Verleihung  anzuwenden,  weil  er  sofort  die  entwickelten 
Grundsätze  des  I’rivatrechtes  über  Verträge  in  das  Verwaltungsrecht  mit- 
bringt  und  wider  Willen  die  Meinung  hervorruft,  dal)  diese  Grundsätze  auch 
im  Verwaltungsrechte  angeweudet  werden  müssen.1)  Im  Vcrwaltungsrechte 
finden  wir  indessen  die  vollkommen  entsprechenden  Ausdrücke  „Vereinbarung“ 
und  „Übereinkommen“.  Es  ist  zwar  dasselbe,  nur  mit  etwas  anderen  Worten; 
die  Worte  sind  jedoch  hier  besondere  wichtig,  weil  die  ungenaue  Ausdrucks- 
weise  so  viele  falsche  Ansichten  über  die  Natur  der  Konzession  hervorge- 
rufen  hat.  Die  Grundlage  der  Verleihung  der  öffentlichen  Arbeiten  bildet 
immer  ein  öffentlichrechtliches  Übereinkommen,  womit  sich  der  Unternehmer 
zur  Fertigstellung  einer  Öffentlichen  Arbeit  sowie  zum  Betriebe  des  Werkes 
verpflichtet  und  dafür  das  Hecht  erhält,  durch  eine  festgesetzte  Zeit  ein 
Stück  der  Öffentlichen  Verwaltung  im  eigenen  Namen  zu  führen  und 
bestimmte  Abgaben  zu  beziehen.  Das  Hechtsgeschäft  ist  zweiseitig;  — ein- 
seitig ist  nur  die  Form,  in  welcher  es  erscheint.  Die  Konzession  selbst  ist 
die  Form,  in  welcher  der  Staat  die  Annahme  des  vom  Unternehmer  gestellten 
Antrages  erklärt,  sie  ist  die  amtliche  Bestätigung  des  abgeschlossenen 
Übereinkommens.  Da  die  vorangehenden  Verhandlungen  nach  aullen  nicht 
hervortreten,  wird  die  Verleihungsurkunde  die  einzige  Quelle  der  beider- 
seitigen Hechte  und  Pflichten;  so  ist  die  Ansicht  entstanden,  als  ob  das 
ganze  Geschäft  ein  einseitiger  Verwaltungsakt  wäre.  Es  ist  ein  Verwaltungs- 
akt  (weil  er  die  Feststellung  der  Öffentlichen  Hechte  und  Pflichten  betrifft)  — 
aber  ein  zweiseitiger.  Wenn  auch  das  Übereinkommen  die  Grundlage  des 
Rechtsverhältnisses  bildet,  weiden  die  Parteien  nicht  wie  bei  einem  privat- 
rechtlichen  Vertrage  ihre  Rechte  im  ordentlichen  Rechtswege  verfolgen.1 
Das  ganze  Verhältnis  hat  nur  einen  Offentlichrechtlichen  Charakter*)  und 
seine  Wirkungen  bleiben  dieselben,  als  wenn  es  vom  Staate  durch  einen  ein- 
seitigen Verwaltungsakt  geschaffen  wäre.  Für  das  einmal  entstandene  Recht 
ist  der  Verpflichtungsgrund  ohne  Belang.  Der  beliehene  Unternehmer  gewinnt 
zwar  durch  den  Ahschluü  des  Übereinkommens  öffentliche  persönliche 
Berechtigungen,  aber  er  bleibt  doch  immer  dem  Staate  untertan.  Die  Ver- 
waltung, welche  ein  Übereinkommen  über  öffentliche  Rechte  und  Pflichten 
abschliellt,  wird  dadurch  nicht  zu  einem  Privatmann  herabgedrflekt;  sie  ist 
zwar  an  die  Bestimmungen  des  Übereinkommens  gebunden,  aber  sie  verzichtet 
doch  nicht  auf  seine  Herrschaftsgewalt:  der  Staat  bleibt  immer  das  herr- 
schende Wesen,  welches  über  öffentliche  Hechte  und  Pflichten  selbst  erkennt. 
Das  weitere  Verhältnis  zwischen  dem  Staate  und  dem  beliehenen  Unternehmer 

*)  Jellinek  (System  der  öffentliche«  subjektiven  Hechte  S.  62)  will  ganze  Kate- 
gorien von  Vorschriften  de»  Priiatrechtes  über  Irrtum,  Arglist,  Verschulden,  Befristung, 
Bedingungen,  Abrechnung,  ungeteilte  Haftung,  Bürgschaft  und  Verjährung  auf  die 
Offentlichrechtlichen  Leistungen  anwenden. 

5;  Eisenhahnkonzessionsgesetz  § Li. 

*)  Unbegreiflich  erscheint  die  Vorschrift  des  Art.  II.  $ 23  de»  Gesetzes  vom 
6.  September  1BS5,  R.-G.-Bl.  Nr.  122,  welche  fiir  etwaige,  nicht  dem  Schiedssprüche 
vorbehaltenc  Privatrechtsanspriiche  aus  dem  Konzessionsverhältnisse  den  Rechtsweg  Vor- 
behalt, als  oh  Privalreciitsanspriiche  aus  der  Konzession  möglich  wären. 


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218 


Breriewicz. 


wird  gewöhnlich  eine  Reihe  von  obrigkeitlichen,  einseitigen  Verfügungen 
darstellen.  Es  darf  uns  also  gar  nicht  befremden,  daß  der  das  Übereinkommen 
abschließende  Staat  das  Aufsichtsrecht  Ober  das  Unternehmen  ausObt,  sich 
die  gehörige  Instandhaltung  und  Fortführung  durch  obrigkeitliche  Maßregeln 
sichert,  daß  er  obrigkeitlich  feststellt,  was  zu  den  verleihungsmäßigen 
Pflichten  des  Unternehmers  gehört  und  seinen  Anordnungen  durch  Zwangs- 
mittel Geltung  verschafft.1) 

Dadurch  wird  die  Möglichkeit  eines  neuen  Übereinkommens  nicht 
ausgeschlossen.  Fast  jeder  .Jahrgang  des  Reichsgesetzblattes  bietet  in  dieser 
Richtung  zahlreiche  Beispiele.*)  Sie  betreffen  gewöhnlich  den  Bau  neuer 
Eisenbahnlinien,  StaatsbQrgschaft,  Änderung  ihrer  Bedingungen,  die  Berech- 
nung der  gegenseitigen  Forderungen  aus  diesem  Titel,  die  Einlösung  der 
Bahn  und  ihre  Bedingungen,  ja  selbst  die  Verlängerung  der  Konzession. 
Die  Verleihung  der  Konzession  kann  auch  vereinbart  werden  *)  und  erst  auf 
Grund  dieses  Übereinkommens  wird  die  Konzession  verliehen.  Wenn  die 
Grundlage  dieser  zweiten  Verleihung  ein  Übereinkommen  bildet,  so  ist  es 
auch  ganz  dasselbe  bei  der  ersten.  Solche  Übereinkommen  sind  manchmal 
unumgänglich  nötig,  wie  z.  B.  bei  Abtretungen  des  durch  die  Bahn  durch- 
schnittenen Staatsgebietes  an  einen  andern  Staat.1) 

Daß  diese  Betrachtungsweise  nicht  staatsgefährlich  ist  und  der  öffent- 
lichen Gewalt  keinen  Abbruch  tut,  beweist  wohl  am  besten  die'  Vergleichung 
der  ausländischen  Gesetzgebungen.  In  Frankreich  und  in  Italien  bestätigt 
nur  das  Gesetz  das  abgeschlossene  Übereinkommen;  in  Österreich  und  in 
Deutschland  wird  die  Konzession  in  der  Form  eines  Privilegs  von  dem 
Landesherrn  verliehen;  trotz  dieses  formellen  Unterschiedes  bleibt  das  Ver- 
hältnis des  beliehenen  Unternehmers  zum  Staate  grundsätzlich  ftherall  ein 
und  dasselbe. 

VII.  Arbeiterschutz. 

Eine  alle  Arbeiter  umfassende  Schutzgesetzgebung  besteht  Oberhaupt 
nirgends;  sie  bezog  sich  bisher  immer  nur  im  wesentlichen  auf  diejenigen 
Berufsgruppen,  bei  welchen  die  Gefährdung  am  größten  ist,  d.  i.  auf  die 
im  Kleingewerbe,  in  den  Fabriken  sowie  im  Handel  beschäftigten  Arbeiter,6) 
und  war  hauptsächlich  durch  das  Gewerbegesetz,  die  Novelle  vom  8.  März 
1885,  R.-G.-Bl.  Nr.  22,  das  Gesetz  vom  15.  Jänner  1895,  R.-G.-Bl.  Nr.  21, 
ilber  die  Sonntagsruhe  und  die  Arbeiterversicherungsgesetze  geregelt.  Die 
gewerberechtlichen  Vorschriften  gelten  jedoch  nur  fflr  alle  gewerbsmäßig 

l)  Otto  Mayer:  o.  s.  c.  II.,  S.  SOS  ff.;  Eisenbabnkonzessionsgesetz  §§  11  bia  13. 

*)  7,.  B.:  Gesetze  vom  17.  April  1876,  R.-G.-Bl.  Nr.  68,  vom  6.  Jänner  1878, 
R.-G.-Rl.  Nr.  10.  vom  22  März  1890,  R.-G.-Bl.  Nr.  49,  und  vom  25.  November  1891, 
R.-G.-Bl.  Nr.  164. 

*)  Gesetz  vom  6.  September  1885,  bestätigend  das  mit  der  Nordbahn  abgeschlossene 
Übereinkommen  ddto.  Wien,  10.  Jänner  und  17.  Jnli  1885. 

•)  Sieh  die  Übereinkommen  des  Staates  mit  der  Seilbahn  vom  20.  November  1861, 
K.-G.-Bl.  Nr.  113  und  vom  25.  Februar  1876,  R.-G.-Bl.  Nr.  36  ei  1877. 

*)  Vergl.  den  Artikel  von  Miseiiler  über  den  Arbeiterschutz  im  Staatswörter- 
buche, I.,  S.  47  ff 


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r>*8  R*cht  der  flffentlirhen  Arbeiten. 


219 


betriebenen  Beschäftigungen,  finden  also  keine  Anwendung  auf  öffentliche 
Arbeiten,  welche  regelmäßig  keinen  finanziellen  Gewinn  bezwecken;  es  muß 
noch  hervorgehoben  werden,  daß  auch  diese  öffentlichen  Anstalten,  welche 
Einkünfte  abweifen,  wie  Eisenbahnen,  Überfuhren  und  Dampfschiffalirts- 
nntemehrnungen.  dem  Bereiche  des  Gewerbegesetzes  entnommen  sind. ') 

Die  Arbeiterschutzvorschriften  stellen  sich  dar  als  unmittelbare  Ein- 
schränkungen des  Unternehmers  in  der  Benutzung  der  ihm  zur  Verfflgung 
stehenden  menschlichen  Arbeitskräfte,  mit  den  Verboten  der  Arbeitsverwen- 
dung und  mit  den  Regeln  über  die  Dauer.  Länge  und  Unterbrechung  der 
Arbeitszeit,’)  sowie  als  Pflichten  des  Unternehmers  zu  Leistungen  zu  Gunsten 
«ler  Arbeiter.  Man  hat  sich  lange  gesträubt,  die  Verwaltung  bei  Durch- 
führung der  zur  allgemeinen  Wohlfahrt  dienenden  öffentlichen  Arbeiten 
einzuschränken  und  man  fürchtete  eine'  bedeutende  Erhöhung  der  Kosten. 
In  neuester  Zeit  hat  sich  jedoch  die  Anschauung  Geltung  verschafft,  daß 
die  Verwaltung,  welche  durch  öffentliche  Arbeiten  die  allgemeine  Wohlfahrt 
fördert,  die  Wohlfahrt  der  bei  diesen  Arbeiten  beschäftigten  Arbeiter  doch 
nicht  vernachlässigen  kann.  Die  Erfahrung  hat  außerdem  die  wichtige  Tat- 
sache ins  volle  Licht  gesetzt,  daß  durch  die  Einführung  der  Arbeiterschutz- 
vorschriften und  insbesondere  der  Lohnklausel  die  Kosten  der  öffentlichen 
Arbeiten  in  keinem  nennenswerten  Maße  erhöht  werden.  •’)  Aus  diesen 
Erfahrungen  entwickelt  sich  vor  unseren  Augen  ein  neues  Hechtsgebiet  des 
Arbeiterschntzes  bei  öffentlichen  Arbeiten. 

I.  Es  gibt  Vorschriften  über  den  Arbeiterschutz,  welche  auf  öffentliche 
Arbeiten  ohne  Rücksicht  auf  die  Ausführungsart  derselben  (Abschnitt  V 
und  VI)  Anwendung  finden. 

1.  Die  Gesetze  über  Unfall-  und  Krankenversicherung  der  Arbeiter*) 
haben  alle  bei  der  Ausführung  von  Kauten  beschäftigten  Arbeiter  als  ver- 
sicherungspflichtig erklärt  und  somit  auch  die  bei  öffentlichen  Bauten  ange- 
stellten.  Sie  umfassen  jedoch  nicht  diejenigen  Personen,  die  bei  Jnstand- 
haitungsarheiten  und  anderen  beschäftigt  sind,  welche  nicht  als  Bauten 
angesehen  werden  können. 

Es  sind  fast  die  einzigen  allgemeinen  Vorschriften,  welche  für  alle 
öffentlichen  Bauten  und  in  allen  Ländern  eingeffihrt  wurden.4) 

2.  Einen  weiteren  Schritt  vorwärts  hat  das  Abgeordnetenhaus  in  der 
Resolution  vom  8.  Juli  1892  gemacht,  wodurch  die  Regierung  aufgefordert 
wurde,  dafür  Sorge  zu  tragen,  daß  hei  Herstellung  großer  Verkehrs- 
anlagen in  Wien  die  Bestimmungen  des  VI.  Hauptstückes  der  Gewerbe- 

1 ) Kais.  Patent  vom  20.  Dezember  1859,  R.-G.-Bl  Nr  227,  Art.  IV,  V lit. !).  nj. 

’)  Alfred  Weber  im  Jahrbuch,-  von  Schmoller,  XXI,  1897,  S.  1146. 

’)  Office  da  travail,  Note  sar  le  niininiam  de  aalairc  dan«  le»  traranz  public«. 
Paris.  1897.  S.  34. 

*)  Gesetz  vorn  28.  Dezember  1887,  R.-G.-Bl.  Nr.  1 ez  1888,  und  rom  80.  M a 17  1888, 
R.-G.-Bl.  Nr.  33. 

’)  Bezüglich  der  Einzelheiten  muß  an  das  in  Paria  erschienene  Werk  von  M.  Bellom: 
„Lea  loia  d'asaurance  oavriere  u l’etranger«  oder  an  die  in  Berlin  erscheinende  Bibliothek 
von  Zacher:  .Die  Arbeiterveraiehernng  im  Aualaude"  verwieeen  werden. 


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220 


Bresiewicz. 


Ordnung  strenge  gehandbabt  werden.  Diese  Anforderungen  haben  eine 
gesetzliche  Weihe  erhalten  im  Gesetze  über  den  Bau  von  Wasserstraßen, ') 
welches  sämtliche  Bestimmungen  des  VI.  Hauptstückes  der  Gewerbeord- 
nung, einschließlich  der  für  die  Fabriken  vorgesehenen  Sonderbestimmungen, 
auf  alle  Arbeiter  ausdebut,  die  bei  der  Ausführung  der  Wasserstraßen 
beschäftigt  werden  sollen.  Dadurch  finden  die  Vorschriften  über  die  Hygiene 
der  Arbeitsräume,  Normalarbeitstag,  Arbeitspausen,  Sonntagsruhe,  Feiortags 
heiligung,  Lohnzahlung.  Kündigung  des  Arbeitsverhältnisses  und  Entlassung 
aus  demselben,  über  Arbeitsordnungen,  Arbeitsverzeichnisse,  Arbeitsbücher, 
über  jugendliche  Hilfsarbeiter  und  Frauen,  auch  auf  die  Taglöhner  Anwen- 
dung. welche  dieses  Schutzes  bis  jetzt  nicht  teilhaftig  waren. 

:t.  Beim  Baue  der  Schiffahrtskanäle  und  der  Kanalisierung  der  Flüsse 
sind,  soweit  dies  mit  dem  gedeihlichen  Fortgang  der  Arbeit  vereinbar  ist, 
inländische  Arbeiter  zu  beschäftigen.  *) 

4.  Die  Gewähr  für  die  Durchführung  des  Arbeiterschutzes  wurde  aus 
Anlaß  der  größeren  Arbeiten  (wie  die  Wiener  öffentlichen  Verkehrsanlagen 
und  die  großen  Wasserstraßen)  durch  Errichtung*)  besonderer  Gewerbe- 
inspektoren gegeben.  Sie  sind  insbesondere  verpflichtet,  die  gewerbe-hygie- 
nischen Einrichtungen  der  Arbeit«,  und  Wohnräume,  die  Verhältnisse  der 
Arbeiter,  das  Vorhandensein  der  vorgeschriebenen  Aufzeichnungen  zu  unter- 
suchen und  bei  Erhebung  der  Ursachen  über  vorgefallene  Unglücksfälle 
teilzunehmen.  In  den  alljährlich  zu  erstattenden  Berichten  sollen  sie  genaue 
Angaben  über  die  Lohn-,  Wolmungs-  und  SanitätBverhältnisse  der  bei  der 
Ausführung  der  bezeichneten  Bauten  beschäftigten  Arbeitspersonen  sowie 
über  die  Art  der  Arbeitsvergebung  und  über  die  Arbeitszeit  zusammenstellen, 
wodurch  der  Gesetzgebung  iu  der  gedachten  Hichtung  vorgearbeitet  werden 
soll.  Außerdem  sind  zur  Überwachung  des  Gesundheitszustandes  unter  den 
bei  der  Ausführung  der  bezeichneten  Bauten  beschäftigten  Arbeitspersonen 
besondere  ärztliche  Organe  zu  bestellen. 

Sonstige  Vorschriften  beziehen  sich  teils  auf  Regiearbeiten,  teils  auf 
andere  durch  Vertrüge  an  Privatunternehmer  vergebene  Arbeiten. 

II.  Die  Regiearbeiten  werden  durch  unmittelbar  im  Dienst«  der  Ver- 
waltung stehendes  Personal  für  Rechnung  derselben  verrichtet;  es  mag 
dieses  die  Staats-,  Landes-,  Gemeinde-  oder  vom  beliehenen  Unternehmer 
aufgestellte  Verwaltung  sein.  Für  die  dabei  ständig  oder  zeitweise  ange- 
stellten  Beamten,  Unterbeamten  und  Diener  ist  in  den  Dienstordnungen 
Vorsorge  getroffen  worden.  Die  beschäftigten  Arbeiter  hielt  man  dadurch 
genug  geschützt,  daß  sich  diese  Arbeiten  unter  Aufsicht  der  Behörden  voll- 
ziehen, und  man  hat  bis  vor  kurzem  an  die  Regelung  von  Arbeitszeit  und 
Arbeitslohn  gar  nicht  gedacht.  Durch  den  Mangel  der  bezüglichen  Vor- 

')  Gesetz  vom  11.  Juni  1901,  E -G.-lil.  Nr.  66,  § 15. 

5)  Gesetz  über  Wasserstraßen  § 7. 

3,  Gesetz  vom  27.  August  1892.  R.-G.-BI.  Nr.  I58,  und  Gesetz  rom  11.  Juni  1901, 
R.*ti.*Bl  Nr.  60.  $ 14.  Über  die  „Gewcrboinapektinn1*  sieb  den  Artikel  von  Miacbler 
iiu  StaatswOrterbucbe,  1 , 8.  915  bis  925. 


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Du  Recht  der  öffentlichen  Arbeiten. 


221 


Schriften  wurde  eine  große  Ungleichmäßigkeit  in  der  Behandlung  der 
Arbeiter  hervorgerufen.  Die  Verwaltung  hat  jedoch  nicht  nur  das  Recht, 
sondern  auch  die  Pflicht,  ein  Musterarbeitgeber  zu  sein  und  mit  gutem 
Beispiele  voranzugehen. 

Den  Anfang  auf  diesem  Gebiete  hat  erst  das  Gesetz  vom  28.  Juli 
1902,  R.-G.-B1.  Nr.  156,  gemacht,  welches  die  Arbeitsverhälthisse  der  bei 
den  Regiebauten  aller  Eisenbahnen  (sowohl  Staats-  als  auch  Privatbahnen) 
verwendeten  Arbeiter  geregelt  hat.  Das  Gesetz  umfaßt  nur  die  Arbeiten, 
welche  von  der  Bahnverwaltung  selbst  unmittelbar  ausgeführt  werden  und 
nicht  die  an  Unternehmer  vergebenen  Arbeiten;  auch  nicht  diejenigen,  welche 
in  dem  Rahmen  der  gewöhnlichen  Bahnerhaltung  bewirkt  werden;  es  besitzt 
also  nur  einen  begrenzten  Wirkungskreis.  Da  es  jedoch  den  ersten  Grund- 
stein auf  diesem  Gebiete  bildet,  die  neuesten  Rechtsanschauungen  abspiegelt 
und  voraussichtlich  weiteren  gesetzlichen  Bestimmungen  als  Vorbild  dienen 
wird,  werden  seine  Vorschriften  im  folgenden  kurz  dargestellt: ') 

A.  Verbote,  einen  Vertrag  abzuschließen  oder  bestimmte  Arbeiten  zu 
verrichten,  bestehen  für  jugendliche  Arbeiter  und  Frauen.  Bei  den  ltegie- 
bauten  dürfen  die  Knaben  vor  dem  vollendeten  14.  Lebonsjahre  und  die 
Frauenspersonen  vor  dem  vollendeten  16.  Lebensjahre  Oberhaupt  nicht  ver- 
wendet werden.  Bei  der  Nachtarbeit  und  bei  der  Überstundenarbeit  kann 
man  jugendliche  Arbeiter  (vor  dem  vollendeten  16.  Lebensjahrei  und  Frauens- 
personen auch  nicht  beschäftigen:  sonst  können  ihnen  nur  leichtere  Arbeiten 
anvertraut  werden,  welche  fflr  die  Gesundheit  dieser  Arbeiter  nicht  nach- 
teilig sind. 

B.  Die  Eingehung  des  Vertrages  ist  durch  privatrechtliche  Vorschriften 
geregelt.  Der  Arbeitgeber  ist  jedoch  verbunden: 

1.  vor  Antritt  der  Arbeit  dem  Arbeiter  deu  Lohnsatz  bekannt  zu  geben 
und  in  die  Lohnlisten  einzutragen; 

2.  die  Arbeitsordnungen  aufzustellen,  welche  die  wesentlichen  Bestim- 
mungen des  Arbeitsvertrages  enthalten  müssen:  sie  werden  von  der  Auf- 
sichtsbehörde geprüft  und  bestätigt.  Die  bestätigte  Arbeitsordnung  ist  in 
einer  den  Arbeitern  verständlichen  Sprache  an  jeder  Arbeitsstätte  und  in 
jedem  Arbeitsraume  anzuschlagen  und  jedem  Arbeiter  beim  Eintritte  gegen 
schriftliche  Bestätigung  eiuzuhändigen. 

C.  Der  Inhalt  des  Arbeitsvertrages  wird  grundsätzlich  durch  freie 
Übereinkunft  der  Parteien  bestimmt,  jedoch  nur  innerhalb  der  durch  die 
Gesetze  vorgeschriebenen  Einschränkungen  bezüglich  der  Besehäftigungszeit, 
des  Lohnes,  der  Sicherheitsvorkehrungen  und  der  Arbeitsbücher. 

1.  Die  Arheitsdauer  darf  ohne  Einrechnung  der  Arbeitspausen  nicht 
mehr  als  höchstens  11  Stunden  binnen  24  Stunden  betragen.  Diese  Bestim- 
mung findet  keine  Anwendung: 

a)  auf  die  notwendigsten  Hilfsarbeiten,  welche  der  eigentlichen  Arbeit 

vor-  oder  nachgeheu  müssen: 

■)  ln  der  Gruppierung  des  Stoffes  folgen  wir  grundsätzlich  der  Einteilung  von 
J.  II.  v.  Zanten  (Die  Arbeiterichutzgesetigebung  in  den  europäischen Ländern.  Jena.  1!0‘>  . 

ZeiWchrin  fiir  V'uik«  vlrttclmft,  So* k und  Wmaltim*.  XII-  lifcud.  jtj 


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222 


Bre*iewicz. 


bj  auf  jene  Verrichtungen,  bei  denen  eine  genaue  Abgrenzung  der 
täglichen  Arbeitszeit  und  der  Arbeitspausen  nicht  durchführbar 
erscheint  und 

r)  bei  unvorhergesehenen  zwingenden  Umständen,  wenn  die  ungestörte 
Aufrechterhaltung  des  Verkehrs  ein  vermehrtes  Arbeitsbedürfnis  zur 
Folge  hat. 

Zwischen  den  Arbeitsstunden  sind  den  Arbeitern  angemessene  Ruhe- 
pausen zu  gewähren,  welche  zusammen  nicht  weniger  als  anderthalb  Stunden 
betragen  dürfen.  Bei  Bauten,  bei  welchen  eine  Unterbrechung  der  Arbeit 
beziehungsweise  des  Betriebes  untunlich  ist.  können  hinsichtlich  der  Arbeits- 
pausen besondere  Bestimmungen  getroffen  werden. 

An  Sonntagen  bat  die  Arbeit  zu  ruhen.  Von  dieser  Bestimmung  sind 
ausgenommen: 

a)  die  an  den  Arbeitslokalen  und  Werksvorrichtnngen  vorzunehinenden 
Säuherungs-  und  lustandbaltungsarbeiten,  welche  an  Wochentagen 
nicht  verrichtet  werden  können; 

h)  die  erforderliche  Bewachung  der  Bauten  und  der  Hilfsanstalten; 

r)  sonstige  unaufschiebbare  Arbeiten  in  Notfällen; 

d)  schließlich  kann  für  Regiebauten,  bei  welchen  eine  Unterbrechung 
der  Arbeit  untunlich  ist,  diese  Arbeit  an  Sonntagen  im  Verordnungs- 
wege gestattet  werden. 

Ben  Arbeitern,  welche  am  Besuche  des  Vormittagsgottesdienstes  ver- 
hindert wurden,  ist  am  nächstfolgenden  Sonntag  freie  Zeit  zu  gewähren 
und  bei  längerer  Beschäftigung  eine  Ruhezeit  an  einem  Wochentage. 

2.  Wenn  über  die  Zeit  der  Entlohnung  der  Arbeiter  nichts  anderes 
vereinbart  ist,  wird  die  Bedingung  wöchentlicher  Entlohnung  vorausgesetzt. 
Im  Verordnungswege  können  Maximaltermine  für  die  Lohnzahlung  festgestellt 
werden.  Die  Löhne  sind  in  barem  ("leide  auszubezahlen  und  dürfen  insbe- 
sondere nicht  an  Stelle  des  Lohnes  Anweisungen  für  den  Warenbezug  aus 
bestimmten  Geschäften  ausgegeben  werden.  Von  den  Verdienstbeträgen 
der  Arbeiter  dürfen  nur  folgende  Abzüge  gemacht  werden: 

a)  das  mit  Zustimmung  des  Arbeiters  im  voraus  bedungene,  einen 
Gewinn  aiisschlietfende  Entgelt  für  Wohnung,  Beleuchtung«-  und 
ßelieiznngsmatcrialien  für  häusliche  Zwecke,  für  Benutzung  der  Grund- 
stücke und  für  bezogene  Lebensmittel; 

b)  zur  Abstattung  von  Lohnvorschüssen; 

c)  Beiträge  für  die  Krankenkassa  und  für  das  Provision«-  oder  Alters- 
versorgungsinstitut; 

d)  die  Konventionalstrafgelder  für  Übertretung  der  Arbeitsordnung  (welche 
nur  in  Fällen  besonders  strafbaren  Leichtsinnes  die  Höhe  eines  halben 
Tagesverdienstes  innerhalb  des  Zeitraumes  einer  Woche  überschreiten 
können); 

e)  die  Entschädigungsbeträge  für  die  nicht  zurückgestellten  Arbeitsmittel. 
Unstatthaft  ist  die  Lohnzuräckhaltung  zur  Hereinbringung  oder 

Sicherstellung  anderer  Forderungen  der  Eisenbahnverwaltung.  Die  Verdienst- 


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Das  liecht  der  öffentlichen  Arbeiten. 


223 


beträge  der  Arbeiter  können  auch  vor  dem  Auszahlungstage  mit  Eiekutions- 
verfügungen  zu  Gunsten  dritter  Personen  nicht  getroffen  werden,  wenn  es 
sich  nicht  um  die  Steuern  und  öffentliche  Abgaben  oder  um  gesetzliche 
Ansprache  auf  Leistung  des  Unterhaltes  handelt. 

3.  Jede  Bahnverwaltung  ist  verpflichtet,  die  Banarbeiten  derart  zu 
regeln,  daß  die  daselbst  beschäftigten  Arbeiter  gegen  Gefahren  für  Leben 
und  Gesnndheit  nach  Möglichkeit  geschätzt  sind;  ebenso  ist  für  die  erste 
Hilfeleistung  bei  ünglücksfallen  und  hygienische  Einrichtungen  Sorge  zu 
tragen.  Der  Eisenbahnminister  ist  ermächtigt,  besondere  diesbezügliche 
Anordnungen  im  Verordnungswege  zu  erlassen.  Das  Aufsichtspersonal  der 
Bahnverwaltungen  hat  die  Verpflichtung,  die  Arbeiter  mit  den  bestehenden 
Sicherheit« maßregeln  und  den  Schutzvorkehrungen  vertraut  zu  machen. 

4.  Jeder  Arbeiter  muß  bei  Eintritt  mit  einem  Arbeitsbuche  versehen 
sein:  bezüglich  dieser  Arbeitsbücher  gelten  die  jeweiligen  für  gewerbliche 
Hilfsarbeiter  vorgeschriebenen  Bestimmungen.  Die  Bnhnverwaltungen  sind 
verpflichtet,  dem  Arbeiter  auf  Verlangen  beim  ordnungsmäßigen  Austritte 
aus  dem  Arbeitsverhältnisse  ein  Zeugnis  auszustellen  und  haften  für  die 
aus  Verweigerung  oder  wahrheitswidriger  Erteilung  entspringenden  Nachteile. 

D.  Die  Dauer  und  das  Ende  des  Vertrages  werden  in  erster  Linie 
durch  Vereinbarung  der  Parteien  bestimmt.  Mangels  vertragsmäßiger  Be- 
stimmungen endet  der  Vertrag  durch  eine  vierzehntägige  Kündigung  seitens 
einer  der  Parteien.  Insofern  eine  andere  Kündigungsfrist  vereinbart  wird, 
muß  sie  für  beide  Teile  gleich  sein.  Vor  Ablauf  der  bedungenen  Dauer 
des  Arbeitsverhältnisses  kann  der  Arbeiter  nur  aus  den  im  Gesetze  taiativ 
aufgezähltcn  wichtigen  Gründen ')  die  Arbeit  ohne  Kündigung  verlassen 
beziehungsweise  sofort  entlassen  werden.  Die  unbegründete  Verlassung  der 
Arbeit  beziehungsweise  Entlassung  gibt  der  andern  Partei  Anspruch  auf 
Entschädigung,  welche  dem  Arbeitslöhne  für  die  Kündigungsfrist  gleich  ist. 

E.  Die  Entscheidung  der  Streitigkeiten  aus  dem  Arbeits-  und  Lohn- 
verhältnisse gehört  zur  Zuständigkeit  des  Gewerbegerichtes  (wo  ein  solches 
bestellt  ist)  oder  des  Bezirksgerichtes,  ohne  Rücksicht  auf  den  Wert  des 
Streitgegenstandes. 

F.  Der  Vollzug  der  Gesetze  ist  in  ähnlicher  Weise  wie  bei  Gewerbe- 
unternehmungen gesichert  Die  Überwachung  der  Durchführung  der  Be- 
stimmungen über  den  Arbeiterschutz  liegt  jedoch  der  Generalinspektion  der 
Eisenbahnen  ob.  Die  Bahnverwaltungen  sind  verpflichtet,  den  Organen  der 
Aufsichtsbehörde  die  notwendigen  Aufklärungen  zu  geben,  den  Eintritt  in 
sämtliche  Arbeitsräume  zu  gestatten  und  den  Anordnungen  auf  das  genaueste 
nachzukommen. 

1.  Zum  Zwecke  der  erfolgreichen  Aufsichtsausübung  sind  von  den 
Bahnverwaltungen  folgende  Verzeichnisse  zu  führen  und  der  Aufsichts- 
behörde auf  Verlangen  vorzuweiseu: 


l)  §|  87  und  38  des  Gesetzes  vom  28.  Juli  1902,  welche  den 
der  Gewerbeordnung  gleichlautend  sind. 


82  und  82  a) 
16* 


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224 


Breaiewie*. 


aj  eia  Verzeichnis  aller  verwendeten  Arbeiter  mit  Angabe  des  Alters, 
des  Eintrittes  in  den  Dienst  und  des  Austrittes,  der  Verwendungsart 
und  der  Krankenkassa; 

U)  ein  Verzeichnis  aller  am  Sonntage  beschäftigten  Arbeiter,  mit  Angabe 
des  Ortes,  der  Art  und  der  Dauer  ihrer  Beschäftigung; 

<)  ein  Verzeichnis  der  jugendlichen  Hilfsarbeiter: 

d)  ein  Tarif  der  Wohnungen.  Beheizuugsinaterialien  und  Lebensmittel, 
welche  von  der  Hahnverwaltung  geliefert  und  vom  Lohne  in  Abzug 
gebracht  werden; 

e)  die  Lohnlisten,  mit  besonderer  Angabe  der  Itezüge  eines  jeden  Arbeiters 
und  der  Abzüge. 

2.  Der  Aufsichtsbehörde  muh  die  Anzeige  erstattet  werden: 
n)  Aber  das  die  Überschreitung  oder  Verlängerung  der  Maximalarheits 
dauer  hervorrufende  Bedürfnis  und 
h)  (Iber  die  Vornahme  der  unaufschiebbaren  Arbeiten  am  Sonntag. 

8.  Die  Aufsichtsbehörde  muh  bewilligen  beziehungsweise  bestätigen: 
n)  die  Bestimmung  der  wöchentlichen  Maximalarbeitszeit  in  ununter- 
brochenen Betrieben; 

b)  die  Verlängerung  der  täglichen  Arbeitszeit  im  Palle  eines  vermehrten 
Arbeitsbedürfnisses; 

<•)  den  Tarif  der  Wohnungen.  Beheizungsmaterialien  und  L ebensmittel, 
welche  dem  Arbeiter  geliefert  und  vom  Lohne  in  Abzug  zu  bringen  sind; 
dj  die  Arbeitsordnungen. 

Bei  Übertretungen  des  Gesetzes  weiden  jene  Personen,  welche  für 
die  Einhaltung  der  betreffenden  Vorschriften  nach  Mall  gäbe  der  Tatumstände 
verantwortlich  erscheinen,  von  der  Aufsichtsbehörde  mit  Verweisen  oder 
mit  Geldstrafen  bis  zum  Betrage  eines  Monatsgehaltes  geahndet.  Diese 
Strafen  werdeu  unbeschadet  einer  anfälligen  disziplinären  Behandlung  aus- 
gesprochen; sie  sind  jedoch  ausgeschlossen,  wenn  eine  den  Gerichten  zuge- 
wiesene  strafbare  Handlung  oder  Unterlassung  vorliegt.  Zur  Durchführung 
des  Gesetzes  und  der  erlassenen  Anordnungen  können  die  Bahnunter- 
nehmungen nach  vorati8gegangeuer  Androhung  durch  Ordnungsstrafen  bis 
zur  Höhe  von  5(100  Kronen  verhalten  weiden.  Die  Konventional-  lind 
Ordnungsstrafgelder  sind  solchen  im  Verordnungswege  zu  bezeichnenden 
Einrichtungen  zuzuwenden,  die  zum  Dosten  der  Arbeiter  dienen. 

III.  Bei  Vergebung  der  öffentlichen  Arbeiten  an  Privatunternehmer  hat 
man  bis  in  die  jüngste  Zeit  mir  an  die  Sicherstellung  der  Hechte  der 
Verwaltung  gedacht:  die  sozial  politischen  Anforderungen  einer  wirksamen 
Fürsorge  für  den  Schutz  der  Arbeiter  waren  der  Verwaltung  vollkommen 
fremd.  Die  Regelung  des  Verhältnisses  des  Unterbieters  zu  den  Arbeitern 
war  der  freien  Übereinkunft  der  Parteien  überlassen:  so  war  das  Verhältnis 
des  Unternehmers  und  des  Arbeiters  nur  vom  wirtschaftlichem  Gesetze  von 
Angebot  und  Nachfrage  beherrscht.  Dieses  inulite  hei  grotlem  Wettbewerb 
und  bei  übertriebenen  Unterboten  der  Unternehmer  eine  Verschlechterung 


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Da*  H**cht  *it*r  ftffentliclien  ArH«t<*n. 


225 

der  Lohnverhältnisse  und  Versäumung  jedweder  Schutzeinrichtungen  der 
Arbeiter  im  Gefolge  haben. 

Die  Gewerbenovelle  vom  H.  März  188.r>,  welche  eine  sehr  bedeutsame 
sozial-politische  Regelung  der  gewerblichen  Arbeit  hervorgebracht  hat, ') 
konnte  auf  dem  Gebiete  der  öffentlichen  Arbeiten  nur  kaum  nennenswerte 
Wirkungeu  hervorbringen,  und  zwar  aus  folgenden  Gründen: 

<i>  manche  öffentliche  Arbeiten  (wie  z.  B.  Eisenbahnarbeiten)  sind  aus 
dem  Begriffe  des  Gewerbes  ausgeschlossen; 
h)  nicht  für  alle  Unternehmungen  öffentlicher  Arbeiten  gelten  die  Bestim- 
mungen des  Gewerbegesetzes,  sondern  nur  für  solche,  welche  einen 
regelmätiigen  Erwerb  der  Unternehmer  bilden;  bei  gelegentlicher  Unter- 
bietung und  Vornahme  der  öffentlichen  Arbeiten  kann  der  Unternehmer 
nicht  als  Gewerbsmann  betrachtet  werden; 
e>  die  Gewerbeordnung  findet  keine  Anwendung  auf  die  Lohnarbeit  der 
gemeinsten  Art.  welche  bei  öffentlichen  Arbeiten  eine  sehr  bedeutende 
Rolle  spielt. 

Diese  feinen  Unterschiede,  welche  der  Arbeiter  nie  erkennen  konnte, 
haben  bewirkt,  daß  der  Arbeiterschutz  bei  öffentlichen,  an  die  Unternehmer 
vergebenen  Arbeiten  ganz  unzureichend  geworden  ist.  Das  Recht  und  die 
Pflicht  des  Staates  und  der  öffentlichen  Korporationen,  hei  Vergebung  von 
Arbeiten  an  private  Unternehmer  auf  den  Schutz  der  bei  der  Ausführung 
derselben  beschäftigten  Personen  Bedacht  zu  nehmen  und  liiefür  Vorsorge 
zu  treffen,  ist  in  den  westlichen  Industriestaaten  ziemlich  allgemein  aner- 
kannt. *)  Trotzdem  ist  dieser  Arbeiterschutz  bis  jetzt  fast  nirgends  gesetzlich 
geregelt.  Zur  teilweisen  Ersetzung  dieser  gesetzlichen  Lücke,  um  wenigstens 
die  größten  Härten  der  überwiegenden  Stellung  des  Unternehmers  auszu- 
gleichen. werden  vou  der  Verwaltung  den  Unternehmern  öffentlicher  Arbeiten 
vertragsmäßig  verschiedene  Bestimmungen  zu  Gunsten  der  Arbeiter  auferlegt. 
Sie  beziehen  sich  auf  die  Zahl  der  anzustellenden  Arbeiter,  auf  die  Art  der 
Lohnzahlung,  auf  das  Vorrecht  der  Arbeiter  an  den  dem  Unternehmer  von 
der  Verwaltung  geschuldeten  Geldern,  auf  die  Fürsorge  und  die  Hilfe- 
leistungen hei  Unglücksfällen,  schließlich  auf  die  Sonntagsruhe  und  die 
Akkordarbeit. 3 Die  wichtigsten  Arbeitsbedingungen  bei  Vergebung  öffent- 
licher Arbeiten  in  Österreich  sind  folgende: 

1.  Der  Unternehmer  ist  verpflichtet,  stets  die  nötigen  Vorsichtsmaß- 
regeln zu  ergreifen,  damit  die  Arbeiter  keiner  körperlichen  Verletzung  oder 
gar  einer  Lebensgefahr  ausgesetzt  werden:  er  muß  deswegen  denjenigen 
Anordnungen  entsprechen,  welche  zur  Sicherung  der  Gesundheit  seiner 

*)  In  Deutschland  hat  die  Novelle  zur  Gewerbeordnung  vom  SO.  Juni  1900  in  den 
Art  ü hie  14  für  einen  noch  ausgiebigeren  Schutz  der  Arbeiter  gesorgt. 

J)  Der  Arbeiterschutz  bei  Vergebung  öffentlicher  Arbeiten  uud  Lieferungen.  Wien. 
1900,  S.  VL 

*)  Vergl.  das  Werl  von  Oubert  (übersetzt  von  Franz  Hauptvogel):  Arbeits- 
bedingungen bei  Submissionen,  Leipzig,  1902,  S 4.  und  von  Carraro  dott.  Gins.:  Le 
clausole  tutrici  dcl  lavoro  negli  appalti  puhhliri.  I'adova.  1903. 


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226 


Bre&iewicz. 


Arbeiter  und  zur  Wahrung  der  Reinlichkeit  von  der  Verwaltung  getroffen 
werden.  ')  Einige  Vertragsbedingungen  *)  stellen  außerdem  die  Verpflichtung 
des  Unternehmers  fest,  für  die  Unterkunft,  Pflege  und  Heilung  erkrankter 
oder  verwundeter  Arbeiter  Sorge  zu  tragen.  Bei  größeren  Wasserbauten  und 
bei  Staatseisenbahnbautcn  wird  der  Erstelier  durch  die  Bediugnishefte  ver- 
halten, durch  Errichtung  von  Baracken  für  die  Unterkunft,  und  von  Speise- 
anstaltcn  für  die  gesunde  und  billige  Verköstigung  seiner  Arbeiter  zu  sorgen.’) 

2.  Um  die  Umgehung  der  Vertragsbestimmungen,  betreffend  den 
Arbeiterschutz,  zu  verhindern,  wird  allgemein  anerkannt,  daß  die  Weiter- 
vergebung der  erstandenen  Arbeiten  an  Zwischenunternehmer  ohne  ausdrflck- 
liehe  Genehmigung  der  vergebenden  Behörde  nicht  stattfinden  kann  und 
daß  der  Unternehmer  für  die  Einhaltung  der  Bedingnisse  durch  den  Zwischen- 
unternchmer  haftet.  *) 

:i.  Den  Unternehmern  der  Staatseisenbahnbauten  wird  zur  Pflicht 
gemacht,  ’)  die  Arbeiter  in  der  Kegel  alle  vierzehn  Tage  oder  in  noch 
kürzeren  Zeitabschnitten  regelmäßig  zu  bezahlen.  Im  Falle  nachgewiesener 
Säumnis  des  Unternehmers  hat  die  Bauleitung  das  Recht,  die  Arbeiter  auf 
seine  Kosten  zu  befriedigen  und  die  hiezu  verwendete  Summe  als  eine  an 
den  Unternehmer  selbst  geleistete  Abschlagszahlung  zu  behandeln. 

4.  Allen  Unternehmern  bei  den  Wiener  Verkehrsanlagen  wird  schon 
durch  die  Offertbedingnisse  die  Beobachtung  der  aufgestellteu  Arbeitsord- 
nungen vorgeschrieben,  welche  den  Bestimmungen  des  VI.  Hauptstückes 
der  Gewerbeordnung  Rechnung  tragen.')  Bei  Staatseisenbahnbauten  ist 
wenigstens  die  Aufstellung  und  Kundmachung  einer  behördlich  genehmigten 
Arbeitsordnung  vorgeschrieben. 

In  England  wurden  seit  einem  Beschluß  dos  Unterhauses  vom  13.  Fe- 
bruar 1891  uach  und  nach  von  Staatsbehörden  die  Bedingungen  über 
Verbot  der  Weitervergebung  der  Arbeiten  an  Zwiscbenunternebmer  und 
Bezahlung  der  Arbeiter  nach  dem  gangbaren  Lohnsätze  des  betreffenden 
Gewerkes  in  die  Bedingungsheftc  der  öffentlichen  Arbeiten  aufgenommen. 
Diese  Lohnsätze  werden  von  der  Genossenschaft  der  Unternehmer  mit  den 
Gewerkvereinen  vereinbart.')  Ähnliche  Bestimmungen  werden  auch  bei 

')  Allgemeine  üanbedingnisse  für  Wasser-  und  Ktraßcnarbciten  § Iü;  allgemeine 
Bedingungen  für  Militärarbeiten  Art.  XXXV. 

')  Vertragsbedingungen  für  die  Anfertigung  u.  ».  w.  vou  eisernen  Iieichsstraßeu- 
brückeu  § 37  (Erlaß  des  Ministeriums  des  Innern  vorn  31.  Dezember  1*92,  X.  21.817). 
Allgemeine  Bedinguisse  für  die  Offerenten  und  Unternehmer  von  Staatseisenbaiinbauten 
Art.  20  bis  22. 

’)  Der  Arbeitersehutz  bei  Vergebung  öffentlicher  Arbeiten  8.  131  und  134. 

*)  Allgemeine  Baubediugnisse  für  Wasser-  und  , Straßenarbeilen  § 5;  allgemeine 
Bedingungen  für  Militiirarbeiten  Art.  XXX. 

’)  Sieh  die  oben  erwähnten  allgemeinen  Bedingnisse  für  Staateeisenhalmbaiiten. 

*)  Der  Wortlaut  dieser  Arbeitsordnung  findet  sich  im  Berichte  der  Kommission 
für  Verkehrsanlagen  in  Wien  (Wien,  1824),  S.  08  ff. 

')  Uber  die  „Tarifverträge  zwischen  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern"  sieh  den 
Artikel  von  Philipp  Lotmar  in  Brauns  Archiv  für  soziale  Gesetzgebung,  1200, 
S.  11  bis  122. 


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Lias  Recht  der  öffentlichen  Arbeiten. 


227 


Arbeiten  des  Londoner  Grafschafte  rate«  und  der  größeren  Städte  in  die 
Bedingungshefte  aufgenommeu. ')  Auch  bei  uns  wird  der  Zusammenstellung 
von  den  den  Orts-  und  jeweiligen  Zeitverbältnissen  entsprechenden  Preis- 
tarifen der  Arbeiten  eine  besondere  Aufmerksamkeit  gewidmet,  sie  haben 
jedoch  nur  den  Zweck,  für  die  Vergebuugsverhandlungen  eine  richtige 
Grundlage  zu  erzielen.*)  In  Frankreich  wurde  schon  durch  das  Dekret  vom 
2.  März  1848  die  den  Arbeiter  ausbeutende  Akkordarbeit  unterdrückt. 
Seit  18663)  besteht  die  Pflicht  des  Unternehmers,  die  Arbeiter  in  ent- 
sprechenden Zeitabschnitten  zu  zahlen  und  das  Recht  der  Verwaltung,  die 
Lohnansprüche  auf  Rechnung  des  Unternehmers  unmittelbar  zu  bestreiten; 
außerdem  wird  dem  Unternehmer  von  jeder  Abschlagszahlung  ein  Hundertstel 
der  jeweiligen  Summe  für  die  Zwecke  der  Unterstützung  der  verunglückten 
oder  erkrankten  Arbeiter,  ihrer  Witwen  und  Kinder  zurückbehalten.  Seit 
1882  führte  der  .Stadtrat  von  Paris  mit  der  Regierung  einen  Streit4)  Ober 
Feststellung  des  Normalarbeitstages,  eines  Ruhetages  in  der  Woche  und 
der  Lohnhöhe  hei  Vergebung  der  Stadtarbeiten  r diese  Bestrebungen 
scheiterten  durch  lange  Zeit  an  der  herrschenden  Rechtsanschauung  über 
die  Freiheit  der  Arbeit.  Erst  ein  Dekret  vom  10.  August  1899  ordnet  an. 
daß  in  die  Lastenhefte  der  Verträge  über  öffentliche  Arbeiten  des  Staates 
folgende  Bedingungen  aufgenommen  werden  müssen; 
a)  die  Gewährleistung  eines  Ruhetages  den  Arbeitern  in  der  Woche; 
bj  die  Anstellung  ausländischer  Arbeiter  nur  in  einem  von  der  Verwaltung 
bestimmten  Verhältnisse; 

r. ) die  Beschränkung  der  täglichen  Arbeitszeit  auf  die  gebräuchliche 
Arbeitsdatier; 

A)  die  Auszahlung  der  gangbaren  Normallöbne,  welche  zwischen  den 
Verbänden  der  Arbeitgeber  und  uehiner  vereinbart,  oder  von  gemischten 
Kommissionen  ausgemittelt  worden  sind,  und  deren  Verzeichnis  jedem 
Lasteuhefte  beigelegt  werden  muß.  Die  Verwaltung  ist  befugt,  den 
Unterschied  zwischen  dem  gezahlten  und  dem  gangbaren  Lohne  den 
Arbeitern  selbst  auszuzahlen  und  dem  Unternehmer  von  dem  Ver- 
dienstbetrage  oder  von  der  Kaution  in  Abzug  zu  bringen. 

Zwei  andere,  an  demselben  Tage  erlassene  Dekrete  haben  den 
Departements,  den  Gemeinden  und  den  Woblt&tigkeitsanstalten  die  Freiheit 
gelassen,  obige  Klauseln  in  ihre  Lastenhefte  einzuführen. 

ln  Preußen  und  in  Baden  ist  die  Verwaltung  befugt,  die  Verdienst- 
beträge  der  Handwerker  und  Arbeiter  unmittelbar  zu  zahlen,  wenn  der 
Unternehmer  die  Verpflichtungen  aus  dem  Arbeitsvertrage  nicht  pünktlich 

l)  Arbeiterschutz  bei  Vergebung  öffentlicher  Arbeiten,  $.  I bis  14. 

*)  Hau tienst Vorschriften  für  das  Heer  § 23. 

’)  Cahier  de  elauses  et  conditions  generales  artete  le  16.  uuveeobre  1866,  Art.  16 
und  16. 

4)  l>r.  Viktor  Mataja:  Städtische  Sozialpolitik.  (Zeitschrift  für  Volkswirtschaft, 
Sozialpolitik  und  Verwaltung,  III.  Hd.  1894,  S.  56-  ff ) ; Hubert:  Arbeitshedingnngen 
bei  Submissionen  S.  S bis  26. 


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228 


ßrcsii  wie«. 


erfüllt  und  das  angemessene  Fortschreiten  der  Arbeiten  dadurch  in  Frage 
gestellt  werden  sollte.1)  Boi  städtischen  Arbeiten  in  Berlin  ist  die  Arbeits- 
zeit durchweg  auf  10  Stunden  herabgesetzt  und  die  Mindestlahne  auf 
3'50  Mark  erhoben  worden;  Überstunden  werden  entsprechend  höher  ent- 
lohnt.’) Im  Jahre  1901  wurde  vom  Ausschüsse  der  bayrischen  Abgeordneten- 
kammer beschlossen,’!  daß  bei  Vergebung  von  staatlichen  Arbeiten  den 
Arbeitern  mindestens  der  orts-  und  berufsübliche  oder  in  vereinbarten 
Tarifen  festgesetzte  Tagclohn  bezahlt  werden  muH;  die  Arbeitszeit  darf  in 
der  Regel  10  Stunden  täglich  nicht  überschreiten;  Überstunden  sind  mit 
mindestens  25  Proz.  Zuschlag  zu  vergüten;  die  Ruhezeit  an  Sonn-  und 
Feiertagen  dauert  mindestens  ununterbrochen  30  Stunden;  in  erster  Reihe 
sind  inländische  Arbeiter  zu  beschäftigen;  die  Verwendung  anderer  Arbeiter 
darf  nur  zu  den  gleichen  Lohn-  und  Arbeitsbedingungen  stattfinden.  Den 
Behörden  der  Kreise  und  Gemeinden  wird  empfohlen,  bei  Ausführung  und 
Vergebung  ihrer  Arbeiten  nach  gleichen  Grundsätzen  zu  verfahren. 

In  Italien  ist  dem  Unternehmer  nicht  erlaubt,  ohne  behördliche 
Genehmigung  den  Vertrag  an  Zwischenunternehmer  abzutreten.  Die  Zahluug 
der  Löhne  soll  wenigstens  alle  15  Tage  erfolgen;  falls  der  Unternehmer 
mit  der  Zahlung  im  Ausstande  bleibt,  ist  die  Verwaltung  ohne  weiteres 
befugt,  die  Löhne  auf  seine  Kosten  zu  begleichen.4)  Außerdem  muß  der 
Unternehmer  seine  Arbeiter  auf  eigene  Kosten  gegen  UuglOcksfälle  ver- 
sichern.5) 

Durch  Umstellung  obiger  Bedingungen  in  die  Vergebungsverträge 
wird  die  Freiheit  der  Verträge  und  der  freie  Wettbewerb  nicht  verletzt,  da 
es  doch  einem  jeden  Unternehmer  freisteht,  den  Vertrag  mit  der  Ver- 
waltung abzuschließen  oder  nicht,  und  alle  Unternehmer  gleichmäßig  behandelt 
werden.  Ks  wird  dadurch  auch  in  die  gesetzliche  Regelung  der  Arbeits- 
verhältnisse nicht  eingegriffen,*)  da  der  Verwaltung  das  Recht  nicht  ahge- 
sprochen  werden  kann,  den  Unternehmern  Bedingungen  aufzulegen,  welche 
den  zwingenden  Vorschriften  des  bürgerlichen  Gesetzbuches  nicht  zuwider- 
laufen. Die  große  rechtliche  Wichtigkeit  dieser  Arbeiterschutzbestimmungen 
läßt  sich  nicht  verkennen.  Sie  bilden  zwar  für  die  Parteien  kein  Gesetzes-, 
sondern  ein  Vertragsrecht  und  können  nur  in  der  Art  wie  andere  Vertrags 
klausein  durchgefflhrt  werden.  Es  ist  jedoch  die  öffentliche  Verwaltung, 
welche  die  Erfüllung  dieser  Bedingungen  überwacht  und  ohne  gerichtliches 
Verfahren  erzwingt.  Schließlich  sproßt  aus  diesen  tausendmal  wiederholten 
Vertragsverhältnissen  die  rechtliche  Überzeugung  von  der  Notwendigkeit 

')  Preußische  allgemeine  Vertragsbedingungen  für  Staatsbauten  J 11;  badische 
Ministerialverordnung  vom  7.  Juni  1890,  0.-  und  V.-Bl.  S.  293. 

•)  Soziale  Präzis,  XI.  Jahrg.,  Sp.  351  ff.  und  1299  (T. 

*)  Soziale  Präzis.  XI.,  Sp.  154. 

9 Legge  sui  Invori  pubblici  Art.  339  and  357. 

Gesetz  vom  17.  Mürz  1898,  Art.  7;  Capitolato  generale  Art  22;  Condizioni 
generali  Art.  18  und  19. 

•j  Wie  es  BrJmond  (Revue  Critique,  1391,  S.  147  bis  153)  behauptet. 


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1 >as  Ki'cht  4c r offriitlicben  Arbeiten. 


220 


eines  gedeihlichen  Arbeiterschutzes,  welche  diese  Schutzklauseln  in  der 
Zukunft  zum  Gesetzesrechte  umzuwandeln  geeignet  ist.  Diese  Rcchts- 
bildung  wird  in  den  westlichen  Ländern  Europas  rascher  Platz  greifen,  da 
in  diesen  Ländern  fast  durchwegs  hei  öffentlichen  Arbeiten  viel  weiter- 
gehende Arbeiterschntzbestimmungen1)  Anwendung  finden,  als  sie  sonst  für 
die  Arbeiterschaft  der  privaten  Industrie  gelten.  Bei  uns  hingegen  ist  der 
Kechtszug  auf  Erweiterung  der  gewerberechtlichen  Schutzbestimmungen  auf 
die  Unternehmungen  der  öffentlichen  Arbeiten  gerichtet. 

VIII.  Verwaltung  öffentlicher  Arbeiten. 

Das  Verfahren,  welches  bei  Durchführung  öffentlicher  Arbeiten  etu- 
gehalten  wird,  weist  wesentliche  Unterschiede  auf,  je  nachdem  es  sich  um 
Herstellung  oder  um  Erhaltung  handelt.  Dieser  Unterschied  ist  durch  die 
Möglichkeit  des  gröberen  oder  kleineren  Einflusses  auf  die  Beeilte  dritter 
Personen  gerechtfertigt. 

I.  H e r s t e 1 1 u n g s a r b e i t e n. 

Im  Verfahren.  welches  bei  Herstellung  öffentlicher  Arbeiten  beobachtet 
wird,  lassen  sich  mehrere  Cbergangsstufen  unterscheiden: 

A.  Vorarbeiten. 

B.  Vorlegung  und  vorläufige  Prüfung  des  Entwurfes, 

C.  Beratsehlagungsverfahren, 

D.  Genehmigung  des  Entwurfes  und  Fällung  der  Enteignungs- 
erkenntnisse, 

E.  Ausführung, 

F.  Prüfung  und  Betriebserlaubnis. 

A.  Vorarbeiten. 

.Sind  behufs  der  Ausführung  öffentlicher  Arbeiten  Vorarbeiten  auf 
fremden  Grundstücken  notwendig  und  will  der  Grundeigentümer  die  Vor- 
nahme derselben  nicht  gestatten,  so  entscheidet  die  politische  Bezirksbehörde 
auf  Ansuchen  des  Unternehmers  sowohl  über  die  Notwendigkeit  als  auch 
die  Zulässigkeit  der  beabsichtigten  Handlung.*)  Die  politische  Bezirks- 
behörde bestimmt  auf  Ansuchen  des  Beteiligten  die  Sicherheit,  welche  die 
Unternehmung  zu  leisten  hat.  und  die  Höhe  der  zu  entrichtenden  Entschä- 
digung, die  letztere  vorbehaltlich  der  Entscheidung  im  urdentlicheu  Rechtswege. 

Zur  Vornahme  der  Vorarbeiten  wird  eine  angemessene  Frist  festgesetzt; 
nach  Beendigung  dieses  Zeitraumes  ist  die  Bewilligung  als  erloschen  anzu- 

*)  Der  Arbeiterschntz  bei  Vergebung  öffentlicher  Arbeiten,  S.  VII. 

•)  § 55  krain..  § 71  stelermlrk.,  $ 72  bukow.,  5 73  niederösterr..  § 75  istrian., 
e 77  sonstiger  Landeawaaaerreehtsgesetze ; § 42  des  Eiienbahuenteigntingsgcsetzes.  Die 
Bewilligung  f(ir  die  Vorarbeiten  einer  Eisenbahn  wird  vom  Eisenhahnniiimteriiim  erteilt 
($  2 des  Eisenbahnkonzessionsgesetzes.t  Italienisches  Gesetz  über  öffentliche  Arbeiten  Art.  242 
und  243  und  Gesetz  vom  26.  Juni  1865.  Art.  7.  Französisches  Gesetz  vom  22.  Juli 
1880.  Art.  1. 


Hresiewiez. 


.'Hfl 

sehen:  sic  kann  jedoch  wiederholt  angesucht  und  erteilt  werden.1)  Durch 
die  Bewilligung  zu  den  Vorarbeiten  erhält  der  Unternehmer  weder  ein  Vor- 
recht auf  Konzession  der  Anlage  noch  eine  sonstige  ausschließliche  Befugnis; 
es  kann  daher  die  Bewilligung  zu  den  Vorarbeiten  verschiedenen  Personen 
erteilt  werden.  Die  Bewilligung  zu  den  Vorarbeiten  gibt  bloß  das  Beeilt, 
auf  Kosten  des  Unternehmers  die  Vorerhebungen  für  die  künftige  Ausführung 
der  beabsichtigten  Arbeiten  unter  Aufsicht  der  Behörden  zu  pflegen  und 
die  nötigen  Vermessungsarbeiten  vorzunebmen.*) 

Den  Vorarbeiten,  welche  von  Staatsbehörden  oder  den  Selbstverwaltungs- 
körpern verrichtet  werden,  muß  ein  Antrag  der  Vollzugsorgane  an  die  be- 
schließende Behörde  vorangehen.  Diese  Anträge5)  werden  entweder  über 
höheren  Auftrag  von  den  Baubehörden  verfaßt  oder  sie  entspringen  aus 
eigenem  Antriebe  der  unteren  Baubehörden.  Im  letzteren  Falle  wird  ihre 
Verfassung  durch  Bedürfnisse  und  Zweckmäßigkeitsrücksichten  oder  durch 
zwingende  Umstände  (z.  B.  durch  Elementarereignisse,  durch  eingetretpne 
Gefahr  u.  dgl.)  begründet. 

Anträge  über  Neubauten  sind  stets,  andere  Anträge  aber  hei  einem 
höheren  Kostenerfordernisse  besonders  zu  begründen;  sie  umfassen: 
a)  die  Darstellung  der  Veranlassung,  Notwendigkeit,  Zweckmäßigkeit  und 
Tragweite  der  beabsichtigten  Arbeiten; 
hj  die  Darstellung  der  technischen  Einzelheiten,  der  Bauerfordernisse  und 
die  Vorbereitung  der  Behelfe  für  die  Ausführung; 
c)  den  Kostenvoranschlag. 

Zur  Verfassung  eines  Bauautrages  sind  kommissioneile  Vorverhandlungen 
durchzuführen,  an  welchen  die  Vertreter  jener  Behörden  teilzunehmen  haben, 
welche  zur  Wahrung  der  in  Frage  stehenden  Interessen  bestimmt  sind. 
Wenn  durch  die  vorgeachlagenen  Arbeiten  nachbarliche  oder  sonstige  fremde 
Hechte  berührt  werden,  sind  unter  Beiziehung  der  Aurainer  und  sonstiger 
Interessenten  Verhandlungen  zu  führen,  um  die  Bedingungen  der  entwurfs- 
mäßigen Ausführung  zu  erheben  und  mögliche  Ansprüche  der  Anrainer 
auszntrngen. 

/#.  Vorlegung  und  Prüfling  des  Entwurfes. 

Die  Entwürfe  und  Berichte,  betreffend  die  auf  Staatskosten  anszufüh- 
renden  Arbeiten,  sind  der  höheren  Baubehörde  zur  Genehmigung  vorzulegen. 
Bei  anderen  öffentlichen  Arbeiten  hat  der  Unternehmer  bei  der  zuständigen 
Behörde  ein  Bewilligungsgesuch4)  einzubringen.  Die  betreffende  Vorlage  muß 
enthalten: 


*)  Verordnung  des  Handelsministeriums  vom  25.  Jänner  IST II.  It.-Ii.-HL  Nr.  19,  § I. 

*1 1 4 <les  Eisenbahnkonzessionsgesetzes. 

3)  Üüer  die  Verfassung  von  Banuuträgeu  bestehen  besondere  Vorschriften  z.  1t.  in 
den  Baudieiistvorschriften  für  das  h.  und  k.  Heer,  I.  T.,  20  bis  37. 

§ 78  der  meisten  Wasserreehtsgesetze:  Gesetz  über  Ableitung  von  Gebirgs- 
wässem  §9;  Eisenbahukonxessionsgesetz  vom  14,  September  1854,  It.-G.  Bl.  Nr.  238,  § 5, 
uml  Verordnung  des  Handelsministeriums  vom  25.  Jänner  1879,  K.-G.-Bl.  Nr.  19,  § 1. 
Gesetz  vom  18.  Febril sr  1»78,  It.-G.-Bl.  Nr.  30,  § 12. 


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Das  Hecht  d*  r ftffVutlicheii  Arbeiten. 


2*»  1 


1.  die  Angabe  de«  Zweckes  und  Umfanges  der  Unternehmung; 

2.  die  von  einem  Sachverständigen  verfallen  Entwürfe  und  Zeichnungen ; 

3.  die  Art  und  Weise  der  Ausführung; 

4.  die  Darstellung  der  zu  erwartenden  Vorteile  und  der  im  Falle  der 
Unterlassung  zu  besorgenden  Nachteile; 

5.  eine  Schätzung  der  mutmaßlichen  Baukosten : 

0.  die  Aufzählung  der  Mittel  zur  Deckung  der  erforderlichen  Kosten; 

7.  die  Angabe  der  Interessenten,  deren  liechte  durch  die  beabsichtigte 
Unternehmung  berührt  werden; 

8.  die  Angabe  der  Grundstücke  und  Liegenschaften,  welche  abzutreten 
oder  mit  Dienstbarkeiten  zu  belasten  wären. 

Bei  den  Arbeiten,  welche  vom  Staat«  oder  von  Selbstverwaltungs- 
körpern  entworfen  werden  und  vom  Unternehmer  ausgefülirt  werden  sollen, 
zerfallen  die  Entwurfsbelege  in  zwei  Teile: 

1.  in  rein  technische:  in  diese  ist  alles  aufzuuehmen,  was  zur  Erläuterung 
der  Notwendigkeit,  Zweckmäßigkeit,  Beschaffenheit  und  Form,  ferner  zur  Dar- 
stellung der  Kosten  des  beantragten  Baugegenstandes  erforderlich  ist.  Diese 
Belege  sind  zunächst  lediglich  zum  Gebrauche  der  Baubehörden  bestimmt; 

2.  in  technisch-administrative  Belege,  welche  als  Grundlage  der  Ver- 
träge für  die  Unternehmer  zu  dienen  haben. 

Die  näheren  Bestimmungen  über  die  Einrichtung  und  Vorlage  der 
technischen  Entwürfe  für  Unternehmungen,  welche  aus  dem  staatlichen  Me 
liorationsfonds  unterstützt  werden  sollen  oder  die  unschädliche  Ableitung 
von  Gebirgswässern  betreffen,  enthalten  zwei  Verordnungen  des  Ackerbau- 
ministeriums vom  18.  Dezember  1885,  R.-G.-Bl.  Nr.  1 und  2 ei  1886. 
Die  Verfassung  von  Eisenbahnentworfen  und  des  hierüber  einzuhaltenden 
Verfahrens  ist  in  den  Verordnungen  des  Handelsministeriums  vom  25.  Jänner 
1879,  R.-G.-Bl.  Nr.  19,  und  vom  29.  Mai  1880.  K.-G.  B1.  Nr.  57,  geregelt. 
Das  weitere  Verfahren  ist  dasselbe  bei  den  Staatsbauten1  und  anderen 
öffentlichen  Arbeiten.  Ergibt  sicli  schon  aus  dem  Iuhalte  des  Gesuches  auf 
unzweifelhafte  Weise  die  Unzulässigkeit  des  Unternehmens  aus  öffentlichen 
Rücksichten,  wird  das  Gesuch  ohne  weitere  Verhandlung  ahgewiesen.  Wenn 
dies  nicht  der  Fall  ist,  werden  nötigenfalls  an  Ort  und  Stelle  Erhebungen 
gepflogen.  Ergeben  sich  bei  der  Vorprüfung  Bedenken,  ob  der  angestrebte 
Zweck  überhaupt  oder  doch  in  der  angegebenen  Weise  erreicht  werden  könne, 
so  sind  diese  Bedenken  dem  Bauweiber  zur  Abgabe  einer  Erklärung  init- 
zuleilen.’  Auf  Grund  des  vorgelegten  Generalentwurfes  und  der  gepflogenen 
Erhebungen  entscheidet’)  die  zuständige  Behörde: 

1.  Über  die  öffentliche  Nützlichkeit  des  beabsichtigten  Unternehmens 
im  allgemeinen, 

l)  Verordnung  des  Handelsministeriums  vom  25.  Jfuiner  1879,  K.-G.-Bl.  Nr.  19. 
§§  5 und  16. 

*)  § 80  der  meisten  LanJeswaaserrcchtsgegetze. 

WiMbachverbauungsgeaetz  §§  10  bis  11;  § 79  ff.  «ler  meisten  Landeswagserreehts- 
gesetze;  Eiseubahnkonxessionwgesetz  $ 6. 


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232 


Brdirffirz 


•2.  sowie  darüber,  ob  sieh  insbesondere  der  vorgelegte  Gencralentw  urf 
in  seiner  ursprünglichen  oder  in  seiner  einveruebmlicli  mit  dem  Unternehmer 
abgeänderten  Form  zur  weiteren  Verhandlung  eignet. 

C.  Ueratsohlagungsrerfahrcn. 

Der  ergänzte  Entwurf  wird  von  der  politischen  liehörde  in  den  betei- 
ligten Gemeinden  durch  H Tage  bis  zu  f>  Wochen  zur  allgemeinen  Einsicht 
aufgelegt  und  in  ortsüblicher  Weise  verlautbnrt.  In  der  öffentlichen  Bekannt- 
machung ist  auch  der  Tag  und  der  Ort  zu  bezeichnen,  an  welchem  die 
kommissioneile  Verhandlung  über  den  aufgelegten  Entwuif  beginnen  wird. 
Von  dem  Inhalte  der  Verlautbarung  sind  auch  alle  bekannten  Interessenten 
persönlich  zu  verständigen.  Den  Gemeindevertretungen  und  den  einzelnen  in 
irgend  einer  Weise  Beteiligten  steht  es  frei,  etwaige  Einwendungen  gegen 
den  Entwurf  im  ganzen  oder  gegen  einzelne  Teile  desselben  bei  der  poli- 
tischen Bezirksbehörde  einzubringen.  Nach  Ablauf  dei*  in  der  öffentlichen 
Vorladung  bestimmten  Fristen  findet  an  Ort  und  Stelle  eine  kommissioneile 
Verhandlung  statt.  Bei  derselben  ist  anzuetrehen: 

1.  vor  allem  die  volle  Klarstellung  der  voraussichtlichen  Einwirkung 
des  beabsichtigten  Unternehmens  auf  die  allgemeinen  Interessen; 

2.  die  Berücksichtigung  der  im  Öffentlichen  Interesse  erhobenen  Ein- 
wendungen durch  entsprechende  Änderungen  und  Ergänzungen  des  Entwurfes: 

:t.  die  Klarstellung  der  voraussichtlichen  Einwirkung  auf  die  beteiligten 
privaten  Interessen; 

4.  die  gütliche  Einigung  der  Beteiligten  hinsichtlich  der  im  privaten 
Interesse  erhobenen  Einwendungen; 

5.  oft  auch  die  Erhebung  der  Verhältnisse,  welche  für  die  Entschei- 
dung der  mit  dem  beabsichtigten  Unternehmen  verbundenen  Ausgleichnngs- 
fragen  von  Belaug  sind. 

Die  kommissionelle  Verhandlung  mit  den  Parteien  ist  mündlich  zu 
führen  und  sind  zu  derselben  nach  Erfordernis  Sachverständige  von  Amts 
wegen  beizuziehen.  Uber  die  ganze  Verhandlung  ist  ein  Protokoll  aufzu- 
nehmen, welches  alle  wesentlichen  Umstände  der  Verhandlung,  insbesondere 
die  erzielten  Übereinkommen  und  die  sonstigen  Ergebnisse  der  mündlichen 
Erörterung,  unter  Angabe  der  für  und  gegen  den  Entwurf  vorgebrachten 
Grunde  zu  enthalten  hat. 

I).  Genehmigung  des  Entwurfes. 

Das  Yerhandlungsprotokoll  wird  samt  allen  darauf  bezüglichen  Behelfen 
in  der  Regel  der  politischen  Uandesbehörde  vorgelegt,  welche  die  Entschei- 
dung fällt : 

a)  über  den  Entwurf  überhaupt  und  dessen  einzelne  Teile; 

h)  über  die  zur  Ausführung  desselben  vorzunelmienden  Enteignungen  oder 

sonstige  Vorkehrungen: 

c)  manchmal  auch  über  die  Geldausgleichung  hei  Enteignungen. 


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Pas  Recht  der  öffentlichen  Arbeiten. 


2ÜÜ 


Gegen  die  Entscheidungen  der  Landesbehörde  stellt  die  Berufung  an 
den  betreffenden  Minister  offen,  welcher  mit  Ausnahme  der  sub  c)  erwähnten 
Fragen  alle  anderen  emlgfiltig  entscheidet.  Der  Yerwaltungsgericlitshof  kann 
die  ministerielle  Entscheidung  nur  in  der  Dichtung  überprüfen,  ob  die  ge- 
setzlichen  Formen  des  Enteignungs Verfahrens  eingehalten  worden  sind.  Aus 
der  Entscheidung  der  Behörde  über  die  kommissionelle  Verhandlung  ergibt 
sich  die  Bauhewillignng ‘)  und  der  Bau  darf  in  Angriff  genommen  werden. 
Bei  Privatunternehmungen  bleibt  zur  Austragung  der  privatrechtlichen  Ein- 
wendungen der  Rechtsweg  Vorbehalten,  wenn  sie  auch  in  öffentlicher  Be- 
ziehung als  zulässig  erkannt  wurden.’)  Bei  öffentlichen  Arbeiten  ist  dieser 
Rechtsweg  ausgeschlossen,  da  durch  die  entgegenstehouden  privatrechtlichen 
Einsprüche  die  Ausführung  öffentlicher  Arbeiten  nicht  gehemmt  werden 
kann;  sie  lösen  sich  auf  in  Ausgleichungsansprflche.  welche  im  Enteignung«- 
wege  geltend  gemacht  werden  müssen.’) 

Die  Genehmigung  der  öffentlichen  Arbeiten,  welche  nicht  auf  Staats- 
kosten zu  stände  kommen,  ist  ein  Ausflull  des  staatlichen  Aufsichtsrechtes. 
Andere  Bedeutung  hat  die  Genehmigung  der  Staalsarbeiten:  sie  wird  auch 
nicht  notwendig  von  den  die  Aufsicht  über  alle  öffentliche  Arbeiten  führenden 
politischen  Behörden,  sondern  von  diesen  Behörden  erteilt,  in  deren  Geschäfts- 
kreis die  vorgeschlagenen  Arbeiten  fallen.  PieseBehörden  entscheiden  selbständig 
über  alle  in  Frage  stehenden  öffentlichen  Rücksichten. 

Die  Landesbehörden  des  betreffenden  Yerwaltung.-zweiges  genehmigen*) 
aile  Arbeiten,  welche  bloll  die  Instandhaltung  zum  Gegenstände  haben,  wenn 
der  jährliche  Beitrag  1000  Kronen  nicht  übersteigt,  und  alle  Neu-  oder  Um- 
bauten. deren  Gesamtkosten  10.000  Kronen  nicht  übersteigen.  Die  Geneh- 
migung anderer  Bauten  bleibt  dem  Ministerium  Vorbehalten,  (n  jedem  Falle 
muff  der  notwendigen  Auslage  die  Bedeckung  hielür  in  den  gehörigen  Orts 
genehmigten  Jaliresvoranschlägen  zu  Grunde  liegen.  Die  Genehmigung  der 
Staatshauten  enthält  also  immer  auch  die  Bewilligung  der  notwendigen 
Auslagen. 

Bei  Staatsbauten  beschränkt  sich  die  Tätigkeit  der  politischen  Behörden 
(wenn  sie  nicht  zugleich  als  Baubehörden  eingreifen  i auf  die  Fällung  der 
Enteignu ngserkenntnisse  nach  Durchführung  des  auf  diese  sich  beziehenden 
Verfahrens.  ■')  Das  Enteignungsverfabren  bat  im  wesentlichen  denselben  Gang, 
wie  oben  dargestellt  wurde;  es  entfällt  nur  die  Verhandlung  bezüglich  der 
Nützlichkeit  und  Ausführbarkeit  des  Unternehmens. 

fi  § 86  der  meisten  Landeswasscrrechtsgesetze : s 14  des  Gesetzes  aber  Ableitung 
der  Gcbirpswässer;  Verordnung  des  Handelsministeriums  vom  25.  Jauner  1870,  K.-G.-Ul. 
Nr.  19.  § 19. 

’)  S ss  der  meisten  Landeswasserrechtspesetzc. 

*1  Kisenbahuenteignungsgesetz  § 2.  Z. 

*1  §§  31  und  33  der  Verordnung  vom  8.  Dezember  1860.  K.-G.-B1.  Nr.  268.  Bei 
Staatseisrnbahnen  (Organisationsstatut  § 6,  Punkt  17)  und  bei  Militarbauten  (Bauvor- 
schriften för  das  k.  und  k.  Heer.  I.  T.,  § -3)  ist  der  Betrag  höher. 

fi  Nur  in  Mähren  bedürfen  die  Wasserbauten  auf  Staatskosten  der  Bewilligung 
der  politischen  Behörde. 


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234 


Breaiewicz. 


E.  Ausführung  des  Unternehmens. 

Auf  Grund  der  Genehmigung  wird  zur  Ausführung  der  Arheiten  go- 
aehritten.  Die  Arten  der  Ausführung  und  die  dabei  vorkommenden  Rechts- 
verhältnisse sind  schon  im  V.  und  VI.  Abschnitte  behandelt  worden;  es 
erübrigt  noch,  die  dabei  beteiligten  Organe  der  Verwaltung  und  die  Vor- 
schriften, welche  ihre  Handlungen  bestimmen,  näher  zu  betrachten: 

1.  Die  mit  der  Ausführung  der  Arbeiten  betrauten  Organe,  ihre  Anzahl, 
rechtliche  Stellung  und  ihr  Wirkungskreis  wechseln  je  nach  der  Wichtig- 
keit der  Arbeiten,  nach  der  Person  des  Unternehmers  n.  s.  w.  Dem  Unter- 
nehmer gegenüber  sind  sie  an  die  erteilten  Weisungen  gebunden.  Ohne 
jedoch  in  die  minder  wichtigen  Einzelheiten  einzugehen.  muH  die  rechtliche 
Stellung  des  Bauführers  und  des  Bauleiters  hervorgehoben  werden.  Der 
Bauführer  ist  das  unmittelbar  ausübende  Organ  des  Unternehmens.  Dem 
mit  der  Ballführung  betrauten  Techniker  liegt  insbesondere  ob:*) 
ii)  die  Aussteckung  jeder  einzelnen  Arbeit  nach  Maßgabe  des  genehmigten 
Entwurfes  und  die  Baueinteilung  der  einzelnen  Gegenstände; 
h)  die  Wahrnehmung  der  auf  die  Ausführung  der  Arbeiten  Einfluß  aus- 
übenden Umstände,  der  Gattung  und  Menge  des  dabei  in  Verwendung 
zu  nehmenden  Materials  und  der  Güte  der  Arbeit; 
r)  die  Führung  eines  den  Fortschritt  der  Arheiten  genau  nachweisenden 
und  alle  wichtigen  Wahrnehmungen  enthaltenden  Tagebuches  und  die 
Verfassung  der  dazu  sowie  überhaupt  zur  Zusammenstellung  der  Ver- 
dienstausweise und  der  Ausführungskostenberechnung  erforderlichen 
Behelfe; 

ilj  die  rechtzeitige  Verständigung  des  Unternehmers  und  der  Bauleitung 
von  allen  wichtigeren  Vorkommnissen  bei  dem  Baue,  schließlich  die 
Unterstützung  der  letzteren  bei  Besichtigung  und  Endabnahme. 

Wenn  der  Bauführer  die  wirkende  Hand  des  Unternehmens  vorstellt, 
ist  der  Bauleiter  die  Seele,  welche  alle  Handlungen  bewältigt. 

a)  Der  Bauleiter  hat  anfangs  eines  jeden  Baujahres  das  Arbeitsverzeichnis 
für  das  laufende  Jahr  mit  den  nötigen  Plänen  und  Voranschlägen  der 
Baubehörde  vorzulegen; 

b)  er  hat  die  Verteilung  der  Arbeiten  zu  veranlassen  und  für  die  plan- 
end fachgemäße  sowie  ökonomische  Ausführung  derselben  Sorge 
zu  tragen; 

r)  er  hat  die  Arbeiten  zu  besichtigen  und  deren  Ausführung  zu  prüfen; 
d)  der  Bauleiter  prüft  und  unterfertigt  sämtliche  Urkunden,  auf  Grund 
welcher  die  Auszahlungen  zu  bewerkstelligen  siud,  er  führt  ein  Tage- 
buch des  Schriftenwechsels,  Ausweise  der  Materialien.  Gebührenaus- 
weise für  ausgeführte  Arbeiten  und  erhält  in  Ordnung  die  Bauakten; 
r)  in  unaufschiebbaren  Fällen  trifft  der  Bauleiter  die  nötigen  Vorkehrungen 
unter  eigener  Verantwortung  und  rechtfertigt  dieselben  unverzüglich 
vor  der  Baubehörde; 

’)  Vergl.  die  Kundmachung  der  Slatthalterei  vom  25.  April  1900,  L.-G.-B1,  fur 
Böhmen  Nr.  30,  § 7. 


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Dm  Reicht  der  nffentliehen  Arbeiten.  23.r> 

f)  er  legt  der  Baubehörde  periodische  Berichte  Ober  die  Bautätigkeit  und 
deren  Erfolge  vor  und  begutachtet  die  beabsichtigten  Abweichungen 
vom  genehmigten  Entwürfe. 

Wenn  es  sich  gut  Arbeiten  von  geringem  Umfange  oder  nur  um  In- 
standhaltuugsarbeiten  handelt,  kann  die  Baufahrung  und  Bauleitung  in  der 
Person  eines  Ingenieurs  vereinigt  werden.  Von  großer  Wichtigkeit  ist  der 
obige  Unterschied  dann,  wenn  die  Organe  der  Bauführung  und  der  Bauleitung 
nicht  vom  Unternehmer  allein,  sondern  auch  von  anderen  an  den  Arbeiten 
Beteiligten  beigestellt  werden. 

2.  Während  der  Ausführung  eines  Baues  darf  keine  wesentliche  Än- 
derung desselben  vorgenomineu  werden,  wenn  hiezu  nicht  von  der  Behörde, 
welche  den  ursprünglichen  Entwurf  genehmigte,  vorher  die  ausdrückliche 
Bewilligung  erteilt  wurde.  Ausgenommen  hievon  sind  nur  jene  Fälle,  wo 
Gefahr  im  Verzüge  ist:  der  Bauleiter  ist  aber  für  die  wegen  Dranges  der 
Umstände  von  ihm  angeordneten  Änderungen  verantwortlich. 

Ergibt  sich  hei  Ausführung  des  Unternehmens  das  Bedürfnis  neuer, 
im  Entwürfe  nicht  vorhergesehener  Vorkehrungen,  so  hat  die  politische  Be- 
zirksbehörde  mit  den  Beteiligten  zu  verhandeln  und  den  Erfolg  der  bewilli- 
genden Behörde  vorzulcgen.1  welche  darüber  entscheidet 

3.  Die  Bauführungen  für  Öffentliche  Zwecke*;  des  Staates,  eines  Landes 
oder  Bezirkes,  dann  der  in  ihrer  Verwaltung  stehenden  Fonds  sind  hinsicht- 
lich der  Bauart  an  materielle  Bestimmungen  der  Bauordnung  gebunden: 
die  Baubewilligung  wird  in  diesen  Fällen  von  der  hauführenden  Behörde 
gegeben,  weiche  nur  in  Bezug  auf  die  Begulienings-  und  Niveaulinie  und 
die  Sicherheitspolizei  mit  der  Gemeindebehörde  das  Einvernehmen  zu  pflegen 
hat.  Bei  Ballführungen  der  Gemeinde  oder  der  Fonds,  welche  in  der  Ver- 
waltung der  Gemeinde  stehen,  erteilen  die  Baubewilligung  die  Organe  der 
Gemeinde  selbst  oder  die  dazu  ahgeordneten  Behörden  des  Staates. 

ln  ähnlicher  Weise  sind  die  allgemein  verbindlichen  Vorschriften  der 
Wasserrechtsgesetze  nicht  nur  zu  den  Wasserbauten  für  Privatzwecke, 
sondern  auch  für  öffentliche  Zwecke  anwendbar. 

F.  Prüfung  der  Arbeiten  und  Hetriebserlaubnia 
Die  Prüfung  der  Arbeiten’)  ist  eine  Amtshandlung  vorwiegend  tech- 
nischer Natur  und  hat  zum  Zwecke,  genau  zu  erheben  und  festzustellen: 
aj  ob  die  Arbeiten  nach  den  Kegeln  der  Kunst  und  den  Vorschriften 
entsprechend  verrichtet  wurden; 

h)  ob  sie  dem  Vertrage  und  den  allenfalls  bestätigten  Änderungen  des- 
selben entsprechen; 

')  Mayrhofer,  III..  S.  966  ff. 

3;  Vorschrift, 'ii  über  die  Prüfung  der  Arbeiten  sind  in  der  Verordnung  der  ehe- 
maligen Generalhaudirektion  vom  15.  Dezember  1851,  Z.  5980  (Verordnungsblatt  dea 
Handelsministeriums  vom  Jahre  1852.  Bd.  I..  Nr.  2),  und  in  Bauvorschriften  für  dos 
k.  und  k.  Heer,  I.  T..  53  bis  56,  enthalten.  Kör  Italien  das  kOnigl.  Dekret  vom 

25.  Mai  1895,  Nr.  350,  Art.  91  bis  117. 


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23fi 


Bresiewiez. 


e)  oh  die  Rechnungen  und  Ausgabsurkunden  mit  den  tatsächlichen  Erfolgen 
übereinstimmen,  und  zwar  nicht  nur  bezüglich  der  Form  und  der  Menge, 
sondern  auch  bezüglich  der  Beschaffenheit  der  Materialien  und  der 
Leistungen : 

d)  ob  in  der  Endabrechnung  die  Preise  dem  Vertrage  gemäß  angegeben 
wurden: 

r)  ob  die  Hegiearbeiten  zum  Vorteile  der  Verwaltung  geführt  und  die 
vergebenen  Arbeiten  vorschriftsmäßig  beaufsichtigt  wurden. 

Wird  der  Bau  in  Regie  geführt,  so  hat  sich  der  den  Bau  leitende 
Ingenieur  diesfalls  selbst  an  die  ihm  Vorgesetzte  Baubehörde  zu  wenden. 
Im  Falle  einer  Vergebung  des  Baues  hat  der  Bauleiter  dem  Bauunternehmer 
ein  Zeugnis  auszustellen,  wodurch  bestätigt  wird,  daß  der  Bau  beendigt  sei 
und  der  Prüfung  unterzogen  werden  könne.  Auf  Grund  dessen  hat  der  Unter- 
nehmer bei  der  Baubehörde  um  die  Bestimmung  einer  besonderen  Kommission 
das  Ansuchen  zu  stellen. 

Ordentlich  ist  die  Prüfung  durch  die  zu  entsendenden  technischen 
Organe  der  unternehmenden  Verwaltung  vorzunehmen;  wenu  mehrere  an 
Kosten  der  Arbeiten  beteiligt  sind,  müssen  sie  bei  der  Kommission  ent- 
sprechend vertreten  sein.  Mit  der  Vornahme  von  Prüfungen  einzelner  Gegen- 
stände oder  einzelner  Partien  von  Arbeiten,  falls  sich  solche  während  einer 
Bauperiode  als  unabweislich  ergehen  sollten,  kann  der  Bauleiter  betraut 
werden.  Die  Prüfung  findet  statt: 

a)  am  Schlüsse  der  jährlichen  Arbeitsdauer  und 

h)  nach  erfolgter  Ausführung  des  ganzen  Unternehmens,  d.  i.  am  Ende 
des  letzten  Baujahres  (Schlußkollandierung). 

Der  vertragschließende  Unternehmer  ist  zur  geeigneten  Zeit  aufzu- 
fordern, zur  Prüfung  an  dem  bestimmten  Tage  zu  erscheinen.  Wenn  er  der 
Verhandlung  nicht  beiwohnt,  so  findet  die  Untersuchung  und  Erhebung  der 
Tatsachen  dennoch  statt  und  der  Unternehmer  kann  dann  seine  allfälligen 
Bemerkungen  nachträglich  im  Protokolle  beifügen.  Die  Untersuchung  hat 
mit  der  genauen  Besichtigung  und  Beschreibung,  dann  mit  der  Abmessung 
der  Baugegenstände  zu  beginnen.  Die  Güte  der  verwendeten  Materialien  und 
die  Genauigkeit  der  Ausführung  ist  dabei  insoweit  zu  prüfen,  als  sie  durch 
die  äußerliche  Besichtigung  des  Werkes  und  die  Abmessung  festgestellt  werden 
können.  Wenn  jedoch  die  Bauleitung  oder  die  Prüfungskommission  bei  der 
Abnahme  einen  genügenden  Verdacht  schöpfen  kann,  daß  der  Bau  nicht  ver- 
tragsmäßig geführt  wurde,  daß  unbrauchbare  Materialien  verwendet  oder  die 
Arbeit  schlecht  hergestellt  worden  ist,  so  ist  sie  befugt,  behufs  Feststellung 
des  Tatbestandes  die  nötige  Abtragung  eines  Teiles  der  Arbeiten  anzuordnen. 

In  dem  über  den  Befund  aufgenommeneu  Protokolle  ist  die  Menge  und 
Güte  der  tatsächlich  ausgeführten  Arbeiten  sicherzustellen,  mit  den  Entwürfen 
zu  vergleichen,  der  ganze  Kostenaufwand,  welchen  die  aufgeführten  Arbeiten 
erfordert  haben,  darzustellen  und  der  ökonomische  Erfolg  anzugeben.  Wenn 
die  Arbeiten  von  der  Prüfungskommission  ohne  irgend  einen  Vorbehalt  voll- 
kommen entsprechend  ausgeführt  befunden  werden  und  der  Unternehmer 


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bas  Hecht  der  öffentlichen  Arbeiten. 


237 


keine  Ansprüche  erhebt,  wird  das  Ergebnis  im  Protokolle  ersichtlich  gemacht. 
Wenn  aber  die  Arbeit  nicht  nach  den  genauen  Bestimmungen  des  Vertrages 
bergestellt  und  vollendet  worden  ist,  so  ist  zu  unterscheiden: 

a)  Wenn  die  erhobenen  Mängel  der  Arbeit  nur  untergeordnete  Verbesse- 
rungen erheischen,  wird  zur  Abnahme  geschritten  und  im  Protokoll 
nur  die  geeignete  Bemerkung  gemacht,  daß  die  erforderlichen  Nach- 
arbeiten sogleich  in  Angriff  genommen  werden  müssen. 

ist  dieses  geschehen,  so  stellt  der  Bauleiter  darüber  ein  Zeugnis 
aus  und  auf  Grund  dieser  Urkunde  wird  die  Abnahme  als  endgültig 
angenommen. 

h)  Sollten  jedoch  die  erhobenen  Mängel  von  solcher  Wichtigkeit  sein, 
«laß  die  Arbeit  nicht  abgenommen  werden  kann,  so  wird  die  Prüfungs- 
kommission den  Zustand  der  Arbeiten  protokollarisch  erheben,  die 
Mängel  beschreiben  und  erklären,  ob  sich  Belbe  auf  die  schlechte  Aus- 
führung oder  Nichtvollendung  der  Arbeiten  beziehen  oder  durch  zu- 
fällige Ursachen  nach  deren  Beendigung  herbeigeführt  worden  seien. 
Zugleich  wird  das  zu  Geschehende  angegeben  und  die  Zeit  zur  Be- 
seitigung der  Mängel  bestimmt.  Nach  Bewirkung  der  Nacharbeiten 
wird  eine  Nachprüfung  vorgenommen. 

Dio  bei  dieser  Tätigkeit  etwa  Vorgefundenen  Anstände,  welche  die 
Verantwortlichkeit  des  Bauleiters  oder  des  Bauführers  betreffen,  werden  im 
Protokolle  festgestellt  und  im  Verwaltungswege  auBgetragen. 

Nach  Beendigung  der  Prüfung  wird  das  darüber  aufgenommene  Pro- 
tokoll von  allen  Anwesenden  unterfertigt  und  zum  Schlüsse  das  eigene  be- 
gründete Gutachten  der  Kommission  abgegeben,  ob  und  inwiefern  der  Bau- 
unternehmer den  eingegangenen  Verpflichtungen  nachgekommen  ist.  ob  und 
mit  welchem  Vorbehalte  die  Bestätigung  der  Empfangnahme  erfolgen  kann, 
endlich  in  welchen  Beträgen  die  zur  Ausgleichung  mit  dem  Bauunternehmer 
entfallenden  Gebühren  sich  darstellen.  Der  Prüfungsakt  wird  mit  sämtlichen 
Behelfen  und  Beilagen  dieser  Baubehörde  zur  Genehmigung  vorgelegt,  welche 
bei  den  betreffenden  Bauten  als  Unternehmer  auftritt. 

Falls  der  Vertragschließende  im  Sinne  der  Vertragsbestimmungen  eine 
Haftpflicht  für  einige  Zeit  nach  Übergabe  der  Arbeiten  übernommen  hat, 
ist  nach  Ablauf  der  Haftzeit  eine  Nachprüfung  vorzunehmen,  wobei  im  all- 
gemeinen in  analoger  Weise  wie  bei  der  ersten  Prüfung  vorzugehen  ist. 

Bei  Ausführung  der  Unternehmungen,  welche  in  Betrieb  gesetzt  werden 
sollen,  ist  vor  Eröffnung  des  Betriebes  eine  Benutzungsbewilligung  der 
Staatsbehörde1  zu  erwirken.  Zum  Behufc  der  Erwirkung  der  Erflffnungs- 
bewilligung’)  muß  von  der  Unternehmung  ausgewiesen  weiden,  daß  ein 
regelmäßiger,  ungestörter  und  sicherer  Betrieb  mit  vollem  Gruude  erwartet 
werden  kann,  insbesondere: 

*)  Eisenbah  nbetriobsordnung  vom  16  November  1851.  R.-G.-Bl.  Nr.  1 ex  1852.  § 1. 
*)  Eiseubahnbetriebsorduung  § 2;  Verordnung  des  Handelsministerium*  vom 
25.  Jänner  1879,  H.-O.-Bl  Nr.  19,  25  bis  34. 

Keilschrift  fdr  Volfcswlracbaft,  äoalaJpsHitik  und  Verwaltung.  XII.  Band.  17 


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238 


Breflfcwirz 


a)  daß  die  Anlagen  den  diesfölligen  Sicherheitsvorschriften  entsprechen; 

b)  daß  die  Betriebsmittel  in  gehöriger  Beschaffenheit  vorhanden  sind  und 

c)  daß  zur  Abwendung  von  Gefahren  die  nötige  Vorsorge  getroffen  wurde. 

Die  besondere  Prüfung  der  Herstellungen  zum  obigen  Zwecke  erfolgt 

in  diesem  Falle  inaner  durch  die  Staatsbehörde. 

II.  I n s t a n d h a 1 1 u n g s a r h e i t e n. 

Durch  Prüfung  und  Beuutzungsbcwilligung  wird  festgestellt,  daß  der 
Unternehmer  der  Pflicht  zur  Errichtung  der  öffentlichen  Anlage  Genüge 
geleistet  hat.  Bezüglich  der  weiteren  Auslagen  sind  zwei  Fälle  möglich: 

1.  Die  Kegel  bildet,  daß  der  Unternehmer  auch  die  Kosten  für  die 
fernere  Erhaltung  des  Werkes  zu  tragen  hat.  Durch  Empfangnahme  wird 
dann  nur  die  Verrechnung  der  Auslagen  geändert  : etwaige  weitere  Auslagen 
belasten  nicht  mehr  den  Baufonds,  sondern  die  für  Erhaltungszwecke  ange- 
wiesenen Beträge.1) 

2.  Wenn  in  einzelnen  Fällen  eine  besondere  Pflicht  zur  Erhaltung  eintritt. 
wird  die  fertige  Anlage  nach  Beendigung  der  Prüfung  vom  Unternehmer 
dem  Erhaltungspflichtigen  übergehen  und  vom  Tage  der  protokollarischen 
Übergabe  beginnt  seine  Erhaltungspflicht. 

Die  Instandhaltungsarbeiten  werden  in  ordentliche  und  außerordent- 
liche geteilt. 

1.  Die  gewöhnlichen  lnstaudhaltungsarbeiten  sind  solche,  welche  durch 
gewöhnliche  Abnutzung  der  Anlagen  hervorgemfen  werden  und  in  jedem 
Verwaltungsjabro  sich  wiederholen.  Sie  werden  aus  der  Jahresausstattung  und 
gewöhnlich  in  eigener  Kegie  durchgeführt.  Es  ist  jedoch  nicht  ausgeschlossen, 
daß  die  Erhaltung  vom  Unternehmer  vertragsmäßig  übernommen,  ja  selbst 
daß  eine  Konzession  zu  diesem  Zwecke  verliehen  werde;  als  Beispiel  dienen 
die  Mautkouzessionen  mit  der  Verpflichtung  zur  Erhaltung  eines  Bezirks- 
oder Gemeindeweges. 

Wenn  die  Erhaltungsarbeiten  keine  Änderungen  im  Zustande  der  öffent- 
lichen Anlagen  hervorrufen  und  die  liechte  Dritter  nicht  berühren,  bedürfen 
sie  keiner  besonderen  behördlichen  Bewilligung.  Wenn  zum  Zwecke  der  * 
Erhaltung  öffentlicher  Anlagen  die  Pflichten  den  Anrainer  zu  gewissen  Hand- 
lungen oder  zur  Duldung  von  Eingriffen  in  Anspruch  genommen  werden, 
hat  sich  der  Verwalter  der  Anlage  an  die  politische  Behörde  zu  wenden, 
welche  im  Streitfälle  darüber  entscheidet. 

2.  Außerordentliche  Krluiltungskosten  finden  keine  Bedeckung  im  Jahres- 
voranschlage  der  Verwaltiingskörper  und  müssen  besonders  bewilligt  werden: 
nur  im  Falle,  wenn  Gefahr  am  Verzüge  haftet,  ist  der  Verwalter  berechtigt, 
die  nötige  Auslage  gegen  nachträgliche  Kechtfertigung  anzuordnen. 

Wenn  im  Interesse  der  guten  und  zweckentsprechenden  Erhaltung  des 
Werkes  nachträglich  noch  weitere  Vorkehrungen  (Um-  und  Zubauten)  er- 
forderlich erscheinen,  finden  auch  in  Betreif  solcher  Vorkehrungen  die  für 

Vergt.  die  Bsaüienatvorechriften  für  dae  k.  u.  k.  Heer  § 14 


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Du  Recht  der  öffentlichen  Arbeiten. 


289 


die  Herstellung  des  Werkes  selbst  gegebenen  Vorschriften  Anwendung.  E9  wird 
also  auch  in  diesem  Falle  eine  Verhandlung  an  Ort  und  Stelle  mit  den  Inter- 
essenten vorgenommen ; mit  Rücksicht  jedoch  auf  den  verhältnismäßig  geringeren 
Umfang  dieser  Vorkehrungen  findet  ein  abgekürztes  Verfahren  statt.1) 

Wenn  auch  die  Herstellungsarbeiten  im  einzelnen  Falle  nicht  obliga- 
torisch erscheinen  können,  bilden  die  Instandhaltungsarbeiten  immer  die 
Pflicht  des  Unternehmers,  welche  im  Verwaltungswege  erzwungen  werden 
kann.  Mit  der  Aufsicht  über  die  Instandhaltung  ist  die  Staatsbehörde  betraut. 

III.  Aufsicht  über  öffentliche  Arbeiten. 

Die  politischen  Behörden  besorgen:*) 

1.  die  Leitung  und  Überwachung  des  Staatsbauwesens: 

2.  die  Aufsicht  über  alle  nicht  ärarischen  öffentlichen  Arbeiten; 

3.  die  Einflußnahme  auf  die  unter  Beitragsleistung  des  Staatsschatzes 
ausgefübrten  Bauten. 

Dasselbe  gilt  auch  vom  Eisenbahnministerium.*) 

Da  alle  diese  Handlungen  oft  von  denselben  Organen  ausgeflbt  werden, 
erscheint  es  schwierig,  im  einzelnen  Falle  sie  rechtlich  abzusondern.  Diese 
Absonderung  ist  jedoch  notwendig,  um  den  rechtlichen  Charakter  der  be- 
treffenden Handlung  zu  bestimmen. 

1.  Die  Organe,  welche  zur  Leitung  und  Überwachung  der  auf  Staats- 
kosten gemachten  Arbeiten  berufen  sind,  wurden  schon  im  II.  Abschnitte 
näher  besprochen. 

2.  Der  politischen  Behörde  kommt  das  Aufsichtsrecht  über  alle  öffent- 
lichen Arbeiten  zu.  Es  wird  nach  folgenden  Grundsätzen  ausgeübt: 

n)  Vor  Inangriffnahme  jeder  Anlage  muß  die'  politische  Staatsbehörde 
vernommen  werden  und  deren  Zustimmung  muß  in  Bezug  auf  die 
öffentlichen  Rücksichten  vorangehen.  Sie  prüft  die  Enteignungsanträge 
und  fällt  die  betreffenden  Erkenntnisse.  Dadurch  hat  sie  die  Möglich- 
keit, das  bestimmte  Unternehmen  als  ein  öffentliches  Unternehmen 
anzuerkennen  oder  nicht. 

b)  Die  politische  Verwaltung  gewährt  nach  Maßgabe  der  darüber  beste- 
henden besonderen  Anordnungen  die  Unterstützung  bei  Entwerfung  und 
Ausführung  öffentlicher  Bauten;4)  insofern  die  für  derlei  Verrichtungen 
zunächst  bestimmten,  nicht  in  landesfürstlichen  Diensten  stehenden 
Techniker  örtlich  und  zeitlich  hiefür  nicht  zu  Gebote  stehen.  Hieher 
gehört  auch  die  Übernahme  des  Betriebes  der  Lokalbahnen.5) 

l)  Wildbachverbauungsgesetz  § 20;  för  Eisenbahnen  § 39—41  des  Gesetzes  vom 
18,  Februar  1878,  R.-G.-Bl.  Nr.  30;  Verordnung  des  Handelsministeriums  vom  25.  Jftnner 
1879,  R.-G.-B1.  Nr.  19f  § 18;  Erlaß  des  Eisenbahnministeriuma  vom  17.  Juni  1897, 
Verordnungsblatt  für  Eisenbahnen  Nr.  77. 

*)  Verordnung  vom  8.  Dezember  1860,  R.-G.-Bl.  Nr.  268,  § 2. 

*)  Organisationsstatut  vom  19.  Jftnner  1896,  R.-G.-Bl.  Nr.  16,  § 6. 

4)  Z.  B.  för  die  Unternehmen,  welch«?  die  unschädliche  Ableitung  von  Gebirgs- 
wftssern  bezwecken  (Gesetz  vom  7.  Februar  1888,  R.-G.-Bl.  Nr.  17). 

•)  Lokalbahngeseta  vom  Jabre  1894,  Art  IX,  Abs.  2. 

17* 


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240 


Brrsievriez. 


e)  Die  politische  Behörde  übt  das  Aufsichtsrecht  in  der  Richtung  aus,1) 
daß  die  die  öffentlichen  Arbeiten  führenden  Organe  ihren  Wirkungskreis 
nicht  überschreiten  und  nicht  gegen  die  bestehenden  Gesetze  Vorgehen. 
Die  Regierung  kann  nicht  nur  jene  Arbeiten,  welche  außerhalb  des 
Wirkungskreises  des  betreffenden  Unternehmers  liegen,  verbieten, 
sondern  aucli  die  Ausführung  der  Arbeiten  anordnen,  welche  auf 
Grund  einer  gesetzlichen  Verpflichtung  oder  auf  Grund  eines  mit 
der  Regierung  abgeschlossenen  Übereinkommens  dem  Unternehmer 
obliegen. 

il)  Außerdem  ist  die  politische  Behörde  berechtigt  und  verpflichtet,  darauf 
zu  dringen,  daß  die  öffentlichen  Anlagen  im  gesetzlich  vorgeschriebenen 
Zustande  erhalten  werden  und  daß  die  Benutzung  derselben  (insoweit 
sie  stattfindet)  für  jedermann  ungehindert  bleibe.  Ks  liegt  ihr  oh.  in 
Fällen,  in  welchen  durch  das  Vorgefundene  Gebrechen  der  Anlage  der 
Verkehr  gehemmt  oder  die  Sicherheit  der  l’erson  oder  des  Eigentums 
gefährdet  wird,  die  erforderliche  Abhilfe  von  den  hiezu  verpflichteten 
Organen  in  Anspruch  zu  nehmen  und  hei  Gefahr  im  Verzüge  oder 
wenn  die  Abhilfe  nicht  rechtzeitig  geleistet  wird,  dieselbe  unmittelbar 
auf  Kosten  der  Verpflichteten  zu  treffen. 

<■)  Zur  Auflassung  beteheuder  Anlagen  ist  die  Zustimmung  der  politischen 
Behörde  erforderlich. 

Die  Staatsaufsicht  über  öffentliche  Arbeiten,  welche  nicht  vom  Staate 
ausgeführt  werden,  ist  eingehender  als  über  sonstige  Geschäftsführung  der 
Selbstverwaltnngskörper.  Bei  den  letzteren  wird  die  Regierung  von  der  un- 
mittelbaren positiven  und  sachlichen  Einflußnahme  aut  die  Besorgung  der 
in  den  selbständigen  Wirkungskreis  der  Gemeinden  gehörigen  Angelegen- 
heiten möglichst  fern  gehalten:  sie  übt  nur  das  Aufsichtsrecht  dahin  aus, 
daß  die  Selbstverwaltungsorgane  ihren  Wirkungskreis  nicht  überschreiten 
und  nicht  gegen  die  bestehenden  Gesetze  vergehen  sowie  mich  daß  sie  die 
ihneu  gesetzlich  obliegenden  Leistungen  und  Verpflichtungen  erfüllen.*)  Bei 
den  öffentlichen  Arbeiten  hingegen  führt  die  Regierung  aucli  die  eigentliche 
Verwaltungsaufsicht,  daß  die  Organe  der  Ausführung  ihre  Aufgaben  voll- 
ständig, sachgemäß  und  ohne  ungerechtfertigte  Verletzung  der  persönlichen 
Interessen  der  einzelnen  vollziehen 

3.  Bedeutend  stärker  ist  noch  die  Einflußnahme  des  Staates  auf  jene 
Bauten,  welche  unter  Beteiligung  der  Ärarial-.  Straßen-,  Wasserbau-  und 
Meliorationsfonds  oder  anderer  vom  Staatsschätze  ausgestatteten  und  sonst 
der  Verwaltung  oder  Aufsicht  der  politischen  Behörden  unterstehender 
öffentlicher  Fonds  ausgeführt  oder  erhalten  werden.  Hier  behält  sich  der 
Staat  außer  der  Aufsicht  auch  die  Leitung’)  der  betreffenden  Arbeiten,  die 
unmittelbare  Einwirkung  auf  die  besonderen  Entwürfe.  Kostenroranschläge 

’)  Wasserrechtsgesetze:  ft  74  krsin.,  § *9  Steiermark..  $ 90  bukow.,  t»  92  nieder- 
futerr..  § 95  istrian..  $97  t>ohm.,  $97  sonstiger  Gesetze.  Wildhudiverbanungsgesetz  $ 19. 
*)  ülutli  in  Mischlers  StaatswO:  lerbacb,  1.,  8.  706  ff. 

5)  $ 45  der  Verordnung  vom  8.  Dezember  1*60,  R.-G.-Rl.  Nr.  268. 


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Ha*  Recht  der  öffentlichen  Arbeiten. 


241 


und  die  Vergeltung  der  Arbeiten  vor.1)  Die  daraus  entspringenden  Rechts- 
Verhältnisse  wurden  schon  im  IV.  Abschnitte  besprochen. 


Aus  der  obigen  Darstellung  ist  zu  entnehmen,  daß  die  österreichische 
Gesetzgebung  auf  dem  Gebiete  der  öffentlichen  Arbeiten  sehr  zerstückelt 
ist  und  hinter  den  Bedürfnissen  des  Lebens  weit  zurückbleibt.  Der  Fort- 
schritt der  öffentlichen  Verwaltung  lädt  sich  jedoch  nicht  auflialten.  Die 
großartige  Entwicklung  der  öffentlichen  Arbeiten  der  Neuzeit  hat  das  Be- 
dürfnis und  die  Notwendigkeit,  daß  die  neu  entstehenden  Rechtsverhältnisse 
geordnet  und  daß  die  Verwaltung  der  öffentlichen  Arbeiten  einheitlicher  ge- 
regelt und  geleitet  werde,  recht  fühlbar  gemacht.  Möge  obiger  Aufsatz  zur 
Förderung  dieser  Ansicht  beitragen! 

')  Gesetz  vom  1.  Juli  lütll,  R.-G.-BI.  Nr.  85,  Art.  Xll. 


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- ZUR  AUSGESTALTUNG  DES 
RECHTS-  UND  STAATSWISSENSCHAFTLICHEN 
STUDIUMS  IN  ÖSTERREICH. 

VON 

PROF.  D«  ALFRED  v.  HALBAN 


Vorbemerkung. 

Wir  wollen  die  etwas  mißliche  Aufgabe  unternehmen,  die  ohnehin 
starke  Zahl  von  Aufsätzen,  die  sich  mit  dem  juristischen  Sludicnwesen 
befassen,  zu  vermehren,  ohne  dabei  eine  polemische  Auseinandersetzung  mit 
den  vorgebrachten  Meinungen  anzustreben.  Es  sollen  die  von  den  akademischen 
Lehrern  und  der  Unterrichtsverwaltung,  zum  Teile  von  der  studierenden 
Jugend  selbst  empfundenen  Übel  von  den  Grundlagen  aus  untersucht  und 
eine  Besserung  der  Lage  vorgeschlagen  werden,  soweit  sie  ohne  Umwälzung 
erreichbar  ist.  Mit  einem  Worte:  wir  planen  keinen  Neubau,  nicht  einmal 
einen  Umbau,  sondern  bloß  einen  Ausbau  des  Bestehenden,  der  geeignet 
wäre,  den  wissenschaftlichen  Forderungen  der  Neuzeit  im  Rahmen  der  vor- 
handenen Einrichtungen  gerecht  zu  werden. 

Darin  liegt  vielleicht  der  wichtigste  Unterschied  zwischen  den  meisten 
ähnlichen  Schriften  und  der  vorliegenden.  Reformvorschläge  leiden  nur  zu 
oft  an  dem  Fehler,  daß  sie  dem  Besseren,  das  sie  wünschen,  das  bestehende 
Gute  opfern.  Leicht  bricht  man  den  Stab  Aber  alles,  was  man  genau  kennt, 
und  ist  nur  zu  sehr  geneigt,  die  Vorzüge  des  Bestehenden  zu  mißachten, 
die  Nachteile  mit  besonderer  Schärfe  zu  betonen.  Nur  ein  Schritt  und  man 
entwirft  Idealpläne,  ohne  ihre  Durchführbarkeit  zu  bedenken.  So  schwer  es 
auch  fällt,  bei  Besserungsvorschlägen  Maß  zu  balteu,  so  sehr  muß  man, 
soll  nicht  ganz  Unpraktisches  vorgeschlagen  werden,  sich  auf  Schritt  und 
Tritt  sagen,  daß  ein  mittelmäßiger  Vorteil  immerhin  besser  ist  als  gar 
keiner.  Zu  Umwälzungen,  wie  sie  hie  und  da  verlangt  werden,  wird  sich 
kein  gesetzgebender  Körper  und  keine  Verwaltung  entschließen.  Und  mit 
Recht.  Man  kann  einem  wenn  auch  noch  so  schön  motivierten  Experimente 
zuliebe  das  Bestehende  nicht  fallen  lassen,  namentlich  wenn  niemand  zu 
bärgen  vermag,  daß  das  empfohlene  Experiment  wirklich  durchführbar  ist 
und  man  eher  bezweifeln  muß,  ob  sich  Hörer  und  Lehrer  in  eine  grund- 


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Zar  Ausgestaltung  de*  rechts-  and  *iaa(«wL*eii»idiuftli<dien  Studiams  etc.  243 


sätzlich  ueue  Lage  hineintinden  könnten.  Mau  versuche  vielmehr  im  Bereiche 
der  jetzigen  Einrichtungen  alles  durchzuröhren,  was  durchgeföhrt  werden 
kann  und  was  dem  Geiste  dieser  Einrichtungen  nicht  nur  nicht  widerspricht, 
sondern  von  ihm  sogar  gefordert  wird.  Auf  diesem  Wege,  der  langsam,  aber 
sicherer  zum  Ziele  führt,  mut!  der  Boden  för  weitergehende  Reformen  geebnet 
werden.  Wir  sind  also  darauf  gefallt,  daß  man  von  mancher  Seite  die  nach- 
folgenden Ausführungen  als  Flickwerk  bezeichnen  wird,  glauben  aber  der 
Sache  seihst  besser  zu  dienen,  als  durch  Aufführung  eines  Idealplanes,  för 
dessen  Verwirklichung  niemand  die  nötigen  Kräfte  und  Mittel  finden  würde. 

Dieselbe  Rücksicht  auf  die  Möglichkeit  der  Durchführung  veranlaßt 
uns,  hier  ausschließlich  österreichische  Verhältnisse  ins  Auge  zu  fassen, 
obwohl  gewiß  mancher  Vorschlag  durch  eine  auf  ausländische  Erfahrungen 
gestützte  Begründung  gewinnen  könnte.  Sollten  die  nachfolgenden  Bemer- 
kungen zu  einer  Debatte  Anlaß  geben,  dann  wären  die  einschlägige  Literatur, 
sowie  ausländische  Einrichtungen  und  Erfahrungen  in  den  Kreis  der  Betrach- 
tung zu  ziehen.  Vorläufig  erscheint  uns  ein  solches  Vorgehen  nicht 
geboten.  Argumente,  die  durch  Hinweis  auf  ausländische  Verhältnisse 
begründet  werden,  begegnen  oft  dem  Einwande,  daß  eben  dort  die  Ver- 
hältnisse anders  geartet  sind.  Wir  möchten  solchen  Einwänden  entgehen  sind 
übrigens  in  der  Lage,  dasjenige,  was  wir  anregen,  auf  Grund  des  in  Öster- 
reich schon  Bestehenden  vertreten  zu  können. 

Es  muß  bemerkt  werden,  daß  die  österreichischen  Studieneinrichtungen 
ihrem  Geiste  nach  und  speziell  hinsichtlich  des  Studienplanes  Vorzüge 
aufweisen,  die  jede  Ausgestaltung  ermöglichen.  Als  günstig  wirkender  Faktor 
ist  das  Einverständnis  zwischen  den  Bestrebungen  der  Hochschulen  und  der 
Staatsgewalt  zu  nennen;  wo  dasselbe  nicht  zutrilft,  liegen  gewöhnlich  finan- 
zielle Hindernisse  vor.  Uber  eine  von  Goldschmidt  und  anderen 
namhaften  Rechtslehrern  Deutschlands  oft  gerügte  Rücksichtslosigkeit, 
mit  der  man  Anregungen  aus  Professorenkreisen  als  Professorenweisheit 
abfertigte,  darf  man  in  Österreich  seit  T li  u n s Zeiten  wohl  keine  ernste 
Klage  führen:  weder  die  Unterrichtsverwaltung  noch  der  Reichsrat  können 
eines  geringschätzenden  Vorgehens  gegenüber  wissenschaftlichen  Anregungen 
bezichtigt  werden. 

Der  rechts-  und  staatswissenschaftliche  Studienplan  ist  von  richtigem 
Geiste  beseelt,  und  man  muß  anerkennend  hervorheben,  daß  in  dem  öster- 
reichischen Studien-  und  Prüfungswesen  die  Kluft  zwischen  den  Anforderungen 
der  Wissenschaft  und  der  Praxis  in  keiner  Weise  zum  Ausdruck  kommt. 
Man  fordert,  daß  in  den  praktischen  Berufen  Leute  lütig  sind,  die  möglichst 
wissenschaftlich  ausgebildet  wurden.  Hinsichtlieh  dieser  wissenschaftlichen 
Ausbildung  bietet  das  österreichische  Studienwesen  Gelegenheit  zu  Erwei- 
terungen, wie  sie  jeweils  als  wissenschaftlich  begründet  erachtet  werden 
könnten.  Diesu  prinzipielle  Anerkennung  darf  nicht  hindern,  Einzelheiten 
zu  bemängeln.  Gerade  der  Umstand,  daß  eine  Kluft  zwischen  Wissenschaft 
und  Praxis  dem  Geiste  der  Studienordnung  fremd  ist,  muß  den  Ausgangs- 
punki  von  Besserungs  Vorschlägen  bilden,  damit  nicht  mit  der  Zeit  infolge 


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-244 


Halhan 


von  Unterlassungssünden  diese  Kluft  entstehe.  Es  muß  an  der  wissenschaft- 
lich vorteilhaften  Grundlage  festgehalten  werden;  sie  ist  die  einzig  richtige, 
wenn  man  erwägt,  daß  ein  wissenschaftliches  Plus  dem  künftigen  Praktiker 
niemals  schaden,  ein  wissenschaftliches  Minus  aber  lähmend  wirken  kann. 
Die  österreichische  Studienordnung  geht  ferner  von  der  Auffassung  aus,  daß 
die  gesamt«  Jurisprudenz  organisch  gegliedert  und  organisch  gelehrt  werden 
soll.  Dieser  Auffassung  entspricht  die  Reichhaltigkeit  der  Vorleseordnung, 
die  Verbindung  der  rechts-  und  staats  wissenschaftlichen  Bildung  und  das 
Streben  nach  gerechterem  Verhältnisse  der  einzelnen  Disziplinen  zu  einander. 
Ist  auch  in  beiden  Beziehungen  vieles  einer  Besserung  bedürftig,  so  ist 
doch  die  Besserung  leicht  durchführbar;  dem  Geiste  der  Studieneinrichtungen 
würden  Verbesserungen  nicht  widersprechen,  vielmehr  den  eigentlichen 
Wert  des  Studienplanes  in  neuem  Lichte  erscheinen  lassen. 

Unsere  Vorschläge  sollen  vor  allem  wissenschaftlichen  Rücksichten 
Rechnung  tragen;  nur  wo  es  unbedingt  notwendig  ist,  wird  diese  Grenze 
überschritten.  Es  ist  z.  B.  klar,  daß  der  beste  Studienplan,  die  beste  Ein- 
richtung von  Kollegien  und  Seminaren,  ebenso  wie  die  zweckmäßigste 
Prüfungsordnung  die  verhängnisvolle  Belastungsprobe  der  falsch  aufgefaßten 
lernfreiheit  nicht  aushalten  wird.  Die  anregendsten  Vorlesungen  werden 
den  Studierenden,  der  außerhalb  der  Universitätsstadt  weilt  oder  aus  anderen 
Gründen  nicht  frequentieren  will,  niemals  in  den  Hörsaal  locken.  So  erfreulich 
es  ist,  daß  man  sich  in  den  letzten  Jahren  gerade  in  Deutschland  mit  der 
Beseitigung  der  Nachteile  der  falsch  verstandenen  Lernfreiheit  befaßt,  so 
wolleu  wir  doch  an  diese  vorwiegend  administrative  Frage  nicht  herantreten  und 
vom  akademisch-wissenschaftlichen  Standpunkte  nur  darauf  eingeiien,  was 
dem  gewissenhaften  Lehrer  die  Lösung  seiner  Aufgabe  zu  erleichtern 
und  dem  gewissenhaften  Hörer  erfolgreiches  Studium  zu  ermöglichen 
vermag. 

Nur  eines  administrativen  Übelstandes  muß  im  akademischen  Interesse 
gedacht  werden.  Die  übliche  Semestereinteilung  bringt  es  mit  sich,  daß 
das  Sommersemester  unverhältnismäßig  kurz  ist  und  in  die  heißeste  Jahres- 
zeit ausgedehnt  wird.  Schwer  ist  es,  einen  regelrechten  Studienplan  durch- 
zuführen,  wenn  man  mit  dieser  Unzukömmlichkeit  zu  rechnen  hat:  es  ist 
nicht  abzusehen,  warum  man  die  schwankende  Ostergrenze  als  maßgebend 
betrachtet,  ebensowenig  aber,  warum  man  bis  über  die  Hälfte  Juli  (gesetz- 
lich bis  Ende  Juli  < Professoren  und  Studenten  zu  wenig  ersprießlicher 
Tätigkeit  zwingt.  Man  könnte  das  Studienjahr,  welches  erfahrungsgemäß 
nie  vor  dem  15.  Oktober  beginnt,  um  einen  Monat  früher  beginnen  lassen 
und  um  einen  Monat  früher  schließen,  innerhalb  dieser  Zeit  aber  eine  Ein- 
teilung treffen,  die  das  Sommersemester  doch  nicht  so  illusorisch  machen 
würde. 

I. 

Aufgabe  des  Studiums.  — Hauptursachen  der  Übelstände. 

Die  Aufgabe  des  Studiums  besteht  in  der  Erziehung  zu  selbständigem 
Denken.  Nicht  die  Summe  des  dem  Hörer  vermittelten  positiven  Wissens 


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Zar  Ausgestaltung  des  rechts-  und  Staat  sv issensrhaftlicheii  Studiums  etc.  24  » 


ist  maßgebend  für  die  Vorzüge  de»  Lehrplänen,  sondern  die  ihm  gebotene 
Möglichkeit,  juristisch  denken  zu  lernen,  um  demgemäß  wissenschaftlich 
oder  praktisch  vorgeheu  zu  können.  Man  kann  bei  bestem  Willen  und 
größtem  Fleiße,  auch  wenn  das  Studium  doppelt  so  lange  währen  würde, 
niemandem  die  Gesamtheit  des  juristischen  Wissens  bieten,  ebensowenig 
aber,  ihn  zu  einem  gewandten  Praktiker  machen.  Man  kann  nur  die  Grund- 
bedingungen für  beides  schaffen  und  den  Hörer  derart  auBrüsten,  daß  er 
später  theoretisch  oder  praktisch  selbständig  und  richtig  zu  arbeiten 
in  der  Lage  sei.  Die  rechts-  und  staats  wissenschaftliche  Fakultät  kann 
weder  eine  reine  Gelehrtenschnle  noch  auch  eine  Abrichtungsanstalt  für 
Praktiker  sein.  Im  ersten  Falle  wäre  sie  filr  Staat  und  menschliche 
Gesellschaft  zwar  von  schätzbarem  Werte,  würde  aber  einer  Entfremdung 
zwischen  Rechtswissenschaft  und  Rechtsleben  Vorschub  leisten;  im  zweiten 
Falle  würde  sie  der  Präzis  den  ewig  jungen  wissenschaftlichen  Boden 
entziehen. 

Wenn  wir  diese  banal  gewordene  Frage  berühren,  so  geschieht  es 
leider  nicht  ohne  Grund.  In  unserer  so  überwiegend  praktisch  denkenden 
Zeit  hört  man  immerwährend,  daß  die  Fakultät  der  Aufgaben  der  Präzis 
zu  wenig  gedenkt,  daß  der  die  Schule  verlassende  Jurist  zu  wenig  ausge- 
bildet ist  u.  s.  w.  Man  muß  diesen  zum  Teil  übertriebenen  Klagen  energisch 
entgegentreten.  Bereitwilligst  geben  wir  zu,  daß  die  Fakultät  die  nötige 
Vorbildung  für  die  Präzis  bieten  soll,  doch  muß  man  diese  Vorbildung,  in 
ihrem  höheren  Sinne,  unterscheiden  von  einer  Abrichtung  für  die  nächsten, 
momentanen  Bedürfnisse  der  Praiis:  denn  nur  die  erstere,  und  nicht-  die 
letztere,  obliegt  der  Hochschule.  Ebensowenig  «s  Aufgabe  der  philoso- 
phischen Fakultät  ist,  speziell  Mittelschullehrer  heranzubilden,  ebensowenig 
darf  die  juristische  Fakultät  daran  denken,  fertige  Beamte.  Richter.  An- 
wälte u.  s.  w.  zu  produzieren.  Selbst  die  medizinische  Fakultät,  die  ihre 
Doktoren  mit  dem  Recht*  zur  sofortigen  Ausübung  praktischer  Tätigkeit 
entläßt,  kann  für  praktische  Gediegenheit  nicht  bürgen  und  immer  häutiger 
mehren  sich  auch  dort  Reformpläue.  die  für  eine  obligatorische  Probeprazis 
dos  jungen  Arztes  eintreten.  Man  muß  sich  darüber  klar  werden,  daß  bei 
noch  so  intensivem  Hinübersehielen  nach  den  unmittelbaren  Aufgaben  der 
Praxis  dennoch  an  der  Universität  keine  guten  Praktiker 
erzogen  werden  können,  wohl  aber  durch  Hintansetzung 
der  Wissenschaft  die  Zukunft  der  Jurisprudenz  gefährdet 
werden  müßte.  Man  darf  also  einer  Aufgabe  zuliebe,  die  an  der 
Universität  unmöglich  gelöst  werden  kann,  nicht  dasjenige  opfern,  was  man 
zu  erzielen  vermag.  Die  Forderung,  die  Universität  möge  den  Bedürfnissen 
der  Praiis  so  wie  es  eben  die  Praktiker  verstehen I in  höherem  Grade 
gerecht  werden,  entspringt  derselben  Wurzel,  der  wir  die  Anfeindung 
wissenschaftlicher  Bestrebungen  des  Gymnasiums  verdanken,  nämlich  dem 
immer  mehr  überhand  nehmenden  Streben  noch  faehmäßiger.  um  nicht  zu 
sagen  handwerksmäßiger  Schulung,  im  Gegensätze  zu  wissenschaftlicher 
Erziehung  und  Bildung. 


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246 


Haihfll!. 


Staat  und  menschliche  Gesellschaft  Italien  kein  Interesse  au  der 
Abrichtung  juristischer  Handwerker,  wohl  aber  an  der  Erziehung  von 
Hfltcrn  der  Hechtsidee;  mögen  sie  auch  iu  der  ersten  Zeit  ihren  unmittel- 
baren praktischen  Aufgaben  wenig  gewachsen  sein,  wichtiger  ist,  daß  sie 
durch  ihre  Vorbildung  für  etwa  aufkeimende,  künftige  Aufgaben  tauglich 
gemacht  werden.  Die  vollkommenste  Abrichtung  zur  Handhabung  derzeit 
bestehender  Gesetze  kann  niemals  den  Mangel  theoretischer  Ausbildung 
ersetzen;  nur  die  letztere  macht  cs  dem  Praktiker  möglich,  sich  in  Situa- 
tionen zurechtzufinden,  die  man  zur  Zeit  seiner  Studien  nicht  berücksichtigte, 
vielleicht  nicht  einmal  ahnte.  Läßt  man  dies  ans  dem  Auge,  dann  geht  man 
der  Gefahr  des  flachen  Wissens  entgegen,  das  womöglich  verderblicher  wäre 
als  volle  Unwissenheit.  Wird  dem  Juristen  nicht  frühzeitig  Verständnis  für 
höhere  Zwecke  eröffnet,  in  der  Präzis  wird  er  es  aus  sich  heraus  nur  aus- 
nahmsweise finden,  und  ein  handwerksmäßiges  Beamtentum  würde  einen 
Tiefstand  herbeiführen,  an  den  mau  lieber  nicht  denken  mag.  Die  wert- 
vollsten Erfolge  für  die  Praxis  sind  gerade  dann  zu  erreichen,  wenn  man  an 
der  Universität  nicht  unmittelbar  praktische  Zwecke  anstrebt. 

Man  könnte  eher  sagen,  daß  die  juristische  Fakultät  aus  anderen 
Gründen  ihre  Aufgabe  nicht  gelingend  erfüllt.  Sie  gibt,  da  ihr  Studienplan 
trotz  der  an  und  für  sich  günstigen  Reform  (durch  das  Gesetz  vom 
20.  April  1893)  zu  wenig  entwickelt  wurde,  nicht  mehr  die  wissenschaftliche 
Grundlage,  die  mit  Rücksicht  auf  die  jetzigen  und  künftigen  Bedürfnisse 
des  Rechtslebens  erwünscht  wäre.  Der  Studienplan  ist  überholt,  und  es  ist 
eine  Scheidewand  zwischen  der  Wissenschaft,  wie  sie  an  den  juristischen 
Fakultäten  betrieben  wird,  und  dem  Lehen  schon  im  Entstehen  begriffen, 
was  nicht  nur  der  Wissenschaft  und  den  Anforderungen  der  Praxis  in  ihrem 
höheren  Sinne,  sondern  auch  dem  Geiste  der  Studienordnung  entschieden 
zuwiderläuft. 

Es  ist  natürlich  nicht  zu  verlangen,  daß  die  Hochschule  jeder  Strömung 
nachgebe  und  allen,  mitunter  kurzlebigen  Bedürfnissen  folge.  Sie  muß  viel- 
mehr im  Interesse  der  Wissenschaft  und  ebenso  im  Interesse  der  wirklichen 
Anforderungen  des  Lebens  für  jetzt  und  später,  als  wissenschaftlicher  Curutor 
posteritatis  ihre  Selbständigkeit  wahren.  Sie  kann  es  verschmerzen,  wenn 
kurzsichtige  Praktiker  von  ihr  etwas  verlangen,  was  momentan  vielleicht 
nützlich,  für  die  Zukunft  aber  schädlich  ist;  anders,  wenn  es  sich  um  eine 
Auffrischung  des  Studienplanes  handelt,  die  nicht  durch  momentane  Strö- 
mungen, sondern  durch  die  glücklich  erfolgte  Entwicklung  der  Wissenschaft 
und  durch  das  Überwinden  früherer  Felder  geboten  ist.  Da  ergibt  sich  die 
Notwendigkeit  zahlreicher  Änderungen,  die  für  Wissenschaft  und  Praxis  in 
gleicher  Weise  wichtig  erscheinen;  für  die  Wissenschaft,  weil  sic  ihrem 
gegenwärtigen  Niveau  entsprechen;  füi  die  Praxis,  weil  nur  moderne,  all- 
seitige Vorbildung  die  Grundlage  für  verständige,  der  Versumpfung  ent- 
rückte praktische  Tätigkeit  bilden  kann. 

Dieser  Gesichtspunkt  fordert  eine  Überprüfung  der  Studieneinrichtungen 
sowohl  hinsichtlich  der  vertretenen  als  auch  der  nicht  vertretenen  Wissens- 


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Zur  Au»ge»talUii£  Je»  recht*-  un»l  ft. raus  wisse  lisch  erblichen  Studium»  etc.  2 1 7 


zweige  und  hinsichtlich  der  Lehrmethode.  Jedes  Fach  muh  die  ihm  im 
Hinblicke  auf  den  Gesamtzweck  der  juristischen  Bildung  gebührende  Stellung 
erhalten;  die  Bedeutung  der  einzelnen  Fächer  aber  ist  nach  ihrem  Werte 
für  die  R e ch  t s b i 1 d u n g und  nicht  nach  ihrem  Werte  für  die  Rechts- 
kunde zu  beurteilen. 

Nichtsdestoweniger  muß  man.  selbst  wenn  es  gelingen  sollte,  einen 
geradezu  unanfechtbaren  Lehrplan  herzustelien.  mit  der  Tatsache  rechnen, 
daß  dadurch  noch  lange  nicht  das  erwünschte  Ziel  erreicht  wird.  Es  gilt, 
daneben  Mängel  zu  beseitigen,  die  zum  Teile  schon  vor  dem  Betreten  der 
Hochschule  das  Studium  an  derselben  erschweren,  zum  Teile  nach  Verlassen 
der  Universität  ihre  Wirkung  äußern. 

Es  ist  bekannt,  daß  das  juristische  Studium  als  das  leichteste  betrachtet 
wird.  Mediziner,  Theologe,  Philosoph,  Techniker  u.  s.  w.  wird  in  der 
Regel  nur  derjenige,  der  eine  Vorliebe  für  das  betreffende  Studium  hegt, 
während  an  die  juristische  Fakultät  auch  diejenigen  gehen,  die  eigentlich 
für  gar  kein  Studium  ausgesprochene  Vorliebe  zeigen.  Wenig  zahlreich  sind 
jene,  die  der  Beruf  zur  Jurisprudenz  an  die  juristische  Fakultät  führt.  Die 
Mehrzahl  wählt  diesen  Wissenszweig  als  einen,  der  die  meisten  Aussichten 
bietet  und  die  geringste  Summe  von  Mühe  verlangt.  Man  betrachtet  sogar 
die  Vorlesungen  als  überflüssig,  und  an  keiner  Fakultät  ist  die  Frequenz  so 
schlecht,  wie  gerade  an  der  rechts-  und  staatswissenschaftlichen.  Wir  werden 
selbstverständlich  kein  Wort  verlieren,  um  die  einfach  nicht  diskutable 
Anschauung  von  der  Überflüssigkeit  der  Vorlesungen  zu  entkräften.  Es 
handelt  sich  vielmehr  darum,  Wege  zu  suchen,  um  diesen  Zuständen  in 
erfolgreicher  Weise  zu  begegnen. 

Einen  Teil  der  Schuld  muß  mau  dem  Umstande  beimessen,  daß,  wie 
erwähnt,  die  rechts-  und  staatswissenschaftliche  Fakultät  zum  großen  Teile 
von  Abiturienten  bezogen  wird,  die  keine  Vorliebe  für  dieses  Studium 
empfinden,  keine  Ahnung  von  der  Bedeutung  desselben  haben  und  entweder 
nicht  in  der  Lage  sind,  sich  für  dasselbe  zu  interessieren  oder  auch  nicht 
einmal  die  Absicht  haben,  ein  Interesse  zu  gewinnen.  Einen  weiteren  Teil 
der  Schuld  muß  man  dem  Lehrplane  sowie  der  Art  und  Weise,  wie  gewisse 
Fächer  gelehrt  werden,  beiinessen,  nicht  minder  auch  dem  Prufungssystem. 
Der  Rest  der  Schuld  fällt  auf  das  bureaukratische  System,  welches  leider 
an  dem  jungen  Beamten  nichts  so  sehr  schätzt,  als  die  Leichtigkeit,  mit 
der  er  sich  den  Aratsgepflogenheiten  unterwirft  und  auf  sein  Wissen  zu 
geringen  Wert  legt.  — Wir  » ollen  die  angeführten  Übelstände  der  Reihe  nach 
besprechen  und  gleichzeitig  Vorkehrungen  gegen  dieselben  anregen. 

II. 

Die  Vorbereitung  des  künftigen  Hörers  der  Rechte. 

Der  übermäßige  Zudrang  zum  Rechtsstudium  ist  wohl  in  erster  Linie 
den  sogenannten  Vorteilen  des  Rechtsstudiums  zuzuschreiben.  Doch  ist 
dies  nicht  der  einzige  Grund.  Es  muß  darauf  hingewiesen  werden,  daß 
das  Gymnasium  eigentlich  für  alle  Berufe  vorbereitet 


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Malta». 


JI8 


ii  n il  über  alle  Studien  informiert,  nur  n i c li  t Aber  da» 
R ec h ts  s t u di  u ni.  Der  Gymnaaialschüler  findet  Gelegenheit,  wenigstens 
in  bescheidenem  Malle  mit  den  Grundbegriffen  der  Theologie,  der  Sprach- 
wissenschaft, der  Geschichte,  der  Mathematik  und  Naturwissenschaft  ver- 
traut zu  werden.  Kr  vermag  sich  also,  insofern  dies  in  jungen  Jahren 
Oberhaupt  möglich  ist,  zu  Oberzeugen,  ob  ihm  die  eine  oder  die  andere 
Wissenschaft  zusagt.  Deshalb  sehen  wir.  daU  diejenigen,  die  sich  der 
theologischen,  medizinischen  oder  philosophischen  Fakultät  zuwenden,  in 
ernsterer  Weise  ihren  Beruf  wühlen;  sie  haben  wenigstens  einen  allgemeinen 
Begriff  von  dem  Charakter  der  Beschäftigung,  der  sie  sich  zuwenden.  Der 
zukünftige  Jurist  weill  vom  Rechtsstudium  gar  nichts:  die  Schwierigkeiten, 
die  das  medizinische  oder  philosophische  Studium  bereitet,  sind  ihm 
gewöhnlich  sogar  in  übertriebenen)  Malle  bekannt;  hinsichtlich  der  Juris- 
prudenz dagegen  weil!  er,  daß  viele  seiner  Freunde  und  Bekannten  ohne 
große  MOhe  ihre  Prüfungen  bestanden  und  Anstellungen  erhalten  haben: 
daß  man,  um  Jurist  zu  werden,  ebenso  wie  für  jedes  andere  Studium  einer 
bestimmten  Veranlagung  bedarf,  liegt  ihm  vollkommen  ferne.  Wir  hören 
doch  so  oft,  daß  ein  Kandidat,  dem  das  Rechtsstudium  die  größten 
Schwierigkeiten  bereitet,  die  Erfolglosigkeit  seiner  Bestrebungen  einfach 
nicht  begreift:  hat  er  doch  die  Maturitätsprüfung,  vielleicht  sogar  mit  sehr 
gutem  Erfolge,  bestanden  und  dadurch  die  Berechtigung  erhalten,  eine 
beliebige  Fakultät  zu  beziehen.  Es  ist  ihm  nicht  eingefallen,  Philologe  zu 
werden,  denn  er  hat  bereits  im  Gymnasium  die  Erfahrung  gemacht,  daß  er 
dafür  nicht  taugt:  er  ist  auch  nicht  Mathematiker  geworden,  und  zwar  aus 
ähnlichem  Grunde;  aber  darüber,  ob  er  zum  Juristen  taugt,  hat  er  nicht 
nachgedaclit  und  eigentlich  auch  keine  Gelegenheit  zu  solchem  Nachdenken 
gefunden. 

Und  das  ist  noch  nicht  alles;  denn  seihst  während  des  ersten  Hien- 
niums  ist  er  mitunter  auch  noch  nicht  in  der  Lage,  sich  zu  überzeugen, 
ob  er  zum  Juristen  taugt.  War  er  im  Gymnasium  guter  Historiker,  so  wird 
er  in  den  ersten  zwei  Jahren,  namentlich  wenn  ihm  die  rechtshistorischen 
Fächer  mehr  historisch  als  juristisch  vorgetragen  werden,  keinen  richtigen 
Begriff  von  den  Eigenheiten  der  Jurisprudenz  erhalten.  Wir  sind  gewiß 
weit  davon  entfernt,  gegen  die  Rechtsgeschichte  auftreten  zu  wollen,  doch 
muß  Diun  bemerken,  dali  viele  akademische  Lehrer  in  dieser  Beziehung 
weit  über  das  gebotene  Maß  gehen  und  ihre  Vorlesungen  mehr  historisch 
als  juristisch  einricliten.  Das  Gesetz  vom  20.  April  1808  hat  diesen  Übel- 
stand teilweise  dadurch  beseitigt,  daß  das  deutsche  Privatrecht  obligat 
wurde  und  einen  Prüfungsgegenstand  bildet,  ferner  dadurch,  daß  die 
Geschichte  Österreichs,  die  früher  ausschließlich  historisch  vorgetragen 
wurde,  nunmehr  eine  andere  Bedeutung  gewonnen  hat.  Es  sei  dem  wie 
immer,  so  viel  ist  klar,  daß  mit  Ausnahme  der  Pandekten  die  übrigen 
Fächer  des  ersten  Bieuniums  keinen  richtigen  llegrifl  von  der  Schwierigkeit 
der  Jurisprudenz  geben.  Diese  Schwierigkeiten  treten  in  umfassenderer 
Weise  erst  später  zu  Tage,  doch  hat  der  Kandidat  inzwischen  zwei  Jahre 


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Zur  AnBgeataltung  doa  rerhta-  und  fttaatawinaeni'rliArtlicheti  Stadium«  ,‘to.  2if) 


geopfert,  er  will  oder  kann  nicht  mehr  zurück  und  tröstet  sich  mit  der 
Hoffnung,  dal!  hei  einiger  Arbeit  und  einigem  Glück  die  Prüfung  über- 
wunden werden  kann.  In  der  Praxis  hält  einen  solchen  Juristen  der 
Schimmel  und  eine  gewisse  Portion  von  Gewissenhaftigkeit  aufrecht  und 
schließlich  ist  er  selbst  überzeugt,  daß  er  Jurist  ist. 

Der  Vorwurf,  den  wir  gegen  das  Gymnasium  erheben,  kann  auffallen. 
Wir  verlangen,  daß  das  Gymnasium  ebenso  wie  für  andere  Wissenszweige 
auch  für  die  Jurisprudenz  vorarbeite.  Sollte  entgegnet  werden,  daß  das 
Gymnasium  vor  allem  allgemeine  Bildung  und  erst  in  zweiter  Linie  eine 
Vorbereitung  für  das  Universitätsstudium  bietet,  so  pflichten  wir  dieser 
Anschauung  hei,  meinen  aber,  daß  gewisse  Kenntnisse  aus  dem  Gebiete  der 
Rechts-  und  Staatswissenschaften  sowie  der  Volkswirtschaft  zum  mindesten 
ebenso  in  den  Kähmen  des  allgemeinen  Wissens  gehören  wie  Trigonometrie 
oder  Analytik:  denn  auch  als  Schulung  des  Denkens  hat  die  Jurisprudenz 
denselben  Wert  wie  die  Mathematik. 

Es  ist  selbstverständlich,  daß  man  diese  Frage  ausschließlich 
vom  Standpunkte  der  Aufgaben  des  Gymnasiums  zu  behandeln  hat.  Der 
Cmstand,  daß  eine  solche  Vorbereitung  den  juristischen  Fakultäten  die 
Lösung  ihrer  Aufgabe  erleichtern  würde,  könnte  niemals  ausschlaggebend  sein. 
Wir  verlangen  also  nicht,  daß  die  Hauptzwecke  der  Mittelschulbildung  ver- 
kannt oder  zu  Gunsten  der  Bequemlichkeit  der  Hochschule  abgeändert  werden. 

Zweifellos  ist  die  sogenannte  allgemeine  Bildung  und  die  Befähigung  zu 
selbständiger  Fortbildung  der  Hauptzweck  des  Gymnasiums.  Die  Fortbildung 
selbst  besorgen,  insofern  es  sich  um  spezielle  Berufe  handelt,  die  Hoch- 
schulen: jene  Fortbildung  aber,  die  gewissermaßen  die  Fortsetzung  der  im 
Gymnasium  erhaltenen  allgemeinen  Bildung  bedeutet,  die  also  für  jedermann 
ohne  Rücksicht  auf  seinen  Lebensberuf  von  Wichtigkeit  ist,  bleibt  persön- 
licher, eigener  Arbeit  überlassen,  da  niemand  behaupten  wird,  daß  die 
allgemeine  Bildung  mit  dem  Augenblicke  abgeschlossen  ist.  wo  man  das 
Gymnasium  verläßt.  Dieser  Umstand  läßt  das  zuletzt  erwähnte  Gebiet  per- 
sönlicher Arbeit  zum  Zwecke  der  Fortführung  der  allgemeinen  Bildung  als 
besonders  wichtig  erscheinen;  deshalb  muß  man  die  Weckung  von  Lust 
und  Fähigkeit  zu  solcher  Arbeit  als  wertvollsten  Teil  der  Gesamtaufgabe 
des  Gymnasiums  beze;chnen.  Das  Gymnasium  muß  seine  Schüler  nicht  nur 
positiv  belehren,  sondern  zu  eigenem  Denken  anregen  und  für  alles,  was 
unter  den  Begriff  der  allgemeinen  Bildung  fällt,  derart  interessieren,  daß 
diese  Schüler,  namentlich  in  späteren  Jahren,  neben  dem  Berufe,  dem  sie  den 
größten  Teil  ihrer  Zeit  widmen,  sich  veranlaßt  sehen,  sich  Ober  die  Fort- 
schritte der  Kultur  und  der  Wissenschaft  auf  anderen  Gebieten  zu  infor- 
mieren. Das,  was  die  Mittelschule  bieten  soll,  ist  bestimmt,  ein  Gegen- 
gewicht zu  bilden  gegen  die  Einseitigkeit  rein  berufsmäßiger  Arbeit,  die 
Bildung  selbständigen  Urteiles  zu  ermöglichen  und  die  Erweiterung  des 
Gesichtskreises  zu  erleichtern. 

Wenn  wir  von  diesem  Standpunkte  Zweck  und  Ergebnis  des  Gymnasial- 
studiums  betrachten,  muß  es  unliebsam  auffallen,  daß  die  Schule  unxweifel- 


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250 


Halbst). 


haft  vieles  bietet,  daß  sie  aber  weder  direkte  Kenntnisse  rechtlicher,  wirt- 
schaftlicher. sozialer  und  politischer  Verhältnisse  gibt,  noch  auch  eine 
Anregung  zu  späterer  selbständiger  Erwerbung  derselben.  Diese  Kenntnis 
betrachtet  man  offenbar  als  zu  speziell  und  gibt  sich  der  Hoffnung  hin, 
daU  die  berufsmäßige  Ausbildung,  nämlich  an  der  rechts-  und  staatswissen- 
schaftlichen Fakultät,  diese  Lücke  ausffillen  wird.  Fdr  die  zukünftigen 
Juristen  trifft  ja  das  zum  Teile  zu.  Im  übrigen  aber  ist  eine  solche  Auf- 
fassung, die  vielleicht  im  absoluten  Staate  gerechtfertigt  werden  könnte,  in 
einem  konstitutionellen  Staate  unhaltbar.  In  einem  absoluten  Staatswesen 
sind  derartige  Kenntnisse  und  selbständiges  Denkvermögen  in  dieser  Hinsicht 
für  die  Bevölkerung  überflüssig;  denn  nur  die  Staatsgewalt  und  ihre 
unmittelbaren  Organe  kommen  in  die  Lage,  sich  mit  öffentlichen  Angelegen- 
heiten zu  befassen.  Anders  in  einem  konstitutionellen  Staate.  Abgesehen 
davon,  daß  da  fast  jeder  Staatsbürger  ohne  Rücksicht  auf  Stellung  und  Rang 
schon  als  Wähler  berufen  ist,  an  der  Lösung  der  Staatsaufgaben  mitzuwirken, 
muß  man  besonders  betouen.  daß  namentlich  die  gebildeten  Schichten  vor 
Aufgaben  gestellt  werden,  die  ebenso  wichtig  sind  wie  diejenigen,  die  den 
Juristen  zufallen.  Der  Wirkungskreis  der  Vertretuugskflrper  wächst,  es  ent- 
stehen immer  neue  Kammern  und  Beiräte,  die  über  wichtige  Fragen  entscheiden 
oder  wenigstens  befragt  werden.  Es  ist  zu  erwarten,  daß  der  Wirkungskreis 
solcher  Körperschaften  zunehmen  und  in  gleicher  Weise  der  Wirkungskreis 
der  Beamtenschaft,  d.  h.  der  fachmännisch  gebildeten  Organe,  abnehmen  wird. 

Dennoch  haben  sogar  die  gebildeten  Stände,  die  die  Mittelschule,  und 
zwar  überwiegend  das  Gymnasium  absolvieren,  nicht  die  geringste  Quali- 
fikation zur  Erfüllung  solcher  Aufgaben.  Jahrhundertelanger  Absolutismus, 
der  sich  ausschließlich  auf  seine  eigenen  Organe  stützte,  hat  die  Bevölkerung 
von  jeder  Teilnahme  an  dem  öffentlichen  Leben  ferngehalten  und  dadurch 
eine  Verkümraeruug  juristischer  und  politischer  Anlagen  bewirkt.  Die 
französische  Revolution  und  alles,  was  ihr  folgte,  hat  großen  Schichten  der 
Bevölkerung  einen  Anteil  an  dem  Staatsleben  revindiziert,  vermochte  aber 
nicht,  die  inzwischen  zum  großen  Teile  abgestorbenen  Fähigkeiten  neu  zu 
erwecken.  So  kommt  es.  daß  die  Bureaukratie,  die  sich  in  absolutistischer 
Zeit  als  eine  streng  geschiedene  und  über  der  Bevölkerung  stehende  Kaste 
fühlte,  bis  auf  den  heutigen  Tag  einiges  von  diesem  Gefühle  behalten  hat 
und  einem  gesunden  öffentlichen  Leben  bis  nuuzu  einigermaßen  fremd 
gegenübersteht;  zur  Rechtfertigung  dieses  Zustandes  muß  man  aber  anführen, 
daß  angesichts  der  verwirrten  Begriffe,  die  in  dieser  Beziehung  selbst  unter 
Gebildeten  herrschen,  die  Beamtenschaft  mit  vollem  Rechte  nur  sich  selbst 
als  Träger  des  Rechtes,  der  Ordnung  und  der  Wohlfahrt  betrachten  darf. 
Diese  Verhältnisse  sind  so  allgemein,  juristische  und  politische  Bildung  so 
selten,  daß  die  Bureaukratie  nur  zu  oft  in  < ie  Lage  kommt,  mit  gutem 
Grunde  allgemein  erhobene  Forderungen  mit  der  Bemerkung  abzutun,  daß 
man  Hachen  verlange,  die  man  nicht  verstehe. 

Es  muß  als  betrübend  bezeichnet  werden,  daß  die  Schule,  die  bemüht 
ist.  in  der  Jugend  Sinn  für  Kunst,  für  Geschichte  und  Kultur  zu  wecken, 


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Zur  Ausgestaltung  des  rechts-  und  staatswissensrliafttirhen  Studiums  etc.  2 ■>  1 


die  Schiller  in  Frageu  der  Naturwissenschaft  und  der  Hygiene  einzuführen, 
nicht  daran  denkt,  daß  die  Jugend  bestimmt  ist.  in  verschiedenen  Berufen 
neben  Juristen  und  Beamten  Ihr  Lund  und  Reich  zu  wirken,  daß  sie 
mittelbar  oder  unmittelbar  die  Öffentliche  Meinung  des  Staates  bilden  mul 
leiten  wird,  daß  viele  dieser  Schüler  in  die  Lage  kommen  werden,  über  die 
wichtigsten  Staatsangelegenheiten,  Ober  wirtschaftliche  Fragen  und  soziale 
Bewegungen  zu  urteilen.  Da  genügt  nicht  einfacher  Menschenverstand,  denn 
auch  der  verständigste  Mann  muß  sein  Urteil  auf  irgend  etwas  stützen;  die 
hiefür  notige  Grundlage  wird  er  im  späteren  Leben  schwer  linden,  wenn  die 
allgemeine  Bildung,  die  er  genossen,  in  dieser  Beziehung  versagt,  ihn  nicht 
einmal  anregt,  über  solche  Fragen  zu  deukeu  und  sich  zu  informieren.  Die 
Berufsarbeit  gibt  zwar  die  Möglichkeit,  gewisse  Rechts-  und  Lebensverhält- 
nisse aus  eigener  Erfahrung  kennen  zu  lernen,  fördert  aber  auch  die  schäd- 
liche Einseitigkeit,  die  kastenmäßigen  Charakter  annehmen  kann ; der 
Fortschritt  des  Rechtslebens,  die  Entwicklung  der  wirtschaftlichen  und 
sozialen  Verhältnisse  fordert  im  Gegenteile  gerechte  Beurteilung  allgemeiner 
Bedürfnisse. 

Man  darf  behaupten,  daß  eine  allgemeine  Bildung,  die  so  wichtige 
Gebiete  gänzlich  außer  acht  läßt,  nicht  mehr  den  Namen  einer  allgemeinen 
verdient,  und  daß  sie  den  so  Gebildeten  weder  die  nötigen  Kenntnisse 
noch  auch  die  Grundlage  für  die  Erwerbung  derselben  auf  den  Lebensweg 
mitgibt.  Die  Hochschule  kann  sich  damit  nicht  mehr  befassen,  denn  sie 
bietet  nur  spezielle  Ausbildung  in  einer  bestimmten  Richtung.  So  wird  also 
diese  Lücke  nie  mehr  ausgefüllt,  und  die  zur  Anteilnahme  an  dem  öffent- 
lichen Leben  notwendigen  Kenntnisse  bleiben  ebenso  wie  im  absoluten 
Staate  ausschließliche  Domäne  der  Juristen. 

Es  war  uns  darum  zu  tun,  einen  l'belstand  zur  Spruche  zu  bringen, 
den  die  rechts-  und  staatswissenschaftliche  Fakultät  empfindet;  nun  können 
wir  aber  auch  behaupten,  daß  das.  was  diesem  C belstande  zu  Grunde  liegt, 
nicht  nur  im  Interesse  der  rechts-  und  Staat «wissen- 
schaftlichen Fakultät,  sondern  vor  allem  im  Interesse 
der  eigentlichen  Aufgabe  der  Mittelschule  seihst  aus- 
gemerzt werden  muß.  Es  kann  uns  also  nicht  der  Vorwurf  treffen,  als 
ob  wir  von  der  Mittelschule  etwas  fordern  würden,  was  ausschließlich  den 
Interessen  des  Rechtsstudiums  dienen  soll.  Die  Beseitigung  der  erwähnten 
Lücke  würde  dem  Mittelschüler  einen  allgemeinen  Begriff  von  der  Bedeutung, 
aber  auch  von  der  Schwierigkeit  des  Rechtsstudiums  beibringen  und  gewiß 
manchen  von  der  Wahl  dieses  Studiums  abhalten.  Zweifellos  aber  würde 
die  allgemeine  Bildung  und  das  öffentliche  Lehen  dadurch  viel  gewinnen. 

Die  praktische  Durchführung  dieses  Gedankens  ist  nicht  leicht,  und 
man  darf  die  pädagogischen  Schwierigkeiten  nicht  gering  anschlagen.  Des- 
halb ist  es  unmöglich,  diese  Angelegenheit  hier  eingehend  zu  besprechen. 
Es  wäre  darauf  hinzuweisen,  daß  die  Idee  einer  sachgemäßen  Berück- 
sichtigung der  Staatswissenschaften  in  Deutschland  infolge  der  kaiserlichen 
Botschaft  vom  Jahre  188ß  mehrmals  behandelt  wurde;  doch  wurde  da  vor 


2r>2 


Hullmn. 


allem  au  die  Bekämpfung  des  Sozialismus  gedacht,  was  natürlich  wissen- 
schaftlichen /wecken  nicht  voll  entspricht  und  in  der  Lehrerwelt  Bedenken 
herrorrufen  mußte.  Die  Einimpfung  vielleicht  einseitiger  Urteile  würde  das 
anzustrebende  Verständnis  der  Jugend  für  wissenschaftliche  Fragen  nicht 
fördern;  denn  es  kann  sich  nicht  darum  handeln,  einen  Gymnasialkatechismus 
für  rechts-  und  staatswissenschaftliche  Fragen  zu  schaden,  sondern  dämm, 
der  Jugend  die  nötige  Basis  und  Anregung  zu  vermitteln,  um  sie  mit  der 
/eit  zu  einem  selbständigen  Urteile  gelangen  zu  lassen.  Angesichts  der 
Veränderlichkeit  politischer  Urteile  und  mit  Rücksicht  auf  die  Fortschritte 
der  Wissenschaft  hat  nur  eine  Basis  und  nur  die  Entwicklung  des  Denk- 
vermögens bleibenden  Wert.  Eine  katechismusartige  Zusammenstellung 
gewisser  Prinzipien  und  Argumente  wäre  vollkommen  wertlos  und  überdies 
trocken,  so  dal!  sie  zur  Weckung  des  Interesses  kaum  beitragen  könnte; 
deshalb  sind  Versuche,  eine  sogenannte  Bürgerlehre  einzuführen,  als 
unpassend  zu  betrachten.  Leichter  erscheint  es,  dasjenige,  was  zur  Ent- 
wicklung des  juristisch-politischen  Denkvermögens  nötig  ist,  gelegentlich 
beim  Unterrichte  in  jenen  Fächern,  die  hiefür  taugen,  zu  bieten.  Mau 
entgeht  dadurch  der  Gefahr,  den  Gymnasiallehrplan  durch  Anfügung  eines 
neuen  und  trockenen  Gegenstandes  zu  belasten  und  gewinnt  gleichzeitig  die 
Möglichkeit,  die  betreffenden  Fächer  durch  eine  so  geartete  Erweiterung 
interessanter  zu  gestalten. 

Wir  denken  dabei  an  den  Unterricht  in  Religion,  Geschichte 
und  Philologie. 

Die  Religionslehre  gibt  die  erwünschte  Gelegenheit,  da  jede 
rechts-  und  stautswissenschaftliche  Bildung  im  weitesten  Sinne  des  Wortes 
auf  ethischer  Grundlage  beruhen  muß.  Der  ethische  Inhalt  aller  juristischen 
und  staatlichen  Institute,  der  Zusammenhang  zwischen  Recht  und  Pflicht, 
der  in  der  Sozialpolitik  immer  mehr  zu  Worte  kommt  und  die  Gesetzgebung 
in  günstiger  Weise  beeinflußt,  das  alles,  was  wir  hier  natürlich  nur  streifen 
können,  vermag  recht  wohl  Gegenstand  des  Religionsunterrichtes  zu  bilden, 
ohne  gegen  die  Hauptaufgabe  desselben  zu  verstoßen:  namentlich  im  Ober- 
gymnasium.  Die  konfessionellen  Unterschiede  würden  in  dieser  Beziehung 
wenig  bedeuten,  da  es  sich  um  Dinge  handelt,  die  jeder  Lehre  in  fast 
gleicher  Weise  naliostehen. 

Die  Hauptaufgabe  würde  natürlich  dem  Geschichtsunterrichte 
zufallen.  Er  kann  mit  Leichtigkeit  den  Schülern  Kenntnisse  vermiiteln,  die 
sie  zu  ersprießlicher  Teilnahme  am  öffentlichen  Leben  befähigen,  in  ihnen 
ein  tieferes  Interesse  und  die  Möglichkeit  gründlichen  Erfassens  der  öffent- 
lichen Angelegenheit  entwickeln.  Die  allseitig  behandelte  Geschichte  würde 
durch  eine  Berücksichtigung  politischer  Strömungen  und  Bewegungen, 
juristischer,  wirtschaftlicher  und  sozialer  Einrichtungen,  nur  an  Wert 
gewinnen,  die  historischen  Tatsachen  den  Schülern  in  ganz  anderer  Be- 
leuchtung erscheinen.  Die  treibenden  Kräfte  des  staatlichen  und  sozialen 
Lebens  werden  am  besten  an  Völkern  studiert,  deren  Geschichte  abge- 
schlossen und  dem  Parteigetriebe  entrückt  ist.  Es  ist  zuzugeben,  daß  die 


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Zar  Ausgestaltung  des  rechts-  und  stsatswissensehaftlkhen  Studiums  etc.  J 5 -i 


jüngere  Lehrergeneration  bestrebt  ist,  in  dieser  Weise  vorzugehen,  man 
müßte  also  diese  Richtung  unterstützen  und  in  den  Lehrbüchern  zum  Aus- 
drucke bringen.  Selbstverständlich  könnte  es  sieb  nur  um  den  Unterricht 
in  den  obersten  Kiassen  handeln.  Daß  der  Geschichtsunterricht  durch  eine 
derartige  Erweiterung  nicht  verlieren,  sondern  gewinnen  müßte,  ist  klar. 

Es  mag  auffallen,  daß  wir  in  diesem  Zusammenhänge  auch  die 
Philologie  nennen.  Die  Gegner  des  sogenannten  Klassizismus  »erden 
gewiß  nicht  zngeben  wollen,  daß  man  überhaupt  noch  neue  Vorteile  dieses 
Unterrichtes  zu  finden  vermag;  die  Anhänger  dagegen  könnten  möglicher- 
weise geneigt  sein,  in  dem  Gedanken,  den  wir  vertreten  wollen,  ein  Attentat 
auf  die  wesentlichen  Aufgaben  des  klassischen  Unterrichtes  zu  erblicken. 

Es  sei  gestattet,  zu  betonen,  daß  wir  zu  den  unbedingten  Anhängern 
des  sogenannten  Klassizismus  gehören,  weil  wir,  ganz  abgesehen  von  allen 
genügend  bekannten  Vorteilen,  in  den  alten  Sprachen,  die  alles  wesentlich 
besser  unterscheiden  als  die  modernen  und  allen  Begriffen  schärfer  au  den 
Leib  gehen,  somit  also  für  die  Ausbildung  des  präzisen  Denkens  von  unge- 
heuerem Werte  sind,  ein  unersetzliches  Bildungsmittel  erblicken.  Wir  sind 
uns  also  auch  über  die  eigentlichen  Zwecke  dieses  Unterrichtes  klar.  Man 
muß  aber  bemerken,  daß  der  Gymnasinllehrplan,  und  zwar  überall,  den 
wichtigen  Unterschied  zwischen  der  Tätigkeit  der  Griechen  und  Römer  und 
den  Unterschied  des  Anteiles,  der  beiden  Völkern  an  dem  großartigen 
Gebäude  der  antiken  Kultur  gebührt,  außer  acht  läßt;  es  unterliegt  doch 
keinem  Zweifel,  daß  in  Bezug  auf  Philosophie,  KunBt  und  Literatur  im 
engeren  Sinne,  die  Griechen  derart  die  Römer  überragen,  daß  alles,  was 
das  Altertum  auf  diesem  Gebiete  unvergänglich  Großes  geleistet  bat,  ent- 
weder direkt  griechischen  Ursprungs  ist  oder  wenigstens  auf  griechischen 
Einfluß  zurückgeht  Unbegreiflich  erscheinen  uns  von  diesem  Standpunkte 
die  allgemein  üblichen  Angriffe  gegen  den  griechischen  Unterricht,  aber 
noch  unbegreit  lieber  der  Umstand,  daß  e3  selbst  Philologen  gibt,  die  diesen 
Angriffen  nachgebend,  den  Klassizismus  dadurch  zu  retten  versuchen,  daß 
sie  sich  mit  der  Streichung  des  Griechischen  einverstanden  erklären,  um 
nur  das  Latein  zu  behalten.  Mit  Rücksicht  auf  diesen  ungleichen  Anteil, 
den  beide  Völker  hinsichtlich  der  anliken  Kultur  nahmen,  müsseu  die 
Mängel  des  Gymnasiallehrplanes  ganz  besonders  hervortreten.  Die  Bedeutung 
der  Römer  beruht  doch  wesentlich  darauf,  daß  sie  eine  Sprache  von  unver- 
gleichlicher Logik  und  ein  besonderes  Recht  geschaffen  haben.  Die  Ent- 
wicklung der  anliken  Philosophie  und  der  schönen  Literatur  hat  ihnen  viel 
weniger  zu  verdanken.  Betrachtet  man  es  als  notwendig,  der  Jugend  die 
Grundbegriffe  der  antiken  Philosophie  und  K’un-t  in  direkter  Weise  zugänglich 
zu  machen,  dann  kann  diese  Aufgabe  folgerichtig  nur  durch  den  griechischen 
Unterricht  gelöst  werden;  die  Jugend,  die  Gelegenheit  findet,  Homer  zu 
lesen,  kann  füglich  Virgil  und  Ovid  entbehren.  Die  Jugend  gewinnt  hin- 
sichtlich der  Römer  eine  falsche  Auffassung,  wenn  sie  im  Gymnasium 
lernt,  ihre  Tätigkeit  auf  Grund  ihrer  literarischen  Produktion  zu  beurteilen 
und  nicht  auf  Grund  der  wirklich  originellen  Produktion  auf  anderen 

ZclUcbrlft  fdr  Volk»»»irUcl»»ft,  Bosi*lf>olitik  uod  V«rw«ltuag.  XII.  Bäu  1.  lg 


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254 


Hiill'un 


Gebieten,  auf  dein  Gebiete  des  Staats-  und  Kechtswesens.  Die  Hörner  haben 
auch  in  anderen  Hinsichten,  so  z.  B.  für  Kriegswissensebaft  und  Technik, 
viel  geleistet,  doch  kann  dies  nicht  Gegenstand  des  Gymnasial  Unterrichtes 
sein  und  hat  überdies  für  die  moderne  Kultur  keine  unmittelbare  Bedeutung. 
Will  man  die  Philologie  so  auffassen,  wie  sie  die  Schöpfer  dieser  Wissen- 
schaft, die  grollen  Humanisten  aufgefaüt  haben,  als  Mittel  zum  Erforschen 
der  Gesamtheit  des  Geisteslebens  eines  Volkes,  so  mutt  man  zugeben,  dal) 
es  sich  iu  erster  Linie  um  die  Tätigkeit  eines  Volkes  handelt,  in  der  das- 
selbe seinen  Geist  am  mächtigsten  und  am  selbständigsten  offenbart  hat. 
Nicht  in  der  Dichtung  und  auch  nicht  in  der  Rhetorik,  wohl  aber  im 
Rechte  hat  der  Geist  des  römischen  Volkes  seine  größten  Triumphe  gefeiert 
und  nicht  für  Dichtung  oder  Rhetorik  hat  das  römische  Volk  seine  unnach- 
ahmliche Sprache  entwickelt. 

Die  Lektüre  lateinischer  Schriftsteller  im  Gymnasium  sollte  also  den 
Zweck  verfolgen,  die  Schüler  mit  dem  rechtspolitischen  Sinn  der  Römer 
vertraut  zu  machen,  mit  dem  bürgerlichen  Gedanken,  sie  auf  die  Höhen 
der  originellen  römischen  Leistungen  zu  führen.  Wenn  man  Zeit  findet,  um 
bei  Besprechung  der  sogenannten  Realien  eine  Menge  ziemlich  gleich- 
gültiger, wenn  auch  archäologisch  interessanter  Informationen  über  Leben 
und  Sitten  zu  bieten,  so  könnte  man  auch  daran  denken,  die  Schüler  mit 
den  Rechtssitten  und  den  Grundlagen  der  römischen  Kechtstechnik  bekannt 
zu  machen.  Dasjenige,  was  schon  im  ersten  Semester  des  juristischen 
Studiums  möglich  ist,  kann  in  der  siebenten  oder  achten  Klasse  nicht 
unmöglich  sein,  namentlich  hei  Verwendung  einer  richtigen  pädagogischen 
Methode,  an  die  an  der  Universität  nicht  gedacht  werden  kann,  die  man 
aber  im  Gymnasium  anzuwenden  vermag.  Das  Lesen  der  Institutionen  von 
Gaius,  ja  sogar  von  Justinian  wäre  durchführbar,  und  wenn  die  Sprache  der 
römischen  Juristen  den  Fachphilolngeu  nicht  so  entzückt  wie  die  Sprache 
Ciceros,  so  muß  man  entgegenhalten,  daß  die  Sprache  der  römischen 
Jurisprudenz  in  weit  höherem  Grade  vorbildlich  war  als  die  Ciceros.  Es 
darf  ferner  daran  erinnert  werden,  daß  bei  den  Römern  selbst  die  Schule 
das  Recht  berücksichtigte,  daß  auch  später  die  Schulen  der  Rhetoren  und 
Grammatiker,  die  in  der  Hauptsache  römischen  Traditionen  entsprachen, 
das  Recht  niemals  ignorierten,  daß  schließlich  die  Humanisten  des  XV'. 
und  XVI.  Jahrhunderts  Philologen  und  Juristen  waren  und  niemals  daran 
vergaßen,  daß  die  wahre  Größe  Roms  nur  auf  diesem  Gebiete  gesucht 
und  auf  andere  Weise  gar  nicht  verstanden  werden  kann. 

Das,  was  wir  hier  anregen,  liegt  also  durchaus  nicht  außerhalb  der 
Grenzen  der  Philologie,  sondern  innerhalb  ihres  Wirkungskreises.  Und  es 
ist  nicht  zu  übersehen,  daß  dadurch  auch  die  Lehre  der  sogenannten 
Realien  eine  ganz  andere  Grundlage  gewinnen  würde.  Die  Schüler  würden 
von  den  Römern  einen  wesentlich  anderen  Begriff  erhalten,  und  wenn  daneben 
dank  dieser  Ausdehnung  des  philologischen  Unterrichtes  auch  der  juristische 
Gesichtskreis  detjenigen.  die  nicht  die  Absicht  haben.  Juristen  zu  werden, 
erweitert  würde,  so  darf  man  wohl  darin  keinen  Schaden  erblicken.  Nur 


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Zar  Ausgestaltung  des  rechts*  and  staatswissenschaftHchen  Studiums  etc.  255 


nebenbei  sei  noch  bemerkt,  daß  auch  in  den  Augen  der  leider  so  zahl- 
reichen Gegner  des  Klassizismus  eiue  solche  Behandlung  des  Stoffes  der 
angefeindeten  Philologie  eine  neue  und  praktische  Bedeutung  verleihen  würde. 

Man  muß  also  behaupten,  daß  eine  derartige  Änderung  der  Lehr- 
methode in  erster  Linie  den  betreffenden  Gegenständen  selbst  Nutzen 
bringen,  ihrem  Wesen  entsprechen  und  daneben  durch  die  Abrundung  des 
Wissens  auch  der  allgemeinen  Bildung  Früchte  tragen  würde.  Die  Juristen 
könnten  einwenden,  daß  auf  diese  Weise  das  römische  Recht,  von  dessen 
Herrschaft  wir  uns  in  moderner  Zeit  immer  mehr  emanzipieren,  eine  Stärkung 
erfahren  würde;  da  aber  auch  jetzt  die  Schüler  Gelegenheit  haben,  bei  der 
Lektüre  der  Klassiker  Begriffe  und  Rinrichtungen  kennen  zu  lernen,  die 
unserem  Empfinden  nicht  entsprechen  und  dennoch  diese  Begriffe  nicht  zu 
den  ihrigen  machen,  so  wäre  auch  diese  Befürchtung  übertrieben.  Es  hängt 
natürlich  das  meiste  vom  Lehrer  und  von  der  Darstellung  ab. 

Halten  wir  daran  fest,  daß  die  Gegenstände,  die  am  Gymnasium 
gelehrt  werden,  die  Möglichkeit  bieten,  die  mehrfach  erwähnte  Lücke  in 
der  sogenannten  allgemeinen  Bildung  zu  beseitigen,  ohne  daß  dadurch  die 
eigentlichen  Zwecke  der  betreffenden  Fächer  tangiert  werden,  so  erscheint 
die  Einführung  eines  neuen  Gegenstandes  — man  mag  ihn  Bürgerlehre 
oder  anders  nennen  — überflüssig,  abgesehen  davon,  daß  ein  solcher 
Gegenstand  durch  seine  Trockenheit  für  die  Jugend  ungenießbar  und  infolge 
der  unabweisliehen  Abstraktion  ungeheuer  schwer,  daher  wahrscheinlich 
ebensowenig  nützlich  wäre  wie  z.  B.  die  philosophische  Propädeutik.  Die 
Reform  des  Unterrichtes  in  Religion.  Geschichte  und  Philologie  in  der 
angedeuteten  Richtung  ist  möglich,  und,  was  die  Geschichte  anbelangt,  ist 
ja  dieser  Weg  schon  zum  guten  Teile  betreten  worden.  Es  ist  zuzugeben, 
daß  der  von  uns  für  die  Rechtslehre  im  Gymnasium  vorgeschlagene  Weg 
ein  langsamer  ist.  Doch  ist  auf  andere  Weise  ein  nennenswertes  Resultat 
gar  nicht  zu  erreichen.  Bei  direktem  Lossteuern  auf  ein  bestimmtes  Ziel 
könnte  höchstens  eine  schablonenhafte  Kenntnis  der  gegenwärtigen  Rechts- 
zustände, beziehungsweise  eine  Abrichtung  im  Sinne  der  gerade  zur  Zeit 
herrschenden  Ansichten,  erreicht  werden.  Der  wahren  Bildung  kann  es 
nicht  um  augenblickliche,  sondern  um  dauernde  Erfolge  zu  tun  sein,  und 
die  sind  nur  möglich,  wenn  das  Interesse  geweckt  und  die  Denkfähigkeit 
gesteigert  wird.  Das  Gymnasium  würde  dadurch  überhaupt  an  erziehlichem 
Werte  gewinnen  und  dem  künftigen  Staatsbürger  eigene  Weiterbildung, 
daher  eigenes  Urteilen  ermöglichen. 

Es  ist  eingangs  bemerkt  worden,  daß  das  Gymnasium  auch  den 
zweiten  Zweck,  den  es  neben  der  allgemeinen  Bildung  erfüllen  soll  und 
den  es  hinsichtlich  der  meisten  Wissenszweige  auch  wirklich  erfüllt,  in 
unserem  Falle  nicht  einmal  anstrebt,  daß  es  nämlich  für  alle  Arten  der 
Berufsbildung  gewisse  Vorkenntnisse  bietet,  nur  nicht  für  das  Rechts- 
studium, so  daß  der  Abiturient  in  Bezug  auf  die  Jurisprudenz  ohne  jede 
Information  bleibt.  Wir  beanspruchen  nicht,  daß  man  diese  zweite  Aufgabe 
des  Gymnasiums  in  den  Vordergrund  stelle,  und  wolleu  deshalb  auf  gewisse 

IS* 


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25fi 


Halban. 


Vorschläge  betreffs  der  Erleichterung  des  Überganges  vom  Gymnasium  zur 
Universität  gar  nicht  eingehen.  weil  diese  Vorschläge  zum  größten  Teile 
schwer  durchföhrbar  sind,  vor  allem  aber  weil  uns  die  allgemeinen  Ziele 
der  Mittelschule  höher  stehen.  Jedenfalls  muß  man  den  Umstand,  daß  der 
Abiturient  keinen  Begriff  vom  llechtsstudiuin  hat,  ffir  die  Überflutung  der 
rechts  und  staatswissenschaftlichen  Fakultäten  mitverantwortlich  machen. 
Allerdings  Wörde  selbst  die  beste  Durchführung  der  angedeuteten  Reformen 
den  Übeln  nicht  steuern.  Aber  abgesehen  davon,  daß  wenigstens  eine 
Besserung  eintreteu  könnte,  müßte  doch  derjenige,  der  schon  im  Gymna- 
sium Gelegenheit  hatte,  die  Schwierigkeiten  und  den  Ernst  des  Rechts- 
studiums wenigstens  teilweise  keimen  zu  lemen  und  denuoch  dasselbe 
wählte,  obwohl  es  seinen  Aulagen  nicht  entspricht,  die  Konsequenzen  tragen, 
während  er  gegenwärtig  mit  Recht  darüber  klagen  darf,  daß  er  sein  Fach- 
studium wählte,  ohne  Gelegenheit  gehabt  zu  haben,  seine  Tauglichkeit  für 
dasselbe  zu  untersuchen. 

Aus  diesen  Gründen  wäre  eine  derartige  Reform,  deren  Einzelheiten 
natürlich  erwogen  werden  müßten,  von  prinzipieller  Bedeutung.  Eine  ent- 
sprechende Auslese  der  studierenden  Jugend  bildet  wohl  die  wichtigste 
Basis  für  jede  Besprechung  des  Universitätslehrplanes.  Wenn  Professoren 
anderer  Fakultäten  uns  so  häutig  Vorhalten,  daß  wir  Elementarunterricht 
betreiben,  während  sie  seihst,  namentlich  an  der  philosophischen  Fakultät, 
ihre  Vorlesungen  ganz  wissenschaftlich  gestalten,  so  dürfen  wir  entgegnen, 
daß  wir  einem  Auditorium  gegenüberstehen,  welches  ganz  unvorbereitet  ist. 
nicht  einmal  über  populäre  Kenntnisse  verfügt,  ja  nicht  einmal  weiß,  ob  es 
für  dieses  Studium  überhaupt  taugt. 

III. 

Pädagogische  Mängel  des  rechts-  und  staatswissenschaftlichen 
Studiums. 

Der  weitere  Teil  der  Schuld  an  den  ungenügenden  Ergebnissen  des 
Uechtsstudiums  ist  den  Fakultäten  selbst,  nämlich  der  Einrichtung  des 
Unterrichtes  und  des  Lehrplanes  zuzuschreiben. 

Auch  die  Universität  ist  in  erster  Linie  Schule;  namentlich  die  rechts- 
und  staatswissenschaftliche  Fakultät,  die  eiuen  Wissenszweig  vertritt,  der 

den  Hörern  gänzlich  unbekannt  ist.  Deshalb  hat  auch  der  Lehrplan  an 

keiner  Fakultät  diese  Bedeutung;  dies  wird  immer  mehr  anerkannt,  trotz- 
dem aber  nicht  entsprechend  berücksichtigt.  Es  bestellt  dabei  eine  prinzipielle 
Schwierigkeit,  um  die  man  schwer  herumkommt.  Der  akademische  Lehrer 
ist  nicht  Pädagog,  und  man  darf  von  ihm  keine  pädagogische  Tätigkeit  im 

engen  Sinne  des  Wortes  fordern.  Ist  auch  die  Universität  vor  allem  eine 

Schule,  so  ist  sie  doch  daneben  eine  Stätte  der  Wissenschaft.  Die  aka- 
demischen Dozenten  haben  die  Pflicht,  die  Wissenschaft  durch  selbständige 
Forschung  zu  fördern,  und  sie  werden  allgemein  gerade  von  diesem  Stand- 
punkte aus  gewürdigt.  Jeder  Universität  gereicht  cs  zur  Ehre.  Männer  zu 
berufen,  die  sich  wissenschaftlich  bewährt  haben  und  bei  Berufungen  spielt 


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Zur  Ausgestaltung  <lee  rechts-  und  staatswiggeuschartliehen  Studiums  etc.  257 


die  eventuelle  pädagogische  Eignung  keine  wesentliche  Rolle.  Sie  ist  auch 
schwer  zu  beurteilen;  Aufsichtsorgane  sind  durch  die  Stellung  des  Hoeh- 
scliulunterrichtes  von  vornherein  ausgeschlossen.  Erst  bei  der  Prüfung  kann 
man  sich  überzeugen,  ob  die  Lehrtätigkeit  von  Erfolg  war;  aber  auch  da 
in  ungenügender  Weise,  denn  gute  Prflfungsergebnisse  bilden  keinen  Beweis 
für  pädagogisches  Vorgehen  und  umgekehrt;  viel  bängt  von  dem  Vor- 
handensein entsprechender  Handbücher,  von  der  Auffassungsgabe  des 
Kandidaten  u.  s.  w.  ab.  Die  mangelhafte  Frequenz  schließt  überhaupt 
präzise  Schlußfolgerungen  von  der  Prüfung  auf  den  Vortrag  aus;  übrigens 
ist  es  klar.  daß.  nachdem  die  Prüfung  über  viele  Fächer  erst  lange  nach 
Absolvierung  des  betreffenden  Kollegiums  abgelegt  wird,  selbst  fleißig 
besuchte  Vorlesungen  schon  teilweise  vergessen  seiu  können. 

Eine  Änderung  dieser  Verhältnisse  ist  weder  möglich  noch  erwünscht. 
Die  akademischen  Lehrer  können  nicht  verhalten  werden,  pädagogisch  vor- 
zugehen, man  muß  vielmehr  Wert  darauf  legen,  daß  sie  in  erster  Linie 
Gelehrte  bleiben,  und  die  Verbindung  von  Lehre  und  Forschung  bildet  eine 
wertvolle  Charaktereigenschaft  der  Universität.  Was  dem  akademischen 
Unterrichte  an  pädagogischen  Eigenschaften  abgeht,  soll  ersetzt  werden 
durch  das  Wirken  der  wissenschaftlichen  Selbständigkeit.  Ausgeschlossen 
erscheint  die  Forderung  pädagogischer  (Qualifikationen,  ebenso  wie  irgend 
eine  Aufsicht.  Selbstverständlich  ist  es  auch  unmöglich,  die  Professoren  zu 
verpflichten,  während  der  Vorlesungen  durch  Stellung  von  Fragen  sich  zu 
überzeugen,  ob  die  Hörer  das  Vorgebraclite  richtig  auffassen,  denn  abge- 
sehen von  allem  anderen,  steht  dem  einfach  Zeitmangel  entgegen.  Der 
Charakter  der  Vorlesungen  verbietet  es  ferner,  daß  man  bestimmte  Lehr- 
bücher zur  Grundlage  wähle  und  die  Vorlesung  denselben  anpasse.  Die 
Darstellung  muß  dem  Professor  Vorbehalten  bleiben,  den  man  in  dieser 
Beziehung  nie  und  nimmer  fesseln  darf. 

Man  braucht  die  Vorzüge  dieser  seit  Jahrhunderten  erprobten  Ein- 
richtungen nicht  lierrorzuheben;  zweifellos  kann  man  nur  auf  diese  Weise 
für  die  Universitäten  Gelehrte  gewinnen,  die  sich  unter  keiner  Bedingung 
irgend  einer,  wenn  auch  pädagogisch  noch  so  richtigen  Einschränkung 
unterwerfen  könnten.  Wenn  es  aber  unmöglich  ist.  die  pädagogischen 
Obeistände  abzustellen,  da  jeder  Versuch  in  dieser  Hiusicht  einer  Ver- 
nichtung der  wesentlichen  Vorzüge  der  Hochschule  gleich  käme,  so  muß 
man  einen  anderen  Weg  suchen,  um  wenigstens  teilweise  den  auch  auf 
dieser  Stufe  nötigen  pädagogischen  Rücksichten  zu  entsprechen.  Es  ist 
nicht  abzusehen,  warum  man  nicht  das  Bestreben  äußern  soll,  wenigstens 
den  Lehrplan  möglichst  pädagogisch  richtig  zu  ge- 
stalten. 

Der  Lehrplan  der  rechts-  und  staatswissenschnftlicheu  Fakultät  ist 
derart  mangelhaft,  daß  er  nicht  wenig  zur  Steigerung  der  an  und  für  sich 
durch  die  Natur  des  Hochschulunterrichtes  gegebenen  pädagogischen 
Schwierigkeiten  beiträgt.  Wir  verstehen  darunter  die  Reihenfolge,  in  welcher 
die  einzelnen  Disziplinen  vorgetragen,  beziehungsweise  von  den  Studenten 


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258  HiiHin. 

gehört  werden  »ollen.  Vom  Standpunkt«  der  Hochschule  müßte  man  aller- 
dings auch  jede  Idee  eines  Lehrplanes  perhorreszieren  uud  den  Hörern 
vollkommene  Freiheit  gewähren.  Bekanntermaßen  ist  dies  aber  nicht  mehr 
der  Fall.  Man  braucht  also  den  Vorwurf,  als  ob  man  die  akademische 
Lernfreiheit  schädigen  wollt«,  nicht  au  befürchten,  wenn  man  angesichts 
des  Umstandes,  daß  diese  Freiheit  ohnedies  schon  durchbrochen  ist,  auf 
dem  einmal  betretenen  Wege  nur  folgerichtig  weitergeheu  will.  Wir  ver- 
weisen darauf,  daß  gewisse  Fächer  nicht  vor  der  ersten  Staatsprüfung 
gehört  werden  dürfen,  beziehungsweise  wenn  sie  gehört  werden,  nicht 
anrechenbar  sind.  Man  hat  das  Prinzip  der  akademischen  Freiheit  in  dieser 
Hinsicht  nicht  nur  bei  uns,  sondern  auch  anderwärts  in  höherem  oder 
geringerem  Grade  fallen  lassen,  so  daß  dieselbe  eigentlich  nur  noch  an  den 
philosophischen  Fakultäten  besteht,  au  den  anderen  aber  stark  eingeschränkt 
ist.  Es  ist  nicht  abzusehen,  warum  man  in  dieser  als  gut  und  praktisch 
anerkannten  Richtung  nicht  noch  weiter  gehen  sollte.  Wenn  es  als  untunlich 
betrachtet  wird,  beispielsweise  Nationalökonomie  vor  Ablegung  der  ersten 
Staatsprüfung  zu  hören,  so  erscheint  es  unbegreiflich,  warum  dasselbe 
Prinzip  nicht  z.  B.  für  die  Statistik  gilt,  oder  warum  es  im  Kähmen  eines 
Bienniums  den  Hörern  freigestellt  ist,  die  sinnwidrigsten  Kombinationen 
durebzuführen.  Vom  Standpunkte  der  bestellenden  Gesetze  und  Verordnungen 
könnte  z.  B.  deutsches  Privatrecht  vor  deutscher  Hechtsgeschichte.  Straf- 
prozeß vor  Strafrecht,  der  zweite  Teil  des  Zivilprozesses  vor  dem  ersten 
u.  s.  w.  gehört  werden.  Wenn  dies  nicht  geschieht,  wenn  die  Studenten 
trotzdem  in  traditioneller  Weise  die  Reihenfolge  der  Fächer  richtiger  wählen, 
so  ist  das  ein  Beweis  dafür,  daß  sie  die  Notwendigkeit  einer  geordneten 
Reihenfolge  anerkennen,  und  daß  die  Schlußsätze  der  §§  1 und  5 der 
Ministerialverordnung  vom  2t.  Dezember  1893,  die  bekanntlich  die  weitest- 
gehende Freiheit  innerhalb  eines  Bienniums  statuieren,  unpraktisch  geworden 
sind.  Nichts  hindert  daher  die  Fakultäten  und  die  Unterrichtsverwaltung, 
eine  einheitliche  Reihenfolge  der  zu  liöi  enden  Kollegien  festzustellen.  Es 
würde  darin  niemand  einen  Angriff  auf  die  ohnehin  nur  noch  in  der  Theorie 
bestehende  freie  Wahl  der  Fächer  erblicken,  und  für  die  Freizügigkeit  der 
Studierenden,  die  ein  Semester  an  der  einen,  das  andere  an  einer  anderen 
Hochschule  zubringen  wollen,  würde  sich  ein  wesentlicher  Vorteil  ergeben.  — 
Wir  wollen  zunächst  den  Studienplan  des  ersten  Bienniums  ins  Auge  fassen. 

IV. 

Das  erste  Biennium.  — Rechtsgeschichte  als  Einführung  in  das 
Studium. 

Das  Rechtsstudium  wird  eingeleitet  durch  Vorlesungen  über  rechts- 
historische Fächer,  d.  i.  über  römisches,  deutsches  und  Kircheurecbt,  öster- 
reichische Reicbsgeschichte  uud  über  Philosophie;  außerdem  wird  an  deu 
polnischen  Universitäten  polnische  und  an  der  böhmischen  Universität  böhmi- 
sche Rechtsgeschichte  vorgetragen.  Diese  Fachgruppe  hat  durch  die  Ein- 
führung von  Vorlesungen  über  österreichische  Reichsgeschichte  eine  Berei- 


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'Zur  Ausgestaltung  de?  recht«-  mul  staatawisgeuschafttichen  Stadium?  etc.  2511 

cherung  erfahren;  sie  hat  auch  au  juristischem  Werte  angenommen,  seitdem 
mau  das  deutsche  Privatrecht  als  obligat  erklärt  hat:  inan  muß  zugeben, 
daß  dadurch  bei  uns  diese  Gruppe  den  wissenschaftlichen  Anforderungen 
wesentlich  besser  entspricht  als  anderwärts:  denn  beispielsweise  in  Frank- 
reich wird  Geschichte  des  Kirehenrechtes  nicht  vorgetragen,  in  Deutschland 
fehlt  das  Obligatkolleg  über  die  Rechtsgeschiclite  des  betreffenden  Staates. 
Man  könnte  also  annehmen,  daß  wenigstens  in  dieser  Beziehung  der  Lehr- 
plan vorwurfsfrei  erscheint. 

Nun  ist  aber  xu  bedenken,  daß  die  Aufgabe  der  Hechtsgeschichte 
darin  besteht,  die  Entwicklung  bis  auf  den  heutigen  Tag  darzustellen.  Die 
Keehtägeschichte  behandelt  die  Entstehung  moderner  Rechtsverhältnisse,  sie 
bespricht  ihre  Schicksale  zu  verschiedenen  Zeiten;  sie  operiert  also  mit 
Begriffen,  die  den  Anfängern  gänzlich  fremd  sind.  Wer  Rechtsgeschiclite 
vorträgt  und  dabei  bemüht  ist.,  sich  in  die  Luge  seiner  Zuhörer  zu  ver- 
setzen, gelangt  nach  einiger  Zeit  zur  Überzeugung,  daß  ihm  nur  zwei  Wege 
offen  stehen:  entweder  wirklich  wissenschaftlich  vorzutragen  und  Gefahr  zu 
laufen,  daß  ihm  die  Hörer  nicht  zu  folgen  vermögen,  oder  aber  aufs  Niveau 
der  Hörer  herabzusteigen,  mithin  geradezu  Elementarunterricht  zu  treiben. 
Darunter  leidet  der  wissenschaftliche  Charakter  der  Vorlesungen,  ganz 
besonders  aber  der  juristische  Inhalt  derselben.  Ist  es  doch  ganz  unmöglich, 
eine  wissenschaftliche  Darstellung  z.  B.  des  germanischen  Gerichtswesens 
Hörern  zu  bieten,  die  von  der  Bedeutung  des  Gerichtswesens  im  Staate 
noch  keine  Ahnnng  haben,  oder  von  öffentlichen  und  privaten  Abgaben  und 
verschiedenen  Zwitterbildungen  auf  diesem  Gebiete  zu  sprechen,  wenn  die 
Hörer  weder  die  nationalökonomische  noch  die  öffentlichrechtliche  Bedeutung 
dieser  Dinge  kennen.  Der  Rechtshistoriker  muß  seinen  Hörern  die  Geschichte 
von  Begriffen  und  Einrichtungen  schildern,  deren  Wesen  ihnen  noch  ganz 
unbekannt  ist.  Dies  heißt  ebensoviel,  wie  Geschichte  der  Malerei  einem 
Auditorium  vortragen,  das  noch  nie  ein  Bild  gesehen  hat.  ja  nicht  einmal 
weiß,  was  ein  Bild  ist.  oder,  um  einen  näherliegenden  Vergleich  zu  wählen, 
etwa  Paläontologie  denjenigen,  die  den  anatomischen  Körperbau  der  Tiere 
nicht  kennen  und  das  zoologische  Studium  auf  diese  Weise  beginnen  wollen. 
Da  darf  es  nicht  uuffallen.  daß  manche  Dozenten  der  rechtshistorischen 
Fächer  nur  obeiflächlich  auf  die  wirtschaftlichrechtliche  Entwicklung  ein- 
gelien  und  (Iberwiegend  die  äußere  Entwicklung  behandeln,  ohne  in  das 
Wesen  der  Sache  einzudringeu.  Allerdings  wird  häutig  auch  der  Modus 
gewählt,  bei  Gelegenheit  der  Besprechung  der  ältesten,  primitiven  Rechts- 
verhältnisse die  historische  Darstellung  mit  der  rechtsvergleichenden  und 
soziologischen  zu  verbinden,  dadurch  also  den  Vortrag  gewissermaßen  enzy- 
klopädisch zu  gestalten.  Dieser  Vorgang  ist  aher  mit  Rücksicht  auf  die 
beschränkte  Zeit  für  die  Gesamtheit  des  zu  besprechenden  Stoffes  undurch- 
führbar. Eine  sorgfältige  Darstellung  des  Entstehens  der  staatlichen  Kräfte, 
der  wirtschaftlichen  und  juristischen  Keime  nimmt  so  viel  Zeit  in  Anspruch,  daß 
die  weitere  Entwicklung  natürlich  nur  noch  ganz  kurz  gewürdigt  werden 
kann.  Der  gewissenhafte  Dozent  eines  rechtshistorisr.hen  Faches  hat  fort- 


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260 


Halban. 


während  mit  den  hier  angedeuteten  Schwierigkeiten  zu  kämpfen,  und  diese 
Schwierigkeiten  gelten  nicht  nur  fOr  die  eigentliche  Rechtsgeschiehte,  also 
fflr  Geschichte  des  deutschen,  beziehungsweise  des  polnischen  oder  böhmi- 
schen Rechtes.  Auch  die  Vorlesung  über  römische  Rechtsgeschichto  und 
Geschichte  des  Kirchenrechtes  ist  denselben  Gefahren  ausgesetzt,  und  wenn 
man  in  diesen  beiden  Fällen  die  vorhandenen  Schwierigkeiten  leichter  über- 
windet, so  geschieht  dies  deshalb,  weil  man  üblicherweise  den  Schwerpunkt 
des  römischen  und  des  Kircbenrechtes  einigermaßen  verschiebt  Wer  daran 
geht,  seinen  Hörern  die  ursprüngliche,  älteste  Entwicklung  des  römischen 
Rechtes  wissenschaftlich  vorzuführen,  begegnet  jedenfalls  denselben  Hinder- 
nissen, ebenso  derjenige,  der  Kirchenrechtsgeschichte  zum  Gegenstände  seiner 
Vorlesung  macht. 

Verlangt  man,  und  dieses  Verlangen  ist  ja  richtig,  von  einem  Rechts- 
historiker, daß  er  die  Hörer  in  die  historische  Entwicklung  der  einzelnen 
Zweige  allseitig  einführe,  so  muß  man  ihm  die  Lösung  dieser  Aufgabe 
ermöglichen,  indem  man  ihn  vor  ein  entsprechend  vorbereitetes  Auditorium 
stellt,  nämlich  vor  Hörer,  die  bereits  die  allgemeinen  Rechtsbegriffe  beherr- 
schen. Denn  es  ist  selbstverständlich,  daß  die  Rechtsgeschichte  nur  erfaßt 
wird  von  demjenigen,  der  über  das  Weseu  des  Rechtes,  über  seine  allgemeine 
Stellung  in  der  menschlichen  Gedankenwelt  und  speziell  Ober  seine  Stellung 
im  Leben  der  Völker  einigermaßen  informiert  ist.  Die  Rechtsgeschichte 
umfaßt  in  organischer  Weise  alle  Teile  des  Rechts-  und  Staatslebens,  sie 
setzt  also,  wenn  sie  überhaupt  verstanden  werden  soll,  wenigstens  eine  pri- 
mitive Kenntnis  dieser  Teile,  ihres  inneren  Inhaltes  und  ihrer  gegenseitigen 
lleziehungen  voraus.  Sie  soll  die  physiologische,  biologische  und  zum  Teile 
auch  die  pathologische  Forschung  ersetzen,  kann  also  nur  denjenigen 
zugänglich  sein,  die  bereits  von  der  Anatomie  etwas  wissen. 

Man  entgegnet  in  solchen  Fällen  gewöhnlich,  daß  das  römische  Recht 
die  Aufgabe  hat,  die  Hörer  in  die  juristische  Gedankenwelt  einzuführen. 
Nun  haben  wir  schon  bemerkt,  daß  es  hinsichtlich  der  Rechtsgeschichte 
diese  Aufgabe  nicht  erfüllen  kann.  Es  erfüllt  sie  auch  tatsächlich  nur  hin- 
sichtlich eines  Teiles  der  Jurisprudenz,  nämlich  hinsichtlich  des  Privat- 
rechtes, denn  es  gibt  die  Möglichkeit,  die  Grundbegriffe  der  privatrechtlichen 
Verhältnisse  zu  besprechen.  Geht  aber  der  Romanist  dabei  gründlich  vor, 
so  überschreitet  er  eigentlich  die  Grenzen  seines  Spezialfaches  und  betritt 
das  Gebiet  der  Rechtsenzyklopädie,  natürlich  nur  für  das  Privatrecht,  also 
ohne  Rücksicht  auf  alle  anderen  Gebiete  des  juristischen  Denkens  und 
Schaffens.  Mag  er  für  das  Privatrecht  seine  Hörer  noch  so  gut  vorbilden, 
man  wird  ihn,  da  er  nur  Privatrecht  betreibt,  von  dem  Vorwurfe  nicht  frei- 
sprechen können,  daß  er  dadurch  von  vornherein  in  dem  Hörer  die  irrige 
Überzeugung  erweckt,  als  ob  das  Privatrecht  ein  von  der  übrigen  Juris- 
prudenz und  von  den  wirtschaftlichen  und  sozialen  Verhältnissen  ganz 
abgeschiedenes  Leben  führen  würde.  Die  Gestalt,  in  der  die  privatrechtlichen 
Verhältnisse  im  römischen  Rechte  erscheinen,  kommt  dem  Anfänger  geradezu 
als  obligatorisch  vor.  und  er  gelangt  zu  der  irrigen  Annahme,  als  ob  jedes 


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Zur  Au>£e*taltung  d»».s  recht«-  und  «taatawissunselinfllichen  Studiums  etc.  201 

Privatreclit  nur  so  uml  nicht  anders  gestaltet  werden  dürfte.  Der  Gedanke, 
daß  das  römische  Privatrecht  nur  einen  Teil  der  römischen  juristischen 
Gedankenwelt  bildet,  ferner  der  Gedanke,  daß  es  an  und  für  sich  nur  eines 
der  vielen  Privatrechtssysteme  der  Welt  ist  und  anderweitige  Lösungen 
von  derlei  Fragen  durchaus  nicht  ausschließt,  diese  Gedanken  werden  hei 
dem  Anfänger  nicht  geweckt,  eher  unterdrückt.  Wer  also  in  dem  römischen 
Rechte  ein  brauchbares  Mittel  zur  Beseitigung  des  besprochenen  Übels 
erblicken  wollte,  müßte  diesen  falschen  Standpunkt  des  Anfängers  ein- 
nehmen. einen  Standpunkt,  der  historisch  unrichtig  und  praktisch  für  die 
Zukunft  schädlich  ist,  und  er  müßte  die  prinzipielle  Wahrheit  verkennen, 
daß  man  das  Wesen  und  die  große  Aufgabe  des  Rechtes  im  allgemeinen 
nie  und  niemals  an  dem  Beispiel  eines  Volkes  und  eines  Rechtssystems 
studieren  kann.  Hiezu  tritt,  daß,  wie  in  diesem  Falle,  nicht  das  gesamte  Recht 
der  Römer,  sondern  überwiegend  nur  ein  Teil  desselben  in  Frage  kommt. 
Und  wir  können  getrost  hinzufflgen,  daß  auch  von  diesem  Teile,  nämlich 
vom  Privatrechte,  auch  nur  sein  letztes  Entwicklungsstadium  eingehend 
gewürdigt  wird,  so  daß  der  Hörer  die  Entwicklung  ungenügend  kennen 
lernt  und  sich  eigentlich  nur  mit  dem  römischen  Privatrechte,  so  wie  es 
theoretisch  durch  die  späteren  Juristen  ausgebildet  wurde,  beschäftigt. 

Wir  gelange!)  zur  Überzeugung,  daß  die  Rechtsgeschichte  keine  richtige 
Einführung  in  das  Studium  abgibt.  Wohl  können  die  treibenden  Kräfte  des 
politischen,  staatlichen  und  sozialen  Lebens  am  besten  an  Organismen  gelehrt 
werden,  deren  Ausbildung  abgeschlossen  und  daher  den  politischen  Strömungen 
entrückt  ist.  Doch  kann  der  Zweck  des  rechtshistorischen  Unterrichtes  nur 
dann  erreicht  werden,  wenn  der  Hörer  entsprechend  vorbereitet  wurde.  Die 
Aufgabe  der  Rechtsgesciiichte  bestellt  nicht  in  der  Vermittlung  der  Kennt- 
nisse rechtshistorischer  Tatsachen.  Die  genaueste  Kenntnis  von  Tatsachen 
ist  noch  keine  Wissenschaft;  sie  wird  erst  zur  Wissenschaft,  wenn 
man  die  Kräfte  begreift,  die  den  rechtshistorischen  Tatsachen  zu  Grunde, 
liegen,  und  die  Ursachen  des  Entwicklungsprozesses  zu  verstellen  vermag. 
Der  höhere  Zweck  der  Uechtsgeschiclitc  besteht  nicht  darin,  den  Hörern 
zu  zeigen,  daß  das  Recht  wechselt,  sondern  zu  erklären,  warum  es  wechselt, 
und  sie  in  diesem  Sinne  bis  zur  Pforte  des  modernen  Rechtes  zu  führen, 
ja  sogar  in  dasselbe  einzudringen  und  die  historische  Kontinuität  bloßzu- 
legen. Daran,  wie  Rechtsveränderungen  in  historischer  Reihenfolge  eintreten, 
und  wodurch  sie  bedingt  werden,  soll  der  künftige  Jurist  lernen,  die  Not- 
wendigkeit des  Zusammenhanges  zwischen  der  Entwicklung  der  Lebensver- 
häitnisse  und  den  Fortschritten  des  Rechtes  zu  begreifen,  und  in  diesem 
Verständnisse  soll  er  einen  Schutz  gegen  die  einseitige  Auffassung  lies 
positiven  Rechtes  finden.  Wir  dürfen  uus  darüber  nicht  wundern,  daß  unsere 
unvorbereiteten  Hörer  über  die  Rechtsgeschichte  klagen.  Die  Lehre  von  den 
Quellen  beispielsweise  erscheint  ihnen  als  totes  Wissen,  weil  sie  nicht  auf 
theoretischem  Verständnisse  für  die  Entstehung  des  Rechtes  und  sein 
Wirken  in  der  menschlichen  Gesellschaft  beruht;  zu  seltenen  Ausnahmen 
gehören  diejenigen,  die  die  Beziehungen  zwischen  Gesetz  und  Gewohnheits- 


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2«2 


Hillbali 


recht  historisch  erfassen  können ; die  meisten  ei  blicken  in  der  Quellenkunde 
eine  Sammlung  von  Namen  und  Jahreszahlen  ohne  inneren  Zusammenhang. 
Deswegen  vermag  die  Rechtsgeschiehte  den  Hörer  nicht  so  zu  fesseln,  wie 
sie  sollte  und  könnte. 

Es  ist  vielfach  bemerkt  worden,  dall  im  Sinne  pädagogischer  Grund- 
sätze das  Fortschreiten  vom  Näheren  zum  Ferneren  empfehlenswert  ist, 
daher  das  geltende  Recht,  namentlich  interessante  Teile  desselben,  z.  H. 
Strafrecht,  zuerst,  die  rechtshistorischen  Fächer  aber  zuletzt  vorgetrageu 
werden  sollten.  Jeder  Rechtshistoriker  würde  darauf  ciugohen,  denn  seine 
Aufgabe  wäre  dann  leichter.  Da  aber  eine  wissenschaftliche  Behandlung  des 
modernen  Hechtes  ohne  rechtshistorische  Kenntnisse  unmöglich  ist,  müßte 
man  höchstens  das  Studium  in  zwei  Stufen  teilen  und  die  meisten  Fächer 
zweimal  vertragen.  Es  ist  klar,  welche  Folgen  sich  aus  einer  Umkehrung  der  jetzt 
bestehenden  Reihenfolge  ergehen  müßten;  die  Lehre  des  geltenden  Rechtes 
würde  herabgedrückt  werden,  und  man  würde  einer  besseren  Darstellung  der 
Rechtsgeschiehte  zulieb  auf  eine  wissenschaftliche  Behandlung  des  geltenden 
Rechtes  verzichten,  oder,  wie  gesagt,  nach  Absolvierung  der  Rechtsgeschichte 
■ias  geltende  Recht  zum  zweiten  Male  vorzunehmen  gezwungen  sein.  Zu 
bemerken  ist  ferner,  daß  die  sofortige  Einführung  des  Anfängers  in  weit- 
verzweigte Spezialfächer,  oder  auch  nur  in  einzelne  derselben,  das  wissen- 
schaftliche Gleichgewicht  stört,  weil  dadurch  die  Erfassung  der  Rechts- 
wissenschaft als  einer  organischen  Einheit  erschwert  wird.  Mau  kann  nicht 
zu  früh  und  nicht  eindringlich  genug  betonen,  daß  alles,  was  vorgebracht 
wird,  ia  dem  Gesamtbau  der  Jurisprudenz  einen  nicht  willkürlichen,  sondern 
ideell  gebotenen  Platz  einnimmt. 

Den  Aufgaben  des  juristischen  Unterrichtes  kann  also  weder  die  Bei- 
behaltung der  jetzigen  Reihenfolge  noch  die  erwähnte  Umstellung  derselben 
gerecht  werden.  Man  muß  einen  Ausweg  suchen,  der  keinen  Teil  des  Studiums 
schädigt,  sondern  alle  Teile  fördert.  Dies  ist  nur  dann  erreichbar,  wenn 
man  dem  Gesamtstudium  eine  Grundlage  gibt,  an  die  sich  alle  Teile  gut 
und  sicher  anlehneu. 


V. 

Die  Facher  des  ersten  Bienniums. 

Das  Rechtsstudium  kann  sich  mit  viel  größerem  Erfolge  auf  eine 
Grundlage  stützen,  die  unserem  Lehrplane  durchaus  nicht  fremd  ist  und  nur 
einer  entsprechenden  Verwendung  bedarf.  Wir  denken  au  die  Kechts- 
enzyklopädie.  die  ja  vorgetragen  wird,  aber  nicht  obligat  ist,  keinen 
bestimmten  Platz  ciunimint  und  daher  selbstverständlich  von  den  Studierenden 
mit  Geringschätzung  behandelt  wird.  Die  Enzyklopädie  der  Rechts-  und 
Staatswissenschaften  sollte  durch  Erhebung  zum  Range  eines  Obligatfuches 
die  ihr  gebührende  Stellung  erhalten,  überdies  aber  durch  allseitige  Ent- 
wicklung an  innerem  Werte  zunehuien.  Sic  darf  sich  nicht  darauf  beschränken, 
den  Hörern  die  Kategorien,  in  die  die  Jurisprudenz  zerfällt,  darzustellen. 
Diese  Kategorien,  die  vorwiegend  auf  römischer  Auffassung  beruhen,  gestalten 


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Zur  Ain-gMtaltang  des  reclits-  und  stMtnriisnncbalUiclirn  Studimns  etc.  2Ö' ■ 


sicli  iu  den  Augen  der  Hörer  zu  unabänderlichen  Größen  und  die  Hörer 
werden  zu  Sklaven  von  Definitionen,  welche  sich  seil  Jahrhunderten  in  der 
Wissenschaft  eingebürgert  haben,  in  der  inoderneu  Zeit  aber  einer  heftigen 
Kritik  ausgesetzt  sind  und  für  die  Zukunft  vieles  ton  ihrem  Werte  einbnßen 
werden.  Eine  so  gestaltete  Enzyklopädie  kann  höchstens  als  technische 
Einleitung  dienen,  insofern  als  sie  den  Anfängern  das  Verständnis  der 
Terminologie  und  die  landläufige  Bedeutung  der  einzelnen  Rechtsgebiete 
erklärt,  sie  gibt  aber  keiuen  Begriff  von  den  rechtserzengenden  Kräften  und 
von  den  Bedingungen  der  Reehtsentwickluug,  ebensowenig  von  dem  Zusammen- 
hänge, der  zwischen  den  rechtserzeugenden  Kräften  und  den  mittelbar 
wichtigen  Faktoren  besteht;  sie  isoliert  also  das  Hecht,  das  seinem  Wesen 
nach  nicht  isolierbar  ist  und  vermag,  ungeachtet  der  zuzugesteheudeu  tech- 
nischen V orteile,  die  Kluft  zwischen  der  Jurisprudenz  und  dem  Leben  nicht 
zu  öberbrückeu.  Die  Aufgabe  der  Enzyklopädie  besteht,  wenn  man  die 
Bedürfnisse  der  Anfänger  ins  Auge  faßt,  vor  allem  darin,  ihnen  einen  orien- 
tierenden Einblick  in  die  Hauptteile  der  Rechtswissenschaft  zu  bieten, 
gleichzeitig  aber  die  organische  Verbindung  dieser  Teile  darzulegen.  Sie 
muß  also  bestrebt  sein,  das  Recht  an  seiner  Wurzel  zu  fassen,  die  Ver- 
bindung zwischen  den  primitiven  Einrichtungen  der  Familie  und  des  Volkes 
einerseits  und  dem  wirtschaftlichen  und  kulturellen  Leben  der  Gesamtheit 
anderseits  zu  zeigen  und  hiebei  die  in  den  sozialen,  wirtschaftlichen  und 
kulturellen  Verhältnissen  keimenden  Anfänge  staatlichen  und  rechtlichen 
Lebens  bloßzulegen.  Auf  diese  Weise  kann  man  dem  Hörer  vergegenwärtigen, 
welche  Momente  für  das  Anfkeimen  und  für  die  Entwicklung  staatlicher 
und  rechtlicher  Ordnung  bestimmend  sind,  welche  Bedeutung  das  primitive 
Rechtsleben  hat,  wodurch  die  Störung  oder  Abtötung  einzelner  Teile  erfolgt, 
welche  Rolle  die  Differenzierung  und  die  Integrierung  spielt,  mit  einem 
Worte,  unter  welchen  Umständen  und  Einflüssen  Kechtseinriclitungen  ent- 
stehen. Nicht  mit  Definitionen  darf  begonnen  und  operiert  werden,  man  muß 
sich  vielmehr  zur  Definition  durchringen,  und  nicht  fertige  Kategorien  darf 
man  dem  Hörer  vorführen,  sondern  ihre  Ausbildung  erklären.  Es  kann  wohl 
nichts  pädagogisch  Schädlicheres  geben  als  die  übliche  aprioristische  Hand- 
habung der  Begriffe  des  öffentlichen  und  des  l’rivatrechtes,  die  man  schon 
dem  Anfänger  förmlich  wie  zwei  verschiedene  Welten  vorfflhrt.  Wissen  wir 
doch,  daß  die  Grenze  zwischen  privatem  und  öffentlichem  Rechte  zu  allen 
Zeiten  schwankend  war  und  sein  wird.  Der  Hörer,  dem  man  einen  prinzi- 
piellen Unterschied  in  dieser  Beziehung  eingeprägt  hat.  kan»  es  nicht  fassen, 
daß  man  z.  B.  im  Mittelalter  öffentlichrechtliche  Befugnisse  den  privatrechtlichen 
gleich  behandelt;  weun  er  selbständig  über  diese  Frage  nachdenkt,  so 
gelangt  er  zweifellos  zur  Überzeugung,  daß  ein  Rechtssystem,  welches  die 
Möglichkeit  solcher  Rechtsgeschäfte  bietet,  falsch  ist;  nur  ausnahmsweise 
dürfte  der  Anfänger  die  wissenschaftliche  Keife  besitzen,  lim  sich  zu  sagen,  daß 
nicht  alles  falsch  ist.  was  iu  die  üblichen  Kategoiieu  nicht  hiueinpaßt,  und 
daß  diese  Kategorien  bei  jedem  Volke,  also  auch  in  jedem  Kechtssysteme 
anders  geartet  sein  können.  Eine  dogmatisch  behandelte  Enzyklopädie  muß 


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264 


subjektiv  sein,  sie  kiiiin  nicht  allseitig  bilden,  sondern  nur  einseitig  verbilden. 
Es  filllt  keinem  Sprachforscher  ein.  ?..  B.  bei  Behandlung  der  Sprache  der 
Basken  oder  Kelten  die  lateinische  Grammatik  zur  einzigen  Grundlage  zu 
wühlen,  denn  er  weiß  ganz  wohl,  daß  jede  Sprache  ihre  eigenen  Entwicklungs- 
gesetze und  ihren  eigenen  Geist  hat,  und  daß  die  Prinzipien  einer,  wenn 
auch  noch  so  hochstehenden  Grammatik  keineswegs  generalisiert  werden 
dürfen;  aber  die  ltechtsenzyklopädie  bietet  ihren  Hörern  sofort  fertige 
Definitionen,  eine  Kechtsgraiunmtik,  als  oh  es  möglich  wöre,  eine  für  alle 
Zeiten  und  alle  Völker  anwendbare  detaillierte  Kechtsgrammatik  auszu- 
arbeiten, und  als  oh  irgend  ein  Zweifel  darüber  obwalten  könnte,  daß  ebenso 
wie  die  Grammatik  nur  für  ein  bestimmtes  Volk  paßt,  ja  sogar  mitunter 
nur  für  eine  bestimmte  Zeitperiode,  auch  eine  Bechtsgramtuatik  nur  bestimmte 
Kechtszustünde  in  Definitionen  und  Einteilungen  zu  fassen  vermag. 

Eine  entsprechend  erweiterte  Enzyklopädie  der  Rechts-  lind  Staats- 
Wissenschaften  würde  den  besten  Übergang  vom  Gymnasialstndium  zu  dem 
Rechtsstndium  bilden.  Im  Gymnasium  lernt  der  Schüler  die  äußere  Geschichte 
der  Völker  kennen.  Würde  der  Gymnasiallehrplan  in  der  oben  angeregten 
Weise  erweitert  und  vertieft  wrerden,  so  könnte  der  Schüler  die  historische 
Entwicklung  gründlicher  verstehen  und  die  Bedeutung  wirtschaftlicher  und 
rechtlicher  Strömungen  einigermaßen  kennen  lernen:  er  würde  auch  gewisse 
allgemeinjuristische  Kenntnisse  erlangen  und  wäre  für  eine  allseitige  Enzy- 
klopädie der  Hechts-  und  Staatswissenschaft  vorbereitet.  Dieses  Fach  würde 
pädagogisch  wirken,  denn  es  würde  daran  anknttpfen.  was  im  Gymnasium 
geboteu  wurde,  und  zum  Itecbtsstiidium  führen,  während  dermalen  vom 
Gymnasialstndium  zum  Itechtsstudium  ein  Sprung  gemacht  werden  muß, 
der  durch  nichts  erleichtert  wird.  Die  Rechtsgeschichte  ist  dem  Hörer 
hiebei  nicht  behilflich;  aber  auch  eine  zu  eng  gefaßte  Enzyklopädie,  die 
sich  überwiegend  mit  der  Klassifizierung  juristischer  Begriffe,  die  den  Hörern 
natürlich  ganz  unbekannt  sind,  beschäftigt  und  weder  die  Entstehung  dieser 
Begriffe  noch  auch  ihr  Verhältnis  zu  den  übrigen  Gebieten  des  mensch- 
lichen Lehens  erklärt,  ist  ebensowenig  geeignet,  einen  Übergang  zu  bilden. 
Die  weitere  Bedeutung  der  Enzyklopädie  würde  darin  bestehen,  daß  die 
rechtshistorischen  Disziplinen  au  dieselbe  ankntlpfen  könnten,  sich  also 
nicht  mehr  in  dem  circulus  vitiosus  von  unverständlichen  Begriffen  und 
unbekannten  Verhfdtnissen  zu  bewegen  hätten. 

Ein  so  gedachtes  enzyklopädisches  Kolleg  müßte  vor  allen  anderen 
Vorlesungen  zu  Ende  geführt  werden ; es  erfüllt  seine  Aufgabe  nicht,  wenn 
es  etwa  im  dritten  oder  vierten  Semester  geboten  wird;  es  erfüllt  seine 
Aufgabe  aber  auch  nicht  gut.  wenn  es  parallel  mit  anderen  Fächern  vorgetragen 
wird.  Es  ist  weiters  selbstverständlich,  daß  eine  allseitig  erweiterte  Enzyklo- 
pädie viel  Zeit  beanspruchen,  aber  dennoch  die  Absolvierung  in  einem 
Semester  erfolgen  müßte,  damit  im  folgenden  Semester  das  eigentliche 
Kechtsstudium  beginnen  könne.  Nachdem  auch  aus  naheliegenden  Gründen 
eine  Teilung  des  enzyklopädischen  Kollegs  nach  Materien  untunlich  ist,  weil 
die  einheitliche  Darstellung  der  Gesamtheit  der  einschlägigen  Fragen  wichtig 


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Zur  Ausgestaltung  *les  recht*-  lind  staatswissenscliaftlichen  Studium  - etc.  2 f> '> 


ist,  so  gelangt  man  zum  Schlüsse,  daß  man  die  Enzyklopädie  der  Rechts- 
und  Staatswissenschaft  in  einem  etwa  ßstündigen  Kolleg,  bestimmt  für  die 
Hörer  des  ersten  Semesters,  zu  erledigen  hätte.  Dermalen  wird  die  Enzy- 
klopädie trotz  ihres  wesentlich  geringeren  Inhaltes  als  der,  den  wir  wünschen, 
doch  3 — 4 ständig  gelesen;  sie  ist  nicht  obligat,  wird  aber  doch  von 
den  meisten  Hörern  inskribiert.  Die  Änderung  würde  somit  darin  bestehen, 
daß  dieses  ohnehin  von  den  meisten  Hörern  belegte  Kolleg  obligat  werde 
und  nicht  etwa  3 Stunden,  sondern  das  Doppelte  angewiesen  erhalte.  Von 
Zeitverlust  kann  man  dabei  nicht  sprechen;  die  2 — 3 Stunden,  um 
die  die  Enzyklopädie  zu  verstärken  wäre,  würde  man  bei  der  Darstellung 
sämtlicher  übrigen  Fächer  hereinbringen;  alle  Disziplinen  würden  durch  eine 
tüchtige  enzyklopädische  Schulung  gefördert  werden. 

Den  so  gestalteten  Vorlesungen  über  Enzyklopädie  wären  Vorlesungen 
über  Philosophie  an  die  Seite  zu  stellen.  Wir  wissen,  daß  für  die 
Juristen  ein  vierstündiges  Kolleg  besteht,  doch  ist  es  kein  Geheimnis,  daß 
dasselbe  seinen  Zweck  nicht  erfüllt.  Überdies  hören  die  Juristen  ein  zweites 
philosophisches  Obligatkolleg,  nämlich  Vorlesungen  über  Geschichte  der 
Rechtsphilosophie,  ebenfalls  vierstündig.  Beide  Kollegien  können  von  Hörern 
verschiedener  Semester  besucht  werden,  so  daß  der  Vortragende  vor  ein 
Auditorium  gestellt  wird,  in  dem  ältere  und  jüngere  Studenten  vermischt 
siud.  was  namentlich  für  die  Vorlesungen  über  Geschichte  der  Rechts- 
philosophie störend  wirkt.  Das  streng  philosophische  Kolleg  könnte,  angesichts 
der  Erfahrungen,  die  in  dieser  Beziehung  vorliegen,  fallen  gelassen  werden  ; 
dagegen  müßte  die  Rechtsphilosophie,  die  parallel  mit  der  Enzyklopädie 
vorzutragen  wäre,  einerseits  an  die  Philosophie  im  allgemeinen  angelehnt, 
anderseits  aber,  so  wie  es  übrigens  auch  geschieht,  historisch  vorgetragen 
werden.  Die  Aufgabe  der  Rechtsphilosophie,  den  Begriff  des  Rechtes  über- 
haupt anschaulich  zu  machen  und  zu  erklären,  inwiefern  dieser  Begriff  die 
Grundlage  wechselnder  Erfahrungen  in  Wissenschaft  und  Praxis  zu  bilden 
vermag,  kann  unbeschadet  der  philosophischen  Zwecke  am  besten  au  der 
Hand  der  Geschichte  der  Rechtsphilosophie  gelöst  werden,  weil  bei  histori- 
schem Vorgehen  die  Gefahr  subjektiver  Systeme  vermindert  wird;  diese 
Gefahr,  die  jedem  philosophischen  Studium  anhattet,  ist  in  keinem  Falle 
von  so  wesentlicher  Bedeutung  wie  hier,  wo  das  philosophische  Studium 
nicht  als  Selbstzweck,  sondern  als  Mittel  zu  tieferem  Erfassen  der  Rechts- 
wissenschaft dient.  Selbstverständlich  bliebe  es  dem  Vortragenden  unbe- 
nommen. bei  der  Darstellung  der  rechtsphilosophischen  Systeme  durch 
kritische  Bemerkungen  und  schließlich  hei  Besprechung  der  modernen  Hechts- 
philosophie durch  entsprechende  Zusammenfassung  seine  eigenen  systemati- 
schen Gesichtspunkte  zur  Geltung  zu  bringen.  Selbstverständlich  müßte 
darauf  Gewicht  gelegt  werden,  daß  die  Geschichte  der  Rechtsphilosophie 
nicht  auf  halbem  Wege  stehen  bleibe,  sondern  bis  auf  die  Neuzeit  vorsebreite. 
somit  kein  Leichenfeld  philosophischer  Doktrinen  bilde  und  dem  Juristen 
durch  die  Einführung  in  die  moderne  Gedankenwelt  für  sein  weiteres  Studium 
die  allgemeinen  Gesichtspunkte  biete.  Das  Verhältnis  zwischen  Enzyklopädie 


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Halhan. 


L>6<i 


und  Rechtsphilosophie  stellen  wir  uns  in  der  Weise  vor,  daß  die  Enzyklopädie 
bestimmt  ist.  die  Entstehung  des  Rechtes  in  Gesellschaft  und  Staat,  das 
Wirken  reehtserzengender  Faktoren,  innerer  Kräfte  und  Oberhaupt  aller 
Momente,  die  für  die  Entwicklung  der  sozialen  und  rechtlichen  Verhältnisse 
wichtig  sind,  darzustellen,  uni  endlich  zur  Klassifikation  und  Definition  der 
juristischen  Begriffe  zu  gelangen;  die  Rechtsphilosophie  dagegen  hat  sich 
mit  dem  Rechte  nur,  insoweit  sich  dasselbe  aus  dem  Wesen  der  Persönlich- 
keit und  den  juristisch  relevanten  Grundformen  des  Verhaltens  der  Person 
ergibt,  zu  befassen ; sie  scheidet  also  das  Individuelle,  wie  cs  sich  historisch 
hei  den  einzelnen  Völkern  äußert,  aus,  bespricht  nur  dasjenige,  was  dem 
Rechte  an  und  für  sich  sowie  den  Grundformen  seiner  Erscheinungen  ent- 
spricht und  ergänzt  auf  diese  Weise  die  von  der  Enzyklopädie  gebotene 
Grundlage  der  weiteren  rechtshistorischen  und  dogmatischen  Behandlung. 
So  wie  sie  die  Veränderlichkeit  der  philosophischen  Begriffe  im  Laufe  der 
Zeit  darlegt,  findet  sie  auch  Gelegenheit,  mit  der  Geschichte  der  Begriffe 
eine  Auseinandersetzung  derselben  zu  verbinden.  So  wie  die  Enzyklopädie 
die  Stellung  des  Rechtes  und  seiner  einzelnen  Teile  innerhalb  aller  anderen 
Lebensverhältnisse  ergründet,  so  hat  wieder  die  Rechtsphilosophie,  nachdem 
sie  sich  hauptsächlich  in  dem  Gebiete  der  philosophischen  Gedankenwelt 
bewegt,  ilie  Beziehungen  zwischen  dem  Rechtsgedanken  und  seinen  philoso- 
phischen Gestaltungen  einerseits  und  der  Gesamtheit  des  menschlichen 
Denkens  in  den  verschiedenen  Zeiten  anderseits  zum  Gegenstände.  Wir 
glauben  daher,  daß  diese  beiden  Wissenszweige  sich  sehr  gut  ergänzen 
würden.  Die  Enzyklopädie  würde  positives  Denken  und  praktische  Auffassung 
der  Rechtseinrichtungen,  in  denen  der  Hörer  nicht  feste  Größen,  sondern 
das  Ergebnis  der  allgemeinen,  also  nicht  nur  juristischen  Entwicklung 
erblicken  würde,  lehren;  die  Philosophie  würde  ihn  in  die  Welt  der  Abstrak- 
tion und  des  logischen  Denkens  führen.  Dadurch  würde  der  Hörer  die  zwei 
wichtigsten  Grundlagen  erlangen,  die  ihm  dermalen  fehlen.  Selbstverständlich 
müßte  auch  ein  derartiges  philosophisches  Kolleg,  für  die  Hörer  des  ersten 
Semesters  bestimmt,  mehr  Zeit  beanspruchen  als  jetzt:  aber  doch  weniger 
als  die  beiden  philosophischen  Kollegien  zusammen:  an  Stelle  der  beiden 
philosophischen  Kollegien  im  Gesamtansmaße  von  8 wöchentlichen  Stunden 
würde  ein  fistfiudiges  Kolleg  über  eine  so  gestaltete  Geschichte  der 
Rechtsphilosophie  treten.  Nebenbei  ist  zu  bemerken,  daß  somit  das  für  die 
Enzyklopädie  verlangte  Plus  von  2 — 3 Stunden  hier  durch  eine  Ersparnis 
von  2 Stunden  an  philosophischen  Kollegien  wettgemacht  wird. 

Als  Korrelat  der  llechtsenzyklopJdie  und  der  Rechtsphilosophie  erscheint 
die  allgemeine  G e s e 1 1 s c li a ft s 1 e h re.  die  Lehre  von  den  Kräften, 
die  nicht  nur  die  Gesellschaftsordnung,  sondern  weiter  in  derselben  die 
Variabilität  der  Einrichtungen  bestimmen.  So  aufgefaßt,  ist  die  allge- 
meine Gesellselmflslehre  Grundlage  jeder  Kechtsgeschichte,  aber  auch  der 
Staatswissensehaft  und  der  Rechtspolitik,  sowie  ein  besonders  förderliches 
Mittel  zur  Vertiefung  des  rechtsdogmatischen  Verständnisses,  insofern  man 
darunter  das  Eingehen  auf  die  Funktionen  des  modernen  Rechtes  in  der 


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Znr  Ansgestftltnne  des  rechts-  und  stft»t«wiasen»chafiliehpn  Studiums  etr.  207 


modernen  Gesellschaftsordnung  versteht..  Die  Gesellschaftslehre  soll  sich 
mit  den  sozialen  Formen  und  ihren  Funktionen  im  sozialen  Dasein,  also 
mit  der  Entwicklungsgeschichte  der  gesellschaftlichen  G nippen,  mit  ihren 
Beziehungen  zueinander,  sowie  mit  den  Einflössen,  denen  sie  in  ihrer 
Gestaltung  unterworfen  sind,  schließlich  mit  dem  Einflüsse,  den  sie  selbst 
auf  die  Rechtsentwicklung  ausöhen,  befassen.  Wer  für  das  historische  und 
das  dogmatische  Studium  reif  gemacht  werden  soll,  dem  kann  die  Gesell- 
schaftslehre gute  Dienste  leisten.  Denn  sie  verbindet  die  fflr  den  historischen 
Sinn  wichtige  Betrachtung  aufeinanderfolgender  Erscheinungen  mit  der  fflr 
das  dogmatische  Studium  nützlichen  Betrachtung  verschiedener,  aber  gleich- 
zeitig auftretender  Verhältnisse.  Als  Wissenschaft  der  Kollektiverscheinungen 
und  Bewegungen  der  Menschen  berührt  sie  sich  mit  der  Rechtsphilosophie, 
die  im  umfassendsten  Rinne  betrachtet,  eigentlich  als  praktische  Kollektiv- 
psychologie bezeichnet  werden  darf.  Beide  zusammen  geben  die  Grundlage 
für  das  Verständnis  jener  teilweise  materiellen,  teilweise  ideellen  Erscheinung, 
die  wir  Recht  nennen.  Besonderen  Wert  muß  man  darauf  legen,  daß  gerade 
Gesellschaftslehre  im  Vereine  damit,  was  die  Enzyklopädie  zu  bieten  vermag, 
die  für  das  rechtshistorische  Studium  nötigen  Kenntnisse  aus  dem  Gebiete 
der  sozialen  und  Wirtschaftslehre  vermitteln  könnte.  Es  ist  ja  vielfach  der 
Wunsch  ausgesprochen  worden,  die  Nationalökonomie  in  das  erste  Biennium 
zu  verlegen,  und  zwar  nicht  mir  um  das  zweite  zu  entlasten,  sondern  in  richtiger 
Erwägung  des  Umstandes,  daß  das  rechtshistorische  Studium  nationalökono- 
mischer  Kenntnisse  bedarf.  Die  Sarhe  scheitert  daran,  daß  man  doch 
unmöglich  die  Nationalökonomie  zum  Gegenstände  der  ersten  Staatsprüfung 
machen  kann,  weil  es  nicht  angeht,  sie  aus  dem  Zusammenhänge  mit  den 
übrigen  Disziplinen  der  staatswissenschaftlichen  Gruppe  zu  reißen:  die 
Erfahrung  lehrt  aber,  daß  sich  die  Hörer  in  erster  Linie  fflr  Fächer  inter- 
essieren, die  sie  zur  Staatsprüfung  brauchen.  Deshalb  glauben  wir  eben 
durch  die  allgemeine  Gesellschaftslehre  die  von  allen  Seiten  gerügte  Lücke 
am  besten  ausfßllen  zu  können. 

Die  erwähnten  drei  Kollegien  würden  das  erste  Semester  ausfflllen. 
Und  dieses  Semester  könnte  als  eine  eigene  Abteilung  des  juristischen 
Studiums  betrachtet  werden,  nämlich  als  Vorstufe  zu  demselben.  Hücksicht- 
Iich  der  erwähnten  Fächer  darf  als  hekannt  vorausgesetzt  werden,  daß  die- 
selben sich  einerseits  großer  Unterschätzung,  anderseits  einer  ebensowenig 
begründeten  Überschätzung  erfreuen.  Man  darf  selbstverständlich  nicht  dafür 
blind  sein,  daß  eine  Überschätzung  geeignet  wäre,  uns  auf  die  Abwege  des 
Naturrechtes  zurückzuführen,  denn  sowohl  bei  der  Enzyklopädie  wie  auch 
hei  der  Philosophie,  am  allermeisten  aber  bei  der  allgemeinen  Gesellachafts- 
lelirc  kann  die  Gefahr  nicht  übersehen  werden,  daß  Probleme  heterogenster 
Art  von  einem  gewissen  Gesichtspunkte  aus  zusammengefaßt  werden,  daher 
eine  subjektive  Beleuchtung  naheliegt.  Trotz  dieser  Gefahr  wird  man  nichts- 
destoweniger die  evidenten  Vorteile  einer  solchen  Vorbildung  nicht  unter- 
schätzen dürfen.  Die  Voranstellung  der  Enzyklopädie,  der  Geschichte  der 
Hechtsphilosophie  und  der  Gesellschaftslehre  macht  es  sodann  dem  Hechts- 


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268 


H&lban 


historiknr  möglich,  alle  rechtserzeugenden  Kräfte  in  ihrem  historischen 
Wirken  zu  zeigen  und  ihren  Einfluß  auf  die  Bildung  ehemaliger  und  moderner 
Rechtsinstitute  darzustellen.  Das  niodemrechtliche  und  das  staatswissen- 
sehaftlichc  Studium  erfahren  eine  analoge  Förderung. 

Man  könnte  \iellcicht  sagen,  daß  die  erwähnten  drei  Kollegien  für 
das  erste  Semester  nicht  passen,  weil  sie  ja  ihrerseits  einer  Vorbildung 
bedürfen.  Es  ist  im  allgemeinen  richtig,  daß  man  diese  Fächer  erst  dann 
gründlich  /u  verstehen  vermag,  wenn  man  bereits  in  die  einzelnen  Zweige  der 
Rechts-  und  Staatswissenschaft  eingeweiht  ist.  Doch  gilt  dasselbe  schließlich 
von  allen  Wissenszweigen  ; unzweifelhaft  würde  der  absolvierte  Jurist,  wenn 
er  Zeit  fände,  von  vorn  anzufangen,  die  Vorlesungen  mit  viel  mehr  Erfolg 
besuchen  können  als  der  Student.  Dieser  Gesichtspunkt  kann  also  nicht 
maßgebend  sein,  denn  daun  gäbe  cs  gar  kein  Fach,  welches  man  für  den 
Anfänger  bestimmen  könnte.  Maßgebend  muß  vielmehr  die  Erwägung  sein, 
ob  ein  gewisses  Fach  an  der  Stelle,  die  wir  ihm  im  Lehrplane  anweisen,  Ober- 
haupt mit  Aussicht  auf  Erfolg  vorgetragen  weiden  kann,  und  man  muß  sich 
von  vornherein  mit  dem  geringeren  Cbel  zufriedenstellen.  Von  diesem 
Standpunkte  wird  man  sich  sagen  dürfen,  daß  sowohl  die  Enzyklopädie  als 
auch  die  Rechtsphilosophie  und  Gesellschaftslehre  möglich,  für  das  weitere 
Studium  aber  jedenfalls  vorteilhaft  sind.  Es  wird  der  Anfänger  gewiß  in 
diese  drei  Disziplinen  nicht  bj  eindringen,  wie  es  der  erfahrene  Jurist  tun 
könnte:  es  wird  also  der  wissenschaftliche  Zweck  einer  Ausbildung  in  diesen 
Fächern  an  und  für  sich  kaum  erreicht  werden.  Aber  vom  Standpunkte  des 
gesamten  Studiums  betrachtet,  kommen  ja  diese  Fächer  nicht  als  Selbstzweck, 
sondern  als  Einleitung  in  die  Jurisprudenz  und  als  Grundlage  für  ein  erfolg- 
reiches Hören  aller  Fächer  in  Betracht:  diesen  Zweck  würden  sie  gewiß  in 
bester  Weise  erfüllen;  die  einzelnen  Disziplinen  vorteilhaft,  d.  h.  verständlich 
zu  gestalten,  hängt  schließlich  immer  vom  Dozenten  ab.  Pädagogisch  könnte 
auch  das  Bedenken  laut  werden,  daß  die  erwähnten  drei  Kollegien  ihrem 
Wesen  nach  abstrakt  sind,  infolgedessen  dem  Grundsätze  widersprechen, 
demzufolge  man  vom  besonderen  ausgehen  und  zum  allgemeinen  aufsteigen 
müsse.  Dies  ist  richtig,  doch  dürfte  man  entgegnen,  daß  die  abstrakten 
Eigenschaften  eines  jeden  Stoffes  bei  entsprechender  Behandlung  gemildert 
werden  können  und  sollen,  und  schließlich  darauf  hinweisen,  daß,  wenn  das 
Gymnasium  seine  Pflicht  in  der  vorher  besprochenen  Weise  erfüllt,  auch 
diese  abstrakten  Kollegien  nicht  unverständlich  erscheinen  werden. 

Auf  diese  Weise  wäre  ein  Semester  Vorlesungen  gewidmet,  die  eigent- 
lich jetzt  nur  als  Nebenfächer  in  Betracht  kommen  und  nirgends  ein  ganzes 
Semester  füllen.  Es  könnte  anscheinend  mit  Recht  entgegengehalten  werden, 
daß  dadurch  ein  ganzes  Semester  dein  eigentlichen  Studienplan  entzogen 
wird,  und  daß  die  wichtigsten  Fächer  des  ersten  Bienniiuns  zu  kurz  kommen, 
wenn  ihnen  nur  drei  Semester  verbleiben. 

Da  ist  zu  bemerken,  daß  auch  der  jetzige  Studienplan  mit  der  Mög- 
lichkeit rechnet,  die  rechtshistorischen  Studien  in  drei  Semestern  zu  absol- 
vieren, obwohl  ein  4 ständiges  philosophisches  Kolleg,  das  wir  ja  schon 


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Zur  Ausgestaltung  des  rechts-  und  staitswiasenschaftüchen  Studiums  etc.  269 


ausgesehieden  haben,  auch  in  diese  drei  Semester  fällt.  Die  Ablegung  der 
ersten  Staatsprüfung  ist  bekanntlich  schon  nach  drei  Semestern  gestattet. 
Fragen  wir  8ber,  welche  Vorteile  dem  Studenten  erwachsen,  der  von  diesem 
Rechte  Gebrauch  macht,  so  füllt  es  schwer,  eine  zufriedenstellende  Antwort 
zu  geben.  An  der  Gesamtdauer  der  Studien  ändert  die  Tatsache,  daß  jemand 
schon  nach  drei  Semestern  die  erste  Staatsprflfung  abgelegt  hat.  gar  nichts. 
Die  Möglichkeit  aber,  sich  desto  intensiver  den  Fächern  des  zweiten  Bien- 
niums  zu  widmen  und  auf  dieselben  fünf  anstatt  vier  Semester  zu  verwenden, 
ist  illusorisch.  Denn  das  vierte  Semester,  also  das  erste  nach  abgelegter 
Staatsprflfung,  ist  in  der  Regel  ein  Sommersemester  und  da  sind  die  Vor- 
lesungen des  zweiten  Bienniums.  die  natürlich  mit  dem  Wintersemester 
einsetzen,  so  weit  vorgeschritten,  daß  der  Student  höchstens  die  Möglichkeit 
hätte,  den  zweiten  Teil  des  österreichischen  Privatrechtes,  ferner  Strafprozeß 
und  Volkswirtschaftspolitik  zu  hören,  ohne  den  ersten  Teil  des  österreichi- 
schen Privatrechtes,  das  materielle  Strafrecht  und  Nationalökonomie  gehört 
zu  haben.  Die  fleißigen  Hörer,  die  nach  drei  Semestern  die  erste  Staatsprüfung 
abgelegt  haben,  befinden  sich  daher  in  Verlegenheit  und  sind  gezwungen, 
dieses  Semester  nebensächlichen  Vorlesungen  zu  widmen.  Man  kann  sagen, 
daß  die  Möglichkeit,  die  Staatsprflfung  nach  drei  Semestern  nbzulcgen.  ohne 
daß  allseitig  dieser  Möglichkeit  und  ihren  Konsequenzen  Rechnung  getragen 
wird,  nur  zur  Verwirrung  des  Lehrplanes  beigetragen  hat.  Bekanntlich  ist 
die  Fassung  der  betreffenden  Bestimmung  aus  einem  Kompromiß  zwischen 
der  Regierungsvorlage  und  reichsrütlichen  Abänderungsanträgen  hervorge- 
gangen. Die  Erfahrung  lehrt  übrigens,  daß  nur  ein  sehr  geringer  Teil 
der  Studentenschaft  von  diesem  Rechte  Gebrauch  macht,  und  daß  der  Früh- 
jahrstermin überwiegend  von  solchen  Kandidaten  benutzt  wird,  die  nicht 
drei,  sondern  fünf  Semester  absolviert  und  die  Pröfung  nach  Ablauf  von 
vier  Semestern  versäumt  haben,  oder  schließlich  von  solchen,  die  fflr  ein 
halbes  Jahr  reprobiert  wurden.  Die  Entziehung  des  Rechtes,  nach  drei 
Semestern  die  erste  Staatsprüfung  ablegen  zu  dürfen,  würde  also  niemand 
treffen,  da  es  niemandem  Vorteil  bringt.  Auch  die  Vorleseordnung  rechnet 
nicht  mit  den  Bedürfnissen  von  Studenten,  die  schon  im  vierten  Semester 
an  die  zweite  Studienabteilung  herantreten,  rechnet  vielmehr  mit  dem  regel- 
mäßigen Falle  des  Studienbeginnes  im  Wintersemester. 

Daß  die  rechtshistorischen  Studien  ganz  gut  im  Verlaufe  von  drei 
Semestern  erledigt  werden  können,  ist  zweifellos  und  ist  sowohl  durch  den 
Regierungsentwurf  für  das  Gesetz  vom  Jahre  1893  wie  auch  im  Laufe  der 
Verhandlungen  zugegeben  worden.  Destomehr  kann  man  dies  behaupten, 
wenn  den  rechtshistorischen  Studien  die  erwähnten  drei  vorbereitenden 
Kollegien  vorangehen  würden.  Die  Absicht,  eventuell  das  vierte  Semester 
für  die  Zwecke  des  zweiten  Studionabschnittes  zu  benutzen,  läßt  sich  nicht 
verwirklichen  und  infolgedesseu  kann  das  vierte  Semester  viel  besser  auf 
andere  Weise  verwertet  werden,  indem  es  von  den  recbtshistorischen  Studien 
getrennt,  allgemeinen  Studien  gewidmet  und  als  erstes  dem  ganzen  Studien- 
lauf  vorangesetzt  wird. 

Zeltachrift  fflr  VolkawirUctiaft,  Soiialpolilik  und  Verwaltung.  XII.  Rand,  19 


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270 


Halhan. 


Nun  bleibt  Liber  noch  die  Frage  der  Summe  aller  während  des 
ersten  lliennimns  7.11  hörenden  Vorlesungsstunden.  Das  erste  Semester 
wflrde,  obigen  Anregungen  gemäß.  sechs  Stunden  Enzyklopädie  der 
Rechtswissenschaften,  ebensoviele  Stunden  der  Ueschiebte  der  Rechtsphilo- 
sophie und  8 — 4 Stunden  der  allgemeinen  Gesellschnfltslehrc  umfassen. 
Zusammen  15 — 16  Stunden,  während  es  bisher  Prinzip  ist.  daß  in  den  drei 
ersten  Semestern  je  20,  im  vierten  12,  zusammen  72  Stunden  obligat  zu 
hören  sind.  Es  würde  sich  also  selbstverständlich  bei  Entlastung  des  ersten 
Semesters  eine  größere  Belastung  der  folgenden  drei  Semester,  namentlich 
aber  des  vierten,  welches  bisher  mit  Rücksicht  auf  die  Vorbereitung  zur 
Staatsprüfung  privilegiert  erscheint,  ergeben.  Nur  muß  mau  bedenken,  daß 
dieses  durch  die  Rücksicht  auf  die  Vorbereitung  zur  Staatsprüfung  motivierte 
Privileg  der  Hörer  des  letzten  Semesters  ohnehin  für  diejenigen,  die  die 
Staatsprüfung  schon  nach  drei  Semestern  ablogen,  nicht  besteht.  Eine 
geringere  Slundenanznhl  für  Hörer  des  ersten  Semesters  wäre  hingegen 
vielleicht  eher  am  Platze.  Man  vergesse  nicht,  daß  das  üniversitätssludium 
sich  derart  prinzipiell  von  «lein  Gymnasialunterrichte  unterscheidet,  daß  ein 
Übergang  ersprießlich  und  eine  Überlastung  des  Anfängers  mit  einer  großen 
Anzahl  von  Vorlesungen  nicht  das  richtige  Mittel  ist,  ihn  an  die  neue 
Studienart  zu  gewöhnen.  Wir  sprechen  vom  eifrigen  Hörer,  und  für  den 
ist  die  sofortige  Verpflichtung,  20  24  Stunden  schwer  begreiflicher  Fächer 

zu  hören,  schon  mit  Rücksicht  auf  die  ihm  ganz  neue  Art  des  Vortrages 
gewiß  eine  harte  Pflicht.  Es  ist  übrigens  bekannt,  daß  S 6 des  Ministerial- 
erlasses vom  24.  Dezember  IS! '3  den  Rechtsliörern  die  Pflicht  auferlegt,  im 
Verlaufe  des  Quadrienniums  Vorlesungen  an  der  philosophischen  Fakultät 
zu  hören.  Man  könnte  diese  Pflicht,  wenn  man  durchaus  für  das  erste 
Semester  eine  größere  Stundenanzahl  verlangt,  auf  dieses  Semester  überwälzen. 
Namentlich  die  Hörer  des  ersten  Semesters  sind  gewiß  leichter  dazu  zu 
bewegen,  allgemein  bildende  Kollegien  zu  hören,  vor  allem  dann,  wenn  man 
im  Gymnasium  ihr  Interesse  für  Geschichte.  Literatur  u.  s.  w.  entsprechend 
geweckt  hat.  Die  Einstellung  dieser  frei  zu  wählenden  Kollegien  für  das 
erste  Semester  hätte  auch  den  Zweck,  den  jungen  Studierenden  den  Zusammen- 
hang der  Rechtswissenschaft  mit  der  allgemeinen  Bildung  nahezulegen. 
Selbstverständlich  ist  aber,  daß  diese  philosophischen  Kollegien  auf  Philo- 
sophie. Geschichte,  Literaturgeschichte  und  Philologie  zu  beschränken  wären. 
Die  erwähnte  gesetzliche  Bestimmung  ist  zu  allgemein.  Ist  es  auch  nicht 
zu  verkennen,  daß  jedes  Studium  bildet,  so  muß  man  doch  den  Wert  eines 
kurzen  naturwissenschaftlichen  oder  mathematischen  Kollegs  entschieden 
bezweifeln:  für  die  allgemeine  Bildung  des  Juristen  wird  durch  eine  ein- 
malige Abstreifung  auf  ein  ihm  gänzlich  ferneliegendes  Gebiet  nichts  gewonnen. 
Man  kann  ihn  nicht  daran  hindern,  beliebige  Vorlesungen  zu  hören;  der 
Absicht  der  erwähnten  gesetzlichen  Bestimmungen  entspricht  es  gewiß  nicht, 
daß  man  solche  Kollegien  in  die  vorgeschriebene  Minimalzahl  einrechnet. 

