Archiv für die
gesamte
Psychologie
Deutsche
Gesellschaft für
Psychologie
TfaJi (0.13 BomKl
AUG 15 1908
JtarfarU College libraro
KROM THK IlKqUEST l»F
JAMES WALKER. D.D., LL.D.,
(Class of 1814)
POMMER PRESIDENT OF HARVARD COLLEGE .
" Preference being given to worka in the Intelleclual
and Mond Sciences."
I
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I
ARCHIV
FÜR DIE
GESAMTE PSYCHOLOGIE
UNTER MITWIRKUNG
VON
Prot. H. HÖFFDING in Kopenhagen, Prof. F. JODL in Wien,
Pbof. F. KIESOW in Tubin, Pbop. A. KIRSCHMANN in Tobonto
(Canada), Pbof. E. KRAEPELIN in München, Pbof. 0. KÜLPE in
Wübzbübo , Db. A. LEHMANN in Kopenhagen, Pbof. TH. LIPPS
m München, Pbof. G. MARTIUS in Kiel, Pbof. G. STÖRRING in
Zübich und Pbof. W. WUNDT in Leipzig
HERAUSGEGEBEN VON
E. MEUMANN und W. WIRTH
O. PROFESSOR A. D. UNIVERSITÄT A. 0. PROFESSOR A. D. UNIVERSITÄT
MÜNSTER i. W. LEIPZIG
XI. BAND
MIT 8 FIGUREN IM TEXT
LEIPZIG
VERLAG VON WILHELM ENGELMANN
1908
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FSvJ lo.l3
£• wurden ausgegeben:
Heft 1 (8. 1—146) am 10. Januar 1906. '
Heft 2 (6. 147—210; Literaturbericht 8. 1 —112) am 26. Februar 1906.
Heft 3 und 4 (S. 211—462; Literaturbericht 8. 113—195) am 19. Mai 1906.
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Inhalt des elften Bandes.
Abhandlungen: Seit«
SrÖTfRlXG, G., Experimentelle Untersuchungen über einfache Schlußprozeaae 1
"K.IRSCHMANN, A., und D. S- Pix, Experimentelle Untersuchung der Komple-
ment&rverhtiltniase gebräuchlicher Pigmentfarben. Mit 8 Figuren
im Text) 138
Schultz«, F. E. Otto, Einige Hauptgesichtepunkte der Beschreibung in der
Elementarpsychologie. III. Über Organempfindungen und Körper-
gefflhle (Dynamien ) . 147
Schallmayer. W.. Zur Abwehr 208
Vterkandt, A., Erwiderung auf die vorstehende Abwehr 209
Lucka, Emil, Dag Problem einer Charakterologie 211
Oeleoroov, I. A., Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kinder-
sprache 242
Ernst, Christian, Hielt Descartes die Tiere für bewußtlos? 433
Wcndt, W., Kritische Nachlese zur Ausfragemethode 445
VImt' Congres internat. de Psychologie Geneve 190^)) 460
Literaturbericht :
F. M. Urban, Die Psychologie iu Amerika Zweiter Bericht 113
Einzelbeap rechungen.
C. Stumpf, Erscheinungen und psychische Funktionen. (Karl Bühlrr.) . . 1
Gustav StOrring, Ethische Grundfragen. I. und II. Teil. (A. Koualacski.) 145
Referate.
C. Stumpf, Einleitung zu dem Werke: Dakar Pfungat, Daa Pferd des
Herrn von Orten. (E. Meiimann.) 6
Erich Becher, Daa Geaeti von der Erhaltung der Energie und die An-
nahme einer Wechselwirkung zwischen Leib und Seele. (J. Köhler.). 7
Erich Becher, Kritik der Widerlegung des Parallelismus auf Grund einer
»naturwissenschaftlichen« Analyse der Handlung durch Hans Driesch.
(Ernst Bloch.) 8
Conatantin Gutberiet, Psychophyaik. Historisch-kritische Studien Aber
experimentelle Psychologie. (E. Meumann.) 11
Willy HeUpach, Nervenleben und Weltanschauung, ihre Wechselbezie-
hungen im deutschen Leben von heute. (Dannenberger.) 12
Th. Ribot, Eaaai aur leg PasBiong. (M. Kelchner.) 15
J. W. NahlowBky, Daa Gefühlsleben iu seinen wesentlichen Erscheinungen
und Beziehungen. (Kiesow.) 20
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1Y
Seito
N. Alechaieff, Die Grundformen der Gefühle. (M. Kelchner.) 21
G. R. d'Allonpea, L'explication physiologiquc de remotion. (M. Kelchner.) 27
Oskar Kohnstamm, Die biologische Sonderstellung der Ausdmcksbewe-
gungep. (M. Kelchner.) 29
Cohn upd W. Gent, Aussage upd Aufmerksamkeit. (Kiesow.) 31
V. Urbaptschitsch, Uber subjektive optische Angchauung6bilder. (Kiesoic.) 33
Edouard Cl aparede. Experienccs sur le T6moignage. (Marie Dürr- Borst.) 35
G. Aschaff enburg, Das Verbrechen tmd seine Bekämpfung. (Dannenberger.) 37
Erpat Siefert, Uber die upTcrbesserlichen Gewohpheitsvcrbrecher upd die
Mittel zu ihrer Bekämpfung. (Dannenberger.) 45
C. G. Jung, über die Psychologie der Dementia praecox. (M. Peichardt.) 46
L. M. Kötscher, Das Flrwachen des Geschlechtsbewußtscins upd seipe Ano-
malien. (Dannenberger.) 48
Mc unier, Des reves stereotypes. (E. Heitmann.) 61
Hepry PhippB Ipstitutc. For the Study, Treatment apd ProTention of
Tuberculosis. (E. Meumann.) 64
M. Ettlipger. Sind die spiritistischep Erscheipupgcn natürUch erklärbar?
(J. Köhler.) 64
Hans Freimark, Moderne Geisterbeschwürer upd Wahrheitssucher. (Fritx
Rose.) 66
Camille Flammariop, Upbekappte Naturkrftfte. (E. Meumann ) .... 55
E. WaBmann, Mcpschcp- upd Tierseele, 4. Aufl. (J. Kohler.) 67
M. Wagner, Psychobiologische Untersuchungen an Hummeln, I. Teil.
(E. Meumann.) • 67
Kmil Villiger, Gehirn und Rückepmark. (E. Meumann.) 69
Albert Thumb, Psychologische Studien über die sprachlichen Analogie-
bildungen. (Paul Mennrath.) 70
Ottmar Dittrich. Die Grenzen der Sprachwissepschaft. (Paul Menxerath) 77
Max Wentscher, Ethik. I. Teil: Kritische Grimdlegimg. (0. Braun.) . 80
Martin Meyer, Aphorismen zur Moralphilosophie. (0. Braun.) 84
Heinrich Kochendörfer, Wie bewahrt sich ein Volk die Herrschaft über
seine Zeit? (L. v. Renauld) 87
Job. Kregler, Rcligionshygiene. (O.Braun.) 88
K. Räumer, Pflapze, Tier, Mensch, (J. Köhler.) 89
Hippolyte Tainc, Philosophie der Kunst, 2. Aufl. (E. Meumann.) ... 90
Frapz Jahn, Das Problem des Komischen ip seiner geschichtlichen Ent-
wicklung. (E. Meumann.) 91
Rob. F. Arnold, Das moderne Drama. (Fritx Rose.) 91
Wilholm Bölschc, Hinter der Weltstadt. (E. Meumann.) 92
Fr. Hashagen. Der >modcrnc« Roman und die Volkserziehung. (E. Meumann.) .)4
Henry Herbert Goddard, Die Ideale der Kinder. (IL Plack.) Vi
Ladislaus Nagy, Die Entwicklung des Interesses des Kindes. (II. Plack.) 99
Karl Marbe, Objektive Bestimmung der Schwingungszahlen Königscher
Flammen ohne Photographie. (Weiß.) 106
Karl Marbe, Erzeugupg schwingenderFlammen mittels LuftQbertragung. (Weiß.) 105
Karl Marbe, Registrierung der Herztöne mittels rußender Flammen. (Weiß.) 106
Ernst Jentsch, Zum Andenken an Paul Julius Möbius. (E. Meumann.) 106
Herbert Spencer, Eine Autobiographie, I. Band. (Marie Dürr- Borst.). . 107
A. Hansen, Hackeis > Welträtsel« und Herders > Weltanschauung«. (J. Köhler.) 107
('. Wcpzig, Die WcltaPBchauupgeu der Gegenwart in Gegensatz und Aus-
gleich. (J. Köhler.) 108
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V
Sali«
Philosophische Bibliothek Bd. 114. Georg Wilhelm Friedrich
He gel 8 Phänomenologie des Geistes. (E. Meumann.) 110
Philosophische Bibliothek Bd. 42. Immanuel Kants Metaphysik
der Sitten. (E. Mettmann.) 111
M. Fürst und £. Pfeiffer, Schulhygienisches Taschenbuch. (E. Meumann.) 111
Albert Thumb, Die experimentelle Psychologie im Dienste der Sprach-
wissenschaft (Menzerath.) 160
Hanns Örtel und Edward P. Morris, An examination of the theo ries regar-
ding the nature and origin of Indo-European inflection. (E. Kretschmer.) 152
Alexander F. Chamberlain, Acquisitum of written langnage by primitive
peoples. (E. Krei8chmer.) 166
Karl E. Schäfer, Die psychologische Deutung der ersten Sprachäußerungen
de8 Kindes. (R Meumann.) 169
Herdis Krarup, Die Metaphysiologie Alfred Lehmanns, kritisch er-
läutert (E. Meumann.) 159
Arthur Mac Donald, A plan for the study of man. (E. Meumann.) . . 161
Adalbert Gregor, Ein einfacher Apparat zur Exposition optischer Reise.
(E. Meumann.) 161
Dr. A. Gregor und Dr. A. Zalosiecki, Diagnose psychischer Protease
im Stupor. (E. Meumann.) 162
Hans Groß, Mnemotechnik im Unterbewußtsein. (E. Meumann.) .... 166
Binswanger, Die Hysterie. (Weygandt.) 167
Die Briefe der heiligen Catarina von Siena, Ausgewählt, eingeleitet
und deutsch herausgegeben von Annete Kolb. (K. Oesterreich.). . 170
O.Hahn, S. J., Die Probleme der Hysterie und die Offenbarungen der
heiligen Therese. (K. Oesterreich.) 170
E. B. Bax, The roots of reality, being suggestions for a philosophical recon-
ßtruetion. (H. J. Watt.) 172
Edmund Montgomery, PhiloBophieal Problems in the light of vital Or-
ganisation. (H. J. Watt.) 173
J. Woodbridge Riley, American Philosophy. The early schools. (H.J. Watt.) 174
Dr. Theodor Lessing, Theaterseele. (Fritx Rase.) 175
O. von Bunge, Wider den Alkohol. (E. Meumann.) 177
R. Barany, Physiologie und Pathologie des Bogengangapparates beim
Menschen. (R. Hober.) 177
ErichWasmann, S. J., Die moderne Biologie und die Entwicklungstheorie.
(R Meumann.) 179
Theodor Kappstein, Eduard von, Hartmann. Einführung in seine Ge-
dankenwelt (K. Oesterreich.) 180
F. Kuypers, Volksschule und Lehrerbildung in den Vereinigten Staaten.
(R Meumann.) 181
K. Remus, Der dynamologische Lehrgang. (Oskar Messmer.) 182
J. F. W. von 8chellings Werke. (E. Meumann.) 188
Friedr. Nietisches Werke. Taschenausgabe. (R Meumann.) 193
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1 -UA tv ■ 13
ARCHIV
FÜR DIE
GESAMTE PSYCHOLOGIE
UNTER MITWIRKUNG
VON
Prof. H. HÖFFMNG in Kopenhagen, Prof. F. JODL ix Wien,
Prof. F. KIESOW ix Turin, Prof. A. KIRSCHMANN ix Toronto
(Caxada), Prof. E. KRAEPELIN ix München, Prof. 0. KÜLPE ix
Wükzburg, 1>R. A. LEHMANN ix Kopenhagen, Prof. Tu. LIPPS
Di München, Prof. G. MARTI US in Kiel, Prof. G. 8TÖRRING in
Zürich und Prof. W. WUNDT in Leipzig
HERAUSGKGKBKN VON
E. MEUMANN und W. WIRTH
O PROFESSOR A. P. UNIVERSITÄT
MONSTER I. W.
A O. PROFESSOR A. D. UNIVERSITÄT
LKIPZIU
XI. EAND, 1. HEFT
MIT 8 FIGUREN IM TEXT
LEIPZIG
VERLAG VON WILHELM ENGELMANN
1908
Ausaeaehm am 10. Januar mos
^^^oy Google
Bemerkungen für unsere Mitarbeiter.
Das Archiv erscheint in Heften, deren vier einen Band von
etwa 40 Bogen bilden.
Für das Archiv bestimmte Abhandlungen und Referate aus den
Gebieten der Raum- und Zeitvorstellungen, der Sinnespsychologie,
der Anatomie und Physiologie der Sinnesorgane, sowie der Geschichte
der Psychologie bitten wir an Herrn Prof. Dr. W. Wirth, Leipzig,
Emilienstr. 36", alle übrigen Abhandlungen und Referate an Herrn
Prof. Dr. E. Meumann, Münster i. W., Brüderstraße 22 einzusenden.
An Honorar erhalten die. Mitarbeiter: für Abhandlungen
Jl 30. — , für Referate M 40. — für den Bogen. Dissertationen
sind von der Honorierung ausgeschlossen. Von den Abhandlungen
werden an Sonderdrucken 40 umsonst, weitere Exemplare gegen müßige
Berechnung geliefert. Von den Referaten werden Sonderdrucke nur
auf Verlangen geliefert. Die etwa mehr gewünschte Anzahl bitten
wir, wenn möglich bereits auf dem Manuskript anzugeben.
Die Manuskripte sind nur einseitig beschrieben und druckfertig
einzuliefern, so daß Zusätze oder größere sachliche Korrekturen
nach erfolgtem Satz vermieden werden. Die Zeichnungen für Tafeln
und Textabbildungen (diese mit genauer Angabe, wohin sie im Text
gehören) werden auf besondern Blättern erbeten ; wir bitten zu beachten,
daß für eine getreue und saubere Wiedergabe gute Vorlagen uner-
läßlich sind. Anweisungen für zweckmäßige Herstellung der Zeich-
nungen mit Proben der verschiedenen Reproduktionsverfahren stellt
die Verlagsbuchhandlung den Mitarbeitern auf Wunsch zur Verfügung.
In Fällen außergewöhnlicher Anforderungen hinsichtlich der Ab-
bildungen ist besondere Vereinbarung erforderlich.
Die im Archiv zur Verwendung kommende Orthographie ist
die für Deutschland, Osterreich und die Schweiz jetzt amtlich ein-
geführte, wie sie im Dudenschen Wörterbuch, 7. Auflage, Leipzig
1902, niedergelegt ist.
Die Veröffentlichung der Arbeiten geschieht in der Reihenfolge,
in der sie druckfertig in die Hände der Redaktion gelangen, falls
nicht besondere Umstände ein späteres Erscheinen notwendig machen.
Die Korrekturbogen werden den Herren Verfassern von der Ver-
lagsbuchhandlung regelmäßig zugeschickt; es wird dringend um deren
sofortige Erledigung und Rücksendung (ohne das Manuskript) an die
Verlagsbuchhandlung gebeten. Von etwaigen Änderungen des Aufent-
halts oder vorübergehender Abwesenheit bitten wir, die Verlagsbuch-
handlung sobald als möglich in Kenntnis zu setzen. Bei säumiger
Ausführung der Korrekturen kann leicht der Fall eintreten, daß
eine Arbeit für ein späteres Heft zurückgestellt werden muß.
Die Referenten werden gebeten, Titel, Jahreszahl, Verleger, Seiten-
zahl und wenn möglich Preis des Werkes, bzw. die Quelle bespro-
chener Aufsätze nach Titel, Band, Jahreszahl der betreffenden Zeit-
schrift genau anzugeben.
Heraasgeber und Verlagsbuchhandlung.
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Experimentelle Untersuchungen über einfache
Schlufsprozesse.
Von
G. Störring.
Einleitung.
Zu einer experimentellen Untersuchung der Schlußprozesse bin
ich zunächst angeregt worden durch einige Streitfragen der Logiker,
bei welchen es naheliegt, an eine Entscheidung auf Grund ex-
perimentell-psychologischer Untersuchung zu denken. Dahin ge-
hört vor allem die Auffassung von F. A. Lange, daß alles
Schließen sich an der Hand räumlicher Anschauungen vollziehe.
Ihm folgt neuerdings Kroman. Das ist eine Vorstellungsweise,
die zu experimenteller Prüfung geradezu herausfordert.
Ähnlich hat auf mich die Kontroverse Uber die Bedeutung der
Synthese der Beziehungsgedanken der Prämissen zum Zustande-
kommen des Schlußsatzes gewirkt. Einige Logiker behaupten be-
kanntlich, daß aus den Prämissen der Schlußsatz durch eine Synthese
der Gedanken der Prämissen gewonnen werde. So Bradley und
Schuppe. Letzterer sagt: »Werden die Prämissen un verbunden
gedacht, so ist die Eonklusio ein neues Urteil ; werden sie in ihrer
durch das identische Moment hervorgebrachten Verbindung als
das eine S oder P gedacht, so ist die Konklusio nur der Ausdruck
dieser Verbindung* 1). Demgegenüber wird von anderer Seite be-
hauptet, das Schließen bestehe darin, »daß durch die Vergleichung
der beiden Prämissen die Notwendigkeit erkannt würde, dem
Subjekt S ein Prädikat P beizulegen, und auf Grund dieser ein-
gesehenen Notwendigkeit erst würde der Gedanke der Einheit SP
wirklich vollzogen« 2). Auch diese Kontroverse legt den Gedanken
1) Schuppe, Grandriß der Erk. und Logik. 8. 63, vgl. c. Erk-Log. S. 260.
2) Sigwart, Logik. 2. Aufl. I. Bd. S. 443.
Arekir für Piyehologie. XI. 1
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2
G. Störrintr.
an eine experimentelle Entscheidung nahe. Sodann habe ich An-
regung zur experimentellen Untersuchung der Schlüsse durch die
jüngsten Arbeiten des psychologischen Laboratoriums in Würzburg
über das Denken1) erfahren, in welchen die Begriffe und Urteile einer
experimentell -psychologischen Untersuchung unterzogen werden.
Um mit möglichst einfachen Verhältnissen zu arbeiten, habe
ich nicht mit bestimmten Begriffen operiert, sondern mit^ Buch-
stabengrößen. Ich habe mich sodann auf die Untersuchung
einfacher und kategorischer Syllogismen (mittelbarer Schlüsse)
beschränkt. Von den kategorischen Schlüssen habe ich weiter
noch die Schlüsse mit Abhängigkeitsbeziehungen ausgeschieden,
weil ich dieselben mit den hypothetischen Schlüssen zusammen
zu untersuchen gedenke. Ich habe also in das Bereich meiner
Untersuchungen Schlüsse mit räumlichen Beziehungen, mit zeit-
lichen Beziehungen, mit den Beziehungen größer und kleiner, mit
Gleichheitsbeziehungen, mit Subsumtions- und Eigenschafts-
beziehungen gezogen.
Ich habe mich sodann zunächst darauf beschränkt, eine
visuelle Darbietung von Prämissen mit diesen Beziehungen
vorzunehmen.
Die visuelle Darbietung erfolgte in ganz ähnlicher Weise wie
in den Versuchen von Cordes2). Die Vp. saß in einem von
schwarzem Tuch eingeschlossenen Räume. Das eine Ende eines
vierkantigen Tubus führte in diesen Raum, das andere konnte
durch einen Vorhang verdeckt werden. Dem Tubus war eine
schräge Lagerung gegeben, so daß die Vp. durch denselben in
der Blickrichtung, wie sie gewöhnlich beim Lesen eines
Buches gegeben ist, die Prämissen auf einem exponierten
Zettel lesen konnte, welcher horizontal auf einem vor der mit
dem Tubus versehenen Fläche des abgedunkelten Raumes stehenden
Tischchen so gelagert war, daß die Entfernung vom Auge der Vp.
etwa 30 cm betrug. — Etwa V/2 Sekunde nach einem Signal
»bald« wurde der Vorhang mit einem »jetzt« entfernt. Der Zettel,
auf dem die Prämissen standen, blieb bis zum Ende des Referats
über den Versuch exponiert.
1) Watt, Experim. Beiträge zur Theorie des Denkens. Dieses Archiv.
IV. Heft 3. — Messer, Experim. -psycho]. Unters. Uber das Denken. Dieses
Archiv. VDIL Heft 1/2.
2) G. Cordes, Philos. Stud. 17. Bd. S. 31.
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Experimentelle Untersuchungen über einfache Schlußprozesse. 3
Es wurde dej^Vp. die Anweisung gegeben, mit dem Bewußt-
sein absoluter Sicherheit zu schließen. Erläuternd wurde am An-
fang zu dieser Anweisung hinzugefügt, es komme nicht darauf an,
möglichst schnell zu reagieren1), wie das bei den Assoziations-
versuchen häufig der Fall sei. Diese Anweisung, mit dem Be-
wußtsein absoluter Sicherheit zu schließen, wurde in der ersten
Zeit des Experimentierens mit einer Vp. vor jedem Versuch
wiederholt.
Der Anweisung, mit dem Bewußtsein absoluter Sicherheit zu
schließen, wurden in manchen Fällen noch andere Anweisungen
hinzugefügt. —
Die Zeit von dem Beginn der Exposition bis zum Beginn des
Aussprechens des Schlußsatzes wurde mit einer Füuftelsekunden-
uhr gemessen. Diese Art der Messung genügte bei den langen
Reaktionszeiten der Schlußoperationen durchaus.
Infolge der Vornahme einer Exploration der Vp. nach jedem
einzelnen Versuch stellte sich im Anfang bei einzelnen Vp. die
Neigung ein, während des Operierens Selbstbeobachtung
-auftreiben. Es wurde dann von Seiten des Experimentators
darauf hingewiesen, daß es sehr unzweckmäßig sei, so zu ver-
fahren. Infolgedessen trat in späteren Übungslagen eine solche
Neigung nicht mehr auf. Dagegen wurde den Vp. gelegentlich
empfohlen, sich auf die einzelnen Operationsphasen zu konzen-
trieren2), ohne eine Aufmerksamkeitsspannung auf dieselbe zu
entwickeln, sich für dieselbe zu interessieren. Ich habe es auch
zweckmäßig gefunden, den Vorschlag EUlpes zu befolgen, in ver-
schiedenen Versuchen die Vp. verschiedene Seiten des Tatbestandes
beachten zu lassen.
Ich habe mich jetzt noch über die Exploration auszusprechen.
Wenn man Explorationen vornimmt, so muß man natürlich vor
allem die gewöhnlichen Kautelen dabei beobachten, damit man
nicht den Vp. die eigenen Vorstellungen ansuggeriert. Sodann
muß man berücksichtigen, daß eine Vertiefung der Exploration
bei einem einzelnen Versuch nicht nach allen Seiten stattfinden
kann, denn wenn man eine Vertiefung nach einer Seite hin
1) Vgl. £. Meumann, Über Assoziationsexperimente mit Beeinflussung
der Reaktionszeit. Dieses Archiv. IX. S. 124 ff.
2) Störring, Vorlesungen über Psychopath, und ihre Bedeutung für die
normale PsyehoL S. 424.
1*
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4
G. Störring,
vorgenommen hat, so findet man inzwischen die anderen Seiten
des Tatbestandes mehr oder weniger verwischt. Die Exploration
bestand in der Angabe der Gesichtspunkte für die Beschreibung1).
Diese waren entweder durch die gestellte Aufgabe selbst ge-
geben (Frage nach der Art der Auffassung der ersten Prämisse,
der zweiten Prämisse, den Übergang zum Schlußsatz u. dgl.)
oder sie waren aus spontanen Angaben der Vp. gewonnen.
Durch die Wiederholung ähnlicher Versuche entwickelt sich
eine Reihe von Gesichtspunkten aus den Versuchen selbst.
Die aus ähnlichen Versuchen gewonnenen Gesichts-
punkte bedingen aber ein schärferes Herausheben der
einzelnen Operationsphasen eines komplexen Prozesses
in späteren Versuchen.
So ist es auch zu verstehen, daß bei Fortsetzung von Ver-
suchen ähnlicher Art eine beträchtliche Verlängerung der Reak-
tionszeit stattfindet, wenigstens bis zur Heraushebung der wesent-
lichsten Tatbestände aus dem zu analysierenden Komplex. Die
mit der Wiederholung von Versuchen ähnlicher Art ge-
setzte Tendenz zur Verkürzung der Reaktionszeit wird
durch Wirkung der durch die früheren Versuche ge-
wonnenen Gesichtspunkte Uberkompensiert.
Meine Versuchspersonen waren Herr Th. Erismann,. cand.
math. et rer. nat, Herr E. Fischer, cand. phil, Fräulein E.
Eu^era, cand. phil., Frau von Rybicka, cand. phil. Ich spreche
denselben auch hier meinen verbindlichsten Dank aus.
Die Versuche wurden bis auf wenige in den Morgenstunden
von 7—10 Uhr angestellt.
1) Störring, Experimentelle Beiträge zur Lehre vom Gefühl. Dieses
Archiv. Bd. VI. S. 319.
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Experimentelle Untereuebangen Uber einfache SchluGprozesse.
5
I. Kapitel:
Schlüsse mit räumlichen Beziehungen.
A. Schlüsse mit räumlichen Beziehungen mit deutlichem Hervor-
treten der die Sohlufsprozesse charakterisierenden Operations-
phasen.
I. Schlüsse mit räumlichen Beziehungen usw. auf Grund
»einfachen« Beziehungsetzens.
Ich bespreche zuerst Schlüsse mit räumlichen Beziehungen.
Eb handelt sich hier um Schlüsse wie: T ist links von B, K ist
links von T\ also ist K links von B. P ist oberhalb C, L ist
oberhalb P\ also ist L oberhalb C und ähnliche.
Hierbei scheide ich die Schlüsse mit deutlichem Hervortreten
der die Schiaß weise charakterisierenden Operationsphasen von den
Schlüssen ohne deutliches Hervortreten dieser Operationsphasen
und behandle zunächst die ersteren Schlüsse.
Die einfachste und durchsichtigste Verfahrungsweise ist folgende.
Die in den Prämissen zueinander in Beziehung gesetzten Buch-
stabengrüßen werden der Anweisung der Prämissen entsprechend
lokalisiert oder einer vorgestellten Richtung zugeordnet und aus
dem so zustandegebrachten Gesamtbilde wird das Resultat »ab-
gelesen«.
Ich bezeichne dasjenige Schließen mit räumlichen
Beziehnngen als ein Schließen mit einfachem Be-
ziehungsetzen, bei welchem auf Grund des Lokalisierens
der in den Prämissen in Beziehung zueinander gesetzten
Grüßen oder der Zuordnung dieser Größen zu einer be-
stimmten Richtung ein anschaulicher Gesarattatbestand
geschaffen wird, aus dem man den Schlußsatz durch
»Ablesen« entwickelt. Eine begriffliche Bestimmung des »Ab-
iesens« gebe ich nach Beibringung von konkretem Material zur
Charakterisierung dieses Prozesses. Bis dahin mag man die Defi-
nition des räumlichen Schließens mit einfachen Beziehungen als
eine vorläufige betrachten.
Die Lokalisation der Buchstabengrößen erfolgt entweder auf
dem der Vp. exponierten Zettel unter Benutzung eines Teiles der
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6
G. Stürring,
geschriebenen Buchstaben oder in einer anderen Fläche. Die
Lokalisation vollzieht sich entweder auf einen besonderen Willens-
impuls der Vp. hin oder ohne einen solchen; zuweilen drängt
dieselbe sich der Vp. in solcher Weise auf, daß sie davon über-
rascht wird. Wo eine Lokalisation der Buchstaben im unbestimmten
Gesichtsfeld stattfindet, vollzieht sich dieselbe häufig an einer vor-
gestellten Linie. An die Stelle einer bestimmten Lokalisation tritt
zuweilen eine Zuordnung von Buchstabengrößen zu einer vor-
gestellten Richtung.
Bei der Synthese der Beziehungen zu einem Gesamt-
bilde tritt nicht immer das Bewußtsein der Identität der
als Mittelbegriff funktionierenden Größen in merkbarer
Weise auf. Die als Mittelbegriff funktionierenden Größen
werden dann aber trotzdem als eine Größe »behandelt«.
Die Vp. machen dabei zuweilen die Angabe, diese identischen
Buchstabengrößen seien zu einer Größe »verschmolzen«.
Die Identifikation der als Mittelbegriff funktionieren-
den Buchstabengrößen oder die ohne merkbare Identi-
fikation sich vollziehende Behandlung derselben als eine
Größe ist abhängig von der Einstellung der Vp., einen
Schluß zu vollziehen. Dabei braucht nach Akzeptierung
der Anweisung, mit dem Bewußtsein absoluter Sicher-
heit zu schließen, die Absicht zu schließen nicht mehr
hervorzutreten. Die Abhängigkeit dieses Verhaltens von der
Einstellung ist am deutlichsten ersichtlich aus Versuchen, in denen
die Prämissen das eine Mal mit der Anweisung, sich die Prämissen
möglichst klar zu machen, ohne zu schließen, dargeboten werden,
das andere Mal mit der Anweisung zu schließen und sich dabei
die Prämissen möglichst klar zu machen. Bei ersterer Anweisung
werden die Prämissen meist garnicht zueinander in Beziehung ge-
setzt, ohne daß während des Ablaufs der betreffenden Prozesse
an die Anweisung wieder gedacht wird, so daß die Vp. sich häufig
nach Ablauf des Prozesses darüber wundert, daß sie keine Be-
ziehung zwischen den Prämissen gesetzt hat. Bei der letzteren
Anweisung werden die Prämissen stets zueinander in Beziehung
gesetzt, wenn nicht besondere Störungen auftreten, obgleich nur
in außergewöhnlichen Fällen die Absicht zu schließen wieder
hervortritt.
Ich gebe ein Beispiel solchen Verhaltens der Vp. E. Es
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Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schlußprozesse. 7
wnrde die Anweisung gegeben, die Prämissen klar aufzufassen,
aber nicht zu schließen. Exponiert wurde:
U ist links von L,
F ist links von U.
Bei Auffassung der ersten Prämisse wird die Lagebeziehung der
Buchstaben ü und L auf dem exponierten Zettel als Repräsentant
des Beziehungsgedankens behandelt. In ähnlicher Weise wird bei
Auffassung der zweiten Prämisse verfahren. Die beiden Prämissen
wurden scharf für sieb aufgefaßt, eine Identifikation der beiden U
fand nicht statt, sie wurden auch nicht als eine Große »behandelt«,
es trat keine Synthese der Beziehungsgedanken auf. Es trat auch
keine Neigung zu schließen auf, etwa die Neigung, die Großen L
und F zueinander in Beziehung zu setzen. Während der Auffassung
der Prämissen war der Gedanke an die Anweisung nicht wieder
aufgetreten. An den Vollzug der Auffassung der zweiten Prämisse
schloß sich ein Gefühl der Befriedigung an, und zwar unmittelbar,
nicht auf Grund des Gedankens jetzt habe ich geleistet, was
gefordert war. — »Es trieb jedenfalls die Vp. nichts weiter«;
Vp. spricht beim Referat ihre Verwunderung darüber aus, daß sie
keine weitere Verarbeitung der Prämissen vorgenommen hat, ob-
gleich sie während des Operierens an die Anweisung nicht ge-
dacht hat. Dauer 4y8 Sekunde. — Ganz Ähnliches ergibt sich
bei den übrigen hieraufhin geprüften Vp. F. und K.
Die Identifikation, die Behandlung der identischen
Größen als eine Größe und die Synthese fehlten also,
obgleich bei den ganzen Operationen an die Anweisung
nicht mehr gedacht wurde, während die Identifikation
oder wenigstens die »Behandlung« der identischen
Größe als eine Größe bei der Anweisung zu schließen,
auftreten, auch wenn während dieser Prozesse an
diese Anweisung selbst nicht mehr gedacht wird. Wir
müssen deshalb die Identifikation, die auch ohne
merkbare Identifikation auftretende Behandlung der
identischen Größe als eine und die Synthese von der
auf die Anweisung gesetzten Einstellung abhängig
denken.
Wir finden hier demnach etwas Ahnliches bezüglich der Wirkung
der von der Vp. akzeptierten Anweisung zu schließen auf den
Prozeß der Identifikation, den Prozeß der »Behandlung« der
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8
G. Störring,
identischen Größen als eine Grüße und die Synthese der Be-
ziehungsgedanken, wie das von Watt, Ach, Messer und Meu-
mann bezüglich der Nachwirkung anderer Anweisungen fest-
gestellt ist, wie man es z. B. gefunden hat bei der Anweisung,
zu einem gegebenen Begriff den koordinierten oder den sub-
ordinierten aufzusuchen. —
Ist bei Anweisung zum Schließen durch Synthese der in den
Prämissen bezeichneten Beziehungen der Buchstabengrößen zu-
einander ein Gesamtbild geschaffen, so ist dann nur noch nötig,
um der gegebenen Weisung zu schließen, zu entsprechen, den
Schlußsatz aus dem Gesamtbilde »herauszulesen« oder »ab-
zulesen«. Wir werden auch bei Schlüssen mit anderen Be-
ziehungsgedanken diesem Ablesen oder Herauslesen des Schluß-
satzes aus einem durch Synthcsis der in den Prämissen bezeich-
neten Beziehungen gewonnenen Gesamtbild wieder begegnen. Hier
in unserem Fall vollzieht sich aber das »Ablesen« des Schluß-
satzes nach Angabe der Vp. am leichtesten. Aber der Schlußsatz
ist mit diesem durch Synthesis geschaffenen Ganzen
auch hier nicht ohne weiteres schon gegeben. Sobald
wir einiges Material zur Charakteristik dieses Prozesses kennen
gelernt haben, bespreche ich ihn näher.
Ich gebe nun zunächst einige Versuche von Schlüssen mit
räumlichen Beziehungen, bei denen der Schluß durch Lokalisation
der einzelnen Buchstabengrößen bedingt ist.
Vp. F. Es wurde exponiert:
P ist links von F,
L ist links von P.
Also . . .
Nach dem Lesen der ersten Prämisse sagte sich Vp., also
steht P in derselben Stellung wie hier; die kann ich benutzen.
Dann wurde die zweite Prämisse gelesen: L ist links von P
und Vp. sagte sich: also steht L hier; dabei lokalisierte sie L
links neben dem P des exponierten Zettels. Die beiden P
wurden dabei nicht als identische Größen aufgefaßt, aber als eine
Größe »behandelt«. Dann wurde aus dem Gesamtbilde der in den
Prämissen bezeichneten Beziehungen »abgelesen« : L links von Ä.
Dauer 18l/ß Sekunden. Bewußtsein der Sicherheit.
Ich halte es für zweckmäßig, an dieser Stelle mehrere Ver-
suche gleicher Art zu geben.
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Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schlußprozesee. 9
Vp. F. Exponiert wurde:
Q ist rechts von 3f,
0 ist rechts von Q.
Also . . .
Vorperiode 0. B. — Nach dem Lesen und Auffassen der ersten
Prämisse bemühte sich Vp., die angegebene Beziehung sich ein-
zuprägen. Sie lokalisierte deshalb Q rechts von M auf der Fläche
des exponierten Papiers. Vp. hebt aber ausdrücklich und
spontan hervor, daß sie die erste Prämisse aufgefaßt
habe, bevor die Lokalisation vorgenommen war; sie
wußte vorher, was damit gemeint war. Vp. ist geneigt,
diese Auffassung des Sinnes der ersten Prämisse vor der Lokali-
Bation der bezogenen Größen eine abstrakte zu nennen. (Wir
werden ähnlichen Angaben noch häufig begegnen. Wir haben
wiederholt nach dieser Seite hin eine genaue Exploration vorge-
nommen.) Dann wurde gelesen: Q rechts von Q. Daraufhin
wurde O rechts von dem neben M lokalisierten Q lokalisiert auf
der Fläche des exponierten Papiers. Ein Bewußtsein der Identität
der beiden Q trat dabei nicht in merkbarer Weise auf. Zuletzt
wurde aus dem ganzen Tatbestand »abgelesen« : O ist rechts von M.
Dabei hatte Vp. das Bewußtsein der Möglichkeit eines anderen
Ausdrucks dieser Beziehung. Bewußtsein der Sicherheit. Dauer
83/5 Sekunden.
Nachträglich bemerkt Vp. bezüglich der Auffassung der ersten
Prämisse ohne angebbare visuelle Vorstellungen, sie könne nicht
sicher sagen, ob das, was vor der Lokalisation sich an das Lesen
der Worte anschloß, etwas anderes war als das nach der Lokali-
sation Vorhandene oder dasselbe, nur undeutlicher sich darstellend.
Vp. K. Es wurde exponiert:
Q ist rechts von M,
G ist rechts von Q.
Also . . .
Vorperiode: Freude darüber, daß eine neue Art von Schlüssen
behandelt wird. (Es ist dies der zweite Schluß, welcher Vp. mit
räumlichen Beziehungen gegeben wird, nachdem Subsumtions-
Schlüsse vorangegangen waren. Ihre Analyse ist viel mühsamer
nnd schwieriger als die der Schlüsse mit räumlichen Beziehungen.)
Nach der Exposition werden zunächst beide Prämissen einmal ge-
lesen. Dann tauchte die Vorstellung einer Linie auf, nicht in der
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G. Störring,
Fläche des exponierten Papiers. Vp. wollte zuerst Q in die Mitte
derselben stellen, die beiden anderen Größen zu beiden Seiten
plazieren. Sie stieß dabei aber auf Schwierigkeiten. Deshalb
schlug sie einen anderen Weg ein. Sie setzte M links an den
Anfang der Linie mit dem Bewußtsein der Richtigkeit. Dann Q
rechts von M, dann wurde noch weiter rechts G lokalisiert.
Diese Lokalisationen wurden vollzogen, ohne die Prämissen wieder
genauer zu lesen. Damit war die Linie deutlich vor Augen,
und zwar stark ausgezogen mit den Buchstaben M, Q, 0 in dieser
Aufeinanderfolge von links nach rechts, und zwar Uber der Linie
stehend.
Aus diesem Gesamtbilde wurde der Schluß »herausgelesen«
G rechts von M mit dem Bewußtsein großer Gewißheit. Als
Hauptarbeit wird von Vp. auf die Frage des Experimentators hin
bezeichnet: die Gruppierung der Buchstaben an der Linie. Vp.
sagt noch spontan von diesem Schluß im Gegensatz zu dem voran-
gegangenen Schluß mit räumlichen Beziehungen, den wir später
näher besprechen werden, daß sie dort mehr den Eindruck des
Schließens gehabt habe, hier den des » Herauslesens «. Dabei aber,
wie gesagt, Bewußtsein der Sicherheit. 1 194/6 Sekunden.
Vp. E. Es wurde exponiert:
5 ist links von D,
R ist rechts von D.
Also . . .
Vorperiode 0. B. — Beim Lesen der Prämissen bemerkte Vp.
die Neigung zur Verbindung beider Prämissen. Beim Lesen waren
räumliche Bilder gar nicht in merkbarer Weise vorhanden. Als
aber Vp. den Schlußsatz auszusprechen anfing, stellten sich räum-
liche Bilder dar.
Als Vp. den Schlußsatz auszusprechen anfing, hatte sie den
Schluß noch nicht fertig, sie hatte aber das Bewußtsein: es kommt.
Vp. sagte 5 und hatte das »Bewußtsein, alle Voraus-
setzungen für das Aussprechen eines Schlusses realisiert
zu haben bis auf weitere Konzentrierung«. Dabei war
Sicherheit vorhanden, daß mit S anzufangen sei. (Eine
ganz ähnliche Erscheinung tritt auch gelegentlich bei zwei anderen
Vp. auf. Ich komme darauf zurück.) Dann erfolgte Blick auf
die beiden D} ohne deutliche Identifizierung. Während des Blickes
auf D stellten sich im unbestimmten Gesichtsfeld undeutliche Bilder
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Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schlußprozesse. 11
von S, D und R in einer Reihe von links nach rechts ein. Diese
visuelle Darstellung erfolgte, ohne daß die Prämissen noch einmal
gelesen wurden. Der Schlußsatz scheint von Vp. aus der visuellen
Darstellnug abgelesen zu sein. Die Sicherheit wird als ziemlich
stark bezeichnet. Nachgetragen wird noch, daß beim Lesen der
zweiten Prämisse Vp. der Einstellung zur Verbindung mit der
ersten Prämisse nicht entsprechen konnte, weil nicht dasteht nach
*S ist links von D«: *D ist links von i?«, sondern >D ist
rechts von R*. Wir werden später sehen, daß diese Vp. beim
Schließen häufig die Gleichheit der Beziehungen verwertet, wo
das von anderen Vp. nicht geschieht; wir werden dort auch sehen,
in welcher Weise dieser Gedanke Verwendung findet. Dauer
53/5 Sekunden.
Vp. K. Es wurde exponiert:
L ist oberhalb C,
M ist unterhalb C .
Also . . .
Vorperiode 0. B. — Nach dem Lesen der ersten Prämisse
wurde gleich das L Uber C lokalisiert. Nachdem dann weiter-
gelesen war: M ist unterhalb C, wurden die beiden C miteinander
verschmolzen, ohne daß dieselben als identisch aufgefaßt waren
und das M wurde darunter gesetzt. Dann wurde der Schluß
aas dem so gewonnenen Gesamttatbestand herausgelesen. Uber
die Zusammengliederung der Beziehungen sagt Vp. noch, daß diese
hier nicht so gegeben sei, wie bei den vorangegangenen Schlüssen
(es waren Identitätsschltisse vorangegangen), gegeben sei hier nur
>das Prinzip, nach welchem die Zusammengliederung erfolgen soll«.
Sodann hebt sie hervor, daß hier das Zusammenstellen des Ge-
samtbildes mit Aktivitätsgefuhl sich verbinde und auch das Heraus-
lesen. Dauer 6 Sekunden1).
1) Anmerkung. Von Vp. wird nachträglich angegeben, daß neben dem
Schließen eine Reihe von Gedanken einhergegangen, ohne dasselbe gestört
in haben. Beim Lesen von »oberhalb« nämlich trat Erinnerung an die Regel
der deutschen Grammatik auf, nach welcher bei oberhalb, unterhalb der
Genetiv steht mit dem Bewußtsein des Rhythmus- und Lustgefühls. Es
trat hervor die visuelle Vorstellung der Seite des Buches und des Gartens,
wo das Lesen stattfand, des Lehrers (Großvaters), die Erinnerung an die
Sprache. Dies vollzog sich des Rhythmus wegen mit Lust. Die Erinnerung
kam schon beim Lesen von »oberhalb«. Beim Lesen von »unterhalb«
Steigerung der Erinnerung und Steigerung des Lustgefühls. Es wurde von
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12
G. Störring,
Durch diese Einzelfälle ist belegt, was ich oben allgemeines
Uber die Schlüsse mit räumlichen Beziehungen allein auf Grund
der Lokalisation der in den Prämissen in Beziehung zueinander
gesetzten Buchstabengrößen entwickelte.
Ich sagte dort, daß mit der Synthcsis der Beziehungsgedanken
zu einem Gesamtbilde der Schlußsatz noch nicht gewonnen ist.
Wir hörten unsere Vp. von einem »Herauslesen«, einem > Ablesen *
des Schlußsatzes aus dem Gesamttatbestande sprechen. Dieses
Ablesen geschieht also aus dem Gesamttatbestande, aus
der anschaulichen Repräsentation der Beziehungsge-
danken, aber durch diesen Gesamttatbestand ist das
Ablesen noch nicht eindeutig bestimmt. Das Ablesen ist
weiter abhängig von der Einstellung zu schließen. Das erkennen
wir aus der Vergleichung der eben besprochenen Versuche mit
solchen Versuchen, in denen die Anweisung gegeben ist, die Prä-
missen klar aufzufassen, aber nicht zu schließen. Unter dieser
Anweisung finden wir meist eine Identifikation und Synthese nicht
zustande kommen, wenn auch während des Versuchs an die Anwei-
sung nicht gedacht wird; in einzelnen Fällen kommt aber Iden-
tifikation und Synthese zustande, wohl unter Nachwirkung von
früher unter einigermaßen ähnlichen Bedingungen erfolgter Ein-
stellung zu schließen; ein Ablesen des Schlußsatzes aus dem Ge-
samttatbestande habe ich dabei aber nie zustande kommen sehen.
Aber auch wenn es einmal zustande kommen sollte, so verschlüge
das für uns nichts. Uns kommt es darauf an, zu konstatieren,
daß ein Ablesen des Schlußsatzes aus dem Gesamttatbestand
Vp. gesehen das Laubwerk des Garten» [Maulbeerbaum und Gebüsch;, eine
kleine Bank, auf der Vp. saß, die Schaukel, die am Baume an einem großen
Aste aufgehängt war. Der Großvater stand vor ihr in einem schwarzen
Anzug (Geistlicher) und zum Schluß trat unklar der Gedanke an sein Grab
auf (visuelle Vorstellungen) mit leichter Wehmut; zugleich war aber, betont
Vp., noch Lust vorhanden, die Lust war stärker als die Wehmut. Nach dem
Vollzuge des Schlusses trat das Gefühl der Wehmut stärker hervor, ohne
daß der Gedanke an das Grab wieder deutlich wurde. Die visuellen Bilder
waren nicht zu gleicher Zeit da: 1) die Vorstellung der Grammatik, 2} die
des Gartens, der Bank und des grünen Laubwerks, 3) des Großvaters,
4) der Gedanke an sein Grab. Das Ganze hat nach Angabe der Vp. den
Prozeß nicht gestört, sondern unterstützt, Vp. sagt, sie habe den Schluß
mit mehr Lebendigkeit vollzogen. Tatsächlich findet sich auch keine Ver-
längerung der Reaktionszeit. Das Ganze hat sich im Hintergrund des Be-
wußtseins abgespielt
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Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schlußprozeese. 13
meist nicht zustande kommt, wenn die eben bezeichnete Anweisung
gegeben ist, ohne daß bei dem ganzen Operieren der Gedanke
an diese Anweisung auftritt, während bei der Anweisung zu
schließen dieses Ablesen vollzogen wird, ohne daß an diese
Anweisung gedacht zu werden braucht. Wir müssen das Ab-
lesen also auch als abhängig setzen von der Einstellung
zu schließen.
Ich finde hier eine Bestimmung bestätigt, die ich in meinen
Vorlesungen über Logik seit längerer Zeit gemacht habe, indem
ich die Gewinnung des Schlußsatzes aus einem durch Synthesis
geschaffenen Ganzen auf einem bestimmten Gesichtspunkt der
Betrachtung dieses Ganzen beruhend bezeichnete, einem Ge-
sichtspunkt, der durch die Absicht zu schließen eindeutig bestimmt
ist, indem beim Schließen eine Beziehung zwischen denjenigen
Größen der Prämissen gesetzt wird, welche in den Prämissen noch
nicht zueinander in Beziehung gesetzt sind.
Der durch die Einstellung zum Schließen bestimmte Gesichts-
punkt der Betrachtung tritt zuweilen isoliert in seiner Wirkung
hervor, indem in manchen Fällen vor vollzogener Synthesis der
Beziehungsgedanken der Gedanke auftritt: dies hier sind die Grö-
ßen, über welche im Schlußsatz eine Aussage gemacht wird (meist
mit dem Bewußtsein der Gültigkeit dieses Gedankens).
Von einem »Ablesen< des Schlußsatzes spreche ich
also da, wo der Schlußsatz auf Grund eines durch Syn-
thesis der in den Prämissen gesetzten Beziehungen ent-
standenen anschaulichen Gesamttatbestandes von reprä-
sentativer Bedeutung unmittelbar unter Anlegung des
in der Einstellung zu schließen gegebenen Gesichts-
punktes, die in den Prämissen noch nicht iu Beziehung
gesetzten Größen zueinander in Beziehung zu setzen,
gewonnen wird.
Ich möchte nun diese Art des Schließens mit räumlichen Be-
ziehungen noch etwas schärfer den weiter zu besprechenden gegen-
über abheben. Bedingung der Gewinnung des Schlußsatzes ist
also hier eine Lokalisation der Buchstabengrößen oder eine Zu-
ordnung zu vorgestellten Richtungen, in solcher Weise, daß da-
durch ihre räumliche Beziehung zueinander repräsentiert ist. Ein
Bewußtsein davon, daß diese Lokalisation bzw. Zuordnung selbst
wieder repräsentative Bedeutung hat, tritt selten bei den Vp. auf.
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14
G- Stürring,
Diese Gewinnung eines anschaulichen Gesamttatbestandes hat, wie
wir sahen, zur Voraussetzung, daß die als Mittelhegriff funktio-
nierenden Buchstahengrößen als identische behandelt werden, als
eine Größe behandelt werden; der Behandlung dieser Größen
als identische geht in einzelnen Fällen die Auffassung als iden-
tische voraus. Ist die Lokalisation vollzogen, so wird der Schluß-
satz daraus, wie die Vp. sagen, durch »Ablesen« gewonnen.
Man kann sich dabei zum Zweck der Gewinnung des Schluß-
satzes begnügen, einfach zuzusehen, in welcher Beziehung nun
in dem gewonnenen anschaulichen Gesamttatbestand die in den
Prämissen nicht zueinander in Beziehung gesetzten Buchstaben-
größen stehen. Meist verfährt man nicht so reflektierend, sondern
es wird auf Grund des anschaulichen Gesamtbildes und des durch
die Einstellung zu schließen bestimmten Gesichtspunktes der neue
Beziehungsge danke entwickelt.
In manchen Fällen gründet sich der Schlußsatz, wie wir sehen
werden, auf ein anderweitiges Beziehungsetzen und diese letztere
Art des Schließens befriedigt die Vp. mehr als die erstere. Die
erstere Art des Schließens machte den Vp. den Eindruck des
mechanischen Verfahrens, selbst wenn sich damit völlige Sicherheit
verbindet Ein anderweitiges Beziehungsetzen kann in der Weise
stattfinden, daß die Vp. auf die Richtung achtet, in der von
einer bestimmten der bezogenen Größen ausgehend die Lokalisa-
tion der anderen erfolgt oder auf die Richtung, der die anderen
Größen ohne bestimmte Lokalisation wenigstens zugeordnet werden
und diese Richtungen aufeinander bezogen, als gleich
oder entgegengesetzt aufgefaßt werden.
II. Schlüsse mit räumlichen Beziehungen auf Grund
komplexeren Beziehungsetzens.
a) Wenn auf die Richtung geachtet wird, in der von einer
bestimmten der in den Prämissen aufeinander bezogenen Größen
ausgehend die Lokalisation der anderen erfolgt oder der die an-
deren Größen zugeordnet werden, und diese Richtungen zugleich
aufeinander bezieht, so wird man zur Feststellung entgegen-
gesetzter Richtung natürlich dann kommen, wenn man von dem
Mittelbegriff ausgeht. Das illustriert der folgende Versuch.
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Experimentelle Untersuchungen über einfache Schlußprozesse. 15
Vp. R. Es wurde exponiert:
S ist links von D,
R ist rechts von D.
Also . . .
Vorperiode 0. B. — Nach einmaligem Lesen der Prämissen
»vergegenwärtigt« sich Vp. wiederholt näher, daß D in der Mitte
liegt nnd diese Feststellung wurde nach Angabe der Vp. die
wichtigste für den ganzen weiteren Verlanf der Prozesse. Von/)
ans geht es nach rechts zn der einen Größe, nach links zn der
anderen. Nun ist R rechts von D. Also ist R rechts von
der anderen Größe 8. Dabei war der Blick vornehmlich ge-
richtet auf das D des exponierten Zettels, daneben auf R. D
wurde aber außerdem an einer vorgestellten Linie lokalisiert, die
in anderer Fläche als der des Papiers lag. Ob R und S daran
lokalisiert wurden, kann Vp. nicht sicher angeben. Die Gewin-
nung des Schlußsatzes unterscheidet sich für Vp. jedenfalls deut-
lich von der bisher besprochenen. Es handelt sich hier nicht nur
um ein einfaches Ablesen des Resultats aus dem per Synthesis
geschaffenen Ganzen, sondern sie sagt: »es liegt hier mehr ein
Schließen vor«, diese Bemerkung wird dann aber sogleich dahin
korrigiert, daß auch bei dem anderen Verfahren das Bewußtsein
der Richtigkeit vorhanden ist. Dauer 50 Sekunden.
Die Hauptrolle für den Ablauf der Prozesse spielt hier also die
Erkenntnis, daß D in der Mitte liegt, daß von D nach rechts die
eine Größe liegt, nach links die andere. Die zwei anderen Größen
liegen von D aus in entgegengesetzten Richtungen. Man muß
diesen Gedanken unterscheiden von dem bestimmten: D liegt in
der Mitte von den beiden Größen R und S, von denen R nach
rechts, S nach links liegt D wird zunächst nicht als in der
Mitte von R und S liegend aufgefaßt, sondern als in der Mitte
von den beiden anderen Größen, welche nach rechts nnd links
von ihr liegen. Es ist also in der Bestimmung, daß D in
der Mitte liegt, nicht der ganze in den Prämissen be-
zeichnete Tatbestand zur Verwertung gekommen, son-
dern nur eine Seite desselben, von den bestimmten
Größen R und S ist in der Feststellung, daß D in der
Mitte liegt, abstrahiert worden. Erst nachträglich wird dann
diese zweite Seite des in den Prämissen charakterisierten Sach-
verhalts verwertet, indem sich an die Feststellung: D liegt in
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G. Stürring,
der Mitte zwischen zwei Größen, von denen die eine von D
nach rechts, die andere von D nach links liegt, der Ge-
dankengang anschließt: Nun ist R rechts von D. Also ist
R rechts von der anderen Größe S.
Ein anderes Mal, als diese Vp. in ähnlicher Weise schließt,
muß sie wiederholt zum Schluß ansetzen und hebt dann hervor,
daß sie beständig mit dem Mittelbegriff begonnen und die Be-
ziehungen der anderen Größen zu diesem sich vergegenwärtigt
habe. Bei dieser Vergegenwärtigung haben die Klangbilder, die
von den Prämissen herrühren, unterstützend gewirkt. Eine solche
Bemerkung bezüglich des Mitwirkens der Klangbilder findet sich
bei dem Schlüsse dieser Vp. nach dem zuerst charakterisierten
Modus nicht. Von den Klangbildern gibt eine andere Vp., wenn
sie nach der ersten Weise schließt, an, daß dieselben den Ablauf
der Lokalisationen hemmen. Sie müsse von den Prämissen und
den Klangbildern absehen und sich ganz auf die visuellen Dar-
stellungen der Lokalisationen konzentrieren. Im Gegensatz zu
dem soeben näher besprochenen Fall dieser zweiten Operationsweise
findet sich in diesem weiteren Fall des Operierens nach dem
zweiten Modus eine visuelle Darstellung der gesamten Buchstaben-
größen. Es fand aber trotzdem kein Ablesen statt. Vp. sagt:
>Die drei Buchstaben waren zwar zusammen im Bewußtsein visuell
(gemeint ist in der durch die Prämisse gesonderten räumlichen
Lage), aber nicht deutlich genug, um abgelesen werden
zu können.«
Die Angabe unserer Vp., daß bei dieser Operations weise die
visuelle Darstellung des Gesamttatbestandes zwar vorhanden, aber
nicht deutlich genug gewesen sei, als daß der Schlußsatz daraus
hätte abgelesen werden können, drängt uns die Vermutung auf,
daß an die Lokalisation bzw. Zuordnung hier geringere Anforde-
rungen gestellt werden, als bei der ersten Operationsweise. In dieser
Vermutung werden wir bestärkt durch die Tatsache, daß diese
Operationsweise bei einer anderen Vp., Vp. K., nur dann auftritt,
wenn ihr die Anweisung gegeben wird, nicht bloß mit absoluter
Sicherheit zu schließen, sondern auch möglichst schnell zu reagieren,
wobei die Reaktionszeiten meist eine beträchtliche Verkürzung
gegen diejenige beim Reagieren ohne diesen Vorsatz aufweisen.
Wir werden diese Versuche sogleich noch näher besprechen. Das-
selbe zeigt uns ein Blick auf die Prozesse selbst. Ein ein hei t-
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Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schlußprozesse. 17
Ii che 8 Prinzip, welches selbst, wie sich zeigte, unter Abstrak-
tion von bestimmten Größen sich entwickeln kann, wirkt hier auf
die Gestaltung eines anschaulichen Gesamttatbestandes, beschleu-
nigt sicherlich den Ablauf der Synthese und hält auch nur
schwach zur Entwicklung gekommene anschauliche Gebilde zu-
sammen bis zum Moment ihrer Verwendung im Schlußsatz.
Der Gedankengang des Schlusses war also dieser: Von zwei
bestimmten Größen liegt die eine rechts von D, die
andere links von D, also in entgegengesetzter Richtung.
Nun ist R rechts von D. Die andere Größe ist S. Also
ist R rechts von 8.
Diese Schlußweise tritt also außer bei Vp. R. bei Vp. E. sehr
deutlich hervor, aber nur dann, wenn der Vp. die Anweisung ge-
geben wird, sehr schnell zu reagieren, wobei die Reaktionszeiten
meist eine beträchtliche Verkürzung gegen diejenige beim Reagieren
ohne diesen Vorsatz aufweisen. Ich gebe eineu dieser Versuche.
Vp. K. Es wurde exponiert:
B ist links von C,
Q ist rechts von C.
Also . . .
Vorperiode: Vorsatz möglichst schnell zu reagieren. — Beim
Lesen und Auffassen der ersten Prämisse stellen sich Bewegun gs-
und Spannungsempfindungen im linken Arm auf, die einer schwa-
chen Bewegung nach links entsprechen. B wird zugeordnet
der vorgestellten Richtung nach links, diese Vorstellung der Rich-
tung verbindet sich mit einer nur ganz schwachen visuellen Vor-
stellung einer Bewegung des Armes nach links. Beim Lesen und
Auffassen der zweiten Prämisse treten ähnliche Bewegungsemp-
findungen im rechten Arm nach rechts auf. Zugleich wird das
Q der vorgestellten Richtung nach rechts zugeordnet;
die visuelle Vorstellung ist gerade so unentwickelt wie bei Auf-
fassung der ersten Prämisse. Dann wurde geschlossen: B liegt
nach links von einer in der Mitte nicht deutlich gedachten Größe;
diese Größe war der Körper der Vp. selbst, jedenfalls wurde nicht
mit dem C operiert Dann weiter: Q liegt in entgegengesetzter
Richtung, nach rechts. Dieses Q, das in entgegengesetzter Rich-
tung nach rechts liegt (d. h. von dem eigenen Körper), liegt auch
rechts von B. Bewußtsein der Sicherheit. Dauer 52/s Sekunden.
In einem anderen Fall, wo J als links von P und O als rechts
ArebiT för Pnjrcbologie. XI. 2
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18
G. StiJrring.
von P angesetzt war, wird der Übergang zum Schlußsatz von Vp.
in folgender Weise charakterisiert: »Es muß O rechts von J sein,
da es schon in dieser Richtung liegt und J in der entgegen-
gesetzten«. 0 muß erst recht rechts von J sein.
Es findet sich hier also bei Vp. K. unter den angegebenen
Bedingungen dieselbe Schlußweise wie bei Vp. R. — Weiter sieht
man hier beim Schluß die Vorstellung der Bezeichnung
des Mittelbegriffs zurücktreten. Wie wir oben für die Ge-
winnung der Auffassung einer als Mittelbegriff funktionierenden
Buchstabengröße als in der Mitte liegend eine Abstraktion von den
zwei bestimmten Größen in Anspruch nahmen, so kann sich auch
hier eine Abstraktion einstellen; der eigene Körper wurde als
Repräsentation des Mittelbegriffs C behandelt, aber an C wurde
im Moment des Schließens gar nicht mehr gedacht. Es ist das
ja gut verständlich: anstatt zu sagen: Q ist rechts von C und B
ist links von C, kann man auch sagen: Q ist rechts von einer ge-
wissen Größe und S ist links von dieser Größe. In unserem Fall
wurde diese Größe nicht ganz so unbestimmt angesetzt, sondern
undeutlich als der eigene Körper.
Ziehen sich bei Vp. K. die Prozesse länger hin, so kommen die
visuellen Vorstellungen zur deutlichen Entwicklung und dann wird
in den mir vorliegenden Versuchen das Resultat wieder, wie Vp.
angibt, abgelesen, auch wenn eine Auffassung der Richtnngen als
entgegengesetzter stattgefunden hat.
In diesen Fällen hat dann die Auffassung des Gegensatzes der
Richtungen wenigstens mitgewirkt bei der Entwicklung des an-
schaulichen Gesamttatbestandes. Die Richtigkeit dieser Bestimmung,
welche an der Hand der Angaben der Vp. K. entwickelt ist, wird
uns in einem annlogen Falle durch eine Angabe der Vp. E be-
stätigt, welche von einem anderen einheitlichen Prinzip zuweilen
die Aussage macht, daß es nur bei der Synthese des Gesamttat-
bestandes mitgewirkt habe.
Man muß beachten, daß der Gedanke des Gegensatzes der
Richtungen auch auftreten kann, ohne diesen Beitrag für den
Schlußprozeß geleistet zu haben. Die Vp. sagen nämlich zuweilen
von einem solchen Gedanken, daß er nur nebenhergelaufen sei,
die Prozesse nicht beeinflußt habe.
Wenn die Vp. nicht von »Ablesen« des Schlußsatzes aus dem
gewonnenen Gesamttatbestande sprechen, so fragt sich, wie das
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Experimentelle UnterBuchungen Uber einfache Schlußprozesse. 19
bedingt ist. Ist denn in diesen Fällen kein anschaulicher Gesamt-
tatbestand gegeben? Die Schlnßreihe war doch folgende: Von zwei
bestimmten Größen liegt die eine rechts von Z>, die andere links
von Z), also in entgegengesetzter Richtung. Nun liegt R rechts
von D. Die andere in entgegengesetzter Richtung von D liegende
Größe ist 8. Also ist R rechts von S. Hier wirkt auch ein an-
schaulicher Gesamttatbestand. Wenn ich da sage: R liegt rechts
von D, S liegt in der entgegengesetzten Richtung von D, so
ergibt sich mir auf Grund der Anschauung dieser Beziehungen,
daß R auch rechts von 8 ist. Was unterscheidet dann aber
diese Operationsweise von der zuerst besprochenen ? Einmal dies:
R und S werden als in entgegengesetzter Richtung von D liegend
aufgefaßt und durch diese Auffassung wird der anschau-
liche Gesamttatbestand produziert. Dem Gedanken: R liegt
rechts von D mag eine visuelle Vorstellung der Beziehung ent-
sprechen. Tritt dazu der Gedanke: S liegt in entgegengesetzter
Richtung, ebenfalls mit visueller Vorstellung der entgegengesetzten
Richtung, so ist der anschauliche Gesamttatbestand durch diese«
Beziehungsetzen geschaffen.
Ein anschaulicher Gesamttatbestand ist also vorhanden, wenn
auch nicht in so starker Ausprägung wie beim »Ablesen«. Aber
er wird anders verarbeitet — und das ist das zweite, was
diese Operationsweise charakterisiert. Es wird nicht einfach der
uns bekannte mit der Einstellung zum Schließen gegebene Gesichts-
punkt angelegt, sondern es wird die Aussage, welche Uber
die Beziehung des Mittelbegriffs zu dem zuerst ins Auge
gefaßten der beiden anderen Begriffe gemacht ist, darauf-
hin angesehen, ob sie unter Berücksichtigung jener
Richtungsbeziehung zu einer Aussage über die Beziehung
der beiden anderen Begriffe zueinander Anlaß gibt. Eine
solche Vergleichung fehlt bei dem einfachen Ablesen.
Wir können diese Operationsweise also folgender-
maßen charakterisieren:
Es werden von den in den Prämissen aufeinander be-
zogenen Größen die nicht als Mittelbegriff funktio-
nierenden1) als in entgegengesetzten Richtungen liegend
1) Eine Unterscheidung von terininus minor und major ist hier nicht
möglich, da sich bei diesen Schlüssen zwei Schlußsätze ergeben.
2*
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20
G. Störring,
aufgefaßt. Diese Setzung entgegengesetzter Richtungen
wird nun so verwertet, daß man ausgeht von der Fest-
stellung der Beziehung, die gegeben ist beim Übergang
in dem Beziehungskomplex von der als Mittelbegriff
funktionierenden Größe zu einer der beiden anderen
Größen. Von der zweiten anderen Größe wird dann gesagt,
daß von ihr wegen jenes Gegensatzes der Beziehungen
anch oder erst recht gilt, was vom Mittelbegriff gilt.
Bei einer embryonalen Form dieser Operationsweise
bestimmt die Auffassung des Gegensatzes der Richtungen
nur die Synthesis der Beziehungen zu einem anschau-
lichen Gesamttatbestande von repräsentativer Bedeutung,
worauf dann ein »Ablesen« stattfindet.
b) Wenn nicht der Gegensatz der Richtungen aufgefaßt wird,
welcher zwischen dem Übergang von der als Mittelbegriff funktio-
nierenden Größe zu jeder der beiden anderen besteht, sondern
die Gleichheit der Richtungen, welche etwa zwischen dem
Übergang von einer dieser beiden anderen Größen zum Mittelbegriff
einerseits und andererseits von dem Mittelbegriff nach der anderen
dieser beiden Größen hin besteht, so kann eine doppelte Verwertung
dieses Beziehungsetzens auftreten. Die eine derselben illustriere
ich zunächst durch einen Versuch.
Vp. E. Exponiert wurde:
V ist Uber 0,
R ist Uber V.
Also . . .
Beim Lesen der ersten Prämisse wird dieselbe deutlich aufge-
faßt mit undeutlich visueller Vorstellung: V Uber 0 stehend außer-
halb der Fläche des exponierten Papiers. Die zweite Prämisse
wird in ganz ähnlicher Weise aufgefaßt, mit undeutlicher visueller
Vorstellung: R Uber V ebenfalls außerhalb der Fläche des expo-
nierten Papiers, und zwar ohne Beziehung zu dem ersten visuellen
Komplex. Das eine Paar war etwas nach unten links lokalisiert,
das andere Paar nach oben rechts. Vp. gibt an, daß wahrschein-
lich das zweite Paar unten links lokalisiert war. Dann wurden
die beiden V identifiziert. Darauf entstand der Gedanke der
Gleichheit der Beziehung zwischen V und 0 einerseits und R
und 0 andererseits.
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Experimentelle Untersuchungen über einfache Schlußprozeßse. 21
Nun sagte sieh Vp.: Was ich von V in bezug auf 0 aus-
sagen kann, daß es nämlich über 0 ist, kann ich von R
in bezug auf 0 noch viel mehr aussagen. Also ist R
Uber 0.
Die visuellen Bilder waren nur insofern verändert, als zwischen
den beiden V ein Verbindungsstrich gezogen war.
Bewußtsein der Sicherheit. Dauer 54/6 Sekunden.
Hier, wo V als über 0 und R als Uber V angesetzt ist, wird
also die Beziehung vom V zu O als die gleiche aufgefaßt, wie
die Beziehung von R zu V. Dieses Gleichheitssetzen wird nun
so verwertet, daß man ausgeht von der. Feststellung der
Beziehung, die gegeben ist beim Übergang in dem Be-
ziehungskomplex von der als Mittelbegriff funktio-
nierenden Größe zu einem der anderen Begriffe. Durch
den Wortlaut der Prämissen ist hier die Verwertung der Beziehung
des V zu O nahegelegt, sonst müßten die Prämissen umgeändert
werden. Also V ist über 0. Da die Beziehung des R
zu Y dieselbe ist, wie die des V zu 0, so gilt das, was
Uber V in Beziehung zu 0 ausgesagt wird, auch Uber die
Beziehung von R zu O. Also R ist über 0.
Diese Schluß weise wird, wie man denken kann, in gleicher
Weise angewendet, wo in beiden Prämissen der Beziehungsgedanke
iiurch ein »unter«, ein »links« usw. zum Ausdruck gebracht
ist. Er findet sich aber auch da, wo der Beziehungsgedanke
iu beiden Prämissen in differenter Weise zum Ausdruck ge-
bracht ist, etwa in der einen Prämisse durch ein »unter«, in
der anderen durch ein »über«. Auch in solchen Fällen tritt diese
Schlußweise auf, nur wird dann eine der Prämissen in der Weise
umgestaltet, daß von einer Gleichheit der Beziehungen gesprochen
werden kann.
So wird bei der Exposition der Prämissen
A ist oberhalb B,
C ist unterhalb B,
die Feststellung gemacht: Zwischen C und B ist das gleiche Ver-
hältnis wie zwischen B und A. B ist unterhalb A. Also ist C
erst recht unterhalb A.
Ich finde diese Schlußweise bei visueller Darbietung der Prä-
missen nur bei einer meiner vier Vp. Bei dieser findet sie
sich aber nicht bloß beim Schlüsse mit räumlichen Beziehungen,
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22
G. Störring,
sondern auch bei Schlüssen mit zeitlichen Beziehungen und so-
dann bei Schlüssen mit den Beziehungen größer und kleiner.
In einzelnen Fällen tritt bei diesem Schluß der Gedanke der
Gleichheit der Beziehungen im Bewußtsein etwas zurück, in anderen
Fällen gibtVp. an, sie könne nichts Bestimmtes darüber ausmachen,
ob die Gleichheitssetzung vorhanden gewesen sei oder nicht. Hier
handelt es sich dann offenbar um die Mitwirkung eines nicht zum
klaren Bewußtsein gekommenen Prozesses.
Diese Schlußweise sehe ich bei dieser Vp. in der Mehrzahl der
Fälle auftreten. Außer dieser Schlußreihe findet sich bei dieser
Vp. noch ein Ablesen des Schlußsatzes aus einem anschaulichen
Gesamttatbestand von repräsentativer Bedeutung, dessen Synth esis
von dem Gedanken der Gleichheit von Beziehungen abhängig ist.
Vp. macht in einem späteren Ubungsstadium wiederholt die be-
stimmte Aussage, daß der Gedanke der Gleichheit der Beziehungen
das Zustandekommen des Gesamttatbestandes bedingt habe, auf
den sich der Schlußsatz gründet. Das Ablesen des Schlußsatzes
an dem so entstandenen Gesamttatbestand finden wir bei di*r Vp.
nur da realisiert, wo deutliche visuelle Vorstellungen zur Entwick-
lung kommen, welche die Gesamtheit der Beziehungen in einem
Komplex längere Zeit repräsentieren.
Uber diese dritte Operationsweise können wir nach
dem Bisherigen also sagen:
Es findet eine Gleichsetzung von Beziehungen statt,
die entweder in den Prämissen schon unmittelbar ge-
setzt sind oder sich durch Konversion ergeben haben.
Diese Gleichsetzung von Beziehungen wird nun so
verwertet, daß man ausgeht von der Feststellung der
Beziehung, die gegeben ist beim Übergang in dem Be-
ziehungskomplex von der als Mittelbegriff funktionieren-
den Größe zu einer der beiden anderen Größen. Von
der zweiten anderen Größe wird dann gesagt, daß von
ihr wegen der Gleichheit der Beziehungen auch oder
erst recht gilt, was vom Mittelbegriff gilt.
Diese Bestimmung bedarf aber noch der Ergänzung. Bei den
Schlüssen mit den Beziehungen größer und kleiner findet sich eine
durchaus parallele Operationsweise, aber außerdem eine kleine
Modifikation derselben. Sie ist so beschaffen, daß ihr Auftreten
bei den hier vorliegenden Schlüssen auch zu erwarten ist. Sie
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Experimentelle Untersuchungen über einfache Schlußprozesae. 23
würde sich hier folgendermaßen darstellen. Nehmen wir die Prä-
missen : V ist über O,
R ist über V.
In bezug auf diese lautete die besprochene Operationsweise:
Weil ich von V in bezog auf 0 aussagen kann, daß es über 0
ist, so kann ich von R in bezug auf 0 ebenfalls aussagen, daß
es über 0 ist.
Die Modifikation dieser Betrachtungsweise würde lauten: Weil
ich von R in bezug auf V aussagen kann, daß es Uber V ist, so
kann ich von R in bezug auf 0 auch aussagen, daß es Uber
0 ist
Es ergibt sich demnach folgende zusammenfassende Be-
stimmung:
Es findet eine Gleichsetzung von Beziehungen statt,
die entweder in den Prämissen schon unmittelbar gesetzt
sind oder sich durch Konversion ergeben haben.
Diese Gleichsetzung von Beziehungen wird nun ver-
wertet, daß man ausgeht von der Feststellung der Be-
ziehung, die gegeben ist beim Ubergang in dem Be-
ziehungskomplex von der als Mittelbegriff funktio-
nierenden Größe zu einer der beiden anderen Großen.
Von der zweitgenannten Größe wird dann gesagt, daß
von ihr wegen der Gleichheit der Beziehungen auch
oder erst recht gilt, was von dem Mittelbegriff gilt.
Oder diese Gleichsetzung von Beziehungen wird so
verwertet, daß man von der Feststellung der Beziehung
ausgeht, die gegeben ist beim Übergang in dem Be-
ziehungskomplex zu der als Mittelbegriff funktionieren-
den Größe von einer der beiden anderen Größen aus.
Von dieser letzteren Größe wird dann gesagt, daß die
Beziehung, welche beim Ubergang von ihr zum Mittel-
begriff besteht, wegen jener Gleichheit der Beziehungen
auch oder erst recht beim Übergang von ihr zu der
zweiten anderen Größe vorliegt. —
Bei einer embryonalen Form dieser Operationsweise
bestimmt die Auffassung der Gleichheit der Beziehungen
nur die Synthesis der Beziehungsgedanken zu einem an-
schaulichen Gesamttatbestande, worauf dann ein Ab-
lesen stattfindet. Diese embryonale Form ist dieser
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24
G. Störrinp,
dritten Operationsweise mit der vierten gemeinsam, in
welcher der Gedanke der Gleichheit eine andere Ver-
wertung als in der dritten findet.
c) Ich komme jetzt auf eine zweite Art der Verwertung"
des Gedankens der Gleichheit von Beziehungen heim
Schließen mit räumlichen Beziehungen zu sprechen. Ich illustriere
die Schlußweise zunächst an der Hand von zwei Versuchen.
Vp. K. Es wurde exponiert:
d steht nach vorn von e,
k steht nach vorn von d.
Also . . .
Beim Lesen der ersten Prämisse wurde »vorn« betont. Dabei
hatte Vp. Bewegungsempfindungen in den Augen, einer Be-
wegung derselben entsprechend, bei welcher ein fixierter Punkt
nach vorn rückt, außerdem war das Gesichtsbild einer Linie
schwach angedeutet. Bei der zweiten Prämisse wurde ebenfalls
»vorn« betont, dabei ähnliche Repräsentanten. Dann rekapitu-
lierte Vp. den Inhalt der beiden Prämissen: d nach vorn von e,
k ist noch weiter nach vorn von diesem d. Darauf sagte sich
Vp.: k ist das letzte Glied, die Größe, welche am meisten nach
vorn liegt. Also ist sie auch nach vorn von dem Ausgangs-
punkt e. Das e brauchte dabei nicht wieder aufgesucht zu
werden, es war noch im Bewußtsein vorhanden — Vp. vermutet :
infolge der vollzogenen Rekapitulation. Bewußtsein der Sicher-
heit. Dauer ll*/5 Sekunden.
Etwas komplizierter stellen sich die den Schluß einleitenden
Prozesse in folgendem Fall dar.
Vp. K. Es wurde exponiert:
V ist Uber 0 ,
R ist über V.
Also . . .
Es war die Anweisung gegeben, nicht bloß mit absoluter Sicher-
heit, sondern auch möglichst schnell zu schließen. Vorperiode:
starke Spannung. — Beim Lesen und Auffassen der ersten Prä-
misse treten Bewegungsempfindungen in den Augen auf, welche einer
Bewegung derselben nach oben entsprechen. Es tritt eine sehr
schwache Lokalisation des V auf der undeutlich visuell vorge-
stellten Richtung nach oben auf, mehr Zuordnung zur Richtung
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Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schlußprozease. 25
als bestimmte Lokalisation. Beim Lesen und Auffassen der zweiten
Prämisse fast ganz ähnliche Erscheinungen. Außerdem trat dabei
das Bewußtsein der Gleichheit der Richtung auf. Die beiden Prä-
missen waren nun aber noch nicht verbunden. Die beiden V waren
nicht identifiziert und auch nicht als identische Größen behandelt.
Sie wurden nun identifiziert und Vp. hatte das Bewußtsein, daß
alle Größen in derselben Richtung übereinander stehen. Nun ver-
gaß Vp., wie die Buchstabengrößen in dieser Richtung aufeinander-
folgen. Sie las deshalb die Prämissen nochmal, wobei es ihr nicht
darauf ankam, die Richtung herzustellen, sondern die Verbindung
der Größen in dieser Richtung. Sie operierte nun vorwiegend mit
Worten: V ist über 0} R ist über dem F, das über 0 liegt; dabei
waren die Bewegungsempfindungen der Augen, wie es Vp. scheint,
nur reproduziert vorhanden mit Erinnerung an die früheren im
Anfang des Versuchs aufgetretenen. Als Vp. sich sagte: R ist
über dem V, das über 0 liegt, hatte sie den Gedanken der ab-
steigenden Reihe R, 0, F; R, O, V waren als Klangbilder nur
daueben ganz schwach visuell gegeben. Als das Wichtigste erschien
Vp. das Übergehen von einem Klangbild zum anderen.
Nun wurde R aufgefaßt als am höchsten stehend und Vp. schloß:
R ist am höchsten, also muß R auch über 0 sein. Das
zweite Operieren nach dem Vergessen der Buchstaben erschien Vp.
weniger anschaulich als das erste. Beim Schließen hatte sie noch
den Gedanken: ich habe schnell schließen wollen und es geht doch
nicht so schnell (wegen des zweimaligen Ansetzens); das zweite
Operieren vollzog sich viel schneller als das erste. Dauer 74/6 Se-
kunde. Bewußtsein der Sicherheit.
Diese Art des Schließens trat nur bei einer meiner Vp. auf,
aber diese Schlußweise ist durchaus analog einer Schlußweise, die
sich bei Subsumtionsschlüssen und bei IdentitätsschlUssen bei
mehreren anderen Vp. findet. Ich vermute auf Grund einiger vor-
läufiger Versuche, daß diese Schluß weise sich bei akustischer
Darbietung der Prämissen häufiger einstellt. Bei unserer Vp. trat
diese Operationsweise zuerst nur auf bei der Anweisung, außer mit
absoluter Sicherheit möglichst schnell zu schließen. Nachdem diese
Anweisung bei diesen Schlüssen und zeitlichen Schlüssen häufig
befolgt war, stellt sich diese Schluß weise auch nach der gewöhn-
lichen Anweisung ein, mit absoluter Sicherheit zu schließen. Vp.
fallt dieser Tatbestand selbst auf; sie gibt als Ursache dafür an,
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26
G. Stürring,
daß diese Operationsweise sie mehr befriedige, als der erste Modus
des räumlichen Schließens. Darin gleicht dieser Modus dem zu
zweit, d. h. sub b, besprochenen. Vp. gibt noch näher an, daß es sie
besonders befriedige, mit Bewegungsempfindungen zu operieren;
durch diese »erlebe« sie die gesetzten Beziehungen. Was die
Dauer der Operation betrifft, so ist dieselbe sehr deutlich verkürzt
gegenüber der Zeit für die Operationen nach dem ersten Modus.
Die durchschnittliche Dauer bei vier Anfangsversuchen nach dem
ersten Modus beträgt 25J/5 Sekunden, bei fünf Versuchen nach diesem
vierten Modus bei der Anweisung zu möglichst schnellen Schlüssen
74 5 Sekunden, bei vier Versuchen nach dem vierten Modus ohne
die Anweisung möglichst schnellen Schließens II5 2o Sekunden.
Diese Operationsweise ist nun näher folgendermaßen zu charak-
terisieren. Wo, wie im letzten Versuch V über 0 und R über V
angesetzt ist, handelt es sich zunächst außer um die Auffassung
der Prämissen darum, die identische Größe V als solche aufzu-
fassen und zu behandeln oder wenigstens als solche zu behandeln.
Geschieht das, so muß weiter die Bedingung erfüllt werden, daß
nicht bloß gleiche Beziehungen gesetzt werden, sondern dieselben
auch als gleich aufgefaßt werden. Hat nun aber Vp. das
Bewußtsein, von 0 ausgehend beide Male in derselben
Richtung, nach oben, weitergegangen zu sein, so kann
nun dieses Bewußtsein gleichen Fortschreitens so ver-
wendet werden, daß sie in bezug auf die Größe, bei der
sie stehen bleibt, hier ii, sagt, diese Größe liegt am
meisten nach dieser Richtung, in der das Fortschreiten
erfolgt, nach oben. Also liegt sie auch Uber der Größe,
die den Ausgangspunkt des Beziehungsetzens bildet,
über B. Dieses Beziehungsetzen tritt natürlich gerade so auf,
wo in beiden Prämissen die Beziehungen durch »unter«, »nach
hinten von« usw., als wo sie durch >tiber«, »nach vorn von«
charakterisiert sind; sie tritt aber auch zuweilen auf, wo die Be-
ziehungen in beiden Prämissen in differenter Weise ausgedrückt sind.
Wir sehen hier also den Gedanken der Gleichheit der Be-
ziehungen in ganz anderer Weise beim Schließen eine Verwer-
tung finden als bei der dritten Operationsweise. Hier wird auf
Grund des Bewußtseins des Fortschreitens in einer Richtung die
Größe, bei der man znletzt angekommen ist, ihrer Lage nach in
Beziehung gesetzt zu beiden vorangegangenen, ohne daß man
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Experimentelle Untersuchungen über einfache Schlußprozesge. 27
«her die Relation dieser beiden zueinander (wie bei der
dritten Operationsweise) eine Bestimmung macht, indem man
sie als von der betrachteten Größe am meisten nach der durch-
laufenen Richtung liegend bezeichnet — oder man macht eine
ähnliche Bestimmung über die Ausgangsgröße.
Wir können diese Operationsweise also folgendermaßen charak-
terisieren :
Es findet eine Gleichsetzung von Beziehungen statt,
die entweder in ihren Prämissen schon unmittelbar ge-
setzt sind oder sich durch Eonversion ergeben haben.
Beim Durchlaufen dieser Beziehungen kommt die Gleich-
heit derselben in dem Gedanken des Fortschreitens
nach ein und derselben Richtung zum Bewußtsein.
Dieser Gedanke der Gleichheit des Fortschreitens
wird nun so verwertet, daß man von derjenigen Größe,
welche das zuletzt gesetzte Beziehungsglied darstellt,
aussagt, daß sie am weitesten nach dieser Richtung hin
gelegen ist, also auch nach dieser Richtung von der
Ausgangsgröße aus liegt.
B. Schlüsse mit räumlichen Beziehungen ohne deutliches Her-
vortreten der die Schlufsweise charakterisierenden Operations -
Phasen.
Daß bei den Assoziationsprozessen manche Glieder einer zu
bestimmenden Kette nicht ins klare Bewußtsein treten, ist ein ganz
bekannter Tatbestand. Von den Schlußprozessen denkt man ge-
wöhnlich, daß die in diese Prozesse eingehenden Faktoren alle
ins klare Bewußtsein treten. Man sagt sich gewöhnlich: Schluß-
prozesse verbinden sich mit dem Bewußtsein der Denknot-
wendigkeit, die beim Denken bestimmenden Faktoren kommen mir
da allesamt zum Bewußtsein. Oder man sagt: die einzelnen
Schritte, die ich beim Denkgeschehen mache, tragen den Charakter
der Evidenz; damit ist gesagt, daß die beim Denkgeschehen
bestimmten Faktoren klar und deutlich zum Bewußtsein kommen.
Die experimentelle Untersuchung der Schlußprozesse
zeigt nun aber, daß auch im Denkgeschehen, bei Schluß-
prozessen, die sich mit dem Bewußtsein absoluter
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28
G. Storfing,
Sicherheit verbinden, Prozesse mitwirken, die nicht klar
ins Bewußtsein treten. Diese Behauptung werde ich bei jeder
Art von Schlüssen, die ich bespreche, belegen können. Diese
Behauptung gilt sogar für die Schlüsse mit räumlicher Beziehung:
Ich gebe zunächst einige Fälle an.
Vp. F. Es wurde exponiert:
F ist Uber D,
B ist unter D.
Also . . .
Die Prämissen wurden aufgefaßt ohne merkbare visuelle oder
anderweitig sinnliche Repräsentation. Nun treten F und B des
exponierten Blattes sehr plastisch hervor. Das im Blickfeld
rechts von F und rechts von B Stehende wurde undeutlich, D
wurde gar nicht mehr gesehen. Dann tritt das Bewußtsein des
Schlußsatzes, das Bewußtsein der Beziehung der Möglichkeit
des doppelten Ausdrucks desselben auf. Dann, nachdem die Vp.
einen Moment des Schwankens hatte, wie sie die Beziehung aus-
drücken sollte, die Formulierung: F ist über B oder B ist über F.
Dabei hatte Vp. allein die durch die Prämissen gesetzte Beziehung
im Auge, ohne diese Beziehung zu identifizieren mit der hier auf
dem exponierten Blatte vorgefundenen, wo F auch Uber B steht.
Vp. hat die feste Überzeugung, daß sie im Moment der Voll-
ziehung des Schlusses gar nicht an D gedacht hat, und
sie hebt noch hervor, daß in keinem Moment vor Vollziehung des
Schlusses alle drei Größen zusammen mit ihren Beziehungs-
gedanken im Bewußtsein gewesen seien. Dauer 93/5 Sekunden. —
Dieselben Prämissen werden Vp. K. dargeboten. Beim Lesen der
Prämissen werden die Worte »über« und » unter < besonders be-
tont. Dann trat eine visuelle Lokalisation von F und B außer-
halb der Fläche des exponierten Zettels ein, und zwar un-
gewollt: F über B stehend. Dabei war das Bewußtsein vor-
handen, daß diese Lage die durch die Prämissen charakterisierte
sei, in dieser visuellen Darstellung spielte D keine Rolle. D
scheint Vp. nicht mit F und B zusammen im Bewußstein gewesen
zu sein. Trotzdem Bewußtsein der völligen Sicherheit.
Bei ganz ähnlichen Prämissen tritt bei derselben Vp. die Mit-
wirkung von Bewegungsvorstellungen hervor, wie in folgen-
dem Versuch, bei dem an einem anderen Tage der Vp. R. die-
selben Prämissen gegeben waren.
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Experimentelle Untersuchungen Uber einfache SchlußprozeBBe. 29
Vp. R. Exponiert wurde:
F ist Uber D,
B ist unter D.
Also . . .
Vorperiode 0. B. — Die Prämissen wurden zweimal gelesen, da
sich zunächst kein Zusammenhang herausstellte. Nach dem ersten
Lesen wurden die einzelnen Prämissen näher vorgenommen.
Vp. »vergegenwärtigte sich stark«, daß F Uber D ist. Dies ge-
schah aber, ohne Gesichts Vorstellungen dabei zu haben. Vp. sagte
zunächst, es verbinden sich mit dem Wort »Uber« nicht näher zu
charakerisierende Bewußtseinsvorgänge. Dann gibt sie aber weiter
spontan an, daß in diesen Bewußtseinsvorgängen Bewegungsvor-
stellungen eine Rolle spielen. Dann wurde die zweite Prämisse
verarbeitet, und zwar ebenfalls ohne Gesichtsvorstellungen, es
wird hinzugefügt: »wie es scheint mit Bewegungsvorstellungen«
[spontan]. Auf diese Verarbeitung der Prämissen gründet sich das
Auftreten des Schlusses : B ist unter F, dabei Blick von B auf F
des exponierten Papieres. Das Bewußtsein der Identität der
beiden D ist nicht aufgetreten. Der Mittelbegriff »scheint
auch beim Schluß nicht in bewußter Weise zur Geltung
gekommen zu sein«. Der Schluß erfolgte trotzdem mit dem
Bewußtsein völliger Sicherheit. Dauer 31 Sekunden.
Es könnte auffallen, daß Vp. zunächst bezüglich der ersten
Prämisse sagt, daß sich bei der Vergegenwärtigung des Sinnes
derselben an das Wort »Uber« nicht näher zu charakterisierende
Bewußtseinsvorgänge anschlössen, während sie nachher diese Be-
wußtseinsvorgänge doch näher charakterisiert, indem sie die feste
Behauptuug aufstellt, daß Bewegungsvorstellungen darin eine Rolle
spielten. Die Zuverlässigkeit der letzten Aussage scheint durch
diesen Widerspruch sehr zu leiden. Man muß hier aber berück-
sichtigen, daß häufig während des Referats Uber die Bc-
wußtseinsvorgänge des Versuchs diese Bewußtseins-
vorgänge allmählich heraustreten, nicht bloß deutlicher
zu einer späteren Zeit des Referats als sie zu einer
früheren desselben waren, sondern sogar deutlicher, als
sie sich in dem Versuch selbst darstellten. Dabei haben
dann die Vp. die feste Überzeugung, daß die betreffenden Be-
wußtseinsvorgänge inhaltlich durchaus Ubereinstimmen. Diese
Beobachtung hatte diese Vp. sehr häufig gemacht; dasselbe hat
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30
G. StiJrring,
wiederholt Vp. R. häufig energisch betont. Die anderen Vp.
machen gelegentlich eine solche Beobachtung.
Ich selbst habe vor längeren Jahren diese Beobachtung als
Vp. bei den Assoziations versuchen von Cordes gemacht. In der
Arbeit von Messer machen Vp. ebenfalls diese Angabe.
Diese Erscheinung beruht wohl darauf, daß während des Ver-
suchs zuweilen eine Hemmung des klaren Hervortretens einzelner
Bewußtseinsvorgänge durch andere gesetzt ist, welche bei dem
Nacherleben im Referat bei Eonzentrierung auf die einzelnen
Phasen der Bewußtseinsprozesse sich jedenfalls weniger geltend
macht.
Über die Schlußweise dieser Versuche kann ich eine bestimmte
Behauptung nicht aufstellen. Da die repräsentativen Anschauungen
bei ihnen schwach entwickelt zu sein scheinen, so möchte ich
hier das Schließen auf Grund komplexen Beziehungsetzens für
wahrscheinlich halten. Es würde sich dann wahrscheinlich um
die zweite Operationsweise handeln, da die hier gegebene Form
der Prämissen es nahelegt, bei komplexem Beziehungsetzen vom
Mittelbcgriff auszugehen. Wir sahen früher, daß bei dieser Schluß-
weise kurz vor dem Übergang zum Schluß von dem Gedanken
an einen bestimmten Mittelbegriff abstrahiert werden kann, so-
daß auf diese Weise verständlich würde, daß im Moment des
Schließens nach Aussage der Vp. die als Mittelbegriff funktio-
nierende Buchstabengröße keine Rolle mehr im Bewußtsein spielt.
Bezüglich der Repräsentation der räumlichen Beziehungsge-
danken durch Bewegungsempfindungen möchte ich noch hervor-
heben, daß, wo von begrifflicher Auffassung der räumlichen Be-
ziehung gesprochen wird, indem eine visuelle Repräsentation mit
Entschiedenheit fixiert wird, die Mitwirkung einer Repräsentation
durch Bewegungsempfindungen nicht leicht ausgeschlossen werden
kann. —
Von Schlüssen mit räumlichen Beziehungen habe ich bis jetzt
solche nicht näher untersucht, bei denen die bezogenen Größen
nicht in einer Richtung liegen.
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Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schlußprozesse. 31
II. Kapitel:
Schlüsse mit zeitlichen Beziehungen.
A. Zeitliche Schlüsse mit einfachen Anweisungen.
I. Schlüsse mit zeitlichen Beziehungen auf Grnnd ein-
fachen Beziehungsetzens.
Die Logiker haben die zeitlichen Schlüsse meist ebensowenig
berücksichtigt wie die räumlichen. Von zeitlichen Schlüssen habe
ich solche mit Gleichzeitigkeitsbeziehung nicht untersucht, da es
mir wesentlich auf die Feststellung der Operationsweisen ankam
und diese hierin die nächste Beziehung zu den Gleichheitsschlüssen
haben.
Bei Besprechung der Schlüsse mit zeitlichen Beziehungen
möchte ich diejenigen Schlüsse meines Materials gesondert be-
sprechen, die unter der Anweisung vollzogen wurden, nicht bloß
mit absoluter Sicherheit zu schließen, sondern außerdem: nicht
eher zu reagieren, als bis im Moment des Schließens alle Be-
ziehungsgedanken präsent gewesen sind. Ich habe diese An-
weisung zunächst gegeben, um eventuell Aufklärung über Schlüsse
zu erhalten, bei welchen die die Schlußweise charakterisierenden
Operationsphasen nicht deutlich hervortraten. Dieselben können
aber selbständige Bedeutung in Anspruch nehmen. Ich nenne
diese Anweisung kurz die »verschärfte« und ihr gegenüber die
andere Anweisung einfach. Ich behandle zunächst zeitliche Schlüsse
mit einfacher Anweisung.
Bei den Schlüssen mit zeitlichen Beziehungen tritt uns ähnlich
wie bei den Schlüssen mit räumlichen Beziehungen eine Operations-
weise entgegen auf Grund eines früher als »einfach« charakteri-
sierten Beziehungsetzens und Operatiousweisen auf Grund kom-
plexen Beziehungsetzens.
Verschiedenartig gestaltet sich die Repräsentation der ge-
meinten Beziehungen.
a) Repräsentation der gemeinten zeitlichen Bezie-
hungen durch zeitliche Beziehungen von Erlebnissen.
Die gemeinten zeitlichen Beziehungen können repräsentiert
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32
G. Störring.
sein durch die zeitlichen Beziehungen von psychischen Vorgängen,
welche in dem Prozeß der Auffassung der einzelnen in Be-
ziehung zueinander gesetzten Größen gegeben sind oder zum
Zweck der deutlichen Auffassung dieser Beziehungen in Gestalt
motorischer Impulse gesetzt werden.
Ich beginne mit dem Referat Uber einige Versuche.
Vp. K. Es wurde exponiert:
Vorgang L früher als Vorgang S,
Vorgang Q früher als Vorgang L.
Also . . .
Beim Uberblick sah Vp., daß es sich um eine neue Schluß-
weise handelt (mit Schlüssen mit zeitlicher Beziehung war vorher
bei dieser Vp. nicht operiert). Dann wurde die erste Prämisse
gelesen und klar gemacht. Darauf wurde die zweite Prämisse
gelesen. Bei L angekommen sagt sich Vp. : Q ist früher als Vorgang
L, dieser Vorgang L, der schon früher war als Vorgang S.
Dabei wurde mit diesem Sprechen die Reihenfolge vergegen-
wärtigt Q, L, S\ diese Reihenfolge stellte sieht nicht visuell dar;
>Q, L, S waren wie drei Erlebnisse mit kleinen Pausen. Auf
nähere Exploration hin gibt Vp. an, eine dreifache Spannung und
Lösung mit ganz kurzen Intervallen habe als Repräsentant des
Gedankens der Sukzession dieser Größen gedient, welcher Gedanke
sehr klar hervorgetreten sei. Diese Spannung und Lösung ver-
band sich mit Luststimmung.
Vp. vermag nicht mehr zu sagen, ob diese Spannungsentwick-
lung sich verbunden hat mit der Auffassung von Q, dann der von
L, zuletzt der von S. Sie glaubt nachher, daß diese Frage zu be-
jahen sei. Der Schluß wurde aus dem gewonnenen Gesamttat-
bestand herausgelesen. Dauer 173/5 Sekunden.
Wenn in diesem Falle als Repräsentant der Auffassung der
gemeinten zeitlichen Beziehungen eine dreimalige Spannung und
Lösung angegeben wird, so handelt es sich da wohl um solche
motorische Faktoren und ihre Aufhebung, die sich an die suk-
zedierten Klangbilder anschließen. Nun, deutlich ist jedenfalls,
daß hier die bei Gelegenheit der Bearbeitung der Prämissen er-
lebten Intervalle psychischer Vorgänge als Repräsentanten der
gesamten zeitlichen Beziehungen dienten.
Ich will noch bemerken, daß es dieser Vp. eigentümlich ist,
häufig nach dem Lesen der Prämissen die Beziehungen in einem
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Experimentelle Untersuchungen über einfacho SchlußprozeBse. 33
Satz zusammenzufassen. An diese wörtliche Zusammenfassung
schließt sich dann die weitere Verarbeitung an. Vp. betrachtet
diese wörtliche Zusammenfassung als Mittel, sich das in den Prä-
missen Gesagte präsent zu halten.
Vp. F. Es wurde exponiert:
Vorgang V früher als Vorgang J,
Vorgang W später als Vorgang J.
Also . . .
Nach dem Lesen und Auffassen der ersten Prämisse fragt sich
Vp.: wie stelle ich mir das vor? Antwort: Erst Vt dann J, dabei
wurde V links, J rechts lokalisiert. Diese Verdeutlichung wurde
aber zurückgewiesen. Vp. liebt nicht die repräsentative Ver-
wertung räumlicher Beziehungen bei zeitlichen Verhältnissen. Dann
dachte sich Vp. die Beziehung rein zeitlich mit Erinnerung an
Glockenschläge: mit der akustisch-motorischen Vorstellung V zu-
sammen wurde ein Glockenschlag reproduziert und ihr zuge-
ordnet mit der akustisch -motorischen Vorstellung J ein anderer,
der als ihm folgend aufgefaßt wurde ; es fand wieder eine gleiche
Zuordnung statt.
Darauf wurde die räumliche Repräsentation wiederholt Da-
nach trat der Gedanke auf, daß beide Arten von Repräsentationen
hier möglich sind. Zuletzt entschied sich Vp. für die zeitliche Re-
präsentation ohne visuelle Vorstellungen. Sie wiederholte nun die
akustisch -motorischen Vorstellungen V, J und faßte J als auf V
folgend auf. Dabei war Repräsentant das erlebte Intervall
zwischen den akustisch-motorischen Vorstellungen V
und J. Dann wurde die zweite Prämisse gelesen: Vorgang W
später als Vorgang J. Vp. sagte sich: W kommt also hinterher.
Daran schloß sich sogleich der Schlußsatz an: Also ist V früher
als W. Vor diesem »Also« wurde nicht noch einmal im Bewußt-
sein die ganze Reihe V} J, W durchlaufen. Der Schlußsatz
wurde nun aber nicht gleich ausgesprochen. Vp. suchte die ge-
samten Beziehungsgedanken präsent zu halten ( was früher in
Versuchen mit Subsumtionsschlüssen von dieser Vp. häufig be-
sonders gefordert war, da ein großer Teil der mitwirkenden Pro-
zesse nicht ins klare Bewußtsein kam). Dann entsann Vp. sich
aber, daß ein Präsenthalten der gesamten Beziehungsgedanken im
Moment des Schließens hier nicht gefordert war. Daranf ging
Vp. die Reihe durch V> J, W, wobei die [Sukzession der akustisch-
Archiv fttr Psychologie. XI. 3
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34
G. Störriug,
motorischen Vorstellungen als Repräsentant der gemeinten zeitlichen
Beziehungen diente und las daraus ab: V früher als W oder W
später als V. Bewußtsein der Sicherheit. Dauer etwa 20 Se-
kunden.
Hier in diesem Falle treten die erlebten Intervalle der akus-
tisch-motorischen Vorstellungen der zueinander in Beziehung ge-
setzten Größen in deutlicher Weise als Repräsentanten der gemeinten
zeitlichen Beziehungen auf.
Bevor diese Art dcrRepräsentation gewählt wurde, trat mit der
Repräsentation des Gedankens der zeitlichen Beziehung durch das
erlebte Intervall zwischen der akustisch-motorischen Vorstellung
der betreffenden Größen eine visuelle Repräsentation auf, wobei
der frühere Vorgang links, der spätere Vorgang rechts lokalisiert
wurde. Der räumlichen Repräsentation wegen wurde diese
Betrachtungsweise abgewiesen, Vp. erscheint beim Gedanken einer
zeitlichen Beziehung die räumliche Repräsentation als ein fremdes
Hilfsmittel. Nach der Abweisung dieser Art der Repräsentation
wurde eine Repräsentation durch objektiv zeitliche Beziehungen
gewählt. Es wurden einige Zeit vorher gehörte Glockenschläge
reproduziert und den einzelnen akustisch-motorischen Vorstellungen
zugeordnet mit Benutzung des reproduzierten Intervalls zwischen
diesen Glockcnschlägen als Repräsentanten der gemeinten zeitlichen
Beziehung. Erst zuletzt tritt eine Repräsentation durch das erlebte
Intervall der akustisch-motorischen Vorstellungen der in Beziehung
gesetzten Größen auf und diese Repräsentation wirkt allein be-
stimmend auf das Zustandekommen des Schlusses.
Zusammenfassend können wir also sagen: bei Schlüssen
mit zeitlichen Beziehungen und »einfachem« Beziehung-
setzen können die gemeinten zeitlichen Beziehungen eine
Repräsentation haben in zeitlichen Beziehungen von Er-
lebnissen; als solche sind uns in den beiden besprochenen
Versuchen die erlebten Intervalle von psychischen Vor-
gängen entgegengetreten, welche in dem Prozeß der
Auffassung der einzelneu in Beziehung zueinander ge-
setzten Größen gegeben sind (es waren dies das eine Mal
die akustisch-motorischen Vorstellungen dieser Größen, das andere
Mal mit großer Wahrscheinlichkeit die an die Klangbilder dieser
Größen sich anschließenden motorischen Impulse; in einem ähn-
lichen Fall, der hier nicht näher besprochen ist, wo auch erlebte
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Experimentelle Untersuchungen über einfache Schlußprozeese. 35
Intervalle zwischen motorischen Impulsen repräsentative Bedeutung
haben, gibt die betreffende Vp., nämlich Vp. R., direkt an, daß diese
motorischen Faktoren Begleiterscheinungen der Klangbilder der in
Beziehung zueinander gesetzten Größen sind). In anderen Fällen
haben diese repräsentative Bedeutung erlebte Intervalle
zwischen motorischen Impulsen, welche von Vp. zum
Zweck der Verdeutlichung der gemeinten Beziehung
gesetzt werden: sprachmotorische Impulse zu einem undeutlich
gesprochenen em\ diesen Impulsen werden die Klangbilder der
in Beziehung gesetzten Größen zugeordnet. Vp. setzt einen solchen
sprachmotorischen Impuls und sagt dann: dieses ist Vt dann setzt
sie einen neuen Impuls und sagt etwa, dieses ist J, wobei dann
die zwischen diesen Impulsen liegenden Intervalle als Repräsen-
tanten dienen. — Die bezeichneten Repräsentanten werden in dem
mir vorliegenden Material auch als solche aufgefaßt, wo keine
anderweitigen Repräsentanten auftreten. — Der Schluß wird aus
dem durch zeitliche Lokalisation der einzelnen Größen gewonnenen
Gesamttatbestand »abgelesen«.
Dieses »Ablesen« vollzieht sich an der Hand des durch
die Synthese der Beziehungsgedanken geschaffenen Ge-
samttatbestandes, der mit dem bei analogen Schlüssen mit
räumlichen Beziehungen geschaffenen Gesamttatbestande
darin Ubereinstimmt, daß er anschaulichen Charakter
hat, nur bietet er sich nicht der »äußeren«, sondern der
»inneren« Anschauung dar und seine bloß repräsentative Be-
deutung wird jedenfalls leichter aufgefaßt, als das bei bestimmten
Lokalisationen in den Operationen mit räumlichen Schlüssen der
Fall ist. Das »Ablesen« ist weiter abhängig von dem durch die
Einstellung zum Schließen gesetzten Gesichtspunkt.
Das »Ablesen« besteht in der von diesen beiden Faktoren
abhängigen Entwicklung eines neuen Beziehungsgedankens,
welcher mit der Einstellung zum Schließeu gesetzt ist.
b) Repräsentation der gemeinten zeitlichen Bezie-
hungen durch räumliche Beziehungen und zeitliche Be-
ziehungen von Erlebnissen.
Die Repräsentation der gemeinten zeitlichen Beziehungen durch
zeitliche Beziehungen von Erlebnissen finden wir häufig zusammen
mit Repräsentation durch räumliche Beziehung; dabei kann man
3*
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36
G. Stürring,
häufig ein Überwiegen der Mitwirkung der einen Art der Repräsen-
tation über die andere nachweisen.
Ich gebe zunächst einen Fall von Überwiegen der räumlichen
Repräsentation und Überwiegen ihrer Verwertung für den Schluß-
satz.
Vp. R. Es wurde exponiert:
Vorgang P später als Vorgang 0,
Vorgang F später als Vorgang P.
Also . . .
Beim Lesen der ersten Prämisse trat ein Uulastgefuhl bei
»später« auf. Dann wurde sogleich P hinter das 0 des exponierten
Blattes gesetzt. Darauf wurde die zweite Prämisse gelesen. Dann
wurde F hinter das P gesetzt in die gleiche Richtung von 0 aus.
Aus dem gewonnenen Gesamtbilde wurde der Schluß abgelesen:
F ist später als 0. Vp. Bagt, hier seien nur räumliche Be-
ziehungen als Repräsentationen verwertet worden. Sie macht aber
die Bemerkung: »es wurde die Reihe durchschaut: 0, P, F und
gesehen: das F kommt beim Durchsehen später als das O«. Des-
halb der Schlußsatz F später als 0. Es wurde also außer der
räumlichen Repräsentation tatsächlich noch die Sukzession der
eigenen Akte beim Durchlaufen der räumlichen Reihe beim Schließen
benutzt. Dauer 14' 6 Sekunden.
In einer größeren Reihe von Fällen bei verschiedenen Vp.
liegt die Sache so, daß man zunächst geneigt ist, nur räumliche
Repräsentation anzunehmen, während bei näherer Betrachtung die
Mitwirkung der zeitlichen sehr wahrscheinlich wird. Ich habe
in meinem Material keinen Fall räumlicher Repräsentation zeit-
licher Beziehungen, in welchem nicht die Mitwirkung der Re-
präsentation durch zeitliche Beziehungen von Erlebnissen wahr-
scheinlich wäre. Ich will das näher auseinandersetzen nach Bei-
bringung von zwei Einzelfällen.
Vp. K. Es wurde exponiert:
Vorgang M früher als Vorgang E,
Vorgang 0 früher als Vorgang M.
Also . . .
Beim Lesen der ersten Prämisse bemerkt Vp., daß M an der
> richtigen« Stelle steht. (!) Nach Lesen der zweiten Prämisse wird
O vor das M der ersten Prämisse gesetzt in gleichem Abstand
wie E von M. Daun wurde gedacht: Gemeint sind aber zeit-
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Experimentelle Untersuchungen über einfache Schlußprozesse. 37
liehe Beziehungen, keine räumlichen. Dieser Gedanke hat, meint
Vp., weder geholfen noch gestört. Jedenfalls erschien ihr das
als nebensächlich für das Zustandekommen des Schlußsatzes.
Nun wurde aus dem gewonnenen Gesamttatbestande der Schluß
herausgelesen: O früher als E mit dem Bewußtsein, diese
räumlichen Beziehungen repräsentieren die zeitlichen. Dieser
Gedanke an die Repräsentation war während des Operierens mit
den Lagebeziehungen nicht immer so klar im Bewußtsein wie
im Moment der Erzeugung des Schlußsatzes. Dauer II4/* Se-
kunden.
Vp. bemerkt beim Lesen der ersten Prämisse: M ist früher
als E, daß M auf dem exponierten Zettel an der »richtigen«
Stelle steht. Weshalb wird die Stelle von M in Relation zu der
Stelle von E die richtige genannt? Weil von M aus E in
der Richtung von links nach rechts M zuerst gesehen wird und
E später, so daß die Sukzession der psyschischen Vorgänge, welche
gegeben sind in der Auffassung von M und E, der gemeinten
zeitlichen Folge von M und E entspricht. Dabei ist allerdings
vorausgesetzt, daß das Überblicken von M und E in der Richtung
von links nach rechts erfolgt; das ist aber die Richtung des Lesens
in den zumeist von uns gebrauchten Sprachen.
Es könnte auffallen, daß Vp. die Anschauung entwickelt, daß
die Auffassung der nur repräsentativen Bedeutung der räumlichen
Beziehungen für das Zustandekommen des Schlusses unwesentlich
sei. Tatsächlich sieht man häufig bei dem Operieren mit
Repräsentanten die Auffassung der Repräsentanten als
solcher jedenfalls aus dem klaren Bewußtsein schwinden
bis zu dem Moment, wo der Schlußsatz da ist. Die Ein-
stellung auf die Beurteilung zeitlicher Verhältnisse scheint
das Hervortreten dieser Auffassung ersetzen zu können.
Wir werden auf diesen Tatbestand noch wiederholt stoßen.
Ich will noch einen ähnlichen Fall von einer anderen Vp.
herausgreifen.
Vp. F. Es wurde exponiert:
Vorgang A später als Vorgang C,
Vorgang D früher als Vorgang C.
Also . . .
Nach d eni Lesen der ersten Prämisse wird der Versuch ge-
macht, Ä rechts von C zu lokalisieren. Dieser Versuch mißlaug
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38
G. Störring,
aber, »weil sich das hier stehende A zu energisch aufdrängte«.
Vp. sagte sich dann: .1 steht zwar links von C, »ich habe es
zwar früher gesehen«, aber ich fasse es doch als später auf und
ich will es mir merken. Damit war nicht beabsichtigt, das
Lageverhältnis als Repräsentanten zu benutzen. Dann wnrde die
zweite Prämisse gelesen: D früher als Cund sofort wird D rechts
neben C lokalisiert, und zwar mit dem Bewußtsein: »die Reihe
verläuft umgekehrt«, von D an nach Ä. Dabei wurde D als
früher gedacht. Nun wurde das Resultat: 1) früher als A ab-
gelesen, wobei die Reihe angeblich in einem Moment Uberblickt,
nicht eine Setzung der einzelnen Größen zu verschiedenen Zeiten
vollzogen wurde. Dauer l^1,^ Sekunden.
Man wird hier beachtet haben, daß Vp. nach dem Lesen von
»Vorgang A später als Vorgang C* sagt: A steht zwar links
von C, ich habe es zwar früher gelesen, aber ... Sie hat also
die Neigung, nach dem erörterten Prinzip zu verfahren, nämlich
das links Stehende, weil es beim Uberblicken von links nach rechts
früher gelesen wird, als Repräsentanten des gemeinten Früher
zu wählen. Läßt Vp. nun dieses Prinzip ganz fallen? Nein, sie
spricht nur von einer umgekehrt verlaufenden Reihe, einer von
D nach A, von rechts nach links verlaufenden, von einer Reihe,
bei der man mit V zu beginnen hat.
Ahnliche Tatsachen machen es bei allen Versuchen meines
Materials, die zunächst den Kindruck macheu, als ob es sich um
die Verwendung bloßer LageverhältnisBC als Repräsentanten
handelt, wahrscheinlich, daß die zeitliche Beziehung von Erleb-
nissen repräsentativ verwertet wird, wenn auch diese Repräsen-
tation als solche in diesen Fällen nicht aufgefaßt wird. Die
zeitliche Beziehung der Erlebnisse bestimmt hier wenig-
stens die Art der Verwertung der Lageverhältnisse. Ich
stelle damit nicht die Behauptung auf, daß die Lageverhältnisse
für sich überhaupt nicht als Repräsentanten verwertet werden
können.
In anderen Fällen sehe ich beim Zusammenauftreten der Re-
präsentation der gemeinten zeitlichen Beziehungen durch Lage-
beziehnngen und zeitliche Beziehungen von Erlebnissen die Be-
deutung der Repräsentation durch zeitliche Beziehungen von Er-
lebnissen prävalieren, wobei dann zugleich diese letztere Repräsen-
tation als solche aufgefaßt wird.
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Experimentelle UnterBuchungen Uber einfache SchlußprozesBC. 39
c) Repräsentation der gemeinten zeitlichen Beziehungen
durch objektiv zeitliche Beziehungen.
Eine Repräsentation der gemeinten zeitlichen Beziehungen
durch objectiv zeitliche finde ich nur ganz gelegentlich, und zwar
bei nur einer Vp.
Vp. F. Es wurde exponiert:
Vorgang O früher als Vorgang Z),
Vorgang U später als Vorgang D.
Also . . .
Nach dem Lesen und Auffassen der ersten Prämisse warf Vp.
die Frage auf: Was denke ich dabei? Antwort: Der eine Glocken-
schlag (es läutete gerade) ist das 0, der andere ist das D, so ist
es gemeint. Dann wurde die zweite Prämisse gelesen, U später
als D. Die neue Beziehung »später« brachte etwas Verwirrung
mit sich. Dann entsteht ein visuelles Bild: eine Linie stellt sich
dar außerhalb der Fläche des exponierten Papiers mit den Buch-
staben 0, I) und U in der hier gegebenen Reihenfolge. Vp. sagt
sich: so kann man sich das veranschaulichen.
Dann ging Vp. wieder auf die frühere Betrachtungsweise Über
und sagte: der eine Glockenschlag ist 0, der andere ist D, der
nächste ist U\ also ist 0 früher als U. Vp. hat das visuelle Bild
nicht als Hilfe aufgefaßt. Das Resultat wurde aus dem akustisch-
zeitlichen Tatbestand »abgelesen«.
Ich finde diese Betrachtungsweise außerdem nur noch einmal,
und zwar handelt es sich da um die Verwertung der Repro-
duktion dieser objektiven zeitlichen Beziehungen. Diese Betrach-
tungsweise wurde aber nur auf eine Prämisse bezogen, nicht bis
zu Ende durchgeführt. Ich habe diesen Versuch oben ausführlich
besprochen. Dauer 25% Sekunden. Deutliche Verlängerung im
Vergleich mit den übrigen Zeiten dieser Vp.
Objektiv zeitliche Beziehungen werden hier also als Repräsen-
tanten der gemeinten zeitlichen Beziehungen verwertet und als
solche aufgefaßt. Es ist aber zu beachten, daß eine Auffassung
des Sinnes der ersten und zweiten Prämisse vor dieser Betrach-
tungsweise erfolgte. Welche Repräsentation bei dieser ersten Auf-
fassung vorhanden war, konnte Vp. nicht angeben. Der Schluß
gründete sich aber auf diese Repräsentation der Beziehuugs-
gedanken durch objektiv zeitliche Beziehungen. Die Verwertung
der Sukzession der Glockenschläge für die zweite Prämisse:
»
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40
G. Sttfrr ing,
Vorgang ü später als Vorgang D, stößt auf Schwierigkeiten.
Wenn Vp. auch den sich darstellenden visuellen Vorstcllungs-
komplex nicht als Hilfe auffaßte, so besteht immerhin doch die
Möglichkeit, daß diese visuelle Repräsentation, wenn auch nicht
nach der Herstellung des gesamten repräsentativen Wahrnehmungs-
komplexes der sukzedierenden Glockenschlage zur Gewinnung des
Schlußsatzes durch Verwertung dieses Komplexes, sondern bei der
Entstehung dieses Komplexes mitgewirkt hat. Für diesen Fall be-
durfte die Uberschrift einer Korrektur. Diese wäre aber sicherlich,
wie man leicht sieht, nur nötig bei Betonung der mir gerade vor-
liegenden Fälle. Ich habe noch hervorzuheben, daß auch hier deut-
lich hervortritt, daß der Schlußsatz aus dem ohne komplexes Be-
ziehungsetzen gewonnenen anschaulichen Gesamttatbestand, dessen
repräsentative Bedeutung zugleich aufgefaßt wurde, »abgelesen«
wird.
II. Schlüsse mit zeitlichen Beziehungen auf Grund
komplexeren Beziehungsetzens.
Ich kann mich jetzt dazu wenden, die Schlüsse mit zeitlichen
Beziehungen zu besprechen, bei denen die Schlüsse auf Grund
komplexeren Beziehungsetzens Zustandekommen.
Wie bei den Schlüssen mit räumlichen Beziehungen, so kann
auch hier auf den Schluß die Auffassung des Verhältnisses der
Richtungen bestimmend wirken, in denen von einem bestimmten
Gliede der bezogenen Größen ausgehend die Lokalisationen oder
Zuordnungen der anderen Größen in der anschaulichen Repräsen-
tation der Beziehungsgedanken erfolgen.
a) Bei der Auffassung der Richtungen sehe ich die Vp. gerade
so wie bei den Schlüssen mit räumlichen Beziehungen zuweilen von
der als Mittelbegriff funktionierenden Größe nach beiden Seiten aus-
gehen. Fassen wir zunächst dies Ausgehen von der als Mittel-
begriff funktionierenden Größe ins Auge. Was da aufgefaßt wird,
ist also ein Gegensatz von Richtungen.
Vp. F. Es wurde exponiert:
Vorgang W später als Vorgang K}
Vorgang O früher als Vorgang K.
Also . . .
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Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schlußprozesse. 41
Bei dem Lesen der ersten Prämisse tritt anch das zweite K
deutlich hervor. Es trat nach Auffassung der ersten Prämisse das
Bewußtsein auf, daß W verknüpft ist mit der anderen Größe,
welche außer W, K, K vorkommt. Dann wurde die zweite Prä-
misse gelesen und aufgefaßt: G ist früher als K mit Betonung des
»früher«. Nun trat undeutlich eine komplexe visuelle Vorstellung
auf, die Buchstaben W, K in einer Linie außerhalb der Fläche
des exponierten Papiers angeordnet; Vp. wußte nicht, wo sie G
hinbringen sollte. Darauf wurde die visuelle Darstellung verworfen.
Yp. dachte nun: W ist später als K} mit scharf ausgesprochener
Betonung des später. G ist früher als K\ K wurde als in der
Mitte von beiden aufgefaßt, von welchem TT nach der einen Rich-
tung hin liegt, G nach der anderen. Dann trat bei Vp. der Ge-
danke einer bestimmten Beziehung zwischen W und G auf, Vp. be-
zeichnet diese Beziehung als eine rein begriffliche ohne sinnliche
Repräsentation. Vp. sagt sich nun: das kann ich auf zweifache
Weise ausdrücken und ich habe keinen Grund, der einen Ausdrucks-
weise den Vorzug zu geben. Unlustgeftihl! Reaktion: Vorgang W
später als G und G früher als W. Bei näherer Exploration wird
dann noch in bezug auf die rein begriffliche Auffassung der Be-
ziehung von W zu G angegeben, daß vielleicht visuell eine senk-
rechte Linie vorhanden war, in deren Mitte K stand.
Man erkennt die Analogie mit den entsprechenden räumlichen
Schlüssen: das Resultat wurde nicht aus einem visuellen Bilde
»abgelesen«, es wurde gewonnen durch Vermittelung der Auf-
fassung des K als in der Mitte liegend und unter besonders starker
Betonung der Beziehung des K zu W. W später als K, G wird
als nach der entgegengesetzten Seite liegend aufgefaßt, somit
W später als (?, oder ...
Bei der Vp. F. finden wir diese Betrachtungsweise bei zeitlichen
Schlüssen nur ein einziges Mal; bei Vp. R., bei der diese Art des
Verfahrens bei räumlichen Schlüssen besonders deutlich hervortrat,
tritt hier dieser Modus zwei- bis dreimal auf. Bei Vp. K. tritt wie
bei räumlichen Schlüssen dieser Modus nur dann auf, wenn
Vp. den Vorsatz faßt, sehr schnell zu reagieren! wenn das
spontan oder auf Grund von Anweisung des Experimentators
geschieht, aber auch dann nur, solange ihr diese Schluß-
weise noch weniger geläufig ist. Bei Vorsatz sehr schnell zu
operieren, treten bei den ersten Versuchen dieser Art die visuellen
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42
G. Störring,
Vorstellungskomplexe stark zurück, Lokalisationen werden
nicht vollzogen, nur Zuordnungen von Buchstabengrößen
zu bestimmten durch Bewegungsempfindungen und
schwache visuelle Vorstellungen charakterisierten Rich-
tungsvorstellungen finden statt. Nach fünf oder sechs Ver-
suchen dieser Art werden aber die visuellen Vorstellungen immer
deutlicher, und sie werden dann meist wieder zum > Ablesen«
des Resultates benutzt.
Ich will einen der Versuche mit dieser Vp. geben.
Vp. K. Es wurde exponiert:
Vorgang N später als Vorgang Z,
Vorgang U früher als Vorgang Z.
Also . . .
Nach Anweisung, nicht bloß mit absoluter Sicherheit zu schließen,
sondern auch möglichst schnell zu reagieren, in der Vorperiode
noch schwaches Bewußtsein dieses Vorsatzes.
Nach Lesen der ersten Prämisse wird sogleich das N hinter Z
auf der Fläche des exponierten Papiers lokalisiert. Nach Lesen der
zweiten Prämisse wird das U Beweguugsempfindungen des linken
Arms nach links zugeordnet. Dann treten zugleich Bewegungsempfin-
dungen im rechten Arm nach rechts auf und es entsteht das Bewußt-
sein von zwei entgegengesetzten Richtungen, ausgehend von
Z, wobei das Z aber wenig deutlich im Bewußtsein gegeben ist.
Dann wurde geschlossen: U liegt links von dem Mittelpunkt Z —
und das AT in entgegengesetzter Richtung, nach rechts, also ist U
früher als N. — Die Gesichtsvorstellungen waren neben den Be-
wegungsempfindungen beim Schluß im Bewußtsein, der Schluß
wurde aber nicht aus den Gesichts Vorstellungen abgelesen.
Hauptrolle bei Gewinnung des Schlusses spielte das Bewußtsein
des Gegensatzes der Richtungen. Bewußtsein der Sicherheit.
Dauer 61 5 Sekunden.
Dieser Versuch ist aus der Periode gewählt, wo die Gesichts-
vorstellungen. sich schon wieder etwas stärker geltend machten.
Beim nächsten Versuch dieser Art findet ein Ablesen statt. Bei
diesem nächsten und einigen folgenden Versuchen finden wir dann
also das Bewußtsein des Gegensatzes der Richtungen und
trotzdem ein Ablesen des Resultats aus den Gesichtsvor-
stellungen, die sich mit den Bewegungsempfindungen zusammen,
vor allem im Anschluß an dieselben entwickeln. Das Bewußtsein
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Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schlußprozesse. 43
des Gegensatzes der Richtungen erscheint aber hier nicht als neben-
sächlich. Vp. ist in der Synthese des Gesamttatbestandes durch
das Bewußtsein des Gegensatzes bestimmt. Wir hätten es hier
also mit der von uns kurz als embryonale Form der zweiten Ope-
rationsweise des räumlichen Schließens zu tun. Diese selbst stellt
sich hier, wie man sieht, ganz so dar, wie wir sie bei Schlüssen
mit räumlichen Beziehungen charakterisiert haben.
b) Die Auffassung der Gleichheit von Richtungen finden
wir da zuweilen, wo von einem der Endglieder der Reihe ausge-
gangen wird und ein Weitergehen in derselben Richtung erfolgt.
Ahnlich wie bei den räumlichen Schlüssen wird diese Auffassung
in doppelter Weise verwertet. Ich gehe von der Darstellung eines
Falles der einen Art dieser Verwertungen aus.
Vp. E. Es wurde exponiert:
Vorgang V früher als Vorgang J,
Vorgang W später als Vorgang J.
Also . . .
Bei langsamem Lesen der ersten Prämisse wird dieselbe auf-
gefaßt ohne merkbare Repräsentanten. Vp. spricht von rein be-
grifflicher Auffassung des »früher«. Ob neben der Wortvor-
stellung noch etwas im Bewußtsein sich daran angeschlossen hat,
kann nicht sicher angegeben werden. Nach dem Lesen der zweiten
Prämisse trat mit einer ähnlichen Auffassung derselben zugleich der
Gedanke auf, daß die zweite Prämisse in einer zeitlichen Be-
ziehung zur ersten steht. Es scheint Vp., daß dieser Gedanke ihr
nicht geholfen habe. Dann blieb der Schlußsatz noch einen Moment
aus, weil das »später« für Vp. schwerer zu bearbeiten war, als
wenn dort »früher« gestanden hätte. Dann Uberblickte Vp. die
vier Größen, sie nahm eine Identifikation der beiden J vor. Dar-
auf trat ein beim Referat undeutliches Beziehungsetzen zwischen
den zwei Paaren auf (nach Vergleichung mit ähnlichen Versuchen
ein Gleichheitssetzen [J steht zu W in derselben Beziehung
wie V zu J] mit Modifikation der zweiten Prämisse). Dann tritt
die Beziehung zwischen J und W in den Vordergrund des Bewußt-
seins und es wird folgendermaßen geschlossen: »wenn J früher
als Wj desto mehr das F«, ohne die erste Prämisse zu wieder-
holen. Schlußsatz in doppelter Form. Bewußtsein der Sicherheit.
Dauer 81 B Sekunden.
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44
G. Störring,
Der vorliegende Schiaß sollte eigentlich formuliert sein >weil
J früher als TP, so desto mehr das V*. Expliziert heißt das:
weil J früher als W und V noch früher als J, so ist V
auch früher als W, Diese Operationsweise finde ich hier nur
bei einer Vp., bei Vp. E.
Diese Schlußweise stellt also eine völlige Analogie
zu der dritten Operationsweise der Schlüsse mit räum-
lichen Beziehungen dar.
c) Die Auffassung der Gleichheit der Beziehungen wird zuletzt
noch in folgender Weise verwertet. Diese Schlußweise stellt sich
bei einer meiner Vp. in deutlicher Weise ein, bei einer anderen
mit einiger Wahrscheinlichkeit, und zwar bei ersterer Vp. nur dann,
wenn sie den Vorsatz faßt, möglichst schnell zu reagieren. Eine
ganz analoge Schluß weise findet sich aber auch bei anderen Vp.
bei Gleichheitsschlüssen und bei Subsumtionssehlüssen. Ich ver-
mute, daß bei akustischer Darbietung der Prämissen diese
Schlußweise viel häufiger sich darstellen wird.
Vp. K. Es wurde exponiert:
Vorgang D früher als Vorgang B,
Vorgang Z früher als Vorgang D.
Also . . .
Beim Lesen und Auffassen der ersten Prämisse wurde »früher«
betont. Die Repräsentation des Sinnes trat nicht deutlich hervor.
Bei genauerer Exploration wird dann angegeben: undeutlich waren
Bewegungsempfindungen im linken Arm nach links vorhanden
und eine visuelle Lokalisation des B an bestimmter Stelle noch un-
deutlicher. Die zweite Prämisse wurde in gleicher Weise aufge-
faßt. Beide Male trat das Wort am schärfsten hervor, das Übrige
war Begleiterscheinung. Nach dem Lesen und beim Auffassen der
zweiten Präraisse wurde das Z noch weiter nach links lokalisiert.
Dabei hatte Vp. das Bewußtsein: Die Bewegung geht nach links
noch eine Strecke weiter (also Bewußtsein der Gleichheit der
Richtung). Z wurde nicht bloß der Richtung zugeordnet, sondern
undeutlich visuell lokalisiert. Dann sagte sich Vp. : Z ist noch
früher als die zweite, die vorhergehende Größe. Dann wurde so-
gleich geschlossen: Also ist Z, die früheste Größe in der
durchlaufenen Reihe, auch früher als B, der Ausgangs-
punkt. Bei diesem Schluß spielten nach Vp. die Worte eine
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I
Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schlußprozesse. 45
Hauptrolle. Vp. hebt noch besonders hervor, daß der Schloß
nicht abgelesen wurde und daß sie ihn zog, ohne vorher das
Ganze nochmal zu Uberblicken. Bewußtsein der Sicherheit. Dauer
52 5 Sekunden.
Diese Schlußweise tritt nicht bloß auf, wo beide Prämissen von
früher oder von später sprechen, sondern auch, wo in der einen
von früher, in der anderen von später die Rede ist. So wurde
exponiert: Vorgang 1' früher als Z),
Vorgang M später als D.
Beim Lesen der ersten Prämisse treten Bewegungsempfindungen
des linken Armes nach links auf. Diesen wird F zugeordnet mit
dem Bewußtsein: es sind nur Repräsentanten der zeitlichen Be-
ziehung und das F muß in einer Reihe früher auftreten als das
D. Y—D sind Glieder einer Reihe, welche in der Richtung von
F nach D durchlaufen wird. Dann wird die zweite Prämisse ge-
lesen und M wird den Bewegungsempfindungen des rechten Armes
nach rechts zugeordnet mit dem Bewußtsein: es ist die gleiche
Richtung wie früher. Als Vp. bei M angelangt ist, schließt sie:
Jfmuß später als das F sein, denn dieses ist das erste
Glied in dieser Reihe.
Die Reihe stellte sich nicht visuell dar, sondern war die Reihe
der psychischen Akte, in denen gedacht wird zuerst F, dann />,
dann 3f, wobei die Intervalle zwischen ihnen als Repräsentanten
der gemeinten zeitlichen Beziehungen dienen.
Man sieht leicht, wie es kommt, daß hier nicht, was durch die
Prämissen am nächsten gelegt erscheint, wenn einmal ein Verhältnis
der Richtungen aufgefaßt wird, das Bewußtsein des Gegensatzes
der Richtungen hervortritt und verwertet wird. Vp. hat beim
Lesen der ersten Prämisse »Vorgang Y früher als Vorgang 2>« das
F Bewegungserapfindungen des linken Arms nach links zugeordnet,
wobei es sich D an den Ort des eigenen Körpers gesetzt dachte. Die
Bewegungsrichtung nach links wurde nun deutlich als Repräsentant
der zeitlichen Beziehungen aufgefaßt und Vp. sagte sich: das links
Liegende ist das Frühere. Dabei wurde nun das links Liegende
zugleich als erstes Glied einer Reihe aufgefaßt, von welcher D
das zweite Glied ist. Vp. blieb also nicht dabei stehen, sich von
D aus die Beziehungen anzusehen, sondern, auf F übergehend,
wählte sie nun F als Ausgangspunkt des Beziehung-
setz ens, indem sie sich sagte: F, das links Liegende, kommt
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46 G. Stürring,
zuerst, dann D. Bei dieser Änderung der Betrachtung macht sich
zugleich die zeitliche Folge der Erlebnisse als Repräsentant der
gemeinten zeitlichen Beziehung geltend: Vp. denkt sich Y und D
als Glieder einer Reihe, welche von Y nach D durchlaufen wird.
Beim Durchlaufen dieser Reihe kommt man von dem links Liegen-
den zu dem mehr rechts Liegenden und zugleich, was vor allem
Bedeutung hat, von dem Früheren zu dem Späteren.
Welches ist nun der Modus des Schließens in diesen Fällen?
Das eine Mal ist Vp. von dem spätesten Vorgang zu dem früheren
Ubergegangen und von da zu dem noch früheren mit dem Bewußtsein
der Gleichheit der Richtung in beiden Fällen und hat gesagt von
der Größe, bei der sie zuletzt angekommen ist: Diese Größe ist
die früheste in der durchlaufenen Reihe, ist also auch früher als
der Ausgangspunkt. Das andere Mal ist Vp. von der früheren
Größe ausgegangen zur späteren und der noch späteren wieder
mit dem Bewußtsein der Gleichheit der Richtung und hat gesagt:
das erste Glied in der Reihe ist das früheste. Also ist das letzte
Glied später als dieses. In den anderen beiden Fällen, in welchen
diese Schlußreihe noch aufgetreten ist, geht Vp. von dem späteren
Vorgang aus und verfährt so wie in dem zuerst besprochenen Fall,
wobei nur Differenzen in der Art der Repräsentation vorhanden
sind.
Wir können also sagen: Diese Schlußweise besteht darin,
daß Vp. von einer der beiden Größen, die nicht als Mit-
telbegriff funktionieren, ausgeht und zunächst von dieser
Größe in dem Beziehungskomplex tibergeht zu der als
Mittelbegriff funktionierenden, sich dabei die zeitliche
Beziehung vergegenwärtigend und daß sie dann weiter
von der als Mittelbegriff funktionierenden Größe zu der
letzten übergeht, indem sie sich dabei bewußt wird, daß
der Übergang in beiden Fällen von gleicher Art ist, so
daß also entweder beide Male vom Späteren zum
Früheren oder vom Früheren zum Späteren Ubergegangen
wird. Bei der letzten Größe der Reihe angekommen,
sagt Vp. sich: auf Grund des Bewußtseins dieser Art
des Uberganges von dieser letzten Größe, daß sie die
früheste oder späteste sei oder von der ersten Größe,
dem Ausgangspunkt des Beziehungsetzens, daß sie die
späteste oder früheste sei. Daraus folgert sie, daß die
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Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schlußprozesse. 47
letzte Größe auch früher oder später als die erste sei
bzw. daß die erste Größe später oder früher als die
erste sei.
Man sieht also, daß hier in der Operationsweise völlige
Übereinstimmung besteht mit der dritten Operations-
weise der Schlüsse mit räumlichen Beziehungen.
B. Zeitliche Schlüsse unter verschärfter Anweisung.
Bei Besprechung der Schlüsse mit räumlichen Beziehungen er-
wähnte ich schon, daß die einzelnen Glieder des Schlußprozesses
nicht immer ins klare Bewußtsein treten. Das ist wohl am meisten
ausgesprochen bei der Vp. F. Ich habe deshalb dieser Vp. eine
Anweisung gegeben, welche darauf hinzielt, die mitwirkenden
Beziehungsgedanken deutlich ins Bewußtsein treten zu lassen.
Ich habe dazu die Anweisung benutzt, nicht eher zu reagieren,
als bis im Moment des Schließens alle Beziehungsgedanken
präsent gewesen sind. Die unter dieser Anweisung stehenden
Schlüsse haben aber auch abgesehen von diesem Zweck Be-
deutung.
Die Befolgung dieser Anweisung brachte es mit sieb, daß die
Reaktionszeit sich meist um das 6 — 10 fache verlängerte. Diese
Verlängerung war in der ersten Zeit des Operierens nach dieser
Anweisung durch eine ganze Reihe vergeblicher Ansätze bedingt.
Wir werden dieselben bei den Subsumtionsschlüssen kennen lernen.
Zur Zeit des Operierens mit zeitlichen Schlüssen ist an die Stelle
solcher mannigfacher Ansätze eine sehr gründliche Verarbeitung
der Prämissen getreten.
Bevor ich auf die Besprechung der Wirkung dieser Anweisung
übergehe, will ich an einem Fall eine Schlußoperation mit zeit-
lichen Beziehungen charakterisieren, bei der nicht alle Prozesse
ins klare Bewußtsein getreten sind.
Vp. F. Es wurde exponiert:
Vorgang F ist später als Vorgang J,
Vorgang K ist später als Vorgang F.
Also . . .
Beim Lesen und Auffassen der ersten Prämisse wurde das F
der zweiten Prämisse gesehen. Der Blick wandte sich ungewollt
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48
G. Störriog,
zurück auf das F der ersten Prämisse. Dann wartete Vp. ab,
was sich daraus entwickelte, es kam aber nichts. Bei Auf-
fassung der ersten Prämisse wurde zu dem Wortbild »später«
noch etwas hinzu gedacht, aber das Hinzugedachte war nicht
klar ausgebildet Dann wurde die zweite Prämisse gelesen mit
gleicher Auffassung des »später« wie bei der ersten Prämisse.
Dann wurden beide Prämissen schnell noch einmal gelesen und
es trat eine Blickbewegung von K nach J auf, und mit ihr der
Schluß: K ist später als J. Bewußtsein der Sicherheit. Dauer
13% Sekunden.
Bei näherer Exploration macht Vp. noch die Aussage, daß die
Art des Schließens ihr dieselbe zu sein scheine, als wenn es heißt:
Alle F gehören zur Gattung J, alle K gehören zur Gattung F.
(Schlüsse dieser Art waren von Vp. vorher in großer Anzahl voll-
zogen.) Die Frage, ob vor Vollzug des Schlusses die drei Größen
zusammen im Bewußtsein gewesen sind, wird mit Entschiedenheit
negiert.
Man wird vielleicht geneigt sein, zu sagen, diese Vp. sei nicht
genügend geübt, über ihre psychischen Vorgänge zu referieren. Ich
will nicht so sehr meine gegenteilige Überzeugung betonen als
hervorheben: diese Annahme erweist sich als unhaltbar bei näherer
Betrachtung der Versuchsprotokolle, die ich von dieser Vp. bei
diesen und anderen Schlüssen gebe. Sodann stimmt diese An-
nahme nicht mit der Tatsache Uberein, daß bei Vp. R. bei der
ersten Darbietung von Schlüssen bestimmter Art über jeden ein-
zelnen Schritt genaue Rechenschaft gegeben wird, so daß man da
nicht von der Mitwirkung von Prozessen beim Schließen sprechen
kann, die nicht klar bewußt sind, während nach häufiger Dar-
bietung von Schlüssen solcher Art dieselbe Erscheinung auftritt,
die bei Vp. F. von vornherein sich häufig darbietet — und zwar
ohne daß die Schlußprozesse etwas an Sicherheit einbüßen!
Ich will nun die Wirkung der verschärften Anweisungen be-
sprechen. Ich referiere zunächst über einige Versuche.
Vp. F. Es wurde exponiert:
Vorgang H später als Vorgang B,
Vorgang J später als Vorgang H.
Also . . .
Vorperiode: starke Spannung. —
Nach dem Lesen der ersten Prämisse setzte Vp. akustisch-
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Experimentelle Untersuchungen über einfache Schlußprozesse. 49
motorisch B, H. Dabei hatte sie das Bewußtsein : das ist zwar
eine zeitliche Setzung, es brauchen die objektiven Vorgänge
nicht in demselben Zeitintervall zu folgen, aber die objektive An-
ordnung ist dieselbe; insofern bezeichnet diese meine zeitliche
Setzung das objektive Verhältnis. Dann nochmal dasselbe: B, H.
Bei dieser zweiten Setzung stellten sich undeutlich visuelle Vot-
stellungen des B und H ein, diese erschienen Vp. aber unwesent-
lich und verschwanden bald wieder. Dann sagt Vp. nochmal zur
Einprägung B, H, mit dem Bewußtsein: erst B, dann H. Darauf
ging sie zur zweiten Prämisse Uber: Vorgang J später als Vor-
gang H. Darauf wurde nochroal die erste Prämisse gelesen. Nun
stellten sich mit einem Mal die Buchstaben B, H, J visuell dar
mit dem Bewußtsein, daß es sich um eine Reihe handelt, die mit
B beginnt. Dann versuchte Vp. die räumliche Darstellung weg-
zuschaffen. Indem sie aber B, H, J akustisch-motorisch setzte,
wobei die erlebten Intervalle Repräsentanten der zeitlichen Be-
ziehnngen waren, stellte sich doch wieder die visuelle Repräsen-
tation ein. Nun wurde die Reihe nochmal durchlaufen: erst B,
dann H, dann wobei die visuelle Reihe verfolgt wurde; die
Sukzession der eigenen Akte wurde dabei nicht mehr beachtet, es
stand im Vordergrunde des Bewußtseins die gemeinte objektive
Sukzession. Dann erfolgte der Schluß B früher als J. Dabei hatte
Vp. das Bewußtsein, daß im Moment des Schließens alle Beziehungs-
gedanken präsent gewesen sind. Das Resultat wurde aus dem ge-
gebenen Gesamttatbestande abgelesen. Bewußtsein der Sicher-
heit. Dauer 40% Sekunden.
In diesem Versuch ist die Verlängerung der Reaktionszeit bei
dieser verschärften Anweisung noch eine relativ geringe: eine Ver-
längerung etwa um das Fünffache. Wir finden hier nicht wie in
der ersten Zeit des Operierens nach dieser Anweisung, etwa bei
den ersten 30 Versuchen, einen mehrfachen vergeblichen Ansatz,
die gestellte Forderung zu erfüllen. Es hat hier sodann ein gün-
stiger Umstand den relativ schnellen Ablauf herbeigeführt, den ich
später beim Vergleich dieser Versuche mit ähnlichen näher be-
zeichnen werde. Die wesentlichste Veränderung, die sich hier
unter dem Einfluß der veränderten Anweisung zeigt, ist die Ver-
arbeitung der einzelnen Prämissen. Vp. begnUgt sich nicht damit,
den Sinn der einzelnen Prämissen aufzufassen, sie sucht sich den
Gedanken klarer zu machen, als es bei gewöhnlicher Auffassung
Archiv fftr Psychologie. XI. 4
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50
G. Störring,
geschieht, indem sie verschiedene Repräsentanten benutzt und die
Repräsentanten zugleich als solche auffaßt, so bei der akustisch-
motorischen Setzung P, H mit dem Bewußtsein: »Das ist zwar
meine zeitliche Verlängerung, es brauchen die objektiven Vor-
gänge nicht in demselben Zeitintervall zu folgen, aber die ob-
jektive Anordnung ist dieselbe, insofern -bezeichnet diese zeit-
liche Verlängerung das objektive Verhältnis«. Es entwickelt sich
ein Kampf der verschiedenen Arten der Repräsentation, wobei
sich zuletzt eine Betrachtungsweise ausbildet, bei der der eine
der Repräsentanten (der räumliche) im Bewußtsein prävaliert,
nachdem die andere Art der Repräsentation durch häufige Wieder-
holung sehr geläußg geworden und nun im Bewußtsein etwas
zurückgetreten ist.
Eine noch ausfuhrlichere Bearbeitung der Prämissen findet sich
in folgendem Versuch bei derselben Anweisung.
Vp. F. Es wurde exponiert:
Vorgang A später als Vorgang 0,
Vorgang P früher als Vorgang 0.
Also . . .
Vorperiode: Starke Spannung.
Beim Lesen der ersten Prämisse erfolgte ein leises Mitsprechen.
Die Auffassung geschieht ohne deutliche Repräsentation. Die zweite
Prämisse wird darauf in ganz ähnlicher Weise gelesen und auf-
gefaßt. Dann entwickelt sich eine visuelle Repräsentation: A
stellt sich unwillkürlich rechts neben 0 auf der Fläche des ex-
ponierten Papiers und P links neben O. Mit dieser Lokalisation
der Buchstaben verbindet sich das Bewußtsein, daß das räumliche
Beziehungen sind, aber keine zeitlichen. Dann werden die Augen
geschlossen. Im unbestimmten Gesichtsfeld stellen sich gewollt
visuell P, 0, A als graue Buchstaben auf dunklerem Grunde dar.
Die Erzeugung dieser visuellen Vorstellungen verbindet sich mit
Aktivitätsgeflihlen. Diesen visuellen Vorstellungen werden nun
einzeln die entsprechenden akustisch -motorischen Buchstaben-
größen zugeordnet. Dabei entsteht das Bewußtsein, daß in der
Setzung dieser akustisch- sprachmotorischen Buchstabengrößen eine
Sukzession der Akte der Vp. gegeben ist und daß eine solche
Sukzession nicht in einem Moment da sei (vgl. die Anweisung).
Trotzdem erfolgt kein Abweis dieser Betrachtungsweise (also der
Benutzung der Intervalle von Erlebnissen als Repräsentanten der
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Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schlußprozesse. 51
gemeinten zeitlichen Beziehungen). Vp. sagt eich : Die Sukzession
der Akte kann zwar nicht in einem Moment sein, aber das Be-
wußtsein der Beziehungsgedanken. (Vp. hatte früher einmal gegen
diese Anweisung eingewendet: die einzelnen Beziehungsgedanken
müßten doch in verschiedenen Zeitmomenten gedacht werden
und könnte nicht zu einer Zeit im Bewußtsein präsent sein. Dieser
Einwand war widerlegt worden). Sodann: ich muß aber doch die
Beziehungsgedanken sukzessiv setzen im Anschluß an meine
Klangbilder. Dann und während dieser letzten Gedanken wurde
wiederholt akustisch-motorisch gesetzt: P, 0, A, und zwar an
der Hand der visuellen Darstellung dieser Buchstaben, die also
auch während dieser Reflexion im Bewußtsein vorhanden blei-
ben. Dann entstand draußen für einen Augenblick ein Ge-
räusch. Vp. wurde hierdurch nicht wesentlich gestört, sie kon-
zentrierte sich auf die visuellen Vorstellungen P, 0, A und vollzog
die besprochenen akustisch-motorischen Akte. Vp. sagt sich nun,
daß sie sich mit den räumlichen und subjektiv-zeitlichen Bezieh-
ungen nicht begnügen dürfe, sondern daß sie die Auffassung ob-
jektiv-zeitlicher Beziehungen zustande bringen müsse. Unter Be-
achtung dieser Feststellung wurde dann die Reihe noch 3 — 4 mal
durchlaufen. Die folgende Größe wurde dabei immer als später
als die vorangegangene aufgefaßt. Dann gelang es für einen
Moment, die gesamten Beziehungegedanken präsent zu haben;
darauf trat das Bewußtsein des Schlußsatzes auf: P ist früher
als A. Das Resultat wurde hervorgestoßen. Es war durch Ablesen
aus dem Gesamttatbestand gewonnen. Im Moment des Auftretens
des Schlußsatzes waren die übrigen Beziehungsgedanken für einen
Moment noch gleichzeitig im Bewußtsein. Bewußtsein der Sicher-
heit. Dauer 72 1 B Sekunden.
Dieser Versuch stimmt mit dem vorigen darin überein, daß eine
gründliche Verarbeitung der Prämissen vorgenommen wird, die
Verarbeitung verbindet sich hier mit Reflexionen, zunächst Uber
die Möglichkeit des Operierens mit sich darbietenden verschiedenen
Repräsentanten. Diese Reflexionen vollziehen sich in rationeller
Weise. Es wird auf Grund derselben eine Wahl einer vorgestellten
Verfahrungs weise getroffen. Ein anderes Mal wird durch eine
Reflexion bewirkt, daß das Operieren mit den Repräsentanten sich
mit dem Bewußtsein der bloß repräsentativen Bedeutung derselben
verbindet. — Die Verfahrungsweise selbst unterscheidet sich von
4*
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52
G. Störring,
der des vorher besprochenen Versuchs dadurch, daß es hier nicht
zu einer Prävalenz der räumlichen Repräsentation kommt; die Re-
präsentation durch die Intervalle vollzogener Akte spielt bis zum
Schluß eine solche Rolle im klaren Bewußtsein, daß sich mit ihr
noch am Schluß die Auflassung dieser Repräsentanten als solcher
verbindet. Die Dauer des Operierens beträgt 72 y5 Sekunden. In
Versuchen, wo die räumlichen Repräsentanten zur Prä-
valenz kommen, sind die Reaktionszeiten bedeutend ge-
ringer: In dem vorhin näher besprochenen Versuch betrug die
Dauer 40*/B Sekunden; in den anderen beiden der drei Fälle, wo
die räumliche Repräsentation prävaliert, nur 23 und 73/5 Sekunden.
Im letzten Fall tritt zuerst kurze Zeit eine Repräsentation durch
die Intervalle motorischer Impulse zum Aussprechen von ern auf,
welchen Impulsen die Buchstaben zugeordnet werden und dann
macht sich sogleich die räumliche Repräsentation geltend. In allen
Fällen fand ein Ablesen der Resultate statt. Es scheint dem-
nach die Prävalenz der räumlichen Repräsentation in
Relation zu der zeitlichen der eigenen Akte vorteilhafter
zu sein, um die Beziehungsgedanken von Schlüssen mit
zeitlichen Beziehungen im Moment des Schließens im
Bewußtsein präsent zu halten, als die Prävalenz dieser
subjektiv-zeitlichen Repräsentation in Relation zu der
räumlichen.
Diese Versuche können aber nicht etwa den Gedanken be-
gründen, daß diese Art des Operierens, welche die erste Opera-
tionsweise darstellt, die einzige Operationsweise der Vp. bei diesen
Versuchen ist. Die besprochene Verarbeitung der Prämissen bringt
eine stärkere Entwickelung der Anschauungsfaktoren mit sich.
Hierdurch wird das Auftreten dieser Operationsweise verständlich
gemacht. Vp. hebt übrigens gelegentlich selbst hervor, daß sie
nicht dafür einstehen könne, daß sie bei einfacher Anweisung stets
in dieser Weise verfahre.
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Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schlußprozesse. 53
III. Kapitel:
Schlüsse mit den Beziehungen großer und kleiner.
A. Schlüsse auf Grund einfachen Beriehungsetzens.
I. SchlüBse mit Repräsentation der gemeintenBeziehungen
ans einem Vorstellungsgebiet
Schlüsse, in deren Prämissen beidemal die eine der bezogenen
Größen als kleiner als die anderen oder beidemal die eine derselben
als größer als die anderen bezeichnet ist oder in denen das eine Mal
die Beziehung kleiner, das andere Mal die Beziehung größer auftritt,
nenne ich kurz Schlüsse mit den Beziehungen größer und kleiner.
Wo solche Schlüsse durch eine Synthesis, die durch die Be-
ziehungsgedanken der Prämissen und eine Identifikation unter den
aufeinander bezogenen Größen oder einen ihr äquivalenten Prozeß
unmittelbar bestimmt ist, und durch »Ablesen« des Schlußsatzes
aus dem so entstandenen anschaulichen Gesamttatbestand von re-
prasentitiver Bedeutung gewonnen werden, nenne ich diese Schlüsse
auf Grund einfachen Beziehungsetzens zustande gekommene.