Die  vorgeschlagenen,  sachlich  gewiß  vorteilhaften  Abänderungen  lassen 
sich  auch  vom  Standpunkte  der  Zeiteinteilung  im  Lehrplane  rechtfertigen. 


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Zur  Aoigeataltuiig  de*  rechts-  und  •tutswissenschufttichen  Studiums  etc.  271 


Wie  schon  erwähnt,  wird  ja  Rechtsenzyklopädie  auch  jetzt  vorgetragen  und 
von  einem  großen  Teile  der  Hörer  belegt;  Philosophie  wird  im  Gesamt- 
ausmaße von  8 Stunden  vorgetragen,  Enzyklopädie  3 — 4 Stunden;  frei 
wählbare  Kollegien  allgemeiner  Natur,  die  aber  bekanntermaßen  zur 
Erlangung  des  Absolutoriums  notwendig  sind,  nehmen  auch  mindestens 
drei,  häufig  mehr  Stunden  in  Anspruch.  Durch  die  vorgeschlagene  Änderung 
würde  die  Anzahl  der  Enzyklopädiestunden  erhöht,  die  der  Philosophiestunden 
aber  vermindert  werden  und  die  Anzahl  der  den  frei  wählbaren  Vorlesungen 
der  philosophischen  Fakultät  gewidmeten  Stunden  würde  keine  Änderung 
erfahren.  Es  käme  also  nur  das  3 — 4stündige  Kolleg  über  allgemeine  Gesell- 
schaftslehre als  ein  Novum  hinzu.  Wenn  man  die  frei  wählbaren,  an  der 
philosophischen  Fakultät  zu  hörenden  Kollegien,  die  in  einem  beliebigen 
Semester  absolviert  werden,  in  das  erste  Semester  verlegt,  erlangt  man  eine 
Entlastung  der  späteren.  Eine  wesentliche  Änderung  würde  also  darin  liegen, 
daß  die  bisher  nicht  obligate  Enzyklopädie  den  Hang  eines  Obligatfaches 
erhalten  und  ein  neues  3— 4 ständiges  Kolleg  über  allgemeine  Gesellschafts- 
lehre eingeführt  werden  müßte:  eine  Überlastung  würde  daraus  nicht 

resultieren.  — 

Auf  einer  so  gearteten  Grundlage  könnte  dann  das  Studium  der 
rechtshistorischen  Disziplinen  beginnen.  Jeder  Dozent  derselben  wäre  in 
der  Lage,  sich  auf  seine  eigentliche  Aufgabe  zu  beschränken  und  in  wissen- 
schaftlicher Art  die  Geschichte  desjenigen  Hechtes,  mit  dem  er  sich  befaßt, 
darzustellen,  denn  er  könnte  selbst  in  schwierigen  Fragen,  auf  die  er  jetzt 
kaum  einzugehen  vermag,  auf  Vorkenntnisse  rechnen  und  wäre  nicht  ver- 
pflichtet, auf  die  Erörterung  von  Grundbegriffen  Zeit  zu  verwenden.  Das 
rechtshistorische  Studium  würde  also  eine  technische  Vereinfachung  erfahren. 
Noch  richtiger  ist  es  aber,  daß  es  gleichzeitig  auch  juristisch  höher  gestellt 
werden  könnte,  weil  die  der  Entwicklungsgeschichte  zu  widmende  Zeit 
angesichts  schon  vorhandener  allgemeiner  Kenntnisse  für  die  dogmatische 
Erörterung  der  einzelnen  Rechtsinstitute  ansgenützt  werden  könnte.  Von 
großem  Vorteil  ist  es,  daß  man  auf  diese  Weise  allen  Schäden  der  Ein- 
seitigkeit, die  man  nicht  mit  Unrecht  der  historischen  Richtung  zum  Vor- 
wurfe macht,  auszuweichen  in  der  Lage  wäre.  Tatsächlich  kann  die  techts- 
historische  Richtung  auf  Abwege  geraten,  wenn  sie  das  eigentliche  Wesen 
des  Stoffes,  der  rechtshistorisch  erörtert  wird,  verkennt;  sie  gerät  auf  diese 
Abwege  notgedrungen,  wenn  es  sich  um  Hörer  handelt,  bei  denen  man  gar 
keine  Vorkenntnisse  voraussetzen  darf.  An  Vorkenntnisse,  wie  wir  sie  uns 
denken,  ankuüpfend,  kann  aber  die  Rechtsgeschichte  Unschätzbares  für  die 
juristische  Begriffsentwicklung  leisten;  es  wird  sie  dann  nicht  der  Vorwurf 
treffen,  daß  sie  den  Gesichtskreis  einengt,  indem  sie  den  Hörer  veranlaßt, 
nach  rückwärts  in  die  Vergangenheit  anstatt  vorwärts  in  die  Zukunft  zu 
blicken.  Überdies  müßte  dann  das  rechtshistorische  Studium  eine  andere 
Gestalt  annehmen;  es  wird  ja  mit  Recht  bemängelt,  >laß  die  systematischen, 
allgemein  gehaltenen  Vorlesungen  über  Rechtsgeschichte  sich  zu  wenig  an 
das  Quellenmaterial  anlehnen;  mit  Fug  und  Recht  darf  man  fordern,  daß 


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272 


Halban. 


die  Darstellung,  ohne  die  durch  die  moderne  Wissenschaft  geforderte 
Gruppierung  anfzugeben,  sich  durch  Anlehnung  an  Quellenstilcke  belebe, 
ebenso  wie  man  bei  dem  systematischen  Vortrage  des  geltenden  Hechtes 
Gesetzesstellen  bespricht:  denn  es  ist  klar,  da!)  eine  systematische  Vorlesung, 
ohne  Anlehnung  an  die  Quellen,  die  communis  opinio  flber  die  einzelnen 
Fragen  vermitteln  kann,  aber  nicht  im  stände  ist,  den  nötigen  Einblick  in 
die  in  jedem  Falle  originelle  Gestaltung  des  Rechtes  zu  gewähren.  Wenn 
man  richtigerweise  der  Ansicht  huldigt,  dat)  keine  Übersetzung  den 
klassischen  philologischen  Unterricht  ersetzen  kann,  so  muß  man  dasselbe 
für  die  Rechtsgeschichte  behaupten.  Jetzt  findet  man  keine  Zeit  für  Ein- 
flechten und  Erörtern  interessanter  Quelleustellen;  baut  man  aber  den 
rechtshistorischen  Unterricht  auf  der  richtigen  Grundlage  auf.  dann  wird 
sich  Zeit  und  Verständnis  für  die  Quellen  finden.  Es  muß  übrigens  betont 
werden,  (laß  auch  der  Unterricht  im  modernen  Hechte  keineswegs  vorwurfs- 
frei dasteht  Wenn  man  sagt,  daß  die  Rechtsgeschichte  den  Gesichtskreis 
des  Juristen  einengt,  somit  also  ihre  eigentlichen  Zwecke  nicht  erfüllt,  so 
gilt  dasselbe  von  der  Dogmatik,  weil  auch  sie  den  Gesichtskreis  nicht 
erweitert,  wenn  sie  in  einseitiger  lletonung  des  geltenden  Rechtes  von  der 
früheren  Entwicklung  und  den  künftigen  Aufgaben  absieht.  Das  Recht 
befindet  sich  in  niemals  ruhender  Entwicklung;  unvollkommen  ist  jede 
Behandlung,  die  einseitig  rechtshistorisch  oder  einseitig  dogmatisch  vorgebt, 
indem  sie  im  ersten  Falle  das  Recht  als  einen  festen  Körper  behandelt,  im 
zweiten  Falle  ihr  Gebiet  als  abgeschlossenes  Ganzes  betrachtet,  ohne 
genügende  Berücksichtigung  der  treibenden  Kräfte,  die  den  Fortschritt 
bestimmen.  Die  Möglichkeit,  eine  Grundlage  für  die  rechtshistorische  und 
die  dogmatische  Richtung  herzustellen,  ist  in  hohem  Grade  von  der  ange- 
regten Vorbildung  abhängig. 

Was  nun  die  r e c h t s h i s t o r i s c h e n Studien  selbst  anbelangt, 
so  muß  als  wichtiger  Fehler  der  Art  und  Weise,  wie  sie  betrieben  werden, 
das  Übergewicht  des  Privatrechtes,  vor  allem  natürlich  der  Pandekten 
gerügt  werden.  Die  Rechtsgeschichte  hat  so  umfassende  Aufgaben,  daß 
man  sie  nicht  zur  Privatrechtsgeachichte  machen  darf.  Das  Huuptflhel 
besteht  darin,  daß  der  Hörer  auf  Grund  des  Pandektenrechtes  den  Eindruck 
gewinnt,  daß  die  privatrechtlichen  Verhältnisse  im  Vordergründe  stehen 
und  ferner  den  Eindruck,  daß  die  einzelnen  privatrechtlichen  Verhältnisse 
eine  bestimmte,  unabänderliche  Fassung  annehmen  müssen.  Auf  dein  ent- 
gegengesetzten Pole  steht  dann  das  deutsche  Recht,  welches,  wie  alles 
mittelalterliche  Recht,  weniger  Definitionen  aufweist  als  das  römische,  und 
dessen  Institute  weder  so  abgeschlossen  sind  wie  die  römischen  noch  auch 
so  gleichförmig  kristallisiert,  ja  zum  Teile  gar  nicht  kristallisiert  erscheinen, 
so  daß  der  Hörer  dieselben  als  ein  Chaos  betrachtet,  mit  dem  nichts  anzu- 
fangen  ist.  Man  bietet  ihm  Antithesen  und  verlangt  von  ihm  die  Durch- 
führung der  Synthese,  was  nicht  nur  pädagogisch  unrichtig,  sondern  auf 
dieser  Altersstufe  und  mit  diesen  Kenntnissen  einfach  unmöglich  ist.  Das 
römische.  Recht  soll  vor  allem  auf  die  Rechtsgeschichte  Nachdruck  legen 


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Zur  Ausgestaltung  ü*e  rechte-  und  stuaUwisseuschaftlichen  Studiums  etc.  273 


Die  reebtshistoriscbe  Ausbildung  wird  dadurch  ergänzt  und  harmonisch 
gestaltet,  wenn  man  den  Hörern  gleichzeitig  römische  und  deutsche  Hechts- 
geschichte vorträgt  und  daneben  die  Geschichte  des  Kirchenrechtes.  Sind 
auch  die  römisebrechtlieheu  Grundlagen  vor  allem  für  das  bürgerliche  Hecht 
wichtig,  so  erscheint  dennoch  die  überwiegende  Betonung  des  privatrecht- 
lichen Elements  schädlich,  weil  sie  geeignet  ist.  die  falsche  Vorstellung 
von  dem  nicht  bestehenden  Fbergewiehte  des  Privatrechteg  und  noch  mehr 
eine  begrifflich  gefährliche  Lostremmng  des  l’rivatrechtcs  von  dem  gesamten 
Hechte  zu  fördern.  Unsere  Studienordnung,  rechnet  ja  eiuigermaUen,  aber 
viel  zu  wenig,  mit  der  eigentlichen  Holle  der  Pandekten;  hoffentlich  wird 
man  jetzt,  wo  im  Deutschen  Reiche  nach  Zustandekommen  des  neuen 
bürgerlichen  Gesetzbuches  endlich  auch  die  Überschätzung  der  Pandekten 
zugegeben  wird,  in  Österreich  den  Weg  betreten,  den  man  leicht  schon 
seit  1811  hätte  betreten  können.  Das  deutsche  Privatrecht  hat  trotz  allem, 
was  dagegen  vorgebraeht  wurde,  prinzipiell  dieselbe  bildende  Bedeutung 
wie  das  römische  Privatrecht.  Gerechtfertigte  Bedenken  können  sich  nur 
gegen  das  System  des  sogenannten  gemeinen  deutschen  Rechtes  geltend 
machen,  und  zwar  aus  demselben  Grunde  wie  gegen  das  Pandektenrecht. 
Die  Vorlesungen  über  deutsches  Privatrecht  sollen  ja  allerdings  in  der 
Darstellung  der  deutsehrechtlichen  Grundlagen  des  geltenden  Hechtes  gipfeln; 
mau  darf  aber  über  diese  Aufgabe  nicht  an  die  Darstellung  des  Geistes  des 
deutschen  Privatrechtes,  wie  er  sich  konsequeut  auch  in  den  für  das  moderne 
Recht  nebensächlichen  Teilen  offenhart,  vergessen.  Sowohl  bei  der  Dar- 
stellung des  römischen  wie  auch  des  deutschen  Privatrechtes  mag  man 
an  das  praktisch  Wichtige  denken;  man  darf  es  aber  nicht  in  den  Vorder- 
grund stellen;  sonst  ist  es  keine  vollständige,  wissenschaftlich  ebenmäßige 
Erörterung,  sondern  eine  Reihe  von  Prolegomena  zum  modernen  Hechte; 
das  ist  und  darf  nicht  der  Zweck  des  rechtshistorischen  Unterrichtes  sein. 
Gestützt  darauf,  was  er  in  der  Enzyklopädie  und  Philosophie  erfahren,  soll 
der  junge  Jurist  sowohl  im  römischen  als  auch  im  mittelalterlichen  Hechte 
immer  nur  eines  der  vielen  möglichen  Reelitssysteme  der  Menschheit 
erblicken:  er  muH  sich  darüber  klar  werden,  daii  die  eine  oder  die  andere 
Gestalt  eines  Heehtsinstituts  nicht  obligatorisch  ist  für  die  Zukunft, 
sondern  den  Bedürfnissen  einer  bestimmten  Zeit  und  eines  bestimmten 
Volkes  mit  Rücksicht  auf  seine  Kultur  und  seine  Gesellschaftsordnung 
entspricht,  so  datl  dieses  Rechtsinstitut  hei  anderen  Völkern  oder  zu  anderen 
Zeiten  gegenüber  anderen  kulturellen  und  gesellschaftlichen  Zuständen  seine 
Pflicht  nur  daun  erfüllt,  wenn  es  sich  diesen  Zuständen  akkomodiert.  Bei 
jedem  Fache  muß  das  Prinzip,  daß  Rechtswissenschaft  nicht  Hechtskunde 
ist,  in  erste  Unit«  treten;  die  Hechtsgeschichte  darf  nicht  zur  Kunde  oder 
zum  Kultus  alten  Hechtes  werden;  ebenso  wie  die  Lehre  des  positiven 
Hechtes  niemals  identisch  werden  darf  mit  der  bloßen  Kunde  desselben, 
weil  davon  nur  noch  ein  kleiner  Schritt  zum  Erstarren  des  Rechtsgeistes 
führt  Selbstverständlich  können  diese  Erwägungen  durch  keinen  Lehrplan 
direkt  berücksichtigt  werden;  übrigens  ist  es  angesichts  der  Stellung  des 


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274 


Halbftn. 


Universitätsunterrichtes  unmöglich,  den  Dozenten  Verhaltungsmaßregeln  zu 
geben.  Rs  kann  also  der  beste  Lehrplan  nicht  verhüten,  daß  einzelne  Fächer 
in  einer  zweckwidrigen,  ganz  einseitigen  Weise  gelehrt  werden.  Wir  denken 
auch  gar  nicht  an  irgend  eine  Einschränkung  der  weitgehendsten  Lehr- 
freiheit der  akademischen  Dozenten,  weil  die  daraus  resultierende  Gefahr 
weit  schlimmer  wäre  als  alles  andere:  doch  glauben  wir,  daß,  wenn  einmal 
für  die  Schaffung  der  nötigen  Vorbildung  gesorgt  wird,  auch  die  Dozenten 
ihrerseits  das  Möglichste  beitragen  werden,  um  von  der  gewonnenen  Grund- 
lage aus  die  Erreichung  der  wahren  Zwecke  anzustreben. 

Die  Keihenfolge  der  rechtshistorischen  Disziplinen  könnte  fast  unver- 
ändert bleiben;  es  würde  das  zweite  Semester  die  Stellung  einnehmen,  die 
jetzt  das  erste  hat.  Man  könnte  also  dem  römischen  Rechte  10  Stunden 
und  dem  deutschen  5 widmen.  Als  passend  würden  wir  es  erachten,  daß  man 
parallel  mit  diesen  beiden  Fächern  auch  die  Darstellung  des  Kirchen  rechtes 
verbinde,  keineswegs  aber  die  der  österreichischen  Reichsgeschichte.  Es  unter- 
liegt zwar  keinem  Zweifel,  daß  die  Geschichte  des  Kirchenrechtes  mit 
teilweise  größerem  Erfolge  vorgetragen  wird,  wenn  schon  römische  und 
deutsche  Rechtsgeschichte  vorangegaugeu  sind;  doch  würden  wir  den  Vorteil, 
der  sich  aus  geeintem  rechtshistorischen  Studium  für  die  Auffassung  ergibt, 
vorziehen  und  ihm  zulieb  manche  Unbequemlichkeit  hinnehmen;  es  könnte 
der  Hörer  auf  diese  Weise  die  drei  Rechte,  deren  Entwicklung  für  das 
moderne  europäische  Recht  von  nahezu  gleicher  Hedeutung  ist,  io  engen 
Zusammenhang  bringen.  Auf  Grund  dessen,  was  er  in  der  Enzyklopädie 
gelernt  hat,  wird  er  in  ihnen  die  historischen  Illustrationen  der  Rechts- 
ontwicklung  in  verschiedenen  Organismen  und  in  verschiedenen  Richtungen 
erblicken:  auf  Grund  dessen,  was  ihn  die  Rechtsphilosophie  gelehrt,  wird 
er  die  theoretischen  Unterschiede  der  verschieden  gearteten  Denkweise  mit 
Vorteil  studieren  können;  die  Bedeutung  der  allgemeinen  Gesellschaftslehre 
aber  ist  für  alle  drei  Gebiete  die  gleiche.  Es  muß  übrigens  erwähnt  werden, 
daß  auch  jetzt  Kirclienrccht  gesetzlich  im  ersten  Semester  gehört  werden 
darf;  denn  nur  die  Institutionen  des  römischeu  Rechtes  werden  gesetzlich 
als  notwendiger  Beginn  des  Keehtsstudiums  hingestellt.  Natürlich  könnte 
es  sich  nicht  um  das  gauze  Kirchenrecht  haudeln:  aber  ein  Teil  desselben, 
z.  B.  die  Geschichte  der  Kirchenverfussung  und  der  Quellen,  könnte  ganz 
gut  im  zweiten  Semester  gehört  werden.  Dieses  Semester  würde  also 
römisches  Recht  (10  Stunden),  deutsches  Recht  (5  Stunden)  und  einen  Teil 
des  Kirchenrechtes  i 3 — 4 Stunden  umfassen. 

Das  dritte  Semester  würde  die  Fortsetzung  des  zweiten  bilden,  so  wie 
jetzt  das  zweite  sich  dem  ersten  anreiht;  es  würde  also  die  Fortsetzung 
des  römischen,  deutschen  und  kanonischen  Rechtes  bieten.  Die  Einteilung 
des  Stoffes  müßte  der  Entscheidung  des  Dozenten  Vorbehalten  bleiben 
und  würde  auch  wahrscheinlich  so  ausfallen  wie  jetzt.  Es  wäre  nur  eine 
Änderung  erwünscht,  nämlich  die  Bestimmung,  daß  das  Kirchenrecht, 
welches  dermalen  entweder  im  Laufe  eines  Semesters,  oder  verteilt  auf 
zwei  Semester  vorgetragen  wird,  prinzipiell  auf  zwei  Semester  verteilt  werde. 


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Zur  Ausgestaltung  das  rächt*-  tuid  staatswisseuscUaftlirtien  Studium*  etc.  ß7."> 


Die  Darstellung  der  österreichischen  Rciclisgeschiehte  möchten  wir  aber  aus 
wichtigen  Gründen  dein  letzten  Semester  des  ersten  Bienniums  Vorbehalten. 
Denn  zweifellos  bedarf  das  Verständnis  dieses  Faches  einer  Keihe  von  Kennt- 
nissen aus  dem  Gebiete  des  deutschen  und  kanonischen  Rechtes;  Österreich 
ist  während  des  ganzen  Mittelalters  ein  deutschrerhtliches  Territorium  und 
auch  die  weitere  Entwicklung  vollzieht  sich,  wenigstens  zum  großen  Teile, 
unter  dem  Einflüsse  der  wichtigsten  Ereignisse  der  deutschen  Reichs-  und 
Hechtsgeschichte  sowie  der  Geschichte  des  Kirchenrechtes.  Es  bliebe 
schließlich  noch  die  Unterbringung  der  an  den  polnischen  Universitäten 
vorgetragenen  polnischen  Recbtsgeschichte  beziehungsweise  der  au  der 
böhmischen  Universität  gelehrten  böhmischen  Recbtsgeschichte  zu  besorgen, 
ln  beiden  Fällen  erscheint  die  Kenntnis  der  deutschen  Rechtsgeschichte 
sowie  der  Geschichte  des  kircheurechtlichen  Organismus  notwendig;  infolge- 
dessen können  diese  Fächer  nicht  im  zweiten,  sondern  erst  im  dritten  uud 
vierten  Semester  mit  Erfolg  gehört  werden,  am  vorteilhaftesten  wohl  im 
vierten:  um  aber  einer  zu  großen  Belastung  des  letzten  Semesters  zu 
entgehen,  wäre  eine  Verteilung  der  polnischen,  beziehungsweise  böhmischen 
Rechtsgeschicht«  auf  zwei  Semester  ratsam. 

Somit  wäre  das  römische,  deutsche  und  kanonische  Hecht  im  zweiten 
und  dritten  Semester,  die  österreichische  Keichsgeschichte  im  vierten  und 
die  polnische  beziehungsweise  böhmische  Rechtsgeschichte,  die  an  den 
betreffenden  Universitäten  mit  vollem  Rechte  als  obligates  Fach  zu  gelten 
hätte,  im  dritten  und  vierten  Semester  untergebracht.  Weder  das  zweite 
noch  das  dritte  Semester  könnten  als  überlastet  betrachtet  werden,  im 
vierten  dagegen  bliebe  noch  Raum  für  eine  Reibe  anderer  Vorlesungen.  Es 
könnte  beispielsweise  mit  großem  Nutzen  ein  exegetisches  romanistisches 
Kolleg,  so  wie  es  in  Deutschland  jetzt  gefordert,  in  Frankreich  aber  seit 
jeher  üblich  ist.  untergebraeht  werden.  — 

Überdies  aber  wäre  an  einen  entsprechenden  Abschluß  des  rechts- 
historischen Studiums  zu  denken.  So  wie  durch  eine  zweckmäßig  erweiterte 
Enzyklopädie  und  eine  den  Bedürfnissen  des  Studiums  augepaßte  Rechts- 
philosophie und  Gesellschaftslehre  der  Ausgangspunkt  gewonnen  wird,  so 
müßte  auch  ein  wirklich  vorteilhafter  Abschluß,  also  ein  solcher  gefunden 
werden,  der  nicht  nur  hinsichtlich  der  schon  vorgetragenen  Fächer,  sondern 
auch  hinsichtlich  der  künftigen  von  bleibendem  Werte  wäre.  Eine  solche, 
nach  beiden  Seiten  hin  wichtige  Stellung  nimmt  die  vergleichende 
Rechtswissenschaft  ein.  Es  erscheint  mit  Rücksicht  darauf,  daß 
auch  unsere  Studienordnung  die  Sicherstellung  von  Vorlesungen  über  ver- 
gleichende Rechtswissenschaft  den  Fakultäten  förmlich  zur  Pflicht  gemacht 
hat,  überflüssig,  eine  Motivierung  dieser  Anregung  zu  gehen.  Abgesehen 
von  der  mit  jedem  Jahre  wachsenden  Redeutung  der  vergleichenden  Rechts- 
wissenschaft, die  man  mit  vollem  Rechte  als  die  wichtigste  Disziplin  der 
künftigen  Jurisprudenz  bezeichnen  darf,  ist  zu  bemerken,  daß  ja  ohnehin 
dasjenige,  was  die  Hörer  über  die  Geschichte  einzelner  Rechte  gehört 
haben,  einer  Rcassumierung  bedarf,  und  zwar  in  einer  Weise,  die  eine 


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276 


Halb&n. 


Ergänzung  der  allgemeinen  Lehren  der  drei  Fächer  dos  ersten  Semesters 
bedeuten  würde.  Dafür  taugt  eben  die  vergleichende  Rechtswissenschaft  am 
besten  und  sie  findet  ihren  natürlichen  Platz  im  vierten  Semester,  für  Hörer, 
die  bereits  im  ersteu  Semester  die  allgemeine  Vorbei  eituug  durchgemacht 
und  dann  während  des  zweiten  und  dritten  Semesters  die  Entwicklung  des 
Rechtes  in  drei  verschiedenen  Organismen  betrachtet  haben.  Hörer,  die 
bereits  auf  die  wechselnden  Erscheinungen  des  Rechtes  bei  verschiedenen 
Völkern  und  zu  verschiedenen  Zeiten  aufmerksam  gemacht  worden  sind, 
können  für  die  Aufgaben  und  Ergebnisse  der  vergleichenden  Rechtswissenschaft 
das  nötige  Interesse  und  Verständnis  finden.  Die  vergleichende  Rechtswissen- 
schaft bietet  aber  gleichzeitig  den  besten  Übergang  zum  speziellen  Studium 
des  modernen  Rechtes,  denn  sie  fördert  die  Fähigkeit,  die  Aufgaben  des  Rechtes 
von  einem  allgemeineren  Standpunkte  ins  Auge  zu  fassen  und  rüstet  den  Juristen 
mit  einem  grollen  Maße  praktischer  Objektivität  aus.  Diesen  allgemeinen  Auf- 
gaben könnte  ein  4 — 5 ständiges  Kolleg  über  ausgewählte  Lehren  der  ver- 
gleichenden Rechtswissenschaft  wenigstens  in  anregender  Weise  gerecht  werden. 

Aus  dem  Vorgcbraohten  geht  hervor,  daß  man  im  Rahmen  des 
Bestehenden  eine  Reihe  von  Änderungen  vornehmen  könnte,  ohne  die 
Studierenden  zu  belasten  und  ohne  den  dermaligen  Studienplan  prinzipiell 
zu  ändern.  Ungeämlert  bliebe  ja  sogar  die  im  Auslande  vielfach  gerügte 
Einrichtung,  wonach  bei  uns  die  Hauptkollegien  in  einem  größeren  Stundeu- 
ausmaße  gelesen  werden.  Man  könnte  in  dieser  Beziehung  tatsächlich 
manche  Einschränkung  vornehmen;  wir  selten  davon  ab,  weil  es  uns,  wie 
in  der  Vorrede  gesagt,  darum  zu  tun  ist,  die  bestehenden  Einrichtungen 
so  schonend  als  möglich  zu  behandeln.  Eine  wichtige  äußere  Änderung 
bestellt  nur  darin,  daß  mit  Rücksicht  auf  diese  Entwürfe  die  Möglichkeit, 
die  Staatsprüfung  schou  nach  drei  Semestern  akzulegen,  Wegfällen  müßte, 
was  aber,  wie  erwähnt,  praktisch  bedeutungslos  ist.  Wichtiger  erscheint 
dagegen  der  Umstand,  daß  bei  einer  durch  diesen  Entwurf  geschaffenen 
Sachlage  der  Beginn  des  Studiums  nur  mit  dem  Wintersemester  eintreten 
könnte,  ln  dieser  Beziehung  aber  sei  es  gestattet,  auf  § 4 der  Ministerial- 
Verordnung  vom  24.  Dezember  18M  hinzu  weisen;  steht  es  auch  dem 
Studenten  dermalen  frei,  seine  Studien  entweder  im  Winter-  oder  im  Sommcr- 
semester  zu  beginnen,  so  wird  doch  diese  Freiheit  infolge  der  erwähnten 
Bestimmung  eingeschränkt,  weil  das  Rechtsstudium  prinzipiell  mit  dem 
Institutionenkolleg  zu  beginnen  bat;  das  Iustitutionenkolleg  aber  wird  an 
den  meisten  Universitäten  bekanntlich  nur  im  Wintersemester  gelesen; 
läßt  mau  trotzdem  Immatrikulationen  im  Sommersemcster  zu.  so  geschieht 
dies,  falls  nicht  für  ein  zweites  Institutionenkolleg  im  Sommersemester 
vorgesorgt  wird,  ungesetzlich.  Deshalb  darf  man  schon  auf  Grund  der  jetzt 
bestehenden  Vorschriften  damit  rechnen,  daß  das  Rechtsstudium  nur  im 
Wintersemester  beginnen  kann  und  darf  auf  dieser  Grundlage  den  ganzen 
Studienplan  des  ersten  Bienniums  aufbauen. 

Im  allgemeinen  tragen  wir  durch  den  entworfenen  Studienplan  allen 
Bedenken,  die  im  Jahre  18S12  bei  Gelegenheit  der  parlamentarischen  Debatten 


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Zar  Ausgestaltung  <les  recht»-  uml  staatawiftscnschaftlichen  Studium»  etc. 


377 

und  überdies  auch  in  der  Literatur  geltend  gemacht  wurden,  Rechnung. 
Wir  meinen  da  den  Vorwurf,  daü  ausschlielllieh  das  rechtehistorische 
Studium  zur  Basis  des  Kechtsunterricbtes  gemacht  wird  und  dal!  es  hin- 
sichtlich seiner  Ausdehnung  gegenüber  den  Staubswissenschuften  und  dem 
modernen  Rechte  privilegiert  ist.  Wir  schlagen  eben  als  Basis  des  Studiums 
nicht  die  Rechtsgeschichte,  sondern  die  erwähnten  allgemeinen  Fächer  vor. 
beschränken  ferner  die  Rechtsgeschichte  auf  drei  Semester,  wobei  überdies 
im  dritten  rechtshistorischen  Semester,  d.  i.  im  vierten  Semester  des 
gesamten  Studiums,  noch  ein  Fach,  nämlich  die  vergleichende  Rechtswissen- 
schaft, Platz  findet,  die  auch  für  die  gesamten  weiteren  Disziplinen  von 
grober  Bedeutung  ist. 

Der  Studienplan  würde  also  folgeudcrmaUen  aussehen: 


Erstes  Semester: 

1.  Enzyklopädie  der  Rechts-  und  Staatswissenschatten  . . 6 Stunden 

'2.  Geschichte  der  Rechtsphilosophie t>  , 

3.  allgemeine  Gesellschaftslebre 3 — 4 . 


Eventuell  könnten,  wie  erwähnt,  auch  die  an  der  philosophischen 
Fakultät  frei  zu  wählenden  Kollegien  in  diesem  Semester  uutergehracht 
werden;  wenn  man  dieselben  mit  3 Stunden  hemibt,  wären  im  ganzen  im 
ersten  Semester  18 — 19  Stunden  zu  hören. 


Zweites  Semester: 

1.  Komisches  Recht 10  Stunden 

2.  deutsches  Recht 5 , 

3.  Kirchenrecht  3 

zusammen  ...  18  Stunden 

Drittes  Semester: 

1 . Römisches  Recht 8 Stunden 

2.  deutsches  Recht *>  , 

3.  Kirchenrecht 4 . 

zusammen  ...  17  Stunden 

auiierdeni  in  Krakau  und  Lemberg  polnische,  an  der  Prager 
böhmischen  Universität  böhmische  Kechtsgeschichte  . . 3—4  Stunden 

Viertes  Semester: 

1.  österreichische  Reich sgeschicbte 5 Stunden 

2.  ein  romanistiseh-cxegetischcs  Kolleg 2 , 

3.  vergleichende  Rechtsgeschichte 4 — 5 , 

zusammen  . . . 11  — 12  Stunden 
in  Krakau  und  Lemberg  polnische,  in  Prag  böhmische 

Rechtsgeschichte 3-4  Stunden 


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27S 


Haltan. 


Nun  ist  es  ja  bekannt,  dal!  behufs  Zulassung  zur  ersten  Staatsprüfung 
Kollegien  im  Gesaintausmalie  von  72  Stunden  naehgewiesen  werden  müssen, 
obwohl  die  betreffenden  Obligatfüeher  (römisches,  deutsches,  kanonisches 
Hecht  und  österreichische  Keichsgeschichte)  zusammen  nur  42  Stunden 
erfordern;  wenn  wir  noch  die  erwähnten  Fächer  des  ersten  Semesters  im 
Gesamtausmalie  von  15— 16  Stunden,  sowie  die  neu  hinzutretende  vergleichende 
Rechtswissenschaft  im  vierten  Semester  4 — 5 Stunden  dazu  rechnen,  so 
erhalten  wir  zu  den  schon  obligaten  42  Stunden  noch  weitere  19-  21  Stunden, 
so  daß  also  noch  immer  11 — 13  Stunden  für  frei  zu  wählende  Kollegien  und 
Übungen  übrig  bleiben,  ohne  daß  das  gesetzlich  geforderte  Minimalausmaß 
von  72  Stunden  überschritten  wird.  (Fortsetzung  folgt.) 


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DIE  REFORM  DER  ÖSTERR.  HAUSZINSSTEUER.') 


VI  IN 

ft*  FRANZ  FREIHERRX  v.  M Y KBAO II -RHEIN FELD. 

(I,  Ö.  PROCESSOR  AN  »ER  UNIVERSITÄT  IN  I N NMlRlTK 


Zwanzig  Jahr«  sind  verflossen,  seitdem  ich  eiuer  Monographie  Aber 
die  Besteuerung  der  Gebäude  und  Wohnungen  iu  Österreich*)  auch  die  Frage 
in  Erwägung  zog.  inwieweit  unsere  Hauszinssteuer  reformbedürftig  sei  und 
in  weicher  Richtung  sich  die  Reform  zu  bewegen  habe.  Meine  Arbeit  hat 
in  fachwissenschaftlichen  Kreisen  Anerkennung  gefunden,  sie  hat  aber  nicht 
einmal  den  praktischen  Erfolg  gehabt,  eine  Bewegung  für  die  von  mir 
damals  schon  als  höchst  dringend  bezeiclmete  Reform  anzubahuen.  Der 
gewaltige  Druck  dieser  Steuer  wurde  schon  längst  von  allen  Beteiligten 
empfunden,  es  geschah  aber  gar  nichts,  um  auf  die  Milderung  dieses  Druckes 
hi  n zu  wirken. 

Wie  es  scheint  hat  erst  die  teilweise  Vermehrung  der  Steuerlast 
durch  die  lang  angestrebte  und  endlich  im  Jahre  1 806  verwirklichte  Reform 
der  sogenannten  Persoualsteueru  und  noch  mehr  durch  die  rapid  steigenden 
Bedürfnisse  der  Selhstverwaltnngskörper,  die  Geister  aufgerflttelt  und  sie 
veranlaßt,  an  die  Stelle  dumpfen  Murrens  endlich  tatkräftiges  Handeln  zu 
setzen.  Wie  auf  so  vielen  Gebieten,  hat  auch  auf  diesem  die  Organisation 
erst  Wandel  geschaffen.  Die  in  neuester  Zeit  entstandenen  Vereine  der 
Hausbesitzer  haben  die  Frage  der  Gebüudesteuerreform  in  Fluß  gebracht 
und  die  Städtetage  haben  sich  mit  ihr  ernstlich  befaßt. 

Naturgemäß  nehmen  die  Hausbcrrenvereine  dieser  Frage  gegenüber 
einen  ziemlich  einseitigen  Interessentenstandpunkt  ein.  Es  soll  ihnen  daraus 
kein  Vorwurf  gemacht  werden,  denn  die  Gemeinsamkeit  eines  bestimmten 
Interesses  hat  sie  zusamiiieugeführt  und  ihre  Existenzbedingung  ist  die 
gemeinsame  Verfechtung  ihres  Interesses.  Wenn  sich  ihr  Interesse  mit 
jenem  der  Gesamtheit  begegnet,  dann  ist  es  desto  besser,  und  größtenteils  ist 
dies  wirklich  der  Fall. 

Die  Stüdtetage  stehen  iiu  allgemeinen  auf  einem  objektiveren  Stand- 
punkt. immerhin  kann  aber  auch  da  der  große  Einfluß,  den  die  Hausbesitzer 

Vortrag  gehalten  in  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkswirte. 

a)  „Die  Besteuerung  der  Gebäude  und  Wohnungen  in  Österreich  und  deren 
Reform-  in  der  Zeitschrift  für  die  gesamte  Staat*  Wissenschaft;  1S*6  auch  in  Buchform 
bei  H.  I.yupj»  iu  Tübingen  erschienen. 


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Myrk»ch-Rlioinf»M. 


•280 


auf  die  Zusammensetzung  der  Gemeindevertretungen  üben,  nicht  gänzlich 
verschwinden  und  gerade  die  hohe  Gehäudesteuer  sichert  ja  den  Haus- 
besitzern als  privilegierten  Wühlern  diesen  Einflult. 

Nun  sind  aber,  wie  ich  zeigen  will,  bei  dem  besprochenen  Gegenstände 
nicht  die  Hausbesitzer,  sondern  die  Mieter  die  in  erster  Linie  betroffenen. 
Es  handelt  sich  also  um  eine  Angelegenheit  des  öffentlichen  Interesses,  und 
da  kann  Klassenvertretungen  nicht  der  entscheidende  Einfluß  zugestanden 
werden,  wenn  sie  auch  als  rührige  Kampfer  willkommen  sind,  soweit  sie 
eben  M i t käuipfer  sind. 

Um  so  lebhafter  ist  es  zu  begrüßen,  daß  eine  Vereinigung  von  der 
Iiedeutuug  und  der  Zusammensetzung  der  Gesellschaft  österreichischer 
Volkswirte  in  die  Erörterung  der  Frage  der  Gebäudesteuerreforin  eiutritt. 
In  dieser  hochaugesebenen  Körperschaft  wird  diese  Frage  zweifellos  eine 
streng  objektive  Behandlung  erfahren  und  wird  der  Gesichtspunkt  eiuer 
gesunden  Sozialpolitik  der  allein  richtunggebende  sein. 

Zur  besonderen  Ehre  rechne  ich  es  mir  an,  daß  ich  vom  Vorstande 
dieser  Gesellschaft  berufen  w urde,  diese  hoffentlich  fruchtbringende  Diskussion 
durch  einen  Vortrag  zu  eröffnen.  Meine  heutige  Aufgabe  kann  ich  auch 
nur  so  auffassen,  daß  ich  sachliches  Material  vorzubringen  und  für  die 
Diskussion  eine  Grundlage  zu  liefern  habe.  Weit  entfernt  von  der  Annahme, 
als  ob  ich  den  einzig  richtigen  Schlüssel  für  die  Lösung  des  schwierigen 
Problems  in  Händen  hätte,  werde  icli  vollkommen  zufrieden  sein,  wenn  es 
mir  gelingt,  einige  brauchbare  Gesichtspunkte  für  die  weitere  Behandlung 
der  Frage  zu  liefern.  Dabei  muß  ich  gleich  bemerken,  daß  ich  in  der 
Hauptsache  noch  heute  auf  demselben  Boden  stehe,  wie  vor  zwanzig 
Jahren.  Daran  mag  allerdings  der  Umstand  schuld  seiu.  daß  mir  inzwischen 
wenig  Gelegenheit  geboten  wurde,  andere  Ansichten  auf  ihren  Wert  zu  prüfen. 

Als  Provinzbewohner  hatte  ich  auch  wenig  Gelegenheit,  die  junge,  auf 
eine  Reform  der  Gebäudesteuer  gerichtete  Bewegung  zu  verfolgen,  deshalb 
bin  ich  leider  außer  stände,  hierüber  eingehend  zu  referieren ; ich  werde  mich 
darauf  beschränken  müssen,  Bruchstücke,  die  zu  meiner  Kenntnis  gelangten, 
gelegentlich  zu  berühren.  Trotzdem  werde  ich  ihre  Geduld  wegen  der  Natur 
des  Gegenstandes  ziemlich  lange  in  Anspruch  nehmen  müssen,  wenn  ich 
mich  auch  auf  die  Besprechung  der  Hauszinssteuer  beschränken  und  die 
Hausklassensteuer  außer  Betracht  lassen  werde.  Die  Grundsätze  der  Besteue- 
rung der  Gebäude  nach  dem  Zinsertrag  darf  ich  dabei  wohl  als  allgemein 
bekannt  voraussetzen. 

Klie  ich  daran  gehe,  unsere  Hauszinssteuer  auf  ihre  Reformbedürftig- 
keit  zu  prüfen,  muß  ich  noch  einige  Worte  über  das  Wesen  dieser 
Steuer  vorausscbickeu. 

Die  österreichische  Hauszinssteuer  ist,  wie  jede  Gehäudesteuer.  eine 
sogenannte  E r t r ags s t e u e r,  das  heißt  sie  erfaßt  die  Erträgnisse  aus 
Häusern  ganz  objektiv,  ohne  Rücksicht  auf  die  Person  und  die  persönlichen 
Verhältnisse  des  oder  der  Eigentümer,  ohne  Rücksicht  auf  die  Verteilung 
dieser  Erträgnisse  auf  mehrere  Subjekte,  insbesondere  auch  ihre  Verteilung 


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Tlie  Heform  'l'r  AO-rr  Hftu*?ins*tener 


281 


unter  Eigentümer  und  Gläubiger.  Die  moderne  Theorie  anerkennt  eine  solche, 
ursprünglich  recht  rohe  Besteuerungsfonu,  weil  angenommen  werden  muß. 
daß  durch  die  Besteuerung  der  verschiedenen  objektiven  Erträgnisse  gleich 
bei  ihrem  Entstehen,  schließlich  doch  die  persönlichen  Einkommen,  die  sich 
aus  Erträgnissen  und  Ertragsteilen  zusammenfügen.  getroffen  werden. 

Diese  Begründung  gilt  aber  niemals  für  Steuern  auf  einreine  Arten 
von  Ertragsobjekten,  sondern  nur  dann,  wenn  ein  ganzes  System  solcher 
Steuern  so  zusammenwirkt,  daß  auch  alle  Wurzeln  des  Einkommens,  also 
die  Erträgnisse  aus  allen  Quellen,  mag  es  sich  um  Verwendung  von  Ver- 
mögen oder  um  Verwertung  der  Arbeitskraft  handeln,  tunlichst  gleichmäßig 
durch  die  Steuern  gekürzt  werden,  weil  auch  nur  dann  die  Einkommen 
gleichmäßig  durch  sie  getroffen  werden. 

Nur  selten  wurden  die  ursprünglich  einzelnen  und  daher  fehlerhaften 
direkten  Objektsteuern  zu  ganzen  Ertragstenersystemen  ergänzt.  England 
in  seiner  Income-tax  und  Württemberg  haben  solche  Systeme:  das  österrei- 
chische, der  englischen  Gesetzgebung  nachgehildete  System,  das  in  seiner 
Anlage  als  ziemlich  korrekt  bezeichnet  werden  konnte,  hat  durch  die  Gesetz- 
gebung des  Jahres  1896  an  Einheitlichkeit  viel  eingebüßt  und  litt  schon 
früher  unter  unrichtigen  Steueisätzcn  und  einem  sehr  mangelhaften  Verfahren. 

Ein  gut  eingerichtetes  Ertragsteuersystem  gehört  sicher  nicht  zu  den 
schlechten  Besteuerungsmethoden,  weil  es  mit  möglichster  Umgangnahme 
von  Schätzungen  alle  Einkommensquellen'  wenigstens  mit  annäherungsweiser 
Richtigkeit  und  Gleichmäßigkeit  erfaßt.  Allerdings  gestattet  es  nur  eine 
proportionale  Besteuerung.  Die  schlechte  Behandlung,  welche  den  Ertrags- 
steuem  in  der  neueren  deutschen  Literatur  zu  teil  wird,  erklärt  sich  daraus, 
daß  man  meistens  nur  Bruchstücke  eines  Systems  vor  Augen  hatte  und 
anch  diese  nur  unzulänglich  eingerichtet  waren. 

Die  ganze  Liebe  hat  sich  der  Personaleinkommensteuer  zugewendet 
und  dies  geht  so  weit,  daß  der  in  der  Entwicklung  des  Steuerwesens  jetzt 
führende  Staat,  Preußen,  für  sich  unter  den  direkten  Steuern  bekanntlich 
nur  noch  die  Einkommensteuer  in  Anspruch  nimmt  und  die  Erträgnisse 
aus  den  dort  allerdings  wenig  ausgebildeten  Ertragsteuern  bekanntlich  den 
Selbstverwaltungskörpern,  besonders  den  Gemeinden,  überläßt. 

Eine  gleiche  Entwicklung  schwebte  gelegentlich  der  letzten  Steuerreform 
auch  den  maßgebenden  Faktoren  in  Österreich  vor,  aber  die  Verwirklichung 
hat  bei  uob  noch  gute  Wege.  Ist  ja  doch  schon  das  Verhältnis  der  Ergebnisse 
dieser  Steuergruppen  in  Österreich  und  in  Preußen  ein  total  verschiedenes. 


In  Preußen  betrug  1898/9  die  Einnahme  an 

Einkommensteuer 1641/,  Mill.  Mark 

jene  aus  der  Grund-,  Gebäude-  und  Gewerbesteuer  nur  93  Mill.  Mark 
in  Österreich  brachte  1898  die  Personal- 
einkommensteuer ein 36  Mill.  Kronen 

die  Ertragsteuern  dagegen  über 222  Mill.  Kronen. 


Allerdings  umfaßt  die  preußische  Einkommensteuer  auch  die  Steuer 
der  Aktiengesellschaften.  Aber  wenn  man  hei  uns  auch  die  zirka  42  Mill.  Kronen, 


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282 


MvrWh-RheiiiOltl. 


welche  die  der  öffentlichen  Rechnungslegung  unterworfenen  Unternehmungen 
zu  zahlen  hatten,  von  den  Ertragsteuern  ab-  und  der  Einkommensteuer 
zurechnet,  so  ändert  dies  nichts  au  der  Tatsache,  daß  für  unsere  Finanzen 
die  Ertragsteuern  die  ungleich  wichtigere  Einuahmenquelle  bilden.  Und  jene 
ans  den  Krtragsteuern  ist  so  bedeutend,  daß  darauf  nicht  leicht  ein  Staat 
verzichten  könnte,  das  finanziell  bedrängte  Österreich  aber  am  allerwenigsten. 

Wir  müssen  also  damit  rechnen,  daß  filr  absehbare  Zeit  unser  Staat 
sein  Ertragstenersjstein  behalten  wird,  und  da  die  Gebäudesteuer  einen 
integrierenden  Bestandteil  desselben  bildet,  kann  er  auch  diese  einzelne 
Steuergattung  nicht  aufgeben.  Um  so  wichtiger  ist  es  aber,  daß  endlich 
ernstlich  an  die  Beseitigung  ihrer  grellen  1 beistünde  geschritten  werde. 

Nach  drei  Richtungen  will  ich  nun  untersuchen,  ob  und  inwiefern 
unsere  Hauszinssteuer  einer  durchgreifenden  Reform  zu  unterziehen  wäre: 

1.  Rilcksicbtlich  des  Umfanges  der  Steuerpflicht,  d.  i.  also  der  ihr 
unterliegenden  Objekte: 

2.  rflcksichtlich  der  Steuersätze  und 

3.  rflcksichtlich  der  Art  der  Veranlagung. 


Die  Steuerpflicht  erstreckt  sich  bekanntlich  auf  verschiedene 
Objekte  in  den  beiden  Ortskategorien,  welche  das  Gesetz  unterscheidet. 
In  jenen  Städten  und  Orten,  wo  die  Hauszinssteuer  2fi*/>  Proz.  beträgt 
und  welche  im  Gesetz  ausdrflcklicli  benannt  sind,  dann  in  jenen  Orten,  in 
welchen  wenigstens  die  Hälfte  der  Häuser  und  zugleich  wenigstens  die 
Hälfte  der  Wolmräume  einen  Zinsertrag  durch  Vermietung  wirklich  ahwirft. 
sind  alle  Gebäude  zur  Gänze  zinssteuerpflichtig,  ohne  Unterschied,  wie 
und  durch  wen  sie  benützt  werden  ln  allen  übrigen  Orten  unterliegen  der 
Zinssteuer  nur  jene  Gebäude  beziehungsweise  Gebäudeteile,  welche  tatsäch- 
lich vermietet  sind,  und  auch  davon  gibt  es  noch  Ausnahmen. 

Neuerdings  ist  wieder  behauptet  worden,  daß  der  Gebäudesteuer  Ober- 
haupt nur  Wohngebäude  unterliegen.  Diese  Ansicht,  welche  sich  auf  eine 
ungenaue  Textierung  des  alten  Gebäudesteuerpatents  vom  Jahre  1820 
stützte,  konnte  allenfalls  früher  vertreten  werden,  seit  dem  Gesetze  vom 
9.  Februar  1882  kann  über  ilire  Unrichtigkeit  aus  dem  Gesichtspunkt  des 
geltenden  Rechtes  kein  Zweifel  mehr  bestehen. 

Eine  andere  Frage  ist  es.  ob  es  richtig  und  zweckmäßig  sei, 
alle  unter  die  erwähnte  Bestimmung  fallenden  Gebäude,  ohne  Rücksicht  auf 
ihre  Verwendung,  mit  einer  Ertragstcuer  zu  belegen.  Das  ist  eine  Frage 
de  iure  ferendo  und  sie  soll  uns  zunächst  beschäftigen. 

Zu  diesem  Zwecke  wollen  wirdie  verschiedenen  Verwendungen  der  Gebäude 
nach  der  technischen  und  nach  der  ökonomischen  Seite  unterscheiden. 

Im  technischen  Sinne  dienen  die  Gebäude  entweder  zur  Bewoh- 
nung oder  als  geschützte  Örtlichkeiten  zur  Ausführung  von  Arbeiten,  zur 
Aufbewahrung  der  verschiedensten  Gegenstände  oder  zur  Versammlung  einer 
größeren  Zahl  von  Menschen.  Die  letztere  Art  der  Verwendung  kann  sehr 


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Hi.'  Reform  der  öit.rr.  Jlan«yin*«teu*-r. 


283 


mannigfaltig  nein.  Werkstätten  der  grollen  und  kleinen  Industrie  und  des 
Handwerks,  Magazine,  Kontors,  Kanzleien,  Ordinationsräume  der  Ärzte,  Ver- 
kaufsgewölbe. Gast-  und  Kaffeehäuser,  Theater,  Hall-  und  Konzertsäle  und 
viele  andere  Gebäude  und  Gebäudeteile  gehören  in  diese  Kategorie. 

Bei  der  Verwendung  im  ökonomischen  Sinne  müssen  wir  unter- 
scheiden zwischen  Baulichkeiten,  welche  der  A u f w a n d w i r t s c h aft.  und 
solchen,  die  der  E r w e r b wi r tsc h a ft  dienen,  ln  diesem  Sinue  kommt 
für  uns  nur  die  Verwendung  seitens  des  Eigentümers  oder  Nutznießers  in 
Betracht,  Dieser  benützt  sein  Haus  in  der.  A u f w an d wi r tsc h aft  ent- 
weder als  Wohnung  oder  zur  Unterbringung  von  Gegenständen,  welche  dem 
unmittelbaren  Gebrauche  dienen,  wie  z.  B.  Gewächsen,  Pferden  u dgl. 
Einen  Teil  des  Aufwandes  bildet  diese  Verwendung  deshalb,  weil  das 
Subjekt  Mittel,  die  ihm  bereits  frei  verfügbar  sind,  unmittelbar  zur  Befrie- 
digung von  Bedürfnissen  benützt.  Wollte  man  etwa  die  Bezeichnung  als 
.Aufwand*  nicht  gelten  lassen,  so  müßte  mau  doch  zugeben,  daß  im  Selbst- 
bewohnen eine  Aufwandersparung  gelegen  sei. 

In  der  Erwerbwirtschaft  kommen  wieder  zweierlei  Verwetidungs- 
arten  vor: 

Entweder  das  Haus  soll  dienen  zur  Erzielung  einer  Rente,  indem 
man  dasselbe  an  andere  vermietet, 

oder  als  Mittel  irgend  einer  Erwerbtätigkeit  des  Besitzers 

selbst. 

Im  ersten  Falle  ist  das  Haus  ein  Objekt  selbständiger  reiner 
Kapitalanlage  und  bat  als  solches  den  gleichen  wirtschaftlichen  Charakter 
wie  ein  verpachtetes  Landgut  oder  eine  Darlehensforderung.  Wie  der  Mieter 
das  Haus  technisch  verwendet,  ist  dabei  vom  Standpunkt  des  Vermieters 
ökonomisch  irrelevant. 

Im  zweiten  Falle  hat  das  Haus  durchaus  keine  wirtschaftliche 
Selbständigkeit,  denn  es  wirft  für  sich  allein  keinen  Ertrag  ab,  es  ist  in 
gleicher  Weise  Betriebsmittel  wie  eine  Maschine,  ein  Werkzeug,  ein  Zugtier, 
nnd  wie  diese  Dinge  nur  ein  integrierender  Bestandteil  einer 
ganzen  Betriebsanlage.  Ein  Ertrag  wird  dann  nur  erzielt  durch 
gleichzeitige  Verwendung  aller  zusammengehörigen  Betriebserfordemisse  und 
es  läßt  sich  auch  nicht  eine  bestimmt«  Quote  des  Unternehmungsertrages 
gerade  auf  die  Verwendung  des  bestimmten  Gebäudes  oder  der  bestimmten 
Räume  zurückführen.  Von  einer  Hausrente  kann  also  da  nicht  die  Rede 
sein,  man  müßte  denn  an  eine  sogenannte  Lageren te  denken,  die  ich  aber 
als  eine  selbständige  wirtschaftliche  Erscheinung  auch  nicht  anerkennen  kann. 

Nun  bilden  den  Gegenstand  der  Besteuerung  nach  den  Grundsätzen 
der  Krtragsbesteuerung  alle  Erträgnisse  im  weiten  Sinne  des  Wortes,  also 
die  Renten  von  Gebäuden  ebenso  wie  die  Gewinne  aus  den  verschieden- 
artigen Erwerhsunternehmungen.  Daraus  folgt,  daß  alle  Zinserträg- 
nisse auB  vermieteten  Gebäuden  und  Gebäudeteilen,  ohne 
Rücksicht  auf  die  technische  Verse»  düng  dieser  Objekte, 
einer  Ertrags  t e uer,  die  wir  am  zutreffendsten  wohl  als  .Hans 


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2R4 


Myrbacti-ltlielnMd. 


rentonsteuer“  bezeichnen  können,  unterzogen  werden  sollen. 
Insofern  ist  also  unsere  Gesetzgebung  vollkommen  richtig. 

Ob  der  Hausbesitzer  seinen  Zins  fflr  eine  Wohnung,  für  einen  Laden 
oder  fflr  eine  Werkstätte  erhält,  ändert  an  der  Rente  gar  nichts.  Deshalh 
kann  dem  von  Rieh.  H a r k u p auf  dem  Städtetag  zu  St.  Pölten  im  Jahre 
1S01  gemachten  Vorschläge  nicht  zustimmen,  daß  die  gewerblichen  Zwecken 
dienenden  Qebäude  und  Werkstätten  schlechthin  nur  mit  dem  halben  Prozent- 
satz der  Gebäudesteuer  belegt  werden  sollen.  Dabei  setze  ich  eine  Gebäude- 
steuer  voraus,  die  nicht  ilberwälzt  werden  kann. 

Mir  scheint  unsere  Gesetzgebung  aber  auch  richtig  hinsichtlich  der 
Art,  wie  sie  die  von  den  Eigentümern  selbst  benützten  Wohnungen 
mit  ihrem  Zugehör  behandelt.  Sie  unterwirft  dieselben  der  Zinssteuer  in 
jenen  Orten,  wo  das  Wohnen  in  Miete  in  umfassendem  Malle  stattfindet, 
wo  somit  Wohnungen  einen  Markt  und  einen  Marktpreis  haben,  so  dafl  sie 
zu  einem  bestimmten  Zinse  leicht  vermietet  und  leicht  gemietet  werden 
können.  Wer  in  einem  solchen  Orte  im  eigenen  Hause  wohnt,  der  genießt 
in  der  Wohnung  ein  Äquivalent  des  ihm  entgehenden  Zinses,  er  könnte 
da  ebensogut  aus  seinem  Hanse  durch  Vermietung  eine  Rente  ziehen  und 
in  einem  fremden  Hanse  in  Miete  wohnen:  er  kann  eine  Wohnung  nach 
seinen  persönlichen  liedürfnissen  wählen  und  ist  nicht,  wie  es  oft  auf  dem 
Lande  der  Pall  ist.  auf  eine  bestimmte,  ihm  nicht  passende  Wohnung 
angewiesen.  Auch  ist  der  Nutzwert  einer  selbst  benützten  Wohnung  durch 
Vergleichung  mit  den  wirklich  vermieteten  leicht  festzustellen.  Der  ganzen 
ökonomischen  Sachlage  entspricht  es.  daß  man  in  solchen  Fällen  den  Genuß 
der  eigenen  Wohnung  einem  Erträgnis  des  Hauses  gleichstellt  und  dem- 
entsprechend behandelt. 

Ich  kann  deshalb  der  von  mehreren  Seiteu  gestellten  Forderung,  es 
möge  die  eigene  Wohnung  des  Hausbesitzers  niedriger  oder  gar  nur  mit 
der  Hälfte  des  fflr  vermietete  Wohnungen  erzielten  Zinses  veranschlagt 
werden,  keineswegs  beistimmen.  Diese  Begünstigung  wird  gefordert,  um 
den  Besitzer  fflr  die  Milbe  der  Verwaltung  schadlos  zu  halten.  Ich  sehe 
davon  ab.  daß  sich  viele  Hausbesitzer  eine  solche  .Schadloshaltung“  contra 
legem  ohnedies  verschaffen  und  will  anderseits  zugeben,  daß  die  Haus- 
besitzer durch  eine  Reihe  von  Verwaltungsgesetzerl  fflr  öffentliche  Zwecke 
stark  in  Anspruch  genommen  und  nahezu  zu  Organen  der  öffentlichen  Ver- 
waltung gemacht  worden.  Aber  eine  solche  Art  der  Entschädigung  würde 
bei  der  großen  Masse  der  Unbeteiligten  gewiß  weder  ethisches  noch 
ästhetisches  Gefallen  erwecken  und  würde  auch  höchst  ungerecht  wirken. 
Jener,  der  ein  großes  Zinshaus  mit  vielen  kleinen  Parteien  besitzt,  somit 
die  mühsamste  Verwaltung  zu  besorgen  hat,  aber  selbst  in  einem  fremden 
Hause  in  Miete  wohnt,  ginge  vollständig  leer  ans,  die  Besitzer  der  größten 
und  schönsten  Palais,  denen  die  öffentliche  Verwaltung  fast  gar  keine 
Pflichten  auferiegt.  würden  dagegen  glänzend  begünstigt! 

Als  korrekt  erkenne  ich  unsere  Gesetzgebung  auch  darin,  daß  sie  in 
jenen  Orten,  wo  die  Mietwohnungen  nicht  flberwiegen,  somit  auch  keine  so 


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Di*'  Reform  der  0«terr.  Hanezinstteurr. 


285 


festen  Preise  haben,  die  Besteuerung  der  selbstbenützten  Wohnungen  nach 
dem  Zinse  unterläßt  und  auf  dieselben  die  Hausklassensteuer  anwendet. 

Dagegen  scheint  es  mir  nicht  richtig,  daß  in  den  Orten  mit  Oberwie- 
genden Vermietungen  auch  die  nicht  vermieteten  Betriebs- 
lokalitäten mit  der  Zinsstener  belegt,  sind.  Da  fehlt,  nicht  nur  die 
Rente,  sondern  auch  ein  Äquivalent  derselben,  man  besteuert  das  Betriebs- 
mittel, das  Werkzeug  der  Erwerbstätigkeit.  Dies  ist  theoretisch  nicht 
richtig  und  führt  auch  zu  praktischen  Unrichtigkeiten,  denn  der  wirkliche  Unter- 
nehmungsertrag entspricht  gar  häufig  nicht  d m Umfange  der  Betriebsmittel. 
Die  Anomalie  dieser  Bestimmung  zeigt  sich  aber  auch  klar  bei  ihrer 
praktischen  Anwendung.  Mag  man  auch  von  Geschäftsläden.  Kanzleien  und 
Handwerkstätten  annehmen  können,  daß  sie  wie  die  Wohnungen.  Marktpreise 
haben,  so  gilt  dies  gewiß  nicht  von  Fabriksgebäuden.  Magazinen  u.  dgl. 
Bei  der  sogenannten  Parifikation  ergeben  sich  da  immer  Verlegenheiten  und 
die  Annahme  irgend  eines  „Zinswertes*  ist  eigentlich  immer  ein  Akt  der 
Willkür.  Das  trifl't  noch  mehr  zu  bei  Theatergebäuden.  Vergnüguugslokalitäten 
u.  dgl.  Schon  bei  Gasthäusern  und  Hotels  ist  die  Veranlagung  sehr  schwierig, 
einfach  weil  die  rationelle  Grundlage  für  eine  Schätzung,  der  Marktpreis  fehlt. 

Nach  meiner  Meinung  sollten  somit  alle  jene  Gebäude  und 
Gebäudeteile,  welche  vom  Hausbesitzer  selbst  nicht  zu 
A u f w a n d z w e c k e n,  sondern  in  Ausübung  irgend  einer  Er- 
werbstätigkeit benützt  werden,  von  der  Besteuerung  in 
allen  Orten  freigelassen  werden. 

Der  sich  ergebende  Ausfall  am  Steuereingang  sollte  in  einem  korrekten 
Ertragsteuersystem  dadurch  wettgemacht  werden,  daß  die  Steuer  von  den 
Erwerbsuntemehmungen  entsprechend  mehr  trägt,  was  bei  den  der  öffentlichen 
Rechnungslegung  unterliegenden  Unternehmungen  auch  der  Fall  wäre.  Da 
nun  aber  unsere  allgemeine  Erwerbsteuer  kontingentiert  ist.  würde  ein  großer 
Teil  dieses  Ausfalles,  der  übrigens  nach  der  bestehenden  Statistik  auch  nicht 
annähernd  beziffert  werden  könnte,  endgiltig  verloren  sein.  Sollten  einschlä- 
gige Erhebungen  einen  gar  zu  empfindlichen  Ausfall  ergeben,  dann  könnte 
man  allenfalls  für  jene  Arten  von  Geschäftslokalitäten,  die  in  großer  Zahl 
gemietet  zu  werden  pflegen,  wie  Verkaufsläden.  Kanzleien  u.  dgl.  einen 
mäßigen  Steuersatz  zngestehen. 

Ich  glaube  aber  ein  Mittel  angeben  zu  können,  durch  welches  ein 
solcher  Ausfall  unter  Wahrung  des  Prinzips  vielleicht  ganz  gedeckt  werden 
könnte.  Ich  denke  dabei  an  eine  Erweiterung  des  Kreises  jener 
Objekte,  die  der  Gebäudesteuer  zu  unterziehen  sind. 

Mit  zahlreichen  Mietwohnungen  ist  der  Genuß  eines  Hausgartens 
verbunden,  sehr  oft  werden  dem  Mieter  amli  gewiße  bewegliche  Gegen- 
stände zur  Benützung  überlassen.  Nach  den  gegenwärtig  geltenden  Ver- 
anlagungsgrundfätzen  ist  aber  nur  der  reine  üebäudemietzins  als  Besteuerungs- 
grnndlage  anzunehmen,  für  die  Überlassung  von  Gärten  und  Fahrnissen  darf 
der  Hauseigentümer  deshalb  eine  entsprechende  Quote  seiner  Gesamteinnahme 
ahziehen.  Dies  wird  nun  vielfach  dazu  benützt,  um  den  steuerpflichtigen 

Zeit»«.' Drift  für  Volk* wirUchaft,  gotlidfiolilik  und  VenvAltunf.  XII.  Bnnd.  20 


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28fi 


Myrhaeh-Rh^infetd. 


Zins  möglichst  herabzudrücken  und  tatsächlich  wird  das  Recht  einer  Garten- 
benfltzung  von  den  Mietern  oft  sehr  hoch  bewertet  und  gut  bezahlt.  Die 
Hausgärten  werfen  deshalb  einen  weit  größeren  Ertrag  ab,  als  den  zur 
Grnndsteuerhemessung  eingeschätzten  Katastralertrag,  der  überhaupt  etwas 
ganz  FiktUes  ist.  Der  Hausgarten  liefert  kein  landwirtschaftliches  Erträgnis, 
er  kommt  in  der  Hegel  Oberhaupt  nur  als  Zugebör  des  Hauses  in  Betracht 
und  es  wäre  ganz  gerechtfertigt,  wenn  man  nebst  der  Bauarea  und  den 
Hofräumen  auch  dieHausgärten  von  der  Grundsteuerbefreien, 
die  wirklichen  Einnahmen  für  mietweise  Verwertung  der- 
selben aber  der  Hauszinssteuer  unterziehen  würde.  Man 
kann  annehmen,  daß  die  Hauseigentümer  auch  daun,  wenn  sie  Fahrnisse 
mitvermieten,  davon  einen  gewißen  Nutzen  haben  und  wird  deshalb  keinen 
Verstoß  begehen,  wenn  mau  auch  diese  Arten  von  Erträgnissen 
in  die  Besteuerung  ein  bezieht.  Jedenfalls  würde  aber  ein  Anlaß 
zu  übertriebenen  Abzügen  abgeschnitteu  und  ich  meine,  daß  der  Erfolg  ein 
überraschend  günstiger  vom  Standpunkt  der  .Steuerverwaltung  wäre.  Zugleich 
würde  noch  die  Veranlagung  vereinfacht  und  an  Sicherheit  gewinnen. 

Natürlich  empfehle  ich  diesen  Vorgang  nur  unter  der  Voraussetzung 
einer  sehr  ausgiebigen  Reduktion  des  Steuersatzes. 

* • 

Ich  komme  nun  zum  zweiten  und  wichtigsten  Punkte  der  Untersuchung 
der  Höhe  der  Steuer. 

Betrachten  wir  zunächst  die  Ziffern  der  Steuersätze.  Bekanntlich  wird 
von  der  Bruttozinseinnahme  zunächst  die  sogenannte  Erhaltungs-  und  Amor- 
tisations<|iiote  abgezogen:  diese  beträgt  in  den  Orten  der  ursprünglichen 
Hauszinssteuer  15  Proz.,  in  den  übrigen  Orten  30  Proz.;  vom  restlichen 
sogenannten  reinen  Zinsertrag  wird  die  Steuer  in  den  erstgenannten  Orten, 
dann  in  Innsbruck  und  Wüten  mit  2ßVs  Proz.,  in  den  übrigen  Orten  mit 
20  Proz.,  in  Tirol  und  Vorarlberg  mit  15  Proz.  bemessen. 

Da  die  Abzugsrpiote  mit  den  wirklichen  Erhaltungs-  und  Verwaltungs- 
kosten der  Häuser  in  gar  keinem  Zusammenhänge  steht,  bildet  sie  mit  ihrem 
festen  Satze  nichts  anderes,  als  eine  Reduktion  der  Bruttoeinnahme  als 
Besteuerungsgrundlage;  man  wird  die  Sache  richtiger  beurteileu,  wenn 
man  annimmt,  daß  die  Bemessung  von  der  Br  u tto  zinseinnahme  erfolgt 
und  die  Steuersätze  nur  22*/,  Proz.,  14  Proz.  lind  I I)1/,  Proz.  betragen. 
Davon  ist  jetzt  der  Nachlaß  mit  121/.  Proz.  = ’/„  der  Steuer  abzurechnen. 

Zu  dieser  an  und  für  sich  schon  exorbitant  hohen  Steuer,  die  unter 
den  direkten  Steuern  in  der  Welt  nicht  ihres  Gleichen  hat.  kommen  nun  noch 
die  Zuschläge  oder  Umlagen  der  verschiedenen  Selbstverwaltuugskörper, 
die  von  Land  zu  Land,  von  Bezirk  zu  Bezirk,  von  Gemeinde  zu  Gemeinde 
äußerst  verschieden  sind.  Bis  vor  kurzem  konnte  man  sich  gar  keine  Vor- 
stellung machen,  in  welchem  Maße  die  Bevölkerung  durch  die  Kosten  der 
Selbstverwaltung  belastet  wird,  denn  die  auch  noch  nicht  lange  erscheinen- 
den Tabellen  der  k.  k.  statistischen  Zentralkommission  über  die  Finanzen  der 


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Di®  Reform  der  örtert.  Haufzinfstener. 


287 


autonomen  Verwaltung  beschränkten  sich  rücksichtlieh  der  Bezirke  und 
Gemeinden  auf  die  Angabe,  in  wie  vielen  dieser  Körper  Zuschläge  Ton  ge- 
wisser Höhe  eingefordert  wnrdeu.  Umsomehr  mtlssen  wir  dem  Finanz- 
ministerium dafür  dankbar  sein,  daß  es  in  seinen  .Mitteilungen*  ein  reiehes 
ziffermäßiges  Material  publiziert.  Die  Ergebnisse  dieser  fleißigen  Zusammen- 
stellungen sind  geradezu  verblüffende,  ich  möchte  sogar  sagen  erschreckende: 
die  Gesamtsumme  (über  235-7  Mill.  Kronen)  der  Zuschläge  allein  zu  den 
direkten  Steuern  überstieg  im  Jahre  1900  bereits  die  Vorschreibung  an 
den  betreffenden  Staatssteuern  um  nahezu  6 Proz.!  Das  beängstigende 
dabei  ist  aber  insbesondere  das  rapide  Anwachsen  dieser  Zuschläge, 
welche  allein  in  den  vier  Jahren  von  1897  bis  1900  um  13'5  Proz.  seit  dem 
Jahre  1862  aber  um  4192  Proz.  gestiegen  sind.  Allein  die  Vorschreibung 
an  Zuschlägen  zur  Hauszinssteuer  und  zur  5 proz.  Steuer  von  zeit- 
lich steuerfreien  Gebäuden,  ist  seit  1898  bis  1900  von  ca.  66‘/s  Mill.  Kronen 
auf  nahezu  75  Mill.  Kronen,  also  um  81/»  Mill.  Kronen  gestiegen. 

Das  sind  aber  nur  die  Gesamtzahlen,  im  Einzelnen  sieht  es  teilweise 
noch  viel  schlimmer  aus.  Die  Landeszuschläge  zur  Hauszins- 
steuer bewegten  sich  1900  von  17  bis  82  Proz.;  in  11  Ländern  wurden 
über  40  Proz.,  in  8 Ländern  50  und  mehl-  Prozente  eingehoben. 

In  jenen  Ländern,  wo  D e z irk s v er t r e t u n ge  n bestehen,  werden 
für  deren  Zwecke  auch  bis  zu  50  und  60  Proz.  an  Umlagen  eingehoben. 

Besonders  rasch  steigen  die  Gemeindezuschläge  zur  Hauszinssteuer. 

Es  hoben  ein: 

1888  au  Zuschlägen  bis  20  Proz. : 11.779  Gemeinden, 

, , über  20  Proz.:  10.600  Gemeinden,  darunter 

, . über  100  Proz.:  702  Gemeinden. 

1900  . . bis  20  Proz.:  5.792  Gemeinden, 

, . über  20  Proz.:  15.983  Gemeinden,  darunter 

. , über  100  Proz.:  1.183  Gemeinden. 

Im  letzteren  Jahre  gab  es  schon  4 Gemeinden  mit  über  800  Proz., 
worunter  2 mit  über  1000  Proz. 

Auch  zur  5 proz.  Steuer  kommen  schon  Zuschläge  bis  über  300  Proz. 
vor.  Zudem  weisen  die  „Mitteilungen*  aber  auch  noch  .Andere  Konkurrenz- 
beiträge* aus,  die  in  617  Gemeinden  bis  über  200  Proz.  ausmacheu. 

Die  höchsten  Umlageziffern  kommen  wohl  hauptsächlich  bei  kleineren 
Gemeinden  vor:  aber  auch  Städte,  die  der  hohen  Hauszinssteuer  unterliegen, 
haben  zum  Teil  horrende  Zuschlagsprozente,  so 

Salzburg  im  ganzen  138  Proz.,  dazu  5 Zinskreuzer; 

Troppau  , , 99-4  Proz.,  „6  . 

Zara  , „ 110  Proz. 

Linz  , , 91  Proz.  und  2 — 7 Zinskreuzer. 

lu  Salzburg  hat  also  der  Hausbesitzer  mit  Berücksichtigung  des 
Nachlasses  51  Proz.  seiuer  B r u t to zinseinnahme  an  öffentlichen  Abgaben  zu 
zahlen,  ohne  daß  die  den  Mieter  treffenden  Zinskreuzer  berücksichtigt  sind. 

20* 


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288 


Myrhnch-Rheinfeld. 


Unter  den  größeren  Städten  hat  außer  Innsbruck  und  Triest  Wien 
die  niedrigsten  Zuschläge,  nämlich  25  und  25  Proz.,  zu  zahlen,  so  daß  da 
die  Oesamtsteuer  ohne  Zinskreuzer  per  8 V4  Prozi  nach  Herflcksichtignng  des 
Nachlasses  31  Proz..  also  schon  nahezu  ein  Drittel! 

Betrachten  wir  nun  die  Gesamtleistung  an  öffentlichen  Abgaben 
von  den  grundsätzlich  der  Hauszinssteuer  unterliegenden  Gebäuden,  so  be- 
trug dieselbe  1900: 

an  Hauszinssteuer  nach  Abrechnung  des  12'/i  proz.  Nachlasses,  dann 
der  Abschreibungen  wegen  Leersteh ung  und  Demolierung  62-8  Hill.  Kronen 
und  an  5 Proz.  Steuer  von  den  zeitlich  befreiten  Gebäu- 
den unter  Berücksichtigung  der  Abschreibungen  ...  5' 7 Will.  Kronen 

zusammen  an  Staatssteuer  68  5 Will.  Kronen 
ferner  an  Zuschlägen  zu  beiden  Steuergattungen  74  0 Mill.  Kronen 

Gesamtsumme  143-4  Mill.  Kronen 
Das  gibt,  verglichen  mit  der  Gesamtsumme  der  zur  Steuerbemessung 
ermittelten  Bruttozinserträguisse  von  524  2 Mill.  Kronen  eine  Quote  von 
27-3  Proz.  Also  Über  ein  Viertel  ihrer  rohen  Einnahmen  müssen  die  Haus- 
besitzer in  ihrer  Gesamtheit  steuern.  Würde  die  5proz.  Steuer  in  die  Berechnung 
nicht  einbezogen,  dann  würde  die  Quote  noch  bedeutend  höher  ausfallen. 

Damit  sind  aber  die  Lasten,  welche  die  Hausbesitzer  zu  tragen  haben, 
noch  keineswegs  erschöpft.  Ich  sehe  ah  von  den  Zinskreuzern,  welche  die 
Mieter  tragen  sollen,  und  die  offenbar  in  der  erwähnten  Summe  von  524  2 Mill. 
nicht  enthalten  sind,  ich  sehe  auch  ah  von  den  verschiedenen  sonstigen  Ver- 
pflichtungen gegenüber  den  Gemeinden,  die  nicht  in  die  Kategorie  der  Zu- 
schläge gehören,  ich  muß  aber  einer  empfindlichen  Last  gedenken,  welche 
die  Personalsteuergesetzgcbung  von  18116  den  verschuldeten  Hausbesitzei  u, 
deren  es  doch  gewiß  nicht  wenige  gibt,  gebracht  hat 

Bekanntlich  muß  sich  jeder  Kealitätenbesitzer.  der  ein  Hypothekar- 
darlehen aufnimmt.  vertragsmäßig  verpflichten,  dem  Gläubiger  alle  jene 
Steuern  und  Abgaben  zu  vergüten,  welche  letzterem  von  den  Darlehenszinsen 
vorgeschriebeu  werden.  Das  hatte  früher  nur  bei  solchen  Darlehen  Bedeu- 
tung, die  auf  steuerfreien  Liegenschaften  hypotheziert  waren.  Das  Gesetz 
von  1896  unterwirft  aber  der  Rentensteuerptlicht  auch  jene  Darlehens- 
zinsen, die  bereits  beim  Schuldner  dadurch  getroffen  sind,  daß  sie  von 
der  Besteuerungsgrundlage  nicht  abgezogen  werden  dürfen. 

Der  Schuldner  muß  also  neben  der  Steuer  vom  vollen  Bruttoertrag 
seines  Objektes  auch  noch  die  dem  Gläubiger  vorgeschriebene  2proz.  Keuten- 
steuer  nebst  allen  Fondszuschlägen  aus  seinen  Mitteln  tragen,  uud  das 
ist  keine  geringe  Last.  Ist  die  Nichtubzugsfahigkeit  der  Schuldzinsen  im 
Prinzip  der  Ertragsbesteuerung  vollkommen  begründet,  so  ist  andererseits 
die  Einforderung  einer  Reutensteuer  von  denselben  Zinsen  beim  Gläubiger 
ein  eklatanter  Fall  einer  fehlerhaften  Doppelbesteuerung. 

Die  größte  Anomalie  liegt  aber  darin,  daß  solcherweise  der  schuldende 
Hausbesitzer  oft  einem  Lande  und  einer  Gemeinde  tributär  wird,  mit  welcher 
er  weiter  absolut  nichts  zu  tun  hat,  als  daß  doit,  sein  Gläubiger  domiziliert 


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I'it  Kefomt  der  Osterr.  Hauszinssteoer.  289 

Die  ganz  enorme  Belastung  des  Hausbesitzeg  mit  öffentlichen  Abgaben 
stebt  somit  außer  aller  Frage. 

Eine  Steuer  uud  ihre  Wirkungen  können  erst  dann  richtig  beurteilt 
werden,  wenn  man  darüber  Klarheit  erlange  hat,  wer  sie  trägt.  Indem 
wir  uusere  Hauszinssteuer  aus  diesem  Gesichtspunkt  prüfen,  werden  wir 
auch  erfahren,  inwiefern  sie  überhaupt  in  Wirklichkeit  eine  Ertrags- 
steuer ist 

Die  zahlreichen  Emanationen  der  Hausherrenvereine  weisen  allerdings 
auch  auf  die  Verteuerung  der  Mietobjekte  durch  die  Steuer  hin,  sie 
schildern  die  Sache  aber  doch  so,  als  ob  die  Hausbesitzer  diejenigen 
wären,  welche  unter  ihrer  Last  hauptsächlich  leiden.  Man  möge  es  mir 
nicht  verübeln,  wenn  ich  mir  erlaube,  die  vom  Standpunkt  der  Haus- 
besitzer vorgebrachten  Klagen,  meiner  Oberzeugung  gemäß,  als  übertrieben 
zu  bezeichnen. 

Ich  habe  sch  in  zugestanden,  daß  die  Hausbesitzer  durch  verschiedene 
Vernaltungseinrichtnngen  sehr  stark  und  in  unangenehmerWeise  in  Anspruch 
genommen  sind,  es  steht  auch  außer  Zweifel,  daß  sie  eine  sehr  schwere 
Steuerlast  zu  tragen  haben,  das  letztere  Schicksal  teilen  sie  aber  mit  allen 
Bürgern  des  österreichischen  Staates.  Was  ich  leugne  ist,  daß  der  Haus- 
besitzer wesentlich  mehr  belastet  ist,  als  die  Angehörigen  der  übrigen 
crwerbeuden  Klassen.  Er  ist  es  deshalb  nicht,  weil  er  nicht  höher  belastet 
sein  kann. 

Es  gibt  ein  sog.  Gesetz  in  der  Volkswirtschaft,  das  als  jenes  der 
Gewinnausgleichu  ug  zu  bezeichnen  ist  und  welches  überall  seine 
Wirkung  äußert,  wo  eine  Konkurrenz  stattfinden  kann.  Nun  ist  es  zweifel- 
los, daß  das  Kapital,  welches  rentenmäßige  Anlage  sucht,  hei  den  ver- 
schiedenen Anlagearten  konkurriert,  so  daß  dorthin,  wo  gute  Erträgnisse 
winken,  viel  Kapital  zufließt  und  die  Erträgnisse  lierahdrückt,  dagegen  kein 
Zufluß,  wo  möglich  ein  Abströmeu.  von  jenen  Anlagearten  stattfindet,  wo  die 
Erträgnisse  klein  sind,  so  daß  da  wieder  ein  Steigen  der  Erträgnisse 
eintreten  muß.  Wie  der  börsenmäßige  Eftektenverkehr  bewirkt,  daß  in 
einem  bestimmten  Moment  alle  Effekten,  welche  gleich  sichere  Anlage 
bieten,  auch  einen  gleichen  prozentuellen  Gewinn  bringen,  so  verhält  es 
sich  im  großen  auf  dem  allgemeinen  Kapitalsmarkt,  das  Erträgnis  aller 
Anlagen  von  gleicher  Sicherheit  muß  sich  beiläufig  auf  ein  gleichmäßiges 
Niveau  stellen.  Das  muß  auch  von  den  Hauserträgnisseu  gelten,  denu  die 
Miethäuser  bilden  eine  rein  rentenmäßige  Anlage  von  Kapital. 

Es  wird  nun  behauptet,  daß  Häuser  sich  nur  mit  2 — 3 Proz.  ver- 
zinsen und  daß  infolge  der  hohen  Besteuerung  die  Bautätigkeit  gänzlich 
stagniere.  Das  letztere  müßte  auch  die  unausbleibliche  Folge  seiu,  wenn 
das  in  Gebäuden  angelegte  Kapital  sich  schlechter  verzinsen  würde  als  das 
sonstig  angelegte  nnd  die  Stagnation  müßte  solange  dauern,  bis  das  Miß- 
verhältnis ausgeglichen  ist. 

Betrachten  wir  nun,  was  für  eine  Bewandtnis  es  mit  diesen  beiden 
Argumenten  hat. 


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290 


M/rbarli-KheiiifelH. 


Die  gleiche  Klage  Aber  geringe  Verzinsung  hört  man  auch  immer 
von  den  Besitzen!  landwirtschaftlicher  Güter.  Es  würde  somit  der  unbeweg- 
liche Besitz  überhaupt  die  gleichen  niedrigen  Erträgnisse  abwerfeu.  Es  ist 
nun  unmöglich  festzustellen,  wie  groß  die  wirklichen  Erträgnisse  aus  diesen 
Anlagen  sind,  beziehungsweise  nach  welchen  Grundsätzen  dieselben  von 
den  Besitzern  ermittelt  werden.  Kommt  es  doch  z.  B.  oft  vor,  daß  Land- 
wirte das,  was  sie  im  eigenen  Haushalt  verzehren,  gar  nicht  zum  Erträgnis 
rechnen.  In  vereinzelten  Fällen  weiß  man,  daß  Zinshäuser  5 und  6 I’roz. 
Reinertrag  abwerfen.  Das  würde  aber  allerdings  für  die  Gesamtlage  nichts 
beweisen. 

Man  muß  aber  fragen:  welche  Verzinsung  erwarten  die  Kapitalisten 
von  Zinshäusern?  Da  hört  man  eben  auch  wieder:  ja  Häuser  tragen  nicht 
mehr  als  3 Proz.,  man  kann  nicht  mehr  erwarten;  und  darnach  werden  sie 
vielfach  zu  Kapital  bewertet.  Ein  Beispiel  für  viele:  In  der  nächsten  Nähe 
meiner  Wohnung  befindet  sich  ein  Haus,  das  noch  6 Jahre  steuerfrei  sein 
dürfte  und  bei  ziemlich  hoch  gespannten  Zinsen  4000  Kronen  Brattozins  ein- 
trägt. Unter  Berücksichtigung  der  Erhaltungskosten  und  der  Abgaben  berechne 
ich  den  Reinertrag  nach  Eintritt  der  vollen  Steuerpflicht  mit  etwas  über 
2600  Kronen,  die  vorläufige  Steuerersparnis  mit  ca.  4300  Kronen  und  so  gelange 
ich  bei  Zugrundelegung  einer  4 proz.  Verzinsung  zu  einem  Kapitalswert 
von  etwas  über  70.000  Kronen.  Den  jetzigen  Eigentümer  hat  das  Haus  nicht 
so  viel  gekostet,  so  daß  er  eine  mehr  als  4 proz.  Verzinsung  hatte.  Nun 
werden  für  dieses  Haus  bis  zu  90.000  Kronen  geboten,  d.  h.  dem  Käufer  wird 
das  Haus  nur  3-1  Proz.  tragen!  Wer  ist  nun  schuld  an  der  niedrigen 
Verzinsung?  Doch  niemand  anderer  als  der  Käufer,  der  dafür  ein  so 
großes  Kapital  aufwendet.  Dieser  Fall  steht  nun  keineswegs  vereinzelt  da. 
er  entspricht  nur  dem  allgemeinen  Zuge,  der  dahin  geht,  rententragende 
Immobilien  hoch  zu  schätzen.  Man  haut  und  man  kauft  Häuser  mit  einem 
solchen  Aufwande  an  Mitteln,  daß  das  Erträgnis  perzentuell  nur  ein  kleines 
sein  kann.  Gewiß  ist  aber  der  weitaus  größte  Teil  der  zinstragenden 
Häuser  seit  jener  Zeit,  wo  die  hohe  Hauszinssteuer  besteht,  gebaut  worden 
oder  im  Kaufwege  in  andern  Besitz  übergegangen.  Die  Mehrzahl  der 
Hausbesitzer  trägt  somit  die  Schuld  an  der  niedrigen  Verzinsung,  denn  die 
Erträgnisse  (Mietzinsei  sind  absolut  genommen,  stetig  gestiegen;  relativ 
sind  sie  gesunken,  weil  die  nutzbringenden  Objekte  eine  progressiv  steigende 
Bewertung  erfahren  haben. 

Diese  hohe  Bewertung  erklärt  Bich  zum  größten  Teil  aus  dem  Gefühl 
größerer  Sicherheit  der  Anlage  und  aus  der  noch  immer  bestehenden  höheren 
gesellschaftlichen  Achtung,  die  dem  Besitzer  von  Grand  und  Boden  ent- 
gegengebracht wird.  Der  Erwerbung  von  Immobilien  wendet  sich  aus  diesen 
Gründen  sehr  viel  Kapital  unter  Verzicht  auf  die  sonst  erhältlichen  höheren 
Zinsen  zu:  man  baut  und  kauft  nun  fast  allgemein  auf  Grundlage  der 
niederen  Verzinsung.  Wen  dazu  nicht  eigene  Überlegung  veranlaßt,  der 
folgt  dem  Nachahmungstrieb,  diesem  wichtigen  Faktor  im  wirtschaftlichen 
Leben. 


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Die  Reform  der  österr.  Hauezin  »Steuer. 


2'J1 


Würde  die  erreichbare  Verzinsung  als  unzureichend  befunden,  dann 
müßte  die  Erwerbung  bestehender,  besonders  aber  die  Erbauung  ueuer 
Häuser  unterbleiben.  Ist  es  nun  wahr,  daß  nicht  gebaut  wird!-  In  dieser 
Beziehung  kann  ich  Ziffern  sprechen  lassen. 

Die  Gesamtzahl  der  zinssteuerpflichtigen  Häuser  im 
ganzen  Keiche  hat  sich  in  der  kurzen  Zeit  von  1895  bis  1900  ver- 
mehrt von  535.865  auf  576.559,  also  um  10.694  oder  zirka  7 Proz. 
Von  diesem  Zuwachs  entfallen  aber  alleiu  auf  die  der  36*/,  Proz.  Steuer 
unterliegenden  Städte  und  Orte  11.833  Gebäude  oder  18-81  Proz. 

Daß  die  Bautätigkeit  in  jenen  Orten,  wo  die  Bedingungen  dazu  vor- 
handen sind,  nicht  nur  nicht  stagniert,  sondern  vielmehr  eine  sehr  lebhafte 
ist,  geht  auch  aus  den  Daten  der  einzelnen  Orte  hervor,  aus  welchen  ich 
nur  einige  wenige  hervorheben  will.  In  dem  Dezennium  von  1890  bis  1900 
vermehrte  sich  die  Zahl  der  bewohnten  Häuser: 
in  Wien  um  8826.  d.  i.  13-47  Proz., 
in  Wiener-Neustadt  um  23-15  Proz., 
im  ganzen  Bezirke  Baden  um  16-56  Proz., 
in  Linz  um  15-94  Proz., 
in  Salzburg  um  25-26  Proz., 
in  Graz  um  15  69  Proz.. 
in  Marburg  um  21  Proz., 
in  Klagenfurt  um  13-33  Proz.. 
in  Laibach  um  19  36  Proz., 
in  Bräun  um  14'38  Proz., 
in  Troppau  um  13-66  Proz., 
in  Bielitz  um  15  Proz., 
in  Czernowitz  um  18-3  Proz., 
in  Krakau  um  26-96  Proz., 
in  Lemberg  gar  um  31-82  Proz. 

Dabei  ist  aber  noch  zu  berücksichtigen,  daß  die  alten  städtischen 
Territorien  zum  Teil  schon  ganz  verbaut  sind  und  sich  somit  die  Bautätig- 
keit in  den  benachbarten  Gemeinden  entfaltet.  So  hatte  die  Stadt 
Prag  nur  einen  Zuwachs  von  374  Häusern  oder  9'12  Proz.,  mit  Hinzu- 
rechnung der  Vororte  aber  einen  Zuwachs  von  2910  Häusern  oder  19  4 Proz., 
wozu  Zizkow  allein  mit  57  Proz.  beitrug:  die  Stadt  Brünn  nebst  dem  ganzen 
Gerichtsbezirk  hatte  einen  Zuwachs  von  21 '24  Proz.  ßeichenberg  mit 
seinem  Gerichtsbezirk  hatte  einen  Zuwachs  von  8 88  Proz..  was  ich  deshalb 
besonders  erwähne,  weil  der  dortige  Hausherrnverein  das  gänzliche  Versiegen 
der  Bautätigkeit  in  Nordbölimen  stark  betonte. 

Kiicksichtlich  Tirols  stehen  mir  noch  lehrreichere  Daten  zur  Ver- 
fügung. 

In  Innsbruck  und  Wilten,  welche  rücksichtlich  der  Besiedlung 
zusainmengefalit  werden  müssen,  hat  sich  seit  dem  Jahre  nach  der  Ein- 
führung der  Gebäudesteuer,  d.  i.  seit  1883.  bis  1902  die  Zahl  der  Steuer 
pflichtigen  Häuser  von  946  auf  1798  erhobt,  also  in  diesen  19  Jahren  um 


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292 


Mjrrba. b ßhcinfeld. 


circa  90  Proz.  zugenomuien.  In  Meran  und  Untermal«  stieg  sie  von  155 
auf  860.  Das  auffallendste  Verhältnis  finde  ich  in  Vorarlberg,  wo  die 
Zahl  aller  zinssteuerpflicbtigen  Häuser  des  ganzen  Landes  in  derselben 
Epoche  um  55'63  Proz.  gestiegen  ist 

Aber  auch  in  den  Industriegebieten  Böhmens  weisen  die  ganzeu  poli- 
tischen Bezirke  Zuwächse  von  7 — 10  Proz.  in  den  zehn  Jahren  von  1890 
bis  1900  auf. 

Ein  treues  Bild  der  baulichen  Entwicklung  geben  aber  auch  diese 
Zahlen  noch  nicht,  denn  die  neu  hinzukommenden  Häuser  sind  ja,  wenigstens 
in  den  größeren  Orten,  meist  viel  umfangreicher  als  jene  des  alten  Bestandes 
und  auch  die  Umbauten  lassen  gewöhnlich  viel  größere  Häuser  entstehen, 
als  die  demolierten  waren.  Und  wie  oft  wird  an  Stelle  mehrerer  kleiner 
niedergerissener  Häuschen  ein  großer  Zinspalast  aufgeffihrt!  Würde  man 
diese  Umstände  statistisch  erfassen,  dann  würde  es  noch  viel  klarer  zu 
Tage  treten,  daß  trotz  der  enormen  Steuerlast  überall  dort,  wo  Aufschwung 
besteht,  auch  die  Bautätigkeit  eine  ganz  bedeutende  ist. 

Ich  frage  nun,  oh  so  viel  gebaut  werden  würde,  wenn  die  Erbauer 
der  Häuser  wirklich  nur  eine  so  kümmerliche  Kente  von  dem  auzulegenden 
Kapital  erwarten  dürften?  Und  dabei  darf  auch  nicht  übersehen  werden, 
daß  die  Neubauten  fast  durchwegs  mit  steigendem  Komfort,  ja  Luxus  aus- 
gestattet sind,  was  die  Baukosten  ganz  namhaft  erhöht. 

Man  darf  ja  wohl  annehmen,  daß  Einzelne  sich  durch  die  zeitliche 
sogenannte  Steuerbefreiung  irreführen  lassen,  aber  es  kann  doch  eben  nur 
Einzelnen  zugemutet  werden,  daß  sie  so  schlechte  Rechner  sind.  Wird  doch 
anderseits  behauptet,  daß,  z.  B.  in  Lemberg  zahlreiche  Häuser  so  gebaut 
werden,  daß  sie  gerade  nur  die  Periode  der  Steuerfreiheit  überdauern  und 
sich  in  dieser  Zeit  vollständig  bezahlt  machen. 

Ich  halte  mich  also  für  berechtigt  zu  der  Schlußfolgerung,  daß  das 
in  Häuseru  angelegte  Kapital  jene  Verzinsung  finden 
muß,  die  man  überhaupt  von  der  Anlage  in  Immobilien 
erwartet  und  diese  kann  nicht  sehr  viel  niedriger  sein,  als  die  bei 
anders  gearteter  Kapitalsanlage  erzielbare  Kente. 

Das  hat  aber  zur  Voraussetzung,  daß  die  Hausbesitzer  von  den  Haus- 
renteu  auch  keine  namhaft  höhere  Abgaben  zu  tragen  haben,  als  jene 
Kapitalisten,  die  andere  Kenten  beziehen. 

Da  nun  die  nominelle  tiebäudesteuer  ganz  bedeutend  höher  ist,  als 
die  sonstigen,  die  Kenten  belastenden  Steuern,  so  müssen  die  Hausbesitzer 
für  den  Überschuß  schadlos  gehalton  werden  in  höheren  Mietzinseinnahmen, 
mit  anderen  Worten:  dieser  ganze  Überschuß  an  Steuer  samt  Umlagen  wird 
auf  die  Mieter  überwälzt. 

Es  ist  aber  keine  einfache  Überwälzung,  denn  bei  unserer  Steuer, 
die  nach  dem  Preise  der  Ware,  d.  i.  nach  den  Mietobjekten  bemessen  wird, 
kommt  hinzu,  daß  jede  Überwälzung  der  Steuer  wieder  zu  einer  Erhöhung 
der  letzteren  führt,  daß  diese  Erhöhung  wieder  eine  Überwälzung,  d.  h. 
Erhöhung  der  Mietzinse  veranlaßt  und  so  fort  ad  infinitum. 


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hie  Reform  der  foterr.  Hau&rinssteuer. 


SäiW 


Wie  grüß  die  Quote  der  Steuer  ist,  welche  der  Hausbesitzer  zu  tragen 
hat,  wie  viel  somit  auf  die  Mieter  überwälzt  wird,  das  ist  bei  unserem  jetzt 
so  komplizierten  Ertragsteuersystem  unmöglich  mit  Sicherheit  anzugeben. 
Dieses  System  umfaßt  so  vielerlei  Steuersätze,  die  zum  Teil  nicht  einmal 
in  einem  bestimmten  Verhältnis  zum  Erträgnis  ausgedrückt  sind,  daß  mau 
uicht  sagen  kann,  von  Vermögensnutzungen  sei  im  allgemeinen  diese  oder 
jene  Quote  an  den  Staat  und  an  die  Selbstverwaltungskörper  abzugeben. 
Wenn  man  demnach  gezwungen  ist.  eine  Berechnung  aufznstellen,  ist  man 
also  auf  eine,  ich  möchte  sagen,  geföhlsmäßige  Annahme  angewiesen. 

Ich  kann  mir  aber  bei  dem  folgenden  ohne  eiue,  wenn  auch  nur  ganz 
rohe  Berechnung  nicht  helielfen  und  will  zu  diesem  Zweck  eine  Quote 
annehmen,  die  mir  auch  eine  ziemlich  geeignete  Grundlage  für  die  anzu- 
bahuende  liefern)  zu  geben  scheint  Ich  gehe  also  davon  aus,  daß  die 
Hausbesitzer  von  ihren  Haus  reuten  5 Proz.  an  den  Staat  und  eben 
so  viel  an  die  Selbstverwaltungskörper  abzugeben  haben,  der  Rest  über  diese 
10  Proz.  ist  dann  als  Qberwälzt  anzusehen,  d.  h.  um  ihn  sind  die  Miet- 
zinse höher,  als  wenn  die  Steuer  samt  Zuschlägen  auf  die  erwähnten 
10  Proz.  beschränkt  sein  würde. 

Ich  will  zuerst  ein  Haus  in  Wien  als  Beispiel  wählen. 

Von  einer  Bruttozinseinnahme  per 1000 

sind  zu  zahlen  an  den  Staat 226*67 

weniger  den  12'/,proz.  Nachlaß 28*33 

die  Zuschläge  betragen 88*40 


zusammen  an  Abgaben 286*74 

Die  Erhaltungs-  und  Verwaltungskosteu  nehme  ich  an  mit  . . 150*  — 

Es  verbleibt  somit  eine  reine  Rente  von 563*26 


Will  ich  nun  berechnen,  wie  groß  die  Bruttoeinnahme,  also  die 
Summe  der  Mietzinse  bei  gleicher  Hausrente  und  ungeänderten  Erhaltungs- 
kosten sein  würde,  wenn  die  Abgaben  nur  10  Proz.  der  Bruttoeinnahme 
betragen  würden,  dann  erhalte  ich  folgenden  Ansatz,  wobei  ich  das  Erfordernis 
an  Bruttozins  mit  x bezeichne: 


x = 563  + 150  + 


10  i 
100 


90  x = 71.300  = x = 792 


Nur  diesen  Zins  hätten  somit  die  Mieter  zu  zahlen. 


Sie  zahlen  somit  tatsächlich  inehr  um  203  pro  Mille,  das  ist  ein 
Fünftel. 

Viel  größer  gestaltet  sich  diese  überwälzte  Quote  in  jenen 
Orten  der  ersten  Kategorie,  welche  höhere  Zuschläge  haben,  sic  kann  auf 
die  Hälfte  und  höher  steigen,  ja  sich  verdoppeln  (wie  es  für  Salzburg 
zutrifft)  und  selbst  vervielfachen. 

Ich  will  nun  auf  derselben  Grundlage  berechnen,  um  wie  viel  die 
gesamten  Mietzinse  im  ganzen  Reich  durch  die  Hauszinssteuer 
mit  Zugehör  verteuert  werden  und  ziehe  dabei  auch  die  sogenannten  zeit- 


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Mjrrbach*  Rheinfeld. 


294 


lieh  steuerfreien  Häuser  in  Betracht,  wodurch  das  Ergebnis  namhaft  lierab- 
gedrflekt  wird. 

Die  ganze  richtiggestellte  Bemessungsgrundlage,  also  die  Gesamt- 


summe der  Zinse  betrug  im  Jahre  1900  524-2  Mill.  Kronen 

die  gesamte  Hauszinssteuer  nach  Abrechnung  der  Nach- 
lässe und  Abschreibungen  einschlieOlich  der  5proz.  Steuer  (>8'5  Mill.  Kronen 

die  sämtlicher  Zuschläge  74'9  Mill.  Kronen 

Die  wirklich  bestrittenen  Kosten  nehme  ich  an  mit  80  Mill.  Kronen 

Somit  bleibt  an  Hausrente 000  8 Mill.  Kronen. 

Bei  blot!  lOproz.  Besteuerung  erhalte  ich: 


10  x 

x — 3008  -f  80  + j())(  = 423’ 1 Mill.  Kronen. 

Die  durch  die  Steuer  Aber  10  Proz.  verursachte  Belastung  beläuft 


sich  somit  auf  rund 100  Mill.  Kronen 

daran  partizipiert  der  Staat  mit 47-7  Mill.  Kronen 

und  die  Selbstverwaltungskörper  mit 523  Mill.  Kronen. 


Eine  Bestätigung  dieser  Wirkung  der  Hauszinssteuer  sehe  ich  auch 
in  dem  Umstande,  dali  in  Tirol  und  Vorarlberg,  wo,  wie  erwähnt,  die 
Gebäudesteuer  erst  im  Jahre  1882  eingeföhrt  worden  ist,  die  Höhe  der 
Mietzinse  sich  in  viel  stärkerem  Verhältnis  erhöht  hat.  als  die  Zahl  der 
steuerpflichtigen  Gebäude. 

ln  Innsbruck  samt  Wüten  stieg  von  1883  auf  1902  die 
Häuserzahl  um  90  Proz.,  die  Mietzinse  um  151  Proz.; 

in  Meran  und  Untermais  die  Häuser  um  91  Proz.,  die  Zinse 
um  194  Proz,; 

in  Kufstein  die  Häuser  um  24  Proz.,  die  Zinse  um  149  Proz.; 
iu  Kiva  die  Häuser  um  19  Proz.,  die  Zinse  um  44  Proz.; 
in  ganz  Tirol  die  Häuser  um  39  Proz..  die  Ziuse  um  123  Proz.; 
in  ganz  Vorarlberg  die  Häuser  um  55*/,  Proz.,  die  Zinse  um 
114  Proz. 

Dali  die  Mietzinse  rascher  steigen  als  die  Zahl  der  Häuser  ist  aller- 
dings eiue  fast  allgemeine  Erscheinung,  von  der  Wien  eine  Ausnahme  macht. 
Aber  es  zeigt  sich  da  ein  eigentümliches  Verhältnis. 

Im  ganzen  Bei  che  haben  sich  von  1895  auf  1900  die  steuer- 
pflichtigen Häuser  vermehrt  um  7-6  Proz.,  die  Zinse  um  191  Proz. 

Diese  verhältnisuiäliige  Steigerung  betrifft  aber  nur  zum  kleineu  Teile 
die  grollen  Orte,  denn  in  jenen,  welche  der  26*/»proz.  Steuer  unterliegen. 


ist  die  Zahl  der  Häuser  gestiegen  um 18-8  Proz. 

die  Summe  der  Mietzinse  aber  nur  um 19-6  Proz. 

Dagegen  wuchs  in  den  ganz  liausiinssteuerpflicbtigen  Orten 

mit  20proz.  Steuer  die  Zahl  der  Häuser  um 0-07  Proz. 

die  Summe  der  Zinse  um 16-4  Proz. 

und  iu  den  übrigen  Orten  die  Zahl  der  Häuser  um  ....  0'14  Proz. 

die  Summe  der  Mietzinse  um 24  21  Proz. 


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I*ie  Reform  >lttr  öiterr.  Iiiuszin*»teiu-r. 


295 


Wir  fitideu  somit  eine  sehr  starke  relative  Steigerung  der  Zinse  haupt- 
sächlich in  den  kleinsten  Orten.  Ich  glaube,  daß  sich  hierin  die  Wirkung 
der  gerade  in  diesen  Orten  so  rapid  zunehmenden  Gemeindezuschläge 
erkennen  läßt.  Keine  dieser  Zifferngruppen  zeigt  uns  aber  eine  so  starke 
relative  Zunahme  der  Zinse  wie  jene  der  Länder,  wo  die  Steuer  neu  eiu- 
geführt  wurde. 

Hei  all  dem  ist  die  weitere  Belastung  der  Mietobjekte  durch  die 
„Zinskreuzer'  noch  gar  nicht  berücksichtigt. 

Richard  Harkup  schätzte  in  seinem  Referate  auf  dem  St.  Pöltener 
Städtetage  von  1901  die  Verteuerung  der  Wohnungen  auf  70 — 90  Proz. 
Dies  trifft  fßr  einzelne  Orte  mit  besonders  hohen  Umlagen  gewiß  zu.  über- 
schreitet  aber  sicher  weitaus  den  Durchschnitt. 

Ich  glaube  aber,  daß  eine  durchschnittliche  Verteuerung 
aller  Wohnungen  der  in  Miete  wohnenden  Bevölkerung 
um  ein  Fünftel  schon  genügenden  Anlaß  gibt,  um  gegen 
eine  Steuer,  welche  eine  solche  Wirkung  übt,  mit  allem 
Nachdruck  aufzutreten. 

Die  Hauszinssteuer  mit  ihrem  ganzen  Anhänge  von  Zuschlägen  ist 
zweifellos  zum  weitaus  überwiegenden  Teile  eine  Wohn  st  euer,  zum 
kleinen  Teile  nur  eine  Ertragsteuer  von  den  Hausrenten. 

Das  Schlimme  daran  ist  nicht  die  Tatsache  an  sich,  daß  der  Wohnungs- 
aufwand zum  Gegenstände  der  Besteuerung  gemacht  wird.  Der  Wohnungs- 
aufwand kann  von  einer  gewissen  Hfihe  an  die  gesamte  Leistungsfähigkeit 
des  Wirtschaftsobjektes  klarer  zum  Ausdruck  bringen,  als  die  meisten  anderen 
Aufwandzweige  und  eine  nach  demselben  bemessene  Steuer  kann  vielleicht 
richtiger  wirken,  als  eine  mittelmäßig  veranlagt«  Einkommensteuer.  Ich 
halte  die  Besteuerung  nach  Maßgabe  des  Wohmingsaufwundes  geradezu  für 
eine  den  besten  möglichen  Steuern,  wenn  sie  auch,  wie  jede,  ihre  Schwä- 
chen hat. 

Was  aber  hei  unserer  Steuer  das  geradezu  verderbliche  ist,  das  ist 
der  traurige  Umstand,  daß  sie  wahllos  und  in  drückendster  Höhe  de» 
ganzen  Bevölkerungen  auferlegt  ist.  Sie  belastet  ein  absolut  notwendiges 
Lebenserfordemis  auch  dort,  wo  nur  der  äußerste  Notbedarf  gedeckt  werden 
kann  und  drängt  solche,  die  vermöge  ihrer  Mittel  sonst  noch  gerade 
menschenwürdig  und  gesund  wohnen  könnten,  in  die  traurigsten  Wohuvei- 
hältnisse. 

Die  Wohnungsfrage  bildet  heute  den  Gegenstand  so  vielfacher 
Untersuchungen  und  Erörterungen,  daß  es  gänzlich  überflüssig  wäre,  sie 
mit  einer  Schilderung  der  unendlich  traurigen  Erscheinungen,  welche  unzu- 
längliche Wohnungen  bei  den  unbemittelten  Volksschichten  herbeiführen, 
aufzuhalten.  Die  Wohnuugsfürsorge  ist  ja  allseitig  als  eine  der  dringendsten 
Aufgaben  moderner  Sozialpolitik  anerkannt  Anderwärts  wetteifern  alle  öffent- 
lichen Faktoren  und  die  private  Wohlfahrtspflege,  um  die  an  und  für  sich 
schon  viel  besseren  Wohnverhältnisse  zu  verbessern  und  auch  in  Österreich 
greift  eine  dahin  gerichtete  Bewegung  nnter  der  kräftigen  Führung  ihres 


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Mvrbach- Rheinfeld. 


verehrten  Vorstandes  un.  sich.  Aber  was  soll  diese  Bewegung  für  Erfolge 
haben,  wenn  die  öffentlichen  Gewalten  das  meiste  dazu  beitragen,  um  die 
Wohnungsverhältnisse  recht,  recht  sclilecht  zu  gestalten? 

Bei  dem  Bestände  der  jetzigen  Verhältnisse  ist  das  äußerste,  was  un 
sozialer  Hilfe  geleistet  werden  kann,  die  vorübergehende  Hinwegräumung 
unseres  Hauptübels,  der  Gebäudesteuer. 

.Zeitliche  Steuerbefreiung,“  also  Herstellung  jenes  Zustandes,  der 
sonst  ohnedies  besteht  und  bei  dem  die  sozialpolitische  Tätigkeit  erst  ein- 
zusetzen beginnt!  Das  kennzeichnet  am  besten  diese  unglückliche  Steuer, 
daß  man  an  eine  V e r w a 1 1 u u g s e i n r i c h t u n g z u er s t die  Axt  anzu- 
legen hat,  wenn  mau  Notleidenden  Hilfe  bringen  will.  Und  wenn  es  geschieht, 
wie  schwachmütig  geht  man  an  das  Werk!  Für  eine  beschränkte  Zeit,  für 
einen  eng  begrenzten  Berufskreis  oder  für  ein  eng  begrenztes  Territorium 
und  unter  drückenden,  beengenden  Bedingungen  wird  die  Begünstigung 
gewährt ; während  die  allgemein  geltende  zeitliche  Befreiung  oder 
richtiger  Ermäßigung,  eine  verfehlte  Maßregel  ist,  die  nur  geeignet  ist,  den 
Häuser-  und  Wohnungsmarkt  zu  beirren  und  ungesunde  Spekulationen  zu 
fördern. 

Ich  glaube  kaum,  mich  einer  Übertreibung  schuldig  zu  machen,  wenn 
ich  behaupte;  die  dringendste  sozialpolitische  Aufgabe  in 
Österreich  ist  die  Ile  form  der  Hauszinssteuer  im  Sinne 
einer  gründlichen  Heduktiou  der  Steuersätze,  nebst  einer 
nicht  minder  durchgreifenden  Regelung  der  Zuschläge 
zu  dieser  Steuer. 

Leider  hat  man  schon  viel  zu  lange  damit  gezögert  und  jedeB  Jahr 
weiter  erschwert  die  Durchführung. 

Ich  komme  nun  zur  Frage,  w i e die  Reform  durehzuführen  sei. 

Die  mir  bekannt  gewordenen,  von  anderer  Seite  berrfihrenden  Vor- 
schläge laufen  soweit  es  sich  um  die  Höhe  der  Steuer  handelt,  sämtlich 
darauf  hinaus,  daß  die  Hauszinssteuer  unter  Beseitigung  der  Verschiedenheit 
nach  Ürtskategorien,  einfach  auf  einen  entsprechend  niedrigen  Satz  reduziert 
werde.  Meist  wurde  der  Steuersatz  von  5 Proz.  genannt,  den  ich  ohne  weiters 
als  angemessen  annehmen  will.  Da  man  aber  wußte,  daß  die  Finanzverwaltung 
ohne  einen  einigermaßen  genügenden  Ersatz  auf  eine  solche  Einnahmenver- 
niiuderung  niemals  eingeheu  würde,  schlug  man  als  Deckungsmittel  für  den 
Ausfall  eine  Erhöhung  der  Personaleinkommensteuer  jener  Personen,  deren 
Einkommen  96.000  Kronen  übersteigt,  vor. 

Leider  haben  die  Proponenten,  wie  ich  annehmen  muß,  seinerzeit  ver- 
gessen, den  Reclieustift  in  die  Hand  zu  nehmen.  Sie  haben  sich  weder 
darüber  Rechenschaft  gegeben,  wie  groß  der  Ausfall  sein  würde,  noch  was 
die  Einkommensteuererhöhuug  einbringe»  könnte. 

Nach  meiner  früheren,  wenn  auch  ziemlich  rohen  Berechnung,  betrüge 
der  Ausfall  für  den  Staat  bei  -18  Mill.  Kronen,  während  anderseits  die  Ein- 
kommensteuer von  allen  schon  80.000  Kronen  übersteigenden  Einkommen  nur 
rund  11%  Mill.  Kronen  ausmachte.  Würde  man  also  die  Einkommensteuer 


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Pie  Reform  der  Raterr.  HanstinMtoner. 


207 


dieser  Klassen  selbst  verdoppeln  können.  dann  wäre  erst  der  vierte  Teil 
des  Ausfalles  gedeckt.  Um  die  ganze  entgehende  Summe  hereinzubringen, 
mußten  jedenfalls  gewaltige  Einnahmequellen  eröffnet  werden,  die  nicht  nur 
die  Reichsten,  sondern  die  ganzen  Bevölkerungen  in  Mitleidenschaft  ziehen 
mußten. 

Dabei  ist  es  den  Proponenten  entgangen,  daß  an  der  Hauszinssteuer 
Fondszuschläge  hängen,  welche  eine  noch  höhere  Summe  ansmachen 
als  die  Staatssteuer! 

Da  sich  nun  der  5 Proz.  Obersteigende  Betrag  an  staatlicher  Hauszins- 
steuer nicht  einfach  streichen  läßt,  wurde  ein  anderer,  höchst  beachtungs- 
werter Vorschlag  zur  Ermöglichung  der  Reduktion  gemacht,  und  zwar 
vom  Ingenieur  R i c h a rd  Harkup  in  dem  schon  erwähnten  St.  Pöltener 
Städtetag.  dann  vom  Reichsratsabgeordneten  Glöckner  in  den  nordböh- 
mischen Hausbesitzervereinen,  ein  Vorschlag,  den  neuestens  auch  der  Zentral- 
verband der  Wiener  Hansbesitzervereine  angenommen  hat  und  seinen  Aktionen 
zu  Grunde  legt. 

Nach  diesem  Vorschläge  soll  die  Deckung  des  Ausfalles  in  der 
Hauszinssteuer  selbst  gefunden  werden  beziehungsweise  in  ihrem 
natürlichen  Zuwachs.  .Der  gegenwärtige  Ertrag  der  Hauszinssteuer  soll 
kontingentiert  werden  und  der  Steuersatz  soll  in  dem  Maße,  als  im  Laufe 
der  folgenden  .Jahre  der  Ertrag  dieser  Steuer  wächst,  solange  herabgesetzt 
werden,  bis  der  Steuersatz  von  5 Proz.  erreicht  ist.*  Das  ist  der  Hauptpunkt 
des  jetzigen  Programms.  Es  wurde  angenommen,  daß  dieses  Ziel  in  18 
bis  25  Jahren  erreichbar  sei.  Die  Zuschläge  werden  auch  in  diesem 
Programm  außer  Betracht  gelassen. 

Gegen  die  einfache  Reduktion  des  Steuersatzes  habe  ich  nun  das  ge- 
wichtige Bedenken,  daß  ihr  Erfolg  in  der  Hauptsache  gar  nicht  jenen  zu- 
gute käme,  um  derentwillen  mir  die  Reform  so  unbedingt  notwendig  er- 
scheint. nämlich  den  Mietern  der  kleineren  Wohnungen,  sondern  ganz  anderen 
tauten,  und  daß  dieses  Ergebnis  um  so  sicherer  im  Falle  der  Kontingentie- 
rung eintreten  wflrde. 

Mit  der  Wirkung  einer  sofortigen  Herabsetzung  der  ganzen  Steuer 
auf  5 Proz.  brauche  ich  mich  gar  nicht  zu  befassen,  da  dieser  Vorschlag 
keinerlei  Aussicht  auf  Verwirklichung  hat.  Das  Kontingontierungsprojekt 
dagegen  kommt  praktisch  in  Betracht,  ich  will  daher  nur  dieses  mit  Be- 
ziehung auf  die  Preisbildungen  untersuchen. 

Reduktion  der  Steuer  bedeutet  zunächst:  Erhöhung  des 
Erträgnisses  des  Steuerpflichtigen,  also  in  diesem  Falle,  Zuwendung 
eines  Gewinnes  an  die  sämtlichen  Besitzer  steuerpflichtiger  Häuser. 

Wer  einen  solchen  Gewinn  macht,  der  ist  nicht  sofort  bereit,  ihn 
einem  anderen  abzutreten,  er  trachtet  ihn  fflr  sich  zu  behalten.  Nur  ge- 
zwungen gibt  er  ihn  ah.  In  unserem  Falle  sollen  nun  die  Hauseigentümer 
durch  die  Konkurrenz  gezwungen  werden,  mit  ihren  Ziosforderungen 
herahzugehen,  so  daß  der  Steuernachlaß  den  Mietern  zu  gute  käme.  Die 
Konkurrenz  soll  aber  durch  die  Steigerung  der  Hau  sren  ten  ange- 


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Myrbftch-Rheinfelrt. 


2<tR 

lockt  worden  Also  namhafte  Vermehrung  und  Erweiterung  der  verfügbaren 
Wohnungon  bei  billigeren  Zinsen,  alles  was  man  wünschen  kann,  würde  die 
Wirkung  sein  und  die  Rente  der  Hausbesitzer  würde  auf  ihr  jetziges  Maß 
wieder  herabgedrückt,  sie  hätten  also  keinen  Gewinn  davon. 

Wir  haben  aber  gerade  in  der  letzteren  Zeit  Erfahrungen  mit 
der  Herabsetzung  von  Stenern  und  deren  Wirkungen  gemacht. 
Der  ZeitungsBteuipel  wurde  ganz  aufgehoben,  bei  der  Grund-,  Ge- 
bäude- und  Erwerbsteuer  wurden  Nachlässe  gewährt.  Und  der 
Erfolg?  Die  Zeitungen  kosten  mit  wenigen  Ausnahmen  das  gleiche  wie 
früher,  die  Lebensmittel.  Industrieartikel  und  Wohnungen  sind  teurer  ge- 
worden. Vielleicht  wird  auf  die  Preise  der  Zeitungen  noch  ein  Druck 
durch  die  Konkurrenz  geübt  werden,  der  Preis  der  Nahrungsmittel  und 
Handwerkserzengnisse  bildet  sich  unter  dem  Einflüsse  des  Weltmarktes, 
ich  will  daher  diese  Dinge  nicht  weiter  berühren.  Aber  bei  den  Preisen  der 
Wohnungen  hätte  sich  ein  lß'/sProz.  Steuernachlaß  unbedingt  bemerkbar 
machen  müssen,  wenn  die  hergebrachten  Preistheorien  auch  nur  einigermaßen 
Geltung  haben  sollen. 

Die  Hausherren  behaupten  nun,  der  Nachlaß  sei  , minimal-  gewesen 
und  durch  neue  Lasten,  besonders  die  Einkommensteuer,  absorbiert  worden. 

Das  .Minimal“  kann  ich  nicht  gelten  lassen,  ein  Achtel  einer  so  hohen 
Steuer  ist  schon  etwas  ansehnliches,  es  macht  über  2’8  Proz.  des 
Bruttozinses  und  ft1/»  Proz.  des  sogenannten  steuerbaren  Zinses 
und  soviel  wird  die  Einkommensteuer  (die  übrigens  mit  den  Zinsen  gar 
nicht«  gemein  haben  sollte  i auch  nicht  bei  den  meisten  Hausbesitzern  be- 
tragen haben. 

Viel  minimaler  würde  die  jährliche  Abnahme  der  Steuer  bei  Anwen- 
dung des  Kontingentierungssystems  ausfallen  und  es  ist  nicht  abzusehen, 
wann  sich  dann  der  Moment  einstellen  würde,  in  welchem  die  Hausbesitzer 
sich  veranlaßt  sehen  würden,  die  Zinsforderungen  herabzusetzen. 

Die  neu  zu  schaffende  Konkurrenz  würde  sich  auch  nur  sehr 
langsam  geltend  machen  und  wenig  energisch  einsetzen.  Dagegen 
würde  um  so  sicherer  eine  Eskomptierung  des  allmählich  zunehmenden 
Mehrertrages  aus  Häusern  von  Seite  jener  erfolgen,  die  zur  Verbauung 
geeignete  Gründe  bcsitzeu  und  diese  Steigerung  der  Grün d- 
p rei s e würde  sich  auch  auf  die  schon  verbauten  Flächen  erstrecken. 
Wenn  auch  die  eigentlichen  Baukosten  kaum  eine  namhafte  Erhöhung  aus 
diesem  Anlasse  finden  würden,  so  würde  doch  schon  die  Verteuerung  der 
Baugründe  ausreichen,  um  eine  kräftige  Konkurrenz  durch  Neubauten  zu 
verhindern.  Mit  einem  Worte:  den  Gewinn  aus  der  Steuerherab- 
setzung würden  die  Besitzer  von  Baugründen  machen, 
natürlich  mit  Einschluß  jener,  die  schon  überbaute  Gründe  besitzen. 

Dafür  daß  eine  Steigerung  der  Grundpreise  in  einem  solchen  Maße 
statttinden  kann,  um  die  ßaulust  wesentlich  zu  hemmen,  werden  sich  wohl 
in  allen  aufstrebenden  Gemeinwesen  Beispiele  finden.  Ich  will  nur  anführen, 
daß  zu  Anfang  der  1880er  Jahre  von  Spekulauten  ausgedehnte  Wiesengründe 


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Pi*  Reform  4er  ö*t«rr.  Haanni»*stv'n<kr- 


200 


und  Äcker  in  der  Gemeinde  Wilteu  hei  Innsbruck  um  SO— 40  Kreuzer 
pro  angekauft  wurden,  deren  wenige  verfügbare  Reste  jetzt  nicht  unter 
SO  Gulden  für  die  Klafter  zu  haben  sind. 

Wenn  aber  auch  eine  belangreiche  Konkurrenz  durch  Neubauten 
entstehen  sollte,  könnt«  sich  ihre  Wirkung  nur  auf  die  an  den  Peripherien 
gelegenen  Gebäude  erstrecken.  Das  würde  aber  den  Preis  der  zentral  oder 
an  den  Hauptverkehrsadern  gelegenen  Wohnungen  und  Geschäftslokalitäten 
sehr  wenig  berühren,  denn  diese  haben  ihren  eigenen  Markt,  ihre  eigenen 
Abnehmer,  die  mindestens  in  den  einigermaßen  größeren  Städten  für  das 
peripherische  Angebot  gar  nicht  in  Betracht  kommen.  Die  Besitzer  der 
Häuser  in  verkehrsreicher  Lage  haben  ein  Monopol,  das  sich  ganz  gewaltig 
ansnützen  läßt. 

Auch  den  ungeheuren  Einfluß,  welchen  das  Trägheitsmoment  im  wirt- 
schaftlichen Lehen,  speziell  die  Gewohnheit,  hei  den  Preisphänomen  übt, 
darf  man  ja  nicht  übersehen.  Der  eine  ist  gewöhnt,  so  und  so  viel  zu  neh- 
men, der  andere,  ebensoviel  zu  zahlen,  und  da  müssen  ganz  besondere 
Ereignisse  eintreten.  damit  der  eiue  und  der  andere  von  seiner  Gewohnheit 
abweicht.  Auch  ist  der  Wohnungswechsel  und  gar  der  eines  Geschäftslokales 
keine  bequeme  und  billige  Sache.  All  dies  würde  die  Tendenz  nach  Fest- 
haltung der  herkömmlichen  Preise  sehr  stark  unterstützen,  zumal  ja  die 
als  Ersatz  für  den  Ausfall  von  den  Steuergewalten  nen  aufzulegen- 
den Lasten  gewiß  auch  den  Hausbesitzern  in  irgend  einer  Form  neue 
Leistungen  verursachen  würde. 

Sicher  müßte  der  Erfolg  der  Aktion  als  verfehlt  bezeichnet  werden, 
wenn  er  nur  in  einer  starken  Steigerung  der  städtischen  Grundrente  und 
einer  Bereicherung  der  Bodenspekulanten  bestünde. 

Kurz,  es  ist  sehr  schwierig,  eine  alte,  eingelebte  Steuer  mit  einem  Vor- 
teil (ür  die  Gesamtheit  zu  beseitigen.  Turgot  schon  sagte:  „tout  nouvel 
impöt  est  mauvais,  tout  vieil  impöt  est  hon.* 

Gut  ist  nun  unsere  alte  Steuer  nicht,  aber  in  dem  Sinne  findet  Tur- 
gots  Ausspruch  auch  auf  sie  Anwendung,  als  ihre  einfache  Beseitigung 
kaum  ohne  Schädigung  der  Gesamtheit  möglich  ist. 

Daran  knüpft  nun  mein  K efo  r m v o r s ch  1 ag  an:  Die  Abgabe  soll 
vorläufig  zur  Gänze  beibehalten  werden,  aber  sie  soll  offen  und  klar 
als  das  behandelt  werden,  was  sie  jetzt  zwar  verdeckt, 
aber  vermöge  ihrer  Wirkung  in  Wirklichkeit  ist:  eine 
Kombination  aus  einer  Ertragsteuer  und  einer  Aufwand-, 
nämlich  einer  Mietsteuer.  Diese  beiden  Teile  sollen  aus- 
einandergelegt, vollkommen  geschieden  werden  und  dann 
kann  der  Gesetzgeber  mit  jedem  der  Teile  so  verfahren, 
wie  es  im  Interesse  der  Gesamtheit  nützlich  scheint.  Es 
wird  dann  insbesondere  möglich  gemacht  werden,  das  was  man  geben  will, 
unmittelbar  jenem  zu  gehen,  dem  es  zngedacht  ist,  und  nicht  einem  Dritten 
der  erst  durch  die  Verhältnisse  gezwungen  werden  soll,  die  Gabe  dem  an- 
deren zuzuweudeu. 


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300  M\  rbMh-Rheinfeld. 

Vielleicht  ermöglicht  mein  Vorschlag  auch,  die  noch  schwierigere, 
bisher  gar  nicht  erörterte  Frage  der  Zuschläge  zu  lösen  und  zugleich  den 
finanziell  so  sehr  bedrängten  Gemeinden  eine  solide  und  selbständige  Grund- 
lage für  ihre  Wirtschaft  zu  verschaffen. 

Ich  komme  somit  in  der  Hauptsache  auf  mein  altes  Projekt  zurflck, 
nämlich  die  Teilung  der  jetzigen  Hauszinssteuer  in  eine  Hausrenten- 
steuer, d.  i.  eine  Ertragsteuer  von  dem  wirklichen  und  möglichen  Erträgnis 
der  Häuser  und  in  eine  Mietsteuer,  welche  die  Mieter  nach  Maßgabe 
des  von  ihnen  für  die  Bestandobjekte  gemachten  Aufwandes  zu  treffen  hätte. 

Zunächst  wäre  der  volle  gegenwärtige  Betrag  der  Hauszinssteuer 
in  dieser  Weise  aufznteilen.  .Ta  noch  mehr,  um  mit  der  Aktion  auch  die 
Regulierung  der  Fondszuschläge  verbinden  zu  können,  mflßte  auch 
die  gegenwärtige  Summe  aller  dieser  Zuschläge  zur  Hauszinssteuer  für 
Rechnung  des  Staates  übernommen  und  der  Hauszinssteuer  zugeschlagen 
werden,  wogegen  den  Ländern,  Bezirken  und  Gemeinden  dasjenige  als  Fixum 
aus  Staatsmitteln  auszubezahlen  wäre,  was  ihnen  jetzt  in  Form  von 
Umlagen  znfließt. 

Der  wichtigste  aber  auch  schwierigste  Punkt  wäre  dann  die  Reduktion 
der  vertragsmäßig  vereinbarten  Mietzinse  auf  jene  Höbe,  welche  der  neu 
geschaffenen  Sachlage  entspricht.  Jetzt  ist  ja  tatsächlich  ein  großer  Teil 
dessen,  was  formalrechtlicli  als  Mietzins  erscheint,  in  Wahrheit  Steuer  des 
Mieters  und  diese  Quote  müßte  aus  dem  formalen  Mietzins  entfernt  und 
auch  rechtlich  zur  Steuer  gemacht  werden.  Ich  verweise  diesfalls  auf  die 
früher  angestellten  Berechnungen,  ln  Wien  z.  B.  müßten  die  Mietzinse 
für  jedes  Tausend  Kronen  auf  792  Kronen  herabgesstzt  werden,  da  in 
diesen  1000  Kronen  208  Kronen  an  Mietstener  stecken  und  von  nun  an 
als  Mietsteuer  behandelt  werden  müßten. 

Eine  solche  Änderung  des  Mietvertrages  könnte  aber  natürlich  den 
Vertragsparteien  nicht  vom  Steuergesetze  oktroyrt  werden:  es  ist  auch 
kaum  anzunehmen,  daß  alle  Hausbesitzer  die  nötige  Einsicht  besitzen,  um 
freiwillig  auf  die  entsprechende  Mietzinsreduktion  einzugehen,  wenn  auch 
Vereine  und  Gemeinden  eine  aufklärende  Tätigkeit  entfalten  würden.  Somit 
wäre  man  zur  Anwendung  einer  douce  violance  genötigt  und  als  Mittel 
einer  solchen  wäre  wohl  das  beliebte  Optionsrecht  geeignet.  Die  Durch- 
führung stelle  ich  mir  dann  in  der  Weise  vor,  daß  gemischte  Kommissionen 
die  Ermittlung  bei  den  einzelnen  Objekten  vornehmen,  die  Parteien  auf- 
klären und  deren  bindende  Erklärungen  in  Veitragsform  anfnebmen. 

Schlimm  wäre  es,  wenn  sich  noch  immer  Hausbesitzer  in  größerer 
Zahl  finden  würden,  die  mit  Hinblick  auf  gewisse  Zinsertragsbekenntnisse 
eine  begründete  Scheu  vor  solchen  Verhandlungen  haben  sollten:  doch 
könnto  ein  Generalpardon  vielleicht  darüber  hinaushelfen  und  wer  weiß, 
ob  daraus  nicht  ein  hübscher  Steuerzuwachs  resultieren  würde! 

Von  dem  Momente  an,  wo  diese  Regulierung  der  Zinse  allgemein 
durchgeführt  ist.  könnte  zur  getrennten  Vorschreibung  der  neu  kreierten 
Steuern  flhergegangen  werden. 


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Pie  Reform  der  Osterr.  Hauszinsstcuer. 


301 


Die  Hausrentensteuer  müßte  einen  entsprechend  niedrigen 
Steuersatz  haben.  Wie  schon  bemerkt,  läßt  sich  nicht  angeben,  mit 
welcher  Quote  bei  uns  die  Renten  aus  Vermögensverwendung  belastet  sind, 
um  diese  Quote  auch  als  Steuersatz  der  Hausrentensteuer  anwenden  zu 
können:  ich  würde  aber  der  vielseitig  ausgesprochenen  Ansicht  beitrcten, 
daß  der  Steuersatz  5 Proz.  betragen  solle.  Eine  Differenzierung 
nach  Ovtskategorien  dürfte  natürlich  nicht  bestehen,  denn  ob  die 
Rente  in  diesem  oder  in  jenem  Orte  bezogen  wird,  das  hat  nicht  den 
mindesten  Einfluß  auf  die  Leistungsfähigkeit  des  Rentners  und  gibt  ja 
auch  bei  den  anderen  Ertragsteuern  keinen  Anlaß  zu  einer  verschiedenen 
Besteuerung. 

Als  Bemessungsgrundlage  der  Hausrentensteuer  könnte  der 
reine  oder  der  rohe  Zinsertrag  benutzt  werden.  Das  erstere  wäre 
theoretisch  richtiger.  Wenn  man  aber  den  jetzigen  Fehler  vermeiden  und 
nicht  eine  willkürlich  angenommene  Kostenquote  ganz  allgemein  anwenden 
will,  daun  müßte  man  die  individuell  so  uugemein  verschiedenen  und  zeitlich 
wechselnden  Kosten  für  jedes  Objekt  einzeln  ermitteln,  eine  Arbeit,  die 
außer  Verhältnis  zu  dem  praktischen  Erfolge  stände.  Darum  schiene  mir  bei 
dem  niedrigen  Steuersatz  die  Vereinfachung  statthaft,  daß  die  Steuer 
schlechthin  von  der  Bruttozinseinnahme  bemessen  würde.  Würde  man 
dies  aber  nicht  für  annehmbar  halten,  dann  würde  ich  auf  meinen  alten 
Vorschlag  zurückgreifen,  die  Gebäude  in  .Zustandsklassen“  einzureihen  und 
für  diese  Klassen  besondere  Abzugsquoten  zu  bestimmen. 

Natürlich  hätte  die  zeitliche  Steuerbefreiung  für  Neu-,  Um- 
und  Zubauten  zu  entfallen.  Nur  die  jetzt  bestehenden  permanenten 
Befreiungen  wären  beizubehalten. 

Ich  würde  auch  den  Anspruch  auf  eine  Steuerabschreibung 
wegen  Leerstehung  auf  die  Fälle  länger  dauernder  Nichtbenfltzung 
beschränken.  Die  subtile  Berücksichtigung  jeder,  auch  der  kürzesten  Leer- 
stehung, ist  bei  dem  jetzigen  hohen  Steuersätze  geradezu  eine  Notwendigkeit, 
wenn  es  sich  aber  um  eine  niedrige  Steuer  handelt,  stehen  die  der  Behörde 
und  den  Hausbesitzern  verursachten  Mühen  und  Kosten  außer  Verhältnis 
zu  dem  Erfolge.  Man  könnte  etwa  unter  analoger  Anwendung  der  Prinzipien, 
welche  für  die  Abschreibung  der  Hausklassensteuer  gelten,  den  Anspruch 
auf  solche  Leerstehungen  beschränken,  welche  länger  als  drei  Monate  währen. 
Diese  Beschränkung  hätte  auch  den  sozialpolitischen  Vorteil,  daß  manche 
Hausbesitzer  es  sich  besser  überlegen  würden,  durch  übermäßige  Zins- 
ansprüche öftere  Leerstehungen  zu  provozieren. 

Wie  schon  erwähnt,  würde  die  Hausrentensteuer  einen  merklichen 
Zuwachs  dadurch  erhalten  können,  daß  auch  die  nicht  landwirtschaftlich 
benützten  Hausgärten  und  die  mitvermieteten  Mobilien  unter  die 
Objekte  der  Hausrentensteuer  einbezogen  würden. 

Von  der  reduzierten  Hausrentensteuer  wären  den  Hausbesitzern  auch 
die  Fondszn  schlüge  in  dem  Ausmaße  vorzuschreiben,  welches  in  jedem 

Zeitschrift  für  Vn1k«wlfta<*baft,  SosialpoMtik  und  Verwaltung.  XII.  Band. 


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8<12 


Myrhaeh-Rheinfeld. 


Orte  gerade  Geltung  hat,  doch  würden  dieselben  den  Selbstvervvaltungskörpern 
vorläufig  in  jenen  fixen  Beträgen  zufließen.  welche  ich  früher  erwähnt  habe. 

Höchst  wünschenswert  wäre  die  Beseitigung  der  Doppelbesteuerung 
der  Zinsen  hypothezierter  Darlehen  durch  Änderung  der  gesetzlichen 
Bestimmungen  über  die  Rentensteuer. 

. Dnd  nun  zur  Mietsteuer.  Dieser  Teil  der  alten  Hauslinssteuer 
müßte  von  der  Hausrenteusteuer  völlig  unabhängig  gemacht  werden,  so  daß 
sie  eine  gänzlich  für  sich  bestehende  Aufwandsteuer  würde,  die  nicht  mehr 
indirekt  eingehoben  und  somit  nicht  mehr  dem  Spiel  der  wirtschaftlichen 
Kräfte  überlassen  bliebe.  Sie  könnte  in  allmählicher  Ausgestaltung  mit  den 
Grundsätzen  einer  vernünftigen  und  gerechten  Besteuerung  in  Einklang 
gebracht  werden,  weil  sie  vom  beabsichtigten  Kontribuenten  nach  individuell 
festznstellenden  Merkmalen  der  Leistungsfähigkeit  einzufordern  wäre. 

Den  Grundsätzen  der  Aufwandbesteuerung  entsprechend,  sollte  diese 
Steuer  nur  insoweit  gefordert  werden,  als  ein  persönlicher  Aufwand, 
jener  für  die  Wohnung  gemacht  wird.  Das  würde  aber  einerseits  zu  einem 
sehr  beträchtlichen  Steuerausfall  führen,  denn  die  Zinse  für  Geschäftsloka- 
litäten  machen  in  den  größeren  Städten  sehr  bedeutende  Summen  aus  und 
die  Ersparnis  der  Geschäftsinhaber  würde  bei  der  bestehenden  Kontingen- 
tierung der  allgemeinen  Erwerbsteuer  nicht  mehr  heranzuziehen  sein. 
Aus  diesen  praktischen  Gründen  könnte  auch  von  gemieteten  Lokalitäten, 
die  Erwerbszwecken  dienen,  die  Mietsteuer,  aber  in  einem  geringeren  Ausmaße, 
eingefordert  werden. 

Ich  habe  schon  erwähnt,  daß  icli  eine  nach  dem  Wohuuiigsaufwand 
veranlagte  Aufwandsteuer  für  eine  der  besten  Steuern  halte,  weil  sich 
bekanntlich  in  diesem  Aufwands,  wie  in  keinem  anderen,  die  materielle 
Leistungsfähigkeit  der  Individuen  spiegelt.  Aber  der  Wohimngsaufwand  ist 
auch  ein  für  jedem  Kulturmenschen  völlig  unvermeidlicher,  er  muß  auch 
von  jenen  gemacht  werden,  die  absolut  keine  Steuerkruft  besitzen.  Cher 
das  Minimum  hinaus  aber  muß  ein  größerer  Aufwand  gemacht  werden,  um 
ein  gesundes  und  behagliches  Wohnen,  die  Grundbedingung  allgemeiner 
Volkswohlfahrt,  zu  ermöglichen.  Die  diesbezügliche  Grenze  darf  ja  nicht 
niedrig  angenommen  werden,  wie  cs  einige  Gemeinden  tun.  welche  mir  die 
allerbilligsten  Wohnungen  von  den  .Zinskreuzern*  freilasscn.  Bis  zu 
jener  Grenze,  welche  durch  den  für  alle  wünschenswerten 
W o h n n n g s gen  u U bestimmt  wird,  darf  eine  Besteuerung 
überhaupt  nicht  stattfiuden. 

Wras  den  darüber  hin  ausgehenden  Wohnungsaiifwand  betrifft, 
ist  vor  allem  die  bekannte  Erscheinung  zu  berücksichtigen,  daß  die  Quote 
des  Gesamtaufwandes,  welche  für  die  Wohnung  verwendet  wird,  desto  kleiner 
wird,  je  größer  die  dem  Haushalte  verfügbaren  Mittel  sind.  Die  Wohnung- 
steuer  muß  daher  progressiv  eingerichtet  sein. 

Ferner  muß  vermieden  werden,  daß  die  Angehörigen  der  Mittelklassen 
durch  die  Steuer  in  mindere  Wohnungen  gedrängt  werden  lind  deshalb  soll 
die  Steuer  mit  sehr  niedrigen  Sätzen  beginnen  und  anfänglich 


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Die  Reform  vier  taten*.  HauBiiassteuer. 


303 


nur  sehr  langsam  steigen,  dagegen  Heide  sie  in  den  oberen  Stufen  die 
Anwendung  sehr  hoher  Steuersätze  zu,  ohne  daß  deshalb  eine  starke  Beein- 
trächtigung des  Steuereinganges  zu  befürchten  wäre.  Natürlich  müßten  die 
ron  den  Hausbesitzern  selbst  benützten  Wohnungen 
ebenso  dieser  Steuer  unterliegen,  wie  die  effektiv  gemieteten. 

Hinsichtlich  derDetailausführung  ergeben  sich  so  viele  Probleme, 
daß  ich  auf  deren  Erörterung  hier  nicht  eingehen  kann,  ich  will  nur  bemerken, 
daß  sie  mir  sämtlich  lösbar  erscheinen,  wenn  man  nicht  pedantisch  Vor- 
gehen will. 

Nun  muß  die  Freilassung  der  kleinen,  und  die  mäßige  Besteuerung 
der  mittleren  Wohnungen  notwendig  zu  einem  beträchtlichen  Steuerausfall 
für  den  Staat  und  die  Selbstverwaltuugskörper  führen,  denn  der  größere 
Teil  der  Umlagen  fiele  ja  auch  der  Deckung  durch  die  Mietsteuer  zu, 
beziehungsweise  bliebe  ungedeckt. 

Da  nun  möchte  ich  den  Gedanken  der  K on  t in  ge  n t i er  u n g ver- 
wenden. 

Der  gesamte  gegenwärtige  Ertrag  an  Hauszinssteuer  und  5proz.  Steuer 
nebst  allen  jenen  Summen,  die  gegenwärtig  an  Umlagen  eingehoben  werden, 
hätte  ein  festes  Kontingent  für  solange  zu  bilden,  bis  die  angestrebte  end- 
gültige Ordnung  hergestellt  ist.  Die  gesamten  Zahlungen  wären  an  die 
Staatskassen  zum  Teil  als  Hausrentensteuer,  zum  Teil  als  Mietsteuer  zu 
leisten.  Der  Staat  würde  von  diesem  Kontingent  zunächst  die  fixen  Ent- 
schädigungen an  die  Selbstverwaltungskörper  abführen  und  den  Rest  für 
sich  behalten.  Der  sich  ergebende  Zuwachs  würde  aber  dazu  benützt  werden, 
um  sukzessive  die  Mietsteuer  auf  den  gewünschten  Stand  zu  bringen,  das 
heißt  sie  für  die  kleinen  Wohnungen  aufzuheben,  für  die  mitt- 
leren aber  zu  ermäßigen  und  schließlich  auch  dazu,  um  die  von  den 
Besitzern  selbst  zu  Erwerbszwecken  benützten  Lokalitäten 
auch  von  der  Hausrentensteuer  zu  befreien. 

Damit  möglichst  rasch  sichtbare  Erfolge  eintreten  und  die 
Hausbesitzer  nicht  etwa  dazu  gereizt  werden,  die  Gelegenheit  allmählicher 
kleiner  Nachlässe  an  der  Mietsteuer  zu  einer  Steigerung  der  Mietzinse 
zu  benützen,  wfi:de  ich  vorschlagen,  daß  die  jeweilig  verfügbaren  Summen 
dazu  benützt  werden  sollen,  kategorien weise  mit  der  sofortigen 
Herstellung  des  endgültigen  Zustandes  vorzugehen,  so  daß  also 
die  ersten  Überschüsse  dazu  dienen  sollten,  um  die  allerkleinsten  (oder 
allerbilligsten)  Wohnungen  in  den  Großstädten  ganz  zu  befreien,  in  gleicher 
Weise  die  nächst  verfügbaren  Summen  den  kleinsten  Wohnungen  in  den 
übrigen  Orten  zu  gute  kommen  lassen  u.  s.  f. 

Wenn  dann  der  beabsichtigte  definitive  Zustand  erreicht  ist.  würde 
das  Kontingent  aufgehoben,  der  Staat  träte  dann  in  den  freien  Bezug  der 
inzwischen  staik  angewachsenen  Hausrentenstener  nebst  dem  natürlichen 
ferneren  Zuwachs,  sowie  der  Mietsteuer;  den  Selbstverwaltungskörpern 
würden  die  Zuschläge  unmittelbar  wieder  zufließen,  wenn  nicht  eine  noch 
weitergebende  Regelung  damit  verbunden  werden  sollte. 

21* 


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Myrhach-Rheinfeld. 


804 


Als  Endziel  sehwebt  mir  nämlich  vor  die  g ä u z 1 i c h e Über- 
lassung der  vollständig  geregelten  Mietsteuer  an  die 
Gemeinden  als  deren  vorwiegeudo  Finanzquelle.  Es  würde  damit  endlich 
auch  ein  Mittel  geschallen,  diesen  finanziell  so  arg  bedrängten  Wirtscbafts- 
körpem  eine  ergiebige  und  selbständige  Einnalmien<|uelle  \erfflgbar  zu  machen, 
die  unabhängig  wäre  von  den  Staatssteiiern,  während  anderseits  auch  die 
letzteren  in  ihrer  Entwicklung  nicht  durch  das  Kleigewicht  der  Zuschläge 
in  dem  Maße  wie  bisher  gehemmt  würden.  Diese  Mietsteuer  würde  dann 
mit  den  jetzt  schon  so  verbreiteten  kommunalen  Zinskreuzern  zusammen- 
fiießen  und  könnte  den  lokalen  Verhältnissen  vollkommen  angepaßt  werden. 
Im  Anschluß  daran  sollte  auch  die  Hausklassensteuer,  welche  in  das  staat- 
liche Ertragateuersystem  ohnedies  nicht  paßt,  in  eine  Woluis teuer  umge- 
staltet und  den  Gemeinden  überwiesen  werden. 


Itflcksichtlich  des  letzten  Punktes,  der  Art  der  Veranlagung 
unserer  Steuer,  kann  ich  mich  ganz  kurz  fassen.  Mir  ist  die  österreichische 
Hauszinssteuer  mit  ihrer  genauen  Anpassung  an  den  wechselnden  wirklichen 
Ertrag  der  Häuser  i von  der  summarischen  Berücksichtigung  der  Kosten 
abgesehen!  immer  als  die  idealste  unter  den  bestehenden  Ertragsteuern 
erschienen.  Die  Einführung  der  zweijährigen  Bemessung  hat  schon  störend 
gewirkt,  indem  damit  die  Anwendung  eines,  wenn  auch  nur  kurzen  Durch- 
schnittes erfolgt  ist.  Heute  findet  man  diese  Veraulagungsinethode  veraltet 
Ich  kann  mich  dieser  Ansicht  nicht  anschließen  und  meine,  daß  jede  Pau- 
schalierung, jede  Durchschniltsberechnung  und  jede  Vereinfachung  zur  l’n- 
genauigkeit,  zur  Unwahrheit  führt  und  daher  keineswegs  einen  Fortschritt 
bedeutet,  sondern  ein  Zurückgreifen  auf  primitivere  Formen. 

Mit  Rücksicht  auf  mein  Projekt  der  teilweisen  Umwandlung  unserer 
Steuer  in  eino  Mietsteuer  muß  ich  mich  um  so  mehr  für  die  Beibehaltung 
der  jetzigen  Veranlagungsgruudsätze  aussprechen,  weil  dadurch  nicht  allein 
die  Einnahme  des  Hausbesitzers,  sondern  auch  die  Zinse  der  einzelnen 
Mieter  zur  Kenntnis  der  Behörde  gebracht  werden  und  damit  gleich  die 
Grundlage  für  die  individuelle  Bemessung  der  Mietsteuer  gegeben  ist. 

Ein  Teil  der  Hallsbesitzerorganisationen  propagiert  neuesteiis  eine 
radikale  Änderung  der  Veranlagungsgruudsätze.  Den  Aus- 
gangspunkt soll  der  von  10  zu  10  .lalircn  durch  Kommissionen  festzustel- 
lende Kapital  s wert  der  Häuser  bilden.  Von  diesem  Kapitalswelt  soll 
unter  Anwendung  des  jeweiligen  landesüblichen  Zinsfußes  die  Hausrente 
berechnet  und  von  letzterer  sodann  die  Steuer  bemessen  werden.  Gegen  die 
kommis8ionelle  Schätzung  soll  die  Berufung  an  eine  gerichtliche  Schätzung 
zulässig  sein. 

Nun  ist  es  klar,  daß  reine  Schätzungen,  hei  welchen  dem  Arbitrium 
der  weiteste  Spielraum  gelassen  ist,  bei  welchen  deshalb  auch  große  Un- 
gleichmäßigkeiten unvermeidlich  sind,  nur  als  Notbehelf  dann  in  Anwendung 
kommen  sollen,  wenn  jedes  Mittel  zur  unmittelbaren  Feststellung  der  ent- 


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Die  Reform  der  österr.  Haiiazinssteaer.  805 

scheidenden  Tatsachen  mangelt.  Der  erwähnte  Vorschlag  stellt  überdies  die 
Verhältnisse  geradezu  auf  den  Kopf  und  steht  mit  den  rationellen  Bewer- 
tungsgrutidsätzeu  in  krassem  Widerspruch.  Anstatt  von  den  leicht  zu  er- 
mittelnden wirklichen  Erträgnissen  auszugehen  und  darnach  den  Wert  des 
nutzbringenden  Objektes  zu  berechnen,  soll  der  umgekehrte  Weg  eingeschla- 
gen werden:  das  Bekannte  soll  aus  einem  Unbekannten,  das  Sichere  aus 
etwas  Arbiträrem  berechnet  werden!  Da  mähten  sich  notwendig  große  In- 
kongruenzen zwischen  dem  berechneten  und  dem  wirklichen  Erträgnis  heraus- 
steilen. l'nd  es  ist  noch  fraglich,  ob  dies  den  Hausbesitzern  zum  Vorteil 
gereichen  würde,  denn  die  Finauzverwaltung  würde  schon  dafür  sorgen,  daß 
man  den  Schätzungen  wirklich  vorgefallene  Käufe  und  Belehnungen  zu 
eirunde  legt  und  bei  der  erwähnten  Tendenz  zur  Ü b e r Schätzung  von  Häusern 
könnte  sich  leicht  ein  den  Besitzern  unerwünschtes  Ergebnis  herausstellen. 

Inwiefern  mir  unter  der  Voraussetzung  einer  starken  Heduktion  der 
Steuersätze  Vereinfachungen  des  Veranlaguugsverfahrens  zulässig  er- 
scheinen, habe  ich  bereits  im  Laufe  der  früheren  Auseinandersetzungen 
dargestellt. 

■*  » 

* 

Ich  bin  somit  am  Ende  meiner  Ausführungen  angelangt. 

Wollen  Sie  überzeugt  sein,  daß  mir  die  Meinung  sehr  fern  liegt, 
eiu  vollkommen  einwandfreies  Projekt  vor  Ihnen  aufgerollt  zu  haben.  Ich 
hin  mir  selbst  am  besten  bewußt,  daß  dasselbe  zahlreiche  Schwächen  ent- 
hält. daß  vielleicht  auch  seine  gänzliche  Undurchführharkeit  nachgewiesen 
werden  kann.  Aber  angesichts  der  großen  Schwierigkeiten,  welche  die  Lo- 
sung des  Problems  hei  dem  Stande  aller  ütl'entlichen  Finanzen  in  Österreich 
bietet,  angesichts  der  geringen  Aussicht  auf  Verwirklichung,  welche  den 
sonst  gemachten  Vorschlägen  zugesprochen  werden  kann,  glaubte  ich  mit 
meinem  bisher  noch  nicht  diskutierten  Gedanken,  der  sich  auf  theoretische 
und  praktische  Befassnng  mit  dem  Gegenstände  gründet,  noch  einmal  her- 
vortreten zu  sollen,  um  wenigstens  eine  vertiefte  Erörterung  der  Frage  in 
einem  derselben  objektiv  gegenüberstehenden  Kreise  von  Fachmännern  an- 
zuregen. 

Ich  schließe  mit  dem  Wunsche,  daß  die  Gesellschaft  österreichischer 
Volkswirte  als  Korporation,  daß  aber  auch  die  einzelnen  Mitglieder  dieser 
hochansehnlichen  Vereinigung  mit  allem  Nachdruck  auf  die  Beseitigung  der 
schweren  Cbelstände  auf  dem  Gebiete  unserer  Gebäudebesteuerung  hin- 
wirken und  daß  die  diesßlligeu  Bestrebungen  von  wirklichen  Erfolgen  be- 
gleitet sein  mögen. 

Dann  erst  wird  auch  iu  Österreich  der  Weg  für  eiue  gedeihliche 
Wohnuugsfürsorge  frei  sein. 


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VERHANDLUNGEN  DER  GESELLSCHAFT 
ÖSTERREICHISCHER  VOLKSWIRTE. 


CXIX.  und  CXX.  Plenarversammlung. 

Am  H.  und  15.  November  1902  hielt  Herr  Dr.  Viktor  Graetz 
einen  Vortrag : über  da*  Problem  der  amerikanischen  Trusts,  in 
dem  er  ungefähr  folgendes  ans  führte: 

Das  Problem  der  amerikanischen  Trusts  ist  sowohl  ein  europäisches  Problem 
wie  ein  amerikanisches.  Für  Europa  sind  die  Fragen  zu  stellen:  inwieweit  ist 
die  Entwicklung,  die  sich  in  Amerika  vollzogen  hat  und  vollzieht,  typisch,  so 
daß  wir  aus  der  amerikanischen  Gegenwart  auf  die  europäische  Zukunft  schließen 
können.  Und  ferner,  inwieweit  sind  die  Trusts  die  Träger  der  .sogenannten 
amerikanischen  Konkurrenz?  Die  Wichtigkeit  der  Trusts  für  die  Volkswirtschaft 
der  Vereinigten  Staaten  von  Amerika  erfordert  keim*  längere  Darlegung,  in 
ökonomischer  und  politischer  Beziehung  entstehen  Fragen,  deren  Lösung  große 
Schwierigkeiten  bietet. 

Vor  allein  muß  der  Begriff  festgestellt  werden;  der  ursprünglich  juristische 
ist  zu  einem  wirtschaftlichen  Terminus  geworden,  dessen  Merkmale  schwanken. 
Aus  den  Definitionen  der  Gesetze,  der  Literatur  und  dem  Sprachgebrauch  des 
täglichen  Lebens  läßt  sich  nur  ein  gemeinsames  Element  hervorheben,  nämlich 
die  Beschränkung  der  Konkurrenz.  Wichtig  ist  ferner,  daß  die  strenge,  in  der 
europäischen  Literatur  übliche  Unterscheidung  von  Kartell  und  Trust  nicht 
gerechtfertigt  ist.  Unter  Trusts  sind  sowohl  Vereinbarungen  von  selbständigen 
Unternehmungen  zu  verstehen  als  auch  Fusionen,  in  denen  die  Selbständigkeit 
gänzlich  aufgehoben  ist. 

Das  Charakteristiken  des  Begriffes  Trust  ist  die  Bildung  eines  einheitlichen 
Unternehmerwillens;  dies  trifft  sowohl  bei  Kartellen  wie  bei  Fusionen  zn.  Während 
im  Kartell  neben  dem  einheitlichen  Unternehmerwillen  die  zersplitterten  Unter- 
nehmerwillen der  einzelnen  Unternehmungen  weiter  bestehen  bleiben,  hat  bei  der 
Fusion  der  einheitliche  Untemehmerwille  die  zersplitterten  gänzlich  anfgezehrt. 
Der  Begriff  King  ist  dem  Begriffe  Trust  und  Corner  übergeordnet.  Ein  King 
ist  dann  vorhanden,  wenn  durch  die  Bildung  eines  einheitlichen  Unternehmer- 
willens  für  einen  bestimmten  Markt  der  Bezug  respektive  die  Lieferung  von 
Waren  oder  Leistungen  zu  günstigeren  Bedingungen,  als  dieser  einheitliche  Unter- 
nehmerwillo  festsetzt,  ökonomisch  nicht  in  Betracht  kommt.  Nimmt  man  diesem 


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CXIX.  nnd  CXX  Plenarversammlung.  ;^)7 

Begriffe  King  das  genetische  Element,  nämlich:  Bildnng  des  einheitlichen  Unter- 
nchmerwillens,  dann  liegt  ein  Zustand,  das  ausschließende  Marktverhältnis,  vor. 
I>ie  dem  Begriffe  Ring  untergeordneten  Begriffe  Trust  und  Corner  unterscheiden 
sich  durch  die  Dauer,  für  welche  der  einheitliche  Unternehmerwille  berechnet  ist; 
während  der  Corner  eine  Wirtschaftsperiodo  dauern  soll,  soll  der  Trust  mehrere 
Wirtschaftsperioden  bestehen. 

Diese  „Bildung  des  einheitlichen  Unternehmerwillens“  kann  in  ganz  ver- 
schiedenen Kechtsformen  vor  sich  gehen.  Doch  versagt  in  vielen  Fällen  die 
juristische  Unterscheidung,  die  Einheitlichkeit  des  Unternehmerwillens  wird  häufig 
auch  durch  rein  tatsächliche  Verhältnisse  hergestellt.  Und  gerade  diese  Trusts 
sind  von  besonderer  Bedeutung;  denn  sie  sind  die  Zufluchtsformen,  zu  denen 
Trust-  oder  Kartellgesetze  zwingen.  Der  verpönte  Trust  setzt  in  neuer,  juristisch 
unfaßbarer  Form  seine  wirtschaftlichen  Funktionen  fort. 

Aus  dieser  Wandelbarkeit  und  Vielgestalt  ergibt  sich  die  Schwierigkeit,  ja 
die  Unmöglichkeit,  eine  Morphologie  der  Trusts  anfzn stellen,  welche  der  Wirklichkeit 
gerecht  wird.  Derselbe  wirtschaftliche  Zweck  kann  eben  in  ganz  verschiedenen 
Formen  erreicht  werden.  So  kann  /..  B.,  wie  dies  heim  Whisky trust  geschehen 
ist,  durch  Pachtung  der  zu  vereinigenden  Unternehmungen  die  Einheitlichkeit 
ihrer  Leitung  bewirkt  werden.  Die  Einheitlichkeit  des  Unternehmerwillens  kommt 
auch  durch  «las  sogenannte  factor  agreemeiit  zu  Stande,  eine  Vereinbarung,  in 
welcher  der  Produzent  den  UAndlern  die  Verkaufspreise  vorschreibt.  Die  Händler 
bewerben  sich  sogar  in  manchen  Fällen  um  solche  Vereinbarungen,  weil  damit 
die  Konkurrenz  der  Händler  untereinander  gehemmt  wird. 

Besonders  mannigfaltige  Arten  der  Bildung  des  einheitlichen  Unternehmer- 
Willens  schließen  sich  an  die  Uechtsforin  der  Aktiengesellschaft  an.  Auch  die 
Kechtefonn  „Trust"  fand  besonders  hier  häufige  Anwendung.  Indem  die  Aktionäre 
der  Unternehmungen,  welche  einheitlich  geleitet  werden  sollen,  ihre  Aktien,  zum 
mindesten  aber  — mathematisch,  nicht  wirtschaftlich  gesprochen  — die  Majorität 
der  Aktien  einem  Vertrauenakomitee,  dem  board  of  trustees  übergeben,  konzentriert 
sich  die  mit  dem  Besitze  der  Aktien  verbundene  Uuteniehnierstellung  in  diesem 
Ausschuß.  Die  Dividendenberechtignng  bleibt  bei  den  Aktionären,  die  für  ihre 
Aktien  Trustzertifikate  erhalten  haben. 

Zwei  andere  typische  Formen,  in  denen  die  Aktiengesellschaft  zur  Trust- 
bildung verwertet  wird,  unterscheiden  sich  dadurch,  daß  in  einem  Falle  juristische 
und  wirtschaftliche  Einheit  durchgeffihrt  wird,  während  im  andern  Falle  die 
wirtschaftliche  Einheit  einer  juristischen  Mehrheit  gegen  übersteht  Im  ersten 
Falle  tritt  eine  neue  Aktiengesellschaft  an  Stelle  der  schon  bestehenden  Unter- 
nehmungen. so  daß  die  Gliedunternehmungen  als  solche  ganz  verschwinden;  im 
zweiten  Falle  bleiben  die  Gliedgesellschaften  bestellen,  aber  die  Majorität  ihrer 
Aktien  ist  einer  Zentralgesellschaft  ausgeliefert,  die  wirtschaftlich  nur  den  Zweck 
hat,  die  einheitliche  Leitung  dnrchzuführen.  Dieser  zweite  Typus  ist  nur  ein 
.Spezialfall  der  Großaktionärschaft,  nämlich  Großaktionärschaft  durch  eine  juristische 
Person.  In  manchen  Fälleu  ist  aber  auch  physische  Großaktionärschalt  ausreichend. 

Die  Tendenz  geht  im  allgemeinen  dahin.  Trustformen  zu  schaffen,  in  denen 
größere  Gebundenheit  herrscht,  der  Kollektivwilli»  des  Kartells  wird  ersetzt  durch 


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;i08  Verhandlungen  der  Geselteehaft  österreichischer  Volkswirte. 

den  Einzelwillen  der  Großunternehmung.  Dies  ergibt  sich  aus  der  geschichtlichen 
Betrachtung  der  Trusts.  Doch  stehen  sowohl  der  historischen  wie  statistischen 
Betrachtung  grolle  Schwierigkeiten  entgegen.  Die  Vieldeutigkeit  des  Begriffes 
Trust,  das  Fehlen  der  juristischen  Merkmale  erschwert  eine  statistische  Erfassung. 
Eine  Geschichte  der  Trusts  muH  sich  auf  mehr  oder  weniger  ausführliche  Notizeu 
beschränken. 

So  zeigt  uns  die  Geschichte  der  Standard  Oil  Co.  eine  dramatische  Auf- 
einanderfolge voll  Kartellahscblüssen  und  -auflüsungen.  eine  Kette  von  Kartellen 
der  Petroleumraflinerieii  und  der  Eisenbahnen,  ln  ganz  verschiedenen  Formen 
hat  dieser  Trust  dieselbe  wirtschaftliche  Funktion  erfüllt.  Die  Truststatistik, 
welche  anläßlich  des  Zensus  im  Jahre  1900  aufgeiiomuien  wurde,  führt  den 
Titel : Industrial  Combinations.  Sie  umfaßt  bei  weitem  nicht  alles,  was  üblicher- 
weise uud  in  dem  vorliegenden  Vortrage  als  Trust  bezeichnet  wurde,  nämlich 
nur  solche  Trusts,  „dio  durch  Vereinigung  einer  Zahl  früher  selbständiger  Betriebe 
in  einer  Gesellschaft  durch  eine  zu  diesem  Zwecke  erwirkte  Charter  zu  stände 
gekommen  sind“.  Aus  dieser  Statistik  ergibt  sich,  daß  in  vielen  Fällen  im 
Gebiete  der  Vereinigten  Staaten  mehrere  gleichartige  Trusts  bestehen;  dies  ist 
begreiflich,  denn  jeder  Trust  bezieht  sich  ja  nur  auf  einen  bestimmten  Mark  t. 
der  nicht  immer  mit  einen  Staats-  oder  Verwaitungsgebiete  znsamiiieiifällt.  Aus 
dieser  Statistik  ergibt  sich  weiters,  daß  in  den  Trusts  nicht  nur  gleichartige 
Industrien,  sondern  auch  verwandte  und  Hilfsindustrien  vereinigt  sind.  Wenn  die 
europäischen  Kartelle  als  homogene  bezeichnet  werden,  kann  man  in  Amerika  von 
homogenen  und  allogenen  Trusts  sprechen. 

Die  Ursachen  der  Trustbildung  sind  nicht  identisch  mit  den  l'rsachen  der 
Kartellbildung  in  Europa  Entstehen  die  europäischen  Kartelle  in  ihrer  Mehrzahl 
zur  Zeit  der  sinkenden  Konjunktur,  sind  genule  die  Trusts  der  jüngsten  Jahre 
in  der  Zeit  der  steigendeu  Konjunktur  entstanden;  den  organisatorischen  Trusts 
lassen  sich  die  spekulativen  an  die  Seite  stellen.  Der  spekulative  Trust  entsteht 
durch  „Gründung“.  Die  aus  der  Bildung  des  einheitlichen  Unternehmerwillens 
erhofften  Vorteile  werden  kapitalisiert,  scholl  in  der  Gegenwart  flüssig  gemacht. 
Pie  Überkapitalisierung,  die  Verwässerung  des  Aktienkapitals  ist  das  Mittel,  um 
Gründer  und  Kursgewinne  zu  erzielen. 

Bei  Betrachtung  der  Voraussetzungen  der  Trustbildung  muß  man  zwischen 
spekulativen  und  organisatorischen  Trusts  unterscheiden.  Die  spekulativen  Trusts 
haben  eine  Keibe  von  Voraussetzungen,  deren  Darlegung  eigentlich  eine 
Charakteristik  der  amerikanischen  Volkswirtschaft  wäre;  die  organisatorischen 
Trusts  beruhen  im  großen  und  ganzen  auf  denselben  Voraussetzungen  wie  die 
koiitineutal-europäischen  Kartelle;  doch  haben  die  spezifisch  amerikanischen  Fracht- 
begünstigungen an  der  raschen  Trustentwicklung  besonderen  Anteil.  Nur  Schutzzoll 
uud  Frachtbegünstigung  sollen  als  Voraussetzungen  der  Trusts  erörtert  werden. 

Der  Zusammenhang  von  Trust  und  Schutzzoll  ist  in  Amerika  wohl  ein 
doppelter.  Durch  die  schnelle  Aufeinanderfolge  der  Zollerhühuugen  wurde  eine 
überrasche  Industrieentwicklung  veranlaßt  und  so  eine  Überproduktion  herbei- 
gefübrt,  die  in  dem  Zusammenschluß  der  Konkurrenten  endigen  mußte.  Ferner 
aber  wird  das  ausschließende  Marktverhältnis  der  Trusts  durch  den  Ausschluß 


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CXIX.  und  CXX.  Plenarversammlung-  ;u 1 1, 1 

oder  diu  Erschwerung  der  ausländischen  Konkurrenz  gefestigt.  Dies  zeigt  sich 
besondere  in  den  Trostpreisen. 

Die  Frachtbegünstigungen,  die  „railroad  discriminationa“ , bestehen  in 
ihrer  einfachsten  Form  darin,  daB  einem  einzelnen  Verfrachter  günstigere  Tarife 
gewährt  werden  als  anderen.  Die  Konkurrenten  dieses  begünstigten  Verfrachters 
sind  auller  stände  den  Wettbewerb  auszubalten  und  müssen  trachten,  im  Vertrags- 
wege mit  dem  begünstigten  Verfrachter  derselben  Vorteile  teilhaftig  zu  werden, 
sie  streben  eine  Interessengemeinschaft  in  irgend  einer  Form  an. 

In  der  jüngsten  Zeit  werden  die  Wirkungen  der  spekulativen  Trusts  in  viel 
höherem  Grade  fühlbar  als  die  der  organisatorischen  Trusts.  Dies  ergibt  sich 
zum  Teil  aus  der  großen  Elastizität  der  amerikanischen  Volkswirtschaft,  zum 
größeren  Teil  aber  ans  der  besonders  günstigen  Konjunktur  der  letzten  Jahre. 

Eino  Analyse  der  Wirkungen  der  Trusts  ist  deshalb  schwierig,  weil  dio 
Trusts  meistens  in  kapitalintensiven  Industrien  entstehen,  so  daß  sich  die 
Wirkungen  der  Kapitalintensität  und  der  Trusts  nicht  gut  sondern  lassen.  Besondere 
Vorteile  bietet  die  Organisationsart,  welche  oben  als  allogen  bezeichnet  wurde, 
die  Vereinigung  korrelativer  Industrien.  Wenn  verschiedene  Stufen  der  Produktion 
innerhalb  derselben  Unternehmung  durchlaufen  werden,  entfällt,  juristisch 

gesprochen,  die  Notwendigkeit  in  vielen  Verträgen,  wirtschaftlich  gesprochen,  der 
Kampf  um  den  Vertragsinhalt  (Preise,  Lieferzeiten,  Vertragsdauer).  Dadurch  wird 
die  Widerstandsfähigkeit  der  Organisation  gegen  Konjunkturschwankungen  gehoben. 

Die  Preisbildung  der  Trusts  beruht  sicher  auf  den  Erwägungen,  die  den 
Monopolpreis  herbeifübren.  Doch  erfährt  der  Monopolpreis  gewisse  Modifikationen, 
da  die  Prämissen,  unter  denen  der  reine  Monopolpreis  zu  stände  kommt,  hier  nicht 
zntrefTen.  Es  wird  vor  allem  nicht  der  größte  unmittelbare  Tauschvorteil  ange- 
strebt. sondern  nur  die  größt«  Rentabilität.  Zweitens  aber  ist  das  Absatzgebiet 
eines  Trust  nicht  als  ein  unter  gleichartigen  Bedingungen  stehender  Markt  auf- 
zufassen, sondern  als  eine  Gruppe  verschiedener  Märkte,  deren  Preise  auch  ver- 
schieden sein  müssen.  Aus  den  lokalen  Preisverschiedenheiten  erstehen  den  Trusts 
viele  Gegner. 

In  diesen  Zusammenhang  gehören  auch  die  billigeren  Auslandspreise  und 
die  sogenannten  Ausfuhrprämien  der  Trusts,  die  aber  mit  den  staatlichen  Export- 
prämien nur  den  Namen  gemeinsam  haben. 

Das  Verhältnis  der  Trusts  zu  der  Arbeiterschaft  ist  nicht  ganz  klarzu- 
stellen. Das  prinzipielle  Wohlwollen  der  Gewerkvereine  beruht  im  wesentlichen  auf 
der  Analogie  von  Trust  und  Gewcrkverein;  die  Lohnstatistik  ist  nicht  genügend 
eindeutig,  um  darauf  Schlüsse  basieren  zu  können.  Die  Erfahrungen  aber,  welche 
bei  den  großen  Ausständen  der  letzten  Jahre  gemacht  wurden,  scheinen  für  die 
Arbeiter  ungünstig  zu  sein. 

Eine  Antitrustpolitik  mit  wirtschaftlichen  Mitteln  ist  in  den  Vereinigten 
Staaten  noch  nicht  inauguriert  worden,  die  Bewegung  zu  Gunsten  einer  Tarif- 
ermäßigung  hat  in  nächster  Zukunft  nicht  viel  Aussicht  auf  Erfolg.  Die  vielen 
Antitrustgesetze,  welche  versuchten  mit  den  Mitteln  des  Zivil-  und  Strafrechtes 
die  Trusts  zu  bekämpfen,  hatten  nicht  die  gewünschte  Wirkung.  Es  wurde  zwar 
eine  rechtliche  Umformung  der  Trusts  erzielt,  aber  wirtschaftliche  Änderungen 


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810  Verhandlungen  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkiwirte. 

traten  nur  insofern  ein,  als  da«  Trustproblem  durch  die  Probleme  des  Aktien- 
rechtes kompliziert  wurde.  Die  Gründe  für  die  Erfolglosigkeit  dioser  Gesetzgebung 
liegen  zum  Teil  in  der  Verfassung  der  Vereinigten  Staaten,  zum  Teil  in  der 
Materie  selbst.  Die  Begriffe,  mit  denen  die  Gesetzgebung  und  Rechtssprechung 
operieren  mußte,  sind  zn  wenig  präzis,  um  eine  konsequente  Judikatur  zu  ermög- 
lichen; die  Merkmale  der  Begriffe  restruint  of  trade,  public  policy,  monopoly, 
werden  den  Anschauungen  des  Richters  entnommen,  der  so  meist  nach  national- 
ökonomischen  Vorurteilen  Recht  spricht. 

Die  Trusts  sind  insofern  ein  europäisches  Problem,  als  die  Frage  gilt,  ob 
die  Trustbildung  typisch  ist.  ob  die  Bildung  einheitlicher  Unternehmerwillen  auch 
in  Europa  .statttindet.  Es  braucht  nicht  weiter  erörtert  zu  werden,  daß  dies  der 
Fall  ist.  Inwieweit  die  Trusts  Träger  der  amerikanischen  Konkurrenz  sind,  diese 
Frage  bezieht  sich  nur  auf  die  Überlegenheit  der  amerikanischen  Organisations- 
fortuen ; zweifellos  ist  besonders  der  allogene  Trust  den  europäischen  Formen 
überlegen;  wenn  wir  die  Anfänge  zu  solchen  Organisationen,  die  sich  in 
Europa  zeigen,  fördern,  dann  werden  wir  in  der  Lage  sein,  die  amerikanische 
Konkurrenz  mit  ihren  eigenen  Waffen  zu  bekämpfen,  neben  dem  wirtschaft- 
lichen Festungskrieg  auch  die  offene  Feldschlacht  aufzunehmen. 

Außerordentliche  Generalversammlung. 

Am  16.  Dezember  1902  — dem  80.  Geburtstag  August  Meitze  ns 
— hielt  die  Gesellschaft  eine  außerordentliche  Generalversammlung  zur  Ehrung 
August  Meitzens  ab. 

Präsident  Hofrat  Professor  Dr.  von  Philippovicli  gibt  zunächst  den 
Zweck  der  Einberufung  einer  außerordentlichen  Generalversammlung  bekannt,  den 
80.  Geburtstag  Professor  August  Meitzens  zu  feiern,  der  als  einer  der 
hervorragendsten  Agrarhistoriker  auch  für  uns  in  Österreich  eine  besondere  Be- 
deutung besitze;  Meitzen  habe  den  Ansiedlungsform en  auch  auf  österreichischem 
Boden  seine  Aufmerksamkeit  gewidmet,  er  habe  wiederholt  unser  Vaterland  bereist, 
mit  österreichischen  Gelehrten  Fühlung  genommen,  um  in  die  Ansiedluiigsver- 
lialtnisse  auf  österreichischem  Boden  Einblick  zu  gewinnen.  Der  Vorsitzende  bittet 
hierauf,  den  Antrag  des  Vorstandes,  August  Meitzen  zum  Ehrenmitglied  der 
Gesellschaft  zu  ernennen,  zu  erwägen,  und  ersucht  Se.  Exzellenz  Herrn  Dr.  von 
I ii  a in  a - S t e r n e g g einen  Vortrag  über  Meitzen  zu  halten.  Der  Text  dieses 
Vortrages  ist  in  dein  l.  Hefte  dieses  Jahrganges  veröffentlicht. 

Nach  Schluß  dieses  Vortrages  wurde  der  Antrag.  August  Meitzen  zam 
Ehrenmitglied  der  Gesellschaft  zu  ernennen,  mit  Akklamation  und  unter  lebhaftem 
Beifalle  angenommen,  worauf  der  Präsident  sagte:  Wir  wollen  Meitzen  noch  eine 
kleine  Huldigung  darbringeu.  indem  wir  anknüpfend  an  jene  Arbeiten  Meitzens. 
von  denen  uns  Exzellenz  von  luaina  erzählte,  uns  eine  Skizze  dessen  entwerfen  lassen, 
was  sich  an  jenes  Alte  anschließt  und  sich  als  Gegenstand  der  heutigen  Agrarpolitik 
darstellt.  Wir  kamen  deshalb  auf  die  Idee,  an  den  Vortrag,  der  uns  die  Person 
Meitzens  schildert,  eine  kurze  Darstellung  der  agrarischen  Operationen  in 
Österreich  folgen  zu  lassen,  insbesondere  jener  agrarpolitischen  Arbeiten,  welche 
unmittelbar  Zusammenhängen  mit  den  Forschnngsaufgaheu.  denen  Meitzen  «ddag. 


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CXXI.  Plenarveraammlang. 


311 


Hierauf  eröffnet«  der  Vorsitzende  die 

CXXI.  Plenarversammlung. 

in  welcher,  dieser  Anregung  Folge  leistend,  Herr  Dr.  Walter  Schiff  einen 
Vortrag  über  die  agrarischen  Operationen  in  Österreich  hielt.  Der 
Vortragende  führte  ans: 

Die  Flurverfassung  in  der  Mehrzahl  der  Gemeinden  Österreichs  leidet  an 
einer  Reihe  großer  Übelstände.  Diese  sind  verschieden  einerseits  hinsichtlich  der 
extensiven,  anderseits  hinsichtlich  der  intensiven  Kulturen;  die  extensiven  Kul- 
turen. leiden  an  einer  7.u  starken  Konzentration  des  Besitzes  oder  doch  an  einer 
zu  starken  Gemeinsamkeit  der  Nutzungen;  die  intensiven  Kulturen  hingegen 
umgekehrt  an  einer  zu  starken  Zersplitterung.  Die  Nachteile  des  erstgenannten 
Zustandes  sind  gegenseitige  Konflikte  zwischen  den  mehreren  nutzungsberechtigten 
Personen,  ökonomische  Abhängigkeit,  schlechte  Bewirtschaftung.  Raubbau,  infolge 
dessen  Verschlechterung  der  Landeskultur;  die  Nachteile  der  Zersplitterung  bei 
den  intensiven  Kulturen  sind  Verlust  an  produktivem  Boden,  Steigerung  der 
Bestellungskosteil,  wechselseitige  ökonomische  Abhängigkeit. 

I.  Die  extensiven  Kulturen  befinden  sich  in  gemeinsamer  Nutzung  aller 
oder  doch  einer  großen  Anzahl  von  Bauern;  diese  sind  berechtigt,  im  Wald  sich 
das  erforderliche  Holz  schlagen,  die  notwendige  Streu  zu  sammeln,  ihr  Vieh  in 
die  Wälder,  auf  die  Alpen  oder  Hutweiden  zur  Weide  zu  treiben.  Diese  Natural- 
nutzungen sind  heilte  vielfach  noch,  namentlich  in  den  Alpciilämlcm,  für  die 
bäuerliche  Wirtschaft  unentbehrlich.  Die  Formen  dieser  gemeinsame)!  Nutzungen 
sind  sehr  verschied**» : bald  steht  das  Eigentum  am  Walde  und  au  der  Alpe 
einer  einzelnen  physischen  oder  juristischen  Person  zu,  und  die  Bauern  haben 
au  dom  Boden  jura  in  re  aliena,  also  subjektive  Privatrecht«,  Dienstbar- 
keiten; bald  liegt  Gemeindegut  vor,  wobei  alle  GemeindegeitosBen  oder  bestimmte 
Klassen  derselben  berechtigt  sind,  das  Gemeiudegut  zu  benutzen,  und  zwar  nicht 
kraft  eines  subjektiven  Privatrechtes,  sondern  als  Ausfluß  der  Geiiieiudeangehörigkeit, 
demnach  als  eine  öffentlich-rechtliche  Befugnis  ; oder  endlich  der  gemeinsam  ge- 
nutzte Boden  steht  im  Eigentum  der  Nutzungsberechtigten  selbst,  die  Nutzungen 
sind  hier  Ausfluß  des  Miteigentums. 

Im  ersten  Falle,  dem  der  Forst-  und  Weideservituten,  besteht  der  Übelstaud. 
daß  beide  Teile  einander  ökonomisch  schädigen  können,  daß  sie  sich  in  einer 
wechselseitigen  wirtschaftlichen  Abhängigkeit  befinden.  Die  Servitutsberechtigten 
gehen  schonungslos  mit  dein  fremden  Walde,  der  fremden  Weide  um;  die  Dienstbarkeit 
hindert  den  Gutsbesitzer,  den  Betrieb  rationell  zu  gestalt«»,  intensivere  Wirtschafts- 
methoden einzuführen.  Anderseits  befindet  sich  auch  der  Servitutsberechtigte  Bauer 
in  einer  stark  wirtschaftlichen  Abhängigkeit  von  dem  Grundherrn.  Dieser  hat  nebst 
den  ungesetzlichen  auch  eine  groß*-  Anzahl  von  ganz  gesetzlichen  Mitteln,  um  den 
Servitutsberechtigten  die  Nutzungen  zn  verleiden;  er  kann  diesen  dabei  so 
chikanieren,  ihn  so  sehr  schädigen,  daß  er  auf  die  Ausübung  seines  Rechtes  ver- 
zichten und  damit  die  Grundlage  seiner  wirtschaftlichen  Existenz  aufgeben  muß. 

Andere  Übelständ«  liegen  dort  vor,  wo  der  extensiv  benutzte  Boden  Ge- 
meingut ist  oder  einer  der  unorganisierten  Gemeinschaft  von  Bauern  gehört. 


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:S12  Verhandlungen  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkswirt*. 

Dioso  beiden  Formen  kann  man  unter  dem  Kamen  der  agrarischen  Ge- 
meinschaften zusamineufassen.  Es  ist  vielfach  kein  Organ,  keine  Autorität 
da,  die  für  eine  ordentliche  Bewirtschaftung  und  für  eine  'pflegliche  Behandlung 
der  Kulturen  sorgen  würde.  Die  Nutzungsrechte  der  einzelnen  Genossen  sind  in 
der  Regel  nicht  ziffermiiällig  bestimmt,  sondern  sie  lauten  auf  den  Haus-  und 
Gutsbedarf,  wodurch  der  Willkür,  dem  Eigennutz  Tür  und  Tor  geöffnet  ist  Der 
wirtschaftliche  Zustand  der  meisten  agrarischen  Gemeinschaften  ist  ein  elender; 
die  Wälder  werden  devastiert,  die  Alpen  und  Weiden  mit  Vieh  überstellt,  so 
daß  sich  ihre  Ertragsfähigkeit  immer  mehr  vermindert.  Durch  die  Devastiernng 
der  Wälder  sind  in  vielen  Gebirgsgegenden  neue  Wildbäche  entstanden  und  die 
alten  au  Gefährlichkeit  gewachsen. 

II.  Das  Acker-  und  Wiesenland  kann  auf  sehr  verschiedene  Weise  unter 
die  einzelnen  Bauerngüter  verteilt  sein.  Boi  uns  herrscht  die  Gemengelage, 
der  Streubesitz  vor;  d.  h.  das  Bauerngut  besteht  aus  einer  sehr  großen  Anzahl 
von  Parzellen,  die  ganz  zerstreut  in  den  verschiedenen  Teilen  der  Dorfflur  gelegen 
sind.  Es  ist  durchaus  nichts  Seltenes,  daß  ein  Bauerngut,  aus  50,  00,  70  Stücken 
besteht,  die  oft  mehrere  Kilometer  weit  voneinander  entfernt  sind.  Außerdem 
sind  die  einzelnen  Besitzstückc  irrationell  geformt,  and  sie  stoßen  nicht  au  Wege 
oder  Straßen  an.  Diese  Flureinteiluug  hat  zahlreiche  und  schwerwiegende  Nach- 
teile zur  Folge. 

Aus  je  mehr  einzelnen  Parzellen  ein  Besitz  von  gegebener  Grüße  besteht, 
um  so  länger  muß  der  gesamte  Umfang,  die  gesamte  Länge  der  Grenze  wordeu. 
Damit  steigt  aber  einerseits  die  Möglichkeit  für  fremde  Eingriffe  von  Mensch  nnd 
Vieh  und  für  die  Invasion  von  Pflanzenschädlingen,  vor  allem  aber  der  Verlust  an 
produktiven  Boden,  denn  die  Grenze  von  zwei  Grundstücken  ist  keine  ganz  mathe- 
matische Linie,  sondern  ein  Kain  oder  eine  Furche  von  wenigstens  SO  cm  Breite. 

Auch  die  ungünstige  Form  der  Parzellen  erhöht  die  Betriebskosten  und 
den  Flächenverlust,  denn  auch  sie  steigert  die  Länge  der  Grenze.  Denn  je  un- 
gleicher die  Seiten  bei  rechteckiger  Form  des  Grundstückes  sind,  um  so  gröfler 
ist  dessen  Umfang.  Ganz  besonders  nachteilig  sind  Parzellen  mit  stumpfen  oder 
spitzen  Winkeln.  Diese  können  mit  den  gewöhnlichen  Ackergeräten  nicht  bestellt 
werden,  sondern  müssen  auf  mühselige  und  kostspielige  Weise  mit  der  Hand  be- 
arbeitet werden. 

Auch  die  gegenseitige  Entfernung  der  Parzellen  erschwert  die  Bodenbe- 
stellung aufierordeiitlich;  sie  macht  eine  große  Anzahl  von  unproduktiven  Gängen 
und  Fuhren  notwendig,  welche  die  Betriebskosten  erhöhen  müssen. 

Endlich  stoßen  nicht  alle  Parzellen  an  Wege  nnd  Straflen  an,  können  also 
nur  über  das  Grundstück  eines  Nachbars  betreten  werden.  Übertritts-  und  Über- 
falirtsrechte  können  natürlich  nur  zu  solchen  Zeiten  ausgeübt  werden,  wo  dies 
für  das  zwischeniiegeude  Feld  unschädlich  ist.  Dadurcli  wird  der  eine  Landwirt 
in  der  Bestellung  seines  Bodens  davon  abhängig,  was  sein  Nachbar  baut ; es 
besteht,  wenn  auch  nicht  rechtlich,  so  doch  faktisch,  ein  Flurzwang,  der  dem 
Fortschritt  auf  landwirtschaftlichem  Gebiete  so  auflerordeutlich  hinderlich  ist 

Die  Servitutswälder  haben  gegenwärtig  eine  Ausdehnung  von  l'/j  Millionen 
Hektar,  15  Proz.  der  gesamten  Waldfläclic.  Die  agrarischen  Gemeinschaften 


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i A \ I.  Plenarversammlung. 


313 


bedecken  in  zwölf  Kronländern  eine  Fliehe  von  mehr  ak  3,000.000  Hektar,  d.  h. 
mehr  als  31  Proz.  der  Untweiden,  Alpen  and  Wilder.  Von  25.000  Katastral- 
gemeinden haben  nur  4700  oder  21  Proz.  überwiegend  arrondierten  Besitz, 
2000  = 9 Pmz.  Hofsystem  mit  Gemengelage,  17.000  = 70  Proz.  Dorfsystem 
mit  Gemengelage.  Der  Streubesitz  dominiert  demnach  in  mehr  als  V,  aller 
Katastralgemeinden  Österreichs,  und  zwar  auch  in  den  Alpenländem. 

Wenn  gegenwärtig  der  Bauernstand  sich,  zwar  nicht  überall  aber  doch 
großenteils,  in  einer  bedrängten  Lage  befindet,  so  ist  dies  nach  Ansicht  des 
Beferenten  wesentlich  mit  auf  die  besprochene  Flurrerfassung,  auf  die  Servituten* 
nnd  Gemeinschaftsverhältnisse,  auf  die  irrationelle  Flureinteilung  zurückzuführen. 

Sicherlich  spiele  auch  die  geringe  allgemeine  technische  und  ökonomische 
Bildung  des  Bauernstandes  sehr  stark  mit  und  das  Sinken  der  Getreidepreise. 
Doch  könne  man  behaupten,  daß  die  hier  besprochenen  Übelstände  den  Bauern- 
stand weit  mehr  gefährden  als  jene  Dinge,  welche  die  agrarischen  Parteien  in 
den  letzten  Jahrzehnten  so  sehr  bekämpfen:  Freiteilbarkeit,  gleiches  Erbrecht, 
freie  Verschuldbarkeit  der  Bauerngüter  oder  dei  Tenninhandel.  Es  sei  daher 
zweifellos  Pflicht  des  Staates  einzngreifen,  um  die  herrschenden  Übelstände  zu 
beseitigen.  Es  könne  dabei  zwar  nicht  ohne  die  Ausübung  eines  gewissen  Zwanges 
abgehen,  bei  den  Servitnten  und  bei  den  agrarischen  Gemeinschaften  int  Sinne 
einer  gänzlichen  Beseitigung  des  Rechtsverhältnisses  oder  doch  im  Sinne  einer 
genauen  Regulierung  desselben,  hinsichtlich  der  Finreinteilnng  im  Sinne  einer 
zwangsweisen  Zusammenlegung  der  Parzellen  in  der  ganzen  Flur;  aber  da  dieser 
Zwang  nur  ausgeübt  werde  für  die  wirtschaftliche  Freiheit  des  Landwirtes,  so 
bewege  mau  sich  damit  durchaus  in  der  Linie  des  ökonomischen  Liberalismus. 

In  Preußen  hat  denn  auch  die  Beseitigung  der  in  Rede  stehenden  Überreste 
der  alten  Agrarverfassung  in  unmittelbarer  Folge  der  Bauernbefreiung  und  Grund- 
entlastnng  sehr  radikal  stattgefunden. 

In  Österreich  hat  man  nur  die  Forst-  und  Weideservitnton  mit 
einer  gewissen  Energie  angepackt.  Ein  Patent  vom  Jahre  1853  ordnet  an.  dall 
alle  solche  Dienstbarkeiten  von  Amt*  wegen  entweder  durch  Ablösung  beseitigt 
oder  doch  reguliert  werden  müssen,  und  tatsächlich  ist  diese  Operation  im  großen 
und  ganzen  in  allen  Kronländern  schon  längst  beendigt. 

Allein  deren  Wirkung  war  in  weiten  Teilen  Österreichs  von  großem  Schaden 
für  die  nutzungsberechtigten  Bauern.  Das  Gesetz  nimmt  so  einseitig  Partei 
zu  Gunsten  der  großen  Wald-  und  Alpenbesitzer  und  zum  Nachteile  der  Bauern, 
daß  diese  dort,  wo  Ablösungen  vorgenommen  wurden,  für  die  Aufhebung  ihrer 
Rechte  kein  entsprechendes  Äquivalent  erhielten  und  so  materiell  geschädigt 
wurden.  In  den  Alpenländern,  daun  auch  in  Galizien  sind  viele  Bauern  an  der 
Servitutenablösung  zu  Grunde  gegangen. 

Die  Regulierung,  die  in  vielen  Kronländern  die  Kegel  gebildet  bat.  war 
vielfach  eine  so  ungenügende,  die  Bauern  wurden  dabei  oft  so  benachteiligt,  daß 
auch  gegenwärtig  trotz  der  durchgeführten  Regulierung  die  Bedrückung  der 
nutzungsberechtigten  Itanem  fortdauert,  daß  auch  jetzt  keineswegs  Ruhe  und 
Ordnung  herrscht,  vielmehr  der  Jahrhunderte  alte  heftige  Kampf  um  die  Wald- 
und  Weideuutzu ugen  weiter  gekämpft  wird. 


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314 


Verhandlungen  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkswirte. 


Dieser  für  die  Kulturen  so  schädliche  Kampf  kann  nur  durch  eine  neuer- 
liche Operation  beseitigt  werden.  Die  unablösharen  Servituten  müssen  überall  dort 
für  ablösbar  erklärt  und  auch  abgelöst  werden,  wo  dies  möglich  ist,  ohne  den 
Wirtscbaftsbetrieb  der  berechtigten  Dauern  au  schädigen.  Wo  dagegen  auch  heute 
noch  die  Bauern  auf  die  Naturalnutznngcn  nicht  verzichten  können,  dort  müßte 
eine  neuerliche  und  viel  genauere  Regelung  der  Verhältnisse  vorgenommen 
werden. 

Das  Bedürfnis  nach  Beseitigung  oder  Regulierung  der  agra- 
rischen Gemeinschaften  und  nach  einer  Neneinteilung  der  Feld- 
fluren  hat  in  Österreich  viel  später  zu  gesetzlichen  Normen  geführt,  die  bisher 
leider  noch  nicht  von  besonders  großer  Wirksamkeit  gewesen  sind. 

Der  Keim  für  die  geringe  praktische  Wirksamkeit  dieser  Gesetzgebung  liegt 
schon  darin,  daß  sie  bloße  Rahmengesetze  sind,  die  nnr  dann  und  dort 
in  Kraft  traten,  wann  und  wo  ausführende  Landesgesetze  erlassen  werden.  Nun 
hätte  allerdings  die  Regierung  auf  die  Landtage  einen  Druck  in  der  Richtung 
ausüben  können,  daß  diese  möglichst  rasch  die  notwendigen  Landesgesetze  be- 
schließen; aber  das  geschah  leider  nicht.  Der  Kifer  der  Regierung  war  offenbar 
erkaltet.  Nur  in  einigen  wenigen  Landtagen  wurden  sofort  Regierungsvorlagen 
eingebracht.  Manche  Länder,  wie  z.  B.  Galizien,  mußten  erst  viele  Jahre  lang 
inständig  bitten,  ehe  sie  Regierungsvorlagen  erhielten.  Die  Salzburger  Landes- 
gesetze. die  im  Jahre  1892  publiziert  wurden,  sind  heute  — nach  10  Jahren 
— noch  nicht  in  Wirksamkeit,  weil  die  Durchführungsverordnung  hiezu  derzeit 
noch  nicht  erlassen  ist! 

So  sind  denn  ßemeinheitsteilungs-  und  Kommasaationsgesetze  zunächst  nur 
in  Niederösterreich.  Schlesien  und  Mähren  zu  stände  gekommen  — das  Salz- 
burgische zählt  ans  dem  angeführten  Grunde  nicht  mit  — , außerdem  Gesetze 
über  Teilung  und  Regulierung  von  agrarischen  Gemeinschaften  in  Kärnten  und 
Krain.  Krst  in  den  allerletzten  Jahren  ist  wieder  ein  gewisser  Fortschritt  be- 
merkbar; in  den  beiden  zuletzt  genannten  Kronländem  wurden  Zusammenlegungs- 
gesetze erlassen,  in  Galizien  kam  endlich  sowohl  ein  Kommassationsgesetz  als 
auch  ein  Gesetz  über  agrarische  Gemeinschaften  zu  stände.  In  den  anderen 
Kronländem  hat  die  Regierung  Vorlagen  überhaupt  nicht  eingefiracht,  mit  Aus- 
nahme von  Böhmen,  wo  der  Landtag  eine  solche  teils  aus  unbegründeten  staats- 
rechtlichen Kompetenzbedenken,  teils  aus  nicht  unberechtigten  sachlichen  Hin- 
wendungen gegen  das  Kommassationsgesetz  verworfen  hat. 

Der  oberste  Grundsatz  der  Gesetze  ist,  daß  diese  Operationen  in  der 
Regel  nur  über  Verlangen  eines  Teiles  der  Grundbesitzer  vorgenommen  werden 
dürfen,  und  daß  die  überstimmten  Beteiligten  sich  dem  Zwange  der  Zustimmenden 
fügen  müssen.  Man  mnß  es  außerordentlich  bedauern,  daß  die  Regulierung 
der  agrarischen  Gemeinschaften  nicht  imperativ,  von  Amts  wegen  angeordnet 
worden  ist.  Kür  die  Provokation  ist  mit  gewissen  lokalen  Ausnahmen  die  Zu- 
stimmung der  Hälfte  der  Beteiligten  erforderlich.  Diese  Norm  erschwere,  meint 
der  Referent,  die  Provokation  sehr. 

Ist  die  Einleitung  der  agrarischen  Operation  erfolgt,  so  wird  dnreh  eigens 
bestellte  Behörden  (Lokal-,  Landes-,  Ministerialkoinmission)  in  einem  ziemlich 


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CXXI.  Plenam  »Sammlung. 


315 


komplizierten  Verfahren  die  Operation  durchgefübrt.  Sie  besteht  bei  der  Regelung 
der  Gemeinschaft  in  einer  genauen  Festeteil ong  der  Nutzungsrechte  selbst,  in  der 
Aufstellung  der  Verwaltungsnonnen  und  in  der  Schaffung  von  Verwaltungs- 
organen für  die  Gemeinschaft  Bei  der  Teilung  der  Gemeinschaft  wird  nach  dem 
gegenseitigen  Wert  Verhältnis  der  Nutzungsrechte  das  gemeinschaftliche  Grund- 
stück geteilt.  Für  die  Zusammenlegung  der  Grundstücke  muß  für  jede  einzelne 
Parzelle  die  Fläche  und  deren  Wert  festgestellt  werden;  hierauf  werden  in  der 
Flur  die  gemeinsamen  Anlagen  (Wege.  Brücken,  Entwässerungen.  Bachregnlierungen 
u.  s.  w.)  projektiert,  endlich  wird  ein  Plan  für  eine  neue  Flureinteilung  verfaßt, 
wobei  die  neuen  Besitzungen  aus  einigen  wenigen,  möglichst  rationell  geformten 
und  leicht  zugänglichen  Abtindungsstücken  bestehen  sollen.  Die  einzelnen  Fest- 
stellungen und  Bewertungen,  die  der  Lokal  kommissär  vomimmt,  müssen  in  der 
Form  von  Registern  und  Plänen  öffentlich  kund  gemacht  und  durch  eine  längere 
Frist  zu  jedermanns  Einsicht  aufgelegt  werden.  Gegen  sie  können  die  Beteiligten 
Rechtemittel  an  die  Landeskoinmission  und  die  Ministerialkominissiou  ergreifen. 
Ist  über  diese  Rechtsmittel  rechtskräftig  entschieden,  daun  wird  der  Teilungs- 
oder Regnlierungsplan  ausgeführt,  für  die  Zusammenlegung  der  Grundstücke  muß 
hingegen  erst  in  diesem  Stadium  noch  eine  zweite  Abstimmung  der 
Grundbesitzer  vorgenommen  werden,  wobei  ein  Zusammenlegungsplan  nur 
dann  als  angenommen  gilt,  wenn  sich  mehr  als  die  Hälfte  der  Grundbesitzer 
dafür  ausspricht,  und  wenn  auf  die  den  letzteren  gehörigen  Grundstücke  wenigstens 
*/a  des  Katastralertrages  der  zu  kom massierenden  Fluren  entfallen.  Kommt  diese 
qualifizierte  Majorität  nicht  zu  stände,  so  sind  die  ganzen  langjährigen  Arbeiten 
nmsonst  gewesen,  die  Zusammenlegung  wird  nicht  durchgeführt,  und  die  Antrag- 
steller haben  nach  den  meisten  Landesgesetzen  auch  noch  die  Kosten  zu  tragen. 

In  dieser  Bestimmung  erblickt  Referent  einen  ernstlichen  Fehler  des  Ge- 
setzes. Die  ganzen  Kommassationsarbeiten  worden  dadurch  auf  das  Niveau  eines 
bloßen  Experimente  herabgedrückt.  Die  Notwendigkeit  der  zweiten  Abstimmung 
müsse  auch  das  Verfahren  selbst  beeinflussen.  Diese  soll  nur  durch  die  Grund- 
sätze der  Gerechtigkeit  und  der  technischen  Zweckmäßigkeit  bestimmt  sein.  Wegen 
der  zweiten  Abstimmung  müsse  der  ausfühlende  Beamte,  will  er  nicht  umsonst 
gearbeitet  haben,  auch  die  unberechtigten  Ansprüche  und  unzweckmäßigen  Wünsche 
derjenigen  Grundbesitzer  berücksichtigen,  welche  durch  ihren  größeren  Besitz 
ihrer  Abstimmung  einen  besonderen  Nachdruck  verleihen  können. 

Die  Erfolge  der  agrarischen  Operationen  waren  in  qualitativer  Beziehung 
durchaus  sehr  gute.  Die  Teilung  der  Gemeinschaften  hat  zu  einer  besseren  Aus- 
nützung des  Bodens  und  zu  einer  sorgfältigeren  Pflege  desselben  geführt.  Aus 
der  Zusammenlegung  der  Grundstücke  sind  für  die  betreffenden  Gemeinden  außer- 
ordentlich große,  wirtschaftliche  Vorteile  erwachsen. 

Zu  bedauern  ist,  daß  der  quantitative  Erfolg  dieser  Gesetzgebung  hinter  den 
gehegten  Erwartungen  und  den  berechtigten  Wünschen  weit  zurückgeblieben  ist. 

Bis  zun\  Jahre  1897  waren  erst  56  Zusammenlegungen  beantragt,  24 
davon  durchgefübrt. 

Bis  Ende  1901  waren  noch  nicht  100.000  Hektar  agrarischer  Gemein- 
schaften reguliert  oder  geteilt. 


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316 


Verhandlungen  dar  (MMllft  österreichischer  Volkswirt«. 


Referent  schloß:  Kine  hochwichtig«,  für  das  Gedeihen  der  bäuerlichen 

Landwirtschaft  entscheidende  Aufgabe  haben  Gesetzgebung  und  Verwaltung  in 
Österreich  zu  lösen  bisher  erst  begonnen.  Ks  ist  von  der  allergrößten  volkswirt- 
schaftlichen Wichtigkeit,  daß  alle  Faktoren  Zusammenwirken,  um  die  Flurver- 
fassnng  in  rationeller  Weise  umzugestalten.  Hiezu  ist  nötig 

1.  hinsichtlich  der  Servitutengrundstücke  die  Durchführung  einer  neuerlichen 
Ablösung»’  und  Regulierungsaktion  von  Amts  wegen; 

2.  hinsichtlich  der  agrarischen  Gemeinschaften  die  Vornahme  von  Re- 
gulierungen von  Amts  wegen  in  all  den  Fällen,  wo  die  Teilung  nicht  provoziert  wird; 

3.  die  Erleichterung  der  Voraussetzungen  für  die  Teilung  dadurch,  daß 
die  Provokation  von  einer  Minorität  der  Beteiligten  genügt; 

4.  das  zuletzt  Gesagte  gilt  anch  von  den  Zusammenlegungen,  bei  denen 
insbesondere  die  zweite  Abstimmung  nach  Durchführung  des  ganzen  Verfahrens 
zu  entfallen  hätte; 

3.  in  allen  Kronländem,  in  welchen  ein  Bedürfnis  nach  Gomeinheita- 
reguliernng.  Teilungen  der  Kommassationen  besteht,  müßte  energisch  auf  das 
Zustandekommen  der  betreffenden  Landesgesetze  hingewirkt  werden,  die  Durch- 
führungsverordnungen müßten  schleunigst  erlassen  und  für  die  Bereitstellung  eines 
genügenden  technischen  Personals  müßte  gesorgt  werden; 

6.  endlich  müßten  alle  Mittel  angewendet  werden,  nm  die  ländliche  Be- 
völkerung von  den  großen  Vorteilen  der  agrarischen  Operationen  zn  überzeugen. 

Erst  wenn  alle  diese  Postulats  erfüllt  sein  werden,  werden  die  Vorbe- 
dingungen geschaffen  sein,  damit  auch  die  österreichische  bäuerliche  Landwirtschaft 
sich  die  ökonomischen  und  technischen  Errungenschaften  der  Gegenwart  aneigne, 
daß  sie  trotz  Ungunst  der  Konjunktur  sich  im  Kampfe  ums  Dasein  behaupte; 
denn  vorübergehend  mag  es  möglich  sein,  auch  das  Untüchtige  durch  künstliche 
Schranken  und  Stützen  zn  erhalten;  auf  die  Dauer  muß  jeder  Einzelne  nnd  so 
anch  jede  Klasse  durch  eigene  Kraft  die  Daseinsberechtigung  sich  erkämpfen. 

CXXII.  Plenarversammlung. 

Am  13.  Jänner  1903  hielt  Herr  Reichsratsabgeordneter  Wrabetz  einen 
Vortrag  über  die  Reform  des  Gesetzes  über  die  Erwerbs-  und 
Wirtschaftsgenossenschaften.  Dem  Wosen  und  dem  Zweck  der 
Genossenschaften  liegt,  wie  der  Referent  ausfuhrt.  der  Satz  zn  Gründe,  daß 
mehrere  kleine  Kräfte  vereint  eine  große  Kraft  bilden,  und  daß,  wenn  man 
etwas  für  sich  allein  nicht  zn  vollbringen  vermag,  man  sich  zu  diesem  Zwecke 
mit  anderen  verbinden  soll.  Die  Genossenschaft  soll  ohne  Ertötung  der  Selb- 
ständigkeit des  Individuums  jedem,  besonders  dem  wirtschaftlich  Schwachen 
lohnende  Tätigkeit  gewähren  oder  das  Erträgnis  seiner  eigenen  Tätigkeit 
lohnender  gestalten,  nicht  aber  eine  Form  der  Assoziation  für  kapitalistische  Kreise 
abgeben. 

Die  Genossenschaften  zerfallen  in  die  zwei  Hauptarten  der  Produktions-  und 
Distributivgenossenschaften.  Der  Zweck  der  Produktionsgenossenschaften  ist  die 
Vermehrung  der  Einnahmen,  und  ihre  Hanptarten  sind  Vorschuß-  und  Kredit- 
genossenschaften, Rohstoff-  und  Maguzinsgenossenschaften.  di«  sämtlich  mit  der 


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CXXIf.  Plenarversammlung.  :(I7 

gewerblichen  oder  landwirtschaftlichen  Produktion  Zusammenhängen,  nnd  endlich 
die  Produktivgenossenschaften  im  engeren  Sinn  des  Wortes.  Die  Distribntiv- 
gennssenschaften  haben  lediglich  den  Zweck  der  Verminderung  der  Ausgaben 
durch  Förderung  der  Wirtschaft  der  Mitglieder  im  engeren  Sinne,  es  sind  dies 
Konsumvereine  und  Baugenossenschaften.  Das  Hauptmerkmal  aller  Genossen- 
schaften ist.  daß  die  Mitglieder  die  Träger  des  Unternehmens  sind,  und  daß  sie 
auch  — die  Produktiv-  und  Magazinsgenossenschaften  ausgenommen  — die 
Kunden  des  Unternehmens  sein  sollen.  Dies  unterscheidet  die  Genossenschaft 
von  der  Aktiengesellschaft.  Unser  Genossenscbaflsgesetz  hat  sich  auch  nur 
physische  Personen  als  Mitglieder  gedacht.  Allerdings  sind  die  Meinungen  über 
diese  Frage  in  den  letzten  Jahren  vielfach  auseinandergegangen.  Keferent  steht 
auf  dem  Standpunkte,  daß  das  Genossenschaftswesen  nur  zur  Hebung  des 
materiellen  Wohles  physischer  Personen  gedacht  ist. 

Die  praktischen  Erfahrungen  in  den  29  Jahren  der  Geltung  des  Gesetzes 
haben  Mängel  mehrfacher  Art  gezeigt:  Dispositionsmängel  und  Unklarheit  im 
Gesetze  seihst.  Mißbräuche  und  Auswüchse  in  den  Genossenschaften,  Mißbräuche 
der  genossenschaftlichen  Form  durch  Kreise,  für  welche  sie  nicht  bestimmt  ist, 
und  prinzipiell  unrichtige  Auffassung  der  genossenschaftlichen  Tätigkeit  seitens 
der  staatlichen  Behörden.  Ein  neues  Genossenschaftsgesetz  soll  hier  Abhilfe 
schaffen.  Die  Regierung  bat  im  Jahre  1897  dem  Abgeordnetenhause  ein 
solches  Gesetz  vorgelegt;  seit  vorigem  Jahre  liegen  auch  zwei  Gesetzentwürfe 
von  Abgeordneten  vor.  Unser  Gesetz  vom  Jahre  1873  gewährt  den  Genossen- 
schaften vollständige  Autonomie  und  Bewegungsfreiheit;  es  enthalt  wenig  zwingende 
Bestimmungen,  überläßt  das  meiste  vollkommen  dem  freien  Ermessen  und  der 
Einsicht  der  Mitglieder,  ja  es  geht  soweit,  daß  nicht  einmal  der  Anfsichtarat 
für  die  Genossenschaft  obligatorisch  vorgeschrieben  ist.  Man  glaubt«,  die  Mit- 
glieder würden  sich  selbst  um  ihr  Interesse  kümmern. 

Die  internen  Mißbräuche,  die  durch  die  Beschaffenheit  der  meisten  genossen- 
schaftlichen Statute  bedingt  und  befördert  wurden,  sind  Allteilshäufungen  in 
einer  Hand,  ungleiches  Stimmrecht,  Zulassung  von  Stellvertretern  in  der  General- 
versammlung dadurch  bedingt*  Strohmännerwirtschaft  — Entziehung  des 
Stimmrechtes  der  Mitglieder  nnter  irgend  welchen  anstichhältigen  Gründen,  Ver- 
sagung der  Dividenden,  ein  autokratisches  Regime  des  Vorstandes,  der  sich  in 
solchen  Fällen  meist  .Direktion“  nennt.  Infolge  dieser  Mängel  kann  man  manche 
Genossenschaften  von  Aktiengesellschaften  trotz  der  großen  prinzipiellen  Ver- 
schiedenheit überhaupt  nicht  mehr  auseinander  kennen.  Der  große  Unterschied 
zwischen  ihnen  soll  nun  im  neuen  Genossenschaftsgesetze  nicht  nur  theoretisch 
festgehalten,  sondern  mehr  als  bisher  praktisch  verwirklicht  werden.  Gründungen, 
wie  Bräuhäuser,  Kartelle  n.  dgl.  in  genossenschaftlicher  Form  sollen  in  Zukunft 
verhindert  werden,  denn  das  kann  man  nicht  mehr  Entwicklung,  sondern  nnr  Miß- 
brauch der  genossenschaftlichen  Form  nennen.  Die  Genossenschaft  soll  in  erster 
Linie  die  Möglichkeit  der  Existenzverbesserung  der  kleinen,  unbemittelten  oder 
nur  schwach  bemittelten  Leute  bieten,  sie  soll  aber  nicht  der  Deckmantel  sein 
für  kapitalistische  Vereinigungen,  die  vielleicht  die  Erlaubnis  zur  Bildung  einer 
Aktiengesellschaft  nicht  bekommen. 

Zeitschrift  für  VolkawlrtMha/t,  Sozialpolitik  und  Vi>rtraltiiD(.  XII.  Band.  22 


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31* 


Verhandlungen  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkswirte. 


Um  solche  Mißbräuche  zu  vermeide»,  wird  es  notwendig  sein,  daß  der 
Reform  des  Ueuosseuschaftsgesetzes  eine  Reform  des  Gesetzes  über  die  Aktien- 
gesellschaften und  die  Schaffung  eines  Gesetzes  für  Gesellschaften  mit  beschrankter 
Haftpflicht  vorausgehen.  Die  kapitalistischen  Genossenschaften  und  ihr  ganzes 
Gebaren  führen  zu  einer  unrichtigen  Auffassung  der  genossenschaftlichen  Tätig- 
keit seitens  der  politischen  und  der  Finanzbehörden.  Sie  sehen  in  der  Regel  in 
allen  Genossenschaften  Erwerbsunteiuehinuugen.  Ks  ist  dies  im  Hinblick  auf  die 
Besteuerung  deshalb  wichtig,  weil  Erweibsgenossonschaften  doch  nur  jene  sind, 
welche  ihre  Tätigkeit  über  den  Kreis  ihrer  Mitglieder  hinaus  erstrecken.  Alle 
übrigen  fördern  doch  nur  das  ohnehin  schon  besteuerte  selbständige  Unternehmen 
des  einzelnen  Mitgliedes  der  Genossenschaft.  Die  Distributivgenossenschaften 
erwerben  aber  gar  nichts,  sondern  haben  lediglich  den  Zweck  der  Verminderung 
der  Ausgaben.  Diese  sollte  aber  keinesfalls  Gegenstand  der  Besteuerung  sein, 
weil  sie  keine  Vermehrung  des  Einkommens  bedeutet,  und  hier  eigentlich  eine 
Steuer  für  die  Sparsamkeit,  für  eine  vernünftige  und  ordentliche  Wirtschaft  im 
Hause  verlangt  wird.  Die  kapitalistischen  Answüchse  im  Genossenschaftswesen 
verhindern  jedoch  das  Platzgreifen  dieser  Ansichten  hei  uns.  Die  Auswüchse  im 
Genossenschaftswesen  haben  auch  dazu  geführt,  daß  unsere  Juristen  sich  eine 
andere  unrichtige  Konstruktion  zurecht  gelegt  haben : nicht  der  Erwerb  des 
Mitgliedes  werde  gefordert,  nicht  die  Ausgaben  des  Mitgliedes  werden  ver 
mindert,  nein,  die  Genossenschaft  als  juristische  Person  produziere  einen 
Gewinn,  und  dieser  Gewinn  werde  an  die  Mitglieder  verteilt.  Auch  wirtschaft- 
liche Körperschaften,  wie  die  Handelskammern,  sind  sich  übei  diese  Frage 
nicht  klar.  4 her  auch  unser  Handelsministerium  hat  in  dieser  Beziehung 
eiuen  falschen  Standpunkt.  Durch  das  Steuorgesetz  vom  25.  Oktober  18% 
wurden  die  Erwerbs-  und  Wirtschaftsgeiiossenschafteu  wieder  in  das  zweite 
Hauptstück  betreffend  die  Krwerbsteuer  von  den  der  öffentlichen  Rechnungs- 
legung unterworfenen  Unternehmungen  eingeruiht  und  zur  Entrichtung  einer 
Krwerbsteuer  verhalten.  Dadurch  ist  eigentlich  das  frühere  Gesetz  vom  27.  De- 
zember 1880.  das  die  Genossenschaften  von  der  Erwerbgteuer  des  Jahres  1812 
befreite  mit  der  Begründung,  daß  hier  ein  Erwerb  nicht  vorliege,  illusorisch 
gemacht.  Es  wurde  aber  eine  Unterabteilung  geschaffen  und  im  Absätze  II  des 
§ 83  des  zweiten  Hauptstückes  die  auf  Selbsthilfe  beruhenden  Unternehmungen 
im  Gesetze  als  gemeinnützige  Unternehmungon  angeführt:  das  Finanzministerium 
hat  bekannt  gegeben,  daß  die  im  zweiten  Hanptstücke  genannten  Genossen- 
schaften zu  den  Haiidelskamniorumlageu  nicht  heranzuziehen  seien.  Das  Handels- 
ministerium zieht  sie  aber  jetzt  alle  heran.  Das  Handelsministerium  sagt  hier: 
»Der  Konsumverein  hat  nach  seinen  Statuten  den  Zweck,  für  seine  Mitglieder 
Waren  gegen  Barzahlung  anzuschaffen  und  Kapitalien  zu  sammeln**  — das 
Ersparnis  bei  Einkäufen  nennt  das  Ministerium  eine  Sammlung  von  Kapitalien  — 
„was  sich  zweifellos  als  der  Betrieb  von  Handelsgeschäften  Im  Sinne  des 
Artikels  271  des  Handelsgesetzbuches  darstellt“.  Indessen  besitzen  wir  zwei  Ent- 
scheidungen des  Obersten  Gerichtshofes,  welche  gerade  das  Gegenteil  dessen  besagen. 

Alle  diese  Fragen  müssen  bei  der  Schaffung  eines  neuen  Genossenschafts- 
gesetzes zur  Lösung  kommen.  Dieses  solle  aber  auch  noch  folgende  Bestimmungen 


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CXXU.  Plenarversammlung. 


310 


enthalten : Schatz  der  Mitglieder  und  der  Gläubiger,  Mininialuntgliederzahl, 
Sicherung  des  Stimmrechtes,  Festsetzung  einer  Verechuldungsgrenze,  aber  nicht 
etwa  durch  das  Gesetz,  sondern  so,  daß  der  Generalversammlung  das  Recht 
zuerkannt  oder  vielmehr  die  Pflicht  auferlegt  wird,  die  Verschuldungsgrenze 
selbst  zu  bestimmen;  denn  jene,  welche  die  Haftung  für  die  Verbindlichkeiten 
tragen,  sollen  auch  die  Macht  haben,  zu  bestimmen,  wie  weit  sie  mit  dieser 
Haftung  gehen.  Ferner  müsse  der  Aufsichtsrat  als  obligatorische  Institution 
ausgesprochen,  die  obligatorische  Revision  eingeführt  werden.  Auch  solle  man 
die  diesbezügliche  Bestimmung  des  Revisionsgesetzes  herübernehmen.  Es  müsse 
weiters  die  volle  Einzahlung  der  Geschäftsanteile  normiert  werden,  damit  das 
manchmal  sehr  zweifelhafte  Gebaren  mit  den  gezeichneten  Geschäftsanteilen, 
welche  nie  eingezahlt  werden,  aber  immer  als  Aktiven  in  der  Bilanz  figurieren, 
a u führe.  Es  müsse  die  Nichtbelaatnng  der  Geschäftsanteile  ansgesprochen  werden, 
weil  sic,  wenn  sie  mit  Vorschüssen  belastet  sind,  für  die  Gläubiger  keinen  Wert 
haben.  Es  müsse  die  Nichtzulassung  von  Prokuristen  zum  gesamten  Geschäfts- 
betrieb ausgesprochen  werden,  denn  dadurch  werden  rein  kapitalistische  Unter- 
nehmungen hintangehalten,  um  welche  sich  weder  die  Leitang  noch  die  Mit- 
glieder viel  kümmern.  Es  müssen  ltispositivnormen  bezüglich  der  Veröffentlichung 
der  Bilanz  und  einer  Minimalmitgliederzahl,  ferner  solche  mit  Bezug  auf  die 
Verlustdeckungen  im  Falle  der  Liquidation  getroffen  werden;  nnd  endlich  sei  es 
der  Wnnsch  der  genossenschaftlichen  Kreise,  daß  die  anbeschränkte  Solidarhaft 
dnreh  die  Beseitigung  des  Einzelangriffes  im  Falle  des  Konkurses,  durch  die 
Solidarbürgschaft,  ersetzt  werde. 

Die  Genossenschaften  brauchen  auch  einen  Schatz  vor  den  allzn  zahlreichen 
nnd  oft  allzu  starken  staatlichen  Anforderungen.  Bisher  waren  die  Genossen- 
schaften lediglich  Drangsalierung*  und  Stenerobjekte.  Nach  Erlassung  des  Ge- 
setzes vom  27.  Dezember  1880  wurden  sofort  wieder  Versuche  gemacht,  die 
Errungenschaften  dieses  Gesetzes  illusorisch  zu  machen  oder  doch  zu  schmälern. 
Man  ist  mit  der  Auffassung  gekommen,  daß  die  Zulassung  von  Bürgen  bei  Er- 
teilung von  Vorschüssen  einen  Verkehr  mit  Nichtiuitgliedem  bedeute,  das  Gesetz 
»Iso  in  diesem  Falle  nicht  mehr  gelte.  Mit  dem  Steuergesetze  vom  25.  Oktober 
1890  konnten  die  Genossenschaften  im  großen  nnd  ganzen  zufrieden  sein.  Es 
ist  gelangen,  für  jene  Genossenschaften,  die  den  Verkehr  auf  die  Mitglieder  be- 
schränken. eine  ganz  bedeutende  Herabsetzung  der  Stenern,  und  zwar  um  mehr 
als  die  Hälfte,  durchzusetzen.  Aber  kaum  ist  das  Gesetz  in  Geltung,  werden 
wieder  Versuche  gemacht,  die  Begünstigungen  des  Gesetzes  möglichst  illusorisch 
zu  machen. 

In  dieser  Beziehung  ist  insbesondere  das  Kronland  Galizien  einfach  groß- 
artig. Die  Leistungen  daselbst  übertreffen  alles  bisher  Dagewesene.  Es  werden 
da  Vorschußvereine  als  nicht  begünstigte  erklärt,  weil  die  Mitglieder  nach  dem 
Statut  erst  dann  eine  Dividende  bekommen,  wenn  ihr  Geschäftsanteil,  der  sich 
nur  auf  50  Kronen  beläuft,  voll  eingezahlt  ist.  Die  Steuerbehörde  erklärt:  weil 
die  Betreffenden  keine  Dividende  bekommen,  sind  sie  nicht  Mitglieder,  ergo  ver- 
kehrt die  Genossenschaft  mit  Nichtmitgliedern,  ergo  genießt  sie  keine  Begün- 
stigung. Also  von  der  Ezisteuz  eines  Genossenscbaftsgosetzes,  das  genau  sagt, 

22* 


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320 


Verhandlungen  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkswirte 


wie  jemand  Mitglied  einer  Genossenschaft  wird,  und  welche  Pflichten  er  damit 
zu  übernehmen  hat,  wissen  manche  HezirkshanptmaniiKchaftei!  in  Galizien  bis 
heute  nichts. 

Diese  und  andere  Hedrängiiiigeu  der  Genossenschaften,  die  auf  der  reinen 
Selbsthilfe  beruhen,  vertragen  sich  durchaus  nicht  mit  der  staatlicherseits  so  oft 
zur  Schau  getragenen  oder  vielleicht  auch  wirklich  beabsichtigten  Forderung  des 
Genossenschaftswesens.  Den  Gipfelpunkt  hnreaukratischer  Auffassung  bildet  aber 
jener  Vorfall,  der  die  Sparkassa  in  Cattaro,  eine  Kreditgenossenschaft,  betraf. 
Diese  Genossenschaft  wurde  vom  Handelsgerichte  anstandslos  registriert,  die 
Statthalterei  von  Zara  sistierte  aber  die  Tätigkeit  mit  der  Begründung,  daß  ihr 
verschiedene  Bestimmungen  des  Statutes  nicht  entsprechen.  Unter  anderem  ist 
darunter  auch  ein  Paragraph  angeführt,  in  welchem  bestimmt  wird,  daß  die  Ge- 
nossenschaft für  ihre  Mitglieder  die  Umwechslung  von  Geldsorten  und  derlei 
Bankgeschäfte  vornehme.  Die  Statthalterei  von  Zara  sagt,  daß  Bankgeschäfte  nicht 
in  den  Wirkungskreis  solcher  Genossenschaften  gehören.  Die  Einstellung  der 
Tätigkeit  dieser  Genossenschaft  erfolgte  auf  Grund  des  § 7 des  kaiserlichen 
Patentes  vom  20.  April  1854! 

Unseren  ganzen  Verwaltnngskörper  durchdriugt  schon  großenteils  der  Geist 
des  § 14.  Heben  dieser  ewigen  Bedrängung  der  selbständigen  Genossenschaften 
geht  ein  auffälliges  Protegieren  aller  mehr  oder  weniger  abhängigen  und  aller 
staatlicherseits  oder  ländiicherseit*  oder  von  Handelskammern  subventionierten  Ge- 
nossenschaften. Diese  erfreuen  sich  jeder  Gunst;  diesen  wird  jede  Steuer- 
und  Gebührenerleichterung  gewährt.  Es  erweckt  förmlich  den  Eindruck,  daß  man 
abhängige  Genossenschaften  will,  und  man  jene  Unabhängigkeit,  die  das  Ge- 
nossenschaftswesen bis  heute  besessen  hat,  nicht  gerne  sieht  und  beseitigen  will. 
Und  doch  ist  diese  Staatsunterstützuug  ein  sehr  zweischneidiges  Schwert,  sie  ist 
ein  Linsengericht  gegenüber  der  Gesamtheit  und  ein  Danaergeschenk  gegenüber 
der  einzelnen  Genossenschaft,  denn  im  Jahre  1809  betrugen  die  Betriebsmittel 
der  «sonstigen  Genossenschaften-  681/*  Millionen  Kronen.  Die  Staatsunterstützung 
für  die  Jahre  1898  und  1809  beträgt  nur  140.000  Kronen.  Im  allgemeinen 
macht  sonach  die  Unterstützung  wenig  aus,  trotzdem  kommen  aber  einzelne  Ge- 
nossenschaften vor,  bei  denen  ein  sehr  schlechtes  Verhältnis  des  eigenen  Ka- 
pitals zum  fremden  bestand.  Man  gründet  auch  in  neuerer  Zeit  gewerbliche 
Kreditgenossenschaften  unter  der  Patronanz  des  HandelNininisteriums,  die  an- 
geblich Kaiffeisenkassen  sein  sollen,  es  aber  gewiß  nicht  sind,  zumal  das  System 
der  Raiffeisenkassen  ausschließlich  für  die  Landwirtschaft  und  nicht  für  das  Ge- 
werbe berechnet  ist.  Diese  Kassen  haben  eine  recht  zweifelhafte  ökonomische 
und  kaufmännische  Unterlage. 

Von  einem  neuen  Genossciischaflsgcsetze  ist  zu  verlangen,  daß  es  gegen 
jede  mißbräuchliche  Anwendung  der  genossenschaftlichen  Formen  Sicherheit  ge- 
währe, daß  es  aber  der  volkswirtschaftlichen,  echten  genossenschaftlichen  Tätigkeit 
hindernde  Schranken  nicht  ziehe  und  daß  die  bisherige  Autonomie  der  Genossen- 
schaften auch  in  einem  neuen  Gesetze  keine  Schmälerung  erfahre. 

Nach  einer  kurzen  Diskussion  wurde  die  Versammlung  geschlossen. 


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DIE  VORGESCHLAGENE  EINFÜHRUNG  DES  GRUND- 
BUCHSYSTEMS IN  GRIECHENLAND. 


VON 

C.  1>.  C A R U SSO. 


An  anderer  Stelle1)  erwähnten  wir.  daß  die  griechische  Regierung  unter 
Ministerpräsidenten  Trikupis  im  Jahre  1888  auC  Grund  der  Erkenntnis,  daß 
die  dem  bayrischen  Hypotheken-  und  dem  französischen  Transskriptiousgesetze 
nachgebildeten  griechischen  Gesetze  den  Forderungen  des  Rechtsverkehrs  mit 
Immobilien  und  des  Hypothekarkredits  nicht  entsprechen,  deu  prinzipiellen  Ent- 
schluß faßte,  zu  einer  durchgreifenden  Reform  des  geltenden  Immobiliarrochtes 
zu  schreiten.  Zwar  führten  die  diesbezüglich  gepflogenen  Vorberatungen  nicht  zu 
einem  endgültigen  Ergebnis,  doch  wurde  beschlossen,  als  nötige  Grundlage  für 
die  Reform  eine  Vermessung  aller  Grundstücke  durchzufuhren  und  diese  auf  eine 
neue  Landestriangnlierung  zu  stützen  — nachdem  die  älteren  Triangulierungs- 
arbeiten  unzureichend  waren.  Letztere  Arbeit  — zu  deren  Leitung  und  Aus- 
führung einige  in  geodätischen  Arbeiten  erfahrene  Offiziere  ans  der  österreichisch- 
ungarischen  Armee  beigezogen  wurden  — ist  sofort  in  Angriff  genommen  worden, 
und  es  wurde  seither  das  Netz  erster  Ordnung  im  ganzen  Lande  durchgeführt; 
auch  sind  gegenwärtig  die  Triangulierungen  niederer  Ordnung  in  Ausführung  be- 
griffen. Hingegen  blieb  die  Frage  der  Reform  des  Immobiliarrechtes  • 9 Jahre 
laug  in  vollem  Stillstand,  wofür  auch  außerordentliche  Regebenheiten  kaum  eine 
genügende  Rechtfertigung  zu  bieten  vermögen. 

Im  Jahre  1898  erwog  die  Regierung,  unter  Ministerpräsidenten  Zaiuiis, 
die  zur  Bekämpfung  der  Krisis  in  den  korintheuproduzierendeii  Laiidesteilen  zu 
ergreifenden  Maßregeln.  Hiebei  wurde  der  Schaffung  gesunder  Grundkreditver- 
hältnisse  die  gebührende  Aufmerksamkeit  geschenkt,  es  wurde  zu  diesem  Zwecke 
eine  entsprechende  Umgestaltung  des  geltenden  Immobiliarrechtes  als  nötig  er- 
kannt und  eine  solche  grundsätzlich  wieder  beschlossen.  Es  wurden  dabei  zwar 
das  Ziel  und  das  Wesen  der  Reform  festgestellt,  zu  näheren  Bestimmungen  kam 
es  jedoch  nicht,  da  die  diesbezügliche  Tätigkeit  durch  den  Regierungswechsel 

')  Zeitschrift  für  die  gesamte  Staatswissenschaft  (Tübingen;  - l'JOO  • I.  H*  ft. 
„Grundeigentum,  Flaclicnstener  etc.  in  Griechenland.*4 


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322 


Carusso. 


unterbrochen  wurde.  Es  folgte  sodann  eine  dreijährige  Stillatandspcriode,  über 
deren  Berechtigung  deneit  noch  kein  Urteil  abzugeben  ist.1; 

Als  Ende  des  Jahres  1901  das  Ministerium  Zaimis  wieder  zur  Leitung 
der  Regierungsgeschäfl*  berufen  wurde,  beschloß  es  die  ungesäumte  Wiederauf- 
nahme der  Vorbereitungen  zur  Reform  des  Immobiliarrechtes.  Die  bereits  im 
Jahre  1898  hierüber  festgestellten  Grundsätze  sowie  die  vergleichende  Übersicht 
der  ausländischen  Gesetzgebungen  führten  zur  Überzeugung,  daß  in  Griechenland 
ein  Grundhuchsystem  nach  Vorbild  des  in  Österreich  und  in  Deutschland  geltenden 
cinzuführen  ist.*) 

Eine  besondere  Kommission  unter  dem  Vorsitze  des  Justizministers  wurde 
mit  der  Ausarbeitung  eines  Gesetzentwurfes  betraut,  worin  die  Reform  in  ihren 
Grundzügen  zu  bestimmen  war.  Innerhalb  einiger  Monate  verrichtete  die  Kom- 
mission ihre  Arbeit  und  es  wurde  der  Kammer  ein  Entwurf  betreffend  „die  Ein- 
führung des  Grundbuchsystems“  vorgelegt  (April  1902). 

In  der  Begründung  wird  angeführt,  daß  die  vorgescblagene  Vervollkommnung 
des  Immobiliarrechtes  sich  auf  die  Gnindbucheinführung  stützen  werde,  denn  nur 
eine  solche  könne  den  erhöhten  Forderungen  des  Rechtsverkehrs  mit  Immobilien 
und  des  llypothekarkredits  genügen.  Allen  Rechten  auf  unbewegliches  Eigentum 
soll  in  gleichem  Maße  Schutz  geboten  werden,  die  Entscheidung  von  Streitig- 
keiten soll  möglichst  erleichtert,  Betrug  und  Chikano  möglichst  erschwert  werden. 
Auch  wird,  um  irrigen  Auffassungen  zuvorzukommen,  erwähnt,  daß  ein  auf  dem 
Grundbuchsystem  beruhendes  Immobiliarrecht  zwar  die  Form  der  Immobiliar- 
geschäfte neu  regeln  müsse,  daß  dadurch  jedoch  nicht  der  freie  Gebrauch  oder 
die  Ausdehnung  der  verschiedenen  Rechte  auf  unbewegliche  Sachen  berührt 
werden.  Neben  ihrer  Bedeutung  als  Justizmaßregel  wird  die  wirtschaftliche  Trag- 
weite der  vorgeschlagenen  Reform  folgendermaßen  hervorgehoben.  Die  geklärten 
und  gesicherten  Rechtsverhältnisse  werden  dem  Grundeigentnine  einen  leichteren  und 
gesünderen  Kredit  znführen  und  den  Verkehrswert  der  Grnndstücke  erheben. 
Es  werde  aber  außer  der  unmittelbaren  Hebung  des  Grundkrodits  auch  der  For- 
sonalkrcdit  der  Grundeigentümer  unterstützt  werden,  die  Wirksamkeit  der  ver- 
schiedenen Krediturganisationen  werde  sich  besser  entfalten,  cs  werde  gegen  den 
Wucher  ein  harter  Schlag  geführt,  dio  Erhaltung  der  hochwichtigen  Klasse  von 
kleinen  Grundeigentümern  gefördert  und  den  besonderen  Interessen  der  Land- 
wirtschaft gedient  werden.  Auch  werde  im  allgemeinen  die  Grnndstückverinessnug 
und  die  Einführung  des  Grundbuches  jene  amtliche  Kenntnis  filier  die  Grundstücke 
und  die  daran  bestehenden  Rechtsverhältnisse  gewähren,  deren  Mangel  bisher  in 

*)  Um  wieder  das  allgemeinere  Interesse  für  die  Frage  anzuregen,  hatten  wir  im 
Jahre  1901  bei  der  juridischen  Abteilung  des  Vereines  „Parnassos“  sowie  bei  der  sta- 
tistischen, der  landwirtschaftlichen  und  geographischen  Gesellschaft  in  Athen  die  Aus- 
schreibung voo  Preisen  veranlaßt  für  kurze  Aufsätze  über  verschiedene  auf  die  geplante 
Reform  bezügliche  Themata.  Wir  erfahren  soeben,  daß  im  ganzen  nur  drei  Aufsätze  ein- 
gesendet wordeu  seien  und  man  sich  gegenwärtig  mit  der  Beurteilung  derselben  behufs 
Preiserteilung  befasse. 

*J  Bereits  im  Jahre  1889  hatte  die  griechische  Regierung  amtliche  Informa- 
tionen Ober  die  Einführung  des  Grandbuchsystems  in  Bosnien  und  der  Herzegowina 
schöpfen  lassen. 


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Die  vorgeachlageuc  Einführung  des  Grund buchayttem»  in  Griechenland.  323 


Griechenland  die  richtige  Lösung  manches  das  unbewegliche  Eigentum  betreffenden 
Problems  verhindert  hat. 

Nach  den  Bestimmungen  des  Entwurfes  wird  im  gesamten  Lande  die  Ver- 
messung und  Kartierung  der  Grundstücke  angeordnet  und  es  ist  diese  Arbeit  auf 
die  von  der  Kriegsverwaltung  bereits  ausgeführte  und  weiterhin  zu  vervollstän- 
digende Triangulierung  höherer  und  niederer  Ordnung  zu  stützen.  Mit  der  Her- 
stellung der  Karte  und  mit  der  Flächen berechnung  der  Grundstöcke  wird  der 
kartographische  Dienst  des  Kriegsministeriums  betraut;  diese  Arbeiten  und  die 
Fortführung  des  Kartenwerkes  ist  durch  königliche  Verordnung  zu  regeln.  Auf 
der  Karte  sind  alle  Linien.  Objekte  und  Zeichen  anzugebeu.  wodurch  auf  dem 
Erdboden  die  Grenzen  von  Bezirken  und  Gemeinden  sowie  der  einzelnen  Grund- 
stücke bestimmt  sind.  Zur  Unterscheidung  der  Grundstücke  untereinander  "erhält 
jedes  derselben  auf  der  Karte  eine  besondere  Bezeichnung  mittels  Nummern 
oder  Buchstaben;  es  wird  ein  amtliches  (ȟterverzeichnis  aufgestellt,  auf  welches 
sich  die  Anlegung  der  Grundbücher  zu  stützen  hat.  In  dem  Güterverzeichnisse 
können  aulier  den  für  die  Grundbuchsanlogung  erforderlichen  Angaben  über  die 
Grundstücke  und  deren  Besitzer  (vermutliche  Eigentümer)  auch  andere  Dateu 
über  das  unbewegliche  Eigentum  aufgenoinineii  werden,  und  ist  di«  Bestimmung 
über  alles  diesbezügliche  durch  königlich«  Verordnung  zu  treffen. 

Besonderen  Kommissionen,  worin  die  Staats-.  Gerichts-  und  Gemeinde- 
behörden sowie  der  Vermessungsdienst  vertreten  sind  und  denen  ortskundige 
Leute  zum  Anweisen  der  Grenzen  und  die  Feldhüter  des  betreffenden  Bezirkes 
zugeteilt  werden,  liegt  die  Aufstellung  der  erwähnten  Güterverzeichnisse  ob  sowie 
das  Feststellen  der  Bezirks-,  Gemeinde-  und  Eigentumsgrenzen.  Uiefür  werden 
die  Vorstände  der  angrenzenden  Gemeinden  sowie  die  faktischen  Besitzer  der 
angrenzenden  Grundstücke  aufgefordert,  an  Ort  und  Stelle  persönlich  zu  erscheinen 
oder  sich  vertreten  zu  lassen.  Sind  die  beteiligten  Grenziiachbarn  einig  über  den 
Lauf  ihrer  gemeinschaftlichen  Grenzen,  so  ist  darüber  ein  besonderes  Protokoll 
anfzunehinen  und  wird  danach  der  Grenzlauf  auf  der  Karte  verzeichnet.  Unzu- 
reichende Grenzvermarkuiig  auf  dem  Erdboden  ist  durch  Setzen  von  GrHtizzeichen 
zu  ergänzen;  die  Kosten  sind  zu  gleichen  Teilen  von  den  Grenznachbarn  zu 
tragen.  Findet  hingegen  zwischen  den  Grenznachbarn  keine  Einigung  statt  oder 
Anden  sich  die  Beteiligten  bei  der  Grenzfee  Stellung  nicht  ein,  so  sind  die  von 
der  Kommission  als  wahrscheinlich  angenommenen  Grenzlinien  auf  der  Karte  als 
solche  zu  verzeichnen.  Der  dadurch  Beeinträchtigte  darf  innerhalb  bestimmter 
Frist  vor  Gericht  Klage  führen;  die  Verhandlung  darüber  hat  nach  einem  eigenen 
raschen  Verfahren  statt/u finden.  Durch  besondere  Anordnungen  und  Strafbe- 
stimmungen wird  bezweckt,  der  Kommission  und  dem  Vermessungspersonale  den 
freien  Zugang  zu  den  Grundstücken  zu  sichern,  die  für  die  Vennessungsarbeiten 
und  für  die  Grenzvermarkung  dienlichen  Signale  und  Zeichen  gegen  Entfernen 
oder  Beschädigung  zu  schützon,  die  Grenzanweiser  zu  wahrheitsgetreuen  Angaben 
zu  veranlassen  u.  s.  f. 

Mit  der  Anlegung  und  Führung  der  an  Stelle  der  bisherigen  Hypotheken- 
und  Transskriptionshnrher  tretenden  Grundbücher  wird  die  Justizverwaltung  be- 
traut.. worin  eine  für  dieso  Angelegenheiten  besondere  Dienstabteilung  geschaffen 


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324 


Carusso. 


werden  darf.  Im  allgemeinen  ist  in  jedem  Friedensgorichtsbezirko  ein  Grand- 
bachamt  za  errichten  und  ist  der  betreffende  Friedensrichter  der  Leiter  des 
Grandbachamtes;  in  den  Grundbuchämtern  werden  die  nach  Gemeindebezirken 
angelegten  Grundbücher  der  in  dem  Bezirke  liegenden  Gemeinden  geführt;  Ans- 
nahmebestimmungen  sind  durch  königliche  Verordnung  zu  treffen  und  darf  auf 
solchem  Wege  auch  die  Anlegung  und  Führung  besonderer  Bücher  für  Berg- 
werke u.  s.  f.  angeorduct  werden.  Alle  Grundstücke  sind  buchungspflichtig,  aus- 
genommen die  zum  öffentlichen  Gebrauche  dienenden  staatlichen  oder  gemeindlichen 
Bodenflächen.  Im  allgemeinen  erhält  im  Grundbuchs  jedes  Grnndstück  eine  eigene 
aus  mehreren  Abteilungen  bestehende  Stelle  Grundbachsblatt);  jedoch  kann  auch 
über  mehrere  demselben  Eigentümer  gehörende  und  im  Bezirke  desselben  Grnnd- 
buchaintes  liegende  Grundstücke  ein  gemeinschaftliches  Blatt  geführt  werden. 
Weitere  Bestimmungen  des  Entwurfes  betreffen  die  Vereinigung  mehrerer  Grund- 
stücke zu  einem  Grundstücke,  die  Zuschreibung  eines  Grundstückes  als  Be- 
standteil eines  andereu,  die  Belastung  eines  Grundstückteiles,  den  Fall,  wo  ein 
Grundstück  sich  über  die  Grenzen  eines  Grnndbuchbezirkes  hinausdebnt;  die 
öffentliche  Einsicht  in  die  Grundbücher,  die  Verantwortlichkeit  des  Grimdbucbs- 
führers  hinsichtlich  der  Erledigung  von  Anträgen  auf  Eintragung  in  das  Grund- 
buch, die  durch  höhere  richterliche  Funktionäre  über  die  Grandbnchämter  aus- 
zuübende Aufsicht,  die  Haftung  des  Staates  für  die  richtige  Führung  der  Grundbücher. 

Nach  Erwähnung  der  in  das  Grundbuch  zur  Eintragung  gelangenden 
Hechte  wird  der  Satz  ausgesprochen,  dafl  die  Eintragung  in  das  Grundbuch  eine 
wesentliche  Voraussetzung  für  die  Übertragung  von  Eigentum  und  von  dinglichen 
Rechten  an  Grundstücken  ist;  auch  ist  zur  Aufhebung  eines  Rechtes  an  einen) 
Grundstücke  die  Löschung  des  Rechtes  im  Grundbuche,  zur  Änderung  des  Inhaltes 
eines  Rechtes  die  Eintragung  derselben  im  Grundbuche  erforderlich.  Weitere  Vor- 
schritten haben  zum  Gegenstände:  das  Uangvorhältnis  unter  mehreren  ein  Grund- 
stück belastenden  Rechten;  die  Vormerkung  zur  Sicherung  des  Anspruches  auf 
Einräumung,  Aufhebung,  Änderung  des  Inhaltes  oder  des  Rangverhältnisscs 
eines  Rechtes  an  einem  Grundstücke  oder  einem  das  Grundstück  belastenden 
Rechte;  das  Nicliterlöschen  eines  Rechtes  an  einem  fremden  Grundstücke  durch 
die  Vereinigung  des  Eigentumes  und  des  Rechtes  am  Grundstücke  in  einer 
Person.  Ferner  wird  der  Satz  von  dem  öffentlichen  Glauben  des  Grundbuches 
aufgestellt  und  der  Auspruch  auf  Berichtigung  des  Grundbuches  und  die  Ein- 
tragung eines  Widerspruches  gegen  die  Richtigkeit  des  Giundbuclios  zugelasseii; 
die  Ersitzuug  des  Eigentumes  sowie  eines  anderen  zntn  Besitze  des  Grundstückes 
berechtigenden  Rechtes  wird  geregelt  zu  Gunsten  desjenigen,  der,  ohne  Be- 
rechtigter zn  sein,  als  solcher  im  Gruudbnche  eingetragen  ist;  es  wird  allge- 
ordnet, daß  durch  Voijäbrung  ein  mit  Unrecht  im  Grnudbuchc  gelöschtes  Recht 
au  einem  fremden  Grundstücke  erlischt;  desgleichen  auch  ein  krall  Gesetzes  ent- 
standenes, jedoch  in  das  Grundbuch  nicht  eingetragenes  Recht;  allgemein  unter- 
liegen die  Ansprüche  aus  eingetragenem  oder  durch  Eintragung  eines  Wider- 
spruches gewahrten  Rechte  der  Verjährung  nicht. 