Wo ein anderweitiges Beziehungsetzen beim Zustandekommen
des Schlusses mitwirkt, spreche ich von Schlüssen auf Grand
komplexen Beziehungsetzens. Wir behandeln zunächst die erstere
Art dieser Schlüsse.
Bei diesen Schlüssen gestaltet sich die Art der Repräsentation
sehr mannigfaltig. Die Repräsentanten der gemeinten Beziehungen
gehörten dabei im einzelnen Falle entweder einem oder mehreren
Vorstellungsgebieten an. So kann z. B. eine Repräsentation dieser
Beziehungen allein in räumlichen Vorstellungen gegeben sein oder
allein in Bewegung»- und Spannungsempfindungen, es kann aber
auch gleichzeitig eine räumliche Repräsentation und eine solche
durch Bewegungs- und Spannungsempfindungen vorliegen. Ich
behandle zuerst die Fälle von Repräsentation der gemeinten Be-
ziehungen aus einem Vorstellungsgebiet.
a) Schlüsse mit räumlicher Repräsentation. Bei weitem
vielgestaltiger als bei den Schlüssen mit zeitlicher Beziehung ist
hier die räumliche Repräsentation.
Wir finden hier zunächst eine Repräsentation der gemeinten
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54
G. Störring,
Beziehungen durch Linien und Linienabschnitte. Ich beginne
mit der Darstellung eines Versuchs.
Vp. F. Es wurde exponiert:
f ist größer als
/ ist kleiner als k.
Also . . .
Nach dem Lesen und Auffassen der ersten Prämisse ohne deutlich
hervortretende Repräsentation fragte sich Vp.: Wie stelle ich mir
das vor? Darauf entstanden zwei senkrecht stehende Linien, links
eine kleinere, rechts eine größere von gleicher Höhenlage aus-
gehend. Der ersteren wurde k, der letzteren f zugeordnet. Diese
Buchstaben stellten sich nicht spontan neben der Linie visuell dar,
die Zuorduung ergab sich aber ohne Mühe. Es stellten sich nun
Buchstaben als visuelle Grüßen neben den Linien ein. Die Linien
waren schwarz auf weißem Grunde. Dann wurde die zweite Prä-
misse gelesen, es erschien nun links neben der Linie k eine noch
kleinere und der Buchstabe / wurde daneben gesetzt. Dann wurden
alle drei Größen Uberblickt und der Schlußsatz »abgelesene . Vp.
hatte dabei angeblich nicht das Bewußtsein, daß nur mit repräsen-
tativen Größen gearbeitet werde. Bewußtsein der Sicherheit.
Dauer 16 '/ 5 Sekunden.
Hier sind also senkrechte Linien differenter Größe, die von
gleicher Höhenlage ausgehen, Repräsentanten der gemeinten Be-
ziehungen — und zwar ohne daß die bloß repräsentative Bedeutung
dieser Größen deutlich zum Bewußtsein kommt. Ich finde diese Art
der Repräsentation nur bei einer meiner Vp., und zwar nur in der
ersten Zeit des Operiereus mit diesen Schlüssen.
Bei ihr findet sich auch die Verwendung von Linienabschnitten
als Repräsentanten, wobei die Abschnitte von demselben Punkt aus
nach derselben Richtung angesetzt sind. Die Buchstaben stellen
sich entweder ungewollt neben die Linien oder werden ihnen will-
kürlich zugeordnet, stellen sich dann aber auch visuell dar. Vp. hat
dabei mehr oder minder deutlich das Bewußtsein der bloß reprä-
sentativen Bedeutung der» Linienabschnitte, aber es ist nicht dabei
das Bewußtsein vorhanden, daß die Ansetzung der Linien als so uud
so groß willkürlich sei. Es liegt nur eine beschränkte Anzahl
solcher Versuche vor, da Vp. diese Betrachtungsweise bald fallen läßt;
sonst würde jenes Bewußtsein wohl aufgetreten sein. Sie ist durch
diese Betrachtungsweise nicht befriedigt, hält sie für eine zufällige,
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Experimentelle Untersuchungen über einfache SchluGprozesge. 55
nämlich dadurch bedingt, daß sie in letzter Zeit bei Beschäftigung
mit der Frage der Entstehung von Vergleichsurteilen von einfachen
räumlichen Größen mit geteilten Linien operiert hat.
Häufig treten bei verschiedenen Vp. Lageverhältnisse als
Repräsentanten auf. Ich illustriere das zunächst an einem Versuch.
Vp. K. Es wurde exponiert:
b ist kleiner als
a. c ist kleiner
als b.
Also . . .
Nach dem Lesen der ersten Prämisse wurde das b unter das a
lokalisiert in der Fläche des Papiers. Diese Lokalisation vollzog sich
schwer. Nach dem Lesen der zweiten Prämisse wurde dann das c unter
das lokalisierte b lokalisiert. Die Lokalisation vollzog sich wieder
schwer und es erschien schwierig, beide Lokalisationen zu behalten.
Deshalb wurde die Reihenfolge 3— 4 mal wiederholt, und zwar zu-
gleich mit dem Gedanken der Beziehung der Größen zueinander.
Dabei wurde gedacht: je höher um so größer. Dieser Gedanke
wurde beim Übergang von a zu b vollzogen und war dann beim Über-
gang von b zu c noch im Bewußtsein, ohne wiederholt zu werden.
Als diese Einprägung vollzogen war, wurde der Schlußsatz
> abgelesen« in der Form, a ist größer als c und c ist kleiner als a.
Der Gedanke der nur repräsentativen Bedeutung dieser Lagebe-
ziehungen ist während des Schlusses nicht verloren gegangen. Be-
wußtsein der Sicherheit. Dauer 254/5 Sekunden.
Hier tritt das Bewußtsein der nur repräsentativen Bedeutung
dieser Lagebeziehungen sehr schön hervor. Häufig tritt dieses Be-
wußtsein während der Operationen stark zurück, um im Moment der
Entwicklung des Schlußsatzes wieder hervorzutreten. In einem
Fall finde ich dasselbe während des Operierens deutlich verloren-
geben. Dieser Fall ist noch dadurch interessant, daß die Einstellung
ihren Beitrag zur Entstehung des »Abiesens« zu leisten nicht im-
stande ist. Vp. fühlte sich ermüdet, da sie die vergangene Nacht
infolge zu starken Arbeitens nicht geschlafen hatte.
Vp. K. Es wurde unter diesen Verhältnissen exponiert:
e ist kleiner als
g. r ist kleiner
als e.
Also . . .
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56
G. Störring,
Nach dem Lesen der ersten Prämisse wird e nnter das g gesetzt,
nach dem Lesen der zweiten Prämisse r unter das so lokalisierte e.
Dann konnte Vp. die bezogenen Größen nicht im Bewußtsein be-
halten. Die Prämissen wurden noch 3— 4mal gelesen und dabei
die Lokalisation wie oben beschrieben, vollzogen. Dadurch wurde
das visuelle Bild der lokalisierten Größen völlig klar. Als dies
Bild aber klar war, merkte Vp., daß sie nicht wußte, welche
Größe in dem Schlußsatz zueinander in Beziehung zu
setzen waren und zugleich nicht, wofür diese Größen
Repräsentanten waren. Sie mußte deshalb die Prämissen
nochmals lesen.
Dann schloß sie >aus dem Bild heraus«: r ist kleiner als g.
Bei Entwicklung des Schlußsatzes war der Gedanke der Repräsen-
tation aber nicht klar, so daß Vp. nicht befriedigt ist Sie hat aber
das Bewußtsein der Richtigkeit. Dauer 38*1$ Sekunden. —
Zuletzt sehe ich räumliche Gebilde und vorgestellte
Körper als Repräsentanten dieser Beziehungen auftreten, wie
Würfel (Vp. K.) und Pfahle verschiedener Größe (Vp. R.). —
Eine zeitliche Repräsentation sehe ich bei dieser Ope-
rationsweise nicht für sich allein auftreten. Die Sukzession
der eigenen psychischen Akte beim Durchlaufen einer Reihe sehe
ich] hier mit räumlichen Repräsentanten zusammen auftreten. Allein
für sich finde ich sie in meinen Versuchen nur, wo komplexes Be-
ziehungsetzen den Schluß bedingt. Man entsinnt sich, daß bei
Schlüssen mit zeitlichen Beziehungen diese Repräsen-
tation auch bei der ersteren Operationsweise auftrat. Es
ist ja auch verständlich, daß hier diese Betrachtungsweise weniger
nahe liegt.
b) Repräsentation durch Bewegungsempfindungen und
Spann ungsempfindungen. Gelegentlich finden wir eine Re-
präsentation unserer Beziehungen durch Bewegungsempfindungen
und Spannungsempfindungen, welche ziemlich häufig mit anderen
Repräsentanten zusammen auftritt, in deutlicher Weise für sich
allein auftreten, allerdings nur bei einer Vp.
Vp. K. Es wurde exponiert:
p ist größer als o,
i ist kleiner als o.
Also . . .
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Experimentelle UnterBuchungen Uber einfache Schlußprozesse. 57
Beim Lesen und Auffassen der ersten Prämisse hatte Vp. die
Empfindungen des Ausdehnens in der Brust (wie bei Inspirations-
bewegung mit Lust verbunden). Daneben war eine schwache visuelle
Vorstellung vorhanden: p über o lokalisiert außerhalb der Fläche
des Papiers. Diese visuelle Vorstellung erschien aber nur als Be-
gleiterscheinung und als unwichtig. Beim Lesen und Auffassen der
zweiten Prämisse » i ist kleiner als o* hat Vp. die Empfindung des Zu-
sammenschrumpfens, nicht stark , stärker war eine visuelle Vor-
stellung, die Lokalisation von i unten im Raum. Dann wurde die
erste Prämisse nochmal gelesen und »größer« betont, wobei die
Empfindungen des AuBdehnens mit Lustgefühl wieder auftraten. Den
Empfindungen des stärksten Ausgedehntseins wurde p zugeordnet.
Vp. hatte dann mit dem Gedanken an die zweite Prämisse und Über-
blicken derselben, wobei besonders die Buchstaben beachtet wurden,
kontinuierlich stärker werdende Empfindungen des Zusammen-
schrumpfens mit Unlustgefuhl verbunden, welchen o und später i
zugeordnet wurden; die Zuordnung von o war eine undeutliche;
• wurde denjenigen Empfindungen zugeordnet, bei denen das Zu-
sammenschrumpfen am schärfsten hervortrat. Der Schluß wurde
vom kontinuierlich sich änderndem Komplex der Empfindungen des
Zusammenschrumpfens abgelesen. Bewußtsein der Sicherheit.
Dauer 11 3 5 Sekunden. Vp. bemerkt noch, daß bei Auftreten dieser
Empfindungen die Beziehungen »erlebt« werden. Die Repräsen-
tation durch Lageverhältnisse erscheint Vp. weniger adäquat.
II. Schlüsse mit Repräsentation der gemeinten Be-
ziehungen aus mehreren Vorstellungsgebieten.
Von gemischten Repräsentationen finde ich in meinem Material
einmal die räumlich-zeitliche und sodann die räumliche Repräsen-
tation zusammen mit der Repräsentation durch Bewegungsempfin-
dungen und Spannungsempfindungen.
Die räumlich-zeitliche Repräsentation stellt sich ähnlich dar wie
bei den Schlüssen mit zeitlichen Beziehungen. — Ich gebe einen
Fall von Kombination der räumlichen Repräsentation mit der Re-
präsentation durch Bewegungs- und Spannungsempfindungen, und
zwar wähle ich einen solchen aus, bei dem Vp. im Zweifel ist, ob
»ie von einem »Ablesen« des Schlußsatzes sprechen soll.
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58
G. Stürring,
Vp. K. Es wurde exponiert:
m ist kleiner als
s ist größer als *.
Also . . .
Beim Lesen und Auffassen der ersten Prämisse »m ist kleiner als
U hat Vp. leichte Empfindungen des Zusammenschrumpfens und zu-
gleich undeutliche Gesichtsvorstellung einer sich zuspitzenden Größe,
die sich ohne Augenbewegungeu linderte. Beim Lesen und Auffassen
der zweiten Prämisse: »5 ist größer als i«, hatte Vp. die Empfin-
dung des Ausdehnens, daneben die eben bezeichnete Gesichtsvor-
stellung; die Empfindungen des AuBdehnens wurden dem sich nicht
zuspitzenden breiteren Ende zugeordnet. Von nun an änderte sich
die gesehene Größe nicht mehr, das breitere Ende derselben ging
allmählich in das spitzere über. Nun fehlten aber die Buchstaben,
sie waren noch nicht zugeordnet. Das störte sehr. Deshalb wurden
die Prämissen flüchtig nochmal gelesen, um die Buchstabengrößen
zuzuordnen. Es wurden nun die Klangbilder der Buchstaben
der visuell sich darstellenden Größe zugeordnet, wobei sich Vp. mit
einigem Erfolg bemühen mußte, die visuelle Vorstellung der Größe
zu fixieren. Beim Lesen der ersten Prämisse wurde gedacht: m ge-
hört zur Spitze, das Klangbild von m wurde der Spitze zugeordnet;
t wurde der Mitte zugeordnet; beim Lesen der zweiten Prämisse
wurde s der breiteren oberen Partie zugeordnet mit dem Bewußt-
sein: dies ist jetzt das Größte. Dann ging Vp. nochmal von s aus
über * zu m hinunter. Beim Absteigen von ä Uber *' zu m sah Vp. die
keilförmige Größe immer schmäler werden. Bei dem Heruntergehen
von den breiteren Partien zu den niedriger liegenden schmäleren
hatte Vp. zugleich die Empfindungen des Zusammenschrumpfens.
Die einzelnen visuellen Partien treten deutlich in differenten Zeit-
momenteu auf, aber die einzelnen Partien gingen allmählich inein-
ander Uber und dadurch, sagt Vp., entstand vielleicht die Vorstellung
der Zusammengehörigkeit zu einer Größe. Der Schluß scheint
Vp. von den sukzedierenden Akten des Zusammenschrumpfens
abhängig und diese wieder von dem Überblicken differenter Partien
des Gesichtsobjektes. Vp. äußert Zweifel, ob sie von einem »Ab-
lesen« sprechen soll. Auf Befragen gibt sie an, daß sie nicht etwa
die Betrachtung gehabt hat: »s ist das größte, also auch größer
als /»«, sondern sie ist nach der Auffassung des s als des größten
noch hinuntergegangen zu i und m und hat dabei »gesehen« und
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Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schlußprozesae. 59
»durch Bewegungsempfindungen erlebt«, daß m die kleinere Größe
ist. Bewußtsein der Sicherheit. 233/5 Sekunden. Zu der Verwendung
der Bewegungs- und Spannungsempfindungen bemerkt Vp. noch
nachträglich, daß sie sich ja mit räumlichen Repräsentanten die
Beziehungen klar machen könne, und zwar leichter, aber sie hat
den Eindruck, daß die Bewegungs- und Spannungsempfindungen
adäquate Repräsentanten der in den Prämissen gesetzten Be-
ziehungen sind und durch die Auffassung der Prämissen unmittel-
bar bestimmt sind, nicht wie die räumlichen Repräsentanten durch
eine willkürliche Setzung.
Beim ersten Lesen und Verarbeiten der Prämissen scheinen
die Bewegungs- und Spannungsempfindungen primär zu sein gegen-
über den visuellen Vorstellungen. Später bei der Entwicklung des
Schlußsatzes ist die Vorstellung der keilförmigen Größe primär, die
Empfindungen des Ausdehnens und Zusammenschrumpfens schließen
sich an die visuellen Vorstellungen an. Diese Änderung ist wohl
abhängig von der Verarbeitung der Prämissen beim zweiten Lesen.
Da kam es Vp. darauf an, eine Zuordnung der Buchstaben zu der
vorgestellten keilförmigen Größe zustande zu bringen, ihre Vor-
stellung bemühte sich Vp. mit einigem Erfolg bei den ganzen Ope-
rationen zu fixieren.
Bei der Entwicklung des Schlußsatzes stutzte sich Vp. aber
nach ihren Angaben jedenfalls vor allem auf die sekundär auftreten-
den Änderungen der Bewegungs- und Spannungserapfindungen.
Vor der Diskussion über die Einrubrizierung des Schlusses
noch einen einzelnen Tatbestand. Vp. sagt, daß sie bei dem sich
an das erste Lesen der Prämissen anschließenden Verarbeiten der-
selben noch keine Zuordnung der Buchstaben vorgenommen habe,
sie war dann also wohl zu sehr mit den Bewegungs- und Spannungs-
empfindungen und den visuellen Vorstellungen beschäftigt. Beim
zweiten Lesen der ersten Prämisse, »m ist kleiner als i«, sagt sich
Vp. aber: m gehört zur Spitze. Das setzt aber voraus, daß Vp.
weiß, daß eine Größe der zweiten Prämisse dem breiten oberen
Ende zugeordnet ist. Da nun keine Zuordnung der Buch-
stabengröße 5 zu dem breiten Enden stattgefunden hat,
so hat eine Abstraktion von der Buchstabengröße s
stattgefunden, es ist ein abstrahiertes Etwas dem
breiten oberen Ende zugeordnet worden.
Vp. ist im Zweifel, ob sie von »Ablesen« sprechen soll. Sie
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60
G. Stürring,
hat s als das Größte bezeichnet. Da liegt die Vermutung nahe
bei diesem Zweifel, daß sie etwa nach der vierten Operationsweise
der Schlüsse mit räumlichen und zeitlichen Beziehungen ge-
schlossen habe: also auch größer als m. Das wird aber ent-
schieden in Abrede gestellt. Vp. hat an der Hand der Prämissen
eine Zuordnung der Buchstaben zu der vorgestellten keilförmigen
Größe vorgenommen. Sie hat zuerst m, die kleinste Größe, zu-
geordnet, dann den terminus medius i und zuletzt s. Sie hat dabei s
als das Größte aufgefaßt und ist nun von s Uber * zu m hinunter-
gestiegen, wobei sie »gesehen« und vor allem »durch Bewegungs-
empfindungen erlebt« hat, daß s größer als m ist. Dies Urteil
ist also sicher direkt bedingt durch den anschaulichen Gesamt-
tatbestand und sodann auch durch den von der Einstellung ge-
setzten Gesichtspunkt, ich spreche deshalb von Ablesen. Vp.
operiert nicht mit unserer Definition des Abiesens, sondern sie
vergleicht diese Art der Gewinnung des Schlußsatzes mit der von
ihr bei räumlichen und zeitlichen Schlüssen erlebten Gewinnung
desselben, wo kein komplexes Beziehungsetzen mitwirkt Was
unsere Vp. zum Schwanken gebracht hat, ist ohne Zweifel der
Umstand, daß hier s als das Größte aufgefaßt wird: die Ähnlich-
keit mit der vierten Operationsweise. — Wir würden hier bei dem
Ablesen von der embryonalen Form der vierten Operationsweise
sprechen, wenn der Gedanke der Gleichheit der Beziehungen
das Zustandekommen des anschaulichen Tatbestandes mitbe-
stimmt hätte: daß dies der Fall sei, dazu ist kein fester Anhalts-
punkt gegeben; es scheint hier ein nur nebenher laufender Ge-
danke zu sein. Die Konstruktion des Gesamttatbestandes scheint
unmittelbar von den Beziehungsgedanken der Prämissen abhängig
zu sein. Ich halte es deshalb für wahrscheinlich, daß hier die
erste Operationsweise vorliegt.
Eine Kombination der räumlichen Repräsentation mit der Re-
präsentation durch Bewegungs- und Spannungsempfindungen sehe
ich bei zweien meiner Vp. auftreten, Vp. K. und R.
B. Schlüsse auf Grund komplexeren Beziehungsetzens.
Bei den Schlüssen mit den Beziehungen größer und kleiner
sehe ich bei visueller Darbietung der Prämissen in meinem
Material den Gedanken der entgegengesetzten Richtungen keinen
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Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schlußprozeese. 61
Einfluß auf das Zustandekommen des Schiasses ausüben. Bei
Schlüssen mit zeitlichen Beziehungen trat diese Operationsweise
bei dreien meiner Vp. auf, bei zwei Vp. nur ganz vereinzelt, bei
einer Vp. E. in größerer Zahl, aber nur bei der Anweisung,
nicht bloß mit absoluter Sicherheit, sondern auch möglichst
schnell zu schließen. Diese Anweisung habe ich nun hier nicht ge-
geben. Ich finde zwar bei Vp. K. wiederholt bei diesen Versuchen
das Bewußtsein des Gegensatzes von Beziehungen auftreten, Vp.
sagt dann aber jedesmal, daß derselbe nur nebenhergegangen
sei, die Schlußoperationen nicht bestimmt habe, was auch
durch die Angaben über den Verlauf wahrscheinlich gemacht
wird.
Dagegen finde ich den Gedanken der Gleichheit der
Beziehungen bei diesen Schlüssen in doppelter Weise im Sehlnß-
prozeß verwertet.
a) Wir finden hier zunächst eine ganz analoge Schlußweise,
wie wir sie als dritte Operations weise bei Schlüssen mit räum-
lichen und zeitlichen Beziehungen kennen gelernt haben. Ich
illustriere die Schlußweise zunächst an einem Fall.
Vp. E. Es wurde exponiert:
m ist kleiner als i,
s ist großer als i.
Also . . .
Die erste Prämisse wurde deutlich aufgefaßt ohne angebbare
Repräsentation. Ebenso die zweite Prämisse. Dann trat eine
sehr undeutliche Identifikation der beiden * auf. Die Hauptrolle
spielte nun bei dem Operieren der Gedanke, daß die gleiche Be-
ziehung zwischen m und i bestehe wie zwischen i und s. Welches
diese Beziehung war, ist dabei > gleichsam eine abgemachte Sache«
gewesen. Auf diesen Gedanken der Gleichheit stützte sich nun
der Gedanke, daß, wenn ich von i in bezug auf s aussagen kann,
daß es kleiner ist, ich das noch viel mehr von m in bezug auf s
aussagen kann. Also ist m kleiner als 5 und s größer als tn.
Etwa 5 Sekunden.
Man sieht, Vp. hat nach der Identifikation der beiden i die
Prämisse umgestaltet in: i ist kleiner als s. Dann ist gesagt:
die gleiche Beziehung besteht zwischen m und i. Da es dabei eine
»abgemachte Sache« gewesen ist, welches diese Beziehung war,
Digitized by Google
62 G. Störring,
so ist noch dabei der Gedanke *t ist kleiner als $* im Bewußt-
sein gewesen (oder auch das »rw ist kleiner *«).
Der Gedankengang ist also folgender:
1) i ist kleiner als $ (oder m ist kleiner als i).
2) Die gleiche Beziehung besteht zwischen m und i wie
zwischen i und s.
3) Da ich von i in bezug auf s sagen kann, daß es kleiner
ist als s, so kann ich wegen dieser Gleichheit der Beziehung das
von m in bezug auf 5 noch viel mehr aussagen. Also m ist
kleiner als s.
Ich finde diese Operations weise bei diesen Schlüssen nur bei
einer meiner Vp., Vp. F. Bei dieser Vp. finde ich hier
aber zugleich keinen einzigen Schluß mit »einfachem«
Beziehungsetzen; es wird stets der Gedanke der Gleich-
heit von Beziehungen in den Operationen verwertet, und zwar
entweder in der Weise wie in dem besprochenen Versuch oder
mit einer sogleich noch zu besprechenden leichten Modifika-
tion. Es ist interessant, daß diese Vp., die hier nur
mit »komplexem« Beziehungsetzen arbeitet, zugleich
diejenige ist, die sich von meinen vier Vp. am
meisten mit Mathematik in ihrer Studienzeit beschäf-
tigt hat.
Diese Operationsweise ist dieselbe wie die dritte Operationa-
weise der Schlüsse mit räumlichen und zeitlichen Beziehungen,
wobei auch hier von dem Subjekt des Schlußsatzes gesagt
werden kann, daß von ihm erst recht gilt, was vom Mittel-
begriff gilt.
Ich habe nun eine leichte Modifikation dieser Operationsweise
zu charakterisieren:
Vp. F. Es wurde exponiert:
b ist größer als c,
k ist kleiner als e.
Also . . .
Die Auffassung der Prämisse fand statt ohne angebbare Re-
präsentanten. Nach dem Lesen und Auffassen der zweiten Prä-
misse ging der Blick vom zweiten e auf das erste e, dabei wurden
dieselben als gleich aufgefaßt, sodann vom ersten e auf das b über.
Während des Blicks vom ersten e auf das b trat der Gedanke
auf: es herrscht das gleiche Verhältnis zwischen k und e wie
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Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schlußprozesse. 63
zwischen e und b. Darauf gründet sich dann der Gedanke: weil
ich aussagen kann: k ist kleiner als e, so kann ich auch von k
in bezug auf b erst recht aussagen, daß es kleiner als b ist.
Bewußtsein der Sicherheit. Dauer 63/6 Sekunden.
Ähnlich operiert Vp. E. in einer ganzen Reihe von Fällen.
So finden wir bei den Prämissen:
d ist größer als g,
h ist größer als d.
beim Ubergang zum Schlußsatz die Reflexion: weil h größer als d
ist, so desto eher h größer als g.
Bei den Prämissen:
o ist kleiner als s,
g ist kleiner als o,
findet sich beim Übergang zum Schluß die Reflexion: was ich von g
in bezug auf o aussagen kann, das besonders in bezug auf s.
Die allgemeine Bestimmung dieser beiden Modifikationen wird
sich also folgendermaßen darstellen:
Es findet eine Gleichsetzung von Beziehungen statt,
die entweder in den Prämissen unmittelbar gesetzt sind
oder sich durch Konversion ergeben haben.
Diese Gleichheitssetzung von Beziehungen wird nun
entweder so verwertet, daß man ausgeht von der Fest-
stellung der Beziehung, die gegeben ist beim Übergang
in dem Beziehungskomplex von der als Mittelbegriff
funktionierenden Größe zu einer der beiden anderen
Größen. Von der zweiten anderen Größe wird dann
gesagt, daß von ihr wegen jener Gleichheit der Be-
ziehungen erst recht gilt, was vom Mittelbegriff gilt.
Oder diese Gleichsetzung von Beziehungen wird so
verwertet, daß man von der Feststellung der Beziehung
ausgeht, die gegeben ist beim Übergang in dem Be-
ziehungskomplex zu der als Mittelbegriff funktionieren-
den Größe von einer der beiden anderen Größen aus.
Von dieser letzten Größe wird dann gesagt, daß die
Beziehung, welche beim Übergang von ihr zum Mittel-
begriff besteht, wegen jener Gleichheit der Beziehungen
erBt recht beim Übergang von ihr zu der zweiten
anderen Größe vorliegt.
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64
G. Störring,
b) Die Gleichheitssetzung von Beziehungen findet noch eine
andere Art von Verwertung in unseren Schlüssen. Ich gebe zu-
nächst einige Versuche.
Vp. K. Es wurde exponiert:
o ist kleiner als s,
g ist kleiner als o.
Also . . .
Beim Auffassen der ersten Prämisse waren keine Bewegungs-
empfindungen, welche sich bei dieser Vp. bei diesem Beziehungs-
gedanken sehr häufig einstellen als Repräsentanten entstanden,
sie hielt es für wahrscheinlich, daß ihr die Folge der psychischen
Akte als Repräsentant gedient hat; daneben ganz schwache nicht
näher beschriebene Gesichts Vorstellungen. Nach ähnlicher Auf-
fassung der zweiten Prämisse sagte sich Vp., ohne daß eine klar-
bewußte Identifikation der beiden o vorausging, g ist noch
kleiner als o. Dabei hatte Vp. die Vorstellung einer Richtung,
ohne daß dabei bestimmt wäre, ob es hinunter, nach rechts usw.
geht. Dabei hatte sie den Gedanken: es geht in der gleichen
Richtung weiter. Dann trat der Gedanke auf: g ist die kleinste
Größe. Also ist g auch kleiner als s. Bewußtsein der Sicherheit.
Dauer \0\h Sekunden.
Diese Operationsweise ist dieser Vp. sehr geläufig. Häufig
grdndet sich bei ihr die Auffassung einer Buchstabengröße als der
kleinsten oder größten anstatt wie hier auf das Bewußtsein
der Gleichheit der Richtung — auf das Bewußtsein der
Fortsetzung eines früheren Prozesses des Ausdehnens
des Brustkorbs oder des »Zusammenschrumpfens«. Die
dem Maximum des Ausdehntseins oder der Zusammengeschrumpft-
heit zugeordneten Buchstabengröße wird dann als die größte oder
kleinste aufgefaßt und von dieser Auffassung aus in der ange-
gebenen Weise geschlossen.
Diese Operationsweise findet sich bei diesen Schlüssen nur bei
einer meiner Vp., bei Schlüssen mit anderen Beziehungen dagegen
bei mehreren.
Die Operationsweise ist, wie man sieht, ganz die-
selbe, wie wir sie bei den Schlüssen mit räumlichen
Beziehungen kennen lernten und dort an vierter Stelle
besprachen.
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Experimentelle Untersuchungen über einfache Schlußprozesse. (>5
IV. Kapitel:
Schlüsse mit Gleichheitsbeziehungen.
I. Am stärksten abgekürzte Schlüsse mit Gleichheits-
beziehungen.
Aas meinem Material von Schlüssen mit Gleichheitsbeziehungen
hebe ich zunächst die am stärksten abgekürzten Schlüsse heraus
und beginne mit Illustrierung derselben durch einzelne Versuche.
Vp. K. Es wurde exponiert:
c = d ,
d = m.
Also . . .
Die Prämissen wurden nicht eigentlich gelesen, sondern das
Ganze wurde zweimal überblickt. Dabei wurden die Gleich-
setzungen bemerkt. Dann wurden die zwei gleichen Größen als
solche erkannt, darauf die zwei ungleichen Größen gelesen und
als gleich gesetzt mit dem Bewußtsein der Sicherheit. Dauer
2 Sekunden. Trotz des Bewußtseins der Sicherheit ist Vp. von
dieser Operationsweise nicht befriedigt, sie erscheint ihr als me-
chanisch.
Zuweilen geht bei dieser Vp. dem Gedanken der Gleichheit
der Größen mit differenten Buchstaben noch der »Gedanke der
Zusammengehörigkeit« (d. h. der Gedanke, daß über diese Größen
im Schlußsatz eine Aussage zu machen ist) voraus. So in folgen-
dem Versuch.
Vp. K. Es wurde exponiert:
k = m ,
p=.m.
Also . . .
Die beiden Prämissen wurden nicht einzeln gelesen, sondern
nur überblickt, wobei gesehen wurde, daß zwei Gleichsetzungeu
vorhanden waren, was aber angeblich nicht besonders beachtet
wurde. Dann wurden die beiden gleichen Buchstaben deutlich be-
wußt und als gleich aufgefaßt, und p und k in Beziehung gesetzt
mit dem Bewußtsein, daß sie »bestimmt zusammengehören«, erst
danach trat das Bewußtsein der Gleichheit derselben auf. Be-
AtcWv flr PBjchologie. XI. Ö
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66
1
G. Störring,
wußtsein der Sicherheit. Der Gedanke an allgemeine Sätze ist
nicht nachweisbar.
Ganz ähnlich stellen sich die abgekürzten Schlüsse dieser Art
bei Vp. E. dar. Bei Vp. F. finden sich noch mehr abgekürzte
Schlüsse dieser Art, und zwar dann, wenn ein Identitätsschluß un-
mittelbar vorangegangen ist. Ich gebe die ersten beiden Versuche
einer Versuchsstunde:
Vp. F. Es wurde exponiert:
x ist gleich m, s ist
gleich u.
Also . . .
Die beiden Prämissen wurden zu Ende gelesen. Dann scheint
der Blick vom zweiten u auf das erste u übergegangen zu sein.
Die Identifikation beider trat nicht deutlich hervor. Darauf trat
der Gedanke auf: »sind zwei Grüßen einer dritten gleich« blitz-
artig, ohne weiter gedacht zu werden. Dieser Gedanke wurde als
etwas Neues aufgefaßt, das zum Vollzug des Schlusses nicht nötig
war. Darauf trat * hervor und der Blick ging von x Uber auf s,
wobei Vp. beide als gleich setzte. Bewußtsein der Sicherheit.
Dauer 62/5 Sekunden.
Bei dem darauffolgenden Versuch wurde exponiert:
q = x.
Also . . .
Die erste Prämisse wurde gelesen und aufgefaßt. Als von
der zweiten Prämisse q gesehen wurde, ging, wie es Vp. scheint,
der Blick vom zweiten q auf das erste q Uber, ohue daß das Be-
wußtsein der Identität in merkbarer Weise auftrat. Dann wurde
die zweite Prämisse nicht zu Ende gelesen, sondern auf das p
zurückgegangen; darauf suchte Vp. die dritte Größe und fand sie
sogleich; dabei machte sie die Bestimmung p = x. Bewußtsein
der Sicherheit. Dauer 4,/5 Sekunden.
In einem folgenden Versuch, in welchem die Anweisung ge-
geben war, die Prämissen bis zu Ende zu lesen, wird in folgender
Weise verfahren:
Es wurde exponiert:
a = b,
a = c.
Also . . .
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Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schlußprozesse. 67
Die erste Prämisse wird gelesen uud aufgefaßt. Dann Bieht
Vp. das zweite a. Ob dabei eine Identifikation stattgefunden hat,
vermag sie nicht sicher zu sagen. Dann treten b und c deutlich
hervor und damit war auch schon der Schluß da: b = c mit dem
Bewußtsein der Sicherheit. Der allgemeine Gedanke: sind zwei
Größen einer dritten gleich usw. spielte dabei angeblich keine
Rolle. Dauer 2*/6 Sekunden. Nach Vollzug des Schlusses trat
das Bewußtsein auf, daß die Anweisung nicht befolgt war, beide
Prämissen vor Vollzug des Schlusses für sich zu lesen. Es ist
die zweite Prämisse nicht zu Ende gelesen worden.
Die am meisten abgekürzten Schlüsse dieser Art voll-
ziehen sich also meist, ohne daß die Prämissen regelrecht
gelesen werden. Dabei entsteht häufig mehr oder min-
der deutlich die Auffassung, daß es sich um Gleich-
setzungen handelt; bei einer Vp. tritt häufig nach wieder-
holter Darbietung solcher Schlüsse nur die Auffassung
einer Gleichsetzung deutlich heraus. Jene Auffassung,
daß es sich um Gleichsetzungen handelt, verbindet sich
nicht mit einem weiteren allgemeinen Gedanken in merk-
barer Weise. Darauf werden die als Mittelbegriff funk-
tionierenden Größen meist in merkbarer Weise identifi-
ziert, aber dies eben auch nicht einmal immer. Zuletzt
treten die differenten Buchstaben hervor mit dem Be-
wußtsein, daß sie gleich sind und daß diese Bestimmung
die gesuchte ist.
Die hier vorliegende Operationsweise ist nur unter Zuhilfe-
nahme weniger abgekürzter Schlüsse zu erkennen.
II. Die übrigen Schlüsse mit diesen Beziehungen.
Weniger abgekürzte Schlüsse mit diesen Beziehungen treten
bei Vp. K. bei Fortsetzung dieser Versuche ohne Änderung der
Anweisung auf, indem diese Vp. mit diesen Schlüssen unzufrieden
ist, da sie ihr einen »mechanischen« Eindruck machen. Bei Vp. F.
dagegen erschien es mir geboten, die Anweisung zu ändern, zu
verschärfen, da diese Vp. sich einfach sagte: hier treten zwar die
Operationsphasen nicht alle heraus (was sie beim Referat erschloß),
aber bei diesem Verfahren entspreche ich durchaus der Anweisung,
ö*
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68
G. Störring,
mit absoluter Sicherheit zu schließen ; es ist jedenfalls kein schema-
tisches Operieren; ich bin damit zufrieden.
Die Art dieser Verschärfung werde ich im einzelnen Fall, wo
ich Versuche dieser Vp. heranziehe, angeben.
a) In der einen Klasse von Fällen, in denen die Operations-
phasen deutlicher heraustreten, finden wir den Gedanken eine
dominierende Rolle spielen: Alle drei Größen sind gleich.
Dieser findet sich bei dreien unserer Vp.
Vp. K. Es wurde exponiert:
P = (l,
q = x .
Also . . .
Nach dem Lesen und AufTassen der ersten Prämisse wurde
vom ersten zum zweiten q gesehen und die Größen wurden als
identisch aufgefaßt; mit dem q dachte sich Vp. bloß eine Größe
gemeint, nicht zwei Größen, die gleich sind. Daraufhin wurde
gesagt an der Hand der zweiten Prämisse: dieses q ist gleich x.
Vp. hatte nun also: }) ist gleich q, dieses q ist gleich *. Das Ganze
war in Zusammenhang. Beim Übergang von dem einen zu dem
anderen Gliede hatte Vp. Spannungsempfindungen. Nun sagte sich
Vp. : Die sind ja gleich — alle. Also ist p = x. Es brauchten
im Schlußsatz diese zwei Größen nur aus dem gegebenen Ganzen
»herausgehoben« zu werden. Bewußtsein der Sicherheit. Dauer
etwa 3 Sekunden.
Von Vp. K. liegt eine größere Anzahl von Versuchen vor, in
denen sie in gleicher Weise verfährt. Vp. R. scheint bei Schlüssen,
welche sich mit dem Bewußtsein der Sicherheit verbinden, nur nach
dieser Weise zu operieren.
Vp. R. Es wurde exponiert:
a ist gleich d, b ist
gleich d.
Beim Lesen und Auffassen beider Prämissen stellten sich die-
selben Vp. an einer vorgestellten Tafel so dar:
a — d,
b = d.
Sie schloß mit Verwertung dieser Art der Darstellung der Prä-
misse a — b ohne das Bewußtsein der Sicherheit zu haben. Des-
halb setzte Vp. von neuem an. Sie sagte sich: a ist identisch mit d,
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Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schlußprozesse. 69
aber auch b ist identisch mit d, also alle sind identisch, alle sind
dieselben (diese beiden letzten Bestimmungen wurden innerlich ge-
sprochen). Dabei stellten sich ihr die Größen in einer Richtung dar:
a — d — b.
Also maß a identisch sein mit d. Bewußtsein der Sicherheit.
Dauer 443/5 Sekunden. (Wesentliche Verlängerung durch den
zweifachen Ansatz.)
Der Gedanke: alle drei Größen sind identisch, verbindet sich
bei Vp. R. meist mit dieser visuellen Darstellung der bezogenen
Größen.
Bei Vp. F. findet sich bei diesem Gedanken, der mit Ausnahme
eines Falles, des ersten Versuchs, nicht anders bei ihr aufgetreten
ist als bei der Anweisung, nicht nur mit absoluter Sicherheit zu
schließen, sondern nicht eher zu reagieren, als bis im Moment des
Schließens alle Beziehungsgedanken präsent gewesen sind, eine
visuelle Darstellung der bezogenen drei Größen in einer Reihe,
untereinander mit Gleichheitsstrichen verbunden, wobei die Gleich-
heitsstriche mehr im Bewußtsein betont sind als die bezogenen
Größen, im Gegensatz zu einer sogleich zu besprechenden Ver-
fnhrungsweise, wo die bezogenen Größen stärkere Betonung im
Bewußtsein finden. Man sieht, dem Gedanken der Gleichheit aller
drei Größen entspricht die Betonung der Gleichheitszeichen in der
visuellen Darstellung der Beziehungen.
Wir können also allgemein sagen: Hier wird so verfahren,
daß zunächst eine Synthese der Beziehungsgedanken
geschaffen wird. An diese Synthese schließt sich der
Gedanke an: alle drei Größen sind gleich. Darauf grün-
det sich dann die Bestimmung des Schlußsatzes: also
sind auch die und die Größen gleich. Diese Bestimmung
des Schlußsatzes wird, wie eine der Vp. treffend sagt,
»herausgehoben« aus dem gegebenen Tatbestand, nach-
dem man die Bestimmung gewonnen hat, alle drei Größen
sind gleich.
Auf die Bestimmung des Gegensatzes des > Heraushebens« und
»Abiesens« werden wir bei Besprechung der SubsumtionsschlUsse
näher eingehen. Dort werden wir eine andere Vp., Vp. E., von
einem »Herausgreifen« eines Beziehungsgedankens in ähnlichen
Fällen sprechen finden.
Man wird nun aber fragen: Wie kommt man denn zu der
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70
G. Störring.
Bestimmung: »alle drei Größen sind gleich«? Gesetzt, ich
habe die Prämissen: k = 9,
9 = r,
und es vollzieht die Synthese etwa in der Darstellung:
k = g — r.
Können wir auf Grund dieser Synthese ohne weitere Zwischen-
operation schon sagen: alle drei Größen sind gleich? Ohne Zweifel
nicht. Ich habe die beiden g als eine Größe gesetzt und nun der
Feststellung k = g eine symbolische Darstellung der Feststellung
g = r angefügt. Wer sagt mir aber, daß alle drei Größen gleich
sind? Es handelt sich hier um eine Bestimmung, die uns
an der Hand jener symbolischen Darstellung sehr ge-
läufig geworden ist, die aber streng genommen nicht
anders gewonnen werden kann, als indem man auf
Grundlage der Bestimmung A* = g für das g das k einsetzt.
Diese Einsetzung ist von unseren Vp. nicht in den ein-
zelnen Fällen vollzogen, oder sie hat sich jedenfalls im
Bewußtsein nicht abgehoben gegenüber den anderen In-
halten.
b) In einer zweiten Klasse dieser Fälle von Schlüssen
wird entweder mit dein allgemeinen Satz operiert: »sind
zwei Größen einer dritten gleich, so sind sie auch unter-
einander gleich« oder es wird so operiert, als ob die
Operationen von diesem Satz abhängig wären.
Vp. K. Es wurde exponiert:
a = Ä-,
p — k.
Also . . .
Beim Lesen der Prämissen war nach einem Moment der Schluß-
satz da. Es wurden nämlich zuerst die zwei gleichen Bnchstaben
gesehen, sie traten aus dem Gesamtbilde heraus. Sie wurden auf-
gefaßt als für dieselbe eine Größe gesetzt und an ihrer Stelle
wurde auch ein k visuell vorgestellt auf der Fläche des expo-
nierten Papiers zwischen den beiden geschriebenen k. Von diesem
visuell vorgestellten k sah Vp. zwei Striche gezogen, den einen zu a,
den anderen zu p. Gleichzeitig mit dem Entstehen dieser Striche
dachte Vp.: diese zwei (links) sind gleich dieser einen Größe,
also sind sie auch gleich. Dazwischen trat nicht der allgemeine
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Experimentelle Untersuchungen über einfache Schlußprozesse. 71
Gedanke: >sind zwei Größen einer dritten gleich, so sind sie anch
ontereinander gleich«. Diese ganzen letztbezeichneten Pro-
zesse vollzogen sich sehr schnell, sie waren nicht mit
Worten begleitet. Vp. sagt, daß dazu die Zeit zu korz
gewesen sei. Nachdem nun so der Schlußsatz einen Moment
nach dem Ansatz zum Lesen zustande gekommen war, wurden
die Prämissen erst regelrecht gelesen: a gleich Ä-, p gleich k.
Dann wurde der Schluß vollzogen a — p. Nähere Angaben über
diesen nach regelrechtem Lesen vollzogenen Schluß war nicht mehr
zu gewinnen, nur kann Vp. sagen, daß dieser zweite Schluß sich
nicht mit absoluter Sicherheit verband. Dauer 4V4 Sekunden.
Es wird auf Frage des Experimentators noch angegeben, daß
dieser zweite Schluß sich nicht unter Verwertung des Gedankens:
alle drei Größen sind gleich, vollzog. Damit wird es wahrschein-
lich, daß die frühere Operationsweise eingeschlagen wurde, die
sich dann wohl in abgeblaßter Form vollzogen hat, wie ich das
in anderen Fällen häufig bei Wiederholung derselben Verfahrungs-
weise in einem Versuch nachweisen konnte.
Bevor ich das Vorkommen dieser Verfahrungsweise auch bei
einer anderen Vp. nachweise, möchte ich noch bemerken, daß
diese Verfahrungsweise bei Vp. K. mit Wahrscheinlichkeit auch
da anzusetzen ist, wo Vp. eine bestimmte Art der Zusammen-
fassung der Beziehungsgedanken in einem Satz vornimmt. Diese
Zusammenfassung vollzieht sich etwa bei den Prämissen:
k ist gleich q,
<l ist gleich r
so, daß sie sagt: dieses q> welchem /.• gleich ist, ist gleich r. Im
Fall einer gleichartigen Zusammenfassung macht Vp. nun die Aus-
sage, daß sie gerade so operiert habe wie da, wo sich ihr visuell
der Mittelbegriff auf einer Seite stehend und durch zwei Striche
mit den beiden anderen auf der anderen Seite stehenden Buch-
stabengrößen verbunden dargestellt habe.
Die in Rede stehende Verfahrungsweise finden wir bei Vp. F.
gelegentlich da, wo sie mit der Anweisung reagiert, jede Prämisse
für sich zu lesen und mit absoluter Sicherheit zu schließen.
Vp. F. Es wurde exponiert:
a ist gleich ri, b ist
gleich d.
Also . . .
Digitized by Google
72 G. Störring,
Der Ubergang zum Schlußsatz vollzog sich in folgender Weise.
Es entstand zunächst ein undeutlicher Beziehungsgedanke zwischen
a und b. Dann wurde nochmal gelesen a ist gleich d und dabei
stellte sich b Uber a lokalisiert da. Dazu waren schwarze Striche
gezogen zwischen a und d und b und d. Diese Striche wurden
nicht bloß vorgestellt, sondern es wurden dunkle Striche wahr-
genommen. (Diese Angabe findet sich bei dieser Vp. häufig bei
Lokalisationen auf der Fläche des exponierten Papiers). Dann
trat für kurze Zeit der Gedanke auf: sind zwei Größen einer
dritten gleich ... Er scheint aber nicht bis zu Ende gedacht
zu sein, da stellte sich der Schlußsatz ein b — a. Vp. glaubt, mit
diesem Satz in diesem Falle nicht operiert zu haben. Bewußtsein
der Sicherheit.
Es fragt sich noch, wie sich in diesen Fällen der letzte Uber-
gang zum Schlußsatz vollzieht. Wenn etwa die Feststellung ge-
macht ist, daß a und b gleich c sind, wie kommt dann das
Schlußurteil a ist gleich b zustande ? Nur in seltenen Fällen wird
der allgemeine Gedanke: »sind zwei Größen einer dritten gleich,
so sind sie auch untereinander gleich« als Zwischenglied in der
Schlußkette angegeben. Sollen wir ihn nun als dunkelbewußten
Gedanken in der Schlußkette mitwirkend setzen? Das ist be-
denklich, da in manchen Fällen die Vp. energisch behaupten, daß
dieser Gedanke nicht mitgewirkt habe. Wir werden wohl am
meisten der vorliegenden Tatsache gerecht, wenn wir annehmen:
die Operationsweise, welche unter Anwendung des Satzes
»sind zwei Größen einer dritten gleich, so sind sie auch
untereinander gleich* vollzogen wird, ist so geläufig
geworden, daß sie auch ohne den allgemeinen Satz dann
auftritt, wenn die Bedingungen erfüllt sind, unter denen
dieser allgemeine Satz Anwendung findet. Es würde
sich dann hier um einen durch Assoziation bedingten Ab-
kürzungsprozeß handeln, nur daß derselbe nicht wie
gewöhnlich in einer Assoziationsreihe, sondern in einer
denknotwendigen Kette Platz gegriffen hätte.
Es bleibt allerdings noch ein Ausweg. Man könnte annehmen,
daß das Resultat durch einen Einsetzungsprozeß gewonnen sei.
Doch es müßte dann ein unbemerkt gebliebener Einsetzungsprozeß
gewesen sein. Wir werden erkennen, daß diese Annahme sehr
unwahrscheinlich ist, wenn uns die zunächst zu besprechende Ver-
Digitized by Google
Experimentelle Untersuchungen über einfache Schlußprozesse. 73
fahrungs weise damit bekannt gemacht hat, bei welcher Gruppie-
rung der drei bezogenen Größen das Vorliegen eines unbemerkt
gebliebenen Einsetzungsprozesses behauptet werden kann.
c) Eine interessante Betrachtungsweise findet sich ganz ge-
legentlich bei einer Vp., nämlich bei Vp. F. unter der Anweisung,
nicht nur mit absoluter Sicherheit zu schließen, sondern nicht eher
zu reagieren als bis im Moment des Schließens die Beziehungs-
gedanken präsent gewesen sind.
Vp. F. Es wurde unter der bezeichneten Anweisung exponiert :
k ist gleich g,
g ist gleich r.
Also . . .
Es wurden, wie meist bei dieser Anweisung, mehrfache An-
sätze gemacht, der Anweisung zu entsprechen. Unter diesen er-
wähne ich außer dem uns unmittelbar hier interessierenden einen
anderen wegen des Gegensatzes zu ihm. Vp. sagt zunächst, mit
den wahrgenommenen Buchstaben k} g und r operierend, indem
sie mit dem Blick von dem einen auf den anderen übergeht: k ist
gleich g und dieses mit k gleich r. Also k ist gleich r. — Sodann
wurde noch operiert mit den wahrgenommenen Buchstaben ky dem
ersten g und einem rechts oben von g lokalisierten r. Dabei sagte
Vp., während sie dunkle Gleichheitsstriche zwischen k und g und g
und r gezogen sah: k gleich <7, gleich r. Hier waren die Gleich-
heitsstriche im Bewußtsein besonders betont. Dabei entwickelte
sich der Gedanke der gleichen Beziehung zwischen den drei Grö-
ßen und darauf der Schlußsatz k gleich r, nachdem vorher noch
ein Gesamtüberblick stattgefunden hatte, bei dem k und r etwas
deutlicher wurden. Im erste ren Falle war die Gewinnung
des Schlußsatzes etwas schwieriger, Vp. hatte aber den
Eindruck, in diesem Fall mehr der Sache entsprechend
gedacht zu haben.
Wir zeigten oben schon, daß in dem hier als zweiten bezeich-
neten Fall die Betrachtungsweise logisch genommen eine lücken-
hafte ist Unsere Vp. merkt das hier auch, wo ihr diese Betrach-
tungsweise neben der ersten in Bich geschlossenen entgegentritt.
Welches ist nun die erste, näher besehen? Vp. vollzieht bei
dieser Betrachtungsweise eine Zusammenfassung, indem
sie an der Hand der obigen Prämissen sagt: g und k ist
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74
G. Storfing,
gleich r. Diese Zusammenfassung muß scharf ge-
schieden werden von der sub b vollzogenen, die in
diesem Fall lauten würde: k und r sind gleich g. Unsere
Zusammenfassung: g und Ä ist gleich r ist vollzogen auf
Grund einer Einsetzung des k fttr das g. Anders ist sie
wohl nicht verständlich zu machen, wenn man berücksichtigt, daß
Vp. dieses Operieren als ein logisch fest geschlossenes erscheint.
Die Wirkung des Opericrens nach einem geläufigen allgemeinen
Satz liegt hier jedenfalls nicht vor.
Man sieht auch, daß die Zusammenfassung der Größen k und r,
womit sich meist eine visuelle Zusammengruppierung verbindet,
nicht günstig ist für den Vollzug einer nachher zu vollziehenden
unbemerkten Einsetzung.
d) In diesem sub c besprochenen Fall haben wir aber das
Vorliegen einer Einsetzung immer erst erschlossen. Es war mir
darum zu tun, es auch aufzuweisen. Das ist mir nur unter außer-
gewöhnlichen Bedingungen gelungen. Ich gab nämlich die An-
weisung, so zu operieren, daß jeder einzelne Schritt der
Vp. sich mit dem Bewußtsein der Denknotwendigkeit
verbinde. Das ist eine Anweisung, die wohl von allgemeiner
Bedeutung ist, da sie die Vp. in die Situation des Logikers ver-
setzt! Dieser Anweisung fügte ich die Angabe hinzu, daß ich
den Satz: »sind zwei Größen einer dritten gleich, so sind sie auch
untereinander gleich« als Axiom nicht anerkenne, sondern ihn ftir
abgeleitet halte. Nach einigen vergeblichen Versuchen mit Vp. K.,
in denen aber zuletzt die Erkenntnis auftritt, daß die Gleich-
setzung zur Einsetzung berechtige, gelingt die Befolgung der An-
weisung in folgendem Versuch.
Vp. K. Es wurde unter den angegebenen Bedingungen ex-
poniert: a — b,
b — c.
Also . . .
Beim Lesen der ersten Prämisse sagt sich Vp. : ich kann a
für b und b für a einsetzen. Beim Lesen des b der zweiten Prä-
misse sagte sich Vp.: ich kann für das b ein a einsetzen; also
a = c.
Unter ähnlichen Bedingungen wurde der Anweisung von Vp. E.
entsprochen.
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Experimentelle Untersuchungen über einfache Sehlußprozesse. 75
Man sieht, die Einsetzung gleicher Größen füreinander
ist ans so geläufig geworden, daß sie nur unter außer-
gewöhnlichen Bedingungen in unseren logischen Opera-
tionen sich als besonderer Akt abhebt.
Wir sahen, im Falle a handelt es sich um eine Bestimmung: »alle
drei Größen sind gleich«, welche sich uns häufig an der Hand einer
symbolischen Darstellung aufdrängt, die aber nar durch Einsetzung
begründet werden kann. Es handelt sich hier also in letzter Linie
um die Wirkung einer Einsetzung. Im Fall c hatten wir das Statt-
finden einer Einsetzung im einzelnen Versuch erschlossen. Im Fall d
ist die Einsetzung im einzelnen Versuch aufgewiesen. Ich
kann in diesen Fällen deshalb nicht von verschiedenen Operations-
weisen, sondern nur von verschiedener Modifikation einer Ope-
rationsweise sprechen. Wie steht es nun aber mit den Fällen
sab b?
Der Satz: sind zwei Größen einer dritten gleich, so sind sie
auch untereinander gleich, läßt sich gleichfalls durch Vollzug einer
Einsetzung ableiten.
Wir können also allgemein sagen: Die uns hier entgegen-
getretenen differenten Arten des Verfahrens gründen sich
allesamt auf Einsetzung gleicher Größen für einander und
werden deshalb am besten als Modifikationen einer Ope-
rationsweise bezeichnet. Wir werden auf die Einsetzung bei
den Schlüssen mit Subsumtionsbeziehungen noch wieder zu
sprechen kommen; dort wird sich uns zeigen, daß diese Ope-
rationsweise am meisten Beziehungen zu der zweiten und dritten
Operationsweise der Schlüsse mit räumlichen und zeitlichen Be-
ziehungen hat. —
Bei Identitätsschlüssen unterscheide ich solche mit Gleichheits-
setzung in beiden Prämissen und solche mit Gleichheitssetzung
in einer Prämisse. Letztere habe ich nicht untersucht.
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76
G. Stürriug,
V. Kapitel:
Schlüsse mit Subsnuitionsbeziehnng.
A. Schlüsse mit Subsumtionsbeziehung in beiden Prämissen.
Die Schlüsse mit Subsumtionsbeziehung teile ich in zwei
Klassen, in die Schlüsse, deren Prämissen beide eine Subsumtions-
beziehung behaupten, und solche bei denen nnr eine Prämisse eine
Subsumtionsbeziehnng behauptet — wobei dann die andere Prämisse
eine InhUrenzbcziehung behaupten kann oder die Negation einer
Inhärenz- oder Subsumtionsbeziehung darstellt. Ich bespreche zu-
erst die Schlüsse mit Subsumtionsbeziehung in beiden Prämissen. —
Die Schlüsse mit Subsumtionsbeziehung in beiden Prämissen
werden sich uns als komplexere Prozesse erweisen als die bis-
her behandelten Schlüsse. Damit hängt es zusammen, daß sich hier
eine noch größere Nuanzieruug in den Verfahrungsweisen zeigt,
wenn sich auch für die verschiedenen Operationsweisen in den
bisher behandelten Schlüssen Analoga aufweisen lassen. Bei dieser
Art von Schlüssen wird die Feststellung des Zusammenhangs der
Prozesse noch weiter dadurch schwieriger gestaltet, daß hier die
Mitwirkung von Prozessen, welche nicht ins klare Bewußtsein fallen,
eine größere Rolle spielt als bei den bisher besprochenen Schlüssen.
Das gilt allerdings nicht für alle Vp., und bei denjenigen, für die
es gilt, spielt die Mitwirkung solcher Prozesse auf verschiedenen
Stufen der Übung eine verschiedene Hollo. Bei einer meiner Vp.,
Vp. K., spielen diese Prozesse, wenn sie Uberhaupt bei Schlüssen
unter diesen Bedingungen vorhanden sind, eine minimale Rolle.
Durch häutige Darbietung von Prämissen derselben Art tritt eine
Änderung im Ablauf des Schlußprozesses nicht in erkennbarer Weise
auf, nur lernt Vp. die einzelnen Phasen bestimmter charakterisieren.
Bei einer anderen meiner Vp., Vp. R., tritt die Mitwirkung solcher
Prozesse erst da auf, wo Prämissen dieser Art häufig dargeboten
sind. Bei den beiden anderen Vp. spielen Prozesse, welche nicht
ins klare Bewußtsein treten, von vornherein eine große Rolle. Die
häufige Darbietung von Prämissen derselben Art wirkt bei beiden
Vp. in demselben Sinne; es treten infolge derselben eine größere
Anzahl von Prämissen ins klare Bewußtsein als zu Anfang vorhanden
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Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schlußprozesse. 77
waren, nur ist bei einer sehr häufigen Darbietung von Prämissen
derselben Art diese Änderung bei Vp. F. eine relativ geringe, während
bei einer weniger häufigen Darbietung von Prämissen derselben
Art diese Änderung bei Vp. E. eine so beträchtliche wird, daß
man von nicht ins Bewußtsein fallenden Etappen des Schluß-
prozesses nicht mehr sprechen kann, nur gewisse Seiten der
aufeinander folgenden Prozesse, nämlich die Repräsentanten der
Beziehungsgedanken fallen häufig nicht ins klare Bewußtsein. Wir
kommen auf diese Verhältnisse später an der Stelle genauer zu
sprechen, wo wir eine Einrubrizierung dieser Schlüsse in ver-
schiedene Operationsweisen vornehmen.
I. Schlüsse mit Subsumtionsbeziehung in beiden Prä-
missen mit deutlichem Hervortreten der die Schlußweise
charakterisierenden Operationsphasen.
Zuerst behandle ich die Schlüsse mit Subsumtionsbeziehung in
beiden Prämisseu, bei welchen die die Schluß weise charakterisierenden
Operationsphasen deutlich hervortreten.
1) Unter diesen Schlüssen findet man solche, bei welchen der
Schlußsatz aus dem durch eine Synthesis, welche durch die
Beziehungsgedanken der Prämissen und eine Behandlung der
identischen Größen als solche mit oder ohne Identifikation
unmittelbar bestimmt ist, geschaffenen anschaulischen Gesamt-
tatbestand von repräsentativer Bedeutung abgelesen wird. Es
handelt sich hier um eine völlige Analogie zu der ersten
Operationsweise bei Schlüssen mit räumlichen und zeitlichen Be-
ziehungen.
a) Zunächst bespreche ich hier Schlüsse dieser Art mit Reprä-
sentanten, die als relativ einfach zu charakterisieren sind.
a. Hierhin gehört zuerst die Einordnung der in den Prä-
missen zueinander in Beziehung gesetzten Buchstaben-
größen in vorgestellte Kreise. In der Einleitung zu dieser
Arbeit habe ich darauf hingewiesen, daß einige Logiker der An-
schauung sind, daß alles Schließen sich durch solche Einordnung
der in den Prämissen in Beziehung gesetzten Größen in Kreise oder
andere ein Flächenstück begrenzende Figuren vollziehe. Ich
finde nun aber die Anwendung dieser Hilfsmittel nur bei
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78
G. StOrring,
einer Vp. auftreten, meine anderen drei Vp. schließen,
ohne dieses Hilfsmittel hei gewöhnlicher Anweisung zu
gehrauchen. Und diese eine Vp. sahen wir dieses Hilfs-
mittel bei den bisher besprochenen Arten von Schlüssen
nicht anwenden. Ja, auch bei diesen Schlüssen mit Sub-
sumtionsbeziehung operiert diese Vp. nur kurze Zeit
mit diesem Hilfsmittel. Sobald ihr durch mehrfache
Darbietung von Prämissen dieser Art diese Schlüsse
etwas geläufiger geworden sind, läßt sie dieses Hilfs-
mittel fallen.
Ich will nun näher angeben, in welcher Weise dieser Vp. die
vorgestellten Kreise als Hilfsmittel des Schließens dienen.
Vp. K. nimmt eine Einordnung der in den Prämissen zu ein-
ander in Beziehung gesetzten Buchstabengrößen in Kreise entweder
so vor, daß zunächst diese Einordnung sich für jede Prämisse
isoliert vollzieht, so daß also bei der Einordnung der in der
zweiten Prämisse gesetzten Größenbeziehungen keine Rücksicht auf
die auf Grund der ersten Prämisse vollzogene Einordnung ge-
nommen wird, oder es werden bei Bearbeitung der zweiten Prämisse
die als Mittelbegriff funktionierenden Buchstabengrößen sogleich als
identische Größen behandelt, so daß mit der Einordnung der Be-
ziehungen der zweiten Prämisse in Kreise zugleich eine repräsen-
tative Darstellung der in den Prämissen festgestellten Be-
ziehungen in einem Gesamtbilde gegeben ist. Ich exempliziere
zunächst die erste Art des Operierens mit Kreisen.
Vp. K. Es wurde exponiert:
Alle p gehören zur Gattung a,
Alle a gehören zur Gattung d.
Also . . .
Bei Lesen der ersten Prämisse wird eine repräsentative Dar-
stellung der behaupteten Beziehung durch einen Kreis so voll-
zogen, daß in einen vorgestellten Kreis mit der Bezeichnung a
die Buchstabengröße p hineingesetzt wird.
0"
Dabei ist sich Vp. der bloß repräsentativen Bedeutung dieser
visuellen Darstellung bewußt.
In ganz ähnlicher Weise wird die zweite Prämisse von Vp.
Digitized by Google
Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schlußprozesse. 79
verarbeitet. So ergaben sich Vp. zwei Kreise, die nicht zuein-
ander in Beziehung gesetzt waren. Vp. wurde sich nun dessen
bewußt, daß mit dieser Art der Repräsentation die Beziehung der
Prämissen zueinander noch nicht zur repräsentativen Darstellung
gebracht sei. Um eine solche zu vollziehen, las sie die Prämissen
noch einmal. Aber erst beim dritten Lesen vollzog sich die Zu-
sainmenordnung der visuellen Vorstellungen in eine Gruppe.
Die Buchstaben waren dabei nicht etwa als Klangbilder den
Kreisen zugeordnet, sondern stellten sich selbst visuell dar. Als
die Zusammensetzung der Kreise in eine Gruppe vollzogen war,
wurde der Schlußsatz sofort aus der repräsentativen Darstellung
des Gesamttatbestandes abgelesen. Bewußtsein der Sicherheit.
Dauer 172/6 Sekunde.
Nach der isolierten Behandlung der einzelnen Prämissen wird
also eine Änderung der gewonnenen repräsentativen Darstellung
der Beziehungen in der Weise vollzogen, daß in der Repräsen-
tation die als Mittelbegriff funktionierenden Buchstabengrüßen als
identische Größen behandelt waren. In einzelnen Fällen tritt diese
Behandlung der als Mittelbegriff funktionierenden Buchstabengröße
als identisch auf, nachdem diese Größen deutlich als identisch auf-
gefaßt sind, in anderen Fällen, so hier, ohne daß ein Identitäts-
wußtsein deutlich hervorgetreten ist.
Ich will noch einen Versuch geben, in welchem die Identi-
fikation in deutlichster Weise hervortritt.
Vp. K. Es wurde exponiert:
Alle m gehören zur Gattung f ,
Alle a gehören zur Geltung m.
Also . . .
Nach dem ersten Lesen fand eine Einordnung in Kreise statt;
Diese Verwendung der Kreise wurde nicht gewollt. Die Kreise
boten sich Vp. ohne weiteres dar!
Es stellte sich Vp. visuell ein Kreis der, an welchem f ge-
schrieben stand. Bei seiner Betrachtung »wurde gesehen, daß m
d
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80 6- Storfing,
in diesem Kreise lag«. Ahnlich bei der zweiten Prämisse, so daß
Vp. nun folgende zwei Kreise sah:
Darauf wurde der zweite Kreis m mit dem m des ersten
Kreises identifiziert Damit änderte sich die Auffassung des m
des ersten Kreises: es wurde nun als Gattung aufgefaßt und des-
halb wurde die erste visuelle Darstellung als ungültig verworfen.
An ihre Stelle trat die dritte Darstellung, nachdem die erste Prä-
misse nochmal gelesen war. Diese Darstellung wurde gebildet
»mit dem Bewußtsein, daß in m noch etwas hineingehört«. Dann
wurde die zweite Prämisse nochmal gelesen und gesehen: a ge-
hört in den Kreis für m hinein. Das a wurde hineingesetzt und
so war die vierte Darstellung gegeben:
Aus dieser vierten visuellen Darstellung der gesamten Be-
ziehungen in einem Komplex wurde nun der Schluß abgelesen:
alle a gehörten zur Gattung f. Bewußtsein der Sicherheit. Dauer
172/5 Sekunden.
Interessant ist hierbei, wie sich auf Grund des Voll-
zuges der Identifikation der als Mittelbegriff funktio-
nierenden Größen »alle m« und »Gattung m< die Auf-
fassung des »alle ro« in deutlichster Weise änderte. Die
»alle m< werden jetzt selbst als Gattung aufgefaßt. —
Die Einordnung der in den Prämissen zueinander in Beziehung
gesetzten Buchstabengrößen kann sich aber, wie wir hörten, auch
so vollziehen, daß mit der Einordnung der in der zweiten Prä-
misse festgestellten Beziehungen die repräsentative Darstellung in
f
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Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schlußprozesse. 81
einem visuellen Gesamtkomplex gewonnen ist. Ich exemplifiziere
das an einem Versuch.
Vp. K. Es wurde exponiert:
Alle g gehören zur Gattung f,
Alle t gehören zur Gattung 5.
Also . . .
Beim Lesen der ersten Prämisse wurde ein Kreis t und darin
visuell g vorgestellt.
Darauf wurde die zweite Prämisse gelesen. Der Kreis fllr t
wurde mit dem g zusammen in einem Kreis s liegend visuell
vorgestellt. Damit war ein visueller Komplex geschaffen, der die
in den Prämissen festgestellten Beziehungen repräsentierte und in
dem die Beziehungen der einzelnen Größen als von nur repräsen-
tativer Bedeutung gedacht wurden. Aus dem gewonnenen visuel-
len Gesamtkomplex wurde dann der Schlußsatz abgelesen: alle g
gehören zur Gattung s. Bewußtsein der Sicherheit und völlige
Befriedigung. Dauer 172/5 Sekunden.
Bei diesem und ein paar ähnlichen Versuchen wurden die als
Mittelbegriff funktionierenden Buchstabengrößen bei der ersten
Einordnung der Beziehung der zweiten Prämisse in Kreise
als identisch behandelt. — Der Schluß verband sich nicht bloß
mit dem Bewußtsein der Sicherheit, sondern mit ausgesprochener
Befriedigung im Gegensatz zu einigen vorangegangenen Versuchen,
in welchen unter Benutzung eines durch Wiederholung ähnlicher
Schlüsse gewonnenen Schemas geschlossen wurde, in welches
nur die im Einzelfall gegebenen Größen eingesetzt wurden. Bei
diesen nach einem Schema gewonnenen Resultaten wurde zwar
auch mit Sicherheit geschlossen. Diese Sicherheit gründete sich
aber nicht auf das Operieren mit diesen Prämissen. Der Vp.
hatte sich diese Benutzung eines Schemas wider Willen auf-
gedrängt. Sie perhorreszierte dieses Verfahren sehr, wodurch in
der Folge (diese Versuche gehörten zu den ersten, welche mit
Vp. angestellt wurden) eine wirkungskräftige Hemmung für das
Auftreten eines solchen Verfahrens gesetzt wurde. —
In allen Fällen, in welchen Vp. Kreise für das
Schließen verwendete, wurde der Schlußsatz aus dem
durch Syntbesis gewonnenen visuellen Komplex »ab-
gelesen«.
ß. Außer der Einordnung der in den Prämissen in Beziehung
ArchiT ftp Psychologie. XI. 6
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82
G. Störring.
gesetzten Größen in Kreise finden wir bei diesen Schlüssen eine
als relativ einfach zu charakterisierende Repräsentation der Be-
ziehungsgedanken auftreten, indem visuell gegebene Gruppen
von Buchstaben derjenigen Buchstabengrößen, zwischen denen
in den Prämissen Beziehungen festgesetzt sind, als Repräsentanten
auftreten. Auch diese Art der Repräsentation findet sich nur bei
einer Vp., und zwar bei derselben Vp., welche jene Operation
mit Kreisen vollzog. Bei dieser Vp. trat das Operieren mit solchen
Buchstabengruppen zunächst an die Stelle des Operierens mit Kreisen,
als die Schlüsse dieser Art etwas geläufig geworden waren. Die
Subsumtionsbeziehungen stellten sich dabei so dar, daß eine Gruppe
von Buchstaben der einen Buchstabengröße in eine Gruppe von
Buchstaben einer anderen Buchstabengröße bineingesetzt erscheint,
ho daß sich die Subsumtionsbeziehung : alle tri gehören zur Gattung f
etwa in folgender Weise repräsentativ darstellt:
f f f f f
f vi m f
f m f
f f
Diese visuellen Vorstellungen treten zunächst bei Schlüssen
auf, bei denen mit Kreisen operiert wird, später selbständig.
Vp. Bagt von der Verwendung dieser Repräsentanten in
Relation zur Verwendung der Kreise, daß sie bei .Ver-
wendung solcher Gruppen von Buchstaben den Eindruck
habe, es handle sich > um Darstellung der Sache selbst«,
während sie es bei Verwendung von Kreisen mit fremden
Hilfsmitteln zu tun zu haben glaubt.
Was die Operationsweise bei Verwendung solcher Buch-
stabengruppen betrifft, so ist dieselbe eine doppelte. Vp. schließt
hier einmal in ganz ähnlicher Weise wie bei Ver-
wendung von Kreisen auf Grund eines visuellen Kom-
plexes, der sich bei Behandlung der als Mittelbegriff
funktionierenden Buchstabengrößen als einer Größe (mit
oder ohne vorausgegangene Identifikation) ähnlich wie
bei Repräsentation durch Kreise unmittelbar aus den
Prämissen ergibt nach der ersten Operationsweise mit
räumlichen, zeitlichen usw. Beziehungen. Sodann finden
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Experimentelle Untersuchungen über einfache SchlußprozeBse. 83
wir hier eine Operationsweise, zu welcher wir bei den Identi-
fikationsschlttssen eine Analogie finden. Auf die Besprechung
dieser weiteren Operationsweise bei Verwendung dieser Art der
Repräsentation komme ich weiter unten zurück.
b) Ich habe nun wieder von Schlüssen mit Subsumtions-
beziehungen in beiden Prämissen ohne verschärfte Anweisung zu
sprechen, bei welchen ein »Ablesen« des Schlußsatzes aus dem
durch Synthesis gewonnenen Beziehungskomplex stattfindet, bei
komplexer Repräsentation der Beziehungsgedanken.
Ich gebe zunächst einen Fall komplexer Repräsentation.
Vp. K. Es wurde exponiert:
Alle d gehören zur Gattung c,
Alle c gehören zur Gattung v.
Also . . .
Die erste Prämisse wurde ohne deutliche Repräsentation auf-
gefaßt. Beim Lesen der zweiten Prämisse sagte sich Vp. bei
»Alle c«: dieselben c, zu welchen die d gehören; dann wurde
weitergelesen: gehören zur Gattung v. Diese Zusammenfassung
der Beziehungen in Worten fand nach Angabe der Vp. statt, um
die Beziehungen gut zu behalten. Nun stellte sich Vp. drei
Stufen von Größen vor: zuerst rf, dieses erscheint auf der
unteren Stufe, auf einer höheren Stufe liegt c, auf einer noch
höheren v. Damit verbindet sich der Gedanke: was niedriger
liegt, gehört zu dem höher Liegenden. Bei dieser Stufen Vorstellung
spielen einmal Gesichts Vorstellungen eine Rolle, aber nur eine
sekundäre, sie sind auch ganz undeutlich, d ist relativ sehr klein,
c geht höher hinauf, v überragt das c auch nach den verschie-
denen Richtungen außer nach unten; v geht noch höher hinauf
und umschließt das c, außer unten. Die Hauptrolle spielen Mnskel-
und Spannungsempfindungen beim Übergang von d auf c und von c
auf r. Bei diesen beiden Übergängen nimmt Vp. Muskel- und
Spannungsempfindungen in der Brust und in den Extremitäten
wahr, besonders in der Brust. Diese Empfindungen in der Brust
bezieht Vp. auf eine Tendenz zur Hebung des Brustkorbes. Vp.
glaubt, daß sie dabei auch tiefer atmet, kann dafür aber nicht
einstehen. Diese Muskel- und Spannungsempfindungen auf der
Brust verbinden sich mit einem angenehmen Gefühlszustand. Vp.
bezeichnet diesen Geftlhlszustand näher so: es ist ein ähnlicher
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G. Stürring.
Geftihlszustand, wie wenn man aus einem Wald auf eine freie
Fläche hinauskommt.
Aus dem geschaffenen Gesamtkomplex wurde der Schlußsatz:
Alle d gehören zur Gattung v »abgelesen« — Vp. hebt spontan
hervor, daß dieses Ablesen sich ganz so vollzogen habe, wie bei
Schlüssen mit räumlichen Beziehungen. Bewußtsein der Sicher-
heit. Dauer II1 r> Sekunden.
Wir haben es hier also mit einer undeutlich visuellen Re-
präsentation der in Beziehung zueinander gesetzten Größen zu tun,
die Beziehungen selbst werden repräsentiert durch die Bezie-
ziehungen der visuellen Vorstellungsinhalte, vor allem aber durch
Spannungs- und Bewegungsempfindungen des Hinaufsteigens von
einer Größe zur anderen, wobei diese Beziehungen nicht bloß als Re-
präsentanten dienen, sondern auch als Repräsentanten aufgefaßt wer-
den, und zwar in dem die Prozesse des Hinaufsteigens begleitenden
Gedanken: was niedriger liegt, gehört zu dem Höherliegenden. —
Der Schlußsatz wird aus dem Gesamtkomplex der Repräsen-
tanten »abgelesen« — Bezüglich dieses Ableaens bemerkt Vp. noch,
daß es derselbe Prozeß sei, wie er bei dem räumlichen Schließen
auftrete. Vp. hatte bis dahin Schlüsse mit räumlichen Beziehungen
nur nach der ersten Operationsweise vollzogen.
Wir sehen bei Vp. K. Spannungs- nnd Bewegungsenipfindungen
als Repräsentanten dieser Beziehungsgedanken neben visuellen
Vorstellungen häufig figurieren, sie treten meist besonders deutlich
hervor, wenn die visuellen Repräsentanten undeutlich sind. Ein
Zusammenwirken dieser beiden Arten von Repräsentanten findet
sich ebenso bei Vp. R.
2) Bei Sub8umtionsschlti88en mit Subsumtionsbeziehung in
beiden Prämissen findet sich sodann ohne verschärfte Anweisung
eine Operationsweise, welche einer bei Besprechung der Identitäts-
schlüsae neu hervorgetretenen Verfahrungsweise nahe verwandt ist
und im übrigen am meisten Beziehung zu der zweiten und dritten
Operationsweise mit räumlichen und zeitlichen Beziehungen hat.
Ich gebe zunächst einige Versuche.
Vp. E. Es wurde exponiert:
Manche t gehören zur Gattung /",
Alle f gehören zor Gattung d.
Also . . .
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Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schlußprozesse. 85
Vp. dachte beim Lesen der ersten Prämisse an die Möglich-
keit des Anftretens visueller Vorstellungen. Dieser Gedanke hatte
als Repräsentanten visuelle Vorstellungen, diese wurden ab-
gewiesen. Die als möglich gedachten visuellen Vorstellungen
traten aber nicht bei Auffassung der ersten Prämisse auf. Was
die Auffassung der zweiten Prämisse betrifft, so können hierfür
ebenfalls keine Repräsentanten angegeben werden. Während des
Lesens der zweiten Prämisse wurde eine Identifikation der
beiden f vollzogen. Der Schluß kam in der Weise zustande, daß
Vp. die Bestimmung der zweiten Prämisse: alle f gehören zur
Gattung d (auf Grund der ersten Prämisse) modifizierte in: alle f
mitsamt den manchen i gehören zur Gattung d. Dann wurde
festgesetzt: Manche i gehören zur Gattung d. Bewußtsein der
Sicherheit. Dauer 8y5 Sekunden.
Ich gebe zunächst noch einen Versuch derselben Vp.
Vp. E. Es wurde exponiert:
Manche p gehören zur
Gattung s. Alle s gehören
zur Gattung u .
Also . . .
Beim Lesen und Auffassen der ersten Prämisse sind nach An-
gabe der Vp. vielleicht undeutliche visuelle Vorstellungen auf-
getreten, sonst keine Repräsentanten. Die zweite Prämisse wurde
ohne angebbare Repräsentanten aufgefaßt Die Identifikation
von »alle s* und »Gattung s« vollzog sich beim Übergang zu
>alle 5c der zweiten Prämisse merkbar. Der Schluß vollzog sich
folgendermaßen: Manche p sind »hineingedacht« in Gattung s.
Dann hat Vp. sich gesagt: die s mit dem p gehören zur Gattung u.
Sie erkannte damit als gesetzt: p gehören zur Gattung u. Be-
wußtsein der Sicherheit. Dauer 62/5 Sekunden.
Vp. hebt bei dieser Schluß weise wiederholt hervor, daß der
Schluß eigentlich vollzogen sei, bevor der Schlußsatz (auch nur
im Gedanken) zur Entwicklung kommt, im letzten Fall wäre dem-
nach also der Schluß eigentlich vollzogen mit der Bestimmung, die s
mit dem p gehören zur Gattung u*. Wir haben die Beziehung
dieser Bestimmung zu dem Schlußsatz »manche p gehören zur
Gattung w« später näher ins Auge zu fassen und sie zu dem
»Ablesen« der ersten Operationsweise in Relation zu setzen.
Bei Vp. E. finden wir diese Schlußweise in unseren Versuchen
*
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G. Störring,
nur, wenn der Obersatz an zweiter Stelle steht. Vp. K. wendet
diese Schiaßweise auch in Fällen an, wo die erste Prämisse Obersatz
ist, allerdings weniger häufig als bei anderer Stellung der Prämisse.
Es finden sich bei dieser Vp. auch manche Nuancierungen der
Operationsweise. Vp. K. wendet diese Schlußweise zuerst an mit
partieller Verwendung der Buchstabengruppen als Repräsentanten,
die wir bei Besprechung der ersten Operationsweise bei Sub-
sumtionBSchlüssen kennen lernten.
Vp. K. Es wurde exponiert:
Alle d gehören zur Gattung m,
Alle k gehören zur Gattung d.
Also . . .
Beim Lesen und Auffassen der Prämissen stellen sich zunächst
Kreise als Repräsentanten dar. Die Verwendung derselben wurde
aber abgewiesen, weil Vp. ein schematisches Operieren mit
denselben befürchtete. Dann sagte sich Vp.: da alle k zwischen
die d hineingehören — dabei war ihr ein Komplex von Buchstaben
präsent, bei dem in eine Gruppe der Buchstaben d einige k
hineingeschrieben waren in beistehender Weise:
d d
d d
Vp. sagte sich also unter Verwendung dieses Gruppenbildes: da
alle k zwischen die d hineingehören, so müssen sie mit den d zu-
sammen zu m gehören. Mithin alle k gehören zur Gattung m. —
Über das Bewußtsein der Identität von »allen d« und »Gattung d<
wird noch von Vp. auf Frage des Experimentators hin bemerkt,
daß dieselbe im Bewußtsein gar nicht hervorgehoben zu sein
scheint. Bewußtsein der Sicherheit. Dauer 20 Sekunden.
Diese Art der Verwendung von Buchstabengruppen ist nur
einmal bei Vp. K. aufgetreten. Nicht nur das Operieren mit
Kreisen als Repräsentanten, sondern auch die Verwendung von
Buchstabengruppen tritt nur in der ersten Zeit des Operierens mit
diesen Schlüssen bei dieser Vp. auf. Die Prozesse unterscheiden
sich von den bei Vp. E. hervorgetretenen außer durch das
Vorkommen bei Stellung des Obersatzes an erster Stelle durch
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Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schlußprozesse. 87
die eigenartige Repräsentation des Untersatzes. Der Repräsen-
tation des Beziehnngsgedankens im Untersatz dnrch Buchstaben-
gruppen beim Fehlen dieser Repräsentation für den Beziehungs-
gedanken des Obersatzes entspricht bei Vp. E. die stärkere
Betonung des Begriffs »gehören« beim Untersatz, die Bestimmung,
daß die eine Größe in die andere hineingehört, wodurch die Ein-
setzung des terminus minor in den Obersatz vorbereitet wird.
In den übrigen hierhergehörigen Versuchen der Vp. K., die mir
in beträchtlicher Anzahl vorliegen, ist die Operationsweise ent-
weder nnr in der Art der Repräsentation von der Operations weise
der Vp. E. abweichend, oder es spielt die Hauptrolle die Syn-
thesis der Beziehungsgedanken der Prämisse in einem Satz. Von
der ersteren Art gebe ich einen Fall.
Vp. K. Es wurde exponiert:
Alle u gehören zur Gattung x,
Alle x gehören zur Gattung //.
Also . . .
Vp. sah zunächst, daß dieselbe Art und Stellung der Prämissen
vorlag wie beim vorangegangenen (hier nicht besprochenen) Ver-
such. Dann hatte sie die Tendenz, nach einem Schema zu
schließen. Das wurde mit Mühe gehemmt. Vp. mußte sich
zwingen, die Prämissen zu lesen. Die Auffassung derselben war
erschwert. Sie mußten zweimal gelesen werden. Erst beim
zweiten Lesen trat ein deutliches Auffassen der Prämissen ein.
Vp. sagte sich bei der ersten Prämisse: alle u gehören unter
die Gattung x. Dabei wurde das x als eine Stufe höher als u
liegend aufgefaßt. Vp. hatte dabei die Bewegungsempfindungen
des Hinaufsteigens und die visuelle Vorstellung einer Treppe.
Ahnlich wurde bei der zweiten Prämisse das y als eine Stufe
höher als x liegend aufgefaßt, dazu waren wieder die Bewegungs-
empfindungen des Hinaufsteigens vorhanden. Außerdem hatte Vp.
die visuelle Vorstellung einer Treppe mit drei Stufen. Sie gibt
näher an, es war die visuelle Vorstellung nicht einer wirklichen,
sondern einer gezeichneten Treppe. Ftlr den Schluß hat, wie Vp.
glaubt, diese Vorstellung der drei Stufen nicht viel geholfen. Ftlr
den Schluß scheint ihr die Hauptrolle das Wort »unter« gespielt
zu haben: alle u gehören unter die Gattung x. Auf Grund dieser
Bestimmung wurde nämlich gesagt: alle x gehören mit den u
zusammen zur Gattung y. Damit war gesetzt: alle u gehören
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88
G. Stlirring,
zur Gattung y. Bewußtsein der Sicherheit. Dauer ll4/5 Se-
kunden.
In einzelnen Fällen dieser Art des Operierens haben nicht
bloß die Beziehungsgedanken der Prämissen ihre Repräsentanten,
sondern es bildet sich auch ein Repräsentant für das Ein-
setzen des terminus minor in den Obersatz aus — und
zwar in folgender Weise. Die dem u und dem ersten x des
letztbesprochenen Schlusses entsprechenden Buchstaben wandern
nach der Stelle des zweiten x und verschmelzen mit diesem.
Dieser Repräsentant des Einsetzens wird, wie man denken kann,
als solcher aufgefaßt. Bei andern Vp. habe ich etwas Ahnliches
nicht auftreten sehen.
Ich sagte, daß Vp. K sodann häufig mit einem Satz operiert,
in welchen sie die Beziehungsgedanken der Prämissen zusammen-
zieht. Diese Zusammenfassung der Beziehungsgedanken in einem
Satz vollzieht sich different bei differenter Stellung des Obersatzes.
Unsere Schlußweise sehe ich nur an diejenige Zusammenfassung
der Beziehungsgedanken in einem Satz sich anschließen, welche
da stattfindet, wo der Obersatz die zweite Stelle einnimmt.
Das wird uns aus der Art der Zusammenfassung verständlich
werden.
Vp. K. Es wurde exponiert:
Manche x gehören zur Gattung
Alle p gehören zur Gattung g.
Also . . .
Vp. las: Manche x gehören zur Gattung p, dann wartete sie
etwas zum Zweck guter Einprägung. Darauf ging sie zur zweiten
Prämisse Uber; als sie »alle p* gelesen hatte, blickte sie zurück
auf die erste Prämisse, dachte dabei an die in dieser gesetzte
Beziehung und sagte nun: Diese p, zu denen manche x ge-
hören, — dann las sie in der zweiten Prämisse weiter: gehören
zur Gattung g. Vp. glaubt, hiermit sei der Schluß fertig ge-
wesen. Diese Feststellung selbst aber war fertig mit dem Lesen
und AufTassen der zweiten Prämisse. Was da noch fehlte, war
nur die »Formulierung«: manche x gehören zur Gattung g. Diese
Formulierung erfolgte ohne Blickrichtung auf manche x. Vp. tilgt
hinzu, daß die »Formulierung nach dem Schluß« so schnell er-
folgte, daß sie zur Blickbewegung keine Zeit gehabt habe. Be-
wußtsein der Sicherheit. Dauer etwa 10 Sekunden. —
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Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schlußprozesse. 89
Ich gebe noch einen dieser Fälle:
Vp. K. Es wurde exponiert:
Manche x gehören zur
Gattung/*. Alle f gehören
zur Gattung u.
Also . . .
Beim Lesen der ersten Prämisse werden die Worte »gehören
zur Gattung« besonders betont. »Manche« war dabei nur als
etwas Nebensächliches im Bewußtsein. Dann begann Vp. die
zweite Prämisse zu lesen. Bei »alle /*« blieb Vp. stehen und
sagte sich: Diese f (die beiden f wurden dabei als Größen von
gleichem Wert aufgefaßt), zu denen manche x gehören, —
dann erst las sie weiter — gehören zur Gattung u. Dann
wiederholte Vp. : alle f, zu denen manche * gehören, gehören zur
Gattung u. Dann wurde herausgehoben: manche x gehören zur
Gattung u. Bewußtsein der Sicherheit. Dauer 16 Vs Sekunden. —
Vp. bemerkt Uber die Beziehung des Schlußsatzes zu der
vorausgegangenen komplexen Feststellung — und diese
Bemerkung wiederholt sich bei ähnlichen Versuchen — , die Be-
ziehungen jener komplexen Feststellung seien als nicht
von Vp. gesetzt aufgefaßt worden, sondern als in den
Größen vorhanden, der Schlußsatz aber wurde nicht
aufgefaßt als bloß gegebene Größe, sondern als durch
Leistung der Vp. zum Bewußtsein gebrachte Beziehung,
er wurde eben aus der Kette herausgehoben.
Hervorzuheben ist noch, daß Vp. bei den späteren Versuchen
dieser Art von einer Modifikation spricht, welche die komplexe
Feststellung erfahrt, bevor der Schlußsatz herausgehoben wird:
eine Feststellung, wie die des vorliegenden Versuches: »alle f7
zu denen manche * gehören, gehören zur Gattung wird modi-
fiziert in: »alle f und (manche) x gehören zusammen und diese
ganzen Größen gehören zur Gattung u*. Daraus wird dann
»herausgegriffen«: manche x gehören zur Gattung u.
Wenn eine Zusammenfassung der Beziehungsgedanken in einem
Satz da stattfindet, wo der Obersatz an erster Stelle steht, voll-
zieht sie sich in der Weise, daß, wenn etwa die Prämissen dar-
geboten werden:
Alle e gehören zur Gattung
Viele t gehören zur Gattung f,
I
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90
G. Störring,
Vp. nach dem Lesen der zweiten Prämisse: »viele t gehören zur
Gattung c* sagt: zu diesen e} welche zur Gattung f gehören, so-
daß sie damit zu der Bestimmung gekommen ist: viele t gehören
zu diesen e, welche zur Gattung f gehören. Bei dieser Zu-
sammenfassung wird also von unserer Vp. keine Einsetzung des
terminus minor in den Obersatz vollzogen. Hier findet vielmehr
eine Feststellung der Reihenfolge t, e, f statt und auf Grund der-
selben ein »Ablesen« des Schlußsatzes. Diese Feststellung der
Reihenfolge liegt hier ja auch näher, als wo die Zusammenfassung
wie in einem früheren Fall lautet: diese /, zu denen manche z
gehören, gehören zur Gattung u. Denn im ersteren Falle ist
mit der Auffassung der Klangbilder dieses Satzes in der Sukzes-
sion der aufgefaßten Buchstabengrößen die Reihenfolge der Buch-
stabengrößen schon in der Weise gegeben, wie sie als Repräsen-
tant dienen kann in der Reihenfolge t, e, f; bei der letzten Zu-
sammenfassung ist das aber, wie man sieht, nicht der Fall: dort
ist uns mit der Auffassung der Klangbilder die Sukzession f, z, u
gegeben, während die als Repräsentant der Beziehungsgedanken,
verwertbare Reihenfolge /", u lautet.
Daß sich hier dann weiter an die Verwertung der Reihenfolge
ein Schließen nach der ersten Operationsweise und nicht nach
der vierten anschließt, ist leicht verständlich: die Zusammen-
fassung der Beziehungsgedanken in einem Satz bringt hier mit
sich, daß die Beziehungsgedanken und die bezogenen Größen
gut präsent gehalten werden. Nur wo das nicht der Fall ist
erscheint es ökonomisch, nach der vierten Operationsweise die
weitere, sich auf den Gedanken einer Gleichheit der Beziehung
gründende Feststellung zu machen, daß die und die Buch-
stabengröße die höchste Gattung darstelle und deshalb auch
höher sei als das Ausgangsglied, welches dann eventuell durch
Hinblicken auf die Prämissen gewonnen wird — oder die ähn-
lich gegründete Feststellung zu machen, daß die und die
Buchstabengröße (terminus minor) die niedrigste Gattung dar-
stelle usw. —
Die in Rede stehende Schlußweise, welche dem
Einsetzungsverfahren der Identitätsschlüsse entspricht,
finden wir auch bei unsern beiden andern Vp., bei
Vp. F. allerdings nur, wenn die Anweisung etwas modi-
fiziert wird, wenn nämlich Vp. aufgefordert wird, nicht
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Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schlußprozesse. 91
nur mit absoluter Sicherheit zu schließen, sondern zu-
gleich so, daß sie sich des Grundes für die Richtigkeit
des Schlußsatzes bewußt ist. Dann operiert Vp. F., etwa
bei den Prämissen:
Alle d gehören zur Gattung m,
Alle k gehören zur Gattung d.
Also . . .
in folgender Weise: »wenn Gattung d die k umfaßt, so gehört
auch k zur Gattung m*. Vp. sagt: »so gehört auch k zur Gat-
tung m*. Sie gründet also auf den Untersatz die Behauptung,
daß k und d zur Gattung m gehören. Man erkennt damit, daß
hier die gleiche Betrachtungsweise vorliegt, die wir bisher an
Versuchen von Vp. E. und K. demonstrierten.
Bei Vp. F. findet sich daneben eine wesentliche Modi-
fikation dieser Operationsweise, eine Modifikation in
solcher Weise, daß die Analogie dieser Schlußweise mit dem
EinBetzungsverfahren bei Gleichheitsschlüssen eine vollständige
wird.
Es sind nur zwei Fälle dieser Art aufgetreten. Wären sie
nicht aufgetreten, so hätte man das Vorkommen dieser Operations-
weise per Analogiebetrachtung erschließen können — und zwar
nicht nur aus einem Verfahren bei Identitätsschlüssen , sondern
auch aus der völlig analogen Operation bei Schlüssen mit Sub-
sumtion in einer Prämisse. Diese Operationsweise tritt nämlich
bei diesen Schlüssen sowohl dann, wenn der Obersatz eine In-
härenzbeziehung behauptet als auch dann, wenn er eine Sub-
samtionsbeziehung negiert, häufig auf. Ich gebe beide Fälle,
weil sich so zugleich die Bedingungen, unter denen diese Opera-
n'onsweisen hier auftreten, mit einiger Wahrscheinlichkeit be-
stimmen lassen.
Vp. F. Es wurde exponiert:
Alle i gehören zur
Gattung o. Alle x
gehören zur Gattung i.
Also . . .
Fttr die Auffassung der ersten Prämisse ist kein Repräsentant
angebbar. Dann ging Vp. zur zweiten Prämisse über und las
»alle Während des Weiterlesens von hier ans sprang der
Blick nach dem zweiten i hinüber. »Um deutlich beobachten zu
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6. Stürriug,
können < las Vp. die zweite Prämisse, ohne anf die erste zn
blicken, dreimal. Innerlich sagte Vp. sich nnn: was fängst Da
mit dieser Angabe an? Du mußt sie doch zur ersten Prämisse in
Beziehung setzen. Wie machst Du das? Vp. fragte sich dann,
wo in der ersten Prämisse von * die Rede sei (!) . Dabei fand sie
die Stelle »alle u. Vp. ging nun weiter aus von der Erkenntnis,
daß die z zu den i gehören und sagte sich, daß also * für alle i
»einzusetzen sei«. Während dieses Vorganges dachte Vp. nicht
an Gattung o und sah auch nicht die Schriftzeichen »Gattung 0«
des exponierten Zettels. Als sich die Einsetzung vollzogen hatte,
sah Vp. die Schriftzeichen »Gattung 0« — ob vor dem Schluß-
urteil oder später, weiß Vp. nicht sicher anzugeben. Bewußtsein
der Sicherheit. Dauer 312/5 Sekunden.
Der andere Versuch dieser Art ist folgender:
Vp. F. Es wurde exponiert:
Alle d gehören zur
Gattung v. Manche z
gehören zur Gattung d.
Also . . .
Die erste Prämisse wurde ohne angebbare Repräsentation auf-
gefaßt. Beim Lesen von »manche z* ging der Blick auf das
zweite d Uber, von da zurück auf »alle d*. Vp. hatte nun »das
Bewußtsein, so und so muß der Schluß jetzt sein, ohne daß irgend-
welche bestimmte Größen da waren«. Dieser Gedanke verband
sich mit dem Bewußtsein der Sicherheit. Vp. gibt an, dieser Ge-
danke erscheine ihr jetzt irrationell. Nun wurden die Prä-
missen nochmal gelesen, und zwar die erste Prämisse einmal, die
zweite Prämisse aber las Vp. zweimal. Als klar aufgefaßt war,
daß manche z zur Gattung d gehören, wurden »manche z< in
die erste Prämisse für »alle d* »eingesetzt«. Vp. hatte nun
das Bewußtsein, daß manche z zu dem gehören, was beim Zuende-
lesen der ersten Prämisse kommt. Dieser Gedanke verband sich
mit dem Bewußtsein der Sicherheit. Die Buchstabengröße v hatte
Vp. angeblich nicht mehr im Bewußtsein. Dann trat die Vor-
1) Diese Absicht hat sich nicht auf Grund einer Anweisung des Experi-
mentators eingestellt, sondern weil Vp. wußte, daß sie ein genaues Referat
zu geben hatte. Es wurde vom Experimentator wiederholt beim Referat
Uber solches Vorgehen darauf hingewiesen, daß die Absicht, zu beobachten
während des Versuchs auf die Prozesse störend wirke.
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Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schlußprozesse. 93
Stellung v wieder auf in dem bestimmten Schiaß, manche x ge-
hören zur Gattung v. Erat nach Vollzug des Schlusses ging der
Blick über auf das Schriftzeichen v des exponierten Zettels. Vp.
hebt noch hervor, daß die Bestimmung »manche« x »auf den
Schlußprozeß keinen Einfluß gehabt« habe; gemeint ist, daß mit
der Bestimmung »manche x« nicht anders operiert wurde, als
wenn die Bestimmung »alle« x gelautet hätte. Bewußtsein der
Sicherheit. Dauer etwa 20 Sekunden.
Zunächst eine kurze Bemerkung bezüglich der Angabe von
Vp. F. in diesem Versuch, sie habe das »Bewußtsein gehabt, so
und so muß der Schluß jetzt sein, ohne daß irgendwelche be-
stimmte Größen da waren«, wobei dieser Gedanke sich mit dem
Bewußtsein der Sicherheit verband. Dieser Gedanke der Vp.
wird vielleicht verständlich, wenn man berücksichtigt, daß zu-
weilen die Beziehungsgedanken, auch in einer Gruppierung,
wie sie unmittelbar der Entwicklung des Schlußsatzes vorangehen,
viel deutlicher hervortreten als die bezogenen Größen. Hier
würden bei der Entwicklung des Schlußsatzes die bezogenen
Größen so sehr in den Hintergrund des Bewußtseins getreten sein,
daß eine Fixierung des Beziehungsgedankens mit den bezogenen
Größen nicht mehr möglich war. Doch dies nebenbei.
Wir finden in diesen Versuchen also nicht, wie in den oben
näher besprochenen der Vp. E., K. und von Vp. F. selbst (unter
der Anweisung, sich von dem Grund der Geltung des Schluß-
satzes Rechenschaft zu geben) den tenninus minor neben den
Mittelbegriff in den Obersatz eingesetzt, sondern wir finden den
terminus minor für den Mittelbegriff in den Obersatz eingesetzt. —
Die Frage, wie Vp. zu dieser Einsetzung kommt, erörtern wir
später.
Hier wollen wir zunächst noch eine Nebenfrage zu erledigen
snchen: wie es kommt, daß diese Betrachtungsweise nur in zwei
Versuchen auftritt. In beiden Versuchen geht dieser Betrachtungs-
weise eine bei dieser einfachen Anweisung ungewöhnliche Er-
scheinung voran: Vp. liest den Untersatz, auf den sich diese außer-
gewöhnliche Betrachtungsweise gründet, mehrmals, im einen
Fall zweimal, im anderen Fall sogar dreimal. Mit dieser
längeren Verarbeitung des Vordersatzes muß also wohl
seine veränderte Verwertung zusammenhängen. Für eine
eventuelle weitergehende Bestimmung bedürfte es einer näheren
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94
G. Stürring.
Charakteristik dieser Verwertung. Ich gebe dieselbe in der
allgemeinen Besprechung dieser der Einsetzung bei Identitäts-
schlussen analogen Operationsweise, wozu ich mich jetzt wende.
Wir sehen alle unsere Vp. eine Einsetzung des ter-
minus minor in den Obersatz neben den Mittelbegriff
vollziehen. Vp. E. verändert den Obersatz: »alle f gehören zur
Gattung p< in: »alle f mitsamt den i gehören zur Gattung p* —
und ganz analog in den anderen Fällen. Vp. E. verändert den
Obersatz: »alle x gehören zur Gattung y*, in » alle x gehören mit
den u zusammen zur Gattung ?/«, oder in: »alle x mit u als
Ganzes gehören zur Gattung oder in *u gehört mit den x
zusammen zur Gattung y*. Man sieht, hier herrscht Überein-
stimmung in dem Gedanken. Diese Übereinstimmung besteht
auch mit der oben besprochenen Operationsweise von Vp. F., welche
von der Anweisung abhängig war, sich zugleich über den Grund des
Schlußurteils Rechenschaft abzulegen, indem sie den Obersatz;
»alle d gehören zur Gattung m«, modifiziert in »auch k gehört
zur Gattung m«, d. h. k und d gehören zur Gattung m und ganz
ähnlich in den anderen Fällen. Die gleiche Operationsweise tritt
gelegentlich auch bei Vp. K. auf.
Was nun den Grund für diese Einsetzung anbetrifft, so haben
wir auch hier bei den verschiedenen Vp. den gleichen Gedanken
zu konstatieren. Vp. E. sagt bei den Prämissen:
Alle s gehören zur Gattung u,
Alle p gehören zur Gattung s —
alle p gehören in die s hinein; hier liegt also offenbar die
Auffassung der Umfangsbe Ziehungen von p und s vor.
Der Gedanke an das Verhältnis des Umfangs der Begriffe steht
hier jedenfalls im Blickpunkt des Bewußtseins und nicht der Ge-
danke ihrer inhaltlichen Beziehungen. Ganz denselben Ausdruck
sogar braucht Vp. F. da, wo sie mit diesen Schlüssen häufiger
operiert: nämlich bei verschärfter Anweisung, wovon wir später
näher sprechen. Wenn bei Vp. K. als Repräsentant bei Gelegen-
heit der Auffassung des Untersatzes sich Buchstabengruppen in
der oben angegebenen Weise darstellen, so handelt es sich offenbar
um dieselbe Art der Auffassung; darauf weist auch hin eine
Umgestaltung des Untersatzes etwa bei der Prämisse: alle u ge-
hören zur Gattung x in: alle u gehören unter die Gattung x —
und zuletzt häufig auftretende Ausdrücke bei der Einsetzung oder
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Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schlußprozesse. 95
Ausdrücke, welche die Einsetzung charakterisieren sollen, wie die :
alle * gehören mit den b als Ganzes zn /.
Wenn aber in den zuletzt gegebenen Prämissen alle p als zum
Umfang der Geltung s gehörig aufgefaßt werden, so ist hiermit der
Grund gegeben, für die Modifikation des Obersatzes: »alle s ge-
hören zur Gattung //« in: »alle s mit den p gehören zur Gattung w«.
Der Untersatz ergibt aber, daß mit allen s die p schon gesetzt
sind. Wir können also sagen: der Grund für die in Hede
stehende Einsetzung des terminus minor in den Obersatz
neben dem Mittelbegriff liegt darin, daß der Untersatz
die Auffassung bedingt, daß die mit dem terminus minor
gemeinten Größen zum Umfang des Begriffs des terminus
medius gehören, so daß mit der Setzung der Gesamtheit
der Exemplare dieses Begriffs, wie sie im Obersatz
vollzogen ist, die mit dem terminus minor gemeinten
Größen mitgesetzt sind.
Wir haben hier zunächst die eine Art der Einsetzung, die
hier vorkommt, charakterisiert, wir haben sodann nach dem Grunde
dieser Einsetzung gefragt, wir haben nun noch zuletzt die Frage
zu erörtern, wie das Resultat dieser Einsetzung für die
Bildung des Schlußsatzes verwertet wird — oder, um
nichts zu präjudizieren, in welcher Relation das Re-
sultat dieser Einsetzung zum Schlußsatz steht.
Die Vp. geben an, daß mit dem Resultat dieser Einsetzung
der Schluß eigentlich schon gewonnen sei. Gelegentlich wird von
einem »Herausheben« oder einem »Herausgreifen« des Schluß-
satzes aus dem gewonnenen Resultat gesprochen. Was ist darunter
zu verstehen und in welcher Beziehung steht dieses »Heraus-
heben« des Schlußsatzes aus dem gewonnenen komplexen Ge-
danken zu dem »Ablesen« bei der ersten Operationsweise? Dieses
Heraasheben, Herausgreifen etwa des Schlußsatzes »manche i* ge-
hören zur Gattung p* aus dem komplexen Gedanken: Alle *f mit
samt den * gehören zur Gattung p* kommt offenbar durch Ab-
strahieren von einem Teil des Behaupteten zustande.
Wir können also sagen: Aus dem durch die besprochene
Einsetzung gewonnenen Resultat wird der Schlußsatz
durch Abstraktion von einen» Teil des in diesem Resul-
tat der Einsetzung Behaupteten gewonnen. Diese Ab-
straktion aber ist eindeutig bestimmt durch den Gesichts-
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96
G. Störring,
punkt, welcher an den in diesem Resultat gedachten
Tatbestand herangetragen wird. Dieser Gesichtspunkt
selbst aber ist durch die Einstellung zum Schließen ge-
geben. Setzen wir dieses »Herausheben« noch in Gegensatz zum
»Ablesen« der ersten Operations weise: Beim »Ablesen« wurde
auf Grund der Anschauungen, wie sie in der Repräsen-
tation der behaupteten Beziehungen gegeben waren,
unter Mitwirkung eines bestimmten, durch die Ein-
stellung zum Schließen gegebenen Gesichtspunktes, ein
bis dahin noch nicht vorhandener Beziehungsgedanke
entwickelt, die Beziehung selbst war schon in dem an-
schaulichen Gesamtkomplex gegeben.
Man wird vielleicht fragen, wie es dann mit den Schlüssen
stehe, bei denen diese Zusammenfassung der Beziehungs-
gedanken in einem Satz der Gewinnung des Schlußsatzes
voraufging. Dort scheine doch diese Zusammenfassung der Be-
ziehungsgedanken eine ähnliche Rolle gespielt zu haben, wie die
eben besprochene Einsetzung; von dieser Zusammenfassung wird
auch gelegentlich gesagt, daß mit ihr der Schluß eigentlich schon
vollzogen sei. Die Vp., welche mit diesem Hilfsmittel operiert,
gibt bei den späteren Versuchen dieser Art an, daß mit dieser
Zusammenfassung noch vor Gewinnung des Schlußsatzes eine
Modifikation vollzogen werde und sodann, daß diese Zusammen-
fassung der Beziehungsgedanken in einem Satz nur dazu diene,
die Gesamtheit der Beziehungsgedanken festzuhalten. Diese Modifi-
kation ist folgende: Aus der Zusammenfassung der Beziehungen
in einem Satz, der etwa lautet: »Diese p, zu denen manche * ge-
hören, gehören zur Gattung g» wird die Bestimmung: alle f und
manche x gehören zusammen und diese ganzen Größen
gehören zur Gattung g*. Man sieht: nach Vollzug dieser Modi-
fikation haben wir es mit einer vollzogenen Einsetzung des ter-
minus minor neben den Mittelbegriff in den Obersatz zu tun,
woraus dann der Schlußsatz durch eine auf Grund des bekannten
Gesichtspunkt determinierte Abstraktion herausgehoben wird.
Ist aber nach dieser Modifikation der Zusammenfassung der
Beziehungsgedanken erst die besprochene Einsetzung vollzogen,
so werden wir die Einsetzung eben in der Zusammenfassung noch
nicht vollzogen setzen können, indem wir die später häufig auf-
tretende Bemerkung der Vp. hervorziehen, daß diese Zusammen-
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Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schlußprozesse. 97
fassang in einem Satz nnr dazu diene, die Beziehungs-
gedanken festzuhalten. Wir würden uns dann mit der dieser
Annahme, welche auf die Angabe der Vp. in den späteren
Versuchen dieser Art gestützt ist, widerstreitenden Angabe der Vp.
in einer der früheren Versuche, daß mit dem Vollzug dieser
Zusammenstellung der Schluß eigentlich schon vollzogen sei, mit
einiger Wahrscheinlichkeit so abfinden können, daß wir sagen:
in den ersten Versuchen spricht Vp. von jener Modifikation nicht,
sie vermag sie noch nicht als besonderen Prozeß abznheben von
der Zusammenfassung in einem Satz (es wird auch später bei Ab-
hebung dieser Modifikation die Bemerkung gemacht, daß sie sich
sehr schnell vollziehe); wird aber mit dieser Zusammenfassung
in Worten diese Modifikation zusammengedacht, so ist es aller-
dings verständlich, daß behauptet werden kann, daß damit der
Schluß schon vollzogen sei.
Bei partikularen Untersätzen haben wir Bemerkungen der
Vp. gefunden, wie die: »Die Bestimmung , manche' war bei den
Operationen nur als etwas Nebensächliches im Bewußtsein.« Wir
können also sagen, daß die Vp. mit partikularen Unter-
sätzen ganz ähnlich operieren wie mit allgemeinen.
Wir sprachen oben von zweifacher Einsetzung. Der terminus
minor wird in der einen Reihe von Fällen neben den Mittelbe-
griff in den Obersatz eingesetzt, in der anderen an Stelle des
Mittelbegriffs. Die zweite Art der Fälle haben wir also noch mit
Rücksicht auf die einzelnen Schritte bei dieser Operations weise
zu besprechen.
Wir sahen, daß diese Operationsweise bei Schlüssen mit Sub-
sumtion in beiden Prämissen nur bei einer unserer Vp. auftritt
and bei dieser nur in zwei Fällen, dagegen häufig bei Schlüssen mit
Subsumtionsbeziehung in einer Prämisse. Wir sahen diese Ope-
rationsweise hier auftreten bei längerer Verarbeitung, mehrfachem
Lesen des Untersatzes. Nach solcher Verarbeitung tritt dann
bei den Prämissen
Alle i gehören zur Gattung 0,
Alle * gehören zur Gattung i,
die Bestimmung auf, daß x für »alle U einzusetzen sei; und ganz
analog in dem anderen Fall.
Es fragt sich nun aber : wie kommt Vp. zu dieser Bestimmung ?
Diese Versuche geben keinen näheren Aufschluß darüber. In den
Archiv fttr P»jch«logi«. XL 7
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98
G. Störring.
analogen Versuchen bei Schlüssen mit Subsnmtionsbeziehnng in
einer Prämisse finden wir häufig die Angabe, daß eine allge-
meine Feststellung hier mitgewirkt hat; diese würde bei
den soeben angenommenen Prämissen lauten: was von *
gilt, gilt auch von x.
Können wir nun vielleicht auch eine Antwort auf die Frage
geben, wie die Vp. zu dieser allgemeinen Feststellung: »was von i
gilt, gilt auch von x* gekommen sind? Es läßt sich bei vielen
Versuchen, wie wir sehen werden, deutlich erkennen, daß
diese allgemeine Feststellung bedingt ist durch die
Auffassung der i als zum Umfang der * gehörig, als
Teil der x.
Man erkennt leicht, daß zu jener allgemeinen Feststellung,
»was von i gilt, gilt auch von x* auch die Erkenntnis der inhalt-
lichen Beziehungen der Größen i und x in dem Untersatz, alle
i gehören zur Gattung fuhren kann. Ich kann aber diese Be-
trachtungsweise in meinen Versuchen bis jetzt nicht sicher nach-
weisen. Sie liegt also wohl weniger nahe.
Wie steht's nun, wenn diese Einsetzung vollzogen ist, mit der
Relation des Resultats zum Schlußsatz? Bei der früher besproche-
nen Einsetzung wurde aus dem durch die Einsetzung gewonnenen
Resultat der Schlußsatz herausgehoben, d. h. es war zur Gewinnung
des Schlußsatzes noch eine durch den mit der Einstellung zum
Schließen gegebenen Gesichtspunkt determinierte Abstraktion aus
dem Gesamttatbestand des Behaupteten nötig. Wie stehts damit
hier? Wenn hier die Einsetzung der x an Stelle von »alle »«
vollzogen ist, so ist der Schlußsatz auch schon gewonnen. Wir
wollen diese Einsetzung die »komplexe« nennen und die zuerst
besprochene die »einfache«.
Wir kommen also zu folgender Bestimmung: Der Terminus
minor wird bei Schlüssen mit Subsumtionsbeziehung in
beiden Prämissen nicht nur neben dem terminns medius
in den Obersatz eingesetzt, sondern in einigen Fällen
auch an Stelle des terminns medius. Was zu dieser Ein-
setzung führt, läßt sich aus unseren Versuchen nicht er-
kennen. Es liegen aber ganz analoge Verhältnisse bei
manchen Versuchen mit Schlüssen mit Subsumtionsbe-
ziehung in nur einer Prämisse vor. Auf Grund derselben
wird es wahrscheinlich, daß der Untersatz dazu führt,
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Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schiaßprozesse. 99
die als terminus minor funktionierende Größe als zum
Umfang der als terminns medins funktionierenden auf-
zufassen — und zu sagen: was von allen Exemplaren
der letzteren Größe gilt, gilt auch von der ersteren,
weil sie ein Teil dieser Exemplare sind. Mit Vollzug
der Einsetzung ist der Schlußsatz gewonnen im Gegen-
satz zu der zuerst besprochenen Art der Einsetzung.
Das Einsetzungsverfahren entspricht der zweiten und
dritten Operationsweise bei den Schlüssen mit räum-
lichen und zeitlichen Beziehungen, wenigstens der aus-
gebildeten Form dieser Operationsweisen. Diese beiden
Operationsweisen stimmen darin Uberein, daß zunächst eine Be-
ziehung zwischen dem Mittelbegriff und einem der beiden anderen
Begriffe gesetzt ist (wobei der Beziehungsgedanke entweder durch
einen Ubergang in dem repräsentativen Anschauungskomplex vom
Mittelbegriff zu diesem anderen Begriff oder einen entgegengesetzten
Ubergang bestimmt ist) und daß nun (auf Grund des Gedankens
der Gleichheit oder des Gegensatzes der Richtungen) die Erkennt-
nis gewonnen wird, daß eine der beiden anderen Größen in dem
repräsentativen Anschauungskomplex noch mehr1) nach der Rich-
tung hin liegt, nach welcher der Mittelbegriff von der zweiten der
beiden anderen Größen aus gerechnet gelegen ist. Dem ersteren
der beiden anderen Begriffe entspricht hier der terminus minor.
Hier wird nun alles, was vom Mittelbegriff gilt, allerdings nicht
als noch mehr oder erst recht von dem terminus minor
geltend gedacht, das bringt die Eigenart der Subsumtionsbeziehung
mit sich, hier ist dafür der auf eine ähnliche Vergleichung ge-
gründete Gedanke bestimmend, daß etwas, was vom Mittelbegriff
gilt, auch von dem terminus minor gilt.
Dadurch ist die Verwandtschaft der komplexen Einsetzung mit
der zweiten und dritten Operationsweise der Schlüsse mit räumlicher
und zeitlicher Beziehung aufgewiesen und dadurch indirekt auch
diejenige mit der einfachen Einsetzung. Ich habe dabei aber die
ausgebildete, nicht die embryonale Form der zweiten und dritten
Operationsweise der Schlüsse mit räumlichen und zeitlichen Be-
ziehungen im Auge. Die embryonale Form des dritten
Modus können wir hier aufweisen, wir besprechen sie bei
1) Vgl. S. 18-23.
7*
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100 G. Störring,
Behandlung der Subsumtionsschlusse nach der vierten Operations-
weise. Es zeigte sich uns ja, daß die embryonale Form der dritten
Operationsweise mit der der vierten übereinstimmt. Was nun
aber die embryonale Form des zweiten Modus betrifft,
so kann ich dieselbe in meinem Material nicht auf-
weisen. Ich vermute, daß dieselbe sich bei akustischer
Darbietung der Prämissen darstellen wird.
3) Ich habe nunmehr eine dritte Klasse von Schlüssen mit
Subsumtionsbeziehung in beiden Prämissen zu besprechen, bei
denen die Operationsweise der vierten Operationsweise
der Schlüsse mit räumlichen und zeitlichen Beziehungen
analog ist.
a) Diese Schlußweise habe ich in der ausgebildeten
Form bei visueller Darbietung der Prämissen nicht deut-
lich hervortreten sehen, wenn die einfache Anweisung
gegeben wurde. Ich sah dieselbe bei einer Vp. auftreten bei
bestimmter Änderung der Anweisung, bei einer anderen, wenn
außer einer Änderung der Anweisung die Versuche zwischen dem
Operieren mit solchen Prämissen eingeschoben wurden, bei denen
ein Schließen nach der vierten Operationsweise häufig vorkam.
Bei Vp. K. traten nämlich SubsumtionsschlUsse nach diesem
Modus auf, als ich die Versuche zwischen Schlüssen mit den Be-
ziehungen größer, kleiner einschob, und wenn ich gleichzeitig zu
der gewöhnlichen Anweisung die Anweisung hinzufügte, nicht
unter Verwendung einer Zusammenfassung der Beziehungsgedanken
der Prämissen in einem Satz zu schließen. Ich gebe zwei Ver-
suche, welche die Operationsweise der Vp. unter diesen Bedin-
gungen demonstrieren.
Es wurde exponiert:
Alle c gehören zur Gattung d,
Alle d gehören zur Gattung h.
Also . . .
Bei Auffassung der ersten Prämisse stellten sich schwache Be-
wegungsempfindungen bei Tendenz zur Bewegung des ganzen
Körpers nach rechts ein. Bei Auffassung der zweiten Prämisse
dieselbe Art von Bewegun^sempfindungen, die sich mit dem Be-
wußtsein verbanden, es geht in derselben Richtung weiter. Dann
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Experimentelle Untersuchungen über einfache Schlußprozesse. 101
traten Gesichts Vorstellungen von den drei Größen auf c — d — ä,
h wurde als am meisten rechtsliegend und am spätesten
kommend aufgefaßt. Daraufhin sagte Vp.: h ist die höchste
Gattung und deshalb gehört auch c zur Gattung h. Bewußtsein
der Sicherheit. Dauer 15 Sekunden.
Ganz ähnlich ist der folgende Versuch verlaufen.
Vp. K. Es wurde exponiert:
Alle u gehören zur
Gattung x. Alle x
gehören zur Gattung y.
Beim Lesen und Auffassen der ersten Prämisse hatte Vp. das
Bewußtsein: es geht nach einer bestimmten Richtung hin, dabei
war ihr nicht klar, nach welcher. Am nächsten lag die Richtung
nach rechts ; es waren sehr schwache Bewegungsempfindungen be
Tendenz einer Bewegung des ganzen Körpers nach rechts vor-
handen. Dann wurde die zweite Prämisse mit dem Bewußtsein
aufgefaßt: es geht in der gleichen Richtung noch weiter. Als
dann Vp. bei y angelangt war, hatte Vp. das Bewußtsein: dies
liegt am weitesten fort. Dann wurde geschlossen: also ge-
hört auch u, das die erste Größe war, zu y. Bewußtsein
der Sicherheit. Dauer 10 Sekunden.
Vp. bemerkt im allgemeinen zu diesen Versuchen, daß sie zwar
mit dem Bewußtsein der Sicherheit operiere, daß diese Art deB
Operierens sie aber wenig befriedige, da diese Art der Repräsen-
tation ihr fremd für die Subsumtionsbeziehung erscheine.
In dem ersten der besprochenen Versuche treten als Repräsen-
tanten der Beziehungsgedanken Bewegungsempfindungen und die
Sukzession der psychischen Akte bei Auffassung der bezogenen
Größen auf, daneben visuelle Lagevorstellungen, im zweiten Ver-
such Bewegungsempfindungen und die Sukzession der psychischen
Akte bei Auffassung der bezogenen Größen. Die Auffassung
des terminus major als der höchsten Gattung gründet sich auf das
Bewußtsein der Gleichheit der Richtung des Fortschreitens bei
Repräsentierung der Beziehungsgedanken, und auf den Gedanken :
»die und die Gattung ist die höchste« gründet sich der
Schluß: also gehört auch das Anfangsglied des Beziehungsetzens
zu ihr.
Schlüsse dieser Art sind sodann noch bei Vp. £. aufgetreten,
und zwar unter folgenden Bedingungen. Schlüsse mit Subsumtion
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102
G. Störi-ins
in beiden Prämissen waren die ersten, die ich Vp. £. darbot; sie
hatten wie die ersten Subsumtionsschlüsse von Vp. F. eine sehr
geringe Dauer. Diese Schlüsse kommen zur näheren Besprechung,
wo ich von abgekürzten Schlüssen mit Subsumtionsbeziehung in
beiden Prämissen handle. Nachdem nun monatelang Schlosse mit
den verschiedensten anderen Beziehungen gemacht waren, wurde
wieder mit Subsumtionsschlttssen operiert. Die Reaktionszeit war
beträchtlich (Näheres s. u.) gestiegen und die Schlüsse charakteri-
sierten sich nicht mehr als abgekürzt, die einzelnen Operationsphasen
konnten bezeichnet werden. In dieser Übungslage der Vp. gab
ich nun bei Subsumtionsschlttssen außer der gewöhnlichen die An-
weisung: möglichst schnell zu reagieren. Die Reaktionsdauer
ging weit unter den ursprünglichen Wert zurück und in einer Reihe
von Versuchen konnten die einzelnen Operationsphasen bezeichnet
werden. Es wurden unter diesen Bedingungen im ganzen nur elf
Versuche angestellt Von diesen ist einer mit Bestimmtheit als
Subsumtionsschluß nach dem vierten Modus bezeichnet, in bezug
auf zwei wird ein Schließen durch Einsetzung mit Bestimmtheit
ausgeschlossen, das Vorliegen eines Schlusses nach dem vierten
Modus als nur wahrscheinlich charakterisiert
Ich gebe denjenigen Versuch, bei dem sicher das Schließen
nach dem vierten Modus sich vollzog.
Vp. E. Es wurde unter der bezeichneten Anweisung exponiert:
Alle a gehören zur Gattung kt
Alle m gehören zur Gattung a.
Also . . .
Repräsentanten sind während der Auffassung der Prämissen
und während des Schließens nicht nachzuweisen, aber beim Referat
treten Repräsentanten auf, und zwar dienten als solche die Stellung
der Buchstaben auf dem exponierten Zettel, eine Identifikation
dieser Repräsentanten mit etwaigen Vorgängen während des
Schließens kann nicht vollzogen werden. Die beiden Prämissen
wurden deutlich jede für sich aufgefaßt. Eine Identifikation von
Gattung a und alle a vollzog sich merkbar, aber nicht gleich nach
dem Lesen der zweiten Prämisse, der Blick ging noch vorher vom
zweiten a auf das erste a über. Es fand kein »Hineindenken«
des a in die k statt. Dagegen wurde der Gedanke der Gleichheit
der Beziehungen von m — a und a — k entwickelt. An diesen
Gedanken der Gleichheit der Beziehungen schloß sich der Gedanke
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Experimentelle Untersuchungen über einfache Schlußprozesse. 103
an: k ist die höchste Gattung. Also ist k die höhere Gattung in
bezog anf a und m. Also: manchem gehören zur Gattung k. Be-
wußtsein der Sicherheit. Dauer 47s Sekunden.
In einem der Fälle, wo das Vorliegen und Operieren nach
diesem Modus als wahrscheinlich bezeichnet wurde, war die als
terminus minor funktionierende Größe (mit Wahrscheinlichkeit) als
die niedrigste Gattung aufgefaßt.
Vp. E. sagt noch im allgemeinen von den Versuchen mit dieser
Au Weisung, daß sie große Anstrengung erfordern nnd sich stets
mit Unlustgefllhl verbinden. Man fühle sich dabei gewissermaßen
nach zwei verschiedenen Richtungen hingezogen: man solle mög-
lichst schnell reagieren und dabei wisse man doch, daß ein ge-
naues Referat gefordert werde, wodurch eine starke Tendenz zu
langsamem Operieren gesetzt sei1).
Wir können also sagen: Bei Schlüssen mit Subsumtions-
beziehung in beiden Prämissen finden wir ein Operieren
nach der vierten Operationsweise bei Hervortreten der
einzelnen Operationsphasen unter den gewöhnlichen Be-
dingungen nicht auftreten. Was die Bedingungen an-
langt, unter denen sie auftreten, so verdient wohl am
meisten betont zu werden, daß sie in einem Teil der
Fälle von sehr schnell vollzogenen Schlüssen auftreten,
wenn bei einfacher Anweisung durch Übung die Fähig-
keit zur Analyse gesteigert ist.
b) Die embryonale Form der vierten Operationsweise
der Schlüsse mit räumlichen und zeitlichen Beziehungen,
welche zugleich auch die der dritten ist, können wir hier bei
den SubsumtionsschlUssen aufweisen.
Vp. E. Es wurde exponiert:
Manche i gehören zur Gattung /*,
Alle f gehören zur Gattung d.
Also . . .
Beim Auffassen der Prämissen sind Repräsentanten nicht in
merkbarer Weise vorhanden gewesen. Eine Identifikation von
> Gattung f* und »alle /"« trat deutlich hervor.
1) Vgl. E. Meumann, Über Assoziationsexperimente mit Beeinflussung
der Keproduktionszeit. Dieses Archiv. IX. Band. S. 130.
Digitized by Google
104
G. Störring.
Die Beziehung zwischen »manche «'< und »Gattung /"« wurde
als dieselbe aufgefaßt wie die zwischen »alle/*« und »Gattung d*.
Dieses Bewußtsein der Gleichheit der Beziehungen trat während
des Lesens der zweiten Prämisse auf, bevor »</< gelesen war und
auf dieses Bewußtsein der Gleichheit der Beziehungen gründete
sich die Schlußoperation: i gehört zu dem, was kommt. Näher
wird dann noch angegeben, daß das Bewußtsein der Gleichheit
dadurch die Schlußoperation beeinflußt habe, daß es auf das
»Anordnen der Reihe« einen bestimmenden Einfluß ausgeübt
habe. Durch diese Einwirkung des Bewußtseins der Gleichheit
der Beziehungen sei auch das Gefilhl der Sicherheit gesteigert
worden. Sodann wird angegeben, daß keine von den bezogenen
Größen als die kleinste und größte aufgefaßt und von dieser Auf-
fassung aus der Schlußsatz entwickelt wurde, sondern der Schluß-
satz wurde durch Ablesen aus dem gegebenen ßeziehungskomplex
gewonnen. Dauer 34/R Sekunden.
Vp. E. behauptet bei diesem Referat mit Bestimmtheit spontan,
daß das Bewußtsein der Gleichheit trotz des »Abiesens«
des Schlußsatzes eine bestimmende Rolle in dem Schluß-
prozeß gespielt habe, indem von ihm das »Anordnen der
Reihe« abhing. Das Ablesen scheint sich dann an der repräsen-
tativen »Reihe der psychischen Akte« vollzogen zu haben, diese
Repräsentation wurde aber nicht als solche aufgefaßt.
Diese Operationsweise tritt bei Vp. E. wiederholt auf. Bei
Vp. K. finde ich ebenfalls ein »Ablesen« bei diesen Schlüssen,
wo zugleich der Gedanke der Gleichheit der Beziehungen im Ver-
lauf der Prozesse nachweisbar ist. Nur wird nicht behauptet, daß
der Schlußprozeß von diesem Gedanken bestimmt ist.
II. Schlüsse mit Subsumtionsbeziehung in beiden Prä-
missen ohne deutliches Hervortreten der die Schluß-
weise charakterisierenden Operationsphasen.
Ich wende mich jetzt zur Behandlung derjenigen Schlüsse mit
Subsumtionsbeziehungen in beiden Prämissen, bei welchen die
einzelnen Operationsphasen nicht bezeichnet werden konnten. Wir
sagten schon, daß sie bei zweien unserer Vp. primär aufgetreten
sind. Bei der einen dieser Vp. kam es bei längerer Fortsetzung
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Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schlußprozesse. 105
und Einschiebung anderer Schlußversuche nicht bloß zu einer
Verlängerung der Reaktionszeit, sondern auch zum Heraustreten
der einzelnen Operationsphasen. Diese Änderung ist vor allem
dadurch bedingt, daß sich an jeden Schluß ein genaueres Re-
ferat anschließt und dadurch in den Vp. die Tendenz entsteht,
den Ablauf der Prozesse zu hemmen und sie deutlich hervor-
treten zu lassen. Außerdem wird bei längerer Fortsetzung der
Versuche die Fähigkeit gesteigert, eine Analyse derjenigen Pro-
zesse vorzunehmen, welche ins klare Bewußtsein gefallen sind und
in die zunächst an dasselbe angrenzende Region. Bei einer unserer
Vp. bleiben auch bei längerer Fortsetzung die Schlußprozesse
abgekürzt, wenn nicht eine Änderung der Anweisung eintritt —
ich sage, sie bleiben abgekürzt: es treten zwar mehr Operations-
phasen heraus wie am Anfang, aber nicht die Gesamtheit der-
selben. Diese Erscheinung läßt sich nicht durch die Annahme er-
klären, daß diese Vp. zur Analyse ihrer Erlebnisse weniger befähigt
sei; in welchem Grade sie dazu befähigt ist, zeigen ihre Angaben bei
veränderter Anweisung. Man wird der abgekürzten Schlußweise vom
praktischen Standpunkte aus besonderes Interesse entgegenbringen,
da zu vermuten ist, daß bei unseren gewöhnlichen Denkoperationen
gerade diese Schlußweise eine große Rolle spielt. Ich charak-
terisiere zunächst eingehend ihr Auftreten bei der letztgesprochenen
Vp. F., indem ich von dem Referat einiger Versuche ausgehe.
Vp. F. Es wurde exponiert:
Alle s gehören zur Gattung p,
Alle p gehören zur Gattung 7 .
Also . . r
Die erste Prämisse wurde aufgefaßt ohne merkbare Repräsen-
tanten. Die Auffassung schien sich unmittelbar an die Worte an-
zuschließen. Ebenso die zweite Prämisse. Auf die zweite Prä-
misse wurde mehr Arbeit verwandt als auf die erste. Sie trat des-
halb klarer hervor. Während die Auffassung der zweiten Prämisse
klar war, war die Vorstellung »alle s« dunkler geworden. Nach der
Auffassung derselben trat nun die Vorstellung s wieder hervor
und sogleich war auch ihre Verbindung mit q vollzogen, ohne daß
über die Vermittelung dieses Gedankens etwas Näheres anzugeben
gewesen wäre. Bewußtsein der Sicherheit. Dauer 6 Sekunden.
Eine Identifikation von »alle s und Gattung p* ist nicht be-
merkt.
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106
G. Sttfrriug,
Ganz ähnlich ist der folgende Versuch, nur daß die Auffassung
der Prämissen näher charakterisiert ist.
Vp. F. Es wurde exponiert:
Alle * gehören zur Gattung /*,
Alle f gehören zur Gattung n.
Also . . .
Die erste Prämisse wird aufgefaßt mit dem Bewußtsein, daß
Gattung f die umfassendste ist und % umfaßt. Nach dem Lesen
der zweiten Prämisse wird n als umfassender als f und f umfaßend
aufgefaßt. Nachdem die zweite Prämisse aufgefaßt war, tauchte
i wieder auf, auch der Blick ging unwillkürlich dorthin. Dann
wurde i und n sehr schnell verknüpft. Dabei trat das Bewußt-
sein auf, daß bei der Verbindung dieser beiden Größen die Art
des Ubergangs von der einen zur anderen eine ähnliche war wie
bei der Verbindung der beiden früheren Paare. Bewußtsein der
Sicherheit. Dauer 5*/» Sekunden. Ein Bewußtsein der Identität
von »alle f* und »Gattung /"« war nicht zu konstatieren.
Ich habe hier ein paar Versuche mit dem Obersatz an zweiter
Stelle aus den Anfangs versuchen herausgegriffen. Ich gebe zu-
nächst noch ein paar Versuche dieser Übungslage, bei denen der
Obersatz die erste Stelle einnimmt.
Vp. F. Es wurde exponiert:
Alle t gehören zur Gattung r,
Alle c gehören zur Gattung f.
Also . . .
Die Auffassung der ersten Prämisse schien sich unmittelbar an
die Worte anzuschließen. Nach dem Lesen derselben war eine
kleine Pause gemacht worden. Ebensolche Auffassung der zweiten
Prämisse. Nach Auffassung der zweiten Prämisse trat c wieder her-
vor, »c sprang spontan hervor«, darauf?? und beide waren verknüpft
in dem Schlußsatz »alle c gehören zur Gattung r«. Die Vorstellung
t scheint Vp. bei dem eigentlichen Schließen gar nicht im Bewußt-
sein vorhanden gewesen zu sein. Vp. glaubt bestimmt angeben
zu können, daß die Vorstellung t nach Auffassung der zweiten
Prämisse nicht mehr im Bewußtsein aufgetaucht ist. Bewußtsein
der Sicherheit. Dauer 9y5 Sekunden. Vp. äußert ihre Freude Uber
die Deutlichkeit, mit der sich die einzelnen Vorgänge darstellen.
Ich gebe noch ein kurzes Referat über einen ähnlichen Versuch
mit partikularem Untersatz.
Digitized by Google
Experimentelle Untersuchungen über einfache Schlußprozease. 107
Vp. F. Es wurde exponiert:
Alle a gehören znr Gattung k,
Manche m gehören zur Gattung a.
AIbo . . .
Nach Auffassung der zweiten Prämisse trat spontan die Vor-
stellung > manche m« auf, diese hob die Vorstellung k und beide
waren verknüpft. Nachträglich wurde Vp. sich bewußt, daß a
das verbindende Glied sei. Bewußtsein der Sicherheit. Dauer
54/6 Sekunden.
Man sieht, die Prozesse sind hier im wesentlichen dieselben,
wo der Obersatz an erster Stelle steht, als wo er die zweite Stelle
einnimmt. Wir können also über die abgekürzten Schlüsse bei
Subsumtionsbeziehung in beiden Prämissen bei dieser Vp. in der
ersten Zeit des Operierens mit diesen Schlüssen folgendes sagen:
Nach dem Lesen und Auffassen der beiden Prämissen,
wobei die Auffassung meist ohne merkbare Repräsen-
tanten erfolgt, indem sich dieselben unmittelbar an die
Worte anzuschließen scheint, drängt sich der Schlußsatz
ohne merkbare Zwischenprozesse sofort auf. Es tritt
nämlich nach Auffassung der zweiten Prämisse die als
terminus minor funktionierende Buchstabengröße spontan
hervor (als Vorstellung oder als Wahrnehmung mit Blick-
richtung auf dieselbe) und an sie schließt sich die Vor-
stellung oder Wahrnehmung der als terminus major
funktionierenden Buchstabengröße an, meist die Wahr-
nehmung derselben mit unwillkürlicher Blickbewegung
von der Buchstabengröße des terminus minor zu der des
terminus major. Dabei tritt zugleich der Gedanke der
Zugehörigkeit der ersten Größe zur Gattung der letz-
teren auf, und zwar mit dem Bewußtsein der Sicherheit.
Eine Identifikation der beiden als Mittelbegriff funk-
tionierenden Größe ist im Anfang der Versuche nicht zu
konstatieren.
Das Bewußtsein der Sicherheit tritt trotz des abrupten
Charakters der ins klare Bewußtsein fallenden Operationen auf.
Daß Vp. sich in bezug auf dieses Bewußtsein nicht täuscht,
ergibt sich aus folgenden Tatbeständen. Als der Vp. in der
Folge die Anweisung gegeben wird, sich von dem Grunde des
Schlußurteils Rechenschaft zu geben, operiert sie, wie uns schon
Digitized by Google
108
G. Stürriug.
bekannt ist, mit deutlicher Einsetzung des terminus minor an die
Stelle des terminus raedius iu den Obersatz. Diese Anweisung
zieht nun in manchen Versuchen ein doppeltes Verfahren nach
sich: Das besprochene abgekürzte und außerdem das komplexere,
die Einsetzung. Wo beide Operationsweisen zusammen auftreten,
hat Vp. Gelegenheit, einen Vergleich anzustellen in bezug auf
das Bewußtsein der Sicherheit in beiden Fällen. Hier behauptet
nun Vp. mit der Bestimmtheit, daß das komplexere Verfahren
durchaus nicht größere Gewißheit mit sich führt als das abgekürzte.
Wenn auch die einzelnen Operationsphasen nicht ins
klare Bewußtsein fallen, so hat sie doch die Überzeugung,
»die Prämissen richtig verwendet zn haben«.
Noch ein ähnlicher Tatbestand muß hier herangezogen werden.
Ich habe der Vp. bei diesen Schlüssen später die Anweisung ge-
geben, nicht eher zu reagieren, als bis im Moment des Schließens
alle Beziehungsgedanken präsent gewesen sind. Mit Aufwand
großer Anstrengung gelang es Vp., dieser Anweisung zu ent-
sprechen, meist allerdings erst nach mehrfachen vergeblichen
Ansätzen dazu. Unter diesen Ansätzen findet sich häufig eine
Operation in der Weise, wie wir sie soeben charakterisierten, nur
d;iß das Identitätsbewußtsein dabei häufig undeutlich konstatiert
wird. Diese abgekürzte Operationsweise verbindet sich
aber mit demselben Grade der Gewißheit als die-
jenige Operationsweise, bei welcher im Momerft des
Schließens alle Beziehungsgedanken präsent gewesen
sind.
Jenes ist die abgekürzte Schlußweise im Anfang des Operierens
mit diesen Schlüssen bei Vp. F. Beim Operieren mit diesen
Schlüssen in späterer Übungslage treten Modifikationen auf;
es bleibt aber neben den Modifikationen diese Schlußweise be-
stehen, nur daß in der späteren Zeit das Bewußtsein der Identität
meist wenigstens in undeutlicher Weise nachweisbar ist. Bei Vp.
E. werden wir dieselbe abgekürzte Schluß weise finden, nur daß
bei ihr das Bewußtsein der Identität wie in der späten Übungs-
lage von Vp. F. fast immer wenigstens undeutlich nachweisbar ist
Ich will nun die auftretenden Modifikationen kurz charakteri-
sieren. Wo der Obersatz an zweiter Rolle stand, trat nach un-
gefähr 30 Versuchen dieser Art eine Modifikation auf, die ich
zuerst durch einen Versuch erläutere.
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Experimentelle Untersuchungen über einfache Schlußprozesse. 109
Vp. F. Es wurde exponiert:
Alle i gehören zur Gattung ft
Alle f gehören zur Gattung u.
Also . . .
Beim Lesen der ersten Prämisse schien sich die Auffassung
unmittelbar an die Worte anzuschließen. Als Vp. beim Lesen der
zweiten Prämisse bis »gehören« gekommen war, als sie aufgefaßt
hatte: »alle /"gehören«, trat die Vorstellung »alle U deutlich her-
vor und Vp. sagte sich: Alle i gehören zu der anderen
Gattung — und zwar mit dem Bewußtsein der Sicherheit. Dann
wurde der Name der anderen Gattung gesucht. Die zweite Prä-
misse wurde zu Ende gelesen und Vp. sagte jetzt: »alle i gehören
zur Gattung u*. Bewußtsein der Sicherheit. Dauer 4 Sekunden.
In anderen ähnlichen Fällen sagt sich Vp. anstatt: Alle * ge-
hören zu der anderen Gattung« : »Alle i gehören zu dem, was
kommt« (Vp. sagte sich das nicht immer mit begleitenden Klang-
bildern und Sprechbewegungsempfindungen, sondern hatte auch
häufig ohne diese das entsprechende Bewußtsein) oder auch »alle *
gehören zu . . .« und liest dann weiter, so daß sie dann gleich
den definitiven Schlußsatz bekommt.
Wir können also sagen: Die zuerst charakterisierten
abgekürzten Schlüsse erfahren da, wo der Obersatz an
zweiter Stelle steht, nach häufigem Vollzuge in der
Weise eine Modifikation, daß vor dem Biszuendelesen
der zweiten Prämisse, nachdem gelesen und aufgefaßt
ist: »alle . . . gehören«, der Schluß in unbestimmter
Form auftritt: »alle . . . gehören zu dem, was kommt«
und ähnliches. Die zuerst charakterisierte Form der
abgekürzten Schlüsse bleibt aber neben dieser Modi-
fikation bestehen, tritt jedenfalls bei der Anweisung,
nicht eher zu reagieren, als bis im Moment des Schlie-
ßens alle Beziehungsgedanken präsent gewesen sind,
unter den vergeblichen Ansätzen auch in späteren Sta-
dien der Übung häufig auf. Die vermittelnden Prozesse
sind auch hier nicht ins klare Bewußtsein getreten oder
in die diesem zunächst liegende Kegion.
Andere Modifikationen der zuerst beschriebenen abgekürzten
Schlüsse treten auf, nachdem Vp. mit Schlüssen operiert hat, die
ihr größere Mühe machten, bei denen aber die Gesamtheit der
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110
G. Stürring,
einzelnen Operationsphasen häufig hervortraten, nämlich nach
längerer Darbietung von Schlüssen mit negativem Ober-
satz.
Zunächst zeigt sich nach längerer Operation mit negativen
Schlössen die Reaktionszeit der Schlüsse mit Subsumtions-
beziehung in beiden Prämissen wesentlich verändert. Während
dieselbe vorher bei Schlüssen mit dem Obersatz an zweiter Stelle
im Durchschnitt 67/i2 Sekunden (bei zwölf Versuchen) beträgt und
bei Schlüssen mit dem Obersatz an erster Stelle 7"/12 (bei eben-
falls zwölf Versuchen), zeigt sich die Reaktionszeit bei diesen
Schlüssen nach längerem Operieren mit negativen Schlüssen bei
ersteren Schlüssen auf durchschnittlich 7ya Sekunden verlängert
(Durchschnitt von vier Versuchen), bei letzteren auf 163/,6 Se-
kunden (Durchschnitt von fünf Versuchen). Auffällig ist die
große Differenz in der relativen Verlängerung der Reaktionszeit;
wir werden von ihr später Rechenschaft zu geben suchen.
Nach dem längeren Operieren mit negativen Schlüs-
sen finden wir außer Änderungen in der Reaktionszeit
auch eine inhaltliche Veränderung unserer Schlüsse. Es
tritt nämlich jetzt bei ihnen meist — mehr oder minder
deutlich — eine Identifikation der beiden als Mittel-
begriff funktionierenden Größen hervor. Das gilt für
beide Arten von Stellung des Obersatzes. In den Fällen,
wo der Obersatz an erster Stelle steht, sind, wie man nach der
Änderung der Reaktionszeit vermuten kann, noch weitergehende
Änderungen eingetreten. Wir sehen von diesen Fällen zunächst ab.
Es findet sich nun weiter in dieser Übungslage bei neun Ver-
suchen, in denen der Obersatz an zweiter Stelle steht, in drei
Fällen die zuerst beschriebene Art der abgekürzten Schlüsse mit
hinzugetretenem Identitätsbewußtsein, in fünf Fällen die zu zweit
beschriebene Art abgekürzter Schlüsse, die Schlüsse mit vor-
gängigem unbestimmtem Schluß vor dem Biszuendelesen der Prä-
missen, meist mit merkbarer Identifikation, und in einem Falle
Andeutung einer Operationsweise nach dem vierten Modus der
Schlüsse mit räumlichen und zeitlichen Beziehungen.
Die abgekürzten Schlüsse in jenen drei Fällen entsprechen
ganz den abgekürzten Schlüssen der anderen Vp., bei welcher
wir auch primär abgekürzte Schlüsse fanden. Die abgekürzten
Schlüsse der Vp. E. stimmen also mit den von uns
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Experimentelle Untersuchungen über einfache Schlußprozesse. Hl
hier zuerst beschriebenen abgekürzten Schlüssen der
Vp. F. überein, nur daß bei Vp. E. von vornherein eine
Identifikation der als Mittelbegriff funktionierenden
Größen wenigstens als undeutlich sich konstatieren
läßt
Den soeben charakterisierten fünf Fällen des Operierens ent-
sprechen bei Vp. E. Schlüsse, bei welchen ebenfalls vor dem de-
finitiven Schluß ein ganz ähnlich lautender unbestimmter Schluß
auftritt, nur daß bei ihr der unbestimmte Schluß sich so vollzieht,
daß über den Modus des Operierens noch nähere Angaben ge-
macht werden können. Darüber später Näheres.
Wo der Obersatz an erster Stelle steht, findet sich nach län-
gerem Operieren mit negativen Schlüssen bei Vp. F. außer der
schon hervorgehobenen Änderung, welche das Bewußtsein der
Identifikation betrifft, an inhaltlicher Änderung noch dies, daß in
zwei von fünf Fällen ein vollständiger Schluß auftritt, und zwar
ein Schluß mit komplexer Einsetzung. Es ist wahrscheinlich, daß
die Wahl dieser Art des Operierens durch die vorangegangenen
negativen Schlüsse bestimmt ist, bei denen, wie wir sehen werden,
stets eine Einsetzung vorliegt. Für die auffällige Verlängerung
der Reaktionszeit bei diesen Schlüssen werden wir dann auch
wohl bei den übrigen drei Schlüssen am einfachsten eine Ände-
rung des Schlußverfahrens in Anlehnung an die negativen Schlüsse
verantwortlich machen.
Um womöglich eine Aufklärung darüber herbei-
zuführen, nach welchem Modus bei den abgekürzten
Schlüssen verfahren worden ist, habe ich Vp. F. die
Anweisung gegeben, nicht eher zu reagieren, als bis
im Moment des Schließens alle Beziehungsgedanken
präsent gewesen sind. Sodann habe ich zu demselben
Zweck Vp. E., bei der unter dem Einfluß der Referate
die einzelnen Operationsphasen immer mehr hervor-
getreten waren, nach der Anweisung operieren lassen,
möglichst schnell zu schließen.
Ich gebe zunächst einige Versuche, bei denen die Anweisung
gegeben war, nicht bloß mit absoluter Sicherheit zu schließen,
sondern auch: nicht eher zu reagieren, als bis während des
Schließens die gesamten Beziehungsgedanken präsent gewesen
sind.
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112
G. Störriug.
Vp. F. Es wurde exponiert:
Alle / gehören zur
Gattung 7. Alle f
gehören zur Gattung / .
Also . . .
Die erste und zweite Prämisse wurden aufgefaßt ohne merk-
bare Repräsentanten. Dann ging der Blick ungewollt von dem
zweiten t auf das erste t hinüber ohne deutliches Bewußtsein der
Identität. Darauf wurde die zweite Prämisse nochmal gelesen:
alle f gehören also zu /, wobei der Blick von f nach t ging
und vielleicht auch umgekehrt. Dann war sofort, ohne daß Vp.
es wollte, der Schluß da : alle f gehören zu 7 — mit Blick nach 7.
q war aber einen Moment vorher vorgestellt, als es wahr-
genommen wurde. Das Ganze machte Vp. den Eindruck »eines
festen, regelrechten Mechanismus«. Bewußtsein der Sicherheit
Nun war aber Vp. Uberzeugt, daß die Prämissen bei dem Schließen
nicht im Bewußtsein gewesen waren. Eine Tendenz zum Aus-
sprechen des Schlußsatzes trat nicht auf, nur ein neuer Anlauf.
Jetzt sagte sich Vp. : alle f gehören zu 7, mit Blickbewegung von
der einen der geschriebenen Buchstabengrößen zur anderen und
fragte: warum? Alle f gehören zu diese zu q — doch diesmal
trat kein Schlußsatz auf. Vp. setzte noch einmal an: alle f ge-
hören zu q. Denn alle t gehören zu 7 (mit Blickbewegung) und
f zu t\ also f zu q. Doch im Moment der Entwicklung des
Schlußsatzes waren die Prämissen angeblich wieder aus dem Be-
wußtsein verschwunden. Von jetzt an fixiert Vp. scharf das Dreieck
V f
t
des exponierten Papiers und sagte: f zu q. Denn f zu t und
dieses zu q. Dann trat der Gedanke auf: ich habe zwar die
Buchstaben deutlich im Blickfeld, aber die Beziehungsgedanken
sind nicht gleichzeitig so deutlich. Deshalb gab Vp. sich die An-
weisung, die Beziehungen besonders zu betonen und sagte nun,
an jenem Dreieck operierend: f zu 7; denn f zu t und dieses
zu 7, also muß doch auch f zu 7 gehören. Diese Operation voll-
zog Vp. dann noch 2— 3 mal, bis für einen Moment der Forderung
entsprochen war. Das Resultat wurde hervorgestoßen. Bewußt-
sein der Sicherheit. Dauer 55 Sekunden.
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Experimentelle Untersuchungen über einfache Schiaßprozesse. 113
Bezüglich der Verwendung des Wortes »zu« bei diesen Ope-
rationen hat Vp. in einem früheren Versach bemerkt, daß sich
mit dem akustisch-motorischen »zu« noch ein psychisches Erlebnis
verbindet, sie könne dasselbe aber nicht näher charakterisieren. —
Bei längerem Operieren unter dieser Anweisung wird die Zahl der
vergeblichen Ansätze allmählich geringer. Sie kommt allmäh-
lich dazu, anstatt die Ansätze zu häufen, die einzel-
nen Schritte sich klarer zum Bewußtsein zu bringen.
Damit geht einher die Auffassung einer Differenz in
den Typen des Schließens von Seiten der Vp.
Ich illustriere die spätere Übungslage.
Vp. F. Es wurde exponiert:
Alle d gehören zur
Gattung v, manche x
gehören zur Gattung d.
Also . . .
Nach Auffassung der zweiten Prämisse wanderte der Blick
vom zweiten d zum ersten d> wobei undeutlich das Bewußtsein
der Identität beider auftrat. Dann für kurze Zeit Leere des
Bewußtseins. Darauf fand deutlich eine Blickbewegung statt von
»manche *« zu »Gattung v, ohne über d zu gehen — und der
Schluß war fertig , manche x gehören zur Gattung v. Bewußtsein
der Sicherheit. Vp. hatte die feste Überzeugung, daß im Moment
der Entwicklung des Schlußsatzes die Beziehungsgedanken nicht
im Bewußtsein präsent waren.
Dann las sie nochmal beide Prämissen und betonte beim Lesen
der zweiten Prämisse das »gehören«. Darauf hatte Vp. das Be-
wußtsein der Wahl zwischen dem Operieren mit dem Dreieck
d
v x
und einem durch Lokalisieren des x links von d geschaffenen
Dreieck
V
Die Verwendung des ersten Dreiecks wurde abgewiesen, da ihr
das x zu weit von v entfernt stand. Dann wurde an der Hand
des zweiten Dreiecks gedacht: manche % zu rf, d dieses
Aithir fix Psychologie. II. 8
Digitized by Google
114
G. Störrins.
Ganze mit x zu v, also manche x zu v. Das wurde 2 — 3 mal
gedacht (bei diesem Operieren bemerkte Vp. einmal, daß sie an-
statt mit » manchen € % mit dem ganzen * operierte). Dann gelang
es schon der Forderung zu entsprechen. Bewußtsein der Sicher-
heit. Dauer etwa 45 Sekunden. Die Anstrengung war nicht so
groß wie in den meisten früheren Fällen.
Man sieht, daß hier deutlich eine einfache Einsetzung mit
nachfolgender Abstraktion hervortritt. Von dieser Opera-
tionsweise unterscheidet Vp. bestimmt die in dem folgenden Ver-
such illustrierte.
Vp. F. Es wurde exponiert:
Alle g gehören zur Gattung t,
Alle t gehören zur Gattung s.
Also . . .
Beim Lesen der zweiten Prämisse fand nach dem Lesen von
»alle U Blickbewegung vom zweiten t aufs erste t statt. Eine
Identifikation wurde nicht bemerkt. Nach Auffassung der zweiten
Prämisse wurde das Dreieck
9 *
s
ins Auge gefaßt und an diesem operiert. Vp. sagte sich: alle g
gehören zu t, t zu s — diese Größen stehen also in der-
selben Beziehung (dabei wurde geblickt auf g — t und t — s) —
also: alle g zu s. Vp. bezeichnet beim Referat den Gedanken der
Gleichheit der Beziehung als das > Ersatzmittel < für die Gedanken:
alle g gehören zu t und / zu s. Vp. bezeichnet diesen Gedanken
der gleichen Beziehungen als Mittel, die Beziehungen kurz zu-
sammenzufassen.
Hier wurde das t nicht als das Ganze aufgefaßt, welches mit
dem g zusammen zu s gehört. Bewußtsein der Sicherheit. Dauer
12«/5 Sekunden.
Diese Versuche sind lehrreich einmal zur Bestätigung der Be-
hauptung des Vorkommens von Schlüssen mit vollkommener Sicher-
heit, ohne daß die Beziehungsgedanken im Moment des Schließens
präsent sind. Sodann lassen sie uns deutlich erkennen, daß diese
Vp. nach zwei deutlich charakterisierten Modis Subsumtions-
schlüsse vollzieht. Wir sehen sie in dem vorletzten Schluß mit
einer Einsetzung operieren, und zwar mit einer einfachen,
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Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schlußprozesse. 115
d. h. einer Bolchen , bei welcher der terminns minor neben den
terminns medins in den Obersatz eingesetzt wird, woran sich dann
eine Abstraktion von einem Teil des Behaupteten vollzieht. So-
dann sehen wir im letzten Schluß den Gedanken der Gleichheit
der Beziehungen eine Rolle spielen. Es ist dabei zu beachten,
daß nicht der Gedanke auftritt: die und die Größe ist also die
größte Gattung bzw. die kleinste, also usw. Der Gedanke der
Gleichheit der Beziehungen wird als ein solcher charakterisiert,
durch welchen ein »Zusammenfassen« der Beziehungsgedanken
bedingt war, er diente als »Ersatzmittel * für die einzelnen Ge-
danken : alle q gehören zu t und t zu s. Diesen Angaben scheint
doch der Tatbestand zugrunde zu liegen, daß der Gedanke der
Gleichheit der Beziehungen Bedingung für die Konstruktion des-
jenigen Beziehungskomplexes war, auf den der Schlußsatz sich
unmittelbar stützte. Wir würden es dann also mit der embryo-
nalen Form der dritten und vierten Operationsweise zu tun
haben.
Andererseits können wir nicht ohne weiteres behaupten, daß
unsere Vp. nun bei jenen abgekürzten Schlüssen auch nach einem
dieser Modi geschlossen hat — Bevor wir die Diskussion hier-
über weiter führen, besprechen wir die oben charakterisierten
Versuche mit Vp. E.
Wir gaben Vp. E. die Anweisung, möglichst schnell zu schließen,
als sie sich in höherer Übungslage befand, in welcher die
Schlüsse alle den Charakter von vollständigen annahmen, während
ursprünglich abgekürzte Schlüsse bei ihr aufgetreten waren. Ich
vermutete, daß durch die Folgen der Anweisung, möglichst schnell
zu operieren, die Schlüsse den abgekürzten Schlüssen angenähert
werden würden, nachdem die Schlüsse in höherer Übungslage eine
beträchtliche Verlängerung der Reaktionszeit erfahren hatten —
und daß die gesteigerte Fähigkeit zur Analyse und die statt-
gefundene Bereicherung der Gesichtspunkte vielleicht aus diesen
den abgekürzten Schlüssen genäherten mehr Einzelphasen heraus-
beben würden.
Die höhere Übungslage hatte bei den Schlüssen mit dem
Obersatz an zweiter Stelle die frühere durchschnittliche Re-
aktionszeit von b*/b Sekunden auf 8y10 verlängert (Mittel aus
sechs Versuchen), dagegen war bei den Schlüssen mit dem Ober-
satz an erster Stelle bei höherer Übungslage die Reaktionszeit von
8*
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116
G. Störring,
durchschnittlich 8 Sekunden nur auf 9y10 Sekunden gestiegen
(Mittel aus drei Versuchen).
Die Anweisung, nicht nur mit absoluter Sicherheit, sondern
auch möglichst schnell zu schließen, veränderte nun die Reaktions-
zeit in folgender Weise. Bei Schlüssen mit dem Obersatz an
zweiter Stelle sank die Reaktionszeit von durchschnitt-
lich 81 10 Sekunden auf durchschnittlich 33/& Sekunden
Mittel aus sieben Versuchen), also weit unter den
ursprunglichen Wert (5'/6 Sekunden) und bei Schlüssen
mit dem Obersatz an erster Stelle sank die Reaktionszeit
von dem durchschnittlichen Wert von 9y,0 Sekunden auf
den Wert von 4«/8 Sekunden (Mittel aus fünf Versuchen),
also fast auf die Hälfte des ursprünglichen Wertes
(8 Sekunden).
Bei diesen außerordentlich schnell vollzogenen Schlüssen er-
gaben sich nun folgende Resultate. Von den elf Versuchen
wurde in zehn Fällen das Einsetzungsverfahren ausge-
schlossen. Unter diesen Fällen finden sich zwei Fälle, in wel-
chen ein Schluß in unbestimmter Form dem definitiven Schluß-
satz vorausgeht in ähnlicher Weise, wie wir das bei Vp. F. sahen,
nur daß mit Bestimmtheit das Einsetzungsverfahren ausgeschlossen
wird und das Vorliegen der embryonalen Form der dritten und
vierten Operationsweise sich als wahrscheinlich darstellt. In nur
einem Fall wurde das Einsetzungsverfahren für möglich oder
einigermaßen wahrscheinlich gehalten. In fünf Fällen wird ein
Ablesen aus Repräsentanten, besonders den Sukzessionen der
psychischen Akte zusammen mit der Wirkung von Gleicbheits-
setzen zwischen den Beziehungen, also embryonale Form der dritten
und vierten Operationsweise, als von größerer Wahrscheinlichkeit
charakterisiert, in zwei Fällen schwankt Vp. zwischen der Ent-
scheidung für letztbezeichnete Operationsweise und dem Schließen
nach dem vierten Modus der Schlüsse mit räumlichen und zeit-
lichen Beziehungeu, neigt aber mehr zur Annahme jener Opera-
tionsweise. Von den übrigen drei Fällen wird in einem mit Be-
stimmtheit ein Schließen nach dem vierten Modus behauptet, in
den beiden anderen Fällen es für wahrscheinlich gehalten.
Man sieht, die Aussagen verlieren bei diesen außergewöhnlich
schnell vollzogenen Schlüssen sehr an Bestimmtheit. Am wichtigsten
für unseren Zweck ist wohl, daß das Einsetzungsverfahren
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Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schlußprozesae. 117
bei sehr schnell verlaufenden Schlüssen selten auf-
zutreten Bcheint und daß in Fällen mit Schlüssen mit
voraufgegangenem Schiulisatz in unbestimmter Form das
Einsetzungeverfahren mit Bestimmtheit ausgeschlossen
wird und ein Operieren in der embryonalen Form des
dritten und vierten Modus sich als wahrscheinlich dar-
stellt.
Wir dürfen deshalb auch wohl bei den abgekürzten
Schlüssen mit vorausgegangenem Schlußsatz in unbe-
stimmter Form: »alle ... gehören zu dem, was kommt«
mit Wahrscheinlichkeit das Stattfinden einer Einsetzung
ausschließen. Es spricht dann für das Stattfinden der Mitwir-
kung des Gleichheitsgedankens und eines Abiesens, etwa aus der
Sukzession der Akte, einmal die angeführte Feststellung bei ähn-
lichen Versuchen der Vp. E. Sodann muß man berücksichtigen,
daß die für ein Ablesen erforderliche Präsenz der Beziehungsge-
danken mit den bezogenen Größen hier sich viel leichter realisiert,
da hier ja eine der bezogenen Größen noch unbestimmt erscheint.
Dazu sahen wir Vp. F. tatsächlich bei Präsenz der Beziehungs-
gedanken außer mit einem Einsetzen, mit einem Ablesen bei Mit-
wirkung eines Gleichheitsgedankens operieren.
Ein anderes Verfahren wird sicher bei solchen Schlüssen ein-
geschlagen, bei denen nach der Auffassung die zweite Prämisse
spontan die Vorstellung des terminus minor und im Anschluß daran
die des terminus major auftritt und damit zugleich das Bewußtsein
des Schlußsatzes gegeben ist. Hier liegt sicher kein Ablesen vor,
hier ist am wenigsten von den Beziehungsgedanken der Prämissen
im Moment des Schließens vorhanden. Ich vermute hier ein Ope-
rieren nach der ausgebildeten Form des vierten Modus der räum-
lichen und zeitlichen Schlüsse. Ich hoffe, durch akustisohe Dar-
bietung der Prämissen Material zu erhalten, um hier und Uber-
haupt in der Frage des den abgekürzten Schlüssen zugrunde
liegenden Mechanismus bestimmtere Festsetzungen machen zu
können.
Zum Schluß der Behandlung der Schlüsse mit Subsumtions-
beziehung in beiden Prämissen möchte ich noch die gelegentlich
aufgestellte Behauptung belegen, daß durchschnittlich eine Ver-
längerung der Reaktionszeit vorhanden ist in den Fällen,
wo der Obersatz die erste Stelle einnimmt gegenüber
Digitized by Google
118
G. Störring,
den Fällen, wo der Obersatz an zweiter Stelle steht.
Zugleich möchte ich nach der Ursache dieser Erscheinung fragen.
Ich stelle in der nachfolgenden Tabelle Versuche zusammen,
die bei allen Vp. unter gleicher Anweisung augestellt sind, näm-
lich unter der einfachen Anweisung, bei denen die Versuche mit
differenter Stellung des Obersatzes bei jeder einzelnen Vp. der-
selben Ubungslage entnommen sind und bei denen bei den ver-
schiedenen Vp. Versuche nach annähernd gleicher Übungszeit aus-
gewählt sind.
Vp.
Durchschnitt!.
Reaktionszeit
beim Obersatz
an zweiterStelle
Zahl
der
Versuche
M.V.
Durchschnittl.
Reaktionszeit
beim Oberßatz
an erster Stelle
Zahl
der
Versuche
M.V.
E.
8,1
6
1,4
9,1
3
0,6
F.
7,5
4
2,1
17,2
4
S
K.
12,1
5
1,6
17
5
2,06
R.
18,2
4
ö,2
40,5
4
12,1
Man sieht also, daß die Fälle, wo der Obersatz an erster Stelle
steht, eine beträchtliche durchschnittliche Verlängerung der Reak-
tionszeit aufweisen, gegenüber den Fällen, wo der Obersatz die
zweite Stelle einnimmt.
Um nun die Frage nach der Ursache dieser Erscheinung zu
behandeln, möchte ich zunächst einen Fall geben, in welchem die
erste Stellung des Obersatzes relativ komplizierte Maßnahmen nach
sich zieht.
Vp. K. Es wurde exponiert:
Alle * gehören zur
Gattung o. Alle *
gehören zur Gattung i .
Also . . .
Als Vp. beim Lesen der ersten Prämisse von dem i auf Gat-
tung o Uberging, hatte sie das Bewußtsein des Größerwerdens der
gedachten Objekte, welches sich auf Bewegungsempfindungen
gründete. Als Vp. beim Lesen der zweiten Prämisse auf »alle z*
stieß, entstand ein UnlustgefUhl, da hier eine neue Größe einge-
führt war. Dann wurde weiter gelesen: gehören zur Gattung *
und hinzugefügt: zu diesen i, die zur Gattung o gehören. Nun
machte es Vp. einige Schwierigkeit, die »Stufenfolge« heraus-
Digitized by Google
Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schlußprozesse. 119
zubringen. Vp. ging ans von der mittleren Stufe i, dann kam
das o\ von dem o, welches Vp. im Bewußtsein hatte, als sie sagte:
»diese *, die zu dem o gehören«, stieg sie herab Uber i zu x.
Damit verband sich ein deutliches UnlustgefUhl, »wie wenn mau
einen Fehltritt in eine kleine Grabe macht« (in anderen Fällen
wird dieses UnlustgefUhl von Vp. als mit der Empfindung des Zu-
sammenschrumpfens eng verknüpft charakterisiert im Gegensatz
zu dem Lustgefühl, welches beim Hinaufsteigen sich an die Ten-
denz zur Hebung des Brustkorbes anschließt). Als das x in das i
hineingedacht war, begann »das angenehme Hinaufsteigen« von x
zu i und dann weiter zu o hinauf. Dann wurde der Schluß
aus dem repräsentativen Gesamttatbestand herausgelesen. Bewußt-
sein der Sicherheit. Dauer 12y& Sekunden. Der ganze Schluß-
prozeß erscheint Vp. mehr zerstückelt als der vorher beschriebene,
unmittelbar vorangegangene, bei welchem der Obersatz an zweiter
Stelle stand.
Die Prozesse sind hier wesentlich komplizierter als wo der
Obersatz an zweiter Stelle steht und dabei das Durchlaufen einer
Stufenfolge verwertet wird. Dort bietet sich die hier gesuchte
Stufenfolge schon beim Lesen dar. Hier ging die Vp. von dem
Mittelbegriff i zunächst zu der höchsten Gattung o, stieg von dort
hinab zu der niedrigsten Stufe; damit war die Reihenfolge der
Stufen gegeben. Der Schlußsatz »alle * gehören zur Gattung o«
wurde aber erst entwickelt, nachdem Vp. die Reihe nochmal in
der Folge *, *, o durchlaufen hatte.
Vp. ging also vom Mittelbegriff aus, stieg von dort zum ter-
minus major an der Hand des Obersatzes, ging dann vom terminus
major über den Mittelbegrifif zum terminus minor. Diese Reihen-
folge war ihr aber offenbar weniger bequem für die Feststellung
des Schlußsatzes, bei dem der terminus minor nicht die letzte,
sondern die erste Stelle einnimmt, deshalb durchlief sie die Reihe
nochmal vom terminus major über den medius zum minor und las
dann die Beziehung des minor zum major aus den Repräsentanten ab.
Häufig wird das Durchlaufen einer Reihenfolge bei dieser
Stellung des Obersatzes einfacher zustande gebracht. In manchen •
Fällen geht die Vp., nachdem nach dem Lesen der zweiten Prä-
misse die Identifikation der als Mittelbegriff funktionierenden
Größen vollzogen ist, auf den terminus minor zurück, um von
diesem nun über den medius zum major aufzusteigen. Dies
Digitized by Google
120
G. Stürring.
Verfahren ist, wie man sieht, etwas einfacher. In anderen Fällen
gestaltet es sich noch einfacher, indem Vp. nach dem Lesen und
Auffassen der zweiten Prämisse, mit der ja ein Übergang von dem
terminus minor zum medius vollzogen ist, und nach stattgefundener
Identifikation zum terminus major fortschreitet.
Aber auch bei dem direkten Weitergehen zum terminus major
vom terminus medius aus würde die Herstellung einer durchlaufe-
nen Reihenfolge eine größere Anzahl von Schritten in sich schließen,
als wo der Obersatz an zweiter Stelle steht und man so beim
Lesen gleich die Stufenfolge präsentiert bekommt, indem die erste
Prämisse einen Obergang vom terminus minor zum medius vollzieht
und die zweite einen Obergang vom terminus medius zum terminus
major, während man in jenem Fall beim Lesen der ersten Prämisse
vom terminus medius zum terminus major Ubergeht, beim Lesen
der zweiten Prämisse vom terminus minor zum terminus medius, um
dann noch wieder vom terminus medius zum terminus major Uber-
zugehen.
Eine ähnliche Feststellung ist leicht in hezug auf die Her-
stellung einer absteigenden Reihe zu machen.
Wo sich also der Schluß auf das Durchlaufen der in einer
Reibe angeordneten in den Prämissen bezogenen Größen stutzt,
muß der angeführte Tatbestand eine Verlängerung der Reaktions-
zeit herbeiführen.
Nun stutzt sich aber der Schluß nicht immer auf das Durch-
laufen einer Reihenfolge. Wir haben nun noch folgende Ursache
der Verlängerung, die in allen Fällen wirkt, aufzuweisen. Die
Identifikation der als Mittelbegriff funktionierenden Größen voll-
zieht sich bei dieser Stellung der Prämissen erst nach dem Lesen
der Prämissen, während sie bei anderer Stellung derselben während
des Lesens und Auffassens der Prämissen zustande kommt. Die
identischen Größen sind dort beim Lesen aufeinander folgend ge-
geben, während hier nach dem Lesen der zweiten Prämisse erst
das zweite Beziehungsglied wieder aufgesucht werden muß. —
Hiermit hängt die Angabe von Vp. E. zusammen, die wir wieder-
holt auftreten sahen, daß bei der in Rede stehenden Stellung des
Obersatzes in beiden Prämissen zunächst isoliert voneinander auf-
gefaßt werden.
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Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schlußprozesse. 121
B. Schlüsse mit Subsumtion sbesiehung in einer Prämisse.
1. Schlüsse mit positivem Inhärenzurteil als Obersatz.
Außer den Schlüssen mit Subsumtionsbeziehung in beiden Prä-
missen habe ich Schlüsse mit Subsumtionsbeziehung in einer Prä-
misse untersucht, bei denen der Obersatz entweder ein positives
Inhärenzurteil oder ein negatives Urteil darstellte. Ich behandle
zunächst die ersteren.
Wir haben hier wieder abgekürzte Schlüsse von solchen zu
unterscheiden! bei denen die einzelnen Operationsphaaen deutlich
hervortreten. Ich gebe ein Beispiel eines abgekürzten Schlusses.
Vp. F. Es wurde exponiert:
Alle m haben die Eigenschaft e ,
■
Manche o gehören zur Gattung m.
Also . . .
Nach dem Lesen und Auffassen der ersten Prämisse sprang
aus dem Gesichtsbilde »Gattung m* hervor, der Blick ging zurück
zum ersten m mit undeutlichem Identitätsbewußtsein. Nach dem
Lesen und Auffassen der zweiten Prämisse trat »manche o« her-
vor, der Blick ging Uber auf »Eigenschaft e« und beide waren
verknüpft in dem Schluß urteil: manche o haben die Eigenschaft e.
Bewußtsein der Sicherheit. Dauer 4*/5 Sekunden.
Die Verfahrungsweise dieses Versuchs ist typisch für diese
Schlüsse.
Diese abgekürzten Schlüsse vollziehen sich hier also
ganz ähnlich wie bei den Schlüssen mit Subsumtions-
beziehung in beiden Prämissen. Ich finde diese Verfahrungs-
weise bei zwei von dreien meiner Vp., bei denen ich mit Eigen-
schaft »Schlüssen operierte, Vp. F. und E. Bei Vp. E. verschwinden
diese Schlüsse in späterem Übungsstadium durch das Wirken der
angegebenen Faktoren.
Bei den Schlüssen mit deutlichem Hervortreten der
die Schlußreihe charakterisierenden Operationsphasen
kann ich bei allen Vp. einfache Einsetzung nachweisen.
Vp. E. Es wurde exponiert:
Alle m haben die Eigenschaft e ,
Manche o gehören zur Gattung tn.
Also . . .
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122
G. Störring,
Die Auffassung der Prämissen erfolgt ohne merkbare Reprä-
sentanten. Bei Auffassung derselben kommt der Unterschied der
Beziehungen deutlich zum Bewußtsein. Die Identifikation von
>alle m* und »Gattung m« war kaum merkbar. Es wurden
die »manche o« in »die m* hineingedacht und es wurde gesagt:
Alle m mitsamt den manchen o haben die Eigenschaft e. Ans
dieser Feststellung wurde dann der Schlußsatz manche o haben
die Eigenschaft e »herausgehoben«. Bewußtsein der Sicherheit.
Dauer 61 5 Sekunden.
Dieser Versuch mit Vp. E. stammt aus einer späteren Ubungs-
lage. Dieselbe Operationsweise tritt sehr deutlich bei Vp. K. her-
vor, nur vollzieht sie vor Vollzug der Einsetzung häufig eine Zu-
sammenfassung der Beziehungsgedanken in einem Satz. So sagt
sie bei den Prämissen:
Alle u gehören zur Gattung wy
Alle w haben die Eigenschaft a.
»Diese w, zu denen die u gehören, haben die Eigenschaft a«,
um dann die Modifikation vorzunehmen: »alle diese Größen haben
die Eigenschaft a«, aus welcher Bestimmung der Schlußsatz:
»alle u haben die Eigenschaft a« herausgehoben wird. Diese Ope-
rationsweise tritt fast iu allen Versuchen von Vp. K. deutlich
hervor.
Bei Vp. F. finden sich auch bei einfacher Anweisung nicht
bloß abgekürzte Schlüsse, sondern häufig genaue Angaben über
die Einsetzung. Diese Vp. sagt dann von dem terminus minor, daß
er als zu dem terminus medius gehörig aufgefaßt sei und erläutert
das dadurch, daß er in ihn hineingedacht werde. Vom ter-
minus medius mitsamt dem terminus minor wird dann die Aus-
sage gemacht, daß sie die und die Eigenschaft haben.
Bei Vp. E. sehe ich außerdem eine komplexe Ein-
setzung auftreten, indem sie etwa bei den Prämissen
Alle u gehören zur Gattung w,
Alle w haben die Eigenschaft a,
den Schluß auf Grund des Gedankens entwickelt: »was ich von w
aussagen kann, kann ich auch von a aussagen«.
Bei den anderen Vp. habe ich die komplexe Einsetzung bei
diesen Schlüssen nicht nachweisen können.
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Experimentelle Untersuchungen über einfache Schlußprozesae. 123
II. Schlüsse mit negativem Obersatz.
Bei den Schlüssen mit negativem Obersatz scheide ich wieder
diejenigen Schlüsse, bei denen die den Schlußprozeß charakteri-
sierenden Operationsphasen dentlich hervortreten von den abge-
kürzten Schlüssen. Ich bespreche zunächst die ersteren.
Als negative Obersätze habe ich die Negation von Subsum-
tionsbeziehungen und von Inhärenzbeziehnng verwendet.
Bei negativen Obersätzen ersterer Art hat sich folgendes er-
geben. Es läßt sich zunächst bei allen Vp. das Vorkom-
men einfacher Einsetzung nachweisen.
Vp. E. Es wurde exponiert:
Kein e gehört zur Gattung «,
Alle a gehören zur GattuDg e.
Also . . .
Bei Auffassung der ersten Prämisse tritt ein eigentümlicher
Repräsentant auf: es ist die visuelle Vorstellung eines senkrecht
stehenden Brettes vorhanden, mit dem etwas links daran Liegen-
des von rechts nach links weggeschoben wurde auf irgendeiner
wagerechten Fläche. Das links daran Liegende war e. Nach
dem Lesen der zweiten Prämisse trat eine merkbare Identifikation
der beiden e auf. Dann wurde a in das e hineingedacht ohne
merkbare Repräsentation und gedacht: die e, von denen a einen
Teil bildet, gehören nicht zur Gattung s. Darauf wurde der
Schlußsatz herausgehoben. Der Schluß war während der Aussage
noch nicht vollkommen sicher, aber die Sicherheit trat später noch
deutlicher auf, indem, wie Vp. mit Bestimmtheit spontan behauptet,
die mitwirkenden Vorgänge selbst deutlicher wurden, ohne daß
neue Betrachtungen hinzutraten. Dauer 71/* Sekunden.
In einem anderen Fall, bei den Prämissen
Alle p gehören zur Gattung i ,
Kein i gehört zur Gattung n,
sagt Vp. beim Übergang zum Schlußsatz: i mitsamt den p ge-
hören nicht zur Gattung w. Zuweilen tritt bei Vp. E. die deut-
liche Erkenntnis auf, daß aus einer solchen Feststellung der
Schlußsatz durch Abstraktion gewonnen wird.
Vp. R. spricht anstatt von einem » Hineindenken * des terminus
minor in den terminus medius von einem Umfaßtwerden des terminus
r
s
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124 G. Störring,
minor durch den terminus medius. So sagt sie bei den Prä-
missen: Alle k gehören zur Gattung m,
Kein m gehört zur Gattung * ,
»Gattung m umfaßt alle A«.
Bei Vp. K. findet sich gelegentlich folgender Ausdruck flir den
Vollzug einfacher Einsetzung. Bei den Prämissen:
Alle p gehören zur Gattung »,
Kein i gehört zur Gattung w,
sagt sie »beide, p und if gehören nicht zur Gattung n«.
Uber die Entwicklung des Schlußsatzes aus dieser komplexen
Feststellung sagt sie, beim »Herausheben« des Schlußsatzes sei
ihr die »Beziehung von p zu * sehr klar gewesen«.
Vp. F. spricht häufig von einem »Hineindenken« der als ter-
minus minor funktionierenden Größe in die als terminus medius
funktionierende, oder sie betont das Wort »gehören», was nach
ihr dieselbe Bedeutung hat und Ähnliches.
Wir finden also bei allen unseren Vp. einfache Einsetzung bei
diesen Schlössen.
Außer mit einfach er Einsetzung finde ich zwei meiner
Vp. mit komplexer Einsetzung bei diesen Schlüssen
operieren.
So wird von Vp. F. bei den Prämissen:
Kein e gehört zur Gattung s,
Alle a gehören znr Gattung e,
der Schlußsatz auf Grund des Urteils entwickelt, »daß von a
dasselbe auszusagen sei wie von c«. Auf Grund dieses Ur-
teils wird, wie Vp. selbst sagt, eine »Einsetzung« des a für das e
vollzogen. Bei den Prämissen:
Manche o gehören zur Gattung /",
Kein f gehört zur Gattung t,
nimmt dieses Urteil die Form an: »was von f ausgesagt wird, ist
auch von »manchen o« auszusagen«.
Das die Einsetzung der als terminus minor funktionierenden
Größe für die als terminus medius funktionierende begründende
Urteil nimmt bei Vp. E. gewöhnlich die Form an: »was von . . .
gilt, gilt auch von . . .«, »was von . . . ausgesagt werden kann,
kann auch von . . . ausgesagt werden«. —
Als negative Obersätze habe ich sodann die Negation von
Inhärenzbeziehnngen verwendet. Solche Prämissen habe ich
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Experimentelle Untersuchungen über einfache Schlußprozesse. 125
nur zweien meiner Vp. dargeboten. Bei beiden ißt das Vor-
kommen einfacher Einsetzung nachzuweisen. So sagt Vp. K.
bei den Prämissen
Alle h gehören zur Gattung g,
Kein g hat die Eigenschaft % ,
beim Ubergang zum Schlußsatz nach Zusammenfassung der Be-
ziehungsgedanken in den Satz: »diese g, zu welchen alle h ge-
hören, haben nicht die Eigenschaft i« — »g und A, diese gan-
zen Größen haben nicht die Eigenschaft *«. Aus dieser
komplexen Feststellung wird dann der Schlußsatz durch »Heraus-
heben«, wir sagen durch »Abstraktion« gewonnen. Eine ähnliche
Verfahrungsweise finden wir bei Vp. F., nur daß eine Zusammen-
fassung der Beziehungsgedanken in einem Satz bei ihr nicht
auftritt.
Bei Vp. F. finden wir hier außerdem komplexe Einsetzung,
Einsetzung der als terminus minor funktionierenden Größe für die
als terminus medius funktionierende.
Vp. E. bezeichnet die Schlüsse mit Negation einer Inhärenz-
beziehung im Obersatz als etwas leichter vollziehbar als die
Schlüsse mit einer Subsumtionsbeziehung im Obersatz, bei ihnen
erscheint ihr das Ganze »nicht so zerrissen« wie bei Schlüssen
mit Negation einer Subsumtionsbeziehung. —
Ich möchte nun die abgekürzten Schlüsse mit negati-
vem Obersatz kurz charakterisieren. Ich gebe zunächst ein
paar signifikante Fälle.
Vp. F. Es wurde exponiert:
Kein o gehört zur Gattung m,
Alle k gehören zur Gattung o ,
Also . . .
Beim Lesen und Auffassen der ersten Prämisse fallt die Ver-
neinung besonders auf, sie setzt eine gewisse Hemmung, so daß
Vp. die Größen nocbmal Uberblickt und sich die Verneinung dabei
klarer macht, dabei sagte sich Vp. innerlich in bezug auf diese
Verbindung dieser Größen: »nicht«. Nach dem Lesen und Auf-
fassen der zweiten Prämisse wanderte der Blick, ohne daß Vp.
es wollte, vom zweiten o zum ersten o hinüber. Außer der Blick-
wanderung und den Gesichtswahrnehmungen ist noch ein psychi-
sches Etwas dagewesen, aber angeblich so undeutlich, daß nicht
gesagt werden kann, ob es eine Identifikation war oder nicht.
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126
6. Störring,
Darauf ging der Blick zu k hinüber, dabei drängte sich die Be-
stimmung auf: »kein k* — Vp. war erstaunt über das Auftreten
dieses Gedankens — »gehört zur Gattung m« mit Blickrichtung
von k auf m. Bewußtsein der Sicherheit. Dauer 13*/& Sekunden.
Vp. F. Es wurde exponiert:
Kein k gehört znr
Gattung s. Alle f
gehören zur Gattung k .
Also . . .
Beim Lesen der ersten Prämisse etwas Störung durch die ver-
änderte Stellung. Sie wurde dann nochmal gelesen, wobei »kein k*
und »sc eingeprägt wurde. Bei Auffassung der Prämisse hatte
Vp. das Bewußtsein »nicht« ohne Klangbilder, aber »mit inner-
lichem Ruck«. Dann wurde die zweite Prämisse gelesen, wobei
der Blick auf die zweite Prämisse geheftet blieb. Diese Hemmung
des Blickes war nicht vorher beabsichtigt. Nachdem Vp. die
zweite Prämisse zum erstenmal gelesen hatte, hatte sie Neigung
zur Blickbewegung (Vp. meint, es handle sich um eine Nachwir-
kung von Angaben bezüglich des Ubergangs von einer identischen
Größe zu einer anderen, welcher Ubergang nach dem Lesen der
zweiten Prämisse erfolgen mußte). Vp. war nun aber nicht im-
stande, die Verbindung mit der ersten Prämisse herzustellen.
Dann wurde die zweite Prämisse nochmal gelesen mit Fixierung
des Blickes auf diese, so daß er nicht schweifen konnte. Vp.
war wieder nicht imstande, die Verbindung zu finden. Dann
ließ Vp. dem Blick absichtlich freien Lauf. Da wanderte der
Blick vom zweiten k aufs erste k hinüber. Dann trat »alle /*«
deutlich hervor. Vp. sagt: »kein /*«. Beim Hinübergehen des
Blickes auf f oder unmittelbar nach demselben hatte Vp. das
Bewußtsein des vollzogenen Schlusses, ohne die Größen präsent
zu haben. Dann erfolgte der bestimmte Schluß: kein f gehört
zur Gattung s. Bewußtsein der Sicherheit. Dauer 20 Sekunden.
Diese »abgekürzten Schlüsse« zeigen nicht immer, wie man sieht,
eine abgekürzte Reaktionszeit, ich nenne sie abgekürzt, weil bei
ihnen Prozesse mitwirken, die nicht ins klare Bewußtsein fallen, in
der Auffassung der Prämissen können sie sehr lang hingezogen sein.
Sie treten außer bei Vp. F. auch bei Vp. E. auf, bei letzterer aber
nur in derselben Übungslage, in der die abgekürzten Schlüsse mit
Subsumtionsbeziehung in beiden Prämissen bei dieser Vp. auftraten.
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Experimentelle Untersuchungen Uber einfache Schlußprozesse. 127
Charakterisieren läßt sich der Verlauf dieser Schlüsse in folgender
Weise: Nach Auffassung der Prämissen und Identifikation
der identischen Größen tritt eine Blickbewegung auf
die als terminus minor funktionierende Größe auf mit
dem Gedanken. »Kein« so und so (t. min.), von da erfolgt
eine Blickbewegung auf die als terminus major funk-
tionierende Größe, womit der Schlußsatz vervollständigt
wird. Der Gedanke »kein . . .« drängt sich Vp. so sehr für ihr
Bewußtsein unvermittelt auf, daß sie selbst gelegentlich darüber
während des Versuches verwundert ist.
Diese abgekürzten Schlüsse interessieren mehr psychologisch
als logisch.
(Eingegangen am 2L September 1907.)
Experimentelle Untersuchung der Komplementär-
verhältnisse gebräuchlicher Pigmentfarben.
Von
A. Kirschmann und D. S. Dlx (Universität Toronto).
Mit 8 Figuren im Text.
Die genaue Ermittelung der Komplementärverhältnisse der
Farben hat für den Physiker so gut wie gar keine Bedeutung,
denn es ist bis jetzt noch keine gesetzmäßige Beziehung zwischen
dem, was der Physiker als Farbe in Anspruch nimmt, nämlich den
Wellenlängen und dem Komplementarismus, aufgefunden worden.
(Die durch Polarisation erzielten Farbenpaare sind zwar komple-
mentär, aber von so komplexer Zusammensetzung, daß die genaue
Kenntnis ihrer Komplementärverhältnisse wenig Wert hat) Bei
Komplementärfarbenversuchen mit Spektralfarben trägt die Aus-
gleichung von Helligkeit und Sättigung mehr oder minder den
Charakter des Willkürlichen, und läßt sich außerdem in der Praxis
nicht anwenden. Für den Psychologen hat der Komplementarismus,
der eine so wichtige Rolle in dem Gebiet der Kontrast- und Nach-
bildererscheinungen, sowie in demjenigen der anomalen Farben-
empfindung (Farbenblindheit) spielt, eine ungleich größere Be-
deutung. Es ist daher befremdend, daß man sich bisher mit einer
sehr mangelhaften Feststellung der Komplementärpaare begütigt
zu haben scheint. Nun hat aber neuerdings die experimentelle
Untersuchung ästhetischer Fragen einen bedeutenden Aufschwung
genommen, und hier ist es für die exakte Interpretation der ex-
perimentell gefundenen Tatsachen unerläßlich, daß man Uber ge-
naue Daten verfügt. So z. B. sind Angaben Uber die Bedeutung
des Komplementarismus bei harmonischen Farbenzusammen-
stellungen ganz wertlos, wenn man nicht Uber eine genügend
große Zahl von Qualitäten verfugt, und wenn nicht für jede
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Untersuchung: der Kompleuientürverhiiltmsse gebrüuclil. Pigmcntfarben. 129
Qualität ganz genau festgestellt worden ist, welche andere Qualität
der Mannigfaltigkeit oder welche Kombination zweier benachbarte
Qualitäten jener komplementär ist. Um diesem Ubelstand abzu-
helfen, haben wir im psychologischen Laboratorium zu Toronto
die Komplementärverhältnisse für die am meisten gebrauchten
Systeme von Pigmentpapieren (Prang, Milton-Bradley, Hering)
sowie flir die gebräuchlichsten Aquarellfarben systematisch fest-
gestellt. Es wurden dazu zwei Marbesche Apparate benutzt, der
eine ftir die zwei bzw. drei zu untersuchenden Farben, der andere
für die aus Schwarz und Weiß bestehende Vergleichsscheibe.
Da sich nur höchst ausnahmsweise unter den Pigmenten ein Paar
wirklich komplementärer vorfindet, so handelt es sich fast Uberall
um die Kombination von drei Farben. Da der Marbesche
Apparat nur ein Variieren des Sektoren Verhältnisses von zwei
Komponenten während der Rotation erlaubt, so mußte die Änderung
der Winkelbreite der dritten Komponente in der alten Weise,
d. h. durch allmählichen Zusatz, Grad um Grad, unter Anhalten
des Apparates bewerkstelligt werden. Das Versuchsverfahren war
das folgende. Die beiden Scheiben, die farbige und die schwarz-
weiße, befanden sich unmittelbar nebeneinander. Die Farben-
sektoren wurden so lange variiert, bis ein indifferentes Grau er-
zielt war, dann wurde mittels des zweiten Marb eschen Apparates
ein aus Schwarz und Weiß zusammengesetztes Grau hergestellt,
das dem ersten genau gleich erschien. Wenn genaue Gleichheit
nicht zu erzielen war, so mußte natürlich das Grau der farbigen
Scheibe so lange geändert werden, bis exakte Ubereinstimmung
erreicht war. Alle Versuche wurden bei Beleuchtung durch dif-
fuses Tageslicht angestellt. Die beiden Scheiben wurden auf
einem mattschwarzen Hintergrund (Tuch) gesehen, und zwar dem
einzigen Fenster des graugestrichenen Zimmers gegenüber. Das
eintretende Licht kam teilweise vom Himmel, teilweise von den
grauen Wänden des gegenüberliegenden Flügels des Universitäts-
gebäudes.
Nachdem sich die Experimentierenden die genügende Übung ange-
eignet hatten, dauerte die Herstellung einer Farbengleichung günstigen
Falles eine Stunde, oft aber viel länger. Die in den Gleichungen der
folgenden Tabellen gegebenen Zahlen sind die Durchschnittswerte
von zwei Doppelbeobachtungen (d. h. zwei Personen zur gleichen
Zeit und dieselben zwei Personen wieder zu einer anderen Zeit.)
Archiv für Psychologe. XI. 9
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130
A. Kirschmann und D. S. Dix,
Tabelle L
Milton-Bradley-System: Gesattigte Farben.
Kot
+ l.ibi/2
Blau-Grün
4- 21^ Grün-Blau
81 Vs Weiß 4-
1351/2 Orange -Rot
4" I2I
Blau-Grün
4- 33« ,'3
Hrlln Iii «in
• -i_
* ~r
11m
4- 199
Blau-Grün
4- 47i/o
flri\n Tllaii
ijruu-x/iau
107
* 1
9FA
QQ
212
• /ränge
4- 126
Blau-Grün
4- 86
f! Hin. PI an
ii ruu-Diau
190
1 -r
^iU >
IAA
1 Ut >
/ _ a] }\ lifo t* f m
iTeio-urange
4- 122
Blau-Grün
4- 133
Grün-Blau
1901/-
» 4~
1 901 /„
uran^e-ireiu
+ fi
Blau-Grün
4- 2341/0
Grün-Blau
1'*" / 2
* 4-
1381/2
Gelb
4- 110
Grün-Blau
4- HIV/2
Blau
» -r
141
Grün-Gelb
4- 9Q
Blau- Violett 4- 123
Violett
1 '-Uli /
• 4-
126
Gelb-Grün
4- 186
Rot-Violett
4- 48
Violett-Rot
13a
* k
001
131
Grün
4- 4fi
Rot-Violett
4- 181
Violett-Rot
02
• +
142
Blan-Grün
4- 40»/3 Violett-Rot
4- 177V,
Rot
84V?
» +
27öi/2 >
240
Grün-Blau
4- llß
Orange-Gelb 4- 4
Gelb
1531/2
• +
506Vs ■
184V,
Blau
4~ üü
Gelb
4- 10fiV2
Grün-Gelb
146i /•>
» 4-
213V- >
197 1/«
Violett-Blau
4- 43
Gelb
4- 119V2 Grün-Gelb
145Vs
► +
214V2 »
194
Blau-Violett
-f 16
Gelb
4- 150
Grün-Gelb
177
► +
lsa
235
Violett
+ 78»/?
Grün-Gelb
4- 46i/2
Gelb-Grün
125V,
* 4-
2341/, •
22öi/2 Rot-Violett
+ 21
Grün-Gelb
4- 1071/,
Gelb-Grün
142
> 4-
218
228V2
Violett-Rot
+ 105». ''s
Grün
4- 26
Blau-Grün
91V*
► 4-
268i/i >
Tabelle II.
Milton-Bradley-System: Tinten.
12Ü Rot
4-
92 Blau-Grün
4- 148 Grün
213 Weiß 4-
81 Schwan.
131 Orange-Rot
4-
103 Blau-Grün
4- 120 Grün
281 »
4-
29 »
134 Rot-Orange
+
126. Blau-Grün
4- 100 Grün
302 .
• +
53
132 Orange
4-
149 Blau-Grün
4- 29 Grün
294 >
• +
66
130 Gelb-Orange 4-
81 Blau-Grün
4- 149 Grün-Blau
304 >
56 •
146 Orange-Gelb 4-
191 Grün-Blau
4- 12 Blau
242 -
> 4-118 »
205 Gelb
4-
145 Violett-Blau
4- 10 Blau- Violett
:\m >
1 4-
40 »
196 Grün-Gelb
4-
135. Rot- Violett
4- 29 Violett-Rot
222 1
+
138
196 Gelb-Grün
4-
22 Rot-Violett
4- 142 Violett-Rot
282 «
+
23 »
218 Grün
4-
25 Violett-Rot
4- 62 Rot
305 >
+
55 >
214 Blau-Grün
+
76 Orange
4- 20 Gelb-Orange
316 >
• 4-
44 *
205 Grün-Blau
4-
4Q Gelb-Orange 4- 115 Orange-Gelb
311 .
» +
49 »
123 Blau
4-
131 Orange-Gelb 4- 66. Gelb
303 >
' +
52 1
161 Violett-Blau
+
9 Orange-Gelb
4- 190 Gelb
292 «
' 4-
63 »
121 Blau-Violett 4-
125 Gelb
4- 14 Grün-Gelb
292 .
+
63 »
122 Violett
4-
94. Gelb
4- 94. Grün-Gelb
300 »
+
60 »
162 Rot-Violett
4-
9 Gelb
4- 184 Grün-Gelb
298 >
+
62 •
152 Violett-Rot
4-
38 Gelb-Grün
+ 165 Grün
283 -
+
22 »
Untersuchung der Komplementärverhältniase gebrauch!. Pigm entfärben. 131
Tabelle III.
Milton-Bradley- System : Schattierungen .
iL t
IwOl
+ 223 Blau-Grün
4- 10
wrun-rJiau
oo weiis
4- oä/ Scnwj
Ol
urauge-ivoi
+ 258 Blau-Grün
4- 18
f lt.il n Ulm«
irrun-riiau
Ol »
-f- OCO »
o7
ivoi-uraugt?
4- 236 Blau-Grün
+ 38
v trun-iiiau
SSO »
1 Ol»
-p OJä »
68
Orange
4- 251 Blau-Grün
+ 41
Grün-Blau
Ol *
i. qo'j m
79
Gelb-Orauge
-f- 212 Blau-Grün
+ 69
Grün-Blau
Oö >
i aoo «.
106
Orange-Gelb
+ 116 Blau-Grün
4- 139
Grün-Blau
ort
i oon
-f- <soU >
1Ö2
Gelb
+ 22 Blau-Grün
4- 186
Grün-Blau
Ott
-f- ÄbiS »
198
Grün-Gelb
4- 14 Blau- Violett + 148
Violett
qo
oo >
1 oco
-(- £D£ »
162
Gelb-Grün
+ 130 Rot- Violett 4- 68
Violett-Rot
Ol
öl >
4~ 6 13 »
117
Grün
4- 39 Rot-Violett
4- 204
Violett-Rot
Q1
-f- 2D" >
1%
Blan-Grün
+ 44 Violett-Rot + 120
Rot
74 »
4- 286
1931/a Grün-Blau
4- 156 Gelb
4- 10»/2 Grün-Gelb
105t/f >
4- 264i/s »
166
Blau
+ 156 Gelb
4- 39
Grün-Gelb
89 >
4- 271
194
Violett-Blau
4- 60 Gelb
4- 106
Grün-Gelb
70 »
4- 290 *
166
Blau- Violett
4- 62 Gelb
4- 132
Grün-Gelb
95 »
4- 266 »
1Ö8
Violett
4- 187 Grün-Gelb
4- 15
Gelb-Grün
133 »
4- 227 »
196
Rot-Violett
4- 71 Grün-Gelb
4- 93
Gelb-Grün
821/s »
4- 27772 »
200
Violett-Rot
4- 100 Grün
4- 60
Blau-Grün
73 »
4- 287
Die Tabellen I, II and III enthalten die Resultate der Versuche
mit den Farben des Milton-Bradley-Systems, und zwar Tabelle I
für die gesättigten Farben, Tabelle II für die Tinten und Tabelle in
für die Schattierungen.
Zur besseren Ubersicht geben wir in Figur 1, 2 und 3 eine
graphische Darstellung des Inhaltes dieser Tabellen. Wir verteilen
die 18 Qualitäten des Milton-Bradleyschen Systems in gleichen
Abständen auf der Peripherie eines Kreises, wir ziehen dann von
jedem, eine Qualität bezeichnenden Punkte eine gerade Linie nach
demjenigen Punkte der Peripherie, wo nach dem Befund der
obigen Tabellen die Komplementäre liegt, wobei natürlich die
Abstände von den zwei nächsten Qualitäten umgekehrt proportional
den in obigen Gleichungen festgestellten Quantitäten zu setzen
sind. Man wird finden, daß in allen diesen Figuren die Linien
nicht, wie sie sollten, durch die Mitte gehen, sondern die Kreuzungs-
punkte bilden gewisse dreieckige Figuren, welche in allen drei
Fällen einander sehr ähnlich sind. Der Grund dieses Phänomens
kann in folgenden Umständen gefunden werden : Die exzentrische
9*
Digitized by Google
I
1) Rot.
2) Orange-Rot.
3) Rot-Orange.
4) Orange.
ö) Gelb-Orange.
6) Orange-Gelb.
7) Gelb.
8) Grün-Gelb.
9) Gelb-Grün.
10 Grlin.
11; Blau-Grün.
12) Grün-Blau.
13 Blau.
14 Violett-Blau.
16) Blau- Violett.
16; Violett.
17) Rot-Violett.
18) Violett-Rot.
Digitized by LjOOQle
Untersuchung der Komplementär-Verhältnisse gebräuchl. Pigmentferben. 135
Lage der Kreuzungsstelle oder des Komplexes kommt zustande
durch das Übergewicht der Rot-, Orange und Gelbqualitäten Uber
die anderen. Daß die Kreuzungspunkte sich um die Ecken des
Dreickes anhäufen, kommt höchstwahrscheinlich daher, daß die
Pigmente, welche zum Färben dieser Papiere benutzt werden,
nicht so zahlreich sind als das System glauben zu machen sucht.
Anscheinend wurden sechs verschiedene Qualitäten von Rot bis
Gelb und ebensoviele von Rot bis Blau benutzt. Höchst wahr-
scheinlich aber sind nur wenige Pigmente verwendet und die
dazwischen liegenden Qualitäten durch Mischung hergestellt.
Der Wechsel in der Qualität ist dann am größten beim Ober-
gang von Gelb zu Grün, von Grtin zu Blau und von Violett
zu Rot.
Wenn man die drei Figuren vergleicht, so findet man eine
merkliche Verschiebung des Komplementarismus, besonders in
den Tinten, wie die beigefugte Tabelle IV zeigt. Ob diese
Tabelle IV.
Nummer
Bezeichnung
Die Komplementäre fällt
der
der
in den ge-
in den
in den
Farbe
Farbe
sättigten Farben
Tinten
Schattierungen
zwischen
zwischen
zwischen
1
Rot
11 und 12
10 und 11
11 und 12
2
Orange-Rot
11 .
> 12
10 »
11
11
> 12
3
Rot-Orange
11 >
. 12
10 .
11
11
» 12
4
Orange
11 ,
12
10 >
11
11
» 12
5
Gelb-Orange
11 >
. 12
11 >
12
11
» 12
6
Orange-Gelb >
11 ,
. 12
12 »
13
11
» 12
7
Gelb
12 .
> 13
14 >
15
11
> 12
8
Grün-Gelb
16 >
> 16
17 >
18
15
» 16
9
Gelb-Grün
17 »
► 18
17 »
18
17
» 18
10
Grün
17 .
► 18
18 »
1
17
» 18
11
Blau-Grün
18 .
. 1
4 >
5
18
» 1
12
Grün-Blau
6 .
. 7
5 »
6
7
> 8
13 ,
Blau
;:
. 8
6 .
7
7
» 8
, Violett-Blau
8
6 »
7
7
> 8
:l
Blau- Violett
7 i
• 8
7 »
8
7
» 8
Violett
8 ,
» 9
7 >
8
8
» 9
17
1 Rot-Violett
8 i
. 9
7 »
8
8
9
»
, Violett-Rot
10 »
10
10
» 11
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136
A. Kirschmaim und D. 8. Dix,
Verschiebung eine Folge des Purkinj eschen Phänomens ist, oder
ob sie auf Rechnung der Herstellungsmethode von Tinten und
Schattierungen des Milton-Bradleyscheu Systems zu setzen ist,
wird sich schwer ermitteln lassen, vielleicht tragen beide Fak-
toren dazu bei. Soviel aber ist sicher, die Milton-Bradley sehen
Schattierungen und Tinten sind durchaus nicht genaue Schattierungen
und Tinten der gleichgenaunten Farben.
In Tabelle V und der korrespondierenden Figur 4 geben wir
in ganz gleicher Weise die Komplementärverhältnisse von dreizehn
von Herrn Mechaniker Rothe bezogenen Farben Herings.
Ebenso gibt die Tabelle VI (Figur 5) die Resultate der Versuche
mit den Qualitäten des Prangschen Systems.
Tabelle V.
Hering-System.
uv/2
Rot
4- 101« ,
Grün-Blau
4- H7 Blau-Grün
72 Weiß
4- 288 Sehwia
121
Rot
4- 117
Grün-Blau
4- 122 Blau-Grün
83
4- 277
118i/2 Orange-Rot + 134
Grün-Blau
-r 1071/j Blau-Grün
741/2 »
4- 285i s ,
87
Orange
-h 188i/3 Grün-Blau
4- 84i.a Blau-Grün
88V2 >
4- 271i,o ,
99
Orange-Gelb -f- 33'/o Blau
4- 227i'2 Grün-Blau
93>/2 ♦
4- 286»/. >
119
Gelb
+ 177i ,
Blan
4- 63'./. Grün-Blau
IIO1/2 »
4- 249i/2 ,
164
Gelb-Grlin
4- 87i .
Violett-Rot 4- 1181/2 Violett
80« 2 .
4- 2791/; ,
161
GrUn
4- 14U1/-'
Violeft-Rot
4- 491/2 Violett
67i 2 ,
4- 292»'2 >
185
Blau-Grün
+ 102» o
Violett-Rot
4- 721/a Rot
77i/2 .
4- 2821.2 »
262 >/a
Grün-Blau
4- 66
Orange-Gelb
-\- 411/2 Orange
89i,2 •
4- 2701/; ,
210
Blan
+ 107
Gelb
4- 43 Gelb-Grün
101
4- 259
216
Violett
+ öl' 2
Gelb
4- 921/s Gelb-Grün
94i 2 -
4- 2651/2 >
183V«
Violett-Rot
-f 92
Blau- Grün
4- 84'/« Grün
70
4- 290
Es sei noch erwähnt, daß die Untersuchung der gesättigten
Milton-Bradleyscheu und der Heringschen Papiere von
D. S. Dix, M. A., und McGregor, B. A. l), diejenigen der Tinten
und Schattierungen aber von den Herren T. W. Murphy, M. A.,
und L. E. Davis, M. A., ausgeführt wurden.
Die Gleichungen der Tabelle VI sind das Resultat der Ver-
suche der Herren J. E. Gibson, B. A., und H. R. Pickup, B. A.
Figur 5 gibt eine graphische Darstellung dieser Versuche ganz
1) Universitv of Toronto Htudiee. Psychologie»! Serie». Vol. II. Nr. 2.
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Untersuchung der Komplementärverhältniase gebräuchl. Piginentfarbcn
Fig. 4.
Heringsche Papiere.
1) Rot I.
2) Rot II.
3) Orange-Rot.
4) Orange.
5) Orange-Gelb.
6) Gelb.
7) Gelb-Grün.
8) Grün.
9) Blau-Grün.
10) Grün-Blau.
11) Blau.
12} Violett
13) Violett-Rot.
138
A. Kirschmann und D. S. Dix,
Prang-System.
1) Rot.
2) Rot-Rot-Orange.
3) Rot-Orange.
4) Orange-Rot-Orange.
5) Orange.
6) Orange-Gelb-Orange.
7) Gelb-Orange.
8) Gelb-Gelb-Orange.
9) Gelb.
10; Gelb-Gelb-Grün.
11) Gelb-Grün.
12) Grün-Gelb-Grün.
13
14)
15}
16)
17)
18)
19)
20)
21)
22)
Grün.
Grün-Blau-Grün.
Blau- Grün.
Blau-Blau-Grün.
Blau.
Blau- Blau- Violett
Blau-Violett.
Violett-Blau-Violett
Violett.
Violett-Rot-Violett
Rot-Violett.
Rot-Rot-Violett
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Untersnchung der Komplementärverhältniaae gebrauch!. Pignientfarben. 139
-
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Digitized by GO'
140
A. Kirflehmann nnd D. S. Dix,
nach Art der anderen Figuren. In Figur 6 geben wir zum
Vergleich die Resultate der vor sieben Jahren von Baker
und Kirschinann1) (nach der gewöhnlichen Methode ohne
Marb eschen Apparat) ausgeführten Gleichungen. Die Uberein-
stimmung ist mit wenigen Ausnahmen vollständig. Die wenigen
zwischen den Farben Violett und Rot liegenden Abweichungen
sind wahrscheinlich dadurch zu erklären, daß die Prangschen
Papiere in den sieben Jahren nicht ganz die gleichen ge-
blieben sind. Wir bemerken häufig beim Beziehen nener Pa-
piere kleine Verschiedenheiten, besonders in der Region des Rot-
Violett.
Wir haben oben schon angedeutet, daß die ungleiche Ver-
teilung der Komplementären, d. h. die verhältnismäßige Anhäufung
auf drei Regionen des Farbenkreises (Gelb, Blau-Grlin und Rötlich-
Violett) und infolgedessen die dreieckige Form der Schnittregion
der Linien unserer Figur nicht eine Eigenschaft der Empfindunge-
qualitäten, sondern eine solche der bei der Herstellung der Pa-
piere verwendeten Pigmente ist. Dies läßt sich leicht dartun
an der Hand von Figur 7. Diese Figur stellt die Komplementär-
verhältnisse von zwölf Farben dar, die in der anderswo be-
schriebenen Art2) durch Belichtung von Prangschen Papieren
mittels nitriertem, mehr oder weniger monochromatischem Licht
erzielt wurden.
Wir geben im folgenden eine Liste des Befundes der
spektroskopischen Untersuchung dieser Farben (Tabelle VU).
Die Methode der Ermittelung der Komplementärverhältnisse ist
in dem zweiten Artikel von Dr. Baker mitgeteilt3). Figur 7
zeigt auf den ersten Blick, daß bei diesen spektralreinen
(d. h. auf eine beschränkte Region des Spektrums reduzierten)
Farben die Ungleichmäßigkeit der Verteilung im Farbenkreise
eliminiert ist. Das Dreieck ist verschwunden und die Schnitt-
punkte der die Komplementären verbindenden Graden kon-
zentrieren sich auf eine verhältnismäßig kleine Fläche, die wegen
der Helligkeitsausgleichung (sämtliche Farben waren auf subjektiv
1) University of Toronto Studies, Psychol. Series. Vol. I. Nr. 4.
2; Ebenda. S. 24 ff.
3) Ebenda. Vol. II. S. 15 f.
Digitized by LaOOQle
Untersuchung der Komplementänrerhältnigse gebräuchl. Pigmentfarben.
Fig. 6.
Prang- System (nach E. S. Baker).
1) Kot.
2) Kot-Rot-Orange.
3) Rot-Orange.
4) Orange-Rot-Orange.
5] Orange.
6) Orange-Gelb-Orange.
7) Gelb-Orange.
8) Gelb-Gelb-Orange.
9) Gelb.
10] Gelb-Gelb-Grün.
11; Gelb-Grün.
12) Grttn-Gelb-Grün.
13 Grün.
14) Grün-Blau-Grün.
15) Blau-Grün.
16) Blau-Blau-Grün.
17) Blau.
18) Blau-Blau-Violett.
19) Blau-Violett.
20; Violett-Blau-Violett.
21) Violett.
22) Violett-Rot-Violett.
23; Rot-Violett.
24) Rot-Rot-Violett.
142
A. Kirsch mann und D. S. Dix,
Fig. 7.
Spektral-(annäbernd) reine Farben.
1) Rot 7) Grün.
2) Orange-Rot 8) Grün-Blau.
3} Orange. 9) Blau.
4) Orange-Gelb. 10) Violett
6) Gelb. 11) Violett-Purpur.
6) Gelb-Grün. 12) Purpur.
Digitized by VjO
Untersuchung der Komplementärverhältnisse gebräuchl. Pigmentfarben. 143
Tabelle VII.
i 1
Geringe Öffnung des Spaltes
Weitere Öffnung des Spaltes
rar dp
•
Sichtbarer TeU
des Spektrum b
in fi/n
Größte
Helligkeit
Sichtbarer TeU
des Spektrums
in fiu
Größte
Helligkeit
Rot
666-692,5
636-610
672,6-580
667,6-616
Orange-Rot
OlfijO— 0oä,O
cor Kon
OOO — OÖU
Orange
607,5—662,5
685-662,6
622,6-547,5
607,6-662,6
(»ränge- Gelb
587,5—547,5
662,6—667,5
617,5—537,6
AAA ff* w* m m
602,5—000
Gelb
680-512,6
662,6—636
615-492,5
087,5—665
666-497,5
635-526
580-480
665-630
Grün
542,6-492,6
530—507,5
670-480
637,6-517,6
Grön-Blau
526-472,6
512,6-495
650-447,6
625-602,6
Blau
510—460
492,6-475
635-445
612,5-492,6
Violett
482,5—432,6
470-462,5
497,6-430
475-465
Yiolett-Purpur
1 687,5-665
\ 486-440
462,6-466
1 700-666
1487,6-430
470-462,6
Purpur
(680-646
1480-430
t 680-635
1497,6-430
476—460
gleiche Lichtintensität gebracht) natürlich nicht in der Mitte
liegen kann.
In Tabelle VIII geben wir endlich noch die Komplementär-
Verhältnisse einer Anzahl der gebräuchlichen Aquarellfarben. Die
Versuche wurden von den Herren D. S. Dix, M. A., und
A. H. Sovereign, M. A., ausgeführt. Die Herstellung der ge-
malten Scheiben verursachte manche Schwierigkeiten. Um
Homogeneität der Flächen und gleiche Sättigung zu erzielen,
mußten einige der sehr transparenten roten und violetten Farben
mit Weiß versetzt werden, während bei anderen, wie Indigo, die
Fluoreszenz sehr störend wirkte. Im übrigen war das Versuchs-
verfahren ganz wie oben. In der folgenden Liste sind die be-
nutzten Farben, die Abkürzung ihrer Bezeichnung in den Ta-
bellen und die sie in der graphischen Darstellung vertretenden
Nummern verzeichnet.
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144
A. Kirschmann und D. S. Dix,
1; Carm.
Carmin.
14)
Co.-Gr.
Kobalt-Grüu
2) Dr.-Bl.
Drachenblut.
lö)
Cer.-Bl.
Cerulian-Blao.
3) Ind.-R.
_
Indisch-Rot.
16)
Co.-Bl.
Kobalt-Blau.
4) Zin.
Zinnober.
17)
Pr.-Bl.
Preußisch-Blau.
6i Ven.-R.
Venetianisch-Rot.
18]
Smalt
Smalt.
6) Chr.-O.
=
Chrom-Orange.
19)
Ultr.
Ultramarin.
7) Cad. G.
_
Helles Cadmium.
20;
Mauve
Anilinviolett.
8} Garn.
r
Gummigutt.
21)
Pur.-L.
Purpur-Lack.
9) Gelb. L.
_
Gelber Lack.
10) Chr.-G.
Helles Chromgelb.
22) Kr.-L.
Krapplack.
11) Al.-Gr.
Alizarin-Grün.
23)
Ind.
Indigo.
12) S.-Gr.
Saftgrün.
24) Chr.-Gr.
Chromgrün.
13) Sm.-Gr.
Smaragd-Grün.
25)
O.-Z.
Orange -Zinnober.
Fig. 8.
Aquarell- Farben.
Die graphische Darstellung der Komplementär Verhältnisse
dieser Pigmentfarben (Figur 8) zeigt große Ähnlichkeit mit
denjenigen für das Milton-Bradlcy- und Prang-System Das
ist auch nicht anders zu erwarten, denn diese Systeme sind
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Untersuchung der KomplementSrverhiütniBee gebräuchl. Pigmentiarben. 145
Tabelle VIII.
168 Cann.
-h
178 Co.-Gr.
+
14 Sm.-Gr.
102 Weiß 4-
258 Schwarz.
173 Dr.-Bl.
4-
122 Co.-Gr.
4-
65 Cer.-Bl.
_
123
>
+
237
232 Ind.-R.
4-
71 Co.-Gr.
+
57 Cer.-Bl.
_
81
+
279
192 Zin.
+
82 Co.-Gr.
+•
86 Cer.-Bl.
90
+
270
146 Ven.-R.
112 Co.-Gr.
4-
102 Cer.-Bl.
111
+
249 .
126 Chr.-O.
-i-
1
92 Co.-Gr.
4
142 Cer.-Bl.
123
»
4
237
139 Cad. G.
+
33 Co.-Bl.
+
188 Cer.-Bl.
128
»
+
232
152 Gum.
+
156 Cer.-Bl.
4-
52 Co.-Bl.
185
+
175
145 Gelb. L.
4-
51 Cer.-Bl.
+
164 Co.-Bl.
177
»
+
183
123 Chr.-G.
4-
237 Smalt
2»;
4-
124
181 Al.-Gr.
35 Pur.-L.
4-
144 Mauve
102
+
258
205 S.-Gr.
+
97 Mauve
+
58 Pur.-L.
CS
90
•
+
270
114 Sm.-Gr.
+
6 Mauve
+
240 Pur.-L.
=
84
4-
276 »
178 Co.-Gr.
4-
157 Cann.
4-
25 Dr.-Bl.
118
4
242
217 Cer-Bl
_i_
r
94 Chr-0
_i_
i
49 Cad G
löfi
4-
204 »
205 Co -Bl
i
144 Gelb L
1
11 Chr-G
157
4
°03 »
245 Pr.-Bl.
35 Chr-G
V Iii • VJI ■
_l_
1
80 Gelb L
\J%J \ß vi V« Ii»
114
4
246 >
242 Smalt
+
118 fhr .(i
218
4-
119
191 ültr.
4"
151 Chr.-G.
+
18 Al.-Gr.
175
»
4-
185
188 Mauve
+
29 Chr.-G.
4"
143 Al.-Gr.
120
240
215 Pur.-L.
118 Sm.-Gr.
+
27 Co.-Gr.
109
»
+
251
171 Kr.-L.
+
164 Sm.-Gr.
+
25 Cer.-Bl.
113 Weiß +
247 Schwarz.
304 Ind.
56 Gelb. L.
84
>
+
276
250 Chr.-G r. +
77 Pur.-L.
+
33 Mauve
87
►
4-
273
135 O.-Z.
+
153 Sm.-Gr.
72 Cer.-Bl.
134
»
4-
226
wahrscheinlich mit den gebräuchlichen Wasserfarben hergestellt.
Anch bei den Wasserfarben fallen die Komplementären für alle
Farben von Rot bis Gelb in eine verhältnismäßig beschränkte
Region des Farbenkreises, nämlich der Qualitäten zwischen Kobalt-
Grün und Kobalt-Blau.
Wie die folgende, die Versuche des Herrn M. H. Jackson, M. A.,
darstellende Tabelle IX zeigt, läßt sich auch für die sämtlichen
braunen Farben eine Komplementäre aus den Qualitäten zwischen
Kobalt- Grün und Kobalt-Blau herstellen.
ArchiT fttr Psychologie. XI.
10
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146 A. Kirechraann u. D. S. Dix, Unter», der Kompiementärverhältniase unw
Tabelle IX.
207 Brauner Krapplack +
99
Co.-Gr.
+
54
Cer.-Bl.
103 Weiß
+
267 Schwarz
180 Gebr. Sienna
+
L07
Co.-Gr.
+
73
Cer.-Bl.
=
92 »
+
268 .
267 Gebr. Umbra
+
46
Co.-Gr.
+
57
Cer.-Bl.
77 »
+
283 >
276 Van Dyck -Braun
+
30
Co.-Gr.
+
54
Cer.-Bl.
62 »
+
298 >
236 Umbra
+
40
Co.-Gr.
+
85
Cer.-Bl.
86 »
+
276 .
177 Dunkler Ocker
+
68
Co.-Gr.
+
126
Cer.-Bl.
103 »
+
257 >
280 Warme Sepia
+
23
Co.-Gr.
+
67
Cer.-Bl.
62 »
+
298 >
815 Römische Sepia
+
10
Co.-Gr.
+
36
Cer.-Bl.
33 »
+
327 .
152 Lichter Ocker
26
Co.-Gr.
+
182
Cer.-Bl.
128 >
+
232 »
310 Sepia
+
16
Co.-Gr.
+
34
Cer.-Bl.
35 .
+
326 »
166 Terra di 8ienna
+
15
Co.-Gr.
+
190
Cer.-Bl.
125 »
+
236 >
276 Biater
+
85
Cer.-Bl.
95 .
265 .
216 Stil de Grain Braun
+
123
Cer.-Bl.
+
21
Co.-Bl.
112 »
+
248 >
178 Gelb. Karmin
133
Cer.-Bl.
+
49
Co.-Bl.
124 »
236 >
Über die Beziehung der mit rotierenden Scheiben ermittelten
Komplementärverhältnisse der Wasserfarben zu dem Verhalten der-
selben im auffallenden und durchfallenden Licht, wenn im flüssigen
Zustand gemischt, ferner über die gegenseitigen Komplementär-
beziehungen zwischen den Systemen Ton Prang, Milton-Bradley
und den Heringschen Papieren, sowie endlich Uber den Einfluß
des Kontrastes auf die Komplementärverhältnisse wird in einer
weiteren Arbeit in den University of Toronto Studie« von
D. S. Dix, M. A., Bericht erstattet werden.
(Eingegangen am 20. Juni 1907.
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:; VERLAG VON WILHELM ENCiELM ANN IN LEIPZIG ;:
Vorlesungen
zur Einführung in die
Experimentelle Pädagogik
und
ihre psychologischen Grundlagen
von
Ernst Meumann
o. Professor der Philosophie in Münster i. \V.
Zwei Bände in gr. 8
Bd. I. VIII u. 555S. Geheftet .// 7—, iu Leinen geb. Jf 8.25.
Bd. II. Mit 14 Textfiguren, sowie Such- und Namenregister tu beiden Bänden.
VIII h. 467 S. Geheftet M 6. — ■, in Leinen geb. JK 7.25.
'Eine Ankündigung mit genauer Inhaltsangabe steht zu Diensten'
Mit diesen > Vorlesungen« will Verfasser in gemeinverständlicher Form
eine Einführung in die pädagogischen Untersuchungen und ihre Methodik
geben, durch die man gegenwärtig allgemein-pädagogische und didaktische Pro-
bleme mittels der Anwendung experimenteller Forschung zu entscheiden sucht.
Es handelt sich also hier nicht um eine systematische Pädagogik, nicht um
das System der Erkenntnisse, die man aus der gegenwärtigen pädagogischen For-
schung gewinnen kann, sondern um eine Einführung in die empirisch-
pädagogische Forschung selbst.
Kants Rassentheorie
und ihre bleibende Bedeutung
Ein Nachtrag zur Kant-Gedächtnisfeier
von
Dr. Theodor Elsenhans
er. 8. .ü —.80
Wesen und Entstehung
des Gewissens
Eine Psychologie der Ethik
van
Dr. Theodor Elsenhans
■ gr. 8. .// 7.-
Ifir"
Inhalt des 1. Heftes.
Abhandlung: .5eite
Sturrinc, ü., Experimentelle Untersuchungen über einfache Schlußprozesse 1
Ktrschmaxn, A , und D. S. Dix, Experimentelle Untersuchung der Komple-
raeutärverhiiltniese gebräuchlicher Pigmentfarben. 'Mit 8 Figuren
im Text. 128
:: VERLAÜ VON WILHELM ENGELMANN IN LEIPZIG ;:
Soeben erschien :
Vorträge und Aufsätze
über
Entwicklungsmechanik der Organismen
herausgegeben von
Wilhelm Roux
Heft II:
Über den chemischen Charakter
des
BefruchtuiigsYorgaiiges
und seine Bedeutung für die
Theorie der Lebenserscheinungen
von
Jacques Loeb
2 Bogen gr. 8. Preis 80 3}f.
Demnächst erscheint:
Die biologische Theorie
der Lust und Unlust
Toll
Dr. Demetrius C. Nadejde
Professor der Philosophie in Bukarest
Heft I.
VII u. 99 S. gr. 8. Preis etwa .// 1.50.
Druck von Breitkopf & Härtel in Leipzig. Digitized by GoOöle
ARCHIV
FÜR DIE
GESAMTE PSYCHOLOGIE
UNTER MITWIRKUNG
VON
Prof. H. HÖFFDING in Kopenhagen, Prof. F. JODL in Wien,
Prof. F. KIESOW in Turin, Prof. A. KIRSCHMANN in Toronto
(C ax ada), Prof. E. KRAEPEL1N in München, Prof. 0. KÜLPE in
Würzburo, Dr. A. LEHMANN in Kopenhagen, Prof. Th. LIPPS
ix München, Prof. G. MAKTIUS in Kiel, Prof. G. STÖRRING in
ZCiucn und Prof. W. WUNDT in Leipzig
HERAUSGEGEBEN VON
E. MEUMANN und W. WIRTH
O. PROFESSOR A. D. UNIVERSITÄT A.O.PROFESSOR A. D. UNIVERSITÄT
MÜNSTER I. W. LEIPZIG
XI. BAND, 2. HEFT
LEIPZIG
VERLAG VON WILHELM ENGELMANN
1908
Bemerkungen für unsere Mitarbeiter.
Das Archiv erscheint in Heften, deren vier einen Band von
etwa 40 Bogen bilden.
Für das Archiv bestimmte Abhandlungen und Referate aus den
Gebieten der Raum- und Zeitvorstellungen, der Sinnespsychologie,
der Anatomie und Physiologie der Sinnesorgane, sowie der Geschichte
der Psychologie bitten wir an Herrn Prof. Dr. W. Wirth, Leipzig,
Emilienstr. 36 lI, alle übrigen Abhandlungen und Referate an Herrn
Prof. Dr. E. Meumann, Münster i. W., Brüderstraße 22 einzusenden.
An Honorar erhalten die Mitarbeiter: für Abhandlungen
Jt 30.—, für Referate Ji 40.— für den Bogen. Dissertationen
sind von der Honorierung ausgeschlossen. Von den Abhandlungen
werden an Sonderdrucken 40 umsonst, weitere Exemplare gegen mäßige
Berechnung geliefert. Von den Referaten werden Sonderdrucke nur
auf Verlangen geliefert. Die etwa mehr gewünschte Anzahl bitten
wir, wenn möglich bereits auf dem Manuskript anzugeben.
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einzuliefern, so daß Zusätze oder größere sachliche Korrekturen
nach erfolgtem Satz vermieden werden. Die Zeichnungen für Tafeln
und Textabbildungen (diese mit genauer Angabe, wohin sie im Text
gehören) werden auf besondern Blättern erbeten ; wir bitten zu beachten,
daß für eine getreue und saubere Wiedergabe gute Vorlagen uner-
läßlich sind. Anweisungen für zweckmäßige Herstellung der Zeich-
nungen mit Proben der verschiedenen Reproduktionsverfahren stellt
die Verlagsbuchhandlung den Mitarbeitern auf "Wunsch zur Verfügung.
In Fällen außergewöhnlicher Anforderungen hinsichtlich der Ab-
bildungen ist besondere Vereinbarung erforderlich.
Die im Archiv zur Verwendung kommende Orthographie ist
die für Deutschland, Österreich und die Schweiz jetzt amtlich ein-
geführte, wie sie im Dudenschen Wörterbuch, 7. Auflage, Leipzig
1902, niedergelegt ist.
Die Veröffentlichung der Arbeiten geschieht in der Reihenfolge,
in der sie druckfertig in die Hände der Redaktion gelangen, falls
nicht besondere Umstände ein späteres Erscheinen notwendig machen.
Die Korrekturbogen werden den Herren Verfassern von der Ver-
lagsbuchhandlung regelmäßig zugeschickt ; es wird dringend um deren
sofortige Erledigung und Rücksendung (ohne das Manuskript) an die
Verlagsbuchhandlung gebeten. Von etwaigen Änderungen des Aufent-
halts oder vorübergehender Abwesenheit bitten wir, die Verlagsbuch-
handlung sobald als möglich in Kenntnis zu setzen. Bei säumiger
Ausführung der Korrekturen kann leicht der Fall eintreten, daß
eine Arbeit für ein späteres Heft zurückgestellt werden muß.
Die Referenten werden gebeten, Titel, Jahreszahl, Verleger, Seiten-
zahl und wenn möglich Preis des Werkes, bzw. die Quelle bespro-
chener Aufsätze nach Titel, Band, Jahreszahl der betreffenden Zeit-
schrift genau anzugeben.
Herausgeber und Verlagsbuchhandlung.
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(Aue dem psychologischen Institut der Universität Würzburg.)
Einige Hauptgesichtspunkte
der Beschreibung in der Elementarpsychologie.
in.
Über Organempfindungen und Körpergefühle
(Dynamien).
Von
Dr. med. et phil. F. E. Otto Schnitze,
Assistenzarzt an der Kgl. Universitäte-, Nerven* und Irrenklinik
in Halle a. d. 8aale.
Vorbemerkungen.
Die folgende Arbeit steht in engem Zusammenbang mit
den im Bd. VIII dieses Archivs veröffentlichten zwei Arbeiten:
»Erscheinungen und Gedanken« und »Wirkungsakzente sind an7
schauliche, unselbständige Bewußtseinsinhalte«. Den ersten An-
stoß zu den Überlegungen dieser Arbeit gab die Frage nach
der Bedeutung der Kategorien Kants für die Psychologie und
die des Verhältnisses von Empfindung nnd Gefühl. Später wurde
ich durch experimentelle Arbeiten im psychologischen Laboratorium
des Herrn Professor Dr. Oswald Ktilpe in Würzburg in ent-
scheidender Weise gefördert. Über die Versuchspersonen gilt das
auf S. 242 des VIII. Bandes Gesagte.
Es ist mir unmöglich gewesen, mehrere von mir im bestimmten
Sinne definierte Ausdrucke zu umgehen. Ich habe sie, so gut es
ging, kurz wieder zu entwickeln gesucht, muß aber für genauere
Prüfungen auf die ersten Arbeiten verweisen. Im übrigen ist die
vorliegende Arbeit als selbständig neben den beiden ersten aut-
zufassen.
ArekiT flkr Piychologi«. XI H
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148
F. E. Otto Schnitze,
Inhaltsangabe.
Vorbemerkungen 147
§ 1. Fragestellung 148
§ 2. Methodisches. (Fehlerquellen und Schwierigkeiten der Be-
obachtung.) 151
§ 3. Allgemeines über die Merkmale der Dynamien. (Qualität;
Eintritt und Fehlen; Sinnlichkeitsgrad; Eindringlichkeit dieser Er-
scheinungen.) 155
§ 4. Versuchsprotokolle über den Verlauf von Dynamien bei ein-
fachen zeitlichen Gebilden: 1) bei akustischen, 2) bei optischen,
3] bei taktilen Reizen 159
§ 6. Besonders wichtige Formen von Icherscheinungen und
deren Analyse:
A) Aufmerksamkeit und Erwartung 164
B) Richtungsbewußtsein 170
C) Streben und Schweben 173
D) Verlaufstypen (Gefühl der Löeung, Shock) 177
§ 6. Die Ktfrpergefühle und Organempfindungen der taktil-
motorischen Qualität bilden als Dynamien eine beson-
dere Gruppe von Erscheinungen:
A) Ihre qualitative Einteilung 181
B) Der Sinnlichkeitsgrad der Dynamien 185
C) Extra-korporal lokalisierte Dynamien 187
§ 7. Theoretische Folgerungen:
A) Hinsichtlich der Einteilungen der Erscheinungen in Empfin-
dungen und Gefühle Uberhaupt 191
Bl Hinsichtlich des Mechanismus der Dynamien 203
C) Hinsichtlich ihrer Bedeutnng für die Kategorienfrage und
der Denkvorgänge 205
§ 1. Fragestellung.
•
Bei der Aufgabe des Psychologen, seine Erlebnisse genau zu
beschreiben, kommt man besonders zu Schwierigkeiten, wo man
als Naiver leicht und ohne Mühe abstrakte Begriffe gebrauchen
würde. Man sagt z. B. durchaus sinngemäß, ohne sich lange zu
Überlegen: »dies hat lange gedauert«, »diesmal hat es länger ge-
dauert«, »der Schlag war sehr laut« und ähnliches. Die Frage
des Psychologen ist nicht die, diese Begriffe zu definieren und auf
objektive Maße zurückzuführen, sondern zunächst gilt es, die Be-
wußtseinserscheinungen zu beschreiben, auf Grund deren derartige
Aussagen gemacht werden.
Liefe unser seelisches Leben rein im Bewußtsein ab, auch das
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III. Über Organempfindungen und Körpergefiihle (Dynamien?. 149
Denken und Sprechen, so könnte es nicht schwer sein, diejenigen
Bewußtseinserlebnisse aufzufinden, die unsere Aussagen bedingen.
Und je klarer und deutlicher der Gedanke wäre, um so klarer
und deutlicher müßten auch die zugrunde liegenden Bewußtseins-
inhalte sein. Es ist aber beinahe das Gegenteil der Fall. Und
doch können wir der Begriffe nicht entbehren, ich nenne nur die
Worte: »kurz, schnell, lang, langsam, plötzlich, allmählich, gleich-
mäßig, zunehmend, abnehmend, vor, nach, Uber, unter, hinter, der-
selbe, gleich, ähnlich, verschieden, wirklich, möglich, wahrschein-
lich, vorhanden, fehlend, und, aber, denn, weil usf.« Es erscheint
einem zunächst als selbstverständlich, fast als ein Axiom, daß
irgendeine Bestimmtheit der Bewußtseinsinhalte oder ein besonderer
Bewußtseinsinhalt sich vorfinden muß, wo eine Aussage erfolgt.
Schon der erste Versuch bei ganz einfach scheinenden Gebilden
überzeugt jedoch, daß die Schwierigkeit, die Bewußtseinsgrund-
lagen für unser begriffliches Denken aufzuweisen und zu be-
schreiben, sehr groß und zum Teil untiberwindbar ist, weil sie oft
fehlen. Es zeigt sich ferner, daß das gleiche Wort durch mehrere
Bewußtseinsinhalte bedingt sein kann.
Es muß daher die Aufgabe des Psychologen sein, hier einiger-
maßen Klarheit zu schaffen. Im folgenden ist nun der Versuch
gemacht, eine größere Anzahl von Bewußtseinsinhalten und Prädi-
kationen zu untersuchen, die wesentlich mit dem »Ich« zu tun
haben. Das soll heißen: es werden diejenigen Bewußtseinserschei-
nungen untersucht, die im phänomenalen Ichraum, d. i. in dem
Bezirk, den der Naive unmittelbar gegeben vorfindet, wenn er von
seinem Körper spricht, lokalisiert sind. Damit ist geBagt, daß die
Empfindungen, die wir von unserem Körper haben, und die Ge-
fühle, die mit diesen Empfindungen verknüpft sind, näher be-
schrieben und zumal in ihren Beziehungen zur Begriffsbildung
berücksichtigt werden sollen. Eine eingehende Darstellung und
Untersuchung scheint mir allerdings zurzeit noch nicht möglich zu
sein, es kann sich deshalb hier nur um eine Klärung der Ge-
sichtspunkte handeln, die in Betracht kommen.
Die Icherscheinungen bilden ein einheitliches Kapitel, schon
weil sie rein qualitativ miteinander eng verwandt sind. Es
handelt sich um das, was mit Organempfindungen und Gefühlen
bezeichnet worden ist. Die Erscheinungsseite dessen, was Auf-
merksamkeit und Erwartung, Wille, Aktivität und Passivität
11«
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150
F. E. Otto Schnitze,
meinen, gehört znm größten Teil hierher. Bei einfachen Reizen
und Reizfolgen achtet man gewöhnlich nicht auf die Ichseite; hei
langsameren Folgen einfacher Reize, zumal im Zustand der ge-
spannten Aufmerksamkeit und Erwartung, werden diese und jene
Körperempfindungen und -geftthle eindringlich, zumal die Atmung
und der mechanische Druck der Unterlagen an den Berührungs-
stellen des Körpers machen sich deutlich bemerkbar. Auch Ein-
stellungserscheinungen, z. T. als mehr oder weniger deutliche Körper-
bewegungen, können auf den kommenden Reiz hindeuten. Besonders
ausgeprägt sind diese unwillkürlich eintretenden motorisch-taktilen
Erscheinungen hei der Wahrnehmung von Rhythmen. Im Mit-
taktieren ist der Übergang zu beabsichtigten Bewegungen gegeben.
Wir finden so, daß das Erscheinungssubstrat für Willens- und
andere Handlungen auf der Ichseite wesentlich Organempfii adungen
und Körpergefühle sind.
Sie sollen im folgenden näher betrachtet und klassifiziert
werden. Es sollen daher nicht die Probleme des Handelns
und Wollens, der Erwartung und Aufmerksamkeit als Ganzes be-
handelt werden, sondern es soll nur gefragt werden, welche Er-
scheinungen liegen vor, wenn ich sage: »ich bin aufmerksam«,
»ich handle«, »ich will« usf.? Ich habe es noch nicht einmal ge-
wagt, mit einer großen Anzahl systematischer Versuche vorzugehen,
sondern ich habe nur hier und da Orientierungsversuche gemacht
und außerdem die Erfahrungen benutzt, die ich bei meiner dem-
nächst erscheinenden Arbeit zur Untersuchung einfachster zeitlicher
Gebilde gewonnen habe.
Die wissenschaftliche Untersuchung der Icherscheinungen müßte
von der Beschreibung weitergehen zu der Klassifikation und von
da aus zu einer Feststellung ihres Mechanismus. Diese Fragen
werde ich jedoch nur am Schluß ganz kurz streifen. Im wesent-
lichen wird dieser theoretische Teil auf das Ergebnis hinauskommen,
daß die Probleme der Aufmerksamkeit, des Wollens nicht ent-
fernt in den Erscheinungen der Organempfindungen oder Gefilhle
aufgehen. Eine Einteilung der sie begleitenden Organ empfin düngen
hat mit einer Einteilung der abstrakten, der Willens- und Auf-
merksamkeitsprozesse nichts gemeinsam. Außerdem finden sich
oft große Unterschiede im psychologischen Mechanismus zwischen
einzelnen Formen gedanklicher Tätigkeit, wo nur geringe Unter-
schiede an den begleitenden Icherscheinungen bestehen; so sind
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HI. Über Organempfindungen and KßrpergefUhle (Dynamien). 151
z. B. die Icherscheinungen in den verschiedenen Formen des
Richtungsbewußtseins, des Erwartens, Suchens, Meinens und Sich-
besinnens fast gleich, während diese gedanklichen Tätigkeiten selbst
untereinander recht verschieden sind. —
Da wir wissen, daß Sinneseindrücke und eine große Anzahl
von subjektiven Verhaltungsweisen die Icherscheinungen beein-
flussen, muß die Untersuchung so vorwärts gehen, daß sie erstens
systematisch die einzelnen Reize hinsichtlich ihres Einflusses auf
die Icherscheinungen durchprüft Wir hätten somit den Einfluß
der verschiedensten Sinnesreize, der Assoziation und urteilenden
Tätigkeit, des Wollens und Fühlens, kurz den Einfluß aller per-
zeptiven und apperzeptiven Prozesse auf die Icherscheinungen zu
untersuchen. Im folgenden sind Versuchsprotokolle nur über einige
Reizarten, akustische, optische und taktile gegeben; andere Fälle
sind noch nicht systematisch untersucht.
Dann hätten wir mehr oder weniger unabhängig vom Reize
bestimmte Typen subjektiven Verhaltens entweder zu erzeugen
oder in der zufälligen Beobachtung im Alltagsleben oder beim
psychologischen Experiment festzuhalten und zu analysieren. Auch
hierfür liegen einige Versuchsprotokolle vor, besonders solche über
Erwartung und Aufmerksamkeit.
Auf Grund derartiger Protokolle und auf Grund allgemeiner
Erfahrungen gelingt es dann mit einiger Zuverlässigkeit, gewisse
Typen herauszusondern und einer genaueren Analyse zu unter-
ziehen. Dies ist im § 5 geschehen.
Damit ist die Grundlage für eine Klassifikation und für allge-
meinere theoretische Betrachtungen der Organempfindungen und
Gefühle gegeben.
Am Schluß ist versucht worden, einige theoretische Folge-
rungen, zumal hinsichtlich der Kategorien, zu ziehen. —
§ 2. Methodisches.
Fehlerquellen und Schwierigkeiten der Beobachtung.
Die Methode muß vor allen Dingen stets der Schwierigkeit der
Beobachtungen und der schwer vermeidbaren Fehler, die durch
Gedächtnisleistungen bedingt sind, eingedenk sein.
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152
F. E. Otto Schnitze,
Die Schwierigkeit der Beobachtung liegt darin, daß wir nicht
gewöhnt sind, auf unsere Erlebnisse so zn achten, wie dies die
hier aufgeworfene Fragestellung erheischt. Frage ich z. B. jemand,
während er seine Aufmerksamkeit auf seinen Finger richtet: >Auf
Grund von welchen Bewußtseinserscheinongen nennst du dich
beachtend und den Finger beachtet ?<, so wird zunächst gar
keine Antwort erfolgen, und es gehören viele Vorbesprechungen
und Vörversuche dazu, bevor ein gemeinsamer Boden gefunden ist,
auf dem ein leidlich schnelles, gemeinsames Beschreiben von Bc-
wußtseinserscheinungen möglich ist.
Infolgedessen ist es bei diesen Versuchen mindestens in der
ersten Zeit stets nötig, durch entsprechende Instruktionen die Auf-
merksamkeit auf diesen ihren Gegenstand zu lenken. Es ist
wiederholt geschehen, daß sehr geübte Versuchspersonen so gut
wie gar keine Angaben in der zu untersuchenden Richtung machen
konnten, weil die entsprechende Frage bei der vorangegangenen
Versuchsinstruktion nicht gestellt war. Übung und Versuchs-
instruktion sind sehr wichtig.
Es ist nicht so, daß man wie bei den meisten Aufgaben der
Sinnespsychologie nach einmaliger kurzer Wahrnehmung die ein-
zelnen Merkmale der Erscheinung wiedergeben kann; sondern man
muß die Erscheinung oft und unter bestimmten Gesichtspunkten
wiederholen lassen, sie ferner wiederholt sich anschaulich ver-
gegenwärtigen, die hierbei eintretende Verstärkung und Verdeut-
lichung ausnützen. Dann kann man auf ihr als Basis beschreiben
und seine Beobachtungen in neuen Versuchen bestätigen und
sichern. Eine besondere Schwierigkeit ist die, daß man die feineren
Aufmerksamkeitserscheinungen in völliger, gleichsam passiver Hin-
gabe an das Erlebnis beobachten muß. Diese Weise des Erlebens
ist weitgehend verschieden vom Vorfinden unter intensiver Be-
achtung und führt teilweise zu anderen Ergebnissen. Sie gelingt
nicht ohne weiteres. Ich habe beide Methoden als Innen- und
Außenkonzentration einander gegenübergestellt und näher im
BandVIII, S. 373, besprochen.
Neben dem Fehlen der Fragestellung und dem Mangel an
Übung, diesen Fragen nachzugehen, bietet die Eigenart der
Icherscheinungen selbst neue Schwierigkeiten. Schon die Fest-
stellung ihres Vorhandenseins ist oft schwierig und bleibt zum
Teil offene Frage. In den weiter unten gegebenen Versuchs-
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m. Über Organempfindungen and Kürpergefilhle (Dyn&mien). 153
Protokollen kann man wiederholt Sätze lesen, wie die: »Vielleicht
war anch eine Empfindung in der Brustgegend da, ob sonst noch
etwas da war, ist nnsicher«, oder: »Vielleicht sind auch Atem-
und Aagenbewegungen dabei, Bestimmtes kann ich nicht angeben,
denn ich habe nicht darauf geachtet«, oder S. 162 Versuch C.
Zweifellos wird die Sicherheit der Beobachtungen durch Übung
und besonders durch die Aufgabe, die Aufmerksamkeit auf diese
Erscheinungen einzustellen, gefördert; aber ganz überwunden
kann sie auch so nicht werden.
Wie der bloße Nachweis des Daseins einer Empfindung, so be-
reiten auch die anderen Merkmale der Lokalisation, der Intensität
und ihre Deutlichkeit häufige Schwierigkeiten, zumal die qualita-
tive Analyse fordert besondere Hilfsmittel. Hier ist der bildliche
Ausdruck, der einem weiter hilft, nicht ohne Vorteil; aber er
bringt wieder neue Rätsel. Als Beispiel gebe ich hierfür das
Versuchsprotokoll Nr. 17, S. 180, wo der Beobachter sagt:
Hein Ohr schien sich förmlich zu spitzen und zu verlängern.
Über die Vor- und Nachteile der bildlichen Beschreibung kann
ich zugleich auf meine frühere Arbeit (Band VtQ dieses Archivs,
S. 281) verweisen.
Die Deutlichkeit und Undeutlichkeit der Icherscheinungen ist
auch ein Grund dafür, daß in der Frage, ob hier Gefühle oder
Empfindungen vorliegen, eine so große Unklarheit herrscht. Die
Sicherheit und Selbstverständlichkeit, mit der mancher Forscher
seine Theorien aufstellt, wird erschüttert durch die einfache Tat-
sachenschwierigkeit, daß man im Einzelfalle oft nicht sagen
kann, ob eine Empfindung, etwas Sinnlich -Frisches, oder etwas
Verblasenes wie eine Erinnerungs Vorstellung oder ein Gefühl vor-
liegt.
Das Gedächtnis ist in doppelter Weise eine Fehlerquelle bei
diesen Untersuchungen, einmal, weil die Merkfähigkeit sehr oft
nicht ausreicht, das Erlebnis festzuhalten, und das andere Mal,
weil die Reproduktion im Gedächtnis nicht selten verändernd und
verfälschend wirkt. Wie starke Änderungen hierbei vorkommen,
zeigt das Protokoll Nr. 16 S. 168, wo die Wortbilder »was wird er
wollen?« im Urbild akustisch, im Reproduktionsbild aber optisch
auftraten und sogar eigentümlich in Form und Farbe charakteri-
siert waren, und wo vor allen Dingen Unterschiede in der Ver-
teilung und der Deutlichkeit der Organempfindungen sich mehrfach
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154
F. E. Otto Schnitze,
zeigten. Nicht unwesentlich dürfte die Tatsache sein, daß wir
das Reproduktionsbild verhältnismäßig leicht willkürlich beein-
flussen können, z. B. gelang es einer Vp. bei der anschaulichen
Reproduktion einer Gruppe von zwei Schallhammerschlägen sofort
ein Richtungsbewußtsein in Form von optischen Strahlen zu er-
zeugen. Diese Strahlen liefen vom Ohr zur Schallquelle und
waren je nach der Intensität des Reizes von verschiedener Länge.
Zum Glück weiß ja die Vp. in den meisten Fällen, was sie ur-
sprünglich erlebt hat, und kann es von dem bei der Reproduktion
Erschienenen trennen, aber es ist eine Gefahr für den Forscher
und Theoretiker, daß er die Schwierigkeit der Erscheinungen nicht
genügend berücksichtigt und gelegentlich Auftretendes für typisch
hält, und so zu Verallgemeinerungen kommt, die nicht sachlich
begründet sind.
Von besonderer Bedeutung wird die Schwierigkeit der Fest-
stellung in den Fällen, wo Undeutlichkeit der Erscheinung und
Einschränkung der Merkfahigkeit zusammenwirken; denn man kann
sagen, daß Empfindungen doch wohl in allen Fällen dagewesen
sind und daß wir sie oft nicht haben merken können; die Schwierig-
keit, sie zu merken, ist verständlicherweise bei den undeutlichen
Erscheinungen am größten. Diese Schwierigkeit kann bloß durch
die allgemeine Erwägung überwunden werden, daß je deutlicher
und je eindringlicher eine Erscheinung ist, um so deutlicher und
eindringlicher auch ihre Gedächtnisspur sein wird. Wenn wir nun
von sehr schwachen Erscheinungen nach kurzer Zeit noch eine
sichere Erinnerung haben und wenn wir während eines Ver-
suches bei Richtung der Aufmerksamkeit auf einen Körperteil das
Fehlen von Körperempfindungen feststellen konnten, so ist an-
zunehmen, daß unser Gedächtnis uns auch in vielen Fällen nicht
täuscht, wenn es sagt, es sind an dieser oder jener Stelle keine
Empfindungen dagewesen; wir brauchen dann nicht die Ein-
schränkung, soweit ich mich auf mein Gedächtnis verlassen kann,
sondern wir können verallgemeinert sagen, daß vielfach Körper-
empfindungen während des bewußten Lebens auch bei konzen-
trierter Aufmerksamkeit fehlen. Diese Feststellung ist nicht leicht;
sie ist mehrfach von Bedeutung, zumal bei der Frage, ob Gefühle,
die im phänomenalen Körperraum lokalisiert sind, stets an Organ-
empfindungen gebunden sind oder nicht; eine Frage, die ich als
grundlegend, aber unentschieden bezeichnen möchte. —
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III. Über Organempfindungen und KürpergefUhle (Dynamien). 155
Die häufigste und allgemeinste Frage wird stets die sein: Was
lag im Ichkomplex an Erscheinungen vor? Wie folgten sie
einander, Phase für Phase? Welche Teilerscheinungen waren da,
im Kopf, Brust, Leib usf.? Welche Qualität, Intensität, Eindring-
lichkeit hatte die fragliche Erscheinung? Welche anderen Merk-
male sind noch da? — Den Hauptauhaltspunkt bietet immer
wieder die sprachliche Ausdrucks weise: auf Grund von welchem
Bewußtseinsinhalt sagen Sie dies?
§ 3. Allgemeines Aber die Merkmale der Dynamien.
Qualität; Eintritt und Fehlen; Sinnlichkeitsgrad; Ein-
dringlichkeit dieser Erscheinungen.
Was den Ichkomplex betrifft, soweit er einem unmittelbar in
Empfindungen und Gefühlen gegeben ist (d. h. den Inbegriff von
Erscheinungen, die in dem Teile des unmittelbar gegebenen Raumes
sich vorfinden, den der Naive als seinen Körper bezeichnet), so
verweise ich zunächst auf meine frühere Arbeit in Bd. VIII. Die
Lokalisation der Erscheinungen im phänomenalen Raum ist in den
§§6—9, S. 256 ff., besprochen worden. Die Scheidung von
Außenich und Innenich innerhalb des Ichkomplexes behandelt § 11,
S. 272 ff. Die Frage, weshalb wir den Ichkomplex als eine Ein-
heit fassen und uns als eine Persönlichkeit, als Gegenstand
zuordnen, besprechen die §§ 8—13 der zweiten Arbeit S. 362 ff.
Die Bedeutung der Gefühle für diese Frage, zumal die Lokali-
sation, wird auf S. 377 ff. besprochen.
Das Hauptaugenmerk muß ich zunächst auf die Komponenten
des Ichkomplexes, und zwar auf ihre Qualität richten.
Es bedarf keiner besonderen Erwägung, daß die optischen, akusti-
schen, olfaktorischen und gustatorischen Komponenten so gut
wie belanglos sind. Entscheidend sind nur die taktilen und
Unästhetischen Sinnesinhalte. Die Temperaturempfindungen können
gleichfalls vorläufig vernachlässigt werden, um so mehr, als das,
was von Druck- und Stichempfindungen gilt, auf sie zu Ubertragen
ist. Eine besondere Stellung nehmen die Schmerzsensationen ein,
denn es wird noch darüber gestritten, was an ihnen Empfindung
und was an ihnen Gefühl ist. Ohne weitere Begründung, um
nicht zu breit zu werden, stelle ich meinen Standpunkt dahin fest,
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156
F. E. Otto Schnitze,
daß ich sage: Die Hauptqualitäten von Organ- und Körperempfin-
dungen sind folgende:
1) Hautempfindungen,
2) Unterhautempfindungen,
3) Gelenkempfindungen,
4) Schmerzempfindungen.
1) Die Bertthrungsompfinducgeu der Haut und Schleimhaut,
die hei ganz leichtem Drucke entstehen, sind einander, abgesehen
vom Lokalcharakter, qualitativ sehr ähnlich. Wenn wir von Be-
rühren, Bestreichen, Betasten sprechen, meinen wir sie. Sie bilden
eine Gruppe, die von der folgenden verschieden ist.
2) Stärkerer Druck auf die Haut, auf das Periost, auf die Mus-
kulatur, willkürliche und unwillkürliche Muskelkontraktionen haben
gleichfalls einen gemeinsamen Grundcharakter. Derselbe ist am
deutlichsten in den Fällen des dumpfen Druckes gegeben, er zeigt
uns Druckzustände in der Tiefe an.
3) Ruhehaltung des ganzen Körpers und einzelner Teile sowie
Bewegung derselben verrät sich, abgesehen von den begleitenden,
unvermeidlichen, aber nicht sehr schwer abgrenzbaren Elementen
der ersten und zweiten Art in einer neuen Gruppe von Empfin-
dungen, die sich am besten an den Gelenken beobachten lassen
und so als Gelenkempfindungen bezeichnet werden. Bewegungs-
empfindungen kann ich als selbständige Qualität nicht vorfinden,
weil ich zwischen Ruhehaltung und Bewegung qualitativ durchaus
keinen Unterschied wahrnehme: man halte einen Finger ruhig und
bewege ihn dann. Besteht zwischen diesen beiden Erlebnissen ein
qualitativer Unterschied? Ich meine, nicht; es liegt nur eine
Sukzession von Gelenkempfindungen an verschiedenen Stellen mit
gedanklicher Zuordnung zu demselben Glied vor.
4) Es gibt eine besondere Empfindungsqualität, die Schmerz-
oder Stichempfindung; dieselbe kann Gefühle auslösen, braucht
es aber nicht; meist löst sie UnlustgefUhle aus.
Eine besondere Qualität für Empfindungen des Widerstandes
und der Schwere anzunehmen, sehe ich keinen Grund ein.
Diese Einteilung ist, soweit es ging, vom rein beschreibenden
Standpunkte aus gefunden worden. Man muß natürlich die Be-
dingungen berücksichtigen; denn wo man komplexe Reize bei
einfacher Qualität hat, nimmt man wie beim Orange an, daß es
sich nicht um Grundqualitäten handelt. Rauhigkeit, Glätte und
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III. Über Organempfindungen nnd KürpergefUhle (Dynamien). 157
Weichheit, sowie die verschiedenen Formen von Schmerzen,
bohrende, ziehende usf. sind daher hier nicht berücksichtigt worden,
Jucken and Prickeln sind noch strittig; als Elementarempfindungen
können sie psychologisch nicht gelten. Sie setzen ja einen be-
stimmten Verlauf voraus. Ob Hnnger, Durst und Atemnot beson-
dere Empfindungen sind neben Druckempfindungen, ist mir zweifei»
haft. Hier können nur systematische Selbstbeobachtungen in
günstigen Momenten entscheiden; mir ist es bis jetzt nicht gelungen,
im Hanger etwas anderes als Qualitäten, die den Haut- und Unter-
hautempfindungen nahestehen, vorzufinden.
Diese Einteilung vermeidet mit Absicht den Unterschied von
Empfindungen der Muskeln und Sehnen. Eine bestimmte Lokali-
sation von Empfindungen bestimmter Art in den Sehnen scheint
mir unmöglich. In den Muskeln finde ich aber dieselbe Qualität
wie im Periost und Unterhautgewebe überhaupt. Welche Fol-
gerungen sich klinisch hier ziehen lassen, muß die Zukunft lehren.
Neben den Empfindungen kommen Erlebnisse in Betracht, die
vielfach als Gefühle bezeichnet werden, von denen es jedoch
strittig ist, ob sie diesen Kamen verdienen: Spannung, Hemmung,
Lösung usw. Bei ihnen ist zu bemerken, daß gelegentlich eine
Verschmelzung mit einem Lust- oder UnlustgefÜhl eintritt. Die
Versuchspersonen sprechen z. B. von einem ziellosen, unzufriedenen
Warten bei langsamen Geschwindigkeiten oder von der Annehm-
lichkeit der Aufmerksamkeitsbewegung beim Spannungsnachlaß,
zumal nach langem Warten; ferner wurde von einem bequemen
Fortschreiten der Aufmerksamkeit gelegentlich gesprochen. Ganz
schnell aufeinander folgende Schläge hatten gelegentlich die Eigen-
tümlichkeit, förmlich erheiternd auf die Versuchsperson zu wirken.
Ein Gefühl der Befreiung wurde nicht selten angegeben. Immer-
hin sind dies doch Zufallsbefunde und ihre AnalyBe hat z. Z. nicht
viel Bedeutung, da sie uns keine neuen Qualitäten ergibt. Es
zeigt sich so nur, daß auch ganz einfache Experimente an zeit-
lichen Gebilden für die GefÜhlsbeobachtungen verwendet werden
können.
Neben den Unterschieden der Qualität ist es der der sinnlichen
Frische und Verblasenheit, der zu Schwierigkeiten und Fehlern
in der Klassifikation fuhrt. Dieser Unterschied ist zunächst be-
kannt von den Gesichts- und Gehörsbildern her. Die Gesichts-
wahrnehmungen haben sinnliche Frische, die anschaulichen
Digitized by Google
158
F. E. Otto Schultz«,
Erinnerungsvorstellungen von Gesichtswahrnehmungen Bind Ver-
blasen. Der Unterschied zwischen Tast- and Druckwahrnehmungen
und Tast- und Druckvorstellungen ist so fließend, daß wir gelegent-
lich in Schwierigkeiten uns befinden, ob wir von sinnlicher Frische
oder Verblasenheit sprechen sollen. Von besonderer Bedeutung
ist diese Unterscheidung bei der Frage nach vielen Gefühlen. Es
kostet eine große Überwindung, bis -man diesen Unterschied,, der
der reinen Beschreibung entspringt, zum Herren seiner Klassi-
fikation und seiner Theorie werden läßt. Von einschlagender
Wirkung zeigt sich dies bei der in § 5 unter D vorzunehmenden
Einteilung der hier besprochenen Erscheinungen.
Hinsichtlich des Vorhandenseins und Fehlens dieser
Organ empfin düngen möchte ich zunächst auf den § 2 der vor-
liegenden Arbeit verweisen. Versuche, in denen gar keine Organ-
empfindungen eingetreten sind, kann ich nicht aufweisen, dagegen
passierte es häufig, daß die Versuchsperson selbst bei der vor-
herigen Instruktion, auf die Icherscheinung zu achten, keine An-
gaben nach dieser Richtung machen konnte. Es ist dies um so
wesentlicher, als bei derartigen Versuchen (Keimversuchen, bei
denen die Versuchsperson für ein jedes Reizwort einen Reim zu
suchen hatte) eine große Anzahl von Angaben über intellektuelle
Vorgänge gemacht werden konnten.
Im allgemeinen läßt sich sowohl hinsichtlich des Vorhandenseins,
wie hinsichtlich derEindringlichkeit der Organempfindungen
sagen, daß die naive, wenig geübte Versuchsperson den Eindruck
hatte, daß diese Bewußtseinsinhalte recht nebensächlich waren;
nicht bloß, weil sie von Natur wenig darauf achtete, sondern weil
die Eindringlichkeit der Erscheinungen selbst sehr gering war.
Von Bedeutung schienen ihr nur die Erscheinungen, die weiter
unten als sogenannte lokale Aufmerksamkeit bezeichnet worden sind.
Von einer großen Regelmäßigkeit in der Wiederkehr dieser
Erscheinungen kann nicht die Rede sein, sie waren yielmehr
recht inkonstant. Ausdrückliche Versuche sind hierüber nicht ge-
macht worden, sondern es ergibt sich das aus dem Vergleich der
einzelnen Versuchsprotokolle bei gleichen Reizen. Hierfür ist das
Protokoll S. 161 verwendbar, wo der gleiche Versuch an ver-
schiedenen Tageu verschiedene Male gemacht und näher analy-
siert wurde.
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III. Über Organempfindungen and Körpergefühle (Dynamien). 159
§ 4. Versnchsprotokolle
Uber den Verlauf der subjektiven Erscheinungen bei einfachen
zeitlichen Gebilden: 1) bei akustischen Reizen, 2) bei optischen
Reizen, 3) bei taktilen Reizen.
1) Akustische Reize.
Versuch Nr. 1. Vp. I. — Analyse des subjektiven Verhaltene beim
Anhören von Metronomschlägen.
Versuchsanordnung: Es ertönen zunächst eine Minute lang Schläge mit
der Geschwindigkeit von 40 : 60" ; dann folgt eine kurze Pause. Hierauf
werden wieder eine Minute lang Schläge gegeben mit der Geschwindigkeit
206 : 60".
Angaben des Beobachters : Beim ersten Teil volle Ruhe, Bequemlichkeit
Selbständigkeit in der Auffassung des einzelnen Schlages. Dabei Haut-
empfindung; in der Naaengegend bei den Schlägen des Metronoms, die mir ent-
fernt erschienen, und Hautempfindung in der Ohrgegend von den nahen Metro-
noruschlägen. Außerdem undeutliche Gesichtsvorstellungen, eine Art An-
schwellen von innen heraus nach der Gegend von Nase und Ohr zu. Es
war, als ob ich in diesen Gesichtsvorstellungen mein Gesicht objektivierte.
Im zweiten Teil bei den raschen Schlägen andere, doch weniger eigen-
artige Erlebnisse.
Versuch Nr. 2. Vp. II. — Zeitsinnapparat, akustische Reize.
Versuchsanordnung: Sogenannter Grundversuch1). Zunehmende Ge-
schwindigkeit. Vp. soll auf die subjektiven Erscheinungen achten.
Zuerst zeigte sich zielloses Warten, etwa in den Worten symbolisiert :
»Na, kommt es denn nicht bald« oder auch Gleichgiltigkeit (entsprechend:
»Es wird schon kommen«). Die Aufmerksamkeit war nicht sofort in voller
Höbe entwickelt, sondern stieg zuerst an nach einer ganz kurzen Phase und
nahm wieder allmählich ab, etwa bei 700 trat größeres Interesse ein und der
zweite Reiz fiel zusammen mit der Phase des Anstieges der Aufmerksamkeit.
Versuch Nr. 3. Vp. I. — Derselbe Versuch.
Es traten zwei Änderungen im subjektiven Verhalten ein. Zunächst ver-
hielt ich mich passiv; bei etwa 1375 <r [die Zeit war der Vp. natürlich nicht
bekannt] wurden die Heize aufeinander bezogen, vorher hatte ich den Ver-
such gemacht, sie zusammenzufassen, aber es war nicht gelungen. Diesmal
gelang es von selbst und das gab den Eindruck einer größeren Aktivität.
Bei 220 a trat diese aktive Tätigkeit wieder zurück, denn die Reize traten
selbst zueinander in Beziehung.
Ich entsinne mich, daß ich ähnliche Erlebnisse auch bei früheren Ver-
suchen gehabt habe.
1) Als Grundversuch bezeichne ich der Kürze halber den in der dem-
nächst erscheinenden Arbeit über den Zeitsinn öfters wiederkehrenden
Versuch. Mit Hilfe des Zeitsinnapparates werden nacheinander in größerem
Abstand Paare von Hammerschlägen von gleicher Intensität gegeben. Der
Abstand der zwei Schläge innerhalb des Paares nimmt entweder zu oder ab; er
beträgt so der Reihe nach z. B. 1486 <x, 1320 a, 1166 <x, 990 a usf. bis zu 160 c
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160
F. E. Otto Schultze,
Versuch Nr. 4. Vp. III. — Zeitsinnapparat; akustische Anordnung des
Reizes.
Sogenannter Grundversuch. Die Vp. wird aufgefordert, auf die Auf-
merksamkeitaerscheinungeu zu achten. Sie gibt an:
In den ersten Fällen wurde der erste Schlag passiv erfaßt, einmal sogar
trat beim ersten Schlag eine Art Schreck ein, ich wurde aus meiner Ruhe
förmlich herausgerissen. Hierauf trat plötzlich Aufmerksamkeit ein, die eine
Zeitlang anhielt und dann allmählich absank. Sie war verschwunden, als
der zweite Reiz eintrat.
Bei zunehmender Geschwindigkeit wurde der erste Schlag auch passiv
erfaßt, aber dann trat schnell ein aktiver Zustand ein, in dem ich gewisser-
maßen auf den zweiten Schlag achtete, noch bevor er da war. Dann erst
trat der zweite Schlag ein.
Bei den letzten zwei Versuchen der aufsteigenden Reihe war das Ver-
halten ähnlich wie bei dem ersten, nur mit dem Unterschiede , daß an Stelle
des ersten eine Art Doppelschlag eintrat und der zweite Schlag wegfiel.
Bei Wiederholung der Versuche bezeichnet die gleiche Vp. den Aktivi-
tätacharakter als eine Art Aufregung.
Versuch Nr. 5. Vp. V. — Versuchsanordnung: Vier Hammerschlage
folgen langsam aufeinander.
Hinsichtlich der Lokalisation der Aufmerksamkeit bemerkt die
Vp., daß die Aufmerksamkeit sicher nicht im Schall lokalisiert ist, sondern
sehr undeutlich sowohl im Körper als auf dem scheinbaren Wege zwischen
diesem und der Schallquelle.
Hinsichtlich der Qualität der Aufmerksamkeitserscheinungen
sagt die Vp., daß die Zunahme und Abnahme etwas vom Charakter der
Spannung und Lösung hat, weil es den von Empfindungen der Zunahme und
des Nachlasses der Spannung der Haut bei entsprechenden Reizen hat.
Versuch Nr. 6. Vp. I. — Versuche mit dem Zeitsinnapparat:
Akustische Reize, zwei Hammerschläge folgen in Abständen von 220 <r auf-
einander.
Die Vp. sitzt so, daß der rechte Arm den Kopf stützt und der Apparat
rechts von ihr steht. Diese Versuche folgen in der gleichen Versuchsstunde
auf optische Reizversuche.
Angaben der Vp.: »Die Gehörseindrucke zeigen keine Besonderheit Auf
der Ichseite unterscheiden sich allgemeine und lokale Aufmerksamkeit. Die
allgemeine Aufmerksamkeit erscheint in unbestimmten Empfindungen
in Brust und Kopf und tritt ein in der Pause zwischen dem Signal und
dem ersten Reiz. Sie verläuft sehr gleichmäßig und klingt dann wieder ab.
Die lokaleAufmerkBamkeit erscheint in Druckempfindungen im rechten
Ohr, deren Eintritt zeitlich nicht bestimmt festgelegt werden kann und die
zum Abklingen längere Zeit brauchen. Außerdem tritt eine schattenhafte
Welle im Inneren des Kopfes auf, sie scheint nach dem rechten Ohr zu ver-
laufen und kehrt dann wieder zurück. Sie entspricht den RichtungsBtrahlen
bei den Pendelversuchen, im übrigen ist kein qualitativer Unterschied zwischen
diesen beiden Versuchsanordnungen.«
Derselbe Versuch wird wiederholt. Die Reizpaare werden dabei
mehrmals wiederholt
»Die Geschwindigkeit befindet sich an der Grenze zwischen den Zeiten
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HI. Über Organempfindangen and Körpergeflihle (Dynamien;. 161
wo die Aufmerksamkeit zwischen den Reizen abfüllt und wo sie noch zu-
sammenfassen kann. Einige Male konnte ich willkürlich zusammenfassen,
einige Male gelang es mir nicht
Die allgemeine und lokale Aufmerksamkeit sind einander quali-
tativ gleich, nur in Lokalisation und Intensität verschieden. Die allgemeine
Aufmerksamkeit verlief gleichmäßig und wurde durch die Gehörsreize nicht
beeinflußt Die lokale Aufmerksamkeit nahm in der Zeit zwischen Signal
und erstem Reiz rasch zu.
Nach dem ersten Reiz trat sofort in der Gegend des Ohres ein Komplex
tsktiler und optischer Elemente auf, die zur entgegengesetzten Sohädelstelle ver-
liefen und sofort auf dem gleichen Wege zurückkehrten. Hierauf folgte der
zweite Reiz, mit dem die Aufmerksamkeit noch nicht vollständig zur Ruhe kaui.<
Die gleiche Versuchsanordnung, jedoch 660 o als Abstand der Reize.
»Unmittelbar nachdem ersten Reiz fuhr eine Art Richtungsstrahl in
den Kopf hinein, bald nach oben, bald nach unten. Nach dem zweiten Reiz
trat eine Art Rückprall ein.
Es fällt mir schwer zu sagen, welcher Sinnesqualität dieser
Richtungsstrahl war, ob optisch oder kinästhetisch. Den Druckempfindungen
steht er beim primären Erleben am nächsten, im Erinnerungsbild steht
OptischesimVordergrunde, doch ist dieses nur in den Endphasen deutlich.
Die allgemeine Aufmerksamkeit wird, unabhängig von diesen
beiden Erscheinungen, diffus in der ganzen Kopfhaut und ihrer nächsten Um-
gebung verteilt; im großen und ganzen fielen ihre Grenzen mit denen der Kopf-
haut zusammen. Ob eine Intensitätsänderuog eintrat, kann ich nicht sagen.«
Versuch Nr. 7. Vp. I. — Vorsuche mit dem Zeitsinnapparat:
Akustische Reize, zwei Schläge folgon einander im Abstände von 1485 a
und 495 a.
>Es trat ein Richtungsbewußtsein ein, ähnlich wie früher. Es ging
etwa vom Ohr eine Art Wand aus, die aus taktilen Elementen bestand.
Dieses Gebilde hatte etwa die Form eines Dreiecks oder eines Trapezes, dessen
Spitze bzw. kürzeste Seite vom Ohr gebildet wurde. Die Längsausdehnung
betrug 20 — 30 cm. Diese Erscheinung zeigte leichte Schwankungen in Form
und Größe, außerdem ließen sich Richtungsstrahlen beobachten, die vom
Inneren und von der Mitte des Kopfes auszugehen schienen. Sie waren ver-
schieden stark und deutlich und traten im Momente des Schlages ein.
Ferner trat ein optisches Gebilde ein; eine Kugel flog im Bogen auf
eine Fläche auf und in neuem Bogen wieder in die Höhe, dann fiel sie aber-
mals auf eine Fläche und verschwand dann. Die Länge des Bogens, der
die beiden Flächen verband und die Geschwindigkeit des Kugelweges ent-
sprachen der Schlaggeschwindigkeit. <
2) Optische Reize.
Versuch Nr. 8. Vp. I. — Pendelversuch1). Die Vp. wird aufgefordert,
auf die Aufmerksamkeitserscheinungen zu achten.
1) Hinter einem Spalt von 3 cm Höhe und veränderlicher Breite wird
während des einmaligen Schwingens ein Pendelstab von etwa 1 cm Breite
sichtbar. Nähere Angaben über diese Anordnung werden in der demnächst
erscheinenden Arbeit über den Zeitsinn veröffentlicht werden.
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162
F. E. Otto Schnitze,
Versueh A : Spaltbreite 13 mm. Expositionsdauer = 28 a.
Angaben der Vp.: »Erste Phase (vom Vorbereitungssignal bis zum Ein-
treten des Reizes): es trat zunächst ein Erwartung-szu stand ein, wobei ich mit
ziemlich deutlicher Spannung in der Augengegend und in der Stirn auf den
Spalt gerichtet war. In Wortfragmenten traten einige Teile der Überlegung
über den Sachverhalt ein. — Dieser Erwartungszustand stieg ziemlich rasch
an, erhielt aber keine wesentliche Steigerung mehr. — Vielleicht bestanden
auch bestimmte Spannungsempfindungen in der Brustge^end Ob sonst
etwas da war, ist unsicher. Diese beiden Komplexe bestanden nebeneinander
und waren durch eine leere Lücke geschieden. €
Zweite Phase: Augenblick des Reizes. Die optischen Erscheinungen
dauerten ganz kurz und beanspruchen an dieser Stelle kein besonderes
Interesse. Hinsichtlich der Ichseite bemerkte die Vp.: »Gleichzeitig mit dem
Gesichtsreiz deutliche Empfindung einer Druckveränderung des Augapfels;
ob sich die Augen bewegten, kann ich nicht sagen. Der Druck und die
Spannungen ließen dann nach und es traten zufällige Blickbewegungen ein.
Vielleicht war ein Gefühl der Annehmlichkeit mit diesem Erlebnis ver-
bunden.«
Versuch B: Spaltweite 7 cm. Expositionsdauer «= 142 a. Es treten kurz
nacheinander zwei dunkle Schatten im Gesichtsfeld ein. (Näheres interes-
siert hier nicht)
Angaben derVp.: »Die Einstellung fand wie früher statt. Eine Empfin-
dung in der Augengegend, besonders im Lid, und Spannung in der Stirn
waren zunächst wenig deutlich, hielten aber gleichmäßig an. Beim Signal
»jetzt« nahmen sie schnell an Intensität zu und blieben dann auf ihrer Höhe.
Während der 'zwei hintereinander auftretenden Erscheinungen traten keine
Schwankungen in diesen Icherscheinungen ein, dann ließ die Intensität nach;
ein Gefühl der Losung trat nicht ein.«
Versuch C: 10 cm Spaltweite. Expositionsdauer = 206 a.
Angabe der Vp.: »Das Pendel scheint sich langsamer zu bewegen als
beim vorigen Versuch; im übrigen zeigen die optischen Erscheinungen nichts
Besonderes.« Die Vp. erteilt auf die Aufforderung, die Aufmerksamkeits-
erscheinungen zu schildern, die Antwort: »Ich habe nicht darauf geachtet,
ich kann nichts Besonderes angeben.«
Der Versuch C wird zur Beobachtung der Aufmerksamkeitserschei-
nungen wiederholt. Die Fixation des Fixationspunktes gelingt bei dem
größeren Spalt leichter. Nur am Schluß wurde der Blick für einen Augen-
blick von diesem Punkte abgelenkt.
Die Vp. gibt hierüber an: »Zunächst traten schwache, wenig ausgeprägte
Spannungsempfindungen, so in der Augen- und in der Stirngegend ein.
Hierauf folgte ein Richtungsbewußtsein eigentümlicher Art: Als Fortsetzung
der inneren Richtungsstrahlen trat — also bei offenen Augen — eine optische
Erscheinung ein, als wenn eine dunkle, schattenhafte Linie sich zum Fixa-
ti onspunkte erstreckte. Am Fixationspunkte selbst war zugleich mit dem
optischen Eindrucke ein taktiles Bild vorhanden, eine Berührungsempfindung
wie bei der doppelten Berührungsempfindung.«
Phasen im weiteren Verlauf der Aufmerksamkeit sind nicht abgrenzbar.
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III. Ober Organempfindungen und Körpergefühle (Dynamien). 163
3) Taktile Reize.
Versuch Nr. 9. Vp.I. — Taktile elektrische Reize. Grundversuch.
Die Aufmerksamkeit bestand in Spannungserseheinungen im Vorderkopf
(nicht im Hinterkopf); bei mehrfacher Wiederholung der Versuche traten auch
in dem Teil der Hand, der die Schlage empfing, neben der Empfindung des
elektrischen Schlages diffuse Drnckempfindungen auf.
Wiewohl die Vp. die Augen geschlossen hielt, bekam sie ein Gesicht s-
bild der eigenen Hand an der Stelle der wirklichen Hand; doch nur von
Vorstellungscharakter, also Verblasen und undeutlich. Die Augäpfel waren
auf diese Erscheinung gerichtet.
Nene Versuche. — Die gleiche Versuchsanordnung an einem der
folgenden Versuchstage. Der Versuch wird fünfmal hintereinander wiederholt
Vp. hat den Eindruck, als ob sie selbst beim ersten Schlage mit dem
rechten Fuße ein Stück herunterspränge und dabei einknickte; weiter als ob
sie sich aufrichtete, so daß sie beim zweiten Schlage in der ursprunglichen
Haltung angekommen war. Die kinüsthetischen Empfindungen, in denen das
gegeben war, waren weit über das ganze Bein und den Oberkörper aasge-
breitet Die absolute räumliche Lage der Glieder war dabei völlig verschieden
von der scheinbaren Lage, die diese Unästhetischen Erscheinungen vorzu-
täuschen schienen. Gelegentlich war nur die Tendenz da, diese Be-
wegungen auszuführen. Das ganze Erlebnis war sehr anschaulich; die Vp.
blieb jedoch im Zweifel, ob sie diese Erscheinungen als Empfindungen oder
Vorstellungen bezeichnen sollte.
Es stellte sich abermals die Gesichtsvorstellung eines sich beschleunigt
bewegenden Projektils ein. Dasselbe schlug auf eine horizontale, elastische,
graue Fläche auf und prallte später, nachdem es nach kurzer Pause wieder
emporgeflogen war, gegen eine vertikale Wand an. Der Weg, den das Ge-
schoß bo zurücklegte, erinnerte an das Bild, das man von einem glimmenden
Zündholz bekommt, wenn es im Dunkeln rasch hin und her bewegt wird.
Außerdem trat das Urteil ein, der Schlag kann nicht so schwach sein,
als er erscheint {Die Vp. wußte, daß die Induktionsschläge objektiv gleich
stark waren.) Das Urteil war in Wortfragmenten symbolisiert
Die optischen und Unästhetischen Begleiterscheinungen fehlten bei den
ersten zwei Versuchen, waren aber nachher dauernd da, wechselten nur in
der Deutlichkeit
■
Versuch Nr. 12. — Der gleiche Versuch wird wiederholt
Es tritt im ganzen Kopfe, zumal in der Peripherie diffus und ohne be-
sondere Beziehung zu Auge und Ohr schon vor dem ersten Schlage eine
lebhafte Spannung ein; sie hält eine Zeitlang gleichmäßig an und verstärkt
sich vielleicht etwas nach dem ersten Schlage, zumal nach dem Hinterkopfe
(•zieht sich hier zusamnienc); sie reicht auch in die Nachperiode des Ver-
suches hinein und klingt dann allmählich ab.
Im Brustbereich treten die Atembewegungen hervor, das Einatmen
mehr als das Ausatmen. Als die Vp. [im Sinne der Innenkonzentration1)]
hierauf achtete, erschien ihr der Schlag ferner, indifferenter. Im unteren
Körperbezirke fehlte jede Unästhetische Vorstellung.
1) Vgl. hierzu Bd. VDJ dieses Archivs, S. 373.
Irehir ftr Piycholöti«. XI. 12
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164
F. E. Otto Schultze,
Ein Richtungsbewußtsein war vorhanden, wesentlich im Kopfe lokali-
siert, doch diesen Bezirk auch Überschreitend. Der Qualität nach waren es
Spannungsempfindnngen; es waren aber auch optische Vorstellungen damit
verbunden; es hatte nichts von Bewegung. In seiner Ausdehnung war die
Erscheinung, an die das Richtungsbewußtsein geknüpft war, flächenhaft aus-
gebreitet.
Versuch Nr. 13.
Die Vp. wird aufgefordert, ihre Zungenspitze zwischen den Zähnen
zn fassen und so stark zu beißen, daß sie eine deutliche Schmerzempfin-
dnng dadurch bekommt. Ferner hat sie diesen Komplex an der Zungenspitze
mit Anstrengung zu beachten.
Der Versuch gelingt; ein schwaches, schmerzhaftes Brennen mit leichtem
ünlustgefühl tritt ein.
Es finden sich zwei Komplexe von Organemptindungen nebeneinander
im phänomenalen Körperraume, ein Augen- und ein Zungenkomplex. Der
eine erscheint als der apperzipierende, der andere als der apperzipierte. Eine
nähere Analyse der Erscheinungen daraufhin, weshalb der eine als sich rich-
tend, der andere als beachtet bezeichnet wird, gelingt der (sehr geübten) Vp.
nicht, trotzdem sie bereits etwa sechs Monate lang wöchentlich durchschnitt-
lich zweimal mit geringer Unterbrechung sich mit derartigen feineren Ana-
lysen beschäftigt hat Im übrigen fällt ihr an Wesentlichem nur noch auf,
daß jeder dieser Komplexe für sich zugunsten des anderen willkürlich in
den Vordergrund treten kann.
Bei Wiederholung des Versuches treten bei geschlossenen Augen helle,
lineare Gebilde ein, die von einem Zentrum im Innern des Kopfes auszu-
gehen scheinen und wie die Streiflichter eines Scheinwerfers bald zur Zunge
und bald zum Auge hin wandern. Das Zentrum seibat ist ziemlich konstant.
Taktile Empfindungen sind in ihm nicht mit Sicherheit nachzuweisen; es
finden sich taktile Eindrücke außer in Augen und Zunge nur in der gerun-
zelten Stirn, die jedoch der Vp. durchaus nebensächlich erscheinen.
§ 5. Besonders wichtige Formen von Icherscheinnngen und
deren Analyse.
A) Aufmerksamkeit und Erwartung.
Unter den geschilderten Erlebnissen spielen Aufmerksamkeit
und Erwartung die größte Rolle. Um Mißverständnisse zu ver-
meiden, ist es nötig, den Ausdruck der Aufmerksamkeit zunächst
näher zu bestimmen, denn er wird in der Literatur und im Alltags-
leben in mehrfachem Sinne gebraucht:
1) Aufmerksamkeitsschwankungen nennt man die Schwankungen
der Intensität und Deutlichkeit und das gelegentliche Schwinden
und die Wiederkehr von sehr schwachen Empfindungen bei kon-
stantem Reiz. Diese Bezeichnung ist nicht glücklich, denn man
merkt deutlich, daß die Aufmerksamkeit (in populärem Sinne ge-
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m. Über Organempfindungen and Körpergeftthle (Dynamien). 165
nommen) hier gar nicht schwankt, sondern daß der Gegenstand
der Aufmerksamkeit wechselt. Man bemerkt ferner, daß der sub-
jektive Znstand hierbei wohl Schwankungen unterliegt, jedoch sind
diese Schwankungen von ganz anderer zeitlicher Dauer und von
anderer Stärke als die der Sinneserscheinungen. — Man begegnet
einer ähnlichen mißbräuchlichen Anwendung des Wortes »Aufmerk-
samkeit« gelegentlich, wenn man sagt: »meine Aufmerksamkeit
war sehr klar«, und wenn man dabei nur meint, daß das Gesehene
oder Wahrgenommene überhaupt deutlich und klar war, ohne daß
man selbst in einem Znstand besonderer Klarheit gewesen ist.
2) Besonders häufig gebraucht man das Wort »Aufmerksamkeit«
in dem Sinne einer gedanklichen Einstellung. So sagt man während
der Vorbereitung des Versuches, auch wo man nicht auf Sinnesreize
wartet, daß die Aufmerksamkeit gut auf die Aufgaben eingestellt
ist ; das heißt dann nur, daß die Vorbereitung genügend ist. Die
subjektiven Erscheinungen hierbei sind geringfügig und von Be-
deutung sind wesentlich negative Faktoren: Fehlen von Unruhe
und von Ablenkung. Hiermit ist es verständlich, daß wir von
einer Einstellung auf Sinnesreize überhaupt, auf assoziative Lei-
stungen Überhaupt, auf optische Reize überhaupt oder von be-
stimmter Einstellung auf bestimmte Reizworte oder auf bestimmte
Reizbilder sprechen können. Von dem zu erwartenden Gegen-
Btand selbst braucht unmittelbar gar kein (Repräsentant im Be-
wußtsein zu sein. Aufmerksamkeit ist hierbei vielfach dasselbe
wie Fragestellung oder Gesichtspunkt; durch Bie ist es möglich,
bisweilen leicht und spielend positive Ergebnisse zu bekommen,
während ohne eine entsprechende Gedankenrichtung ein Erfolg
von Beobachtungen und Überlegungen so gut wie ausgeschlossen ist.
3) Von Aufmerksamkeitserscheinungen spricht man wohl auch,
wenn man an sogenannte symbolische Aufmerksamkeitserschei-
nungen denkt, z. B. sahen manche Vp. auch in unseren Versuchs-
reihen (vgl. z. B. Versuch Nr. 6 f. S. 160 f.) bei Anhören von kurzen
Schlaggruppen optische Bilder: Linien oder Flächen von bestimmter
Länge in einem gewissen Parallelismus zu der Eigenart der Reize.
Ob diese Erscheinungen wirklich Versinnlichungen der Aufmerk-
samkeitstätigkeit sind oder ob sie auf rein assoziative Prozesse
zurückzuführen sind, mag hier unentschieden bleiben; maßgebend
soll nur das sein, daß derartige Erscheinungen sekundärer Natur,
also Begleiterscheinungen sind.
12*
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F. E. Otto Schultze,
4) Aufmerksamkeitserscheinungen in engerem Sinne sind die
vorwiegend im phänomenalen Körperraum lokalisierten Organ-
empfindnngen und Körpergefuhle. Mit ihnen hat sich die weitere
Untersnchnng zn beschäftigen.
Hinsichtlich der Lokalisation dieser Erscheinungen ist ein
Unterschied hervorzuheben, der sehr oft nachweisbar zn sein
scheint: der von lokaler nnd allgemeiner Aufmerksamkeit.
Wie die Versuchsprotokolle Nr. 6 und 8 zeigen, treten, zumal
in der Nähe des wahrnehmenden Sinnesorganes, Druck- nnd
Spannungsempfindungen ein, die einen mehr oder weniger deut-
lich abgegrenzten Komplex bilden. Dies ist die sogenannte lokale
Aufmerksamkeit Bei mehreren Reizen können mehrere derartige
Komplexe auftreten.
Daneben kann, zumal bei stärkeren Konzentrationszuständen,
ein diffus im Körper oder bloß im Oberkörper oder bloß im Kopf
auftretender Spannungszustand sich finden, auf dessen Vorhandensein
die Vp. meist erst besonders aufmerksam gemacht werden muß.
Im alltäglichen Leben achten wir kaum darauf. Dies ist die so-
genannte allgemeine Aufmerksamkeit. Eine scharfe Abgrenzung
gegen das Gebiet der lokalen Aufmerksamkeit besteht nicht, son-
dern wie eine dichtere Wolke sich im verschleierten Himmel
heraushebt, so tritt die lokale Aufmerksamkeit im phänomenalen
Gesamtkörperraum gegenüber der allgemeinen Aufmerksamkeit
hervor.
Dem Sinnlichkeitacharakter nach hat die allgemeine Aufmerk-
samkeit eher Vorstellungscharakter ; sie ist Verblasen, undeutlich,
unscharf. Im Verlaufe unterscheidet sie sich von der lokalen in-
sofern, als sie konstanter und gleichmäßiger und von den Sinnes-
reizen mehr oder weniger unabhängig ist; sie dauert meist länger
als jene und ist im Anfangen und Aufhören viel weniger scharf
abgegrenzt. Der Qualität nach steht sie den Gelenk- und Unter-
hautempfindungen am nächsten; bisweilen bekommt sie den Charakter
von Spannungs- oder Erregungszuständen.
Hinsichtlich der lokalen Aufmerksamkeit geben unsere Proto-
kolle viele Einzelheiten. Beim Anhören von Metronomschlägen gab
eine Vp. an (Versuch Nr. 1 S. 159), daß ihr bei den fern erschei-
nenden Schlägen Hautempfindungen in der Nasengegend, bei den
nahe erscheinenden Schlägen solche in der Ohrengegend auftraten.
Bei optischen Reizen traten besonders in Augen- und Stirngegend
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III. Über Organempfindungen and Körpergeftthle (Dynamien). 167
Empfindungen auf; bei taktilen Reizen erschienen sie an der Stelle
lokalisiert, wo der taktile Reiz wirkte, bei unseren Versuchen
meistens in der Hand. Es ist bemerkenswert, daß diese Emp-
findungen nicht, streng an das periphere anatomische Substrat ge-
knüpft sind, durch das sie ausgelöst erscheinen. So wurde oft be-
richtet, daß diffuse Spannungen im ganzen Kopf stattfanden, daß
bildlich gesprochen »der ganze Kopf empfinden wollte«; also sind
an der Stelle des Gehirnes, wo sicher keine Bertthrungs-, Druck-
und Spannungsempfindungen ausgelöst waren, solche Empfindungen
vorhanden; ebenso ist es mit der Brust Wenn auch die Spannungs-
empfindungen besonders in der Brustwand lokalisiert zu sein
scheinen, so ist dieses Gebilde von Spannungsempfindungen doch
viel dicker in seinem Durchmesser als die Brustwand, und sicher
glaubt man oft, in dem Brustinnern Spannungen wahrzunehmen,
zumal an den Grenzen dieser wolkenhaften Gebilde. Die Ent-
scheidung, ob die Teilinhalte sinnlich frisch oder Verblasen wie
Erinnerungsbilder sind, ist schwer zu treffen; der Übergang zwi-
schen beiden Formen ist zweifellos Stufe für Stufe nachweisbar,
so daß eine scharfe Grenze keinesfalls zu ziehen ist.
Für einzelne Vergleiche hinsichtlich der Unbestimmtheit mancher
Erscheinungen verweise ich zumal auf folgende Stellen in den
Protokollen: S. 162 Versuch A — C\ S- 163 Versuch Nr. 11;
S. 168 Versuch Nr. 15 und 16; S. 180 Versuch Nr. 17; S. 190
Versuch Nr. 21.
Was den zeitlichen Verlauf und gewisse Verlaufstypen der
lokalen und allgemeinen Aufmerksamkeit betrifft, so verweise ich
auf meine Arbeit »Beitrag zur Psychologie des Zeitbewußtseins«,
die demnächst erscheint
Neben dem Nachweis der lokalen und allgemeinen Aufmerk-
samkeit besteht noch eine Aufgabe: die Schilderung der Er-
scheinungsgrundlagen dafür, daß wir sagen: »ich bin mit meiner
Aufmerksamkeit auf etwas gerichtet.« Diese Komponente können
wir als Richtungsbewußtsein bezeichnen; da sie aber nicht
nur bei der Aufmerksamkeit, sondern auch bei der Erwartung und
beim Meinen und Sichbesinnen wiederkehrt, bedarf sie als allge-
meinere Erscheinung einer besonderen Besprechung.
Versuch Nr. 14. Vp. I. — Zeitsinnapparat, Hammerschläge; Aufgabe
ißt die Schilderung der AufmerksamkeitserBcheinungen.
Angaben der Vp.: »Die Spannungsempfindungen hierbei bilden nicht
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F. E. Otto Schnitze,
schlechthin die Ichseite, teils sind sie in den Fingern lokalisiert, teils in den
Sinnesorganen, teils im Kopf; wenn ich sage, ich bin der Erwartende,
der Gerichtete, so heißt das, soweit ich darüber Rechenschaft geben kann,
eine unbestimmte Einheit von Empfindungen, die ich im
Kopfe lokalisiere. Aber nicht nur die Lokalisation im Kopfe, sondern auch
eine Art zentrifugaler Wanderung von innen nach außen heraus, wie
eine Wanderung von Spannungsempfindungen ist der Grund dieser Zuordnung.
Diese Wanderung ist auch optisch für mich durch ein Zentrum im
Inneren meines Kopfes symbolisiert Von diesem Zentrum ans gehen Strahlen
nach Mund, Augen und Nase zn und meine Augen folgen diesen Strahlen
in ihrer Bewegung von rechts nach links. Hierbei ist es mir, als wenn ich
von der Seite in meinen Kopf hineinsähe, das linke Ohr erhoben, nach vorn
and mir gerichtet«
Versuch Nr. 15. — Analyse eines Erhaltungszustandes.
Versuchsanordnung: Die Vp. geht im Zimmer umher. Sie weiß, daß
Versuche zur Analyse bestimmter Körperstellungen und ihrer Begleiterleb-
nisse gemacht werden sollen, und hat bereits derartige Versuche selbst mit-
gemacht Der Versuchsleiter ruft derVp. zu: »warte einmal«. Die Vp. bleibt
stehen. Nach einer kurzen Pause Bchlägt der Versuchsleiter auf den Tisch
und fordert die Vp. auf, die Erlebnisse zu beschreiben, die sie im Moment
hatte, bevor der Schlag auf den Tisch gehört wurde.
Die Vp. hat sofort den Eindruck, daß die Auswahl des Augenblickes
für die gesamte Untersuchung gut gelungen ist
Angaben der Vp.: »Mein Körper war in einer gewissen Spannung; der
Kopf war zum Versuchsleiter hingedreht« Von einer näheren Schilderung
der Art wie die Organempfindungen im phänomenalen Körperraume verteilt
waren, wird abgesehen.
Die Spannungsempfindungen waren deutlich im Nacken lokalisiert Die
Erwartung war hauptsächlich im Kopf und in der Richtung, die die Augen
hatten, nach der angeschauten schwarzen Fläche zn. Diese letztere Lokali-
sation ist wenig deutlich, doch wenigstens so, daß die Vp. mit Bestimmtheit
sagen kann, die Erwartung ist nicht außerhalb dieses Bezirkes lokalisiert
Außerdem fanden sich flüchtige Wortbilder in dem ungefähren Sinn »was
wird er wollen?« Während des Erlebens hatte die Vp. das Bewußtsein, daß
diese Worte und die Erwartung, nicht aber die Nackenempfindung und die
Erwartung zusammengehörten. Frage des Versuchsleiters: Könntest Du von
diesen Wortbildern, wenn Dir ihr Sinn nicht bereits bekannt wäre und wenn
Dir nur ihre Erscheinung gegeben wäre, den Sinn ablesen?
Die Vp. antwortet: »Ich finde nur deutlich die akustisch-motorischen Wort-
bilder was und wollen vor, außerdem war etwaB Motorisches, in der Kehle
Lokalisiertes zwischen diesen beiden Wortbildern vorhanden; was, kann ich
nicht sagen. Aus den beiden Wörtern was und wollen könnte ich den Sinn
nicht ableiten, sondern ich brauchte dazu die Situation.«
Die Vp. setzte hinzu: »Als ich vorhin einmal unaufgefordert das Erlebnis
reproduzierte, traten die Wortbilder des Urbildes allein auf, der Sinn war
nicht mit gegeben.«
Versuch Nr. 16. — Die Vp. wird aufgefordert, das eben geschilderte
Erlebnis sich möglichst anschaulich zu vergegenwärtigen.
Nach langer Überlegung und sichtlicher Anstrengung gibt die Vp. zu
Protokoll: »Auf die Aufforderung trat folgendes auf:
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III. über Organempfindungen und Körpergefühle (Dynamien). 169
1) Die optische Vorstellung meines eigenen Oberkörpers vor meinen
Augen; die Grüße des Bildes war unbestimmt und schwankte etwas, sie
mochte wohl etwas kleiner als eine Photographie von mir sein. Zugleich
schienen taktile Elemente von undeutlicher Lokalisation mit diesem Bilde
verbunden zu sein.
2} Von mir selbst spurte ich nur den Druck der Hand auf meine Augen
(die Vp. hatte die Hände auf die Augen gehalten, offenbar um sich nicht
ablenken zu lassen) und gelegentlich den Druck der Sohle; in meinem
übrigen Körper fand ich nichts an Organempfindungen, wohl aber Erwartung,
die im Kopfe und im Richtungsgebiet der SehBtrahlen bis hin zu dem optischen
Bild von mir lokalisiert war. Der Qualität nach war diese durch Eepro»
duktionsreiz ausgelöste Erwartung lebhaft, nicht verbissen; am ehesten kann
ich sie mit einem Zustande körperlicher Spannung, der willkürlich herbei-
geführt wird und nun anhält, vergleichen. Ich kann aber nicht sagen, ob
die Ähnlichkeit mit diesem Zustande auf einer Verwandtschaft mit den
Spannungsempfindungen oder mit einem mit diesen verbundenen weiteren
Elemente beruht
3) Außerdem trat die optische Vorstellung der Wortbilder »was wird er
wollen« auf; sie war links von meiner Stirn lokalisiert, der Form nach gotische
Lettern, in der Mitte schwarz mit farbigen Rändern, gegen Ende zu kleiner
und kleiner werdend.«
Bei weiteren Wiederholungen dieses Versuches wechselten die
Erscheinungen mannigfach. Es handelte sich im wesentlichen um Unter-
schiede der Größe und Deutlichkeit der Teilerscheinungen. Die weitere
Analyse richtete sich auf die Erscheinungsgrundlage für die Zuordnung der
Erscheinungen zum Ich und kann daher hier Ubergangen werden.
Die Erwartung steht der Aufmerksamkeit unter den zu schildern-
den subjektiven Erscheinungen am nächsten. Es entspricht des-
halb auch den Tatsachen, wenn man sagt: »die Aufmerksamkeit
geht über in Erwartung« oder: »die Erwartung tritt zurück und
es bleibt nur Aufmerksamkeit übrig«. Hierin ist die qualitative
Verwandtschaft zur Genüge ausgesprochen.
Die Verwandtschaft dieser beiden Begriffe zeigt sich auch in
der Möglichkeit, die gleiche Mehrdeutigkeit bei der Erwartung
nachzuweisen wie bei der Aufmerksamkeit; Erwartung ist entweder
ein allgemeiner Einstellungszustand, die Einstellung auf etwas
Kommendes, die entweder gedanklich und bewußt stattfindet, oder
die nicht ausdrücklich im Bewußtsein, also nur als Vorbereitung
gegeben ist Die Art, wie man sich das Kommende vorstellt, ob
deutlich oder undeutlich, akustisch, optisch oder taktil usw., ist
bei Aufmerksamkeit und Erwartung gleich; ebenso ist es ziemlich
gleichgültig, ob eine ausdrückliche Repräsentation dieses Vor-
bereitungszustandes im Bewußtsein vorhanden ist oder nicht Auch
der Unterschied der lokalen und allgemeinen Erwartung kann hier
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170
F. E. Otto Schnitze,
gemacht werden: die lokalen Erscheinungen sind vorwiegend im
Auge oder im Ohr oder in der Hand, vielleicht anch in der Brust
oder in der Kopfhaut lokalisiert, das eine Mal ist einer dieser
Komplexe, das andere Mal sind mehrere gegeben. Im allgemeinen
besteht auch hier die Ähnlichkeit der Erwartung mit Gelenk- und
Unterhautempfindungen und bei größerer Eindringlichkeit stehen
Spannungsempfindungen im Vordergrund. Was Uber den Sinnlich-
keitsgrad dieser Körperempfindungen und KörpergefUhle gesagt
ist, gilt anch hier, zumal die Unmöglichkeit einer scharfen Schei-
dung von Empfind augs- und Gefühlscharakter. Schließlich gilt
auch hier, daß das Richtungsbewußtsein eine wesentliche Kompo-
nente des Gesamtbestandes bildet.
B) Biohtungsbewußtsein.
Wie bereits gesagt, ist das Richtungsbewußtsein eine allgemeine
Tatsache. Sein Gegenstand ist bei der Erwartung etwas Zu-
künftiges, mag er gedacht oder vorgestellt sein; bei der Beachtung
ist er gegenwärtig und meist sinnlich gegeben; im Meinen wendet
er sich gegen ein Nichtdaseiendes, sei es gegen ein Vergangenes
oder Mögliches oder auch z. B. bei der Unterhaltung vom Gegner
Nichtverstandenes; seine Repräsentation ist anch hier verhältnis-
mäßig nebensächlich.
Das Richtungsbewußtsein ist bereits als Komponente der Auf-
merksamkeit oder Erwartung genannt worden. Wenn wir beim
Meinen oder auch beim Sichbesinnen von einem Richtungsbewußt-
sein sprechen, so ist es gleichfalls nur eine Komponente in dem
Gesamtbestand von Bewußtseinsinhalten, die dem Ich zugeordnet
sind.
Um Mißverständnisse zn vermeiden, ist auch hier zu bemerken,
daß Richtungsbewußtsein gelegentlich bloß ein bildlicher Ausdruck
ist dafür, daß zwei Gegenstände zueinander in einer bestimmten
Relation stehen, die hier nicht näher definiert zn werden braucht
und die sprachgebräuchlich mit »gerichtet seine und »zu tun haben
mit etwas c bezeichnet wird.
Für die Fälle, wo das Richtungsbewußtsein erscheinungsmäßig
gegeben und mit Erscheinungen im Gesamtkörperraum verknüpft
ist, gilt am besten auch die Regel, daß man mit deutlichen Fällen
beginnt, um von da aus zu undeutlichen weiterzugehen. Das
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HI. Über Organempfindnngen und KörpergefUhle (Dynamien). 171
Wichtigste bei einem derartigen Bestand ist, daß die beiden Gegen-
stände, von denen der eine als das sieb richtende Ich, der andere
als der beachtete, gemeinte, erwartete, bezeichnet wird, mit hoher
Eindringlichkeit gegeben sind, nnd daß sie die beiden Gipfel des
Apperzeptionsreliefs .bilden; außerdem erscheint das Ich noch in
einer besonderen Färbung, nämlich als in Tätigkeit begriffen, in
Erregung oder Spannung lebend, während vom Richtungsziel dies
nicht gesagt oder nur in anderer Weise gesagt werden kaun. Mit
anderen Worten: in dem phänomenalen Körperraum ist das Innen-
ich sehr eindringlich und hat als Komponente einen anschaulieh
gegebenen Zustand der Spannung, der Tätigkeit oder der Er-
regung (ob dieser als Gefühl oder Empfindung bezeichnet werden
kann, kann hier außer acht gelassen werden). Diese Komponente
fehlt auf der Gegenstandsseite. —
Wenn ich mich nun einem Gegenstand zuwende, um
ihn zu beachten, so kann das in doppelter Weise geschehen:
entweder wechselt auf der Gegenstandsseite eine Anzahl von Be-
wußtseinsinhalten nacheinander im Blickfeld des Bewußtseins ab,
während auf der Ichseite im wesentlichen das Innenich unverändert
bleibt; erst der letzte in das Blickfeld eingetretene Gegenstand ist
der fragliche. Zuwendung heißt somit hier nur Sukzession mit dem
gemeinten Gegenstand als letztem. — Die zweite Möglichkeit ist
viel seltener; sie tritt nur bei Zuständen intensivster Konzen-
tration auf. Ich beobachte bei mir genau wie Vp. I S. 161 in
derartigen Fällen, daß vom Kopfinnern oder vom Ohre oder vom
Auge aus taktile oder optische Elemente zum Ziele der Richtung
hinzulaufen scheinen. Es ist dann eine Zeitlang so, als ob diese
Bewegung noch als Bewegung gegeben wäre; man kann sie be-
zeichnen als eine scheinsinnliche Nachdauer einer Bewegung.
Nach einem oder nach einigen Augenblicken ist diese Erscheinung
verschwunden und es ist der vorher geschilderte Zustand erreicht,
in dem die beiden Komplexe des beachteten Gegenstandes und
der des beachtenden Innenichs nebeneinander bestehen und die
Situation beherrschen und in dem das Innenich durch eine Er-
scheinung der Tätigkeit oder Erregung gefärbt ist
Für die Zustände, die man als Richtungsbewußtsein cha-
rakterisieren kann, sind somit folgende Möglichkeiten bezeich-
nend:
1) entweder hat das Erlebnis der eben geschilderten Aurmerk-
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172
F. E. Otto 8chultze,
samkeitszawendungen in einer der beiden eben geschilderten For-
men stattgefunden, oder
2) es ist die Möglichkeit vorhanden, daß nur zwei Inhalte von
hoher Eindringlichkeit das Bewußtsein beherrschen, das Innenich
und der als Ziel des Richtungsbewußtseins bezeichnete zweite
Gegenstand1}. — Bei dieser Konstellation kann es nun geschehen,
daß der Gegenstand des Richtungsbewußtseins oder der Gegen-
stand des gerichteten Ichs willkürlich oder unwillkürlich aus dem
Blickfeld des Bewußtseiüs zurücktritt und daß nun eine Aufmerk-
samkeitswendung in einer von den beiden eben geschilderten For-
men zu dem ursprunglichen Gegenstand oder ursprünglichen Ziel
eintritt. Es ist auch möglich, daß dieser Prozeß sich wiederholt,
gleichfalls willkürlich oder unwillkürlich, und daß man auf diese
WeiBe sich klar wird über die Entwicklung dieser eigen-
tümlichen Erscheinung des Gerichtetseins des Ichs auf
seinen Gegenstand. Es ist also nicht der Ausgangspunkt ohne
weiteres das Entscheidende, sondern er ist es gelegentlich nur
insofern, als er so geartet ist, daß auf ihm als Grundlage
ein erscheinungsmäßig gegebenes Richtungsbewußtsein entstehen
kann.