Bezüglich  der  Ausführung  nnd  der  Reihenfolge  der  verschiedenen  Arbeiten 
sind  jeweilig  durch  königliche  Verordnung  zu  bestimmen:  die  Bezirke,  in  denen 


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Di«  vorgetchlagene  Einführung  des  Grundbuchsystema  in  Griechenland.  325 


die  Verdichtung  des  Triangulieningsnetzes,  die  Vermessung  und  die  Kartierung 
der  Grundstücke  und  die  Anlegung  des  Grundbuches  stattzufinden  hat;  für  jedeu 
solchen  Bezirk  die  Zoitfrist  für  den  Übergang  von  der  bisher  geltenden  Gesetz- 
gebung zu  dem  Grundbuchsrechte  und  der  Zeitpuukt  des  Inkrafttretens  der 
Grundbücher,  Feststellung  und  Vermarkung  der  Grenzen  sind  bezirksweise  inner- 
halb einer  durch  Verfügung  des  Justizministers  zu  bestimmenden  Zeitfrist  vor 
Beginn  der  Grundstückmessung  durchzuführen  und  ist  nach  Fertigstellung  der 
Karte  in  einem  Bezirke,  dieselbe  sofort  für  die  Anlegung  der  Grundbücher  zu 
benützen  und  im  Fortlaufenden  zu  halten. 

Zur  Deckung  der  Kosten  für  die  Herstellung  der  Karte  und  die  Anlegung 
der  Grundbücher  ist  jährlich  ein  besonderer  Posten  iu  den  Staatsvoranschlag 
aufzunehmen.  Für  die  Ausführung  dieser  Arbeiten  iu  den  korinthenproduzierendeu 
Laudesteilen  jedoch  wird  die  Korintheubank1)  zu  einem  bestimmten  jährlichen 
Beitrage  verpflichtet. 

Zur  Ergänzung  und  näheren  Ausführung  oberwähnter  der  neuen  deutschen 
Keichsgesetzgebung  entnommenen  wesentlichen  Sätze  des  Entwurfes  über  das 
materielle  Grundbuchsreclit  sind  offenbar  weitere  Gesetze  und  Verordnungen  notwendig. 
Der  Entwurf  stellt  auch  solche  in  Aussicht  und  erwähnt  jene  betreffend  die  zur 
Eintragung  der  Rechts&nderungen  in  das  Grundbuch  erforderlichen  Voraussetzungen, 
den  Übergang  von  dem  gegenwärtigen  zu  dem  neuen  Imntobiliari  echte,  die 
Eintragung  von  Rechten  auf  Bergwerke,  ferner  das  Verfahren  für  die  Herstellung 
und  die  Fortführung  der  Karte,  für  di«  Aufstellung  der  Güterverzeichnisse,  für 
die  Anlegung  der  Grundbücher,  die  Führung  derselben  und  der  Hilfsregister,  die 
innere  Einrichtung  der  Grundbücher  u.  s.  f. 

Der  Entwurf  wurde  jedoch  nicht  zum  Gesetze,  er  gelangte  nicht  einmal 
zur  Beratung.  Dies  war  vorausznsehen  bei  den  Schwierigkeiten,  gegen  welche  zu 
jener  Zeit  jedwede  Arbeit  im  Parlamente  zu  kämpfen  hatte:  auch  wurde  der 
Entwurf  mitten  in  einer  stürmischen  Budgetdebatte  und  knapp  vor  Schluß  der 
Session  der  Kammer  vorgelegt.  Trotzdem  ist  der  Entwurf  von  Bedeutung  iin 
Entwicklungsgänge  der  in  Betracht  kommenden  Frage,  denn  im  Entwurf«  wird 
dieselbe  viel  genauer  bestimmt  als  je  zuvor,  so  daß  nunmehr  die  Parteinahme 
für  oder  gegen  die  Reform  erleichtert  wird  und  der  Erörterung  engere  Greuzen 
gezogen  sind. 

Grundsätzlich  wurde  vermieden  au  die  vorgeschlagene  Reform  irgend  welche 
Steuermaßregel  anznknüpfen.  obwohl  es  in  Griechenland  sehr  not  tut  auf  dem 
Gebiete  der  Grnudbestenernng  fund  nicht  minder  auf  den  anderen  Steuergebieten) 
umgestaltend  einzugreifen;  und  das  völlige  Mißlingen  der  in  letzter  Zeit  ge- 
machten Versuche.  Flächenstenern  einzuführen,  mag  allen  jenen,  welche  die 
Notwendigkeit  amtlicher  Feststellung  der  Steuerobjekte  und  -Subjekte  verkeimen,  wohl 
ein  Besseres  gelehrt  haben.  Offenbar  werden  durch  die  Grundbucheinführung 
wichtige  Daten  für  die  Lösung  einzelner  Steucrproblenic  gewonnen,  doch  ist  dies 
nicht  Zweck  der  vorgeschlagenon  Reform;  nunmehr,  da  deren  Wesen  und  Ziel 
genau  bestimmt  ist,  kann  man  allen  jenen  Meinungen  entgegentreten,  die  Mol) 

*)  Siehe  den  auf  Seite  321  erwähnten  Aufsatz. 


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L.uuat'j 


:t2ii 

auf  Grund  französischer  Katasterverhältnisse  zu  einer  Verwirrung  von  Grund- 
steucrkatastcr-  un<l  Grundhnchwcscn  gelangen  und  dadurch  auch  zur  Irreführung 
weiterer  Kreise  von  Beteiligten  beitragen.  Die  Vorteile,  welche  die  Grundbücher 
dem  Grundcigentumc  bieten,  beeinflussen  dessen  Steuerkraft  günstig,  worin  die 
Berechtigung  für  die  Kosten  der  Grundbucbreform  gelegen  ist.  Die  Deckung  der- 
selben soll  nicht  dnreh  Schaffung  von  neuen  Steuerlasten,  sondern  nach  dem 
Geiste  der  die  Kostendeckung  betreffenden  Bestimmung  des  Entwurfes  soll  in 
Anbetracht  der  gegenwärtigen  Besteuerung  des  unbeweglichen  Vermögens  (um 
so  mehr  wenn  man  diese  Besteuerung  jener  der  übrigen  Roichtumsqncllen  gegen- 
üherstellt)  ein  Teil  des  .Steuerbeitrages  verwendet  werden  für  die  Durchführung 
der  hier  besprochenen,  solch  bedeutende  Vorteile  anfweisenden  Reform. 

Der  Entwurf  bildet  bezüglich  des  dariu  enthaltenen  Stoffes  jene  erste 
Aufstellung,  auf  welche  sich  nunmehr  vorteilhaft  eine  sorgfältige  Umarbeitung  an- 
lebuen  muH.  Neben  einigen,  dem  Sinne  oder  dem  Worte  nach  und  konsequen- 
terer oder  genauerer  Fassung  wegen,  nötigen  Änderungen  kommt  auch  die 
Frage  einer  Erweiterung  des  Inhaltes  des  Entwurfes  in  Betracht  mit  Bezug  auf 
die  uberwähnten  weiterhin  nötigen  Ergänzungsvorschrifteil,  wobei  doch  nicht  alle 
Eiiizelnbestinimniigeii  im  vorhinein  getroffen  werden  können  und  für  das  An- 
passen  einzelner  davon  an  die  Lokalforderungen  die  Erfahrungen  aus  dem  Gange 
der  ersten  Arbeiten  und  zum  Teile  auch  aus  versuchsweisen  Vorgehen  abzu- 
warten sind. 

Bezüglich  der  ferneren  vorbereitenden  Tätigkeit  hat  der  Justizminister  der 
nntor  seinem  Vorsitze  mit  der  Ausarbeitung  des  Entwurfes  zu  einem  bürgerlichen 
Gesetzbncbe  tätigen  Kommission  anheimgestellt,  heim  Entwerfen  des  Sachenrechtes 
die  vorgeschlagene  Grundburhseinfiihrung  zu  berücksichtigen  und  danach  auch  die 
in  der  übrigen  Gesetzgebung  nötigen  Umgestaltungen  zu  regeln.  Fenier  ordnet«  die 
Regierung  das  Sammeln  von  ausführlichen  amtlichen  Informationen  über  das  Grund- 
buchwesen  und  einigen  damit  zusammenhängenden  Snnderfragen  im  Auslände  au 
und  ist  die  diesbezügliche  Tätigkeit  im  besten  Vorschreiten  begriffen.  Eine  zweck- 
tnäflige  Verwertung  dieser  Informationen  ist  für  die  weitere  Gestaltung  der  vor- 
geschlagenen Reform  nötig  und  wird  ancli  dienlich  sein,  um  den  von  der  Re- 
gierung in  der  Frago  eingenommenen  Standpunkt  fernerhin  zu  behaupten.  Auf 
letzteres  ist  besonderes  Gewicht  zu  legen,  denn  in  der  Weise,  wie  gesetzgeberische 
Arbeiten  vorbereitet  nnd  von  der  Kammer  verrichtet  werden,  lädt  sieh  in  Griechen- 
land manchmal  noch  die  schädliche  Einwirkung  voll  Faktoren  erkennen,  welche 
den  Sitten  und  Gebränchen  der  inneren  Politik  nicht  fremd  sind.  Dabei  tritt 
auch  das  Unzulängliche  jener  Einrichtungen  hervor,  Welche  der  Verwaltung,  dem 
Parlamente  nnd  auch  der  Krone  streng  sachgemälie  Auskunft  nnd  Rat  für  die  Be- 
urteilung der  geseztgeberischcn  Maßregeln  vermitteln  sollten. 

Im  Interesse  des  objektiven  Vorgehens  in  der  Frage  der  Grnndbuchoin- 
führung  ist  der  Regierung  wiederholt  aiiheimgestclll  worden.  Erhebungen  rorzu- 
nehmen,  um  auf  statistischer  Grundlage  die  lokalen  Verhältnisse  festznstellen  und 
zu  beleuchten,  für  deren  Beurteilung  man  nur  auf  subjektive  Anschauungen  an- 
gewiesen ist.  Dies  wäre  einerseits  dienlich  znr  genaneren  Bestimmung  der  Wir- 
kungen der  Torgesr.hlagenen  Reform,  anderseits  nötig  für  die  Aufstellung  einiger 


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Die  rorgeschlagent  Einführung  Je«  Grundbechsjslems  in  Griechenland  :(27 


den  Lokalverhältnissen  anzupassenden  Vorschriften  der  neuen  Gesetzgebung  and 
für  das  Regeln  gewisser,  hauptsächlich  in  das  wirtschaftliche  Gebiet  fallenden 
Konsequenten  der  Grnndbucbeinführnng.  Die  Durchführung  solcher  Erhebungen 
ist  leider  bisher  ausgeblieben. 

Desgleichen  ist  es  tu  bedauern,  daü  die  Verdichtung  des  Triangulierungs- 
nettes  in  letzter  Zeit  nicht  das  für  die  hier  besprochene  Frage  erwünschte  Vor- 
schreiten aufzuweisen  hatte  und  es  erweckt  dieser  Umstand  das  Bedenken,  ob 
au  Stelle  der  allerdings  vorteilhaften  und  auch  beabsichtigt  gewesenen  Zontral- 
organisation  für  staatliche  kartographische  Arbeiten  nicht  eine  andere  Organisation 
treten  müßte. 

Es  ist  im  allgemeinen  ratsam,  die  Frage  der  Grundbuchcinführnng  als  eine 
nach  allen  Seiten  hin  möglichst  genau  abgegrenzte,  in  sich  abgeschlossene  Frage 
anzusehen  und  einer  praktischen  Lösung  zuznfnhren.  ohne  sie  von  anderen  all- 
gemeineren oder  spezielleren  Problemen,  mit  denen  sich  diese  Frage  berührt,  ab- 
hängig zu  machen.  Ein  solches  Abhängigkeitsverhältnis  würde  unberechenbare 
Aufschübe  nach  sich  ziehen  und  könnte  die  vorgeschlagene  Reform  sogar  zum 
Scheitern  bringen.  Zwar  folgt  der  Entwurf  dem  Gedanken,  die  Reform  selbständig 
in  Angriff  zu  nehmen,  doch  müßte  diese  Selbständigkeit  noch  bestimmter  bekundet 
und  sichergestellt  werden. 

Die  praktischen  Resultate  in  der  Frage  der  Grundbucheiiifübrnng  in  Griechen- 
land seit  dem  Jahre  1888  sind  allerdings  gering,  doch  wäre  es  nicht  gerecht,  dies 
ausschließlich  gewissen  spezifisch  lokalen  Umständen  zuzuschrciben:  man  muß  anch 
jene  Schwierigkeiten  in  Rechnung  setzen,  gegen  welche  die  Vorbereitung  und  die 
Durchführung  einer  solchen  Rcfnrm  zu  kämpfen  hat  und  welche  zwar  in  verschiedenem 
Maße,  jedoch  in  jedem  Lande  und  zu  jeder  Zeit  auftreten.  Erfreulich  ist  es 
jedenfalls,  daß  die  Frage  der  Gruudbucheinfdhrnng  in  Griechenland  nunmehr  be- 
deutend geklärt  und  sogar  zu  einer  Reife  gelangt  ist.  welche  bald  zur  prak- 
tischen Lösung  zu  führen  verspricht.  Anerkennung  verdient  diu  im  Jahre  11102 
von  der  Regierung  entfaltete  diesbezügliche  vorbereitende  Tätigkeit  und  cs  ist 
zu  heffeti,  daß  der  eingeschlageue  Weg  auch  weiter  befolgt  werde. 


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LITERATUR  BERICHT. 


Neuere  Literatur  über  Wirtschaftsgeschichte. 

Bulmerinc<i,  Stieda,  Brandt,  Lohmann.) 

Besprochen  von  Inania- Stern  egg. 

August  v.  Buliucrliicq,  Zwei  Kämmereiregister  der  Stadt  Riga.  Ein 
Beitrag  zur  deutschen  Wirtschaftsgeschichte.  Leipzig,  Duncker  & H timblot,  1902.  280  8. 

August  v.  Bulmerincq  hat  sich  um  die  Verfassnngsgeschichte  seiner  Vaterstadt 
schon  mehrfach  verdient  gemacht.  Seine  Schriften  über  den  Ursprung  der  Stadtverfassung 
Rigas  1894  und  die  Verfassung  der  Stadt  Kiga  im  ersten  Jahrhundert  der  Stadt  sind 
wertvolle  Beiträge  zur  deutschen  .Städtegeschichte.  Mit  der  vorliegenden  Arbeit  eröffnet 
der  Verfasser  einen  tieferen  Einblick  in  die  Finanxverwaltuug  der  Stadt  im  16.  Jahr- 
hundert. Die  beiden  Kämmereiregister  v«»u  1514/16  und  von  1555/56  geben  zwar  kein 
vollständiges  Bild  der  Stadttinanzcn.  aber  sie  enthalten  in  reichem  Detail  einen  so 
wesentlichen  Teil  derselben.  daß  sie  eine  Publikation  wohl  verdienten.  Der  Natur  des 
Amtes  entsprechend,  von  dem  sie  geführt  sind,  enthalten  die  Kämmereiregister  alle  Ein- 
Uuguugen  über  die  laufenden  täglichen  oder  wöchentlichen  Zahlungen  und  Eingänge 
eines  Wirtschaftsjahres.  Es  ist  sehr  bezeichnend  für  die  ganze  Art  der  Finanzverwaltung, 
daß  diese  Rechnungen  regelmäßig  mit  einem  Fehlbetrag  abscli  ließen,  da  die  dem 
Kämmerer  zur  Verfügung  gestellten  Einkünfte  nie  zur  Befriedigung  der  gewöhnlichen 
Anforderungen  an  seine  Kasse  ausreichten,  alle  außergewöhnlichen  Ausgaben  dagegen 
zunächst  von  dem  Kämmerer  vorschußweise  bestritten  werden  mußten  und  erst  nach  der 
Abrechnung  ihm  wieder  vergütet  wurden,  wie  der  Kümmerer  auch  innerhalb  des  Wirt- 
schaftsjahres laufende  Ausgaben  aus  seiner  Tasche  bestreiten  mußte,  insoweit  die  ihm 
zugewiesenen  laufenden  Einnahmen  sich  zeitlich  nicht  mit  seinen  Ausgaben  deckten. 
Abgesondert  von  den  Käimnereirechuungen  wurden  in  Riga  alle  Einnahmen  verrechnet, 
welche  an  bestimmten  Terminen  erhoben  wurden,  wie  Miet-  und  Pachtgelder.  Grundzinse 
und  Kenten,  die  im  über  reddituum  eingetragen  sind,  welche  J.  G.  Napiersky  schon 
1881  veröffentlicht  hat,  ferner  Schoß  und  später  auch  Akzisen,  die  Einkünfte  der 
besonders  verwalteten  Wirtschaftsgebiete  und  alle  Zahlungen,  welche,  erst  nach  Ablauf 
des  Jahres  eingeteilt,  für  das  ganze  Jahr  oder  während  des  Jahres  in  bestimmten  Beträgen 
au  bestimmten  Tagen  zu  machen  waren;  diese  Einnahmen  und  Ausgaben  werden  entweder 
unmittelbar  vuu  den  Bürgermeistern  verwaltet  oder  von  besonderen  Beamten  der  einzelnen 
Verwaltungszweige.  Es  ist  sehr  verdienstlich,  daß  der  Herausgeber  auch  die  Einkünfte 
der  Stadt  an  Zinsen,  Reuten,  besouders  Wirtschaftsführung  sowie  über  einzelne  Ver- 
waltungszweige anhangsweise  mitgeteilt  hat.  um  den  Überblick  über  die  Finanzlage  der 
Stadt  zu  erweitern.  Aber  auch  die  volkswirtschaftlichen  Verhältnisse,  Produktion.  Löhne, 
Preise  etc.  erhalten  aus  den  Registern  eine  wertvolle  Beleuclituug. 

Die  Edition  der  beiden  Register  ist  sehr  sorgfältig  und  besonders  verdient 
Anerkennung,  dall  sich  der  Verfasser  die  Mühe  nicht  verdrießen  ließ,  eine  vollständige 
statistische  Aufarbeitung  derselben  durchzuführen,  wodurch  derartige  Quellen  erst  recht 
benutzbar  werden 

Wilhelm  Stleda.  Die  Anfänge  der  Porzeilanfabrikation  auf  dem 
Thüringer  Walde.  Beiträge  zur  Wirtschaftsgeschichte  Thüringens.  I.  Band.  Jena, 
Ü.  Fischer,  1902.  VIII  und  425  8. 

Der  Industriezweig,  dessen  Anfänge  der  gelehrte  Verfasser  für  das  Gebiet  des 
Thüringer  Waldes  untersucht,  ist  dermalen  auf  diesem  Gebiete  sehr  st  alt  lieh  vertreten. 


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Literatnrberirht. 


320 

Derzeit  bestehen  in  ileu  thüringischen  Staaten  nicht  weniger  als  112  Porzellaufabiiken, 
darunter  einige,  die  Hunderte  von  Arbeitern  beschäftigen.  Die  Einbürgerung  dieser  erst 
seit  dem  Anfang  des  18.  Jahrhundert«  auf gekommenen,  bald  aber  von  den  Höfen  wie 
ira  wohlhabenden  Bürgertume  sehr  begünstigten  Industrie  scheint  aber  speziell  in 
Thüringen  unter  sehr  großen  Schwierigkeiten  sich  vollzogen  zu  haben.  Nachdem  im 
Jahre  1710  auf  der  Albrechtsburg  in  Meißen  die  erste  deutsche  Porzellanuiauufaktur 
eingerichtet  war  und  bald  zu  \ ielbcneidetem  Weltruf  gedieh,  erscheint  auch  bald,  im 
Jahre  1718  die  erste  Porzellan fahrik  des  Thüringer  Waldes  in  Saalfeld,  ini  selben  Jahre, 
in  welchem  auch  die  nachmals  berühmte  Wiener  Porseilaumanufaktur  entstand  Aber 
sowohl  diese,  wie  die  bald  nachfolgenden  Gründungen  in  Rudolstadt.  Ilmenau  und  Coburg 
konnten  trotz  der  ausgiebigen  fürstlichen  Patronanz  während  der  ersten  40  Jahre  der 
Geschichte  dieses  Industriezweiges  zu  keiner  irgend  namhaften  Leistungsfähigkeit  kommen. 
Rr>t  den  Bemühungen  zweier  tüchtiger  und  unternehmender  Männer,  welche,  unabhängig 
von  Böttgcrs  Entdeckung,  das  Geheimnis  der  Fabrikation  von  Hartporzellan  fanden, 
gelang  es  seit  1760  bi«  znm  Ansgange  des  18.  Jahrhunderts  12  Fabriken  in  Thüringen 
anzulegen,  von  denen  die  Mehrzahl  sich  bis  auf  den  heutigen  Tag  erhalten  hat.  Über 
die  technische  und  kunstgewerbliche  Seite  der  altthüringischen  Porzellanmanufaktur 
vermag  der  Verfasser  bei  dem  Mangel  an  Aktenmaterial  und  bei  dein  sehr  spärlichen 
Vorkommen  älteren  Porzellans  thüringischer  Provenienz  leider  mir  sehr  wenig  zu  berichten. 
Dennoch  kann  er  es  sich  zum  Verdienst  anrechnen,  daß  er  soviel  als  möglich  die 
Anhaltspunkte  gesammelt  hat,  welche  es  den  Museen  und  Liebhabern  ermöglichen,  das 
thüringische  Porzellan  zu  erkennen,  auch  wenn  eine  Marke  fehlt  Eine  Reihe  von 
interessanten  Aktenstücken,  zum  Teil  mit  genauen  Kostenberechnungen,  Lohnlisten  u.  n., 
auch  der  Text  eines  Kartellvertrages  sieben  thüringischer  Porzcllaufabriken  aus  dem 
Jahre  1814  geben  tiefen  Einblick  in  die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  dieses  Industrie- 
zweige« und  seine  wechselnden  Schicksale  im  ersten  Jahrhundert  seines  Bestände«. 

Otto  Brandt,  Studien  zur  Wirtschaft«-  und  Verwaltungsgeschichte 
der  Stadt  Düsseldorf  im  19.  Jahrhundert.  Düsseldorf,  A.  Bagel.  1902. 
XIII  und  436  S. 

Mit  der  vorliegenden  Schrift  hat  die  Stadt  Düsseldorf  allen  gröberen  Kommanal- 
verwaltungen ein  sehr  gutes*  Beispiel  gegeben,  indem  sie  einen  geschichtlichen  Überblick 
über  die  wichtigsten  Lebcnsgebicte  der  Stadt  während  des  ganzen  abgelaufenen  Jahrhunderts 
bietet.  Unsere  Städte  sind  lange  Zeit  hindurch  sozusagen  ins  blaue  hinein  gewachsen, 
ohne  sich  über  die  Tragweite  dieser  Tatsache  eine  weitere  Rechenschaft  zu  geben  und 
ohne  sich  selbst  klare  Ziele  ihrer  eigenen  Entwicklung  zu  setzen.  Heute  ist  es  allerdings 
schon  allgemein  zum  Bewußtsein  gekommen,  welch  große  Bedeutung  die  Stftdte- 
verwalt urigen  für  das  ganze  Wirtschaftsleben  der  Nation  haben.  Die  Dinge  liegen  in 
mancher  Hinsicht  heute  wieder  ebenso  wie  schon  im  späteren  Mittelalter,  wo  ja  auch 
die  Städte  und  ihre  wirtschaftliche  Verwaltung  vorbildlich  für  die  folgende  landes- 
herrliche Wirtschaftspolitik  geworden  sind.  Insbesondere  dürften  die  wirtschaftlichen 
Unternehmungen  der  Städte  heutzutage  als  die  Pfadfinder  auf  dem  weiten  Gebiete  der 
öffentlichen  Unternehmungen  bezeichnet  werden  und  mit  Recht  bat  der  Verfasser  der 
vorliegenden  Studie  dieser  Seite  der  Kommunalverwaltung  ganz  besonders  seine  Auf- 
merksamkeit zugewendet.  — Es  ist  ein  besonderer  Vorzug  dieser  Darstellung,  daß  sie 
auch  die  Statistik  soviel  als  möglich  herbeigezogen  hat,  utn  die  Dimensionen  des 
Wachstums  der  Stadt  klarzustellen;  das  Material  ist  zwar  lückenhaft  und  gewiß  nicht 
leicht  zu  beschaffen  gewesen,  aber  cs  ist  damit  doch  wieder  einmal  der  Beweis  geliefert, 
daß  sich  die  volkswirtschaftliche  Entwicklung  des  19  Jahrhunderts  doch,  wenigstens  in 
großen  Zügen,  immerhin  auf  statistischer  Grundlage  rekonstruieren  läßt,  wenn  man  nur 
die  Muhe  nicht  scheut,  die  in  den  Verwaltungsakten  aufgespeicherten  Materialien  äun- 
zugraben  und  mit  wissenschaftlichem  Geiste  zu  bearbeiten  Wir  kOnneu  es  uns  nicht 
versagen,  einige  der  besonders  sprechenden  Zahlen  aus  dem  Werke  mittu  teilen,  um  die 
gewaltigen  Dimensionen  zu  ersehen,  welche  eine  Stadt  vom  Hange  Düsseldorfs  im  Laufe 
de«  Jahrhunderts  angenommen  hat. 


st*- 


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330 


Literaturbericht. 


Einwohner 1*00:  16.000  19DÖ:  213.71 1 

Gesamt  gäterverkehr  im  Dussel* 

dorfer  Hafen 1881:  7.106  Tonnen  1900  : 620.802 Tonnen 

Verkehr  bei  der  Düsseldorfer 
Anstalt  der  Preußischen  Bank 

beziehungsweise  der  Reichsbank  1*60:  33,109.200  Taler  1900:  2.109,325.100  Mark 

Briefe  angekommen 1883:  487.516  1900:  30,912.408 

Eisenbahnverkehr: 

Personen 1845  : 234.370  1900  : 2,845.972 

Güter 1845:  1,001.145  Zentner  1900  : 8,220.345  Tonnen 

Telegramme  aufgegeben  und  ein- 
gelangt   1869:  81.202  1900:  1,661.367 

Friedrich  Lohmaim,  Die  staatliche  Regelung  der  englischen  Woll- 
industrie vom  15.  bis  zum  18.  Jahrhundert.  (Schindlers  staats-  and  sozial- 
wissenschaftliche  Forschungen,  XVIII,  1.)  Leipzig,  Dunckler  & Hamblot,  1900. 
X und  100  S. 

.Seit  sich  die  Nationalökonomie  daran  gewöhnt  hat,  der  Morphologie  der  volks- 
wirtschaftlichen Verhältnisse  ein  schärferes  Augenmerk  zuzuwenden,  fördert  auch  die 
Wirtschaftsgeschichte  immer  mehr  fruchtbare  Analogien  zu  unseren  modernen  volkswirt- 
schaftlichen Zuständen  durch  eine  genauere  Klarstellung  der  inneren  Struktur  der  älteren 
Wirtschaftfrverfnssung  zu  Tage.  Vieles,  was  noch  bis  vor  kurzem  als  ein  spezifisches 
Erzeugnis  moderner  wirtschaftlicher  Kultur  gegolten  hat,  erscheint  nunmehr,  nachdem 
das  beobachtende  Ange  an  den  Tatsachen  des  Lebens  geschärft  ist,  auch  bcIioq  in  älterer 
Zeit  in  ähnlichen  Formen  vorhanden,  als  ein  mehr  oder  weniger  notwendiges  Durchgangs- 
Stadium  in  dem  unablässigen  Prozett  der  Entwicklung  menschlicher  Einrichtungen.  So 
verhält  es  sich  z.  B.  mit  dem  in  dem  vorliegenden  Buche  anschaulich  geschilderten  Ver- 
lagssystem in  der  englischen  Wollindustrie,  welches,  mindestens  vom  Beginne  der  zweiten 
Hälfte  des  15.  Jahrhundert«  angefangen,  dieser  Industrie  zum  groüen  Teil  ihr  charakte- 
ristisches Gepräge  gegeben  hat  und  nicht  nur  in  einem  heftigen  Kampfe  mit  dem  alten 
Wollenhandwerk,  sondern  auch  bald  in  einer  Reihe  von  Konflikten  mit  der  öffentlichen 
Gewalt  sich  durchzusetzen  versuchte.  Gerade  die  frühreife  englische  Gesetzgebung  and 
Wirtschaftspolitik  hat  es  aber  zuwege  gebracht,  daß  die  Verlagsorganisation  neben  dem 
allgflnstigen  Wollhandwerk  und  der  gleichfalls  schon  frühzeitig  auftretenden  selbständigen 
Hausindustrie  zum  raschen  Aufblühen  der  englischen  Tuchindustrie  beitrug  und  nicht  in 
selbstsüchtige  Ausbeutung  ausartete.  Als  mit  dem  Anfang  des  16.  Jahrhunderts  die  alt- 
heriihmte  deutsche  Tuchindustrie  in  unverkennbaren  Verfall  geriet,  wurde  die  englische 
Gesetzgebung  in  den  Reichspolizeiordnungen  nachgeahmt,  Verbote  der  Wollausfuhr,  der 
Verfälschung  der  Tuche,  der  Anwendung  neuer  Farben  erlassen.  Vorschriften  über  Technik 
und  Handel  mit  Tuchen  aufgerichtet,  wie  das  alles  die  englische  Gesetzgebung  seit 
zweihundert  Jahren,  aber  allerdings  unter  ganz  anderen  Voraussetzungen  gehandhabt 
hatte.  Aber  der  Geist,  in  dem  diese  Ordnungen  der  Reicbapolizci  erlassen  wnrden,  war 
ein  wesentlich  anderer  als  jener,  von  dem  die  englische  Wirtschaftspolitik  geleitet  war. 
Hier  kleinliche  Reglementierung,  die  noch  dazu  jeder  einheitlichen  Exekutive  entbehrte, 
in  jedem  Territorium  anders  verstanden  und  gehandhabt  wurde,  dort  ein  großer  ethischer 
Zug,  der  vor  allem  unehrliche  Gesinnung  und  betrügerisches  Gebaren  bekämpfte  und  die 
Ehre  der  Nation  darein  setzte,  daß  englisches  Tuch  im  Auslande  dem  englischen  Namen 
und  dem  königlichen  Stempel  keine  Schande  mache;  und  das  alles  durchgesetzt  durch 
eine  Organisation,  welche  eine  glückliche  Mischung  von  Selbstverwaltung  und  staatlicher 
Aufsicht  war  und  in  dieser  Verbindung  daB  Bewußtsein  nie  abhanden  kommen  ließ,  wie 
große  Güter  der  Nation  in  dem  staitlichen  Schutze  der  Wollindustrie  zu  ver- 
teidigen waren. 

Die  Schrift  ist  eine  Vorstudie  zur  Geschichte  der  älteren  preußischen  Gewerbe- 
politik, deren  Verständnis  durch  historische  Analogien  aus  anderen  Ländern  erleichtert 
werden  soll.  Diesen  Zweck  wird  sie  auch  erreichen,  der  Wert  der  Wirtschaftspolitik  des 


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Literaturbericbt. 


331 


absoluten  Königtums  in  l’reufieu  wird  diesen  aus  Knglaml  geholten  Maßstab  nicht  zu 
scheuen  haben.  J. 

Blihm-Bawerk,  Kapital  und  Kapitalzins,  2.  Auflage,  II.  Abteilung.  Positive 
Theorie  des  Kapitals,  Innsbruck.  Wagner  11X12,  46S  S. 

Der  zweiten  Auflage  der  ersten  Abteilung  dieses  Werkes,  welche  vor  zwei  Jahren 
erschienen  ist,  sollte  baldigst  eine  Neubearbeitung  auch  der  zweiten  Abteilung  folgen. 
Die  Übernahme  des  österreichischen  Finanzportefeuilles  durch  den  Verfasser  hat  aber 
bisher  die  Verwirklichung  dieses  Planes  unmöglich  gemacht  und  ihn  gezwungen,  die  letztere 
auf  gelegenere  Zeit  zu  verschieben.  Die  vorliegende,  unveränderte,  zweite  Auflage  der 
zweiten  Abteilung  wurde  dadurch  veranlaßt,  daß  die  erste  vergriffen  ist,  die  Nachfrage 
nach  dem  Werke  aber  ungeschwächt  andauert  Diese  Zeilen  haben  nur  den  Zweck,  auf 
das  Erscheinen  der  zweiten  Auflage  aufmerksam  zu  machen. 

Lily  Braun,  Die  Frauenfrage,  ihre  geschichtliche  Kntwicklung  und 
ihre  wirtschaftliche  Seite.  Leipzig  1901,  557  S.  ft*. 

Frau  Braun  will  in  dem  hier  anzuzeigenden  Werke  die  Frauentage  in  ihrem 
ganzen  Umfange  darstellen.  Es  soll  zwei  Bände  umfassen.  Der  erste  ist  vorläufig  allein 
erschienen.  Er  bringt  eine  gedrängte  Geschichte  der  Frauentage  und  der  Frauenbewe- 
gung und  eine  sehr  eingehende  Darstellung  der  Frauentage  nach  ihrer  wirtschaftlichen 
und  sozialpolitischen  Seite  hin  Der  zweite  Band  soll  die  rechtliche  Stellung  der  Frau 
sowie  die  psychologische  und  ethische  Seite  der  Frauentage  behandeln.  Daß  die  wirt- 
schaftliche Seite  als  die  grundlegende  zuerst  erledigt  wird,  ist  kein  Zufall,  sondern  eine 
notwendige  Konsequenz  des  Standpunktes  der  Verfasserin,  die  als  überzeugte  Sozial- 
demokratin auf  dein  Boden  der  materialistischen  Geschichtsauffassung  steht.  Über  diesen 
Standpunkt  läßt  sich  nicht  rechten.  Jeder  Autor  hat  das  Recht,  seine  allgemeine  Welt- 
anschauung den  Untersuchungen  seines  speziellen  Arbeitsgebietes  xu  Grunde  zu  leger». 
Ist  doch  überhaupt  die  Forderung  voraussetzungsloser  Forschung  auf  keinem  Gebiete 
weniger  erfüllbar,  als  auf  dem  der  Frauentage,  wo  schon  durch  das  Geschlecht  des 
Forschers  eine  ganze  Menge  von  Voraussetzungen  von  vornherein  gegeben  ist.  Immer 
aber  muß  volle  Beherrschung,  objektive  Darlegung  und  gerechte  Würdigung  der  Tat- 
sachen gefordert  werden.  Das  ist  auch  die  Meinung  der  Verfasserin.  Sie  sagt  im  Vorwort: 
„ Eines  aber  darf  ich  für  mich  geltend  machen:  daß  die  Darstellung  auf  einem  umfas- 
senden Studium  der  Literatur,  insbesondere  auch  soweit  es  sich  um  die  Ermittlung  der 
tatsächlichen  Zustande  handelt,  auf  der  Benutzung  der  amtlichen  Statistiken,  staat- 
lichen wie  privaten  Enqueten,  kurz  so  weit  als  möglich  auf  quellenmäßigen  Unter- 
suchungen beruht.“ 

In  der  Tat  zeugt  das  Buch  von  einer  — nicht  nur  bei  Frauen  — ganz  ungewöhn- 
lichen Bildung,  von  voller  Kenntnis  und  Beherrschung  des  Stoffes,  von  emsigem  Heiß 
und  großem  Darstellungstalent.  Es  ist  an  und  für  sich  ein  wichtiges  Dokument,  der 
Frauenfrage,  indem  es  das  Vorurteil  von  der  wissenschaftlichen  oder  geistigen  Minder- 
wertigkeit der  Frauen  schlagend  widerlegt.  Gar  mancher  von  jenen  Männern,  die  dieses 
Argument  mit  Vorliebe  wiederholen,  ist  unfähig  zu  einer  ähnlichen  Leistung.  Das  Buch 
ist  aber  zugleich  ein  Beleg  dafür,  daß  die  weibliche  Begabung,  wenn  auch  der  männ- 
lichen gleichwertig,  doch  nicht  mit  ihr  gleichartig  ist.  Das  Gefühl  überwiegt:  das  leiden- 
schaftliche Verlangen,  die  sittliche,  geistige  und  wirtschaftliche  Lage  der  Frauen  zu 
heben,  herrscht  so  sehr  vor,  daß  es  den  Maßstab  für  die  Beurteilung  der  Vergangenheit 
und  Gegenwart  verrückt  und  den  Blick  in  Bezug  auf  die  Möglichkeiten  der  Zukunft 
verwirrt.  Das  verleiht  zwar  der  Darstellung  einen  oft  hinreißenden  pathetischen  Schwung, 
verleitet  aber  die  Verfasserin  dazu,  die  Dinge  nicht  mit  dem  ihnen  innewohnenden, 
eigenen  ^faße,  sondern  an  ihren,  der  Verfasserin,  hochgespannten  Idealen  zu  messen  und 
führt  zu  übertriebenem  Pessimismus  in  der  Beurteilung  des  Bestehenden  und  Gewesenen 
und  zu  maßlosem  Optimismus  in  Bezug  auf  die  durch  den  Sieg  der  Sozialdemokratie  zu 
realisierenden  Möglichkeiten  der  Zukunft. 

Frau  Braun  gehört  darin  ganz  dem  orthodoxen  Flügel  der  wissenschaftlichen 
Sozialdemokratie  an,  der  die  Augen  vor  vielen  ihm  ungelegenen  Tatsachen  hartnäckig 


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382 


Literaturbericht. 


verschließt,  uin  nur  die  „lteiuhcit  der  Lehre**  aufrecht  zu  halten.  Dadurch  wird  auch 
der  „quellenmäßige“  Charakter  der  Untersuchung  arg  beeinträchtigt.  Frau  Braun  sieht 
die  Dinge  nicht  unbefangen,  sondern  durch  die  Brille  der  traditionellen  sozialdemokra- 
tischen Parteiauffassung  an.  Sie  ist  gewiß  ein  origineller,  selbständig  denkender  Kopf, 
aber  dein  Parteikanon  gegenüber  versagt  ihre  sonst  so  scharfe  und  vielfach  treffende 
Kritik.  Daa  beeinträchtigt  auch  den  historischen  Teil  des  Buches,  worin  die  Verfasserin 
bei  der  Schilderung  der  primitiven  Verhältnisse  den  Morgan- En gelsschen  Konstruktionen 
folgt,  ohne  von  den  entgegengesetzten  Ergebnissen  neuerer  Forscher  Notiz  zu  nehmen. 

Die  Frauenfrage  ist  für  die  Verfasserin  ganz  einheitlich  und  umfassend.  Das  Ziel 
ist:  „die  Frauen  durch  selbständige  Arbeit  aus  ihrer  wirtschaftlichen  Versklavung  zu  be- 
freien.“ Arbeit,  die  Befreierin  des  Weibes!  Das  ist  der  Grundgedanke.  Die  restlose 
Durchführung  dieses  Gedankens  würde  allerdings  eine  so  tiefgreifende  Änderung  der 
Produktionsweise,  des  Familienleben*  und  der  Konsumtionssitten  bedingen,  wie  sie  auf 
dem  Boden  der  gegenwärtigen  Gesellschaftsordnung  undenkbar  ist.  Es  ist  daher  ganz 
folgerichtig,  wenn  Frau  Braun  die  Frauenfrage  in  einen  so  engen  Zusammenhang  mit 
der  sozialen  Frage  bringt,  daß  sie  die  Lösung  der  cineii  nur  durch  die  andere  für  mög- 
lich erklärt.  Die  Verwirklichung  ihres  Programme»  erwartet  die  Verfasserin  nur  vom 
sozialistischen  Zukunftsstaate.  Ja,  es  scheint,  daß  sie  diesen  nur  oder  doch  in  erster 
Linie  nur  um  seiner  Verheißungen  für  die  Frauen  willen  herbeiwünscht.  Sie  ist  Sozial- 
demokratin, weil  sie  an  der  Lösung  der  Frauenfrage  durch  die  bürgerliche  Gesellschaft 
verzweifelt. 

Vom  Standpunkte  der  Frauenarbeit  aus  betrachtet,  zerfällt  die  Frauenfrage  in 
zwei  große  Abschnitte,  denen  auch  die  Einteilung  des  Buches  entspricht:  in  die  bürger- 
liche Frauen  frage  und  in  die  proletarische  Frauen  frage  oder  die  Arbeiterinnen  frage.  Bei 
der  ersteren  handelt  es  sich  bisher  ganz  überwiegend  um  die  Versorgung  unverheirateter 
Frauen  aus  der  bürgerlichen  Schichte  durch  Erwerbstätigkeit.  Sie  ist  also  in  erster 
Linie  eine  Heirat«-  oder  alte  Jungfernfrage.  Auch  Frau  Braun  faßt  sie,  wenigstens 
praktisch,  so  auf,  indem  sie  den  Frauenüberschuß,  das  spätere  Heiratsalter  und  die 
Heiratsunlust  der  Männer  in  den  bürgerlichen  Kreisen  als  die  Hauptursachen  der 
bürgerlichen  Frauenfrage  hinstellt.  Hier  gilt  es  also  den  Frauen,  die  bei  der  Ehe  zu 
kurz  gekommen  sind,  Erwerbsgelegenheiten  zu  eröffnen,  die  sie  nicht  deklassieren. 
Insofern  das  letztere  der  Fall  ist,  geht  die  bürgerliche  Frauenfrage  in  die  prole- 
tarische über.  Theoretisch  scheint  Frau  Braun  allerdings  der  Ansicht  zu  sein,  daß 
auch  die  bürgerlichen  Frauen  nur  durch  die  Berufs-,  d.  h.  Erwerbsarbeit  zur  vollen  Ent- 
faltung aller  ihrer  Fähigkeiten  gelangen  können,  und  daß  demnach  alle  Frauen  diesen 
Weg  einschlagen  sollten,  auch  die  bürgerlichen,  auch  die  es  nicht  nötig  haben.  Sie  be- 
grüßt den  Eintritt  der  Frauen  in  das  öffentliche  Leben  als  ein  neues  belebendes  Prinzip, 
indem  dadurch  die  Fülle  der  bisher  noch  nicht  voll  erkannten  und  ausgenützten  spezifisch 
weiblichen  Begabung  den  Menschheitszwecken  zugefiihrt  werde.  Auch  wer  diese  Anschau- 
ung nicht  teilt,  wird  den  kritischen  Bemerkungen  der  Verfasserin  über  Fraucncrziehung 
und  Lehensansprüche,  über  die  Vorurteile,  die  der  bürgerlichen  Frauenarbeit  entgegen- 
stehen, Über  die  Härte  und  Ungerechtigkeit  der  Entlohnung  zustimmen  müssen,  und  der 
Freund  der  Frauenbewegung  wird  sich  über  die  eindringliche  und  treffende  Art  des 
Vortrages  freuen. 

Ganz  besonders  begrüße  ich  es,  daß  die  Verfasserin  sich  nicht  etwa  auf  den  me- 
chanischen Konkurrenzstandpunkt  stellt  und  für  die  Frauen  schlechtweg  die  bisher 
männlichen  Berufe  und  Beschäftigungen  in  Anspruch  nimmt,  sondern  daß  sie,  von  der 
verschiedenen  natürlichen  Veranlagung  der  beiden  Geschlechter  ausgehend,  eine  ver- 
feinerte gesellschaftliche  Arbeitsteilung  anbahnen  möchte,  wonach  den  Frauen  jene 
Funktionen  und  Beschäftigungen  zufallen,  die  ihrer  besonderen  Begabung  entsprechen. 
Auch  ich  habe  immer  den  Gedanken  vertreten,  daß  die  Zunahme  der  Frauenarbeit  nicht 
ohneweitera  als  eine  Einengung  des  männlichen  Arbeitsfeldes  anfzufassen  sei,  sondern 
stets  Hand  in  Hand  gehe  mit  Fortschritten  der  Arbeitsteilung  zwischen  den  beiden  Ge- 
schlechtern, so  daß  jedes  Geschlecht  diejenigen  Funktionen  zugewiesen  erhält,  zu  welchen  es 


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Literaturbericht. 


besser  veranlag  ist.  Pas  gilt  sowohl  für  die  bürgerliche  als  auch  für  die  proletarische 
Frauenarbeit.  Vom  Standpunkte  technischer  Arbeitsteilung  aus  dörfte  die  Frauenarbeit 
demnach  als  ein  gesellschaftlicher  Gewinn  gelten.  Darin  stimme  ich  mit  der  Verfasserin 
uberein. 

Aber  der  Standpunkt  der  tcchnichen  Arbeitsteilung  ist  nicht  der  maßgebende.  Ich 
teile  durchaus  nicht  die  Ansicht  der  Verfasserin,  daß  Erwerbsarbeit  das  einzige  oder 
überhaupt  das  geeignete  Mittel  sei.  um  die  spezifisch  weibliche  Genialität  zu  wecken 
und  die  weiblichen  Anlagen  oder  die  allgemein  menschlichen  Anlagen  im  Weibe  voll  zu 
entwickeln.  Ich  erblicke  in  der  Nötigung  zu  hartem  Erwerb  vielmehr  ein  Hindernis 
dieser  Entwicklung,  das  zu  schweren  Schäden  führt.  Das  ist  eine  Konsequenz  meiner  vol 
der  Verfasserin  völlig  abweichenden  Gesellschaftsauffassung.  Ich  stehe  eben  nicht  auf  dem 
atnmistischen  Standpunkt,  der  Mann  und  Weib  immer  für  sich  betrachtet,  sondern  halte  die 
Familie  für  die  wahre  Einheit  der  gesellschaftlichen  Organisation.  Auch  in  wirtschaft- 
licher Hinsicht:  für  Erwerb  und  Verbrauch.  Damit  will  ich  die  Frauen  keineswegs  ins 
Haus  bannen  Mit  der  Verfasserin  bin  ich  der  Ansicht,  daß  sowohl  die  gesellschaftlichen 
Interessen  als  auch  die  individuelle  Ausbildung  durch  einen  erweiterten  Bildungs-  und 
Wirkungskreis  der  Frau  nur  gewinnen  können.  Aber  die  Erwerbsarbeit  der  Frau  ist  nicht 
das  geeignete  Mittel  dazu.  In  den  bürgerlichen  Kreisen  ist  sie  doch  regelmäßig  die 
Folge  eines  Notstandes.  Ich  begrüße  daher  alles,  wodurch  die  Erwerbsgelegenheit  der  Frauen 
erweitert,  ihre  Ausbildung  hiefür  verbessert,  ihr  Einkommen  daraus  erhöht  wird.  Sehr  erheb- 
liche Fortschritte  werden  auf  diesem  Gebiete  zweifelsohne  möglich  sein,  wofür  die  westlichen 
Kulturstaaten  ja  mannigfache  Belege  bieten.  Allerdings  kann  ich  das  Bedenken  nicht  unter- 
drücken, daß  Frau  Braun  die  Erfolge  des  Auslandes,  insbesondere  hinsichtlich  der  Bildungs- 
gelegenheiten  einigermaßen  überschätzt.  Allein  eine  erweiterte  Erwerbstätigkeit  derjenigen 
bürgerlichen  Frauen,  die  nicht  durch  iie  Ungunst  der  Vermögenslage  datauf  angewiesen  sind, 
halte  ich  nicht  für  wünschenswert.  Sie  würden  ja  doch  nur  den  minder  günstig  Gestellten  das 
Brot  wegnehmen.  Frau  Braun  übersieht  auch  keineswegs,  daß  die  hauswirtschaftlichen  und 
Mutterpflicht en  verheirateter  Frauen  die  Ausübung  eine»  Erwerbebernfes  sehr  erschweren.  Sie 
will  diesen  Schwierigkeiten  durch  eine  Umbildung  der  hauswirtschaftlichen  Sitten  und 
der  Erziehungsweise  begegnen:  durch  Wirtschaftsgemeinschaften  mit  Zentralküchen  und 
durch  gemeinsame  Beaufsichtigung,  wo  nicht  Erziehung  der  Kinder.  Das  Lehen  in  derartigen 
Pensionen  mag  ja  für  alleinstehende  Personen,  auch  für  einzelne  Familien,  wo  besondere 
Verhältnisse  obwalten,  ganz  praktisch  sein.  Aber  Frau  Braun  ist  in  einer  großen  Täu- 
schung befangen,  wenn  sie  glaubt,  die  allgemeinen  Wirtschaftssitten  in  dieser  Richtung 
umbildcu  uud  so  die  geistige  Befreiung  der  Frauen  fördern  zu  können.  Viel  mehr  Aussicht 
auf  Erfolg  scheinen  mir  die  Bestrebungen  zu  haben,  das  geistige  und  sittliche  Niveau 
der  bürgerlichen  Frauen  von  innen  aus  zu  heben,  durch  Erziehung  und  Bildung,  durch 
Erweiterung  der  Weltkenntnis  und  Weckung  des  sozialen  Pflichtbewußtseins,  aber  ohne 
die  Zuchtrute  der  Erwerbsarbeit.  Bei  ernster  Lebensauffassung  und  Pflichterfüllung  ist 
der  Lebensinhalt  einer  Fran,  die  Mutter  ist,  reich  genug,  um  jene  gewaltsame  Aufrütte- 
lung des  Interesses  entbehren  zu  können,  welche  der  Erwerb  mit  sich  bringt  und  bedingt. 
Ist  die  bürgerliche  Frauenfrage  wirklich  eine  Heiratsfrage,  so  darf  die  Lösung  nicht  nur 
auf  der  Frauenseite  gesucht  werden,  sondern  sie  muß  auch  von  der  Münnerseite  aus  in 
Angriff  genommen  werden.  Auf  der  Frauenseite  gilt  es.  Arbeit  und  Erwerb  für  die  Un- 
verheirateten oder  durch  die  Ehe  nicht  vor  Not  Geschützten  zu  finden.  Von  der  Männer- 
seite aus  betrachtet,  besteht  das  Problem  darin,  die  Zahl  der  auf  eigenen  Erwerb  ange- 
wiesenen Frauen  durch  häufigeres  und  frühzeitigeres  Heiraten  zu  vermindern.  Die  hohe 
Zahl  der  alten  Jungfrauen  ist  nicht  so  sehr  durch  den  Frauer.ühcrschuß  bedingt 
als  wie  vielmehr  durch  »las  spätere  Heiratsalter  und  die  Ehescheu  der  Männer.  Für  da« 
Entscheidende  halte  ich  den  Alt  ersah  stand  zwischen  Alaun  und  Frau,  der  in  Deutschland 
und  hier  insbesondere  in  den  bürgerlichen  Kreisen  abnorm  hoch  ist.  Dadurch  wird  die 
Zahl  der  unverehelichten  und  der  vorzeitig  verwitweten  Frauen  außerordentlich  erhöht. 
Das  kann  freilich  nicht  durch  Moralpredigten  geändert  werden,  wohl  aber  durch  eine 
allmähliche  Änderung  der  Sitten  und  Anschauungen,  durch  eine  ernstere,  frohere  und 

ZWUrhrlU  für  Volkswirtschaft,  Sntlalpnlltlk  nn<1  Verwaltung.  XII.  Hand.  2 


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334 


Llteratnrbe  rieht. 


stöbere  Lebensauffassung,  welche,  leerem  „gesellschaftlichen"  Scheine  abbold,  sich  der 
wahren  und  unverwüstlichen  Grundlagen  menschlichen  Lcbensglilckes  bewußt  wird. 

I>ie  Verfasserin  irrt  übrigem,  wenn  sie  auf  Grund  der  nach  Jahrzehnten  berech- 
neten Durchschnittszahlen  annimmt,  daß  die  Heirat  »zitier  allenthalben  im  Rückgänge,  die 
Zahl  der  uuversorgttMi  Jungfrauen  daher  im  Zunehineii  begriffen  sei.  Eingehen  auf  das 
Detail  des  letzten  Jahrzehntes  belehrt  uns  vielmehr  darüber,  dalt  die  Heiratsziffer  wieder 
wichst,  daß  im  Durchschnitt  etwas  jünger  geheiratet  wird  wie  früher,  daß  der  Alters- 
abstand zwischen  Mann  und  Frau  abnimmt,  und  daß  endlich  die  zweiten  Kheschlieflnngen 
gegenüber  den  ersten  mehr  in  den  Hintergrund  treten.  Es  geht  also  im  allgemeinen  ein 
frischerer  Zug  durch  die  Weit,  wo  man  lieht  und  freit.  Daß  das  auch  für  die  bürger- 
lichen Kreise  gelte,  wage  ich  nicht  zu  behaupten.  Denn  die  Wandlung  ist  offenbar  in 
erster  Linie  darauf  zuriickzufiilireii,  daß  die  Industriearbeiter  ab  maßgebende*  Element 
in  die  Volksbewegung  eingetreten  sind.  Die  Großindustrie  bietet  aber,  insbesondere  mit 
dem  Handwerk  und  der  Landwirtschaft  verglichen,  ihrer  Arbeiterschaft  die  Möglichkeit 
relativ  frühzeitiger  Eheschließung.  Aber  auch  auf  die  anderen  sozialen  Schichten  gewinnt 
die  groBindustrielle  Entfaltung  immer  mehr  Einfluß.  Sie  wird  die  von  «len  alten  leitenden 
Klassen  übernommenen  ehehindernden  Vorurteile  mit  diesen  seihst  immer  mehr  zurück - 
drängen.  Ich  hoffe,  kein  blinder  Optimist  zu  sein,  wenn  ich  aniiehiue,  daß  unser  Volks- 
leben sich  in  ansteigender  Linie  bewegt  and  daß  «las  auch  in  d«*r  Zunahme  der  Ehen 
und  in  der  Abnahme  der  alten  Jungfrauen  «um  Ausdruck  gelangen  wird.  Die  fortgesetzte 
Zunahme  der  arbeitenden  bürgerlichen  Frauen  steht  keineswegs  in  Widerspruch  rnit 
einer  solchen  Wendung  «1er  Dinge.  Denn  der  Notstand  bleibt  noch  immer  groß 
genug,  «ler  Zugang  zum  Erwerb  eng;  nur  Wenigen  gelingt  es,  sich  durch  das  Tor 
zu  drängen.  Der  Fortschritt  der  Frauenbewegung  wird  die  Krwerbswege  sicherlich 
erweitern  und  vervielfältigen.  Wächst  dann  die  Zahl  der  berufstätigen  Frauen,  so 
wird  es  kein  Beweis  für  die  Zunahme  «ler  Bedürftigen  »ein,  sondern  für  die  Besserung 
ihrer  Lage. 

Ganz  anders  geartet  wie  die  bürgerliche  Frauenfrage  ist  die  proletarische.  Hier 
handelt  es  sich  nicht  um  die  Erschließung  des  Erwerbes,  sondern  um  die  Bekämpfung  der 
Gefahren,  die  mit  «ler  weiblichen  Erwerbstätigkeit  verbunden  sind.  Der  Arbeiterinnen- 
frage ist  die  bei  weitem  größere  Hälfte  des  Buches  gewidmet.  Mit  vollem  Rechte.  Denn 
die  Zahl  der  Lohnarbeiten nnen  ist  ganz  unvergleichlich  großer  als  die  der  erwerbstätigen 
bürgerlichen  Frauen.  Bei  diesen  handelt  es  sich  nur  um  eine  Minderzahl,  zumeist  um 
Unverehelichte,  bei  jenen  um  die  breitesten  Schichten,  auch  um  «iie  Ehefrauen  und 
Mütter.  So  wichtig  und  dringlich  die  bürgerliche  Frauenfrage  für  die  hiemn  Betroffenen, 
vom  prinzipiellen  Standpunkte  aus  auch  für  «lic  Gesamtheit  sein  mag.  sie  rührt  doch 
nicht  an  die  Grundlagen  der  Volkskraft:  an  das  Leben  und  di«*  Tüchtigkeit  der  kom- 
menden Generation.  Das  ist  aber  gerade  bei  der  Arbeiterinnenfrage  der  Fall.  Denn  in 
den  sogenannten  unteren  Schichten  sind  so  ziemlich  alle  Kranen  zur  Erwerbsarbeit  ge- 
zwungen, die  M«dirznhl  auf  Lebenszeit  oder  bis  zur  Erwerbsunfähigkeit,  eine  glücklichere 
Minderzahl  «loch  bis  zur  Verehelichung  o«ler  bis  zur  Erfüllung  der  Mutterpflichteu.  Und 
auch  jene  Frauen  des  Proletariats,  die  nicht  mehr  erwerbstätig  sind,  sind  doch  durch  die  Er- 
werbsarbeit gegangen:  Allen  «Irückt  sie  ihren  Stempel  auf.  Und  es  erhebt  sieh  die  Frag«-, 
wie  sie  zurückwirkt  auf  die  Eignung  der  Frauen  zu  Müttern  und  Erzieherinnen  der  kom- 
menden Generation.  Das  ist's  was  die  Arbciterinncufrage  zu  einer  der  dringlichsten 
unserer  nationalen  Angelegenheiten  macht. 

Die  Verfasserin  wi«lmct  «ler  proletarischen  Frauenfrage  7 Kapitel  ihres  Buches. 
Sie  schildert  die  Kutwickelung  der  proletarischen  Frauenarbeit,  gibt  eine  sehr  fleißig 
und  geschickt  zusammengest eilte  Statistik  derselben,  beschreibt  die  wirtschaftliche  und 
kulturelle  Lage  der  Arbeiterinnen  in  den  verschiedenen  Produktionszweigen  und  legt  den 
Gang  und  die  Ziele  der  A rbeiterinnen  beweg  ung  dar.  Das  vorletzte  Kapitel  erörtert  das 
Verhältnis  der  bürgerlichen  Frauenbewegung  zur  Arbeitcrinnenfrage  unter  prinzipieller 
Ablehnung  aller  Wohltätigkeitsverauche  und  aller  Organisationen,  die  auf  anderer  als  auf 
sozialdemokratischer  Grundlage  beruhen.  Im  letzten  Kapitel  wird  ein  Programm  tiir  «lic 


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Literaturbericht. 


335 

sozial  politische  Gesetzgebung  unter  Jen  Gesichtspunkten  Je«  Arbeiterinnenschutzes  und 
der  Arbeiterinnenversicherung  entworfen.  Die  Zielpunkte  sind  durchaus  zu  billigen  oder 
Juch  diskutabel.  Es  handelt  sich  dabei  im  wesentlichen  nur  darum,  die  bisher  bereits  ein- 
geschlagenen Wege  weiter  zu  verfolgen.  Beachtenswert  ist  insbesondere  der  zuerst  von  belgi- 
scher Seite  ausgesprochene  und  von  der  Verfasserin  warm  vertretene  Gedanke  einer  Mutter- 
tfchaftsTcrsicherung.  Wie  weit  das  Heformprogramm  der  Verfasserin  durchführbar  ist, 
hängt  allerdings  von  der  Aufbringung  der  Mittel  ab.  Auf  diese  Frage  gebt  leider  die 
Verfasserin  nicht  naher  ein.  Sie  begnügt  sich  damit,  prinzipiell  gehaltene  Anforderungen 
an  die  Gesellschaft  in  ihrer  Gesamtheit  aufzustellen. 

Das  umfangreichste  Kapitel  ist  jenes,  das  von  der  Lage  der  Arbeiterinnen  handelt. 
Hier  inalt  die  Verfasserin  grau  in  grau,  wie  das  ja  schon  uach  ihrem  ParteUtandpuukt 
und  ihren  agitatorischen  Absichten  nicht  anders  zu  erwarten  ist.  Selbr-t  wenn  man  ein 
gut»**  Stück  Übertreibung  mit  iu  Rechnung  stellt,  bleibt  noch  immer  genug  des  Trauri- 
gen und  Düsteren,  noch  immer  dringende  Veranlassung  zu  raschem  und  durchgreifendem 
Eingreifen  der  Gesetzgebung  in  der  Lichtung  de*  Frauenschutzes. 

Wenn  ich  von  Übertreibung  spreche,  so  will  ich  damit  durchaus  keinen  Zweifel 
an  der  boua  fides  der  Verfasserin  aussprechen.  Mehrfache  Umstände  wirken  dabei  mit. 
Zuuächat  ist  zu  bedenken,  daß  die  Schriften,  die  sich  mit  Jer  Lage  der  Arbeiterinnen 
befassen,  auch  wenn  sie  nicht  von  der  sozialdemokratischen  Seite  ausgehen,  Keformab- 
*icht»*n  verfolgen,  demnach  die  krassesten  Fälle  hervorheben  und  die  ungünstigsten  Ver- 
hältnisse schildern.  Nicht  die  guten,  sondern  die  schlechten  Lolinverhiltnisae  und  Arbeits- 
bedingungen sind  die  interessanten;  nur  aus  ihnen  läßt  sich  publizistisch  und  sozialpoli- 
tisch Kapital  schlagen.  .So  kommt  es,  daß  wir  mehr  schlechte  als  gute  Zeugnisse  besitzen, 
und  daß  die  an  sich  gewiß  keineswegs  befriedigende  Lage  der  Arbeiterinnen  nach  der 
Literatur  beurteilt  noch  schlimmer  erscheint,  als  sie  es  in  Wirklichkeit  ist.  Ein  zweites 
Moment,  welches  Frau  Braun  zu  Übertreibungen,  zumindest  im  Tone  des  Vortrages 
verleitet,  ist  zugleich  jenes,  worauf  ihre  Stärke  ais  Schriftstellerin  und  Rednerin  zuin 
guten  Teil  beruht:  die  Kraft  ujpl  Phantasie  ihres  Mitleids,  die  leidenschaftliche  und 
leideusvolle  Anteilnahme  an  der  Lage  aller  bedrückten  und  leidenden  Frauen  sowie  der 
glühende  Wunsch,  das  Niveau  der  Frauen  überhaupt  zu  heben.  Diese  Stimmung  ist  es 
ja,  die  der  Verfasserin  die  Feder  in  die  Hand  gedrückt,  die  sie  in  die  Öffentlichkeit  ge- 
führt und  ihre  sozialpolitische  Stellung  bestimmt  hat.  Aber  diese  Stimmung  bringt  es  auch 
mit  sich,  daß  die  Verfasserin  die  Dinge  nicht  vom  Standpunkte  der  Arbeiterin,  sondern 
vom  Standpunkte  ihrer  eigenen  hochgespannten  Anforderungen  aus  beurteilt.  Lebens- und 
Arbeitsverhältnisse,  die  ihr,  der  geistig,  sittlich  und  ä>thetisch  hochstehenden  und  fein- 
fühlenden Frau,  unerträglich  erscheinen,  sind  es  nicht  für  jene  Tausenden,  die  aus  noch 
dunkleren  Verhältnissen  sich  emporarbeiten.  Die  idealen  Ziele  der  Verfasserin  weiß  ich 
gewiß  zu  würdigen.  Aber  die  subjektive  Lage  der  Arbeiterinnen,  der  Grad  von  Lust  oder 
Unlust,  die  sie  empfinden,  darf  uicht  au  jenem  idealen  Maßstabe  gemessen  werden,  son- 
dern nur  an  dem  gegenwärtigen  Niveau  der  betreffenden  Arbeiterinnen  und  an  dem  sozialen 
Milieu,  dem  sie  entstammen. 

So  kräftig  auch  die  Verfasserin  die  Schattenseiten  der  Frauenarbeit  hervorzuheben, 
weiß,  so  liegt  ihr  doch  der  Gedanke  völlig  fern,  ob  nicht  eine  prinzipielle  Einschränkung  der 
weiblichen  Arbeit,  wenigstens  jene  der  verheirateten  Frauen  und  der  Mütter,  wünschenswert 
und  möglich  sei.  Ihr  Reformprogramm  beschränkt  sich  auf  die  Arbeitsbedingungen,  auf 
den  Ausbau  des  Frauenschutzes  und  des  Versicherungswesens.  Das  entspricht  dem  sozial- 
demokratischen Gedankengang,  der  beide  Geschlechter  mit  gleichen  Rechten  und  Pflichten 
in  die  gesellschaftliche  Produktion  einstellen  will.  Dem  gegenüber  bedeutet  schon  die 
Anforderung  eines  speziellen  Frauenschutzes  einen  Fortschritt.  Wer  jedoch  nicht  auf 
dem  Boden  der  sozialdemokratischen  Weltanschauung  steht,  wird  die  von  der  Hauswirt- 
schaft losgelöste  Erwerbarbeit  der  Frauen,  insbesondere  die  Fabriksarbeit,  keineswegs  als 
eine  gleichsam  selbstverständliche  Sache  mischen,  in  die  mau  sich  ohneweiters  finden 
muß.  Insbesondere  die  eheweiblicbe  Arbeit  ist,  wie  auch  die  Verfasserin  mehrfach  zugibt 
regelmäßig  die  Folge  von  Not.  Reicht  Jas  vom  Manne  erworbene  Einkommen  zum  Untcr- 

2d* 


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Literaturbericht. 


rm 


halt  der  Familie  aus,  so  braucht  die  Frau  nicht  mit  zu  erwerben,  wenigstens  nicht  als  voll- 
tätige  Fabriksarbeiterin,  und  sie  tut  es  dann  in  der  Regel  auch  nicht.  Bei  der  Besichtigung 
von  Arbeiterwohnhäusem,  die  allerdings  in  der  Regel  von  der  Elite  der  Arbeiterschaft 
bewohnt  sind,  traf  ich  in  den  verschiedensten  Teilen  Deutschlands  die  Frauen  zu  Hans 
an.  Eine  Umfrage  ergab,  daß  allenthalben  die  Frauen  zu  Hause  bleiben,  sobald  nur  der 
Verdienst  des  Maunes  es  gestattet.  Die  Lohngrenze,  bei  der  das  der  Fall  ist,  schwankt 
je  nach  den  Ansprüchen  und  Bedürfnissen.  Aber  cs  besteht  kein  Zweifel  darüber,  daß  in  den 
besseren  Arbeiterkreisen  die  Krwerbsarbeit  der  Ehefrauen  ebenso  als  MiOstand  empfunden 
und  nach  Möglichkeit  vermieden  wird  wie  in  den  bürgerlichen  Kreisen.  Wenn  auch  in  den 
Ländern,  deren  technisch-industrielle  Entfaltung  der  sozialen  vorausgeeilt  ist,  die  prole- 
tarische Frauenarbeit  vorläufig  noch  wächst,  so  ist  es  duch  keineswegs  ausgemacht,  daß  dies  in 
aller  Zukunft  so  bleiben  werde.  Ich  halte  es  vielmehr  für  wahrscheinlich,  daß  die  Frauenarbeit, 
sobald  nur  eine  gewisse  Höhe  der  sozialen  Entwicklung  erreicht  ist,  zurückgehen  werde. 
Denn  der  technische  und  soziale  Fortschritt  hat  die  Wirkung,  mit  der  Hebung  der  Pro- 
duktivität und  des  Lohnes  der  männlichen  Arbeit  die  weibliche  Arbeit  sowohl  volkswirt- 
schaftlich als  auch  privatwirtschaftlich  immer  entbehrlicher  zu  machen.  Anzeichen  einer 
solchen  Wendung  habe  ich  an  anderer  Stelle  nachgewieseu.  lj  Es  gehört  sicherlich  kein 
größerer  Optimismus  zu  der  Annahme,  daß  die  Lage  der  Arbeiterfrauen  auf  diesem  Wege 
werde  gehoben  werden,  als  zu  der  sozialistischen  Verheißung,  die  alle  Frauen  durch 
Arbeit  „befreien“  will.  Befreiung  durch  die  Arbeit  oder  Befreiung  von  der  Arbeit?  So 
steht  dis  Frage.  Ich  halte  die  letztere  Lösung  für  die  wünschenswertere  und  für  die 
wahrscheinlichere. 

Ich  habe  das  Buch  der  Frau  Braun  ausführlicher  besprochen,  wie  dies  bei 
Litcraturanzcigen  sonst  üblich  ist,  weil  es  als  eine  klassische  Formulieruug  der  Frauen- 
frage vom  sozialistischen  Standpunkt  aus  zu  prinzipieller  Stellungnahme  auffordert.  Mußte 
ich  auch  die  prinzipiellen  Voraussetzungen  und  Folgerungen  des  Buches  ablehnen,  so 
möchte  ich  doch  dringendst  wünschen,  daß  es  in  den  bürgerlichen  Kreisen  fleißig  gelesen 
werde.  Mögen  insbesondere  die  bürgerlichen  Frauen  daraus  lernen,  wie  hohe  Kulturzielc 
einu  Bewegung  verfolgt,  über  welche  viele  von  ihnen  noch  immer  spotten  zu  dürfen 
vermeinen.  H.  Kauebbe rg. 

C.  Hugo,  Die  deutsche  Städteverwaltung.  Ihre  Aufgaben  auf  den  Gebieten 
der  Volkshygiene,  des  Städtebaues  und  des  Wohnungswesens.  Stattgart  1901,  512  S.  8®. 

C.  Hugo  (Dr.  Lindemann)  ist  der  Kommunalpolitiker  der  deutschen  Sozial- 
demokratie. Er  hat  für  den  1902  zu  München  abgehaltenen  sozialdemokratischen 
Parteitag  ein  umfängliches  Programm  für  die  Stellung  der  Sozialdemokratie  zur  Kommunal- 
politik auagearbeitet,  dessen  Durchberatung  allerdings  auf  einen  spätereu  Parteitag 
verschoben  worden  ist.  Nicht  unvorbereitet  ist  der  Verfasser  an  diese  Aufgabe  b cran- 
getreten. Schon  1897  hat  er  ein  Werk  über  „Städfteverwaltung  lind  Munizipalsozialismus 
in  England“  veröffentlicht.  Zu  den  neuen  Untersuchungen  des  Vereines  für  Sozialpolitik 
über  die  Wohnungsfrage  hat  er  die  Wohuungastatistik  geliefert.  Nunmehr  hat  er  sich 
zur  Aufgabe  gestellt,  das  ganze  Gebiet  der  deutschen  Städteverwaltung  wissenschaftlich 
durchzuarbeiten,  um  daran  von  seinem  Parteistandpunkte  au»  Reform  Vorschläge  uud 
•Forderungen  zu  knüpfen.  In  dem  vorliegenden  Bande  werden  Volkahvgiene,  Städtebau 
und  Wohnungswesen  behandelt.  Einer  für  später  in  Aussicht  genommenen  Fortsetzung 
des  Werkes  bleiben  Wirtschaftspflege,  Volksbildung,  Armenwesen  sowie  die  Sozial-  oder 
Arbeiterpolitik  der  Gemeinden  Vorbehalten. 

Die  Gemeindeverwaltung  ist  bisher  sowohl  von  der  wissenschaftlichen  Verwaltungs- 
lehrc  als  auch  von  den  politischen  Parteien  Deutschlands  einigermaßen  vernachlässigt 
worden.  In  Theorie  und  Praxis  steht  die  staatliche  Verwaltung  im  Vordergrund  des 
Interesses:  an  den  Staat  pflegen  sich  die  Männer  der  Wissenschaft  mit  ihren  Ratschlägen, 
die  politischen  Parteien  mit  ihren  Anliegen  in  erster  Linie  zu  wenden.  So  kommt  es. 
daß  die  deutschen  und  noch  mehr  die  österreichischen  Stadtverwaltungen,  von  dein 

*)  Vergl.  da«  Kapital  „Din  Htallnaf  dnr  Kraann  im  ErwerMnbnn*  in  meiner  Haarbeltung  der 
UcuUcbes  Beruf»-  uud  licwerbfibUuiti  vom  14.  Juni  1810.  Berlin  1901,  H.  181  ff. 


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Literaturbericht. 


337 


.Strome  der  geistigen  und  politischen  Bewegung  weniger  beeinflußt  wie  die  Staats- 
verwaltung, nach  eigener  Einsicht  und  Kraft  ihre  Aufgaben  wählten  und  lösten,  häufig 
wohl  auch  in  träger  Routine  verharrend,  ihre  Augen  vor  dringenden  Bedürfnissen  des 
gesteigerten  städtischen  heben»  verschlossen.  Nimmt  man  noch  dazu  die  große  Mannig- 
faltigkeit der  örtlicheu  Verhältnisse,  so  ist  es  leicht  begreiflich,  daß  die  Schwierigkeit. 
Übersicht  über  das  Bestellende  zu  gewinnen  und  einheitliche  Gesichtspunkte  für  diu 
weitere  Entwicklung  aufzuatellen,  groß  genug  war,  um  bislang  eine  einheitlich  zusammen- 
fassende  wissenschaftliche  Bearbeitung  der  Probleme  der  Stadtverwaltung  in  der  deutschen 
Literatur  zu  verhindern. 

Die  Arbeit  C.  Hugos  entspricht  daher  einem  wirklichen  und  dringenden  Bedürf- 
nisse. Sie  beruht  auf  dem  ausgedehnten  und  mühsamen  Studium  städtischer  Verwaltunga- 
berichte,  von  Denkschriften,  Rechnungsabschlüssen,  statistischen  und  andereu  Publikationen, 
mit  welchen  man  sich  sonst  nicht  abzugeben  liebt.  Schon  deswegen  ist  sie  höchst 
verdienstlich.  Auf  die  Behandlung  der  einzelnen  Probleme  einzugehen  und  mich  mit 
dem  Verfasser  darüber  auseinander  zu  setaen,  ist  mir  an  dieser  Stelle  natürlich  nicht 
möglich.  Ich  muß  mich  darauf  beschränken,  den  allgemeinen  Eindruck  wiederzugebcii, 
den  ich  beim  Lesen  des  Buches  gewonnen  habe.  Es  ist  der,  daß  der  Verfasser  die 
einzelnen  Probleme  technisch  beherrscht  und  daß  seine  Reformvorschlüge  im  allgemeinen 
sachlich  begründet  sind,  daß  ihn  aber  sein  radikaler  sozialpolitischer  Standpunkt  einer- 
seits hindert,  historisch  begründete  Zustände  gerecht  zu  beurteilen,  anderseits  oft  genug 
dazu  verleitet,  Forderungen  aufzustellen,  für  deren  Durchführung  die  wirtschaftlichen, 
sozialen  uni  politischen  Voraussetzungen  nicht  oder  noch  nicht  zutreffen,  C.  Hugo 
ist  der  Vertreter  eines  fcjtadtsozialismus,  der  nicht  minder  einseitig  und  doktrinär 
ist,  wie  der  Staatssozialismus  seiner  Partei.  Manches,  da»  sich  in  einem  Parteiprogramm 
vielleicht  ganz  gut  macht,  verträgt  doch  nicht  den  strengeren  Maßstab,  den  inan  an  ein 
wissenschaftliches  Werk  anlegt.  Insbesondere  die  Behandlung  der  Wohnungsfrage  leidet 
unter  dem  Prinzip  des  Gemeindesozialismus.  Nur  aus  der  parteipolitischen  Vorliebe  für 
dieses  Prinzip  kann  ich  ea  mir  erklären,  daß  der  Verfasser  ohne  Bedenken  die  Lösung 
der  Wohnungsfrage  ausschließlich  den  Gemeinden  zuweisen  will  und  die  sehr  beachtens- 
werten Versuche  und  Vorschläge  zu  anderen  Lösungen  teils  mit  Stillschweigen  übergeht, 
teils  mit  ungerechtfertigter  Geringschätzung  abfertigt.  Den  Schwierigkeiten,  welche  sich 
der  Verwaltung  von  Wohnhäusern  durch  die  Städte  entgegenstellen,  will  der  Verfasser 
durch  Mictergenossenschaften  begegnen. 

Leider  hat  sich  der  Verfasser  durch  seinen  Parteiatundpunkt  mitunter  auch  dazu 
verleiten  lassen,  seine  Kritik  durch  gehässige  Angriffe  und  öde  Schimpfereien  zu  ver- 
stärken. Da»  schadet  nur  der  Sache  und  beeinträchtigt  das  Niveau  des  Buche».  Und  doch 
liegt  auch  diesen  Verirrungen  eine  berechtigte  Empfindung  zu  Grunde.  Es  ist  da»  Gefühl, 
daß  Stadtverwaltung  und  Stadtverfassuug  innerlich  Zusammenhängen  und  daß  die  Ver- 
waltung im  großen  und  ganzen  immer  im  Sinne  derer  geführt  werden  wird,  welchen  die 
Verfassung  die  Macht  in  der  Stadt  und  über  die  Stadt  verliehen  hat.  Diemm  Zusammen- 
hang wissenschaftlich  darzulcgen  gehört  allerdings  mit  in  den  Rahmeu  eines  Buches 
über  Stadtverwaltung.  Vielleicht  holt  der  zweite  Teil  nach,  was  der  erste  in  dieser 
Hinsicht  versäumt  hat. 

Durch  diese  Bedenken  soll  aber  der  Wert  des  Buches  in  Bezug  auf  die  technische 
Behandlung  der  einzelnen  Verwaltungsprobleme  keineswegs  herabgesetzt  worden.  Nicht 
nur  da»  große  Publikum,  sondern  vor  allein  das  Verwaltungsperaonal  der  Städte  selbst, 
sowohl  das  ehrenamtliche  als  auch  da»  berufsanitliche,  wird  darin  vielfache  Anregung 
und  Belehrung  finden.  Der  Fortsetzung  des  Werkes  sehen  wir  mit  Interesse  entgegen. 

H.  1!  auchberg. 

I)r.  Zacher,  kais.  geh.  Regiernngsrat  und  ScnaUvorsitzcndcr  iin  Reichsversiclic- 
rungsamt,  Die  Arbeiterversicherung  im  Auslande,  Verlag  der  Arbeitervcrsorguiig, 
A.  Troschel,  Berlin-Grunewald  I8ü8-DM)2,  18  Hefte. 

Maurice  Ilellom,  Ingenieur  au  Corps  des  Mines,  Les  lois  d'assurance 
ouvricre  a lVtranger,  A.  Rousseau,  Paris,  5 Bände,  18U2— 1901. 


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Literaturbericht. 


:S38 


Die  Darstellung  der  Arbeitervereicherung  hat  in  dem  /.acli  er  scheu  Werke  betreffs 
der  europäischen  Staaten  ihren  vorläufigen  Abschluß  gefunden,  so  daß  ein  Rückblick  auf 
das  groß  angelegte  Werk  am  Platze  ist.  Die  Arbeiterversichcrnng  im  .Auslande  wurde 
ein  unentbehrlicher  Schelf  für  jeden,  welcher  dem  Studium  dieses  Zweiges  der  sozialen 
Verwaltung  obliegt.  Zacher  erbringt  betreff»  der  einschlägigen  Gesetzgebung  jedes  Landes 
die  gesamten  in  den  Gesetzentwürfen  und  Motiveuberichtcu  aufgespeicherten  und  ver- 
arbeiteten Materialien  sowie  den  Text  der  zur  Geltung  gelangten  Gesetze  in  der  Ur- 
sprache und  abgesehen  von  den  französischen  Gesetzen  auch  in  der  deutschen  Übersetzung. 
Er  ermöglicht  hiedurch  die  Kenntnis  des  Entwicklungsganges  der  Gesetzgebung  und  der 
in  den  einzelnen  .Staaten  abweichenden  Methoden,  welche  bei  der  Lösung  der  Arbeiter- 
vereieherungsl'rageu  angeweudet  wurden.  Insbesondere  Frankreich  nahm  durch  lange  Zeit 
einen  dem  deutschen  Prinzip  des  Vereicherungazwanges  entgegengesetzten  Standpunkt 
ein,  und  erst  in  den  letzten  Jahren  wurde  auch  dort  diese  Gegnerschaft  aufgegeben,  denn 
es  wird  wohl  kein  einsichtsvoller  Betriehsuntemebmer  verabsäumen,  sich  auch  ohne  den 
ausgesprochenen  Versicherungszwang  gegen  die  Lasten  durch  Versicherung  zu  schützen, 
welche  ihm  das  französische  Versicherungsgesetz  vom  9.  April  189?*  aufnftrdet.  Die 
neuesten  Gesetzentwürfe  zur  Invalidenversicherung  fußen  ausdrücklich  auf  dem  Prinzip 
der  Zwangsveraicherung.  Auch  die  Beratungen  des  Internationalen  Kongresses  für  Arbeiter- 
Versicherung,  welche  das  uächstemal  (1905)  in  Wien  stattfinden  werden,  zeigen,  unter 
französischem  Einflüsse  stehend,  diese  Wandlung.  In  früheren  Jahreu  widerhallten  sic 
von  dem  Rufe  nach  freiwilliger  Versicherung  und  der  Negierung  jede»  Zwange«,  wogegen 
diese  Stimmen  jetzt  nur  mehr  selten  zu  vernehmen  sind.  Zacher  ist  demnach  berechtigt, 
den  Sieg  dem  deutschen  Prinzipe  des  Vereicherungszwanges  zuzuspreehen.  In  Österreich 
verdient  es  betont  zu  werden,  daß  in  der  Gesetzgebung  jener  Staaten,  wie  Norwegen, 
Luxemburg,  die  Niederlande,  in  welchen  die  Unfallversicherung  gleichwie  in  Deutsch- 
land and  Österreich  nach  dem  Grundsätze  des  Vereicherungszwanges  und  der  Zwangs- 
kassen durchgeführt  wurde,  in  den  Details  das  österreichische  Vorbild  Nachahmung  ge- 
funden hat. 

Zacher  verweist  hei  «1er  Besprechung  des  Ausgabserfordeniisses  der  Arbeiter- 
Versicherung,  welches  oft  als  Hindernis  gegen  die  Erweiterung  der  Versicherung  wirkt, 
mit  vollem  Recht  auf  die  Unsummen,  welche  in  Deutschland  'und  leider  auch  anderwärts) 
für  den  AlkoholgennB  verausgabt  werden.  Wahrend  die  deutsche  Arbeiterversichemng 
selbst  im  Reharnmgsznstande  kaum  eine  halbe  Milliarde  Mark  jährlich  erfordern  werde, 
verwende  das  deutsche  Volk  für  alkoholische  Getränke  alljährlich  den  enormen  Betrag 
von  fast  drei  Milliarden  Mark.  Innerhalb  eines  Jahrzehnts  stieg  der  Verbrauch  au  Brannt- 
wein von  4*6  auf  8'4,  an  Bier  von  99*2  auf  125  Liter  auf  den  Kopf  der  Bevölkerung, 
wogegen  Amerika  nur  49  und  60‘6  Liter  auf  weist!  Man  kann  also  mit  Recht  sagen,  we- 
niger wäre  auch  da  mehr,  sowohl  für  die  Volksgesundheit  und  die  Verminderung  des 
Elends  wie  auch  für  den  Aushau  der  Arbeiterversicherung  und  die  Besserung  der  so- 
zialen Verwaltung  überhaupt;  was  könnte  auf  dem  noch  vernachlässigten  Gebiete  der 
Wohuungsfüreorge  für  die  Minderbemittelten  geschehen,  das  vor  allem  an  der  Unzuläng- 
lichkeit der  Mittel  krankt. 

Zachers  Werk  ist  und  bleibt  von  aktuellem  Interesse,  den»  die  Arbeiterver- 
vereichemng  stellt  mitten  in  ihrer  Entwicklung,  so  daß  jeder,  welcher  mit  ihr  sich  zu 
befassen  hat,  ein  Buch  schätzen  wird,  das  ihm  über  die  zu  diesem  Gegenstände  schon 
gemachten  Vorschläge  und  über  die  anderwärt*  zusamm engetragenen  reichen  Materialien 
Aufschluß  erteilt. 

Der  schätzenswerten  Arbeit  Zacher*  schließt  sich  das  umfangreiche  Werk  des 
Franzosen  ßellom  würdig  an.  Auch  dieses  ist  ein  Denkmal  emsigsten  Fleißes.  Bellom 
wendet  seine  besondere  Aufmerksamkeit  nicht  nur  der  Erläuterung  der  Bestimmungen, 
sondern  auch  den  Details  der  Durchführung  der  Kranken-  und  Unfallversicherungflgesetze 
zu  und  hat  hierüber  ein  sehr  umfangreiches  und  vollkommen  erschöpfendes  Material 
beigebracht.  Sein  verdienstliches  Werk  bildet  demnach  einen  unentbehrlichen  Behelf  für 
jene,  welche  sich  für  die  Durchführung  der  Arbeit eneraicherung  in  ihren  Einzelheiten 


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Literat  urb  er  icbt. 


339 


interessieren.  Es  verdient  anerkennend  hervorgehoben  zo  werden,  das  Bcllotn  speziell 
die  Durchführung  der  Österreichischen  Arbeitorversicherung  mit  besonderer  Aufmerksam- 
keit verfolgt»-  and  die  hiebei  beobachteten  Prinzipien  überaus  eingehend  schilderte.  Er 
hat  demuach  wesentlich  dazu  beigetragen,  die  Österreichische  Arbeiter  Versicherung  in 
ihren  Details  iin  Aaslande  bekannt  zu  machen.  Kogler. 

l)r.  Gforf  Sydow,  Theorie  und  Praxis  in  der  Entwicklung  der  franzö- 
sischen Staatsschuld  seit  dem  Jahre  1870.  i Mit  einem  Vorwort  von  Adolf 
Wagner.’:  Verlag  von  (instar  Fischer  in  Jena  1903. 

Der  erste  Teil  dieser  Monographie  ist  der  Theorie  des  .Staatsschuldenwesens  ge- 
widmet; zunächst  wird  die  Entwicklung  de«  staatlichen  Finanzbedarfes  und  das  erste 
Auftreten  des  Staatskredits  geschildert,  woran  sich  der  Versuch  einer  Abgrenzung  der 
Besteuerung  gegen  die  Benützung  des  Staatskredits  schließt.  Im  Gegensatz  zu  Dietzel 
und  Malchus  tritt  der  Autor  warm  ftir  die  Schaffung  eines  Kriegsschatzes  ein,  dem  er 
eine  hohe  Bedeutung  für  die  militärische  Schlagfertigkeit  beimißt.  Bei  Besprechung  der 
verschiedenen  Formen  der  staatlichen  Schuldaufnahme,  der  schwebenden  und  der  fundierten 
Schuld,  sowie  der  Unterarten  der  letzteren:  der  rückzahlbarer»  und  der  nicht  rückzahl- 
baren oder  Rentenschuldeu  macht  er  auf  die  Bedenken  aufmerksam,  die  der  Aufnahme  von 
Anlehen  mit  Bäckzahlung  des  Kapital*  zu  bestimmten  Terminen,  namentlich  wenn  es 
sieh  um  größere  Summen  handelt,  entgegenstehen,  da  durch  das  Versprechen  der  Regie- 
rung. zu  bestimmtem  Termine  größere  Rückzahlung»'!!  vorzunehmen,  ein  Moment  der 
Unsicherheit  in  die  Finanz  Wirtschaft  hineingebracht  wird:  „Die  Regierung  verfügt  im 
voraus  über  eineii  vielleicht  nicht  unbeträchtlichen  Teil  ihrer  künftigen  noch  nicht  fest- 
stehenden Einnahmen,  ohne  in  der  Lage  zu  sein,  die  Wirkung  dieser  Ausgabe  auf  die 
Finanzwirtschaft  voraus  zu  sehen.  Kann  sie  dafür  dann  in  einer  kritischen  Zeit  die  Mittel 
nicht  beschaffen,  so  muß  sie  entweder  den  RückzHhlungfitermin  hinaus  schieben  und  unter 
Fortzahlung  der  Zinsen  die  Last  weiterschleppen.  bis  diese  durch  Fälligkeiten  späterer 
Termine  so  angewachsen  ist,  daß  eine  Anleihe  meist  unter  ungünstigen  Bedingungen  unver- 
meidlich ist,  oder  die  Rückzahlung  einstweilen  auf  die  schwebende  .Schuld  übernehmen 
und  dem  Defizit  Tür  und  Tor  Offnen,  Diese  Behauptungen  beweist  der  Autor  im  /weiten 
Teile  seiner  Darstellung,  indem  er  die  Entstehung  der  französischen  Defizitwirtschaft  auf 
die  Vorliebe  der  französischen  Staatsmänner  für  die  Anleihen  mit  bestimmten  Tilgungs- 
terminen zurückführt.  B**i  der  Frage,  ob  eine  Begehung  durch  Vermittlung  der  Bank- 
häuser oder  eine  direkte  Begebung  der  Anleihen  vorteilhafter  ist,  spricht  er  die  Ansicht 
au«,  daß  die  ersten*  Art  mehr  den  kapitalannen  Ländern,  die  letztere  aber  den  kapital- 
reichen, wohlhabenden  entspräche.  Für  die  Wahl  eines  niederen  Zinsfußes  spricht  der 
Umstand,  daß  der  Staat  hiebei  das  Geld  billiger  bekommt  und  auf  ein  rascheres  Ein- 
gehen der  erforderlichen  Summen  rechnen  kann,  während  Anleihen  mit  höherem  Zinsfuß 
wieder  die  Möglichkeit  bieten,  sie  unter  günstigeren  Verhältnissen  in  eine  niederer  ver- 
zinsliche zu  konvertieren. 

Im  zweiten  Teile  ist  ein  anschauliches  Bild  der  Entwicklung  der  französischen 
Staatsschuld  seit  dem  Jahre  1870  entrollt.  Es  wird  die  aufopfernde  Unterstützung  des 
Staates  durch  die  Bank  von  Frankreich  geschildert,  die  einen  großen  Teil  der  Kriegs- 
kosten vorstreckt,  deren  Noten  aber  trotz  der  hohen  Kreditgewährung  an  den  bedrohten 
Staat  infolge  der  frühzeitigen  Verhängnng  des  Zwangskurses  vor  einer  eigentlichen  Ent- 
wertung bewahrt  werden.  Hierauf  folgt  die  Zahlung  der  Milliarden-Kriegsentschädigung 
wo  der  starke  Bedarf  an  Edelmetall  eine  vorübergehende  Steigerung  des  Goldkurses  be- 
wirkt. Die  Schulden  au  die  Bank  von  Frankreich  werden  durch  eine  Anleihe  zurück- 
gezahlt und  zur  Rekonstruktion  des  Kriegsmaterials  in  dem  Compte  de  Liquidation  ein 
außerordentliche«  Budget  geschaffen,  das  im  weiteren  Vei  laufe  durch  das  Budget  des 
ddpenses  extraordinaires  stark  erweitert  wurde.  Die  Schaffung  des  Budget  extraordinaire 
erklärt  Sydow  für  einen  der  verhängnisvollsten  Fehler  der  französischen  Finanzpolitik, 
da  dadurch  verhindert  wurde,  daß  der  Volksvertretung  ein  klares  Bild  von  dem  Mißver- 
hältnis der  ordentlichen  Einnahmen  zu  dem  staatlichen  Gesamtbedarf  geboten  wurde,  wie 
es  die  Gesamtdarstellung  von  Einnahme  und  Ausgabe  in  einem  einheitlichen  Etat  gewährt 


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340 


Literaturberieht. 


bitte.  Wäre  «lies  geschehen,  so  wäre  manche  iler  itn  Budget  extraordinaire  enthaltenen 
Ausgaben  durch  ordentliche  Kinnahmen  gedeckt  worden,  manche  Steuerrermehrungen 
wären  bewilligt,  manche  Mchuldaufnahmen  vermindert  worden.  Dieses  Budget  des  depenses 
extraordinaire*  war  1878  geschaffen  worden,  als  man  nach  Tilgung  der  Kriegsschulden 
bei  der  Bank  von  Frankreich  infolge  der  erhöhten  Steuer  Aber  eine  FQllc  von  Hinnahmen 
verfügte,  die  man  zur  Verstaatlichung  und  zum  Ausbau  des  Eisenbahnnetzes  und  zur  Vor 
nähme  von  Wasserbauten  zu  benützen  beschloß.  Da  der  Aufwand  für  diese  Investitionen 
die  ursprünglichen  Berechnungen  weit  überstieg  und  infolge  der  scheinbar  günstigen 
Finanzlage  eine  Reihe  von  äteuererlässen  bewilligt  worden  war,  so  wuchs  die  schwebende 
Schuld  ungemein,  und  es  stellte  sich  im  Jahre  1882  ein  deutliches  Defizit  ein.  Die 
schwebende  Schuld  wurde  zunächst  durch  Ausgabe  von  amortisabler  dreiprozentiger 
Rente  konsolidiert,  die  jedoch  nicht  auf  den  Markt  gebracht,  sondern  von  der  Depositen- 
knsse  (Caisse  des  depöts  et  consignations)  übernommen  wurde,  deren  Depositen  größtenteils 
aus  Spnrkassaguthaben  bestehen-,  ein  Vorgang,  dessen  Bedenklichkeit  Sjdow  hervorhebt. 
Durch  weitere  Anleihen  und  Konversionen  gelingt  es,  das  Defizit  im  Jahre  1888  aus 
dem  Budget  verschwinden  zu  machen.  Als  endlich  im  Jahre  1892  das  Budget  extra- 
ordinaire aufgehoben  wird,  zeigt  sich  wieder  das  Defizit;  erst  durch  neue  Anleihen  und 
.Steu Erhöhungen  wird  der  Staatshaushalt  wieder  ins  Gleichgewicht  gebracht;  da  aber 
die  Anleihen  Tilgungen  zu  bestimmten  Terminen  featsetsen,  so  glaubt  8 y d o w,  daß 
dadurch  die  französische  Finanzwirtschaft  in  ernste  Gefahren  geraten  könne,  denen 
selbst  der  Reichtum  Frankreichs  vielleicht  nicht  gewachsen  wäre. 

Braun  von  Fernwald. 

Vergleichende  Studien  über  ßetricli.sstntiHtik  und  Betrlebsformen  der 
englischen  Textilindustrie  von  Pr.  Georg  Bmdnitz,  Privatdozent  in  Halle  a.  S. 
Jena,  Verlag  von  Gustav  Fischer,  1902. 

Die  Arbeit  von  Dr.  G.  Brodnitx  sucht  eine  höchst  bedauerliche  Lücke  in  den 
Materialien  zur  Kenntnis  der  englischen  Wirtschaft  auszufülleu.  England  besitzt  keine 
offizielle  gewerbliche  Betriebsstatistik.  Wir  können  daher  ein  Bild  der  relativen  Bedeutung 
der  einzelnen  Betriebsformen  und  Betriebsgrößen  nicht  auf  statistischer  Grundlage, 
sondern  lediglich  für  einzelne  Industriezweige  beiläufig  auf  Grund  von  Enqueten,  Mono- 
graphien, Schätzungen  etc.  gewinnen  Dr.  Brodnitz  konnte  in  einer  privaten  Arbeit 
nicht  daran  denken,  das  ganze  Gebiet  der  englischen  Industrie  in  Angriff  zu  nehmen; 
er  wählte  die  Textilindustrie  und  schuf  für  dieselbe  eine  Betriebsstatistik  auf  Grund  der 
ihm  vom  Leiter  der  englischen  Fabriksinspektion  zur  Verfügung  gestellten  Mit- 
teilungen der  einzelnen  Fabrikanten,  die  in  neuerer  Zeit  verpflichtet  sind,  der 
Zentralfabriksinspektion  die  von  ihnen  im  Jahresdurchschnitte  beschäftigte  Arbeiterzahl 
bekanntzugeben.  Das  auf  diese  Weise  gewonnene  Material  vergleicht  Dr.  Brodnitz  sohin  * 
in  methodologischer  und  meritorischer  Hinsicht  mit  der  Betriebsstatistik  des  Deutschen 
Reiches. 

•Dieser  Vergleich  wird  allerdings  in  mehreren  Fällen  durch  verschiedene  Klassi- 
fizierung der  Gewerbe  erschwert,  indem  die  deutsche  Reichsstatistik  im  Gegensätze  xum 
englischen  Material  zwischen  der  Verarbeitung  von  Streich-  und  Kamingarn  nicht 
unterscheidet,  Bleicherei,  Färberei,  Druckerei  und  Appretur  zusammenfaßt,  ebenso  Spitzen- 
verfertigung und  Weißzeugstickerei  etc. 

Als  Einleitung  gibt  uns  Dr.  Brodnitz  eine  gedrängte  Darstellung  der  Geschichte 
der  englischen  Textilindustrie  mit  Rücksicht  auf  die  in  derselben  vorherrschenden 
Betriehsformen,  das  doraestic  System  einst,  die  große  Industrie  in  neuerer  Zeit. 

Die  große  industrielle  Umwälzung  im  18.  und  19.  Jahrhundert  hat  vielfach  in  der 
englischen  Literatur  die  Anschauung  gezeitigt,  der  fabrikmäßige  Großbetrieb  werde  und 
müsse  allgemein  alle  anderen  Betriebsformen  verdrängen. 

Dr.  Brodnitz  führt  uns  jene  spärlichen  englischen  Schriftsteller  vor,  welche  auf  Grund 
näherer  Untersuchung  ein  richtigeres  Bild  der  tatsächlichen- Verhältnisse  geben  konnten, 
so  insbesondere  Charles  Booth  in  seinem  Kolossalwerke  „Life  and  labour  of  the  people 
<»f  London*.  Interessante  zeitgemäße  Formen  des  Kleinbetriebes  stellen  insbesondere  die 


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Literaturbericlit. 


341 


„gemeinschaftlichen  Fabriken“  dar,  die  wir  in  der  Baumwollwcberei  Anden,  nnd  das  in 
der  Nottinghamer  Spitzenindustrie  ausgebildete  System  der  Maachinenmiete. 

Pr.  Brodniti  berichtet  uns  aber  auch  über  die  neuesten  Bestrebungen,  die 
textilen  Hausgewerbe  xu  unterstützen  und  neu  zu  beleben,  Bestrebungen,  die  von  Ruskin 
und  Albert  Fleming  ausgingen,  ton  der  Home  arts  and  industries  association.  der 
Irish,  Scottish  and  Walsh  association  propagiert  werden  und  sich  der  besonderen 
Unterstützung  des  Königs  erfreuen. 

Per  Vergleich  der  englischen  Betriebsstatistik  mit  der  deutschen  xeigt  uns  auf 
den  ersten  Blick,  daß  sich  die  Überbleibsel  der  englischen  textilen  Hausindustrie  mit 
Einschluß  ähnlicher  moderner  Neubildungen  auch  nicht  annähernd  mit  der  gewaltigen 
Zahl  der  deutschen  textilen  Zwergbetriebe  yergleichen  lassen;  wir  finden  aber  den 
Mittelbetrieb  auch  in  England  stark  verbreitet,  teilweise  stärker  wie  in  Peutschland.  Ein 
Vergleich  der  Zahl  der  Betriebe  in  den  verschiedenen  Größenklassen  (Kleinbetriebe 
1-5  Personen,  Mittelbetriebe  6-50.  Großbetriebe  5t  nnd  mehr  Personen)  wäre  freilich 
für  sich  allein  ungenügend  gewesen.  Besondere  Vorsicht  bei  der  Wahl  des  Vergleichs- 
msßstabes  war  infolge  der  großen  Zahl  der  deutschen  Alleinbetriehe  geboten,  die  von 
allen  Haqptbetrieben  der  deutschen  Textilindustrie  mehr  als  die  Hälfte  ansmachen  die 
aber  in  England  nahexu  ganz  fehlen.  Stellte  man  daher  x B.  ohne  weiteres  die  Zahl 
der  Arbeiier,  die  in  den  beiden  Ländern  in  einxelnen  Gewerbexweigen  durchschnittlich 
auf  einen  Betrieb  kommen,  nebeneinander,  ao  würde  England  infolge  Fehlens  der  den 
deutschen  Purcbsehnitt  berabdrüekenden  Alleinbetriebe  weit  mehr  xum  Großbetriebe 
entwickelt  erscheinen  als  richtig  ist.  Per  Vergleichungsmaßstab,  den  Pr.  Brodnitx 
gewählt  hat.  ist  die  Verteilung  der  Personenzahl  auf  die  verschiedenen  Größenkategorien 
der  Betriebe. 


Dr.  Brodnitx  stellt  auf  diesem  Wege  fest,  daß  im  großen  and  ganzen  dem 
Großbetriebe  anf  dem  _ Gebiete  der  Textilindustrie  in  Peutschland  nahezu  eine  ebenso 
große  relative  Bedeutung  zukoromt  wie  in  England.  In  verschiedenen  Industriezweigen 
.st  das  Verhältnis  freilich  ein  verschiedenes.  Es  sind  in  der  englischen  Baumwollspinnerei 
«5-95  Proz.  der  Personen  im  Großbetrieben  tätig,  in  der  deutschen  92'8  Proz , obwohl 
in  Peutschland  nur  15-3  Proz.  der  Betriebe,  in  England  hingegen  78  9 Proz.  der  Betriebe 
Großbetriebe  sind;  Kleinbetriebe  gibt  es  in  England  1 Prox.,  in  Peutschland  759  Proz 
Pte  enghsche  Baumwollspinnerei  beschäftigt  9V52  Proz.  der  Arbeiter  in  Großbetrieben', 
die  deutsche  bloß  67  Proz.  der  Arbeiter;  von  den  deutschen  Betrieben  sind  96-8  Proz 
Kleinbetriebe  von  den  englischen  1-8  Proz.  Aber  sowohl  in  der  Baumwollspinnerei  »U 
such  in  der  Baomwollweberei  haben  die  Betriebe  mit  über  100  Personen  in  Deutschland 
eine  höhere  durchschnittliche  Personenzahl  pro  Betrieb  als  in  England 

Auch  in  der  Wollspinnerei  und  der  Wollweberei  finden  wir  in  England  nur  um 
einige  wenige  Prozente  mehr  Personen  in  Großbetrieben  beschäftigt  wie  in  Deutschland 
Wieder  aber  beschäftigt  innerhalb  des  Großbetriebes  in  der  Wollweberei  der  ein 
zelne  Betrieb  durchschnittlich  in  England  51,  in  Deutschland  145  Personen.  Man  kann 
also  wohl  atmehmen,  daß  die  Tendenz  zu  konzentriertem  Großbetrieb  in  Deutschland 
sogar  stärker  ist  als  in  England 


Emen  größeren  Anteil  des  Großbetriebes  wie  England  weist  Deutschland  nur  iu 
einigen  weniger  wichtigen  Zweigen  (Shodd.rhe Stellung.  Wollbereitnng)  auf.  Die  Jute- 
Spinnerei  ist  in  beiden  Ländern  so  ziemlich  gleich  organisiert.  Die  Juteweberei  ist  schon 
"*  tngi“d„etwa3  mehr  konI,-'ntriert  W»  P'M-  der  Personen  arbeiten  in  Großbetrieben 
gegen  98  8 Proz.  in  Peutschland).  aber  wieder  ist  der  Großbetrieb  in  Deutschland  stärke' 
konzentriert,  indem  er  durchschnittlich  288,  der  englische  Großbetrieb  nur  221  Personen 
beschäftigt  Stärker  in  größeren  Betrieben  konzentriert  sind  in  England  insbesondere 
die  Strunipfwirentndustne,  die  Spitzenindustrie  und  die  Leinen  weher,,,  die  in  Deutschland 
noch  vtel  ach  h.uimdustneU  betrieben  werden,  die  Seidenspinnerei,  schließlich  die  Seiden- 
Weberei,  letztere  jedoch  wied.r  in  Deutschland  mit  größerer  durchschnittlicher  Peraonen- 
sahl  innerhalb  des  Großbetriebe«.  Betrieb«  mit  mehr  als  500  Personen  weist  England  in 
der  Seidenweberei  nur  3,  Deutschland  dagegen  14  auf. 


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Literaturbericht. 


342 


Betrachten  wir  die  Riesenbetriebe  der  Textilindustrie  mit  wehr  als  1000  Personen 
gesondert,  io  finden  wir,  daß  England  deren  20  mit  38.89*2  Personen  zählt.  Deutschland 
32  mit  42.777  Personen. 

Der  verdienst  vollen  Arbeit  Ober  die  Betriebsfonnen  der  englischen  Textilindustrie 
soll  eine  Studie  über  die  englischen  Kleingewerbe  im  allgemeinen  folgen.  Ziiek. 

L.  r.  Amran,  Englands  Land-  und  Seepolitik  und  die  orientalische 
Frage  nebst  Vorschlägen  in  Betreff  der  Meereugen  und  Isthmen  des  Mit- 
telländischen und  des  Roten  Meeres.  Berlin.  W.  35,  Fußingen  Buchhandlung. 
Preis  1 Mark. 

Das  Büchlein  ist  ein  schöner  Beweis  dafür,  daß  selbst  am  Anfänge  des  20.  Jahr- 
hunderts der  Idealismus  noch  nicht  ganz  abgestorben  ist;  denn  abgesehen  von  einer 
wirklich  sehr  klaren  und  übersichtlichen  Darstellung  der  jetzigen  Macht  Englands  und 
ihrer  Fundamente,  kann  man  füglich  die  Vorschläge  de»  Verfassers  zur  Lösung  der 
orientalischen  Frage  ebenso  wie  die  zur  Neutralisierung  der  wichtigsten,  maritimen  Welt- 
straßen  durch  Schaffung  von  Neutralstaaten  an  den  betreffenden  Meerengen  und  Isthmen 
im  besten  Falle  als  schöne  Traume  bezeichnen,  die  durch  Hineinziehung  der  Judenfrage 
und  des  Zionismus  nicht  an  Realität  gewinnen.  Alle  in  diesem  Büchlein  niedergelegten 
Ideen  können  zu  wunderbaren  Diskussionen  an  den  .Stammtischen  der  Provinzst&dte 
Anlaß  geben,  wo  die  Fragen  der  internationalen  Politik  hinter  den  Bierkrügen  rasch  und 
endgültig  entschieden  werden,  und  wo  gewiß  auch  die  Idee,  alle  Juden  an  der  Straße 
Bab-el-Mandeb  in  einem  Neutralstaatskäfig  zusamiuenzupferchen,  und  zwar  unter  einem 
christlichen  Oberhaupt,  ebensolchen  Ministern  und  Heerführern  (!),  ebensoviel  Bewunderung 
als  Widerspruch  erregen  würde.  Wie  ideal  gedacht  ist  es  auch,  den  Abyssiniern  als 
Experiment  eventuell  den  Bab-el-Mandebstaat  zu  übergeben  und  zu  versuchen,  „ob  nicht 
auch  diese  Menschen-  mit  ihren  höheren  Zwecken  wachsen  können.  Der  Verfasser  träumt 
mit  einer  wahren  Wollust  von  internationalen  Konferenzen,  Bündnissen,  Verträgen  etc. 
etc.,  kurz  von  einer  Regelung  aller  Fragen  im  Einvernehmen  zu  mindestens  aller  Kon- 
tinentalstaaten, die  alle  seine  Vorschläge  durchzuführen  und  dann  auch  noch  inte»  national 
zu  garantieren  hätten.  Leider  läßt  sich  Herr  v.  Amran  wohl  infolge  der  Kürze  der 
Darstellung  nicht  in  eine  nähere  Ausführung  der  Durchführung  dieser  Gesaintaktionen 
ein;  vielleicht  hat  er  ein  näheres  Eingehen  darauf  schon  deshalb  vermieden,  um  nicht 
damit  selbst  das  Fundament  aller  seiner  weiteren  Vorschläge  von  vornheiein  zu  zer- 
stören. Gewiß  wurde  dieses  mit  soviel  Fleiß  und  Umsicht  verfaßte  Vorachiäge-Mosaik 
auch  dem  ernstesten  Politiker  — ein  Lächeln  abnötigen,  aber  er  würde  wohl  vom  Ver- 
fasser dasselbe  denken  müssen,  was  dieser  selbst  von  den  Zionisten  und  Antisemiten 
sagt  „Beide  haben  den  Boden  der  realen  Tatsachen  v-u  lassen  und  bewegen  sich  in  den 
luft-  und  lichtlecren  Regionen  der  Phantastereien.-  L.  K.-M. 


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ZUR  AUSGESTALTUNG  I»ES 
RECHTS-  UNI)  STAATS  WISSENSCHAFT  LICHEN 
STUDIUMS  IN  ÖSTERREICH. 


VON 

PP.OP.  T>H  ALFRED  V.  HALBAN 

(FORTS  ETIL’NO.) 


VI.  Das  staatswissenschaftliche  Studium. 

Die  zweite  Studienabteilung,  der  jetzt  4 - !>,  in  der  Regel  doch  nur 
4 Semester  gewidmet  werden,  umfallt  die  Staatswissenschaften  und  das 
moderne  Recht. 

Was  die  Staats  Wissenschaften  anbelangt,  so  bedarf  es  keiner 
speziellen  Auseinandersetzung,  um  das  mangelhafte  Gleichgewicht  zwischen 
der  juristischen  und  staatswissenschaftlichen  Bildung  näher  zu  schildern; 
dieses  Übel  ist  genügend  anerkannt  und  man  darf  sich  darüber  durch  den 
Hinweis  darauf,  daß  es  anderwärts  auch  nicht  besser,  teilweise  sogar  noch 
Viel  schlechter  stehe,  nicht  hinwegsetzen.  Wenn  wir  sehen,  wie  häufig  die 
neuen,  von  modernen  Ideen  getragenen  Verwaltungsgesetze  in  der  Praxis 
einfach  nicht  durchdringen,  so  sind  wir  nur  zu  oft  geneigt,  in  dem  Mangel 
einer  verwaltungsrechtlichen  Kodifikation  die  Ursache  zu  suchen.  Gewiß 
spielt  auch  dies  eine  Rolle.  Aber  die  Hauptursache  ist  doch  eine  andere. 

Wie  soll  sich  der  vorwiegend  juristisch,  eigentlich  aber  nur  zivilistisoh  vor- 
gebildete Beamte  in  Wesen  und  Zweck  der  Staatsaufgaben  hineindenken?  Hat 
er  überhaupt  Veranlagung  zu  selbständigem  Denken  und  wird  diese  Veranlagung 
durch  seine  Vorgesetzten  gelordert,  so  hindert  ihn  doch  die  überwiegend  zivi- 
listische  Schulung  an  voraussetzungslosem  Eingehen  auf  den  wesentlich  anderen 
Gedankengang  der  öffentlichen  Verwaltung,  ihres  Rechtes  und  ihrer  Politik. 
Das  Gleichgewicht  zwischen  privatem  und  Öffentlichem  Rechte  muß  endlich 
durchgeführt  werden.  Die  Zurückstellung  des  öffentlichen  Rechtes  und 
aller  Verwaltnngsaufgnben.  die  sieh  in  der  früheren  Jurisprudenz  aus  der 
einseitigen  Pflege  des  römischen  Rechtes  ergab,  ist  durch  die  Lebens- 
verhältnisse längst  überholt.  Wir  sind,  wie  schon  erwähnt,  gewiß  weit 
davon  entfernt,  zu  verlangen  oder  auch  nur  zuzugehen,  daß  sich  die 
Wissenschaft  und  ihre  Lehre  an  der  Universität  jeder  Mode  anschließe; 
aber  hier  handelt  es  sich  um  ein  Bedürfnis,  dessen  wissenschaftliche 
Berücksichtigung  dringend  ist,  wenn  die  weitere  Entwicklung  des  öffentlichen 

Zeitschrift  fdr  Volkswirtschaft,  Sozialpolitik  and  Verwaltung.  XII.  Band.  24 


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344 


Halhan 


Leben«  sich  nicht  in  vollkommenem  Gegensätze  zur  Rechtswissenschaft 
vollziehen  soll.  Neben  die  zwei  bisher  so  gut  wie  ausschließlich  vertretenen 
Richtungen,  die  rechtshistorische  und  die  moderne  dogmatische,  muß  die 
staatswissenschaftliche  nicht  nur  de  nomine,  sondern  auch  de  facto,  eben- 
bürtig hinzutreten,  was  sich  aus  dem  Geiste  unserer  Studienordnung  ergibt. 
Die  einleitenden  Kollegien  des  ersten  Semesters  würden  die  nötige  Grund- 
lage bieten  und  es  wäre  erwünscht  und  möglich,  daß  sodann  auch  die 
lieclitsgeschichte  wirtschaftliche  und  staatsrechtliche  Fragen  in  höherem 
Grade  berücksichtigt  als  dies  jetzt  der  Fall  ist.  Im  ersten  Bienniunt  wäre 
auf  diese  Weise  das  gerechte  Ebenmaß  zwischen  rechts  und  staatswissen- 
schaftlichen Gesichtspunkten  leicht  herzustellen.  Im  zweiten  Biennium  fallt 
dies  bei  der  jetzigen  Sachlage  schwerer;  denn  die  Beschäftigung  mit  dem 
modernen  Rechte  hat  nach  der  jetzt  herrschenden  Ansicht  derart  spezielle 
Zwecke,  daß  eine  harmonische  Mitberücksichtigung  der  Staatswissenschaften 
bei  Behandlung  des  modernen  Rechtes  schwierig  erscheint.  Wir  gehen 
uns  nicht  der  Hoffnung  hin.  daß  inan  die  gesamte  Lehre  des  modernen 
Rechtes,  bei  welcher  iin  Gegensätze  zur  Rechtsgeschichte  von  vornherein 
Spezialgebiete  in  Angriff  genommen  werden  müssen,  so  ändern  könnte,  daß 
auch  die  Staatswisseuschaften  zu  ihrem  Rechte  gelangen  würden.  Wir 
wollen  den  Vertretern  der  modernen  österreichischen  Fächer  keinen  Vorwurf 
machen,  denn  nachdem  jeder  von  ihnen  nur  ein  bestimmtes  Gebiet  zu 
behandeln  hat  und  nicht  in  der  Lage  ist,  das  gesamte  moderne  Recht  ein- 
heitlich durzustellen,  ist  es  ihm  auch  nicht  möglich,  auf  das  öffentliche 
Hecht  und  die  staatswissenschaftlichen  Aufgaben  näher  einzugehen;  eB  kann 
höchstens  die  staatswissenschaftliche  Bedeutung  des  betreffenden  Faches 
und  auch  die  nur  nebenher  gewürdigt  werden.  Da  erscheint  es  denn 
dringend  notwendig,  den  Staatswissenschaften  auf  eine  andere  Weise  die 
ihnen  im  Lehrplane  gebührende  Stellung  zu  sichern. 

So  wie  die  Dinge  jetzt  stehen,  werden  die  staatswissenschaftlichen 
Fächer  bei  uns  in  ziemlich  großem  Umfange  vorgetragen,  gelten  aber  doch 
nur  als  eine  untergeordnete  Beigabe  der  sogenannten  jtidiziellen  Fächer. 
Dem  Hörer  des  zweiten  Bienniums  steht  nach  Absolvierung  desselben  vor 
allem  die  zweite,  nämlich  die  judizielle  Staatsprüfung  bevor  und  ist  auch 
die  Reihenfolge  der  zweiten  und  dritten  Staatsprüfung  gesetzlich  nicht 
bestimmt,  so  daß  der  Hörer  die  Wahl  hat,  entweder  die  judizielle  oder  die 
staatswissenschaftliche  Prüfung  abzulcgen,  so  wird  doch  bekanntermaßen 
der  judiziellen  Staatsprüfung  eine  größere  Bedeutung  beigelegt  und  dieselbe 
wird  durchwegs  vor  der  staatswissenschaftlicben  gemacht  Es  kommt  hinzu, 
daß  bei  vielen  Behörden,  selbst  bei  Verwaltungsbehörden,  der  Nachweis 
der  judiziellen  Staatsprüfung  zur  Aufnahme  in  die  Präzis  genügt;  infolge- 
dessen wird  die  dritte  Staatsprüfung  vielfach  von  Kandidaten  abgelegt, 
di«  bereits  in  der  Praxis  tätig  sind  und  weder  Zeit  noch  Lust  finden,  sich 
zu  dieser  Prüfung  eingehend  vorzubereiten.  Unwillkürlich  muß  der  Kandidat, 
der  ohne  staatswissenscliaftliche  Staatsprüfung  dennoch  hei  einer  Ver- 
waltungsbehörde Aufnahme  gefunden  hat.  die  erwähnte  Prüfung  als  weniger 


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Zur  Ausgestaltung  des  rechts-  und  staat8wi«senschaftlichen  Studiums  etc.  345 


wichtig  betrachten  als  die  judizielle;  wird  er  doch  als  Verwaltungsbeamte 
verwendet,  ohne  Aber  die  betreffenden  Fächer  geprüft  worden  zu  sein; 
überdies  wird  ihm  in  der  Begel  die  Pflicht  auferlegt,  binnen  sechs  Monaten 
diese  Prüfung  nachzuholen;  es  wird  also  gewissermaßen  offiziell  konstatiert, 
daß  zur  Vorbereitung  für  diese  Prüfung  trotz  der  Beschäftigung  im  Amte 
sechs  Monate  genügen,  während  für  die  judizielle  Staatsprüfung  die  Vor- 
bereitung viel  gründlicher  betrieben  und  überdies  zu  einer  Zeit  vorgenommen 
wird,  wo  der  Kandidat  noch  nicht  im  Amte  ist  und  dem  Studium  mehr 
Zeit  widmen  kann.  Nicht  unberücksichtigt  bleibt  schließlich  der  Umstand, 
daß  die  staatswissenschaftliche  Prüfung  über  Fächer  abgelegt  werden  soll, 
die  der  Kandidat  meistens  während  des  dritten  Studienjahres  gehört 
hat.  also  lauge  vor  dem  Prüflingstermin.  Dahingestellt  lassen  wir  es,  ob 
gleichzeitige  Verwendung  im  Amte  und  emste  Vorbereitung  für  eine  Prüfung, 
die  doch  auch  den  Namen  einer  theoretischen  führt,  möglich  und  er- 
sprießlich ist.  — 

Allen  diesen  Schwierigkeiten  wäre  leicht  abzuhelfen,  wenn  man  die 
staatswissenschaftlichen  Disziplinen,  ebenso  wie  es  mit  den  rechtshistorischen 
geschieht,  in  eine  eigene  Gruppe  znsammenfassen  würde,  so  daß  nach 
Absolvierung  der  nötigen  Vorlesungen  die  staatswissenschaftlic.he  Staats- 
prüfung noch  vor  derjudiziellen  abgelegt  werden  könnte.  Es  wären 
den  Staatswissenschaften  zwei  Semester  vorzubehalten,  nämlich  das  fünfte 
und  sechste;  in  diesen  zwei  Semestern  hätten  sich  die  Hörer  ausschließlich 
mit  den  auch  jetzt  schon  vertretenen  staatswissenschaftlichen  Fächern  zu 
beschäftigen,  die  dadurch  schon  äußerlich  als  eiu  gleichberechtigter  Teil 
des  gesamten  Studiums  erscheinen  würden. 

Was  die  einzelnen  Fächer  anbelangt,  so  wäre  die  Frage  zulässig,  oh  die 
separate  Behandlung  der  Volkswirtschaftspolitik  nicht  einigermaßen 
der  Verwaltungslehre  abträglich  ist.  Es  unterliegt  doch  keinem  Zweifel, 
daß  die  Volkswirtschaftspolitik,  die  eines  der  allerwichtigsten  Gebiete  des 
Staats-  und  Volkslebens  behandelt,  mit  der  Vcrwaltnngslehre  in  ihrem 
höheren  Sinne  in  innerem  Zusammenhänge  stellt.  Es  ist  klar,  daß  die 
Grundlagen  der  Volkswirtschaftspolitik  in  der  Volkswirtschaftslehre  zu  suchen 
sind;  nichtsdestoweniger  muß  die  Verwaltungslehre  auf  Schritt  und  Tritt 
mit  den  Aufgaben  der  Volkswirtschaftspolitik  rechnen.  Die  Trennung  der 
Verwaltungslehre  von  der  Volkswirtschaftspolitik  kann  daher  nicht  als  er- 
sprießlich bezeichnet  werden,  da  wir  im  Gegenteile  bestrebt  sein  müssen, 
den  Bedürfnissen  der  Volkswirtschaftspolitik  in  der  Verwaltung  und  im 
Verwaltungsrecbte  Kecliming  zu  tragen.  Es  scheint,  daß  eine  Vereinigung 
beider  Disziplinen  angezeigt  wäre;  fraglich  ist  es  nur,  ob  man  die  Ver- 
waltungslehre mit  der  Volkswirtschaftspolitik  in  der  Hand  des  National- 
ökonomen oder  umgekehrt  in  der  Hand  des  Vertreters  der  Verwaltungslehre 
und  des  Verwaltungsrechtes  vereinigen  soll.  Es  lassen  sich  mit  Rücksicht 
auf  die  persönliche  Veranlagung  der  betreffenden  Dozenten  nicht  leicht 
prinzipielle  Regeln  aufstellen;  im  allgemeinen  würde  die  Überweisung  der 
Volkswirtschaftspolitik  an  die  Verwaltungslehre  als  das  passendere  erscheinen, 

24* 


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346 


Haiban. 


wogegen  auch  in  der  theoretischen  Volkswirtschaftslehre  ein  von  diesem 
Standpunkte  erwünschtes  Eingehen  auf  die  Aufgaben  der  Volkswirtschafts- 
politik angebracht  und  leicht  durchführbar  ist.  Eine  Folge  dieser  Ver- 
einigung wäre  die  Ausscheidung  des  österreichischen  Verwaltungsrechtes, 
welches  dann  ein  separates  Kolleg  zu  bilden  hätte.  Die  Verwnltungslehre 
mltlite  bedeutend  ausgestaltet  werden;  ist  auch  das  Verwaltungsrecht  bei 
uns,  wie  übrigens  auch  anderwärts  noch  zu  wenig  kodifiziert,  und  ist  aus 
diesem  Grunde  eine  detaillierte  Darstellung  desselben  vom  akademischen 
Standpunkte  weniger  erwünscht,  so  muß  desto  größeres  Gewicht  auf  die 
allgemeine  Verwaltungslehre  gelegt  werden,  weil  nur  auf  diese  Weise  das 
nötige  Verständnis  für  zahlreiche  wichtige  Zweige  des  Staatslebens  vermittelt 
werden  kann.  Verwaltungsrechtliche  Details  werden  zum  Teile  mit  liecht 
als  Gedächtnisballast  bezeichnet:  sollten  sie  diesen  Charakter  verlieren,  dann 
mflßte  dem  Verwaltungsrechte  mindestens  dreimal  soviel  Zeit  gewidmet 
werden  als  einem  kodifizierten  Rechte,  was  natürlich  im  Rahmen  des 
Hochschulunterrichtes  unmöglich  und  mit  Rücksicht  auf  die  häufigen  Ver- 
änderungen verwaltnngsreehtlicher  Normen  auch  nicht  nötig  ist.  Aber  über 
die  theoretischen  Grundlagen  der  Verwaltung  und  über  die  verwallungs- 
politischen  Aufgaben  darf  der  Hörer  nicht  im  Unklaren  gelassen  werden 
und  wäre  dabei  auch  auf  die  anderwärts  beobachteten  Grundprinzipien 
Rücksicht  zu  nehmen.  Der  Hörer  erhält  jetzt  eine  beiläufige  Ausbildung 
in  der  Volkswirtschaftspolitik,  wogegen  die  Ausbildung  in  Verwaltungslehre 
und  Verwaltnngsrecht  eine  ganz  ungenügende  ist.  Man  könnte  sogar 
bemerken,  daß  durch  die  besondere  Hervorhebung  der  Volkswiitscbafts- 
politik,  ohne  daß  dieselbe  mit  der  Verwaltungslehre  verbunden  wird,  sich 
eine  Störung  des  Gleichgewichtes  ergibt,  wobei  das  Verständnis  für  die 
Verwaltungslehre,  also  das  Allgemeinere,  Schaden  leidet  und  auch  das 
Verständnis  für  das  Besondere,  nämlich  für  die  Volkswirtschaftspolitik  selbst, 
nicht  gefordert  wird. 

Was  das  Staatsrecht  anbelangt,  welches  seiner  modernen  Ge- 
staltung nach  eigentlich  eine  streng  juristische  Disziplin  ist,  so  möchten 
wir  es  dennoch  im  Zusammenhänge  mit  den  Staatswissenschaften  belassen, 
ebenso  wie  das  Völkerrecht.  Wir  glauben,  daß  Staatswissonsrhatten, 
die  für  .Juristen  vorgetragen  werden,  doch  nicht  ohne  diese  juristische 
Weihe,  die  ihnen  eben  nur  das  Staatsrecht  in  höchster  Potenz  zu  verleihen 
vermag,  belassen  werden  dürfen.  Ist  auch  das  Staatsreeht  zweifellos  vor 
allem  Recht,  so  schöpft  es  doch  seinen  Inhalt  und  das  Verständnis  für 
seine  Zwecke  aus  den  Staatswissenschaften,  gehört  also  teilweise  begrifflich 
hieher,  namentlich  wenn  nmn  sich  gemäß  den  Intentionen  unserer  Studien- 
nrdnnng  nicht  bloß  auf  das  österreichische  Staatsrecht  beschränkt,  sondern 
auch  das  allgemeine  in  den  Kreis  der  Heobachtungen  zieht.  Docli  müßte 
selbstverständlich  für  das  Staatsrecht  mehr  geschehen  als  bisher.  Wir 
haben  schon  auf  den  Mangel  des  Gleichgewichtes  zwischen  Privat-  und 
öffentlichem  Rechte  hingewiesen:  dieser  Mangel  trifft  namentlich  für  dag 
Staatsrecht  zu.  Privatreeht  hört  der  .Jurist  eigentlich  dreimal:  nämlich 


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Zur  Ausgrbtaltuug  -tes  rechte-  und  staats  wissenschaftlichen  Studiums  etc.  347 


römisches,  deutsches  und  österreichisches  Privatrecht  Das  römische  Privat- 
recht, oder  eigentlich  das  gemeine  römische  Hecht,  führt  ihn  bis  an  die 
Pforte  des  modernen  Privatrechtes;  die  Darstellung  des  deutschen  Privat- 
rechtes legt  begreiflicherweise  den  größten  Wert  auf  diejenigen  Einrichtungen, 
die  trotz  der  Rezeption  des  römischen  Rechtes  sich  auf  deutschrechtlicher 
Grundlage  entwickelt  und  bis  in  die  moderne  Zeit  erhalten  haben;  also  auch 
von  dieser  Seite  her  gelangt  der  Hörer  hart  an  die  Grenze  des  zeitgenös- 
sischen Privat-  und  Handelsrechtes;  nichtsdestoweniger  bieten  wir  ihm  eine 
lSstöndige  Vorlesung  über  österreichisches  Privat-  und  eine  7stflndige  über 
österreichisches  Handels-  und  Wechselrecht.  Das  Staatsrecht  dagegen  lernt 
der  Hörer  im  ersten  Biennium  in  weit  geringerem  Grade  kennen.  Wir 
sehen  ab  von  der  Enzyklopädie  und  Philosophie,  weil  diese  Fächer  in 
gleicher  Weise  alle  Reehtsgebiete  betreffen  und  für  alle  in  gleicher 
Weise  vorbilden  sollen;  seihst  wenn  dabei  dem  Staatsrechte  ein  gewisses 
Plus  zutällt,  was  übrigens  durchaus  nicht  allgemein  der  Fall  ist,  so 
vermag  dieses  Plus  noch  keineswegs  die  Privilegierung  des  Privatrechtes 
aufzuwiegen.  Die  rechtshistorische  Darstellung  gibt  allerdings  auch  staats 
rechtliche  Lehren,  aber  selbst  da  erscheint  wieder  das  Privatrecht  privilegiert; 
denn  die  Rechtsgeschichte  behandelt  alle  Rechtsgebiete  und  während  daneben 
für  das  deutsche  und  römische  Privatrecht  Spezialkollegien  bestehen,  die 
ebensoviel  Raum  fordern  wie  die  gesamte  übrige  Rechtsgeschichte,  ist  ein 
spezielles  Kolleg  über  Geschichte  des  römischen  oder  deutschen  Staatsrechtes 
bekanntermaßen  nicht  vorhanden.  Und  trotz  alledem  soll  dann  das  Staatsrecht 
mit  5 Stunden  auskommen,  wobei,  wie  erwähnt,  nicht  nur  das  österreichische, 
sondern  auch  das  allgemeine  Staatsrecht  zur  Darstellung  zu  gelangen  hat. 
Es  erscheint  also  nur  gerecht,  wenn  mau  für  das  Staatsrecht  eine  größere 
Stuudeuanzahl  fordert,  desto  mehr,  als  ja  eine  ersprießliche  Erörterung 
desselben  doch  auch  auf  ausländische  Einrichtungen  eingehen  muß. 

Was  die  Statistik  anbelangt,  so  hat  dieselbe  nach  übereinstim- 
mender moderner  Auffassung,  als  Geschichte  und  Methodik  der  Statistik, 
deu  Zweck,  den  Studierenden  die  Kenntnis  der  allgemeinen  Gesichtspunkte 
und  der  wissenschaftlichen  und  praktischen  Aufgabe  dieser  heutzutage  als 
eiakt  zu  betrachtenden  Wissenschaft  zu  ermöglichen. 

Der  staatswissensebaftliche  Studieoabschnitt,  der  sich  dem  rechts- 
historischeu  anzureihen  hätte,  würde  der  jetzigen  Einrichtung  gemäß  obligate 
Fächer  im  Gesamtausmaße  von  2b  wöchentlichen  Stunden  umfassen.  Durch 
die  Ausscheidung  des  österreichischen  Verwaltungsrechtes  würde  sich  die 
Notwendigkeit  eines  neuen  etwa  dreistündigen  Kollegs  ergehen,  wodurch  aber 
keine  Belastung  einzutreten  hätte,  weil  die  Vereinigung  der  Volkswirtschafts- 
politik mit  der  Verwaltungslebre  eine  Ersparnis  bewirken  würde.  Dagegen 
müßte  das  staatsrechtliche  Kolleg  erweitert  und  das  völkerrechtliche  als 
obligat  anerkannt  werden.  Es  ist  ferner  Rücksicht  zu  nehmeu  auf  das  schon 
jetzt  an  allen  Universitäten  vorgetragene  Kolleg  über  österreichisches  Finanz- 
recht, auf  das  durch  § 5 der  Ministerialverordnung  vom  24.  Dezember  1893 
mit  Recht  empfohlene  Kolleg  über  österreichisches  Agrarrecht  sowie  auf 


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348 


Haiban. 


das  ebenfalls  richtigerweise  empfohlene  Kolleg  über  Bergrecht,  welches 
übrigens  wegen  seiner  historischen  Entwicklung  ebensogut  im  ersten  Bien- 
nium,  etwa  im  Anschlüsse  an  das  deutsche  1‘rivutrecht,  also  im  vierten 
Semester  gebürt  werden  könnte  und  auch  tatsächlich  an  vielen  Universitäten 
in  diesem  Zusammenhänge  vorgetragen  wird. 

Auf  tirund  des  Angeregten  würde  also  der  zweite  Studienabschnitt 


folgenden  Lehrplan  benötigen: 

Fünftes  Semester: 

1.  allgemeines  österreichisches  Staatsrecht 8 Stunden 

2.  Nationalökonomie 6 

3.  Statistik 4 , 

zusammen  ...  18  Stunden 

Sechstes  Semester: 

1.  Verwaltungslehre  und  Volkswirtschaftspolitik  7 Stunden 

2.  Finanzwissenschaft  3 

3.  österreichisches  Verwallungsreclit 3 . 

4.  Völkerrecht 3 . 

zusammen  ...  18  Stunden 

Überdies  kämen  als  nicht  obligate  Vorlesungen  in  Betracht: 

1.  österreichisches  Finanzrecht 3 Stunden 

2.  , Agrarrecht 2 — 3 . 

3.  . Wasserrecht 1 — 2 . 

eventuell  österreichisches  Bergrecht  (falls  es  nicht  schon 

im  ersten  Biennium  gehört  wird  i 3 , 


Die  Staatsverrechnungswissenschaft  gehört  natürlich  auch  dieser  Gruppe 
an,  wird  aber  bekanntermaßen  von  Juristen  nicht  gehört,  kann  also  in  diesem 
Lehrplane  unberücksichtigt  bleiben.  Im  ganzen  hätten  wir  somit  während 
dieser  zwei  Semester  Obligatkollegien  im  Oesamtausinaße  von  36  Stunden 
und  nichtobligate  Kollegien  im  Oesamtausmaße  von  9 — 11  Stunden  unter- 
zubringen, wobei  übrigens  schon  das  Bergrecht  mitgerechnet  erscheint, 
welches,  wie  erwähnt,  vielfach  während  des  ersten  Bienniums  gehört  wird. 
Aber  selbst  dann  erscheint  die  Summe  aller  obligaten  und  nichtobligaten 
Kollegien  dieses  Studienabschnittes  nicht  zu  groß,  um  während  der  Dauer 
von  zwei  Semestern  bequem  bewältigt  werden  zu  können,  so  daß  daneben 
noch  immer  für  das  eine  oder  andere  Seminar  Zeit  verbleiben  würde.  Den 
Abschluß  dieses  Studienabschnittes  würde  wieder  eine  Staatsprüfung,  näm- 
lich die  politische  als  zweite  bilden,  so  daß  das  Aufsteigen  in  den  nächst 
höheren  Jahrgang  von  dem  Ablegen  derselben  abhängen  müßte. 

VII. 

Die  judiziellen  Fächer. 

Wir  gehen  zu  dem  letzten  Studienabschnitte,  der  dem  geltenden  Rechte 
gewidmet  ist,  über.  Es  handelt  sich  hiebei  um  bürgerliches  Recht 


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Zur  Ausstattung  de«  rechts-  und  »taatswissrnsrhuftlichen  Studiums  et«  rt40 


und  Z i v i 1 1»  r o z e ß,  Handels-  und  VV  ec  h s u 1 r e cli  t,  Strafrecht 
und  Strafprozeß,  denen  nach  dem  geltenden  Studienplane  insgesamt 
47  Stunden  gewidmet  werden.  Überdies  gehört  in  diesen  Studienabschnitt 
eine  Keilte  von  niehtobligaten  Vorlesungen,  unter  denen  bekanntlich  gericht- 
liche Medizin,  G e fä  n g n i s k u n d e,  G r u n d b u c h s r e ch  t.  Kou- 
kurs recht  u.  s.  w.  seit  jeher  vorgetragen  und  mit  Hecht  als  besonders 
wichtig  betrachtet  werden.  Diese  nichtobligaten  Vorlesungen  erfordern  zu- 
sammen nach  der  jetzigen  Praxis  mindestens  12  Stunden,  so  daß  das  Ganze 
in  diesem  Abschnitte  zu  absolvierende  Pensum  auf  zirka  60  Vortragsstunden 
zu  veranschlagen  ist,  wobei  natürlich  praktische  Übungen  und  Seminare 
nicht  mitgerechnet  sind.  Diese  Menge  von  Vorlesungen  in  zwei  Semestern 
nnterzubringen.  erscheint  gewiß  sehr  schwierig,  namentlich  wenn  dem  Hörer 
- und  es  handelt  sich  gerade  um  die  Berücksichtigung  der  pflichteifrigen 
Studenten  — noch  die  nötige  Zeit  zur  Beschäftigung  in  dem  einen  oder 
dem  andern  Seminar  und  zum  Privatstudium  übrig  gelassen  werden  soll. 

Diesem  Übel  könnte  mau  auf  zweierlei  Art  begegnen.  Es  wäre  entweder 
die  den  einzelnen  Eichern  jetzt  gewidmete  Zeit  einzuschränken  oder  aber 
noch  ein  Semester  hinzuzufflgen.  mithin  die  Gesamtdauer  des  Studiums  von 
acht  auf  neun  Semester  zu  erstrecken.  Es  läßt  sich  für  jede  der  beiden 
Eventualitäten  vieles  Vorbringen. 

Die  große  Stundenzahl,  die  den  sogenannten  judiziellen  Fächern  in 
Österreich  gewidmet  wird,  beruht  auf  der  seit  langer  Zeit  eingebürgerten 
Überzeugung,  daß  gerade  diese  Fächer  die  größte  Bedeutung  und  für  die 
Präzis  den  größten  Wert  haben.  Diese  privilegierte  Stellung  haben  die  judi- 
ziellen Fächer  zu  einer  Zeit  gewonnen,  wo  man  die  übrigen  Gebiete  der 
Jurisprudenz  und  vor  allem  die  Staatswissenscliallen  nicht  genügend  wür- 
digte und  wo  man  auch  im  Bereiche  der  Hechtsgeschichte  vor  allem  das 
Privatrecht  als  das  Wichtigste  betrachtete.  Die  Folge  dieser  auch  bisher 
noch  immer  vertretenen  Überzeugung  scheu  wir  auf  Schritt  und  Tritt.  Die 
judiziellen  Fächer  werden  bei  uns  in  einer  Ausdehnung  vorgetragen,  die 
ihresgleichen  sucht;  es  kommt  die  im  Interesse  der  Wissenschaft  so  sehr 
erwünschte  Ebenmäßigkeit  des  gesamten  Studiums  zu  Gunsten  der  judiziellen 
Fächer,  vor  allem  aber  des  Privatrechtes,  ins  Schwanken;  es  fehlt  auch 
nicht  an  arideren  unzweckmäßigen  Äußerungen  der  erwähnten  Überzeugung; 
denn,  wie  erwähnt  nimmt  man  absolvierte  Rechtshörer  ohne  politische 
Staatsprüfung  selbst  hei  Verwaltungsbehörden  auf,  so  daß  auch  von  dieser 
Seite  her  die  judiziellen  Fächer  und  die  judizielle  Staatsprüfung  besonders 
gewürdigt  werden.  Unter  den  judiziellen  Fächern  wieder  genießt  das  Privat- 
recht eine  entschieden  bevorrechtete  Stellung  und  dies  gilt  nicht  nur  für 
den  Studienplan,  sondern  in  ebensolchem  Grade  für  die  Praxis.  Gilt  es  doch 
gewissermaßen  als  natürlich,  daß  die  besten  Kräfte  dem  Zivilgerichte,  die 
minder  guten  dem  Strafgerichte  überwiesen  werden;  auf  die  Durchführung 
der  Zivilprozeßgesetze  legt  die  Justizverwaltung  weit  größeren  Nachdruck 
als  auf  die  gute  Durchführung  der  Strafprozeßordnung.  Teils  der  alten  Über- 
zeugung, teils  den  unrichtigen  Anforderungen  naebgebend,  ist  auch  der 


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3">0 


Halban 


Lehrplan  der  rechts-  und  staatswissensehattlichen  Fakultät  in  diesen  Fehler 
verfallen.  Können  wir  uns  auch  damit  trösten,  dali  es  anderwärts  nicht  viel 
besser  steht,  so  folgt  noch  daraus  nicht,  daß  inan  diesen  Mangel  gänzlich 
übersehe  und  ihm  nicht  abzuhelfen  trachte. 

Es  ist  schon  im  vorigen  Kapitel  hei  Besprechung  des  ungerechten 
Verhältnisses  der  Staatswissenschaften  gegenüber  den  Rechtswissenschaften 
darauf  hingewiesen  worden,  daß,  wie  ja  übrigens  von  allen  Seiten  anerkannt, 
von  den  einen  getadelt,  von  den  anderen  gefordert  wird,  der  gesamte 
Studiengaug  eigentlich  auf  das  privatrechtliche  Ziel  losgeht.  Vergleichen  wir 
die  Behandlung  des  Privatrechtes  mit  der  des  Strafrechtes.  Wie  erwähnt, 
hört  der  Student  Privatrucht  drei-,  eigentlich  viermal;  nach  dem  ausführ- 
lichen Kolleg  über  römisches,  folgt  das  Kolleg  über  deutsches  Privatrecht; 
und  dann  soll  der  Hörer  noch  18  Stunden  österreichisches  Privatrecht  und 
7 Stunden  Haudels-  und  Wochseirecht  hören.  Weit  weniger  ist  er  für  das 
Strafrecht  vorbereitet;  abgesehen  davon,  was  er  darüber  in  den  vorbereitenden 
Kollegien  des  ersten  Semesters  hören  konnte  und  was  wir  gerecliterweise 
nicht  mit  in  Rechnung  zielten  dürfen,  weil  in  diesen  Kollegien  dieselbe  Vor- 
bildung für  alle  Fächer  geboten  werden  soll,  kann  er  nur  in  der  Geschichte 
des  deutschen  und  kanonischen  Rechtes  einige  strafrechtliche  Kenntnisse 
erwerben;  die  römische  Recht. «geschieh te  läßt  ja  konsequent  das  Strafrecht 
außer  Betracht.  Dennoch  werden  5 .Stunden  als  genügend  betrachtet,  um 
den  Juristen  in  die  Geheimnisse  des  Strafrechtes  einzuweihen;  überdies 
müssen  aber,  uud  zwar  mit  Recht,  viele  Wochen  des  dem  Strafrechte  gewid 
nieten  Kollegs  für  die  Besprechung  der  philosophischen  Grundlagen  des- 
selben entfallen.  Dasselbe  gilt  für  den  Prozeß;  die  dogmatische  Besprechung 
der  beiden  Prozeßarten  ist  für  den  Hörer  in  gleicher  Weise  neu;  doch  ist 
er  durch  das  übliche,  wenn  auch  nicht  obligate  Kolleg  über  römischen 
Zivilprozeß  schon  einigermaßen  für  den  Ideengang  des  Zivilprozesses  vor- 
bereitet; dennoch  sollen  5 Stunden  für  die  dogmatische  Darstellung  des 
Strafprozesses  genügen,  wälireud  für  den  Zivilprozeß  mehr  als  das  Doppelte, 
nämlich  13  Stunden,  gefordert  werden. 

Es  ist  ja  selbstverständlich,  daß  eine  genaue,  theoretisch  und  praktisch 
vollkommen  genügende  Darstellung  des  österreichischen  bürgerlichen  Rechtes 
selbst  in  18  Stunden  unmöglich  ist  und  daß  eine  für  die  Präzis  hinreichende 
zivilprozessuale  Schulung  in  12,  ja  sogar  noch  mehr  Stunden  nicht  erzielt 
werden  kann.  Wir  fragen  aber,  ob  es  möglich  ist,  hei  einem  fünfstündigen 
Kolleg,  von  dem  wie  erwähnt  ein  guter  Teil  den  philosophischen  Grund- 
lagen gewidmet  wird,  das  Strafrecht  und  in  weitereu  5 Stunden  den  Straf- 
prozeß beherrschen  zu  lernen.  Man  muß  da  wieder  daruul  hinweisen,  daß 
es  niemals  Zweck  des  akademischen  Unterrichtes  sein  kann,  geschulte 
Praktiker  zu  produzieren.  Wie  gesagt,  auch  das  18 ständige  privatrechtliche 
Kolleg,  dem  die  ziemlich  eingehende  Vorbildung  roinauistischer  uud  germa- 
nistischer Art  vorangeht,  kann  den  Zweck,  um  den  es  den  Praktikern  zu 
tun  ist,  nicht  erreichen;  wir  können  getrost  sagen,  daß  selbst  eine.  Ver- 
doppelung dieser  schon  so  großen  Stundenanzahl  die  Erfüllung  dieses  Zweckes 


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Zur  Aasgestaltaag  des  rechts-  und  staatsvie&ensch&ftiiehen  Studiums  etc.  351 


ebensowenig  sichern  würde.  Es  spricht  also  vom  akademischen  Standpunkte 
entschieden  gar  nichts  dafür,  daß  mau  dem  einen  Fache  gegenüber  den 
andern  eine  so  übermäßige  Ausdehnung  gebe.  Entweder  ist  eine  so  ein- 
gehende Darstellnug  des  geltenden  Hechtes  notwendig,  dann  trifft  diese  Not- 
wendigkeit in  demselben  Grade  wie  für  Privatrecht  und  Zivilprozeß  auch 
für  Strafrecht  uud  Strafprozeß  zu  — oder  aber  genügt  die  Art  und  Weise,  in 
der  Strafrecht  und  Strafprozeß  vorgetragen  werden,  dann  ist  nicht  eiuzu- 
sehen,  warum  dem  Privatrechte  und  dem  Zivilprozeß,  namentlich  angesichts 
der  romanistischen  und  germanistischen  Vorbereitung  noch  dieses  weitere 
Privileg  im  zweiten  Bicunium  zugestanden  werden  soll.  Es  wird  doch  nie- 
mand im  Ernste  behaupten  wollen,  daß  das  eine  leichter,  das  andere 
schwerer  sei.  Der  größere  stoffliche  lieiclitum  des  Privatrechtes  gegenüber 
dem  einigermaßen  tatsächlich  beschränkten  Gebiete  des  Strafrechtes  kann 
keinen  prinzipiellen  Unterscheidungsgrund  bilden;  denn  er  wird  mehr  als 
genügend  aufgewogen  durch  die  größere  Bedeutung  der  strafrechtlichen 
Verhältnisse  und  durch  die  ihnen  speziell  eigene  Schwierigkeit  der  Auf- 
fassung. Die  llülic,  die  Lehrer  und  Hörer  darauf  verwenden,  um  in  die 
Details  des  Privatrechtes  einzudringeu,  ist  theoretisch  nur  zu  kleinem  Teile 
gerecht  fertigt,  für  die  Praxis  aber  überwiegend  wertlos  oder  wenigstens 
ganz  ungenügend.  Muß  der  absolvierte  Jurist  auf  Grund  der  weniger  um- 
fassenden Vorlesungen  über  Strafrecht  und  Strafprozeß  sich  dennoch  praktisch 
in  die  Strafrechtspflege  einleben,  so  kann  man  dasselbe  hinsichtlich  des 
bürgerlichen  Hechtes  und  Verfahrens  fordern.  Und  so  weit  wir  wissen,  ist 
dies  möglich:  es  ist  uns  nicht  bekannt,  daß  man,  wenn  von  den  Mängeln 
unserer  Strafrechtspflege  die  Hede  ist,  in  der  geringen  Stundcuanzahl  der 
kriminalistischen  Kollegien  den  Grund  dieser  Übel  gesucht  und  gefunden 
hätte;  fügen  wir  hinzu,  daß  bekanntermaßen  auch  die  Pflege  des  Zivil- 
rechtes  trotz  weit  besserer  Vorbereitung  zu  Klagen  Anlaß  gibt,  die  gewiß 
nicht  geringer  und  nicht  weniger  berechtigt  sind  als  die  Klagen  über  die 
Strafrechtspflege.  Vom  akademischen  Standpunkte  kann  man  in  dieser  Un- 
gleichmäßigkeit ein  direktes  Übel  linden.  Unwillkürlich  gewinnt  der  Hörer 
die  Überzeugung,  daß  das  Zivilrecht  wichtiger  ist  als  das  Strafrecht  und 
pflanzt  dann  in  seiner  praktischen  Tätigkeit  diese  von  Generation  zu  Gene- 
ration flbernommeue  Auffassung  fort.  Die  ausgedehnten  Vorlesungen  gebeu 
ihm  Gelegenheit,  nebst  theoretischem  Wissen  auch  das  Gesetz  näher  kennen 
zu  lernen;  ist  dies  gewiß  ein  Vorteil,  so  muß  doch  mit  Nachdruck  betont  werden, 
daß  dabei  unwillkürlich  der  Schwerpunkt  nicht  des  Vortrages,  wohl  aber  des 
Studiums  auf  das  Gesetz,  nicht  auf  die  wissenschaftliche  Auffassung  gelegt 
wird.  Immer  häutiger  begegnen  wir  Kandidaten,  die  nicht  nur  bei  der  Staats- 
prüfung, sondern  sogar  beim  Kigorosiim  neben  einer  hinreichenden  Kenntnis 
des  Gesetzes  ein  ganz  ungenügendes  theoretisches  Verständnis  aufweisen. 
Es  liegt  uns  gewiß  ferne,  die  betreffenden  Dozenten  dafür  verantworllich  zu 
machen;  die  Jugend  aber  neigt  mit  Rücksicht  auf  die  ihr  bevorstehenden 
praktischen  Aufgaben  znm  Studium  des  bloßen  Gesetzes  und  findet  in  den  aus- 
gedehnten Vorlesungen  gewiß  eine  Art  Vorscbubleistung  für  dieses  Übel. 


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Haibau. 


352 


Es  darf  also  yesagt  werden,  daß  eine  Einschränkung  der  Vorlesungen 
Ober  bürgerliches  Hecht  und  Zivilprozeß  vom  akademischen  Standpunkte 
unschädlich  wäre,  ja  sogar  insofern  Vorteil  bringen  könnte,  als  dadurch 
Lehrer  und  Hörer  förmlich  gezwungen  wären,  vor  allem  das  Theoretische 
und  nicht  das  Praktische  zu  berücksichtigen.  Aber  auch  die  Zwecke  der 
Praxis  würden  darunter  nicht  leiden;  es  würde  der  absolvierte  Jurist  bei 
seinem  Eintritte  in  den  praktischen  Dienst  weniger  Detailkenntnisse,  die  er 
übrigens  nicht  anzuwenden  weiß,  mitbringen,  aber  er  wäre  vielleicht  theore- 
tisch besser  geschult,  von  der  Bedeutung  der  wissenschaftlichen  Auffassung 
des  Hechtes  mehr  durchdrungen,  er  wäre  nicht  wie  jetzt  unzureichender 
Praktiker  und  verschulter  Theoretiker;  er  würde  an  die  Aufgaben  der  Praxis 
voraussetzungslos  herantreten  und  würde  doch  für  das  künftige  Leben  die 
Hochschätzung  der  Theorie  behalten.  Eine  entsprechende  Kürzung,  bei  der 
man  auf  deutsche  Muster  verweisen  könnte,  wo  z.  B.  Zivilprozeß  in  einem 
Semester  4stündig  vorgetragen  wird,  würde  die  Unterbringung  der  judiziellen 
Fächer  in  swei  Semestern  ermöglichen.  Man  brauchte  nicht  einmal  radikal 
zu  verfahren;  es  würde  genügen,  die  Stundenanzahl  für  Privatrecht  und 
Zivilprozeß  um  ein  Drittel  einztischränkeu,  so  daß  immer  noch  dem  Zivil- 
prozeß 8 anstatt  12,  dem  Privatrechte  12  anstatt  18  Stunden  verbleiben 
würden:  dio  Gesamtsumme  der  obligaten  und  nichtobligaten  Fächer  dieses 
Studienabschnittes  wäre  schon  dadurch  von  60  auf  48  heruntergedrückt, 
was  für  zwei  Semester  nicht  abnorm  ist,  namentlich  wenn  man  berück- 
sichtigt. daß  es  sich  überwiegend  um  Fächer  handelt,  die  für  den  Hörer 
kein  Novum  bilden. 

Sollte  aber  die  bisherige  Gepflogenheit  und  die  Überzeugung,  auf  der 
sie  beruht,  weiter  erhalten  bleiben,  so  gäbe  es  keiu  anderes  Mittel,  als 
das  vorhin  erwähnte,  nämlich  die  Hinzufflgung  des  neunten 
Semesters.  Es  ist  klar,  daß  dieses  Auskunftsmittel  im  ersten  Moment 
unpopulär  erscheinen  müßte.  Aber  abgesehen  von  vielen  Vorteilen,  die  es 
bieten  würde,  glauben  wir.  daß  man  über  kurz  oder  lang  dennoch  dazu 
wird  greifen  müssen.  Bei  näherer  Betrachtung  ist  einziisehen,  daß  die 
Hinzufflgung  des  neunten  Semesters  praktisch  keine  erhebliche  Ver- 
längerung der  Gesamtdauer  des  Studiums  bedeuten  würde.  Denn  auch  jetzt 
dauert  das  Studium,  wenn  man  die  für  die  Vorbereitung  zu  den  Staats- 
prüfungen nötige  Zeit  mitrerhnet.  4’ Jahre.  Es  ist  bekannt.,  daß  in  neuester 
Zeit  die  Ablegung  der  zweiten  Staatsprüfung  vor  den  Sommerferien,  d.  h. 
am  Schlüsse  des  achten  Semesters  erschwert  wurde;  somit  werden  viele 
Kandidaten  frühestens  im  Oktober  die  zweite  Staatsprüfung  ablegen,  und 
zwar  entweder  die  judizielle.  oder  die  staatswissensehaftliche.  Wird  der 
Eintritt  in  den  praktischen  Beruf,  was  geradezu  geboten  erscheint,  erst 
nach  Ablegung  der  dritten  Staatsprüfung  gestattet,  so  kann  der  Kandidat 
erst  mehrere  Monate  naeli  Ablegung  der  zweiten  Staatsprüfung  sich  der 
dritten  unterziehen.  Es  wird  ihm  also  in  der  Kegel  nicht  möglich  sein,  vor 
Ablauf  von  nenn  Semestern  (seit  Ablegung  der  Maturitätsprüfung)  in  die 
Praxi-  eiuzutreten.  Nun  haben  wir  in  dem  vorigen  Kapitel  den  Vorschlag 


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Zn  Ausgestaltung  des  rechts-  and  stautswissenscbaftliclicn  Studiums  etc.  353 


gemacht,  die  zweite  Staatsprüfung  (und  zwar  die  staat-wissenschaftliche), 
im  unmittelbaren  Anschlüsse  an  die  dem  staats  wissenschuft  liehen  Studium 
gewidmeten  zwei  Semester  ablegen  zu  lassen,  so  dab  der  Hörer  heim  Ein- 
tritte in  das  vierte  Studienjahr  nur  noch  eine  Staatsprüfung  vor  sich  hätte, 
die  er.  wenn  das  Studium  um  ein  Semester  verlängert  werden  sollte,  zum 
Schlüsse  des  neunten  Semesters  ablegen  könnte,  also  zur  selben  Zeit, 
in  der  er  sich  auch  jetzt  gewöhnlich  der  dritten  Staats- 
prüfung unterzieht.  Wir  sehen,  dalt  die  Gesamtdauer  des  Studiums 
und  der  Vorbereitung  zu  den  Prüfungen  keine  Veränderung  erleiden  würde. 
Es  ist  sogar  anzunehmen,  das  viele  Hörer  mit  einer  solchen  Zeiteinteilung 
einverstanden  wären,  weil  sie  nach  AbschluU  der  Studien  nicht  mehr  an 
zwei,  sondern  blob  an  eine  Staatsprüfung  zu  denken  hätten. 

Dieser  Ausweg  wäre  aber  auch  aus  vielen  anderen  Gründen  praktisch; 
es  könnte  die  allgemein  beliehte,  wenn  auch  von  uns  kritisierte  Ausdehnung 
der  Vorlesungen  beibehalten  werden  und  es  könnte,  was  gewitl  von  grobem 
Nutzen  wäre,  auch  eine  lleihe  von  Spezialvorlesungen  über  die  modernsten 
Rechtsgebicte  gelesen  und  gehört  werden.  Sowohl  vom  Standpunkte  der 
liedürfnisse  der  Praxis,  als  auch  vom  wissenschaftlichen  Standpunkte  wird 
mit  Recht  gerügt,  dab  beispielsweise  an  den  wenigsten  Fakultäten  Vor- 
lesungen über  internationales  Pr ivatrecht,  über  Urheberrecht, 
über  modernes  V e r k e h r s re  eh  t u.  s.  w.  gehalten  werden.  Solche  Vor- 
lesungen würden  gerade  für  diesen  Studienabschnitt  passen,  weil  die  vor- 
angegangeue  staatswissenschaftliche  Ausbildung  das  Verständnis  für  diese 
modernen  Hechtsgebiete,  auf  denen  die  Volkswirtschaftspolitik  eine  Rolle 
spielt,  gleichtun  würde.  Jedenfalls  sollte  man,  wenn  die  bisherige  Ausdehnung 
privatrechtlicher  Kollegien  beibehalten  und  infolgedessen  ein  neues  Semester 
hinzugefügt  werden  sollte,  auch  daran  denken,  den  Hörem  bei  Besprechung 
der  einzelnen  judiziellen  Fächer  einen  Überblick  über  die  einschlägigen 
Einrichtungen  im  Auslande,  namentlich  über  die  deutsche  und  französische 
Gesetzgebung  zu  bieten.  Die  grobe  Ausdehnung  macht  dies  den  zivilrechtlichen 
Kollegien  auch  jetzt  schon  möglich;  es  ist  aber  ebenso  die  Ausdehnung 
des  strafrechtlichen  Unterrichtes  erwünscht. 

Einen  passenden  Ahschlub  des  modernrechtlichen  Studiums  würde  ein 
zweites  Kolleg  aus  dem  Gebiete  der  vergleichenden  Rechts  Wissen- 
schaft bilden.  Es  hätte  natürlich  andere  Zwecke  zu  verfolgen,  als  das  für 
das  neunte  Semester  bestimmte.  Gegenstand  einer  im  neunten  Semester  zu 
hörenden  rechtsvergleichenden  Vorlesung  mflbten  Materien  des  modernen 
Rechtes  bilden,  deren  Auswahl  dem  Ermessen  der  Dozenten  Vorbehalten 
wäre.  Ist  es  auch  nicht  möglich,  das  Gesamtrecht  in  den  Kreis  vergleichender 
Betrachtung  zu  ziehen,  so  könnte  doch  ein  3— Istflndiges  Kolleg  über 
besonders  interessante  Institutionen  ungemein  anregend  und  bildend  wirken. 

Der  Studienplan  des  judiziellen  Studionabschnittes  mühte  je  nachdem, 
ob  derselbe  zwei  oder  drei  Semester  umfassen  soll,  verschieden  ausfallen. 
Im  ersten  Falle  mübten,  wie  schon  erwähnt,  die  Vorlesungen  über  Privatrecht 
und  Zivilprozeb  auf  zwei  Drittel  der  jetzigen  Stundenanzahl  reduziert  werden: 


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Halban. 


354 


das  Handels-  und  Wechselrecht  könnte  in  der  Weise  geteilt  werden,  daß 
vier  Stunden  auf  das  siebente  and  drei  auf  das  achte  Semester  zu  entfallen 
hätten.  Wenn  dagegen,  wie  zu  wünschen  wäre,  drei  Semester  dem  letzten 
Studienabschnitte  angewiesen  werden,  würde  der  Studieuplau  folgendermaßen 


aassehen : 

Siebentes  Semester: 

1.  Österreichisches  Privatrecht 9 Stunden 

2.  Österreichisches  Strafrecht  7 , 

3.  Zivilprozeß 6 , 

zusammen  ...  22  Stunden 

Achtes  Semester: 

1.  österreichisches  Privatrecht 9 Stunden 

2.  Strafprozeß 6 , 

3.  Zivilprozeß 6 , 

4.  gerichtliche  Medizin  3 , 

zusammen  ...  24  Stunden 

Neuntes  Semester: 

1.  Handels-  und  Wechselrecht 7 Stunden 

2.  Gefängniskunde 2 . 

3.  Spezialkollegien  über  moderne  Kechtsgebiete  ....  3 — 5 , 

4.  Ein  rechtsvergleichendes  Spezialkolleg 3—4  . 

zusammen  . 15 — 18  Stunden 


sodann  in  den  letzten  vier  Wochen  dieses  Semesters  die  dritte  Staats- 
prüfung. 

VIII. 

Die  Konsequenzen  der  Veränderung  des  Studienplanes. 

Eine  derartige  Ausgestaltung  des  Lehrplanes,  die  sich  doch  zum 
größten  Teile  an  die  bestehenden  Einrichtungen  anlehnt  und  nicht  als  zu 
weitgehend  bezeichnet  werden  darf,  würde  hinsichtlich  des  Prfifuugswesens 
keine  einschneidenden  Änderungen  erfordern. 

Das  österreichische  Prüfungswesen  unterscheidet  sich  vom  deutschen 
hauptsächlich  durch  die  Einrichtung  der  sogenannten  Zwischenprüfung, 
die  hei  uns  ein  gesetzliches  Erfordernis  behufs  Aufsteigens  in  höhere  Jahr- 
gänge bildet. 

Wir  wollen  uns  nicht  mit  der  Frage  beschäftigen,  ob  Zwischenprüfungen 
gut  oder  schlecht  sind  und  lehnen  uns  einfach  an  das  bestehende  an.  Jede 
Zwischenprüfung  ist  allerdings  für  den  eifrigen  Studenten  insofern  von 
Nachteil,  als  sie  ihn  gerade  zur  Zeit,  wo  er  vielleicht  selbständig  zu  arbeiten 
Gelegenheit  hätte,  zum  Prüfungsstudium  zwingt.  Durch  jede  Zwischenprüfung 
wird  ferner  der  Anschein  erweckt,  als  ob  die  Fächer,  über  welche  eine 
Prüfung  abgelegt  wurde,  damit  schon  für  alle  Zukunft  abgetan  wären.  Es 
wird  also  der  wissenschaftliche  Zusammenhang  zwischen  den  einzelnen  Teilen 


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Zar  AaiigpftaHnne  de«  recht*-  und  sUst*wis*enschaftlichen  Stadium«  etc.  355 


der  Reihten  issensihaft  gestört  und  auf  diese  Gefahr  sollte  man  ein  Augenmerk 
richten.  Sie  ließe  sieh  beheben,  wenn  man,  ebenso  wie  es  in  den  Vorlesungen 
über  die  weiteren  Fächer  geschieht,  auch  bei  den  Prüfungen  über  die 
später  an  die  Reihe  kommenden  Disziplinen  der  zweiten  und'  dritten  Staats- 
prüfung auf  das  frühere,  natürlich  nur  allgemein,  eingehen  würde.  Sowie 
zwischen  den  einzelnen  Teilen  der  Jurisprudenz  ein  organischer  Zusammen- 
hang besteht,  so  soll  er  auch  zwischen  den  Prüfungen  über  diese  Teile 
aufrechterhalten  werden.  Nur  auf  diese  Weise  ist  es  möglich,  die  Vorteile 
der  Zwischenprüfungen  zu  wahren,  ohne  den  wissenschaftlichen  Charakter 
des  Gesamtstudiums  zu  gefährden.  Der  Hörer  soll  einsehen,  daß  er  das 
betreffende  Fach  nicht  bloß  für  die  eine  Prüfung  lernt,  sondern  desselben 
zum  Verständnisse  der  späteren  Vorlesungen  bedarf,  mithin  die  nötigen 
Kenntnisse  auch  weiter  behalten  und  pflegen.  In  der  Überzeugung,  daß  die 
Vorteile  der  Zwischenprüfung  im  allgemeinen  größer  sind  als  die  Nachteile, 
haben  wir  auch  vorhin  den  Vorschlag  gemacht,  die  staatswissenschaftliche 
Prüfung  während  des  Studiums,  also  in  Form  einer  Zwischenprüfung,  ein- 
zuschalten.  — 

Was  nun  die  einzelnen  Staatsprüfungen  anbelangt,  so  soll  die  erste 
lieben  ihrem  eigentlichen  Zwecke,  im  Interesse  der  Studierenden  selbst,  zur 
Sichtung  der  Hörer  dienen.  Man  muß  das  Studium  so  einrichten,  daß  dem 
Hörer  auf  Schritt  und  Tritt  Gelegenheit  geboten  werde,  an  sich  selbst  die 
Frage  zu  stellen,  ob  er  für  das  gewählte  Stadium  tauge.  Wir  haben  auf 
die  Cbelstäude  hingewiesen,  die  sich  daraas  ergeben,  daß  die  Mehrheit  der 
Hörer  von  den  Schwierigkeiten  des  Rechtestudiums  keine  Ahnung  hat  und 
in  der  Regel  erst  in  späteren  Jahrgängen,  wo  es  zu  spät  ist,  einen  andern 
Beruf  zu  wählen,  ihre  üntauglichkeit  einsieht.  Deshalb  soll,  wie  angeregt, 
schon  das  Gymnasium  in  dieser  Beziehung  seine  Pflicht  erfüllen;  es  sollen 
ferner  die  vorbereitenden  Kollegien  des  ersten  Semesters  dem  Hörer  einen 
Begriff'  von  der  Eigenartigkeit  der  Jurisprudenz  beibringen  und  es  soll  auch 
das  rechtshUtorische  Studium,  w enn  dasselbe  auf  Grund  der  vorgeschlagenen, 
im  ersten  Semester  zu  bietenden  Vorbildung  ein  juristisch  höheres  Niveau 
erreicht,  den  Studierenden  über  die  Schwierigkeiten  der  Jurisprudenz  nicht 
mehr  täuschen.  Sind  diese  Vorbedingungen  erfüllt,  ist  der  Studierende  durch 
den  Gymnasialunterricht,  noch  mehr  aber  durch  die  vorbereitenden  Kollegien 
des  ersten  Semesters,  auf  den  Charakter  des  Rechtestudiums  aufmerksam 
gemacht  worden  und  ist  ihm  sodann  die  Rechtsgeschichte,  ihrer  eigentlichen 
Aufgabe  gemäß,  mehr  juristisch  vorgetragen  worden  als  jetzt,  dann  kaun 
auch  das  Niveau  der  ersten  Staatsprüfung  gehoben  und  ihr  wahrer  Zweck 
erreicht  werden.  Dann  wird  man  mit  Recht  den  Kandidaten  als  angehenden 
Juristen  behandeln  und  ein  Urteil  darüber  zu  gewinnen  vermögen,  ob  er  zum 
Juristen  geschaffen  ist.  Auch  der  Kandidat  selbst  wird  diese  Frage  besser 
beurteilen  können,  als  es  dermalen  geschieht. 

Soll  die  rechtshistorischc  Staatsprüfung  die  Bedeutung  einer  Sichtung 
haben,  dann  kann  die  mündliche  Prüfung  allein  schwerlich  genügen  und 
es  wäre  gerade  bei  der  ersten  Staatsprüfung  eine  Klausurarbeit  einzuführeu, 


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356 


Halban. 


nicht  allein  wegen  der  Bedeutung  de»  rechtehistorischen  Studiums  an  und 
für  sich,  sondern  um  die  Fähigkeit  des  Kandidaten,  sich  auch  nur  einiger- 
maßen präzis  juristisch  anszudrüeken,  schon  in  diesem  Zeitpunkte  erproben 
zu  können.  Es  würde  also  eine  Klausurarbeit  aus  einem  Fache  genügen 
und  es  müßten  Themen  gewählt  werden,  die  überwiegend  juristischen,  nicht 
historischen  Charakter  hätten,  also  aus  dem  Gebiete  des  Privat-  oder  Straf- 
rechtes, aus  dem  Gebiete  der  Geschichte  des  öffentlichen  Rechtes  nur 
solche,  die  zu  präzisem  juristischen  Ausdrucke  Anlaß  geben.  Die  Kom- 
mission hätte  einfach  zu  beschließen,  aus  welchem  Fache  der  einzelne 
Kandidat  seine  Klausurarbeit  zu  machen  hat. 

Was  die  I’rüfungsgegenstände  anbelangt,  so  wäre  eine  Änderung  der 
bisherigen  Vorschriften  überflüssig.  Haben  wir  auch  im  Lehrplan  dem  ersten 
Rienuium  neue  obligate  Fächer  hinzugefügt,  so  muß  doch  gesagt  werden, 
daß  sich  dieselben  zu  Prüfungsgegenständen  nicht  eignen.  Eine  Prüfung 
über  Enzyklopädie  der  Rechts-  und  Staatswissenschaft,  über  Rechtsphilo- 
sophie, allgemeine  Gesellschaftslehre  und  vergleichende  Rechtswissenschaft 
müßte  entweder  sehr  eingehend  sein,  was  einfach  unmöglich  ist,  oder  aber 
wieder  so  flüchtig,  daß  dieselbe  der  wissenschaftlichen  Bedeutung  dieser 
Fächer  höchstens  Abbruch  tun  könnte.  Die  Bedeutung  dieser  Fächer  besteht 
ja  in  der  Kräftigung  der  Auffassungsgabe,  in  der  Gewährung  des  nötigen 
Überblickes  und  in  der  Erweiterung  des  Gesichtskreises.  Die  Prüfungskom- 
mission wäre  in  der  Lage,  sich  bei  Gelegenheit  der  Prüfung  über  rechts- 
geschichtliche Fächer  zu  vergewissern,  ob  der  Kandidat  auf  diese  allgemeinen 
Fächer  eingegangen  ist.  Schon  der  Umstand,  daß  diese  Fächer  vorgetragen 
würden  und  obligat  wären,  würde  die  Prüfungskommission  berechtigen, 
wirklich  wissenschaftliche  Anforderungen  zu  stellen  und  ein  tieferes  Ver- 
ständnis der  rechtshistorischen  Disziplinen  vorauszusetzen.  Somit  wäre  nicht 
zu  befürchten,  daß  diese  allgemeinen  Disziplinen  vernachlässigt  werden,  ln 
dem  wissenschaftlichen  Charakter  der  Prüfungen  müßte  sich  der  Erfolg  der 
allgemein  vorbereitenden  Kollegien  ausdrücken. 

Nur  an  den  beiden  galiziachen  Universitäten  und  an  der  böhmischen 
Universität  in  Prag  wäre  eine  Änderung  der  ersten  Staatsprüfung  in  der 
Richtung  erwünscht,  daß  auch  das  nationale  Recht  zum  Prüfungsgogenätaude 
gemacht  werde;  denn  man  kann  nicht  behaupten,  daß  die  polnische  oder 
böhmische  Kechtsgcschichto  für  die  Juristen  dieser  Länder  überflüssig  wäre; 
die  rechtshistorische  Ausbildung  des  künftigen  galizisehen  oder  böhmischen 
Juristen  ist  unvollkommen,  wenn  die  Kunde  der  speziellen  Rechtsgeschichte 
des  betreuenden  Landes  mangelt 

Hinsichtlich  der  Fächer  der  zweiten  Staatsprüfung,  die  mit 
Rücksicht  auf  das  eben  Erwähnte  nach  Schluß  des  sechsten  Semesters,  und 
zwar  über  die  staatswissenschaftlichen  Fächer  nbzuhalteu  wäre,  müßte  wohl 
der  Wunsch  ausgedrückt  werilen,  daß  wenigstens  die  Grundzflge  des  Völker- 
rechtes und  die  Theorie  der  Statistik  von  den  Kandidaten  studiert  werden; 
allerdings  könnte  dieser  Erfolg  erreicht  werden,  wenn  man  bei  der  Prüfung 
Ober  Staatsrecht  auf  das  Völkerrecht  und  ebeoso  bei  der  Prüfung  über 


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Zu r Au»*r*»tj»!tnng  <les  recht*-  und  *ta*t<wi^en*chaftHchcn  Studium*  etc.  357 


Nationalökonomie  oder  auch  hei  der  Prüfung  über  Verwaltungsrecht  auf  die 
Theorie  der  Statistik  einginge. 

Am  wenigsten  wäre  au  der  j u d i z i e 11  e n Staatsprüfung,  die 
nach  unserem  Vorschläge  als  letzte  an  die  Reihe  käme,  zu  ändern.  Wir 
haben  zwar  dem  Wunsche  Ausdruck  gegeben,  daß  auch  spezielle  Vorle- 
sungen über  die  allermodernsten  Rechtsgebiete  sichergestellt  werden,  doch 
könnten  Fragen  über  derartige  Materien  ganz  gut  bei  Gelegenheit  der 
Prüfung  über  Privatrecht  oder  Handelsrecht  gestellt  werden.  Die  Anzahl  der 
Prüfungsfächer  bliebe  unverändert.  Es  bedarf  keiner  besonderen  Erwähnung, 
daß  auch  das  Niveau  der  judiziellen  Staatsprüfung  gehoben  werden  muß. 
Es  muß,  namentlich  bei  dieser  letzten  Prüfung,  der  Zusammenhang  aller 
Teile  der  Jurisprudenz  hervortreten  und  jede  Möglichkeit  einer  Gering- 
schätzung der  früher  absolvierten  Fächer  ausgeschlossen  werden.  — 

Im  Zusammenhänge  damit  muß  aber  eine  besondere  Frage  berührt 
werden.  Schon  bei  der  rechtshistorischen  Staatsprüfung  kommt  es  vor.  daß 
außer  Professoren  und  Dozenten  der  betreuenden  Fächer  Prüfungskommissäre 
aus  nicht  akademischen  Kreisen  beigezogen  werden;  noch  häufiger  ist  dies 
bei  der  staatswissenschaftlichen  und  judiziclleu  Prüfung  der  Fall.  Wir  sind 
weit  davon  entfernt,  die  wissenschaftlichen  Kenntnisse  hervorragender  Prak- 
tiker in  Zweifel  zu  ziehen.  Doch  wird  man  zugeben  müssen,  daß  namentlich 
der  vielbeschäftigte  Praktiker  einfach  nicht  in  der  Lage  ist.  die  Fortschritte 
der  Wissenschaft  zu  verfolgen.  Dies  gilt  nicht  nur  für  die  rechtshistorischeu 
Disziplinen,  in  denen  während  der  letzteu  Dezennien  geradezu  Umwälzungen 
statttindeu,  sondern  auch  für  die  dem  Praktiker  naturgemäß  näher  liegenden 
Wissenszweige,  weil  auch  da  Theorie  und  Systematik  derartige  Fortschritte 
gemacht  haben,  daß  eine  mitunter  kaum  geahnte  stoffliche  Bereicherung 
erfolgt  ist.  Der  akademische  Lehrer  hält  es  für  seine  Ehrenpflicht,  seinen 
Hörern  das  Beste  zu  bieten  und  er  ist  moralisch  verpflichtet,  auch  die 
neuesten  Theorien,  so  weit  sie  dem  Anfänger  zugänglich  gemacht  werden 
können,  zu  berücksichtigen.  Daraus  ergibt  sich  eine  Inkongruenz  zwischen 
Lehre  und  Prüfung;  der  Dozent  trägt  nach  wissenschaftlicher  Überzeugung 
das  Modernste  vor:  der  nicht,  fachmännische  Prüfer  ist  vielfach  schon  wegen 
Zeitmangels  nicht  in  der  Lage,  diese  neuesten  Stadien  des  wissenschaftlichen 
Fortschrittes  zu  kennen.  Ein  weiterer  Nachteil  bestellt  darin,  daß  der  Prak- 
tiker, der  seltener  prüft  als  der  akademische  Dozent,  die  Aufnahmsfälligkeit 
der  Kandidaten  nicht  so  zu  beurteilen  vermag,  wie  der  Professor,  der  bei 
Kolloquien,  Seniinarübungen.  Rigorosen  u.  s.  w.  seine  Erfahrungen  sammelt. 
Darin  liegt  wahrscheinlich  der  Grund,  warum  Praktiker  als  Prüfungskom- 
migsäre  überwiegend  Gesetzeskenntnis  fordern  und  sich  seltener  auf  theore- 
tische Gebiete  begeben.  Der  Student  akkomodiert  sich  erfahrungsgemäß  den 
Anforderungen  der  Prüfungskommissionen;  er  ist  zwar  in  keinem  Falle  sicher, 
ob  er  von  einem  Professor  oder  von  einem  Praktiker  geprüft  wird;  doch 
weiß  er,  daß  er  für  den  Praktiker  vor  allem  das  Gesetz  genau  kennen  muß. 
für  den  Professor  dagegen  Gesetz  und  Theorie;  das  Gesetz  muß  er  also 
unter  allen  Fällen  zu  beherrschen  trachten  und  in  dieser  Beziehung  darf 


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358 


Halban. 


er  sich  keinem  Risiko  aussetzen:  hinsichtlich  der  Theorie  ist  das  ltisiko 
zulässig. 

Es  ist  übrigens  unverständlich,  warum  gerade  bei  juristischen  Staats- 
prüfungen ein  Gewicht  auf  die  Beteiligung  der  Praktiker  gelegt  wird.  Diese 
Prüfungen  werden  doch  sogar  theoretische  Staatsprüfungen  genannt;  sie 
verleihen  kein  praktisches  Recht,  wie  etwa  das  medizinische  Doktorat  oder 
die  Lehramtsprüfung  und  dennoch  werden  weder  heim  medizinischen 
Doktorat,  noch  bei  der'  Lehramtsprüfung  Praktiker  beigezogen.  Man  macht 
ans  der  juristischen  Staatsprüfung  ein  Zwitterding;  man  läßt  die  Grenzen 
des  Prflfungagebietes  verschieben,  indem  man  die  Studenten  von  der  Theorie, 
die  sie  lernen  können  nnd  sollen,  abwendet  und  sie  zur  Praxis  treibt,  die 
sie  nicht  verstehen  können.  Man  benimmt  also  der  Prüfung  den  theoretischen 
Wert,  ohne  ihr  einen  wirklich  praktischen  zu  verleihen.  Überdies  erfolgt 
die  Ernennung  der  Prüfungskommission  aus  den  Reihen  der  Praktiker  ohne 
jede  Ingercnz  des  Professorenkollegiums.  einfach  über  Vorschlag  des  Präses 
der  Prüfungskommission,  der  häufig  Praktiker  ist.  Das  Prflfungsamt  ist  vom 
staatlichen  Standpunkte  gewiß  ebenso  wichtig  wie  das  Lehramt;  man  müßte 
doch  also  zum  mindesten  verlangen,  daß  sich  die  Professorenkollegien  über 
jede  Ernennung  eines  Praktikers  zum  Prüfungikommissär  äußern. 

Selbstverständlich  würde  die  Ausschließung  oder  auch  nur  die  geringere 
Heranziehung  von  Praktikern  eine  größere  Belastung  der  Professoren  ver- 
ursachen. Um  diesem  Übel  zu  steuern,  wäre  vielleicht  auf  die  früheren 
Bestimmungen  zurückzugreifen,  wonach  das  Rigorosem  die  betreffende 
Staatsprüfung  ersetzen  konnte.  Nachdem  das  Rigorosum  gegenüber  der 
Staatsprüfung  ein  Plus  bildet  und  bei  einer  Reform  des  Doktorats  gewiß 
wesentliche  Verschärfungen  uintreten  werden,  ist  nicht  einzusehen,  warum 
die  umfassendere  Prüfung  nicht  als  Ersatz  der  weniger  umfassenden  gelten 
sollte.  Theoretische  Prüfungen  sind  sie  beide. 

Nebenbei  wäre  noch  darauf  hinzuweisen,  wie  zweckwidrig  die  Abstim- 
mungsart der  Prüfungskommissionen  ist.  Gesetzlich  soll  sich  jeder  Prfifuugs- 
kommissär  über  das  Gesamtergebnis  der  Prüfung  aussprechen  und  es  ist 
der  Kandidat,  der  auch  nur  aus  einer  Partie  eines  Faches  ganz  ungenügende 
Kenntnisse  an  den  Tag  gelegt  hat.  zu  reprohieren;  nichtsdestoweniger  stimmt 
bekanntermaßen  jeder  Prfifungskommissär  faktisch  nur  über  sein  Fach  ab 
und  die  Folge  davon  ist,  daß  per  majora  Kandidaten  approbiert  werden,  die 
aus  einem  Fache  geradezu  verblüffende  Unkenntnisse  aufweisen.  Man  will 
eben,  wenn  die  Vorbereitung  in  den  übrigen  Fächern  eine  genügende  war, 
nicht  sofort  zur  Reprohation  schreiten.  Es  wäre  passender,  dasjenige  Fach, 
welches  ungenügend  beherrscht  wurde,  zum  Gegenstände  einer  Nachtrags- 
prüfung zu  machen;  natürlich  aber  auch  nur  dann,  wenn  die  Unkenntnis 
keine  gar  zu  krasse  war.  Man  würde  dadurch  den  zahlreichen  Approbationen 
per  majora  Vorbeugen  und  ein  Nachholen  der  Kenntnisse  erzwingen.  Selbst- 
verständlich dürfte  das  Institut  der  Nachtragsprflfung  nicht  etwa  dazu  miß- 
braucht werden,  daß  die  Kandidaten  gewissermaßen  den  Prflfungsstoff  teilen; 
dieser  Gefahr  könnte  mau  begegnen,  wenn  man  bei  der  Nachtragsprüfung 


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7ut  Ausgestaltung  des  rechts-  und  staats  Wissenschaft  liehen  Studiums  etc.  351) 


auch  darauf  sehen  würde,  oh  dem  Kandidaten  der  Zusammenhang  dieses 
Faches  mit  der  ganzen  Studiengruppe  gegenwärtig  ist.  — 

Sehen  wir,  dall  die  Erweiterung  des  Lehrplanes  keine  Veränderungen 
des  Prüfungswesens  zur  Folge  haben  würde,  so  muß  mit  Nachdruck  betont 
werden,  daß  die  Durchführung  eines  solchen  Lehrplanes  an  die  Professoren- 
kollegien Anforderungen  stellt,  die  mit  den  jetzt  vorhandenen  Kräften, 
namentlich  an  den  kleineren  Universitäten,  unmöglich  bewältigt  werden 
können.  Es  müßte  unbedingt  eine  Vermehrung  der  Lehrkanzeln  eintreten. 
Schon  heute  ist  ungleichmäßige  Verteilung  der  Pflichten  und  Oberbflrdung 
der  einzelnen  Professoren  wahrnehmbar.  Es  genügt  beispielsweise,  das  dem 
Romanisten  oder  Zivilisten  obliegende  Pensum  mit  dem  des  Statistikers 
oder  auch  Kanonisten  zu  vergleichen.  Die  Verhältnisse  liegen  in  dieser  Hin- 
sicht sehr  verschieden. 

Am  krassesten  tritt  die  Überbürdung  an  kleinen  Universitäten  zum 
Vorscheine,  wo  die  wenig  zahlreichen  Professoren  nicht  nur  ihre  Nominal- 
facher  in  der  ganzen  Ausdehnung  vertreten,  sondern  auch  andere  Fächer, 
die  durch  keinen  Fachmann  repräsentiert  werden,  Übernehmen  müssen.  So 
z.  B.  muß  der  Kanonist  in  Ozernowitz  Kechtsenzjklopädie,  und  bis  vor 
kurzem  mußte  der  Prozessualist  gar  Rechtsphilosophie  vortragen.  Es  ist 
klar,  daß  eine  Vereinigung  von  Fächern,  die  wissenschaftlich  nicht  verwandt 
sind,  der  akademischen  Auffassung  widerspricht.  Man  kann  doch  nicht  den 
Standpunkt  vertreten,  daß  der  Professor  zu  einer  bestimmten  Stundenanzahl 
verpflichtet  ist.  Will  man  aber  dieses  der  Volks-  oder  Mittelschule  ent- 
sprechende Prinzip  durchführen,  dann  möge  man  auch  beachten,  daß  selbst 
für  die  Mittelschule  Gruppeneinteilungen  bestehen,  die  sich  mehr  oder 
weniger  wissenschaftlich  verteidigen  lassen  und  daß  man  in  dem  Umstande, 
daß  der  Mittelschullehrer  für  die  Fächer  geprüft,  daher  qualifiziert  ist,  die 
Entschuldigung  für  die  Vereinigung  finden  kann.  Es  käme  niemand  auf  die 
Idee,  den  Philologen  zur  Erteilung  mathematischen  Unterrichtes  zu  ver- 
pflichten. An  den  juristischen  Fakultäten  werden  aber  in  dieser  Hinsicht 
Fehler  begangen,  die  an  der  Mittelschule  ausgeschlossen  wären.  Es  wird 
nicht  nur  eine  uuakademische  Überbflrdung  hervorgerufen,  indem  mau  ein- 
zelnen Professoren  ein  Arbeitspensum  vorschreibt,  welches  an  das  Maximum 
der  Lehrverpflichtung  an  Mittelschulen  grenzt,  sondern  überdies  noch  eine 
zweckwidrige  Vereinigung  heterogener  Fächer  bewirkt,  für  welche  der  be- 
treffende Professor  nicht  qualifiziert  ist,  für  die  er  sich  vielleicht  nicht 
interessiert  und  in  denen  er  niemals  wissenschaftlich  zu  arbeiten  beabsichtigt. 
Die  Vereinigung  der  Lehrverpflichtung  für  Privat-  nnd  Handelsrecht,  wie 
sie  manchmal  üblich  ist,  verpflichtet  den  Professor,  wenn  man  noch  Seminar- 
übungen dazurechnet.  zur  Abhaltung  von  mindestens  27  Vorlesungen,  so  daß 
auf  ein  Semester  14,  auf  das  andere  13  entfallen;  hält  dieser  Professor, 
wie  es  erwünscht  ist,  noch  Spezialkollegien  ab,  dann  erreicht  er  das 
Maximum  der  mittelschulmäßigen  Lehrverpflichtung.  Die  Vereinigung  so 
weit  auscinandcrgehender  Fächer  wie  z.  B.  Zivilprozeß  und  Rechtsphilosophie, 
wäre  an  der  Mittelschule  mit  der  Vereinigung  von  Philologie  und  Mathe- 

Zdtachrift  für  VoHuwlrucWk,  Soiialpolltlk  und  Verwaltung.  XII.  25 


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360 


Halban. 


matik  zu  vergleichen  und  würde  dort  als  pädagogisches  Horrendum  be- 
trachtet werden.  Es  ist  doch  eine  bescheidene  Forderung,  wenn  man  für 
den  Hochschulunterricht  nur  diejenige  Rücksicht  verlangt,  die  dem  Mittel- 
schulunterrichte seit  jeher  zu  statten  kommt.  Ganz  anders  verhalten  sich 
die  Dinge  an  der  medizinischen  oder  philosophischen  Fakultät;  es  gibt  auch 
dort  Lehrkanzeln,  die  man  als  überbürdete  bezeichnen  muß;  doch  ergibt 
sich  dort  die  Überbürdung  regelmäßig  aus  der  Natur  des  Faches,  aus  der 
Notwendigkeit  vielstündiger  Übungen  u.  s.  w.  Es  ist  uns  nicht  bekannt, 
daß  mau  in  irgend  einem  Falle  noch  besonders  dazu  beigetragen  hätte,  eine 
Überbürdung  zu  schaffen;  es  kommt  niemand  auf  die  Idee,  etwa  zwei 
Fächer,  die  in  wenigen  Stunden  vorgetragen  werden,  in  einer  Hand  zu  ver- 
binden. Im  Gegenteile  nimmt  die  Anzahl  der  Lehrkanzeln  an  den  medizini- 
schen und  philosophischen  Fakultäten'  beständig  zu.  denn  für  diese  Fakul- 
täten wird  das  wissenschaftliche  Prinzip  beobachtet,  wonach  jeder  Wissens- 
zweig ohne  Rücksicht  darauf,  ob  derselbe  in  einer  vierstündigen  oder  zwanzig- 
stflndigen  Vorlesung  behandelt  wird,  selbständig  in  Betracht  kommt.  Wenn 
in  der  Tat  die  Vorlesungen  hoher  stehen  als  ein  Kompendium,  wenn  der 
Professor,  der  in  erster  Linie  selbständiger  Forscher  ist,  Zeit  und  Lust 
finden  soll,  neben  seiner  eigenen  Arbeit  auch  die  Vorlesungen  auf  wissen- 
schaftlicher Hohe  zu  erhalten,  dann  muß  man  entschieden  mehr  Professoren 
und  von  jedem  einzelnen  weniger  Vorlesungen  fordern.  Die  Verbindung 
mehrerer  Fächer,  selbst  wenn  dieselben  verwandt  sind,  ist  in  höchstem 
Grade  unakademisch;  reicht  schon  das  Leben  nicht  aus,  um  ein  Gebiet  all- 
seitig zu  beherrschen,  so  ist  die  Beherrschung  mehrerer  Gebiete  selbstver- 
ständlich ganz  ausgeschlossen;  deijenige,  der  verpflichtet  wird,  mehrere 
Fächer  zu  vertreten,  muß  entweder  auf  allen  Gebieten  Dilettant  bleiben 
oder  aber  auf  dem  einen  Gebiete,  welches  ihm  näher  liegt,  arbeiten,  das 
andere  dagegen  vernachlässigen.  Wenn  man  einen  Dozenten,  der  in  seinem 
Fache  ein  tüchtiger  Gelehrter  ist.  veranlaßt,  daneben  noch  ein  Fach  zu 
übernehmen,  für  welches  er  sich  niemals  interessiert  hat,  so  muß  man  sich 
wohl  auch  sagen,  daß  das  betreffende  Kolleg  auf  Jabre  hinaus  zu  einem 
inferioren  gemacht  wird,  und  daß  die.Hnrer  auf  Jahre  hinaus  in  diesem  Fache 
keinen  wissenschaftlich  vollwertigen  Unterricht  empfangen  werden. 

Eb  ist  unbegreiflich,  warum  gerade  die  rechts-  und  staatswissen- 
schaftlichen Fakultäten  zum  Gegenstände  von  Versuchen  gemacht  werden, 
denen  in  der  Regel  budgetäre  Rücksichten  zu  Grunde  liegen.  Man  darf 
doch  einerseits  hervorheben,  daß  gerade  diese  Fakultäten  die  meistfrequen- 
tierten  sind  und  in  höchstem  Grade  unmittelbar  für  staatliche  Zwecke 
arbeiten,  anderseits  aber  auch  bemerken,  daß  die  Ausgaben,  die  mit  der 
Schaffung  neuer  Lehrkanzeln  an  unseren  Fakultäten  verbunden  sind,  ver- 
hältnismäßig geringfügig  ausfallen.  weil  dahei  weder  Institute,  noch  Instituts- 
personal  in  Frage  kommen. 

Das  alles  mußte  gesagt  weiden,  weil,  wie  eingangs  bemerkt,  die  Ein- 
führung der  in  den  vorigen  Kapiteln  angeregten  Neuerungen  keineswegs 
durch  «eitere  Überbürdung  erfolgen  kann.  Eine  weitere  ßberbfirdung  ist  iu 


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Zur  Ausgestaltung  des  rechts*  nnd  staatswissenschaftlicben  Studiums  etc.  30 1 


den  meisten  Fällen  einfach  unmöglich;  sie  ist  auch  akademisch  unpassend, 
wenn  man  nicht  die  Wissenschaftlichkeit  der  Vorlesungen  opfern  will.  Über- 
dies handelt  es  sich,  wie  wir  gleich  sehen  werden,  um  Auslagen,  die  man, 
wenu  es  um  medizinische  oder  philosophische  Fakultäten  zu  tun  wäre,  gewiß 
als  geringfügig  bezeichnen  würde. 

Wir  haben  seinerzeit  bemerkt,  daß  die  Enzyklopädie  der  Rechts- 
und Staatswissenschaften  erweiterungsbedürftig  ist  und  daß  dieselbe  ihren 
Zweck  nur  bei  entsprechender  Erweiterung  erfüllen  kann.  Es  ist  selbstver- 
ständlich, daß  eine  Vorlesung  von  grundlegender  Bedeutung  für  das  gesamte 
Studium  nicht  als  Anhängsel  betrachtet  werdeu  darf.  Man  kann  sie  auch 
mit  der  Rechtsphilosophie  nicht  verbinden,  weil  nur  ganz  ausnahmsweise 
die  eigenartige  Individualität  eines  Philosophen  den  speziellen  Aufgaben  der 
Enzyklopädie  der  Rechts-  und  Staatswissenschaft  gerecht  zu  werden  vermag; 
überdies  wäre  eine  solche  Vereinigung  schon  deshalb  ausgeschlossen,  weil 
die  Vorlesungen  über  Rechtsenzyklopädie  mit  denen  über  Rechtsphilosophie 
parallel  im  ersten  Studiensemester  unterzubringen  sind,  mithin  der  betreffende 
Professor  in  einem  Semester  12  Obligatvorlesungen  zu  halten  hätte.  Ebenso 
kann  die  vergleichende  Rechtageschichte  als  eine  selbständige  und  an  den 
Dozenten  die  grüßten  Anforderungen  stellende  Disziplin  nicht  in  dauernde 
Verbindung  mit  irgend  einem  Obligatfaehe  gebracht  werden;  höchstens  mit 
der  allgemeinen  Uesellschaftslehre.  Es  müßte  also  eine  spezielle  Lohrkanzel 
für  Enzyklopädie  der  Rechts-  und  Staats  wissen  schäften,  eine  zweite  für 
Rechtsphilosophie  und  eine  dritte  für  vergleichende  Rechtswissenschaft  und 
allgemeine  Gesellschaftalehre  geschaffen  werden.  Es  ist  ja  selbstverständlich, 
daß  in  jedem  Professorenkolleginm  sich  Männer  linden  künnen,  die  ihrer 
ganzen  Geistes-  und  Studienanlage  gemäß  sich  nicht  nur  für  ihr  Spezial- 
fach, sondern  nebenbei  auch  für  enzyklopädische,  philosophische  und  rechts- 
vergleichende  Fragen  interessieren.  Daraus  folgt  aber  nicht,  daß  man  diese 
Männer  von  ihrem  eigentlichen  Arbeitsgebiete  ahlenke  nnd  sie  zwinge,  einen 
Teil  ihrer  Arbeit  obligaten,  jährlich  wiederkehrenden  Vorlesungen  über 
Enzyklopädie,  Philosophie  oder  vergleichende  Rechtswissenschaft  zu  widmen. 
Seihst  die  theologischen  Fakultäten  haben  heute  ihre  eigenen  philosophischen 
Lehrkräfte:  wir  dürfen  mit  Fug  und  Recht  dasselbe  beanspruchen.  Der 
Umstand,  daß  der  Professor  für  Enzyklopädie  nur  sechs,  der  für  Philosophie 
ebensoviel  und  der  für  vergleichende  Rechtsgeschichte  und  Gesellschafts- 
lehre IO  bis  12  Stunden  zu  lesen  hätten,  daß  sie  also  nach  heutigen  Be- 
griffen zum  Teile  wenig  beschäftigt  wären,  kann  nicht  ins  Gewicht  fallen; 
denn  diese  Stundenanzahl  betrifft  ja  nur  die  Obligatkollegien,  an  die  sich 
selbstverständlich  Spezialkollegien  und  Übungen  anzuschließen  hätten.  Die 
beiden  erstgenannten  Dozenten  wären  im  Wintersemester  wohl  genügend 
beschäftigt,  weil  ein  sechsstündiges  Obligatkolleg  gewiß  als  ein  vollkommen 
hinreichendes  Pensum  betrachtet  werden  darf;  sie  könnten  im  Sommer- 
semester Spezialkollegien  lesen  und  es  würden  sich  gewiß  Hörer  höherer 
Jahrgänge  eventuell  auch  anderer  Fakultäten  Huden,  die  ein  rechtsphilo- 
sophisches oder  enzyklopädisches  oder  methodologisches  Kolleg.  auch  wenn 

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362 


H&lban. 


dasselbe  nicht  obligat  ist,  hören;  der  Professor  für  vergleichende  Rechts- 
wissenschaft und  allgemeine  Gesellschaftslehre  hätte  in  beiden  Semestern 
Obligatkollegien  zu  lesen,  in  dem  einen  ein  3stiindiges  für  Hörer  des  I. 
und  ein  3 — 4stflndiges  für  Hörer  des  IX.  Semesters,  in  dem  andern  ein 
4 — 5 ständiges  für  Hörer  des  IV.  Semesters,  daneben  selbstverständlich  auch 
Spezialkollegien  und  Übungen. 

Der  Wirkungskreis  der  rechtshistorisclien  Lehrkanzeln  könnte  unver- 
ändert bleiben,  doch  bedarf  die  österreichische  Reichsgeschichto  ganz  ent- 
schieden einer  separaten  Vertretung,  und  zwar  vor  allem  an  den  deutschen 
Universitäten.  Ihre  Verbindung  mit  dem  deutschen  Rechte  könnte  vom 
Standpunkte  wissenschaftlicher  Verwandtschaft  verteidigt  werden;  man 
bedenke  aber,  daß  dadurch  dem  Germanisten  eine  Pflicht  auferlegt  wird, 
die  zeitraubend  ist  und  ihn  von  seiner  eigentlichen  Aufgabe  abzieht,  ihm 
es  auch  schwer  macht,  dentschrechtliche  Spezialkollegien  zn  lesen  und 
ferner  die  weitere  Folge,  daß  niemals  Spezialkollegien  aus  dem  Gebiete  der 
österreichischen  Reichsgeschichte  abgehalten  werden.  Gegen  die  dauernde 
Verbindung  dieser  beiden  Fächer  spricht  unter  andern  auch  der  Umstand, 
daß  in  dem  deutschen  Rechte  neben  allgemeinen  rechtshistorischen  Fragen 
besonders  das  Privatrecht  in  den  Vordergrund  tritt,  während  die  öster- 
reichische Reichsgeschichte  in  ihrer  jetzigen  Gestalt  eine  Grundlage  für  das 
österreichische  Staats-  und  Verwaltungsrecht  enthält.  Ihr  Vertreter  sollte 
deshalb  ein  ltechtshistoriker  sein,  der  überwiegend  Sinn  für  öflentlichrecht- 
liche  Fragen  hat.  Dasselbe  huzieht  sich  auf  die  Verbindung  der  österreichi- 
schen Reichsgeschichle  mit  der  polnischen  beziehungsweise  böhmischen 
Rechtsgeschicbte;  nachdem  aber  diese  Verbindung  über  ausdrücklichen 
Wunsch  der  betreffenden  Fakultäten  cingeführt  wurde,  müssen  wohl  wichtige 
Umstände  für  dieselbe  sprechen.  Dennoch  darf  man  sagen,  daß  der  Übel- 
stand  derselbe  ist  und  daß  vor  allem  der  Mangel  von  Spezialkollegien  und 
Seminarübungen  aus  dem  Gebiete  der  österreichischen  Reichsgeschiehte  nur 
durch  Schaffung  neuer  Lehrkanzeln  behoben  werden  könnte. 

Was  den  staatswissenschaftlichen  Studienabschnitt  anbelangt,  so  liegt 
hier  das  Redürf'nis  nach  Vermehrung  der  Lehrkanzeln  in  einem  andern 
Sinne  vor.  Es  würde  sich  hier  nicht  so  sehr  um  Schaffung  neuer,  selbstän- 
diger Lehrstellen  handeln  als  vielmehr  um  die  Verdoppelung  der  bestehenden. 
Die  Fächer  dieses  Studienabschnittes  sind  teilweise  national-ökonomischer, 
teilweise  öffentlichrcchtüoher  Art.  Es  ist  natürlich  unmöglich,  alle  ökonomi- 
schen Fächer  durch  einen  Profossor  der  Nationalökonomie  und  alle  öffentlich- 
rechtlichen  Disziplinen  durch  einen  Professor  des  Staats-  und  Venvaltungs- 
rcchtcs  vertreten  zu  lassen.  Es  wäre  vor  allem  eine  Dnppelbesetzung  des 
Lehramtes  für  Staats-  und  Verwaltungsrecht  erforderlich,  so  daß  ein  Professor 
Staatsrecht  und  Völkerrecht,  der  andere  Verwaltnngslolire  und  österreichisches 
Verwaltungsrecht,  eventuell  auch  Statistik  zu  übernehmen  hätte.  Die  letzte 
Verbindung  wäre,  obwohl  sie  prinzipiell  auch  nicht  gebilligt  werden  könnte, 
erträglich,  wenn  die  Verwaltungslelirc,  wie  seinerzeit  gesagt,  mit  der  Volks- 
wirtschaftspolitik vereinigt  werden  könnte;  deuu  die  Verwandtschaft  der  so 


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Zur  Auug*‘«tal(uni'  des  recht-**  uu*l  atautswisüeliicharttjrhen  Stadium«  ctr  ;dtr.*t 


gearteten  Verwaltungslehre  mit  der  .Statistik  liegt  ja  nahe.  Es  würde  also 
der  Professor  für  Staatsrocht  im  Wintersemester  allgemeines  und  österrei- 
chisches Staatsrecht,  im  Sommersemester  Völkerrecht  vortragen,  eventuell 
noch  das  eine  oder  andere  nichtobligato  Kolleg  Der  Professor  für  Verwal- 
tungslehre und  Venvaltungsrecht  hätte  im  Wintersemester  Statistik,  im 
Sommersemester  das  Kolleg  über  Verwaltungslehre  und  Volkswirtsehafts- 
politik,  sowie  das  kürzere  Kolleg  über  österreichisches  Verwaltuugsrecht  zu 
lesen.  Die  Verdoppelung  der  Lehrstellen  für  Nationalökonomie  erscheint  uns 
erwünscht,  weil  die  grundverschiedenen  modernen  Strömungen,  die  sich  auf 
diesem  Gebiete  mehr  als  auf  jedem  andern  äußern,  nur  auf  diese  Weise 
Vertretung  linden  könnten;  es  wäre  dringend  erwünscht,  dal!  wenigstens  die 
zwei  Hanptrichtungen,  die  theoretische  und  die  historische,  in  jeder  Fakultät 
ihre  Vertreter  finden. 

Was  den  judizielleu  .Studienabschnitt  anbelangt,  ist  eigentlich  nur 
die  Schaffung  einer  speziellen  Lehrkanzel  für  Handels-  und  Wechselrecht 
erforderlich.  Dieses  Bedürfnis  ist  zu  sohr  bekannt,  als  datl  eine  Dcgründung 
notwendig  wäre.  Die  seinerzeit  angeregte  lterücksichtigung  der  Spezialgebiete 
des  modernen  Hechtes  würde  sowohl  dem  Zivilisten,  als  auch  dem  Handels- 
rechtslehrer  zufalleu,  so  daß  eine  weitere  Fortdauer  der  Verbindung  des 
Handelsrechtes  mit  einem  anderen  Fache  zu  ganz  unzweckmäßiger  Cber- 
bürdung  führen  müßte. 

Das  ist  auch  alles.  Die  wesentliche  Bereicherung  des  Lehrplanes  wäre 
also  mit  geringen  Kosten  verbunden.  Es  muß  ja  bemerkt  werden,  daß  die 
Forderung  einer  zweiten  nationalökonomischen  Lehrkanzel  nicht  mit  den  von 
uns  angeregten  Neuerungen  zusammenhängt,  sich  vielmehr  aus  der  Ver- 
schiedenheit der  wissenschaftlichen  Richtungen  ergibt,  so  daß  sie  auch  ohne 
die  vorgeschlagenen  Neuerungen  dringend  notwendig  ist:  an  einigen  Uni- 
versitäten  besteht  sie  übrigens  schon.  Dasselbe  gilt  für  die  handelsrechtliche 
Lehrkanzel;  auch  ihre  Notwendigkeit  steht  mit  den  vorgescblagenew  Neu- 
erungen in  keinem  Zusammenhänge;  übrigens  existiert  auch  diese  Lehrkanzel 
dermalen  schon  an  den  meisten  österreichischen  Fakultäten:  die  Forderung 
hinsichtlich  der  zweiten  öffentlichrechtlichen  Lehrkanzel  ist  ebenfalls  nicht 
neu  und  wäre  namentlich,  wenn  man  die  statistische  Lehrkanzel  in  diese 
Kombination  bringen  würde,  leicht  zu  erfüllen.  Wir  dürfen  also  von  diesen 
Forderungen  abselien,  so  daß  als  unmittelbare  Konsequenz  der  von  uns 
angeregten  Neuerungen  eigentlich  nur  die  Forderung,  betreffend  die  Schaffung 
von  eigenen  Lehrkanzeln  für  Keebtsenzyklopädie,  für  Hechtsphilosophie  und 
für  vergleicliende  Rechtswissenschaft  und  Gesellscliaftslchre  erübrigt.  Das 
Bedürfnis  einer  eigenen  Lehrkanzel  für  österreichische  Heicbsgescbiclite  ist 
prinzipiell  durch  die  Unterrichtsverwaltung  anerkannt  worden,  wenn  auch  bis 
nun  nur  in  Wien  und  in  Graz  solche  Lehrkanzeln  bestehen. 

Wenn  mau  das  gesamte,  in  diesem  Zusammenhänge  als  notwendig  und 
als  neu  erscheinende  Erfordernis  überblickt  und  dabei,  wie  erwähnt,  von  der 
zweiten  Lehrkanzel  für  Nationalökonomie,  von  der  für  Handelsrecht  und 
für  österreichische  Reichsgesehichte  absieht,  gelangt  man  zur  Überzeugung, 


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364 


Halban. 


daß'  durch  die  Annahme  unserer  Vorschlüge  bloß  das  Erfordernis  von  je 
drei  neuen  Lehrkanzeln  an  den  in  Österreich  bestehenden  acht  juristischen 
Fakultäten  entsteht.  I)ie  für  ganz  Österreich  erforderlichen  24  Lehrkanzeln 
würden,  selbst  wenn  sie  sofort  alle  mit  Ordinarien  besetzt  würden,  eine 
Auslage  von  180.960  K erfordern.  Dabei  ist  aber  zu  berücksichtigen, 
daß  manche  der  in  Frage  kommenden  Fächer  an  einigen  Universitäten  gegen 
spezielle  Remunerationen  gelesen  werden,  die  natürlich  zu  entfallen  hätten, 
daß  ferner  durch  die  Belegung  der  diesen  Fächern  gewidmeten  Vorlesungen 
das  dem  Staate  zufalleude  Kollegiengeld  eine  Steigerung  erfahren  würde,  so 
daß  ein  beträchtlicher  Teil  der  erwähnten  Gesamtsumme  in  Wegfall  käme. 
Wir  glauben,  daß  wenn  mit  diesem  Betrage  die  Ausbildung  so  zahlreicher 
Studenten  gefördert  werden  kann,  das  Opfer  wahrhaftig  nicht  zu  groß  ist. 

Wir  gehen  nunmehr  zur  Besprechung  der  juristischen  Lehrmittel  über, 
also  zur  Erörterung  der  Bedeutung  der  Vorlesungen  und  Übungen. 

IX. 

Die  Lehrmittel  und  Lehreinrichtungen  des  rechts-  und  staatswissen- 
schafthchen  Studiums. 

Der  entworfene  Lehrplan  kann  natürlich  nur  als  Minimum  betrachtet 
werden:  es  ist  Unmöglich,  bei  Entwertung  eines  allgemein  aiizuwendenden 
Lehrplanes  auch  Spezialkollegicn.  die  gewiß  vom  wissenschaftlichen  Stand- 
punkte die  größte  Bedeutung  haben,  gehörig  zu  berücksichtigen:  in  dieser 
Beziehung  sind  die  Personal veibültnisse  der  einzelnen  Professorenkollcgien 
maßgebend:  einseitiges  Verordnen  hilft  nichts  und  man  könnte  auf  § 7 der 
Ministerialverordnung  vom  24.  Dezember  1893  hinweiseu,  wo  die  Vorsorge 
für  mehrere  Spezialkollegien  den  Fakultäten  förmlich  zur  Pflicht  gemacht 
wird,  ohne  daß  es  namentlich  an  kleinen  Universitäten,  möglich  gewesen 
wäre,  dieser  Pflicht  liachzukomraeu.  In  noch  höherem  Grade  gilt  dies  für  die 
eigentlichen  Spezialkollegien,  die  nach  individuellem  Wunsche  des  Dozenten 
gehalten  werden  sollen.  Angesichts  der  großen  Überbürdung  der  meisten 
Professoren  spielen  diese  vom  wissenschaftlichen  Standpunkte  mitunter 
unschätzbaren  Vorlesungen  im  Lehrplane  leider  eine  zu  kleine  Rolle:  auch 
an  größeren  Universitäten  ist  ein  Rückgang  sichtbar  und  derselbe  steht  mit 
dem  Wegfalle  des  Kollegiengeldcs  einigermaßen  im  Zusammenhänge. 

Hinsichtlich  der  Bedeutung  der  Spezialkollegieu  herrschen  allerdings 
verschiedene  Ansichten.  Man  hört  manchmal,  daß  namentlich  kleinere 
Spezialkollegien  überflüssig  sind,  weil  sie  eigentlich  gesprochene  Monographien 
darstellen:  dabei  vergißt  man  an  die  Vorteile  des  lebendigen  Wortes,  ferner 
daran,  daß  wissenschaftliche  Monographien  von  Studierenden  nur  selten 
gelesen  werden,  weil  sie  in  der  Regel  den  Anfängern  schwer  verständlich 
sind  und  sich  vielmehr  an  die  Fachleute  wenden.  Das  Spezialkolleg  aber, 
namentlich,  wenn  cs  vou  einem  Dozenten  gelesen  wird,  der  in  der  Lage 
ist,  die  Aufnahmsfähigkeit  der  Hörer  zu  beurteilen,  bietet  sclion  dadurch, 
daß  es  auf  interessante  Details  cingeht,  literarische  Streitigkeiten,  Hypothesen 
und  die  Forschungsmethode  berücksichtigt,  den  Hörern  vielfach  Anregung. 


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Zar  Au'ßeitftltuup  <ies  rechte-  und  .stamtewisjtenscbaftlichni  Studiums  etc  36»ri 


Die  Le ii  r m e t li  o <1 e,  mit  der  wir  uns  liier  belassen  wollen,  uiuU 
also  jedenfalls  mit  den  drei  Lehrmitteln  des  akademischen  Unterrichtes, 
nämlich  dem  allgemeinen  Kolleg,  dem  Spezialkolleg  und  den  Übungen 
rechnen.  Daraus  folgt,  dal!,  obwohl  man  vom  akademischen  Dozenten  kein 
pädagogisches  Vorgehen  fordern  darf,  dennoch  auf  die  Eigenheiten  der  drei 
Arten  von  Lehrmitteln  Rücksicht  genommen  werden  muB. 

Das  allgemeine  Kolleg  hat  offiziell  als  Lehnnittel  im  weiteren 
Sinne  des  Wortes  die  größte  Bedeutung.  Wir  halten  die  radikalen  Vorschläge, 
die  sich  gegen  die  bisherigen  systematischen  Vorlesungen  aussprechen,  für 
teilweise  unbegründet,  teilweise  undurchführbar.  Ohne  System  kann  die 
Rechtswissenschaft  nicht  betrieben  und  es  muU  dem  Anfänger  eine  syste- 
matische Darstellung  geboten  »erden.  Man  verkennt  den  Wert  dieser  Vor- 
lesungen. wenn  man  meint,  dat!  die  auf  diesem  Wege  erfolgende  Mitteilung 
durch  Lehrbücher  ersetzt  werden  könnte;  mau  darf  die  aufklärende  Bedeutung 
des  freien  Wortes  (es  soll  eben  frei  gesprochen  werden)  und  den  pädagogischen 
Wert  langsamer  Mitteilung  nicht  unterschätzen,  weil  nur  auf  diese  Weise 
die  Kenntnisse  ohne  Überstürzung,  langsam,  aber  sicher  geboten  werden. 
Hinsichtlich  der  Details  kann  und  soll  das  Kolleg  mit  einem  Hnndbuche 
nicht  in  Wettbewerb  treten:  was  belehrenden  Wert  anbclangt.  steht  cs 
unvergleichlich  höher  als  das  beste  Hand-  oder  Lehrbuch;  allerdings  nur 
dann,  wenn  die  allgemeinen,  systematischen  und  kritischen  Gesichtspunkte 
hervortreten  und  nicht  vom  Detail  überwuchert  werden.  Der  Vorwurf  zweck- 
loser Weitschweifigkeit  ist  vielfach  begründet. 

Praktische  und  exegetische  Übungen  können  sich  erst  auf  dieser  Grund- 
lage aufbauen;  bei  zahlreicher  Zuhörerschaft  ist  die  Verlegung  des  Schwer- 
punktes von  der  systematischen  Vorlesung  in  die  Übungen  unmöglich.  Die 
hervorragende  Stellung  des  Gesamtkollegs  beruht  darauf,  daß  dasselbe  als 
ObligalkoUeg  für  alle  Hörer,  ohne  Rücksicht  auf  ihre  persönlichen  Fähig- 
keiten. bestimmt  ist  und  demgemäß  gehalten  werden  soll.  Darin  liegt  aber 
auch  die  Schwierigkeit  Selbst  wenn  die  Reform  des  Gymnasialunterrichtes 
in  der  vorher  angeregten  Weise  durchgeführt  und  dem  Professor  dadurch, 
wie  auch  durch  die  einleitenden  Kollegien  des  ersten  Semesters  Entlastung 
geboten  wird,  werden  dennoch  die  prinzipiellen  Schwierigkeiten  nicht  behoben; 
denn  auch  dann  fehlt  die  Möglichkeit,  sich  zu  überzeugen,  oh  die  Hörer 
zu  folgen  vermögen,  ebenso  die  Möglichkeit,  die  einzelnen  individuell  zu 
berücksichtigen.  Diese  Schwierigkeiten  sind  nicht  zu  beheben,  doch  könnte 
eine  Linderung  eintreten.  wenn  z.  B.  zu  Beginn  des  Semesters  Vorlesungs- 
programme, wie  sic  auch  heute  teilweise  üblich  sind,  unter  die  Hörer 
verteilt  würden;  ein  entsprechend  ahgefaßtes  Programm  gibt  dem  Hörer 
Gelegenheit,  einen  Überblick  über  die  gesamte  Darstellung  zu  gewinnen  und 
diesen  Überblick  während  des  Semesters  im  Auge  zu  behalten;  das  vom 
Professor  seihst  verfaßte,  ausführliche  Programm  könnte  doch  nicht  als 
Schmälerung  der  Lehrfreiheit  betrachtet  werden,  würde  vielmehr  die  indivi- 
duelle Richtung  zum  Ausdrucke  bringen.  Wichtig  wäre  es,  wenn  der  Ver- 
fasser eines  solchen  Programmes  wenigstens  hei  schwierigeren  Fragen  die 


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Halban. 


366 

dem  Hörer  zugänglichen  literarischen  Hilfswerke  augehen  würde,  weil  dann 
sowohl  vor  der  Vorlesung,  als  nach  derselben,  das  Nötige  nachgelesen  werden 
könnte.  Soweit  es  der  Stoff  gestattet,  könnte  man,  wie  es  ja  ab  und  zu 
geschieht,  die  Hörer  zu  direkter  Beteiligung  zulassen,  indem  man  sie  zur 
Stellung  von  Fragen  bei  Zweifeln  geradezu  auffordern  und  ermächtigen 
würde.  Wird  entsprechende  Vorbildung  geboten  und  durch  ein  genügendes 
Programm  sowohl  der  Überblick  als  auch  das  kontinuierliche  Fortarbeiten 
erleichtert,  dann  werden  gewitl  auch  die  heute  mit  Kocht  gerügten  Unzu- 
länglichkeiten des  systematischen  (iesamtkollegs  zum  grollen  Teile  ver- 
mindert werden. 

Die  Spczialkollegien  »ollen  auf  einer  wissenschaftlich  höheren 
Stufe  stehen,  als  das  allgemeine  Kolleg,  denn  sie  dienen  ihrem  Wesen 
nach  anderen  Zwecken.  Hier  soll  der  Professor,  unbeengt  durch  zeitliche 
Schranken,  Fragen  erörtern,  die  nach  seiner  Überzeugung  besonders  interessant 
sind,  oder  ihm  speziell  wissenschaftlich  nahe  liegen,  vor  allem  aber  solche, 
die  die  Eigenart  der  betreffenden  Disziplin  besonders  hervortreten  lassen. 
Hier  ist  Raum  für  die  Entfaltung  der  vollen  Individualität  des  Lehren. 
Selbstverständlich  denken  wir  dabei  nicht  an  Kollegien,  die  ihrerseits 
Gesamtdarstellungen  bilden,  wie  namentlich  die  verschiedenen  nichtobligaten 
Kollegien,  z.  B.  Bergrecht,  Geßngniskunde  u.  s.  w.  und  auch  nicht  an 
jene,  welche  den  Hörern  einen  Teil  der  in  dem  Obligatkolleg  wegen  Zeit- 
mangels nicht  erschöpften  Gesamtdarstellung  bieten.  Diese  Kollegien  sind 
eben  nicht  Spczialkollegien  im  echten  Sinne  des  Wortes.  Das  eigentliche 
Spezialkolleg  soll  von  dem  Hauptkolleg  unabhängig  sein,  die  Hörer  in  die 
wissenschaftliche  Werkstätte  einfflhren  und  sie  bei  Darstellung  irgend  einer 
Materie  darüber  belehren,  wie  wissenschaftliche  Meinungen  entstehen  u.  s.  w. 
Eine  solche  Vorlesung  wird  also  nur  für  einen  Teil  der  Studierenden 
interessant,  überhaupt  nur  einem  Teile  derselben  zugänglich  sein:  sie  kann 
aber  mit  Erfolg  selbst  von  solchen  Hörern  besucht  werden,  die  noch  nicht 
die  gesamte  Darstellung  des  betreffenden  Faches  zu  Ende  gehört  haben; 
denn  es  handelt  sich  ja  hier  nicht  um  die  Ergänzung  von  Elementar- 
kenntnissen, sondern  um  die  Vertiefung  der  allgemeinen  wissenschaftlichen 
Begriffe,  wofür  der  Hörer  durch  die  Kollegien  des  ersten  Semesters  genügend 
vorgebildet  ist  und  um  die  Einführung  in  die  Literatur  des  Faches,  was 
alles  auch  ohne  Gesamtkenntnis  der  betreffenden  Disziplin  möglich  ist, 
wenn  nur  das  wissenschaftliche  Interesse  und  die  Denkfähigkeit  nicht  fehlt. 
Wenn  wir  den  Zweck  des  Spezialkollegs  so  auffassen,  dann  brauchen  wir 
den  Vergleich  mit  einer  Monographie  nicht  zu  fürchten.  Die  Monographie 
erörtert  ausschließlich  eine  bestimmte  Streitfrage  und  wenn  sie  dabei,  wie 
cs  ihrer  Aufgabe  zukommt,  die  eng  gezogene  Grenze  nicht  überschreitet, 
ist  sie  für  den  Anfänger  zum  großen  Teile  wertlos;  die  Spezialvorlesung 
dagegen,  mag  sie  auch  äußerlich  einer  Monographie  ähnlich  sehen,  unter- 
scheidet sich  von  derselben  dadurch,  daß  sie  das  Verständnis  für  wissen- 
schaftliche Arbeit,  für  wissenschaftliche  Forschungsmethode  ermöglicht  und 
die  Bedeutung  wissenschaftlichen  Streites  zeigt;  so  ist  das  Spezialkolleg 


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Zur  Ausgestaltung  des  rechts-  und  staatBwissenschaftliehen  Studiums  etc-  3157 

ein  Mittelding  zwischen  Vortrag  und  Übung;  cs  kanu  auf  die  Übungen 
vorbereiten  und  das  in  den  Übungen  Gewonnene  ergänzen. 

Die  Übungen  bilden  den  schätzbarsten  Teil  des  akademischen 
Unterrichtes  und  das  wichtigste  akademische  Lehrmittel;  leider  werden  sie 
stiefmütterlich  behandelt,  obwohl  die  an  den  philosophischen  Fakultäten 
gemachten  Erfahrungen  gegen  eine  solche  Behandlung  sprechen.  Wir  haben 
schon  an  anderer  Stelle,1)  wenn  auch  kurz,  über  diese  Frage  gesprochen, 
überdies  der  rechts-  und  staatswissenschaftlichen  Fakultät  in  Czernowitz 
eine  Beihe  von  motivierten  Anträgen  vorgelegt,  die  durch  das  Professoren- 
kullegium  einstimmig  angenommen  und  dem  Ministerium  sowie  allen  anderen 
Universitäten  übermittelt  wurden.  Durch  Ministerialerlab  vom  7.  Februar  11100 
wurden  alle  Professorenkollegien  der  rechts-  und  staatswissenschaftlichen 
Fakultäten  zur  Berichterstattung  über  dieselben  aufgefordort.  Mull  dieses 
Eingreifen  der  Untcrrichtsvorwaltung  dankbar  hervorgehoben  werden,  so 
kann  man  gerade  aus  den  Berichten  der  einzelnen  Professorenkollegien 
ersehen,  daii  eine  Reform  der  Seminare  und  anderer  Übungen  notwendig 
ist,  leider  aber  auch  erkennen,  daß  die  Bedeutung  der  Übungen  nicht 
überall  gehörig  gewürdigt  wird.  Aus  einzelnen  Berichten  kann  man  die 
Befürchtung  herauslesen,  daß  die  auch  jetzt  unangenehm  empfundene  Über- 
bürdung der  Professoren  noch  weiter  gesteigert  werden  könnte.  Man  kann 
sich  darüber  nicht  wundern,  es  auch  nicht  verübeln;  wohl  aber  darf  man 
bedauern,  daß  manche  Professorenkollegien  anstatt  die  Überbürdungsfrage 
direkt  in  den  Vordergrund  zu  stellen,  es  vorgezogen  haben,  Argumente, 
deren  Stichhaltigkeit  keineswegs  einleuchtet,  gegen  die  Notwendigkeit  der 
betreffenden  Reform  ins  Feld  zu  führen.’)  Es  sei  hier  gestattet,  die 
wichtigsten  Fragen  wenigstens  kurz  zu  erörtern. 

Es  ist  bekannt,  daß  Seminarübungen  zunächst  an  den  philosophischen 
Fakultäten,  und  zwar  vor  allem  für  Philologen  geschaffen  worden  sind. 
Heute  bestehen  sie  fast  für  alle  Wissenszweige.  Und  mit  Recht;  denn  die 
allgemeine  Vorlesung  vermag  den  Hörer  nicht  in  die  Werkstätte  zu  führen 
und  lehrt  ihn  nicht  selbständig  zu  arbeiten.  Die  Fortschritte  der  Wissen- 
schaft haben  eine  Methodologie  geschaffen,  die  fortwährend  verbessert  wird. 
Ohne  den  mitunter  mit  großem  Erfolge  tätigen  Autodidakten  nahezutreten, 
muß  man  doch  im  allgemeinen  behaupten,  daß  wissenschaftliche  Arbeit  nur 
bei  Beherrschung  der  Methode  gut  möglich  ist;  natürlich  kann  die  Methode 
allein  nicht  genügen,  und  cs  wird  auch  der  methodisch  geschulte,  im 
übrigen  unfähige  Mann  nichts  leisten;  der  fähige,  methodisch  nicht  geschulte 
aber  läuft  Gefahr,  auf  Abwege  zu  geraten  und  jahrelang  erfolglos  zu  arbeiten. 

*)  ln  Grünhuts  Zeitschrift  für  das  Privat-  und  Öffentliche  Hecht,  1t.  XXIV, 
S.  709  ff. 

’)  Der  Verfasser  ist  durch  die  rechts-  und  staatawissenschatliicho  Fakultät  der 
Czernowitzer  Universität  beauftragt  worden,  ein  ausführliches  Memorandum  ausznarbeilen, 
um  den  von  manchen  Fakultäten  vorgebrachten  Hinwendungen  zu  begegneu;  dieses 
Memorandum  ist,  nachdem  es  von  der  Fakultät  einstimmig  angenommen  wurde,  dem 
Ministerium  vorgelegt  und  allen  Fakultäten,  mitgeteilt  worden. 


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3fi8 


ftalSan 


Die  Verteile  von  philosophischen,  historischen  uml  anderen  Seminarnbungen 
sind  so  einleuchtend,  di«  Wissenschaft  verdankt  ihnen  eine  so  rege  Belebung 
der  Forschung,  da  11  ein  weiteres  Eingehen  auf  diese  Frage  überflüssig 
erscheint. 

Nur  an  den  rechts-  und  staatswissenschaftlichcu  Fakultäten  konnte 
sich  diese  Wahrheit  trotz  zahlreicher  Beweise  keinen  Eingang  verschaffen. 
Es  hat  fast  den  Anschein,  als  ob  unsere  Wissenschaft  und  ihre  praktische 
Entwicklung  immer  zurückzubleiben  und  erst  schneckenartig  nachzukommen 
bestimmt  wäre.  Wir  haben  später  als  alle  anderen  wissenschaftlich  zu 
arbeiten  begonnen;  unsere  Forscher  haben  es  endlich  aufgegeben,  bloß 
Gesetzesinterpretatoren  zu  sein:  aber  daran,  daß  man.  sowie  es  hei 
Philologen  und  Historikern  geschieht,  die  gewonnene  und  bewährte  Methode 
allen  zugänglich  machen  soll,  wird  noch  immer  zu  wenig  gedacht. 

Man  hat  im  Jahre  1875  in  Österreich  rechts-  und  staatswissen- 
schatt liehe  Seminare  geschaffen.  Es  ist  der  damaligen  l'nterrichtsverwaltung 
wegen  der  Unzulänglichkeit  dessen,  was  geschehen  ist,  kein  Vorwurf  zu 
machen;  es  muß  anerkannt  werden,  daß  die  österreichische  Unterrichts- 
Verwaltung  in  dieser  Beziehung,  wie  in  manchen  anderen,  dem  Auslande 
mit  gutem  Beispiele  voranging.  Die  Fehler,  die  der  im  Jahre  1875 
geschaffenen  Einrichtung  anhaften,  sind  vom  damaligen  Standpunkte,  nament- 
lich wenn  man  berücksichtigt,  daß  es  sich  um  eine  Neuerung  handelte, 
entschuldbar  und  vermögen  das  Verdienst,  welches  in  der  Einführung  der 
Seminare  überhaupt  liegt,  nicht  zu  schmälern.  Aber  eigentümlich  berührt 
es,  daß  mau  nach  27jähriger  Erfahrung  an  die  Beseitigung  der  ursprüng- 
lichen Mängel  nicht  geht  und, . wie  den  Berichten  mancher  Professoren- 
kollegicii  zu  entnehmen  ist,  nicht  geben  will  ■ Es  war  ein  Mißgriff,  daß  man 
nur  zwei  Seminare  eingeführt  hat.  nämlich  das  rechtswissenschuftliche,  in 
dem  Übungen  aus  allen  juristischen  Disziplinen  unterbracht  werden,  und 
das  staatswissenschaftlich«.  in  dem  ebenfalls  Seminarflbungen  aus  allen 
Disziplinen  dieser  Gruppe  Unterkunft  finden.  Ein  weiterer  Mißgriff  wurde 
dadurch  begangen,  daß  die  Professoren  nur  zu  einstflndigen  und  auf  ein 
Semester  beschränkten  Übungen  verpflichtet  wurden.  Wenn  die  Seminure 
sich  dennoch  bewährt  haben,  so  verdanken  sie  es  nicht  dieser  Verfassung, 
man  kann  eher  sagen,  daß  alle  Vorteile  trotz  dieser  Verfassung  zuwege 
gebracht  wurden.  Es  wäre  also  jedenfalls  an  der  Zeit,  die  ursprünglich 
begangenen  Fehler  gutzumachen,  für  jede  selbständige  Disziplin  ein  eigenes 
Seminar  zu  bilden,  für  dasselbe  eine  entsprechende  Bibliothek  zu  schaffen, 
weiters  eine  Anzahl  von  Seminarstipeudien  nach  dem  Muster  der  philo- 
sophischen Fakultät  sicherzustellen  und  die  kontinuierliche  Fortführung  der 
Übungen  während  des  ganzen  Studienjahres  zur  Pflicht  zu  machen.  Die 
Konzentrierung  von  Seminarübungen  aus  verschiedenen  Wissensgebieten 
hat  nebst  administrativen  Folgen  auch  die.  daß  die  Bibliotheksdotation 
gering  ausföllt.  offenbar  deshalb,  weil  immer  von  einer  Bibliothek  die 
Rede  ist,  während  tatsächlich  im  rechtswissenschaftlichen  Seminar  allein 
sieben  bis  acht  separate  Bibliotheken  zu  unterscheiden  wären;  infolgedessen 


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Zur  Ausgestaltung  des  rechts-  und  staateirissenschaftlicheu  Studiums  etc.  369 


entfällt-  auf  jede  dieser  gesetzlich  nicht  anerkannten  Bibliotheken  eine 
Quote,  die  man  keiner  einzigen  selbständigen  Bibliothek  der  philosophischen 
Seminare  oder  eines  medizinischen  Institutes  anbieten  würde.  Dasselbe 
gilt  hinsichtlich  des  Prämienfonds,  der  so  gering  ist.  daß  nicht  einmal 
für  jedes  Seminar  eine  entsprechende  Prämie  entfallt. 

Diese  administrativen  Mängel  lassen  sich  leicht  belieben,  sind  also 
nicht  in  dem  Maße  verhängnisvoll  wie  der  Umstand,  daß  die  Übungen 
selbst  nicht  das  ganze  Jahr  hindurch  fortgeführt  werden.  Hs  ist  einleuchtend, 
daß  dieses  fbel  die  wissenschaftlichen  Vorteile  des  Seminars  geradezu  in 
Frage  stellt.  Der  Hörer  besucht  das  Seminar  nährend  eines  Semesters, 
und  zwar  gemäß  der  üblichen  Einrichtung,  nur  einmal  wöchentlich  während 
einer  Stunde.  Wer  den  Universitätskalender  kennt,  weiß,  daß  nach  Abzug 
aller  Feiertage  und  Ferien  kaum  12 — 15  Übungsstundcn  abgehalten  werden 
können,  und  daß  namentlich  im  Sommersemester  vielfach  nicht  einmal  diese 
Anzahl  erreicht  wird.  Da  kann  man  doch  fragen,  oh  es  überhaupt  möglich 
ist,  eine  nennenswerte  Tätigkeit  in  einer  so  kurzen  Zeit  zu  entfalten  und 
eine  Einführung  in  die  Forschungsmethode  auch  nur  annäherungsweise  zu 
erreichen.  Und  selbst  wenn  hei  besonderer  Bemühung  des  Seminarieitcrs 
und  bei  besonderem  Eifer  und  großen  Fähigkeiten  der  Hörer  die  wenigen 
Stunden  von  Erfolg  waren,  so  geht  doch  dieser  ganze  Erfolg  wieder  ver- 
loren, weil  die  Übungen  im  nächsten  Semester  nicht  weiter  geführt  werden, 
im  übernächsten  aber  kaum  ein  Teil  der  schon  einmal  etwa  eingeachultcn 
Teilnehmer  zurüekkehrt.  vielmehr  wieder  neue  Anfänger  eintreten  und  dem 
Professor  dieselbe  Ahriclitungsarbeit  mit  demselben  fraglichen  Erfolge  bevor- 
steht. Der  fleißige  Seminarist  hat  auch  tatsächlich  wenig  davon,  wenn  er 
nach  halbjähriger  Unterbrechung  wieder  in  dasselbe  Seminar  eintritt;  denn 
mit  ihm  zusammen  erscheinen  ja  Anfänger,  und  der  Seminarleiter  ist  nicht 
in  der  Lage,  sich  ausschließlich  jenen  zu  widmen,  die  schon  einmal  das 
Seminar  besucht  haben,  sondern  er  muß  in  erster  Linie  die  Anfänger 
berücksichtigen,  so  daß  in  jedem  Seminarsemester  sich  dasselbe  Schauspiel 
wiederholt  und  es  verhältnismäßig  selten  zu  wirklicher  Ausbildung  und 
nocli  seltener  zur  Abfassung  wissenschaftlicher  Arbeiten  im  wahren  Sinne 
des  Wortes  kommt.  Ist  der  Student  strebsam  und  fähig,  so  tritt  er  nach 
Ahsolvierung  eines  einsemestrigen  Seminars,  in  dem  er,  wie  gesagt,  nicht 
viel  lernen  konnte,  im  nächsten  Semester  womöglich  in  ein  ganz  anderes 
Seminar  ein,  in  welchem  er,  nachdem  es  ja  auch  nur  während  eines 
Semesters  geführt  wird,  ebenfalls  nur  ein  Semester  verbleibt.  So  kann  er, 
als  Gast  auf  eine  Weile,  möglicherweise  in  allen  Seminaren  der  Fakultät 
je  ein  Semester  zugebracht  haben  und  verläßt  die  Hochschule  ohne  diejenige 
wissenschaftliche  Ausbildung,  die  er  sich,  wenn  er  nur  ein  Seminar,  dafür 
aber  konstant  während  1 1 , — 2 Jahren  besucht  hätte,  gewiß  in  höherem 
Grade  hätte  verschaffen  können.  Die  auf  ein  Semester  beschränkten  Seminar- 
übungen haben  also  nur  geringen  Wert;  denn  erat  nach  Überwindung  der 
ersten  Schwierigkeiten  vermag  der  Teilnehmer  das  nötige  Interesse  zu 
gewinnen,  lind  da  ist  gewöhnlich  dann  schon  die  Zeit  zu  kurz,  um  an 


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:*70 


Halban. 


selbständige  Arbeit  zu  denken.  Dazu  kommt,  daß  wissenschaftliche  Debatten, 
die  wieder  jeweils  auf  nur  eine  Stunde,  d.  h.  eigentlich  auf  */«  Stunden 
beschränkt  werden,  aussichtslos  sind.  Wahren  Vorteil  können  nur  häutigere, 
also  wenigstens  zweistündige,  und  das  ganze  Jahr  hindurch  dauernde 
Übungen  gewähren.  Die  l’rcfessoren,  die  so  verfahren,  ohne  dermalen  dazu 
verpflichtet  zu  sein,  wissen,  daß  die  Seminarteilnehmer  ihnen  lange  erhalten 
bleiben,  manchmal  sogar  während  des  gauzen  Quadrienuiums  in  einem 
Seminar  arbeiten,  so  daß  sic  nach  einigen  Semestern  an  wirklich  wissen- 
schaftliche Aufgaben  schreiten  können. 

Selbstverständlich  muß  man  aber  dem  Hörer  neben  den  Seminar- 
Übungen  die  nötigen  Studienbeholfe  und  eine  gewisse  Ancifcrung  bioten; 
man  raut!  also  anstatt  der  kleinen  und  geradezu  zwecklosen  Seminar- 
bibliotheken  wirkliche  Handbibliotheken  schaffen,  wie  sie  in  allen  philo- 
sophischen Seminaren  und  Instituten  bestehen,  sowie  die  nötigen  Arboits- 
räume.  Man  betrachtet  es  als  ganz  selbstverständlich,  daß  man  z.  R.  in 
einem  zoologischen  Institute  alle  Redtlrfnisso  der  Hörer  berücksichtigt, 
ihnen  nicht  nur  Präparate,  Bücher  und  Zeitschriften,  sondern  die  teuersten 
Instrumente  zur  Verfügung  stellt,  ja  sogar  mit  Eilziige»  Seetierc  verschafft; 
und  gleichzeitig  erträgt  man  es  ruhig,  daß  dem  Rechtshörer,  der  unter 
Leitung  eines  Professors  ernst  arbeiten  will,  weder  die  nötigon  bescheidenen 
Räume,  noch  auch  die  unumgänglichen  Bücher  und  Zeitschriften  geboten 
werden.  Die  rechts-  und  staats  wissenschaftlichen  Seminare  werden  durch- 
schnittlich mit  je  100  K jährlich  dotiert;  wenn  man  damit  dio  Sominar- 
bibliothek  auf  dem  Laufenden  erhalten  will,  so  entfällt  für  die  einzelnen 
Fächer  der  Teilbetrag  von  etwa  CO  K jährlich. 

Es  fehlt  auch  die  kleine  materielle  Ancifcrung,  die  in  den  philosophischen 
Seminaren  durch  sogenannte  Scininarstipcndien  erreicht  wird.  Die  Seminar- 
stipendien werden  den  ordentlichen  Mitgliedern  verliehen,  also  denjenigen, 
die  durch  eine  wissenschaftliche  Arbeit  den  Beweis  geliefert  haben,  daß  sie 
Lust  und  Fähigkeit  zur  Betätigung  haben.  Diese  Stipendien  sind  an  und 
für  sieh  so  geringfügig,  daß  sie  keineswegs  den  Charakter  einer  ausgiebigen 
Unterstützung,  vielmehr  den  Charakter  von  wissenschaftlichen  Prämien  haben. 
Die  rechts-  und  staatswissenschaftüclien  Seminare  erhalten  ebenfalls  einen 
Prämicnfoud;  da  wir  aber  de  jure  nur  zwei  Seminare  haben,  so  ist  diese 
Dotation  eine  ungenügende  und  was  noch  schlimmer  wirkt,  es  ist  die  Höhe 
der  einzelnen  Prämien  nicht  so  sehr  von  dem  Werte  der  Arbeit,  als  vielmehr 
von  der  Anzahl  der  in  dem  betreffenden  Studienjahr  gelieferten  Arbeiten 
abhängig.  Ist  diese  Anzahl  groß,  so  müssen  vorzügliche  Arbeiteu  mit  lächerlich 
kleinen  Beträgen  prämiiert  werden;  ist  dagegen  diese  Anzahl  gering,  so 
werden  selbst  weniger  gute  Arbeiten  höher  prämiiert.  Man  müßte  auch  in 
dieser  Beziehung  das  Beispiel  der  philosophischen  Fakultäten  nachahmen, 
wobei  zu  bemerken  ist,  daß  die  Einführung  dor  Scheidung  in  ordentliche 
und  außerordentliche  Mitglieder  des  Seminars  überdies  den  Vorteil  bietet, 
daß  im  Seminar  eine  Anzahl  von  ständigen  Mitgliedern  verbleibt,  wodurch 
die  ganze  Arbeitsführung  auf  ein  höheres  Niveau  gebracht  wird. 


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Zur  Ausgestaltung  des  rechts-  und  staatswirsensehaftlicheu  Studiums  etc.  1171 


Im  Zusammenhangs  damit  hat  Verfasser  auch  die  Einführung  von 
Proseminaren  fßr  Anfänger  angeregt.  Die  Proseminare  wären  erwünscht, 
um  Anfängern  die  elementaren  Anleitungen  7.11  geben.  Mangels  solcher 
Proseminare  müssen  die  Seminarleiter  in  jedem  Semester  ab  ovo  beginnen, 
wobei  viel  Zeit  verloren  geht  und  die  richtige  Schulung  doch  nicht  geboten 
werden  kann;  frühere  Seminarteilnehmer  werden  also  während  dieser  den 
Anfängern  gewidmeten  Zeit  zur  Untätigkeit  verurteilt,  die  Anfänger  selbst 
aber  erhalten  nicht  diese  Anleitung,  die  sie  in  einem  eigenen  Proseminar 
gründlich  und  allseitig  gewinnen  könnten.  Die  Seminararbeit  muß  richtiger- 
weise abgestuft  werden;  es  ist  nicht  möglich  eine  volle  Individualisierung 
durchzuführen  und  es  werden  sich  immer  störende  Unterschiede  zwischen 
Teilnehmern,  die  z.  B.  schon  zwei  Jahre  lang  in  dem  betreffenden  Seminar 
arbeiten  und  solchen,  die  erst  seit  einem  Semester  in  demselben  tätig  sind, 
ergeben;  aber  wenigstens  die  erste  Abrichtung  und  die  daraus  für  die 
Vorgeschrittenen  sicli  ergebende  Störung  müßte  entfallen,  d.  h.  dem  Pro- 
seminar überwiesen  werden.  Im  Seminar  selbst  sollen  wissenschaftliche 
Prägen  unter  Benutzung  wissenschaftlicher  Mittel  ergründet  werdeu;  über 
die  Methode  seihst  und  die  verschiedene  Art  der  Mittel  sollen  die  Hörer 
schon  vorher  im  Proseminar  belehrt  werden ; bei  wissenschaftlicher  Erörterung 
der  Materie,  die  in  dem  betreffenden  Seminar  verhandelt  wird,  muß  doch 
die  Möglichkeit  bestehen,  das  ganze  wissenschaftliche  Arsenal  zu  benutzen; 
man  kann  sieh  nicht  dabei  auflmlten,  dio  Frage  zu  besprechen,  was  eine 
Quello  ist,  in  welchem  Verhältnisse  einzelne  Qucllengattungen  zu  einander 
stehen,  u.  s.  w.  Mit  Rücksicht  auf  die  Einheitlichkeit  wissenschaftlicher 
Methode  ist  ein  Proseminar  namentlich  für  die  rechtshistorischen  Seminar- 
übungen notwendig  und  nützlich;  doch  glauben  wir,  daß  auch  für  die 
Staatswissenschaften,  vor  allem  aber  für  die  Statistik  und  Volkswirtschaft 
ein  Prosominar  ebenso  vorteilhaft  wäre. 

Das  alles  hängt  zusammen;  die  nicht  vorbereiteten  Seminarteilnehmer 
können  vom  Seminar  keinen  Vorteil  davontragen  und  der  Professor  selbst 
verliert  infolgedessen  das  Interesse  am  Seminar;  selbst  wenn  er.  ohne  nach 
der  jetzigen  Einrichtung  hiezu  verpflichtet  zu  sein,  das  gauze  Jahr  hindurch 
Seminarühungen  hält,  kann  er  doch  ungeschälte  Anfänger  nicht  abweisen 
und  muß  immer  wieder  zum  Nachteile  der  Vorgeschrittenen  ihnen  viel  Zeit 
widmen.  Viel  ärger  steht  es  natürlich,  wenn  die  Übungen  überhaupt  nur 
ein  halbes  Jahr  dauern;  denn  dann  muß  man  entweder  den  größten  Teil 
des  Semesters  der  Einschulung  der  Anfänger  widmen,  so  daß  für  wissen- 
schaftliche Arbeit  keine  Zeit  übrig  bleibt  oder  aber  man  muß  versuchen, 
wissenschaftliche  Arbeit  mit  Leuten,  deneu  dio  Vorbildung  fehlt,  in  Angriff' 
zu  nehmen,  was  wohl  nicht  als  Schulung,  sondern  als  Verschulung  zu 
bezeichnen  ist;  im  ersten  Palle  arbeitet  der  Seininarieiter  pädagogisch  richtig, 
erreicht  aber  den  Zweck  der  Seminarübungeti  nicht,  sondern  deu  Zweck 
eines  Proseminars;  im  andern  Falle  erreicht  er  überhaupt  gar  keinen  Erfolg. 
Es  bedarf  keines  Beweises,  daß  schon  die  Hörer  des  ersten  Semesters  ein 
Proseminar  besuchen  könnteu. 


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372 


H&lban. 


Wir  gelangen  also  zur  Überzeugung,  daß  für  jedes  selbständige  Fach 
ein  eigenes  Seminar  errichtet  werden  muß,  ebenso  wie  dies  au  der  philo- 
sophischen Fakultät  der  Fall  ist:  nur  übergangsweise  könnte  man  auf 
eine  Vereinigung,  aber  auch  nur  der  nächstverwandten  Fächer  eingeheu, 
obwohl  man  prinzipiell  auf  die  Selbständigkeit  der  einzelnen  Seminare  Gewicht 
legen  muß.  An  den  philosophischen  Fakultäten  bestehen  selbständige  Semi- 
nare für  klassische  l’hilologie,  für  germanische,  romanische  und  slavische 
Philologie,  obwohl  die  Verwandtschaft  der  einzelnen  philologischen  Gebiete 
die  denkbar  nächste  ist;  jedenfalls  kann  man  die  Verwandtschaft,  die  etwa 
zwischen  römischem  liechte  und  österreichischem  Handelsrechte  besteht, 
doch  nicht  vergleichen  mit  der  Verwandtschaft  zwischen  allgemeiner  und 
beispielsweise  alter  Geschichte;  nichtsdestoweniger  verlangt  inan  die  Unter- 
bringung so  verschiedener  juristischer  Disziplinen  in  einem  Seminar,  während 
für  die  philosophischen  Disziplinen  ohne  Rücksicht  auf  ihre  Verwandtschaft 
eigene  Seminare  bestehen.  Jedes  Seminar  muß  eine  entsprechende  Bibliothek 
besitzen,  dieselbe  ergänzen,  überdies  abor  über  einen  eigenen  Prümieufond 
beziehungsweise  über  Seminarstipendien  verfügen.  Die  Übungen  müssen 
das  ganze  Jahr  hindurch,  und  zwar  zweistündig  abgolialten  werden  uml  der 
Eintritt  in  das  Seminar  sollte  nur  denjenigen  freistelien,  die  bereits  in 
dem  entsprechenden  Proseminar  die  nötige  Vorbildung  erhalten  haben.  Die 
Beteiligung  an  den  Seminarübungen  muß  auch  ganz  anders  kontrolliert 
werden,  als  die  Frequenz  von  Vorlesungen;  der  Seminarleiter  muß  diejenigen, 
die  nicht  fleißig  besuchen,  oder  selbst  wenn  sie  besuchen,  nicht  mitarbeiteu, 
einfach  entfernen,  um  dadurch  unangenehme  Störungen  in  der  Fortführung 
der  Arbeit  zu  beseitigen.  Man  fürchte  nicht,  daß  durch  eine  angestrengt« 
Tätigkeit  im  Seminare  der  Student  das  Interesse  für  die  übrigen  Fächer 
verliere.  Im  Gegenteile;  er  wird,  wenn  die  Seminarbescliäftigung  nicht  zu 
einseitig  gewählt  ist,  den  Zusammenhang  der  einzelnen  Disziplinen  mit 
dem  gesamten  juristischen  Studiengehiete  erst  recht  merken  und  schätzen. 
Die  Abhaltung  von  Proseminaren  müßte  von  den  einzelnen  Professoren  im 
Einvernehmen  mit  den  übrigen  regelmäßig  stattfinden,  wobei,  wie  schon 
erwähnt,  wohl  keine  Notwendigkeit  vorliegen  würde,  für  jedes  Fach  besondere 
Proseminare  einzurichten,  sondern  vielmehr  ein  gemeinsames  Proseminar  für 
mehrere  verwandte  Fächer  genügen  könnte. 