Das Ergebnis dieser Untersuchung ist demnach, daß wir in der
reinen Beschreibung des Gegebenen nicht stets das genügende
Material finden, um die bildlichen Redeweisen »Richtung», »ge-
richtet«, »sich richtend« zu begründen, sondern wir müssen auf
frühere Erfahrungen zurückgehen, um zu wissen, wie wir zu den
Begriffen gekommen sind. Ein spezifisches Richtungsbe-
wußtsein als eine Erscheinung oder als einen Wirkungsakzent
neben den Empfindungen und Gefühlen der Ruhehaltung oder
Tätigkeit gibt es somit nicht, es gibt nur eine eigentümliche
Konstellation, in der bestimmte Aufmerksamkeitswanderungen mög-
lich sind, von denen aus man zu der Bezeichnung und zum
Sprechen von einer richtenden Tätigkeit kommt. Wenn man irgend-
eine Erscheinung als spezifisch für das Richtungsbewußtsein an-
sprechen will, so ist es höchstens die eigentümliche schein-
sinnliche Nachdauer einer Aufmerksamkeitsznwendung.
Diese Tatsache ist ein Problem, das bei der Analyse des
Strebens weiter behandelt werden wird. Das vorhin erwähnte
1) Ein besonderer Fall dafür ist im Versuch Nr. 17 S. 180 mitgeteilt.
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IIL Über Organempfindungen und Körpergeftihle (Dynamien). 173
Auftreten von taktilen Elementen außerhalb unseres Körpers in
der Richtung auf die Schallquelle bedarf besonderer Erörterung,
es findet sich Näheres hierüber im § 6 C der vorliegenden Arbeit.
C) Streben und Schweben.
Streben im vorliegenden Sinne ist ein Sammelname für eine
Anzahl ziemlich gleichartiger Erlebnisse, die eine Bewußtseinsgrond-
lage abgeben für die Aussagen : zielen, verlangen, fordern, fragen,
meinen, sich besinnen, drängen, haben wollen, wollen.
Wie bereits bei den Begriffen Aufmerksamkeit, Erwartung und
Richtungsbewußtsein gibt es auch hier Fälle, wo diese Wörter
gebraucht werden ohne ausdrückliche und anschauliche Erschei-
nungsgrundlage, in denen es sich also um rein bildliche Bezeich-
nungen handelt, wo nur Gedanken und nicht Erscheinungen vor-
liegen.
Um dies Erlebnis näher zu bestimmen, können wir von der
begrifflichen Analyse des Strebens ausgehen. Wir fragen: was
heißt es? — Nun es heißt: wir stehen auf unserem Standpunkt
und fühlen uns dabei angespannt; dann gehen wir zu einem
Gegenstande über, »wir fassen ihn« — »wollen ihn«. Es wäre
also zunächst gegeben Ruhe, dann Bewegung und schließlich ein
eigentümliches Moment, eben das »Wollen«. Die Aufgabe, dieses
Wollen zu zerlegen, wäre somit nicht gelungen.
Beim Drängen ist es ähnlich; wir drängen, d. h. wir kommen
nicht genug vorwärts oder gar nicht vorwärts; wir drücken, wir
schieben, also ist eine Bewegung da: Anspannung, aber auch
zugleich Hemmung und somit relative Ruhe. Auch hier ist also
etwas von Ruhe und Bewegung gegeben, aber das Entscheidende,
das Drängen, ist weder reine Ruhe, noch reine Bewegung.
Und nun zur psychologischen Analyse!
Wenn ich anf etwas gerichtet bin, so kann ich nach dem
früher Erörterten ein eigenes Erlebnis haben, das vorher als die
scheinsinnliohe Nachdauer einer Bewegung bezeichnet worden ist.
Wenn ich auf etwas gespannt achte, so kommt es mitunter
vor, daß ich mich unwillkürlich auf das Ziel hin ganz leicht be-
wege; andererseits, wenn ich beim gespannten Achten jede Be-
wegung unterdrücke, so bleibt einfache Haltung ohne jede Be-
wegung. Zwischen diesen beiden Formen, dem Beachten, das
in Bewegung Ubergeht, und kühler, bewegungsloser Fixation liegt
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174
F. E. Otto Schnitze.
ein eigentümliches Mittelglied, in dem die Bewegung ähnlich ge-
geben ist, wie in dem Falle einer scheinsinnlichen Nach-
dan er, nämlich undifferenziert oder keimartig, nur ist sie nicht
als Nachdauer einer wirklich erlebten Bewegung, sondern als
Ansatz zu einer künftigen Bewegung gegeben. Es ist somit
diese Keimform1) einer Bewegung eine Komponente der
Ruhehaltung, die wir als Streben bezeichnen.
Im Drängen kann die gleiche Keimform gegeben sein als
Komponente eines Bewegungserlebnisses. Ich dränge, wenn es
mir nicht schnell genug geht und wenn ich doch bereits vorwärts
komme; es liegt hier in einer mäßig schnellen Bewegung die
Keimform einer schnelleren Bewegung eingeschlossen.
Wenn die einfache Fixationshaltung sehr stark angespannt
wird, so kann sie leicht übergehen in ein Streben; sie wird dann
ein Auffassenwollen, das man populär gelegentlich bezeichnet als
ein förmliches Fressenwollen. Wenn dieser Zustand eingetreten
ist, ist die gespannte Fixation zu einem Streben geworden. Wenn
dieses Streben unbemerkt übergeht in Bewegung, so ist es kein
Streben mehr, sondern Bewegung. Wir haben nun sichtlich die
Möglichkeit des Überganges von der einfachen Ruhehaitang ge-
spannter Fixation zum Streben und vom Streben zur Bewegung.
Das Bewegungsrudiment, welches im Streben gegeben ist,
entfaltet sich unmerklich und bringt so den Übergang
zur reinen Bewegung.
Uber das Bewegungsrudiment ist noch folgendes zu sagen :
Zunächst ist die Frage zu beantworten, ob es sinnlich frisch
oder Verblasen ist. Die Ruhehaltung bei der Fixation ist in
den meisten Fällen mit sinnlicher Frische gegeben, ebenso die
Erscheinung der Bewegung bei der unwillkürlichen Bewegung auf
ein Ziel hin im Falle des Auffressenwollens. Ob dagegen nun
die Bewegung, die keimförmig im Streben enthalten ist, mit sinn-
licher Frische oder in Verblasenheit gegeben ist, möchte ich nicht
ohne weiteres entscheiden; mir scheint es, als wäre man nur be-
rechtigt, hier von einer Verblasenheit der Bewegungskomponente
zu sprechen.
Hinsichtlich der zeitlichen Dauer des Bewegungsrudi-
1; V&L Näheres zu dem wohl ohne weiteres verständlichen Ausdruck
Bd. VIII. S. 302-309.
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HI. Über Organempfindungen and Körpergefühle (Dynamien). 175
menteB ist es auffallend, daß dieselbe sehr beschränkt ist und
daß sie nur kurze Zeit andauern kann; sie in absoluten Zahlen
zu messen, dürfte kaum möglich sein, es kann sich meiner
Schätzung nach nur um kurze Sekundenteile handeln. Diese
Tatsache ist wichtig, weil sie zugleich ein Beweis dafür ist, daß
das Bewegungsrudiment im Streben als Keimform zu bezeichnen
ist. Meinen Beobachtungen nach komme ich, wenn ich willkür-
lich strebe, zu einer Erscheinung des Strebens nur für ganz kurze
Zeit und dann geht dieses Erlebnis unwillkürlich in einfache oder
lebhaft gespannte Fixationshaltung über. Wir hätten somit den
gleichen Fall wie beim Richtungsbewußtsein, in dem die schein-
sinnliche Nachdauer nur ganz kurze Zeit anhält Ebenso scheint
mir ein Drängen, das gleichzeitig als Streben erscheint und das
nicht nur gehemmte Bewegung auf Grund begrifflicher Merk-
male genannt werden darf, gleichfalls nur kurze Zeit möglich zu
sein, es geht dann einfach in eine Bewegung mit Widerstands-
empfindung auf ein bestimmtes Ziel über.
Die eigentümliche Erscheinung, auf die wir bei der Analyse
des Strebens gekommen sind, ist somit das keimförmige Enthalten-
sein einer Bewegungserscheinung in einer Ruheerscheinung. Es
muß die weitere Anfgabe sein, diesen Fall aus seiner Isolierung
herauszureißen und ähnliche Fälle aufzufinden. Hierzu bietet sich
uns das Schweben als geeigneter Fall. Der Ausdruck »Schwe-
ben« wird wie alle die bisher angewendeten Begriffe psychologish
in verschiedenen Fällen gebraucht, bisweilen rein gedanklich, zu-
mal in bildlicher Redeweise, mitunter aber auch auf Grund eines
eigentümlichen anschaulichen Erlebnisses, das charakteristisch
genug ist, um es aus ähnlichen Fällen herauszukristallisieren1).
Es handelt sich um die eigentümliche, taktil-mo torisch gegebene,
z. T. akustisch und optisch vermittelte Icherscheinung, die wir
haben, wenn wir z. B. im Tanze über den Boden hinwegschweben,
im Automobil Uber die Straße, in einem Boot pfeilschnell über
das Wasser, in einem Schnellzug mit ausgeglichenen elastischen
Federn über die Weichen eines Bahnhofes fliegen, oder wenn wir
in einem elektrischen Personenaufzug in großer Gleichmäßigkeit
uns auf- oder abbewegen. In dem Gesamtkomplex, den wir so
1) Experimentelle Anordnungen hierfür habe ich herzustellen versucht ;
ohne Erfolg. Ich stütze mich auf Gelegenheitsbeobachtung und deren
Protokoll.
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176
F. E. Otto Schnitte,
als »Schweben« bezeichnen, können wir zugleich Rahe und zu-
gleich Bewegung unterscheiden. Man wird zunächst meinen, daß
das Fehlen von Erschütterungen, das Fehlen von Stößen, Unruhe
und Widerständen, also ein negatives Moment, uns zu der Aus-
sage veranlaßt, daß wir vom Schweben sprechen. Ich finde das
nicht für alle Fälle richtig, sondern in deutlichen Fällen dieses
Erlebnisses ist neben dem Merkmal der Bewegung das zweite
Merkmal der Ruhe in voller Anschaulichkeit gegeben. Es ist ein
förmlich sinnliches Gefühl der Ruhe, das uns befangen hält, wenn
wir in so gleichmäßiger Bewegung sind. Wir können uns diesen
beiden Merkmalen getrennt voneinander hingeben, das eine Mal
dem der Bewegung, das andere Mal dem der Ruhe, doch nur bis
zu einem gewissen Grade; gerade da, wo wir passiv schweben, wie
z. B. im Eisenbahnzug oder im Personenaufzug, können wir von
dem Charakter der Bewegung vollständig absehen; wir haben da
den Eindruck der Ruhe und können von Schweben nur in bild-
licher oder physikalischer Weise sprechen. Wir belegen aber dann
mit dem Worte »Schweben« nicht mehr eine charakteristische Ich-
erscheinung. Ebenso ist es, wenn wir uns dem Bewegungs-
charakter, nicht dem der Ruhe hingeben. Dann tritt die Be-
wegung so ausschließlich in den Vordergrund, daß wir von reiner
Bewegung und nicht mehr vom Schweben reden können. Auch
hier besteht der Unterschied in der sinnlichen Frische wie im
ersten Falle. Die Bewegung ist mit sinnlicher Frische gegeben
und die Ruhe tritt nur mit dem Charakter der Verblasenheit hin-
zu, also anschaulich, doch nicht sinnlich kräftig, sondern mehr
wie ein Vorstellungscharakter. Bei der ausschließlichen Hingabe
an eine der beiden Komponenten tritt hier die eine immer stärker
und sinnlicher hervor, während die andere zurücktritt, mehr und
mehr Verblasen wird und schließlich schwindet.
Das Gemeinsame in diesen beiden Fällen des Strebens und
des Schwebens ist also die Vereinheitlichung der Erscheinungen
von Ruhe und Bewegung in einem einzigen Erlebnis.
Wir hätten somit die eigentümliche Tatsache, daß Ruhe und
Bewegung als Erscheinungen miteinander in Wettstreit treten und
daß sie sogar in gewissem Sinne gleichzeitig gegeben sein können.
Hier handelt es sich nicht um begriffliche Bestimmungen, z. B., daß
ein Gegenstand in bezug auf den einen als ruhend und in bezng
auf den anderen als bewegt aufgefaßt werden kann, sondern hier
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III. Über Organempfindungen und Körpergefiihle (Dynamien). 177
handelt es sich um unmittelbare Anschaulichkeiten: die Erscheinung
der Bewegung und die Erscheinung der Ruhe gehen in eine Ge-
samterscheinung über. Genau wie Rot und Gelb in Orange enthalten
zu sein scheinen, so Ruhe und Bewegung im Streben. Zweifellos
kann man Orange nicht als Mischung aus Rot und Gelb bezeichnen,
sondern es ist etwas Neues, weder etwas Rotes noch etwas Gelbes,
nnr etwas, das an Rot und Gelb erinnert. Ebenso ist es mit dem
Streben, das Streben ist etwas Neues neben der Erscheinung der
Rahe und neben der Erscheinung der Bewegung.
D) Verlaufstypen (Gefühl der Lösung, Shook).
Bei den bisher besprochenen Erlebnissen spielte der zeitliche
Verlauf keine sehr wesentliche Rolle ; wie man einen gleichmäßigen
Ton sich zusammengefaßt denken kann aus einer großen Anzahl
unmittelbar anfeinander folgender und unmerklich ineinander über-
gehender gleicher Einzelinhalte, so war es auch bei den hier be-
sprochenen Erlebnissen; solange dieselben anhielten, zeigten sie
keine Schwankungen in der Intensität oder Deutlichkeit. In diese
Gruppe würde noch eine Anzahl Erscheinungen gehören, wie z. B.
die einfache Rahehaltung des Körpers, die einfache Spannungs-
haltung, der Hemmungszustand, die Zustände von Schlankheit,
Mattigkeit, Müdigkeit und ähnliches. Da es sich jedoch hierbei
rein phänomenal um elementare Qualitäten handelt, die eine weitere
Zergliederung nicht erlauben, so können sie jetzt übergangen
werden.
Nunmehr sind aber einige Verlaufstypen zu besprechen, die
teilweise von einigen Forschern als elementare Erlebnisse be-
zeichnet worden sind, so das Gefühl der Lösung.
1) Gefühl der Lösung.
Lösung soll man deutlich erleben beim Anhören von Rhythmen.
Hierbei finden Bich zweifellos gelegentlich Erlebnisse, die diesen
Namen verdienen. Im allgemeinen findet sich aber nur Span-
nungsnachlaß1), nicht Eintritt eines positiven ausdrücklichen
Erlebnisses der Lockerheit und Leichtigkeit.
Über den Erlebnischarakter dieser Erscheinungen wird man
1) Das findet für einzelne Fälle auch Alechsieff (Wundte Psycho-
logische Studien. HJ. S. 212j.
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178
F. E. Otto Scbultze,
sich vielleicht am besten klar, wenn man folgende zwei Erlebnisse
vergleicht: das eine Mal ein gesundes befreiendes Niesen und dann
die Situation, wo man niesen will und nicht kann (sei es, daß aus
unbekanntem Grunde die peinliche, bange, explosionsschwangere
Inspirationshaltung von selbst nachläßt und in den gewöhnlichen
Atemverlauf übergeht, sei es wegen des böswillig-harmlosen
Scherzes eines Freundes, der uns auf unser Niesenwollen auf-
merksam macht). Im ersten Fall wohlige Lösung, im zweiten
Fall indifferenter oder ärgerlicher Spannungsnachlaß, jenes sollte
man Lösung im engeren Sinn nennen. Es ist der Eintritt eines Er-
lebnisses der Leichtigkeit, des Sich -frei- und- locker- Fühlens. Das
zweite ist der Eintritt eines spannungslosen Haltungszustandes, der
als Lösung nur wegen des Fehlens der Hemmung bezeichnet wird.
Bei dieser Analyse finden sich mehrere Phasen des Ver-
laufes und es handelt sich nur um einen Wechsel von Körper-
empfindungen oder von Erlebnissen, die der Qualität nach diesen
Empfindungen sehr nahe stehen, die aber eigentümlich Verblasen
und undeutlich lokalisiert sind und die nicht selten in unmittel-
barer Anschaulichkeit als Bestimmtheiten des Ichs auftreten. Erst
später dürfen wir die Frage: sind diese Erlebnisse der Losung
Empfindungen oder Gefühle? eingehend behandeln; hier kommt
es nur auf die Feststellung dessen an, was durch den Nachweis
eines Verlaufstypus dargetan ist, daß es sich hierbei
nicht um eine elementare Erscheinung handelt.
2) Shock.
Ein eigenartiges Erlebnis, das nunmehr der Analyse harrt,
finden wir besonders in Fällen der Überraschungs- und Erwartungs-
enttäuschung. Aus dem gewöhnlichen, mehr oder weniger
indifferenten Zustand heraus kommen wir durch irgendeinen un-
erwarteten Zufall plötzlich in den Zustand der Hemmung. Solche
Zustände haben sehr mannigfaltige Formen, der Volksmund sagt
z. B. »es steht jemand da wie ein Ochse vor dem neuen Tor«; an-
gedonnert sein; sprachlos dastehend; nicht wissen, was man sagen
soll; übertölpelt sein«, sind andere Bezeichnungen. Beklemmung,
Befangenheit, Perplexion, Verlegenheit, Verwunderung können
die Zustände der Hemmung in dieser oder jener Richtung färben.
Hemmung ist ein Begriff, der, wie die genannten Begriffe der
Aufmerksamkeit, des Strebens, der Erwartung usw., nicht stets bei
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III. Über Organempfindungen und Körpergefühle (Dynamien). 179
der gleichen Bewußtseinsgrundlage gebraucht wird und nicht ein-
mal stets eine Erscheinung zur Bedingung hat; auch er wird mehr
oder weniger deutlich in bildlichem Sinne gebraucht und heißt
oft nur negativ : nichts tun können, gebunden sein, unfrei sein. —
Igt aber das Erlebnis der Hemmung erscheinungsmäßig ge-
geben, so ist es teils Spannungs-, teils Lähmungszustand; genau wie
vorher im Schweben Bewegung und Ruhe gepaart waren, so hier
Spannung und Lähmung. Verdeutlichen kann man sich diesen Zu-
stand der Hemmung durch den Versuch, zu wollen oder zu handeln,
sobald man wahrnimmt, daß der Versuch wirkungslos oder so
gut wie wirkungslos bleibt Diese Außerungsweise des Hemmungs-
zustandes, die Beschränkung oder Unfähigkeit, erfolgreich zu
handeln, liegt in dem Gesamtzustand begründet und sie kann auch
io den Fällen von Hemmung eintreten, wo eine Hemmungs-
erscheinung nicht gegeben ist.
Dasjenige, was uns hier nun interessiert, ist die eigentümliche
Verlaufsart von Icherscheinungen, wo eine mehr oder weniger in-
differente Icherscheinung übergeht in einen Hemmungszustand.
Der Erscheinung nach ist der Hemmungszustand entweder eine
reine Spannungserscheinung bis zur vollen Bewegungslosigkeit;
oder die Spamraugserscheinung ist etwas verfärbt durch eine Er-
scheinung der Lähmung. In sehr deutlichen Fällen ist dann die
Spannungskomponente sinnlich frisch und die Lähmungserscheinung
Verblasen, nur andeutungsweise gegeben. In der Verlegenheit,
Scham, Befangenheit kann der Lähmungscharakter stärker in den
Vordergrund und der Spannungscharakter mehr zurücktreten.
Körperliche Begleiterscheinungen können Temperaturempfindungen
in das Gesamtbild einmischen; Lust und Unlust können weitere
Färbungen bedingen.
Ein Fall von derartigem raschem Eintritt eines Hemmungs-
zustandes ist in unten folgendem Protokoll gegeben: die Vp.
bezeichnet diese Art des Shocks als Erwartungsenttäuschung. Der
Ausdruck ist nicht sehr glücklich, insofern man in die Enttäuschung
leicht eine elegische oder sentimentale Komponente hineinlegt, die
hier keinesfalls gegeben ist. Es soll auch damit durchaus nicht
gesagt sein, daß dieses Beispiel ein Schulbeispiel für Erwartungs-
enttäuschungen überhaupt ist, denn dieser Begriff umfaßt eine
große Anzahl von Erlebnissen. Wenn wir sie näher analysieren
würden, kämen wir zu den Formen des elegischen Hinschmelzens,
Archiv fftr Psychologie, XI. 13
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F. E. Otto Schultze,
Verzichtens, der Sehnsucht und zu anderen Affekten, deren Auflösung
hier nicht am Platze ist.
Versuch Nr. 17.
Analyse eines Falles von Erwnrtungsenttäuschung. — In einer
längeren Versuchsreihe Uber rhythmische Schlagreime wurde, für die Vp. un-
erwartet, eine ungerade Zahl von (fünf) Schlägen gegeben. Der Vp. er-
schien das Gebilde abgebrochen wie das Bruchstück einer unvollständigen
Reihe. Anf die Frage, auf Grund welcher Erscheinung die Reihe als
gleichsam abgebrochen bezeichnet würde, gab die Vp. folgendes an:
Es war ein förmlicher Ruck im Mund, Brust und Hals lokalisiert- Es
waren Scheinempfindungen, als machte ich mit dem Kopf selbst einen Ruck
in die Höhe. Mit diesem Komplex war das Gefühl einer Unannehmlichkeit
verbunden, zugleich eine Sehnsucht, ein Hunger meines Ohres nach anderen
Reizen; das Ohr schien sich zu spannen, zu verlängern, zu spitzen. Das
ganze Erlebnis ist als Erscheinung eigentümlich differenziert, aber ich muß
zu Bildern des körperlichen Lebens greifen, um eine Komponente dieses
Komplexes hervorzuheben, die der weitere Analyse mir nicht zugänglich er-
scheint
An diesem Protokoll ist interessant, daß die Lokalisation des
Shocks in Mund, Brust und Hals und die Komponente der Unket
deutlich angegeben werden. Die Schwierigkeit der Beobachtung
bei derartigen Fällen zeigt sich deutlich in der bildlichen Rede-
weise, wo man sieht, daß man hier mit der Unterscheidung von
Empfindung und Gefühl nicht durchkommt. Es handelt sich um
eine Erscheinung, die der Qualität nach den Charakter einer Be-
wegung oder einer Bewegungstendenz hat
Eine noch schneller verlaufende Form von Eintreten der Hem-
mung ist der Schreck, ein komplizierter Affekt, bei dem physisch
und psychisch der Spannungs- und Lähmungscharakter in der
mannigfaltigsten Weise sich zeigen kann und infolgedessen eine
viel zu breite Analyse verlangt, als daß er hier, wo es sich nur
um Aufstellung von Gesichtspunkten handelt, näher besprochen
werden könnte.
Schließlich müßten die Verlaufstypen der Erwartung und Auf-
merksamkeit besprochen werden, wie sie bei einfachen zeitlichen
Gebilden, zumal beim Rhythmus vorkommen. Dies muß später
einmal an anderer Stelle geschehen. (Einige zeitliche Bestim-
mungen dazu habe ich in meiner demnächst erscheinenden Arbeit
»Beitrag zur Psychologie des Zeitbewußtseins < gemacht). Hier
war nur der Übergang von den Elementen zu diesen verwickei-
teren Formen zu geben.
Es ist nunmehr gerechtfertigt, noch einmal auf die Bedeutung
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III. Über Organempfindungen and Kürpergeftihle [Dynamien). 181
der Icherscheinungen in dem Sinn hinzuweisen, wie das früher
geschehen ist. Wir Bchieden in dem Erscheinungsbestand des
Augenblickes den phänomenalen Außenraum und den Ichraum.
Beide haben große Selbständigkeit gegeneinander. Beim zeitlichen
Verlauf kann man ihr Verhältnis mit dem Lauf zweier Ströme ver-
gleichen; die Icherscheinungen bilden eine Reihe von Querschnitten
mit unmerklichem Ubergang wie ein Strom. Sie gehen neben
den Erscheinungen des Außenraumes einher, wie zwei Ströme, die
sich einander bald nähern, bald sich voneinander entfernen. Sie
bilden mehr oder weniger häufig wiederkehrende Formen — und
diese können wir als Verlaufstypen bezeichnen; andere Kombina-
tionen in der zeitlichen Folge sind weniger häufig; jedenfalls lassen
sie sich aber auf die gleichen Elemente zurückfuhren, die wir bis-
her angeführt haben, und auf die anderen im folgenden Para-
graphen zu besprechenden. All diese Elemente und Kombina-
tionen sind einander auch qualitativ nahestehend, wie die Stoffe
im Fluß auch trotz ihrer Verschiedenheit dem Naiven doch zu-
nächst als Wasser erscheinen.
§ 6. Die Körpergefühle und Organempflndungen der taktil-
motorischen Qualität bilden als Dynamien eine besondere Gruppe
von Erscheinungen.
A) Ihre qualitative Einteilung.
Wir haben bisher einer näheren Analyse etwa folgende Er-
scheinungen unterzogen: die im Ichbezirk lokalisierten Erschei-
nungen der Aufmerksamkeit und der Erwartung, die Komponen-
ten des Richtungsbewußtseins, das Streben, Drängen und Schweben,
weiter Shock, Schreck und Lösung.
Es war von vornherein auf S. 155 f. darauf aufmerksam gemacht
worden, daß für die Analyse der folgenden Erscheinungen die
Empfindungen des Haut- und Unterhantdruckes, des Schmerzes
und die Empfindung, die wir von unseren Gelenken haben, eine
besondere Bedeutung besitzen. Zunächst soll nun der Versuch
gemacht werden, all die Erscheinungen in eine Gruppe zusammen-
zuschließen, die durch bloße qualitative Ähnlichkeit mit-
einander zusammengehören. Tatsächlich muß die rein qualitative
Ähnlichkeit für uns das Entscheidende sein, wenn auch so in diese
13»
r
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F. E. Otto Schultee.
Gruppe eine Anzahl von sonst ganz anders klassifizierten Gefühlen
aufzunehmen ist.
Wenn ich die hierher gehörigen Erscheinungen rein qualitativ
einteile, so kann ich etwa folgende Gruppen aufstellen:
1) Die einfach ruhige, spannungslose und unerregte Haltung
der Aufmerksamkeit und des Ernstes, des Stumpfsinnes, der Ge-
dankenlosigkeit, des Starrens ins Leere, ferner die der Gemessen-
heit, Ruhe und Größe.
Ich finde bei diesen Erlebnissen zunächst nichts vor, als die
einfachen Gelenkempfindungen und die Empfindungen des Tiefen-
druckes an den am stärksten gedrückten Körperteilen. Vielleicht
kommt dazu eine Färbung irgendwelcher Art; dieselbe Bcheint
mir jedoch weder von Lust und Unlust, noch von Wärme oder
Kälte, noch gar etwas von Geschmack, Geruch, Gesicht, Gefühl
und Gehör zu haben, sie ist vielmehr von den zuletzt genannten
völlig verschieden und hat, wenn irgend Ähnlichkeit, nur Ähnlich-
keit mit den Gelenkempfindungen und ihren weiteren Verwandten.
Infolgedessen lasse ich diese Erscheinungen eine Gruppe bilden.
Im Zweifel fühle ich mich hinsichtlich der Schärfe dieser Ab-
grenzung gegenüber den zwei folgenden Gruppen:
2) Das Gefühl der Kraft, des Großen, Mächtigen, Starken, das
oft die Erscheinungsgrundlage für die Aussagen: reich, gewaltig,
gewichtig, satt, strotzend, sicher, kraftvoll, straff, bildet; der
Affekt der Bewunderung und des Staunens. Mit diesen vielfach
als Gefühle bezeichneten Erscheinungen finde ich eine unmittel-
bare Verwandtschaft zu den einfachen Erscheinungen der ange-
spannten Körperhaltung. Wenn ich vom Zwang spreche, von
physischem oder seelischem, von innerer oder äußerer Notwendig-
keit, und wenn ich das mit besonderem Nachdrucke tue, so steigt
nicht selten in mir auch etwas von derartigen Erscheinungen auf.
Ich sehe mich infolgedessen genötigt, auch sie dieser Gruppe zu-
zuordnen.
3) Wenn ich sage, es geht etwas leicht und spielend einem von
der Hand, so habe ich in diesen Fällen oft eine eigentümliche Er-
scheinung, die an das erinnert, wo man die Worte: lebendig,
rasch, schnell, munter, frisch, klar, leicht, offen gebraucht. Das
Lockere, was man z. B. bei lebhaften und ausgiebigen Handgelenk-
bewegungen fühlt, kehrt hier in anderer Form wieder als Ge-
samterlebnis im Ichkomplex. Auch hier ist der Unterschied gegen-
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HI. Über Organempfindungen und Körpergefilhle (Dynamien). 183
Uber warm and kalt, Geruch and Geschmack usw. größer, als
gegen die vorangehenden nnd folgenden Gruppen. Ich gebe zu,
daß allerdings, z. B. bei der Erscheinungsgrundlage für den Be-
griff »frisch«, auch etwas von Lustgefühlen und vielleicht auch
von etwas, was Temperaturempfindungen verwandt ist, wieder-
kehrt, doch bleibt noch ein Rest dabei; und um den handelt es
sich. Bei der Erscheinungsgrundlage der Worte rasch und schnell
komme ich zu einer weiteren Gruppe , die ich jedoch erst später
erörtern will.
4) Die Bewußtseinsgrundlage dar Wörter: öde, stumpf, träge,
lässig, müde, gelähmt, gehemmt, drückend, lästig, lastend zeigt
einen gemeinsamen Grundzug, der sein körperliches Analogon in
den Erscheinungen der Schlaffheit und Müdigkeit besitzt. Schlaff-
heit und Müdigkeit selbst sind unter sich ziemlich verschieden,
und man könnte vielleicht so aus dieser Gruppe zwei Unter-
abteilungen machen. So wichtig scheint mir jedoch der Unter-
schied nicht zu sein, als daß ich ihm vorläufig ausdrückliche Be-
sprechung widmen möchte. —
Bereits vorher ist mit den Wörtern rasch und schnell auf
eine andere Gruppe von Erlebnissen verwiesen.
5) Interessant, reizend, pikant, aufregend, in Erregung begriffen
sind Begriffe, deren Erscheinungsgrundlagen abermals eine Einheit
bilden, in der jedoch nicht eine gleichmäßige Dauer der Erschei-
nung charakteristisch ist, sondern ein eigentümlicher Wechsel,
ein leichtes Vibrieren, etwas, das an Zittern und Tremolieren
erinnert. Wir hätten hier also als Analogon dieser Gefühle oder
gerahlaähnlichen Regungen wiederum einen körperlichen Prozeß,
bzw. seine Erscheinungen.
Wie das Zittern, die Erregung, etwas Kurzschlägiges, Schnell-
wechselndes hat, so liegt im Zweifeln und im Bedenken und in der
Unruhe ein langsames Hin und Her, aber zwischen beiden Formen
dieses Wechsels besteht eine deutliche qualitative Verwandtschaft.
6) Mit diesen Beispielen sind wir in das Gebiet der zeitlichen
Gebilde gekommen, von denen vorher bereits Shock, Schreck und
Lösung besprochen sind.
7) Eine andere Stellung nehmen in dieser Einteilung die Zwit-
terformen des Strebens, Drängens und Schwebens und teilweise
der Schreck, insofern Spannung und Lähmung in ihm vereinheit-
licht sind, ein.
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F. E. Otto Schnitze,
8) Vielleicht bedarf noch die Bewegung einer besonderen Er-
wähnung insofern, als man von Bewegungsempfindungen als einer
besonderen Empfindnngsqualität gesprochen hat. Hierzu ist kein
Grund, denn soweit es eich um Bewegungsempfindungen handelt,
kommen nichts als Gelenkempfindungen in Betracht, die ihren Ort
wechseln; man hat hierbei nur Empfindungen, die demselben Körper-
glied zugeordnet, aber nacheinander an verschiedenen Stellen
wahrgenommen werden. [Auch die Empfindungen der Hautoberfläche
und der Tiefe und Schmerzen können wandern ; dies ist gleichfalls
nur die bildliche Benennung einer Sukzession von Empfindungen
verschiedener Körperstellen, die dem gleichen Reize zugeordnet
werden; es bewegt sich also der äußere Reiz.] Es gibt auch
verblasene Erscheinungen von Bewegungen, zumal bei Aufmerk-
samkeitsleistungen und »inneren Regungen«. —
Ich schlage vor, diese Gruppen von Erscheinungen als Einheit
zu fassen und sie mit einem einheitlichen Namen zu belegen,
wofür ich den der Dynamien wähle. Im wesentlichen ist gerade
dieser Name gewählt, weil diese Erlebnisse anscheinend Verhält-
nisse von Druck und Kraft repräsentieren; und diese beiden Mo-
mente kann man ohne Schwierigkeit in dem Begriff »Dynamic«
zusammenfassen.
Es ist nicht Freude an neuen Namen, die mich zur Einführung
eines neuen Wortes treibt, sondern folgende Erwägung: 1) finde ich
in den mir zugänglichen Lehrbüchern der Psychologie und Physio-
logie die Vertreter der genannten Gruppen teilweise weit vonein-
ander getrennt dargestellt, zum Teil durch qualitativ weitab-
stehende Erscheinungen wie Temperatur- und Geruchsempfin-
dungen abgetrennt und untereinander nicht vereinheitlicht; 2) fehlt
ein kurzer Name für die natürliche Gruppe taktiler, kinästhetischer
oder Muskel-, Sehnen-, Gelenk-, Bewegungs- und Organempfin-
dungen und einer großen Anzahl von Gefühlen; 3) wird durch
diesen Namen ein Gegensatz zu dem Begriff algedonisch ge-
schaffen, der neuerdings mehrfach angewendet wird; 4) von
besonderer Wichtigkeit ist, daß durch die Uberschärfung des
Gegensatzes von Empfindung und Gefühl eine unnötige
Schwierigkeit geschaffen wurde; er ist von mir absichtlich weg-
gelassen worden, vor allem, weil er in Einzelfällen oft überhaupt
nicht festzustellen ist. Die qualitative Ähnlichkeit der Erschei-
nungen ist viel zu wichtig, als daß der theoretische Unterschied
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III. Über Organempfindungen und Kürpergefühle (Dynamien). 185
von Gefühlen und Empfindungen hier angewendet werden dürfte;
denn Lust und Unlust, die unbestrittenen Gefühle, sind von Ge-
sicht, Geschmack, Geruch, Temperatur- und Druckempfindungen
nicht nur qualitativ, sondern auch dem Mechanismus und fast allen
Merkmalen nach sehr weit verschieden. Es handelte sich unter
anderem hier um die Frage: Soll man z. B. das Gefühl der Er-
regung und die Empfindung des Zitterns qualitativ in eine Gruppe
bringen oder soll man den Unterschied von Empfindungen und
Gefühlen zwischen ihnen statuieren und sie deshalb weit von-
einander trennen? Entscheiden können aber über die Klassifikation
nur die Fragen: Auf welchem Wege fassen wir möglichst viele
Tatsachen zusammen? Welche Bedeutung hat die qualitative Gleich-
heit? Welche Bedeutung hat der Unterschied im Mechanismus der
Auslösung der Erscheinungen? Denn es muß wohl als Grundsatz
gelten, daß alle nicht weiter analysierbaren, elementaren Qualitäten
auf den gleichen Mechanismus der Auslösung zurückzuführen sind.
Damit ist die weitere Aufgabe gestellt, in befriedigender Weise
die Unterschiede zwischen den sicher als Empfindungen und den
von einigen Forschern als Gefühle bezeichneten Erscheinungen
festzustellen.
B) Der Sinnliohkeitsgrad der Dynamien.
Zunächst möchte ich noch einmal auf die berührten, zahlreichen
Einzelfälle hinweisen, in denen sich Übergänge finden zwischen
sinnlicher Frische und Vorstellungsverblasenheit der untersuchten
Erscheinungen der Dynamien. Schon bei der Besprechung der
methodischen Vorfragen war auf die Schwierigkeit dieser Schei-
dung als eine grundsätzliche hingewiesen; dann zeigen uns die
Protokolle über Aufmerksamkeitserscheinungen manche Fälle, in
denen es unklar war, ob die Dynamien frisch oder Verblasen
waren; bei Erwartung, bei Streben, Drängen und Schweben, bei
Hemmung, Shock, Schreck und Lösung war es ebenso. Sehr
deutlich zeigte sich die Unzuverlässigkeit unserer Beobachtungen
in diesem Falle auch bei anderen, hier nicht weiter erwähnten
Versuchen, in denen die Vp. eine wirkliche Bewegung ausgeführt
hatte, von der sie nichts wußte, und in anderen Fällen, in denen
sie nicht wußte, ob sie sich bewegt hatte oder ob sie nur sich
hatte bewegen wollen; sie beschrieb es mit den Worten: »ich weiß
nicht, ob ich mich bewegt habe, ich wollte es, jedenfalls lag es
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186
F. E. Otto Schultze,
mir in den Gliedern«1). Diese motorischen Tendenzen zn den ver-
schiedensten Bewegungen, besonders zu Ausdrucks- und Vorwärts-
bewegungen sind unklare Gebilde, die teils als Keimform von
Bewegungserscheinungen, teils als undeutliche Formen von Streben
aufzufassen sind.
Von besonderer Schwierigkeit wird die Frage bei der Repro-
duktion von Aufmerksamkeitserscheinungen; wenn wir uns will-
kürlich in den gleichen Gesamtzustand der Aufmerksamkeit ver-
setzen, den wir früher durchgemacht haben, wissen wir manchmal
nicht genau, welche Dynamien damals in uns aufgetreten sind.
Hieruber kann uns mit einiger Sicherheit nnr ein Protokoll Be-
scheid sagen; für Einzelheiten bleiben die Protokollangaben die
einzige Grundlage. Ferner können wir (wie oft bei Aufmerk-
samkeitserscheinungen!) nicht unterscheiden, ob die nndeutlichen
Dynamien, die stets, besonders an der Grenze von Spannungs-
komplexen, vorhanden sind, sinnlich frisch oder Verblasen sind;
dasselbe gilt von den reproduzierten Aufmerksamkeitserscheinungen
Uberhaupt. Infolgedessen können wir schließlich gar nicht mit Zu-
verlässigkeit sagen, wieweit die bei der Reproduktion auftretenden
Erscheinungen Abbilder der im Urbild erlebten Dynamien sind.
Ein besonders deutliches Beispiel flir diese Schwierigkeit ist
die Reproduktion von Rhythmen. Nach experimentellen Beobach-
tungen an einigen Vp. und an mir selbst scheint es unmöglich zu
sein, einen akustischen Rhythmus sich anschaulich vorzustellen,
ohne daß Erscheinungen motorisch taktiler Art, also Dynamien,
zumal im Bereich der Zunge oder der Kehle auftreten. Bei diesen
Dynamien ist es fast stets deutlich, daß sie Verblasen sind, aber
gelegentlich sind sie auch sinnlich frisch. Trotzdem bleibt es
unsicher, ob wirkliche physikalische Bewegungen, z. B. des Kehl-
kopfes und der Zunge hierbei stattgefunden und den Reiz für die
Dynamien gebildet haben.
Das Gesamtergebnis ist somit, daß eine Scheidung zwischen
sinnlich frischen und verblasenen Dynamien bei der reinen Be-
obachtung oft nicht möglich ist, sondern daß wohl Uberall Über-
gänge bestehen2).
1) Vgl. MeBser [Bd. VIII dieses Archivs S. 58-601, der ähnliches zuerst
beobachtet hat.
2) Weiteres Uber diese Frage vgl. C. Stumpf, Über Geflihlsempfindiwgen.
Zeitschrift für Psychologie. Bd. 44. S. 23-26.
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m. Über Organempfindungen und KörpergefUhle (Dynamien). 187
C) Extra-korporal-lokaliaierte Dynamien.
Bei weitem in den meisten Fällen des alltäglichen Lebens
finden wir Dynamien nur im Körperbezirk oder im Ichbezirk
unseres phänomenalen Raumes vor. Dies ist uns so selbstver-
ständlich, daß die sogenannte doppelte BerUhrungsempfindung und
die paradoxe Widerstandsempfindnng uns als eigentümliche, mehr
oder weniger isolierte Fälle vor Augen stehen. Um nur ein Beispiel
zu nennen: es ist schwer verständlich, daß wir unsere Zähne spüren,
wenn wir sie aufeinander beißen, weil wir gar keine Nerven
an dieser Stelle haben. Schon lange bekannt ist auch die Tatsache,
daß man in amputierten Gliedern Schmerz- und Druckempfindungeu
haben kann; z. B. bei Krankheiten oder bei elektrischen Reizungen
der durchschnittenen Nerven (sei es an der Amputationsstelle oder
in ihrem weiteren Verlauf] treten an der Stelle des fehlenden Gliedes
Druck- oder Schmerzempfindungen auf, die somit von den perzi-
pierenden Nervenenden räumlich vollständig unabhängig erscheinen.
Im Laufe dieser Arbeit ist bereits darauf hingewiesen worden,
daß wir innen in der Brust und im Schädel Druckempfindungen
haben, wo wir eigentlich wegen Mangels entsprechender Nerven
gar keine Empfindungen haben könnten. Die Aussage einer Vp.:
»mir ist es, als wollte der ganze Kopf empfinden«, ist hierfür sehr
charakteristisch, ebenso die: >daß eine Welle von der Stirn nach
hinten durch den Kopf lief, die sich etwa in der Höhe der beiden
Ohren verlor«.
Es müssen zunächst eine Anzahl von Versuchsprotokollen hier-
für gegeben werden:
Versuch Nr. 18.
Gegeben war eine Schlagreihe von 40 Schlägen am Metronom. Die-
selben waren über eine Hinute gleichmäßig verteilt. Die Vp. gab unter
anderem an: »In der Erwartungspause des Intervalls stellte ich den kom-
menden Schlag nicht anschaulieh vor, sondern ich richtete mich auf ihn als
anf ein Gewußtes, Zukünftiges, ohne jedoch diese Zukünftigkeit ausdrück-
lich su prädizieren und zu beobachten. Hierbei hatte ich Spannungsempfin-
dungen , besonders im Ohr, auf der Stirn und auf der dem Metronom zu-
gekehrten Halsseite. Wenn ich mich nun fragte: hättest du, wenn du diesen
Empfindungskomplex für sich erzeugen würdest, denselben Zustand wie hier,
den du Erwartung nennst? — Zweifellos müßte ich dann antworten: nein.
Das Gerichtetsein ist eine eigentümliche unmittelbare Tatsache, die nicht
mit diesen Empfindungen zusammenfällt, sondern weit Uber diese hinausgeht.
Sie ist nicht scharf im Körper lokalisiert, sondern liegt außerhalb desselben
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F. E. Otto Schultze,
nach dem Metronom zu. Dabei stelle ich mir nicht das Metronom anschau-
lich vor, sondern ich denke an die Stelle, wo es steht und diese Stelle ist
in eigentümlicher Weise unmittelbar gegeben; gewissermaßen in Widerstands-
empfindungen, in der Anschauung eines dichten Mediums, eines innerlich ge-
spannten Etwas: eine unklare Mischung von taktilem und visuellem Inhalt
Ich kann mir vorstellen, daß ich sie gleichsam fasse und dabei Widerstand
empfinde. Es ist von derselben Natur wie die Empfindungsinbalte, die ich
bei der Neigung meines Kopfes spüre.«
Versuch Nr. 19.
Eine andere Vp. gab im Verlauf einer ähnlichen Beobachtung (zwei-
mal wurden 20 Schläge am Metronom gegeben mit der Geschwindigkeit
von 208:60) folgendes Protokoll: >Im Beginn der zweiten Reihe setzte
die Atmung vorübergehend aus und ich fixierte stark den Boden. Der
Grund hiervon ist mir unbekannt, die dem Ich zukommenden Aufmerk-
samkeitserscheinungen waren im Sehstrahlengebiet lokalisiert und besaßen
taktilen Charakter. Sie erwiesen sich mir als zugehörig durch ein Wissen
(es fehlte ein Wirkungsakzent, der sie dem Ich zugewiesen hätte). Sie haben
nichts von Erregungscharakter.«
Versuch Nr. 20.
Vp. V gab bei Betrachtung größerer Lichtbilder aus dem Inneren des
Domes von Siena [dessen hellgraue Säulen durch breite schwarze Querbänder
(ähnlich wie bei Ringelstrümpfen) geschmückt sind] folgendes an: »Von
meinen Augen spüre ich nichts, aber es ist eigentümlich, wie sich noch
quasitaktile Elemente vor der Säule befinden. Ich müchte sie am ehesten
mit Armen vergleichen, mit denen man an einer Leiter Sprosse für Sprosse
erfaßt und emporsteigt. Ich könnte sie auch als die äußersten Enden der
Sehstrahlen bezeichnen, doch würde dann die Verbindung zwischen ihnen
und dem Teil von ihnen, der meinem Auge näher ist, fehlen.«
Bei einer weiteren Exposition ergab sich folgende Beobachtung: >Auch
hier scheint mir ein taktiles Element gegeben zu sein, es ist fast, als steige
man mit den Sehstrahlen oder mit einem in der Richtung der Sehstrahlen
ausgebreiteten taktilen Organ gleitend über die Fläche hinweg. Hierbei
zeigt sich eine Sukzession in der Spannung derart, daß zunächst die Be-
wegung leicht ist, sehr bald Spannungscharakter bekommt, schließlich müh-
sam wird und dann mit dem Charakter einer gewissen Erfolglosigkeit bei
abnehmender Spannung und eintretender Lockerung seitlich ableitet. Ich
kann aber immer noch nicht sagen, ob die Angabe taktiler Elemente außer-
halb meines phänomenalen Körperraumes bildliche Ausdrucksweise oder
Vorfinden solcher Erscheinungselemente ist«
Auch im Versach Nr. 7 S. 161 sind taktile Elemente im Be-
reich der AufmerksamkeitSBtrahlen beobachtet, d. h. des Gebietes,
das zwischen den perzipierenden Sinnesorganen nnd dem beach-
teten Gegenstand liegt. Anch bei den früher geschilderten Pendel-
versnehen1) machte die sehr geübte Vp. I hierhergehörige Be-
1) Vgl. S. 161 Versuch Nr. 8.
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m. Über Organempfindungen and Körpergeflihle (Dynamien). 189
obachtungen: »Am Fixationspunkt ist zugleich mit dem optischen
Eindruck ein taktiles Bild vorhanden, eine Berührung wie bei der
paradoxen Widerstandsempfindung. Ich habe etwas derartiges
meiner Erinnerung nach auch sonst beobachtet, am deutlichsten
bei optischen Fixierungen.« Ebenso ist es im alltäglichen Leben
nicht allzuschwer, Fälle aufzuweisen, wo Dynamien und be-
sonders taktile Elemente im phänomenalen Außeuraum auf-
treten. Wenn wir z. B. Wassertropfen, vielleicht aus der Höhe
von 40 — 60 cm, leise auf ein Blech fallen lassen, so liegt in
dem Geräusch ein taktiles Element, etwas von einer leichten
Berührung, das ich unmittelbar wahrnehme und ohne dessen
Angabe diese Wahrnehmung nicht vollständig analysiert wäre.
Bei Schallhammerversuchen ist es ähnlich; man kann von der
Härte des Aufschlages nicht nur in bildlicher Redeweise
sprechen, sondern auch deshalb, weil hier ein taktiles Element
gegeben ist, in dem eine harte, kurze Widerstandsempfindung
liegt; dieselbe ist allerdings nicht sinnlich frisch, sondern Ver-
blasen wie eine Vorstellung. Sehr bekannt ist der eigentümliche
Eindruck, den wir beim Fahren im Eisenbahnwagen haben, wenn
das Wagenrad gegen die Eisenbahnschienen stößt; es ist dann ein
förmliches Schlagen, Stoßen oder Hauen unterhalb des Wagens
und unterhalb unseres Sitzes zu spüren, das mit dem akustischen
Gebilde aufs engste vereinheitlicht ist. Wir können davon sehr
deutlich die Kontraktionsempfindung in der Gegend unseres Ohres
unterscheiden, ebenso die Druck- und Bewegungsempfindung, in-
dem wir unseren Körper durch den Stoß erschüttert fühlen. In
ähnlicher Weise treten noch viele Geräusche auf; Knacken,
Stoßen, Klatschen, Knattern, Weichheit, Härte und ähnliches sind
die Bezeichnungen, durch die wir den Gestaltqualitäten dieser
akustischen Gebilde und den mit ihnen vereinheitlichten dynami-
schen Elementen gerecht werden.
Ähnlich den im Traum halluzinierten Bewegungen treten bei
der Erinnerung oder Vorstellung an anschauliche Situationen Emp-
findungen oder verblasene Wahrnehmungen von ganz anderen
Haltungen oder Bewegungen des eigenen Körpers ein, als sie dem
objektiven Bestand entsprechen. Man kann dies oft experimentell
erzengen, indem man der ruhig dasitzenden Vp. aufgibt sich eine
Situation vorzustellen, in der sie bestimmte Bewegungen ausführte.
Hierüber folgendes Protokoll:
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F. E. Otto Schnitze,
Versuch Nr. 21.
Die Vp. wird aufgefordert, eich den Weg anschaulich vorzustellen , der
vom Haupteingang des MUnchener Hauptbahnhofes durch die Haupthalle zum
Holzkirchner Teile führt. Die Vp. sitzt dabei an einem Tisch, den Kopf in
die lliinde gestützt, die Augen geschlossen, den Blick nach unten ge-
richtet.
Die Vp. gibt, nachdem sie der Aufgabe gefolgt ist, zunächst eine kurze
Schilderung des Weges, wie sie sich ihn vorgestellt hat; dieser bestand aus
einer Reihe von kontinuierlichen optischen Erinnerungsbildern von ungleicher
Deutlichkeit; begleitet war sie von Wortbildern und Wortfragmenten.
Bei der ersten spontanen Angabe der Icherscheinung sagt die Vp., es
wäre nichts dagewesen, höchstens eine Art Neugierde die Bahnsteigkarte zu
nehmen, das Geld einzustecken und die Karte abzugeben. Bei genauerem
Besinnen gibt sie an, daß eine Reihe taktil motorischer Vorstellungsbilder
von Schritten dagewesen wäre, in denen sie rasch durch die Halle schritt.
Die Schritte schienen direkt über den Fußboden wegzugehen. Visuell war
vom eigenen Körper einmal die Hand gegeben, wie sie am Automaten zog.
Dieses optische Bild war nicht an der Stelle, wo der wirkliche Arm lag, lo-
kalisiert, doch in Armhöhe und anf der richtigen Kürperseite. Außerdem
waren taktile Empfindungen des eigenen Körpers, zumal der Sitzfläche, des
Bauches und linken Armes, gelegentlich auch des Kopfes vorbanden. Die
Komponenten des wirklichen und des Scheinkörpers waren sämtlich neben-
einander, doch untereinander nicht in Beziehung (außer insofern, als die vor-
gestellten Elemente auch bedeutungsmäßig als Ich erschienen) gegeben; die
Vp. konnte nicht sagen, ob sie diese beiden Iche gleichzeitig oder abwech-
selnd erlobte. Der Qualität nach standen die taktil-motorischen Erscheinun-
gen des wirklichen Körpers zu denen des Scheinkörpers in dem Verhältnis
von Sinneswahrnehmung und Erinnerungsvorstellung.
(Ähnliche Versuche sind oft gemacht und lassen sich leicht ausführen.}
Auch in diesem Protokoll ist das Auftreten von Dynamien in
deutlicher Unabhängigkeit von dem Kbrpergebiet von Interesse.
Dieser Umstand ist deshalb so wichtig, weil die Dynamien durch
ihn die eigentümliche Isolierung verlieren, die sie den sonstigen
Sinneserscheinungen gegenüber besitzen würden. Die allgemeinen
Merkmale der Erscheinungen kehren danach auch bei den Dyna-
mien wieder.
Ihre beschränkte Fähigkeit, sich zu höheren ästhetischen Ge-
bilden zu differenzieren und zu kombinieren, berechtigt keine
Sonderstellung, da auch bei den Temperatur-, Geruchs- und Ge-
schmacksempfindungen das gleiche, sogar in noch höherem Maße,
der Fall ist.
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III. Über Organempfindungen und Körpergeftthle (Dynamien). 191
§ 7. Theoretische Folgerungen:
A) Hinsichtlich, der Einteilungen der Erscheinungen
in Empfindungen und Gefühle überhaupt.
Die Bedeutung der Dynamien erhellt vielleicht am ehesten ans
ihrer Stellang im Einteilungsschema der Erscheinungen.
Die verwickelten Erlebnisse, die wir unter dem Namen Affekte, Stim-
mungen, Leidenschaften, Trieberlebnisse usf. bezeichnen, lasse ich bei dieser
Kinteilnng absichtlich beiseite; denn mir handelt es sich um die Einteilung
der einfacheren Erlebnisse, die in den verwickelten als Teilinhalte (soweit
dieser Ausdruck überhaupt gebraucht werden darf) vorkommen. Insbeson-
dere habe ich mich mit dem gedanklichen Gehalt der Gemütsbewegungen
hier nicht beschäftigt. Stumpf1) hat auf diesen Punkt mit vollem Recht
den größten Nachdruck gelegt und die Frage der Affekte dadurch in ein
neues Licht gestellt. Ich glaube , daß seine Darstellungen in ihrem großen
Zuge durchaus zwingend Bind ; aber für den Weg, den ich gegangen bin, war
ein anderer Gesichtspunkt maßgebend als für ihn. Ich glaube nicht zu irren,
daß ihn vor allem der Gegensatz zu den zwar sehr vorurteilsfreien, aber
zum Grotesken und Materialistischen neigenden Theorien von James und
Lange zu seinen Darstellungen geführt hat. Den von diesen Autoren nicht
als wesentlich berücksichtigten Anteil der intellektuellen Funktionen an den
höheren Gemütsbewegungen hob er daher in voller Schärfe heraus. Bei aller
Anerkennung der Verdienste dieser Forscher zeigte er, daß das Gemütsleben
des höheren Kulturmenschen in seinem Hauptteil nicht in den verhältnis-
mäßig einfachen und primitiven physiologischen Funktionen besteht, die dem
aus falscher Verallgemeinerung geborenen ideomotorischen Gesetze zuliebe
in den Vordergrund gestellt waren. —
Mir kommt es nicht auf das an, was diese Forscher des Gemütslebens
scheidet, sondern auf das, was gemeinsam gegeben ist. Besonders in seiner
letzten Arbeit2] hat nun Stumpf den Unterschied zwischen den sinnlichen
Gefühlen (sogenannten Gefühlsempfindungen) und den eigentlichen Gefühlen
noch schärfer hervorgehoben als früher. Er sagt auf S. 7 dieser Arbeit,
wenn ich ihn richtig verstehe: der Kern der als Gefühl im engeren Sinn zu
bezeichnenden Gemütsbewegungen ist, soviel auch sonst Sinnesempfindungeu
und Schmerz- und Lustgefühle in diesen Gesamtzuständen vorkommen mögeu.
verschieden von den sinnlichen Gefühlen. Er führt ferner auf derselben
Seite in der Anmerkung aus: >Diese These setze ich hier voraus, wenngleich
sie noch nicht allgemein zugestanden ist Die Zeit wird kommen, wo man
die prinzipielle Verschiedenheit der Gemütsbewegungen von den Sinnes-
empfindungen, einschließlich der Gefühlsempöudungen ebenso allgemein ein-
leuchtend finden wird, wie es heute bereits bezüglich des Unterschiedes von
1) C. Stumpf, Über den Begriff der Gemütsbewegung. Zeitschrift für
Psychol. u. PhyBiol. der Sinnesorgane. Bd. 21. (1899.) S. 47 ff.
2) C. Stumpf, Über Gefühlsempfindungen. Ebenda. I. Abteilung.
Bd. 44. 1907. 3.1.
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F. E. Otto Schultze,
Empfinden und Denken der Fall ist. Wenigstens wird man das Geistige und
das Sinnliche (um uns populär auszudrücken) daran scheiden lernen.« Und
schließlich sagt er: auch die Sinneegeftihle sind den Gemütsbewegungen gegen-
über heterogen. Da diese Bemerkungen in der Erörterung der Verwandtschaft
der sinnlichen Gefühle mit den sogenannten höheren, geistigen Gefühlen hin-
sichtlich ihrer Natur geschrieben sind, so glaube ich annehmen zu dürfen,
daß diese beiden Gruppen von Gemütserscheinungen sich nach Stumpfs
Meinung auch hinsichtlich der Qualität unterscheiden. Habe ich ihn darin
richtig verstanden, so müßte ich allerdings dem entgegensetzen, daß prinzi-
pielle Gegensätze hinsichtlich der Qualität zwischen den Kernen der Affekte
und den sinnlichen Gefühlen meines Erachtens nicht bestehen. Es mag sein,
daß der Kern jedes Affektes neu als Variation bereits bekannter Grundquali-
täten ist, aber andere Grundqualitäten als algedonische und dynamische kann
ich unter diesen Kernen nicht finden.
Bei der Einteilung der einfachen Erscheinungen1} finden wir,
abgesehen von den noch wenig bekannten Wirkungsakzenten,
außer den bekannten Empfindungsqualitäten des Geeichtes, Ge-
höres, der Temperatur, des Geruches und des Geschmackes zwei
Gruppen vor, die algedonischen Erscheinungen und die dynamischen.
Der Unterschied der Verbissenheit oder des Vorstellungscharak-
ters und der sinnlichen Frische kehrt bei allen diesen Erschei-
nungen wieder, ebenso wie die Merkmale der Lokalisation, der
Intensität und der zeitlichen Dauer.
Welche Bedeutung hat nun der Unterschied von Emp-
findung und Gefühl ftlr diese Einteilung? Ist er grund-
sätzlich und grundlegend oder nicht? Über seine allgemeine Be-
deutung ist vorhin gesprochen worden. Wir fragen daher jetzt
konkret zunächst: gibt es noch andere Gefühle als die der Lust
oder Unlust oder nicht?
Von den im einzelnen angeführten Dynamien sind, besonders
in der älteren Literatur, viele als Gefühle bezeichnet worden. Mir
1) Erscheinungen setze ich in strengen Gegensatz zu Gedanken (gleich
pensee von Binet und Bewußtheiten Achs). Marbe hat bekanntlich eine
große Anzahl von Erlebnissen, die bis dahin unbeachtet waren, wegen der
Schwierigkeit ihrer Analyse in die besondere Gruppe der Bewußtseinslagcn
zusammengefaßt. Es sind zum Teil und in der Hauptsache Gedanken im
obigen Sinne, teilweise Gefühle, die sich nachträglich bildlich oder begrifflich
umschreiben und so aufweisen lassen, teilweise Wirkungsakzente und teil-
weise Einheiten ans algedonischen oder dynamischen Erlebnissen und Be-
wußtheiten {Beispiele hierfür finden sich auch bei Lagerborg, »Zur Ab-
grenzung des Geflihlsbegriffes«, Bd. IX dieses Archivs S. 467, offenbar in
gleichem Sinn erörtert), schließlich auch noch Keim- oder KrUppelformen
anderer Erscheinungen im Sinne meiner Definition in Bd. VIII S. 306 ff. dieses
Archivs.
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III. Über Organempfindungen and Kürpergefühle (Dynastien). 193
ist es bei meinen Versuchen nicht gelangen, irgendein Merkmal
zu finden, das einem ohne viel Theorie gelegentlich der Analyse
von Erlebnissen im Experiment oder bei der Gelegenheitsbeobach-
tung sicher Klarheit darüber schafft, ob die zn bestimmende Er-
scheinung als Empfindung oder als Gefühl zn klassifizieren ist.
Erst später bei der Ausarbeitung dieser letzten Paragraphen dieser
Arbeit bin ich etwas besser in den Sinn des Begriffes emotioneller
Charakter eingedrungen. Da dieses Merkmal aber seitdem wenig
Gelegenheit hatte, sich im Versuch und bei der Gelegenheitsbeob-
achtung zu bewähren, so kann ich, mehr auf Grund eines subjek-
tiven Sicherheitsgefühles als auf Grund langer Erfahrung, für die
Scheidung von Gefühlen und Empfindungen innerhalb der Dyna-
mien eintreten. Ich muß mich daher auf die Aufweisung der
maßgebenden Beispiele beschränken. Ich führe diejenigen Erleb-
nisse an, in denen mir die dynamischen Gefühle am deutlichsten
gegeben zu sein scheinen. Im Experiment ist allerdings wenig
Material zu finden, nur die Gelegenheitsbeobachtung kann uns
hier glücklich fuhren und erst auf den Hohen des Lebens finden
wir deutlich das, was ich meine.
Wir müssen uns dem gewaltigen Eindruck hingeben, den die
Wucht der entfesselten Elemente im Sturm auf uns macht. Donner
und Blitz, die Meeresbrandung und das Fluten des sich dahin-
wälzenden Stromes wirken ähnlich. Das Aufballen des Pulver-
dampfes der Kanonen unserer Riesenschlachtschiffe, das Sausen
der modernen Lokomotive und das Jagen des Automobils; die
ruhige unbeirrrte Drehung der massigen Kolben und Wellen an
den Dampfmaschinen unserer großen Ozeandampfer — Uberhaupt
all das, was die Leidenschaft moderner und alter Kraftleistung in
Technik und Sport bedingt, wirkt in uns in der Hauptsache durch
Erscheinungen, die als Gefühle anzusprechen sind. Es sind aber
Gefühle der Kraft, die uns da beherrschen und bestürmen: Ge-
fühle der Lust können dabei da sein, sind aber tatsächlich nur
untergeordnet.
Wie vor der Natur, so vor der Kunst. Gotische und roma-
nische Dome, dorische und korinthische Tempel packen und er-
greifen uns nicht durch Lust-, sondern durch Kraft-1) und Ruhe-
1) Vgl. besondere Lipps' Quantitätsgeflihle auf S. 294 ff. seines Leit-
fadens der Psychologie, II. Aufl., Leipzig 1906.
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194
F. £. Otto Schultze,
geftthle; ebenso die Porträtgemälde und Idealplastiken des Tre-
centos und Quattrocentos aller großen Zeiten : yon der freien, edlen,
tatbereiten Jttnglingsgestalt des hl. Georg Donatellos zn seinem
abgeklärt ruhigen Herrscher Gattamelata, yon den toll-lebensfrohen
Putten Beiner Orgelkantorien zu der gequälten Düsterheit miehel-
angelesker Idealfiguren. Die großen ästhetischen Affekte der Be-
wunderung und des Ergriffenseins, Rührung, Haß, Verachtung und
Zorn gehören im Kern der Erscheinung zn den Dynamien. Und
wie im ästhetischen Genuß, so finden sie sich auch in den lange
Reihen und Prozesse bildenden Willenshandlungen: in der wohl-
überlegten, stark den Widerstand zurückdrängenden Segenshand-
lung des weisen Herrschers, in der starren Rechthaberei des Streit-
süchtigen und schließlich in der viehischen Greueltat des sadisti-
schen Verbrechers und des leidenschaftzerrissenen Spielers, der
Glück und Zukunft, Weib und Kind und sich selbst zum Einsatz
hinwirft
Will man die Hauptkomponenten dieser Erlebnisse, die sich
hoffentlich durch die Häufung der Beispiele herausheben, als
Organempfindnngen bezeichnen, so kann man das tun. Wenn
sich jedoch an diesen Erlebnissen ein Merkmal findet, das allen
Empfindungen sonst abgeht, das nur noch bei den algedonischen
GefUhlen vorhanden ist, so sind auch diese Erlebnisse eben wegen
dieses Merkmales von den dynamischen und algedonischen Emp-
findungen abzutrennen und als dynamische Gefühle zu bezeichnen.
Wir müssen uns somit fragen:
1) Welche Merkmale finden wir überhaupt bei den Empfin-
dungen und welche bei den Gefühlen der Lust und Unlust?
2) Hinsichtlich welcher Merkmale bestehen Unterschiede?
Durch welches Merkmal sind die Geftthle der Lust und
Unlust vor den Empfindungen ausgezeichnet?
3) Findet sich dieses Erkennungsmerkmal der Lust- und Un-
lustgefllhle bei einigen Dynamien und bei anderen nicht?
Ist dies letztere wirklich der Fall, so sind dynamische Emp-
findungen und Gefühle zu unterscheiden. Da nun diese Fragen
oft genug gestellt und beantwortet sind1), so greife ich nur einige
besonders wichtige Merkmale heraus.
1) Zuletzt bei Stumpf, a. a. 0., Bd. 44, S. 6ff. und Lagerborg, a. a.O.,
Bd. IX dieses Archivs.
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III. Über Organempfindungen und Körpergefühle (Dynamien].
a) Qualität
Die Frage der Qualität führt bei den Gefühlen der Lust zu
dem Resultat, daß diese Erscheinungen sich mit großer Deutlich-
keit von den sonstigen Qualitäten (optischen, akustischen, tak-
tilen usw.) unterscheiden lassen; gerade der qualitative Unter-
schied wird wohl das Hauptmoment sein, weshalb man den
Lustgefühlen eine besondere Stellung angewiesen hat. Ganz frei
von Bedenken bin ich allerdings nicht, denn wie im Begriff der
algedonischen Erlebnisse auch von Stumpf die Unlust in Be-
ziehung zu Schmerzempfindungen gebracht ist, so kann man viel-
leicht die Lust in Ähnlichkeitsbeziehung zur Wärmeempfindung
bringen. Bei dieser Ähnlichkeit sind wir allerdings an eine Grenze
gekommen, die einer zuverlässigen Arbeit vorläufig nicht zugäng-
lich ist Im allgemeinen Sprachgebrauch ist diese Ähnlichkeit in
der Sprachweise von »innerer Wärme« anerkannt; pathologisch
wäre vielleicht das hypochondrische Glucksgeflihl der Paralytiker
heranzuziehen, das als WärmegefUhl geschildert wird; doch
bleiben Bedenken bestehen.
Hinsichtlich der als Gefühle aufzufassenden Dynamien ist aus-
drücklich nochmals zu betonen, daß die Ähnlichkeit mit den ihnen
jeweils gleich kategorisierten Empfindungen zu groß ist, um Über-
sehen werden zu können; ein Unterschied soll nicht geleugnet
werden, entscheidend ist aber die Ähnlichkeit Und um derent-
willen können wir keinen Unterschied zwischen dynamischen
Empfindungen und Gefühlen machen.
b) Verhalten der Gefühle bei der Reproduktion. Hallu-
zinationscharakter; qualitative Unvollständigkeit
Auch hinsichtlich dieses Merkmales scheinen sich mir weit-
gehende Übereinstimmungen zwischen dynamischen Empfindungen
und Gefühlen aufzuweisen. Es gibt Fälle von dynamischen Emp-
findungen, die auch im Urbild so verwaschen sind und so un-
deutlich bestimmbar hinsichtlich Qualität und Lokalisation, daß
sie den Gefühlen darin nichts nachgeben. Es läßt sich ferner
nicht in Abrede stellen, daß bei der Reproduktion von Affekten
mit dynamischen Komponenten, zumal Angst und Zorn, die
wir vor langer Zeit erlebt haben und die Behr heftig waren
und einen sehr hohen Sinnlichkeitsgrad besaßen, verbissenere
Gefühlserscheinungen von undeutlicher Lokalisation, von großer
ArtfcST fOr Psychologie. X 14
196
F. E. Otto Schultze.
Verwaschenheit und einfacher Struktur vorkommen, welche dabei
deutlich dem Urbild ähnlich bleiben. Genau wie Gesichtsbilder
von Gegenständen bei der Reproduktion lüokenhaft werden,
so diese bei der Reproduktion entstehenden Bilder von Affekten:
es fehlt diese oder jene Komponente. Die Komponenten der re-
produzierten Affekte verhalten sich also ebenso ungleich wie die
Komponenten von verwickelten sinnlichen Wahrnehmungen; wie
z. B. aus einer Wahrnehmung der ak astische Anteil viel stärker
als der optische zurücktreten kann, so kann der dynamische An-
teil dem Lustgefühl gegenüber sich verringern und verundeutlichen.
Weiterhin können sich alle Merkmale, Qualität, Zahl und Lokalisa-
tion, Intensität und zeitliche Daner bei der Reproduktion der Dy-
nastien ebenso ändern wie bei der von Gefühlen. Die Behauptung,
daß reproduzierte Gefühle stets Halluzinationscharakter haben,
könnte ich auch nicht aufrecht erhalten, wenn damit gesagt sein
soll, daß Gefühle, die durch die Aufgabe, einen ehemaligen Affekt
zu reproduzieren, Zustandekommen, hinsichtlich der Qualität, Lo-
kalisation, Struktur, Intensität und zeitlichen Dauer sehr deutlich
und anschaulich und ebenso klar anschaulich sind wie das Urbild.
c) Hinsichtlich der Lokalisation besteht sicher kein wesent-
licher Unterschied zwischen den Dynamien und Lust und Unlust.
Die Lokaiisation zeigt bei den Gefühlen *) sehr große Unterschiede,
sie wechselt zwischen großer Deutlichkeit und ziemlich scharfer
Umschriebenheit und vollständig unsicherer Lokalisation, wie man
sie nur noch durch Ausschluß anderer Möglichkeiten feststellen
kann, z. B. dadurch, daß man bei einem Gefühl, das im Rumpf
lokalisiert ist, fragt: ist es draußen im phänomenalen Außenraum,
ist es in der Zehe oder im Oberkörper lokalisiert oder nicht?
Die undeutlichsten Fälle von Lokalisation kommen verständlicher-
weise bei den verblasenen Dynamien vor.
Wegen der durchaus fließenden Grenzen zwischen bestimmter und un-
bestimmter Lokaiisation kann ich mich dem Vorschlag Ton Lagerborg*)
nicht anschließen, Empfindung und Gefühl auf Grund des Lokalisationsmerk-
males au unterscheiden. — Die Angaben von C. Stumpfs) aber LokaHsation
der sinnlichen Gefühle kann ich fast durchweg bestätigen, nur scheint mir
1) Vgl. hierzu meine Arbeit Bd. VIII dieses Archivs S. 259 ff. und 877.
2) Rolf Lagerborg, Zur Abgrenzung des Geiuhlsbegriffes. Bd. IX.
S. 460.
3) Stumpf, a. a. 0. Bd. 44. S. 13, 14.
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III. Über Organempfindungen und KörpergefUhle (Dynamien). 197
eine Lokalisation von »Annehmlichkeitsempfindungen« zusammen mit höheren
Sinnesempfindungen nicht ausgeschlossen1]. Daß man eine egoistische Liebe
oder eine tränenreiche Trübsal und all das, was man als höhere Gefühle viel-
fach bezeichnet, nicht nach dem Volumen messen kann, ist selbstverständlich
richtig. Immerhin ist daraus meines Erachtens nichts gegen einen grund-
legenden Unterschied zwischen Gefiihlsenipfindungen und höheren Gefühlen
su schließen — in dem Sinn, daß die Lokalisation bei den letzteren fehlt;
denn es kommt darauf an, ob die mannigfaltigen und im Einzelfall wech-
selnden sukzessiven Einzelerscheinungen des Augenblickes, die man in dem
Namen Liebe oder Trübsal zusammenfaßt, lokalisiert sind oder nicht. Und
darin scheint mir kein grundlegender Unterschied in den fraglichen Erschei-
nungen. Vielmehr ist die Lokalisation häufig unmittelbar zu beschreiben.
Wenn sie nicht zu beurteilen ist. so möchte ich daraus nicht schließen, daß
sie fehlt — ebenso wie die zeitliche Ordnung nicht stets angebbar ist und
doch dagewesen sein muß, oder wie eine Intensität und Qualität anzunehmen
ist, selbst wo sie nicht oder nicht sicher angebbar ist Unbestimmtheit von
Empfindungen und (darf ich verallgemeinern) von Erscheinungen ist so-
wohl Unbestimmtheit der Lokalisation2}, als auch gelegentlich der Qualität
zeitlichen Dauer und Intensität.
d) Unselbständigkeit der Gefühle.
Ich habe früher (Bd. VIDI, S. 377 ff.) behauptet, daß die Gefühle unselb-
ständige Erscheinungen sind, d. h. daß sie in ihrem Auftreten stets an Organ-
empfindungen gebunden sind. Soweit ich mich und andere zn beobachten
Gelegenheit hatte, waren die Gefühle fast stets deutlich entweder an sinnlich
frische oder an verblasene Dynamien gebunden. Das Fehlen von undeut-
lichen Dynamien festzustellen, ist in manchen Fällen geradezu unmöglich;
die meisten derartigen Fälle bleiben zweifelhaft, weil man sich zu einer be-
stimmten negativen Aussage nicht entschließen kann. Ich habe nun früher
vorzeitig verallgemeinernd gesagt, daß schließlich wohl stets Organempfin-
dungen da sind. Hierauf hatte ich meine Definition gegründet.
Es ist möglich, daß in diesem Punkte eine Korrektur erfolgen muß,
denn ich habe in der Zwischenzeit ein Erlebnis gehabt, das ich genau ana-
lysieren konnte. Es handelte sich um ein im Rumpf, zumal in der Brust,
lokalisiertes »Gefühl« der Bewunderung und »Begeisterung«; ich konnte aber
Organ »enipfindungen« als dessen Träger im Inneren des Brustkorbes nicht
nachweisen. Bei der Seltenheit von Affekten, die einer genauen, sofort auch
schriftlich fixierbaren Analyse zugänglich sind, bedarf es jedoch ziemlich
zeitraubender Beobachtungen und sehr langer Zeit, bevor man alle Fehler-
quellen ausschaltet und zu Verallgemeinerungen kommt.
Es liegt auch eine Schwierigkeit bei der Vereinheitlichung von Gefühlen
und Empfindungen vor. Es müßten uns in allen Fällen, wo Gefühle an
Empfindungen gebunden sind, diese Empfindungen schön, angenehm, lästig
usf. vorkommen. Das ist aber nur selten so, nämlich da, wo man von physischer
Annehmlichkeit, von physischem Ekel spricht So sage ich: Der Anblick
dieses Gegenstandes ist mir physisch angenehm; oder: ich spüre ein wohlige*
1) Vgl. meine Arbeit Bd. VÜI. S. 378, 379.
2) E. Meumann, Zur Frage der Sensibilität der inneren Organe. Bd. IX.
S. 67.
14*
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198
F. E. Otto Schnitze,
Gefühl in meinem Körper, wenn ich das ansehe! Hier ist es so, daß das
Gefühl der Annehmlichkeit die Organempfindungen färbt, wie es sonst z. B.
eine Geschmacks- oder Geruchsempfindung als dessen Gefühlston firbt. Aber
das sind seltene Falle. Im allgemeinen ist das Gefühl im Körper lokalisiert,
doch höchst unbestimmt and gerade in keiner besonderen Beziehung der
Verschmelzung mit Organempfindungen. Auch dieser Umstand spricht gegen
das Gebundensein der Gefühle an Organempfindungen. Das Merkmal der
Unselbständigkeit ist somit vielleicht nicht als integrierendes Merkmal der
Gefühle anzusehen und scheidet im Streite ans.
Jenenfalls muß es des weiteren die Aufgabe sein, Flüe zu finden, sei
es im Versuch oder im Alltagsleben, in denen die Gefühle sich sicher als
vollständig unabhängig auch von verwaschenen Dynamien zeigen.
e) Ichnähe; Ichakzent Als weiteres Merkmal der Gefühle
muß ich ihre eigentümliche Ichnähe nennen. Ich versuchte diese
Tatsache mit dem Worte Ichakzent1) zu charakterisieren. Sie be-
steht darin, daß Erscheinungen einem unmittelbar, ohne gedankliche
Konstatierung auf Grund eines anschaulichen Erscheinungsmerk-
males als dem Ich zugehörig erscheinen. Der reinen Beschreibung
machte dieser Umstand große Muhe. Ich habe ihn an der ge-
nannten Stelle darzustellen versucht, ohne jedoch mit allen Vp.
zu einheitlichem Resultat zu kommen. Ich sagte, daß in dem phäno-
menalen Ichraum eine Stelle auftreten kann, an die der Ichakzent
gebunden ist; diesen Bezirk bezeichnete ich als Innenich. Für die
Dynamien ist nun das Verhalten dem Ichakzent gegenüber der
entscheidende Punkt; denn auch die als Empfindungen be-
zeichneten Dynamien können sich unmittelbar als Icherscheinungen
darstellen, also als unmittelbare und anschauliche Bestimmtheiten
des Iches mit einem Ichakzent vereinheitlicht erscheinen; damit
fällt der Unterschied, der die dynamischen Empfindungen und die
dynamischen Gefühle trennt, weg.
Außer diesen Merkmalen sind in der Literatur verschiedentlich die
der Subjektivität, der Abstumpfung und andere erörtert, Ich
schließe mich hierin den Ergebnissen von Stumpf1) und Ebbinghaus3)
an, ohne darauf näher einzugehen. Durchweg zeigt sich, daß keines der im
unmittelbaren Erleben aufweisbaren Merkmale uns als allgemeines Erkennungs-
merkmal von Empfindung und Gefühl helfen könnte, auch zwischen dyna-
mischen Empfindungen und Gefühlen zu scheiden. Die auf theoretischen
Erörterungen beruhenden Unterschiede der regulatorischen oder heil-
1) Vgl. Bd.VHI dieses Archivs S. 370 ff.
2) a. a. 0.
3) Ebbinghaus, Grundziige der Psychologie. I. Bd. II. Aufl. Leipzig
1905. S. 664 ff.
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III. Über Organempfindungen und Körpergefühle (Dynamien}. 199
Barnen Kraft der Gefühle sind erst recht nicht im Einzelfall brauchbar
und kommen zudem vielen Organempfindungen wie Hunger, Durst und Atem-
not zu; für das Experiment und die Gelegenheitebeobachtung sind sie auch
nicht eindeutig anwendbar. Noch weniger statthaft wäre es, die Frage der
zentralen oder peripheren Auslosung der Gefühle hierbei anzuschneiden.
So sehr hiernach meiner Behauptung, es gibt anch dynamische Gefühle,
der Boden entzogen zu sein scheint — so wenig kann ich von meiner Mei-
nung zurücktreten. Die Unmöglichkeit, einen Gedanken bindend zu formu-
lieren, ist schließlich kein Grund, ihn als wertlos zu verwerfen. Ich möchte
daher versuchen, wenigstens zu umschreiben, was ich. meine, wenn ich auch
weiß, daß ich dabei nicht eindeutig bleibe.
Mir scheint in dem, was wir gelegentlich als Lebenswärme
oder Lebensnahe des Gefühls bezeichnen, ein unmittelbar erfahr-
barer positiver oder negativer Selbstwert der Gefühle gegeben zu
sein, der den dynamischen Empfindungen, besonders den Organ-
empfindungen, abgeht1). Dieser emotionelle Charakter steht
im Gegensatz zu dem sachlichen, intellektuellen Charakter der
Empfindungen. In seiner biologischen Bedeutung zeigt er
sich darin, daß die Kerne der Trieberlebnisse bei Menschen und
wohl auch bei Tieren vielfach Gefühle sind ; besonders im Sexual-
leben finden sich beide Gefühlsarmen, algedonische und dynamische,
in ihren stärksten und verwickeltsten Zusammensetznngen. Aus
dem gleichen Grund ist die ästhetische Bedeutung der dyna-
mischen und der Organ emp findungen so gering; wiewohl es sehr
leicht wäre, durch Körperbewegungen wie im Sport, durch Chemi-
kalien und elektrischen Strom Organempfindungen von zum Teil
sehr hoher Intensität zu erzeugen, so hat sich von hier aus dennoch
kein höheres ästhetisches Leben entwickelt, und soweit es vor-
handen ist, sind die Organempfindungen nur das Mittel, algedonische
und dynamische Gefühle das Ziel geworden. —
Den Hauptpunkt des emotionellen Charakters können wir viel-
leicht auch so am schreiben, daß wir sagen, die Gefühle neh-
men sofort den Menschen als Ganzes in Anspruch; den
Empfindungen fehlt diese Eigentümlichkeit. Abstrakter
und genauer können wir das so ausdrücken: Die mehr oder we-
niger deutlich lokalisierten Gefühle erscheinen ohne weiteres als
1) Hünsterberg berührt diesen Punkt (S. 345 seiner >GrundzUge der
Psychologie«), doch in anderem Zusammenhang, bo daß es mir nicht möglich
ist, auch für unsere Frage aus seiner Ansicht entscheidende Klarheit zu
schaffen.
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200
F. E. Otto Schnitze,
Bestimmtheit des nicht lokalisierten, unmittelbar gegebenen Ichs,
Empfindungen nur als dessen repräsentierende Teile.
Um nicht mißverstanden zu werden, füge ich folgendes ein. Das Wort
Ich ist vieldeutig. Es bedeutet mehreres«:)
1) Persönlichkeit, Charakter usf. — ein individuelles, metaphysisches Ding,
das den Anatomen, Zoologen, Physiker, Chemiker und Physiologen in
erster Linie, den Psychologen in zweiter Linie interessiert.
2) Dessen Repräsentanten im Bewußtsein:
a) die Erscheinungen (Kürperempfindungen und Gefühle);
b) der nur gedanklich gegebene Faktor, den wir als Ich bezeichnen,
auf den sich unsere Ausssge zunächst bezieht, wenn wir sagen:
ich bin aufmerksam, ich bin lustig usf.
3) Innerhalb der Icherscheinung habe ich Innenich und Außenich ge-
schieden2].
4; Zentral- und Peripheriegefühle sind von Kfilpe unterschieden worden.
Zentralgefühle sind die im Kopfinneren oder diffus im ganzen Kopfe,
oder gelegentlich in noch größeren Partien Uber Hals und Brust und
weiter im Kürperraum lokalisierten Gefühle. Peripheriegefühle sind
die außerhalb dieses, unmittelbar als Ganzes erscheinenden Bezirkes
lokalisierten Gefühle8).
Der Bestand nun, um den es sich handelt, ist der: Das Ich ist
als Bewußtseinsinhalt (nicht als objektiver, wie Lipps sagt, realer
Gegenstand) nicht lokalisiert, sondern ein Gedanke (gleich Idee
im Sinn von Bin et, Bewußtscinslage von Marbe, Bewußtheit
von Ach).
Dieser Gedanke bildet eine nicht weiter sagbare Einheit mit
der mehr oder weniger deutlich lokalisierten Gefuhlserscheinung4).
Vermöge dieser Vereinheitlichung erscheint das Gefühl als Be-
stimmung des unmittelbar erlebten Ichs. Habe ich z. B. eine
Empfindung im Kopf oder sonstwo, so bleibt sie Empfindung eben
im Kopf oder sonstwo; habe ich aber ein im Kopf lokalisiertes
Gefühl, bo fühle ich mich als ganzen Menschen in dem Sinn dieser
Erscheinung affiziert, lustig, traurig usf.8).
1) Näheres Bd. Vffl 8. 362 f.
2} Näheres hierzu Bd. VIII dieses Archivs S. 376.
3) Vgl. hierzu Bd. VIDI dieses Archivs S. 377 ff. — Stürring, Experi-
mentelle Beiträge zur Lehre vom Gefühl. Ebenda. Bd. VI. S. 316 ff.
4) Vgl. hierzu S. 189 dieser Arbeit.
6) Dies ist vielleicht die Tatsachengrundlage der Beziehung, die besonders
Lipps zwischen Ich und Gefühl statuiert Allerdings sind für ihn die
Gefühle nicht lokalisiert. Mich würde es freuen, die von ihm schlechtweg als
Letztes behauptete und nur wenigen vorständliche Tatsache auf allgemeiner
verständliche Faktoren zurückgeführt zu haben. Von hier aus wäre vielleicht
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III. Über Organempfindungen und Kürpergefiihle (Dynamien). 201
Die Frage nun, an der wir ans somit vielleicht im Experi-
ment oder in der Gelegenheitsbeobachtung Klarheit Uber
die Entscheidung zwischen Empfindung und Gefühl verschaffen
können, wird lauten: Ist die fragliche Erscheinung geeignet, als
Gesamtmerkmal Ihres Ichs aufgefaßt zu werden, so daß damit der
Tatbestand im Kern erschöpft wird? so wie z. B. im Fall: ich
bin lustig. Oder bleibt sie nur als Teil des phänomenalen Ichs
von Bedeutung?
Dies ist nicht die Frage der Icbzngehürigkeit von Empfindungen, soweit
sie mit dem Begriff Ichakzent von mir beschrieben ist, denn diese lautet:
Erscheint eine Empfindung überhaupt als dem Ich zugehörig auf Grund einee
Erscheinungsmerkmales? Dabei handelte es sich um lokalisierte Teilinhalte,
die dem Ich als Ganzem zugeordnet werden, aber seine Teile bleiben.
Das Ergebnis ist somit das, daß es sowohl dynamische
Empfindungen als auch dynamische Gefühle gibt, daß
aber diese Annahme sowohl empirisch als theoretisch weiter durch-
zuarbeiten ist1). —
Um Mißverstandnisse zu meiden, hebe ich den zweimal wieder-
kehrenden Gegensatz von Zentrum und Peripherie ausdrücklich
hervor: bei den Zentral- und Peripheriegefühlen ist es ein Gegen-
satz der Lokalisation der Erscheinung. Außerdem kommt dieser
Gegensatz bei der Besprechung der Angriffsstellen der Reize für
Empfindung und Gefühl in Betracht. Der Reiz der Schmerz-
empfindung greift in der Peripherie an und wird dann zum
Zentrum weitergeleitet und löst hier die Empfindung aus. Die
Gefuhlsempfindung der Annehmlichkeit greift aber als zentrale
Mitempfindung vermutlich sofort im Zentrum an. (Daß Schmerz-
reize auch an jeder anderen Stelle der Leitungsbahn bis zum Zentrum
hin eingreifen können, ist physiologisch leicht verständlich.) Die
Reize von Stumpfs Lustempfindungen haben also ihren Angriffs-
eine Einigung mit Dans Cornelius und Felix Erueger möglich; letzterer
betonte auf dem Würzburger Psychologenkongreß Stumpf gegenüber die
Eigenart der Gefühle als Gestaltqualitäten. Schwierigkeiten bleiben aller-
dings übrig, insofern Gestaltqualitäten keine Tatsachen des unmittelbaren Er-
lebnisses sind; gemeinsam bleibt aber die Zuordnung zum Ich als eine Ge-
samtheit
1) Insbesondere kann uns hier vermutlich die Psychiatrie und Neuro-
logie von Vorteil sein, wie in jüngster Zeit Meuniann pathologische Erfah-
rungen glücklich verwertet hat. Vgl. hierzu seine Arbeit: Zur Frage der
Sensibilität innerer Organe. Bd. IX dieses Archivs 8. 26-62.
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202
F. E. Otto Schultze.
punkt vermutlich im Gehirn. Es fragt sich nun, ob man die
Klassifikation von Empfindung nnd Gefühl auch davon
abhängig machen soll) wo der Angriffspunkt einsetzt.
Der mit psychologischen Fragen vertraute Neurologe wird eher ge-
neigt sein, die durch periphere Reize ausgelösten Erscheinungen
als Empfindungen, die zentral aasgelösten als Gefühle zu be-
trachten. Hierbei wird ihn zunächst die Schwierigkeit unter-
stützen, zwischen zentralen Angriffsstellen niederer und höherer
Ordnung zu unterscheiden, denn die Gefühlsempfindungen unter-
scheiden sich als zentrale Mitempfindungen von den eigentlichen
Gemütsbewegungen dadurch, daß bei diesen intellektuelle Pro-
zesse mitspielen. Derartige intellektuelle Prozesse sind aber, wie
mir scheint, auch mit den sinnlichen Gefühlen als deren Be-
dingungen verbunden. Die Tatsache, daß ein dafür veranlagter
Mensch durch entsprechende Erfahrung in der Abwägung der
sinnlichen Annehmlichkeit und Unannehmlichkeit von Sinnesemp-
findungen unverhältnismäßig große Übung bekommt, läßt darauf
zurückschließen, daß die gemachten Erfahrungen als Gedächtnis-
spuren mit den seine spezifische Veranlagung charakterisierenden
angeborenen Dispositionen Verwandtschaft in den Eigenschaften
und in der Leistungsfähigkeit haben und daß man somit sagen
kann, daß die beim Geübten und Veranlagten entwickelte inten-
sivere oder überhaupt erst auftretende Annehmlichkeit oder Un-
annehmlichkeit auf Faktoren beruht, die intellektuellen Prozessen
(in dem weiten Sinn, den ihnen Stumpf eingeräumt hat) gleich-
zusetzen sind.
Es ist zuzugeben, daß diese Erwägung nicht für alle »GefÜhls-
empfinduogen« zutrifft, nämlich nicht für die Schmerzempfindungen.
In deren Auffassung kann ich mich Stumpfs Meinung nicht voll-
ständig anschließen, denn von einer nur gelegentlich vorhandenen
und gelegentlich fehlenden Unlustbetonung des Schmerzes will er
nichts wissen. Er sagt hierüber etwa: Der Schmerz schmerzt,
daran kann die feinste Psychologie nichts ändern. Ich dagegen
meine, »leichter Schmerz sticht und das tut nicht weh«, mit an-
deren Worten, ich halte die reinen, nicht gefühlsbetonten Stich-
empfindungen gleichfalls *) für das Prototyp der Schmerzempfindung;
denn leichtere Stiche mit einer feinen Nadel stechen, ohne etwas
1) Wie das jetzt vielfach in der Physiologie und Neurologie geschieht
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IH. Über Organempfindnngen and Körpergefiihle (Dynamien). ^ 203
Unangenehmes zn haben; ebenso verhalt sich ein beträchtlicher
Teil der Sensationen des Stiches beim Wiederaufwachen einge-
schlafener Glieder, wie sich das experimentell beim Unterbinden
des Armes mit dem Esmarchschen Schlauch zeigen läßt.
Nehme ich hierzu die Gleichheit der Qualität zwischen sinn-
lichen und höheren Gefühlen (wie das S. 185 und oben S. 195
geschehen ist), so ergeben sich daraus folgende Sätze:
1) Die Urbilder von Empfindungen und Gefühlen (im Gegen-
satz zn deren Reproduktions- und Phantasiebildern) unterscheiden
sich voneinander durch die Lokalisation des physiologischen An-
griffsreizes.
2) Empfindungen und Gefühle gibt es als Unterabteilungen nur
von algedonischen und dynamischen Erscheinungen; diese Schei-
dung fällt fort hei den optischen, akustischen und anderen Sinnes-
ein drücken, die deshalb als Empfindungen zu bezeichnen sind.
3) Unter den algedonischen Erscheinungen ist der äußere
Schmerz als Empfindung im obigen Sinne zu bezeichnen, wäh-
rend die sinnliche Annehmlichkeit als Gefühl, und zwar teils als
PeripheriegeftLhl, teils als Zentralgefühl aufzufassen ist.
B) Hinsiohtlioh des Meehaniamua der Dynamien.
Aus den beiden Sinnlichkeitsgraden, in denen auch die Dyna-
mien auftreten, sinnlicher Frische und Verblasenheit, läßt sich
vielleicht einiges Uber den Mechanismus ableiten, zunächst über
den Ort im Nervensystem, an dem diese Erscheinungen ausge-
löst werden. Im allgemeinen werden auf den anderen Sinnes-
gebieten die sinnlich-frischen Erscheinungen durch periphere Reize
ausgelöst; verblasene lassen sich dagegen auf zentrale Ursachen,
zumal auf reproduktive Reize der Ähnlichkeit oder der Berührung
zurückfuhren. Auf der anderen Seite ist aber auch der Umstand
zu bedenken, daß peripher ausgelöste Empfindungen, besonders
Dynamien, bei sehr schwachem Reiz gelegentlich undeutlich und
verbissen sind, während zentral ausgelöste Dynamien bisweilen
sinnlich recht frisch und gut lokalisiert sind. Bei Krankheits-
zuständen finden sich z. B. viele körperliche Sensationen, die
zweifellos keine periphere Ursache haben, die aber wegen ihrer
peripheren Lokalisation dem Patienten ein peripheres Leiden vor-
täuschen. Ob hier ein Mechanismus wie bei den Halluzinationen,
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204 F. E. Otto Schnitze,
oder der gleiche Mechanismus wie bei der Auslösung der ver-
blasenen Dynamien, nur in sehr lebhafter Form, vorliegt, können
nur weitere Untersuchungen an der Hand der Tatsachen fest-
stellen. M. a. W. : Der Schluß von sinnlicher Frische auf peri-
phere Angriffsstelle des Reizes ist nicht stets berechtigt; ebenso
isfes mit der Verbissenheit!»)
Sind auch Schlüsse Uber die Art der Reize möglich? Denken
wir z. B. an die Forderong, daß nicht weiter zerlegbare Faktoren
von gleicher Qualität durch gleiche Ursache ausgelöst werden, so
ergibt sich hieraus, daß die von der Peripherie her durch die
Nerven und Projektionsfasern vermittelten Reize, die in der Hirn-
rinde die sinnlich frischen Dynamien auslösen, qualitativ mit
den Reizen verwandt sind, die als Reproduktionsreiz die ver-
blasenen Dynamien in Erscheinung treten lassen.
Welcher Art diese Reize sind, insbesondere wie weit der
Unterschied dieser beiden Reize der Intensität oder einer anderen
Merkmalsrichtung angehört, kann vorläufig nicht näher erörtert
werden. Als Ausgangspunkt für weitere Fragen kann aber der
Umstand dienen, daß bei der Einteilung der Dynamien ein weit-
gehender Parallelismus zwischen den dynamischen Gefühlen auf-
fiel, so zwischen dem Gefühl der Ruhe und der körperlichen
Ruhehaltung, zwischen dem Gefühl der inneren, geistigen Frische
bei konzentrierter Aufmerksamkeit und der Empfindung körper-
licher Frische usf.
Bekanntlich sind bei den Hautempfindungen durch Unter-
schiede in der Geschwindigkeitsfolge, der Intensität und Aus-
breitung der Reize Erscheinungsunterschiede bedingt; denn nor
unter dieser Voraussetzung fuhren wir die Qualitäten weich, hart,
kratzend und andere auf Verschiedenheiten in der Kombination
gleicher elementarer Reize zurück und fassen sie nicht als be-
sondere, weitere elementare Reizarten. In gleicher Weise dürften
auch viele Modifikationen von Dynamien, z. B. das > Gefühl« des
Reichen, Gewichtigen, Satten, Strotzenden, Sicheren, Kraftvollen,
in ähnlicher Weise wie hart, weich und andere zu einer Gruppe
zusammengefaßt werden können.
Ferner können uns Klassifikationsfragen vielleicht auch inso-
1) Vgl. hierzu Ed Inger, Gibt es zentral entstehende Schmerzen?
Deutsche Zeitachrift fllr Nervenheilkunde. I. Bd. 1891. S. 262—282. (Mit
einer Tafel.)
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III. Über Organempfindongen und Körpergeftihle (Dynamien). 205
fern für das Verständnis des Mechanismus der Dynamien von
Vorteil sein, als nur deren Unterabteilungen wieder neue Haupt-
gruppen bilden, die ihrerseits wieder durch eine einheitliche
Grundlage verständlich würden; z. B. finden wir Stufenreihen
vom stillen Wunsch durch das unentschlossene Verlangen hindurch
zum sicheren Wunsch nnd vielleicht noch weiter durch Streben
hindurch zur inneren Bewegung, d. h. zur Wechselwirkung und
Handlung. Unmöglichkeit, UnwahrBcheinlichkeit, Unbestimmtheit,
Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit, Sicherheit in der Annahme, im
Wirklichkeitsglauben gehören so vielleicht auch zusammen. Zweifel,
Kampf der Motive stehen vielleicht in Parallele zum Wechsel von
körperlichen Zuständen, von Vorstellungen oder Gedanken.
C) Hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Kategorienfrage
und der Denkvorgänge.
Die weitere Beobachtung hätte die Aufgabe, festzustellen,
ob die vorgeschlagene Klassifikation überall haltbar ist oder nicht;
sie hätte die Fülle von Erscheinungen zu untersuchen, die hier in
Betracht kommen. Im Grunde sind wir damit bei einer der psycho-
logisch und philosophisch wichtigsten Fragen angekommen, näm-
lich bei der nach der Bewußtseins- und Erscheinungsgrundlage der
Kategorien. Die eine Frage würde die sein : Haben alle Kategorien
spezifische Erlebnisse oder nicht? Diese Frage wird wohl ver-
mutlich mit »nein« beantwortet werden müssen, insbesondere für
die Kategorien identisch, gleich, ähnlich und verschieden; für die
numerische Funktion, die Kategorien der räumlichen, zeitlichen
und quantitativen Ordnungen. Gibt es für sie spezifische Erschei-
nungsgrundlagen oder sind die bei ihrem Inkrafttreten erscheinenden
Dynamien nur zufällige Begleiterscheinungen ? — Ferner wird die
Frage der logischen, ästhetischen und ethischen Gefühle zum großen
Teil sich auch mit den Dynamien beschäftigen müssen. Spezifisch
religiöse und spezifisch logische Gefühle anzuerkennen, scheint mir
kein Grund vorhanden zu sein. Was an Erscheinungen sich dort
findet, ist zum mindesten in seinen Elementen unter den dyna-
mischen und algedonischen Erlebnissen klassifiziert. Für deren
Beurteilung wird folgender Gesichtspunkt gelten: wenn wir von
einer Struktur dieser Gefühle reden, so ist das nur eine bequeme
und allerdings gefahrliche Redeweise, denn es handelt sich im
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206
F. E. Otto Schultze,
Grunde bloß um die Struktur der sie auslösenden Prozesse. Wie
Orange als Erscheinung durchaus einheitlich und einfach ist und
wegen seiner Ähnlichkeit mit Rot und Gelb als durch zwei Beize
bedingt angesehen werden muß, so müssen die logischen, ästhe-
tischen und ethischen Gefühle je als in sich einheitlich, aber durch
verschiedene Reize bedingt, angesehen werden.
Die zweite Frage würde sein: Unter welchen Bedingungen
treten die einzelnen Erscheinungsgrundlagen der Kategorien Über-
haupt auf, wie weit ist die Bildung und wie weit ist der Ge-
brauch der Begriffe von diesen Erscheinungsgrundlagen abhängig
oder nicht?1)
Drittens würde es sich darum handeln, die Gesetze über die
Vereinheitlichung, Kombination und Interferenz der Reize dyna-
mischer Erscheinungen untereinander und mit anderen Erschei-
nungen Uberhaupt zu suchen.
Wir sahen früher, daß sich vielleicht einige Schreckformen als
eine Kombination von Spannung und Lähmung zu erweisen scheinen.
Zentral und peripher ausgelöste Dynamien könnten sich also ver-
einheitlichen. Ruhe und Bewegung schienen im Schweben ähnlich
enthalten zu sein. Wir werden dabei an die Misch- und Zwitter-
gefühle erinnert — Weiter werden aber auch hochkomplizierte
Gebilde durch Verschmelzung mit Temperaturempfindungen ge-
geben; der Anteil von Hitze- und Kältewallungen an ästhetischen
Genüssen ist ein beträchtlicher; ihr Mechanismus ist vorläufig
unerklärt; ob dabei periphere Reize entscheidend sind, ist trotz
der Kontraktion der Haar- und Hautmuskeln bei der Gänsehaut
nicht klargestellt: peripher lokalisierte Erscheinungen können
auch hier rein zentral bedingt sein. Zuletzt möchte ich noch
ein Beispiel anfuhren, die Aufhebung körperlicher und geistiger
Müdigkeit durch Musik, durch aufregende Nachrichten und ähn-
liches. Wo laufen diese Prozesse ab? Und was ist ihr Mecha-
nismus?
Viertens wäre zu untersuchen, welchen Einfluß die Dynamien
auf das Seelenleben haben und umgekehrt. Die Einflüsse von
Übung und Gewohnheit auf Qualität, Intensität und Eintritt der
1) Einzeluntersuchungen hierüber auf dem Gebiet zeitlicher Grüßen finden
sich besonders bei Schumann, z.B. Über das Gedächtnis für komplexe,
regelmäßig aufeinander folgende, gleiche SchalleindrUcke. Zeitschrift für
Psychol. u. Physiol. der Sinnesorgane. Bd. I. (1890.) S. 76 ff.
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HI. über Organempfindungen und Körpergeftthle (Dynamien). 207
Dynamien Überhaupt würden ein besonders dankbares Gebiet der
Beobachtung und Theorie sein.
Am Schluß dieser Untersuchungen möchte ich nochmals aus-
drücklich bemerken, daß es mir daran lag, auf Tatsachen hin-
zuweisen und Gesichtspunkte einer systematischen Beschreibung
und einer möglichen Theorie zu geben. Insbesondere halte ich
dies für nötig, weil eine Verständigung unter Psychologen, be-
sonders beim Experimentieren, ohne derartige Voraussetzungen,
soweit es sich um qualitative Fragen handelt, vollständig aus-
geschlossen sein wird.
(Eingegangen am 5. August 1907.)
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Zur Abwehr.
Von
Dr. W. Schallmayer (München).
Herr Dr. Vierkandt bespricht im Literatarbericht zur Kultur-
und Gesellschaftslehre für das Jahr 1906 ^ anch die Schriften von
H. Matzat und A. Hesse, die schon in den Jahren 1903 und
1904 erschienen waren. Er hat diese Gelegenheit nicht nur zo
einer polemischen Bemerkung gegen meine im Jahre 1903 er-
schienene »Vererbung und Auslese« benützt, sondern sich auch
veranlaßt gesehen, eine für die letztgenannte Schrift ungünstig
lautende vergleichende Bewertung der drei Schriften zn bieten.
Nun ist es zwar nichts weniger als auffallend, wenn ein so eif-
riger Verfechter des überlegenen Bildungswertes der sogenannten
geisteswissenschaftlichen Schulung im Vergleich mit einer mehr
von der Naturwissenschaft beeinflußten Geistesschulung die Schrift
von Hesse der meinigen vorzieht nnd erstere meinetwegen sogar
ganz unvergleichlich höher stellt. So würde ich mich gewiß nicht
wundern, wenn ich hören würde, daß es manche persönlich unbe-
fangen Urteilende gebe, die dieser von der Preisgerichtsentschei-
dung2) abweichenden Wertung zustimmen. Jedoch Herrn Dr. Vier-
kandt bestreite ich die Berechtigung zur Abgabe dieses Urteils,
in Anbetracht der Vorgeschichte, die es hat Denn Herr Dr. Vier-
kandt hat in seinen früheren Besprechungen dieses Buches, von
denen die spätere in diesem Archiv3) erschien, den unumstößlichen
Beweis geliefert, daß sich sein Urteil auf eine übermäßig mangelhafte
Kenntnis meines Buches und auf unbegreiflich irrige Vorstellungen
über seinen Inhalt gründet. Ich habe ihn und die Leser seiner ersten
Besprechung4) in einer an gleicher Stelle erschienenen Erwiderung5),
1) Dieses Archiv Bd. X, Heft 1/2, ausgegeben am 12. Novbr. 1907.
2) Übrigens hatten beim Preisgericht Vertreter der Geisteswissenschaften
den Uberwiegenden Einfluß.
3) Ebenda, Bd. VII, Heft 3/4, Literatarbericht zur Kultur- and GeseU-
schaftslehre für das Jahr 1904, S. 183—185. Anch bei der Besprechung der
»Grundlinien einer Kritik der WUlenskraft« von R. Goldscheid im gleichen
Heft brachte Herr Dr. Vierkandt abfällige UrteUe über meine »Auslese«,
die sich schlechterdings nur durch verblüffende Unkenntnis des beurteilten
Buches erklären lasBen.
4) »Ein Einbruch der Naturwissenschaften in die Geisteswissenschaften?«
Zeitschr. f. Philos. u. philos. Kritik. Bd. 127. Heft 1. S. 168-177.
6) »Auslese beim Menschen.« Ebenda. S. 136-164.
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Zur Abwehr.
209
zu der ich mich durch besondere Umstände veranlaßt sah, anf diese
Irrtümer aufmerksam gemacht, worauf wenigstens bisher keine
andere Antwort erfolgt ist als die eingangs erwähnte kurze Wieder-
holung oder vielmehr Verschärfung seiner früheren abfälligen Urteile.
Da in jener Erwiderung auch die (z. T. identischen) Irrtümer, die
er bei den in diesem Archiv früher geäußerten Urteilen bekundete,
zugleich mit berichtigt sind, so kann ich mich in der Hauptsache
begnügen, hier auf diese Erwiderung hinzuweisen. Ich glaube
nicht, daß irgendein Leser derselben die >Stringenz« des Beweises
flir mangelhaft hält, daß die Vierkan dt sehen Urteile Uber mein
Bach nur auf Grund ungenügender Kenntnis dieses Buches abge-
geben werden konnten. Nur die neue Bemerkung Vierkandts,
meine und Matzats Schrift seien »leider typisch für diejenige Art
von Philosophie, die unter den Vertretern der Medizin und der
beschreibenden Naturwissenschaften eingebürgert ist«, bedarf noch
einer Berichtigung. Dieser angebliche philosophische Typus ist von
Herrn Dr. Vierkan dt sicher irrig konzipiert; denn Herr Matz at,
der Verfasser der »Philosophie der Anpassung«, ist laut Ein-
leitung zu »Natur und Staat« (S. 22) unstreitig ein Zögling der
sogenannten Geisteswissenschaften.
Dies nur zur Abwehr! Im übrigen liegt es mir fern, Herrn
Dr. Vierkan dt in irgendeiner Hinsicht zu nahe treten zu wollen.
(Eingegangen am 8. Dezember 1907.)
Erwiderung auf die vorstehende Abwehr.
Von
A. Vierkandt.
Herrn Dr. Schallmayers Buches habe ich in meinem Literatur-
bericht für das Jahr 1906 lediglich im Zusammenhang einer ver-
gleichenden Beurteilung gedacht — Schallmayers Wendung von
der »Wiederholung oder vielmehr Verschärfung seiner früheren ab-
falligen Urteile« (Mehrzahl!) läßt eigentlich an eine ausführliche
Besprechung denken — ich habe behauptet, daß in bestimmter
Beziehung sein Buch sowie dasjenige von Matzat hinter dem von
1) In dem ersten Satz des vorstehenden Artikels ist außer von der Be-
wertaug auch noch von einer »polemischen Bemerkung gegen Schallmayers
Buch die Rede. Worin diese gesonderte Bemerkung bestehen soll, ist mir un-
erfindlich.
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210
A. Vierkandt, Erwiderung auf die vorstehende Abwehr.
Hesse zurückstehen. Auf eine derartige allgemeine Bewertung,
wie sie zu dem Wesen der Kritik gehört, mit einer persönlichen
Bemerkung zu antworten, entspricht den literarischen Gepflogenheiten
nicht1). Und mit gutem Recht; denn im entgegengesetzten Falle
würden unsere Zeitschriften von Polemiken überschwemmt werden. —
Ludwig Busse hatte mich seinerzeit aufgefordert, die Replik
auf Schallmayers ihm damals erst angekündigten Artikel zu
verbinden mit einer weiteren Ausführung der positiven Gedanken
meines Aufsatzes in seiner Zeitschrift, der sich mit Schallmayers
Buch beschäftigte. Dazu war ich gern bereit, habe aber bis jetzt
zu dieser ausführlicheren Arbeit nicht die Zeit gefunden. Daß
dadurch auch die Erledigung der persönlichen Frage hinausge-
schoben wurde, ist an sich wohl ein Ubelstand; ich habe daher
den jetzigen Herrn Herausgeber der »Zeitschrift für Philosophie
und philosophische Kritik« um Aufnahme eines Artikels gebeten,
der den persönlichen Teil der Sache, soweit er sich von dem
sachlichen abtrennen läßt, erledigt.
Im übrigen enthält der vorstehende Artikel zwei unrichtige Be-
hauptungen: 1) Schallmayer bezeichnet mich als einen »eifrigen
Verfechter des überlegenen Bildungswertes der sogenannten geistes-
wissenschaftlichen Schulung« . Für diesen Beitrag zu meiner Selbst-
erkenntnis bin ich dem Herrn Verfasser sehr verbunden, denn mir
selbst war bislang von dieser meiner Bewertung nichts bekannt.
Wo mag ich es nur gesagt haben? 2) Schallmayers und Matzats
Schriften sind von mir als typisch für eine Art von Philosophie
bezeichnet worden, die unter den Vertretern der Medizin und be-
schreibenden Naturwissenschaften eingebürgert ist Dieser angeb-
liche philosophische Typus soll von mir »sicher irrig konzipiert«
sein, weil Matzat Historiker ist. Ja, was haben denn die sach-
lichen Qualitäten eines Buches mit den persönlichen Verhält-
nissen seines Verfassers zu tun? Kann denn nicht z. B. auch
das Benehmen eines waschechten germanischen Kaufmannes einmal
typisch sein für eine bestimmte Art von jüdischem Geschäftsgebaren?
1) Übrigens scheint mir die Begründung, mit der Herr Schallmayer meine
Kompetenz zu der Abgabe des oben erwähnten Werturteile bestreitet, nicht
panz einwandsfrei zu Bein. Er bestreitet sie in Anbetracht der »Vorgeschichte«
dieses Urteile. Von dieser kennt er aber, selbst wenn er mit allen seinen Vor-
würfen Recht hätte, nur einen Teil. Denn zwischen der Niederschrift der ersten
beiden Besprechungen und derjenigen des von ihm hier angefochteten Urteils
liegt ein Zeitraum von etwa einem Jahre. Woher weiß mein Gegner, daß ich
diese Zeit nicht zu einem vertieften Studium Beines Buches benutzt habe?
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I
Inhalt des 2. Heftes.
Abhandlungen: Seite
Schultze, F. E. Otto, Einige Hauptgesichtspunkte der Beschreibung in der
Elementarpsychologie. III. Über Organempfindungen und Körper-
gefQhle (Dynamien.) 147
Schallmayer, W., Zur Abwehr 208
Viekkandt, AM Erwiderung auf die vorstehende Abwehr , . 209
Einzelbesprechung:
C. Stumpf, Erscheinungen und psychische Funktionen. (Karl BiUiler.) . . 1
Referate:
C. Stumpf, Einleitung zu dem Werke: Oskar Pfungst, Das Pferd des
Herrn von Osten. (E. Meumann) 6
Erich Becher, Das Gesetz von der Erhaltung der Energie und die An-
nahme einer Wechselwirkung zwischen Leib und Seele. (J. Köhler.). 7
Erich Becher, Kritik der Widerlegung des Parallelismus auf Grund einer
> naturwissenschaftlichen« Aualyse der Handlung durch Hans Driesch.
(Ernst Bloch.) 8
Constantin Gutberiet, Psychophysik. Historisch-kritische Studien Ober
experimentelle Psychologie. (E. Meumann.) 11
Willy Hellpach, Nervenleben und Weltanschauung, ihre Wechselbezie-
hungen im deutschen Leben von heute. (Dannenberger.) 12
Th. Ribot, Essai sur les Passions. (M. Kelchner.) 15
J. W. Nahlowsky, Das Gefühlsleben in seinen wesentlichen Erscheinungen
und Beziehungen. (Kiesow.) 20
N. Alechsieff, Die Grundformen der Gefühle. (M. Kelchner.) 21
G. R. d'Allonnes, L'explication physiologique de l'emotion. (M. Kelchner.) 27
Oskar Kohn stamm, Die biologische Sonderstellung der Ausdmcksbewe-
gungen. (M. Kelchner.) 29
Cohn und W. Geut, Aussage und Aufmerksamkeit. (Kicsow.) 31
V. Urbantschitsch, Über subjektive optische Anschauungsbildcr. (Kiesow.) 33
Edouard Claparede, Experiences sur le Ternoignage. (Marie Dürr-Borst.) 35
G. Aschaffenburg, Das Verbrechen und seine Bekämpfung. (Dannenberger.) 37
Ernst Siefert, Über die unverbesserlichen Gewohnheitsverbrecher und die
Mittel zu ihrer Bekämpfung. (Dannenberger.) .... 45
C. G. Jung, Über die Psychologie der Dementia praecox. (M. Reichardt.) 46
L. M. Kot scher. Das Erwachen des Geschlechtsbewußtseins und seine Ano-
malien. (Danneitberger.) 48
Meunier, Des reves stereotypes. (E. Meumann.) 51
Henry PhippB Institute. For the Study, Treatraent and Provcntion of
Tuberculosis. (E. Meumann.) 54
M. EttHnger. Sind die spiritistischen Erscheinungen natürlich erklärbar?
Hans Freimark, Moderne Geisterbeschwörer und Wahrheitssuchcr. (Fritx
Rose.) 55
Camille Flammarion, Unbekannte Naturkräfte. (E. Meumann.) .... 55
E. Wasmann, Menschen- und Tiersecle, 4. Aufl. (J. Köhler.) 57
M.Wagner, Psychobiologische Untersuchungen an Hummeln, I. Teil.
(E. Meumann.) 57
Emil Villiger, Gehirn und Rückenmark. (E. Meumann.) (59
Albert Thumb, Psychologische Studien über die sprachlichen Analogie-
bildungen. (Paul Mcnxerath.) 70
Ottmar Dittrich, Die Grenzen der Sprachwissenschaft. (Paul Menxerath.) 77
Max Wentscher, Ethik. I. Teil: Kritische Grundlegung. (0. Braun.! . 80
Martin Meyer, Aphorismen zur Moralphilosophie. (0. Braun.} 84
: -• Digitized by Google
S«iU
Heinrich Kochendörfer, Wie bewahrt sich ein Volk die Herrschaft Ober
seine Zeit? (L. r. Renault!) 87
Joh. Bresler, Religionshygicnc. (O.Braun.) 88
K. Raumer, Pflanie, Tier. Mensch. (J. Köhler.) 89
Hippolyte Taine, Philosophie der Kunst. 2. Aull. (E. Meumann.) ... 90
Franz Jahn, Das Problem dos Komischen in seiner geschichtlichen Ent-
wicklung. (E. Meumann.) . 91
Rob. F. Arnold, Das moderne Drama. (Frili Rose.) 91
Wilhelm Bölschc. Hinter der "Weltstadt. (E. Meumann.) 92
Fr.Hashagen, Der »moderne« Roman und die Volkserhebung. (E.Meumann.) 94
Henry Herbert Ooddard, Die Ideale der Kinder. (H. Plack.) 94
Ladislaus Nagy, Die Entwicklung des Interesses des Kindes. , H. Plack.) 99
Karl Marbe, Objektive Hestitniuung der Schwingungszahlen Königscher
Flammen ohne Photographie. (Weiß.) . . 105
Karl Marbe, Erzeugung schwingender Flammen mittel« Luftübertraguug.
(Weiß.) . 105
Karl Marbe, Registrierung der Herztöue mittels rußender Flammen. (Wcifi.) 105
Ernst Jentsch, Zum Andenken an Paul Julius Möbius. (E. Meumann.) 106
Herbert Spencer, Eine Autobiographie, I. Band. (Marie Dürr- Borst). . 107
A. Hansen, Hackeis »Wclträtscl« und Herders »Weltanschauung«. (J. Köhler.) 107
('. Wen zig, Die Weltanschauungen der Gegenwart in Gegensatz und Aus-
gleich. (J. Köhler.) . . 108
Philosophische Bibliothek Bd. 114. Georg Wilhelm Friedrich
Hegels Phänomenologie des Geistes. (E. Slcumann.) 110
Philosophische Bibliothek Bd. 42. Immanuel Kants Metaphysik
der Sitten. (E. Meumann.) ". . 111
M. Fürst und E. Pfeiffer, Schulhygicuisches Taschenbuch. (E. Meumann.) 111
:: VERLAG VON WILHELM ENGELMANX IN LEIPZIG ::
Soeben erscliicn:
Der
Philosophische Kritizismus
Geschichte und System
von
Alois Riehl
Professor ilcr Philosophie an «1er Universität Berlin
Erster Band
Geschichte des philosophischen Kritizismus
= Zweite, neu verfaßte Auflage =
Vll u. 615 Seiten, gr. 8.
Geheftet Jl 13.—; in Halbfranz gebuuden Jt 16.—.
Diesem Heft ist der Terlag sbericht Uber das Jahr 1907
von Wilhelm Engelmann in Leipzig beigelegt.
Druck von Broitkopf & Härtel in Leipzig.
• Digiti*
f
ARCHIV
FÜR DIE
GESAMTE PSYCHOLOGIE
UNTER MITWIRKUNG
vox
Prof. H. HÖFFDLNG in Kopenhagen, Pkof. F. JODL in Wien,
Prof. F. KIESOW in Türin, Prof. A. KIRSCHMANN in Toronto
(Canada), Prof. E. KRAEPELIN in München, Prof. 0. KÜLPE ra
Würzbürg, Dr. A. LEHMANN in Kopenhagen, Prof. Th. LIPP8
in München, Prof. G. MARTIUS in Kiel, Prof. G. STÖR1UNG in
Zürich und Prof. W. WUNDT in Leipzig
HERAUSGEGEBEN VON
E. MEUMANN
0. PROFESSOR A. D. UNIVERSITÄT
MÜNSTKR I. W.
und W. WIRTH
A.O.PROFESSOR A.D. UNIVERSITÄT
LEIPZIG
XI. BAND, 3. u. 4. HEFT
LEIPZIG
VERLAG VON WILHELM ENGELMANN
1908
Bemerkungen für unsere Mitarbeiter.
Das Archiv erscheint in Heften, deren vier einen Band von
etwa 40 Bogen bilden.
Für das Archiv bestimmte Abhandlungen und Referate aus deu
Gebieten der Raum- und Zeitvorstellungen, der Sinnespsychologie,
der Anatomie und Physiologie der Sinnesorgane, sowie der Geschichte
der Psychologie bitten wir an Herrn Prof. Dr. W. Wirth, Leipzig,
Emilienstr. 36", alle übrigen Abhandlungen und Referate an Herrn
Prof. Dr. E. Meumann, Münster i. W., Brüderstraße 22 einzusenden.
An Honorar erhalten die Mitarbeiter: für Abhandlungen
.U 30. — , für Referate Jl 40. — für den Bogen. Dissertationen
sind von der Honorierung ausgeschlossen. Von den Abhandlungen
werden an Sonderdrucken 40 umsonst, weitere Exemplare gegen mäßige
Berechnung geliefert. Von den Referaten werden Sonderdrucke nur
auf Verlangen geliefert. Die etwa mehr gewünschte Anzahl bitten
wir, wenn möglich bereits auf dem Manuskript anzugeben.
Die Manuskripte sind nur einseitig beschrieben und druckfertig
einzuliefern, so daß Zusätze oder größere sachliche Korrekturen
nach erfolgtem Satz vermieden werden. Die Zeichnungen für Tafeln
und Textabbildungen (diese mit genauer Angabe, wohin sie im Text
gehören) werden auf besondern Blättern erbeten ; wir bitten zu beachten,
daß für eine getreue und saubere Wiedergabe gute Vorlagen uner-
läßlich sind. Anweisungen für zweckmäßige Herstellung der Zeich-
nungen mit Proben der verschiedenen Reproduktionsverfahren stellt
die Verlagsbuchhandlung den Mitarbeitern auf "Wunsch zur Verfügung.
In Fällen außergewöhnlicher Anforderungen hinsichtlich der Ab-
bildungen ist besondere Vereinbarung erforderlich.
Die im Archiv zur Verwendung kommende Orthographie ist
die für Deutschland, Osterreich und die Schweiz jetzt amtlich ein-
geführte, wie sie im Dudenschen Wörterbuch, 7. Auflage, Leipzig
1902, niedergelegt ist.
Die Veröffentlichung der Arbeiten geschieht in der Reihenfolge,
in der sie druckfertig in die Hände der Redaktion gelangen, falls
nicht besondere Umstände ein späteres Erscheinen notwendig machen.
Die Korrekturbogen werden den Herren Verfassern von der Ver-
lagsbuchhandlung regelmäßig zugeschickt; es wird dringend um deren
sofortige Erledigung und Rücksendung (ohne das Manuskript) an die
Verlagsbuchhandlung gebeten. Von etwaigen Änderungen des Aufent-
halts oder vorübergehender Abwesenheit bitten wir, die Verlagsbuch-
handlung sobald als möglich in Kenntnis zu setzen. Bei säumiger
Ausführung der Korrekturen kann leicht der Fall eintreten, daß
eine Arbeit für ein späteres Heft zurückgestellt werden muß.
Die Referenten werden gebeten, Titel, Jahreszahl, Verleger, Seiten-
zahl und wenn möglich Preis des Werkes, bzw. die Quelle bespro-
chener Aufsätze nach Titel, Band, Jahreszahl der betreffenden Zeit-
schrift genau anzugeben.
i
Herausgeber und Verlagsbuchhandlung.
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V
Das Problem einer Charakterologie.
Von
Emil Lucka (Wien).
I. Die spezielle Psychologie.
Es ist dem Prinzipe nach die Aufgabe der allgemeinen
Psychologie, eine möglichst eingehende nnd systematisch zu-
sammenhängende Kenntnis alles dessen herzustellen, was das
menschliche Bewußtsein als solches kennzeichnet, was in allen
Exemplaren der Psyche ubereinstimmend zu finden ist. Ihr Ideal
wäre, in einem geschlossenen System von Sätzen alles jedem
menschlichen Bewußtsein Wesentliche festzulegen, wobei die
Grenzen einerseits durch die Unterschiede zum tierischen Bewußt-
sein, anderseits durch alle Differenzierungen gezogen sind, die
innerhalb des allgemein menschlichen Seelenlebens bestehen. Diese
Differenzen von Mensch zu Mensch sind so groß, daß sie sich schon
der oberflächlichen und zufälligen Erfahrung des täglichen Lebens
auffälliger darbieten als das Überall Gemeinsame, das naturgemäß
weniger zur Abhebung kommt. Und man kann nicht sagen, daß
sich der hoch ausgebildeten allgemeinen Psychologie heute eine
nennenswerte spezielle Psychologie zur Seite setzen ließe, die
doch erst beide zusammen das System der Psychologie ausmachen
würden. Nur die allerallgemeinsten Funktionen des Empfindens,
Vorstellens, Fuhlens usw. sind in jedem menschlichen Bewußtsein
identisch. Wie man aber von diesen Abstraktionen her dem wirk-
lichen Seelenleben ein wenig näher kommen will, zeigt sich, daß
die Erscheinungen ihrer Intensität und ihrer Qualität nach be-
trächtlich schwanken. Gruppen von Individuen weisen wiederum
Gemeinsames auf, anderes noch Spezielleres ist nur einzelnen
eigen. Eine Beschreibung und Analyse alles dessen, was nicht
bei jedem Menschen in gleicher Weise auffindbar ist, was den
AiehiT ftr Pijokologit. XI. 16
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212
Emil Lucka,
einen vom anderen unterscheidet, ihn dem ähnlich, jenem unähn-
lich macht, muß Aufgabe der speziellen Psychologie sein.
Die spezielle Psychologie bedarf der allgemeinen als ihrer
Grundlage; hierüber besteht kein Zweifel. Aber man ist sich
vielleicht zu wenig klar darüber, daß auch die allgemeine auf die
spezielle fortwährend angewiesen ist, wo sie eigentliche Psycho-
logie und nicht Psychophysik und Empfindungsanalyse sein will.
Denn schon die allgemeine Psychologie geht darauf aus, seelische
Komplexe zu beschreiben und zu zergliedern, die sich nicht wohl
an jedem Individuum studieren lassen. Sie bemüht sich ja, den
Vorgang beim Urteil verständlich zu machen, einzelne Gefühle
rekonstruierend zu beschreiben. Niemand wird meinen, daß sich
ähnliche Beobachtungen an jedem Menschen mit einiger Aussicht
auf Erfolg anstellen lassen, wenn auch die Funktionen bei jedem
vorhanden sein mögen. Nur einseitig veranlagte Individuen werden
lehrreiche Aufschlüsse geben. Den Prozeß des abstrakten Denkens
wird man nicht bei einem Musiker, sondern bei einem Mathe-
matiker oder Logiker, das Gefühl für die Schönheit der Farben-
harmonien bei einem Maler studieren. Der verfolgte Zweck ist
noch immer allgemein-psychologisch, aber die Methode muß schon
speziell genannt werden. So bedarf die allgemeine der speziellen
Disziplin. Da es ja einen allgemeinen Menschen, einen Menschen
an sich, in der Wirklichkeit nicht gibt, so findet die allgemeine
Psyohologie ihre Ergebnisse nur durch Vergleichung der Ergeb-
nisse, die an so oder so bestimmten Menschen gewonnen worden
sind. Hier wie Uberall läßt sich aber aus extremen Fällen am
meisten lernen; sie sind entweder in der Natur aufzusuchen oder
durch das Experiment, das künstliche Modell eines bestimmten
Naturvorganges, rein herzustellen. —
Es sind verschiedene Möglichkeiten denkbar, den Gegenstand
der allgemeinen Psychologie zu differenzieren , und ihre Verwirk-
lichung ist auch schon versucht worden. Vor allem anderen kann
man den Menschen entweder als vereinzeltes Individuum ohne
Rücksicht auf seine Beziehungen zu anderen Menschen ansehen
als ein von der Natur so und so hervorgebrachtes und ans sich
selbst herausgewachsenes Wesen; oder als Glied eines gesellschaft-
lichen Verbandes, als differenziert infolge seiner Stellung zn
anderen Menschen, als aus bestimmten historisch gegebenen Ver-
hältnissen hervorgegangen und von ihnen abhängig.
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Das Problem einer Charakterologie.
213
1) Betrachtet man die Menschen als in sich abgeschlossene
Einheiten, ohne auf die Einflüsse der Umwelt zu achten, die man
bewußt und planmäßig vernachlässigt, so hat man ein ganz un-
begrenztes Material vor sich, das nach verschiedenen Richtungen
hin untersucht werden kann. Die natürliche (aber nicht psycho-
logisch selbstverständliche) Einteilung Mann— Frau drängt sich
hier von selbst auf.
Ein anderer Weg, speziell -psychologische Aufschlüsse zu er- *
langen, ist in der zeitlichen Differenzierung eines einzelnen Indi-
viduums gelegen. Aus der Vergleichung und Typisierung der Er-
gebnisse könnte eine Psychologie der Kindheit, der Jugend, des
reifen Alters und des Greisentums abgeleitet werden, eine Psycho-
logie der menschlichen Entwicklungsstadien.
2) Der Mensch kann angesehen werden, sofern er ethnisch und
sozial bedingt ist. Diesen Aufgabenkreis hat sich einerseits der
psychologische Teil der Ethnologie oder die Völkerpsychologie in
dem älteren Sinn Steinthals (der von Wundt abgelehnt wird1),
gestellt; anderseits ist dies das Thema der sozialen Psychologie
im engeren Sinne. Die Ethnologie erforscht die seelischen Er-
scheinungen, welche bei räumlich verbundenen, Stammes- und
sprachverwandten Gruppen von Individuen gemeinsam zu finden
sind. Die soziale Psychologie untersucht die Eigenschaften, die
bei räumlich getrennten oder verbundenen Individuen mit ähn-
licher oder gleicher Lebensweise auftreten. Sie faßt nicht das
Originär-Individuelle, sondern das durchs Milieu Bedingte zu Merk-
malsgruppen zusammen und konstruiert Berufstypen von größerer
oder geringerer Konstanz (den Typus des Kaufmannes, des Priesters,
des Gelehrten usw., der sich bei allen Völkern, bei verschiedenen
Nattiranlagen, in jedem Lebensalter wiederfindet). —
Bei den drei letzten Bichtungen, der Entwicklungspsychologie,
der Ethnologie, der sozialen Psychologie, sind die Einteilungsgrttnde
nicht im Interesse der Psychologie, sondern von andersartigen
Gesichtspunkten aus getroffen. Für die spezielle Psychologie im
eigentlichen Sinne kommt nur das zuerst angeführte Schema in
Betracht, das von allen zeitlichen und örtlichen Besonderheiten
1} H. Steinthai, Begriff der Völkerpsychologie. Zeitschrift für Völker-
psychologie. 17. Band. S. 248. — Wnndt, Über Ziele und Wege der
Völkerpsychologie. Philos. Stud. Bd. IV.
lö*
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214
Emil Lucka,
absieht und sein Material nicht beschränken läßt. Alle anderen
auf engeren Gebieten gewonnenen Erkenntnisse werden aber illu-
strativ als willkommene Bereicherungen aufgenommen werden.
Wenn die spezielle Psychologie nach den Merkmalen des zornigen
Menschen forscht, wird sie ihrem Endziele nach davon absehen
dürfen, wie sich der Zornige als Kind, als Keger oder als Offizier
benimmt; sie benutzt dieBe Spielarten höchstens als verwertbares
Material, um den psychologischen Typus des Zornigen aufzustellen.
In den Ansätzen zu einer speziellen Psychologie, die bis heute
vorliegen, treten besonders zwei Richtungen hervor: Einige wenige
deutsche Forscher bemühen sich, in Übereinstimmung mit der
herrschenden Atompsychologie Unterschiede in den elementaren
seelischen Funktionen, vor allem im Umkreise der Empfindungen
experimentell festzustellen. Für diese Untersuchungen hat der
bedeutendste Forscher auf dem Gebiete, L. William Stern,
den Namen »differenzielle Psychologie« eingeführt, der hier bei-
behalten werden soll1). Er faßt in seinem Programm das Wesen
und die Aufgaben einer solchen Disziplin allerdings viel weiter:
»Was verlangen wir von der psychischen Differenzenlehre? Auf-
findung und Beschreibung der wirklich vorhandenen seelischen
Verschiedenheiten ; Nachweis derselben als besonderer Erscheinungs-
formen jener allgemeinen psychischen Elemente, Gesetze, Funktionen
und Dispositionen, die uns die generelle Psychologie kennen lehrt;
Einordnung der' psychischen Besonderheiten in Typen; Unter-
suchung, wie aus dem Zusammentreffen gewisser einfacher Typen-
formen komplexere Typen entstehen; schließlich Einblick in das
Wesen der Individualität, indem man sie als Kreuzungspunkt ver-
schiedener Typen betrachtet«2) — aber was er bietet, liegt, wie
es scheint, gar nicht auf dem Wege zum Ziel ; es sind nur Experi-
mente über elementare Funktionen (Sinnesempfindlichkeit, An-
schauungstypen, Gedächtnis, Assoziationen, AufYassungstypen, Auf-
merksamkeit, Kombi nationsfahigkeit, Urteilsfähigkeit, Reaktions-
typen, Gefuhlstypen, psychisches Tempo und psychische Energetik),
deren Wert als Charakteristika des Individuums stark in Zweifel
1) Über Psychologie der individuellen Differenzen. Leipzig 1900. —
Vgl. auch E. Kraepelin, Der psychologische Versuch in der Psychiatrie.
Psychol. Arbeiten. 1. Band. 1896. A. Oehrn, Experimentelle Studien zur
Individualpsychologie. Ebenda.
2) Siehe S. 6.
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Das Problem einer Charakterologie.
215
zu ziehen ist. Die ganze Absicht und Methode der Untersuchung
ist durch die Empfindungssynthetik festgelegt, deren Fruchtbar-
keit heute wohl nicht mehr so anerkannt ist wie einst1).
Die Zweifel an der Verwendbarkeit elementarer seelischer
Funktionen zur Charakterisierung von Individuen werden besonders
von französischen Forschern geteilt. Binet, Henri, Ribot,
Paulhan, Fouillee halten übereinstimmend nur die komplexeren
Erscheinungen des Seelenlebens für kennzeichnend, wobei sie das
entscheidende Argument für ihre Meinung, daß nämlich die ele-
mentaren Funktionen künstliche Abstraktionen sind und in der
seelischen Wirklichkeit nicht vorkommen, kaum ins Treffen führen.
»Je komplizierter und höher ein Prozeß ist, desto mehr variiert
er von Individuum zu Individuum.« »Nicht die Empfindungen)
sondern die höheren seelischen Anlagen muß man studieren, denn
sie spielen die wichtigste Rolle« J). Binet und Henri gehen nicht
darauf aus, das vollständige Signalement eines Individuums zu
entwerfen, sondern sie suchen nach den Merkmalen, durch die es
von anderen Individuen unterschieden ist, nach allem, was den
einen Menschen wesentlich vom anderen differenziert (während
Stern nur nach Differenzen Uberhaupt fahndet). Und diese Merk-
male werden nun von ihnen und manchen amerikanischen Psycho-
logen unter dem Namen der »mental tests« festgestellt. Welche
Merkmale eigentlich für die Charakterisierung den Ausschlag
geben, darüber herrscht keine Einigkeit. Den elementaren tests
von Kraepelin und Stern stellen z. B. Binet und Henri zehn
tests aus dem komplexen Seelenleben gegenüber, die allerdings
bezeichnender für eine Individualität sind, aber den gleich zu
erhebenden Vorwurf der Willkür noch mehr herausfordern (und
bei Binet und Henri noch dazu teilweise unpsychologischer
Natur sind)3).
Ein prinzipieller Unterschied zwischen der deutschen und der
1) Ich habe ihre Unbrauohbarkeit für die Psychologie nachzuweisen ver-
sncht (»Die Phantasie. Eine psychologische Untersuchung.« Wien 1908.
Kap. I und II.)
2] Binet et Henri, La Psychologie individuelle. L'ann6e psychologique.
1896. S.416, 417 ff.
3) Es werden geprüft: Gedächtnis, Art der seelischen Bilder (typevisuel,
auditif etc.], Einbildungskraft, Aufmerksamkeit, Fähigkeit aufzufassen, Sug-
geetibilität, ästhetisches Gefühl, moralischer Habitus, Muskel- und Willens-
kraft, Geschicklichkeit und Augenmaß (coup d'oeil).
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216
Emil Lucka,
französisch -amerikanischen Schule der Differenzial- Psychologen
besteht, wie einleuchtet, nicht. Die Absicht ist Uberall gleich:
es sollen die Variationen einzelner, durch Abstraktion gebildeter
seelischer Funktionen von Individuum zu Individuum erforscht
und womöglich Typen der häufigsten Verhaltungsweisen gebildet
werden. Diese Funktionen sind durchwegs ohne systematischen
Zusammenhang herausgegriffen, ihre Bedeutung für das gesamte
Seelenleben ist ganz verschieden (bei einigen tests von Bin et
und Henri sogar gleich Null— Muskelkraft z. B.), der Grad der
erreichbaren Genauigkeit schwankt von test zu test. Man kann
es durchaus nicht einsehen, warum gerade diese Funktionen in
Betracht kommen sollen und nicht andere (Stern gibt ja aller-
dings nur Ideen zu einer differenziellen Psychologie und kein
System), und findet die Erklärung für die Auswahl bei Stern in
der Zugänglich keit für das Experiment, bei anderen in bloßer
Abschätzung deßsen, was charakteristisch zu sein scheint.
Stern glaubt durch die Fragestellung: »In welchen besonderen
Formen treten bei verschiedenen Individuen die psychischen Ele-
mente auf und wie vereinen sie sich zu komplexen Gebilden und
Zusammenhängen?« einen Fortschritt Uber die Betrachtung des
Bewußtseinslebens als eines Ganzen gemacht zn haben, bleibt
aber ganz in den Banden der traditionellen deutschen Atom-
psychologie, welcher Elemente (»einfache Empfindungen« »Geftlbls-
töne« u. dgl.) als etwas Wirkliches gelten anstatt als künstliche
Abstraktionen. Diese Denkrichtung führt folgerichtig dazu, nicht
nach Funktionen zu Buchen, die etwa das ganze Seelenleben be-
herrschen, sondern sich mit der un verbundenen Koordination
einzelner aufs Geratewohl herausgegriffener tests zu begnügen.
In diesem Sinne — im Sinne der Atompsychologie , die das
Seelenleben aus Elementen zusammensetzt — ist das einzelne
Individuum wirklich ein »Kreuzungspunkt einer unbegrenzten Zahl
von Typen, eine Synthese unendlich hoher Ordnung« (S. 14).
Ich glaube, daß diese Auffassung, so konsequent sie in sich ist,
die Wirklichkeit auf den Kopf stellt. Das Individuum ist doch
wohl das primäre, keine Synthese aus Abstraktionen; Gedanken-
produkte wie Elemente, Funktionen, tests usw. sind vielmehr solche
Kreuzungspunkte.
Aber es ist hier nicht meine Aufgabe, gegen die atomistische
Empfindungssynthetik zu polemisieren. Was ich behaupte, ist
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Das Problem einer Charakterologie.
217
vielmehr, daß man mit dieser differenziellen Psychologie — mag
sie nun, wie bei Stern elementare Funktionen experimentell, oder
komplexe Funktionen statistisch oder sonst irgendwie unter-
suchen — nie etwas anderes erreichen kann als das Signalement
eines Individuums — eines > Kreuzungspunktes von Typen« —
das allerhöchsten Falles dem von Bertillon ersonnenen phy-
sischen Signalement entspricht. Wäre diese Wissenschaft vollendet,
so könnte man jedem Menschen einen Meldezettel, eine Tabelle
mitgeben, worauf ziffernmäßig beschrieben ist, wie er im Normal-
falle psychisch funktioniert Die Rubriken dieser Tabelle würden
etwa lauten: Welcher Sinn ist vor den anderen bevorzugt und in
welcher speziellen Weise? Wie funktioniert das Gedächtnis? Be-
hält es leicht, schwer, treu, unsicher? Welche Gegenstände
bewahrt es gut, welche schlecht? usf. Ich will nun nicht be-
streiten, daß all dies wissenswert ist. Aber es ist das Signale-
ment und der Steckbrief einer Person, keine Charakteristik;
psychische Anthropometrie, Psychometrie, aber keine Psycho-
logie.
Die Merkmale, die man zur Charakterisierung der Individuen
herausgreift, müssen solange willkürlich und daher nicht
überzeugend sein, als man sie von welcher Theorie aus immer
nebeneinander stellt, ohne innere notwendige Abhängigkeit des
einen vom andern begründen, ein System von Korrelationen auf-
stellen zu können. Daß eine solche Fragestellung notwendig ist,
wird z. B. von Binet und Henri ausdrücklich anerkannt, die in-
dessen keine weiteren Folgerungen hieraus ziehen1}. In welchen
Relationen die seelischen Prozesse eines Individuums zueinander
stehen, welche von anderen abhängig sind, wird als das zweite
Problem einer Individualpsychologie gestellt. Stern kommt von
seinem Standpunkt aus nur zu dem Begriff des »Typenkom-
plexes« — dem Nebeneinander so und so bestimmter Funktions-
größen — und des »komplexen Typus«, in dem mehrere typische
Besonderheiten innerlich zusammengehören; nicht aber zu einer
dominierenden Funktion, die ja sein zusammenhangloses Neben-
einander vieler einfacher Funktionen zugunsten einer Einheit zer-
stören mußte.
1) Vgl. auch Stern, S. 15 und da8 Kapitel bei Malapert »Lois de
coordination et lois de Subordination« (Lea eläments du caractere. Paris
1906).
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Emil Lucka,
Denselben Standpunkt nimmt der bedeutendste französische
Charakterologe Paul h an ein. Er will ans der Analyse des
Seelenlebens Charakterelemente gewinnen, die er nun mit großer
Menschenkenntnis zu Charakteren, also Krenzungspnnkten von
Elementen, kombiniert Er schreibt z. B.: »Meiner Meinung nach
kann man die Individuen nicht einteilen, wenn man sie als etwas
Ganzes ansieht, man muß sie vielmehr analysieren und nach
ihren verschiedenen Eigenschaften verschiedenen Gruppen zu-
ordnen« *). Paulhan will kontinuierliche Serien einfacher Merk-
malstypen herstellen und das wirkliche Individuum, das zu ver-
schiedenen psychologischen Gruppen gehört, aus solchen einfachen
Typen zusammensetzen. Er lehnt im allgemeinen die Existenz
komplexer Typen, kausal verbundener Qualitätengruppen ab, er
will nur ein Mosaik ans einzelnen Elementen gelten lassen. —
Die Frage nach einer Grundfunktion im Seelischen, die
als Charakteristikum par excellence das ganze Verhalten des Indi-
viduums bestimmt, muß für eine Charakterologie in den Mittel-
punkt gestellt werden. Gegenüber den differenziellen Psycho-
logien, die nach einzelnen koordinierten seelischen Funktionen
fragen, um deren Variationen von Mensch zu Mensch zu unter-
suchen, soll die Charakterologie den Menschen prinzipiell als eine
Einheit ansehen — entsprechend der generellen Psychologie, wie
sie W. James erstrebt — und zu allererst forschen, ob sich eine
Funktion auffinden läßt, die alle anderen Funktionen durchdringt
und beherrscht, so daß man an ihrer besonderen Gestaltung von
Individuum zu Individuum in die tieferen Verzweigungen des
Seelischen eindringen kann, die durchwegs in innerem Zusammen-
hang stehen müssen. Die Psyche ist kein Nebeneinander von
Sinnesempfindungen, Vorstellungen, Gefühlen, Urteilen usf., son-
dern ein einheitlicher Organismus, dessen äußerste Ausläufer —
die allein dem Experimente zugänglich gemacht wurden — nur
solange unverbunden nebeneinander zu stehen scheinen, als sie
in künstlicher Abstraktion losgerissen vom Ganzen wie ein Selb-
ständiges, das sie nicht sind, angesehen und behandelt werden.
Ein wirkliches System der Charakterologie (wie es später pro-
grammatisch formuliert werden soll) könnte also nur aufgestellt
1) Lea caracteres. 2*e 6d. S. XVII ; vgl. auch XXV und sonst Vgl.
auch P. Malapert, a. a. 0.
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Das Problem einer Charakterologie.
219
werden, wenn es eine alles Seelische in seine letzten Tiefen kenn-
zeichnende Funktion gibt nnd wenn sie sich auffinden läßt. Alle
Scheidungen, die zwar von der seelischen Einheit ausgehen, aber
keine solche Grundfunktion als Basis haben, sind notwendig will-
kürlich. Denn ihr Einteilungsgrund kann noch so gut gewählt
sein — ein anderer ist immer noch außerdem möglich, der nicht
wohl abgelehnt werden kann. Wie denn auch nicht? Lassen
sich denn die Menschen nicht sehr zutreffend (nach Ribot)1) in
sensitifs, activs, apathiques mit Unterkreuzungen einteilen? Und
trotzdem dringt wahrscheinlich das Schema, das Paulhan2) auf-
stellt — nach der formalen Verbindung der Elemente untereinander
einerseits, nach der dominierenden inhaltlichen Tendenz im kon-
kreten Bewußtsein anderseits — viel tiefer in die Schichten .des
Seelischen hinab; von den Temperamenten der älteren Psycho-
logie ganz zu schweigen').
Die Charakterologie scheidet nicht einzelne Gebiete des See-
lischen aus dem Ganzen aus, um nach Variationen innerhalb ge-
wisser Funktionen zu suchen, sondern sie nimmt das individuelle
Bewußtsein prinzipiell als ein Einheitliches, als einen Organismus,
der organisch, d. h. unteilbar funktioniert. Sie betrachtet das Ver-
halten eines Individuums zu allem anderen sonst. Sie will von
innen heraus feststellen, was einem Menschen wesentlich
ist, was ihn zu dem macht, was er immer und zu allererst ist,
und was, weggedacht, ihn selbst aufheben müßte. Wohl niemand
wird glauben, daß auch nur ein einziger der Üblichen tests je
etwas Annäherndes leisten könnte. Ja es läßt sich geradezu jedes
gemessene Resultat verändern, ohne daß die konkrete Person etwas
Wesentliches einbüßte oder gewönne. Ob ich schnell oder langsam
addieren kann, ob ich mir viele oder wenige Melodien merken
kann usf. — das macht mich nicht zu einem anderen. Und
diesem prinzipiellen Einwand schließt sich noch der sehr belang-
1) Sur les diverses forme» du caractere. Revue philos. 1892.
2) La Classification des types moraux et la psychologie generale,
a. a. 0. (1893) und anderen Stellen.
3) F ouill6e (und vor ihm Bahnsen) macht den Versuch, die Lehre
von den vier Temperamenten wissenschaftlich zu begründen (Temperament
et caractere. 8™» 6d. S. 24 f.;. — Mario Pilo will die Temperamente
wieder wie das Altertum physiologisch auf die Mischung der Körpersäfte
zurückführen, die heute chemische Zusammensetzung heißt {Nuovi Studii sul
Carattere. Milano 1892).
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220
Emil Lucka.
reiche, wenn auch nicht prinzipielle an, daß ja die mittels der
teste geprüften Fähigkeiten nnr zum Teil angeboren sind, großen-
teils aber durch die Erziehung usw. ausgebildet wurden. Für
ein Signalement ist das allerdings gleichgültig; die Psychologie
aber will doch wohl auf den Kern des Menschen losgehen, auf
das, was er ist und nicht auf das, was aus ihm gemacht wurde.
Man erfahrt also bestenfalls etwas über das Produkt zweier un-
bekannter Faktoren, die nicht wohl auseinandergelöst werden
können. Diese Schwierigkeit besteht selbstverständlich bei jedem
psychologischen Unternehmen; aber der Experimentator hat kein
Mittel, die Geschichte Beiner Versuchspersonen zu berücksichtigen.
Was wir lange ohne Untersuchung gewußt und vielleicht sogar
genetisch eingesehen haben, etwa daß der Philologe ein besseres
Gedächtnis hat als der Sportsmann, findet er wieder, allerdings
in einwandfreierer Gestalt. Wir sind uns Uber die Übungsfahig-
keit der einzelnen Funktionen noch viel zu wenig im klaren, als
daß ihre momentane Leistungsfähigkeit etwas Charakteristisches
für den Menschen bedeuten könnte. Glaubt jemand, daß der
scharfe Tastsinn dem Blinden angeboren ist? Man weiß genau,
daß ihn die Übung gekräftigt hat. Wer sechs Stunden des Tages
rechnet, wird ein flinker Rechner; in einem anderen Beruf hätte
sich bei derselben Naturanlage eine gute Kombinationsfähigkeit
ausgebildet, oder ein gutes Gedächtnis für fremde Vokabeln. Ge-
wisse andere Fähigkeiten scheinen uns wieder tiefer angelegt zu
sein, wie Sinn für formale Schönheit oder musikalisches Talent.
Alles dies wird aber von der differenziellen Psychologie hin-
genommen, als ob ein test so gut wäre wie der andere. Das habe
ich angeführt, um zu zeigen, daß die differenzielle Psychologie,
wollte man auch ihr Ziel anerkennen, selbst in ihrer Methode —
Experiment oder Statistik — unzureichend ist, solange sie sich
mit Querschnitten der Psyche begnügt und nicht auf deren Genese,
auf den Längsschnitt reflektiert, weil die beiden Faktoren, der
angeborene und der anerzogene, nicht auseinander zu lösen sind.
II. Zwei Aufgaben der Charakterologie.
Nachdem wir uns darüber klar geworden sind, daß die spe-
zielle Psychologie nur dann fruchtbar werden kann, wenn sie das
menschliche Bewußtsein als ein unteilbares Ganzes, das es in
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Das Problem einer Charakterologie.
221
Wirklichkeit ist, betrachtet und sein Verhalten in allen möglichen
Lagen als Gegenstand der Untersuchung aufstellt, wenden wir
uns der näheren Bestimmung dieser als Charakterologie bezeich-
neten Wissenschaft in ihrem Verhältnisse zur allgemeinen Psycho-
logie zu.
Es wurde anfangs gesagt, daß nicht nur die spezielle Dis-
ziplin der allgemeinen als ihrer Grundlage bedarf, sondern auch
die allgemeine der speziellen zum Ausbau ihres Systems. Die
Charakterologie will den Menschen kennen lernen, wie er in
seiner tatsächlichen Differenziertheit und Mannigfaltigkeit ist, sie
will der seelischen Wirklichkeit um einen Schritt näher kommen,
als es die schematisierende allgemeine Seelenlehre vermag, ohne
aber das einzelne konkrete Individuum erreichen zu können; denn
dies ist nicht mehr Aufgabe der Psychologie, sondern einer mono-
graphischen Darstellung des historischen Menschen, die entweder
wissenschaftlich-formal oder künstlerisch -anschaulich sein kann.
Die Charakterologie will eine möglichst treue theoretische Be-
schreibung, eine möglichst scharfe Analyse und ein eindringendes,
nachfühlendes Verständnis des Seelenlebens in seiner Vielheit
geben. Eine solche Disziplin liegt offenbar in der Linie der
Weiterentwicklung und Ausbildung der allgemeinen Psychologie;
sie muß sich entschließen, in Singularitäten einzugehen, die erst
das Ganze verstehen lehren. Und so wird diese spezielle Dis-
ziplin immer die Tendenz beibehalten, zur allgemeinen zurück-
zukehren, nachdem sie sich an der Fülle der Erscheinungen be-
reichert hat. Als Modelle, an denen zu lernen ist, wird sie Ge-
bilde von einer gewissen mittleren Allgemeinheit bilden, keine
allgemeinen Menschen, aber auch keine konkreten Individuen (die
allerdings illustrativ herbeizubringen wären): sondern einen Typus,
der das vielen Individuen Gemeinsame vereinigt, aber immer noch
weitere Differenzierungsmöglichkeiten offen läßt. So wird man
eine Phänomenologie jedes einzelnen Gefühles, wie sie ja die all-
gemeine Psychologie braucht, an konkreten Individuen beobachten
und hieraus mittlere Typen bilden. Das Gefühl der Eitelkeit
etwa interessiert zweifellos die allgemeine Psychologie; aber nur
die spezielle wird alle Erscheinungsweisen der Eitelkeit an geeig-
neten Objekten studieren und analysieren können. Die Beziehungen
dieses Gefühles zu allgemeineren (wie dem Egoismus), seine Spiel-
arten, die Ursachen, daß sich die Eitelkeit verschiedener Menschen
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Emil Lucka,
auf verschiedene Gebiete erstreckt, andere Ubergeht, ihr Über-
greifen in andere GefUhlslagen, denen sie teils entgegengesetzt
ist und fremd bleibt, teils verwandt ist nnd zusammen mit ihnen
auftritt; endlich die Bedeutung dieses Gefühls im ganzen Gewebe
des Seelenlebens, die Stufen seiner Intensität und seinen Einfluß
auf das allgemeine Verhalten: alles dies zu erforschen, ist Auf-
gabe der Charakterologie.
Noch ergiebiger sind andere Gegenstände, eine Untersuchung
der Phänomene des Glaubens z. B. Die verschiedenen Mani-
festationen dieses Gefühles bei verschiedenen Individuen, die Ver-
zweigungen des religiösen Bewußtseins, ihre Abbiegungen auf
pathologisches Gebiet, ihre metaphysischen Gedankenprodukte usw.
gehören hierher. Aus alledem bildet die Charakterologie ihren
Begriff des religiösen Menschen mit seinen Spielarten, der der
allgemeinen Psychologie als Kapitel der Gefilhlslehre zugute
kommen muß.
Dies wäre die eine Aufgabe der Charakterologie: mög-
lichst tief in alle Verzweigungen des konkreten Seelenlebens
hinabzusteigen und die Ergebnisse in ihrer Vielheit möglichst ein-
heitlich zu übersehen und zu verstehen, um vorläufig rudimentäre
Kapitel der allgemeinen Psychologie auszubauen. Hier wird das
Spezielle mit speziellen Absichten angesehen. Eine zweite Auf-
gabe erwächst aber der Charakterologie daraus, daß sie alles
Besondere im Seelischen vom Allgemeinen her und mit allgemeinen
Absichten betrachtet Sie nimmt den einseitig veranlagten Menschen
als Einheit und sucht sein Verhältnis zum Allgemein -Mensch-
lichen zu bestimmen, sie will auf Grund einer möglichst ein-
dringenden Analyse der typischen menschlichen Verhaltungsweisen
ihre Stellung im Umkreis der Lebensbedingungen feststellen, sie
bemüht sich, jedem Menschentypus seinen psychologischen
Ort aufzusuchen. Um dies leisten zu können, müßte sie Klar-
heit darüber besitzen, worauf es bei der Erforschung des Seelischen
vor allem anderen ankommt, welche Funktionen so zentral sind,
daß sie über die anderen dominieren, daß sie für das seelische
Verhalten charakteristisch sind; und ob sich solche Funktionen
überhaupt auffinden lassen. Gesetzt, es gäbe etwas derartig Ent-
scheidendes im Seelenleben, so müßte diese Funktion als Cha-
rakteristikum par excellence angesehen und einer Gliederung der
Menschen in Gattungen und Arten zugrunde gelegt werden. Alles
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Das Problem einer Charakterologie.
223
dies ist hier nur programmatisch angedeutet und wird noch näher
besprochen werden. Die prinzipielle Bedeutung der charaktero-
logischen Differenzen für eine allgemeine Lehre vom Seelischen —
das ist ja das Ideal der Psychologie — wäre zu erwägen.
Der erste Teil der charakterologischen Aufgaben ist sohin die
Darstellung des ^Besonderen; diese Aufgabe ist unabsehbar
groß, fast unendlich, weil die Differenzierung im Seelenleben
stetig znnimmt und keine Grenzen absehen läßt. Die Analyse
des Besonderen ist aber gleichzeitig eine Vorarbeit für den zweiten
Aufgabenkreis, für die Einordnung alles Besonderen ins
Ganze, des Besonderen im Einzelindividuum unter sein Gesamt-
bewußtsein, und des besonderen Individuums an seine Stelle im
Allgemein-Menschlichen, ein System der Menschen und ein System
des Menschen.
m. Methoden der Charakterologie.
Es wurde einer Charakterwissenschaft als erste Aufgabe ge-
stellt, das System der allgemeinen Psychologie ins einzelne aus-
zubauen, alles das zu studieren, was bei einigen Mensehen in
scharfer Reliefierung auftritt, bei anderen nur in Ansätzen, viel-
leicht gar nicht besteht. Hierbei werden psychologische Typen
gebildet; ihre Konstruktion ist nicht selbst Zweck, sondern nur
Mittel, die verschiedenen Erscheinungsformen des Allgemein-See-
lischen festzuhalten und zu beschreiben. Ich glaube, daß man
auf die scharfe Bestimmung des Begriffes Typus keinen allzu
großen Wert legen muß. Er soll ja niemals etwas Definitives
sein; er ist ein gedanklich hergestelltes Modell, das aus vielen
Wirklichkeiten abgezogen wird und nur dazu dienen soll, aus-
geprägte Richtungen des Allgemein-Menschlichen kennen zh lernen.
Dieses Allgemein-Menschliche existiert selbst nicht, es ist nur ein
Typus höherer Ordnung, der psychologische Allgemeintypus des
Menschen, der Gegenstand der generellen Psychologie.
Die erste Aufgabe der Charakterologie ist, kurz gesagt, das
Material zu sammeln nnd zu bearbeiten. Auf inneren syste-
matischen Zusammenhang kommt es hierbei noch nicht an. Die
einzelnen Gefühle werden möglichst eingehend studiert, die ver-
schiedenen intellektuellen Verhaltungsweisen beschrieben usw.
Hiermit ist aber auch schon die Methode zur Lösung dieser ersten
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224
Emil Lucka,
Arbeit vorgezeichnet Das, worauf es ankommt, ist, die seelischen
Erscheinungen in ihrer ganzen Komplexität zu durchschauen und
theoretisch zu beschreiben. Das Verständnis des Seelen-
lebens ist also die Voraussetzung, die subjektive Vorbedingung
hierzu, es muß sich nicht auf alle seelische Lagen, auf alle
Menschen erstrecken; aber in dem behandelten Gebiete darf es
nicht versagen. Wo das Verständnis vorhanden ist, werden sich
die Wege von selbst erschließen: Biographie und Selbstbiographie
einzelner Menschen, Berichte der Ethnologie, Resultate der Völker-
psychologie, Kunstwerke und andere Produkte des Menschen-
geistes als documents humains, die seelischen Analysen, die von
den großen Dichtern gegeben wurden, vor allem aber die un-
mittelbare Beobachtung der Menschen, die, soll sie frucht-
bar werden, mit der Fähigkeit inneren Mitfühlens und
Nacherlebens Hand in Hand gehen muß. Wenn die verschie-
denen Leidenschaften nur historisch gekannt sind und bei lebenden
Individuen beobachtet werden, ohne das entsprechende Echo in
der Seele des Psychologen zu erwecken, kann er sie nicht von
innen heraus erfassen, er wird wie ein Zuschauer dabei stehen,
der nur das Äußerliche sieht, das Wesentliche des Vorganges
aber nicht versteht und so zur psychologischen Analyse nichts
beitragen kann. Das Experiment ist selbstverständlich nicht zu
verwerfen; die bisher gewonnenen Resultate scheinen aber Ergeb-
nisse für die Charakterologie als Wissenschaft des einheitlichen
Seelenlebens nicht zu liefern; ob das Experiment noch einmal in
dieser Richtung fruchtbar gemacht werden könnte, mag ganz dahin-
gestellt bleiben.
Die hier skizzierte Methode des seelischen Verständ-
nisses hat gegenüber vielen gebräuchlichen Methoden der Psycho-
logie — vor allem gegenüber der experimentellen — erstens den
Nachteil, daß sie nicht jeder handhaben kann, weil der Blick für
das Seelische angeboren sein muß und durch Anleitung wohl zu
kräftigen, aber nicht zu lehren ist; zweitens aber einen Mangel,
den ich durchaus nicht verschleiern möchte: auf diesem Weg ist
keinerlei Exaktheit zu erreichen. Doch das vielberufene, be-
sonders bei uns in so hohem Ansehen stehende Kriterium der
Exaktheit darf nicht gegen etwas viel Prinzipielleres blind machen.
Die erste Frage, die man an jedes wissenschaftliche Unternehmen
richtet, ist doch wohl: Was wünschen wir zu erfahren? Welche
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Das Problem einer Charakterologie.
225
Beziehungen des Materials interessieren uns am meisten? Welche
lohnen die Mtthe einer Untersuchung? Und erst nach Beant-
wortung dieser Fragen, erst nachdem wir uns ganz klar darüber
sind, was wir wissen wollen, was wert ist, erkannt zu werden —
erst dann kann die Frage nach dem wie ins Spiel treten: Welcher
Grad von Genauigkeit läßt sich bei der Erforschung dieser Dinge
erreichen?
Es leuchtet demnach ein, daß Exaktheit, die man so oft als
wichtigstes, wenn nicht als einziges Kriterium anzusehen geneigt
ist, wodurch ein wissenschaftliches Bestreben wertvoll wird, nur
eine untergeordnete Bedeutung in Anspruch nehmen darf. Sie
ist nicht mehr als ein Bestandteil unter den vielen, die eine
Methode zusammensetzen. Die Methode selbst aber mit all ihren
Teilfragen — wie ich mein Material beschaffe und verarbeite, ob
es quantitativen Bestimmungen zugänglich ist und bis zu welchem
Grad usw. — gewinnt ihre Bedeutung erst von einem bestimmten
wissenschaftlichen Zwecke her. An sich ist sie nichts als das
geeignete Vehikel, ein Ziel zu erreichen. Ist aber das Ziel selbst
nicht als hinreichend wertvoll anzusehen — wie mir dies bei der
Differenzialpsychologie der Fall zu sein scheint — so kann das
Fahrzeug, das zu ihm führt, keinen Anspruch auf eigenen Wert
erheben. Alle Ergebnisse mögen nach guten Methoden gefunden
sein, sie dürfen uns aber trotzdem nicht durch das »mathematische
Gepränge«, mit dem sie auftreten, bestechen, wenn sie nicht zu
etwas führen, was an sich selbst tieferes Interesse hat. Und die
Wege der Differenzialpsychologie, sie mögen so schön abgemessen
wie immer sein, wird man doch als blinde betrachten dürfen,
bevor man nicht eines besseren belehrt ist. Einer gepflegten, mit
Meilensteinen dicht besetzten Straße, die weit vor dem Ziel endet,
ist ein überwachsener Pfad vorzuziehen, der zum Gipfel führt. —
Wenn angenommen werden dürfte, daß die charakterologische
Untersuchung weit genug ins einzelne vorgeschritten ist, um einen
ungefähren Überblick Uber die Erscheinungsformen des Seelischen
zu ermöglichen, wenn das Material in Umrissen vorhanden wäre,
so könnte die Hauptaufgabe der Charakterologie in Angriff ge-
nommen werden, die ich in einem vollkommenen Verständnis der
inneren Struktur der so und so bestimmten Psychen und in einem
darauf aufgebauten System der menschlichen Charaktere
sehe. Eine wirkliche Handhabe, den Zusammenhang innerhalb
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226
Emil Lucka,
eineB seelischen Verhaltens zn begreifen, kann, wie schon früher
ausgeführt, nnr gewonnen werden, wenn die psychischen Funktionen
nicht als äußerliches Konglomerat nebeneinander bestehen, son-
dern wenn die Psyche ein organisches System ist, dessen wesent-
liche Bestandteile in unauflöslicher Wechselwirkung stehen, und
wenn eine alle anderen beherrschende Funktion aufgefunden
werden kann. Nur dann ließe sich an ein wirkliches System der
Charakterologie denken, das dem früher erhobenen Vorwurf der
Willkür widerstehen könnte. Denn dieser Vorwurf trifft ebenso
gut die aus dem intellektuellen Gebiet hergenommenen Einteilungs-
motive als die auf dem Gefühlsleben1), dem Wollen2), dem ästhe-
tischen und moralischen Verhalten usw. beruhenden.
Es ist zweifellos viel einfacher, die Menschen etwa in Gefühls-,
Verstandes- und Willensmenschen oder ähnlich einzuteilen und
sodann Mischformen zu konstruieren; aber derlei Einteilungen
leisten schließlich nicht mehr, als daß sie eine auf den ersten
Blick hervorstechende Eigenschaft zum Wesen der Individualität
hypostasieren 3). Alle diese inhaltlichen Methoden sind äußerlich:
denn es darf nicht einfach ein Gebiet vom anderen gesondert
werden, vielmehr soll das seelische Verhalten als ein Ganzes
charakterisiert, über alle Inhalte hinaus der Zusammenhang erfaßt
werden, der in gleicher Weise Fühlen, Denken und Wollen um-
spannt, einer Funktion wird nachgefragt, die alle Inhalte durch-
dringt. Eine solche Methode wird vielleicht nicht das Bestechende
haben, das auf den ersten Blick einleuchtet, aber sie dringt tiefer
ein und verbürgt durch ihren formalen Charakter die prinzipielle
Anwendbarkeit.
Um eine Funktion, die das Gesamtverhalten des Individuums
und nicht einzelne seelische Gebiete trifft, aufzufinden, muß hinter
1) Vgl. z. B. Sigwart, Die Unterschiede der Individualitäten. Elleine
Schriften, zweite Reihe. — Und Ch. Fer6, La Pathologie des Emotion«.
S. 369.
2) Vgl. Bern ard Perez, Le caractere de l'enfant ä l'homme, der seinen
Einteilnngsgrund nur von den Bewegungen hernimmt.
3) Die französischen Psychologen sind besonders einteilnngslustig. Ich
glaube, daß von allen diesen Rubrizierungsversnchen gilt, was Malapert
von seinem eigenen sagt: > Diese Klassifikation wird jedenfalls manchem zn
kompliziert, manchem wieder zn einfach und unfähig scheinen, in ihre
Kästchen die unendliche Mannigfaltigkeit der Natur einzuordnen« (S. 236).
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Das Problem einer Charakterologie.
227
die sonst wohlbegründete Scheidung zurückgegangen werden, die
alles Angeborene, im engeren Sinne Individuelle von dem ablösen
will, was durch die Umwelt, durch Erziehung und Leben, hinzu-
getreten ist und das Primäre verändert hat Daß sich diese beiden
Faktoren nicht reinlich auseinanderwirren lassen, haben wir schon
gesehen. Wollte man trotzdem in prinzipieller Sonderung den
einen vernachlässigen, so wären zwei extreme Untersuchungs-
gegenstände denkbar: man könnte wie Schopenhauer alles ab-
lehnen, was nicht eigenste Mitgift von Geburt an ist; oder man
könnte wie Taine and seine Schule den Menschen einfach als
Produkt seiner Umgebung, des »Milieus«, ansehen, wobei eine
eigentliche Lehre vom Charakter unmöglich wäre; an ihre Stelle
mttßte die Geschichte der Lebenslagen gesetzt werden. (Dieser
Absicht kommt eine Psychologie der Berufe nahe.)
Diese extremen Gebietsabgrenzungen mit ihren zugehörige u
Methoden setzen eine zu große Abstraktion, einen zu weiten Ab-
stand von der Wirklichkeit voraus und sind daher einseitig: gerade
in der Wechselwirkung beider Faktoren und im Kampfe zwischen
Selbstentfaltung und Formung durch die Umwelt liegen
die charakteristischen Merkmale für das Seelenleben. Das fort-
währende Durcheinanderwirken des individuellen Bewußtseins mit
seiner Umgebung im weitesten Sinne, das Medium, worin sich das
ganze individuelle Leben abspielt, nämlich das Einstürmen der
Welt ins Ich und das Reagieren des Ichs auf die Welt, ist das
Gebiet, wo eine Charakterologie einsetzen muß, wenn sie das
Seelische in seinen wesentlichen Zügen erfassen und herausheben
will, das Gebiet, wo sie hoffen darf, eine entscheidende Funktion
aufzufinden. Im Grunde sind wohl manche differenzial-psycho-
logische Bestrebungen auf Ahnliches ausgegangen, wenn sie sich
dessen auch vielleicht nicht ganz klar bewußt gewesen sind. Die
Ur-Koordination der Experimental-Psychophysik Reiz — Empfindung
ist eine Abstraktion vom Verhältnisse Außensein — Seelenleben.
Und wenn die Experimentatoren etwa der Treue des Gedächt-
nisses nachfragen, so suchen sie die Kraft zu erforschen, mit der
von außen übernommenes Material im Bewußtsein verharrt, wobei
sie allerdings das echte Material durch Fiktionen von zweifel-
haftem Werte zu ersetzen pflegen. Das gleiche gilt von anderen
mental tests: sie sind Reaktionen der Individuen auf Reize der
Außenwelt.
Archiv für Psychologie. XL 16
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Emil Lucka,
Alle diese Bestrebungen waren aber auf die Koordination einer
Gruppe von Außenweltfaktoren zu einem herausgehobenen Fähig-
keitenkomplex gegründet. Nimmt nun die allgemeine Psychologie
das Seelenleben als Einheit, nicht als zusammengesetztes Gebilde,
so kann ihr nur eine Charakterologie entsprechen, die das indi-
viduelle Verhalten als ein Ganzes genommen der Um-
welt als einer Einheit genommen gegenüberstellt. Das Leben
des Menschen geht in der Wechselwirkung zwischen dem Subjekt
und den Bestandteilen der Welt — im weitesten Sinne als dem
Inbegriff alles nicht diesem einen seelischen Zusammenhang an-
gehürigen — auf. Fragen wie die nach Beziehungen einzelner
psychischer Funktionen zueinander, nach der Form und der Ge-
schwindigkeit ihres Ablaufes usw. sind wichtig, aber nicht er-
schöpfend; mit den Objekten hinwieder losgelöst vom Seelischen
hat es die Psychologie nicht zu tun. Das eigentlich Entscheidende
liegt in der Form der Relation zwischen dem Ich und der
Welt. Die verschiedenen Gestaltungen, die dieses Verhältnis eines
konstanten Faktors — der Welt — zu variabel n Faktoren — den
menschlichen Individuen — gewinnen kann, ergeben die Möglich-
keiten individueller Charaktere: Denn ändert sich das Produkt
der beiden Bestandteile, so muß die Ursache dieser Änderung im
Ich liegen, da die Welt allen Individuen gegenüber unverändert
beharrt.
Die Methode jeder Wissenschaft ist nichts anderes als die
formale Abbildung der auf ihrem Gebiete erkannten sachlichen
Zusammenhänge. Je getreuer eine Methode diese innere Zusammen-
hangsstruktur der in Frage kommenden Gegenstände abbildet, desto
besser ist sie und desto fruchtbarer wird sie werden, weil sie als
formales Schema aller beherrschenden Kausal- und Zweckketten
von selbst auf weitere Beziehungen fuhren muß, die bei Variation
der Inhalte funktional identisch mit den bekannten Beziehungen
angeordnet sein werden.
Das Gebiet, auf das sich die Charakterwissenschaft zu erstrecken
hat, sind die unübersehbar mannigfaltigen Beziehungen, die ein
menschliches Individuum zu der allen als dieselbe gegenüberstehen-
den Umwelt besitzen kann. Und die Methode wird dadurch vor-
gezeichnet sein, daß die inhaltliche Unübersehbarkeit durch eine
formale Vereinfachung bewältigt werden soll, daß die verschiedenen
möglichen Verhaltungsweisen des Menschen zur Welt auf typische
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Das Problem einer Charakterologie.
229
Formen reduziert und daß schließlich ein Weg gefanden wird,
diese typischen Formen als Variationen einer Grnndfunktion im
Seelenleben zu verstehen.
IV. SkiMe einer Begründung der systematischen Charakterologie.
Die objektive Wirklichkeit (der Gegenstand der Naturwissen-
schaft) ist die gemeinsame Basis, von der sich andere, neue, sub-
jektive Wirklichkeitszusammenhänge absondern. Sie ziehen von
der Zeit ihres Entstehens an alle Nahrung aus der Umgebung,
stehen ununterbrochen mit ihr in Verbindung und Wechselwirkung,
können ihr aber niemals gleichgesetzt werden. Diese Zuordnung
seiner Inhalte zu einem einzigen konkreten Subjekt ist das Grund-
merkmal des Psychischen gegenüber dem Physischen, das als
System der objektiven Seins-Zusammenhänge allen Einzel-Sub-
jekten identisch zugeordnet ist. Die Objektivität bietet ihren Inhalt
allen Subjektivitäten prinzipiell als denselben dar; und allein an
dem konkreten Bewußtsein liegt es, welche Inhalte Uberhaupt
ergriffen werden, in welcher Form und in welcher Intensität
sie dem schon Vorhandenen assimiliert werden und was im in-
dividuellen Bewußtsein mit den aufgenommenen Inhalten geschieht.
Immer dürfen es nur funktionale Momente sein, die uns den
Weg weisen; die Inhalte des Bewußtseins erwachsen aus den
Funktionen heraus.
Die innere Struktur des konkreten Bewußtseins zeigt sich
an jedem einzelnen Akt, an der Stellung zur Umgebung sowohl
als auch an innerseelischen Vorgängen. Es gibt zwei prinzipielle
Schemata, nach denen das Bewußtsein in sich selbst gefugt sein
kann. Erstens: ein Bewußtseinsgebilde steht gleichberechtigt
ueben dem anderen und wird in seinem Dasein durch andere
Gebilde nicht bewußt beschränkt. Die Harmonie des Individuums
ist von innen her nicht beeinträchtigt, der Ablauf der seelischen
Funktionen geschieht ohne subjektive Hemmung. Auf den
Reiz folgt die psychische Reaktion, wie sie nach dem persönlichen
Charakter erfolgen muß, ohne daß andere, innere Faktoren die
Tendenz hätten, diese natürliche Reaktion in irgendeinem Sinne
zu ändern. Wissenschaftliche, religiöse, soziale Meinungen und
Überzeugungen können in diesem Bewußtsein bestehen, ohne doch
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Emil Lucka,
je mit Wünschen und Handlangen in Konflikt zu geraten. Die
Handlung erfolgt notwendig and ohne heterogene Reflexion; etwa
dagegenstehende Anschauungen können nicht in das natürliche
Getriebe dieses naiven Charakters eindringen. Sie müssen sich
begnügen, neben anderem eine gleichberechtigte Stellung zu be-
sitzen. Dem naiven Menschen ist die unmittelbare Wirklich-
keit, der Eindruck der Außenwelt, das Gefühl, der Willensimpuls
einziger Wert; ein Zwiespalt zwischen Wirklichkeit und Wert
kann in diesem Bewußtsein nicht auftreten, weil beide ungesondert,
immer eines sind, weil keine Möglichkeit besteht, daß eines am
anderen bewußt werde. Ein solcher Mensch kann moralisch außer-
ordentlich hoch stehen oder höchst verwerflich fühlen; aber beides
ist kein Verdienst, nicht das Resultat eines Kampfes, sondern
natürliches Verhalten, das ohne Nachdenken, ohne Berufung auf
ein unbedingt wollendes Ich mit Naturnotwendigkeit eintritt. Der
Gedanke der Willensfreiheit ist diesem naiven Menschen nicht real,
er wird weder anerkannt noch abgelehnt, das Problem wird ein-
fach nicht verstanden, weil die Zweiheit und der innere Zwiespalt,
dem dieser Gedanke entspringt, fehlen. Der naive Mensch hat
eigentlich nur eine Instanz, die ihm maßgebend ist, seine In-
stinkte, und oft weiß er selbst nichts von dieser Instanz. Das
vorstellnngsmäßige Merkmal des naiven Bewußtseins ist darin ge-
legen, daß es jeden Inhalt (Vorstellungen, Gedanken, Gefühle,
Leidenschaften) einfach hat, ohne noch obendrein darum zu
wissen.
Der andere Typus ist der mittelbare Mensch. Er hat die
Inhalte seines Bewußtseins doppelt: einmal als direkt Erfahrenes,
dann als Beurteiltes, als Körper und als Schatten. Er hat die
Inhalte und weiß noch dazu, daß er sie hat und wie er sie hat.
Ein einzelner Inhalt kann lange im naiven Stadium bleiben, bis
er reflektiert wird. So steht z. B. jemand Jahre lang unter einem
schweren, ganz bewußten Druck, er leidet körperliche oder seelische
Schmerzen. Er weiß es und richtet sein Handeln danach ein.
Aber eines Tages sagt er sich: ich leide. Er leidet jetzt nicht
mehr als früher; aber zur Tatsache des Gefühles ist etwas dazu-
getreten, ein Reflex des Unmittelbaren, ein Urteil darüber1). Diese
1) An anderer Stelle habe ich es als »FeststeUungsorteil« beschrieben
(a. a. 0. S. 11).
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Das Problem einer Charakterologie.
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Spiegelung kann sich auch erst einstellen, wenn ihre unmittelbare
Basis schon nicht mehr vorhanden ist
Der mittelbare Mensch findet nicht die zweifellose Gewißheit '
den Eindrücken der Umwelt und seinen eigenen Inhalten gegen-
über vor, die dem naiven natürliche Ausstattung ist. Er tiberlegt,
schwankt, zögert — und hat er endlich gehandelt, bo zweifelt er,
ob er das Richtige getan, bereut leicht und ist sich doch vielleicht
wieder klar, daß er im ähnlichen Falle abermals dasselbe tun
wurde. So ist er der typische > moderne«, komplizierte Mensch,
in dessen psychisches Labyrinth der Seelenschilderer einzudringen
sucht. Dieses ganze Verhalten ist Folge eines zwiespältigen Be-
wußtseins, eines Bewußtseins, das aus Inhalten samt deren Re-
flexen besteht. Weil dem mittelbaren Menschen die Instinktsicher-
heit des naiven abgeht, muß er durch Nachdenken (d. h. durch
Appellation an die Reflexe, an die Urteile Uber das Unmittelbare,
die aber nicht rein-gedanklich zu sein brauchen) sein Handeln zu
regeln suchen, das trotz tieferer Motivierung oft die Selbstverständ-
lichkeit des Reagierens vermissen läßt. Als Denker und Grübler
ist der mittelbare Mensch der Mann der Willensfreiheit und aller
schweren Probleme (Kant), als Dichter pessimistischer Tragiker
(Hebbel). Es gibt scharfe Denker, die dabei durchaus naiv
sind (manche Mathematiker), wohl aber keine naiven Philosophen,
denn das philosophische Sichbesinnen, das Denken über die Welt
und das yvü&i oavrov sind mit naivem Verhalten nicht ver-
träglich.
Aus diesem mittelbaren Verhalten zur Wirklichkeit — zwischen
Reiz und Reaktion wird ein Medium, die Reflexion, eingeschaltet —
ergibt Bich die Schwäche und die Überlegenheit des mittelbaren
(des Menschen der Spätkulturen) gegenüber dem naiven (dem
Menschen der ungebrochenen Kulturen). Seine Reaktion ist länger
und klarer bewußt. Wo schnelles Handeln nottut, ist der naive
Mensch am Platze ; als Soldat, als Spekulant, bei jeder sportlichen
Tätigkeit ist er im Vorteil. Fällt aber das Schwergewicht aut
überlegtes, nach allen Richtungen hin durchdachtes Handeln, so
wird der Mittelbare den Sieg davontragen; allerdings nur dann,
wenn die Gebrochenheit seiner Natur nicht so weit gediehen ist,
daß er die Lust und vielleicht die Fähigkeit zu handeln über-
haupt eingebüßt hat (Hamlet, Journal intime d'Amiel). Der naive
Mensch steht jedem neuen Ereignis als ein neuer gegenüber,
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232
Emil Lucka,
bewältigt es aber vermöge seiiier Anlage, wenn es nicht ganz aus
dem Rahmen des Gewohnten und ihm Möglichen fällt; im letzteren
Falle versagt er vollständig. Der mittelbare Mensch (als voll-
endeter Typus gedacht) kennt eigentlich gar kein neues Ereignis,
er wird nie überrascht: jedes ist ihm nur Spezialfall eines all-
gemeinen, das er begrifflich oder anschaulich bereits besitzt. Dem
denkenden und dem künstlerischen Menschen (alB Formen des
mittelbaren Menschen) fehlt etwas im Gegensatze zum naiven: die
unreflektierte Schlagfertigkeit, die selbstverständliche Lebenslust,
die ohne logischen Grund auf sich selbst beruht; und er hat wieder
um einiges mehr: das bewußtere Handeln, den Uberblick Uber
die Erscheinungen, das Verständnis von Fremdem, welches ihm
seine Reflexion möglich macht und welches dem naiven Menschen
in seinem unbefangenen Ipsismus abgeht. Der nur-theoretische und
dabei unproduktive Mensch steht der Wirklichkeit nicht als seinem
Materiale gegenüber, das er zu bearbeiten hätte; er schöpft viel-
mehr wieder indirekt aus Theorien über die Dinge, aus Meinungen
anderer, aus Büchern. Vor dem Einzelfall ist er so hilflos, daß
er nach einer Theorie hierüber suchen muß, um ihn zu verstehen,
so daß er eine doppelte Reflekticrtheit braucht: einmal die Spie-
gelung der Wirklichkeit in einer Theorie, dann die Ableitung der
Theorie auf den vorliegenden Fall. So haben die Philosophen des
Mittelalters nicht Uber die Welt nachgedacht, um eine Theorie von
ihr zu gewinnen; sie haben vielmehr aus den bestehenden Mei-
nungen (etwa des Aristoteles) Lehren gesucht. Und ähnlich ist
die Tätigkeit des heutigen Philologen, der sich Uber die Erschei-
nungen und die Werte des Lebens nicht aus dem Leben, sondern
aus Anschauungen (toter) Dichter unterrichtet, die sorgfältig gegen-
einander abgewogen werden. Ahnlich schöpft der unproduktive,
gebrochene Künstler seine Inhalte nicht aus dem Urquell der Wirk-
lichkeit, sondern aus wohlgefaßten Marmorbassins, aus fremden
Kunstwerken.
Auf die weiteren Konsequenzen, die aus der Horizontal-
gliederung: unmittelbar — mittelbar erfolgen, gehe ich hier nicht
ein. Nur um einen etwa möglichen Irrtum zu zerstreuen, soll aus-
drücklich gesagt sein, daß wissenschaftliche oder künstlerische An-
lage ebenso wenig wie Produktivität irgendwelcher Art mit dieser
Scheidung etwas zu tun hat.
Wir haben bisher gefragt, welches die Stellungen sind, die das
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Das Problem einer Charakterologie.
233
individuelle Bewußtsein der Umwelt und seinen eigenen Inhalten
gegenüber einnehmen kann, ob das Verhältnis ein direktes oder
ein vermitteltes ist. Nun wenden wir uns dem Grade des indivi-
duellen Eigenlebens zu, suchen nach einer vertikalen Gliederung,
die uns lehren soll, was aus dem Aufgenommenen in den Ver-
webungen des konkreten Bewußtseins weiter wird.
Die subjektive Welt des Tieres ist noch sehr gering; sie be-
steht zum größten Teile aus Trieben, deren Wesen, ganz allgemein
gesprochen, in dem Streben liegt, aus der objektiven Welt mög-
lichst viele Vorteile filr die subjektive zu erlangen. Im psychischen
Leben des einzelnen Menschen ersteht ein neuer Seinszusammen-
hang, der sich Uber das Triebleben hinaus entwickelt und selbst-
herrlich dem gemeinsamen objektiven als Subjektivität gegenüber-
stellt. Das Intensitätsmaß für eine subjektive Wirklich-
keit liegt, von jeder qualitativen Bestimmung abgesehen, in dem
Grad ihrer Unabhängigkeit von den Daten der Umwelt.
Es läßt sich eine Intensitätsskala aufstellen, auf deren unterster
Staffel das Bewußtsein steht, welches alle seine Inhalte von der
objektiven Wirklichkeit empfangen hat und nicht imstande ist,
die aufgenommenen Impressionen aus eigenem umzuformen und
neu zu gestalten. Das Bewußtsein des Augenblicksmenschen
ist ein Durcheinander zusammenhangsloser Momenteindrucke; er
vermag sich die Außenwelt nicht als Objekt gegenüberzustellen,
faßt sich selbst nicht als einheitliches Ganzes auf und besitzt
nicht die Kontinuität des Subjektes. Er kann deshalb nicht aus
dem Weltablauf einzelnes herausheben und unabhängig von seiner
Stelle im Geschehen werten. Will er etwas erzählen, so gibt er
eines nach dem anderen, wie es sich zugetragen hat, denn er
sieht nicht das Wesentliche. Und bei jeder Wiederholung rollt
sich die ganze Reihe, fast in den gleichen Worten erzählt, noch
einmal ab. Er ist vollkommen passiv, den Impressionen nicht nur
ihrem Inhalte, sondern auch ihrer Form nach, ihrer Stelle im
objektiven Geschehen nach, ausgeliefert1).
Der Augenblicksmensch ist die extremste Form des reproduk-
tiven Menschentypus. Dieser Typus ist dadurch charakterisiert,
1) Vgl. über den Unterschied > elementarere und historischer« Menschen
vom Standpunkte der Zeit aus die Untersuchung bei Oscar Ewald,
»Nietzsches Lehre in ihren Grundbegriffen«.
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Emil Lucka,
daß er die von außen dargebotenen Inhalte Ubernimmt, ohne etwas
Neues aus ihnen gestalten zu können. Was seinem Bewußtsein
einverleibt worden ist, kann er wieder hervorholen, aber es ist
nicht viel anders geworden, nicht aufgeblüht wie eine lebendige
Pflanze in gutem Erdreich, sondern welk und farbenmatt wie ein
Herbariumgewächs. Vollkommen getreue Reproduktion gibt es nicht;
jedes Erinnern ist verändertes Erinnern, und wo die umgestaltende
Kraft fehlt, besteht die Veränderung im Ausfallen von Bestand-
teilen, in Schrumpfungen und Verarmungen aller Art. Das Er-
innern läßt sich dem Dnrchblättern eines modrigen Herbariums
vergleichen: manches, was man einst hineingetan, hat sich gut
erhalten, anderes ist zerfallen, kaum mehr erkennbar. Der Augen-
blicksmensch als extremste Form des reproduktiven Menschen ist
ganz Funktion der Außenwelt, sein Bewußtsein besteht nur aus
verblaßten Reproduktionen früherer Wahrnehmungen und neu ein-
dringenden Wahrnehmungen, die umso mehr überwiegen, je mehr
sich ein Individuum dem reinen Augenblickstypus nähert. Die
Außenwelt ist hier wie immer für die Psychologie der Inbegriff
alles Fremden, Nicht-Subjektiven; Einflüsse anderer Menschen
und Bücher zählen nicht minder zu ihr als Sinneswahrnehmungen
usw. Je mehr der reproduktive Mensch das Material formell be-
herrscht und zu ordnen vermag, ohne doch neue Inhalte aus ihm
gestalten zu können, desto mehr entfernt er sich vom Augenblicks-
menschen. So vergleiche man, wie der Historiker Geschichte er-
zählt und wie eine Frau aus dem Volke eine Begebenheit mit-
teilt.
Dem reproduktiven Verhältnisse zur Welt steht das umwan-
delnde, produktive gegenüber. In dem Moment, wo seelische
Inhalte neu gebildet werden können, Inhalte, die zwar dem Roh-
material der Umwelt als ihrem Keime entstammen, aber inner-
seelisch ausgebildet worden sind, ist eine prinzipiell neue Funk-
tion eingetreten, die allem reproduktiven Bewußtsein radikal als
produktives Bewußtsein gegenübertritt. Wer aus dem Mate-
riale der allen gleichmäßig dargebotenen Wirklichkeit neue Inhalte
zu gestalten vermag, wessen Bewußtseinsleben sich prinzipiell ab-
differenziert hat und als Eigenleben dem objektiven Sein gegen-
übersteht, der ist produktiv. Während das Bewußtsein des re-
produktiven Menschen aus Impressionen besteht, die von außen
gegeben worden sind und nur allenfalls in der Anordnung ge-
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Das Problem einer Charakterologie.
235
ändert erscheinen; während also dieser Typus von anßen nach
innen lebt: lebt der produktive Mensch von innen nach außen.
Alles wird ihm erst seelisches Eigentum, wenn er es von sich aus
ergriffen, umgestaltet und seinem Bewußtsein als ein lebendiges
einverleibt hat. Die Dinge und Gedanken machen nicht fertige
Eindrücke, Abdrücke in seiner Seele, sie werden von ihr nach
ihren eigenen Gesetzen geformt. Dieser Mensch lernt nicht, er
erlebt. Sein Bewußtsein ist spontan, produktiv; er ist oft nicht
fähig, eine wahrgenommene Tatsache, die er seinem Seelenleben
einverleibt hat, genau zu reproduzieren, eine gehörte Geschichte
exakt wiederzugeben. Die objektive, unkritische Darstellung frem-
der Gedanken fällt ihm schwer. Die Elemente seines Vorstellungs-
lebens sind in beständiger Bewegung, in lebendiger Umgestaltung.
Er ist einseitig, und zwar nicht sachlich einseitig, indem er sich
nur mit gewissen Dingen befaßt, sondern funktional: er ergreift
und verarbeitet jeden Stoff nach seiner Seite, nach seiner psychi-
schen Kategorie. Unter diesem Begriffe verstehe ich die be-
stimmte Richtung, in der sich das Vielfache der Wirklichkeit in
einem Bewußtsein ordnet, dessen individuelle Variationstendenz.
Die psychischen Kategorien als verschiedene inhaltliche Richtungen,
in denen das Material verarbeitet werden kann, sollen uns noch
später beschäftigen; jetzt haben wir es nur mit der Intensität
der Verarbeitung zu tun. Die seelischen Kategorien des produk-
tiven Menschen sind so lebendig wirksam, daß sie nichts Unver-
dautes, nichts Unfruchtbare s dulden, sondern alles sichten, das
ihnen Gemäße ergreifen und festhalten, das Unfruchtbare abstoßen.
Wie der Augenblicksmensch alles in die Zeitreihe gewissermaßen
hineinschiebt, zieht es der produktive heraus; er nimmt nur, was
ihm Nahrung bieten kann, er muß alles in lebendige Wirksamkeit
umwandeln. »Ich statuiere keine Erinnerung in eurem Sinn, das
ist nur eine unbeholfene Art, sich auszudrücken. Was uns irgend
Großes, Schönes, Bedeutendes begegnet, muß nicht wieder von
außen her gleichsam erinnert werden, es muß sich vielmehr gleich
von Anfang her in unser Inneres verweben, mit ihm Eins werden,
ein neues Besseres in ihm erzeugen und so ewig bildend in uns
fortleben und schaffen.« Goethe, die reine Inkarnation des pro-
duktiven Menschen, kann den eigentlichen Erinnerungsakt nicht
einmal recht verstehen; er kennt nur das Neuwerden, nicht das
Aufbewahren.
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236
Emil Lucka.
Die seelische Eigenexistenz ist also in der vollzogenen Ab-
differenzierung von der Allgemeinexistenz gelegen und wächst
proportional der Neubildung von seelischen Inhalten.
Ein rein quantitatives Maß des seelischen Eigenwertes
ist demnach in dem Überwiegen der umformenden und neugestal-
tenden Kraft gegenüber dem Bewahren und Zerfallen aller In-
halte gegeben.
Ich habe an einer anderen Stelle1) auf Grund einer Analyse
des Vorstellungslebens die beiden Grundfunktionen im Bewußtsein
herausgehoben und einander als bewahrendes Gedächtnis (das
sich sowohl anf Vorstellungen als auch auf Gefühle erstreckt) und
umwandelnde Phantasie gegenübergestellt. In diesen beiden
Veränderungsrichtungen (zum Verfallen, weil es ein treues Auf-
bewahren nicht gibt, und zum Neuwerden) schien mir der Gehalt
des Individualbewußtseins prinzipiell ausgeschöpft zu sein. Alles,
was soeben programmatisch angeführt wurde, ist daselbst als Folge
der beiden Grundtendenzen nachgewiesen, die charakterologisch
als reproduktiver und produktiver Menschentypus vertreten sind.
Gedächtnis und Phantasie entsprechen den Gegensätzen: Rezep-
tivität und Spontaneität, Lernen und Erleben. Und im Er-
lebnis, das im produktiven Menschen anstelle des Aufnehmens
von Eindrücken, des Lernens und Bewahrens tritt, glaube ich die
gesuchte Grundfunktion zu halten, die alles andere im Seelen-
leben beherrscht Sie ist die radikale Änderung, die das Verhält-
nis eines Menschen zur Welt erfahren kann, und daher das Schich-
tungsprinzip in der Charakterologie.
Ehe ich den Begriff des Erlebnisses genauer abgrenze, soll
noch geklärt werden, was unter Charakter als dem allgemeinsten
Hegriffe der Charakterologie zu verstehen ist. Er gilt uns (in An-
näherung an Definitionen von Paulha;n3) und Alex. F. Shand*)
nicht als die Summe alles dessen, was für ein Individuum cha-
rakteristisch ist, sondern als seine spezifische Rezeptions- und
Reaktionsform, als der Inbegriff eines individuellen Verhaltens,
der Stellung eines Menschen inmitten alles anderen. Charakter
1) »Die Phantasie« (1908} besonders im dritten Abschnitt: »Bewahren
und Neusehaft'on«.
2j >Les caractcres« S. 1 und »La Classification des types moraux et la
Psychologie generale« (Revue philos. 1893. S. 498).
3) »Character and the emotions*. Mind. 1896. S. 203.
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Das Problem einer Charakterologie.
237
ist die Disposition einer individuellen, psychischen Organisation,
Eindrücke der Umwelt (im weitesten Sinne) in einer bestimmten
Weise aufzunehmen und auf sie in einer bestimmten Weise zu
reagieren. Durch eine solche funktionelle, nicht substanzielle Auf-
fassung des Charakters ist Uber dessen ünveränderlichkeit im Laufe
des Lebens noch nichts ausgesagt; es wäre auch möglich, daß die
besondere Weise aufzunehmen und zu reagieren wechselnd, eine
Funktion der Zeit ist. Das Merkmal der Veränderlichkeit von
Fall zu Fall, von Gebiet zu Gebiet wäre einem aolchen » charakter-
losen c Charakter wesentlich. Ob der Charakter überhaupt ver-
änderlich ist und innerhalb welcher Grenzen, oder ob er sich nur
im Laufe des Lebens aus der Latenz zur Aktualität entfaltet, muß
gesondert untersucht werden; desgleichen, inwieweit der Mensch
Beinen Charakter aus eigener Kraft verändern kann, alle Fragen
der Erziehung und Charakterbildung.
Je schärfer und entschiedener die Assimilations- und Reaktions-
weise eines Menschen ist, desto ausgeprägter, desto persönlicher
ist sein Charakter (ohne jede Rücksichtnahme auf inhaltliche Quali-
täten). Der individuelle Charakter ist seiner Anlage nach als von
Geburt aus vorhanden anzunehmen, entfaltet sich aber erst mit
der Menge und Intensität der erfahrenen Eindrücke und Erleb-
nisse »in dem Strom der Welte. Mit der Menge, weil eine hin-
reichende Mannigfaltigkeit von Erfahrungen vorliegen muß, damit
die verschiedenen Richtungen zu funktionieren ausgebildet werden
können; mit der Intensität, damit wirklich eine ausgeprägte in-
dividuelle Reaktionsform auch bei wenig prononzierten Individuen
hervortreten kann.
In diesem Sinne hat jeder Mensch einen Charakter, d. h. ein
charakteristisches Verhältnis zur Welt. Und nun erheben sich die
beiden fundamentalen Möglichkeiten: Daß dieses Verhältnis eine
einseitige Abhängigkeit des Individuums von der Welt bedeutet,
daß alle seine Inhalte Residua der jemals erfahrenen Einwirkungen
(> Reize« in weitester Bedeutung) sind; oder daß alles Aufgenommene
nur als Rohmaterial zu eigenen Bildungen beigesteuert hat, daß
der objektiven Welt wirklich neue Eigeninhalte gegenüberstehen,
die aus einem anderen Boden als dem allen gemeinsamen heraus-
gewachsen sind. Diese eigentümliche Anlage, die Kraft, gewisse
Inhalte der Umwelt als Material zu erfassen und nach ganz be-
stimmten Eigenkategorien um- und neuzugestalten, ist die Fähig-
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Emil Lucka.
keit zn erleben, der wirklichste Besitz des menschlichen Indi-
viduums, das, was es zn einem Nenen gegenüber allem sonst
Bestehenden macht. Den Menschen mit der Kraft des Erlebnisses —
die sich nnr auf gewisse Gebiete erstrecken wird — bezeichne ich
als Persönlichkeit; dieser Begriff schneidet einen engeren Kreis
aus dem allgemeinen Begriffe des Charakters aus. Persönlich-
keit ist ein Prinzip der Formung, ist die Kraft, Ungeformtes zu
ergreifen und umzugestalten, Geformtes umzuformen; sie ist eine
Funktion, die sich immer in derselben Richtung, mit derselben
Intensität betätigt, eine Kraft neben den anderen Kräften des
Weltalls. Und das Eigenartige, ja im Grunde genommen Unbe-
greifliche der Persönlichkeit liegt darin, daß diese Kraft nicht
wie die Naturkräfte für alle Fälle nach einer Formel wirksam
ist, in dem einen Menschen so wie in dem anderen — wie mau
ja genau vorher weiß, wie weit eine Holzkugel in Wasser ein-
sinken wird, wie weit in Äther, wie weit in Quecksilber; — die
Persönlichkeit ist vielmehr immer etwas Neues in jedem Menschen,
der »Persönlichkeit« d. h. Erlebniskraft hat. Persönlichkeit ist der
Inbegriff aller umwandelnden Kräfte, der seelischen Kategorien eines
Menschen, alles dessen, was als Produktivität beschrieben worden
ist. Weil die Qualität dieser Umgestaltungen und Regenerationen
von einer Persönlichkeit zur anderen wechselt, muß jede einzelne
wie ein besonderes Naturgesetz angesehen werden ; alle zusammen
weisen nur die formale Identität auf, Gegebenes umzugestalten. Ein
Charakter kann wandelbar sein, eine Persönlichkeit ist in ihrer
Art zu sein und zu wirken immer mit sich gleich. In diesem Be-
griffe der Persönlichkeit verdichten sich alle Merkmale des pro-
duktiven, regenerierenden Menschen; er scheint die viel verwen-
dete aber schwankende Wortbedeutung zu klären. Als formales
Prinzip kann die Persönlichkeit jeden Inhalt ergreifen und sich
unterwerfen. Persönlichkeit schlechthin, Ich, Seele ist innerliche
Organisation, ist eine reine allem Materiale fremde Funktion. Erst
die eindringenden Inhalte geben der konkreten Persönlichkeit Ge-
legenheit, das ganz eigentümliche Formprinzip, das sie darstellt,
aktuell werden zu lassen, sich in der Welt zu entfalten.
Dieser Begriff der Persönlichkeit ist umfassender als der des
(sittlichen) Willens, der oft als einziges Prinzip aufgestellt wird,
um die Synthese im Seelenleben verständlich zu machen. Zweifel-
Aos existiert neben der sittlichen Persönlichkeit im engeren Sinne
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DaB Problem einer Charakterologie.
239
die ästhetische Persönlichkeit des Künstlers nnd die philosophische
des Denkers. Inwiefern sie etwa noch anders als in der gemein-
samen Funktion des Erlebnisses zusammenhängen, kann hier außer
Acht gelassen werden.
Ich will diese notwendigerweise einseitige Art zu funktionieren,
die als Persönlichkeit ein Grandbegriff der Charakterologie ist,
noch nach einer anderen Seite hin abgrenzen. Es könnte nämlich
auf den ersten Anblick scheinen, als habe sie mit dem als Starr-
köpfigkeit und Eigensinn bezeichneten Verhalten Verwandtschaft.
Eigensinn ist nun aber das Festhalten an einzelnen, einmal ge-
faßten Velleitäten durch alle äußeren und inneren Umstände hin-
durch. Der Eigensinnige wird nicht durch eine eingeborene gesetz-
mäßige Funktion geleitet wie der Mensch von Persönlichkeit,
sondern durch einzelne Fakta, die aus welchem Grund immer
im Mittelpunkte seines Bewußtseins stehen und als fixe Ideen
pathologisch entarten können. Beides sind also scharfe Gegen-
sätze, und Starrköpfigkeit kann sehr wohl als die Karikatur von
Persönlichkeit angesehen werden, als deren mimicry, weil sie
oberflächliche Ähnlichkeit mit innerlicher Gegensätzlichkeit ver-
einigt. Wer im Alltagsleben ein Mann von Charakter geheißen
wird, der ist sehr oft nur ein beschränkter Starrkopf.
Wir haben ein Schema gewonnen, die Intensität des seeli-
schen Eigenlebens zu verstehen und festzustellen. Diese In-
tensität entfaltet sich natürlich nur an den Inhalten des Bewußt-
seins, die Erlebniskraft erzeugt neue Inhalte aus sich selbst heraus.
Und welcher Art diese Inhalte sind, welche neue Klasse von Re-
alitäten in einem bestimmten Bewußtsein entstehen, ist zur weiteren
Charakterisierung wesentlich. Es sind drei verschiedene, in sich
geschlossene Seinsformen, die produziert werden können : unmittel-
bare schöpferische Lebenswerte, anschaulich gestaltete Werte, theo-
retische Werte. Es handelt sich hierbei nicht so sehr um die
Möglichkeit, bestimmte Klassen von psychischen Gebilden zu er-
zeugen, sondern darum, wo die eigenste Wirklichkeit, die persön-
lichsten Erlebnisse eines Menschen liegen. All dies, besonders
auch der nähere Zusammenhang des seelischen Wertes mit dem
Erlebnis, ist Sache einer ausgeführten Charakterologie und sei
hier nur angedeutet, um den Plan durchsichtiger zu machen.
Wessen Erlebnisse sich im Gebiete des ungebrochenen Lebens
halten, der dokumentiert die innere Kraft der Neuschöpfung in
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Emil Lucka,
jeder einzelnen Äußerung Beines Seins; er scheidet nicht eine be-
sondere Seinsform aus, auf deren Gebiet sich seine Produktivität
entfaltet, sondern ihm ist das ungebrochene D £1061 11 Lebenselement
und Material zu Neuem. Als großer Lehrer, als Religionsstifter
gebiert er aus sich heraus neue unmittelbare Lebensmöglichkeiten. —
Der dem anschaulichen Typus Angehörige, vor allem also der
Künstler, zerstört die dargebotene Wirklichkeit noch nicht in
ihrer Zusammenhangsstruktur; seine Umgestaltungen bleiben in
der Erscheinungsreihe. Aber er verwirklicht seine Werte nicht
im eigenen, ganz persönlichen Lebenswandel, sondern in einem
neuen, dem Vorstellungsleben angehörigen Material. Diese radikale
Veränderung des Gebietes hat er mit dem dritten Typus des pro-
duktiven Menschen, dem theoretischen Menschen gemein. Der
zerstört aber auch den Charakter der Anschaulichkeit und erschafft
eine neue Zusammenhangsordnung in Begriffen. Ihm werden die
Dinge erst ganz verständlich und eigen, wenn er aus der erdrücken-
den Fülle des Konkreten den Weg ins Übersichtliche, Abstrakte
gefunden hat. Seine Welt ist der Form nach ganz von der Wirk-
lichkeit verschieden, weil sie nicht ein System von Erscheinungen,
sondern ein System von künstlich gebildeten Elementen, von Be-
griffen darstellt, das doch aus der Wirklichkeit abgeleitet ist und
auf sie bezogen bleibt.
Das seelische Erlebnis hat sich uns als charakterologische
Grundfunktion enthüllt, die aus der Objektivität neue, der for-
malen Struktur nach voneinander verschiedene Seins-
gebiete erzeugt und sie als eigenberechtigt dem allen gemeinsam
gegebenen Wirklichkeitszusammenhange gegenüberstellt Die neu
entstandenen Seinsgebiete sind die verschiedenen, formal charak-
terisierten Reiche, in denen sich Kulturwerte verwirklichen können ;
und so ist der Zusammenhang der Charakterologie des produktiven,
d. h. des kulturschaffenden Menschen mit den objektiv gewordenen
Werten der Kultur angedeutet. —
Es scheint mir unfruchtbar, durch Kombinationen und Kreu-
zungen eine Menge kleine Kästchen herzustellen, in die nun die
wirklichen Menschen hineingepreßt werden sollen — denn ohne
Abschürfungen lassen sie sich nicht hineinschieben, meistens setzt
es sogar schwere Knochenbrtiche. Die Zahl dieser Kästchen ist
sehr verschieden, sie schwankt etwa zwischen zwanzig und acht-
hundert. Ich kann aber den Wert solcher Einteilungen, die ja
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Das Problem einer Charakterologie.
241
vielfach auf guten Beobachtungen basieren, nicht recht einsehen,
selbst dann nicht, wenn sie anderes als more geometrico kon-
struiert sind. Die Beschreibung der unendlich großen subjektiven
Mannigfaltigkeiten im Seelenleben kann nicht beabsichtigt sein;
denn hier gibt es keine Grenzen und man muß sich notgedrungen
großenteils auf Äußerlichkeiten beschränken. Wollte man in diesen
Bestrebungen konsequent sein, so müßte man für jeden einzelnen
Menschen eine eigene Unterrubrik von sehr hoher Potenz errichten,
denn keiner ist ja doch mit dem anderen völlig identisch. Und
jeder, auch der anscheinend simpelste Mensch ist wiederum un-
ausschöpfbar, wenn einer kommt, der ihn anzusehen versteht; dies
ist durch die großen modernen Seelenschilderer bewiesen worden.
(Ich nenne nur Dostojewskij, Tolstoj, Gorki, Flaubert,
Balzac, Zola, Bourget, Ibsen.) Es macht daher gegenüber
der Anzahl der zivilisierten Menschen (nur um sie handelt es sich
uns vorläufig, schon aus Mangel an anderem Materiale) gar keinen
Unterschied aus, ob man durch Summation von Merkmalen ein
paar Rubriken mehr oder weniger zustande bringt. Je weniger
Gruppen, desto besser. Aber die großen Züge, die das innerste
Wesen eines Menschen, seine Beziehungen zum Universum und
seine Stellung zu den allgemeinen Kulturwerten offenbaren — das
soll bis zu den Wurzeln verfolgt und verstanden werden. In dieser
Richtung denke ich mir ein System der Charakterologie aufgebaut:
nicht als langweiliges und willkürliches Verbuchungssystem aller
möglichen Eigenschaften, sondern als Einordnung der Menschen
in den Zusammenhang der Kultur, als Mittelglied zwischen
Psychologie und Wertphilosophie.
Ich wollte hier nicht mehr als das Programm zu einer
Charakterologie aufstellen. Meine Absichten werden wohl klar
geworden sein; von den dargelegten Anschauungen völlig Uber-
zeugt zu haben, kann ich kaum erwarten. Dies muß gründlicheren
Ausführungen vorbehalten bleiben. Vielleicht bin ich auch schon
hin und wieder zu weit ins einzelne eingegangen; aber man möge
es einer Skizze zugute halten, wenn sie hier große Lücken offen
läßt, dort im Eifer der Sache eine Partie mehr ausfuhrt als ge-
boten wäre.
(Eingegangen im Januar 1908.)
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Ein Beitrag
zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache.
Von
Prof. Dr. I. A. Gheorgov (Sofia).
Einleitende Bemerkungen.
Schon bei einer anderen Gelegenheit, nämlich in meiner Ab-
handlung Uber »Die ersten Anfange des sprachlichen Ausdrucks für
das Selbstbewußtsein bei Kindern«, welche im 3. und 4. Heft des
V. BandeB des »Archivs fttr die gesamte Psychologie« erschien1),
habe ich ausführlich berichtet, wie ich mein Material Über die
sprachliche Entwicklung des Kindes, für welche ich mich seit jeher
besonders interessierte, gesammelt habe. Hier sei nur wiederholt,
daß ich die Beobachtungen über die Entwicklung der Sprache an
meinen beiden Söhnen, von denen der eine am 4. November 1889,
der andere am 3. Dezember 1890 geboren wurde, gemacht habe.
Die näheren Umstände, welche mit diesen Beobachtungen zu-
sammenhängen und zur Kennzeichnung derselben nötig wären,
will ich hier nicht weiter anfuhren, sondern verweise auf meine
erwähnte Abhandlung.
Während ich in jener Schrift die Entwicklung der Sprache,
soweit sich dieselbe in der Art, wie das Kind seine eigene Person
sprachlich zum Ausdruck zu bringen trachtet, kundgibt, verfolgt
1) Die Abhandlung ist später auch als 1. Heft de« II. Bandes der »Samm-
lung von Abhandlungen zur psychologischen Pädagogik«, herausgegeben
von E. Meumann, Leipzig 1906, erschienen.
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklang der Kindersprache. 243
habe, will ich hier die Sprachentwicklung hinsichtlich der gram-
matischen Formen im allgemeinen nnd im einzelnen behandeln
nnd hoffe, daß die Ergebnisse meiner Beobachtungen einen wert-
vollen Beitrag znm Studium der Äußerung des Seelenlebens des
werdenden Menschen liefern werden. Ich bin nämlich der Ansicht,
daß das Studium der seelischen Entwicklung des Kindes durch
die Erforschung der grammatischen Entwicklung der Kindersprache
eine wesentliche Förderung erfahren wird, da unzweifelhaft
zwischen seelischer und sprachlicher Entwicklung eine innige
Wechselbeziehung stattfindet, und zwar nicht bloß in dem Sinne,
daß die seelische Entwicklung einen bedeutenden Einfluß auf die
Entwicklung der Sprache übt, sondern daß auch umgekehrt von
der Entwicklung der Sprache eine nicht unwesentliche Beein-
flussung auf die Psychogenesis stattfindet. Und in dieser Hinsicht
ist von besonderer Wichtigkeit die Beobachtung der Entwicklung:
der grammatischen Formen in der Sprache des Kindes, da
man hiervon besonders die Möglichkeit bekommt, auch einen
Rückschluß auf die Entwicklung der Seele des Kindes zu machen.
Und eben gerade in dieser so wichtigen Seite der sprachlichen
Entwicklung haben wir bis jetzt sehr wenig Material zur Hand.
Unter Anderen weist auf diesen Mangel an genügendem Beobach-
tungsmaterial, »um in den eigentlichen Werdegang des Sprechens
in Sätzen — und ich würde hinzufügen: auch in die morpho-
logische Entwicklung der Kindersprache — Einblick zu gewinnen«,
Prof. Meumann in seinem übersichtlichen Büchlein Uber >Die
Sprache des Kindes« hin1), und nach ihm hob auch Dr. William
Stern zum Schluß seines Referats über »Die Sprachentwicklung
eines Kindes, insbesondere in grammatischer und logischer Hinsicht«,
welches er vor dem I. Kongreß für experimentelle Psychologie in
Gießen im April 1904 hielt, diesen Mangel an Beobachtungen
und Aufzeichnungen hervor, was die Entwicklung der Syntax der
Kindersprache betrifft2). Wie gesagt, ist es wichtig, nicht bloß
Beobachtungen über die Entwicklung der kindlichen Syntax, son-
dern auch über die gleichfalls sehr interessante morphologische
1) Dr. E. F. W. Meumann, Die Sprache des Kindes. Zürich 1903.
S. 67.
2) W. Stern, Die Sprachentwicklung eines Kindes, insbesondere in
grammatischer und logischer Hinsicht Sonderahdruck aus dem Bericht über
den Kongreß. S. 112.
Archiv für P.Ychologt* XI. 17
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I. A. Gheorgov,
Entwicklang der Kindersprache zu besitzen. Und in dieser Hin-
sieht ist es von besonderer Bedeutung, daß wir Beobachtungen an
Kindern von Nationalitäten verschiedener Sprachgruppen hätten,
da, wie ich schon hervorgehoben, meiner Meinung nach auch die
Sprache der Umgebung von nicht unwesentlichem Einfluß auf die
seelische Entwicklung des KindeB ist. So wird die Seelen-
entwicklung eines Kindes einen verschiedenen Weg einschlagen,
je nachdem das Kind einer Sprachgruppe angehört, wo etwa der
Infinitiv im Vernum fehlt, wie es in unserer bulgarischen Sprache
der Fall ist, wodurch das Kind eines so bequemen Mittels beraubt
ist, ohne die Zeitformen Bich sprachlich auszudrücken, und schon
früher auch die Zeit in seiner Ausdrucksweise in Betracht nehmen
muß. Ebenso wird man bei sonst gleichen Umständen eine andere
Seelenentwicklung bei einem Kinde haben, welches in einer
Sprache sich auszudrucken hat, in der jede eigentliche Deklination
fehlt und wo die verschiedenen Beziehungen, die sonst durch die
Deklination der Nomina zum Ausdruck kommen, mit Hilfe yon
Präpositionen ausgedrückt werden. Oder, um noch einen Hinweis
zu machen, anders wird sich die Seele eines Kindes jener Sprach-
gruppe entwickeln, die sonstigen Umstände natürlich immer als
gleich vorausgesetzt, wo die Sprache die verschiedenen Zeitmöglich-
keiten der Vergangenheit durch einige wenige Zeitformen aus-
drückt, wie im Deutschen, als dort, wo die Sprache diese Zeit-
möglichkeiten mit größerer Genauigkeit bezeichnet.
Aus allen diesen Gründen finde ich es darum für wichtig, zur
Lösung des Problems der Psychogenesis des Kindes, daß genügend
viel Material aus der grammatisch-sprachlichen Entwicklung der
Kinder verschiedener Sprachgruppen gesammelt wird, und einen
wichtigen Beitrag dazu hoffe ich eben durch meine Beobach-
tungen an Kindern slavischer Nationalität, von denen mit ge-
ringen Ausnahmen bisher sehr wenig Beobachtungen vorliegen, zu
liefern.
Das erste Wort, welches mein erster Sohn am 412. Tage mit
Verständnis sprach, war das Wort dxa (— daj, gib), welches er
von da an nicht bloß in der richtigen Anwendung, wenn er etwas
verlangt, gebraucht, sondern auch wenn er etwas gibt, also im
Sinne des französischen Wortes voila oder tiens, was ein neues
Beispiel von dem bei Kindern oft zu Anfang beobachteten gegen-
sätzlichen Gebrauch der Wörter darstellt. Die nächsten Wörtchen
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 245
sind fa (am 430. Tage) im Sinne von pfui oder schmutzig, l'a
(= chleb, Brot) am 457. Tage, ca1) (= 6aj, Tee) am 476. Tage.
Bei meinem zweiten Sohne erscheint das erste Wort [xjxj — H
im Sinne von heiß, brennt) am 433. Tage, dann am 453. Tage de
[= dxe, guck, ich gucke) beim Versteckspielen und joc, Jos (= boc)%
am 518. Tage chade (= chajde, allons), wenn er merkt, daß wir
Vorbereitungen zum Ausgehen machen und er auch mit uns aus-
gehen will. Und auch die nächsten Wörter sind bei ihm von
dieser Art: cft, wenn er auf seinem Pferdchen reitet und es an»
spornt (530), 6te (= <*fo, voila), auf die betreffende Person zeigend,
wenn man ihn fragt, wo Beine Mama, sein Papa ist (555), öpa,
Oba, chöba (= cfioppa) 2), wenn er sich in meine Arme wirft (560),
na (tiens, 561), dej (= daj, gib, 564).
Alle diese ersten Wörter, besonders aber diejenigen, die mein
zweiter Sohn gebraucht, sind sogenannte » Satz Wörter « , d. h.
ihre eigentliche Bedeutung ist nicht die eines bloßen Wortes,
sondern eines vollständigen Satzes, und zwar drücken diese Satz-
wörter fast immer Wunsche und Begebrungen des Kindes aus.
Also auch meine Beobachtungen bekräftigen so ziemlich die
Meinung, die in letzter Zeit Prof. Meumann verficht, nämlich
daß »die erste Art selbständiger Verwendung von Worten beim
Kinde ausschließlich der Äußerung seiner Wunsche und Begehrungen
zu dienen scheint »). Danach haben, wie auch Dr. W. Stern
mit Meumann annimmt, »die ersten Wortbedeutungen des Kindes
durchaus nicht den Charakter von Aussagen über Gegenständliches,
sondern nur den von Stellungnahmen des Subjekts, von lust- oder
nnlustvollem, begehrendem oder verabscheuendem Verhalten, und
erst später entwickeln sich hieraus allmählich Bedeutungen, die
ein Konstatieren objektiver Tatsächlichkeit enthalten« 4). Besonders
bei meinem zweiten Sohne tragen fast alle ersten Worte deutlich
den Charakter von Wunsch- oder Gefühls worten.
1} Über die Wiedergabe mancher Laute des Bulgarischen siehe »Die
ersten Anfange« usw. S. 3,%.
2) a. a. 0. 8. 357.
3) E. Meumann, a. a. 0. S. 63.
4) W. Stern, a. a. 0. S. 110. — Heine Abhandlung war schon druck-
fertig, als inzwischen das neue ausführliche Werk von C. und W. Stern.
Die Kindersprache, eine psychologische und sprachtheoretische Untersuchung,
Leipzig 1907, erschien.
17*
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246
I. A. Gbeorgov,
A) Mein enter Sohn.
I.
Wenn wir nnn diese Stnfe der Kindersprache, anf welcher der
verbal-interjektionale Charakter der Worte noch vorherrschend
ist, verlassen und zn jener Epoche in der Kindersprache über-
gehen, wo schon deutlich die intellektuelle Funktion der Wort-
bezeichnung zu erkennen ist, so finden wir bei meinem ersten
Sohne unter den ersten Wortbezeichnungen die Worte für die
Eltern, papä und matnd, welche er am 509. Tage (bei 161/) Monaten)
sprach, wenn man anf die betreffende Person zeigte und das Kind
fragte, wer das ist. Dabei sieht man nun deutlich, daß das Kind
sich schon der Sprache als eines Mittels zur Bezeichnung der
Gegenstände vollkommen bewußt geworden ist. Von diesem Zeit-
punkte an tritt diese Seite der Sprache immer mehr hervor, wobei
die meisten neuen Worte, die das Kind gebraucht, Substantiva
sind : gijs (— grijs, Gries, 514) , kok* {— käia, Brei, gegen den
525. Tag), kdtt (= kjuftt, gehackte Kotelette, gegen den 545. Tag),
Tina und Käna (Namen der Bedienten, gegen den 590. Tag), usw.
Um diese Zeit sagt er auch immer la, la, wenn er verlangt, daß
wir ihn auf den Arm nehmen ; wahrscheinlich ist dieses Wort von
elä (komm) gebildet und in einem veränderten Sinne gebraucht
(516. Tag). Damit beginnt auch das Verbum in seiner Sprache
sich einzufinden, und zwar sind unter den ersten Verbalausdrucken,
die er gebraucht, folgende: mämä (furnlma, es gibt nicht), welches
er sagt, wenn etwas verschwindet, oder wenn wir ihn fragen, wo
irgendein abwesender Gegenstand oder eine abwesende Person
ist (gegen den 585. Tag); dasselbe Wort spricht er gegen den
600. Tag schon als ntma, neäma aus; — käci (für iskam da
okacd, ich will aufhängen, oder für okaci, hänge auf); er sagt dies,
wenn er vom Spaziergang zurückkommt und entweder selbst seinen
Hut aufhängen will oder jemanden auffordert, dies zu tun, indem
er ihm den Hut übergibt (gegen den 600.— 670. Tag); — pddnä,
pädnei (= Stepddna, ich werde fallen, ktepddnes, du wirst fallen);
so sagt er, wenn er von einem Stuhl oder vom Kanapee oder von
einer Treppe heruntergenommen werden will, damit er nicht fallen
soll, wenn er dies selbst tun würde (auch gegen den 600.— 670. Tag).
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kinderaprache. 247
n.
Mit dem Auftreten des Verb ums ist nun die Möglichkeit ge-
geben, schon auch in wirklichen Sätzen zu sprechen und nicht
bloß in Satzwörtern, und in der Tat stellen sich auch die Sätzchen
bald nach dem Erscheinen des Verbums ein, denn am 577. Tage
(zwei Monate nach dem ersten Verbum) sagt er sein erstes Sätzchen:
daj le (— daj chleb, gib — mir — Brot); — ebenso gegen den 600. bis
670. Tag: papd döjde, mamä döjde, (Udo döjde (Papa, Mama, der
Großvater ist gekommen, eigentlich: kam), wobei jedoch die ge-
brauchte Zeitform (Aorist) nicht zum eigentlichen Vorgang, der damit
bezeichnet wird, stimmt, da das Kind dieses Sätzchen gebraucht,
wenn es die betreffende Person gerade kommen sieht; richtig müßte
also das Kind eigentlich sagen : papd ide; — d/to pdce {— deUto
place, das Kind weint); — mdkitipdcc (= mdlkijat pldce, der Kleine
weint); — mdkitipi (= spi, der Kleine schläft); —papdplie (Papa
schreibt); — papd pUe be be, ve ve (der Papa schreibt be be, ve ve) ; —
mamu böli tüka (= mamä ja boll tüka, die Mama schmerzt es hier),
welches er sagt, wenn man ihn fragt, warum man der Mama keine
Trauben zum Essen gibt; die Frage auf diese Weise selbständig be-
antwortend, zeigt er dabei auf die Brust oder auf den Bauch (diesen
Satz sagt er gegen den 690. Tag) ; — tarn hna kiU (= krüM, dort
gibt es Birnen) ; — tarn ima göxde (= grözde, dort gibt es Trauben) ;
alle diese drei Sätzchen gegen den 705. Tag; in diesen Sätzchen
ist, wie man sieht, immer die Gegenwart ausgedrückt, so daß
die Bemerkung Sterns, wonach »dasjenige Tempus, das sprachlich
zuerst auftritt, nicht die Gegenwart, sondern die unmittelbare Zu-
kunft ist: denn diese Zukunft ist das Ziel des Strebens, der Er-
wartung, der Furcht, und die erste Sprache ist eben Willens- und
Affektausdruck « '), keine so allgemeine Geltung zu haben scheint.
Um dieselbe Zeit taucht auch die Vergangenheit in der Zeit-
form des Aorists auf, der in unserer Sprache sehr gebräuchlich ist.
Ich bin gar nicht der Meinung Sterns, wonach die Vergangen-
heit etwas so Entferntes für den kindlichen Verstand sei, daß sie
auch in der Sprache viel später erscheinen müsse als die Zu-
kunft und die Gegenwart — bei seinem Töchterchen sechs Monate
später. >Sehr charakteristisch ist ferner das Verhalten des Kindes
1) W. Stern, a. a. 0. S. 111.
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248
I. A. Gheorgov,
zu den verschiedenen Phasen der Zeit. Vergangenheit und Zu-
kunft sind beide als das Nichtseiende logisch gleichwertig; aber
flir den Willen sind sie durchaus ungleichwertig, und diese Be-
ziehung bestimmt ihre sprachliche Bewältigung. Daß das Kind
ursprünglich durchaus in der Gegenwart lebe und gegen Vergangen-
heit und Zukunft gleich indifferent sei, ist kein korrekter Ausdruck
der Tatsachen, zum mindesten nicht der sprachlichen Tatflachen.
Dasjenige Tempus, das sprachlich zuerst auftritt, ist nicht die
Gegenwart, sondern die unmittelbare Zukunft; denn diese Zukunft
ist das Ziel des Strebens, der Erwartung, der Furcht, und die erste
Sprache ist eben Willens- und Affektausdruck. Damm bleibt — es
ist dies wohl eine allgemeine Beobachtung — anfangs der Infinitiv
die einzige Verbform, und zwar durchaus in optativer Bedeutung,
etwa zwei Monate später tauchte bei unserer Tochter der Indikativ
präs. und erst weitere 6 Monate später das pari perf. auf ; die Ver-
gangenheit(,) als das dem Willen Entzogene, ist lange fiir das lediglich
vorwärtsblickende Kind nur ein Schemen; das erwachende Interesse
für Tatsachen der Vergangenheit setzt schon eine stärkere Ob-
jektivationsfähigkeit voraus«1). Wenn auch im allgemeinen viel-
leicht richtig, kann diese Ansicht Sterns nicht absolute Gültigkeit
beanspruchen. Das Kind kommt schon vor der teilweisen An-
eignung der Sprache zum Bewußtsein der Vergangenheit und hat
eine wenn auch unklare Vorstellung der Vergangenheit. Damit
das Kind eine Erscheinung in der Gegenwart erfaßt, muß ihm
dieselbe als eine solche, die vorher nicht existiert hat, bewußt
werden; sowie auch umgekehrt das Verschwinden einer Erschei-
nung dem Kinde nur mit Hilfe der Vorstellung der Vergangenheit,
in welcher dieselbe gewesen ist, existiert hat, zum Bewußtsein
kommen kann. So muß das Kind, um zu erfassen, daß die Sonne
scheint, das Licht brennt, wenigstens unklar sich bewußt sein,
daß früher die Sonne nicht geschienen, das Licht nicht gebrannt
hat; und da dieses Bewußtsein schon vor dem Auftauchen der
Sprache sich entwickelt, muß auch psychisch kein so großes Hinder-
nis für das Erscheinen des sprachlichen Ausdrucks fitr die Ver-
gangenheit vorhanden sein, sobald das Kind in der Sprache so
weit vorgeschritten ist, die verschiedenen Zeitmöglichkeiten aus-
zudrücken. Eben deswegen erscheint auch bei meinem ersten Kinde
1) W. Stern, a. a. 0. S. 111.
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 249
die Vergangenheit fast gleichzeitig mit dem Ausdruck der Gegen-
wart und auch beim zweiten nicht viel später. Wenn die Be-
obachtungen Sterns uns andere Tatsachen liefern, so muß das teil-
weise von den Eigenheiten der deutschen Sprache, teilweise von
anderen individuellen Bedingungen abhängen, jedoch durchaus nicht
allein Ton jenen allgemeinen psychischen Gründen, welche Stern
als allgemeingültig für alle Kinder hinstellt1).
Interessant ist es hier, auch einige verblose Sätze anzuführen,
die um diese Zeit gebraucht werden: mamd tego (= tto ja mam4,
hier ist die Mama, eigentlich: la voila maman, gegen den 600. bis
670. Tag), ebenso : cotko pi (= coväco pari, der Mensch Geld), welches
er sagt, wenn er Geld sieht, und dabei meint: dieses Geld ist für
den Menschen, d. h. für den Träger2), gegen den 690. Tag; ferner:
Kdna vavd (= — vodd, Kana Wasser, d. h. Eana ist nach Wasser
gegangen, gegen den 600. — 670. Tag).
Die unmittelbare Zukunft als Ausdruck des Wollens er-
scheint etwas später als obige Zeiten3): as, as da %6ma (ich, ich
soll nehmen, 711); — as, as, as da ttüja bito (= az, a%, ax da
turja kibrlta, ich, ich, ich soll die Zündhölzchen hinstellen), als
er verlangt, die Zündhölzchen selbst auf den Schrank zu stellen,
wo man sie gewöhnlich aus Vorsicht vor ihm bewahrte, 713.
Der Imperativ ist eigentlich die erste Zeitform, die zum Aus-
druck kommt, und zwar war das erste mit Verständnis gebrauchte
Wort schon ein Imperativ, nämlich das Wort dxa — daj (gib),
welches als daj auch im ersten Sätzchen vorkam {daj le = daj
chleb, gib Brot, 577). Die nächsten Imperative sind: donesf (bringe,
gegen den 690. Tag; gegen den 700. Tag erscheint derselbe Im-
perativ in dem besonders durch seine Länge bemerkenswerten Satz :
kdko, donesf pfceno nufoo, kaftli, möko = — , kartößj
■mörkovi; kako4), bringe gebratenes Fleisch, Kartoffeln, gelbe Rüben),
sedi (=sednf, setze dich, 715 und 717), syä&i {—svär&i, endige,
717), cSkaj in dem Satze: ctkaj da vfda (warte, damit ich sehe
1J Übrigens scheint Stern in seinem letzten ausführlichen Werke nicht
mehr auf dieser Meinung fest zu bestehen.
2) Siehe meine >ersten Anfänge usw.« S. 337.
3) Allerdings können auch manche Phrasen, in denen vielleicht Verben
mit dem Ausdruck der unmittelbaren Zukunft gebraucht worden sind, in der
Zwischenzeit, wo ich die Sprache des Kindes nicht peinlich genau verfolgte,
wie später, libergangen worden sein.
4) Dialektische Anrede der weiblichen Bedienten.
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I. A. Gheorgov,
oder: laß mich sehen, 720), legi si (papd, legi — = legnl — si
tüka, Papa, lege dich hierher, 721). Im Plural kommt der Im-
perativ erst am 1006. Tage znm Gebranch in dem Satze: ne mi
dävajte vtce vodd (gebt mir nicht mehr Wasser) und am 1053. Tage
in der indirekten Form: da ne ostänete ddlgo, ce ite vi bija (ihr
sollt nicht lange bleiben, denn — sonst — werde ich euch schlagen).
Diese indirekte Befehlform, die besonders für die 3. Person sehr
gebränchlich ist und meist mit der Partikel ntka, nSca da (etwa
wie das französische qne) eingeleitet wird, kommt seit dem 724. Tage
vor: Tdna ntka xftne Lddo (Tana — das Stubenmädchen — soll
Vlado nehmen, auch am 733. Tage); — am 731. Tage ist dieselbe
Phrase mit nfka da gebraucht worden; — mamd ntka cfte (= ceUy
die Mama soll lesen, 731). — In der ersten Person des Plurals
erscheint diese Form mit da am 735. Tage: tüka da pUeme
(= ptiemy hier sollen wir schreiben) ; — tovd da tuUm (= türim)
tarn pfökata (= na p6ckatay das sollen wir dort — auf — den Ofen
legen, 772); — und mit Auslassung des da am 771. Tage: könceto
nam&ime (= da namerimy das Pferdchen sollen wir rinden).
Die nächste Form ist der Aorist, der, wie erwähnt, im Bul-
garischen sehr gebräuchlich ist. Der erste wirkliche Aorist kam
in der Zeit zwischen dem 600. und 700. Tage vor: pdtiti oder
pdciti pddna (= sdpkata — , der Hut ist gefallen) ; — dann am
705. Tage: papd fdli miicha köfata (— chvärli muchä v köfata,
Papa hat eine Fliege in den Wassereimer geworfen); — gegen
den 713. Tag : ctngoloto {— ciganinät) domdti ne dvnfse, xäje danese
(der Zigeuner hat nicht Paradiesäpfel gebracht, Kraut hat er ge-
bracht); — Lddo tüli (= Vlddo turi, VI. hat gestellt, 714); —
pddna döle xemdta [= na xemjäta, fiel unten auf den Boden, 715); —
mamd ddde kaf6 papd (statt: na mamd , der Mama gab Papa
Kaffee, 716); — papd vid/ ögändt (der Papa sah das Feuer, 730). —
Jedoch kommen hin und wieder Formen des Präsens im Sinne des
Aorists vor; so sagt das Kind am 736. Tage: papd düva (gibt, statt
ddde = gab) na Lddo kutfjka, cupi (= i ja scüpi} Papa gab dem
Vlado — eine — Schachtel, und er zerbrach sie). — Alle diese
Formen und die vielen folgenden waren immer in der dritten
Person. Die erste Person des Aorists taucht dagegen erst am
824. Tage in der Phrase auf: ax namM {—nameiichy ich fand)
und zwei Tage später in der zweiten Person: H napdvi (= naprdviy
du hast gemacht, 826). — Die erste Person des Plurals
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 251
erseheint nach weiteren 4y2 Monaten am 970. Tage in dem Satze:
töja d/Jca go vidtchme (diesen, den wir sahen); — und am 1289. Tage
erst wieder: nie edin pät cfiodichme (wir gingen einmal hin).
Das Imperfektum, welches im Bulgarischen in der Umgangs-
sprache verhältnismäßig seltener gebraucht wird als der Aorist,
erscheint auch beim Kinde viel seltener. Im Laufe meiner ganzen
Beobachtnngen habe ich bei meinem ersten Sohne im ganzen nur
16 Fälle vom Gebrauch des Imperfektums angemerkt, wobei jedoch
in den meisten Fällen das Vernum bloß die Form des Imperfektums
hat, während es im Sinne des Aorists gebraucht worden ist. Und
von diesen wenigen Fällen sind die meisten wieder Formen des
Verbums »sein«. So sagt das Kind am 716. Tage: dMo tüka bUe
(der Großvater war hier), ebenso am 744. Tage: ubavo (= chübavo
btie vdn, schön war es draußen). — Ein interessantes Sätzchen mit
mehreren Imperfektformen kommt am 749. Tage vor, nämlich: dtdo
xä&cela (== xdvdera) bt&e tüka , jddese i püsefo (der Großvater war
hier, aß und rauchte), wenn auch hier eigentlich der Sinn der des
Aorists ist. Natürlich ist auch das Wort »vorgestern« nicht im
richtigen Sinne gebraucht. Am 744. Tage wendet er statt des Aorists
eine falsche Imperfektform an in dem Satze: xdicela (= xdvdera) l$ja
döjd/tse, i dMo xdsSela bese (vorgestern kam die Tante, und der Groß-
vater war vorgestern). Das Wort dojdeie ist statt des Aorists döjde
(kam) gebraucht und hat eine falsche Imperfektform; die eigentliche
Imperfektform müßte lauten: dochözdak. — Am 748. Tage brauchte
er noch das Präsens fitr die Vergangenheit, in diesem Falle für das
Imperfektum: ne iska da fdne na MÜica künata na Lddo ( Vlado wollte
nicht da» Händchen der Milica geben). — Interessant ist die Imper-
fektform des unpersönlichen Verbums »müssen« in dem Satz: tovd
ttbese (= trtbake) da se ti'di (= turi) tovd takd (das mußte so gestellt
werden). Das Verbum »müssen« wird im Bulgarischen wie das
französische falloir gebraucht. Das Demonstrativum »dies«
[tovd) ist pleonastisch im Sätzchen zweimal gebraucht (794). —
Interessant ist ferner der am 993. Tage ganz richtig gebildete Satz,
wo das Imperfektum im Nebensatze vollkommen richtig gebraucht
wird: ax videch edin 6ico, dfto vödeie ednö dgne bflo (ich sah einen
Onkel, d. h. Bauern, der ein weißes Lamm führte). — Am 1091. Tage
gebraucht er das Imperfektum des Verbums »sein« in der zweiten
Person des Plurals: na gösti Ii buchte? (wäret ihr zu Gaste, auf
Besuch?). — Am 1146. Tage sagt er manchmal die falsche
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252
I. A. Gheorgov,
Imperfektform btäech statt bech (ich war), gebildet unter dem Ein-
fluß der zweiten und dritten Person, welche b4ie lautet.
Ebenso ist das Perfektum anfangs auch nur im Sinne des
Aorists gebraucht. Es taucht in dieser Bedeutung am 733. Tage auf:
papd xel Lddo süo (= na Vlddo eksfra, Papa hat dem Vlado
den Nagel weggenommen); — ebenso am selben Tage: xel iovd
kuca Lddo (= Vl.zelt6jakljuc, VI. hat diesen Schlüssel genommen);—
papd hüpil goxde (« grözde, Papa hat Trauben gekauft), wo das
Perfektum schon je nach dem Sinne der Phrase am Platze wäre,
735. — Am 741. Tage sagt er zur Bedienten auf unsere Auf-
forderung: Malico, ztmi (= xeml) xfljeto (Marica, nimm das Kraut
weg), und dann wendet er sich zu uns und meldet uns dies mit
den Worten: kdxal (Perfektum statt Aorist: kdxa) da xtme xSlje
(sagte, sie soll das Kraut wegnehmen, wobei sein Eigenname zu
ergänzen ist, denn das Verbum ist in der dritten Person gebraucht) ; —
am 743. Tage gebraucht er das Perfektum in dem sehr sonder-
baren Sätzchen: tandl kdv (= standh kräv, es ist Blut geworden
im Sinne von: es begann Blut zu fließen); — am selben Tage
gebraucht er richtig das Perfektum, wenn auch nicht in der richtigen
Form, im Ausrufsatz: fe, kölko i)isal (— ie oder viz, kolko si napfsal,
sieh, wie viel du geschrieben hast), nachdem er in mein Heft ge-
schaut und gesehen hatte, wie viel ich geschrieben hatte. Ebenso
ist das Perfektum richtig in dem Satze: n/tto pddnalo Mu (etwas
ist hinunter — - auf den Boden — gefallen, 745); — am selben
Tage antwortete er mir mit der Perfektform statt mit Aorist, wie
meine Frage lautete: tfxal (= otrtxaU statt otrtxacha, man hat
geschnitten), als ich ihn gefragt hatte, ob man ihm das Haar ge-
schnitten habe. Überhaupt gebraucht er in der ersten Zeit das
Perfektum, wo es bei ihm erscheint, anstelle des Aorists, und zwar
sind diese Fälle meist solche, wo das Verbum in der dritten Person
gebraucht wird: iAdo xel (anstatt: ze) na papd leb (=Vl.xe cWba
na papd, VI. hat das Brot dem Papa genommen, 756); — papd
kupü (anstatt: küpi) casöonik (= casövnik, Papa hat eine Uhr ge-
kauft, 775); — Lddo oddskal (— VI. go odrdska, VI. hat ihn zer-
kratzt, 825); — Lddo ite go kdsa (=skfoa), te (= tto) vidü, Lddo
go foUal (= skäsa, VI. wird es zerreißen, da siehst du, VI. hat es
zerrissen, 825); — pömnü, kogd Lddo ixpil? (= — , kogdto VI.
ixpt? erinnerst du dich, als VI. es austrank? 826); —Lddo hddl
turil statt: türiy VI. hat hingestellt, 826); — Lddo scupü gtbm
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der KinderBprache. 253
(= VI. scüpi grtbena), mamd n/ma da se ce*ia (= cMja, VI. hat
den Kamm »erbrochen, die Mama hat nicht — womit — sich zu
kämmen, 827); — cid (statt: buch — Aorist erste Person oder
bu — Aorist dritte Person, ich habe gehört), antwortet er, als ich
ihn frage: bu U? hast du gehört? 831); — xafdnal da sßi (= wfn)
und xemdl (statt: xe) da sfüi (= sviri), beides: er hat zu spielen
angefangen, 868; — toj grebdl pesak (er hat Sand geschaufelt,
1294). — Manchmal gebraucht er in einer zusammenhängenden
Phrase in dem einen Satz den Aorist, in dem anderen das Perfektum,
trotzdem in beiden Fällen der Aorist stehen müßte. Auch in diesen
Fällen ist das Perfektum in der dritten Person: papd x/ma
(=zemd) Lddo i (toj, er — ist ausgelassen) kdxal (statt: kdxa) dobüto
(== dobrö ütro) na mamd (Papa hat den Vlado genommen, und er
hat guten Tag der Mama gesagt, 749); — papd, Lddo padnäl i
uddli se (= — , — pddna i se uddri, Papa, VI. ist gefallen und
hat sich angeschlagen, 801) ; — Lddo sdSi (= svärU) süpata, Lddo
go sabil (=jasvdrki, VI. hat die Suppe beendigt, VI. hat sie be-
endigt), sagt er nacheinander die zwei Phrasen, wobei er falsch
statt des weiblichen Personalpronomens ja das männliche oder
sächliche go für Suppe gebraucht, 829. — Ebenso gebraucht er
auch in der ersten Person das Perfektum oft für den Aorist: az
sdm jddela (statt: az jddoch, ich habe gegessen, 980); Uber die
Form jddela siehe »Die ersten Anfänge usw.« S. 354; — üte
(= ütre, morgen) sdm pdvil (statt: vMra naprdvich, gestern habe
ich gemacht, 1002); — ebenso: pdvil sdm title statt: naprdvich
veera, ich habe gestern gemacht, 1022. — Ebenso in der ersten
Person des Plurals: nie sme idäi (= nie otldochme, wir gingen
hin, 984): — SUfanbo i Lddka (= Rddka) otiile (Perfektum statt
Aorist: otidocha) sds papd si i sds mamd si da slüiat müxika, nie
ne sme iMi (= nie ne otldochme, St. und R. sind mit ihrem Papa
und mit ihrer Mama gegangen, Musik zu hören, wir sind nicht
gegangen, 984); — nie sme dodäi (= nie döjdochme, wir sind
gekommen, 992): — nie vceTa sme xemdU de golemi piloni, ta sme
cukdli (— nie vbera xtehme dva goUmi piröna, pa bukachme, wir
haben gestern zwei große Nägel genommen und haben — sie —
eingeschlagen, 1040).
Jedoch ist manchmal auch das Perfektum am richtigen Platze
gebraucht; so schon am 745. Tage in dem merkwürdigen Sätzchen:
kädf denal kuUjka? (= kddt si denal kutijkata? wohin hast du —
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L A. Gheorgov,
die — Schachtel hingetan?): allerdings kann hier auch der
Aorist gebraucht werden — je nach dem Sinne, den man in die
Phrase hineinlegt; — papd} bebeneeto xaspdlo (Papa, das Bebchen
ist eingeschlafen, 827); — xaitö si xakäsnä} papä? (warum hast
du dich verspätet, Papa? 968); — papä, kakö (=* kakvö) ite Mes
(=r6ze£), katö si xemdl nöla? (Papa, was wirst du schneiden,
da du das Messer genommen hast? 975); — cdlevicata lascäfnali
(— cdrevicata raxcävnala, der Mais hat aufgeblüht, 977); — ne e
Ii pisdla tja oddvna pismö? (hat sie nicht seit lange einen Brief
geschrieben? 986); — u SUfcovi doili gösti (es sind Gäste zu
Stefcovs gekommen, 986); — tU Iskali da utepat (= utrtpat, die
haben erschlagen wollen, 993); — xaitö si ixpljula? (warum hast du
ausgespuckt? 1024); — öite ne säm xacvkal (ich habe noch nicht ein-
geschlagen, nämlich den Nagel, 1040): — tuk nasldl (=nasrdl) edln
bivol (hier hat ein Büffel gemacht, 1045) ; — tqj xagldbü (= xagräbü)
sitko (er hat alles an sich gerissen, 1061); — papd, vi£, ogttlo
(= ogräo) slänceto (Papa, sieh, die Sonne ist aufgegangen, 1095); —
hika st ixgortlo (hier ist alles verbrannt, 1113); — öite Tie säm
nap'dvüi) (= naprdvü, ich habe noch nicht gemacht, 1190): —
ja kölko säm ixpü! (sieh, wieviel ich ausgetrunken habe! 1212); —
ax ne säm naröcno raxchvärljal voddta (ich habe nicht absichtlich
das Wasser verschüttet, 1364); — stani da mi sipeS vodd, ax ne
säm ptt (steh auf, mir Wasser einzugießen, ich habe noch nicht
getrunken, 1378); wie man sieht, ist in diesen Phrasen das Per-
fektum nicht bloß in der dritten Person, sondern oft auch in der
ersten und zweiten Person der Einzahl.
Das Plusquamperfektum kommt nur ein einziges Mal vor,
und zwar in einer nicht ganz richtigen Form, nämlich in dem Satze:
tarn 6<#e2) (statt: bech) pddnal (dort war ich gefallen), welche Phrase
er einige Minuten, nachdem er gefallen war, sagte, wobei er auf
die Stelle zeigte, wo dies geschehen war (776).
Das Futurum kommt in der Form des Präsens natürlich schon
sehr früh vor. In der ersten Zeit wird in dieser Weise die unmittel-
bare Zukunft ausgedrückt. So sagt das Kind schon am 711. Tage
ganz richtig: as, as, as da xfma (ich, ich, ich soll nehmen); — am
713. Tage, as, as, as da tulja bito {= ax da türja kfbrita, ich soll die
1) Über den Apostroph, der das r ersetzt, siehe »Die ersten Anfänge usw.«
S. 349, Faßnote.
2) beie ist die Form für zweite und dritte Person Singularis.
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindenprache. 255
Zündhölzchen hinlegen) : — as töpi [= ax da potopjd, ich soll ein-
tauchen, 716); — da vida (— da vidja, ich soll sehen, ich will sehen,
720); — ctkaj da vida (= vidja, laß mich sehen, 720); — Lddo sam
kdti idpka (= VL sam da xakaci kdpkata, VI. soU selbBt den Hnt auf-
hängen, 720); — Lddo sam da bdka (= bdrka, VI. soll selbst um-
rühren, nämlich die Milch, 724); er sagt dies, als er sieht, wie ich
mit dem Löffel die Milch umrühren will; — as, asdapiia (ich soll
selbst schreiben, 724) ; — da vidja pijka (= püjkata, ich will den
Truthahn sehen), sagt er, indem er zum Fenster geht, 725; — Lddo
da xSme nözici, papd da ottze noch (= da otreze nöktite, VI. soll die
Schere nehmen, Papa soll die Nägel abschneiden, 772); — da se
xaköpcat (sie sollen zugeknöpft werden 827).
Das eigentliche Futurum ist in der ersten Zeit ohne das Hilfs-
yerbum > werden« (kte) ausgedruckt, oder wird anders, mit anderen
Verben umschrieben, gebildet; so sagt das Kind am 716. Tage:
Lddo fdne mücha (= VI. k te chvdne muchdta, VI. wird die Fliege
fangen); — pän säii kjutS pöse xemek kuUja (= pdrven svärU
kjufUto, pösle i te xtmei kuUjata, zuerst endige die Kotelette — welche
er nämlich gerade ißt — , dann wirst du die Schachtel nehmen, sagt
er von sich selbst, 726); — Lddo kdcis gtdak (= VI. kte se kdti i kte
gleda, VI. wird — auf den Stuhl — steigen und wird — den Schnee —
sehen: eigentlich sind die Verba dabei in der zweiten Person1),
726) ; — dko kdtis (— se Jddtifj, papd ne däva göxde (= gröxde, wenn
du dich schaukelst, gibt dir Papa keine Trauben); er bildet sich
diesen Satz selbst, nachdem ich ihm gesagt hatte: du darfst dich nicht
so schaukeln (ne blva da se kldtiS takd), 749; — hiak tfbe (— trtba)
da pddne (— Inak kte pddne, sonst wird es fallen, eigentlich sagt
er aber: sonst muß es fallen, 830); — tovd — e — mnögo goUmo
Iska da se xaddvi (austatt: kte se xaddvi) Lddo tuka v gdaloto
(— gdrloto, das ist zu groß, VI. wird sich hier in der Kehle er-
würgen; eigentlich sagt er: Vlado will sich hier erwürgen, 830); —
Lddo tska da se xaddvi (anstatt: VI. kte se xaddvi, VI. wird sich
erwürgen, 831)*); — tfba [= tr6ba) da se uddli (= uddri) anstatt:
ite se uddri, welchen Ausdruck er eigentlich öfter als den ersten
gebraucht; der erste lautet in der Übersetzung: er muß sich an-
schlagen, statt: er wird sich anschlagen; ebenso sagt er: ttba
1) Siehe »Die ersten Anfänge usw.« S. 340.
2) Ebenda. S. 346.
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I. A. Gheorgov,
(= treoa) da se xaddvi (er mnß sich erwürgen), jedoch weniger
oft als ite se xaddvi (er wird sich erwürgen, 837); — nnd noch:
iska da me g6Hx) sldnceto (== hte nie gort sldnceto, die Sonne will
mich brennen, anstatt: die Sonne wird mich brennen, 948).
Andererseits stellt sich aber schon früh anch der Gebranch des
Futurums mit dem richtigen Hilfsverbum ite ein, so sagt das
Kind schon am 731. Tage: ax he (= sie) cetem (dialektisch für cetd)
veainka (= vestnika, ich werde die Zeitung lesen); — segä Lddo
ie (= ite) fj)ad4 ptieno meso (jetzt wird VI. gebratenes Fleisch
essen, 731); — Lddo segd hte tarne (= stäne, VI. wird jetzt auf-
stehen, 733); — Lddo ie (= ite) jadt ptieno m/so toldjo (= v
stolovdjata, VI. wird gebratenes Fleisch im Speisezimmer essen,
734); — papä hie xenie Lddo, ako bädek müen (= mtren, Papa
wird VI. nehmen, wenn du ruhig sein wirst), sagt er von sich
selbst2), 743; — Lddo ite kdci (— hte se kdci) takd na papd, ite
jrij6 caj (VI. wird so auf den Papa steigen — nämlicb anf seinen
Schoß — , wird Tee trinken, 748); — papd, üte (= ütre dido da
dojde, hte kdJteh dobdden (= dobdr den, Papa, morgen soll der
Großvater kommen, du wirst ihm guten Tag sagen), sagt er von
sich selbst3), 754; das ist das erste Futurum mit dem Hilfsverbnni
hte in der zweiten Person; — ax hte metem (ich werde fegen),
sagt er, als er die Bediente fegen sieht, 756; — Lddo ite zeme
köpce (VI. wird — den — Knopf nehmen, 763); — Lddo cüpi
(== scüpt) kalema, papd pöse hte pdvi {= pösle hte go naprdvi)?
(VI. hat den Bleistift zerbrochen, Papa wird ihn dann machen,
d. h. spitzen? 772); — kaUm tarn hte tuli, üte hte pUa (= kaUma
tarn ite türja, ütre ite ptia, den Bleistift wird — Vlado — dort-
hin legen, morgen werde ich schreiben; offenbar ist hier mit dem
Worte »morgen« der Begriff »später« gemeint, 775); — tüka Lddo
pike, i tüka ite ptie Lddo ölte (hier schreibt VI., und hier wird er
noch schreiben, 775); — papd hte bie mamd (Papa wird Mama
schlagen), sagt er plötzlich ohne jeden Grund, 780; — ite döjde d/do,
ite kdiei gunten tag ( — wenn — der Großvater wird kommen, du
wirst »guten Tag« sagen4), 783); — papd tidi (= türi) takd i
papd hte pdli (= xapdli, Papa hat so gesteckt — nämlich eine
1) Siebe »Die ersten Anfänge usw.« S. 349, Faßnote.
2) Ebenda. S. 351.
3) Ebenda. S. 351.
4) Ebenda. S. 351.
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 257
Zigarette in den Mond — und Papa wird — jetzt — anzünden,
790); — dug ste döde Ii soldäti? (= drugi soldäti ite d&jdat U?
werden andere Soldaten kommen? Hier ist zum erstenmal die
dritte Person der Mehrzahl gebraucht, jedoch ist die Form noch
die der dritten Person Singular); — mdkiH ite döde i ste go butne
(der Kleine wird kommen and es umwerfen, 824) ; — Lddo ite se nboctf,
pode ste b6U (= boli} VI. wird sich stechen, dann wird es weh-
tua, 824); — dko he {= ite) pädne, Lddo ite go nameU (= nameri,
wenn es fallen wird, wird VI. es finden, 824); im ersten Neben-
satz ist eigentlich das Hilfsverbum ite im Bulgarischen nicht ge-
bräuchlich, da nach dko = wenn, katö, kogdto = wann, wenn
— nicht das Futurum steht, sowie im Französischen nach >si«;
so ist z. B. im folgenden Satze ganz richtig das ite nicht gebraucht
worden: Lddo katö bade (— bdde) stdlec (= stdrec), ste puii (wenn
VL ein Greis sein wird, wird er rauchen, 825); — ax tüka ite
pokdla, kakdv e (ich werde hier zeigen, was für einer er ist, nämlich
von welcher Farbe der Zwirn ist, da ich ihm Zwirn spulen verschiedener
Farbe gab und ihn aufforderte, die Farbe zu nennen, 830); — ax
ite te ixpdda (= üpddja, ich werde dich fortjagen) und: ax ite go
ixpddam (= ixpätija, ich werde ihn, den Papa, fortjagen, 853); — ax
ite si ddvam sam (ich werde mir selbst geben, 859) ; — ax ite pld-
iam (= jddta) xa t/be (ich werde nach dir weinen, 938); — Zenja katö
bdde böletij ax ite ixUxna, a Zönja ite bdde v stdjata (wenn Z. krank
sein wird, werde ich ausgehen, und wird im Zimmer sein, 1353).
Vom 802. Tage an erscheint dieselbe regelmäßige Form des
Futurums auch in der ersten Person des Plurals: papd,
ste jadem nie ptceno meso (Papa, wir werden gebratenes Fleisch
essen, 802); — segd ite jadem nie (jetzt werden wir essen, gegen
820); — nie ite tt'dim {=tuHm, wir werden stellen, 826); —
pöse {— pösle) ite pokdzem kdndxdt {— knjdxdt), später werden wir
den Fürsten zeigen, 827); — üte (und: ütie == ütre) kogd pestdne
(= prestdne) da vali, nie ite ixUxem (wenn es morgen aufhören
wird zu regnen, werden wir ausgehen, 1001).
In der zweiten Person des Plurals kommt das Futurum
sehr selten vor, weil überhaupt die zweite Person des Plurals vom
Kinde um diese Zeit noch selten gebraucht wird, da er dazu seltener
Gelegenheit hat; das erstemal taucht diese Form am 996. Tage auf:
dko iskam, ite vü dadtte, dko ne stai nema da mi dadSte (wenn
ich will, werdet ihr mir geben, wenn ich nicht will, werdet ihr
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1. A. Gheorgov,
mir nicht geben). Über die verneinende Form mit n&ma da
siehe gleich weiter unten.
Auch die besondere verneinende Form des Futurums, ge-
bildet mit den Partikeln n&ma da und darauf folgender Prasens-
form (etwa: es wird nicht sein, daß . . .) beginnt schon sehr früh,
aber fast immer nur in der dritten Person des Singulare und sehr
selten in der ersten Person, in welcher ja das Kind um diese Zeit
sehr selten spricht: n&ma papd da dad& kütja (= kutijata, Papa
wird nicht die Schachtel geben, 720); nämlich vor einigen Tagen,
als er von mir verlangte, er soll die Schachtel mit Zündhölzchen
auf den Schrank hinaufstellen, und er die Zündhölzchen dabei
ausgeschüttet hatte, hatte ich ihm gesagt, daß ich ihm nicht mehr
die Schachtel geben werde, und jetzt erinnert er sich nach einigen
Tagen dessen und sagt mir obige Phrase; — n&ma da pddne
Lddo (VI. wird nicht fallen, 735) ; — mamd n&ma da iz&xe (— ixl&ze)
van, öite pi [= spi, die Mama wird nicht hinausgehen, noch schläft
sie, d. h. sie lag noch krank im Bette, 747); — n&ma da fäli
{= chvärli, wird nicht werfen, 754); — ne, papd n&ma da Ue
Lddo (nein, Papa wird VI. nicht schlagen), antwortet er mir, als
ich ihm sage: Papa wird VI. schlagen, 756; — n&ma da btipa
(= scüpja, ich werde nicht zerbrechen), antwortet er, als ihm die
Bediente sagt: Vlado, da wirst es zerbrechen, 763: — Lddo n&ma
da fdli (= chvärli statt : sfpe) p&pel (VI. wird nicht Asche werfen,
statt: ausschütten, 769); — papd n&tna da plse tüka (Papa wird
hier nicht schreiben, 775); — papd, Lddo n&ma da fäli (= chvärli)
p&pel nadölu (Papa, VI. wird nicht Asche nach unten, d. h. auf den
Boden, werfen, 779); — Lddo n&ma da cüpi (= scupi) panica
[= pantcata, VI. wird — den — Teller nicht zerbrechen, 779) ; —
Lddo n&ma da düma takd (VI. wird nicht so sagen, 792) ; — papd n&ma
dajad&} Lddo htejad&. (Papa wird nicht essen, VI. wird essen, 793). —
Die zweite Person des Singulars in dieser Form kommt
erat am 827. Tage vor: ax ite pokäza, H n&ma da pokdzeS (ich
werde zeigen, du wirst nicht zeigen); — die zweite Person
des Plurals erst am 996. Tage: afco iskam, ite mi dad&te, ako
ne sta, n&ma da mi dad&te (wenn ich will, werdet ihr mir geben,
wenn ich nicht will, werdet ihr mir nicht geben).
Das Partizipium perfecti passivi taucht eigentlich am
745. Tage auf, als das Kind sagt: tüka t&zeno (= otr&xano, hier
ist — das — abgeschnitten); allerdings sagt er schon gegen den
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 259
685. Tag: kako, donest p&eno mfeo (—mc^ö, k ako l), bringe gebratenes
Fleisch), ebenso am 715. Tage: 64kam papd da jadt p6beno meso
(= mesöy ich warte, — bis — daß der Papa gebratenes Fleisch
ißt), jedoch ist hier das Wort ptäeno mehr so aufzufassen, daß ob
mit dem Worte meso ein Wort bildet, etwa > Braten«, so daß das
Kind sich dabei der Bedeutung des Wortes ptöeiw als eines be-
sonderen Partizips nicht bewußt wird. Seit dem 770. Tage bildet
sich der Knabe das Wort p'tsana (geschrieben); — dann am
776. Tage: tüka odtzano (= otrtzano, hier abgeschnitten, wobei
er sagen will: hier ist das Haar abgeschnitten); — tovd valeno
(= raxvaMno, das ist verdorben , er erkennt nämlich an einem
Bilde, daß das Bettchen zerbrochen ist, 777); — tüka pisano
{— pisano, hier — ist — geschrieben, 777) ; — pUaiw [= pisano,
geschrieben, wobei er sagen will: das ist hier beschrieben, 793); —
tüka ugdseno oder izgdseno, dügoto goli (= dnigoto gort, hier — ist —
erloschen, das andere — nämlich der andere Ofen — brennt);
hier hat allerdings das Verb die Form des Partizipiums perfecti
passivi, aber dem Sinne nach sollte das Part. perf. activi [tigdsnaio)
stehen; 778; — tovd takd Ii e tüleno (= türeno)? (ist das hier so
gestellt? 793); — disteno (— ocisteno, gereinigt, 794): — ptkani
(= popikdm) gdhti (bepißte Hosen, 794); — napdveno (= naprävetto,
gemacht(es), 795); — pühterw {=pilsnato, losgelassen, freigelassen,
799) ; — cdlevicite sd köpani {= cdrevkite sä preh/pani, der Mais
ist umgegraben, 984); — ti segd kadd [= küdt) ite iaes, katö si
oblecen? (wohin wirst du gehen, da du angezogen bist? 987); —
Tie e mtteno öste, tfba (= trtba) da se pomeU (es ist noch nicht
gefegt, man muß ausfegen, 995); — sä (= säm) kä'sten
(= knistert, ich bin getauft), sagt er plötzlich (wahrscheinlich hat
er dies von der Bedienten gehört), 1013; — papd, ti si stfzan
(= ostrtgan), i flu iskam da se osttgam (= ostrtza, Papa, du hast dir
das Haar schneiden lassen — bulgarisch : du bist geschoren — , ich
will mich auch scheren lassen, 1030) ; — przen (= pärzen, geröstet,
gebraten, 1074); — kak c zasito? (wie ist es zugenäht? 1080); —
tovd e xavtto (das ist eingewickelt, 1199) ; — bojadisanite sä chübavi
(die gefärbten — Eier — sind schön, 1252). — Interessant ist es,
daß er am 793. Tage das Partizipium perfecti activi für das Part,
perf. passivi gebraucht in dem Worte cüpil (= slüpil) filr scüpen:
1) Siehe oben S. 249, Fußnote 4.
ArcUiv fftr l'eycbologie. XL 18
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I. A. Gheorgov,
ähnlich sagt er am selben Tage die Phrase: tovä na papä köpce
k '/nalo (= skfnalo ftir: skäsano, dieser Knopf des Papa ist zerrissen),
welches jedoch auch so gemeint sein kann: tovä köpce na papä
se skfnalo (dieser Knopf des Papa hat sich zerrissen); — endlich
ist interessant, wie er den Sinn des Part. perf. passivi am 772. Tage
dnrch einen sehr sonderbaren Satz ausdruckt i tovä fska Lädo
da kähi na könteto = auch dies will VI. steigen auf das Pferd,
womit er eigentlich sagen wollte: daß auch er auf das Pferd ge-
setzt werden will, wie er es auf einem Bilde gerade sah.
Am 857. Tage gebraucht der Knabe zum erstenmal auch das
substantivische Verb: tovä e metiäta xa me*teriel) (das ist der
Besen zum Fegen) ; — tovä ne e xa bfenje (das ist nicht zum Schla-
gen, 962); — daj mi n/ito xa igäenje {— igräenje, gib mir etwas
zum Spielen, 966); — vodd ima xa pienje (Wasser gibt es zum
Trinken, 966); — daj tovä xa gWbenje [— grtbenje) vodd (gib das
zum Schöpfen von Wasser, 969) ; — Sie luem ttipanjeto (wir werden
hören das Trommeln — der Musikbande, 993) ; — tovä e xa pectä-
danje (= prece"£danje} das ist zum Durchseihen, 1002); — kogä
döjde v'cmeto*) (= vremeto), mamä ite me säbüdi da pfem töpdl
taj da mi mfne kählaneto (wenn die Zeit kommen wird, wird
mich Mama wecken, daß wir Tee trinken, damit mir das Husten
vergeht, 1013); — katö sätä (» svärSÜ) ptäenjeto, pak ite ptUü
(wenn du das Rauchen endigen wirst, wirst du wieder rauchen,
1042); der letzte Satz ist auch wegen seines Inhaltes höchst
interessant.
Wie ich schon gleich anfangs erwähnte und auch in meiner
Abhandlung über >Die ersten Anfänge usw.« ') erklärt habe, ist
in unserer Sprache kein eigentlicher Infinitiv vorhanden; er
wird in umschriebener Weise mit dem Verbum finitum aus-
gedruckt. Jedoch ist in äußerst seltenen Fällen auch ein Über-
rest vom früheren Infinitiv da, der besonders nach einigen be-
stimmten Hilfsverben der Modalität gebraucht wird, so besonders
nach können, wollen, tun, nicht tun. Der ehemalige Infinitiv
endigte im Bulgarischen auf ti; gegenwärtig zeigt sich eine ähn-
liche Infinitivform in rudimentärer Weise durch Hinweglassung dieses
ti; so kann man heute sagen: rnöze bi (statt: biti, es kann sein),
1 Das n etwas erweicht ausgesprochen.
2) »Die ersten Anfänge usw.« S. 348, Fußnote 1.
3? Ebenda. S. 352, Fußnote.
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklang der Kindereprache. 261
az ne möga kdxa (statt: kdzati, ich kann nicht sagen) oder um-
schrieben, was viel gebräuchlicher ist: möie da bäde (es kann, daß
es sei), az ne möga da kdia (ich kann nicht, daß ich sage). Nun
hat das Kind, allerdings in späterer Zeit, merkwürdigerweise auch
diese seltene Ausdrucksweise erfaßt und hat sie nach meinen
Aufzeichnungen gebraucht, nämlich das erstemal am 1051. Tage
in der Phrase: nem&j go zSma (etwa: tue es nicht nehmen), welche
mit dem Verbum finitum ausgedruckt lauten wurde: nem&j da go
zfmek\ — und das zweitemal am 1106. Tage: nem&j 6di (== chödi)
tarn (tue nicht dorthin gehen).
III.
Die Deklinationsformen des Nomens werden im Bul-
garischen durch ein vor das Nomen gesetztes na (das franzö-
sische a) gebildet, und zwar wird dieses na sowohl zur Bildung des
Genitivs als auch des Dativs gebraucht; also: na rfbata (des
Fisches und dem Fische), na momcfto (des Knaben und dem Knaben).
Anfangs wird nun natürlich die Beziehung der Casus obliqui vom
Kinde einfach durch Aneinanderreihung der Nomina ausgedrückt.
Jedoch erscheint das na auch ziemlich früh, so im Qenitiv gegen
den 690. Tag im Ausdruck: gdta (= igldta) na mamd (die Nadel
der Mama); — am 747. Tage sagt das Kind: tovd e na papd
pantalbn (= pantal&nät, das ist die Hose des Papa, mit Vorsetzung
des Genitivs, was im Bulgarischen nicht gebräuchlich ist) ; er sagt
diesen Salz, ohne daß ich ihm vorher darüber irgendein Wort
gesagt hatte; er hat sich ihn also ganz selbständig gebildet; —
ebenso immer mit solcher Vorsetzung des Genitivs: tovd (mit Aus-
lassung des Verbums e = ist) na mdkiti (= mdlkijat) HStto, tovd
na bebe" Hsence (= tovd e na bebt HStnceto, das ist die Flasche
des Kleinen, das ist das Fläschchen des Beb6s, 749); — Lddo
zel na papd lep (= VI. xe chl/ba na papd, VI. hat da« Brot des
Papa genommen, 756); — tovd kakö ( ~= kakvö) e? na Lddo tovd
(= tovd na VI. Ii e)? (was ist das? ist das des VI. = gehört das
dem VI.? 781); — tovd na deao da pilsi (= tovd e na deao za da
püH, das ist des Großvaters, um zu rauchen, 790); — tovd na
papd k&pce kfnalo (= tovd k&pce na papd se sklnalo, dieser Knopf
des Papa ist abgerissen, 793); — tüka Ima na papd pali (= pari,
hier gibt es Geld des Papa, 799). — Es kommen natürlich in
derselben Zeit auch Genitive mit der richtigen Nachsetzung des
18*
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262 i- A. Gheorgov,
Genitivs vor: Lddo cüpi [= seitpi) küönceto na bebtnceto (VI. hat das
Fläschchen des Bebchens zerbrochen, 767) ; — tovd e öddp {—cordp)
na Lddo (das ist ein Strumpf des VI., 777) ; — tüka ima mölir
na Lddence da ptie (hier gibt es einen Bleistift des Vladence —
Diminutiv — , um zu schreiben, 794); — ima Ii kaUm na Lddo tüka?
(gibt es einen Bleistift des VI. hier? 794); — magdle {= magdre),
ti go ixpi na mamd (Esel, du hast ihn — nämlich den Wein —
der Mama ausgetrunken, 848); merkwürdig, woher er das Schimpf-
wort magdre her hat, jedenfalls nicht von uns. — Jedoch bereitet
ihm der Gebrauch dieser Partikel na sehr oft auch Schwierigkeiten,
so daß er sie manchmal auch unrichtig vorsetzt: so sagt er am
748. Tage: ne Iska da fdne na MÜica künata na Lddo (will nicht
nehmen das Händchen der Milica VI.), wo das letzte na gar nicht
am Platze ist, denn es steht unrichtigerweise auch vor dem Sub-
jekt; — und noch viel später hört man von ihm solche falsche
Ausdrücke, so sagt er noch am 948. Tage : tovd e na mamd kndxdt
(— knjdxat, das ist der Mama Fürst) anstatt: tovd e mamd na
knjdxät (das ist die Mama des Fürsten). — Wenn auch solche
Unregelmäßigkeiten vorkommen, so muß doch hervorgehoben
werden, daß für den Ausdruck des Genitivs viel früher als für
den Dativ die Partikel na gebraucht wird, und daß seit dieser
Zeit nicht ein einziger Fall angemerkt worden ist, wo der Genitiv
ohne die Anwendung des na ausgedrückt worden wäre, was beim
Dativ auch später oft geschieht; das ist jedenfalls sehr charakte-
ristisch, und es scheint mit dem Ausdruck des Genitivs in engem
Zusammenhange zu stehen, daß es dem Kinde widerstrebt, die
Beziehung des Genitivs durch bloße Aneinanderreihung auszu-
drücken. Höchstens könnte ein solcher partikelloser Genitiv in
folgender Phrase gesehen werden, welche aber eine solche Phrase
ist, wo die Kasusbeziehung auch als eine solche im Dativ auf-
gefaßt werden kann; die Auslassung des na kann darin jedenfalls
durch die hier zwischen dem Dativ und Genitiv achwankende
Beziehung erklärt werden: papd xel Lddo stlo (— ekstro, 739),
was Ubersetzt werden könnte entweder: Papa hat dem VI. den
Nagel weggenommen oder: Papa hat den Nagel des VI. genommen;
übrigens liegt ersterer Sinn näher wegen der Voranstellung des
Eigennamens.
Der Dativ wird in der ersten Zeit auch mit Hinweglassung
der Partikel na ausgedrückt; so sagt das Kind am 716. Tage:
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklang der Kindersprache. 263
mamd ddde kaffi papd (der Mama hat Papa Kaffee gegeben), wo
aas der Phrase nicht klar wird, wer wem den Kaffee gegeben
hat; eher würde man nach der Voranstellung des Wortes Mama
versucht sein zu denken, daß die Mama dem Papa den Kaffee
gegeben hat, während es umgekehrt der Fall war und er hätte
richtig sagen sollen: na mamd ddde ... — Ebenso sagt er am
731. Tage ohne na: Lddo sed&w ipapd sed&no (= na VI. e studfno
i na papd e studeno, dem VI. ist es kalt und dem Papa ist es
kalt). — Es kommt aber auch wie beim Genitiv manchmal, wenn
auch selten und nur anfangs, Versetzung der Partikel und dadurch
ganz falscher Gebrauch derselben: mamä ddde na Lddo lep
i = chleb, die Mama gab dem VI. Brot, während er eigentlich sagen
wollte: VI. hat der Mama Brot gegeben, was er richtig in dieser
Weise hätte ausdrücken sollen: na mamd ddde VI. dileh); auch
hier ist wieder die ungewöhnliche Voranstellung des Dativs inter-
essant; 726; — ebenso sagt er auch am 745. Tage neben der
richtigen Phrase: na papd Lddo ddde (dem Papa hat VI. gegeben)
auch unrichtig: papd ddde na Lddo, wobei er wieder sagen wollte,
daß VI. dem Papa etwas gegeben hat; auch hier wieder Voran-
stellung des Dativs! — Es kommt aber auch schon gleich anfangs
die richtige Anwendung der Partikel vor, und zwar sehr oft: papd
ddde göxde (— gröxde) na Lddo (Papa hat dem VI. Trauben ge-
geben, 724); — mamd ddde na papd ldko (= slddko, die Mama
hat dem Papa Süßes gegeben, 728); — papd, buj {= obuj) bidti
(= obiUtata) na Lddo (Papa, ziehe dem VI. die Schuhe an, 729); —
Täna ddva na Lddo bü&ti (= ohUtata, Tana gibt dem VI. die
Schuhe, 729) ; — papd tfba (= trfba) da ptfe na bdba (Papa muß
der Großmutter schreiben, 733); — papd ddva (gibt, statt: ddde
= gab) na Lfido kuüjka, cüpi (== i toj ja bcüpi, Papa hat dem VI.
eine Schachtel gegeben, — und er sie — zerbrach, 736) ; — i na
pözata vögom (= i na gospozata sbögom, auch der Frau adieu,
746); — papd xtma Lddo i kdxal {— i toj kdxal) dobuto {= dobrö
ütro) na mamd (Papa hat den VI. genommen, und er sagte guten
Morgen der Mama, 749); — ne kdxal mamd dobuto {= dobrö ütro)
na mdkfti (Mama hat dem Kleinen nicht guten Morgen gesagt,
7491; das Partizipium hat hier die unrichtige Form des Masku-
linums1); — papd, da dadtä na mamd ldko (= sludko, Papa, du
1) >Die ersten Anfänge usw.« S. 354. Fußnote.
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I. A. Gheorgov,
sollst der Mama Süßes geben), kommt er mir auf Befehl der
Mama sagen, welche ihm aufgetragen hatte kazi na papd da mi
dadt slddko (sage Papa, er soll mir Süßes geben, 750); — mamd,
da Mime pitäla {= pudra) na bebt (= bebtto)? (Mama, sollen wir
dem Bebe Puder auflegen? 751); — papd hupt na Lddo ldkavici
(» rdkavid, Papa hat dem VI. Handschuhe gekauft, 765); — papd,
done&i na Lddo caj (Papa, bringe dem VI. Tee, 772); — papd,
donesi na mdfriti m6ko (= ml/Jco, Papa, bringe dem Kleinen Milch,
773); — papd, da küpi (anstatt: da kupü) coldp (= cordp, Papa,
soll — statt: sollst — Strumpf kaufen), und als ich ihn frage :
wem? antwortet er mir: na Lddo (dem VI., 777); — tovd na
Lddenceto {= dies dem Vladchen, 779); — tovd Übe (= trtba)
na Lddo (das ist dem VI. nötig, 781); — i na beb&nceio ne (auch
dem Bebchen nicht, 824); — daj, papd, pall (= pari), da küpa
ax igli na mamd (gib, Papa, Geld, damit ich Nadeln der Mama
kaufe, 966).
Der Vokativ in besonderer Form erscheint zum erstenmal
in dem wahrscheinlich von den Bedienten aufgegriffenen Ausruf:
0, böze, bolf1) (0 Gott, es schmerzt), welchen Ausruf er macht, als
er sich beim Fallen die Nase angeschlagen hatte, 733; — auch
am 736. Tage gebraucht er einen ähnlichen Ausruf: 0, böze moj
(oder auch bloß: 0, böze), padnd (= pddna) kutijka (= kuUjkata,
0 mein Gott, — die — Schachtel fiel); — am 741. Tage sagt er
zur Bedienten: Malico, xemi xtljeto (Marica, nimm das Kraut); —
gegen den 759. Tag und auch später sagt er zu mir: pdpo für papd-,
am 789. Tage bildet er sich auch selbst: pdpe: — am 766. Tage:
Ddnko, da obAcei (= oMeccs) Lddeio (Danka, du sollst das Vladchen
anziehen).
Der Plural der Substantiva ist natürlich in der ersten
Zeit entweder gar nicht ausgedrückt oder nicht richtig gebildet;
so gebraucht das Kind die unrichtige Pluralform biUÜ (statt: obtüta)
und behält diese falsche Form sehr lange : papd, buj (= obüj) buiti
(= obiustata) na Lddo (Papa, ziehe die Schuhe dem VI. an, 729); —
Tdna ddva na Lddo bititi (Tana gibt dem VI. Schuhe, 729); —
biUti fa {=obüStata $d fa, die Schuhe sind pfui, schmutzig,
1) Im Bulgarischen gibt es eine besondere Form des Vokativs im Masku-
linum und Femininum: bog (Gott). bo£c; hcnd (Frau), icno; covek (Mensch ,
cocece; Pttar, Petre; Maria, Mario,
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 265
745); — und sogar noch am 1102. Tage: domdAnite obüiti
(= obwta, die Hausschuhe) ; und wie sehr es ihm schwer wird, sich
die richtige Pluralform dieses im Bulgarischen nur im Plural vor-
kommenden Wortes, welches auch einen unregelmäßigen Plural
hat, im Sprechen anzueignen, zeigt der Umstand, daß das Kind
noch am 1142. Tage unrichtig sagt: domdmi obüsti, da die letztere
Form eben mehr einer Pluralform ähnelt als die erstere, die nur
bei Substantiven sächlichen Geschlechts vorkommt; es ist auch
wahrscheinlich, daß hier die Pluralform des Adjektivs domaJni
(häuslich) einen Einfluß auf die gebrauchte Pluralform des Sub-
stantivs übt. — Lddo da xtme nözici, papd da oitze (= otrtäe)
rwcfi (= Tiöktite, VI. soll die Schere nehmen, damit Papa die Nägel
abschneidet, 772) ; — ndtite koköiki nösat (= nösjat) jaict (= jaiod\
unsere Hühner legen Ei — statt: Eier, 801); — Lddo sie xfrne
ednö kopde (VI. wird einen Knopf nehmen ; dann fügt er noch einen
hinzu und sagt:), de kopce (statt: dve köpceta, zwei Knöpfe, 824); —
ebenso: de kopSe nam&ch (== dve köpceta namtrieh, zwei Knöpfe
habe ich gefunden, 831); — sdrno Ima kopce (=» ima sänto köpceta,
es gibt nur Knöpfe), nämlich in der Nähschachtel gab es keinen
Zwirn sondern nur Knöpfe, und als er in dieselbe hineingeschaut
hatte, sagte er obige Phrase, 824; — pöse (= pösle) papd ite x6me
kndxdt (den Fürsten = parl, Geld) * 4te kiipi kdmäce (= kämäceta,
Bpäter wird Papa den Fürsten nehmen und wird Stein kaufen, 827) ;
»den Fürsten« bedeutete »Geld«, weil das Bild des Fürsten auf dem
Silbergeide figuriert; Stein — Bausteine; — mdkiti $te bütne sliki
makald (Singular statt: tnaltari, Plural, der Kleine wird alle Zwirn-
spulen umwerfen, 824); interessant ist es hier, daß das Prono-
men sieki im Plural steht, während das Substantiv im Singular
gelassen ist; — daj da vidii (= ridja), doli ima mnögo biskvit
(Sing, statt: biskviti) ill mdlko (laß mich sehen, ob es viel Biskuits
gibt oder wenig, 970) ; — cälevieata lascüfnali {= cdrevicite razcäv-
naU, die Kukuruze sind schon aufgeblüht, 977); auch hier steht
das Substantiv im Singular, während das Verbum die Form des
Plurals hat. — Auch gebraucht der Knabe manchmal umgekehrt
die Form des Plurals für den Singular: Lddo ika da kädi kucüite
(= VI. iska da xakacl kljuhövete, anstatt: kljilca, VI. will die
Schlüssel — statt: den Schlüssel — aufhängen), und als ich ihm
sagte: ne kucttite, besserte er sich selbst: küia für: kljüm; 729; —
ebenso gebraucht er in der ersten Zeit das Pluralwort kamrtite
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266
I. A. Gheorgov,
statt: kalfm, kaMma für: möliv Bleistift; wahrscheinlich hat er das
Volkswort katem, welches eigentlich für > Griffel« gebraucht wird,
von den Bedienten oder vom Großvater gehört; am 729. Tage, als
er wieder kam/Ute gesagt hatte, sagte ich ihm: ne kamflite —
möliv (nicht k. sondern möliv), worauf er nicht mein Wort wiederholte,
sondern sich besserte: kalSm; — aber am 731. Tage sagt er wieder:
ax da vidi (= vldja) kamüite (ich will den Bleistift sehen), wobei
ich jedoch nicht angemerkt habe, ob diesmal der Plural oder der
Singular gedacht worden ist; — JAdo da kdcis (= xakaM) kucoiw
(= Idjwöve pl. für : ldjuca sing. ; VI. soll den Schlüssel anfhängen,
750); — da dad/s lekdstva (= leknrstvo) na bebt (= bebtto, da sollst
Arznei dem Bebe geben; eigentlich sagt er im Plural: Arzneien;
826). — Manchmal herrscht natürlich auch keine Übereinstimmung
in der Zahl zwischen dem substantivischen Subjekt und dem
Verbum oder zwischen dem Substantiv und dem mit ihm ver-
bundenen Adjektiv oder Pronomen; so sagt das Kind: ddtite (pl.)
pej (statt: solddtite pSjat, die Soldaten singen, 746) ; — Umo segd,
ptlenca pi (= tfmno e segä, püencata spjat, finster ist es jetzt, die
Hühnchen schlafen — er sagt aber: schläft; 748); — sogar noch
am 977. Tage: aüevicata lascäfnali (= cdrevicite raxcdvriali, die
Kukuruze haben aufgeblüht), wo das Subjekt in der Phrase des
Kindes im Singular, das Verbum im Plural ist; — tarn fma (Fug
(= drug sing, statt: drugi pl.) solddti (dort gibt es andere Soldaten);
ebenso am selben Tage: dug (statt: dnigi) hte döde Ii solddti?
(werden andere Soldaten kommen?), wo auch das Verbum hier
wieder im Singular ist, 823; — mäläti itc bütne sitki (pl.) makald
(= makard sing, statt: makari pl., der Kleine wird alle Zwirn-
spulen umwerfen, 824); — digni tovä (sing., statt: tija pl.) näzicite
(= nözici, hebe diese Scheren auf, 830); das Wort nözicite hat
beim Kinde auch noch den Artikel, trotzdem davor das hinweisende
Pronomen steht.
Am 1291. Tage habe ich auch die Dual form angemerkt (und
zwar ein einziges Mal : dva krästa (= zwei Kreuze); die Dualform
wird im Bulgarischen im Maskulinum der Substantiva gebraucht,
und zwar wenn vor ihnen Zahlwörter stehen. Außer dem einen
späten Fall gebraucht der Knabe sonst in solchen Fällen den Plural.
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 267
IV.
Eine besondere Eigenheit dieses Kindes bilden die sehr oft
gebrauchten Diminutive, die in der bulgarischen Sprache und
besonders in der Kindersprache oft vorkommen, die aber das
Kind häufig selbst auf eine höchst originelle Weise sich bildet.
Gegen den 718. Tag sagt er schon dtäka (= dr&ka, Kleidchen, —
gebräuchlich); — koj e tovd? — bebSnce (wer ist das? — Bebchen),
fragt er sich selbst und antwortet auch selbst auf seine Frage;
733; — tovd na mdkiti süe'to, tova na bebt Sibfince (das — ist —
des Kleinen Flasche, das des Bebes Fläschchen, 749); interessant
ist es hier, daß er die Verkleinerung bei der Flasche des Bebes
gebraucht, aber bei derjenigen seines zweiten Brüderchens nicht; —
Lddo da ze*me zeUxce (VI. soll ein Eisenchen nehmen, — selten
gebräuchlich, 763); — Lddo hüa (= kdra) pajtönce (VI. schiebt
ein Phaetonchen, — gebräuchlich), sagt er, als er ein Bild mit
einem Wägelchen [kollcka) sieht und sich erinnert, daß er den
Kiemen in seinem Wägelchen geschoben hat; 771: — kalemleto
(das Griffelchen, — gebräuchlich, 772, ebenso 778, 794); — küimceto
(das Teppichlein, — gebräuchlich, 772); — kam {= kdmo) vodica?
Übe {— treoa) nmUco vodica (wo ist Wasserchen ? man braucht oder
es ist nötig ein wenig Wassereben, — seltener gebräuchlich,
826); — da otr&es krilcäta na pllencata (du sollst die Flügelchen
der Hühnlein abschneiden; — gebräuchlich und vollkommen richtig,
wenn auch die Form krilcäta ein etwas schwieriges Diminutiv
ist, 1310). — Seltener ist die Verkleinerung vom Worte gröxde
(Trauben): goxddnce (= gröxdence), welches er oft gebraucht; viel-
leicht hat er dieses Diminutiv von den Bedienten gehört; 717,
730; — am 735. Tage, wo er dasselbe Diminutiv gebraucht, bildet
er sich auch ein ganz ungewöhnliches Diminutiv: göndence; —
am 744. Tage sagt er schon auch mit richtiger Betonung: übavo
(=3 chübavo) sitcho götdence (= gröxdence, gute Rosinchen). — Von
seinem Namen gebraucht er die richtigen Diminutive: Lddeto imd
Lddenceto, welche er wahrscheinlich gehört haben mag: Ddnkoy
da obeces (= oblectS) Lddeto (Danka, du sollst das Vladchen an-
ziehen, 766): — tovd na Lddenceto (das für das Vladchen, 779); —
am 795. Tage sagt er aber auch Lddceto} welches er sich wahr-
scheinlich selbständig und nicht schlecht gebildet hat. — Uns
Eltern nennt er mit den unmöglichsten Verkleinerungen, die er
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I. A. Gheorgov,
sich meist selbst bildet und erfindet: so nennt er seine Mutter:
mamdndo (ganz ungewöhnliche Verkleinerung; welche eher für ein
Maskulinum paßt), 759; — mdmka, ohne daß er so eine Ver-
kleinerung gehört haben kann, 755, 787 ; — mamäjo, ebenfalls ein
ganz und gar ungewöhnlicher Kosename, 789: — mdmeto, das
Mamchen, zärtlich: wahrscheinlich hat er sich auch dieses Wort
selbst gebildet, was schon darum glaubhaft ist, weil diese Form
so spät erscheint, als das Kind in seiner Sprache schon sehr weit
fortgeschritten war, nämlich am 1131. Tage. — Mich benennt er
mit noch mehr und noch originelleren Diminutiven und Koseformen :
seit dem 741. Tage sagt er mir manchmal pdpica, ohne daß ich
weiß, woher er diese Form genommen haben kann und wie er
sie sich gebildet hat; — papändo und papäco, 747; besonders das
erste dieser Diminutive gebraucht er oft seit diesem Tage; es ist
wahrscheinlich, daß er sich beide Formen selbst gebildet hat, weil
sie sehr ungewöhnliche Diminutive sind; — päpo, auch unge-
wöhnlich, 759; — päpincOy ebenfalls sehr sonderbare Form, 771: —
papäncence, sonderbares doppeltes Diminutiv, das er auch von
niemandem gehört haben kann, 778; — pdpco, ebenfalls selb-
ständig gebildet, 781 : — papäjo (entsprechend dem mamdjo, siehe
oben) und papärueto (entsprechend dem mamänio, nur hier mit
dem Artikel), 787; — päpe, papäjo, 789: — pdpbence (doppeltes
Diminutiv, den Regeln unserer Sprache gemäß gebildet, 794) ; möe
päpcence, zadtö mi go biete? (mein Papchen, warum schlaget ihr
es mir ? 1142). An den Variationen dieses Wortes sieht man be-
sonders, wie sich das Kind selbständige Formen zu bilden liebt
Noch drolligere Diminutive sind die folgenden: papä xel Lddo
stlo, sMico (= papä xel na VI. eksfro, Papa hat dem VI. den Nagel,
das Nägelchen) genommen, indem er plötzlich das Wort selbst ver-
kleinert mit ungebräuchlichem, wenn gleich ziemlich den Regeln der
Sprache gemäß gebildetem Diminutiv, 733); — daj da müUa
sapwü:a (= mirlsa mpünceto, gib, daß ich das Seifchen
rieche, 733); — fasütte (Fisolchen); ohne daß er dieses Wort von
jemandem gehört haben kann, weil es ungebräuchlich ist, wenn
auch die Verkleinerungsform richtig ist, 734; — sosce (Saucechen),
auch ohne es gehört zu haben, weil ebenfalls ungebräuchlich, 735: —
kvncence (statt: ktöenee, Diminutiv von küce, Hund, 738): diese
Diminutivform ist insofern merkwürdig, weil sie eigentlich das
richtige Diminutiv von honj (Pferd) ist; der Knabe spricht sehr
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindereprache. 269
gut küce (Hund) aus, aber wenn ich ihm sage: kücence (Hündchen),
sagt er köncence (Pferdchen); — bedtnce (= perdface, Vorhängchen,
gar nicht gebräuchlich, wenn anch richtig gebildet, 747); — ögände
(Feuerlein, ebenfalls ungebräuchlich, wenn auch richtig, 747); —
kolenceto boli (das Kniechen schmerzt), sagt er von sich selbst,
als ihm wirklich das Knie weh tat, 755 ; — papä, äde (== chajde)
da UUik (= türii) pudiÜce, boli kolence (Papa, komm Puderchen zu
legen, das Kniechen schmerzt) : bildet sich selbst die beiden Dimi-
nutive, besonders von dem Worte »Puder«, 758; — ebenso: xdchalce
{— xdcharce, Zuckerchen, 758); — nach einer bekannten Melodie
singt er ganz von sich selbst: vöda — vödince, vöda — vödince
ganz ungenwöhnliches Diminutiv von »Wasser«) und Lddo — bdbince,
Lddo — nti&ince [b&ince statt : b&ence, Bebchen, welch letztere Form
er, wenn er vom Bebe" spricht, gebraucht; das Wort mtiince
bat er sich selbst ersonnen, denn so ein Wort gibt es nicht im
Bulgarischen; es erinnert an mUka, Maus); 776; — makitönce,
ein sehr merkwürdiges Diminutiv für seinen kleineren Bruder, den
er gewöhnlich verunstaltet mdkiti (= mäVcijat, der Kleine) nennt;
bei diesem Diminutiv zeigt sich besonders seine diesbezügliche
Erfindungsgabe, denn die Form ist von ihm ganz eigentümlich
ersonnen; 779; — lAska (Lieschen, nicht gebräuchlich, wenn auch
nicht sohlecht), sagt er zu seiner Mutter, nachdem er vor einiger
Zeit gehört hatte, wie ich sie vor ihm Lisa (russisches Diminutiv
von Elisabeth) genannt hatte; die Verkleinerungsform hatte er
weder von mir noch von jemand anderem gehört, sondern sie
selbst gebildet; 781; — papä fdnience (etwa: Papa ist fa-chen,
pfui-chen), sagt er zu mir, indem er sich ganz von selbst diese
schon ganz und gar unmögliche Verkleinerungsform von einem un-
veränderlichen Adjektiv1) bildet! 786; — kince (Büchlein), bildet
er sich von seinem Worte für Buch: Jana [= kniga), 794: aber
um dieselbe Zeit sagt er auch kiika (=knizka} Büchlein); am
1098. Tage sagt er auch mit dem doppelten richtigen Diminutiv:
knlZcica (Büchlein); — tuka da se Mi (= türi) mastÜSe, i tuka
da se tüU (hieher soll man Tintchen gießen, und hieher soll man
gießen, 794); — dince, bildet er sich wieder ganz von selbst von
din (statt: dim, Rauch), 797; — ednö Mence (von örech, Nuß),
1) Im Bulgarischen richten sich auch die prädikativ gebrancbten Adjektive
in Geschlecht und Zahl nach dem Subjekt, wie im Französischen: tojegolim
(er ist groß); tja e goUma {sie ist groß).
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I. A. Gheorgov,
ein Nüßlein — wieder ein selbstgebildetes Diminutiv, welches in
dieser Form nicht gebräuchlich ist; das gewöhnliche Diminutiv
ist: öreehce; 1025; — buchdlttnce (ein kleines Uhulein), auch fast
nicht gebräuchlich, zärtlich gesagt, 1077: — zdbcica (Fröschlein),
auch selten gebräuchlich, bildet es sich selbst, 1098; — an demselben
Tage gebraucht er auch das richtige Diminutiv vom Adjektiv
chiibavo, schön: chubavttko; im Bulgarischen werden Diminutiv-
formen von Adjektiven sehr oft gebildet und gebraucht; — ebenso
mdninki, Diminutiv von mälak (klein, 1096).
V.
Der Artikel, und zwar der bestimmte, welcher im Bulgarischen
dem Nomen hinten angehängt wird (covtk, Mensch — covtkät, der
Mensch, covSJcay den Menschen; zend, Frau — Zendta, die Frau;
detf, Kind — deUto, das Kind; Plural: covteite, Zenite, decdta),
taucht schon ziemlich früh auf, so im Ausdruck gdta (— igldta)
tm mamä (die Nadel der Mama — die Wörter Papa, Mama
werden im Bulgarischen ohne Artikel gebraucht), gegen den
690. Tag; — papd fd'li {= dirärli) mücha köfata (= v köfata,
Papa warf — eine — Fliege in den Eimer), gegen den 705. Tag; —
tingoloto (= ciganindt) domdti ne don/se, x/lje don/se (der Zigeuner
hat nicht Paradiesäpfel gebracht, Kraut brachteer), gegen 713; —
tovd cdca >), dugoto {= drügoto) fa (das — ist — schön, das andere
pfui, schlecht), 716; — kamäite (fUr: möliv — verdreht von kaJ/m,
Griffel, wahrscheinlich von den Bedienten oder vom Großvater ge-
hört, 724) ; das Kind gebraucht diese Pluralform eigentlich im Sinne
des Singulars: der Bleistift (siehe oben S. 265 — 266); — ctco don&e
mtkoto (= nüökoto, der Onkel, d. h. der Bauer — im Bulgarischen
richtig hier ohne Artikel — brachte die Milch), sagt er, als er
vom Fenster den Milchmann erblickt, 725; — papd, vidis läbceto
(= vrabödto)? (Papa, siehst du den Spatzen? 725); — papd vidt
ögändt (Papa hat das Feuer gesehen, 730); — tüli (= tuH), papd,
sdpkata da vidim (setze, Papa, den Hut auf, damit wir sehen,
d. h. wie er dir steht, 733) ; — kiUeto göni peUla (der Hund verfolgt
den Hahn, 750); diese Phrase hatte ich ihm einmal gesagt, als
wir den Hahn schreien gehört hatten, und nach geraumer Zeit
wiederholt er von selbst ganz richtig die Phrase; — Lddeto (das
1) »Die ersten Anfange usw.< S. 376.
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklang der Kindersprache. 271
Vladchen, sagt er von sich selbst, 734); — ebenso: Ddnko, da
oberes (= oblecü) Lädeto (Danka, du sollst das Vladchen anziehen,
766); — papd, daj cekkite [— ctttite), ttba (= trtba) Lädo da mle
xdbite (Papa, gib die Bürsten — nämlich die Zahnbürsten — , VI.
muß die Zähne putzen, 736); — te pözata (= Ho gospözata, hier
ist die Frau, 740); — Mattco, zeml zfljeto (Maritza, nimm das
Kraut), sagt er und wendet sich dann gegen mich mit den Worten:
kaxäl (Perfekt statt Imperfekt: häxach) da ztme zflje (hier un-
richtig ohne Artikel: ich sagte, sie soll — das — Kraut nehmen,
741); — tovd na mdkiti sütto, tovd na bebt Uk&nce (das ist des
Kleinen Flasche, das des Bebes Fläschschen; im Bulgarischen
hätten auch die Wörter bebt und SUence den Artikel haben mUssen
wie das Wort iiid ; 749) ; — koködkite säH (= svärsicha) zito (die
Huhner haben das Getreide beendigt; in des Knaben Phrase fehlt
jedoch der Artikel beim Worte itto; 749); — Lddo iska da pt&e
pdnata {— v spdlnjata, VI. will im Schlafzimmer schreiben, 775); —
v&inkata (= vestnikat, die Zeitung; das Wort ist männlichen Ge-
schlechts, aber da das Kind es mit der Endung a bildet — vfeinka
statt: vtetnik — , so muß es nach den Eigenheiten der bulgarischen
Sprache weiblichen Geschlechts werden und bekommt darum beim
Kinde richtig den weiblichen Artikel ta; 777); — da donetä u
xemüto (auch: dzemtto — Mkmedzeto) pamiik (du sollst in die Schub-
lade Baumwolle bringen; eigentlich will aber der Knabe sagen:
aus der Schublade: 777); — tovd Lddenceto (dies — für — das
Vladchen, 779); — fajtörCt obdSta (= fajtöndt obräMa, der Wagen
wendet um, 796); — tovd na (statt: xa) obüstata (dies den Schuhen,
statt: für die Schuhe, 798): — mükata töjxi [= tröpa) ntkade
(= ritkäde, die Maus klopft irgendwo) und: tarn topa (= tröpa)
mUka pot doldpa (dort klopft eine Maus unter dem Schrank, 817);
hier ist interessant die Anwendung des Artikels im ersten Satze
und dessen Auslassung im zweiten Satze (beim Worte mfska), wie
es regelrecht auch im Bulgarischen sein muß; — kökalite (die
Knochen), sagt er, nachdem er das Wort im Singular und im
Plural ohne den Artikel [kökal, kökali) gehört hatte: 826; — cdhkata
kam? (wo ist da Gläschen?), ein besonders des nachgestellten
Fragewortes wegen auch interessanter Satz; 827: — mdmeto (das
Mamachen), im zärtlichen Sinne gebraucht; wahrscheinlich hat er
sich diese Verkleinerungsform selbst gebildet, ohne sie gehört zu
haben; 1131.
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272
I. A. Gheorgov,
Auch den Artikel des männlichen Geschlechts im Ak-
kusativ, welcher allein sioh Ton demjenigen im Nominativ unter-
scheidet (Nom. äty Akk. a), beginnt der Knabe früh zu gebrauchen;
so sagt er am 733. Tage, wenn auch unrichtig nach einem demon-
strativen Pronomen : xel tovdküia (anstatt: tqja Hjui ohne Artikel)
Lddo (VI. hat diesen Schlüssel genommen); — Lddo otidc salöna
(VI. ist — in — den Salon gegangen, — mit Auslassung des Vor-
wortes v = in, welches eigentlich auch ein wenig gehört wurde,
733); — ne xernai kuca (== kljuca) tüka (du nimmst nicht den
Schlüssel hier), sagt er zu sich selbst, weil ich ihm gesagt hatte,
den Schlüssel nicht zu nehmen, 733; — kämo kuca (= kfyiica,
bulg. im Akk. hier), käd6 dena se dtna)? (wo ist der Schlüssel,
wohin ist er verschwunden? 740); — nema kuca kljuca), kölo
(= sköro) da go namäü (= namerii, der Schlüssel ist nicht da —
bulgarisch : es gibt nicht den Schlüssel — , schnell sollst du ihn
finden, 743); — kuca {=■ kljuda) ne biva da vädü (den Schlüssel
sollst du nicht herausnehmen, 747) ; — ne xlmaj (s)tola (nimm nicht
den Stuhl, 748); — Lädo cupi (= scupi) kaUma, papd pöse {—pösle)
4te pari (= hte go naprdvi)? (VI. zerbrach den Bleistift, Papa
wird ihn dann machen, d. h. spitzen? 772); — tarn töpa (= tröpa)
miska pot doh'ipa (dort klopft eine Maus unter dem Schrank —
bulg. im Akk., 817).
Manchmal ist dieser Artikel im Akkusativ ausgelassen; aber
das geschieht selten und mehr in der ersten Zeit, am spätesten
noch zu Anfang des dritten Jahres: papd zfde (= ixtde) fasül
[= fastda, Papa hat die Fisolen — bulg. im Sing. — aufgegessen,
733); — Lddo xel na papd lep (= VI. xe na papd chtfba (VI. hat
dem Papa das Brot genommen, 756); — marnd ne sedi na toi
(statt: stöla), Lddo iska da sedi (Mama sitzt nicht auf dem Stuhl —
bulg. im Akk. — , VI. will sitzen) und: Lddo sedi na stol (statt:
stola, VI. sitzt auf dem Stuhl, 777).
Auch der männliche Artikel im Nominativ sowie die anderen
Artikel in beiden Kasus fehlen öfter und nicht bloß anfangs : dügo
fa milcfia (= drugata muchd e fa, die andere Fliege ist pfui,
716); — da vida pfjka (= da vidja püjkata, ich will den Truthahn
sehen), sagt er, indem er zum Fenster geht, 725); — pun säil
Aytifcf, pöse ztme$ kutija {— pdrven sodrki kjuftfto, p6sle sie ztmes
kutijata, zuerst endige — die — Kotelette, dann wirst da nehmen —
die — Schachtel), sagt er zu sich, wahrscheinlich als Reminiszenz
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 273
von etwas Ähnlichem, das er von nns gehört hat; 726; — dMo
ixtde (statt: ixpi) vino (= vinoto, der Großvater hat den Wein
aufgegessen, statt: ausgetrunken, 734); — o, böze mej, padnd
(= pddna) kuttjka (= kutijkata, o , mein Gott, die Schachtel fiel,
736); — 1aW dtnal kutijka? (= kcuU si dtnal kutijkata? wohin
hast du die Schachtel hingetan?), fragt er mich plötzlich, als er
seine Schachtel nicht sieht; 745; — Umo segä, püencapi (= temno
e segä, pflencata spjat, finster ist es jetzt, die Hühnchen schlafen,
748); — läja piva bebfince {—Ulja uspiva bebfnceto, die Tante
schläfert das Bebchen ein, 748); — papd, köb da idet toldjo, da
xemei piUUa (= — , skOro da idei v stobvajata da x&nei püdrata,
Papa, schnell sollst dn — ins — Speisezimmer gehen, um — das —
Puder zu nehmen, 749),- — Lddo da kddü kucove (= VI. da xakaöi
kljüöa, VI. soll — den — Schlüssel aufhängen ; er braucht jedoch
das Wort »SohlttBsel« in seiner Phrase im Plural ohne den Artikel;
750) ; — Lddo stdi (= sedi) na kina (= knfgata, VI. sitzt auf —
dem — Buch), auch: Lddo s&U kina oder: kfnata mit Hinweg-
lassung des Vorwortes, jedoch meistens bessert er sieh gleich und
sagt: na kfnata (= hilgata); 763; — Lddo da xtme n6£ici} papd
da oUze noch (= nözicite, papd da otr&te nöktfte, VI.
soll — die — Schere nehmen, Papa soll — die — Nägel ab-
sehneiden, 772); — da dadti lekdstva {= Ukdrstvo) na bebt (= bebttoy
du sollst Arznei — dem — Bebe geben, 826); — und noch am
959. Tage: ste türja tovd na gavd (= glavdta) si (ich werde das
auf meinen Kopf legen).
Manchmal, jedoch äußerst selten, wenn auch verhältnismäßig
spät, gebraucht er den — bestimmten — Artikel dort, wo er nicht
stehen sollte, so in folgenden drei Sätzchen: xel tovd kuca (statt:
toja kljuc — ohne Artikel) Lddo (VI. hat diesen Schlüssel genom-
men, 733); — ima Ii tüka stlo (= eksfr)? (gibt es hier den Nagel,
statt: (einen) Nagel?); das Wort stlo hat den dialektischen Artikel o
der Sofiaer Umgebung; 794; — dignl tovd nöHcite (= digni ttja
nöztcij nimm weg diese Schere, bulg. plurale tan tum, 830).