Bei  dieser  Reform  wäre  es,  namentlich  an  größeren  Hochschulen, 
möglich,  mit  der  Zeit  gelehrte  Seminare  für  reifere  Teilnehmer  zu  errichten, 
die  eine  wirklich  produktive  Tätigkeit  entfalten  könnten.  Denn  es  ist  ein- 
leuchtend, daß  man  selbst  von  dem  Studenten,  der  ein  Proseminar  besucht 
und  dann  mehrere  Semester  in  einem  Seminar  zugehracht  hat,  so  lange  er 
sich  dem  eigentlichen  Studium  und  der  Vorbereitung  für  Prüfungen  widmen 
muß.  keine  wissenschaftlich  selbständige  Arbeit  erwarten  darf.  Erst  nach 
Abschluß  seiner  allgemeinen  rechts-  und  stuatswisscnschuftliclien  Ausbildung 
kann  daran  gedacht  werden.  Dann  muß  ihm  aber  auch  ein,  seiner 
Gcsamtausbildung  entsprechendes  Seminar  geboten  werden,  was  dermalen 
nicht  der  Fall  ist.  Zu  erwägeu  wäre  in  diesem  Zusammenhänge  die 


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Zur  Auagestaltang  «1«  rechts-  and  staatswiuenschaftlichen  Studium«  etc.  373 


Sicherstellung  von  Mitteln  Ihr  die  Publikation  hervorragender  wissenschaft- 
licher Arbeiteu. 

Natürlich  würde  dies  zu  eiuer  weiteren  Überbflrdung  der  Professoren 
führen;  während  dermalen  die  Professoren  nur  zu  einstündigen  Übungen  in 
jedem  zweiten  Semester  verpflichtet,  ja  sogar  manche  auch  dazu  nicht  ver- 
pflichtet sind,  würde  bei  einer  so  gearteten  Neuordnung  die  gesamte  Lehr- 
verpflichtung um  3 Stunden  im  Jahre  erhöht  werden,  was  namentlich  für 
die  Vertreter  ausgedehnter  Disziplinen,  die  zu  zahlreichen  Obligatvorlesungen 
verpflichtet  sind,  als  eine  Überbflrdung  betrachtet  werden  müßte.  Es  wäre 
nur  recht  und  billig,  wenn  man  zu  demselben  Mittel  greifen  würde,  welches 
an  den  philosophischen  Fakultäten  üblich  ist,  nämlich  zu  spezieller  Reniune- 
rierung.  Es  sei  schließlich  bemerkt,  daß  die  Kosten  einer  entsprechenden 
Dotierung  selbständiger  Seminare  nach  der  durch  die  Lemherger  Fakultät 
entworfenen  Berechnung  für  alle  österreichischen  rechts-  und  staatswissen- 
schaftlichen  Fakultäten  zusammen  60.000 — 80.000  K betragen  müßten,  also 
kaum  mehr  als  oftmals  ein  einziges  naturwissenschaftliches  oder  medi- 
zinisches Institut  kostet;  die  Hebung  des  ganzen  wissenschaftlichen  Lebens, 
die  sich  daraus  ergeben  würde,  wiegt  wohl  diese  Ausgabe  auf. 

Neben  eigentlichen  Seminarübuugen  bestehen  bekanntlich  noch  kon- 
versatorische  und  praktische  Übungen  im  engeren  Sinne  des 
Wortes.  Sie  werden  sehr  mit  Unrecht  als  Seminarflbungen  betrachtet  und 
denselben  gleichgestellt  Die  Aufgabe  der  eigentlichen  Seminarflbungen  be- 
stellt in  der  methodischen  Schulung  der  Teilnehmer  behufs  Ermöglichung 
selbständiger  wissenschaftlicher  Forschung;  als  Mittel  hiezu  dient  nicht  nur 
die  Lektüre  und  Kritik  der  Quellen,  sondern  auch  die  weitgehende  logische 
Kombination,  die  schließlich  zur  wissenschaftlichen  Konstruktion  führt. 
Konversatorium  und  Praktikum  haben  eine  wesentlich  andere  Bestimmung. 

Das  Konversatorium  soll  vor  allem  in  die  Literatur  eines  Faches 
einführen;  man  beschäftigt  sich  also  im  Konversatorium  mit  der  Zusammen- 
stellung und  Inhaltsangabe  literarischer  Erscheinungen,  die  sich  auf  eine, 
den  Teilnehmern  einigermaßen  bekannte  Frage  beziehen.  Die  Nützlichkeit 
dieser  Arbeit  ist  unbestreitbar;  Anfänger,  die  naturgemäß  nur  ungerne 
wissenschaftliche  Werke  zur  Hand  nehmen,  werden  mit  der  Literatur  ver- 
traut gemacht  und  es  kann  sich  an  Referate  über  den  Inhalt  interessanter 
Schriften  eine  Debatte  knüpfen,  so  daß  auch  diejenigen,  die  das  betreffende 
Werk  nicht  kennen,  sicii  veranlaßt  schon,  dasselbe  oder  andere  nachzuschlagen. 
Ja  man  kann  sagen,  daß  für  gewisse  Disziplinen  gerade  diese  Form  von 
Übungen  besonders  geeignet  ist,  so  z.  B.  für  Rechtsphilosophie,  für  theore- 
tische Nationalökonomie,  zum  Teile  auch  für  das  allgemeine  Staatsrecht 
und  für  manche  Gebiete  des  modernen  Rechtes,  namentlich  wenn  es  sich 
darum  handelt,  mit  den  Teilnehmern  neue  Richtungen,  neue  Gesetzesvor- 
iagen  u.  s.  w.  zu  besprechen.  Von  den  Seminarübungen  aber  unterscheiden 
sich  die  konversatorischeu  Übungen  dadurch,  daß  sie  keine  wissenschaftliche 
Arbeit  der  Teilnehmer  anstreben  und  sich  überwiegend  mit  dem  Studium 
der  Literatur  begnügen.  Es  wäre  zu  wünschen,  daß  lür  eine  Reihe  von 


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374 


Halban. 


Fächern  konversatorische  Übungen  häufiger  als  es  bis  jetzt  geschieht,  abge- 
halten werden. 

Während  die  letztgenannten  Übungen  sich  doch  eines  indirekt  wissen- 
schaftlichen Charakters  erfreuen,  muß  dies  hinsichtlich  der  sogenannten 
Praktika  wenigstens  zum  Teile  fraglich  erscheinen.  Die  Praktika  haben 
eine  eigenartige  Bedeutung.  Es  sollen  praktische  Fragen,  wie  sie  iin  Leben 
Vorkommen  und  Gegenstand  der  Judikatur  bilden,  verhandelt  werden. 
Natürlich  kann  auch  ein  Praktikum  wissenschaftlichen  Wert  haben,  nament- 
lich wenn  man  bei  Besprechung  des  Falles  den  Zusammenhang  desselben 
mit  dem  Kechtsleben  berücksichtigt  und  den  theoretischen  Hintergrund  nicht 
vernachlässigt;  betrachtet  man  einen  speziellen  Rechtsfall  allseitig,  so  hat 
man  dabei  Gelegenheit,  die  Hörer  auf  den  Zusammenhang  zwischen  Theorie 
und  Praxis  aufmerksam  zu  machen  und  auf  die  Schwierigkeiten,  denen  die 
Anwendung  einer  Rechtsnorm  im  Leben  begegnet;  das  hat  wissenschaft- 
lichen Wert,  weil  es  den  Hörer  in  das  Verständnis  der  Gesetzgebungstechnik, 
ihrer  Mängel  und  Lücken  einführt.  Nur  gehe  man  sich  nicht  der  Hoffnung 
hin,  daß  eine  so  geartete  Übung  einer  praktischen  Schulung  gleichkommt. 
Leider  ist  diese  Auffassung  häufig  vertreten  und  so  kommt  es,  daß  die 
Praktika  im  engsten  Sinne  des  Wortes  praktisch  abgehalten  wurden.  Man  glaubt 
damit  den  Zwecken  der  Praxis  zu  dienen;  ebenso  wie  kein  pädagogisches 
Seminar  praktische  Schulmänner  hervorbringt,  ebensowenig  vermag  ein  noch 
so  eifrig  geführtes  Praktikum  den  jungen  Juristen  wirklich  zum  Praktiker 
zu  machen.  Man  kann,  selbst  weuu  das  Praktikum  nicht  ein  Semester, 
sondern  länger  dauert  und  wenn  demselben  mehrere  Stunden  wöchentlich 
gewidmet  werden,  dennoch  in  der  Regel  nur  eine  kleine  Anzahl  praktischer 
Fälle  gründlich  und  allseitig  durchnehmen,  namentlich  wenn  man  das  richtige 
Prinzip  beobachtet,  die  Hörer  denken  und  zu  Worte  kommen  zu  lassen. 
Nun  wird  niemand  behaupten,  daß  das  Durchnehmen  einiger  praktischer 
Fälle,  auch  wenn  sie  noch  so  interessant  sind,  jemanden  für  die  Praxis  reif 
machen  könnte.  Dem  geringen  Vorteil  stehen  aber  gewisse  Nachteile  gegen- 
über. Zunächst  entwickelt  sich  unwillkürlich  bei  den  Teilnehmern  eine 
Überschätzung  des  praktischen  Elements  auf  Kosten  des  wissenschaftlichen; 
je  weniger  jemand  wissenschaftlich  ausgebildet  ist,  desto  mehr  neigt  er  zu 
unberechtigter  Skepsis  gegenüber  der  Theorie.  Der  junge  Student  fühlt  sich 
förmlich  als  Richter  oder  als  Mitglied  eines  Spruchkollegiums  und  nicht 
unbeachtet  bleibe  die  Erwägung,  daß  der  theoretisch  wenig  sattelfeste  An- 
fänger geneigt  ist,  in  dem  verfrühten  Streben  nach  selbständigem  Urteile  auf 
Abwege  zu  geraten.  Die  Praktika  sind  nicht  geeignet,  die  wünschenswerte 
Sicherheit  eines  methodischen  Vorgehens,  wie  es  für  jeden  Beruf  wichtig 
ist,  anzuerziehen;  sollte  dieser  Zweck  erreicht  werden,  dann  müßten  die 
Praktika  jahrelang  dauern  und  nicht  auf  wenige  Stunden  beschränkt  sein. 

Es  ist  vielfach  der  Unterricht  im  Praktikum  mit  dem  klinischen 
Unterrichte  verglichen  worden  und  man  bat  mehrmals  den  Vorschlag 
gemacht,  juristische  Kliniken  zu  errichten.  Der  Vergleich  ist  unrichtig 
und  der  Vorschlag  undurchführbar.  Man  vergißt  daran,  daß  der  medizinische 


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Zur  Ausgestaltung  des  rechts-  und  staatswisaenschaftlichen  Studiums  etc.  375 


Student  stunden-  und  tagelang  auf  der  Klinik  weilt,  bei  interessanten  Füllen 
auch  die  Nächte  dort  zubringt,  daß  an  jeder  größeren  Klinik  eine  Schar 
von  Assistenten  und  Eleven  vorhanden  ist,  um  dem  Studenten  fortwährend 
an  die  Hand  zu  gehen.  Man  vergleiche  damit  ein  Praktikum  von  1 — 2 
wöchentlichen  Stunden  während  eines  Semesters!  Aber  auch  der  Vorschlag 
wegen  Errichtung  juristischer  Kliniken,  d.  h.  juristischer  Sprechstunden,  in 
denen  namentlich  das  ärmere  Publikum  sich  beim  Professor  in  Gegenwart 
der  Studenten  Kat  holen  würde,  ist  nicht  durchführbar.  Man  vergesse  nicht 
daran,  daß  an  die  Klinik  in  dor  Regel  nur  sogenannte  interessante  Fälle 
kommen,  bei  denen  der  Student  Beobachtungen  machen  kanu,  wie  er  sie 
als  durchschnittlicher  Arzt  in  der  Praxis  kaum  machen  könnte;  eine  solche 
Sortierung  der  Fälle  ist  bei  der  Jurisprudenz  viel  schwieriger;  auch  ist  die 
Diagnose  eines  juristischen  Falles  auf  Grund  einseitiger  Aussage  eines  Inter- 
essenten in  der  Kegel  unmöglich,  während  man  zur  klinischen  Diagnose 
doch  nur  des  Patienten  bedarf.  Man  müßte  also,  um  einen  Kechtsfall  zu 
untersuchen  und  zu  entscheiden,  auch  die  andere  Partei,  eventuell  auch  die 
Zeugen  zur  Verfügung  haben  und  es  ist  mehr  als  zweifelhaft,  ob  sieb  die 
gegnerische  Partei  oder  gar  die  Zeugen  in  den  Yortragssaai  begeben  und 
ihre  geschäftlichen  oder  strafrechtlichen  Geheimnisse  vor  einem  großen 
Auditorium  aufzurollen  geneigt  wären;  ganz  abgesehen  davon,  daß  dies  viel- 
leicht den  Interessen  der  Justiz  in  manchem  Falle  zuwiderlaufen  könnte. 

Wir  bringen  das  alles  vor,  nicht  um  die  Praktika  etwa  als  wertlos 
zu  bezeichnen,  sondern  vielmehr  um  ihren  geringen  Wert  für  dasjenige,  was 
sie  auzustreben  vorgeben,  nämlich  für  die  wirkliche  praktische  Ausbildung, 
zu  kennzeichnen.  Die  Praktika  können  höchstens,  wenn  der  eiuzelne  Fall, 
wie  eingangs  erwähnt,  allseitig  und  wissenschaftlich  behandelt  wird,  von 
Vorteil  sein,  weil  sie  dann  ebeu  dem  rein  theoretisch  gebildeten  Studenten 
eineu  Einblick  in  die  Schwierigkeit  der  Kechtsanwendung  geben;  mehr  ver- 
mögen sie  nicht  zu  erreichen,  Übrigens  ist  es  uns  iu  erster  Linie  darum 
zu  tun,  die  Praktika  ebenso  wie  vorher  die  Konversatorien  von  deu  Seminar- 
übuugeu  im  wahren  Sinne  des  Wortes  gehörig  zu  unterscheiden. 

Wie  erwähnt,  spielt  hinsichtlich  der  Art  der  Übungen  die  Natur  des 
betreßeuden  Faches  eine  wichtige  Kollo.  Wir  können  uns  beispielsweise  ein 
Praktikum  aus  dem  Gebiete  der  Kechtsgeschichte  nicht  gut  vorstellen;  es 
wäre  höchstens  eine  praktisch  sein  sollende  Spielerei.  Wir  vermögen  uns 
auch  nicht  leicht  ein  Konvorsatorium  aus  dem  Gebiete  der  Kechtsgeschichte 
vorzustellen;  denn  das  Verständnis  der  rechtshistorischen  Literatur  setzt 
vieles  voraus,  was  bei  einem  jungen  Studenten  nicht  vorausgesetzt  werden 
kann;  es  ist  viel  leichter,  in  einem  Konvorsatorium  die  Tätigkeit  der  modernen 
italienischen  kriminalistischen  Schule  oder  die  neueste  Wendung  auf  dem 
Gebiete  der  sozialen  Frage  auf  Grund  der  einschlägigen  Hauptwerke  zu 
besprechen,  als  beispielsweise  die  rechtshistorische  Richtung  von  Julius 
Ficker  u.  s.  w.  So  gelangen  wir  zur  Überzeugung,  daß  es  Fächer  gibt, 
für  die  sich  nur  Semiuarübungen  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  eignen, 
andere  Fächer,  über  die  man  nicht  uur  Semiuarübungen,  sondern  auch  Kon- 

ZeiUchrlft  f Jr  VolktwlrtMbaft,  Sozialpolitik  and  Verw«Uuog.  XU  Baad  2ü 


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376 


Ralbtn 


versatorion,  andere,  (Iber  die  man  alle  drei  Arten  von  Übungen  abhalten 
kann.  Die  Hörer,  die  sich  für  ein  gewisses  Fach  interessieren,  könnten  also 
Gelegenheit  finden,  im  Seminar  Aber  dasselbe  speziell  wissenschaftlich  zu 
arbeiten,  im  Praktikum  die  Anwendung  der  betreffenden  Norm  im  Rochts- 
leben  zu  studieren  u.  s.  w.  Auch  da  könnte  auf  das  Reispiel  der  philosophi- 
schen Fakultäten  hingewiesen  werden;  es  bestehen  dort  bekanntlich  neben 
eigentlichen  Seminarübungen  Übungen  im  Schill  vortrage,  die  fAr  künftige 
Pädagogen  bestimmt  sind. 

In  diesem  Zusammenhänge  tritt  nun  die  Redeutnng  der  einzelnen 
akademischen  Lehrmittel  hervor.  Das  allgemeine  Kolleg  bildet  eine  breite, 
wenn  auch  nicht  intensive  Grundlage,  Das  Spezialkolleg  ist  einem  Teile  des 
Faches  gewidmet  und  soll  wie  eine  Monographie,  aber  nilseitiger  als  eine 
solche,  die  Hörer  mit  der  Art  und  Weise  vertraut  machen,  wie  man  zu 
wissenschaftlichen  Ergebnissen  gelangt.  Ist  es  insofern  mit  dem  Seminar 
verwandt,  so  besteht  doch  der  Unterschied,  daß  im  Seminar  der  Professor 
die  Arbeit  der  Seminarteilnehmer  leitet,  somit  den  Ergebnissen,  zu  denen 
die  Teilnehmer  gelangen  können,  nicht  vorgreift,  im  Spezialkolleg  dagegen 
nicht  als  la-iter  fremder  Arbeit,  sondern  als  selbständiger  Darsteller  eines 
wissenschaftlichen  Problems  vorgeht.  Deshalb  legen  wir  auf  das  Spezial- 
kolleg einen  großen  Wert  und  räumen  demselben  trotz  des  Bestehens  von 
Setiiinarfibungen  eine  eigene  Stellung  ein;  es  soll  im  Spczialkolleg  in 
gewisser  Hinsicht  mehr  geleistet  werden  als  wn  Seminar,  mit  RAcksicht 
darauf,  daß  in  demselben  die  Hörer  die  Hauptarbeit  zu  verrichten  haben. 

Man  muß  sofort  liinzufAgeii,  daß  die  DiirchfAhrung  eines  so  gearteten 
Programms  und  eine  genögend  reiche  Anwendung  aller  akademischen  Lehr- 
mittel, also  Obligatkolleg.  Spezialkollegien  und  Übungen  verschiedener  Art, 
praktisch  schwer  ist.  Haben  wir  doch  erwähnt,  daß  fAr  manche  Fächer  die 
Abhaltung  von  zweierlei,  ja  sogar  dreierlei  Übungen  passend  und  nAtzlich 
wäre.  Bei  den  heutigen  Verhältnissen  ist  das  physisch  unmöglich,  nachdem 
an  den  meisten  Fakultäten  nicht  einmal  jedes  Fach  durch  einen  hiclAr 
ernannten  Professor  vertreten  ist.  Selbst  da,  wo  fAr  jedes  Fach  eine  eigene 
Lehrkanzel  besteht,  fftr  die  wichtigeren  sogar  mehrere,  entspricht  doch  diese 
große  Anzahl  von  Professoren  einer  übergroßen  Frequenz,  so  daß  auch  da 
eine  Arbeitsteilung  schwer  möglich  ist,  für  Übungen  aber  eben  mit  Rück- 
sicht auf  die  auf  jeden  Professor  entfallende  kolossale  HOreranxahl  aus- 
geschlossen erscheint.  Selbstverständlich  darf  man  Übungen  nicht  obli- 
gatorisch machen;  deunoch  würde  sich  namentlich  an  größeren  Universitäten 
immer  eine  so  zahlreiche  Teilnahme  ergeben,  daß  eine  erfolgreiche  Leitung 
durch  einen  Professor  nicht  bewerkstelligt  werden  könnte. 

Diesen  Schwierigkeiten  weicht  man  unter  den  heutigen  Umständen 
nur  dadurch  aus,  daß  man  entweder  die  eine  oder  die  andere  Art  von 
Übungen,  um  nicht  zu  sagen,  alle  Arten  derselben  vernachlässigt.  Die 
eigentlichen  SemiuarAbungcn  müssen  überall  bestehen,  selbst  wenn  dadurch 
die  Abhaltung  von  Konversatorien  und  Praktika  unmöglich  gemacht  würde. 
Man  muß  den  Standpunkt  vertreten,  daß  das  wissenschaftliche  Seminar, 


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Zur  Ausge?UUung  dea  rechte-  und  ataatawHaonachaftliehen  Studiums  etc.  377 

welches  für  die  Ausbildung  und  methodische  Schulung  durch  nichts  anderes 
ersetzt  werden  kann,  im  Programme  niemals  fehlen  darf.  Eher  kann  das 
Konversatorium  oder  das  Praktikum  entbehrt  werden,  denn  viel  leichter 
kann  sich  derjenige,  der  Seminarfibungen  mitgemacht  hat,  selbständig  das- 
jenige. was  Konversatorium  oder  Praktikum  bieten,  sichern;  das  Umgekehrte 
ist  dagegen  schwer.  Die  Möglichkeit  wissenschaftlich  arbeiten  7.11  lernen, 
muß  unbedingt  dem  Studierenden,  der  dies  wünscht,  geboten  werden; 
geschieht  dies  nicht,  dann  ist  die  Universität  keine  Hochschule  im  wahren 
Sinne  des  Wortes.  Kann  man  ihm  daneben  auch  ein  Konversatorium  oder 
Praktikum  bieten,  desto  besser;  denn  es  ist  auch  Pflicht  der  Universität, 
für  solche  Übungen  zu  sorgen.  Wenn  aber  die  vorhandenen  Kräfte  eine 
allseitige  Durchführung  des  groß  angelegten  Programms  unmöglich  machen, 
dann  muß  man  im  Zweifel  das  geringere  Übel  vorziehen  und  ein  geringeres 
Übel  ist  es,  wenn  man  Übungen,  die  keinen  wissenschaftlichen  Charakter 
im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  bähen,  fallen  läßt,  um  wenigstens  das 
wirklich  Wissenschaftliche  zu  retten. 

Der  einzige  Ausweg  wäre,  wenn  man  sich  zu  einer  Neuerung,  die 
allerdings  eine  Neuerung  im  vollen  Sinne  des  Wortes  wäre,  entschließen 
könnte,  nämlich  zu  einer  Ausgestaltung  des  Lehrkörpers  durch  Schäftung 
von  Assistentenstelle  11.  Der  Lehrkörper  der  rechts-  und  staats- 
wissenschaftlichen  Fakultäten  besteht  aus  Professoren  und  Privatdozenten. 
Die  Anzahl  der  Privatdozenten  ist  niemals  groß,  was  nicht  überraschen 
darf.  Für  die  Stellung  der  Privatdozenten  geschieht  nichts,  es  werden  nicht 
einmal  die  Dozenturjahre  angerechnet  und  die  einzige  Entlohnung  des 
Privatdozenten  besteht  in  dem  oft  ganz  fragwürdigen  Kollegiengelde.  Dadurch 
werden  die  meisten  Privatdozenten  gezwungen,  neben  der  Dozentur  eineu 
andern  Beruf  zu  wählen  und  den  größten  Teil  ihrer  Zeit  unwissenschaft- 
lichen Berufen  zn  widmen;  die  Fakultät  hat  angesichts  dieser  Umstände 
nicht  das  geringste  Recht,  auf  die  Tätigkeit  des  Dozenten  Einfluß  zu 
nehmen,  so  daß  es  zu  einer  Arbeitsteilung  zwischen  Professor  und  Dozent 
mir  in  seltenen  Fällen  kommt.  Die  medizinischen  und  naturwissenschaft- 
lichen Lehrkanzeln  sind  von  Assistenten  umgeben  und  es  kommt  häufig 
vor.  daß  der  Assistent  auch  nach  seiner  Habilitierung  in  der  früheren 
Stellung  verbleibt;  er  hat.  übrigens  schon  als  Assistent  das  Recht,  Übungen 
zu  halten.  Es  wäre  von  größtem  Nutzen,  wenn  man  an  den  rechts-  und 
staatswissenschaftliclicn  Fakultäten  besoldete  Assistentenstellen  schallen  und 
den  Assistenten  gewisse  elementare  Kollegien,  namentlich  aber  die  Abhaltung 
von  Konversatorien  oder  praktischen  Übungen  überweisen  würde,  so  daß 
die  Professoren  entlastet,  dafür  aber  in  desto  höherem  tirade  zur  Abhaltung 
eigentlicher  SeininarObungen  verpflichtet  werden  könnten.  Auf  diese  Weise 
wäre  viel  zu  erreichen.  Wenn  von  mancher  Seite,  wie  erwähnt,  für  einen 
völligen  Umschwung  des  Universitätsunterrichtes  plaidicrt,  die  systematischen 
Kollegien  bekämpft,  praktische  Übungen  in  den  Vordergrund  gestellt  und 
eine  Kombination  der  systematischin  Darstellung  mit  Übungen  gefordert 
wird,  so  ist  dies  nur  dann  durchführbar,  wenn  mehrstündige  und  verschieden 

26* 


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378 


Halban 


abgestufte  Übungen  eingeftihrt  werden.  Erscheint  auch  die  zu  weitgehende 
Bekämpfung  der  systematischen  Kollegien  ungerechtfertigt  und  vom  Stand- 
punkte der  Jurisprudenz  verfehlt,  so  muh  man  doch  zugehen,  dah  eine 
gewisse  Verschiebung  des  Schwerpunktes  des  Unterrichtes  nur  eine  Frage 
der  Zeit,  vielleicht  nicht  einmal  allzulanger  Zeit  ist.  Nicht  Abschattung, 
aber  Einengung  der  systematischen  Kollegien  wäre  möglich,  ebenso  eine 
Verstärkung  der  Spezialkollegien  und  eine  bedeutende  Ausgestaltung  der 
Übungen.  Dies  alles  ist.  so  wie  die  Dinge  sich  jetzt  verhalten,  ganz 
undurchführbar  und  deshalb  glauben  wir,  daß  man  Ober  kurz  oder  lang 
wird  daran  denken  müssen,  nicht  nur  die  Anzahl  der  Lehrkanzeln  zu  ver- 
größern, sondern  daueben  im  Interesse  der  Professoren  und  der  Studenten, 
nicht  zum  geringsten  Teile  aber  auch  im  Interesse  des  wissenschaftlichen 
Nachwuchses,  an  die  Schaffung  von  Assistenturen  zu  denken.  Soll  die 
Tätigkeit  der  Assistenten  wissenschaftlichen  Bedürfnissen  voll  entsprechen, 
dann  dürfte  auch  die  Auzahl  derselben  nicht  zu  gering  sein.  Prinzipiell 
sollte  jede  Lehrkanzel  ihren  Assistenten  haben.  Dies  würde  für  ganz 
Österreich  etwa  90—100  Assisten  bedeuten.  Veranschlagt  man  die 
Dotierung  jeder  Assistentur  mit  etwa  1000  K,  so  ist  dies  immer  noch 
kein  unerschwinglicher  Betrag,  namentlich,  wenn  gleichzeitig  für  alle 
Übungen  ein  Kollegiengeld  eingeführt  würde,  was  keinem  Bedenken  unter- 
liegen könnte. 

Damit  sind,  was  die  eigentliche  Ausbildung  anbelangt,  unsere  Vor- 
schläge erschöpft.  Man  wird  denselben  keine  Unbescheidenheit  vorwerfen 
können  und  zugestehen  müssen,  daß  auch  die  finanziellen  Erfordernisse 
nicht  übermäßig  ausfallen  würden,  wenn  man  alles,  was  hier  vorgeschlagen 
wurde,  durchführen  wollte.  Es  handelt  sich  ja  im  wesentlichen  nur  um 
drei  neue  Lehrkanzeln,  abgesehen  von  solchen,  die  schon  ohnedies  als  not- 
wendig anerkannt  sind.  Es  handelt  sich  vor  allem  um  einen  zweckmäßigen 
Lehrplan,  welcher  wiederum  nur  dann  durchführbar  ist,  wenn  die  nötigen 
Lehrkräfte  vorhanden  sind.  Hiezu  tritt  die  angeregte  Reform  der  Übungen, 
die,  wenn  sie  für  den  Anfang  bescheiden  durchgeführt  wird,  wie  erwähnt, 
nicht  mehr  als  60 — 80.000  K für  ganz  Österreich  beanspruchen  würde. 
Dazu  käme  allerdings  noch  die  Auslage  für  die  Assistenturen.  die  sich  auf 
etwa  150.000  K belaufen  würde.  Somit  würde  das  gesamte  Mehrerfordernis 
für  die  durch  den  erweiterten  Lehrplan  geforderten  drei  neuen  Lehrkanzeln, 
für  die  sachgemäße  Reform  der  Übungen  und  für  die  Assistenturen  etwa 
400.000  K jährlich  betragen,  eine  Summe,  die  iu  Anbetracht  der  hervor- 
ragenden Bedeutung  des  rechts-  und  staats  wissenschaftlichen  Studiums 
gewiß  nicht  hoch  ist.  Aber  selbst  diese  an  und  für  sich  nicht  übermäßige 
Summe  würde  sich  tatsächlich  geringer  stellen.  Die  Erweiterung  des  Lehr- 
planes müßte  sich  in  einer  Mehreinnahme  des  dem  Staate  zufallenden 
Kollogiengeldes  ausdrücken,  ebenso  die  leicht  durchführbare  Entgeltlichkeit 
der  bis  jetzt  unentgeltlichen  l'htingen;  wir  halten  sie  für  leicht  durch- 
führbar. weil  selbst  dann  die  Kosten  des  juridischen  Studiums  sich  noch 
immer  niedriger  stellen  würden,  als  z.  13.  die  des  medizinischen. 


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Zur  AuftgeMaltnng  do*  rechts-  uml  staatswis'.enjtehaftlichen  Studium»  etc.  379 


Es  sei  gestattet,  noeli  einige  Worte  über  die  letzte  Stufe  der  Aus- 
bildung, wie  sie  nach  dem  Eintritte  in  die  Praxis  erfolgt  und  erfolgen  soll, 
hinzuzuftigen.  * 

X. 

Die  Praxis  als  Abschluß  des  Studiums. 

.Sollen  die  Vorteile  eines  zweckmäßig  durchgefil Irrten  rechts-  und 
staatswissenscliaftlichen  Studiums  nicht  verloren  gehen,  so  darf  auch  die 
Praxis  ihre  Unterstützung  nicht  versagen.  Daß  die  Universität  für  die  Praxis 
die  nötige  Grundlage  bieten  soll,  ist  selbstverständlich  und  wird  niemals 
aus  dem  Auge  gelassen.  Die  theoretische  Ausbildung  hat  ja  den  Zweck, 
juristisch  Brauchbares  zu  schaffen  und  wenn  wir  darunter  vielleicht  etwas 
anderes  verstehen,  als  jene  Praktiker,  die  gewohnt  sind,  nur  die  aller- 
nächsten Zwecke  ihres  Berufes  zu  beachten.  Ho  glauben  wir  den  wahren 
Interessen  des  Ilechtslebens  für  Gegenwart  und  Zukunft  besser  zu  dienen, 
als  durch  übermäßige  Detailabrichtung,  die.  wie  die  Erfahrung  lehrt,  ohnehin 
für  praktische  Bedürfnisse  nicht  genügt. 

Es  ist  selbstverständlich,  daß  die  Ausbildung  niemals  abgeschlossen 
ist.  Wird  dieser  Grundsatz  von  jedem  Gewerbetreibenden  anerkannt,  der 
trotzdem,  daß  er  die  Berechtigung  zur  Ausübung  seines  Gewerbes  erhalten 
hat,  dennoch  trachtet,  Fortschritte  zu  machen,  so  sollte  man  annehmen  dürfen, 
daß  dasselbe  für  die  geistigen  Berufe  mindestens  ebenso  gilt.  Das  Absolvieren 
der  Prüfungen  ist  nicht  als  Abschluß  des  Itechtsstudiums  aufzufassen, 
sondern  bloß  als  Abschluß  eines,  wenn  auch  des  wichtigsten  Abschnittes, 
worauf  im  praktischen  Berufe  die  Fortsetzung  der  Ausbildung  folgt. 

Nun  muß  man  fragen,  ob  die  Praxis  dieser  Aufgabe  gerecht  wird,  ob 
sie  nicht  vielmehr  der  Erfüllung  derselben  auch  in  den  Fällen,  in  denen 
der  einzelne  sie  erfüllen  möchte,  Schwierigkeiten  in  den  Weg  setzt?  Man 
wird  die  letztere  Frage  wohl  bejahen  müssen.  Vielos  trägt  dazu  bei.  Die 
Majorität  der  Praktiker  ist  von  der  Überzeugung  durchdrungen,  daß  die 
Wissenschaft  für  das  praktische  Leben  keine  Bedeutung  hat.  Man  wird  nicht 
fehlgehen,  wenn  man  die  Geringschätzung  der  Wissenschaft  bei  zahlreichen 
Praktikern  darauf  zurückfflhrt.  daß  dieselben  wissenschaftlich  ganz  unge- 
nügend ausgebildet  sind.  Geringschätzung  geht  eben  häufig  mit  geringer 
Bildung  Hand  in  Hand.  Jene  Praktiker,  die  der  Wissenschaft  achsel- 
zuckend begegnen,  haben  während  ihrer  Studien  an  der  Universität  die  Nähe 
der  Wissenschaft  nicht  gesucht,  eher  gemieden;  sie  haben  wohl  die  Wissen- 
schaft nur  als  maluni  nccessarium  betrachtet  uud  sich  mit  dem  Minimum 
begnügt,  dessen  sie  zur  Ablegung  der  Prüfung  bedurften;  und  dieses  Mini- 
mum ist  in  vielen  Fällen  wirklich  mikroskopisch  klein.  Solche  Praktiker 
können  dann,  wenn  sie  dennoch  zu  Stellung  gelangen,  von  ihrem  Stand- 
punkte mit  Fug  und  Recht  behaupten,  daß  die  Wissenschaft  ihnen  gänzlich 
überflüssig  war.  Diese  Geringschätzung  der  Theorie  verbreitet  sich  in 
manchen  Dienstzweigen  unter  dem  Einflüsse  der  älteren  Beamten  auch  in 
den  Reihen  der  jüngeren.  Der  Anfänger  ist  von  Natur  aus  geneigt,  die 


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Halban. 


praktischen  Handgriffe,  die  er  natürlich  nicht  kennt  und  deren  Unkenntnis 
ihm  von  den  routinierten  Vorgesetzten  zum  Vorwurfe  gemacht  wird,  zu 
überschätzen.  Kr  fühlt  sich  gedemfitigt,  daß  er  trotz  intensiver  Studien  fort- 
während zurechtgewiesen  wird  und  praktisch  so  wenig  taugt;  er  überschätzt 
die  Bedeutung  dessen,  was  im  fehlt  und  was  einfach  durch  Kinarbeitung 
gewonnen  wird  und  verfällt  uach  kurzer  Zeit  in  die  übliche  Unterschätzung 
des  Wissens.  Wir  wollen  uns  keine  Kritik  der  einzelnen  Ämter  und  Dienst- 
zweige erlauben;  es  ist  aber  kein  Geheimnis,  daß  viele  Gesetze  hei  uns  nicht 
zweckmäßig  durchgeführt  werden,  weil  das  Beumtenpersonal  mancher  Ämter 
auf  die  theoretischen  und  sozialpolitischen  Grundsätze  eines  solchen  Gesetzes 
einzugehen  nicht  in  der  Lage  ist.  Die  Medizin  hat  uns  in  dieser  Beziehung 
stark  überflügelt;  vom  praktischen  Arzte  verlangen  wir  mit  liecht,  daß  er 
bei  der  Behandlung  des  Kranken  nicht  nur  das  kranke  Organ,  sondern  den 
ganzen  Menschen  ins  Auge  fasse;  für  viele  juristische  Praktiker  bildet  die 
einzelne  Angelegenheit  noch  immer  nichts  anderes,  als  ein  Exhibit,  hei 
dessen  Erledigung  sie  sich  des  Zusammenhanges  mit  dem  gesamten  sozialen 
und  Kechtslehen  gar  nicht  bewußt  sind. 

Insofern  dies  auf  älteren  Sünden  und  traditionellen  Fehlern  beruht, 
ist  eine  Abhilfe  schwer,  namentlich  da  zu  allem  noch  die  Übermäßige  L’ber- 
bürdung  hinzutritt,  die  alle  Kräfte  derart  in  Anspruch  nimmt,  daß  zu 
allgemeinerem  Nachdenken  oder  weiterer  Fortbildung  die  Zeit  fehlt.  Das 
alte  Sprichwort,  daß  mau  vor  lauter  Bäumen  den  Wald  nicht  sieht,  bewährt 
sich  auch  hier;  die  Überlastung  mit  Details,  die  für  wissenschaftliche  Aus- 
bildung schädlich  ist,  ist  es  nicht  minder  auch  für  die  praktische  Tätigkeit; 
in  beiden  Fällen  wird  dadurch  diu  Übersicht  über  das  Gauzo  und  die  Unter- 
scheidung des  Wichtigen  vom  Unwichtigen  erschwert. 

Doch  ließe  sich  so  manches  pro  futuro  ändern.  Vor  allem  müßte  man 
es  klar  heraussagen,  daß  die  praktische  Tätigkeit  in  der  ersten  Zeit.  z.  B. 
wahrend  zweier  Jahre,  ausschließlich  vorbereitenden  Charakter  hat  Die  ein- 
seitige Beschäftigung  eines  frisch  eingetretenen  Juristen  in  irgend  einem  Amte, 
wo  er  sofort  so  behandelt  wird,  wie  wenn  sein  ganzes  Leben  keinen  andern 
Zweck  hätte,  als  den  Interessen  dieses  speziellen  Departements  zu  dienen, 
muß  verhängnisvoll  einwirken.  Der  Anfänger  kommt  gar  nicht  dazu,  einen 
Überblick  über  die  gesamte,  für  den  Staat  wichtige  Tätigkeit  des  betreffenden 
Dienstzweiges  zu  gewinnen:  man  richtet  ihn  für  den  Detaildienst  ab;  os  ist 
möglich,  daß  man  ihn  auf  diese  Weise  für  dieses  Amt,  richtiger  gesagt, 
für  den  betreffenden  Teil  des  in  Frage  kommenden  Dienstes,  brauchbar 
macht;  daß  dies  auf  Kosten  seines  allgemeinen  Wertes  geschieht,  ist  selbst, 
verständlich.  Man  soll  die  ersten  Jahre  der  Praxis  als  praktische  Schulung 
betrachten  und  fordern,  daß  der  Anfänger  die  Möglichkeit  habe,  sich  eine 
eigene  Ansicht  auf  Grund  eines  allgemeinen  Überblickes  zu  verschaffen, 
somit  das  theoretisch  Gelernte  zu  vertiefen.  Dieser  Zweck  könnte  nur  durch 
eine  umfassende,  verschiedene  Gebiete  berührende  Praxis  erreicht  werden. 
Ohne  Rücksicht  darauf,  welchem  Dienstzweige  der  Kandidat  sielt  zu  widmen 
beabsichtigt,  wäre  vom  künftigen  Richter  uud  Anwalt,  ebenso  vom  künftigen 


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Zur  Ausßrataltung  Ü--,  rechts-  und  .■‘taaUwisgenschaftliehen  Studiums  etc.  :{H  1 


Verwallungsbeamteu  gerichtliche  uud  administrative  Praxis  tu  fordern.  Auf 
jedem  praktischen  Gebiete  lernt  man  andere  Verhältnisse  kennen,  aber  alle 
vereinigen  sich  im  lebendigen  Organismus  der  Gesellschaft  und  es  gibt  fast 
keinen  Fall,  wo  eine  gerichtliche  Angelegenheit  nicht  auch  soziale  und 
wirtschaftliche  Momente,  ebenso  eine  vcrwaltungsrechtliche  auch  streng 
juristische  aufweisen  würde.  Im  Leben  kreuzen  sich  die  juristischen  Kate- 
gorien derart,  daß  es  unmöglich  erscheint,  in  einer  Richtung  praktisch  tätig 
zu  sein,  ohne  die  andere  wenigstens  einigermaßen  zu  verstehen.  Es  ist  ja 
klar,  das  eine  kurze  Verwaltungspraxis  dem  künftigen  Richter  nicht  die 
Vorzüge  eines  Verwaltungsbeamten,  ebenso  eiue  kurze  Gerichtspraxis  dem 
Verwaltungsbeamtem  keine  richterlichen  Vorzüge  sichern  wird;  aber  sie 
können  auf  diese  Weise  wenigstens  einen  Begriff  erlangen  von  der  Richtung 
anderer  praktischen  Tätigkeiten  und  auf  diese  Weise  ihren  Gesichtskreis 
erweitern,  während  heutzutage  der  Eintritt  in  die  Praxis  sofort  eine  beklagens- 
werte Einseitigkeit  zur  Folge  hat  Man  darf  die  Frage  stellen,  ob  es  denn 
einem  Zufall  zu  verdanken  ist,  daß  hei  uns  die  Beamten  der  Finanzprokuratur, 
wenn  sie  sodanu  sei  es  zu  Gericht,  sei  es  zur  Verwaltung  übertreten,  all- 
gemein geschätzt  und  als  gute  Kräfte  betrachtet  werden?  Dies  beruht 
darauf,  daß  der  Dienst  bei  der  Finanzprokuratur  Gelegenheit  bietet,  gericht- 
liche, administrative,  finanzielle  und  kirchliche  Rechtsverhältnisse  kennen 
zu  lernen.  Diese  Erfahrung  wäre  auszunützen  und  deshalb  für  alle  Praktiker 
ein  mindestens  zweijähriger,  allgemein  gehaltener  Vorbereitungsdienst  anzu- 
ordnen. Nach  Absolvierung  dieses  Vorbereitungsdienstes  würde  der  Kandidat 
die  praktische  Prüfung  ablegen  und  daun  könnte  er  sich  schon  ausschließlich 
dem  gewählten  Berufe  widmen.  Aber  selbst  da  wäre  noch  immer  in  den 
ersten  Jahren  darauf  Gewicht  zu  legen,  daß  er,  sowie  es  ja  hinsichtlich 
des  richterlichen  Vorbereitungsdienstes  angeordnet  ist,  womöglich  alle  Teile 
der  Agenden  kennen  lerne. 

Zweifellos  wäre  eiue  so  geartete  praktische  Verwendung  den  Vorge- 
setzten einigermaßen  unbequem;  sie  könnten  die  ihnen  für  kurze  Zeit  zuge- 
teiltcn  Beamten  nicht  so  benutzen,  wie  es  jetzt  geschieht:  wir  geben  zu,  daß 
derartige  Hilfskräfte  geradezu  als  Ballast  für  das  betreffende  Amt  betrachtet 
werden  können.  Mit  der  Zeit  würde  man  sich  au  diese  Unbequemlichkeit 
gewöhnen  uud  ihre  weiteren  Vorteile,  die  sich  im  späteren  Stadium  äußern 
würden,  wären  gewonnen. 

Ein  guter  Lehrplan  und  eine  entsprechend  eingerichtete  praktische 
Vorbereitung  würden  sich  gegenseitig  ergänzen  zu  wahrem  Vorteile  beider. 

* * 

• 

Hieinit  beschließen  wir  diese  Erörterungen,  die.  wie  in  der  Einleitung 
gesagt,  durchaus  nicht  als  gänzlich  genügende  betrachtet  werden  können. 
Es  fehlt  in  der  einschlägigen  Literatur  nicht  an  weitergehenden  Vorschlägen, 
die  manchen  Leser  gewiß  sympathisch  berühren  und  eine  ideale  Gestaltung 
der  Dinge  anstreben,  der  man  schwerlich  die  vollste  Zustimmung  versagen 


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382 


H&lban. 


kann.  Wir  möchten  insbesondere  das  Reformprojekt  des  Prof.  Dr.  J.  von 
Rose  li  mann-  Hörbnrg  (Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Sozialpolitik  und 
Verwaltung  X)  erwähnen,  weil  dasselbe  ebenfalls  allo  hier  behandelten  Fragen 
ins  Auge  faßt. 

Pie  Durchführbarkeit  berücksichtigend,  waren  wir,  im  Gegensätze  zu 
radikalen  und  — wie  rückhaltlos  zugestanden  werden  soll  — vielfach 
besseren  Vorschlägen,  bemüht,  den  Roden  der  bestehenden  .Einrichtungen 
nicht  zu  verlassen.  Es  galt  nachzuweisen,  datl  auf  Grund  des  Beste- 
henden noch  sehr  viel  geleistet  werden  kann,  gewiß  mehr  als 
man  gewöhnlich  annimmt  — lind  daß  alle  diese  wesentlichen 
Fortschritte  verhältnismäßig  leicht  durchführbar  sind.  — 


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VERHANDLUNGEN  DER  GESELLSCHAFT 
OST E RRE IC H I SCHE R VOL KSW IRTE. 


CXXIII.  Plenarvarsammlung. 

Am  20.  Jänner  1903  referierte  Herr  1)r.  Franz  Oppenheimer  aus 
Berlin  „über  innoro  Kolonisation*. 

Als  die  zcntralo  Tatsache  des  gegenwärtigen  Kulturlebens  ist  die  Urbani- 
sierung  der  Bevölkerung  anzusehen.  Die  firoltstadtbildung  hat  in  keinem 
Lager  Freunde.  Si«  ist  vom  Standpunkte  der  höchsten  Leistung  der  Volkswirtschaft 
eine  bedenkliche  Erscheinung.  Nahrungsmittel  müssen  ans  immer  größeren 
Entfernungen  herbeigeführt  werden,  um  diese  großen  Gebilde  zu  speisen.  Die 
Großstadt  ist  immer  ein  hygienisch  höchst  mangelhaftes  Gebilde.  I)io  Mortalität 
in  den  günstigsten  Landhezirkeu  steht  tief  unter  der  der  ausgezeichnetsten 
Großstädte.  Die  Ursache  der  ürbanisiernng  ist  die  Abwanderung  vom  platten 
Lande,  die  die  Agrar-  und  dio  Industriearbeiterfrage  erklärt. 

Dio  Not  der  Großgrundbesitzer  und  der  großen  Bauern  ist  durch  den 
Preissturz  der  Agrarprodukte  und  das  Steigen  der  Arbeiterlöhne  hervorgerufen. 
Beides  ist  Folge  der  Wanderung.  Durch  die  Auswanderung  konnten  in  Amerika 
die  Felder  unter  den  Pflug  gebracht  werden,  deren  Ernten  heute  dio  europäischen 
Preise  niederwerfen,  wurden  die  europäischen  Landarbeiter  vom  Lande  fortgeführt, 
der  Lohn  der  zurückgebliebenen  erhöht. 

Die  inländische  Abwanderung  ist  eine  der  wichtigsten  Ursachen  der  sozialen 
Frage.  Die  Ansicht,  daß  das  , Kapital  respektive  dio  Maschine  Arbeiter  freisetzt“,  ist 
sichtlich  falsch.  Die  Theorie  bricht  vor  jeder  statistischen  Prüfung  zusammen, 
denn  überall  wächst  die  Zahl  der  industriellen  Arbeiter  in  allen  kapitalistisch 
entwickelten  Ländern  viel  stärker  als  die  Gesamtbevölkerung.  Dio  Industrie 
als  Ganzes  setzt  nicht  nur  — absolut  genommen  — keine  Arbeit  frei,  sic 
vermehrt  die  Zahl  der  Arbeitsplätze,  nicht  nur  im  Verhältnis  des  eigenen  inneren 
Zuwachses  ihrer  Bevölkerung,  sondern  weit  darüber  hinaus. 

Der  Druck  auf  dem  Arbeitsmarkte  rührt  nur  von  der  ungeheuren  Abwan- 
derung her,  diese  schafft  jeno  „Snrplus-Bovölkernng“,  ohne  deren  Vorhandensein 
Geld  respektive  Produktionsmittel  gar  nicht  „Kapital“,  d.  h.  Mehrwert,  heckender 
Wert  wären.  Ohne  Stopfung  dieser  Zuwanderung  in  die  Industriebezirke  ist  eine 
Heilung  der  sozialen  Lage  der  Arbeiter  oder  auch  nur  eine  gründliche  Besserung 
dieser  Lage  nicht  möglich. 


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Verhandlungen  der  Gesellschaft  rtstt-rreichischer  Volkswirte. 


*384 


„As  luiig  a*  Immigration  endurot,  it  wonld  be  must  diflicult  and  almost 
wholly  iinpossible  tu  organize  unskilled  labor.“ 

Nun  ist  aber  die  Wanderung  eine  direkte  Folge  derGrund- 
e i ge  ii  t u m » v e r t e i 1 u u g.  Die  Wanderung  ist  immer  starker  vom  Groß- 
grundbesitze als  vom  Bauerubesitze  und  vom  größeren  Bauern  besitz  immer 
größer  als  vom  kleinen.  „Die  Wauderung  wächst  mit  dem  Quadrate  des  Groß- 
gruiideigeutums.“  Von  den  zirka  14  Millionen  Auswanderern,  die  in  den  letzten 
80  Jahren  des  19.  Jahrhunderts  sich  in  Amerika  angesicdelt  haben,  sind  mindesten.“ 
10  bis  11  Millionen  Auswürflinge  aus  den  Bezirken  des  Großgrundeigeiitumy, 
(Irland,  Ostelbien,  Italien,  in  neuerer  Zeit  Galizien,  Rußland,  Ungarn).  Die  Rache 
dieser  Ausgestoßeiien  war  die  „amerikanische  Konkurrenz“,  die  die  Preise  warf, 
und  der  jetzt  ihre  alten  Herren  wehrlos  gegenüber  stehen.  Dieselbe  Auswanderung 
und  die  noch  viel  stärkere  inländische  Abwanderung  hat  die  Arbeitskräfte  fort- 
geliihrt.  mit  denen  die  europäische  Landwirtschaft  allein  jener  Konkurrenz  durch 
Übergang  zum  intensiveren  Betriebe  sich  hätte  entziehen  können.  Wo  diese 
Arbeitskräfte  vorhanden  sind,  d.  h.  im  Bauernbezirk,  namentlich  in  der  mittleren 
bäuerlichen  Wirtschaft,  hat  diese  Konkurrenz  keinen  Schaden,  sondern  nur  Nutzen 
gebracht,  wie  die  dänische  Bauernwirtschaft  beweist,  die  ihre  Kdclproduktion  an 
Vieh  und  namentlich  Molkerei-Erzeugnissen  geradezu  auf  dem  Import  des  billigen 
amerikanischen  Kornes  und  Maises  aufgebaut  hat  und  heute  noch  ohne  jeden 
Schutzzoll  im  höchsten  Flor  dastellt. 

Dein  Großbetrieb  fehlen  dafür  qualitativ  und  quantitativ  genügende  Arbeits- 
kräfte; er  muß  der  Konkurrenz,  der  er  nicht  ausweichen  kann,  erliegen.  Alle 
Schutzzölle  werden  da  nicht  helfen;  sie  werden  den  Fall  nicht  aufhaltcn,  sondern 
nur  verzögern,  der  aber  dann  nur  um  so  härter  sein  wird. 

Darum  sind  Groß grundoigon tum  in  irgend  größerem  Um- 
fange und  Freizügigkeit  völlig  unvereinbar.  Der  Großgrundbesitz 
ist  eine  feudale  Machtposition,  der  letzte  Rest  einer  überwundenen  Gesellschafts- 
Verfassung,  und  stört  als  solcher  die  Harmonie  der  sozialen  Funktionen.  Diese 
Störungen  nennen  wir  die  soziale  Frage.  Da  es  nun  unmöglich  sein  wird,  die 
Freizügigkeit  den  Völkern  Westeuropas  wieder  zu  nehmen,  gibt  es  nur  ein  Heil- 
mittel : innere  Kolonisation;  aber  nicht  eine  Kolonisation  von  Häuslern, 
von  Arbeitern,  die  dauernd  auf  Lohnarbeit  bei  dem  Großgrundbesitzer  angewiesen 
bleiben,  sondern  durch  eine  entschiedene  Verminderung  des  großen  Grundeigentums. 

Eine  Kolonisierung  in  geringerem  Maßstabe  kommt  nur  auf  eine  Sanierung 
verkrachter  adediger  Vermögen  hinaus;  aber  große  Mengen  auf  einmal  zu  parzel- 
lieren, dagegen  wehren  sich  die  Herren. 

Das  Tempo,  in  welchem  die  preußischen  Behörden  die  innere  Kolonisation 
betreiben,  ist  durchaus  kein  solches,  das  dem  Junkertum  irgend  welche  Gefahr 
brächte. 

Trotzdem  sie  mit  unbegrenzten  Mitteln  arbeiten,  ihre  Beamten  aus  Staats- 
mitteln erhalten  werden  und  eine  große  Anzahl  unbesoldeter  Beamter  sie  ehren- 
amtlich unterstützt,  sind  die  Resultate  winzig.  Nach  dem  Rentengütergesetz  sind 
im  ganzen  9214  Bauern  angesiedelt  worden:  von  der  Ansiedlungskommission 
wurden  in  toto  zirka  40U0  bäuerliche  Güter  geschaffen.  Der  Versuch,  auf  diesem 


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fXXIIL  Plenarversammlung. 


385 


Wege  io  getniaiiisiereii,  liictet  sehr  wenig  Aussichten  auf  Gelingen.  Das  Resultat 
der  Tätigkeit  der  Ansiedlnngskommission  war  eine  enorme  Steigerung  der 
Güterpreise  gewesen,  toii  der  diu  Polen  profitiert  haben.  Ferner  haben  polnische 
Großgrundbesitzer,  die  toii  der  Ausiodlnngskonimissioti  ausgekauft  waren,  sich 
sofort  mit  dem  hoben  Erlös  an  anderer  Stelle  derselben  Provinzen  wieder  angekauft, 
zum  Teil  auf  Gütern,  die  vorher  in  deutscher  Hand  gewesen  waren.  Das  Ergebnis 
war  hier  also  die  Schäftung  einer  starken  national  polnischen  Wirtschaft  an  Stelle 
einer  schwachen.  Überdies  hat  die  Politik  der  Ansiedlungskoiiiinission.  im  wesent- 
lichen größere  Bauerngüter  zu  schäften,  die  Gesinde  bedürfen,  geradezu 
zu  einer  Polonisierung  der  iieugcschalfouen  deutschen  Ortschaften  geführt,  da 
deutsches  Gesinde  nicht  zu  erhalten  ist  und  poluischos  billiger  und  williger  ist. 

Die  Polonisierung  schreitet  am  stärksten  in  den  Grollgrundbesitzen  vor. 
Germanisierung  und  Erhaltung  des  Groügrundeigentums  in  den  polnischen 
Provinzen  können  nebeneinander  nicht  bestehen. 

Innere  Kolonisation  und  Gennanisation  bei  gleichzeitiger  Erhaltung  des 
grollen  Grundeigentums  in  bedeutendem  Einfang  ist  unmöglich. 

Enter  der  Voraussetzung,  dal!  man  sich  klar  macht,  daß  das  grolle  Grund- 
eigentum geopfert  werden  mall,  läßt  sich  eine  Methode  der  Besiedlung  linden,  die 
den  heutigen  Methoden  Torzuziehen  wäre.  Jetzt  schafft  mau  selbständige  Bauern, 
die  ein  römisch-rechtliches  Eigentum  erhalten.  Dieses  Verfahren  ist  von  vielen 
Gesichtspunkten  ans  unbequem.  Ein  Gut  zu  parzellieren,  ist  eine  sehr  heikle, 
sehr  kostspieligo  und  sehr  zeitraubende  Arbeit.  Viele  Werte  werden  vernichtet, 
Kapital  geht  verloren,  die  Schwierigkeit,  Ansiedler  zu  bekommen,  ist  sehr  groß. 
Man  muß  von  den  einzelnen  ein  bedeutendes  Investitionskapital  verlangen,  und 
das  den  Leuten  zur  Verfügung  stehende  Kapital  reicht  oft  nicht  aus.  Wir  sehen 
also  eine  ganze  Reihe  von  Schwierigkeiten  bei  der  Parzellierung. 

Dem  gegenüber  empfiehlt  Redner  mindestens  als  Übergangsstadiiiui  die 
Organisation  von  Arbeiterproduktivgenossenschaften  in  etwas  modifizierter  Form. 
Eine  solche  Arbeiterprodnktivgenossenschaft  bietet,  wenn  sie  auch  keine  oder 
nnr  geringe  Anzahlung  leistet,  eine  glänzende  Kreditbasis.  Wenn  man  die  Leute 
in  den  ersten  zehn  Jahren  abhält,  Dummheiten  zu  machen,  stramme  Disziplin 
hält,  sie  während  dieser  Zeit  nur  insofern  als  Genossen  behandelt,  als  an  sie 
der  gesamte  Reinertrag  pro  rata  ihrer  Leistungen  verteilt  wird,  wenn  man 
dann  noch  kleinere  Genossenschaften  für  Konsnmartikel,  Düngereinkanf,  für 
Viehzucht,  für  Samenankauf  etc.  einrichtet  und  den  Leuten  dabei  in  gewisser 
Richtung  freie  Hand  läßt,  um  sie  allmählich  zu  einer  vernünftigen,  selb- 
ständigen Wirtschaft  heranzuziehen,  so  werden  sich  die  Vorteile  einer  solchen 
Organisation  bald  zeigen.  In  Westfalen  besteht  ein  ähnliches  Arbeitsvorhältnis 
zwischen  den  großen  Gütern  und  den  sogenannten  Heuerlingen.  Diese  haben 
vom  Gute  Land,  zirka  8 bis  12  Morgen  gepachtet,  sie  sind  verpflichtet,  gegen 
einen  bestimmten  Lohn  jeden  Tag  auf  dem  Gute  zu  arbeiten  und  zahlen  ihrerseits 
eine  bestimmte  Pachlsumme  für  das  Haus  und  Grundstück,  das  sie  in  Pacht 
haben.  Das  ist  eine  ganz  ansgezeichnet  bewährte  Wirtschaftsform. 

Die  reine  Arbeiterproduktivgenossenschaft  soll  mit  einer  dieser  Heucrlings- 
Verfassung  angenäherten  Organisation  verbunden  werden;  die  Arbeiter  Genossen 


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386 


Verhandlungen  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkswirte. 


sollen  nicht  bloß  Teilarbeiter  des  großen  Zcutralbctriebes  werden,  sondern  die 
Mehrzahl  von  ihnen  soll  kleine  Stellen,  je  nach  der  Bodenqualität  1 */*  his 
3 Hektar,  in  Erbpacht  erhalten,  die  sie  unter  eigener  Verantwortung  bewirtschaften. 
Der  Best  des  Objektes  bleibt  im  Gemeinbesitz  und  zunächst  im  Gemeinbetrioh«, 
wobei  der  Heinertrag  pro  rata  der  Löhne  zu  verteilen  wäre.  Die  Durchführung 
dieses  Vorschlages  sei  leicht  und  rasch  möglich,  sie  erspart  Bauten,  Land  und 
Inventar  bietet  und  begünstigt  das  Zuströmen  neuer  Arbeiter.  Wenn  auch  der 
bäuerliche  Betrieb  dum  privaten  Grollbetrieb  überlegen  ist.  gilt  dies  doch 
nicht  gegenüber  dem  genossenschaftlichen  Großbetrieb.  Ist  es  möglich,  die 
Arbeiter  eines  Großbetriebes  zu  derselben  Sorgfalt,  Arbeitsenergie  und  Sparsamkeit 
zu  erziehen,  wie  sie  der  einzelne  Bauer  aufwendet,  dann  werden  diese  Vorteile 
die  landwirtschaftliche  Produktivgenossenschaft  der  Produzentengenossenschaft 
selbständiger  Bauern  überlegen  machen. 

Wo  heute  herrschaftlicher  Großbetrieb  besteht,  dort  wird  der  genossen- 
schaftliche Großbetrieb  mindestens  für  die  Anfangszeit  und  vielfach  auf  die  Dauer 
eine  der  Zerteilung  vorzuzioheude  Form  der  inneren  Kolonisation  darstellen. 
Denn  die  angesiedelteu  Genossen  haben  hier  an  dem  Reinerträge  dasselbe  oder 
doch  fast  dasselbe  Interesse  wie  der  einzelne  Bauer,  da  auch  ihnen  der  volle 
Rrtrag  ihres  Arbeitsfleißes  znfließt  Es  dürfte  sich  das  Großkapital  in  der  aller- 
nächsten Zeit  dieses  Gedankens  bemächtigen.  Schon  heute  legt  eines  der  größten 
Geldinstitute  Kapital  in  der  genossenschaftlichen  Kolonisation  au,  allerdings  noch 
nicht  in  Produktivgenosseiischaflen.  sondern  in  rroduzcntengenossenschaften. 
Bei  genossenschaftlicher  Kolonisation  besteht  auch  nicht  die  Möglichkeit,  das 
Gut  zu  verkaufen  oder  zu  verschulden. 

Das  Bedenken,  daß  man  für  die  Disziplin  der  Genossenschafter  nicht 
einsteheu  könne,  werde  durch  die  Geschichte  der  bisherigen  Versuche  widerlegt. 

Der  Bauer  ist  das  Mark  der  Bevölkerung,  die  Grundlage  jeder  politischen 
Gesundheit  und  Kraft.  Wir  haben  alle  Ursache,  Bauern  überall  hinzusetzen,  wo 
dies  nur  möglich  ist.  Wir  können  nichts  Besseres  tun,  als  mit  vereinten  Kräften 
zu  fördern,  was  die  Schärfe  der  sozialen  Frage  zn  mildern,  vielleicht  zu  lösen 
geeignet  ist:  die  innere  Kolonisation! 

CXXIV.  Plenarversammlung. 

Am  27.  Jänner  1903  hielt  Herr  Universitätaprofessor  Dr.  Schwiedland 
einen  Vortrag  „Ober  Mindostlohnsätze  für  Heimarbeiter“. 

Einleitend  wies  der  Vorsitzende  Hofrat  Prof.  v.  Philippovich  auf  den 
Streik  der  Konfektionsarbeiter  hin.  Eine  Erhellung  des  arbeitsstatistischen  Amtes  hat 
die  Verbesserungsbedürftigkeit  ihrer  Lage  dargetan,  aber  eine  Verbesserung  könne 
nicht  einseitig  erzwangen  werden.  Nun  seien  zwischen  den  Unternehmern,  den 
Stückmeistern  und  Arbeitern  Verhandlungen  im  Gange,  auf  allen  Seiten  sei  das 
ernste  Bestreben  vorhanden,  zu  einem  befriedigenden  Abschlüsse  zu  gelangen.  Dies 
sei  nur  dann  erreichbar,  wenn  die  Organisation  der  Unternehmer  und  diu  Organisation 
der  Arbeiter  einander  als  zwei  vertragschließende  Teile  gegenüberstehen.  Derartige 
Vereinbarungen  gehen  schließlich  zum  Wohle  der  Beteiligten  aus  uud  schaffen 


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(.'XXIV  Plenarversammlung. 


387 


«in  gute«  Verhältnis  zwischen  Unternehmern  und  Arbeitern.  Solche  Tarifver- 
einbarnugcn  bestehen  auswärts  in  größerem,  bei  nns  in  kleinerem  Maßstabe,  aber 
nnr  dort,  wo  gute  Organisationen  auf  beiden  Seiten  vorhanden  sind.  Wir  sehen 
jetzt  die  merkwürdige  Erscheinung,  daß  Arbeiter,  deren  Arbeitsverhültnisse  außer- 
ordentlich kompliziert  sind,  deren  Organisationsfähigkeit  man  sehr  oft  bezweifelt 
hat,  eine  Organisation  schaffen,  am  die  vereinbarten  Arbeitsbedingungen  dauernd 
zu  erhalten.  Anf  Seite  der  Unternehmer  wird  dieses  Bestreben  durchaus  nicht 
mißgünstig  beurteilt,  der  Zweck  des  heutigen  Vortrages  ist,  zu  zeigen,  daß  solche 
Vereinbarungen  nnr  nnter  gewissen  Voraussetzungen  möglich  sind,  und  daß  es 
außerordentlich  wünschenswert  sei,  daß  jene  Tendenzen,  die  heute  in  Wien  inner- 
halb der  Konfektioiisbranche  als  herrschende  bezeichnet  werden  dürfen,  auch  zu 
eiuem  praktischen  Erfolge  gelangen. 

Professor  Dr.  Scbwiedland  zeigt,  wie  seine  Forderung  von  verbindlichen 
Mindestlohnsatzuugen  für  Hausindustrie  oder  Verlagsarbeit  in  der  Literatur  Anklang 
gefunden  habe.  Er  unterscheidet  private  und  öffentliche  Mindestlohnsatzungen,  ln 
den  filteren  Weltteilen  haben  sie  sich  bisher  in  vertragsmäßigen  Formen  verwirklicht: 
kraft  Vereinbarung  zwischen  den  unmittelbar  Beteiligten  (Tarifgemeinschaften, 
rKollektive  Arbeitsverträge“;,  oder  kraft  der  vertragsuiäßig  respektierten  Willens- 
äußerung öffentlicher  Körperschaften  als  Besteller  (Fairwages-Klausol).  Hingegen 
sind  staatliche  Mindestlohnsatzuugen  die  Einführung  von  Grenzen,  unter  welche 
der  Einheitslohn  kraft  öffentlich-rechtlicher  Verfügung  nicht  sinken  darf.  Es  (luden 
sich  dafür  zwei  Systeme  in  Australien.  In  Viktoria  haben  Kommissionen  von 
fachkundigen  Unternehmern  nnd  Arbeitern  Vorschriften  für  das  ganze  Gewerbe 
zn  erlassen;  in  Neuseeland  haben  Eiuigungsämter  und  ein  Schiedsamt  Tarifgemein- 
schaften zu  befördern  beziehungsweise  die  Arbeitsbedingungen  durch  Schiedsspruch 
zu  regeln.  Zweck  ist  dort  Hebung  der  Löhne  und  die  Festsetzung  der  Yerhältnis- 
zabl  zwischen  Arbeitern  und  Lehrlingen,  hier  Beseitigung  des  barbarischen  Lohn- 
kauipfes  , Arbeitseinstellungen  und  -aussperrungetr)  durch  ein  besonderes  Verfahren, 
dort  Überwachung«  durch  Inspektoren,  hier  Erzwingbarkcit  des  Vertrages  vor  dem 
Zivilgericht.  In  Viktoria  werden  die  Konimissionen  von  Staats  wegen  für  bestimmte 
Gewerbe  eingesetzt.  Dio  Satzung  gilt  jeweils  für  die  Ortschaften,  für  welche  sie 
kniidgemacht  wird.  In  Neuseeland  bestehen  sieben  lokale  Einigungsämter  nnd 
ein  Schiedsamt.  Das  zuständige  Einigungsamt  bemüht  sich,  einen  Tarifvertrag 
zwischen  den  Streitteilen  zn  stände  zn  bringen.  Mißlingt  dieser  Versuch,  so  wird 
die  Angelegenheit  von  Amts  wegen  an  das  Schiedsamt  geleitet.  Dieses  kann  die 
Arbeite-  und  Lohnbedingungen  für  sämtliche  Arbeiter  nnd  Unternehmer  des  Gewerbes 
und  aucli  der  verwandten  Gewerbe  verbindlich  festsetzen,  und  zwar  die  Löhne 
in  ihrer  konkreten,  tatsächlichen  Höhe,  oder  zulässige  unterste  Lohngrenze  bestim- 
men. Auf  Grund  staatlicher  Ermächtigung  setzen  somit  diese  Behörden  — Kommis- 
sion beziehungsweise  Schiedsamt  — den  Inhalt  der  Arheitsverträge  autoritativ 
fest.  — Die  Minimalsätze  sind  in  Neuseeland  in  der  Hegel  so,  wie  durchschnitt- 
liche Arbeiter  sie  tatsächlich  bereite  flüher  bezogen  haben,  die  Gewerkschaften 
hingegen  sind  bestrebt,  diesen  Satzungen  den  Verdienst  guter  Arbeiter  zu  Grund« 
legen  zu  lassen.  In  Viktoria  wurden  starke  Erhöhungen  der  unteren  Löhne  in 
lokalen  Gewerben  Bäckerei.  Maßschneiderei)  ohueweiters  beschlossen. 


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Verb Rn dlnngeo  der  Gesellschaft  Asterreichisoher  Volkswl rte 


S88 


Die  Folgen  einer  solchen  Maßregel  können  sein:  Umgehung  der  Satzung; 
Verteuerung  des  Erzeugnisses;  Entfaltung  der  maschinellen  Ausrüstung;  Auslese 
unter  den  Arbeitskräften ; Anslese  unter  den  Betriehen  (Untergang  der  leistungs- 
unfähigsten). 

Vorteile  solcher  staatlicher  Mindestlohnsatzungen  sind:  Allgemeinheit  der 
Wirkung;  Versuche  einer  gütlichen  Vereinbarung;  Billigkeit  des  Unparteiischen, 
der  die  Entscheidung  fällt;  Kontrolle  der  Öffentlichkeit;  Ruhe  der  Verhandlung 
ohne  Arbeitsunterbrechung;  geringer  Zeitaufwand;  Vermeidung  aller  Verluste,  der 
Erbitterung  des  Lohnkampfes.  Speziell  in  der  Verlagsindustrie  können  die  Arbeiter 
aus  eigener  Kraft  durch  ihre  Organisation  7.u  Tarifverträgen  mit  den  Faktoren, 
'/.wisehenmeistoni  und  Verlegen!  nicht  gelangen. 

In  Ktfropa  hat  man  es  mit  freien  Tarifvereinbarungen  probiert.  Sie  waren 
in  der  Hausindustrie  nicht  von  Dauer.  So  beruhte  der  „Zentralverband  der 
Ktickcreiindnstrie  der  Ostschweir.  und  des  Vorarlbcrges“  auf  der  ausschließlichen 
Beschäftigung  von  Verbandsmitgliodern,  einem  Normalarbeitstag  und  einem  Mini- 
mallohn.  Als  der  Verband  zerfiel,  wurde  das  Lohnminimum  aufgehoben. 

In  Gablonz  haben  die  Erzeuger  von  Lnsterbehängen  und  Waren  aus 
Kristallglas  1897  die  Mindestpreise,  zu  welchen  sie  an  die  Exporteure  liefern, 
sowie  die  Mindestlöhtic,  die  sie  den  Arbeitern  bezahlen  sollten,  durch  eine 
Konvention  festgelegt.  Seit  die  Vereinbarung  seitens  der  Exporteure  gesprengt 
wurde,  vollzog  sich  rasch  die  Abbröckelung;  man  beschäftigt  nur  die  wohl- 
feilsten Vcrlagsarheiter;  das  Arbeitseinkommen  der  Leute  sank  in  kurzer  Zeit 
bei  der  gleichen  Leistung  auf  die  Hälfte.  Die  Mindestlöhne  sind  den  Arbeitern, 
anderseits  den  bereits  eingefübrten  Verlegern  von  Vorteil.  Dagegen  unterbietet 
jeder  aufstrebende  Verleger  die  bestehenden  Löhne.  Fflr  die  nämliche  Arbeit 
bestehen  für  verschiedene  Verleger  Lohndifferenzeil  bis  zu  30  Proz.  Der  kleine 
Verleger  beeinflußt  die  Lohnbewegung  entscheidend. 

Bei  Einführung  verbindlicher  Mindestlohnsätze  würde  man  wissen,  wie 
weit  das  Untergebot  aufstrebender  kapitalloser  Verleger  gehen  kann.  Da  besser 
bezahlte  Leute  besser  arbeiten,  würde  die  Qualität  der  Erzeugnisse  sich  heben; 
Der  Anteil  der  Arbeit  an  den  Gestehungskosten  ist  in  den  verschiedenen  Gewerben 
sehr  verschieden.  Kr  ist  in  der  Leinen-  nnd  Ranmwollweherci  sehr  gering,  in 
der  Glaskur/.warenindustrie,  bei  der  Erzeugung  ganz  feiner  Fleehtwaren  oder  Spitzen 
hoch.  So  betrügt  der  Lohn  des  mährischen  Webers  bloll  Iß1/,  Proz.  des  Preises. 
Hier  wäre  eine  „starke“  Lohnerhöhung  zulässig. 

Die  Lohnsatzung  müßte  zugleich  Preissatzung  sein,  weil  das  Kaufverhältnis 
in  der  Verlagsarboit  sehr  häufig  ist:  ebenso  dort,  wo  die  Arbeiter  den  Rohstoff 
selbständig  kanfen,  wo  sic  ihn  ans  der  eigenen  Wirtschaft  (Stroh,  Holz)  beistellen. 
Eine  organisatorische  Schwierigkeit  begründen  jene,  die  hinter  dem  Durchschnitt 
der  Arbeiterschaft  Zurückbleiben,  die  Mindertücbtigen.  Schwachen.  Alten,  Unintelli- 
genten. Der  Warenverkäufer  muß  bei  gleichen  Preisen  eine  entsprechendere 
Qualität,  der  Arbeiter  seinem  Käufer  mehr  Produkte  bieten. 

Eine  besondere  Schwierigkeit  ist,  daß  unsere  Hausindustrien  vielfach  Waren 
hersteilen,  welche  der  Mode  ausgesetzt  sind.  Hier  ist  es  nun  auch  äußerst  schwierig, 
autoritäre  LohnsStze  in  Vorschlag  zu  bringen,  es  könnte  höchstens  eine  Auseinander- 


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fXXIV.  Plenarversammlung. 


3B9 


svtzung  uiit  einem  Ausschuß  der  eigenen  Arbeiterschaft  in  Betracht  kommen.  Solche 
Arbeiterausschüsse  linden  sich  aber  bisher  in  der  Hausindustrie  nicht.  Es  müßten 
tlaher  organisatorische  Bestimmungen  in  die  Arbeitsordnung  aufgenommen  werden. 

Eine  weitere  erhebliche  Schwierigkeit  würden  in  Gegenden  armer  und 
wirtschaftlich  einsichtsloser  Verlagsarbeiter  sinkende  Konjunkturen  begründen, 
da  bei  solchen  die  Arbeitsbedingungen  derart  verschlechtert  werden,  daß  sie 
auch  bei  einer  Besserung  des  Marktes  sich  nur  äußerst  schwer  heben  lassen. 
I.olinsatznngen  würden  sicher  häufig  umgangen  werden. 

Die  Gefahr,  daß  eine  Verlagsindustrie  abgewamlert,  wenn  ihre  Lehne  erhöht 
werden,  ist  nicht  schlechthin  zu  verallgemeinern. 

Lohusatzungen  haben  besonders  zwei  Vorteile:  die  Verlagsindustrien  würden 
zu  höheren  Prodnktionsformen  — zu  motorischem  Betrieb,  zur  Werkstatt  oder 
Fabrik  — übergehen;  dadurch  käme  der  Vorteil  halbwegs  gerechter  Löhne. 
Ileferent  rekapituliert;  Die  Lohnsatzungen  müssen  öffentlich  rechtliche  sein.  Sie 
dürfen  keine  starren  schematischen  Verfügungen  sein  und  dürfen  nicht  allznrasch 
verallgemeinert  werdeu.  Die  Gesetzgebung  hat  die  rechtlichen  Handhaben  znr  Ein- 
führung von  Mindcstlohnsatzungen  zu  schaffen.  Die  Einleitung  des  Verfahrens 
wäre  der  Initiative  der  Interessenten  zu  überlassen,  die  Festsetzung  der  Satzung 
durch  die  Beteiligten  individualisierend  vorzuuehmen,  ihre  Durchführung  aber 
durch  die  Machtmittel  des  Staates  auf  dem  Gebiet«  der  Justiz  wie  der  Verwaltung 
zu  gewährleisten.  (Lebhafter  Beifall  und  Händeklatschen.) 

In  der  hierauf  folgenden  Diskussion  macht  Kommerzialrat  Siegmnnd  Mayer 
vom  Stand  des  Schneiderstreiks  Mitteilung  und  erklärt,  daß  am  Vormittag  ein  Lohn- 
tarif vereinbart  worden  sei  (Bravo!),  wenn  auch  unter  schweren  Kämpfen.  Dieser  Kampf 
sei  nicht  so  sehr  zwischen  den  Konfektionären  und  den  Arbeitern,  als  vielmehr  unter 
den  Konfektionären  selbst  geführt  worden.  Die  Exporteure  zahlen  ohnedies  Löhne, 
welche  den  Tarif  übersteigen,  da  sie  besonders  auf  gute  Ware  halten  müssen.  Auch  die 
Kngroskonfektionäre  zahlen  zum  größten  Teile  keine  schlechten  Löhne.  Erst  die  Detail- 
konfektionäre  und  von  diesen  wieder  nur  die  kleinen  Detailkonfektionäre,  besonders 
draußen  in  den  Vorstädten,  zahlen  Schundlöhne.  Die  Schwierigkeit  lag  darin, 
diese  verschiedenen  Interessenten  nuter  einen  Hut  zu  bringen  und  eine  Kontrolle 
über  die  Einhaltung  der  Lohntarife  auzuführen.  Es  unterliegt  nicht  dem 
geringsten  Zweifel,  daß,  wenn  die  Konfektionäre  den  Kampf  aufgenommen  hätten, 
die  Arbeiter  sofort  unterlegen  wären ; sie  waren  aber  zu  allen  Konzessionen  bereit, 
vorausgesetzt,  daß  an  der  Institution  der  Stückmoister  nicht  gerührt  werde. 

Kaimnersekretär-Stellvertreter  Dr.  v.  Tayenthal  meint,  von  Tarifverein- 
harungen in  der  österreichischen  Konfektionsbranche  könne  ein  dauernder  Erfolg 
kaum  erwartet  werden.  Es  fehlt  an  gesetzlichen  Mitteln,  um  den  Vereinbarungen 
der  Interessenten  die  Dnrchsetzbarkeit  zu  gewähren.  Die  Schwierigkeiten  bereiten 
feiner  die  große  Anzahl  der  Beteiligten,  die  Kontrolle  und  dio  Schwäche  der 
Itevölkorungskreise,  die  dem  Lohndrncke  leicht  nachgebon.  Der  Staat  müßte 
eine  Vereinbarung,  die  ausschließlich  aus  der  Initiative  der  Interessenten  bervor- 
geht  und  die  Zustimmung  der  Majorität  derselben  gefunden  hat,  zwangsweise 
durchführen,  wie  er  z.  It.  Gemeinden  und  Ländern  bei  Durchführung  ihrer  autonom 
gefaßten  Beschlüsse  mit  seiner  Zwaugsgewalt  zur  Seite  steht. 


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300  Verhandlungen  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkswirte. 

Redner  weist  noch  auf  einen  Vcrsnch  hin.  der  gemacht  wurde,  um  Mindest- 
lohnsätze in  einer  Branche  durchzusetzen,  und  der  darauf  abzielt,  «in  einzelnes 
Zwischenglied  zwischen  den  Verleger  und  den  Arbeiter  zu  setzen:  die  Verknufs- 
geuossenschaft  in  der  Perlenbranche  der  Gablonzer  Industrie,  deren  Krfolg  ein 
grullartiger  war. 

Es  wäre  doch  zn  erwägen,  ob  nicht  im  Wege  einer  ähnlichen  Organisation 
auch  in  der  Koufektionshranche  ein  günstiger  Krfolg  zn  erzielen  wäre. 

Vorsitzender  Hofrat  Prof.  Dr.  v.  Ph iiippovich  verweist  darauf,  daß  in 
Genf  im  Jahre  1900  ein  Gesetz  erlassen  wurde,  das  Tarifvereinbarungen  zwischen 
organisierten  Unternehmern  und  organisierten  Arbeitern  bindende  Kraft  für  die 
ganze  Branche,  auch  für  solche,  welche  der  Organisation  nicht  angehören,  gibt. 
Wer  die  Vereinbarungen  nicht  einhält,  wird  mit  Polizei-  eventuell  mit  Strafen 
nach  dem  Strafgesetze  behandelt.  Kr  befürwortet,  daß  wenn  Vereinbarungen  nicht 
zu  stände  gekommen  sind,  nachdem  der  Behörde  das  ganze  Material  der  beider- 
seitigen Interesaentengruppen  vorgelegt  wurde,  schlieslicU  auch  durch  einen 
behördlichen  Kutscbeid  eine  Lohnfivierung  .stattfinden  könne.  Das  Koalitionsgesctz 
sei  für  die  Einhaltung  der  Vereinbarung  kein  Hindernis.  Wenn  Unternehmer 
und  Arbeiter  miteinander  Vereinbarungen  treffen,  seien  das  privatreehtlich  bindende 
Verträge.  In  einem  solchen  Vertragsbrüchigen  Vergehen  des  Unternehmers  liege 
ein  nnlaulerer  Wettbewerb.  Auch  sollten  die  Genossenschaften  gegen  Mitglieder, 
die  in  solcher  Weise  die  Standesehre  verletzen,  dis/.iplinarweise  Vorgehen. 

Solange  eine  Strafsanktion  für  die  Nichteinhaltung  nicht  besteht,  wäre  es 
nicht  unmöglich,  unlauteren  Wettbewerb  der  Unternehmer  öffentlich  kund  zn 
machen. 


C XXV.  Plenarversammlung. 

Am  10.  Februar  1 903  stand  ein  Referat  des  Herrn  Alfred  Ostersetzer: 
.Uber  die  Aufnahme  der  Barzahlungen"  auf  der  Tagesordnung. 

Das  Thema,  sagt  der  Vortragende,  ist  ein  so  ungeheures,  daß  nicht  die 
Möglichkeit  vorhanden  ist,  es  nach  allen  Seilen  hin  zu  erschöpfen.  Ks  soll  nur 
die  Hauptfrage  behandelt  werden:  Sind  wir  heute  befähigt,  die  Barzahlungen 
aufzunehmen,  und  ist  der  gegenwärtige  oder  ein  nulie  bevorstehender  Moment 
hiezu  geeignet?  Sie  hängt  auf  das  engste  mit  der  Zahlungsbilanz  zusammen. 
S p i t z m ü 1 1 e r bezeichnet  sie  als  passiv,  indem  er  alle  übersehbaren  ständigen 
Verpflichtungen  der  Monarchie  im  internationalen  Zahlungsverkehr  den  überseh- 
baren ständigen  Eingängen  gegenüberstellt.  Gleichwohl  aber  hat.  sich  während  der 
letzten  Jahre  ein  kolossaler  Importüberschuß  an  Gold  bei  uns  angesammelt  und 
in  diesem  Sinne  bat  man  sagen  müssen,  die  Aufnahme  der  Barzahlungen  werde 
ins  Auge  gefaßt  werden  können,  wenn  unsere  Zahlungsbilanz  sich  als  dauernd 
übel  wiegend  aktiv  erweisen  werde.  Freilich,  das  bloße  Faktum  der  Aktivität 
der  Zahlungsbilanz  in  diesem  Sinne  genügt  nicht.  Wenn  die  Elemente  der 
Zahlungsbilanz  besonders  heftigen  Schwankungen  ausgesetzt  sind,  nützt  alle 
durchschnittliche  Aktivität  der  Zahlungsbilanz  unter  Umständen  nicht,  und  die 
gefährlichen  Elemente  der  Zahlungsbilanz  können  in  gewissen  Momenten  auch 
die  beste  Währung  auf  eine  zu  harte  Probe  stellen.  Der  Zahlungsverkehr  mit 


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( XXV.  Plenarversammlung. 


891 


Jen)  Anslande  beruht  auf  dem  Warenverkehr  mit  dem  Aaslande  (Handelsbilanz),  den 
Zinsen  für  fixe  Schulden  an  Kffekten  und  Kapitalien,  den  Einnahmen  aas  dem  Transit- 
verkehr, dem  Saldo  aas  dem  Verkehr  von  Vergnügungsreisenden,  den  Kemittierungen 
von  Auswanderern  n.  s.  w.  Von  1891  bis  1901  hat  unser  Warenverkehr  einen  Aktiv- 
saldo von  durchschnittlich  rund  217  Millionen  Kronen  ergeben  ; die  tproz.  Zinsen  auf 
die  6 — 9 Milliarden  Kronen  Kffcktenschulden  an  das  Ausland  sind  dnreh  den  Aktiv- 
saldo unserer  Handelsbilanz  bei  weitem  nicht  gedeckt.  Spitz mdller  gelangt  zu 
einem  Gesauitpassivum  der  Zahlungsbilanz  von  130 — 18U  Millionen  Kronen;  das 
bedeutet,  daß  wir  darauf  angew  iesen  wären,  um  günstige  Wechselkurse  zu  erhalten  und 
einen  angemessenen  Goldschatz  zu  bewahren,  entweder  flottierende  Kapitalien  in 
nennenswertem  Umfange  ständig  bei  uns  festzuhalten,  oder  alljährlich  dnreh  neue 
Kdekteneiporte,  durch  neue  ständige  Verschuldung  im  Anslande  das  Passivem  der 
Zahlungsbilanz  in  diesem  Sinne  zu  begleichen.  Dazu  kommen  die  starken  Schwan- 
kungen in  der  Handelsbilanz:  innerhalb  der  11  Jahre  war  ein  Jahr  mit  einem 
Aktivsaldo  von  372  Millionen  Kronen,  vier  Jahre  später  wieder  eins  mit  einem 
Aktivsaldo  von  nur  81  Millionen  Kronen,  drei  Jahre  später  ohne  den  Veredlungs- 
verkehr gar  ein  Passivum  der  Handelsbilanz,  um  dann  wieder  einen  Aktivsaldo 
von  zirka  300  Millionen  Kronen  zu  sehen.  Womit  haben  wir  unsere  schon  an 
sich  passive  Zahlungsbilanz  in  Jahren  beglichen,  wo  der  Aktivsaldo  der  Waren- 
bilanz völlig  wegliel?  Ein  Aktivsaldo  der  Warenbilanz  1893/94  von  durchschnitt- 
lich 280  Millionen  Kronen  konnte  nicht  die  Agioepoche  verhindern,  während  die 
Jahre  1895/9G  mit  einem  geringen  Aktivsaldo  das  Verschwinden  des  Agios  und 
starken  Goldznftuß  brachten!  Die  Warenbilanz  spielt  eben  heute  eine  außer- 
ordentlich geringe  Rolle  in  der  Zahlungsbilanz.  Ihre  Aktivität  oder  Passivität 
ist  bei  weitem  nicht  von  solchem  Einflüsse  für  die  Wechselkurse,  als  die  unbe- 
rechenbaren, oft  jäh  eintretenden  Bewegungen  des  Effekten-  und  Kapitalienverkehrs. 
Auch  kann  man  die  Warenbilanz  am  wenigsten  beeinflussen.  Denn  Diskont  und 
Wechselkurs  üben  auf  den  Warenverkehr  keinen  wesentlichen  Einfluß  aus.  Vom 
Standpunkt  der  Währungspolitik  aus  spielt  die  Warenbilanz  eine  äußerst  geringe 
Rolle.  Es  ist  nicht  wahr,  daß  ein  verschuldeter  Staat  eine  aktive  Handelsbilanz 
haben  muß,  und  man  kann  nicht  Staaten  mit  rein  agrarischem  Charakter  uiit 
industriellen  Staaten  oder  gemischten  Staaten  wie  wir  vergleichen.  Verschuldete 
Staaten,  wie  Serbien  oder  Bulgarien,  haben  meist  aktive  Handelsbilanz,  Rumänien 
fast  immer  eine  passive  Warenbilanz;  entwickelte  passive  Staaten,  wie  Rußland 
und  Österreich-Ungarn,  haben  aktive  Warenbilanz  und  ähnlich  entwickelte 
verschuldete  Staaten,  wie  Italien,  seit  jeher  passive  Warenbilanz.  Allerdings 
haben  fast  alle  Gläubigerstaaten  passive  Warenbilanz,  aller  es  ist  auch  interessant 
zn  sehen,  wie  Amerika,  welches  eben  den  Übergang  vom  schuldneriscben  zum 
Gläubigerstaat  vollzieht,  immer  noch  mit  riesig  aktiver  Warenbilanz  arbeitet. 
Es  gibt  also  da  keine  Kegel  und  keine  Notwendigkeit,  alles  richtest  sieb  bei 
jedem  einzelnen  Wirtschaftsgebiet  nach  spezifischen  Umständen,  deren  etwa 
vorhandener  tiefliegender  Zusammenhang  uns  nicht  klar  ist,  sich  bisher  wissen- 
schaftlicher Erfassung  entzieht.  Nicht  nur,  daß  sich  die  aktiven  Staaten  von  den 
Schuldnerstaaten  monetär  dadurch  wesentlich  unterscheiden,  daß  sie  im  Bedarfs- 
fälle zur  Begleichung  des  Saldos  Effekten  abstoßeu  oder  Außenstände  an 
Z«iuohrk/i  für  VolaawrlrUahaii,  desitlpolUlk  und  Verwaltung,  XXI.  Baad.  27 


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H!>2 


Verhandlungen  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkswirt* 


Schuldfnrderungen  rin/it'hrn , während  umgekehrt  die  passiven  Staaten  stete 
gewärtig  sein  müssen,  daß  ihnen  von  ihren  im  Auslands  nntsrgehrarhten 
Effekten  Gestände  zurückgesendet,  geborgte  Kapitalien  znrnckgefordert  werden; 
auch  innerhalb  der  passiven  Staaten  gibt  es  Verschiedenheit  bezüglich  der  Art 
nml  des  Grades  der  Wirksamkeit  der  schwankenden  Faktoren  der  Zahlungsbilanzen. 
Man  kann  die  primitiven  verschuldeten  Staaten  nicht  unter  demselben  Gesirhts- 
pnukt  betrachten,  wie  etwa  Italien  nnd  Österreich-Ungarn.  In  Serbien  oder 
Bulgarien  können  die  Titres  dieser  Staaten  im  Kurse  sinken;  aber  heimgesdiirkt 
werden  können  sie  nicht,  weil  niemand  da  ist,  der  sie  kauft.  Wo  aber  in  dem 
verschuldeten  Lande  selbst  eiu  Börsenverkehr,  ein  freier  Anstausch  in  Staatstitres 
und  flottierenden  Kapitalien  bestellt,  da  wirken  diese  beweglichsten  Faktoren  der 
Zahlungsbilanz  ganz  anders. 

Ist  unsere  Zahlungsbilanz  so  wie  S p i t z m ü 1 1 e r sie  berechnet,  so  ist  sie 
vom  Standpunkte  der  Aufnahme  der  Barzahlung  ans  ungünstig.  Um  günstige 
Wechselkurse  zu  haben  und  den  Passivsaldo  unserer  Zahlungsbilanz  zu  begleichen, 
müssen  entweder  flottierende  Kapitalien  von  zirka  150  bis  20  > Millionen  Kronen 
bei  uns  festgehalten  werden  oder  ständig  unsere  auswärtige  Schuld  durch 
Effektanexport  in  solcher  Höhe  vergrößert  werden;  denn  sonst  müßten  wir  ständig 
schlechte  Wechselkurse  haben,  stetigem  Goldahflnß  ansgesetzt  sein.  Das  ist  keine 
Situation,  welche  die  Aufnahme  der  Barzahlungen  nnd  deren  Anfrechtorhaltung 
als  leicht  erscheinen  läßt.  Und  dabei  ist  der  Aktivsaldo  der  Handelsbilanz,  kein 
verläßlicher  Faktor  in  einem  Momente,  wo  wir  in  einen  Weltkampf  um  Hnrh- 
schutzzollpolitik  eingetreten  sind.  Wir  haben  heute  keine  Ahnung,  ob  wir  nicht 
zu  grnndumwälzenden  Zollkriegen,  zn  ganz  neuen  Wegen  unserer  Handelsbilanz 
gelangen  werden.  Auch  hat  die  Handelspolitik  mit  der  auswärtigen  Verschuldung 
sehr  viel  zn  ton!  Auch  das  Festhalten  einer  Diskontpolitik,  welche  den  Znfluß 
ausländischen  Kapitals,  mit  allen  Kräften  fördert,  ist  schwierig.  Eine  weitere 
Bedingung  ist  nach  Spitzmüller  „die  tnnlichste  Femhaltung  aller  Störungen, 
welche  auf  die  Zahlungsbilanz  eine  ungünstige  Rückwirkung  üben  können.  Als 
ein  störender  F.intlnß  müßte  nach  den  Erfahrungen  früherer  dahre  insbesondere 
das  vorzeitige  Ueraligehen  anf  einen  niedrigeren  Zinsfuß  hei  dem  Gros  unserer 
Anlagetitres  betrachtet  werden.“  Aber  kürzlich  wurden  Gerüchte  verbreitet,  mau 
plane  eine  Konversion  der  4'2proz.  Renten  im  Ausmaße  von  5 Milliarden  Kronen 
auf  8 7,  oder  überhaupt  unter  4 Proz.  Die  Renten  haben  kaum  erst  durch  den 
Knnversionsrunitnel  das  pari  erreicht  nnd  schon  soll  der  4proz.  Zinsfuß  obsolet  sein? 

Im  Momente,  wo  wir  die  Barzahlungen  aufnehinen  wollen  mit  einer 
Zahlungsbilanz,  welche  anf  zwei  Säulen  ruht:  fester  Bestand  nnseror  Titres  im 
Anslande  und  möglichst  hoher  Zinsfaß  im  Inlande  znr  Festhaltnng  der  flottie- 
renden Kapitalien,  wollte  man  auswärtigen  Gläubigern  einreden.  daß  sie  3 oder 
3’/4proz.  österreichische  Kronenrente  nehmen  und  festhaiton  sollen.  Wenn  wir 
oder  Ungarn  aber  einen  solchen  Fehler  begehen,  so  schickt  man  uns  unsere 
Werte  zurück  und  wir  müssen  sie  auch  bezahlen.  Es  ist  an  Barzahlungen  nicht 
zu  denken,  solange  mau  nicht  sicher  ist.  daß  Ungarn  etwa  anf  eigene  Kunst 
eine  den  allgemeinen  Interessen  der  Monarchie  znwiderlaufcndc  Kreditpolitik 
betreiben  sollte. 


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CXXV.  Plenarversammlung. 


893 


Di*  Ungarn  glauben  ganz,  daß  die  Aufnahme  der  Barzahlungen  ihnen 
ungeahnte  Vorteile  bringen  werde,  und  daß  die  Aufnahme  der  Barzahlungen  ein 
Kinderspiel  sei  und  unmöglich  mißglücken  könne.  Ich  seihst  habe  oft  Gelegenheit 
gehabt,  mit  maßgebenden  Persönlichkeiten  der  anderen  Reichshälfte  über  das 
Thema  zu  sprechen,  und  darum  kenne  ich  den  Untergrund  der  felsenfesten 
Überzeugung  sehr  genau. 

Es  ist  dies  die  Theorie  des  Geldwesens,  welche  Theodor  Hertzka 
vertritt,  und  die  besagt:  wenn  ein  Währungsmetall  in  verschiedenen  Staaten 
allgemein  rezipiert  ist,  richten  sich  allenthalben  alle  Preise  genau  nach  der 
Menge  des  Goldes,  dieses  strömt  von  seihst  in  alle  Länder,  welche  es  brauchen, 
auf  Grund  des  Verhältnisses  /.wischen  Preisniveau  und  Geldbedarf,  welcher 
allenthalben  stetig  wachsen  muß;  man  brauche  sich  daher  um  den  Zufluß  des 
Goldes  nicht  zu  kümmern  und  ohne  jede  Rücksicht  auf  Handels-  und  Zahlungs- 
bilanz nicht  vor  Goldabfluß  zu  fürchten.  Denn  aus  keinem  Land  kann  mehr 
Gold  abfließen  als  der  Verkehr  entbehren  kann,  denn  es  entsteht  sofort  ein 
solcher  Preisdruck  im  Inlande,  daß  Export  wieder  rentiert  und  das  entfließende 
Gold  festhält,  das  entflohene  wieder  zurückführt.  Aber  für  den  Geldbedarf 
eines  Landes  ist  auch  die  Emission  an  unbedeckten  Noteu  und  die  ganze 
Kredit/ahlungsorganisation  als  Geldcrsparnngsmittol  in  Rechnung  zu  stellen,  und 
da  ist  schon  die  Berechnung  des  Effektes  mit  Bezug  auf  das  Verhältnis  zwischen 
Edelmetall  und  Preisgestaltung  eine  sehr  komplizierte,  kaum  durchführbare. 

An  sich  ist  die  Theorie  richtig,  und  so  beweist  sie  die  ökonomische  Wid  ersinn ig- 
keit  der  Metallwährung,  da  dadurch  die  Preisgestaltung  von  den  Zufälligkeiten  der 
Produktion  dieses  Metalle»  abhängig  ist.  Das  ist  der  Widersinn  der  freien  Prägung. 
Nur  wird  übersehen,  daß  die  ziffermäßige  Menge  des  Geldmetalles  auf  den  kleinen 
und  mittleren  Warenverkehr  überhaupt  nicht  oder  außerordentlich  langsam  wirkt, 
auf  den  großen  Verkehr  zwar  unter  Umständen  sehr  stark,  aber  es  wirken  auch 
andere  Faktoren  (Kreditorganisation,  Effekten-  und  Kapitalienverkehr),  Als  in  Italien 
die  kleine  Münze  infolge  der  lateinischen  Münznnion  und  des  Agios  nach  Frank- 
reich wandert«,  sind  die  Preise  im  kleinen  Verkehr  nicht  gefallen.  Dasselbe 
geschah  in  Amerika  1893.  Man  behalf  sich  eben  mit  Privatpapiergeld.  Uud 
ganz  so  würde  es  sich  bei  uns  in  praxi  abspielen.  Schickt  man  uus  infolge 
innerer  oder  äußerer  Krisen  Effekten  herein  oder  zieht  Kapitalien  ab  und  gehen 
dadurch  etwa  200  Millionen  Gold  rasch  über  die  Grenze,  so  kann  das  unter 
Umständen  ganz  ruhig  abgehen.  Die  Preise  werden  fallen,  zunächst  jene  der  Effekten, 
vielleicht  auch  Preise  spekulativer  Waren.  Der  übrige  Handel  wird  in  den  Preisen 
zunächst  gar  nichts  davon  merken,  und  ist  sonst  alles  im  Wirtschaftsleben 
gesund,  so  kann  die  Parität  der  Währung  erhalten  bleiben;  aber  greift  nur 
ein  wenig  Spekulation  und  Mißtrauen  um  sich,  uud  das  tritt  meistens  in  solchen 
Fällen  ein,  so  hat  der  Preisfall  der  Effekten  hier  nicht  Export,  sondern  nur 
um  so  regeren  Import  zur  Folge  und  immer  stärker  wird  die  Spannung  und 
der  Diskont  mag  noch  so  hoch  gehen,  er  wird  die  ausländischen  Kapitalien  hier 
nicht  festhalten,  sondern  inan  wird  sie  aus  Mißtrauen  zunickzichen,  uud  greift 
das  Mißtrauen  auch  im  Innern  um  sich  und  versagt  die  Kreditorganisation,  der 
künstlich  organisierte  Zahlungsverkehr,  so  entsteht  eine  solche  Panik,  daß  die 

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35)4 


Verhandlungen  der  Gesellschaft  fltterreichischer  Volkswirte. 


Bank  weder  mit  6.  noch  mit  7,  noch  mit  10  Proz.  Diskont  etwas  erreichen 
kann,  sondern  sich  sofort  an  die  Regierung  um  Suspension  der  Akte  wenden 
und  Noten  ausgeben  moß,  bis  die  durch  den  Goldabfluß  und  durch  das  Versagen 
der  Kreditorganisation  entstandene  Lücke  wieder  ausgcfflllt  ist.  Das  Gold  wird 
fort  sein,  der  Umlauf,  die  Zirkulation  wird  numerisch  gleich  geblieben,  eher  erhöht 
sein.  Aber  was  auch  dahin  sein  wird,  das  ist  der  Kredit  der  Monarchie  und  ein 
gutes  Stück  Volksrerinögen.  Man  darf  die  Wirkung  des  Diskonts  gegenüber  Fak- 
turen, wie  sie  unsere  Zahlungsbilanz  beherrschen,  nicht  überschätzen;  er  hat  in 
sehr  vielen  Fällen,  in  viel  reicheren  Ländern,  wie  Deutschland  und  England, 
völlig  versagt.  Bedner  ist  gegen  die  baldige  Aufnahme  der  Barzahlungen,  weil 
eine  Reihe  der  wichtigsten  Bedingungen,  welche  biefür  gestellt  werden  mußten, 
nicht  erfüllt  wurde.  Die  finanztechnischen  und  rein  innerlich  monetären  Bedin- 
gungen sind,  von  Nebensachen  abgesehen,  mit  Glück  und  Geschick  über  alle 
Erwartung  erfüllt  worden.  Aber  was  uns  scheinbar  so  reich  und  mächtig  macht, 
ist  geborgtes,  zum  großen  Teil  kurz  fällig  geborgtes  Gold.  Aber  fast  alle 
Bedingungen  allgemein  ökonomischer,  moralischer  Natur,  die  uns  neben  der 
technischen  Vorbereitung  virtuell  barzahluugsfuhig  hätten  machen  sollen,  sind 
absolut  nicht  erfüllt  Hat  irgend  jemand  bemerkt,  daß  in  unserer  inneren,  unserer 
äußeren,  unserer  Steuerpolitik,  Kreditpolitik  auf  die  Währungsreform  auch  nur 
die  kleinste  Rücksicht  genommen  worden  sei?  Was  ist  seit  1892  erfolgt?  Sofort 
durch  die  Gesetze  von  1892  die  unnütze  Brüskiernng  unserer  auswärtigen  Gläubiger 
durch  die  Art  der  Festsetzung  der  Relation,  dann  durch  die  Konversion,  gleich- 
zeitig der  Streit  der  Staatshahn  um  den  Coupon  ihrer  Prioritäten.  Die  Folge  war 
das  Agio.  Seither  auf  finanziellem  Gebiete  bis  in  die  allerletzte  Zeit  nichts  als 
Verstaatlichung  und  Verstadtlichung,  was  sich  bei  uns  gewöhnlich  mit  Verge- 
waltigung verdeutschen  läßt.  Nicht  einen  Finger  hat  der  Staat  gerührt,  um  zu 
hindern,  daß  hunderte  von  Millionen  fremden  Kapitals  an  Südbahnaktien  verloren 
gingen;  er  hat  die  Gelegenheit  benützt,  um  sich  durch  eine  Anleihe  der  Südbaltn 
seine  Kassenbestände  zu  füllen,  im  übrigen  sieht  er  ruhig  zu,  daß  ein  Unter- 
nehmen. das  schwere  Millionen  an  Steuer,  aber  nichts  an  Dividende  zahlt,  zu 
Grunde  gehl  und  läßt  die  garantierten  Prioritäten  dafür  sorgen,  daß  dieses 
Milliardenunternehmen  nicht  ganz  bankerott  wird.  Ich  brauche  nicht  von  allen 
Eingriffen  zu  sprechen,  die  sich  das  Eisenbahnministerinm  unter  dem  Vorwand 
des  staatlichen  Aufsichtsrechtes  gestattet  hat.  Von  der  Nordwestbahn,  der  Böh- 
mischen Nordbahn,  der  Ferdinands-Nordbahn,  der  Graz-Kßflaehcr  Balm  u.  s.  f. 
Ist  das  der  Weg,  die  Schnldverschreibungen  im  Anslande  geschätzt  zu  machen? 
Ich  streife  nur  die  Wirkungen  des  neuen  Stenergesetzes  auf  die  Bahnen  und 
anderen  der  öffentlichen  Rechnungslegung  unterliegenden  Unternehmungen  und  den 
Geist  der  Judikatur  des  Vcrwaltungsgericbtshofes.  Ist  das  der  Weg,  das  bestehende 
Kapital  zu  schützen,  neues  Kapital  zu  Unternehmungen  heranznziehenV  Soll 
jemand  liier  eine  Aktiengesellschaft  gründen,  wenn  er  die  Fallstricke  der  Steuer- 
gesetzgebung für  die  erste  Bilanz  einer  Aktiengesellschaft  kennt,  dann  sieht,  wie 
ihr  bei  Lebzeiten  30  Proz.  des  Gewinnes  konfisziert  werden  und  schließlich  der 
Fiskus  sich  wie  ein  Geier  auf  die  Liqnidationsergrbnisse  stürzt?  Wie  haben  wir 
seit  1892  unserem  inländischen  mobilen  Kapital  initgespielt?  1893  die  Konversion 


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CN  V V Plenarversammlung. 


305 


um  nahezu  ein  volles  Prozent,  1807  das  neue  Steuergesetz ; and  Leute.  die  noch 
wenige  Jahre  vorher  von  ihren  Ersparnissen  5 Proz.  Erträgnis  hatten,  mußten 
auf  einmal  von  den  1 Proz..  die  man  ihnen  gelassen  Uattte,  die  Personaleinkominen- 
steuer  und  noch  dazn  eine  vexatorische.  mit  peinlichen  Inquisitionen  verbundene 
Iicutcnsteuer  zahlen.  War  das  der  Weg,  das  heimische  Kapital  zu  stärken,  ihm 
die  Kraft  zu  gehen.  Überschüsse  zn  bilden,  mit  welchen  es  unsere  auswärtige  Ver- 
schuldung absorbieren  soll?  Ich  habe  von  den  Konversionen  nnd  der  Kreditpolitik 
schon  oben  gesprochen.  Brauche  ich  noch  zu  erinnern,  was  dem  Verkehr  des  mobilen 
Kapitals,  dem  Handel  durch  die  Börsensteuer  und  deren  Erhöhung,  durch  die 
Judikatur  über  Differenzgeschäfte,  durch  den  Terminhandel,  durch  Differenzierung 
von  Steuerzuschlägen,  durch  die  Gebührennovclle,  durch  die  ununterbrochen 
fortgesetzt*  sogenannte  „ wirtschaftliche  Gesetzgebung*  zugefügt  worden  ist? 
Haben  wir  nicht  die  Resultate  all  dessen  in  der  entsetzlichen  Stagnation  der 
letzten  Jahre  deutlich  geling  gesehen  und  hieße  es  nicht  der  Häufung  der 
ökonomischen  Irrtümer  die  Krone  unfsetzon.  wenn  man  aus  dem  durch  solche 
Mißhandlung  entstandenen  Marasmus  der  Volkswirtschaft,  aus  der  dadurch  ent- 
standenen Anhäufung  mutlosen,  toten  Kapitals  die  Folgerung  ziehen  wollte, 
wir  seien  reicher  geworden  und  seien  nun  fähiger  als  1892  in  den  Wettkampf 
mit  den  vorgeschrittenen  Nationen  einzutreten,  weil  wir  eben  infolge  dieses  Marasmus 
und  infolge  der  unrichtigen  Politik  fortwährend  Schulden  zn  großenteils  unproduk- 
tiven Zwecken  im  Ausland  auhäufeu,  anstatt  Schulden  zurückzuziehen,  ein 
paar  hundert  Millionen  unverwendbaren  Goldes  bei  ans  angehänft  haben?  Nein, 
das  war  nicht  der  richtige  Weg,  und  mit  einem  su  geschwächten  Organismus,  mit 
solchen  Prinzipien  der  Wirtschaftspolitik  und  Kreditpolitik  und  einer  kritiklosen 
öffentlichen  Meinung,  wie  sie  sich  jetzt  wieder  gezeigt  hat,  dürfen  wir  nicht  die 
Barzahlungen  aufnehmen.  Bei  dieser  konsequenten,  alles  wirtschaftliche  Leben 
ertötenden  antikapitalistischen  Politik  mit  solchen  Tendenzen  die  denkbar  größte 
kapitalistische  üntemeluuung,  die  reine  Goldwährung,  verwirklichen  zu  wollen, 
das  wäre  ein  Widerspruch  sondergleichen.  Und  die  Barzahlungen  aufnehmen  zu 
wollen,  in  den  freien  Wettstreit  mit  den  großen  kapitalistischen  Staaten  treten 
zu  wollen,  wo  nnser  ganzes  Wirtschaftsleben  auf  dem  Tiefpunkte  augelangt  ist, 
als  Folge  nur  dieser  verfehlten  wirtschaftlichen  Politik  und  unserer  innerpolitischen 
Verhältnisse,  das  wäre  ein  verhängnisvoller  Irrtum.  Und  wozn  denn  diese  offenbar 
übereilte  Aufnahme  der  Barzahlungen?  Was  kann  sie  nns  bringen?  Wir  haben 
die  Stabilität  des  Wechselkurses  in  ungeahnter  Weise,  wir  haben  billiges  Geld 
erreicht,  nnser  auswärtiger  Kredit  steht  so  gut.  als  er  berechtigterweise  nur 
irgend  stehen  kann,  wir  haben  die  Konzentrierung  des  Goldes  bei  der  Bank 
und  strikteste  Beherrschung  des  Wechselkurses  durch  die  Bank  im  Wege  ihrer 
ausgebildeten  Devisen-  und  Goldpolitik.  Was  man  sonst  noch  alles  von  der 
Aufnahme  der  Barzahlungen  erwartet,  ist  Chimäre.  Wo  bestehen  denn  noch  die 
Barzahlungen  in  Gold  im  vollen  Sinne?  Die  Bank  vou  England  wehrt  sich  schon 
seit  vielen  Jahren  gegen  die  Barzahlung,  so  viel  sie  nur  irgend  kann,  nämlich 
nach  außen  hin,  indem  sie  ein  offenkundiges  Agio  zuläßt.  Frankreich  zahlt 
nach  außen  hin  bekanntlich  nie  bar  in  Geld  nnd  läßt  lieber  kräftiges  Agio 
entstehen.  Deutschland  hat  noch  kaum  je  nach  außen  hin  schlank  bar  gezahlt. 


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306 


Verhandlungen  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkswirte 


Wir  aber,  wenn  wir  die  Barzahlungen  erklären,  müssen  als  Schulduerstaat 
har  zahlen,  wir  dürfen  uns  auch  nicht  die  geringste  Abweichung  vom  oberen 
Goldpunkt  des  Wechselkurses  gestatten,  sonst  sind  wir  sofort  verloren.  Auch 
nur  das  kleinste  wirkliche  Disagio,  und  es  beginnen  die  Arbitragen  init  den 
Coupons  und  Renten  und  die  geringste  Abweichung  vom  Wechselkurse  bringt  uns 
durch  Mißtrauen  Effekten  herein,  desto  mehr,  je  mehr  wir  wieder  durch  die 
Vorgänge  der  letzten  Zeit  flottierendes  Materiale  und  Rentenspeknlation  geschaffen 
haben.  Was  alle  die  starken  großkapitalistischen  Staaten  nicht  durchführen  können, 
dazu  fühlen  wir  uns  stark  genug?  Wenn  draußen  nicht  bar  gezahlt  wird,  wird 
eben  einfach  gestundet  und  in  kolossalstem  Maße  international  giriert.  Das 
Gold  kommt  von  den  l’mduktionsstaaton  gar  nicht  mehr  wie  früher  nach  Europa, 
sondern  Australien  sendet  Gold  direkt  nach  Indien,  Südafrika  nach  Argentinien. 
Mit  jedem  Jahr  deutlicher  bildet  sich  der  internationale  Giro-  und  Abrechnungs- 
verkehr heraus,  dem  die  Zukunft  gehört.  Und  wenn  die  Österreichisch-ungarische 
Bank  an  200  Millionen  Devisen  hält,  so  hat  auch  sie  bereits  in  dieses  System 
eingegriffen,  und  zwar  in  der  praktischesten  Weise;  denn  das  heißt,  daß  sie 
England  oder  anderen  Staaten  Forderungen  in  dieser  Höhe,  welche  sie  in  Gold 
einkassieren  könnte,  gestundet  hat;  dieses  System,  welches  wir  für  die  Bar- 
zahlung aufgeben  wollen,  ist  das  richtige,  vom  monetären  Standpunkt  des  einzelnen 
Landes  wie  vom  internationalen  Standpunkt  aus.  Schon  hat  die  Deutsche  Reichs- 
hank  begonnen,  es  uns  nachzmnachen,  und  andere  werden  folgen,  ln  dieses  große 
internationale  Getriebe  mit  unseren  veralteten  Begriffen  über  Barzahlungen  eili- 
greifen, wäre  unüberlegt  und  unsachverständig. 

Vorsitzender  Hofrat  Prof.  I)r.  v.  Phil ippov ich: 

Der  schöne  Vortrag,  den  wir  soeben  gehört  haben,  hat  eine  so  starke 
Überzeugung  zum  Ausdruck  gebracht  und  barg  so  viel  Temperament  in  sich,  daß 
ich  nicht  glauben  kann,  daß  er  ganz  ohne  Widerspruch  geblieben  ist.  Ich  halte 
eine  Diskussion  darüber  gerade  wegen  der  Stärke,  mit  der  der  Vortragende  seiner 
Meinung  Ausdruck  gegeben,  die  vielleicht  von  vielen  als  einseitig  angesehen 
werden  wird,  für  unbedingt  notwendig.  Ich  schlage  vor,  daß  wir  die  Diskussion 
heute  beginnen,  vielleicht  wird  es  möglich  sein,  sie  auch  heute  zuiu  Abschlüsse 
zu  bringen. 

In  der  an  diesen  Vortrag  anknüpfenden  Diskussion  erklärt  Herr  Richard 
Lieben,  daß  auch  er  das  bereits  Erreichte,  diu  dauernde  Erhaltung  der  Parität, 
für  das  wesentlichste  Ziel  der  Valutarefonn  halte.  Trotzdem  siebt  er  die  Aufnahme 
der  Barzahlungen  als  etwas  Nützliches  und  Wünschenswertes  an.  Er  sagt:  Trotz  dieser 
meiner  Anschauung  betone  ich  gleich  hier  ausdrücklich,  daß  auch  ich  keineswegs 
darauf  dränge,  daß  das  möglichst  rasch  geschehe;  denn  das  ist  nicht  wesentlich. 
Ich  glaube  aber,  daß  die  Barzahlungen  kommen,  daß  sie  sich  durch  ihr  eigenes 
Gewicht  durchsetzen  werden  und  daß  sie  nicht  so  sehr  durch  akademische 
Diskussionen,  als  vielmehr  durch  die  Logik  der  Tatsachen  werden  herbeigeführt 
werden.  Doch  sollen  sie  nicht  in  politisch  oder  wirtschaftlich  bedrohlichen 
Zeiten  erfolgen.  In  wirtschaftlicher  Hinsicht  findet  er  den  gegenwärtigen  Zeitpunkt 
nicht  so  bedrohlich  wie  manchen  anderen,  der  hinter  uns.  und  manchen,  der 
vielleicht  noch  vor  uns  liegt,  wenn  auch  nicht  gerade  besonders  günstig.  Das 


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'XXV,  Plenarversammlung 


307 


wesentlichste  Bedenken  des  Vortragenden  sei,  daß  unsere  Zahlungsbilanz  für  die 
Aufnahme  der  Barzahlungen  nicht  geeignet  sei;  dies  sei  aber  unrichtig.  Das 
, Auspumpen  des  Goldes“  muß  automatisch  aufhören,  sobald  die  Geldmittel 
einigermaßen  knapp  werden.  Er  könne  daher  die  furchtbare  Gefahr,  die  in  der 
EfTektonrückstrümung  liegen  soll,  nicht  sehen.  Auch  der  Zustand  der  Notenbank 
sei  sehr  beruhigend.  Allerdings  müßten  wir  bei  offenen  Kassen  zahlen,  ohne  Schwierig- 
keiten irgend  welcher  Art  machen  zu  dürfen.  Wenn  wir  die  Barzahlungen  nicht 
aufnehmen,  wie  würde  eine  Millionenrücksendung  von  Effekten  und  die  ent- 
sprechende Goldabströuiung  wirken?  Aber  wir  würdet!  sofort  ein  Agio  bekommen. 
Ob  das  aber  gerade  wünschenswert  wäre  und  ob  dafür  die  großen  Opfer  ge- 
bracht wurden,  weiß  ich  nicht.  Wenn  es  uns  aber  gestattet  wird,  der  Bank  das 
Gold  zu  entnehmen,  damit  zu  zahlen  und  das  Gold  dem  Zwecke  znznführeti, 
für  den  es  gekauft  wurde,  um  nämlich  ungünstige  Konstellationen  der  Zahlungs- 
bilanz aushalten  zu  können,  dann  entgehen  wir  der  Gefahr  des  Agios,  dann 
hat  die  Valutaregulierung  ihren  Zweck  erreicht  und  wir  brauchen  nicht  durch 
eine  kopflose  Nervosität  das  ganze  Werk  zu  gefährden.  Wie  uns  di«  Geld- 
beschaffung gelungen  ist,  so  werde  uns  auch  die  Golderhaltung  gelingen. 

Herr  Hof-  und  Gerichtsadvokat  Dr.  Wilhelm  Kosenberg  tritt  für  die 
Aufnahme  der  Barzahlungen  ein.  Diese  müssen  ein  gewaltiges  Moveiis  für 
die  Ausgestaltung  unserer  wirtschaftlichen  Verhältnisse  im  medernen  Sinne 
bilden,  weil  die  Regierung  all«  Maßnahmen,  die  die  Zahlungsbilanz  verschlechtern 
könnten,  insbesondere  jede  rückschrittliche  Produktionspolitik,  mit  der  größten 
Schärfe  bekämpfen  müßte. 

Aus  der  Zahlungsbilanz,  welche  lediglich  die  Gegenüberstellung  der 
Geldeinnahmen  und  Geldansgaben  eines  Staates  in  einer  bestimmten  Wirt- 
schaflsepoche  darstelle,  könne  auf  die  ökonomische  Lage  des  Staates  anch 
nicht  im  entferntesten  ein  zulässiger  Rückschluß  gezogen  werden.  Die  Krage  der 
Aufrechterhaltung  der  Barzahlungen  hänge  iui  wesentlichen  davon  ab,  wie  man 
von  einem  plötzlichen  Rückströmen  der  Effekten  aus  dem  Auslande  denkt.  Bei 
solchem  Herein  strömen  von  Effekten  liermche  entweder  ini  Inlande  große  Geld- 
plethora — dann  haben  wir  nichts  zu  fürchten  — , oder  die  Effekten  kommen 
herein,  obwohl  hier  Geldknappheit  herrscht,  und  das  werde  auf  die  Dauer  nur 
dann  möglich  sein,  wenn  das  Ausland  den  Kaufschilling,  durch  den  die  Effekten 
berichtigt  werden  sollen,  stundet.  Wir  werden  die  Effekten  nur  dann  kaufen, 
wenn  wir  die  Preise  für  nutzbringende  halten  und  wir  uns  gleichzeitig  das  dazu 
erforderliche  Geld  noch  ausleihen  können.  Wenn  das  Ausland  ans  nicht  mehr 
kreditieren  würde,  so  würde  in  solchen  Fällen  eine  Panik  die  Felge  sein;  aber 
das  Horeinstrüiiieii  der  Effekten  hätte  wohl  sein  Ende  erreicht. 

Vorsitzender  Hofrat  Prof.  Dr.  v.  Philippovich  ist  persönlich  der  Meinung, 
daß  der  psychologische  Moment  für  die  Aufnahme  der  Barzahlungen  nicht 
gekommen  ist.  Wir  haben  heute  nicht  die  Beruhigung,  daß  die  wirtschaftliche 
Entwicklung  in  Österreich  in  der  nächsten  Zeit  unbedingt  eine  aufsteigende  sein 
w erde.  Wir  haben  keine  Beruhigung  über  jene  Wirkung,  welche  die  Handelsverträge 
auf  die  Österreichische  Zellpolitik  auszuiihen  vermögen,  und  haben  auch  keine 
Beruhigung  über  die  Wirkung  der  Brüsseler  Zockorkoiivention  — durchgehend.« 


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398 


Verhandlungen  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkswirte 


Momente,  die  für  unsere  Zahlungsbilanz  schwer  ins  Gewicht  fallen.  AH  diese 
Dinge  lassen,  wenn  sic  auch  jetzt  für  uns  ungünstig  ausfallcn,  sich  wieder 
ausgicichen  und  wir  werden  zu  einer  Zahlungsbilanz  und  zu  einer  solchen 
Gestaltung  der  wirtschaftspolitischen  Verhältnisse  kommen,  die  uns  das  Vertrauen 
gehen,  daß  wir  die  Barzahlungen  dann  aufnehinen  könnten.  Wenn  aber  so 
wichtige  Grundlagen  unserer  l’rnduktionsorganisation  unsicher  sind  und  wir 
nehmen  die  Zahlungen  auf  und  es  kommt  daun  irgend  eine  Störung,  die  uns 
zu  einem  starken  Goldabflusse  zwingt  — wie  wird  dann  jene  ruhige  Hand  in 
Österreich  zu  linden  sein,  die  nicht  zittert  und  die  ruhig  das  kaum  erworbene 
Gold  hinausfließen  läßt,  ohne  zu  überstürzten  Maßregeln  zu  greifon?  Es  wäre 
ein  unglücklicher  Moment,  für  die  Aufnahme  der  Barzahlungen  jenen  Zeit- 
punkt zu  wählen,  wo  die  Grundlagen  unserer  l’roduktion  im  lulaude  voll- 
kommen neu  geordnet  werden  sollen.  Nicht  der  1.  März  1903,  sondern  etwa 
der  1,  März  1901,  wenn  wir  die  Handelsverträge  abgeschlossen  haben  nnd 
wissen  werden,  wie  sie  wirken  werden,  wäre  vielleicht  der  hiezu  geeignetere 
Moment. 

Auch  vom  taktischen  Gesichtspunkte  aus  wäro  der  gegenwärtige  Zeitpunkt 
schlecht  gewählt.  Wie  sollen  unsere  Unterhändler  hoi  den  Handelsvertragsver- 
handlnngen  mit  Erfolg  anftreten,  wenn  die  auswärtigen  Unterhändler  wissen,  daß 
wir  auf  den  Export  in  gewissen  Artikeln  förmlich  brennen,  um  unsere  Zahlungs- 
bilanz möglichst  günstig  zu  gestalten?  Auch  das  Verhältnis  Österreichs  zu  Ungarn 
ist  heute  noch  ein  unbestimmter  Faktor  — aber  ein  Faktor,  mit  dem  man 
rechnen  muß  — von  dem  man  nicht  weiß,  ob  er  ein  positiver  oder  negativer 
Grund  sein  wird.  Uentc  ist  Ungarn  in  hohem  Maß  auf  den  österreichischen 
Kapitalsmarkt  angewiesen.  Im  Falle  der  Aufnahme  der  Barzahlungen  würde  sich 
dieses  Verhältnis  ändern,  Österreich-Ungarn  würde  ein  einheitliches  Geldgebarungs- 
gchict  sein  und  es  würde  Ungarn  dann  viel  leichter  auf  die  auswärtigen  Märkto 
kommen  können.  Ob  nun  Ungarns  volkswirtschaftliche  Entwicklung  eine  auf- 
steigende  sein  wird,  ob  dort  immer  Besonnenhoit  herschen,  ob  nicht  Gründungs- 
hewegnngeu  und  Spekulationen  zu  einer  ungünstigen  Gestaltung  unserer  Zahlungs- 
bilanz führen  werden,  bei  der  dann  wir  das  Bad  mitausgießon  müssen,  das 
weiß  mau  nicht.  Auch  dieser  Faktor  verdient  Erwägung  und  wirkt  dahin,  dio 
Frage  zu  vertagen. 

Wie  steht  es  ferner  mit  unseren  Finanzen?  Sind  wir  so  weit  gekräftigt, 
daß  wir  Störungen  unsoror  Währungsvorhältnisse  mit  Ruhe  aushalten  können,  so 
daß  wir  uns  nicht  davor  zu  scheuen  brauchen,  im  Anslande  Schulden  zu  machon? 
Wir  haben  in  Österreich  und  in  Ungarn  ein  Budget,  das  nur  formell  und  mit 
Mühe  aktiv  bilanziert,  so  daß  sich  bei  näherer  Betrachtung  das  Budget  als  ein 
solches  hcrausstellen  würde,  das  ein  Defizit  involviert  Die  Steucrbelastung 
kann  nicht  gemindert  werden.  Die  Produktion  Österreichs  wird  noch  weiter 
mit  den  gegebenen  Lasten  zu  rochnen  haben.  Auch  das  ist  etwas,  was  den 
gegenwärtigen  Augenblick  für  die  Aufnahme  der  Barzahlungen  nicht  geeignet 
erscheinen  läßt. 

Referent  Ostersetzer  erklärt  in  seinem  Schlußworte,  daß  es  ihm  ferne 
gelegen  gewesen  sei,  von  einer  Vertagung  der  Barzahlungen  ad  calendas  graecas 


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( 'XXV  Plenarversammlung. 


399 


sprechen  za  wollen.  Er  wünsche  nur.  daß  kein  Husarenstück  aufgefnhrt  werde, 
wie  es  von  mancher  Seite  intendiert  zu  sein  scheint.  Wie  der  Vorsitzende,  so 
überlasse  auch  der  Berichterstatter  alles  dem  Laufe  der  Zeit:  wir  wollen  den 
Abschluß  der  Handelsverträge  sowie  insbesondere  auch  die  Klärung  de»  Verhält- 
nisses zn  Ungarn  abwarten.  Wenn  der  Berichterstatter,  der  von  Anfang  an  der 
wärmste  Förderer  aller  positiven  Schritte  zur  Einführung  der  Goldwährung  gewesen 
sei,  heute  vom  Optimisten  zum  Skeptiker  geworden  sei,  ao  liege  der  Grund  eben 
darin,  daß  er  gesehen  habe,  wie  unzweckmäßig  die  wichtigsten  Fragen  der 
Kreditpolitik  bei  uns  behandelt  werden.  Der  llefcrent  schließt  sich  daher  der 
Meinung  des  Vorsitzenden  an,  dahingehend,  daß  zunächst  eine  Klärung  der  Ver- 
hältnisse abzuwarten  sei. 


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ÖSTERREICH-UNGARN 

UND  DIE  BRÜSSELER  ZUCKERKONVENTION. 


VON 

RUDOLF  AU  8 PITZ. 


1.  Einleitung. 

Nachdem  in  diesen  Blattern  die  Vorgeschichte  der  Brüsseler  Znckerkon- 
veution  und  dies«  seihst  schon  von  berufener  Seite1)  eingehend  besprochen  worden 
sind,  erübrigt  noch  dar/.ulegen,  wie  und  unter  welch  besonderen  Begleit- 
umständen der  Beitritt  unserer  Monarchie  zu  dieser  Konvention  sich  vollzogen  hat. 

Vorher  sei  es  gestattet,  ganz  kurz  auf  eine  merkwürdige,  historische  Koinzi- 
denz hinzuweisen. 

Am  28.  Jänner  1903  wurde  im  österreichischen  Abgeordneten  hause  jener 
Ausschußbericht  verteilt,  welcher  den  Beitritt  zur  Brüsseler  Zuckerkonvention  und 
somit  die  Festsetzung  eines  Zolles  von  6 Frcs.  für  100%  raffinierten  Zuckers 
empfahl,  und  in  derselben  Sitzung  wurde  der  neue  österreichisch-ungarische  Aus- 
gleich und  mit  demselben  jener  Zolltarif  eingebracht,  welcher  nebst  anderen 
Merkwürdigkeiten  einen  Weizenzoll  von  7 K 50  h,  beziehungsweise  für  jene 
Staaten,  welche  geneigt  sein  sollten,  Handelsverträge  mit  uns  abzusclilicßen,  einen 
solchen  von  0 K 30  h und  einen  Roggenzull  von  7 K.  beziehungsweise 
5 K 80  h enthalt,  also  bei  dem  Rohprodukt  Weizen  ein  Zoll  von  beinahe.  50 
beziehungsweise  40  Proz.  des  dermaligen  Wertes  und  gleichzeitig  bei  raffiniertem 
Zucker,  einem  Fabrikate,  an  dessen  Gestehungskosten  der  Rohstoff  mit  kaum 
50  l*roz.  partizipiert,  ein  Zoll  von  beiläufig  20  Proz.  ad  valorem.  Erwähnenswert 
ist  auch,  daß  der  Zoll  für  ein  auf  der  Stufenleiter  industrieller  Gestehungskosten 
so  hochstehendes  Fabrikat,  wie  raffinierter  Zucker,  um  25  Proz.  niedriger  sein 
wird  als  jener  Begünstigungszoll  von  8 Frcs.  für  das  Naturprodukt  Wein,  wegen 
dessen  für  unsere  Winzer  angeblich  unerträglicher  Niedrigkeit  der  italienische 
Handelsvertrag  gekündigt  worden  mußte.  Was  würde  Friedrich  List,  der 
geniale  Begründer  der  modernen  Schutzzulltheurie.  zu  solchen  Mißan Wendungen 
seiner  Lehre  wob!  sagen?  Verlockend  wäre  es,  noch  andere  ähnlich  verfängliche 
Fragen  aufzuwerfen,  z.  B.  warum  diese  exorbitante  Erhöhung  der  Zölle  auf  Weizen 

*)  E.  v.  Plencr:  „Die  Brüsseler  Zuckerkonvention“,  XL  Band,  S.  894 ff.  der  Zeit- 
schrift für  Volkswirtschaft,  •Sozialpolitik  und  Verwaltung. 


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Österreich-Ungarn  und  die  Brüsseler  Znck'-rkonvention. 


401 


and  Koggen  gerade  jetzt,  gerade  zu  einer  Zeit  notig  sein  soll,  in  welcher  ohne- 
dies eine  wesentliche  Erhöhung  des  inländischen  Preisniveaus  für  Brotgetreide  in 
naher  und  sicherer  Aussicht  steht?  Österreich-Ungarn  war  bis  vor  kurzem  und 
ist  bei  sehr  guter  Ernte  auch  heut«  noch  für  Brotgetreide  ein  Exportland,  in 
welchem  der  Inlaiidpreis  sich  regelt  nach  der  Formel:  „Weltmarktpreis  minus 
Fracht  zum  Weltmarkt*;  Österreich- Ungarn  wird  aber  durch  die  stetige  Zunahme 
der  Bevölkerung  und  des  Wohlstandes  ganz  von  selbst  sehr  bald  auch  bei  noch 
so  guter  Ernte  an  Brotgetreide  ein  Importland  werden,  für  dessen  Inlaiidpreis 
die  Formel  gilt: 

„Weltmarktpreis  plus  Fracht  vom  Weltmarkt  plus  Zoll.“ 

Es  wird  also  •dinedies  eine  Erhöhung  des  inländischen  Preisniveaus  um 
das  Doppelte  der  Fracht  und  um  den  bisher  nur  auf  dem  Papiere  gestandenen, 
fortab  aber  wirksam  werdenden,  bestehenden  Zollsatz  von  l1/*  fl»  in  Gold,  d.  i. 
3 K 57  h,  Platz  greifen. 

2.  Warum  in  Österreich-Ungarn  die  Produktion  von  Inlandkonsum- 
zucker kontingentiert  wird. 

Österreich- Ungarn  vollzieht  seinen  Beitritt  zur  Brüsseler  Konvention  in 
anderer  Weise  als  die  vier  anderen  Zucker  exportierenden  Signatannflehte.  Diese 
suchen  ihrer  Zuckerindustrie  für  den  voraussichtlichen  Kntgang  au  Export  dadurch 
einen  Ersatz  zu  bieteu,  daß  sie,  um  den  lulandkonsum  zu  beben,  ihre  Zucker- 
steiler  herabsetzen,  und  zwar  Frankreich  von  60  auf  25  Frcs.,  Deutschland  von 
20  auf  14  Mark,  Belgien  von  dem  infolge  des  sogenannten  Abonnements  aller- 
dings nur  nominellen  Steuersatz  von  45  auf  15  Frcs.  und  die  Niederlande  von 
27  auf  24  fl.  Bei  uns  dagegen  besteht  die  staatliche  Fürsorge  für  die  von  der 
Aufhebung  der  Ausfuhrprämie  und  der  Herabsetzung  des  Kingangszolles  betroffene 
Zurkeriudustrie  darin,  dal]  es  derselben  ermöglicht  werden  soll,  au  dem  Inland- 
konsum  den  verbliebenen  Sechsfrancs-Zollschutz  möglichst  vollständig  auszunützen, 
und  zwar  geschieht  dies  durch  die  hier  bcigedruckteu  Gesetze,  von  welchen  das 
eine  für  beide  Teile  der  österreichisch-ungarischen  Monarchie,  das  andere,  welches 
die  individuelle  Kontingentierung  regelt,  aber  nur  für  Österreich  gilt,  während 
die  analoge  ungarische  Gesetzesvorlage  noch  iin  Stadium  der  parlamentarischen 
Behandlung  sich  befindet. 

Welches  sind  nun  die  Gründo,  durch  welche  die  beiden  Regierungen 
Österreich-Ungarns  veranlaßt  wurden,  einen  von  dein  Vorgehen  der  übrigen  Zucker 
exportierenden  Signatarstaaten  so  ganz  und  gar  abweichenden  Wog  ciiizuschlagen? 

Gewiß  war  die  Rücksicht  auf  die  beiderseits  nur  mühsam  iui  Gleichgewicht 
erhaltenen  Staatsbudgets  hiebei  wesentlich  inithestimmeiid,  und  ich  für  meinen 
bescheidenen  Teil  könute,  so  sehr  ich  auch  von  der  Konsum  steigernden  Wirkung 
eines  niedrigen  Zuckerpreises  und  somit  auch  einer  Herabsetzung  unserer  sehr 
hoheu  Zuckersteuer  überzeugt  bin,  doch  denjenigen  mich  durchaus  nicht  anschließen, 
welche  unserem  Fiuanzminister  seine  ptliclitmflüige  Obsorge  für  die  Aufreclit- 
haltung  des  budgetären  Gleichgewichtes  förmlich  zum  Vorwurf  machen  und  von 
der  Inkamcriornug  des  bisher  für  Zuckerausfuhr-Bouifikatioiieu  aufgewendeten 
Betrages  beinahe  wie  von  ein^r  unmoralischen  Handlung  sprechen. 


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402 


Auspitz 


Aber  bei  allem  Respekt  vor  den  budgetären  Kücksichh-ii,  halte  ich  mich 
doch  fiir  überzeugt,  daß  der  wahre,  der  eigentliche,  der  Ausschlag  gebende  Grund 
dafür,  daß  unter  allen  Zucker  exportierenden  .Signatarstaaten  gerade  nur  wir  einen 
ganz  besonderen  Weg  eiuschlagen,  ganz  wo  anders,  und  zwar  lediglich  in  der 
inneren,  staatsrechtlichen  Gestaltung  der  Monarchie  und  in  dem  steten  llestrcbcli 
Ungarns  zu  suchen  ist.  seine  staatliche  Selbständigkeit  auf  wirtschaftlichem 
Gebiete  auch  innerhalb  der  aus  hochpolitischen  Gründen  noch  belassenen  Zoll- 
geineinsainkeit  so  weit  als  nur  irgend  möglich  nuszndchnen,  ein  llestreben.  welches 
im  vorliegenden  Kalle  durch  die  nationalen  Gegensätze  innerhalb  des  diesseitigen 
Itoichsteiles  nur  noch  unterstützt  wnrde. 

ln  der  Drüsseler  Konvention  heißt  es  Art.  7,  Abs.  0:  „Österreich  und 
Ungarn  werden  jedes  für  sich  als  vertragschließender  Teil  betrachtet“,  und 
ferner  im  Schlußprolukoll  zu  Art  3:  „In  der  Krwägung,  daß  der  Zweck  des 
Überzolles  darin  besteht,  den  inneren  Markt  der  Krzengungslünder  wirksam  zu 
schützen“  u.  s.  w. 

Ob  und  inwieweit  die  zuerst  zitierte  Bestimmung  mit  der  doch  wenigstens 
nach  außen  fcstznhaltenden  Einheitlichkeit  der  Österreichisch. ungarischen  Monarchie 
vereinbar  ist,  das  zu  erörtern  muß  ich  Diplomaten  und  Staatsrechtslehren!  über- 
lassen; aber  das  eine  ist  mir  als  Laien  auf  dieseu  Gebieten  doch  vollkommen 
klar  und  muß  jedem,  der  unsere  transleitlianischen  Brüder  nur  halbwegs  kennt, 
unbedingt  klar  sein,  daß  nämlich  aus  dein  Zusammenhalte  der  beiden,  soeben 
angeführten  Bestimmungen  mit  unabweisbarer  Notwendigkeit  der  ungarische 
Ausprncli  erwachsen  mußte,  daß  der  gesamte  ungarische  Zuckerkutisum  ausschließ- 
lich nur  durch  die  ungarische  Produktion  gedeckt  werden  dürfe. 

Bisher  war  dies  bekanntlich  nicht  der  Kali,  ln  der  Erzeugungsperiode 
1900/Ul,  der  letzten,  für  welche  diu  Ergebnisse  des  Überweisungsverkehres  mir 
bekannt  geworden  sind, 


wurden  in  Ungarn  versteuert  ...... 

und  davon  ansgeführt: 

nach  Österreich 

. Bosnien 

zusammen  . . 

während  zu  den  iu  Ungarn  verbliebenen  . 
i »higelührt  wurden: 

aus  Österreich 

* Bosnien 

„ dem  Zollauslaud 

so  »laß  also  in  Ungarn  verbraucht  wurden 


Konsumzucker 

Rohzucker 

i in  Meterzentner 

in  Meterzentner 

! 550.807-75 

3.461-39 

r 

92.194*43 

0-20 

26.486  23 

— 

il  118.68066 

0-20  1 

432.17709 

3.46119 

| 360.155-48 

3.376-54 

4.070  03 

— 

313  — 

— 

796.724  60 

6.837-73 

j 

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Österreich-Ungarn  nud  die  Brüsseler  Zuckerkonvention. 


408 


«ler,  den  Rohzucker  zu  00  Proz.  gerechnet,  zusammen  802.879  q Konsumzucker- 
wert  repräsentierte.  Von  dieser  letzteren  Ziffer  gelangt  man  durch  Zuschlag  von 
jo  2*5  Proz.  für  jedes  der  drei  zwischenliegenden  Jahre  zu  der  pro  1003/4 
normierten,  ungarischen  Kontingentziffer  von  863.600  q;  während  aber,  wie  aus 
Jen  vorstehenden  Zahlen  hervorgeht,  der  ungarische  Zuckerverbrauch  in  der 
Erzeugungsperiode  1 900/1  nur  zu  69  Proz.  aus  ungarischen  und  zu  31  Pro/., 
aus  österreichischen  Raffinerien  gedeckt  wurde,  soll  künftig  die  Deckung  des 
ungarischen  Konsums  ausschließlich  den  ungarischen  Raffinerien  zufallen. 

Um  nun  diesem  durch  das  oberwähnte,  staatsrechtliche  Zugeständnis  unab- 
weisbar gewordenen,  ungarischen  Anspruch  gerecht  zu  werden,  ohne  jedoch  gegen 
die  unbedingt  aufrecht  zu  erhaltende  Einheitlichkeit  des  österreichisch-ungarischen 
Wirtschaftsgebietes  irgendwie  zu  verstoßen,  blieb  in  «ler  Tat  nichts  anderes  übrig, 
als  für  jedes  der  innerhalb  der  österreichisch-ungarischen  Monarchie  zollgeeinten 
Staatsgebiete  die  Produktion  von  Inlandkonsumzucker  zu  kontingentieren.  Eine 
weitere  Folge  hievon  ist  dann  die  Kontingentierung  auch  der  von  jeder  einzelnen 
Zuckerfabrik  für  den  Inlandkonsnm  zu  erzeugenden,  beziehungsweise  zu  ver- 
steuernden Zuckermenge;  denn  z.  B.  die  österreichische  Regierung  kann  der 
ungarischen  Regierung  gegenüber  die  Verpflichtung,  «laß,  von  allen  Österreichischen 
Zuckerfabriken  zusammengenonnnen,  nicht  mehr  als  das  diesseitige  Kontingent 
beziehungsweise  nicht  mehr  als  das  davon  jeweilig  liberierte  Teilquantum,  auf 
den  Inlandmatkt  gebracht  werden  wird,  nur  daun  übernehmen,  wenn  sie  es  auch 
kraft  des  Gesetzes  in  der  Hand  hat,  bestimmen  zu  können,  welche  dieser  Fabriken 
überhaupt  und  wie  viel  jede  der  hiezu  berechtigten  Fabriken  in  jeder  Erzeugnngs- 
periode  auf  den  Inlaudmarkt  bringen  darf. 

Wenn  ich  oben  erwähnt  habe,  daß  das  ungarische  Bestreben  nach  größt- 
möglicher, wirtschaftlicher  Selbständigkeit  im  vorliegenden  Falle  durch  die  in 
Österreich  herrschenden,  nationalen  Gegensätze  nur  noch  unterstützt  wurde,  so 
bängt  dies  folgendermaßen  zusammen.  Die  Kontingentierung  der  Produktion  wird 
als  ein  Mittel  gepriesen  — und  ist  auch  in  der  Tat  ein  geeignetes  Mittel 
uni  kleinere,  manchmal  einigermaßen  rückständige  Betriebe  gegen  die  überlegene 
Konkurrenz  größerer,  besser  investierter  Etablissements  zu  schützen;  gerade  hierin 
liegt  aber  auch  ein  schwerer,  gegen  das  Prinzip  der  Kontingentierung  zu  er- 
hebender Vorwurf,  der  gerade  dann  sich  anfdrängen  muß,  wenn  es  sich  darum 
handelt,  eine  bisher  durch  Ausfuhrprämien  unterstützte  Industrie  auch  ohne 
Prämie  exportfähig  zu  erhalten,  wozu  ja  naturgemäß  nur  die  bestausge nisteten 
Betriebe  geeignet  erscheinen.  An  dieser  staatswirtschaftlich  gewiß  nicht  un- 
berechtigten Erwägung  scheint  im  Deutschen  Reiche  die  von  der  Mehrheit  «ler 
Fabriken  auch  dort  gewünschte  Kontingentierung  zu  scheitern,  während  bei  uns 
die  gleiche  Erwägung  dadurch  von  vornherein  aus  dem  Felde  geschlagen  wurde, 
daß  das  Interesse  der  kleineren  Fabriken  infolge  ihrer  tatsächlichen,  geogra- 
phischen Verteilung  zu  dem  Range  einer  tschechisch-nationalen  Parteifrage  erhoben 
wurde.  Auch  die  polnische  Fraktion  des  Abgeordnetenhauses  ist  für  di«»  Kontingen- 
tierung — allerdings  nur  für  eine  nach  ihrem  provinziellen  Sonderinteresse  zu- 
geschnittene Kontingentierung  — förmlich  mit  Vehemenz  eingetreten.  Nachdem 
zuvor  Ungarn  ein  Junktim  zwischen  der  allein  unbedingt  nötigen  und  kurz 


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404 


Auspttz. 


befristeten  Annahme  <ter  Brüsseler  Konvention  und  der  keineswegs  ebenso  eiligen 
Kontingentierung  der  Zuckerproduktion  in  jedem  der  drei,  in  der  österreichisch- 
ungarischen  Monarchie  zollgeeinten  Staatsgebiet«  durchgesetzt  hatte,  haben  die 
polnischen  Politiker  durch  Obstruktionsdrohungen  auch  noch  ein  weiteres  Junktim 
für  die  schon  gar  nicht  eilig«,  individuelle  Verteilung  des  österreichischen  Zucker- 
kontingentes erzwungen.  Anderseits  fanden  die  Tschechen  mit  der  weitgehenden,  in 
der  Regierungsvorlage  den  kleineren  Rohzuekerfabriken  auf  Kosten  der  größeren, 
insbesondere  aber  der  sogenannten,  gemischten  Fabriken  zugewendeten,  sehr  nam- 
haften Begünstigung  sich  noch  nicht  zufriedengestellt,  warfen  sich  zu  Paladinen 
der  Rohzuckerindustrie  überhaupt  anf  und  machten  im  letzten  Augenblick  am 
29.  Jänner,  also  unmittelbar  vor  der  am  1.  Februar  ablaufcnden  Ratiflkationsfrist 
der  Brüsseler  Konvention,  ihre  Znstimmung,  ja  ihren  Veracht  auf  eine  Obstruktion 
von  einer  vorausgogangenen,  die  Kohznckorfabriken  befriedigenden  Einigung  der- 
selben mit  den  Raffineuren  abhängig.  Diese  Einigung  ist  bekanntlich  am  fol- 
genden Tage  gegen  12  Uhr  mittags  erfolgt;  wäre  aber  die  Entrüstung  der 
deutschen  Volkspartei  darüber,  daß  znm  Zwecke  des  Zustandeliriiigens  dieser 
Einigung  die  Vertreter  der  beiden  genannten  Industriebranchen  — selbstver- 
ständlich nicht  aus  eigener  Anmaßung,  sondern  nur  über  an  sie  von  einer 
Stelle,  welche  sie  für  kompetent  halten  mnßten,  ergangene  Aufforderung  — in 
den  Nebeiiräumcn  des  Parlamente  selbst  sich  zusaiumengefunden  hatten,  eine 
halbe  Stunde  früher  ausgebrochen,  wäre  sonach  der  Hinauswnrf  der  Zucker- 
industriellen aus  dem  Budgetsaale  eine  halbe  Stunde  früher  erfolgt,  so  wäre 
diese  Einigung  und  mit  derselben  die  parlamentarische  Erledigung  der  Brüsseler 
Konvention,  zur  großen  Blamage  unseres  Vaterlandes  vor  ganz  Europa,  in  die 
Brüche  gegangen.  Es  hat  sich  eben,  wie  schon  öfter  bei  früheren  ähnlichen 
Anlässen,  diesmal  wieder  gezeigt,  daß  tschechische  und  polnische  Politiker,  wenn 
sie  auch  die  herrschende  Mode  des  Gebrauches  antikapitalistischer  Redensarten 
im  allgemeinen  gerne  rnitmachen,  doch  überall  dort,  wo  es  um  materielle  Inter- 
essen ihrer  Kon  nationalen  nnd  selbst  auch  größerer  Unternehmer,  wie  ja  selbst 
der  kleinste  Rohzuckerfabrikant  doch  ein  solcher  noch  ist,  sich  handelt,  dieselben 
mit  aller  Energie  und  ohne  Rücksicht  auf  sonst  beliebte,  antikapitalistische 
Allüren  zu  vertreten  nicht  anstehen;  nur  di«  deutschen  Parteien  gönnen  sich 
den  in  unserem  relativ  kapitalsarmen  Vaterlande  recht  bedenklichen  Luxus,  es 
mit  dem  Antikapitalismns  bitter  ernst  zu  nehmen,  und  unr  die  deutschen,  größeren 
Unternehmer  sind  es  daher,  welche  auf  eine  wirksame  Vertretung  im  Abgeordneten- 
hause  nicht  rechnen  können,  welche  vielmehr  dort,  statt  den  gebührenden 
Schulz  zu  linden,  sogar  noch  Verunglimpfungen  ausgesetzt  sind. 

3.  Singularkontingentierung  und  Doppelkontingentierung. 

Die  individuelle  Aufteilung  des  Zuckerkontingentes  erfolgt  in  Österreich 
und  Ungarn  nach  verschiedenen  Grundsätzen;  es  sind  eben  auch  die  einschlägigen 
Verhältnisse  dies-  und  jenseits  der  Leitha  sehr  verschieden.  Wir  haben  in 
Österreich  im  ganzen  211  — wie  der  amtliche  Ausdruck  lautet  — Zucker- 
erzeugungsstätten.  Davon  sind  14  reine  K a f fi  n e r i e n,  welche  den  zu  ver- 
arbeitenden Rohzucker  aus  anderen  Fabriken  ankaufen;  eine  weitere  Raffinerie 


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Österreich-Ungarn  und  die  Brüsseler  Zackerkonvention,  405 

wird,  weil  dieselbe  nebst  Rohzucker  auch  fremde  Melasse  verarbeitet,  d.  h. 
entzückert.,  zu  der  Kategorie  der  sogenannten  gemischten  Fabriken  gerechnet. 
Wir  haben  ferner  28  gemischte  Fabriken,  welche  Rübe  verarbeiten  and  daraus  — 
mit  oder  ohne  Zukauf  von  Rohzucker — Konsumzucker,  und  zw  ar  entweder  ausschließlich 
Inlandkonsumzncker  oder  daneben  auch  Exportkonsumzacker  herstellen.  Dabei 
sei  bemerkt,  daß  nur  einige,  weniger  ins  Gewicht  fallende  Konsumzuckersorten,  Würfel, 
Mehl  und  Pile,  sowohl  im  Inland  als  auch  zum  Export,  verkauft  werden,  wahrend 
di»*  Hauptmasse  des  inländischen  Zuckerbedarfcs  auf  sehr  feinkörnige  Zuckerbrote 
oder  -Hute  sich  erstreckt,  welche  ein  spezielles,  für  den  Export  ungeeignetes 
Produkt  bilden,  zu  dessen  Herstellung  besondere,  kostspielige  Werksvorriclitungen 
erforderlich  sind.  Endlich  haben  wir  in  Österreich  eine  weit  überwiegende  Zahl, 
nämlich  1 138  reine  Roh  Zuckerfabriken,  welche  Rühe  verarbeiten  und 
daraus  bisher  entweder  nur  Rohzucker  oder  daneben  auch  Exportkonsamzucker 
hergestellt  haben.  Dagegen  gibt  es  in  Ungarn  im  ganzen  nur  21  Zuckererzeugnngs- 
stätten.  darunter  gar  keine  reine  Raffinerie,  10  gemischte  und  11  reine  Rohzucker- 
fahriken.  von  welch  letzteren  jedoch  die  Mehrzahl  durch  ihre  Eigentümer  mit 
gemischten  Fahriken  Zusammenhängen.  Daher  kommt  es,  daß  das  in  Österreich 
so  zahlreich  vertretene  und  gegen  die  anderen  Zweige  der  Zuckerindustrie  mehr 
oder  weniger  antagonistisch  sich  geltend  machende,  spezifische  Rohzuckerinteresse 
in  Ungarn  nur  durch  drei  oder  vier  Fabriken  repräsentiert  erscheint.  Auch  der 
Unterschied  und  somit  auch  der  Interessengegensatz  zwischen  groß  und  klein 
ist  in  Ungarn  weit  geringer  als  in  Österreich,  wo  die  größte  der  Rüben  ver- 
arbeitenden Fabriken  — zufällig  eine  gemischte  Fabrik  — in  Rohzucker  berechnet 
154.000  fl,  d.  i.  das  17fache  der  kleinsten  Rohzuckerfabrik  mit  bloß  9000  q, 
produziert,  während  die  analogen,  ungarischen  Zahlen  217.000  und  31.000  im 
Verhältnis  von  nur  7 : 1 zueinanderstehon;  nicht  weniger  als  42  österreichische 
Fabriken  .stehen  mit  ihrer  Erzeugung  hinter  der  kleinsten,  ungarischen  Fabrik 
zurück.  Endlich  sind  die  21  ungarischen  Fabriken  Eigentum  von  bloß  12  Firmen, 
während  in  Österreich  die  Falle,  daß  mehrere  Fabriken  gemeinsame  Eigentümer 
haben,  verhältnismäßig  weit  seltener  sind. 

Nimmt  inan  zu  alledem  noch  hinzu,  daß  für  die  individuelle  Verteilung  des 
ungarischen  Zuckerkontingentes  eine  gegen  bisher  um  rund  300.000  tj  oder 
beinahe  53  Proz.  erhöhte  Kontiiigentziffer  znr  Verfügung  steht,  so  wird  es 
begreiflich,  daß  die  ungarische  Regierung  — wie  in  ihrem  Motiven  berichte  ans- 
geführt  wird  — es  gar  nicht  nötig  hatte,  für  diese  Verteilung  irgend  eine 
theoretische  Grundlage  anfzustellen.  daß  vielmehr  die  bei  diesem  Anlaß  offiziell 
gerühmte  „patriotische  Einsicht“  der  ungarischen  Zuckerfabrikanten  genügt  hat, 
um  eine  freiwillige  Vereinbarung  der  Interessenten  zu  stände  zu  bringen.  Dieselbe 
beruht,  auf  dein  Prinzipe  der  sogenannten  Singularkontingentierung,  wonach  die 
10  gemischten  Fabriken  in  ihrer  Eigenschaft  als  Raffinerien  vorweg  ein  Prüzipnnm 
von  25  Proz.  des  ungarischen  Kontingentes  erhielten  und  der  Rest  dieses 
Kontingentes  auf  sämtliche  21  Fabriken  im  Verhältnisse  ihrer  Kobznckcrproduktion, 
jedoch  mit  einer  gewissen  Benachteiligung  der  jüngsten  Fabriken,  aufgeteilt 
wurde.  Die  reinen  Rohzuckerfabriken  werden  dadurch,  soweit  sie  nicht  durch  ihre 
Eigentümer  mit  einer  gemischten  Fabrik  Zusammenhängen,  vor  die  Alternative 


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406 


Auapiti, 


gestellt,  entweder  die  zur  Selbsterzengang  der  anf  sie  entfallenden  Inland-Konsum- 
zuckermengen  notigen  Werks  Vorrichtungen  anzuschaffen,  also  gerade  zur  Zeit  der 
durch  die  Brüsseler  Konvention  ungünstig  beeinflußten  Konjunktur  kostspielige 
Investitionen  zu  machen  oder  aber  ihre  Kontingentanteile  an  eine  der  mit  diesen 
Wo rks Vorrichtungen  schon  hinlänglich  versehenen,  gemischten  Fabriken  abzutreten 
oder  dieselben  dort  in  Lohn  herstellen  zu  lassen.  Ilis  nun  ist  eine  solche  Transaktion 
noch  nicht  zum  Abschlüsse  gelangt  und  es  bleibt  abzuwarten,  oh  eine  solche  zu  Gunsten 
der  Rohzuckerfabriken  Ausfallen  wird,  da  dieselben  dabei  anf  den  kleinen  Kreis  der 
gemischten,  ungarischen  Fabriken,  tatsächlich,  wie  die  Dingo  liegen,  auf  bloß  drei, 
als  Abnehmer  angewiesen  sind  und  den  letzteren  die  Zwangslage,  in  der  sich  die 
reinen  Kohznckerfahrjken  befinden,  selbstverständlich  sehr  wohl  bekannt  ist. 

Unter  den  weit  schwierigeren,  weit  komplizierteren,  weit  mehr  und  größere 
Interessengegensätze  in  sich  bergenden.  Österreichischen  Verhältnissen  hat  man 
sich  bei  uns  für  die  sogenannte  Doppelkontingentierung  entschlossen,  welche 
den  großen  Vorzug  hat,  dem  bei  jeder  wirtschaftlichen  Gesetzgebung  vor  allem 
hochzuhal lenden  Prinzipe  tunlichster  Schonung  des  Bestehenden  zu  entsprechen, 
während  bei  der  Singularkontingentierung  sprunghafte  Änderungen  und  Produktions- 
Verschiebungen  nur  schwer  vermeidlich  sind.  An  diesem  Fehler  leidet  auch  die 
ungarische  Singularkontingentierung,  und  dieselbe  dürfte  nur  dämm  unbedenklich 
sein,  weil  sie  ja  auf  einer  freiwilligen  Vereinbarung  hoiuht  und  weil  infolge  der 
starken  Erhöhung  der  Erzeugung  von  Inlandkonsumzucker  schmerzliche  Produktious- 
einschränkungen  dort  nicht,  Vorkommen  werden;  hei  uns  dagegen  würde  die  Singular- 
kontingentierung — ganz  abgesehen  davon,  daß  an  eine  diesbezügliche,  freiwillige 
Vereinbarung  der  so  viel  zahlreicheren  und  in  ihren  Interessen  weit  disparateren, 
österreichischen  Fabrikanten  gar  nicht  gedacht  werden  könnte  — geradezu  eine 
Gefahr  bedeutet  haben.  Es  hätten  nämlich  höchstwahrscheinlich,  obwohl  ein 
nüchterner  Kalkül  hievon  abraten  müßte,  doch  viele  bisherige  reine  Rohzucker- 
fabriken  — schon  weil  dies  der  Eitelkeit  der  Direktoren  schmeichelt  — die 
hei  der  Siugularkoiitingenticrnng  ihnen  zufallenden  Inlandkonsumzncker- Anteile 
auch  seihst  erzeugen  wollen  und  daher  die  zu  deren  Herstellung  nötigen,  besonderen 
Werksvorrichtungen  anschaffen  müssen;  dies  wäre  aber  vorn  Standpunkte  der 
Volkswirtschaft  geradezu  eine  Vergeudung  gewesen;  denn  die  bestehenden,  öster- 
reichischen Raffinerien,  deren  Werksvorrichtungen  für  die  Erzeugung  des  ganzen 
österreichischen  Kontingente»,  ja  solbst  auch  eines  weit  größeren  Quantums 
vollkommen  ausreichen,  hatten,  da  ja  hei  uns  nicht,  wie  in  Ungarn,  eine  Erhöhung 
der  Produktion  an  Inlandkonsmnzucker,  sondern  im  Gegenteile  eine  Verminderung 
um  mnd  100.000  7 Platz  greift,  ihren  Betrieb  wesentlich  eiuschräiikeii  müssen. 
Also  unnötige,  neue  Investitionen  auf  der  einen  und  partielle  Lahmlegung  beste- 
hender, gleichartiger  Investitionen  anf  der  andern  Seite,  da«  war  doch  wahrlich 
unter  unseren  nicht  gerade  an  Kapitalüberfluß  leidenden  Verhältnissen  unbedingt 
zn  vermeiden.  Dazu  kommt  aber  noch  eins:  für  den  Zweck  der  ganzen  Kontiu- 
gentieruugam aßregel,  welcher  außer  daß  der  ungarische  Znckerkonsum  für  die 
dortige  Produktion  Vorbehalten  wird  — darin  besteht,  der  heimischen  Zucker- 
industrie die  möglichst  vollständige  Ausnützung  des  Sechs-Franes-Schutzzolles  zu 
sichern,  ist  die  Kontingentierung  allein  noch  nicht  genügend;  es  muß  vielmehr 


Österreich-Ungarn  and  die  Brüsseler  Znckerkonvention. 


407 


noch  eine  Zentralisierung  des  inländischen  ZuckerverkanfeB  dnrch  eine  sogenannte 
Verkaufsvereinignng  hinzukommen.  Sonst  würde  nämlich  jede  Raffinerie  dort  ver- 
kaufen wollen,  wo  nach  der  geographischen  Lage  der  Znckerpreis  am  höchsten 
sein  wird,  also  z.  B.  in  Wien,  während  niemand  nach  Triest  würde  verkaufen  wollen, 
weil  trotz  der  hohen  Kosten  für  die  Fracht  seihst  von  der  nächstgelegenen 
Raffinerie  der  Znckerpreis  in  Triest  besonders  niedrig  wird  gehalten  werden  müssen 
und  das  Rindringen  von  französischer  Raffinade  oder  von  ägyptischem  Rohzucker, 
der,  weil  aus  Zuckerrohr  stammend,  unmittelbar  konsumtionsfähig  ist,  hintanzn- 
halten.  Kine  Verkaufsvereinignng  wird  nun  unter  den  43  österreichischen  Raffinerien 
wnlil  zu  stände  gebracht  werden  können,  schwerlich  aber  wenn  dnrch  den  ilinzutritt 
bisher  reiner  Rohzuckerfabriken  die  Zahl  derjenigen,  die  unter  „Einen  Hut“ 
gebracht  werden  müssen,  sich  vielleicht  verdoppelt  oder  verdreifacht  oder  gar 
noch  mehr  vervielfältigt  hätte. 

Was  ist  nun  die  Doppelkontingentiernng  und  worin  besteht  dieselbe?  Ein- 
fach darin,  «lall  das  ganze  österreichische.  Zuckerkontingent  zweimal,  und  zwar: 

das  eine  Mal  auf  alle  Raffinerien,  das  sind  die  reinen  Raffinerien  und 
die  gemischten  Fabriken, 

das  andere  Mal  auf  alle  Rohzuckerfabriken,  das  sind  die  reinen  Roh- 
zuckerfabriken und  wieder  die  gemischten  Fabriken,  aufgeteilt  wird, 

dall  ferner  jede  Rohzuckerfahrik  vom  Finanzminister  eine  ihrer  Quote  ent- 
sprechende Menge  sogenannter  Berechtigungsscheine  erhält  und 

daß  endlich  jede  Raffinerie  ihre  Quote  an  dem  Zuckerkontingent  nur  gegen 
dem  in  den  freien  Inlandverkehr  setzen  darf,  daü  dieselbe  ebenso,  wie  über  die 
erfolgt«!  Versteuerung,  auch  darüber  sich  ausweise,  daü  sie  die  diesem  Quantum 
entsprechende  Menge  von  Berechtigungsscheinen,  welche  nur  von  den  Rohzucker- 
fabriken erhältlich  sind,  erworben  habe.  Oie  aus  den  beiden  Aufteilungen  sich 
ergebenden,  beidemale  in  sogenannten  Beteilungs mall stäben  zum  Aus- 
druck kommenden  Quoten  sind  in  ihrer  wirtschaftlichen  Bedeutung  auüerordentlich 
verschieden.  Wenn  eine  Raffinerie  aus  der  ersteren  Aufteilung  einen  Beteilungs- 
maßstah  von  z.  B.  01.166  erhalten  hat,  so  bedeutet  dies,  da  die  Summe  der 
BeteilungsmaBstäbe  aller  Raffinerien  3,058.285  beträgt,  «laß  diese  Raffinerie  «las 
Recht  und  bei  Verlust  dieses  Rechtes  auch  die  Pflicht  hat,  in  jeder  der  fünf 
Erzeugungsperioden,  für  welche  das  Kontingentierungsgesetz  gilt,  von  jenem 
Quantum  lulandknnsumznrker,  welches  der  Finanzminister  zuui  Verkaufe  in  einer 
Erzeugungsperiode  freigeben  (liberieren)  wird,  2 Proz.  zu  versteuern  und  im 
Inland  zu  verkaufen;  erzeugen  darf  diese  Raffinerie  an  Inlandkonsumzucker  aller- 
dings auch  mehr,  aber  sie  müßte  das  Plus  für  die  nächste  Erzeugungsperiode 
in  ihren  Magazinen  zurückbehalten.  Der  Beteilungsmailstab  einer  Raffinerie  ist 
also  auch  für  den  Umfang  ihrer  Produktion  an  Inlaudkonsumzucker  maßgebend: 
demselben  kommt  eine  sehr  wesentliche,  technische  Bedeutung  zu.  (ianz  anders 
die  aus  der  zweiten  Aufteilung  für  die  Rohzuckerfabriken  hervorgehenden  Quoten, 
beziehungsweise  Beteilungsmallstäbe;  wenn  einer  Rohzuckerfabrik  ein  solcher 
Retcilungsmaflstab  in  der  Höhe  von  z.  B.  48.070  angewiesen  ist,  so  hat  dies 
lediglich  die  Bedeutung,  daß  — da  die  Summe  der  Beteilungsmaßstäbe  aller  Roh- 
zuckerl'abriken  0.615.800  ist  — diese  Fabrik  mit  */,  Proz.  an  jenem  Gesamtbeträge 

Zeitschrift  für  Voikawlmchaft,  Sozialpolitik  und  Verwaltung.  XII.  Band.  28 


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408 


Awpiti. 


partizipiert,  welchen  sämtliche  Raffinerien  für  die  von  denselben  benötigten 
Berechtigungsscheine  an  sämtliche  Robzuckerfabrikon  zu  entrichten  haben.  Dieser 
Betrag  ergibt  sich  aus  der  Multiplikation  der  aus  allen  österreichischen  Raffinerien 
in  einem  Jahre  hinweggebrachten  Inland  konsumauckerm  enge  mit  dem  am 
30.  Jänner  d.  J.  im  Budgetsaale  des  Abgeordnetenhauses  zwischen  den  beiden 
Zweigen  der  Zuckeriudustrie  vereinbarten  Einheitssätze  von  3 K 30  h per  100  ky 
versteuerten  Konsuinzucker.  Eine  technische  Bedeutung  in  dem  Sinne,  daß  die 
Höhe  des  einer  Kohzuckerfabrik  zugewiesenen  Beteilungsmaßstabes  irgend  wie 
begrenzend  auf  den  Produktionsumfang  und  somit  auf  die  Rübeneinkaufstnenge 
der  betreffenden  Rohzuckerfabrik  einwirken  würde,  kommt  also  diesen  Beteilungs- 
maßstäben in  keiner  Weise  zu,  obwohl  es  bei  der  leider  wenig  glücklichen,  für 
den  Nichtfachmann  oft  kaum  verständlichen  Diktion  des  Kontingentierungsgesetzes 
begreiflich  ist.  daß  die  gegenteilige  Meinung,  als  ob  ebeuso,  wie  den  Raffinerie- 
hetmlungsmaßstäben,  auch  den  RohzuckerbeteilungsmaßstAben  eine  wichtige,  tech- 
nische Bedeutung  zukfnne,  entstehen  kann.  Vielmehr  ist  der  Umstand,  ob  eine 
Rohzuckerfabrik  einen  noch  so  großen  oder  noch  so  kleinen  Beteilungsmaßstab 
hat,  für  die  Grüße  ihrer  Produktion  vollkommen  gleichgültig  und  ist  vielmehr 
nur  dafür  maßgebend,  mit  welcher  Quote  diese  Fabrik  an  dem  soeben  erwähnten 
Geldbeträge  partizipiert.  Nur  in  einer  Hinsicht  — es  sei  dies  der  Vollständigkeit 
wegen  bemerkt  — hat  der  einer  Kohzuckerfabrik  zugewiesene  Beteiluiigsinaßstab 
auch  eine  technische  Bedeutung,  aber  nicht  im  Sinne  einer  Begrenzung  der 
Produktion  nach  oben,  sondern  vielmehr  in  detn  Sinne,  daß  durch  denselben  für  die 
Produktion  eilt  Minimum  festgesetzt  wird.  Es  wird  nämlich  im  § 7,  Abs.  3 des 
Gesetzes,  betreffend  die  Regelung  der  individuellen  Verteilung  des  Zuckerkontingentes, 
eine  Strafe  darauf  gesetzt,  wenn  z.  B.  die  oberwähnte  Fabrik,  deren  Rohzacker- 
beteilungsmaßstab 48.079,  d.  i.  gerade  '/*  Proz.  der  Summe  aller  Hohzucker- 
boteilungsinaßstäbe  beträgt,  in  einer  Betriebsperiode  weniger  Zucker  fertigstellen 
würde,  als  einem  halben  Prozent  des  ganzen,  in  derselben  Betriebsperiode  libe- 
rierten  Konsum  zuckerquantums  entspricht;  das  wäre,  wenn  gerade  das  ganze 
Kontingent  von  2,770.340  q liberiert  würde,  13.852  q Konsumzucker  oder 
15.391  7 Rohzucker.  Die  Strafe  besteht  darin,  daß,  wenn  die  Erzeugung  der 
Fabrik  hinter  diesem  Minimum  z.  B.  um  10  Proz.  zurückgeblieben  wäre,  ihr 
Kolrzuckcrheteilungsmaßstab  für  die  nächste  Betriebsperiode  um  10  Proz.  gekürzt 
wird.  Praktische  Bedeutung  dürfte  dieser  Bestimmung  wohl  kaum  jemals 
zukommen. 

Um  das  Gesagte  noch  klarer  zu  machen,  mögen  für  das  liberierte  Konsuin- 
zuckerqnantum  und  für  den  daraus  erzielten  Erlös  bestimmte  Ziffern  angenommen 
werden.  Gesetzt,  es  würden  in  der  Betriebsperiode  1903/4  gerade  das  ganze 
Kontingent  voll  2,770.340  q liberiert,  und  es  würde  für  dieses  Quantum  ein  Erlös 
erzielt  werden,  von  welchem  nach  Bestreitung  aller  Verkaufsspesen  und  aller 
Frachten  von  den  Uaffineriestationen  zu  den  Konsumplfitzen  gerade  200  Mill. 
Kronen  übrig  bleiben  würden;  das  wären  also  72  K 19  h per  Meterzentner 
Konsuinzucker.  Voll  diesen  200  Mill.  Kronen  haben  die  Raffinerien  abzugeben 
38  X 2,770.340  = 105,272.920  K an  den  Fiskus  und  3*3  X 2,770.340  = 
9,142.142  K an  die  Rohzuckeriudustrie.  so  daß  denselben  verbleiben  85,584.985  K 


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Österreich-Ungarn  und  die  Briüneler  Zuckerkonveution 


409 


oder  30  K 89  h per  Meterzentner  Inlandkonsumzucker.  Ob  hievon  nach  Bestreitung 
der  Rohzuckerbeschaffuugs-  und  der  Raffinierungskosten,  nach  Verzinsung  des 
Betriebs-  und  Anlagekapitals  und  nach  angemessener  Amortisation  des  letzteren  noch 
irgend  etwas  und  wie  viel  erübrigt,  das  wird  jede  einzelne  Raffinerie  erst  nachträglich 
ans  ihrer  Bilanz  erfahren.  Dagegen  weiß  jode  Rohznckorfabrik  im  vorhinein  ganz 
genau,  wie  viele  Heller  ans  jedem  vom  Finanzminister  liberierten  Zentner  Konsum  - 
zucker  ihr,  und  zwar  völlig  unabhängig  von  Quantum  und  Quäle  ihrer  eigenen 
Produktion,  lediglich  dank  dem  Sechs-Franca-Zollscbutz  zn gehen  werden;  der  inehr- 
erwähnten  Fabrik  mit  dom  Uobzuckerbetcilungsmaßstab  von  48.079  z.  B.  gerade 
Vs  Pro»,  von  3 K 30  /i,  da«  ist  1*05  h. 

Ganz  ähnlich  so  hat  es  sich  auch  bisher  verhalten.  Auch  jetzt  fungieren 
die  Raffinerien,  indem  sie  den  ganzen  Inlandkonsumzucker  zum  Verkauf  bringen, 
als  Einnehmer  sowohl  der  staatlichen  Verhrauchsabgabe,  als  auch  des  den  Roh- 
zuckerfahriken  nach  den  bestehenden  Vereinbarungen  zukommenden  Anteiles  an 
dem  Kartellnutzen.  Auch  bisher  ist  dieser  Anteil  für  jede  einzelne  Rohzueker- 
fabrik  prozentuell  von  vornherein  genau  bestimmt  und  dem  gesamten,  inländischen 
Zuckerverbrauch  genau  proportional.  Ein  Unterschied  besteht  darin,  daß  die 
Höhe  dieses  Anteiles  bis  nun  auch  noch  von  der  Differenz  abhing,  um  welche 
der  jeweilige  Rohzuckerpreis  hinter  einem  im  voraus  garantierten  Preisniveau 
zurückblieb,  während  fortab  an  die  »Stelle  diese«  schwankenden  Faktors  der  fixe 
Satz  von  3 K 30  h tritt. 

4.  Begünstigungen  und  Benachteiligungen. 

Von  dem  durch  die  Doppelkontingentierung  zu  verwirklichenden  Grundsätze 
der  Erhaltung  des  Bestehenden  sind  in  zwei  Richtungen  Ausnahmen  gemacht 
worden,  und  zwar  einerseits  zu  Gunsten  der  galizisch-bukowinaer  Fabriken  und 
anderseits  zu  Gunsten  der  kleinen,  vorwiegend  böhmischen,  reinen  Rohzucker- 
fabriken. 

Die  erstere  Ausnahme  bestand  in  der  Regierungsvorlage  darin,  daß  nebst 
den  43  Raffinerien  — 14  reinen  Raffinerien  und  29  gemischten  Fabriken  — 
welche  bis  nun  in  Österreich  tatsächlich  allein  Zucker  in  den  freien  Inlandverkehr 
gesetzt  haben  nud  für  welche  die  höchste  Versteuerung  in  einer  der  drei  Erzeu- 
gungsperioden 1898/9,  1899/1900  und  1900/1  als  Beteilnngsmaßstab  festgesetzt 
ist,  noch  die  3 östlichen,  bisher  reinen  Rohzuckerfabrikeil  mit  Individualanteilen 
an  «lein  Konsnnizuckerkontingent  bedacht  wurden.  Es  sind  dies  die  ostgalizische 
Fabrik  Tlnmacz  und  die  hukowinaer  Zuckerfabriken  Lnzan  und  Zuczka,  von  welchen 
die  beiden  ersteren  der  Chropiner  Aktiengesellschaft,  das  ist  der  Gesamtheit 
der  österreichisch-ungarischen  Raffineure,  die  letztere  aber  der  galizisch-huko- 
winaer  Zuckeriiidustrie-Aktiengesollschaft  in  Przeworsk  gehören,  und  es  ist  dies 
aus  dem  Grunde  geschehen,  weil  es  unwirtschaftlich  erscheint,  den  in  diesen 
drei  so  weit  östlich  liegenden  Fabriken  erzeugten  Rohzucker  nach  der  einzigen 
galizischcn.  im  westlichen  Landesteile  gelegenen  Raffinerie  Przeworsk  oder  gar 
nach  der  nächsten,  schlesischen  Raffinere  Chjbi  zu  verfrachten  und  dann  die 
daraus  erzeugte  Raffinade  wieder  nach  den  ustgalizischen  und  hukowinaer 
Konsumplätzen  zurückzuführen.  Es  mag  ja  sein,  daß  trotz  der  Ersparnis 

23* 


410 


A Ulpits. 


dieser  Frachtkosten  die  Errichtung  einer  neuen  Raffinerie  den  Besitzern  der  drei 
iiatlich  gelegenen  Fabriken  nicht  rentabel  erscheinen  und  es  daher  bei  dem  eben 
erwähnten  Hin-  und  Herverfrachten  nach  wie  vor  bleiben  wird ; aber  eine  Ent- 
scheidung, durch  welche  so  etwas  perpetuiert  wird,  sollte  doch  wenigstens  von 
der  Gesetzgebung  nicht  getroffen  werden.  Dies  wurde  auch  in  der  am  12.  bis 
14.  Jänner  d.  J.  im  Finanzministerium  abgehaltenen  Enquete  allseitig,  und  /.war 
dadurch  anerkannt,  daß  kein  Widerspruch  dagegen  sich  erhob,  daß  den  genannten 
drei  östlich  gelegenen  Fabriken  IiafÜneriebeteilungsmaßstäbe  in  der  GesamthOhe 
von  100.000  zugewiesen  würden.  Wenn  die  Regierung  noch  etwas  weiter,  nämlich 
auf  120.000,  gegangen  ist,  so  befremdet  dies  weit  weniger  als  die  höchst  eigen- 
tümliche Art  der  Verteilung  dieser  Ziffer,  daß  nämlich  die  der  polnischen  Aktien- 
gesellschaft l’rzeworsk  gehörige  Fabrik  Zuczka  100.000  erhalten  hat.  während 
die  beiden  der  vorwiegend  deutschen  Chropiner  Gesellschaft  gehörenden  Fabriken 
Lnzan  und  Tlnmacz  mit  je  10.000  sich  zu  begnügen  haben.  Es  ist  eine  gute 
Illustration  dessen,  was  — über  die  seitens  unseres  Abgeordnetenhauses  den 
größeren  Unternehmern,  je  nachdem  dieselben  einer  slavischen  oder  der  deutschen 
Nationalität  angehören,  zuteil  werdende,  ungleiche  Behandlung  — oben  gesagt 
wurde,  daß  an  dieser  Begünstigung  der  Przoworsker  Aktiengesellschaft  der  Zucker- 
stencrausschuß  nicht  nur  keinen  Anstoß  genommen,  sondern  im  Gegenteil  in 
dieser  Richtung  noch  weiter  zu  gehen  für  nötig  gefunden  hat. 

Der  Zuckersteuerausschuß  hat  an  der  Kontingentierungsvorlage  der  Regierung 
zwei  Änderungen,  beide  im  § 4.  vorgenommen;  dieser  Paragraph  bestimmt,  was 
zu  geschehen  hat,  wenn  infolge  einer  Zunahme  des  österreichischen  Zucker- 
konsmns  das  österreichische  Zuckcrkontingent,  sei  es  schon  in  der  Erzeugnngs- 
periode  190:1/4  oder  in  einer  der  späteren  Erzeugungsperioden  1004/5  bis 
1907/8,  über  die  ursprüngliche  Ziffer  von  2,770.340  7 erhöht  werden  sollte. 
Nach  der  Regierungsvorlage  sollte  in  solchem  Falle  das  Plus  an  Kontingent  den 
46  Raffinerien  — den  14  reinen  Raffinerien,  den  29  gemischten  Fabriken 
und  überdies  noch  den  drei  östlichen  Fabriken  — verhältnismäßig  znge- 
wiesen  werden,  während  die  197  Rolizuckerfahriken,  das  sind  die  nach  Ausschluß 
der  letzteren  drei  Fabriken  mir  mehr  165  reinen  Rohznckerfabriken,  dann  wieder 
die  29  gemischten  nnd  die  drei  östlichen  Fabriken  zu  gleichen  Teilen  an 
dem  Kontingentzuwachg  partizipieren  sollten.  Diese  letztere  Bestimmung  ist  liebst 
anderen,  die  noch  zu  besprechen  sein  werden,  eine  Begünstigung  der  kleinen 
auf  Kosten  der  größeren  Rohznckerfabriken. 

Der  Zuckerstenerausschuß  hat,  wie  gesagt,  an  diesem  § 4 zwei  Änderungen 
vorgenommen.  Die  eine,  welche  im  Ansschußberichte  mit  den  Worten  „daß  der 
Schatz  der  Kleinen  auch  bei  den  kleinen  Raffinerien  zum  Siege  gelangte  und  daß 
denselben  eine  Aufbesserung  ihrer  Zuckerkontingente  bis  zur  Quote  von  je 
70.000  7 bewilligt  wurde-  — man  kann  wohl  nicht  sagen  — begründet  wurde, 
ist  bei  der  zweiten  Lesung  im  Plenum,  sonderbarerweise  und  gegen  alle 
Geschäftsordnung  über  Antrag  des  Berichterstatters,  sang-  und  klanglos  gefallen; 
es  würde  auch  in  der  Tat  recht  schwer  sein,  für  den  Schutz  der  Kleinen,  welcher 
bei  Rohznckerfabriken  nnr  mit  dem  Interesse  der  Landwirtschaft  an  der  Konser- 
vierung jeder  bestehenden  Rühoiieinkaafsstelle  motiviert  werden  kann,  bei 


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Österräch-thigani  und  die  Brüsseler  Zuckerkonventiou.  ; ] [ 

Raffinerien,  wo  jede  derartige  Krwägung  vollkouiuieii  weglallt,  auch  nur  einen 
halbwegs  plausiblen  Grund  zu  linden.  Überdies  wäre  die  Begünstigung  der  „kleinen 
Raffinerien*  mehreren  der  allergrößten  Zuckerfirmen  zu  gute  gekommen.  Die 
andere  Änderung,  welche  der  Ausschuß,  und  zwar  zu  Gunsten  der  Przeworsker 
Aktiengesellschaft,  vnrgenonimen  hat,  ist  dagegen  Gesetz  geworden.  Dieselbe 
bedeutet  nichts  anderes,  als  daß,  wenn  das  österreichische  Zuckerkontingent 
erhöht  wird,  diese  Krhühuug,  sw  lange  diesolbe  nicht  mehr  als  63.900  7 Konsum- 
zucker = 71.000  7 Rohznckerwert  beträgt,  zwar  den  Raffinerien  im  Sinne  der 
Kegierungsvurlagc,  aber,  was  die  Rolizuckerfahriken  aubelangt,  nur  den  beiden, 
derselben  Aktiengesellschaft  gehörenden  Fabriken  Przeworsk  und  Zuczka  und 
der  von  der  Leipnik-Luudenburger  Aktiengesellschaft  in  Leopoldsdorf  neu 
errichteten  Fabrik,  welche  wohl,  um  die  Begünstigung  der  erstereu  Aktiengesellschaft 
minder  grell  erscheinen  zu  lassen,  mit  herangezogen  wurde,  zu  gute  kommen 
soll;  erst  wenn  das  österreichische  Zuckerkontingent  die  ursprüngliche  Ziffer  von 
2,770.340  um  mehr  als  63.900  7 überstiegen,  wenn  dasselbe  also  die  Ziffer 
von  2,834.240  7 überschritten  haben  wird,  erst  dann  tritt  hinsichtlich  der  Roh- 
znckerfahrikeli  die  Bestimmung  der  Regierungsvorlage,  daß  nämlich  au  dem  Plus 
alle  Rohzuckerfabriken  zu  gleichen  Teilen  zu  partizipieren  haben,  wieder  in  Kraft. 
Die  hier  in  Betracht  kommenden  Kohzuckerbeteilungsmaßstäbe  sind  für  Przeworsk, 
nach  der  noch  weiter  unten  zu  besprechenden  Regel  für  schon  während  einer 
der  drei  Krzeuguiigsperioden  1898  99, 1899/1000  und  1900/01  in  Betrieb  gewesene 
Fabriken  74.250,  für  Zuczka  und  für  Leopoldsdorf,  welche  beide  erst  im  Jahre 
1901/2  in  Betrieb  gesetzt  wurden,  102.000  beziehungsweise  39.000,  und  es  ist 
eine  weitere,  schon  in  der  Regierungsvorlage  enthaltene  Begünstigung  der  Przeworsker 
Aktiengesellschaft,  daß  von  den  drei  Fabriken,  welche  im  Jahre  1901/2  in 
Betrieb  gesetzt  wurden,  gerade  nur  Zuczka  den  hohen  Bcteilungsmaßstab  von 
102.000,  die  beiden  anderen  Luran  und  Leopoldsdorf  aber  nur  je  39.000  erhalten 
haben.  Der  Kffekt  der  in  Rede  stehenden,  vom  Zuckersteneransschuß  beschlossenen 
und  Gesetz  gewordenen  Änderung  ist  nun  der  folgende; 

Solange  das  österreichische  Zuckerkontingent  die  Ziffer  von  2,770.340  7 
nicht  übersteigt,  partizipieren  die  Przeworsker  Aktiengesellschaft  für  ihre  beiden 

1 7Ö 

Fabriken  Przeworsk  und  Zuczka  mit  -■  . = I ’83  Proz.,  die  Leopoldsdorfer 

9, 61. >.800 

39.000 

Fabrik  mit  , --  = 0'41  Proz.  au  der  von  allen  Raffinerien  für  die  bouö- 

9,615.800 

tigteu  Berechtigungsscheine  an  alle  Rohzuckerfabriken  zu  zahlenden  Summe,  das  ist 
bei  voller  Liberierung  des  Kontingentes  der  oben  angeführte  Betrag  von  9,142. 1 22  K, 
voll  welchem  also  in  diesem  Falle  erhalten  würden:  die  Przeworsker  Aktien- 
gesellschaft 167.567  K und  die  Fabrik  Leopoldsdorf  37.079  K.  Steig!  nun  das 
österreichische  Zuckerkontingent  um  oberwähnte  63.900  7 und  somit  der  bei 
voller  Liberierung  von  den  Raffinerien  für  die  erforderlichen  Berechtigungsscheine 
zu  entrichtende  Betrag  uin  3'3  X 63.900  — 210.870  K,  so  wäre  hievon  nach 
der  Regierungsvorlage  auf  jede  der  197  Rohzuckerfabriken  ein  Betrag  vou  1070  K 
entfallen;  es  hätte  also  die  Przeworsker  Aktiengesellschaft  für  ihre  zwei  Fabriken 
2140  K und  Leopoldsdorf  1070  K mehr,  als  soeben  berechnet,  erhalten.  Durch 


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412 


Auspitz. 


die  vom  ZuckereteuerauBBchdß  beschlossene  und  seither  Gesetz  gewordene  Änderung 
kommt  dagegen  der  Mehrbetrag  von  210.870  K ausschließlich  den  genannten 
drei  Fabriken  zu  gut«*,  und  zwar  wird  derselbe  unter  diese  drei  Fabriken  im 
Verhältnis  von  32  : 02  : 7 oder  zwischen  den  zwei  Aktiengesellschaften  Przeworek 
einerseits  und  Leipnik-Luiidenhurg  anderseits  im  Verhältnis  von  Gl  : 7 geteilt; 
die  erstere  erhält  also  190.080  K.  die  letztere  20.790  K , so  .laß  ans  der  an 
der  Regierungsvorlage  vorgenonuueiien  Änderung  der  erstcron  Aktiengesellschaft 
ein  Gewinn  von  jährlich  187.940  K.  der  letzteren  aber  ein  solcher  von  19.720  K, 
den  übrigen  194  Rohzuckerfabrikon  aber  ein  Nachteil  von  je  1070  K erwächst. 

Außer  dieser  rein  pekuniären  Bedeutung  «ler  au  der  Regierungsvorlage 
vorgenommenen  Änderung  kommt  derselben  nur  noch  «li«-*  praktisch  ganz  gleich- 
gültige Bedeutung  zu,  daß  für  die  begünstigte’«  Fabriken  das  durch  § 7.,  Abs.  5 
des  Kontingeutierungsgesetzes  normierte  Krzeuguiigsmiiiiiiiuin  sich  erhöht,  und  es 
ist  daher  geradezu  erstaunlich,  daß  hervorragende  Parlamentarier,  wie  A.  v. 
J a w o r s k i,  1).  v.  Abraham  «wict  und  Prof.  G 1 a I»  i n s k i,  hieran  bei  der 
ersten  Lesung  im  Abgeordnetenhaus««,  dann  im  Zuckersteuerausschuß  und  wieder 
bei  der  zweiten  Losung  im  Plenum  so  große  Worte  gewendet  haben.  Man  muß 
beinahe  an  nehmen,  daß  dieso  Abgeordneten  ungenügend  informiert  und  wirklich 
der  Meinung  waren,  als  handelt«;  «*s  sich  für  die  galiziscli-bukowinaer  Zuckerindustrie 
und  den  dortigen  Rübenbau  um  eine  Lebensfrage,  während  doch  tatsächlich  die 
betreffenden  Fabriken  in  ihrer  R«>hznckerproduktion  auch  durch  die  Bestimmungen 
der  Regierungsvorlage  in  keiner  Weise  beschränkt  waren  und  dieselben  durch 
die  erlangte,  von  dem  Umfange  ihrer  Produktion  ganz  unabhängige  Sonderbegün- 
stigung sich  schwerlich  veranlaßt  sehen  werden,  Rnbenpreise  anzulogon,  welche 
durch  den  Wert  des  Produkt«?«  nicht  gedekt  sein  würden.  Für  die  Verwertung 
des  Rohzuckers  ist  aber  nicht  die  Höh«?  des  RohzuekerbeteiluugsmaUstabcs,  sondern 
lediglich  die  Höhe  des  Kaffineriebeteilungsmaßstabes  ausschlaggebend,  und  in 
letzterer  Hinsicht  war  ja  die  Przeworsker  Aktiengesellschaft  schon  in  der 
Regierungsvorlage  nicht  eben  karg  bedacht. 

Die  andere  der  beiden  oben  erwähnten  Abweichungen  von  dein  Grundsätze 
der  Erhaltung  des  statu.«  quo  ant«?  besteht  im  folgenden:  es  würde  diesem 
Grundsätze  entsprechen,  wenn  für  alle  die  194  Rolizuckerfabriken,  welche  schon 
in  einer  der  Erzcugungspcri«»dcii  1898/99,  1899/1900  und  1900/01  im  Betriebe 
waren,  nämlich  165  reine  Rohzuckerfabriken  und  die  29  gemischten  Fabriken, 
die  höchste  Erzeugung  an  Rohzuckerwert  in  einem  dieser  drei  Jahre  als  Roh- 
zuckerbeteilungsmaßstah  gelten  würde.  Dies  wird  jedoch  durch  § 3 des  Kon- 
tingentierungsgesetzes nur  hinsichtlich  jener  51  reinen  Rohznckurfahrikeu  ange- 
ordnet, deren  höchste  Erzeugung  zwischen  45.000  und  G0.000  q liegt;  die  89 
kleineren,  reinen  Rolizuckerfabriken  werden  begünstigt,  und  zwar  werden  den 
sieben  kleinsten,  der«?»  Höclisterzeugung  kleiner  als  19.500  q ist.  Beteilungsinaß- 
stäbe  in  der  Höhe  des  Doppelten  ihrer  Höchsterzeugung  zugewiesen.  Es  folgen 
dann  47  Fabriken  mit  H<Öchstorzeugniig«n»  zwischen  19.500  und  36.700' 9, 
welche  alle  den  gleichen  Betcilungsmaßstah  39.000  erhalten,  und  weitere  35 
Fabriken  mit  Höchsterzeugungen  zwischen  36.700  und  45.000,  welche  in  abfal- 
lender Skala  um  6 Proz.,  dann  um  3 Pruz.  und  zuletzt  nur  eben  auf  45.000 


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Österreich-Ungarn  und  die  Brüsseler  Zuckerkonvention  41.3 

erhöht  werden.  Dagegen  werden  sieben  reine  Rohzuekerfabrikeii  mit  Höcbst- 
erzeugungen  zwischen  (50.000  nnd  07.000  q auf  60.000  und  diu  restlichen  18 
reinen  Kohzuckerfabriken  mit  Höchsterzeugungen  zwischen  07.000  und  124.3<tü 
am  12*46  Pr>»z.  herabgesetzt,  während  die  29  gemischten  Fabriken  noch 
ungünstiger  behandelt  und  denselben  Btdeilungsmaßstäbe  zugewiesen  werden, 
welche  um  22*33  Pro/.,  niedriger  sind,  als  ihre  in  Rohzuckerwert  berechne  hui 
H<"»chs terzengungeii  in  einem  der  mehrerw&hnten  drei  Jahre. 

Der  finanzielle  Effekt  dieser  Bestimmungen  ist  aus  der  nachfolgenden  Tabelle 
ersichtlich;  dieselbe  beruht  auf  der  Annahme.  daß  das  österreichische  Zucker- 
kontingent  Ton  2,770.340  q voll  liberiert  werde,  daß  also  sämtliche  197  Roh- 
zuckerfabriken  zusammen  den  früher  erwähnten  Betrag  von  9,142.122  K erhalten. 
Hievon  entfallen,  nach  Ausscheidung  der  drei  erst  in  der  Erzeugungsperiode 
1901  2 in  Betrieb  gesetzten  Fabriken  Leopoldsdorf.  Lnzan  und  Znczkn  mit 
Rücksicht  auf  deren  Rohzuckerbeteilungsmaßstäbe  per  zusammen  180  000,  auf  die 
194  filteren  Fabriken  rund  9,125.000  K.  ln  der  folgenden  Tabelle  ist  für  jede 
Gruppe  von  Fabriken  berechnet,  in  Spalte  I wie  viel  dieselbe  erhalten  würde, 
wenn  für  alle  diese  194  Rohzuckerfabriken  die  höchste  Erzeugung  in  einer  der 
mehrerwähnteil  drei  Erzeugungsperioden  als  Beteilungsmaßstab  festgesetzt  worden 
wäre,  und  in  Spalte  II  wie  viel  dieselben  Gruppen  von  Fabriken  infolge  der 
tatsächlichen  Anordnungen  des  § 3 des  Ko.itingentierungsgesetzes  erhalten  werden. 
Siehe  Tabelle  S.  414.) 

Daß  von  den  reinen  Rohzuckerfabrikeii  die  kleinen  so  sehr  begünstigt,  die 
großen  aber  benachteiligt  werden,  wird  damit  begründet,  daß  die  Erhaltung  der 
«rsteren  im  Interesse  der  Landwirtschaft  gelegen  ist,  und  daß  die  letzteren  ver- 
hältnismäßig geringere  Betriebskosten  haben.  Dies  ist  richtig,  dürfte  aber  zur 
Rechtfertigung  der  daraus  gezogenen,  so  weitgehenden  Konsequenzen  doch  kaum  aus- 
reichen. Die  Betriebskosten  sind  neben  den  beiden  anderen,  für  den  Gestehungsprcis 
des  Rohzuckers  maßgebenden  Faktoren  — Rübenpreis  und  Uübenqualität  — von 
untergeordneter  Bedeutung,  und  insbesondere  die  letztere  ist  in  verschiedenen 
Gegenden  so  verschieden,  daß  eine  große  Fabrik  trotz  ihrer  geringeren  Betriebs- 
kosten ganz  w'obl  teurer  produzieren  kann  als  eine  viel  kleinere  Fabrik,  wenn 
derselben  ein  besseres  Rübenmaterial  zur  Verfügung  steht.  Auch  ist  nicht  zu 
übersehen,  daß  die  große  Fabrik  ihren  größeren  Rübenbedarf  nicht  in  nächster 
Nähe  decken  kann,  sondern  wenigstens  teilweise  zu  entlegenerer  Rübe  mit  höheren 
Frachtkosten  greifen  muß.  Für  die  besonders  starke  Benachteiligung  der  ge- 
mischten Fabriken  wird  geltend  gemacht,  daß  dieselben  durch  die  lokale  Ver- 
einigung der  beiden  Betriebe  — Rübenvorarbeitung  und  RolizuckerrafHnierung  — 
all  Frachten  nnd  Betriebskosten  wesentlich  sparen;  auch  das  ist  richtig,  aber  cs 
fehlt  auch  hier  nicht  an  einschränkenden  Momenten.  Die  Ersparnis  an  Rohzucker- 
fracht nimmt  in  dem  Maße  ab,  als  die  gemischte  Fabrik  mehr  fremden  Rohzucker 
zukauft,  und  es  gibt  gemischte  Fabriken,  die  dies  eigentlich  nur  dem  Namen 
nach  siud,  indem  die  beiden  Betriebe  in  je  zwei  getrennten,  nur  innerhalb  der- 
selben Umfriedung  stehenden  Gebäuden  stattfinden  und  nur  das  Kesselhaus  ge- 
meinsam ist;  d:t  können  dann  die  Betriehsersparnisse  nicht  sehr  erheblich  sein. 
Anderseits  macht  sich  dort,  wo  Rohzuck ererzeugung  und  -raffinerie  wirklich  in 


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414 


Au  spitz. 


5> 

m 

u. 

Höchst*  rzeuguug 
in  Meterzentner 

i 

11  j'  Begünstigung  Benachteiligung! 

von 

bis 

K r o 

n e .i 

Kronen 

l*roz. 

Kronen 

Proz. 

A.  Keine  Robzuckerfabriken. 

7 

8.800 

19.500 

110.060 

220.120  ' 

110.060 

ioo-o 





10 

19.500 

24.300 

211.470 

377.150 

165.680 

78-3 

— 

- 

10 

24.800 

27.000 

250.720 

877.150 

126.430 

50  4 

— 

- 1 

10 

27.000 

30.340 

283.100 

377.150 

94.050 

33  2 

— 

- i 

10 

30.340 

35.000 

317.560 

377.150 

59.500 

18-8 

- 

1 

35.000 

36.700 

243.140 

264.010 

20.870 

8-6 

— 

— 

- 

7 

36.700 

38.000 

254.560 

260.830 

15.270 

60 

— 

5 

38.900 

40  ODO 

190.600 

199.310 

8.710 

4-6 

18 

40.000 

43.700 

720.450 

742.070  ii 

21.620 

30 

— 

5 

43.700 

45.000 

214.510 

217.590  || 

3.080 

1-4 

— 

51 

45.000 

60.000 

2,531.480 

2,531.480  |j 

— 

— 

7 

60.000 

67.000 

432.510 

406.170  1 

~ 

- 

26.340 

61 

Iß 

67.000 

124.350 

1,544.780 

1,352.240  || 

~ 

192.540 

12  46 

/>.  Gemischte  Fabriken. 

29 

1 16.800 

1 

154.400 

1,820.060 

1,413.580  j 

- 

406.480 

2233 

104 

1 

zusammen  . . . 

9,125.000 

9,125.000 

625.360 

- 

625.360 

1 1 I i S i 

einem  Gebäude  vereinigt  sind,  oft  der  Übelstand  geltend,  daß  die  letztere  viel 
länger  dauert  als  die  Rübenarbeit  und  also  dann  die  Raffinerie  in  einem  für 
ihre  speziellen  Zwecke  zu  großen  Gebäude  und  daher  mit  unnütz  großen  Wärme- 
verlusten,  d.  h.  mit  zu  großem  Kohlenverbrauch,  arbeitet.  Endlich  darf  nicht 
übersehen  werden,  daß  os  volkswirtschaftlich  ganz  verkehrt  wäre,  den  Vorteil, 
welchen  der  rationellere  Betrieb  — und  dies  gilt  gleichmäßig  von  der  großen 
wie  von  der  gemischten  Fabrik  — seinem  Unternehmer  bietet,  zu  konfiszieren; 
der  Unternehmungsgeist  ist  ohnedies  in  Österreich  nicht  allzu  rege  und  sollte 
nicht  noch  dadurch  abgeschreckt  werden,  daß.  wenn  jemand  doch  etwas  unter- 
nimmt, die  Frücht«  seines  Wagemutes  ihm  weggonoiumen  werden. 

5.  Einwendungen. 

Bei  der  Beratung  der  KontingenticrangHYorlage  sind  gegen  dieselbe  in 
beiden  Häusern  des  Reichsrates  mehrfache  Einwendungen  erhoben  worden. 

Der  Haupteiiiwand  geht  dahin,  daß  lür  die  bestehenden  Raffinerien  ein 
Monopol  geschaffen  werde,  daß  eine  neue  Raffinerie  nicht  errichtet  werden 
k^nne,  weil  dieselbe  kein  Inlandkontingent  erhalten  und  also  auf  den  unrentabel« 


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Österreich-Ungarn  und  die  Brüsseler  Zuckerkonvention.  415 

Export  angewiesen  sein  würde,  daß  ancli  die  Errichtung  neuer  Rohzuckerfabrikeu 
indirekt  dadurch  verboten  sei,  daß  hiezu  nur  Genossenschaften,  deren  Teilnehmer 
die  Rübe  liefern,  berechtigt  sein  sollen,  während  doch  gerade  mit  solchen  Genos- 
senschaften recht  zahlreiche  und  nichts  weniger  als  zur  Nachahmung  ermunternde 
Erfahrungen  gemacht  worden  sind,  daß  überhaupt  die  freie  Bewegung  gehindert, 
mit  einem  Worte,  die  ganze  heimische  Zuckerindustrie  petriti  ziert  werde. 
Daran  ist  allerdings  etwas  Wahres.  Aber  ich  meine,  der  darin  liegende  Vorwurf 
geht  an  eine  falsche  Adresse;  derselbe  sollte  nirht  gegen  die  durch  die  jetzige 
Lage  unserer  Zuckerindustrie  — ich  will  nicht  geradezu  sagen  — gebotene, 
aber  doch  der  Gesetzgebung'  in  sehr  kräftiger  Weise  suggerierte  Kontin- 
gentierung, als  vielmehr  gegen  all  das  gerichtet  werden,  was  seit  Jahren  und 
Jahren  geschehen  und  nicht  geschehen  ist  und  wodurch  die  heutige,  kritische 
Situation  der  Znckeriuduslrie  verursacht,  ja  man  kann  sagen,  verschuldet  wurde. 
Man  hat  es  nicht  nur  geschehen  lassen,  ja  mau  bat  es  goradezn  gerne  gesehen  und 
es  gefördert,  daß  unsere  Zuckerindustrie  weit,  sehr  weit  über  ihr  natürliches  Ausmaß 
hinaus  gewachsen  und  dahin  gekommen  ist,  daß  in  der  Hetriebsperiode  1901/2  die 
Produktion  mehr  als  dreimal  größer  war  als  der  heimische  Verbrauch.  Wenn  dann 
allerdings  anch  schon  durch  den  infolge  dur  allgemeinen  Überproduktion  ein- 
getretenen Rückschlag,  aber  doch  jedenfalls  außerdem  auch  noch  durch  die 
Brüsseler  Konvention  plötzlich  und  durch  letztere  dauernd  dio  Notwendigkeit 
einer  empfindlichen  l'rndnktionscinschriinknug  über  unsere  Industriellen  hereinbricht, 
ist  es  da  nicht  begreiflich,  daß  sic  für  ihr  gutes  Recht  es  halten,  zu  verlangen, 
daß  diese  ihnen  unterlegte  Restriktion  wenigstens  nicht  durch  im  Inlande  neu 
binzutretende  Konkurrenten  noch  gesteigert  und  verschärft  werde?  Übrigens  ist 
ja  die  durch  die  Brüsseler  Konvention  geschaffene  Lage  ohnedies  nicht  darnach 
angetan,  die  Errichtung  neuer  Zuckerfabriken  rentabel  erscheinen  zu  lassen,  so 
daß,  wenn  die  Gesetzgebung  solchen  Neuerrichtungen  Schwierigkeiten  bereitet, 
hiedurch  nichts  gesetzt  wird,  was  nicht  ohnedies  geschehen  würde,  und  also  gegen 
die  Gesetzgebung  der  Vorwurf  wohl  nicht  erhoben  werden  kann,  daß  dieselbe 
dem  freien  Walten  der  wirtschaftlichen  Kräfte  gewaltsam  entgegentreto. 

Es  gibt  Viele,  und  ich  glaube,  denselben  mich  anschließen  zu  sollen,  welche 
der  Meinung  sind,  daß  ohne  Prämie  die  Kühe,  dieses  bescheidene  Produkt  der 
gemäßigten  Zone,  welches  so  viele,  durch  Maschinen  bisher  und  wohl  auch 
weiterhin  nicht  ersetzbare  menschliche  Arbeit  erheischt,  mit  dem  beinahe  ohne 
Zutun  dos  Menschen  sich  entfallenden  Produkt  der  Tropensolino,  dem  Zuckerrohr, 
auf  die  Dauer  den  Wettbewerb  auf  dem  englischen  Markte  nicht  werde  aufrecht 
erhalten  können.  Wenn  dies  richtig  ist,  dann  hat  unsere  Zuckcriudnstric  in  der 
weiteren  Zukunft  wesentlich  nur  die  Aufgabe,  unseren  eigenen  Zuckerbedarf  zu 
befriedigen;  es  wird  aber  einer  viel  längeren  als  der  fünfjährigen  Gültigkeits- 
dauer des  Kontingentierungsgesetzes  und  es  wird  einer  viel  ausgiebigeren  Herab- 
setzung unserer  Zuckerstener  als  der  vom  Finanzministor  anläßlich  der  Resolution 
H Hornreit  hör  in  Aussicht  gestellten  bedürfen,  um  diese  Übereinstimmung 
zwischen  unserem  Zuckervoi brauch  und  unserer  Zuckererzeugung  herzustellen. 
Ganz  unabsehbar  lang  dürft«  dieser  Zeitraum  übrigens  denn  doch  nicht  sein. 
In  der  Betriebsperiode  1889/90,  der  ersten,  in  welcher  das  Znckorsteucrgcsetz 


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416 


Auspitz. 


vom  20.  Juni  1888,  R.-G.-Bl.  Nr.  97,  nach  überwundener  Übergangszeit  voll  zur 
Geltung  gekommen  ist,  wurden  2,668.281  q Konsuinzuckcr  und  22.978  7 Roh- 
zucker, zusammen  2,588.911  7 Konsumzuckerwert  versteuert;  in  der  Betriebs- 
Periode  1901/2  waren  die  entsprechenden  Zahlen  3,479.82-1,  37.833,  beziehungs- 
weise 3,518.374,  also  in  12  Jahren,  trotz  der  in  diesen  Zeitraum  fallenden 
Erhöhung  der  Steuer  von  22  auf  38  K und  trotz  der  in  dieselbe  Zeit  fallenden, 
verteuernden  Wirkung  der  Bildung  des  Kartells,  eine  Verbrauchszunahme  um 
929.463  7 oder  rund  36  Proz.,  das  entspricht  einer  von  Jahr  zu  Jahr  ein- 
trutciiden  Steigerung  um  je  2*59  Proz. 

Es  ist  nun  vielleicht  doch  nicht  allzu  kühn,  anzunehinen,  daß  infolge  der 
bevorstehenden  Preisermäßigung  um  10 — 12  K,  dann  der  in  Aussicht  gestellten, 
allmählichen  Reduktion  der  Zuckersteuer  fortab  der  Verbrauch  von  Jahr  zu  Jahr 
um  jo  5 Proz.,  also  nicht  ganz  um  das  Doppelte  der  bisherigen  jährlichen 
Zunahme,  wachsen  wird;  dann  würde  unser  Zuckerverbrauch  in  20  Jahren  auf 
9,322.000  steigen,  so  daß  unsere  Produktion,  welche  in  der  Betriebsperiode 
1901/2  zur  Zeit  der  stärksten  Überproduktion  rund  11,619.000  7 Konsuinznckcr- 
wert  erreicht  hat.  nur  um  20  Proz.  reduziert  zu  worden  brauchte,  um  das  Gleich- 
gewicht zwischen  Verbrauch  und  Erzeugung  herzustellen.  Eine  ähnliche  Reduktion 
dürfte  gegen  1901/2  schon  die  laufende  Kampagne  1902  3 aufweisen. 

Schon  einige  Zeit  vor  der  Erreichung  dieses  Gleichgewichtszustandes  wird 
man  aber  der  heimischen  Zuckerindustrie  die  Krücken,  welche  ihr  jetzt  fiir  die 
Übergangszeit  geliehen  werden  — die  Erschwernisse  der  Errichtung  neuer  Fabriken, 
die  ganze  Kontingentierung  und  schließlich  wohl  auch  das  Ganze  oder  doch  einen 
großen  Teil  des  Schutzzolles  — entziehen  können,  so  daß  dann  unsere  Zneker- 
fabrikanten  von  dem  beschämenden  Gefühle.  Opfer  von  ihren  Mitbürgern  heischen 
zu  müssen,  endlich  befreit  sein  werden.  Dann  wird  man  auch  allseits  die  für  die 
Züchtung  und  Erhaltung  der  ganzen,  kontinentalen  Zuckerindustrie  von  den  Staaten 
und  Völkern  Europas  gebrachten  Opfer  als  nicht  ganz  vergeblich  gebracht  aner- 
kennen; denn,  welch  große  Meinung  von  der  Entwicklungsfähigkeit  der  tropischen 
Zuckerproduktion  mau  auch  haben  mag.  zur  Deckung  des  ganzen  Weltkonsums 
wird  dieselbe  vielleicht  doch  niemals  allsreichen,  so  daß  also  neben  ihr  auch  auf 
die  Dauer  die  Kubonzuckerprodiiktiou  eine  berechtigte  Stellung  behaupten  und 
das  Verdienst  für  sich  wird  in  Anspruch  nehmen  können,  daß  ohne  dieselbe  zum 
Nachteile  der  Konsumenten  der  ganzen  Welt  der  Zuckerpreis  ein  viel  höherer  sein 
würde,  als  er  es  bei  dem  Neheiieinanderhestehen  der  Rohr-  und  der  Rühen- 
prodnktion  dauernd  sein  wird. 

Berechtigter  als  der  bisher  besprochene  Einwand  erscheint  es  mir,  wenn 
Anstoß  daran  genommen  wurde,  daß  durch  § 5,  Abs.  3 des  Kontingentierungs- 
gesetzes jedem  Besitzer  einer  Fabrik,  welche  mit  einem  Rolizuckerboteilniigxniaß- 
stab  versehen  ist,  das  Recht  eingeräumt  wird,  denselben  ganz  oder  teilweise  au 
eine  andere  derartige  Fabrik  zu  verkaufen.  Allerdings  ist  die  Ausübung  dieses 
Rechtes  an  die  Bedingung  geknüpft,  daß  der  Rohzuckcrbcteilungsmaßstab  der 
kaufenden  Fabrik  nicht  über  80.000  sttdgeu  und  daß  hievon  nur  dann  eine 
Ausnahme  und  auch  nur  bis  zur  MaximalzifTer  von  150.000  gemacht  werden 
darf,  wenn  die  Entfernung  der  beiden  Fabriken  25  km  Luftlinie  nicht  über- 


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Österreich- Ungarn  and  die  Brüsseler  Zuckerkonvention.  417 

schreitet  Wenn  also  eine  der  47  Fabriken,  welche  einen  Rohzuckerboteilnngs- 
maßstah  von  39.000  haben,  ihren  Betrieb  einstellen  und  dieson  Maßstab  ver- 
kaufen will,  so  kann  dies  nur  an  eine  Fabrik  geschehen,  welche  bei  mehr  als 
25  km  Entfernung  eitlen  Rohznckerbcteilnngsmaßstah  von  höchstens  41.000  oder 
bei  weniger  als  25  hm  Entfernung  einen  solchen  von  höchstens  1 1 1 .000  hat. 
Es  ist  also  die  Befürchtung  so  ziemlich  ausgeschlossen,  daß  durch  diese  Befugnis 
eine  weitgehende  Aufsaugung  der  kleinen  durch  ganz  große  Fabriken  — ein 
förmliches  Bauernlegen  — Platz  greifen  werde.  Immerhin  bleibt  es  sonderbar, 
daß  namhafte  Opfer  den  größeren,  reinen  Rohzuckerfabrikon  und  insbesondere 
den  gemischten  Fabriken  zu  Gunsten  der  kleineren,  reinen  RohzurkerfahriKcii 
auferlogt  werden,  um  angeblich  im  Interesse  der  Landwirtschaft  die  Betriebs- 
einstellung dieser  einigermaßen  rückständigen  Betriebe  hintanzuhalten,  und  wenn 
im  Gegensatz  hiezu  dem  Besitzer  einer  solchen  kleinen  Fabrik  das  Hecht  einge- 
räumt  wird,  dieselbe  zu  sperren  und  dennoch  den  Geldwert  des  an  derselben 
haftenden  Hohzuckerbetoilungsmaßstabes  einzustreichen.  Es  ist  in  der  Debatte  iin 
Herronhause  nicht  mit  Unrecht  darauf  hingewiesen  wurden,  daß  hiebei  die  Land- 
wirte der  betreffenden  Gegend,  in  deren  angeblichem  Interesse  die  kleine  Fabrik 
bei  der  Zuweisung  der  RohznckerbeteilungsinaflstAbe  so  sehr  begünstigt  wurde, 
eigentlich  nur  das  Nachsehen  haben.  Wenn  hierauf  Se.  Exzellenz  der  Herr 
Finanzminister  erwidert  hat,  daß  durch  die  Übertragbarkeit  der  Rohzuckerbeteilongu- 
maßstübe  verhindert  werden  soll,  daß  au  die  Betriebseinstellung  einer  kleinen 
Fabrik  der  wirtschaftliche  Ruin  ihres  Besitzers  sich  anschließe,  und  daß  für  die 
Landwirte  einer  Gegend,  in  welcher  zwei  Fabriken  .4  und  li  bestehen,  die 
Betriehseinstelhiug  der  erstereil  nur  die  Folge  haben  werde,  daß  die  Rübenprodu- 
zenteti,  welche  bisher  nach  .4  lieferten,  nun  nach  B liefern  werden,  so  möchte 
ich  mir  denn  doch  gestatten  zu  entgegnen,  daß  es  unter  den  Besitzern  kleiner 
Fabriken  sehr  viele  gibt,  deren  Vermögensverliältnisso  jeden  Gedanken  an  wirt- 
schaftlichen Ruin  vollkommen  ansschließen,  daß  ferner  der  Staat  außer  stände  ist, 
allen  seinen  Bürgern  eine  Gewähr  gegen  wirtschaftliche  Unfälle  zu  bieten,  und 
endlich,  daß  es  für  die  Landwirte  der  erwähnten  Gegend  keineswegs  ganz  gleich- 
gültig ist,  ob  daselbst  zwei  Fabriken,  welche  einander  beim  Rnbeneinkauf  even- 
tuell Konkurrenz  machen,  fortbestehcii,  oder  ob  durch  das  Verschwinden  der 
einen  die  Rfibeneinkanfsposition  der  anderen  Fabrik  wesentlich  verbessert  wird. 
Allerdings  in  dem  vom  Herrn  Finanzminister  zuletzt  angeführten  Fall«*,  daß  die 
Besitzer  von  zwei  benachbarten  Fabriken  beide  den  Betrieb  einskdtcn  wollen,  und 
daß  die  Inbetrieberhaltung  wenigstens  einer  dieser  Fabriken  von  der  Zusammen- 
legung der  beiderseitigen  Rohzuckerbeteilungsinaßstäbe  abhängig  gemacht  würde, 
in  einem  solchen  Falle  würden  daran,  daß  diese  Zusammenlegung  gestattet  werde, 
in  der  Tat  auch  die  Landwirte  der  betreffenden  Gegend  ein  wesentliches  Interesse 
haben.  Es  wäre  daher  vielleicht  richtig  gewesen,  die  Übertragbarkeit  der  Roh- 
zuckerbeteilnngsmaßstäbe  nicht  allgemein  ausznsprechen,  sondern  fallweise  von  der 
Genehmigung  des  Fiuanziniiiisters  abhängig  zu  machen. 

Die  letzten  Betrachtungen  führen  von  selbst  zu  der  von  agrarischer  Seite 
jetzt  so  leidenschaftlich  bekämpften  Rüben rayonierung.  Der  derselben  zu  Grunde 
liegende  Gedanke,  daß  jede  Rübe  derjenigen  Fabrik  zugeführt  werden  solle,  welche 


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418 


Auspit*. 


von  den»  Acker,  auf  dem  die  Rübe  gewachsen  ist.  am  leichtesten,  d.  h.  mit  der 
geringsten  Tran  spurt  lei*  tu  ng  erreichbar  ist  — dieser  Gedanke  ist  gewiß  gesund  und 
richtig  und  entspricht  dem  allgemeinen,  volkswirtschaftlichen  Interesse.  Die  Lage, 
welche  durch  die  bezüglichen  Verabredungen  der  Fabrikanten  den  einzelnen 
Landwirten  bereitet  wird  und  welche  von  agrarischer  Seite  in  den  düstersten 
Farben  geschildert  und  geradezu  als  moderner  Robot  bezeichnet  wird,  ist  genau 
dieselbe,  in  welcher  alle  jene  Landwirte  sich  befinden,  welche  hinsichtlich  ihres 
Rübenahsatzes  wegen  zu  großer  Entfernung  von  allen  anderen  Fabriken  auf  eine 
einzige  Fabrik  angewiesen  sind.  Von  einer  — wie  in  den  agrarischen  Ausführungen 
immer  und  immer  wieder  behauptet  wird  — unerhörten  Zwangslage  kann  in 
keinem  Falle  die  Rede  sein;  denn,  wenn  ein  Landwirt  mit  der  Fabrik,  welcher 
seine  Rübe  zugewiesen  ist,  sich  nicht  einigen  kann  und  also  derselben  keine  Kühe 
liefern  will,  so  ist  er  um  nichts  schlechter  daran,  als  jene  Tausende  und  Tausende 
vmii  Landwirten,  bei  welchen  wegen  zu  großer  Entfernung  von  allen  Fabriken  der 
Zuckerrübenbau  überhaupt  von  vornherein  ausgeschlossen  ist.  Wie  immer  übrigens 
das  von  den  Agrariern  so  stürmisch  geforderte  gesetzliche  Verbot  der  Rüben rayo- 
nierung  formuliert  werden  mag.  das  eine  wird  unzweifelhaft  eintreten,  daß  dasselbe 
nämlich  als  ein  würdiges  Glied  jener  Reihe  von  Enttäuschungen  sich  anschließen 
wird,  welche  von  den  die  Führung  der  Landwirte  usurpierenden  Agitatoren  denselben 
bereitet  werden.  Geradeso,  wie  die  Aufhebung  des  Mahlverkehres  zwar  der  Mühlen- 
industrio geschadet,  aber  keinem  Landwirte  irgend  etwas  genützt  hat,  und  geradeso, 
wie  das  Verbot  des  Teriuinhandels  an  der  Wiener  Getreidebörse  zwar  den  großen 
Handel  von  Wien  nach  Budapest  verdrängen,  aber  den  Promptpreis  von  Weizen 
nicht  um  einen  Heller  erhöhen  wird,  geradeso  wird  auch  die  neueste,  das  Verbot 
der  Rübenrayonierung  aussprechend«  Gesetzgebung  zwar  vielleicht  mancherlei  für 
beide  Teile  wenig  förderliche  Konflikte  zwischen  Küheuproduzeiitcn  und  Fabrikanten 
berheiführen,  aber  doch  daran  ganz  gewiß  nichts  zu  ändern  vermögen,  daß  bei 
der  durch  die  Brüsseler  Konvention  geschaffenen  Konjunktur  die  hohen  Rtiben- 
preise  von  ehedem  nicht  mehr  werden  gezahlt  werden  können. 

Schließlich  muß  angesichts  der  im  Ansland  gegen  unsere  Kontingentierung 
laut  werdenden  Stimmen  wohl  auch  noch  der  Einwand,  daß  dieselbe  gegen  die 
Brüsseler  Konvention  verstoße,  besprochen  werden.  Da  gereicht  es  mir  denn  zu 
großer  Freude,  daß  hingegen  niemand  geringerer  als  der  Finanzininister  und 
scharfsinnige  Gelehrte  Dr.  v.  Böhm-Bawerk  ein  Argument  gebraucht  hat, 
welches  ich  in  der  unter  Vorsitz  des  Sektionschefs  Freih.  v.  Jorkasch -Koch 
abgehalteiien  Enquete  vorzubringen  mir  erlaubt  habe,  daß  nämlich  nach  Art.  I, 
lit.  f der  Brüsseler  Konvention  zu  den  verbotenen  Dingen  jene  Vorteile  gehören, 
welche  der  Znckerindustrie  eines  Staates  aus  einem  Eingangszeile  von  mehr  als 
6 Francs  erwachsen  würden.  Es  sind  also  jene  Vorteile,  welche  der  Zucker- 
industrie aus  dem  gestattetem  Sechs-Francs-Zoll  erwachsen,  vollkommen  berechtigt, 
und  etwas  anderes  als  die  Sicherung  dieses  legitimen  Nutzens  wird  ja  durch  unsere 
Kontingentierung  nicht  angestrebt. 

Ein  weiter  hier  anzuführendes  Argument  besteht  darin,  daß  es  ja  einer 
der  wenigen  unbestrittenen  Lehrsätze  der  Volkswirtschaft  ist,  daß  der  Inlandpreis 
einer  Ware,  welche  in  starkem  Maße  exportiert  wird,  voll  einem  auf  diese  Ware 


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Österreich-Ungarn  und  die  Brllwcler  Znckerkonventiou.  410 

etwa  gelegten  Eingangszeile  insolauge  ganz  unabhängig  bleibt,  als  die  inländischen 
Erzeuger  dieser  Ware  in  wirklich  freiem  Wettbewerb  zueinander  stehen  und 
nicht  organisiert  sind.  Nun  ist  aber  in  Brüssel  zwischen  Großbritannien  einerseits 
und  Österreich  und  Deutschland  anderseits  eine  lebhafte  Kontroverse  über  die 
zulässige  Hübe  des  von  diesen  beiden  Zucker  exportierenden  Staaten  auf  etwaige 
Zuckerein  fuhren  zu  legenden  Zolles  geführt  worden.  Wozu  das,  wenn  dieser  Zoll 
ohne  jeden  Einfluß  auf  die  Preisbildung  von  Zucker  in  Österreich  und  Deutschland 
bleiben  soll,  wie  er  ja  bleiben  muß.  wenn  es  nicht  gestattet  sein  soll. 
Vorkehrungen,  wie  unsere  Kontingentierung,  zu  treffen,  um  denselben  wirksam 
zu  machen. 

Endlich  ist  in  dieser  Hinsicht  noch  hervorzuheben,  daß  ja  die  bei  uns  zur 
Einführung  gelangende  Kontingentierung  auch  bei  mikroskopischer  Untersuchung 
aller  ihrer  Details  nicht  das  Geringste  erkennen  läßt,  was  als  Produktionsstimu- 
lierung  angesehen  werden  könnte.  Was  wird  denn,  uni  es  kurz  zu  rekapitulieren, 
die  Wirkung  dieser  Kontingentierung  sein?  Es  wird  zum  Nachteile  lediglich  der 
heimischen  Konsumenten,  welchen  aber  trotzdem  eine  namhafte  Preisermäßigung 
•zu  gute  kommen  wird,  der  inländische  Zuckerpreis  um  einen  im  vorhinein  nicht 
genau  zu  bestimmenden,  jedenfalls  aber  hinter  dem  Zoll  von  6 Francs  = 5 K 70  h 
zuriickbleibenden  Betrag  höher  sein,  als  derselbe  ohne  diese  Maßregel  sein  würde; 
es  wird  ferner  der  Gesamtbetrag,  um  welchen  infolgedessen  die  Konsumenten 
für  ihren  Zuckerverbrauch  mehr  als  sonst  zahlen  werden,  znnächst  gerade  so  wie 
die  an  den  Staat  abznführende  Steuer  den  Raffinerien  zugehen,  von  denselben 
jed<H*h  znm  größeren  Teile,  nämlich  3 K 30  h per  Meterzentner  Konsumzucker,  an 
die  Rohznckerfabriken  abgeftihrt  werden.  Der  Anteil  einer  jeden  dieser  Fabriken 
an  jenem  Gesamtbeträge  ist  prozentuell  itn  vorhinein  genau  festgesetzt  und  hängt 
seiner  absoluten  Höhe  nach,  entspiechend  der  Provenienz  aus  einem  Schutzzölle, 
nor  noch  von  der  Größe  des  inländischen  Zuckerkonsuuies  ab;  ganz  unabhängig 
ist  dieser  Anteil  von  der  Größe  der  Produktion  der  betreffenden  Fabrik,  sowie 
auch  umgekehrt  der  Umfang  dieser  Produktion  von  der  Höhe  dieses  Anteiles  ganz 
und  gar  unabhängig  ist  Nicht  im  allereutferntesten  besteht  ein  Zusammenhang 
zwischen  dem  Geldbeträge,  welchen  jede  einzelne  Kohzurkerfahrik  und  alle 
zusammen  aus  dem  Zollschutze  beziehen,  und  der  Größe  ihrer  Zuckerproduktion, 
und  es  ist  daher  ganz  und  gar  unbegreiflich,  aus  welchem  Titel  irgend  ein 
ausländischer  Staat  gegen  diese  Kontingentierung,  durch  welche  die  Exportfiihigkeit 
unserer  Znckerindustrie  in  keiner  Weise  gesteigert  wird,  irgend  etwas  sollte 
einwenden  können. 

Wie  unmöglich  dies  wäre,  zeigt  sich  auch  ans  folgendem:  Nach  Art.  4 der 
Brüsseler  Konvention  ist  von  prämiiertem  Zucker  „ein  besonderer  Zoll“  (Strafzoll) 
einznheben,  und  zwar  mindestens  in  der  Höhe  der  direkten  oder  indirekten 
Prämie,  welche  der  Zucker  in  seinem  Heimatslande  genießt,  wnhei  ein  f>  Francs 
übersteigender  Schutzzoll  surtaxe)  mit  der  Hälfte  des  Mehrbetrages  als  Prämie 
anzurechnen  ist.  Wo  ist  aber  und  wie  hoch  ist  bei  uns  die  direkte  oder  indirekte 
Prämie  und  wo  ist  der  die  6 Francs  überschreitende  Schutzzoll?  Jeder,  der 
unsere  Kontingentierung  angreifen  und  gegen  unseren  Zucker  einen  Strafzoll 
fordern  wollte,  müßte  in  die  größte  Verlegenheit  geraten,  wenn  er  aufgefordert 


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420 


Auspitz. 


würde,  die  der  zitierten  Bestimmung  entsprechende  Höhe  dieses  Strafzolles 
anzugeben. 

Welch  mißverständlichen  Auffassungen  trotzdem  unsere  Kontingentierung  im 
Auslande  begegnet,  dafür  hat  die  gestern  atn  (5.  März  1.  J.  im  deutlichen  Reichstage 
geführte  Debatte  einen  drastischen  Beleg  geliefert.  Freund  und  Feind  haben  da 
an  Unrichtigkeiten  und  schiefen  Urteilen  einander  überboten.  Wenn  Graf 
C armer  seine  Anregung,  daß  eine  der  unseligen  ähnliche  Kontingentierung 
auch  im  deutschen  Reiche  eingeführt  werden  möge,  unter  anderem  damit  be- 
gründet hat,  daß  ansonst  die  deutsche  Zuckerindustrie  im  Kxportwettbowerb  gegen 
die  österreichische  ungünstig  gestellt  sein  werde,  wenn  derselbe  also  der  Meinung 
Ausdruck  gibt,  als  ob  durch  die  Kontingentierung  unserer  Industrie  für  den 
Export  eine  wirksame  Waffe  in  die  Iland  gegeben  werde,  so  hat  dieser  Redner 
hiemit,  gewiß  ganz  gegen  seine  Absicht,  nur  Wasser  auf  die  Mühle  der  Gegner 
der  Kontingentierung  getrieben.  Tatsächlich  hat  unsere  Kontingentierung  mit 
einer  Exportförderung  gar  nichts  gemein;  denn  da  die  Betrüge,  welche  unsere 
Rühen  verarbeitenden  Fabriken  aus  dem  Zollscliutznutzeu  beziehen  werden,  nur 
von  der  Größe  des  inländischen  Konsums,  ganz  und  gar  nicht  aber  von  ihrer 
eigenen  Produktion  und  also  auch  durchaus  nicht  von  ihren  Exportquantitäteii 
abhängen  werden,  so  wird  durch  diesen  Zuschuß  gewiß  keine  Fabrik  sich  ver- 
anlaßt sehen,  einen  Export,  bei  welchem  die  Gestehungskosten  nicht  gedeckt 
sein  würden,  zu  pflegen  oder  gar  noch  auszudehnen.  Anderseits  nimmt  der 
Staatssekretär  Freiherr  v.  Thiel  mann  keinen  Anstand,  unserer  Kontingentierung 
nachzusagen,  dieselbe  bezwecke  eine  Einschränkung  des  Inlandverbrauches, 
während  doch  unser  mit  der  Handhabung  der  Liberiemng  betraute  Finanzminister 
ganz  gewiß  niemals  vergessen  wird,  daß  jeder  Zentner  Konsnmzucker,  den  er 
freigibt,  seinem  Fiskus  jo  38  K zuführt  und  während  doch  auch  die  ganze 
Zuckerindustrie  und  beide  Zweige  derselben  an  der  möglichsten  Steigerung  des 
Inland  Verbrauches  ein  sehr  lebhaftes  Interesse  haben,  die  Raffinerien,  weil  dadurch 
ihre  Produktion  größer  und  somit  rentabler  wird,  und  die  Rohznckerfabriken, 
weil  dadurch  ganz  direkt  die  ihnen  aus  dein  Zollschutznutzen  zugehcndcu  Be- 
träge sich  erhöhen.  Herr  Freiherr  v.  Thielmanu  verschmäht  es  auch  nicht, 
das  abgegriffene  Argument,  daß  durch  die  Kontingentierung  für  die  bestehenden 
Fabriken  ein  Monopol  geschaffen  werde,  zu  wiederholen  und  die  deutsche  Land- 
wirtschaft anzurufen,  was  sie  zu  der  Erschwernis  der  Errichtung  neuer  Fabriken 
wohl  sagen  würde.  Nun,  ich  denke,  bei  richtiger  Überlegung  müßte  dieselbe 
wohl  antworten,  daß  einerlei,  ob  gesetzlich  erschwert  oder  erleichtert,  neue 
Fabriken  in  den  nächsten  5 Jahren  wegen  voraussichtlich  völlig  mangelnder 
Rentabilität  ohnedies  nicht  werden  gebaut  werden  und  daß  es  weit  wichtiger  sei, 
durch  die  Kontingentierung  die  ansoust  sehr  ernstlich  drohende  Betriehseinstellung 
zahlreicher  bestehender  Fabriken  hiiitauzuhalten. 

Was  soll  man  vollends  dazu  sagen,  daß  Herr  Prof.  P aase  he  — der- 
selbe, welcher  so  wesentlich  mit  Schuld  daran  war,  daß  im  Jahre  1806  das 
Deutsche  Reich  jene  Erhöhung  der  Zuckerausfuhrprämie  vorgenommen  hat. 
welche  zum  Signal  für  den  letzten  Paroxysmns  des  internationalen  Ausfuhrprämien- 
Steeple-cliases  und  für  jene  Überproduktion,  deren  Rückschlag  schließlich  zur 


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Österreich  •Ungarn  und  die  Brüsseler  Zupkerkonrention. 


421 


Biüssclcr  Konvention  geführt  hat.  geworden  ist  — daß  dieser  Mann  nun  auf 
das  Piedestal  der  Perhorreszierang  jeder  staatlichen  Intervention  zn  Gunsten  der 
Zucken nd 08 trie  sich  stellt? 

Die  Absicht  ist  klar  und  deutlich;  die  Herren  glauben,  der  deutschen 
Zuckerindostrie  besser  als  durch  eine  Nachahmung  unseres  Beispieles  vielmehr 
dadurch  dienen  zu  können,  daß  sie  uns  aus  der  Konvention  hinaus  und  dadurch 
von  dem  englischen  Markte  hinwegzudrängen  suchen.  Ganz  unmöglich  ist  es  ja 
auch  nicht,  daß  dies  gelingen  könnte;  denn  so  zweifellos  es  auch  ist,  daß  ein 
unparteiischer  Gerichtshof  jede  gegen  unsere  Kontingentierung  gerichtete  Beschwerde 
als  in  dem  Wortlaute  der  Brüsseler  Konvention  nicht  begründet  abweisen  müßte, 
s»  wenig  sicher  ist  dies  bei  der  nicht  aus  Richtern,  sondern  aus  Vertretern  von 
Interessenten  und  Konkurrenten  bestehenden  Kommission,  welche  über  eine  solche 
Beschwerde  zu  befinden  haben  wird.  Die  Herren,  welche  hierauf  rechnen,  werden 
sich  aber  doch  irren;  denn  dazu,  daß  wir  aus  der  Brüsseler  Konvention,  der 
wir  nach  reiflicher  Überlegung  und  auf  Grund  der  dadurch  gewonnenen  Über- 
zeugung, daß  dies  das  kleinere  Übel  sei,  beigetreten  sind,  hinausgedrängt  würden, 
werden  wir  — so  denke  ich  wenigstens  — es  nicht  kommen  lassen.  Ehpr  wäre 
auf  den  durch  die  Kontingentierung  angestrebten  Schutz  der  kleinen  Fabriken  zu 
verzichten  und  das  österreichische  Gesetz,  betreffend  die  individuelle  Verteilung 
des  Kontingentes,  wieder  atifxnbeben  — eventuell  unter  Anwendung  des  § 14,  der 
dann  schwerlich  jemals  mit  mehr  Berechtigung  angerufen  worden  wäre  — und 
in  Ungarn  ist  ja  die  analoge  Vorlage  noch  nicht  Gesetz  geworden.  Kirn»  Mög- 
lichkeit. trotzdem  dennoch  das  beiden  Staaten  gemeinsame  Gesetz  und  die  in 
dessen  § 5 normierten  Kontingente  aufrecht  zu  erhalten,  wird  sich  iiu  Notfälle 
vielleicht  doch  finden  lassen;  es  könnte  z.  B.,  wenn  ich  dies  auch  keineswegs 
empfahlen  möchte,  für  die  Amtshandlungen,  welche  der  Überweisungsverkehr  in 
Zucker  zwischen  den  beiden  Staatsgebieten  nötig  macht,  eine  nach  der  jedes- 
maligen Zuckermenge  zu  bemessende  Gebühr  von  solcher  Höhe  eingehoben  werden, 
daß  dadurch  dieser  Verkehr  gänzlich  beseitigt  würde. 

Es  wird  die  gemeinsame  Aufgabe  des  österreichischen  und  des  ungarischen 
Vertreters  hei  der  internationalen  Brüsseler  Kommission  sein,  nicht  nnr  die  voll- 
knmmene  Vereinbarlichkeit  unserer  Kontingentierung  mit  den  Bestimmungen  der 
Brüsseler  Konvention  darzutun,  sondern  anderseits  auch  keinen  Zweifel  darüber 
auf  kommen  zu  lassen,  daß  Österreich  und  Ungarn  unter  gar  keinen  Umständen 
und  koste  es  seihst  das  Opfer  einer  Änderung  ihrer  internen  Gesetzgebung  — 
aus  der  Brüsseler  Konvention  sich  hinansdrängen  lassen  werden,  daß  also  ein 
etwa  gegen  unsere  Kontingentierung  gerichtetes  Verdikt  der  internationalen 
Kommission  zwar  diesen  beiden  Staaten  einige  Verlogenheit,  aber  gar  keinem 
anderen  Staat*  irgend  einen  Nutzen  bereiten  würde.  Wenn  es  gelingt,  die  Über- 
zeugung hiervon  den  Vertretern  dieser  anderen  Staaten  heizuhringen,  dann  werden 
dieselben  gerne  bereit  sein,  die  Rechtsbeugung,  welche  in  jedem  gegen  unsere 
Kontingentierung  gerichteten  Votum  liegen  würdo,  zu  vermeiden;  denn  niemand 
tut  gerne  Unrecht,  wenn  es  ihm  Oder  seinem  Kommittenten  nicht  einmal 
etwas  nützt. 


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422 


Auspitz. 


I. 

Gesetz  vom  31.  Jänner  1903,  betreffend  einige  Abänderungen  und 
Ergänzungen  der  Bestimmungen  Ober  die  Zuckerbesteuerung. 

Mit  Zllstimimiini  Imiiler  Hänsrr  ilrs  Rrirhsrales  timle  Ich  atizarrdnen. 
wie  folgt: 

§ 1. 

Der  Einfuhrzoll  für  Zucker  der  im  § 1,  Z.  I des  Znckersteuergesetzes 
bezeichnet«?!)  Art  wird  wahrend  der  Dauer  des  am  5.  Mär/.  1902  in  Brüssel 
abgeschlossenen  Vertrages«  betreffend  die  Znckergesetzgebung,  unbeschadet  der 
gegen  prämiierten  Zucker  gemäß  Art.  4 dieses  Vertrages  zu  treffenden  besonderen 
Maßnahmen  in  dem  höchsten  Betrage  eingehoben,  welcher  nach  den  Bestimmungen 
eben  dieses  Vertrages  zulässig  ist. 

Der  Ursprung  des  Zuckers  ist  hei  der  Einfuhr  nachzuweisen. 

§ 2. 

Für  jenen  Zucker,  welcher  als  solcher  oder  in  zuckerhaltigen  Waren  nach 
dem  31.  August  1903  über  die  Zollinie  ausgeführt  wird,  wird  eine  Ausfuhr- 
bonilikation  nicht  mehr  geleistet. 

§ 3- 

Als  Betriebsperiode  1902/3  wird  der  dreizehnnmnatliche  Zeitraum  vom 
1.  August  1902  bis  31.  August.  1903  erklärt.  Tn  der  Folge  wird  unter  Betriebs- 
periode  der  Zeitraum  vom  1.  September  des  einen  bis  31.  August  des  unmittel- 
bar darauffolgenden  Jahres  verstanden. 

Der  Finanzminister  ist  ermächtigt,  unter  den  im  Vollzugswege  festzusetzenden 
Bedingungen  zu  bewilligen,  daß  die  gesetzliche  Ausfuhrboniflkation  in  dem  rest- 
lichen Teile  der  Betriebsperiode  1902/3  auch  für  solchen  Zucker  gewährt  wird, 
welcher  in  einer  öffentlichen  Niederlage  oder  in  einer  Privatniederlage  unter 
amtlicher  Mitsperro  eingelagert  wird. 

Der  so  eingelagerte  Zucker  kann  in  den  inländischen  freien  Verkehr  nur 
gegen  Entrichtung  der  Verbranchsahgabe  und  Hückersatz  der  gewährten  Ausfuhr- 
houifikation,  in  eine  Zuckererzengungsstätte  oder  in  ein  Zuckerfreilager  dagegen  nur 
gegen  Rückerstattung  der  gewährten  Ansfuhrhonifikation  gebrarht  werden.  Der 
eingelagerte  Zucker  haftet,  ohne  Rücksicht  auf  die  Hechte  dritter  für  die  etwa 
zurückznzahlende  Ausfuhrhonifikation. 

Die  erteilte  Bewilligung  kann  jederzeit  mit  der  Wirkung  widerrufen  weiden, 
daß  der  eingelagerte  Zucker  hinnen  längstens  vier  Wochen  aus  der  Niederlage 
weggebracht  werden  muß. 

8 4. 

Die  Summe  des  von  den  Unternehmern  der  Znckererzeugnngsstätten  im 
österreichisch-ungarischen  Zollgebiete  zu  leistenden  Rückersatzes  an  Ausfnhr- 
bonifikation  für  die  Betriebsperiode  1902/3  wird  auf  jenen  Betrag  beschränkt, 
um  wfdehen  die  Gesamtsumme  der  Ausfnhrbonilikation  für  den  während  dieser 
Betriehsperiode  in  dem  österreichisch-ungarischen  Zollgebiete  mit  dem  Ansprüche 
auf  Ansfuhrhi'iiifikation  ahgefertigten  Zucker  die  Summe  von  einundzwanzig  Still. 
Kronen  übersteigt. 


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Österreich-Ungarn  uml  die  Brüsseler  Zuckerkonvention. 


423 


§ 5. 

Um  die  Versorgung  des  In  landsmark  tos  mit  Zucker  in  den  einzelnen  Länder- 
gebieten  des  österreichisch-ungarischen  Zollgebietes  im  Geiste  des  Schlußprutokolles 
zu  Art-  3 des  ain  5.  Mürz  1902  in  Brüssel  abgeschlossenen  Vertrages,  betreffend 
die  Zuckergesetzgebung,  zu  regeln,  wird  jene  Menge  Zucker  der  im  $ 1,  Z.  1 
des  Znckersteuergesetzes  bezeichnet«!!  Art,  welche  in  den  einzelnen  Ländergobieten 
im  Laufe  je  einer  Bvtriebsperiode  ans  den  Zuckererzeugungsstütton  und  Zucker- 
freilagern gegen  Kntrichtung  der  Verbrauchsabgabe  weggebracht  werden  darf, 
kontingentiert. 

Das  Zuckerkontingent  für  die  im  Reichsrate  vertretenen  Königreiche  und 
Länder  wird  für  die  Betriebeperiode  1903/4  mit  2,770.340  q Konsumzucker  fest- 
gesetzt. Das  Zuckerkontingent  für  die  Länder  der  ungarischen  Krone  beträgt  für 
die  genannte  Betriebsperiode  863.660  q Konsnmzucker  und  jenes  für  die  Läuder 
Bosnien  und  Herzegowina  26.000  q Konsumzucker. 

Für  die  folgenden  Betriebsperioden  werden  die  Zuckerkontingente  der  drei 
Ländergebiete  des  Österreichisch-ungarischen  Zollgebietes  auf  Basis  des  Konsums 
in  der  jeweilig  unmittelbar  vorausgegangeneu  Betriebsperiode  von  dem  k.  k.  Finanz- 
minister  und  dem  königlich  ungarischen  Finanzminister  einvernehmlich  festgesetzt, 
wobei  jene  Menge,  um  welche  der  jeweilig  ermittelte  Konsuln  der  Länder  Bosnien 
uml  Herzegowina  das  für  diese  Länder  für  die  Betriebsperiode  1903/4  festgesetzte 
Zuckerkontingent  übersteigt,  den  ermittelten  Konsuiuziflem  der  beiden  anderen 
Lfuidergebietu  verhältnismäßig  zugeschlagen  wird. 

Als  Zuckerkonsnm  der  einzelnen  Ländergebiete  hat  jene  Zuckermenge  zu 
gelten,  welche  sich  ergibt,  wenn  zu  der  in  dem  betreffenden  Ländergebiete  gegen 
Kntrichtung  der  Verbrauchsabgabe  weggebrachten  Zuckermenge  die  in  diesem 
Ländergebiete  zur  Einfuhrverzollung  gelangte  und  die  ans  den  .beiden  anderen 
Ländergebieten  iin  Übergangsverfahren  bezogenen  Zuckermengen  zugeschlagen, 
dagegen  die  an  die  beiden  anderen  Ländergebiete  im  Übergangsverfahren  abge- 
gebene Zuckermenge  abgezogen  wird. 

Diejenigen  Personen,  welche  am  Schlüsse  der  jeweiligen  Betriebsperiode 
einen  fünf  Meterzentner  übersteigenden  Vorrat  an  versteuertem  Zucker  besitzen, 
sind  verpflichtet,  diesen  Zuckervorrat  über  fallweise  zu  treffende  Anordnung  des 
Finanzministers  auf  die  im  Vollzugswege  näher  zu  bestimmende  Art  auezuweisen. 
Sollte  der  so  ausgewiesune  Zuckervorrat  im  Geltungsgebiete  des  gegenwärtigen 
Gesetzes  zehn  Proz.  des  Kontingente«  der  betreffenden  Betriebsperiode  übersteigen, 
so  ist  der  Überschuß  von  der  in  Gemäßheit  der  Bestimmungen  des  vorstehenden 
Absatzes  ermittelten  Zuckermenge  in  Abzug  zu  bringen. 

Rohzucker  ist  stets  unter  Zugrundelegung  einer  Ausbeute  von  90  hg  Kon- 
sumzucker  aus  100  hg  Rohzucker  auf  Konsumzucker  umzoroebnen. 