Hin und wieder gebraucht der Knabe auch den im Bulgari-
schen sehr selten gebrauchten unbestimmten Artikel; wo näm-
lich im Deutschen der unbestimmte Artikel angewandt wird, da
wird im Bulgarischen meist das Wort ohne jeden Artikel ge-
setzt. — Ti si ednd pmtole (du bist eine jndtok, 825); das Wort
pustole hat er sich selbst ersonnen . ohne daß es eine Bedeutung
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I. A. Gheorgov,
hat; um diese Zeit hat er Übrigens öfter solche Wörter gebraucht;
so z. B. auch ohne den unbestimmten Artikel an demselben Tage:
ti si xapüicök (die bist ein — ); siehe weiter unten S. 275; — edin
makedönec xagldzda (= xagrdzda) u Stffcavi cUVv&a (= ddrveta,
ein Mazedonier umzäunt bei Stefcovs Bäume, 992); — ax vUMch
edin clco, d/to vödese ednö dgne btto (ich habe einen Onkel, d. h.
Bauern gesehen, der ein weißes Lamm führte, 993); — tuk nasldl
[= nasrdl) edin bivol (hier hat ein Büffel gemacht, 1045, ebenso
am 1051. Tage).
VI.
Hier soll erwähnt werden, daß natürlich manchmal bei den No-
mina keine Übereinstimmung sowohl in der Zahl (siehe weiter
oben S. 265—266), als auch besonders im Geschlecht herrscht1).
So sagt der Knabe am 716. Tage: dtigo fa mücha (= drügata
muchd e fa (die andere Fliege ist pfui), wobei das Pronomen dügo
die Form des Neutrums hat, während das Substantivum ein Femi-
ninum ist; — xel tovd kiila (= toja kljuö) Lddo (VI. hat diesen
Schlüssel genommen, 733) ; hier ist das Pronomen demonstrativ um
im Neutram gebraucht, während das Substantivum ein Maskulinum
ist; interessant ist es auch hier, daß das Substantivum ttber-
flüssigerweise noch den bestimmten Artikel hat; — tarn pot doldpo
ima ennö (= edmi) miska (dort unter dem Schrank gibt es eine
Maus, 792); der unbestimmte Artikel ist im Neutrum, das Sub-
stantivum dagegen ein Femininum; — ot dügijat Uidko (= ot drü-
goto stddko, von der anderen Konfitüre, 799) ; das Pronomen — im
Maskulinum, das Substantivum — ein Neutrum; — ti si cdnd
püstolc (du bist ein — , 829; siehe weiter oben); der unbestimmte
Artikel im Feminimum, das Subst. — ein Neutrum ; — tovd kibit
da xapusü cigäia (= toja kibrit c da xapidii cigdra, dieses Zünd-
hölzchen ist, damit du — die — Zigarette anrauchst, 825); das
Demonstrativum ist im Neutrum, während das Subst. ein Masku-
linum ist; allerdings könnte jedoch der Sinn des Sätzebens auch
der sein: das — ist ein — Zündhölzchen, damit du — die Ziga-
lj Das letztere ist im Bulgarischen besonders deswegen hervorzuheben,
weil das Genus der Substantivs schon durch die Endung kenntlich ist und
gewöhnlich eine Übereinstimmung in der Genus-Endung der Nomina besteht:
drug cvvi'k, anderer Mensch, drtiga zrtid, andere Frau, dnigo detc, anderes Kind;
ebenso: edin [einer, ein), cdnd (eine), ednö (eineB, ein;.
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 275
rette — anrauchst, und dann wäre das Neutrum des Demonstra-
tivums am Platze. — Hier sei auch noch darauf hingewiesen, daß
der Knabe noch am Ende des dritten Jahres manchmal von sich so
spricht, wie Mädchen und Frauen sprechen würden : säma (selbst),
jdla (gegessen), svtViäa (= svariila, beendigt), 938; — ax säma
(ich selbst) statt: ax sam, 961; — und noch am 980. Tage: ax
sdm jddela (statt: ja/, ich habe gegessen)1); — ja sogar am 1098.
Tage sagt er einmal noch von sich koUdva (groß, fem. statt: koUdv).
Der Knabe liebt manchmal ganz neue Wörter zu ersinnen,
deren Ursprung gar nicht zu finden ist: so sagt er, nachdem er
schon vorher andere erdichtete Wörter gesprochen hatte3), am
823. Tage zu mir: H si ednd püitole, H si xapüicök (du bist ein
piUtole, du bist ein xapüicök, sagen wir etwa: Kerl, Sonderling,
Kauz, oder etwas Ahnliches); — viel später wieder erfindet er mit
seinem Bruder neue Wörter oder gebraucht Wörter mit besonders
ungebräuchlichen Formen; so sagt er am 1310. Tage: därvdrnik
(Holzstall) von därvö (Holz) ; — in noch späterer Zeit, als er schon
einige Jahre alt war, sagte er und sein Bruder kljöca, Jdjöcane
(die Bedeutung des Wortes habe ich nicht angemerkt), kjüskame se
(mit Gläsern anstoßen), tätnnis mi (du machst nur finster; er bildet
sich selbst das Verbum von tdmno = finster), pö-vdera (statt: xdv-
iera, vorgestern; sein Wort bedeutet: mehr gestern), pö-utre (statt:
drügiden. Übermorgen; anch hier bedeutet sein Wort: mehr morgen
— also mit der Steigerungspartikel gebildet); — knjakca, Fürstin,
statt: knjaginja, von knjax} Fürst); — tmam nos (ich habe Nase)
bedeutete: meine Nase ist voll, ich muß sie putzen; — katö se
sträknachmc (anstatt: xatliachme) ot gradfnata (wie wir aus dem
Garten hervorstürmten ; bei 6 Jahren 9 Monaten) ; — bei 7 Jahren
101 4 Monaten sagte er: toxi plat e menltelen (dieser Stoff ist
changeant, wo er das Wort menitden selbst in voller Uberein-
stimmung mit der Bildung des WorteB changeant sich bildet, was
sehr merkwürdig ist, da er französisch nicht versteht) ; — ti si
detoljubec (du bist ein Lesefreund), sagt er zu mir, als er sieht,
daß ich viel lese (8 Jahre 8!/i Monate) von cetd, ich lese, und Ijübja,
1) Siehe >Die ersten Anfänge usw.« S. 354.
2) Besonders liebte er in der ersten Zeit facd (für Papier) zu sagen:
t* facd da tulime (= türim) ? (auch Papier sollen wir legen? 744). Papier heißt
bulg. chartija. Das Wort facd mag jedoch von einem anderen Worte auf eine
mir unbekannte Weise verunstaltet worden zu sein.
Archiv ftr Psychologie XL 19
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276
I. A. Gheorgov,
ich liebe, also der zu lesen liebt; — als er bei 8 Jahren 9V2 Monaten
von seiner Mntter die Phrase hört: da $e osvobodii ot xddnost (eich
von dem Durst zu befreien, wo xddnost willkürlich gebildet ist.
statt: idida von idden, durstig, sagt er zu ihr: ns se kdxva xdd~
nost, amf xddba (man sagt nicht — sondern — ), wobei er noch
willkürlicher das letzte Wort bildelt. — Um dieselbe Zeit hatten
die Brüder sich zwei ganze neue Wörter erfunden, die einer Art von
Geheimsprache bei ihnen dienten und keine Anlehnung an andere
bekannte Wörter hatten; es waren die Wörter idida und birxo,
welche die Kinder brauchten, wenn sie wollten, daß wir ihre Rede
nicht verstehen, und zwar bedeutete das erste Wort: Zählen der
Tranbenbeeren und wurde von ihnen gebraucht, wenn sie beim
Essen die Beeren zählen sollten, damit sie sehen, wie viel jeder
von ihnen solcher Beeren aufgegessen hat; birxo in derselben Art
gebraucht, wenn sie die Löffel von Gefrorenem, Tee oder etwas
Ähnlichem beim Essen und Trinken zählen sollten. Als ich ein-
mal zum Spaß zu ihnen sagte: Mrxo, btxro, besserte mich der
Jüngere: > nicht btrxo, sondern birxo*.
Es sei hier noch erwähnt, daß am 827. Tage das Kind
das Wort > Fürst« für »Geld« gebraucht hatte, weil auf dem Silber-
gelde das Bildnis des Fürsten steht; es war in der Phrase: pöse
(= pösle) papd sie xAne kndxdt (= knjdxät, der Fürst, den Fürsten
für pari = Geld) i xte kiipi kdmäce (dann wird Papa Geld nehmen
und wird Steinchen = Bausteine kaufen).
vn.
Das erste Adjektiv, welches aber mehr einem Adverb oder
einer Interjektion gleicht, ist das von uns in der Kindersprache
gebrauchte Wörtchen fa [= pfui) im Sinne von schmutzig, unrein,
schlecht, schlimm, häßlich. Das Kind gebraucht dieses Wörtchen
schon gegen den 430. Tag, wenn es seine Händchen naß oder
schmutzig gemacht hat und zu uns eilt, um seine schmutzigen
Hände zu zeigen, wobei er dieses Wörtchen sprach; gegen den
446. Tag spricht er dasselbe Wörtchen, wobei er mir scheinbar
mit den Händchen aufgelesenen Schmutz Ubergibt und dabei will,
daß ich sein Händchen aufmache, um den Schmutz zu sehen; —
am 716. Tage gebraucht er dieses Wörtchen schon wirklich als
ein Adjektiv in den Ausdrücken: tovd cdca, dugoto {— drugoto)
fa (das — ist — schön, niedlich, das andere häßlich); und: diigo
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 277
fa mücha [■= driigata muchä — e — fa, die andere Fliege —
ist — nicht schön, häßlich); — am 745. Tage sagt er: kdlno fa
(schmutzig pfni) und: biUH fa (— obüitata — sä — fa, die Schuhe —
sind — schmutzig) ; — ein ähnliches von uns gebrauchtes Einder-
wort ist das Wörtchen cäca im Sinne von schön, niedlich1); er ge-
braucht es am 511. Tage, dann am 716. Tage in dem soeben
weiter oben angeführten Ausdruck; — am 731. Tage spricht das
Kind das Sätzchen: Lädo sedtno ipapd sedtno {= na Vi e studtno
i na papä e studeno, dem VI. ist es kalt, und dem Papa ist es
kalt); ebenso: papä, tüU (= turi) tüka kd'pa (= kärpa), sedtno
(= studtno e); er sagt dieses Sätzchen, wobei er verlangt, daß
man ihm auf den Schoß die Serviette legt, weil es ihm »kalt«
sei; — übavo (= ckubavo, schön); er Bpricht dieses Wort immer
sonderbar aus, besonders den ersten Laut u, 733); — mdkiti e
ö&te mälä-k (der Kleine ist noch klein, 735); er hat das Wort tndidk
in dieser Verbindung wahrscheinlich von den Bedienten gehört; —
nie (= ütre) kte ixexe (= ixtfxe) Lädo, sega — (e) — t&mno (mor-
gen wird VI. ausgehen, jetzt ist es finster, 773) ; diesen Satz spricht
er am Abend aus, als es wirklich finster war; jedoch versteht er
natürlich die Bedeutung des »morgen« nicht sehr; — papä ste
x6me Lädo, äko bädeS mflen (— miren, Papa wird VI. nehmen,
wenn du ruhig sein wirst2), 743; — übavo {= chübavo) btie van
(schön war es draußen) und: übavo sucho gözdence (= grözdence,
schöne, gute Rosinchen, 744); — Lädo ne iska van, Lädo 6ite
mäldk, öite gaj si (= igräe st, VI. will nicht hinaus, VI. - ist —
noch klein, noch spielt er sich, 745); — ne e Ii gotäto (= gortito),
papä? (ist es nicht heiß, Papa? gegen den 770. Tag); — daavtna
(= ddrvena) kuUjka (hölzerne Schachtel, 813); — Z6nja napdvi
muko (= naprdvi mökro) ka v gditite (Z. hat nasses ka in die Hosen
gemacht, 823}; — lachte (= rächte) sä möki (— mökri, die Hände sind
naß, 823); — tto ce'n (= cern) konec (hier ist schwarzer Zwirn,
824; beim Worte ie'n ist ein leiser Anflug von r vernehmbar)3);
1) »Die ersten Anfinge usw.« S. 376.
2] Ebenda. S. 361.
3) Gegen den 800. Tag hatte ich ihm Zwirnspulen mit schwarzem, weißem
und blauem Zwirn gezeigt. Am 806. Tage verwechselt er oft schwarzen und
weißen Zwirn; aber meistens trifft er gut, wenn ich ihn frage, was für eine
Farbe der blaue Zwirn hat. Wenn ich ihm jedoch sage: gib mir blauen
Zwirn, gibt er auch weißen und Bchwarzen; nur wenn er selbst blauen Zwirn
zeigt, sagt er fast immer richtig: tova e sin (das ist blau).
19*
278
I. A. Gheorgov,
er sagt das Sätzchen, unterscheidet aber noch nicht gut die Farben
des Zwirnes; von den Farben der Zwirnspulen, die ich ihm zeige
(nämlich schwarz, weiß und blau), erkennt er am besten und fast
immer blau ; im Worte ce'n wird ein leiser Anflug von r vernehm-
bar; — tovd e bei, a tovd e sin (das ist weiß, und das ist blau,
825) ; merkwürdig ist es, daß er immer das Blau (die blaue Zwirn-
spule) erkennt, dagegen sagt er noch immer, wenn auch seltener,
»weiß« statt »schwarz« und umgekehrt; aber auch diese Farbe
erkennt er im allgemeinen schon besser; — am 826. Tage erkennt
er schon gut weiß, schwarz und blau und benennt sie richtig (bei,
ce'n, sin); — tovd kakdv e, cerno Ii e, bäo Ii e? (dies was für einer
ist es, weiß ist es oder schwarz ist es? 830); — am 837. Tage
nennt er das Eigelb xälto, züto (gelb), jedoch verbindet er mit
diesem Worte nicht die Vorstellung des Gelben; — am 842. Tage
nennt er schon die Teile des Eies Mo und zäto (Weißes, Gelbes)
und unterscheidet sie, jedoch kann man noch nicht erkennen, ob
in seiner Vorstellung die beiden Farben unterschieden werden,
oder ob er bloß die Teile nach unserer Angabe einfach so be-
nennt; — am 851. Tage benennt er gleich die rote Farbe ie'vena
(= cerv&na); — am 938. Tage erkennt er und benennt gut: ce'veno,
ctfno, bdlo, slri'o {— sinjo, blau) und xeUno (grttn), und am 965. Tage
dieselben Farben sehr gut und noch zdlto (gelb); — am 1105. Tage
sagt er: siva kokohka (graue Henne), jedoch weiß man nicht, ob
er wirklich die Vorstellung der grauen Farbe hat — Am 1345. Tage
erkennt er schon gut die Farben.
Am 827. Tage sagt er: katö döjdc (= dojdat) gösti, He obues
növite obüita (wenn Gäste kommen werden, wirst du die neuen
Schuhe anziehen); das Verb döjde ist im Sing, trotz des Plurals
des Subjekts; — amd bos (aber barfuß — bin ich nämlich), sagt
er zu mir, als ich ihn ins andere Zimmer nehmen wollte und er
keine Schuhe hatte, 827 ; — hämo dista Idica (= Idzfca) f (wo ist —
ein — reiner Löffel?), fragte er die Bediente, als er sah, daß er
keinen Suppenlöffel neben sich hatte, 827 ; — goUma pa'ct (= parte,
großes Stück, 830); — Uika studfrw (hier — ist es — kalt, 830); —
Lddo 6h te sab {= slab), ne möie da nösi (VI. — ist — noch schwach,
kann nicht tragen, 831); — ti st pokUta [=prokUta, du bist
verflucht), sagt er zur Bedienten (wahrscheinlich von ihr gehört),
831 ; — chübaviiko narrvflich (= namericJi) köpte (einen schönen
fand ich Knopf) und : ax namelich ch. köpce (ich fand — einen —
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 279
schönen Knopf, 831; das Adjektiv cJnibavidko igt ein Diminutiv
(siehe oben S. 270); — ti iz&le ctloto (du hast das Ganze aufgegessen,
841). — Am 866. Tage erkennt er schon bei drei verschiedenen
Personen die rechte und linke Hand, und zwar nicht beim
Essen, sondern nach dem Essen und weit vom Tisch ; am 868. Tage
jedoch beging er bei seiner Mutter einmal einen Fehler, indem
er d&ma läkä (= räkd, rechte Hand) sagte und dabei die linke
zeigte; wahrscheinlich machte er diesen Fehler, weil dabei seine
Mutter gerade Fleisch schnitt und das Messer mit der rechten
Hand hielt und die Gabel mit der linken, und da ich ihm einmal ge-
sagt hatte, daß man die Gabel immer in der rechten Hand halten
müsse. Noch am 1071. Tage irrte er sich jedoch wieder in der
Unterscheidung der linken von der rechten Hand, nachdem ich
mich lange Zeit mit ihm damit nicht beschäftigt hatte. Am
1116. Tage erkennt er fast immer sofort die rechte von der linken
Hand an seiner Person ebenso wie bei anderen Personen, antwortet
ebenso richtig, wenn ich auch deutsch frage: Welches ist die
rechte Hand? Welches ist die linke Hand? Manchmal irrt er sich
bei anderen Personen, jedoch sehr selten, und wenn er ein wenig
nachdenkt, sagt er immer richtig. Es sieht ans, als ob er an
anderen Personen die rechte von der linken Hand dann unter-
scheidet, wenn er nachdenkt, mit welcher Hand sie die Gabel,
das Messer, die Schere halten. Am 1132. Tage fragte ich ihn un-
erwartet, ohne daß ich ihm vorher solche Fragen gestellt hatte:
Welches ist dein rechtes Auge? Er zeigte es mir sofort ganz richtig,
und zwar mehrmals an sich und an meinen Augen; nur bei seiner
Mutter fehlte er das erstemal, jedoch hernach zeigte er ganz richtig.
Ebenso als ich ihn fragte, wo sein rechtes und sein linkes Ohr sei,
zeigte er richtig. Als ich ihn aber fragte, welches sein rechter und
sein linker Fuß sei, blickte er sieb, um seine Fuße zu sehen, und zeigte
falsch, so auch bei mir, und zwar gab er die falsche Antwort
mehrmals; ist vielleicht dieser falsche Hinweis nicht dadurch zu
erklären, daß die Ansicht der FUße sich ändert, wenn man sich
dabei bückt? — Am 1146. Tage, als ich ihn fragte: Welches ist
deine rechte Hand? als er gerade »gute Nacht« seiner Mutter ge-
sagt hatte und ihr die linke Hand reichte (seine rechte war näm-
lich voll von Biskuits gewesen), wies er auf seine linke Hand hin,
wahrscheinlich dadurch irre gemacht, daß er eben seiner Mutter
diese Hand gereicht hatte; als ich ihn dann nachher noch fragte,
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280
I. A. Gheorgov,
welches meine rechte Hand ist, zeigte er ebenfalls die linke, wahr-
scheinlich weil er eben bei seiner linken den Fehler begangen
hatte. Übrigens lächelte er ein wenig dabei, so daß ich nicht
weiß, ob er nicht eigentlich absichtlich scherzweise eine falsche
Antwort gegeben hatte.
Hier seien noch einige Sätze angeführt, in denen Adjektive in
besonderer Außdrueksweise erscheinen: papd, ntka statte chiibavo
vy4me {— vrtine), iskam da ixHnam (= ixUxna, Papa, es soll schönes
Wetter werden, ich will ausgehen, 966); — ti si goUm, xatovd ne
ti dam mdUci klüii (= n/ma da ti dam indM kruki, du bist groß,
darum werde ich dir nicht kleine Birnen geben, 993); — ddlzi-
ndta e tesna (die Länge ist schmal! 1004); — tovd otövno (= otrövno)
Ii e? (ist das giftig? 1020); er bildet sich selbst das Wort otrövno,
nachdem ich ihm gesagt hatte: ne türjaj tdva v ustdta, mözes da
se otrövü (tue das nicht in den Mund, kannst dich vergiften); er
versteht natürlich nicht vollkommen den Sinn des Wortes, ver-
bindet aber damit etwas Schlechtes; — stdlata (= stdrata) vechta
Säpka (der alte Hut, 1069); interessant ist hier der doppelte Gebrauch
des Wortes »alt« in zweifacher Ausdrucksweise, denn stdra und
Vechta bedeutet beides »alt«, »veraltet«, also etwa: der alte, veraltete,
schäbige Hut; — ne e dobdl (= dobär, er ist nicht gut, 1070); —
tovd ne e inöe, tovd e ctiido (das ist nicht mein, das ist fremd,
1090); — vldini mi sä lachte (= räctte, feucht sind mir die Hände,
1093); — mäninki (klein, im Diminutiv, etwa: niedlich, 1093); —
domdSnite obusta (die häuslichen Schuhe, 1102).
Manchmal, wenn auch sehr selten, ist keine Übereinstimmung
nach Genus und Numerus zwischen dem Substantiv und dem ent-
sprechenden Adjektiv, welches aber merkwürdigerweise immer dag
pronominale Adjektiv »anderer« ist: ot dügijat Iddko (= ot drx'tgoto
sUxdko, vom anderen Süßen, von der anderen Konfitüre, 799); —
tuk ima dug (= drug Sing., statt: drügi Plural) solddti (hier gibt
es andere Soldaten, 823): — dug (= drugt statt: drugi) ste döde
(statt: döjdat) Ii solddti f (werden andere Soldaten kommen? 823); —
und sogar noch am 855. Tage: ot dügoto (neben: dügata = dritgata)
stand {= Strand, von der anderen Seite; dügoto im Neutrum,
während Strand ein Femininum ist); siehe weiter oben S. 266.
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 281
VIII.
Reim Adjektiv ist besonders die Komparation hervorzuheben,
welche am 805. Tage in der Bezeichnung pö-golema (größer) zum
erstenmal zum Vorschein kommt, welche Bezeichnung das Kind
jedoch wahrscheinlich gebraucht, ohne den Sinn derselben voll-
kommen zu begreifen. Am 817. Tage kommen wieder die Formen
pö-golem (größer), pö-maläk (kleiner) vor; — am 826. Tage sagt
erpö-visoka pöta {=pvrta, eine höhere Pforte), als ich ihm gesagt
hatte, daß ich eine hohe Pforte, ein hohes Tor, bauen werde —
mit Bausteinen. — Am 837. Tage erkennt er schon sehr gut, was
größer und was kleiner ist: wenn ich ihn nämlich fragte, welches
größer, welches kleiner ist, zeigte er richtig auf die betreffenden
Gegenstände, wobei er sprach: tovd e p6~golemo (das ist größer),
tovd e pö-mcdko (das ist kleiner) ; — am 969. Tage sagt er plötz-
lich, ohne daß wir über so etwas gesprochen hätten: papä e pö-
süen, papä moie da me digne (Papa ist stäker, Papa kann mich
aufheben) : am 970. Tage wieder gebraucht er die wegen ihrer un-
gewöhnlichen Konstruktion sonderbare Phrase: tdjapö ne e chuhava
(diese ist nicht schöner), wo die Komparationspartikel po (etwa:
mehr, plus) vom Adjektiv getrennt ist, wie man in der Tat im
Bulgarischen manchmal auch sagen kann: — na mamd pö-malkt\
a Übe p6-golemi khUi (= krim, der Mama kleinere und dir größere
Birnen, 993): — am 1087. Tage gebraucht er den Komparativ
auch vom dialektischen kolcdv (im Sinne von: groß, wie groß!):
pö-kolcdv (größer), ebenso: po-visok (höher).
Auch im Adverb zeigt sich fast um dieselbe Zeit, 25 Tage
später, die Komparativform im Ausdruck: pö-bixu (= pö-blixu),
Lddo hte pddne (näher, VI. wird fallen; d. h. man soll sein Stuhl-
chen näher an den Tisch heranrücken, damit er nicht fallt, 830); —
tovd ne möze pö-inak (das kann nicht mehr anders — sein
oder gemacht werden, 959); — ax p'tja po mdUco, vfe piete po
pövece (ich trinke je ein wenig, ihr trinket je mehr, 1001); hier ist
das zweimal getrennt vorkommende po nicht die Komparations-
partikel, sondern das Adverb »je« ; dagegen stellt des Wort pövece
(mehr) einen adverialen Komparativ vor: — dävaj mi pö-skolo
(= pö-skoro), xa da svtflam (= srärsa, gib mir schneller, damit
ich beendige, 1003); — eld pö-nasam da ti pokdza n&to (komm
näher hieher, daß ich dir etwas zeige, 1060); — pö-lesno se ixvdl-
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282
I. A. Gheorgov,
dat (leichter kann man sie herausnehmen, 1076); — tarn pö-
nastra?ia, ce tiika ima (dort mehr seitwärts, mehr zur Seite, denn
hier gibt es — nämlich Steinchen oder etwas Ähnliches, 1284) ; —
toj sed6 pö-napred (er saß — schon — früher, nämlich auf
dem Topf, 1302) ; — ferner bildet sich das Kind pö-vcera, p6~utre
(anstatt: xdvcera, drügidm, vorgestern, übermorgen), indem er ein-
fach die Komparationspartikel vor die Wörter »gestern« und
»morgen« setzt, also etwa wie: mehr gestern, mehr morgen; viel-
leicht ist aber diese Bildung auch als Analogie zu erklären von
pö-xavcera (vorvorgestern), welches wirklich in der bulgarischen
Sprache existiert, jedoch ist dies weniger wahrscheinlich, da das
Kind schwerlich die Gelegenheit gehabt haben kann, dieses doch
selten gebrauchte Wort zu hören.
Endlich gibt es im Bulgarischen eine ähnliche Bildung von Kom-
parativformen oder von komparativer Ausdrucks weise auch beim
Verb, wo der Ausdruck die Bedeutung »mehr tun« hat: das Kind
gebraucht diese seltene Ausdrucksweise auch schon am 945. Tage
in der Phrase: iovä po obttam (das liebe ich mehr); dann noch
die folgende sonderbare und interessante Ausdrucksweise : Ddnka
po ima pali [=parl, D. hat mehr Geld, 1004), wo es aussieht, als ob
das Verb Ima gesteigert wird! Eigentlich müßte der Satz lauten:
ima pövece pari; — ebenso in dem Sätzchen: takd po se därzi
(so ist es leichter, besser zu halten, so ist es handlicher, 1153).
Der Superlativ (gebildet mit der Partikel naj: chtibav, schön,
pö-chubav, schöner, ndj-chnbav, schönst; zle, schlecht, Adv., ndj-
xle am schlechtesten) kommt sonderbarerweise gerade nur bei der
letzten Ausdrucksweise im Verb vor, und zwar nur einmal ziem-
lich spät, während ein Superlativ des Adjektivs und des Adverbs
gar nicht angemerkt worden ist: ax obiiam naj biskvfti (ich liebe
am meisten Biskuits, 1118).
IX.
Von den Numeralien kommen nur die ersten drei Grund-
zahlen bis zum Ende des vierten Jahres vor, und zwar erscheint das
erste Numerale eins gegen den 741. Tag in der Phrase: U ennö, U
ennö (= 6to ednö, dto ednö, hier ist eins, hier ist eins) ; — Lddo ste
z£me ednö köple (VI. wird einen Knopf nehmen), fügt dann noch
einen Knopf hinzu und sagt: de köpie [= dve köpceta, zwei Knöpfe,
824); — äste ednd kokoska dodtla (= dosltf, noch eine Henne ist
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 283
gekommen, 843): — ednö oltsence (= örechce, ein Nüßlein, 1025); —
ax irndch öste ednd kuttjka (ich hatte noch eine Schachtel, 1213) ; —
am 966. Tage spricht er das Sätzchen: ax imam ednidko (ich
habe ein einziges). — Das nächste Numerale, zwei, erscheint zum
erstenmal am 824. Tage in dem soeben zitierten Sätzchen: Lddo
ite zöme ednö köpie, de köpce; er hat aber natürlich noch nicht
den Begriff »zwei« sich vollkommen angeeignet und damit das
Zahlwort verbunden, wie spätere Fehler zeigen; -— am 831. Tage
sagte er wieder: de köpie namcVch (= dve köpteta namfricJi, zwei
Knöpfe habe ich gefunden) ; — sdüpi go na dve mestd (er hat es
auf zwei Stellen zerbrochen — wollte eigentlich sagen: auf zwei
Stöcke, na dve paritta, 1017); — nie vielu (= rMra) sme xemäli
de (= dva) goUmipilöni {=piröna), ta sme tukdli (wir haben gestern
zwei große Nägel genommen und haben — sie — eingeschlagen,
1040); — laxleil na. de pditta (= raxrezi na dve parc^ta, zer-
schneide auf zwei Stücke, 1074); — dve, tli (— tri, zwei, drei),
verwechselt aber die beiden Zahlen noch, 1076; — am 1087. Tage
unterscheidet er noch immer nicht zwei von drei, besonders zwei
erkennt er oft nicht; — ebenso erkennt er am 1108. Tage nicht
immer zwei Dinge und benennt sie nicht immer richtig so; — am
1116. Tage erkennt er und versteht zwei, aber die Zahl ist ihm
noch immer nicht klar und geläufig ; — kogdto mi tüfjat ö$te ednö
pdltOj ite imam dve (wenn man mir noch einen Rock nähen wird,
werde ich zwei haben, 1199); — aber am 1212. Tage hatte er
noch immer nicht die richtige Vorstellung von zwei und drei, denn
er verwechselte an diesem Tage noch zwei und drei und sagte oft
drei statt zwei: — dva krästa (zwei Kreuze, 1291); in diesem
Ausdruck ist schon richtig auch die männliche Form des Nume-
rales gebraucht und das Substantiv richtig in den Dual gesetzt;
siehe oben S. 266. — Am 827. Tage hatte er gesagt: i ddmata
(= i dvdmata, beide), wobei er meinte: beide ■ — er und sein Brüder-
chen — sollen im Wagen fahren. — Das drei erscheint am
868. Tage im Sätzchen : ax -imam U (= tri, ich habe drei, d. h.
drei Stücke Apfel); jedoch trotzdem er die drei Stück erkannt
hatte, als ich ihm dann zwei Bleistifte zeigte, wußte er nicht, wie
viel es sind. Wie oben bei zwei gesagt wurde, unterscheidet das
Kind noch lange nicht richtig zwischen zwei und drei. — Am
981. Tage sagt er . stüva pet pall (= strüva pet pari, es kostet flinf
Parä), natürlich ohne den richtigen Zahlbegriff damit zu verbinden : —
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284
I. A. Gheorgov.
dann am 988. Tage . ax böjam [= bröja) : cttili (= d6Hn)y pet,
osemndjset . . . (ich zähle vier, fünf, achtzehn .'..). — Am 1017. Tage
gebraucht er das Wort Hälfte richtig im Ausdruck: polovina mene,
polovina na Zönja (die Hälfte — von einer Bretzel, die er auf
zwei zerbricht — mir, die Hälfte dem £enja); — ebenso am
1157. Tage: jädech (= jädoch) sdmo polovina (ich aß nur die
Hälfte auf).
X.
Was die Pronomina anbelangt, so habe ich in meiner schon
erwähnten Abhandlung Uber das sprachliche Selbstbewußtsein bei
den Kindern ausfuhrlich über den Gebrauch der Personalpronomina
der ersten und zweiten Person sowie der Possessivpronomina be-
richtet. Hier seien bloß die Hauptpunkte daraus hervorgehoben.
Das Personalpronomen der ersten Person erschien am
711. Tage, im Dativ am 725. und 847. Tage, im Akk. am 779.
und 955. Tage; am 830. Tage sagt er noch fälschlich: xavedl go
(führe ihn hin) und meint sich selbst; vielleicht ist dies so zu er-
klären, daß das Pronomen nicht das Personalpronomen im (mich),
sondern den Namen Vlado vertritt.
Das Personalpronomen der zweiten Person erschien am
714. Tage (ohne Verb) und am 772. Tage (mit Verb), im Dativ am
798. und 993. Tage, im Akk. am 745. und 853. Tage; — das
Personalpronomen der zweiten Person des Singulars im Akkusativ
in der kurzen Form l) te kommt selten vor, und zwar zum ersten-
mal am 853. Tage in der Phrase: ax 4te te ixpdda (= ixpddja,
ich werde dich fortjagen); — dann nur noch am 1047. Tage in
den Sätzen: ite te ntma v£6e (du wirst nicht mehr sein; bulgarisch
etwa: es wird dich nicht mehr geben) und pestdna (~ prestdm)
Ii da te boli? (hat es aufgehört dich zu schmerzen?).
Das Personalpronomen der dritten Person männlichen
Geschlechts erschien zuerst am 948. Tage in dem interessanten
Satze: xatovd (darum, statt: xaitöto, weil) dfdo e goUm, xatovä toj
diVzi {= ddrxi) takd; xatovd (wieder statt: xattoto) ax säm mdläk,
xatovd dä^zam (= därzd) takd (weil der Großvater groß ist, darum
hält er — nämlich die Gabel — so; weil ich klein bin, darum
halte ich so) ; — toj postojdnno i>Uca (er schreit fortwährend, unauf-
1) »Die erstem Anfänge usw.« S. 372.
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindereprache. 285
hörlich, nämlich Bein kleiner Binder, wenn man ihn badet, 977): —
toj zagldbil {= xagrdbil) slcko (er hat alles an sich gerissen,
akkapariert, 1061) ; — toj greböl ptsäk (er hat Sand — mit der
Hand — geschöpft, 1294); — toj sedö pö-napred (er saß früher,
1302).
Das Personalpronomen der dritten Person sächlichen Ge-
schlechts habe ich sehr spät angemerkt, nnd zwar nnr ein ein-
ziges Mal in der interessanten Phrase: nie xaJddcfime — kogd Me
to? wir schlachteten — wann war es? 1310). Im Bulgarischen
ist dieses Pronomen übrigens ziemlich selten.
Dagegen kommt die dritte Person im Akk. des Maskulinums
und Neutrums, welche beide gleich lauten (go), schon sehr früh
vor, so schon am 724. Tage *) : ctödo nttna go (der Großvater ist nicht
da, bulgarisch: den Großvater gibt es nicht); ebenso: Lddo nerna
go (den VI. gibt es nicht), antwortet er, als ich ihn frage: de e
Vlddo? (wo ist VI.?); — daj Lddo da tüU pakdko da go lüpi
(= daj VI. da türi kapdka da go xachlüpi, gib, VI. soll den Deckel
darauflegen, damit er ihn bedeckt, 736) ; — luci go (= rücaj go,
iß es, 743); — iitnia kuca, kölo da go namMü (= nfrna kljüca, sköro
da go namens, den Schlüssel gibt es nicht, schnell sollst du ihn
finden, 743) ; — papd, tuli biblto, hdl go (= — , turi kibrlta, turl
go, Papa, stelle die Zündhölzchen, stelle sie, 745); bulgarisch ist
das Wort »Zündhölzchen« ein Maskulinum und im Singular); —
ej go tarn (dort ist er; etwa wie französisch mit dem Akk.: le
voilä, 747) ; — daj mi go da go cetent (— cetd, gib'mir ihn, damit
ich ihn lese, 756); — papd, xernigo (Papa, nimm ihn, es, 773); —
ne xemi go (= ne go x4maj, nimm ihn, es nicht, 778) ; — Vlddo xe
go (= VI. go xe, VI. hat ihn, es genommen, 794); — nd U go da
go xamötas (da hast du ihn, damit du ihn zuwickelst, 827); —
kdmo go? (wo ist er? bulg. mit dem Akk., 861); — toja dtka
go videchme (dieser, den wir gesehen haben, 970). — Manchmal,
jedoch äußerst selten, eigentlich nur ein einziges Mal in späterer
Zeit angemerkt, wird dieses Pronomen im Akk. ausgelassen: Lddo
oddskal {— VI. go odrdskal, VI. hat — ihn — zerkratzt, 825). —
Und einmal später hat er falsch den Akk. (go) durch den Dativ
1 Die zweite längere Form mgo, entsprechend den Formen mhte und
iebe der ersten und zweiten Person, ist gar nicht beobachtet worden, im Gegen-
sätze zn den entsprechenden Formen der ersten und zweiten Person, welche
öfter vorkommen als die kurzen Formen.
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286
I. A. Gheorgov,
(mu) ausgedrückt: kogd mlne kluJdldt (= krusdrdt), ti kte mu (ihm,
statt: go, ihn) pitas, dali ima döbi klü&i (= dobri kruH), doli ntma
(wenn der Birnenverkäufer vorbeigehen wird, wirst du ihn fragen,
ob er gute Birnen hat oder nicht, 989). — Im Dativ kommt das
Personalpronomen der dritten Person Maskulinum und Neutrum
(wieder gleich: mu, ihm) sehr spät vor, nämlich erst am 982. Tage:
papd, ne mu poljdvaj (= poxvoljdvaj, Papa erlaube ihm nicht, 982); — -
ste mu se sd'dü (= sdrdü) Ii papa? (wirst du ihm böse sein,
Papa? nämlich dem Äenja, weil er etwas getan hat, 984); — vc6la
(= vifra) mu kdxacJi (gestern habe ich ihm gesagt, 1002); und
zwar sagt er dieses für etwas, was er mir gerade einen Augen-
blick vorher gesagt hatte, was eben zeigt, daß er nicht versteht,
was vctra eigentlich bedeutet; — ti mu davä togdva lekdrstvo (du
gabst ihm damals Arznei, 1158). — Die längere Form mmu (ent-
sprechend den Formen mene und Übe) kommt gar nicht zum Ge-
branch, ebenso wie ntgo, ihn, es (siehe oben S. 285).
Das Personalpronomen der dritten Person im Femininum
Singnlaris (tja) kommt nur ein einziges Mal spät vor in dem Frage-
satz: ne e Ii ptsala tja oddvna pismö? (hat sie nicht seit lange
einen Brief geschrieben? 986); — um dieselbe Zeit, etwas früher,
erscheint dasselbe Personalpronomen im Akkusativ {ja); als ich sein
Brüderchen frage: Zenja, wo ist die Kravatte? antwortet mir
dessen älterer Bruder, also Vlado selbst, auf die Frage mit den
Worten: tto mi ja (hier ist sie mir), wo im Bulgarischen das Pro-
nomen im Akk. steht, etwa wie wenn man im Französischen sagen
würde : la voila a moi, 959) ; — ax ja poxndvam (ich kenne sie,
nämlich eine Dame aus der Nachbarschaft, 985) ; — papd ti ot tüka
Uzes (= rözek) kldstavica-ta (= krdstavicata), a ot tiika ja dä'zU
(= därzU, Papa, von hier schneidest du die Gurke und von hier
hältst du sie, 988); — dajni kntgata da sija doglfdame (gib uns das
Buch, damit wir es zu Ende durchsehen, 1287: bulgarisch ist das
Wort »Buch« ein Femininum). — In der ersten Zeit ist dieses
Pronomen im Akkusativ durch dasjenige im Maskulinum ausge-
drückt, so sagt er im 20.— 23. Monat: mamd te go (statt: mamu
Ho ja, hier ist Mama, la voila maman); — ebenso sagt er am
829. Tage: Lddo sali (= svdrit) mpata, Wido go säiä (statt: ja
svdrsi, VI. hat die Suppe beendigt, VI. hat sie beendigt).
Die erste Person des Plurals im Nominativ [nie) erscheint
am 802. Tage zum erstenmal in dem Satze: papd, ste jadem nie
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 287
pdSeno mcso (Papa, wir werden gebratenes Fleisch essen) ; — segä
ite jade'm nie (jetzt werden wir essen, gegen den 820. Tag): —
nie sie tülim (-= türim, wir werden hinlegen, 826); — nie sme
■idM (= otUUy wir sind hingegangen, 984); — Stefanco i Lddka
(= Rädka) ottiU sds papd si i säs mamd si da shUat Jtiüxika, nie
ne sme idäi (= ottfli, St. und R. sind mit ihrem Vater nnd mit
ihrer Motter gegangen, nm Musik zu hören, wir sind nicht ge-
gangen, 984) ; — nie idöchme (= otidochme, wir sind hingegangen,
993); — üte {— ütre) kogd pestdne (= prestdne) da vali, nie hte
ixUxem (morgen, wenn es aufhören wird zu regnen, werden wir
ausgehen, 1001); — xasto s?ne nie tttka? (warum sind wir hier?
1124): er fragt so, als wir in einen Laden hineingehen, um etwas
zu kaufen. — In den Casus obliqui habe ich dieses Personal-
pronomen nur ein einziges Mal beobachtet, und zwar im Dativ in
folgender Phrase: daj ni knigata da si ja dogttdame (gib uns das
Buch, damit wir es bis zu Ende durchsehen, 1287). Es ist merk-
würdig, daß die anderen Formen dieses Pronomens gar nicht vor-
gekommen sind, trotzdem es natürlich wäre, daß sie doch in seiner
Rede erscheinen, so besonders diejenigen Formen, die wie mene,
Übe (mich, dich, mir, dir) öfter vorkommen, besonders nach Prä-
positionen im Akknsativ: nas (Akk.), nam (Dativ), uns.
Die zweite Person des Plurals (vie) erscheint sehr spät,
fast genau 200 Tage nach dem Erscheinen der ersten Person, und
zwar nur ein einziges Mal in dem Satze: ax pfja jw malko, vie
piete po pöveie (ich trinke je ein wenig, ihr trinkt je etwas mehr,
1001). — Dafür sind die Casus obliqui von diesem Pronomen
zweimal vertreten, und zwar merkwürdigerweise auch wieder in
den kürzeren Formen; sonderbar ist es aber, daß hier in beiden
Fällen der Akkusativ vertreten ist, nicht der Dativ, wie beim
Pronomen der ersten Person des Plurals: da ne ostänete dälgo, ce
Sie vi Mja (ihr sollt nicht lange bleiben, sonst werde ich euch
schlagen, 1053); — ne vi oblfam, ce sie 16H (ich liebe euch nicht,
denn ihr seid schlecht, 1102).
Die dritte Person des Plurals kommt, und zwar sehr selten,
nur in Casus obliqui, und zwar bloß im Akk. {gi) vor: covet säbila
dd'vdta (= säbfra därvdta), pöse (= pösle) gi nösi ( — der, ein —
Mann sammelt das Holz, dann trägt er es, 838); bulgarisch ist das
Wort »Holz« in der Mehrzahl; — kte gi ixeaam (= ixedd) slcki
da gi nema (ich werde sie alle aufessen, damit es sie nicht gibt,
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288 I- A. Gheorgov,
1139) ; — togdx aaj gi mene, ako ne gi iska £enja (dann gib sie mir,
wenn sie i. nicht will, 1279). — Manchmal ist in der ersten Zeit
dieses Pronomen falschlich durch das Pronomen im Singular (go)
ersetzt; so: slckite cigäli (~ cigdri) ite go (statt: gi) ixpüiam
(= ixpüia, alle Zigaretten werde ich sie zu Ende rauchen, 855) ; —
ite go (statt, gi) ixedam (= ixedd) slckite (ich werde sie alle auf-
essen, 856).
Es sei hier bemerkt, daß das seltene und späte Auftreten der
Pronomina, besonders in der dritten Person sowohl des Singulars
als auch des Plurals im Nominativ zum großen Teil dadurch zu
erklären ist, daß im Bulgarischen die Verben ohne das Pronomen
gebraucht werden, wie im Lateinischen, nicht wie in den meisten
modernen Sprachen (siehe meine Abhandlung über den sprachlichen
Ausdruck des Selbstbewußtseins, S. 400). Dagegen sind die fehlen-
den Pronomina im Akkusativ und in den anderen Fällen durch
andere allgemeine psychische Gründe zu erklären.
Das Reflexivpronomen (Dativ si, Akk. se für alle Personen
und für beide Zahlen1) erscheint zuerst in der dritten Per-
son gegen den 719. Tag, und zwar im Akkusativ: mäkiti budi se
1= mdlkijat se sdbudi, der Kleine ist erwacht; bulg. reflexiv wie im
Französischen: s'est reveille); auch am 721. Tage; — papd sfdi se
(= papd l se sdrdi, Papa ist böse; bulg. reflexiv: se fache-, 724); —
ebenso : mamd sö'di se, 724; — Lddo ddvi se[—Vl. se xaddvi, VI. hat
sich erwürgt, 734); er sagt dies, als ihm in der Kehle etwas stecken
geblieben war; wahrscheinlich hat er den Ausdruck von den Bedien-
ten gehört, nicht von uns; — tüka pddna tarn Lddo i uddli se (= se
uddri) tüka (hier fiel VI. dort und hat sich hier angeschlagen,
779); — tovd t<<be da se tuli i da se h'tpi {■= tovd trSba da se tun
i da sc pochlupi, das muß man hinstellen und zudecken; bulg.
reflexiv2): 793); = ne möie Ii tovd da se tuli {— tun)? (kann man
das nicht hinstellen? 793); — iska da se tuli (— türi) tüka (man
muß das hinstellen, 793); — tüka da se tüli (= türi) mastüce, i
tiika da se tüli (= türi, hierher muß man Tintchen hineinlegen
und hier muß man auch hineinlegen : bulg. immer reflexiv ; 794) : —
tovd Mbe&e {— trCbaie) da se tüli (= türi) tovd takd, das mußte
1) »Die ersten Anfänge usw.« S. 374 und 400.
2) Die passive Ansdrucksweise sowie Ausdrücke wie: mau legt usw.
werden bulgarisch reflexiv ausgedrückt: es wird gelegt, man legt: turja se,
etwa wie: es legt sich.
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der KinderBprache. 289
man so hineinlegen dies, 794); — cupi se {—sdüpi se, es zerbrach,
794) ; — tovd ne möie da se vddi (das kann nicht herausgenommen
werden, 794); — takd da se lüpi (— xachlüpi, so muß man — es —
bedecken, 794); — ne vidi se, Übe Idmbata (= treba Idmpata,
man sieht nicht, die Lampe ist nötig, 823); — Lddo ste se ubodf,
pösle £te böli (= boli, VI. wird sich stechen und dann wird es
schmerzen, 824). — Interessant sind noch die folgenden unpersön-
lichen Ausdrucksweisen, die in der bulgarischen Sprache charakte-
ristisch sind1): spi mi se (ich bin schläfrig; etwa: es schläft sich
mir, 987); — tebe ti se spi? (du bist schläfrig? 998); — ferner:
xdedno ne möze da se jadö sidko? (zusammen kann man nicht alles
essen, 1012); er antwortet mir schlau in dieser Weise, um eine
Ausflucht zu finden, damit er von einer Melone nicht zu kosten
braucht, von welcher er um keinen Preis kosten wollte, wenn wir
ihn auch dazu antrieben, nachdem er nämlich gerade einen Bissen
von einer Birne genommen hatte; — tüka ne se stdva (hier kann
man sich nicht setzen, 1287). — Trotz des frühen Auftretens des
Reflexivpronomens nnd dessen häufigen Gebrauchs kommen jedoch
oft auch Ausdrücke vor, wo dasselbe ausgelassen wird, so: papd,
ne teba tüli doläpo sei {— ne treba da se türi na doldpa sveit,
Papa, man braucht nicht auf den Schrank eine Kerze zu stellen,
733); — hämo Mia, km dhva? (= kdmo kljnda, km se dena?
wo ist der Schlüssel, wohin ist er verschwunden? bulg. reflexiv;
740); — i Lddo ne blva noza da poUze (= ne btva — da
chvdita — nöia da (ne) se poröze, auch VI. darf nicht das Messer —
nehmen — , daß er sich — nicht — schneidet, 745); so sagt er
mir, als er meine Wunde am Finger sieht, welche ich ihm gezeigt
hatte, da er das Messer zu nehmen verlangte; dabei sagt er
noch: Lddo ne teba da poUze [= VI. ne tröba da se portze, VI.
darf sich nicht schneiden) : — Lddo ite. kdci (== hte se kdci) takd
7ia papd, ste pie caj (VI. wird sich auf — den Schoß des — Papa
setzen, wird Tee trinken, 748); — tovd na papd köp'ce kinalo
se skinah i dieser Knopf des Papa ist abgerissen; bulg. reflexiv
ausgedrückt; 793); — katö hte- bi'uli (= se sabüdt) mdlciti, papd
hte oUze (= otrt'ze) ot fovd Iddko [■= slddko, wenn der Kleine er-
wacht, wird Papa von dieser Mehlspeise abschneiden, 799); —
und noch am 805. Tage : ste poUze {= sie se por&e, er wird sich
1} »Die ersten Anfänge usw.« S. 375.
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290 I. A. Gheorgov,
schneiden). — Es kommen auch umgekehrt, wenn anch selten,
Ausdrücke vor, in denen das Reflexivpronomen gebraucht wird,
wo es nicht am Platze ist, so: dügoto se ne ddnka (= drugoto
ne dränka, das andere klingt nicht, 824); — da se isHne (= da
isttne, es soll erkalten, 825). — Im Dativ kommt das Reflexiv-
pronomen am 733. Tage zum erstenmal vor: igdj (= igrdj) si tüka
säo (= s eksfra, spiele hier mit dem Nagel, sagt er zu sich selbst;
bulg.: spiele dir; 745): — Lddo ne Iska vänt Lddo — (e) — äste
mdlak, öste gaj si {= igrde si, VI. will nicht ausgehen, VI. ist noch
klein, noch spielt er — sich, 745) : bis hier ist aber, wie man ans
allen diesen drei Beispielen sieht, das Reflexivpronomen eigentlich
nicht dem Sinne nach, sondern nur grammatisch ein solches; das
erste wirkliche Reflexivpronomen im Dativ ist in folgender Phrase
zum Vorschein gekommen: Lddo iska tovd da si z&ne (VI. will
sich dieses nehmen, 829); — in meiner Abhandlung über den
sprachlichen Ausdruck des Selbstbewußtseins (S. 385) habe ich als
ersten Tag des Auftretens des Reflexivpronomens der dritten Person
im Dativ den 735. Tag bezeichnet, aber die damals gebrauchte
Phrase ist eine solche, wo das Pronomen eigentlich Überflüssig
ist: Maliea (= Marlca otide si da kupi le.p (= chleb); der Knabe
wollte sagen : M. ist Brot kaufen gegangen [odide = ging), indem
er aber das Reflexivpronomen gebraucht [otide si), sagt er eigent-
lich: ging nach Hanse, ging weg; — den nächsten Fall vom
Gebrauch des Reflexivpronomens in der dritten Person des Dativs
haben wir, und zwar wieder nur in grammatischer Form, am
980. Tage: Ddnka otide na sdo; kogd ite si döjde ot sOo? (Danka
ist ins Dorf gegangen; wann wird sie vom Dorfe zurückkehren?
bulg. reflexiv, mit dem Dativ, etwa wie französisch: quand s'en
retournera-t-elle?). — Anfangs kommt es natürlich auch vor, daß
das Reflexivpronomen ausgelassen wird; so sagt das Kind am
736. Tage: papd, daj ctkkite {= cttkitc), Uba treoa) Lddo da
mie (statt: da si tnte) xdbite (Papa, gib die Bürsten, VI. mnß sich
die Zähne waschen); jedoch kommt dies Auslassen des Reflexiv-
pronomens im Dativ später nicht mehr vor. — Ein paarmal
kommt fälschlich der Gebrauch des Dativs statt des Akkusativs
vor: xagubi ' si (statt : xagubi se, es verschwand, bulg. reflexiv, 824),
welches er aber an demselben Tage einmal auch richtig als xagubd
(= xagvbi) se sagt; — sogar noch am 996. Tage kommt einmal
ausnahmsweise noch dieser fälschliche Gebrauch in der Phrase
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklang der Kindereprache. 291
vor: gäskite si (statt: se) dlgat sami na göle (—göre, die Gänse
steigen selbst hinauf; bulg. reflexiv: heben sich).
Beim Reflexivpronomen der zweiten Person erscheint der
Dativ früher als der Akkusativ, jedoch ist er sehr selten: papä,
legi (= legni) si tüka (Papa, lege dich hieher, 721 ; bulg. mit dem
Dativ); — igdj (= igrdj) si tüka süo (= s ekstro, spiele dir hier
mit dem Nagel, 733). Auch hier haben wir aber in beiden Fällen
nur grammatisch ein Reflexivpronomen. — Der Akkusativ kommt
später vor: mant (= machnf) se (geh weg, ötc-toi, gegen den
728. Tag); — in meiner Abhandlung über den sprachlichen Aus-
druck des Selbstbewußtseins ist das erste Auftreten des Akkusativs
der zweiten Person am 824. Tage angegeben worden (S. 385); es
ist dies der zweite Satz, wo dieses Pronomen nach diesem ersten
mal aufgetreten ist : dko H se napiei . . . (wenn du dich antrinkst,
824); allerdings kann in dem oberen ersten Satz das Reflexiv-
pronomen nicht als solches gefühlt und gebraucht worden sein,
sondern unbewußt in einem angelernten ganzen Ausdruck, wo der
Knabe das Pronomen und dessen Bedeutung vielleicht nicht gefühlt
haben mag, wie sicherlich schon im zweiten Satz, der aber fast
nach 100 Tagen erscheint; — hte mu se sd'dü (= särdü) Ii, papd?
(wirst du ihm böse sein, Papa? 984); — papd, Ü rnötä da pies
mnögo vivo, xaitöto ne?na da se lazbotfes (= raxbolM, Papa, du
kannst viel Wein trinken, denn du wirst nicht krank werden,
erkranken; bulg. reflexiv, nach der Art von: sich erkälten; 1032). —
In der ersten Zeit kommt, aber äußerst selten, auch Auslassen
dieses Pronomeiis vor: dko kdtü (= se kldtis), papd ne dd-va göxde
(= gröxde, wenn du dich schaukelst, gibt dir Papa keine Trauben,
749); er bildet sich selbst diese Phrase, nachdem ich ihm gesagt
hatte: ne blva da se klätü takd (du darfst dich nicht so schaukeln);
wie man sieht, läßt er das Reflexivpronomen aus, trotzdem ich es
gerade unmittelbar vorher gebraucht hatte.
Das nächste Reflexivpronomen ist jenes der dritten Person
des Plurals: da se zakopcat (sie sollen zugeknöpft werden, sich
zuknöpfen, 827); — tfja da se ne izkaTat1) (*= ixkdljat, sie sollen
nicht schmutzig werden, sich nicht beschmutzen, 831). — Im Dativ
ist dieses Pronomen nicht vorgekommen.
Erst nach alldem taucht der Gebrauch des Reflexivpronomens
1) »Die ereten Anfinge usw.« S. 336, Fußnote.
ArchlT fttr Psychologie. XI. 20
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292
I. A. Gheorgov,
in der ersten Person auf: es geschieht dies zuerst im Dativ: ax
kte si ddvam sam (ich werde mir selbst — die Suppe — geben,
859); — ax ite si xema sam (ich werde mir selbst nehmen, 859); —
daj da si xema kaJco mi tfba {— kakvöto mi trtba, eigentlich;
kakvöto iskam, gib, damit ich mir nehme, was ich brauche, eigent-
lich: was ich möchte, 960). — Im Akkusativ zuerst am 986. Tage:
ax se naüiich da sllxam sam (ich habe erlernt — bulg. reflexiv,
etwa wie: ich habe mich gewöhnt — selbst herunterzusteigen); in
meiner Abhandlung über den sprachlichen Ausdruck des Selbst-
bewußtseins ist als Tag des ersten Auftretens dieses Pronomens
falschlich der 992. Tag angemerkt (S. 386); es ist dies der zweite
vorgekommene Fall im Sätzchen: Iddam se (= rddvam se} ich
freue mich); — ferner: ax se Iddvam (= rddvam) xa khUi (= knUi,
ich freue mich nach Birnen, 1016). — Anfangs wird in solchen
Fällen das Reflexivpronomen ausgelassen; so ist es interessant,
daß dies bei einem Satze der Fall ist, wo zu derselben Zeit
dasselbe Reflexivpronomen der dritten Person gebraucht wird; es
scheint also die reflexive Bezeichnung für die erete Person dem
Kinde schwerer zu fallen als diejenige der dritten Person : beb&we
se kdxa (— se kdxva) Senco, ax kdxam (statt: se kdxvam) Lddo
(das Bebchen heißt Senco, ich heiße VI., 779; bulg. ist das Verbum
»heißen« reflexiv, wie im Französischen : s'appeler oder sich nennen).
Endlich erscheint am spätesten das Reflexivpronomen der
ersten Person des Plurals, und zwar je einmal im Akkusativ
(zuerst) und im Dativ (später): süno se smeem (wir lachen laut,
1052; bulg. reflexiv, aber natürlich nur grammatisch); — daj ni
knigata da si ja dogUdame (gib uns das Buch, damit wir es uns
bis zum Ende durchsehen, 1287).
Das Reflexivpronomen der zweiten Person des Plurals
ist gar nicht gebraucht worden.
Das Auftreten des Possessivpronomens ist an folgenden
Daten konstatiert worden1): moj (mein) am 966. Tage; — tvoj (dein)
am 966. Tage; — nas (unser) am 801. Tage: ndUte koköSki nösat
(= rrfsjat) jajc6 (Sing., statt Plural : jajcd} unsere Hennen legen
Eier) ; in meiner erwähnten Abhandlung habe ich nai zum ersten-
mal am 1048. Tage angeführt; jedoch habe ich jetzt noch einen
früheren Gebrauch dieses Pronomens aufgefunden, so daß also
1 »Die ersten Anfänge ubw.« S. 354— 355.
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 293
als erstes Possessivpronomen bei meinem ersten Sohne merkwürdiger-
weise dieses Pronomen auftritt, wenn auch ein einziges Mal um
diese Zeit und zum zweitenmal erst am 1048. Tage. Diese neue
Konstatierung ändert jedoch nichts an meinen allgemeinen Be-
hauptungen Uber das Auftreten der Personal- und Possessivpronomina
(S. 354—355, 402—404); — ntgov (sein) am 1096. Tage.
Das Pronomen demonstrativum erschien zuerst substan-
tivisch im Neutrum [tovd], und zwar schon am 711. Tage: tovd e
xa Übe (das ist für dich, wobei er sich selbst meinte); — tovd —
(e) — cdca, dügoto (= drügotö) fa (das — ist — niedlich, das
andere schlecht, 716); — daj mi tovd (gib mir dies, 725); — koj
e tovd? bebence (wer ist das? Bebchen, 733); er richtet die
Frage an sich und antwortet selbst; — tovd e na papd pantalön,
das ist des Papa Hose, 747); — tovd — (e) — na mdkiti sütto,
tovd na beb6 kütnce (das ist des Kleinen Flasche, das ist des
Bebes Fläsohchen, 749); — tovd kakö {= kakvö) e tovd? (das was
ist das? 769), so fragt er, wenn er etwas sieht und darnach
fragt; — tovd köpce U e? (ist das ein Knopf? 772); — tovd sto e?
(was ist das? 773), so fragte er, als er einen Paradiesapfel sah,
welcher der Form nach den anderen nicht ähnlich war; — tovd —
(sä) — tömati, tovd kdcavici (— krdstavici, das sind Tomaten, das
Gurken, 773); — tovd takd U e tüleno {= Mreno)? (ist das so
gelegt ? 793) ; — tovd Mme (= trtbase) da se Mi (= tun) tovd
takd (das mußte so das — wiederholt das Pronomen — gestellt
werden, 794): — » tovd töze (auch das ebenso, 794); überhaupt
wird dies Pronomen von seinem Auftauchen an oft gebraucht. —
Adjektivisch kommt das Demonstrativum viel später und äußerst
selten zum Gebrauch, das erste und einzige Mal erst am 793. Tage
in dem Satze : tovd na papd köpie klnalo (= se skinalo , dieser
Knopf des Papa ist abgerissen); und zwar ist, wie man sieht,
auch hier das Demonstrativum nicht unmittelbar vor dem Substantiv,
sondern weit getrennt von ihm, also nach Art des substantivischen
Demonstrativums angewandt.
Das Maskulinum des Demonstrativums [töja) kommt in seinem
substantivischen und adjektivischen Gebrauch fast zur selben Zeit
zur Anwendung: na papd toj (auch: töja, wie es richtig ist) (dem
Papa — ist — dieser, nämlich Bleistift, 735); so sagt er, indem
er meinen Bleistift nimmt und mir den anderen gibt; der Gebrauch
des Dativs in dieser Phrase ist analog dem französischen: celuülä
20*
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I. A. Gheorgov,
est ä papa; — daj — (na) — papä toj kamÜ (= kattm) da pfse
(gib dem Papa diesen Bleistift, damit er schreibt, 736); — t&ja
cas&onik (= dasövnik) e katö t&ja (diese Uhr ist wie diese, 822); —
t&ja, dika go videchme (diesen, den wir sahen, 970); — t&ja chleb
ne stüva (= strüva, dieses Brot taugt nicht, 1019). — Das Femininum
(toi, tdja) taucht am 793. Tage auf und ist immer substantivisch
beobachtet worden: nd tdzi, daj tdzi (dahast du diese, gib diese);
er sagt das, indem er der Mama eine zerrissene Schachtel gibt
und von ihr eine unversehrte verlangt; — tdja pö ne e chübava
(diese ist nicht schöner, 970); — tdja e mn&go golema (diese ist
sehr groß, 987); — xastö ne xine i tdja? (warum macht nicht auch
diese den Mund auf? 1118); er sieht nämlich auf einem Bilde eine
Krähe, welche den Mund aufgesperrt hatte, und fragt, warum
auch die andere nicht so tut. — Der Plural (tija, tie) kommt noch
später zum Vorschein: tija da se ne ixkaVat (= izkdljat, diese sollen
nicht schmutzig werden, 831); — tija stmki Uba (— trfba) da se
ixddi {— ixvddjat, diese Kerne müssen herausgenommen werden,
856); — tovä stiga na Ztnja, a tija xa Lüdo (das genügt fllr
£enja und diese für VI., 856) ; — tii sä m&ite, tii sä t&ite (= tvöite,
diese sind die meinigen, diese sind die deinigen, nämlich Hasel-
nüsse, 966); — na kakvu müiiat (= mir Hat) tie? (wonach riechen
diese? 970); — vidf Ii ti tija covtci, Mio bfcha tarn? (hast du
diese Menschen gesehen, die dort waren? 987); — tii iskali da
uttpat (= utr&pat, diese haben sie töten wollen, 993).
Manchmal, besonders in der ersten Zeit, wird in der Anwendung
des Demonstrativums in der Art gefehlt, daß das Neutrum vor
Substantiven anderen Geschlechts und sogar anderer Zahl gesetzt
wird , xel tovä kuca Lddo (= VI. xel t&ja kljuc, VI. hat diesen
Schlüssel genommen, 733); dabei ist das Substantiv auch noch
mit dem Artikel versehen1); — papä, xSmt (= xemi) tovä (statt:
tdja) kutfjka da Ullis goU (= da iuris göre, Papa, nimm diese
Schachtel, um sie hinaufzustellen, 736); — tovä kantfl (statt: toja
kaUm, dieser Bleistift, 744): — digni tovä n&Hcite (statt: tija
fuizici, hebe diese Scheren auf, 830; auch hier hat das Substan-
tivum noch den Artikel): — endlich ist die ganz falsche Anwendung
des Demonstrativums in folgendem sehr merkwürdigen Satz her-
vorzuheben: i tovä iska Lädo da käci na k&nceto (auch das will
1) Siehe weiter oben S. 273.
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 295
VI. aufs Pferdchen hinaufsetzen, 772; er will eigentlich sagen,
daß auch er aufs Pferd gesetzt werden will, wie er dies mit einem
Burschchen auf dem Bilde sieht).
Von anderen Pronomina demonstrativa gebraucht er nur takäv,
takäva usw. (solcher, solche) gegen den 900. Tag, und onxi (jener),
erst gegen den 1105. Tag; interessant ist es besonders, daß während
das Demonstrativum >das«, »dieses« so früh und so oft gebraucht
wird, >jener< usw. so spät und nur ein einziges Mal angemerkt
worden ist; das letztere scheint also nicht so natürlich für die
Sprache des Kindes zu sein.
Das Pronomen relativum ist ein ziemlich selten und spät
zum Vorschein kommendes Pronomen; zum erstenmal erscheint es
am 925. Tage in der Phrase: grijs n4ma koj da mi ddva (Gries
gibt es nicht, wer mir geben soll); — daj da si x6ma kakö (= kak-
vöto) mi tiba (= tr&a, gib, ich soll mir nehmen, was ich brauche,
960; eigentlich wollte er sagen: was ich will — kakvöto iskam); —
am meisten wird das unveränderliche Relativum M-a, dtto (etwa wie
das deutsche »so«, »was«) gebraucht, welches im Bulgarischen, be-
sonders in der Volkssprache, sehr gebräuchlich ist und die veränder-
lichen Relativa ersetzt: töjay deka go vidScJime (dieser, den wir sahen,
970); — vidt Ii tija tovöci, dtto btcfia tarn? (hast du jene Menschen
gesehen, welche dort waren? 987); — ax videcft edln ctw, dtto
vödese ednö dgne Mio (ich sah einen Bauern, der ein weißes Lamm
führte, 933); — sto e tova, dtto ev rdkdta? (was ist das, was in
der Hand ist? 1105); — kadf {— kädt) e gotömijat kühn, dttob&e
u salöna? (wo ist der große Teppich, der im Salon war? 1199).
, Das Pronomen interrogativum kommt natürlich viel früher
vor und ist den Kindern geläufiger als das Relativum; es erscheint
schon am 733. Tage und zwar in der Form des wer? {koj?): koj
e tovd? bebfrice (wer ist das? Bebchen; er gibt sich hier selbst die
Frage auf und antwortet selbst darauf); — dann kommt nach
einem Monat das Fragewort was? [kakvö?): tovd kakö (= kafcvö)
e tovd? (dieses was ist das? 769, 777, 778); — tovd kakö e? (was
ist das? 773); — kakö (= kakvö) pdvi (= prdvi) papd? (was macht
Papa? 777); — na kakvö müüat (== miriiat) Ue? (wonach riechen
diese? 970). — Auch die zweite Form dieses Fragewortes was?
[&to?) erscheint um dieselbe Zeit: tovd Sto e? (was ist dies?), so
fragt er, als er einen Paradiesapfel sieht, der seiner Form nach
den anderen nicht ähnlich ist, 773; — vldü, sto e tovd? (siehst du,
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I. A. Gheorgov,
was ist das? 778); — ito e tovd, dito e v räkäta? (was ist das,
was in der Hand ist? 1105). — Aus diesen Beispielen ersieht man,
wie das Kind das Fragewort wer? eigentlich fast gar nicht ge-
braucht, denn es kommt nur anfangs ein einziges Mal vor. —
Dann kommt das Fragewort was für ein? {kakdv?) zum Vorschein:
tovd kakdv (= kakdv, das was für einer? 805); ich hatte ihm
nämlich vor einigen Tagen schwarzen, weißen und blauen Zwirn
gezeigt; heute nimmt er wieder diesen Zwirn vor und fragt sich
selbst mit der obigen Frage, was für eine Farbe er hat; —
ebenso am 830. Tage: tovd kakdv e, tfno (= 6imo) U e, beTo Ii e?
(was für einer ist das, ist es schwarz oder ist es weiß?) — ax
tuka Me pokdza, kakdv e (ich werde hier zeigen, was für einer er
ist, nämlich welche Farbe der Zwirn hat, 830); — vidi*, nuMja
pdpa kakvd sdpka ima? (siehst du, was für einen Hut unser Papa
hat? 1048); — am spätesten und am seltensten habe ich das
Fragewort welcher? konstatiert, und zwar bloß im Femininum
{k&ja?}: u köja kutfja ima bonböni? (in welcher Schachtel gibt es
Bonbons? 960); — ot koja Strand da (dam (= tda)? (von welcher
Seite soll ich gehen? 1291).
Von den unbestimmten Pronomina taucht als erstes nikoj
(jemand) schon am 720. Tage auf: nikoj döjde (jemand ist ge-
kommen), sagt er in der Frtth fast im Halbschlaf; später habe ich
jedoch dieses Pronomen nicht mehr angemerkt. — Ebenfalls kommt
gar nicht vor: niemand {nfkoj). — NfMo (etwas) erscheint merk-
würdigerweise später, und zwar 25 Tage später: niöto pddnalo
dölu (etwas ist unten gefallen, 745); es kommt aber viel öfter vor:
ima n&to (es gibt etwas), l>oli nföto (es schmerzt etwas), 745; —
dpe (= chdpe) nisto (es beißt etwas, 745); — ima niito (es gibt
etwas, 772), sagt er, als er eine Schachtel mit Nadeln schüttelt
und darin die Nadeln hört; — Lddo iska da xfme n/sto (VI. will
etwas nehmen, 772); — kam n/Sto da pUam (= pUa)? (wo ist
etwas, damit ich schreibe?) und: ntäto iskam da napiiam (= naptia,
ich will etwas schreiben), 861. — Nisto (nichts) kommt sehr selten
vor: nima ntito da dpe (= chdpe, es gibt nichts das beißt, 754): das
ist das einzige Mal, wo ich es angemerkt habe. — Siöko (oder:
vrtcko, alles — unveränderlich) erscheint erst spät: xdedno ne
m6ze da se jade* sicko (zusammen kann man nicht alles essen,
1012); — toj xagldbü (= xagrdbü) sidko (er hat alles an sich ge-
rissen, 1061); — mit dem Artikel im Sinne von »das Ganze«
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kommt dieses Pronomen schon viel früher vor: Lddo ite go ixpie
sickoto (VI. wird alles, das Ganze, austrinken, 827); — bebenceto
izpl sUkoto (das Bebchen hat alles, das Ganze, ansgetrnnken) nnd :
digi (= digni) tüka sickoto (nimm hier alles, das Ganze, weg),
828; — sitki, sickite (alle): i papd, i mamd, i sickite (auch Papa,
auch Mama, auch alle, 789); — papd ne oblcam, mamd ne cblcam,
sickite ne obicam (Papa liebe ich nicht, Mama liebe ich nicht, alle
liebe ich nicht, 842); — kte go (Sing., statt: gi - Plural) ixSdam
[=izedü] stckite (ich werde sie alle aufessen, 856); — sickite
ixidoch (alle habe ich aufgegessen, 856); — Ste gi ixSdam (= ixedd)
sicki da gi nemo, (ich werde sie alle aufessen, damit sie nicht
mehr da sind, 1139); wie man sieht, kommt dieses Pronomen
zuerst und früh mit dem Artikel und erst spät und selten ohne
Artikel vor; im Bulgarischen wird nämlich dieses Pronomen mit
und ohne Artikel gebraucht; — adjektivisch kommt das Wort
schon früher und öfter vor (hier wieder umgekehrt: früher nnd
selten ohne Artikel) : mdkiti ite bütne sicki makald (= makari, der
Kleine wird alle Zwirnspulen umwerfen, 824); — stckite cigdli
{= cigdri) ste go (Sing., statt: gi — Plural) ixpmam (= izpüia,
alle Zigaretten werde ich sie zu Ende rauchen, 855); — po sidkite
püöni (= piröni) iskam da zakdlam (= xakacd) kniikata (auf alle
Nägel will ich das Büchlein aufhängen, 1204); — nie tärsichme
po vsickite dukjdni, pa nemd paltd (wir suchten in allen Läden,
aber es gab keine Paletots, 1367). — Das Pronomen > alles« in
der kürzeren Form st kommt spät und nur ein einziges Mal vor:
tüka st izgorcTo (hier ist alles verbrannt, 1113). — Cfloto (das
Ganze) kommt am 841. Tage zum Gebrauch: ti ixtde ceToto (du hast
das Ganze aufgegessen) und ebenfalls einmal im Femininum:
izpusf c4lata\ (rauche die ganze — nämlich Zigarette — zu Ende!
1041). — Edntte (die einen) nur einmal spät: de — [sä) — ednite
büi makall (= makari)? (wo sind die einen weißen Zwirnspulen?
1007). — Stki (= jeder) nur einmal und zwar erst sehr spät:
stki den (jeden Tag), stki pät (jedesmal) 1307. — Drug (anderer)
kommt schon früh, zu Anfang des zweiten Jahres, und sehr oft
vor: papd — (ti) — ddde tovd, — (a ti) — xSmas dügo (= driigo,
Papa gab (dir) das, (während du) nimmst (etwas, ein) anderes,
793); — ot dügijat Iddko (= ot dnigoto slddko} vom anderen Süßen,
799); — pokaii dugite (= drügite, zeige die anderen, 801); — tuk
ima äug (= drügi) sotddti (hier gibt es andere Soldaten) und: dug
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I. A. Gheorgov,
(= drügi) sie dode (= dojdat) Ii solddti? (werden andere Soldaten
kommen?), 823; in beiden Fällen ist keine Übereinstimmung in
der Zahl, da drug im Sing, steht; — dügoto se ne ddnka (= drugoto
ne drdnka, das andere läutet, klirrt nicht; 824); — ot dügata (auch:
dügoto = drugata) stand (= Strand) ite go zema (von der anderen
Seite werde ich es nehmen, 855); — $,&nja, ste pddnes i kte se
ubies, pösle de ste xemern dug {= drug) ienja? (Ä., du wirst fallen
und wirst dich töten, wo werden wir dann einen anderen fc.
nehmen? 938); — sto ne go itmas diigoto (= drugoto)? (warum
nimmst du nicht das andere? 966); — nufne ne mi ddvaS nito
ednd nito diiga (= dn'tga, mir gibst du nicht eine, nicht eine
andere, 999).
XL
Von den Adverbien sind diejenigen des Orts am frühesten
da, welche auch öfter gebraucht zu werden scheinen. So gebraucht
das Kind schon zwischen dem 600. — 700. Tage das Ortsadverb
vd, van (= vän, draußen hinaus): — itkam Tdna da dojde da
x6me — [Lddo) — van da xMxe (= ixl/xe , ich warte auf Tana,
damit sie kommt und — Vlado — nimmt, um hinauszugehen,
715); — vän ima sneg (draußen gibt es Schnee, 742); — übavo
(= chubavo) büe vän (schön war es draußen, 744); — Lddo ne
Ste vän (VI. will nicht draußen, 745), so antwortet er mir, als ich
ihm gesagt hatte, er soll draußen bleiben; — mdkiti da ixexe
(— ixldxe) vän, Lddo ne ste vän} Lddo gaj (= tgrde) si (der Kleine
soll hinausgehen, VI. will nicht hinaus, VI. spielt, 745); — mamd
nema da ix6xe (= ixlexe) vdn} äste pi (= jp», Mama wird nicht hin-
ausgehen, sie schläft noch, 747). — Um dieselbe Zeit erscheint
auch das Adverb tüka (hier, hieher): mamd böli (= boli) ttika
(Mama schmerzt es hier, gegen den 690. Tag), so sagt er, als man
ihn fragt, warum man der Mama nicht Tranben gibt, wobei er auf
die Brust oder den Bauch zeigt; — papd, sedl (— sedni) tuka!
(Papa, setze dich hieher 1 gegen den 715. Tag, 717); — decb tüka
büe (der Großvater war hier, 716); — papd, legi (= legni) si tüka!
(Papa, lege dich hieher! 721); — papd, ti ot tüka UheS Mdsta-
vicata (= r^zes" krdstavicata), a ot tuka ja dazu (= där£Uy Papa,
du hältst von hier die Gurke, und von hier schneidest du sie,
988). — Mit einigen Tagen später kommt das Adverb tarn (dort,
dorthin) zum Gebrauch: tarn Imakiti (t= krüh), dbäka {=jdbälki}
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Eio Beitrag iur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 299
dort gibt es Birnen, Äpfel, gegen den 705. Tag); — i tarn ifina
koleTo (—kolelö), i tarn ima koleTo (auch dort gibt es ein Rad,
auch dort gibt es ein Rad, 733), wobei er auf gemalte Kreise
auf dem Plafond zeigt; — ej go tarn (he, dort ist er, 747), ant-
wortet er, als man ihn fragt, wo der Schuh ist; — tüka pddna
tarn Lddo i uddU (= udäri) se tüka (hier fiel dort VI. und schlug
sich hier an, 779); sonderbar ist hier der Gebrauch zugleich von
dort und hier; — tarn Ima snek (= sneg) napoxölo {= proxöreca),
a tuk n6ma (dort gibt es Schnee auf dem Fenster und hier nicht),
ebenso: tuk ima snek, a tarn nema (hier gibt es Schnee und dort
nicht), 808; augenscheinlich liebt er hier den Kontrast zu zeigen; —
tovd e xa tarn (das ist für dorthin, 823). — Um dieselbe Zeit wird
göre, nagöre (oben, hinauf) und etwas später döle, dölu, nadölu
(unten, hinunter) gebraucht : göle {= göre) ima ktii (= krüH, oben
gibt es Birnen, gegen den 705. Tag); — Lddo Hill göle bfto (— VI.
türi göre kibrlta, VI. hat die Zündhölzchen oben hinaufgestellt,
724); — Lddo kdei blto göle doldpo (= VI. kdci kibrlta göre na
doldpa, VI. hat die Zündhölzchen auf den Schrank hinaufgestellt,
729); — papd, xemi tovd (= tdja) kutijka da tulü göle (= turti
göre, Papa, nimm diese Schachtel, sie oben hinaufzustellen, 736),
und als ich sie wirklich hinaufstellen will, beginnt er zu weinen
und sagt: ne, ne, da sedt tüka (nein, nein, sie soll hier bleiben); —
gäskite si (statt: se) digat sami nagöle (= nagöre, die Gänse erheben
sich von selbst hinauf, 996) ; — pddna döle — (na) — xemjdta (fiel
unten — auf — die Erde, 715) ; — nUto pddnalo dölu (etwas ist
hinuntergefallen, 745) ; — papd, Lddo nema da fdli (= chvdrlt)
pfyel nadölu (Papa, VI. wird nicht Asche hinunterwerfen, 779).
Eines der ziemlich frühen Ortsadverbien ist auch vätre (drinnen,
hinein): Lddo tuli vdte (= VI. türi vätre, VI. hat hineingelegt,
d. h. Zucker in die Milch, 724); — Lddo da Mi vdte {= Uiri
vätre, VI. soll hineinlegen, 733); — papd, slpiväte (= sipf vätre,
Papa, gieße hinein, 799). — Endlich sind noch folgende Orts-
adverbien beobachtet worden: mdkiti bfyaottdto (= ottdtäk, der
Kleine flieht jenseits, auf die andere Seite, 792). — Mükata töpa
n4kade (= tröpa nökäde, die Maus klopft irgendwo, 817); — kte
go skija nelcade (= skrtja ndkäde, ich werde es irgendwohin
verstecken, 866). — Pö-bixu (= pö-blizu), Lddo kte pddne
(näher, VI. wird fallen, 830); man soll nämlich sein Stuhlchen «
näher an den Tisch rücken, sonst werde er fallen. — Eid nasdm
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I. A. Gheorgov,
(komm hioher, herzu, 976); — eld pö-nasam, da ti pokdza n&sto
(komm weiter her, damit ich dir etwas zeige, 1060). — Nie oU-
dochme öak dalfko kod cebndta (wir gingen sehr weit bis zum
Fließbrunnen, 989); — toj e daUko na seTo (er ist weit auf dem
Dorfe, 1096), so antwortet er, als ich ihn fragte, wo der Groß-
vater ist. — Tovd tiika ot kadt (= kädä) kupiivai? (das hier woher
kaufst du? 977). — Hieher gehört endlich auch der adverbiale
Ausdruck : mamd otide na gösti (Mama ist zu Gaste gegangen, 970).
Von den Zeitadverbien tat da» erste merkwürdigerweise
das Adverb pösle (nachher, dann, später, hernach): &äH (— svärsi)
ptceno meso, pöse (—pösle) göxde {= gröxde, endige den Braten,
später Trauben, 717); — Lddo cupi (— s&upi) kaMma, papd pöse
(== pösle) ktepdvi (— prdvi)? (VI. zerbrach den Bleistift, Papa wird
hernach machen? d. h. wird ihn hernach spitzen? 772); — kato
se [— ste) jade" nidkiti gijs [= grijs) , pöse (= pösle) da jade" Lddo
(wenn der Kleine Gries essen wird, dann soll VI. essen, 785); er
sagt diese Phrase, nachdem ich ihm gesagt hatte: zuerst wird der
Kleine Gries essen, dann Vlado; — na pöse (= xa pösle, für später,
801); — Lddo hte se ubodt, pösle ite böli (= bolf, VI. wird sich
stechen, dann wird es schmerzen, 824); — pöse xatolt (= pösle
xahoriy. (dann schließe! 827); — interessant ist der doppelte
Gebrauch der Adverbien desselben Sinnes in dem Ausdruck , mene
pösle podil [=podir, mir dann hernach, 992). — In Verbindung
mit diesem Zeitadverb erscheint früh das Adverb pärven (zuerst):
pän säsl kjutt, pöse xfanes" kutija (= pärven svärsi kjufte, pösle hie
%£mek kutijata, zuerst endige — die — Kotelette, dann wirst du —
die — Schachtel nehmen, sagt er zu sich, 726) ; — päno (= pärven)
ptceno mkOy pöse katöfi (= pösle kartöfi, zuerst Braten, nachher
Kartoffeln, gegen den 764. Tag); — ZSnja, .Ste pddneh % *te se
vblek, pösle de kte xtmem dug (= drug) jtenja? (Ä., du wirst fallen
und wirst dich toten, wo werden wir dann einen anderen t.
nehmen? 938).
Segd (jetzt, nun): segd Lddo Se ade* (— ste jade) pe'leno meso
(jetzt wird VI. Braten essen, 731), sagt er, als man ihm das Fleisch
bringt; — Lddo segd kte tdne (= stdne, VI. wird jetzt aufstehen,
733) ; — üte (== ütre) kte ixtxe (= ixUxe) Lddo, segd — (e) — Umno
(morgen wird VI. ausgehen, jetzt — ist es — dunkel, 743), sagt
er abends; — Uvto (= Umno) segd, pilenca pi (= püencata spjat,
finster — ist es — jetzt, die Hühnchen schlafen, 748); — segd
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 301
da pihek papd tuka na keldta (= Icrevdta, jetzt sollst da, Papa, hier
auf dem Bett schreiben, 768); — segd ste atä (HI. Person, statt
I. Person: hte jam, nun wird er essen, sagt er von sich, indem er
Brot nimmt, 775), usw.
Sköro (schnell, sofort): sköb (= sk&ro) daj göxde (= gröxde,
schnell gib Trauben, 740); — kölo {= sköro) da donesü ldko
(= slddko, schnell sollst du Süßes bringen, 743); das Wort sköro
habe ich ihm nicht angelernt, er hat es sich selbst durch Hören
angeeignet; — ntma kiila {= kljuea), kölo (= sköro) da go namtlih
(= namerU, der Schlüssel ist nicht da, schnell sollst du ihn finden,
743); — kölo (= sköro) , papd, da xe'mes piiddla (= ptidrata) da piidü
{=naptidrü) Lddo (schnell sollst du, Papa, das Kinderpuder
nehmen, um VI. zu pudern, 747).
Öste (noch) : mäkiti e öSte mdläk (der Kleine ist noch klein, 735) ;
das verunstaltete Wort mäkiti (= mdürijat, der Kleine), mit dem nach
ihm auch wir sein kleineres Brüderchen benennen, ist fast zu einem
Eigennamen geworden; — Lddo ne teka van, Lddo — (e) — öste
mdläk, öhte gaj (= igrde) si (VI. will nicht hinaus, VI. — ist —
noch klein, noch spielt er, 745) ; — mamä nctna de ixSxe (= ix-
tfxe) van, öhte pi (= spi, Mama wird nicht ausgehen, noch schläft
sie, 747).
Vece (in bejahenden Sätzen: schon, — in verneinenden Sätzen:
mehr, nämlich: nicht mehr): n&ma vtce (es gibt nicht mehr, gegen
den 784. Tag) ; — vice ntma da pejat (sie singen nicht mehr, näm-
lich die Soldaten, 823); — ne mi dävaite vece vodd (gebt mir
nicht mehr Wasser, 1006) ; er sagt das, als ich ihm bemerkt hatte,
daß er deswegen so oft hinausgeht, weil er viel Wasser trinkt. —
Stiga vece (genügt schon, 825); so sagt er, als ich Wasser ins
Glas mit Tee eingoß; — ienja vice posögna da xatdla (= xa-
tvdrja, i. hat schon die Hand geBtreckt, um zu schließen, 980). —
Wie man sieht, erscheint das »schon« später als das »(nicht) mehr«.
Togdva, togdx (dann, in diesem Falle): togdva daj ml dügo
(= drugo, dann gib mir ein anderes, 961), sagt er mir, als ich
ihm ein Bonbon aufgegessen hatte; — daj togdva mSne (gib dann
mir, 982), nämlich wenn er — der andere — nicht will; — daj
mi go togdva (gib es dann mir, 1015), nämlich wenn du es nicht
willst; — dobtt (= dobre), ste go xemam [=>x6ma) togdx xa mene
(gut, ich werde es dann für mich nehmen, 1114); das war der
Schluß des folgenden Zwiegesprächs zwischen uns: er fragt mich:
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I. A. Gheorgov,
ir&a Ii ti tovd? (brauchst da das?), worauf ich ihm antworte:
nein, und er mich darauf fragt: ami trtba Ii na mamd? (und
braucht es die Mama?), auf welche Frage ich geantwortet hatte:
ne xnam (ich weiß nicht); — togdx daj mi gi mtne, ako ne gi
iska itnja (dann gib sie mir, wenn sie 2. nicht will, 1279). Je-
doch muß man hier bemerken, daß in allen diesen Sätzen das
Wort togdva, togdx (dann) eigentlich nicht ein Adverb, sondern
eine Konjunktion ist
Interessant ist es hier besonders, die Zeitadverbien dnes (volks-
tümlich auch: dntska, deneska, heute), ütre (morgen), v64ra (gestern)
und xdvcera (vorgestern) in ihrem Auftauchen und Gebrauch zu
verfolgen. Das erste von ihnen ist ütre, welches am 743. Tage
erscheint, worauf einen Tag später auch dnes zum Vorschein
kommt : üte [= ütre) ite izeze (= ixlexe) Lddo, segd — (e) — tfanno
(morgen wird VI. ausgehen, heute — ist es — finster, 743), so
sagt er am Abend; — papd, üte {= ütre) dddo da dojde, ite
kdiei dobäden [— dobdr den, morgen soll der Großvater kommen,
du wirst »guten Tag« sagen; er will sagen: ich werde ihm
»guten Tag« sagen, 754); — tovd %a üte (= ütre, dieses, d. h. die
Übrig gebliebenen Feigen, für morgen, jedoch versteht er wahr-
scheinlich noch nicht den Sinn des Wortes, 774); — kaUtn tarn
ite Mi (= tttri), üte (= ütre) ite ptta (— den — Bleistift wird
er dorthin legen — spricht von sich — , morgen werde ich
schreiben, 775); es sieht aus, als ob er hier ein wenig den Sinn
des Wortes ütre verstehen würde ; — tovd e xa üte (= ütre, dies
ist für morgen, 797); versteht aber noch nicht den Sinn; — na
üte (= xa ütre, fllr morgen, 801) ; — üte (— ütre) iska da kupü vino
(morgen ist es nötig, daß du Wein kaufst, 831), sagt er mir, als
ich ihm gesagt hatte — und es war abends — , es gebe keinen
Wein; — üte [= ütre) sie mi dadtä na obM? (morgen wirst du
mir zu Mittag geben? 970); versteht er den Sinn? — üte (— ütre)
kogd pestdne (= prestdne) da voll, nie ite ixUxem (morgen, wenn
es aufhören wird zu regnen, werden wir ausgehen, 1001) ; — üte
(— ütre) säm pavß (= prdvä, morgen habe ich gemacht, 1002) ;
hier sieht man, daß ihm die Bedeutung des Wortes noch nicht
klar ist; — diese selbe Phrase gebraucht er auch am 1022. Tage:
pavil säm ütle; — üüe — dügi den (= ütre — drügi den, mor-
gen — übermorgen, 1007), sagt er, versteht aber nicht die Be-
deutung; — ax ve'ce ne sta, de Uba (= triba) da ostdvim xa ütle
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklang der Kindersprache. 303
(= ütre, ich will nicht mehr, denn man muß für morgen lassen,
1016); — üüe (=ütre) btte tuk (morgen war er hier, 1076); ver-
mengt also noch immer mit »gestern«; — am 1077. Tage sagt
er in einer Phrase ütle, bessert sich jedoch sofort and sagt vcfla
(gestern); — am 1124. Tage gebraucht er schon üüe [—ütre] für
die Zukunft, hauptsächlich wirklich für »morgen«; — jedoch am
1142. Tage sagte er plötzlich wieder ütle für »gestern« ; — und
noch am 1345. Tage vermengt er »morgen« und »gestern«. —
Deneska (anstatt: segä, jetzt) iskam da xtma pudlata (= pudrata,
heute will ich das Puder nehmen, 744); — dneska Lddo scüpil
(heute hat VI. zerbrochen, 838); jedoch glaube ich, daß er noch
nicht den richtigen Sinn damit verbindet; — dneska St6f6o me bi,
kogd ubödich (= ubödoch) Nenja (heute hat mich St. geschlagen,
als ich Nenja stach, 965); — papd, dntska mi Uxacha (=* rSxacha)
noktite (Papa, heute hat man mir die Nagel geschnitten, 974) ; —
jedoch noch am 986. Tage hat er nicht den Sinn dieses Wortes
erfaßt, denn am frühen Morgen dieses Tages sagt er zu mir:
dneska vidtch gospodtna DöWeva (= Döbreva, heute sah ich Herrn
Dobrev), und dies war am vergangenen Tage gewesen. — Das
Wort vtela (= viera, gestern) sprach er zuerst am 823. Tage,
wenn er auch die Bedeutung desselben noch nicht erfaßt hatte ; —
am 937. Tage, als ich ihn gefragt hatte, wann etwas geschehen
war, antwortete er: vcda, jedoch zweifle ich, ob er mit dem Worte
den richtigen Begriff verband; das zeigt schon der folgende Frage-
satz: ite idem u maze'to vhfla (= vcera)? (werden wir gestern in
den Keller gehen? 998); — vcüa mu kdxach (gestern sagte ich
ihm), sagt er von etwas, was er mir gerade kurz vorher gesagt
hatte; das zeigt, daß er noch nicht weiß, was »gestern« be-
deutet; — nie vcda sme xemäli de (= dva) gol&mi pÜöni (= pi~
röni), ta sme cukdli (gestern haben wir zwei große Nägel genommen
und haben sie eingeschlagen, 1040) ; — am 1077. Tage sagt er in
einer Phrase zuerst: ütle (= ütre, morgen), jedoch bessert er sich
sofort und sagt: vcüa, braucht aber dieses Wort auch für einen
Vorgang, welcher viel früher geschehen ist ; — H vceTa (= vctra) leid
(gestern lagst du, 1087), sagt er zu seiner Mutter, welche krank
gewesen war; — - am 1124. Tage gebraucht er vceTa schon ganz
genau für die vergangene Zeit, jedoch nicht immer in der Be-
deutung von »gestern«, denn am selben Tage sagte er so auch
für etwas, was am selben Tage geschehen war, also im Sinne von
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> vorhin«; ebenso am 1204. Tage gebraucht er das Wort auch ftlr
»vorhin«, »unlängst« usw.; — vcera Ddnka mi prikaxvd prikaxki
(gestern erzählte mir Danka Märchen, 1213). — Merkwürdig früh
gebraucht er xdvcera (vorgestern), wenn auch nicht ganz im rich-
tigen Sinne, doch beidemal, wo er das Wort gesprochen hat,
immer für etwas Vergangenes: xdttela (= xdvcera) Iflja döjdeie
(= döjde) % dfdo xakcda btie (vorgestern kam die Tante, und der
Großvater war vorgestern, 744); — dtdo xdsccla bUe tiika, jddeie
i pukeke (der Großvater war vorgestern hier, aß und rauchte,
749). — Hier sei noch folgende Phrase erwähnt: tovd e xa vecel
(== rtcer, das ist für den Abend, 1047): jedoch sagte er dies
gerade am Abend, versteht also nicht den Ausdruck.
Endlich seien noch einige selten gebrauchte Zeitadverbien an-
geführt: ne e Ii pisala tja oddvna (= oiddvna) ptemo? (hat sie
nicht seit lange einen Brief geschrieben? 986). — %enja
ixvedndi xitna biskita (= biskvita) i si napdlnura ustdta (£. nimmt
auf einmal das Biskuit und füllt sich den Mund, 1003). — Dug
pat (= drug pät) Maltca (= Marlen) pak da kupi cdlevica (= cd-
revica, ein andermal soll M. wieder Mais kaufen, 998): — nie
edin pät chodichme tüka (wir gingen einmal, einst, hieher,
1289). — Da ne ostdneie dälgo, ce *te vi bija (ihr sollt nicht
lange ausbleiben, denn — sonst — werde ich euch schlagen,
1053). — Toj sed6 p6-napred (er saß früher, 1302).
Von den Adverbien der Art und Weise ist als erstes an-
gemerkt worden : übavo (= ckübavo, schön, 733), aber dann sehr
früh und sehr häufig: takä (so): ne bfva tdka da vddü (du darfst
nicht so herausnehmen, 736), was er zu sich selbst sagt: — takd
da stöi (so soll es stehen, 777), sagt er, indem er Zündhölzchen
legt; — papd tidi (= türi) takd i papd hte pdli (= xapdli, Papa
hat so — nämlich die Zigarette in den Mund — gelegt, und Papa
wird anzünden, 790); — IAdo ntma da düma takd (VI. wird
nicht so sagen, 792); — takd Ii? (so? ist es so? 792), d. h. ob
der Baustein so gelegt werden soll; — tovd takd Ii e tüleno
(= Uireno)? (ist das so gelegt? 793); — xmtö takd? (warum so?
967). — Ebenso oft wird das Adverb kak (wie) angewendet, wenn
es auch ziemlich spät erscheint : vidü, kdko (= kak) pdda (siehst
du, wie es fallt, 826} ; — Lddo kdko (= kak) xitna (wie VI. nimmt,
826) ; — vtipi, kak Lddo otoli (= otv6ri, siehst du, wie VI. ge-
öffnet hat, 831) ; — vidü, Lddo kak pfe (siehst du, wie VI. trinkt,
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 305
849) ; — ax iskam da gMdam, kak kte pmü (ich will sehen, wie du
rauchen wirst, 961) ; — daj da vidd {= vidja), kak müiie (= wtrfie,
laß mich sehen, wie es riecht, 970) ; — segd kak 6te me digneS, katö
imam läüia (= kruiay wie wirst du mich aufheben — nämlich von
seinem Stuhlchen — , wenn ich in der Hand Birne halte, 1063).
Hier sind noch einige selten gebrauchte Adverbien der Weise:
* iovä töze (auch das ebenfalls, 794); er sagt das einigemal an
an diesem Tage; ich weiß nicht, woher er das aufgeschnappt,
denn es wird selten in der gewöhnlichen Sprache gebraucht —
Nika da döjde da hUi (= turi) tovd poUka (soll er kommen, um
das langsam hinzustellen, 795); ich weiß jedoch nicht, ob er
das Wort »langsam« gut versteht. — Tovd ne mö£e pö-inak (das
kann nicht mehr anders — nämlich aufgestellt werden, 959); —
obdrni inak! (wende anders um) 1076). — Zdedno m möie
da se jcutt sicko (zusammen kann nicht alles gegessen werden,
1072); so sagt er schlau, um eine Ausrede zu finden, damit er
nicht von einer Melone zu kosten braucht, von der er gar keine
Lust hat zu probieren, wenn wir ihn auch dazu aufforderten,
nachdem er einen Bissen von der Birne genommen hatte, die ihm
wahrscheinlich sehr schmeckte.
Von den Adverbien der Zahl und Menge erscheint sehr
früh das Adverb chic (gar nicht, gar kein, poinf), nämlich schon
am 720. Tage: nema iö (= chic) vodd (es gibt gar kein Wasser);
ich habe aber nur dies einzige Mal dieses Adverb angemerkt. —
Öfter und ziemlich früh kommt das Adverb kölko (wie viel) vor
sowohl in der Bedeutung von »wie viel«, »wie sehr«, »sehr viel«
als auch als Frageadverb: te, kolko pisal! (eh, wie viel er —
oder: du — geschrieben hat! 743); so sagt er zu mir, als er
in meinem Heft sieht, wie viel ich geschrieben habe; — kölko
ddvas? (wie viel gibst du? 772), fragt er mich, als er Geld bei
mir sieht; — köUco e casd? (wie viel Uhr ist es? 966); — piptii,
papd, kölko e studtno! (rühre an, Papa, wie sehr es kalt ist!
969) ; — iskam da vidd {= ridja\ kölko Ima (ich will sehen, wie
viel es gibt, 970). — Erst später kommt das Adverb mdlko (wenig,
ein wenig) zum Vorschein: Lddo iska da plse mdko [= mdlko,
VI. will ein wenig schreiben, 775) ; — Ml (= turi) mdlko, mdlko,
mdlko! (lege herein ein wenig, ein wenig, ein wenig! 793), sagt
er mit einem besondern Ton, den er dabei gebraucht; — H iskaf
mdlko sddko (= slddko, du willst ein wenig Süßes, 826) ; — kam*
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(= hämo) vodica? tSbe (= trdba) mdlko vodica (wo ist WaBBer? es ist
nötig ein wenig Wasser, 826) ; vodica ist das Diminutiv, zärtlich ge-
sagt; — ax plja po mdlko, vle piete po pövece (ich trinke je ein wenig,
ihr trinkt je mehr, 1001). — Merkwürdigerweise kommt 'das Adverb
mnögo (viel), welches man frtther erwarten sollte, viel später im
Gebrauch als »wenig«, »wie viel« usw. Bevor dieses Adverb
erscheint, gebraucht das Kind ein paarmal ein anderes Adverb
an dessen Stelle, welches selten in dieser Weise gebraucht wird;
es ist das Adverb pdlno (voll) : tuka Ima päno {== pälno) vodd
(hier gibt es voll, d. h. viel, Wasser, nämlich in einem Gefäß,
825); — tuka ima päno [= pälno) snek (= sneg, hier gibt es
voll = viel Schnee, 831). — Daj da vidä (= vldja), doli Ima
mnögo biskvlt (= biskvlH) üi mdlko (laß mich sehen, ob es viel
Biskuits gibt oder wenig, 970); — papd, ti mozei da piek mm'xjo
rino, xaitöto nema da se laxboleei (= razboleeS, Papa, du kannst
viel Wein trinken, weil du nicht krank werden wirst, 1032). —
Endlich ist noch das seltene, wahrscheinlich von den Bedienten
gehörte Adverb dieser Art t&ninko (so ein bischen), welches das
Kind in der Phrase gebraucht: xahtö mi ddvas töninko vodd,
xahtö ne mi ddvah pövece? (warum gibst du mir so ein bischen Wasser,
warum gibst du mir nicht mehr? 1113). — Hier will ich noch auf-
merksam machen auf das zweimalige Anwenden des Adverbs der
Menge pövece (mehr), welches in der letzten, sowie in einer anderen
höher angeführten Phrase gebraucht wurde.
Eine andere früh und in vielen Adverbien, wenn auch nicht
oft gebrauchte Gruppe sind die Adverbien der Intensität
oder des Grades, welche in folgenden Sätzen erscheinen: md-
kiti sästm ddska [nuükijat savstm odräska, der Kleine hat voll-
ständig zerkratzt, anstatt: sehr oder stark, 733). — Kema v£6e
ldko (= slddko, es ist nicht mehr Süßes da, 784); — pövece, pö-
vece (mehr, mehr, 793), sagt er, jedoch allein, nicht in einer gan-
zen Phrase; — ntma v6he gljs (= grijs) u töndienata [= tendze-
rata, es gibt keinen Grieß mehr im Topfe, 793). — Tovd pö
obicam (das liebe ich mehr, 945) *); — Ddnka pö ima pali
(= pari, D. hat mehr Geld, 1004) i). — Pipnl, papd, kölko e
studtno! (rühre an, Papa, wie sehr es kalt ist! 969). — Zastö
place tölkova? (warum weint er so sehr? 984). — Täja e
1) Siehe oben S. 282.
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mnogo goUma (diese ist sehr groß, 987). — SVäino (= strähne)
chäpe (beißt schrecklich, 996). — Stlno se smtem (wir lachen
stark, d. h. sehr laut, 1052). — Interessant ist der einmalige
Gebranch der Steigerungspartikel naj (am meisten) in dem Satze:
ax obicam naj biskilti, welcher Satz eigentlich richtig nnd voll-
ständig so auszudrücken wäre: ax ndj-vece obicam biskviti (ich
liebe am meisten Biskuits)1); dieses ndj-veie (am meisten) wird
manchmal auch mit Auslassung des Wortes vfde (mehr, etwa nach
Analogie mit dem Französischen: plus — rMe, le plus — ndj-
vece) gebraucht, so daß der Ausdruck das Aussehen bekommt, als
ob das Verb seibat der Steigerung unterworfen wird : ax näj obidam
(ich liebe am meisten). Die Komparation wird im Bulgarischen
durch die Partikeln po (mehr, plus), naj (meist, le plus) ausge-
drückt : loi (schlecht), pö-los, näj-loS ; göre (oben), pö-gore (mehr
oben, weiter oben, höher), ndj-gore (am meisten oben, am höchsten) ;
da man nun auch bei den Verben sich ähnlich ausdrücken kann,
so sieht es aus, als ob auch die Verba gesteigert werden : obidam
(ich liebe), po obicam, naj obidam (indem man nämlich das ge-
steigerte, darunter zu verstehende Adverb mnogo — viel {pö-vede
— mehr, näj-vede — am meisten) ausläßt.
Von den Adverbien der Frequenz sind gebraucht worden:
pak (wieder, abermals), postojänno (fortwährend) und edin pät
(einmal): tull (= turf) pak! (stelle — es — wieder! 736); — ax
pak ste döjdä (= döjda, ich werde wieder kommen, 830) ; — 4to
xacfiväna pak da pect sldnce (da hat wieder die Sonne zu scheinen
angefangen, 957). — Dänka postojänno ixmiva stvlceto (D.
wäscht fortwährend das Sttihlchen ab, 974); — toj postojänno
vika (er schreit fortwährend, nämlich der Kleine, wenn man ihn
badet, 977) : — ax postojänno pädam (ich falle fortwährend) und :
nie postojänno cupime (wir zerbrechen fortwährend), 1124; er ge-
braucht im allgemeinen sehr oft dieses Wort postojämio, und zwar
sehr richtig. — Nie edin pät chodtchme tüka (wir gingen ein-
mal hier, 1289).
Von den limitierenden und erweiternden Adverbien
werden selbstverständlich vom Kinde die Adverbien öite (noch)
und sdmo (nur) früh und oft gebraucht: öste (noch, 733), wobei er
den ersten Laut des Wortes zwischen e und o ausspricht: — öhte
1) Siebe oben S. 282.
AtcMt für Psychologie. XI.
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I. A. Gheorgov,
lädko (= slddko), ökte mtko (= rnttko), ökte fuumt (= furmi) (noch
Süßes, noch Milch, noch Datteln ; gegen den 765. Tag) ; — Malica
(= Marica) da ebnest ökte katöfi (= kartöfi, M. soll noch Kar-
toffeln bringen), auch in folgender interessanterer Wortfolge: öite
da doficst M. katöfi (noch soll die M. ), 744; — tiika Lädo
pike i tuka kte pike Lädo ökte (hier schreibt VI. und hier wird VI.
schreiben noch, 776) ; — öite ednd koköhka dodäa (= doild, noch
eine Henne ist gekommen, 843). — Nfma göxdje (— gröxdje),
tovd — (sd) — sämo küki (= kniki, es gibt nicht Trauben, das —
sind — nur Birnen, 743); — sdmo ima köpee {— köpeeta, es gibt
nur Knöpfe, nämlich in der Nähschachtel und keinen Zwirn zum
Nähen, sagt er, als er in die Nähschachtel hineinschaut, 824) ; —
ne sämo chleb (nicht nur Brot, 826); — sämo papd möze da ade
(= jad6) kösti, zaktöto Lädo pöse (= pösle) kte se zaddvi, kte vexe
(= rUxe) v gdaloto {= gärloto, nur Papa kann Knochen essen,
denn VI. wird sich dann erwürgen, wird in die Kehle hinein-
gehen, 827); — mamü ne iska Ii? sämo papd iska (will die Mama
nicht? nur Papa will, 830).
Die Adverbia der Modalität, besonders jene der Verneinung,
treten ziemlich früh auf und werden sehr oft gebraucht; so sagt
das Kind mämä (= n/ma, es gibt nicht) schon am 19.-20. Monat
nnd spricht dieses Wort, in welchem die Verneinung zugleich mit
dem Verb verbunden ist, zu Ende des 20. Monats wie neama,
ne'ma\ es gebraucht dieses Wort um diese Zeit, wenn etwas ver-
schwindet, oder wenn wir das Kind fragen, wo irgend ein Gegen-
stand oder eine Person ist, welche gerade abwesend sind ; —
ntma ic (= chic) vodä (es gibt gar nicht Wasser, 720) ; — ntma papd
da dadi kutja (= kutfjata, der Vater wird nicht — die — Schachtel
geben, 720) ; ich hatte nämlich vor einigen Tagen, als er von mir
verlangt hatte, die Ztlndhölzchenschachtel selbst auf den Schrank
hinaufzustellen, und dabei die Zündhölzchen ausgeschüttet hatte,
ihm gesagt, daß ich ihm die Schachtel nicht mehr geben werde: n&ma
vtee da ti dämm kutfjata (ich werde dir die Schachtel nicht mehr
geben) ; nun erinnert er sich dessen nach einigen Tagen und sagt
mir Obiges; — d/do ntma go (der Großvater ist nicht da) und: Lädo
ntma go (VI. ist nicht da), 724; — ntma kafiö (= karfiöl, es gibt
nicht Blumenkohl, 735) ; — n/hna da pddne Lädo (VI. wird nicht
fallen, 735); — n6ma göxde (= gröxde), tovä — (sd) — sdmo küki
(= krüH, es gibt keine Trauben, das — sind — nur Birnen, 743); —
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklang der Kindersprache. 309
Lddo da t>idi, nema U pädia (= püdra, VI. soll sehen, gibt es
nicht Pider, 777). — Aach das reine Verneinnngswort ne (nicht)
erscheint sehr früh; ne vdva — vodd (Wasser) und: ne kukuio —
kutjata (Schachtel); nämlich dnrch diese Ausdrucke will er selbst
einen früheren Fehler in der Bezeichnung eines Gegenstandes
bessern, da er sagen will: nicht vdva sondern vodd, nicht kuküto
sondern hltjata (statt: kutljata) muß man sagen; gegen den
713. Tag ; — cingoloto (= ciganinät) domdti ne donese, xüje dontse
(der Zigeuner brachte nicht Tomaten, er brachte Kraut), welchen
Satz er an demselben Tage auch so sagt: cingoloto ne domdti
donese, xüje (der Zigeuner brachte nicht Tomaten, — sondern —
Kraut) ; gegen den 713. Tag; — Lddo ne iska (VI. will nicht, 724) ; —
ne möga (ich kann nicht, 724); er sagt dies, nachdem er sich
vergebens abmüht, den Schlüssel aus der Tür herauszuziehen; —
ne xernah kuda tüka (= ne bim da xemaS kljüca tüka, du darfst
nicht den Schlüssel hier nehmen, 733); — ne biva tdka da vädü
(du darfst nicht so herausnehmen, 736), sagt er zu sich; — inter-
essant ist das Auslassen der Verneinung im zweiten Teil des fol-
genden Satzes: * Lddo ne biva nö&a dapoUze (= ne biva —
da chvdita — nöza da ne se poröze, auch VI. darf nicht das Mes-
ser — nehmen — , daß er sich nicht schneidet, 745 ; siehe oben
S. 289) ; — i na bebenceto ne (auch dem Bebchen nicht, 824). —
Das >nein« (ebenfalls: ne) habe ich sehr selten beobachtet, wenn
es auch ziemlich früh erscheint, und trotzdem es im Bulgarischen
gleich dem »nicht« lautet und also dem Knaben schon früh ge-
läufig ist: am 736. Tage sagte er zu mir, ich soll die Schachtel
mit Zündhölzchen nehmen und sie auf den Schrank stellen, und
als ich das tun will, beginnt er zu weinen und sagt. ne} ne, da
sedt tüka (nein, nein, sie soll hier bleiben); — ne, papd n&ma
da ble Lddo (nein, Papa wird VI. nicht schlagen, 756) ; — ne, Lddo
da obicah (nein, VI. sollst du lieben, 861), sagte er mir, als ich
ihm gesagt hatte: ich liebe Zenja; — ne, Uba (= treoa) nii (nein,
ich brauche es, 948). — Manchmal gebraucht der Knabe auch
das volkstümliche Adverb der Verneinung nemoj (nicht, ja nicht):
ax, ax, nemoj U (ich, ich, ja nicht du, 714), sagt er, als ich Zünd-
hölzchen vom Boden aufheben wollte; — nemoj go x&ma (nimm
es ja nicht, 1051); — nemoj ödi (= cliödi) tarn (geh ja nicht
dorthin, 1105). — Ami nali si H mdlka (du bist ja doch klein,
989), sagt er seiner Mutter, als sie ihn fragt, warum sie wenig
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I. A. Gheorgov,
Brot essen müsse ; dasselbe antwortet er ihr am 993. Tage, als
sie ihn fragt, warum sie kleine Birnen bekommen müsse und ich
große; — nali Zenja pfe mUko (£. trinkt doch Milch, 989), sagt
er mir, als ich sah, daß er ins Speisezimmer ging, und ihn fragte,
warum er zu uns kommt und nicht bei seinem Brüderchen 2.
bleibt: er wollte also mit seiner Antwort sagen: der Andere esse
jetzt, so daß er frei sei und hieher kommen könne. — Das Ad-
verb da (ja) ist gar nicht beobachtet worden; nur das Ad-
verb dobri (wohl, wohlan) habe ich einmal spät angemerkt:
dobU (= dobrtf, ite go xemam {— xema) togdm xa mene (wohl,
ich werde es dann für mich nehmen, nämlich wenn die Mama
es nicht braucht, 1114).
Von den Adverbien der Hinweisung (da, — voila, voici)
gebraucht das Kind als eines der ersten Wörter und sehr oft das
Adverb 6to (voila); so sagt es te {= fto, voilä, horch) schon gegen
den 480.— 485. Tag, wenn es irgend etwas hört, wie z. B. das
Bellen eines Hundes oder den Lärm der Nähmaschine, wobei er
seine Hand aufhebt, mit dem Finger dahin zeigt und aufmerksam
horcht ; — mamd te go (= ttoja mamd, voilä maman, gegen den
600.— 650. Tag); — te pözata (= fto gospözata, hier ist die Frau,
voila madame, wobei er mich meinte, also sich in der Bezeich-
nung unserer Person durch die Bedienten geirrt hatte, 740); —
te enno, te ennö (= ednö, hier ist eins, hier ist eins, gegen den
741. Tag) ; — te, ne moie (da, es geht nicht, 778), so wendet er sich
zu mir, als ich ihm sagte, er soll die Tür zumachen, und er nicht
konnte und schon vorher gesagt hatte, daß er sie nicht zumachen
könne [ne möze da xatöli = xatvöri); — Lädo ste go kdsa (= skäsa),
te vidi&y Lddo go kdsal (== skäsal, VI. wird es zerreißen, da, siehst
du, VI. hat es zerrissen, 825). — Ej go tarn (he dort ist er, 747),
antwortet er, als wir ihn fragen, wo der Schuh ist. — Nd} Tdno,
xemi Lddo (komm, Tana, nimm VI., 724); hier ist jedoch, wie
man sieht, das hinweisende Adverb nd statt des Verbs komm
— eld gebraucht; — näl) palt {= pari), Malfco {= Marico), da
kupü göxde (= gröxde, da hast du Geld, M., damit du Trauben
kaufst, 748) ; — möliva nd (nd — , da hast du den Bleistift, 776); —
ndy segd (da, jetzt, 777); — nd tdxi, daj tdxi (da hast du diese,
1} Dieses Adrerb ut eigentlich nicht so sehr hinweisend; es wird meist
gebraucht, wenn man jemand etwas Ubergibt, hinreicht
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gib jene; voilä, tiens celle-ci, donne celle-lä; 793); — nd H go
da go xamötai (da hast da es, damit da es umwickelst; le voila
a toi . . . ; 827).
Von den Adverbien des Grandes, des Zweckes, der
Absicht kommt eigentlich in später Zeit oft nor das Frageadverb
des Grundes ito? xaito? (warum?): ito ne U'dai (= tütjas) tep-
kaia? (warum setzt du den Hut nicht auf? 953); — sto ne xemak
totfä da go jadM? (warum nimmst du nicht daß, es zu essen?
996); — xrntö tdkä? (warum so? 967); diese Frage richtet er bei
verschiedenen Gelegenheiten; — xaito si xakäsnd, papd? (warum
hast du dich verspätet, Papa? 968 und 1022); — xaito mi davah
töninko rodd, xaitö ne mi ddvai pövece? (warum gibst du mir so
ein bischen Wasser, warum gibst du mir nicht mehr? 1113); —
xaitö sme nie tüka? (warum sind wir hier? 1124), so fragt er,
als wir in einen Kaufladen eintreten, um etwas zu kaufen. —
Sehr spät, erst gegen Ende der Beobachtungen, gebraucht er ein-
mal das sehr seltene Adverb naröcno (absichtlich): ax ne sdm
narötno raxdivärljal voddta (ich habe nicht absichtlich das Wasser
verschüttet, 1364).
Endlich muß ich darauf hinweisen, daß natürlich die Frage-
adverbien sehr früh und oft auftreten; jedoch ist es andererseits
merkwürdig, daß wenige von denselben, nämlich: kdmof (wo ist,
wo sind?), ito? xaitö (warum? wozu?) und die Fragepartikel Ii,
oft gebraucht werden, während wichtige Frageadverbien wie: wo?
(tfe?), woher? {otkädc*?\ wann? {kogd?}, wie? {kak?) gar nicht vor-
kommen und andere zwei [kddä? wohin? und kölko? wie viel)
sehr selten, wenn auch früh gebraucht werden. Das erste und
von diesem Kinde neben ito} xaitö? am liebsten gebrauchte
Frageadverb ist das volkstümliche kdmo? (wo ist?), während das
eigentliche wo? def lautet und wie gesagt von diesem Kinde gar
nicht gebraucht wird, hingegen bei meinem zweiten Sohne das
kdmo? gar nicht auftritt und das de? beliebt ist (siehe weiter
unten). Im 23. Monat sagt mein erster Sohn: kdmo blto (=kibrtta)?1)
(wo sind die Zündhölzchen?); — kdmo kiiia {= kljüda)? (wo ist
der Schlüssel? 740); — kd?no papdko [= kapdka)? (wo ist der
1) Das kdmo? wird, wie gesagt, mehr in der Volkssprache gebraucht,
und zwar bei Fragen, wo nach dem Frageadverb das Verb ist, sind (nur im
Präsens) stehen müßte, welches aber im Balgarischen ausgelassen wird; nach
dem kdmo folgt das Nomen im Akkusativ.
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I. A. Gheorgov,
Deckel? 745); — kam' (= hämo) vodica? Übe {— trdba) nidlko
vodica (wo ist Wasser? es ist ein wenig Wasser nötig, 826); —
kdmo cista läica (= läzica)? (wo ist ein reiner Löffel? 827), so
fragt er die Bediente, als er sieht, daß er keinen Suppenlöffel
neben sich hat; — cdikata kam (=kdmo)? (das Gläschen, wo ist
es? 827); — igdckite (= igräckitt) kam?? (wo sind die Spielzeuge?
859); — kam' nüto da ptiam {=pUa)f (wo ist etwas, damit ich
schreibe? 861); — kdmo go? (richtig: wo ist er? neben dem
falschen mit falschlichem Gebrauch des Verbs:) kdmo sä? (wo
sind sie?), 861; — ebenso falsch ist das Verb in folgenden zwei
Fragen gebraucht: kdmo sä cigdUte (= cigärite)? (wo sind die
Zigaretten? 855) und: kdmo sä koköikite? (wo sind die Huhner?
859). — Die eigentliche spezielle Fragepartikel im Bulgarischen
ist Ii, welche hauptsächlich für solche Fragebildungen verwendet
wird, wo ein eigentliches Fragewort fehlt *) ; diese Partikel taucht
auch in der Kindersprache früh auf: mamd} möze Ii da otolim
(= otvörja) vatdta {— vratdta)? (Mama, kann ich die Tür auf-
machen? 741), fragt er die Mutter vom anderen Zimmer, indem
er die Tür aufmachen will ; — papd, möie Ii da tuU (= se tun)
na käpata (= kdrpata) ldkoto (= slddkoto)? (Papa, kann man das
Süße, nämlich die Rosinen, auf die Serviette legen? 741); — papd,
möze Ii da xtme (3. Person, statt 1. Person: xema) kina (= kntyata)?
(Papa, kann ich das Buch nehmen? 745); — Lddo da vidi, ruhna
Ii pädia (=püdra, VI. soll sehen, gibt es nicht Puder, 777): —
takd Ii? (so? ist es so? d. h. ob der Baustein so gelegt werden
soll, 792). — Kdmo küda [=kljuca)f kädf dena (= se aYna)?
(wo ist der Schlüssel, wohin ist er hingekommen? 740); — kädr
dtnal kutijka? (= kdM se d/nala kutijkata? wohin ist die Schachtel
hingekommen? 745), fragt er mich plötzlich, als er seine Schachtel
nicht sieht. — Kölko ddvai? (wie viel gibst du? 772), fragt er
mich, als er Geld bei mir sieht: — kölko e casd? (wieviel Uhr ist
es? 966). — Über die Frageadverbien sto? xaktö? (warum? wozu?)
siehe oben bei den Adverbien des Grundes.
XII.
So wie das Kind anfangs ohne die Deklination auslangt, so
kommt es in der ersten Zeit auch ohne Präpositionen im Aus-
1) Aus dem Rassischen, wo sie ebenfalls gebraucht wird, ist diese
Fragepartikel auch ins Esperanto übernommen worden.
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 313
druck seiner Gedanken ans, indem er die Beziehungen, welche [in
der Sprache gewöhnlich durch Präpositionen ausgedrückt werden,
einfach durch Aneinanderreihung der Wörter ausdrückt, ohne sich
darum zu kümmern, daß die unterbundene Aneinanderreihung der
Wörter den Sinn der Rede schwer verständlich macht. So be-
deutet padrui (= pddna) döle xemjdta — es fiel unten auf den
Boden (715): — Lddo stdi (= sedi) toi (= stol) — VI. sitzt auf
dem Stuhl (720); — Lddo otide salöna — VI. ist in den Salon
gegangen (733). — Jedoch beginnen schon gegen Ende des zweiten
Jahres auch die Präpositionen sich zu zeigen, wenn sie auch an-
fangs noch sehr selten sind und meist auch damals ausgelassen
werden. Die erste der Präpositionen, welche auch am öftesten
gebraucht wird, ist na (an, auf), und zwar deswegen, weil sie in
unserer Sprache zur Bildung der Kasus gebraucht wird l) und darum
vom Kinde auch am öftesten von allen Präpositionen gehört wird;
so kommt schon gegen den 690. Tag der Ausdruck gdta (= igldta) na
matnä (die Nadel der Mama): — dann am 716. Tage: tüli (= tun)
blto {— kibrlta) nd x6ma {= x&mja, stellte — nämlich von sich
selbst redend — die Zündhölzchen auf den Boden); — papd ddde
göxde (= gröxde) na Lddo (Papa gab Trauben dem VI., 724); —
mamd ddde na pdpa ldko {= slddko, Mama gab dem Papa Süßes,
728): — papd, buj (= obuj) büM {= obustata) na Lddo (Papa,
zieh dem VI. die Schuhe an, 729): in den letzten drei Sätzchen ist,
wie man sieht, die Präposition zur Bildung der Kasus angewandt:
solche Fälle kommen von dieser Zeit an viele vor (siehe oben bei
der Deklination der Nomina, S. 261—264). Hier seien noch solche
Beispiele angeführt, wo auch im Deutschen eine Präposition ge-
r t
braucht wird: papd, möze Ii da tuli (= tun) na kdpata (= kdrpata)
ldkoto (= sl'idkoto)? (Papa, kann — ich — auf die Serviette das
Süße, nämlich die Rosinen, legen? 741): — Lddo &te — [se) - —
kdci takd na papd, ste pie taj (VI. wird sich so auf — den Schoß
des — Papa setzen, wird Tee trinken, 748): — mamd, ne sedi
(= sjddaj) na söfata! (Mama, setze dich nicht aufs Sofa! 757); —
Lddo sedi na kinata (= knigata, VI. sitzt auf dem Buch, 763): —
segd da piiei, papd, tuka na keldta (= krevdta, jetzt sollst du,
Papa, hier auf dem Bette schreiben, 768): — Lddo iska da mete tuka
na xemjdta (VI. will hier auf dem Boden fegen, 768): — kdci
1) »Die ersten Anfänge usw.< S. 350.
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314
I. A. Gheorgov,
(statt: ßxdi) na magäle (= magäre) hebt, (steigt, statt: reitet auf
einem Esel ein Beb6, 772), so sagt er, als er ein Bild sieht, auf
dem ein Bebchen reitet; — H iskai käiü (statt: da se käcis} da
jexdü) na koköika? (willst du steigen — statt: reiten — auf eine
Henne? 772), fragt er seine Mutter, als er auf einem Bilde ein
Bebe auf einer Henne reiten sieht: — tuk bebt seilt tm koköika (hier
sitzt — statt: reitet — ein Beb6 auf einer Henne, 777); — mamä
ne sedi na toi (= stol, Mama sitzt nicht auf einem Stuhl, 777);
solcher Sätze kommen von dieser Zeit an sehr viele vor: hier seien
noch einige Fälle angeführt, in denen das na in besonderer, rich-
tiger Weise gebraucht wird: skölo (= sköro) na mesto da go tülii
(= türii, schnell sollst du es auf den Platz legen, 829); — üte
(= ütre) ite mi dadts na obtd? (morgen wirst du mir beim Mittag-
essen — a diner — geben? 970); — na kakvu müiiat (= mirtiat)
tief (woran riechen diese? 970); — mamä otide na gösti (Mama
ist auf Besuch gegangen, 970) ; — ax ?wsa {= nösja) kniga na
uciliite (ich trage ein Buch in die Schule, 980), sagt er, indem
er ein Buch unter den Arm nimmt; — Lanka otide na säo (D.
ist aufs Dorf gegangen, 980). — Wie gesagt, werden anfangs die
Präpositionen ausgelassen ; außer den oben angeführten zwei Sätz-
chen, wo das na nicht angewandt wird, seien noch folgende inter-
essante Sätze zitiert: (na) — mamä däde kaft papä (Mama gab
Kaffee Papa, 716); Uber den Sinn dieses Satzes siehe weiter oben,
S. 263; — Lädo kudi bito (=kibrlta) göle (—göre) — (na) —
doläpo (Yl. stellte die Zündhölzchen oben — auf — den Schrank,
729) ; — Lädo sedtiw i papä sedtno (= na e Tl. stud^no i na papä e
studeno (dem VI. ist es kalt, und dem Papa ist es kalt, 731); —
papäy ne Mba tüli doläpo ses (= — , ne tröba da se türi na
doläpa $vesty Papa, man darf nicht ein Licht auf den Schrank
stellen, 733); — Lädo sidi kinata (= VI. sedi na knigata, VI. sitzt
auf dem Buch, 763); jedoch sagt er solche Sätzchen meist mit na,
und wenn er an diesem Tage manchmal auch ohne na sich aus-
drückt, so setzt er meist schnell das ausgelassene na, rasch sich
verbessernd, hinzu.
Natürlich kommen in der ersten Zeit oft auch Versetzungen
der Präpositionen, wodurch der Sinn ein ganz anderer wird, wenn
man bloß auf die Konstruktion der Sätze achten würde: mamä
däde na Lädo Up (= chleb, Mama gab dem VI. Brot, 726), während
er sagen wollte: Lädo däde na mamä chleb (VI. gab der Mama
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindereprache. 315
Brot); — papd ddde na Lddo (Papa gab dem VI., während er
das Umgekehrte sagen wollte, was er anch meist richtig sagte,
745); — ne iska (statt: iskaie) da fdne (statt: dad6) na MtUca
künata na Lddo (wörtlich: will — statt: wollte — nicht fassen —
statt: geben — der Milica das Händchen dem VI., 748); er wollte
damit eigentlich mir erzählen, daß er der Milica, der er begegnet
sei, nicht das Händchen hat geben wollen; das zweite na war also
vollkommen nnrichtig gebrancht worden; — am 783. Tage ver-
mengt er schon nicht mehr diese Ansdrucksweise, sondern spricht
richtig: papd ddde na Lddo (Papa gab dem Vlado); jedoch sagt
er trotzdem noch am 948. Tage manchmal falsch: tovd e na matnd
kndxät (= knjdxdtj das ist der Mama Fürst, wobei er sagen
wollte: das ist die Mama des Fürsten, also : tovd e rnamd na knjdxät
(siehe weiter oben S. 262).
Endlich wird später diese so häufige Präposition manchmal
natürlicherweise für andere Präpositionen gebraucht: tovd na
obiUtata (das — ist — fttr die Schuhe, 798); na statt: xa — für; —
na pöse, na üte (statt: xa pösle, xa utre, für später, für
morgen, 801); — tovd na kokoskite lep (= — e xa koköSkite chleb,
das — ist — Brot fUr die Hühner, 805); — tovd na supa, a tovd
na sos (das ist für Suppe, und das für Sauce; also wieder na
statt: xa — für; 808): — Lddo da tüli (== türi — legen, statt:
chvärli — werfen) na (statt: v) köfata? (soll VI. in den Wasser-
eimer werfen? 744), und nachdem er es getan, meldet er mit ganz-
licher Auslassung der Präposition: tüli (= türi statt: chvärli) kö-
fata (warf — in — den Eimer); — papd otide na gimndsia (= v
gimndsiata, Papa ist ins Gymnasium gegangen, 859). — Mamd
xe tovd na tovd (statt: ot tovdt Mama nahm dies von diesem, 799).
Die nächste sowohl früh als viel gebrauchte Präposition ist
xa (für): tovd e xa teoe (das ist für dich, wobei er sich meinte,
711); — tovd — (e) — xa üte (= ütre, das ist für morgen, 797); —
tovd e xa tarn (das ist für dort, 823); — tovd — (e) — xa tarn, xa
pdlto {=pdltoto, das — ist — für dort, fürs Pardessus, 824); —
tovd e ödha xa caj (das ist ein Glas für Tee, 825); — tovd — («) —
xa öovtka (das — ist — für den Menschen, d. h. für den Träger; er
meinte nämlich das Geld, welches er bei mir sah, 827); — ax
namäich (— natnerich) köpce xa pdltoto (ich fand einen Knopf fürs
Pardessus, 831); — tovd e metldta xa niStenje (das ist der Besen
zum — bulgarisch: für — Fegen, 857); — a pak tovd xa m6ne
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I. A. Gheorgov,
(und dieses wieder flir mich, 955), setzt er fort, als ich ihm ge-
sagt hatte: das ist fttr mich; — tovd ne e za bienje (das ist nicht
zum — bulg.: für — Schlagen, 962); — daj mi iiMto xa igdenje
{— igrdenje, gib mir etwas zum — bulg.: für — Spielen, 966); —
ax He pldca xa Übe (ich werde nach dir, um dich — bulg.: für
dich — weinen, 938, 986); — ax se Iddvam (= rddvam) xaWui
(= krüH, ich freue mich nach — bulg.: für — Birnen, 1016). —
Manchmal wird in ziemlich später Zeit das xa (für) falsch durch
die Präposition na (an, auf) ausgedrückt, wie unmittelbar oben an
solchen Beispielen gezeigt wurde.
Die nächsten Präpositionen, die auftauchen, sind: käm (dialek-
tisch auch: kaj — zu) und pri (bei); jedoch sind sie, wenn auch
früh erschienen, äußerst selten gebraucht; ich habe sie nur ein
paarmal beobachtet: kaj oder kam (= käm) papd, kaj oder kam
mamd7 sagt das Kind am 718. Tage, wenn es ins andere Zimmer
zu uns kommen will; — dd) papd, käm mamä, la (= elä)\ (komm,
Papa, zur Mama, komm! 745). — Pi(=pri) Tdna (bei Tana, der
Bedienten, 724). Das ist alles, was ich angemerkt habe von diesen
Präpositionen; und merkwürdig ist es, daß sie, trotzdem sie schon
früh aufgetaucht sind, später gar nicht mehr gebraucht werden.
Etwas öfter gebraucht das Kind die in der Übersetzung ver-
schieden wiederzugebende Präposition po (nach, hinter, auf, je)
da döde (= dojde) po Lddo Ddnka (D. soll nach VI. kommen,
nämlich um ihn zu nehmen, 735); er sagt aber am selben Tag
denselben Satz mit falscher Versetzung der Präposition: ntka da
döde (= dojde) po Ddnka Lddo (soll nach VI. Danka kommen,
wollte er wieder sagen); — papd Ue Lddo po künata (Papa schlägt
VI. aufs Händchen, 767); — ti po duptto (= dupeto) btes? (du
schlägst auf den Hinteren? gegen den 856. Tag, dann 860); das
Wort dupeto hat er wahrscheinlich einmal von seiner Großmutter
gehört und es sich dann gemerkt; — po vttkite pilonl (= piröni)
iskam da xakdiam (= xakacd) ktiUkata (ich will auf alle Nägel
das Büchlein aufhängen, 1204); sehr richtig ist hier die Anwendung
der Präposition po; ebenso: nie tärsichme po vsickite dükjani, pa
nemd paltd (wir suchten in, bei allen Läden, und es waren keine
Pardessus, 1367). — Ax, pija po mdUco, vie piete po pövece (ich
trinke je ein wenig, ihr trinkt je mehr, 1001); im Bulgarischen
ist das po in diesen Fällen Präposition, welche einen Kasus
fordert.
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklang der Kindereprache. 317
Verhältnismäßig spät tritt die Präposition in {v% väv, u) auf,
welche anfangs einfach ausgelassen wird: papd fäli (= ckvärli)
mücha — {v) — köfata (Papa hat eine Fliege in den Wassereimer
geworfen, 705); — Lddo ottde — {v) — satöna (VI. ist in den
Salon gegangen, 733); — Lddo da ide ioldjo (= v stolovdjata, VI.
soll ins Speisezimmer gehen) und : Lddo he [— ite) jadt peceno
tneso toldjo (= v stolovdjata, VI. wird Braten im Speisezimmer
essen, 734); — tüli oder fäli köfata (= chvärll v köfata, warf in den
Wassereimer, 744) ; — papd, kölo (= sköro) da idei toldjo (= v stolo-
vdjata) da xSmes püdla {= püdra, Papa, schnell sollst du ins Speise-
zimmer gehen, Puder zu nehmen, 749); — ja noch am 775. Tage:
Lddo iska da pfie pdnata (= v spdlnjata, VI. will im Schlafzimmer
schreiben), nachdem schon das v seit dem 768. Tage aufgetreten
war: da pokdiem, Ima Ii tuka püdla (= püdra) v ierntto (= 6flc-
medieto, wir wollen zeigen — er will sagen: wir wollen sehen — ,
ob es hier in der Schublade Puder gibt); — £enja napdvi vwko
(= naprdvi mökro) ka v gditite (Z. hat nasses ka in die HoBen
gemacht, 823); — ti tutah (= türjai) v ustäta (du legst in den
Mund, 825); — sdmo papd möze da ad/ (= jadS) kösti, xastöto
Lddo pöse {=p6sle) ste se xaddvi, ite vtxe (= vUxe) v gdaloto
(= gdrloto, nur Papa kann Knochen essen, denn VI. wird sich
dann erwürgen, es wird in die Kehle hineingehen — nämlich ein
Knochen, 827); — vdv dxtpo (= v dztba, in der Tasche, 827); —
ito e tovd, dito e v rdkdta? (was ist das, was in der Hand ist?
1105). — Auch die zweite Präposition derselben Bedeutung »in«
(nämlich: u) erscheint am 779. Tage: Lddo da tüli (= türi) tovd
tarn u koiSto [= kjuiito, VI. soll das dort in die Ecke stellen) ; —
tuli (= turt) tovd tarn u süenceto! (lege das dort ins Fläschschen!
789); — nema vice gijs (= grijs), u ttndxenata (= tendzerata,
es gibt nicht mehr Grieß im Topf, 793); — u köja kutfja ima bon-
böni? (in welcher Schachtel gibt es Bonbons? 960); — Lddka
(= Rddka) e u bdbini (R. ist bei Großmutters, 978); — u SUfdovi
dosli gösti (zu StefSovs sind Gäste gekommen, 986). — Ein paar-
mal kommt Bpäter auch die Form uf statt w vor: uf soMim (im
Salon), ufkrevdtceto (im Bettchen), 1204. — Und einmal wird diese
Präposition falsch anstatt ix (aus) oder ot (von) gebraucht: da
donesii u (statt: ix oder ot) xemito (= cikmedzeto) pamük (sollst
aus der Schublade Watte bringen, 777).
Die nächste, sehr oft gebrauchte Präposition ist ot (von): ot
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I. A. Gheorgov,
töla (— stöla) pddnd (= pädna, vom Stuhl ist es gefallen, 776) ; —
kdto Ste — (se) — büdi {— säbudi) mdkiti, papä Ste oU&e (= otre*ze]
ot tovd Iddko {= skidko, wenn der Kleine erwachen wird, wird
Papa von dieser Mehlspeise abschneiden, 799); — ot dügijat Iddko
(= ot drügoto slddko, vom anderen Süßen, 799); — Ste go xema ot
übe (ich werde es von dir nehmen, 849); — ot dügata stdna
(= ot drugata straiui) Ste go xSmd (= xe'ma^ von der anderen Seite
werde ich es nehmen, 855); — daj mi ot tovd (gib mir von dem,
948); — Ddnka otide na s<?fo, koga Ste si dojde ot säof (Danka ist ins
Dorf gegangen, wann wird sie vom Dorf zurückkommen? 980); —
papä, H ot tüka Mzes (— rtäes) kldstaviaita [= krästovicata), a ot
tiika ja dd'tä (= durzU, Papa, von hier hältst dn die Gurke nnd von
hier schneidest du sie, 988); — ot naidlo sä mdlkitc (von Anfang
sind die Kleinen, 1136); — ot köja Strand da idmn (= tda)? (von
welcher Seite — d. h. auf welche Seite — soll ich gehen? 1291). —
Einmal hat das Kind in der ersten Zeit diese Präposition ganz
falsch durch na (an, auf) ersetzt: mamd xe tovd na (statt: ot) tovd
(Mama hat dies von diesem genommen, 799).
Die Präposition pod (unter), welche zunächst auftritt, wird nicht
sehr oft gebraucht: tarn pod doldpo ima Mno (= ednd) miika
(dort unter dem Schrank gibt es eine Maus, 792); — pod kavdta
(= krevdta, unter dem Bett, 805): — tarn tdpa (= tropa) mUka
pod doldpa (dort klopft eine Maus unter dem Schrank, 817).
Verhältnismäßig sehr spät erscheint sonderbarerweise die Präpo-
sition s, sä, sds (mit), welche man früher erwarten sollte; anfangs
wird sie einfach ausgelassen: igdj (— igrdj) si tüka sSlo (— s eksfra,
spiele hier mit dem Nagel, 733), sagt er zu sich selbst: — erst
am 799. Tage kommt diese Präposition zum Gebrauch : Lddo iska
da gde (= igrde) sä tovd (VI. will spielen mit dem); — säs
kdpata {— kdrpata, mit dem Tuch, 799); — säs tovd ne blva
(mit dem darf man nicht, 817); — bibi (= ixbriH) go sds kdpata
(= kdrpata, wische es mit dem Tuch ab, 824); — Lddo tuk säs
kaUm p'Me (VI. schrieb hier mit — dem — Bleistift, 827).
Endlich seien noch einige sehr spät und vereinzelt auftretende
Präpositionen angeführt, töja casoonik (= casövnik) e katö toja
(diese Uhr ist wie diese, 822); im Bulgarischen ist die Partikel katö
(wie) als Präposition gebraucht, welche den Akkusativ regiert. —
Ax Ste stdnam (= stdna) do ttbe (ich, werde mich neben dich
setzen, 861). — Podil (= podlr) khUa (= Jcritia) ne biva vodd
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 319
(nach — der — Birne darf man nicht Wasser — trinken, 1040); —
podfr slddko ne btva biskviti (nach Süßem darf man nicht Biskuits —
essen, 1362).
Viele von den Präpositionen gebraucht das Kind gar nicht bis
gegen Ende des vierten Jahres; solche sind: pred (vor), xad (hinter),
ix (aus), nad (ttber), mezdu (zwischen), bex (ohne), srtätu (gegen-
über;, da (bis), prex (durch), prötiv (gegen), kraj, pokrdj (neben,
nächst), sred (inmitten), xaradi, poradi (wegen), sied (nach), ixvdn
(außer) und andere.
XIII.
Die Konjunktionen treten von allen Redeteilen verhältnis-
mäßig am spätesten auf, trotzdem eine unter ihnen, gemäß der
Natur der bulgarischen Sprache, ziemlich früh erscheint. Das ist
jene konjunktive Partikel, die im Bulgarischen bei Bildung der-
jenigen Verbformen angewandt wird, welche zum Ersatz des
Infinitivs dienen, der bei uns gänzlich fehlt, ferner zur Bildung
von Ausdrücken wie. ich will, du willst etwas tun usw.; es ist
die Partikel da, welche etwa mit um, umzu, damit, daß übersetzt
werden kann. So ist diese Konjunktion schon am 711. Tage auf-
getreten in der Phrase: ax, ax da xtma (ich, ich soll nehmen): —
ax, ax da ttilja bito (== ax, ax da Uvrja kibrita, ich, ich soll die
Zündhölzchen hinstellen, 713); — ctkam papd. da jadtp&eno meso
(ich warte auf Papa, daß er Braten ißt, 715); — in folgender
langen Phrase ist diese Konjunktion dreimal richtig gebraucht:
celcam Täna da d&jde da x4me vän da xUxe (= ixUxe, ich warte
auf Tana, daß sie kommen soll, — mich — zu nehmen, um aus-
zugehen, 715); — nema papd. da dadf faitja (= kutijata, Papa
wird nicht die Schachtel geben, 720); — papd tßba (= tr&a) da
püe (Papa soll, muß schreiben, 724); in einer ähnlichen Phrase
vom 718. Tage kommt in der Sprache des Kindes mehrmals
Kontraktion dieser Partikel mit dem Verb vor: inamd t4be de
(= tre'ba da jade) ptceno mteo (Mama muß Braten essen); papd
tSe de {= trtba da jade) peceno mtso; Lddo Übe de m4ko
{= tre'ba da jadt mleko, VI. muß Milch essen, statt: trinken); usw.
oft in solchen Phrasen ; interessant ist es noch hier, die indirekte
Form des Imperativs anzuführen: da xema, da kdia (etwa: gut,
ich soll nehmen, ich soll sagen, 824); — segd da xatöla (= xatvörja,
jetzt soll ich schließen, 824). — Jedoch kommen oft, auch später,
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I. A. Gheorgov,
Fälle vor, wo das Kind die Partikel ausläßt, ax töpi (= ax da
potopjd, ich soll eintauchen, 716); — Lddo sam kddi (= da xakaci)
idpka {— kdpkata, VI. soll selbst — den — Hnt aufhängen,
720); — ne xfrnas küca (= da ne xtmai IdjiUa) ti'tka (du sollst
nicht nehmen den Schlüssel hier, 733), sagt er zu sich selbst, da ich
ihm gesagt hatte, er soll den Schlüssel nicht nehmen ; — H iskas
kdcü (= da se kdtif) na koköska? (willst du auf eine Henne steigen,
d. h. reiten? 772).
Die nächste Konjunktion ist natürlich die Konjunktion par
excellence, das »und« (*), welches aber merkwürdigerweise in der
ersten Zeit als Bindewort zwischen zwei ganzen Sätzen auftritt:
Lddo sedtno i papd sed&no {= na VI. e studeno i na papd e
studeno, dem VI. ist es kalt und dem Papa ist es kalt, 731); —
x/Ucela (= xdvöera) 1/lja döjdeie (= döjde) 4 dMo xdidda bUe (vor-
gestern kam die Tante und vorgestern war der Großvater, 744); —
dsdo ddde na Lddo dbaka [= jäbdlki) i ne iteie (der Großvater gab
dem VI. Apfel und — er — wollte nicht, 747); — papd xfima (= ze
oder xemd) Lddo i kdxal (statt: käxa) dobuto (— dobrö ütro) na mamd
(Papa nahm VI. und er sagte guten Morgen der Mama, 749): — d^do
zä&cda {— xdviera) btäe tüka, jddeie i puieie (vorgestern war der
Großvater hier, aß und rauchte, 749); — Lddo tuka ptie i tüha
ktepfie Lddo 6&te (VI. schreibt hier, und hier wird VI. noch schreiben,
775); — papd Mi (= MrC) takd i papd Ste pdli (= xapdli, Papa
legte so — nämlich die Zigarette in den Mund — und Papa wird
anzünden, 790): — i da ostdvi Mka (und hier soll er lassen,
799); — hte pddne cdiata i kte se sdüpi (das Glas wird fallen und
wird zerbrechen, 800); — mdkiti ite döde (= döjde) i ite go bntne
(der Kleine wird kommen und wird es umwerfen, nämlich ein
Häuschen von Bausteinen, 824); — manchmal wird natürlich in
solchen Fällen das »und« ausgelassen: papd ddva (statt: ddde) na
Lddo ktitfjlea, 6üpi (= i ja sciipi, Papa gab — er sagt eigentlich :
gibt — dem VI. eine Schachtel, (und) er hat sie zerbrochen, 736). —
Dieses * (und) wird im Bulgarischen auch im Sinne von »auch«
gebraucht, wobei natürlich der Nachdruck auf das Wort kommt,
welches nach dem i folgt; und dieses i wird vom Kinde besonders
oft gebraucht: i facd da Wdimt (= htrim}? ^auch Papier sollen
wir legen? 744); — / Lddo ne blva nöza da — {se) — poUie
{—portäe, auch VI. darf nicht das Messer — nehmen — sich
zu schneiden, d. h.: denn er wird sich schneiden, 745); — i
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tüka da oUzüe (= otrSies, auch hier sollst du abschneiden,
745); — i na poiata vögom (= i na gospozata sbögom, auch der
Frau adieu, 746); — e (= i) titka da odtZe (= oMze) mdma
(auch hier soll Mama abschneiden, 768); — i t&va iska Lddo da
kdci na könteto (auch das will VI. aufs Pferd steigen, womit er
sagen wollte: auch VI. wird aufs Pferd steigen, 772); — i tüka
piif, papd (auch hier schreibe Papa, 775); — i Lddo nde da ßi
(= xnde da sviri, auch VI. kann spielen, nämlich auf dem Piano,
800); — i na bebenceto ne (auch dem Bebchen nicht, 824); —
i haj nema (auch Tee gibt es nicht, 825); — i chleb (auch
Brot, 826).
Merkwürdig ist auch das frühe Auftreten des doppelten, ja
des dreifachen *' — i (und — und, gleich dem Lateinischen et — et,
in der Bedeutung von sowohl — als auch): i tarn ima koWo, i
tarn ima koUlo, (auch dort gibt es ein Rad, einen Ring, auch
dort gibt es ein Rad, sagt er, wobei er auf verschiedene gemalte
Kreise auf dem Plafond hinweist, 733); — i papd, i mamd, i
steinte (auch Papa, auch Mama, auch alle, 789).
Von kopulativen Konjunktionen kommen vereinzelt noch
folgende vor: töze (auch, ebenfalls), köe—köe (sowohl — als auch,
teils — teils), nito — nito (weder — noch), ta (und — im Sinne von
»darum« »so daß«), i tovd tote (auch das ebenfalls, 794). —
Edtn stdlec iska da mu dadü köe Mplca, köe pantaKmi (ein Greis
will, du sollst ihm (sowohl) einen Hut, (als auch) eine Hose geben,
983). — Mtne ne mi ddvas nito ednä, nt to düga {= druga, mir
gibst du weder eine, noch eine andere, nämlich kniga — Buch,
welches im Bulgarischen ein Femininum ist, 999). — Nie vcdla
(= vitra) sme xemdli de (= dva) goUmi pÜöni (= piröni), ta sme
cukdli (wir haben gestern zwei große Nägel genommen, und = so
daß wir geklopft haben, 1040); — tüka ima m&ko, ta ne möze
da se ixMe (hier gibt es wenig, nämlich Suppe, und = darum
kann sie nicht ausgegossen werden, 1148).
Von den gegensätzlichen Konjunktionen, welche später
auftreten als die obigen, gebraucht das Kind folgende: a {— und
mit gegensätzlichem Sinne, etwa wie: dagegen, und — wieder, und —
dagegen), a pak oder a pa (hingegen, und — wieder), ami (doch,
und dann), amd (jedoch, aber), Inak (sonst), Üi (oder), pa (doch,
jedoch, aber): tarn Ima snek (= sneg) na poxölo {= pr&xöreca) , a
tuk ntma (dort gibt es Schnee auf dem Fenster, und hier
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I. A. Gheorgov.
dagegen — oder: und hier wieder — nicht), ebenso: tuk ima
snek, a tarn nSma. (hier gibt es Schnee, und dort — hingegen —
nicht, 808); — tovd na (statt: xa) mpa, a tovd na (statt: xa) sos
(das — nämlich: dieser Löffel ist — für Suppe, das dagegen für
Sauce, 808}; — tovd e bei, a tovd e sin (das ist weiß, und das
dagegen blau, 825); — mamä ne puSi, a ti? (die Mama raucht
nicht, du dagegen? 855); — tovd stiga na ZSnja, a tija xa Lddo
(das genügt für fcenja, und diese wieder für VI., 856); — Ddnka
peM {= pere*), a Malica (— Marica) glädi (D. wäscht, M. dagegen
bügelt, 977). — Tovd tüka da stoi, a pa tovd tüka (dieses soll hier
bleiben, dieses hingegen hier, 794); — a pak tovd xa mtne (und
dieses wieder für mich, 955), so antwortet er mir, als ich ihm
gesagt hatte: das ist für mich). — Amd (anstatt: ami) katöfi
(= kartöfi)? (und Kartoffeln? nämlich: auch Kartoffeln wird man
mir doch geben? 823); — ami nali si ti mälka (du bist ja doch
klein, 989), sagt er seiner Mutter, als sie auf seine Bemerkung,
daß sie wenig Brot essen soll, ihn fragt, warum sie wenig Brot
essen soll; — ami treoa Ii na mamä? (und ist es denn der
Mama nötig? 1114), fragt er, nachdem ich ihm auf seine Frage:
treoa Ii ti tovd? (brauchst du dies?) ihm geantwortet hatte: nein. —
Ste se kdii Lddo, amd n6ma da pddneh (VI. wird steigen, doch
wirst du nicht fallen, sagt er zu sich, 812); — amd nema da go
butne (doch wird er es nicht umwerfen, 824); — amd ne iskam
(aber ich will ja nicht, 825); — amd ax ne möia, ti napari
(= napravi) go! (aber ich kann es nicht, mache es du! 826); —
amd pdda (aber es fällt ja, nämlich wenn man den Baustein
auf diese Weise aufstellt, 826); — amd bos ( — ich bin —
doch bloßfüßig, 827), sagt er mir, als ich ihn ins andere Zimmer
nehmen wollte und er auf dem einen Fuß keinen Schuh hatte; —
segd e chübavo v'tme (= vrtme), amd studtno, xatovd ne srntem
da ixtxem (= ixUxem^ jetzt ist schönes Wetter, jedoch kalt, da-
rum dürfen wir nicht ausgehen, 966). — inak ttbe (= trtba) da
pddne (sonst muß es fallen, will aber eigentlich sagen: sonst
wird es fallen, 830): — nu ti tovd, inak ste go xagiiba (= xagtibja)
ax (da hast du dies, sonst werde ich es verlieren, 974). — Daj
da vida (= vidja), doli ima mnögo biskvit (= bi&kviti) Ui mdlko
(laß mich sehen, ob es viel Biskuits gibt oder wenig, 970). —
Nie tärsfchme po vsickite dukjdni, p a nemd paltd (wir suchten in
allen Läden, aber es gab nicht Pardessus, 1367). — Das wirkliche
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 323
»aber« [no) gebraucht das Kind gar nicht, sondern ersetzt es durch
andere Konjunktionen; so sagt das Kind am 747. Tage: dtdo ddde
na Lädo äbaka (= jäbalka) i ne sttte (der Großvater gab dem VI.
Äpfel, und [= aber] — er — wollte nicht). So wird auch später
immer dieses »aber« (?w) gemieden.