Der  k.  k.  Finanzminister  bestimmt  nach  Anhörung  von  zwei  Sachverstän- 
digen im  Einvernehmen  mit  dem  königlich  ungarischen  Finunzminister  periodisch, 
und  zwar  wenigstens  für  einen  einmoiiatliched  Zeitraum  jene  Teilmenge  des 
Zuckerkontingentes,  welche  in  den  freien  Verkehr  gebracht  werden  darf  und  ist 
ermächtigt,  das  jeweilige  Zuckerkontingent  behufs  Anpassung  an  den  tatsächlichen 
Bedarf  des  Konsums  in»  Laufe  der  einzelnen  Betriebsperioden  mit  Zustimmung  des 

Zeiucbrift  fUr  Volkswirtschaft,  SozialiKtlltik  ud<1  Verwaltung.  Xll.  Band.  2t# 


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42t 


Anspiti. 


königlich  ungarischen  Finauznunisters  zn  •■rhühcii  oder  allenfalls  auch  herab- 
ZUsetzeil. 

Zucker,  welcher  ohne  Einrechnung  in  da»  Kontingent  aus  einer  Zucker- 
erzeugungsstätte  oder  ans  einem  Znckerfreilager  weggebracht  wird,  darf  nur  im 
Falle  der  nachträglichen  Umrechnung  in  das  Kontingent  in  den  inländischen 
Verkehr  gebracht  werden. 

Die  Regelung  der  individuellen  Verteilung  der  Zuckerkontingente  wird  jedes 
Lilndergebiot  selbständig  im  Woge  der  Gesetzgebung  vornehmen. 

8 6. 

Die  Frist  zur  Einzahlung  der  am  Tage  des  Wirksamkeitsbeginnes  der  gegen- 
wärtigen Bestimmung  bereits  geborgten  und  der  in  Hinkunft  zn  borgenden  Zucker- 
verbrauchsabgahe  wird  mit  sechs  Monaten,  von  dem  dem  Vorschreibungsmonate 
unmittelbar  folgenden  Kaleiidermonate  an  gerechnet,  festgesetzt. 

Von  der  im  vorhinein  bar  eingezahlten  Zurkerverbrauchsabgabe  wird  ein 
Diskonto  nicht  mehr  gewährt. 

§ 7. 

Der  k.  k.  Finanzminister  wird  ermächtigt,  jenen  Zucker,  welcher  zur 
Fütterung  von  Tieren  oder  zur  Herstellung  von  Fabrikaten  anderer  Art  als  Ver- 
xehrnngsgegenstände  verwendet  wird,  unter  den  zum  Schutze  des  Staatsschatzes 
erforderlichen  Bedingungen  und  Vorsichten  von  der  Verbraoehsahgabc  zu  befreien. 

§ 8- 

Als  schwere  Gefällsühertretnng  ist  zu  bestrafen: 
a)  wenn  Zucker  verbotswidrig  aus  einer  Zuckererzeugungsstätte  oder  einem  Zucker- 
freilager ohneEinrechnnng  in  das  Kontingent  in  don  freien  Verkehr  gebracht  wird; 
h)  wenn  Zucker,  welcher  auf  Grund  des  ■?  7 zur  Verwundung  für  bestimmt* 

Zwecke  abgabefrei  abgelassen  wurde,  zu  anderen  Zwecken  verwendet  wird. 

Die  Strafe  ist  nach  der  Verbrauchsabgabe  zu  bemessen,  welche  für  die  den 
Gegenstand  der  Übertretung  bildende  Znckermenge  entfällt. 

Amlere  Übertretungen  des  gegenwärtigen  Gesetzes  oder  der  zum  Vollzüge 
desselben  erlassenen  Bestimmungen  unterliegen  einer  Ordnungsstrafe  von  10 
bis  10O0A’. 

8 

Das  gegenwärtige  Gesetz  tritt  bezüglich  der  tjlj  3,  7 und  8 mit  dem  Tage 
der  Kundmachung,  im  übrigen  gleichzeitig  mit  dem  am  5.  März  1902  in  Brüssel 
abgeschlossenen  Vertrage,  betreffend  die  Zuckergesetzgehung,  in  Kraft;  mit  dem 
Vollzüge  desselben  ist  bezüglich  des  § 1 Mein  Finanzminister  und  Mein  Handels- 
minister,  bezüglich  der  übrigen  Bestiniinniigen  Mein  Finanzminister  beauftragt. 

n. 

Gesetz  vom  31.  Jänner  1903,  betreffend  die  Regelung  der  indivi- 
duellen Verteilung  des  Zuckerkontingentes. 

Mit  Zustimmung  der  beiden  Häuser  des  Reichsrates  finde  Ich  anzuordnen, 
wie  folgt: 


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Österreich-Ungarn  and  die  Brüsseler  Zuckerkonvention. 


425 


8 1. 

Das  lant  § 5 des  Gesetzes  vom  31.  Jilnner  1903,  E.-G.-B1.  Nr.  26,  für 
die  Betriebsperiode  1903/4  mit  2,770.340  q Konsumzucker  festgesetzt«  Zucker- 
kontingent  wird 

n)  jenen  Zuckcrerzongnngsstätten,  ans  welchen  wenigstens  in  einer  der  Betriebs- 
Perioden  1898  99,  1899/1900  nnd  1900/01  mehr  als  zehntausend  Meter- 
zentner Konsumzncker  gegen  Entrichtung  der  Yerbrauchsabgabe  weggebracht 
worden  sind, 

V)  den  Zuckererzengungsstätten  Lnzan  und  Zuczka  in  der  Bukowina  und 
Tlumacz  in  Galizien 

nach  Maligabe  der  Bestimmungen  des  § 2 zugewiesen. 

Der  Bohznckerwert  des  Znckerknntingentes  wird  jenen  Zuckeren, eugnngs- 
stätten,  in  welchen  aus  Rübe  oder  fremder  Melasse  Zucker  erzeugt  wird,  im 
Verhältnisse  der  gemäll  § 3 festzustellenden  Beteilnngsmaßstäbc  mit  der  Wirkung 
zugewiesen,  die  dem  Zuckerkontingente  nach  dem  Ausbeuteverhaltnisse  von  90  hj 
Konsumzucker  aus  100  kg  Rohzucker  entsprechende  Rohzuckermengc  mit  dem 
Ansprüche  auf  Anrechnung  auf  die  gegen  Entrichtung  der  Verbranchsabgabe 
wegzubringeude  Zuckermenge  erzeugen  zu  dürfen.  Die  nach  dem  1.  September 
1903  neu  errichteten  Erzeugungsstätten  sind  nur  dann  anspruchsberechtigt,  wenn 
dieselben  gesellschaftliche  Unternehmungen  sind,  deren  Teilhabern  die  Verpflichtung 
obliegt,  für  die  Znckererzengungs&tiitte  selbst  Rübe  zu  bauen  und  zu  liefern. 

Jede  Zuckorerzeugungsstätte  bat  ihren  Anspruch  auf  Beteilung  mit  einem 
Individnalanteile  an  dem  Znrkerkontingente  beziehungsweise  an  dem  Rohzucker- 
werte  desselben  spätestens  am  1.  August  1903,  sofern  aber  die  Anspruchs- 
herechtigung  in  einem  späteren  Zeitpunkte  eintritt,  spätestens  vier  Wochen  vor 
Beginn  der  Betriebsperiode,  von  welcher  an  die  Anspnicbsberechtignng  eintritt, 
bei  der  zuständigen  Finanzbehörde  erster  Instanz  anzumelden. 

Die  aus  einem  Individnalanteile  an  dem  Znrkerkontingente  oder  an  dem 
Rohzuckerwerte  des  Zuckerknntingentcs  gemäll  den  Bestimmungen  des  gegenwärtigen 
Gesetzes  für  die  Dauer  der  Wirksamkeit  desselben  fließende  Berechtigung  haftet 
an  der  Erzeugnngsstätt«  und  steht  dem  jeweiligen  Unternehmer  derselben  zu. 
Mit  dem  etwaigen  Erlöschen  des  gegenwärtigen  Gesetzes  in  einem  früheren  als 
dem  im  § 4 bestimmten  Zeitpunkte  erlischt  diese  Berechtigung  ohne  jedweden 
Anspruch  auf  Entschädigung. 


8 2. 

Für  die  gemäß  § 1,  UL  n)  an  dem  Zuckerkontingente  ansprnchsberechtigten 
Zuckererzeugungsstätten  bildet  die  in  den  Betriebsperioden  1898/99,  1 899  T 900 
und  1901)  01  erzielte  größte  Versteuerung  einer  Betriebsperiode,  ausgedrnckt  in 
Meterzentner  Konsnmzncker,  den  Reteilnngsmaßstah.  Die  aus  den  Ztickerfreilagern 
gegen  Entrichtung  der  Verbrauchsabgabe  weggebrachten  Znckermergcn  werden 
der  Versteuerung  jener  Zuckererzeugungsstätten  zugeschlagen,  aus  welchen  der 
versteuert  weggebracht«  Zucker  nachweislich  stammt. 

Für  die  im  § l,  lit.  b)  genannten  Zuckererzeugungsstätten  werden  die 
Beteilungsmallstäbe  an  dem  Zuckerkontingente  wie  folgt  festgesetzt: 

29» 


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42C 


Auspitz. 


für  die  Zockererzeugungsstätte  Luzan  . . . 10.000, 

„ „ „ Tlumacz  . . 10.000, 

„ „ „ Zuczka  . . . 100.000. 


8 3. 

Die  Beteilungsmaßstübe  der  mit  einem  Individnalanteile  an  dem  Ilolizucker- 
wertc  des  Zuckerkontingontcs  zu  betoilenden  Znckererzeugnngsstätten  werden  aul 
felgende  Weise  bestimmt: 

1.  Für  jene  anspruclisborechtigten  Krzougungsstätten,  welche  wenigsten«  in 
einer  der  Betriebsperioden  1898/99,  1899/1900  und  1900  Ol  im  Betriebe  gewesen 
sind,  wird  die  in  diesen  Betriebsperioden  erzielte  größte  Ncttoerzongung  einer 
Betriebsperiode  vorn  Finanzministerium  ermittelt.  Unter  Nettoerzeugung  einer 
Zuckererzeugnngsstütte  wird  jene  in  Meterzentner  Uolirnckerwert  ausgedriiekt« 
Zuckermenge  verstanden,  welche  sich  ergibt,  wenn  von  der  laut  Aufschreibung  1 
(ij  83,  Z.  1 des  Zuckersteuergesetzes)  fertiggestellten  Zuckermenge  der  umge- 
arbeitete und  der  laut  Aufschreibung  2 (g  33,  Z.  2 des  Zuekersteuergesetzes  i 
verwendete  Zucker  in  Abzug  gebracht  wird. 

a)  Die  Maßzahl  der  ermittelten  größten  Nottoerzengung  bildet  ohneweiter*  den 
Beteilungsmaßstab  für  jene  Zuckorerzeugungsstätten,  deren  größte  Netto- 
erzeugung 45.000,  jedoch  nicht  60.000  übersteigt,  und  welche  zugleich  die 
Anspruchsberechtigung  auf  Beteilnng  mit  einem  Individnalanteile  an  dem 
Zurkerkontingente  nicht  besitzen  oder  nicht  geltend  machen. 

b)  Insofern  die  größte  Nettoerzeugung  jener  Znckcrerzougungsstätten.  welch« 
die  Ansprurhsberechtigung  an  dem  Znckerkontingente  nach  § 1,  lit.  a) 
nicht  besitzen  oder  nicht  geltend  machen,  15.000  nicht  übersteigt,  werden 
die  ermittelten  Zahlen  der  größten  Ncttoorzcngmig  wie  folgt  erhöht: 

na I Für  Znckererzeugungsstätten  mit  einer  größten  Nettoerzengung  von 

40.000  bis  45.000  am  3 Pro/..,  jedoch  nicht  auf  mehr  als  45.000. 

Mi)  Für  Zuckereizeugungsstätten  mit  einer  größten  Nettoerzeugnug  von 

35.000  bis  40.000  um  6 Proz.,  mindestens  aber  anf  39.000  und 
nicht  auf  mehr  als  die  kleinste  der  durch  die  im  Sinne  des  vor- 
stehenden Absatzes  na)  vorgenummene  Erhebung  gewonnene  Zahl. 

re)  Für  Zuckererxeugungsstßtten  mit  einer  größten  Nettoerzengung  von 
weniger  als  35.000  auf  39.000,  jedoch  nicht  anf  mehr  als  das 
Doppelte  der  größten  Nettomengung. 

Die  so  gefundenen  Zahlen  bilden  die  Ueteilnngsmaßstäbe  der  unter 
lit.  b)  fallenden  Erzeugnngsstätten. 

r)  Die  mehr  als  60.000  betragenden  Maßrahlen  der  grüßten  Nettoerzengung 
jener  Znckererzengungsstätten.  welche  die  Anspruchsberechtigung  an  dem 
Znckerkontingente  nicht  besitzen  oder  nicht  geltend  machen,  werden  um 
35  Proz.  der  Summe  der  gemäß  lit.  b)  vorgenommenen  Erhöhungen  ver- 
hältnismäßig. jedoch  nicht  auf  weniger  als  60.000  vermindert.  Die  restlichen 
65  Proz.  der  erwähnten  Krhöhnngssurnme  werden  von  den  Maßzahlen  der 
größten  Nettoerzeugnng  jener  Zuckererzeugungsstfitten,  welche  zugleich  die 


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ftsterreirh-Ungam  und  die  Brüsseler  Zackerkonvention 


427 


Anapruchsburechtiguog  an  dem  Zackcrkontingunte  gemäß  § 1,  lit.  a)  besitzen 
und  geltend  machen,  verhältnismäßig  allgezogen. 

Die  so  gefundenen  Zahlen  bilden  die  Uoteilungsmaßstäbe  der  unter 
lit  c)  fallenden  Erzen gungsstfttten. 

2.  Für  die  nachbenannten  erst  in  der  Botriebsperiode  1901/2  in  Betrieb 
gesetzten  ZuckererzeugungMt&tten  werden  die  Beteilnngstnaßstäbe  wie  folgt  fest- 
gesetzt : 

Für  die  Zuckererzeugungsstätte  Leopoldsdorf  (Niederosterreich)  mit  89.000 


für  die  Zuckererzeugungsstätte  Lnzan  mit 89.000 

, * „ Zuczka  „ 102.000. 


Für  jene  Zuckererzeugungsstätten,  deren  Ansprnchsherechtigung  nach  dem 
1.  September  1903  Eintritt  (§  1.  zweiter  Absatz',  wird  der  Beteilnngsmaßstah  vom 
Finanzminister  nach  Anhörung  von  drei  Sachverständigen,  von  welchen  zwei  vom 
Finanzminister  und  einer  von  den  Unternehmern  der  betreffenden  Erzeugungs- 
stätte zu  bestimmen  sind,  festgesetzt. 

Die  vom  Finanzminister  zu  bestimmenden  Beteilnngsmaßstäbu  dürfen  einzeln 
60.000  nicht  übersteigen. 

8 4. 

Die  im  Sinne  des  § 2 festgcstellten  Beteiiungsmaßstäbc  behalten  auch  für 
die  individuelle  Verteilung  des  Zuckerkontingentes  in  den  Betriehsperiodeii  1904/5 
bis  einschließlich  1907/8  Gültigkeit.  Falls  das  Zuckerkontingent  im  Laufe  einer 
Betriobsperiode  erhöht  oder  herabgesetzt  werden  sollte,  werden  die  individuellen 
Anteile  an  dem  Zuckerkontingente  verhältnismäßig  erhöht  beziehungsweise  herab- 
gesetzt. 

Der  Rohzuckerwert  der  für  die  Betriebsperiode  1908/4  zu  gewärtigenden 
Erhöhung  des  Zuckerkontingentes  wird  bis  zur  Menge  von  71.000  q Kobzuckerwert 
den  Zuckererzengungsstätteii : Przeworsk  bis  32.000  q.  Zuczka  bis  32.000  q und 
Leopoldsdorf  bis  7000  q.  der  Rest  dieses  Robznckerwertes  sämtlichen  an  dem 
Kohzuckerwerte  des  Zmkerkontingentes  ansprnchsberechtigten  Krzeugungsstätten  zu 
gleichen  Teilen  zugewiesen. 

Den  an  dem  Kohzuckerwerte  des  Zuckerkontingeiites  anspruchsboreclitigten 
Znckerer/.eugungsstätten  wird  für  die  Botriebsperioden  1904/5  bis  einschließlich 
1907  8 der  dem  für  die  Botriebsperiode  1903  4 mit  § 5 des  Gesetzes  vom 
31.  Jänner  1903,  R.-G.-B1.  Nr.  26,  festgesetzten  Zuckerkontingente  entsprechende 
Rohznckerwert  im  Verhältnisse  der  gemäß  § 3 des  gegenwärtigen  Gesetzes  fest- 
gestellten Beteilungsmaßstäbe  zugewiesen. 

Von  dem  Rohzuckerwerte  jener  Kontingentineiige,  um  welche  das  jeweilige 
Zuckerkoutiiigent  der  Betriehsperioden  1904  5 bis  einschließlich  1907  8 das  mit 
§ 5 des  Gesetzes  vom  81.  Jänner  1908.  R.-G.-Bl.  Nr.  26,  für  diu  Butriebsperiode 
1903/4  bestimmte  Zuckerkontingent  übersteigt,  wird  die  Teilmenge  von  71.000  q 
Rohzuckerwert  dun  Zuckurer/.eugnngsgtätteu  Przoworsk,  Zuczka  und  Leopoldsdorf, 
und  zwar  Przeworsk  und  Zuczka  je  bis  32.000  q und  jener  in  Leopoldsdorf  bis 
7000  q,  der  Rest  sämtlichen  an  d**m  Rohzuckerw'ertu  des  Zuckerkontingentes 
ansprachsberechtigten  Zuckererzoogungsstätbii  für  die  jeweilige  Botriebsperiode  zu 
gleichen  Teilen  zugewiesen.  Im  Falle  einer  Herabsetzung  des  Zuckerkontingentes 


428 


Autpitz. 


unter  das  mit  § 5 des  Gesetzes  vom  31.  Jänner  1903,  R.-G.-BI.  Nr.  26,  für 
die  Betriebsperiode  1903/4  bestimmte  Ausmali  werden  die  lndividualanteile  an 
dem  Rohzuckerwerte  des  Zuckerkuntiugentes  verhältnismäßig  vermindert. 

S 5. 

Die  Unternehmer  von  ZuotererzengungsstäUen  dürfen  den  für  ihre  Erzeugungs- 
stätte  zugewiesenen  Individualanteil  an  dem  Zuckerkontingente  au  eine  oder 
mehrere  mit  einem  Individualanteil  an  dein  Zuckerkuntingeiite  oder  an  dem 
Rohzuckerwerte  dosseiben  beteilte  Erzcugungsslütto  ganz  oder  teilweise  für  eine 
oder  mehrere  Hetriobsperioden  übertragen. 

Der  Pinaiizmin'ister  kann  den  Unternehmern  der  mit  einem  lndividualanteile 
an  dem  Zuckerkontingente  bcteilteu  Zuckurerzcuguugsstätten  auch  im  Laufe  einer 
lietriebsporiudo  diu  Übertragung  eines  nicht  in  Anspruch  genommenen  Koiiüngent- 
teiles  an  eine  andere  mit  einem  lndividualanteile  am  Zuckurkuntingonto  beteilte 
Erzeugungsstätte  bewilligen. 

Die  Unternehmer  der  mit  einem  lndividualanteile  am  Ruhzuckerwert  des 
Zuckerkontingeiites  beteilten  Zuckererzengungsstätten  sind  berechtigt,  ilireu  Indi- 
vidualanteil ganz  oder  teilweise  au  eine  andere  mit  einem  lndividualanteile  am 
Ruhzuckerwerto  des  Kontingentes  beteilte  Zuckererzeugungsstätto  für  eine  oder 
mehrere  Uetriebsperiodcn  zu  übertragen,  wenn  die  Summe  der  Beteilnngsmaßstäbe 
für  den  Rohzuckerwert  des  Znckorkontingcntos  80.000  nicht  übersteigt  oder  wenn 
die  Summe  der  IJotcilnngsmallstäbe  zwar  80.000,  aber  nicht  150.000  übersteigt 
und  zugleich  die  Entfernung  der  beiduu  Erzeugungsstätten  25  km  Luftlinie  nicht 
überschreitet. 

Jede  Übertragung  eines  Individualanteiles  an  dem  Zuckerkontingente  oder 
an  dem  Rohzuckerwert«  desselben  ist  dom  Finanzministerium  anzuzeigen,  und  zwar 
spätestens  am  1.  September  jener  Betriebsperiode,  für  welche  oder  von  welcher 
ab  die  Übertragung  wirksam  sein  soll. 


§ 6. 

Die  Wegbringung  von  Zucker  gegon  Entrichtung  der  Verbrauchsabgabe 
darf  nur  nach  .Maligabe  der  vom  Finauzmiuister  jeweilig  liberierten  Mengen  und 
nur  insoweit  erfolgen,  als  das  Verfügungsrecht  über  den  der  wegzubringenden 
Zuckermenge  unter  Zugrundelegung  der  Ausbeute  von  90  hj  Konsumzucker  ans 
100  kij  Rohzucker  entsprechenden  Rohzuckerwert  des  Zuckerkontingeiites  nachge- 
wiosen  wird. 

Bildet  Rohzucker  den  Gegenstand  der  gegen  Entrichtung  der  Vcrhrauchs- 
abgabc  stattfindenden  Wegbringuug,  so  ist  nicht  das  wirkliche  Gewicht  desselbon, 
sondern  nnr  der  dem  im  vorstehenden  Absätze  bezeichnten  Ansbeutcverhältnisse 
entsprechende  Konsumzuckcrwcrt  in  das  Kontingent  einzurechnen. 

Die  jeweilig  liberierten  Teilmengen  des  Znckerkontingentos  können  nur  iiu 
Laufe  der  betreffenden  Betriebsperiode  weggebracht  werden. 

Wenn  Unternehmer  der  mit  einem  lndividualanteile  an  dein  Zuckerkontingente 
beteilten  Erzengungsstätten  durch  Zurückhalten  von  liberierten  Mengen  des 
Zuckerkontingentes  die  regelmäßige  Versorgung  des  Marktes  stören  und  die 


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Österreich-Ungarn  und  die  Brüsseler  Znckerkonvention. 


429 


zurückgebaltenen  Zuckonnengcu  nicht  binnen  einer  fallweise  mit  mindestens 
14  Tagen  zu  bestimmenden  Frist  in  den  Verkehr  bringen,  so  kann  der  Finanz- 
minister  das  Recht  zur  Versteuerung  der  zurückgehaltenen  Zuckermengen  anderen 
mit  einem  ludividualanteile  au  dem  Zuckerkontingente  beteilten  Zuckererzeuguugs- 
stätteu  einräumen. 

Es  ist  gestattet,  den  gegen  Kinrechnnng  in  das  Kontingent  wegzubringenden 
Zucker  unversteuert  unter  dem  Hände  der  Verbrauchsabgabo  in  ein  ZuckcrfreUager 
einzulageru.  Derart  eingelagerter  Zucker  muß  vor  Ablauf  der  betreffenden  Betriebs- 
periode gegen  Entrichtung  der  Verbrauchsabgabe  weggebracht  werden,  wenn  der 
L'ntcraehmer  des  Freilagers  zugleich  Unternehmer  der  Zuckererzeugungsstätte  ist, 
aus  welcher  der  uingelagerte  Zucker  stammt  und  wenn  in  dieses  Freilager  nur 
Zucker  aus  dieser  Erzeugungsstätte  eingelagert  wird.  In  allen  anderen  Fällen 
muß  der  in  ein  Freilager  eingelagerte  Koutiugentzucker  spätestens  vier  Wochen 
uach  dem  Tage  der  Einlagerung  gegen  Entrichtung  der  Verbrauchsabgabo  weg- 
gebracht werden. 

§ V. 

Den  mit  einem  ludividualanteile  am  Rohzuckorwerto  des  Zuckerkontiugeiites 
bctcilteu  Erzeugungsstätten  werden  spätestens  zu  Beginn  jeder  Betriebsperiode 
für  jeden  Monat  derselben  Berechtigungsscheine  ansgefolgt.  Diese  Berechtigungs- 
scheine dienen  zur  Erbringung  des  im  § Ö,  erster  Absatz,  gefordertem  Nach- 
weises. 

Der  Fiuauzminister  ist  ermächtigt,  von  den  Unternehmern  der  mit  einem 
lndividnalanteile  au  dem  Kohzuckerwert«  des  Zuckerkontiugeiites  beteilteu  Zucker- 
erzeugungsstätten den  Nachweis  über  die  bestimmungsgemäße  Verwendung  der 
ausgefolgten  Berechtigungsscheine  zu  verlangen  und  wenn  diesem  Verlangen  binnen 
einer  fallweise  mit  mindestens  14  Tagen  zu  bestimmenden  Frist  uicht  entsprochen 
wird,  die  Berechtigungsscheine,  hinsichtlich  welcher  der  geforderte  Nachweis  uicht 
erbracht  wird,  einzuzieheu  mul  zu  gestatten,  daß  die  entsprechende  Menge  des 
Zitckerkontingcntes  ohne  Beibringung  des  im  § ti,  Absatz  1,  geforderten  Nach- 
weises weggebracht  werden  darf. 

Sollte  sich  nach  Schloß  der  Betriebsperiodu  herausstetleu,  daß  die  in  einer 
Znckererzeugungsstätt«  während  dieser  Betriebsperiode  erzeugte  Zuckermenge,  aus- 
gedrückt  in  Kohzuckerwert,  geringer  ist  als  der  Didividualanteil  au  dem  Kuh- 
zuckerwerte  des  Zuckerkoiitingentes  für  die  betreffende  Betriebsperiode,  so  wird 
der  Individualanteil  der  betreffenden  Znckererzeuguugsstätte  an  dem  ltohzucker- 
werte  des  Zuckerkontingentes  für  die  darauffolgende  Betriebsperiode  um  diesen 
Unterschied  vermindert,  insofern  der  Unternehmer  nicht  uachweist,  daß  diu 
Mindererzeugung  in  einem  unvorhergesehenen  Ereignisse  oder  in  einer  zulässigen 
Kontiiigeutübertragung  ihren  Grand  hatte.  Derart  verfügbar  werdende  Teilmengen 
werden  vom  Finanzminister  anderen  Zuckererzeugungsstätten  zugewieseu. 

8 8. 

Mit  dem  Vollzüge  dieses  Gesetzes,  welches  am  Tage  der  Kundmachung  in 
Kraft  tritt,  ist  Mein  Finanzminister  beauftragt. 


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DIE  LANDWIRTSCHAFT 
ALS  AUSHANGS PUNKT  FÜR  EIN  SYSTEM 
DER  POLITISCHEN  ÖKONOMIE.') 


VON 

PR  FRIEDRICH  KLEINWÄCHTER. 

K K HOFBAT  UND  PROFESSOR  AN  DER  UNIVERSITÄT  CZ  BRNO  WITZ. 


Es  gibt  wohl  kein  wirtschaftliches  Gut,  welches  seit  jeher  eine  so  ent- 
gegengesetzte lleurteilnng  erfahren  hätte  wie  das  Geld.  Während  fast  alle  Religions- 
Stifter  das  Geld  gewissermaßen  als  Ausgeburt  der  Hölle  bezeichnen  und  das 
Jagen  nach  Gold  auf  das  Strengste  verdammen,  strebt  im  gewöhnlichen  Leben 
ein  jeder  nach  Geld  und  glaubt  nie  genug  desselben  erwerben  zu  können;  und 
doch  erscheint  anderseits  wieder  jedem  von  uns  der  Geizhals,  der  auf  seinen 
Geldsäcken  sitzt,  oder  der  Wucherer  als  eines  der  verabscheoungswürdigsten 
Wesen.  Nicht  anders  liegen  die  Dinge  auf  dem  Gebiete  derjenigen  Wissenschaft,  die 
ej r professo  vom  Gelde  nnd  Geldeswert  handelt — der  Nationalökonomie.  Während 
das  Merkantilstem  sozusagen  eine  Apotheose  des  Geldes  repräsentiert,  wollen  die 
Vertreter  des  Kommunismus  und  Sozialismus  vom  Gelde  nichts  wissen.  In  Uto- 
pien kennt  man  kein  Geld  nnd  werden  — um  die  Edelmetalle  so  recht  verächt- 
lich erscheinen  zu  lassen  — die  Ketten  der  Verbrecher  aus  Gold  und  Silber 
angefertigt  und  gibt  man  goldenes  nnd  silbernes  Geschmeide,  soviel  sie  dessen 
verlangen,  den  Irrsinnigen  und  Kindern  als  Spielzeug;  desgleichen  soll  im  sozial- 
demokratischen Volksstaat  der  Zukunft  kein  Metall,  sondern  nur  „Arbeitspapier- 
geld4* zirkulieren.  Und  selbst  ein  Mann  wie  der  alte  Boisguillebert,  der  den 
kommunistischen  oder  sozialistischen  Ideen  ganz  fern  steht,  spricht  vom  „mandit 
arrrent dessen  Dienst  lediglich  in  der  Vermittlung  der  Tauschoperationen  be- 
steht und  das  daher  ebensogut  durch  ein  „ morccau  tle  papier  u ersetzt  werden  kann. 
Dieser  Widerspruch  ist  nie  ganz  geschwunden,  sondern  hat  sich  bis  auf  den 
heutigen  Tag  erhalten.  Er  wird  heute  repräsentiert  durch  dasjenige,  was  die 
Engländer  als  „woneg  intercsl u und  als  „land  inlerrst u bezeichnen,  d.  i.  durch 
den  Gegensatz  von  Industrie  und  Handel  auf  der  einen  und  der  Landwirtschaft 
auf  der  anderen  Seite,  nnd  aus  ihm  erklärt  sich  auch  die  Abneigung,  mit  der 

*)  Dr.  G.  Ruh  land,  o.  ö.  Professor  der  politischen  Ökonomie  an  der  Universität 
Freiburg  (Schweiz):  „System  der  politischen  Ökonomie.  I.  u.  II.  Band:  Allgemeine 
Volkswirtschaftslehre.  Bd.  I.“  Berlin,  Wilhelm  Isslcib,  1903. 


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Die  Landwirtschaft  als  Ausgangspunkt  für  ein  System  etc. 


431 


alle  sogenannten  konservativen  Elemente  — die  Landwirte  an  der  Spitze  — dem- 
jenigen Orte  gegenüberstehen,  an  dem  das  Geld  die  hervorragendste  Rolle  spielt: 
der  Börse. 

Der  letzte  Grund  dieser  eigentümlichen  Erscheinung  ist  ein  ziemlich  tief 
liegender.  Das  Geld  sieht  auf  den  ersten  Blick  ganz  harmlos  aus.  es  besteht  aus 
blanken  Metallstücken,  denen  der  Staat  seinen  Stempel  aufgeprägt  hat  und  es 
erscheint  ganz  unbegreiflich,  warum  diese  glanzenden  Metallstücke  verabscheuungs- 
würdig sein  sollen.  Auch  die  wirtschaftliche  Funktion  des  Geldes  ist  zunächst 
eine  ganz  unverfängliche,  denn  sie  besteht  darin,  die  Schwierigkeiten  zu  beseitigen, 
die  sich  dein  Natural  tausche  entgegenstellen.  Man  vergegenwärtige  sich  nur  — 
um  mit  Roscher  zu  sprechen  — einen  Nagelschmied,  der  nichts  anderes  an- 
znbieten  hat  als  seine  Nägel  und  der  eine  Kuh  zu  erwerben  wünscht.  Wie  lange 
wird  der  Mann  suchen  müssen,  bis  er  einen  Besitzer  einer  Kuh  findet,  der  just 
so  viele  Nägel  braucht  als  die  Kuh  wert  ist!  Tritt  jedoch  das  Geld  dazwischen, 
so  verkauft  der  Mann  seine  Nägel  in  kleinen  Partien  gegen  Gold  und  legt 
die  Münzen  zusammen  so  lange,  bis  er  die  Summe  hat,  die  die  Kuh  kostet. 
Wenn  also  trotzdem  das  Geld  von  so  vielen  natioiialökonomischen  Schriftstellern 
verabscheut  wird,  so  muß  ein  tieferer  Grund  vorliegen,  der  jene  Abneigung 
rechtfertigt. 

Dieser  Grund  liegt  auch  tatsächlich  vor  und  bestellt  darin,*  daß  das  Geld 
heute  zum  wesentlichsten  Herrschaftsmittel  geworden  ist.  Die  Bedeutung  dieses 
Wortes  wird  klar,  wenn  man  sich  das  Wesen  der  Güterproduktion  vergegen- 
wärtigt. Fast  jede  menschliche  Produktion  beruht  auf  dem  gleichzeitigen  harmo- 
nischen Zusammenarbeiten  mehrerer  Personen  nach  einem  einheitlichen  Plane;  ein 
derartiges  Zusammenarbeiten  mehrerer  Personen  aber  ist  nur  denkbar,  wenn  die 
Betreffenden  sieb  einem  einheitlichen  leitenden  Willen  unterwerfen.  Mit  anderen 
Worten:  eine  der  wesentlichsten  Voraussetzungen  fast  jeder  Produktion  ist  der 
Gehorsam  der  zusammonwirkenden  Personen,  und  damit  ist  von  selbst  die  Frage 
gegeben,  auf  welche  Weise  mau  die  Menschen  zum  Gehorsam  veranlassen  kann. 
Die  Antwort  ist  eine  naheliegende:  derartiger  Mittel  gibt  es  vier. 

Es  ist  zunächst  möglich,  daß  die  Menschen  freiwillig  gehorchen.  Ein  der- 
artiger Gehorsam  kommt  aber  bekanntlich  nicht  leicht  vor,  denn  er  setzt  einen 
relativ  hohen  Grad  von  Einsicht  und  Selbstbeherrschung  voraus.  Er  setzt  nämlich 
einmal  voraus,  daß  die  Menschen  die  Notwendigkeit  des  Gehorchens  einsehen, 
und  er  setzt  zum  zweiten  voraus,  daß  die  Betreffenden  den  angestrebten  Zweck 
der  fraglichen  Produktion  klar  erkennen  und  richtig  zu  würdigen  wissen.  Speziell 
diese  letztere  Voraussetzung  wird  in  den  meisten  Fällen  und  ganz  besonders 
dann  nicht  zutreffen,  wenn  es  sich  um  die  Verwertung  einer  neuen  Erfindung 
handelt.  Man  versuche  es  doch  beispielsweise,  Leuten,  die  von  der  Bedeutung 
der  Elektrizität  keine  Ahnung  haben,  die  Vorteile  eines  Elektrizitätswerkes  klar 
zu  machen  und  sie  dazu  zu  bewegen,  daß  sie  sich  zusammoiitun  und  etwa  die 
dazu  erforderlichen  Wasseranlagen  samt  den  notwendigen  Maschinen  hersteilen, 
l’nd  wenn  — was  ja  kaum  zu  vermeiden  ist  — der  orsto  derartige  Versuch 
mißlingt  und  die  erste  Anlage  sich  als  verfehlt  erweist,  so  unternehme  man 
es,  die  Leute  dazu  zu  bringen,  daß  sie  das  ganze  Werk  zum  zweiten  Male  hersteilen. 


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432 


Kleinw&chter. 


Dur  Gehorsam  kann  zum  zweiten  auf  dem  Antoritäbsgefülile,  <1.  i.  auf  dem- 
jenigen Gefühle  beruhen,  «reiches  die  Staminesangehörigen  ihrem  Patriarchen, 
die  Soldaten  ihrem  sieggewohnten  Heerführer  odor  die  Angehörigen  einer  reli- 
giösen Sekte  ihrem  Propheten  cntgegeubriugen.  Ein  derartiger  blinder  Gehorsam 
kann  unter  Umstünden  geradezu  Wunder  bewirken,  aber  er  ist  zumeist  einem 
Strohfeuer  zu  vergleichen  und  erlischt  nur  zu  leicht,  wenn  der  Prophet  oder  der 
Heerführer  stirbt  oder  wenn  er  sich  eine  bedeutende  Blöße  gibt,  überdies  ist 
das  Autoritätsgefühl  — speziell  das  der  Staminesangehörigen  — zumeist  auf 
einen  engen  Kreis  (der  persönlichen  Bekanntschaft)  beschränkt. 

Ist  auf  diese  Weise  von  den  beiden  gedachten  Arten  des  Gehorsams  nicht  viel 
zu  erwarten,  so  bleiben  nur  die  zwei  anderen  Mittel  übrig,  d.  i.  der  Zwang  und 
das  Inaussichtstellen  eines  Vorteils,  Dio  rohe  physische  Gewalt,  d.  i.  also  die 
Sklaverei,  ist  zwar  geeignet  den  Gehorsam  zu  erzwingen,  sie  hat  bekanntlich  auch 
in  der  Geschichte  der  Menschheit  eine  sehr  große  Bolle  gespielt,  aber  der  Ge- 
horsam des  Sklaven  ist  doch  nur  ein  widerwilliger  und  äußerlicher,  d.  h.  der 
Sklave  arbeitet  nicht  freudig  und  arbeitet  nur  soviel  als  er  unbedingt  muß. 
Ganz  anders  dagegen,  wenn  man  dem  Betreffenden  einen  selbstverständlich  ent- 
sprechenden) Vorteil  in  Aussicht  stellt,  weil  auf  diese  Weise  der  Arbeitende  eiu 

Interesse  au  seiner  Leistung  gewinnt.  Er  ist  bestrebt,  die  Zufriedenheit  des 

sogenannten  Arbeitgebers  zu  erringeu  und  trachtet  daher,  die  Arbeit  so  gut 
auszuführen  als  er  kann.  Will  man  den  Arbeitenden  dauernd  au  sich  fesseln, 
d.  h.  will  man  ihn  zum  dauernden  Gehorsam  veranlassen,  so  muß  man  ihm  be- 
greiflicher Weise  einen  dauernden  Vorteil  in  Aussicht  stellen,  und  dies  kann  auf 
dreifache  Weise  geschehen. 

Wir  pflogen  heute  bekanntlich  dem  Dienenden  eiue  bestimmte  Geldzahlung 
zu  versprechen,  diese  Summe  wird  jedoch  selbstverständlich  nicht  anf  einmal, 
solidem  in  Wochen-,  Monatsraten  o.  dg!,  ansgezahlt,  und  jedesmal  wird  dio 

Zahlung  der  nächsten  Kate  davon  abhängig  gemacht,  daß  der  Betreifende  in  der 

Zwischenzeit  seinen  Verpflichtungen  zur  Zufriedenheit  des  Dienstherrn  uaclige- 
kommen  ist. 

Vielfach  in  Verbindung  mit  diesem  wird  das  zweite  Auskunftsmittcd  in  An- 
wendung gebracht,  welches  darin  besteht,  daß  die  Erlangung  gewisser  (größerer; 
Rechte  von  der  gewissenhaften  Erfüllung  der  geforderten  Pflichten  abhängig  ge- 
macht wird.  Es  ist  dies  der  bekannte  Anspruch  der  Fixangestelltcn  auf  Dienst- 
altersznlagen,  auf  Beförderung  auf  höhere  Dienstposten,  auf  Altersversorgung 
u.  dg].,  der  namentlich  für  den  öffentlichen  Dienst  von  so  ungeheuer  weittragen- 
der Bedeutung  ist.  Auch  für  sich  allein  wird  dieses  Auskunftsmittel  in  Anwendung 
gebracht  und  dient  beispielsweise  auf  dem  Gobiete  des  öffentlichen  Unterrichts- 
wesens  dazu,  die  Disziplin  unter  der  studierenden  Jugend  aufrecht  zu  erhalten 
und  die  jungen  Leute  zum  ernsten  .Studium  zu  veranlassen.  Beiläufig  bemerkt, 
war  vor  der  Einführung  der  schrankenlosen  Gewerbefreiheit  auch  dies  das  Mittel, 
um  die  Handwerkslehrlingn  und  -Gesellen  zur  strengen  Pflichterfüllung  zu  ver- 
halten, weil  der  junge  Mann  weder  zum  Gcsellou  noch  zum  Meister  emporsteigen 
konnte,  wenn  er  von  seinem  Lehr-  beziehungsweise  Dionstherm  nicht  das  ent- 
sprechende Zeugnis  erhielt. 


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Die  Landwirtschaft  als  Ausgangspunkt  für  ein  System  eto. 


433 


Die  periodische  Auszahlung  einer  bestimmten  Geldsumme  setzt  aber  selbst- 
verständlich voraus,  daß  man  Geld  hat,  d.  h.  dal!  eine  genügende  Menge  baren 
Geldes  im  Volke  zirkuliert.  Im  Mittelalter  und  speziell  in  seiner  ersten  Hälfte 
war  dies  nicht  der  Fall,  und  aus  diesem  Grunde  mußt«!  man  sich  eines  anderen 
AuskunflstnitUds  bedienen,  wenn  man  jemandem  einen  materiellen  Vorteil  bieten 
wollte,  um  ihn  dauernd  an  sich  zu  fesseln.  Dieses  Ausknnftsinittel  bot  sich  dar 
im  Grundbesitz  oder  präziser  ausgedrückt  iiu  Lehenwesen.  Wollte  der  Herr  einen 
Vasallen  dauernd  an  sich  fesseln,  so  übergab  er  ihui  Grundstücke,  aber  nicht 
ins  freie  Eigentum,  sondern  nur  zur  Nutzung.  Der  Herr  übergab  dem  Vasallen 
Grundstücke  zu  erblichen  Nutzung,  aus  denen  der  Vasall,  solange  er  seinen  Ver- 
ptlichtungcn  gewissenhaft  nachkam,  sich  — um  einen  modernen  Ausdruck  zu 
gebrauchen  — sein  Gehalt  gewissermaßen  herausackeru  durfte.  Das  sogenannte 
Ohereigentum  behielt  der  Herr  für  sich,  und  au  dieser  Schnur  hielt  er  seinen 
Vasallen  fest,  denn  sobald  dieser  sich's  beifallen  lassen  wollte,  seine  Vasallenpflichten 
zu  vernachlässigen,  konnte  der  Herr  kraft  seines  Obcreigenluins  das  Nutzungs- 
oder Untcreigeutum  an  sich  ziehen  — und  der  Vasall  war  au  die  Luft  gesetzt. 

Das  alles  ist  ziemlich  bekannt,  was  aber  bisher  vielleicht  weniger  gewür- 
digt wurde,  ist  der  Umstand,  dafl  die  vorstehenden  Erwägungen  geeignet  sind, 
gewisse  grolle  volkswirtschaftliche  Tatsachen  in  einem  uoncu  Lichte  erscheinen 
zu  lassen  und  demgemäß  die  gangbare  nationalekonoinische  Theorie  teilweise 
richtig  zu  stellen.  In  allen  nationalükouomiscbcn  Lehr-  und  ' Handbüchern 
werden  die  sogenannten  drei  „staatswirtschaftlichon  Systeme“,  d.  i.  der  In- 
begriff jener  Maßregeln  eingehend  gewürdigt,  die  von  den  Regierungen  der 
verschiedenen  Kulturvölker  seit  dem  Beginn  der  sogenannten  Neuen  Zeit  in  An- 
wendung gebracht  wurden,  um  die  Wirtschaft  der  ihrer  Leitung  auvertraoten 
Völker  zu  heben.  Das  erste  dieser  Systeme  ist  das  sogenannte  Merkautilsystem ; 
die  Beurteilung  jedoch,  die  dasselbe  in  der  volkswirtschaftlichen  Literatur  im 
Laufe  dor  Zeit  erfahren  hat,  ist  eiuo  ziemlich  verschiedene.  Daß  das  Merkantil- 
system von  seinen  Anhängern  und  ersten  Vertretern  als  ein  Arcanum,  als  ein 
unfehlbares  Mittel  gepriesen  wurde,  die  Völker  reich  uud  glücklich  zu  machen, 
ist  selbstverständlich  und  bedarf  keiner  weiteren  Begründung.  Mit  der  Zeit  kamen 
jedoch  die  Gegner  uud  die  Kritiker. 

Die  ersten  unter  ihnen  erblickten  im  Merkautilsystem  nichts  andores  als 
ein  ganz  unvernünftiges  nnd  unsinniges  Haschen  nach  Geld  und  Silber,  also  eino 
Art  Midas-Fabid.  Die  Kegierungeu  — so  lehren  jene  Autoren  — seien  unter  der 
Herrschaft  der  merkantilistischen  Ideen  ungefähr  auf  dem  Standpunkte  gestanden, 
den  der  einfache  Mann  aus  dem  Volke  einniuunt,  wenn  er  sagt:  „Reich  ist  der- 
jenige, der  viel  Geld  hat.“  b'nd  um  das  Volk  in  diesem  Sinne  „reich“,  d.  Ii. 
reich  an  Gold  und  Silber  zu  machen,  seien  die  Regierungen  bestrebt  gewesen, 
die  Produktion  und  den  Export  von  hochwertigen  ßanzfabrikaten  zu  fördern,  weil 
ja  der  Export  beziehungsweise  der  Überschuß  des  Exportes  über  den  Import 
durch  Sendungen  von  Gold  nnd  Silber  aus  dein  Auslande  nach  dem  lnlande  be- 
glichen werden  muß. 

Die  späteren  Beurteiler  geben  zu,  daß  eine  zwecklose  Vermehrung  der 
Menge  des  umlaufenden  Geldes  in  einem  Lande  ein  Unding  wäre,  sio  lehren 


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434 


Kleinwächter. 


jedoch,  daß  jenes  Streßen  der  Regierungen  nach  Vermehrung  des  Geldreichtum» 
im  Lande  sozusagen  nur  die  äußere  Schale  des  Merkaiitilsystems  repräsentiere, 
daß  jedoch  dessen  eigentlicher  und  vernünftiger  Kern  in  dem  berechtigten  Streben 
der  Regierungen  zu  erblicken  sei,  die  Industrie  ihrer  Länder  — die  bis  dahin 
nur  unbedeutend,  nur  Handwerk  war  — auf  eine  höhere  Stufe  zu  heben,  also 
eine  eigentliche  Großindustrie  im  Lande  zn  schaffen,  l'nd  gewissermaßen  zur 
Entschuldigung  führen  sie  all,  daß  auch  jenes  Streben  nach  Gold  und  Silber 
eine  gewisse  — durch  die  Zeitumstflnde  bedingte  — Horechtigung  gehabt  habe, 
weil  einmal  speziell  in  jener  Zeit  der  Übergang  von  der  Natural-  zur  Geldwirt- 
schaft sich  zu  vollziehen  begann,  dann  weil  die  Regierungen  jener  Zeit  bemüht 
gewesen  seien,  eine  stramme  staatliche  Verwaltung  zu  organisieren,  zu  der  man 
Beamte  und  Soldaten  brauchte,  die  selbstverständlich  mit  Geld  bezahlt  werden 
mußten. 

Die  neuesten  Schriftsteller  endlich,  wie  namentlich  Schmoll  er  und 
Bücher,  erblicken  im  Merkantil  System  das  Bestreben  der  Regierungen,  eine  ein-, 
heitliche  Volkswirtschaft  zu  schaffen.  Das  Mittelalter  besaß  koino  einheitliche 
Volkswirtschaft  im  heutigen  Sinne  des  Wortes,  sondern  nur  eine  Anzahl  lokaler 
Stadtwirtschaften.  Straßen  und  sonstige  Kommunikationsanstalten  fehlten  im  Mittel- 
alter  fast  gänzlich,  und  infolgedessen  mußte  jede  Stadt,  was  sie  und  ihre  nächste 
Umgebung  an  gewerblichen  Erzeugnissen  brauchte,  selbst  erzeugen.  Außerdem 
fällt  in  die  sogenannte  Neue  Zeit  die  Kntstohnng  der  heutigen  Großstaaten  in 
der  Weise,  daß  verschiedene,  bis  dahin  selbständige  Territorien  unter  einem 
Scepter  vereinigt  wurden.  Diese  heterogenen  Volkselemente,  die  eine  verschie- 
dene Steuer-  und  sonstige  Gesetzgebung  besaßen,  mußten  zu  einem  einheit- 
lichen Staatsganzen  verschmolzen  werden,  und  dies  geschah  durch  die  Anwendung 
der  merkantilistischen  Regiermigsmaßregeln. 

Auf  dies«  Darstellung  und  Kritik  des  Merkaiitilsystems  folgt  dann  in  den 
Lehrliüchorn  der  Nationalökonomie  die  Erörterung  des  physiokratischen  Systems, 
welches  den  natürlichen  Rückschlag  auf  die  Loliron  der  Merkantilsten  bildet. 
Der  Gcilankeninhalt  der  physiokratischen  Lehre  läßt  sich  in  zwei  kurze  Sätze 
zusammenfassen:  1.  Der  Reichtum  eines  Volkes  besteht  nicht  im  Besitze  von 
Gold  und  Silber,  sondern  darin,  daß  jeder  einzelne  im  Volke  mit  allen  denjenigen 
Gütern  möglichst  reichlich  versorgt  ist,  die  man  im  Leben  braucht.  Die  Stoffe, 
aus  denen  diese  Güter  allgefertigt  werden,  werden  der  Natur  entnommen  und 
aus  diesem  Grunde  ist  die  Natur  die  einzige  Quelle  des  Wohlstandes ; ist  die 
Landwirtschaft  im  weitesten  Sinne  des  Wortes,  also  mit  Einschluß  der  Forstwirt- 
schaft, der  Viehzucht,  der  Jagd  und  Fischerei  sowie  des  Bergbaues)  die  einzig 
produktive  Beschäftigung.  2.  Weil  die  Landwirtschaft  unter  der  merkantilis tischen 
einseitigen  Begünstigung  von  Handel  und  Industrie  vielfach  benachteiligt  war 
und  sich  nicht  frei  entfalten  konnte,  wird  die  Forderung  aufgcstellt,  daß  sich 
der  Staat  so  wenig  als  möglich  in  das  wirtschaftliche  Leben  eininischen  soll. 
Unter  der  Devise:  James  faire,  laissee  passer,  la  wo  mir  ra  de  tut  mime“  gedeiht 
die  Landwirtschaft  nnd  das  ganze  wirtschaftliche  Leben  am  besten. 

Als  drittes  wird  sodann  das  sogenannte  „Indnstriegystem“  des  A d a in  S m i t h 
behandelt.  S m i t li  berichtigt  einerseits  die  Lehre  der  lMiysiukratcn.  Hatten  diese 


Dit*  Landwirtschaft  als  Ausgangspunkt  für  sin  System  etc. 


4.35 


den  Satz  aulgestelit,  (lad  nur  die  landwirtschaftliche  Arbeit  produktiv  sei,  so 
lehrt  Ad.  Smith,  daß  die  „ Produktivität*  jeder  materiellen  Arbeit  anerkannt 
werdeu  müsse,  „welche  den  Wert  des  Stoffes,  an  den  sie  gewendet  wird,  erhöht.“ 
Anderseits  schließt  sich  Smith  den  Physiokraten  an,  indem  er  erkennt,  daß 
die  vielfache  Reglementierung  nnd  Bevormundung  des  wirtschaftlichen  Lebens 
durch  die  Staatsgewalt,  wie  sie  unter  der  Herrschaft  der  merkantilistischen  Ideen 
an  der  Tagesordnung  war,  überflüssig  und  schädlich  ist.  Er  fordert  daher  mit 
den  Physiokraten  die  möglichst  geringe  Einmischung  des  Staates  in  das  Wirt- 
schaftsleben. 

Hie,  Smithsche  Lehre  wurde  im  Laufe  der  Zeit  von  seinen  Nachfolgern 
- — wie  Gustav  Cohn  sich  gelegentlich  in  überaus  zutreffender  Weise  aus- 
drnckt  — zu  einer  „Nationalökonomie  der  Börse“  umgestaltet.  Schon  Smith 
hatte  bekanntlich  den  Fehler  begangen,  daß  er  die  Ungleichheiten  der  einzelnen 
Menschen  im  wirtschaftlichen  Leben  unberücksichtigt  ließ,  d.  h.  daß  er  von  der 
stillschweigenden  Voraussetzung  ausging,  daß  die  Menschen  bei  Geschäfts- 
abschlüssen sich  ausschließlich  von  der  Rücksicht  auf  ihren  Vorteil  (also  vom 
KigenintereSse)  leiten  lassen,  und  zweitens,  daß  doch  jeder  selbst  am  besten 
wisse,  was  ihm  frommt,  oder  mit  anderen  Worten,  daß  jeder  ein  gewisses  Quan- 
tnm  von  Verstand  nnd  Einsicht  mitbringe.  Anf  dieser  Grundlage  wurde  von 
seinen  Nachfolgern  — ganz  besonders  von  dem  Bankier  Ricardo  — weiter 
gebaut,  und  so  gelangte  man  dazu,  das  ganze  Wirtschaftsleben  der  Menschen 
als  eine  ununterbrochene  Reihe  von  Kauf-  uud  Verkaufgeschäften  aufzufassen, 
bei  denen  sich  jedesmal  zwei  unabhängige  gleichgewiegt«  Kanfleutc  gegenüber- 
stehen, die  — mit  reichem  kaufmännischen  Wissen  ausgerüstet  — miteinander 
regelrechte  Börsengeschäfte,  u.  zw,  selbstverständlich  nach  dein  ewigen  nnd  un- 
abänderlichen „Gesetze“  von  Angebot  nnd  Nachfrage,  abschließen.  Unter  solchen 
Umständen  muß  jeder  Eingriff  der  Staatsgewalt  in  das  Wirtschaftsleben  nur 
störend  wirken  und  von  Nachteil  sein,  denn  das  gesamte  Wirtschaftsleben  regu- 
liert sich  unter  der  Herrschaft  der  Naturgesetze  von  selbst.  Haß  die  gedachten 
Voraussetzungen  im  wirklichen  Lehen  fast  nie  zutreffen,  daß  zumeist  auf  der  einen 
Seite  eine  unabhängige  wirtschaftliche  Position,  anf  der  anderen  Seite  eine 
wirtschaftliche  Not  oder  eine  Zwangslage  vorliegen  — daß  auf  der  einen 
Seite  der  rücksichtsloseste  Egoismus,  auf  der  anderen  Seite  alle  erdenklichen 
Rücksichten  anf  die  Vorschriften  der  Religion,  der  Gesetzgebung,  der  Moral,  der 
Staudessitten  n.  dgl.  mitspielen  — daß  auf  der  einen  Seite  die  rafliniertest»  ge- 
schäftliche Geriebenheit,  auf  der  anderen  Seite  geschäftliche  Unkenntnis,  Unver- 
stand. Trägheit,  Leichtsinn  otc.  herrschen  kann ; kurz,  daß  jeder  Geschäftsabschluß 
das  Resultat  eines  Kampfes  ist,  in  welchem  jeder  Teil  (so  gut  oder  schlecht  er 
es  eben  versteht)  die  Vorteile  seiner  Position  nach  Kräften  auszunutzen  bestrebt 
ist,  nnd  daß  aus  diesem  Kampfo  ( wie  überhaupt  aus  jedem  Kampfe)  der  stärkere 
Teil  als  Sieger  hervorgeht,  von  dem  allen  hatten  die  guten  Herren  auch  nicht 
die  leiseste  Ahnung. 

Au  dieser  Dreiheit  der  sogenauuten  „staatswirtschaftiichen  Systeme“  — 
Merkantilsystem,  System  der  Physiokraten,  Industrie-  oder  Freihandelsystem  — 
hat  die  gangbare  Lehre  seither  festgehalten,  sieht  inan  jedoch  etwas  genauer 


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Klein  Wächter. 


hin,  so  erscheint  einigermaßen  fraglich,  ob  man  an  dieser  Dreiheit  auch  fernerhin 
festhalten  darf.  Anf  den  ersten  Klick  scheint  nämlich  zwischen  der  Lehre  des 
Ad.  Smith  und  seiner  Nachfolger  und  zwischen  dem  Merkantilsystem  eine  un- 
überbrückbare Kluft  zu  gähnen.  Die  Merkantilisten  erblicken  den  Reichtum  des 
Volkes  in  dem  Besitze  von  möglichst  viel  Gold  und  Silber  — Smith  dagegen 
lehrt,  daß  die  Arbeit  allein  die  Quelle  des  Volkswohlstandes  ist.  Die  Merkantilsten 
verlangen,  daß  der  Staat  nach  allen  erdenklichen  Richtungen  hin  eingreifen  und 
reglementieren  soll,  um  die  Industrie  auf  jede  mögliche  Weise  zu  fördern  — die 
Vertreter  der  Freihandelslehre  hingegon  fordern,  daß  der  Staat  sich  jeder  Ein- 
mischung in  das  Wirtschaftsleben  möglichst  enthalten  soll.  Das  sind  die  denkbar 
schärfsten  Gegensätze,  wo  also  soll  das  verbindende  und  einigende  Moment 
liegen?  — Und  doch  ziehen  beide  an  demselben  Strang. 

Das  Merkantilsystem  ist  der  ungezügelte  Durst  nach  Gold  und  Silber 
und  dieses  Streben  — so  widersinnig  es  anf  den  ersten  Blirk  zu  sein  scheint 
— erklärt  sich  ungezwungen  aus  der  Tatsache,  daß  man  zu  jener  Zeit,  wenn 
auch  vielfach  unklar  und  unbewußt,  die  Bedeutung  des  Geldes  für  das  Wirt- 
schaftsleben nnd  seine  Macht  zu  ahnen  begann.  Wie  bereits  oben  erwähnt  wurde, 
beruht  fast  die  gesamte  Produktion  auf  dem  Zusammenwirken  mehrerer  Menschen 
nach  einem  einheitlichen  Plane.  Es  handelt  sich  also  darum,  die  Menschen 
zusammenzufassen  und  sie  zur  Unterwerfung  unter  den  einheitlichen  leitenden 
Willen  zu  veranlassen,  und  gerade  dieses  Bedürfnis  trat  mit  dem  Beginn  der 
sogenannten  Neuen  Zeit  mit  besonderer  Intensität  hervor.  Auf  der  einen  Seite 
waren  es  die  Landesfürsten,  die  ergebene  Beamten  nnd  Soldaten  brauchten,  um 
die  ihrem  Sceptcr  unterworfenen  heterogenen  Ländergebiete  stramm  zu  administrieren 
nnd  zu  einem  Einheitsstaate  zusammenzuschweißen.  Anf  der  andern  Seite  standen 
die  aufkeimenden  industriellen  Großuntemehmnngen,  die  sogenannten  „Manufak- 
turen“, an  welche  die  Aufgabe  herantrat,  immer  größere  Scharen  von  Arbeitern 
zusammenzufassen  nnd  in  ihren  Betrieben  zum  harmonischen  Zusammenwirken 
zu  vereinigen.  Nun  war  aber  zu  jener  Zeit  die  Sklaverei  in  Europa  längst  abge- 
schafft  und  an  eine  Wiederherstellung  derselben  nicht  zu  denken.  Das  Lehen- 
wesen hatte  sich  — wenn  man  so  sagen  darf  — ausgelebt,  d.  h.  der  Grund 
und  Boden  war  verteilt,  und  es  waren  keine  Ländereien  mehr  vorhanden,  die 
man  hätte  als  Lohen  ansteilen  können;  überdies  war  in  der  Stadt  selbstverständ- 
lich mit  dem  Lehenwesen  erst  recht  nichts  anzufangen.  Man  mußte  sieb  daher 
nach  einem  anderen  Ausknnl'tsmittcl  Umsehen,  um  die  Menschen  zum  Gehorsam 
und  zum  Zusammenarbeiten  zu  veranlassen,  und  als  solches  tat  sich  sozu- 
sagen von  selbst  das  Geld  dar,  das  ja  in  der  Stadt  schon  seit  längerer  Zeit 
zur  Lohnzahlung,  speziell  an  die  Handwerksgesellen,  verwendet  wurde.  Soll  aber 
das  Geld  in  größerem  Maßstabe  zur  Lohnzahlung  verwendet  werden,  so  maß  man 
es  selbstverständlich  vorerst  haben,  d.  h.  es  müssen  — was  im  geldarnien  Mittelalter 
bekanntlich  nicht  der  Fall  war  — entsprechende  Mengen  zirkulierenden  Geldes  im 
Lande  vorhanden  sein,  nnd  die  Mittel  nnd  Wege,  wie  ein  Land  in  den  Besitz  von 
Gold  und  Silber  gelangen  kann,  die  lehrte  nnd  wies  uhen  das  Merkantilsystem. 

Hierin  liegt  die  eigentliche  Bedeutung  dieses  Systems.  Die  Menschheit  der 
damaligen  Zeit  brauchte  Geld,  aber  nicht  — wie  die  späteren  Nationalökonomen 


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Pie  Landwirtschaft  al«  Anegangepnnkt  fUr  ein  System  etc. 


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lehrten  — weil  iui  Anfänge  der  ««genannten  Nenen  Zeit  «ich  der  Übergang  von 
der  Natural-  zur  Goldwirtschaft  z.n  vollziehen  beginnt,  sondern  man  brauchte  das 
(leid  als  Herrschaftsmitte],  um  die  Menschen  speziell  unter  den  Willen  des  in- 
dustriellen Großunternehmers  (denn  in  den  landw irtschaftlichen  Großbetrieben 
behalf  man  sich  noch  immer  mit  lehenartigen  Verhältnissen!  r,u  zwingen  und 
sie  zur  Arbeit  in  den  gewerblichen  Großbetrieben  zu  nötigen.  Kine  derartige 
Produktion,  bei  der  eine  größere  Anzahl  von  Arbeitern  produziert  und  durch 
Zahlung  eines  Geldloh  lies  zum  Gehorsam  und  zum  Zusammenarbeiten  nach  dem 
Plane  und  dem  Willen  eines  „Herrn*  verhalten  wird,  bezeichnet  inan  als  „kapi- 
talistische Produktion“.  Pas  Merkantilstem  diente  somit  dazu  — und  das  war 
sein  eigentlicher  Zweck  und  seine  eigentliche  Bedeutung  — die  sogenannte  kapi- 
talistische Produktion  in  die  Welt  zu  setzen;  dein  gleichen  Zwecke  aber  dient 
die  Freihandelslehre.  Die  Lehre  nämlich,  daß  jeder,  der  Arbeiter  wie  der  Guts- 
besitzer und  wie  der  Kaufmann  ein  Warenverkäufer  sei,  und  die  stillschweigende 
Annahme,  daß  die  jedesmaligen  Käufer  und  Verkäufer  sich  als  gleich  starke  und 
ebenbürtige  Kontrahenten  gegemiberstehen,  oder  init  anderen  Worten,  der  kind- 
lich-naive Glaube,  daß  der  Preis  aller  Gütor  durch  das  ewige  und  unabänderliche 
„Gesetz“  von  Angebot  und  Nachfrage  gebildet  werde,  bot  eine  überaus  bequeme 
Handhabe,  um  alle  Schritte  und  Maßnahmen  aller  Kapitalisten  'Unternehmer'' 
gegenüber  ihren  Arbeitern  zu  rechtfertigen  und  als  vollkommen  legitim  hinzu- 
stellen. Für  den  Starken  bildet  ja  der  Grundsatz  der  wirtschaftlichen  Freiheit 
den  überaus  wertvollen  Rerhtstitel,  um  den  Schwachen  in  aller  Form  Rechtens 
nach  Herzenslust  und  nach  allen  Richtungen  hin  ansbeuten  zu  dürfen.  Wnltl 
waren  nnter  der  Herrschaft  der  merkantilistischen  Ideen  die  Regierungen  bestrebt, 
durch  alle  erdenklichen  Eingriffe  und  Maßregein  die  Industrie  zu  fördern,  während 
die  Staatsgewalt  unter  der  Herrschaft  der  „liberalen*  Ideen  sich  jeder  Ein- 
mischung in  die  Wirtschaft  der  Individuen  tunlichst  enthält.  Aber  im  Wesen 
dienten  alle  Regierungsmaßregeln  der  merkantilistischen  Epoche  nur  dazu,  die 
Unternehmer  — und  nicht  etwa  die  Arbeiter  — zu  unterstützen  und  zu  för- 
dern, und  dem  gleichen  Zwecke  dient  nnter  der  Herrschaft  der  „Freiheit“  die 
Nichteinmischung  der  Staatsgewalt,  weil  sie  die  Arbeiter  als  den  schwächeren 
Teil  den  Unternehmern  schutzlos  ausliefert. 

Anderseits  aber  kann  nicht  geleugnet  werden,  daß  die  kapitalistische 
Produktion  — wenigstens  in  der  heutigen  Welt  — bis  zu  einem  gewissen  Grade 
geradezu  unentbehrlich  ist.  Der  Reichtum  eines  Volkes  und  sein  Fortschritt  be- 
steht in  der  Herrschaft  über  die  Naturkräfte.  Hiezu  aber  sind  zumeist  Anlagen 
erforderlich,  deren  Herstellnng  die  Kräfte  eines  einzelnen  weit  übersteigt,  die 
also  das  Zusammenwirken  einer  größeren  Anzahl  von  Menschen  erfordert.  Sollen 
daher  derartige  Anlagen  hergestellt  und  in  Betrieb  gesetzt  werden,  so  muß  mail 
die  Macht  besitzen,  die  Menschen  zur  Arbeit  und  zum  Gehorsam  zu  verhalten, 
und  dies  geschieht  heute  am  einfachsten  und  kürzesten  durch  die  Zahlung  eines 
Geldlohnes.  In  Utopien  wäre  die  Regierung,  wenn  sie  größere  Anlagen  Eisen- 
bahnen, .Schiffahrtskanäle,  Elektrizitätswerke  u.  dgl.)  hersteilen  lassen  wollte,  auf 
den  freiwilligen  Gehorsam  der  Bürger  angewiesen,  und  wenn  diese  die  fraglichen 
Arbeiten  nicht  auf  sich  nehmen  wollten,  weil  sie  den  Zweck  und  die  Vorteile 


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Kleinwäehter. 


der  neuen  Anlagen  nicht  einsehen,  so  niüflte  die  Regierung  — nenn  es  ihr 
nicht  gelingt,  die  Bürger  zu  belehren  und  zu  überzeugen  — auf  die  Durch- 
führung ihrer  I’lj'tm*  verzichten,  ln  der  heutigen  Welt  vollführt  der  Kapitalist 
(der  Unternehmer)  mit  seinen  blanken  Gold-  und  Silberstücken  dieses  Kunststück 
sozusagen  iin  Handumdrehen.  Kr  verspricht  den  betreffenden  Personen  einen  an- 
gemessenen I.ohn,  und  da  heute  jeder  darauf  angewiesen  ist,  zu  verdienen,  so 
greift  jeder  bereitwilligst  zu  und  vollführt  die  gewünschte  Leistung,  ohne  weiter 
nach  ihrem  Zweck  zu  fragen.  Besitzt  der  Unternehmer  selbst  die  erforderliche 
Geldsumme,  so  kann  er  sofort  an  die  Ausführung  seiner  Pläne  schreiten,  und 
besitzt  er  das  Geld  nirht,  so  wird  es  immer  noch  verhältnismäßig  leicht  fallen, 
ein  paar  Kapitalisten  für  die  Idee  zu  gewinnen,  die  dann  das  nötige  Geld  zu- 
sammenschießen. — Hierin  liegt  die  ungeheure  Bedeutung  der  kapitalistischen 
Produktion  in  der  heutigen  Wirtschafts-  und  Gesellschaftsordnung. 

Merkantilismus  und  ökonomischer  Liberalismus  repräsentieren  also  nicht 
zwei  verschiedene  „staatswirtschaftliche  Systeme“,  sondern  sind  zwei  Entwicklungs- 
Stadien  eines  und  desselben  staatswirtschaftlichcn  Systems,  nämlich  der  sogenannten 
.kapitalistischen  Wirtschafts-  und  Gesellschaftsordnung“  oder  — präziser  aus- 
gedrückt  — : des  Industrialismus,  denn  diesen  beiden  sogenannten  „Systemen“ 
ging  es  in  erster  Reihe  nur  darum,  die  Industrie  um  jeden  Preis  in  die  Höhe 
zu  bringen.  Will  man  die  Sache  mit  anderen  Worten  ausdrücken,  so  kann  man 
sagen,  daß  mau  es  hier  mit  dem  uralten  Gegensatz  von  Stadt  und  Laud  oder  von 
Gewerbe  und  Landwirtschaft  zn  tun  hat.  Der  Merkantilismus  und  der  ökonomische 
Liberalismus  (das  sogenannt«  „Industriosystcm  des  Ad.  Smith*)  repräsentieren 
die  Interessen  der  Industrie  und  des  Handels  — der  sogenannt«  Physiokratisinus 
die  der  Landwirtschaft. 

Fast  die  gesamte  nationalökonomische  Literatur  nach  Ad.  Smith  hat 
sich  darin  gefallen,  dem  Industrialismus  und  Kapitalismus  zu  dienen,  und  speziell 
die  sogenannte  liberale  Nationalökonomie  hat  das  gesamte  Wirtschaftsleben  immer 
nur  so  aufgefaßt,  als  wäre  die  ganze  Welt  ein  einziger  großer  Börsensaal,  in 
welchem  alle  Menschen  von  ihrer  Geburt  bis  zu  ihrer  Sterbestunde  eine  ununter- 
brochene Reihe  vou  Börsengeschäften  abschließen.  Später  kam  wohl  die  moderne 
(deutsche)  sogenannte  kathedersozialistische  Richtung  der  Nationalökonomie,  und 
diese  hat  nach  zwei  Richtungen  hin  segensreich  gewirkt,  weil  sie  die  bisherige 
Theorie  und  Praxis  berichtigte.  Sie  hat  einmal  die  theoretischen  Grundlagen  des 
ökonomischen  Liberalismus  einer  eingehenden  Kritik  unterzogen  und  hat  — wie 
bereits  oben  angedeutet  wurde  — gezeigt,  daß  das  wirkliche  menschliche  Leben 
sich  nicht  ausschließlich  nach  den  Regeln  dor  kaufmännischen  Berechnung  ali- 
spielt;  sie  hat  damit  den  Nachweis  erbracht,  daß  das  Bild,  welches  die  liberale 
Ökonomie  VOtl  dem  Wirtschaftsleben  entwarf,  ein  einseitiges  und  somit  schiefes 
war.  Sie  hat  zum  zweiten  erkannt,  daß  die  stillschweigende  Annahme,  von  der 
die  liberale  Richtung  ausging,  als  ständen  sich  bei  jedem  Geschäftsabschlüsse  zwei 
gleiche  und  ebenbürtige  Partner  gegenüber,  eino  irrige  war  und  bat  nachgewiesen, 
daß  zumeist  zwei  ungleich  starke  Gegner  im  wirtschaftlichen  Kampfe  sich  gegen- 
überstehen,  und  daß  daher  dieser  Kampf  in  der  Regel  zum  Vorteile  des  stärkeren 
und  zum  Schaden  des  schwächeren  Teiles  ausschlägt.  Und  indem  die  moderne 


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Die  Landwirtschaft  als  Ausgangspunkt  für  ein  System  etc. 


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sogenannte  kathedersozialistische  Richtung  diesen  Nachweis  erbrachte,  hat  sie 
wesentlich  mit  dazu  beigetragen.  daß  die  heutige  Arbeifcerschutzgesefczgebnng  ent- 
stand. die  sich’s  zur  Aufgabe  stellt,  den  wirtschaftlich  Schwachen  gegenüber  dem 
wirtschaftlich  Starken  zu  schützen.  Die  moderne  nationalökonomische  Richtung 
ist  also  zwar  bestrebt,  dem  Kapitalismus  einigermaßen  entgegenzutroten  und  seine 
Auswüchse  zu  beschneiden,  aber  im  Industrialismus  ist  sie  trotzdem  stecken  ge- 
blieben, denn  sie  bat  sich  (allerdings  unter  dem  Drucke  der  sozialistischen  Lehre) 
fast  ausschließlich  darauf  beschränkt,  die  Vorgänge  auf  dem  Gebiete  der  Industrie 
und  des  Handels  und  insbesondere  das  Verhältnis  der  Arbeiter  zu  ihren  Arbeit- 
gebern einer  Erörterung  zu  unterziehen  — die  Frage  der  Landwirtschaft  dagegen 
ist  (fiat  wäre  man  geneigt  zn  sagen:)  unberücksichtigt  geblieben,  lind  dies  ist 
aus  einem  zweifachen  Grunde  unrichtig. 

Zunächst  ist  die  theoretische  Grundlage  des  Indnstrialismns  eine  teilweise 
irrige.  Wenn  nämlich  Ad,  Smith  im  Gegensätze  zu  den  Physiokraten  den  Satz 
aufstellte,  daß  nicht  nur  die  landwirtschaftliche,  sondern  überhaupt  jede  mate- 
rielle (also  auch  die  gewerbliche,)  Arbeit  produktiv  ist,  wenn  sie  den  Wert 
des  betreffenden  Stoffes  erhöht,  so  hat  er  — rein  theoretisch  gesprochen  — 
unbedingt  recht,  denn  unsere  gesamte  sogenannte  Produktion  besteht  (da  wir 
bekanntlich  auch  nicht  ein  einziges  Stäubchen  ans  Nichts  zu  schaßen  vermögen) 
lediglich  darin,  daß  wir  gewisse,  für  uns  wünschenswerte  Naturstoffe  oder  -Gegen- 
stände herbeischaffen,  daß  wir  sie  in  eine  uns  wünschenswerte  (chemische  oder 
mechanische)  Verbindung  bringen  oder  ans  einer  derartigen  Verbindung  heraus- 
lösen, oder  daß  wir  ihnen  eine  uns  wünschenswerte  Form  geben.  Und  das  tut 
der  Gewerbetreibende  ebensogut  wie  der  Landwirt,  der  Jäger  oder  der  Bergmann. 
Und  ebenso  richtig  ist  es,  daß  uns  mit  der  bloßen  Rohproduktion  nur  wenig  ge- 
dient ist,  weil  die  meisten  Rohstoffe  — ehe  sie  unseren  Bedürfnissen  dienen 
können  — vorher  einer  gewissen  Be-  oder  Verarbeitung  bedürfen.  Mit  anderen 
Worten,  wenn  wir  unsere  materiellen  Bedürfnisse  befriedigen  wollen,  so  müssen 
Rohproduktion  und  gewerbliche  Arbeit  Hand  in  Hand  gehen. 

Wenn  jedoch  Ad.  Smith  lehrte,  daß  die  Arbeit  allein  Reichtum  schaffe, 
und  wenn  seine  Nachfolger,  gestützt  anf  diese  Behauptung,  die  Lehre  von  der 
„ernährenden  Kraft“  der  industriellen  Arbeit  aufstellten,  so  war  dies  nicht  nnr 
ein  kolossaler,  sondern  ein  überaus  folgenschwerer  Irrtum.  Unsere  gesamte 
„Arbeit“  ist  nichts  weiter  als  Bewegung  und  sich  bewegen,  d.  h.  laufen,  springen, 
mit  den  Armen  in  der  Luft  herumfuchteln  kann  jeder  soviel  er  will.  Wenn 
jedoch  nnr  diese  Muskelanstrengnng  sich  nicht  an  irgend  einem  Stoffe  verkörpert, 
so  ergibt  sie  auch  kein  greifbares  Resultat,  sondern  bleibt  eine  einfache  Turn- 
übung. Die  Arbeit  „an  sich“  ist  also,  wirtschaftlich  betrachtet,  gar  nichts  und 
am  allerwenigsten  eine  „Quelle  des  Reichtums“;  zu  einer  solchen  kann  sie  erst 
werden,  wenn  sie  ein  wertvolles  Produkt  liefert,  allein  auch  dies  nur  bedingungs- 
weise. Der  Mensch  muß  nämlich  bekanntlich  — wenn  er  leben  will  — zunächst 
essen;  wenn  er  also  durch  seine  Arbeit  keine  Lebensmittel,  sondern  sonstige  Ge- 
nußgüter  produziert,  so  kann  er  verhungern,  ln  unserer  heutigen  arbeitsteiligen 
und  verkebrswirtschaftlich  organisierten  Volkswirtschaft  kann  allerdings  nicht  nur 
der  Gewerbetreibende,  sondern  auch  der  Seiltänzer.  Kunstreiter  oder  Luftspringer 

Zeitschrift  für  VolkavrirtachaO,  Soitatpolitlk  und  Verwaltung  XU.  Band.  30 


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Klahiwächter. 


nicht  bloß  leben,  sondern  unter  Umständen  auch  ein  reicher  Mann  «erden,  kann 
also  auch  diese  „Arbeit“  Quelle  des  Reichtums  sein,  aber  immer  nur  unter  einer 
Voraussetzung,  nämlich  dann,  wenn  der  Mann  andere  findet,  die  ihm  seine 
Leistungen  mit  sonstigen  Gätern,  und  zwar  insbesondere  auch  mit  Lebensmitteln 
bezahlen.  Und  dieser  Satz,  dessen  Richtigkeit  so  handgreiflich  ist,  daß  sie  keines 
weiteren  Beweises  bedarf,  gilt  selbstverständlich  nicht  nur  von  einzelnen,  sondern 
ebenso  von  einem  ganzen  Volke.  Ein  Volk  kann  sich  nur  dann  zu  einem  soge- 
nannten lndustrievolke  answachsen  und  nur  so  lange  als  solches  existieren, 
wenn  und  so  lange  andere  Völker  vorhanden  sind,  die  geneigt  sind,  ihm  seine 
überschüssigen  Industrieprodukte  abzunehmen  und  ihm  hiefür  die  notwendigen 
Lebensmittel  zu  liefern.  Fehlt  diese  Voraussetzung  oder  fällt  sie  fort,  so  muß 
die  ganze  Industrieberrlichkeit  — so  sicher  wie  zweimal  zwei  vier  ist  — zn- 
sammenbrechen. 

Bet  Industrialismus  ist  aber  anderseits  wie  ein  gefräßiges  niniinersattes 
Ungeheuer  und  hat  im  Gegensatz,  zur  Landwirtschaft  die  Tendenz,  ins  ungemessene 
zu  wachsen.  Der  landwirtschaftlichen  Produktion  sind  durch  die  Natur  der  Dinge, 
d.  i.  durch  die  Menge  und  Beschaffenheit  des  Bodens  im  Lande,  ziemlich  enge 
Grenzen  gezogen,  welche  nur  bedingungsweise  (durch  eine  intensivere  Boden- 
kultur i bis  zu  einem  gewissen  Grade  überschritten  werdon  können,  und  hieraus 
ergeben  sich  für  die  Gestaltung  der  gesamten  Volkswirtschaft  zwei  schwer- 
wiegende Konsequenzen.  Kin  ausschließlich  ackerbautreibendes  Land  kann  einmal 
selbstverständlich  nichts  anderes  exportieren  als  Bodenprodukte  und  dies  nur 
so  lange  als  es  untervölkert  ist.  Nimmt  seine  Bevölkerung  zu,  so  wird  sich  sein 
Getreideeiport  sukzessiv  vermindern,  bis  er  schließlich  ganz  aofhört,  weil  dio 
gesamte  landwirtschaftliche  Produktion  zur  Krnälirung  der  heimischen  Bevölkerung 
verbraucht  wird.  Nimmt  die  Bevölkerung  weiter  zu,  so  wird  dieses  Land  Menschen 
exportieren  müssen,  d.  b.  die  überschüssige  Bevölkerung,  die  in  der  Landwirte 
Schaft  kein  Unterkommen  mehr  linden  kann,  wird  abziehen.  Zum  zweiten  ist  in 
einem  ausschließlich  ackerbautreibenden  Laude  auch  der  Vermögeiisansaminlnng 
in  der  Hand  der  einzelnen  eine  gewisse  Grenze  gezogen,  denn  die  einzige  Form, 
in  der  Vermögen  angesainnudt  werden  kann,  besteht  im  Grundbesitz.  Ist  aber 
einmal  der  gesamte  Grand  ond  Boden  in  den  Privatbesitz  übergegangen,  so 
kann  der  einzelne  in  der  Hauptsache  sein  Vermögen  nur  durch  Ankauf  von 
Grandstücken  vergrößern  und  würde  - wenn  er  Grandkäufe  in  größerem  Maße 
vornehmen  wollte  — die  Bodenpreise  bald  so  sehr  in  die  Höhe  treiben,  daß 
das  Geschäft  bald  aufhöreu  würde,  rentabel  zu  sein. 

Gerade  umgekehrt  verhalten  sich  dio  Dinge  auf  dem  Gebiete  dos  Handels 
und  der  Industrie.  Industrielle  und  Handelsunternohmungen  können  — wie  man 
zn  sagen  pflegt  — in  beliebiger  Menge  ins  Leben  gerufen  werden  und  weil 
jeder  Unternehmer  die  theoretische  Möglichkeit  hat,  reich  zu  werden,  finden  sich 
auch  immer  Personen,  die  derartige  Unternehmungen  nen  ins  Lehen  rufen.  Ferner 
kann  jede  kaufmännische  oder  indnstricdle  Unternehmung  beliebig  vergrößert 
werden,  weil  jedor  Unternehmer  tancli  wieder  theoretisch i die  unbegrenzte  Mög- 
lichkeit hat  oder  doch  zn  haben  glaubt,  Abnehmer  für  seine  Produkte  oder 
Leistungen  zu  finden.  Auf  der  andern  Seite  fehlt  hier  das  Korrektiv  für  die 


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Die  Landwirtschaft  als  Ansgangspunkt  für  ein  System  etc. 


441 


Bevölkenmgsznnahme.  Die  wachsende  Industrie  zieht  immer  größere  Scharen 
von  Arbeitern  an  sich  und  die  Ernährung  dieser  Massen  verursacht  niemandem 
Sorgen»  denn  selbst  wenn  diese  Massen  so  zahlreich  werden,  daß  die  heimische 
Landwirtschaft  sie  nicht  mehr  zu  ernähren  vermag,  nun  gut.  so  sucht  man  die 
Industrieprodukto  im  Auslande  abzusetzen  und  bezieht  das  fehlende  Brotgetreide 
von  dort.  — Die  Welt  ist  ja  groß  genug! 

So  ungefähr  ging  die  Sache  bis  vor  kurzem,  denn  tatsächlich  war  bis  dahin 
die  Welt  rgroß  genug“,  und  dasjenige  Land,  welches  auf  dein  Gebiete  des 
Handels  und  der  Industrie  am  ersten  und  ain  kecksten  zugegriffen  hat  — 
England  — hat  bekanntlich  auf  diesem  Wege  ganz  erkleckliche  Keiehtümer  eiu- 
geheimst.  Allgemach  aber  beginnt  das  Blatt  sich  zu  wenden,  die  Welt  hört  auf 
„groß  genug“  zu  sein  und  beginnt  zu  klein  zu  werden.  Die  Seelenzahl  der  ehe- 
mals dünn  bevölkerten  Agrikultu rstaaten  — Amerika  voran  — wächst,  die 
Leute  dort  fangen  au  einzusehen,  daß  sie  ebensogut  industrielle  Produkte  er- 
zeugen können  wie  die  Bewohner  der  alten  europäischen  Kulturstaaten  und  jene 
Länder  beginnen  sich  durch  hohe  Einfuhrzölle  gegen  die  Überschwemmung 
mit  europäischen  Industrieprodukten  zu  schützen.  In  den  alten  europäischen  In- 
dustriestaaten wird  dadurch  ein  Prozeß  ausgelöst,  den  ich  mit  den  Worten  kenn- 
zeichnen möchte,  daß  die  europäische  Industrie  aufäugt,  sich  selbst  totznschlageu. 
Anfänglich  exportierte  man  — wie  R u h 1 a n d in  seinem  eingangs  zitierten 
Werke  S.  101  treffend  andeutet  — die  fertigen  Fabrikate  (fertige  Genußgnterl, 
welche  die  früheren  Agrikulturstaaten  brauchten.  Als  diese  letzteren  dann  sich 
gegen  die  Einfuhr  der  Fabrikate  sperrten,  begann  man  in  Europa  die  Maschinen 
zu  exportieren,  mit  welchen  jene  Genußgüter  hergestellt  werden.  Später  expor- 
tierte man  die  Werkzeugmaschinen,  mit  welchen  die  Arbeitsmaschinen  erzeugt 
werden,  l'nd  wenn  auf  diese  Weise  die  Möglichkeit  eines  Exportes  erst  recht 
untergraben  ist,  dann  tun  sich  zum  Überflüsse  noch  europäische  Kapitalisten  zu- 
sammen und  errichten  selbst  in  den  fraglichen  Läudern  alle  erdenklichen  Fabriken, 
um  für  sieb,  wenigstens  für  einige  Zeit  noch,  einen  Dividendetibezng  von  dort 
zu  retten. 

Diese  Seite  der  Frage  ist  von  der  bisherigen  nationalökonomischen  Literatur 
viel  zu  wenig  gewürdigt  worden.  Die  zünftige  Nationalökonomie  hat  sich  viel 
zu  einseitig  mit  dem  Handel  und  der  Industrie  beschäftigt,  sie  hat  in  der 
Schaffung  unserer  modernen  industriellen  RiesenetahlissemenLs  und  unserer  Ver- 
kehrsanlaget)  eine  kolossale  Steigerung  des  Volkswohlstandes  erblickt,  sie  hat  die 
wirtschaftlichen  Vorgänge,  die  sich  auf  dem  Gebiete  des  Handels  und  der  Industrie 
abspielen  (Geld-  und  Kreditwesen,  Verkehr,  Verbände  der  Unternehmer  wie  der 
Arbeiter  u.  dgl.)  genau  verfolgt  und  aufmerksam  studiert.  Aber  weil  sie  immer 
von  dein  Smith  sehen  Gedanken  erfüllt  war,  daß  die  Arbeit  allein  die  Quelle 
des  Keichtumes  sei  (als  ob  Gehirntätigkeit  und  Mnskelanstrengung  für  sich  allein 
im  stände  wären,  greifbare  Güter  zur  Befriedigung  menschlicher  Bedürfnisse  her- 
vorzubringen!),  hat  sie  sich  nie  die  Frage  vorgelegt,  ob  es  möglich  ist,  den 
Reichtum,  d.  i.  die  Wohlfahrt  eines  Volkes  ausschließlich  auf  der  Grundlage  des 
Handels  und  der  Industrie  aufzubauen.  Die  Tatsache,  daß  die  Güter,  die  wir 
tagtäglich  brauchen,  aus  irgend  welchen  Naturstoffen  augefertigt  werden  müssen, 

80* 


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442 


Klelnwlchter 


and  die  weitere  Tatsache,  daß  ein  Volk  — genau  ebenso  wie  ein  einzelner  — 
nicht  einmal  existieren  kann,  wenn  ihm  der  Bezug  dieser  Naturstoffe  nicht  ge- 
sichert ist.  d.  i.  als»  der  Zusammenhang  von  Handel  und  Industrie  auf  der  einen 
und  der  Landwirtschaft  (Urproduktion)  auf  der  andern  Seite,  blieb  unberück- 
sichtigt und  die  Frage,  wie  sich  der  Entwicklungsgang  und  der  Verlauf  einer 
bestimmten  Volkswirtschaft  gestalten  wird  und  muß,  wenn  in  dem  betreffenden 
Lande  Kapitalismus  und  Industrialismus  überwuchern  und  die  Landwirtschaft 
vernachlässigt  wird,  wurde  bis  vor  kurzem  nicht  einmal  aufgeworfen. 

Erst  in  der  allerletzten  Zeit  sind  einzelne  Nationalökonomie!,  wie  Ad. 
Wagner,  Olden berg  u.  a.  hervorgetreten,  welche  auf  die  Gefahren  hin- 
weisen,  denen  ein  Volk  entgegengeht,  wenn  es  die  Industrie  und  den  Handel 
überwuchern  läßt  und  die  Landwirtschaft  soweit  vernachlässigt,  daß  das  Land 
nicht  mehr  im  stände  ist,  seine  Bevölkerung  zu  ernähren.  Ein  zusammen  fassend  es 
und  systematisches  Werk  jedoch,  welches  kontinuierlich  auf  den  Zusammenhang 
der  genannten  drei  Wirtschaftsgebiete  hinweist  und  die  Schäden  anfdeckt,  die 
ein  treten  müssen,  wenn  die  Landwirtschaft  eines  Volkes  zurückgeht,  hat  bisher 
in  der  nationalökonomischen  Literatur  gefehlt.  Ein  solches  Werk  zu  liefern  unter- 
nimmt G.  Rn  hl  and,  der  unermüdliche  Vorkämpfer  für  die  agrarischen  In- 
teressen in  Deutschland,  in  seinem  oben  genannten  Buche,  dessen  ersten  Band 
er  soeben  der  Öffentlichkeit  übergeben  hat. 

Er  beginnt  mit  der  Entstehungsgeschichte  der  bisherigen  nationalökono- 
misehen  Schulsysteme  — des  Merkantiisysteius,  des  physiokratisrhen  Systems, 
der  Freihandelslehre  und  des  modernen  sozialistischen  Systems  — uud  erklärt  sie 
als  das  Produkt  der  jeweiligen  Zeit-  und  Wirtschaftsverhältnisse.  Sehr  beachtens- 
wert ist,  was  Ruhland  in  dem  folgenden  Kapitel  „Das  Getreide  als  Ausgangs- 
punkt des  Systems“  über  die  Kultur  der  verschiedenen  Handelsgewächse  sagt, 
weil  er  entgegen  der  vielfach  verbreiteten  Meinung,  daß  der  Landwirt  heute  in 
der  Zeit  der  sinkenden  Getreidepreise  zur  Kultur  von  Handelsgewächsen  über- 
gehen müsse,  den  Nachweis  erbringt,  daß  di«  Fliege  dieser  Kulturen  nicht  im 
stände  ist.  der  europäischen  Landwirtschaft  aufzuhelfen.  Der  „zweite  Teil“  des 
Buches  beschäftigt  sich  mit  der  „Entwicklungsgeschichte  der  Völker“  (des  Alter- 
tums). speziell  der  .Inden,  der  Griechen  und  der  Römer,  und  sucht  zu  zeigen, 
wie  diese  Völker  an  der  Vernachlässigung  der  Landwirtschaft  und  dem  fiber- 
wuchern des  Kapitalismus  zu  Grunde  gegangen  sind. 

Vorläufig  liegt  nur  der  erste  Band  des  Kühl  and  sehen  „Systems“  vor 
und  dieser  bildet  nur  die  historische  Einleitung  zum  Ganzen,  ein  abschließendes 
Urteil  über  das  Werk  ist  also  noch  nicht  möglich,  allein  trotzdem  möchte  ich 
meine  Meinung  schon  heilte  dahin  aussprechen,  daß  mir  der  Grundgedanke,  von  dem 
Ruhland  ausgeht,  ein  richtiger  zu  sein  scheint,  weil  ich  der  Anschauung  hul- 
dige, daß  ein  Volk,  welches  in  einem  bestimmten  Lande  sitzt  und  dort  eine 
selbständige  Existenz  führen  will,  auch  eine  in  der  Hauptsache  in  sich  abge- 
schlossene Wirtschaft  führen  muß. ' Es  fällt  mir  selbstverständlich  nicht  entfernt 
ein,  behaupten  zu  wollen,  daß  ein  Volk  auf  allen  Handel  und  Verkehr  mit  anderen 
Völkern  verzichten,  d.  h.  daß  es  keine  anderen  Produkte  an  das  Ausland  al  - 
setzen  und  sozusagen  auch  nicht  eine  einzige  .Stecknadel  von  dort  beziehen  solle. 


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Die  Landwirtschaft  als  Ausgangspunkt  für  ein  System  etc. 


443 


Aber  wenn  ein  Volk  seine  wirtschaftliche  Selbständigkeit  verliert  nnd  bezüglich 
der  Deckung  seines  allcrdringendstcn  Bedarfes,  des  Bedarfes  an  Lebensmitteln, 
von  anderen  Völkern  wirtschaftlich  abhängig  wird,  so  liegt  — wie  ich  glaubt? 
— die  Gefahr  überaus  nahe,  daß  auch  die  politische  Selbständigkeit  dieses  Volkes 
bei  nächster  Gelegenheit  verloren  geht.  Allerdings  ist  es  möglich,  daß  das  frag- 
liche Industrieland  — wie  der  Vorgang  Englands  lehrt  — Kolonien  erwirbt,  die 
ihm  das  notwendige  Brotgetreide  liefern,  aber  trotzdem  bleibt  meines  Erachtens  die 
Frage  eine  offene,  ob  ein  derartiger  Kolonialbesitz  auf  die  Dauer  Vorhalten  besw.  den 
Interessen  des  sogenannten  Mutterlandes  dienen  kann.  Staatengehilde  können 
sich  nur  so  lange  erhalten,  als  dies  den  Bedürfnissen  der  zu  einem  Staatsganzen 
verbundenen  Völkerschaften  entspricht.  Und  ob  es  auf  die  Dauer  den  Interessen 
der  Kolontalländer  entspricht,  sich  von  dem  sogenannten  Mutterlande  beherrschen 
zu  lassen  oder  doch  mit  ihm  verbunden  zu  bleiben,  ist  eine  andere  Frage. 
Hiezu  kommt  ein  zweites:  Jedes  Land  und  daher  auch  jedes  Kolonialland  muß 
das  Bestreben  haben,  eine  angemessene  Bevölkerung  zu  besitzen,  weil  es  nur 
dann  eine  achtunggebietende  Stellung  erlanget!  kann,  wenn  es  über  eine  ent- 
sprechende Zahl  von  Menschen  verfügt.  Und  da  Kolonialländer  begreiflicherweise 
anfänglich  nur  eine  dünne  Bevölkerung  besitzen,  so  wird  jedes  Kolonialland 
bestrebt  sein,  durch  Begünstigung  der  Einwanderung  u.  dgl.  auf  eine  Zunahme 
seiner  Bewohner  hinzuwirken.  Je  mehr  aber  die  Bevölkerungsziffer  wächst,  um  so 
weniger  wird  die  Kolonie  in.  staude  sein,  das  Mutterland  mit  Brotgetreide  zn 
versorgen,  nm  so  weniger  wird  sie  auch  geneigt  sein,  die  Industrieerzeugnisse  des 
Mutterlandes  aufzunehmen.  Indes,  wie  dem  auch  sei,  die  in  Rede  stehende  Frage 
ist  gegenwärtig  in  der  Literatur  nun  einmal  angeregt  und  man  darf  auf  ein 
Werk  gespannt  sein,  welches  sich’s  zur  Aufgabe  setzt,  die  Bedeutung  der  Land- 
wirtschaft für  die  gesamte  Volkswirtschaft  systematisch  und  nach  allen  Rich- 
tungen hin  zu  erörtern. 


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LITERATUR  BERICHT. 


l)r.  Adolf  BuehenUerger.  Finanzpolitik  and  Staatshaushalt  im  Groß- 
herzogtum Baden  in  den  Jahren  1S50 — 1900.  Heidelberg,  Winter,  1902. 

Das  Großheraogtum  Baden  gilt  in  Deutschland  als  ein  Musterland  und  es  ist  beson- 
ders dankenswert,  daß  der  in  der  Wissenschaft  und  der  Verwaltungspraxis  gleich  rühmlich 
bekannte  Fiuanzminister  Buchenberger  aus  Anlaß  des  50jährigen  Regierungsjubiläutna 
de»  Großh  erzog*  eine  Darstellung  der  Finanz  Verwaltung  seines  Landes  veröffentlicht 
hat.  Das  kleine  Buch  ist  voll  interessanter  Daten  und  sein  Wert  wird  noch  erhöht  durch 
die  eingestrenten  Bemerkungen  und  Urteile  des  erfahrenen  Verfasser*.  Die  süddeutsche 
zweijährige  Budgetperiode  wird  gebilligt,  da  sie  sich  als  ein  Hemmschuh  gegen  das 
übermäßig  rapide  Anschwellen  der  Ausgaben  erwiesen  habe.  Der  Verfasser  macht  einige 
sehr  zutreffende  Bemerkungen  über  die  Ausgabeninitiative  der  parlamentarischen  Körper- 
schaften; » ine  Ausgabenerhöhung,  welche  der  Landtag  gegen  das  Verlangen  der  Regierung 
beschließt,  verpflichtet  trotz  ihrer  Aufnahme  in  das  Finanzgesetz  die  Regierung  nicht 
zur  Leistung  dieser  Ausgabe.  Die  Überschüsse  eines  Rechnungsjahres  werden  nicht,  wie 
bei  den  deutschen  Reichsfinanzen,  im  nächstjährigen  Budget  in  Kinnahntc  gestellt,  sondern 
dem  Betriebefonds  der  allgemeinen  Staatsverwaltung  einverieibt,  von  welchem  noch  ein 
bestimmter  Betrag  von  9*5  Millionen  Mark  als  „ eiserner“  Betriebsfonds  zur  Erleichterung 
des  Kassenverkehrs  ausgeschieden  wird.  I)»e  übrigen  Betriebafondsübersclnisse  werden 
zur  Deckung  außerordentlicher  Aufgaben  benützt.  Das  System  der  Matriknlarbei träge 
und  Überweisungen  wird  scharf  kritisiert  wegen  seiner  Schwankungen,  welche  den  Haus- 
halt der  Einzelstaaten  stören  und  dort  jede  voraussehende  Finanzpolitik  unmöglich 
machen.  Das  Anwachsen  der  Staatsausgaben  infolge  der  modernen  gesteigerten  staatlichen 
Tätigkeit  auf  allen  Gebieten  wird  sehr  anschaulich,  wenn  auch  mit  einer  gewissen 
Besorgnis  geschildert.  Die  Staatacisenbahn Verwaltung  ist  vom  übrigen  Staatshaushalt 
getrennt,  ihr  Reinertrag  sollte  ursprünglich  nicht  zu  allgemeinen  .Staatsbedürfnissen,  sondern 
dauernd  zur  Verzinsung  und  Tilgung  der  Eisenbalinschuld  und  sonach  für  allgemeine 
Eisenbahnzwecke  verwendet  werden.  Die  große  Ausdehnung  des  Bahunetzes  und  der 
Kisenbahnauslagen  überhaupt  jedoch  machten  die  Aufrechterhaltung  dieses  Systems 
unmöglich,  es  muß  vielmehr,  um  die  Tilgungsquote  der  amortisabeln  Eisenbahnanlehcn 
zu  bedecken,  eine  Dotation  von  mehr  als  2 Millionen  Mark  aus  dem  allgemeinen  Staatsbudget 
(wesentlich  aus  den  Post-  und  Telegrapheuerträgnissen)  an  den  Eisenbahnetat  geleistet 
werden.  Die  Steuerreform  wird  ausführlich  geschildert,  an  dem  Widerstand  der  Landtage, 
insbesondere  der  ersten  Kammer,  sind  die  größer  angelegten  Regierungsentwürfe  teilweise 
gescheitert.  Es  bestehen  noch  die  alten  Ertragsteuern,  die  aber  durch  neue  Katastrierung, 
insbesondere  bei  der  Grundsteuer  durch  Aufnahme  des  Verkehrsprintip»,  sich  zu  Partial- 
vermögenssteuern entwickeln  sollen,  daneben  die  Peraonaleinkouiro engteuer,  auch  hier  ist 
die  Landwirtschaft  mit  dem  niedrigsten  Prozent  (11)  und  das  Einkommen  auB  Dienst- 
bezögen  mit  dem  höchsten  Prozent  (56)  am  .Steuerertrag  beteiligt,  gerade  sowie  in 
Österreich.  Das  Buch  enthält  sehr  übersichtliche  Tabellen  und  ist  ein  Rechenschafts- 
bericht, welcher  der  Finanzverwaltung  des  Landes  nur  zur  Ehre  gereichen  kann. 

E.  Plener. 

Max  Sr-hlppel,  Zuckerproduktion  und  Znckerprimien  bis  zur  Brüsseler 
Konvention  19U2.  Stuttgart,  J.  H.  W.  Dietz  Nachfolger,  1903.  VIII  u.  419  S.  6 Mark. 

Eine  lebendig  geschriebene  Geschichte  der  Zuckerproduktion,  insbesondere  der 
Anfänge  der  Rübenzuckerfabrikation.  Die  Steuergesetzgebung  wird  mit  Ausnahme  der 


Literaturbericht. 


445 


deutschen  sehr  kursorisch  behandelt.  Eine  ausführliche  Darstellung  des  Prämienwesens 
fehlt  gänzlich,  weder  die  interessanten  französisch*  n Steuerprämien,  wie  sie  insbesondere 
durch  das  Gesetz  von  1884  geschaffen  wurden,  noch  die  deutschen  und  österreichischen 
Kartell prämien  werden  irgend  wie  eingehend  erörtert,  während  gerade  eine  solche  Ziffer* 
madige  Darstellung  der  Prämien  und  eine  Schilderung  ihrer  ökonomischen  Wirkungen 
in  einem  Buche,  das  auf  seinem  Titelblatt  die  Zuckerprämien  als  Inhalt  angibt,  einen 
geräumigen  Platz  einnehmen  müßte. 

Dagegen  werden  interessante  Daten  aus  der  überseeischen  Produktionsstatistik 
gegeben,  die  Versuche.  Rübenzucker  in  den  Vereinigten  Staaten  zu  erzeugen,  werden 
ausführlich  geschildert.  Michigan.  Kalifornien.  Kolorado  und  Utah  haben  259.513  acres 
Kubenfläche,  47  Fabriken  und  produzieren  195.000  Tonnen.  Rohrzucker  wird  in  den 
Vereinigten  Staaten  hauptsächlich  in  Louisiana  erzeugt,  viele  primitive  Fabriken  (275), 
doch  in  letzter  Zeit  Fortschritte  der  Technik.  Produktion  von  280.000  Tonnen,  der 
Gesamtverbrauch  der  Union  ist  aber  21/*  Mül.  Tonnen,  also  heimische  Produktion  im 
besten  Fall  ein  Fünftel  davon.  Hawaii  eiportiert  317.000  Tonnen,  Portoriko  erzeugt 
lOü.QOÖ,  Kuba  850. 1?0  Tonnen,  der  Portorikozucker  gehl  zollfrei  ein,  während  Kuba  eine 
2Üproz.  Ermäßigung  erhielt.  Die  Produktion  der  Philip}  inen  soll  sich  auf  der  Höhe  jener 
von  Hawaii  halten.  Die  Zölle  auf  Rohzucker  und  Raffinade  sind  ziemlich  hoch  und  außerdem 
werden  bekanntlich  Ausgleichszölle  auf  prämiierten  Rübenzucker  gelegt,  die  interessante 
Berechnung  dieser  amerikanischen  Ausgleichszölle  wird  im  Detail  nicht  angegeben.  Noch 
immer  verhält  sich  die  Itübenzuckereinfuhr  zur  Rohrzuckereinfuhr  wie  1 : 3.  Die  Entwick- 
lung und  der  Umschlag  der  öffentlichen  .Meinung  in  England  bezüglich  der  Ausgleichs- 
zölle wird  sehr  anziehend  geschildert.  Erst  die  Raffineure,  dann  die  Gewerkvereiue,  welche 
vom  Produzentfnstandpunkt  die  Prämien  als  ein  unerlaubt«'  Unterbieten  der  fremden 
Produzenten  mißbilligten,  endlich  die  zunehmende  Notlage  der  Westindischen  Kolonien 
bringen  allmählich  jenen  Umschwung  der  öffentlichen  Meinung  hervor,  welche  die  neue 
imperialistische  koloniale  Schutzpolitik  mit  großer  Energie  in  eine  ganz  konkrete  Aktion 
umsetzt.  Vorgearbeitet  wurde  der  Bewegung  durcli  das  Vorgehen  der  indischen  Regie- 
rung, welche  in  erster  Linie  die  weitverbreitete  einheimische  Rohrzuckererzeugung 
schützen  wollte.  Die  große  Masse  der  eingeborenen  Bevölkerung  konsumiert  nur  Roh- 
zucker, als  aber  selbst  dieser  durch  den  massenhaften  Import  europäischer  Raffinade  int 
Preise  zurückging,  legte  die  indische  Regierung  auf  diese  letzteren  Ausgleichzölle  aus, 
womit  sie  zugleich  der  Zuckerproduktion  von  Mauritius,  welche  gleichfalls  nach  Indien 
stark  importiert,  unter  die  Arme  greifen  wollte.  Bekanntlich  lut  die  indische  Regierung 
diese  Ausgleichszölle  im  vorigen  Jahre  noch  erhöht  und  das  mit  Anwendung  der  in  der 
Brüsseler  Konvention  gegen  den  Prämienzucker  aufgestellten  Berechnung,  obwohl  sie 
seihst  der  Konvention  gar  nicht  beigetreten  ist.  Die  davon  getroffenen  Staaten  ließen 
sich  diesen  willkürlichen  Vorgang  ruhig  gefallen  und  seitdem  nimmt  der  Zuckereiport 
Österreich' -Ungarns  nach  Indien  auffallend  ab.  Der  Verfasser  schließt  seine  Ausführungen 
mit  dem  Datum  der  Brüsseler  Konferenz  vom  5.  März  1902  und  unterläßt  daher,  obwohl 
das  Buch  mehr  als  ein  Jahr  später  erscheint,  eine  Besprechung  der  infolge  der  Kon- 
vention in  den  verschiedenen  Staaten  beschlossenen  Steuergesetze,  die  gerade  aktuell 
gewesen  wäre.  In  der  europäischen  Publizistik  wurde  bisher  nur  die  Frage  der  Verein- 
barkeit der  neuen  österreichischen  Kontingentierung  mit  den  Bestimmungen  der  Brüsseler 
Konvention  erörtert,  dagegen  hat  sich  niemand  damit  beschäftigt,  ob  die  durch  das  neue 
französische  Gesetz  vom  27.  Jänner  1993  verfügte  Wiederherstellung  der  von  1884  geltenden 
gesetzlichen  Bestimmungen  über  die  Aufzeichnungen  der  Rohzuckcrfabriken  und  die 
gesetzliche  Ausbeute  des  Zuckersaftes  in  der  Tat  ein  wirkliches  exercice  der  Fabriken 
im  Sinne  der  Konvention  und  nicht  vielmehr  ein  Zurückgreifen  auf  das  Abonnement  des 
Gesetzes  vom  23.  Mai  1860  bedeute,  welches  keineswegs  eine  wirkliche  Produkten* 
besteuerung  war.  Auf  diese  und  ähnliche  interessante  Fragen,  wie  z.  B.  die  Kontroverse, 
ob  die  russische  Normirofka  wirklieh  eine  Exportprämie  bedeute,  ob  Ausgleichszölle  mit 
dem  System  der  Meistbegünstigung  verträglich  sind  u.  s.  w.,  geht  der  Verfasser  nicht 
ein  und  beschränkt  sich  am  Schlüsse  der  Rühenzuckerproduktion  die  tröstende  Versiehe- 


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Literaturbericht. 


446 

rang  ru  geben,  daß  ihr  Eiport  durch  kolonialen  Rohrzucker  nicht  bedroht  sei,  da  im 
internationalen  Wettbewerb  nicht  die  klimatischen  Voraussetzungen,  sondern  die  höhere 
Kultur  den  Sieg  erringe.  K.  Piene  r. 

Werner  Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  Leipzig,  Duncker  & Hum- 
blot,  1902,  2 Bände. 

In  seinem  großen,  zweibändigen  Werke,  dem  „modernen  Kapitalismus**  unter- 
nimmt Professor  Werner  Sombart  den  Versuch  „das  kapitalistische  Wirtschafts- 
system von  seinen  Anfängen  bis  zur  Gegenwart  zu  verfolgen“  Sein  Buch  stellt  Bich  uns 
also  zunächst  als  eine  geschichtliche  Darstellung  der  kapitalistischen  Wirtschaft  dar, 
eine  Arbeit,  schon  deswegen  dankenswert,  weil  sie  eine  fühlbare  Lücke  unserer  wirt- 
schaftshistorischen Literatur  auszufüllen  geeignet  ist.  War  doch  schon  lauge  gegenüber 
dem  Anschwellen  der  Einzeldarstellungen  und  Detailforschungen  auf  dem  Gebiete  der 
Wirtschal tsgeschicbte  der  Wunsch  nach  einer  das  große,  an  gesammelte  Material  zusamuien- 
fassenden  Darstellung  rege  geworden.  Namentlich  die  Entstehung  des  Kapitalismus,  wie 
sie  Marx  für  England  in  den  Kapiteln  über  ursprüngliche  Akkumulation  schildert, 
vollends  der  Siegeszug  der  modernen  Wirtschaftsweise  im  letzten  halben  Jahrhundert, 
war  ein  von  der  Forschung  etwas  stiefmütterlich  behandeltes  Gebiet.  Ist  es  doch  eine 
oft  schmerzlich  empfundene,  eigentümliche  Erscheinung,  daß  das  Wirtschaftsleben  des 
Mittelalters  uns  vielfach  vertrauter  ist  als  das  Leben  unserer  eigenen  Zeit. 

Darin  schafft  nun  der  „moderne  Kapitalismus**  gründlich  Wandel.  Wir  erhalten 
mit  stets  besonderer  Berücksichtigung  deutscher  Verhältnisse  eine  Darstellung  des 
gewerblichen  Lebens,  wie  es  das  Wirtschaftssystem  des  Handwerks  geschaffen  hat.  Es 
wird  gezeigt,  wie  der  Grundgedanke  de«  Handwerkers,  durch  eigene,  zunächst  nur 
gewerbliche  Arbeit  für  andere  sich  die  standesgemäße,  traditionelle  Nahrung  zu  sichern, 
die  ganze  Wirtschaftsverfassung  ergreift,  und  diese  uns  in  ihren  Einzelheiten  geschildert. 
Vor  uns  entsteht  ein  lebendiges  Bild  vom  Handwerker,  wie  er  produziert  und  wie  er  als 
Händler  seine  Waren  zu  Markte  bringt.  Denn  auch  der  Handel  des  Mittelalters  trägt,  soweit 
er  berufsmäßig  ausgeübt  wird,  durchaus  handwerksmäßiges  Gepräge,  während  die  großen 
gewinnreichen  Unternehmungen  als  Gelegenheitshandel  Nichtkaufleuten  Vorbehalten  werden, 
den  Bauherren  und  Bürgermeistern,  den  reichen  Geschlechtern  oder  den  Stiften 
und  Orden. 

Dann  geht  die  Darstellung  dazu  über,  uns  das  Aufkommen  der  kapitalistischen 
Wirtschaft  vorzuführen.  Hier  ist  ein  große*,  zum  Teil  neues  Material  in  klarer  und  über- 
sichtlicher Darstellung  verarbeitet.  Besonderes  Gewicht  legt  Sombart  dabei  auf  die 
Rolle,  die  die  Vermögensübertragnng  bei  der  Entstehung  des  Kapitalismus  spielt;  die 
Anteilnahme  der  aufkoramenden  Händler  und  Wucherer  an  den  öffentlichen  Einkünften 
des  Staates  sowohl  als  an  den  Renten  der  Feudalherren  durch  Erwerb  privater  Gruml- 
eigentuinsberechtigungen,  das  Anwachsen  und  die  Akkumulation  vor  allem  der  städtischen 
Grundrente,  die  Urbanisierung  des  Landadels,  die  Kolonialwirtschaft  und  ihre  Bedeutung 
für  die  Geldakkumulation  werden  ausführlich  geschildert. 

Dies  die  objektiven  Bedingungen  des  Kapitalismus.  In  dem  so  entstandenen  sozialen 
Milieu  wird  nun  die  subjektive  Bedingung  der  kapitalistischen  Wirtschaft  wirksam.  Der 
Erwerbstrieb  erwacht,  das  Streben  nach  Gewinn,  dieses  prävalente  Motiv  der  kapitalistischen 
Wirtachaftasobjekte,  welche«  da»  Motiv  des  Handwerkers,  sein  Streben  nach  standesgemäßer 
Nahrung  ablüst  Der  ökonomische  Rationalismus,  die  „Recheiihaftigkeit“  wird  ausgebildet. 

Ein  Vergleich  zwischen  dem  Wirtschaftsleben  Deutschlands  um  die  Mitte  des 
19  Jahrhunderts,  der  Periode  des  Frühkapitalismus,  mit  dem  Deutschland  zu  Ende  des 
Jahrhunderts  zeigt  dann  den  Sieg  des  Kapitalismus  zunächst  auf  dem  Gebiete  der 
gewerblichen  Produktion  und  wir  erhalten  damit  ein  interessantes  Stück  Wirtschafts- 
geschichte der  neuesten  Zeit.  Den  Schluß  des  ersten  Bandes  bildet  eine  auf  dem  großen 
Material,  das  die  Untersuchungen  des  Vereines  für  Sozialpolitik  zu  Tage  gefördert  haben, 
fußende  Darstellung  der  Lage  de«  Handwerks  und  der  Handwerker  in  der  Gegenwart. 
Der  zweite  Band  zeigt  uns  dann  die  Neubegründung  und  Neugestaltung  des  Wirtschaft»- 


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Literaturbericht. 


447 


lebens.  In  einem  neuen  Recht  schafft  es  sich  die  Form,  die  seinem  Inhalt  angemessen 
ist,  und  die  Entwicklung  der  neuen  Technik,  die  hier  vom  ökonomischen  Gesichtspunkt 
au«  gewürdigt  wird,  schafft  die  immer  reichere  Entfaltung  dieses  Inhalts.  Das  stürmische 
Dahinfluten  des  Stromes  des  modernen  Lebens  wird  in  dem  glanzend  geschriebenen 
Kapitel  .Der  neue  Stil  des  Wirtschaftslebens“  lebendig  veranschaulicht,  die  Durchdrin- 
gung alles  Tuns  mit  dem  Streben  nach  Gewinn  aufgezeigt.  Die  Entstehung  der  modernen 
Landwirtschaft  und  die  Auflösung  ihrer  alten  Wirtschaftsverfa.ssung  wird  verfolgt,  um 
dann  in  dem  folgenden  Abschnitt  die  städtische  Entwicklung  — den  Ursprung  und  das 
Wesen  der  modernen  Stadt  — darzustellen. 

Die  folgenden  Kapitel  beschäftigen  sich  mit  der  Neugestaltung  des  Bedarfes  und 
der  Neugestaltung  des  Güterabsatzes,  welcher  die  geänderten  Bedürfnisse  des  Konsums 
nunmehr  zu  befriedigen  hat. 

Den  Abschluß  des  Bandes  bildet  eine  .Theorie  der  gewerblichen  Konkurrenz.“ 
Hat  Sombart  bereits  im  früheren  geschildert,  «laß  der  Kapitalismus  auf  allen  Linien 
das  alte  Handwerk  überwunden  hat,  so  gibt  er  hier  in  systematischer  Darstellung  die 
Gründe,  warum  sein  Sieg  ein  notwendiger  war. 

Sombart  stellt  die  Diskussion  zunächst  auf  eine  neue,  rationelle  Basis.  Nicht  inehr 
um  die  Frage  der  Überlegenheit  von  Kieiu-  oder  Großbetrieb  handelt  ea  sich,  sondern  um 
die  verschiedene  Anpassungsfähigkeit  zweier  Wirtschaftssysteme,  dem  des  Handwerks  und 
dem  des  Kapitalismus.  Dieser  Unterscheidung  zwischen  Betrieb  und  Wirtschaft  legt 
Sombart  große  Wichtigkeit  bei  und  ihre  Herausarbeitung  hat  er  als  Einleitung  seinem 
Werk  vorangestellt.  Betrieb  ist  ihm  eine  Anstalt  zum  Zweck  fortgesetzter  Werkverrichtung. 
Er  ist  also  bloßes  Mittel,  um  Bedarfsgegenstände  herznstellen.  Unter  Wirtschaft  aber 
▼ersteht  er,  die  Organisation,  welche  ein  Wirtschaftasubjekt  schafft,  um  einen  seinem 
Wirtschaftsprinzip  entsprechenden  Nutzeffekt  zu  erzielen.  Diese  Unterscheidung  erweist 
sich  so  fruchtbar,  weil  sie  die  einseitige  Betrachtung  vom  Standpunkt  nur  technischer 
Überlegenheit,  wie  sic  bei  der  Frage  nach  Klein-  oder  Großbetrieb  allein  gestellt  werden 
kann,  zu  Gunsten  einer  alle  im  Konkurrenzkampf  zur  Geltung  kommenden  Momente 
umfassenden  Darstellung  zu  verlassen  gestattet.  Und  nuu  wird  im  einzelnen  untersucht, 
in  welchen  Beziehungen  die  Überlegenheit  der  kapitalistischen  Wirtschaftsorganisation 
zu  Tage  tritt.  Sie  zeigt  sich  in  der  Qualität  der  Darbietung  — das  Kapital  liefert 
rascher,  massenhafter,  in  gefälligerer  Form  — wie  in  der  Qualität  des  Dargebotenen;  hier 
erreicht  es  größere  Vollkommenheit  durch  die  Verfügung  über  hochqualifizierte  Arbeit, 
die  heute  nur  mehr  dem  Kapital  zur  Verfügung  steht.  Ist  doch,  wie  Sombart  in  dem 
interessanten  Kapitel  übcrKunH-.handwerk“  nachweist,  das  Kunstgewerbe  fast  ausschließlich 
hochkapitalistisch  organisiert.  Und  ebenso  wie  im  Kampf  um  die  beste  Leistung,  siegt 
das  Kapital  auch  im  Preiskarapf,  was  ausführlich  im  einzelnen  nachgewicsen  wird.  Das 
Handwerk  ist  mehr  und  mehr  einem  zunehmenden  Verkrüpplungsprozesse  verfallen  und 
es  ist  ein  Traum,  zu  glauben,  seinen  Untergang  durch  Zwangsgenossensehafien  und  der- 
gleichen verhindern  zu  können.  Auch  die  mißbräuchliche  Verwendung  der  jugendlichen 
Arbeitskraft  kann  darin  nichts  ändern.  Die  Auslieferung  des  Lehrlings  an  das  Haudwerk 
bildet  nur  eine  Gefahr  für  unsere  industrielle  Zukunft,  deren  immer  dringendere  Aufgabe 
die  Sorge  für  die  nötige  Zahl  gut  ausgebildeter,  qualifizierter  Arbeiter  ist,  deren  Heran- 
bildung das  verkommende  Handwerk  längst  nicht  mehr  leisten  kann. 

Es  sind  aber  gerade  diese  Kapitel,  welche  das  größte  Interesse  gerade  für  uns 
hier  in  Österreich,  dem  von  allen  Zünftlern  gelobten  Lande  der  Mittelstandspolitik,  bieten. 
Was  das  vortreffliche  Buch  Waontigs1)  in  seiner  deskriptiven  Art  im  einzelnen  dartut, 
die  vollständige  Nutzlosigkeit  der  Mittelstandspolitik  und  ihre  Schädlichkeit  lür  die 
allgemeine  gewerbliche  Fortentwicklung,  wird  uns  hier  im  Zusammenhang  der  kausalen 
Ableitung  als  Notwendigkeit  bewiesen.  Den  zwingenden  Argumenten  Soiubarts.  der 
hier  alles  einheitlich  zusammenfaßt,  was  gegen  die  MittelstAndspolitik  vom  wisse  lisch  aftlich- 
ökonomischen  Standpunkt  aus  angeführt  werden  kann,  wird  man  sich  schwer  entziehen 


1 ) Heinrich  Waentig,  Gewerblich«  MlttclalandspoHtifc.  18W. 


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448 


Literaturbericht. 


können.  Die  Vertretung  dieser  Politik  wird  fürder  kaum  mit  wissenschaftlichen  Argu- 
menten geführt  werden  können.  Die  österreichischen  Volkswirtschaftspolitiker  haben  alle 
Ursachen,  diesem  Abschnitt  des  Buches  ihre  volle  Beachtung  zu  schenken. 

* * 

Aber  mit  dieser  bei  dein  groben  Umfang  des  Werkes  naturgemäß  flüchtigen 
Inhaltsangabe  ist  unsere  Aufgabe  noch  kaum  begonnen.  Denn  Sombart  will  mehr  geben 
als  Wirtschaftsgeschichte.  Sein  Buch  erhebt  den  Geltungaansprucli,  zugleich  Theorie  zu 
»ein,  und  zwar,  wie  Sombart  die«  näher  bestimmt,  historische  Sozialtheorie. 

Damit  hofft  Sombart,  wie  er  in  seinem  Geleitwort  auaführt,  den  Widerspruch 
zwischen  Empirie  und  Theorie  zu  versöhnen  und  der  ökonomischen  Forschung  ueue 
Bahnen  gewiesen  zu  haben. 

Worin  besteht  nun  das  Wesen  dieser  historischen  Sozialtlieorie?  Sombart  erblickt 
das  „Spezifische  der  Theorie  in  der  Ordnung  unter  dem  Gesichtspunkt  eines  einheitlichen 
Krklärungsprinzipes*  (S.  XIII).  Erwählt  zwischen  den  beiden  hier  zur  Verfügung  stehenden 
Krkläruugsmöglichkeiten  die  kausale.  Dies  deshalb,  weil  die  kausale  Betrachtung  dem 
Wesen  der  modernen  Wirtschaft  mit  ihrer  Abhängigkeit  von  den  sie  beherrschenden 
Marktgesetzen,  welche  analog  den  Naturgesetzen  sich  um  die  Zwecksetzung  der  einzelnen 
nicht  kümmern,  besser  entspricht  als  die  teleologische  Erklärung.  Es  ist  also  die  bestimmte 
historische  Struktur  der  kapitalistischen  Gesellschaft,  welche  für  die  Wahl  der  Kausal- 
erklärung entscheidet,  während  etwa  die  geschichtliche  Beschaffenheit  einer  von  den 
Organen  der  Gesellschaft  bewußt  geleiteten  Wirtschaft  zu  ihrer  Erklärung  die  teleologische 
Betrachtung  erforderte.  An  den  Beginn  der  Kausalreihe  setzt  Sombart  die  menschlichen 
Motive  in  ihrer  bestimmten  historischen  Gestalt.  Kr  sieht  die  Welt  des  Handwerkes  kausal 
gestaltet  durch  das  Streben  des  Handwerkers  nach  standesgemäßem  Unterhalt,  während 
die  Welt  des  Kapitalismus  beherrscht  wird  vom  Erwerbstrieb,  vom  Streben  nach  Gewinn, 
dessen  Träger,  die  kapitalistischen  Wirtschaftssubjekte,  Händler  und  Unternehmer,  die 
Welt  des  Handwerkers  nun  nach  ihren  Wünschen  umgestalten.  Freilich,  diese  Motive 
können  sich  nicht  beliebig  verwirklichen  Sie  sind  gebunden  an  eine  bestimmte  Gestaltung 
der  äußeren  Verhältnisse,  unter  denen  sic  auftreten.  Diese  objektiven  Bedingungen  müssen 
gegeben  sein,  um  die  Wirksamkeit  der  Motive,  der  subjektiven  Bedingungen,  begreifen 
zu  können.  Nur  in  einer  so  eigentümlichen  Welt,  wie  es  das  sinkende  Mittelalter  war, 
konnte  der  aufkornmende,  kapitalistische  Geist  unsere  heutige  eigentümliche  Wirtschafts- 
Verfassung  hervorbringen.  Es  gibt  somit  nur  für  jeweils  verschiedene  soziale  Zustände 
jeweils  verschiedene  Theorien,  eben  nur  historische  und  keine  allgemeinen  Sozialtheorien. 
Es  gibt  eine  Theorie  des  modernen  Kapitalismus,  aber  keine  Theorie  des  Kapitalismus 
überhaupt.  Die  Wahl  des  Ordnungsprinzipes  ist  somit  keine  subjektive,  vielmehr  ent- 
scheidet über  das  jeweils  ordnende  Prinzip  die  Geschichte.  Der  Merkantilismus,  dem  die 
Wirtschaft  als  von  gesellschaftlichen  Organen  bewußt  geregelt  erscheinen  mußte,  ging 
naturgemäß  aus  vom  Zweckgedauken.  Bei  den  Klassikern  geht  kausale  und  teleologische 
Betrachtung  nebeneinander  her,  bis  dann  Karl  Marx  das  Wirtschaftssystem  streng  kausal 
zu  erklären  unternimmt. 

Die  strenge  Unterscheidung  der  Wirtschaftsprinzipiell  legt  Sombart  auch  seiner 
Systematik  der  Wirtschaftssysteme  zu  Grunde,  deren  er  zwei  unterscheidet,  die  Bedarf- 
deckung«- und  die  Krwerbswirtsehuft,  je  nach  dem  herrschenden  Wirtschaftsprinzip. 
Hiemit  erscheint  ein  Gedanke,  auf  den  Karl  Marx  großes  Gewicht  legt,  rezipiert;  der 
Gedanke  nämlich,  daß  der  Zweck  der  einfachen  Warenproduktion,  wie  sie  historisch 
z.  B.  in  der  mittelalterlichen  Wirtschaft  entwickelt  war,  der  Gebrauchswert  ist,  während 
Zweck  des  Kapitalismus  der  Tauschwert  ist,  daß  di«  kapitalistische  Gesellschaft  nur 
verstanden  wird,  wenn  man  als  ihr  treibendes  Motiv  das  Streben  nach  Mehrwert  begriffen 
hat.  Aber  während  bei  Marx  diese  Motivation,  wie  wir  noch  später  sehen  werden, 
Resultat,  erwachsend  aus  den  jeweiligen  Produktionsverhältnissen  ist,  stellt  Sombart 
sie  als  Voraussetzung  für  die  Bildung  dieser  Produktionsverhältnisse  auf.  Wird  dadurch 
der  wissenschaftliche  Zweck,  den  Sombart  verfolgt,  gefördert?  Sein  Werk  soll  ja  eine 


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Literaturbiricht. 


449 


■ Theorie  der  wirtschaftlichen  Entwicklung"  geben  (S.  XXVlll).  Er  sieht  eine  Haupt- 
aufgabe in  der  ursächlichen  Erklärung  objektiver  Tatbestände  de»  Wirtschaftsleben«:  die 
Untersuchung  führt  somit  „mit  Notwendigkeit  auch  zeitlich  stets  ?on  einem  Phänomen 
der  Gegenwart  au  einem  Phäuomen  der  Vergangenheit  zurück“.  Eine  Feststellung,  womit, 
wie  Sombart  meint,  der  „erste  Versuch  einer  theoretischen  Begründung  historischer 
Betrachtungsweise  im  Gebiete  der  Nationalökonomie  unternommen  wäre“.  Dabei  läßt 
sich  freilich  kaum  die  skeptische  Frage  unterdrücken,  wozu  in  aller  Welt  historische 
Betrachtungsweise  für  die  Darstellung  der  Wirtschaftsgeschichte  erst  theoretisch  begründet 
Werden  soll. 

Aber  erfüllt  Sein  hart»  Betrachtungsweise  auch  wirklich  die  Aufgabe,  die  er  ihr 
gestellt  hat?  Soll  die  historische  Entwicklung  wirklich  in  ihrem  kontinuierlichen  Verlaufe 
dargestellt  werden,  so  erhebt  sich  naturgemäß  die  Frage,  wie  entwickelt  sich  ein 
Wirtschaftssystem  aus  dem  anderen,  ihm  vorhergehenden.  Hier  läßt  uns  aber  Sombart» 
Theorie  vollständig  im  Stich.  Seine  beiden  Wirtsehaftsprinzipien  stehen  sich  in  voller 
Schilfe  unvermittelt  gegenüber,  ohne  daß  nur  ein  Versuch  gemacht  wird,  einen  Zusamtneu- 
hang hcrzustellen.  Und  Sombart  muß  dies  selbst  zugeben,  wenn  er  plötzlich  erklärt, 
nur  wie  das  Wirtschaftsprinzip  sich  die  Wirtschaftsordnung  nach  seinem  Bedürfnis 
gestattet,  stellen  wir  unter  dem  Gesichtspunkt  der  Notwendigkeit  dar,  die  Genesis  des 
Wirtschaftsprinsipcs  selbst  aber  unter  der»  Gesichtspunkt  der  Zufälligkeit.1/  Damit  erscheint 
uns  Aber  das  Zugeständnis  gemacht  zu  sein,  daß  Sombarts  historische  Sozialtheorie 
eben  nicht  eine  Entwicklungstheorie  ist.  Dies  beweist  gerade  das  Kapitel,  das  die  Ent- 
stehung des  „neuen  Geistes,“  also  der  subjektiven  Bedingung  des  Kapitalismus  behandelt 
Der  „neue  Geist“  erscheint  zu  unserer  Verwunderung  als  alter  Geist,  als  die  atiri  sacra 
faines,  womit  die  Menschheit  konstitutionell  behaftet  sei,  davon  uns  die  Märchen  von 
Midas  und  den  Argonauten  schon  erzählen.  Aber  dieser  Geist,  die  Sucht  nach  dem  Golde, 
nach  immer  mehr  und  mehr  des  gleißenden  Metalle»  erfaßt  nun  plötzlich,  „als  die  Zeit 
erfüllet  war,“  wie  die  von  einem  historischen  Standpunkt  aus  nicht  ganz  genaue  Zeit- 
angabe lautet,  die  Menschheit.  Kaubrittertuin  und  Ablaßkräinerci,  Goldgräbertum  und 
Alchymie  suchen  die  Sucht  nach  dem  Golde  zu  befriedigen  und  da  entsteht  nun  der 
Gedanke,  auch  die  wirtschaftliche  Tätigkeit  in  den  Dienst  dieses  Zweckes  zu  stellen. 
Nicht  mehr  die  standesgemäße  Nahrung,  sondern  Geldmachen  wird  Leitmotiv  des  Wirt- 
schaften«. „Wann,  wo  und  wie  dieser  Gedanke  zuerst  in  die  Welt  kam,  wird  sieh  wohl 
immer  in  undurchdringliches  Dünkel  hüllen“  (1,  S.  888).  Und  in  dieser  Finsternis  ver- 
läßt der  grausame  Verfasser  plötzlich  den  ängstlichen  Leser,  während  er  selbst  in  dem 
schützenden  Dunkel  den  Salto  mortale  über  den  Abgrund  schlägt,  der  die  Welten  des 
Handwerkes  und  des  Kapitalisten  voneinander  trennt. 

Man  kann  cs  dem  Leser  nicht  verargen,  wenn  er  sich  weigert,  diesen  Todessprung 
der  historischen  Sozialtheorie  mitzumachen.  Mühsam,  allein  in»  Dunkeln  tappend,  sucht 
er  nach  Mitteln,  die  Finsternis  zu  erhellen  und  die  Brücke  über  die  Kluft  zn  schlagen. 
Und  cs  gelingt  nicht  allzu  schwer.  Kr  findet  diese  Mittel  in  den  zahlreichen  Kapiteln, 
die  uns  die  objektiven  Bedingungen  schildern,  unter  welchen  nun  der  „neue  Geist“  seine 
Wirksamkeit  entfalten  soll.  Ein  Beginnet»  freilich,  auf  das  der  kühne  Springer,  der  längst 
mit  kühnem  Satz  die  Schwierigkeit  genommen,  nur  verächtlich  wird  blicken  wollen.  Aber 
es  schreckt  den  Verlassenen  nicht' mehr,  hier  mit  Sombart  in  Widerspruch  zu  geraten. 

In  »einem  Geleitwort  hat  Sombart  behauptet,  daß  die  Motivation  lebendiger 
Menschen  die  letzten,  primär  wirkenden  Ursachen  sind,  auf  die  wir  zurückgehen  können.2) 

Um  nicht  in  eine  extrem-idealistische  und  damit  die  Tatsachen  vergewaltigende 
Auffassung  zu  geraten,  sucht  er  diese  Motive  historisch  zu  erfassen.  Aber  dadurch,  daß 
er  sie  als  primäre  Faktoren  ansieht,  wird  er  gezwungen,  sie  nur  nacheinander  folgen  zu 
lassen,  wahrend  es  Aufgabe  einer  Entwicklungstheorie  sein  müßte,  sie  auseinander  abzu- 
leiten. Die  Einheit  der  menschlichen  Praxis  ist  zerstört,  aus  der  die  verschiedenen 

>)  Bä.  i.  *.  3W. 

»)  n<i.  i,  s.  xvm. 


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450 


Literaturbericht. 


Maximen  als  Folge  jeweils  verschiedener  determinierender  Faktoren  hätten  erkannt 
werden  können.  Die  Erklärung  hat  dort  plötzlich  eine  Lücke,  wo  ein  Motiv  das  andere 
ersetzt;  hier  hört.  was.  wie  wir  schon  oben  konstatiert  haben,  Sombart  selbst  zugeben 
muß,  die  kausale  Ableitung  auf. 

Und  der  Standpunkt  So  in  bar  ts  mußte  mit  Notwendigkeit  zu  diesem  Resultat 
führen.  Wir  dürfen,  heißt  es  im  Geleitwort  (8.  XIX),  nicht  weiter  als  auf  menschliche 
Motive  zurückgehen,  weil  wir  sollt t za  einem  unbegrenzten  Regrcssus  gezwungen  werden, 
„der  «ein  Ende  erst  bei  der  Einsicht  in  die  Bewegung  der  kleinsten  Teile  und  der 
Gesetze,  welche  diese  regeln,  finden  könnte.“  Hiebei  stießen  wir  „auf  die  noch  nicht 
überbrückte  Kluft  der  psychologischen  Verursachung,  die  eine  andere  als  die  mechanische 
Kausalität  ist.“  Sombart  scheint  uns  hier  die  ontologische  i metaphysische)  Frage  nach 
dem  Verhältnis  von  Geist  und  Materie  mit  der  Frage  nach  der  Determination  mensch- 
lichen Wollen«  durch  die  Gestaltung  der  Außenwelt  zu  verwechseln.  Während  aber  die 
erste  Frage  eine  solche  ist,  deren  unlösbaren  metaphysischen  Charakter  und  falsche 
Problemstellung  die  kritische  Philosophie  nachgewiesen,  ist  die  zweite  Frage  vielmehr 
eine  solche,  deren  richtige  Beantwortung  die  Grundbedingung  aller  Sozialwiasenschaft 
bildet.  Durch  die  Kimfundierung  beider  Probleme  schließt  sich  Sombart  nicht  nur 
nicht  an  Karl  Marx  an.  er  bringt  sich  vielmehr  methodisch  in  schärfsten  Gegensatz  zu 
dem  Begründer  der  materialistischen  Geschichtsauffassung. 

Denn  die  materialistische  Geschichtsauffassung  — und  man  sollte  doch  heute  nicht 
noch  zu  sagen  brauchen,  daß  diese  wissenschaftliche  Betrachtung  der  Geschichte  auch 
nicht  das  geringste  mit  irgend  einer  materialistischen  Metaphysik  zu  tun  hat  — erklärt 
das  gesellschaftliche  Sein  und  Handeln  der  Menschen,  also  die  Menschen  in  der  für  die 
geschichtliche  Entwicklung  relevanten  Tätigkeit  aus  ihren  Produktionsverhältnissen  als 
dein  grundlegenden  Verhältnis  aller  Vergesellschaftung.  Die  Frage,  ob  die  Motive  da» 
„Primäre“  sind  oder  die  objektiven  Bedingungen,  eine  Fragestellung,  die  so  recht  die 
Wiederholung  der  Frage  der  dogmatischen  Metaphysik  nach  dem  Primat  von  „Geist“ 
und  „Materie“  ist.  existiert  für  diese  Auffassung  gar  nicht.  Vielmehr,  ebenso  wie  die 
kritische  Philosophie  die  Möglichkeit  der  Erfassung  der  Natur  erst  dadurch  Legreiflich 
macht,  daß  sic  uns  die  Welt  als  unsere  Vorstellung  und  damit  als  unserem  Denk  n 
adäquat  und  in  die  Einheit  des  Denkens  einreihbar  nachweist,  stellt  auch  die  materialistische 
Geschichtsauffassung  nichts  anderes  dar  als  die  Begründung  det  Möglichkeit  des  sozialen 
Monismus.  Die«  geschieht,  indem  die  ganze  Umwelt  des  Menschen  als  auf  rein  geschicht- 
liches Verhalten  erst  dann  wirksam  nachgewiesen  wird,  sobald  sie  in  die  Einheit  seines 
Handelns  aufgenommeii,  das  heißt  sobald  sie  Bestandteil  seines  gesellschaftlichen  Lebens 
geworden  ist. 

Die  Grundlage  des  gesellschaftlichen  Daseins  des  Menschen  aber,  dasjenige,  was 
ihn,  der  von  Natur  aus  als  Cui'iv  koXctixov  vergesellschaftet  iät,  in  dieser  Vergesellschaftung 
und  damit  in  seiner  Entwicklung  weiter  treibt,  sind  die  Produktionsverhältnisse;  mensch- 
liche „subjektive“  Verhältnisse  und  keine  „objektiven“  Bedingungen,  die  es  von  diesem 
Standpunkt  schließlich  so  wenig  gibt,  wie  etwa  vom  Standpunkt  der  kritischen  Philosophie 
objektive  Größen,  die  nur  aus  den  subjektiven  Anschauungsformen  entspringen.  Indem 
die  Natur,  da»  „Milieu“,  die  „objektiven  Bedingungen“  gefaßt  sind  als  biolies  »Substrat 
für  das  grundlegende,  gesellschaftliche  Verhältnis  von  Mensch  zu  Mensch  — wie  die 
Menschheit  es  eiugehen  muß  zur  Gewinnung  ihre»  Lebensunterhaltes  — erscheint  in  dem 
Produktionsprozeß  die  Einheit  des  Prozesse«  zwischen  Men&oh  und  Natur,  dessen  dialek- 
tische Entfaltung  den  wechselnden  Inhalt  der  Geschichte  ausmacht. 

Sombart  aber,  der  angeblich  die  „revolutionistischen“  Begriffe  von  Marx  weiter 
entwickeln  und  cvolutionistisch  ausgestalten  will,  geht  in  Wirklichkeit  weit  hinter  ihn 
zurück,  wenn  er  an  Stelle  des  Monismus  in  der  WeiBc  des  Dualismus  objektive  und 
subjektive  Bedingungen  scheidet,  die  dann  im  konkreten  Verlauf  der  Geschichte  ihre 
Vereinigung  feiern,  man  weiß  nicht  wie  und  wann  und  warum. 

Aber  Sombart  wird  noch  weiter  getrieben.  Der  Dualismus  zieht  sich  durch  die 
ganze  Geschichte.  Aber  zu  diesem  Dualismus  tritt  auf  der  einen  »Seite,  auf  Seite  der 


Literaturberieht.  451 

subjektiven  Bedingungen,  uoch  eine  Vielheit  von  Motiven  je  nach  den  geschichtlichen 
Zeitaltern,  die  ganz  unvermittelt  einander  gegenöheratehen.  Die  Einheit  der  menschlichen 
Psyche  ist  so  verloren  gegangen  und  wir  bekommen  für  jede  geschichtliche  Epoche  eine 
andere  Psyche.  Das  Verhallen  der  Menschen  wird  etwa  nicht  als  in  einer  bestimmten 
geschichtlichen  Periode  auf  besondere  Weise  determiniert  geiaht;  umgekehrt,  das  Ver- 
halten der  Menschen  ist  zu  verschiedenen  Epochen  ein  wesen  »anderes  und  bildet  sich 
dann  nach  seinen  jeweiligen  verschiedenen  Zwecken  eine  jeweils  verschiedene  Geschichte 
aus.  Die  kausale  Betrachtung  schlägt  hier  notwendig  in  die  teleologische  um.  Dies  ist 
nicht  anders  möglich,  wenn  von  psychischen  Faktoren  als  den  primären  „Ursachen* 
ausgegangen  wird.  In  Wirklichkeit  ist  es  der  verschiedene  Zweck,  den  die  Wirtschafts- 
subjekte zu  verschiedenen  Zeiten  verfolgen,  der  das  Wirtschaftsleben  erfaßt  und  diesem 
Zweck  dienstbar  macht.  An  dieser  im  Grunde  eben  doch  teleologischen  Betrachtung 
ändert  es  nichts,  daß  das  telos  jeweils  geschichtlich  verschieden,  nicht  das  tele»  Som- 
hart».  sondern  das  einfacher  Handwerkerseelen  oder  geriebener  Kapitalisten  ist.  Die 
kausale  Betrachtung  wäre  nur  dann  vorhanden,  wenn  diese  Motive  als  historisches 
Resultat  dargestellt  worden  wären,  während  sie  bei  So m hart  vielmehr  als  Voraussetzung 
gefaßt  weiden.  Da  aber  die  Verschiedenheit  der  Motive  in  Wirklichkeit  nur  Produkt  einer 
langen  geschichtlichen  Entwicklung  ist,  ist  sie  als  Voraussetzung  für  eine  geschichtliche 
Entwicklungstheorie  direkt  falsch,  während  sie  — einmal  als  historisches  Produkt 
begriffen  — wohl  Ausgangspunkt  fiir  eine  systematische  Ordnung  deB  Wirtschaftssystems 
darstellen  kann.  Dadurch  aber,  daß  Sombart  die  Motive,  die  bei  ihm  notwendigerweise 
als  Zwecke  erscheinen,  die  nicht  weiter  abgeleitet  werden  können,  in  diametralen  Gegen- 
satz zueinander  stellt,  statt  sie  nur  als  verschieden  determinierte  Momente  in  der 
Einheit  des  menschlichen  Willens  zu  begreifen,  unterbricht  er  vollkommen  die  Kontinuität 
der  geschichtlichen  Entwicklung  und  wird  zu  einer  wirklich  „revolutionistischcn“,  um  das 
Sombartsche  Wort  zu  gebrauchen,  Darstellung  gezwungen.  Das  Entstehen  der  Moti- 
vation, die  ja  eine  historisch  bestimmte  sein  soll,  bleibt  unerklärt.  Die  Motive  erscheinen 
bei  ihm  wie  der  deus  ei  machina  oder  vielmehr  die  dii  ex  machina  — denn  der  weltfrohe 
Soinbart  ist  Polytheist  — und  gegen  den  Vorwurf  der  Willkürlichkeit,  der  so  leicht 
gegen  die  Auswahl  der  Motive  erhoben  werden  könnte,  gibt  es  wirklich  keine  andere  als  die 
von  Sombart  gebrauchte  Abwehr,  versuche  es  ein  anderer  anders,  die  typische  Ausrede 
schlechter  Dichter  gegen  die  Einwände  ihrer  Kritiker,  die  sie  nicht  zu  entkräften  wissen. 

Diese  unvermittelte  Gegenfiberstellung  aberscheint  ihren  Ursprung  in  der  Abneigung 
Sombarts  gegen  die  „diakursive  Nationalökonomie“  zu  haben,  deren  Ergebnisse  allerdings 
unserer  Meinung  nach  im  stände  sind,  diese  Vermittlung  herzustellen.  Das  Betriebs- 
ergebnis des  Handwerkers  ist  im  vorhinein  fixiert.  Denn  die  fortwährende  Änderung  der 
Technik,  also  die  qualitative  Änderung  der  Produktion,  dieses  Charakteristikum  der 
modernen  Wirtschaft,  ist  unmöglich.  Auch  der  quantitativen  Ausdehnung  der  Produktion 
sind  enge  Greuzen  gezogen,  sowohl  was  die  Zahl  der  Hilfskräfte  als  was  die  Verlängerung 
der  Arbeitszeit  anbelangt.  Die  persönliche  Mitarbeit  des  Meisters  wirkt  als  Schranke,  die 
die  unbegrenzte  Venuehrongsmöglichkcit  des  Ertrage»  der  Wirtschaft  im  vorhinein  aus- 
schließt. Dies  macht  Konkurrenz  im  heutigen  Sinn  unmöglich  Dem  Handwerker  tritt  so 
das  Ergebnis  im  vorhin  ein  als  mehr  weniger  unveränderlich  entgegen;  nur  um  verhältnis- 
mäßig geringe  Unterschiede  in  seiner  herkömmlichen  Lebenshaltung  kann  es  “ich  ihm 
handeln.  Anders  beim  Kapitalisten.  Die  Trennung  von  Besitz  der  Produktionsmittel  und 
der  Arbeit  — und  das  Verhältnis  von  Produktionsmittel  und  Arbeiter  eischeint  bei  Marx 
als  das  objektive  Kriterium  für  die  Unterscheidung  der  Wirtschaftssysteme,  aus  dessen 
Verschiedenheit  die  Verschiedenheit  der  Maximen  der  Wirtschaftssubjekte  abgeleitet 
werden  maß  — diese  Trennung  ermöglicht  die  unbegrenzte  Vermehrbarkeit  des  Erträg- 
nisses. Die  qualitative  und  quantitative  Änderung  des  Produktionsprozesses  geben  die 
Grundlage  für  die  kapitalistische  Konkurrenz,  deren  Gesetz  dem  Kapitalisten  fortwährende 
Verbesserung  und  Erweiterung  seiner  Wirtschaft  als  Gebot  seiner  Erhaltung  mit  Not- 
wendigkeit aufzwingen.  Soweit  er  wirtschaftlich  handelt,  kann  er  gar  nicht  anders 
handeln,  als  ob  Vermehrung  des  Gewinnes  sein  einziges  Motiv  wäre,  was  auch  immer  im 


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452 


Literaturbericht. 


individuellen  Fall  das  Gemüt  einer  schönen  KapitaiistcnM'-ele  bewegen  mag.  Rein  öko- 
nomisch gesprochen:  Das  konservative  Wirtschaftsprinzip  des  Handwerkers,  das  revo- 
lutionäre des  Kapitalisten,  sie  folgen  mit  Notwendigkeit  aus  dem  Umstand,  daß  im  ganr.cn 
großen  Reproduktion  auf  einfacher  Stufenleiter  das  Bewegungsgesetz  der  handwerker- 
lichen, Reproduktion  auf  erweiterter  Stufenleiter  das  Gesetz  der  kapitalistischen  Wirt- 
schaftsweise ist. 

Die  Umwandlung  des  psychischen  Verhaltens  aber  vollzog  sich  allmählich  und 
nicht  allzu  schwierig,  öfters  auch  wohl  bei  denselben  oder  doch  derselben  Klasse  ange- 
hörigen  Personen.  Und  in»  Anfang  war  die  ökonomische  Tat.  Zuerst  wurde  die  Wirtschaft, 
namentlich  der  Handel  einträglich,  dann  wurde  sic  fortgesetzt  und  ausgedehnt,  weil  sie 
einträglich  war  und  zunächst  eine  besser«  Lebenshaltung  erlaubte.  Aus  dem  Streben 
nach  besserer  Lebenshaltung  wurde  allmählich  daB  Streben  nacli  Gewinn  als  ursprünglich 
dem  Wesen  nach  gleiches,  aber  gesteigertes  Streben  nach  dem  gewohnheitsgemäßen 
Unterhalt.  Erst  die  weitere  Entwicklung  des  Kapitalismus  macht  das  Mittel,  den 
Gewinn,  zum  Zweck  durch  die  Gesetze  des  Wirtschaftslebens  selbst,  welche  das  Gewinn- 
streben zur  Notwendigkeit  machen  bei  Strafe  des  Unterganges  im  kapitalistischen  Kon- 
kurrenzkampf. 

Es  ist  somit  gerade  für  historische  Darstellung,  die  zugleich  Entwicklungsgeschichte 
sein  will,  unerläßlich,  den  inneren  Zusammenhang  eines  Wirtschaftssystems  erkannt  zu 
haben.  Das  heißt  aber,  es  ist  theoretische  oder,  wie  Sombart  sagt,  diskursive  National- 
ökonomie nötig  gerade  auch  für  die  Vollständigkeit  de«  geschichtlichen  Erfassens.  Dies 
kann  auch  Sombart  nicht  ganz  in  Abrede  stellen.  Er  ist  denn  doch  methodisch  zu 
geschult,  um  blindlings  das  plumpe  Dogma  der  historischen  Schule  zu  reproduzieren, 
das  Theorie  und  Geschichte  verwechselt  und  Nationalökonomie  nur  alt»  Geschichte  für 
möglich  erklärt.  Aber  Sombart  will  die  ,db»kursive“  Ökonomie  zur  Propädeutik 
erniedrigen,  die  die  notwendige  Begriffsbildung  besorgt,  nnd  bezeichnet  es  al«  Unge- 
schicklichkeit des  Autors,  wenn  er  den  Leser  merken  läßt,  wieso  er  zu  diesen  Begriffen 
gekommen  sei.  Kann  cs  aber  etwas  Bezeichnenderes  geben,  als  daß  hier  Sombart  die 
theoretische  Ökonomie  zur  Privatsache  erklärt,  von  der  Rechenschaft  abzugeben  etwas 
Überflüssiges  sei? 

Wir  haben  gesehen,  wie  dieser  Standpunkt  bei  der  geschichtlichen  Darstellung 
versagt.  Sein  Ausgangspunkt,  die  prävalenten  Motive,  er  ist  zu  eng,  um  den  ganzen 
Umkreis  des  geschichtlichen  Werdens  einzuschließen.  Wenn  dies  in  spiner  Darstellung 
wenig  hervortritt,  so  weil  Sombart  in  seiner  geschichtlichen  Darstellung  im  I.  Band  im 
wesentlichen  sich  darauf  beschränkt,  die  objektiven  Eutstehungsbedingangen  des  Kapi- 
talismus zu  schildern,  wo  auf  Motive  überhaupt  kein  Bezug  genommen  wird,  und  dann 
weiter  nur  die  Sphäre  des  gewerblichen  Lebens  in  ihrer  Entwicklung  verfolgt.  Hier  ist 
da»  Gewinnstreben  ein  geeignetes  Ordnungsprinzip  für  die  Darstellung,  weil  es  sich  hier 
auch  in  Wirklichkeit  entfaltet.  Die  Theorie  braucht  fiir  die  Ableitong  ihrer  Gesetze  auf 
nicht.»  anderes  Rücksicht  zu  nehmen,  anders  aber  die  Entwicklungsgeschichte.  Hier 
bedeutet  das  Ausgelien  von  diesem  einzigen  Motiv  eine  Einseitigkeit,  die  tatsächlich  die 
Fülle  des  Lebens  vergewaltigt.  Die  Geschichte  ist  in  Wirklichkeit  Resultat  von  Kämpfen, 
bei  denen  die  Kämpfenden  zu  großen,  in  letzter  Instanz  nach  ihren  wirtschaftlichen 
Interessen  geordneten  Gruppen  zusammengeballt  sind,  deren  Handeln  von  verschiedenen, 
oft  entgegengesetzten  Interessen  und  daraus  entspringenden  Motiven  geleitet  wird,  die 
alle  in  fördernder  oder  hemmender  Weise  ihre  Wirksamkeit  für  die  geschichtliche  Ent- 
wicklung entfalten. 

Sombart  unterstellt  mit  seinen  prävalenten  Motiven,  die  aber  bei  ihm  zu  den 
einzig  wirksamen  werden,  die  alleinige,  unumschränkte  Herrschaft  einer  einzigen  Klasse 
und  vernachlässigt  die  Wirksamkeit  »Iler  anderen.  Bedeutet  das  schon  einen  Mangel  für 
den  engeren  Kreis  der  Wirtschaftsgeschichte  selbst  — und  wir  führen  es  darauf  zurück, 
daß  Sombart  z.  B.  über  die  Entstehung  des  modernen  Proletariats  und  seine  oft  durch 
die  gewaltsamsten  Methoden  erfolgte  Schaffung  aus  früher  selbständigen  Schichten  fast 
achtlos  hinweggleitet  — so  macht  es  die  Herstellung  eines  Zusammenhang«-*  zwischen 


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Literaturbericht. 


453 


der  Wirtschaftsgeschichte  und  der  allgemeinen  historischen  Entwicklung  erst  recht 
unmöglich.  Freilich  wird  Sombart  dazu  verleitet  durch  seine  wirtachaftspolitische  Haltung, 
durch  seine  Tendenz,  auch  die  künftige  Entwicklung  sich  als  eine  kampflos  durch  sozial- 
politische Maßnahmen  der  Kapitalistenklaace  erfolgende  vorzustellen,  durch  sein  Bestreben, 
den  Gegensatz  zwischen  bürgerlicher  und  sozialistischer  Gesellschaftsordnung  theoretisch 
aus  der  Welt  zu  schaffen. 

Wo  aber  Sombart  zur  systematischen  Darstellung  übergeht,  besonders  in  dem 
Abschnitt,  den  er  als  „Theorie  der  gewerblichen  Konkurrenz“  bezeichnet,  verläßt  er 
vollends  seine  Methode  und  legt  der  ganzen  Darstellung  und  Beweisführung  eine  Pro- 
duktionskostentheorie zu  Grunde.  Man  wird  ohneweiter»  »geben,  daß  dieser  ganze 
Abschnitt  uicht  möglich  gewesen  wäre  ohne  die  Arbeit  der  theoretischen  Ökonomie,  auf 
deren  Resultaten  sie  beruht.  Sombart  kann  in  Wirklichkeit  die  theoretische  Ökonomie 
x so  wenig  entbehren,  daß  er  sic  vielmehr  als  selbstverständlich  voraussetzt,  eine  Huldigung 
wider  Willen. 

Woher  kommt  es  nun  aber  doch,  daß  Sombarts  Werk  trotzdem  soviel  Aufklärung 
bringt  und  viele  Einblicke  in  die  wirtschaftlichen  Zusammenhänge  gewährt?  Unseres 
Erachtens  aus  nichts  anderem,  als  daß  der  Erfinder  der  historischen  Sozialtheorie  sich 
in  Wirklichkeit  gehütet  hat,  seine  Methode  allzu  strenge  anzuwenden.  Nicht  die  „Geschichte“ 
hat  für  Sombart  die  Wahl  der  Urdnungsprinzipien  vorgenommen.  Hinter  dem  Pseudo- 
nym „Geschichte“  verbirgt  sich  vielmehr  der  Name  Karl  Marx. 

Schon  daß  Sombart  die  Triebkraft  für  die  Entwicklung  des  Wirtschaftslebens 
nur  in  der  rein  wirtschaftlichen  Sphäre  sieht,  ist  ein  MArxscher  Grundsatz.  Die  Formu- 
lierung seiner  Wirtschaftsprinzipiell  ist  nichts  anderes  als  Anwendung  wieder  Marxscher 
Lehren.  Nur  daß  Sombart  die  Einheit  der  Manschen  Geschichtsauffassung  dualistisch 
spaltet  und  so  zu  dem  Gegensatz  von  objektiven  und  subjektiven  Bedingungen  gelangt, 
den  zwar  oft  die  Praxis  seiner  Darstellung,  nicht  aber  seine  Theorie  zu  fiberhriieken 
weiß.  Es  wäre  falsch,  diese  Theorie  Sombart«  als  idealistisch  oder  als  psychologisch 
der  materialistischen  Geschichtsauffassung  gegenüberstellen  zu  wollen.  Sie  ist  beides 
nicht,  weil  sie  in  letzter  Instanz  indeterministisch  ist,  weil  die  Motive  als  selbständige 
Mächte  unabhängig  nacheinander  gestellt  sind,  statt  auseinander  abgeleitet  zu  werden. 
Aber  immerhin.  Einmal  ihre  Existenz  zugegeben  — und  daß  sie  so  existieren  und 
existieren  müsset»,  hat  nach  unserer  Meinung  der  Marxismus  bewiesen  — erweisen  sie 
sich  als  glückliches  Ordnungsprinzip  der  geschichtlichen  Darstellung. 

In  jenen  zahlreichen  Kapiteln  aber,  wo  das  Spezifische  seiner  Theorie  überhaupt 
nicht  zur  Geltung  kommt  und  es  sind  dies  die  meisten  des  Buches,  welches  daher  trotz 
Sombarts  Streben  nach  Einheitlichkeit  gleichfalls  einen  dualistischen  Charakter  auf- 
weist.. werden  dem  Leser  selbst  die  Anhaltspunkte  gegeben,  die  ihm  gestatten,  die 
Kontinuität  der  geschichtlichen  Entwicklung  herzustellen. 

Der  Wirtschaftshistoriker  Soinbart  war  glücklicher  als  der  Sozialtheoretiker. 

Dr.  Rudolf  Hilferding. 

Regierung»™!  IMIttiniinn,  Vorsitzenlerder  Landesversicherungsanstalt  Oldenburg, 
Die  deutsche  Arbeiterversicherung.  2.  Ausgabe,  Verlag  Dr  Ludwig  Huborti, 
Leipzig.  124  S.,  8°.  Preis  M.  2-75. 

Ernst  Funke  und  Walter  Hering,  kais.  expedierende  Sekretäre  im  Reichs-Vcr- 
sicherungsamte.  Die  reichsgesetzliche  Arbeiterversicherung  (Kranken-,  Un- 
fall- und  Invalidenversicherung».  Berlin,  Franz  Vahlen,  1903.  116  S.,  kl.  8*. 
Preis  50  Pfennig. 

Die  beiden  Bücher  orientieren  den  Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer  über  die  Rechte 
und  Pflichten  aus  den  deutschen  Arbeiterveraicberungsgesetxen  in  praktischer  Art.  Das 
zuerst  genannte  Werkelten,  welches  in  Dr.  Hubertis  moderner  kaufmännischer  Bibliothek 
erschien,  zieht  auch  die  wichtigsten  einschlägigen  Bestimmungen  aus  der  Gesetzgebung 
des  Auslandes  zum  Vergleiche  heran  und  enthält  ein  Verzeichnis  der  Berufsgenossen- 
schaften, lnvalidenversicherungnanstalten  und  Schiedsgerichte  für  die  Arbeiterversicherung. 
Die  Entschädigungssätze  betreffs  der  hauptsächlichsten  Unfallsfolgeu,  welche  auf  Grund 


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454 


Literaturbericht. 


der  Reknrsentscheidungen  des  Reichs- Veraicberungsamtes  zusammengcstellt  worden,  bilden 
eine  für  die  beabsichtigte  allgemeine  Orientierung  hinreichende  Beigabe.  Auch  das  an- 
gesehlossene  Sachregister  ist  ein  erwünschter  Behelf. 

Die  beiden  Bücher  kennen  jenen  empfohlen  werden,  welche  sich  rasch  über  die 
Bestimmungen  der  deutschen  Arbeiterveraicherungsgeseti’e  unterrichten  beziehungsweise 
im  Eimelfalle  Auskunft  erhalten  wollen. 

Beide  Werkchen  bringen  aber  auch  ein  Merkmal  der  deutschen  Arbeiterversicherung 
zur  Erkenntnis,  nämlich  ihre  Kompliziertheit,  eine  Folge  des  sei) rittweisen  Ausbaues 
und  der  Unvollkommenheit,  welche  dein  auf  einem  neuen  Gebiete  unternommenen  ersten 
Versuche  stets  anhaftet.  Dies  ist  auch  für  Österreich  von  aktueller  Bedeutung,  da  ja 
hier  die  Deform  und  Vervoltotändigurg  der  Arbeiterversichcrung  durch  die  gesetzliche 
Regelung  der  Invalidenversicherung  für  die  nahe  Zukunft  angekiindigt  wurde.  In  Öster- 
reich ist  die  Vereinfachung  der  Arbeiterversicherung  dadurch  erleichtert,  dall  die  Unfall- 
versicherung territorial  organisiert  wurde,  so  dall  die  Verwaltung  der  Invalidenversicherung 
ohneweiter*  an  die  bestehenden  Zweige  der  Arbeiterversicherung  angegliedert  werden 
kann.  Die  deutschen  Berufisgctiossenschaften  bilden  ein  wesentliches  Hindernis  für  die 
Vereinfachung  der  Versieherungsdurchfuhrung  in  Deutschland,  da  denselben  die  Invaliden- 
versicherung nicht  übertragen,  die  Unfallversicherung  auch  nicht  weggenommen  und  sohin 
deu  territorialen  luvalidenversicherungsanstalten  zugewiesen  werden  kann,  weil  für  die- 
selbe zufolge  des  Umlageverfahrens  die  kapitalische  Bedeckung  mangelt.  Die  beiden 
ürundgebrecheu  der  deutschen  Unfallversicherung  (Beiufsgenossenschaften  und  Umlage- 
verfahren)  verhindern  demnach  die  im  Interesse  aller  Beteiligten  gelegene  Vereinfachung 
der  Arbeiterversicherung.  Wenn  auch  in  Österreich  das  gesetzliche  Kapilaldeckunga- 
prinzip  faktisch  nicht  durchgeführt  ist,  vielmehr  nur  ein  Uralagev erfahren  mit  starken 
Reserven  besteht,  so  kann  doch,  dank  dem  Territorialprinzip,  die  Arbeiterversicberung  mit 
Einschluß  der  Invalidenversicherung  einfach  organisiert  und  durchgeführt  werden,  ohne 
daß  es  notig  wäre,  die  vom  »Standpunkte  der  kapitalischeu  Bedeckung  der  Hentenaus- 
zahiungen  passiven  Territorialanstalten  aufzulösen 

Der  deutschen  Arbeitcrver.iicherung  würden  die  erwähnten  Schwierigkeiten  erspart 
geblieben  sein,  wenn  der  Gesetzgeber  von  der  Invaliden-  und  Krankenversicherung  aus- 
gegangen wäre  und  die  Unfallentschädigung  nur  als  Ergänzung  der  Invalidenversicherung 
etwa  derart  eiugefiihrt  haben  würde,  daß  den  IJnfallinvaliden  nach  Abschluß  der 
Kraukenunteratutzung  jene  Invalidenentacbädigung  gebührt  hätte,  welche  bei  Fortbe- 
zahlung der  Versicherungsbeitrag«  bis  zum  Schlüsse  der  Maximalbeitragszeit  resultieren 
würde.  Für  die  Entschädigungsbcrechtigung  im  Unfälle  hätten  im  übrigen  dieselben 
Voraussetzungen  wie  betreffs  der  sonstigen  Invaliden  zu  gelten  gehabt.  Kögl  er. 

Viktor  Heller.  Der  Getreidehandel  und  seine  Technik  in  Wien.  Wiener 
staatswissenschaftiiche  Studien,  herausgegeben  von  Edmund  Bernatzik  und  Eugen 
v.  Philippe  vich.  Wien,  bei  Manz,  1Ö02. 

Wien  bat  viele  Jahre  hindurch  im  tietreidehandcl  Europas  eine  hervorragende 
Holle  gespielt;  namentlich  zu  der  Zeit,  als  Ungarn  noch  die  „Kornkammer41  Europas 
bildete,  besaß  Wien  einen  blühenden  Getreide-Exporthandel  und  iin  Zusammenhänge 
damit  einen  für  sämtliche  europäische  Getreidebörsen  tonangebenden  Tenninhandel. 
Die  Veränderungen  und  Verschiebungen,  welche  sieb  in  den  Getreideliandelsverhältnissen 
in  dem  Maße  vollzogen,  als  einerseits  Kuliland  und  Amerika  sich  des  Getreide- Welt- 
marktes mehr  und  mehr  bemächtigten,  anderseits  die  Monarchie  infolge  Zunahme  der 
Bevölkerung  und  Wachsen  der  Konsumkraft  aus  einem  Getreide- Exportland  allmählich 
in  ein  Getreide-Importland  geworden  ist;  dies  und  der  Rückgang  des  Termingeschäftes, 
der  teils  eine  natürliche  Folge  de«  Exportrückganges,  teils  der  zur  Eindämmung  des 
Börsenspieles  in  Getreide  erfolgten  gesetzlichen  Einschränkung  der  Teilnehmer  an  dem 
börsenmäßigen  Terminhandcl  in  Getreide  ist,  hatten  die  Stellung  Wiens  als  Getreide- 
handelsplatz selbstverständlich  nicht  unberührt  gelassen.  Aber  immer  blieb  ihm  die 
Vermittlung  der  sk-ts  wachsenden  Getreideeinfuhr  aus  Ungarn  und  dein  Grient  nach  den 
nördlichen  und  westlichen  Provinzen  Österreichs  und  blieb  ihm  die  Vermittlung  des  »ich 


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Literaturbericht. 


455 


put  entwickelnden  Exporte«  von  Braugerste.  Gleichwohl  verfiel  der  Getreidehandel  Wiens 
immer  mehr,  weil  nicht«  oder  so  gut  wie  nichts  zur  Pflege  dieses  Handelszweiges 
geschah,  obgleich  es  der  einzige  Groflhandelszweig  von  Bedeutung  ist,  den  Wien,  and 
der  bedeutendste,  den  Österreich  überhaupt  besitzt.  Es  oblag  dem  Verfasser,  aufzuzeigen, 
wie  die  Gebrechen  der  dem  Wiener  Getreidehandel  zur  Verfügung  stehenden  technischen 
Einrichtungen,  der  Hafenanlagen.  Landungsplätze,  Lagerhäuser  etc.,  den  Handelsverkehr 
sichtbar  schädigen,  die  Hemmnisse  hloßzulegen.  welche  einer  Gesundung  der  Verhältnisse 
entgegenstehen,  und  ßeformvorschUge  zu  machen,  deren  rasche  Ausführung  der  Verfasser 
um  so  dringlicher  verlangen  zu  müssen  glaubte,  als  ungarische  und  deutsche  Städte,  die 
Situation  wahrnebmend,  den  Getreidehandel  Wiens  Stück  um  Stück  an  sich  ziehen. 

Verfasser  verlangt  eine  rasche  und  intensive  staatliche  und  kommunale  Aktion, 
um  diese  nicht  nur  für  Wien,  sondern  für  die  ganze  österreichische  Volkswirtschaft  be- 
deutsame Frage  zu  einer  gedeihlichen  Losung  za  bringen.  Bisher  ist  durch  den  Beschluß 
der  Donau-Regulierangskominission.  den  neuen  Freuden auer  Winterhafen  zu  einem 
Handelshafen  ausriisten  zu  wollen,  wenigstens  ein  Punkt  des  von  dem  Verfasser  auf- 
gestellten Keorgauisatiousprogrammes  erfüllt  worden. 

Dr.  \.  E.  Weill:  Die  Solidarität  der  Geldmärkte,  eine  Studie  über  die 
Verschiedenheit  der  gleichzeitigen  Diskontsätze  verschiedener  Länder  Frankfurt  a.  M., 
J.  D.  .Stoerlindtr«  Verlag.  1903. 

Noch  im  Anfänge  de»  neunzehnten  Jahrhunderts  diente  der  internationale  Geld- 
verkehr  hauptsächlich  zur  Leistung  fälliger  Schuldverpflichtungen;  ein  Teil  dieser  Zah- 
lungen war  wohl  zum  Zwecke  der  Investierung  von  Geldsummen  im  Auslande  auf  eine 
längere  Periode  bestimmt,  zum  Zwecke  kurzfristiger  Anlagen  waren  sie  äußerst  selten. 
Jetzt  sucht  man  schon  den  geringsten  Vorteil  einer  kurzfristigen  Anlage  im  Auslände 
auszunutzen,  so  daß  dieser  Geschäftsbetrieb  die  großen  Handelsplätze  der  ganzen  Welt 
umspannt.  Dies  bewirkt,  daß  die  Diskontsätze  der  einzelnen  Geldmärkte  einen  immer 
lebhafteren  Einfluß  aufeinander  ausüben. 

Weill  hat  »ich  das  Verdienst  erworben,  auf  Grund  der  praktischen  Erfahrungen  der 
letzten  zehn  Jahre  nachzuprüfen,  inwieweit  die  Ansicht  der  Theorie,  daß  zwischen  den 
Hisk  ontsätzen  verschiedener  Länder  eine  Tendenz  gegenseitiger  Ausgleichung  bestehe, 
als»  eine  Solidarität  der  Geldmärkte  zu  erkennen  sei.  auf  Richtigkeit  beruhe.  Da 
die  offiziellen  Bankdiskontsätze  Bich  nicht  immer  genau  der  Marktlage  an  passen,  sondern 
aut  autonomen  Verfügungen  der  Bankleitungen  beruhen,  so  können  sie  für  die  Beurteilung 
der  Frage,  ob  eine  Solidarität  der  Geldmärkte  besteht,  nicht  als  maßgebend  angesehen 
werden;  es  sind  dies  vielmehr  die  „Marktdiekontsätze“  oder  „Privatdiskontsätze“, d.  h. 
jene  Diskontsätze,  welche  in  den  Geldmärkten  für  absolut  erstklassige  Wechsel  in 
Anrechnung  gebracht  werden.  Weill  gelangt  zu  folgen  len  Ergebnissen:  der  Markt- 
diskontsatz eines  Landes  bestimmt  sich,  wenn  weder  eine  Furcht  vor  politischen  Verwick- 
lungen noch  eine  Furcht  vor  einer  wirtschaftlichen  Krisis  besteht,  nach  dem  Verhältnis 
des  internationalen  Leihgeldbedarfes  zum  internationalen  Leihgeldangebot,  das  nur  in 
dem  Maße,  in  welchem  das  Risiko  der  Valatadifferenzen  oder  die  Höhe  der  Kosten  des 
Edelmetalltransportea  eine  Geldüberweisung  verbieten,  eine  Modifizierung  erfahren  kann. 
Die  Marktdiskontsätze  verschiedener  Länder  müssen  (den  Fall  einer  Kriegsgefahr  oder 
einer  wirtschaftlichen  Krisis  ausgeschlossen)  in  Ländern  gleicher  Valutaverhältnisse, 
welche  in  räumlicher  Vereinigung  gleichzeitig  eine  einheitliche  Volkswirtschaft  bilden, 
gleich  sein;  können  in  Ländern  gleicher  Valutaverhältnisse,  welche  jedoch  räumlich 
und  volkswirtschaftlich  getrennte  Gebiete  darstellen,  nur  verschieden  sein  innerhalb  der 
durch  die  Höhe  der  Transportkosten  bedingten  Grenzen ; können  in  Ländern  ungleicher 
Valntaverhältnisse  nur  verschieden  sein  innerhalb  der  durch  das  Risiko  der  Valuta- 
differenzen und  die  Höhe  der  Edelnietalltransportkosten  bedingten  Grenzen.  Bei  der 
Besprechung  der  Einwirkung  der  Valutadifferenzen  und  der  Kosteu  des  Edelmetall- 
transportes bemerkt  der  Autor,  daß,  wenn  und  solange  beide  Länder,  zwischen  denen 
der  Wechselverkehr  stattfindet,  unbedingt  in  Gold  zahlen,  den  Schwankungen  des  die 
Zahlungsbilanz  beider  Länder  au  «drückenden  Wechselkurses  sehr  enge  Grenzen  gezogen 

Zoittchrift  fir  Vjltrv  Irlich*  ft,  Sozialpolitik  and  Verwaltung-  XII.  Band.  31 


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Literaturbericht. 


4-.6 


sind,  s»  daß  da»  Risiko  der  Valuta  nach  üben  und  unten  sehr  eng  begrenzt  ist.  Ist 
jedoch  auch  eine  Zahlung  in  Silber  möglich,  so  erweitert  sich  der  Spielraum  der 
Schwankungen  des  Wechselkurses  und  damit  das  Risiko  der  Valuta  ganz  bedeutend; 
es  ei  hellt  daraus  das  grolle  Interesse,  welches  das  internationale  Geldgeschäft  au  dem 
Bestand  möglichst  vieler  reiner  Goldwährungen  hat.  Schließlich  werden  die  ziffermiißigen 
Grenzen  1er  Differenz  der  gleichzeitigen  Diskontsätze  ei  örtert. 

Braun  v.  Fernwald. 

t'barlcM  Ziieblin,  Professor  of  Sociology  in  the  Univemty  of  Chicago:  American 
M u nie i pal  Progress,  chapters  in  municipal  sociology,  New  York,  The  Macmill  an 
Company,  1902. 

Die  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika  gewinnen  als  politische  und  wirtschaftliche 
Macht  eine  immer  größere  Bedeutung.  Infolgedessen  wendet  sich  die  öffentliche  Aufmerksam- 
keit Europas  mehr  und  mehr  den  dortigen  Zuständen  und  Verhältnissen  zu,  uin  die  Ursachen 
dieses  so  staunenswert  raschen  Aufschwunges  zu  ergründen.  Sofern  sich  dieser  Aufschwung 
bei  den  Fortschritten  in  den  Stadt  gemeiuden  äußert,  wird  er  in  Zue  bl  ins  Werk  in 
belehrender  Weise  beleuchtet.  Wo  die  in  dem  Bulletin  of  the  Department  of  Labor 
enthaltene  amtliche  Statistik  den  Autor  im  Stiche  ließ,  hat  er  versucht,  durch  Aussendiing 
von  Fragebogen  an  die  Städte  mit  mehr  als  80.000  Einwohnern  die  wünschenswerten 
Ergänzungen  und  Aufklärungen  zu  beschaffen;  doch  erhielt  er  nur  selten  entsprechende 
Auskünfte,  da  auch  in  den  Vereinigten  Staaten  die  Statistik  der  Gemeinden  wenig 
entwickelt  ist  und  es  daher  sehr  schwer  fällt,  von  ihnen  statistische  Daten  in  größerem 
Umfange  zu  erlangen.  Wie  der  Autor  sagt,  hat  er  für  seine  Arbeit  drei  Hilfsmitte 
angewendet:  Dokumente,  persönliche  Beobachtung  und  Interviews,  so  daß  seine  Angaben 
vielfach  auf  unmittelbarem  Studium  beruhen,  was  ihren  Wert  erhöht.  Er  schildert  den 
großartigen  Aufschwung,  den  die  Verkehrsmittel  in  vielen  Städten  genommen  haben;  er 
verhehlt  aber  auch  nicht,  mit  welcher  Rücksichtslosigkeit  gegen  die  Sicherheit  von  Men- 
schenleben hei  deren  Betrieb  besonders  in  früherer  Zeit  vorgegangen  wurde.  Beim 
Lesen  dieser  Schilderungen  steigt  einem  der  Gedanke  auf.  ob  nicht  gerade  in  dieser 
schonungslosen  Rücksichtslosigkeit  zum  Teil  die  ungemeine  Raschheit  der  Fortschritte 
begründet  ist.  da  die  Handlungsfreiheit  durch  keine  Rücksicht  auf  die  Nebemnenschen 
eingeengt  war.  Dieselbe  Geringschätzung  von  Menschenleben  und  menschlicher  Ge- 
sundheit zeigt  sich  auf  dem  Gebiete  des  Sanitdtswcaens,  so  daß  der  Autor  schließlich 
in  den  Ausruf  ausbricht:  „Wir  werden  uns  der  Langlebigkeit  erfreuen,  sobald  mensch- 

liches Leben  wertvoller  wird  als  Privateigentum. “ So  wurde  in  manchen  Städten  bei 
der  Wasserversorgung  nur  auf  die  Menge  der  Wasserzufuhr  gesehen,  die  Zuträglichkeit 
des  Trinkwassers  aber  mit  wahrhaft  mittelalterlicher  Gleichgültigkeit  behandelt,  so  daß 
sogar  durch  Unratkanille  verseuchtes  Wasser  für  diesen  Zweck  nicht  verschmäht  wurde. 
Erst  die  letzten  Jahre  haben  Besserung  gebracht.  Von  aani täten  Maßnahmen  sind  Vor- 
kehrungen zur  Verhinderung  der  übermäßigen  Rauchentwicklung  erwähnenswert:  auch  sei 
ein  guter  Einfall  angeführt,  wie  der  sonst  oft  schwierige  Beweis  für  derartige  Übertretungen 
durch  Photographieren  der  qualmenden  Schornsteine  durch  die  behördlichen  Organe  herge- 
stellt wurde.  Schließlich  sei  noch  des  freilich  vergeblichen  Kampfes  gedacht,  der  in  einigen 
Städten  mit  Geld-  und  Arreststiafen  gegen  das  Ausspucken  an  öffentlichen  Orten  geführt 
wurde.  Entsprechend  dem  amerikanischen  Geschäftsgeist  steht  die  Verwertung  des  Kehrichts 
und  der  sonstigen  Ahfallstotle  vielfach  auf  hoher  Stufe.  In  der  Darstellung  des  Unter- 
richtswesens erweckt  besonders  die  Mitteilung  eines  Planes  Interesse,  die  Schule  nicht 
so  sehr  der  Vermittlung  von  Kenntnissen  dienstbar  zu  machen,  sondern  sie  zu  einer 
Vorschule  für  das  praktische,  wirtschaftliche  und  politische  Leben  zu  gestalten.  Von  den 
öffentlichen  Bibliotheken  fordert  Zueblin,  daß  sie  möglichst  allgemein  und  bequem  zugäng- 
lich gemacht  werden  und  die  Besucher  zur  Selbstbedienung  angeleitet  werden.  Auch  öffent- 
liche Gebäude,  Parks  und  Boulevards  sowie  öffentliche  Erholungsstätten  sind  in  den 
Kreis  der  Betrachtung  gezogen,  besonders  ist  der  Jugendfürsorge  liebevolle  Aufmerk- 
samkeit geschenkt  In  der  großen  .Streitfrage,  ob  die  öffentlichen  Anstalten  möglichst 
den  Pri vatunternehmungen  zu  überlassen  sind  oder  besser  in  den  Eigenbetrieb  der 


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Literatnrbericht. 


457 


Gemeinde  übernommen  werden,  entscheidet  sich  der  Antor  dahin,  daß  die  Begründung 
ron  gemeinnützigen  Anlagen  mit  Vorteil  dem  privaten  Unternehmungsgeiste  überlassen 
werden  kann,  daß  aber  die  fertigen  Anlagen  besser  in  das  Eigentum  der  Gemeinde 
übernommen  werde,  wodurch  noch  der  weitere  Vorteil  erzielt  werde,  daß  das  darin 
investierte  Privatkapital  für  neue  Unternehmungen  frei  werde.  Jedenfalls  sei  die  öffent- 
liche Überwachung  nur  dann  wirksam,  wenn  ihr  die  Möglichkeit  einer  Übernahme  in 
das  städtische  Eigentum  als  Korrektiv  zur  Seite  stehe.  So  enthält  das  Buch  vieles,  das 
auch  für  europäische  Leser  von  großem  Interesse  ist,  indem  dadurch  ein  Einblick  in 
die  Licht-  und  Schattenseiten  der  amerikanischen  Gemeindeverwaltung  gewährt  wird. 

Braun  v.  Fernwald. 

J)r. JuliunBunzel, „Studien  zur  Sozial-  und  Wirtschaftspolitik  Ungarns.“ 
Beiträge  zu  den  Ausgleichs-  und  Zolltarifverhandlungen  zwischen  Österreich  und  Ungarn. 
Leipzig.  Duncker  & H umblot,  1902. 

Br.  Emil  Ktin,  „Sozialhistorisehe  Beiträge  zur  Landarbeiterfrage  in 
Ungarn“.  Jena,  Gustav  Fischer,  1903.  (Zugleich  37.  Band  der  von  Dr.  Johanu  Gonrad 
heraasgegebenen  Sammlung  nationalOkonomischer  und  statistischer  Abhandlungen  dcB 
staatswissenschaftlichen  Seminars  zu  Halle  a.  d.  S.) 

Zwei  nach  Anlage  und  Durchführung  ganz  verschiedene  Publikationen  über  un- 
garische Wirtschaftspolitik,  deren  Titel  dem  Leser  bloß  fragmentarische  Forschungs- 
ergebnisse in  Aussicht  stellen.  Hunzel  verspricht  „Studien“  und  vereinigt  in  dem  Bande 
tatsächlich  Aufsätze  über  verschiedene  Gegenstände,  deren  erste  Veröffentlichung  im 
«Archiv  für  soziale  Gesetzgebung  und  Statistik“,  in  Conrads  „Jahrbüchern“,  Schmo Ilers 
„Jahrbuch“,  in  vorliegender  Zeitschrift  u.  h.  w.  stattgefunden.  (Der  Untertitel  „Beiträge 
zu  den  Ausgleichsverhandlungen“  hat  nur  zum  geringen  Teil  Berechtigung  und  wohl 
vielmehr  den  Zweck,  dem  S&mnielLand  Aktualität  zu  verleihen.)  In  anderem  Sinne 
sind  die  loiialhistorischen  «Beiträge“  Küns  zu  verstehen,  der  ein  genau  umgrenztes 
Thema  methodisch  durchführt;  hier  kann  nicht  die  Art  der  Darstellung,  sondern  bloß 
die  Tatsache,  daß  die*  derzeit  erschlossenen  Quellen  eine  systematisch  erschöpfende 
Behandlung  der  ungarischen  Landarbeitei  frage  nicht  gestatten,  den  Titel  bestimmt 
haben.  Bunzel  wendet  sich  mit  seinen  temperamentvoll  geschriebenen  Artikeln,  deren 
polemische  Grundtendenz  gegen  das  „magyarische  System  Potemkin"  gerichtet  ist,  an 
jeden  Information  suchenden  Leser,  wobei  jedoch  sein  „unbefangenes  Wort“  bisweilen 
auch  dort,  wo  es  bei  aller  Schärfe  durchaus  berechtigt  ist.  vermöge  des  mit  Animo,  häufig 
selbst  aninios  gefärbten  Vortrages  Zweifel  wachrufeu  mag,  ob  der  Autor  nicht  nach  der  andern, 
schwarztnalendeii  Richtung  übertreibt.  In  Wahl  und  Benützung  von  Quellen  ist  Bunzel. 
sicht  allzu  streng.  Er  schöpft  wohl  auch  aus  amtlichen  Materialien,  zum  mindesten  aber 
neben««  gern  aus  allerlei  offiziösen  Berichten,  Privatarbeiten,  selbst  aus  Tagesblittern,  z.  B 
der  „Arbeiterzeitung“,  dein«  Pester  Lloyd“;  Parlamentsreden  werden  nach  dem  letztgenannten 
Blatt  zitiert.  So  ist  denn  beim  Gebrauche  dieser  mehr  journalistischen  Aufsätze  etwas 
Vorsicht  aui  Platze.  Anderseits  wird  durch  Mitteilung  der  betreffenden  Gesetze  ein 
sicheres  Fundament  geboten,  so  daß  sich  der  Leser  ohne  Ermüdung  annähernd  unter- 
richten kann.  Eingestreute  Pikanterien  — wie  z.  B.  die  Erinnerung  an  Baron  Bänffys 
„heiligen  Simon“,  womit  der  ungarische  Ministerpräsident  Saint-Sinmn  meinte  — gestalten 
die  Lektüre  noch  leichter. 

Kun  dagegen  hat  für  den  Sozialhistoriker  geschrieben.  Zu  zeigen,  daß  in 
Uugarn  schon  vor  der  Bauernbefreiung  eine  Klasse  der  ländlichen  Arbeiter  als  besondere« 
Glied  des  gesellschaftlichen  Organismus  vorhanden  gewesen,  ist  Zweck  seiner  analytisch- 
historischen  Untersuchung.  Indem  er  die  Organisation  der  landwirtschaftlichen  Arbeits- 
kraft Ungarns  aus  ihrer  Entwicklung  heraus  pragmatisch  schildert,  zeigt  Verfasser  — 
ähnlich  wie  es  Theodor  v.  d.  Goltz  bezüglich  der  ländlichen  Arbeiterklasse  in  Preußen 
getan  — „daß  die  Rechtsorganisation  durch  den  gesellschaftlichen  Bildungsprozeü  hervor- 
gerufen wurde  und  nicht  umgekehrt“.  Krstere  greife  gewöhnlich  erst  dann  sanktionierend 
beziehungsweise  reglementierend  ein.  weun  letzterer  in  Überbildung  übergeht  und  Übelstände 
zeitigt.  Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  einem  solchen  Thema  nur  mit  ernsten  Wissenschaft' 

81* 


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Litermturbericht 


458 


liehen  Mitteln  heizukomiuen  ist:  Kün  hat  solche  zu  beschaffen  gewußt  und  ein  auf 
authentische  Rechtaqnellen  gestutztes,  objektiv  und  streng  sachlich  gehaltenes  Stück 
ungarischer  Sozial-  und  Rechtagesehichte  ab  ovo  erstellt. 

Was  den  Inhalt  der  beiden  Publikationen  im  besonderen  betrifft,  so  handelt 
Runzel  über  die  Lage  der  ungarischen  Landarbeiter,  zwei  Gesetze  über  den  Agrar- 
sozialisii.tts,  die  Lage  der  gewerblichen  Arbeiter,  das  Annenwesen  und  bringt  Bemerkungen 
über  den  Ausgleich  und  über  di»-  ungarische  Industriepolitik. 

Von  einer  Besprechung  des  Aufsatzes  über  „Die  Lage  der  gewerblichen 
Arbeiter  in  Ungarn“  kann  hier  abgesehen  werden,  da  derselbe  in  dieser  Zeitschrift 
<11.  u.  III.  Heft  des  XL  ßnudes.  1902,  S.  252  ff.)  zum  erstenmal  veröffentlicht  worden 
und  daher  den  Lesern  bekannt  ist.  Der  Aufsatz  über  das  Armen  wesen,  welches  in 
Ungarn  infolge  der  unbestimmten  Verpflichtung  der  Gemeinden  fast  ausschließlich  den 
einzelnen  überlassen  sei.  ist  in  der  Hauptsache  einer  in  französischer  Sprache  veröffent- 
lichten Abhandlung  des  ungarischen  Ministerialrates  Kanüsz  gewidmet.  Die  Aus- 
führungen über  die  wirtschaftlichen  Beziehungen  zwischen  Österreich  und 
Ungarn  gelten  hauptsächlich  der  Beweisführung,  daß  die  Sicherung  der  Zollgemeinschaft 
weit  mehr  im  ungarischen  als  im  österreichischen  Interesse  gelegen  sei,  wobei  die 
haudels  , fiuanz-,  imiustrie-  und  verkehrspolitischen  Verhältnisse,  die  Quotenfrage  etc. 
mit  reichein  Datenmaterial  beleuchtet  werden. 

Der  ungarischen  Industriepolitik  macht  Verfasser  den  Vorwurf,  daß  sie 
anstatt  för  eine  Verbesserung  der  allgemeinen  Produktionsbedingungen  zu  sorgen  nnd 
durch  soziale  Reformen  die  Kaufkraft  der  Bevölkerung  zu  erhöhen,  sich  auf  die  För- 
derung einzelner  Unternehmungen  verlege,  was  nur  eine  Bereicherung  einzelner,  meist 
ausländischer  Unternehmer,  eine  Schädigung  des  Kleingewerbes  sowie  der  Hausindustrie 
und  die  Belastung  breiter  Volksschichten  zur  Folge  habe.  Vielmehr  müsse  der  theoretisch 
als  richtig  erkannte  Grundsatz,  daß  sich  die  ungarische  Großindustrie  in  erster  Linie 
aus  der  Agrikultur  entwickeln  solle,  auch  in  die  Praxis  Eingang  finden.  Die  erwähnte,  auf 
Gesetzen  ans  den  Jahren  1881  und  1890  ruhende  Förderung  einzelner  Unternehmungen  betrifft 
langjährige  Steuer-  und  Gebührenfreiheit,  Subventionen,  zinsenfreie  Darlehen.  Beteilung 
mit  staatlichen  Lieferungen,  unentgeltliche  Überlassung  von  Grund  und  Boden,  Tarif- 
und  sonstige  Begünstigungen,  hat  aber  nach  Ansicht  des  Verfassers  nicht  die  gewünschten 
Resultate  gezeitigt.  Mehr  Erfolg  schein»'ii  die  Bestrebungen  auf  Sicherung  den  heimischen 
Marktes  fiir  die  Industrieprodukte  gehabt  zu  haben.  (Im  Jahre  1899  wurden  bereits 
88-7  Proz.  de»  Bedarfes  der  Verkehrsanstalten  an  Industrieerzeugiiisseu  im  lolande 
gedeckt.)  Da  aber  auch  diesen  Bemühuugen  die  geringe  Konsumfälligkeit  der  ohnehin 
nicht  dichten  Bevölkerung  im  Wege  stehe,  mußten  Versuche,  den  Export  ins  Ausland 
zu  heben,  unternommen  werden:  diesem  Zwecke  diente  vor  allem  die  ungarische  Eisen- 
bahnpolitik. dank  welcher  der  Staat  nunmehr  seit  einem  Jahrzehnte  über  das  ganze 
Eisenbahnsystetn  des  Landes  selbständig  entscheidet.  Zu  beklagen  sei  der  infolge  weit- 
gehender Begünstigung  der  Gründung  von  Aktiengesellschaften  (1901/02  500  industrie- 
aktiengesellschaften)  fühlbare  Mangel  an  Einzelunternetimungcii.  Die  Zahl  der  Gewerbe- 
treibenden betrug  im  Jahre  1890  5*26  Proz.  der  Gesamtbevölkerung  gegen  4-2  Proz.  iin 
Jahre  1870.  97  03  Proz.  aller  Unternehmungen  waren  Kleinbetriebe  (mit  0 — 5 Arbeitern), 
1 87  Proz.  Mittelbetriebe  (6—20  Arbeiter)  und  nur  0 4 Proz.  Großbetriebe  (über  20 
Arbeiter).  Im  Jahre  1899  wurden  in  Ungarn  2.364  Fabriken  mit  zirka  245.500  Angestellten 
gezählt.  Am  stärksten  entwickelt  sind  jene  Industrien,  welche  entweder  die  Rohprodukte 
des  Landes  verarbeiten,  wie  die  Nahrung»-  und  Genußmittcl-  sowie  die  Holzindustrie, 
oder  welche  staatliche  Bedürfnisse  zu  befriedigen  vermögen,  wie  die  Eisen-,  Metall-  und 
Masehinenindustrie;  dagegen  sei  die  besonders  unterstützte  Textilindustrie  höchstens  in 
Siebenbürgen  lebensfähig.  Als  besonders  hinderlich  für  die  Induslrieentwicklung  in  Ungarn 
erscheinen  dein  Verfasser  der  Mangel  an  Kapital  (dieses  sei  größtenteils  durch  landwirt- 
schaftliche Investitionen  gebunden),  das  mehrfache  Fehlen  einer  fachmännischen  Leitung, 
der  Mangel  an  billigen  Rohstoffen  sowie  an  geschulten  Arbeitskräften  (der  ungarische  Arbeiter 
pflege  in  einem  gewissen  Alter  wieder  zur  bäuerlichen  Beschäftigung  zurückzukehreui. 


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Literatorbericht. 


450 


Von  diesen  aktuellen  Erwägungen  wenden  wir  uns  nun  zu  den  historischen 
Untersuchungen  Küns.  Bei  den  nomadisierenden  Ungarn  und  noch  zur  Zeit  der  Land- 
nahme (900)  war  jeder  Soldat  (in  Nachwirkung  der  römischen  militär-agrarischen  Formen) 
Eigentümer  eines  Grundstückes,  das  von  den  Ureinwohnern  (Avareu,  Deutschen,  Slaven) 
und  /«Wanderern  bestellt  wurde.  Christentum  und  Monarchie  lieUcn  einen  erbunter- 
täuigen  Dienerstand  und  aus  diesem  eine  Klasse  freizügiger  Schutzunterütneu  entstehen 
— den  ersten  Vorläufer  des  heutigen  Gesindes.  Die  durch  wachsende  Bodenkultur 
bewirkte  reichere  Gliederung  des  arbeitenden  Volkes  — auch  die  Anfänge  einer  Klein- 
grundbesitzerklasse  (freie  Ungarn  und  Kolonisten)  zeigten  sich  bereits  — ging  in  den 
Tartaren-  und  Türkenstürmen  wieder  unter.  In  der  Folge  war  der  Bauer  theoretisch 
zwar  frei,  «loch  schutzlos,  da  der  infolge  königlicher  Schenkung  emporstrebende  feudale 
Großgrundbesitz  eine  derartige  Ausbreitung  der  Hörigkeit  mit  sich  brachte,  daß  sich 
alsbald  alle  freien  und  unfreien  Ackerbauer  in  der  großen  Klasse  der  grundholden 
Hörigen  zu«ammenfanden.  Dieses  von  Ludwig  d.  Gr.  1351  gesetzlich  geregelte  Institut 
der  Jobbagyien  — (eventuell  erbberechtigte)  Nutznießer  der  herrschaftlichen  Felder  — 
bestand  im  Wesen  bis  1*50  fort.  Mit  dem  Sieg  des  Hochadels  über  die  Königsgewalt 
(nach  dem  Tode  Matthias'  Corvinus)  verlor  auch  die  Freizügigkeit  ihre  praktische  Be- 
deutung; es  kam  zum  großen  Bauernaufstand  1514,  nach  dessen  Niederwerfung  die 
erbliche  Hörigkeit  vom  Reichstag  dekretiert  wurde.  Nachdem  Verfasser  schon  für 
das  15.  Jahrhundert  einen  freien  Feldtaglöhnerstamm  in  Ungarn  festgestellt,  bezeichnet 
er  die  Zeit  von  1514  bis  auf  Maria  Theresia  als  eine  Periode  ökonomischen,  moralischen 
und  — hauptsächlich  infolge  der  Pest  1707  — auch  physischen  Verfalles.  Die  Hebung 
und  Befreiung  der  Bauernschaft  wird  vom  Verfasser  ebenso  konzise  wie  klar  dargestellt. 
Innerhalb  dieses  hier  nur  ganz  leicht  angedeuteten  Rahmens  unterzieht  Kan  die  einzelnen 
Laadarbeiterkategorien  nach  ihren  historischen,  wirtschaftlichen,  politischen,  sozialen  und 
rechtlichen  Faktoren  einer  gründlichen  Untersuchung.  In  einer  abschließenden,  objektiv 
formulierten  Betrachtung  Über  ungarisches  Arbeiterrecht  und  Arbeiterfürsorge  wird  erst  die 
Möglichkeit  geboten,  die  Ausführungen  dieses  Autors  mit  dem  der  Gegenwart  und  jüngsten 
Vergangenheit  gewidmeten  Aufsatz  Bunzels  über  die  Lage  der  ungarischen  Landarbeiter  in 
Vergleich  zu  ziehen.  Wohl  ergänzen  einander  die  b«  ideu  Arbeiten  in  gewissem  Belange,  so 
insbesondere  iu  den  statistischen  Angaben,  dann  in  den  Mitteilungen  über  die  agrarsozialistische 
Bewegung  der  letzten  Jahre,  ergeben  jedoch  kein  Ganzes.  Einer  einfachen  Zusammen- 
legung der  beiden  Abhandlungen  steht  vor  allem  ihr  unter  anderem  durch  die  oben 
erwähnte  Verschiedenheit  der  benutzten  Informationsquellen  bedingter  disparater  Charakter 
entgegen.  (Übrigens  verweist  K ün  mehrfach  auf  den  Aufsatz  Bunzels.)  Beide  Autoren 
klagen  über  den  Mangel  beziehungsweise  die  Mängel  des  für  ihre  Arbeiten  notwendigen 
statistischen  Materials,  doch  ist  es  Kün  gelungen,  selbst  für  weit  zurückliegende 
Perioden  reichere  und  verläßlichere  Daten  aufzuspüren.  Besonders  Rillt  es  auf,  daß 
Hunzel  in  seinem  Aufsatz,  der  zuerst  im  „Archiv  für  soziale  Gesetzgebung  und  Statistik“, 
Baud  XVII,  1902  erschienen  ist,  die  ungarische  agrarstatistischc  Konskription  vom 
Jahre  1895,  ^ worüber  die  ersten  Bände  1897,  die  letzten  zwei  1900  veröffentlicht 
wurden,  nicht  verwertet. 

Sowohl  die  sozial-  und  nationalökonomischen  Feuilletons  Bunzels  wie  die 
wissenschaftliche  Monographie  Kün’s  tragen  zur  Verkleinerung  einer  großen  Lücke  bei. 
Dali  dieselbe  nicht  ausgefüllt  ist.  vielmehr  noch  anderen  Forschem  Arbeitsgelegenheit 
bietet,  liegt  an  der  Art  des  Gegenstandes  wie  an  der  Beschaffenheit  des  Materials. 

Dr.  Julius  Twardowski. 

Dr.  Theodor  Spickenunnn.  Der  Teilhau  in  Theorie  und  Praxis.  Ein  Bei- 
trag zur  Lösung  der  ländlichen  Arbeiterfrage.  („Volkswirtschaftliche  und  wirtschaftsge- 
schichtliche Abhandlungen“  herausgegeben  von  Prof.  Dr.  W.  Stieda.  IV.  Heft).  Leipzig, 
Verlag  von  Jfthn  und  Schanke,  1902,  8°,  68  8. 


<)  Vgl.  blerOb-r  den  Auf-nu  vuo  ProffMor  v.  Heb  « Iler n • Sch  re  tle n ho.  e n in  der  vom  k.  k. 
Arbriuumtlsil  scheu  Aiat  h-r  ju*geg«t>c,n  .Sotlelru  Kundseh  Mi",  Aprilhe/l  lÄJt,  «.  4ill  ff. 


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460 


Literaturbericht. 


Nicht  ohne  günstige  Vorurteil  nahm  ich  das  angezeigte  Schriftchen  zur  Hand. 
Ein  interessant«-1»  Thema,  mit  wohltuender  Kürze  and  ohne  weitwendigen  literarischen 
Apparat  behandelt.  Offenbar,  sagte  ich  mir,  hat  der  Verfasser  über  den  Gegenstand 
eigene  Gedanken  vorzutragen  und  begniigt  sich  auch  damit.  Das  erweckte  meine 
»Spannung  um  so  mehr,  als  bekanntlich  die  Meinungen  über  das  juristische  Wesen  des 
Teilbaues  sowohl  wie  über  seinen  produktionstechnischen  und  sozialpolitischen  Wert  sehr 
auseinandergellen.  So  begann  ich  denn  zu  lesen  — und  das  Gelesene  nachzuprüfen. 

Hier  ist  das  Ergebnis  dieser  Prüfung: 

In  einer  kurzen  Einleitung  (8.  1 — 2),  bietet  der  Verfasser  einen  Überblick  Ober 
die  Verbreitung  des  Teilbaues.  Die  betreffenden  Angaben  sind  zur  Gänze  entlehnt 
den  — übrigens  bereits  1894  und  nicht  erst  1897  erschienenen  — .Studien  über  den 
Teilbau  in  der  Landwirtschaft“  u.  s.  w.  von  Pappafava,  S.  2—34.  Herr  Spickermann 
nennt  aucli  keinen  andern  Gewährsmann,  diesen  aber  nur  zu  zwei  speziellen  Punkten. 
Dadurch  wir«!  der  Anschein  erweckt,  d«*r  Best  der  Darstellung  beruhe  auf  Eigeuforschung. 
Zudem  ist  der  Auszug  nicht  nur  höchst  flüchtig,  was  bei  seiner  Kürze  — 1 aus  34  Seiten 
— kaum  zu  vermeiden  war,  sondern  auch  ungenau. 

Der  erste  Abschnitt  der  eigentlichen  Darstellung  behandelt  den  Teilbau  in 
Italien  (S.  3-21). 

Er  beginnt  mit  einer  Skizze  der  .geschichtlichen  Entwicklung  und  Ausdehnung 
des  Teilbaues“  (S.  3 — 9).  Eingangs  derselben  verweist  der  Verfasser  auf  die  in  der 
.Zeitschrift  für  Staat»  Wissenschaft“  (er  meint  die  .Zeitschrift  für  die  gesamte  Staats- 
wissenschaft.“) 1884—1885  erschienenen  Abhandlungen  H.  Dietzels:  .Über  Wesen  und 
Bedeutung  des  Teilbaue»  in  Italien“,  welche  der  Verurteilung  des  Teilbaues  namentlich 
durch  deutgehe  Gelehrte  den  Boden  entzogen  hätten,  und  fügt  hinzu:  „Da  von  allen 
Arbeiten  über  die  italienische  Knquüte  (von  1877),  welche  auch  den  Teilhau  eingehend 
würdigen,  die  von  Dietzel  und  Eheberg  anerkannte rmaUen  die  beuten  sind,  so  stützt 
sich  Verfasser  unter  Mitberücksichtigung  der  umfangreichen  sonstigen 
Literatur  hauptsächlich  auf  diese  beiden  Autoren.“  (8.  3 Text  und  Anm.  1.)  Nun  ist 
bekanntlich  die  Untersuchung  Dietzels  in  drei  Abteilungen  erschienen  (a,  a.  O.,  40.  Bd., 
S.  219—284  und  59“»— 639;  4L  Bd.,  S.  29  — 86),  deren  erste:  Verbreitung,  Wesen,  legis- 
lative Behandlung  und  Stabilität  des  Teilbausystems  schildert,  während  die  beiden 
andern  .das  Entwicklungsgesetz  der  colonia  parziaria“  und  «len  Prozeß  der  Entstehung 
uud  Ausbreitung  derselben  zur  Darstellung  bringen. 

Der  entwicklungsgeschichtliche  Teil  der  Dietzelachen  Untersuchung  wird  von 
Herrn  Spick  ermann  überhaupt  nicht  und  speziell  in  d«»r  erwähnten  historischen 
Skizze  (S.  4—9)  kein  einziges  Mal  zitiert,  trotzdem  die  letztere  vollständig  und 
noch  dazu  höchst  ungeschickt,  ja  in  vielfach  sinnstörender  oder  sinnloser  Weise  aus- 
schließlich von  Dietzel  abgeschrieben  ist.  Dagegen  bezieht  ersieh  auf  eine  ganze 
Reihe  anderer  Gewährsmänner:  Bertagnolli,  Curtius,  Appian,  Cato,  Mommsen, 
Pohl  mann  sowie  auf  da»  Florentiner  Statut  von  1415.  Kr  hat  jedoch  zweifellos  aus 
keiner  einzigen  der  angeführten  Quellen  unmittelbar  geschöpft.  Er  hat  vielmehr  wie  den 
Text  so  aucli  die  Anmerkungen  mechanisch  Dietzel  .entlehnt“.  Es  decken  sich 
nämlich  bei: 


Spickermann 
3.  4,  Anm.  2 

. 3 

» 4 

5,  . 1 

„ 2 
- 3 

„ 4 

6 . 1 
« p 1 
* 2 


Dietzel 

a.  a.  0.  40.  Bd , S.  597  Text 

598  Amu.  2 

599  Anm.  2 

603  Text 
601  Anm.  2 
611  „ 1 

Cll  „ 6 

617  . 1 

41.  Bd.,  S.  63  . 1 

64  „ 3 


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Literaturbericht. 


461 


Originell  ist  unser  Autor  nur  darin,  daß  die  Anmerkungen  mitunter  Überhaupt 
nicht  zum  Teit  passen. 

Dafür  sind  die  Daten  über  die  «Bedeutung  des  Teil  baue»*  (in  der  Gegenwart. 
S.  9 — 11),  ohne  dali  überhaupt  eine  (Quelle  zitiert  wäre,  von  Dietzel  a.  a.  0. 
40.  Hd.,  S.  22S  ff.)  abgesch  rieben  Kinen  drolligen  Kindruck  macht  es,  wenn  mau  die 
Ausführungen  auf  S.  11  und  8.  21  vergleicht.  Hier  bringt  nämlich  Herr  Sp  ick  ermann 
nach  Asairelli,  Le  metayage  cn  Italie,  eine  Gegenüberstellung  der  gesamten  und  der 
teilbaumaßig  bewirtschafteten  Anbauflächen  sowie  der  Produktion  auf  beiden  für  die 
wichtigsten  ßodenerzeugnisso  (Getreide,  Mais,  Wein,  Oliven.  Gemüse).  Dort  hingegen 
bemerkt  er:  .Am  vorteilhaftesten  wäre  es,  uin  die  Bedeutung  des  Teilbaues  voll 
würdigen  zu  können,  wenn  Jie  von  den  Teilbauern  bewirtschaltete  Flüche  bekannt  wäre. 
Die  KnquMe  verrät  hierüber  nichts  und  eine  Schätzung  würde  wohl  kaum  das  Richtige 
treffen/  Es  braucht  wohl  kaum  gesagt  zu  werden,  dali  diese  Bemerkung  Dietzel 
(a.  a.  0.  S.  234  f)  und  Eheberg  (Agrarische  Anstände  in  Italien  S.  125  f.)  entstammt. 

Es  überrascht  förmlich,  dali  unser  Autor  seine  Schilderung  des  „Wesens  des 
Teilbaues*  (S.  11 — 18),  nicht  wieder  stillschweigend  Dietzel  und  Eheberg  entnommen 
hat,  sondern  diesen  einmal,  jenen  sogar  dreimal  fitiert.  Allerdings  wieder  nur  zu  speziellen 
Punkten.  Dagegen  steht  er,  wenn  aus  dem  Mangel  jeglicher  Literaturangabe  geschlossen 
werden  sollte,  in  der  .Beurteilung“  (S.  18—21),  durchaus  auf  eigenen  Füßen.  Ein  fataler 
Zufall  fügt  es  aber,  dali  auch  schon  Eheberg  (a.  a.  O.  S.  133 — 137)  zu  genau  deiu  gleichen, 
vielfach  wörtlich  übereinstimmenden  Urteil  gelangt  ist.  Ergänzt  hat  dasselbe  Herr 
Spickermaiin  nur  durch  die  schon  erwähnte  Tabelle  aus  Asairelli,  aus  der  er  jedoch 
die  die  Seidenkultur  betreffenden  Ziffern  weggelaasen  hat.  (Vgl.  „La  rdforme  sociale“ 
vom  Juni  1893,  S.  874). 

Noch  leichter  hat  sich  unser  Autor  die  Sache  gemacht  im  zweiten  Abschnitt 
(8.  22—32),  der  dem  Teilbau  in  Frankreich  gewidmet  ist.  Die  vorhandene,  so  überaus 
reiche  Literatur  kennt  or  offenbar  gar  nicht;  ja  nicht  einmal  die  doch  wahrlich  unschwer 
zugänglichen  Artikel  in  dem  „Nouveau  dictiounaire  de  ricoiiomie  politique“  und  in  „La 
grande  Kncyclopddie“.  Kr  nennt  nur  — und  zwar  insgesamt  in  der  uns  bereits  be- 
kannten Art  zu  ganz  nebensächlichen  Punkten  — Roger  Merlin,  Le  metayage  en 
France  dreimal.  Mlplain,  Dialogucs  snr  le  metayage  und  Reitze uste ins  Landwirtschaft 
Frankreichs  je  einmal.  Die  beiden  ersterwähnten  Werke  sind  mir  nicht  zugänglich.  Ich 
kann  also  nicht  im  Detail  nachprüfen,  ans  welchem  von  beiden  sein  Auszug  stammt,  über 
dessen  Wert  das  von  dem  früheren  Gesagte  gilt.  Hervorgehoben  sei  nur,  daß  der  ge- 
schichtlichen Entwicklung  des  Teilbaues  in  Frankreich  34  Zeilen  gewidmet  sind,  darunter 
sieben  der  Erwähnung  einer  Urkunde  aus  dem  Jahre  800  über  eine  .Schenkung  an  den  „Abbl 
Friedegia*(!)  Aus  welchem  Grunde  Herr  Spickermann  seine  geschichtliche  Skizze  mit  der 
„zweiten  Hälfte  des  Mittelalters“  abschließt  und  sie  erst  1832  wieder  einsetzen  läüt, 
weil)  ich  nicht. 

In»  dritten  Abschnitt  (8.  43—48)  wird  die  Beteiligung  der  Arbeiter  am  Roh- 
uud  Reinertrag  eines  landwirtschaftlichen  Betriebes  in  Deutschland  behandelt.  Neu  siud 
nur  die  Daten  über  die  Anteilwirtschaft  beim  Tabakbau  auf  drei  Mecklenburgischen 
Gütern  nach  Mitteilungen  der  Verwaltung  derselben.  Den  Rest  verdankt  der  Verfasser 
wieder  ausschließlich  den  „Yerhandlnngcn  der  XXV.  Plenarversammlung  des  deutschen 
Landwirtschaftsrates“.  Außerdem  findet  sich  die  Wiedergabe  der  Auffassung  von  der 
Goltz  über  die  Berechnung  de»  Reinertrages  von  landwirtschaftlichen  Unternehmungen 
durch  ein  Zitat  aus  Böh inert.  Gewinnbeteiligung,  belegt  (8.  40). 

Im  vierten  Abschnitt  (S.  47 — 52)  werden  die  bisherigen  deutschen  Versuche 
zur  Begründung  bäuerlicher  Stellen  und  zur  Lösung  der  ländlichen  Arbeiterfrage  äußerst 
flüchtig  besprochen.  Für  die  Zeit  vor  dein  preußischen  Rentengütergesetz  vom  26.  April 
1886  ausschließlich  an  der  Hand  von  Rirnpler  — wobei  aus  den  Zitaten  nicht  zu 
ersehen  ist,  ob  dessen  Schritt:  Domäuenpolitik  etc.  in  Preußen,  oder  die  im  32.  Bande  der 
„Schriften  des  Vereines  für  Sozialpolitik“  enthaltene  Abhandlung  benützt  wurde  — für 
die  spätere  Zeit  an  der  Hand  von  Aal,  das  preußische  Reutengut.  Sonst  finden  Bich  in 


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462 


Literaturbericht. 


diesem  Abschnitt  nur  außerordentlich  spärliche,  dazu  nicht  immer  richtige  Literatur- 
angaben. Von  Aal  S.  92,  ist  jedenfalls  die  verstümmelte  Anmerkung  2 auf  S.  50  über- 
nommen. Das  Zitat  aus  von  der  Goltz  S.  50,  Anm.  5 ist  falsch.  Es  soll  dort  heißen 
statt  S.  07:  S.  90.  bes.  S.  154. 

Auf  Aal  gestützt,  steht  Spickermann  der  preußischen  Bentenguta-Gesctzgebung 
skeptisch  gegenüber.  Die  Lösung  der  ländlichen  Arbeiterfrage  erwartet  er  auch  nicht 
von  der  Begründung  von  Arbeiter-Renteiigiitem  oder  Arbeit  er- PachUtellcn,  wohl  aber 
von  der  Einführung  des  Teilbaues  in  die  deutsche  Landwirtschaft.  Dieser  würde,  meint 
Herr  Spickermann,  eine  Interessengemeinschaft  zwischen  Gutsherrn  und  Bauern 
schaffen,  einen  Damm  gegen  die  cigentumsfeindliche  Sozialdemokratie  bilden  und  „das 
Deutschtum  des  Ostens  vor  einer  Verdrängung  durch  das  polnische  Element  bewahren 
helfen.“  Zwar  bestünde  begrifflich  die  Gefahr  der  Ansetzung  deutscher  Teilbauern  auf 
polnischen  Gütern  und  damit  der  Polonisierung  jener.  Aber  „ein  Deutscher,  der  noch 
die  Hälfte  seines  Deutschtums  besitzt,  wird  sich  nicht  so  leicht  in  die  Abhängigkeit 
eines  Polen  begeben“  — und  überdies  „hat  es  die  Regierung  in  der  Hand  dafür 
zu  sorgen,  daß  Deutsche  auf  polnischen  Gütern  als  Teilbauern  nicht  ange- 
nommen werden  können“  (S.  62).  Mit  der  Einführung  des  Teilbaues  soll  der  Staat 
auf  seinen  Domänen  vorangchen.  Der  Privatgroßgrundbesitz  wird  folgen,  namentlich  wenn 
der  Staat  den  Gutsbesitzern  ein  unverzinsliches  oder  niedrig,  zu  1—2  Proz.  verzinsliches 
Kapital  zur  Bestreitung  der  Anaiedlnngskosten  vorschießen  würde.  Übrigens  empfiehlt  der 
Verfasser  keineswegs  volle  Zerschlagung,  sei  es  auch  nur  der  Domänen.  Sie  soll  vielmehr 
nur  in  arbeiterarnien  Gegenden  und  auch  da  in  erster  Linie  für  die  wenig  oder  gar  nicht 
rentablen  Außenscbläge  statttinden. 

Es  ist  höchst  befremdlich,  daß  eine  Arbeit  wie  die  Spickernianns  in  der  von 
Prof.  Stieda  herausgegebenen  Sammlung  erscheinen  konnte.  Nur  dieses  Gefühl  der 
Bcfremdung  mag  die  Ausführlichkeit  dieser  Besprechung  rechtfertigen,  die  wahrlich 
im  umgekehrten  Verhältnis  zum  Wert  ihres  Gegenstandes  steht. 

Wien.  Karl  Grünberg. 

Br.  Ludwig  Slnzhelmer.  Privatdozent  an  der  Universität  München.  Die  Arbeiter- 
wohnungsfrage  (Bd.  2 u.  3 der  „Volksbücher  der  Rechts-  und  Staatskunde“),  Stuttgart, 
bei  Ernst  Heinrich  Moritz,  1902,  190  S. 

Das  vorstehend  angezeigte  Werkelten  ist  aus  einer  Reihe  von  Vorträgen  hervor- 
gegangen, welche  der  Verfasser  im  November  und  Dezember  1901  im  Münchener  Volks- 
hochschulvereine gehalten  hat.  Es  zerfällt  in  sechs  Kapitel.  Im  ersten  wird  einleitend  auf 
den  durchaus  modernen  Charakter  der  Wohnungsfrage  als  allgemeines  Problem  hingewiesen 
mul  die  Differenzierung  in  den  Anschauungen  über  die  Mittel  zu  ihrer  Lösung  skizziert. 
Die  nächsten  vier  Kapitel  schildern:  die  Methoden  zur  Beurteilung  von  Wohuungszu- 
standen;  die  Geschichte  der  Gesetzgebung  und  Verwaltung  auf  dem  Gebiete  des  Wohnungs- 
wesens in  England:  die  Verwaltung  und  Gesetzgebung  in  Deutschland;  die  Entwicklung 
und  Funktionierung  baugenossenschaftlicher  Tätigkeit.  Im  Schluükapitel  werden  die  zu- 
künftigen Aufgaben  gegenüber  der  Wohnungsfrage  auch  in  Deutschland  behandelt. 

Die  der  Popularisierung  der  Erkenntnisse  und  Bestrebungen  zur  Bekämpfung 
der  Wohnungsnot  in  allen  ihren  Erscheinungsformen  gewidmete  .Schrift  erfüllt  ihren 
Zweck  vortrefflich  — trotz  der  durchaus  nicht  immer  einwandfreien,  vielfach  zu  sehr 
die  Spuren  des  freien  Vortrages  an  sich  tragenden  Form,  die  sich  in  Sprache  und 
übermäßiger  Länge  bemerkbar  macht.  Sie  wird  aber  auch  dem  Kenner  nicht  uninter- 
essant sein. 

Wien.  Karl  Grünberg. 


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DIE  DISKONT-  UND  DEVISENPOLITIK 
DER  ÖSTERREICHISCH-UNGARISCHEN  BANK') 
(1892—1902). 

VON 

FRIEDRICH  HERTZ. 


Das  Jahr  1892  bildet  den  Ausgangspunkt  der  neuereu  Entwicklung 
auf  dem  Gebiete  des  österreichischen  Geld-  und  Kreditwesens.  Zahlreiche 
Umstande  wirkten  zusammen,  um  die  Ordnung  des  Geldwesens  zu  begün- 
stigen. Die  große  Zunahme  der  Goldproduktion  durch  die  Erschließung  der 
südafrikanischen  Minen,  die  Preissteigerung  des  Silbers  durch  die  währungs- 
politischen Experimente  der  Vereinigten  Staaten  (1890/91)  schufen  eine 
Situation,  die  an  die  beginnenden  Fünfzigerjahre  erinnerte,  in  die  der  erste 
Versuch  Österreichs  zur  Goldwährung  überzugehen,  fällt,*)  Das  Sinken  des 
Agios  brachte  selbst  die  agrarischen  Exporteure  auf  die  Seite  der  Gold- 
währung,8) der  Industrielle  und  Kaufmann  hatte  genug  unter  den  fort- 
währenden Wertschwankungen  des  Geldes  zu  leiden  gehabt,  um  die  Reform 
freudig  zu  begrüßen.  Die  Staatsfinanzen  waren  in  einem  bisher  nicht 
erreichten  günstigen  Zustand,  das  Budget  wies  beträchtliche  Überschüsse  auf 
die  Besserung  des  Staatskredits  und  die  Einstellung  der  Staatsanleihen  äußerten 
sich  in  einem  rapiden  Steigen  der  Rentenkurse.  Dazu  kam  noch,  daß  Österreich 

*)  Die  Daten  der  nachfolgenden  Darstellung  lieferten  hauptsächlich  folgende 
Quellen:  „Neue  Freie  Presse",  „Fester  Lloyd“,  „der  Tresor“,  „Zeitschrift  für  Volkswirtschaft 
und  Finanzwesen“  (offiziöses  Organ  der  Bank),  „Zeitschrift  für  Staats-  und  Volkswirtschaft“, 
Wien;  „Der  Kompafi“,  finanzielles  Jahrbuch  für  Österreich -Ungarn.  Salings  Börsenpapiere; 
die  wöchentlichen  Bankausweise,  Rechnungsabschlüsse  und  Generalversainmlungsberichte 
der  Österreichisch-ungarischen  Bank,  ferner  die  offizielle  Statistik,  aus  der  die  „Tabellen 
zur  Währungsstatistik“  und  die  „Statistik  der  Banken“  hervorzuheben  sind.  Einen  guten 
Bericht  über  den  Geldmarkt  enthielt  bis  1900  der  „Bericht  über  Handel.  Industrie  und 
Verkehr  in  Niederösterreich,  erstattet  von  der  Wiener  Handels-  und  Gewerbekainmer“. 
Seit  1901  erscheint  ein  eigener  „Jahresbericht  der  Wiener  Börsenkammer  über  den 
Verkehr  an  der  Wiener  Börse  und  den  Geldmarkt“. 

*)  Vergl.  Karl  Helfferich,  Geschichte  der  deutschen  Geldreform.  Leipzig  1898. 
Seite  21  und  102. 

Vergl.  Bericht  des  ValutaausschoBses  S.  7 (in  Beilagen  zu  den  atenogr.  Proto- 
kollen des  Abgeordnetenhauses,  XI.  Session  1892.  Nr.  491). 

ZaiUchrift  für  Volkswirtschaft,  Sozialpolitik  und  Verwaltung.  XII  Band.  3*2 


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464 


Hertz. 


von  der  industriellen  Depression  1891  92  verschont  blieb.  Das  Handels- 
aktivum  wuchs  beständig.  Die  großen  Verluste,  die  das  europäische  Kapital 
an  exotischen  Papieren  — besonders  an  Südamerikanern,  Griechen,  Portugiesen, 
Spaniern  u.  s.  w.  — erlitten  hatte,  und  der  infolge  der  Krise  fallende  Zins- 
fuß schufen  der  Emission  von  Staatsrenten  und  der  Geldbeschaffung  die 
günstigsten  Vorbedingungen.  Da  überdies  die  Regierungen  eine  in  wirt- 
schaftlichen Dingen  sonst  ungewohnte  Energie  entwickelten  — was  vor  allem 
auf  die  Rechnung  der  Finanzminister  Steinbach  und  Weckerle  zu  setzen 
war  — so  gelang  es  in  überraschend  kurzer  Zeit,  die  Goldwährung  gesetzlich 
festzulegen.1  Auch  die  sofort  eingeleitete  GoldbeschafTuug  hatte  einen  großen 
Erfolg  aufzuweiseu.  Um  so  mehr  mußte  die  langsame  Fortsetzung  der  Reform 
Verwunderung  hervorrufen.  Die  gegenwärtige  Lage  macht  die  Aufnahme 
der  Barzahlungen  im  nächsten  Jahre  1 1904)  sehr  wahrscheinlich  und  ein 
Rückblick  auf  die  Ereignisse  der  Zwischenzeit  wird  einesteils  die  Gründe 
der  Verzögerung,  andemteils  die  erreichte  sichere  Fundierung  des  großen 
Werkes  erkennen  lassen.  — Trotz  wiederholter  Anstrengungen  und  einer  kurzen 
Episode  1858 — 59  hatte  die  österreichisch-ungarische  Bank  — resp.  ihre  Vor- 
gängerin  die  österreichische  Nationalbank  — die  1848  eingestellten  Barzahlungen 
nicht  mehr  aufnehmen  können.  Gleichzeitig  mit  der  Einstellung  der  freieu 
.Silberprägung  im  Jahre  1879  war  auch  die  Verpflichtung  der  Bank,  Silber 
gegen  Noten  einzulöseu,  suspendiert  worden,  so  daß  seither  die  Bank  weder 
zur  Annahme  noch  zur  Abgabe  von  Metall  verpflichtet  war.  Hiedurch  war 
zwar  die  Bank  gegen  alle  Gefahren  geschützt,  die  barzahleuden  Banken 
aus  den  Diskontverhältnissen  erwachsen  können.  Doch  hat  schon  der  hoch- 
verdiente Generalsekretär  W.  v.  Luc  am  den  Grundsatz  ausgesprochen, 
daß  mit  Rücksicht  auf  die  Wiederaufnahme  der  Barzahlungen  die  Bank 
bis  dahin  nichts  tun  dürfe,  was  einer  barzahlenden  Bank  nicht  gestattet 
wäre,  und  nichts  unterlassen,  was  Pflicht  einer  barzahlenden  Bank  sei, 
ein  auch  später  oft  wiederholter  Grundsatz,’)  der  freilich  heftigem  Wider- 
spruch nicht  entgehen  konnte.  Man  behauptete,  Österreich  befinde  sich 
infolge  seiner  Währungsverhältnisse  gleichsam  auf  einem  Isolierschemel 
und  die  Bank  könne  unbekümmert  um  den  W eltmarkt  die  Zinsrate  dauernd 
beliebig  niedrig  halten. 

Schon  Lucam  hat  auf  das  Irrtümliche  dieser  Behauptung  hingewiesen. 
Ein  küustlich  niedergehaltener  Zinsfuß  äußert  sich  alsbald  in  einem 
Einströmen  der  Effekten,  deren  Kurs  getrieben  wird,  und  in  einer 
Zurückziehung  ausländischer  Guthaben,  wodurch  Geld  sofort  knapper  wird 
und  der  Zinsfuß  neuerlich  steigt.  Da  Österreich  aber  des  Kapitalzullusses 
bedarf,  liegt  ein  niedriger  Zinsfuß  schon  deshalb  nicht  im  Interesse  der 


‘)  Vergl.  die  Darstellung  in  der  Schrift  des  Hufrates  Dr.  Alexander  Spiti- 
raüller.  Die  Österreichisch-ungarische  Währungsreform,  Wien  1902.  (In  dieser  Zeit- 
schrift IX.  Jahrg.). 

*i  Vergl.  W.  v.  Lucam,  Die  Österreichische  Natiuualbank  während  der  Dauer  des 
drittes  Privilegs  1876,  S.  66  und  E.  v.  Mecenseffy,  Verwaltung  der  Österreichisch- 
ungarischen  Bank  1896.  3.  28. 


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Die  Diskont-  und  Devisenpolitik  der  Österreichisch-ungarischen  Bank  et«.  465 

Industrie.  Auch  ist  es  zweckmäßig,  die  Gewöhnung  des  Publikums  an  den 
Zustand  einer  barzahlenden  Bank  schon  vor  seinem  Eintreten  anzustreben. 
Ganz  besonders  mußte  dieser  Gesichtspunkt  während  des  Übergangsstadiums 
seit  1892  zur  Geltung  kommen.  Was  die  vorhergehende  Epoche  anbelangt, 
so  ist  freilich  seit  der  Umwandlung  der  Nationalbank  in  die  Österreichisch- 
ungarische  Bank  jenem  strengen  Grundsatz  selten  Genüge  getan  worden. 
Ein  Blick  auf  die  Tabellen  der  Diskontändernngen  zeigt,  daß  die  Bank  mit 
wenigen  Ausnahmen  eine  von  den  Schwankungen  des  Weltmarktes  ziemlich 
unabhängige  Diskontrate  eingehalten  hat.  Doch  kann  ihr  der  Vorwurf  eines 
übermäßig  niedrigen  Zinsfußes  nicht  gemacht  werden,  es  fehlte  mehr  die 
Beweglichkeit  als  die  absolute  Höhe. 

In  der  ersten  Auflage  der  .Statistischen  Tabellen  zur  Währungsfrage*1) 
findet  sich  eine  graphische  Darstellung  des  Diskonts  der  europäischen 
Hauptplätze,  des  Silberpreises  und  des  Wiener  Goldkurses.  Es  geht  daraus 
hervor,  daß  die  österreichisch-ungarische  Bank  während  der  Dauer  ihres 
ersten  Privilegs  (1878 — 87)  eine  Oberaus  konstante  Bankrate  hatte.  Während 
der  91  t Jahre  fanden  nur  zwei  Hinaufbewegungen  und  zwei  Herabsetzungen 
des  Diskonts  statt.  Vom  Mai  1879  an  blieb  die  Rate  von  4 Proz.  durch 
3 Jahre  und  5 Monate,  4 Monate  herrschte  der  Satz  von  5 Proz.,  worauf 
bis  gegen  Ende  des  Privilegs  durch  4 Jahre  und  8 Monate*)  der  Normal- 
zinsfuß von  4 Proz.  aufrecht  blieb.  Bemerkenswerterweise  fällt  genau  in 
diese  Epoche  das  gewaltige  Anwachsen  des  Agios,  das  sich  in  einer  Stei- 
gerung der  Devisen  und  des  Goldknrses  ausdrückte.’)  Allerdings  ist  es, 
wenn  man  den  Gang  des  Privatdiskonts  verfolgt,  nicht  sehr  wahrscheinlich, 
daß  eine  straffere  Diskontpolitik  die  Wirkungen  des  sinkenden  Silberpreises 
auf  die  nicht  völlig  isolierte  österreichische  Währung  hätte  paralysieren 
können.  Stets  hätten  die  Regierungen  es  in  der  Hand  gehabt,  durch  Redu- 
zierung ihrer  Kassenbestände  und  Rückziehung  von  Salinenscheinen  ein 
riesiges  Quantum  von  Staatsnoten  auf  den  Markt  zu  bringen  und  die 
Diskonterhöhung  wirkungslos  zu  machen.  Während  des  zweiten  Privilegs 
(1887  1897)  befolgte  die  Bank  eine  beweglichere  Diskontpolitik,  die  aller- 

dings fast  nur  die  periodischen  Schwankungen  des  inneren  Bedarfes  wieder- 
spiegelt. Der  Normalsatz  war  4 Proz.  im  September  oder  Oktober  ging 
man  auf  41/,  oder  5 Proz.,  bereits  im  Januar  oder  Februar  erfolgte  die 
Rückwendung  zum  Diskont  von  4 Proz.  — Immerhin  ist  eine  größere 
Annäherung  an  den  Privatdiskont  und  an  den  internationalen  Zinsfuß  dicht 
zu  verkennen.  — Es  ist  nun  unsere  Aufgabe,  jenen  Teil  dieser  Epoche,  der 
nach  der  Valutareform  liegt,  und  die  ersten  Jahre  des  neuen  Regimes  ein- 
gehender darzustellen.  Vorher  seien  jedoch  die  gesetzlichen  Grundlagen  der 

')  Verfallt  im  k.  k.  Finanrminiiteriom  1892  (in  der  iweiten  Anflage  1896/99  weg- 
gelassen).— Vergl.  ferner  Mecenseffy,  a.  a.  O.,  S.  8182. 

*)  Von  Februar  1883  bis  September  1887. 

»)  Die  Jahresdurchschnitte  der  Devise  London  betrugen:  1879:  117-708;  1883: 
120  167:  1887:  126-968.  Der  Wiener  Goldkurs  (Preis  von  260  Franken  ip  Napoleons  in 
Noten  0.  W.)  stand:  1879:  116-26;  1888:  118-93;  1887:  125  28. 

82* 


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466 


Hertz. 


Diskontpolitik  kurz  wiederholt.  — Da  die  Bestimmungen  des  neuen  Privilegs 
(kaiserliehe  Verordnung  vom  21.  September  1899.  R.-G.-Bl.  Nr.  176,  bezie 
hungsweise  ungarischer  Gesetzartikel  XXXYI1  ex  1899;  von  jenen  des  alten 
(Gesetz  vom  21.  Mai  1887,  R.-G.-Bl.  Nr.  51,resp.  ungarischer  Gesetzartikel XXVI 
ex  1887)  in  dieser  Hinsicht  wenig  abweichen,1)  mögen  sie  gemeinsam 
dargestellt  werden.  — „Der  Generalrat  setzt  nach  freiem  Ermessen  den 
einheitlichen  Zinsfull  im  Kskomptegeschäft  sowie  im  Darlehensgeschäft 
fest.*  (N.  Art.  25  al.  f).  „Die  Eskomptierungen  der  Bank  haben  bei  allen 
Bankanstalten  in  der  Hegel  nur  zu  dem  vom  Gencralrat  einheitlich 
festgesetzten  Zinsfüße,  welcher  öffentlich  und  an  den  Schaltern  der  Bank 
bekannt  zu  machen  ist,  zu  geschehen;  Ausnahmen  sind  nur  auf  Grund 
eines  Beschlusses  des  Generalrates  oder  eines  von  diesem  hiezu  beauftragten 
Komitees  zulässig*  (N.  Art.  60  al.  c).  „Die  österreichisch-ungarische  Bank 
wird  in  beiden  Teilen  des  Reiches  von  der  Wirksamkeit  jeder  die  Höhe 
des  Zinsfußes  beschränkenden  gesetzlichen  Verfügung  losgezählt“  (A.  N. 
Art.  57).  — Hieher  gehört  ferner  die  5proz.  Notensteuer,  die  bei  einer 
Überschreitung  des  steuerfreien  Kontingents  von  400,000.000  K in  Kraft 
tritt  (A.  N.  Art.  84  al.  d).  Insoweit  hat  das  neue  Privileg  keine  Änderung 
des  bestehenden  Zustandes  bewirkt,  jedoch  diesen  in  einigen  Punkten 
ausdrücklich  festgelegt.  — Einfluß  auf  die  Diskontpolitik  können  noch  die 
neuen  Bestimmungen  der  Art.  55  al.  d)  und  75  haben,  die  die  Bank 
zur  unentgeltlichen  Verwaltung  von  Staatsgeldern  verpflichten  und  ihr  die 
Annahme  verzinslicher  Depositen  gestatten.  — Eine  wichtige  Änderung 
ist  jedoch  folgende;  Der  Staatseintluß  ist  iin  neuen  Privileg  dadurch  bedeutend 
verstärkt,  daß  nunmehr  jedem  Regierungskommissär  ein  Einspruchsrecht 
„aus  dem  Grunde  der  Wahrung  des  Staatsinteresses*  zusteht,  worauf  die 
endgültige  Entscheidung  beim  Gesamtministerinm  des  einsprucherhebenden 
Staates  liegt.  (Art.  52,  53  N.)  — Während  der  Verhandlungen  zwischen 
den  Regierungen  und  der  Bank  war  insbesondere  die  ungarische  Regierung 
lebhaft  bemüht,  dieses  Einspruchsrecht  ausdrücklich  auch  auf  den  Zinsfuß 
zu  erstrecken.';  Dies  gelang  nicht;  im  Art.  25  al.  f.)  N.)  wird  ausdrücklich 
festgestellt,  daß  der  einheitliche  Zinsfuß  vom  Generalrat  nach  freiem 
Ermessen  festgesetzt  wird  und  die  Kommissäre  der  Regierungen  nur  über- 
wachen, „ob  die  diesfölligen  Beschlüsse  f o r m e 1 1 den  Statuten  entsprechend,* 
d.  h.  ob  sie  unter  Einhaltung  der  angezogenen  Geschäftsordnungsbestimmungen, 
die  Art.  37  für  die  Sitzungen  des  Generalrates  aufstellt,  gefaßt  wurden.  — Sehr 
wichtig  ist  nun,  daß  diese  Einschränkung  sich  nur  auf  den  einheitlichen 
Zinsfuß  bezieht,  daß  aber  der  Eskompte  auf  offenem  Markte 
ebenso  wie  alle  sonstigen  Maßnahmen  der  Diskont politik 
dom  Regierungseinspruch  nunmehr  unterliegen. 

')  D*s  alle  Privileg  wird  im  folgenden  mit  (A.)„  daa  neue  mit  (N.)  bezeichnet. 
— Im  neuen  Ausgleich  von  1908  erscheint  das  Privileg  von  1899  unverändert  rezipiert 
(vide  1624  der  Beilagen  zu  den  stenographischen  Protokollen  des  Abgeordnetenhauses,  XVII. 
Session  1903,  S.  97). 

*)  Yergl.  „Neue  Freie  Presse-  vom  27.  Juni  1895  und  vom  17.  September  1896. 


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Die  Diskont-  und  Devisenpolitik  der  Österreichisch-ungarischen  Bank  etc.  467 


Der  Art.  87  (A.),  der  die  Bank  zur  Silbereinlösung  verpflichtet, 
war  für  die  Dauer  der  Einstellung  der  freien  Prägung  suspendiert  und 
wurde  auf  Grund  der  Valutagesetze  (Gesetz  vom  2.  August  1892,  R.-G.-Bl. 
Nr.  129,  und  Gesetzartikel  XX  ex  1892)  durch  einen  Zusatz  vermehrt,  der 
die  Bank  zur  Goldeinlösung  verpflichtet,  womit  das  Einströmen  von  Gold 
bei  günstigen  Wechselkursen  befördert  wurde.1)  Dagegen  ist  die  Verpflichtung 
zur  Barzahlung  in  Gold  (Art  83  N.)  durch  den  Art.  111  solange 
suspendiert,  als  der  Zwangskurs  der  Staatsnoten  besteht.  Sobald  dieser 
wegfallt  kann  die  Barzahlung  durch  eine  Beschlußfassung  der  Gesetz- 
gebungen beider  Staatsgebiete  in  Kraft  gesetzt  werden.  Laut  Ministerial- 
verordnung  vom  10.  August  1901  erlosch  der  Zwangskurs  der  Staatsnoten 
am  28.  Februar  1903  und  die  erwähnte  Schlußfassung  sollte  überdies  nach 
einer  Regierungsvereinbarnng  sofort  nach  diesem  Termin  veranlaßt  werden. 

Sehr  wichtig  für  die  Diskontverhältnisse  sind  auch  die  l’artial- 
hvpothekaranweisungen  *),  die  auf  drei  oder  sechs  Monate  mit  wechselndem 
Zinsfuß  ausgestellt  und  ihrer  hypothekarischen  Sicherstellung  auf  öster- 
reichische Staatssalinen  wegen  auch  Salinenscheine  genannt  werden.  Ihre 
Maximalhölie  wurde  1853  auf  100,000.000  fl.  fixiert  und  1856  aus  finanziellen 
Gründen  eine  Verbindung  der  Salinenscheine  mit  den  Staatsnoten  herge- 
stellt, so  daß  die  österreichische  Regierung  jene  Summe,  um  die  der 
Salinenumlauf  unter  dem  Maximum  von  100,000.000  fl.  zurflckblieb,  durch 
Staatsnoten  ersetzen  konnte.’)  Ein  Rückfluß  der  Salinenscheine  hatte  daher 
eine  Vermehrung  der  Staatsnotenzirkulation  zur  Folge,  während  die  für  die 
Salinen  eingezahlten  Beträge  in  Metall  und  Papier  zum  größten  Teil  in 
den  Staatskassen  und  daher  der  Zirkulation  entzogen  blieben.  Da  der 
Zinsfuß  der  Salinenscheine  niedrig  gehalten  wurde,  bewirkte  der  ganze 
Mechanismus  eine  automatische  Regulierung  der  Zettelmenge.  Wenn  der 
Zinsfuß  fiel,  strömten  Salinenscheine  aus  und  dafür  Geld  in  die  Staats- 
kassen, wenn  er  stieg  sank  der  Umlauf,  dafür  erhielt  der  Verkehr  Geld- 
mittel zurück.  Der  Erfolg  war  also  ebenso,  als  wenn  der  Finanzminister  bei 
Geldiiberfluß  eine  Anleihe  aufgenommen,  bei  knapperem  Geldstand  dem 
Markt  Geld  zur  Verfügung  gestellt  hätte.  Durch  die  Festsetzung  des 
Salinenzinsfußes  hatte  der  Minister  gleichzeitig  einen  indirekten  Einfluß  auf  die 
Diskontpolitik.  Die  Verwaltung  der  Salinenscheine  geschah  durch  die  öster- 
reichisch-ungarische Bank  für  Rechnung  des  Staates,  seit  1.  November  1900 
durch  die  Kreditanstalt,  seit  l.  November  1902  durch  die  Postsparkasse.4) 

0 Nach  dem  neuen  Statut  Art.  65  ist  fortan  jede  Anschaffung  oder  Belehnung 
von  Silber  durch  die  Bank  an  die  Zustimmung  beider  Finanzminister  gebunden.  Der 
erwähnte  Zusatz  bildet  nunmehr  allein  den  Art.  87. 

’)  Vergl.  „Salinenscheine*  in  Mischler-Ulbrichs  „Österreichisches  Staats- 
wörterbuch“ 1897.  Ferner  Spitzmiiller,  a.  a.  0.,  S.  31  ff. 

*)  Neuestens  wurde  die  Verbindung  der  Salinenscheine  und  Staatsnoten  auf- 
gehoben und  daa  Maximum  seihst  durch  Tilgung  bedeutend  herabgesetzt. 

4)  Die  ungarischen  Staatskassaanweisungen  fTreeorscheine)  sollen  im  folgenden 
nicht  berücksichtigt  werden,  da  ihr  Umlauf  nicht  bedeutend  und  vor  allem  nur  geringen 
Schwankungen  unterworfen  war.  (Vergl.  Tabellen  zur  Währungsstatistik,  II.  Ausgabe, 
1896  bis  1899,  I.  Teil,  S.  189.) 


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468 


Hertz. 


Seitdem  der  Generalsekretär  Lucam  durch  eine  kühne  und  der 
Öffentlichkeit  verborgene  Handlungsweise  in  den  Siebzigerjahren  einen 
nicht  unbeträchtlichen  Goldschatz  für  die  Bank  erworben  hatte,  war  eine 
Vermehrung  des  Goldes  nicht  mehr  eingetreten.  Seit  Anfang  der  Achtziger- 
jahre war  der  Goldvorrat  sogar  im  Rückgang  begriffen  und  die  silber- 
freundliche Bankleitung  versäumte  selbst  die  günstige  Gelegenheit,  die  die 
durch  die  amerikanischen  Experimente  bewirkte  Preistreiberei  des  Silbers 
bot,  um  einen  Teil  ihres  weißen  Metalls  zu  günstigen  Bedingungen  los  zu 
werden.  Der  in  den  Valutagesetzen  enthaltene  Zusatz  zu  Art.  87  der 
ßankstatuten  verpflichtete  die  Bank  zur  Einlösung  von  Goldbarren  und 
gesetzlichen  Goldmünzen  gegen  Banknoten.  Ferner  wurde  die  Bank  gegen- 
über Privaten  dadurch  begünstigt,  daß  ihre  Münzgebflhr  mit  4 K per  Kilo- 
gramm Feingold  (gegen  6 K)  fixiert  wurde  i Finanzministerialverordnung  vom 
1 1.  August  1892,  B.-G.-Bl.  Nr.  132).  Die  Bank  ging  über  ihre  gesetzliche 
Verpflichtung  hinaus,  indem  sie  ihrerseits  sofort  einen  sehr  günstigen 
Tarif  für  den  Ankauf  fremder  Goldmünzen  aufstellte.1)  Schließlich  wurden 
einige  Grenzfilialen  zur  Übernahme  des  Goldes  bestimmt  und  im  größeren 
Matlstabe  zinsfreie  Vorschüsse  auf  Goldeinlieferungen  gewährt.  Die  Wechsel- 
kurse stellten  sich  den  Rest  des  Jahres  hindurch  günstig  und  obwohl  die 
Differenz  gegen  Pari  die  Bezugskosten  zeitweilig  nicht  deckte,  machten 
doch  die  geschilderten  Maßnahmen  der  Bank  und  der  .Patriotismus*  der 
Importeure  den  Goldbezug  ununterbrochen  möglich.  Vom  August  bis 
Jahresschluü  gelangten  so  40,394.000  fl.  Gold  zum  Ankauf.’)  Um  Raum 
für  die  zum  Goldankauf  verwendeten  Banknoten  zu  schaffen,  beob- 
achtete die  Bank  auch  große  Zurückhaltung  beim  Eskompte,  was  sich  in 
dem  gegen  das  Vorjahr  bedeutend  niedrigeren  Wechselportefeuille  aus- 
drflckte.3)  Allerdings  nahm  die  Bank  vom  November  angefangen  einen  großen 
Betrag  von  Salincnseheinen  ins  Ell'ektenportefeuille,  was  im  folgenden  Jahre 
einer  lebhaften  Kritik  unterzogen  wurde.  Gegen  Jahresende  verschlechterten 
sich  die  Wechselkurse,  ohne  daß  man  anfangs  diesem  Umstande  Gewicht 
beigelegt  hätte.  Im  Jahre  1893  trat  ein  sehr  rasch  anwachsendes  Agio  auf, 
das  im  Mai  und  August  ein  plötzliches  Aufsteigen  mit  darauffolgender 
Abschwächung  zeigte,  im  November  den  Höhepunkt  erreichte,*)  hierauf 
bedeutend  fiel  und  in  den  Jahren  1894/95  langsam  geringer  wurde, 
endlich  im  Oktober  1895  ganz  verschwand. 

Diese  merkwürdige  Erscheinung  hat  mehrere  Erklärungen  gefundeu, 
vou  denen  wir  die  Theorie  des  Dr.  Tb.  H e r t z k a zuerst  skizzieren  wollen.1’) 

‘l  Abgedruckt  bei  Meceuieffy,  a.  a.  0.,  S.  171. 

’)  Unter  den  angekauften  Goldmünzen  befanden  sieb:  18,761.000  fl.  in  amerikanischen 
Eagles,  1,917.000  fl.  in  deutschen  Reichsgoldmünzen.  1,230.00011.  in  Sovereigns,  729.000  fl. 
in  Zwanzigfranksstückcn.  434.000  fl.  in  japanischen  Vena  und  246.000  fl.  in  diversen 
Münzen.  (Generalrersannnlungsbericht  1893,  S.  12.) 

3)  Vergl.  die  Zahlen  bei  Mecenseffy,  a.  a.  0.,  S.  61. 

*)  Die  Entwertung  betrug  gegenüber  der  Parität  London  6’3  Proz.,  gegen  Paris 
5-97  Proz.,  gegen  Berlin  6-71  Proz. 

*)  Hertzka,  Wechselkurs  und  Agio,  Wien  1894. 


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Pie  Diskont-  nnii  Devisenpolitik  der  Österreichisch-ungarischen  Bank  etc.  469 

H e r 1 z k a siebt  im  Agio  eine  Inflationserscheiming.  Nicht  die  vermehrte 
Nachfrage  nach  Devisen  war  es,  was  deren  Kurs  znm  Steigen  brachte, 
sundern  die  Zirkulationsmittel  haben  sich  entwertet  und  das  erst  rief  eine 
Wertsteigerung  der  fremden  Valuten  hervor  (S.  125).  Eine  aus  der  Zahlungs- 
bilanz entspringende  gröbere  Nachfrage  nach  Devisen  und  folgende  Preis- 
steigerung müsse  vermehrte  Exporte,  verminderte  Importe  zur  Fcdge  haben. 
Die  Zahlungsbilanz  regle  sich  also  unbedingt  automatisch.  Dies  sei  nur 
dann  nicht  möglich,  wenn  gleichzeitig  mit  dem  Steigen  der  Devisen  die 
Inlandspreise  derart  steigen,  dab  ein  vermehrter  Export  nicht  möglich  und 
die  Importvermehrung  sogar  begünstigt  wird  — also  im  Falle  einer 
Inflation.  Als  Hauptgrund  einer  solchen  betrachtet  Hertzka  die  durch 
das  eingeflossene  Gold  vermehrte  Banknotenmenge,  womit  dem  Verkehr 
40.000.000  fl.  von  ihm  nicht  verlangte  Zirkulationsmittel  zur  Verfügung 
gestellt  wurden,  ferner  das  Flüssigwerden  früher  gebundener  Staats-  und 
Bankengelder.  In  einem  Lande  mit  geregelter  Währung  würde  der  Metall- 
abfluß alsbald  den  Geldüberflub  und  damit  den  Grund  der  Inflation  beseitigen. 
Zettel  aber  können  nicht  abfließen.  Daher  fordert  Hertzka.  Staat  und 
Bank  sollten  Gold  abgeben  und  Noten  einziehen.  Der  Diskontpolitik  ist 
er  dagegen  nicht  günstig  gesinnt.  In  ganz  abstrakter  Weise  deduziert  er,1! 
dab  ungünstige  Wechselkurse  als  Anzeichen  einer  Geldflberfülle  die  Banken 
zur  Diskontherabsetzung,  günstige  aber  als  Zeichen  der  Knappheit 
zur  Hinaufsetzung  mahnen  müßten  (vergl.  S.  61  <. 

Die  ganze  Hertzkasche  Hypothese  ermangelt  bei  aliem  Scharfsinn 
völlig  der  realen  Grundlagen.  In  Ländern  mit  noch  nicht  ganz  bankrotter 
Valuta  beeinflussen  Konjunkturen,  handelspolitische  Maßnahmen,  Ernte- 
ansfall,  NotverkäuVe,  Kartellpolitik  u.  dergl.  die  Handelsbilanz  und  damit 
die  Wechselkurse  in  viel  stärkerer  Weise  als  die  Einwirkung  der  Geld- 
menge. Es  ist  wohl  wahr,  daß  z.  B.  hohe  Devisenkurse  den  Export  erleichtern. 
Was  aber,  wenn  wir  gerade  nicht  exportbereit  sind?  Gerade  in  agrarischen 
Ländern  drängt  sich  der  Expoit  in  ganz  bestimmten  Zeiten  zusammen.  Oft 
ist  der  hohe  Wechselkurs  auf  ein  Land  durch  eine  dort  herrschende  Geld- 

')  Vergl.  auch  Seite  78:  .Mit  allem  Nachdruck  null  hier  nochmals  darauf  hin- 
gewiesen werden,  dal]  dieses  Bestreben  der  Zettelbanken,  zeitweilig  im  Wege  ihrer 
Diskontpolitik  den  Edelmet&UstrOmungen  entgegenzutreten,  weit  entfernt  davon  ist,  im 
allgemeinen  zu  den  Aufgaben  guter  und  vorsichtiger  Bankpolitik  zu  gehören:  als  Regel 
muü  gelten,  daß  sich  eine  gut  geleitete  Bank,  d.  i.  also  eine  solche,  bei  welcher  die 
Begünstigung  von  Finanz-  oder  Reitwechseln  nicht  in  Frage  kommen  kann,  am  die 
Wechselkurse  direkt  überhaupt  nicht  zu  kümmern  hat;  sie  soll  den  Zinsfuß  erhoben, 
wenn  die  Krediteinreichungen  überhandnehmen.  ihn  herabsetzen,  wenn  das  Gcgehteil 
der  Fall  ist;  Zn-  und  Abßnß  von  Edelmetall  haben  damit  direkt  nichts  zu  tun.  Indirekt 
allerdings,  insofern  nämlich  als  Geldabfluii  Gcldfülle,  Geldzufluß  Geldknappheit  anzeigt: 
sofern  daher  die  Banken  den  Wechselkursen  symptomatische  Bedeutung  für  ihren  eigenen 
Geschäftsbetrieb  beilegen,  haben  sie  in  schlechten  Wechselkursen  ein  Argument  für 
ZintfußermMignug,  in  guten  ein  solches  für  Zinsfußerhohung  zu  erblicken.  Damit  soll 
natürlich  nicht  gesagt  werden,  daß  sie  bei  schlechten  Wechselkursen  den  Zinsfuß  wirklich 
allemal  ermäßigen,  bei  guten  allemal  erhoben  sollen,  denn  es  spielten  hier  noch  zahl- 
reiche andere  Faktoren  mit.1*  Ein  Musterbeispiel  verschrobener  Deduktion! 


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470 


Hertz. 


krise  bedingt,  in  der  wohl  keine  große  Lust  zu  vermehrten  Importen 
herrschen  dürfte.  So  ist  denn  die  „Selbstregulierung  der  Zahlungsbilanz* 
eine  recht  fragliche  Sache. 

Speziell  für  1890  und  Österreich  fehlen  die  Grundvoraussetzungen 
der  H e r t z k a schon  Hypothese : 

X.  ist  ein  wesentlich  vermehrter  Geldumlauf  gerade  während  der 
Agioperiode  keineswegs  nachweisbar; 

2.  ist  von  der  vorausgesetzten  Preisinflation  und  stimulierten  Im- 
porten nichts  zu  bemerken; 

3.  auch  die  Produktion  entwickelte  sich  in  diesem  Jahre  in  ruhiger 
aber  stetiger  Weise.  Kein  Zeichen  einer  Krise  oder  Produktionseinschränkung 
war  wahrnehmbar,1)  so  daß  auch  eine  relative  Geldüberffllle  nicht  ange- 
nommen werden  darf; 

4.  schließlich  bat  Kalk  mann*)  den  genauen  Zusammenhang  des 
Agios  mit  dem  Zustande  des  Londoner  (und  später  des  Berliner  und 
Amsterdamer)  Geldmarktes  in  gründlicher  Weise  nachgewiesen.  Im  folgenden 
werden  die  Kalk  m a n n sehen  Ergebnisse  nur  kurz  rekapituliert,  dagegen 
die  Lage  des  inneren  Marktes,  die  Beziehungen  des  Agios  zur  Valutareform 
sowie  die  Haltung  der  Bank  und  der  Regierungen  eingehender  dargestellt 
als  bei  dem  genannten  Autor. 

Das  Jahr  1893  erölfnete  mit  einem  außerordentlich  flüssigen  Geld- 
stande. Bereits  am  4.  Jänner  nahm  die  österreichisch-ungarische  Bank  den 
Eskompte  auf  offenem  Markte  auf  und  eskomptierte  zunächst  zu  3 Proz., 
während  sich  der  Privatdiskont  alsbald  auf  3 Proz.  stellte.  Gleichzeitig  war 
eine  ungewöhnliche  Goldfülle  bei  den  Kotenbanken  sichtbar.  Am  11.  Jänner 
weigerte  sich  die  Bank  von  Frankreich  Gold  unter  den  gewöhnlichen 
Bedingungen  anzunehmen,  da  sie  sich  der  Marimalgrenze  ihrer  Kotenemission 
näherte.  Die  Folge  war,  daß  die  Pariser  Devise  London  unter  den  Gold- 
punkt fiel,  ohne  daß  Goldimporte  stattfinden  konnten,  und  daß  die  Marimal- 
emission schnell  gesetzlich  erweitert  werden  mußte.  Das  durch  den  Panaina- 
prozeß  und  den  italienischen  Bankenkrach  erzeugte  Mißtrauen  trug  zu  dieser 
Geldfülle  ebenso  bei  wie  die  großen  Goldexporte  aus  Amerika.  So  war  es 
denn  möglich,  daß  das  Goldbeschaffungskonsortium,  das  zunächst  30.000.000 
Kominale  4proz.  Goldrente  übernommen  hatte,  bereits  14  Tage  nach  dem 
Übereinkommen  mit  der  Regierung  den  ganzen  Gegenwert  in  effektivem 
Gold  einlieferte  und  während  dieser  Frist  sogar  die  Bank  von  England  und 
die  deutsche  Reichsbank  den  Diskont  herabsetzten.  Die  Roth  schild- 
gruppe übernahm  weitere  30,000.000  11.  und  begann  sofort  mit  der  Gold- 
beschaffung. Es  ist  möglich,  daß  durch  die  Einzahlung  der  inländischen 
Mitglieder  der  Gruppe  das  Steigen  der  Devisen  mit  verursacht  wurde.  Der 

')  Im  Gegenteil  war  das  Wirtschaftsjahr  1893  günstiger  als  das  vorhergehende. 
Vergl.  Wiener  Handelskaimnerbericht  pro  1893,  S.  7,  and  „Neue  Freie  I’ resse-  vom 
81.  Dezember  1893.  (Ökonomist.) 

3)  Vergl.  Knlkmann.  Die  Entwertung  der  Österreichischen  Valuta  im  Jahre  1893 
und  ihre  draschen.  Freiburg  1899  Wiener  staatswissenachaftliche  Studien,  I.,  3.) 


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Die  Diskont-  and  Devisenpolitik  der  Österreichisch-ungarischen  Bank  etc.  471 

Hauptgrund  liegt  wohl  in  den  Kfl'ekteniraporten,  was  sich  auch  darin 
äußerte,  daß  die  Wiener  Effektenkurse  in  den  ersten  Monaten  großenteils 
höher  notierten  als  die  Berliner  Paritäten.1) 

Die  Subskription  auf  die  60,000.000  österreichischer  Qoldrente  fand 
am  27.  Februar  statt,  und  zwar  hauptsächlich  im  Auslande,  um  eine 
Besserung  der  Devisenkurse  zu  bewirken.  Aus  diesem  Grunde  erhielten  die 
inländischen  Zeichner  nur  5 Proz.  ihrer  Zeichnungen,  die  ausländischen 
11  Proz.,  in  absoluten  Werten  zirka  5,000.000  fl.  gegen  55,000.000  fl. 

Im  Jänner  und  Februar  vollzog  sich  auch  die  große  österreichische 
und  ungarische  Konversion  von  5 Proz.  auf  4 Proz.  Der  Nominalbetrag 
der  zu  konvertierenden  Effekten  machte  Ober  782,500.000  11.  aus,  von 
denen  mehr  als  97  Proz.  (759.100.000  fl.i  tatsächlich  umgetauscht  wurden. 
Während  die  gleichzeitig  emittierte  Goldrente  auf  alte  Goldgulden 
i ä 2 50  Frks.),  also  eigentlich  auf  fremde  Währung  lautete,  wurde  die  im 
Konversionswege  emittierte  Hente  in  Kronenwährung  ausgestellt  Die  Sub- 
skription schloß  am  7.  Februar. 

Am  29.  März  wurden  weitere  40,000.000  4proz.  österreichischer  Gold- 
rente zum  Kurs  von  97  Proz.  Berliner  Usance  begeben,  während  noch  die 
ersten  60.000.000  nur  zu  95*5  Proz.  abgegeben  worden  waren,  wozu  noch 
die  Beteiligung  des  Staates  am  Kursgewinne  kam.’)  Das  Konsortium  begann 
sofort  mit  den  Goldkäufen,  wozu  es  die  aus  den  ersten  60,000.000  11. 
erlösten  Devisen  verwenden  konnte.3)  Die  inzwischen  eingetretenen  Ver- 
hältnisse bewogen  es,  diesen  Betrag  nicht  zur  Subskription  aufzulegen, 
sondern  ihn  freihändig  zu  verkaufen.  Dies  verzögerte  sich  jedoch  infolge  des 
inzwischen  auftretenden  Agios  bis  1894.  Das  Fehlen  des  Gegenwertes  für 
diese  Anleihe  auf  dem  Markte  trug  wieder  einigermaßen  zur  Steigerung 
des  Agios  bei. 

Von  Mitte  April  bis  Mitte  Mai  erfolgte  ein  starkes  Steigen  des  Agios. 
K a 1 k m a n n hat  nachgewiesen,  daß  die  Wechselkurse  dabei  genau  den 
Schwankungen  des  Londoner  Privatdiskontes  folgten,  der  sich  unter  dem 
Einflüsse  des  großen  australischen  Bankenkraches  hob.  Die  durch  dieses 
Ereignis  erzeugte  große  Geldknappheit  führte  zur  Zurückziehung  englischer 
Guthaben  im  Auslande  sowie  zu  einer  starken  Nachfrage  nach  englischen 
Wechseln,  welche  eine  höhere  Verzinsung  boten.1)  Während  jedoch  die 
Devisen  barzahlender  Länder  sich  nur  bis  zum  oberen  Goldpunktc  hoben, 
eiistierte  ein  solcher  für  Österreich  nicht,  da  freies  Gold  nicht  vorhanden 
war  und  die  Bank  ihren  Barschatz  nicht  opfern  wollte.  Die  Devise  London 
erreichte  am  16.  Mai  den  Höhepunkt  von  124  fl.  (gegen  die  Parität 
120'087  fl).  Die  österreichisch-ungarische  Bank  versuchte  anfangs  das  Agio 
durch  Verleihung  von  Devisen  zu  mildern.  Der  wöchentliche  Betrag  dieser 
Verleihungen  betrug  gewöhnlich  zirka  700.900  bis  800.000  fl.  Im  ganzen 

')  Vide  Kalktnann,  a.  a.  0..  Tafel  6 and  7. 

3)  Vergl.  .Neue  Freie  Presse*  vom  SO.  Murr  1893. 

*)  Die  effektive  Beschaffung  dieses  Goldbetragea  war  Ende  April  vollendet. 

*)  Vergl.  Kalkmann,  S.  15. 


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472 


Hertz. 


Jahre  1893  wurden  30,(500.000  fl.  österr.  Währung  ausgeliehen,  ohne  dali 
ein  großer  Einfluß  auf  die  Kurse  bemerkbar  gewesen  wäre.  Eine  wirksame 
Bekämpfung  des  Agios  wäre  uur  möglich  gewesen  durch  größere  Gold- 
Verkäufe  oder  durch  eine  energische  Zinsfußerhöhung.  Zu  keinem  wollte 
sieh  die  Bank  verstehen,  was  ihr  scharfen  Tadel  eintrug,  der  nur  zum 
Teil  berechtigt  war.  Die  der  Ko  t h s c h i ld gruppe  angehörende  Kredit- 
anstalt stellte  dem  Markte  wiederholt  Devisenbeträge  zur  Vertilgung,  so 
am  3.  Mai  allein  6,000.000  bis  7,000.000  M„  ohne  einen  wesentlichen 
Eindruck  zu  erzielen.  Um  so  mehr  mußte  es  sich  die  Bank  mit  Rücksicht 
auf  die  Valutaaktion  überlegen,  ihren  eben  erworbenen  Goldschatz  ohne 
Gewißheit  eines  Erfolges  zu  opfern.  Der  niedrige  Bankdiskont  lenkte  eines- 
teils die  Nachfrage  auf  ausländische  Devisen  hin,  beförderte  anderseits  die 
Höherbewertung  österreichischer  Effekten  und  den  darauffolgenden  Import 
derselben.  Erst  am  12.  Mai,  als  das  Agio  bereits  dem  Höhepunkt  nahekam, 
stellte  die  Bank  den  Eskompte  unter  der  Bankrate  von  4 Proz.  ein,  die 
um  dieselbe  Zeit  auch  in  London  und  Berlin  erreicht  und  in  London  sogar 
zeitweilig  vom  Privatdiskont  überschritten  wurde. 

Die  Kritiker  dieser  passiven  Diskontpolitik  konnten  selbst  nicht  umhin, 
der  Bank  wenigstens  mildernde  Umstände  zuzugestehen.  Aus  den  dargelegt en 
Finanzoperationen  ergibt  sich  der  Grund  für  das  Interesse  der  ltegierung 
an  der  Niederhaliung  des  Zinsfußes,  die  zu  Gunsten  des  Staatskredits  und 
zum  Schaden  der  Volkswirtschaft  geübt  wurde.  Mit  den  Budgetüberschössen 
waren  auch  die  KassenbeBtände  der  Regierungen  außerordentlich  ange- 
wachsen und  ein  Teil  davon  wurde  gegen  niedrige  Verzinsung  bei  privaten 
Geldinstituten  eloziert.  Der  Betrag  dieser  Guthaben,  die  nicht  jedes 
politischen  Hintergrundes  entbehren,  wird  in  den  Rechnungsabschlüssen 
nicht  gesondert  nachgewiesen.1)  Doch  enthält  der  Einnahmenausweis  des 
Finanzministeriums  eine  Post  .Verschiedene  Zuflüsse“,  in  der  nach  den 
.Erläuterungen“  sich  .Zinsen  aus  der  Fruktifizierung  von  Barbeständen 
beziehungsweise  von  schwebenden  Vorschüssen“  befinden,  deren  Betrag 
z.  B.  1892  mit  625.186  fl.  501/»  kr.,  1893  mit  741.171  fl.  18  kr.  angegeben 
wird.*)  Da  diese  stets  fälligen  Guthaben  nur  zu  2'5  Proz.  ausstehen,  ergibt 
sich  ein  durchschnittlicher  Jahresbetrag  pro  1893  von  29,600.000  fl.,  was 
auch  mit  der  Angabe  der  .Neuen  Freien  Presse“  übereinstimmt,  die  am 
16.  April  1893  die  österreichischen  Regierungsguthaben  auf  25,000.000  fl., 
die  ungarischen  auf  30.000.000  fl.  schätzt.  In  der  dritten  Märzwoche  über- 
wies der  österreichische  Finanzminister  einem  Wiener  Institut  allein 
6,000.000  fl.  in  Silber  gegen  eine  Verzinsung  von  2'/4  Proz.  Das  Institut 
legte  sie  vorläufig  auf  Girokonto  in  die  Österreichisch-ungarische  Bank, 
ein  Teil  wurde  in  Salinenscheinen  investiert,  für  die  der  Staat  3 Proz. 

*)  Über  die  Art  ihrer  Verrechnung  vergl.  G.  Scidler,  Lehrbuch  der  Österreichischen 
Staatsverrechnung,  3.  Auf!.,  1897,  S.  233/4.  Der  Verfasser  findet,  daß  die  geübte  Ein- 
reihung der  Guthaben  in  die  schwebenden  Gebarungsreste  nicht  zu  billigen  sei. 

*)  Vergl.  Erläuterungen  zum  ZentralrcclinungsabschluU  über  den  Staatshaushalt 
pro  1898  (Wien  1896).  8,  151,  pro  1892  (Wien  1895),  S.  171. 


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Die  Diskont-  und  Devisenpolitik  der  Österreichisch-ungarischen  Hank  etc.  478 


zahlte,  während  er  selbst  nur  2 '/4  Proz.  für  das  Guthaben  erhielt  Die 
Salinenscheine  erreichten  zu  gleicher  Zeit  den  Maximalumlauf  von 
100,000.000  fl.,  trotzdem  die  dreimonatlichen  Scheine  nur  mit  2*/t  Proz.. 
die  sechsmonatlichen  mit  3 Proz.  verzinst  wurden.  Erst  später  wurde  bekannt, 
daß  die  Notenbank  einen  großen  Teil  dieser  Effekten  eskomptiert  hatte. 

Nicht  nur  die  Presse1),  auch  politische  Faktoren  und  die  Bank  selbst 
haben  den  störenden  Einfluß  der  Hegierungsguthaben  auf  die  Diskontpolitik 
tadelnd  hervorgehoben.  Eine  Zinsfußerhöhung  zum  Schutze  der  Wechsel- 
kurse' ist  nicht  möglich,  solange  die  Regierungen  privaten  Banken  bedeutende 
Beträge  zu  billigem  Zins  überlassen  uud  im  stände  sind,  aus  den  zinslos 
liegenden  Kassenbeständen  diese  Summen  jederzeit  zu  vermehren.  So 
besprach  am  15.  April  Abgeordneter  Dr.  Rosenberg  im  ungarischen 
Abgeordnetenhaus  das  Agio  und  bezeichnete  als  eine  .Hauptursache  des 
Geldüberflusses"  die  Regierungsguthaben  und  die  Eskomptierung  unter  der 
Bankrate.  Er  beklagte  auch  die  durch  den  Geldüberfluß  und  die  hohen 
Effektenkurse  beförderte  große  Ausdehnung  des  Börsenspieles  unter  dem 
Publikum  des  ganzen  Landes,  eine  Tatsache,  die  der  Finanzminister 
Dr.  Weckerl e in  einer  bemerkenswerten  Rede  bestätigte  Bei  einer  am 
22.  April  im  Finanzministerium  abgehaltenen  Konferenz  wurde  die  Aus- 
dehnung der  Regierungsguthaben  vom  Generalsekretär  Mecenseffy 
getadelt  und  mit  Entschiedenheit  die  Einheitlichkeit  der  Zinsfußpolitik 
gefordert.  Der  Finanzminister  behauptete  dagegen,  die  Guthaben  seien 
ohnedies  geringer  als  früher. 

Auch  die  Bank  selbst  weist  in  ihrem  Dezennalberichte  mit  großer 
Schärfe  auf  diese  Cbelstände  hin.*)  Einige  Sätze  aus  dieser  offiziellen 
Darstellung  mögen  hier  Platz  linden:  „Gerade  von  der  Zeit  an,  als  die 
Finanzen  der  beiden  Staaten  der  Monarchie  unter  der  Obhut  ausgezeichneter 
Männer  einen  ungeahnten  Aufschwung  nahmen  und  die  Staatsverwaltungen 
von  Jahr  zu  Jahr  über  größere  Überschüsse  verfügten,  machte  sich  trotz 
der  durch  die  Vorsicht  gebotenen  Zurückhaltung  der  Bank  häufig  eine 
auffallende  Geldfttlle.  die  doch  nur  eine  künstliche  sein  kounte.  bemerkbar: 
Anträge  von  Geldinstituten  überschwemmten  das  Land,  das  Geld  wurde 
förmlich  aufgedrängt.  Der  Zinsfuß  auf  dem  Geldmärkte  sank,  allen  Erfahrungen 
entgegen,  oft  tief  unter  den  Banksatz,  zeitweilig  sogar  unter  3 Proz.,  während 
der  Banksatz  zu  dieser  Zeit  4 Proz.  betrug  und  aus  wohlerwogenen  Gründen 
nicht  herabgesetzt  werden  konnte:  dazwischen  trat  unvermittelt  Geldknapp- 
heit ein,  der  Zinsfuß  schnellte  in  die  Höhe,  bis  an  den  Banksatz.  Es  war 
ein  wechselvolles  Bild.*  .Den  unmeßbaren  und  unkontrollierbaren  Einflüssen 
plötzlich  zuströmender  und  abströmender  Mittel  auf  dem  Geldmärkte  stand 
jedoch  die  Bank  nach  wie  vor  wehrlos  gegenüber;  von  einer  Zinsfußpolitik 

*)  Vergl.  .Neue  Freie  Presse“  vom  13.  April  1893:  „Die  Lage  des  inländischen 
Geldmarktes  hängt  wesentlich  von  dem  Guthaben  der  beiden  Regierungen  in  den  Bank- 
institnten  ab.“  VergL  auch  Nr.  10.287  u.  s,  w. 

*)  Mecenseffy,  Die  Verwaltung  der  Österreichisch-ungarischen  Bank  1886— 1895, 
Wien  1896.  S.  29—31  and  S.  149 


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474 


H<WtZ 


im  strengen  Sinne  des  Wortes  konnte  unter  solchen  Verhältnissen  nicht 
die  Bede  sein.  Die  schwierigsten  Jahre  waren  1802  und  1803.*  Auch  in 
einer  Note  der  Bank  an  die  Regierungen  vom  6.  Juli  1894  wird  die 
nachdrückliche  Forderung  aufgestellt,  die  Finanzverwaltungen  sollten  der 
Österreichisch-ungarischen  Bank  die  Möglichkeit  bieten,  eine  einheitliche 
und  richtige  Zinsfuflpolitik  zu  verfolgen. 

Von  Mitte  Mai  bis  Anfang  Juni  sank  das  Agio  auf  den  Stand  von 
Anfang  Mai.  um  von  da  an  bis  Ende  August  andauernd  und  schnell  zu 
steigen.  Am  25.  August  erreichte  die  Devise  London  den  Stand  126-80. 
Nach  einem  zeitweiligen  Rückgänge  Ende  Augnst  und  Anfang  September 
setzte  sie  das  Steigen  fort  und  erreichte  am  9.  November  mit  127'65 
ihren  höchsten  Stand,  der  eine  Entwertung  um  6‘3  Proz.  gegenüber  der 
Relation  bedeutete. 

Die  öffentliche  Diskussion  brachte  diese  Steigerung  mit  verschiedenen 
Umständen  in  Verbindung.  Es  lag  am  nächsten,  in  den  Valutaoperationen 
einen  Grund  zu  erblicken.  Die  Regierungen  und  dag  Konsortium  sollten 
durch  Devisenankäufe  den  Kurs  gesteigert  haben,  die  Konversion  hätte 
die  auswärtigen  Gläubiger  Österreichs  beunruhigt  und  zur  Effektenrück- 
sendung  bewogen. 

Die  Goldbeschaffung  für  die  40,000.000  Goldrente  fiel  freilich  zeit- 
lich mit  der  ersten  Steigerung  des  Agios  im  April  zusammen  und  da  das 
Konsortium  infolge  Zurückbehaltung  der  Anleihe  in  den  Kassen  den  Devisen- 
betrag, deu  es  zum  Ankäufe  von  Gold  verwendet  hatte,  vom  Auslande 
nicht  ersetzt  erhielt,  so  kann  dies  ja  wirklich  mindernd  auf  den  Devisen- 
vorrat und  dadurch  verschärfend  auf  die  spätere  Kurssteigerung  eingewirkt 
haben.  Erwähnt  muß  aber  werden,  daß  gerade  die  Kreditanstalt,  die  der 
Gruppe  angehörte,  wiederholt  größere  Devisenbeträge  abgegeben  hatte  und 
überhaupt  seit  Ende  April  keine  Goldkäufe  mehr  erfolgt  waren.1)  Ebenso- 
wenig begründet  waren  die  Beschuldigungen  gegen  die  Regierungen,  die 
schon  längere  Zeit  keine  Goldkäufe  vorgenommen  hatten.  Die  Kursbewegung’) 
beweist,  daß  vom  April  bis  Mitte  August  große  Effektenimporte  stattgefunden 
haben,  bezüglich  deren  wir  auf  die  sorgsamen  Untersuchungen  Kalkmanns 
liinweisen  (S.  35  ff. ).  Der  oft  behauptete  Zusammenhang  mit  den  Konversionen 
ist  jedoch  sehr  bestreitbar.  Die  Konversionen  waren  ja  freiwillig  und  trotzdem 
hatte  nur  ein  sehr  geringer  Bruchteil  der  Gläubiger  Rückzahlung  verlangt. 
Auch  in  der  späteren  Epoche  waren  gerade  die  hier  in  Betracht  kommenden 
Kenten  fast  gar  nicht  nach  Österreich  hereingekommen.3)  Die  Gründe  der 
Effekteneiuströmung  sind  vielmehr  1.  der  plötzlich  auftretende  starke 
Geldbedarf  der  auswärtigen  Märkte,  2.  die  ungerechtfertigte  Oberwertung 

*)  Vergl.  die  Besprechung  des  Zusammenhanges  zwischen  Geldbeschaffung  und 
Devisenpreis  in  der  „N.  Fr.  Pr.“  v.  24.  Mai  1893  und  Artikel  vom  Direktor  v.  Mauthner 
in  der  Nummer  vom  21.  Mai. 

a)  Vergl.  Kalkm  an  na  Tabelle. 

*i  Die  Wiener  Bürsenkammer  äußert  in  ihrem  Bericht  die  gegenteilige  Ansicht 
(Wiener  Handelskammerbericht  pro  1893,  S.  54). 


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Die  Diskont*  und  Devisenpolitik  der  Österreichisch- ungarischen  Hank  etc.  475 

der  österreichischen  Effekten  in  Österreich.  3.  die  verschärfende  Tätigkeit 
der  Berliner  Baissespekulation.  4.  vielleicht  auch  die  Furcht  vor  den) 
Steigen  des  Agios,  das  den  Geldwert  der  in  ö.  \V.  verzinsten  Papiere 
verminderte. 

K a 1 k m a n n ist  der  Meinung,  daß  die  Effekteneiufuhr,  die  etwa  bis  Anfang 
November  dauerte,  weniger  zum  Auftreten  als  zum  langen  Beharren  des 
Agios  beigetragen  habe,  indem  die  Abwicklung  der  Geschäfte  im  Wege 
des  Reports  hinausgeschohen  wurde.  Eine  eingehende  Erörterung  hat  die 
Frage  in  einer  Artikelserie  von  Professor  Emil  Sachs  gefunden,1)  auf  die 
wir  für  manche  Einzelheiten  verweisen.  Sachs  hat  insbesondere  darauf 
aufmerksam  gemacht,  daß  die  Emissionen  und  EfTektenverkäufe  seitens  der 
Regierungen  seit  1889  fast  aufgehört  hatten,  während  gerade  seither  das 
Anlagebedflrfnis  bedeutend  wuchs.  Auch  die  Industrieelfekten  erfuhren 
infolge  der  engherzigen  Konzessionspraxis  nur  eine  ganz  geringe  Vermehrung. 
Daher  finden  wir  seit  1889  eine  lebhafte  Kurssteigerung  der  Renten,*)  für 
die  wir  als  Beispiel  die  Jahresdurchschnitte  des  Kurses  der  gemeinsamen 
Notenrente  anführen.  Diese  betrugen: 

1869  61  28 

1879  66  36 

1889  8440 

1890  88-68 

1891  91-92 

1892  95-97 

1892  i letzter  Börsentag)  ....  97  80 

1893  (I.  Semester) 98-47 

Diese  rasche  Steigerung,  der  die  auswärtigen  Geldmärkte  im  gleichen 
Schritte  nicht  folgen  konnten,  mußte  Effektenimporte  verursachen,  deren 
Betrag  die  .Neue  Freie  Presse-  vom  1.  Jänner  1894  für  das  ganze  Jahr  1893 
und  für  den  Wiener  Platz  auf  252,610.000  fl.  schätzt,  denen  137,920.000  fl. 
an  Effekteneiporten  gegenflberstehen.  Dazu  wären  noch  15,000.000  fl.  fflr 
direkte  Budapester  Bezüge  zu  rechnen,  so  daß  der  gesamte  Mehrimport 
zirka  130,000.000  fl.  betragen  hätte. 

Eine  wesentliche  Verschärfung  der  Lage  bewirkte  der  Umstand,  daß 
die  im  vorigen  Jahre  eingeführten  40,000.000  fl.  Gold  nicht  bezahlt  worden 
waren  und  infolge  der  knappen  Geldverhältnisse  der  ausländischen  Märkte 
nunmehr  die  Guthaben  aus  Österreich  bezogen  wurden. 

Der  Grund  dieser  Geldknappheit  ist  noch  zu  erörtern.  Kalkmann  hat 
nachgewiesen,  daß  der  hohe  Zinsfuß  in  London  durch  die  nordaraerikanische 
Krise,  deren  Höhepunkt  in  die  Monate  Juli  bis  September  fiel,  verursacht 
wurde.  Unter  dem  Einfluß  des  enormen  Diskonts  und  der  großen  Not- 

*>  Vide  Sachs,  .Agio,  Zahlungsbilanz.  Kapitalsvrandirung,*  .Neue  Freie  Presse* 
27,  28.  Juli,  2.,  S.,  8.  August  1894. 

*)  Der  Erfolg  der  Konversionen  hatte  ebenfalls  eine  grolle  Kurssteigerung  aller 
Effekten  zur  Folge  (Handelskammeibericht  S.  544). 


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Hertz. 


Verkäufe  von  Getreide  fand  im  August  eine  starke  Goldeinfuhr  in  New  York 
statt  ln  den  letzten  Monaten  des  Jahres  war  es  der  Berliner  Diskont,  der 
die  europäischen  Kapitalsströmungen  beherrschte  und  die  österreichischen 
Wechselkurse  am  Sinken  verhinderte,  obwohl  England  bereits  wieder  zu 
einem  niedrigeren  Diskont  zurückgekehrt  war. 

Welche  Politik  verfolgten  nun  die  Bank  und  die  Regierungen  unter 
diesen  Verhältnissen? 

Zunächst  versuchte  man  es  wieder  mit  Verleihung  von  Goldwechseln, 
die  zeitweise  größere  Beträge  in  Anspruch  nahm.  Am  10.  August,  als  da» 
Agio  sich  bereits  dem  Höhepunkte  näherte,  beschloß  der  Generalrat  den 
Diskont  nicht  zu  erhöhen.  Das  Agio  betrug  damals  bereits  5 Proz.,  der 
deutsche  Diskont  von  5 Proz.  war  um  1 Proz.  höher  als  der  österreichische, 
dem  der  englische  gleichstand.  Dabei  hatte  die  englische  Bank  weitere 
Erhöhungen  in  Aussicht  gestellt  und  am  11.  August  erklärte  der  Vize- 
präsident der  Reichsbank,  diese  werde  ihren  Diskont  immer  nach  dem 
englischen  richten,  um  ihren  Goldschatz  zu  schützen.  Der  Generalrat 
begründete  seinen  Entschluß  damit,  daß  in  nächster  Zeit  kein  drängender 
Geldbedarf  zu  erwarten  sei  und  die  Bank  an  ihrem  Salinenscheinbesitz  eine 
Reserve  habe,  sonach  ausschließlich  mit  der  Lage  des  inneren  Marktes.  Am 
24.  August  stieg  der  englische  Diskont  wirklich  auf  5 Proz.,  obwohl  die 
Bank  noch  über  mehr  als  15,000.000  £ Reserve  verfügte  und  in  den  letzten 
Tagen  sogar  Goldeingänge  bei  nicht  ungünstigen  Wechselkursen  erfolgt  waren.1) 
Es  mußte  auffallen,  daß  die  Österreichisch-ungarische  Bank  auf  dem  4proz. 
Diskont  beharrte,  trotzdem  ihre  steuerfreie  Notenreserve  Ende  August  auf 
einem  für  diese  Jahreszeit  ganz  ungewöhnlich  niederen  Stand  angelangt 
war.  Sie  betrug  am  23.  August  15,800.000  fl.  (gegen  48,500.000  fl.  im  Vor- 
jahre), am  31.  August  0,500.000  fl.  i gegen  50,700.000  fl.).  Dies  wurde  weiteren 
Kreisen  erst  durch  die  Erklärung  der  Bank  verständlich,  sie  habe  gegen 
60,000.000  fl.  in  Partialhypothekaranweisungen  angelegt  und  betrachte 
diese  als  eine  Reserve  für  den  Fall  größerer  Ansprüche.*)  Diese  Handlung 
wurde  nun  Gegenstand  einer  lebhaften  Diskussion.  Man  bezweifelte,  ob  sie 
mit  den  Bankstatuten  sich  vereinbaren  lasse,1)  man  wies  darauf  hin.  daß 
der  Staat  für  die  Salinenscheine  Zinsen  zahle,  um  Geld  aus  dem  Markte 
zu  heben  und  eine  Kontraktion  zu  bewirken,  was  aber  nicht  erreicht  werde, 
wenn  die  Bank  ihre  innerhalb  des  Kontingents  kostenlosen  und  beliebig 
vermehrbaren  Noten  einzahle.  Außerdem  bedeute  dies  eine  Verschleierung 
des  Eskomptebestandes. 

0 Oie  Bank  von  England  griff  sogar  zu  dein  Mittel,  dem  offenen  Markte  Geld 
gegen  Verzinsung  bis  zu  4 •/,  and  5 Proz.  zu  entlehnen. 

*)  Den  Höehstbetrag  wieB  der  Juni  1898  auf.  In  diesem  Monate  betragen  die  im 
EskompteportefeniUe  befindlichen  Saliuenschoinc  60,200.000  fl.,  dazu  kamen  aber  noch 
1,150.000  fl.,  die  dem  Iteeervefond  gehörten.  Vergl.  Mecenseffj  a.  a.  0.,  S.  84. 

*)  Vergl.  Zuschrift  des  Abgeordneten  Dr.  Schwab  in  „Neue  Freie  Presse“ 
Nr.  10.462.  Der  Vorgang  führte  auch  zu  einer  Interpellation  (Stenographische  Protokolle 
des  Abgeordnetenhauses,  XI.  Seesion.  X.  Band,  S.  11.128.) 


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Die  Diskont-  und  Devisenpolitik  der  Österreichisch-ungarischen  Bank  etc.  477 

Die  Kritiker  der  Bauk  forderten  also  die  Einstellung  dieser  Praxis, 
die  Erhöhung  des  Salinenzinsfußes,  damit  Salinenscheine  auch  von  anderen 
Kapitalisten  gekauft  würden  als  von  der  Bank,  schließlich  die  Anlegung 
der  Regierungsguthaben  in  Salinenscheinen,  Alle  diese  Maßregeln  würden 
erst  eine  energische  Diskontpolitik  und  Bekämpfung  des  Agios  ermöglichen. 
Wenn  aber  die  Bank  die  Salinen. reserve*  zur  Einlösung  bringe,  so  werde 
sich  natürlich  kein  weiterer  Abnehmer  zu  21/»  und  3 Proz.  finden,  es  würden 
also  Staatsnöten  im  gleichen  Betrage  ausströmen  und  damit  die  schädliche 
Geldfülle  nur  vermehrt  werden. 

Die  Bank  rechtfertigte  ihr  Vorgehen  im  Generalrutsbericht  an  die 
XVI.  regelmäßige  Generalversammlung  (1894)  folgendermaßen  (s.  XL) : 
.Ohngeachtet  der  Zinsfuß  auf  offenem  Markte  bis  tief  in  den  August  hinein 
stets  unter  der  Bankrate  und  in  den  ersten  Monaten  des  Jahres  vereinzelt 
selbst  unter  3 Proz.  notierte,  hat  sich  die  Bank  zu  ihrem  geschäftlichen 
Nachteil  uud  nur  im  Interesse  der  Allgemeinheit  nicht  bestimmen  lassen, 
aus  ihrer  schon  im  Jahre  1892  auf  dem  Eskomptemarkte  beobachteten  strengen 
Zurückhaltung  herauszutreten.  Im  Zusammenhang  mit  dieser  Tatsache  stellt 
sich  die  größere  Anschaffung  von  zumeist  2l/,proz.  Partialhypothekaran- 
weisungen  als  eine  ausnahmsweise  bankpolitische  Maßregel  dar.  Die  Anschaf- 
fungen haben  schon  im  letzten  Drittel  des  Jahres  1892  begonnen.  Ohne 
diese  Maßregel,  die  keineswegs  den  Bezug  von  Partialhypothekaranweisungen 
durch  Dritte  ain  Schalter  der  Bank  iu  Wien  als  Emissionsstelle  behinderte, 
wäre  die  steuerfreie  Notenreserve  öfters  auf  mehr  als  100,000.000  fl.,  also 
über  das  halbe  Notenkontingent  emporgewachsen;  und  unter  dem 
Drucke  einer  so  enormen  Reserve  wäre  der  Zinsfuß  auf  offenem  Markte 
ins  Bodenlose  gefallen.  Die  Bank  mußte  das.  soweit  tunlich,  hintanhalten.* 
Und  im  Dezennalbericht  S.  31  betont  Mecenseffy  noch  besonders  das 
Verdienst,  das  sich  die  Bank  derart  um  den  höheren  Zinsfuß  und  die 
Valuta  erworben  habe. 

Diese  Argumentation  ist  freilich  anfechtbar.  Wir  müssen  bezüglich 
der  Salinenscheine  3 Fälle  unterscheiden: 

1.  Ein  Privater  erwirbt  Salinenscheine  vom  Staat  durch  Vermittlung 
der  Bank.  Der  strengen  Jnterpretation  des  Gesetzes  nach  kann  er  dies  nur 
gegen  Einzahlung  von  Staatsnoten ; doch  wurde  davon  häufig  Abstand 
genommen  und  erst  1897  die  genaue  Erfüllung  der  Vorschrift  angeordnet. 
Die  Folge  ist  eine  Verminderung  der  Umlaufsmittel. 

2.  Die  Bank  erwirbt  Salinenscheine  vom  Staat.  Bei  der  niedrigen 
Verzinsung  derselben  ist  dies  nur  im  Falle  einer  sehr  hohen  Notenreserve  über- 
haupt möglich.  Da  die  Banknoten,  in  denen  die  Bauk  die  Einzahlung  leistet,') 
früher  nicht  im  Verkehr  waren  und  die  Staatsnoteneinziehung  mit  der 
Wiederausgabe  der  Banknoten  zusammenfällt,  so  findet  keine  oder  nur  eine 
sehr  schwache  Kontraktion  statt.  Der  einzige  Erfog  ist,  daß  im  Verkehr 
an  die  Stelle  eines  Staatsnotenbetrages  Banknoten  getreten  sind. 

')  Wenn  die  Bank  die  Einzahlung  in  Staatsnoten  leistet,  mul)  sie  diese  vorher 
durch  Banknotenausgabe  erworben  haben. 


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478 


Hertz. 


3.  Die  Bank  erwirbt  Saliuenscheine  von  Privaten.  Da  sie  dafür  Bank- 
noten ausgibt  und  eine  Ruckziehung  von  Staatsnoten  Oberhaupt  nicht 
stattfindet,  ist  nicht  bloß  keine  Kontraktion,  sondern  sogar  eine  Erweiterung 
der  Zirkulationsniittelmenge  die  Folge. 

Nun  ist  aber  nach  § 35  der  Statuten,  abgesehen  von  der  unter 
gewissen  Kautelen  gestatteten  Eskomptierung  von  Regierungswechseln,  der 
Bank  jedes  Geschäft  mit  den  Regierungen  verboten,  mit  dem  eine  Dar- 
lehens- oder  Kreditgewährung  seitens  der  Bank  verbunden  ist.  Geschäfte 
mit  Dritten  werden  natürlich  nicht  betroffen.  Das  Resultat  ist  also:  Die 
Erwerbung  der  Salinenscheine  vom  Staat  wäre  statuten- 
widrig gewesen,  hätte  aber  weder  eine  Kontraktion  noch 
eine  Inflation  bewirkt.  Die  Erwerbung  von  den  gesetz- 
lichen Bedingungen  entsprechenden1)  Salinenscheiuen 
durch  Ankauf  auf  dem  Markte  wäre  zwar  erlaubt  gewesen, 
hätte  aber  keine  Kontraktion,  sondern  eine  bedeutende 
Vermehrung  des  Umlaufes  bewirkt.  Es  ist  nicht  bekannt,  welcher 
von  beiden  Wegen  von  der  Bank  gewählt  worden  war.  Man  darf  annehmen, 
daß  die  Bank  teilweise  die  rückströmenden  Salinenscheine  vom  Publikum 
übernommen  hat.* > In  diesem  Fall  hätte  sie  zwar  das  Ausströmen  von  Staats- 
noten verhindert,  selbst  aber  eine  gleiche  Quantität  Banknoten  in  Verkehr 
gesetzt 

Die  oberwähnte  Erklärung  der  Bank  gibt  aber  noch  in  einem  Punkte 
Anlaß  zur  Kritik.  Der  Privatdiskont  hatte  sich  im  Juli  und  im  August 
bedeutend  gehoben  und  der  Satz  für  Kommerzwechsel  erreichte  bereits 
während  des  ganzen  Monats  August  die  volle  Bankrate.  Wenn  es  möglich 
gewesen  wäre,  die  Salinenscheine  im  Publikum  zu  plazieren,  so  hätte  dies 
auf  offenem  Markte  eine  ganz  andere  einengende  Wirkung  geübt  als  in  der 
unergründlichen  Papierreserve  der  Bank.  Diese  hätte  sofort  die  führende 
Rolle  erhalten  und  wäre  auch  finanziell  nicht  schlechter  gefahren.  Die 
Voraussetzung  hiefflr  wäre  aber  die  Erhöhung  des  Salinenzinsfußes  gewesen, 
die  dem  österreichischen  Finanzininister  zustand.  Auch  hätten  die  Regierungen 
ihre  Guthaben  in  Salinenscheinen  anlegeu  können,  die  man  noch  immer 
auf  zusammen  30,000.000  fl.  schätzte.  (.Neue  Freie  Presse*  27.  August.) 

Am  31.  August  beschloß  nun  der  Generalrat  den  Zinsfuß  nicht 
zu  erhöhen  und  die  .Salinenreserve*  nach  Maßgabe  der  Herbstansprüche 
flüssig  zu  machen.  Die  starke  Abnahme  der  Reserve,  die  wir  oben  angeführt 
haben,  hatte  diesen  Beschluß  offenbar  herbeigeführt.  Gleichzeitig  verlautete, 
der  österreichische  Finanzminister  werde  einen  Teil  der  Salinenscheine 
aufnehmen,  um  den  Zinsfuß  nicht  zu  drücken.  Es  wurde  als  Tatsache 

')  Das  sind  also  Salinenscheine  mit  dreimonatlicher  Fälligkeit  und  sechsmonatlicbe, 
die  bereite  mindestens  3 Monate  im  Verkehre  respektive  in  irgend  einem  Fond  der  Bank 
waren. 

3)  Fs  ergibt  sieh  dies  aus  einer  Vergleichung  der  monatlichen  Stande  des  Salinen- 
Umlaufes  mit  den  Beständen  der  Bank  während  des  Jahres  1892,  in  dessen  letztem 
Drittel  nach  der  Aussage  der  Bank  die  Operationen  begonnen  wurden. 


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Di«  Diskont-  und  Devisenpolitik  der  Österreichisch-ungarischen  Bank  etc.  4 7 -* 

berichtet,  die  Regierung  habe  ihre  Guthaben  gekündigt  und  die  Postspar- 
kasBa  sowie  einzelne  Fonds  angewiesen.  Salinenscheine  zu  kaufen. 

Bereits  Ende  August  wurde  der  Betrag  der  Salinenscheine  um 
ungefähr  10,000.000  fl.  vermindert  Im  Verlaufe  des  September  wurden 
noch  weitere  31,000.000  fl.  Salinenscbeine  realisiert.  Es  ist  uun  bemerkens- 
wert, daß  der  Besitz  der  Bank  an  Staatsnoten  genau  gleichen  Schritt 

hält.  Es  geht  daraus  hervor,  daß  die  Regierung  nur  einen  geringen  Teil 

oder  gar  keine  Salinenscheine  als  Anlage  aufgenommen  hatte.  Während 
der  Salinenscheinumlauf  von  Ende  August  bis  Ende  Dezember  von 
95,900.000  fl.  auf  39,900.000  sank,  stieg  die  Staatsnotenzirkulation  fast 
genau  um  dieselbe  Differenz.  Freilich  blieb  ein  Teil  der  ausgegebenen 

Staatsnoten  im  Portefeuille  der  Bank  und  gelangte  daher  vorläufig  nicht  in 

den  Verkehr.  Gleichzeitig  stellte  die  Bank  wieder  größere  Beträge  an 
Devisen  dem  Markte  leihweise  zur  Verfügung,  ohne  das  Steigen  des  Agios 
mildern  zu  können.  Das  Bedürfnis  nach  einer  Zinsfußerhöhung  wurde  immer 
dringender.  Noch  aber  schienen  die  Regierungen  nicht  geneigt,  die  Voraus- 
setzungen dafür  zu  schaffen.  Der  Ökonomist  der  .Neuen  Freien  Presse* 
schrieb:  »Von  der  Kündigung  der  Regierungsguthaben  ist  es  völlig  still 
geworden.*  Von  großer  Bedeutung  sind  hiefür  die  Aufklärungen,  die  der 
ungarische  Finanzminister  Dr.  W e c k e r 1 e am  27.  September  in  seinem 
Expose  gab.  Unter  stürmischen  Eljenrufen  konnte  er  erklären,  daß  der 
weitaus  größte  Teil  des  Valntagoldes  bereits  beschafft  sei.  Zur  Bekämpfung 
des  Agios  gebe  es  zwei  Mittel:  Goldabgabe  und  Zinsfußerhöhung.  Bezüglich 
der  ersteren  erklärte  der  Minister  energisch,  sie  unter  keiner  Bedingung 
anwenden  zu  wollen,  da  sie  nur  zum  Abflüsse  des  Goldes,  nicht  aber  zum 
gänzlichen  Verschwindeu  des  Agios  führe  und  höchstens  einen  Druck  um 
V,  oder  1 Proz.  ausüben  könne.1)  Über  den  Zinsfuß  äußerte  sich  der 
Minister : »In  industriellen  Staaten,  in  welchen  sich  die  Einnahmen  und 
Ausgaben  auf  verschiedene  Epochen  des  Jahres  proportionell  verteilen,  pflegt 
der  Zinsfuß  nicht  von  solcher  Einwirkung  zu  sein  wie  in  landwirtschaftlichen 
Staaten“,  er  sei  deshalb  gegen  eine  Zinsfußerhöhung.  Die  .Neue  Freie  Presse* 
bemerkt  hiezu:  .Wo  die  Politik  beginnt,  hören  auch  richtige  Grundsätze 
der  Valutaregulierung  auf  und  die  Scheu  vor  einer  großangelcgten  Diskont- 
politik ist  die  Konzession,  welche  der  Ministerpräsident  Dr.  Weckerle, 
der  in  einem  Kampfe  auf  Tod  und  Leben  mit  der  Kurie  über  die  konfes- 
sionellen Gesetze  begriffen  ist.  wahrscheinlich  schweren  Herzens  von  dem 
ehrlichen  und  innerlich  des  Fehlers  bewußten  Finanzminister  Weckerle 
fordert  und  erlangt.*  In  derselben  Rede  gab  der  Ministerpräsident  Dr. 
Weckerle  das  Goldguthaben  der  Regierung  hei  den  Banken  auf  29.000.000 K 
an,  wozu  noch  die  beträchtlichen  Guthaben  an  Bankvaluta  kamen.  Am 
2.  Oktober  interpellierte  der  Abgeordnete  Armin  Neu  mann  im  unga- 

*)  Im  November  1893  machte  der  Finanzminister  Weckerle  die  interessant«* 
Mitteilung,  daß  der  österreichische  Finanzminister  Stein b ach  7,000.000  fl.  Gold  veräußert 
habe,  nm  das  Agio  zu  drücken.  Dieser  Versuch  habe  sich  als  vollständig  wirkungslos 
erwiesen.  Über  den  Zeitpunkt,  wann  dies  stattgefunden  hat,  sagte  der  Minister  nichts. 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft.  Soilalpolltik  und  VcrtvaHaui;.  XII-  Rand  33 


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480 


Hertz. 


rischen  Abgeordnetenhause,  ob  der  Minister  sich  für  eine  Erhöhung  des 
Diskonts  einsetzen  wolle,  wobei  er  die  Summe  der  Regierungsguthaben  auf 
25.000.000  fl.  bezifferte.  Dr.  Weckerle  antwortete  unter  anderem:  .Ich 
leugne  nicht,  daß  ich  meinerseits  alles  getan  habe,  damit  die  Notwendigkeit 
einer  Erhöhung  des  Zinsfußes  nicht  eintrete,“  hiezu  habe  er  moralische, 
doch  auch  andere  Mittel  angewendet,  z.  B.  dem  Markte  ansehnliche  Betrüge 
aus  den  Kassabestünden  zur  Verfügung  gestellt,  ja  er  habe  selbst  große  Betrüge 
an  Salinenscheinen,  gegenwärtig  zirka  10,000.000  fl.,  in  die  Staatskassen  auf- 
genommen und  die  Zinsen  ebenfalls  dem  Markte  zur  Verfügung  gestellt. 
Doch  werde  er,  sobald  die  Grenzen  erreicht  seien,  nichts  tun,  um  einer 
Erhöhung  des  Zinsfußes  entgegenzuwirken. 

Diese  Angaben  besagen  offenbar,  daß  der  Minister  Salinenscheine  vom 
Publikum  gekauft  habe,  wodurch  eine  Ausdehnung  des  Geldumlaufes  bewirkt 
wurde. 

Ende  September  nahm  die  steuerfreie  Notenreserve  rasch  ab  und 
anfangs  Oktober  trat  ein  steuerpflichtiger  Notenumlauf  ein,  der  am  7.  Oktober 
bereits  mit  6.500.000  fl.  ausgewiesen  wurde,  was  gegen  die  Vorwoche  einen 
Abfluß  von  10.700.000  fl.  bedeutete.  Diese  rasche  Abnahme  war  großen- 
teils durch  spekulative  Einreichungen  bedingt,  die  in  Erwartung  der  Zinsfuß- 
erhöhung sich  noch  Geld  zu  billigerem  Satze  sichern  wollten,  was  mit 
großer  Deutlichkeit  aus  der  Vermehrung  der  Giroeinlagen  erhellt  Am 
5.  Oktober  erhöhte  die  Bank  endlich  den  Zinsfuß  auf  5 Proz..  wärend  die 
Bank  von  England  am  selben  Tage  von  3l/s  auf  8 Proz.  herabging.  Als 
Begründung  wurden  ausschließlich  Argumente  des  inneren  Marktes  ange- 
führt: der  erhöhte  Herbstbedarf,  die  Stockung  im  Getreidehandel  infolge 
der  amerikanischen  Notverkäufe  und  die  allgemein  geringere  Geldflflssigkeit. 
Die  Devisenkurse  stiegen  übrigens  mit  einer  kurzen  Unterbrechung  fort- 
während, sie  erreichten  am  10.  November  ihren  Höhepunkt.  An  diesem 
Tage  betrugen  die  Geldkurse  der  Vistadevisen : 

London 1 27-60 ') 

Paris  50-70 

Deutsche  Bankplätze 62’75 

Von  da  an  beginnt  ein  allgemeines  Fallen,  das  um  die  Mitte  des 
Monats  in  einen  rapiden  Sturz  übergeht.  Am  20.  November  erreichen 
alle  3 Devisen  den  tiefsten  Stand,  und  zwar: 

London 123-80 

Paris  4D*225 

Deutsche  Bankplätze 60-95 

Zur  Erklärung  des  weiteren  Anwachsens  des  Agios  dient  die  Kal  k- 
m an  u sehe  Ausführung,  daß  in  den  letzten  Jahresmonaten  nicht  mehr  der 
Londoner  Diskont,  sondern  der  höhere  Berliner  und  Amsterdamer  Diskont 
auf  die  Devisenkurse  wirkte  (vergl.  S.  27  und  41).  Doch  legt  Kalkmann 

')  Am  Tage  vorher  wurden  127.Ü.')  notiert.  Der  Warenkurs  an  beiden  Tagen 
war  127-90. 


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Di«  Diskont-  an]  Devisenpolitik  der  Österreichisch-ungarischen  Dank  etc.  481 


diesem  Umstande  zuviel  Gewicht  bei;  denn  einerseits  stand  der  Wiener 
Privatdiskont  zeitweilig  höher  als  der  Berliner  und  Amsterdamer,  anderseits 
blieb  der  Berliner  Privatdiskont  bis  zum  Jahresende  auf  gleicher  Höhe, 
während  schon  Mitte  November  der  große  Kurssturz  einsetzte.  Das  Zusammen- 
treffen des  Falles  des  Amsterdamer  Privatdiskonts  mit  dieser  Bewegung  ist 
doch  wohl  mehr  zufällig. 

Einerseits  bewirkte  der  hohe  Privatdiskont  in  Wien,  verstärkt  durch 
die  Wirkungen  des  beträchtlichen  Deports  auf  Marknoten,  einen  großen 
Zufluß  von  deutschen  Noten. 

Der  Deport  erreichte  im  September  ein  Maximum  von  12  kr.  (per 
100  M.  und  Monat),  sank  seither  infolge  des  Zuflusses  von  ausländischer 
Valuta  bis  Mitte  Oktober  auf  etwa  4‘/j  kr.  und  verschwand  am  81,  Oktober 
nach  langer  Zeit  zum  ersten  Mal.  Anfang  November  wurde  sogar  ein  nicht 
unbedeutender  Report  von  zirka  I kr.  beobachtet.  Wenn  nun  trotz  dieses 
Zuflusses  die  Devisenkurse  nicht  sanken,  so  ist  dies  in  mehreren  Umständen 
begründet,  die  zufällig  zusammenwirkten.  Gegen  Mitte  Oktober  (etwa  vom 
9.  an)  wurde  ein  heftiger  Vorstoß  seitens  der  Berliner  Spekulation  gegen 
die  österreichischen  Effekten  gemacht,  von  denen  große  Partien  auf  den 
Wiener  Markt  geworfen  wurden.  In  der  zweiten  Oktoberwoche  kauften 
Zuckerexporteure,  die  infolge  des  Stillstandes  der  Elbeschiffahrt  nicht  liefern 
konnten,  ihre  Ware  zurück,  wodurch  die  fremden  Valuten  gesteigert  wurden. 
Schon  am  17.  Oktober  bewirkte  der  Regenfall  eine  Besserung  der  Kurse. 

Verschiedene  Arbitrageoperationen  wirkten  in  ähnlicher  Richtung,  so 
am  18.  Oktober  Käufe  Wiener  Getreidehändler,  die  den  Fall  des  Rubel- 
kurses in  Berlin  zu  Rubelkfiufen  benutzten  und  den  Gegenwert  in  Mark  in 
Wien  anschafften.  Der  größere  Zufluß  an  auswärtiger  Valuta  wurde  vielfach 
zur  Abwicklung  alter  Engagements  benutzt,  wodurch  die  direkte  Wirkung 
auf  die  Kurse  abgeschwächt  wurde.  Schließlich  waren  es  die  Goldkäufe  der 
Regierungen  für  den  Jänner-  und  Februarcoupon,  die  die  Kurse  hoben.  Am 
<i.  November  wurde  gemeldet,  daß  die  ungarische  Regierung  in  den  letzten 
Wochen  zirka  .'10,900.000  M.  Devisen  und  Valuten  gekauft  hätte.  Dies 
und  die  Anforderungen  der  Effektenarbitrage  waren  die  Hauptgründe  dafür, 
daß  das  Agio  mit  mannigfachen  Schwankungen  und  wechselnder  Stärke  noch 
bis  Mitte  November  stieg. 

Nachdem  schon  vom  9.  November  an  die  Kurse  rückläufig  waren, 
beginnt  am  17.  November  ein  rapider  Fall  der  deutschen  Devisen,  zu  dem 
der  Anstoß  von  den  Wiener  Banken  der  Kothschildgruppe  gegeben  worden  zu 
sein  scheint,  die  anscheinend  planmäßig  größere  Devisenverkäufe  vornahm.  Die 
Kreditanstalt  und  Bodenkreditanstalt  stellten  etwa  5.000.000  — 9,000.000  M. 
zur  Verfügung.  Die  Kontremine  schloß  sich  an,  Wechselmaterial,  das 
von  kaufmännischen  Firmen  bisher  zurückgehalten  oder  von  Exporteuren 
als  Versicherung  gegen  weiteres  Steigen  gekauft  worden  war.  kam  zum 
Vorschein,  während  anderseits  die  Nachfrage  geringer  wurde.  Auch  die 
auswärtigen  Märkte  folgten  der  von  Wien  ausgehenden  Bewegung,  die 
österreichischen  Effektenpreise  besserten  sich  zusehends.  Günstig  wirkte 

33* 


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482 


Hertz. 


ein,  daß  an  den  fremden  Plätzen  ein  äußerst  Massiger  Gelds  tand  herrschte, 
während  er  in  Wien  sehr  knapp  war.  der  Privatdiskant  sich  nahe  der  Hank- 
rate hielt  und  ein  sehr  hoher  Report  bestand.  Insbesondere  groß  war  der 
Rudapester  Geldbedarf,  was  auch  darin  zum  Ausdrucke  kam.  daß  Ende 
November  das  ungarische  Portefeuille  der  Österreichisch-ungarischen  Bank 
zum  ersten  Mal  beinahe  so  groß  war  wie  das  österreichische  1 80,540.000  fl. 
gegen  81,590.000  fl.).  Der  .Salinenscheinumlauf  war  außerordentlich  niedrig. 

Eine  Folge  de»  hohen  Reports  äußerte  sich  in  dem  ungewöhnlichen 
Anwachsen  des  Lombards  zu  J a h r es  s c h 1 u ß.  der  im  Dezember  von 
28.360.000  fl.  auf  43,810.000  fl.  sich  hob. 

Erwähnenswert  ist  ein  Versuch  der  österreichischen  Regierung,  dadurch 
ausgleicbend  auf  die  Devisenkurse  zu  wirken,  daß  die  Käufe  für  die  Coupon- 
augzahlungen,  die  in  Österreich  bisher  in  kurzen  Zeiträumen  vorgenommen 
wurden,  Ober  das  ganze  Jahr  verteilt  wurden,  eine  schon  früher  in  Ungarn 
geübte  Praxis.  Der  Finanzmiuister  machte  davon  in  seiner  Rede  vom 
15.  Dezember  1893  Mitteilung.  Doch  stand  man  infolge  der  geringen 
Wirkung  bald  wieder  davon  ab.  ln  derselben  Rede  teilte  der  Finanzminister 
auch  mit,  daß  die  Bank  küuftig  von  den  gemeldeten  Operationen  mit  Salinen- 
acheinen absehen  und  er  im  Januar  den  Salinenscbeinzinsfuß  erhöhen  werde. 

Wir  haben  das  Agio  bis  zum  29.  November  verfolgt,  an  welchem 
Tage  es  den  niedrigsten  Stand  arreicht.  In  den  letzten  20  Tagen  war  das 
Agio  der  deutschen  Devisen  von  6.75  Proz.  auf  3.67  Proz.,  das  der  Londoner 
von  6.29  Proz.  auf  3.09  Proz.  gesunken.  Im  Dezember  hob  es  sich  wieder, 
stand  jedoch  Ende  des  Monats  tiefer  als  am  Anfang.  Im  Monate  Jänner 
erfolgte  eine  neue  jähe  Steigerung  und  am  1.  Februar  wurde  ein  Höhepunkt 
erreicht,  der  bei  den  deutschen  Devisen  61.60,  bei  den  französischen  5010 
und  bei  den  englischen  126  ausmachte.  Von  diesem  Tage  an  begann  ein 
allgemeines,  langsames,  von  zahlreichen  wellenförmigen  Auf-  und  Abbewegungen 
begleitetes  Sinken  des  Agios,  welches  das  ganze  Jahr  1894  hindurch  anhielt 
und  im  Jahre  1895  ein  etwas  schnelleres  Tempo  annahm.  Im  allgemeinen 
bietet  diese  Bewegung  wenig  Interesse.  In  ihr  spielt  sich  die  langsame 
Abwicklung  der  während  des  stürmischen  Jahres  1893  eingegangenen 
Effekten  Verbindlichkeiten  ab.’) 

Das  neue  Jahr  eröffnete  mit  einem  bedeutend  flüssigeren  Geldstande. 
Die  Bank  von  England  trat  mit  einem  3proz.,  die  französische  mit  einem 
21/, proz..  die  Reichsbank  mit  einem  4proz.,  die  Österreichisch-ungarische 
Bank  mit  einem  5proz.  Zinsfuß  in  das  neue  Jahr  ein.  Die  Einschränkungen 
des  Kredits,  die  die  Bank  in  der  ungarischen  Provinz  vornahm,  wo  bei 
einzelnen  Geldinstituten  arge  Mißstände  aufgedeckt  worden  waren,  riefen 
eine  Interpellation  im  ungarischen  Reichstage  hervor,  bei  der  jedoch  der 
Finanzminister  die  Haltung  der  Bank  verteidigte.  Am  24.  Jänner  wurde  der 
Zinsfuß  für  sechsmonatliche  Salinenscheine  auf  3l/j  Proz..  für  dreimonatliche 

’)  Beachtung  verdient  du  Diagramm  3 bei  Kalkmann  8.  65.  du  den  engeren 
Zusammenhang  der  Schwankungen  der  Devise  London  nnd  de*  Privatdiakonts  während 
der  Monate  Dezember  1893  bi*  März  1894  vor  Aug-n  fahrt. 


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Die  Diakont-  and  Devisenpolitik  der  Österreichisch-ungarischen  Bank  etc.  483 

auf  3 Proz.  hinaufgesetzt.  Bereits  am  Tage  zuvor  hatte  die  österreichisch- 
ungarische  Bank  ihren  Diskont  um  '/*  Pro z.  ermäßigt.  Anfang  Februar 
ging  die  Deutsche  Reichsbank  auf  3 Proz.  die  englische  auf  21/,  Pro*, 
herab.  Diese  Situation  bewirkte  sofort  eine  bedeutende  Zunahme  des  Salinen- 
sebeinumlanfes;  er  stieg  in  der  letzten  Jännerwoche  um  5,000.000  fl.,  die 
zum  großen  Teile  von  Sparkassen  und  ähnlichen  Instituten  aufgenommen 
wurden.  Daß  der  gegenflber  dem  Auslande  beträchtlich  höhere  Zinsfuß  in 
Wien  dag  Steigen  der  Devisenkurse  nicht  verhindern  konnte,  ist  auf  spe- 
kulative Vorgänge  auf  dem  Effektenmärkte  zurQckzufflhrcn.  Am  9.  Februar 
erfolgte  eine  Herabsetzung  auf  4 Proz.,  am  20.  Februar  nahm  die  Bank 
den  Eskompte  auf  offenem  Markte,  u.  zw.  zunächst  zum  Satze  von  3'/a  Proz. 
wieder  auf.  Die  Notenreserve,  die  am  3.  Februar  den  Höhepunkt  des  ganzen 
Jahres  mit  88,100.000  fl.  erreicht  hatte,  fand  dadurch  im  ausreichenden 
Maße  Verwendung.  Am  13.  März  fand  die  Subskription  auf  die  40.000.000  fl. 
österreichischer  Goldrente  statt,  die  das  Konsortium  bisher  in  den  Kassen 
behalten  hatte  und  die  zur  Schonung  der  Devisenkurse  nur  im  Auslande 
aufgelegt  wurde.  Damit  wurden  dem  Markte  jene  Devisen  wieder  ersetzt, 
die  die  österreichischen  Mitglider  des,  Konsortiums  im  Vorjahre  zum  Gold- 
ankaufe  verwendet  hatten  und  deren  Fehlen  besonders  oft  von  der  ungarischen 
Regierung  mit  Übertreibung  als  Ursache  des  Agios  bezeichnet  worden  war. 

Am  14.  März  1894  wurde  im  Budgetausschusse  das  Kapitel:  .Staats- 
schuld* behandelt.  Das  Referat  Neuwirths  verurteilte  die  Salinenschein- 
operation der  Bank  im  Jahre  1893  schärfstens.  Der  Finanzminister  bemerkte 
in  seiner  Erwiderung  mit  Bezug  hierauf:  ,cr  habe  es  fflr  seine  Pflicht 
gehalten,  die  Sache  zu  ordnen  und  dies  sei  durch  ein  formales  Übereinkommen 
geschehen,  welches  die  Regierung  mit  der  Bankleitung  abgeschlossen  habe, 
ein  Übereinkommen,  worin  die  Bank  ausdrücklich  sich  dabin  erkläre,  daß 
sie  in  Hinkunft  die  beanstandete  Eskomptierung  der  Salinenscheine  nicht 
weiter  vornehmen  wolle*.  Gegenflber  dieser  zweifelfreien  Erklärung  des 
Finanzministers  ist  es  ein  absoluter  Widerspruch,  wenn  in  dem  1896 
erschienenen  Dezennalberichte  der  Bank  unbedingt  die  Berechtigung  der 
Bank  zu  den  beanstandeten  Operationen  behauptet  und  das  vom  Finanz- 
minister angezogene  Übereinkommen  einfach  in  Abrede  gestellt  wird.  Es 
heißt  dort  (S.  46):  .Die  Bank  hat  sich  daher  weder  verpflichtet,  noch  kann 
sie  sich  fflr  die  Zukunft  verpflichten,  von  diesem  ihr  zustehenden  Rechte 
keinen  Gebrauch  zu  machen;  ob  und  in  welchem  Umfange  sie  davon  Gebrauch 
macht  und  machen  darf,  hängt  allein  von  den  verfügbaren  Mitteln,  der 
I.age  des  Geldmarktes  und  der  zu  beobachtenden  Zinsfußpolitik  ab.* 

Eine  interessante  Erscheinung  bot  die  Anlage  fremder  Kapitalien  in 
Salinenscheinen,  die  zum  ersten  Mal  außerhalb  Österreichs  erschienen.  Am 
12.  März  wurde  aus  London,  wo  damals  ein  lproz.  Privatdiskont  herrschte,1) 
gemeldet,  daß  dort  6,000.000  fl.  .Salinenscheine  aufgenommen  wurden.  Größten- 
teils blieben  übrigens  die  Effekten  selbst  in  Wien,  der  Gegenwert  in 

*)  Ende  Februar  war  die  Londoner  Bankrate  auf  2 Proz.  gesunken. 


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484 


Herta. 


Devisen  mußte  natürlich  Wirkung  auf  die  Kurse  ausüben.  Bis  14.  März 
war  der  Betrag  bereits  auf  8,000.000  fl.  gewachsen  und  die  Meldungen  Aber 
weitere  Bezüge  reichen  bis  Ende  Juli.  Ende  März  wurde  auch  für  Pariser 
Rechnung  gekauft,  hauptsächlich  handelte  es  sich  um  81  tproz.  in  sechs  Monaten 
fällige  Scheine.  Der  Umlauf  hob  sich  im  Mai  bereits  nahe  an  die  Maxi- 
malgrenze. 

Im  März  wurde  die  grolle  Wiener  Verkehrsanleihe  von  100,000.000  K 
zum  Teil  an  eine  Bankgruppe  (Unionbank  und  Mendelsohn)  begeben  und 
20,000.000  K zur  öffentlichen  Subskription  aufgelegt,  was  aber  wenig  auf 
die  Wechselkurse  einwirkte.  Eine  leichte  Verschlechterung  der  Devisenkurse 
im  Mai  und  Juni  bewirkte  die  Zurückhaltung  der  Zuckerexporteure,  die  zu 
den  herrschenden  niedrigen  Preisen  nicht  verkaufen  wollten  und  bedeutende 
Bezüge  inländischer  Raffinerien  an  Herbstware  aus  dem  Ausland, wofür  Ende  Mai 
ein  Gegenwert  von  600.000  £ angegeben  wurde.  Anfangs  Juli  wurde  bekannt, 
daß  der  ungarische  Finanzminister  seine  Bankguthaben  bis  auf  za.  0,000.000 
bis  7,000.000  fl.  zurückgezogen  hatte  und  auch*  der  österreichische  Finanz- 
minister  tat  sukzessive  dasselbe.  Bei  der  herrschenden  Geldfülle  konnte 
dies  keinen  merkbaren  Einfluß  auf  den  Markt  üben. 

Das  ganze  Wirtschaftsjahr  1894  zeigte  ohne  ernste  Symptome  doch 
keine  befriedigende  Lage  der  Erwerbstätigkeit.  Die  niedrigen  Preise  der 
landwirtschaftlichen  Produkte  und  der  Exportrückgang  bei  wachsender 
Einfuhr  ließen  auf  eine  Stockung  im  Absatz  schließen,  die  in  allen  Gebieten 
des  Wirtschaftslebens  herrschte.  Mit  Rücksicht  hierauf  erklärt  es  sich, 
daß  die  im  zweiten  Halbjahr  in  Anspruch  genommenen  Mittel  der  Bank 
länger  als  gewöhnlich  festgehalten  wurden,  was  sich  einesteils  in  der 
längeren  Durchschnittslaufzeit  der  Wechsel,  anderntoils  in  dem  bisher  nicht 
beobachteten  Notenmaximum  von  517,700.000  fl.  (höchster  Stand  vom 
31.  Oktober)  äußerte. 

Die  Bank  selbst  schildert  die  Lage  wie  folgt:  .Die  Lage  des  Geld- 
marktes war  in  diesem  Jahre  insofern  eine  befriedigendere  als  Geldstand 
und  Zinsfuß  eine  größere  Stetigkeit  als  im  Vorjahre  zeigten.  Der  Herbst 
brachte  keine  übermäßigen  Ansprüche  und  die  in  der  letzten  Oktoberwoche 
ausgegebenen  2,000.000  11.  steuerpflichtiger  Noten  verschwanden  schon  in 
der  ersten  Novemberwoche  wieder  aus  dem  Umlauf.  Die  Rückströmung 
nahm  weiter  zu  und  ermöglichte  es  der  Bank,  die  ebenfalls  nur  mäßigen 
kommerziellen  Ansprüche  im  Dezember  innerhalb  des  steuerfreien  Noten- 
kontingeuts  und  ohne  Erhöhung  des  Zinsfußes  vollkommen  zu  befriedigen.* 
In  eigentümlichem  Gegensätze  hiezu  stand  der  stark  bewegte  Effektenmarkt, 
auf  dem  ein  sehr  knapper  Geldstand  herrschte,  während  die  auswärtigen 
Märkte  fortwährend  Geldüberfluß  zeigten.  Im  Zusammenhänge  damit  war  die 
große  Kurssteigerung  österreichischer  Reuten  besonders  in  Paris  und  London, 
die  bei  den  in  Wien  herrschenden  Geldverhältnissen  zu  größeren  Ett'ekten- 
exporten  führte.  Im  letzten  Jahresdrittel  erreichten  alle  österreichischen 
Kenten  den  Paristand.  Die  4proz.  österreichische  Goldrente  überschritt  an 
der  Wiener  Börse  am  1.  September  den  Paristand  dauernd.  Die  einheitliche 


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Di«  Diskont-  and  Devisenpolitik  der  Österreichisch-ungarischen  Bank  etc.  48  "! 

Notenrente  i Mairente),  die  am  7.  Jänner  18W)  zuerst  mit  614  Proi.  notiert 
worden  war  und  während  des  deutsch-französischen  Krieges  einen  Tiefstand 
von  5175  Proz.  erreicht  hatte,  stand  am  6.  November  1894  zum  ersten 
Mal  auf  10035.  die  einheitliche  Silberrente  auf  100  40.  Die  österreichische 
Kronenrente  überschritt  am  17.  November  den  Paristand,  auch  die  ungarischen 
Renten  notierten  nur  um  ein  Geringes  tiefer  als  die  österreichischen.  Die 
fortgesetzten  Käufe  des  Auslandes  bewirkten  einen  Devisenzufluß,  der  die 
Kurse  im  August  und  September  senkte.  Vom  Ende  September  bis  Jahres- 
schluß vollzog  sich  dann  eine  neuerliche  übrigens  nicht  bedeutende  Hebung 
und  Senkung,  so  dafi  das  Agio  zu  Ende  des  Jahres  ungefähr  ebenso  hoch 
war  wie  zu  Anfang,  jedoch  bedeutend  geringer  als  Ende  Jäuner. 

Der  starke  Geldbedarf  auf  dem  Effektenmärkte  drückte  sich  in  seinen 
hohen  Reports  aus.  Bereits  anfangs  September  stieg  der  Marknotenreport 
bei  einzelnen  Abschlüssen  bis  10'  , kr.,  was  ein  Abströmen  von  Marknoten 
zur  Folge  hatte.  Auch  in  der  Folge  blieb  der  Zinsfuß  im  Effektengeschäfte 
zwischen  7—10  Proz. 

Am  27.  Dezember  steigerten  sich  die  Prolongationssätze  in  der  Kulisse 
bis  nahe  zu  20  Proz.  Es  ist  dies  umso  bemerkenswerter,  als  die  Bank 
selbst  konstatierte,  daß  die  kommerziellen  Ansprüche  und  die  Geschäfts 
tätigkeit  einen  mäßigen  Umfang  nicht  überschritten.  Der  Spekulation  gegenüber 
nahm  die  Bank  eine  ziemlich  energische  Haltung  ein.  Bereits  am  24.  September 
hatte  die  Bank  auf  ofTenem  Markte  nur  mehr  zur  offiziellen  Rate  von 
4 Proz.  eskomptiert.  Um  dieselbe  Zeit  stellten  die  Bankinstitute  für  die 
Prolongation  verschiedener  Industriewerte  erschwerende  Bedingungen.  Einzelne 
wurden  von  der  Prolongation  völlig  ausgeschlossen  und  bei  anderen  Effekten 
die  Heportierung  nur  zu  stark  reduzierten  Kursen  vorgenommen.  Trotzdem 
dauerte  die  spekulative  Kurssteigerung  fort.  Als  Gründe  der  starken 
Nachfrage  können  das  geringe  Kreditbedürfnis  der  Regierung,  die  unbedeutende 
Vermehrung  der  Aktiengesellschaften  und  die  Pläne  der  Eisenbahnverstaat- 
lichunggelten, die  eine  besonders  starke  Hebung  der  Transportwerte  bewirkten, 
auf  die  man  den  Rentenzinsfuß  anwendete.  Besonders  in  Ungarn  nahm  die 
Spekulation  einen  ungewöhnlich  großen  Umfang  an;  Mitte  November  wieder- 
holten sich  die  Maßregeln  mehrerer  größerer  ungarischer  und  österreichischer 
Institute  gegen  Kursübertreibungen,  die  wir  erwähnt  haben.  Es  war  eine 
eigentümliche  Situation:  bei  großer  Geldfülle  ein  Zinsfuß  im  Effektengeschäft, 
der  zeitweilig  über  10  Proz.  stieg.  In  der  Generalratssitzung  vom  6.  Dezember 
teilte  der  Generalsekretär  Meeenseffy  mit,  daß  das  Verhältnis  zwischen 
Lombard  und  Escompte  sich  so  verschoben  habe,  daß  die  Bank  ihren 
Lombard  einschränke,  Industriewerte  zurückweise  und  sich  bis  Wiederher- 
stellung normaler  Verhältnisse  auf  Belehnung  von  Renten  beschränke,  eine 
Zinsfußerhöhung  sei  in  nächster  Zeit  nicht  beabsichtigt. 

Am  27.  Dezember  wies  die  Bank  sogar  Renten  bei  der  Lombardierung 
zurück,  allerdings  nur  gegenüber  einzelnen  Börsenfirmen,  während  Privat- 
leuten Renten  und  andere  Effekten  belehnt  wurden.  Erwähnenswert  ist 
noch,  daß  die  Gruppe  der  Unionbank  in  der  zweiten  Hälfte  des  Dezember 


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486 


Hertz 


70,000.000  K der  3proz.  Lokalhahn  priori  täten  größtenteils  in  das  Ausland 
verkaufte. 

Das  Jahr  1894  nimmt  in  der  ttankgeschichte  einen  wichtigen  Platz 
in  Anspruch,  da  in  ihm  die  Verhandlungen  um  das  neue  Privileg  begannen. 
Für  die  Diskontpolitik  ist  die  Note  der  Finanzminister  vom  8.  JSnner  1894 
bemerkenswert,  in  der  die  Grundlage  für  eine  künftige  energische  Devisen- 
politik vorgezeichnet  erscheint1) 

Das  neue  Jahr  1895  brachte  alsbald  einen  sehr  flüssigen  Geldstand, 
besonders  auf  den  westlichen  Märkten,  der  durch  einen  Goldzufluß  aus 
Amerika  noch  verstärkt  wurde.  Wieder  ergriffen  die  französische  und  englische 
Bank  die  üblichen  Maßregeln  gegen  den  übergroßen  Goldzufluß.  Der 
Londoner  Privatdisbont  stand  während  des  ganzen  Jänner  zwischen  */»  und 
V8  Proz.,  während  er  in  Wien  zwischen  3 5 und  3'6  schwankte.  Eine  Folge 
war  der  neuerliche  Eflekteneiport,  an  dem  auch  Salinenscheine  teilnahmen. 
Ihr  Umlauf  war  während  des  knappen  Geldstandes  der  letzten  Monate 
zurückgegangen  und  betrag  Ende  Dezember  nur  38,600.000  fl..’)  hob  sich 
aber  aus  den  angeführten  Gründen  bis  Ende  Jänner  auf  60,900.000  fl.  Die 
anhaltende  große  Geldflüssigkeit  in  der  ersten  Jahreshälfte  bewirkte,  daß  er 
bis  Ende  Juni  noch  auf  76,700.000  II.  stieg;  von  da  aber  begann  wieder 
die  Abnahme.  Die  Devisenkurse  waren  in  einem  langsamen  aber  anhaltenden 
Fallen  begriffen,  sie  erreichten  um  die  Mitte  des  Oktober  ihren  tiefsten 
Stand.  Die  Devise  Paris  unterschritt  — bereits  am  20.  September  — die 
Parität  und  stand  im  Oktober  am  tiefsten.  Die  Devise  London  folgte  erst 
am  17.  Oktober,  an  dem  sie  120  notierte,  während  der  deutsche  Kurs 
erst  am  28.  Oktober  die  Parität  passierte  und  sieh  auf  58'75  stellte.  Vom 
Oktober  an  schlugen  alle  Kurse  wieder  eine  aufsteigende  Richtung  ein. 
Die  einzelnen  Bewegungen  des  Jahres  1895  gewäliren  nicht  viel  Interesse. 
Ebensowenig  bietet  die  Wirtschaftslage  des  Jahres  1895  eine  besondere 
Abwechslung:3)  ein  ruhiger  und  mäßiger  Fortschritt  der  Industrie,  eine 
Durchschnittsernte  und  das  Fehlen  ungesunder  Erscheinungen  auf  dem 
Gebiete  der  Produktion  sind  dio  charakteristischen  Züge  des  zu  besprechenden 
Wirtschaftsjahres. 

Der  Februar  brachte  einen  etwas  knappen  Geldstand,4)  am  11.  diosos 
Monats  wurde  der  Vertrag  der  Regierung  mit  der  Rothseliildgruppe  über 
die  Begebung  von  50,000.000  fl.  Goldrente  geschlossen.  Die  günstige 
Stimmung  des  Geldmarktes  und  die  gesunde  Kraft  der  österreichischen 

')  Vide:  Generalversammlungsbericht  1894,  S.  XXI.  Die  Finanzminiater  drücken 
darin  den  Wunsch  aus,  die  Österreichisch-ungarische  Bank  möge  ihrem  Devisen-  und  Valuta- 
geschäfte die  möglichste  Ausdehnung  geben  und  es  durch  organische  Einrichtungen 
ermöglichen,  daß  das  legitime  Geschäft  regelmäßig  darauf  rechnen  könne,  einen  Teil  seines 
Geldbedarfes  zur  Abwicklung  des  ausländischen  Zahlnngarerkehres  durch  die  Mithilfe 
der  löblichen  Bank  decken  zu  können. 

*j  Gegen  Jahreaschluß  hatte  der  Finanzniinistcr  10.000.000  ß.  Salinenscheine  aus 
den  Kassabeständen  getilgt. 

*)  abgesehen  von  dem  sehr  unruhigen  Effektenmärkte. 

*)  Amcriksn.  Anleihe  von  162.HOO.OOO  Dollar,  cliines.  Anleihe  etc. 


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Di«  Diskont-  und  Devisenpolitik  der  llsterreichisch-nn^eriecben  Bank  etc.  487 

Staatswirtschaft  drückte  sich  darin  aus,  daß  der  Finanzminister  den  Parikurs 
und  eine  Gewinnbeteiligung  bei  einem  Mehrerlös  Ober  1.4  Proz.  erzielte. 
In  der  dritten  und  vierten  Februarwoche  schlug  die  optimistische  Tendenz 
der  Börse  plötzlich  um.  es  kam  insbesondere  am  25.  bis  27.  Februar  zu  starken 
Kursrückgängen,  die  sich  anfangs  März  wiederholten.  Den  unmittelbaren 
Anlaß  dazu  boten  die  Schwierigkeiten  einiger  Zuckerfabriken.  Da  jedoch 
die  auswärtigen  Märkte  die  gesunkenen  Preise  zu  Käufen  benutzten,  fand 
sogar  eine  Ermäßigung  der  Devisenkurse  statt:  die  Kurse  der  Kenten  wurden 
kaum  berührt  Nach  diesen  Vorfällen  entwickelte  sich  die  Haussebewegung 
ruhig  weiter,  die  sich  in  dem  bedeutenden  Report  (Ende  März  8 — 10  Proz.) 
deutlich  ausdrückte.  Auch  der  Privatdiskont  war  im  Steigen  und  betrug 
während  des  ganzen  Monats  März  den  vollen  4 proz.  Banksatz,  während  er  sich  in 
Berlin  im  Monatsdurchschnitt  vom  Februar  bis  März  von  1’/,  auf  1 */a 
ermäßigte.  Die  Folge  war  ein  Zufluß  von  Marknoten  nach  Wien  und  das 
Entstehen  bedeutender  Reports  für  diese.  Die  Zinsfußdifferenz  einerseits,  die 
fortgesetzten  Effektenpxporte  anderseits  bewirkten  im  März  einen  starken  Fall 
der  Devisen.  Der  englische  Kurs  fiel  von  123-80  auf  122-40.  der  französische 
von  49-075  auf  48-425,  der  deutsche  von  60-525  auf  59'80.  Die  Effekten- 
eiporte  betrafen  vor  allem  Renten  und  Transportwerte.  Im  März  fand  die 
Emission  von  100,000.000  M.  3proz.  Staatsbahnprioritäten  statt,  die  zur 
Hälfte  behufs  Einlösung  älterer  Anleihen  zur  Hälfte  aber  neuemittiert 
wurden  und  auf  Markwährung  lauteten. 

Die  Haussebewegung  wurde  durch  das  Projekt  einer  großen  Eisenbahn- 
verstaatlichung stimuliert.1)  Die  Transportwerte  stiegen  und  wirkten  auf 
die  anderen  Kurse  steigernd  ein.  Der  große  Kontrast  zwischen  dem  Wiener 
und  den  auswärtigen  Märkten  verschärfte  sich  noch  in  den  Sommermonaten. 
Während  der  Privatdiskont  in  London  unter  1 Proz.  stand,  mußten  in  Wien 
4 Proz.  gezahlt  werden.  Im  Juli  zeigten  die  Ausweise  der  Österreichisch- 
ungarischen Bank  eine  für  diese  Zeit  sehr  geringe  Reserve,  was  hauptsächlich 
dadurch  bewirkt  wurde,  daß  die  Banken  ihre  Portefeuilles  bei  der  öster- 
reichisch-ungarischen Bank  reeskomptieren  ließen.  Die  Salinenscheine  dienten 
wieder  als  Ventil,  ihr  Umlauf  sank  vom  Ende  Juni  bis  Ende  Juli  von  76,700.000 
auf  52,900.000  fl.  und  bis  Ende  August  auf  48,200.000  fl.  Außerordentlich 
hohe  Reports,  die  bis  10  Proz.  stiegen,  kennzeichnen  die  Haltung  der 
Wiener  Börse.  Trotz  zeitweiliger  Kurssteigerungen  der  Devisen  im  Juni  und 
Juli,  die  mit  großen  Anleihen  im  Aüslande’)  und  den  Wassereinbrüchen 
im  Brüxer  Bergbau5)  zusamraenhingen,  blieb  die  Tendenz  der  Wechselkurse 
vorwiegend  günstig.  Im  August  fanden  Tauschoperationen  der  österreichisch- 
ungarischen  Bauk  in  französischen  Valuten  statt,  die  ein  Steigen  des  Wechsel- 

')  Vergl.  die  Schilderung  im  Wiener  Handelskanunerberichte  pro  1895,  8.  426  ff. 

*)  Große  chinesische,  chilenische,  brasilianische,  mexikanische  u.  a.  Anleihen.  Dem- 
gegenüber fiel  die  am  21.  Juli  subskribierte  Eiserne  Toranleihe,  die  gröfitenteils  ins 
Ausland  ging,  nicht  ins  Gewicht.  (Nominale  45,000.000  K). 

*)  Die  Katastrophe  fand  am  19.  und  20.  Juli  statt  und  hatte  einen  Kurssturz  der 
Effekten  zur  Folge. 


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488 


Hertz. 


kurses  wirksam  verhinderten  und  noch  im  seihen  Monate  beendet  wurden. 
Eine  interessante  Erseheinung  bot  Ende  August  der  Ankauf  von  300.000  fl. 
sechsmonatlicher  Salinenscheine  seitens  des  Auslandes,  da  diese  Operation 
um  diese  Zeit  bisher  noch  nicht  vorgekommen  war  und  die  Ansichten  flber 
die  Zukunft  der  Geldverhältnisse  beleuchtete. 

Der  Report  gab  zwar  im  August  nach,  gleichzeitig  aber  stieg  der 
Privatdiskont  und  die  Rankreserve  sank  auf  einen  in  dieser  Jahreszeit 
ungewöhnlich  niedrigen  Stand.  Jedoch  muß  bemerkt  werden,  daß  weder  die 
eskomptierten  noch  lombardierten  Effekten  eine  übermäßige  Zunahme  erfuhren.*) 
Die  Spekulation  wurde  durch  das  Steigen  des  Privatdiskonts  nicht  einge- 
schflchtert.  Seit  Monaten  beobachtete  man  die  seltsame  Erscheinung,  daß 
zur  Aufrechterhaltung  von  Engagements  in  Effekten,  die  kaum  mehr  eine 
4proz.  Verzinsung  trugen,  mindestens  6 Proz.  und  oft  viel  mehr  gezahlt 
werden  mußten.  Am  7.  September  wies  die  Bank  nur  mehr  eine  Reserve 
von  14,000.000  fl.  aus,  die  bis  zur  Monatsmitte  auf  8.600.000  fl.  sank.  Daher 
ging  die  Bank  bereits  am  17.  September  mit  einer  Erhöhung  des  Bankzins- 
fußes von  4 Proz.  auf  5 Proz.  vor.  Die  Geldknappheit  bewirkte  einen 
bedeutenden  Zufluß  ausländischer  Valuten  und  ein  weiteres  Steigen  ihrer 
Reports.*)  Im  Zusammenhänge  damit  und  mit  den  bedeutenden  Effekten- 
eiporten  steht  der  erwähnte  Tiefstand  der  Devisenkurse,  die  kurze  Zeit 
sogar  unter  die  Parität  fielen.*) 


')  Nach  der  Bankstatistik  (Österreichische  Statistik  vol.  XLVIII)  betrugen  die 
Veränderungen : (Abnahme  oder  Zunahme  in  Millionen  Gulden  und  Prot.)  gegen  das  Vorjahr: 


Wechseleskompte 

Vorschüsbe  auf  Effekten 
und  Waren 

1894  1895 

1894 

1895 

Bei  der  Österr.-ung.  Bank 

+ 8,600.000  8.  ■ 39.200.000  8. 
+ 4-98  Proz.  +21-76  Proz. 

— 4,800.0008. 

— 1111  Proz. 

+ 7,800.000  8. 
4-20  19  Proz. 

Bei  den  änderet)  Banken 

+ 11,100.0008.  + 24,400.0008 
| 5 47  Proz.  +11-45  Proz. 

-j-  85.700  000  fl. 
4-29  40  Proz. 

— 46,800.0008. 

— 29-74  Proz. 

Nach  diesen  Zahlen  scheint  die  Österreichisch-ungarische  Bank  tatsächlich  eine  große 
Krediterweiterung  vorgenotnmen  zu  haben,  während  die  anderen  Banken  gerade  1895 
eine  bedeutende  Abnahme  der  EfTcktenrorsehOsse  aufweisen.  Es  ist  dies  jedoch  nur  eine 
Folge  davon,  daß  in  den  letzten  Monaten  alle  Banken  ihr  Reportgeschäft  im  Zusammenhänge 
mit  der  Börsenkrise  einschränkten,  während  die  Österreichisch-ungarische  Bank,  die  nur 
erstklassige  Papiere  belehnte,  nach  in  dieser  Zeit  eine  Zunahme  des  Vorschußgeschftftes 
aufwies.  (Vide  Rechnungsabschlüsse  pro  1894/95,  S.  53). 

*)  Vielleicht  steht  mit  den  Vorsichtsmaßregeln  auch  die  Einschränkung  des 
Reeskomptes  der  Sparkassen  in  Verbindung,  den  die  Bank  am  dieselbe  Zeit  vomahtn. 

*)  Näheres  über  diesen  Effektenexport  enthält  ein  Artikel  der  „Nenen  Freien  Presse“ 
vom  25.  September  1895,  Nr.  11.166;  daraus  geht  hervor,  daß  Dividendenpapiere  nur  in 
geringem  Maße  emittiert  wurden,  wohl  aber  große  Mengen  ron  Pfandbriefen,  Renten  und 
dergleichen. 


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Die  Diskont-  und  Devisenpolitik  der  Österreichisch-ungarischen  Bank  etc.  439 

Infolge  der  Zinsfußerhöhung  war  die  Bankreserve  zwar  vom  15.  bis 
23.  September  um  2,600.000  fl.  gestiegen,  fiel  aber  in  der  folgenden  Woche 
um  9,400.000  fl.,  so  dall  ein  steuerpflichtiger  Notenumlauf  von  6,800.000  fl. 
auftrat,  der  Ende  Oktober  den  höchsten  bisher  nie  dagewesenen  Stand  von 
38,000.000  fl.  erreichte  nnd  bis  Jahresende  blieb.  Um  die  Ende  September 
herrschende  Geldknappheit  zu  mildern,  griff  die  ungarische  Regiening  ein. 
Am  21.  September  wurde  gemeldet,  dall  der  ungarische  Finanzminister 
einigen  Instituten  zusammen  10,000.000  fl.  zu  den  gewöhnlichen  Bedingungen 
angeboten  und  tatsächlich  übergeben  habe,  und  am  letzten  Septembertage 
erlegte  er  denselben  Betrag  bei  der  Budapester  Hauptanstalt  der  Österreichisch- 
ungarischen  Bank  mit  dem  Aufträge,  diese  Summe  hauptsächlich  für  das 
ungarische  Geschäft  zu  verwenden.  Die  Bank  selbst  berichtet,  dall  dieses 
Vorgehen  sie  der  Notwendigkeit  einer  weiteren  Zinsfußerhöhung  enthoben 
habe.  Der  große  Geldbedarf  in  Budapest,  der  sich  auch  in  dem  ungewöhnlich 
hohen  Stande  des  Budapester  Portefeuilles  ausdrückte,  entstammte  übrigens 
keineswegs  vorwiegend  dem  Effektenmärkte,  sondern  zum  großen  Teile  den 
landwirtschaftlichen  Industrien  (Zucker  und  Spiritus),  deren  Hauptbedarf  in 
diese  Zeit  fällt  und  außerdem  dem  Geldbedflrfnis  vieler  Grundbesitzer,  die 
bei  dem  herrschenden  niedrigen  Preise  nicht  verkaufen  wollten  und  ihre  Produkte 
belehnen  ließen.  Auch  die  ungarische  Industrie  war  mit  den  Vorarbeiten  für  die 
Ausstellung  voll  beschäftigt  Eine  weitere  Ursache  des  knappen  Geldstandes 
war  der  niedere  Wasserstand  der  Flüsse,  der  große  Mengen  von  Zucker, 
Getreide,  Holz,  Kohlen  u.  s.  w.  festhielt  und  ihre  Verkäuflichkeit  herabsetzte. 

Es  ist  nicht  mit  Sicherheit  zu  konstatieren,  ob  das  Gerücht,  das  der 
Bank  die  Absicht  einer  weiteren  Zinsfußerhöhung  zuschrieb,  auf  Wahrheit 
beruhte;  jedenfalls  stand  die  Bank  von  dieser  Maßregel,  die  auch  in  ihrem 
publizistischen  Organ  befürwortet  wurde,  ab.  Die  Geldknappheit  stieg 
während  des  Oktober,  die  Reports  erreichten  10 — 15  Proz.,1)  während 
gleichzeitig  die  meisten  Devisen  auf  dem  Paristand  verharrten.  Mitte  Oktober 
forderte  die  Neue  Freie  Presse,  der  Finanzminister  möge  den  November- 
coupon vor  Fülligkeit  einlösen.  Tatsächlich  geschah  dies  bereits  am 
14.  Oktober.  Wie  der  österreichische  Finanzminister  Bilinski  10  Tage 
später  mitteilte,  war  von  der  gesamten,  zirka  18.000.000  fl.  betragenden 
Fälligkeit  bis  zum  23.  Oktober  nur  5.200.000  fl.  flüssig  gemacht  worden.*) 
Im  übrigen  lehnte  der  Finanzminister  es  ab,  dem  Beispiele  seines  ungarischen 
Kollegen  folgend,  größere  Summen  zur  Verfügung  zu  stellen,  da  man  soust 
Gefahr  laufe,  die  Spekulation  zu  unterstützen. 

Im  letzten  Quartal  des  Jahres  1895  erfolgte  schließlich  die  große 
Liquidation,  die  durch  die  übertriebene  Haussebewegung  unvermeidlich  gew  orden 

')  In  der  Kulisse  stiegen  sie  bis  20  Proz. 

*)  ln  derselben  Hede  machte  der  Finanetninister  einige  Mitteilungen  über  die 
Hohe  der  Regierungeguthaben.  Nach  dem  Berichte  aber  das  Budget  des  Finanzministeriums, 
der  im  Dezember  erstattet  wurde,  waren  Ende  August  bei  Wiener  Kreditinstituten  and 
Bundesbanken  Iiegiemngaguthabeu  von  13,465.000  fl.  zu  2 Proz.  eloziert,  außerdem 
1,625.700  fl.  in  Gold  zu  1 V , Proz. 


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490 


Herti. 


war.  Gegen  Ende  Oktober  erreichten  die  Prolongationssätze  eine  unerhörte 
Höhe,  da  gleichzeitig  Handel  und  Industrie  bedeutende  Summen  in  Anspruch 
nahmen.  Die  Regierungsguthaben  waren  schon  seit  langer  Zeit  beträchtlich 
reduziert.1)  Nun  begannen  auch  die  Wiener  Banken  mit  empfindlichen  Ein- 
schränkungen. Am  30.  Oktober  und  in  noch  größerem  Maßstabe  am  9.  November 
erfolgte  ein  plötzlicher  und  fiberaus  heftiger  Kursfall  aller  Werte  an  der 
Wiener  Börse,  der  mit  den  Vorgängen  an  den  auswärtigen  Börsen  eng 
verknüpft  war*)  und  natürlich  bei  den  besonders  im  Kurse  übertriebenen 
Transportwerten  am  empfindlichsten  wurde.  Die  unmittelbare  Veranlassung 
wurde  durch  den  Zusammenbruch  der  Goldminenspekulation  in  Paris  und 
London,  durch  die  Schwierigkeiten  der  Ottomanbank  und  die  Verstimmung 
zwischen  England  und  Rußland  gegeben.  Eine  Notiz  des  .Petersburger 
Regierungsboten*,  die  sich  überaus  scharf  gegen  England  richtete,  wurde 
fälschlich  als  offizielle  Note  telegraphiert  und  gab  den  ersten  Anstoß  zum 
Kursfall  am  letzten  Oktober,  der  sich  am  9.  November  in  den  Formen 
einer  Panik  wiederholte.  Die  Krise  wurde  dadurch  in  ihrer  Dauer  beschränkt, 
daß  die  niedrigen  Kurse  vom  Publikum  und  besonders  auch  vom  Auslande 
zu  Käufen  benutzt  wurden  und  nach  dem  zweiten  Ausbruche  auch  große 
Wiener  Banken  bedeutende  Effektenkäufe  Vornahmen.3  Das  Portefeuille  der 
Österreichisch-ungarischen  Bank,  das  noch  im  August  auf  der.  Höhe  des 
Vorjahres  gestanden  war,  war  vom  September  an  bedeutend  gestiegen. 


W echt 

elportefonill 

e 

Tage 

1894 

i 

1895 

23.  Oktober 

. . . 169.800.000 

205.400.000 

31.  Oktober 

. . . 188.000.000 

227,700.000 

7.  November  . . . . 

. . . 190.000.000 

227,400.000  | 

1.5.  November  . . . . 

. . . 180.800.000 

222.600.000 

31.  November  . . . . 

...  I 180,200.000  . 

J 1 

219,500.000 

Die  Österreichisch-ungarische  Bank  erleichterte  somit  in  dieser  kritischen 
Zeit  die  Geldbeschaffung,  während  die  Deutsche  Reichsbank  am  11.  November 
den  Diskont  von  3 auf  4 Proz.  erhöhte.  Unmittelbar  nach  dem  Zusammenbruch 
der  Spekulation  trat  eine  Erleichterung  des  Geldstandes  ein.  der  sich  eines- 

■)  Nach  dem  Bericht  über  das  Budget  de»  österreichischen  Finanzministeriums 
betragen  sie  Ende  1895:  beim  Qiro-  and  Kasaenverein  450 000  fl.,  bei  Landes-  oud 
Priratgeidinstitnten : 17.500.000  fl.,  auUerdem  bei  Privatbanken  Goldguthaben  von 
4.000.000  fl.  Die  ungarischen  Guthaben  konnte  ich  nicht  ermitteln. 

3>  Vergl,  näheres  itn  Wiener  HandeUkammerbericbt  pro  1895.  S.  431  ff. 

5 Vergl.  .Neue  Freie  Presse*  r.  11.  und  12.  November  1895. 


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Die  Diskont-  and  Devisenpolitik  der  österreichisch-ungarische»  Dank  etc.  491 

teils  in  dem  Fallen  des  Reports  und  Privatdiskonts  (Ende  November  auf 
4*/»  respektive  6 Proz.),  andernteils  in  dem  zeitweise  ungewöhnlich  hohen 
Girostande  der  Österreichisch-ungarischen  Bank  ausdrückte.  Die  Devisenkurse 
hatten  Mitte  Oktober,  wie  bereits  erwähnt,  den  tiefsten  Stand  erreicht  und 
zeitweilig  selbst  die  Parität  unterschritten,  was  teilweise  durch  die  An- 
ziehungskraft der  hohen  Effektenreports  begründet  erscheint.  Von  da  an  stiegen 
sie  zwar  etwas,  insbesondere  anfangs  Dezember  infolge  der  Zurückziehung 
auswärtiger  Guthaben,  aber  im  allgemeinen  übte  die  Börsenkrise  wenig 
Wirkung  auf  sie  aus.  Zeitweilig  kam  es  sogar  während  des  Effektensturzes 
zu  Rückgängen  der  Devisenkurse,  indem  auswärtige  Märkte  als  Käufer 
auftraten  und  die  Effektenarbitrage,  um  eine  Valutaspekulation  zu  vermeiden, 
Devisen  verkaufte.  Mit  dem  Schwinden  der  übermäßigen  Reports  fiel  auch 
der  Anreiz  zum  Valutenzufluß  fort,  was  ebenfalls  die  wenig  bedeutende 
Steigerung  der  Devisenkurse  erklärt,  ln  der  dritten  Dezemberwoche  kam 
es  zu  neuen  großen  Kursrückgängen,  deren  Anlaß  hauptsächlich  in  der 
Niederlage  der  Italiener  in  Afrika  und  in  dem  drohenden  Ausbruch  eines 
Konfliktes  zwischen  England  und  Venezuela  lag.  Die  Panik  auf  dem  ameri- 
kanischen Markte  pflanzte  sich  nach  Europa  fort  uud  bewirkte  am  21.  Dezember 
eine  völlige  Deroute,  von  der  besonders  der  geschwächte  Wiener  Markt 
betroffen  wurde.  Auch  diesmal  kam  es  zu  sehr  bedeutenden  Effekten- 
anschaffungen  für  Deutschland. 

Bemerkenswert  ist  noch,  daß  am  23.  Dezember  die  österreichisch- 
ungarische  Bank  ihren  Börsenvertreter  auf  dem  Wechselmarkte  abberief. 
Schon  seit  vielen  Monaten  hatte  die  Bank  auf  offenem  Markte  nur  mehr 
langfristige  für  den  Reservefond  geeignete  Wechsel  erworben,  sich  aber 
von  einer  Ergänzung  ihres  Portefeuilles  ferngehalten.1) 

Über  die  Gründe  der  Börsenkrise  von  1895  enthält  die  „Neue  Freie 
Presse*  vom  1.  Jänner  1890  interessante  Materialien.  Bereits  im  Neujahrs- 
artikel des  vorhergehenden  Jahres  hatte  dieses  Blatt  auf  die  enorme  Über- 
kapitalisation  und  die  drohende  Katastrophe  hingewiesen.  Darnach  nahmen 
von  1893 — 1894  alle  österreichischen  Effekteu  um  221.000.000  fl.  Nominal- 
wert und  1137,000.000  fl.  Kurswert  zu;  während  der  Rentenzinsfuß  1894 
4 02  Proz.  ausmachte,  betrug  die  Verzinsung  der  Effekten  bei  den:  Bahnen 
3-80  Proz..  Textilindustrien  3"25  Proz.,  Brauereien  2 63  Proz.,  Tramways 
3'30  Proz.,  Eisen-  und  Kohlenwerken  3 44  Proz.,  Ballgesellschaften  3 74  Proz. 
Insgesamt  betrug  die  Verzinsung  der  ludustriewerte  in  Wien  3'85  Proz., 
in  Berlin  4’57  Proz.,  in  Paris  4 63  Proz.,  in  London  4'92  Proz.  Im  folgenden 
Jahre  setzte  sich  die  Überwertung  noch  fort.  Nach  derselben  Quelle  war 
bei  einer  Gesamtnominale  von  1273,000.000  fl.  der  höchste  Kurswert  1895: 
2419,000.000  fl.,  der  Wert  in  der  Panik  vom  20.  Dezember  1888,000.000  fl  . 
der  Gesamtverlust  also  531,000.000(1.  oder  2 1 ‘9  Proz.  des  Nominales.  Das 
gesamte  eigene  und  fremde  Kapital  dar  Wiener,  Prager  und  ßudapester 
Banken  stieg  von  1883  bis  1894  um  404,600.000  fi,  davon  entfallen 

’)  Aach  in  den  Jahren  1 89'  and  1896  wurden  je  10,000  000  fl.  an  SaUnenscheinen 
aus  den  Kassabestäaden  getilgt. 


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492 


Hertz 


269,800.000  fl.  auf  Österreich,  107,800.000  fl.  auf  Budapest,  ln  den  11  Jahren 
von  1888  bis  1894  stieg  aber  infolge  der  engherzigen  Konzessionspraxis 
die  Zahl  der  österreichischen  Aktiengesellschaften  nur  um  11  Stöck  (also 
jährlich  eine  Neugründung!),  das  Nominalkapital  um  97.000  fl.,  das 
eingezahlte  Kapital  um  60,782.000  fl.  — Erst  1895  bewirkte  die  Eifersucht 
gegen  Ungarn,  wohin  zahlreiche  Gesellschaften  ihren  Sitz  verlegten,  daß 
19  Gesellschaften  mit  einem  Kapital  von  11,000.000  fl.  bewilligt  wurden. 
Dagegen  betrug  der  Zuwachs  des  Gesamtkapitales  der  Budapester  Aktien- 
gesellschaften von  1885  bis  1895  174.200.000  fl.,  wovon  100.900.000  fl. 
auf  Industriegesellschaften  entfielen.  — Diese  wenigen  Ziffern  lassen  die 
tieferen  Gründe  der  großen  Katastrophe  von  1895  klar  erkennen.  Das  nach 
Anlage  verlangende  Kapital  findet  in  der  Industrie  keine  Verwertung,  es 
entwickelt  sich  eine  von  der  Wirtschaftslage  ganz  unabhängige  Kursüberbietung, 
das  Spiel  tötet  die  Arbeit,  das  Endresultat  ist  die  Verdrängung  der  kleineren 
Kapitalisten,  die  ihre  Effekten  zu  Tiefpreisen  abgeben  müssen,  eine  schwere 
Entmutigung  des  Geldmarktes  und  die  Diskreditierung  unserer  Börse.  Es 
fragt  sich  nun,  ob  die  schweren  Angriffe,  die  seitens  eines  Teiles  der  Presse 
gegen  die  Österreichisch-ungarische  Bank  gerichtet  wurden  und  die  in  der 
Beschuldigung  einer  übermäßigen  Krediterweiterung  gipfelten,  berechtigt 
waren.  Allerdings  war  der  Eskompte  und  Lombard  der  Bank  zu  jener  Zeit 
höher  als  zuvor.1)  Aber  die  Krediterweiterung  der  anderen  Geldinstitute, 
die  auch  noch  über  ziemlich  bedeutende  — wenn  auch  bereits  reduzierte  — 
Begierungseinlagen  verfügten,  war  ebenfalls  groß.  Es  muß  daher  der  Zweifel 
ausgesprochen  werden,  ob  eine  Restriktion  seitens  der  Notenbank  großen 
Einfluß  auf  den  Markt  gehabt  hätte.  Jedenfalls  aber  hätte  eine  Diskont- 
erhöhung zur  rechten  Zeit  einen  großen  moralischen  Eindruck  gemacht  und 
ein  allgemein  beachtetes  Warnungszeichen  abgegeben.  Die  Bank  selbst  räumt 
ein.  daß  bereits  seit  August  gefahrdrohende  Anzeichen  wahrgenommen  wurden, 
die  Gefahr  der  Cberspekulation  wurde  aber  bereits  seit  vielen  Monaten  in 
der  ernstesten  Weise  öffentlich  diskutiert.  Wenn  die  Bank  schon  im  Sommer 
eine  Diskonterhöhung  vorgenommen  hätte,  wäre  sie  nicht  in  die  von  ihr 
selbst  zngegebene  Lage  versetzt  worden,  nur  durch  Regierungshilfe  die 
Krise  ohne  weitere  Geldverteuerung  überstehen  zu  können.  Eine  solche 
Maßregel  hätte  die  schwersten  Konsequenzen  nach  sich  gezogen  und  es 
gehört  zu  den  Aufgaben  der  Notenbanken,  in  kritischen  Lagen  aus  eigener 
Kraft  eine  Kreditreserve  zu  bilden. 

Das  Jahr  1896  war  in  wirtschaftlicher  Hinsicht  nicht  ungünstig,  wenn 
auch  der  kräftige  Aufschwung,  den  die  deutsche  Industrie  nach  dem 
russischen  Handelsvertrag  nahm,  in  Österreich  nicht  erreicht  wurde.  Ernte 
und  Handelsaktivum  besserten  sich,  in  Ungarn  begann  eine  lebhafte 
industrielle  Bewegung.  Der  Geldmarkt  erholte  sich  nur  langsam  von  dem 
Zusammenbruch  des  Vorjahres.-  Der  Zinsfuß  blieb  das  ganze  Jahr  hindurch 
relativ  billig. 

l)  Vergl.  S.  490. 

*)  Die  Effrktenunmtz^tener  betrag  1895:  1,650.000  K.%  1896:  670.000  K. 


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Die  Diskant-  and  Devisenpolitik  der  Österreiehisch-angsrisrhen  Hank  etc.  493 


Im  Oktober  1895  hatten  die  Devisenkurse  ibren  niedrigsten  Stand 
erreicht  und  zeitweilig  selbst  die  Parität  unterschritten.  Die  Versteifung 
im  Ausland  — in  Deutschland  durch  die  industriellen  Ansprüche  verstärkt  — 
das  Schwinden  der  hohen  Reports  und  die  folgende  Rückziehung  von  Gut- 
haben aus  Österreich  bewirkten  während  der  Krisenepoche  ein  langsames 
Steigen  um  etwa  l1/,  Proz.  Am  7.  Dezember  1895  war  der  höchste  Stand 
erreicht*)  und  von  da  an  beginnt  — hauptsächlich  unter  dem  Einfluß  fort- 
gesetzter Effektenexporte  — ein  beständiges  und  langsames  Fallen,  bis 
im  Mai,  Juni  und  Juli  die  Paritäten  unterschritten  wurden.  Erst  im  letzten 
Jahresdrittel  begann  wieder  eine  langsame  Hebung. 

Die  übliche  Geldfülle  zu  Jahresbeginn  bewirkte,  daß  der  steuerbare 
Notenumlauf  bereits  im  zweiten  Jännerausweis  verschwand,  doch  blieb  die 
Notenreserve  noch  lange  auf  einem  verhältnismäßig  niederen  Staude  und 
erreichte  erst  im  zweiten  Quartal  die  normale  Höhe.  Der  höchste  Stand  in 
jedem  der  drei  ersten  Monate  betrug40.200.000  fl.,  55.500.000  fl..  62, 700.000 fl., 
die  höchsten  Stände  des  Vorjahres  55,600.000  fl.,  68.400.000  fl.,  72,200.000  fl. 
— Dabei  ist  aber  von  den  Beträgen  des  Jahres  1896  die  Regierungseinlage 
von  10,000.000  fl.  abznziehen,  so  dafl  die  lange  Bindung  großer  Beträge 
noch  deutlicher  wird.  — Zum  schnelleren  Anwachsen  des  Portefeuilles 
trugen  die  Zinsfußherabsetzungen  bei.  Bereits  am  23.  Jänner  ermäßigte 
man  den  Diskont  um  */,  Proz.,  mit  Rücksicht  auf  die  Spannung  in  Berlin 
wollte  man  eine  rasche  Senkung  vermeiden.  Als  diese  Ende  Jänner 
wich,  die  Deutsche  Reichsbank  auf  3 Proz.  herabging  und  auch  die  Devisen- 
kurse günstig  wurden,  erfolgte  am  13.  Februar  bereits  die  unerwartete 
Herabsetzung  um  ein  weiteres  halbes  Prozent  auf  den  4proz.  Normalsatz. 
Noch  am  selben  Tage  waren  viele  Abschlüsse  zum  Privatdiskont  von 
4 */,  Proz.  gemacht  worden  und  man  forderte,  die  Bank  solle  das  Publikum 
auf  ihre  Entschlüsse  vorbereiten.  Selbst  der  .Tresor“  vom  selben  Tage  hielt 
die  Herabsetzung  für  nicht  wahrscheinlich. 

Ende  April  war  der  Geldstand  bereits  wieder  so  normal,  daß  der 
ungarische  Finanzmiuister  seine  Einlage  von  10,000.000  fl.  kündigte  und 
sie  auf  Wunsch  der  Bank  wegen  der  großen  Ultimoverbindlichkeiten  in 
zwei  Raten  zu  5,000.000  fl.  zurückgezahlt  erhielt. 

Am  18.  und  19.  Mai  verschlechterte  sich  die  Stimmung  des  Geld- 
marktes neuerlich  infolge  der  Schwierigkeiten  einer  ungarischen  Sparkassa, 
die  ihre  Mittel  immobilisiert  hatte,  durch  welchen  Umstand  auch  die  Öster- 
reichisch-ungarische Bank  berührt  wurde.  Dieser  Vorfall  und  die  Verlegen- 
heiten einiger  unbedeutender  Industrieunternehmungen  in  Ungarn  lenkten 
die  Aufmerksamkeit  auf  den  ungarischen  Markt  und  erregten  eine  lebhafte 
Agitation  selbst  gegen  gute  Anlagen. 

Es  kam  zu  Kursrückgängen,  bald  aber  gelang  es,  den  Markt  zu 
beruhigen  und  das  Institut  zu  stützen.  Als  Zeichen  der  großen  Empfindlichkeit 
und  Schwäche  des  Wiener  Geldmarktes,  den  selbst  die  Zufälle  eines  wenig 

*)  Die  Kurse  betrugen:  5955,  121*95,  48*87:>. 


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494 


Hertz. 


bedeutenden  Provinzinstitutes  angreifen  konnte,  ist  der  Vorfall  bemerkens- 
wert. Das  Schlagwort  .weg  mit  den  ungarischen  Werten*  das  bei  dieser 
Gelegenheit  auftauchte,  führte  dazu,  daß  ungarische  Institute  die  von  ihnen 
emittierten  Werte  aufnehmen  mußten  um  Kursrückgänge  zu  vermeiden.  Um 
ihre  Mittel  wieder  Hott  zu  machen,  begannen  sie  den  ungarischen  Werten 
ein  neues  Absatzgebiet  zu  eröffnen,  indem  sie  große  Emissionen  in  Deutschland 
veranstalteten.  Das  Einströmen  des  Gegenwertes  trug  in  der  Folgezeit  am 
meisten  zum  Tiefstand  der  Devisenkurse  hei.  Auch  die  Aufnahme  von 
Eisenbahnanleihen,  die  teilweise  mit  Konversionen  verbunden  waren  und  zu 
verschiedenen  Zeiten  des  Jahres  stattfanden,  waren  hierauf  von  Einfluß.1) 

In  denselben  Tagen  erreichten  dio  Devisenkurse  endlich  die  Parität. 
Der  Markkurs  unterschritt  sie  am  18.  Mai,  der  Sterlingkurs  zwei  Tage 
später,  während  die  Pariser  Devise,  die  sich  ganz  in  der  Nähe  der  Parität 
hielt,  doch  erst  am  22.  Juli  für  längere  Zeit  unter  sie  fiel.  Die  Bank  hatte 
schon  seit  einiger  Zeii  die  günstigen  Kurse  zu  Devisenkäufen  benutzt  und 
sogar  durch  gelegentliche  Abgaben  versucht,  den  Kurs  noch  mehr  zu  drücken. 
Ein  Goldimport  war  vorläufig,  trotzdem  die  Devisenkurse  unter  Parität 
standen,  nicht  möglich,  da  die  Bank  keine  zinsfreien  Vorschüsse  auf  Gold 
gewähren  wollte,  wie  sie  1891'  getan  hatte.  Besonders  stark  und  lang 
anhaltend  war  das  Angebot  der  Devise  London,  die  zum  Teil  aus  Deutschland 
und  Frankreich  als  Kffektenrembours  nach  Wien  gelangte.  Speziell  die 
Jproz.  Lokalbahnprioritlten  und  Eiserne  Torobligationen  übten  Einfluß. 
Doch  auch  die  allgemeine  Geldfülle  in  London  machte  sich  hierin  geltend. 
Im  ganzen  kaufte  die  Bank  im  Juni  etwa  10.000.000  fl.  Devisen,  wovon 
ein  Teil  wieder  abfloß,  so  daß  der  Devisenstand  des  Metallschatzes  vom 
30.  Mai  bis  30.  Juni  sich  von  8,700.000  auf  10,600.000  fl.  hob.*)  Anfang  Juli 
hörte  die  Bank  auf  zu  kaufen  und  verkaufte  sogar  größere  Posten  Devisen.*) 
Obwohl  der  untere  Goldpunkt  noch  nicht  erreicht  wurde,  begannen  doch 
von  jetzt  an  Goldimporte,  da  einesteils  infolge  der  großen  Goldzufuhr  der 
Londoner  Goldpreis  sich  ermäßigte,  anderseits  Londoner  Bankiers  fortdauernd 
Guthaben  in  Wien  erwarben.  Zu  diesem  Zwecke  kauften  sie  Salinenscheine 

l)  Anesig-Teplitxer  Prioritätsanleihe  im  Äugest  (45,000.000  M.  ausschließlich  in 
Deutschland  aufgelegt),  die  BuschUhrader  und  Frag-Duxer  Konversionen  u.  s.  w. 

*)  Die  Bewegung  der  .sonstigen  Aktiven*  stimmt  dntnit  überein,  sie  vermehrten 
sich  um  4,700.000  S. 

5)  Dies  spiegelt  sich  in  der  Abnahme  der  .sonstigen  Aktiven“  vom  30.  Juni  bi« 
7.  Juli  um  6,500.000  fl  Im  weiteren  Verlaufe  des  Juli  trat  wieder  eine  Vermehrung  der 
Devisenvorräte  ein.  Die  Batik  hat,  solange  die  Suspension  der  Barxahlungen  dauert  das 
Recht.  30,000.000  fl.  Golddevisen  in  den  Metallschatx  einxurechnen,  die  gesondert  ans- 
gewiesen werden.  Sie  hat  aber  auch  stets  einen  beträchtlichen  Devisenvorrat  unter  den 
.sonstigen  Aktiven*  deren  Bewegungen  die  Devisengeschäfte  der  Bank  erkennen  lassen, 
übrigens  werden  sie  auch  Ton  anderen  Gründen  bestimmt.  Eine  Abnahme,  die  mit  einer 
Zunahme  der  Scbatxdevisen  korrespondiert,  xeigt  x.  B.  eine  Übertragung  langfristiger 
Devisen  in  den  Schatz  an,  die  dnreh  Zeitablauf  die  Qualifikation  als  Schatzdevisen 
erhalten  haben.  Die  umgekehrte  Bewegung  (besonders  zu  f'ltimo)  kann  darauf  bedeuten, 
daß  Wechsel  auf  dem  Wege  xum  Inkasso  sind  und  vorläufig  aus  dem  Schatz  ab  und  den 
.sonstigen  Aktiven*  ingeschrieben  wurden  n.  s.  w. 


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Di*  Diskout-  und  Devisenpolitik  der  Österreichisch-ungarischen  Bank  etc.  495 


und  ungarische  Schatzscheine.  Die  Wiener  Firmen,  die  dieses  Geschäft 
vermittelten,  brachten  zur  Kurssicherung  sofort  Sichtwechsel  zum  Verkauf 
und  kauften  zugleich  lange  Sichten  auf  London.  Diese  stellten  sich  um 
etwa  2 Proz.  teurer  als  Sichtwechsel  und  Cheks,  (Report),1)  so  daß  von 
der  3‘  ;proz.  Verzinsung  der  erworbenen  Papiere  nur  l1/,  Proz.  Qbrig  blieben 
die  aber  gegentlber  dem  Londoner  Privatdiskont  noch  immer  vorteilhaft 
waren. 

Mitte  Juli  stockte  der  Goldeingang  infolge  des  Anziehens  des  Gold- 
preises5 in  London.  Eigentümlich  war  die  Situation  in  Amerika.  Die  Furcht 
vor  dem  Erfolg  der  Silberagitation  bewirkte  eine  große  Effektenrücksendung 
und  entsprechende  Goldexporte  nach  Europa.  Die  amerikanischen  Hanken 
bemühten  sich  daher,  den  Goldexport  zu  verhindern,  es  bildete  sich  ein 
Syndikat  zum  Schutze  der  Goldreserve,  das  darnach  strebte,  durch  Devisen- 
operationen den  Wechselkurs  zu  drücken.  Nach  Mitte  Juli  wurde  der 
Wiener  Geldmarkt  sehr  tiüssig,  besonders  da  die  Kreditanstalt  nach  längerer 
Zeit  wieder  zum  ersten  Mal  auf  offenem  Markte  eskomptierte.  Der  reichliche 
Devisenzufluß  und  die  hohen  Reports  im  Devisengeschäft  mußten  schließlich 
die  Kurse  beeinflussen.  Anfangs  August  fielen  diese  bis  nahe  an  den  Gold- 
punkt. Es  kam  zu  Goldimporten,  die  aber  dadurch  beschränkt  waren,  daß 
trotz  des  hohen  Standes  der  Kurse  das  Gold  in  Amerika  künstlich  zurück- 
gehalten wurde.  Der  Getreidemarkt  entfaltete  bereit«  Mitte  August  eine 
viel  lebhaftere  Tätigkeit  als  sonst  um  diese  Zeit,  so  daß  auch  aus  diesem 
Geschäft  Valuten  und  Devisen  zuflossen.  Überdies  hat  die  Bank,  wie  aus 
den  Ausweisen  ersichtlich  ist.  Devisen  verkauft  und  so  den  Kurs  weiter 
gedrückt.  Insbesondere  wurden  Napoleons  für  das  Balkangeschäft  abgegeben. 
Obwohl  sich  der  Londoner  Goldpreis  unter  dem  Einfluß  der  amerikanischen 
Maßnahme  hob.  fanden  doch  im  weiteren  Verlaufe  des  Augustes  große 
Goldeinfuhren  statt.  — Im  September  versteifte  sich  der  auswärtige  Markt, 
der  Privatdiskont  ging  voran,  am  7.  September  setzte  die  deutsche  Reichs- 
bank den  Diskont  von  3 auf  4 Proz.  hinauf,  die  Bank  von  England  erhöhte 
ihn  am  10.  von  2 auf  21/,  Proz.  Gleichzeitig  erreichte  der  Goldpreis  das 
Maximum  von  78  sh  iam  17.  September!.  — Die  Devisenkurse  hoben  sich 
und  die  Goldeinfuhr  hörte  auf.  Noch  im  selben  Monat,  am  24.  September, 
setzte  die  Bank  von  England  den  Diskont  um  noch  ein  halbes  Prozent 
auf  3 Proz.  hinauf.  Trotzdem  blieb  der  Londoner  Kurs  ständig  und  der 
Pariser  größtenteils  bis  Jahresschluß  unter  der  Parität,  während  die  deutsche 
Devise  sie  um  ein  kleines  überstieg. 

' Uber  die  Teeboik  diese«  in  Wien  üblichen  Deckungsverfahrens  und  de«  „uueigent- 
iichen  Reports“  vergl.  I.oti  „ Wl  h rang  sfr  age  in  Österreich-Ungarn.“  (Schmoilers  Jahr- 
buch für  Gesetzgebung.  XIII..  4.  1889.  (Sonderabdruck  S.  24  und  25.) 

*)  X ach  den  Berichten  von  Pixlev  und  Abel!  betrag  der  Goldpreis  im  Juni 
77  sh  9 d per  stand,  os.,  stieg  Ende  Juni  auf  77  sh  9*/4  d und  betrag  im  Juli  77  sh9*/j  d. 
Die  folgenden  Wochenausweise  geben  in:  ö.  August:  77  sh  9 J/4  d,  18.  August:  1 7 sh  10 d, 
20.  August:  77  sh  10Vs  d,  8.  September:  77  sh  10*/4  d,  17.  September:  78  eh  (Maximum). 
Den  Reet  des  Jahres  schwankte  er  zwischen  77  sh  10*  ? d (1.  Oktober)  und  77  sh  1 1 */2  d. 
(8.  und  15.  Oktober). 

Zeiiwbrift  (Sr  Volk*wlrt»ch«ft.  Sozialpolitik  uo*l  Verwaltung.  XII.  Ran'l  1^4 


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496 


Hertz 


Am  15.  September  beschloß  der  Generalrat  in  allen  Filialen  Gold 
einznlösen  und  sie  mit  den  nötigen  Einrichtungen  7.11  versehen.  Die  Importeure 
erhielten  also  die  Möglichkeit,  Gold  bei  den  Gren7filialeu  einzuliefern  und 
dadurch  Zinsen  und  Transportkosten  zu  sparen.  Übrigens  war  diese  Erleich- 
terung fflr  dieses  Jahr  nicht  mehr  von  Bedeutung.  Zinsfreie  Vorschüsse 
waren  während  der  ganzen  Zeit  nicht  gewährt  worden.  Im  September 
gab  die  Hank  größere  Beträge  au  Devisen  und  Valuten  ab.  Insbesondere 
wurden  Mark  abgegeben,  anderseits  aber  Sterliugdevisen  gekauft.  Gerade 
in  dieser  Zeit  der  steigenden  Kurse  vermehrte  die  Bank  ihren  Devisen- 
besitz sehr  beträchtlich.  Vom  31.  August  bis  31.  Oktober  stieg  der  im 
Metallschatz  betindliche  Devisenbesitz  von  18.800.000  fl.  auf  25.000.000  fl., 
nahm  aber  von  da  an  bis  Jahresende  wieder  um  4.600,000  fl.  ab.  — Auch 
die  .sonstigen  Aktiven*  bewegten  sich  in  gleicher  Weise,  indem  sie  von 
Anfang  August  bis  Ende  Oktober  sich  um  6,000.000  11.  vermehrt  und  von 
da  ab  bis  Jahresschluß  wieder  7.500.000  fl.  abpben.  — Die  Wechselkurse 
wiesen  zwar  eine  unbedeutende  Hebung  auf,  blieben  aber  fortdauernd  günstig. 
Wie  weit  dies  den  umfangreichen  Devisenverleihungen  seitens  der  Bank 
zuzuschreiben  war,  ist  nicht  zu  konstatieren. 

Der  Herbst  brachte  hohe  Geldanforderungen  denen  jedoch  die  Bank 
ohne  Zinsfußerhöhung  begegnen  konnte,  da  die  Regierungen,  die  bereits 
früher  größere  Golderläge  zur  Noteneinlösung  gemacht  batten.  Anfang  Oktober 

16.000. 000  fl.1)  in  Gold  unverzinslich  und  jeder  Zeit  rückziehbar  bei  der 
Bank  einlegten,  wodurch  ihre  Notenreserve  bedeutend  stieg.  Hauptsächlich 
waren  es  Anforderungen  der  Industrie,  die  die  Bank  zu  befriedigen  hatte, 
da  der  Export  gegen  das  Voijahr  wesentlich  gestiegen  war.  Den  größten 
Anteil  an  dieser  Steigerung  nahmen  die  Ganzfabrikate.* 

Im  Auslande  nahm  die  Geldknappheit  zu.  Am  10.  Oktober  stieg  der 
deutsche  Diskont  von  4 auf  5 Proz.  am  22.  Oktober  der  englische  von 
3 auf  4 l’roz.  Beide  Erhöhungen  hatten  übrigens  den  Hauptzweck,  den 
Metallschatz  zu  schützen  und  nicht  dem  inneren  Markt  zu  entsprechen. 
Die  Wechselkurse  wurden  dadurch  wenig  berührt,  ja  große  Effektenverkäufe 
bewirkten  sogar  Ende  Oktober  einen  leichten  Rückgang  der  Londoner 
und  deutschen  Kurse.  Der  gegenüber  Wien  außerordentlich  knappe  Geld- 
stand in  Berlin5)  verursachte  eine  lebhafte  Nachfrage  nach  Marknoten  und 
das  Auftreten  von  Reports  für  sie.  Sowohl  durch  Übertragung  von  öster- 
reichischen Guthaben  im  Auslande  auf  deutsche  Plätze  als  auch  durch 
direkten  Export  von  Reichsmark,  die  die  Österreichisch-ungarische  Bank 
verlieh,  entstand  eine  Kapitalströniung  von  Wien  nach  Berlin. 

Die  derart  entstandenen  vorübergehenden  Guthaben  der  österreichischen 
und  ungarischen  Institute  in  Deutschland  wurde  Ende  Dezember  auf  zirka 

100.000. 000  bis  120,000.000  M..  die  der  österreichischen  Institute  allein 

1 ) Davon  Österreich  10,000.000  fl.,  Ingarn  6,000.000  fl. 

5)  Vergl.  Tabellen  mr  Wührungsstatistik,  2.  Ausgabe.  1900,  Tabelle  174. 

*)  Der  Zinsfuß  im  Report  stieg  über  7 Pro*.  Über  die  Gründe  vergl.  u.  a.  den 
Wiener  HandeDkaiunierbericht,  1896,  S.  564. 


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Die  Diskont-  und  Devisenpolitik  der  Öaterreichiadi-ungiuiBehen  Bank  etc.  497 

auf  zirka  80,000.000  bis  100,000.000  M.  goschätzt  Die  Monge  des  aus 
diesem  Anlaß  effektiv  nach  Deutschland  versendeten  Goldes  schätzen  wir 
bloß  für  den  Monat  Dezember  auf  zirka  8,000.000  bis  9,000.000  M.  Im 
ganzen  Jahre  1896  hatte  sich  der  Goldschatz  der  Bank  um  88.800.000  fl. 
vermehrt,  wovon  27.600.000  fl.  von  den  beiden  Finanzverwaltungen  im 
Verlaufe  der  Valutaoperationen  erlegt,  16.600.000  fl.  tarifmäßig  angekauft 
und  der  Rest  in  Geschäften  erübrigt  wurde.1)  Die  angekauften  Goldfor- 
derungen, Devisen  und  Valuten  machten  250.100.000  fl.  aus  (gegen 
154,900.000  fl.  im  Vorjahr).  Verkauft  wurden  davon:  248,400.000  fl., 
verliehen  47.300.000  fl.  ln  diesen  Zahlen  ist  die  Wirkung  der  aktiven 
Goldpolitik  und  des  durch  die  Effektenexporte  geschaffenen  günstigen  Kurs- 
standes unserer  Währung  zu  erkennen. 

Das  Jahr  1897  brachte  eine  sehr  schlechte  Ernte,  außerordentlich 
hohe  Getreidepreise,  einen  großen  Ausfall  in  der  Handelsbilanz  und  den 
Ausbruch  der  nationalen  Kämpfe,  die  auf  das  gesamte  Wirtschaftsleben 
ungünstig  wirkten.  Der  Überschuß  der  Ausfuhr  über  die  Einfuhr  betrug 
(ohne  edle  Metalle  und  Münzen)  nur  10,984.000  fl.  (gegen  68.217.000  fl. 
im  Vorjahre).  Mit  Einrechnung  des  Edelmetallverkehrs  ergibt  sich  ein  Saldo 
von  — 37,200.000  fl.  (gegen  +41,900.000  fl.).  Gerade  dieses  ungünstige 
Wirtschaftsjahr  hat,  was  die  Valuta  anbelangt,  gute  Erfolge  und  einen 
durch  den  Stand  der  Wechselkurse  erzeugten  bedeutenden  Goldzufluß  auf- 
zuweisen gehabt.  Der  französische  und  englische  Kurs  waren  seit  dem 
Vorjahre  unter  der  Parität,  der  deutsche,  der  sich  gegen  Jahresende  zeit- 
weilig über  Pari  gehoben  hatte,  kehrte  anfangs  Jänner  wieder  auf  seinen 
günstigen  Stand  zurück  und  alle  drei  Kurse  fielen,  bis  in  der  zweiten  Februar- 
woche eine  plötzliche  aber  kurz  dauernde  Hebung  eintrat.  Von  da  an  sanken 
alle  Kurse  wieder  unter  Pari,  am  tiefsten  der  Eondoner.*)  Erst  im  Dezember 
trat  wieder  eine  starke  Hebung  ein.  Der  Zinsfuß  der  Österreichisch-ungarischen 
Bauk  blieb  das  ganze  Jahr  hindurch  4 Proz. 

Im  Jänner  erfolgte  die  gewöhnliche  Erleichterung  des  internationalen 
Geldmarktes.  Die  Reichsbank  setzte  zuerst  den  Diskont  von  5 auf  4 Proz. 
herab,  die  Bank  von  England  folgte  am  21.  Jänner  und  am  4.  Februar 
mit  je  einer  '/„proz.  Ermäßigung  bis  auf  3 Proz.  Die  günstige  Verzinsungs- 
gelegenheit zog  alsbald  fremdes  Kapital  nach  Österreich.  Anfangs  Jänner 
erfolgte  ein  Fall  der  Markdevisen.’)  der  in  Verbindung  mit  der  preußischen 
Konversion  (von  4 auf  8'/j  Proz.)  stand,  indem  österreichische  Besitzer 
ihre  preußischen  Werte  verkauften,  oder  den  Kapitalbetrag  zurückforderten, 
um  österreichische  4proz.  Renten  zu  kaufen,  der  erhaltene  Wert  in  Mark 
aber  auf  die  Kurse  drückte.  Der  starke  Fall  der  englischen  Devise  hing 
teilweise  mit  dem  Ankauf  von  4 proz.  sechsmonatlichen  ungarischen  Schatz- 

')  Vergl.  die  Tabelle  HI  bei  Spitzmüller  a.  a.  0. 

*)  Die  deutsche  Devise  erreichte  vom  Februar  Mb  Juni  wiederholt  den  tiefsten 
Stand  mit  58*60,  die  englische  von  April  bis  August  den  ihrigen  mit  1 19*45.  die  französische 
aber  erst  im  September  und  Oktober  mit  47*475. 

')  Ihr  höchster  Kurs  im  Dezember  betrng  58*95.  ihr  niedrigster  im  Jänner  58*65. 

84* 


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Hertz. 


cheine»  zusammen,  die  in  ähnlicher  Weise,  wie  früher  Salinenscheine,  vom 
englischen  Kapital  erworben  wurden.  Anfangs  Februar  nahm  die  Bank  die 
Goldkäufe  wieder  auf.  indem  sie  ohne  Gewfihrung  von  zinsfreien  Vorschüssen 
sich  zum  tarifmäßigen  Ankauf  bereit  machte. 

Mitte  Februar  ain  11.,  15.,  19.  u.  20.  fand  an  allen  Börsen  ein  Kurs- 
rückgang statt,  der  mit  dem  Beginn  der  griechisch-türkischen  Feindselig- 
keiten zusammenhing  und  der  Befürchtung  eines  großen  Weltkrieges  im 
Falle  eines  griechischen  Sieges  entsprang.  Wie  stets  in  solchen  Situationen 
entstand  eine  lebhafte  Nachfrage  nach  sicheren  Golddevisen  und  die  Gefahr 
eines  beträchtlichen  Agios  lag  nahe.  Da  grill'  die  österreichisch-ungarische 
Bank  ein  und  gab  insgesamt  17,000.000  fl.  Devisen  ab,  wodurch 
das  Entstehen  eines  Agios  wirksam  verhindert  wurde.  Die  Kurse  hoben 
sich  nur  unbedeutend:  der  Londoner,  dessen  tiefster  Stand  im  Jänner 
1 1 9’70  gewesen  war,  auf  120‘25,  der  Berliner  von  58'fiO  auf  58-82,  der 
französische  Kurs  von  47-50  auf  47*70.  Die  Operationen  der  Bank')  fanden 
einstimmiges  Lob  und  es  wurde  rühmend  hervorgehoben,  daß  die  öster- 
reichische Valuta  zum  ersten  Mal  eine  Kriegsgefahr  ohne  Agio  fiber- 
standen habe.  Nach  dieser  kurzen  Unterbrechung  setzte  der  allgemeine  Fall 
der  Wechselkurse  sich  weiter  fort.  Ende  Februar  setzte  die  Keichsbank 
den  Diskont  auf  3'/j  Proz.  herab.  Die  Spannung  zwischen  den  Wiener  und 
den  auswärtigen  Privatdiskonten  betrug  bald  1 — 2 Proz.  Die  im  Vorjahre 
ausgewanderten  österreichischen  Kapitalien  kehrten  zurück,  es  entstand  ein 
Report  auf  Marknoten  und  ein  Kttekgang  der  Devisenkurse.  Am  4..  5.  und 
6.  März  wurde  die  Börse  neuerdings  durch  Nachrichten  aus  Griechenland 
in  Unruhe  versetzt  und  die  Bank  opferte  zirka  2,500.000  fl.  in  Goldforde- 
rungen, wodurch  dem  Entstehen  eines  Agios  vorgebeugt  wurde.  Im  ganzen 
soll  die  Bank  bis  zur  Verhängung  der  Blockade  über  Kreta,  die  die  Märkte 
beruhigte,  etwa  23.000.000  fl.  in  Devisen  abgegeben  haben.*)  Anfangs  April 
folgten  Diskontherabsetzungen  der  Keichsbank  von  3*/,  auf  3 Proz..  der 
Baak  von  England  von  3 auf  21/,  Proz.  Am  13  Mai  fiel  die  englische 
Batikrate  bis  2 Proz..  während  der  Londoner  Privatdiskont  den  Tiefstand 
von  % Proz.  erreichte.  Nach  einer  leichten  Hebung  stellte  sich  der  englische 
Privatdiskont  von  Mitte  Juli  bis  Mitte  August  auf  */4  Proz.  i für  60  day’s 
bankers  drafts). 

Der  englische  Wechselkurs  fiel  bereits  im  März  bedeutend  (von 
119*95  auf  119-55)  und  da  sich  anfangs  März  der  Londoner  Goldpreis 
senkte,  stand  die  Wiederaufnahme  des  Goldimportes  nahe  bevor.  Doch 
seit  Mitte  März  begannen  die  Goldkäufe  der  russischen  und  japanischen 
Regierungen  zum  Zwecke  der  Valutaregulierung  von  neuem  und  der  Gold- 

*)  In  den  Bankausweisen  linden  sich  wenig  Spuren  davon,  da  die  Verkaufe  mm 
Teil  auf  Zeit  gemacht  wurden  und  die  Abnahme  des  Devisenstandes  inzwischen  durch 
Käufe  verhindert  wurde. 

*)  Es  wurde  damals  auch  hervorgehoben,  datl  ohne  diesen  Eingreifen  die  Effekten- 
börse weit  tiefer  gefallen  wären,  da  jedes  Agio  sofort  eine  Kffektenriiekströmung  hervor- 
gerufen hätte. 


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Die  Diskont-  und  Devisenpolitik  der  Österreichisch-ungarischen  Bank  etc.  490 

preis1)  hob  sich  rasch.  Trotz  des  hohen  Goldpreises  begannen  im  April  die 
Goldimporte  nach  Österreich,  die  aber  ohne  Verbindung  mit  anderen 
Operationen  nicht  gewinnbringend  gewesen  wären.  Nach  einer  Berechnung 
von  Mitte  April  kostete  damals  bei  dem  Preis  von  78  und  dem  Kurs- 
stand von  119-55  das  Kilogramm  Feingold  inklusive  Spesen  in  Wien 
1638-19  fl.,  während  der  Bankpreis  nur  1638  fl.  war.  Man  verband  daher 
den  Goldimport  mit  einem  Export  von  Salinenseheiueu  in  Form  eines  Metall- 
geschäftes. doch  muli  auch  ohne  diese  Verbindung  Gold  importiert  worden 
sein,  da  die  Zunahme  der  Salinenscheine  hinter  dem  Werte  des  Goldimportes 
zurückblieb. 

Am  24.  April  geschah  der  erst«  große  Goldexport  aus  New  York.*) 
Der  Goldpreis  fiel  von  78  00  bis  77-11  (6.  Mai,  da  gleichzeitig  die 
japanische  Nachfrage  aufhörte)  als  aber  Ende  Mai  die  russische  Nach- 
frage wieder  einsetzte,  stieg  er  neuerdings  bis  77'11%  t3.  Juni). 
Die  Salinenscheinoperationen  wurden  dadurch  erschwert,  daß  das  Finanz- 
ministerium anfangs  Mai  anordnete,  Salinenscheine  seien  in  strenger  Inter- 
pretation des  Gesetzes  nur  mehr  gegen  Staatsnoten  auszugeben,  deren 
Umlauf  doch  schon  beträchtlich  restringiert  war.’)  Da  die  rasche  Abwicklung 
der  Arbitragegeschäfte  .dadurch  gehindert  wurde,  hörten  die  Salinenschein- 
exporte im  Sommer  auf;  im  nächsten  Jahre  trat  überdies  als  erschwerendes 
Moment  die  2proz.  Rentensteuer  hinzu,  die  den  Ertrag  der  Salinenscheine 
herabsetzte.4) 

Trotz  dieser  Umstände  begann  nun  erst  ein  sehr  lebhafter  Goldimport, 
hervorgerufen  durch  den  außerordentlich  günstigen  Stand  der  Londoner 
Devise.  Am  17.  Mai  fand  die  Subskription  auf  die  österreichische  Investitions- 
anleihe statt,6)  die  wegen  der  für  Österreich  noch  nicht  geeigneten  3%proz. 
Verzinsung  hauptsächlich  vom  Ausland  aufgenommen  wurde,  wodurch  das 
Devisenangebot  sich  stark  vermehrte.  Obwohl  ein  Teil  der  Anleihe  in  den 
nächsten  Monaten  wieder  zurückfloß,  blieben  die  Kurse  doch  günstig.  Im 
August  begann  übrigens  eine  neue  große  Nachfrage  nach  dieser  Rente  seitens 
Paris  und  Lyon,  womit  die  Senkung  der  französischen  Devise  gerade  in 
dieser  Zeit,  in  der  die  anderen  Kurse  breits  im  Steigen  begriffen  waren. 

')  Nach  Pixley  und  Abella  Berichten  notierte  die  Unze  Standard  Gold  am 
7.  Jänner  7711,  vom  21.  bis  25.  Jänner  77-101/,.  Im  März  fiel  sie  zwischen  dem  14.  and 
dem  18.  von  77*10  aut  77'  91/,  and  hob  sich  hierauf  bis  Mitte  April  bis  auf  78-00. 
Von  da  an  bis  Oktober  schwankte  der  Preis  fortwährend  um  7711’  ,. 

*)  Vergl.  Kcouomist  (London),  1897.  S.  716  und  747. 

*)  Nach  den  Ausweisen  der  Staatsschnlden-fControllkoniinissinn  waren  Ende  Mai 
von  den  auf  gemeinsame  Kosten  eiuzulosenden  312,000.000  11.  Staatsnoten  bereits 
199,280  000  fl.  ans  dem  Verkehr  gezogen  und  vernichtet. 

*)  Dagegen  blieben  sic  von  der  1897  erfolgten  Erhöhung  der  Effektenumsatz- 
steuer frei.  Diese  trifft  nicht  die  Wertpapiere  mit  fixen  Zahlungsterminen  und  Beträgen. 
Der  ganze  Devisen-  und  Valutenhandel  wurde  nicht  der  Steuer  unterworfen,  was  mit 
währungspolitiseben  Rücksichten  begründet  wird.  Vergl.  Dr.  K.  Fr.  v.  Lempruch.  Das 
Gesetz  betreffend  die  Effektenumsatzsteuer.  (Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Sozialpolitik 
und  Verwaltung,  VII,  Band,  1898,  S.  306.) 

4)  Nominale  116,900.000  K. 


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500 


Hertz 


sich  erklärt.1)  Von  anderen  größeren  Emissionen,  die  einen  Zufluß  fremder 
Valuten  bewirkten,  fanden  statt:  die  Wiener  Verkehrsanleihc  II.  Emission 
(Nominale  88,000.000  K),  übernommen  am  20.  Mai  von  der  Unionbank 
und  dem  Hause  Mendelsohn  & Co;  Budapester  Stadtanleihe  (80,000.000  K, 
emittiert  am  3.  und  5.Februar),Temes-Bega-Regulierungsanleihef33, 800.000  K, 
emittiert  am  6.  Juli).  Die  im  September  übernommene  Styproz.  ungarische 
Investitionsanleiho  kam  erst  im  März  des  nächsten  Jahres  auf  den  Markt, 
Erwähnt  sei  noch  die  Bozen-Meraner  Stadtanleihe  (4.  Juni),  die  den  Betrag 
von  3,000.000  M.  ausmachte  und  ausschließlich  in  Deutschland  subskribiert 
und  notiert  wurde.  Auch  der  Verkauf  der  Wiener  Tramwayaktien  nach 
Deutschland  übte  einigen  Einfluß. 

Die  Österreichisch-ungarische  Bank  benutzte  den  günstigen  Kursstand, 
um  ihren  Devisenbesitz  zu  vermehren.  Die  Schatzwechsel  nahmen  von 
Jahresbeginn  bis  Ende  Mai  von  10,000.000  fl.  auf  25,400.000  fl.  zu,  die 
.sonstigen  Aktiven*  von  8,300.000  fl.  auf  21,200.000  11.  Im  Juni,  Juli  und 
August  nahm  der  Devisenbesitz  wieder  ab.  Vom  höchsten  Stande  von 

27.800.000  fl.  (am  15.  Juni)  fielen  die  Schatzdevisen  bis  Ende  August  auf 

21.100.000  fl,  auch  die  „sonstigen  Aktiven*,  die  große  Schwankungen 
durchmachten,  verringerten  sich  beträchtlich.  Es  hing  dies  zusammen  mit 
dem  langsamen  Steigen  des  Berliner  Privatdiskonts,  dem  sich  Mitte  August 
auch  der  Londoner  anschloß.  Während  aber  der  Berliner  Kurs  sich  nur 
sehr  langsam  hob  und  auch  durch  die  Diskonterhöhung  der  Iieichsbank 
(6.  September  von  3 auf  4 Proz.)  nicht  beeinflußt  wurde,  stieg  Mitte  August 
der  Londoner  Kurs  sprunghaft  von  ll‘J'45  bis  auf  11980.  Er  sank  zwar 
in  den  folgenden  Monaten  wieder  um  15  kr.*)  aber  der  Goldimport  hörte 
Mitte  August  auf.  — Ohnehin  war  der  Nutzen  bei  dem  hohen  Goldpreis 
(anfangs  August  77"  1 1 */,)  nur  sehr  gering,  die  .Neue  Freie  Presse*  berechnet 
ihn  auf  etwa  600  fl.  bei  einem  Import  von  1,000.000  fl.  und  er  fand  oft 
nicht  wegen  dieses  minimalen  Nutzens,  sondern  nur  in  der  Absicht  statt, 
den  Preis  der  Wechsel  nicht  noch  mehr  zu  drücken  und  die  Guthaben 
flüssig  zu  machen.  — 

Der  Eskompte  der  Bank  war  während  des  Sommers  infolge  des  Gold- 
imports beträchtlich  geringer  als  sonst.  Trotzdem  nahm  sie  den  Eskompte 
auf  offenem  Markte  nicht  auf.  um  den  Zinsfuß  nicht  zu  drücken.  Es  gelang 
auch  den  Marksatz  nahe  der  Bankrate  zu  halten,  so  daß  eine  beträchtliche 
Spannung  zwischen  dem  ausländischen  und  dem  österreichischen  Diskont 
bestand  und  die  Kurse  sich  günstig  stellten.  Mitte  Juli  eskomptierte  der 
ungarische  Finanziuinister  die  im  August  1896  erworbenen  5,000.000  fl. 
Salinenscheine  bei  der  Bank,  was  dieser  sehr  gelegen  kam. 

Da  die  europäische  Ernte  des  Jahres  1897  sehr  schlecht  ausfiel,  kam 
es  zu  großen  Getreidezufuhren  aus  Amerika,  wofür  teilweise  Effekten  retour- 
niert wurden.  Die  Gefahr  einer  Goldausfuhr  und  der  starke  Herbstbedarf 

fi  Hauptsächlich  der  Credit  Lyonnais  versorgte  seine  Kundschaft  mit  Investi- 
tionsresten. 

2)  Hauptsächlich  infolge  des  Zuflusses  aus  dem  Zuckergeschäft. 


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Ilii*  Diskont-  und  Devisenpolitik  der  Österreichisch-ungarischen  Bank  etc.  501 

bewirkten  eine  schnelle  Hinaufsetzuug  der  Diskontraten.  Der  österreichische 
Privatdiskont  hielt  sich  vom  September  an  auf  der  Höhe  der  Bankrate,  die 
selbst  nicht  verändert  wurde.  Der  Grund  der  Geldknappheit  in  Wien  lag 
in  den  um  etwa  70  Proz.  gestiegenen  Getreidepreisen,  die  den  Betrag  der 
um  jene  Zeit  wichtigen  Mühlenwechsel  erhöhten,  in  den  Wiener  öffentlichen 
Bauten  und  den  großen  Einzahlungen  des  Konsortiums  auf  die  ungarische 
Investitionsanleihe.  Der  deutsche  Banksatz  betrug  im  September  4 Proz., 
im  Oktober  und  den  folgenden  Monaten  5 Proz.,  der  englische  im  September 
2 und  2 l/,,  im  Oktober  und  den  folgenden  Monaten  2'/»  und  3 Proz. 

Die  Bank  setzte  die  Goldabgaben,  die  wir  bis  Ende  August  verfolgt 
haben,  in  den  folgenden  Monaten  fort.  Insbesondere  wurden  große  Mengen 
Napoleons  für  den  Balkanbedarf  und  Oktober-Coupons  der  Südbahn- 
prioritäten sowie  Marknoten  abgegeben,  letztere  um  dem  höheren  deutschen 
Diskont  entgegenzuwirken.  Auch  aus  Geschäften  mit  der  Regierung  ergaben 
sich  Änderungen  des  Gold-  und  Devisenbestandes.'  Der  Betrag  der  Gold- 
wechsel nahm  dabei  im  September  und  Oktober  eher  zu  als  ab;  die  großen 
Schwankungen  in  ihrer  Höhe  zeigen,  daß  es  sich  hauptsächlich  um  Verleih- 
ungen handelte.  Im  November  begannen  die  Geldwechsel  stetiger  abzunehmen. 
Ende  November  stieg  der  Marknotenreport  bis  17»  Proz.,  so  daß  es  nicht 
mehr  rentabel  war.  österreichische  Noteu  nach  Berlin  zu  senden.  Gleichzeitig 
überschritten  alle  Kurse  wieder  die  Parität  in  aufsteigender  Richtung.  Die 
Kurssteigerung  vollzog  sich  rasch  und  erreichte  am  13.  Dezember  den 
Höhepunkt.  An  diesem  Tage  standen  die  3 Hauptdevisen  59-20,  120-70 
und  47  82.  Von  da  bis  .lahresschluß  vollzog  sich  aber  ein  heftiger  Fall, 
am  30.  Dezember  war  der  Stand:  58"825.  120-00,  47  575.  so  daß  die  fran- 
zösische und  englische  Devise  also  bereits  wieder  unter  der  Parität  notierten. 
Bemerkenswert  ist,  daß  seit  Anfang  Dezember  die  Bank  effektive  Gold- 
abgaben gemacht  hatte.  Der  Goldschatz  verminderte  sich  vom  30.  November 
bis  31.  Dezember  von  379,600.000  tl.  auf  363,800.000  (1.,  die  Schatzdevisen 
fielen  in  derselben  Zeit  von  27,500.000  H.  auf  18,900.000  fl.,  die  .sonstigen 
Aktiven*  von  14.700.000  fl.  auf  12,100.000  fl. 

Im  Jahre  1897  vermehrte  sich  der  Goldschatz  der  Bank  von  302,100.000 
auf  363.800.000  fl.  Tarifmäßig  angekauft  wurden  69,400.000  fl.,  in  Geschäften 
eingenommen  119,200.000.  der  Goldausgang  betrug  126.900.000  fl. 

Das  Jahr  1898  brachte  einen  wesentlich  höheren  Zinsfuß,  der  durch 
die  kriegerischen  Ereignisse,  die  Verschuldung  des  Kontinents  an  Amerika 
und  die  industrielle  Hochkonjunktur  in  Deutschland  erklärt  wird.  Österreich 
hatte  eine  bessere  Ernte;  infolge  der  völligen  Mißernte  des  Vorjahres  war 
aber  trotzdem  eine  große  Einfuhr  an  landwirtschaftlichen  Produkten  nötig, 
die  bewirkte,  daß  zum  ersten  Mal  nach  vielen  Jahren  die  Bilanz  des 
Spezialhaudels  (exklusive  Edelmetall  und  Münzen)  mit  12,179.000  fl.  passiv 
war  und  ein  bedeutender  Abfluß  von  Edelmetall  erfolgte.  An  der  großartigen 

')  Ende  September  kaufte  der  österreichische  Finanzminister  für  10,000.000  fl. 
Salincnscheiue  gegen  Erlag  von  Gold  ans  den  Kassabest&nden,  Ende  November  tauschte 
er  Noten  gegen  Gold,  das  aus  Zellzählungen  disponibel  war. 


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502 


Heru. 


Entfaltung  der  deutschen  Industrie  nahm  die  österreichische  wenig  teil. 
Der  Devisenkursstand  zu  Jahresanfang  war  günstig,  doch  schon  Ende  Jänner 
begann  der  Londoner  Kurs  zu  steigen  und  erreichte  im  April  und  Mai 
Höhepunkte.  In  diesen  beiden  Monaten  hoben  sich  auch  die  anderen  Kurse 
über  die  Parität,  um  im  Sommer  wieder  unter  sie  zurückzusinken:  erst  der 
Herbst  brachte  eine  neuerliche  Verschlechterung  der  Wechselkurse. 

Im  Jänner  trat  zunächst  die  gewöhnliche  Erleichterung  des  öeldstandes 
ein  und  die  Notenreserve  hob  sich  bis  zur  dritten  Februarwoche  auf 
101,300.000  fl.  Da  im  Jänner  Nachfrage  nach  Londoner  und  Pariser  Devisen 
herrschte,  gab  die  Bank  größere  Beträge  davon  ab.  dagegen  wurden  Berliner 
Wechsel  stark  angeboten.  Am  20.  Jänner  wurde  der  deutsche  Diskont  von 
5 auf  4 Proz.  herabgesetzt,  die  Bank  von  England  aber  zögerte  mit  einer 
Ermäßigung,  da  der  New  Yorker  Wechselkurs  sich  senkte.  Anfangs  Februar 
beschloß  der  Generalrat  trotz  der  steigenden  Notenreserve  den  Eskompte 
auf  offenem  Markte  nicht  aufzunehrnen,  damit  die  Bank  nicht  zum  Schaden 
der  Valuta  das  Sinken  des  Zinsfußes  beschleunige.  Mitte  Februar  begann 
der  Pariser  und  Berliner  Kurs  zu  fallen,  da  infolge  der  Diskontspannung 
österreichische  Wechsel-  und  Salinenscheine  gesucht  wurden.  Am  18.  Februar 
setzte  die  Reichsbank  den  Diskont  von  4 auf  3 Proz.  herab  und  am  21. 
nahm  die  österreichisch-ungarische  Bank  den  Eskompte  auf  offenem  Markte, 
der  seit  4 Jahren  sistiert  war,  wieder  auf,  und  zwar  zunächst  zwischen  S’/j 
und  33/„  Proz.  Doth  blieb  dieser  Satz  auf  feinste  Wechsel  und  längere 
Sichten  beschränkt.  Ende  Februar  wurde  sogar  im  böhmischen  Landtag 
interpelliert,  warum  die  Bank  in  Prag  anstatt  mit  3*/»  bis  3’/i»  Proz.,  wie 
in  Wien  und  Budapest,  mit  dem  höheren  Satze  35/s  eskomptiere,  und  über 
diese  Zurücksetzung  Prags  Klage  geführt.  Die  Behauptung,  daß  dieser 
Beschluß  mit  Rücksicht  auf  die  anfangs  März  stattzuliudende  Subskription 
der  ungarischen  Investitionsauleihe  gefaßt  wurde,  ist  wohl  nicht  begründet. 
Der  Wiener  Privatdiskont  blieb  im  Februar  und  Mürz  zwischen  3‘/t  und 
3V4  Proz.,  während  der  Pariser  zwischen  2 und  1%  Proz.  und  der  Berliner 
zwischen  2’/«  und  2%  Proz.  schwankte,  somit  eine  wirksame  Diskontspannung 
vorhanden  war.  Von  größeren  Subskriptionen  fanden  statt:  am  7.  März  die 
3'/iproz.  ungarische  Investitionaanleihe,  am  19.  März  die  Wiener  Gasanleihe 
im  Betrage  von  60,000.000  K,  beide  brachten  sehr  große  ausländische 
Kapitalien,  besonders  deutscher  Herkunft,  nach  Österreich.  Die  Anschaffung 
der  Valuta  hiefflr  bewirkte  hauptsächlich  neben  der  Diskontspannung,  daß 
der  Berliner  und  Pariser  Kurs  im  Februar  und  März  unter  die  Relation 
fielen. 

Eine  ungünstige  Wendung  nahm  der  Loudoner  Wechselkurs,  der  auch 
auf  die  anderen  Kurse  rflekwirkte,  sein  tiefster  Stand  im  Jänner  war  119-90, 
im  Februar  erreichte  er  bereits  den  Stand  von  120-30.  im  März  120*50  und 
am  22.  April  den  Höchststand  von  121-10.  In  seinen  heftigen  und  sprung- 
weisen Schwankungen  folgte  er  den  Bewegungen  des  Londoner  Privatdiskonts. 

Die  Gründe  dieser  Erscheinung  waren  folgende:  Die  großen  Getreide- 
exporte Amerikas  von  1897  waren  großenteils  mit  Effekten,  teilweise  auch 


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Die  Diskont*  und  Devisenpolitik  der  Österreichisch-ungarischen  Bank  etc  503 

mit  Wechseln  gezahlt  worden,  die  jetzt  zur  Einlösung  kamen.  Der  ameri- 
kanisch-spanische Krieg  stand  vor  der  Tflr  und  Amerika  suchte  auf  jede 
Weise  Gold  an  sich  zu  ziehen.  *i  Tatsächlich  fand  seit  Anfang  März  ein 
wenn  auch  nicht  beträchtlicher  Goldausgang  aus  London  statt.  Die  Geld- 
knappheit wurde  verschärft  durch  die  Anhäufung  grolier  Guthaben  der 
englischen  Regierung  bei  der  Bank  und  die  Aussicht  auf  die  bevorstehenden 
chinesischen  und  griechischen  Anleihen. 

Die  politische  Lage,  der  Goldausgang  und  das  Gerächt  von  einer 
bevorstehenden  Erhöhung  der  Bankrate  bewirkten  in  der  ersten  Hälfte  der 
zweiten  Märzwoche  ein  Steigen  des  Londoner  Diskonts  bis  81/»  Proz.,  das 
ein  Wachsen  des  Londoner  Kurses  in  Wien  bis  120-45  verursachte.  Zum 
ersten  Mal  seit  der  Baring-Krise  floß  wieder  Gold  aus  Österreich  nach 
London,  und  zwar  160.000  £.  Doch  schon  in  der  zweiten  Wochenhälfte 
erfolgte  ein  Rückgang,  der  Diskont  fiel  iu  der  dritten  Woche  bis  2w/n  Proz. 
der  Kurs  bis  120-25.  Am  22.  März  fand  die  Subskription  auf  die  chinesische 
Anleihe  von  16,000.000  £ statt.  Am  28.  bis  29.  März  stand  der  Privat- 
diskont neuerdings  auf  3 bis  3'/8  und  der  Wechselkurs  auf  120-45  bis 
120  50.  Bis  Ende  März  waren  etwa  250.000  £ aus  Österreich  nach  London 
gegangen.  Nach  einer  neuerlichen  Senkung  stiegen  Diskont  und  Kurs  wieder 
rasch.  Am  7.  April  setzte  die  Bank  von  England  den  Diskont  auf  4 Proz. 
hinauf.  Am  9.  folgte  die  Reichsbank  auf  dieselbe  Höhe.  Der  Kriegszustand 
zwischen  Amerika  und  Spanien  begann  am  21.  April.  Am  22.  erreichte 
der  Londoner  Privatdiskont  die  volle  Höhe  des  Banksatzes  und  der  Wiener 
Kurs  auf  London  den  Stand  von  121T0.  Doch  schon  am  nächsten  Tage 
begann  ein  rascher  Fall.  Genau  eine  Woche  später  war  der  Stand  3*/s  Proz. 
respektive  120-65.  Die  Ursache  davon  war,  daß  nach  Ausbruch  des  Krieges 
alles  nach  Amerika  bestimmte  Gold  in  London  blieb  und  die  Rank  von 
England  Oberdies  den  Goldzufluß  durch  zinsfreie  Vorschüsse  und  Erhöhung 
der  Ankaufspreise  fördert«,  was  zu  einer  großen  Vermehrung  ihres  Metall- 
schatzes und  zu  einem  Druck  auf  den  Diskont  führte.  Mitte  Mai  bewirkten 
die  griechische  Anleihe  und  andere  Umstände  ein  neuerliches  Steigen  auf 
120.65.  Doch  der  Londoner  Geldstand  besserte  sich  schnell,  bis  Ende  Mai 
fiel  der  Privatdiskont  auf  2*/4,  so  daß  die  Bank  von  England  am  29.  Mai 
ihre  Rate  auf  8*/»  Proz.  hcrabsetzte.  Einen  Monat  später  war  die  Privat- 
rate l*/u  Proz.  und  die  Bank  ging  am  30.  Juni  auf  2'  ä Proz.  herab. 
Auch  in  Paris  herrscht«  große  Flüssigkeit,  nur  in  Berlin  verursachten  große 
Neuemmissionen  und  Getreideimporte  einen  knapperen  Geldstand.  Die  Folge 
davon  war.  daß  von  Juni  an  die  Londoner  und  Pariser  Kurse  unter  Parität 
notierten,  während  der  Berliner  Kurs  sich  knapp  über  der  Relation  hielt. 
Die  Österreichisch-ungarische  Bank  hatte  während  der  kritischen  Zeit  versucht, 
das  Agio  hauptsächlich  durch  Devisenabgaben  zu  bekämpfen,  die  anfänglich 
leihweise,  später  im  Verkaufswege  erfolgten.  Da  sie  aber  nicht  mehr  viel 
englische  Devisen  hatte,  gab  sie  überwiegend  deutsche  Wechsel  ab,  um  so 

Die  Situation  war  ähnlich  wie  im  Jahre  1861  vor  Ausbruch  des  Bürger-Krieges 
(vergl.  Goschen,  Theorie  of  foreign  Exchanges). 


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Hertz. 


‘»04 

indirekt  den  englischen  Kurs  zu  beeinflussen.  Die  Schatzwechsel  nahmen 
von  Anfang  Jänner  bis  Ende  Mai  von  19.100.000  H.  auf  2.7OO.O00  fl.  ab, 
der  Goldbestand  in  derselben  Zeit  von  364.400.000  auf  348,400.000  fl.1) 
Als  Mitte  Mai  schon  fast  der  ganze  Devisenvorrat  des  Schatzes  aufgebraucht 
war.  ersuchte  die  Bank  die  Regierung  um  die  Bewilligung,  den  in  Devisen 
angelegten  und  vorläufig  dem  Reservefond  zugeschriebenen  Relationsgewinn 
von  13.500.000  fl.  angreifen  zu  dürfen,  ohne  damit  eine  Erweiterung  des 
Notenausgaberechtes  herbeifflhren  zu  wollen.  Die  Regierung  stimmte  auch 
zu,  doch  machte  die  bald  eintretende  Besserung  die  Ausführung  unnötig. 
Wie  die  große  Empfindlichkeit  des  englischen  Wechselkurses  gegen  jede 
.Schwankung  des  Londoner  Privatdiskonts  beweist,  hat  die  Devisenpolitik 
keinen  sehr  großen  Einfluß  geübt.  Bemerkenswert  ist  jedoch,  daß  der 
Berliner  Kurs  während  April  und  Mai  zwar  dem  Londoner  genau  folgte, 
aber  uur  in  abgeschwächtem  Maßstabe.  Möglicherweise  ist  dies  den  Abgaben 
der  Bank  an  deutschen  Valuten  zu  danken  gewesen.  Die  Diskontschraube 
hat  die  Bank  dagegen  nicht  in  Anwendung  gebracht,  obwohl  sie  nach  der 
englischen  Zinsfußerhöhung  am  7.  April  den  Privateskompte  einstellte  und 
Mitte  Mai  der  Regierung  gegenüber  anerkannte,  daß  eine  Restriktion  durch 
Diskonterhöhung  in  Aussicht  zu  nehmen  sei. 

Obwohl  der  Umschwung  auf  dem  Markt«  diese  unnötig  machte,  trat 
doch  eine  Restriktion  der  Umlaufsmittel  als  naturgemäße  Folge  der  Devisen- 
politik der  Bank  ein;  von  März  bis  Jahresscbluß  hatte  die  Bank  einen 
bedeutend  höheren  Eskompte  als  im  Vorjahre.  Der  Mehrbedarf  betrug  zu 
Ende  der  Monate:  März  + 3,700.000  fl.,  April  -f-  21,400.000  fl..  Mai 
4-  43,300.000  fl.,  Juni  4-  63.400.000  fl.,  Juli  4-  64,600.000  fl.,  August 
4-  39.500.000  fl..  September  + 50,300.000  fl..  Oktober  4-  60,800.000  fl., 
November  -f-  65,400.000  fl.,  Dezember  4-  51.600.000  fl. 

Auch  der  Privatdiskont  entfernte  sich  nicht  sehr  weit  von  der  Bankrate. 
Diese  erhöhte  Inanspruchnahme  der  Bank  erklärt  sich  daraus,  daß  für  die 
verkauften  und  ins  Ausland  abgeflossenen  Devisen-  und  öoldbeträge  Noten 
in  die  Bank  zurflckgelangten  und  dadurch  die  außerhalb  der  Bank  vorhandenen 
Kreditmittel  vermindert  wurden.  Der  Abfluß  von  etwa  60,000.000  fl.  Gold 
und  Goldforderungen  ins  Ausland  entspricht  ungefähr  der  höchsten  Eskompte- 
steigerung.  Das  Festhalten  der  Bank  an  dem  4proz.  Zinsfuß  und  ihr  durch 
diese  Verhältnisse  gestärkter  Einfluß  trugen  zur  Erzeugung  einer  Diskont- 
spannung gegenüber  dem  Auslande  und  zur  Besserung  der  Wechselkurse 
bei.  Der  tiefste  Stand  des  Londoner  Wechselkurses  war  im  Juni  119'75, 
im  Juli  1 19*85,  im  August  120*00.  Aber  schon  seit  August  begann  er 
langsam  zu  steigen  und  überschritt  schon  seit  September  zeitweilig  die 
Parität.  Die  Österreichisch  - ungarische  Bank  hatte  die  günstigen  Kurse 
zu  Devisenankäufen  benutzt,  die  Schatzdevisen  stiegen  vom  Ende  Mai 
bis  Ende  August  von  2,700.000  fl.  auf  21.700.000  fl.  Die  Ursache  der 

*)  Seit  dem  höchsten  Stande  des  Jahres  1897  hatte  die  Bank  (ohne  Errechnung 
der  Veränderungen  in  den  , sonstigen  Aktiven“)  an  .Schatzdevisen  und  Gold  52,100.000  fl. 
verloren. 


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Die  Diskont-  . t n l Devisenpolitik  der  Österreichisch-nn^arischen  Dank  etc.  505 


Versteifung  in  London  seit  Mitte  August  lag  jenseits  des  Ozeans,  die  Be- 
endigung des  spanisch-amerikanischen  Krieges  batte  dort  eine  Steigerung  der 
industriellen  Tätigkeit  zur  Folge,  die  Kriegsanleihe  und  das  Erträgnis  der 
erhöhten  Kriegssteuern  lag  angehäuft  in  den  Kegierungskassen  und  blieb 
dem  Markte  entzogen,  während  bereits  eine  außerordentlich  günstige  Ernte 
ein  großes  Oeldbedflrfnis  erzeugte.1  Der  steigende  New  Yorker  Diskont 
und  das  Fallen  des  Kabelkurses  rückten  Ende  August  die  Möglichkeit  eines 
Goldexportes  aus  England  nahe  und  hoben  den  dortigen  Privatdiskont.  Am 
22.  September  setzte  die  englische  Bank  den  Diskont  von  2*/u  auf  :t  Proz. 
hinauf,  um  der  Goldentnahme  entgegenzuwirken.  Iw  Oktober  wurden  zwar 
die  New  Yorker  Geldverhältnisse  günstiger,  doch  die  durch  die  Faschoda- 
Angelegenkeit  erzeugte  politische  Unruhe,  die  hohen  Ansprüche  der  deutschen 
Industrie  und  die  künstliche  Restriktion  des  Geldmarktes  durch  die  Ent- 
nahme von  Geld  seitens  der  Bank  von  England  übten  weiter  einen  Druck 
aus.  Der  Londoner  Kurs  in  Wien  stieg  ziemlich  rasch  weiter  und  er- 
reichte am  27.  Oktober  den  Höhepunkt  von  120'70.  Nach  einem  raschen 
Fallen  um  20  kr.  hob  er  sich  noch  einigemale  um  kleinere  Betrüge  und 
erreichte  um  Mitte  Dezember  neuerlich  den  Stand  von  12070.  um 
dann  bis  JahresschluB  schnell  um  30  kr.  zu  fallen.  Der  französische  Kurs 
blieb  bis  JahresschluB  von  heftigen  Schwankungen  frei  und  hob  sich  nur 
ein  wenig  über  die  Parität.  Dagegen  stieg  der  Berliner  Kurs  langsam  und 
ohne  Sprünge  von  5S'80  im  August  bis  Ö'.H)7  Ende  Dezember.  Im 
Gegensätze  zu  früher  standen  seine  Bewegungen  in  keinem  Ähnlichkeits- 
Verhältnisse  zu  denen  des  Londoner  Kurses.  Diese  Bewegungen  waren  be- 
gleitet von  Diskonterhöhungen  der  Märkte  und  Banken.  Die  Österreichisch- 
ungarische Bank  verminderte  ihren  Bestand  an  Schatzdevisen  zwischen  Ultimo 
August  und  Ultimo  Dezember  von  21,700.000  fl.  auf  6,700.000  11.  Die 
.sonstigen  Aktiven*  fielen  von  ihrem  Höchststände  am  15.  September  bis 
Jahresscbluß  von  28.700.000  fl.  auf  8,600.000  fl.  Die  großen  Devisenabgaben 
bewirkten  neuerlich  eine  Restriktion,  die  um  so  mehr  empfunden  wurde,  als 
das  Getreide  und  Zuckergeschäft  sowie  der  durch  den  niedrigen  Wasser- 
stand gehemmte  Verkehr  im  Oktober  große  Ansprüche  stellten.  Bereits  Ende 
September  trat  ein  steuerpflichtiger  Notenumlauf  von  8,100.000  fl.  ein,  der 
Ende  Oktober  40,200.000  fl.  betrug  und  nach  einer  Abnahme  im  November 
und  Dezember  zu  Jahresscbluß  auf  44,900.000  fl.  stieg.  Am  10.  Oktober 
erhöhte  die  Deutsche  Reichsbank  den  Diskont  anf  5 Proz.,  also  um  1 Proz. 
über  die  Wiener  Rate.  Der  drückende  Geldbedarf  veranlaßte  den  ungarischen 
Finanzminister  am  4.  Oktober  bei  Privatinstituten  6,000.000  fl.  gegen  3proz. 
Verzinsung  zu  erlegen,  was  nur  eine  unbedeutende  Erleichterung  bewirkte. 
Trotz  der  schwierigen  Lage  des  inländischen  Marktes  und  des  ungünstigen 
Standes  der  Wechselkurse  wollte  der  Generalsekretär  der  Österreichisch- 
ungarischen Bank,  Mecenseffy,  den  seit  2 *1,  Jahren  bestehenden  Zinsfuß 
von  4 Proz.  nicht  aufgeben,  sondern  schlug  am  13.  Oktober  in  der  Sitzung 
des  Verwaltungskomitees  das  aus  4 Österreichern  und  2 Ungarn  bestand. 

*,  ViJe  -The  Economitt*  (London)  1898,  8.  1281,  1377  ff. 


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Hern. 


506 


vor.  zuerst  den  ganzen  freien  Devisenvorrat  zu  erschöpfen  und  erst  wenn 
man  zur  letzten  Reserve  — dem  Relationsgewinn  — gelange,  den  Zinsfuii 
zu  erhöhen.  Doch  das  Komitee  beschloß  — wie  .es  hieß  mit  4 gegen 
2 Stimmen  — eine  Diskonterhöhung  auf  4'/»  Proz.  dem  Generalrat  in  Vor- 
schlag zu  bringen.  Auch  in  der  Generalratssitzung  blieb  Mecenseffy  bei 
seiner  Ansicht  — doch  ohne  Erfolg.  Der  Zinsfuß  wurde  auf  4 1/4  Proz. 
erhöht,  am  selben  Tage  ging  London  auf  4 Proz..  Petersburg  auf  5l/j  Proz. 
Selbst  die  Hank  von  Frankreich,  die  den  Diskont  seit  1894  nicht  erhöht 
hatte,  rückte  ihn  um  1 Proz.  hinauf.  — Es  wäre  um  so  sonderbarer  gewesen, 
auf  4 Proz.  stehen  zu  bleiben,  als  ja  die  Bank  von  dem  großen  steuerbaren 
Notenumlauf  5 Proz.  zu  zahlen  hatte;  die  Bank  hätte  also  den  Kredit- 
nehmern direkt  1 Proz.  geschenkt;  nach  der  halbprozentigen  Erhöhung 
betrug  das  Geschenk  doch  wenigstens  nur  die  Hälfte,  über  die  Gründe  der 
allen  Kegeln  der  Bankpolitik  widersprechenden  Haltung  des  Generalsekretärs 
herrschte  die  allgemeine  Meinung,  daß  Ungarns  Einfluß  gegen  die  Diskont- 
erhöhung gewesen  sei.  Am  selben  Tage,  an  dem  die  Generalratssitzung 
stattfand,  erklärt«  übrigens  auch  der  Obmann  des  Ausgleichsausschusses 
und  Schöpfer  des  neuen  Privilegs,  Ungarn  sei  gegen  die  Zinsfußsteigerung. 
Dies  bestätigte  in  der  folgenden  Sitzung  der  Finanzminister  Dr.  Kaizl. 
der  ungab.  beide  Regierungen  seien  Gegner  der  Maßregel  gewesen.1) 

Die  Anspannung  des  deutschen  Geldmarktes  machte  inzwischen  weitere 
Fortschritte.  Die  Reichsbank  setzte  ihren  Diskont  auf  5’/*  Proz.  tü.  November) 
und  6 Proz.  (19.  November)  hinauf.  Die  Österreichisch  ungarische  Bank  folgte 
am  25.  November  mit  einer  Erhöhung  auf  5 Proz.  und  opferte  außerdem 
einen  großen  Teil  ihres  Devisenbesitzes,  wie  aus  den  bereits  angeführten 
Zahlen  sich  ergibt.  Obwohl  fortdauernd  große  Beträge  in  Noten  und  Gold 
von  Wien  nach  Berlin  flössen,  gelang  es  doch,  das  Agio  auf  einer  erträglichen 
Höhe  zu  halten.  Auffallend  ist  es,  daß  trotzdem  der  Berliner  Diskont  weit 
höher  stand  als  der  Londoner,  doch  die  englische  Devise  eine  viel  größere 
Kurssteigerung  durchmachte  als  die  deutsche.  Da  die  Schatzdevisen  in  die 
Notendeckung  eingerechnet  werden,  mußte  ihre  Abnahme  eine  Erhöhung  der 
Steuerpflicht  der  Bank  befördern.  Auch  effektive  Goldabgaben  — doch  nur 
in  geringerem  Umfange  — nahm  die  Bank  vor,  die  Hauptmasse  des  aus- 
fließenden  Goldes  stammte  aus  den  seitens  der  Regierung  bei  den  Privat- 
instituten deponierten  Beträgen.  Am  13.  Dezember  zog  der  österreichische 
Finanzminister  für  10,000.000  fl.  Salinenscbeine  aus  den  Überschüssen  des 
Jahres  1897  ein  und  erlegte  dabei  denselben  Betrag  in  Gold  bei  der  Bank. 
Gegen  Jahresschluß  trat  auf  allen  Märkten  eine  große  Geldteuerung  ein.  die 
Bank  von  Frankreich  wies  fremde  Finanztratten  ab,  um  eine  Erhöhung  des 
Diskonts  zu  vermeiden.  Dies  bewirkte  in  Berlin  eine  Reportsteigerung  bis 
8 Proz.  und  eine  große  Nachfrage  nach  deutschen  Kassennoten  in  Wien. 
Hier  mußte  bei  der  letzten  Versorgung  für  alpiue  Montanaktien  bis  15  Proz. 
Kostgeld  gezahlt  werden,  für  die  übrigen  Papiere  7 bis  10  Proz.  Trotzdem 

*)  VergL  die  Darstellung  in  der  , Neuen  Freien  Presse“  vom  Oktober  1S9Ö 
(^Economist-  Nr.  12.259,  12.261  bi«  12.26^  j. 


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Die  Diskont*  n»-l  Devisenpolitik  'ier  Österreichisch-ungarischen  Bank  etc.  507 

war  der  Jahresultimo  von  einem  Rückgänge  des  Diskonts  und  der  Devisen 
begleitet,  da  man  viel  zu  große  Reserven  angeschafft  hatte  und  der  erwartete 
große  Bedarf  ausblieb.  Laut  Kundmachung  vom  29.  Dezember  tilgte  der  Finanz- 
minister  Salinenscheine  für  20,050.000  ti.,  wodurch  ihr  Gesamtumlauf  auf 
49.500.000  fl.  herabgesetzt  wurde.  Schließlich  ist  noch  zu  erwähnen,  daß  am 
Jahresultimo  der  österreichische  Finanzminister  10.000.000  fl.  Steuerwechsel 
bei  der  Bank  eskomptieren  ließ  und  außerdem  die  Finanzverwaltung  dem 
Giroverkehr  der  Bank  beitrat,  wodurch  die  Möglichkeit  entstand,  Steuer- 
wechsel  durch  die  Bank  einzukassieren.  Im  Jahre  1898  nahm  der  Gold- 
besitz der  Bank  von  368,801  >.000  fl.  auf  359,400.000  fl.  ab.  — Die  Summe 
der  durch  den  Kauf  erworbenen  Valuten,  Devisen  und  anderen  Forderungen 
an  das  Ausland  betrug  354.600.000  fl.,  anderseits  gelangten  321,800.000  fl. 
durch  Verkauf  und  89.200.000  fl.  durch  Verleihung  wieder  in  den  Verkehr. 
Im  Wege  des  Tausches  wurden  ebenfalls  Valuten  und  Devisen  dem  Markte 
Bberlassen.  der  lTmsatz  betrug  hier  268,000.000  fl. 

Das  Jahr  1899  brachte  die  Hochkonjunktur  in  Deutschland,  die  in 
Österreich  freilich  keine  ähnliche  Bewegung  hervorrief,  eine  gute  Ernte  und 
gesteigerte  Preise  aller  Produkte.  Im  letzten  Jahresdrittel  machte  sich  der 
Einfluß  des  Transvaalkrieges  durch  Unterbindung  der  Goldzufuhr  und  starke 
Anspannung  des  englischen  Marktes  fühlbar. 

Hervorzuheben  ist  auch  der  Ober  das  ganze  Jahr  verteilte  hohe  An- 
leihenbedarf auf  den  auswärtigen  Märkten.1)  Die  Devisenkurse  standen  ent- 
sprechend den  internationalen  Diskontverhältnissen  fortdauernd  über  Parität 
ohne  jedoch  (mit  Ausnahme  des  Londoner  großen  Schwankungen  zu  unter- 
liegen. Der  deutsche  und  Pariser  Kurs  bildete  fast  das  ganze  Jahr  hindurch 
eine  wenig  bewegte  Linie,  die  sich  zwischen  12  und  27  kr.-)  über  der 
Parität  hielt.  — Die  zu  Jahresanfang  eintretende  Erleichterung  war  weit 
weniger  ausgiebig  als  in  früheren  Jahren.  Zwar  setzte  die  Reichsbank  am 
17.  Jänner  den  Diskont  von  6 auf  5 Proz.  herab  und  die  Bank  von  England 
zwei  Tage  später  den  ihrigen  von  4 auf  31/,  Proz.,  aber  die  Österreichisch - 
ungarische  Bank  folgte  sowohl  mit  Rücksicht  auf  die  Wechselkurse  als  auch 
infolge  der  Steifheit  des  inneren  Marktes,  die  ungewöhnlicherweise  nach 
Ultimo  Jänner  zu  einer  Eskomptesteigerung  führte,  diesem  Vorbild  nicht 
nach.  Sie  bemühte  sich  auch,  durch  Devisen-  und  Goldabgaben  den  Rück- 
gang der  Wechselkurse  zu  befördern.  Die  Schatzdevisen  fielen  im  Jänner 
von  11,700.000  fl.  auf  5,200.000  fl.,  auch  der  Goldschatz  nahm  um  1,100.000(1. 
ab.  Mehr  als  einen  vorübergehenden  Erfolg  hatte  dies  nicht  und  die  Bank 
begann  daher  vom  Anfang  Februar  an  ihren  Devisenbesitz  zu  stärken,  ohne 
Rücksicht  darauf,  daß  die  Wechselkurse  über  der  Parität  standen.  Zwischen 
Ultimo  Jänner  und  Anfang  Juli  hoben  sich  die  Schatzdevisen  von  5.200.000  fl. 
auf  26.2OO.O00  fl.,  ohne  daß  die  Wechselkurse  sich  merkbar  versteift  hätten. 

')  Vergl.  die  Zusammenstellung  in  deu  Tabellen  zur  Withrungsstatistik  II.  Ausgabe 
2.  Teil.  1901.  S.  155. 

J)  Je  10  kr.  bedeuten  bei  der  französischen  Devise  0-21  Proz..  bei  der  deutschen 
OlT  Proz.  vom  Pari. 


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508 


Hertz. 


Man  darf  also  den  Devisenoperationen  auf  längere  Perioden  keinen  stark 
wirkenden  Einfluß  zuschreiben.  Dagegen  kommen  leichte  Änderungen  des 
Zinsfußes  unter  Umständen  in  scharfen  Kurssteigerungen  zum  Ausdruck. 
Auch  der  Einfluß  des  öffentlichen  Geldbedarfes  konnte  die  Stetigkeit  der 
Wechselkurse  nicht  stören.  Weiler  die  im  Jänner  emittierten  Anleihen  fflr 
Bosnien  und  die  Donauregulierung,  noch  die  anfangs  Februar  subskribierten 
200.000.000  Mark  der  deutschen  und  preußischen  Anleihen  noch  die  zahl- 
reichen anderer  deutschen  Staaten  machten  sich  in  dem  Stande  der  Valuta 
fOhlbar.  Die  Verbilligung  des  Geldes  machte  weitere  Fortschritte.  Anfangs 
Februar  ging  die  englische  Bank  auf  t)  Proz.  herab,  die  Reichsbank  am 
21.  Februar  auf  4‘lS  Proz.  Die  österreichisch  ungarische  Bank  bewahrte  noch 
immer  ihre  Zurückhaltung  und  setzte  den  im  Herbst  erhöhten  Satz  von 
5 Proz.  nicht  herab.  Eine  Hauptursache  des  fflr  die  Jahreszeit  ungewöhnlich 
hohen  Diskonts  lag  fflr  Österreich  in  der  großen  Haussebewegung  besonders 
in  Montanwerten,  weitere  Gründe  waren  eine  Stockung  im  Getreidehandel 
infolge  der  großen  aus  dem  Vorjahre  Testierenden  Mehlvorräte,  die  bedeutenden 
Devisenabgaben  und  die  dadurch  verursachte  Restriktion,  schließlich  ein 
durch  die  Steifheit  der  auswärtigen  Märkte  erzeugter  Effektenrflckfluß.  — 
Im  März  und  April  flbte  der  große  Budapester  Weizenring  einen  merkbaren 
Einfluß  aus.  Die  Tendenz  des  Effektenmarktes  zeigte  sich  auch  in  den  hohen 
Reports,  die  bei  den  Kulissenwerten  Mitte  Februar  bis  16  Proz.  stiegen. 
Ende  März  7 bis  9 Proz.  betrugen  und  erst  im  April  sich  auf  6 Proz. 
ermäßigten. 

In  der  zweiten  Aprilwoche  erfolgte  ein  ziemlich  starkes,  aber  nicht 
lange  anhaltendes  Steigen  des  Londoner  Kurses,  auch  die  anderen  Kurse 
hoben  sich  etwas.  Der  Grund  war  in  der  Einzahlung  auf  die  chinesische 
Anleihe  und  Neuemissionen  von  südafrikanischen  Minenaktien  zu  suchen. 
Die  Bank  gab  einige  Millionen  Devisen  aus  den  „sonstigen  Aktiven*  ab.  In 
wenigen  Tagen  war  der  alte  Kursstand  wieder  hergestellt.  Am  9.  Mai  sank 
die  deutsche  Bankrate  auf  4 Proz.,  zehn  Tage  später  entschloß  sich  die 
Österreichisch-ungarische  Bank  zu  folgen  und  ermäßigte  ihren  Diskont  von 
5 auf  4l/j  Proz.  Aber  schon  war  die  Zeit  einer  neuerlichen  Geldverteuerung 
nahe  und  die  Bank  hatte  wohl  in  einem  Vorgefühl  des  Kommenden  bloß 
eine  halbprozentige  Herabsetzung  ihres  Zinsfußes  vorgenommen.  Vorläufig 
machte  zwar  die  sinkende  Tendenz  noch  Fortschritte.  Seit  Anfang  Juni  war 
der  New  Yorker  Kurs  so  günstig  geworden,  daß  Gold  von  Amerika  nach 
England  floß  und  der  Privatdiskont  bis  2 Proz.  fiel.  Der  Umschwung  kam 
von  Deutschland.  Am  19.  Juni  setzte  die  Reichsbank  den  Diskont  von  4 auf 
4*/t  Proz.  Die  Ursache  lag  vor  allem  in  dem  enormen  Kreditbedflrfnis  des 
dem  Gipfel  sich  nähernden  produktiven  und  spekulativen  Aufschwunges,  ln 
London  bewirkte  dies  Vorgehen  und  eine  RQckziehung  japanischer  Guthaben 
vom  Markte  eine  Versteifung,  die  aber  bald  wieder  durch  die  reichlichen 
Goldzuflflsse  gemildert  wurde.  Die  Bank  von  England  war  in  letzter  Zeit 
mit  Hinblick  auf  die  beträchtlich  zusammengeschmolzene  Goldreserve  stark 
angegriffen  worden,  schon  war  der  Transvaalkrieg  im  Herannahen  und  eine 


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Die  Diskont-  und  Devisenpolitik  der  Österreichisch-ungarischen  Bank  etc.  509 

energische  Stärkung  der  Bannittel  geboten.  Bereits  seit  der  ersten  Juli- 
woche begann  der  Privatdiskont  zu  steigen  und  erreichte  am  12.  Juli  die 
Bankrate,  der  New  Yorker  Kurs  wendete  sich  wieder  nach  unten  und  die 
Bank  erhöhte  am  13.  Juli  ihre  Minimalrate  von  3 auf  31/»  Proz..  nachdem 
sie  tatsächlich  schon  früher  den  neuen  Satz  in  Anwendung  gebracht  hatte. 
Die  Österreichisch-ungarische  Bank,  die  bis  Anfang  Juli  Gold  und  Devisen 
gekauft  hatte,  begann  sofort  mit  bedeutenden  Abgaben.  Die  Devise  London 
erzielte  ein  Leihgeld,  das  Ende  Juli  11'/«  kr.  betrug.  In  Österreich  machte 
sich  bereits  der  Erntebedarf  fühlbar  und  der  Privatdiskont,  der  sich  über- 
haupt nicht  weit  von  der  Bankrate  entfernt  hatte,  erreichte  Ende  Juli 
deren  Höhe.  Da  der  Berliner  Diskont  einige  Zeit  rückgängig  war.  entstand 
eine  Spannung,  die  zur  Plazierung  deutschen  Kapitals  in  Wien  führte.  Der 
deutsche  Kurs  war  seit  Mitte  Juli  im  Sinken  begriffen  und  stand  sogar  am 
2.  und  3.  August  3 kr.  unter  der  Parität  — der  einzige  derartige  Fall  im 
ganzen  Jahre!  Schon  aber  begann  das  Wettrennen  zwischen  der  deutschen 
und  englischen  Bank  um  die  Gewinnung  eines  möglichst  starken  Geld- 
vorrates.1) Am  7.  August  steigerte  die  Reichsbank  ihren  Diskont  auf  5 Proz. 
Der  Berliner  Kurs  kehrte  sofort  auf  seinen  früheren  Stand  — etwa  15  kr. 
über  Pari  — zurück.  Die  Spannung  in  den  Bankraten  drückte  sich  aber  in 
keinem  Steigen  des  Berliner  Kurses  über  das  frühere  Niveau  aus,  er  notierte 
sogar  etwas  tiefer  als  zur  Zeit,  da  der  frühere  Reichsbanksatz  galt.  Es  mag 
dies  dem  Umstande,  daß  der  Berliner  Privatdiskont  sich  nicht  gleich  stark 
gehoben  hatte,  oder  auch  den  Devisenabgnbeu  der  Bank  zugeschrieben  werden. 
Anfangs  September  versetzte  die  Transvaalfrage  und  der  Dreyfusprozeü  die 
Börsen  in  Verstimmung.  Am  18.  Septeuiber  erhöhte  die  Österreichisch- 
ungarische Bank  den  Zinsfuß  von  41/,  auf  5 Proz.  Anfangs  Oktober  begannen 
die  Wechselkurse  scharf  zu  steigen,  allen  voran  der  Londoner,  der  von 
120-65  Ende  September)  binnen  wenigen  Tagen  auf  121T5  (7.  Oktober! 
stieg.  Am  3.  Oktober  setzte  die  englische  Bank  den  Diskont  auf  41/,, 
die  Reichsbank  auf  ti  Proz.  und  nur  drei  Tage  später  stieg  die  englische 
Bankrate  auf  5 Proz.,  die  der  östeneichisch-ungarischen  Bank  auf  (i  Proz. 
Dieses  energische  Vorgehen  und  die  bedeutenden  Devisenabgaben  be- 
wirkten. daß,  als  am  9.  Oktober  der  Krieg  ausbrach,  die  Kurse  bereits 
wieder  im  Fallen  waren  und  speziell  der  englische  Ende  des  Monats  wieder 
die  alte  Höhe  von  120  05  erreicht  hatte.  Bis  Mitte  Oktober  war  der 
Eskompte  der  Notenbank  höher  gewesen  als  im  Vorjahre.  Jetzt  erfolgte 
ein  Umschwung.  Der  starke  Geldbedarf  der  letzten  Zeit  war  offenbar  zum 
Teil  spekulativer  Natur,  dies  zeigte  das  starke  Steigen  der  Giroguthaben 
von  16,800.000  fl.  (7.  September)  bis  30.200.000  ft.  (7.  Oktober).  Die  Ein- 
reichungen waren  eben  hauptsächlich  in  der  Absicht  geschehen,  noch  vor 
der  Diskonterhöhung  billiges  Geld  zu  erlangen  und  sind  die  erhaltenen  Betrüge 
deshalb  sofort  auf  Girokonto  übertragen  worden,  ln  den  nächsten  Wochen 

')  Die  finanzielle  Lage  Deutschland»  und  Englands  in  jener  Zeit  ist  oft  dargestellt 
worden,  so  daß  wir  nur  die  Ergebnisse  bezüglich  des  Diskonts  anführen.  Vergl.  z.  B.  die 
Reichsbank.  187«— 1900,  S.  175  ff. 


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510 


Hertz. 


wurden  diese  Gelder  allmählich  abgehoben,  ln  der  Mitte  der  dritten  Oktober- 
woche vollzog  sich  ein  heftiger  Kurssturz  in  Montanwerten,  deren  Kurs  in 
ganz  Obertriebener  Weise  gesteigert  worden  war.  Gleichzeitig  mit  diesem 
schweren  Zusammenbruch  der  Überspekulation  erholten  sich  die  Kenten- 
kurse wieder,  die  bis  dahin  unter  dem  überschätzten  Zinsfuß  und  einem 
Rückfluß  aus  dem  Ausland  gelitten  hatten.  Auf  den  westlichen  Märkten 
begann  der  Diskont  zu  weichen,  da  ein  reichlicher  Goldzufluß  in  Aussicht 
stand  und  die  englische  Bank  ermäßigte  selbst  den  Eaglepreis.  In  Wien 
übte  der  infolge  des  flotten  Ganges  des  Getreidegeschäftes  geringere  Bedarf 
Budapests  einen  erleichternden  Einfluß,  die  Banken  hatten  ihre  im  Report- 
geschäft angelegt  gewesenen  Kapitalien  dem  Eskompte  zugewendet  und  drei 
großen  Instituten  (Kreditanstalt,  Bankverein,  Unionbankl  standen  infolge 
ihrer  Kapitalsvermehrung  bedeutend  gestiegene  Mittel  zur  Verfügung.  Be- 
merkenswert ist  auch,  daß  der  Besitz  der  Bank  an  bOrseniuäßig  nugekauften 
eigenen  Pfandbriefen  eine  ganz  außerordentliche  Steigerung  erfahren  hatte; 
vom  Jahresanfang  bis  Jahresschluß  hob  sich  ihr  Betrag  von  2.600.000  fl. 
auf  13,500.000  fl.  Die  Ursache  lag  in  dem  Bestreben,  den  Kurs  der  Pfand- 
briefe, den  die  spekulative  Übertreibung  der  Effektenkurse  schädigte,  zu 
schützen.  Diese  Operation  mußte  natürlich  die  auf  dem  Markte  vorhandene 
Notenmenge  vermehren,  wenn  auch  der  Betrag  nicht  sehr  bedeutend  war. 
Seit  dem  Kurssturz  am  18.  Oktober  war  'die  Börse  nach  einer  kurzen  Er- 
holung in  gänzliche  Stagnation  verfallen  und  die  Industrie  schränkte  unter 
dem  Einfluß  des  hohen  Diskonts  ihren  Bedarf  ein.  Es  kam  selbst  vor,  daß 
größere  Industrielle  Hypotheken  aufnahmen,  um  von  dem  billigeren  Hypo- 
thekensatz zu  profitieren.  Alle  diese  Umstände  erleichterten  den  inneren 
Markt,  der  Bankeskompte  war  seit  Mitte  Oktober  geringer  als  im  Vorjahre 
und  diese  Differenz  betrug  Ende  November  zirka  39,000.000  fl.,  wenn  man 
die  10.000.000  11.  Steuerwechsel  berücksichtigt,  sogar  49,000.000  fl.  Von 
prinzipieller  Wichtigkeit  für  die  einheitliche  Diskontpolitik  war  die  durch 
das  1.  Kapitel  des  II.  Teiles  der  kaiserlichen  Verordnung  vom  21.  September 
1899.  H.-G.-Bl.  Nr.  176,  verfügte  und  vom  1.  Novembar  an  tatsächlich 
gewordene  Lösung  des  Verhältnisses  zwischen  der  Zirkulation  der  Salinen- 
scheine und  Staatsnoten.  Durch  diese  Maßregel  wurden  die  Salinenscheine 
einfach  Schatzanweisungen,  die  für  die  Valuta  keine  Bedeutung  mehr  besitzen. 
Übrigens  war  durch  Einlösungen  der  Umlauf  bereits  sehr  herabgemindert 
und  der  größere  Teil  befand  sich  im  Besitze  der  Postsparkasse  und  diverser 
Fonds,  so  daß  in  freier  Zirkulation  höchstens  15  bis  16,000.000  fl.  standen. 
Gleichzeitig  wurde  die  durch  diese  Änderung  nötig  gemachte  Erhöhung  des 
Zinsfußes  der  Scheine  vollzogen. 

In  der  Zeit  der  steigenden  Devisen  hatte  die  Bank  große  Mengen 
Goldwechsel  verkauft.  Zwischen  Anfang  Juli  und  Jahresschluß  sanken  die 
Schatzdevisen  von  26.200.000  fl.  auf  10,100.000  fl.  Der  Goldbesitz  nahm 
in  den  letzten  Jahresmonaten  infolge  von  Regierungserlägen l)  bedeutend  zu 

l)  Hauptsächlich  laut  Übercinkuimneu  vom  2-1.  Juli  1894  bezüglich  des  Austausches 
von  LaudesgoldmOnzen  gegen  Silbergulden  zur  l'rägnng  von  Fünfkronenstückeu. 


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Die  Diskont*  und  Devisenpolitik  der  Österreichisch-ungarischen  Bank  etc.  511 

und  betrug  am  81.  Dezember  398.000  000  fl.  gegen  359,200.000  fl.  zu 
Jahresbeginn. 

Im  Dezember  hatte  die  Bank  noch  eine  harte  Probe  zu  bestehen.  Vom 
1.  Dezember  an  betrug  die  englische  Bankrate  6 Proz.  und  am  19.  Dezember 
mußte  die  Beiehsbank  zum  Schutze  ilireg  Goldes  den  denkwürdigen  Satz 
von  7 Proz.  einfilhren.  Die  Bank  von  Frankreich  erhöhte  zweimal,  am 
7.  und  22.  Dezember  den  Diskont,  und  zwar  zuerst  auf  31/,  dann  auf 
4*/t  Proz.  Außerdem  wurden  noch  die  anderen  kleinen  Mittel  der  Gold- 
politik angewendet:  zinsfreie  Vorschüsse  und  Erhöhung  der  Ankaufspreise 
seitens  der  Bank  von  England,  Prämien  seitens  Frankreich.  Der  Grund  für 
diese  Geldverteuerung  lag  einesteils  in  den  bereits  geschilderten  wirtschaft- 
lichen und  politischen  Verhältnissen  Englands  und  Deutschlands,  haupt- 
sächlich aber  in  den  großen  Goldabflüssen  aus  der  englischen  und  französischen 
Bank  nach  Argentinien.  Der  Wollpreis  und  der  Wollimport  aus  Südamerika 
waren  in  den  letzten  Monaten  außergewöhnlich  gestiegen  und  die  Reserve 
der  englischen  Bank  sank  unter  dem  Einfluß  der  sich  verschlechternden 
Wechselkurse  bedeutend  unter  20.000.000  £.')  Es  erregte  das  größte  Auf- 
sehen. als  die  Österreichisch-ungarische  Bank  am  6.  Dezember  plötzlich  den 
Zinsfuß  auf  5‘/.  Proz.  herabsetzte.  Die  Maßregel  kam  so  überraschend,  daß 
noch  am  selben  Tage  die  ersten  Firmen  zu  6 Proz.  eskomptierten  und  die 
Stornierungsklausel  für  den  Fall  einer  Ermäßigung  der  Banbrate  allgemein 
weggelassen  wurde.  Begründet  wurde  die  Maßregel  mit  dem  Verschwinden 
des  steuerpflichtigen  Notenumlaufes,  der  von  14,170.000  fl.  (Ultimo  Oktober) 
auf  6,250.000  fl.  (7.  November  gesunken  war  und  hierauf  durch  eine  stetig 
steigende  Notenreserve  ersetzt  wurde,  die  Mitte  Dezember  den  Höhepunkt 
von  46,700.000  fl.  erreichte.*)  Die  österreichisch-ungarische  Bank  hatte  also 
einen  Zinsfuß,  der  tun  '/,  Proz.  unter  dem  deutschen  stand.  Die  Folge  war 
ein  sehr  scharfes  Steigen  der  englischen  uud  ein  etwas  weniger  ausgeprägtes 
der  französischen  Kurse,  während  die  deutsche  Devise  höchst  merkwürdiger- 
weise sehr  wenig  berührt  wurde.  Der  Höchststand  der  englischen  Wechsel 
war  gegen  Ende  Dezember  12T70,  der  französischen  48' 10.  der  deutschen 
5910,  was  einer  Entwertung  unserer  Valuta  von  respektive  T34,  1'03 
und  0-54  Proz.  entsprach.  Die  Beurteilung  dieser  Handlung  war  sehr  ver- 
schieden. Der  Zentralverband  der  Industriellen  dankte  dem  Generalrat  in 
einer  Eingabe  für  diese  Erleichterung  des  industriellen  Kredits  und  wünschte 
eine  weitere  Ermäßigung,  Theoretiker  und  Finanzleute  übten  dagegen  scharfe 
Kritik  an  diesem  ungewöhnlichen  Schritt,  z.  B.  eine  Versammlung  von 
Vertretern  der  nordböhmischen  Sparkassen.  Bezeichnend  ist.  daß  in  der 
folgenden  Sitzung  des  Geueralrates  der  Generalsekretär  die  Bank  gegen  den 

*)  Sie  betrug  nach  den  aufeinanderfolgenden  tVochenausweisen  seit  Ende  November 
19.S40.000.  18,950.000,  18.010.000.  17,340.000,  17.850,000  £. 

*)  Am  31.  Dezember  war  wieder  ein  «teucrpflichtiger  Umlauf  von  9,920.000  fl. 
vorhanden,  der  aber  bloß  dem  Umstand  sein  Dasein  verdankte,  dal)  der  Ultimo  auf  einen 
Sonntag  fiel,  dem  ein  Feiertag  folgte,  so  dal)  die  grollen  Inkassi  erst  vom  2.  dünner  an: 
zur  Geltung  kommen  konnten. 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Sozialpolitik  und  Verwaltung.  XU.  Band.  35 


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512 


Hertz. 


Vorwurf  verteidigte,  den  Diskont  nicht  erhöht  tu  haben.  Das  wäre  freilich 
sehr  zu  überlegen  gewesen,  aber  jedenfalls  war  eine  Herabsetzung  des 
Diskonts  in  solcher  Lage  von  recht  anfechtbarem  Werte.  Eine  sehr  regel- 
widrige Erscheinung  war  das  geringe  Steigen  der  Berliner  Devise,  die  vom 
7proz.  Diskont  kaum  betroffen  zu  sein  schien.  Man  kann  hieraus  schließen, 
daß  die  ausländischen  Guthaben  in  Österreich  sehr  gering1)  und  der  Vorrat 
fremder  Wechsel  bedeutend  war  oder  daß  die  Devisenverkäufe  der  Bank 
diese  Wirkung  hervorgebracht  hatten.  Die  Schatzdevisen  nahmen  im  Dezember 
um  11,270.000  fl.,  die  .sonstigen  Aktiven*  um  8,210.000  fl.  ab.  Seit  der 
dritten  Dezemberwoche  war  der  amerikanische  Goldzufluß  nach  London 
bedeutend  und  der  Londoner  Privatdiskont  ging  von  7 Proz.  bis  unter  6 Proz. 
zurück,  so  daß  in  den  letzten  Tagen  des  Jahres  auch  die  Devisenkurse  zu 
sinken  begannen.  Interessant  ist,  daß  damals  die  Möglichkeit  eines  Gold- 
vorschusses seitens  der  Österreichisch-ungarischen  Bank  an  die  Bank  von 
England  erörtert  wurde.  Im  Zusammenhänge  mit  den  hohen  Kursen  erfolgte 
auch  ein  ziemlich  beträchtlicher  Goldeiport  ans  Österreich. 

Jm  Jahre  1809  vermehrte  sich  der  Goldschatz  der  Bank  von  359,400.000  fl. 
auf  393,000.000  fl.  — Davon  erlegten  19,600.000  fl.  die  beiden  Finanzver- 
waltungen. Durch  Kauf  wurden  372,300.000  fl.  an  Devisen  und  Valuten 
erworben,  davon  308,400.000  fl.  durch  Verkauf  und  57,500.000  fl.  durch 
Verleihung  wieder  in  den  Verkehr  gebracht.  Im  Tauschgeschäft  betrug 
der  Umsatz  308,500.000  fl. 

Das  Jahr  1900  ist  durch  die  kriegerischen  Ereignisse  in  Transvaal  und 
China  sowie  durch  den  Umschwung  in  der  Konjunktur  gekennzeichnet.  Die 
unerhörte  Preisübertreibung  und  Überspekulation  führte  zur  Krise,  an  der 
auch  Österreich  mehr  Teil  nahm  als  an  dem  vorhergegangenen  Aufschwung. 
Eine  schlechte  Ernte  und  eine  minder  günstige  Handelsbilanz  blieben  nicht 
ohne  Einfluß  auf  die  Geldverhältnisse.  Einen  großen  Teil  des  Jahres  hin- 
durch — bis  September  — bestand  ein  bedeutendes  Agio,  das  erst  im 
letzten  Jahresdrittel  sich  schnell  senkte.  Die  Devisenkurse  wiesen  dabei  eine 
große  Ähnlichkeit  ihres  Ganges  auf.  Am  höchsten  stand  im  ganzen  Jahre  der 
Pariser  Kurs,  worin  sich  die  Wirkung  der  Weltausstellung  auf  die  Zahlungs- 
bilanz äußerte.  Dann  folgte  der  englische  Kurs,  der  unter  dem  Einflüsse  der 
großen  Gelderfordernisse  des  Krieges  stand.  Der  deutsche  Kurs  notierte  am 
tiefsten. 

Mit  dem  1.  Jänner  trat  das  neue  Privilegium  der  Bank  in  Kraft,  das 
mehrfache  Änderungen  in  den  Ausweisen  hervorbrachte.  Besonders  wichtig 
war  die  große  Vermehrung  des  Goldschatzes  in  der  zweiten  Jahreswoche. 
Von  nun  an  erscheinen  auch  alle  die  Bank  betreffenden  Geldziffern  in  Kroneu. 

Die  Erleichterung,  die  sich  bereits  Ende  Dezember  angekündigt  hatte, 
stellte  sich  im  Jänner  ein.  Der  Londoner  Diskont,  der  Ende  des  Jahres  noch 
6 Proz.  betragen  hatte,  fiel  bis  Ultimo  Jänner  auf  3 Proz..  hauptsächlich 

'•)  So  Dr.  W.  liosenberg  in  zwei  beachtenswerten  Artikeln,  die  die  Bankpolitik 
verteidigen  (.Zeitschrift  für  Staats-  und  Volkswirtschaft“  Nr.  50  und  öl  ei  1899). 


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Die  Diskont-  and  Devisenpolitik  der  Österreichisch-ungarischen  Bank  etc.  513 

unter  dem  Drucke  der  Goldzuflüsse  aus  Amerika  und  vom  Kontinent.  Auch 
an  den  anderen  Plätzen  fiel  der  Diskont,  so  daß  bereits  eine  Österreich 
gfinstige  Spannung  entstand,  die  im  Laufe  des  Monats  den  englischen  und 
deutschen  Kurs  drückte.  Die  Reichsbank  ermäßigte  im  Jänner  ihren  Diskont 
zweimal,  von  7 auf  6 und  von  6 auf  5*/»  Proz.,  die  englische  Bank  gar 
dreimal,  von  6 auf  5,  4*/t  und  4 Proz.,  die  Bank  von  Frankreich  folgte  von 
41/»  auf  4 und  3*/j  Proz.  Am  22.  Jänner  ermäßigte  auch  die  Österreichisch- 
ungarische  Bank  ihren  Satz  von  51/*  auf  5 Proz.  und  am  6.  Februar  auf 
4 '/»  Proz.  Doch  bereits  der  März  brachte  wieder  die  ansteigende  Tendenz 
des  Privatdiskonts,  der  an  allen  Plätzen  zeitweilig  die  Höhe  des  Bank- 
satzes erreichte  und  ihn  in  einigen  Fällen  sogar  überschritt.  Die  Haupt- 
ursache lag  in  den  großen  Kriegsanleihen  der  englischen  Regierung,1)  und 
dem  herannahenden  Quartalschluß.  Im  März,  April  und  Mai  fand  eine 
Reihe  von  größeren  Anlehen  für  deutsche  Staaten  (Bayern,  Württemberg, 
Baden.  Sachsen)  statt.  Der  Privatdiskont  stand  seit  Februar  in  Wien  tiefer 
als  in  Berlin  und  ungefähr  ebenso  hoch  als  in  London,  im  März  wurde  die 
Differenz  gegen  Berlin  bedeutend  (zeitweise  über  1 Proz.).  Die  geringere 
Geldknappheit  Wiens  findet  in  der  völligen  Stagnation  der  Börse  und  in 
dem  großen  Kohlengräberstreik’i  während  der  drei  ersten  Monate  ihre  Be- 
gründung. Dieser  Umstand,  verbunden  mit  der  infolge  der  englischen  Siege 
wieder  beginnenden  Nachfrage  nach  Goldminenaktien  bewirkten  im  Februar  und 
März  ein  Steigen  der  Wechselkurse,  deren  Höhepunkte  in  der  dritten  Märzwoche 
liegen  und  für  den  englischen  Kurs  243  (1-177  Proz.  über  Pari),  für  den  deutschen 
118  70  (0  967  Proz.)  betrugen.’)  Die  französische  Devise  stieg  noch  weiter  und 
erreichte  erst  Knde  April  mit  96-50  (1.338  Proz.)  den  Höchststand  — eine  Folge 
der  am  14.  April  eröffneten  Weltausstellung,  deren  Beginn  naturgemäß  große 
Zahlungen  in  Paris  seitens  der  fremden  Aussteller  und  Besucher  bewirkte. 

Einiges  Aufsehen  erregte  Mitte  Mürz  das  Steigen  der  Lombarddarlehen 
der  Bank  um  8.500.000  K nicht  nur  wegen  dieser  zu  solcher  Jahreszeit 
ungewöhnlichen  Bewegung  selbst,  sondern  der  Ursache  halber,  die  in  der 
Verpfändung  von  10,000.000  K Bankpfandbriefen  seitens  der  Postsparkassa 
lag.  Die  infolge  der  parlamentarischen  Obstruktion  uud  der  Anwendung  des 
§ 14  herbeigeführte  Kassenleere  der  Regierung  machte  nämlich  eine  Stärkung 
des  Barbestandes  der  Postsparkasse  nölig.  Der  hiezu  gewählte  Weg  wurde 
aber  mit  Hinweis  auf  Artikel  55  des  Bankstatuts,  welcher  mit  Ausnahme 
der  unter  gewisse  Kautelen  gestellten  Wechseleskomptierung  jedes  Darlehen 
an  die  Finanzverwaltung  verbietet,  stark  angefochten.  Die  Verteidiger 
dieser  nur  prinzipiell  bedeutsamen  Maßregel  beziehen  sich  darauf,  daß  die 
Postsparkasse  — die  ein  rein  staatliches  Institut  ist  — unter  .Finanzver- 
waltung“ nicht  verstanden  werden  könne. 

')  In  der  zweiten  Märzwoche  30.000.000  £. 

*)  Der  Streik  vernrsachte  große  Koldeniiuportc  an  Stelle  der  sonstigen  Importe. 
Nach  zuverlässigen  Aufstellungen  soll  mit  50.000  000  K der  Schaden  noch  unterschätzt 
sein.  Selbst  viele  Fabriken  maßten  den  Betrieb  einstellen  oder  einschränken. 

>)  Die  Parität  beträgt:  100  M = 1 17-563  K,  100  Frks.  = 95-226  K,  10  i"  = 240174  K. 

36* 


514 


Hertz. 


Die  Wechselkurse  fielen  Anfang  April,  hoben  sich  bis  gegen  Ende 
wieder  um  einen  Teil  der  verlorenen  Höhe  — respektive  der  französische 
Kurs  noch  höher  — und  fielen  dann  den  ganzen  Mai.  Die  tiefsten 
Notierungen  betrugen:  11825  1 0-585  Proz.  Ober  Pari,  Ende  Mai),  212*05 
(0*781  l’roz.,  Anfang  Juni)  und  06*225  (1*049  Proz.,  Anfang  Juni).  Diese 
Bewegung  entsprach  der  Spannung,  die  iu  diesen  Monaten  zwischen 
dem  wenig  veränderten  österreichischen  Diskont  und  dem  weichenden  der 
westlichen  Plätze,  vor  allem  Berlins,  auftrat.  Die  Beendigung  des  Kohlen- 
gräberstreiks (Ende  März)  ermöglichte  einen  großen  Export  von  Kohle  und 
eine  Belebung  der  ganzen  Wirtschaft.  Seit  März  entwickelte  sich  infolge 
der  durch  die  geringe  Kolonialzuckerernte  beförderten  amerikanischen  Nach- 
frage ein  bedeutendes  Zuckergeschäft,1)  ferner  aber  kommen  die  bedeutenden 
Devisenverkäufe  der  Bank  in  Betracht.  Bis  Ende  März  waren  die  Schatz- 
devisen auf  58.000.000  K gestiegen  und  fielen  von  da  an  bis  Ende  Mai  auf 

30.500.000  K,  auch  der  Goldschatz  hatte  sich  schon  während  des  März  um 

6.500.000  K vermindert. 

Im  Mai  fiel  die  Londoner  Bankrate  auf  8*/,  Proz.,  die  französische 
auf  3 Proz..  Mitte  Juni  setzte  die  Bank  von  England  ihren  Diskont  neuerlich, 
und  zwar  auf  3 Proz.  herunter.  Diese  Bewegung  war  eine  Folge  der  durch 
große  amerikanische  und  russische  Goldzuflfisse  hervorgebrachten  Geldfölle. 
In  Berlin  entstand  dagegen  im  Juni  eine  Versteifung,  die  zeitweise  eine 
beträchtliche  Spannung  gegen  Wien  herbeifflhrte  und  die  Kurse  der  deutschen 
Devise  hob.  Veranlaßt  wurde  diese  Geldteuerung  durch  den  großen  Fall  der 
Montanwerte  infolge  der  amerikanischen  und  deutschen  Überproduktion,  ferner 
durch  den  Beginn  der  Expedition  gegen  China.  Die  deutsche  Devise  erreichte 
Ende  Juni  und  Anfang  Juli  den  Höhepunkt  von  1 18  675  (0*946  Aber 
Pari),  dann  aber  begann  sie  langsam  zu  fallen,  wozu  einesteils  ein  Nach- 
lassen des  Diskonts  im  Juli  und  August,*)  anderseits  der  Verkauf  des  Gegen- 
wertes für  den  in  Deutschland  subskribierten  Teil  der  4proz.  ungarischen 
Kronenrente  (Gesamtbetrag  70,000.000  K.  aufgelegt  am  23.  Mai)  beige- 
tragen hat.  — In  Paris  war  der  Diskont  ebenfalls  im  Fallen;  trotzdem  stieg 
der  Wechselkurs  bis  Ende  Juli  und  erreichte  die  Höhe  von  96*625 
(1*469  Proz.  Aber  der  Parität).  Diese  Anomalie  erklärte  sich  einfach  aus 
der  großen  Nachfrage  nach  Pariser  Wechseln  seitens  der  Ausstellungs- 
besucher während  der  Reisemonate  Juni  und  Juli.  Zu  dem  Fallen  im  August 
hat  die  größtenteils  in  Frankreich  vollzogene  Subskription  von  4proz.  SAd- 
bahnprioritäten  (50.000.000  Frks.)  ebenso  beigetragen,  wie  die  große  Spannung, 
die  zwischen  dem  Wiener  und  Pariser  Diskont  entstand.  Um  dieselbe  Zeit 
wurde  auch  die  Staatsbahnprioritäts-Anleihe  im  Betrage  von  84,000.000  Frks. 
durch  Vermittlung  des  Credit  Lyonnais  und  der  Rothschildgruppe  im  Wege 
des  freihändigen  Verkaufes  auf  dem  französischen  Markte  plaziert.  Die 
Operation  war  bereits  im  Herbst  vollendet  und  trug  ebenfalls  zum  Fall  der 


’)  Bericht  der  Wiener  Handelskammer  pro  1900.  Wien  1901,  S.  267. 
*)  Herabsetzung  des  Reichsbankdiskonts  »nf  5 Prot.  (18.  Juli.) 


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Die  Diskont-  und  Devisenpolitik  der  Österreichisch-ungarischen  Bank  etc.  515 

französischen  Devise  bei.  Auch  in  England  stieg  itn  Juli  der  Diskont1) 
infolge  der  Ankündigung  weiterer  Kriegsanleihen  durch  den  Schatzkanzler, 
die  chinesische  Lage  und  den  großen  Goldabfluß  nach  Frankreich.  Dem- 
entsprechend hob  sich  auch  der  englische  Kurs  bis  Anfang  August  auf 
243-05  (1-197  Proz.),  um  dann  rasch  zu  fallen. 

Anfang  August  brachte  einen  heftigen  und  übereinstimmenden  Fall 
aller  Wechselkurse,  der  während  des  Septembers  aufhörte  und  Mitte  Oktober 
neuerlich  in  ganz  rapider  Weise  sich  fortsetzte.  Der  Durchschnitt  des  Kurs- 
standes der  drei  Hauptdevisen  in  Prozenten  über  dem  Relationspari  betrug 
im  August  -+-  1‘153  Proz.,  fiel  noch  in  diesem  Monat  bis  4-  0-805  Proz., 
schwankte  im  September  um  das  Mittel  von  4-  0-811  Proz.  und  fiel  im 
Oktober  von  4-  0-844  auf  0'328  Proz.,  also  um  mehr  als  ein  halbes  Prozent. 
Der  Fall  setzte  sich  in  etwas  weniger  steiler  Weise  fort.  Der  englische 
Kurs  unterschritt  Mitte  Dezember  die  Parität,  der  deutsche  Kurs  gelangte 
in  ihre  nächste  Nähe  schon  Mitte  November,  nur  der  Pariser  Kurs  machte 
im  Dezember  bei  einem  Stande  von  0-498  Proz.  über  der  Parität  Halt. 

Diese  Kursbewegung  entspricht  ziemlich  genau  den  Spannungen  zwischen 
den  Privatdiskonten  Wiens  und  des  Auslandes,  allerdings  sind  diese  Differenzen 
nicht  groß  genug,  um  die  Heftigkeit  der  Schwankungen  allein  aus  dem  Streben 
des  Kapitals  nach  besserer  Verzinsung  zu  erklären.  Der  führende  Kurs  war 
offenbar  der  englische.  Während  der  Kurssteigerung  im  Juli  stand  der  Londoner 
Diskont  stets  unter  dem  österreichischen,  stieg  aber  doch  rascher  als  dieser.*) 
Es  beweist  dies,  daß  eine  Tendenz  zur  Rückziehung  der  englischen  Guthaben 
aus  Österreich  nicht  aus  der  Absicht  höherer  Verzinsung,  sondern  mehr  aus 
Dringlichkeit  der  Geldbeschaffung  entsprang.  Anfangs  August  fand  die  Emission 
von  10,000.000  £ Schatzscheine  statt,  die  zur  Hälfte  in  Amerika  begeben 
wurden.  Dies  brachte  einen  bedeutenden  Goldzufluß  aus  Amerika  hervor,  der 
die  größere  Geldfiüssigkeit  der  folgenden  Zeit  beförderte.  Im  August  hob 
sich  der  Wiener  Diskont  infolge  des  Erntebedarfes  von  41/,  auf  47u  Proz., 
während  er  sich  in  London  von  4 */,  auf  34/a  Proz.  senkte,  womit  der  gleich- 
zeitige Devisenfall  erklärt  wird.  Nach  einer  Versteifung  im  September  wurde 
der  Geldstand  wieder  flüssiger.  Beigetragen 3 - dazu  hat  die  deutsche  Schatz- 
anweisungsanleihe von  80,000.000  M.  in  den  Vereinigten  Staaten.  September 
und  Oktober  brachten  die  krisenhaften  Vorgänge  auf  dem  Berliner  Montau- 
markte, die  auch  den  Wiener  Markt  beeinflußten.  Gerade  Mitte  Oktober  fand 
der  Sturz  der  Devisenkurse  statt,  den  wir  geschildert  haben.  Drsache  war 
nicht  die  geringe  Diskontspanuung.  sondern  Rückfluß  deutscher  Effekten  und 
der  Verkauf  der  für  die  Prioritäten  erlösten  französischen  Valuten.  In  der 
Folgezeit  wirkten  die  im  November  begebenen  restlichen  50,000.000  K 

*)  ZingfnßerhGlmng  der  Bank  von  England  von  3 auf  4 Proz.  am  19.  Juli.  Dies 
war  die  letzte  Zinsfutländerung  einer  großen  europäischen  Notenbank  in  diesem  Jahre, 

*)  Von  2 Proz.  auf  4*/t  gegen  ♦7«  Proz.  bis  4%  Proz.  (Im  Zeitraum  von 
Anfang  bis  Ende  Juli.) 

3)  Der  im  allgemeinen  niedrigere  ZinBstand  der  zweiten  Jahreshälfte  rührte  haupt- 
sächlich von  der  industriellen  Stagnation  her. 


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516 


Hertz. 


ungarischer  Investitionsrente,  die  vom  Konsortium  freihändig  verkauft  wurden, 
im  günstigen  Sinne  auf  die  Zahlungsbilanz.  Auch  die  Handelsbilanz  wies 
einen  beträchtlichen  Aktivsaldo  auf.  der  hauptsächlich  im  Herbst  auf  die 
Wechselkurse  drückte. 

Die  Bank  hatte  seit  Februar  ihren  Zinsfuß  nicht  mehr  verändert. 
Während  der  günstigen  Kursbewegung  im  April  und  Mai  war.  wie  erwähnt, 
ihr  Devisenbesitz  bedeutend  gefallen,  in  der  folgenden  Zeit  der  steigenden 
Devisenkurse  vermehrte  er  sich  aber  wieder  bedeutend.1 1 Die  Bank  scheint 
also  hier  die  Versteifung  der  Kurse  durch  ihre  Käufe  sogar  gefördert  zu 
haben.  Von  Mitte  Juli  bis  Ende  August  nahmen  die  Schatzdevisen  wieder 
um  5.200.000  K ab,  ein  Betrag,  der  bei  dem  ziemlich  starken  Kursfall  nur 
von  nebensächlicher  Bedeutung  gewesen  sein  kann.  Von  Ende  August  an 
nahm  der  Betrag  der  Schatzdevisen  wieder  stark  zu  und  erreichte  im  Oktober 
das  gesetzliche  Maximum  von  60,000.000  K.  Devisen  konnten  also  nur  mehr 
unter  anderen  Posten  sich  vermehren  und  die  .sonstigen  Aktiven*  nahmen 
auch  bis  Ende  November  zu.  wo  sie  das  hohe  Maximum  von  40,900.000  K 
erreichten.  Der  Kursfall  scheint  dadurch  wenig  berührt  worden  zu  sein. 
Wie  der  Geschäftsbericht  der  Bank  uiitteiit,  wurden  Verleihungen  in  diesem 
Jahre  weniger  vorgeuommen,  vielmehr  die  erforderlichen  Devisen  prompt 
verkauft. 

Für  die  Beurteilung  des  hohen  Agios  des  Jahres  1900  ist  ein  bisher 
nicht  erwähnter  Umstand  bemerkenswert,  nämlich  das  Rückströmen  öster- 
reichischer Effekten  während  eines  Teiles  des  Jahres.  Die  „Münchner  Allg. 
Zeitung“  schrieb  diesbezüglich  am  3.  Jänner  1901:  .Der  Rückfluß  öster- 
reichisch-ungarischer Werte  hat  sich  in  solchem  Umfange  vollzogen,  daß 
förmlicher  Stückebedarf  besonders  im  Goldrentenbestand  und  auch  die  übrigen 
österreichischen  Schuldverschreibungen  nicht  entfernt  mehr  in  solchem  Maße 
wie  früher  in  deutschem  Besitz  vorhanden  sind.“ 

Im  Jahre  1900  vermehrte  sich  der  Goldschatz  der  Bank  von  786.000.000  K 
auf  919,600.000  K.  Die  Erläge  der  Regierungen  betrugen  98,300.000  K. 

Das  Jahr  1901  stand  im  Zeichen  der  Krise.  Die  industriellen  und 
finanziellen  Katastrophen  im  Deutschen  Reiche  wirkten  ungünstig  auf  Öster- 
reich, das  doch  in  keinem  unmittelbaren  Zusammenhänge  mit  den  ungesunden 
Wirtschaftselementen  gestanden  war.  Die  industrielle  Ausfuhr  ging  bedeutend 
zurück,  die  Ernte  war  mittelmäßig,  der  Arbeitsmarkt  fühlte  die  ungünstige 
Konjunktur  in  voller  Schwere.*)  Die  Annahme  der  großen  Investitionsvor- 
lagen und  die  Emittierung  der  neueu  Anleihen  erweckte  anfangs  große  Er- 
wartungen, die  aber  durch  das  langsame  Tempo  der  Realisierung  bald  ent- 
täuscht wurden.  Die  Börse  stagnierte,  abgesehen  von  einigen  besseren  Tagen, 
denen  dann  umso  schwerer©  Rückschläge  folgten,  gänzlich.3  Alle  diese  Ver- 

■)  Zwischen  31.  Mai  und  15.  Juli  von  30.500.000  K auf  48,100.000  K (nur  Scbati- 
devisenj. 

*)  Vergl.  die  Belege  im  Wiener  Haiidelskammerberichte  pro  1901,  Wien  1902. 

s.  vn  bi«  nm 

3)  Vergl.  Jahresbericht  der  Wiener  Borsenkammer  im  Jahre  1901. 


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Die  Diskont*  und  Devisenpolitik  der  Österreichisch-ungarischen  Bank  etc.  517 

hältnisse  bewirkten  ein  andauerndes  Sinken  des  Zinsfußes,  in  der  zweiten 
Jahreshälfte  erzeugte  die  Gunst  der  Wechselkurse  eine  große  Vermehrung 
des  österreichischen  Goldbesitzes. 

Eine  Überraschung  war  in  Anbetracht  des  Zeitpunktes  die  Erhöhung 
der  englischen  Bankrate  von  4 auf  5 Proz.  am  3.  Jänner,  deren  Ursache 
in  einer  Deroute  auf  dem  australischen  Minenmarkte  in  dem  andauernden 
Kriegsbedarf  für  Südafrika  i Ausgabe  von  15,000.000  £ Schatzbons)  und  in 
der  Abnahme  der  Bankreserve  (Abfluß  nach  Frankreich  und  Indien)  zu  suchen 
war.  Der  Privatdiskont  folgte  übrigens  dieser  Bewegung  nicht,  er  fiel  im 
Jänner  von  45/s  auf  4 Proz.  Schon  Anfang  Jänner  hatte  der  New  Yorker 
Sterlingskurs  die  günstige  Richtung  eingeschlagen  und  stieg  bis  an  den 
Goldpunkt.  Da  die  Bank  von  England  den  Eaglepreis  ermäßigte,  floß  aber 
das  Gold  nach  Frankreich,  wo  sich,  wie  an  allen  Plätzen  der  Diskont  ver- 
billigte. Während  seit  Mitte  Jänner  der  französische  und  deutsche  Kurs 
fielen,  stieg  der  englische  bis  Anfang  Februar,  doch  blieb  die  Steigerung 
infolge  der  geschilderten  Ereignisse  und  der  bedeutenden  Devisenabgaben  *) 
der  Österreichisch  ungarischen  Bank  in  sehr  mäßigen  Grenzen.  Das 
Maximum  betrug  240-85  (0-281  Proz.  über  der  Parität).  — Die  allgemeine 
Verbilligung  des  Geldes  setzte  sich  im  Februar  fort,  am  7.  Februar  ging 
die  Bank  von  England  auf  4 7,  Proz.,  am  21.  Februar  auf  4 Proz.  herab, 
die  Österreichisch  ungarische  Bank  blieb  aber,  trotzdem  der  Privatdiskont 
fortdauernd  unter  4 Proz.  stand,  auf  dem  Satz  von  47,  Proz.,  wie  der 
Generalsekretär  anfangs  Februar  ausführte,  in  Verfolgung  der  Tendenz,  das 
Publikum  zu  einer  strengereu  Diskontpolitik  zu  erziehen  und  das  Ausland 
von  dem  Ernst  der  Bestrebungen  zur  Herstellung  geordneter  Geldverhältnisse 
zu  überzeugen.  Es  fielen  daher  im  Februar  alle  Devisen,  die  französische 
sogar  von  95-75  auf  95-30  also  um  beinahe  ’/,  Proz.*)  Der  deutsche  Kurs 
senkte  sich  unter  die  Parität.  Ende  des  Monats  wurde  der  deutsche 
Diskont  auf  4 */,  Proz..  der  österreichische  auf  4 Proz.  herabgesetzt.  Mitte 
März  ereignete  sich  das  Kuriosum,  daß  in  Wien,  Berlin  und  London 
der  Privatdiskont  sich  um  4 5/9  Proz.  bewegte.  Tn  den  Monaten  März.  April, 
Mai  erfolgte  eine  leichte  Versteifung  der  auswärtigen  Märkte,  die  sich 
in  einer  Steigerung  der  Devisen  um  etwa  1 bis  3 pro  Mille  ausdrückte. 
Den  Anlaß  haben  wir  einerseits  in  den  großen  Emissionen5)  der  Regierungen, 
deren  Datum  ungefähr  mit  dem  Höchststände  der  betreffenden  Devisen 
zusammenfiel,  anderseits  in  der  großen  New  Yorker  Spekulation  Mitte  Mai 
(Schwänze  in  North  Pacific-Aktien)  zu  suchen.  — Am  22.  April  setzte  die 
Reichsbauk  den  Diskont  auf  4 Proz.  herab,  am  9.  April  hatte  die  Öster- 
reichisch-ungarische Bank  den  seit  drei  Jahren  eingestellten  Eskompte  auf 
offenem  Markte  aufgenommen,  der  ihr  bald  größere  Mengen  langsichtiger 

!)  Sie  betrugen  im  Monat  Junner  auf  London  zirka  14,000.000  K. 

2)  Hauptsächlich  trug  dazu  bei  die  Diskontspannung  Wien— Paris,  die  dazu 
führte,  daß  österreichische  Wechsel  lebhaft  für  Pariser  -Pension“  gesucht  wurden. 

*}  Deutsche  Anleihe  von  300,000.000  M.  und  englische  Anleihe  von  60,000.000  £ 
(April),  russische  Anleihe  von  425,000.000  Frks.  in  Paris  (Ende  Mai). 


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Hertz. 


Wechsel  zuführte.  vom  April  bis  Juni  wurden  zirka  200,000.000  K unter 
der  Bankrate  angenommen. 

Vom  Juni  au  nahm  die  Verbilligung  des  Geldes  immer  mehr  zu.  Das 
durch  den  Zusammenbruch  der  Leipziger  Bank  und  der  Dresdener  Kredit- 
bank erzeugte  Mißtrauen  bewirkte  zwar  Ende  des  Monats  noch  eine  vor- 
übergehende Hebung  des  deutschen  Privatdiskonts,  aber  bald  entstand  eine 
Art  künstliche  Geldfülle,  eine  Nachfrage  nach  ganz  zweifelfreien  Sicherheiten, 
die  bei  einer  Restriktion  des  Kreditumfanges  doch  den  Zinssatz  drückte. 
Seit  Anfaug  Juni  waren  alle  Wechselkurse  unter  Parität')  und  blieben 
es  bis  Jahresschluß.  — Den  tiefsten  Stand  erreichten  sie  im  September  und 
Oktober  mit  117  i0'479  Proz.  unter  Parität),  23805  ( — 0510  Pro*.), 
94-80  ( — 0-447  Proz.).  — Die  Diskontspannung  entsprach  dieser  Bewegung, 
im  Juni  ging  die  englische  Bank  auf  31/,  und  3 Proz..  die  deutsche  auf 
3V,  Proz.  herab,  der  amerikanische  Goldzufluß  dauerte  fort. 

Die  geschilderte  Wirtschaftslage  war  der  großen  österreichischen  In- 
vestitionsanleihe überaus  günstig.  Billiges  Geld  und  Nachfrage  nach  sicheren 
Werten  waren  die  Bürgen  ihres  Erfolges.  Am  20.  Juni  wurden  die  ersten 
125.O0O.000  K der  iproz.  Kronenrente  aufgelegt,  die  im  Ausland  sehr 
günstig  aufgenommen  wurde.  Der  hiedurch  erzeugte  Zufluß  von  Devisen 
beförderte  sehr  das  Sinken  der  Wechselkurse.  Von  sonstigen  Operationen 
dieser  Zeit,  die  Devisenmengen  auf  den  Markt  brachten,  sind  bemerkens- 
wert: die  4proz.  Prioritätsanleihe  des  Lloyd  (18,000.000  JST),  Subskription 
am  15.  Mai  und  vor  allem  die  Vereinbarung,  die  zwischen  der  Unionbank 
und  zwei  ungarischen  Hypothekenbanken  getroffen  wurde  und  die  einen  sehr 
bedeutenden  Export  von  Aktien  und  Obligationen  der  beteiligten  Hypotheken- 
institute bewirkte.*} 

Anfangs  Juli  begannen  bereits  die  Goldimporte,  die  nach  einer  Unter- 
brechung gegen  Ende  des  Monats  bald  wieder  großen  Umfang  annahmeu. 
Ein  großer  Teil  der  eiugeliefcrteu  Münzen  bestand  aus  Eagles.  Die  Bank 
gewährte  in  einzelnen  Fällen  zinsfreie  Vorschüsse  und  schaffte  überdies 
bedeutende  Devisenmengen  an.  Auch  in  das  Lombardportefeuille  wurden 
Devisen  aufgenommen. 

Mitte  Juli  mußte  die  Bank  den  börsenmäßigen  Eskompte  einstellen, 
da  die  Regierung  geltend  machte,  der  Eskompte  habe  nach  den  .Statuten 
in  der  Hegel  zum  einheitlichen  Zinsfuß  zu  geschehen,  der  Eskompte  auf 
offenem  Markte  könne  daher  nur  als  vorübergehende  Maßnahme,  nicht  aber 
als  länger  dauernde  Einrichtung  gestattet  werden.  Im  August  wurde  mehrmals 
kritisiert,  daß  die  Bank  die  Gewährung  zinsfreier  Vorschüsse  ablebnte, 
wodurch  der  Goldimport  beeinträchtigt  wurde. 

1 ) Der  deutsche  Kurs  stand  abgesehen  Tun)  Jänner  und  einigen  Tagen  im  M i n 
nnd  April  das  ganze  Jahr  unter  Pari. 

*)  Vergl.  näheres  in  der  „Neuen  Freien  Presse“  vom  6 und  7.  Juli  1901.  Der 
Betrag  der  nach  nnd  nach  in  Frankreich  plazierten  Werte  dürfte  etwa  60,000.000  K 
betragen  haben. 


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Die  Diskont-  and  Devisenpolitik  der  Österreichisch-ungarischen  Bank  etc.  519 

Schon  gegen  Ende  August  machte  sich  infolge  der  Ernteansprflche ') 
und  den  fälligen  Einzahlungen  auf  die  Kronenrente  eine  Versteifung  be- 
merkbar, die  den  Unterschied  zwischen  Rankrate  und  Privatdiskont  beseitigte. 
Oie  Diskontspannung  gegenßber  dem  Auslande  wuchs  mit  der  gleichzeitigen 
Verbilligung  in  Paris  und  London,  die  Wechselkurse  näherten  sich  dem 
Tiefstand.  Die  Bank  kaufte  auch  direkt  im  Ausland  Gold,  hauptsächlich 
Münzen,  während  die  Firmen  meistens  Barren  einlieferten.  Am  20.  August 
ermächtigte  der  Generalrat  die  Bankleitung  nach  Maßgabe  ihres  geschäft- 
lichen Ermessens  Zwanzigkronenstücke  in  den  öffentlichen  Verkehr  zu  bringen. 
Man  wünschte  durch  diese  Maßregel  die  Bevölkerung  mit  dem  neuen  Oelde 
vertraut  zu  machen  und  die  Höhe  des  Thesanrierungsbodürfnisses  kennen 
zu  lernen.’)  Gleichzeitig  wurde  der  gesamte  restliche  Golddienst  der  Re- 
gierungen der  Bank  übertragen  und  seitens  der  Regierungen  ein  großer 
Golderlag  zu  Zwecken  der  Staatsnoteneinlösung  gemacht.  Ende  August 
griff  die  Reichshank  zu  dem  Mittel,  nur  abgenutzte  Goldmünzen  herauszu- 
geben, was  zu  einem  Stocken  im  Goldimport  führte,  obwohl  die  deutsche 
Devise  am  tiefsten  stand. 

Mitte  September  wurde  der  Wiener  Effektenmarkt  durch  starke  Kurs- 
bewegungen beunruhigt,  die  von  Deutschland  und  Amerika  ausgingen.  Der 
Geldstand  blieb  andauernd  in  nächster  Nähe  der  Bankrate.  — Eine  auf- 
fällige Bewegung  zeigte  der  Pariser  Kurs,  der  im  Oktober  plötzlich  bis 
nahe  an  die  Relation  stieg,  sie  im  November  und  Dezember  zeitweise 
erreichte  und  gegen  Jahresschluß  wieder  fiel.  Auch  die  anderen  Kurse  hoben 
sich  in  den  letzten  Monaten  in  wenig  übereinstimmender  Weise.  Berlin  und 
London  kehrten  zum  4proz.  Banksatz  zurück.  Das  Steigen  der  französischen 
Devise  war  zum  Teil  iu  der  Emission  von  265,000.000  Frks.  Renten  be- 
gründet, die  am  21.  Dezember  subskribiert  wurden.  Auch  in  Österreich 
wurden  in  den  letzten  Jahresmonaten  Neuemissionen  vorgenommen.  Das 
Konsortium  optierte  Ende  Oktober  20,000.000  Ä'  Kronenrente  und  am 
12.  Dezember  nochmals  42,500.000  K,  die  alle  freihändig  verkauft  wurden. 
Ins  Ausland  wanderten  ferner  1,800.000  K 4proz.  Lokalbahnprioritäten,  die 
der  niederösterreichische  Landesausschuß  an  eine  französische  Bank  verkaufte. 

Noch  zu  Jahresschluß  war  der  Diskont  an  allen  Hauptplätzen  niedrig, 
die  steuerfreie  Notenreserve  der  Österreichisch-ungarischen  Bank  erreichte 
in  der  dritten  Dezemberwoche  den  an  und  für  sich  hoben  und  in  Anbetracht  der 
Zeit  geradezu  abnormen  Betrag  von  331,590.000  K,  was  zum  Teil  eine  Folge 
der  großen  Goldimporte  war,  die  den  Bankmitteln  Konkurrenz  bereiteten. 

Der  Goldschatz  der  Bank  vermehrte  sich  in  diesem  Jahre  von  919,600.000/T 
auf  1.116,100.000  K.  Die  Finanzverwaltungen  erlegten  86.350.000  K,  tarif- 
mäßig angekauft  wurden  152,980.000  K.  in  Geschäften  eingenommen 

’i  Die  Infolge  der  reichen  amerikanischen  Ernte  auftretenden  niedrigen  Preise 
verursachten  eine  Stockung  im  inländischen  Absatz,  da  die  Landwirte  mit  dem  Verkant 
warteten  und  ihre  Vorräte  vorläufig  belehnen  ließen . 

*)  Da  sehr  viel  über  den  Mangel  an  kleinen  Geldstückeu  geklagt  wurde,  den  die 
Staatsnoteneinziehnng  verursacht  habe,  wurden  später  auch  Zehnkronenstücke  ansgegeben. 


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Hertt. 


195.200.000  K.  Der  Goldausgang  betrug  237,960.000  K.  Außerdem  wurden 
aber  61,000.000  K in  Landesgoldmünzen  in  den  freien  Verkehr  gebracht, 
von  denen  big  Jabreaschluß  nur  6,000.000  K zur  Bank  rückgeströmt  waren. 

Die  krisenhafte  Wirtachaftalage  und  der  abnorm  billige  Zinsstand 
setzten  sich  im  Jahre  1902  fort.  Dio  Notenreserve  der  Österreichisch- 
ungarischen  Bank  erreichte  gegen  Ende  Jänner  die  volle  Hohe  des  Noten- 
kontingents von  400,000.000  K.  der  Privatdiskont  sank  unter  3 Proz.  Zu 
Jahresanfang  hatten  London.  Paris  und  Berlin  den  Zinssatz  von  4 Proz. 
Mit  Rücksicht  auf  die  Geldfülle  nahm  die  Österreichisch-ungarische  Bank 
schon  am  7.  Jänner  den  Börseneskompte  auf.  Mitte  des  Monats  fiel  die 
Berliner  und  Londoner  Bankrate  auf  3‘/ä  Proz.,  die  Österreichisch-ungarische 
Bank  folgte  erst  am  4.  Februar  um  gleich  wieder  von  der  englischen  Bank 
überholt  zu  werden,  die  am  6.  Februar  auf  3 Proz.  berabgiug.  Bis  Ende 
Jänner  stand  der  Berliner  Privatdiskont  unter  dem  Wiener  Satz  und  die  Devise 
Berlin  wich  in  Wien  um  ein  geringes.  Übrigens  war  die  Meinung  allgemein, 
daß  dabei  mit  Rücksicht  auf  die  Sproz.  Reichsauleihe  il  15,0000.000  M. 