Von den satzverbindenden Konjunktionen gebraucht das
Kind noch die zwei kausalen Konjunktionen: xatovä (darum,
deswegen) und togäva, togdx (dann = in diesem Falle, unter dieser
Bedingung): xatovä (darum, statt: xaStöto — weil) dtdo e goUm,
xatorä toj dtfzi (= därii) takd; xatovä (wieder anstatt: xaktöto)
ax säm mäUlk, xatovä dd'zam [= därzä) taM (weil der Großvater
groß ist, darum hält er so, nämlich die Gabel; weil ich klein
bin, darum halte ich so, 948); — segä e cfittbavo v'Sme
(= vrtme), amä studcno, xatovä ne smeem da ixAxem (= ixlfxem,
jetzt ist es schönes Wetter, aber kalt, darum dürfen wir nicht
ausgehen, 966); — ti si golem, xatovä ne H dam {= dävam)
mdüü WiH (= krtUi, du bist groß, darum gebe ich dir nicht kleine
Birnen, 993); — xaitöto säm goUm, xatovä möiam (= möga) da
dokdcam (= dokaöd, weil ich groß bin, darum kann ich erreichen,
1111): — ... xatovä ax imam ednö goUmo (. . . dafUr [da-
rum] habe ich wieder ein großes Stück, 1148). — Der Knabe
kommt eines Tages zu mir und sagt mir, daß ein »Greis« (ein
Bettler) verlange, ich solle ihm einen Hut oder Hosen geben; als
ich ihm antworte, ich habe keine Hosen, sagt er mir: togäva
daj mu kipka (dann gib ihm einen Hut); — dobU (= dobrd), ste
gox/mam {— xtma) togdx xa m&ne (gut, dann werde ich es für
mich nehmen, 1114), sagt er mir, als ich ihm auf seine Frage,
ob etwas der Mama nötig ist, geantwortet hatte, daß sie es nicht
brauche; — togdx daj mi gi m&ne, äko ne gi teka fanja (dann
gib sie mir, wenn sie t. nicht will, 1279).
Was die unterordnenden Konjunktionen anbelangt, so
sind unter denselben am meisten diejenigen der Zeit, des Grundes
und der Bedingung vertreten; der Knabe gebraucht oft folgende
Konjunktionen: katö, kogd = kogäto (als, wenn = wann), xaitöto
(weil), ce (denn, weil); etwas selten treten auf: äko (wenn — be-
dingend), dall, Ii (ob), katö (da, weil), ce (daß); jedoch, wenn auch
nicht so oft, wie andere Konjunktionen dieser Gruppe, ist äko
(wenn — bedingend) die erste von den unterordnenden Konjunktionen :
äko kätti (= äko sc kldtiJ), papä ne dura göxde (= gröxdje^ wenn
Archiv für Psychologe. XI 22
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I. A. Gheorgov.
da dich schaukelst, gibt Papa keine Trauben, 749); wie sehr er
schon diese Konjunktion in ihrer Bedeutung erfaßt hatte, zeigt
der Umstand, daß er sich diesen zusammengesetzten Satz selbst
gebildet, wo er ganz selbständig die Konjunktion angewandt hatte.
Ich hatte ihm nämlich gesagt: ne biva da se kldtiJ takä (du darfst
dich nicht so schaukeln), worauf er sich obigen Satz selbst
bildete! — ako de (= ste) pddne, Lddo Ste go nameli (= namtri,
wenn es fallen wird, wird eB VI. finden, 824); — togäx daj mi
gi mene, ako ne gi fska Ztnja (dann gib sie mir, wenn sie Z.
nicht will, 1279). — Trotzdem er jedoch so gut den Sinn des ako
erfaßt hatte, gebraucht er diese Konjunktion einmal ziemlich spät
auch falsch für doli = ob: i ax da vlda (= vidja), ako (wenn,
statt: dali — ob) voll (auch ich will sehen, ob es regnet, 1280);
jedoch wird diese Ausdrucksweise manchmal auch von Ungebildeten
gebraucht, so daß vielleicht das Kind etwas Ähnliches einmal von
den Bedienten gehört haben mag. — Katö Lddo maWc (= kogdio
VI. — büe — mdläk, als VI. klein — war — , gegen den 784. Tag):
ich hatte ihm nämlich gesagt: tovd e Vi, kogdto btie mdldk (das
ist VI., als er klein war), auf sein Bild zeigend, und er erinnert
sich später der Phrase und wiederholt sie in der obigen Weise;
daß dies aber nicht eine bloße Wiederholung meiner vorhergehen-
den Phrase gewesen ist, zeigt schon der folgende richtige Gebrauch
derselben Konjunktion am folgenden Tage, und zwar in einem
Satze, welcher von einem vorhergehenden Satze selbständig mit
dieser Konstruktion gebildet wurde: katö he jade* [= kogdto Ste
izjade') mdkiti gijs {— grijs), jHtse (= pösle) da jade* Lddo (wenn
der Kleine den Grieß aufgegessen haben wird, dann soll VI. essen,
785); er bildet dieses Satzgefüge ganz selbständig, als ich ihm
gesagt hatte: pärren Ste jade* mdkiti grijs, pösle Vlddo (zuerst wird
der Kleine Grieß essen, dann VI.); — katö Ste btidi (= kogdto
Ste — se — sdbüdi) mdkiti, papd Ste ottze {= otrtze) ot tovd Iddko
(— slddko, wenn der Kleine erwachen wird, wird Papa von dieser
Mehlspeise abschneiden, 799); — katö bebtneeto se sdbüdi, pöse
(= pösle) Lddo ste fopa {= tröpa, wenn das Bebchen erwachen
wird, dann wird VI. klopfen, 825); auch dieses Satzgefüge mit
dem Nebensatz bildet sich das Kind ganz von selbst, als ich ihm
vorher gesagt hatte: er soll nicht klopfen, denn das Bebchen
schläft; — Lddo katö bide (= bade) stdlec (=stdrec), Ste püsi
(wenn VI. Greis sein wird, wird er rauchen, 825); — katö döjde
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklang der Kiudersprache. 325
(statt: döjdat) gösti, ite obuek novite obüsta (wenn Gäste kommen
werden, wirst dn die neuen Schuhe anziehen, 827); — katö se
sabudi jttnja, He — [mu) — dadtm obitita (wenn £. erwachen
wird, werden wir — ihm — Schuhe geben, 827): — katö
t i >
nadxärnam (= nadxdrna), vizdam gäldbite (wenn ich hineingucke,
sehe ich die Tauben, 1069). — P&mnii, kogd (== kogdto) VI. ixpll
{=ixpif erinnerst du dich, als VI. austrank, 826); — dntska
Stefco me bi, kogd (= kogdto) ubödich (= ubödoch) Nenja (heute
schlug mich Stefco, als ich N. — seine Bediente — gestochen
hatte, 965): — kogd mlnc kiuidldt (= kruidrdt), ti ite mu (ihm,
statt: go — ihn) pitas, doli ima dobl klüM (= dobri kru&i), doli
nema (wenn der Birnenverkäufer vorbeigehen wird, wirst du ihn
fragen, ob er gute Birnen hat, ob er nicht hat, 989); — üte
(= ütre) kogd pestdne (= prestdne) da voll, nie ite ixUxem (morgen,
wenn es aufhören wird zu regnen, werden wir ausgehen, 1001). —
Einmal in ziemlich später Zeit gebraucht er fälschlich die be-
dingende Konjunktion ako (wenn, französisch si) anstatt der
Konjunktion der Zeit kogdto (wenn = wann, französisch quand),
fühlt also nicht ganz den Unterschied in dem Ausdruck der be-
treffenden Gedanken: dko (statt: kogdto) Lddo sie stdm gottm,
Ste pdvi (== prdvi) takd (wenn — = unter der Bedingung daß —
VI. groß werden wird, wird er so machen, 839). — Lddo ne muze
da se kdH na kon {— konj), xaitöto ite pddne (VI. kann nicht
aufs Pferd steigen, weil er fallen wird, 831): — da se tüli (= türi),
xaitö (= xastöto) Imaslänce {= sklnce, man muß es stellen, d. h.
den Vorhang herunterlassen, denn [= weil] es gibt Sonne, 959): —
Ddnka mi se smfe, zabtöto ax skäsach etteto (= cvSteto, D. lacht
mich aus, weil ich die Blume zerrissen habe, 965); — papd, ti
mözei da p/es mnögo vino, xaitöto ivtma da se laxbolM (= rax-
botfei, Papa, du kannst viel Wein trinken, denn [= weil] du
kannst nicht krank werden, 1032); — xastöto sämgottm, xatovd
mozarn {=■ möga) da dokdeam (= doka6dy weil ich groß bin, darum
kann ich erreichen, Uli); — in der ersten Zeit des Auftretens
dieser Konjunktion wird noch xaitöto (= weil, denn) mit xatovd
(darum) verwechselt und letzteres fttr ersteres gesetzt in dein
Satze: xatovd (statt: xastöto) de*do e goUm, xatovd toj dä'ii
(—därzi) takd, xatovd (statt: xaitöto) ax sam ?ndlak, xatovd
dd'zam (= ddrzd) takd (weil der Großvater groß ist, darum hält
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I. A. Gheorgov,
er — nämlich die Gabel — 80, weil ich klein bin, darum halte
ich so, 948). — Zemi tovä, ce e Mio (nimm dies, denn [—weil]
es ist schlecht, 966); — dokdlaj (= dokäraj) me, ce ax sie pddnam
(—pddna, bringe mich näher, nämlich mit dem Sttthlchen zum
Tisch, denn [=»weü] ich werde fallen, 977); — skölo {= sköro),
ce vali ddz (= däzd, schnell, denn [= weil] es regnet, 980); —
ne vi obiham, 6e ste 16H (ich liebe euch nicht, denn [= weil] ihr
seid schlecht, 1102); — sköro, Dänko, ce iskam mökro (schnell,
Danka, denn [= weil] ich will naß, 1203); — ne mözam
(= möga) da xakdcam (= xakacd), ce e mdlka düpkata (ich kann
nicht aufhängen, denn [= weil] das Loch ist klein, 1204); —
tarn pö-nastrand, cetüka ima (dorthin mehr zur Seite, denn hier
gibt es — schon, 1284).
Mamd ne e vidtla, ce svüi (= sviri, die Mama hat nicht ge-
sehen, daß er spielt, nämlich Klavier, 938). — Interessant ist auch
der Gebrauch dieser Konjunktion ce in dem Ausrufsatz: ech, ce
ne xndei i ti da mi -uifei! (eh, daß du auch nicht verstehst, mir
— etwas — zu nähen! 1204).
Daj da vidd (= vidja), dali ima mnögo bi-skvit {= biskviti)
ili mdlko (laß mich sehen, ob es viel Biskuits gibt oder wenig,
970); — kogd mine kluMUU (= knädrät), U ite mu (ihm, statt:
go — ihn) pitas, dall ima dobi (= dobri) klüH (= kniii), dall
fiema (wenn der Birnen Verkäufer vorbeigehen wird, wirst du ihn
fragen, ob er gute Birnen hat, ob er nicht hat, 989). — Da
pokdzem (laßt uns zeigen, statt: da vidim = laßt uns sehen),
■ima Ii tüka püdla (=pudra) v zemfto (oder: xeme'to — ctkmedzeto,
laßt uns sehen, ob es in der Schublade Puder gibt, 768); — Lddo
da vidi, nfma Ii pudla {=püdra, VI. soll sehen, ob es nicht Puder
gibt, 777). — In sehr später Zeit wird dieses ob (bulgarisch meist
durch dall ausgedrückt) einmal fälschlich durch äko {= wenn)
wiedergegeben: i ax da vida {— vidja), ako (statt: dali) ne vali
(auch ich soll sehen, ob es nicht regnet, 1280); sieh hierüber
weiter oben bei ako (S. 324). — Papa, kaJiö (= kakvö) stc U&ek
(= rtzet), katö si xemdl nöza? (Papa, was wirst du schneiden,
da du das Messer genommen hast? 975); — ti segd kadt {=kädQ
$"te ides, katö si oblteen? (wohin wirst du jetzt gehen, da du
angezogen bist? 987); — segd kaJc ste me dignch, katö imam
khUa (= knUa)! (wie wirst du mich jetzt aufheben, nämlich vom
Sttthlchen, da ich eine Birne — nämlich in der Hand — habe! 1063).
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 327
XIV.
Endlich wollen wir kurz noch die Interjektionen erwähnen,
welche natürlich ziemlich früh da sind; so ist die Interjektion des
Verachtens fa! (pfui!) schon gegen den 430. Tag gebraucht worden,
und zwar wendet sie das Kind an, wenn es seine Händchen naß
oder schmutzig macht, zu mir kommt und seine Händchen zeigt,
dabei immer dieses Wörtchen aussprechend; natürlich hat das-
selbe dabei auch mit die Nebenbedeutung eines prädikativen
Attributs. — Vom 511. Tage an wird das Wohlgefallen an einem
Gegenstände mit cum (hübsch!) ausgedrückt, was aber wir ihm
angelernt haben1).
Eine andere früh auftauchende interjektionale Partikel ist das
hinweisende te (vom Adverb 6to), welches das Kind gebraucht,
wenn es etwas hört, wie das Bellen eines Hundes oder den Lärm
der Nähmaschine, wobei es das Händchen aufhebt und mit dem
Finger hinweist und aufmerksam horcht; es kann gedeutet werden
als: horch! horch da! (gegen den 480. Tag). Später kommt dieses
te als hinweisende adverbiale Partikel sehr oft vor in der Be-
deutung: da, hier, — voila: te, ?ie möhe (da, es geht nicht,
778); — te, Lädo go xemä (da — voila—, VI. hat es genommen,
826); — jedoch gebraucht das Kind manchmal, wenn auch sehr
selten, dieses te zum Ausdruck seines Erstaunens: te, kulko pisal!
(ei, wie viel er geschrieben hat! 743), sagt er, als er in mein
Heft blickt und sieht, wie viel ich darin geschrieben hatte. —
Diese hinweisende Interjektion, welche einen adverbialen Charakter
hat, wird auch in der im Bulgarischen gebräuchlichen Form von
ej [he, voila) gebraucht, jedoch äußerst selten: ej go tum {Jie, dort
ist er, 747). — Um dieselbe Zeit und später gebraucht es das
Wörtchen le, la immer, wenn es will, man solle es auf den Arm
nehmen; dieses Wörtchen kommt wahrscheinlich von eld/ (komm!); —
gegen den 650. Tag sagt er begaj! (geh weg! marsch!), wenn er
will, daß jemand vom Stuhl aufsteht. — Dann gebraucht das
Kind gegen den 718. Tag bögom, vvgom fUr sbogom! (adieu!),
ebenso um diesebe Zeit: Mka nah (= noU)! (gute Nacht!) und
dobuto (= dobrö ütro)! (guten Morgen!). — Chdjde da idem tarn
(wohlan! — allons! — gehen wir dorthin, laß uns dorthin gehen,
1} >Die ersten Anfänge usw.« S. 376.
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328
I. A. Gheorgov,
751); — pupd, dde (— chdjde) da tülis püddlbe {— titrii püdarce,
Papa, nun geh Puder darauf zu legen, 758); dieses chdjde ist eine
oft gebrauchte Partikel, welche den Sinn der Aufforderung, etwas
zu tun, hat. — 0 bo&e, bolt (o mein Gott! es schmerzt, 733); —
o, böze moj, padrid kutijka (= pädna kutijkata, o mein Gott,
die Schachtel ist gefallen, 736). — Ne etrni (= celiim), be (küsse
nicht, he, 776); dieses be hat im Bulgarischen den Sinn von:
du Kerl, jedoch in einem abgeschwächten Sinne der Bedeutung
dieses deutschen Ausdrucks. — Eck, ie ne xndes i U da mi
u&ies! [eh, und du verstehst nicht mir das zu nähen! 1204), —
eine Interjektion des Erstaunens. — Hier wäre auch das einmal
gebrauchte Schimpfwort magdle (= magdre, Esel) zu erwähnen:
mag die, ti go ixpi ria mamd (Esel, du hast ihn, nämlich den
Wein, der Mama ausgetrunken, 848); dieses Wort hat er jedoch
in diesem Sinne nicht Ton uns gehört; vielleicht hat er es einmal
von den Bedienten aufgeschnappt.
XV.
Nun wollen wir noch zum Schluß die Entwicklung der Syntax
der Kindersprache in ihren Hauptpunkten kurz kennzeichnen.
Es ist allbekannt, daß in der ersten Periode nach dem Auf-
tauchen des eigentlichen Satzes das Kind in Hauptsätzen spricht,
welche anfangs als unverbundene Sätzchen einfach aneinander
gereiht werden, wenn das Kind in längerer Rede Bich auszudrücken
beginnt. Natürlich nimmt in dieser Periode auch die Frage
einen ziemlich großen Platz in den sprachlichen Ergüssen des
Kindes ein. So fragte mein erster Sohn schon gegen den 680. Tag:
hämo bito (= kibrlta)? (wo sind die Zündhölzchen?), wo das Frage-
wort hämo? mehr volkstümlich ist und statt des mehr literarischen
de? (wo?) gebraucht wird. Das Kind stellt diese und ähnlich gebildete
Fragen, wenn es etwas sucht und danach fragt. Dann am
725. Tage fragt es: papd-, vidi* pfjka (= vidü Ii püjkata)? (Papa,
siehst du den Truthahn?); — vidü — (Ii) — Idbceto (= vrabcrto)?
(siehst du den Sperling? 725 ; — papd, vidü — (/*) — mamd?
(Papa, siehst du Mama? 733); — kcj e tovd? (wer ist das? 733),
so fragt es und antwortet selbst auf die gestellte Frage: beUnct
(Bebchen); — papd, vidik kdv [krdv)? (Papa, siehst du Blut?
740); — hämo kuca (= kljiUa)? ktidt d6na (= se dtna)? (wo ist
der Schlüssel? wohin ist er verschwunden? 740). — Bis zu dieser
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kinderspracbe. 329
Zeit ist in jenen Fragesätzen, welche durch kein spezielles Frage-
wort eingeleitet sind, die besondere charakteristische Fragepartikel,
welche immer im Bulgarischen gebraucht wird, vom Kinde nicht
augewandt worden, sondern die Frage ist bis dahin in solchen
Fällen ohne diese Partikel durch den bloßen Ton ausgedruckt;
so fragt das Kind: papd, pontiti? (statt: papd, pomnis Ii?). Vom
741. Tage an taucht auch diese Fragepartikel auf (siehe hierüber
früher S. 312). Jedoch wird trotzdem noch während der ganzen
Zeit, bis zum 1098. Tag, oft die Fragepartikel Ii auch ausgelassen:
Lddo da tidi (= da turi Ii) na köfata? (soll VI. in den Eimer
legen, d. h. werfen? 744); — da donestm {— donesd Ii)? (soll ich
bringen? 763); — Ddnka xapdli — (Ii) — tarn* (hat Danka dort
angezündet? 768); — tovd kopce — (/* e)? (das — ist ein —
Knopf? 772); — Lddo cvpi (= scupi) kaUma, papd pöse (= pösle)
*te pdvi (= &te go naprävi Ii)? (VI. hat den Bleistift zerbrochen,
wird Papa ihn dann machen? d. h. spitzen? 772); — ti iskas —
(Ii da se) — kdcis na koköika? (du 'willst auf eine Henne steigen,
d. h. reiten? 772); — kakö (= kakvö) pdvis (== prdvif), papa?
Idbotti (= rdbotü Ii)? (was machst du, Papa? arbeitest du?
779); — tovd kakö (= kakvö) e? na Lddo — (Ii e) — tovd?
(was ist das? gehört es VI.? c'est a VI.? 781); — *fc idem — (/*) —
u maztto vcüa (— vctra)? (werden wir in den Keller gehen
gestern? 998); — Übe knizka? (= tvöja knlzka Ii c tdja? ist das
dein Büchlein? die Frage lautet eigentlich: dir Büchlein? 1098).
Was die Wortfolge anbelangt, so ist sie, besonders in der
ersten Zeit, natürlich nicht immer die gebräuchliche, sondern oft
werden die Wörter in nicht gewöhnlicher Weise versetzt; so stellt
das Kind das Prädikat an die Spitze des Satzes, und nachher
folgt das Subjekt, wenn auch dies Versetzen durch nichts be-
gründet ist: kdxa Ddnka da otöli (= otvuri) mdkiti (sagte D., der
Kleine soll aufmachen, 733); — ne kdxal (= kdxa oder: kdxala)
rnarnd dobuto (= dobrö ütro) na mdkiti (sagte nicht Mama guten
Morgen dem Kleinen, 749); — ö$te da donesi* Maltca {= Mariaa)
katöfi (=kartufi, noch soll bringen Marien Kartoffeln, 774). — Ebenso
kommt Versetzung der Personalpronomina vor, indem sie nicht dem
gewöhnlichen Gebrauch nach vor das Verbum finitum sondern
nach demselben gestellt werden: Lddo ntma gox) (statt: VI. go nema}
1) Über die AuadruckBweiee nima go siehe oben S. 28ö.
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I. A. Gheorgov.
VI. ist nicht da) and: d£do ndma go (der Großvater ist nicht da],
724; — Lddo xe go (VI. nahm ihn, 794); — i tovd namötaj go
(auch dien wickle es auf, 805); — papd s^di se (= se särdi,
Papa ist böse, se fache, 724). — Es kommen auch Unregelmäßig-
keiten in der Reihenfolge der Objekte im Akkusativ und Dativ
vor, wo entgegen der gewöhnlichen Regel der Akkusativ nach
dem Dativ gesetzt wird: mamd ddde na papd ldko (= slddko,
Mama gab dem Papa Süßes, 728); — Tdna ddva na Lddo btäti
(= obtUtata, T. gibt, d. h. gab, dem VI. die Schuhe, 729); neben
der richtigen Wortfolge: papd, buj bütH [=obiij obuita) na Lddo!
(Papa, ziehe dem VI. Schuhe an! 729). — Ebenso wird der be-
stimmende Genitiv vor das bestimmte Hauptwort gestellt, was be-
sonders im Bulgarischen nicht geschieht: Lddo xd na papd lep
(= chtiba , VI. nahm des Papa Brot, 766) ; — tovd na papd köpbe
kindlo [— tovd kopde na p. se skinalo, dieser Knopf des Papa ist
abgerissen, 793); — tukd ima na pdpa pali (—pari, hier gibt
es — d. h. ist das — Geld des Papa, 799); — ebenso noch:
tovd na kokö&kite lep (= tovd e chleb xa koköikite, das ist Brot für
die Htthner, 805). — Auch Versetzung des Fragewortes kommt,
wenn auch selten, vor: cdikata kam'? (das Gläschen — ist —
wo? 827). — Interessant sind jedoch besonders solche Versetzungen
von Präpositionen sowie Voranstellungen des Akkusativs, wodurch
der Sinn des ganzen Satzes verstellt wird und falsch gedeutet
werden würde, wenn man nicht die eigentlichen Umstände, bei
welchen der Satz gesprochen worden ist, kennen würde: mamd
ddde kafe" papd (Mama gab Kaffee Papa, wobei derjenige, der den
Kaffee gab, nicht die Mama, sondern der Papa war, 716); —
papd celüni Lddo (Papa küsse VI., womit er eigentlich sagen
wollte: VI. soll den Papa küssen, 731); — mamd da vidi Lddo
(Mama soll VI. sehen, d. h. er wollte sagen: VI. soll — das Bild
der — Mama sehen, 733); — mamd ddde na Lddo lep (= chleb,
Mama gab dem VI. Brot; aber er wollte eigentlich sagen: VI. gab
der Mama Brot — Lddo ddde na mamd cfdeb, 726); — n4ka da
döde (= döjde) po Lanka Lddo (es soll nach Danka VI. kommen,
anstatt: es soll Danka — die Bediente — nach VI. kommen,
d. h. um ihn zu nehmen, 735).
Wie sehr das Kind schon früh ziemlich komplizierte Ge-
danken ausdrücken kann, zeigen folgende verschiedenartige Sätze:
atngoloto (= ciganindt) domdti ne dotitse, xäje dontse (der Zigeuner
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 331
brachte nicht Paradiesäpfel, — sondern — er brachte Kraut,
713); — am 724. Tage versteht das Kind sogar folgenden Satz
fehlerfrei ganz selbständig zn bilden: Lddo otide da kupi IdJco
(= slddko, VI. ist gegangen um Süßes zn kaufen), welchen Satz
er als Antwort auf unsere Frage, wohin VI. gegangen sei, sprach; —
und am 735. Tage erscheint der ziemlich lange und verwickelte
Satz: ne item (statt: Aar) da ide da kdze da pdli {= prdvi) ka
(ich will nicht gehen sagen, er soll »ka« machen), welchen Satz
das Kind auf unsere Aufforderung hin ausspricht, er soll dem
Kleinen sagen gehen, daß er »ka« machen soll; — und ähnlich
am 740. Tage: Lddo ne ste kdze na Ddnka da dornest m4ko
(= trddkOy VI. wird — will — nicht der D. sagen, damit sie
Milch bringen soll).
Der erste zusammengezogene Satz wird gegen den 675. Tag
ausgesprochen: kdko, donesl peceno meso, kaf&i (= kartöfi), möko
(= mörkovi, kako — Anredewort für Bediente — , bringe Braten,
Kartoffeln, gelbe Rüben); dabei ist jedoch, wie ersichtlich, das
»und« noch nicht zur Verbindung der betreffenden Satzteile ge-
braucht; ebenso wird in der ersten Zeit auch die gewöhnliche
Satzverbindung ganz lose gebildet, ohne Hilfe der eigentlichen
Bindemittel, welche die Konjunktionen darstellen; in solchen
Fällen liegt die Verbindung im bloßen Zusammenhang, so daß
die Konjunktionen verschwiegen, übergangen werden: papd ddva
(statt: ddde) na Lddo kutfjka, cüpi (= i toj ja scüpi, Papa gab dein
VI. eine Schachtel, — und er — zerbrach — sie, 736). — Die
erste Satzverbindung mit Anwendung von Konjunktionen er-
scheint am 731. Tage: Lddo sedeno i papd sedeno [~ na VI. e
studeno i na papd e studeno, dem VI. ist es kalt, und dem Papa
ist es kalt); — dann am 733. Tage mit der doppelten Konjunktion
i — i (et — et, sowohl — als auch, auch — auch): i tarn tma
kcMo (= kolelö), i tarn ima koleTo (und — auch — dort gibt es
einen Ring, einen Kreis, und dort gibt es einen King); — xdscela
(= zdvccra) Idja d&jdeie i dtdo xdscela b<*Je (vorgestern kam die
Tante, und vorgestern war der Großvater, 744); — (Udo xdscela
(= zdvcera) b6§e tüka, jddes'e i püseie (der Großvater war gestern
hier, aß und trank); — papd xtma (= xemd) Lddo i kdxal
(— kdxa) dobüto {= dobrö ütro) na mamd (Papa nahm VI. — mit
sich — und sagte — mit ihm zusammen — »guten Morgen« der
Mama, 749); — tüka Lddo pUe, i tüka Ste ptie Lddo (hier schreibt
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I. A. Gheorgov,
VI. und hier wird VI. schreiben, 775); — papä tidi (= turi]
takä, i papä. Ste pt'di (= i segä papä Ste xapäli, Papa hat so —
die Zigarette in den Mund — gestellt, und Papa wird — jetzt —
anzünden, 790); — papä He Ioih (— ulovi) mUka i Lädo ste vidi
(= ste ja gUda, Papa wird eine Maus fangen, und VI. wird sie
sehen, d. h. schauen, 793); — tüka da se tüU (= turi) mastüce,
i tüka da se tüli (= tiiri, hier soll Tinte gelegt, d. h. hinein-
gegossen werden, und hier soll gegossen werden, 794); — papä,
Lädopadnäl (= pädna) i udäli (== udari) se tüka (Papa, VI. fiel
und schlug sich hier an, 801); — tovä — (e) — bastön, ste se
udäli {=udtiri) Lädo, ste irna käv (= krdv) i pöse (= p6sle) ite
päce (= place, das — ist ein — Stock, VI. wird sich anschlagen,
es wird Blut geben, und dann wird er weinen, 827); — ax
napisach, i tüka &te napisam (= naptsa, ich habe geschrieben,
und hier werde ich schreiben, 861); — papä, ti si stüan
(= ostrigan), i ax iskam da se ost/gam (= ostriia, Papa, du bist
geschoren, und ich will auch geschoren werden, 1030).
Auch der Kontrast zwischen zwei Gedanken, wobei im Bul-
garischen die Verbindung der zwei Sätze durch eine besondere
Konjunktion a (= gegensätzliches >und«, etwa: und — hingegen,
dagegen, während) hergestellt wird, und den das Kind besonders
auszudrücken liebt (vielleicht mehr als die Gleichheiten), wird in
der ersten Zeit ohne die Konjunktion ausgedrückt; so sagt das
Kind: dfdo püii, papä pitii, — (a) — mamä ne ite da püii (der
Großvater raucht, Papa raucht, [und] die Mama [hingegen] will
nicht rauchen, 746); — papä däde tovä, xömah dügo (= a ti
xtma's nesto drügo, Papa gab — dir — dies, nämlich zum Spielen,
[und] du [dagegen] nimmst etwas Anderes, 793). — Natürlich
kommt ein solcher Gegensatz oft auch in der Sprache der Er-
wachsenen ohne jede Konjunktion zum Ausdruck; solche Aus-
drücke kommen auch beim Kinde vor: ti n&na da piUü, ax sie
piUa (du wirst nicht rauchen, ich werde rauchen, 825); — amä
ax ne niöia, ti napavi (— napravi) go! (ich kann es doch nicht
tun, tue es du! 826); — ax ste pokäza, ti ntma da pokdzes (ich
werde zeigen, du wirst nicht zeigen, 827); — ax ne möga da go
ixpiam (= ixpija), ixpi go ti! (ich kann es nicht austrinken, trinke
du es aus! 827); — segä Lädo ste pUe, posle stf ti dddam (=dam)
da pfses (jetzt wird VI. schreiben, dann werde ich dir zu schreiben
geben, 867); — ax pija po mälko, vte pHe po pövete (ich trinke
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindereprache. 333
je ein wenig, ihr trinkt je mehr, 1001); — tüka ax zivtfa, ti tarn
zivees (hier wohne ich, dort wohnst du, 1202); — ti värna drügite,
tija rtfma da vdrhtas (du gabst die anderen zurück, diese wirst
du nicht zurückgeben, 1243). — Jedoch erscheint dieses kon-
junktive a zu Anfang des 27. Monats, nachdem es vorher durch
das kopulative i (und) ersetzt worden war: de'do ddde na Lddo
dbaka (=jdbdlka) i ne SUie (= a VI. ne täte, der Großvater gab
dem VL einen Apfel, und — VI. hingegen — wollte nicht, 747); —
tovd tüka da stoi, a pa tovd tüka (das soll hier stehen und das
dagegen hier, 794); — tarn ima snek na poxob {= proxöreca),
a tuk ntma (dort gibt es Schnee auf dem Fenster, und hier
wieder nicht, 808); — tovd e bei, a tovd sin (das ist weiß, und
das dagegen blau, 825); — mamd ne piiM, a ti? (die Mama
raucht nicht, und du dagegen? 855); — tovd stiga xa Lddo, a
ttfa xa %6nja (das genügt für VI., und diese wieder für 856); —
Ddnka peUf (= per6), a Malica {= Marlca) glddi (D. wäscht, und
M. dagegen bügelt, 977); — papd, ti ot tüka tätet (= re^ei)
kldstavicata (— krdstavicata), a ot tüka ja dd'zii (=ddrzü, Papa,
du schneidest von hier die Gurke, und von hier hältst du sie,
988); — Zenja katö bdde holen, ax *fe ixltxna, a i. itc Mde
v stdjata (wenn 2. krank sein wird, werde ich ausgehen, und fc.
dagegen wird im Zimmer sein, 1353). — Es ist aber merk-
würdig, daß das Kind trotz dieser seiner Neigung, den Kontrast
zwischen Gedanken auszudrücken, nie in solchen Fällen bis zu
seinem vierten Jahr die Konjunktion »aber« (wo), welche haupt-
sächlich dazu dient, solchen Kontrast auszudrücken, gebraucht hat!
Natürlich wird in der ersten Zeit auch die Unterordnung
eines Satzes ohne jede Konjunktion ausgedrückt; so sagt das
Kind: papd, dones-f, Lddo iska lep {=chleb, Papa, bringe, — näm-
lich Brot, weil — VI. will Brot, 733); — ne vidi se, Übe (= trtba)
Idmbata (man sieht nicht, — so daß — die Lampe ist nötig,
823); — Lddo scupil (= slüpi) gtben (= grfbena), (ausgelassen:
tdj stöto oder: ta) mamd rtfma da se 6tia [— cülja, VI. hat den
Kamm zerbrochen, — so daß — die Mama hat nicht — womit
— sich zu kämmen, 827); — papd, nöka stdne chnbavo v'emc
(= vrtme), iskam da ixHnam (— ixttxa, Papa, es soll schönes
Wetter werden, — weil — ich will ausgehen, 966); — das ge-
schieht jedoch, wie man sieht, meist bei solchen Gedanken, wo
die Nebeneinanderreihung der Sätze das Auslassen der betreffenden
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I. A. Gheorgov,
Konjunktion erlaubt; so sagt das Kind auch richtig: am 1003. Tage:
r i
ddvaj mi pö-skolo {= pö-skoro), ax da svä'iam (= sväria, gib mir
schneller, ich soll beendigen) und ebenso am 1378. Tage, mit Aus-
lassung der Konjunktion, wodurch der zusammengesetzte Satz den
Charakter einer Satzverbindung hat: stani da mi sipes voda, ax ne
sdm pü (steh auf, um mir Wasser einzugießen, ich habe nicht ge-
trunken). Sonst wird schon früh das Satzgefüge regelrecht mit
der entsprechenden Konjunktion gebildet; so taucht das erste auch
formell richtige Satzgefüge ziemlich früh auf, schon am 743. Tage,
oder wenn man die bulgarisch leicht zu bildenden Objektiv- und
Finalsätze hinzunimmt, schon am 733. Tage. Hier will ich einige
Beispiele von diesen Final- und Objektsätzen anführen:
Finalsätze: tuli (= turi), papd, Idpkata da vidim (setze, Papa,
den Hut auf, damit wir sehen, 733); ganz richtig ausgedruckt; —
daj da müUa {= mirtta) sapunia (= sapüna), gib, damit ich die
Seife rieche = gib, ich soll die Seife riechen, 733); — daj Lädo
da tuli (— turi) pakäko (= kapdka) da go lüpi (= pochlupi, gib,
damit VI. den Deckel legen soll, um zu bedecken, 736); — kölo
(= skaro), jtapd, da xfmes pudäla {=pi'idra) dapudü [—napudrii]
Lddo (schnell, Papa, sollst du Puder nehmen, damit du VI.
puderst, 747); — nd palt (= pari), Maltco (= Marfco), da küpis
göxde (= grözde, da hast du Geld, Marica, damit du Trauben kaufst,
748); — d/do otide da spi (der Großvater ist gegangen um zu
schlafen, 749); — daj mi go da go cetfm {=cetd, gib es mir, da-
mit ich es lese, 756) ; — Lddo da xtme rwzici, papd da otfze noch
{—da otrfize nöktite, VI. soll die Schere nehmen, damit Papa die
Nägel abschneidet, 772); — tovd — (e) — na aYdo dapiUi [— xa da
püiiy das ist des Großvaters, damit er raucht, 790); — ntka da
dojde Ddnka da tuli (— tun) zeMzoto (D. soll kommen, um das
Eisen — nämlich die Eisenstange für das Bett — zu legen, 795); —
tovd — (e) — kib'U ( — kibrit) da (=xa da) xapuiii cigdla (= cigdra,
das — sind — Zündhölzchen, damit du eine Zigarette anrauchst,
825) ; — mi ti go da go zamötai (da hast du es, damit du es
wickelst, 827); — nd panlcata da se ne shdpi (da hast du den
Teller, damit er nicht zerbricht, 841); — daj mi ot tovd (gib mir
davon, nämlich von der Mehlspeise), sagt er zu mir, worauf ich
ihm sage: das brauchst du nicht, und er mir antwortet: Tie, Mba
— trtba) mi (nein, ich brauche es, es ist mir nötig); daraufhin
frage ich ihn: wofür brauchst du es? worauf er wieder antwortet:
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklang der Kindersprache. 335
Uba (= trSba) mi da go gältnam (— gältna, ich brauche es, um es
zu schlucken, 948); — hto ne xSmai tovd da go jadfs? (warum
nimmst du nicht das, um es zu essen? 966); — daj, papd, pali
(= pari) da küpa (= kupja) ax igli na mamd (gib, Papa, Geld,
damit ich Nadeln der Mama kaufe, 966); — dävaj mi pöskolo
(= pöskoro), ax da svä'sam (= svursa, gib mir schneller, damit
ich beendige, nämlich zu essen, 1003); — kogd dojde v'e'meto
(= vre'meto), mamd ste me säbüdi da piem töpül caj da mi mfne
kdilaneto (wenn die Zeit kommen wird, wird mich Mama wecken,
damit wir warmen Tee trinken, damit mir das Husten vergeht,
1013); — Z6nja ne e kötka da jadt sdmo nuislo (Z. ist nicht eine
Katze, um bloß Milch zu essen, 1064); — eld pö-nasam da ti po-
kdza ntMo (komm weiter her, damit ich dir etwas zeige, 1060); —
hte gi ixtdam {— ixjdm) sihki da gi ntma (ich werde sie alle auf-
essen, damit sie nicht mehr sind, 1139).
Objektsätze: kdxa Ddnka da otöli (= otvöri) mdläti (es
sagte D., der Kleine soll aufmachen, nämlich die Tür, 733); —
da pokäZem, ima Ii tiika ptidla {= püdra) v zemfto (= ctkmedkto,
wir wollen zeigen — er will wahrscheinlich sagen: sehen — , ob
es hier Puder in der Schublade gibt, 768); — Lddo da vidi, ntma
lipi'idla (= püdra, VI. soll sehen, ob es nicht Puder gibt, 777); —
pömnU, kogd Lddo ixpil {— ixpf)? (erinnerst du dich, als VI. aus-
trank, 826); — vidi*, Lddo kak pief (siehst du, wie VI. trinkt? 849) ; —
mamd ne e vidfla, ie svili {= sviri, Mama hat nicht gesehen, daß
er spielt, nämlich Klavier, 938) ; — ax iskam da gUdam, kak hte
pühih (ich will sehen, wie du rauchen wirst, 961) ; — pipni, papd,
kölko e stucfcno! (rühre, Papa, an, wie kalt es ist! hier ist natür-
lich zu ergänzen: um zu fühlen, 969); — iskam da vfdä (= vidja),
kölko ima (ich will sehen, wie viel es gibt, 970); — daj da vidd
(= vidja), doli ima mnögo biskvit (= biskvlti) ili mdVco (laß mich
sehen, ob es viel oder wenig Biskuits gibt, 970); — daj da vidd
(= vidja), kak müihe (= mirihe, laß mich sehen, wie es riecht,
970); — papd kdxa, ti da ne jaM kliUa [= kritta, Papa sagte,
du sollst nicht Birne essen, 970); — vidJ Ii, kak polivda [= poli-
vacha)? (hast du gesehen, wie man begossen hat? 987); — kogd
mine klusdiät (= krusdrät), ti hte mit (ihm, statt: go — ihn) pitas,
doli ima dobl Midi {— dobri kruhi), doli nSma (wenn der Birnen-
verkäufer vorbeigehen wird, wirst du ihn fragen, ob er gute Birnen
hat, ob er nicht hat, 989); — ax ste glfdam, hak Me go xanesc*
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I. A. Gheorgov,
(ich werde sehen, wie du es hintragen wirst, 993) ; — da tepozd'dvam
(= poxdratjd), mi kdxa gospoid Döbeva (ich soll dich grüßen, sagte
mir Frau Dobrev, 1047); — ixlixd Ii, doli e chubavo vUmeto {= vr4-
meto}? (bist du ausgegangen, ob das Wetter schön ist? zu ergänzen:
um zu sehen . . . 1098).
Die zunächst auftauchende Gruppe von Satzgefügen ist der
Konditionalsatz, welcher eigentlich, wenn man von den leicht
auszudrückenden Final- und Objektsätzen absieht, der erste wirk-
lich vollkommen ausgedrückte Nebensatz ist, welcher aber nicht
so oft gebraucht wird wie die anderen zwei Satzformen; er taucht
am 743. Tage in folgender Phrase auf: papä ite xeme Lädoy dko
bildet; müen (= miren, Papa wird VI. nehmen, wenn du ruhig sein
wirst *) ; — äko kdtis (= se kldtif), papd ne ddva göxde {— gröxde,
wenn du dich schaukelst, wird dir Papa keine Trauben geben ; er
bildet sich selbst den Satz, als ich ihm gesagt hatte: du darfst dich
nicht so schaukeln, 749); — dko ie (= ite) pddne, Lddo ite go namSU
(= namtri, wenn es fallen wird, wird es VI. finden, 824) ; — dko
iskam, ite mi dadtte, dko ne ita, nerna da mi dadtte (wenn ich
will, werdet ihr mir geben, wenn ich nicht will, werdet ihr mir
nicht geben, 996); — und mit Voranstellung des Hauptsatzes:
togdx daj mi gi mJne, dko ne gi Uka Ztnja (dann gib sie mir,
wenn sie nicht will, 1279).
Der Reihe nach tritt dann der Subjektsatz auf, welcher je-
doch äußerst selten, nur dreimal, vorgekommen ist: nöma nthto
da dpe (= chdpe, es ist nichts da, was beißt, 754), so sagt er mir
selbst, als ich nachsehe, ob ihn etwas beißt, und er bemerkt hatte,
daß ich nichts gefunden hatte ; — g'ijs (= grijs) nJma koj da mi
ddva (es ist niemand da, der mir Grieß geben soll, 925); — töja,
drta go vidtchme (jener, den wir gesehen haben, 970).
Einer der am öftesten gebrauchten Sätze, neben den Final-,
Objekt- und Kausalsätzen, ist der Temporalsatz, der am
785. Tage erscheint: katü se (— ste) jadt makiti gijs (= grijs),
pOse (—pösk) da jadt Lddo (wenn der Kleine Grieß gegessen
haben wird, dann soll VI. essen) ; diesen Satz bildet sich das Kind
selbst in dieser Form, nachdem ich ihm vorher gesagt hatte: zu-
erst wird der Kleiue Grieß essen, dann Vlado; er bildet sich also
selbst die Form des Satzgefüges ; — katö ste büdi {= ste se säbi'uti)
1) Siehe weiter oben S- 266.
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 337
mdkiü, papd hte oUie (= otrtze) ot tovä lädko {= slddko, wenn
der Kleine erwachen wird, wird Papa von dieser Mehlspeise ab-
schneiden, 799); — katö bebenceto se sdbitdi, pöse (= pösle) Lddo
sie föpa (= tröpa, wenn das Bebchen erwachen wird, dann wird
VI. klopfen, 825); anch diesen Satz bildet er sich selbst, nach-
dem ich ihm gesagt hatte: er soll nicht klopfen, weil der Kleine
schläft; — Lddo katö bade stdlec (= stdree), &te püH (wenn VI.
ein Greis sein wird, wird er rauchen, 825) ; — katö d&jde {— döjdat)
gösti, sie obües növite obiUta (wenn Gäste kommen werden, wirst
du die neuen Schuhe anziehen, 827); — katö se sdbitdi £<hia} ite
daddm obüita (wenn fcenja erwachen wird, werden wir — ihm —
Schuhe geben, 827); — dko (wenn = si, statt: kogdto, wenn
= quand) Lddo ste stdne goUm, Ste pdvi [=prdvi] takd (wenn VI.
groß sein wird, wird er so machen, 839) ; — dneska Stefio me bi,
kogd ubödich (= ubödoch) Nfaja (heute hat mich Stefco geschlagen,
als ich Nenja — die Bediente — stach, 965) ; — papd, segd e luho
vtmeto (= vrtmeto); kogd stdne chubavo v&meto, hte ixAxem {= ixUzem,
Papa, jetzt ist das Wetter schlecht; wenn das Wetter schön werden
wird, werden wir ausgehen, 976) ; — üte (— ütre) kogd pestdne
(= prestdne) da voll, nie hte ixUfxem (morgen, wenn es aufhören
wird zu regnen, werden wir ausgehen, 1001); — kogd dojde v'dmeto
(— vre'meto), raamd ite me sdbüdi da pieni topäl caj da mi mim
kählaneto (wenn die Zeit kommen wird, wird mich Mama auf-
wecken, um warmen Tee zu trinken, damit mir das Husten ver-
geht, 1013); — katö sdsü (= svdriiS) pühenjeto, pak ste piUih
(wenn du das Rauchen beendigen wirst, wirst du wieder rauchen,
1042); — katö nadxdmam (— nadxdrna), vizdam gdbibiie (wenn
ich hereingucke, sehe ich die Tauben, 1069); — bie go, kogd ne
milüva (= mirüva, er schlägt ihn, wenn er nicht ruhig ist, 1096) ; —
kogdto mi u&ijat öste ednö pdlto, He imam dve (wenn man mir
noch ein Paletot nähen wird, werde ich zwei haben, 1199).
Die nächste oft gebrauchte Art von Nebensätzen ist jene der
Adverbialsätze des Grundes, der Kausalsätze, welche auch
in grammatisch richtiger Form zuerst am 827. Tage auftreten:
sdmo papd möse da ade (=jadS) kösti, xaJtöto Lddo pöse (= pösle)
ste se xaddvi, Ste v6xe (= vMxe) v gdaioto (= gärloto, nur Papa
kann Knochen essen, denn dann wird VI. sich erwürgen, es wird
in die Kehle hereingehen); — Lddo ne möze da se käci na kon
(== kanj), xastöto hte pddne (VI. kann nicht auf ein Pferd steigen,
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338 I. A. Gheorgov,
weil er fallen wird, 831); — xatovd (darum, anstatt: xaitöto = weil)
dtdo e goltm, xatovd toj diVH (= darhl) takä; xatovd (statt: xahtöto)
ax sdm mdldk, xatovd dd'zam [~ ddrid) takd (weil der Großvater
groß ist, darum halt er — nämlich die Gabel — so; weil ich klein
bin, darum halte ich so, 948); er hatte mich nämlich vorher ge-
fragt: hält nur der Großvater die Gabel so? und ich hatte ihm
geantwortet: ja, so hält nur der Großvater, worauf er obigen
langen Satz sprach und die Gründe dabei selbst sich hinzufügte ; —
da se tüli (= turi), xaitö (= xahtöto) ima sldnce (= sldnce, man
muß es stellen — nämlich den Vorhang auf eine bestimmte Weise — ,
weil es Sonne gibt, 959); — Ddnka mi se smte, xastöto ax
skdsach ctteto (— cvtteto, D. lacht mich ans, weil ich die Blume
zerrissen habe, 965); — xemt toitf, ce e lö&o (nimm das, denn —
weil, da — es ist schlecht, 966) ; — papd, kakö (= kakvö) sie Uzes
(= rrteJ), katö si zemdl nöza? (Papa, was wirst du schneiden, da
du das Messer genommen hast? 975) ; — dokdlaj {— dokdraj) me,
he ax hte pddnam (= pddna, bringe mich näher — nämlich mit
seinem Stühlchen an den Tisch — , denn — weil, da — ich werde
[sonst] fallen, 977) ; — skölo (=■ sköro), ce vali dax (= ddxd, schnell,
denn — weil, da — es wird regnen, 986) ; — ti segd kadt (= kddtf
hte fdei, katö si obl/cen? (wohin wirst du jetzt gehen, da du an-
gezogen bist? 987); — ax vtKce ne ita, ce Uba {— trfba) da ostdvim
xa ütle (= ütre, ich will nicht mehr, weil man für morgen lassen
muß, 1016); — papd, ti mözei da piek mnögo vlno} xoJtöto nfma
da se laxboUes {— raxlx)l6e&, Papa, du kannst viel Wein trinken,
weil du nicht krank werden wirst, 1032); — segd kok &te me
dignei, katö Imam klitta (= krii&a) ? (Papa, wie wirst du mich
aufheben, da ich eine Birne — in der Hand — habe? 1063); —
ne vi obüam, ce sie löü (ich liebe euch nicht, da ihr schlecht
seid, 1102); — xastöto sdm goUm, xatovd mözam da dokdtam
(= möga da dokacd} weil ich groß bin, darum kann ich erreichen,
1111); — sköro, Ddnko, ce tekam mökro (schnell, Danka, da ich
naß — machen — will, 1203); — ne mözam (= m(/ga) da xakdcam
(= xaJcacri), ce e mdlka dupkata (ich kann nicht aufhängen, da
das Loch klein ist, 1204); — tarn pö-nastrand, ce tuka tma (dort
mehr seitwärts, da es hier — schon — gibt, 1284).
Sehr selten und spät werden die Attributivsätze gebraucht:
vidd Ii t/ja covCci, d/to be'cha tarn? (hast du jene Menschen ge-
sehen, welche dort waren? 987); — ax viMch edin clcv, dSto vödehe
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 339
ednö dgne btlo (ich sah einen Onkel, d. h. Bauern, der ein weißes
Lamm führte, 993); — kadt (= Mdt) e goUmijat küim, Mto b&e
u saUma? (wo ist der große Teppich, der im Salon war? 1199).
Noch viel später und seltener wird der Prädikatsatz sowie
der Adverbialsatz des Grades angewandt; ich habe diese in
je einem einzigen Falle beobachtet: Sio e tovd, dtto e v räkäta?
(was ist das, was in der Hand ist? 1105). — Tovd ne e dtMw,
da ne go vidim (das ist nicht weit, daß wir es nicht sehen, 1379) *).
B. Mein zweiter Sohn.
I.
Nun wollen wir die grammatische Entwicklung der Sprache
bei meinem zweiten Sohne verfolgen. Über die erste Stufe dieser
Entwicklung, in der die Sprache des Kindes den verbal-inter-
jektionalen Charakter aufweist, habe ich kurz zu Anfang dieser
Abhandlung berichtet und will daher hier sofort auf die nächste
Stufe der sprachlichen Entwicklung, wo in der Sprache des Kindes
die intellektuelle Bedeutung des Wortausdrucks zum Vorschein
kommt, übergehen. Mein zweiter Sohn ist, wie schon anderswo
gesagt wurde2), in der sprachlichen Entwicklung schon darum
hinter meinem ersten Sohne zurückgeblieben, weil er sich nicht
gern der Sprache selbständig bedient und darum verhältnismäßig
viel später zum selbständigen Gebrauch der Wörter übergeht. So
sind auch die ersten Wörter, welche deutlich nicht mehr bloß
interjektionale Bedeutung haben, bei ihm zwei Monate später auf-
getreten als bei meinem ersten Kinde. Und zwar ist bei ihm das
erste das letzte Wörter od (= vodd, Wasser, 569), welches Wort das
Kind von selbst aussprach, nicht als Nachahmung. — Als am
571. Tage wir ihn fragen, indem wir auf seine Großmutter zeigen,
wer das ist, antwortet er ganz richtig: bdba (Großmutter); — am
selben Tage spricht er ce und dxe (= jajct, Ei), kot (— kötka,
Katze); das letzte Wort spricht er nach, als er die Katze sieht und
1) Bei der Berechnung der Tage des Altera meines ersten Sohnes habe
ich Ubersehen, daß das Jahr 1892 ein Schaltjahr war, so daß ich vom
8GO. Tage an immer einen Tag weniger angegeben habe; es müßte also
richtig der 860. Tag als 861, der 999. Tag als 1000 usw. bezeichnet werden.
2) >Die ersten Anfänge usw.« S. 366.
Arcbir fttr Psychologie. XI. 23
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340
I. A. Gheorgov,
seinen Bruder sie kötka benennen hört; oa, 0*0 (= vodd, Wasser); —
am 573. Tage sagt er lä (= chleb, Brot); — am 574. Tage: mcc,
mec (= mMka, Bär), welches Wort er öfter so nachspricht, wenn
er es seinen Bruder sagen hört; — läp (= chleby Brot, 576); —
näs (= nos, Nase, 577); — auch bei ihm sind also die ersten
Wörter Subatantiva. Doch beginnen schon vom 571. Tage sich
auch andere Wörter zu zeigen, so tto und tte (= 6tof voila), wel-
ches Wort er sagt, wenn wir ihn fragen: wo ist . . . (irgendeine
Person)? und er auf dieselbe zeigt, 571; — ebenso: ogo (=sbogom,
adieu), welches er aber nachspricht, wenn wir ihn auffordern, er
soll sbögom sagen. — Seine starke egoistische Willensnatur, auf
die ich in meiner Abhandlung Uber die ersten Anfänge des Selbst-
bewußtseins besonders hingewiesen habe (siehe dort, S. 390), zeigt
sich bald auch in seiner Sprache, denn schon am 578. Tage spricht
er von selbst das Wörtchen nef (nein!), als ich ihm gesagt hatte,
er soll seinem Bruder ein Spielzeug geben, und er wiederholt
dieses Wörtchen mehrmals, als ich ihn dazu mehrmals aufforderte.
Bei meinem ersten Sohne, der keine Willensnatur ist, kam dieses
Wörtchen erst 158 Tage später {am 736. Tage ; siehe weiter oben
S. 309). — Ebenfalls am 578. Tage spricht er den Namen der Be-
dienten der Nachbarn Nfnc (= Nfaa), dann leb und lab (= cideb,
Brot), gdka (= kipka, Hut), iidko (= rrüAko, Milch), köce (= köphey
Knopf); — am 581. Tage: hda oder ka (= igld, Nadel) und köce
(—köpce, Knopf); — i&e (= Flasche, 583); — dxJ-ce {—stuice,
Stuhlchen, 584); — loldp und coläp (= corup, Strumpf, 586); —
{l)dko und mäko (= mttko, Milch, 586); — bus, biUti (= obiuta,
Schuhe, 586).
IL
Wie man aus allen obigen Wörtern sieht, spricht das Kind in
den ersten zwei Wochen dieser Sprachperiode fast nur Substan-
tiva; nun beginnen aber auch andere Wortarten sich einzustellen;
so kommt das erste Verbal wort am 585. Tage zum Vorschein,
da nämlich das Kind IUjs (= sbisana, zerrissen) sagt, als es sieht,
daß der Hut zerrissen ist; — am nächsten Tage taucht das Per-
sonalpronomen as, as (ich) auf, welches das Kind spricht, wenn
es selbst etwas tun will, z. B. sich auf einen Stuhl setzen, auf
dem er gewöhnlich sitzt, ohne fremde Hilfe zu gebrauchen; —
am 590. Tage sagt er dasselbe Wort, wenn er etwas machen will
oder etwas in die Hand nehmen will; — am 587. Tage taucht
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklang der Kindersprache. 341
von neuem, und zwar in noch mehr ausgesprochener Form, das
Verbum auf in dem Worte möpe >), welches das Kind spricht, wenn
es sich abmliht, etwas zu tun, welches ihm nicht gut von statten
geht, so z. B. wenn es einen Stuhl schiebt, der plötzlich irgendwo
stecken bleibt und nicht weiter rücken will; dieser Ausdruck be-
deutet bei ihm ne möze (es kann nicht, es geht nicht). Dabei ist
es wieder merkwürdig, daß der Ausdruck etwas Negatives aussagt
und sich derselbe ihm entlockt, wenn sich seinem Willen ein
Hindernis entgegenstellt! — Am 591. Tage gebraucht er noch den
Imperativ ii! (= viz, siehe, schau), den er fortwährend spricht,
wenn er die Aufmerksamkeit von jemandem auf etwas lenken will.
Und nun kommt bald darauf, etwa zwei Wochen bloß nach
dem Auftreten des ersten Verbalausdrucks, der erste Satz, den
er am 601. Tage aussprach, wenn auch an diesem Tage noch
nachgesprochen, als er nämlich den Satz von seinem Brüderchen
gehört hatte; es war der Satz: daj lep (— chteb, gib Brot), derselbe,
den auch sein Brüderchen als ersten Satz am 577. Tage gesprochen
hatte. Denselben Satz spricht er auch am 612. Tage, ebenso wie
am 624. Tage, wobei er das letztemal ein bestimmtes Brot, ein
bestimmtes Stück Brot verlangte, also etwa sagen wollte: gib das
Brot {daj chtfba). — Ebenso sagt er am 605. Tage: fa lep (= chleb,
pfui Brot, schmutziges Brot) wieder als Wiederholung, als ich ihm
sagte: tovä e fa cJdeb (das ist pfui Brot, schmutziges Brot) und
dabei auf ein Stück unreines Brot zeigte. — Dann sagt er am
612. Tage: la wlna (~ ein, ruine, komm, Brüderchen), sich damit
zu seinem Bruder wendend und ihn auffordernd, er soll zu ihm
kommen ; das volkstümliche Wort näne, womit jüngere Geschwister
ihren älteren Bruder anreden, hatte er wahrscheinlich von den
Bedienten gehört. — Am 621. Tage sagt er: ax Up (= ax tekam
da rfpjia, ich will springen); — am 624. Tage: ne iskfm (= Iskam,
ich will nicht), als ihn seine Großmutter fragt, ob er bei ihr bleiben
will. Das Wort tefrm (ich will) hatte er schon am 620. Tage in
richtiger Bedeutung gebraucht, wenn man ihn gefragt hatte, ob er
etwas will; — am 625. Tage antwortet er nfrnar (== ntmam, ich
habe nicht), als ich ihn frage, ob er Sand auf dem Kopfe hat; —
am nächsten Tage bekommen wir auf unsere Frage: issest du
gern — liebst du — Trauben? die Antwort: obfc löxde (= obicam
1) f wird ausgesprochen zwischen * und «<?//, gleich dem polnischen «.
23*
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I. A. Gheorgov,
gröxde, ich liebe Trauben); — daj dxinam (= daj da celüna, gib,
ich will küssen, nämlich das Bebe, 629); — "ise (= iskam da
mirtta, ich will riechen, oder: laß mich riechen, 631); — tiga
(= stiga, genügt, 631), so sagt er, wenn er von etwas nicht mehr
will; — ne dam und ne dam (— ne st am statt: ne sta, ich will
nicht, 631); — ne iskam (ich will nicht) und: da (= vodd) fskäm
{= iskam, ich will Wasser, 633); und als ich ihm darauf sage:
vodäia e fa (das Wasser ist pfui), sagt er mit deutlichem Frage-
ton: data fa? (das Wasser ist pfui?); — kdhi (= käcva se, steigt,
633); — da 'tdam (= da vidja, daj da vidja, iskam da vidja, ich
Boll sehen, gib ich soll sehen, ich will sehen, 637); — büiam
[=pwa, ich rauche, 637); — daj segä (gib jetzt, 637); — nema
nih-to {=ntito, es gibt nichts, 637); — nema mäska (= mttka,
es gibt keinen Bären, d. h. er kann nicht das Bild mit dem Bären
im Buche finden, 637); — tuka pike [— püi titka oder: ax ptia
tiika, schreibe hier oder: ich schreibe hier, 637); das ist eigentlich
das letztemal, wo das Kind das Verbum mit unbestimmter Endung
gebraucht; aus den obigen Beispielen ersieht man, daß das Kind
anfangs das Verbum manchmal ohne Endung {Up, obic) oder mit
einer unbestimmten Endung gebraucht (muet pUe, kdci) ; — ri'dani
ci (= ne Sta biskviti, ich will keine Biskuits, 640, 656); — mleko
iskam (= iskam, ich will Milch, 640) ; — as mdlko (= ax iskam mdlko,
ich will ein wenig, 641); — daj deünam (= daj da te cdüna,
gib ich soll dich küssen, 641); — dam* [— daj mi} gib mir, 643).
Bei diesem Kinde kommt, wie man aus diesen ersten Sätzchen
seiner Sprache sieht, seine Willensnatur schon gleich anfangs stark
zum Ausdruck, denn die meisten dieser sprachlichen Ergüsse be-
ziehen sich immer auf etwas Gewolltes oder bedeuten ein Abweisen,
ein Nicht-Wollen. Dementsprechend ist auch bei ihm unter den
ersten oft gebrauchten Verbalformen der Imperativ, der schon
am 564. und 565. Tage in dem Wörtchen dej (— daj, gib) auftritt,
welches er gebraucht, wenn er etwas will und wenn wir ihn darauf
aufmerksam machen, daß er es mit Worten verlangen muß. Wenn
man eigentlich will, ist dieses Auffordern, welches im Imperativ
steckt, in grammatisch nicht eigentlichem Imperativ noch viel
früher aufgetreten in den Wörtchen: chdde und ade (— chäjde), ein
oft gebrauchtes Aufforderungswort, welches etwa dem französischen
allons! entspricht. Das Kind gebraucht dieses Wort schon gegen
den 618. Tag, wenn es sieht, daß wir uns zum Ausgehen vorbe-
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindcraprache. 343
reiten, und es uns auffordert, bald schon auszugehen; — gegen
den 530. Tag sagt das Kiud von selbst — wahrscheinlich hat es
das Wörtchen von seinem Bruder gehört — di, wenn es reitet
und sein Pferdchen anspornt, etwa im Sinne von hü! wie es eben
im Bulgarischen oft in diesem Sinne gebraucht wird; — nun be-
ginnen schon die Imperative öfter und von verschiedenen Verben
aufzutreten: ü! {— viz, siehe, 591), welches das Kind fortwährend
sagt, wenn es die Aufmerksamkeit von jemandem auf etwas richten
will; — daj lep {— chleb, gib Brot, 601), welches aber der Knabe
nicht von Bich selbst, sondern nachdem er es von seinem Bruder
gehört, wiederholte; selbständig spricht er dieses Sätzchen am 612.
und 624. Tage aus; — bäga oder btga (= btigaj, geh weg, 601),
%a/ (670); — la nana (= dä, ndne, komm, Brüderchen, 612),
wie er zu seinem Bruder sagt *) ; — daj segä (gib jetzt, 637) ; —
tüka pike {= püi tüka, schreibe hier, 637) ; — daj dzünam (= daj
da te celüna, gib ich soll dich küssen, 641); — datri* (= daj mi,
gib mir, 643); — mi tas (= xemi tox, nimm diesen, 653); — emr
(= xernl, nimm, 671); — ymi me (= xemi nie, nimm mich, 679); —
tiUi (— turi, stelle, lege hin) und: cüni (= celuni, küsse, 670); —
viz, ntma — tüka — palf (= pari, siehe, es gibt hier kein Geld,
672); — viz maljko (== mdlko), viz golenito (= gotäno, siehe ein
kleines, siehe ein großes — nämlich Steinchen, 675); — tij
(= utrfj, wische ab, 676); — pi(ä)H (= pül, schreibe, 676); —
gUdaj (schau, siehe, 694); — l'daj oder: lysaj [— slüsaj, höre,
694); — UM (= sUUaj, höre, 705); das Kind gebraucht diesen
letzteren Imperativ auch im übertragenen Sinne, wenn er sagen
will: schau her! oder eher um die Aufmerksamkeit auf sich und
seine Beschäftigung zu lenken; — di si (= idi si, geh weg,
va-Ven, 708) ; — ni (= digni) tox toi (= stol , nimm diesen Stuhl
weg, 710): — müi go pilön (= narneri go pir&na, finde ihn, den
Nagel, 711): — ndsi {—donesi) iaj (bringe Tee, 731, 737); —
digni me (hebe mich auf, 737): — papd, 'si (= donesi) mUko
(Papa, bringe Milch, 739); — 'si 'kaastvo [— donesi lekärstvo,
bringe Arznei, 742): — ndsi {= donesi) tükay bringe hierher,
777); — vüdi (= ixvadi) mi (nimm mir heraus, 744); — kusni
[= kusni, probiere — nämlich zu schmecken, 748); — MU mi
und: säbÜi (= säberi) mi (sammle mir, 758): — jnipe, pipni,
l; Siehe weiter oben S. 341.
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I. A. Gheorgov,
goUito (= goresto Ii) e? (Papa, rühre an, ist es heiß? 764); —
vi se [— xavt sey wickle, hülle dich ein, 765); — Ugaj (= legni,
lege dich, 766); — obüj mi (ziehe mir an, 766); — ki se, mflam
(= skrij se da te namtrja, verstecke dich, damit ich dich finde,
771); — UH (= brfti, wische ab, 779): — pi (= spi), tskam
büdam (= da te säbiidja, schlafe, ich will dich wecken, 785); —
d&H (= dräx, halte, 797); — cuj (höre, 797); — xtmi (= xemi)
nitekoto, glej (= sgrej) go (nimm die Milch, erwärme sie, 804); —
Vddo, sk'ij (= skrij) gi ti (VI., verstecke du sie, 864); — xakovi
süno (nagle fest ein, 894); — katt se H da vldü (steige dn hinauf,
um zu sehen, 894); — xasto ne ptes, ixpi go (warum trinkst du
nicht, trinke es aus, 895); interessant ist hier in diesem Sätz-
en en das richtige Variieren der Verbformen; — sbäi (= säber 1) H
(sammle du sie, nämlich die Bausteinchen, 898); — segä pomestl
se (jetzt rücke ein wenig weiter, 918) : — zalupi [= zachlupf) de
(decke doch zu, 947); das de ist ein in der nicht sehr höflieben
Umgangssprache oft angewandtes Wörtchen, welches die Aufforde-
rung verstärkt, aber sie unhöflich macht.
Im Plural kommt der eigentliche Imperativ nicht ein einziges
Mal vor. Nur einmal gebraucht der Knabe am 766. Tage einen
indirekten Imperativ in der zweiten Person Pluralis, als er
nämlich sagt: ddzete {= da otrfizcte, ihr sollt abschneiden, que vous
coupiez); dieser uneigentliche Imperativ kommt sonst in den an-
deren Personen oft und sehr früh vor; so sagt das Kind am
637. Tage schon in der ersten Person des Singulars: da tdam*)
(= da vidja, ich soll sehen, gib ich soll sehen, ich will sehen):
jedoch wird in der ersten Zeit fast immer die Partikel da (in dieser
Ausdrucks weise gleich dem französischen que) ausgelassen: ti'dam
(= da turja, ich soll legen, ich will legen, 652) : — lännam {= da
legna, ich soll mich legen, 652); — kixarti {— da iztexa, ich will
ausgehen, 653, 654): — lipam (= da rfpna, ich soll springen,
656) ; — tälam {— da otvvrja, ich soll aufmachen, 656) ; — gltäam
(= da — , ich soll schauen, ich soll, ich will sehen, 669); — ax
sam gUdam {= ax sam da gUdam, ich selbst soll, will sehen,
683); — cÜkam H da cükam, ich soll klopfen, 678); — Uljo,
vidam (— , da vtdja, Tante, ich soll sehen, gib ich soll sehen,
1) Über daa m bei diesen Formen der ersten Person siehe >Die erBten
Anfänge usw. S. 364.«
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kinderspr&che. 345
693); — vidam blsta kd'pa {— da vidja cfstata kärpa, ich soll das
reine Sacktuch sehen, 761): — segä da vidam {—vidja), kakvö
ima tüka {jetzt soll ich sehen, was es hier gibt, 898); — da vidam
töpki mlugo sä Ii (= da vidja, mnogo töpki Ii sä, ich soll sehen, ob
es viel Bälle sind, 898); — cddnam (= da stäna, ich soll mich
setzen, 706); — cünam (= da — go — celüna, ich soll — ihn —
küssen, 766); — bäam {— da obüja, ich soll anziehen, 777); —
da go xakljücam (= xafdjüca, ich soll es schließen, 939).
In derselben Weise wird der indirekte Imperativ auch in der
zweiten Person oft ausgedrückt: vikas (= da — ja — vlknei, du sollst
— sie — rufen, 668), so antwortet er mir, als ich ihn fragte: da vikna
Ii Dänka? (soll ich D. rufen?); — küpU — Vlädo — mtne (= da
ktipü na Vlädo i mtne, du sollst Vlado und mir kaufen, 674),
sagt er mir, als er sieht, daß ich ausgehe; er will damit sagen,
ich soll ihm und VI. etwas kaufen, d. h. Bonbons; — dddeh (= da
dadfs, du sollst geben, 688), antwortet er mir, als ich ihn frage:
doli da ti dam tovd? (soll ich dir dies geben?); — dfnnet, müe
U tox [=da — me — dignes da vidja, mirlse Ii toxi, du sollst mich
aufheben, damit ich sehe, ob dieser, nämlich Zitronenstrauch,
riecht, 703); — ich sagte ihm: ich habe Danka gerufen, worauf
er mir entgegnet: ne si vtkal {du hast — sie — nicht gerufen),
und als ich ihn hernach fragte: da ja vikna Ii? (soll ich sie rufen?),
antwortet er: -vikai (= da ja vikneS, du sollst sie rufen, 714); —
Vädo ntsei leb (= % na Vlädo da donesM c)dd>, auch dem VI.
sollst du Brot bringen, 752); — h'qriS (= da xachhipU, du sollst
zudecken, 770); — cödnct toja toi, ax toj (— ti da sddnes" na töja
stol, ax wi töja, du sollst dich auf diesen Stuhl setzen, ich auf
jenen, 778) ; — bUcet (= da — me — säblcc&, du sollst mich aus-
ziehen). — Und auch mit der Partikel da, besonders später: da
vä'zei (= da värzeS, du sollst binden, 766); — pah da küpü növi
sucho-glöxdeta (— novo sücho gröxde, wieder sollst du neue Rosinen
kaufen, 901).
Die dritte Person dieses indirekten Imperativs kommt vor nur
im Ausdruck: deede (= da jadd, er soll essen, 665). — Und im
Plural: bUrat (=da me oblecät, man soll mich anziehen, bulgarisch
im Plural, 777). — Ebenso endlich auch in der ersten Pluralis:
äma böni tarn vidim, pak dödem (— — da idem — da vtdim ima
Ii bonböni tarn, i pak Ste dojdem, — gehen wir — sehen wir, gibt
es dort Bonbons, und wieder werden wir kommen, 706); — * dväta
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I. A. Gheorgov,
(= dvdmata) da vidim (beide sollen wir sehen, laßt uns beide
sehen, 875).
Wie man aus dem frühen Gebrauch des Imperativs, und zwar
besonders in seiner indirekten Form, sieht, ist die unmittelbare
Zukunft bei diesem Kinde als eine der ersten Zeitformen da. So
sagt das Kind am 621. Tage: Up und: ax Up in der Bedeutung
von »ich will springen« (= iskam da ripna, ax — ); — mise
(= iskam da mirUa, daj da — , ich will riechen, gib ich soll
riechen, 631); — da Warn (= da rfdja, daj da — , iskam da — ,
ich soll sehen, gib ich soll sehen, ich will — , 637); — daj detinam
(= daj da — te — celnna, gib ich soll — dich — küssen, 641): —
dam (= &te — go — dam, ich werde es geben, 652), usw.
Ebenso früh ist selbstverständlich auch das Präsens: isk°m
(= iskam, ich will, gegen den 620. Tag, ebenso 626), antwortet
er, wenn ich ihn frage, ob er etwas will; — ne ish'm (ich will
nicht, 624), antwortet er, als ihn seine Großmutter fragt, ob er
bei ihr bleiben will; — ncniam {— ntmani, ich habe nicht, 625 ,
antwortet er, als ich ihn frage, ob er Sand auf seinem Kopfe
habe; — ne dam, ne dam (= ne s*ta, ich will nicht, 631): — da
iskam (= vodd iskam, Wasser will ich, 633); — biUam (= püsa,
ich rauche, 637); — mozam (= möga, ich kann, 681); jedoch ge-
braucht er denselben Ausdruck auch im verneinenden Sinne fllr:
ne möga; — mit demselben Worte, dessen Bedeutung er also voll-
kommen gut inne hat, antwortet er mir am 702. Tage, als ich ihn
fragte: ti ne xnue$ da ietti? (du weißt nicht zu lesen? wie im
Französischen: tu ne sais pas lire); er antwortet mir nicht: xnam
(je sais, ich weiß), wie man erwarten sollte, sondern ganz uner-
wartet und ungewöhnlich: mozam (ich kann); — er hat sich schon
bald auch die schwierigeren Präsensformen angeeignet, wie das
vizdam (ich sehe) zeigt, welches er am 749. Tage gebraucht.
Die klar ausgedrückte dritte Person des Präsens ist ebenso
früh da wie die erste, ja sogar noch früher, wenn man einige
unpersönliche Verbformen hinzunimmt; so das mö$e am 587. Tage
(siehe oben S. 341); — tiga {= stiga, es genügt, il suffit, 616),
sagt er, als man es badet und es ihm schon genug erscheint, so
daß es herausgenommen werden will; ebenso am 631. Tage; —
Mi, vli (= vali, es regnet, 619); — bli (= boli, es schmerzt, 623); —
boli (638); — boli me (es schmerzt mich, 711); — nhna nih-to (es
gibt nichts, 637) ; — - ntma mäska (= mtl-ka, es gibt keinen Bären,
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637) ; — n6ma Lddo (= n4ma mtsto xa Vlddo, es gibt nicht — Platz
für — Vlado, 668), sagt er, indem er die beiden Plätze anf einem
Stühlchen einnimmt; — tüka ima (hier gibt es, 672); — möze?
(= möze Ii? kann man? darf man? bulgarisch unpersönlich, 675); —
ntnia — [xa) — Übe 'cc (—jajct, es gibt kein Ei — für — dich,
684) ; — ntma {= n6ma da ide, ne biva da ide, wird nicht gehen,
darf nicht gehen: bulgarisch mit dem unpersönlichen >n^wa* [>es
gibt nicht«, »es darf nicht«], 688), so antwortet er, wenn wir ihm
sagen, daß Danka ins Dorf gehen wird; — ntma gi piijkite (die
Truthuhner sind nicht da, bulgarisch unpersönlich), nema go kopceto
(der Knopf ist nicht da), 706; — äma böni tarn nfdim, pak dödem
(= da fdem da ridim, ima Ii tarn boiiböjü, i pak Ste döjdem, gehen
wir sehen, ob es dort Bonbons gibt, und wieder werden wir kommen,
706): — pie mi se und bloß: pfe mi (ich will trinken, bulgarisch:
es trinkt sich mir, 712, 782) ; — 'cfe (= jade) mi se (ich will essen,
bulgarisch: es ißt sich mir, 712, 737, 782); — kal ima van (Schmutz
gibt es draußen, 779): — ndma kon (=konj)f ima sdmo ddtin
(= soldätin, es gibt kein Pferd, es gibt nur einen Soldaten, 780) : —
pi (= spi) mi se (ich bin schläfrig, bulgarisch: es schläft sich mir,
es schläfert mich, 785); — ddska me (= drdska, drästi me, es
juckt mich, 755); — sehr selten wird das unpersönliche Verbum
>es gibt« (ima) ausgelassen: tüka vätie {= vdtre) — [ima) — püön
(=pirön, hier drinnen — gibt es — einen Nagel, 762). — In
wirklich dritter Person: kdci {== kdcva sc, er steigt, 633); — dtnecto
pdce (= bebenceto place, das Bebchen weint, 645); — pldöe bebt
(weint das Bebchen, 675): — pi (= spi, er schläft, 646 und früher) ; —
knigata mfße (= mirOsc, das Buch riecht, 669) ; — pillie (= prülca,
das steht gut, 669), sagt er, indem er sich ein neues Mützchen
auflegt; — ddli (= uddri, er schlug, 669), kommt er klagen, wenn
jemand ihn geschlagen hat; — mUko — btnce (= bebenceto) — iska
(Milch das Bebchen will, 677); — 'de (= jade', er ißt, 782); — toj
leb n'tcTja, tad (= toja chleb ne trtiba, tvdrd — (e), dieses Brot
ist nicht nötig, hart — hn es, 782); — ne möze da se ixvddi,
xakovdno e (es kann nicht herausgenommen werden, es ist fest-
genagelt, 901).
Die nächste Präsensform ist die der ersten Person Pluralis,
welche merkwürdigerweise vor der zweiten Person Singularis auf-
tritt; das hängt sicherlich mit der Willensnatur des Kindes zusammen,
welche immer die erste Person hervorzukehren liebt und hier also
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I. A. Gheorgov,
auch die erste Pluralis vor der zweiten Singularis erscheinen läßt *).
Am 654. Tage gebraucht das Kind obicame ftlr obicame se (wir lieben
uns); dann sagt es am 664. Tage: nernam leb (= chleb, ich habe
nicht Brot), welches aber höchstwahrscheinlich auch ntmame chleb
(wir haben nicht Brot) bedeutete; — deme (=jademy wir essen,
682], antwortet mir der Knabe, als ich ihn gefragt hatte: was tut
ihr hier? — fskame caj (wir wollen Tee, 684); — dma böni tarn
vldim, pak dödem (= da t4dim, ima Ii bonböni tarn, i pak sie
döjdem, wir wollen sehen, ob es dort Bonbons gibt, und dann
werden wir wieder kommen, 706); — mdta (= na zemjdta) cükame,
ne na tol-övete (= stolövcte, wir schlagen auf den Boden, nicht auf
die Stühle, 706), so antwortet er mir, als ich ihm bemerkt hatte,
daß sie nicht schlagen, pochen, d. h. Nägel nicht einschlagen sollen,
und er sich erinnerte, daß ich ihnen oft vorher gesagt hatte, sie
dtirfen nicht Nägel in die Stühle einschlagen ; — ptem (wir singen,
758); — nie iskame (wir verlangen, 765); — vtäti (= svföti) pdlim
(wir zünden Kerzen an, 800): — södime (= raxciiöidame sc, wir
gehen spazieren, nous nous promenons, 801) ; — Vddo xdavee, pösle
Uxnem vldim kücenca (= kogdto Vlddo ozdravfo, ite ixUxem pösle
da vidim htfencata, wenn VI. gesund werden wird, werden wir
dann ausgehen, um die Hündchen zu sehen, 818); — katö idem
na Dagattvci [= Dragattvci), ite xtmem pajtön (wenn wir nach Dr.
fahren, werden wir einen Wagen nehmen, 901): — nie ne item da
piem tnteko (wir wollen nicht Milch trinken, 921).
Um dieselbe Zeit, etwas später, wird die zweite Person
Singularis gebraucht, und ebensooft: rikai (= da ja viknes, du
sollst sie rufen, 668), sagt er mir, als ich ihn gefragt hatte: soll
ich die Danka rufen? — küpU — V'ädo — mene (= da küpü na
Vludo i mhie, du sollst dem VI. und mir kaufen — etwas, näm-
lich Bonbons, 674), sagt er mir, als er sieht, daß ich ausgehe: —
Plödiv ti — ttde — mfne — könie — küpü (= v Plovdiv ti otlde da
7ni kupis könreto, nach Philippopel fuhrst du, um mir das Pferdchen
zu kaufen, 694), antwortet er mir, als ich ihn gefragt hatte, woher
ich ihm das Pferdchen gebracht hatte ; — Vddo bicah? (=obicas — Ii —
Vlddo? liebst du VI. ? 700); — ptM? (— Ii? schreibst du? 705): —
1; Bei meinem ersten Sohne wird umgekehrt die zweite Person Singu-
laris vor der ersten Pluralis gebraucht (zweite Person Singularis vom Präsens
am 710. Tage, vom Futurum am 726. Tage, dagegen erste Person Pluralis
vom Präsens am 735. Tage, vom Futurum am 802. Tage).
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 349
ito 'des (= jode's)? (was issest du? 731); — UnemaspaU (= pari,
du hast nicht Geld, 740); — ne, pldbek mnögo (nein, du weinst
viel, 742), sagt er zu seinem Bruder im Sinne von: dir wird man
nichts geben, denn du weinst fortwährend; — Vto (== xa&tö) se
obücah? (warum ziehst du dich an? 748); — Uies [=läxei, du
lögst, 748), sagt er plötzlich zu seinem Bruder, als dieser ihm sagt,
er solle ihm den Hahn — ein Spielzeug — geben, den er bald
wieder zurückgeben werde; er hat das Wort wahrscheinlich von
den Bedienten aufgeschnappt; — ne merieka biöai {= eblcah, nicht
mich liebst du, 758); — ne tska* go, lax (= i ax) ne iskam (du
willst es nicht, auch ich will es nicht, 765) ; — göle [=■ göre) tiUim
(= ite go türim) da ne namtlis (= nameriS) ti (oben werden wir
es legen, damit du es nicht findest, 876).
Später kommt die dritte Person des Plurals zum Gebrauch,
das erstemal am 681. Tage: dpat {— chdpjat, sie beißen); — müH
tiika läxat (= müki ixldxjat ot tüka, Mäuse kommen von hier
heraus, 706); — papd} pddat gdstite (Papa, es fallen die Hosen,
756); — w' mözat takd kdsat (= ne mögat iakd da se otkäsnat,
sie können so nicht abgerissen werden, nämlich die Knöpfe, d. h.
er kann sie nicht so abreißen, 766); — What (= da tue (Memt,
man soll mich anziehen, bulgarisch mit der dritten Person Pluralis.
777); — covtcite Imai Mpki, a ax nemam (die Menschen, die Leute
haben Hüte, und ich habe nicht, 875); — skldcat (= skärcaf)
obü&tata (es knistern die Schuhe, 878); — tiVcdt (= tärcat, sie
laufen, 898). — In der ersten Zeit nach dem Auftreten der dritten
Person Pluralis wird einmal auch die dritte Person des Singulars
falsch statt der des Plurals gebraucht, und zwar in dem Satze:
boli (statt : boljdt) me 'Hte (= oate, es schmerzen mich die Augen) ;
vielleicht wollte er aber auch sagen: boli me okoto (es schmerzt
mich das Auge), in welchem Falle der Fehler im Gebrauche des
Plurals des Substantivs statt des Singulars liegen würde.
Die zweite Person des Plurals ist nur ein einziges Mal
notiert worden, und zwar im indirekten Imperativ: dtäete [= da
otrtzete, ihr sollt absehneiden, 766).
Wie ich ausführlich in meiner Abhandlung über »Die ersten
Anfänge des sprachlichen Ausdrucks ftir das Selbstbewußtsein bei
Kindern« (S. 364—366) berichtet habe, gebraucht mein zweiter Sohn
in der ersten Person des Singulars im Präsens und im Futur fast
immer die Endung am, jam, während es im Bulgarischen in
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350
I. A. Gheorgov,
diesen Zeitformen vier Endungen gibt: a, ja, am, jam; auf die
wahrscheinlichen Gründe für dieses Ausgleichen der verschiedenen
Endungen auf am, jam habe ich in meiner obigen Schrift hin-
gewiesen; hier seien nur einige Beispiele angeführt: nesi (= danest)
caj, iskam pljam [= da pfja, bringe Tee, ich will trinken, 737): —
papd, daj vi dam {daj da vldja, Papa, gib ich soll sehen, gib damit
ich sehe, 738); — ne mözam (= möga, ich kann nicht, 738): —
av mözam kdcam (= ax möga da xakacd, ich kann aufhängen,
757); — ax, böjam {— ax sc bojd, ich fürchte mich, 765); —
plach eis ta rn (= prachd astja, den Staub reinige ich, d. h. wische
ihn ab, 802); — dte stdnam (= stdna) da,si napldvam (= na-
prdrja, ich werde aufstehen, um mir zu machen, 893); — Ste
xaliipam (= xachlüpja, ich werde zudecken, 900); — xemi go-
ICmija kdmäk, ce ste go fdHa (= chvdrlja) i ste uddlarn (= uddrja)
Vlddo (nimm den großen Stein, denn ich werde ihn werfen und
werde VI. treffen, 918); hier ist schon beim Verbum chvdrlja die
richtige Endung auf a — nur nicht jotiert — , während beim Verbum
uddrja noch das am steht; — iskam da go püsnam (= piisna, ich
will es loslassen, freilassen, 921); — da go xakljulam (= xakljuca,
damit ich es einschließe, ich soll es einschließen, 939); — * ax katö
bddam (= bdda) goUm, sfe si küpam [— kupja) ednä xälttcka i
ntma da ti ja dam (wenn ich auch groß sein werde, werde ich
mir eine goldene Münze kaufen und werde sie dir nicht geben,
968). — Aus diesen Beispielen sieht man, daß diese fehlerhafte
Form der ersten Person bis gegen Ende der Beobachtungen, die
bei diesem Kinde am 986. Tage aufhören, gebraucht wird. Nur
hin und wieder kommt spät die richtige Form vor: katö stdna
goUm, ste tmam kn/zka i ax (wenn ich groß sein werde, werde
ich auch ein Büchlein haben, 921); — ax ste otlupa (= otcldüpja,
ich werde aufdecken, 947): — ax katö sddna u bdnjata, ti mözes
da si /des u stohvdja (wenn ich mich in die Wanne setzen werde,
kannst du in — das — Speisezimmer gehen, 971).
Hier wollen wir speziell auch den Gebrauch der verschiedenen
Personen des Verbums sein im Präsens verfolgen. Natürlich
wird dieses Verbum anfangs ausgelassen; jedoch geschieht dies
nicht bloß anfangs, sondern auch viel später, ja sogar bis in die
letzten Tage der Aufzeichnungen, nachdem die verschiedenen Per-
sonen schon längst gebraucht werden. So sagt das Kind 1) ohne
sam (bin): w los, ne fa {= ?ie sdm los, ne sdm fa; — [ich bin] —
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklang der Kindersprache. 351
nicht schlimm, schlecht, nicht pfui, 670), wenn wir ihm sagen: da
bist schlecht, du bist pfui; — ax mäldk, 'ga viz golem ax (= ax
sam nuüdk, segd, viz, sämgottm ax, ich bin klein, jetzt, schau, bin ich
groß, 779); diese von ihm beliebte Phrase sagt er, indem er beim
Sprechen derselben folgendes ausführt: während des ersten Teiles
hockt er neben einem Stuhl nieder, um zu zeigen, wie er klein ist,
dann steigt er schnell auf den Stuhl und spricht dabei den zweiten
Teil der Phrase; — fa ax? (= fa Ii sam ax? bin ich pfui? 779); —
2) ohne si (bist): ti loh, ti fa (= ti si tos, ti si fa, du bist schlecht,
du bist pfui, 669); — später ist das Auslassen des Verbums bist
als Hilfsverbum im Perfektum oft vorgekommen: ti pUel (= ti si
pisal, du hast geschrieben; bulgarisch werden alle Verba mit dem
Hilfsverbum sein konjugiert; 778); — ti tdnal goUm (= ti si
stdnal — , du bist groß geworden, 779) ; — ti Uzal (— ti si rSxal,
du hast geschnitten, 779); — 3) ohne c (ist), welches sehr oft
ausgelassen wird: ddta fa? (= voddta fa Ii e? ist das Wasser pfui?
633); — papd cdea (= papd e cdca, Papa ist lieb, schön»), 669); —
moj golem {= möjat e golem, der meinige, nämlich Nagel, ist groß,
670); — JLddo de? (= Vlddo de e? wo ist VI.? 765), so fragt er,
als er beim Erwachen sieht, daß VI. nicht im Zimmer ist; —
gole'mo de? (= de e goMmoto? wo ist das große? 683); — papd
väk (= — e bovik, der Papa ist — ein — Mensch, 688) ; — pdpe,
tovd mene? (= papd, tovd xa m&ne Ii e? Papa, ist das für mich?
693); — de dinat? (= de e edinijai? wo ist der eine? 694); —
Carito mökäl (= Stnco e mökär, S. ist naß, 706) ; — din lap kasan
(= edin cordp e skäsan, ein Strumpf ist zerrissen, 712); — de lÜja?
{= de e läja? wo ist die Tante? 715); — papd, sto — (<?) — tovd
tarn? (Papa, was ist das dort? 737); —papd, de konj? (= papd,
de e konjdt? Papa, wo ist das Pferd? 738); - papd, de bei klak?
(=papd} de e bäijat krak? Papa, wo ist der weiße Fuß — näm-
lich des Pferdchens? 744); — de pop? (= de e pöpät? wo ist der
Priester? 746); — de — (e) — golemija konj? (wo ist das große
Pferd? 762); — növa tdja ntika? tdja tdla, de e növata? (= növa
Ii e tdja knizka? tdja e stdra, de e novata? ist dieses Buch neu?
das ist alt, wo ist das neue ? 764) ; interessant ist es hier, daß in der
letzten Frage das e gebraucht wird, während es in den zwei vorher-
gehenden Sätzchen derselben Phrase fehlt ; — papd, möe — [Ii e) —
1) »Die ersten Anfänge usw.« S. 376.
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I. A. Gheorgov,
tovd ? (Papa, ist das mein ? 764) ; — papd, — (na) — Vddo — (ti e) —
töja leb (= chleb)? (Papa, ist dieses Brot des Vlado? est-ä ä Vi?
789); — ti ne si bölen, Vddo sdmo — (c) — bölen (du bist nicht
krank, VI. ist nur krank, 789); das Verbum in der zweiten Person
ist hier gebraucht, wahrend es in der dritten Person verschwiegen
wird; — papd — (e) — rnoj, mamd — (e na) — teoeka (Papa ist
mein, Mama ist dein, maman est ä toi, 789); — vdjo töplo?
(= v stolovdjata töplo Ii e? (ist im Speisezimmer warm? 799); —
Dänka — (e) — glddna (D. ist hungrig, 811); — 4) ohne sä (sind,
dritte Person Plnralis; die erste Person Pluralis kommt überhaupt
äußerst selten, die zweite Person gar nicht vor): tija — (sä %a) —
mfaie (diese sind für mich, diese sind mein, 700); — papd, de —
(sä) — növite büiü (= obiMta)? (Papa, wo sind die neuen Schuhe?
738); — jxipd, de — (sä) — biÜHte (= obiiJItata)? (Papa, wo sind
die Schuhe? 738); — tija — (sä) — novite (das sind die neuen,
740); — de 'ntäi? (= de sä danMitc? wo sind die Spitzen?
742): — de tfbc novi biUti? (= de sä tvöite rujvi obuita? wo sind
deine neuen Schuhe? 742); — de limited (= de sä kütmite? wo
sind die Teppiche? 746): — de nMte? (= de sä fcn&rite? wo sind
die Laternen? 751); — mäj tija? (= möi Ii sä tfja? sind das meine,
nämlich Schuhe? 760). — Und mit dem Verbum: 1) säm (bin!:
ne sam (= säm) fa (ich bin nicht pfui, 683), so antwortet er,
als ich ihm sagte: ti si los' (du bist schlimm, schlecht): —
ne säm, covtk (bin nicht, Mensch, 705), so sagt er nämlich, als ihm
sein Bruder sagte: du bist eine Schildkröte; — glddän (■= glrfden)
säm, tskam Mko (■= mttko, ich bin hungrig, ich will Milch, 706) : —
ne säm ax (ich bin nicht, 740), antwortet er, als wir ihm sagen:
du bist ein Käfer: — vtdü-, kolddv säm ax? (siehst du, wie groß
ich bin? 751); — ax ne säm lob (ich bin nicht schlecht, 779): —
ax säm üpoten (ich bin erschwitzt, 905): — 2) si (bist): de si?
(wo bist du? 705); — ti si m'dka (= kostenürka, du bist — eine —
Schildkröte, 705), antwortet er seinem Bruder, als dieser ihm das-
selbe sagt; — ti si bämbal (= brumbar, du bist — ein — Käfer,
740); — ti si chübav (= chubava, du bist schön, d. h. gut, 767),
sagt er zu seiner Mutter, nachdem diese ihm gesagt hatte: ax ne
säm 16m (ich bin nicht schlecht) : — ti ne si bölen, Vlddo sdtjio —
(e) — bölen (du bist nicht krank, VI. — ist — nur krank, 789); —
ti si dal/ko, ne mözes da go zcincs (du bist weit, kannst es nicht
nehmen, 821); — 3) e (ist): ne # goUmo (ist nicht groß, 675);
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 353
wahrscheinlich ist die Rede von Tranben; — ne e kon? (= ne e
Ii konj? ist es nicht — ein — Pferd? 681): — ne e mdlko — go-
Itmo (es ist nicht klein, groß — ist es, 682), so entgegnet er mir,
als ich ihm gesagt hatte: das ist klein; — ne e tox (ist nicht dieser,
702); — tüka e Lov (= Stambolov, hier ist St., nämlich auf dem Bilde,
706, 710, 744); — de e köSkata (= koköikata)? (wo ist die Henne?
706); — ko {= kakvOy koj) e tovä? (was, wer ist das? 708): — de
e tovä püam («= xa da piJa)? (wo ist dies, nm zn schreiben?
nämlich der Bleistift, 711): — tovä ne e mdläk (das ist nicht klein,
nämlich dieser Finger, 744); — täja e; ne e tri ja (diese ist es;
diese ist es nicht, 744); — de e diebät? (wo ist die Tasche?
746); — de e covfkät? (wo ist der Mensch? 746); — ne c hi (ist
nicht schlecht, 749), entgegnet er, als man ihm sagt: papd e loi
(Papa ist schlimm): — ima tüka lämpa, ne e pdlena (hier gibt
es — eine — Lampe, — aber sie — ist nicht angezündet, 818); —
4) sme (sind, erste Person Pluralis): ne stmt (wir sind, d. h.
haben nicht, 702), antwortet er, als man ihn fragt: habt ihr Milch
getrunken? bulgarisch mit dem Hilfsverbum sein1); — nie teba
(= treba) da se da' Hm {= därzlm), ce sme mdlki (wir müssen uns
halten, nämlich bei der Hand, denn wir sind klein, 986); —
5) sä (sind, dritte Person Pluralis): ne sa (sind nicht, 686),
entgegnet er, als ich ihm gesagt hatte : deine Hände sind pfui ; —
de sä mdllcite? (wo sind die kleinen? nämlich Steinchen, 742); —
tüka sä mdlkite (hier sind die kleinen, 743); — mällio mi sä
(wenig sind mir — das, 744); — mdlki sä tlja (klein sind diese,
750): — tüka sa boni {— bonböni, hier sind Bonbons, 768); —
mtneka ttja sa (= tovä sä moi oder xa mtm, da sind meine oder
ftir mich, 799); — Übe tti sä? {= xa Übe Ii sä tija? oder: ttja
tv&i Ii sä? sind das für dich? oder: Bind das deine? 802); —
mdlki sa Ii tlja? (sind diese klein? 846); — Vädovite goltnii sä
(die von VI. sind groß, 850).
Die Zeitformen des Futurums und des Aorists kommen so
ziemlich zur selben Zeit zum Ausdruck, allerdings etwas früher
das Futurum, dafür aber sprachlich ganz richtig sehr spät, während
der Aorist in ziemlich richtiger sprachlicher Form schon früh auf-
tritt. Das Futurum wird nämlich anfangs ohne das Hilfsverbum
ite (werden) ausgedrückt, und diese Ausdrucksweise erhält sich
1) »Die ersten Aniänge usw.« S. 354, Fnßnote.
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354
I. A. Gheorgov,
in allen Personen sehr lange; so 1) in der ersten Person: Up {= ite
ripna, ich werde springen, 621); — dam (= ite go dam, ich werde
es geben, 652): — ax dam (= ax ite go dam, ich werde es geben,
683); — ax dam palt Vänka (= ax ite dam pari na Ivdnka, ich
werde Geld der Ivanka geben, 789); — ax dam (= ite dam)
sicläte dnes da kupii m&o (ich werde alles, nämlich Geld, heute
geben, damit du Fleisch kaufst, 874); — tidjam (= ite go turja,
ich werde es hinlegen, 670); — tdvam (= ite go ostdyja, ich werde
es lassen, hinstellen, 674); — kdzam (= ite pokäza, ich werde
zeigen, 706 , 765); — ax mtlam (= ite nanUrja) pdticite (ich
werde die Enten finden, 706); — lax milam kdnce (= » ax ite
namerja kämäce, auch ich werde ein Steinchen finden, 742); —
knpam böni [—ite kupja bonböniy ich werde Bonbons kaufen,
706), so antwortet er mir, als ich ihn frage, was er mit dem
Gelde tun will; — tdka kt/am, (= ti'tka sie skrfja, hier werde
ich verstecken, 712); — pdk bäkam (= ite bärkam) — (r) —
nösdt (wieder werde ich — dir in — die Nase — den Finger —
stecken, 749); — pak kdsam (= ite skäsam) kvpce (wieder werde
ich — den — Knopf abreißen, 753); — ickite {= s'wkite) köpdeta
kdsam (— ite skäsam), 'n&nai (= xa da nfmai, alle Knöpfe
werde ich abreißen, damit du nicht hast, 762); — kogd tdnam
(= stdna) gotfm, i ttam (= ite cetdJ wenn ich groß werde, werde
ich lesen, 779): — ax bflam (= ax ite gi säberd, ich werde sie
sammeln, 782); — ax stpam (= ite sfpja, ich werde eingießen,
782); — öste mdlko ptäam (= ite pfia), pösle ite dam (noch ein
wenig werde ich schreiben, dann werde ich geben, 795); hier ist
im zweiten Satze das Hilfsverbum da, während es im ersten
fehlt; — lax ga tdnam golftn, gdva ptiam dnes (= * ax kogdto
stdna goUm, togdva ite plia dnes} wenn ich auch groß werde,
werde ich dann heute schreiben, 807); — ax ix4dam {— ax ite te
ixjdm, ich werde dich aufessen, 799); — tdnam goUmy dam te
(— katö stdna gottm, ite jam kjuftt, wenn ich groß werde, werde
ich Kotelette essen, 803); — ax bltcam i~ ite obleöd) goUmile
buiti (= obiUta, ich werde die großen Schuhe anziehen, 808): —
amt ax xtmam {= am/ ax ite go xSrna, aber ich werde es nehmen,
882); — 2) in der zweiten Person: ti — ddvai (= ite ddvai) —
mtne (du wirst mir geben, nämlich die Suppe beim Essen, 683); —
pak da des gUdam? (— pak ite mi go dadts da go gUdam? du wirst
es mir wieder geben, damit ich es schaue? 710); — ti lCx"ei {— i
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 35f)
U Ii ite ixUxeh? wirst auch du ausgehen? 743); — ti Uxeh (= ite
ixUxei) vdn (du wirst hinausgehen, 758); — din püön dxtmei
(= edin pirön ite xtmei, einen Nagel wirst du nehmen, 746); —
tinei (= ste nastlnei, du wirst dich erkälten, 765); — ti tarn
dödes (= ite dfijdei)? (du wirst dorthin kommen? 795); — Ü »AI,
pösle tarn idei (= ti jadßl, posle tarn ite idei, du issest, dann wirst
du dorthin — ins andere Zimmer — gehen, 795); — 3) in der
dritten Person: bie (= ite bie) Übe (wird dich schlagen, 700); —
Vddo bie (= ste bie) Hco (den Vlado wird der Onkel schlagen,
700); — rC tarn {— m sta), mene bie (= ite bie) tarn ci6o (ich will
nicht, dort wird mich der Onkel schlagen, 700); — gübi {= ite
se xagübi) töja püön (wird sich verlieren, wird verloren gehen dieser
Nagel, 765); — pah fdne pi (= pak ite xachvdne da spi = pak
sie xaspi, wird wieder anfangen zu schlafen = wird wieder ein-
schlafen, 776); — Ddnka Uxne {—ite ixlexe, D. wird ausgehen,
778); — Vddo kdpe (= ste se käpe), pösle ax (VI. wird baden —
se baignera — , dann ich, 782); — pak gdsne {—ite ixgdsne,
wieder wird es auslöschen, 806); — vice papd hipi, segd ma
(= mamd) küpi (= ite küpi (schon hat Papa gekauft, jetzt wird
Mama kaufen, 809); — segd übavo (= chübavo) Ii e Urne {= vr6tne)?
segd tdne (== Ite stdm) Mio Urne {= vr&me, ist jetzt schönes
Wetter? jetzt wird schlechtes Wetter werden, 858); — tdnei
{= kogdto stdnef) pö-gotem, i tja taue (= ite itdne) pö-golema (wenn
du größer wirst, wird sie — nämlich das Häuschen, daa er baut, bulg.
ein Femininum — auch größer werden, 882); — 4) in der ersten
Person Pluralis: dma böni tarn vidim, pak dödem (= ima Ii bonböni
tarn da vidim, pak ite d&jdem, ob es dort Bonbons gibt, wollen wir
sehen, wieder werden wir kommen, 706); — nie pimnteka (= nie
stepiem dneska, wir werden heute — Schokolade — trinken, 749) ; —
köleme, jddeme (= ite — go — xakölem i hte — go — ixjadem,
wir werden — es — schlachten und werden — es — aufessen,
801); — kupime citi [= ste küpim biskviti, wir werden Biskuits
kaufen, 802) ; — Vddo xdavfc, pösle Uxnem vidim kücenca (= kogdto
VI. oxdravte, pösle ite ixUxem da vidim kiwencata, wenn VI. genesen
wird, werden wir dann ausgehen, um die Hündchen zu sehen,
818); — segd ideme {—ste idem) daltee (jetzt werden wir weit
gehen, 850); — göle tülim da ne namtlii ti [—göre ite —
go — tüHm, xa da ne — go — nameris ti, wir werden — es —
oben hinaufstellen, damit du — es — nicht findest, 876); —
Arclür für Piyohologi*. XL 24
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366
I. A. Gheorgov,
katö idem na BagaUvd (= Dr — ), ite xemem pajtön (wenn wir
nach Dr. fahren werden, werden wir einen Wagen nehmen, 901);
der erste Satz ist eigentlich auch so nicht unrichtig — im Bul-
garischen in diesem Falle auch ohne das Hilfsverbum gebräuchlich,
oder mit dem Hilfsverbum: kogdto ite idem . . .; im Hauptsatz ist
schon das Hilfsverbum angewandt; — 6) in der zweiten Person
Pluralis nur einmal, was auch erklärlich ist, da diese Person über-
hanpt sehr selten gebraucht wird1): de tülite (= de ite turite)
pdltoto? (wohin werdet ihr das Paletot legen? 749). — Das Hilfs-
verbum ite (werden) kommt zum erstenmal ausnahmsweise schon
am 767. Tage in der dritten Person vor in der Phrase: döftokU
[-= döktorät) ite döde da cUli (— ceri) Vddo (der Arzt wird kommen,
um VI. zu kurieren), jedoch erscheint sonst regelrecht nnd öfter
dieses Vernum erst nach dem 890. Tag und wird von da an
immer gebraucht, und zwar erscheint es zuerst in der ersten, dann
in der zweiten Person Singularis und zuletzt in der ersten Person
Pluralis, während die Übrigen Personen gar nicht vorkommen (also
nicht nur nicht in der zweiten und dritten Person Pluralis — in
der letzten wird Überhaupt das Futurum gar nicht gebraucht — ,
sondern merkwürdigerweise auch nicht in der dritten Person Singu-
laris; das Hilfsverbum hat übrigens dieselbe Form für alle Personen
und für beide Zahlen: ite): 1) in der ersten Person Singularis:
ite stdnam (= stäna) da si napldvam (= naprävja, ich werde auf-
stehen, um mir zu machen, 893); — ite slexam (= slexa, ich
werde herunterkommen, heruntersteigen, 898); — ite xalupam
(— xachlüpja, ich werde zudecken, 900) ; — xerni gol/mija kdmäk,
ce ite go fäyla (= chvärlja) i ite uddlam (= udärja) Vlädo (nimm
den großen Stein, denn ich werde ihn werfen und werde VI. treffen,
918); — katö stdna*) gottm, ite Imam knlzka iax (wenn ich groß
werde, werde ich auch ein Büchlein haben, 921); — axsteotiupa
(= otchlupja, ich werde aufdecken, 947); — t ax katö bddam*)
(= bdda) böten, katö xtmam*) (= zfima) edln pät caj, sie oUdam
(= otida) na Dagaldvei (= Dr—, wenn ich auch krank Bein
werde, wenn ich einmal Tee nehmen werde — nämlich um
gesund zu werden — werde ich nach Dr. fahren, 961): —
ax katö bädam Jj [= bäda) goUm , ite si küpam (— hupja) ednd
1) Siehe auch oben S. 349.
2) Nach kalo, kogaio (wenn, — si, quand) steht gewöhnlich im Bulgarischen
das Präsens, nicht das Futurum; der Knabe setzt also richtig das Präsens.
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindereprache. 357
xdlticka i nema da ti ja dam (wenn ich groß Bein werde,
werde ich mir eine goldene Münze kaufen und werde sie dir nicht
geben, 968); — 2) in der zweiten Person : togdva ste ixedöS (dann
wirst dn aufessen, 898); — na Vlädo xastö Ste dad&h xdchal
(= xachar)? (warum wirst du dem VL Zucker geben? 961); —
3) in der ersten Person Pluralis: katö Idem1) na Dagalevci (= Dr—,
Ste xtmem pajtön (wenn wir nach Dr. fahren werden, werden wir
einen Wagen nehmen, 901); — nie Ste ixlexem (wir werden aus-
gehen, 915); — Ste xaköleme Mbe (== Ste te xakölem, wir werden
dich schlachten, 921); — takd Ste gUdame, kok nacdzduvat mWcoto,
so werden wir sehen, wie man die Milch durchseiht, 947).
Die verneinende Form des Futurums wird außer in der
gewöhnlichen Art mit ne Ste auch mit einer besonderen oft ge-
brauchten Form netna da (etwa: es gibt nicht zu) ausgedrückt.
Diese letztere Form, welche der Knabe ausschließlich gebraucht,
taucht schon am 672. Tage auf, jedoch in der ersten Zeit mit
Hinweglassen der Partikel da, welche erst mehr als 200 Tage
später auftaucht; die meisten Phrasen, wo diese Ausdrucksweise
gebraucht wird, sind in der ersten Person und sehr selten in der
dritten: nema — [da) — yläce (wird nicht weinen, 672); — nenia
pd"ne {— da pddne, wird nicht fallen , 672); — püe — nema —
gönam (— da gönja) i köSka (= koköSka) nema gönam {— da gönja,
Hühnchen werde ich nicht jagen und — die — Henne werde ich
nicht jagen, 680); — nema käsam (= da käsam, ich werde nicht
reißen, 680); —nemapiSam (— da ptta, ich werde nicht schreiben,
705) ; — nema dxemam (= da zema, ich werde nicht nehmen, 705,
790) ; — nema käsam (= da skäsam, ich werde nicht zerreißen,
706) ; — nema pak fälam (= da chvdrty'a, ich werde nicht wieder
werfen, 707) ; — nema pam (= da spja, ich werde nicht schlafen,
714); — n6ma dximam (= da ximam) küßte, ich werde nicht die
Eimer nehmen, 758) ; — nema pak sipam (= da izsipja, ich werde
nicht wieder ausschütten, 758); — mit da: Mzi (= drdx)ja ti da
ti pokdiam (= pokäza), nema da ja xernam (halte du sie —
nämlich das Buch, bulg. fem. — , damit ich dir zeige — nämlich
die Bilder — , ich werde sie nicht nehmen, 895); — ax katö
bädam (= bäda goton, Ste si kupam (= kupja) ednd xältäka i
n&na da ti ja dam (wenn ich groß sein werde, werde ich mir
1) Siehe Fußnote 2 auf voriger Seite.
24*
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I. A. Gheorgov,
eine goldene Münze kaufen and werde sie dir nicht geben, 968). —
Interessant ist endlich der alleinige Gebranch von nema ohne das
Verbnm in folgenden zwei Fällen: ich sage ihm, daß er fallen
wird, und er antwortet: nfma (etwa: ich werde nicht, 702); —
nie ite ixl/xem, a Senco ntma, ce düva vftäl (= dücha vttär, wir
werden ausgehen, aber S. wird nicht, denn es weht Wind, 915).
Wie gesagt, taucht um dieselbe Zeit mit dem Futurum auch
der Aorist, welcher natürlich besonders oft 1) in der ersten
Person gebraucht wird: das erstemal taucht diese Verbform in
einer merkwürdigen Weise auf: nämlich ich fragte die Bediente:
döjde U (H) vece? (bist du schon gekommen?), worauf der Knabe
antwortet: deck (= dajdoch, ich bin gekommen, 668); hier weiß
man eigentlich nicht, ob er in der ersten oder in der dritten Person
{döjde) antworten wollte; — uddU (= uddrich) se (ich habe mich
angeschlagen, bulg. Aorist, 673); — bltcech*) {— oWkoch sey ich
habe mich angezogen, 677, 760) ; — nesoch (= don/soch} ich habe
gebracht, 678), antwortet er, als ihn sein Bruder fragt: hast du
gebracht? ebenso am 712. Tage; — rrfsoch toi (= donesoch stol,
ich habe einen Stuhl gebracht, 764); — dddich {= dddoch, ich
habe gegeben, 679), sagt er, als wir ihm gesagt hatten, daß wir
ihn nicht lieben, weil er keine Suppe seinem Bruder gegeben: —
dddoch, 684: — ddddch (= dddoch, 758): — ax dddoch Vädo
(= na VI.) ctto (= iajctto, ich gab VI. das Ei, 861); — ax kdsach
(= sktisach, ich zerriß, 682) ; — Übe hdsach tuka köpce {— Übe ti
otkdsnach , dir habe ich hier einen Knopf abgerissen, 753) : —
deck (= indtch) piijkite (ich habe die Truthuhner gesehen, 682),
antwortet er, als ich ihn gefragt hatte: vidC Ii piijkite? (hast du
die Truthühner gesehen?); — ax vidtch Lov (= Stambotöv, ich
habe St. — auf dem Bilde — gesehen, 760) ; — ax tfdech (768) : —
ri/ito melich (= namcrich, ich habe etwas gefunden, 684): —
m/lich 'din kdrüc°t [nam/rich edin kdmdk, ich habe einen Stein
gefunden, 742); — tülkh (= türich, ich habe hingelegt, 700), antr
wortet er mir, als ich ihn gefragt hatte, ob er den Stein dorthin
gelegt hat; — tülach (= türich, ich habe hingelegt, 762); —jädech
{—jddoch, ich habe gegessen, 701), antwortet er mir, als ich ihn
fragte: jdde Ii? (hast du gegessen?); — dddch böni {= jddoch
bonb&ni, ich habe Bonbons gegessen, 733); — dx/dech bönce (= ti-
li »Die ersten Anfiinge usw.« S. 367.
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 359
jädoch bonbonce, ich habe ein Bonbonchen aufgegessen, 749) ; — dach
{=jädochtito: ixjädoch) und dxAdech (= ixjädoch, ich habe aufgegessen,
749); — tlja Vddo dti, ax dxtdoch (= Hja sä na VI. biskviti, ax ix-
jädoch (diese sind des VI. Biskuits, ich habe aufgegessen, nämlich die
meinigen, 762); — deck oder jach (= jädoch, ich habe gegessen,
782); — papä, dz, ax bütach Uxite {= bütnach zelcxäta, Papa,
schau her, ich habe die Eisenstangen umgestoßen, 703); — btttach
(= bütnacti, ich habe umgestoßen, 762); — pddnecJi {= pddnach,
ich bin gefallen, 705); — pddeck (— pddnach, 765); — ax poch
(= spack) pövece (ich schlief mehr, d. h. viel, 706); — ax pövece
spack (761); — ax poch (== spachf ich schlief, ich habe geschlafen,
779) ; — mich ax, ne ti (= ax se micti — sam — , ti ne me mi, ich
habe mich — selbst — gewaschen, du hast mich nicht gewaschen,
706); — cupich (= sciipicli) ax Ujka {= kutijkata, ich zerbrach
die Schachtel, 708); — vädich {=ixvädich, ich habe herausge-
nommen, 742) ; — tija vddicJi (— ixvädich, diese, nämlich Schuhe,
habe ich — aus dem Schrank — herausgenommen, 761); — lax
küsich (= i ax küsich oder: ktisnach, ich habe auch gekostet,
744), sagt er, nachdem er vorher gesagt hatte: auch ich will
kosten — von der Milch — , und dann wirklich dies getan hatte; —
küsich (748); — (d)xech (= xech, ich nahm, 745): — tönte {= sickite)
köpceta xech (alle Knöpfe habe ich genommen, 751); — xAnach
mälko (ich nahm ein wenig, 758), antwortet er, nachdem ich ihn
gefragt hatte: ti ne xe Ii ot 'sokolddata? (hast du nicht von der
Schokolade genommen?); — ax dxemach gläta (= ax xech igldtay
ich habe die Nadel genommen, 763) ; — tovä dSto go xemäch (das
was ich genommen habe, 929); — kich (=skrichy ich habe ver-
steckt, 746); — bakach (brdknach, ich habe — mit der Hand —
hineingelangt, 749); — bich (ich schlug, 751); — pich (ich trank,
751); — pich ax (764); — gübicii (= xagübicti, ich verlor, 753); —
gubach (= xagubich, 787); — ax käcach (= xakaHch) tuka (ich
habe hier aufgehängt, 757); — ee tarn käcach {= xakdeich) ax
kueövete (= Ujubövete, he dort habe ich die Schlüssel aufgehängt,
780) ; — tivich (= ufovich) köpee (ich habe — einen — Knopf auf-
gefangen, 758); — ax Idech (= chodich , bech) nä-voda (ich ging
nach Wasser zum Brunnen, 758); — bttach {= säbräch, ich habe
aufgelesen, 760); — i töja kövach (= xakoräch, auch diesen —
Nagel — schlug ich ein, 761) ; — ax kövach (— koväch, xakoväch,
ich habe eingeschlagen, nämlich Nägel, 761); — ax edin kövach
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360
I. A. Gheorgov,
{— xa — , ich habe einen — Nagel — eingeschlagen, 767); —
ax töja tarn mdlkija kövach (= xcütoväch) , ti golcmija (ich habe
jenen dort kleinen — Nagel — eingeschlagen , dn den großen,
767); — Ifpach (= ripnach, ich bin gesprungen, 762); — töja pilön
sino kömch (= töja pirön süno xakovdch, diesen Nagel habe ich
fest eingeschlagen, 795); — ax cesach (= se rcesach) chübaw, ti
ne si cesal (= se vcesal, ich habe mich gnt gekämmt, dn hast
dich nicht gekämmt, 767); — ax piiach (= pisach, ich schrieb,
habe geschrieben, 769) ; — ax kdrach möhlo (= naprdrich tnökro,
ich habe naß gemacht, 771); — n&mach (ich hatte nicht, 777); —
tdnach {= sidnach, ich bin aufgestanden, 777); — pljunach (ich
habe gespuckt — auf das Kleid, 779); — ddrCch, Vddo ne davtl
(= ax oxdravfch, VI. ne e oxdrarü, ich bin gesund geworden, VI.
ist nicht gesund geworden, 779); — ax kdcach konja (= ax se
kdbich na konja, ich stieg aufs Pferd, 787); — pädmach (ich habe
eingesteckt, 789): — ax siZkite pdchaeh {=pdchnach1 ich habe
alle eingesteckt, 866); — otköpeach, xaköpeach raxköpeach (alle
endigen eigentlich auf — cfch : ich habe aufgeknöpft, zugeknöpft,
losgeknöpft, 882); — 2) die zweite Person ist viel seltener: ito
ntee {= dmrfse) ? (was hast du gebracht? 765); — Plodir (= r
Pl&vdiv) H — tide {= otide) — mene — könce — kupü (= da
küpü, nach Philippopel bist du gegangen, mir Pferdchen zu kaufen,
694), antwortet er mir, als ich ihn gefragt hatte, woher ich ihm
das Pferdchen gebracht habe; — ti be vän? (du warst draußen?
807); sehr interessant ist hier der in der gewöhnlichen Umgangs-
sprache sehr selten gebrauchte Aorist in der zweiten (und dritten)
Person Tom Verbum »sein«; es ist auch das einzige Mal, daß icb
den Aorist von diesem Verbum angemerkt habe; — kdxa ti ma
kupi öste kanje? {= kdxa Ii ti na mamd da kupi öste kdmdnje?
hast du der Mama gesagt, sie soll noch Steine — zum Bauen —
kaufen? 809): — sto e tovd tiika, dtka ti xenid? (was ist das hier,
was du nahmBt? 864): — kadt (= kädi) e golemoto, Ma tiili
(= türi) tovd? (wo ist das große — Steinchen, — wohin hast du
dieses hingestellt? 874); — aml VUdo xaitö go xe? (und VI.
warum hast du ihn — auf den Schoß — genommen? 932), sagt
er mir, als ich ihn nicht auf den Schoß nehmen wollte; — H
xalüpa (= xachlupi, du hast zugedeckt, 947) ; — ne, ne, ti pi (nein,
nein, du trankst, 985), entgegnet er seinem Bruder, als dieser
sagt: ax ne $dm pü (ich habe nicht getrunken); — 3) in der dritten
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kinderaprache. 361
Person : yrto pä"na (= edno pddna, eines ist gefallen, 683) ; — Vüdo
bu me (= me nb'i, VI. hat mir weh getan, 694): — ddde cupa,
Uta, Uko (= supa, kjufUta, sicko, sie gab mir Suppe, Koteletten,
alles, 701), antwortet er, als man ihn fragt, ob ihm die Marica
schon zu essen gegeben hat; — bi me mdlko (er schlug mich ein
wenig, 706), antwortet er mir, als er eich beklagte, daß VI. ihn
geschlagen habe und ich ihm gesagt hatte: ach, mnögo te e bü!
(ah, er hat dich sehr geschlagen!); — mamd Üdi (== si otide,
Mama ist fortgegangen, 731); — de 'tide Dänka 'ga? (= kdde'
otide D. segd? wohin ist jetzt D. gegangen? 789); — i Vddo leb
meli, 'de (= i VI. namfri chleb, jacU, auch VI. hat Brot gefunden,
ißt, 740); — sto *n aode döftolät (= ne döjde döktordt)? (warum
ist der Arzt nicht gekommen? 752); — Mica tüka döde (= Marica
döjde tüka, M. ist hieher gekommen, 765); — gubi (=xagubi) se
(es ist verloren gegangen, verschwunden, 753, 764); — mamd
otfla (= otrixa, die Mama hat abgeschnitten, 767) ; — pdli {— xapäli,
zündete an, 781) ; — dnes Ida [= Ulja) tüka spa (heute schlief die
Tante hier, 782); — böde {= ulxkie) me (hat mich gestochen,
878); — säs kakvö xe? (womit hat er genommen? 936); — 4) in
der ersten Person Pluralis: nie küpichme töpki i si igläcfnne
(= igrächme, wir kauften uns Bälle und spielten, 896) ; — ?ie sme
jddochrne (= jdli) slddJco, sdmo jddochme '« (= biskvtti, wir haben
nicht Süßes gegessen, nur Biskuits aßen wir, 901) ; — ixbegachme
(wir sind entflohen, 901) ; — nie jddochme po die ceUH {= certä,
wir aßen je zwei Kirschen, 941) ; — 5) in der dritten Person Pluralis:
dignacha gi (sie hoben sie auf, 861): — stovdlicha (= stovaricha)
pesdk (sie haben Sand abgeladen, 882).
Die nächste oft gebrauchte Verbform der Vergangenheit ist
das Perfektum, dessen Formen jedoch das Kind in der ersten
Zeit und auch später statt des Aorists gebraucht. In der Um-
gangssprache wird nämlich im Bulgarischen meist der Aorist zur
Bezeichnung einer sich nicht lange hinziehenden Handlung
gebraucht. Das Perfektum dagegen wird gebraucht, wenn der
Sprechende die Handlung, die damit bezeichnet wird, als etwas
von seinem Standpunkte aus Ungewisses bezeichnen will: so sagen
wir: slugdta döjde (der Diener ist gekommen — Aorist) und slugdta
(e) doift (der Diener ist, Bagt man, gekommen — Perfektum) ; das
Kind macht anfangs diesen Unterschied nicht und gebraucht oft
das Perfektum, wo der Aorist stehen sollte : käsal nigata (= skdsach
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362 I- A. Gheorgov,
knigata, ich zerriß das Buch, 711); käsal (= skäsal ist das Part,
perfecti ; das Kind läßt also das Hilfsverbum ans ; — bütal (= buU
nach go, ich stieß es um, 715); — ridii, tovd tülü (= türich,
siehst du, das legte ich hin, 750); — clpal (= ixsfpach) ax (ich
schüttete aus, 758); — ax säm düval (— ax düchnach, ich bließ aus,
764); — ax säm pldcal (ax pldkachy ich habe geweint, 764); —
tdvü tarn (= ostävieh tarn, ich ließ — es — dort, 782; — ti piiel [ti
ptsa — vtee — du schriebst — schon, 778) ; — "ga pUel ti si
(= segd ti — vt'ce — pisa, jetzt hast du — schon — geschrieben,
d. h. gib mir dann den Bleistift, will er sagen, 778) ; — ti si fälä
(= ti chvärli, du warfst, 779); — tidal und: tülü ti si (= ti tun,
du stelltest hin, 781) ; — tdvü tarn (=ti ostävi tarn, du hast dort
gelassen, 782); — tnamd Uxnaki (= ixMxe, die Mama ging aus,
743); - Vlddo dddeli ci (= VI. — mi — ddde biskriti, VI. gab mir
Biskuits, 750); — tqj meneka cünal (= tqj me cehina, er hat mich ge-
küßt, 760); Ddnka ndsäl {= don&e) caj (Danka brachte Tee, 764);
hier ist hervorzuheben, daß das Part, perfecti, welches im Bul-
garischen in Geschlecht und Zahl sich nach dem Subjekt richtet,
im Geschlecht nicht mit dem Subjekt übereinstimmt, denn n/säl
(= dontsäl, gebracht) ist im Mask., während Danka ein Femininum
ist; — döftolät dodd (= döktordt dojde} der Arzt ist gekommen, 779).
Der richtige Gebrauch des Perfektunis ist in folgenden Phrasen
konstatiert worden: 1) erste Person: jddel {—jal — säm — , ich
habe gegessen, 701), antwortet er mir, wenn ich ihn frage: jal Ii
si? (hast du gegessen?), während die Antwort jddech (— jddoch,
ich aß) lautet, wenn ich ihn auch im Aorist frage: jade Ii? (aßest
du — schon ?) ; — ne säm lep xtmal (= ne säm xel oder xtmal chleb,
ich habe nicht Brot genommen, 711); — ne säm vfdel (ich habe
nicht gesehen, 749); — ti si ptM (= pisal), ax ne säm vtce (du
hast — schon — geschrieben, ich habe noch nicht, eigentlich sagt er:
ich habe nicht mehr, 749) ; — Vddo cdmo dural, ax ne säm dural
(= Vlddo sdmo ixdiwhna, ax ne säm ixdüchnal, VI. hat bloß aus-
geblasen, ich habe nicht ausgeblasen, nämlich das Licht, 764) ; —
2) zweite Person: ne si vikal (= vtknal, du hast — sie — nicht
gerufen, 714), entgegnet er mir, als ich ihm sagte: ax -tiknach
Ddnka (ich habe D. gerufen); während ich also mit dem Aorist
frage, antwortet er mir ganz richtig im Perfektum, wie es eigent-
lich im Bulgarischen sein muß: — ti si ptial (— pisal, du hast
geschrieben, 749); — 7o ti van idel? (= xasto si otüä van? warum
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 363
bist du hin ausgegangen? 758); — ax cSsach (= se vcesach) chübavo,
H ne 8i cesal (= si se vcesal, ich habe mich gut gekämmt, dn hast
dich nicht gekämmt, 764); hier ist anch ein zweifacher Ausdruck
der Vergangenheit, nämlich das erstemal im Aorist, das zweitemal im
Perfektnm, wie es eben auch richtig ist; — de si idel? (= kddt
si ciiod'd? wohin bist du gegangen? 769); — ti ttinal (= ti si
stänal) gdem (du bist groß geworden, 779); — ti Uzal (= ti si
rexal, du hast geschnitten, 779); — t/Uü und iiäal (= turü und
htrjal) ti si (du hast gelegt, 781); — ti nösi* meneka (— na mtne)
caj? ti tidü xdeftai? (= iürü ti si zdcftar? du bringst mir Tee,
hast du Zucker gelegt? 794); — hto — {si) — H tüka pisal? (was
hast du hier geschrieben? 782); — kdnka koväl si H? {— säs
kämdka Ii si — (gö) — xakardlf hast du — ihn — mit dem Stein
festgeschlagen? 795); — möze ti — (da) — si naptsal (kann sein,
daß du geschrieben hast, 901), antwortet er, als ich ihn frage:
wer hat hier geschrieben? — 3) dritte Person: Min goMtn küce
dödelo (= ednö gottmo kuce doilö, ein großer Hund ist gekommen,
706) ; — kdsalo (= skäsalo se, es ist zerrissen, 749) ; — ednö köpce
käsalo (= se skäsalo) tüka (ein Knopf ist hier abgerissen, 753); —
Vädo xtmel (= zel, xertuil) nUto (VI. hat etwas genommen,
750) ; — koj ktipil püjkite? (wer hat die Truthühner gekauft? 764) ; —
dävech, Vddo ne davä (= ozdravech, VI. ne e oxdravä, ich bin ge-
sund geworden, VI. ist nicht gesund geworden, 779); hier ist wieder
der richtige zweifache Gebrauch der Vergangenheit, nämlich das
erstemal mit dem Aorist [duvfich) und das zweitemal mit dem
Perfektnm (ddveT) ; — mäta (= na zemjdta) pddnal (auf den Boden
ist er gefallen, 779); — tdnal (= ostdnal) tuk (er ist hier geblieben,
782); — papd, ednd tükamUka ixUxnala, azjavldech (Papa, eine
Maus ist hier herausgekommen, ich sah sie, 806) ; auch hier zwei-
facher Gebrauch der Vergangenheit; — otUla e dattko (ist weit
gegangen, nämlich die Bediente, 895); — 4) im Pluralis kommt
dieses Tempus fast gar nicht vor; ich habe es nämlich nur ein
einziges Mal in der dritten Person angemerkt: ga^ite1) pä*nali
(= gditite pddnali, die Hosen sind gefallen, 714).
Interessant ist der falsche Gebrauch des Aorists mit dem
Hilfsverbum, was also eine Mischung von Aorist und Perfek-
tnm darstellt; dieser Fehler kommt ziemlich oft vor, und zwar fast
1) \ ausgesprochen zwischen * und c.
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364
I. A. Gheorgov,
nur in der ersten Person Singularis und beinahe immer verneinend
ne säm vldech (statt: ne viäech oder ne säm videT,, ioh sah nicht
oder ich habe nicht gesehen, 711); — ax ne säm pldcach (statt:
ax ne pldkach oder ax ne säm pldlal, ich weinte nicht oder ich
habe nicht geweint, 758); — na säm kdsach (= ax ne skdsaeh
oder ax ne säm skäsal, ich zerriß nicht oder ich habe nicht zer-
rissen, 762); — ax säm düvach (neben: ax säm dural, statt:
ax düchnach oder ax säm duchnaly ich blies aus oder ich habe
ausgeblasen, 764); — ne säm sickoto dxtdäch (statt: neixjddoch
oder ne säm ixjdl zihkoto, ich habe nicht alles aufgegessen, 767) ; —
H mtneka bicas, ax ne säm kävach kerdtce mökb (= ti mene
obtcaS, ax ne säm naprdvü mökro v krevdtceto, du liebst mich,
ich habe nicht naß gemacht im Bettchen, 768); — dx ne säm
kävach (statt: ax ne naprdvich oder ax ne säm naprdvü, ich habe
nicht gemacht, 771, 782); — ax ne säm fdstach (— axne cJträi-
tach oder ax ne säm chvdstal, ich habe nicht berührt, 777); —
ax ne säm cüpich mdläk liv, ax cüpich goltm liv (= ax ne säm
scüpil mälkijä möliv, ax siüpich gol&mija mölir, ich habe nicht
den kleinen Bleistift zerbrochen, ich zerbrach den großen Blei-
stift, 779) ; im zweiten Satz ist hier der richtige Aorist, ohne Hilfa-
verbum gebraucht [cüpich): — ax ne säm pliach {= ax ne pisach
oder ax ne säm pfsal, ich schrieb nicht oder ich habe nicht ge-
schrieben, 779); — ax säm xfmach (= ax xech oder xemdch oder
ax säm xel oder xemdl, ich nahm oder ich habe genommen.
787); — ne säm käs lach (= ne käMjach oder ne säm kdiljal
(ich habe nicht gehustet, 789). — Im Plural ist dieser Fehler nur
zweimal vorgekommen in später Zeit, als derselbe in der ersten
Person des Singulars nicht mehr gemacht wurde, und zwar einmal
in der dritten Person und einmal in der ersten Person Pluralis.
tft sä pddnacha nigi (statt: tlja knigi pddnacha oder sä pädnali,
diese Bücher fielen oder sind gefallen, 811); — ne sme jddochme
(statt: ne jddochme oder: ne sme jdli) slddko, sdmo jddochme ^ci
(= biskvltiy wir haben nicht SUßes gegessen, wir aßen nur Biskuits,
901 j. auch hier ist im zweiten Satz der richtige Aorist {jddochme)
neben dem falschen im ersten Satz gebraucht.
Das Imperfektum, welches im Bulgarischen zum Ausdruck
einer dauernden, zu einer bestimmten Zeit nicht vollendeten
Handlung gebraucht wird, wird vom Kinde äußerst selten ange-
wandt. Anfangs werden seine Formen hin und wieder zum Aus-
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 365
druck des Aorists gebraucht; so sagt das Kind: papd, vii, ax
bütach (statt: butnach) Uxite (= ielexdta, Papa, sieh, ich stieß die
Eisenstangen um, 703); — ztmach (statt: zech oder zemäch) mdUco
(ich nahm ein wenig, 758), antwortet er mir, als ich ihn fragte:
ti ne xe Ii ot iokolddata? hast du nicht von der Schokolade ge-
nommen? — ax dxemach {— xemach, statt: zech oder xemäch) gläta
(= igldta, ich nahm die Nadel, 763); — ebenso: tdja xtmach (diese
nahm ich, 776); — tovä ax 'ndvach (= poxnävach statt: poxndch —
katö — ) pa (= papäj dies erkannte ich — als — Papa, 782) ; so
sagte er zu mir, als er mich auf einem Porträt erkannt und darauf
gezeigt hatte, und ich ihn mit dem Aorist gefragt hatte: ti poznd
papd? (dn erkanntest Papa?); — ax sicHte pdchach (= pächnach,
ich steckte alle hinein, 866); — döftoldt (= döktordt) Übe vddeie
(statt: ixvddi) edin dxab (xäb, der Arzt hat dir einen Zahn heraus-
genommen, 767), sagt er mir, indem er sich wahrscheinlich er-
innert, wie mir vor einiger Zeit ein Zahn herausgenommen worden
war. — Richtige Imperfektformen, welche wahrscheinlich auch im
Sinne des Imperfektums gebraucht worden sind, waren folgende
zwei am 777. Tage: glMach (ich schaute) und: ntmach (ich hatte
nicht), sowie in folgendem längeren Satze: papd, nie tüka bilichme
(— sdbirachme) kastiüä, pa tüka fdlichme {— chvärljachme, Papa,
wir haben hier Kerne gesammelt und hier haben wir sie geworfen,
871); — ferner die Imperfektformen des Verbums sein in folgen-
den drei Phrasen: maj t/jrja bHe (mein war dieser, nämlich Stuhl,
779); — tipak kadf (= käd€) b6ie, na Idbota (= rdbota)? wu warst
du wieder, auf Arbeit? 913); — btchme daltko na caHijata
(= tarHjata, wir waren weit in der Handelsstraße, 929).
Im allgemeinen muß man es als eine Tatsache hinstellen, daß
das Kind das Imperfektum sowohl seinem Sinne als auch seiner
Form nach meidet, jedenfalls bei weitem den Aorist und sogar
das Perfektum bevorzugt Das Imperfektum erheischt eben einen
schon entwickelteren Intellekt, um außer der vergangenen auch
noch den Nebenbegriff der dauernden, nicht vollendeten Handlung
auszudrücken, während der Ausdruck der einmaligen, abge-
schlossenen Handlung, wie es scheint, dem kindlichen Verstände
anfangs zugänglicher ist. Dies ersieht man auch aus folgenden
zwei Sätzen, welche von später Zeit sind, und worin der Sinn
des Imperfektums noch immer durch Aoristformen wiedergegeben
wird: papd, nie tüka belichme (= sdbirachme) kostilki, pa tüka
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3t>6 I A. Gheorgov,
fälichme (chvärljachme, Papa, wir haben hier Kerne gesammelt, und
hier haben wir sie geworfen, 871); — nie si kupichme töpki i si
igldchme (== igrdehme statt: igrdcchme, 896).
Das Plusquamperfektum ist noch seltener, denn es ist nur
ein einziges Mal beobachtet worden, und zwar in der Phrase: ax
btiech (= bech) pddnal (ich war gefallen, 789), wobei das Hilfa-
verbum eine falsche Form hat, welche oft auch bei Ungebildeten
vorkommt.
Von den Verbalformen erübrigen noch der Ausdruck des In-
finitivs, das Partizipium perfecti passivi, sowie das substantivisch
gebrauchte Verbum.
Das erste Partizipium perfecti passivi erscheint bei meinem
zweiten Sohne sehr früh, nämlich am 585. Tage, als er sieht, daß
t
der Hut zerrissen ist, und dabei sagt: käs {= skäsana, zerrissen); —
ebenso : din lap kasan (— edin dordp — e tüka — skäsan , ein
Strumpf — ist hier — zerrissen, 712) ; — cupena (= sdüpena,
fem., zerbrochen, 760) und: scüpen (masc, zerbrochen, 879); —
sto e tuka pisano? (was ist hier geschrieben? 762, 846); — pä'zen
leb (= pärzen chleb, geröstetes Brot, 799); — ima tuka Idmpa, ne
e pdkna (es gibt hier eine Lampe, — aber — ist nicht ange-
zündet, 818); — iojae otköven (= otkovdn, dieser, nämlich Nagel,
ist herausgeschlagen, 894) ; — xalupeno (= xachlüpeno, zugedeckt,
900) ; — möeto kdvdtce (= krevdtce) e lazvdleno {— raxvaUno, mein
Bettchen ist verdorben, zerbrochen, 901) ; — ne möie da se izrddi,
zakovdno e (man kann es nicht herausnehmen, es ist festgenagelt,
901) ; — tarn mtteno Ii e? (ist es dort gefegt? 921); — ax säm
ixpöten (ich bin erschwitzt, 905).
Der wirkliche neue Infinitiv (siehe oben S. 260) ist von
diesem Kinde gar nicht gebraucht worden. Es drückt die infini-
üve Beziehung in der gewöhnlichen Art der bulgarischen Aus-
drucksweise1) durch das Verbum finitum und die Konjunktion da
aus. Jedoch wird lange Zeit dieses da ausgelassen, und es er-
scheint sporadisch erst gegen Ende meiner Aufzeichnungen: ax
mozarn käcam (= ax möga da xakam, ich kann aufhängen, 757); —
pak fdne pi (= pak ste xachvdne da spi, wieder wird es anfangen
zu schlafen, d. h. einschlafen, 776); — rän ima nek (= sneg^
mozarn Uzam (= ne möga da ixttxa), ti sdmo mdzeS Uxek (= da
1) >Die ersten Anfänge ubw.« S. 362.
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache- 367
ixlexeS, draußen gibt es Schnee, — deswegen — kann ich nicht
ansgehen, nur du kannst ausgehen, 779); — daj gä'nam Übe
(— daj da te pregärna, gib dich umarmen, gib, daß ich dich umarme,
laß dich umarmen, 799); — kd£a H ma küpi öite kdnje? (= kdxa Ii
H na mamä da kupi 6Ste kdmänjef hast du der Mama gesagt, noch
Steine zu kaufen? 809); — idi kupis {— da — , geh um zu kaufen,
824); — die Konjunktion da habe ich nur in 2—3 Fällen be-
obachtet: deede (= da jadS, um zu essen, daß er ißt, 665); — döf-
tolät (= döktorät) hte döde da ctli (= c&ri) Vddo (der Arzt wird
kommen, um Vlado zu kurieren, 767); — imai Ii ceyv6n (= cerv&n)
möliv da piiek ce'vtno {— dervfrio)? hast du roten Bleistift, um
rot zu schreiben? 901).
Das substantivische Verbum, welches bei meinem ersten
Sohne so oft gebraucht wurde, ist bei diesem Kinde nicht ein
einziges Mal beobachtet worden!
m.
Da dieser Knabe nicht so gesprächig ist, wie mein erster Sohn,
und er mehr in einzelnen Wörtern und Sätzen, besonders in der
ersten Zeit, spricht, so werden durch ihn die verschiedenen Kasus-
beziehungen sehr selten ausgedruckt So kommt der Knabe selten
zum Ausdruck des Genitivs, den ich in zwei Fällen beobachtet
habe, und wobei in beiden Fällen dieser Kasus ohne die nötige
Partikel na*) ausgedrückt wurde: 6to Vddo 6aj (= fto cdja na
Vlädo, hier ist der Tee des Vlado, 770); — papd, Vddo töja leb
(= na VI. e töja cfdeb, dem VI. gehört dieses Brot, bulg. : des VI.
ist dieses Brot, 782).
Der Dativ wird öfter gebraucht, aber auch nicht so oft wie
bei meinem ersten Sohne; und merkwürdig genug wird auch dabei
fast immer die Partikel na ausgelassen : kujrti — Vddo — rrume
{= da küpü na VI. i mene, du sollst dem VI. und mir — etwas
— kaufen, 674), sagt er mir, als er mich ausgehen sieht; er wollte
mir sagen, ich soll ihm Bonbons kaufen; — kdzi Vddo täjät Iskam
{— kazi na VI., 6e iskam pettla, sage dem VI., daß ich den Hahn
— ein Spielzeug — haben will, 748); — Vddo ntses leb {= ina
VI. da ebnest chleb, auch dem VI. sollst du Brot bringen, 752): —
dddam mamä f (—da — go — dam na mamä? soll ich — es —
1) Siehe weiter oben S. 261.
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368
I. A. Gheorgov,
der Mama geben ? 755) ; — Vddo tojay meneka äug (= na VI. toja,
mene driig, dem VI. diesen, mir einen anderen, nämlich Zwieback,
765); — ax dam palt Vdnka (ax da dam pari na Ivänka, ich soll
Geld der Ivanka geben, 789); — Wja teTmva, mamd tibuva (— na
letja, na mamd trtibva, der Tante, der Mama muß — nämlich vom
Essen bleiben, 800); — kdia ti ma küpi öite kdnjef (= kdxa Ii
ti na mamd da küpi täte kdmänef sagtest dn der Mama, sie soll
noch Steine — zum Banen — kaufen? 809); — ax dddoch Vddo
ctto (=r ax dddoch na VI. jajctto, ich gab dem VI. das Ei, 861); —
nur ein einziges Mal ist die Partikel na von diesem Kinde
gebraucht worden, während bei meinem ersten Sohne dieselbe schon
früh auftritt und dann sehr oft gebraucht wird (siehe S. 263) : na
Vlddo xaito ite dadtä xdchal (= xdcharf warum wirst du dem VI.
Zucker geben? 961).
Der Akkusativ ist im Bulgarischen gewöhnlich bei den Sub-
stantiven und Adjektiven gleich dem Nominativ; nur in letzter
Zeit wird bei den mit dem Artikel versehenen Substantiven und
Adjektiven männlichen Geschlechts im Akkusativ eine andere
Form, auf a, gebraucht, während im Nominativ die Form ät oder
at lautet (der Artikel wird, wie ich schon oben erwähnt habe,
S. 270, dem Nomen hinten angefügt). Dieser Akkusativ kommt
ziemlich früh einigemal beim Adjektiv zum Gebrauch; so sagt
das Kind: ax goUmija dxcmam {— xemam, den großen, d. h.
Nagel, nehme ich, 751); — ax goUmija, ti mdlkija (ich den
großen, du den kleinen, d. h. Nagel wirst du nehmen, 751); —
ax toja tarn mdlkija kovdch (= xakovdch\ ti goUmija (ich habe
den kleinen dort, du den großen, nämlich eingeschlagen, 767); —
xemi goUmija kämdk, ce ite go fä'la (= clivärlja), kte uddlam
(= uddrja) Vlddo (nimm den großen Stein, denn ich werde ihn
werfen und werde VI. treffen, 918); — und bei Substantiven: n6ma
sik (= kamHk) da kdla (— kdra) könja (hat keine Peitsche, um
das Pferd anzutreiben, 898); — na tavdna (auf dem Dach,
908); — H go ostdvi uf kolidöla (= vdv koridöra, du hast es
im Korridor gelassen, 929). — Jedoch kommen natürlich auch
später Fälle vor, wo dieser Akkusativ gar nicht ausgedrückt wird
und das Wort ohne den Artikel im Akkusativ steht: plach cistam
{— prachd ctstja, — den — Staub reinige ich, d. h. wische ich
ab, 802); — xaitö n6ma hika edln sämin da vödi konj (= könja)?
(warum gibt es nicht einen Bauern, damit er — das — Pferd
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindereprache. 369
fahrt? 894); es handelte Bich um ein Büd, wo nnr ein Pferd ab-
gebildet war.
Öfter wird vom Knaben der Vokativ gebraucht: Danko, ka!
er wollte damit sagen : wenn ich werde machen wollen, werde ich
so rufen; — Dänko, viz väfe miichi (vätre muchite, D., sieh
drinnen die Fliegen, 687); — Dänko, tuka — (Ii) — si H? (D.,
bist du hier? 801); — käko (Anredewort für die Bediente; siehe
oben S. 249); 646; — päpe! (Papa! 669, 672, 688); — päpe,
tovä möne? (= Papa, tovä xa mene ü e? Papa, ist das für mich?
693); — päpe, pipni, gol&sto (= gortäto) e, da? goU&to (= goregto) e?
(Papa, rühre an, es ist heiß; ja? ist es heiß? 764); — päpe, tSbe
mamd gleaa (Papa, dich schaut die Mama, d. h. in dein Buch
schaut die M., 766); jedoch natürlich auch: papä, m&je — (Ii e) —
tovä? (Papa, — ist — das mein? 764); — 161 jo, vidam (= daj da
vidja, Tante, laß mich sehen, 693); — Vdnko! (= Ivanka! 751); —
mdme, tuka ax gUdam (Mama, hier schaue ich, 762).
Auch bei meinem zweiten Sohne ist der Plural beim Worte
Schuhe aufgetaucht, wobei auch hier der gleiche fehlerhafte Plural
büiti (statt: obüita) erscheint; dieser Plural taucht schon am
586. Tage auf, jedoch ist nicht ganz klar, ob er damit wirklich einen
pluralen Sinn verbindet oder auch einen einzelnen Schuh bezeichnen
wollte; am 762. Tage sagt er obtUti, am 808.Tage wieder: ax bU'cam
{= ax ite obUhä) golemite buiti (= obiUta, ich werde die großen
Schuhe anziehen), und erst am 878. Tage gebraucht er schon den
richtigen schwierigen Plural dieses Wortes in dem Sätzchen:
skldcat (= skdrcat) obiUtata (es knistern die Schuhe] (siehe oben
S. 264); — däti (= solddti, Soldaten, 618); — lddti (Soldaten,
749); — u$i (= kruH, Birnen, 622); — köhki (= koköski, Hennen,
669); — Dänko, viz väfe müchi [= — , — vätre muchite, D.,
siehe drinnen — die — Fliegen, 687); — n&ft'und nista (= ma>
nista, Glasperlen, 694); — Vädo — mene ■— böni (= bonböni,
VI. — mir — Bonbons, nämlich dem VI. und mir sollst du Bon-
bons kaufen, 696) ; — tuka sa böni (= tuka sä bonb&ni, hier sind
Bonbons, 768); — ddnkat bönceta (= dränkat bonbönceta, es
klopfen — drinnen — Bonbonchen, 768; mit richtig gebildetem
Plural des Diminutivs bonbonce); — pujki (Truthühner, 698); —
pujki tarn (Truthühner dort, 710); — ntma gipüjkite (es gibt sie
nicht die Truthühner), 6to gi pujkite (hier sind sie die Truthühner,
les voilä les dindes, mit dem Personalpronomen im Akkusativ),
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I. A. Gheorgov,
706; und wie sehr das Kind hier den Sinn des Plurals im Kopfe
hat, zeigt das am selben Tage gebrauchte Sätzchen: nema go
köpceto (etwa: es gibt ihn nicht den Knopf), wo also entsprechend
dem Singular des Substantivs auch der Singular des Personal-
pronomens go gebraucht wird, während in den zwei anderen Phrasen
richtig der Plural desselben Personalpronomens steht; — ca (—jajed,
Eier, 698, während für den Singular ce =jajct gesagt wird); —
Uipi (= cordpi) Hsti (Strümpfe rein, d. h. neu und rein, 700) ; —
ddde cüpa, Uta, Uko (= ddde süpa, kjufttta, stiko, sie gab Suppe,
Koteletten, alles, 701) ; — jedoch noch am 803. Tage sagt er: tdnam
goUm, dam te (= kogdto stdna gottm, ite jam kjufttta, wenn ich
groß werde, werde ich Kotelette (statt: Koteletten) essen; — papd,
riz, ax bütach lezite (= bütnach zelexdta, Papa, siehe, ich habe die
Eisenstangen umgestoßen, 703); — ax meTam (= Jtte nanifrja)
päticite (ich werde die Enten finden, 706); — am 682. Tage, als
ich ihn gefragt hatte: obiöah päticite? (hast du die Enten gern?),
antwortet er mir mit dem Singular; blcam päcica (— oblcam pätica,
ich liebe Ente); — mdta [= na xemjdta) hikame, ne na toL-övete
(= stolövete, auf den Boden klopfen wir, nicht auf die Stühle,
706); hier ist bemerkenswert der richtige Gebrauch des Plurals
bei einem Substantiv, welches den Plural ziemlich kompliziert
bildet, wenn auch dieser Plural bei vielen Substantiven vorkommt:
stol, stolöve, Stühle; — * stolövete ne Übe plie (= i na stolövete ne
irfiba da se pise, auch auf den Stühlen darf man nicht schreiben,
893): — dzdpove (= dUbove, Taschen) von dzap (= dieb, Tasche),
707; — pHi (=pari, Geld, bulgarisch im Plural, 706); — müh
tiika läxat (Mäuse kriechen hier, 706: der Satz ist vollkommen
richtig und mit voller Übereinstimmung des Subjekts und verbalen
Prädikats); — gdfite pdnnal% (= gditite pddnali, die Hosen sind
gefallen, 714; wieder hervorzuheben die Ubereinstimmung in der
Zahl zwischen Subjekt und Part, perfecti); — papd, pddat gditite
(Papa, es fallen die Hosen, 756; wieder Übereinstimmung!); —
eeli und cüini (=ofic£ri, Offiziere, 749; die letztere Form cfiini
bildet er sich vom Singular, welcher ofic&in lautet, wie bei vielen
Substantiven der Plural durch Hinzufügung des t zum Singular
gebildet wird: cordp, cordpi, Strümpfe); — coveci (Menschen) und
covik (Mensch), 749; — itkite (= stikite) köpceta xecfi (alle Knöpfe
habe ich genommen, 751), — ickite {= sickite) köpceta kdsam
(= kte skdsam), 'ntmab (= xa da netnai, alle Knöpfe werde ich
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 371
zerreißen, damit da nicht hast, 762); — nä ti Übe lästicite (da
hast du die Gummischuhe, 756, ebenso 789); — nemo, dximam
(= da xlmam) köfite (ich werde nicht die Eimer nehmen, 758); —
tija Vddo citi (= tija sä biskvitite na Vl.t das sind die Bisknits
des VI, 762); — goUmite äpat (— chdpjat) konß (die großen
Pferde beißen, 764; hervorzuheben ist hier die vollkommene Ober-
einstimmung zwischen Subjekt und Prädikat, sowie zwischen dem
Adjektiv und dem Substantiv); — ienca (= uktnca. Ohrchen, 766),
ebenso: n^rna go {— gi) dvtte ienceta {— ui6nca} es gibt sie nicht
die zwei Ohrchen, nämlich am Pferde, welchem man die zwei
Ohren abgerissen hatte, 766); interessant ist hier die letztere
Pluralform, welche nach einer anderen Analogie auch richtig
sein könnte; merkwürdig ist es jedoch, daß trotz des Plurals des
Substantivs das sich auf dasselbe beziehende Personalpronomen im
Singular steht (go), während der Knabe schon am 706. Tage richtig
gesagt hatte: ntma gipüjkite (siehe weiter oben); — c6ta (= cvetjd,
Blumen, 779); — ee tarn kdcach ax kuc&vete (= ee tarn xahalich
ax kljutövete, he dort habe ich die Schlüssel aufgehängt, 780); —
Mbiici (Haselnüsse), neben: Uinik (Haselnuß), 788; — ldkdvi und
öfter: kavici (= räkavici, Handschuhe, 798); am 749. Tage hatte
er aber diesen Plural kavlci für den Singular, also statt räkai-lca
gebraucht; — peld {— perd, Federn), neben pelö (— perö, Feder),
801 ; — kdnje (= kdmdnje, Steine, 809).
Am 700. Tage sagt er ohne Übereinstimmung in der Zahl des
Subjekts und Prädikats: ball me 'cite (es schmerzt mich die Augen),
womit er entweder sagen wollte : boll me oköto (es schmerzt mich
das Auge) oder: boljdt me ocite (es schmerzen mich die Augen).
Interessant ist es, daß auch bei diesem Kinde die außerge-
wöhnliche Pluralbildung sucho-glöxdeta vorkommt: pak da kupis
növi sucho-glöxdeta (du sollst wieder neue Rosinen kaufen, 901);
vergleiche dazu den etwas weiter oben angeführten Plural Senceta
für u&enca (Ohrchen, 766).
Ein interessanter Fall von Veränderung des Geschlechts stellt
das Wort cdnkata, fem., für casövnikät, masc, (die Uhr) vor, welches
das Kind am 672. Tage brauchte, während es am 763. Tage
sagte: co'nik, masc. Entsprechend der weiblichen Endung auf a
ist hierbei auch der weibliche Artikel ta angewandt, nicht der
männliche ätf der der Konsonantenendung (k) entspricht.
Ein wirklicher Dual kommt bei meinem zweiten Sohne nicht
' Archiv ttx Psychologie. XL 26
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I. A. Gheorgov,
vor; doch stellt einen Versuch, den Dual statt des Plurals zu ge-
brauchen, der Ausdruck dva töli (statt: dva töla, zwei Stühle, 764)
dar, während der Plural stotöve lautet und das Kind diesen Plural,
wie weiter oben angeführt wurde, schon am 706. und später am
893. Tage brauchte.
IV.