22.  Jänner  Subskription;  — künstlich  nachgeholfen  wurde.  Am  selben  Tage 
wurde  der  Restbetrag  der  4 proz.  Kronenanleihe  von  62,500.000  K an  das 
Konsortium  gegeben  und  in  der  folgenden  Zeit  freihändig  abgesetzt. 

Am  12.  Jänner  setzte  die  deutsche  Reichsbank  ebenfalls  ihren  Diskont 
auf  3 Proz.  fest,  so  daß  Berlin,  Paris  und  London  den  gleichen  Banksatz 
besaßen.  Gleichzeitig  mit  der  Herabsetzung  auf  3*/,  Proz.  — ein  niemals 
früher  erreichter  Satz!  — hatte  die  Österreichisch-ungarische  Bank  den 
börsenmäßigen  Eskompte  eingestellt.  Im  Budgetausschuß  brachte  der 
Abg.  Forscht  diesen  Umstand  mit  Rücksichten  auf  die  ungarische  Kon- 
version in  Verbindung.  — Übrigens  wurde  er  bereits  am  25.  Februar  wieder 
aufgenommen  und  die  Bank  eskomptierte  im  März  sogar  unter  3 Proz.  Am 

23.  März  betrug  die  Notenreserve  der  Bank  die  ungeheure  Summe  von 

457.600.000  K , der  Metallschatz  von  1.439,400.000  K war  um  71,900.000  K 
größer  als  der  gesamte  Notenumlauf.  Der  Privatdiskont  betrug  fortdauernd 
schon  seit  Februar  in  Wien  ebensoviel  wie  in  Paris,  nämlich  zwischen 
2l/t  und  2'/j  Proz.,  wogegen  er  sich  in  London  infolge  des  Kriegsbedarfes 
auf  2%  bis  2*/«  Proz.  stellte.  Die  Folge  war  ein  langsames  Steigen  der 
Londoner  und  Pariser  Devise  bis  Mitte  April  und  nach  einem  Fall  zu  Ende 
des  Monats,  von  da  an  bis  Mitte  Mai.  Die  Kurse  auf  Berlin,  wo  ein 
überaus  niedriger  Zinsfuß  herrschte,1)  blieben  das  ganze  Jahr  unter  Parität 
und  hoben  sich  in  der  angegebenen  Zeit  kaum  um  0-1  Proz.  Die  französische 
Devise  stand  vom  Anfang  Jänner  bis  Juni  über  Parität,  während  die 
englische  sie  nur  im  April  und  Mai  vorübergehend  überschritt.  Die  Haupt- 
Ursache  der  Kurssteigerung  der  Devisen  waren  übrigens  nicht  sowohl  die 
Zinsfußdiffereuzcn,  obwohl  insbesondere  viele  französische  Devisen  infolge 
Ablaufes  von  Pensionen,  die  nicht  erneuert  wurden,  nötig  waren,  sondern 
der  Bedarf  für  die  Deckung  gekaufter  Goldshares,  englischer  Diskonten, 

*)  Anfangs  Märt  fiel  er  oaf  1 ■/,  Prot. 


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Die  Diskont-  und  Devisenpolitik  der  Österreichisch-ungarischen  Bank  etc.  521 

für  effektiven  Bezug  englischer  Konsols  und  Verwendung  im  Londoner 
Reportgeschäft.  Im  April  wurde  ein  Wiener  Kommunalanlehen  im  Betrage 
von  286,000.000  K aufgenommen,  wovon  100.000.000  K zur  Subskription 
(davon  70,000.000  K im  Ausland)  aufgelegt,  der  Rest  aber  dem  Credit 
Lyonnais  zum  freihändigen  Verkauf  gegeben  wurde.  Ein  Fall  der  Devisen 
war  die  Folge.  Anfangs  Mai  hoben  sie  sich  aber  wieder  infolge  des  großen 
Bedarfes  an  fremden  Wechseln  anläßlich  der  um  diese  Zeit  stattfindenden 
Konversionen.1) 

Die  Bank  hat  während  der  Devisensteigerung  in  der  ersten  Jahreshälfte 
bedeutende  Abgaben  an  Gold  vorgenommeu.  so  daß  das  Agio  in  ganz  mäßigen 
Grenzen  blieb.  Übrigens  kommen  in  der  Abnahme  des  Goldschatzes  auch  der 
Couponbedarf  der  Regierungen,  die  Balkananforderungen  u.  s.  w.  zum  Ausdruck. 

Seit  Juni*)  waren  die  Devisen  rückgängig  und  blieben  es  bis  Oktober, 
am  tiefsten  stand  die  deutsche,  die  Ende  Oktober  den  Stand  von  116-82 
erreichte,  dann  folgte  die  englische,  die  zur  selben  Zeit  239  05  notierte. 
Der  Pariser  Kurs  senkte  sich  dagegen  seit  August  nur  wenig  unter  die 
Parität.  Am  5.  Juli  fand  die  Subskription  auf  48,000.000  K der  bosnischen 
Anleihe  statt,  die  zum  Teil  in  deutschen  Besitz  gelangte.  Seit  der  dritten 
Juliwoche  begannen  die  durch  die  Wechselkurse  verursachten  Goldimporte, 
obwohl  die  Bank  zinsfreie  Vorschüsse  ablehnte.  Mitte  September  herrschte 
in  New  York  eine  bedeutende  Geldnot  und  österreichisches  Geld  ging  durch 
Vermittlung  deutscher  und  englischer  Häuser  nach  Amerika.  Man  schätzte 
diese  Guthaben  auf  etwa  100,000.000  K.  — Am  22.  September  wurde  der 
Eskompte  auf  offenem  Markte  eingestellt,  da  die  große  Ernte  und  die  er- 
wartete Zinserhöhung  in  London  ein  Haushalten  mit  den  Mitteln  der  Bank 
empfahlen.  — Am  25.  September  wurde  beschlossen,  von  nun  an  einen 
variablen  Ankaufstarif  für  Goldmünzen  zu  führen  und  die  Geschäftsleitung 
zu  den  erforderlichen  Änderungen  zu  ermächtigen.  Es  sollten  häufig  ge- 
brauchte Münzsorten  begünstigt,  dagegen  selten  verwendbare  wie  Eagles 
und  Yens  herabgesetzt  werden.  Da  die  Bank  für  das  Balkangeschäft  stets 
große  Mengen  Napoleonsdors  benötigte  uud  die  Bank  von  England  für  diese 
Sorte  bisher  einen  besseren  Preis  zahlte  als  die  Österreichisch-ungarische 
Bank,  setzte  man  am  4.  Oktober  die  Frankspreise  von  2,946-47  K auf 
2,951-0  K hinauf.  Prinzipiell  wichtig  ist,  daß  mit  der  Einführung 
des  variablen  Tarifes  eine  neue  Waffe  im  Kampf  um  Gold 
geschaffen  wurde.  Zu  gleicher  Zeit  äußerten  amerikanische  Banken 
die  Absicht,  von  der  Österreichisch-ungarischen  Bank,  die  neben  der  Bank 
von  Frankreich  allein  größere  Eaglemengen  besitzt,  amerikanische  Gold- 
münzen zu  beziehen,3)  wozu  die  Bank  ihre  Zustimmung  prinzipiell  gab. 
Anfangs  Oktober  stieg  der  Diskont  der  englischen  uud  deutschen  Bank  auf 

*)  Ungarische  Konversion  und  Umwandlung  der  Karl-Ludwigsbahn-Obligationen 
(für  beide  Schluß  der  Subskription  am  10.  Mai). 

a)  Die  französische  Devise  stieg  im  Juni  und  fiel  vom  Anfang  Juli  an  bis  Anfang 
Oktober. 

*)  Vergl.  .Zeitschrift  für  Staats-  und  Volkswirtschaft“.  1902.  Nr  XV. 


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522 


Hertz. 


I Proz.  Trotzdem  der  österreichische  Satz  nur  8'/s  Proz.  betrug,  waren 
die  Devisen  bis  Ende  des  Monats  rückgängig. ')  — Erst  vom  Anfang  No- 
vember an  hoben  sie  sich  wieder  etwas  bis  Jahresschluß.  Die  Bank  sah  für 
den  Rest  des  Jahres  von  einer  Erhöhung  des  Diskonts  völlig  ab,  da  die 
sehr  große  Notenreserve  es  nicht  wahrscheinlich  machte,  daß  der  Markt  der 
Erhöhung  Folge  leisten  würde. 

Im  Laufe  des  Jahres  war  die  Bank  im  stände,  nicht  nur  Gold  an  sich 
zu  ziehen,  sondern  auch  ihren  Devisenvorrat  auf  eine  ganz  außerordentliche 
Höhe  zu  bringen.*'  Der  Generalsekretär  erklärte  dies  damit,  daß  infolge  der 
Krise  große  Rohstoffanschaffungen  unterblieben  und  die  dafür  sonst  ver- 
wendeten Devisenmengen  der  Bank  zuflossen.  Wiederholt  wurde  ferner  darauf 
hingewiesen,  daß  die  ungünstige  Lage  der  Industrie  sich  auch  in  dem 
Rückfluß  gerade  jener  Sorten  von  Zahlungsmitteln  äußerte,  die  hauptsächlich  zu 
Lohnzahlungen  und  sonstigen  Zwecken  des  Kleinverkehrs  gebraucht  werden. 

Die  ganze  dargestellte  Entwicklung  zeigt  einen  stetigen  Fortschritt  in 
der  Richtung  zur  Einheitlichkeit  und  Festigkeit  in  der  Anwendung  des 
Diskonts.  Die  jede  Bankpolitik  durchkreuzende  automatische  Regelung  des 
Balinenscheinumlaufes  ist  verschwunden,  die  Versorgung  des  Marktes  mit 
Geldmitteln  durch  die  Regierungen  bedeutungslos  geworden.  Aber  auch 
die  Bank  hat  in  den  letzten  Jahren  eine  früher  nie  beobachtete  Sicherheit 
und  Energie  in  Ausübung  der  ihr  eingoräumten  Macht  zum  Schutze  unserer 
Währung  bewiesen.  Die  folgende  Tabelle  gibt  die  Spannung  zwischen  den 
höchsten  und  tiefsten  Kursen  der  Devisen  in  Prozenten  des  Relationspari  an. 


Wiener 
Kur»  auf: 

Berlin: 

Paria: 

London : 

Berliner  Kurs 
auf  London : 

1893  . . 

. . . 613 

5'74 

6-98 

0-88 

1894  . . 

. . . 1'44 

1-98 

1-86 

0-64 

1895  . . 

. . . 4 00 

4-31 

3-88 

0-49 

1896  . . 

. . . 1-44 

1 51 

1-83 

0-64 

1897  . . 

. . . 1-02 

069 

1-08 

0-54 

1898  . . 

. . . 0-64 

0-94 

112 

083 

1999  . . 

. . . 0-59 

0-79 

1 19 

088 

1900  . . 

. . . 0-96 

0-97 

1*24 

0 54 

1901  . . 

. . . 0'55 

115 

0-79 

0-54 

1902  . . 

. . . 0-74 

0-53 

0-72 

— 

')  Hauptsächlich  infolge  der  noch  immer  aus  dem  Effektenezport  zuströmenden 
Wechsel.  Fenier  zogen  Österreichische  Firmen  ihre  (iuthaben  aus  dem  Ausland  in  der 
Erwartung  eines  größeren  Herbstbedarfes  zurück.  Der  französische  Kurs  stieg  im 
Oktober  etwas,  was  vielleicht  ndt  dem  aus  politischen  Gründen  ^Kongregationen)  ent- 
springenden ItOekzieliungen  von  Geld  aus  den  Banken,  zum  Teil  auch  mit  anderen 
Umständen  zu  erklären  ist.  — Im  Oktober  fand  ein  neuerlicher  Goldimport 
nach  Österreich  statt,  und  zwar  hauptsächlich  ans  London,  trotzdem  die 
englische  Bank  einen  um  ’/,  Proz.  höheren  Diskont  hatte  als  die  Öster- 
reichisch-ungarische! Ein  Beweis  dafür,  daß  Diskonterhöhungen  durch- 
aus kein  unfehlbares  Mittel  sind. 

3)  Der  gesamte  Besitz  an  Devisen  and  Goldfordernngen  stellte  sich  zum  Jabres- 
«chluB  auf  208*6  Mill.  K. 


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Die  Diskont-  and  Derwenpolitik  der  Uiterrcichisch-angariachen  Bank  ttc  523 

Ans  dieser  Zusammenstellung  geht  hervor,  daß  die  österreichischen 
Wechselkurse  heute  von  der  Relation  sich  nicht  viel  weiter  entfernen  als 
dies  in  barzahlenden  Ländern  der  Fall  zu  sein  pflegt.  Die  Schwankungen, 
die  früher  im  Laufe  weniger  Tage  um  ganze  Einheiten  vorkamen,  bemessen 
sich  heute  nur  mehr  nach  zehntel  Prozenten.  Aus  graphischen  Darstellungen 
des  Ganges  der  Wechselkurse  ergibt  sich  ferner  die  große  Ruhe  der  Linien, 
die  früher  in  fortwährendem  Steigen  und  Fallen  begriffen  waren.  Besonders 
wichtig  ist  aber,  daß  die  Abweichungen  von  der  Parität  in  den  letzten 
Jahren  meist  zu  unseren  Gunsten  vorkamen  und  einen  Goldstrom  nach 
Österreich  führten.  Ein  Hauptgrund  dieser  Kursgestaltung  liegt  in  den 
fortgesetzten  großen  Effektenezporten.  Natürlich  werden  die  Passivzinsen  in 
künftigen  Jahren  unsere  Zahlungsbilanz  wieder  ungünstig  beeinflussen.  Aber 
eine  kräftige  Bankpolitik  wird  dennoch  die  Währung  zu  schützen  vermögen, 
wie  sie  es  bisher  in  Jahren  eines  überwiegenden  Effektenexportes  im  stände 
war.  Die  Frage  lautet  nur,  ob  die  Anwendung  der  Devisen-  oder  der  Diskont- 
politik vorzuziehen  sei.  Ein  Ergebnis  unserer  Darstellung  ist,  daß  beide 
Mittel  an  ihrem  Platze  nützlich  wirken.  Gegen  Störungen  der  Valuta,  die 
aus  rasch  vorübergehenden  Ursachen  entspringen  (Kriegsgefahr,  Börsen- 
krisen  n.  s.  w.),  wird  die  Abgabe  von  Goldforderungen  besser  wirken  als 
die  schwerfällige  Diskonterhöhung,  deren  Wirkung  für  die  ganze  Laufzeit 
der  von  ihr  betroffenen  Wechsel  anhält.  Dagegen  werden  aus  lang 
anhaltenden  Ursachen  i Effektenezport.  schlechte  Handelsbilanz,  Wirtschafts- 
krisen u.  s.  w.)  entspringende  Devisenschwankungen  nur  durch  eine 
Handhabung  des  Diskonts  bekämpft  werden  können.  Immer  muß  natürlich 
berücksichtigt  werden,  daß  die  Lage  des  Marktes  das  Vorgehen  der 
Bank  unterstützen  muß.  Eine  Diskonterhöhung  hat  nur  dann  Aussicht 
auf  Erfolg,  wenn  die  vorhandenen  Mittel  des  Marktes  so  gering  sind,  daß 
er  wesentlich  auf  die  Bank  angewiesen  ist  und  der  Verkauf  einiger  Millionen 
Devisen  kann  nichts  nützen,  wenn  eine  ungünstige  Zahlungsbilanz  Hunderte 
von  Millionen  erfordert. 

Wie  aus  unserer  Darstellung  hervorgeht,  bewirkt  übrigeus  auch  die 
Devisenabgahe  indirekt  eine  Versteifung,  indem  sie  Noten  aus  dem  Verkehr 
zieht  und  führt  so  die  Tendenz  zum  Steigen  des  Diskonts  herbei.  Auch 
an  die  Wirkung  des  Reports  auf  die  Devisenkurse  sei  nochmals  erinnert. 

Die  öffentliche  Meinung  Österreichs,  die  hauptsächlich  vom  kleinbürger- 
lichen Interesse  beherrscht  wird,  ist  einer  energischen  Diskontpolitik 
ungünstig  gesinnt.  Die  Wortführer  des  Kleinbürgertums  haben  immer  im 
billigen  Kredit  eine  Art  soziale  Panacee  gesehen  von  Proudhon  angefangen 
bis  Professor  Schlesinger.  Natürlich  schließen  sich  ihnen  die  Wünsche 
der  Agrarier  an.  Wiederholt  ist  in  den  Generalversammlungen  die  Forderung 
ausgesprochen  worden,  die  Bank  möge  dem  .kleinen  Mann*  in  reichlicherem 
Maße  billigen  Kredit  gewähren.  Die  Bankleitung  hat  diesem  Ansinnen  bisher 
stets  Widerstand  geleistet.  Wie  aus  unserer  Darstellung  hervorgeht,  ist 
insbesondere  die  ungarische  öffentliche  Meinung  sehr  für  einen  niedrigen 
Diskont  eingenommen.  Auch  ihre  Opposition  gegen  die  dauernde  Anwendung 


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524 


Hertz. 


<ies  börseumäßigen  Eskomptos  entspringt  offenbar  dieser  Tendenz.1)  Die 
ungarische  Wissenschaft  vertritt  natürlich  das  patriotische  Interesse.  Pro- 
fessor Heia  Feldes  hat  in  einem  in  der  ungarischen  Akademie  der 
Wissenschaften  gehaltenen  Vortrag’)  u.  a.  folgende  Bemerkungen  gemacht: 

, Hinsichtlich  der  Anwendungen  der  Diskontänderungen  glauben  wir  nicht 
zu  irren,  daß  in  Österreich-Ungarn  diesbezüglich,  ebenso  wie  in  Frankreich, 
große  Sensibilität  herrscht:  gerade  in  Österreich-Ungarn  kann  der  Fall 
eintreten,  daß  die  Erhöhung  des  Diskonts  die  Produktivität  erschwert,  die 
in  vielen  Fällen  das  einzige  endgiltige  Mittel  ist,  um  eine  günstige  Änderung 
der  Zahlungsbilanz  herbeizuführen  u.  s.  w.‘  (S  683).  Fenier  auf  Seite  685: 
.Was  aber  speziell  die  Handhabung  der  Diskontpolitik  betrifft,  so  haben 
wir  zur  Genüge  gesehen,  daß  dieselbe  auf  vielfache  Schwierigkeiten  stößt, 
viele  Interessen  verletzt  und  in  ihren  Resultaten  auch  uicht  immer  zuverlässig 
ist.  Eine  lieihe  von  Beispielen  ließen  sich  dafür  anführen,  daß  die  Diskont- 
politik ihre  Dienste  versagt.*  Aus  dem  interessanten  Vortrag  Földes  geht 
aber  eher  das  Gegenteil  seiner  Schlußfolgerung  hervor  und  die  .Reihe  von 
Beispielen“  wird  uns  vorenthalten.  Auf  österreichischer  Seite  ist  wiederholt 
die  Bank  von  Frankreich  mit  ihrer  Prämienpolitik  unserer  Bank  als  Muster 
vorgeführt  worden,  so  seitens  Landeshergers  u.  a.,  ja  in  Deutschland 
hat  man  den  Erfolg  dieser  Bemühungen  bereits  eskomptiert  und  glaubt  — 
wenigstens  in  gewissen  Kreisen  — daß  die  Bank  bereits  Goldprämien  erbebe. 
Die  vollständige  Unrichtigkeit  dieser  Behauptung  ist  offenbar,3)  da  ja  die 
Bank  überhaupt  noch  gar  nicht  verpflichtet  ist,  bar  zu  zahlen.  Es  ist  selbst- 
verständlich, daß  die  gefährlichen  Seiten  einer  Prämienpolitik  in  Österreich 
viel  fühlbarer  werden  würden  als  in  Frankreich.  Hier  ein  Reich,  das  eben 
erst  mit  ungeheuren  Opfern  das  Vertrauen  des  Auslandes  für  seine  Valuta 
und  Finanzen  gewonnen  hat  und  ein  schwer  belastetes  Schuldnerland  ist, 
dort  ein  Land  von  sprichwörtlichem  Wohlstand,  dessen  riesige  Aktivzinsen 
die  ungünstige  Wirkung  der  Prämienpolitik  auf  die  Devisenkurse  verringern. 
Merkwürdig  ist,  daß  selbst  die  industriellen  Kreise  in  Österreich  zu  den 
Befürwortern  eines  niedrigen  Diskonts  gehören.  Das  zwölftel  Perzent,  das 
eine  Erhöhung  von  1 Proz.  im  Monat  ausmacht,  fällt  bei  der  großen  Ren- 
tabilität der  meisten  österreichischen  Industrien  gewiß  nicht  in  die  Wagschale, 
während  Schwankungen  der  Wechselkurse  unsere  Konkurrenzfähigkeit  auf 

1 Der  Eskorapte  unter  der  Bankrate  kommt  nämlich  nur  ansgesuchtem  Wechsel- 
material  zu  gute.  Wenn  er  in  Zeiten  niedrigen  Zinsfußes  der  Bank  nicht  freisteht,  so 
muß  diese,  um  überhaupt  Wechsel  zu  bekommen,  den  allgemeinen  Zinsfuß,  der  für  alle 
Provenienzen  gilt,  herahsetzen. 

5i  B.  Feldes.  .Cher  Maßregeln  zum  Schutze  der  Edelmetallreserve*  in  .Jahrbücher 
für  Nationalökonomie  und  Statistik*  1895,  II.  Folge.  Band  9.  S.  Ö71.  ff. 

’)  Vergl.  über  die  Wirkung  der  Prämienpolitik  besonders  die  Abhandlung  Rosen- 
dorffs in  den  .Jahrbüchern  für  Nationalökonomie  und  Statistik.*  1901,  II.  Folge,  21  Band, 
S.  GS2  ff.  Ks  ist  jedoch  anderseits  auch  nicht  richtig,  daß.  wie  oft  behauptet  wird,  die 
• laterrcichische-ungarisclie  Bank  französische  Devisen  nicht  als  GolddeviBen  betrachtet 
und  sie  daher  au»  den  Schatzdcrisen  ausschiießt.  Der  relativ  geringe  Vorrat  französischer 
Devisen  ist  nur  ihrer  geringen  Rentabilität  zuzuschreiben. 


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Die  Diskont-  und  Devisenpolitik  der  österreichisch-ungarigchen  Bank  etc.  525 

den)  ungeschützten  Weltmärkte  sehr  fühlbar  treffen  können.  Dagegen  ist 
der  Zwischenhandel  mit  Geld  und  Werten  — also  vor  allem  die  Börse  — 
ebenso  an  jedem  kleinsten  Bruchteil  des  Zinsfußes  wie  an  den  Schwankungen 
der  Devisen  wesentlich  interessiert.  Die  Veränderlichkeit  der 
Wechselkurse,  die  der  Industrie  und  dem  Handel  so  schäd- 
lich ist.  ist  ein  Segen  für  den  Spekulanten.  Dabei  ist  außer  der 
direkten  Wirkung  des  Zinsfußes  auf  Erwerb  und  Profit  noch  in  Betracht  zu 
ziehen,  daß  ein  im  Verhältnis  zum  Ausland  niedriger  Zinsfuß  zum  Spiel  anreizt, 
einen  falschen  Rentabilitätsmaßstab  gewährt  und  derart  die  Oberwertung 
unserer  Effekten  und  ihren  Import  befördert.  Der  höhere  Zinsfuß  ist  daher 
sowohl  wegen  seiner  direkten  Wirkung  auf  die  Wechselkurse  als  wegen 
seiner  Tendenz,  den  Effektenexport  zu  mehren,  dem  Bestände  der  Valuta 
günstig.  Die  von  ihm  betroffenen  Interessenten  müssen  lernen,  daß  in  seiner 
Höhe  eine  Versicherungsprämie  unserer  Währung  enthalten  ist,  die  dem 
Elementarereignis  der  Valutaschwankungen  ebenso  vorzuziehen  ist,  wie 
jede  Versicherungslast  dem  dadurch  abgewehrten  Obel,  mag  auch  erstere 
drückend  und  letzteres  nicht  jederzeit  fühlbar  sein. 

Die  geforderte  Krediterweiterung  der  kleinen  Landwirte  und  Hand- 
werker ist  überdies  aus  dem  Gesichtspunkt  der  absoluten  Sicherheit  und 
Mobilität  der  zur  Notendeckung  dienenden  Forderungen  entschieden  abzu- 
lehnen. 

Der  große  Goldzuffuß  der  letzten  Jahre  hat  der  Bank  großen  Nachteil 
gebracht,  den  sie  im  gemeinnützigen  Interesse  auf  sich  nahm.  Das  ein- 
strömende Gold  wurde  gegen  Noten  getauscht,  die  den  im  Eskompte  ver- 
wendeten Bankmitteln  Konkurrenz  bereiteten.  Dadurch  ist  die  Rentabilität 
der  Österreichisch-ungarischen  Bank  unter  allen  Notenbanken  die  geringste 
geworden.  Der  zeitweilig  größere  Ertrag  aus  den)  Devisengeschäft  wiegt 
den  Ausfall  an  Eskomptezinsen  nicht  auf. 

Beachtung  verdieut  mit  Rücksicht  auf  die  bevorstehende  Aufnahme 
der  Barzahlungen  das  Bestreben  der  Bank,  die  goldsparenden  Mittel  auszu- 
bilden. Hieher  gehört  die  Konzentration  des  gesamten  Golddienstes  der 
Regierungen  bei  der  Bank,  die  darin  besteht,  daß  die  Regierungen,  die 
im  Zoll-,  Post-  und  Eisenbahnverkehr  eingenommenen  Goldbeträge  der  Bank 
überweist,  die  dafür  alle  in  Gold  zu  leistenden  Zahlungen  der  Regieruugen 
ausführt.  Für  die  übergebenen  Goldbeträge  leistet  die  Bank  eine  Verzinsung, 
die  um  einen  gewissen  Satz  hinter  dem  Diskont  des  Landes  zurückbleibt, 
dem  die  betreffenden  Valuten  entstammen.  Durch  dieses  System  ist  der 
früher  erwähnte  Cbelstand  beseitigt,  daß  die  Regierungen  durch  ihre  Käufe 
für  das  C'oupongold  das  Agio  steigerten.1) 

Ein  anderes  Mittel  der  Goldsparung  sind  die  Zollgoldanweisungen. 
Sie  sind  Anweisungen  auf  Gold  lautend  zu  Gunsten  der  Staatszentralkassa, 

1 Die  Regierung  bot  «chon  189»  der  Bank  den  gesamten  Golddienst  all,  doch 
machte  die  Verzinaungsfrage  große  Schwierigkeiten.  Die  tatsächliche  Übernahme  erfolgte 
am  1.  Oktober  1901. 


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526 


Hertz. 


die  auf  beliebige  Beträge  ausgestellt  und  zur  Zahlung  der  in  Gold  normierten 
Zölle  benutzt  werden  können.  Ihre  Ausgabe  begann  am  15.  Dezember  1900. 
Im  Jahre  1901  wurden  25,700.000  fl.  ausgestellt.  Der  Zweck  dieser  Anwei- 
sungen ist.  die  Kosten,  die  mit  dem  effektiven  Bezug  von  Gold  aus  der 
Bank  zur  Zahlung  an  die  Begierung,  die  das  Gold  doch  sofort  wieder  an 
die  Bank  ahfffhrt.  entfallen  zu  lassen. 

Der  Giroverkehr,  dem  in  Deutschland  eine  so  wichtige  Bolle  unter 
den  goldsparenden  Mitteln  zufällt,  ist  in  Österreich  weniger  entwickelt. 
Doch  ist  auch  hierin  in  den  letzten  Jahren  durch  den  Beitritt  der  Staats- 
venvaltungen, der  Post,  der  Eisenbahnen  u.  s.  w.  sowie  durch  zweckmäßige 
Ausgestaltung  mancher  Fortschritt  erzielt  worden. 


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DIE  EINFÜHRUNG  DER  NEUNSTUNDENSCHICHT 

BEI» 

ÖSTERREICHISCHEN  KOHLENBERGBAU. 

VON 

KARL  v.  WEBERN. 


Die  Beschränkung  der  Vertragsfreiheit  zwischen  Arbeitgeber  ond  Arbeit- 
nehmer durch  gesetzliche  Regelung  der  Arbeitszeit  bildet  eine  Pflicht  des  Staates, 
welche  in  hygienischen,  kulturellen  und  auch  sozialpolitischen  Rücksichten  begründet 
erscheint  Bezüglich  der  letzteren  ist  namentlich  hervorzuheben,  daß  der  einzelne 
Arbeiter  dem  Unternehmer  gegenüber  in  der  Regel  nicht  die  volle  Willensfreiheit 
besitzt  und  daher  znr  Erreichung  seiner  Bestrebungen  nur  das  Machtmittel  des 
Strikes  besitzt,  welcher  aber  als  eine  Unterbrechung  der  wirtschaftlichen  Tätigkeit 
möglichst  hintatigebalten  werden  mufl. 

Eine  gesetzliche  Regelung  der  Arbeitszeit  für  Erwachsene  ist  jedoch  in 
vielen  Kulturstaaten  noch  heute  nicht  eingeffihrt.  Der  Grund  hiefür  dürfte  teil- 
weise in  der  besonderen  Schwierigkeit  gelegen  sein,  für  diese  Regelung  die 
richtige  Grenze  zu  finden  und  dieselbe  den  oft  so  verschiedenen  lokalen  Ver- 
hältnissen entsprechend  anzupassen. 

In  Österreich  erfolgte  eine  solche  Regelung  zunächst  für  den  Bergbau 
durch  das  Gesetz  vom  21.  Juni  1884.  mit  welchem  eine  maximale  Schichtdauer 
von  zwölf  Stunden  und  eine  Maximalarbeitszeit  von  zehn  Stunden  innerhalb 
derselben  festgesetzt  wurde;  gleichzeitig  wurde  durch  dasselbe  auch  die  Frauen- 
und  Kinderarbeit  gewissen  Beschränkungen  unterworfen.  Seitdem  wurde  der  Frage 
der  Arbeitszeit  beim  Bergbaubetriebe  von  Seite  des  hiezu  berufenen  Ackerbau- 
ministeriums stets  eine  besondere  Aufmerksamkeit  zugewendet,  namentlich,  da 
von  Seite  der  Arbeiterschaft  das  Verlangen  nach  Einführung  der  Achtstundenschicht 
immer  häufiger  und  dringender  erhoben  wurde.  Es  wurde  übrigens  bei  einem 
nicht  unbeträchtlichen  Teile  der  österreichischen  Bergbaue,  durch  verschiedene 
Verhältnisse  veranlaßt,  freiwillig  eine  kürzere  als  die  gesetzlich  gestattete  Schicht- 
dauer eingeführt. 

Die  zu  Beginn  des  Jahres  1900  bei  den  Kohlenbergbauen  des  Ostrau- 
Karwiner  Revieres  ausgebrochene  Strikebewegnng,  die  sich  dann  auch  auf  die 
böhmischen  Kohlenreviere  ansdehnte,  brachte  neue  Bewegung  in  die  Sache;  es 

Zeitschrift  für  Vulkäwirtacbeft,  Sozialpolitik  and  Verwaltanf.  XII.  Bend.  36 


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528 


Webern 


beschäftigte  sich  auch  das  Abgeordnetenhaus  mit  der  Frage  der  Verkürzung  der 
Schichtzeit,  wobei  überwiegend  der  Gedanke  zum  Ausdrucke  gelangte,  daß 
eine  solche  Kürzung  nur  bei  den  Kohlenbergbauen  und  auch  bei  diesen  nur  für 
die  in  der  Grube  beschäftigten  Arbeiter  einzutreten  hätte.  Im  Laufe  der  Strike- 
bewegong  wurde  auch  von  Seite  der  Regierung  die  Geneigtheit  ausgesprochen, 
eine  Abkürzung  der  Schichtdauer  auf  gesetzlichem  Wege  eintreten  zu  lassen. 
Mitte  Mai  1900  wurde  ron  derselben  tatsächlich  der  Kutwurf  eines  Gesetzes 
eingebracht,  nach  welchem  die  Schichtdauer  für  die  beim  Kohlenbergbau  in  der 
Grube  beschäftigten  Arbeiter  auf  neun  Stunden  beschränkt  werden  sollte.  Bei 
der  im  Monate  Mai  des  folgenden  Jahres  stattgebabten  Verhandlung  über  den 
infolge  Sessionsschlusses  in  diesem  Jahre  neuerlich  eingebrachten  Gesetzentwurf 
im  Abgeordnetenhause  wurde  an  den  Regierungsrertreter  die  Frage  gerichtet,  ob 
die  neunstündige  Schichtdauer  für  jeden  einzelnen  Arbeiter  zu  gelten  habe  oder 
als  eine  Gesamtschicht  auf  die  gesamte  Mannschaft  zu  beziehen  sei;  derselbe 
gab  hierüber  die  Erklärung  ab,  daß  eine  neunstündige  Schicht  eingefübrt  werden 
soll,  welche  für  die  gesamte  Mannschaft  zu  gelten  hat,  so  zwar,  daU,  wenn 
beispielsweise  bei  der  Mannsfahrt  die  erste  Schale  um  sechs  Uhr  früh  hinabgeht, 
die  letzte  um  drei  Uhr  nachmittags  zu  Tage  gelaugt  sein  muß. 

Auch  im  Herrenhause  wurde  bei  der  Verhandlung  über  den  Gesetzentwurf 
seitens  des  Ackerbauministers  eine  in  demselben  Sinne  gehaltene  Erklärung 
abgegeben  und  wurde  auf  Grund  der  Ausführungen  des  Referenten,  welcher 
unter  anderem  darauf  verwies,  daß  auch  die  ältere  Berggesetzgebung  die  Schicht 
stets  als  eine  Gesamtschicht  aufgefallt  habe,  der  Antrag,  die  Schichtdaoer  für 
jeden  einzelnen  Arbeiter  fcstzusetzen,  abgelchnt  und  die  Fassung  des  Abgeordneten- 
hauses angenommen. 

Nachdem  sodann  das  Gesetz  mit  einigen  geringen  Änderungen  von  beiden 
Häusern  des  Reichsrates  angenommen  worden  war  und  die  a.  h.  Sanktion  erhalten 
hatte,  erfolgte  am  1.  Juli  1901  die  Kundmachung  desselben  im  Reichsgesetz- 
blatt« und  war  hiemit  für  die  Grubenarbeiter  bei  dem  Kohlenbergbaue  die  Neun- 
stuudenscbicht  gesetzlich  eingeführt. 

Nach  den  Bestimmungen  dieses  Gesetzes  sind  in  die  Schichtzeit  die  für  die 
Ein-  und  Ansfahrt  erforderliche  Zeit,  dann  die  aus  der  Natur  des  Betriebes  sich 
ergebenden  sowie  die  sonstigen  Ruhepausen  einzurechnen,  insoweit  letztere 
nicht  über  Tag  zugebracht  werden,  in  welchem  Falle  auch  die  zur  bezüg- 
lichen Aus-  und  Wiedereinfahrt  erforderliche  Zeit  in  die  Schicbtdauer  nicht  ein- 
zureebnen  ist. 

Ausnahmsweise  kann  auch  eine  längere  als  die  in  dem  Gesetze  festgesetzte 
Schichtdauer  bis  zum  Ausmaße  ron  zwölf  Stunden  mit  einer  zehn  Stunden  nicht 
übersteigenden  wirklichen  Arbeitszeit  gestattet  werden,  wenn  bei  dem  betreffenden 
Bergbaue  zur  Zeit  der  Kundmachung  des  Gesetzes  eine  längere  Schichtdauer 
bestanden  bat  und  die  Einführung  der  neunstündigen  Schichtdauer  oder  eine 
Abkürzung  der  bisherigen  Schichtdauer  überhaupt  im  Hinblicke  auf  die  obwaltenden 
betriebstechnischen  oder  wirtschaftlichen  Verhältnisse  die  Aufrechthaltnng  des 
Betriebes  unmöglich  machen  oder  gefährden  würde.  Die  Bewilligung  einer 
derartigen  Ausnahme,  welche  entweder  für  sämtliche  Grubenarbeiter  oder  für 


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Die  Einfährung  der  Neunstundenschicht  heim  österreichischen  Kohlenbergbau.  529 


einzelne  Kategorien  derselben  gewährt  werden  kann,  steht  nach  Anhörung  des 
Bergbauunternehmers  und  des  Lokalarbeiterausschusses  auf  die  Dauer  der  tor- 
erwähnten  Verhältnisse  in  erster  Instanz  der  Berghauptmannschaft  iin  Einvernehmen 
mit  der  politischen  Landesstelle  und  in  zweiter  Instanz  dem  Ackerbauministerium 
im  Einvernehmen  mit  dem  Ministerium  des  Innern  zu. 

Eine  weitere  Ausnahme  von  der  neunstündigen  Schichtdauer  kann  der 
Ackerbauminister  für  hochgelegene  Kohlenbergbaue  der  Alpenländer  mit  der 
Maßgabe  bewilligen,  ilali  die  Gesamtdauer  der  von  einem  Arbeiter  in  einer 
Woche  verfahrenen  Schichten  nicht  über  54  Stunden  betragen  darf. 

Hinsichtlich  des  Beginnes  der  Wirksamkeit  des  Gesetzes  wurde  festgesetzt, 
dali  dieselbe  ein  Jahr  nach  der  Kundmachung  einzutreten  hat.  Diese  einjährige 
Übergangszeit  wurde  in  Anbetracht  dessen  bewilligt,  daß  der  Durchführung  des 
Gesetzes  betriebstechnische  Änderungen  namentlich  bei  jenen  Werken  werden 
vorangehen  müssen,  bei  welchen  wegen  der  großen  Entfernung  der  Arbeitsorte 
von  der  Einfahrtsstelle  die  Ein-  und  Ausfahrt  eine  unverhältnismäßig  lange  Zeit 
erfordert. 

Diese  Frist  wurde  nun  von  einem  Teile  der  Unternehmungen  unausgenutzt 
verstreichen  gelassen,  indem  dieselben  einerseits  sich  der  Hoffnung  hingaben, 
eine  Ausnahmsbewillignng  zu  erlangen,  anderseits  sich  eine  längere  Schichtzeit 
dadurch  zu  erhalten  versuchten,  daß  sie  ungeachtet  der  im  Parlamente  seitens 
der  Kegierung  erstatteten  Aufklärung  die  Neunstundenschicht  nicht  als  Gesamt-, 
sondern  als  Einzelnschicht  einführten.  Diesen  Versuchen  wurde  jedoch  von  der 
Bergbehörde  entgegengetreten  und  unter  Hinweis  auf  die  Regierungserklärung 
verlangt,  daß  innerhalb  der  neun  Stunden  sich  die  Ein-  und  Ansfahrt  der 
gesamten  Mannschaft  zu  vollziehen  habe. 

Von  mehreren  durch  diese  in  zweiter  Instanz  bestätigte  Entscheidung 
betroffenen  Unternehmungen  wurde  die  Beschwerde  an  den  Verwaltungsgerichtshof 
ergriffen.  Auf  Grund  der  über  eine  dieser  Beschwerden  am  8.  Jänner  1903 
durchgeführten  ersten  öffentlichen  mündlichen  Verhandlung  hat  nun  dieser 
Gerichtshof  mit  dem  Erkenntnisse  vom  21.  Februar  1903  die  Beschwerde  als 
unbegründet  abgewiesen.  In  der  Begründung  dieses  Erkenntnisses  wird  zunächst 
die  Einwendung  wegen  mangelhaften  Verfahrens  und  wegen  Gesetzwidrigkeit  der 
angefochtenen  Entscheidung  als  nicht  zutreffend  bezeichnet  and  erklärt,  daß 
der  Verwaltnngsgerichtshof  sonach  nur  zu  prüfen  habe,  ob  die  angefochtene 
Verfügung  mit  dem  Wortlaute  und  dem  Geiste  des  Gesetzes  im  Einklänge 
stehe.  Die  diesbezüglichen  Ausführungen,  welche  auch  in  dem  weiteren  Erkennt- 
nisse, mit  welchem  alle  anderen  die  gleiche  Angelegenheit  betreffenden  Beschwerden 
als  nnbegründet  abgewiesen  wurden,  enthalten  sind,  lauten  wörtlich: 

.Die  Beschwerde  wendet  gegen  die  Entscheidung  in  meritorischer  Beziehung 
ein,  daß  als  „Schicht“  niemals  und  bis  in  die  letzte  Zeit  nicht  ein  anderer 
Zeitraum  verstanden  worden  sei  als  derjenige,  innerhalb  dessen  jeder  einzelne 
Arbeiter  seine  Beschäftigung  vollzieht.  Ans  dieser  Begriffsbestimmung  wird  in 
der  Beschwerde  der  Schluß  gezogen,  daß  auch  nach  dem  zitierten  Gesetze  die 
neunstündige  Schichtdauer  für  jeden  einzelnen  Arbeiter  za  berechnen 

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530 


Webern. 


sei.  Der  Verwaltungsgerichtshof  hat  innächst,  da  weder  das  allgemeine  Berg- 
gesetz vom  Jahre  1X54  noch  spätere  Gesetze,  also  insbesondere  das  Gesetz 
vom  21.  Juni  1884,  R.-G.-Bl.  Nr.  115,  und  das  Gesetz  vom  27.  Jnni  1901, 
R.-G.-Bl.  Nr.  81.  den  Begriff  ausdrücklich  bestimmen,  an  der  Hand  älterer 
Quellen  festznstellen  versucht,  wie  der  Begriff  sich  historisch  entwickelt  hat.  Da 
■zeigt  sich  denn,  da#  fast  alle  älteren  Bergordnungen,  welche  bis  mr  Wirksam- 
keit des  allgemeinen  Österreichischen  Berggesetzes  und  der  neueren  deutschen 
Berggesetze  in  Geltung  waren,  in  Betreff  der  .Schichtordnungen  ziemlich  überein- 
stimmende Vorschriften  enthalten.  Fast  alle  bezeichnen  nämlich  bestimmte  Stunden 
für  den  Anfang  und  das  Ende  der  Schichten.  In  diesem  Sinne  sind  auch  die 
Arbeits-,  Dienst-  und  Schichtordnungen  gehalten. 

Hienach  kann  also  eine  Verschiedenheit  bezüglich  der  Schichtberechnung 
nur  darin  bestanden  haben,  ob  die  Scliichtzeit  ausschließlich  für  Arbeiten  in  der 
Grube  zu  verwenden  ist,  oder  ob  innerhalb  der  Schichtzeit  sich  auch  die  Einfahrt 
oder  die  Ansfahrt,  oder  die  Ein-  uud  Ausfahrt  zu  vollziehen  hat.  Darin  gab  es 
aber  eine  Verschiedenheit  nicht,  daß  die  Schicht  gleichmäßig  und  gleichzeitig 
für  die  gesamte  Belegschaft  begann  und  endete.  Es  mag  sich  nun,  wie  in  der 
Enquete  des  sozialpolitischen  Ausschusses  des  Abgeordnetenhauses  behauptet  wurde, 
im  Laufe  der  Zeit  bei  einzelnen,  vielleicht  vielen  Bergbanen  eine  abweichende 
Übung  entwickelt  haben. 

Wenn  aber  in  den  neueren  Gesetzen  eine  andere  Begriffsbestimmung  der 
Schicht  nicht  gegeben  ist,  so  darf  wohl  angenommen  werden,  daß  der 
historische  Begriff  beibehalten  wurde,  soferne  sich  nicht  ans  den  betreffenden 
Bestimmungen  in  ihrem  Zusammenhänge  oder  ans  der  klaren  Absicht  des 
Gesetzgebers  ergibt,  daß  diese  Gesetze  von  dem  historischen  Begrifft!  abge- 
gangen wären. 

Das  allgemeine  Berggesetz  vom  Jahre  1854  bleibt  in  dieser  Beziehung 
ganz  außer  Betracht,  weil  es  einschränkende  Bestimmungen  hinsichtlich  der 
Schichtdaner  und  Arbeitszeit  beim  Bergbatie  überhaupt  nicht  enthält,  sondern 
sich  damit  begnügt,  im  § 200.  lit.  c,  anzuordnen.  daß  in  die  Dienstordnung  die 
Bestimmungen  über  die  Zeit  und  Dauer  der  Arbeit  gebären.  Erst  mit  dem 
Gesetze  vom  Jahre  1884  und  in  weiterer  Folge  mit  jenem  vom  Jahre  1901 
wurden  solche  Einschränkungen  normiert.  Die  Absicht  des  Gesetzgebers  ergibt 
sieh  aus  dem  Zwecke  der  beiden  Gesetze ; beide  sind  Arbeiterschutz- 
gesetze. dazu  bestimmt,  den  Bergarbeiter  vor  übermäßiger  Ausnutzung  seiner 
Arbeitskraft  zu  schützen.  Diesem  Zwecke  scheint  nun.  wenn  speziell  das  im 
vorliegenden  Falle  zur  Anwendung  gelangende  Gesetz  vom  Jahre  1901  ins  Ange 
gefaßt  wird,  entsprochen  zu  sein,  wenn  der  einzelne  Arbeiter  nicht  länger  als 
9 Ständen  täglich  dem  Arbeitgeber  für  die  Arbeit  zur  Verfügung  steht,  arid  es 
würde  sich  daraus  ergeben,  daß  die  Interpretation  der  Beschwerde,  wonach  die 
Schichtdauer  für  jeden  einzelnen  Mann  berechnet  werden  soll,  mit  dem  Gesetze 
und  dessen  Absicht  im  Einklänge  stünde. 

Allein  das  Gesetz  bezeichnet  im  zitierten  $ 3,  Absatz  2,  als  den  Beginn 
der  Schicht  die  -Einfahrt“.  Jene  Zeit  also,  welche  der  Arbeiter  in  der  Anstaltsstube 
wartend  zubringt,  und  während  welcher  er  seinem  Arbeitgeber  für  den  Dienst  zur 


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Die  Einführung  der  Neunstundenschicht  beim  österreichischen  Kohlenbergbau.  '■> 3 1 


Verfügung  steht,  zählt  hienach  nicht  zur  Schichtdauer.  Würde  man  nun 
die  Einfahrt  als  individuellen  Anfangspunkt  der  Schichtdauer  für  jeden  Arbeiter 
besonders  zählen,  so  käme  man  zu  dem  Ergebnisse,  daß  einzelne  Arbeiter  erheb- 
lich länger  in  den  Dienst  gestellt  wären  als  9 Stunden  mehr  der  gemein- 
samen Wartezeit  Würde  zum  Beispiel  — wie  ja  aus  den  von  Seite  der 
Beschwerde  zitierten  Beispielen  als  möglich  hervorgeht  — die  Einfahrt  der 
gesamten  Belegschaft  1 Stunde  dauern,  so  hätte  der  letzte  einfahrende 
Arbeiter  zu  leisten: 

1.  Die  Wartezeit  des  ersten  Arbeiters,  welche  nach  dem  Wortlaute 
des  Gesetzes  nicht  zur  Schichtdauer  zählt, 

2.  die  Zeit,  bis  die  Reihe  an  ihn  kommt,  also  eine  Stunde. 

3.  volle  9 Stunden. 

Die  ganze  Unzulänglichkeit  des  technischen  Betriebes,  die  ganze  natürliche 
Beschaffenheit  des  Bergwerkes,  die  aus  der  Zahl  der  Arbeiter  notwendig  gewordene 
oder  anch  nur  faktisch  ausgeübte  Verzögerung  in  der  Einfahrt  würde  dann  dem 
Arbeitet  znr  Last  geschoben.  Der  Arbeiter  in  dem  Bergwerke,  in  welchem  die 
Einfahrt  der  gleichzeitig  zum  Einfahrtsorte  befohlenen  Belegschaft  wenig  Zeit 
beansprucht,  wurde  anders  behandelt,  als  ein  solcher  in  einem  Bergwerke,  in 
welchem  diese  Einfahrt  lange  dauert.  Nicht  der  Unternehmer,  welcher  den 
Vorteil  aus  seinem  Venndgensobjekte  zieht,  welcher  die  Gefahren  und  Nachteile 
aus  der  Beschaffenheit  dieses  Objektes  zu  tragen  hat,  sondern  der  abgelohnte 
Arbeiter,  welcher  au  dem  Uiiternehmergewinue  keinen  Anteil  hat,  würde  hiedurch 
mit  Nachteilen  aus  der  Beschaffenheit  des  Objektes  belastet.  Wenn  also  im 
Gesetze  vom  Jahre  1901  im  ersten  Absätze  bestimmt  wird:  „Die  Schichldauer 
für  die  beim  Kohlenbergbaue  beschäftigten  Arbeiter  darf  9 Stunden  nicht  über- 
steigen;* und  der  folgende  Absatz  lautet:  „Der  Beginn  der  Schiebt  wird  nach 
der  Zeit  der  Einfahrt,  die  Beendigung  nach  der  vollendeten  Ausfahrt  berechnet*, 
so  kann  damit  nur  gesagt  sein,  daß  für  alle  Arbeiter  einer  Belegschaft,  das 
ist  die  in  eine  Schicht  oingeteilten  Arbeiter,  heim  Kohlenbergbaue  die  Schicht 
mit  der  Einfahrt  des  ersten  Arbeiters  beginnt  und  erst  mit  der  Vollendung  der 
Ausfahrt  des  letzten  Arbeiters  endet. 

Dagegen  kann  nun  allerdings  eingewendet  werden,  daß  hienach  fast  kein 
Arbeiter  volle  9 Stunden  in  der  Grube  arbeitet,  allein  die  dem  Zwecke  des 
Gesetzes  als  eines  Arbeiterschntzgesetes  allein  entsprechende  Interpretation 
macht  dies  eben  zur  notwendigen  Konsequenz,  schließt  übrigens  die  Verwendung 
des  Arbeiters  während  der  Ausfahrt  und  Einfahrt  der  anderen  Arbeiter,  also 
während  der  ganzen  Schichtdaner,  zu  anfälligen  Arbeiten  nicht  aus. 

Würde  aber  anch  noch  ein  Zweifel  über  diese  Auslegung  des  Gesetzes 
verbleiben,  so  muß  derselbe  schwinden,  wenn  man  die  Vorgänge  vor  der  Ab- 
stimmung in  beiden  Häusern  des  Keichsrates  ins  Auge  faßt.  — In  der  Sitzung 
vom  23.  Mai  1901  stellte  der  Abgeordnete  Eldersch  zu  dem  Gesetzentwürfe 
einen  Abänderungsantrag  dahin,  § 3,  Alinea  2,  habe  zu  lauten:  „Der  Beginn 
der  Schicht  wird  nach  der  Zeit  der  Einfahrt  des  ersten  Mannes  der  Schicht, 
ihre  Beendigung  nach  der  vollendeten  Ausfahrt  des  letzten  Mannes  der  Schicht 


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Webern. 


berechnet“  Der  Regierungsvertreter,  Ministerialrat  Z e c h n e r,  gab  in  derselben 
Sitzung  zur  Behebung  des  rege  gewordenen  Zweifels,  ob  die  Bestimmung  der 
Regierungsvorlage  so  aufzufassen  sei,  daß  die  daselbst  festgesetzte  Schichtdaner 
für  jeden  einzelnen  Arbeiter  zn  gelten  habe  oder  als  eine  Gesamtschicht  auf 
die  gesamte  Mannschaft  zu  beziehen  sei,  unter  Beifügung  einer  ausführlichen 
Begründung  die  Erklärung  ab,  die  neunstündige  Schichtdaner  werde  als  Gesamt- 
schicht aufgefaßt  in  der  Weise,  daß.  wenn  zum  Beispiel  bei  der  Mannsfahrt  die 
erste  Schale  um  6 Uhr  früh  hinabgeht,  die  letzte  nnt  3 Uhr  nachmittags  zu 
Tage  gelangt  sein  muß.  Mit  Bernfung  auf  diese  Erklärung  zog  der  Abgeordnete 
Eid  er  sch  seinen  Abänderungsantrag  zurück  und  es  wurde  die  Bestimmung 
in  der  Fassung  der  Regierungsvorlage  zum  Beschlüsse  erhoben.  Hienach  konnte 
das  Abgeordnetenhaus  über  die  Tragweite  der  gesetzlichen  Bestimmungon  und 
darüber,  wie  die  gesetzliche  Bestimmung  seitens  der  die  Vorlage  einbringenden 
Regierung  gemeint  war,  nicht  den  mindesten  Zweifel  haben.  Eine  weitere  Klärung 
erfolgte  im  Herrenhause,  und  zwar  nicht  nur  durch  die  mit  der  Erklärung  des 
Regierungsvertreters  im  Abgeordnetenhanse  übereinstimmende  Erklämng  des 
Ackerbauministers  in  der  Sitzung  vom  8.  Juni  1901,  sondern  insbesondere  auch 
dadurch,  daß  der  vom  Grafen  Zedtwitz  in  derselben  Sitzung  gestellte  Antrag,  der 
erste  Absatz  des  § 3 solle  lauten:  „Die  Schichtdaner  für  jeden  einzelnen  beim 
Kohlenbergbaue  in  der  Grube  beschäftigten  Arbeiter  darf  täglich  9 Stunden  nicht 
übersteigen“,  abgelehnt  wurde,  und  daß  auch  schon  ein  gleicher  in  der  Kommission 
des  Herrenhauses  gestellter  Antrag  laut  Nr.  41  der  Beilagen  zu  dem  steno- 
graphischen Protokolle  des  Herrenhauses,  XVII.  Session,  1901)  nicht  die  Majorität 
erlangen  konnte.  Hiedurch  ist  nicht  etwa  die  Frage  ira  Herrenhanse  unentschieden 
geblieben,  sondern  ist  unzweideutig  im  Sinne  der  von  der  Regierung  in  beiden 
Häusern  des  Reichsrates  abgegebenen  Erklärungen  entschieden  worden.  — Die 
aus  einzelnen  Bestimmungen  des  Gesetzes  entnommenen  Einwendungen  vermögen 
die  Richtigkeit  dieser  Auffassung  nicht  zu  erschüttern. 

Daraus,  daß  der  5.  Absatz  des  § 3 bezüglich  der  zulässigen  Verlängerung 
der  Schiehidauer  verfügt,  eine  solche  Ausnahme  könne  entweder  für  sämtliche 
Grubenarbeiter  oder  für  einzelne  Kategorien  derselben  gewährt  werden, 
daß  also  hier  ausdrücklich  die  Gesamtheit  der  Grubenarbeiter  ins  Auge  gefaßt 
sei.  kann  ein  Gegensatz  zu  den  Bestimmungen  des  ersten  und  zweiten  Absatzes 
nicht  abgeleitet  werden;  denu  hier  ist  der  Ausdruck  „sämtlich“  nicht  im 
Gegensätze  zn  „einzeln“  gebraucht,  sondern  als  Gegensatz  von  einzelnen 
Kategorien. 

Aber  auch  aus  der  Bestimmung  des  vorletzten  Absatzes,  wonach  für 
hochgelegene  Kohlenbergbaue  der  Alpenländer  vom  Ackorbauminister  auch  eine 
längere  Schichtdaner,  als  die  in  den  beiden  ersten  Absätzen  bestimmte  nur  mit 
der  Maßgabe  bewilligt  werden  kann,  daß  die  Gesamtzahl  der  „von  einem  Arbeiter“ 
in  einer  Woche  verfahrenen  Schichten  nicht  über  51  Stunden  betragen  darf, 
läßt  sich  der  Schluß  nicht  rechtfertigen,  daß  das  Gesetz  einen  von  dem  Begriffe 
der  Gesamtschicht  abweichenden  Begriff  der  Schicht  in  dem  Sinne  hat  aufstellen 
wollen,  wie  die  Beschwerde  das  Gesetz  auslegt.  Denn  hier  ist  nicht  gesagt,  daß 
die  Schichtdauer  für  jeden  einzelnen  Arbeiter  individuell  zu  berechnen  sei.  sondern 


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Die  Einführung  der  Neunstundenschicht  beim  Österreichischen  Kohlenbergbau.  533 


es  will  damit  nur  eingeräumt  werden,  daß  allerdings  die  Dauer  der  einzelnen 
Schichten  (für  die  Gesamtheit  der  Belegschaft;  mehr  als  9 Ständen  betragen 
dürfe,  daß  aber,  wenn  die  Gesamtdauer  der  in  einer  Woche  verfahrenen  Schichten 
mehr  als  die  normale  von  54  (6x9)  Stunden  betragen  sollte,  der  einzelne 
Arbeiter  doch  nicht  länger  als  54  Stunden  in  der  Woche  beschäftigt  sein  darf. 

An  einem  Beispiel  wird  dies  klar.  Angenommen,  es  wird  in  einem  solchen 
hochgelegenen  Bergbaue  nur  an  5 Tagen  gearbeitet,  weil  für  den  Zugang  auf 
den  Berg  und  den  Abgang  von  demselben  2 Tage  der  Woche  in  Abschlag 
kommen,  und  es  würde  die  Dauer  der  Schichten  mit  12  Stunden  filiert,  so 
würde  sich  eine  Gesarotdauer  der  Arbeit  von  60  Stunden  ergeben,  und  da 
bestimmt  nun  das  Gesetz,  daß  der  einzelne  Arbeiter  mehr  als  54  Stunden  in  der 
Woche  nicht  beschäftigt  sein  dürfe. 

Daß  im  § 4 des  Gesetzes  vom  21.  Juni  1884.  B.-G.-Bl.  Sr,  115.  welcher 
durch  das  Gesetz  vom  27.  Juni  1901  in  seiner  Geltung  für  den  Kohlenbergbau 
unberührt  geblieben  ist.  bestimmt  wird,  „die  Sonntagsruhe  hat  für  die  gesamte 
Uannschaft  gleichzeitig  zu  beginnen,“  beweist  ebenfalls  nichts  gegen  die  in  der 
angefochtenen  Entscheidung  zum  Ausdrucke  gelangte  Auslegung  des  Gesetzes 
vom  Jahre  1901.  Denn  auch  hier  bildet  der  Ausdruck  „gesamt«  Mannschaft“ 
nicht  den  Gegensatz  zum  einzelnen  Arbeiter;  vielmehr  erscheint  der  Ausdruck 
als  Gegensatz  zur  „Belegschaft  einer  Schicht“  und  die  Bestimmung  ist  darum 
getroffen,  weil  beim  Bergbaue  die  Arbeit  am  Sonntag  vollständig  zu  ruhen  hat 
und  der  Beginn  der  Sonntagsruhe  spätestens  auf  Sonntag  6 Uhr  früh  festgesetzt 
ist.  Da  aber  anderseits  bestimmt  ist,  daß  die  Sonntagsruhe  volle  24  Stunden 
von  ihrem  Beginne  an  zu  dauern  hat,  so  mußte  der  gleichzeitige  Beginn  für 
die  gesamte  Mannschaft  festgesetzt  werden,  weil  sonst  die  Arbeit  beim  Berg- 
baue  nicht  während  des  ganzen  Sonntags,  das  ist  während  voller  24  Stunden 
ruhen  würde.  Nur  deshalb  bedient  sich  hier  das  Gesetz  des  Ausdruckes  „gesamte 
Mannschaft.“ 

So  ist  denn  mit  der  vorstehenden  Begründung  an  letzter  Stelle  der 
entscheidende  Ansspruch  erfolgt  und  es  erübrigt  den  Bergbauunternehmern  nur, 
sich  zu  fügen  und  darauf  bedacht  zu  sein,  die  mit  der  Durchführung  des 
Gesetzes  im  Sinne  dieser  Entscheidung  etwa  verbundenen  größeren  lokalen 
Schwierigkeiten  zu  überwinden. 

Man  findet  in  der  Literatur  vielfach  die  Ansicht  ausgesprochen,  daß  eine 
Verkürzung  der  Arbeitszeit  nicht  auch  einen  Ausfall  in  der  Leistung,  bezw.  in 
der  Produktion  nach  sich  ziehen  müsse,  sondern  in  vielen  Fällen  sogar  eine 
Steigerung  derselben  zur  Folge  habe.  Wenn  dies  auch  beim  Bergbau  gewiß  nicht 
allgemein  zutrifft,  so  gibt  es  bei  demselben  doch  auch  Mittel  und  Wege,  die 
der  Erhöhung  der  Arbeitsleistung  entgegenstehenden  Hindernisse  als:  geringe 
Mächtigkeit  der  Lagerstätte,  Vertaubungen,  ungünstige  Beschaffenheit  der  Hangend- 
schichten,  große  Ausdehnung  der  Grubenräume.  Schlagwetter,  Feuer-  oder  Wasser- 
gefahr etc.  zu  überwinden.  Diese  bestehen  in  einer  richtigen  Wahl  der  Abbau- 
methode, möglichster  Abkürzung  der  Arbeitswege.  Einführung  maschineller 
Gewinnungsarbeit,  besserer  Ausnutzung  der  Schichtzeit  der  Häuer  durch  Bei- 
- Stellung  des  Grubenholzes  bis  auf  die  Arbeitsort«.  Verbesserung  der  Schacht-  und 


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Webern. 


Streckenförderung  durch  Einbau  leistungsfähigerer  Maschinen  und  gute  Erhaltung 
der  Förderbahnen,  Beistellung  einer  genügenden  Anzahl  von  Förderwagen, 
Verkürzung  der  unfreiwilligen  Arbeitspausen  etc.  Freilich  sind  hiezu  zumeist 
bedeutende  Geldopfer  erforderlich,  zu  welchen  sich  die  Unternehmer  ungeachtet 
der  Vorteile,  welche  dieselben  unzweifelhaft  bringen  würden,  mitunter  nicht 
entschliefen  können;  unter  dem  Drucke  des  Gesetzes  ist  jedoch  schon  manches 
durchgeführt  worden,  was  vorher  unmöglich  erschien  und  wovon  man  sich  Übel- 
stände  erwartete,  die  daun  nicht  eingetreten  sind.  Hoffen  wir,  daß  sich  dieser 
Erfahrungssatz  auch  bei  der  strikten  Durchführung  des  Gesetzes  über  die  Neun- 
stundenschicht bewähren  und  sonach  mit  diesem  Gesetze  ohne  Schädigung  der 
Industrie  ein  nicht  geringer  sozialer  und  hygienischer  Fortschritt  beim  Kohlen- 
bergbau erzielt  werden  wird. 


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DIE  NEUEN  TRIESTER  HAFEN  BAUTEN. 


(MIT  EINER  PLAN8KIZZE) 
TOS 

D"  GUSTAV  LIPPERT. 


Die  am  22.  November  1899  dem  Abgeordnetenhaus«  in  seiner  XVI.  Session 
überreichte  Regierungsvorlage  betreffend  die  Erweiterung  der  Hafenanlagen  in 
Triest,  wodurch  die  Herstellung  des  Sanitätsmolos,  die  Verbreiterung  der  Riven 
m alten  Hafen,  ferner  der  Bau  eines  Molo  mit  einer  Riva  für  ein  Hafenbassin 
bei  der  Spitze  von  St.  Andrea  im  Anschluß  an  den  Holzlagerplatz  am  die 
Gesamtsumme  von  12  Mill.  Kronen  ins  Auge  gefallt  war.  hat  zwar  nie  gesetz- 
liche Sanktion  erhalten;  jedoch  war  die  Ausführung  der  Bauten  im  alten  Hafen 
schon  zn  Beginn  des  Jahres  1901  in  Angriff  genommen  und  für  die  nötigen 
Auslagen  durch  Einstellung  der  jeweils  erforderlichen  Budgetposten  vorgesorgt 
worden. 

Eine  neuerliche  Anregung,  sich  mit  den  Hafenerweiternngsfragen  eingehend 
zu  befassen,  bildete  das  Gesetz  vom  6.  Juni  1901,  R.-G.-Bl.  Nr,  68,  betreffend 
die  Herstellung  mehrerer  Eisenbahnen  auf  Staatskosten  und  die  Festsetzung 
eines  Bau-  und  Investitionspräliminares  der  Staatseisenbahnverwaltung  für  die 
Zeit  bis  Ende  des  Jahres  1905. 

Der  biemit  geplante  Hau  der  zweiten  Eisenbahnverbindung  mit  Triest 
rückte  die  Frage  einer  allen  zukünftigen  Verkehrsanforderungen  entsprechenden 
Vergrößerung  des  Hafens  in  den  Vordergrund. 

In  Betreff  der  absoluten  and  relativen  Handelsstellung  Triests  während 
der  unmittelbar  vorausgegangenen  Jahrzehnte  gibt  der  zu  dem  erwähnten  Gesetze 
erstattete  technisch-kommerzielle  Bericht*)  eine  Reihe  von  Zahlenübersichten, 
deren  bedeutsamste  samt  den  hieraus  gezogenen  Schlußfolgerungen  zur  Beur- 
teilung des  Verkehrswachstums  und  zwecks  Veranschaulichung  des  Umfanges 
der  zukünftigen  Hafenausgestaltung  hier  Aufnahme  ßnden  sollen. 

Zunächst  zur  Charakterisierung  der  Bedeutung  von  Triest  als  Hafenplatz 
im  internationalen  Verkehre  zur  See  folgende  Wertzahlen: 

')  Beilage  60  zu  den  stenographischen  Protokollen  des  Abgeordnetenhauses, 
xvn.  Session,  1901,  S.  62  ff. 


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536 


Lippert. 


I.  Einfuhr  zur  See  nach  Triest. 


1899 

1898 

1897 

1896 

1895 

1894 

1893 

1892 

1891 

Wert  des  Gesamt* 

verkehr»  in  Mill. 
Kronen  .... 

3886 

885*6 

3680 

346*8 

3700 

372-8 

378-4 

375-8 

833-6 

davon  aus  bezw. 

nach  österr.-nngar. 
Häfen  .... 

28*4 

296 

272 

28-0 

28*2 

26-2 

24-0 

25-0 

25*4 

daher  W ert  des 

Außenhandels  . . 

3602 

356  0 

340  8 

3188 

341-8 

3466 

354  4 

8508 

8082 

n. 

Ansfuhr 

zur  See  von  Triest: 

1899 

1898 

1897 

1896 

1895 

1894 

1893 

1892 

1891 

Wert  des  Gesamt- 

verkehrs in  Mill. 
Kronen  .... 

322-6 

326-8 

313  4 

3034 

801-0 

336-6 

3338 

3140 

3238 

davon  aus  bezw. 

nach  österr.-ungar. 
Häfen  .... 

52-6 

532 

56  8 

560 

■30 

59-6 

584 

51-6 

54-6 

daher  Wert  des 

Außenhandels  . . 

270-0 

278  6 

256-6 

247-4 

248  0 

2770 

2754 

262  4 

2692 

Die  noch  weiters  gebrachten  Zusammenstellungen  von  Ziffern  betreffend 
den  Triester  Handel  im  Mittelmeer,  im  Atlantischen  Ozean,  im  Schwarzen  Meer, 
im  Roten  Meer,  mit  Ost-  und  Südafrika.  Asien  jenseits  des  Roten  Meeres,  Nord- 
amerika und  Westindien.  Südamerika  und  Australien  zeigen,  daß  das  Schwer- 
gewicht des  Triester  Sechandels  in  den  Mittelmeerlilndern  liegt;  mit  diesen  ist 
auch  der  Handelsverkehr  aktiv,  in  allen  übrigen  Beziehungen  führt  Triest  mehr 
Waren  ein  als  es  ausfährt  und  zeigt  die  Differenz,  namentlich  im  Verkehre 
mit  Asien.  Nord-  und  Südamerika,  eine  nicht  unbedeutende  Höhe.  Wenn  die 
Bestimmung  der  von  Triest  zur  Versendung  gelangenden  Waren  im  einzelnen 
weiter  verfolgt  wird,  so  erweisen  sich  eigentlich  nur  die  Türkei,  Italien  und 
Griechenland  sowie  Ägypten  und  Britisch-lndien  als  Hauptabsatzgebiete  des 
Triester  Verkehrs.  Die  für  die  Ausfuhr  unserer  Erzeugnisse  so  wichtigen  Märkte 
Ostasiens,  Nord-  und  Südamerikas.  Australiens,  Ost-  und  Südafrikas  dagegen 
erscheinen  entweder  mit  nur  sehr  bescheidenen  Anteilen  oder  gar  nicht.  Und 
darin  liegt  das  bei  weitem  wichtigste  Hemmnis  für  eine  gesunde  Entwicklung 
von  Triest.  Es  mangelt  an  Ausfracht  für  jene  Märkte,  das  heißt:  die  Schiffe, 
welche  Güter  von  dort  bringen,  müssen  damit  rechnen,  in  Triest  wenig  oder 
gar  keine  Fracht  zu  erhalten;  das  verteuert  den  Seetransport,  macht  regelmäßige 
und  Öftere  Verbindungen  unmöglich  und  drückt  die  Konkurrenzfähigkeit 
bedeutend  herab. 

Die  geringe  Anziehungskraft  des  Triester  Platzes  zeigte  sich  dementsprechend 
auch  in  den  Ziffern  des  Eandverkehrs  und  noch  schärfer  treten  diese  Mängel 
in  der  Entwicklung  des  Warenverkehrs  von  TrieBt  boim  Vergleiche  des  Triester 
Handels  mit  jenen  der  konkurrierenden  Seehäfen  hervor,  von  welchen  Fiume, 
Venedig,  Genua.  Marseille,  Bremen  und  Hamburg  in  Betracht  gezogen  werden  sollen. 

Es  betrug  der  Gesamtwarenverkehr  während  der  Jahre  1860-  1899  in 
1000  Tonnen; 


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Die  neuen  Triester  Hafenbauten. 


537 


Davon  entfallen  auf 

Tv  '^51 

Jahre  ||  ^ 

5 X £ 

* — - ■** 

J- 

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*2 

S 

1 

> 

§ 1 f 1 1 

ir* 

M 

C 

ö 

-Q  1 

tu 

1860-1869 

5512  635 



311‘) 

9067,  1803  734") 

1113  ' 

1870-1879 

8898!  837 

197*) 

460“) 

1278»)  260s  1387") 

2181«) 

1880—1889 

14601  1116 

602 

707 

2851*)  3498  1618" 

4209*) 

j 1890—1899 

1 

21032  1273 

1 

1 '1 

95a 

1132 

3614")  4371  -2596") 

1 1 

7091")' 

oder  in  Proz. 
des  Gesamtverkehra  i 


5 ; e 
? 1 ,2 


2 ’s ! a | *s  | 


11-5 


— 6 
2-25 
'4-1  jr. 

iS-t-5'5- 

I 


33  13  20, 
20 1 15,  25! 

11 
12 


Triest  hat  hienach  während  der  bezeichneten  40  Jahre  fortwährend  alige- 
1 Kimmen  nnd  es  beträgt  sein  Anteil  hente  fast  nnr  mehr  die  Hälfte  jenes  der 
Sechzigerjahre.  Finme,  Genua  und  Hamburg  dagegen  haben  ihre  Koukurrenzkraft 
gestärkt;  Venedig  blieb  konstant. 

Aus  all  diesem  Zahlenmaterial  zieht  der  technisch-kommerzielle  Bericht 
den  Schloß,  daß  angesichts  der  während  jenes  Zeitraumes  zwecks  Besserung  der 
Verkehrsverhältnisso  getroffenen  Maßnahmen  die  Abnahme  der  Konkurrenz- 
fähigkeit Triests  nur  durch  das  Fehlen  der  notwendigen  Ausgestaltung  seiner 
Hinterlandsverbindungen  erklärt  werden  könne. 

Der  Triester  Handel  bedürfe  eines  neuen  Handelsweges  mit  einem  ver- 
größerten festländischen  Attraktionsgebiete,  um  die  ungleichmäßige  Verteilung 
der  Zn-  und  Abfuhrverhältnisse  auszugleichen,  welche  die  Schiffahrt  auf  das 
Nachteiligste  beeinflussen. 

Der  neue  Schienenweg  sei  berufen  und  geeignet,  einerseits  die  Ausfuhr 
von  Textilien,  Kleidern  und  sonstigen  Konfektionen,  von  Papier,  Leder-  und 
Schüttwaren,  hölzernen  und  eisernen  Möbeln.  Nägeln,  Holzwaren,  Zement.  Glas-, 
Ton-  und  Kurzwaren  u.  s.  w,  insbesondere  nach  Ostasien,  Zentral-  und  Süd- 
amerika wesentlich  zu  fördern,  anderseits  die  Abfuhr  der  für  unsere  Textil- 


'1  Ein-  und  Ausfuhr  zu  Lande. 

*)  Ein-  und  Ausfuhr  zur  See. 

*)  Gewicht  der  im  Hafen  ein-  und  auegeschifften  Waren. 
*>  Erst  seit  1872  ausgewiesen,  1872 — 1879. 

*1  Ungefähr. 

•)  1876—1879. 

’)  1861. 

•>  1871—1880. 

•)  1881—1890. 

">)  1891—1899. 

»)  1867—1871. 

")  1877—1881. 
n,  1887—1891. 

>*)  1892-1899. 

1891—1898. 


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538 


Lippen. 


Industrie  nötigen  Rohstoffe:  Baumwolle,  Schafwolle  und  Jute,  welche  bisher  nur 
7.um  geringen  Teil  über  den  heimischen  Hafen  gehen,  zu  übernehmen,  sowie 
Häute,  Chilisalpeter,  mineralische  Dungmittel,  Farbhölzer,  Tabak  u.  s.  w.  711 
Stapelartikeln  für  den  Bedarf  unserer  Produktion  dortselbst  zu  machen. 

Gin  lebhafter  Schiffsverkehr  mit  regelmäßigen  und  billigen  Vcrfrachtungs- 
gelegenheiten  nach  den  für  die  Förderung  der  heimischen  Ausfuhr  so  wichtigen 
Konsumplätzen  Ostasiens.  Ost-  und  Südafrikas,  Amerikas  und  Australiens  werde 
sich  dazu  automatisch  gesellen. 

Über  den  mutmaßlichen  Umfang  der  zu  gewärtigenden  Verkehrszunahmeu 
werden  in  dem  im  Jänner  1903  verfaßten  Berichte  der  bei  der  Seebehörde  zur 
Beratung  der  Ausgestaltung  der  Uafenanlagen  in  Triest-St.  Andrea  zusammen- 
getretenen Kommission  folgende  Schätzungen  angestellt: 

Wie  ans  den  letzten  statistischen  Ausweisen  der  Triester  Handelskammer 
über  den  Schiffsverkehr  des  Triester  Hafens  erhellt,  hat  sich  der  Tonnengehalt 
der  eingelanfenen  Schilfe  von  2.063.112  im  Jahre  1898  auf  2,499.528  im 
Jahre  1902  erhöht,  ist  daher  um  21  Proz.  gestiegen,  was  einem  Jahreszuwachs 
von  durchschnittlich  5-2  Proz.  entspricht. 

Eine  verhältnismäßig  weitaus  beträchtlichere  Steigerung  zeigt  sich  jedoch 
im  Seeverkehr  des  Triester  Freigebietes,  welcher  sich  von  9,560.512  Meter- 
zentnern im  Jahre  1898  auf  12.494.480  Meterzentner  im  Jahre  1902,  sonach 
im  ganzen  um  30'6  Proz.  und  im  Jahresdurchschnitte  um  7'(i  Proz.  erhöht  hat. 

Der  Bahnverkehr  des  Freigebietes  ist  im  gleichen  Zeitraum  von  5,785.600 
auf  7,433.629  Meterzentner,  also  um  29  Proz.  und  im  Jahresdurchschnitt  um 
7-25  Proz.  gestiegen,  wobei  zu  beachten  ist,  daß  die  Unterschiede  zwischen  den 
Ergebnissen  dos  See-  nnd  Bahnverkehrs  auf  den  lokalen  Warenverkehr  zurück- 
zuführen sind.  Es  erschien  hienach  die  Annahme  begründet,  daß  der  Triester 
Hafenverkehr  ohne  Rücksicht  auf  die  Wirkungen  der  zweiten  Eisenbahnverbindung 
während  der  nächsten  fünf  Jahre  mindestens  einen  gleichen  Fortschritt  nehmen, 
daher  mit  Ende  des  nächsten  Quin<iuenninms  eine  50proz.  Steigerung  gegenüber 
dem  Jahre  1898  aufweisen  würde. 

An  die  Eröffnung  der  neuen  Eisenbahnverbindung  knüpft  sich  aber  die 
berechtigte  Erwartung,  daß  die  hiedurch  herbeigeführte  Yerkehrssteigerung  den 
Yerhältnisanteil  Triests  an  dem  Gesamtverkehr  der  Seehäfen  Triest,  Yenedig, 
Fiume,  Genua,  Marseille,  Bremen  und  Hamburg  wenigstens  auf  das  im  Jahr- 
zehnt 1860 — 1870  bestandene  Verhältnis,  nämlich  von  6 Proz.  (in  dem  Zeit- 
räume 1890 — 1898)  auf  1 1*S  erhöhen  werde,  was  mit  einer  Verdoppelung  des 
gegenwärtigen  Warenverkehrs  gleichbedeutend  wäre. 

Hieran«  ergibt  sich  notwendigerweise  die  Forderung,  daß  die  neue  Hafen- 
anlage der  gegenwärtigen  an  Umfang  zumindest  gleichkommen,  au  Leistungs- 
fähigkeit aber  überlegen  sein  und  die  Möglichkeit  einer  Erweiterung  für  die  einer 
ferneren  Zukunft  vorbehaltene  Yorkehrsentwicklung  bieten  müsse. 

Diese  Forderung  war  um  so  dringender,  als  seitens  der  Konkurrenzhäfen 
alle  Anstrengungen  gemacht  werden,  um  durch  Erweiterung  und  Vervollkommnung 
ihrer  heute  schon  großartigen  Anlagen  ihre  Wirkungssphäre  noch  mehr  aus- 
zudehnen. Es  war  somit  eine  nene  Hafenanlage  in  Aussicht  zu  nehmen,  welche 


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Die  neuen  Triester  Hafenbauten. 


539 


nicht  bloß  den  gegenwärtigen ' Verkehrsanforderungen,  denen  die  bestehenden 
Hafeneinrichtungen  schon  längst  nicht  mehr  genügen,  unter  Berücksichtigung  des 
normalen  Verkehrszuwachses  auf  absehbare  Zeit  hinaus  vollständig  entspricht, 
sondern  auch  zur  Bewältigung  der  außerordentlichen  Verkehrssteigerung  aus- 
reichen  soll,  die  sich  nach  Vollendung  der  neuen  Bahnverbindungen  und  ins- 
besondere der  Tauernbahn  aller  Voraussicht  nach  einstellen  wird. 

Daß  da  der  in  der  Regierungsvorlage  vom  Jahre  1899  geplante  eine  Molo 
samt  Riva  in  St.  Andrea  ganz  und  gar  nicht  ausreichen  konnte,  lag  auf  der 
Hand.  Deshalb  wurde  im  Zusammenhänge  mit  den  Bahnanlagen  der  alsbald  in 
Bau  gegebenen  internationalen  Hanptverkehrslinie  die  Anlage  eines  neuen  Hafen- 
teiles mit  drei  senkrecht  auf  die  Bahnriva  angesetzten  und  durch  einen  Wellen- 
brecher geschützten  Molis  projektiert. 

Allein  noch  im  allerersten  Anfang  der  Ausführung  dieses  Bauplanes  entstanden 
wichtige  Bedenken  in  Betreff  der  Angemessenheit  der  ganzen  Anlage,  nicht  nur  vom 
nautischen  Standpunkt  wegen  der  bei  Bora  und  Seegang  zu  befürchtenden  Gefährdung 
der  Schiffsoperationen,  sondern  auch  aus  eisenbahntechnischen  Gründen,  indem  die 
Einschaltung  der  vielen  Drehscheiben  als  untunlich  und  verkehrshinderlich  erschien. 

Die  im  Laufe  d^s  Jahres  1902  und  anfangs  1903  in  Wien  und  Triest 
zur  Beratung  dieser  Frage  abgehaltenen  Kommissionen1)  fanden  einen  die  Aus- 
gestaltung des  neuen  Hafenteiles  endgültig  bestimmenden  Abschluß  in  den  vom 
3.  bis  9.  Februar  1903  bei  der  Seebehörde  abgehaltenen  Sitzungen. 

Hienach  soll  nunmehr,  wie  aus  der  angefügten  Planskizze  ersichtlich,  der 
Ban  der  drei  neuen  Molis  in  der  Richtung  N.  83°  E.  der  wahren  Windrose 
ioder  E.  7°  N.),  also  parallel  zum  Durchzugsgeleiso  der  Staatsbahn  stattfinden 
und  außerdem  gegen  die  aus  Südwesten  kommenden  Meereswogen  ein  sicherer 
Schutz  vermittels  dreier  staffelformig  angelegter  Wellenbrecher  geschaffen  werden. s) 

*)  In  der  am  11.  November  1902  bei  der  Seebehörde  stattgefundenen  Kom- 
misaionssitzung  wurde  beschlossen,  mit  der  Ausarbeitung  des  Entwurfes  ein  Komitee  zu 
beauftragen.  Das  von  derselben  aasgearbeitete  Generalprojekt  wurde  in  der  Sitzung  des 
Lagerhauskomitees  vom  23.  Dezember  1902  vorgetragen  und  bildete  aoeh  die  Grundlage 
der  in  Angelegenheit  der  Triester  Hafenbauten  im  Handelsministerium  vom  12.  bis 
17.  Jänner  1903  abgehaltenen  Sitzungen. 

rl  Für  die  Richtung  der  nautischen  und  technischen  Linien  des  Hafens  war  vor 
allem  maßgebend,  auf  den  vorherrschenden  Wind  und  dessen  Richtung  streng  Bedacht 
zu  nehmen  und  weiters  darauf  zu  achten,  daß  die  Wellenbewegung  des  Meeres  aus  jener 
Weltgegend,  aus  welcher  erfahrungsgemäß  der  gefährlichste  Seegang  fQr  den  Golf  von 
Triest  kommt,  möglichst  geringen  Einfluß  auf  die  im  Hafen  vertäuten  und  handelstätigen 
Schiffe  nehmen  könne.  Diesem  klaren  Gesichtspunkte  folgend,  mußten  die  nautischen 
Linien  des  neuen  Hafens  tunlichst  genau  der  mittleren  Richtung  der  stürmischen  Bora 
entsprechend  veranlagt  werden. 

Die  Erbauung  eines  einzigen  Stückes  Wellenbrecher  in  der  ganzen  erforderlichen 
Länge  von  2S40  Metern  vor  dem  Hafenwerk  in  St.  Andrea  und  vor  der  Bucht  von 
Muggia  wäre  ein  Fehler  kommerziell-technischer  Natur  gewesen,  hätte  auch  den  nautischen 
Anforderungen  wenig  entsprochen,  denn  erstere  erheischen  die  Ermöglichung  tunlichst 
rascher  Abwicklung  der  bade-  und  Löschungstätigkeit  der  Schiffe,  letztere  verlangen  die 
leichte  Zugänglichkeit  jeder  Hafenanlage  unter  Wahrung  der  nautischen  Sicherheit. 
Expos*  zum  Generalprojekte  der  Halenanlagen  in  Triest-St.  Andrea.  Jänner  1903. 


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540 


Lippert. 


Die  Ausdehnung  und  Leistungsfähigkeit  der  neuen  Freigebiets-  und  Hafen- 
anlage übertrifft  erheblich  jene  des  gegenwärtigen  Puntofranco,  wie  folgende 
vergleichende  Zusammenstellung  ersehen  läßt: 


Derzeitige  Freigebiets- 
anlagen einschließlich  Molo  IV 
und  Rangierbahnhof 

Projektierte  Anlage 
in  .8t.  Andrea  samt  Rangier* 
bahihof 

Rivalänge 

8260  m 

4850  m 

Länge  der  Moli  .... 

Molo  I 19b  m (durchschnittl. ' 

Molo  V 360  m 

Molo  II  197  m „ 

Molo  VI513m(durchBchnittM 

Molo  III  21 1 m r 

Molo  IV  142  m 

[Molo  VII  778  m * 

Bassinbreiten 

Bassin  I 229  m 
Bassin  11268  m 
Bassin  III  298  m 

Bassin  IV  280m  (durchschnittl.)' 

jedes  der  beiden  Bassins  300  mj 

Länge  des  Wellenbrechers 

1086  m 

500 + 500 +1600  m 

Breite  der  Einfahrten  . . 

vor  Molo  I 95  m 

vor  Molo  V 400  m : zwischen  ^ 

vor  Molo  III  165  m 

den  Wellenbrechern  je  233  m 

Hangars.  Belegfläche  . . 

46.000  m' 

128.000  m5 

Magazine,  Relegfläcbe  . . 

153.000  in» 

180.000  m ■ 

1 Zahl  der  Uferkrahne  . . 

54 

95 

| Gesamt  areal 

1 

417.828  m» 

603.000  m! 

Ranm  wird  für  etwa  30  Schiffe  großen  Tounengehaltes  geschaffen,  und 
zwar  bei  der  Meerestiefe  von  12  bis  18  m gerade  für  solche  größter  Verhältnisse. 

Die  Kosten  für  sämtliche  Hafenanlagen  beziffern  sich  nach  den  bezüg- 
lichen, allgemein  gehaltenen  Voranschlägen  auf  87*1  Mill,  Kronen,  wovon  53'9 
auf  die  eigentlichen  Hafenbauten  und  33‘2  Mill.  Kronen  auf  die  Freigebietsaulage 
entfallen. 

Als  leitender  kommerzieller  Gesichtspunkt  war  bei  der  Anlage  maßgebend 
die  Erwägung,  daß  ein  möglichst  rascher,  einfacher  und  billiger  Umschlag 
zwischen  Schiff  und  Land  und  insbesondere  zwischen  Schiff  und  Bahn  zu  ermög- 
lichen sei.  Hiebei  war  insbesondere  darauf  Bedacht  zu  nehmen,  daß  durch  die 
zweite  Bahnverbindung  mit  Triest,  welche  eben  in  St.  Andrea  münden  soll, 
hauptsächlich  der  Durchzugsverkehr  einen  wesentlichen  Aufschwung  erfahren 
wird,  daß  also  die  überwiegende  Mehrzahl  der  Güter  im  zukünftigen  Freigebiete 
nur  vorübergehend  gelagert  wird,  somit  der  Warenverkehr  in  den  allgemeinen 
Lagerräumen  dem  im  unmittelbaren  Umschlag  sich  abwickelnden  Verkehre  an 
Bedeutung  nicht  unwesentlich  nachstehen  werde.  Auch  ist  es  nicht  wahrscheinlich, 
daß  die  Vermietung  von  Lagerhausflächen  an  Private  in  demselben  Verhältnis 


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Die  neuen  Triester  Uafenbauten. 


541 


wie  derzeit  im  neuen  Hafen  Vorkommen  werde.  Dagegen  maß  auf  die  Ein-  and 
Ausfuhr  der  hohe  Lagerzinse  nicht  vertragenden  Massengüter  sowie  deren 
Lagerung  im  Freien  in  weitgehendem  Maße  gerechnet  werden.  Unter  diesen 
Voraussetzungen  war  es  geboten,  den  Hafen  in  St.  Andrea  reichlich  mit  Hangars 
und  freien  Lagerplätzen  auszugestalten  und  derart  einzurichten,  daß  Zu-  und 
Abstellung  der  Eisenbahnwagen  in  ungehinderter  Weise  zu  jeder  Zeit  und  wo- 
möglich, ohne  den  Verkehr  der  eigentlichen  Lagerhäuser  zu  kreuzen  oder  zu 
behindern,  vor  sich  gehen  könne. 

Da.  wie  erwähnt,  der  Bedarf  an  Magazinen  in  den  Hintergrund  treten 
dürfte,  wird  die  Anlage  einer  Reihe  Lagerhäuser  voraussichtlich  genügen.  Sollte 
aber  diese  Vermutung  sich  nicht  verwirklichen,  vielmehr  der  Bedarf  an  allge- 
meinen Lagerräumen  und  Privatmagazinen  sich  in  einer  Weise  steigern,  daß  die 
projektierten  Magazine  nicht  mehr  ausreichen  würden,  so  ist  die  Möglichkeit 
gegeben,  auf  Anschüttnngsflächen  vom  Leuchtturm  bis  zum  kleinen  Bootshafen 
in  St.  Andrea  hinreichenden  Raum  für  deren  Errichtung  zu  gewinnen,  was  bei 
der  nicht  bestehenden  Notwendigkeit,  unmittelbar  vor  den  Lagerhäusern  sichere 
Schiffsanlegestellen  zu  schaffen,  um  so  leichter  wird  geschehen  können,  wenn  für 
die  vorderhand  an  jener  Stelle  gedachten  Holzlagerplätze  anderswo,  nämlich  in 
Servola,  Ersatz  gefnnden  wird. 

Geplant  sind  22  Hangars,  deren  benützbare  Flüche  zwischen  4700  und 
8200  n/!  beträgt,  welche  Verschiedenheit  in  der  Größe  nicht  als  ein  Nachteil 
bezeichnet  werden  kann,  weil  in  den  Hafen  Schiffe  verschiedenen  Tonnengehalts 
einlaufen. 

Bei  der  Bestimmung  des  Flächenausmaßes  des  Hangars  wurde  auf  die 
Löschung  von  Schiffen  bis  zn  9000  Tonnen  Gehalt  Rücksicht  genommen,  so  daß 
eine  volle  Ladung  in  einem  einzigen  Hangar  zur  Löschung  gelangen  kann. 

Die  Gesamtbelegfläche  der  zu  errichtenden  Hangars  beläuft  sich  sonach 
anf  128.200  »t*.  welche  sich  bei  Aufführung  von  Obergeschossen  in  einzelnen 
Hangars  auf  160.400  mä  erhöhen  würde,  eine  Fläche,  die  auch  im  Falle  eines 
bedeutenden  Verkehrsaufschwunges  auf  absehbare  Zeit  hinaus  allen  Anforderungen 
genügen  dürfte. 

Die  Hangarlängen  schwanken  zwischen  120  bis  207  m und  worden  den 
verschiedenen  Schiffslängen  angepaßt;  die  Hangarbreiten  wurden  mit  45  m fest- 
gesetzt. Vor  den  Hangars  ist  eine  Riva  mit  14  m Breite  gedacht,  auf  welcher 
ein  Umschlagsbahngeleise  angelegt  wird;  an  der  Landseite  der  Hangars  sollen 
drei  Geleise  den  Bahnverkebr  vermitteln,  eines  für  den  Umschlag,  das  mittlere 
für  die  Waggonanfstellmig,  das  innerste  als  Dnrchzngsgeleise. 

An  den  Köpfen  der  Moli  wird  ein  freier  Lagerraum  für  die  einstweilige 
Lagerung  von  Massengütern  (Mineralien,  Erze,  Holz)  belassen;  als  Hauptlager- 
platz für  diese  Artikel  ist  übrigens  das  östliche,  gegen  das  Lloydarsenal  gelegene 
Ende  des  neuen  Freigebietes  auserseben. 

Die  Magazine  anlangend,  sind  deren  acht  in  zwei  Reiben  landscits  der 
Hangars  projektiert;  sie  werden  mit  Keller,  Erdgeschoß  und  drei  Stockwerken 
vorsehen  und  bieten  einen  Belegraum  von  180.000  ws.  Ihre  Breite  wurde,  ein- 


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542 


I.ippert. 


schließlich  des  Perrons  zu  1’50  m,  mit  nnr  28  m bemessen,  innerhalb  welcher 
Grenze  das  Tageslicht  zur  Erhellung  des  Innern  der  Abteilungen  ausreicht. 

Die  Bestimmung  der  neuen  Hafenanlage  ist  die,  vorzugsweise  zur  Bedienung 
des  indischen  und  ostasiatischen  Verkehrs  gewidmet  zu  bleiben;  denn  eine  solche 
Trennung  des  Verkehrs  nach  Weltgegenden  erwies  sich  als  angezeigt,  um  die 
nachteiligen  Folgen  der  abgesonderten  Lage  des  älteren  und  neuen  HafenteUes 
zu  mildern  sowie  um  die  Schwierigkeiten  in  der  Betriebsführung  des  Eisenbahn- 
dienstes  tunlichst  zu  beheben. 

Das  gewaltige  Hafenwerk  wird  nach  seiner  Vollendung  Triest  zu  einem 
der  grüßten  und  besten  Häfen  des  Mittelmeerbeckens  emporheben  und  im  Bereiche 
desselben  wird  dieser  Platz  außerordentlich  günstig  Handel  und  Verkehr  ver- 
mitteln können,  wie  nur  wenige  andere  Häfen  einer  mächtigen  Entwicklung 
entgegengehend. 


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LITERATUR  BE  RECHT. 


Eduard  Huirno,  k.  k.  MinUtcrial-Vizesekret&r,  im  Finanzministerium. 
Die  Bechtsaprcchnng  des  Verwaltungsgcrichtshofes  auf  dem  Gebiete  des 
Gesetzes  vom  25.  Oktober  1896,  R.  G.-Bl.  Nr.  220,  betreffend  die  direkten 
Personalsteuern  «eit  Beginn  der  Wirksamkeit  des  Gesetzes  (1898—1901). 
III.  Teil  des  Kommentars  zu  diesem  Gesetze,  herausgegeben  von  Eduard  Bugno 
und  Pr.  Emil  Wilmer,  Wien,  1902,  M.  Breitenstein,  240  S. 

Unter  diesem  — trotz  einiger  hier  bereits  durchgeführten  Kürzungen  noch  immer 
etwas  zu  lang  geratenen  — Titel  ist  als  vollständig  für  sich  bestehende  Arbeit  eine 
auUerordentlich  übersichtliche  Zusammenstellung  der  Verwaltungsgerichtshof-Judikatur 
nun  neuen  PersonalsteuergeBetze  erschienen;  in  möglichst  engem  Anschlüsse  an  den 
Wortlaut  der  Entscheidungsgründe  ‘werden  hier  von  Bachkundiger  Hand  prägnante 
Rechtssätze  aus  etwa  1000  Erkenntnissen  und  Bescheiden  des  Verwaltungsgerichtshofes 
hcransgezogen,  nach  den  einschlägigen  Paragraphen  gereiht  und  innerhalb  dieser  Ordnung 
wieder  systematisch  gruppiert,  so  daß  sich  der  Xachschlagendc  in  der  denkbar  kürzesten 
Zeit  über  den  letzten  Stand  der  Judikatur  zu  orientieren  vermag.  Hiemit  hat  sich  der 
Autor  den  Dank  jener  weiten  Kreise  verdient,  welche  über  den  jeweiligen  Stand  der 
einschlägigen  Judikatur  informirt  zu  sein  wünschen,  ohne  in  der  Lage  zu  sein,  die 
immer  mehr  anschwellende  Zahl  der  Judikate  in  extenso  zu  studieren  und  sich 
wenigstens  die  wichtigeren  der  — bisher  nicht  veröffentlichten  — Beschlüsse  und  Be- 
scheide zu  verschallen.  Dankbar  werden  aber  auch  alle  jene  die  Zusammenstellung 
begrüßen,  welche  die  Entwicklung  des  direkten  Steuerwesens  in  den  verschiedenen 
Ländern  mit  Aufmerksamkeit  verfolgen  wollen ; denn  ihnen  eröffnet  sich  hier  in  leicht 
zugänglicher  Weise  eine  überreiche  Fundgrube  praktisch  vorgekommener  Bestcuerungs- 
fällc,  aus  welcher  sie  — auch  wenn  die  konkret  getroffene  Entscheidung  nicht 
immer  ihre  Billigung  wird  finden  können  — gleichwohl  gewiß  Anregung  und  Belehrung 
in  vielen  bisher  noch  wenig  geklärten  Fragen  der  Besteuerung  schöpfen  werden. 

Einen  ganz  besonderen  Reiz  gewinnt  die  vorliegende  Zusammenstellung  dadurch, 
daß  sie  uns  einen  Überblick  über  einen  vollständig  neuen  Zweig  der  Verwaltnngs- 
gerichtshof-Judikatur  verschafft:  Das  Personalsteuergesetz  hat  nämlich  wohl  die  durch- 
greifendste Umgestaltung  eines  ganzen  großen,  in  sich  geschlossenen  Verwaltungszweiges 
herbeigeführt,  welche  seit  Bestand  unseres  VerwaltungBgerichtshofes  überhaupt  stattgefunden 
hat;  es  hat  sich  daher  dem  Verwaltungsgerichtsbofe  hier  auch  zum  ersten  Mal  die 
Gelegenheit  geboten,  von  allem  Anfänge  an  auf  die  Entwicklung  der  Praxis  bestimmenden 
Einfluß  zu  nehmen.  Von  dieser  Möglichkeit  wurde  tatsächlich  der  umfassendste  Gebrauch 
gemacht  und  mit  dem  Zeitpunkte  des  Inslebentretens  des  neuen  Gesetzes  insbesondere 
auch  die  eigene  frühere  Judikatur  dermaßen  zur  Seite  geschoben,  daß  manche  Gesetzes- 
stelle, durch  welche  lediglich  die  bisherige  PraxiB  kodifiziert  werden  sollte  — z.  B.  die 
Bestimmungen  über  die  Behandlung  der  Verwaltungsratsbezüge,  der  Couponsteropel- 
gebühren,  der  veijährtcn  Dividenden  etc.  etc.  — nunmehr  zum  Ausgangspunkte  ciuer 
geradem  gegenteiligen  Praxis  genommen  wurde. 

Die  Neuerungen  beschränken  sich  nun  aber  keineswegs  auf  das  engere  Gebiet 
des  Finanzrechtes,  sondern  greifen  auf  eine  Reihe  von  Fragen  über,  welche  für  das 
Administrativverfahren  im  allgemeinen  von  Wichtigkeit  sind  und  daher  auch  außerhalb 
des  Kreises  der  Steuerpraktiker  und  -tlieoretikcr  Aufmerksamkeit  verdienen.  Hieher 
Zniucbrifi  für  VolkawirUohaft,  Sozialpolitik  und  Verwaltung.  Xtf.  Rand.  37 


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544 


Literaturbericht. 


gehören  interessante  und  fein  distinguierte  Erörterungen  über  die  Frage  der  Zulässigkeit 
der  reformatio  in  pejus  sowie  (allerdings  schon  in  das  Jahr  1902  fallend  — z.  B.  Er- 
kenntnis vom  17.  April  1902,  Budw.  9*10)  weit  ausgreifende  Deduktionen  über  die  Folgen  der 
Kontumaz  in  erster  Instanz  auch  für  das  zweitinstanzliche  Verfahren:  hieher  gehört 
aber  vor  allem  der  radikale  und  soweit  ich  sehen  kann,  unvermittelte  Bruch  mit  einer 
dezennienlangen  Judikatur,  zufolge  welcher  eine  nachträgliche  Sanierung  von  Mängeln 
des  Adtninistrativverfahren«  für  zulässig  erklärt  worden  war:  Die  neuere  Judikatur  stellt 
sich  demgegenüber  auf  den  Standpunkt,  daß  „wesentliche"  Mängel  des  Verfahrens  im 
Instanzenwege  nicht  saniert  werden  können,  vielmehr  die  Wiederholung  des  ganzen 
Veranlagungsverfahrens  erfordern;  hiebei  wird  überdies  die  Wesentlichkeit  des  Mangels 
nicht  so  sehr  nach  der  konkreten  Bedeutung  desselben  für  den  Einzelfall  als  vielmehr  unter 
Annahme  gewisser  essentieller  und  rücksichtlich  ihrer  zeitlichen  Aufeinanderfolge  un- 
verrückbarer Formerfordemisse  beurteilt.  In  weiterer  Konsequenz  dieser  Auffassung 
gelangt  der  V erwaltun gsger ichtahof  zur  Lehre  von  der  „ursprünglichen  Nichtigkeit“  der 
auf  Grund  eines  derart  mangelhaften  Verfahrens  erlassenen  behördlichen  Verfügungen 
und  berührt  damit  Fragen,  welche  in  der  verwaltnngsrechtlichen  Theorie  bekanntlich 
noch  immer  strittig  sind  und  wohl  auch  bei  einer  eventuellen  Reform  unsere«  Admini- 
strativ Verfahrens  noch  eingehend  erörtert  werden  müßten;  denn  es  wird  «ich  darum 
handeln,  das  tatsächliche  Maß  der  dieser  Weise  augeblich  bewirkten  Erhöhung  des 
Rechtsschutzes  des  Einzelnen  ins  klare  und  weiter  fcstzustellen,  inwieweit  die  hiedurch 
bewirkte  Beeinträchtigung  öffentlicher  Interessen,  die  Vennehrung  der  verwalt ungs- 
behürdlichcn  Arbeit  und  die  bekanntlich  sehr  unangenehm  empfundene  wiederholte 
Inanspruchnahme  der  Zensiten  mit  der  vermeintlichen  Erhöhung  des  Rechtsschutzes  in 
richtigem  Verhältnisse  stehe. 

Das  Personalsteuergesctz  hat  endlich  nicht  nur  eine  radikale  Reform  dieser 
Steuern  lierbeigeführt,  sondern  auch  das  Gesetz  über  den  VerwaUungsgerichtshof  selbst 
in  der  einschneidendsten  Weise  abgeändert,  — da  der  Verwaltungsgerichtshof  erst  von 
nun  ab  über  die  Entscheidungen  der  mit  Laienelementen  besetzten  Steuerkommissionen, 
ferner  der  aus  Richtern  und  Verwaltungsbeamten  zusammengesetzten  Spruchsenate  im 
•Strafverfahren,  sowie  endlich  über  Beschwerden  der  Vorsitzenden  der  zweitinstanzlichen 
Kommissionen  gegen  Entscheidungen  dieser  Kommissionen  zu  erkennen  hat.  Die  vor- 
liegende Zusammenstellung  ladet  daher  förmlich  dazu  ein,  festzustellen,  wie  der  Ver- 
waltungsgerichtshof sich  mit  diesem  ihm  durch  das  Personalsteuergesetz  zugewiesenen 
erweiterten  Wirkungskreise  abgefundeu  hat,  und  zu  untersuchen,  ob  Bich  auf  dein  neu 
betretenen  Tätigkeitsfelde  .Schwierigkeiten  ergeben  haben  und  welche  Abhilfe  hier  etwa 
geboten  wäre. 

Es  kann  selbstverständlich  nicht  Aufgabe  dieser  Anzeige  sein,  die  hier  berührten 
Fragen  im  Detail  zu  verfolgen,  vielmehr  soll  nur  darauf  verwiesen  werden,  daß  in  der 
vorliegenden  Zusammenstellung  trotz  der  Kürze  der  Beobachtungszeit  — welche  nament- 
lich auf  dem  Gebiete  der  Stenerstrafen  noch  gar  kein  Material  geliefert  hat,  da  die 
hier  einschlägigen,  höchst  bemerkenswerten  Erkenntnisse  (z.  B.  jenes  vom  28.  Februar 
1902,  B.  827)  erst  nach  dem  Jahre  1901  erflossen  sind  — schon  Anhaltspunkte 
zu  ihrer  Beantwortung  gefunden  werden  können.  Kurz  angedeutet,  dürfte  sich  aus  der- 
selben ergeben,  daß  die  große  Kluft,  welche  zwischen  den  Entscheidungen  einer  auf 
Grund  ihrer  eigenen  Sach-  und  Personenkenntnis  schätzenden  Kommission  und  der 
Judikatur  eines  lediglich  auf  Grund  der  Akten  entscheidenden  Gerichtshöfe«  natur- 
notwendig besteht,  durch  die  gegenwärtigen  gesetzlichen  Bestimmungen  noch  keineswegs 
vollkommen  befriedigend  fiberbrückt  ist;  daß  die  Vorschriften  über  die  Überprüfung  des 
Verfahrens  bei  dieser  Sachlage  — wie  dies  im  Strafprozesse  bei  einigermaßen  analogen 
Verhältnissen  der  Jury  gegenüber  geschehen  ist  — einer  wesentlichen  Präzisierung 
bedürften,  um  zwischen  der  Betonung  des  Momentes  der  Überprüfung« m Cgi ichkeit 
einerseits  und  der  tatsächlichen  Gestaltung  des  auf  Grund  mündlicher  und  unmittelbarer 
Verhandlungen  durchzuführenden  Vcranlagungsr erfahrene  anderseits  die  Harmonie  herzu- 
stellen,  und  daß  endlich  auch  die  ■teuergesetslichen  Bestimmungen  über  den  Bedenken- 


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Literatorbericht. 


545 


Vorhalt  und  über  die  Befugnis  zur  Feststellung  des  KinkommenstcuerBatzes  einer  Revision 
bedürften,  da  sich  in  der  Auslegung  dieser  für  das  ganze  Veranlagungsvcrfahren  wichtigsten 
Bestimmungen  gegen  Wirt  ig  eine  weitgehende  Divergent  der  Anschauungen  bemerkbar 
macht.  In  dieser  Richtung  fällt  in  »besondere  die  starke  Betonung  der  Worte:  Behelfe, 
welche  die  Hohe  des  einzuschätzendeu  Einkommens  zi  ff  ermäßig  genau  erkennen 
„lassen“  und  die  damit  verbundene  überaus  restriktive  Auslegung  des  § 212  („Fest- 
setzung der  Kinkonunensstufe  durch  die  Kommission  auf  Grund  der  gepflogenen  Ver- 
handlungen4) zu  Gunsten  einer  extensiven  Auslegung  des  $ 214  (Schatzung  des  Ein- 
kommens nach  äußeren  Merkmalen)  auf,  durch  welche  die  Gefahr  entsteht,  daß  dieser 
vom  Gesetze  offenbar  als  Notbehelf  gedachte  § 214  zu  einer  geradezu  führenden  Rolle 
berufen  werde. 

Wie  in  diesen  Punkten,  so  wird  eine  eventuelle  Reform  des  Personalsteuergesetzes 
gewiß  auch  in  zahlreichen  anderen  Beziehungen  mit  den  Ergebnissen  der  Vcrwaltungs- 
geriebtshof- Judikatur  rechnen  müssen;  cs  wäre  daher  Behr  zu  begrüßen,  wenn  die  der- 
malen hie  und  da  noch  bemerkbaren  Schwankungen  in  der  Judikatur,  welche  teils  in  ein- 
ander unmittelbar  widerstreitenden  Erkenntnissen  zum  Ausdrucke  kommen,  teils  aber 
sich  iu  Rechtssätzen  offenbaren,  welche  bei  konsequenter  Weiterbildung  zu  einer  in- 
kongruenten Gesetzeshandhabung  führen  müßten,  nbei  wunden  und  durch  eine  streng 
einheitliche  Judikatur  ersetzt  würden.  Dieses  Ziel  konnte  meines  Erachtens  schon 
durch  die  vom  preußischen  Oberverwaltungsgerichtshofe  geübte  Methode,  sich  jeweils 
mit  den  in  früheren  Judikaten  ausgesprochenen  einschlägigen  Rechtsanschaunngcn 
auseinanderzusetzen,  ferner  durch  die  Aktivierung  des  schon  im  1875er  Gesetze  vorgesehenen 
eigenen  Steuersenates,  endlich  durch  Schaffung  eines  Judikatenbuches  nach  Analogie  des 
für  den  obersten  Gerichtshof  bestehenden  Vorbildes  wesentlich  gefördert  werden.  Sollte 
die  dringend  wünschenswerte  Entlastung  des  Verwaltungsgerichtshofes  von  der  Unzahl 
der  cauaae  miserabilcs  — welche  gegenwärtig  mit  dem  wohl  ganz  unverhältnismäßigen 
Apparate  einer  öffentlichen  mündlichen  Verhandlung  vor  einem  Vierer-Senate  durch- 
geführt werden  müssen  — über  kurz  oder  lang  zu  einer  Revision  des  Verwaltungs- 
gerichtshofgesetzes den  Anstoß  geben,1)  so  dürfte  wohl  auch  der  Wunsch  nach  Sicherung 
der  Einheitlichkeit  der  Judikatur  Berücksichtigung  finden.  Wert  und  Einfluß  der 
Verwaltungsgerichtshof-Judikatur  fär  Administrative  und  Praxis  müßte  noch  erheblich 
steigen,  wenn  die  zu  erhoffende  Fortsetzung  der  vorstehend  angezeigten  trefflichen 
Zusammenstellung  künftighin  das  Bild  einer  durchaus  homogenen  Rechtssprechung 
erschließen  könnte.  Reisch. 

Charles  Booth,  Life  and  Labour  of  the  people  in  London.  Third  seriös: 
rcligious  influeuces.  7 Bände.  Macinillan  and  Co. 

Bevor  wir  in  die  Besprechung  der  neuerechienenen  sieben  Bände  des  Boothschcu 
Werkes  eingehen,  wird  es  zweckmäßig  sein,  uns  den  wesentlichen  Inhalt  der  ersten 
neun  Bände  desselben  ins  Gedächtnis  zurückzurufen.2)  Charles  Booth  hat  dort  die 
Bevölkerung  Londons  in  ihrer  sozialen  insbesondere  wirtschaftlichen  Lage  statistisch 
dargestellt.  Er  klassifizierte  die  ganze  Bevölkerung  Londons  nach  zwei  Methoden. 
Zuerst  gliederte  er  sie  auf  Grund  der  Aufzeichnungen  der  School  board  visitors  nach 
Wohlstands-  beziehungsweise  Annutsklassen  und  stellte  die  Verteilung  dieser  Klassen 
straßenweise  kartographisch  dar.  Sohin  teilte  er  die  ganze  Bevölkerung  neuerdings  auf 
Grund  des  1891er  Zensus  in  soziale  Klassen  ein,  und  zwar  die  Armen  nach  Maßgabe  der 
Dichtigkeit  in  ihren  Wohnungen,  die  Wohlhabenden  nach  der  Zahl  ihrer  Dienstboten. 
Mit  letzterer  Gliederung  verband  er  eine  eingehende  Darstellung  der  einzelnen  Londoner 
Erwerbszweige.  In  das  Werk  wurden  überdies  eingefügt:  Monographien  der  Gewerbe  in 
East  London,  Untersuchungen  der  Wohn-  und  Schulverhältnisse,  der  Einwanderung  ctc. 
Eine  besondere  moralstatistische  Erfassung  der  Bevölkerung  sollte  folgen. 

*)  Seit  «ler  Niederschrift  die*ei  Siiih  Nt  im  Herrenbauve  tatsirblNb  bereits  ein  Ton  bernfeDster 
Seit«:  brrrflbrcndfcr  Au  trag  auf  Krlassung  einer  -lies  behaglichen  Ciraethesnovi-lie  eingebracht  worden. 

’l  Din  ersten  vier  It&nde  bilden  in  der  neuen  Ausgabe  de*  (IriimlnvrkM  Serie  I,  betitelt  Poverty 
die  Bünde  5— 'J  Serie  II,  betitelt  Indn»try. 

37* 


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546 


Literaturbericht. 


Als  ihren  ersten  Teil  bringen  nunmehr  tlie  neuerschienenen  sieben  Bände  (Serie 
III  des  Gesamtwertes)  die  Resultate  einer  erschöpfenden  Untersuchung  der  religiösen 
Organisationen  jeglicher  Art.  Die  charakteristischen  Merkmale  derselben,  ihre  Bedeutung 
für  ihre  engeren  Anhänger,  ihr  EinfluU  auf  die  Masse  des  Volkes,  schließlich  ihre 
Beziehungen  zueinander  werden  dargestellt.  Die  ersten  sechs  Bünde  behandeln  London 
in  geographischer  Gliederung.  Von  Stadtteil  zu  Stadtteil  wandernd,  beschreibt  Booth 
das  kirchliche  Leben  wio  es  sich  im  Anschlüsse  an  die  einzelnen  Gotteshäuser  der 
verschiedenen  Konfessionen  in  mannigfachen  Können  entwickelt  hat  und  in  verschiedener 
Weise  auf  die  benachbarte  Bevölkerung  einwirkt.  Gleichzeitig  werden  aber  auch  zahl- 
lose Beobachtungen  betreffend  Wohnung«-  und  Gesondhcitaverhältnisse,  Heirat lichkcit, 
Sparsamkeit,  Alkoholismus.  Verbrechertum  und  Prostitution  verzeichnet  und  die  sozial- 
politischen Maßregeln  der  autonomen  Behörden  besprochen.  Auch  neue  „deskriptive 
Karten  der  Londoner  Armut“  mit  den  seit  1*89  eingetretenen  Veränderungen  sind  den 
Kapiteln  für  die  einzelnen  Stadtteile  beigeschlossen.  Der  Schlußband  VII  faßt  die 
Resultate  für  die  einzelnen  religiösen  Organisationen  zusammen. 

Zweifellos  gehört  das  Forschungasiel,  das  sich  Booth  gesetzt  hat,  zu  den  inter- 
essantesten und  wichtigsten.  Allerdings  ist  es  nicht  möglich,  die  individuelle  innere 
Religiosität  direkt  zu  erfassen.  Auch  handelt  es  sich  Booth  nicht  in  erster  Linie  darum, 
Jen  moralischen  Einfluß  der  verschiedenen  Konfessionen  auf  ihre  Anhänger  qualitativ 
zu  vergleichen.  Booth  begibt  sich  nur  ausnahmsweise  auf  das  religionsphilosophische 
Gebiet.  Nicht  in  den  ohnehin  mehr  oder  weniger  überein  stimm  inen  den  religiösen  Lehr- 
sätzen äußern  sich  die  Unterschiede  der  verschiedenen  Konfessionen.  Die  Verschieden- 
artigkeit der  religiösen  Verbände  hat  ihren  Grund  vor  allem  in  dem  verschiedenen 
sozialen  Milieu  derselben.  Daher  das  besondere  Interesse,  das  Booth  der  sozialen  Lage 
der  Angehörigen  der  verschiedenen  Konfessionen  zuwendet.  Sie  ist  nach  seiner  Meinung 
maßgebend  für  die  Richtung  deB  religiösen  Lebens,  maßgebend  noch  mehr  für  die 
Betätigung  der  Kirchen  auf  dem  Gebiete  des  Unterrichtes,  der  Armenpflege  ctc. 
Gerade  anf  diesen  und  verwandten  Gebieten  entfalten  die  Religionsgenossenschaften  die 
mannigfaltigste  Tätigkeit  und  sind  daher  auch  als  soziale  Entwicklungsfaktoren  in 
Betracht  zu  ziehen. 

Charles  Booth  und  seine  Mitarbeiter  haben  alle  vorhandenen  Informationsquellen 
zu  Rate  gezogen,  was  hei  der  großen  Zahl  der  Religionsgenossenschaften  keine  geringe 
Arbeit  war.  Zirka  1800  auf  dem  Gebiete  der  Religion  tätige  Personen  der  verschiedensten 
Richtungen  wurden  eingehend  befragt  und  ihre  Angaben  mit  den  bei  dem  Besuche  der 
betreffenden  Kirchen  und  Organisationen  gemachten  Beobachtungen  verglichen.  Zahllose 
gedruckte  Berichte  religiöser  Anstalten,  ihre  Zeitschriften,  Zirkulare,  Versammlungs- 
Protokolle  ctc.  wurden  durchstudiert.  Es  liegt  mehr  vor  als  eine  Enquete.  Es  wurden 
aus  der  Masse  der  Erscheinungen  nicht  einzelne  behufs  näheren  Studiums  ausgewählt  oder 
allgemeine  Gutachten  eingeholt;  die  zahllosen  lokalen  religiösen  Aktion  »Zentren  wurden 
so  gut  wie  alle  auf  dem  Wege  der  Besichtigung  und  der  Befragung  ihrer  Leiter  erfaßt; 
das  gesamte  statistische  Material  der  einzelnen  religiösen  Vereinigungen  wurde  ver- 
wertet; offizielles  Material  lag  insofern  keines  vor,  als  in  England  bei  der  Volkszählung 
die  Frage  nach  dem  Religionsbekenntnisse  nicht  gestellt  wird. 

Das  Werk  von  Charles  Booth  kann  wohl  als  die  hervorragendste  moderne 
Arbeit  auf  dem  religiösen  »Spezialgebiete  der  »Soziologie  bezeichnet  werden. 

Von  dein  Bilde  der  Tatsachen,  das  uns  Booth  gibt,  können  hier  mangels 
Raumes  wohl  nur  wenige  charakteristische  Züge  angedeutet  werden. 

Von  allergrößter  Bedeutung  ist  die  von  Booth  behauptete  Tatsache,  daß  dio 
Masse  der  arbeitenden  Klasse  in  Londcn  im  großen  und  ganzen  außerhalb  des  kirchlichen 
Lehens  steht,  sich  an  religiösen  Übungen  nicht  beteiligt  und  von  den  Bestrebungen  der 
verschiedenen  Religionsgenossenschaften  unbeeinflußt  bleibt. 

Die  englische  Staat skirclic  in  ihren  verschiedenen  Richtungen  und  die  zahlreichen 
Sekten  der  Dissenter  (Nnnkonformisten),  wio  die  Kongregationalisten,  die  Baptisten,  die 
Wesleyaner  und  die  Methodisten,  ebenso  dio  Presbyterianer,  die  UniUrier,  die  Quaker  etc.. 


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Literatur  bericht 


547 


wurzeln  alle  im  Mittelstände  beziehungsweise  den  besitzenden  Klassen;  lediglich  den 
Baptisten  ist  es  gelungen,  einen  Bruchteil  der  Arbeiterklasse  zu  gewinnen.  Bas  normale 
kirchliche  Lebeu  aller  dieser  protestantischen  Beligionsgenossenschaften  ist  dem  sozialen 
Milien,  in  dem  sie  wurzeln,  angepaßt;  letzterem  entsprechend  auch  die  den  Kirchen  ange- 
gliederten sozialen  Organisationen.  Diese  pflegen  eine  auf  dem  Kontinente  ganz  unbekannte 
vielseitige  Entwicklung  zn  nehmen.  Abgesehen  von  der  Pflege  des  Unterrichtes  werden  für  die 
Religionsgenossen  im  Anschlüsse  an  die  einzelnen  Gotteshäuser  Vereine  (Klubs)  aller  Art 
gegründet,  insbesondere  Mäßigkeit*-,  Tierschutz-  und  Diskussionsvereine,  aber  auch  Ver- 
eine für  die  Jugend  zur  Pflege  aller  möglichen  Sporte,  zur  Veranstaltung  von  Ausflügen  ctc. 
ln  allen  diesen  Organisationen  spielt  natürlich  das  Laienelement  eine  gToßc  Bolle  und 
es  ergibt  sich  eine  gewisse  soziale  Homogenität  ganz  von  selbst 

Allerdings  entwickeln  alle  diese  Religionsgenosseuschaften  gleichzeitig  eine  rege 
Tätigkeit  im  Interesse  der  religiösen  und  sozialen  Hebung  der  alleruntersten  Klasse  der 
„Armen“,  insbesondere  durch  eigens  organisierte  Missionen  in  den  armen  Stadtvierteln. 
Auch  hier  wird  die  religiöse  Propaganda  unterstützt  durch  soziale  Arbeit,  wie  Sonntags* 
schulen,  Versammlungen  der  Hausfrauen  der  NacEbarschaft  (mothers  Meetings,  eine 
ausschließlich  protestantische  Erscheinung),  Gründung  verschiedener  Klubs,  Besuch  der 
Armen  in  ihren  Wohnungen,  Volksausspeisungen  etc. 

Aber  die  Älasse  der  zwischen  Mittelstand  und  Armenproletariat  stehenden  Arbeiter- 
klasse hält  sich  abseits.  Die  Ursachen  dieser  Tatsache  sind  nach  lJooth  verschiedene. 
Nicht  daß  Religiosität  als  rein  individuelle  innerliche  Tatsache  in  der  Arbeiterklasse 
erloschen  wäre.  Aber  die  Betätigung  der  kirchlichen  Förmlichkeiten  wird  außer  acht 
gelassen.  Weltliche  Interessen  füllen  die  freie  Zeit  des  Arbeiters  aus.  Selbstbewußtem 
entspricht  mehr  seiner  Stimmung  als  Selbsterniedrigung.  Die  Einhaltung  der  religiösen 
Tradition  ist  am  Lande  infolge  der  engen  Nachbarschaftsvcrhältnisse  einer  Kontrolle  unter- 
worfen, die  bei  der  persönlichen  Isoliertheit  in  der  Großstadt  fehlt.  Auch  fühlt  sich  der 
Arbeiter  in  den  normalen,  dem  Mittelstände  an  gepaßten  kirchlichen  Versammlungen  Londons 
nicht  zu  Hause.  In  den  protestantischen  Kirchen  fällt  bekanntlich  der  Predigt  die 
Hauptrolle  zu  und  „dieselbe  Predigt  taugt  nicht  für  verschiedene  Klassen“.  Anderseits 
stölit  gerade  das  patronisierende  Auftreten  uuter  den  Armen  den  selbstbewußten  Arbeiter 
ab.  Die  Bemühungen  der  einzelnen  Sekten,  unter  der  Armenbevölkerung  durch  charitative 
Unterstützungen  Anhänger  zu  gewinnen,  arten  nämlich  nach  Booth  geradezu  in  gewerbs- 
mäßigen Seelenkauf  ans. 

In  England  gehören  alle  Personen,  die  sich  zu  keiner  anderen  Kirche  oder  Sekte 
bekennen,  zur  Staatskirche,  so  der  größte  Teil  der  Arbeiter,  aber  ihre  Zugehörigkeit  ist 
eine  rein  theoretische. 

Diese  Schilderung  bezieht  sich  »jedoch  nicht  auf  die  katholische  Bevölkerung. 
Die  katholische  Kirche  allein  scheint  im  stände  zu  sein,  die  Verschiedenheit  der  Klassen 
zu  überwinden.  Es  gibt  in  London  nahezu  200.000  Katholiken,  nach  ihren  eigenen 
Schätzungen.  Die  Hauptmasse  bilden  jedoch  nicht  Einheimische,  sondern  arme  Irländer 
und  Italiener,  auch  zahlreiche  Franzosen  und  Deutsche.  Die  Katholiken  sind  kirchlich 
mul  sozial  gut  organisiert,  insbesondere  ihre  Volksschulen  wirken  erfolgreich,  sie  ent- 
wickeln aber  keine  nennenswerte  Propaganda  nach  außen  hin.  Die  Gewinnung  Englands 
für  den  Katholizismus  hält  Booth  für  ausgeschlossen. 

Anderseits  ist  aber  anch  die  „Free  Cburch“-Bewegung.  welche  die  Vereinigung 
der  Kirchen  der  Nonkonformisten  bezweckt,  bisher  noch  nicht  weit  vorgeschritten.  Es 
gibt  momentan  keine  wirklich  starke  Strömung,  welche  den  Status  quo  wesentlich  zu 
ändern  im  stände  wäre.  Eigenartige  Religionsgenossenschaften  aber  von  geringem 
allgemeinem  Einflüsse  sind  die  Brethrcn,  die  „catholic  apostolic  Church“,  die  Swcden- 
borgianer  und  die  Agapemoniten,  deren  Haupt  sich  für  den  Messias  hält. 

Erwähnenswert  ist  schließlich  der  Einfluß  der  Positivsten  und  der  ethischen 
Gesellschaften,  obgleich  er  sich  direkt  nur  innerhalb  eines  engen  Kreises  äußert.  Die 
Heilsarmee  unter  der  Leitung  des  „Generals“  Booth  (nicht  zn  verwechseln  mit  dem  Autor  der 
hicrbesprochenenBöchcrjhat  von  London  aus  ihre  Organisation  über  die  ganze  angtosaxonisch 


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548 


Litemturbericht. 


Kalturwelt  ausgebreitet.  Sie  verkündet  den  Armen  und  Verlassenen  das  Evangelium, 
sacht  ihnen  durch  großartige  humanitäre  Institutionen,  wie  Nachtasyle,  Volksküchen, 
Arbeitshäuser  für  Arbeitslose,  eine  landwirtschaftliche  Kolonie  etc.  beizustehen  und 
vereinigt  schließlich  ihre  Anhänger  in  einem  einheitlichen  religiösen  Verbände. 

Eine  ähnliche  Tätigkeit  wie  die  Heilsarmee  entwickelt  die  Church  Artny,  nur  mit 
dem  Unterschiede,  daß  diese  letztere  einen  Zweig  der  Staatskirche  bildet.  Gleich  den 
Katholiken  besitzen  die  meisten  protestantischen  Kirchen  weibliche  Kongregationen,  ins- 
besondere für  Unterricht  und  Armenpflege.  Heilsarmee,  Church  Anny  und  Kongregationen 
bemühen  sich  uin  die  Kettung  gefallener  Mädchen  und  nehmen  sich  der  entlassenen 
Sträflinge  an. 

Im  Anschlüsse  an  die  Untersuchung  der  von  den  Religionsgenosscnichaften  aus- 
gehenden Einflüsse  bespricht  Booth  die  Tätigkeit  der  Settlements,  dio  mit  wenigen 
Ausnahmen  (wie  Toynbee  Hall,  Passmore  Edwards  Settlement  und  einige  andere)  auch 
der  religiösen  Propaganda  bestimmter  Sekten  dienen. 

Nach  den  Darlegungen  Booths  ist  an  der  weit  verbreiteten  religiösen  Indifferenz 
Londons  nicht  mehr  zu  zweifeln.  Es  ist  die  intellektuell-moralische  Erziehung  des 
Volkes,  auf  dio  Booth  seine  Hoffnungen  setzt.  Daher  schlägt  er  auch  vor,  die  Kirchen 
der  City,  die  infolge  Abwanderung  der  Bewohner  in  äußere  Stadtteile  ihre  ursprüngliche 
Aufgabe  nicht  mehr  erfüllen  können,  in  Tempel  der  Volksbildung  umzuwandeln.  Die 
zahllosen  Arbeiter  und  Angestellten,  welche  tagsüber  die  City  bevölkern,  sollen  dort 
Abends  nach  Arbeitsschluß  einige  Stunden  Erholung  und  Belehrung  finden. 

Innere  Religiosität  ist  eine  individuelle  und  keine  Klassentatsache.  Aber  die 
Entwicklung  der  religiösen  Organisationen  ist  durch  eine  Reihe  gesellschaftlicher 
Tatsachen  beeinflußt.  Demographische  Momente,  wie  Geschlecht  und  Alter,  äußern  ihren 
Einfluß  in  der  größeren  Anteilnahme  des  weiblichen  Geschlechtes  und  der  Jugend. 
Auch  der  nationale  Faktor  tritt  in  London  hervor:  Die  Walliser  gehören  fast  ausnahmslos 
der  methodistischen  Kirche  an,  die  ihnen  auch  allein  den  Gottesdienst  in  ihrer  heimat- 
lichen keltischen  Mundart  bietet;  die  Irländer  sind  gute  Katholiken  und  die  Schotten 
erfüll en  zweifellos  religiöse  Pflichten  viel  gewissenhafter  als  die  Engländer.  Die  soziale 
Differenzierung  der  Bevölkerung  schließlich  ist  von  der  allergrößten  Bedeutung  für  den 
Entwicklungsgang  der  einzelnen  religiösen  Organisationen.  Die  Farbenverteilung  auf  der 
Boothschen  Londoner  Armutskarte  deutet  gleichzeitig  die  Art  und  die  Stärke  des 
religiösen  Lebens  an.  In  den  gelben,  wohlhabenden  Vierteln  finden  wir  auch  reiche 
meist  anglikanische  Kirchen  mit  zahlreichen  Besuchern  wenigstens  Sonntag  Morgens ; 
die  roten  vom  Mittelstände  bewohnten  Viertel  weisen  ein  aktives,  meist  nonkonformistisches 
religiöses  und  daran  anschließendes  soziales  Leben  auf;  rosa  bedeutet  Arbeiterklasse 
und  .Mangel  religiöser  Betätigung,  blau  Armut  und  Missionen;  je  dunkler  die  Schattierung 
wird,  desto  hoffnungsloser  wird  dort  jede  religiöse  aber  auch  jede  erziehliche  Tätigkeit. 

Der  noch  ausstellende  Schlußband  VIII  soll  die  übrigen  auf  die  Londoner 
Bevölkerung  cinwirkendeu  sozial-ethischen  Kräfte  analysieren  und  die  Resultate  des 
ganzen  Werkes  zusammenfassen.  Zizek. 


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DIE  GEWERBEGERICHTE  IN  ÖSTERREICH. 


VOM 

MINISTERIALRAT  D«.  HUGO  SCHAUER. 


Ais  am  Ende  des  vorigen  Jahres  Ergänzungswahlen  für  das  Gewerbe- 
gericht  Wien  stattfanden,  vereitelten  die  Arbeitgeber  einer  Gruppe  durch 
Wahlenthaltung  den  ersten  Wahlgang.  Unterstützt  durch  einige  größere 
Unternehmerorganisationen  wollten  sie  damit  ihrer  Unzufriedenheit  mit  den 
Gewerbegerichten  überhaupt  und  speziell  mit  der  Organisation  und  Wirksam- 
keit des  Wiener  Gewerbegerichtes  Ausdruck  geben.  Unter  der  Führung  des 
niederösterreii  liisclien  Gewerbevoreiues  wurden  der  Kcgierung  gleichlautende 
Petitionen  überreicht,  in  denen  die  hauptsächlichsten  Beschwerdepunkte 
dargelegt  und  Abhilfe  verlangt  wurde.  Das  Justizministerium  berief  eine 
Enquete  ein,  in  der  zunächst  Vertreter  der  Unternehmerverbände,  die  ihre 
Wünsche  bekanntgegeben  batten,  vernommeu  wurden. 

In  den  Petitionen  wurden  folgeude  Wünsche  formuliert: 

1.  Scheidung  der  Wahlkörper  und  der  Senate  des  Gewerbegerichtes 
in  solche  für  handwerksmäßige  und  fabriksmäßige  Betriebe,  unbeschadet  der 
Notwendigkeit  besonderer  Abteilungen  des  Gewerbegerichtes  für  die  Handels- 
gewerbe im  engeren  Sinne; 

2.  Vermehrung  und  zweckentsprechende  Zusammenlegung  der  Fach- 
gruppen; 

3.  Vereinfachung  der  Anlegung  der  Wählerlisten  durch  Zulassung  der 
Anmeldung  der  Wähler  seitens  der  Genossenschaltsvorstehungeu  und  der 
industriellen  Korporationen: 

4.  Gewährung  von  Diäten  an  die  Unternebmerbeisitzer  in  den  Senaten 
für  handwerksmäßige  und  kleingewerbliche  Betriebe; 

5.  Aufnahme  einer  strikten  Bestimmung  über  Jlutwilleusstrafen  in  das 
Gesetz; 

6.  Beistellung  entsprechender  Lokalitäten  filr  das  Wiener  Gewerbe- 
gericht und  endlich 

7.  Novellierung  des  g 77  der  Gewerbeordnung  in  dem  Sinne,  daß. 
wenn  über  die  Kündigungsfrist  nichts  anderes  vereinbart  ist,  das  Arbeits- 
verhältuis  jederzeit  sofort  aufgelöst  werden  kann,  und  des  g 88  der  Gewerbe- 

Zeitschrift  für  VolkavrirUchaft,  Sozialpolitik  und  Verwaltung.  XII.  lUml. 


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Schauer. 


550 


Ordnung  in  der  Richtung,  daß  der  Anschlag  der  Arbeitsordnung  genügen 
solle,  um  deren  Bestimmungen  über  den  Arbeitsvertrag  für  den  Arbeitgeber 
und  den  Arbeiter  rechtsverbindlich  zu  machen. 

Gleichzeitig  hat  der  Zentralverband  der  Industriellen  Österreichs  an 
die  Mitgliedsverbände  eine  Umfrage  gerichtet,  deren  Ergebnis  in  Nr.  16  der 
.Industrie“  1903  zusammenfassend  dargestellt  ist  und  im  allgemeinen 
günstig  lautet,  ln  einem  Nachwort  zur  Gewerbegerichtsenquete  in  Nr.  96 
des  .Fremdenblatt“  vom  7.  April  1903,  wird  dagegen  summarisch  und 
ziemlich  abfällig  über  die  Gewerbegerichte  geurteilt.  Auch  sonst  besteht 
eine  lebhaft  zum  Ausdruck  gebrachte  Verschiedenheit  der  Meinungen  über 
die  Wirksamkeit  der  Gewerbegerichte.  Die  Arbeiterschaft  verlangt  sie  und 
ist  mit  ihrer  Tätigkeit  zufrieden,  die  Unternehmer  lehnen  sie  im  Prinzip 
zwar  nicht  ab.  erklären  aber,  daß  sie  zur  Zeit  zu  diesen  Gerichten  kein 
Vertrauen  haben.  Bei  solchem  Widerstreit  der  Meinungen  dürfte  es  von 
Interesse  sein,  den  heutigen  Stand  der  G ewerhegerichte  zu  betrachten,  deren 
wesentlichste  Einrichtungen  darzustellen,  über  die  Erfahrungen  und  über 
die  Verhandlungen  der  Enquete  und  ihre  Ergebnisse  zu  berichten.  Auf  diese 
Weise  werden  sich  die  Gründe  der  Bewegung  klarstellen  lassen  und  viel- 
leicht wird  auch  ein  Schluß  auf  die  künftige  Entwicklung  möglich  sein. 

I. 

Gewerbegerichte  wurden  in  Österreich  zuerst  mit  dem  Gesetze  vom 
14.  Mai  1869.  R.-G.-Bl.  Nr.  63,  eingefflhrt.  Es  wurden  fünf  Gewerbegerichte 
errichtet,  von  denen  jedoch  nur  vier  wirklich  aktiviert  wurden  und  bis  zur 
Schäftung  der  Gewerbegerichte  neuen  Stils  bestanden.  Zu  einer  reicheren 
Entwicklung  konnte  das  Gesetz  wegen  seiner  Mängel  nicht  führen. 

Die  Kostenfrage  war  in  diesem  Gesetze  nicht  gelöst,  nur  umgangen. 
Es  wurde  verlangt,  daß  schon  mit  dem  Antrag  auf  Errichtung  eines  Gewerbe 
gerichtes  der  Nachweis  erbracht  wird,  auf  welche  Weise  die  Kosten  bedeckt 
sein  sollen.  Der  Staat  trug  nichts  dazu  bei.  Dies  hinderte  die  Errichtung 
neuer  Gerichte.  Der  wesentlichste  Mangel  war  aber  der,  daß  der  Vorsitzende 
des  Spruchkollegiums,  dessen  Stimme  bei  Streitverhandlungen  den  Aus- 
schlag gab,  wenn  die  Arbeiter-  und  Unternehmerbeisitzer  verschiedener 
Ansicht  waren,  in  der  Versammlung  der  Mitglieder  des  Gewerbegerichtes 
aus  ihrer  Mitte  gewählt  werden  sollte.  Daran  scheiterte  sogar  die  Aktivierung 
des  schon  errichteten  Gewerbegerichtes  in  Reichenberg. 

Gewerbegerichte  waren  nur  für  Orte,  in  welchen  Gewerbe  fabriksmäßig 
betrieben  wurden,  in  Aussicht  genommen.  Für  die  Kleingewerbe,  denen 
eine  sachkundige,  rasche  und  billige  Justiz  ganz  besonders  notwendig 
gewesen  wäre,  waren  die  Gewerbegerichte  nicht  bestimmt.  Ihre  Kompetenz 
war  keine  ausschließliche.  Das  Verfahren  war  ein  unmittelbares  und  münd- 
liches, doch  konnten  die  Gewerbegerichte  Zeugen  nicht  mit  Zwangsbefugnis 
laden  und  Eide  nicht  almehmen.  In  Streitsachen  bis  zu  SO  11.  entschieden 
sic  endgültig,  größere  Ansprüche  konnten  ungeachtet  des  gewerbegerichtliehen 
Urteils  vor  den  ordentlichen  Gerichten  neuerlich  geltend  gemacht  werden. 


Die  Gewrerbegerichte  in  Österreich.  5«il 

Obwohl  auch  die  alten  Gewerbegerichte  befriedigend  gewirkt  haben, 
so  konnte  sich  die  Einrichtung  wegen  ihrer  organisatorischen  Mängel  doch 
nicht  recht  entwickeln  und  dem  Bedürfnisse  des  Rech tslebens  entsprechen. 

Gelegentlich  der  Verhandlungen  im  Abgeordnetenhause  Aber  die  neue 
Zivilprozeßordnung  hat  Abgeordneter  Dr.  Baernreither  einen  Initiativ- 
antrag auf  Einführung  von  Gewerbegericliten  nach  dem  von  ihm  vorgelegten 
Entwürfe  eingebracht  (Nr.  950  der  Beilagen  zu  den  stenographischen  Proto- 
kollen. XI.  Session  1894).  Der  Antrag  wurde  dem  Permanenzausschusse 
zur  Vorberatung  der  Zivilprozeßvorlagen  zugewiesen  und  gleichzeitig  mit 
diesen  beraten  und  verabschiedet.  Berichterstatter  war  der  Antragsteller. 
Sein  Bericht  i Nr.  1837  der  Beilagen  zu  den  stenographischen  Protokollen. 
XI  Session  1895)  enthält  eine  vorzügliche  Darstellung  des  Standes  der 
Frage  und  die  legislativpolitischen  Erwägungen  für  die  Reform  der  Gewerbe- 
gerichte nach  dem  Vorbilde  des  deutschen  Gesetzes  vom  29.  Juli  1890.  Es 
sei  gestattet,  im  allgemeinen  auf  diesen  höchst  instruktiven  Bericht  zu  ver- 
weisen. (Separataiisgabe  des  Gewerbegerichtsgesetzes  hei  Manz,  Wien.  1898). 

Die  Gewerbegerichte  neuen  Stils  sind  staatlich  organisierte 
Schöffengerichte.  Der  Vorsitzende  sowie  dessen  Stellvertreter,  müssen  für 
das  Richteramt  befähigte,  wenn  auch  nicht  aktive  richterliche  Beamte  sein: 
sie  werden  vom  Justizminister  ernannt  Tatsächlich  versehen  bei  allen  zur 
Zeit  bestehenden  Gewerbegerichten  aktive  Richter  die  Funktion  des  Vor- 
sitzenden. Neben  ihm  walten  als  Richter  in  den  Fällen,  die  nicht  schon  bei 
der  ersten  Tagsatzung  (durch  Vergleich,  Verzicht,  Zurückweisung  der  Klage 
wegen  prozeßhindernder  Einreden,  durch  Zurücknahme  der  Klage,  oder 
durch  Urteil  über  Anerkenntnis,  Verzicht  oder  Versäumnis)  erledigt  »erden. 
($5  28  Gewerbegerichtsgesetz)  zwei  Beisitzer,  die  von  den  Unternehmern  und 
Arbeitern  der  dem  Gewerbegerichte  unterstellten  Betriebe  für  eiue  vierjährige 
Funktionsdauer  gewählt  werden.  Sie  werden  vom  Vorsitzenden  des  Gewerbe- 
gerichtes auf  Grund  der  von  ihm  festgestellten  Dienstliste  (Ministcrialver- 
ordnung  vom  23.  April  1898,  R.-G.-B1.  Nr.  57)  oder  mittels  besonderer  Ein- 
ladung von  Fall  zu  Fall  (§  (5  der  zitierten  Verordnung)  zugezogen,  und  zwar  je 
einer  aus  dem  Stande  der  Arbeitgeber  und  aus  dem  Stande  der  Arbeitnehmer. 

Die  Zuständigkeit  der  Gewerbegerichte  ist  eine  obligatorische  und  aus- 
schließende (§  23  des  Gewerbegerichtsgesetzes).  Der  Bereich  der  örtlichen  Zu- 
ständigkeit und  der  Umfang  der  sachlichen  Zuständigkeit  wird  durch  die 
Verordnung  bezeichnet,  mit  der  das  Gewerbegericht  errichtet  wurde.  Bei 
sämtlichen  Gewerbegerichten,  die  bisher  errichtet  worden  sind,  ist  der  vom 
Gesetze  zugelassene  Umfang  der  sachlichen  Zuständigkeit  voll  in  Anspruch 
genommen.  Die  sachliche  Zuständigkeit  umfaßt  bei  allen  Gewerbe- 
gerichten alle  im  Sprengel  bestehenden  gewerblichen  Betriebe,  und  zwar 
sämtliche  der  Gewerbeordnung  unterliegenden  Beschäftigungen  und  Unter- 
nehmungen und  die  gewerblichen  Unternehmungen  des  Staates  imit  Aus- 
nahme der  militärischen  Etablissements).1) 

9 Die  Zuständigkeit  kann  sich  auch  auf  die  Eisenbahn-  und  BinnendampfschilT- 
fahrts-Cntemehmungen  erstrecken,  doch  sind  für  diese  Unternehmungen  die  Gewcrbe- 

88* 


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Schauer. 


552 


II. 

ln  Wien,  Brünn,  Bielitz  und  Reichenberg  mußten  schon  infolge  der 
Anordnung  des  Gesetzes  (§  2,  Absatz  2,  Gewerbegerichtsgesetz)  Gewerbe- 
gerichte errichtet  werden,  uud  mit  Beginn  der  Wirksamkeit  des  ueuen 
Gesetzes,  d.  i.  mit  I.  Juli  1898  in  Tätigkeit  treten.  Im  übrigen  ist  die 
Errichtung  von  Gewerbegerichten  ziemlich  umständlich  und  von  einem  Faktor 
abhängig,  auf  den  die  mit  der  Errichtung  betrauten  Ministerien  keinen 
unmittelbaren  Einfluß  haben.  Die  Errichtung  erfolgt  nach  eingeholtem  Gut- 
achten des  Landtages  und  nach  der  bisher  nur  im  Falle  der  Errichtung 
eines  böhmischen  Bezirksgerichtes  verlassenen  Auslegung  der  gleichlautenden 
Bestimmung  des  § 2 des  Gesetzes  vom  I.  Juni  1868,  R.-G.-BI.  Nr.  59. 
wird  diese  Vorschrift  dahin  verstanden,  daß  zwar  ein  negatives  Votum  des 
Landtages  kein  rechtliches  Hindernis  bildet,  ein  Gericht  zu  errichten,  daß 
aber  die  Errichtung  nicht  erfolgen  kann,  wenn  der  Landtag  Oberhaupt  kein 
Gutachten  abgibt.  Dadurch  wird  nun  die  Errichtung  der  Gewerbegerichte 
mitunter  zum  mindesten  verzögert.1) 

Im  ganzen  wurden  bisher  15  Gewerbegerichte  aktiviert,  und  zwar  in 
Wien,  Brünn,  Bielitz  und  Reichenberg  (1898  , Lemberg.  Krakau,  Mährisch- 
Ostrau,  Mährisch-Schönberg  (1899),  Prag,  Pilsen,  Teplitz,  Aussig,  Graz, 
Leoben  und  Jägerndorf  (1900). 

Auch  nach  dem  neuen  Gewerbegerichtsgesetz  ist  es  die  Kostenfrage, 
die  die  Ausbreitung  der  Gewerbegerichte  einigermaßen  hemmt.  Die  sach- 
lichen Erfordernisse,  nämlich  die  mit  der  notwendigen  Einrichtung  vei 
»ebenen  Amtslokalitäten,  dann  Beheizung,  Beleuchtung  und  sonstige  sach 
liehe  Erfordernisse  (insbesondere  Drucksorten  und  Schreibmaterialien)  haben 
die  Gemeinden,  für  deren  Gebiet  ein  Gewerbegericht  errichtet  wird, 
im  Verhältnis  der  ihrem  Gebiete  vorgeschriebenen  Erwerb-  und  Einkommeu- 
steuerleistung  zu  bestreiten.  Alle  übrigen  Kosten,  insbesondere  den  Auf- 
wand für  das  Personal,  für  die  Präsenzgelder  der  Beisitzer,  für  Zeugen- 
und  Sachverständigengebühren  in  Armenrechtssachen  trägt  der  Staat  (§  6 
Gewerbegerichtsgesetz).  Die  Gemeinden  scheuen  nun  die  auf  sie  entfallenden 

geeichte  noch  nirgends  aktiviert,  da  ca  bisher  an  einer  brauchbaren  uud  sicheren  Ab* 
grenzung  des  Arbeiterbegriffes  mangelt.  Es  ist  auf  Grund  des  geltenden  Rechts  nicht 
zu  ermitteln,  welche  Kategorien  von  Bediensteten  als  Beamte  und  Unterbeamte  der 
Zuständigkeit  der  Geweibegeiichte  entrückt  und  welche  als  Arbeiter  ihnen  unter- 
stellt sein  sollen.  Der  Entwurf  einer  Gesetzesnovelle,  die  diese  Lücke  auszufülleu 
bestimmt  wäre,  wurde  unter  Nummer  (336  in  der  XVI.  Session,  daun  neuerlich  unter 
Nummer  f»37  in  der  XVII.  Session  des  Reichsrates  im  Abgeordnetenhause  einge- 
bracht. Eine  Verhandlung  hat  aber  über  diesen  Entwurf  bis  heute  noch  nicht  statt- 
gefunden. 

*)  Beispielsweise  wurde  das  Projekt  der  Eriicbtuug  von  vier  neuen  Gewerbe- 
gerichten in  Niederösterreich,  nämlich  in  Liebing,  Schwechat,  Wiener-Neustadt  und 
Neunkirchen  schon  einmal  dem  niederösterreichischen  Landtag  zur  Begutachtung  vor- 
gelegt. ohne  dall  es  zur  Erstattung  des  Gutachtens  gekommen  wäre.  Die  Session  wurde 
geschlossen,  ehe  im  Plenum  des  Landtages  das  zustinimend  lautende  Gutachten  des 
Ausschusses  auf  die  Tagesordnung  gestellt  war. 


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- 


Die  Gewerbegerichte  in  Österreich.  558 

Kosten  und  verhalten  sieh  aus  diesem  Grunde  nicht  selten  gegen  ein  ihnen 
sonst  keineswegs  unsympathisches  Projekt  ablehnend.3) 

Die  von  den  Gemeinden  zur  Vertilgung  gestellten  Atntslokalitäten 
entsprechen  nicht  überall  dem  Bedarf  und  ihrem  Zweck.  Insbesondere  sind 
seit  jeher  über  die  Unterbringung  des  Gewerbegerichtes  in  Wien  in  einem 
der  Gemeinde  Wien  gehörigen  Hause  in  der  Florianigasse  lebhafte  Klagen 
laut  geworden.  Deren  Berechtigung  wurde  von  den  Funktionären  der  Stadt- 
gemeinde Wien  in  der  Enquete  vom  30.  März  1903  nicht  in  Abrede  gestellt.4) 

Die  Rücksicht  auf  die  Kostenfrage  führte  dazu,  einen  neuen  Typus 
von  Gewerbegerichten  zu  schaffen,  bei  dem  sich  diese  Schwierigkeiten  ver- 
meiden lassen.  Man  war  darauf  bedacht,  einerseits  den  Gemeinden  größere 
Kosten  zu  ersparen,  anderseits  aber  die  Arbeitskraft  des  zum  Vorsitzenden 
bestellten  Richters,  die  hei  weniger  beschäftigten  Gewerbegerichten  nicht 
ganz  in  Anspruch  genommen  wird,  voll  verwerten  zu  können.  Zu  diesem 
Behufe  wurden  Gewerbegerichte  mit  voraussichtlich  kleinerem  Geschäfts- 
umfange derart  an  das  Bezirksgericht  angeschlossen,  daß  es  weder  eines 
besonderen  Personales  noch  weiterer  Räumlichkeiten  bedarf.  Es  handelt 
sich  da  nur  formell  um  die  Errichtung  eines  selbständigen  Gewerbegerichtes, 
tatsächlich  wird  lediglich  bei  dem  Bezirksgerichte  das  schöffengerichtliche 

Äi  Da  mittlerweile  die  Steuerreform  durchgeführt  warde,  war  auch  der  im  Gesetze 
aufgestellte  Verteilungsschlüssel  nicht  mehr  zutreffend  und  mußte  durch  interne  Erlässe 
den  neuen  Steuerkategorien  »allgemeine  und  besondere  Erwerbssteuer)  angepaßt  werden. 
Auch  der  formelle  Vorgang  bei  Durchführung  der  Aufteilung  bedurfte  erst  der  näheren 
Regelung. 

*)  Es  sind  zu  wenig  Verh&ndlungasäle  vorhanden,  infolgedessen  müssen  die  Senate, 
um  die  Verhandlungen  zeitgerecht  durchführen  zu  können  und  Rückstände  zu  vermeiden, 
jeden  Tag  der  Woche,  auch  den  Samstag  zu  Verhandlungen  benutzen,  obwohl  es  an 
diesem  Tage  wegen  der  Lolmauszahlung  den  Parteien  und  Zeugen  beschwerlich  ist,  vor 
Gericht  zu  erscheinen.  Die  Verhandlnnguftle  sind  zu  klein,  verdienen  diesen  Namen  gar 
nicht,  Warteräume  sind  nicht  vorhanden.  Für  die  Parteien  ist  es  daher  mißlich,  auch 
nur  eine  Viertel-  oder  eine  halbe  Stunde  zu  warten,  zumal  die  zahlreichen  Verhandlungen 
eine  unverhältnismäßig  große  Anzahl  von  Rechtsuchenden  zu  gleicher  Zeit  in  den  Gängen 
nnd  auf  den  Stiegen  des  alten,  demolierungsreifen  Hauses  zusammen  führt.  Die  Parteien 
sind  dadurch  genötigt,  vor  den  Verhandlungszimmern  mit  ihren  Prozeßgegnern  in 
Berührung  zu  treten,  woraus  sich,  wie  in  der  Enquete  mitgeteilt  wurde,  mitunter  unlieb- 
same, selbst  peinliche  Erörterungen  und  Auftritte  ergeben. 

In  demselben  Verhältnis  als  würdevolle,  ernste  aber  nicht  unbehagliche  Räumlich- 
keiten durch  ihren  unverkennbaren  Einfluß  auf  das  Verhalten  aller  Beteiligten  die  Ver- 
handlungen nnd  deren  Ergebnis  fördern,  wirken  unpassende  und  zweckwidrige  Lokalitäten 
im  entgegengesetzten  Sinne.  Der  Aufenthalt  im  Gerichtshause  wird  dadurch  den  Parteien 
noch  mehr  verleidet,  als  dies  ohnehin  schon  die  Notwendigkeit,  zu  warten,  der  Anlaß 
des  Erscheinens  und  die  unvermeidlichen  Erörterungen  mit  sich  bringen.  Die  Vor- 
stellung von  der  Bedeutung  und  Wichtigkeit  des  Vorganges,  von  der  Würde  des  Gericht« 
und  von  der  Notwendigkeit  besonders  anständigen  Verhaltens  wird  geradezu  gehemmt, 
wenn  sich  in  einem  schlecht  gelüfteten,’ engen,  ungeeigneten  Raume  Richter,  Parteien 
und  Zuhörer  zusamm»*ndrüngen  müssen. 

Die  Vertreter  der  Gemeinde  haben  ührigens  in  der  Enquete  mitgeteilt,  daß  die 
Demolierung  des  Hauses,  in  dem  das  Gewerbegericht  untergebracht  ist,  in  Aussicht  steht 
und  daß  man  sich  damit  beschäftigte,  einen  den  Anforderungen  entsprechenden  Ersatz 
zu  beschaffen. 


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Schmier. 


554 

Verfahren  für  gewerbliche  Reehtsstreitigkeiten  eingeführt.  Der  Bezirksrichter 
uiler  ein  Einzelrichter  des  Bezirksgerichtes  ist  zugleich  Vorsitzender  des 
Gewerbegerichtes  und  kann  zu  der  Zeit,  da  er  mit  gewerbegerichtlicheu 
Sachen  nicht  beschäftigt  ist,  in  den  bezirksgerichtlichen  Geschäften  arbeiten. 
Dieser  Typus  von  Gewerbegericliten,  der  z.  B.  bei  den  Gewerbegerichten 
Jägerndorf,  Bielitz,  Mährisch-Schönberg  schon  besteht,  und  bei  den  Gewerbe- 
gerichten Neunkirchen  und  Schwechat  angewendet  werden  soll,  ermöglicht 
mit  geringen  Kosten  auch  an  solchen  Orten  Gewerbegerichte  zu  errichten, 
die  sich  sonst  wegen  der  geringen  Anzahl  von  gewerblichen  Streitigkeiten 
dazu  nicht  eignen  würden. 

III. 

Die  Verordnung,  durch  die  ein  Gewerbegericht  errichtet  wird,  bezeichnet 
den  Sprengel  des  Gewerbegerichtes  sowie  den  Umfaug  seiner  Zuständig- 
keit (§  2 des  Gewerbegerichtsgesetz  i,  d.  h.  jene  Kategorien  von  gewerb- 
lichen Unternehmungen,  für  die  das  konkrete  Gewerbegericht  geschaffen 
wird.  Damit  ist  auch  der  Kreis  der  Personen  umschrieben,  deren  Streitig- 
keiten vor  das  Gewerbegericht  gehören.  Das  Gewerbegericht  ist  nämlich  be- 
rufen. zur  Austragung  von  gewerblichen  Streitigkeiten,  die  in  § 4 des  Gewerbe- 
gerichtsgesetz taxativ  aufgezählt  sind,  und  zwar  zwischen  gewerblichen  Unter- 
nehmern und  Arbeitern,  ferner  zwischen  Arbeitern  solcher  Betriebe  unter- 
einander. Wer  als  Arbeiter  im  Sinne  des  Gewerbegerichtsgesetzes  anzu- 
sehen ist,  bestimmt  § 5 des  Gesetzes,  im  wesentlichen  im  AnschluU  an 
den  Arbeiterbegriff  der  Gewerbeordnung.  Als  Arbeiter  im  Sinne  des  Gewerbe- 
gerichtsgesetzes sind  aber  auch  Personen  anzusehen,  die  nach  der  Gewerbe- 
ordnung als  Arbeiter  nicht  in  Betracht  kommen.  Es  gelten  auch  die  Werk- 
meister, Werkfflhrer  und  Vorarbeiter  als  Arbeiter.  Desgleichen  aber  auch 
Taglöhner  (Art.  V,  lit.  d)  der  Gewerbeordnung),1 1 Heimarbeiter,  ferner  beim 
Handelsgewerbe  alle  zu  kaufmännischen  Diensten  verwendeten  Personen, 
auch  wenn  sie  nach  § 73  der  Gewerbeordnung  nicht  unter  die  Kategorie  der 
gewerblichen  Hilfsarbeiter  fallen,  weil  sie  höhere  Dienste  leisten,  wie  Buch- 
halter, Kassiere,  Expedienten,  Reisende  u.  dgl. 

Während  somit  allerdings  beim  Handelsgewerbe  im  engeren  Sinne  alle 
zu  kaufmännischen  Diensten  verwendeten  Personen  als  Arbeiter  im  Sinne 
des  Gewerbegerichtsgesetzes  betrachtet  und  dem  Gewerbegerichtc  unterstellt 
werden,  ist  dies  hinsichtlich  der  beim  Produktionsgewerbe  beschäftigten 
Personen  nicht  der  Fall,  insoweit  sie  höhere  Dienste  leisten.*1) 

■"')  Die  Gewerbegerichte  verlangen  mit  Recht,  daU  der  im  Tagluhn  beschäftigte 
Arbeiter,  regelmäßig  beim  Gewerbe  Verwendung  findet,  auf  die  Qualifikation  der 
geleisteten  Hilfsarbeit  wird  kein  Gewicht  gelegt.  Kntscheidung  Nr.  349,  495,  Sammlung. 
Andere  Tagelöhner  sind  nicht  als  gewerbliche  Hilfsarbeiter  anzusehen  und  unterstehen 
nicht  dem  Gewerbegerichte. 

*)  Dr.  Siegmund  Gränberg  (Der  Arbeiterbegriff  des  Gewerbegericlitagesetzes 
„Gerichtazeitung“  Nr.  33,  1901)  vertritt  die  Ansicht,  daü  die  Handlungsgehilfen  und 
Handlungslehriinge,  die  beim  Produktionsgewcrbe  beschäftigt  sind,  als  Arbeiter  im  Sinne 
den  Gewerbegerichtsgesetzes  nicht-  anzuschcn  sind.  Sie  leisten  dem  Unternehmer  zwar 


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Die  Gewerbegerichte  in  Österreich.  555 

Diese  sachlich  nicht  begründete  Verschiedenheit  der  Behandlung  von 
Personen  gleicher  Beschäftigung  und  gleicher  Stellung  wurde  schon  hei  der 
Enquete  im  Jahre  1898,  die  von  der  Wiener  Handelskammer  durchgeführt 
wurde,  bemerkt  und  getadelt.  Sie  würde  zum  Teil  wenigstens  verschwinden, 
wenn  die  Gewerbenovelle  (Nr.  1102  der  Beilagen  zu  den  stenographischen 
Protokollen  Abgeordnetenhaus  XVII..  Session  1901)  Gesetzeskraft  erlangen 
würde.  Nach  der  vorgeschlagenen  neuen  Fassung  des  § 78  der  Gewerbe- 
ordnung fällt  nämlich  unter  den  Begriff  Hilfsarbeiter  das  gesamte  kauf- 
männische Hilfspersonal  (Handlungsgehilfen)  der  Handels-  und  Produktions- 
gewerbe mit  Ausnahme  der  Prokuristen.  Disponenten  und  sonstigen  leitenden 
Beamten.  Dadurch  wird  dann  auch  die  sachliche  Zuständigkeit  der  Gewerbe- 
gerichte in  zutreffender  Weise  auf  die  Angestellten  der  Prodnktionsgewerbe 
ausgedehnt.  Der  unmotivierte  Unterschied  in  der  jurisdiktionelien  Behandlung 
von  Dienststreitigkeiten  der  Reisenden.  Kassiere  und  Buchhalter  heim  Pro- 
duktions- uud  beim  Handelsgewerbe  würde  entfallen. 

IV. 

In  erster  Linie  stellt  man  an  das  gewerbegerichtliche  Verfahren  die 
Anforderung,  daß  es  schleunige  und  leicht  erreichbare  Justiz 
biete.  Der  Ausschußbericht  äußert  sich  darüber  folgendermaßen:  »Die  wirt- 
schaftliche Entwicklung  hat  einmal  dahin  geführt,  daß  viele  gewerbliche 
Arbeiter  schon  eine  relativ  gesicherte  Existenz  haben,  wenn  sie  auf  Wochen- 
verdienst rechnen  können,  während  eine  gewiß  nicht  geringere  Anzahl  auf 
Tagesverdienst  angewiesen  ist.  Bei  Streitigkeiten,  wo  es  sich  in  solchen 
Verhältnissen  um  Lohnabzüge.  Entlassung,  Ausfolgung  der  Arbeitsbücher 
oder  Eintragungen  in  dieselben  etc.  handelt,  kommt  richterliche  Hilfe  zu 
spät,  wenn  sie  nicht  sofort  angerufen  werden,  und  wenn  sie  nicht  unmittelbar, 
sicher  ohne  jede  Verzögerung  eingreifeu  kann.* 

Hierauf  mußte  schon  bei  Bestimmung  der  örtlichen  Zuständigkeit 
Bedacht  genommen  werden.  Die  Gewerbegerichte  dürfen  keinen  zu  großen 
Sprengel  haben  und  es  wäre  geradezu  verfehlt,  wie  bei  den  Verhandlungen 
über  die  Errichtung  einzelner  Gewerbegerichte  des  öfteren  vorgeschlagen 
wurde,  ihnen  etwa  das  ganze  Gebiet  eines  Gerichtshofes  zuzuweisen.  Die 
Sprengel  der  Gewerbegerichte,  die  bisnun  errichtet  wurden,  erstrecken  sich 
zumeist  nur  auf  das  Gebiet  der  am  Sitze  des  Gewerbegerichtes  befindlichen 
Bezirksgerichte'  oder  auf  benachbarte  durch  gute  Kommunikation  mit  dem 

kaufmännische  Dienste,  aber  sie  seien  nicht  in  seinem  Gewerbebetrieb  beschäftigt.  Dieser 
Ansicht  ist  nicht  zuzustimmen,  da  das  Produktionsgewerbe  auch  den  Vertrieb  der  Er- 
zeugnisse umfaßt.  Die  hiebei  verwendeten  Hilfspersonen  sind  somit  allerdings  im  Gewerbe- 
betrieb beschäftigte  Hilfsarbeiter  und  daher  Arbeiter  im  Sinne  des  § 5 lit.  b des  Gewerbe- 
gerichUgesets. 

7)  Reichenberg:  Gerichtsbezirk  Reichenberg. 

Mähr.-Ostrau:  Gerichtsbezirk  Mähr.-Üstrau. 

Pilsen:  Gerichtsbezirk  Pilsen. 

Teplitx:  Gerichtsbezirk  Teplitz. 

Graz:  Gerichtsbezirke  Stadt  Graz  und  Umgebung  Graz. 

Lemberg:  Gerichtsbezirke  Lemberg  und  Umgebung  Lemberg 


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556 


Schauer. 


Gewerbegerichtsortc  verbundene  Gemeindegebiete  oder  Gerichtsbezirke.8)  Der 
Sprengel  des  Gewerbegericlites  Prag  umfaßt  das  Gebiet  von  Prag  und  den 
Vororten  (Gerichtsbezirkc:  Karolinenthal.  Königliche  Weinberge,  Smichov 
und  Ziikov).  Sehr  groß  ist  der  Sprengel  des  Gewerbegerichtes  Mährisch 
Schönberg.  Er  umfaßt  drei  Gerichtsbezirke  und  fünf  Gemeinden  eines 
vierten  Bezirkes.9) 

V. 

Die  Gewerbegerichte  sollen  nicht  nur  schleunigen  Rechtsschutz  gewähren, 
sondern  auch  gute  Justiz  Oben.  „In  den  gewerblichen  Streitigkeiten  handelt 
es  sich  um  eine  ganz  bestimmte  Kategorie  von  Rechtsgeschäften,  bei  der 
Erfahrung,  Herkommen,  Kenntnis  der  Gewohnheiten,  von  technischen  Vor- 
gängen. von  sprachlichen  Spezialitäten  und  Ausdrücken  eine  große  Rolle 
spielen.  Soll  die  Rechtsprechung  rasch  und  sachgemäß  zugleich  sein,  so  ist 
unerläßlich,  daß  sie  ihre  notwendigen  Informationen  nnmittelbar  aus  dem 
Geschäfts-  und  Lebenskreis  schöpfe,  in  dem  sich  die  Streitigkeiten  bewegen. 
Es  ist  die  Heranziehung  des  Laienelements  eine  Notwendigkeit*  (Ausschuß- 
bericht). Die  Mitwirkung  an  der  Rechtsfindung  durch  die  Beisitzer  aus  dem 
Kreise  der  rechtsnehmenden  Unternehmer  und  Arbeiter  soll  der  ursprüng- 
lichen. lebensfrischen  Auffassung  der  beteiligten  Kreise  Einfluß  verschaffen. 

Die  Bedürfnisse  des  Geschäftsverkehres,  die  wirtschaftliche  Lage  der 
Beteiligten,  die  Übungen  und  Gewohnheiten  im  Gewerbebetriebe  sollen  bei 
der  Rechtssprechung  zur  Geltung  kommen.  Allein  das  Gesetz  deutet  mit 
keinem  Worte  an,  daß  die  Beteiligung  von  fachkundigen  Beisitzern  an  der 
Rechtsfindung  als  eine  Art  von  Interessenvertretung  aufgefaßt 
werden  dürfe,  eine  Auffassung,  die  in  der  Enquete  vom  Jahre  1898  und  bei 
der  letzten  Enquete  wieder  in  der  Forderung  zum  Vorschein  kam.  daß  jede 
Art  von  Gewerbe  im  Gewerbegerichte  „vertreten  sein  soll*  und  daß  ein 
Zusammenhang  hergestellt  werden  müsse  zwischen  den  Berufsorganisationen 
der  Gewerbe  und  den  Wahlen.  Den  Gewerbegerichten  ist  nicht  die  Aufgabe 
gestellt,  über  die  Gesetze  hinweg  speziellen  Interessen  zu  dienen,  sondern 
sie  haben  auf  Grund  der  bestehenden  Gesetze  Recht  zu  sprechen.  Für  den 
Vertreter  einseitiger  Standes-  oder  Klasseninteressen  ist  auf  der  Richterbank 
kein  Platz.  Ein  Beisitzer,  der  mit  der  vorgefaßten  Absicht,  so  gut  als 
möglich  Klasseninteressen  zur  Geltung  zu  bringen,  sein  Amt  verwalten 
möchte,  würde  pflichtwidrig  handeln,  und  müßte  nach  § 17  lit.  b des  Gewerbe- 
gerichtsgesetzes wegen  grober  Verletzung  seiner  beschworenen  Amtspflichten 
vom  Amte  enthoben  werden.  Glücklicherweise  ist  diese  mißverständliche 

*')  Wien:  Gebiet  der  Stadt  Wien  und  Gemeindegebiet  von  Floridsdorf  und  Stadlau. 

Brünn:  Stadtgebiet  und  15  angrenzende  Gemeinden. 

Bielitz:  Bielitz  und  8 Gemeinden. 

Jägerndorf:  J&gemdorf  und  4 Gemeinden. 

Krakau:  Gerichtsbezirke  Krakau  und  Podgörze. 

Aussig:  Gerichtsbezirke  Aussig  und  Karbitz. 

Leoben:  Gerichtsberichte  Leoben  und  Bruck  an  der  Mur. 

’*>  Mähr.-Schünberg:  Sprengel  der  Bezirksgerichte  Miihr. -Schönberg,  Wiesenberg  und 
Hohenstadt,  ferner  5 Gemeinden  des  Gerichtsbezirkes  Mäbr.-Neustadt. 


Die  Gewerbegerichte  in  Österreich. 


557 

Auffassung  bisher  nur  vereinzelt  im  Publikum,  nicht  aber  bei  den  Beisitzern 
der  Gewerbegerichte  zu  finden.  Diese  haben  ihre  Aufgabe  richtig  erfaßt 
und  das  ihnen  entgegengebrachte  Vertrauen  gerechtfertigt. 

Auch  in  der  Richtung  wird  die  Stellung  der  Beisitzer  nicht  zutreffend 
beurteilt,  daß  man  ihren  Fachkenntnissen  eine  zu  große  Bedeutung 
beilegt.  Das  Gesetz  hat  den  Gedanken,  daß  es  vorteilhaft  ist.  wenn  im 
Richterkollegium  Träger  fachmännischer  Kenntnisse  vorhanden  sind,  keines- 
wegs übertrieben.  Es  enthält  nur  die  Vorschrift,  daß  gegebenenfalls  für  die 
Streitigkeiten  zwischen  Handeltreibenden  und  ihren  Bediensteten  eine  besondere 
Abteilung  des  Gewerbegerichtes  zu  bilden  ist,  und  das  die  Wahl  der  Bei- 
sitzer für  diese  Abteilung  getrenut  von  den  anderen  Wahlen  in  einem 
besonderen  Wahlkörper  zu  geschehen  hat  (§  21  Gewerbegerichtsgesetzl. 
Dagegen  ist  nirgends  vorgeschrieben,  daß  die  Beisitzer  aus  den  einzelnen 
dem  Gewerbegerichte  unterworfenen  Betriebsarten  genommen  werden  müßten. 
Das  Gesetz  (§  10,  Absatz  4)  läßt  es  nur  zu,  die  Wahlkörper  nach  der 
Größe  der  Betriebe  zu  teilen,  wenn  sich  die  Zuständigkeit  des  Gewerbe- 
gerichtes  auf  verschiedenartige  Kategorien  von  großen  und  kleinen  Betrieben 
erstreckt.  Die  Verordnung  über  die  Errichtung  der  Gewerbegerichte  in  Wien, 
Brünn.  Kcichenberg,  Graz.  Krakau,  Lemberg  und  Prag  teilt  die  Betriebe  in 
Gruppen  verwandter  Betriebe  ein  und  bestimmt  im  Sinne  des  § 21  der 
Ministerinlverordnung  vom  23.  April  1898.  R.-G.-Bl.  Nr.  56.  daß  eine 
bestimmte  Anzahl  von  Beisitzern  aus  den  Wahlberechtigten  dieser  Betriebs- 
gruppen zu  wählen  ist.  Diese  Teilung  wurde  aber,  wie  bemerkt,  extra 
legem  vorgeschrieben,  sie  ist  in  gewissem  Umfang  zweckmäßig,  ja  selbst  im 
Sinne  des  Gesetzes  gelegen.  Man  darf  aber  den  Wert  der  fachmännischen 
Kenntnisse  eines  Beisitzers  nicht  überschätzen.  Dieselbe  Erfahrung  wie  im 
Deutschen  Reiche  wurde  auch  bei  uns  gemacht.  Die  gewerblichen  Streitig- 
keiten betreffen  nur  höchst  selten  technische  Fragen  des  Arbeitsprozesses, 
oder  nur  in  Gewerben  gewisser  Art  gestellte  Anforderungen  an  den  Arbeiter, 
oder  nur  in  einem  bestimmten  Betriebe  vorkommende  sonstige  tatsächliche 
Verhältnisse.  Zumeist  handelt  es  sich  um  die  Entscheidung  typischer  Fragen, 
die  bei  allen  oder  doch  sehr  vielen  Gewerben  Vorkommen.  Streitigkeiten 
wegen  grundloser  Entlassung,  wegen  Nichtbeschäftigung  (sogenanntes  Aus- 
setzen), Streitigkeiten  über  den  Lohn,  über  die  Kündigung,  über  das  Zurfiek- 
behalten  der  Arbeitsbücher  und  dergleichen  bilden  die  Regel. 

Auch  in  der  Enquete  vom  März  und  April  d.  J.  wurde  unumwunden  zuge- 
geben, daß  mit  wenigen  Ausnahmen  regelmäßig  solche  RechtsfiUUe  Vorkommen, 
die  jeder  Beisitzer,  ohne  daß  er  einer  bestimmten  Fachgruppe  angehören 
müßte,  zu  beurteilen  vermag.  Die  häufig  auftauchende  Frage,  welcher  Betrag 
als  Entschädigung  für  Verdienstentgang  mit  Rücksicht  auf  den  üblichen 
Tage-  und  Wochenlohn  angemessen  ist,  kann  gleichfalls  so  ziemlich  jeder 
Beisitzer  beantworten,  da  die  Lobnverhältnisse  allgemein  bekannt  sind. 

Besondere  Fachkenntnisse  sind  somit  nur  selten  notwendig.  Erheischt 
aber  einmal  ein  Fall  solche  Fachkenntnisse,  so  ist  es  fast  ein  Zufall,  wenn 
sich  unter  den  Beisitzern  gerade  ein  Mann  findet,  der  den  Anforderungen 


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Schauer. 


un  einen  Sachverständigen  auch  wirklich  entspricht.  Denn  die  Beisitzer 
werden  nicht  bloß  mit  Kncksicht  auf  ihre  technischen  Kenntnisse  gewählt, 
sondern  für  die  Wahl  ist  eine  ganze  Keilie  anderer  Erwägungen  maßgebend, 
insbesondere  das  Vertrauen  der  Wählerschaft,  vielleicht  auch  die  größere 
Betriebsamkeit  des  Kandidaten,  oder  doch  seine  Bereitwilligkeit,  das  Amt 
zu  übernehmen  u.  a.  m. 

Wenn  der  Wahlvorgang  nicht  bis  zur  l’ndurchfahrbarkeit  kompliziert 
werden  soll,  ist  es  auch  gar  nicht  möglich,  die  Aufteilung  der  Beisitzer 
unter  die  verschiedenen  Gewerbe  so  einzurichten,  daß  auf  jede  Betriebsart 
oder  auch  nur  Betriebsgruppe  ein  Beisitzer  entfällt.1") 

In  schwierigen  Fällen  ist,  wie  die  Erfahrung  gezeigt  hat,  die  Bei- 
ziehung eines  vom  Gerichte  bestellten  Sachverständigen  nicht  zu  ver- 
meiden. 

Es  ist  ganz  unmöglich,  schon  durch  die  Art  der  Wahl  eine  Gewähr 
dafür  zu  geben,  daß  für  jeden  Rechtsstreit  ein  mit  aller  erforderlichen 
Sachkenntnis  ausgestatteter  Beisitzer  zur  Verfügung  steht;  diese  Forderung 
ist  unberechtigt,  undurchführbar  und  es  heißt,  einen  gesunden  Gedanken 
zu  Tode  hetzen,  wenn  man  dieses  Verlangen  mit  dem  Argumeut  vertritt, 
man  brauche  die  ganzen  Gewerbegerichte  nicht,  falls  nicht  die  Sachkenntnis 
der  Beisitzer  die  Zuziehung  von  Sachverständigen  überflüssig  macht.  Tat- 
sächlich sind  auch  außerhalb  Wiens  bisher  von  keiner  Seite  in  dieser 
Richtung  Beschwerden  laut  geworden,  obwohl  bei  keinem  Gerichte  die 
Gliederung  der  Wahlkörper  unter  dem  Gesichtspunkte  der  fachlichen  Scheidung 
so  kompliziert  ist  wie  in  Wien.  Bei  der  Mehrzahl  der  Gewerbegerichte  sind 
überhaupt  die  Betriebe  nur  in  Groß-,  Klein-  und  Handelsbetriebe  unter- 
schieden. Bielitz,  Aussig,  Jägerndorf,  Leoben,  Mähr.-Ostrau.  Mähr.-Schönberg. 
Pilsen,  Teplitzi. ll) 

Die  Forderung  nach  einer  weiteren  fachlichen  Gliederung  der  Wahl- 
gruppen des  Gewerhegerichtes  in  Wien,  die  in  den  Petitionen  gestellt 
worden  ist,  wurde  denn  auch  in  der  Enquete  vom  30.  März  d.  J.  außer 
von  jenen  Experten,  die  von  der  Vorstellung  einer  Interessenvertretung  im 
Gewerbegerichte  beeinflußt  schienen,  nicht  weiter  urgiert.  Die  Teilung  der 
Gruppen  des  Wiener  Gewerbegerichtes  in  solche  nach  Groß  und  Klein- 
betrieben wurde  aber  auch  in  der  Enquete  einmütig  gefordert. 

*")  Nach  der  Klassifikation  der  Unternehmungen  and  Beschäftigungen  (Beilage  I, 
zur  Vollzugsforschrift  zum  l’ersnnalsteuergesetz,  R.-G.-Bl.  Kr  35,  1897;  sind  ungefähr 
350  Gruppen  und  Arten  von  Betrieben  zu  zählen,  die  dem  Geirerbegericht  unterstellt 
sind.  Wenn  man  sich  bloü  darauf  beschränken  würde,  die  Klasseneinteilung  der  Kin- 
teilung  der  Wahlgruppen  zu  Grunde  zu  legen,  so  würde  man  XXIV  Wablgruppen 
erhalten,  die  aber  anch  wieder  die  verschiedensten  Betriebe  in  sich  vereinigen  würden, 
wie  z.  B.  in  der  Klasse  IV  die  Gold-  und  .Silberarbeiter,  die  Nagelschmiede  und 
Klempner  n.  a.  m. 

U)  Die  Einteilung  des  Gewerbegerichtes  in  Reicbenberg  ist  nur  .scheinbar  reicher 
gegliedert  als  jene  des  Gewerhegerichtes  in  Wien.  In  Wien  bestehen  sechs  Fachgruppen, 
in  Reichenherg,  wo  die  Gruppe  der  Textilindustrie  und  der  Metallindustrie  nach  Groß- 
und  Kleinbetrieben  untergeteilt  ist.  bestehen  eigentlich  nur  fünf  Gruppen. 


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Die  liewerbegerichte  in  Österreich.  559 

Die  Berechtigung  dieser  Forderung  ist  eigentlich  niemals  in  Abrede 
gestellt  worden,  wie  sich  daraus  ergibt,  daß  bei  den  meisten  Gewerbegerichten 
eine  solche  Scheidung  angeordnet  ist.18) 

Schon  in  der  Enquete  vom  Jahre  1898  vertraten  die  Experten  der 
Unternehmer  vieler  Betriebsgruppen  die  Forderung  nach  Teilung  in  Groß- 
und  Kleinbetriebe.  Die  Arbeitnehmer  perhorreszierten  allerdings  damals 
ausnahmslos  jede  Trennung.”  i Die  Handels-  und  Gewerbekammer  in  Wien 
befürwortete  im  Jahre  1898  nach  dem  Ergebnisse  der  Enquete  die  Teilung 
im  Wahlkörper  der  Unternehmer,  sprach  sich  jedoch  gegen  die  Teilung 
im  Wahlkörper  der  Arbeitnehmer  aus. 

Die  Regierung  hat  bei  Aktivierung  des  Gewerbegerichtes  in  Wien 
wegen  der  Erschwerung  der  Wahlen,  die  zum  ersten  Mal  nach  dem  neuen 
Gesetze  für  alle  Gewerbebetriebe  in  Wien  durchzufOhren  waren,  von  der 
Trennung  der  Betriebe  abgesehen  und  reine  Fachgruppen  gebildet.  Hieför 
war  auch  maßgebend,  daß  ein  Teil  der  Unternehmer  eine  Scheidung  nur 
von  dem  Gesichtspunkte  aus  durchgefOhrt  wissen  wollte,  ob  der  Betrieb 
fahriksinlßig  betrieben  wird,  während  allerdings  der  größere  Teil  der  Unter- 
nehmer-Experten mit  der  Teilung  nach  dem  Steuersatz  zufrieden  gewesen 
wäre.  Der  Bund  der  österreichischen  Industriellen  erneuerte  schon  im  Jahre 
1898  die  Forderung  nach  Trennung  der  Wahlkörper,  erklärte  aber  auch  da 
ganz  entschieden,  daß  eine  Teilung  nach  dem  Steuersätze  nicht  befriedigen 
würde.  Der  Magistrat  hingegen  betonte  ebenso  bestimmt,  daß  eine  Unter- 
scheidung nach  fabriksmäßigen  und  nicht  fabriksmäßigen  Betrieben  nicht 
durchführbar  wäre.  Trotzdem  wurde  auch  in  der  letzten  Petition  wieder 
diese  Art  der  Scheidung  verlangt  und  die  Teilung  nach  dem  Steuersätze 
ausdrücklich  abgelehnt.  Allenfalls  erklärte  man  sich  damit  einverstanden, 
daß  die  Wähler  optieien  dürfen.  Erst  als  in  der  Enquetesitzung  vom  30.  März 
von  den  Vertretern  der  Gemeinde  Wien  neuerlich  erklärt  wurde,  daß  Wahlen 

**)  Beine  Fachgruppen,  ohne  Teilung  nach  der  Grölte  des  Betriebes,  weisen  nur 
die  Gewerbegerichte  in  Wien,  Graz,  Lemberg  und  Krakau  auf.  Bei  allen  übrigen 
Gewerbegerichten  sind  entweder  alle  oder  doch  einige  Gattungen  von  Betrieben  uacki 
der  Höhe  der  Steuerleistung  in  Groß-  und  Kleinbetriebe  zusammengefaßt.  Bei  allen 
Gewerbegerichten  bildet  der  Erwerbsteuersatz  von  300  K das  Unterscheidungsmerkmal. 

'*)  Sie  wiesen  auf  die  bedeutende  Fluktuation  des  Arbeiterpersonals  hin.  Irgend- 
eine Unterscheidung  iu  der  manuellen  Geschicklichkeit  oder  im  intellektuellen  Verständnis 
bestehe  zwischen  Arbeitern  der  Groß-  und  Kleinbetriebe  nicht.  Die  Wahl  werde  durch 
die  Trennung,  für  die  sich  übrigens  kein  zutreffendes  Merkmal  finden  lasse,  rerzögeit. 
erschwert  und  verteuert.  Entscheidend  war  aber  für  ihre  Ablehnung  wohl  die  Befürchtung, 
daß  ein  Arbeiterbeisitzer,  der  aus  der  Gruppe  der  Großindustrie  gewählt  ist,  gemäß 
§ 18  Gewerbegerichtsgesetz  sein  Mandat  verlieren  könnte,  wenn  er  während  seiner 
F'unktionsdauer  in  einen  Kleinbetrieb  übertreten  würde.  Diese  Besorgnis  ist  aber  offenbar 
ganz  unbegründet,  weil  § 18  des  Gesetzes  nach  seinem  ganz  klaren,  nicht  mißzuver- 
stehenden  Wortlaut  nur  den  Fall  iln  Auge  hat,  daß  der  Beisitzer  durch  Übertritt  zu 
einem  anderen  Berufe  (z.  B.  als  Kedakteur  einer  Zeitschrift  oder  Sekretär  einer  Arbeiter* 
Organisation  u.  dgl.)  dauernd  seine  Arbeitereigonschaft  einbüßt  oder  seit  drei  Monaten 
bei  Unternehmungen  in  Arbeit  gestanden  ist,  fiir  welche  das  Gewerbegericht  überhaupt 
nicht  zuständig  ist. 


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Schauer. 


auf  dieser  Grundlage  nicht  durchgeführt  werden  können  und  daß  gegen 
die  Selbsteinschätzung  manche  Bedenken  bestünden,  wurde  das  Verlangen 
der  Scheidung  nach  dom  Merkmale  der  Fabriksmäßigkeit  dps  Betriebes 
endgültig  fallen  gelassen.  Die  Knquete  erklärte  sich  nun  einmütig  mit  der 
Teilung  der  Wahlkörper  nach  dem  Steuersätze  einverstanden.  Hätte  man 
sich  auf  diesen  einzig  möglichen  Standpunkt  früher  gestellt,  wäre  dem 
Verlangen  nach  Vornahme  der  Wahlen  in  getrennten  Gruppen  für  Groß- 
und  Kleingewerbe  sicherlich  längst  entsprochen  worden. 

Für  die  Scheidung  ist  nämlich  tatsächlich  manches  anzufflhren.  Nicht 
nur  die  Verschiedenheit  in  der  Organisation  der  Arbeit  und  in  den  An- 
forderungen an  den  einzelnen  Arbeiter  sowie  das  Vorhandensein  von  Arbeits- 
ordnungen, die  dem  Arbeitsverhältnis  zu  Grunde  liegen,  auch  die  ökonomische 
Situation  des  Unternehmens,  das  Milieu  des  Betriebes  ist  ein  anderes.  In 
den  Großbetrieben,  die  überhaupt  den  Gewerbegerichten  wenig  Arbeit  geben, 
kommen  Streitigkeiten,  wie  sie  in  den  Kleingewerben  an  der  Tagesordnung 
sind,  fast  gar  nicht  vor.  Hier  hat  der  rechtliche  Verkehr  zwischen  Unter- 
nehmer und  Arbeiter  noch  mit  Schwierigkeiten  zu  kämpfen,  da  auf  beiden 
Seiten  große  Unkenntnis  über  die  Rechte  und  Pflichten  besteht.  In  den 
Großbetrieben  dagegen  ist  das  Arbeitsverhältnis  in  der  Regel  ein  geordnetes. 
Streitigkeiten,  nie  lediglich  in  der  Nachlässigkeit  hei  Begründung  und  Auf- 
lösung des  Arbeitsverhältnisses,  bei  der  Uohnbestimmung  ihren  Grund  haben, 
sind  da  selten.  Hienaeh  ist  die  Forderung,  daß  an  der  Entscheidung  von 
Streitigkeiten  in  den  Großbetrieben  nur  Beisitzer  aus  diesen  Betrieben  teil- 
nehmen sollen,  bis  zu  einem  gewisseu  Grade  nicht  unbegründet.  Auch 
läßt  sich  nicht  bestreiten,  daß  die  in  der  Minderzahl  befindlichen  Unter- 
nehmer von  Großbetrieben  bei  den  Wahlen  von  der  großen  Zahl  der  Klein- 
meister majorisiert  werden  können. 


VI. 

Der  Wahlapparat  für  die  Gewerbegerichte  wurde  durch  die  Ministerial- 
verordnung  vom  23.  April  1898,  R.G.-B1.  Nr.  56,  geregelt  und  ist  ein 
recht  umständlicher.  Die  Unternehmer  werden  mittels  Kundmachung  zur 
Anmeldung  ihrer  Betriebe  und  der  darin  beschäftigten  wahlberechtigten 
Arbeiter  aufgefordert,  d.  i.  der  Arbeiter  männlichen  und  weiblichen  Ge- 
schlechtes, die  mindestens  20  Jahre  alt  und  seit  einem  Jahre  im  Inland 
beschäftigt  sind  (§  8,  Absatz  4,  Gewerbegerichtsgesetz).  Die  Gewerbebehörden 
verfassen  auf  Grund  der  Anmeldungen  die  Wählerlisten,  diese  werden  im 
Wege  des  Reklamationsverfahrens  ergänzt  und  berichtigt.  Den  Wahlbe- 
rechtigten werden  Wahllegitimationen  zugestellt.  Die  Wahl  geschieht  durch 
persönliche  Abgabe  eines  Stimmzettels  (§  10  Gewerbegerichtsgesetz).  Die 
Anlegung  einer  Wählerliste  ad  hoc  ist  nicht  zu  vermeiden,  weil  die  Wahl- 
berechtigung von  speziellen  Erfordernissen  abhängt  und  eine  starke  Fluk- 
tuation in  der  Arbeiterschaft  besteht.  Erfahrungsgemäß  findet  nur  ein 
kleiner  Teil  der  Wahlberechtigten  in  der  Wählerliste  Aufnahme,  insbe- 
sondere erstatten  nicht  alle  Unternehmer  rechtzeitig  die  Anmeldung.  Auch 


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Die  Gewerbegerichte  in  Österreich.  5fil 

die  Beteiligung  an  der  Wahl  auf  Seite  der  Unternehmer  ist  eine  außer- 
ordentlich geringe,  ln  dieser  Hinsicht  wird  sich  aber  in  Hinkunft,  wenn 
auch  den  Unternehmer-Beisitzern,  wenigstens  jenen  der  untersten  Erwerb- 
steuerklasse, Präsenzgelder  gewährt  werden,  vieles  bessern.  Man  darf  übrigens 
die  schwache  Wahlbeteiligung  der  Unternehmer  nicht  mißverstehen.  Häufig 
vereinbaren  die  Unternehmer  unter  sich,  wen  sie  wählen  wollen.  Die  Wahl 
ist  von  vornherein  sicher  und  daher  die  Beteiligung  einer  größeren  Anzahl 
von  Wählern  nicht  notwendig. 

In  der  Enquete  vom  80.  März  d.  J.  wurde  der  Vorschlag  unterstützt, 
der  in  den  Petitionen  der  Gewerbetreibenden  angeregt  wurde,  wonach  die 
Genossenschaften  zur  Mitwirkung  bei  der  Aufstellung  der  Wählerlisten  heran- 
gezogen werden  sollen.  Ob  dieser  Vorschlag  durchführbar  ist.  steht  noch 
dahin.  Allzu  viel  darf  man  davon  nicht  erwarten,  weil  viele  Gewerbe- 
treibende außerhalb  des  Genossenschaftsverbandes  stehen  und  von  den 
Genossenschaften  über  das  Alter  der  Arbeiter  und  die  Dauer  der  Beschäftigung 
im  Inlaude  keine  Aufzeichnungen  geführt  werden.  Die  Anregung  behufs 
Vereinfachung  des  Wahlvorganges  die  Einsendung  der  Stimmzettel  mittels 
Post  zu  gestatten,  fand  bei  der  Enquete  eine  drastische  Widerlegung  durch 
die  Teilnehmer,  die  in  Wahlsachen  über  eine  große  Erfahrung  verfügen  und 
versicherten,  daß  dieser  Wahlmodus  die  ärgsten  Mißbräuche  ermögliche. 
Das  Ergebnis  der  Wahl  sei  hiebei  eigentlich  nur  von  der  Höhe  der  für 
Wahlzwecke  zur  Verfügung  steheuden  Summe  abhängig. 

VII. 

Während  J 18  des  Deutschen  Gewerbegerichtsgesetzes  vom  29.  Juli 
1890  den  Beisitzern  ohne  Unterschied  ihrer  bürgerlichen  Stellung  eine  Ent- 
schädigung für  Zeit  Versäumnis  zusichert  und  die  Zurückweisung 
des  Entschädigungsbetrages  sogar  für  unstatthaft  erklärt,  gibt  das  öster- 
reichische Gewerbegerichtsgesetz  (§  13)  nur  den  Beisitzern  und  Ersatzmännern 
aus  dem  Wahlkörper  der  Arbeiter  eiuen  Anspruch  auf  Eutschädigung  für 
den  Verdienstentgaug.  Die  Höhe  der  Entschädigung  ist  im  Verordnungswege 
festgestellt. 14 1 

Diese  Bestimmung  hat  zweifellos  der  Popularität  der  Gewerbegerichte 
in  den  Kreisen  der  Unternehmer  sehr  geschadet.  Von  allem  Anfänge  an 
wurde  in  den  Enqueten  iu  Wien  und  Graz,  vom  VI.  allgemeinen  österreichischen 
Gewerbetage  im  Jahre  1899,  dann  in  den  Gutachten  der  Handelskammern 
Wien  und  Graz,  endlich  iu  einem  Initiativanträge  der  Abgeordneten  Dr. 
Hofmann,  Pommer  und  Genossen  (Nr.  215  der  Beilagen  zu  den  steno- 
graphischen Protokollen  des  Abgeordnetenhauses,  XVII.  Session,  1901)  die 

u)  Die  Entschädigung  beträgt  beim  Gewerbegerichte:  Wien  K 6- — für  de»  halbe» 
und  K 10"—  för  de»  ganze»  Tag;  Graz  und  Prag  K 4- — für  den  halben  und  A'  8* — 
für  den  ganzen  Tag;  Leuben  A' 4- — für  den  halben  und  A"  (>• — fflr  den  ganze»  Tag; 
Ausaig,  Ilriin»,  Krakau,  Mährisch-Ostrau,  Pilsen  und  Tepliu  K 8- — für  den  halben  und 
K 0 — für  den  ganzen  Tag:  hei  den  übrigen  Gewerbegerichten;  K 2 — für  den  halben 
und  K 4- — für  den  ganzen  Tag. 


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Schauer. 


562 

Gewährung  von  Diäten  an  die  Unternelmierbeisitzer  verlangt.  Insbesondere 
wurde  einmütig  auf  die  ungünstige  ökonomische  Lage  der  Kleingewerbe- 
treibenden hingewiesen.  Im  Interesse  der  ganzen  Institution  ist  es  somit 
nur  zu  begrüßen,  daß  von  Seite  der  Finanzverwaltung  laut  der  Erklärung 
ihres  Vertreters  in  der  Enquetesitzung  vom  3.  April  d.  J.  kein  Widerstand 
dagegen  erhoben  wird,  daß  den  Unternehmerbeisitzern,  die  in  die  4.  Erwerb- 
steuerklasse eingereiht  sind,  Präsenzgelder  gerade  so  wie  den  Arbeiter- 
beisitzern bewilligt  werden.  Die  finanzielle  Bedeutung  dieses  Zugeständnisses 
ist  nicht  allzu  groß.  Die  ablehnende  Haltung  der  Regierung  war  augenscheinlich 
auf  die  Besorgnis  zurückzuführen,  daß  die  Gewährung  von  Prüscnzgeldern 
an  die  Unternelmierbeisitzer  eine  gewisse  präjudizielle  Bedeutung  erlangen 
könnte.  Die  Finanzverwaltung  hat  denn  auch  in  der  erwähnten  Sitzung 
mit  Nachdruck  betont,  daß  sie  mit  ihrer  Zusicherung  kein  Präjudiz  für 
eine  Änderung  des  ehrenamtlichen  Charakters  ähnlicher  öffentlicher  Funk- 
tionen geschaffen  wissen  wolle. 16 1 


VIII. 

Über  die  Wirksamkeit  der  Oewerbegerichte  lassen  sich  aus  der 
Statistik  einige  sichere  Anhaltspunkte  gewinnen.  Hiebei  muß  jedoch  beachtet 
werden,  daß  die  Gewerbegerichte  staffelweise  in  den  Jahren  1898,  1899 
und  1900  errichtet  wurden.  Hieraus  erklärt  sich  die  sprunghafte  Zunahme 
dor  Klagen. 

Die  Zahl  der  Klagen  betrug: 


im  Jahre  1898  2.944 

. , 1899  11.389 

„ „ 1900  18.028 

. . 1901  24.282 

, . 1902  23.981 


Die  vier  ältesten  mit  1.  Juli  1898  errichteten  Gewerbegerichte  weisen 
folgende  Geschäftsfrequenz  nach: 


Jahr 

Wien 

Reichenberg 

Brünn 

Bülitz 

1898 

1.984 

182 

607 

161 

1899 

9.404 

401 

1198 

386 

1900 

10.453 

405 

1080 

285 

1901 

11.590 

874 

1155 

506 

1902 

10.906 

415 

1102 

382 

ls)  Die  besprochene  Zusage  wurde  mittlerweile  durch 
vom  5.  August  1903,  K.-O.-Bl.  Nr.  165.  eingehalten. 


die  Miui&terialverordnung 


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Die  Gewerbc^erichte  in  Österreich. 


563 


Abgesehen  von  Bielitz,  wo  sich  wegen  der  absolut  geringen  Anzahl 
der  Klagen  einzelne  lokale  Ereignisse  in  der  Klagenfrequenz  stärker  bemerkbar 
machen,  ist  die  Geschäftsbewegung  eine  konstante;  eine  ausgesprochen 
steigende  Tendenz  ist  nirgends  zu  bemerken. 

Auch  bei  den  übrigen  Gerichten,  abgesehen  von  Prag,  wo  die  Zahl 
der  Klagen  von  755,  3265  auf  4131  im  .lalire  1902  stieg,  ist  eine  bemerkens- 
werte Zunahme  nicht  zu  konstatieren.  Diese  Erscheinung  spricht,  wenngleich 
man  sich  wegen  der  Kürze  der  Beobachtungsreihe  eine  gewisse  Keserve  im 
Urteile  auferlegen  muß,  doch  gegen  die  von  mancher  Seite  vorgetragene 
Ansicht,  daß  die  Gewerbegerichte  eine  nur  im  einseitigen  Interesse  einer 
Klasse  wirkende  Einrichtung  seien.  Denn,  wenn  dies  der  Fall  wäre,  würde  eine 
lebhafte  Agitation  nicht  zögern,  sie  diesen  Klasseninteressen  durch  möglichst 
zahlreiche  und  immer  zunehmende  Inanspruchnahme  dienstbar  zu  machen. 

in  welcher  Weise  sich  die  Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer  an  den 
Klagen  vor  den  Gewerbegerichten  beteiligen,  ergibt  folgende  Tabelle: 


A 

n z a h 1 

der  Klagen 

Jahr 

überhaupt 

von  Arbeitgebern 

von  Gehilfen  oder 
Artiei  tf-rn 

von  Lehrlingen 

absolut 

in  Proz. 

absolut  in  Proz. 

absolut 

in  Proz. 

1900  1S.273 

506 

2-77 

17.199  94  13 

,568 

310 

1901  I 24.474 

704 

290 

! 22.973  93  90 

797 

3-20 

1902  23.9*1 

702 

, 2-90 

| 

22.521  93  90 

li 

758 

3-20  | 

Das  aus  der  vorstehenden  Tabelle  ersichtliche  Verhältnis  besteht  mit 
geringfügigen  Abweichungen  auch  bei  den  einzelnen  Gewerbegerichten,  z.  II.: 


A n z 

a h 1 d 

er  K 1 a 

gen 

Gewerbegericht  1901 

der  Arbeitgeber 

der  Oelitlfra  oder 
Arbeiter 

der  Lehrlinge 

absolut 

in  Proz. 

absolut 

iu  Proz. 

absolut 

iu  Proz. 

Wien 

139 

118 

11.853 

96-31 

285 

2-51 

P«!? 

83 

254 

3.040 

93-26 

136 

4-20 

Brünn 

39 

1 

3-37  ] 

8 

1.084 

9384 

32 

2-79 

Von  den  bei  den  österreichischen  Gewerbegerichten  eingebrachten 
Klagen  sind  somit  nur  ungefähr  3 Proz.  solche  von  Arbeitgebern. 

In  Preußen  (Statistisches  Jahrbuch  für  das  Deutsche  Keich,  1902. 
S.  180)  wurden  eingebracht: 


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564 


Schauer. 


lin  Jahre  1900  von  50.061  Klagen  8770  oder  17  2 Proz.  von  den 
Arbeitgebern  und  16.894  oder  828  Proz.  von  den  Arbeitnehmern. 

Im  ganzen  Deutschen  Reiche  betrug  die  Zahl  der  gewerbegerichtlichen 
Klagen  81.164  und  hievon  8068  oder  10  Proz.  von  den  Arbeitgebern 
und  76.096  oder  90  Proz.  von  den  Arbeitnehmern. 

Die  Klagen  der  Arbeitgeber  sind  somit  flberall  verhältnismäßig  selten. 

Die  Erklärung  für  diese  auffallende  Erscheinung  liegt  nicht  darin, 
daß  die  Ursache  des  Streites  zumeist  in  einem  gesetz-  oder  vertragswidrigen 
Verhalten  des  Arbeitgebers  zu  suchen  sei  oder  daß,  wie  behauptet  wurde, 
die  Arbeitnehmer  klagen,  auch  wenn  sie  gar  keinen  Grund  zur  Klage  haben, 
sondern  sic  ist  unschwer  in  der  verschiedenen  ökonomischen  und  rechtlichen 
Position  der  beiden  Teile  zu  finden.  Die  in  der  Kegel  ungünstige  Lage  des 
Arbeitnehmers  benimmt  der  Klage  des  Arbeitgebers  zumeist  jede  Aussicht 
auf  Realisierbarkeit.  Wirtschaftlich  ist  ein  günstiges  Urteil  gegen  den 
Arbeiter  zumeist  ohne  Wert,  während  die  Arbeiter  hoffen  können,  einen 
gerichtlich  zuerkannten  Anspruch  gegen  den  Arbeitgeber  auch  durchsetzen 
zu  können.16) 

Noch  wichtiger  ist  aber  folgendes.  Im  Falle  eines  Vertrags-  oder 
gesetzwidrigen  Verhaltens  des  Arbeiters  sieht  der  Unternehmer  davon  ab. 
den  Arbeiter  zu  klagen,  er  entläßt  ihn  oder  macht  ihm  einen  Abzug 
vom  Lohn.  Der  Arbeitgeber  stellt  sich  damit  gewissermaßen  selbst  klaglos, 
schafft  sich  selbst  Recht  und  nötigt  den  Arbeiter,  die  Rolle  des  Klägers  zu 
übernehmen.  Der  Streit  kommt  daun  in  der  Form  einer  Klage  des  Arbeiters 
auf  Entschädigung  für  den  Entgang  der  Kündigungsfrist  wegen  ungerecht- 
fertigter Entlassung  oder  auf  Zahlung  des  voreuthalteuen  Lohnes  vor  Gericht. 

Daß  fast  immer  der  Arbeiter  als  Kläger  auftritt,  ist  somit  durchaus 
nicht  in  einer  besonderen  Gestaltung  des  gewerbegerichtlichen  Verfahrens 
oder,  wie  behauptet  wurde,  in  den  den  Arbeitern  günstigen  Urteilen  der 
Gewerbegerichte  begründet.  Dieselbe  Erscheinung  wäre  auch  bei  den  politischen 
Behörden,  solange  diese  noch  die  Judikatur  in  Gewerbegericktssachen  hatten, 
und  auch  bei  den  ordentlichen  Gerichten  zu  konstatieren,  wenn  sie  eine 
Statistik  über  die  Zahl  der  Klagen  vou  Unternehmern  und  Arbeitern  führen 
würden. 

Sieber  ist  allerdings,  daß  die  Arbeiter  vor  den  Gewerbegei  ichten 
häufiger  klagen  als  vor  den  ordentlichen  Gerichten,  weil,  wie  später 
noch  darzulegen  sein  wird,  das  Verfahren  vor  den  Gewerbegerichten  rascher 
ist  als  jenes  der  ordentlichen  Gerichte.  Zudem  ist  vermöge  der  besonderen 

1S]  Der  höhere  Prozentsatz  der  Klagen  von  Arbeitnehmern  gegen  Arbeiter  im 
Deutschen  Reiche  ist  darauf  zurückzuf&hren,  daß  nach  % 2 des  Deutschen  Gewcrbe- 
gerichtsgesetzes  als  Arbeiter  im  Sinne  dieses  Gesetzes  auch  Betriebsbeamtc,  Werkmeister 
und  mit  höheren  technischen  Dienstleistungen  betraute  Angestellte,  deren  Jahresverdienst 
au  Lohn  oder  Gehalt  2000  M.  nicht  übersteigt,  anzusehen  sind.  Es  gehören  somit 
zu  den  der  Zuständigkeit  der  Gewerbegerichte  unterworfenen  Personen  solche  mit  größerem 
Einkommen  als  dies  in  Österreich  der  Kall  ist.  Die  Möglichkeit,  ein  Urteil  gegen  den 
Arbeiter  durchsetzen  zu  können,  ist  somit  in  Deutschland  in  mehr  Fällen  gegeben  als 
in  Österreich. 


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Die  Gewerbegerichte  in  Österreich. 


565 


Gebührenbegünstigungf  die  Eingaben,  Protokolle  und  Vergleiche  sind  gebühren- 
frei  und  die  Urteilsgebühr  ist  sehr  niedrig,  § 34  Gew.-Ger.-Ges.)17)  das 
gewerbegerichtliche  Verfahren  billiger.  Die  GelXlhrenbefreiung  der  Protokolle. 
Eingaben  und  Vergleiche  fiberhebt  den  Arbeiter  der  Notwendigkeit,  sich  ein 
Armutszeugnis  zu  verschaffen,  was  immerhin  mit  Umständlichkeiten,  mit  Zeit- 
verlust und  Wegen  verbunden  ist.  Endlich  mag  wohl  auch  dazu  der  Umstand 
beitragen,  daß  die  Gewerbegericlite  sich  des  besonderen  Vertrauens  der 
Arbeiterschaft  erfreuen. 

IX. 

Es  wurde  schon  zu  wiederholtenmalen  behauptet,  daß  das  besondere 
Vertrauen  der  Arbeiterschaft  zu  den  Gewerbegerichten  auf  die  besonders 
günstige  Haltung  der  Gewerbegerichte  gegen  Ansprüche  der  Arbeiter  zurück- 
zuftthren  sei.  Man  hat  den  Gewerbegerichten  sogar  den  Vorwurf  nicht  erspart, 
daß  sie  nicht  unparteiisch  ihres  Amtes  walten,  sondern  im  Zweifel  leicht  zu 
Gunsten  des  Anspruches  des  Arbeiters  entscheiden.  Dieser  Vorwurf  wurde 
in  den  Petitionen  der  Unternehmerverbünde,  die  zur  letzten  Enquete  geführt 
haben,  nicht  mehr  aufrecht  erhalten.  Er  ist  auch  durchaus  unbegründet. 

Im  Jahre  1901  wurden  von  den  Streitsachen  erledigt: 


bei  allen  beim  Gewerbe- 

Gewerbegerichten  gerichte  Wien 

durch  Urteil  auf  Grund  Versäumnis, 

Verzicht  und  Anerkenntnis  . . . 2577  1710 

durch  anderes  Endurteil 5014  1346 

Der  Klageanspruch  wurde 

gänzlich  zuerkannt 2861  (87’7  Proz.  i 1487  (48-6  Proz.i 

teilweise  zuerkannt 1480  (19-5  Proz.)  266  ( 8-7  Proz.) 

gänzlich  abgewiesen 3250  (42-8  Proz.)  1304  (42-7  Proz.  ) 


Urteile  auf  Grund  Verzichtes  sind  nur  sehr  selten,  Versäumnisurteile 
fast  immor,  Urteile  auf  Grund  Anerkenntnis  immer  stattgebend.  Die  zahl 
reichen  Urteile  dieser  Kategorie  bilden  somit  einen  großen  Druchtcil  der 
stattgebenden  Urteile.  Von  den  an  sich  nicht  zahlreichen  stattgebenden 
Urteilen  (37  7 Proz.  i entfällt  somit  nur  ein  kleiner  Teil  auf  die  Urteile,  die 
nach  Durchführung  der  Streitverhandlung  gefällt  worden  sind,  von  den 
streitig  verhandelten  Fällen  schließt  daher  nur  ein  kleiner  Teil  mit  einem 
für  den  Kläger  günstigen  Urteil.  Da  nun  in  der  überwiegenden  Zahl  der 
Fälle  der  Arbeiter  als  Klüger  auftritt,  so  dringt  dieser,  wenn  sich  sein 
Gegner,  der  Unternehmer,  in  den  Streit  einläßt,  nur  selten  mit  seinem 
Anspruch  durch.  Schon  damit  ist  die  Behauptung  einer  einseitigen  Begün- 
stigung der  Arbeiter  widerlegt. 


17)  Oie  rrteilsgebühr  betragt  bei  Streitsachen  im  Werte 

b«i  den  ordmtllcheii 
Gerichten 


bei  den  Gewerbe* 
jrcrfchlen 


bis  50  K 
über  50  bis  100  K 
. 100  „ 400  K 

. 400  . 1600  K 


K 1 — 
A'  2 — 
K .V- 
K 10 - 


K 1 — 
K 1 — 
K 2-50 
A'  5 - 


Zelurkrift  ftlr  VolkxntrUchkft,  Soxia],,°lüik  uns  Vera-alluaf.  XU.  llsnS. 


39 


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5615 


Schauer. 


Wen»  tatsächlich  die  Gewerbegerichte  Klassenjustiz  treiben  würden, 
so  müßten  ferner  in  der  Hegel  die  Unternehmerbeisitzer  für  den  Unternehmer,  die 
Arbeiterbeisitzer  für  den  Anspruch  des  Arbeiters  stimmen  und  der  Vor- 
sitzende zu  Gunsten  des  Arbeiterklägers  entscheiden.  Tatsächlich  zeigt 
aber  eine  von  den  Gewerbegerichten  geführte  Aufschreibung,  in  die  der 
Verfasser  Einsicht  zu  nehmen  Gelegenheit  hatte,  daß  das  Urteil  regel- 
mäßig auf  Grund  einhelligen  Beschlusses  der  Stimmführer  zu  stände 
kommt.  Nur  bei  ungefähr  10  Proz.  aller  Urteile  ergibt  sich  eine  Meinungs- 
verschiedenheit und  ein  Majoritätsbeschluß.  Dieser  Prozentsatz  entspricht 
nun  aber  dem  Verhältnis,  in  dem  die  wirklich  zweifelhaften  Fälle  zu  jenen 
stehen,  in  denen  ein  Urteil  mit  größerer  Sicherheit  gefüllt  werden  kann. 
Die  Objektivität  der  Gewerbegerichte  kann  also  nach  den 
bisherigen  Erfahrungen  nicht  i n Zwei  fei  gezogen  w erde n.18) 

X. 

Eine  wiederholt  gegen  die  Einrichtung  der  Gewerbegeriehte  erhobene 
Beschwerde  richtet  sich  dagegen,  daß  sie  die  Erhebung  mutwilliger 
Klagen  begünstige. 

Dieser  Vorwurf  ist  nur  in  einem  Punkte  nicht  ganz  unbegründet.  Die 
weitgehende  Gebfihrenbegünstigung(sieh  die  Anmerkung  Nr.  17 1,  insbesondere 
der  Umstand,  daß  der  Arbeiter,  ohne  ein  Armutszeugnis  beizubringen,  kostenlos 
und  mündlich  Bein  Begehren  anbringen  kann,  erleichtert  es  ihm,  Klage  zu 
erheben.  Es  mag  infolgedessen  wirklich  hie  und  da  Vorkommen,  daß  ein  mit 
Hecht  entlassener  Arbeiter  trotz  aller  Belehrung  über  die  Aussichtslosigkeit 
seines  Anspruches  die  Aufnahme  der  Klage  verlangt  und  darauf  spekuliert,  daß 
der  Arbeitgeber  die  erste  Tagsatzung  versäumt  und  kontumaziert  werden 
kann.  Die  Gebührenbegünstigung  ist  aber  auch  der  einzige  Punkt,  in  dem 
die  gewerbegerichtlicheu  Klagen  im  Vergleich  zu  jenen  der  ordentlichen 
Gerichte  begünstigt  sind.  Auch  bei  den  Bezirksgerichten  kann  der  Kläger 
ohne  Anwaltszwang  schriftlich  oder  mündlich  seine  Klage  anbringen.  Mut- 
willige Klagen  und  Prozesse  kommen  in  der  Tat  leider  auch  bei  den  ordent- 
lichen Gerichten  vor.  Es  ist  eben  der  Nachteil  jeder  leicht  zugänglichen 
Einrichtung,  daß  sie  auch  leicht  mißbräuchlich  in  Anspruch  genommen 
werden  kann.  Diese  Erfahrung  macht  man  bekanntlich  auch  bei  der  Ge- 
währung von  unentgeltlicher  ärztlicher  Hilfe.  Man  steht  da  nur  vor  der 
Wahl,  diesen  Übelstaud  mit  in  Kauf  zu  nehmen  oder  wegen  des  vereinzelten 
Mißbrauches  die  im  allgemeinen  wohltätige  Einrichtung  fallen  zu  lassen. 

Das  wirksamste  und  verhältnismäßig  um  wenigsten  schädliche  Mittel 
zur  Abhilfe  wäre  die  Beseitigung  der  Gebührenbegünstigung.  In  der  Enquete 

l,l  Nach  der  Mitteilung  der  »Industrie*  Xr.  )6,  1903,  über  eine  Umfrage  bei  den 
IlitgUedsverb&nden  des  ZcntraU  erbendes  der  Industriellen  Österreichs  wurde  die  Stellung  des 
Vorsitzenden  der  Gewerbegerichte  bei  Entscheidung  der  Rechti fülle  beinahe  durchgehend« 
als  objektir  bezeichnet  Nur  ron  einzelnen  Seiten,  insbesondere  von  Prager  und  Wiener 
Industrielien,  wird  darüber  geklagt,  daß  die  Entscheidungen  der  Gewerbegerichte  zu  sehr  mit 
sozialpolitischem  Ul  getränkt  seien.  Diese  Behauptung  wird  aber  durch  die  geringe  Zahl  der 
stattgebeuden  Urteile  in  Streitfällen  nnd  die  Zahl  der  einhellig  gefäliten  Urteile  widerlegt. 


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Die  Gewerbegerichte  in  Österreich. 


:»i37 


vom  3.  April  d.  J.  verhielten  sieh  jedoch  alle  Experten  gegen  eine  darauf 
abzielende  Anregung  entschieden  ablehnend.  Die  Enquete  erklärte  sich  damit 
zufrieden,  wenn  die  in  der  Zivilprozeßordnung  gebotenen  Mittel  gegen  mut- 
willige Prozeßführung  Anwendung  finden.  Es  ist  dies  die  Verhängung  einer 
Mutwillensstrafe  bei  mutwilliger  Bestreitung  der  Echtheit  einer  Urkunde 
i§  313  Z.-P.-O.)  und  die  Zuerkennung  eines  Entscbädigungsbetrages  für  den 
Schaden,  der  durch  die  mutwillige  Prozeßfflhruug  verursacht  wurde  (§  408 
Z.-P.-O.).  Der  in  mehreren  Petitionen  geäußerte  Wunsch  nach  Einführung  einer 
allgemeinen,  in  Arrest  umwandelbaren  Mutwillensstrafe  oder  nach  Zulassung 
der  Zurückweisung  einer  mutwillig  scheinenden  Klage  durch  den  Richter 
wurde  in  der  Enquete  auch  von  den  Unternehmerezperten  als  undurchführbar 
fallen  gelassen.  Solche  Zurückweisung  könnte  in  Willkür  ausarten  und 
würde,  wie  die  »Industrie*  Nr.  16,  1903,  treffend  bemerkt,  auch  mit  dem 
Grundsatz  dos  beiderseitigen  Gehörs  in  Widerspruch  stehen.  Die  Zulassung 
einer  Freiheitsstrafe  als  allgemeine  Folge  mutwilliger  I’rozeßiührung.  nicht 
spezieller  im  Gesetze  schon  heute  geregelter  Mutwiileustatbestände,  wäre 
ein  nicht  zu  rechtfertigendes  Privilegium  odiosum  der  arbeitenden  Klassen. 

Man  darf  aber  überhaupt  daran  zweifeln,  ob  es  hinsichtlich  der  mut- 
willigen Prozeßführung  vor  den  Gewerbegerichten  so  schlimm  steht,  als 
behauptet  wurde.  Wenn  in  den  wirklich  streitig  verhandelten  Füllen  auch 
nur  ungefähr  die  Hälfte  der  Klagen  von  Erfolg  ist,  so  läßt  sich  nicht  be- 
haupten, daß  die  Klageführung  dort  mutwillig  war,  wo  dem  Klagebegehren 
nicht  stattgegeben  worden  ist.  Denn  sonst  könnte  man  mit  ebenso  viel  Be- 
rechtigung auch  gegen  die  beklagten  Unternehmer  den  Vorwurf  erheben, 
ihre  Verteidigung  gegen  die  Klage  sei  in  jenen  Fällen  mutwillig  gewesen, 
in  denen  sie  sachfallig  geworden  sind. 

Die  Klage  ist  zudem  nicht  bloß  dort  von  Erfolg,  wo  durch  Urteil  ein 
Anspruch  zuerkannt  wird.  Denn  ein  großer  Teil  der  zahlreichen  Vergleiche 
führt  zu  einer  teilweisen  Befriedigung  des  klagenden  Arbeiters.  Außerdem 
werden  erfahrungsgemäß  viele  der  weder  durch  Urteil  noch  durch  Vergleich 
erledigten  Klagen  infolge  außergerichtlicher  Befriedigung  des  Klägers  bei- 
gelegt. Schließlich  ist  aber  noch  folgendes  in  Erwägung  zu  ziehen.  Wenn 
man  vollkommen  verläßlich  darüber  urteilen  wollte,  ob  mutwillige  Klagen 
der  Arbeiter  verhältnismäßig  häufig  sind,  so  müßte  man  auch  darüber  eine 
Ermittlung  pflegen  und  eine  Statistik  fülireu,  in  wie  viel  Fällen  der  ge- 
klagte Arbeitgeber  offenbar  gegen  das  Gesetz  den  Arbeiter  vorzeitig  ent- 
lassen, ihm  das  Arbeitsbuch  vorenthalten,  den  Lohn  verweigert  oder  verkürzt 
hat.  Denn  das,  was  dem  Arbeiter  das  Klagen  erleichtert,  die  Billigkeit  und 
Raschheit  des  Verfahrens,  die  leichte  Zugänglichkeit  des  Gerichtes,  das 
macht  es  natürlich  auch  dem  Arbeitgeber  leichter  möglich,  es  auf  ein  ge- 
richtliches Verfahren  aukommeu  zu  lassen.  Keinesfalls  läßt  sich  somit  aus 
den  zur  Zeit  gegebenen  Grundlagen  und  aus  vereinzelten  Beschwerden  der 
einen  oder  anderen  Partei  ein  sicherer  Schluß  darauf  ziehen,  daß  das 
gewerbegerichtliche  Verfahren  mutwillige  Prozeßführung  in  ungewöhnlichem 
Maße  begünstigte. 

39* 


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Schauer. 


568 


XI. 

Unter  den  Erlediguugsarten  liimnit  im  gewcibegerichtlichen  Verfahren 
der  Vergleich  eine  auffallende  Stelle  ein.  Die  Anzahl  der  dnrch  Vergleich 
erledigten  Klagen  ist  bei  den  Gewerbegerichteil  erheblich  größer  als  bei 
den  Bezirksgerichten.  Dies  ergibt  sich  ans  der  nachstehenden  Tabelle,  in 
der  den  Klagen  und  Vergleichen  des  Gewerbegerichtes  die  Klagen  und 
Vergleiche  bei  den  Bezirksgerichten  des  Gewerbegerichtsgebietes  gegenüber  - 
gestellt  sind.  Die  Tabelle  enthält  die  Daten  der  sechs  größten  Gewerbe- 
gerichte aus  dem  Jahre  1901. 


Gewerbegerichtliches  _ ,,  Ordentliches  bezirk«- 

Verf ähren  Bagatell  verfahren  gerichtliches  Verfahren 


Gewerbe- 

gerichtsort 

Anzahl 

Vergleiche 

Anzahl 

Vergleiche 

Anzahl 

Vergleiche 

der 

Klagen 

ab- 

solut 

..in 

Proz. 

der 

Klagen 

ab- 

solut 

in 

Proz. 

der 

Klagen 

ab-  i in 
solut  j Proz. 

Wien 

11.632 

5056 

43-4 

92.459 

17.558 

19-0 

53.059 

9.806  18*5 

I’rag 

3.336 

1582 

47  4 

22.120 

2.562 

11 '6 

13  734 

2.398;  17-5 

Brünn  .... 

1.154 

584 

46-2 

7362 

647 

8-8 

4.825 

528j  109  1 

Mähr. -Ostrau  . 

1.104 

369 

33-4 

3.312 

539 

163 

1.679  i 

431  25-6 

Krakau  .... 

2.202 

841 

«8*1 

10.625 

1.214 

114 

4 945 

794  16  1 

Lemberg  . . . 

1.812 

150 

8-2 

19.707 

8.183 

16-2 

7.218 

2.157  299 

In  allen  15  Ge- 
werbegerichts- 
orten .... 

24.882 

9650 

39-5 

172.174 

28.141 

16-8 

99.323 

18.689,  188 

i 

Nach  der  vorstehenden  Tabelle  ist  die  Zahl  der  Vergleiche  fast  bei 
allen  Gewerbegei ichten  mit  Ausnahme  von  Lemberg  mehr  als  doppelt  so 
groß  als  bei  den  ordentlichen  Gerichten.  Diese  Zahlen  werden  aber  erst 
dann  in  das  rechte  Licht  gerückt,  wenn  man  sie  mit  den  Ergebnissen  der 
Gewerbegerichte  des  Deutschen  Reiches  (1900)  vergleicht  (Statistisches  Jahr- 
buch für  das  Deutsche  Reich,  1902). 


Vergleiche 

Staaten 

Erledigte 

Klagen 

absolut  in  Proz.  , 

Preußen 

48.859 

21.377 

43*7 

Bayern 

6.032 

2.726  | 

452 

Sachsen  

12.271 

5.880 

47-9 

Württemberg 

2.440 

1.248 

511 

Baden . . 

3.004 

948 

31*5 

Deutsches  Reich  . . . 

81.931 

36.265 

44*2 

I 


I 


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Die  Ge.verbegericbte  in  Österreich.  561) 

Danach  besteht  zwischen  der  Zahl  der  Vergleiche  der  Gewerbegerichte 
in  Österreich  und  im  Deutschen  Keiche  eine  auffallende  Übereinstimmung. 

Ks  ist  daher  nicht  bloß  auf  einen  größeren  Druck  der  Gewerbegerichts- 
vorsitzenden zurückzufühlen,  wenn  bei  den  Gewerbegerichten  sehr  viele  und 
mehr  Vergleiche  zu  stände  kommen  als  vor  den  ordentlichen  Gerichten. 
Eine  solche  Einwirkung  würde  den  großen  Unterschied  zwischen  der  Zahl 
der  Vergleiche  vor  den  ordentlichen  Gerichten  und  vor  den  Gewerbegerichten 
nicht  erklären.  Übrigens  sind  ja  bei  uns  staatliche  Richter  mit  derselben 
Vorbildung  da  und  dort  tätig,  bei  den  kleinen  Gewerbegerichten  sind  es 
sogar  dieselben  Richter. 13 1 

Der  Grund  dieser  Verschiedenheit  ist  vielmehr  folgender: 

Von  den  Klagen,  die  bei  den  ordentlichen  Gerichten  eingebracht  werden, 
hat  die  Mehrzahl  überhaupt  nicht  streitige  Ansprüche  oder  ein  streitiges 
Rechtsverhältnis  zum  Gegenstand.  Es  handelt  sich  zumeist  um  energische 
Mahnung  gegen  einen  säumigen  Schuldner,  die  sofort  zur  außergerichtlichen 
Uefriedigung  führt,  oder  um  Klagen  gegen  zahlungsunfähige  Schuldner  als 
Einleitung  zur  unvermeidlichen  Exekution.  Daraus  erklärt  sich  die  große 
Zahl  der  Versäumnisurteile  und  der  auf  andere  Weise  als  durch  Vergleich 
erledigten  Sachen  bei  den  Bezirksgerichten.  Im  Jahre  1900  wurden  im 
Bagatellverfahren  62-9  Proz.  aller  Klagen  durch  Versäumnisurteil  und  auf 
andere  Weise  erledigt,  im  ordentlichen  bezirksgerichtlichen  Verfahren  62  8 Proz. 
aller  Fälle. 

Diese  beiden  Gruppen  von  Klagen  geben  selbstverständlich  zu  einem 
Vergleich  keinen  Anlaß.  Bei  den  Gewerbegerichten  dagegen  handelt  es 
sich  zumeist  wirklich  um  streitige  Ansprüche,  streitige  Tatsachen  und 
Rechtsverhältnisse.  (Die  Zahl  der  durch  Versäumnisurteil  und  auf  andere  Weise 
erledigten  Fälle  betrug  bei  den  Gewerbegerichten  im  Jahre  1900  nur  3!1'7  Proz. 
gegen  annähernd  63  Proz.  im  Verfahren  vor  den  Bezirksgerichten.!  Nun 
sind  von  den  bei  den  Gewerbegerichten  angebrachten  Klagen  viele  nur  zum 
Teil  begründet.  Bei  der  Verhandlung  überzeugt  sich  der  Kläger  nach  der 
Aussprache  mit  dem  Gegner  unter  Leitung  des  Richters,  daß  ihm  nicht 
alles  gebührt,  wus  er  angesprochen  hat,  der  Beklagte  aber,  daß  er  nicht 
alles  verweigern  darf.  Es  liegt  dann  nahe,  daß  der  haltlose  Teil  des 
Begehrens  fallen  gelassen,  der  andere  aber  durch  Vergleich  festgestellt  wird. 

In  anderen  Fällen  zeigt  sich  zwar,  daß  bei  Anwendung  des  strengen 
Rechtes  dem  Kläger  nichts  gebührt,  der  beklagte  Arbeitgeber  läßt  sich  aber 
doch  aus  Gründen  der  Billigkeit  zu  einer  teilweisen  Leistung  herbei.  Endlich 
kommt  vor  den  Gewerbegerichten  auch  dann  ein  Vergleich  leichter  zu 
stände,  wenn  wirklich  für  und  wider  den  Standpunkt  eines  jeden  Streitteiles 
manches  spricht,  weil  zumeist  die  Parteien  persönlich  anwesend  sind,  während 
im  ordentlichen  Verfahren  häufig  Anwälte  intervenieren  und  diese  ein  Zu- 

**1  Die  „Industrie-  konstatiert  auch,  half  nach  den  übereinstimmenden  Iterichten 
bei  den  Verhandlungen  vor  den  Gewerbegerichten  kein  grellerer  Druck  auf  das  Zustande- 
kommen von  Vergleichen  ausgeübt  wird,  als  es  im  Verfahren  vor  den  ordentlichen 
Gerichten  der  Full  ist. 


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Schauer. 


570 

geständnis  ihrem  Klienten  gegenüber  nicht  rechtfertigen  zu  können  ver- 
meinen. Nicht  selten  hindert  auch  bei  Intervention  von  Anwälten  die  Frage, 
wer  die  Anwaltskosten  zu  tragen  hat,  das  Zustandekommen  eines  Vergleiches. 
Letzteres  Hindernis  entfällt  aber  bei  den  Gewerbegerichten,  da  dort  Anwälte 
als  Parteieuvertreter  nicht  zugelassen  sind  und  daher  beträchtliche  Kosten 
im  Stadium  der  Vergleichsverhandlung  nicht  in  Frage  kommen. 


XII. 

Die  Gewerbegerichte  erfreuen  sieh  gewisser  für  die  Raschheit  der 
Erledigung  besonders  günstiger  Verhältnisse,  die  den  ordentlichen  Ge- 
richten nicht  im  gleichen  Maße  zu  statten  kommen. 

In  allen  Streitigkeiten,  auch  in  jenen,  die  einen  Gegenstand  im  Werte 
von  über  100  K betreffen,  kommt  das  bagatellgerichtliche  Verfahren  zur 
Anwendung.  Die  Vereinfachungen  dieses  Verfahrens  wirken  im  Sinne  der 
Beschleunigung.  So  insbesondere  die  Erleichterung  der  Protokollierung,  die 
sich  nicht  auf  die  Darstellung  der  Ergebnisse  der  Verhandlung  erstreckt 
und  die  Wirksamkeit  des  Urteiles  vom  Zeitpunkt«  der  Verkündung.  Wenn 
beide  Teile  bei  der  Urteilsverkündung  zugegen  waren,  wird  eine  Urteils- 
ausfertigung  nur  auf  ausdrückliches  Verlangen  zugestellt.  Der  Zustellungs- 
dienst wird  von  den  Gemeinden  in  zumeist  musterhafter  Weise  besorgt. 

Die  Konzentrierung  der  gewerblichen  Streitigkeiten  eines  größeren 
Gebietes  bei  demselben  Gerichte  macht  die  Richter  mit  allen  für  die  Ent- 
scheidung wesentlichen  Momenten  vertraut.  Ihnen  macht  die  Verhandlung 
und  Entscheidung  sowohl  in  der  Tat-  wie  in  der  Rechtsfrage  weniger 
Schwierigkeiten  als  dem  Richter  des  ordentlichen  Gerichtes,  dem  nicht 
nur  die  betreffenden  gesetzlichen  Bestimmungen  und  deren  Auslegung  weniger 
geläufig,  sondern  auch  die  tatsächlichen  Verhältnisse  nicht  in  dem  Maße 
bekannt  sind  wie  dem  Fachrichter  des  Gewerbegerichtes.  Die  Arbeitsteilung 
macht  auch  hier  ihre  arbeitfördernde  Wirkung  geltend. 

Die  Anwesenheit  sachkundiger  Beisitzer  erleichtert  die  Ermittlung  und 
Feststellung  der  Tatsachen  und  ihre  Sachgemäße  Beurteilung.  Häufig  kann 
das  Gewerbegericht  auf  Grund  der  bei  ihm  notorischen  Verhältnisse  ohne 
Beweisaufnahme  entscheiden.  So  insbesondere,  wenn  es  sich  um  die  Be- 
stimmung der  Entschädigung  für  die  entgangene  Kündigungsfrist,  für  vor- 
enthaltenen Lohn  u.  dgl.  handelt,  wo  die  ordentlichen  Gerichte  genötigt 
wären,  erst  Sachverständige  zu  vernehmen. 

Sehr  wichtig  ist  zudem,  daß  vor  den  Gewerbegerichten  eine  Vertretung 
durch  Advokaten  nicht  statthat.  Die  Parteien  müssen  ihre  Sache  selbst  führen 
oder  sich  durch  unmittelbar  informierte  Angehörige.  Angestellte  oder  Berufs- 
genossen vertreten  lassen  (§  25  Gew.-Ger.-Ges.l.  Unter  Umständen  mag  es 
allerdings  den  Parteien  unbequem  sein,  daß  sie  selbst  oder  durch  einen 
Angestellten  vor  Gericht  erscheinen  müssen.  Dio  persönliche  Beteiligung 
der  Parteien  bietet  aber  Vorteile,  die  diesen  Nachteil  üherwiegen.  Namentlich 
wird  dadurch  manche  Vertagung,  die  sonst  zur  Einholung  einer  Information 
unvermeidlich  ist.  erspart. 


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Die  tiewerbegerichte  in  ÖBierTeich.  ")7 1 

Dem  raschen  Verlauf  des  Verfahrens  kommt  auch  der  Umstand  zu 
gute,  daß  regelmäßig  gleichartige,  verhältnismäßig  einfache  Rechtssachen 
das  Gewerbegericht  beschäftigen,  deren  Dauer  im  voraus  ziemlich  sicher 
abgeschätzt  werden  kann.  Die  Aufstellung  eines  die  Arbeitszeit  ganz  aus- 
füllenden Verhandlungsprogrammes  ist  daher  bei  den  Gewerbegerichten 
leichter  als  bei  den  ordentlichen  Gerichten,  bei  denen  Streitsachen  von  ganz 
verschiedener  Tragweite  und  Ausdehnung  bunt  durcheinander  fallen.  Last 
not  least  kommt  noch  in  Betracht,  daß  die  Gewerbegerichte  — wenige  Aus- 
nahmen abgerechnet  — mit  Richter-  und  Kanzleipersonal  gut  dotiert  sind. 

Alles  das  wirkt  zusammen,  um  das  gewerbegerichtliche  Verfahren 
merklich  rascher  verlaufen  zu  lassen,  als  das  bei  einem  ordentlichen  Gerichte 
in  Österreich  möglich  wäre,  obwohl  auch  diese  anerkanntermaßen  an  Rasch- 
heit des  Verfahrens  die  Gerichte  aller  Staaten  Europas  überholt  haben. 

Den  Beweis  für  diese  Behauptung  liefert  die  folgende  Tabelle.  Sie 
enthält  eine  Statistik  der  Gewerbegerichte !0j  über  die  im  Jahre  1902  in 
1,  2 — 3.  4 — 7 und  über  7 Tagen  erledigten  Fälle,  die  leider  die  Daten  des 
Gcwerbegerichtes  Wien  nicht  enthält.  Beim  Gewerbegerichte  Wien  werden 
die  erforderlichen  Aufzeichnungen  nicht  geführt,  aber  es  ist  bekannt,  daß 
auch  dort  die  Erledigung  der  Streitfälle  eine  außerordentlich  rasche  und 
vollkommen  kurrente  ist. 


Erledigte  Fälle 
Dauer  des  Verfahrens 


Gewerbegericht 

Im 

1 Tag  ) 2-3  Tage 

4-7  Tage 

über  7 Tage 

ab- 

solut 

m ab- 

Proz.  aulut 

in 

Proz. 

ab- 

solut 

in 

Pro*. 

ab- 

solut 

in 

Proz. 

Frag 

4138 

869 

210  2402 

580 

758 

18  3 

109 

2-7 

Aussig 

264 

77 

29  2 99 

37-5 

75 

28-4 

13 

49 

Pilsen 

439 

241 

54  9 167 

38-0 

27 

62 

4 

09 

Reichenberg  . . . 

387 

81 

20  9 210 

543 

83 

21*4 

13 

3*4 

Teplitx 

490 

90 

13  4 258 

52  7 

118 

241 

24 

4-8 

Brünn 

1023 

546 

53-4  .367 

35  9 

100 

98 

10 

09 

Bieiiti 

806 

26 

8-5  1 93 

304 

151 

493 

36 

11-8 

Jägemdorf  .... 

28 

— 

- 1'  23 

821 

3 

10  7 

2 

72 

Mibr.-Ostrau  . . . 

724 

153 

21-1  387 

535 

176 

24  3 

8 

11 

Mähr.-Schönberg 

102 

6 

5-9  j 43 

42-1 

30 

294 

23 

22-6 

Graz 

66*» 

122 

18-3  339 

51  0 

174 

26*2 

so 

4 5 

Leoben  

270 

71 

26-3  143 

530 

39 

14-4 

17 

6-3 

Krakau  

2167 

1125 

51  9 1 706 

32-6 

299 

138 

37 

17 

Lemberg 

1731 

57 

3-3  240 

13-9 

1 

759 

43-8 

67o 

39-0 

”)  ln  der  Statistik  der  ordentlichen  Gerichte  werden  nur  die  Fälle  ausgewiesen 
deren  Krledigung  bis  1 Monat,  Uber  1— S Munate,  3—6  Monat«,  6 Monate  bis  1 Jahr. 
1—2  Jahre  und  über  2 Jahre  gedauert  haben.  Sie  umfaltt  übrigens  nur  die  Fälle,  die 
durch  L'rteil  und  Vergleich  erledigt  wurden,  nicht  die  auf  andeie  Weise  erledigten  Fälle. 


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572 


Schauer. 


Nach  der  vorstehenden  Tabelle  wird,  abgesehen  von  den  Gewerbe- 
gerichten  Mähr.-Schönberg,  Bielitz  und  Lemberg,  der  überwiegende  Teil  der 
Klagen  in  längstens  drei  Tagen  erledigt.  Besonders  bemerkenswert  sind  ins- 
besondere die  Ergebnisse  der  grollen  Gewerbegerichte,  bei  denen  unter  drei 
Tagen  erledigt  wurden: 

in  Prag 79  l’roz.  der  Klagen 

, Brünn 90  „ „ „ 

„ Mähr.-Ostrau  75  „ „ „ 

, Krakau“ i 84  „ „ „ 

Damit  stimmen  auch  die  vom  Zentralvcrbande  der  Industriellen  ein 
geholten  Berichte  überein.  („Industrie“  Nr.  16,  1903.)  Dort  wird  nämlich 
mitgeteilt,  daß  man  dem  Verfahren  vor  den  Gewerbegerichteu  vor  jenem  der 
odentlichen  Gerichte  den  Vorzug  gebe,  und  zwar  wegen  der  Raschheit  der 
Erledigung  und  der  größeren  Erfahrenheit  der  Richter  hei  Beurteilung  fach- 
licher Fragen.  Die  gegenteilige  Behauptung  in  dem  Artikel  Gewerbegerichte 
.Fremdenblatt“  Nr.  96.  1902,  wird  durch  die  oben  angeführten  Gründe  und 
durch  die  Statistik  widerlegt.  Das  Verfahren  vor  den  ordentlichen  Gerichten 
kann  unmöglich  so  rasch  sein  wie  jenes  vor  den  Gewerbegerichten  und  es 
ist  auch  nicht  so  prompt.  Die  Gewerbegerichte  haben  in  dieser  Richtung 
den  Erwartungen  vollständig  entsprochen.  Die  Raschheit  des  Verfahrens 
kommt  natürlich  beiden  Parteien  zu  gute. 


XIII. 

Ober  die  Qualität  der  Judikatur  der  Gewerbegerichte  läßt  sich 
nicht  so  sicher  urteilen,  wie  über  die  vorerwähnten  Seiten  ihrer  Recht- 
sprechung. 

Vielleicht  ist  der  Vorwurf  nicht  unbegründet,  daß  sie  noch  nicht  so 
sicher  ist  wie  man  wünschen  möchte.  Gewiß  wäre  die  Unsicherheit  aber 
eine  noch  größere,  wenn  nur  die  ordentlichen  Gerichte  mit  gewerblichen 
Lohnstreitigkeiten  befaßt  wären  und  die  ausschließlich  mit  derartigen  Fragen 
beschäftigten  Gewerbegerichte  den  ordentlichen  Gerichten  in  der  praktischen 
Verarbeitung  des  Rechtsstoffes  nicht  beispielgebend  vorausgehen  würden. 
Ein  Blick  auf  die  verbreiteten  Ausgaben  der  Gewerbeordnung  zeigt,  welch 
spärliche  Ergebnisse  bis  zur  Übertragung  der  Lohn  Streitigkeiten  an  die 
Gerichte  die  praktische  Anwendung  der  gesetzlichen  Bestimmungen  zu  Tage 
gefördert  hat.  Das  Recht  des  Lohnvertrages  ist  auch  in  der  Literatur  wenig 
gepflegt,  es  fehlte  der  wissenschaftlichen  Betrachtung  das  reiche  Material, 
das  die  Klinik  des  Rechtslebens,  das  gerichtliche  Verfahren,  schafft.  Die 
politischen  Behörden  waren  nach  ihrer  ganzen  Organisation,  wegen  ihres 

3I)  Die  verhältnismäßig  weniger  günstigen  Ergebnisse  von  Mähr.-Schönberg  sind 
offenbar  darauf  zurückzuführen.  dali  dieses  Gewerbegericht  einen  über  mehrere  Gerichts- 
bezirke  ausgedehnten  übergroüen  Sprengel  hat  und  deshalb  die  Ladung  der  Parteien 
und  Zeugen  einen  gröberen  Zeitaufwand  erfordert.  Die  weniger  günstigen  Verhältnisse 
in  Lemberg  finden  wahrscheinlich  in  der  gröberen  Belastung  dieses  Gerichtes  ihre  Er- 
klärung. 


Die  Gewerbegerichte  in  Österreich.  578 

zumeist  übergrolien  Sprengel«  u.  a.,  nicht  geeignet,  in  privatrechtliclieu 
Streitigkeiten  Hecht  zu  sprechen.  Die  Entscheidung  erheischt  nicht  selten 
eine  wohlgeordnete  Parteienrerhandlung  und  umständliche  Tatsachenfegt- 
stellung;  dazu  fehlten  der  politischen  Behörde  nahezu  alle  Mittel,  ins- 
besondere Zeugniszwang  mit  Wahrheitspflicht  und  Eid.  Die  streitenden 
Parteieu  mögen  bei  den  ihnen  früher  zugänglich  gewesenen  Instanzen  manchen 
guten  Kat  und  freundlichen  Zuspruch  gefunden  haben,  aber  regelrechte  Justiz 
wurde  in  gewerblichen  Lohnstreitigkeiten  nicht  geübt.”} 

Diese  Zustände  muhten  natürlich  auch  die  Auffassung  über  die  recht- 
liche Position  des  Unternehmers  und  Arbeiters  beeinflussen,  da  ihren  Lebens- 
beziehuugen  der  Regulator  einer  nach  Kechtsgrundsätzen  gehandhabten,  leicht 
zugänglichen,  rasch  und  sicher  funktionierenden  Rechtssprechung  fehlte. 

Der  Ausschuft  des  Abgeordnetenhauses  hat  in  seinem  Bericht  klarsehend  die 
Verhältnisse  rückhaltslos  geschildert  und  die  Erfahrungen  der  Gewerbe- 
gerichtsvorsitzenden haben  ihm  vollkommen  Recht  gegeben,  wenn  er  behauptete : 

„Die  Gewerbegerichte  haben  die  wichtige  soziale  Funktion,  daß  Unternehmer 
und  Arbeiter  zur  Achtung  der  gegenseitigen  Rechte,  welche  die  Grundlage 
jedes  Vertragsverhältnisses  ist,  erzogen  werden.“  Durch  die  Rechtssprechung 
mutt  erst  .das  Lohnverhältnis  nicht  nur  ökonomisch,  sondern  auch  rechtlich 
auf  ein  höheres  Niveau  gehoben  werden“.  Daß  dieser  Erziehungsprozeft  in 
der  kurzen  Zeit  von  wenigen  Jahren  noch  nicht  vollendet  sein  kann,  darüber 
darf  man  sich  nicht  wundern.  Er  ist  auch  in  der  Tat  noch  nicht  abgeschlossen. 

Denn  noch  heute  herrscht,  wie  die  Vorsitzenden  der  Gewerbegerichte  bestätigen, 
namentlich  im  Kleingewerbe  eine  erstaunliche  Unkenntnis  der  wichtigsten 
Vorschriften  des  gewerblichen  Lohnrechtes  und  es  gibt  noch  immer  Arbeit- 
geber, die  sich  in  den  Gedanken  erst  hineinflndeu  müssen,  daß  ihnen  in 
der  Person  des  Arbeiters  ein  Vertragsgenosse  gegenübersteht,  über  dessen 
Recht  man  nicht  durch  genossenschaftliche  Beschlüsse  und  einseitige  Änderung  W 

Der  Bericht  de»  Ausschüsse?  des  Abgeordnetenhauses  (zu  Nr.  1337  der  Beilagen 
zu  den  stenographischen  Protokollen,  Abgeordnetenhaus,  XI.  Session.  1895)  Äuliert  sich 
über  diesen  1 unkt  in  folgender  Weise: 

,.Mit  der  Durchsetzbarkeit  der  privatrechtlichen  Ansprüche,  die  sich  aus  dem  neuen 
Lohnrecht  ergeben,  ist  es  jedoch  schlechter  bestellt  als  mit  der  Durchsetzbarkeit  irgend 
eines  anderen  privatrechtlichen  Anspruches.  An  Instanzen  ist  wahrhaft  kein  Mangel,  wohl 
aber  an  jeder  sicheren  Rechtshilfe.  Wahrend  der  Dauer  des  Arbeitsverhältnisses  oder 
vor  Ablauf  von  30  Tagen  nach  seinem  Aufhören  sind  die  politischen  Behörden  zur  Ent- 
scheidung von  Lohn-  und  anderen  Streitigkeiten  aus  dem  Arbcitsverhältnis  kompetent. 

Von  dieser  Judikatur  wollen  wir  den  Schleier  nicht  hinwegziehen.  Man  wird  zugeben, 
daß  dieselbe  für  die  ohnehin  überlasteten  politischen  Behörden  eine  Tätigkeit  bedeutet, 
die  nicht  in  ihre  Sphäre  palit.  Seit  dein  Bestehen  von  Gewerbeinspektoren  ist  es  daher 
auch  ausgedehnte  Praxis.  Arbeiter  mit  solchen  Klagen  einfach  zum  Gewerbeinspektor  zu 
schicken,  der  natürlich  in  rein  priTatrechtlichen  Fallen  auch  nur  die  Achsel  zuckt .... 

Nach  Ablauf  der  oben  angedeuteten  Frist  endlich  kann  der  Arbeiter  allerdings  die 
ordentlichen  Gerichte,  also  in  seinem  Fall  Bagatellgerieht  oder  Bezirksgericht,  anrof.;n. 

Aber  in  manchen  Fällen  ist  er  dann  wegen  Arbeitsmangel  weggezogen,  in  anderen  Fallen 
hat  er  anderweitig  am  selben  Orte  Arbeit  gefunden  und  kann  Arbeit«-  und  Lohnentgang 
eines  oder  mehrerer  Tage,  die  er  zur  Vertretung  seiner  Sache  vor  Gericht  bedarf,  nicht 
opfern,  weil  er  Weib  und  Kinder  zu  ernähren  hat.“ 


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Schauer. 


f>74 

der  Arbeitsordnungen  verfügen  kann.  Dieser  Mangel  an  Kechtakenntnis  und 
Gewöhnung  an  die  Formen  des  Rechtsverkehres  inacht  sich  auch  in  den 
unklaren  und  ungenauen  Erklärungen  sowie  in  den  vieldeutigen  Rechtshand- 
lungen bemerkbar,  die  im  Verkehr  zwischen  Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer 
Vorkommen.  Zahlreiche  Rechtsstreitigkeiten  entstehen  lediglich  daraus,  daß 
man  es  unterläßt,  sich  präzise  darüber  auszusprechen,  ob  der  Arbeiter  auf- 
uenommen  ist,  gegen  welchen  Lohn,  für  welche  Zeit,  was  bezüglich  der 
Kündigungsfrist  gelten  soll;  desgleichen  kommt  es  häufig  zum  Streite,  weil 
eine  beabsichtigte  Entlassung  oder  Kündigung  in  einer  allen  Auslegungen 
zugänglichen  Fassung  ausgedrflckt  wird.*3) 

Diese  Erziehung  zum  Verständnis  der  beiderseitigen  Rechte  und  Pflichten 
und  zu  einem  dementsprechenden  Verhalten  ist  natürlich  keine  schmerzlose, 
denn  sie  muß  vom  Uelehrten  in  der  Regel  mit  der  Sachfälligkeit  bezahlt 
werden.  Sie  ist  auch  nicht  in  wenigen  Jahren  vollendet,  da  es  an  der  er- 
forderlichen Belehrung  der  Gewerbetreibenden  fehlt.*4) 

Das  mißliche  Übergangsstadium  ist  somit  noch  nicht  überwunden. 

Die  Gewerbegerichte  haben  aber  auch  deshalb  mit  großen  Schwierig- 
keiten zu  kämpfen,  weil  offenbar  unter  dem  Mangel  einer  zivilgerichtlichen 
Judikatur  das  gewerbliche  Lohnrecht  bisher  ziemlich  primitiv  und  wenig 
ausgehildet  ist.  Schon  das  halbe  Tausend  veröffentlichter  Entscheidungen 
der  Gewerbegerichte  weist  eine  reiche  Kasuistik  von  Fällen  auf,  für  deren 
Entscheidung  man  in  der  Gewerbeordnung  nur  wenig  Anhaltspunkte  fand, 
die  man  unter  Heranziehung  von  Grundsätzen  des  bürgerlichen  Rechtes  und 
unter  Bedachtnahme  auf  die  natürlichen  Rechtsgrundsätze  zu  entscheiden 
genötigt  war.  Daß  unter  solchen  Umständen  nicht  alle  Entscheidungen 
übereinstimmen  und  nicht  joden  überzeugen  können,  ist  begreiflich.  Über 
ganz  naheliegende  Fragen  gibt  das  Gesetz  keine  Auskunft,  zu  ihrer  Lösung 
nicht  einmal  genügende  Anhaltspunkte.  So  Ober  die  Frage,  ob  im  Falle 
der  Krankheit  sofort  gekündigt  werden  kann,  ob  es  genügt,  das  Arbeitsbuch 
eines  entlassenen  Arbeiters  bei  der  Gewerbebehörde  oder  bei  der  Polizei  zu 
hinterlegen,  ob  die  Folgen  des  Kontraktbruches  zeitlich  unbegrenzt  sind, 
ob  cs  zulässig  ist,  ein  Aushilfe-  oder  Probedienstverhältnis  mit  zeitlich 
unbegrenzter  Dauer  zu  begründen,  welchen  Einfluß  die  unverschuldete 
Arbeitsunfähigkeit  auf  den  Lohnanspruch  hat,  ob  ein  Zeugnis  auszustellen 
ist.  auch  wenn  es  ungünstig  lauten  müßte,  u.  a.  m. 

*3)  Ein  Blick  in  das  Inhaltsverzeichnis  zu  der  vom  Justizministerium  herausgegebenen 
Sammlung  geworbegcrichtlicher  Entscheidungen  zeigt  eine  Fülle  solcher  Erklärungen, 
z.  B.:  .Wenn  es  Ihnen  hier  nicht  gefällt,  so  können  Sie  sich  einen  andern  Dienst 

suchen'*,  .wenn  Ihnen  die  Arbeit  nicht  pnlit.  können  Sie  gehen*,  .jetzt  sind  wir  schon 
fertig-,  .gehen  Sie  nach  Hans  und  schlafen  Sic  sich  aus-,  .Sie  können  auch  gehen-, 
.gehen  Sie  hin,  wohin  Sie  wollen-,  .kommen  Sie  mir  heute  nicht  mehr  unter  die  Augen" 
.wenn  Sie  nicht  arbeiten  wollen,  können  Sie  gehen“  u.  a.  m. 

24 ) Wenn  es  die  Genossenschaften  unternehmen  worden,  iltre  Mitglieder  Ober  die 
wichtigsten  Fragen  des  gewerblichen  Lohnrecbtcs  ebenso  zu  unterrichten,  wie  dies  die 
Arbeiterorganisationen  besorgen,  so  würde  dies  den  Arbeitgebern  sehr  nutzen  und  die 
aufgewendete  Mühe  gewiß  lohnen. 


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Die  Gewerbegerichte  in  Österreich. 


575 


Trotzdem  muß  ein  unbefangener  Beurteiler  den  Gewerbegerichten  die 
Anerkennung  geben,  daß  ihre  Judikatur  im  großen  und  ganzen  eine  über- 
einstimmende und  zutreffende  ist.,s) 

Die  Gewerbegerichte  haben  insbesondere  in  der  wichtigen  Frage,  unter 
welchen  Voraussetzungen  die  in  der  Arbeitsordnung  enthaltenen  Bestimmungen 
als  Bestandteil  des  Arbeitsvertrages  anerkannt  werden  sollen,  eine  überein- 
stimmende und  auch  den  Bedürfnissen  des  Lebens  entsprechende  sichere 
Haltung  bekundet.  Mit  der  Herausgabe  der  amtlich  publizierten  Entscheidung 
der  Gewerbegerichte  seit  4 Jahren  betraut,  kann  der  Verfasser  dieses  Artikels 
bestätigen,  daß  ihm  die  Entscheidungen  dieser  Gerichte  fast  durchwegs 
natürlich  und  überzeugend  begründet  zu  sein  scheinen  und  daß  auch  ein 
erhebliches  Schwanken  nicht  zu  bemerken  ist.  Allerdings  kommen  auch 
Entgleisungen  vor  und  Entscheidungen,  denen  man  sich  nicht  so  ohneweite rs 
anschließen  kann.  Aber  das  ist  bei  allen  übrigen  Gerichten,  auch  jenen  der 
höchsten  Instanz,  der  Fall  und  ist  übrigens  nicht  immer  ein  Beweis  dafür, 
daß  das  Urteil  nicht  richtig  gewesen  ist.  Häufig  ist  nur  die  Darstellung 
im  Urteil  ungenau  oder  sonst  mangelhaft. 

Alles  in  allem  bedeutet  die  Judikatur  der  Gewerbe 
gerichte  einen  großen  Fortschritt  in  der  rechtlichen  Behand- 
lung des  gewerblichen  Lohureehtes.  Die  Änderung  in  der  Handhabung  der 
Rechtsnormen  mußte  sich  freilich  für  die  Gewerbetreibenden  nicht  scdten 

Die  ..Industrie“  Nr.  16, 1903.  resümiert  die  Äußerungen  der  Verbandsvereine  Uber 
diesen  Punkt  in  folgendem:  „Die  Spruchpraxis  wird  in  der  überwiegenden  Anzahl  der 
eingelangten  Antworten  als  stabil  und  unter  Rücksichtnahme  auf  Präjudikate  bezeichnet 
und  dabei  hervorgehoben,  daß  die  Präjudikate  nicht  schablonenmißig  angewendet,  sondern 
die  Eigentümlichkeit  des  speziellen  Kalles  gewahrt  wird.* 

Die  Vorwürfe,  die  in  dieser  Richtung  im  Artikel  „Gewerbegerichte*  in  Nr.  96  des 
„Fremdenblatt“  vom  Jahre  1903  enthalten  waren,  sind  unbegründet  und  beruhen  auf 
einem  Mißverständnis  über  das  Wesen  und  die  Tragweite  des  gerichtlichen  Urteilee.  Der 
Verfasser  des  Aitikels  verlangt,  daß  die  gerichtlichen  Urteile  für  die  Beteiligten  ein 
festes  und  unabänderliches  Regulativ  gewähren  sollen,  übersieht  aber,  daß  das  ganz 
unmöglich  ist.  wenn  das  Gesetz  Belbst  für  die  individuelle  Beurteilung  einen  weiten 
Spielraum  läßt.  Darüber,  was  z.  B.  grobe  Ehrenbeleidigung  ist,  läßt  sich  nicht  ein  für 
alle  Fälle  gültiges  Normale  aufstellen.  Das  hängt  vom  Bildungsgrade  der  Beteiligten, 
von  dem  in  diesen  Kreisen  Gebräuchlichen  oder  doch  Geduldeten,  vom  Grade  der  Ver- 
traulichkeit, der  zwischen  Ihnen  besteht,  ab.  Wenn  man  beachtet,  wie  wenig  tragisch 
in  gewissen  Schichten  die  bekannte  Aufforderung  Götzen*  an  den  Feldhauptmann 
genommen  wird,  so  kann  man  sich  auch  darüber  nicht  wundern,  daß  das  Gewerbegericht 
Wien  anfänglich  geschwankt  hat,  ob  es  diesen  Zuruf  wirklich  als  grobe  Ehrenbeleidigung 
und  nicht  bloß  als  einen  gedankenlos  hingeschleuderten  rohen  Ausdruck  des  Unwillens 
aufzufassen  habe.  Wie  können  ferner  die  Entscheidungen  der  Gewerbegerichte  darüber 
was  beharrliche  Pflichtverletzung  ist.  in  einem  kurzem  Rechtssatz  derart  wiedergegeben 
werden,  daß  dieser  auch  immer  dem  wirklichen  Sachverhalte  entspricht?  Die  Entscheidung 
hängt  da  von  hundertfältig  verschiedenen  Umständen  ab,  die  auf  das  Urteil  Einfluß  nehmen, 
aber  nicht  einmal  in  der  Begründung  des  Urteils  immer  ihren  Ausdruck  finden.  Wer  über 
ein  gerichtliches  Urteil,  ohne  den  Tatbestand  des  einzelnen  Falles  zu  studieren,  bloß  nach 
der  Überschrift  der  veröffentlichten  Entscheidung  urteilt,  verfährt  ebenso  unkritisch  und 
ungriindlich  wie  jener,  der  glaubt,  über  die  Angemessenheit  einer  vom  Gerichte  verhängten 
.Strafe  absprechen  zu  können,  ohne  bei  der  Verhandlung  anwesend  gewesen  zu  sein. 


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Schauer. 


576 


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Die  Gewerbegerichte  in  Österreich. 


577 


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Aktiviert 
1.  Juli  1H38 


Aktiviert 
1.  Oktober  1'. MAI 




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578 


Schauer. 


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2 

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28 

9 12117  2075  4323  3579  1563 

499  1310 

— 

1 

— 

61 

150 

8 

25 

2 

56 

2 

17 

5 

2070  3886  6647 

4*73  2374  1025 

2554 

i 

1 

2 

7 

72 

34 

41 

1 

37 

22577 

5013  9650  7142 ,2*61  14*0  8250 

_ 

— 

1 

131 

6 

77 

50 

180 

3 

33 

28268 

5173  9611 

7035  2634  1456 

3350 

1 

143 

7 

" 

-bl 

40 

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Schauer. 


580 

in  für  sie  unerwünschter  Richtung  fühlbar  machen.  Denn  durch  die 
Gerichte  werden  nun  auch  jene  Bestimmungen  der  Gewerbeordnung  durch- 
ge führt  und  angewendet,  die  früher  nicht  in  diesem  Maße  praktisches  Recht 
waren.  Die  Tragweite  mancher  Bestimmung  der  Gewerbeordnung  kommt 
jetzt  erst  den  Beteiligten,  und  zwar  zumeist  den  Arbeitgebern,  zum  vollen 
Bewußtsein.  Der  prompte  Rechtsschutz,  den  die  Gerichte  gewähren,  führt 
bei  vorzeitiger  Entlassung,  bei  Aussetzenlassen  mit  der  Arbeit,  bei  unbe- 
rechtigten Lohnabzügen  u.  ä.  unvermeidlich  zur  tatsächlichen  Ersatzleistung, 
während  früher  der  Anspruch  zwar  auch  bestand,  aber  nicht  geltend 
gemacht  wurde.  Die  gesetzliche  Kündigungsfrist  (§  77  Gewerbeordnung) 
besteht  seit  langer  Zeit.  Die  Arbeitnehmer  sahen  aber  früher  darin 
nur  ein  Hindernis  für  ihre  Freizügigkeit  und  für  die  beliebige  Einstellung 
der  Arbeit.  Die  Arbeitgeber  waren  dagegen  mit  der  Kündigungsfrist  nicht 
unzufrieden,  da  sich  für  sie  daraus  eigentlich  nur  Vorteile  ergaben. 
Die  Arbeitgeber  wurden  nur  selten  auf  KOndigungsentsehädigung  belangt, 
konnten  aber  doch,  wenn  sie  die  damit  verbundenen  Wege  und  Kosten  nicht 
scheuten,  im  Falte  des  Koutraktbruches  des  Arbeiters  gegen  diesen  Strafe 
und  Exekution  zur  Rückkehr  in  die  Arbeit  erwirken.  Nun  auf  einmal  das 
dringende  Verlangen  der  Arbeitgeber  nach  Beseitigung  der  Kündigungsfrist 
und  anderseits  das  warme  Eintreten  der  Arbeiterschaft  für  diese  Bestim- 
mung! Diese  Änderung  in  der  Auffassung  erklärt  sich  zwanglos  dadurch, 
daß  nun  das  Gesetz  nach  beiden  Seiten  gehandhabt  wird  und  daß  dessen 
Vor-  und  Nachteile  zu  Tage  treten.  Daß  die  Arbeitgeber  ihre  Interessen 
zu  wahren  suchen  und  für  eine  Änderung  dieser  Bestimmung  eintreten. 
kann  ihnen  sicherlich  nicht  znm  Vorwurf  gemacht  werden,  es  wäre  aber 
ungerechtfertigt,  wenn  sich  ihr  Unwille  gegen  die  Gerichte  kehren  würde, 
die  nichts  anderes  als  ihre  Pflicht  tun,  indem  sie  das  Gesetz  anwenden. 

Wenn  man  den  Gewerhegerichten  Zeit  läßt,  sich  einzuleben,  wenn  man  sie 
als  eine  Justizeinrichtung,  frei  von  dem  Einflüsse  politischer  Partei-  und  sozialer 
Klasseuintcressen,  sich  betätigen  und  entwickeln  läßt,  so  werden  Arbeitgeber  und 
Arbeitnehmer  die  Vorteile  der  Gewerbegerichte  immer  mehr  und  mehr  würdigen. 

Zu  dieser  Hoffnung  berechtigen  die  Erfahrungen  im  Deutschen  Reiche. 
Die  .Kreuzzeitung“  Nr.  48,  11)03,  gewiß  kein  Organ,  das  sozialdemokratische 
Tendenzen  vertritt,  faßt  ihr  Urteil  über  die  Gerichte  in  folgendem  zusammen: 
.Die  Zeiten  haben  sich  auch  hier  geändert.  Die  Vorsitzenden  der  Gewerbe- 
gerichte haben  sich  als  stark  genug  erwiesen,  um  unzulässigen  Übergriffen 
pflichtwidriger  Beisitzer  erfolgreich  entgegenzutreten.  Das  politische  Moment, 
das  der  Wahl  zu  Grunde  lag,  trat  bei  Ausübung  ihrer  Funktionen  als  Richter 
immer  mehr  und  mehr  zurück,  und  heute  trefl'en  die  Entscheidungen  der 
Gewerbegerichte  ebensogut  das  Richtige,  sind  ebensogut  begründet  und 
rechtlich  haltbar,  wie  diejenigen  der  ebenfalls  aus  Vertretern  der  Arbeitgeber 
und  Arbeiter  zusammengesetzten  Schiedsgerichte  für  Arbeiterversicherung, 
wie  die  der  ordentlichen  Gerichte.“  Die  .Kreuzzeitung“  anerkennt  die 
unbestrittenen  Vorzüge  des  gewerbegerichtlichen  Verfahrens  „schnell,  billig 
und  b c q u e m“. 


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ABSTUFUNG  DER  GEBÄUDESTEUER  NACH 
DEM  MASS  DER  VERBAUUNG  DER  GRUNDFLÄCHE.1) 


RIN  VORSCHLAG  ZIJK  ABÄNDERUNG  DER  GEBÄUDESTEUERN  BEHUFS 
FÖRDERUNG  DER  ASSANIERUNG  MIT  BESONDERER  BERÜCKSICHTIGUNG  DER 
ÖSTERREICHISCHEN  HAUSZINSSTEUER  UND  FÜNFPROZENTIGEN  STEUER. 

VON 

D«  RAOUL  BRAUN  von  FERN  WALD. 


Vordem  wa  rn  die  Straßen  der  Städte  meist  eng  nnd  winkelig,  die  Kana- 
lisation und  andere  hygienische  Vorkehrungen  waren  sehr  ungenügend  oder 

fehlten  ganz,  wie  überhaupt  die  öffentliche  Gesundheitspflege  sehr  im  argen  lag. 
Gegenwärtig  werden  gemäfl  den  Anforderungen  der  Wissenschaften  von  den 

öffentlichen  Gewalten  grolle  Anstrengungen  und  Aufwendungen  zu  Gunsten  der 
Assanierung  gemacht:  die  Straften  verbreitert,  öffentliche  Gärten  angelegt,  für 
zweckmällige  Kanalisation  und  die  Zufuhr  gesunden  Trinkwassers  gesorgt,  so  dafl 
es  gelungen  ist,  vielen  früher  verheerenden  Krankheiten  einen  großen  Teil  ihrer 
Furchtbarkeit  zu  nehmen  und  sie  auf  einige  verhältnismäflig  seltene  Fälle  zu 
beschränken.  Leider  fehlt  aber  such  die  Kehrseite  nicht;  besonders  wird  oft  der 
Erfolg  der  Bemühungen  der  Allgemeinheit  durch  die  rücksichtslose  Geltendmachung 
des  Privatinteresses  schwur  beeinträchtigt.  Früher  hatten  die  Häuser  selten  eine 
gröflere  Höhe,  so  dafl  auf  dor  gleichen  Grundfläche  weniger  W'ohnraum  und 

daher  auch  nur  Platz  für  eine  geringere  Anzahl  Menschen  war.  Wo  nicht 

besondere  Verhältnisse,  wie  Raummangel  infolge  einengender  Festnngsinauern, 
obwalteten,  waren  bei  den  Häusern  in  der  Kegel  geräumige  Höfe,  die  oft  mit 
ein  paar  Bäumen  bepflanzt  waren,  welche  mit  ihrem  Grün  das  Auge  erfrischten 
und  auch  ein  wenig  zur  Verbesserung  der  Luft  beitrugen.  Auch  darf  man  nicht 
vergessen,  dafl  früher  der  Umfang  der  heutigen  Großstädte  unendlich  geringer 
war  und  eine  geringe  Luftströmung  genügte,  utn  allen  Teilen  des  Ortes  frische 
unverdorbene  Luft  zuzuführen,  während  jetzt  ganze  Stadtteile  nur  Luft  bekommen 
können,  die  bereits  über  weit«,  diclttbewohnte  Gebiete  hingestrichen  und  dadurch 
verunreinigt  und  verdorben  worden  ist,  wie  ja  überhaupt  die  Luft  durch  den 
stärkeren  Verbrauch  von  Brennmaterial  und  durch  die  anderen  Emanationen  der 
Industrie  mit  Unreinigkeiten  und  schädlichen  Gasen  erfüllt  wird  und  der  uner- 
meßlich gesteigerte  Verkehr  immer  neue  Staubuiassen  aufwirbelt  Das  Gemeinwesen 
hat  da  im  Kampfe  um  die  Wahrung  der  Gesundheit  seiner  Bewohner  oinen 

*)  Da  dieser  Artikel  sich  schon  seit  März  bei  der  Redaktion  befand,  konnte  die 
spätere  Literatur  nicht  mehr  verwertet  werden 

Zeitschrift  für  Vollem  Irocbift,  SosialpolUlk  und  Verwaltung.  XII.  UauJ.  40 


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582 


Mraun  von  Fernwahl. 


schworen  Stand.  Mau  muß  daher  von  den  Privaten  verlangen,  daß  sie  es  in 
dieser  Bedrängnis  nach  Kräften  unterstützen.  Leider  wird  aber  nur  zu  oft  aus 
Selbstsucht  oder  Unverstand  gegen  diese  Pflicht  gefehlt. 

Der  ungemein  gesteigerte  Wert  der  Bodenfläche  in  den  günstig  gelegenen 
Stadtteilen  drängt  dazu  ihn  auszunützen,  soweit  es  irgend  rechtlich  und  technisch 
möglich  ist.  Die  Häuser  werden  bis  zur  größten,  gestatteten  Hölle  gebaut  und 
der  Hofraum  auf  ein  Minimum  beschränkt.  Was  die  Allgemeinheit  durch  Straßen- 
verbreiterung und  Gartenanlagen  mühsam  an  freiem  Luftraum  errungen  hat. 
geht  wieder  durch  die  stete  Verkleinerung  der  Hofränme  und  Hausgärten  verloren. 
Auch  wird  durch  eine  so  rücksichtslose  Verbauung  der  Peripherie  der  zentrale 
Teil  der  Städte  immer  ungesunder,  da  ihm  die  Zufuhr  von  frischer  Luft  ganz 
abgeschnitten  wird.  Ebenso  nachteilig  sind  die  engen  Höfe  für  die  einzelnen 
Häuser  und  ihre  Bewohner.  Abgesehen  davon,  daß  die  Lichtliöfo  bei  Feuers- 
brünsten  oft  wie  Schlote  wirken  und  die  rasche  Ausbreitung  und  da»  Umsich- 
greifen der  Flammen  begünstigen,  verkümmern  siu  ihren  Bewohnern  Luft  und 
Licht.  Infolgo  ihrer  Enge  ist  die  Luft  in  ihnen  wenig  bewegt  und  stagnierend, 
nur  ein  besonders  kräftiger  Windstoß  vermag  aus  ihnen  die  verbrauchte,  ver- 
unreinigte Luft  und  die  angesammelten  Miasmen  zu  vertreiben  und  sie  mit  frischer, 
sanerstoffreicher  Luft  zu  füllen.  Die  Sonnenstrahlen,  deren  heilsamo  Wirkung 
immer  mehr  geschätzt  wird,  können  nnr  im  Sommer  während  weniger  Tagesstunden 
eindringen,  im  Winter  aber  sind  die  unteren  Stockwerke  in  ewiges  Dunkel  getaucht. 

Glücklich,  wem  es  seine  Mittel  erlauben  eine  Wohnung  zn  haben,  von  der 
wenigstens  einige  Fenster  auf  die  Straße  gehen  und  der  frischen  Luft  Einlaß 
gewähren.  Wer  aber  verdammt  ist,  seine  Tage  in  einer  Hofwohnung  hinznhringen. 
deren  Fenster  auf  einen  engen  Lichthof  hinausgehen,  der  bleibt  der  frischen 
Luft  und  des  hellen  Tageslichtes  beraubt.  Besonders  bedenklich  sind  daher  die 
engen  Höfe  dann,  wenn  hinter  dem  Vorderhausc  noch  ein  Hinterhaus  eingebaut 
ist,  dessen  sämtliche  Fenster  sich  auf  solche  enge  Höfe  öffnen,  da  dann  dieses 
ganze  Gebäude  unter  den  erwähnten  i'belständen  leidet  und  eine  gründliche 
Ventilation  vollkommen  ausgeschlossen  ist. 

Xiomaud  wird  leugnen,  dal)  angesichts  der  lebhaften  Bautätigkeit  eine 
Abhilfe  gegen  eine  solche  übermäßige  Ausnützung  des  Baugrundes  unbedingt  und 
dringend  not  tut.  Es  fragt  sich,  welche  Mitte]  am  raschesten  und  besten  zur 
Erreichung  dieses  Zieles  führen.  Zunächst  kommt  natürlich  eine  entsprechende 
Verschärfung  und  strengere  Handhabung  der  Bauordnungen  in  Betracht,  wodurch 
wenigstens  bei  den  Neubauten  diesen  sanitären  Forderungen  liechnung  getragen 
werden  könnt«.1)  Die  schon  bestehenden  Bauten  würden  dadurch  natürlich  nicht 

*)  Die  Wichtigkeit  der  Berücksichtigung  der  Forderungen  der  Hygiene  bei 
Erlassung  neuer  Bauordnungen  hat  die  volle  Würdigung  des  österreichischen  k.  k.  Obersten 
Sanitätsrates  gefunden  und  war  bei  ihm  Gegenstand  eingehender  Beratungen.  Bereits 
im  Jahre  1893  wurden  in  einem  Bericht  seiner  Mitglieder  Franz  Bitter  von  Gruber 
und  Dr.  Max  Gruber  genaue  „Anhaltspunkte  für  die  Verfassung  neuer  Bauordnungen 
in  allen  die  Gesundheitspflege  betreffenden  Beziehungen“  (Wissenschaftliche  Abhandlungen 
aus  dem  k.  k.  Obersten  Sanitätsrate  II)  ausgearbeitef.  In  diesem  Berichte  ist  auf  die 
genügende  Erhellung  und  direkte  Liiftbarbeit  der  Innenräume  der  Gebäude  großes 
Gewicht  gelegt.  Für  die  Erhellung  ist  darin  in  der  Weise  Sorge  getragen,  daß  die 


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Abstufung  der  Gebfiudesteuer  nach  dein  Maß  der  Verbauung  der  Grundfläche.  588 


berührt.  Auch  dürfte  es  selbst  bei  der  besten  Formulierung  der  diesbezüglichen 
Vorschriften  nicht  za  vermeiden  sein,  daß  in  vielen  einzelnen  Fällen  Meinungs- 
verschiedenheiten und  Streitigkeiten  über  die  Zulässigkeit  einer  Hauführung  ent- 
stehen. deren  Erledigung  wieder  einen  großen  Verwaltungs*  und  Judikatnrapparat 
beansprucht 

Es  wäre  demnach  auf  ein  Mittel  zu  sinnen,  welches  die  Bauordnung 
ergänzt  und  die  Verbauung  möglichst  automatisch  regelt  und  dadurch  die  Häufig- 
keit der  Beschwerden  und  Rekurse  vermindert. 

Bedenkt  inan,  welchen  weitgehenden  Einfluß  gewisse  Rcalstenern  auf  die 
Bauweise  geübt  haben,  wie  die  Fenstersteuer1)  es  bewirkte,  daß  mit  den  Licht- 
öffnnngen  in  einer  Weise  gespart  wurde,  die  der  Gesundheit  der  Bewohner 
schädlich  war.  wie  anderseits  eine  Besteuerung  nach  der  Zahl  der  Wohnräume 
eine  Bauart  veranlaßt,  bei  der  ohne  Rücksicht  auf  die  Zweckmäßigkeit  nur  möglichst 
wenige  Räume  hergestellt  werden,  wo  man  dann  deren  geringe  Zahl  durch  ihre  Größe 
ersetzen  muß,  so  liegt  der  Gedanke  nahe,  im  Kampfe  gegen  dio 
übermäßige  Verbauung  der  Bauplätze  die  Gebäudestener 
zu  Hilfe  zu  nehmen  und  durch  ihre  entsprechende  Organisierung  d i e 
Wirkung  der  Bauordnungen  zu  unterstützen.  Diesen  heil- 
samen Einfluß  der  Besteuerung  könnte  man  erzielen,  wenn 
man  die  Gebäude,  bei  denen  zu  wenig  unverbauter  Raum 
übrig  gelassen  ist,  mit  einer  höheren  Steuer  belegt.  Es  würde 
dann  der  durch  die  stärkere  Vorbanung  erzielte  Vorteil  durch  den  Nachteil  auf- 
gewogen  werden,  eine  größere  Steuerquote  zahlen  zu  müssen.  Wenn  nun  der 
Bauführer  dort,  wo  die  Fenstersteuer  besteht,  um  möglichst  wenig  Steuer  zu 
zahlen,  entgegen  den  Wünschen  seiner  Mieter  die  Zahl  der  Fenster  auf  das 
Mindestmaß  herabsetzt.  so  ist  anzunehmen,  daß  er  auch,  wenn  er  für  die  über- 
mäßige Verbauung  mehr  Steuer  zahlen  umß,  darauf  verzichtet,  seinen  Baugrund 
bis  aufs  äußerste  auszunützen  und  den  Parteien  luftige  und  gut  erleuchtete 
Wohnräume  schafft  und  so  ihren  Bedürfnissen  entgegenkotnmt.  Natürlich  würde  die 
Steuererhebung  nur  dann  wirksam  sein,  wenn  sie  den  Gewinn  aus  der  stärkeren 
Verbauung  aufhebt.  Da  die  Belastung  des  Hausbesitzes  in  der  Regel  und  speziell 
in  Österreich  sehr  hoch  ist.  so  kann  an  eine  weitere  Steuererhöhung  nicht  gut 
gedacht  werden.  Man  wird  daher  die  Abstufung  durch  Gewährung  von  Steuer- 
nachlässen für  die  Gebäude  mit  genügend  großen  Höfen  durch- 
führen müssen.  Es  soll  später  auf  diese  Frage  zurückgekommen  und  ihre  Lösung 
versucht  werden,  vorläufig  sei  der  Einfachheit  halber  davou  abgesehen  und  der 
Fall  einer  Steuererhöhung  erörtert.  Es  ist  zunächst  festzustellen,  wo  inan  mit 
Auflegung  der  Zuschläge  zu  beginnen  hat,  welches  Minimalmaß  von  unverbauter 
Fläche  die  Freiheit  von  den  Zuschlägen  begründen  soll.  Diese  Frage  kann  aber 
erst  nach  genauen,  eingehenden  Untersuchungen  und  Erwägungen  entschieden 

Festsetzung  bestimmter  Verhältnisse  der  Abstände  des  Hauses  von  den  umgebenden 
Gebäuden  zu  deren  Höhe  verlangt  wird,  wodurch  für  jedes  Fenster  eine  entsprechende 
Erhellung  gesichert  werden  kann. 

•)  Vgl.  P.  I.eroy- Beaulieu,  Tratte  de  la  seiend*  des  finances,  5.  Auflage.  I.  Band, 
S.  364,  und  Adolf  Wagner,  Fiuanzwissensrhaft,  III.  S.  2f>6  und  464. 

40* 


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584 


Braun  von  Fernwahl. 


worden.  Beispielsweise  sei  hier  angenommen,  dalt  die  Befreiung  von  diesen  Steuer- 
zuschlägen dann  gegeben  sei,  wenn  die  unverbaute  Fläche:  Hofranm,  Hausgarten, 
Vorgarten  u.  s.  w.  wenigstens  die  Hälfte  des  gesamten  Bauplatzes  ausmacht. 
Weitere  Steuerbegünstigungen  für  Gärten  und  Höfe  zu  gewähren,  welche  dem 
verbauten  Grund  nicht  nur  gleiclikommeu.  sondern  greller  sind,  würde  sich 
vielleicht  weniger  empfehlen,  da  das  eine  gewisse  Bevorzugung  der  Reichen 
wäre,  obwohl  der  Wert  großer  Privatgärten  für  die  Allgemeinheit  nicht  unter- 
schätzt werden  soll.  Auch  muH  mau  es  vermeiden,  in  Fisttalismus  zu  verfallen, 
indem  man  ein  zu  hohes  Minimalmall  voll  unverbauter  Fläche  annimmt. 

Die  Hohe  des  Zuschlages  muß  so  bestimmt  werden.  daH  er  den  durch 
weitergehende  Verbauung  erzielten  Gewinn  ganz  oder  zum  größten  Teil  aufhebt: 
natürlich  kann  man  da  nicht  jedem  einzelnen  Fall  gerecht  werden,  sondom  muH 
eine  allgemeine  Schätzung  zur  Grundlage  wählen.  Beispielsweise  kann  man  einen 
Maximalzuschlag  von  10  Proz.  des  bisherigen  Steuerbetrages  annehmen.  Dieser 
wäre  von  Häusern  ohne  allen  unverbautem  Grund  zu  entrichten.  Ks  wäre  aber 
unbillig,  jede  noch  so  geringe  Überschreitung  der  zulässigen  Normalverbauung 
mit  dem  gleich  hohen  Strafzuschlag  zu  belegen,  es  dürften  daher  die  Zuschläge 
nach  dem  Mafle  der  Mehrverbauung  abzustnfen  sein.  z.  B.  in  der  Weise:  Für  die 
Verbauung  von  50 — 55  Proz.  des  Baugrundes  1 1‘ruz.  Zuschlag,  für  55 — 00  Proz. 
2 Proz.  Zuschlag,  für  60 — 65  3,  für  65 — 70  4.  für  70 — 75  5,  für  75  — 80  6. 
für  80  — 85  7.  für  85 — 90  8,  für  90 — 95  9,  endlich  hei  einer  Verbauung  von 
über  95  Proz.  der  Fläche  der  volle  Zuschlag  von  10  Proz.  Diese  Ziffern 
machen  natürlich  keinen  Anspruch,  den  tatsächlichen  Verhältnissen  und  Erforder- 
nissen zu  entsprechen,  sondern  sollen  nur  den  Gedanken  veranschaulichen. 

Wie  früher  erwähnt,  wird  eine  derartige  Strnrrerhiihnng  nur  dann  eine 
stärkere  Verbauung  hindern,  wenn  dadurch  der  durch  die  grellere  Ausnutzung 
der  Baufläche  entstandene  Gewinn  dem  Hausbesitzer  entzogen  wird,  l'm  dieses 
Ziel  zu  erreichen,  müßte  man  feststellen  können,  wie  groll  dieser  Gewinn  etwa 
per  Quadratmeter  der  verbauten  Fläche  ist.  Dies  wäre  aber  äußerst  schwierig 
und  müßte  für  jedes  einzelne  Haus  besonders  ermittelt  werden.  Es  kommen  da 
nämlich  sehr  viele  Momente  in  Betracht.  Bei  einem  Hanse,  das  an  einer  Haupt- 
verkehrsader, in  einem  geschäftlich  oder  gesellschaftlich  bevorzugten  Viertel 
liegt,  wird  sich  das  Publikum  mit  einer  Bauart  zufrieden  gehen,  die  in  einer 
andern  Gegend  nicht  rentabel  wäre.  Auch  hängt  es  sehr  davon  ab.  ob  das 
Haus  Geschäftszwecken  oder  zu  Wohiiräumen  oder  zu  beiden  dienen  soll,  und 
bei  Wohtlbäusom  macht  es  einen  großen  Unterschied,  ob  sic  für  die  bemittelte 
Klasse,  die  sich  Annehmlichkeiten  gönnen  kann,  oder  für  arme  Leute,  die  froh  sein 
müssen,  wenn  sie  ein  Obdach  bezahlen  können,  berechnet  sind.  Auch  die  Nationalität 
und  Herkunft  der  Mieter  fällt  ins  Gewicht,  da  die  Ansprüche  und  Gewohnheiten  bei 
den  einzelnen  sehr  verschieden  sind.  Natürlich  sind  für  die  Annehmlichkeit 
einer  Wohnung  noch  sehr  viele  andere  Umstände  maßgebend  als  dio  Größe  der 
Höfe,  die  es  bewirken  können,  daß  selbst  eine  übergroße  Verbauung  noch  Gewinn 
bringt.  Fenier  ist  die  Höhe  des  Hauses  von  Bedeutung.  Ein  Hof,  der  hinlänglich 
groß  für  ebenerdige  Gebäude  wäre,  erweist  sich  als  ganz  ungenügend,  wenn  ihn 
vierstöckige  Zinskasernen  umgeben.  In  der  Regel  ist  hei  einem  Hans  die  Ver- 


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Abstufung  der  Gebäudesteucr  nach  dom  Maß  der  Verbauung  der  Grundfläche.  5H5 


bauuug  des  Grundes  nur  bis  zu  einer  bestimmten  kritischen  Grenze  gewinn- 
bringend. die  von  den  oben  angedenteten  Umständen  abhängt.  Wird  diese  Grenze 
überschritten,  so  tritt  nicht  mehr  eine  Steigerung,  sondern  eine  Minderung  des 
Erträgnisses  ein.  Freilich  gibt  es  Ausuahmsfulle,  z.  13.  daß  ein  Haus  so  zwischen 
zwei  oder  mehreren  Straßen  gelegen  ist,  daß  ein  Uofrauui  überhaupt  entbehrlich 
ist.  Da  kann  freilich  die  ganze  Fläche  vorteilhaft  ausgenutzt  werden. 

Kine  Ermittlung  der  Steigerung  des  Erträgnisses  durch  eine  stärkere  Ver- 
bauung stößt  also  auf  große  Hindernisse  und  würde  unverhältnismäßige  Mühe 
und  Kosten  verursachen.  Es  dürfte  jedoch  genügen,  wenn  der  Unterschied  in 
der  Besteuerung  einen  beträchtlichen  Teil  der  Steuersumme,  die  im  ganzen  auf 
das  Haus  entfällt,  ausmacht.  Hei  einem  Neubau  wird  dann  der  umsichtige  Hau- 
führer zu  berechnen  trachten,  inwieweit  ein  durch  eine  stärkere  Verbauung  erzielter 
Gewinn  ihm  selbst  verbleiben  und  wie  viel  davon  durch  die  Steuererhebung 
absorbiert  würde,  und  wird  danach  den  Hauplan  einrichten.  Natürlich  wird  er, 
wenn  es  in  seinem  Interesse  ist,  trotz  der  höheren  Steuer  stark  verbauen.  Es 
ist  dann  der  Zweck  dieser  Abänderung  der  Gebäudesteuer  nicht  erreicht,  doch 
betrifft  dies  nur  einen  Teil  der  Gebäude,  und  zwar  einen  um  so  kleineren,  je 
größer  der  Unterschied  in  der  Besteuerung  ist,  so  daß  man  es  in  der  Hand 
hat,  die  Zahl  solcher  Gebäude  mit  übergroßer  Verbauung  durch  entsprechende 
Differenzierung  der  Steuersätze  nach  Bedarf  zu  verringern.  Anderseits  wird  durch 
eine  solche  Art  der  Besteuerung  selbsttätig  eine  Anpassung  an  die  Lokalver- 
hältnisse bewirkt.  In  den  Zentren  des  Geschäftslebons  und  des  Verkehres  wird 
die  Hautlächc  so  stark  verbaut  werden  als  es  irgend  zulässig,  da  jeder  Fußbreit 
Hoden  äußerst  wertvoll  ist  und  für  Geschäftsräume,  die  in  der  Regel  nur  während 
einiger  Stauden  benützt  werden,  Licht  und  Luft  nicht  die  gleiche  Wichtigkeit 
haben  wie  für  Wohnräuine.  Dagegen  wird  es  sich  in  den  Gegenden,  wo  der 
Grund  weniger  Wert  hat,  nicht  rentieren,  die  Verbauung  zu  weit  zu  treiben  und 
es  werden  Hofräume  entstehen,  die  den  sanitären  Anforderungen  an  ihre  Größe 
entsprechen.  Damit  eine  solche  annähernd  richtige  Vorausberechnung  des  Erträg- 
nisses mit  Rücksicht  auf  die  größere  oder  geringere  Verbauung  möglich  sei, 
ist  es  natürlich  notwendig,  daß  die  Summe  der  ganzen  auf  das  Haus  entfallenden 
Steuer  möglichst  konstant  ist  und  nicht  von  Jahr  zu  Jahr  Schwankungen  unterliegt. 

Wenn  alle  Häuser  einer  derart  nach  der  Verbauung  abgestuften  Besteuerung 
unterworfen  werden,  so  bildet  dies  bei  alten  Häusern,  deren  Hofräume  aus  irgend 
einem  Grunde  sohr  klein  gemacht  wurden,  einen  Ansporn  zur  Demolierung  der- 
selben und  zur  Erbauung  von  sanitären  Häusern,  indem  dadurch  eine  verhältnis- 
mäßig geringere  Besteuerung  erzielt  werden  kann. 

I)a  die  vorgeschlagene  Abänderung  der  Gobäudesteuer  nur  eiue  Seite  der 
städtischen  Sanitätspolizei,  die  Verhinderung  einer  übermäßigen  Verbaunng, 
berührt,  kann  sie  natürlich  die  hygienischen  Bestimmungen  der  Bauordnungen 
nicht  ersetzen,  sondern  diese  nur  ergänzen  und  unterstützen.  Dies  geschieht 
dadurch,  daß  sie  in  zweierlei  Hinsicht  automatisch  wirkt: 
1.  durch  Verminderung  der  Streitigkeiten  und  Rekurse  betreffend  das  zulässige 
Maß  der  Verbauung  der  Bodenfläelie  und  2.  durch  die  Anpassung  der  Bauweise  an 
die  Verkehrs-  und  Geschäftsverhältnisse  des  betreffenden  Ortsteiles. 


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Brau»  Ton  Femwald. 


:>«•! 


l)a  der  für  die  Gewährung  einer  Steuerbegünstigung  geforderte  Minimal- 
hofrauin  stet»  bedeutend  größer  festgesetzt  werden  kann  als  der  durch  die  Ban- 
ordnungen  vorgeschriebene,  so  wird  bei  allen  den  Häusern,  wo  der  Bauführer 
freiwillig  auf  eine  gegen  die  Bauordnung  verstoßende  stärkere  Verbauung  ver- 
zichtet, um  nicht  unter  einen  höheren  Steuersatz  zu  fallen,  diesbezüglich  keine 
Meinungsverschiedenheit  zwischen  Bauführer  und  Baubehörde  vorhanden  sein, 
während  sonst  in  vielen  Fällen  der  Bauführer  geglaubt  hätte,  eine  stärkere  Ver- 
bauung durchsetzen  zu  können  und  gegen  die  Kutscheidung  der  Baubehörde  den 
Rekurs  ergriffen  hätte.  Streitfälle  werden  sich  nur  dann  ereignen  können,  wenn 
der  Bauführer  auch  die  höheie  Besteuerung  nicht  scheut  und  seinen  Grund  sogar 
über  das  von  der  Bauordnung  gestattete  Maß  verbauen  will.  Ks  wird  demnach 
oine  bedeutende  Anzahl  von  Fällen,  wo  sonst  der  Kekursweg  beschritten  worden 
wäre,  von  selbst  bcigclegt  und  so  alle  Faktoren,  die  am  Reknrsverfahrcn  beteiligt 
sind,  entlastet  und  viel  au  Arbeit,  Zeit  und  Kosten  erspart,  so  daß.  wenn  auch 
nicht  im  einzelnen  Ressort,  doch  in  der  Volkswirtschaft  der  Aufwand  für  die 
Mehrarbeit,  welche  die  Einführung  der  abgestuften  Gebändesteuer  verursacht, 
dadurch  einigermaßen  aufgewogen  würde.  Außerdem  ist  nicht  zu  übersehen,  daß 
durch  diese  Besteuernngsart  der  Bauführer  veranlaßt  wird,  selbst  sich  für  eine 
den  sanitären  Anforderungen  entsprechende  Verbauung  seines  Grundes  zu  ent- 
scheiden und  so  viel  Anlaß  zu  Mißstimmung  und  Klagen  über  behördliche 
Bevormundung  und  Schikane  vermieden  wird.  Bei  dein  Spielraum,  den  die  Bau- 
ordnungen für  ausnahmsweise  Erleichterungen  im  Sinne  einer  stärkeren  Ausnützung 
des  Grundes  gewähren  müssen,  ist  es  auch  vorteilhaft,  daß  durch  die  erwähnte 
Steuerform  die  Art  der  Verbauung  von  der  größeren  oder  geringeren  Strenge  der 
einzelnen  Baubehörden  unabhängiger  gestellt  wird  und  so  eine  größere  Gleich- 
förmigkeit erzielt  wird. 

Was  die  zweite  Richtung  aulangt,  in  der  die  Rcstenernng  nach  Maßgabe 
der  Verbauung  automatisch  wirkt,  so  ist  zunächst  darauf  hinzuweisen,  daß  die 
Vorschriften  der  Bauordnungen  über  das  höchste  Maß  der  zulässigen  Verbauung 
in  der  Regel  schematisch  sind.  Gewöhnlich  ist  nur  bestimmt,  daß  mindestens  ein 
gewisser  Prozentsatz  des  Bangrundes,  z.  B.  l.r>  Proz..  unverbaut  hloiben  soll.  Bei 
kleineren  Orten  erweckt  eine  solche  gleichmäßige  Normierung  weniger  Bedonken, 
da  die  Unterachiede  der  Verhältnisse  bei  den  einzelnen  Ortschaflsteilen  meist 
nicht  so  groß  sind.  Anders  bei  einer  Großstadt.  Im  Zentrum  wird  mau  wohl 
sich  billigerweise  mit  einem  ziemlich  geringen  Minimalhofraum  begnügen  müssen, 
für  dio  Peripherie  aber  ist  eine  höhere  Anforderung  gerechtfertigt.  Mail  könnte 
nun  versuchen  dem  abzuhelfen,  indem  man  für  die  verschiedenen  Stadtteile  ver- 
schiedene prozentuelle  Ausmaße  der  Hofräumo  als  Minima  festsetzt.  Da  es  aber 
äußerst  schwierig  ist,  die  örtlichen  Verhältnisse  richtig  zu  würdigen  um!  ihnen 
entsprechend  Rechnung  zu  tragen,  so  würde  eine  solche  Ravunnierung  immer 
etwas  willkürlich  ansfallen.  Es  wird  daher  dio  Bauordnung  in  wünschenswerter 
Weise  durch  don  hier  behandelten  Vorschlag  ergänzt,  so  daß  sie  sich  mit  der 
einheitlichen  Fixierung  des  technisch  und  sanitär  zulässigen  Minimums  begnügen 
kann.  Wenn  die  Besteuerung  nach  Maßgabe  der  Verbauung  erfolgt,  wird  eine 
richtige  Regulierung  durch  die  Rücksicht  der  Bauherren  auf  ihr  eigenes  Interesse 


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Abstufung  der  Gebäudesteuer  nach  dem  il.iU  der  Verbauung  der  Grundfläche.  587 


ointreten.  Dort,  wo  es  privatwirt-scbaftlicli  und  wohl  auch  nationalftkonuluisch 
gerechtfertigt  ist,  alsn  in  den  Geschäfts-  und  Verkehrszentren,  wird  die  kostbare 
Grundfläche  im  höchsten  zulässigen  Malle  verbaut  werden,  dagegen  werden  an 
den  weniger  vorteilhaft  gelegenen  Stellen  Häuser  mit  großen,  luftigen  Höfen 
entstehen.  Gegenüber  der  Festsetzung  von  verschiedenen  Hofranmgröflen  für  die 
einzelnen  Stadtteile  hat  dies  noch  den  Vorteil,  datt  keine  starre  Abgrenzung 
in  einzelne  Gebiete  notwendig  ist.  sondern  daß  die  Hanweise  sich  den  speziellen 
Verhältnissen  anschmiegen  und  ihnen  hei  jedem  Hanse  Rechnung  tragen  kann. 
Uei  einem  an  einer  Hauptverkehrsader  gelegenen  Hans  wird  die  Fläche  möglichst 
ansgenützt  werden,  bei  dem  in  einer  stillen  Seitengasse  gelegenen  Nachbarhause 
wird  es  vielleicht  schon  nicht  mehr  vorteilhaft  sein,  so  da#  der  Banherr  es 
vorzieht,  einen  geräumigen  Hof  frei  zu  lassen.  Ändern  sich  die  Verhältnisse  im 
Laufe  der  Zeit  in  einem  bestimmten  Stadtgebiete,  so  kann  dem  bei  Bestimmung 
fixer  Ausmaße  für  die  Hofräume  nur  durch  Änderung  der  Bauordnung  Rechnung 
getragen  werden.  Ist  jedoch  die  Gebäudesteuer  nach  der  Verbauung  abgestnft, 
so  erfolgt  die  Anpassung  allmählich  von  selbst.  Entsteht  durch  Anlage  eines 
Bahnhofes  oder  Hafens  ein  neues  Verkchrszcntrnm,  so  werden  die  Hausbesitzer 
lieber  eine  höhere  Steuer  zahlen  und  ihre  Gebäude  nach  Möglichkeit  ansbauen, 
um  den  höchsten  erreichbaren  Nutzen  zn  erzielen.  Wird  dagegen  eine  Gegend 
vom  Verkehrs-  nnd  Geschäftsleben  abgeschnitten,  so  werden  die  Hausbesitzer,  um 
der  hohen  Besteuerung  zn  entgehen,  ihre  alten  Hänser.  sobald  es  deren  Bau- 
znstaud  irgend  rechtfertigt,  durch  andere  gesündere,  an  denen  nicht  so  sehr  mi 
dem  Hofrauin  gespart  ist,  zu  ersetzen  trachten  oder  doch  durch  Niederreißcn 
von  Seitentrakten  nnd  Anbauen  die  Höfe  vergrößern.  So  bewirkt  die  reformierte 
tiebündestener,  daß  die  Bauweise  nicht  nur  im  einzelnen  Falle  den  Verkehrs- 
und  Geschäfts verhnltnis>eu  vollkommen  entspricht,  sondern  auch,  daß  sie  den 
Änderungen  derselben  allmählich  folgt.  Natürlich  bleibt  es  den  Bauordnungen 
gänzlich  unbenommen,  für  gewisse  Gebiete  weitergeheudo  Anordnungen  zu  erlassen, 
z.  B.  sie  zu  Villenvierteln  zn  bestimmen. 

Es  darf  nicht  übersehen  werden,  daß  die  geschilderten  Wirkungen  nicht 
immer  eintreten  werden.  Bis  jetzt  wurde  angenommen,  daß  die  Bauführer  genug 
Umsicht  und  Gescliäftskonntnis  besitzen,  um  ziemlich  richtig  vorans  zu  berechnen, 
welche  Bauweise  unter  den  betreffenden  8tsnerverhältnissen  die  gewinnbringendste 
ist.  und  danach  Vorgehen.  Bei  den  gewerbsmäßigen  Bauunternehmern  wird  dies 
wohl  in  der  Regel  zutreffeii.  Bei  den  Rcalitätenbesitzern,  die  nur  ausnahmsweise 
in  die  Lage  kommen,  einen  Neubau  ausführen  zu  lassen,  wird  es  wohl  nicht 
immer  der  Fall  sein,  doch  dürften  viele  durch  den  Rat  nnd  das  Beispiel  anderer 
auf  den  zweckmäßigen  Weg  geleitet  werden.  Nützen  sie  eine  günstige  Lage  nicht 
vollständig  ans  und  geizen  nicht  mit  dem  Hofraum,  so  ist  das  natürlich  für  die 
Allgemeinheit  voll  Vorteil,  wenn  auch  die  Hausbesitzer  und  die  Steuerbehörde 
dadurch  etwas  geringere  Einnahmen  haben.  Verhauen  sie  ihren  Grund  aus  wirt- 
schaftlichem Unverstand  oder  Eigensinn  unvernünftig  stark,  so  müssen  sie  dafür 
büßen,  indem  daun  ihr  Haus  unter  einen  höheren  Steuersatz  fällt,  so  daß  das 
etwa  erzielte  Mehrerträgnis  und  oft  noch  mehr  durch  die  Erhöhung  des  Steuer- 
betruges anfgezehrt  wird.  Endlich  kann  es  aber  Vorkommen,  daß  ein  Baugrund 


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Braun  von  Fernwahl. 


588 


gar  nicht  besonders  günstig  gelegen  ist,  daß  sein  Besitzer  es  dennoch  vorteil- 
haft findet,  ihn  sehr  stark  zo  verbauen,  weil  er  das  Haus  zu  besonderen  Zwecken 
bestimmt  hat,  wo  ihm  eine  solche  Bauweise  trotz  der  höheren  Besteuerung  doch 
noch  einen  höheren  Gewinn  verspricht,  z.  B.  weil  er  sein  Haus  auf  Mieter 
berechnet,  die  von  anderen  Hausbesitzern  nicht  gern  aufgenommeu  werden  und 
dadurch  gezwungen  sind,  selbst  bei  geringer  Annehmlichkeit  der  Wohnung  so 
hohe  Zinse  zu  zahlen,  daß  dem  Hausbesitzer  nach  Bezahlung  der  höheren  Steuer 
ein  beträchtlicher  Mehrgewinn  bleibt.  Immerhin  ist  der  Gewinn  erzielt,  daß  ein 
bedeutender  Teil  des  Mehrertrages  der  Steuerbehörde  znfließt  und  so  der  Allge- 
meinheit zu  gute  kommt.  Ks  kann  also  Vorkommen,  daß  mitten  # unter  lauter 
geräumigen  Höfen  ein  oder  das  andere  Haus  mit  einem  engen  und  ungenügenden 
Hofe  vorkommt.  übrigens  dürfte  dies  kein  so  großer  Schade  sein,  wenn  nur 
wenigstens  die  Mehrzahl  der  Häuser  größere  und  gesündere  Hofrftnme  hat,  als 
man  durch  bloße  Anwendung  der  Bauordnung  hätte  erzielen  können.  Will  man 
jedoch  eine  vollständige  Gleichförmigkeit  in  der  Verbauung  der  Grundflächen 
in  einem  bestimmten  Stadtteil  erlangen,  so  müssen  Bauordnung  und  Baupolizei 
eingreifen. 

Nun  entsteht  die  Frage.'  ob  eine  derartige  auf  das  Maß  der  Verbauung 
begründete  verschiedene  Steuerbehandlung  auch  den  Grundsätzen  der 
Billigkeit  entspricht.  Das  ist  wohl  anzunehmen.  Es  ist  gerecht,  daß  derjenige, 
welcher  durch  große  Ausnutzung  seines  Grundbesitzes  die  Allgemeinheit  schädigt, 
höher  besteuert  wird,  so  daß  der  durch  ihn  verursachte  Schaden  dadurch  einiger- 
maßen ausgeglichen  wird.  Wenn  es  ihm  schon  erlaubt  sein  soll,  rücksichtslos 
einen  höheren  Gewinn  herauszuschlagen,  so  soll  wenigstens  die  Allgemeinheit 
daran  Teil  haben.  Wird  die  Abstufung  der  Gebäudesteucr  durch  eine  prozentuelle 
Herabsetzung  der  bisherigen  Steuer  durebgeführt.  so  wird  wohl  nichts  dagegen 
einzuwenden  sein,  daß  diese  Begünstigung  den  Besitzern  der  gesünder  gebauten 
Häuser  zugewendet  wird.  Es  ist  ja  den  anderen  Hausbesitzern  die  Möglichkeit 
geboten,  durch  entsprechende  Neu-  oder  Umbauten  derselben  Vorteile  teilhaftig 
zu  werden.  Auch  in  Bezug  auf  Neubauten  liegt  darin  keine  Härte  und  es  ist 
kein  nachteiliger  Einfluß  auf  die  Bautätigkeit  zu  besorgen.  Und  wenn  vielleicht 
jemand,  der  die  löbliche  Absicht  hatte,  ein  Massenquartier  mit  engen  Höfen  ohne 
Luft  und  Licht  zu  bauen,  es  infolgedessen  nicht  mehr  profitabel  findet  und  den 
Plan  aufgibt  und  gar  nicht  baut,  so  ist  dies  auch  gerade  kein  Unglück.  - 

Bedenklicher  ist  die  Sache,  wenn  die  Differenzierung  durch  Zuschläge  zur 
bisherigen  Gebäudesteuer  erfolgt.  Den  Besitzern  der  bestehenden  Häuser  mit 
zu  kleinen  Höfen  wird  dadurch,  daß  sie  höhere  Steuern  zahlen  müssen,  tat- 
sächlich  ein  Teil  ihrer  Einnahme»  weggenommen  und  man  kann  da  von  einer 
teilweisen  Vermögenskonfiskation*)  sprechen.  Gegenüber  einer  andern  Steuer- 
erhebung besteht  jedoch  der  Unterschied,  daß  die  Hausbesitzer  cs  durch  einen 
Neubau  oder  Umbau  erreichen  können,  daß  sie  wieder  nach  dem  alten  Steuerfuß 
behandelt  werden  und  ihnen  so  das  konfiszierte  Vermögen  wenigstens  teilweiso 
restituiert  wird.  Was  die  Neubauten  anbelangt,  so  würde  eine  partielle  Steuer- 

*)  Vgl.  das  grundlegende  Werk  von  F.  Frh.  von  Myrhach,  Die  Besteuerung  der 
Gebäude  und  Wohnungen  in  Österreich  und  deren  Reform,  S.  180. 


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Abstufung:  der  GebäucWateuer  nach  dem  Maß  der  Verbau m»g  der  Grundfläche.  .‘»8*1 


crhöhnng  wohl  die  Wirkung  haben,  daß  ein  Teil  der  Häuser,  die  sonst  mit 
kleinen  Hofen  gebaut  worden  wären,  überhaupt  nicht  gebaut  wird  und  so  die 
Bautätigkeit  etwas  verringert  wird.  Dadurch  würde  die  Nachfrage  nach  Bau- 
gründen ein  wenig  sinken  und  deren  Preis  ungünstig  beeinflußt  werden.  Anch 
würden  dadurch  die  Baugewerbe  einigermallen  in  Mitleidenschaft  gezogen  werden. 
Dem  ist  jedoch  entgegenzuhalten,  dal*  dadurch  nur  die  Erbauung  unsanitärer 
Häuser  verhindert  wird,  deren  Vorhandensein  schädlich  gewesen  wäre.  Übrigens 
hat  es  auf  die  Errichtung  von  Neubauten  dieselbe  Wirkung,  wenn  durch  eine 
Bauordnung  ein  gewisser  Minimalhofraum  vorgeschrieben  und  diese  Anordnung 
streng  durchgeführt  wird.  Daun  ist  noch  zu  berücksichtigen,  daß  die  Bau- 
gewerbe in  der  durch  den  Druck,  der  auf  die  Besitzer  nnsanitärer  Häuser  durch 
die  höhere  Steuer  ausgeübt  würde,  bewirkten  Erhöhung  der  Bautätigkeit  einigen 
Ersatz  linden  würden.  Wird  jedoch  die  Reform  gelegentlich  einer  Herabsetzung 
der  Gebäudesteuer  vorgenommen,  so  bestehen  alle  diese  Bedenken  nicht.  Endlich 
kommt  noch  in  Betracht,  daß  der  aus  der  günstigen  Lage  entspringende  Teil 
des  Ertrages  eines  Hauses,  die  sogenannte  Rente  der  Lage,  wie  schon Schaeffle1) 
bemerkt,  keine  Erhaltungskosten  verursacht,  während  allen  anderen  Einnahmen 
aus  dem  Haosbesitz  ein  gewisser  Kostenaufwand  gegen  übersteht,  der  bei  der 
Besteuerung  nur  nuvotlkommen  berücksichtigt  werden  kann.  Es  entspricht  daher 
der  Billigkeit,  wenn  solche  kostenlose  Einnahmen  höher  besteuert  werden,  wie 
es  geschieht,  wenn  der  Besitzer  wegen  der  Gunst  der  Lokalverhältnisso  seinen 
Grund  stark  verbaut  und  infolgedessen  seiu  Haus  unter  einen  höheren  Steuer- 
satz fällt. 

Wenn  eine  neue  Steuer  einge führt  oder  eine  alte  abgeändert  wird,  so 
strengen  viele  Leute  ihren  Scharfsinn  an,  um  herauszuflnden,  wie  sie  unter  den 
neugeschaffenen  Verhältnissen  am  wenigsten  .Steuer  zu  zahlen  brauchen  und  wie 
sie  cs  anstellen,  um  behufs  Erlangung  einer  günstigeren  Steuerbehandlung 
gebrachte  Opfer  wieder  hereinznbekommeu.  Dies  würde  jedenfalls  auch  bei 
Durchführung  der  vorgeschlagenen  Abänderung  der  Gebäudesteuer  ointreten. 

Insbesonders  liegt  die  Gefahr  nahe,  daß  der  Bauherr  das,  was  er  zur 
Erlangung  einer  niedrigeren  Besteuerung  an  Raum  für  den  Hof  geopfert  hat, 
bei  anderen  Teilen  des  Gebäudes  zu  ersparen  sucht,  also  Wohnräume,  Küchen, 
Gänge,  Stiegen  u.  s.  w.  möglichst  klein  macht.  Das  wird  besonders  bei  jenen 
Räumen  der  Fall  sein,  wo  die  betreffende  Bauordnung  keine  Mindestmaße  vor- 
schreibt. Es  würde  dann  der  Vorteil,  der  durch  die  Vergrößerung  des  Hofes  für 
die  Assanierung  errungen  wurde,  durch  die  sanitäre  Verschlechterung  der  übrigen 
üausteile  verloren  geben.  Um  das  zu  verhindern,  könnte  man  die  Bestimmung 


Albert  Schaeffle,  Die  Grundsätze  der  Steuerpolitik,  S.  314  — 316.  Da  der 
Bruttomietzins  von  der  Grundrente  stark  beeinflußt  wird,  schlägt  er  vor,  den  Brutto* 
mietwert  per  Quadratmeter  periodisch  zu  berechnen,  dann  nach  einer  bestimmten,  auf 
Grund  konkreter  Erhebungen  konstruierten  Skala  im  Maße  dots  Steigen s oder 
Fallens  der  Einheitsrente  per  Quadratmeter  Grundfläche  eine  Erniedrigung  oder 
Steigerung  des  Unterhaltungskostenprozentes  durchznführen  und  demgemäß  auch  einen 
Zuschlag  oder  Abschlag  an  den  Gebüudesteuersätzen  pro  Quadratmeter  Grundfläche 
vorzunehmcii,  um  der  wechselnden  Grundrente  bei  der  Besteuerung  gerecht  zu  werden. 


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Braun  von  Fernwald. 


590 


treffen,  daß  dio  günstigere  Steuerbehaiidlung  einem  Hause  nur  dann  gewährt 
werde,  wenn  eine  Kommission  das  Haus  ganz  allgemein  als  sanitär  erklärt  oder 
sich  wenigstens  dahin  ausspricht,  daß  gewisse  Bedingungen  erfüllt  sind,  wie  sie 
z.  B.  im  Gesetze  vom  8.  Juli  1902,  R.-G.-Bl.  Xr.  144,  betreffend  Begünstigungen 
für  Gebäude  mit  gesunden  und  billigen  Arbeiterwohnungen  und  in  der  dazu 
erflossenen  Durchführungsverordnung  der  Ministerien  der  Finanzen  und  de« 
Innern  vom  7.  Jänner  1903,  R.-G.-Bl.  Xr.  6,  gestellt  sind.  Um  eine  Erhöhung 
der  Kosten  zu  vermeiden,  könnte  diese  kommissionelle  Entscheidung  mit  der 
Erteilung  des  Ban-  oder  Benützungskopsenses  verbunden  werden.  Es  ist  jedoch 
zu  bedenken,  daß  dann  das  subjektive  Ermessen  der  Kommissionsmitglieder  eine 
große  Rolle  spielen  würde.  Selbst  bei  einem  vollkommen  unparteiischen  Vorgehen 
kann  man  im  einzelnen  Fall  über  die  sanitäre  Zulässigkeit  der  Bauart  und  Ein- 
teilung eines  Gebäudes  verschiedener  Meinung  sein.  Es  wird  daher  die  Ent- 
scheidung oft  von  Zufallsmehrheiten  abhängen  und  daher  selbst  im  Gebiet  einer 
und  derselben  Kommission  nicht  immer  ganz  gleichförmig  ausfallen.  Für  das 
gesamte  Staatsgebiet  kann  natürlich  von  einer  Gleichförmigkeit  keine  Rede  sein. 
Es  ist  sogar  möglich,  daß  aus  mißbräuchlicher  Schonung  mit  Rücksicht  auf  die 
Steuervorschriften  Zustände  als  sanitär  zulässig  erklärt  werden,  die  es  eigentlich 
nicht  sind.  Die  Entscheidung  hei  der  Baukonsenserteilung  zu  fällen,  ist  deshalb 
mißlich,  weil  auf  dem  Plan  vieles  anders  aussieht,  jedenfalls  für  solche,  die 
nicht  Bantechniker  sind,  weniger  klar  hervortritt,  als  wenn  es  wirklich  ansgeführt 
ist.  .Wird  sie  erst  bei  der  Erteilung  des  Benützungskonsciiscs  gefällt,  so  erfahrt 
der  Hausbesitzer  erst,  wenn  der  Bau  fertig  ist,  ob  ihm  die  Opfer,  die  er  für 
die  Vergrößerung  des  Hofraumes  gebracht  hat,  auch  wirklich  die  erhoffte  Steuer- 
begünstigung verschaffen.  Es  würde  dadurch  der  ganze  Erfolg  der  Abänderung 
der  Gehäudesteuer  in  Frage  gestellt,  da  der  Bauherr  nicht  mehr  mit  annähernder 
Sicherheit  voraus  berechnen  könnte,  welche  Bauweise  für  ihn  am  einträglichsten 
ist,  da  alles  von  der  Entscheidung  der  Kommission  ahhüngt.  Es  muß  daher  den 
Bauordnungen  und  der  Baupolizei  überlassen  bleiben,  dafür  zu  sorgen,  daß  eine 
Vergrößerung  der  Hofräume  nicht  den  sonstigen  sanitären  Zustand  eines  Hauses 
schädlich  beeinflusse.  Überhaupt  kann  ja  die  Steuergesetzgebung  wohl  die  Bau- 
polizei unterstützen,  aber  nicht  sie  ersetzen. 

Außerdem  ist  es  möglich,  daß  eine  Abstufung  der  Gehäudesteuer  nach  der 
unverbauten  Fläche  zunächst  nur  eine  Änderung  der  Hofraumgeometrie  einer 
Hänsergruppe  bewirkt.  Grenzen  z.  B.  au  den  sehr  großen  Hofraum  eines  Hauses 
andere  mit  zu  kleinen  Höfen,  so  würde  das  eine  die  volle  Steuerbegünstigung 
genießen,  während  die  anderen  von  einer  höheren  Steuer  getroffen  würden.  Es 
liegt  nun  für  die  Besitzer  dieser  Häuser  nahe,  ihre  Höfe  durch  Zukauf  von 
Teilen  des  großen  Hofes  so  zu  vergrößern,  daß  auch  ihre  Häuser  unter  einen 
niedrigeren  Steuersatz  fallen.  Dadurch  würde  natürlich  ein  Steuerausfall  bewirkt 
werden.  Es  ist  jedoch  zu  bedenken,  daß  bei  den  gegenwärtigen  Steuerbestiinmnngen 
den  Eigentümer  des  großen  Hofes  nichts  gehindert  hätte,  diesen,  soweit  es  die 
Bauordnung  znläßt,  zu  verbauen,  wodurch  für  die  ganze  Hänsergruppe  weit 
schlechtere  sanitäre  Bedingungen  geschaffen  würden.  Es  ist  auch  nicht  unbillig, 
•laß  die  angrenzenden  Hausbesitzer  veranlaßt  werden,  Teile  der  unverbauten 


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Abstufung  dei  GcbäudeMtcucr  nach  dem  Mali  der  Verbauung  der  Grundfläche.  yi  i 


Fläche  zu  erwerben,  deren  Luftraum  ihren  Häusern  zu  gute  kommt  und  so  dur 
Aufwand  beziehungsweise  Erträgnisverlust,  den  diese  freie  Fläche  verursacht, 
gloichmäbiger  verteilt  wird.  Es  bleibt  also  nur  das  fiskalische  Moment  des  Steueraus- 
falles. Hiebei  ist  jedoch  zu  erwägen,  dali  die  Abtrennung  und  der  Verkauf  einzelner 
Teile  des  grollen  Hofrauiiies  nur  dann  für  den  Hesitxer  vorteilhaft  sein  wird,  wenn 
dadurch  nicht  die  Steuer , des  eigenen  Hauses  so  stark  erhöht  wird,  dali  ihm 
kein  Gewinn  bleibt.  Dies  wird  nun  davon  abhängen,  welche  Minimalhofräuuic 
für  die  einzelnen  Steuersätze  festgestellt  sind.  Jo  gröber  sie  angenommen  sind, 
desto  weniger  wird  abgesondert  werden  können.  Pie  Steuergesetzgebung  kann 
daher  auf  solche  Verschiebungen  dnreh  die  Bestimmungen  über  das  für  einen 
gewissen  Steuersatz  erforderliche  Verhältnis  zwischen  unverbauter  und  verbauter 
Fläche  einen  tiefgreifenden  Einfluß  nehmen. 

• * 

* 

Es  wurde  bis  jetzt  nur  die  Einwirkung  einer  Abstufung  der  Gebäudesteuern 
nach  dem  Verhältnis  der  verbauten  und  unverbauten  Fläche  im  allgemeinen  ohne 
näheres  Eingehen  auf  das  Steuersystem,  in  das  sich  diese  Abänderung  einfugen 
soll,  erörtert.  Nun  sei  es  gestattet»  darauf  einzugehen,  wie  diesbezüglich  die 
Verhältnisse  in  Österreich  liegen.  Da  die  Reformbestrebungen  zur  Frage  der 
gerechten  Besteuerung  der  Gebäude  noch  zu  keinem  Abschluß  gebracht  sind,  so 
kann  hier  nur  die  bestehende  Gesetzgebung  in  Betracht  kommen.  Anderseits  ist 
natürlich  dadurch  die  Möglichkeit  geboten»  die  hier  vertretene  Anregung  hei 
einer  allgemeinen  Reform  zu  berücksichtigen.  Bevor  man  die  Frage  erörtert,  wie 
sich  die  vorgeschlagene  Abänderung  bei  den  bestehenden  Gebündesteuern  durch- 
führen ließe,  mögen  die  betreffenden  gesetzlichen  Bestimmungen  kurz  angedeutet 
werden.1)  Die  Grundgesetze  für  die  österreichische  Gebnudesteuer  bilden  das 
allerhöchste  Patent  vom  23.  Februar  1820  und  die  zur  Durchführung  desselben 
erlassenen  Instruktionen  und  außerdem  das  Gesetz  vom  9.  Februar  1882, 
R.-G.-Bl.  Nr.  17,  durch  das  einige  Abänderungen  eingefuhrt  wurden.  Danach 
bestehen  in  Österreich  zwei  Gebäudestenersy>teme  nebeneinander:  die  Hauszins- 
Steuer,  welche  durch  die  oproz.  Steuer  vom  Ertrage  der  aus  dem  Titel 
der  Ballführung  gänzlich  oder  teilweise  von  der  Hauszinssteuer  für  eine  bestimmte 
Zeit,  die  sogenannte  Baufreijahrsperiode,  befreiten  Gebäude  ergänzt  wird,  einerseits 
und  die  Hausklassensteuer  anderseits.*)  Die  Hauszinssteuer  trifft  den 
Ertrag  sämtlicher  in  den  als  hauszinssteuerpflichtig  erklärten  Orten  gelegenen  und 
der  außerhalb  dieser  Orte  befindlichen  ganz  oder  teilweise  vermieteten  Gebäude. 
Die  hauszinssteuerpflichtigen  Orte  werden  teils  im  erwähnten  Gesetze  vom 
9.  Februar  1882.  der  sogenannten  Gebäudestonemovelle,  namentlich  angeführt, 
teils  werden  als  solche  im  allgemeinen  jene  erklärt,  in  welchen  sämtliche  Gebäude 
oder  wenigstens  die  Hälfte  derselben  und  außerdem  dio  Hälfte  der  Wolinbestand- 

’)  Mit  Rücksicht  auf  den  beschränkten  Kaum  wurde  von  einer  Anführung  von 
Übergangsbestimmungen  ganz  abgesehen. 

*)  Vgl.  besonders  Gustav  Freiberger,  Handbuch  der  österreichischen  direkten 
Steuern.  2.  Auflage,  S.  191  ff.»  und  in  Mayrhofer-Graf  Pace.  Handbuch  für  den 
politischen  Verwaltungsdienst,  5.  Anfl.,  VII.  B l..  S.  787  ff. 


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Braun  von  Fernwald. 


teil«;  <;ii»ei»  Zinsertrag  durch  Vermietung  ab  werfen.  Die  Hauszins* teuer  wird  vom 
tatsächlichen  oder  angenommenen  Zinserträge  der  Gebäude  nach  Abzug  der 
gesetzlichen  Erhaltung»-  und  Amortisationskosten,  und  zwar  gegenwärtig  in  der 
Hegel  *)  nach  einem  zweijährigen  Durchschnitt,  für  die  zwei  folgenden  Stoner- 
jalire  berechnet.  Es  ist  hier  nicht  der  Ort.  um  auf  <li«;  Detailvorschriften  und 
AusiiaUmsbestimmungen  «‘inzugehen,  doch  muß  hervorgehoben  werden,  daß  die 
Hauszinssteuer  in  den  namentlich  als  hauszinssteuerptiiehtig  genannten  Orten 
mit  26*/s  Proz.  des  nach  Abzug  von  15  Proz.2)  für  Erhaltung«-  und  Amor- 
tisationskosten ermittelten  steuerbaren  reinen  Zinsertrages  (Nettozinses)  festgesetzt 
ist,  während  sie  für  die  hauszinsstouerpflichtigen  Gebäude  iu  anderen  Orten  in 
der  Kegel  20  Proz.8)  des  nach  Abzug  von  30  Proz.  für  Erhaltung»-  und 
Amortisationskosten  vom  Bruttozinse  verbliebenen  Nettozinses  beträgt.  In  gleicher 
Weise  wird  die  5 proz.  Steuer  bei  den  Gebäuden,  welche  ein  zeitliche 
Befreiung  von  der  Hauszinssteuer  aus  dem  Titel  der  Bauführung  genießen, 
ermittelt;  es  ist  also  auch  bei  ihr  die  H«~die  d«»r  Abzugsprozente  für  Erhaltnngs- 
uud  Amortisationskosten  verschieden.  Diese  fünfprozentige  Steuer  ist  durch  die 
Eigentümlichkeit  der  österreichischen  Steuergesetzgebung  veranlaßt,  daß  infolge 
v«»n  Bauführungen  auf  eine  lange  Reihe  von  Jahren  eine  Befreiung  von  den 
Gebäudesteuern  gewährt  wird.  Bei  den  hauszinssteuerpflichtigen  Gebäuden  wurde 
diese  weitgehende  Begünstigung  durch  Einführung  der  5 proz.  Steuer  eingeschränkt. 

Auf  ganz  anderen  Prinzipien  beruht  die  H a u s k I as  s e u s t e u e r.  Sic 
erfaßt  die  nicht  vermieteten  Wohngebäude  außerhalb  der  hauszinssteuer- 
pllichtigeu  Orte,  also  nicht  wie  die  Hausziussteuer  alle  Gebäude,  sondern  nur 
die  Wohngebäude,  d,  h.  im  »Sinne  der  österreichischen  Steuergesetze  solche  Gebäude, 
welche  Bestandteile  in  sich  fassen,  die  als  Wohnung  wirklich  benutzt  werden 
oder  zu  dieser  Benutzung  bestimmt  sind.  Auch  bildet  bei  ihr  nicht  der  Ertrag 
die  Grundlage  der  Besteuerung,  sondern  die  Anzahl  der  Wohnhcstandteile.  Von 
diesem  Gesichtspunkte  aus  werden  die  Häuser  iu  10  Klassen  geteilt,  für  jede 
Klasse  ist  ein  bestimmter  Steuerbetrag  festgesetzt,  und  zwar  beträgt  dieser  für 
die  niedrigste  Klasse:  Häuser  mit  einem  Wohuraum  3 K . für  die  höchste: 
Häuser  mit  36  bis  40  Wohubrstandteilcii  440  K.  Bei  jenen  Gebäuden,  w'elche 
über  40  Wohnbestandt«.*ile  enthalten,  sind  dem  Tarifsätze  der  höchsten  Klasse 
für  je  einen  mehr  vorhandenen  Bestandteil  10  K zuzurechnen.  Die  Größe  der 
Wohnräume.  die  Anzahl  der  Stockwerke,  der  eventuelle  Zinsertrag  kommen  für 
die  Besteuerung. gar  nicht  in  Betracht.  Auch  bei  der  Uausklassensteuer  gibt  es 
ans  dem  Titel  der  Bauführung  Baufreijahrsperioden,  doch  bleiben  da  die  Gebäude 
tatsächlich  steuerfrei  und  besteht  keine  der  5 proz.  analoge  Steuer. 

Diese  staatlichen  Steuern  sind  jedoch  nicht  die  einzige  Belastung  des 
Gehäudebesitzes,  sondern  sie  werden  sehr  wesentlich  erhöht  durch  die  von  ihnen 
für  autonome  Körperschaften,  besonders  die  Länder  und  Gemeinden,  und  für 
verschiedene  Konkurrenzbeiträge  erhobenen  prozentuellen  Zuschläge,  die  «»ft 
ein  Vielfaches  der  Staatssteuer  ausmaclien. 

l)  Nämlich  in  den  hauszinssteuerpflichtigen  Orten. 

s,i  In  Zara  und  Czernowitz  (innere  Stadt)  30  Proz. 

3)  In  Tirol  und  Vorarlberg  (außer  Innsbruck  und  Witten)  15  Proz. 


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Abstufung  der  Gebäudesteuer  nach  dem  Maß  der  Verbauung  der  Grundfläche.  503 


In  Würdigung  der  außerordentlich  hohen  Steuerbelastung  der  Gebäude  wird 
nach  dein  Personalsteuergesetze  vom  25.  Oktober  1896.  R.-G.-Bl.  Nr.  220,  den 
Hausbesitzern  ein  jährlicher  Nachlaß  an  der  vorgeschriobonen  Gebäudesteuer, 
jedoch  nur  von  der  Hauszins-  und  Hausklassensteuer,  nicht  aber  von  der  5proz.  Steuer, 
in  der  Hohe  von  10  bis  12T»  Proz.  der  Jahressteuer  ans  den  Mehrerträgnissen 
der  Personalsteuern  zugewendet.  Dieser  Nachlaß  betrifft  aber  nur  die  Staats- 
steuer, die  erwähnten  Fondszuschläge  bleiben  davon  unberührt  und  werden  nach 
der  ursprünglich  vorgeschriebenen  Staatssteuer  berechnet  und  eingehoben. 

Die  steuerpolitische  Behandlung  der  verhauten  Flächen  Bauarea)  und  der 
Hofräume1)  war  bis  zum  Jahre  1880,  wo  das  Gesetz  vom  24.  Mai  1869,  K.-G.-Bl. 
Nr.  88.  über  die  Grundsteuerregelung  vollständig  durchgeführt  wurde,  nach  den 
einzelnen  Ländern  verschieden,  ln  den  Ländern  des  stabilen  Katasters  waren  sie 
in  der  Regel  der  Grundsteuer  unterworfen  und  nur  in  den  der  sogenannten 
ursprünglichen  Hauszinsstcner  (von  26*/s  Proz.)  unterliegender.  Orten  steuerfrei. 
Dagegen  gehörten  sie  in  den  anderen  Ländern,  wo  nur  Grundstouerprovisorien 
bestanden  «Tirol,  Vorarlberg,  Galizien  und  Bukowina),  durchwegs  zu  den  steuer- 
freien Grundflächen.  Durch  die  Grundsteuerregelung  wurden  in  allen  Ländern 
Österreichs  die  Bauarea  und  die  Hofräume  von  der  Grundsteuer  frei.  Die  Haus- 
gärten wurden  jedoch  immer  von  der  Grundsteuer  getroffen  und  unterliegen  ihr 
auch  gegenwärtig.  Diese  gleichmäßige  Behandlung  der  Hofräume  und  der  Banarea 
hatte  auf  die  Finanzstatistik  die  Wirkung,  daß  kein  Interesse  nach  der  Unter- 
scheidung derselben  bestand  nnd  die  Flächenmaße  für  beide  gemeinsam  festgestellt 
wurden,  dagegen  wurden  die  Hausgärten  einfach  dein  Gartenlande  zugerechnet. 

Während  dio  Hofräume  von  der  Steuergesetzgebung  als  bloßes  Zubehör 
der  Häuser  keine  selbständige  Berücksichtigung  fanden,  wurden  für  sie  in  Bau- 
ordnungen mehrfach  Vorschriften  ans  hygienischen  und  anderen  Rücksichten 
erlassen.2)  Sie  sollen  so  angeordnet  sein,  daß  sie  den  anstoßenden  Räumen 
ausreichendes,  womöglich  direktes  Licht  nnd  genügenden  Luftzutritt  gewähren. 
Ihre  erforderliche  Größe  hängt  daher  von  der  Lage  und  Hohe  der  sie  umgebenden 
Gebäude.  von  der  Situierung  der  Nachlmrhöfe  und  der  Bestimmung  der  anstoßenden 
Lokalitäten  ah.  Die  Erkenntnis  der  Wichtigkeit  eines  entsprechend  großen  Haus- 
liofes  hat  es  bewirkt,  daß  in  den  neueren  Bauordnungen  vorgeschrieben  wurde, 
daß  von  der  Gesamtbaufläche  mindestens  ein  gewisser  Prozentsatz  unverbaut 
bleiben  müsse,  wovon  der  größere  Teil  auf  den  Haupthof  zu  entfallen  hat  So 
verlangen  die  Bauordnungen  für  das  Land  Mähren,  für  Brünn,  Wien,  Innsbruck, 
Trient,  Laibach  und  Prag  15  Proz.,  die  für  Krakau  20,  dio  für  Lemberg  gar 
25  Proz.  der  Fläche  für  den  Hofraum.  Auch  über  die  Anbringung  von  Lichthöfen 
bestehen  einschränkende  Bestimmungen.  Bei  Baustellen,  welche  nicht  vorzugs- 
weise zu  Wohnzwecken  verhaut  werden  sollen,  sowie  «lort,  wo  Haus-  und  Licht- 
höfe mehrerer  Baustellen  Zusammenstößen,  endlich  bei  solchen  zwischen  schon 
bestehenden  Gebäuden  liegenden  Baustellen,  deren  Verbauung  ohne  ein  Herab- 

l)  Vgl.  von  In  ama-Stcrnegg.  Die  definitiven  Ergebnisse  der  Grundsteuerregelung 
in  Österreich. 

J)  Vgl.  Mayrhofer- Graf  Pace,  Handbuch  fiir  den  politischen  Verwaltungs- 
dienst, ö.  Auf!.,  III.  Bd.,  S.  98’». 


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Braun  von  Fernwald. 


594 


geholt  „unter  die  bestehenden  Normen“  unmöglich  war«,  bleibt  den  Baubehörden 
Vorbehalten,  in  Bezug  auf  die  Grüße  der  Höfe  die  liaeh  den  lokalen  Verhältnissen 
notwendigen  Erleichterungen  zu  gewähren.  Es  ist  klar,  daß  diese  Erleichterungen 
selbst  dort,  wo  bestimmte  Größen  für  die  Höfe  gefordert  werden,  zu  einer  sehr 
starken  Verbauung  der  Fläche  führen  können.  Die  letzte  dieser  Bestimmungen  ist 
natürlich  unvenneidlich,  doch  läßt  sich  nicht  verkennen,  daß  es  in  vielen  Fällen  vom 
Ermessen  der  Baubehörde  abhängen  wird,  ob  eine  vorschriftsmäßige  Verbauung 
als  unmöglich  angesehen  wird.  Die  Bestimmungen  über  die  Baustellen,  welche 
nicht  vorzugsweise  zu  Wohnzwecken  verbaut  werden  sollen,  und  über  die  zusammen- 
stoßenden  Höfe  sind  nicht  in  der  Natur  der  Sache  begründet  und  es  kann  auch 
ihre  Berechtigung  angezweifelt  werden.  Wenn  mehrere  Höfe  Zusammenstößen,  so 
ist  den  Häusern  wohl  gesichert,  daß  jede  der  einmüudenden  Öffnungen  einen 
entsprechend  großen  Luftraum  vor  sich  hat.  doch  ist  dieser  eine  natürlich  allen 
gemeinsam  und  es  wird  von  der  Bauart  und  sonstigen  Lage  der  Häuser  abhängen, 
ob  diese  Luftzufuhr  als  genügend  anzusehen  ist.  Jedenfalls  kann  auf  diese  Weise 
Grundfläche  und  Luftraum  erheblich  stärker  ausgenutzt  werden,  so  daß  eine 
höhere  Besteuerung  gerechtfertigt  ist.  Gegen  die  Gestattung  einer  stärkoren 
Verbauung  bei  Gebäuden,  welche  nicht  vorzugsweise  zu  Wohnzwecken  dienen 
sollen,  ist  darauf  hinzuweisen,  daß  die  Bedingung  „nicht  vorzugsweise“  etwas 
zu  mild  ist  und  es  besser  wäre,  wenn  es  hieße:  „ganz  oder  nahezu  ausschließlich 
nicht  zu  Wohnzwecken  verbaut  werden  sollen“,  so  daß  nur  etwa  ausnahmsweise 
eine  Wohnung,  z.  B.  für  das  Aufsichtspersonal,  sich  darinnen  befinden  dürfte,  für 
deren  sanitäre  Lage  aber  auch  Sorge  getragen  werden  müßte.  Daß  die  hygienische 
Baupolizei  bei  nicht  zu  Wohnzwecken  erbauten  Häusern  weniger  strenge  Anfor- 
derungen stellt,  ist  wohl  in  dem  Gedanken  begründet,  daß  solche  Häuser  nicht 
so  vielen  l’ersonen  und  während  so  vieler  Tagesstunden  Unterkunft  gewähren 
als  Wohngchäude.  Dies  ist  aber  nicht  immer  richtig,  so  beherbergen  z.  B. 
Fabriksräume,  in  denen  Tag-  und  Nachtarbeit  geleistet  wird,  auch  viele  Leute 
durch  viele  Stunden.  Dazu  kommt  noch,  daß  die  Bestimmung  eines  Hauses  im 
Laufe  seines  Bestandes  geändert  werden  und  daß  ein  nicht  zu  Wohnzwecken 
erbautes,  dann  als  Wohnhaus  verwendet  werden  kann.  Es  ist  daher  hilligenswert 
wenn  auf  die  Bauherren  durch  die  Steuergesetzgebung  ein  Druck  ausgeübt  wird, 
auf  diese  Erleichterungen  nur  dort  Anspruch  zu  machen,  wo  es  durch  die  lokalen 
oder  speziellen  Verhältnisse  gerechtfertigt  ist. 

Um  die  Tragweite  einer  Abänderung  der  Gobäudestenern  richtig  zu  erfassen, 
ist  es  notwendig  festzustelleu,  welche  Bedeutung  ihnen  im  Finanzwesen  zukommt. 
Es  seien  deshalb  hier  einige  statistische  Nachweisungen  über  die  österreichischen 
Gebäudesteuem,  welche  den  Mitteilungen  des  k.  k.  Finanzministeriums  (VIII.  Jahr- 
gang, 2.  Heft,  S.  Olli  ff.)  entnommen  sind,  wiedergegeben.  Es  sind  zwei  Jahre 
in  Betracht  gezogen  worden,  um  durch  den  Vergleich  derselben  Unregelmäßig- 
keiten, die  sich  bei  einem  derselben  durch  zufällige  Umstände  ergeben  haben, 
klarstellen  und  auf  ihre  wahre  Bedeutung  zurückführen  zu  können.  Die  Nach- 
weisungen  beziehen  sich  auf  die  Jahre  1899  und  1900.  Die  Zahl  der  Gebäude, 
welche  in  diesen  Jahren  der  Hausklassensteuer  und  der  Hanszinssteuer  unterlagen, 
ist  in  den  Tabellen  1 und  II  angeführt: 


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Die  gesamten  Objekte  der  Gebäudesteuer  im  Jahre  1899 


Abstufung  der  Geb.udesteuer  nach  dem  Maß  der  Verbauung  der  Grundß&elie.  595 


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Tabelle  II. 


Uruun  von  Fernwahl. 


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e — •^•occee^rec  — dQciuc  — ecoa-CO 
l-  OC  ^ Ol  — — /.  Ol  O Xj  OlOCCeCfO 

® e:  .o  •:  eo  t-  a r«  es  o « c *r  » x n 


jamuinujso,j 


-NW^icoi-xoo-iNcc-toar- 


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1 Die  liebkude  Mn'l  zum  Teile  «feuerfrei,  wenn  «ich  «Ile  Itefrelunir  nur  n«f  einen  Teil  Ihrer  Ifeatendfeile  beschrankt. 


Abstufung  der  Gebäudesteuer  nach  dem  Mali  der  Verbauung  der  Grundfläche.  597 

Neben  den  steuerpflichtigen  Gebäuden  sind  auch  jene  ausgewiesen,  die 
überhaupt  und  permanent  von  den  Gebfiudesteuern  befreit  sind  sowie  diejenigen, 
welchen  ans  dem  Titel  der  Baufübrung  eine  zeitliche  Befreiung  von  den  regel- 
mäßigen Gebäudesteuern  genießen.  Die  in  das  Gebiet  der  Hausklassenstener 
fallenden,  bleiben  tatsächlich  ganz  steuerfrei  und  kommen  nicht  weiter  in  Betracht, 
während  die  für  die  Baufreijahrsperiode  von  der  Hauszinssteuer  befreiten  der 
oproz.  Steuer  unterliegen,  bei  deren  statistischen  Darstellung  sie  Berücksichtigung 
finden  werden.  Die  nächsten  Tabellen  (DI  und  IV)  enthalten  die  Nachweisungen 
über  die  gesamte  Steuervorscbreibung  an  Hausklassen-  und  Hauszinssteuer 
lur  1899  und  1900,  wobei  die  Hauszinssteuer  im  ganzen  und  gesondert  für  die 
namentlich  als  hauszinssteuerpflichtig  genannten  Orte,  ferner  für  die  Orte,  in  denen 
sämtliche  Gebäude  oder  wenigstens  die  Hälfte  derselben  und  außerdem  die  Hälfte 
der  Wohnbestandteile  einen  Zinsertrag  durch  Vermietung  abwerfen  1 § 1 a der 
durch  Gesetz  vom  1.  Juni  1890,  R.-G.-Bl.  Nr.  150  abgeänderten  Gebäudesteuer- 
novelle vom  9.  Februar  1882,  K.-G.-BI.  Nr.  17)  endlich  für  die  vermieteten 
Gebäude  in  nicht  hauszinssteuerpflichtigen  Orten  § 16  der  genannten  Novelle) 
angegeben  ist.  Aus  den  Tabellen  erhellt  dio  bedeutend  höhere  Bedeutung  der 
Hauszinssteuer,  indem  für  sie  68,985.111  A'  im  Jahre  1899  und  72,594.352  K 
zur  Einzahlung  vorgeschrieben  wurden,  während  die  Vorschreibung  für  die  Haus- 
klassensteuer  nur  11,705.940  K im  Jahre  1899  und  1 1,757.568  K im  Jahre  1900 
betrug.  Neben  den  Steuern,  di©  für  dio  Gebäude  an  den  Staat  bezahlt  werden 
müssen,  sind  auch  die  Beträge  ausgewiesen,  die  für  die  zeitlich  befreiten  Gebäude 
an  Gebäudestcuern  berechnet  werden,  deren  Einzahlung  während  dor  bewilligten 
Baufreyahre  unterbleibt;  sie  beliefen  sich  im  Jahre  1899  auf  31,813.778  im 
Jahre  1900  auf  28,598.7 17.1)  Bedenkt  man.  daß  die  Vorschreibung  für  die 
zahlbare  Hausklassen-  und  Hausziussteuer  im  orsteren  Jahre  SO, 691. 051.  itn 
folgenden  84,351.920  K ausmachte,  so  sieht  man.  welch  großer  Teil  des  möglichen 
Steuererträgnisses  durch  die  langen  Baufreijahre  dem  Staate  entzogen  wird. 

Die  oproz.  Steuer  vom  Ertrage  der  aus  dein  Titel  der  Bauführung  von  der 
Hauszinssteuer  befreiten  Gebäuden  ist  in  den  Tabellen  V und  VI  dargestellt. 
Darnach  ist  die  Zahl  dieser  Gebäude  von  96.180  im  Jahre  1899,  auf  90.934 
im  Jahre  1900  herabgesunken.  Dementsprechend  betrug  die  Vorech reibfing  für 
die  5proz.  Steuer  im  Jahre  1899  6,485.550  A"  im  Jahre  1900  nur  5.873.391  K. 
Dieser  starke  Ausfall  ist  jedoch  größtenteils  auf  die  durch  Einführung  der  zwei- 
jährigen Bemessung  verursachte  Störung  in  der  Berechnung  zurückzuführen. 
Werden  die  infolgedessen  nicht  berücksichtigten,  zugewachsenen  Neubauten  mit 
in  Rechnung  gezogen,  so  beträgt  nach  den  vorläufigen  Berechnungen  des  Finanz- 
ministeriums die  5proz.  Steuer  nach  dem  Stande  mit  Beginn  des  Jahres  1901 
6,316.177  K.  so  daß  nur  ein  Ausfall  von  169.373  K übrig  bleibt,  der  damit 
erklärt  wird,  daß  eine  Anzahl  von  Gebäuden  mit  größerem  Mietzinsertrage  in  die 
volle  Steuerpflicht  getreten  ist. 

l)  Die  Verminderung  ist  zum  Teil  darauf  zurrickzuführen.  «laß  infolge  der  Neu- 
einführung der  zweijährigen  Bemessung  der  Hauszinssteuer  wohl  der  Abfall  infolge 
Erlöschens  der  zeitweiligen  Steuerbefreiung,  nicht  aber  der  Zuwachs  infolge  Neubauten 
berücksichtigt  erscheint. 

Zeitschrift  fUr  Volks wlruchaft,  .Sozialpolitik  und  Verwaltung.  XII  Baud.  41 


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Braun  ?<*n  Femwald, 


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Summe.  . . . 6», 985.111  49,183.93«  13,790.408  0,010.767  11,705.940  80,691.051  31,813.778 


Die  gesamte  Geb&udeiteuerrorschreibuug  im  Jahre  1900  mit  Ausnahme  der  5pro*.  Steuer 


Abstufung  der  Gebäudesteuer  nach  dem  Maß  der  Verbauung  der  Grundfläche.  590 


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Postmiinnicr 


6U0 


Braun  von  Fernwald. 


Tabelle  V. 


Die  5proz.  Steuer  vom  Ertrage  hauszinssteuerfrvier  Gebäude  im  Jabre  1899 


1 2 

3 

4 

5 

6 " 

|| 

Land 

o ij 

Anzahl  der 

ganz  i teilweise  sämtlichen 

von  der  Hauszinssteuer  befreiten  Gebäude 

An  5proz. 

Steuer 
entfallen 
in  Kronen 

1 Niedere iterreich  .... 

11.748 

9.143 

20.891 

3,489.066 

j 2 OberOsterreicb 

2.099 

1.178 

3.277 

91.858 

3 Salzburg 

1.106 

336 

1.442 

55.836 

4 Steiermark  

3.544 

1.044 

4.588 

237.844 

5 Kärnten 

901 

452 

1.358 

41.996 

6 Krain 

780 

343 

1.123 

39.292 

7 Küstenland 

2.027 

696 

2.723 l) 

106.848 

1 8 Tirol  und  Vorarlberg  . . 

2.554 

1.031 

8.585 

112.036 

9 Böhmen 

2G.303 

5.777 

32.080 

1,303.202 

10  Mähren 

6.099 

1.876 

7.975 

305.992 

1 1 Schlesien 

3.584 

672 

4.256 

89.63* 

12  Galizien 

8.811 

2.437 

11.248 

562.646 

13  Bukowina 

752 

357 

1.109 

34.742 

14  Dalmatien 

377 

153 

530 

14.560 

Summe  .... 

70.685 

25.495 

96.180 

6,485.550 

'i 


*)  Unter  Berücksichtigung  der  Übergangsbestimmungen  der  Gesetze  vom 
9.  Februar  1882  (§  15)  und  vom  12.  Juli  1896,  beziehungsweise  vom  9.  April  I960 


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l'ustiHimiiier 


Abstufung  der  Gebäudesteuer  nach  dem  Maß  der  Verbauung  der  Grundfläche.  (JO  1 


Tabelle  VI. 


i 


i: 


5 


I 6 


8 

9 


10 

11 


13 


14 


! 


Dl«  5pros.  Steuer  vom  Ertrage  hanszinssteuerfreier  Gebäude  im  Jahre  1900*) 


2 | 3 

4 

5 1 

6 

1 

Land 

Anzahl  der 

ganz  teilweise  sämtlichen 

von  der  Hauszinssteuer  befreiten  Gebäude 

An  5proz. 
Steuer 
entfallen 
in  Kronen  j 

Niederösterreich  .... 

10.041 

8.542 

i 18.583 

3,056.890  j 

Oberösterreich 

2.006  i 

1.093 

3.099  J 

85.862 

Salzburg 

1.150 

348 

1.498 

55.121  ] 

Steiermark  

3.541 

1.071 

4.612 

224.825 

Kärnten 

893 

479 

1.372 

40.226 

Krain 

817 

337 

1.154 

39.718 

Küstenland | 

1.956 

045 

2.601 

98.167 

Tirol  und  Vorarlberg  . . ' 

2.576 

1.010 

3.586  | 

108.700 

Böhmen ■ 

25.275 

5.373 

30.648 

1,222.125 

Mähren j 

5.739 

1.783 

7.522  , 

282.381 

Schlesien 

3.600 

606 

4.206 

87.534 

Galizien 

8.266 

2.245 

10.511 

525.021 

Bukowina 

723 

294 

1.017 

32.339 

Dalmatien 

372 

153 

525 

14.482 

Summe  .... 

66.955 

| 

23.979 

90.934 

i 

5.873.391  ! 

l)  Das  gegenüber  dem  Vorjahre  zu  Tage  tretende  Minderergebnis  des  Jahre« 
1900  erklärt  sich  dadurch,  daß  infolge  der  zweijährigen  Bemessungen  (Gesetz  vom 
12.  Juli  1896)  der  in  den  Jahren  1899  und  1900  eintretende  Abfall  an  der  5proz. 
Steuer  — infolge  Erlöschens  der  Steuerfreiheiten  — berücksichtigt  ist,  hingegen  der  in 
den  gleichen  Jahren  eintretende  Zuwachs  — infolge  Neu-,  Zu-  und  Umbauten  — 
naturgemäß  erst  im  Vorschreibungsergebnissc  für  die  Steuerjahre  1901/02  zum  Aus- 
drucke kommt. 

*)  Unter  Berücksichtigung  der  Übergangsbestimmungen  der  Gesetze  vom 
9.  Februar  1882  (§  15)  und  vom  12.  Juli  1896,  beziehungsweise  vom  9.  April  1900. 


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602 


Hraun  von  Fernwald. 


Bis  jetzt  wurden  die  Vorschreibungen  der  Gebäudesteuer  zur  Darstellung 
gebracht;  wesentlich  anders  gestaltet  sich  das  Bild,  wenn  man  nicht  die  Vor- 
schreibungen, sondern  die  tatsächlichen  Eingänge,  den  Nettoertrag,  berücksichtigt. 
Unter  Nettoertrag  ist  in  den  Mitteilungen  des  Finanzministerium»')  die 
gesamte,  sowohl  auf  die  Rückstände  aus  den  Vorjahren,  als  auch  auf  die 
laufende  Schuldigkeit  erfolgte  Einzahlung  nach  Abrechnung  jener  Steuerüber- 
zahlnngen  verstanden,  welche  in  dem  betreffenden  Jahre  den  Parteien  gutgerechnet, 
beziehungsweise  har  rückvergütet  wurden.  Die  Nachweisungen  über  die  Netto- 
erträge der  Hausklassen-  und  Hauszinssteuer  sowie  der  5proz.  Steuer  in  den 
Jahren  1899  und  1900  sind  in  den  Tabellen  VII  und  VIII  enthalten.  In  beiden. 
Jahren  blieben  die  tatsächlichen  Eingänge  stark  hinter  den  Verschreibungen 
zurück,  nur  bei  der  5proz.  Steuer  des  Jahres  1900,  deren  Vorschreibung  durch 

Tabelle  VII. 


Nettoertrag  sämtlicher  Gebäudesteuem  im  Jahre  1899. 


1 

2 

3 

4 

5 

5 

1 

9 

S 

Länder 

Hausklassen- 

steuer 

Hauszins- 

steuer 

Äproi.  Siobw 
vom  £ftr*(r 
hkuaalna»u>ii*r- 
frvtor 

£ 

Kronen 

i 

Niederüsterreich 

751.456 

27,475.982 

3,853.6s» 

2 

Oberösterreich 

611.86« 

1,348.906 

90.180 

3 

Salzburg 

102.262 

448.118 

53.904 

4 

Steiermark  . . ' 

.'.91.498 

2,778.162 

268.324 

5 

Kärnten  

174.422 

489.110 

48.412 

6 

Kraiu 

258.976 

383.460 

46.340 

7 

Küstenland 

287.S76 

2,981.758 

115.550 

darunter  Triest 

19.342 

2.416.394 

61.926 

„ Istrien 

157.792 

292.210 

39.448 

„ Görs  und  Gradiska  . 

110.742 

292.15  4 

14.176 

8 

Tirol  und  Vorarlberg 

475.440 

1,313.594 

116.734 

darunter  Tirol 

381.862 

1.191.232 

101.296 

„ Vorarlberg 

93.578 

122.362 

15.438 

9 

Böhmen 

2,801.670 

11.155.148 

1,232.882 

10 

Mähren 

1,011.166 

3,488.260 

293.338 

11 

Schlesien 

217.662 

745.114 

92.750 

12 

Galizien 

2,956.220 

4,151.516 

490.498 

13 

Bukowina 

357.382 

586.236 

34.696 

14 

Dalmatien 

160.400 

347  184 

18.594 

Summe 

10,258.296 

57,642.607 

6,745.890 

')  VIII.  Jahrgang,  2.  Heft,  8.  483  (T. 


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Abstufung  der  Gebäudesteuer  nach  dem  Mali  der  Verbauung  der  Grundfläche  50d 


Tabelle  VIII. 


Nettoertrag  sämtlicher  Gebäudeateuern  im  Jahre  1900. 


1 

2 

3 

4 

5 

'z 

5 

0 

X 

Länder 

Hausklassen- 

steuer 

Hauszins- 

steuer 

5 pro*.  Steuer 
vom  Kr  trag* 
hftuulti'Mi-.irr- 
freier  nebln  de 

£ 

Kronen 

1 

Niederösterreieh 

758.257 

28,748.157 

3,742.503 

2 

Oberösterreich 

604.949 

1.867.918 

108.019 

s 

Salzburg 

106.403 

476.510 

53.509 

4 

Steiermark  

592.001 

2,8*8.725 

273  689 

5 

Kärnten 

177.871 

498.522 

45.989 

6 

Krain 

251.862 

417  294 

48.039 

7 

Küstenland 

301.184 

3,006.466 

106.552 

darunter  Trient  ....... 

20.866 

2,387.736 

49.023 

, Istrien 

160.788 

309.720 

45.881 

„ Gore  und  Gradiska  . 

119.530 

309  010 

11.648 

8 

Tirol  und  Vorarlberg 

478.006 

1.297.699 

109.940 

darunter  Tirol 

383.026 

1.172.204 

94.855 

„ Vorarlberg 

94.980 

125.495 

15.085 

9 

Böhmen 1 

2.348.579 

11,531.717 

1,269.167 

10 

Mähren . . 

1,006.278 

3.506.416 

380.208 

11 

Schlesien 

214.017 

796.764 

93.781 

12 

Galizien , 

2,964.471 

4.262307 

574  543 

13 

Bukowina 

880.952 

530  951 

88.190 

14 

Dalmatien 

162.186 

369.450 

17.665 

Summe 

10,347.011 

59,693.896 

i 

6,811.789 

die  Einführung  der  zweijährigen  Bemessung  beeinflußt  ist,  stellt  sich  das  tat* 
sächliche  Erträgnis  bedeutend  günstiger  als  diese.  Der  auffallend  starke  Unter- 
schied zwischen  Vorschreibung  und  Nettoertrag  bei  der  Hausklassen-  und  der 
Hauszinssteuer  erklärt  sich  zum  Teil  durch  die  Nachlässe,  die  infolge  des  Personal- 
steuergesetzes vom  25.  Oktober  1896.  K.-G.-Bl.  Nr.  220  bei  diesen  gewährt 
wurden,  da  im  Jahre  1899  Nachlässe  von  11*2  Proz.  und  im  Jahre  1900  solche 
von  12*5  Proz.  gewährt  wurden,  die  natürlich  im  Erträgnis  zum  Ausdruck 
kommen. 

Um  die  Entwicklung  der  österreichischen  Gcbüudesteuer  in  den  letzten 
Jahren  zu  veranschaulichen,  seien  schließlich  in  Tabelle  IX  die  aus  ihnen  in  den 
Jahren  1891  bis  1900  erzielten  Staatseinnahmen  nachgewiesen.1)  Das  Erträgnis 

xf  S.  Österreichisches  statistisches  Handbuch,  1902.  S.  374. 


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Braun  von  Fernwal J. 


004 


Tab 

«11«  IX. 

Übersicht  der  Staatseinnahmen  aus  den  Gebäudesteuern 
1891—1900 

Jahr 

Haasklassen- 

»teuer 

L_ 

Hatmins- 

steuer 

5 proz.  Steuer  ; 
vom  Ertrage 
hauszinssteuer-  1 
freier  Gebäude 

Kronen 

1991 

\ 

11,279  904 

19.870.1M 

4,035.338 

1892 

11,177.566 

50,545.486 

4,256.686 

1x93 

11,170.878 

51.402.180 

4,499.692 

1891 

10,591.908 

50.510.446 

4,364.656 

1895 

11,515.180 

54,710.012 

4,741.578 

1896 

11,588.896 

56,959.828 

1.706.598  1 

1897 

11,260.271 

59,442.764 

4,801.210 

| 

1898 

10.233.021 

55,079.348 

5,974.371 

1899 

10,258.297 

57,642.607 

6,745.889  I 

1900 

10.347.011 

59,693.896 

6,811.788 

i 

d‘*r  Hausklassenstener,  das  im  Jahre  1891  11,279.904  K betragen  hatte,  stieg 
1892  auf  11,477.566  K,  um  dann  1893  auf  11,170.878  und  weiter  1894 
auf  10,591.908  K zu  sinken.  Das  Jahr  1895  brachte  eine  Steigerung  auf 
11.515.180  K.  das  Jahr  1896  eine  weitere  auf  11,583.896  K , worauf  itn 
Jahre  1897  wieder  ein  Zurückgehen  auf  11,260.274  K folgte.  Da  im 
Jahre  1898  infolge  des  Personalsteuergesetzes  ein  Nachlaß  von  10  Proz. 
gewahrt  wurde,  sank  der  Ertrag  auf  10,233.021  K,  um  dann  im  Jahre  1899 
trotz  eines  Nachlasses  von  11*2  Proz.  auf  10,258.287  K,  endlich  im 
Jahre  1900  trotz  eines  Nachlasses  von  12*5  Proz.  auf  10,347.011  K zu 
steigen.  Von  der  Einwirkung  der  Nachlässe  des  Porsonalsteuergeset/.es  abge- 
sehen, blieb  also  die  Einnahme  aus  der  Hausklassenstener  in  diesem  Jahrzehnt 
ziemlich  stationär. 

Der  Ertrag  der  Hauszinssteuer  betrug  im  Jahre  1891  49.870.154  K , 
stieg  dann  bis  zum  Jahre  1893  auf  51,402.160  K,  sank  im  Jahre  1894  auf 
50,510  446  K,  um  sich  dann  im  Jahre  1895  auf  54,710.012  K zu  erheben.  Von 
da  an  stieg  er  weiter  bis  zu  58.442.764  K im  Jahre  1897.  Infolge  des  Steuer- 
nachlasses  des  Personalsteuergesetzos  von  10  Proz.  zeigt  sich  im  Jahre  1898  ein 
Rückyang  auf  55,079.348  IST.  Trotzdem  sich  der  Nachlaß  1899  auf  11*2  Proz. 


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Abstufung  der  Gebäudesteuer  nach  dem  Maß  der  Verbauung  der  Grundfläche.  (jliA 


erhöhte,  stieg  der  Ertrag  der  Hauszinssteuer  in  diesem  Jahre  auf  57,642.607  K. 
Im  Jahre  1000  erreichte  der  Ertrag,  obwohl  ein  Nachlaß  von  12  5 Proz. 
gewährt  wurde,  die  Höhe  von  59,692.896  K,  war  also  trotz  des  starken  Nach- 
lasses höher  als  im  Jahre  1897,  wo  kein  solcher  Nachlaß  zugestanden  worden 
war.  Die  Einnahmen  ans  der  Hauszinssteuer  zeigten  somit  in  dem  betrachteten 
Jahrzehnt,  von  einzelnen  Schwankungen  abgesehen,  eine  stark  steigende  Tendenz, 
indem  sie  sich  von  49,870.154  K im  Jahre  1891  auf  58.442.764  K im 
Jahre  1897  und  endlich,  trotzdem  ein  Nachlaß  von  12'5  Proz.,  also  einem 
Achtel,  gewährt  wurde,  im  Jahre  1900  auf  59,693.896  K erhöhten,  was  nur 
zum  Teil  durch  die  infolge  von  Übergangsbestimmungen  allmählich  gesteigerte 
Itosteuerung  von  früher  günstiger  behandelten  Gebieten  verursacht  ist. 

Die  Einnahmen  ans  der  fiproz.  Steuer  beliefen  sich  im  Jahre  1891  auf 
4.035.338  K,  wuchsen  dann  bis  zum  Jahre  1893  auf  4,499.692  K.  worauf  sie 
im  Jahre  1894  auf  4.364.656  K zurückgingen.  Auf  dieses  Sinken  folgte  1895 
eine  Erhöhung  auf  4.744.578  K,  wogegen  das  Jahr  1896  mit  einem  Ertrag 
von  4,706,598  K unmerklich  zurückblieb.  Von  1896  bis  1898  stiegen  die  Ein- 
nahmen aus  der  5proz.  Steuer  allmählich'auf  5.974.371  K,  um  dann  im  Jahre 
1899  auf  6,745.889  K hinaufznschncllen.  Das  Erträgnis  des  Jahres  1900 
zeigt  nur  die  geringe  Steigerung  auf  6,811.783  K.  was  in  dem  Ausscheiden 
einer  größeren  Anzahl  Häuser  mit  hohem  Zinserträge  ans  dem  Bereich  der 
5 proz.  Steuer  begründet  erscheint.  Gegenüber  dem  Erträgnis  des  Jahres  1891 
ist  also  das  des  Jahres  1900  nm  2,776.450  K.  demnach  um  68'8  Proz. 
gestiegen. 

Die  Staatssteuom  bilden  jedoch  nicht  die  einzige  finanzielle  Belastnng  des 
Gebändebesitzes,  sondern  es  gesellen  sieb  zu  ihnen  prozentuelle  Zuschläge: 
die  sogenannten  Fondsbeiträge,  zu  Gunsten  autonomer  Körperschaften  und  für 
Konkurrenzbeiträge.  Da  diese  für  den  Umfang  des  Gebietes  einer  jeden  Körperschaft 
nnd  eines  jeden  Konknrrenzbezirkcs  verschieden  sind,  so  gestaltet  sich  die  auf 
einem  Gebäude  ruhende  Steuerlast  je  nach  den  lokalen  Verhältnissen  sehr  ver- 
schieden. Um  die  Größe  der  Belastung  und  die  Art  ihrer  Verteilung  zu  ver- 
anschaulichen, seien  einige  statistische  Daten  für  die  Jahre  1899  und  1900  ans 
den  -Mitteilungen  des  k.  k.  Finanzministeriums.  VIII.  Jahrgang.  2.  Heft.  S.  739  ff." 
angeführt. 

Zunächst  kommen  hier  die  Länder  in  Betracht,  die  einen  großen  Teil 
ihrer  Bedürfnisse  durch  Zuschläge  zu  den  staatlichen  Steuern  decken.  Da  jedes 
Land  selbständig  vorgeht,  ist  Art  und  Maß  der  Znschlagserhebung  sehr  verschieden. 
Viele  Länder  ließen  in  den  Jahren  1899  nnd  1900  die  5proz.  Steuer  von 
Zuschlägen  frei : dahin  gehören  Oberösterreich,  h’rain,  Istrien,  Görz  und  Gradiska 
Vorarlberg.  Böhmen.  Schlesien,  Bukowina  und  Dalmatien,  wo  nur  Landeszuschläge 
zur  Hauszins-  und  Haosklassonstoner  Vorkommen.  Von  diesen  erhob  Oberösterreich, 
wo  für  verschiedene  Fonde  verschiedene  Umlagen  vorgeschrieben  werden,  für  den 
Landesfond  im  Jahre  1899  14'5,  im  Jahre  1900  13  5 Proz.,  für  den  Landes- 
schulfond aber  1899  22,  1900  23.  endlich  für  den  Landesaidehenfond  in  beiden 
Jahren  je  7 5 Proz.  Auch  ziemlich  nieder  waren  die  Zuschläge  für  den  Landes- 
fond in  Görz  nnd  Gradiska  (1899  12,  1900  17  Proz.)  und  Vorarlberg  1899  12, 


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Braun  von  Fernwahl. 


606 

1900  20  Proz.; ; dagegen  bedeutend  höher  in  Istrien  ije  35  Proz.)  und  Krain 
(je  40  Prot.).  In  der  Bukowina  worden  in  beiden  Jahren  für  den  Laudesfoud 
42  Proz.  erhoben,  für  den  Landesschulfond.  zu  dem  jeduch  die  Stadt  Czemuwitz 
nebst  ihren  Vorstädten,  insolange  sie  die  Erhaltung  der  Volksschulen  aus  eigenen 
Mitteln  bestreitet,  nicht  beitragspflichtig  ist,  in  beiden  Jahren  je  40  Proz.  In 
Dalmatien  stieg  der  Zuschlag  für  den  Landesfond  in  beiden  Jahren  auf  je  50. 
in  Böhmen  gar  auf  je  55  Proz.  Endlich  wurden  in  Schlesien  im  Jahre  1899 
57'3  Proz.  an  Zuschlägen  für  alle  Landcsfonde  erhoben,  im  Jahre  1900  aber 
wurden  sic  auf  52'4  Proz.  ermäßigt.  In  Salzburg,  Steiermark.  Mähren  und  Galizien 
werden  alle  Gebändcsteuorn  gleichmäßig  von  den  Landeszuschlägen  getroffen.  Den 
allerhöchsten  Zuschlag  hat  Salzburg,  wo  er  in  beiden  Jahren  65  Proz.  erreichte, 
in  Galizien  wurden  für  den  Landesfond  in  der  Stadt  Krakau  und  den  politischen 
Bezirken  Krakau  und  Chrzanöw  49  Proz.  im  Jahre  1899  und  54  im  Jahre  1900 
erhoben,  sonst  aber  in  Ost-  und  Westgalizien  60  Proz.  im  Jahre  1899  und  65 
im  Jahre  1900.  In  Mähren  stieg  der  Zuschlag  für  den  Landesfond  von  54  Proz. 
im  Jahre  1899.  im  Jahre  1900  auf  57  Proz.,  in  gleicher  Weise  in  Steiermark 
von  40  auf  44  Proz.  In  Kärnten  waren  im- Jahre  1899  alle  Gebäudesteuern  mit 
einem  Laudesfoudzuschlag  von  60  Proz.  belegt,  im  Jahre  1900  wurde  dasselbe 
nur  für  die  26!/aProz.  Hauszinssteuer  in  der  bisherigen  Höhe  belassen,  für  all« 
übrigen  direkten  Steuern  aber  auf  65  Proz.  erhöht,  so  daß  auf  diese  Weise  den 
von  der  Staatssteuer  besonders  hart  getroffenen  Gebäuden  eine  Schonung  gewährt 
wurde.  In  Niederösterreich  wurde  in  beiden  Jahren  ein  Zuschlag  von  25  Proz. 
bei  den  Gebäudesteuern  erhoben,  von  der  5proz.  Steuer  vom  Ertrage  gewisser 
steuerfreier  Häuser  aber  wurde  der  Zuschlag  mit  30  Proz.  bemessen.  In  Tirol 
betrug  der  Landesfondzuschlag  1899  und  1900  prinzipiell  36  Proz.  bei  allen 
direkten  Steuern,  doch  wurden  folgende  Ausnahmen  gemacht:  Der  Zuschlag  zur 
Hauszinssteuer  wurde  in  Innsbruck  und  Willen  nur  von  der  Hälfte,  in  den  übrigen 
Städten  und  Orten  aber  von  zwei  Dritteln  der  bemessenen  Steuer,  der  zur  Haus- 
klassensteuer jedoch  im  ganzen  Lande  gar  nur  von  einem  Drittel  der  Gebühr 
berechnet.  Im  Triester  Gebiet  werden  keine  besonderen  Landesfondzuschläge 
erhoben.  Die  von  den  Ländern  eiugehobenen  Zuschläge  kommen  bei  vielen  der- 
selben ungefähr  der  Hältte  der  .Staatssteuer  gleich,  was  eine  empfindliche  Mehr- 
belastung der  Gebäude  verursacht. 

Außer  den  Landeszuschlägen  bestehen  aber  noch  mannigfaltige  andere 
Fondsbeiträge,  die  in  Prozenten  der  Staatsstenern  berechnet  werden.  Soweit  sie 
die  Gebäudesteuem  belasten,  müssen  auch  sie  hier  berücksichtigt  werden,  um 
einen  ungefähren  Oberblick  über  die  Besteuerung  der  Häuser  zu  ermöglichen. 
Da  ihre  Höhe  sehr  wechselt,  so  sei  hier  die  Anzahl  der  Steuergemeinden  angegeben, 
bei  denen  sich  gewisse  Beiträge  innerhalb  bestimmter  Grenzen  bewegen  und 
dann  der  Gesamtbetrag  der  Zuschläge,  die  in  den  einzelnen  Ländern  zu  jeder 
der  Gebäudesteuern  hinzakommeu. 

Zuerst  seien  die  Zuschläge  für  Bezirksbedürfnisse  der 
Betrachtung  uutorzogen.  Über  ihre  Höhe  bei  der  Hauszins-  und  Hausklassensteuer 
geben  unterstehende  Tabellen  X und  XI)  Aufschluß: 


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Abstufung*  der  Geb&udesteuer  nach  dem  Maß  der  Verbauung  der  Grundfläche.  (J07 


Tabelle  X. 


s Zuschlag  für  Bezirksbedürfnisse 

'S'g  zur  Hausklassensteuer 


Land 

| 

Jalu 

§ § ’ . 

l>is  einschließlich 

c 

* 

1 s 

| u 5 10 

rt  - 

* s 

W V 

15 

1 20  .30  1 40 

Prozente 

50  | 60 

in 

einer  Anzahl  vor»  Hteuergemeinden 

| 

Niederösterreich  . 

. (1899 

8.184  — - 

52 

2.613I 

338  — 

3.003 

1900 

3.184  — ! — . 

378 

2.255 

367  - 

- I- 

3.000 

•Steiermark  . . . 

. 1899 

2.690  53  188 

71 

552 

1.095  509 

130: 47 

,645 

1900 

2.690  53  242 

21 

554; 

1.072  544 

92  66 

2.644 

: Krain 

. 1899 

932  — 41 1 

.38 

114 

478'  229; 

- 21 

921 

1900 

932  — — 

67 

165, 

533  97 

59  - 

921 

Istrien 

. 1899 

333  14  168 

98 

70 

— — 

— , — 

350 

1900 

333  14  107 

112 

117 

— j - 

_ | _ 

350 

Görz  und  Gradiska 

. 1899 

284  4 50 

71 

71 

62j  2i 

18  - 

278 

1900 

285  - 461 

62 

74 

57  l! 

19  20 

279 

Tirol 

. 1899 

974  113  65 

— 

- - 

178 

1900 

974  68  66] 

- 

- 1 

- - 

- - 

134 

Böhmen 

. 1899 

9.117  — 17dl 

715 

954 

3.822  2.177 

934  27 

8.807 

1«0U 

9.120  - 178 

624 

681 

8.8171  2.406 

.019  94 

8.819 

Mähren  .... 

. i 1899 

3.139  —1  — 

59 

378, 

1.516  871 

203  — 

3.027 

,1900 

3.14«  — | — 

124 

315! 

1.421  704 

467 

3.031 

Schlesien  .... 

. 1890 

584'—  120 

35 

108 

147  89, 

40  - 

539 

1900 

584  — 100, 

17 

167 

95  90 

72.  — 

54. 

Galizien 

. 1899 

5.947.  — 104 

356 

304 

3.630  1.658 

133  - 

6.185 

11900 

5.9471  — 64] 

295 

189 

2.894  2.397j 

356j  — 

0.195 

Bukowina  .... 

. 1899 

335  - 41 

66 

221 

— , — * 

— I — 

328 1 

1900 

335,  — 41 

66 

70j 

151  — 1 

— — 

32h 

Zusammen  . 

. 1899 

30.788  184  955| 

.561 

5.38;. 

11.088  5.585  1.458  95  26.2611 

I 

1900 

30.793  135  844  1.766 

4.587 

0.407  0.239  2.084  180  26.242 

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Braun  von  Femwald. 


Zuschlag  für  Bezirk'bedärfnisse 
zur  Hauszinssteuer 
bis  einschließlich  !>  5 

l|  s I 

0 15  20  30  40  50  60  § I 

Prozente  ^ I 

io  einer  Anzahl  von  Stcuergemeinden 


Niedcrösterreicb  . . 

. 1899 

3.184  — 

7 

63,  2.176 

306 

1 

2.552 

1900 

3.184!!  — 

8 

301 

1.863 

387 

- 

_ 

- 

2.559 

Steiermark  . . . . 

. 1899 

2.690  49  123 

57 

340 

697 

282 

104 

31 

1.683 

1900 

2.690  52 

166 

18 

356 

621 

335 

66 

47 

1.661 

Krain 

. 1899 

932  — 

41 

31 

87 

353 

167 

— 

19 

698 

!l900 

932  — 

- 

65 

135 

404 

72 

39 

715 

Istrien 

. 1899 

333  13  106 

49 

33 

— 

— 

201 

1900 

35&!  14 

77 

56 

53 

- 

- 

200 

Gflrx  und  GrAdiska  . 

. 1899 

284 1 4 

3X 

58 

58 

32 

1 

14! 

_ 

205 

1900 

285 1 — 

41 

47 

61 

31 

- 

n 

15 

206 

Tirol5)  ...... 

. 1899 

974  100 

46 

— 

_ 

_ 

- 

— 

I 

146 

1900 

974  82 

44 

_ 

1 

- 

2! 

_ 

136 

Böhmen 

. 1899 

o.injj  — 

166 

789 

875 

3.826 

1.868 

873 

25 

T.>72 

11000 

9 120  - 

165 

659 

631 

3.369 

2.U94 

923 

75 

7.916 

Mähren 

. 1899 

3.139  — 

— 

70 

375 

1.401 

777 

163 

_ j 

2.786 

1900 

8.140  — 

_ 

136 

315 

1.309 

626 

4oo: 

2.786 

Schlesien 

. 1899 

W4  _ 

112 

40 

111 

151 

89 

42 

545 

11900, 
. |l899 

581  - 

93 

17 

163 

118 

118 

22 

~ 

531 

Galizien 

5.9471:  - 

84 

235 

179 

2.340 

1.042 

37! 

3.917 

jll900 

5.947  — 

55 

167 

157 

1.841 

1.550 

176 

— 1 

3.946 

Bukowina 

. 1899! 

835  j — 

41 

64 

215 

— 

320 

II19001 

335  — 

38 

64 

67 

147 

— 

816 

Zusammen  . . 

. 1899  30.788  166j704 

1.406 

4 449 

I 

8.606;  4.226 

1.288 

20.925 

1900, 

30.793  148  687 

1.530 

3.801 

8.228 

4.795 

1.639  137 

20.972 

*)  Zuschlag  für  Bezirksbedürfnisse  bis  einschließlich 


80  Proz. 
bis  100  Proz. 
über  100  bis  150  Proz, 
B 150  bif  200  Proz. 
. 300  bin  400  Proz. 


1 Steuergemeinde, 

2 Steuergemeinden, 
2 Steuergemeinden, 
1 Steuergemeinde, 

1 Steuergeineinde. 


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Abstufung  der  Gebäudesteuer  nach  dem  Mab  der  Verbauung  der  Grundßüche.  (Ji b.t 


Die  Beitrüge  für  Bezirksbedürfniwe  kommen  also  bei  der  Hauskl assensteuer 
nur  in  Tirol,  Niederösterreich,  Istrien,  Bukowina,  ferner  mit  hühereu  Beträgen 
in  Steiermark,  Krain.  Gör?,  and  Gradiska,  Böhmen,  Mähren,  Schlesien  und  Galizien 
vor.  ln  den  genannten  Ländern  werden  sie  auch  von  der  Hanazinsstcuer  erhoben 
und  zeigen  bei  ihr,  was  Höhe  and  Häufigkeit  anbelangt,  einen  gewissen  Paral- 
lelismus zn  denen  bei  der  Hansklassensteuer;  nur  in  Tirol  kommen  einige  ganz 
ausnahmsweise  hohe  Hauszinssteuerzuschläge  vor,  in  einem  Fall  sogar  über 
300  Proz.  Tirol  ist  auch  das  einzige  Land,  in  welchem  für  Bezirksbedürfnisse 
Zuschläge  zur  5 proz.  Steuer  erhoben  worden,  während  sie  in  den  übrigen 
Ländern  davon  frei  bleibt.  Übrigens  sind  diese  Zuschläge  nicht  hoch  und  kommen 
nur  bei  verhältnismällig  wenigen  Steuergemeinden  vor.  Von  den  074  Steuer- 
gemeinden Tirols  waren  im  Jahre  1890  19  mit  einem  solchen  Zuschlag  bis  ein- 
schließlich 5,  15  mit  einem  bis  einschließlich  10  Proz.,  im  Jahre  1900  18  mit 
eineu  Zuschlag  bis  einschließlich  5 und  10  mit  einem  bis  zu  10  Proz.  belegt. 

Zuschläge  zu  don  Gebäudesteuern  für  den  Bezirksschul- 
fond sind  nur  für  Niederösterreich,  Steiermark.  Görz  und  Gradiska  sowie  für 
Böhmen  und  Galizien  naebzuweiseu. ' ) In  Niederüsterreicb  bewegten  sich  die  zur 
Hausklassensteuer  vorgeschriebenen  im  Jahre  1899  bei  384,  1900  bei  573 
Stenergemeinden  zwischen  10  und  20  l’roz.,  im  Jahre  1899  bei  2619  Stener- 
geiueinden  und  im  Jahre  1900  bei  2428  zwischen  20  und  30  l’roz.  In  Steiermark 
und  Böhmen  blieben  sie  in  beiden  Jahren  zwischen  5 und  10  Proz.,  and  zwar 
kommen  sie  in  Steiermark  bei  2645  Steuergeineindcn  im  Jahre  1899  und  bei 
2644  im  Jahre  1900  vor;  im  Böhmen  ist  die  Zaiil  der  betroffenen  Steuer- 
gemeinden  von  8801  im  Jahre  1899,  im  Jahre  1900  auf  8813  gestiegen. 
Noch  niedriger  waren  sie  in  Galizien.  (1899  bei  6185,  1900  bei  6195  Steuer- 
gemeinden bis  einschließlich  5 Proz.)  Höhere  Prozentsätze  erreichten  sie  nur  in 
Görz  und  Gradiska  (1899  4,  1900  5 Steuergomeinden  40  bis  50  Proz.,  1899 
59,  1900  58  Steuergemeinden  50  bis  60,  1899  88,  1900  89  Stenergemeinden 
70  bis  80,  1899  keine,  1900  69  Steuergemeinden  80  bis  90,  1899  69  Stener- 
gemeinden,  1900  dagegen  keine  90  bis  100,  endlich  in  beiden  Jahren  58  Stouer- 
gemeinden  100  bis  150  Proz.  Zuschläge  zur  Hausklassensteuer.)  Gauz  ähnlich 
verhält  es  sich  mit  den  Bezirksschulfondznschlägeu  zur  Uauszinssteuer,  nur  sind 
sie  iti  Böhmen  in  einigen  Fällen  etwas  höher,  indem  sie  1899  bei  9 Stener- 
gemeinden, 1900  bei  8 bis  zn  20  Proz.  stiegen,  sonst  bewegten  sie  sich  in  diesem 
Lande  zwischen  5 und  10  Proz.  (1899  bei  7865,  1900  bei  7909  Stenergemeinden). 
ln  denselben  Grenzen  waren  sie  in  Steiermark  1899  bei  1683  Stenergemeinden. 
1900  bei  1661.  In  Galizien  blieben  sie  bei  3917  Steuergemeinden,  bei  denen 
sie  1899,  und  bei  den  3946,  bei  denen  sie  1900  vorkamen,  unter  5 Proz.  In 
Niederösterreich  hatten  1899  382,  1900  596  Stenergemeinden  Bezirksscbul- 
f'iudzuschläge  zur  Hauszinsstener  zwischen  10  und  20  Proz.,  1899  2169. 
1900  1962  Steuergemeinden  solche  zwischen  20  und  30  Proz.  Am  höchsten 
waren  sie  in  den  Berichtsjahren  ebenso  wie  bei  der  Hausklassenstener  in  Görz 

9 Die  Schulbezirksbedärfnisse  werden  in  einzelnen  Ländern  ganz  oder  doch  soweit 
sie  bestimmte  Prozentsätze  (10  Proz.)  der  Steuern  übereteigen,  teils  aus  dein  Gemeinde-, 
teils  sns  den  Lsudesschulfoudumlagen  bestritten. 


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Braun  von  Fernwahl. 


und  Gradiska  (bei  4 und  5 Steuergemeinden  zwischen  40  und  50  Proz.,  bei 
57  und  56  zwischen  50  und  60,  bei  je  71  zwischen  70  und  80  Proz.:  zwischen 
80  und  90  Proz.  1899  bei  keiner,  1900  aber  bei  40  Steuergenieinden,  dagegen 
zwischen  90  und  100  Proz.  1899  bei  37,  jedoch  1900  bei  keiner  Steuergemeinde; 
über  100  bis  zu  150  Proz.  waren  diese  Zuschläge  in  Gdrz  und  Gradiska  bei 
36  Steuergemeinden  im  Jahre  1899  und  bei  34  im  Jahre  1900).  Die  verhältnis- 
mäßig geringe  Häufigkeit  dieser  Zuschläge  in  den  genannten  Ländern  kann  mau 
ersehen,  wenn  man  diese  Ziffern  mit  den  bei  den  Tabellen  über  die  Zuschläge  für 
Bezirksbedürfnisse  (X  und  XI,>  angegebenen  Gesamtzahlen  der  Steuergemeinden 
dieser  Länder  vergleicht.  Zur  5 proz.  Steuer  sind  keine  Bezirksschulfondznschläge 
nachzuweisen. 

Ferner  werden  noch  zur  Hausklassen-  und  Hauszinssteuer.  jedoch  gleichfalls 
nicht  zur  5 proz.  Steuer  Zuschläge  für  den  Bezirksarme  nfond  erhoben. 
Diese  sind  in  den  Mitteilungen  des  k.  k.  Finanzministeriums  nur  für  Nieder- 
österreich angegeben.  Sie  betrugen  bei  der  Hausklassensteuer  im  Jahre  1899  bei 
40  Steuergemeinden  unter  5 Proz.  bei  2960  zwischen  10  und  15  Proz.,  im 
Jahre  1900  bei  40  unter  5 Proz.,  bei  118  zwischen  5 und  10,  bei  2839  aber 
zwischen  10  und  15  Proz.  Bei  der  Hauszinssteuer  blieben  sie  1899  bei  59, 
1900  bei  52  unter  5 Proz.,  dagegen  schwankten  sie  1899  bei  2490  Stener- 
gtuneinden  zwischen  10  und  15  Proz.,  im  Jahre  1900  jedoch  boi  138  Steuer- 
gemeinden zwischen  5 und  10  und  bei  2366  Steuergemeinden  zwischen  10  und 
15  Proz.  Die  Zuschläge  für  den  Bezirk  sänne  nfond  sind  also  nicht  hoch  und 
haben  daher  für  die  Gesamtsteuerbelastung  der  Gebäude  weniger  Bedeutung,  doch 
mußten  sie  der  Vollständigkeit  halber  erwähnt  werden. 

Von  ungleich  höherer  Wichtigkeit  sind  die  Zuschläge  für  Gemeind  e- 
bedürfnisse,  die,  wie  aus  den  Tabellen  XII,  XIII  und  XIV  zu  ersehen  ist, 
zu  der  Hausklassen-  und  der  Hauszinssteuer  in  allen  Ländern,  zur  5 proz.  Steuer 
aber  in  Niederösterreich,  Salzburg,  Steiermark,  Kärnten,  Tirol,  Vorarlberg,  Mähren 
und  Galizien  erhoben  werden.  Sowohl  bei  der  Hausklassensteuer,  als  bei  der 
Hauszinssteuer  zeichnen  sie  sich  nach  den  Mitteilungen  des  k.  k.  Finanzministeriums 
durch  ihre  ungeheure  Häufigkeit  und  die  manchmal  erschreckende  Höhe  ihrer 
Prozentsätze  aus.  Von  den  30.788  im  Jahre  1899  bestehenden  Steuergemeinden 
hatten  27.959  Gemeindezuschläge  zur  Hausklassensteuer.  Von  diesen  hatten  6023 
Zuschläge  für  Gemeindebedürfnisse  von  50  bis  100  Proz.,  wo  also  diese  Zuschläge 
allein  den  halben  Betrag  der  Staatssteuer  übersteigen.  In  951  Gemeinden  steigt 
die  Höhe  dieser  Zuschläge  über  den  Betrag  der  Staatssteucr,  indem  die  Zuschläge 
sich  zwischen  100  und  150  Proz.  bewegen.  Bei  394  Gemeinden  sind  sie  über 
150  Proz.,  bei  235  über  200  Proz.,  bei  27  gar  zwischen  200  und  300,  bei  7 
zwischen  300  und  400,  bei  7 anderen  zwischen  400  und  500,  bei  6 zwischen 
500  und  600  Proz.,  bei  2 Steuergemeinden  zwischen  700  und  800,  bei  2 
anderen  zwischen  800  und  900  Proz.,  die  Gemeinde  Torebach  im  Bezirk  Reutte 
in  Tirol  hatte  1899  gar  Zuschläge  in  der  Höhe  von  1123  Proz.  Vergleicht  inan 
damit  die  Zuschläge  zur  Hansklassensfceuer,  die  im  Jahre  1900  für  Gemeinde- 
bedürfnisse vorgeschrieben  wurden,  so  findet  man,  daß  die  Zahl  der  Steuergemeinden, 
in  denen  sie  verkamen,  gegen  das  Vorjahr  auf  28.060  gestiegen  ist,  während 


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Abstufung  der  Gebindesteuer  nach  dem  Maß  der  Verbauung  der  Grundfläche.  Oll 


sich  die  Gesamtzahl  aller  Steuergemeinden  nur  unbedeutend  vergrößert  hatte. 
Was  die  Zahl  der  Gemeinden  mit  hohen  Zuschlägen  anbelangt,  so  hat  sich  die 
Zahl  der  Gemeinden  mit  Zuschlägen  von  50  bis  100  Proz.  um  beinahe  400, 
nämlich  auf  6421  vermehrt,  die  mit  Zuschlägen  von  100  bis  150  Proz.  sind 
auf  1032  gestiegen.  Die  mit  Zuschlägen  von  150  bis  200  sind  auf  378  her- 
untergegangen,  dafür  die  mit  Zuschlägen  von  200  bis  300  Proz.  auf  249  gestiegen. 
Die  Zahl  der  Gemeinden  mit  Zuschlägen  von  300  bis  400  Proz.  ist  auf  18 
gesunken,  die  deijenigen,  bei  denen  sich  die  Zuschläge  zwischen  400  und  500  Proz. 
bewegten,  ist  sich  gleich  geblieben.  Die  Gemeinden  mit  Zuschlägen  zwischen  500 
und  600  Proz.  sind  auf  4.  die  mit  600  bis  700  Proz.  auf  3 zurückgegangen. 
Mit  Zuschlägen  zwischen  700  und  800  Proz.  kamen  1900  überhaupt  keine  Gemeinden 
vor.  dafür  2 wie  im  Vorjahre  mit  Zuschlägen  zwischen  800  und  900  Proz.,  endlich 
gar  3,  in  welchen  die  Gemeindezoschläge  zur  Hansklassensteuer  1000  Proz. 
überstiegen,  es  waren  dies  die  Gemeinden  Giovo  im  Bezirke  Lavis  in  Tirol  mit 
1061  Proz.  Zuschlägen  und  Dellana  und  Kakolno  im  Bezirke  Mies  in  Böhmen 
mit  1223  Proz.  Zuschlägen.  Durch  solche  entsetzlich  hohe  Zuschläge  gestaltet  sich 
die  Hausklassensteuer  zu  einer  drückenden  Last  und  wenn  man  diese  Ziffern  liest, 
so  begreift  man  nicht,  wie  eine  so  furchtbare  Belastung  überhaupt  ertragen 
werden  kann.  Bei  der  Vergleichung  der  Ziffern  in  den  einzelnen  Spalten  sind 
sehr  starke  Schwankungen  in  den  Zahlen  zu  bemerken,  auch  fällt  es  auf,  daß  die 
Gemeinde  Torchaeh  im  Jahre  1899  Zuschläge  über  1000  Proz.  hatte,  während 
sie  im  folgenden  Jahre  nicht  unter  denen  mit  so  hohen  Zuschlägen  genannt  ist. 
und  daß  an  ihrer  Stelle  drei  andere  Gemeinden  angeführt  sind.  Tatsächlich  wird 
das  Drückende  der  hohen  Zuschläge  dadurch  einigermaßen  gemildert,  daß  sie 
zum  Teil  nur  vorübergehend  so  auffallend  hoch  sind,  indem  gewisse  außerordent- 
liche Ausgaben  einfach  auf  die  Steuerträger  umgelegt  werden.  Aber  selbst  wenn 
man  von  diesen  auffallend  hoben  Zuschlägen  absieht,  so  wird  doch  die  Belastung 
der  hausklassHistenerpflichtigen  Gebäude  durch  die  Gemeindezuschtäge  sehr 
wesentlich  erhöht  Übrigens  ist  zu  beachten,  daß  Zuschläge  über  300  Proz.  nur 
in  wenigen  Landern:  in  Tirol.  Vorarlberg.  Böhmen  und  Mähren  und  in  einem 
vereinzelten  Falle  in  Schlesien  vorkamen. 

Zu  der  Hauszinssteuer  wurden  in  nicht  so  vielen  Gemeinden  wie  zur  Haus- 
klassensteuer  Geineindezuschläge  erhoben,  nämlich  bei  21.495  Gemeinden  im 
Jahre  1899  und  bei  21.775  im  Jahre  1900.  Zuschläge  von  50  bis  100  Proz. 
hatten  1899  4519  Steaergemeinden.  1900  4797,  solche  von  100  bis  150  im 
Jahre  1899  705,  im  Jahre  1900  752,  solche  von  150  bis  200  Proz.  1899 

286,  1900  257  Gemeinden,  solche  von  200  bis  300  Proz.  1899  158,  1900 

147  Gemeinden,  über  300  bis  400  Proz.  Zuschläge  hatten  1899  nur  26,  1900 

noch  11  Gemeinden,  über  400  bis  500  Proz.  Zuschläge  hatten  7 Gemeinden 

iin  Jahre  1899  und  ?>  im  Jahre  1900.  Im  Jahre  1899  hatten  10  Gemeinden 
Zuschläge  zur  Hanszinsstener  zwischen  500  und  600  Proz.,  während  im  selbe» 
Jahre  nur  7 Gemeinden  gleich  hohe  Zuschläge  zur  Hansklassensteuer  hatten.  Es 
ist  dies  der  einzige  Fall,  wo  bei  der  Ilauszinssteuer  in  einer  Spalte  eine  höhere 
Gesamtziffer  ansgewiesen  ist,  wie  bei  der  Hausklassensteuer;  im  Jahre  1900 
gab  es  nur  mehr  4 Gemeinden  mit  derselben  Höhe  der  Zuschläge.  Zwischen 


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Zuschlag  für  Geiiieindebedürlni&ic 


Braun  von  Fernwald, 


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1.223  Pro*.  •)  Hierunter  57  «lutsgebiete  ) Hierunter  75  UuUgebletr. 


Zuschlag  für  Gemeindebedärfnirse 


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Istrien  ..... 
Gör*  und  Gradiöka 

Tirol 

Vorarlberg  . . . 

Böhmen 

Mähren 

Schlesien  .... 

Galizien 

Bukowina  .... 
Dalmatien  . . ^ . 
Zusammen  . . 

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42* 


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•)  Gtnfindrn  Ddltnt  und  Hakolno  im  Bezirk«  Miez  1.223  l’roz. 


Zuschlag  lür  Geineimlebedürfniase 


616 


Braun  von  FemuralJ. 


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Abstufung  der  Gebäudesteuer  nach  dem  Maß  der  Verbauung  der  Grundfläche.  H | 7 


600  und  700  Proz.  betrogen  die  Zuschläge  bei  5 Gemeinden  im  Jahre  1800, 
bei  3 im  Jahre  1900.  Zuschläge  zwischen  700  und  800  Proz.  hatte  nur 
1 Gemeinde  im  Jahre  1899,  sulche  -/.wischen  800  und  900  Proz.  1 im  Jahre  1800 
und  2 im  Jahre  1900.  Zuschläge  über  1000  Proz.  sind  nach  den  Mitteilungen  des 
Finanzministeriums  im  Jahre  1890  bei  keiner  Gemeinde  vorgeschriebeu  worden, 
dagegen  1000  bei  den  2 Gemeinden  Oellana  und  Iiakolno  1223  Proz.  wie  hei  der 
Hausklaxsenstener.  In  den  Orten,  wo  der  Steuersatz  der  Hauszinssteuer  20  Proz.  vom 
Nettozins  nach  30  Proz.  Kostenabschlag,  somit  14  Proz.  vom  Bruttozins  beträgt, 
hat  der  Besitzer,  sobald  die  Zuschläge  600  Proz.  etwas  übersteigen,  mehr  an 
Steuern  und  Umlagen  zu  zahlen,  als  er  überhaupt  im  ganzen  an  Zins  eingenommen 
hat,  wie  es  im  Jahre  1000  bei  4 Steuergemeinden  Böhmens  vorkam.  Daß  eine 
solche  Belastung  ertragen  werden  kann,  ist  nur  durch  den  vorübergehenden 
Charakter  derselben  erklärlich  und  cs  gilt  hier  das  bei  der  Hausklassensteuer 
Gesagte.  In  den  Mitteilnngen  des  Finanzministeriums  sind  die  hanszinssteuer- 
pflichtigen  Orte  mit  denen,  wo  die  Hanszinsstener  nur  von  einzelnen  Gebäuden 
infolge  Vermietung  erhoben  wird,  znsainmen  nachgewiesen,  so  daß  sich  kein  Bild 
von  der  Höhe  der  Zuschläge  in  den  hauszinsstenerp  nichtigen  Orten 
gewinnen  läßt  Zuschläge  zur  Hauszinssteuer  über  300  Proz.  kommen  nur  in 
denselben  Ländern  wie  bei  der  Hausklassensteuer  vor. 

Bescheidener  sind  die  Zuschläge,  die  für  Geineindebedürfnisse  zur  5 proz. 
Steuer  erhoben  werden;  sie  kommen  nur  in  einigen  Ländern  vor,  über  100  Proz. 
erheben  sie  sich  nur  in  Salzburg,  Kärnten,  Tirol  und  Vorarlberg,  während  sie  in 
Niederösterreich,  Steiermark.  Mähren  und  Galizien  unter  50  Proz.  bleiben. 

Um  die  Übersicht  der  Belastung  der  Gebäude  mit  Zuschlägen  zu  vervoll- 
ständigen. müssen  noch  die  Zuschläge  für  andere  bisher  nicht  berücksichtigte 
Konkurrenzbeiträge  angeführt  werden,  die  in  den  Mitteilungen  des  Finanzministeriums 
nicht  namentlich,  solidem  nur  alle  gemeinsam  nachgewiesen  sind.  Soweit  sie  zur 
Hausklassensteuer  und  zur  Hauszinssteuer  erhoben  werden,  sind  sie  in  den  Tabellen 
XV  nnd  XVI  enthalten.  Zur  Sproz.  Steuer  werden  sie  nur  in  2 Ländern  erhoben: 
in  Kärnten  und  Tirol,  nnd  zwar  blieben  sio  in  Tirol  stets  unter  10  Proz.  Im 
Jahre  1899  kamen  sie  in  76,  im  Jahre  1900  in  54  Steuergeineinden  dieses 
Landes  vor.  In  Kärnten  waren  sie  häufiger,  nämlich  1899  in  147,  1900  in 
109  Steuergemeinden.  Unter  10  Proz.  blieben  sie  dort  1899  bei  90,  1900  bei 
73  Steuergemeinden,  zwischen  10  und  50  Proz.  bewegten  sie  sich  1899  bei  47, 
1900  bei  27  Gemeinden,  zwischen  50  und  100  Proz.  1899  bei  4,  1900  bei  8 
zwischen  100  und  150  Proz.  1899  bei  6.  1900  hei  1 Steuergemeinde  Kärntens. 

Schließlich  seien  noch  in  den  Tabellen  XVII  nnd  XVIII  die  Gesamtbeträge 
aller  Zuschläge  zu  den  Gebäudestenem  in  den  Jahren  1899  und  1900  wieder- 
gegeben, aus  denen  die  Belastung  des  Hausbeäitzes  durch  die  Zuschläge  zu 
ersehen  ist.  Daneben  ist  noch  das  Ausmaß  der  Zuschläge  in  Prozenten  der 
Umlagsbasis  angeführt.  Im  Jahre  1899  beliefen  sich  die  auf  die  Hausklassen- 
sleucr  umgelegten  Zuschläge  auf  15,003.656  K,  1900  stiegen  sie  15,616.591  K. 
Da  dio  Vorschreibung  für  die  Hausklassensteuer  (Tabelle  III  und  IV)  im  Jahre  1899 
nur  11,705.940  K nnd  im  Jahre  1900  11,757.568  K ausmachte,  so  ist  zu 
ersehen,  daß  die  Zuschläge  zur  Hausklassensteuer  um  ein  Bedeutendes,  im  Jahre  1900 


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Jlraun  von  Fernwald. 


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Abstufung  der  Gebiiudesteuer  nach  dein  Mali  der  Verbauung  der  Grundfläche.  019 


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')  Steh«  Anmerkung  Hftu«kU*Mn  (teuer 


Postnummer 


Braun  von  Fernwald. 


620 


Tabelle  XVII. 


Gesamtbetrag  aller  Zuschläge  zu  den  Gebäudesteuern  im  Jahre  1899 
Beirag  der  nmgelegtcn  Zuschläge,  und  zwar: 

I I I ’S  II  I *3 

auf  die  « J auf  die  anf  die  , «J 

Länder  Hausklassen  c 5-  Hauszins-  c 8a  5proz.  e Sa 
»teuer  £ «teuer  § ■=  Steuer  g 
cu  ^ j du  lj  ö 

mit  Kr.uien  ~z  mit  Kronen  «g  mit  Kronen  -q 


'' 


1 

Niederösterreich 

945.840 

1020 

24,759.430 

52-2 

309.594 

38-9 

2 

Oberösterreich  . . 

620.714 

K60 

1.840.500 

93-4 

3 

Salzburg  .... 

183.566 

144  1 

862.134 

143-5 

50.862 

110-9 

4 

Steiermark  ... 

822.522 

1131 

4,070.718 

92-2 

1.860 

189-8 

5 

Kärnten  ... 

233.960 

110  8 

431.978 

78-0 

45.114 

107-8 

6 

Krain 

292.354 

96-7 

326.496 

58-9 

- 

— 

7 

Triest 

2.292 

100 

626.016 

210 

— 

— 

8 

Istrien  ' 

206.382 

110-2 

481.824 

96-2 

— 

— 

9 

Görx  und  Gradiska  . 

237.616 

178-5 

299.452 

73-0  - 

60-7  73.550 

— 

10 

Tirol  

347.180 

79-8 

829.370 

76-1 

11 

Vorarlberg  .... 

• 

Böhmen 

150.560 

143-0 

224.916 

162-8 

2.690 

242-3 

12 

3,568.734 

125-2 

19.778.706 

1050 

_ 

13 

, i 

Mähren 

1,507.158 

128*8 

4,721.202 

88-8 

11.018 

580 

14 

Schlesien 

401.43* 

161-3 

1,570.806 

133-9 

15 

Galizien  .... 

4,575.656 

130-8 

5,859.962 

100-0 

330.672 

70-3 

,6 

Bukowina  .... 

568.356 

1391 

642.418 

82-3 

— 

— 

17 

Dalmatien  .... 

339.332 

1784 

636  084 

136-4 

— 

- 

Zusammen  ... 

15,003.656 

122-3 

67,961.962 

72-7 

825.860 

56-2 

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Postnuminer 


Abstufung  der  Gebiudesteucr  nach  dem  Maü  der  Verbauung  der  Grundfläche.  621 


Tabelle  XVIII. 


• Jesamtbetrag  aller  Zuschläge  zu  den  Gebäudeateuern  im  Jahre  1900 


Betrag  der  umgelegten  Zuschläge,  und  zwar: 


auf  die 
llausklasaeu- 
steuer 

ä 

■5i 

53  «s 

m 

2 S 
£» 

i 

auf  die 
Hauszins- 
Steuer 

3 

a>-o 
"=  M 

S-S 

5 - 

auf  die 
5proz. 
Steuer 

« 

— 

S | 
o g 

mit  Kronen 

o 

'O 

mit  Kronen 

tl 

•o 

mit  Kronen 

i 

Niederösterreich  . . 

978.816 

105-3 

24,892.429 

51-2 

321.003 

40-1 

o 

* |l 

Oberösterreich 

632.475 

873 

1,909.115 

93-8 

- | 

- 

3 ■' 

Saliburg 

187.809 

146-7 

882.084 

142-2 

46.762  > 

111-0 

*\ 

Steiermark  .... 

857.796 

117  7 

4,378.368 

961 

5.015 

143-9 

h 

Kärnten 

258.095 

120-5 

575.538 

99  7 

47.683  | 

106-3 

6 

Krain 

287.989 

949 

334.114 

58-1 

- 

- 

7 

Triest  ..... 

2.336 

100 

634.605 

21-0 

- 

- 

8 

Istrien 

286.588 

12-5-3 

514.709 

99-6 

- 

- 

9 

Görz  und  Gradiska  . 

246.287 

178-7 

318.674 

77-5 

- 

- 

10 

Tirol  

844.638 

80-6 

844.979 

60-5 

92.510 

96-2 

u 1 

Vorarlberg  . . . 

182.984 

172-3 

237.268 

164-2 

14.561 

147-1 

12 

Böhmen  . . 

3,607.947 

126-4 

20,622.867 

107  5, 

- j 

- 

13  || 

Mähren 

1,557.672 

132-6 

5,030.084 

941 

16.204 

622 

14 

Schlesien  . 

384.222 

152  6 

1,606.821 

181-8 

- 

15 

Galizien 

4,896  822 

138*8 

6.191.704 

107-3  |j 

389.241 

76-6 

16 

Bukowina  ... 

6*27.979 

140-2 

672.869 

82-8  i 

- 

- 

17 

Dalmatien  .... 

326.193 

1711 

639.836 

138-8 

- 1 

- 

Zusammen  . . 

15,616.591 

126-3 

70,286.084 

™-8 

982.979 

60-9 

I ü 


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622 


Braun  von  Fernwald. 


nahezu  um  4,000.000  höher  sind  als  diese  selbst.  Sämtliche  auf  die  Hauszinssteuer 
eingelegten  Zuschläge  betrugen  1809  67,061.962  K,  1900  aber  70,286.084  K. 
so  daß  eine  Steigerung  um  mehr  als  2,000.000  zu  konstatieren  ist.  Da  die  Haus- 
zinssteuervorsclireibuiig  (Tabelle  111  und  1 Y 68,985.111  K im  Jahre  1899  und 
72,594.052  K im  Jahre  1900  ausmachte,  so  zeigt  es  sich,  daß  die  Belastung  mit 
Zuschlägen  etwas  geringer  ist  wie  bei  der  Hausklassensteuer,  indem  deren  Gesamt- 
betrag den  der  Hauszinssteuer  nicht  ganz  erreicht.  Weil  Zuschläge  zur  Sproz.  Steuer 
mir  in  einigen  Ländern  Vorkommen,  so  kann  man  nirht  deren  Gesamtbetrag  mit 
der  Summe  der  Verschrei bungen  für  die  5proz.  Steuer  vergleichen,  sondern  muß 
selbst  zu  einer  oberflächlichen  Orientierung  auf  die  einzelnen  Länder  eingehen. 
Um  jedoch  nicht  zu  weitschweifig  zu  werden  und  mit  Rücksicht  darauf,  daß  die 
Vorschreibungen  an  5proz.  Steuer  für  das  Jahr  1900  durch  außergewöhnliche 
Umstände  gestört  wurden,  sei  nur  das  Jahr  1899  in  Betracht  gezogen.  In  Nieder- 
österreich stehen  einer  5proz.  Steuer  von  3,489.060  K nur  Zuschläge  hiezu  im 
Ausmaße  von  309.594  K gegenüber,  dagegen  ist  in  Salzburg  der  Betrag  der 
Zuschläge  (50.862  K nur  wenig  niederer  als  der  der  Sproz.  Steuer  (55.836  K. 
In  Steiermark  machen  die  Zuschläge  1860  K aus,  die  Sproz.  Steuer  aber 
237.844  K.  Dagegen  umfaßt  sie  in  Kärnten  nur  41.996  K,  während  ihre 
Zuschläge  im  Betrage  von  45  114  K sie  stark  überragen,  ln  Tirol  und  Vorarl- 
berg. wo  die  Steuer  112  036  K beträgt,  kommen  auf  die  Zuschläge  76.240  K. 
In  Mähren  betrugen  sie  11.018  K.  die  Sproz.  Steuer  305.992  K,  in  Galizien 
die  Zuschläge  330.672  A*.  die  Steuer  562.646  K. 

Nachdem  die  Belastung  der  Gebände  mit  Steuern  und  Zuschlägen  dargestellt 
worden  ist.  wäre  cs  für  die  Beurteilung  der  Wirkung  der  vorgeschlagencn 
Abstufung  der  Gobäudestonern  von  großem  Wert,  wenn  möglichst  vollständige 
Nachweisungen  über  das  Ausmaß  der  verbauten  Flächen,  der  Höfe,  der  Haus- 
gärten und  der  anderen  zu  den  Gebäuden  gehörigen  unverbauten  Gründe  sowie 
über  das  Verhältnis  der  verbauten  und  unverbauten  Fläche  bei  den  einzelnen 
Gebäuden  gegeben  werden  könnten.  Leider  haben  diese  Funkte  bisher  in  Öster- 
reich wenig  Beachtung  gefunden,  so  daß  derartige  statistische  Angaben  sehr 
schwierig  zu  beschaffen  sind.  Für  die  Zwecke  der  Grundsteuer  werden  zwar  für 
ganz  Österreich  sehr  detaillierte  Nachweisungen  über  die  Verteilung  der  Bodoufläche 
auf  die  einzelnen  Kulturarter  geführt,  bei  denen  die  Gärten  eine  selbständige 
Gruppe  bilden,  doch  ist  keine  Unterscheidung  zwischen  privaten  und  öffentlich 
zugänglichen  Gärten  gemacht  und  auch  nicht  ersichtlich,  oh  die  Gärten  zu 
Gebäuden  gehören  oder  nicht.  Da  die  verbaute  Fläche  und  die  Höfe  vou  der 
Grundsteuer  befreit  sind  und  der  Gebüudestener  unterliegen,  so  werden  die 
Flächenmaße  für  Häuser  nnd  Hofräume  nur  gemeinsam  dargestellt,  ohne  daß  zu 
entnehmen  wäre,  welcher  Teil  davon  tatsächlich  von  Gebäuden  eingenommen  ist.  Es 
kann  daher  keine  Übersicht  über  das  Gesamtausmaß  der  verbauten  Fläche  gegeben 
werden.  Leider  war  es  auch  nicht  möglich,  wenigstens  für  einzelne  Orte  statistische 
Darstellungen  über  das  Ansmaß  der  verhauten  Fläche  und  das  Verhältnis  derselben 
zur  ganzen  zugehörigen  Grundfläche  bei  den  einzelnen  Gebäuden  zu  beschaffen. 

In  Czernowitz,  der  Landeshauptstadt  der  Bukowina,  wird  nach  dem  Gesetze 
vom  11.  November  1893.  L.-G.-Bl.  Nr.  34.  eine  jährliche  Kanalgebühr  im 


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Abstufung  der  Gebftndesteuer  nach  dem  Maß  der  Verbauung  der  Grundfläche.  623 


Höchstbetrage  von  7 Kreuzer  (14  Heller)  von  jedem  Quadratmeter  der  ver- 
bauten Fläche,  vervielfacht  mit  der  Auzahl  der  Gescboße,  eingehoben.  In 
§ 22  des  zu  diesem  Gesetze  erflossenen  Regulativs  vom  1.  Dezember  18%, 
L.-G.-Bl.  Nr.  27,  sind  diese  Bestimmungen  folgendermaßen  erläutert:  „Die  Grund- 
lage der  Bemessung  der  Kanalgebühr  bildet  das  Maß  der  verbauten  Fläche 
sämtlicher  Gebäude,  wobei  alle  Räume  ohne  Ausnahme,  somit  auch  sämtliche 
Mauern,  Stiegenhäuser.  Vestibüle,  Korridore,  Aborte,  Speisekammern  etc.  mit 
einzurechnen  sind.  Die  festgestellte  Quad ratnieterzahl  der  verbauten  Fläche  ist 
bei  stockhohen  oder  mehrstöckigen  Baulichkeiten  zur  Ermittlung  der  der  Abgabe 
unterliegenden  Gesamtfläche  mit  der  Anzahl  der  Geschoß«  zu  vervielfältigen;  die 
sich  darnach  ergebende  Gesamtzahl  der  Quadratmeter  bildet  die  für  die  Vor- 
schreibung und  Einhebung  der  Abgabe  maßgebende  verbaute  Fläche.  Keller  und 
Dachböden  kommen  hiebei  nicht  als  Geschoße  in  Betracht,  es  ist  jedoch  von 
allen  im  Keller-  oder  Dachbodenbereiche  befindlichen  hergerichteten  Räumlichkeiten, 
insoweit  sie  bewohnbar  sind,  das  Flächenmaß  gleichfalls  zu  erheben  und  dem 
nach  dem  Vorangeschickten  ermittelten  verbauten  Flächenraume  zuzuschlagen. 
Bei  einer  allfalligen  Verschiedenheit  der  in  den  einzelnen  Geschoßen  verbauten 
Fläche  ist  die  verbaute  Fläche  jedes  Geschoßes  abgesondert  in  Rechnung  zu 
stellen  und  die  aus  der  Summierung  der  auf  jede  Geschoßllächo  entfallenden 
Gebühren  sich  ergebende  Gesamtgebühr  vorzuschreiben.“  Da  für  diese  Kanal- 
gebühr die  verbaute  Fläche  festgestellt  wird,  so  könnte  leicht  eine  Darstellung 
der  verbauten  Flächen  in  den  kanalisierten  Straßen  gegeben  werden.  Bis  jetzt 
waren  aber  keine  diesbezüglichen  statistischen  Nachweisniigen  zu  erlangen.1) 

Da  keine  statistischen  Darstellungen  über  die  verbauten  Flächen  erhältlich 
sind,  so  sei  an  einem  Beispiel  veranschaulicht,  welcher  Anteil  an  der  Gesamt- 
grundfläche  einer  Großstadt  auf  die  Häuser  und  Hofräume  zusammen  entfallt 
und  wie  sich  der  Rest  auf  die  anderen  Benützungsarten  verteilt.  In  Tabelle  XIX 
ist  nach  den  Nacbweisnngen  in  den  Statistischen  Jahrbüchern  der  Reichshaupt- 
und  Residenzstadt  Wien  für  die  Jahre  1891  lind  1900  eine  Zusammenstellung 
über  die  Verteilung  der  Grundfläche  des  Gemeindegebietes  in  diesen  beiden 
Jahren  auf  die  einzelnen  Benützungsarten  gegeben,  und  zwar  sind  die  Daten 
für  jeden  Bezirk  gesondert  geliefert.  Am  meisten  interessieren  die  ersten  beiden 
Spalten  „Häuser  und  Hofrflume“  und  „Haus-,  Obst-  und  Gemüsegärten  und  öffent- 
liche Anlagen“.  Die  ersteren  umfaßten  im  Jahre  1891  im  ganzen  2.097*8420  ha, 
im  Jahre  1900  aber  bereits  2.337*3347  ha.  Wie  viel  von  dieser  Fläche  von 
Gebänden  bedeckt  ist  und  wie  viel  nnverbaut  geblieben  ist,  kann  gegenwärtig 
nicht  angegeben  werden.  Die  Gruppe  der  Gärten  wies  1891  einen  Flächenraum 
von  2356' 7493  ha  auf.  der  bis  zum  Jahre  1900  auf  2240*2440  herabsank. 
Das  Jahrbuch  für  1900  gibt  an,  daß  in  diesem  Jahre  hievon  965’8959  ha  auf 
öffentliche  Gartenanlagen  entfielen.  Von  diesen  öffentlichen  Anlagen  waren 
12*5687  ha  bloße  Zieranlagen,  die  dein  Publikum  nicht  zugänglich  sind,  also  für 
die  Öffentlichkeit  ungefähr  den  Wert  von  Privatvorgärten  haben,  die  dem  Vor- 

')  Nach  Drucklegung  dieser  Arbeit  ist  eine  Zusammenstellung  über  die  verbauten  und 
unverbauten  Flächen  in  einigen  Straßen  von  Czernowitz  eingelangt,  die  leider  nicht  m«*hr  berück, 
siehtigt  werden  konnte  In  einzelnen  Fällen  kommt  eine  Verbauung  von  über  90  Pro*,  vor. 


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Verteilung  der  Grundfläche  im  Geineindegebiete  der  Keichshnupt-  und  Residenzstadt  Wien  in  den  Jahren  1891  und  1900  mit  Rücksicht  auf  die 

Art  der  Benützung.*) 


624 


Braun  von  Fernwahl. 


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Abstufung  der  GebSiidestener  nach  dem  Maß  der  Veibauung  der  Grundfläche.  625 


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62G 


Braun  von  Fertiwuhl. 


übergehenden  vollen  Einblick  gewähren.  Von  sämtlichen  öffentlichen  Anlagen 
standen  im  Eigentmn  des  Hof-  und  Staatsärars  699  4330  ha,  in  dem  von 
Fonds  und  Privaten  172  0028  ha,  in  dem  der  Gemeinde  nur  94-4601  ha;  von 
diesen  letztgenannten  waren  10-4967  ha  bloße  Zieranlagen.  Im  Jahrbuch  für 
das  Jahr  1891  sind  keine  entsprechenden  Nachwcisungeu  über  die  öffentlichen 
Anlagen  enthalten.  Nach  Abzug  der  Fläche  sämtlicher  öffentlicher  Anlagen 
verbleiben  für  die  Haus-,  Obst-  und  Gemüsegärten  im  Jahre  1900  noch 
1274-3481  lia,  doch  ist  nicht  zu  entnehmen,  wie  viel  davon  die  Hausgärten 
ausmachen.  Der  prozentuelle  Anteil  der  Häuser  und  Hofräume  an  der  Grund- 
fläche des  Gemeindegebietes,  der  1891  11*78  I’roz.  betrug,  ist  1900  auf 
1312  Proz.  gestiegen,  dagegen  ist  der  Prozentanteil  der  Gärten  und  öffent- 
lichen Anlagen  in  derselben  Zeit  von  1 3' 23  Proz.  auf  12'58  Proz.  gesunken. 
Die  Zunahme  und  Abnahme  der  den  einzelnen  Benützungsarten  gewidmeten 
Flächenrüunie  von  1891  bis  1900  zeigt  Tabelle  XX.  Was  das  ganze  Gemeinde- 
gebiet betrifft,  so  haben  die  Häuser  und  Hofräuine  mit  einer  Flächenvermehmng 
von  239-4927  ha  den  größten  Zuwachs  zu  verzeichnen.  Ihnen  zunächst  kommen 
die  Straßen  und  Wege  mit  einer  Zunahme  von  128  0731  ha.  Dagegen  ist 
nach  den  Äckern,  Wiesen  und  Weiden,  die  262-0836  ha  verloren  haben,  die 
stärkste  Abnahme  in  der  Flächenausdehnung  der  Haus-,  Obst-  und  Gemüsegärten 
und  öffentlichen  Anlagen  zu  bemerken,  die  um  116-5053  Zw  kleiner  geworden 
ist.  Was  die  einzelnen  Bezirke  betrifft,  so  zeigen  Häuser  und  Hofräume  in  den 
meisten  Bezirken  eine  Zunahme,  so  im  II.  Bezirk  sogar  um  52-7412  Ä«,  im 
X.  um  34-7268  ha,  im  XVI.  Bezirk  um  24  4879  und  im  XIII.  um  23  4661  ha, 
in  den  anderen  Bezirken  ist  die  Vermehrung  geringer;  eine  Abnahme  bei 
den  Häusern  und  Hofräumen  bat  nur  beim  1.  Bezirk  um  nicht  ganz  ein 
1 ha  und  im  VI.  um  etwas  inehr  als  1 ha  stattgefunden.  Die  Gärten  und 
öffentlichen  Anlagen  haben  in  allen  Bezirken  eine  Verminderung  ihrer  Flüche 
erfahren,  nur  im  I.  Bezirk  ist  bei  ihnen  ein  Znwachs  von  6 0383  ha  ans- 
gewieson.  Die  Straßen  und  Wege  haben  naturgemäß  in  allen  Bezirken  an  Gebiet 
gewonnen,  nur  im  I.  Bezirk  ist  bei  ihnen  im  Jahre  1900  eine  um  5 8058  ha 
kleinere  Fläche  angegeben.  Die  große  Zunahme  der  Flächen  der  Häuser  und 
Höfe  beweist  ein  starkes  Fortschreiten  der  Verbauung.  Die  kleine  Abnahme  bei 
den  Häusern  und  Hofräuinen  im  VI.  Bezirk  ist,  da  in  diesem  Bezirk  nur  die 
Straßen  einen  Flächenzuwachs  erfahren  haben,  offenbar  auf  Nenanlage  und  Ver- 
breiterung von  Straßen  und  Plätzen  zurückzuführen.  Auf  der  gleichen  Ursache 
beruht  wohl  auch  die  Verminderung  der  Häusergründe  im  I.  Bezirk;  weil  die 
Vermehrung  der  Flächo  der  Gärten  und  Anlagen  gleich  ist  der  Summe  der 
Flächen,  welche  bei  den  Häusern  und  bei  Straßen  weggefallen  sind,  ist  es  wahr- 
scheinlich, daß  Gebiete,  die  früher  zu  den  Straßen  gehörton,  jetzt  unter  den 
öffentlichen  Anlagen  erscheinen.  Die  Tabellen  XIX  und  XX  zeigen  das  rasche 
Wachstum  der  Verbauung  dos  Stadtgebietes;  wie  weit  aber  der  einzelne  Grund 
ausgenützt  und  wie  viel  für  Hofräume  übrig  gelassen  worden  ist.  kann  man  aus 
ihnen  nicht  ersehen.  Aber  gerade  dies  wäre  wichtig  zu  wissen,  um  die  Wirkung 
einer  Abstufung  der  Gebäudesteuer  nach  der  Stärke  der  Verbauung  der  Grund- 
fläche im  voraus  zu  beurteilen. 


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Abstufung  der  Gebäudesteuer  nach  dem  Maß  der  Verbauung  der  Grundfläche.  {>27 


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Nummer 


628 


Braun  von  Fernwald. 


Tabelle  XXI. 

Verzeichnis  der  verbauten  und  unverbauten  Flächen  der  Häuser  in  der  Kärnthneratr&ße 
im  I.  Bezirk,  Innere  Stadt. 


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34800 

308-00 

88-5 

40-00 

11-5  1882; 

I. 

1615 

557-83 

369-47 

66-3 

188-36 

33-7 

1900 

I. 

586 

479-81 

402*08  83*8 

77-78 

16-2 

1884 

I. 

589 

662-95 

45725 

690 

205-70  31  01900 

I. 

1377 

494-75 

39675 

80-2 

9800 

19-8  189S| 

1. 

678 

684-50 

633-00 

92-5 

51-50 

7-5  1874); 

I. 

590 

329  17 

278-11 

84*5 

5106  15-518841 

I. 

! 593! 1 

J 565-88 

520*61 

920 

45*27 

80  1889 

I. 

1547 

• 

32000 

27400 

85*6 

46-00 

14-4  1884 

Anmerkung 


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: 34 


784 

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592 
195' 

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597 
1591 
461 
1590 

599 
317 

600 
336 
521 
601 


805-00  754  00  93-7  51-00 
710-00:  509*75  71-8  200-25 


6-3  1893 

j: 


28-2  187«! 
537*2sJ  487-63  90-8'  49-60  9 2 1899 
768-98  572-61 ; 74-5;  196-37  25-5  1899 
i|  27S-001  255-00  93  t 18-00.  6-6jjl899j: 
707  13  576-63  81-5  130-50  18  &;  17941 
777-10  714-20;  92  0 62-9ü'  8-01892 
238  00'  214-00  90-0  24  00;  10-0  1814 
526-50  473-50'  89  9,  53  00  10  1 1890: 
272  88  260-04  95-3  12-84  4-7j.l884| 
520-35  410*35  78-9  110  06  21  1 1875 
158  00  149-00;  94-3  , 9-00  5-7  1785;: 

927-04 ; 716-851  77.3  21019)  22-7  1877 
178-50  166-50  93-3  1200  6-7  1844 
91-61 


568-75 
1421  00! 
'!  427-50 
4960ot 
503-12 


520-75 

872-00 

400-50 

463-501 

413-651 


48-00  8-4  1 
61-4||  549-00  38-0  1772j| 
93-7  27  00  6 31875t 
93-4  32-50  , 6-6)179' 
82-2!  89-47  17-8  18758 

i 


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Abstufung  ‘1er  Gebäudeateuer  nach  dem  Maß  der  Verbauung  der  Grundfläche.  629 


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Kämthnerstraße 

1750-00 

1-113-00 

807 

332  00  19-3 

1837 

3£ 

L 

738 

34600 

314-00 

90-0 

3200  100 

1875 

31 

L 

322; 

320  00 

22212 

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117-60  30- 1 

1888 

33 

L 

42 

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24-00  121 

1875 

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1838 

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1794 

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1861 

13 

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91200 

797-00 

87-4 

1 15  00  1231 

1860 

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27708 

249-24 

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28-44  10-2 

1889 

12 

I. 

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1344  00 

1248-00 

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12 

I. 

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286-73 

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1888 

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1886 

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1680  00 

1423-50 

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257  50  15-3 

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L 

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733-25 

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99-25;  LLS 

1861 

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833  00 

728-00 

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105-00  LLG1861 

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I. 

896-72- 

755-05 

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141G7| 

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331 

753-25 

625-25 

830 

128-00  Ul! 

1861 

21 

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322 

* 

888-00 

796  00 

69-6 

9200  Ulli 

1860 

23 

1 

705 

062  00 

I 

845-00 

87-8 

117-00  112 

1860 

Zeitschrift  für  V«IW*wlrUcb*ft,  Sozialpolitik  und  Vcrwoltuntf-  XII  IUb<I. 


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Ö30  Braun  ton  Fernwald. 

Tabelle  XXII. 

Verzeichn«  der  verbauten  und  unverbauten  Flächen  der  in  den  letzten  20  Jahren  um  gebauten 
Häuser  in  der  Alserstraüe  von  der  Kochgasse  bis  zur  Blindengasse  im  VIII.  Bezirke,  Josefstadt 


II  Ijlll 

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31  VIII.  323  Alserstraüe 
33  VIII.  32 


37  VIII.  34 
39  VIII.  35 
41  VIII.  36 
43  VIII.  37 
45  VIII.  38 
47  VIII.  39 
49  VIII.  40 
51  VIII.  163 
53  VIII.  41 
55  VIII.  42 
57  VIII.  43 
59  VIII.  | 44 
61  VIII  45 
63  VIII.  46 
63b  VIII.  939 
65  VIII.  884 

67  VIII.  894 

I 

69  VIII.  892 


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verbaute  | 
Fläche 

unverbaute 

Fläche 

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Anmerkung 


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680-53  561-50,  82*5  119  03  17-51901 


1544-191 761-50  49  3 782-69  50  ,1901 

— — — j — — — »ehr  aller  Beatand 

— — — i — — — «ehr  alter  Beatand 

1543-21  954-40  61  !ij  588-81  881  1890 


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hieron  £28  00  «* 

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1170-00 

601-88 

591 

478  12 

40-9 

1896 

870-96 

555-79 

63-8 

81517 

36-2 

1900 

1152-24 

775-36 

673 

! 376-88 

82-7 

1892 

- - 1812 


44 

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673-26 

502-40 

74-6 

170-86 

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an 

* ... 

852-63 

71307 

836 

139-56 

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939 

» ... 

478-55 

373-85 

79  0 

99  70 

884 

667-88 

51844 

776 

14944 

894 

* ... 

895  46 

353  02, 

1 89'3 

42-44 

892 

* ... 

797-85 

584-36 

: 73  2 

21349 

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Abstufung  der  Gebäudesteuer  nach  dem  Mali  der  Verbauung  der  Grundfläche.  631 


Tabelle  XX111. 


Verzeichnis  der  verbauten  und  unterbauten  Flächen  der  in  den  letzten  20  Jahren  umgebauteu 
Häuser  in  der  Alscrstralk»  ton  der  Spitalgasse  bis  zur  Zimniermanng&sse  im  IX.  Bezirke. 

Alsergrund. 


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Orientierung*- 
Nn  tiimer 


632  Braun  von  Fernwald. 

Tabelle  XXIV. 

Verzeichnis  der  verbaoten  und  unverbauten  Flächen  der  in  den  letzten  Jahrzehnten  erbauten 
Häuser  in  der  Schellhatninergaase  im  XVI.  Bezirke,  Ottakring. 


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Anmerkung 

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Abstufung  der  Gebäudesteuer  nach  dein  Maß  der  Verbauung  der  Grundfläche.  (533 


Weil  aber  auch  für  Wien  keine  statistischen  Nachweisungen  über  die 
verbauten  Flachen  besteheu,  muß  man  sich  mit  einigen  Stichproben  begnügen. 
Cher  Krauchen  wurden  vom  Wiener  Magistrat  Verzeichnisse  über  die  ver- 
bauten und  unverbauten  Flächen  der  in  den  letzten  Jahrzehnten  neuerrichteten 
Häuser1)  in  drei  Wiener  Straßen  zusammengestellt,  die  in  den  Tabellen  XXI  bis 
XXIV  wiedergegeben  sind.  Von  den  drei  gewählten  Straßen  liegt  eine,  die 
Kärntnerstraße,  im  I.  Bezirk,  der  das  Gebiet  der  ehemals  befestigten  alten  Stadt 
umfaßt.  Biese  Straße,  die  eine  Hauptverkehrsader  bildet,  wurde  in  den  letzten 
Jahrzehnten  stark  verbreitert.  Leider  war  es  nicht  möglich,  Angaben  über  das 
Maß  der  Verbauung  der  früher  bestandenen  Hänser  zu  erbalten;  es  ist  dies  sehr 
zu  bedauern,  weil  man  durch  den  Vergleich  der  Verbauung  bei  den  alten  und 
den  neuen  Gebäuden  hätte  ersehen  können,  welche  Wirkung  die  Verbreiterung 
der  Straße  auf  die  Größe  der  Hofräume  gehabt  hat.  Die  nächste  Straße,  die 
Alserstraße.  bildet  die  Grenze  zwischen  der  Josefstadt  und  dem  Alsergrund,  welche 
zu  den  Bezirken  gehören,  die  aus  den  unbefestigten  Vorstädten  der  alten  Festungs- 
stadt erwachsen  sind.  Die  dritte  Gasse  endlich,  die  Schellhamergasse,  liegt  in  Ottak- 
ring (XVI.  Bezirk),  welchor  einer  jener  peripherischen  Bezirke  ist,  die  aus  den 
außer  der  alten  Verzehrungssteuerlinie  gelegenen  Vororten  gebildet  und  erst  im 
Jahre  1891  der  Stadt  Wien  einverleibt  wurden.  Die  folgende  Tabelle  XXV  gibt 
eine  Übersicht  über  das  Maß  der  Verbauung  in  den  einzelnen  angeführten  Straßen 
und  Straßenteilen. 

Tabelle  XXV. 

Übersicht  über  «las  Maß  der  Verbauung  bei  den  Häusern,  deren  verbaute  und  unverbaute 
Flächen  in  den  Tabellen  XXI  bis  XXIV  ausgewiesen  sind. 


Bezirk 

Straße 

Anzahl  der  Gebäude,  bei  denen 

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der  ganzen  Grun  itläche  verbaut  sind 

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16 

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2 

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— 13 

IX 

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XVI 

Schellhainmergassc 

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Zusammen  . . 

4 

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22 

7 

23 

19 

17  92 

Von  den  5:1  ausgewiesenen  Häusern  der  Kärntnerstraßo  sind  32  stärker  verbaut 
als  es  der  Wiener  Bauordnung  entspricht,  die,  wie  oben  angeführt,  nur  ansnahmt  • 
weise  eine  Verbauung  von  mehr  als  85  Proz.  der  Grundfläche  gestattet.  Es 
mußte  der  durch  die  Verbreiterung  der  Straße  bewirkten  Verkleinerung  der  Bau- 
gründe Kechnnng  getragen  werden,  weshalb  Erleichterungen  gewährt  wurden. 
Von  diesen  32  Häusern  haben  14  Höfe,  die  kleiner  sind  als  10  Proz.  der  Grund- 

’)  In  «1er  Kümthnerstraße  sin«l  auch  die  Maße  der  älteren  Gebäude  angegeben. 


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634 


ßraun  von  Femwald. 


fläche,  hei  zwei  Häusern  bleibt  der  unverbaute  Teil  sogar  unter  5 Proz.  der  Grund- 
fläclie.  In  der  Alserstraße  ist  bei  4 von  22  Häusern  eine  Verbauung  über  das 
vorschriftsmäßige  Maximum  hinaus  ausgewiesen.  In  der  Schellhammergasse  ist 
die  Vorschrift  der  Bauordnung  hei  allen  angeführten  Häusern  befolgt.  Nur  bis 
zur  Hälfte  verbaut  ist  der  Grund  bei  einem  Hause  der  Alserstraße  und  bei  dreien 
der  Schcllhainmcrgasse;  in  der  Kärntnerstraße  kommt  eine  so  schwache  Ausnützung 
der  Bodcnflllche  überhaupt  nicht  vor.  Zwischen  50  und  75  Proz.  beträgt  die 
Verbauung  bei  6 Häusern  der  Kärntnerstaße.  bei  9 der  Alserstraße  und  bei  7 
der  Schellhammergasse.  Den  Forderungen  der  Krakauer  Bauordnung,  die  einen  Hof 
von  20  Proz.  verlangt,  würden  im  ganzen  33  Häuser  genügen.  Im  allgemeinen 
ist  zu  bemerken,  daß  die  Stärke  der  Verbauung  der  Grundflächen  mit  der  Ent- 
fernung  vom  Zentrum  abnimint.  Wollte  man  die  günstigste  Behandlung  bei  Bemes- 
sung der  Hauszinssteuer  von  dem  Vorhandensein  eines  Hofes  gleich  der  Hälfte 
des  ganzen  Grundes  abhängig  machen,  so  würden  derselben  nur  4 von  den  ange- 
führten 92  Häusern  teilhaftig  werden,  so  daß  nur  bei  ihnen  der  volle  durch  einen 
etwaigen  Nachlaß  bewirkte  Steuerausfall  eintreten  würde.  Es  darf  aber  nicht 
übersehen  werden,  daß  die  angeführten  Beispiele  lediglich  einen  Wert  als  Stich- 
proben haben  und  daß  man  ans  ihnen  keine  weitgehenden  Folgerungen  ableiten 
darf.  In  den  ländlichen  Stadteilen  sind  natürlich  viele  Häuser  mit  großen  unver- 
bauten Flächen.  Anderseits  ist  nicht  ausgeschlossen,  daß  anch  au  der  Peripherie 
in  einzelnen  Fällen  eine  sehr  weitgehende  Ausnützung  des  Grundes  vorkommt.  Darüber 
könnte  nur  oine  vollständige  Statistik  der  verbauten  Flächen  und  detaillierte  Nach- 
weisungeu  darüber,  wie  das  Verhältnis  derselben  zur  ganzen  Grundfläche  bei  den 
einzelnen  Häusern  ist,  Auskunft  geben.  Diese  Fragen  hatten  aber  bis  jetzt  in 
Österreich  von  der  Statistik  wenig  Beachtung  gefunden.  Erst  in  neuester  Zeit 
wendet  sich  ihnen  das  Interesse  zn.  So  hat  die  am  28.  Februar  1903  in  Wien  unter 
dem  Vorsitze  des  Präsidenten  der  k.  k.  statistischen  Zentralkommission  abgehaltene 
Konferenz  für  Städtestatistik  beschlossen,  die  Erhebung  der  verbauten 
und  unverbauten  Flächen  bei  den  nach  dem  1.  Jänner  1903  fertiggestellten  Ge- 
bäuden Neubauten  und  Umbauten)  anzuregen,  im  „Österreichischen  Städtebuch“ 
die  so  gewonnenen  Summen  ausznweisen  und  Übersichten  über  das  Verhältnis  der 
verbauten  Fläche  znr  Gesamtfläche  bei  den  einzelnen  neuerrichteten  Gebäuden 
zu  veröffentlichen,  so  daß  für  eine  Keihe  von  Städten  für  die  Zukunft  eine  stati- 
stische Erfassung  der  bei  den  Bauführungen  eingehaltenon  Bauweise  zn  erhoffen 
ist  Die  Lieferung  derartiger  Nachweisungen  über  die  bestehenden  Gebäude  wurde 
als  untunlich  abgelehnt,  so  daß  auch  von  dieser  Seite  keine  vollständige  Aufklärung 
der  Verbauungsverhältnisse  zu  erwarten  ist. 

Wenden  wir  uns  nun  der  Erörterung  der  Anwendbarkeit  der  vor- 
geschlagenen  Abstufung  der  Gebäudesteneru  nach  Maßgabe 
der  Verbauung  der  Grundfläche  auf  die  österreichischen 
G e b ä n d es  t e n e r n zu,  so  ist  zunächst  zu  bemerken,  daß  bei  den  der  Haus- 
klassenstener  unterliegenden  Gebäuden  weniger  Bedürfnis  nach  einem 
Schatz  gegen  allzu  starke  Verbauung  bestehen  dürfte,  da  diese  meist  in  kleineren 
Urten  gelegen  sind,  wo  der  Bangrund  keinen  so  besonders  hohen  Wert  hat  und 
daher  der  Anreiz  zur  Einengung  der  Hofränme  geringer  ist.  Da  es  sich  aus- 


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Abstufung  der  Gebändesteuer  nach  dem  Maß  der  Verbauung  der  Grundfläche,  635 


schließlich  um  nicht  vermietete  Wohngebäude  handelt,  die  also  vom  Besitzer 
selbst,  seinen  Angehörigen  und  Bediensteten  bcnfitzt  werden,  so  dürften  die  Besitzer 
in  der  Regel  wenigstens  dort,  wo  es  sich  um  ihre  eigene  Wohnung  und  die 
ihrer  Angehörigen  handelt,  schon  aus  Egoismus  eine  zu  ungesunde  Bauweise 
vermeiden.  Da  bei  der  Hausklassensteuer  die  Besteuerung  nach  der  Zahl  der 
Wohnbestandteile  erfolgt,  so  liegt  die  Versuchung  nabe,  diese  möglichst  einzn- 
schräuken,  ohne  viel  Rücksicht  auf  Bequemlichkeit  und  moralische  Anschauungen 
sowie  die  Möglichkeit  einer  Isolierung  der  Kranken  hei  Infektionskrankheiten  zu 
nehmen.  Dafür  werden  aber  der  einzelnen  Wobnräume  groß  und  geräumig  gemacht. 
Wird  nun  die  Steuer  nach  Maßgabe  die  unverbauten  und  verbauten  Fläche 
ahgestuft,  so  kann  dies  gerade  dort,  wo  die  verfügbare  Fläche  nicht  groll  ist, 
zu  einer  Verkleinerung  der  Wobnräume  führen,  die  vielleicht  ungesunder  ist  als 
ein  kleiner  Hofraum  Es  empfiehlt  sich  demnach  nicht  die  Hausklassensteuer  der 
vorgeschlagenen  Reform  zu  unterziehen;  es  wird  so  die  Sache  vereinfacht,  indem 
nur  mehr  die  öproz.  und  die  Hauszinssteuer  zu  berücksichtigen  bleibeu.  Übrigens 
wird  gerade  dort,  wo  der  Raum  wertvoll  ist.  die  Gelegenheit  zur  Vermietung 
vielfach  günstig  sein,  so  daß  es  dem  Bauherrn  ualiegelegt  wird,  sein  Haus,  das 
zunächst  der  Hausklassensteuer  unterliegt,  so  zu  bauen,  daß  der  Steuersatz  der 
Hauszinssteuer,  wenn  es  durch  Vermietung  unter  dieselbe  fällt,  nicht  allzu 
ungünstig  ist. 

Bei  der  Hauszinssteuer  und  der  5proz.  Steuer  von  den  von 
der  Hauszinssteuer  befreiten  neu  errichteten  Baulichkeiten1) 
ist  das  Bedenken  wegen  einer  etwaigen  Verkleinerung  der  W'ohnräume  infolge 
der  Vergrößerung  der  Höfe  weniger  vou  Belang,  da  in  den  größeren  Orten 
ohnedies  der  hohe  Grundwert  hiezu  verlockt,  um  möglichst  viel  Wobnräume 
herauszubekonnnen,  so  daß  ein  Eingreifen  der  Bauordnung  und  der  Baupolizei 
auch  bei  der  gegenwärtigen  Besteuerungsart  notwendig  ist  und  dadurch  also  keine 
neue  Schwierigkeit  geschaffen  wird. 

Die  Abstufung  der  Steuersätze  nach  dem  Verhältnis  der  verbauten  Fläche  zur 
ganzen  Grundfläche  kann  in  dreierlei  Weise  erfolgen: 

1.  durch  Einführung  verhältnismäßiger  Zuschläge  zur  bisherigen  Steuer, 

2.  durch  Gewährung  verhältnismäßiger  Nachlässe, 

3.  dadurch,  daß  die  Spannung  zwischen  höchstem  und  niedrigstem  Steuersatz 
so  gewählt  wird,  daß  die  bisherige  Steuer  zwischen  beiden  zu  liegen  kommt. 

Dieser  letztere  Vorgang  würde  sich  aber  weniger  empfehlen,  da  es  sehr 
schwer  wäre  im  vorhinein  festzustellen,  ob  er  eine  Erhöhung  oder  Verminderung 
des  Stenerertrages  bewirken  würde  oder  ihn  ungefähr  unverändert  ließe  und  auch 
dadurch  dio  Umrechnung  der  bisherigen  Steuervorschreibungen  bedeutend  erschwert 
würdo.  Es  bleibt  also  die  Möglichkeit,  dio  Steuer  durch  Zuschläge  zu  erhöhen 
oder  durch  Nachlässe  zu  vermindern.  Welcher  dieser  Wege  zu  wühlen  ist,  hängt 
von  der  allgemeinen  Finanzlage  und  der  relativen  Höhe  der  Gebäudestcner  im 
Verhältnis  zur  Belastung  anderer  Stenerobjekte  ab.  Wie  groß  die  Spannung 

’)  Neu-,  Uni-  und  Znhauten.  im  Folgenden  ist  der  Kurze  halber  vielfach  nur  von 
Neubauten  gesprochen,  worunter  dann  auch  die  Um>  and  Zabauten  zu  verstehen  sind. 


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636  Brann  Ton  Femwald. 

«wischen  dem  höchsten  nnd  dem  niedrigsten  Steucrfuß  sein  muß,  ntn  eine  Beein- 
flussung der  Bauweise  im  Sinne  einer  Assanierung  zu  bewirken,  kann  nur  nach 
eingelienden  Untersuchungen  entschieden  werden,  zum  Teil  wird  es  erst  die 
Erfahrung  lehren.  Es  wird  die  Spannung  teilweise  auch  davon  abhangen  müssen, 
welches  Ziel  man  vor  Augen  hat,  ob  man  sich  damit  begnügen  will,  daß  der 
Baugrund  wenigstens  an  abgelegeneren  Stellen  nicht  übermäßig  verbaut  wird  oder 
ob  man  ganz  allgemein  eine  gewisse  Größe  der  Höfe  durchsetzen  will.  Steigt 
z.  B.  die  Besteuerung  rapid,  sobald  der  Hof  kleiner  ist  als  ein  Viertel  der 
Grundfläche,  so  wird  eine  weitergehende  Verbauung  nur  ausnahmsweise  stattfinden. 
Damit  hängt  auch  die  Frage  zusammen,  ob  die  Steigerung  der  Besteuerung 
gleichmäßig  mit  der  größeren  Verbauung  erfolgen  soll  .oder  ob  sie  progressiv 
nach  Graden  der  Verbauung  eingerichtet  werden  soll.  Beispielsweise  sei  ange- 
nommen. daß  ein  Zuschlag  bis  zu  10  Proz.  vom  Steuerbetrag  bei  einer  Ver- 
bauung von  mehr  als  der  Hälfte  der  Grundfläche  erfolge.  Da  kann  die  Abstufung 
so  erfolgen,  daß  bei  einer  Verbauung  zwischen  50  und  55  Proz.  der  Fläche  ein 
Zuschlag  von  1 Proz.,  bei  einer  zwischen  55  und  60  Proz.  einer  von  2 Proz, 
n.  s.  f.  erfolgt,  so  daß  bei  einer  Steigerung  der  Verbauung  um  5.  Proz.  auch 
der  Zuschlag  um  1 Proz.  steigt  bis  er  endlich  bei  vollständiger  Verbauung  10  Proz. 
erreicht  Sic  kann  aber  auch  progressiv  erfolgen,  z.  B.  in  der  Weise,  daß  bei  einer 
Verbauung  über  die  Hälfte  bis  zu  drei  Viertel  je  5 Proz.  mohrverbanUT  Fläche  ein 
Zuschlag  von  '/,  Proz.,  bei  einer  Verbauung  über  drei  Viertel  je  5 Proz.  der  mehrvcr- 
bauten  Fläche  ein  Zuschlag  von  1 '/»  Proz.  entspricht  ialso  50 — 55  Proz.  Verbauung 
'/,  Proz.  Zuschlag,  55 — 60  Proz.  1 Proz.,  60 — 65  Proz.  I1/,  Proz-,  65 — 70  Proz. 
2 Proz.,  70  — 75  Proz.  2’/j  Proz..  aber  75 — 80  Proz.  t Proz.,  80 — 85  Proz. 
5*/*  Proz.,  85 — 90  Proz.  7 Proz.,  90 — 95  Proz.  8 */,  Proz.,  endlich  bei  einer 
Verbauung  von  95 — 100  Proz.  10  Proz.  Zuschlag).  Erfolgt  die  Progression  in 
solcher  Weise  nach  Abschnitten,  so  liat  dies  die  Folge,  daß  in  dem  günstiger 
behandelten  Abschnitt  der  Verbauung  noch  ein  größerer  Spielraum  gewährt  wird, 
während  eine  Verbauung  über  die  Grenze  hinaus,  bei  der  die  Progression  einsetzt,  sehr 
erschwert  wird;  es  würde  also  eine  Verbauung  über  diese  Grenze  hinaus,  in  den 
gewählten  Beispiel  drei  Viertel  der  Fläche,  nur  ausnahmsweise  eintreton.  Es  wäre 
ohne  diesbezügliche  Bemühung  der  Baubehörden  annähernd  dasselbe  erreicht,  wie 
wenn  in  der  Bauordnung  eine  bestimmte  Verbauungsgrenze,  z.  B.  75  Proz.  fest- 
gesetzt wäre.  Außerdem  würde  innerhalb  derselben  der  mäßigere  Zuschlag  regulierend 
wirken.  In  jedem  Falle  würde  die  durch  die  Steuerbehörden  vertretene  Allgemein- 
heit an  dem  Gewinn  aus  der  stärkeren  Verbauung  teil  haben.  Natürlich  kann 
die  Progression  auch  nicht  nach  Abschnitten,  sondern  allmählich  steigend  einge- 
richtet werden. 

Das  finanzielle  Ergebnis  der  Einführung  derartiger  Zuschläge  oder  Nachlässe 
wird  größtenteils  von  dein  Ausmaß  der  unverbauten  Fläche  abbängen,  die  als 
Bedingung  für  die  Gewährung  der  günstigsten  Stcuerbehandlung  festgesetzt  wird. 
Je  größer  es  ist,  desto  weniger  Gebäude  werden  ihrer  teilhaftig  werden  und  desto 
besser  wird  sich  das  Erträgnis  gestalten.  Durch  die  Forderung  großer  Höfe 
wird  es  auch  hintaugehalten,  daß  der  große  Hof  eines  Hauses  zum  Schaden  der 
Steuerbehörde  teilweise  an  die  Nachbarhäuser  mit  kleineren  Höfen  abgetreten 


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Abstufung  der  Gebändcateuer  nach  dem  Maß  der  Verbauung  der  Grundfläche.  iY.\l 


werde.  I!ci  gleicher  Spannung  /wischen  höchstem  und  niedrigstem  Steuersau  wird 
die  Steigerung  immer  unmerklicher,  je  höhere  Korderungen  man  an  die  Ausdehnung 
der  unverbauten  Fläche  stellt.  Bei  einem  Maximalzuschlag  von  10  Pro/.,  der 
gleichmäßig  ansteigt,  beträgt  sie,  wenn  für  den  niedrigsten  Steuersatz  ein  Hofraum 
gleich  der  Hälfte  der  Grundfläche  verlangt  wird,  bei  je  5 l’roz.  Verbauung  l 
Pro/.,  soll  aber  der  Hof  doppelt  so  groß  sein  wie  die  Bauarea,  würde  dieselbe 
Steigerung  erst  bei  einer  Verbauung  von  je  7'5  Pro/,  eintreten.  Knüpft  man 
die  Begünstigung  an  das  Vorhandensein  sehr  großer  unverbauter  Flächen,  so  ist 
dies  auch  eine  Bevorzngung  der  Luxusbauten  wie  der  Villen,  Paläste  mit  großen 
Gärten  u.  s.  w.  Man  wird  also  einen  mittleren  Weg  einschlagen  müssen.  Hans- 
gärten  und  Hofräume  erfuhren  /war  von  der  österreichischen  Steuergesetzgebung 
eine  ganz  verschiedene  Behandlung:  die  Hofrännie  teilten  alle  Schicksale  der 
Bauarea,  während  die  Uansgärten  ohne  Rücksicht  auf  ihre  Zugehörigkeit  zu 
einem  Hause  wie  alles  übrige  Gartenland  der  Grundsteuer  unterworfen  wurden; 
für  den  sanitären  Zustand  eines  Hauses  ist  aber  ein  Hausgarten  keineswegs  weniger 
wertvoll  wie  ein  Hof,  vielmehr  hat  er,  von  Ansnahmsfällen  wie  übermäßige  animalische 
Düngung  abgesehen,  viel  größeren  Wert  Für  die  Gewährung  einer  günstigeren 
Steuerbehandlung  ist  daher  lediglich  die  unverbaute  Fläche  die  zum  Gebäude 
gehört  iin  Betracht  zu  ziehen  ohne  Rücksicht  darauf,  oh  sie  Hofraum  oder 
Hansgarten  ist;  ebenso  ist  es  gleichgültig,  ob  der  Hausgarten  nur  ein  mit 
Gewächsen  bepflanzter  Hof  ist  oder  das  Hans  von  allen  oder  mehreren  Seiten 
umgibt.  Daß  der  Hofraum  als  Zubehör  des  Hanses  von  der  Grnndsteuer  frei 
bleibt,  der  Hausgarten  aber  von  ihr  getroffen  wird,  braucht  kein  Bedenken 
zu  erregen,  da  die  Gebändesteueni  von  der  Grundsteuer  gänzlich  unabhängig 
sind.  Hing  cs  ja  doch  oft  von  zufälligen  Umständen  ab,  ob  ein  mit  Pflanzen 
besetzter  Hof  oder  Hofleil  als  Garten  oder  Hoframn  qualifiziert  wurde.  So 
wird  z.  B.  bei  einem  Hause  in  Wien,  das  ursprünglich  in  einer  ländlichen 
Umgebung  sich  befand,  die  aber  infolge  Verbauung  jetzt  ganz  städtisch 
geworden  ist,  ein  bepflanzter  Teil  des  keineswegs  die  gewöhnliche  Größe  über- 
schreitenden Hofes  noch  immer  als  Garten  behandelt  und  mit  der  Grundsteuer 
belegt.  Das  kann  nnr  auf  zufällige  Umstände  zurückgeheu,  es  ließe  sieb  doch 
nicht  rechtfertigen,  einen  Hof  von  gewöhnlicher  Größe  als  Garten  zu  bestenem, 
wenn  einige  Bäume  hinein  gepflanzt  sind.1)  Der  sanitäre  Wert  eines  Gartens  oder 
Hofes  kann  natürlich  auch  die  Art  der  Benützung  vernichtet  werden,  wenn  z.  B. 
der  Hof  zu  einer  Lagerstätte  von  staubigem  Bauholz  oder  von  Kohlen  oder  gar 
von  Kehricht  oder  Hadem  verwendet  wird.  Das  hintanznhalten  ist  aber  Sache 
der  Itan-  und  Sanitätspolizei,  bei  der  Bemessung  der  Gcbändestenem  kann  es 
selbstverständlich  nicht  Berücksichtigung  finden. 

Wenn  in  einem  Hofe  ebenerdige  Znhanten,  z.  11.  Waschküchen,  Wagenremisen. 
Veranden,  Terrassen,  sich  befinden,  so  entsteht  die  Frage,  ob  der  von  ihnen  einge- 
nommene Raum  ebenso  als  verbaut  anzusehen  ist  wie  die  Bauarea  des  vielleicht  vicl- 

*)  Die  ßehandluug  eines  Holes  als  Garten  kann  auch  für  die  Steuerbehörde  nach- 
teilig sein,  da  der  für  Benützung  des  Hofes  etwa  bedungene  Zius  immer  der  Hauszins. 
Steuer  unterliegt,  der  für  Gartenbenützung  gezahlte  aber  von  derselben  frei  bleibt,  Virl. 
v Myrbach,  a a.  O.  S.  1C1. 


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638 


Braun  von  Fernwahl. 


stückigen  Hauses.  Obwohl  darin  einige  Unbilligkeit  liegt,  wird  man  diese  Frage  doch 
bejahen  müssen,  weil  sonst  die  Berechnung  der  Gcbändesteuer  leicht  sehr  kom- 
piliert werden  könnte.  Ob  ein  Hof  den  sanitären  Anforderungen  genügt,  wird 
oft  von  seiner  Form  und  besonders  von  der  Höhe  der  Häuser  die  ihn  nmgeben, 
ahhängen.  Einer,  der  bei  ebenerdigen  Gebäuden  genügt,  wird  sanitär  gänzlich 
unzulänglich,  wenn  noch  4 Stockwerke  anfgebaut  werden.  Man  könnte  Vor- 
schlägen. dies  bei  der  Besteuerung  zu  berücksichtigen,  indem  die  geforderte 
Größe  der  Hofräume  oder  die  Steuersätze  nach  der  Anzahl  der  Stockwerke 
verschieden  normiert  würde;  doch  wird  man  wohl  darauf  verzichten  müssen, 
da  die  Steuerbemessung  dadurch  schwieriger  würde.  Man  darf  nicht  vergessen, 
daß  die  eigentliche  Aufgabe  der  Steuerbehörden  die  zweckmäßige  und  genaue 
Besorgung  des  Steuerdienstes  ist  und  eine  beabsichtigte  assanierende  Wirkung 
einer  Steuer  nur  Nebenzweck  sein  kann  und  als  solcher  behandelt  werden  muß. 
Man  muß  daher  bei  einer  dahin  zielenden  Abänderung  trachten,  alles  möglichst 
einfach  einznrichten,  damit  dadurch  die  Geschäftsgebarung  der  Steuerbehörden 
nicht  behindert  werde. 

Nunmehr  ist  zu  erwägen,  ob  bei  der  Hauszinssteuer  und  der  5 proz.  Steuer 
ein  ganz  gleichmäßiges  Vorgehen  anzuwenden  ist  oder  wie  die  Abstufung  bei 
jeder  durchzufüliren  ist.  l)a  die  Hauszinssteuer  sehr  hoch  ist,  kann  nicht  daran 
gedacht  werden,  sie  noch  durch  Zuschläge  zu  steigern;  man  würde  sich  daher 
entschließen  müssen,  Nachlässe  zu  gewähren.  Nimmt  man  an.  daß  die  Finanzlage 
es  gestatte,  einen  Nachlaß  im  Höchstbetrage  von  10  Proz.  der  Steuer  zu  gewähren, 
und  diese  Differenzierung  anch  genüge,  die  Banweisc  wirksam  zu  beeinflussen, 
so  würde  sich  die  Ermäßigung  in  den  namentlich  als  hauszinssteuerpflichtig 
angeführten  Orten  höchstens  anf  2‘67  Proz.  des  durch  Abzug  von  15  Proz. 
Erhaltungs-  und  Amortisationskosten  ermittelten  Nettozinses  stellen,  während  die 
anderen  der  Hauszinssteuer  unterliegenden  Gebäude  in  Tirol  und  Vorarlberg  eine 
Ermäßigung  um  höchstens  1'5  Proz.,  in  den  übrigen  Ländern  um  höchstens  2‘0  Proz. 
des  Nettozinses  erfahren  würden,  der  aber  in  diesen  Fällen  durch  Abzug  von  30  Proz. 
Erhaltungs-  und  Amortisationskosten  berechnet  wird.  Rechnet  man  diese  Nach- 
lässe in  Prozente  des  Brnttnzinses  um.  so  beträgt  der  Nachlaß  für  die  Gebäude  der 
namentlich  angeführten  Orto  2"27  Proz.,  für  die  übrigen  hanszinssteuerpflich- 
tigen  Gebäude  in  Tirol  und  Vorarlberg  1 05  l’roz..  in  den  anderen  Ländern 
1'4  Proz.  des  Bruttozinses.  Der  faktische  Gewinn  wäre  also  für  die  verschiedenen 
Gruppen  verschieden  groß:  da  aber  die  Intensität  der  Besteuerung  verschieden 
ist,  so  scheint  es  nur  billig,  daß  bei  Gebäuden,  die  strenge  besteuert  sind,  auch 
eine  größere  Ermäßigung  eintrete.  Dazu  kommt  noch,  daß  diese  Differenzierung 
in  der  Besteuerung  hauptsächlich  auf  historischen  Gründen  beruht  und  den  gegen- 
wärtigen Verhältnissen  nicht  mehr  immer  entspricht.  Bei  der  Sproz.  Steuer  werden 
bei  allen  ihr  unterworfenen  Gebäuden  ohne  Unterschied  5 Proz.  vom  Nettozinse 
erhoben.  Dieser  wird  jedoch  auf  verschiedene  Weise  ermittelt,  indem  analog  der 
Hauszinsstener  bald  15,  bald  30  Proz.  Erhaltungs-  und  Amortisationskosten  abge- 
rechnet werden;  es  werden  also  in  dem  einen  Falle  4’25  Proz,.  in  dem  anderen 
3‘5  Proz.  vom  Kruttn/.inse  als  Steuer  eingehoben.  Wollte  man  da  gleichfalls  wie 
bei  der  Hauszinsstener  eine  Steuerermäßigung  bis  zu  10  Proz.  des  .Steuerbetrages 


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Abstufung  der  Gebäudcstouer  mich  dem  Mail  der  Verbauung  der  Grundfläche.  (j3<) 


gewähren,  so  würde  der  Unterschied  zwischen  dem  höchsten  und  niedrigsten  mög- 
lichen Steuersatz  nur  O'ö  1‘roz,  des  Nettozinses  ausmachen  und  dies  würde  gänzlich 
ungenügend  sein  um  die  Art  und  Grüße  der  Verliannng  wirksam  zu  beeinflussen. 
Und  gerade  bei  der  öproz.  Steuer  ist  eine  starke  Differenzierung  bei  den  Steuer- 
sätzen dringend  notwendig,  da  sie  allein  für  den  Bauherrn  unmittelbar  fühlbar 
wird,  da  eine  Abstufung,  bei  der  Uauszinssteuer  allein  durchgeführt,  meist  nur 
andere,  spätere  Besitzer  treffen  würde  und  daher  anf  die  Bauführung  nur  geringen 
Einfluß  hätte.  Um  annähernd  die  gleiche  Wirkung  auf  das  Erträgnis  eines  Gebäudes 
zu  haben,  müßte  der  Nachlaß  bis  zu  50  l'roz.  des  Steuerbetruges  gesteigert 
werden,  so  daß  er  2'ö  Proz.  des  Nettozinses  betragen  würde.  Er  würde  so 
zwischen  den  zwei  niedersten  (l"ö  nnd  2'0  Proz.)  und  dem  höchsten  Nachlaß  bei 
der  Hanszinssteuer  (2  (57  Proz.)  liegen,  sich  jedoch  dem  letzteren  sehr  stark  nähern. 
Diese  Annäherung  ist  ratsam,  da  sonst  der  Unterschied  in  der  Besteuerung  leicht 
zu  wenig  fühlbar  sein  würde  und  gerade  bei  Neubauten  eine  energische  Beeinflussung 
der  Bauweise  nötig  ist  Di  den  Fällen,  wo  der  volle  Nachlaß  eintritt,  würde 
dies  aber  einer  Herabsetzung  der  öproz.  Steuer  auf  2';>  Proz.  glcichkommen. 
Das  würde  einen  bedeutenden  Steneransfall  verursachen.  Anßerdem  ist  noch  zn 
berücksichtigen,  daß  diese  Wirkung  einer  Steuerermäßigung  bei  der  öproz.  Steuer 
viel  rascher  und  fühlbarer  eintreten  würde  wie  bei  der  Hanszinssteuer.  Denn 
diese  trifft  schon  bestehendo  Gebäude  und  es  hängt  von  der  herrschenden  Bau- 
weise und  dem  Grad  der  Verbauung  ab.  wie  viele  Häuser  einer  bedeutenden 
Ermäßigung  teilhaftig  würden.  Bei  dem  Beste  würde  gar  keine  und  nur  eine 
geringe  Veränderung  in  der  Stenerleistnng  eintreten.  Erst  bei  einem  Umbau 
könnten  auch  sie  eine  günstigere  Steuerbehandlung  erlangen.  Der  Steueraosfall 
wird  sich  daher  zunächst  innerhalb  gewisser  Grenzen  halten  nnd  sich  nur  allmählich 
im  I.aufe  der  Jahre  dem  theoretisch  möglichen  Maximum  nähern.  Anders  bei  der 
öproz.  Steuer!  Bei  Einführung  einer  Abstufung  in  den  Steuersätzen  würden 
wohl  in  der  Übergangszeit  die  bereits  bestehenden  von  der  Hauszinsstener  freien 
Gebäude  natürlich  je  nach  ihren  Verbannngsverhältnissen  von  der  abgestuften 
Steuer  erfaßt  werden  und  diese  würde  auf  sie  ebensowenig  eine  unmittelbare 
Einwirkung  ausüben  wie  bei  den  hauszinssteuerpflichtigen;  bei  der  Neuerrichtung 
von  Gebäuden  wird  jedoch  der  Unterschied  in  der  Besteuerung  bereits  die  Bsuweise 
bestimmen,  so  dat!  die  Mehrzahl  derselben  einer  bedeutenden  Ermäßigung  der 
Steuer  sich  erfreuen  würde.  Sind  einmal  die  Tor  der  Abänderung  der  Gebäude- 
steuer erbauten  Häuser  durch  Ablanf  der  Baufreijahre  hausziiissteuerptlichtig  und 
so  der  öproz.  Steuer  entzogen  worden,  so  wird  die  öproz.  Steuer  die  Tendenz 
zeigen,  sich  in  ihrem  Erträgnis  dein  niedrigsten  Steuersätze  zn  nähern,  ohne  ihn 
allerdings  vollständig  zu  erreichen.  Es  würde  dann  ihr  Ertrag  nahezu  um  das 
volle  Ausmaß  der  Nachlaßprozente  verringert  werden;  in  dem  angeführten  Beispiel 
käme  dies  beinahe  einer  Verminderung  des  Ertrages  anf  die  Hälfte  gleich,  was 
im  Jahre  1899  einen  Minderertrag  bis  zu  3,372.940  Kronen,  im  Jahro  1900 
einen  solchen  bis  zu  3,40ö.H99  Kronen  bedeutet  hätte.  Da  dies  ein  großer  Steuer- 
ansfall  wäre,  könnte  die  Finanzverwaltnng  schwer  darauf  eingehen,  weil  die 
Nachlässe  bei  der  Hauszinssteuer  gleichfalls  eine  namhafte  Minderung  der  Ein- 
nahmen verursachen  würden.  Gegen  die  Gewährung  langer  Baufreijahrsperioden 


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640 


Braun  von  FernwaM. 


besteht  seit  langem  eine  heftige  Opposition,1)  die  eben  zur  Kinführung  der  5 pro/.. 
Steuer  geführt  hat.  Der  gleiche  Gedanke  zeigt  sich  darin,  dal!  aus  den  Erträgnissen 
der  Personaleinkominenstetier  wohl  bei  der  Hauszins-  und  Hausklassenstcuer, 
nicht  aber  bei  der  5proz.  individuelle  Nachlässe  gewährt  werden.  Endlich  treffen 
manche  Gemeinden  in  der  Höhe  der  erhobenen  Zuschläge  Unterscheidungen;  so 
belegte  die  Stadt  Wien  die  5proz.  Steuer  im  Jahre  1901  mit  einem  Zuschlag  von 
BO,  die  Hauszinssteuer  aber  mit  einem  von  25  Proz.  Es  ist  demnach  auch  die 
allgemeine  Stimmung  einer  Herabsetzung  der  5 proz.  Steuer  nicht  günstig.  Wollte 
man  die  Spannung  so  einrichten,  dali  der  bisherige  Steuersatz  zwischen  dem 
niedrigsten  und  höchsten  neuen  liegen  würde,  so  würde  dies,  sobald  einmal  die 
bereits  fertigen  Häuser  ausgnschieden  sind,  aus  den  oben  angeführten  Gründen 
darauf  hiuauslaufen,  dalJ  wieder  eine  Herabsetzung  der  5 proz.  Steuer,  wenn  auch 
in  geringerem  Malle,  einträte.  Es  bleibt  also  nur  der  Ausweg,  zur  5 proz. 
Steuer  nach  Maßgabe  des  Grades  der  Verbauung  Zuschläge*)  einzuführen. 
Um  wirksam  zu  sein,  müßte  der  höchste  Zuschlag  ziemlich  hoch  augesetzt  sein, 
z.  B.  mit  50  Proz.  des  bisherigen  Steuerbetrages,  so  daß  sich  dann  der  höchste 
Steuersatz  auf  7*5  Proz.  des  Nettozinses  stellen  würde.  Rechnet  man  dies  in 
Prozente  des  Bruttozinses  um,  so  beträgt  es  bei  den  Gebäuden,  bei  denen  nur  15  Proz. 
für  Erhaltung«-  und  Amortisationskosten  abgerechnet  wird,  6 375  Proz.  vom  Ilrutto- 
zins,  bei  denen  aber,  denen  ein  Abzug  von  30  Proz.  gestattet  wird.  5*25  Proz. 
Die  Spannung  zwischen  dem  höchsten  und  niedrigsten  Steuersatz  beläuft  sich 
somit  bei  den  Gebäuden  mit  15  Proz.  Abzug  auf  2*125  Proz.,  bei  denen  mit 
30  Proz.  Abzug  auf  1*75  Proz.  vom  Bruttozins,  während  die  Spannung  infolge 
der  10 proz.  Nachlässe  an  der  Hauszinssteiier  bei  ersteren  Gebäuden  2*27,  bei 
letzteren  1*05  und  1*4  Proz.  ausgemacht  hatte.  Die  Spannung,  in  der  sich  die 
Steuererhebung  bei  der  5 proz.  Steuer  ausdrückt,  wäre  also  bei  den  Gebäuden  in 
den  namentlich  als  hauszinssteuerpßiclitig  angeführten  Orten,  wo  der  Abzug 
für  Erhaltungs-  und  Amortisationskosten  nur  15  Proz.  ist,  etwas  geringer  wie 
die  Hauszinssteuerermälligung  bei  derselben  Kategorie  (und  zwar  um  0*14  Proz. 
des  Bruttozinsesi.  bei  den  übrigen  Gebäuden  etwas  größer  (in  der  Regel  um 

0*35.  in  Tirol  und  Vorarlberg  um  0*7  Proz.  des  Bruttozinses). 

Wie  die  angeführten  Beispiele  zeigen,  würden  die  Zuschläge  zur  5proz. 
Steuer  bei  den  nicht  namentlich  als  hauszinssteuerpflichtig  angeführten 
Orten,  besonders  in  Tirol  und  Vorarlberg,  viel  energischer  anf  die  Bauweise 

pinwirken  als  die  Ermäßigungen  bei  der  Hauszinssteuer  und  das.  was  diesen  an 
Wirksamkeit  fehlt,  in  wünschenswerter  Weise  ersetzen.  Daß  die  stärkste  Erhöhung 
der  5proz.  Steuer  (um  2*125  Pro/.,  des  Bruttozinses"’  bei  den  namentlich  als 
hauszinsstouerptlichtig  genannten  Orten  etwas  niedriger  ist,  als  der  stärksten 

l)Vergl.  i.  B.  v.  Myrbach,  a.  a.  O.,  8.  198  und  A.  Schaeffle,  a.  a.  0.,  S.  318,  ferner 

Adolf  Beer,  Der  Staatshaushalt  Österreich-Ungarns,  S.  70,  der  behauptet,  die  Gowiilining 
langfristiger  Steuerbefreiungen  hätte  nicht  der  Wohnungsnot  abgeholfen,  sondern  wäre 
nur  den  Grundbesitzern  zu  gute  gekommen,  indem  sie  eine  Steigerung  der  Preise  der 
Baugründe  bewirkte. 

*)  Mit  dein  Worte  „Zuschläge“  soll  hier  lediglich  die  Art  der  Erhöhung  der 
Steuer  bezeichnet  werden,  mit  den  Zuschlägen  zu  Gunsten  der  autonomen  Körperschaften 
und  Pondc  bat  es  natürlich  nichts  zu  tun. 


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Abstufung  der  Gebäudesteuer  nucb  dem  Muß  der  Verbauung  der  Grundfläche.  f,4  I 


Ermäßigung  ihrer  Hauszinssteuer  entsprechen  würde,  beeinträchtigt  bei  der  Kleinheit 
des  Unterschiedes  <0*14  Proz.  des  Brnttozinses)  die  Wirksamkeit  der  Abänderung 
der  Steuer  nicht;  es  wird  doch  bei  dieser  Kategorie  die  5 proz.  Steuer  um 
2' 125  Proz.  vom  liruttozins  erhöht,  während  sie  bei  den  Häusern  init  30  Proz. 
Abzug  für  Krhaltungs-  und  Amortisationskosten  nur  um  1’75  Proz.  vom  Bruttozinse 
gesteigert  wird.  Da  die  gegenwärtige  Sproz.  Steuer  wohl  Verschiedenheiten  beim 
Ausmaß  der  Abzugprozente,  nicht  aber  sowie  die  Hauszinssteuer  in  den  Steuer- 
sätzen der  einzelnen  Kategorien  kennt,  würde  durch  Erhöhung  der  5 proz.  Steuer 
eine  Milderung  der  Härten  dieser  Ungleichmäßigkeit  der  Steuersätze  nach  Kate- 
gorien eintreten.  Die  Gebäude  mit  besonders  günstiger  Lage  würden,  wenn  diese 
durch  starke  Verbauung  ausgenützt  wird,  höher  besteuert  werden  und  es  würden 
da  die  tatsächlichen  Verhältnisse,  nicht  die  mehr  und  minder  willkürliche  Annahme 
der  Bestandes  günstiger  Bedingungen  für  die  ganze  Ortschaft  für  die  Höhe  des 
Steuersatzes  entscheidend  sein.  Die  Stärke  der  Erhöhung  von  5 auf  7'5  Proz. 
vom  Nettozins  braucht,  wenn  das  für  die  Gewährung  des  niedrigsten  Steuersatzes, 
also  in  diesem  Falle  für  die  Belastung  der  Besteuerung  mit  5 Proz..  geforderte 
Ausmaß  an  unverbauter  Fläche  nicht  zu  hoch  bemessen  wird,  kein  Bedenken  zu 
erregen,  da  dann  die  Mehrzahl  der  Neubauten  genügend  Kaum  freilassen  wird, 
so  daß  die  bisherige  Besteuerung  gar  nicht  oder  nur  wenig  überschritten  wird 
uud  nur  jene  Hänser,  bei  denen  durch  stärkere  Verbauung  ein  höherer  Gewinn 
erzielt  werden  soll,  einen  Teil  dieses  Gewinnes  abgeben  müssen. 

Was  die  praktische  Durchführbarkeit  der  vorgeschlageuen  Abstu- 
fung der  Gebäudesteuern  nach  dem  Verhältnis  der  verbauten  Fläche  zur  gesamten 
Grundfläche  anbelangt,  so  handelt  es  sich  hauptsächlich  um  authentische  Fest- 
stellung dieses  Verhältnisses  bei  jedem  Gebände.  dessen  stete  Evidenzhaltung 
und  endlich  nm  die  Vornahme  der  Umrechnung  des  bisherigen  Steuersatzes  in  den 
neuen,  nach  dem  dann  die  Bemessung  erfolgt.  Durch  das  gleichzeitige  Bestehen 
zweier  Steuersysteme  in  Österreich  ist  die  Sache  insofern  vereinfacht,  als  die  Hans 
klassenstener  überhaupt  unverändert  bleiben  kann,  da  bei  den  ihr  unterliegenden 
Gebäuden  wenig  Bedürfnis  nach  Schutz  gegen  übermäßige  Verbauung  besteht. 
Es  kommen  sonach  nur  die  Hauszinssteuer  und  die  5proz.  Steuer  in  Betracht. 
Da  die  5 proz.  Steuer  neuerrichtete  Gebäude  betrifft,  bietet  die  Feststellung  der 
Größe  der  unverbauten  und  der  verbauten  Fläche  eines  Gebäudes  keine  Schwierig- 
keit, indem  bei  Erteilung  der  Baubewilligung  einfach  die  Beibringung  von  Plänen 
verlangt  werden  kann,  welche  die  entsprechenden  Daten,  eventuell  das  Verhältnis 
der  verbauten  Fläche  zur  gesamten  Grundfläche  bereits  ausgerechnet,  enthalten 
müssen.  Auch  die  genaue  Kvidenzhaltung  kann  leicht  erfolgen,  weil  zu  jeder 
baulichen  Veränderung  die  Baubewilligung  erforderlich  ist,  deren  Erteilung 
an  die  Mitteilung  der  dadurch  bewirkten  Veränderung  in  dem  Ausmaße  der 
Verbauung  geknüpft  werden  kann.  Ist  das  prozentuelle  Verhältnis  der  verbauten 
Fläche  bekannt,  so  kann  leicht  berechnet  werden,  nm  welche  Zuschläge  der 
nach  den  bisherigen  Bestimmungen  ermittelte  Steuerbetrag  zu  erhöhen  ist. 
Die  ganze  Geschäftsgebarung  ist  also  sehr  einfach  und  verursacht  wenig 
Mehrarbeit.  Bei  den  zur  Zeit  des  Inkrafttretens  der  Abänderung  der  Gebäude- 
stcuervorschrift  bereits  bestehenden,  aus  dem  Titel  der  Baufühl ung  von  der 


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Hauszinssteuer  befreiten  Gebäuden  kann  wohl  die  Gproz.  Steuer  während  des 
Beates  der  Baufroijahrsperiode  unverändert  gelassen  werden,  da  infolge  des 
guten  Bauzustandes  derselben  eine  Abstufung  wenig  Wirkung  haben  wurde  und 
eine  nutzlose  Erhöhung  als  Härte  empfunden  würde.  Bei  den  der  Hausziussteuer 
unterworfenen  Gebäuden  würde  die  UerbeischafTung  und  vollständige  Ergänzung 
und  Richtigstellung  der  Bauplatte  oft,  besonders  wenn  die  Häuser  schon  vor 
langer  Zeit  erbaut  sind,  sehr  schwierig  sein  und  eine  Neukatastrierong  der 
Grundfläche  der  hauszinsstouerpflichtigon  Gebäude  würde  große  Kosten  verursachen 
Man  darf  jedoch  nicht  verzichten,  auch  bei  der  Hauszinssbuer  Abstufungen 
einzuführen,  weil  sonst  alte  Häuser,  die  wegen  ihrer  engen  Höfe  unsanitär  sind, 
aus  Furcht  vor  einer  höheren  Besteuerung  überhaupt  nicht  umgebaut  würden. 
Wird  die  Abstufung  bei  der  Hauszinssteuer  durch  prozentuelle  Nachlässe  bewirkt, 
so  bietet  sich  ein  sehr  einfacher  Ausweg,  wenn  man  die  Beweislast  bezüglich 
des  Ausmaßes  der  Verbauung  den  Hausbesitzern  zuschiebt,  indem  man  nur  jenen 
Gebäuden  die  Nachlässe  gewährt,  für  die  von  ihren  Besitzern  die  entsprechenden 
genauen  Pläne  beigebracht  werden.  Gewährt  man  die  Nachlässe  erst  vom  Zeitpunkt 
der  Beibringung  der  Pläne  und  ohne  Rückwirknng  bis  zum  Zeitpunkt  des  Inkraft- 
tretens der  Abänderung  der  Gebäudesteuer,  so  würde  dadurch  ein  nur  allmäh- 
liches Sinken  des  Ertrages  der  Hauszinssteuer  bewirkt  werden,  da  von  den  Häusern, 
die  Anspruch  auf  Ermäßigung  hätten,  für  die  aber  die  Pläne  nicht  beigebracht 
werden,  die  bisherige  Steuer  erhoben  würde.1)  Nun  bleibt  noch  zu  untersuchen, 
wie  bei  jenen  Gebäuden  vorzugehen  ist,  die  durch  ihre  Vermietung  oder  dadurch, 
daß  in  dem  betreffenden  Orte  wenigstens  die  Hälfte  sämtlicher  Gebäude  und 
außerdem  die  Hälfte  der  Wohngebäude  vermietet  werden  und  so  der  ganze  Ort 
hauszinssteuerpflichtig  wird,  aus  dem  Gebiete  der  Hansklasseiistetier  ansscheiden. 
Fallen  sie  bereits  unter  die  Hauszinssteuer,  so  sind  sie  nach  dem  höchsten 
Steuersätze,  also  dem  bisherigen,  so  lange  zu  besteuern,  als  nicht  durch  Beibringung 
der  Pläne  der  Anspruch  auf  einen  Nachlaß  nachgewiesen  wird.  Aber  auch  wenn 
sie  noch  Banfreijahre  genießen  und  daher  unter  die  5proz,  Steuer  fallen,  sind 
sie  bis  zur  Beibringung  der  Pläne  nach  dem  höchsten  Steuersätze  zu  behandeln, 
also  mit  dem  höchsten  Zuschläge  zu  belegen.  Dadurch  wird  bewirkt,  daß 
wenigstens  dort,  wo  dio  Möglichkeit  naheliegt,  daß  das  Haus  einmal  hauszins- 
steuerpflichtig  wird,  die  Bauherren  veranlaßt  werden,  beim  Bau  darauf  Rücksicht 
zu  nehmen,  und  so  die  Reform  der  Hanszinsstener  auch  teilweise  auf  die  Bau- 
weise des  liansklassensteuerpflichtigen  Gebäude  heilsam  einwirkt.  Für  die  zur 
Zeit  der  Einführung  der  Abstufung  bereits  bestehenden  steuerfreien  Häuser 
müßten  Übergangsbestimmungen  getroffen  werden,  damit  sie,  wenn  sie  aus 
dem  Bereich  der  Hausklassensteuer  Ausscheiden,  nur  mit  der  gewöhnlichen 
5proz.  Steuer  ohne  Abstufung  belegt  werden. 

*)  Um  die  Steuerermäßigung  zu  erhalten,  würde  die  große  Mehrzahl  der  Besitzer 
von  Hausern  mit  genügend  großen  Höfen  die  Pläne  beibringen,  so  daß  binnen  wenigen 
Jahren  für  sehr  viele  hauizin »steuerpflichtigen  Gebäude  die  genauen  Nachweisungen 
über  das  Maß  der  Verbauung  der  Grundfläche  vorhanden  sein  werden,  die  unschwer  zu 
einem  Kataster  der  rerbauten  Flächen  und  Hofräume  der  hauszins- 
steuerpflichtigen  Gebäude  ergänzt  werden  können. 


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Abstufung  der  Gebäudesteuer  nach  dem  Maß  der  Verbauung  der  Grundfläche.  643 


l>a  nach  dem  Personalsteuorgesetz  vom  25.  Oktober  1806,  R.-G.-Bl.  Nr.  220, 
an  der  vorgeschriebenen  Hanszinsstener  jährliche  Nachlässe  vom  10  bis  12'5  Proz. 
der  Jahresstener  zu  gewähren  .sind,  so  entsteht  die  Krage,  wie  diese  Uestiinmnng 
mit  der  Bewilligung  von  Nachlässen  mit  Rücksicht  auf  das  Vorhandensein  größerer 
unverbauter  Flächen  in  Einklang  zu  bringen  ist.  Erst  nach  Abzug  der  l’ersonal- 
steuernachlässe  die  anderen  zu  berechnen,  wäre  mifllich,  da  sie  je  nach  dem 
Erträgnis  von  10  bis  12'5  Proz.  schwanken.  Man  könnt«  allerdings  von  einer 
etwaigen  Erhöhung  absehen  und  den  Nachlaß  immer  mit  10  Proz.  in  Anschlag 
bringen  und  vom  Best  den  Nachlaß  wegen  geringer  Verbauung  berechnen,  doch 
würde  dadurch  die  Spannung  zwischen  dem  höchsten  und  niedrigsten  Steuersatz 
geringer.  Wäre  dieser  Nachlaß  i.  B.  auch  10  Proz.,  so  würde  die  Spannung  nicht 
ein  Zehntel  von  der  ursprünglich  vorgeschriebenen  Steuer,  sondern  nnr  neun 
Hundertel  derselben  betragen.  Wollte  man  umgekehrt  zuerst  diesen  Nachlaß 
abziehen  und  vom  Rest  den  durch  das  Personalsteuergesetz  gewährten  berechnen, 
so  kämen  gerade  die  Gebäude,  denen  wegen  ihrer  sanitären  Bauweise  ein  größerer 
Nachlaß  gewährt  wurde,  zu  Schaden,  da  bei  ihnen  der  Personalsteuemachlaß  von 
einer  bedeutend  verkleinerten  Summe  berechnet  würde  und  deshalb  geringer  wäre. 
Es  ist  daher  am  besten,  beide  Nachlässe  von  der  ursprünglich  vorgeschriebenen 
Steuer  zu  berechnen  und  von  dieser  nebeneinander  zum  Abzug  zu  bringen. 

Bei  der  großen  Rollt,  welche  in  Österreich  die  Zuschläge  der  sogenannten 
Fondsbeiträge  spielen,  ist  es  von  großer  Bedeutung,  von  welcher  Stener- 
souime  sie  berechnet  werden,  von  der  ursprünglichen,  nach  den  bisherigen  Vor- 
schriften ermittelten  oder  zu  derjenigen,  zu  der  man  unter  Berücksichtigung  der 
hier  gemachten  Vorschläge  gelangt.  Nimmt  man  die  bisherige  Staatssteuer  zur 
Grundlage,  so  ist  es  für  den  Bauherrn  einfacher  zu  berechnen,  wie  weit  eine 
stärkere  Verbauung  unter  der  Herrschaft  der  ahgeänderten  Gekäudestener  noch 
für  ihn  vorteilhaft  ist,  indem  er  nur  die  Abstufungen  der  Staatsstouer  zu  berück- 
sichtigen braucht,  wärend  die  llöho  und  Zahl  der  Zuschläge  nicht  in  Frage 
kommen,  da  sic  von  dem  Maß  der  Verbauung  unabhängig  sind.  Nimmt  man 
hingegen  die  ahgestnfte  staatliche  Gebüudesteuer  znr  Berechnuugsgrundlage,  so 
wird  deren  assanierende  Wirkung  ungemein  verstärkt,  da  der  Unterschied  zwischen 
höchster  und  niedrigster,  für  ein  Gebändc  möglichen  Gesamtsteuerschuldigkeit 
sehr  vergrößert  wird.  Beträgt  der  lOproz.  Nachlaß  bei  der  staatlichen  Gebäude- 
steuer 100  Kronen,  so  steigt  der  Unterschied  bei  100  Proz.  Zuschlägen  auf 
200  Kronen,  hei  10ÖÜ  Proz.  aber  auf  1100  Kronen.  Im  demselben  Maße  würde  eine 
Erhöhung  der  Staatsstener  durch  die.  Foudsbeiträge  hinaufgetrieben  werden.  l)a 
die  Höhe  der  Zuschläge  sehr  verschieden  ist.  wurde  auch  die  Wirkung  der  Abstufung 
der  Gebäudestener  große  lokale  Verschiedenheiten  zeigen.  Um  die  daraus  sich 
ergebende  Ungleichmäßigkeit  zn  vermeiden,  bleibt  nichts  anderes  übrig,  als  die 
Zuschläge  nach  der  ursprünglichen  Steuervorschrcibung  zu  berechnen.  Dies  empfiehlt 
sich  auch  deshalb,  weil  die  Höhe  der  Zuschläge  in  derselben  Steuergeineinde  stark 
wechselt,  so  daß  eine  Vorausberechnung  der  Stenerbelastung  nicht  möglich  ist. 

Bis  jest  wurde  nur  die  Möglichkeit  ins  Auge  gefaßt,  daß  bei  der  staat- 
lichen Gebäudesteuer  mit  Rücksicht  auf  die  Stärke  der  Verbauung  der  Grund 
flächen  Abstufungen  gemacht  werden.  Es  kann  aber  auch  eine  znr  Erhebung  von 


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Zuschlägen  zur  Gebäudestcuer  berechtigte  autonome  Körperschaft  durch  die 
Gestaltung  dieser  Erhebung  auf  die  Bauneise  und  die  Intensität  der  Verbannng 
einwirten.  Es  ist  wohl  hergebracht,  daB  die  Zuschläge  von  der  Steuer  gleichmäßig 
ohne  weitere  Unterscheidung  erhoben  werden,  so  daß  eine  Abstufung  der  Zuschläge 
bei  den  Gebändesteuern  nach  Maßgabe  der  Verbauung  nicht  gut  möglich  wäre, 
doch  steht  es  den  autonomen  Körperschaften  frei,  von  den  ihnen  znkommenden 
Beträgen  Nachlässe  zu  gewähren,  und  sie  können  dies  auch  bei  den  Gebäuden 
tun,  die  infolge  der  geringen  Verbauung  der  Grundfläche  besser  den  sanitären 
Anforderungen  entsprechen.  So  kann  z.  B.  eine  Gemeinde,  die  einen  SJOproz. 
Zuschlag  zur  Hanszinssteuer  einhebt,  abgestnfte  Nachlässe  für  einzelno  Häuser 
gewähren,  indem  sie  z.  B.  auf  25  Pro:,  der  ihr  zukommenden  Summe  verzichtet 
Natürlich  würden  dadurch  die  Gemeindeeinnahinen  sinken.  Da  die  meisten 
Gemeinden  in  ungünstiger  finanzieller  Lage  sind,  könnten  sie  aber  auf  diese 
Hingänge  nicht  verzichten,  ohne  dafür  Ersatz  zu  erhalten.  Dieser  kann  entweder 
in  der  Eröffnung  oder  Steigcrnng  anderer  Einnahmequellen  bestehen  oder  er 
müllte  wieder  bei  der  Gebäudesteuer  gesucht  werden.  Dies  könnte  nur  durch 
Erhöhung  des  Prozentsatzes  des  Gemeindezuschlages  erzielt  werden.  Würde 
z.  B.  bei  einem  20proz.  Gemeiudezuschlag  ein  Nachlaß  bis  zn  25  Proz.  gewährt 
werden,  so  müßte  dieser  entsprechend  erhöbt  worden;  wenn  der  Ausfall  wirklich 
25  Proz.  betrage,  was  in  der  Wirklichkeit  nicht  leicht  der  Fall  sein  dürfte, 
müßte  die  Gemeinde  ihren  Zuschlag  zur  Staatssteuer  auf  26' 7 Proz.  erhöhen. 
Eine  Einflußnahme  auf  die  Bauweise  ist  hei  dieser  Art  der  Steuererhebung 
natürlich  nnr  durch  Nachlässe  möglich,  während  Zuschläge  nicht  in  Anwendung 
kommen  können.  Doch  kann  der  verschiedenen  Beiastungsfähigkeit  der  Hauszins- 
steuer und  der  5 proz.  Steuer  dadurch  Bechnung  getragen  werden,  daß  der 
Gemeindeznschlag  bei  der  5proz.  Steuer  bedeutend  höher  angesetzt  wird. 

Faßt  man  das  Ergebnis  der  vorliegenden  Arbeit  zusammen,  so  ist  zunächst 
zu  betonen,  daß  die  Förderung  der  Hygiene  durch  die  Abstufung  der  Gebände- 
steuern nur  Nebenzweck  sein  kann.  Boi  der  Durchführung  dieser  Abstufung  ist 
daher  alles  zu  vermeiden,  was  den  regelmäßigen  Steuerdienst  erschweren  könnte, 
und  der  Geschäftsgang  möglichst  einfach  zu  gestalten,  damit  jede  nicht  unbedingt 
nötige  Mehrarbeit  erspait  werde.  Wird  die  Abstufung  der  Gebäudestener  in 
zweckmäßiger  Weise  durchgeführt,  so  wird  den  Baubehörden  und  allen  Instanzen, 
welche  sich  mit  Rekursen  in  Baukonsensangelegenheiten  zu  befassen  haben,  viel 
Arbeit  erspart,  die  Rente  der  Lage  wenigstens  in  den  Fällen  einer  stärkeren 
Verbauung  durch  eine  höhere  Besteuerung  wirksam  getroffen,  endlich,  was  das 
Ziel  dieses  Vorschlages  ist,  die  Bauordnung  und  Baupolizei  in  ihrem  Kampfe 
gegen  die  starke  Verbauung  kräftig  unterstützt,  so  daß  eine  ungesunde  Ver- 
kleinerung der  Höfe  und  Hausgöttern  möglichst  bintangehalten  wird.  Mag  auch 
die  praktische  Durchführung  einer  solchen  Abänderung  der  Gebäudesteueni  auf 
größere  Schwierigkeiten  stoßen,  als  es  theoretisch  scheint,  so  ist  es  doch  ein 
anziehender  Gedanke,  gleichwie  die  Katnrkräfte  immer  mehr  zum  Wohle  der 
Menschheit  verwendet  werden,  so  auch  die  gewaltige  Kraft  des  auf  den  Gebäuden 
ruhenden  Steuerdruckes  in  den  Dienst  der  Hygiene  zu  stellen  und  durch  Erschwerung 
der  übermäßigen  Verbauung  für  die  Assanierung  natzbar  zn  machen. 


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BERICHTIGUNG. 


Im  Y.  Heft  dieser  Zeitschrift,  S-  483,  im  Aufsatz  des  Herrn  Fr.  Hertz 
über  die  Diskont-  und  Devisenpolitik  der  österreichisch-ungarischen  Bank 
1892 — 1902  wird  eine  von  mir  im  Budgetausschnß  des  Abgeordnetenhauses  am 
14.  März  1894  über  die  Salinonscheiuoperationen  der  Bank  in  den  Jahren  1892/93 
abgegebene  Äußerung  angeführt,  deren  wesentlicher  Inhalt  übrigens  schon  früher 
in  meiner  Rede  im  Abgeordnetenhaus  vom  15.  Dezember  1893  (255.  Sitzung) 
enthalten  war  und  welche  nach  dem  angeführten  Zitat  lautete:  „Der  Finanz- 
minister  habe  es  für  seine  Pflicht  gehalten,  die  Sache  zu  ordneD  und  dies  sei 
durch  ein  formales  Übereinkommen  geschehen,  welches  die  Regierung 
mit  der  Bankleitung  abgeschlossen  habe,  ein  Übereinkommen,  worin  die  Bank 
ausdrücklich  sich  dahin  erkläre,  daß  sie  in  Hinkunft  die 
beanständete  Kskomptierung  der  Salinenscheine  nicht 
weiter  vornehmen  wolle.“ 

Gegenüber  dieser  zweifelfreien  Erklärung  des  Finanzministers  sei  es,  heißt 
es  in  jenem  Aufsatz  weiter,  ein  absoluter  Widerspruch,  wenn  in  dem  1896 
erschienenen  Dezennalberichtc  der  Bank  unbedingt  die  Berechtigung  der  Bank 
zu  den  beanständeten  Operationen  behauptet  und  das  vom  Finanzminister  ange- 
zogene Übereinkommen  einfach  in  Abrede  gestellt  wird.  Es  heiBt  dort  (S.  46): 
,üie  Bank  hat  sich  daher  weder  verpflichtet,  noch  kann  sie  sich  für  die  Zukunft 
verpflichten,  von  diesem  ihr  zustehenden  Rechte  keinen  Gebrauch  zu  machen; 
ob  und  in  welchem  Umfange  sie  davon  Gebrauch  macht  und  machen  darf, 
hängt  allein  von  den  verfügbaren  Mitteln,  der  Lage  des  Geldmarktes  und  der 
zu  beobachtenden  Zinsfullpolitik  ab.* 

Diese  Stelle  im  Bankberichte,  die  bisher  meiner  Aufmerksamkeit  entgangen 
war,  erscheint  als  Widerlegung  der  von  mir  gemachten  Mitteilung  über  die 
Angelegenheit.  Cm  nun  jeden  Zweifel  über  die  Richtigkeit  meiner  Mitteilung  zu 
beheben,  sei  hier  der  Wortlaut  des  im  Finanzministerium  über  diese  Angelegen- 
heit aufgenommenen  Protokolls  abgedruckt: 

Protokoll. 

Am  21.  November  1893  hat  im  Bureau  Seiner  Exzellenz  des  Herrn 
k.  k.  Finanzministers  eine  Besprechung  über  die  Praxis  der  Geschäftsleitung  der 
Österreichisch-ungarischen  Bank  bei  Erwerbung  von  Salinenscheinen  für  das 
Bankportefeuille  stattgefunden,  an  welcher  Besprechung  seitens  der  Österreichisrh- 


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Berichtigung. 


646 

ungarischen  Bank  Seine  Exzellenz  der  Herr  Gouverneur  Dr.  Kautz  und  der 
Herr  Generalsekretär  von  Mecenseffy,  seitens  der  k.  k.  Finanzverwaltung 
Seine  Exzellenz  der  Herr  k.  k.  Finanzminiater,  Herr  Sektionschef  Freiherr  von 
N i c b a u e r,  Herr  Ministerialrat  Freiherr  von  Winterstein  und  Herr  Finanzrat 
G r u h e r teilnahinen. 

Nachdem  der  bisherige  Vorgang  der  Bankleitung  auf  diesem  Gebiete  vom 
juridischen  und  vom  bankpolitischen  Standpunkte  eingehend  erörtert  worden  war, 
erklärte  der  Herr  Generalsekretär  unter  Zustimmung  Seiner  Exzellenz  des  Herrn 
Bankgouverneurs,  daii  die  außerordentliche  Vermehrung  des  Besitzes  des  Bank- 
portefeuille an  Salinenscheinen  in  dem  Zeiträume  1892/93  ihren  wesentlichen 
nnd  ausschließlichen  Grund  in  der  durch  die  Valutagesetze  vom  August  1892 
geschaffenen  währungspolitischen  Situation,  insbesondere  in  der  durch  die  Gold- 
eingänge bei  der  Bank  hervorgerufenen  Vermehrung  des  Banknotenumlaufes  und 
in  dem  Wunsche  der  Bankleitung  hatte,  den  Zinsfuß  nicht  allzutief  sinken  zu 
lassen,  daß  hingegen  die  Bankleitung  in  der  gegenwärtigen 
Situation,  abgesehen  von  der  statutenmäßigen  Eskomptie- 
rungvonSalinenscheinen  auf  Grundvon  Parteieinreichungen 
sowie  auf  Grund  von  allfälligen  normalen  Anlagen  für  den 
Reservefonds,  eine  weitere  Ausdehnung  der  Erwerbung  von 
Salinenscheinen  nicht  beabsichtigt.- 

Diese  Erklärung  wurde  von  Seiner  Exzellenz  dem  Herrn  Finanzminister 
zur  Kenntnis  genommen  und  hierauf  das  gegenwärtige  Protokoll  von  den 
Anwesenden  gefertigt. 

Wien,  am  21.  November  1893. 

Kautz  m.  p. 

Gouverneur  der  Österreich  i»di-u  Dorischen  Bank. 

Mecenseffy  m.  p. 

OiomUHmtir. 


Wien,  im  Oktober  1903. 

E.  Plener. 


E.  Plener  m.  p. 
Niebauer  in.  p. 
Wlntersteln  m.  p. 
l)r.  Ignatz  Gruber  m.  p. 


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