Auch mein zweiter Sohn braucht Diminutive, jedoch nicht
so oft und nicht so gern, wie der erste. Er ist darin nicht so
erfinderisch und selbständig, eher findet er sich wahrscheinlich
hierin unter dem Einflüsse seines älteren Brüderchens, welches,
wie ich oben zeigte, eine besondere Neigung hatte, Diminutive
zu gebrauchen und selbständig zu bilden: kdnce (== kdmäce,
Steinchen, 615, 706); — lax mclam kdnce (== i ax ste namerja
kdmäce, auch ich werde Steinchen finden; eigentlich will er sagen:
werde ein Steinchen suchen, 742) ; — gdnce oder kante (= könte,
Pferdchen, so nennt er sein Steckenpferd, 619, 694); — pdceto
(= kapdceto, das Deckelchen, 642, 766); — pilence (Hühnchen,
642); — dtitce (= bebönce, Bebchen, 643, 644 , 654); — d/ netto
pdhe (= bebtnecto place, das Bebchen weint, 645) ; — bence, btneeto
(= bebtnee, — to, Bebchen, das — , 663) ; — pdstenceto (= pärsten-
ceto), wiederholt er sehr gut, als ich ihm sagte: Vlddo ti uchdpa
pärstenceto, VI. hat dir das Fingerchen gebissen, 644); — p'lance
(= pirönce, 675), püönde (Nägelchen), 711; — tölce (= stäce,
Stühlchen, 707); — kötence (Kätzchen, 710); — dxtdoch bönce
(= ixjddoch bonb&nce, ich habe — ein — Bonbonchen aufgegessen,
749); — pdpee (Papchen), sagt er oft zu mir, 751; — mqj pdpee
(mein Papchen, 768) ; — mdmte (Mamachen, 751) ; — iöfde (= kar-
töfte, Kartoffelchen, 751) ; — livie (= mölivie, Bleistiftchen, 758) von
Uv (= möliv); — kdvdtte (= krevdtie} Bettchen, 765); — ti meneka
bitady ax ne säm kdvaeh kevdtde möklo (= ti m6ne obiöa&, ax ne
8dm naprdvü v krevdtieto mökro, du liebst mich, ich habe im
Bettchen nicht naß gemacht, 768); — möeto kärdtde [=krerdUe)
e laxvaleno (= raxvcUeno , mein Bettchen ist verdorben, 901); —
topie (Ballchen, 766); — pdlience (Paletotchen, 779); — gätäbie
(Täubchen, 801) ; — gäldbdence (mit zweifacher Verkleinerung, wie
dies viele Wörter im Bulgarischen zulassen, denn gäläbie heißt
schon Täubchen, und dazu kommt noch die zweite Verkleinerungs-
«übe ence: gdldbdence, 898); — k'avdjce (= kravdße, Eckstück vom
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklang der Kindersprache. 373
Brot, 936); — und mit weiblicher Verkleinerungssilbe: lentiöka
(Bändchen, von Unta, Band, 874); — ax kaiö bddam (=bäda)
golem], Sie si kupam (= küpja) ednd xalütka (wenn ich groß sein
werde, werde ich mir ein goldenes Münzlein kaufen, von zäXUca
goldene Münze, 968). — Die Diminutive werden auch im Plural
gebraucht: chübavi Mihi (~ danttlki, schöne Spitzchen, 762); —
S6nca (= uStnca, Öhrlein, 766); — ntma go (statt: gi) dvtte Stnceta
(= uSenca, es gibt sie nicht die zwei Öhrlein, nämlich am Pferde
— seinem Spielzeuge — , welchem die beiden Ohren abgerissen
worden waren, 766); — dun hat bönieta (= dränkat bonbdnteta,
es klirren Bonbonchen, 768); — pösle Uxnem vidim küdenca
(= pösle Sie ixlfxeni da irtdim ki'Uencata , dann werden wir aus-
gehen, um die Hündchen zu sehen, 818).
Sehr interessante Diminutive stellen die folgenden vor: le'tence
(Eischen, von lei — statt: led — , Eis, 779); — dä'venca (Hölzchen,
Bäumchen, von ddrvö, Holz, Baum, 908); — zeldxöenca (Eisen-
stückchen, 917).
V.
Der Artikel kommt zum erstenmal am 633. Tage in folgender
Weise zum Vorschein: er hatte mit den Worten: da (= vodd) iskdm
Wasser verlangt, und als ich ihm gesagt hatte: vodäia e fa (das
Wasser ist pfui, d. h. schlecht), sagt er mit fragendem Ton : ddta
fa? — am 637. Tage sagt er: Icüdeio (= küöeto, der Hund); da
das Kind sehr oft bloß einzelne Wörter sagt und nicht ganze Sätze,
was bei ihm im Vergleiche zu meinem ersten Sohne charakteristisch
ist, so ist in der ersten Zeit natürlich nicht immer ganz klar, ob
der Artikel in seiner wirklichen Bedeutung gebraucht wird, oder
ob er nicht einfach nachgesprochen wird, da er die Wörter mit
dem Artikel hört und dann beim Nennen der Gegenstände die-
selben einfach mit den Artikeln sagt, anstatt sie ohne denselben
zu gebrauchen, was ja auch möglich wäre, da die Wörter einzeln
gesprochen werden und nicht in Phrasen; — am 642. Tage: pdSeto
(=kapdc"eto, das Deckelchen); — pdkdt (= kapdfcät, der Deckel,
766) ; — dinta (= gradinata, der Garten, 649) ; — ldkoto (= mljdkoio,
die Milch, 650); — kdta oder sogar mit verdoppeltem Artikel:
kdiaia (= räkäia, die Hand, der Arm, 652); — 'kdta (die Hand,
672); — koldta (der Wagen — des Bebes, 653); — kldia und
gldta (= igläta, die Nadel, 663); — ax darnach gldta {= ax xeeh
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I. A. Gheorgov,
igläta, ich habe die Nadel genommen, 763) ; — benceto (= bebenceto,
das Bebchen, 663); — Ujcata {= \azimta, der Löffel 664); —
knigata mljie (= mirUe, das Buch riecht, 669); — nfgata (= knigata,
das Buch, 706); — käscil nfgata (= skäsach knigata, ich habe das
Buch zerrissen, 711); — daj 'nigata (gib das Buch, 711); — daj mi
nfgata (gib mir das Buch, 7Ö0) ; — göSkite (= koköikite, die Hühner,
670); — tänkata (= dasövnikat, die Uhr, 672); da letzteres Sub-
stantiv in der Sprache des Kindes auf o endigt, nicht auf den
Konsonanten, so bekommt es in der Kindersprache den weiblichen
Artikel statt des männlichen, wie es sein sollte, da das Wort
eigentlich ein Maskulinum ist; — glöxdeto {= gröxdeto, die Trauben,
675) ; — na bläikata (= na präikata, da — hast du — die Rute,
677) ; — deck ptijkite (= videch — , ich habe die Truthühner gesehen,
682), so antwortet er mir, als ich ihn frage: aide" Ii ptijkite? (hast
du die Truthühner gesehen ?) ; — n6ma gi püßcite (es gibt sie nicht
die Truthühner); Cto gi ptijkite (hier sind die Truthühner), 706; —
koj küpü ptijkite? (wer hat die Truthühner gekauft? 764); — pdltoto
(das Paletot, 696); — de e pdltoto? (wo ist das Paletot? 748); —
de ttilite pdltoto? (= MM ite ttirite — ? wohin werdet ihr das
Paletot hinlegen? 749); — boli me "ölte (= boljdt me oiite, es
schmerzen mich die Augen, 700); — papd, viz, ax bütach Uxite
(= bütnach ielexdta, Papa, siehe, ich habe die Eisenstangen um-
gestoßen, 703); — ax mtlam (= ite name'rja) pdUcite (ich werde die
Enten finden, 706); — öto go köpieto (hier ist der Knopf, 706); —
de e köpieto? (wo ist der Knopf?); daj köpieto! (gib den Knopf!),
711; — mdta öukame, ne na taUövete (= na xemjdta öükame, ne
na stolövete, auf den Boden schlagen wir — die Nägel — ein,
nicht auf Stühlen, 706); — mdta (= xemjdta , auf dem Boden),
antwortet er, als ich ihn fragte: wo ist (etwas)? — de e köikata
(= kokö&kata)? (wo ist die Henne? 706): — gdtite pdnnali {— gditite
pddnaliy die Hosen sind gefallen, 714); papd, pddat gdhtite (Papa,
es fallen die Hosen, 756); — papd, de büstite {= de sä obtUtata?
wo sind die Schuhe? 738); — känk*t (== kdmäkät, der Stein, 742); —
tüka tulam kdnktt {— tüka ite türja kdmäkät, hieher werde ich
den Stein legen, 742); — de Umite? {= de sä küimite? wo sind die
Teppiche? 746); — de e dxtbät? (wo ist die Tasche? 746); —
ntma go dltbät (es gibt sie nicht die Tasche, 746); — de e dovfkät?
(wo ist der Mensch? 746); — kazi — {na) — Vddo, Wjät
{=pet6ldt) iskam (sage — dem VI., ich will den Hahn, nämlich
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Eindersprache. 375
ein Spielzeug, 748); — de e llvät (= mölivät)? (wo ist der Blei-
stift? 748); — pak bäkam nösät {—pak ste ti bräkna v nösät,
wieder werde ich dir in die Nase — den Finger — stecken, 749) ; —
Ho n' döde döftolät? (= xaitö ne döjde döktorät? warum ist der
Arzt nicht gekommen? 752); — döftolät (= döktorät) ite döde da cüi
(= ceri) Vddo (der Arzt wird kommen, um VI. zu kurieren, 767); —
iskam pilönät (= piröndt, ich will den Nagel, 758); — n£ma
dxlmam köfite (= ntfma da xlmam — , ich werde die Eimer nicht
nehmen, 758); — gd'loto {= gdrloto, die Kehle, 767); — Vddo
iskam vidi gdloto} « nfmam gäloto (= na VL iskam da vidi v
gärloto, ax nemam gdrloto, dem VI., will ich, soll er in die Kehle
sehen, — nämlich der Arzt, — ich habe nicht die Kehle, d. h.
mir tut die Kehle nicht weh, 779); — xeml mUkoto (nimm die
Milch, 804); — skldcat (= skärcat) obuitata (es knistern die Schuhe,
878); — na ifloto (auf der Stirn, 879); — Sto imoJ v ustdta?
(was hast du im Munde ? 901) ; — xeml töja pilön (= pirön), de
toj e xa mäjstoUte {— mäjstorite, nimm diesen Nagel, denn er ist
für die Meister, 960). — Auch beim Adjektiv kommt der Artikel
schon ziemlich früh zum Gebrauch, so sagt der Knabe, wenn auch
eigentlich der Artikel nicht am Platze wäre, am 675. Tage : gole'm'to
glöxde (= goUmoto gröxde, die große Traubenbeere) ; maXkoto gtöxde
(die kleine Traubenbeere), wobei er mir eine große und eine
kleine Beere zeigt; — ebenso: 6to go gole'm'to, tto go mdlkoto
(hier ist die große, hier ist die kleine — Beere, 675); in allen
diesen Fällen wollte er aber vielleicht sagen: hier ist »eine«
große, kleine Beere, also nicht mit dem bestimmten Artikel; —
mdljkata (= mdlkata) lämpa (die kleine Lampe, 712) ; — de sä
(= sä) mdlkite? (wo sind die kleinen? d. h. Bausteine, 742); —
tüka sä mdlkite (hier sind die kleinen, nämlich Steine, 743); —
goUmoto kü6e äpe (= ehdpe), ne — mdlkoto — knie — dpe
(= chdpe, der große Hund beißt, nicht der kleine Hund beißt
751); — goUmite dpat (= chäpjat) konß (die großen Pferde beißen,
764); — ax bU6am {— ite obleid) goUmite bü&ti (= obü&ta, ich
werde die großen Schuhe anziehen, 808); — civoto {= sivoto) pdlto
(das graue Paletot, 712); — civoto köpie xeeh (den grauen Knopf
habe ich genommen, 751); — papd, de — {sä) — növite buiH
[=obuita)f (Papa, wo sind die neuen Schuhe? 738); — Uja
— {sä) — növite (das — sind — die neuen, nämlich Schuhe, 740) : —
növa — (Ii e) — tdja Mika (= kniika)? tdja tdla (= e stdra), de e
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I. A. Gheorgov,
novata? (ist neu dieses Büchlein? dieses ist alt, wo ist das nene?
764); hier ist interessant der richtige Gebrauch des Artikels neben
dem Auslassen desselben, wo er in der Tat nicht am Platze wäre. —
Interessant ist noch: de goUmija kon? (= de e goUmijat kotij? wo
ist das große Pferd? 762).
Der Artikel wird auch bei Numeralien sowie bei Pronomina
gebraucht; so sagt der Knabe: de dfnat? (= de e edinijat? wo ist
dereine? 694); — nemago (statt: gi) dvtte s&nceta (= wfnca, es
gibt sie nicht die zwei Ohrlein, nämlich am Pferde, 766); — sickoto
(das alle = das ganze, 672); — sickite köpceta zech (alle —
balg, mit dem Artikel — Knöpfe habe ich genommen, 751); —
'mi (= xemi) möeto (nimm das meine, nämlich Paletot, 749) ; —
tdja e möjta (= möjata); de e möjta? (das ist die meine; wo ist
die meine? 767); — mojat (der meinige, der meine, 816); — auch:
Vädovite goUmi sä (die des VI. — bulg. etwa: die Vladischen —
sind groß, 850).
Natürlich wird der Artikel oft auch falschlich nicht gesetzt,
wo er stehen müßte, und zwar kommt das auch ziemlich spät
vor: mUko — b&ncc (= bebtnceto) — Iska (Milch will das Beb-
chen, 677); — goUmo de? {de e goUmoto? wo — ist das — große?
683); — m gopilön (-= pirömlt, hier ist — der — Nagel, 694); —
cico bie konj (= könjät, der Onkel schlägt — das — Pferd, 700);
hier braucht beim Worte cico der Artikel nicht zu stehen, da der
Artikel bei Verwandtschafts Wörtern gewöhnlich nicht gesetzt wird; —
m/li go pilön (= nameri go piröndt, er fand — den — Nagel,
711); — papd, de konj (= e könjdt)? (Papa, wo — ist das —
Pferd? 738); — papd, de bei klak? {— de e btlijat krak? Papa, wo
— ist der — weiße Fuß? nämlich an seinem Spielzeuge, dem Pferde,
744); — de pop? (= de e popät? wo ist — der — Priester? 746);
neben (am selben Tage): de e dzöbät? (wo ist die Tasche? 746); —
de e covökät? (wo ist der Mensch? 746); — kälam toi (= kdram,
eigentlich: btitam stola, ich schiebe — den — Stuhl, 749); —
de gopilön? (= de go pir&nät? wo ist — der — Nagel? 758); —
vidam clsta Mpa {= da vtdja cistata kurpa, laß mich — das — reine
Sacktuch sehen, 761); — timtneka bicoJ, ax ne säm kdvach kevätce
möklo {— ti m6ne obtia*, ax ne säm naprävil v krevdtceto mökro,
du liebst mich, ich habe nicht naß — in dem — Bettchen gemacht,
768); — plach cistam (= prachd cistja^ — den — Staub reinige
ich, d. h. wische ich ab, 802); — pösle Uxnem vidim kücenca
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 377
(= pösle Ste ixUxern da vidim kütencata, dann werden wir aus-
gehen, um — die — Hündchen zu sehen, 818) ; — xaUo ntma tuka
edtn s&ertin da vödi konj (= könjät)? (warum gibt es hier nicht
einen Bauern, damit er — das — Pferd führt? nämlich auf einem
Bilde, wo bloß ein Pferd abgebildet ist, 894); merkwürdig ist hier
das Fehlen des Artikels, wo doch sonst die ziemlich komplizierte
Phrase so richtig ist; — tskam da idam (== ida) v tolovdja
(= stobvdjata, ich will in — das — Speisezimmer gehen, 941); —
ax katö sidna u bdnjata, ti mözeS da si ideh u s tolovdja (= — ta,
wenn ich in die Wanne mich setzen werde, kannst du in — das
— Speisezimmer gehen, 971) ; auch hier ist das Fehlen des Artikels
merkwürdig, besonders da derselbe beim Worte Wanne gesetzt
wird; es sieht aus, als ob das Kind das Speisezimmer als etwas
so Bekanntes betrachtet, daß es ihm fast wie ein Eigenname er-
scheint; deswegen ist es auch wahrscheinlich in der vorigen Phrase
ohne den Artikel gebraucht.
Manchmal wird wieder umgekehrt der Artikel gesetzt, wo er
nicht stehen sollte: mdUcoto (das Kleine), sagt er, als er unter ver-
schiedenen kleinen Münzen eine solche von 2y2 Cts. sieht und sie
in die Hände nimmt; der Artikel ist hier nicht am Platze, denn
sicherlich hat der Knabe sagen wollen: ein kleines — Münzlein,
672; — viz mdljko (== mdlko), viz goUmUo (= gotfnwto, siehe
— einen — kleinen, siehe den großen, nämlich Baustein, 675);
das erstemal wird hier der Artikel nicht gebraucht,' beim zweiten
Adjektiv dagegen ja; er wollte sicherlich sagen: »siehe einen
großen< und nicht »den großen«, wie er gesagt hatte: »siehe
einen kleinen«; — Vdnkata (= Ivdrika — Namen der Bedienten),
sagt er manchmal, also mit dem Artikel, was bulg. gar nicht ge-
bräuchlich ist, 751; — ax vtjam Co f lata (= ax iiv&ja v Sofia,
ich lebe in Sofia; der Eigenname Sofias ist also auch ganz falsch
mit dem Artikel gebraucht, 751); — mdlkijo nölo (= mdlkijat
noz, das kleine Messer, 789); o ist der dialektische Artikel der
Umgebung von Sofia für das männliche Geschlecht, und dieser
Artikel wird hier fälschlich sowohl dem Adjektiv als auch dem
zu ihm gehörenden Substantiv angehängt; — iskam da napdvät
(= naprdvjat) säs chltbät makalön {= makaröni sds chleb, ich
will, man soll machen Makaröni mit Brot, d. h. mit Bröseln,
917); — mMich diu kdnkät (= namärich edln kdmak, ich
fand einen Stein, 742); hier ist gar der Artikel einem Worte
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378
L A. Gheorgov,
angehängt, vor welchem auch noch der unbestimmte Artikel
steht!
Der unbestimmte Artikel, der im Bulgarischen selten ge-
braucht wird, da in solchen Fällen einfach das Wort ohne jeden
Artikel steht, kommt auch früh vor; doch kann man nicht immer
genau wissen, ob nicht das Wort manchmal vom Kinde auch als
Numerale gedacht wird: din kdn (= edin konj, ein Pferd, 658); —
Sdin goUm kuce dodtlo (= ednö goUmo kuce doilö, ein großer Hund
ist gekommen, 706); — din lap kasan (= edin cordp — (e tuka)
— skäsan, ein Strumpf — ist hier — zerrissen, 712) ; — papd, daj mi
edin kdnäk (= kdmdk, Papa, gib mir einen Stein, 743); — ednö
köpce kdsalo (= se e skdsalo) tuka (ein Knopf — ist — hier abgerissen,
753); — döftotät Übe vddese edin dxab (= döktardt Übe H ixvddi
edin xäb, der Arzt hat dir einen Zahn herausgenommen, 767); —
papd, ednd tuka mUka ixtfxnala, ax Ja videch (Papa, eine Maus
ist hier herausgekommen, ich sah sie, 806); — zastö nema tuka
edin selenin da vödi konj (= kunja)? (warum gibt es hier nicht
einen Bauern, der das Pferd fllhrt? auf einem Bilde, wo nur ein
Pferd abgebildet war, 894); — ax katö bädam (= bdda) gotem,
bte si küpam (= küpja) ednd zdltUka (wenn ich groß sein werde,
werde ich mir eine goldene Münze kaufen, 968).
Manchmal fehlt auch der Artikel, was übrigens im Bulgarischen
in vielen Fällen sogar durchaus richtig ist In folgender Phrase
ist der Artikel eher zu setzen gewesen: tülam tuka kdnäk (= iskam
da türja tuka edin kdmdk, ich will hier einen Stein legen, 742). —
Interessanter sind jedoch einige wenige Fälle, wo der unbestimmte
Artikel bei einem Nomen steht, welches schon den bestimmten
Artikel hat: goUmoto 'din kuce (der große ein Hund, 706); —
m4Uch 'din kdnkH {= nameYich edin kdmdk, ich fand einen Stein;
das Kind sagt aber: einen den großen Stein, 742).
Endlich seien noch einige Fälle von Anwendung des dialekti-
schen Artikels auf o angeführt: könjo (= könjät, das Pferd), mdl-
kijo nözo (= mdlkijat noz, das kleine Messer; beim Kinde mit
doppeltem Artikel, siehe S. 377), 789; — tuka dztbo (= v ditba,
hier in der Tasche, 808).
TL
Auch bei diesem Kinde kommt hin und wieder ein selbst-
gebildetes Wort vor, jedoch sind schon die Wörter nicht mehr
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 379
ganz neu erfunden, sondern eher in origineller Weise gebildet Zu-
dem sind bei ihm die Fälle äußerst selten; so habe ich in der
ersten Zeit nur das Verb cöpkam für cöplja (stöbern, 782) ange-
merkt; — viel später, als der Knabe schon fast sieben Jahre alt
war, bildete er sich das Substantiv cupdlo für Nuß- und Haselnuß-
knacker, von cupja (zerbrechen). — Ferner gebraucht das Kind
mit seinem älteren Bruder (siehe oben S. 275) das Verb sträknaehme
se (wir stürzten hervor, stürmten hin).
vn.
Das erste Adjektiv, welches der Knabe selbst aussprach, ist
goUit (= gorÜt, heiß, masc, 590) ; — dasselbe Adjektiv kommt
dann am 760. Tage wieder im Neutrum goU&to und am 764. Tage
in der längeren Rede: pdpe, pipni, gdUto e; da? gol&to e? (Papa,
rtthre an, es ist heiß; ja? ist es heiß?). — Das nächste Adjektiv
ist kdvo für kordvo (das Harte am hartgesottenen Ei; natürlich
verbindet er mit diesem Worte nur diese spezielle Bedeutung, ge-
braucht es also etwa im Sinne eines Substantivs an diesem Tage;
591); — dasselbe Adjektiv sagt er schon mit vollem Verständnis
erst nach einem halben Jahr: koläv {= kordv, hart, 782), und am
936. Tage gebraucht er das Wort in gleicher Bedeutung mit dem
Synonym tvärd, welches er an diesem Tage als täd ausspricht; —
lämo (= goUlmo, groß, neutrum; denkt dabei »Steinchen« hinzu,
versteht gut die Bedeutung dieses Wortes, 615) ; — lam (= gcMm,
groß), antwortet er mir, als ich ihm sage: du bist klein, 621; —
goUmo, 656; — moj goUm (mein groß, nämlich Nagel, 670); —
ne e mdlko — goUmo (es ist nicht klein — sondern — groß, 682),
entgegnet er mir, als ich ihm sage: das ist klein; — gol&mo de?
(wo ist das große? 683); — mdlko (klein, 616), wiederholter, als
er VL das Wort sagen hört ; und daß er dessen Bedeutung ver-
steht, zeigt der Umstand, daß er am selben Tage auch lämo
(== goUmo, groß) gebraucht; — mdlko, 656, 672; — m iskam
gottm, molk' (= mäWi, ich will nicht — einen — großen, —
sondern — kleinen, nämlich Nagel, 706); — mdlkata lampa (die
kleine Lampe, 712); überhaupt liebt er fortwährend die beiden
Wörter groß und klein zu gebrauchen; — bos (bloßfüßig — im
Sinne von: ich bin bloßfüßig; wie ich schon oben hervorhob, liebt
er in einzelnen Wörtern zu sprechen, seltener in ganzen Phrasen,
630); — fa lep (= chleb, pfui Brot, 605), wiederholt er, als ich
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I. A. Gheorgov,
ihm sage: tovd e fa c?Ueb (das ist pfui Brot) und ihm dabei ein
Stück unreines Brot zeige; — data fa? (= voddta e fa? das Wasser
ist pfui? 633), sagt er, nachdem er Wasser verlangt und ich ihm
gesagt hatte: voddta e fa; — H fa (= H si fa = los, du bist pfoi
= schlecht, schlimm, 656) ; — ti fa, papd cdca (du — bist — schlecht,
Papa — ist — gut, 669) ; — ne sam (= säm) fa (ich bin nicht
schlecht, 683), antwortet er, als ich ihm gesagt hatte: ti si loh
(du bist schlecht); — low (schlecht, 663); damit bezeichnet er die
auf dem Boden des Glases herumschwimmenden Teeblättchen in
in der Teetasse ; — ti loi (du — bist — schlecht, 669) ; — ne e loi
(ist nicht schlecht, 749), antwortet er, wenn man ihm sagt: Papa
ist schlecht; — ax ne säm loi (ich bin nicht schlecht, 779); —
iibavo (= chubavo, schön, 668), so antwortetet er, wenn man ihn
fragt: ist das schön? — ckübavi teVä {= dantitlki, schöne Spitz-
chen, 762); — ti si chübav (statt: döbra, du bist schön, statt gut,
767), sagt er zu seiner Mutter, als sie ihm sagt: ax ne sdm 161a
(ich bin nicht schlecht); — *oUdv (= kötivv, groß, wie groß,
646); — kolcdv, 694; — später wird dieses Wort zu bav, cdva,
705; — noch am 765. Tage sagt er: 'cav toj toi (= kOcav e töja
stol, groß ist dieser Stuhl); — nov, pl. növi (neu, 672); — viz,
nov gan (=jorgdn, siehe, neue Decke, 697); — nov toi (= stol7
neuer Stuhl, 710); — papd, daj növite büiti vidam (= da vidja,
Papa, gib die neuen Schuhe, damit ich sie sehe, 738, 740); —
de t£be növi bt'dti? (= de sd tvöite növi obuita? wo sind deine
neuen Schuhe? 742); — növa — (U e) — tdja nizka (= kn(zka)?
tdja — (e) — tdla (= stdla), de e növata? (ist dieses Büchlein
neu? es ist alt, wo ist das neue? 764); — 1dpi (= cordpi) cfsH
(Strümpfe reine, d. h. neue, 700); — vidam cfsta kd'pa (= da vidja
cistata kdrpa, ich will sehen das reine Taschentuch, 761); —
gldddn (= gldden) sdm, (skam läko (= mUko, hungrig bin ich, ich
will Müch, 706) ; — Ddnka — (e) - glctdna (D. — ist — hungrig,
811); — Cdnco mökdl (= Stnco e mökär, S. ist naß, 706); -
ax ne säm kdvach kevdtce möklo (= naprdvü v krevdtceto
mökro, ich habe nicht naß gemacht im Bettchen, 768); — ax kdvacii
möklo {= ax naprdvich mökro, ich habe naß gemacht, 771); —
dend (= stud&na, kalt, fem., 756) ; — vän deno (= vdn e studeno,
draußen ist es kalt, 789) ; — kdani (= kdlni, schmutzig, pl., 758) ; —
ax nemam kdani (= kdlni, ich habe nicht schmutzige, nämlich
Hände, 766); — böten (krank, 766); — ti ne si böten, Vddo —
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 381
(e) —sämo böten (du bist nicht krank, VI. — ist — nur krank, 789); —
töplo (warm, neutrum, 767); er sagt dieses Wort vom Ofen, nach-
dem er ihn mit der Hand berührt hatte, als er nicht heiß, sondern
nur ein wenig warm war; — vän — (e) — töplo (draußen — ist
— warm, 789); — väjo töplo? (= v stoloväjata töplo Ii e v6te? im
Speisezimmer — ist es schon — warm? 799) ; — tesen (eng, nämlich
der Schuh, 777); — toj leb n' ttba, tad (= t&ja chleb ne tre'ba,
tvärd e, dieses Brot ist nicht nötig, hart — ist es, 782); — tvdd
(= tvdrdj hart, 802) ; — täd {— tvärd, hart) und koldv (= koräv,
hart) wird in gleicher Bedeutung gebraucht, 936; — ti si glüpav
(du bist dumm, versteht aber wahrscheinlich nicht den Sinn,
789); — pläxna (= prdxna, leer, fem., 836); — mueto kävätce
(= krevdtce) e laxvaltno (= r — ), iskam da mi küpU d'ügo xdlävo
(= drugo xdrdvo, mein Bettchen ist verdorben, ich will, du sollst
mir kaufen ein anderes unversehrtes, 901); — gölo (nackt, näm-
lich das Kind, 901).
Aus späterer Zeit ist als merkwürdig hervorzuheben, daß er
noch bei 5 Jahren 7!/2 Monaten kiselo (sauer) statt bitter sagt.
Am 751. Tage gebraucht er ein Adverb im Sinne des Adjektivs:
vdnka (draußen) dxtmam pilon (= iskam da xtma pirön), womit
er sagen will: den draußen stehenden Nagel will ich nehmen.
Das Kind spricht meistens so, daß es das Adjektiv in Ge-
schlecht und Zahl immer dem betreffenden Substantiv oder dem
Subjekt anpaßt (im Bulgarischen richtet sich auch das prädikativ
gebrauchte Adjektiv nach dem Subjekt); besonders in der Zahl
herrscht fast immer vollkommene Ubereinstimmung; sehr selten
habe ich hierin Disharmonie beobachtet: am 615. Tage habe ich
vielmals goUm'to (statt: goUmoto, das große) angemerkt, während
am selben Tage wieder mehrmals richtig malkoto (das Kleine)
gesagt wird; jedoch kann das Fehlen des o im ersten Falle auch
durch schnelles Aussprechen erklärt werden; — Hin goUm (masc,
statt: ednö golemo} n., knie doMo (= doslo, ein großer Hund ist ge-
kommen, 706); — ebenso: goUmoto ydin (statt: ednö) kiice (der
große eine Hund, 706), jedoch am selben Tage auch richtig: golemo
kuce\ — glddna (fem.) säm, neben dem richtigen: gldden säm
(ich bin hungrig), sagt er von sich selbst;2) — ti si chübav (statt:
1) golem ist masc, golemo n.; to ißt der sächliche Artikel.
2) >Die ersten Anfänge usw.« S. 364, Fußnote; ebenso hier weiter oben
8. 275.
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382
I. A. Gheorgov,
chübava, du bist schön, womit er sagen wollte : da bist gut, 767) ; er
sagt dies seiner Mutter, trotzdem sie ihm Torher gesagt hatte: ax
ne säm lö$a (ich bin nicht schlecht) und er an dem Worte löia
hätte sehen müssen, daß er auch mit der Form des Femininums
hätte antworten mtlssen. — Sonst akkordiert er richtig die Ad-
jektiva, welche ziemlich oft gebraucht werden; so z. B.: ednö köpce
kdsalo (= se skdsalo) tüka (ein Knopf — ist hier — abgerissen,
bulg. alles neutrum, weil Knopf ein Neutrum ist, 753); — tisipö-
golem, % mamd e pö-golema (du bist größer — sagt er zu mir — ,
und die Mama ist größer, 874).
Interessant sind die mit dem Artikel versehenen Maskulina
der Adjektiva, besonders im Akkusativ, welche richtig gebraucht
werden; aber fast immer erscheinen diese Formen am Adjektiv
»groß« : ax goUmia, ti mdlkia (ich den großen, du den kleinen,
zu ergänzen: Nagel werden wir nehmen, 751); — ax goUmia
dxtmam (= hte xöma, ich werde den großen, nämlich Nagel,
nehmen, 751); — de — [e) — goUmija konjf (wo — ist — das
große Pferd? bulg. masc, 762); — ax töja tarn mdlkija kovdch
{= xakovdch), ti goUmija (ich habe dort den kleinen, nämlich Nagel,
eingeschlagen, du den großen, 767).
Interessant ist noch das possessive Adjektiv, gebildet von dem
Eigennamen seines Bruders, wie es oft im Bulgarischen geschieht:
Vädovite goUmi sä (die von VI. sind groß, etwa: die Vladischen,
850); — tovd e Vädovo (das ist des VI., 861); — Vädovite ioUipi
(= cordpiy Vl.s Strümpfe; etwa: die Vladischen Strümpfe,
866); — ne e töja wo/', töja e Vddov (nicht mein ist dieser, er ist
des VI., 891).
Endlich seien hier noch die Farbenbezeichnungen angeführt:
am 712. Tage sagt er: civoto {— slvoto) pdlto (das graue Paletot),
ebenso am 725. Tage: civoto köpce xech (den grauen Knopf habe
ich genommen), jedoch denke ich nicht, daß er genau die Farbe
unterscheidet; eher will er damit nur ein bestimmtes Paletot und
einen bestimmten Knopf bezeichnen; — papd, de bei klak (= beUjat
krak)? (Papa, wo ist das weiße Bein? nämlich des Pferdchens —
seines Spielzeuges, welches wirklich ein weißes Bein hatte, 744); —
beTOj ce}veno (= cervenoy weiß, rot), so benennt er seine Bausteine
richtig nach den zwei Farben derselben — grau und braunrot,
762); — ce'vena (= cerv&ia) jdbdlka (roter Apfel, 781), so nennt
er einen wirklich roten Apfel; — am 858. Tage erkennt er
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kinderaprache. 383
immer grün (xelenä), blau (s-inja) fast immer, rot [cervena) jedoch
nicht so sehr, wenn er es auch oft richtig benennt; — imas Ii
ce'ven möliv da ptiei ce'veno? (hast du einen roten Bleistift,
nm rot zu schreiben? 901): an diesem 901. Tage erkennt er so-
fort rot.
VIII.
Entsprechend der allgemeinen rückständigen sprachlichen Ent-
wicklung ist bei meinem zweiten Sohne auch die Komparation
selten zum Gebrauch gekommen. Alles in allem habe ich folgende
Komparative beobachtet, welche alle bloß an Adjektiven vor-
gekommen sind, während fast kein Fall von adverbialer Kom-
paration und gar keine Superlativform vorgekommen ist: H si
pö-golem, i mamd e pö-golema (du bist größer, und die Mama ist
größer, 874); — ja kuUco e pö-golema! (siehe, wie viel sie größer
ist! 882); — Umet (= kogdto stdnei) pö-golem, i tja tdrw (= kte
stäne) pö-golema (wenn du größer wirst, wird sie auch größer
werden; es handelte sich um ein von Bausteinen errichtetes Häus-
chen — bulg. ist das Wort Haus ein Fem., 882); — möjata e
pö-golema, tvöjata e pö-malka (die meine ist größer, die deinige
ist kleiner; es handelte sich wieder um ein Häuschen, 882); —
Uja sä pö-novi (diese sind neuer, 900). Interessant ist in allen
diesen Fällen die vollkommene Anpassung des Adjektivs in
bezug auf Geschlecht und Zahl an das Subjekt.
Von den Adverbien gebraucht der Knabe nur den Komparativ
mehr, und zwar ziemlich oft: rö'ece (= pövece, mehr), sagt er,
wenn man ihm Suppe gibt, und will damit sagen, man solle ihm
mehr davon geben, 646; — pövece cilpa (— süpa, mehr Suppe,
d. h. will ich, 705); — pövece meneka (mehr mir, 751); — pövece,
— Übe (mehr, — dich), antwortet er, wenn ich ihn frage, wen
er mehr liebt, 752). — Zweimal gebraucht er dieses Wort im
Sinne von »viel« (= mnögo) in folgenden Phrasen: ax poch
(— spach) pövece (ich schlief mehr = viel , 706) ; — ax pövece
spach (ich schlief mehr = viel, 761).
IX.
Von den Numeralien sind folgende beobachtet worden: am
643. Tage sagt er zum erstenmal: äste (= öhte) ednu (noch
eins); — din kän (= edin konj, ein Pferd, 658); — äste ednö
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384
I. A. Gheorgov,
köie (= köpce, noch ein Knopf, 670), so sagt er, als er noch
einen Knopf sieht; — dann wieder am 694. Tage: öste ednö
köpce; — öSte ednö glöxde (= gröxde, noch eine Traube, 675); —
tüka öite 'din kun'k (= tüka ima öite edin kdmdk, oder: tto
öste , hier gibt es noch einen Stein, oder: hier ist ,
742); — 'no jid»na (= ednö pddna, eines ist gefallen, 683); —
ima cdmo 'din tot [= ima sdmo edin stol, es gibt nur einen Stuhl,
764); — de go öste edin dxulj? {= de e öite edin fasül? wo ist
noch eine Bohne? 766); — az edin kovdch (== xakovdch, ich habe
— nur — einen, nämlich Nagel eingeschlagen, 767); — öste ''diu
ddtin mine (= öste edin solddtin mindva, noch ein Soldat geht
vorüber, 812); — und mit dem Artikel: de dinat? (= de e
edinijat? wo ist der eine? 694). — In einigen Fällen ist es nicht
genau zu unterscheiden, ob das Kind edin im Sinne des Zahl-
wortes und des unbestimmten Artikels gebraucht: edin goUm küie
dodt'lo (= ednö gotemo küce dodlo, ein großer Hund ist gekommen,
706); — goUmoto "diu (= ednö) ktlee (der große eine Hund, 706); —
din lap käsan (= edin cordp — e tüka — skdsan, ein Strumpf
— ist hier — zerrissen, 712); — papd, daj mi edin kdnäk
{=kdmdki Papa, gib mir einen Stein, 743); — 'din (= edin)
goUm pdst (= pärst), 'din mdldk pdst (ein großer Finger, ein
kleiner Finger, 744); dabei zeigt er auf die Finger meiner Hand; —
'din püön dxAmei (— edin pwön ite %6mei, einen großen Nagel
wirst du nehmen, 746); — daj mi 'din galös*! (gib mir einen
Gummischuh! 748); — ednö köpce kdsalo (= se skdsalo) tüka (ein
Knopf — ist — hier abgerissen, 753).
Am 740. Tage erkennt er sehr gut »zwei«; — dva töli (=sft&i,
zwei Stühle, 764); — nima go (= gi) dv€te Mnceta (= täenca,
es gibt sie nicht die zwei oder die beiden Ohrchen, nämlich an
seinem Pferde, dem Spielzeuge, welchem die beiden Ohren ab-
handen gekommen waren, 766); — n&noJ tixe (= ti) dve, du hast
nicht zwei, 771); — am 874. Tage unterscheidet er gut zwei und
drei [dve und tri)\ — t dväta (= dvdmata) da vidim (beide sollen
wir sehen, 875); — dva, dväta (zwei, die beiden, 878); — nie
jddochnie po dve ceUH (= cereH, wir aßen je zwei Kirschen,
941). — Die anderen Numeralien, sogar drei, kommen in der
Sprache nicht vor.
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindereprache. 385
X.
Über das Auftreten der Personalpronomina der ersten und
zweiten Person habe ich mich ausführlich in meiner Abhand-
lung Uber den sprachlichen Ausdruck des Selbstbewußtseins ver-
breitet; hier will ich nur das Hauptsächliche darüber anfuhren,
wobei manches richtiggestellt werden mag. Das Personal-
pronomen der ersten Person tauchte am 586. Tage auf, im
Dativ am 623. Tage {mene, mir), am 643. und 705. Tage (m' = mi
und mi} mir), im Akkusativ am 623. Tage {m6ne, mich) und am
679. Tage ?ne, mich). In meiner ersterwähnten Abhandlung
habe ich auf S. 387 für den Dativ mene den 644. Tag als ersten
Tag angegeben, wobei ich mich nach dem auf S. 373 Gesagten
richtete; wenn man aber noch frühere Sprechversuche dieser Art
mit in Rechnung nimmt, wie sie auf S. 361 angeführt worden
sind, so muß man eigentlich als ersten Tag des Erscheinens dieses
Pronomens den 623. annehmen; ebenso ist für den Akkusativ
derselben Form mtne der 644. Tag angegeben worden, während
auch nach dem auf S. 361 Gesagten wieder der Anfang ebenfalls
auf den 623. Tag festgesetzt werden mußte. Jedoch sind natür-
' lieh diese Kasusformen damals noch nicht fest angeeignet, denn
am 623. Tage rief der Knabe auch, kurz vor dem Gebrauch des
mene, als er sah, wie wir etwas seinem Bruder geben wollten:
as, as (ich, ich), statt: mene (mir). — Am 626. Tage sagt er auch,
wenn er will, daß wir auch ihm etwas geben sollen und nicht
bloß seinem Bruder: mSne (mir); so sagt er auch von sich, indem
er auf sein Bild zeigt: er wollte damit sagen: ich, das bin ich. —
Auf S. 387 unten ist auch meneka (volkstümlich für: mir) am
751. Tage zum erstenmal angeführt; wenn man jedoch die S. 383
zitierte Phrase auch in Betracht zieht, so kann man als ersten
Tag dieser Form auch den 744. Tag anführen, da an diesem Tage
das Kind sagte: tovd mtneka (dieses mir, vielleicht auch in der
Bedeutung von: das ist für mich). — Von den Dativformen seien
noch folgende, worunter manche sehr interessante angefahrt: daj
mi lep (= chleb, gib mir Brot, 705); — mdUeo mi sä (wenig sind
mir — diese, 744); — vddi mi! (= ixvadl mi! nimm mir heraus!
744); — obüj mi! (ziehe mir an! 766); — 'de {=jad4) mi se (es
ißt sich mir = ich habe Verlangen zu essen, 712, 782); — pte mi
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386
I. A. Gheorgov,
se (es trinkt sich mir = es verlangt mich zu trinken, 712); —
ple mi (= se, 782).
Manchmal wird natürlich das Personalpronomen anch aas-
gelassen, nnd zwar auch ziemlich spät, wenn auch selten: 'fo ti
ne btcai? (= xaitö ti ne — me — obicaif warum liebst du —
mich — nicht? 766) ; — What (= da — me — oblebät, man
soll — mich - anziehen, 777); — btthei (=da — me — sdbleZM,
du sollst — mich — ausziehen, 779).
Hier sei noch angeführt, daß dieses Kind nur ein einziges
Mal seinen Kamen genannt hat, aber nicht von selbst, sondern
auf unsere Veranlassung hin. Als wir ihn nämlich am 749. Tage
fragten, wer er sei, antwortete er: idna (= Jtenja), während er
bis dahin fortwährend hartnäckig auf alle ähnliche an ihn ge-
richtete Fragen keine Antwort gab, seinen Kamen selbst durch-
aus nicht sagen wollte. (Siehe hierüber meine Abhandlung über
das Selbstbewußtsein, S. 356—357.)
Das Personalpronomen der zweiten Person erscheint am
643. Tage (ohne Verbum) und am 683. Tage (mit Verbum). Auf
S. 388 meiner soeben erwähnten Abhandlung ist für den letzten
Fall fälschlich der 758. Tag angegeben worden, während schon
früher Fälle von Gebrauch des Personalpronomens mit dem Verbum
vorkommen; so sagte der Knabe am 683. Tage: H — ddvai —
mene (= ti ite mi ddvai mene, du wirst mir geben, nämlich beim
Essen); — ferner: Plödiv ti — tide — mene — könce küpU
(= v Ptövdiv ti ottde da mi hipU könceto, nach Philippopel fuhrst
du, um mir das Pferd zu kaufen, 694); die beiden Sätzchen sind
in meiner erwähnten Abhandlung auf S. 373 zitiert; — es seien
noch folgende Fälle angeführt: ti si wulka (= kosteniirka, du bist
eine Schildkröte, 705); so antwortet er seinem Bruder, als dieser
ihm sagte: du bist eine Schildkröte; — mich ax, ne ti (= ax se
mich mm, m ti, ich wusch mich selbst, nicht du — hast mich
gewaschen, 706); — ti si bämbal (= brämbar, du bist — ein —
Käfer, 740). — Auch folgende Sätzchen mit Gebrauch des Pro-
nomens zur Verstärkung des Imperativs sind interessant: Vddo,
sk'ij {=skrij) gi ti, — [da) — ne gi vidi papd (VI., verstecke da
sie, — damit — sie der Papa nicht sieht, 864); — kaci se ti da
vidU (steige du, damit du siehst, 894); — dä'H (= dräx) ja ti da
ti pokdzam (= pokdza), ntma da ja z&nam [— xema, halte du
sie, — nämlich das Buch, — damit ich sie dir zeige, ich werde
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kinderaprache. 387
sie nicht nehmen, 895); — sbeli (= säberi) ti, sickite ne mözam
(= möza, sammle du sie, ich kann nicht alle — sammeln, näm-
lich die zerstreuten Steine, 898).
Im Dativ ist das persönliche Pronomen der zweiten Person
am 658. (H = dir) nnd am 670. Tage (Ufte = dir) aufgetreten.
Vom Dativ seien hier noch einige Sätzchen angeführt: döftolät
{= döktordt) tSbc vddeie (= ixvddi) edin dxab (= xab, der Arzt
hat dir einen Zahn herausgezogen, 767); — kadf {— häd6) Ii
e 'Uvät {= mölivät) da plieS? (wo ist dir der Bleistift, damit du
schreibst? 901). — Besonders oft wird der Dativ Übe im Sinne
von tvoj (dein) in der ersten Zeit, ja sogar noch später gebraucht:
e*to go tüka Übe (hier ist es dir, le voila ä toi, womit er meinte:
hier ist dein Bett, 676), wobei er auf mein Bett zeigte, nachdem
er gesehen hatte, wie sein Bruder das Bett seiner Mutter zeigt
und es ihr Bett nennt; — dtbe oder Übe kniga? (dir — gehört
das — Buch? statt: ist es dein Buch ?.t 678); er gebraucht oft
dtbe? oder tibe? allein an diesem Tage, wenn er fragt, ob etwas
mir gehört; — tovd Übe i tovd Übe? (das — gehört — dir und
das dir? 684); — 4to go Übe (= tto tvöjay hier ist der deinige,
702); — tox gan (=jorgdn) t4bef (diese Decke — gehört — dir?
714); — de ttbe növi biäti (richtig eigentlich: de sd tvöite növi
obüitaf wo sind deine neuen Schuhe? 742); — Übe tti sä? (dir
sind diese? 802); — papd moj, mamd Ubeka (statt: tvöja; Papa
— ist — mein, Mama dir, statt: dein, 789).
Vom Akkusativ kommt selten die Form te vor, welche sehr
selten gebraucht und oft auch unrichtig durch Übe ersetzt wird;
so sagt der Knabe neben: ax mich te {— ax te micti^ ich wasch
dich, 779) nur noch einmal: ax te vd'nach {— värnach = stfgnach,
ich holte dich ein, 861), jedoch noch am 921. Tage zieht er vor
zu sagen: ite xaköle?ne t6be (statt: Ste te xakölem, wir werden dich
schlachten). Das seltene Auftreten dieser Form te ist auch bei
meinem ersten Sohne konstatiert worden (S. 284).
Das Personalpronomen der dritten Person männlichen
Geschlechts kommt bei meinem zweiten Sohne viel früher vor
als beim ersten. Es erscheint am 760. Tage mehrmals: toj meneka
cunal (— toj me celüna, er hat mich geküßt, 760); — ne toj pi
(= toj ne spi, er schläft nicht, 760); — jedoch wird am selben
Tage das Wort auch in dem Sinne von go — ihn gebraucht:
nerna toj Cento (= n4ma go Stnlo, es gibt ihn nicht Senco); —
Archiv für Psychologie. XL 26
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388
L A. Gheorgov,
dann am 960. Tage: xemi toja püön (=pirön), de toj e xa
mdjstolite (= mdjstorite, nimm diesen Nagel, denn er ist für die
Meister). — Im Akkusativ kommt dieses Personalpronomen
natürlich auch hier früher und öfter vor: äto (= 6to) go (hier ist
er, bulg. mit dem Akkusativ, gleich: le voila, 644); so antwortet
er, wenn ich ihn frage: wo ist Papa? — 6to go tarn (dort ist er,
le voila lä-bas, 681); — ntma go cico (es gibt ihn nicht den
Onkel, 688); — nima go tuka Lov (= Stambolov , es gibt ihn
hier nicht den Stambolov, 710, 744); — meli {= nameri) go püon
(z=pirwia7 finde ihn den Nagel, 711); — de go 'Lot ? (wo ist er
Stambolov? bulg. mit dem Akk., 711); interessant ist hier der
Gebrauch des go (ihn), welches als Pleonasmus hinzugefügt ist, aber
ganz nach den Regeln der Volkssprache; — n/rna go dzeoät (es
gibt sie nicht die Tasche, 746); — daj mi go klljam (= da go
skrija, gib mir ihn, um ihn zu verstecken, 746); — de go? (wo
ist er? 758, 770); — de go püon (= piröna)? (wo ist er der
Nagel? 758); — ne iskam go, lax {— i ax) ne iskam (ich will ihn
nicht, auch ich will nicht, 765); — de go öite edin dxidj (= fasut)?
(wo ist sie noch eine Fisole? 766); — te {= 6to) go (hier ist er,
770). — Einmal wird der Akkusativ durch den Nominativ aus-
gedrückt: ntma toj (statt, go) Seni-o (es gibt ihn nicht Senco,
760). — In der ersten Zeit wird manchmal, aber äußerst selten,
das Pronomen auch ausgelassen: ax sam gUdam (= da go
gUdam, ich selbst will — ihn — schauen, 683); — pak dddei
gUdam (= pak da mi go dadtö da go gltdam, du sollst — mir
ihn — wieder geben, um — ihn — zu sehen, 710).
Auch hier fehlt vollständig die längere Form lUgo wie bei
meinem ersten Sohne; merkwürdig ist es, daß in der dritten
Person dies bei beiden Knaben der Fall ist, während dagegen in
der ersten und zweiten Person die längere Form bei beiden be-
vorzugt wird. — Ebenso fehlen bei diesem Kinde vollständig die
beiden Formen des Personalpronomens der dritten Person im
Dativ (hm und ntmu, ihm), während bei meinem ersten Sohne
wenigstens die erste Form, wenn auch spät und nicht so oft, ge-
braucht wird. Allerdings kommt auch diese Form (mu) bei dem
ersten Kinde zum erstenmal am 982. Tage, als ich also mit den
Aufzeichnungen meines zweiten Sohnes, welche bloß bis zum
9S$. Tage fortgesetzt wurden, fast aufgehört hatte.
Das Personalpronomen der dritten Person im Femininum
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kinderaprache. 389
kommt auch bei diesem Kinde wie beim ersten nur ein einziges
Mal vor, und zwar wieder früher, mit etwa 100 Tagen, als beim
ersten Kinde: tu-nei (= kogdto stdneS) pö-goUm, i tja tdne {—ite
stäne) pö-goiema (wenn du größer wirst, wird sie, nämlich das
von Bausteinen aufgerichtete Haus, bulg. fem., auch größer werden,
882). — Früher und öfter wird dagegen der Akkusativ desselben
Pronomens gebraucht: papäy ednd tüka mtika ixlöxnala, ax ja
vldech (Papa, eine Maus ist hier herausgekommen, ich habe sie
gesehen, 806); — dd'H (= drux) ja ti da ti pokdzam (= pokdza),
ntma da ja xtmarn {=xdmay halte du sie, nämlich das Bilder-
buch, bulg. fem., damit ich dir zeige, ich werde sie nicht nehmen,
895); — Sto ja goUmata muchd (hier ist sie die große Fliege,
bulg. im Akkusativ: la voilä la grande mouche, 898); — ax katö
bädam {— bdda) gottm, &te si kupam (= kupja) ednd xälticka i
ntma da ti ja dam (wenn ich groß sein werde, werde ich mir
eine goldene Münze kaufen und werde sie dir nicht geben, 968). —
In früherer Zeit wird wie bei meinem ersten Sohne der Akku-
sativ des weiblichen Personalpronomens durch den Akkusativ des
männlichen und sächlichen Pronomens (go) ausgedrückt: dto (= tto)
go (hier ist sie, la voila), antwortet das Kind, wenn ich es frage,
wer auf dem Bilde ist und ihm dabei seine Mama zeige; dieselbe
Antwort bekomme ich, wenn ich auch nach dem Papa frage
644); — dto go mfne (hier ist sie mir, — wobei er auf die Suppe
zeigt, 660); interessant ist es, daß die zwei Sätzchen mit der
Mama und mit der Suppe auch bei meinem ersten Sohne die
beiden Fälle ähnlichen Gebrauchs des weiblichen Personalpro-
nomens sind (S. 286); bei meinem zweiten Sohne hört jedoch
dieser fehlerhafte Gebrauch viel früher auf als beim ersten Sohne;
überhaupt ist jener Letzterem im Gebrauch der Pronomina immer
im voraus, trotzdem er in der Sprache im allgemeinen hinter ihm
steht, da er mehr in einzelnen Wörtern und kurzen Sätzen spricht,
während der Ältere in längerer Rede zu plaudern liebt.
Das Personalpronomen der dritten Person im Neutrum
habe ich im Nominativ nicht ein einziges Mal beobachtet, also
ganz wie bei meinem ersten Sohne, denn bei diesem habe ich es
zwar einmal angemerkt, jedoch zu einer Zeit, als bei meinem
zweiten Sohne schon längst die Beobachtungen aufgehört hatten,
nämlich am 1310. Tage, während, wie ich schon oft hervor-
gehoben habe, beim zweiten Kinde die Beobachtungen schon mit
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890
I. A. Gheorgov,
dem 986. Tage aufgehört hatten, also faßt ein Jahr früher. Der
Akkusativ des Neutrums, der dem Maskulinum gleicht, ist natür-
lich schon früh aufgetreten; so sagt das Kind schon am 675. Tage:
Ho go mdlkoto, 6to go golärito (hier ist das kleine, hier ist das
große, nämlich Steinchen; le voila le petit, le grand); — 6to go
tüka Übe (hier ist es dir, wohei er auf mein Bett zeigte, als er
sah, wie VI. das Bett seiner Mutter zeigt und es ihr Bett nennt,
676); — tüli (= tur't) go tarn! (stell es hin! 693); — nema go
kopeeto (es gibt ihn nicht den Knopf, bulg. neutrum, 706); —
xemi mltkoto, glej (= sgrej) go! (nimm die Milch, erwärme sie,
bulg. neutrum, 804); — vdle ntma go momcöto (es gibt ihn schon
nicht den Knaben, — nämlich auf einem Bilde, wo er den Knaben
mit seiner Hand zudeckt, 901); — manchmal wird auch das
Personalpronomen ausgelassen, jedoch — in späterer Zeit —
sehr selten: amt ax xtmam (= ite go xtma, aber ich werde es
nehmen, 882).
Öfter und ziemlich früh erscheint das Personalpronomen der
ersten Person des Plurals im Nominativ: nie pim ra&foz
(= nie He piem dntska, wir werden heute trinken, nämlich Schoko-
lade, 749); — nie iskame (wir wollen, 765); — papd, nie tüka
bäichme (= säbirachme) kostilki, pa tüka fdltchme (= gi chvärl-
jachme, Papa, wir sammelten hier die Kerne, und dann warfen
wir — sie — hieher, 871); — nie si kupichme tdpki i si igldekme
{= igrdchme, wir haben uns Bälle gekauft und haben uns gespielt,
896); — nie hte ixtfxcm, a Stn'co ntma, ce dura rttal (= dücha
vttär, wir werden ausgehen, aber Senco wird nicht, denn es weht
Wind, 915); — nie ne item da piem mUko (wir wollen nicht
Milch trinken, 921); — nie jddochme po dre ceUfü (= certM, wir
haben je zwei Kirschen gegessen, 941); — nie ftba (= trfba) da
sc dd'xim (= ddrzim), ce sme mälki (wir müssen uns halten, denn
wir sind klein, 986). — Die anderen Kasus von diesem Pro-
nomen sind gar nicht beobachtet worden, ebenso wie beim ersten
Kinde, welches nur sehr spät (am 1287. Tage) ein einziges Mal
den Dativ davon gebraucht hat. Das ist eine merkwürdige Tat-
sache, welche ich auch beim ersten Kinde hervorgehoben habe
(S. 287).
Die zweite Person des Personalpronomens im Plural ist
von diesem Kinde gar nicht gebraucht worden. Vom ersten
Kinde ist der Nominativ auch nur ein einziges Mal gebraucht
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Ein Beitrag aar grammatischen Entwicklung der Kinderepracbe. 391
worden, and zwar am 1001. Tage, und der Akkusativ zweimal
noch später, am 1053. und 1102. Tage (S. 287).
Die dritte Person des Plurals kommt auch bei ihm nur
im Akkusativ vor, während der Nominativ gemieden wird; so
sagt das Kind: tüka n4ma gi, dügata tdja (statt: te sä v drügata
stdja, hier gibt es sie nicht, — sie sind — im anderen Zimmer, 811),
wo der Akkusativ ausgedrückt, dagegen der Nominativ ver-
schwiegen wird. Der Akkusativ kommt sogar sehr früh zum
Gebrauch, schon am 706. Tage, an welchem das Kind sagt: 6to
gi püjkite (hier sind die Truthühner, les voilä les dindes); wie
sehr das Kind den Plural vom Singular des Pronomens an diesem
Tage unterscheidet, zeigt die richtige Anwendung des Numerus
am selben Tage in dem Sätzchen: ntma go köpceto (es gibt ihn
nicht den Knopf); — dignacha 'gi (man hat sie weggenommen,
861); — VddOj sk'ij (= skrij) gi ti, — {da) — ne gi vidi papd
(VI., verstecke du sie, — damit — der Papa sie nicht sieht,
864). — Hin und wieder wird das Pronomen, besonders in der
ersten Zeit, ausgelassen: j)apd, daj vldam (= daj da gi vfdja, Papa,
laß — sie — mich sehen, 738); — papd, daj növite bttiti (= obüsta)
vidam (= da gi vfdja, Papa, gib die neuen Schuhe, daß ich —
sie — sehe, 738); — ja sogar noch am 871. Tage: papd, nie tüka
häiehme {—säblrachme) kostflki, pa tüka fälichme {=gi chrärljachme,
Papa, wir sammelten hier die Kerne, und dann warfen wir — sie —
hieher, 871). — Einmal ist in früher Zeit auch das Pronomen
im Singular statt desjenigen im Plural gebraucht worden: n6ma
go (statt: gi) dvtte töiceta (= uiönca, es gibt sie nicht die zwei
Obrchen, 766).
Das Reflexivpronomen (siehe S. 374 — 375 meiner Abhandlung
Über den Ausdruck des Selbstbewußtseins) kommt zuerst in der
ersten Person Singularis vor, und zwar schon am 673. Tage,
während bei meinem ersten Sohne dasselbe Pronomen zuerst in
der dritten Person am 719. Tage erscheint; es hängt dies mit
dem Umstände zusammen, daß dieses Kind meist von sich zu
sprechen liebt und früh die Personalpronomina braucht. Die Fälle
des Gebrauchs des Reflexivpronomens in der ersten Person Sing,
im Akkusativ sind schon in der zitierten Abhandlung S.374 — 375
angeführt worden. — In der ersten Zeit kommt natürlich sehr oft
das Auslassen dieses Pronomens vor. Außer den in der erwähnten
Abhandlung angeführten wenigen Fällen (S.375) seien noch folgende
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392
I. A. Gheorgov,
in der ersten Person Sing., welche meist von früher Zeit sind, an-
geführt: Wtech (= obUkoäi se, ich zog — mich — an, 677, 760); —
kdham (= kdham sc, ich steige hinauf, bnlg. reflexiv, 700); —
iskam kdham tvlija {— iskam da se kacd na stula, ich will auf den
Stuhl steigen, 766) ; — ax Mach könja (= ax se kactch na könja,
ich stieg aufs Pferd, 787); — midi ax (= ax sc mich — sam\
ne ti (ich wusch — mich — selbst, nicht du — hast mich gewaschen,
706) ; — mijam (= mija se, ich wasche — mich, 760) ; — kdjmm
[=z=kapja se, ich bade, bnlg. reflexiv: je me baigne, 760, 804); —
kdpach (=käj>ach se, ich habe gebadet, 804); — ax hujam {—ax
se bojd, ich furchte — mich, 765); — ax höim zctfxnica (= ax se bojd
ot ielfxnieata, ich furchte — mich vor der — Eisenbahn, 800) ; — ax
cdsach (= ax sc lu-Ssach) chübavo (ich kämmte — mich — gut, 767).
Auf S. 375 meiner erwähnten Abhandlung habe ich fälschlich
gesagt, daß das Reflexivpronomen im Dativ nur in der zweiten
Person vorgekommen sei, was mit dem auf S. 388 dort Ange-
führten nicht stimmt, denn dort ist der Dativ anch in der ersten
Person am 893. Tage angegeben, und zwar in der S. 371 ange-
führten Phrase: &te stdnam (= stäna) da si napktvam (—naprdija)
ich werde aufstehen, damit ich mir mache, nämlich wahrscheinlich
ein Häuschen. In späterer Zeit hat das Rind dieses Pronomen
auch in der ersten Person des Singulars und des Plurals gebraucht,
wenn auch selten; so im Singular in der soeben zitierten Phrase.
Der Zeit nach kommt dann das Reflexivpronomen in der
dritten Person des Singulars im Akkusativ; es erseheint
dieses am 712. Tage: 'de (= jade') mi sc (ich habe Verlangen zu
essen; wörtlich: es ißt sich mir, 712, 737, 782): — ebenso: pie
mi se (ich habe Verlangen zu trinken, 712): — pi (— spi) mi se
(ich bin Bchläfrig = es schläft sich mir, 785) ; — giibi (= xaaubi)
se (es verlor sich, es verschwand, 753, 764); — mfe (= smec) se
(er lacht, bulg. reflexiv, 782): — tfihilja [= tdrkdlja) sc tdja makata
[= makard, es rollt diese Spule, 878): — ne rnöse da se ixvddi,
xakordno e (es kann nicht herausgenommen werden, bnlg. reflexiv:
es kann sich nicht herausnehmen, es ist festgenagelt, 901). —
Natürlich kommen, und nicht bloß in der ersten Zeit, Fälle mit
Hinweglassung des Reflexivpronomens vor: kdH (= kdeva se, er
steigt, 633); — pfe mi (mit ungewöhnlicher Hinweglassung des
Reflexivpronomens, statt: pti mi se, ich habe Verlangen zu trinken,
712, 782); — kdsalo (== skäsalo se, es ist abgerissen, bulg.: es hat
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 393
sich abgerissen, 749); — ednö köpee kdsalo {— se skäsalo) tüka
(ein Knopf hat sich hier abgerissen, 753); — gubi töja pü&n
(= ite se xagubi töja pirön, es wird sich dieser Nagel verlieren,
765); — Vddo kdpe (= He se käpe), pösle ax (VI. wird baden, her-
nach ich, 782); — i — (na) — stolövete ne Übe pih (= ne trtba
da se ptie, auch auf die Stühle darf man nicht schreiben, 893). —
Im Dativ kommt diese Person nicht vor.
Das Reflexivpronomen der zweiten Person kommt im Ak-
kusativ am 748. Tage vor. Außer den S. 375 meiner erwähnten
Abhandlung angeführten Fällen dieses Pronomens sei hier noch
folgendes Sätzchen erwähnt: ka6i se H da vldü (steige du hinauf,
um zu sehen, 894); — die Fälle des Auslassens sind ebenfalls
dort angefahrt. — Was den Dativ dieses Reflexivpronomens der
zweiten Person anbelangt, so sei außer den zwei Sätzchen, die
dort wieder zitiert sind, noch folgender Fall angeführt: ax katö
sAina u bdnjata, H mözei da si ideS u stolovdja (wenn ich mich
setzen werde in die Wanne, kannst du in — das — Speisezimmer
gehen, 971).
Im Plural kommt das Reflexivpronomen in der ersten Per-
son, und zwar je einmal im Dativ (zuerst) und im Akkusativ,
in folgenden zwei Phrasen vor: nie si kupichme t&pki i si igldchme
(= igrdchme, wir kauften uns Bälle und spielten uns, 896); —
nie t'tba (— tr^ba) da se da' Hm {— därzfm), ce sme mdlki (wir
müssen uns halten, denn wir sind klein, 986). Sonst wird im
Plural das Reflexivpronomen nicht ausgedrückt: obfeame (statt:
— se, wir lieben uns, 654); — södime (= raxchözdarne se, wir
gehen spazieren, nous nous promenons, 801); — n' {= ne) mözat
takd kdsat (= da se otkäsnat, sie — die Knöpfe — können so
nicht abgerissen werden, 766).
Auch bei diesem Kinde kommt das Reflexivpronomen der
zweiten und dritten Person des Plurals gar nicht vor.
Das Possessivpronomen ist wie folgt aufgetreten: möe
(mein, neutrum) am 647. Tage allein, und in Begleitung von einem
Substantiv am 745. Tage (m6l köpee, mein Knopf, bulg. neutrum); —
■moj (mein, masc.) allein am 670. Tage [moj goUm, mein groß,
d. h. mein Nagel ist groß), und mit einem Substantiv am 768. Tage
(moj pdpee1), mein Papachen) ; — möja (mein, fem.) am 762. Tage
1) Hier ist eigentlich pdpee ein Neutrum, während moj masc. ist; wahr-
scheinlich macht aber daß Kind dabei keinen grammatischen Fehler, da es
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I. A. Gheorgov,
allein, und mit einem Substantiv ist es gar nicht gebraucht wor-
den; — möi (meine, pl.) am 760. Tage (mäj = möi tfja? meine —
sind — diese?), und mit einem Substantiv gar nicht. — Hit dem
Artikel, denn im Bulgarischen wird das Possessivpronomen auch
mit dem Artikel gebraucht: möeto (das meine, das meinige) am
749. Tage ohne Substantiv, am 901. Tage mit Substantiv {möeto
kävdtce = krevdtie, mein Bett); — möjata (die meine, die meinige)
am 882. Tage ohne Substantiv; — möjat (der meine, der meinige)
am 816. Tage ohne Substantiv; — motte (die meinen, die meinigen)
am 875. Tage ohne Substantiv. Es scheint, als ob dem Kinde
der Plural des Possessivpronomens nicht so mundgerecht sei, denn
wie es dafür anfangs das Personalpronomen setzt (tija mene, diese
mir = meine, 700), so sagt es auch später noch : meneka tija sä
(mir = meine sind diese, anstatt: möi sä tfja, 794); — tf* sä
meneka (diese sind mir = meine, 802).
Tvoj (dein, masc.) am 758. Tage mit Substantiv (zech toj lep
= tv&ja chleby ich nahm dein Brot), und am 789. Tage ohne Sub-
stantiv; — tvöe (dein, neutrum) am 860. Tage ohne Substantiv
(töe — tvöe) , mit Substantiv ist es nicht beobachtet worden : —
tvöi (deine, pl.) am 850. Tage; — mit dem Artikel nur fem.:
tvöjata (die deine, die deinige) ohne Substantiv am 882. Tage; —
noch am 789. Tage weicht der Knabe dem Femininum aus, denn
er sagt: papä rnoj, mamd ttbeka (statt: tv&ja, Papa — ist — mein,
Mama dir = dein).
Die anderen Possessivpronomina sind auch bei diesem Kinde
nicht beobachtet worden; sie scheinen also nicht etwas so Natür-
liches in der Sprache des Kindes zu sein, denn auch bei meinem
ersten Kinde kommt »unser« (nai) nur ein einziges Mal (am
1048. Tage) und »sein« [negov) erst am 1096. Tage vor.
Die erste Form des Pronomen demonstrativum ist jene
des Femininums, jedoch ist sie sicher nicht im Sinne des Femi-
ninums gedacht gewesen, sondern wahrscheinlich im Sinne des
Neutrums, da jedoch das Demonstrativum sich auf ein weibliches
Substantiv bezog, so wurde die weibliche Form gebraucht; es ge-
schah dies am 628. Tage, indem mir das Kind sagte: tas, tas
(= täzi), als ich ihm zum Abschied die eine Hand reichen wollte
und er die andere verlangte; er wollte also damit sagen: gib mir
nicht moc (neutrum) gebraucht, sondern hat wahrscheinlich im Kopfe, daß
das Wort pdpcc für papä steht, welches masc. ist, das moj erfordert.
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 395
diese; — dann kam dasselbe Demonstrativum wieder am 653. Tage:
mi tas (= xeml täxi, nimm diese); daß jedoch diese Form nicht
durchaus als weiblich gedacht wurde, zeigt der Gebrauch desselben
Demonstrativums tas statt tovä, dieses, am 675. Tage, ebenso am
676. Tage in der Phrase: möje tas, welche bedeuten sollte: möe e
tovä (mein ist dies und nicht »diese«). Inzwischen war schon
die sächliche Form am 653. Tage aufgetaucht, wurde aber noch
va = tovä ausgesprochen; — am 681. und 694. Tage: daj tovä!
(gib dieses!); — tovä und t'va, 682; — tovä ttbe i tovä Übe?
(dieses dir und dieses dir? nämlich: das ist dein und das ist es
— auch — dein? 684); — päpe, tovä mene? (= — , — xa mene
Ii e? Papa, ist dieses für mich? 693); — daj m1 (= mi) tovä!
(gib mir dieses! 706); — ko (= kakvö und koj) e toväf (was ist
dies? und: wer ist dies? 708); — des tovä pUam (=xadapUa)f
(wo ist dies, d. h. der Bleistift, damit ich schreibe? 711); — daj
mi tovä tüka! (gib mir dieses hier! 712); — nä ti tovä, daj mi
tovä! (da hast du dieses, gib mir dies! 712); — de e tovä f (wo
ist dies? nämlich der Bleistift, den er sucht, 712); — tovä ne e
mälak (das, nämlich der Finger, ist nicht klein, 744); — papä,
Sto e tovä tarn göle (= göre)? (Papa, was ist dies dort oben?
744); — papä, möe — {Ii e) — toväf (Papa, — ist — dieses mein?
764); — tovä ax 'ndvaeh pa (— tovä ax poxndch katö papä, das
habe ich — als — Papa erkannt), sagt er mir, nachdem er mich auf
einem Bilde gezeigt und erkannt und ich ihm gesagt hatte: ti
poxnä papä (du hast Papa erkannt). — Adjektivisch hat er das
sächliche Demonstrativum nicht ein einziges Mal gebraucht. —
Das richtig gebrauchte Femininum erscheint erst am 744. Tage,
als er sagt: täja e (diese ist es) und ne e täja (nicht diese ist
es); — täja mdlka (diese — ist — klein, 764); — täja e möjta
(= möjata, diese ist die meinige, 767) : — nä ti täja, daj mi täja
(da hast du diese, gib mir diese, 769). — Adjektivisch nur ein
einziges Mal in dem Satze : növa — (Ii e) — täja nizka (= knizka) f
täja täla (= e stära), de e növataf ( — ist — neu dieses Buch
— bulg. fem. — ? dieses — ist — alt, wo ist das neue? 764).
Das Maskulinum dieses Demonstrativums, welches die zwei
Formen töxi oder tox und töja (dieser) hat, ist schon am 683. Tage
als tos aufgetreten, aber am selben Tage gebraucht der Knabe auch
die weibliche und sächliche Form tdxi und tovä in der Bedeutung
von töxi; — dann sagt er am 702. Tage Bchon tox (dieser) und: ne e
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I. A. Gheorgov,
tox (nicht dieser ist es); — dinnei, rni&e ü tox {—da me dignei
— da vldja — , dalf mirUe toxi, du sollst mich aufheben, damit
ich sehe, ob dieser, nämlich Zitronenstranch, riecht, 703); — daj
mi tox (gib mir diesen, 710). — Adjektivisch etwas später: 'ni
(= dignf) tox toi (= stol, nimm weg diesen Stuhl, 710); — tox
gan (= jorgdn) ttbc? (diese Decke dir — ist sie? 714). — Die
zweite Form {Mja) taucht viel später auf, und zwar wieder zuerst
substantivisch und kurz darauf adjektivisch: i töja kövach (—xako-
vdch, auch diesen — Nagel — habe ich eingeschlagen, 761); —
moj töja (mein dieser, 765) ; — Vddo (= na VI.) töja, meneka dug
{= drug, dem VI. diesen, mir einen anderen, nämlich Zwieback,
765); — ax töja tarn mdlkija kövach (= xakovdcJi), ti goUmija (ich
habe diesen dort kleinen, nämlich Nagel, eingeschlagen, du den
großen, 767): — moj töja btäe (mein war dieser, nämlich Stuhl,
779); — ne e töja moj, töja e Vddov (dieser ist nicht mein, dieser
ist des VI., 891); — töja e otköven (= otkovdn, dieser ist heraus-
geschlagen, herausgezogen — ein Nagel, 894); — adjektivisch:
cav toj toi (— kolcdv c töja stol, groß ist dieser Stuhl, 765): —
moj — {Ii e) — töja cajf (ist — mein dieser Tee? 767); — ctänei
töja tol} ax toj {= ti sednt na töja stol, ax na töja, setze du dich
auf diesen Stuhl, ich auf diesen, 778); — toj leb n* ttba, tad
(töja chleb ne trtba, tvdrd e, dieses Brot ist nicht nötig, es ist hart;
bulg. ist Brot ein Maskulinum; 782): — xemt töja pilön (— pirön),
de toj c xa mdjstolite {— mdjstorite, nimm diesen Nagel, denn er
ist für die Bauarbeiter, 960).
Bei diesem Kinde kommen keine solchen Fälle vor, wo vor
das Substantivum ein Dcmonstrativum anderen Geschlechts gestellt
wird, wie beim ersten Kinde; das ist schon darum nicht der Fall,
weil dieses Kind sehr selten das Demonstrativum adjektivisch
braucht.
Der Plural tija und //i (beide ohne Unterschied gebraucht)
kommt zum erstenmal am 700. Tage zum Gebrauch: tfja mene
(— tija sä xa mfine, moi, diese sind für mich, sind mein) : —
t/ja — (s«) — növite (diese — sind — die neuen, nämlich Schuhe,
740); — xmdiki sd tfja (klein sind diese, 750); — mdj tija?
(= möite Ii sd tija? sind diese die meinigen, nämlich Schuhe?
760) ; — tija vudich (= ixvddich, diese nahm ich heraus, nämlich
Schuhe, 761); — tija Vddo citi, ax dxtdoch (= tija sd na VUdo
biskvtti, svvite ax ixtdoch, diese sind des VI. Biskuits, die meinigen
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Ein Beitrag zur grammatiachen Entwicklung der Eindersprache. 397
habe ich aufgegessen, 762); — tfja göle dfgaJ (= göre dfgaS, diese
hebst du hinauf, 782); — meneka tfja sa (= tfja sä möi, diese
sind meine, 799); — tibe tti sä? (= tfja tvöi Ii sä? sind diese
deine? 802); — tii sä meneka (diese sind mir, d. h. meine, 802); —
tii sä pddnacha nfgi (= tfja knfgi sä pddnali, diese Bücher sind
gefallen, 811; hier ist das Demonstrativum dem Sinne nach adjek-
tivisch, ist jedoch weit vom Substantiv getrennt gebraucht); —
mälki sa Ii tfja? (= malki Ii sä tfja? sind diese klein? 846).
Auch dieser Sohn gebraucht wie der erste von anderen Demon-
strativen nur »solcher«, jedoch nur ein einziges Mal, und zwar im
Plural: takfva — am 939. Tage ganz allein, nicht in einem Satze. —
»Jener« ist gar nicht vorgekommen, also ebenso wie beim ersten
Sohne, welcher dieses Demonstrativum erst am 1105. Tage braucht.
Von den Pronomina relativa habe ich beim zweiten Sohne
nur das unveränderliche dito, dika (so, was = welcher, welche usw.)
beobachtet: Ho e tovd tüka, dtka U xemd? (was ist das hier, was du
genommen hast? 864); — Ho e tovd, dtka . . .? 878; — Ho e tovd,
dito vidtch? (was ist das, was ich sah? 905); — tovd, dito go
xemdch (das, was ich genommen habe, 929); — interessant ist es,
daß auch hier zuerst das volkstümliche dika (unter dem Einfluß
der Bedienten) und erst später ausschließlich das literarische dito
gebraucht wird. — Sonst wird das Pronomen gemieden, und das
Kind hilft sich durch eine andere Ausdrucksweise über solche
Pronomina hinweg; su sagt es: vänka dxitnam pilön (draußen
nehme ich Nagel) statt: ite xima piröna, köjto e vänka (ich werde
den Nagel nehmen, der draußen ist, 751).
Das Pronomen interrogativum kommtauch hier viel früher
und öfter vor, als das Relativum; das erstemal wird es am
708. Tage gebraucht in der Form ko? welches sowohl für kojf
(wer?) als auch für kakvö? (was?) gebraucht wird: ko e tovd?
(wer ist das? was ist das?), ebenso ganz in derselben Frage am
748. Tage; — das volle koj? kommt dann nur ein einziges Mal
vor am 764. Tage in der Frage: koj küpü pnjkite? (wer hat die
Truthühner gekauft?). — Inzwischen taucht die zweite Form des
Fragewortes was? nämlich Ho? auf und verdrängt ganz die andere
[kakvö?), wie beim ersten Kinde (S. 295—296): Ho 'de& [=jad£i)?
(was issest du? 731); — Ho — (c) — tüka? (was — ist, gibt's — hier?
742); — papd, Ho e tovd tarn göle {= göre)? (Papa, was ist das
dort oben? 744); — Ho nese (= donise)? (was hast du gebracht?
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I. A. Gbeorgov,
765); — ito piiam (= da piia) tuk — (na) — mdsataf (was soll
ich hier — auf — den Tisch schreiben? 781); — ito nösi Vänka?
(was trägt Ivanka? 794); — ito ti 'dei {=jadO)f (was issest du?
794); — aml ito e Uika pisanof (and was ist hier geschrieben?
762, 846); — ito e tovä tüka, Mka ti xemd? (was ist das hier,
was du genommen hast? 864); — ito imai ustdta? (was hast
du im Munde? 901): — dann kommt wieder kakvö an die Reihe
und verdrängt seinerseits das ito: kakvö e tovä? (was ist das?
898); — segd da vidim, kakvö ima tuka (jetzt sollen wir sehen,
was es hier gibt, 898); — sds kakvö xe? (womit hast du genommen?
936). — Das Interrogativum welcher? was für ein? kommt bei
diesem Kinde gar nicht zum Gebrauch; übrigens wendet es auch
das erste Kind ziemlich spät an (S. 296).
Das bestimmende Pronomen sam (selber, selbst) kommt
auch bei diesem Kinde nur zur Verstärkung seiner eigenen Per-
sonenbezeichnung und erscheint auch bei ihm sehr früh, früher
als beim ersten Kinde: ax sam gl/dam (= ax sam da go gUdam
— da go vidja, ich selbst soll es sehen, 683); — cam (= sam),
sagt er auch von sich am 706. Tage; — ax ddzam cam (= ax da
ddrzä sam, ich will selbst halten, 712); — 'mözatn ax cam (=ne
moga ax sam, ich kann nicht selbst, 742); — ax cam [= sam)
pich (ich trank selbst, d. h. niemand habe ihm dabei geholfen, 769].
Von den unbestimmten Pronomina ist als erstes da drug
(anderer), während gerade dieses Pronomen beim ersten Sohne am
spätesten erscheint: allerdings kommt es aber nur einmal so früh
vor und dann wieder ziemlich spät, nachdem schon die anderen
Pronomina dieser Art längst da waren; es scheint also das frühe
Auftreten desselben nur zufällig gewesen zu sein: dügo (=dnigo,
ein anderes, 630), so sagt er mir, als er nicht jenes Stück Brot
wollte, welches ich ihm gab, sondern ein anderes verlangte; —
dug iskam püon auch: dug pilon (= drug pirön) iskam (einen
anderen Nagel will ich , 706) ; — dügo {= driigo) ntäto (etwas
Anderes, 748); — Vüdo {na VI.) töja, meneka dug (= drug, dem
VI. diesen, mir einen anderen, nämlich Zwieback, 765); — tüka
rtima gi, dügata tdja {= r drügata stdja) sä (hier sind sie nicht,
im anderen Zimmer sind sie, 811): — möeto kavdtde (== krevdUe]
e laxvaUno (= raxvalöno), iskam da mi ktipii d'ügo xdldvo (= drügo
xdräro, mein Bettchen ist verdorben, ich will, du sollst mir ein
anderes intaktes kaufen, 901) ; — segd ne pldde, katö ddvai d'ug
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindergprache. 399
(= drug) pdt, pldde (jetzt weint er nicht, wenn du ein anderes Mal
gibst, weint er, 901).
Die unbestimmten Pronomina ne'ito (etwas) und nUto (nichts)
erscheinen als die frühesten an einem und demselben Tage: rtii-to
(637); — nüto mdich (= namerkh, etwas habe ich gefunden,
684); — nSto (758); — dügo (= dn'tgo) nUto (etwas anderes,
748). — Nema nUto (es gibt nichts, 637); — niito kdxvam
(= niito ne kdxvam, nichts sage ich, 801). — Am 800. Tage ge-
braucht er auch i6 (gar nichts), indem er sagt: ü ntma (es gibt
gar nichts).
Sttko (alles) kommt ziemlich früh zum Vorschein, trotzdem es
beim ersten Sohne sehr spät erscheint: ddde cüpa, Uta, liko
(= ddde siipa, kjufUta, sidko, sie gab Suppe, Koteletten, alles,
701), so antwortet er mir, als ich ihn frage, ob ihm die Bediente
zum EsBen gegeben hat; — mit dem Artikel kommt dieses Wort
sogar noch früher vor: sfikoto (das ganze, alles, 672); — ne säm
sUkoto dzecUteh (= ixjal, ich habe nicht alles = das ganze auf-
gegessen, 767). — Sitki, sidldte (alle): Weite (= siöHte) köpdeta
zech (alle Knöpfe habe ich genommen, 751): — likite (= »ttkite,
alle, 777); — iikite [= sldkite) köpdeta kdsam, 'ntmai {= ite
skdsam, zu da nemai, alle Knöpfe werde ich zerreißen, damit du
nicht hast, 762) ; — siiki {— sidki, alle, 807) ; — ax sidkite pdchach
(=pdehnach} ich habe alle hereingesteckt, 866): — axda?n(=ax
ite dam) sitkite dnes da kupii mtso, ich werde heute alle —
Münzen, Geld — geben, damit du Fleisch kaufst, 874); — sbell ti
[= säbert gi ti), sidkite ne mözam (= möga, sammle du sie, alle
kann ich nicht, nämlich auflesen, 898).
XI.
Von den Adverbien kommen bei meinem zweiten Sohne jene
der Hinweisung zuerst, und zwar ziemlich früh und schon an-
fangs oft zum Gebrauch. So sagt er schon am 555. Tage tte
{— e'to, voila), wobei er auf die betreffende Person zeigt, nachdem
ich gesagt hatte: tto mamd, e'to papd, Ho VIddo und ihn dann
gefragt hatte: de e mamd, papd, VIddo? (wo ist Mama, Papa,
VI.?); — am 561. Tage sagt er wieder: 6-te (= e'to) manchmal,
wenn er auf etwas oder jemanden zeigt: — ebenso am 571. Tage
e'to und tte, wenn wir ihn fragen, wo irgendeine bestimmte Person
ist und er auf dieselbe zeigt; — üto spricht er dasselbe Adverb
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400
L A. Gheorgov,
i
am 612. Tage au»; — dto {= dto) go (le voila, da ist er, 644),
antwortet er, wenn ich nach Photographien frage, wo Papa, Mama
ist; — 6to go mene (= <fto xa mene, da ist für mich, wohei er
anf seine Snppe zeigt, 660) ; — 6to go mälkoto , goUm'to (= gol/-
moto, da ist das kleine, das große, 675); — 6to go tüJca Übe (da
ist es dir, d. h. das deinige, 675), sagt er, indem er mein Bett
zeigt, als er sieht, wie VI. das Bett seiner Mama zeigt nnd es als
ihres benennt; — Ho go piion {= piröna, da ist der Nagel,
694); — te (= dto) go (le voila, 770); das te ist dialektisch. -
Ebenso früh erscheint anch das andere ähnliche Adverb nä (tiens);
er gebraucht es mehrmals am 561. Tage, wobei er mir irgend
etwas Ubergab; jedoch habe ich die folgenden Tage es nicht mehr
gehört; erst am 658. Tage habe ich notiert: nä H (da hast da,
tiens ponr toi); — nä bUUkata {=pnUkata, da hast da die Rate,
tiens le bäton, 677); — nä ti tovä, daj mi tovd! (da ha8t du dieses,
gib mir dieses, 712); — 'ga (— segü) nä ti! (da hast du jetzt!
712): — nä ti täja, daj mi tdjaf (da hast da diese, gib mir diese! 769).
Das nächste Adverb ist jenes der Verneinang, welches auch
sehr früh gebraucht wird. So sagt das Kind schon am 578. Tage
ne! (nein!), als ich ihm gesagt hatte, er soll dem VI. ein Spiel-
zeug geben; und er wiederholt mehrmals dieses ne! als ich
an ihn mehrmals dieselbe Aufforderung gerichtet hatte; — am
644. Tage antwortet er mir auch ne (nein), als ich ihn gefragt
hatte, ob er noch will; — ne, platei mnogo (nein, du weinst viel,
742), sagt er zu seinem Bruder in dem Sinne: dir wird man nicht
geben, du weinst fortwährend; — ne, ne, ti pi (nein, nein, du
hast getrunken, 985), sagt er zu seinem Bruder, als dieser sagt:
ich habe nicht getrunken. — Auch das nicht = ne erscheint
ziemlich früh: ne iskfm (ich will nicht, 624, 633); — ne tskam
(644); — ne dam und ne dam (— ne Sta, ich will nicht, 631); —
n' dam ei (= ?ie nta biskviti, ich will nicht Biskuits, 640); — ne
$tam leb (= ne sta chleb, ich will nicht Brot, 664, 671); — 'nam
{= ne xnam, ich weiß nicht, 745) ; — ne mözam {— ne moga, ich
kann nicht, 676) ; — ne loi, ne fa (nicht schlecht, nicht pfui, 670),
antwortet er, wenn wir ihm sagen: du bist schlecht, du bist pfui; —
ne f gotimo (es ist nicht groß, wahrscheinlich ist die Rede von
Trauben, 675); — ne e mälko — goUmo (es ist nicht klein, groß,
682), so antwortet er mir, als ich ihm gesagt hatte: das ist
klein; — nee kon? (= ne e Ii konj? ist es nicht ein Pferd? 681); —
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindereprache. 401
ne e lo£ (ist nicht schlecht, 749), antwortet er, als man ihm sagt:
Papa ist schlecht; — Vädo phUe, ax ne (VI. weint, ich nicht,
702); — müta (=na xemjdta) öükame, ne na tol-ovete [~ stolo-
vete, anf dem Boden schlagen wir ein, nämlich Nägel, nicht anf den
Stuhlen, 706), antwortet er mir, als ich ihm bemerkte: ihr dürft
nicht Nägel einschlagen, wobei er sich erinnert, daß ich vorher
öfter ihnen gesagt hatte, daß sie nicht Nägel in die Stühle ein-
schlagen dürfen; — golAmoto küde äpe (= chdpe), ne — mdUcoto —
kude — äpe (= chdpe, der große Hand beißt, nicht der kleine
Hand beißt, 751); — ne toj pi (= toj ne spi, er schläft nicht,
760); — ne ax goUmite biöam, äpat {= 7ie ob'tdam ax goMmite}
chdpjat, ich liebe nicht die großen, nämlich Hönde, sie beißen,
762); — ne mamä bfcam (— ne obicam mamd , ich liebe nicht
Mama, 778); diese angewöhnliche Wortfolge ist bei ihm oft; —
ne säm ax möldo kdvach (— mokro naprdvil, ich habe nicht naß
gemacht, 782); — ne säm käilach (= kdiljal, ich habe nicht ge-
hastet, 789); — &to ny döde döftoldt (= döktarät)? (warum ist der
Arzt nicht gekommen? 752); — n' mözat iakd kdsat (= dase ot-
käsnat, können nicht so abgerissen werden, nämlich die Knöpfe
kann ich nicht so abreißen, 766); — toj leb n' Uba, tad (= töja
chleb ne trtba, tvdrd c, dieses Brot ist nicht nötig, es ist hart, 782).
Die im Worte nSmam (ich habe nicht), neina (es gibt nicht)
mit dem Verb verbundene Verneinung kommt am 625. Tage zum
erstenmal vor, als der Knabe antwortete: n/mam (ich habe nicht),
da ich ihn fragte, ob er nicht Sand auf dem Kopfe habe; —
ntmam leb (= chleb, ich habe kein Brot, 664) usw.; — ne'ma
nU-to (es gibt nichts, 637); — n/ma mäika {= mtöka, es gibt
nicht den Bären, er konnte nämlich das Bild des Bären [nicht
finden, 637); — ne'ma Lddo (es gibt — keinen Platz für — Vlado,
668), so sagt er, indem er die beiden Sitze auf einem Stühlchen
einnimmt ; — ne'ma pldde (= ne Ste pldöe, ne'ma da — , er wird
nicht weinen, 672); — tuka — ne'ma — kän (= konj, hier gibt's
kein Pferd, 676); — nöma Übe 'ce {= ntrna xa Übe jajet, es gibt
kein Ei für dich, 684); — nfma (wird nicht, darf nicht, 688), so
antwortet er mir, als ich ihm sage, daß die Bediente ins Dorf
gehen wird; — ne'ma (ich werde nicht, 702), so antwortet er mir,
als ich ihm sage: du wirst fallen; — ne'ma go 6i6o (es gibt ihn
nicht den Onkel, 688); — nöma gi püjkite (es gibt sie nicht die
Truthühner, 706).
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402
I. A. Gheorgov,
Merkwürdig ist es bei diesem Kinde, daß bei den Verben möga
(ich kann) und xnam (ich weiß) das Verneinungswort ne aus-
gelassen wird, so daß die Phrase bejahend und verneinend gleich
lautet, — auch ein interessanter Fall der gegensätzlichen Bedeu-
tung gleicher Ausdrucksweise bei den Kindern; allerdings ist manch-
mal ein fast unmerklicher Unterschied in der Aussprache der ver-
neinenden Form fühlbar, welcher Unterschied in einem Anlauf
zum Aussprechen des Verbums zu fühlen ist, der bei der be-
jahenden Form nicht erscheint und den wir durch einen Apostroph
bezeichnen1); so sagt das Kind mözam (= möga und ne möga,
ich kann und ich kann nicht, 681): — mözam ka glädam {—ne
möga takd da gl/dam ich kann so nicht schauen, d. h. von hier
kann ich nicht sehen, 706); ^ — 'mözam ax cam (= ne möga ax
sam, ich kann nicht selbst, 742); — 'mözam dxtmam (= ne möga
da xtma, ich kann nicht nehmen, 751); — Jmö£am vlzdam {— ne
möga da — ich kann nicht sehen, 778); — diese Ausdrucksweise
wird gebraucht, nachdem das Kind schon, wie wir oben gesehen
haben, am 676. Tage gesagt hatte: n* mözam (ich kann nicht); —
besonders interessant ist folgender längere Satz, wo dieses mözam,
mözes (du kannst) in der zweifachen Bedeutung erscheint: van
bna nek (= sneg), mözam Uxam {— ne möga da ixttza), ti sdmo
möze's tfxcs (= mözes da ixltxeS, draußen gibt es Schnee, [darum]
kann ich nicht ausgehen, nur du kannst ausgehen, 779); —
ebenso sagt er: 'nam {— ne xnam, ich weiß nicht, 745); — tiam
(ich weiß nicht, 765) neben nam (ich weiß, 683); — endlich
auch: nihto kdxvam (statt: nüto ne käxvam, ich sage nichts, 801:
im Bulgarischen haben nämlich Ausdrucksweisen mit Wörtern wie
nichts, niemals usw. doppelte Verneinung, wie im Französischen :
jedoch ist dieser letztere Fall beim Kinde eine Ausnahme und nicht
von der gleichen Art, wie der Fall mit mviam und nam1) ; — am
898. Tage kommt schon die Verneinung auch in solchen Fällen
vor: xbcli (= sdberi) ti, sickite ne mözan (— möga, sammle du —
sie — , ich kann nicht alle, nämlich verstreuten Bausteine
sammeln).
Was das Bejahungswort da (ja) anbelangt, habe ich es bei
diesem Knaben schon sehr früh, nämlich am 764. Tage angemerkt:
1) »Die ersten Anfange usw.« S. 36G.
2) Ebenda. S. 366.
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindereprache. 403
pdpe, pipni, goUiio (= gorUto) e; da? gotäto e? (Papa, rühre an,
es ist heiß; ja? ist es heiß?); — auch am 766. Tage braucht er
wieder da (ja). — Andere Adverbia der Modalitat sind nicht
beobachtet worden, während beim ersten Sohne auch nall (ja
doch, nicht wahr) und dobrt (wohlan), allerdings letzteres schon
sehr spät, beobachtet wurden.
Die ersten Adverbien der Zahl und Menge, welche bei
diesem Kinde auftreten, sind »viel« und »wenig«, welche beim
ersten Kinde ziemlich spät erscheinen, besonders »viel«, welches bei
ihm sogar erst zu einer Zeit auftritt, da beim zweiten Kinde die
Aufzeichnungen fast schon aufhören, nämlich am 970. Tage: malko
(wenig), antwortet mir das Kind, wenn ich es frage, wie viel ich
ihm von irgend etwas geben soll, 626; — ax malko (ich — will —
wenig, 641); — mdlko, 656, 672; — pdpe, daj mäljko Up
(= mdlko chlcb, Papa, gib ein wenig Brot, 693); — öite mdlko (noch
ein wenig — soll nämlich mit den Füßen stampfen, 705); — lax
(= i ax) tufmam mdlko (auch ich habe nicht wenig, nämlich Steine,
744); — mdlko mi sd (wenig sind mir — das, 744); — xemach
mdlko (ich nahm ein wenig, 758), antwortet er mir, als ich ihn
fragte: ti ne xe Ii ot iokolddata? (hast du von der Schokolade nicht
genommen?); — öite mdlko piAam (= &te pt&a), pösle dam (= ite
dam, noch ein wenig werde ich schreiben, dann werde ich geben,
nämlich den Bleistift, 795). — Nögo {= mnögo, viel), wiederholt
er, als ich ihn frage: ti mnögo gröxde jdde? (du hast viel Trauben
gegessen?), 626; — mnögo, 641; — ne, pkiceA mnogo (nein, du
weinst viel, 742), sagt er seinem Bruder im Sinne von: dir wird
man nicht geben, du weinst fortwährend; — lax (= i ax) neinam
mnögo (auch ich habe nicht viel, nämlich Bausteine, 744) ; — mnögo
(752), antwortet er, als wir ihn fragen: kölko spa? (wie viel hast
du geschlafen?); — Ja kölko mnögo! (Biehe wie viel, wie sehr!
894); — da vtdam (= t-idja) töpki mlogo sd Ii (= mnögo Ii sä,
ich will sehen, ob viel Bälle sind, 898). - Am 800. Tag wird ein
einziges Mal ic {= chic, gar nicht) gebraucht: ic nema (es gibt
gar nicht).
Von den Adverbien der Intensität oder des Grades ist
nur pörecc (mehr) und v&e (mehr, mit Verneinung) beobachtet
worden, und zwar ziemlich früh : Pöfece (= pövece, mehr, 646), sagt
er, als man ihm Suppe gibt und er meinte, man solle ihm mehr
geben; — pövece cupa {— süpa, mehr Suppe — will ich, 705); —
ArchiT fto Psychologie XI. 27
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404
I. A. Gheorgov,
pövece meneka (mehr mir, 751); — pövece Übe (mehr dich, 752)r
antwortet er, wenn man ihn fragt: kogö obicaS pövece f (wen liebst
dn mehr?); — zweimal gebraucht er dieses Adverb auch im Sinne
bloß von »viel«, also ohne jede Komparation: ax pach (— spach)
pövece (ich schlief mehr), wobei er sagen wollte: ich schlief viel,
706, ebenso am 761. Tage : ax pövece spach. — Ne Iskam v6be (ich
will nicht mehr, 716); — nernam v4ce paii (= pari, ich habe nicht
mehr Geld, d. h. kein Geld mehr). — Einmal kommt spät auch:
kölko (wie, wie sehr) inr Verstärkung von mnögo: ja kölko mnögo!
(siehe, wie viel, wie sehr! 894).
Viel und sehr früh wird von den limitierenden nnd er-
weiternden Adverbien öite (noch) gebraucht: dce1 6ce (= <Wk,
noch), sagt er schon am 586. Tage, wenn er von irgend etwas
noch verlangt; — öite, 619; — dJte (= öite) ednö (noch eins, 643) : —
öite ednö köbe (= köpce} noch einen Knopf, 670), sagt er, als er
noch einen Knopf sieht; — daj Hte {—öite, gib noch, 670): —
öite ednö glöxde {— gruzde, noch eine Traube, 675) ; — pdpe, öite
tarn (Papa, dort — gibt es — noch, 688): — daj 6ite! 694: —
öite ednö köpce (noch ein Knopf, 694): — öite mdlko (noch ein
wenig, nämlich stampfen soll ich ihn lassen, 705); — 6{ey) (=öste)
mdlko (nämlich will er springen, 712): — tuka öite ydin kdn'k
(= edin kdmäk, hier — ist — noch ein Stein, 742) ; — de go öite edin
dxulj (= fasül)? (wo ist noch eine Bohne? 766); — öite mdlko
pfiam (= ite pUa)} pösle dam (= ite dam, noch ein wenig werde
ich schreiben, dann werde ich geben, 795); — kdla U ma küpi
öite kdnje (= kdxa Ii U na mamd da küpi öite kdmdnjef hast da
der Mama gesagt, sie soll noch Steine kaufen? 809). — Viel später
wird das Adverb sdmo (nur) gebraucht: ima cdmo 'din toi (=*ww
sdmo edin stol, es gibt nur einen Stuhl, 764); — Vddo cdmo dural
(= sdmo e duchnal), ax ne sdm dural (= duchnal} VI. nur hat ge-
blasen, ich habe nicht — das Licht — ausgeblasen, 764); — tan
ima nek (= sneg), mözam Uxam (= ne möga da ixUxa), U sdmo
mözel Uxei (= da ixlöxeh, draußen gibt es Schnee, — darum —
kann ich nicht ausgehen, nur du kannst ausgehen, 779) ; — Vddo
ne kdvi (= prdvi), ax sdmo kdvam (= prdtja, VI. macht nicht, nur
ich mache, 779): — ne smejddochme (=jdli) slddko, sdmo iddochme
1) Siehe oben S. 363, Faßnote.
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 405
'ci (=biskviti, wir haben nicht Süßes gegessen, wir aßen nur
Biskuits, 901).
Die Adverbien der Zeit und das Ortes sind zwar zu gleicher
Zeit zum erstenmal aufgetreten, jedoch sind jene des Ortes in der
ersten Zeit häufiger, während diejenigen der Zeit nach dem Auf-
treten des ersten für längere Zeit wieder ausbleiben, bis sie erst
nach 39 Tagen wieder von neuem gebraucht werden. Das erste
Ortsadverb ist tüka (hier, hieher), welches am 637. Tage er-
scheint: tüka oder düka plse (= pi&i oder plsa, hier schreibe du
oder: hier schreibe ich) ; — tttica, 644: — tüljam (= ste go türja)
tüka (ich werde — es — hieher stellen, 670); — tüka Ima (hier
gibt es, 672): — viz, n4ma — tiika—pdli [= pari, siehe, hier gibt
es nicht Geld, 672): — müki tüka Idxat (= Idxjat, hier kriechen,
Mäuse, 706). — Tarn (dort, 642, 653); — kdcam tarn (= iskam
da xakacd tarn, ich will dort aufhängen — den Hut, 668) ; — 4to
go tarn (da ist er dort, 681); — tüli (= turi) go tarn (stelle es
dorthin, 693). — Kaie [—göre, oben, 644): — göle (= göre, oben,
668); ich fragte ihn nämlich: wo sind die Tauben? und er ant-
wortete mit diesem Wort, und als ich ihn dann fragte: wo oben?
zeigte er mit dem Finger gegen den Boden, wo in der Tat die
Tauben waren; er verstand also sehr gut die Bedeutung des ge-
brauchten Wortes; — papd, ito e tovd tarn göle (= göre)? (Papa,
was ist das dort oben? 744): — ttja göle (= göre) digaS (diese,
nämlich Bücher usw., legst du hinauf, 782); — göle (= göre) türim
{== Ste —) da ne namüü {= na?neriJ) ti (hinauf werden wir stellen,
damit du nicht findest, 876). — Van (= van, draußen, 675); —
'to ti van idel? (= xaito si ixUxal van? warum bist du hinaus-
gegangen? 758): — ti Uxei (= ite ixUxei) van (du wirst hinaus-
gehen, 758); — kal Ima van (Kot gibt es draußen, 779); — vdn
t&plo (draußen — ist es — warm, 789); — ti be vdn? (du warst
draußen? 807): — auch die zweite Form dieses Adverbs: vänka in
der nämlichen Bedeutung wird von dem Knaben gebraucht: vänka
dximam pilön {= ite x&nia piröna, ito e vänka, ich werde den
Nagel nehmen, der draußen ist, 751); — vänka ima goUmo küce
(draußen gibt es einen großen Hund, 793). — Ddnko, viz väfe
müchi {== D., viz vätre — Ima — muchi, D., siehe, drinnen —
gibt es — Fliegen, 687); — tüka vätle pilon (= tüka vätre —
ima — pirön, hier drinnen — gibt es einen — Nagel, 762); —
27*
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406 I- A. Gheorgov,
vätle tljata {= vdtre v kutfjata, drinnen in der Schachtel, 782). —
Ttja xad tiäam? (= i tija Ii da türja naxdd? anch diese soll ich
hinten stellen? 782); — otxdd (rückwärts, von rückwärts, 860). —
DaUce nnd daUko (weit, 821); ferner sagte er: 6ce; — ti si
daltko, ne mözeJ da go xtmes* (du bist weit, kannst es nicht nehmen,
821); — segd ideme {= ite idem) daUce (jetzt werden wir weit
gehen, 850); — otttla e daltko (sie ist weit gegangen, nämlich die
Bediente, 895); — tarn datfko (dort weit, 905); — Uchme dattko
na Wlijata (= carHjata, wir waren weit in der Handelsstraße,
929). — Kode [=kädf) e goUmoto, dtka [=käd4to) tüU[=türi)
tovd? (wo ist das große, — nämlich Bausteinchen, — wohin da
das gelegt hast? 874).
Das erste Zeitadverb ist segd (jetzt), welches am 637. Tage
erscheint im Befehlsatze: daj segd! (gib jetzt! 637); — jedoch
kommt das nächste Mal dasselbe Adverb genau in demselben Satze
erst nach 39 Tagen wieder (nämlich am 676. Tage; es ist dies
übrigens das von den Zeitadverbien am meisten angewandte: 'ga
(= segd) tükaf (jetzt hier! 712); — 'ga nu ti! (jetzt da hast du!
712): — 'ga pUel ti si (~ segd ti — vc*ce — ptsa, jetzt hast du —
schon — geschrieben, darum gib mir den Bleistift, will er sagen,
778); — ax — {sdm) — mdldk, 'ga vü gokm ax (ich — bin — kleiü,
jetzt siehe, groß — bin — ich, 779); — de 't'ide Dänka 'ga? (= M6
ottde D. segd? wohin ist jetzt D. gegangen? 789); — am 804. Tage
sagt er: egd statt segd; — dann kommt schon wieder das volle
Wort zum Gebrauch: vt'ce papd kupi, segd ma [= mamd) kupi
(= &te kupi, Papa hat schon gekauft, jetzt wird Mama kaufen,
809) : — segd ideme (= Ste idem) dal&e (jetzt werden wir
weit gehen, 805) ; — segd übavo (= chubavo) Ii e Urne (= vrevie) ?
segd ttine (= &tc starte) lö$o Urne (= vrtme, ist jetzt schönes Wetter?
jetzt wird schlechtes Wetter werden, 858) ; — segd tovd e möe, ne
e töe (= tvöe, jetzt ist das mein, ist nicht dein, 860); — segd
pomestt sei (jetzt rücke ein wenig weg! 918). — Das nächste oft
gebrauchte Zeitadverb ist pösle (hernach, später, dann), welches
einzeln am 755. und 777. Tage gebraucht wird; — ax, U pösle
(ich— jetzt, zuerst—, du hernach, 769); — Vddo kdpe (= se — .),
pösle ax (VI. badet, dann ich, 782); — ötte mdlko pUam da pfJa),
pösle dam [= ite dam, noch ein wenig will ich schreiben, dann
werde ich geben, nämlich dir den Bleistift, 795); — H 'dei {=jadM),
pösle tarn ides" (= Ste — , du issest, dann wirst du dorthin gehen,
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklang der Kindersprache. 407
nämlich ins andere Zimmer, 795); —Vddo xdavie, pösle lixnem vidim
kücenca (= kogdto Vi oxdravie, pösle ite ixlixem da vidim kucen-
cata, wenn VI. gesund wird, werden wir dann ausgehen, — die —
Hündchen zu sehen, 818). — Das Adverb pä'ven {=pdrven, zuerst)
dagegen ist nur ein einziges Mal am 777. Tage allein gebraucht
worden. — Die Adverbia der Zeit > schön«, »mehr« kommen
auch ziemlich früh vor, sind aber selten gebraucht; im Balgarischen
lauten beide gleich — vice: nima vice (es ist nicht mehr da, schon
ist es nicht da, 750) ; — ax nimam vice nos (ich habe nicht mehr
Nase, d. h. ich habe nicht mehr schmutzige Nase, 764); — vice
papd kiipi, segd ma kupi (= mamd ite hupt, Papa hat schon ge-
kauft, jetzt wird Mama kaufen, 809); — vice nima go momcito
(der Knabe ist nicht mehr da, nämlich auf einem Bilde, welches
er mit der Hand zudeckt, 901); — dieses selbe Adverb vice ge-
braucht er am 749. Tage einmal anstatt »noch«: Hsi pfial {= pisal),
ax ne sdm vice (statt: öite, du hast geschrieben, ich habe noch
nicht). — Je einmal sind noch folgende Zeitadverbia gebraucht
worden: lax ga tdnam {= i ax kotjdto stdna) golim, gäva (= togdva)
püam (— ite ptia) dnes1) (wenn ich auch groß werde, dann, damals
werde ich heute schreiben, 807); — segd ne pldce, katö ddvai d?ug
(= drug) pät, pldce (jetzt weint er nicht, wenn du ein anderes
Mal gibst, weint er, nämlich wenn man ihm ein anderes Mal Arznei
gibt, weint er, während er jetzt nicht weint, 901); — i ax katö
bädam [= bäda) böten, katö ximam (= xima) edfn pät 6aj, ite
otldam (= otida) na Dagalivci {= Drag — , wenn ich auch krank
sein werde, wenn ich einmal — dann — Tee nehmen werde, näm-
lich um gesund zu werden, werde ich nach Dr. fahren, wie nämlich
dies mit seinem Bruder der Fall gewesen war, 961).
Auch die Adverbia der Zeit dnes (heute) und vdira (gestern)
gebraucht das Kind, wovon besonders das erste früh und öfter,
jedoch natürlich ohne deren eigentliche Bedeutung zu erfassen; so
sagt es : nie pim niska (== nie ite piem dniska, wir werden heute
trinken, nämlich Schokolade, 749); — dnes lila {=lilja) tiika spa
(heute schlief die Tante hier, 782); — dnes ax jddam Uta {—jam
kjuftita, heute esse ich Koteletten, 798), und als ich ihn darauf
frage: wann? antwortet er mir: dnes, jedoch bin ich nicht sicher,
ob er dies im richtigen Sinne meint; — der nächste Satz zeigt,
1) Siehe gleich unten beim Adverb dnes.
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408
I. A. Gheorgov,
daß er noch immer nicht die richtige Bedeutung mit diesem Worte
verbindet: lax ga tdnam (= i ax kogäto stand) goMm, gdva pUam
(= togdva die pUa) dnes (wenn ich anch groß werde, werde ich
dann heute schreiben, 807); denkt er vielleicht, daß er plötzlich
groß werden kann, vielleicht noch am selben Tag? oder ist das
Wort *dnes* im Sinne von »damals« gebraucht, also ein Pleonasmus
zu togdva? — ax dam (= $*t6 dam) sttkite dne* da kupii mcso
(ich werde das ganze, nämlich Geld, heute geben, damit du Fleisch
kaufst, 874). — »Gestern« [Ma = vdtra) hat er nur am 801. Tage
im Sinne von vergangener Zeit gebraucht; — ütre (morgen) ist gar
nicht gebraucht worden.
Auch bei diesem Kinde sind die Adverbien der Art und
Weise nicht sehr oft und nicht zahlreich gebraucht worden; das
erste erschien am 671. Tage allein als ha (= takd, so) und wurde
am 706. Tage wieder gebraucht: mözam ka glddam [— ne m/>ga
takd da gltaam, ich kann so nicht sehen, 706); — n' mözat takä
kdsat (= ne mögat takd da se otkdsnat, so können sie nicht ab-
gerissen werden, nämlich die Knöpfe, 766); — takä ite gUdame,
kak nacdzduvat (= procedat) mUkoto (so werden wir sehen, wie
man die Milch durchseiht, 947); hier ist auch das Adverb kak
(wie) gebraucht, und zwar das einzige Mal. — Ax itsacli {—ax st
vdesach) chübavo, U ne si desal [== si se vtcsal, ich habe mich
gut gekämmt, du hast dich nicht gekämmt, 767). — Öfter ist das
Adverb silno (stark, kräftig) gebraucht worden, welches am
738. Tage durch mögo {= mnögo, viel) ausgedrückt wird: das Kind
stampft nämlich an diesem Tage stark im Bettchen und sagt:
töpam mögo {= tröpam mnögo, ich stampfe viel, statt: ich stampfe
stark), und wenn er dann sachte stampft, sagt er: töpam mdlko
(ich stampfe ein wenig); — töja pilön {—pirön) stno (— silno)
kovdch [— zakovach, diesen Nagel habe ich stark, fest einge-
schlagen, 795); — silno kovdch (= xakovdch, ich habe — den
Nagel — fest eingeschlagen, 816); — xakovi süno! (nagle ihn fest
ein! 894). — imai U 6e\6n (= ierven) möliv da pttes 6efv4m
[=6erv6no)? (hast du roten Bleistift, um rot zu schreiben? 901).
Öfter wird noch das Adverb der Frequenz pak (wieder) ge-
braucht, welches bei diesem Kinde das einzige dieser Art Adverbien
ist; es erscheint am 676. Tage ganz allein ausgesprochen, wobei
er damit sagen wollte: ich will wieder schreiben; — äma böni
tarn vfdim, pak dödem (= da vidim, ima Ii tarn bonböni, pak ite
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 409
döjdenty wir wollen sehen, ob es dort Bonbons gibt, wir werden
wiederkommen, 706k — P°k dddei gUdam? (= ite mi go dadM
pak da go gUdam? (du wirst es mir wieder geben, damit ich es
schaue? 710); — pak lcdsam (= ite akäsam) köpie (ich werde
wieder — den — Knopf abreißen, 763); — ax pak büam (= ite
— gi — saberä, ich werde — sie — wieder sammeln, 782); — pak
gäsne (= ite ixgäsne, es wird wieder auslöschen, 806) ; —pak da folpii
növi sucho-gtöxdeta {— novo sücho gröxde, du sollst wieder Rosinen
kaufen, 901); — ti pak kadt (= käM) Mie, na Idbota (= rdbota)?
(wo warst du wieder, auf Arbeit? 913). — Dieses pak wird manch-
mal auch gebraucht, wo eher v6öe (ne viie — nicht mehr) stehen
sollte: nema pak fdlam (richtiger: nema ve"6e da chvärljam, ich
werde — noch einmal — nicht mehr werfen, 707); — nema pak
(nicht mehr, nicht wieder — nämlich: werde ich das tun, 750); —
ntma pak slpam (richtiger: ntma vUe da ixsipja, ich werde nicht
mehr ausgießen, 758).
Bevor ich noch zu den Frageadverbien übergehe, will ich er-
wähnen, daß von den Adverbien des Grundes, des Zweckes
außer den Frageadverbien itof xaitö? (warum?) ein einziges Mal
auch das Adverb togdva (dann, in diesem Falle) gebraucht wurde,
und zwar sehr spät: togdva ite ixedtt (dann wirst du aufessen?
898). — To? (= xaitöf warum? 703); - papd, 'ito tovä (= xaitö
e tovd? wofür, warum — ist — dies? 742); — 'ito püitai? (warum
lassest du los? lassest du fallen? 746); — 'ito se obliias? (warum
ziehst du dich an ? 748) ; — ito n' döde döftolät? (= xaitö ne döjde
döktordt? warum ist der Arzt nicht gekommen? 752); — 'fo ti vdn
idelf {—xaitö si ixMxdl van? warum bist du hinausgegangen?
758); — ito Übe nigaf (= ito, xaitö tröba kniga? warum ist —
das — Buch nötig? 761) ; — 'to tine biSai? (= xaitö ti ne — me —
obiiai? warum liebst du — mich — nicht? 766); — \5fo täbova
(= trdba) tovd? (warum ist dieses nötig? wozu dient das? nämlich
die Halsbinde, 788); — xaitö ne dodzda {= dochdzda) Danka?
(warum kommt nicht Danka? 878); — xaitö v66e ne vali däx
(= däxd) tuka? (warum regnet es nicht hier? 887); — xaitö nema
tüka edin sälenin da vödi konj? (warum gibt es hier nicht einen
Bauern, der das Pferd führt? nämlich auf dem Bilde, wo ein Pferd
allein abgebildet war, 894); — aml VMdo xaitö go xe? (und den VI.
warum hast du ihn genommen, nämlich auf den Schoß? fragt er
mich, als ich ihn selbst nicht auf den Schoß nehmen wollte, 932).
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410
l. A. Gheorgov,
Das erste Frageadverb ist bei diesem Kinde de? kdd4? (wo?
wohin?); er fragt; 'Lddo de? {== de e VI? wo ist VI.? 675), als
er beim Erwachen sieht, daß VI. nicht im Zimmer ist ; — goUmo de f
{= de e goUmoto? wo ist das große? nämlich der große Baustein,
683); — de dinat (= edinijat)? (wo — ist — der Eine? 694); —
de si? (wo bist du? 705); — papd, de? gösti? {= de bechte? na
gösti? Papa, wo wäret ihr? auf Besuch? 706); — de e köikata?
(= kokö&kata)? (wo ist die Henne? 706); — de e tovd pisam (= xa
da plsa)? (wo ist das, nämlich der Bleistift, damit ich schreibe?
711); — de go 'Lov? (wo ist Stambolov? 711); — papd de? (wo
— ist — Papa? 714); - de leTja? (wo - ist — die Tante? 715); -
de cMnam ? (= kädJ da sSdna ? wohin soll ich mich setzen ? 715) : —
de 'nteli? (= de sd dantäite? wo sind die Spitzen? 742); - de
ttbe növi bükti? (— de sd tvoite nori obitita? wo sind deine neuen
Schuhe ? 742) ; — de tuHte (= km ste türite) pdltoto? (wohin werdet
ihr das Paletot legen? 749); — de go? (wo ist er? 758); — de
golemija konj? (wo — ist — das große Pferd? 762); — de si idä?
(= MM si chödü? wohin bist du gegangen? 769); — de fdli go?
[=ikäd6 go chvärli? wohin hast du es geworfen? 808); — kadf
(== kädS] e Vlddo? (wo ist VI.? 859); — H pak kadf (= kddt) 6Äe,
na labota {= rdbota) ? (wo warst du wieder, auf Arbeit? 913).
Die eigentliche Fragepartikel lit welche bei meinem ersten
Kinde schon ziemlich früh erscheint, ist bei meinem zweiten Sohne
sehr spät aufgetreten. Zwar taucht diese Partikel in einer in-
direkten Frage schon am 703. Tage auf, als das Kind folgende
Phrase sagt : dinnek, mUe litoz(=dame dtgnei — da vidja, — mirüe
Ii tox, du sollst mich aufheben, — damit ich sehe, — ob dieser
— nämlich Zitronenstrauch — riecht), jedoch vergehen nachher noch
4 — 5 Monate, bis dieses Fragewort in einer wirklichen Frage ge-
braucht wird. Bis dahin meidet es das Kind in seinen vielen
Fragen, wo diese Partikel unerläßlich wäre, und macht die Frage
einfach durch den Frageton kenntlich, so sagt es: ti lex*e&? {= i
ti Ii kte ixltxeä? wirst auch du ausgehen? 743); — tarn vdjo Ulja
(= Wja tarn v stolovdjata Ii e? ist die Tante dort im Speisezimmer?
756); — mdj tfja? {= möite Ii sä Uja? sind das meine? 760): —
pldcka moja? (=moja Ii e taja prähka? ist diese Rute mein?
762) ; — tovd möe? (== tovd moj biskvit Ii e? ist das mein Biskuit?
763) ; — nova — {Ii e) — tdja nizka (= knizka) ? (ist — dieses Büch-
lein neu? 764): — moj — {Ii e) — töja 6aj? {Ist — das mein Tee?
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklang der Kindersprache. 411
767); — fa ax? (= fa Ii säm ax? bin ich pfui? 779): — Uja xad
tulam? {— i Uja Ii da türja naxdd? soll ich auch diese zurück-
legen? 782); — imai ti Idbota? (= imas Ii ti rdbota? hast du zu
arbeiten? 787); — ti ne skdU? (= ti ne se Ii sdrdtt? ärgeret du
dich nicht? wirst du dich nicht ärgern? 789); — tinösti — {lij —
meneka caj? ti tüiü xdchal? (= türü Ii si xdchar? bringst du mir
Tee? hast du Zucker hineingelegt? 794); — ti tarn dödeS? (= ti
tarn hte dojdeh Ii? wirst du dahin kommen? 795); — vdjo töplo?
(= töplo Ii e v stohrdjata? ist es warm im Speisezimmer? 799); —
goli p4ikata? (= gort Ii ptäkata? brennt der Ofen? 799); — Ddnko
tuka — {Ii) —si ti? (D., bist du hier? 801); — Übe tli sä? (= tvöi
Ii sä Uja? sind das deine? 802); — kdza (= kdxa Ii) Hma küpi
kdnje (= na mamd da küpi kdmänje) ? (hast du der Mama gesagt,
sie soll Bausteine kaufen? 809); — möze Vddo jödi {= möze Ii
oder biva Ii VI. da chödi? kann oder darf VI. gehen? 821). —
Nach so hartnäckigem Meiden dieser Fragepartikel erscheint sie
endlich am 846. Tage in folgender Frage: mdlki sa Ii (= U sä)
Uja? (sind das kleine?); — segd tibavo (= chubavo) Ii e Urne
{vreme)? (ist jetzt schönes Wetter? 858); — i ax Ii? (auch ich?
900) ; — imas Ii ce'vtn {= Zerren) möliv (hast du roten Bleistift?
901) ; — tarn m^teno Ii e? (ist es dort gefegt? 921).
Das Fragewort kölko? (wieviel?) kommt merkwürdigerweise
bei diesem Kinde gar nicht vor; nur zweimal wird es in Ausruf-
sätzen gebraucht: ja kölko e pö-golema! (siehe, wie viel sie größer
ist! 882); — ja kölko mnögo! (siehe wie viel! 894).
XII.
Natürlich werden auch von diesem Kinde die Präpositionen
anfangs gemieden, und merkwürdigerweise wird die Präposition
na (auf, an), wenn sie auch als wirkliche Präposition von allen
Präpositionen am frühesten auftritt, doch als Partikel zur Bildung
des Dativs und Genitivs1) bis spät gar nicht herangezogen und
taucht eigentlich erst ganz am Ende meiner Aufzeichnungen ein-
mal in dieser ihrer Funktion auf. So bildet sich der Knabe nicht nur
ohne na folgende Phrasen : ymdta {= na xemjdta, auf dem Boden,
auf der Erde, 745), wenn wir ihn fragen, wo etwas, das auf dem
Boden liegt, ist : — 'mdta (= na xemjdta) pddnal (ist auf den Boden
1) Siehe oben S. 313.
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412
I. A. Gheorgov,
gefallen, 779); — sto plkam (= da pfia) tuk — (na) — mdsata?
(was soll ich hier auf den Tisch schreiben? 681); — sSdam ivlceio
(= tskam da stäna na stöldeto, ich will mich anf das Sttihlchen
setzen, 782) ; — ax Idech södka (= ax ehtidich na raxchödka, ich ging
spazieren, bulg.: anf Spaziergang, 808); — i — (?ia) — mdsatane
biva da se piie i — (na) — däskata (sowohl anf den Usch darf
man nicht schreiben, als anch auf das Brett, 893), — sondern
auch alle Phrasen wie: Vddo ncsei leb (— i na VI. da daneses
chleb, anch dem VI. sollst du Brot bringen. 752); — axdampali
Vdnka (= ax ite dam pari na lvdnka, ich werde der Ivanka Geld
geben, 789); — lelja Mbura, mamd tfbura (= na läja treba, na
mamd träia, der Tante, der Mama ist nötig, d. h. soll für sie
vom Essen bleiben, 800). — Diese Ausdrucksweise wird also noch
festgehalten, trotzdem schon die Präposition seit dem 706. Tage
im Wortschatze des Kindes vorhanden war: 'mdta (= na xemjdta)
(Hikame, nena tolrovete (= stolövete, anf dem Boden schlagen wir —
Nägel — ein, nicht auf den Stuhlen, 706) ; interessant ist hier das
Fehlen derselben Präposition vor dem Worte »Boden«, während
sie vor dem Worte »Stühlen« schon gebraucht wird; — ax idam
(= chödja) na roda (ich gehe auf den Wasserbrunnen nach Wasser,
757); — ax Idech (= chödich) nd roda (ich war auf dem Wasaer-
brunnen nach Wasser, 758); — na ctloto (= celöto, auf der Stirn,
879); — na tavdna (auf dem Dachboden, 908); — H pak kadt
(=käd£) Use, na Uibota (= rdbota)? (wo warst du wieder, auf
Arbeit? 913). — Zur Bildung des Dativs wird die Partikel erst
am 961. Tage zum ersten- und letztenmal gebraucht: na Vlddo
xastö ste dadS xdchal (= xdchar)? (warum wirst du dem VI. Zucker
geben?)
Merkwürdig ist es bei diesem Kinde, daß es sich zu einer be-
stimmten Zeit seiner sprachlichen Entwicklung eine besondere Aus-
d ruck s weise bildet, um manche Präpositionen durch ungebräuch-
liche Flexionssilben der Substantiva zu ersetzen; dies geschieht
besonders zum Ersatz der Präpositionen na und s, sds (mit); so
sagt das Kind: tidi (= turt) tüka tölija (= na stola, lege hie-
ber auf den Stuhl, 766); — tskamkdcum tölija (= — da se kacd
na stöla, ich will auf den Stuhl steigen, 766); — tölija (= na
stöla, auf dem Stuhle, 770); — ax küiach könja (= ax se kacteh
na könja, ich stieg aufs Pferd, 787); — und statt s, sds (mit): ti
miei püni und pünija (= sds sapüna, du wäschst mit der Seife,
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 413
766) ; — kdnka koväl si ti? [— sds kdmdk Ii si go xakovdl? hast du
ihn mit Stein eingeschlagen? 795). — Woher er diese Ausdrucks-
weise genommen, ist mir nicht erklärlich. Wenn ich darnach
urteile, daß dieselbe znm Ersatz der beiden Präpositionen an dem-
selben (766.) Tage auftaucht, so muß ich auf eine ähnliche Ur-
sache schließen, und da mag sie vielleicht darin gelegen haben,
daß das Kind an diesem Tage mehrmals von uns Ausdrücke ge-
hört haben mag wie sds goUmija, na mdlkija, na könja (mit dem
großen, auf dem kleinen, auf dem Pferde) und diese Artikel-
endungen (im Akkosativ)1) für Flexionssilben genommen hat, die
Kasusbeziehungen ausdrücken, und darnach hat es sich dann auch
jene Formen gebildet: tölija, punija.
Da die Präposition na die erste und am häufigsten gebrauchte
ist, so ersetzt sie später manchmal auch andere Präpositionen,
meist die Präposition r, vdv (in), sogar nachdem diese schon auf-
getreten war: katö (dem na Dagaltvci (— Dr — ), ste x6men pajtön
(wenn wir nach — bulg.: in — Dr. fahren werden, werden wir
einen Wagen nehmen, 901) ; — b&hme daUko na cd'sijata (= car&l-
iata, wir waren weit in der Handelsstraße, 929); — i ax katö
bädam {= bdda) böten, katö xemam (= xtina) edin pät caj, ste
otidam (= otida) na Dagattvci (= Dr — , wenn ich auch krank sein
werde, wenn ich — dann — einmal Tee nehmen werde, — um so-
fort gesund zu werden, — werde ich nach — bulg.: in — Dr. fahren,
— wie sein Bruder, 961).
Die nächste Präposition ist das dialektische kod (statt. prit
bei, zu), welche aber das Kind nur ein einziges Mal angewandt
hat in der Phrase: kod töja stol iskam (zu diesem Stuhl will ich,
nämlich gefuhrt werden, 882).
Dann erscheint die wichtige Präposition $, sds (mit), welche
vorher, wie oben gezeigt wurde, ein paarmal durch Flexionssilbe
ausgedrückt worden war. Sonst wird dieselbe, wenn Beziehungen,
die die Anwendung derselben verlangen, ausgedrückt werden, ein-
fach ausgelassen , so am 782. Tage in dem Sätzchen : ax glrijam
golemite nigi (= ax igrdja sds goUmite knigi, ich spiele mit den
großen Büchern, d. h. mit den Photographien). — Erst am
895. Tage sagt er: sds tovd (mit diesem); — iskam da napdrdt
sds chUbdt makatön {= naprdvjat makaröni sds chleb, ich will,
1) Siehe oben S. 368.
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I. A. Gheorgov,
I
i
man soll Makaroni mit Brot, d. b. mit gerösteten Bröseln machen,
917); — säs kakrö xe? (womit hast du genommen? 936).
Die wichtigen Beziehungen, welche die Anwendung der Prä-
position »in« fordern und welche sehr oft vorkommen, drückt das
Kind lange ebenfalls ohne jede Präposition aus; so sagt es: vöjo
(=v stolordjata, im Speisezimmer, 705); — lax (= i ax) iskam
rdjo (auch ich will — ins — Speisezimmer, 731) ; — pak bäkam nösät
(— pak äte — H — bräkna v nosdt, wieder werde ich dir — in — die
Nase — den Finger — stecken, 749) : — ax vfjam Coffjata (= ax
Hvtja v Sofia, ich lebe in Sofia, 751) ; — ti mcneka büak (= obicas),
ax ne säm kdvach kevätce möklo (== naprävü v krevdteeto mökro, du
liebst mich, ich habe im Bett nicht naß gemacht, 768); — vdtit
tijata (== vdtre v kuttjata, drinnen in der Schachtel, 782: : — ax
totlich xdchal mUkoto (= ax turich xdchar v — , ich habe Zucker in
die Milch gelegt, 791); — Mvi Vddo kdvdtceto {= ostari VI. v kcrevdtr
ceto, lasse VI. im Bettchen, 797); — vdjo t6ph? {=v stobvdjata
töpfo U e? ist im Speisezimmer wann? 799): — tuka ditbo (= v
dztba, hier in der Tasche, 808); — tuka ntma gi} dugata tdja
(= v drugata stdja, hier gibt es sie nicht, im anderen Zimmer,
811). — Erst am 901. Tage erscheint diese Präposition, welche
außer v, rdv auch u lauten kann: sto ima* v usidta? (was hast
du im Munde?); — iskam da idain (== ida) v tolovdja (= slohvdjata),
ce iskam vodä (ich will ins Speisezimmer, denn ich will Wasser,
941); — ti go ostdvi uf kolidöla (= vär koridöra, du hast es im
Korridor gelassen, 929); — ax katö sddna u bdnjata, H mözei
da si ides u stolovdja (= — ta, wenn ich mich setzen werde in
die Wanne, kannst du ins Speisezimmer gehen, 971).
Merkwürdig ist es, daß die Präposition xa (für), welche von
meinem ersten Sohne sehr früh und viel gebraucht wurde, von
diesem Kinde hartnäckig bis spät gemieden wird, trotzdem es in
die Lage kommt, Beziehungen auszusprechen, welche dieselbe
durchaus erheischen: es läßt sie auch einfach aus: Ho go mtfm
{= xa mfne, hier ist für mich, 660); — n/ma Lddo [= ntma —
mtsto — xa VI., es gibt nicht - Platz — für VI., 668), sagt er,
indem er die beiden Plätzchen auf einem Stühlchen einnimmt; —
Übe? {= xa —? für dich? 670); — ptipe, tovd mtite (= xa — )?
(ist das für mich? 693); — ax hikam Ddnka (=xaD., ich klopfe
für oder nach D., 782); — tfbe Ui sd? (— xa Übe Ii sd tf/af sind
diese für dich? 802); — Ui sd mtneka (== xa — , diese sind für
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklang der Kindereprache. 415
mich, 802). — Erst gegen das Ende meiner Beobachtungen, näm-
lich am 960. Tage wird einmal diese Präposition in einem längeren
Satzgefüge gebraucht: xemi töjapilön (=pirön), ce toj e xa mdjsto-
Ute (= mdjstorite, nimm diesen Nagel, denn er ist für die Meister).
Endlich ist noch zu bemerken, daß am 941. Tage die Präpo-
sition po (je, welche Partikel bulgarisch eine Präposition ist) ein-
mal in dem Satze gebraucht wird: nie jddochme po die beUki
(= cerföi, wir aßen je zwei Kirschen).
Es ist noch merkwürdig, daß bei diesem Kinde die Präposition
ot (von) gar nicht gebraucht wurde, während sie beim ersten Kinde
schon am 776. Tage auftauchte und öfter angewandt wurde. Auch
diese Präposition wird einfach verschwiegen, wo sie stehen mußte:
ymi si tarn (= xemi si ot tarn, nimm dir von dort, 749); — ax
buim zcMxnica, ax Wgam Übe {— ax se bojd o t zettxnieata, ax btgam
pri Übe, ich fürchte mich vor — bolg. : von — der Eisenbahn, —
einem sich von selbst bewegenden Spielzeuge, — ich fliehe zu dir,
800). — Ebenso fehlt die Präposition do (neben); während mein
erster "Sohn am 861. Tage gesagt hatte: ax He sfrlnam (= stdna)
do Übe (ich werde mich neben dich setzen), sagt mein zweiter
Sohn am 789. Tag : ax ttbeka stdnack (— ax sfdnach do Ubeka,
ich setze mich — neben — dich).
Von den Präpositionen, die mein erster Sohn gebraucht hatte
und bei meinem zweiten Sohne gar nicht zum Gebrauch kamen,
Bind noch anzuführen: pri (bei), po (im Sinne von: nach, hinter,
auf), pod (unter), katö (wie), während bei ihm keine einzige mehr
da ist, welche beim ersten Sohne nicht gebraucht worden wäre,
wenn man das dialektische kod (bei, zu) nicht in Betracht zieht,
welches beim ersten Kinde durch das ebenfalls dialektische kam
ersetzt ist. Hierin sieht man besonders, wie sehr doch im all-
gemeinen die Sprache meines zweiten Sohnes mehr zurückgeblieben
ist im Vergleich zur Sprache meines ersten Sohnes.
XIII.
Von den Konjunktionen sind auch bei diesem Kinde da1)
und i (und) die ersten. Die erste erscheint schon am 637. Tage ein-
mal im Ausdruck da xdam [= da vidja, iskam da vidja, daj da vidja,
ich will sehen, ich möchte sehen): jedoch ist sie nachher schon lange
1) Siehe oben S. 319.
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I. A. Gheorgov,
nicht wieder gebraucht worden — bis zum 762. und 766. Tage,
wo sie in folgenden Ausdrücken erscheint: ntmam nol (Ttzam
[= da otrtäa, ich habe kein Messer abzuschneiden, 762) ; — <f tzete
(— da otrföete, ihr sollt abschneiden, 766) ; — da vtf&es {— värzei,
du sollst binden, 766); — jedoch wird diese Konjunktion sowohl
vorher als auch lange nachher in vielen Ausdrucken auch aus-
gelassen, während sie in anderen während derselben Zeit auch
gebraucht wird; so sagt das Kind ohne da de c/dnam? (= de da
sddna? wo soll ich mich setzen? 715): — ymöiam dx/ triam (= tu
möga da xtrna, ich kann nicht nehmen, 751); — dddam mamd?
(= da go dam Ii na mamd? soll ich es der Mama geben? 755): —
ax möxam kdcam (= ax möga da xakacd, ich kann aufhängen,
757) : — ax xndjam küpam (= ax xnam da küpja, ich kann kaufen,
758) ; — ti iskam Mies (■= iskam ti da mbcrtt, ich will, du sollst
sammeln, 758); — ri/ma dximam köfite (= nJtna da ximam — ,
ich werde nicht die Eimer nehmen, 758): — n/ma pak sipam
(= da üsipja, ich werde nicht wieder ausschütten, 758): — »'
rnözat takd kdsat (= ne mögat takd da se otkdsnat, sie können
nicht so abgerissen werden, 766); — mözam nösam {= möga da
nösja, ich kann tragen, 765); — iskam gUdam (= — da — , ich
will schauen, 767); — daj mi pUam (= da p'da, gib mir zo
schreiben, 769); — pak fdne pi {—pak kte xachvdne da spi, wird
wieder zu schlafen anfangen , 776) ; = What (= da — me —
oble6dt} sie sollen mich anziehen, 777); — mözam vizdam (=ne
möga da — , ich kann nicht sehen, 778) : — iskam — (da) — püei
(ich will, du sollst schreiben, 779) : — rän ima nek (= sneg\ mözam
Uxam (— ne möga da ixUxa), ti sdmo mözes Ifxes {= da ixltzes,
draußen gibt es Schnee, ich kann nicht ausgehen, du kannst nur
ausgehen, 7791 ; — [na) — Vddo iskam — [da) — vidi gdloto (= r
gdrloto, dem VI., will ich, soll er in den Hals sehen, 779); — ito
pUam tuk mdsata? (= hto da naptia tuk na mdsata? was soll
ich hier auf dem Tisch schreiben? 781); — pi! iskam budam
(= spi! iskam da te sdbudja, schlafe! ich will dich wecken, 785): —
Iskam cüjam (= da i-üja, ich will hören, 797); — ax Mbuva tölam
(= ax tr6ba da otv6rja} ich muß aufmachen, 800) ; — Vddo xdavfo,
pösle Uxnem vidim ktuenca (= kogdto VI. oxdravfe, pösle ste ixMxem
da vidim kücencata, wenn VI. gesund werden wird, dann werden
wir ausgehen die Hündchen zu sehen, 818); — idl — (da) — hipü
(gehe um zu kaufen, 824); — Vddo, skHj (= skrij) gi ti, — (da) —
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 417
ne gi i>ldi papd (VI. verstecke du sie , damit der Papa sie nicht
sieht, 864); — i — (na) — stoKweU ne Übe (= Mba) — (da se) —
pÜe (auch auf den Stühlen darf man nicht schreiben, 893); —
möze ti — (da) — si napisal (es kann sein, daß du es ge-
schrieben, 901).
Wie ich schon gesagt habe, wird während derselben Zeit auch
das da gebraucht: döftolät (— doktordt) hte döde da cÜi (= ceri)
Vddo (der Arat wird kommen, um VI. zu kurieren, 767) ; — pipni
da vtdü (rühre an, um zu sehen, 797): — ti si daWco, ne möieh
da go zemes (du bist weit, kannst es nicht nehmen, 821); — ax —
(ste) — dam siikite dnes da küpis niesö (ich werde alles — Geld —
heute geben, damit du Fleisch kaufst, 874); — t dvdta da vfdim
(beide wollen wir sehen, 875) ; — xemi da vidi Vddo matte (nimm,
damit VI. meine sieht, 875); — göle ttitim da ne namtlü ti (= göre
hte go türim da go ne namerii ti, oben werden wir es hinauf-
stellen, damit du es nicht findest, 876); — kadi se ti da vtdü
(steige hinauf, um zu sehen, 894); — xahtö ntma tüka edln säenin
da vödi konj? (warum gibt es hier nicht einen Bauern, damit er
— das — Pferd führt? 894); — däzl (= drdz) ja ti da ti pokdzam
(= pokäza), nima da ja x4mam (= x£may halte du sie, um sie dir
zu zeigen, ich werde Bie nicht nehmen, 895); — idl da kupü
(gehe um zu kaufen, 895); am 824. Tage hatte er gesagt, idi
küpis — siehe weiter oben ; — da vidam (= vidja), töpki mlogo sä
ti (= mnögo Ii sä\ ich will sehen, ob viele Bälle sind, 898); —
ne ddva da izUzem (sie — die Mama — erlaubt uns nicht auszu-
gchen, 901) ; — nweto kävdtce (= krevdtce) e lazval&no (= r — ), iskam
da mi kupü d'ügo zdldvo (= drügo zdrdvo, mein Bettchen ist ver-
dorben, ich will, du sollst mir ein anderes unversehrtes kaufen,
901); — ne möze da se ixvddi, xakovdno e (man kann es nicht
herausnehmen, es ist festgenagelt, 901); — da go zakljiicam
(= — ba, ich soll, will es schließen, 939).
Die nächste Konjunktion ist »und« (i), welche auch bei diesem
Kinde hauptsächlich zur Verbindung von Sätzen gebraucht wird,
was eben eine merkwürdige Tatsache ist; wenn das Kind sogar
einzelne Redeteile mit dem »und« verbinden müßte, so tut es dies
in der ersten Zeit so, daß es eigentlich Sätzchen verbindet, indem
es die gleichen Redeteile wiederholt; das ist schon sehr leicht
so zu erklären, daß die Wiederholung von etwas schon Ge-
sagtem leicht ist und daß das Kind sonst manchmal in die Lage
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418 I. A. Gheorgov,
kommen müßte, sehr schwierige Übereinstimmungen zwischen den
Redeteilen herzustellen; es vermeidet dies, indem es lieber die
Redeteile wiederholt, so sagt eB: pile — nema — gunam (= da
gönja) i köika {= koköhka) ntma gönam (das Hühnchen werde ich
nicht jagen und die Henne werde ich nicht jagen, 680); natürlich
ist diese Ausdrucks weise für das Kind leichter, als wenn es sagen
würde: pUeto i koköhkata ntrna da gönja; — tovd Übe i tovd Mbe?
(das — ist — dir und das — ist — dir? 684) ; — vä, Vddo pi (= »pi)
i ax pam (= spja, siehe, VI. schläft und ich schlafe, 697) ; natürlich
ist auch dies für das Kind leichter, als wenn es sagen würde: Vlddo
i ax spim (VI. und ich schlafen); — ti si pö-golem, i mamd e
pö-golema (du bist größer, und Mama ist größer, 874); — ax
katö bddam (= bdda) goUm, ite si hu pam (= küpja) ednd xdltiika
i ne'ma da U ja dam (wenn ich groß sein werde, werde ich mir
eine goldene Münze kaufen und werde sie dir nicht geben, 968). —
Zur Verbindung von einzelnen Redeteilen gehraucht das Kind
dieses »und« nur ein einziges Mal sehr spät, nämlich erst am
918. Tage in folgendem Satz: xemi goMmija kdma% de ite go fffla
(= chrdrlja) i $te uddlam (= uddrja) Vlddo (nimm den großen Stein,
denn — sonst — werde ich ihn werfen und werde VI. treffen, 918).
Sonst meidet er es hartnäckig in solchen Fällen, so sagt er : Vddo —
möne — böni (statt: da küpU na VI. i m6ne bonböni, du sollst
VI. und mir Bonbons kaufen, 696); — i Vddo leb mtli, ''de (= •
VI. chleb namtri, jade", auch VI. hat Brot gefunden, ißt, 740) : wie
sehr das Kind dieses kopulative »und« in solchen Fällen nicht
liebt, zeigt besonders gerade dieser letzte Satz, wo das i im An-
fange des Satzes im Sinne von »auch« steht, dagegen es nicht
gebraucht wird zur Verbindung der Verba namtri und jade', welche
einfach so aneinandergereiht werden. — Diese Konjunktion hat
im Bulgarischen noch den Sinn von »auch«, und dieses * ist auch
sehr früh da: papd} daj i mene 6aj (Papa, gib auch mir Tee,
738); - i Vddo leb mäi, 'de (= i Vi chleb namfri, jadf, auch
VI. hat Brot gefunden, ißt, 740); — i ax sabilam {= säbiram,
auch ich sammle, 758); statt dieses i ax wird anfangs seit dem
705. Tage lax gebraucht, welches sich bis zum 27. Monate erhält1^'
ne iskam go, lax (= i ax) m iskam (ich will es nicht, auch ich
will es nicht, 765); — i töja kovdch (= xakovdch, auch diesen —
1} »Die ersten Anfänge nsw.« S. 363—364.
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Ein Beitrag zur grammatiachen Entwicklung der Kindereprache. 419
Nagel — habe ich eingenagelt, 761); — tdnei {— kogdto stdnei)
pö-goUm i tja tdne (= ite stäne) pö-goUma (wenn du größer werden
wirst, wird auch sie größer werden, 882; es bandelt sich um ein
von Bausteinen gemachtes Häuschen, bulg. fem.); — i — [na) —
stoldvete ne Übe piU (= trtba da se ptie, auch — auf — den
Stuhlen darf man nicht schreiben, 893); — i ax U? (auch ich?
900); — i tovd udälva (= uddrja, auch dieses schlägt er, 918); —
katö stdna goltm, ite Imam kniika i ax (wenn ich groß sein werde,
werde auch ich ein Büchlein haben, 921); — i ax katö bädam
(= bdda) böten , katö zernam {— xAma) edin pdt 6qj\ ite otidam
(= oUda) na DagaUvci (= Dr — , auch wenn ich krank werde,
wenn ich — dann sofort — Tee nehmen werde, werde ich nach
Dr. fahren, 961). — Manchmal wird dieses letztere t auch ver-
schwiegen: U Uxnei? {— i ti ite H ixlfzei? wirst auch du ausgehen?
743): — tija xad tülam? (= i tija Ii da türja naxdd? auch diese
soll ich rückwärts stellen? 782).
Das doppelte i—i (sowohl — als auch, lat. et — et) ist nur
ein einziges Mal und zwar sehr spät vorgekommen: i — {na) —
mdsata ne bim da se piie i — [na) — däskata (sowohl — auf — dem
Tisch, als auch — auf — dem Bett darf man nicht schreiben, 893).
Andere kopulative Konjunktionen hat das Kind nicht gebraucht.
Von gegensätzlichen Konjunktionen kommen nur a
(dagegen, und — wieder, und — dagegen), ami (doch, aber, und —
denn), pa (doch, jedoch, aber, und — wieder) vor, dagegen hat
dieses Kind nie gebraucht: a pak, a pa, atnd} inak*); doch auch
die anderen sind selten gebraucht: ami ito e tüka pteano? (und
was ist denn hier geschrieben? 846); — ami ax x6mam (= ite
go ztma, ich werde es aber nehmen, 882) ; — ami Vlddo xaitö go
xe? (und warum hat es denn VI. genommen? 932). — Papd, nie
tüka bdiehme {— sdbhraciime) kosttöd, pa tüka fdUchme (= chvdr-
Ijachme, Papa, wir haben hier Kerne gesammelt, und hier wieder
haben wir — sie — geworfen, 871). — Cov6cite imat idpki, a ax
nfmam (die Leute haben Hüte, und ich dagegen habe nicht, 875) ; —
nie ite ixlexem, a Senöo n6ma, de düva vAtäl (= dücha rttdr, wir
werden ausgehen, aber S. nicht, denn es weht Wind, 915), —
Sonst werden die Konjunktionen nicht gebraucht und die Sätze
einfach aneinandergereiht: tma tüka Idmpa, — (no, ald) — ne e
1] Siehe oben S. 321.
Archiv fOr Psychologie. XI. 28
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42Ü
I. A. Gheorgov,
pdlena (= xapdlena, hier gibt es eine Lampe, — aber — sie ist
nicht angezündet, 818).
Von den unterordnenden Konjunktionen gebraucht auch
dieses Kind nur jene der Zeit und des Grundes, und zwar frllh
kogd (wenn, qnand), katö (wenn, quand) und Behr spät ce (denn,
weil), während die der letzteren Konjunktion verwandte xastöto
(weil), welche bei meinem ersten Kinde sehr früh aufgetreten war,
von diesem Kinde gar nicht gebraucht wurde: kogd üinam {— stand)
gol/m, Hiam {= iie Icüi, wenn ich groß werde, werde ich lesen,
779); — lax ga üinam (= i ax kogd stdna) gol/m, gdva plkam
(= togdva ste pika) dnes (wenn ich auch groß werde, werde ich
dann heute schreiben, 807); — katö fdem naDagaUvci (=Dr — ) ste
xAmem pajtön (wenn wir nach Dr. fahren werden, werden wir einen
Wagen nehmen, 901): — segä ne place, katö diivah d'ug [=drug)
pdt, plade (jetzt weint er nicht, wenn du ein anderes Mal gibst,
— nämlich Arznei dem Bebe, — weint er, 901); — katö stdna
gol/m, ite irnam knizka % ax (wenn ich groß werde, werde auch
ich ein Büchlein haben, 921): — i ax katö bddam (= bäda) bölen,
katö xtmam {== zSma) edfn pdf daj, He otidam (= otida) na Da-
galevci (= Dr~, wenn ich auch krank sein werde, wenn ich —
dann sofort — einmal Tee nehmen werde, — um nämlich gesund
zu werden, — werde ich nach Dr. fahren, 961); — ax katö bddam
{= bdda) goUm, kte si kiipam (= ktipja) ednd xdlttdka i n/rna da
tija dam (wenn ich groß sein werde, werde ich mir eine goldene
Münze kaufen und werde sie dir nicht geben, 968); — ax katö
stdna u bdnjata, U möxei da* si ide£ u stolovdja (wenn ich mich
in die Wanne setzen werde, kannst du ins Speisezimmer gehen,
971). — Nie Ste ixlSxem, a Stndo n/ma, de duva vttäl (= ducha
rttdr, wir werden ausgehen, aber Senco nicht, denn es weht Wind,
915) ; — xemi goltmija kdmäk, de tte go fd'la [ctivdrlja] i ite uddlam
(= itddrja) Vlddo (nimm den großen Stein, denn ich werde ihn
werfen und werde VI. treffen, 918); — Ukam da idam {= Ida) r
tohvdja [— stolovdjata), de tekam vodd (ich will ins Speisezimmer
gehen, denn ich will Wasser, 941); — xemi töja püön {= pirön),
de toj e xa mdjstolitc (= mdjstorite, nimm diesen Nagel, denn er
ist für die Baumeister, 960); — nie ftba (= trtba) da se dä'zim
(= dtirzim), de sme malki (wir müssen uns halten, denn wir sind
klein, 986).
Sonst werden auch hier die Konjunktionen, besonders in früherer
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 421
Zeit, ausgelassen: kazi — {na) — Vddo, teljdt iskam (= de Iskam
petMt, sage VI., daß ich den Hahn will, 748); — ne ax goUmite
biiam, dpat (= goUmite ax ne oblöam, xaitöto chdpjat, die großen,
nämlich Hunde, liebe ich nicht, weil sie beißen, 762); — iikite
(= siikite) köpieta kdsam (= ste skdsam), — (xa da) — ndmaü
(alle Knöpfe werde ich abreißen, damit du nicht hast, 762).
Zweimal nur, und zwar einmal in sehr früher Zeit, das zweite-
mal ziemlich spät, wird die Partikel Ii, im Sinne von »ob«, in
folgenden Sätzen gebraucht: dlnnei, mUe Ii tox (= da me dignei
— da vldja, — mirUe Ii tox, du sollst mich aufheben, — damit
ich sehe, — ob dieser — Zitronenstrauch — riecht, 703); — da vidam
(= vidja), topki mlögo {= mnögo) sä Ii (ich will sehen, ob yiel
Bälle sind, 898); — sonst wird diese Konjunktion verschwiegen:
dma böni tarn i fdim, pak dödem (= da vidim, ima Ii tarn bonböni,
pak Ste döjdem, wir wollen sehen, gibt es dort Bonbons [ob es . . .],
dann werden wir wiederkommen, 706).
XIV.
Es seien noch zuletzt die Interjektionen angeführt, die das
Kind natürlich schon früh gebraucht. Die erste ist chdde oder dde
(= chdjde, allons! wohlan!), welche das Kind gegen den 518. Tag
gebraucht, wenn es sieht, daß wir uns zum Ausgehen vorbereiten,
und uns auffordert, schneller auszugehen; — gegen den 530. Tag
sagt der Knabe dil (hü!), wenn er sein Pferdchen antreiben will;
er hat dieses von seinem Bruder gehört; — dpa, öba, chöba
(= cliöppa), sagt er, wenn er sich in meine Arme wirft, 560; von
uns erlernt; — opf bedeutet bei ihm: nimm mich zu dir (644); —
op! dänam (= digni me, fskam da stdna! hebe mich auf, ich will
aufstehen, 646); — ne! (nein! 578), sagt er, als ich ihn aufgefordert
hatte, er soll dem VI. ein Spielzeug geben, und er wiederholt
mehrmals dieses ne! so oft ich an ihn die Aufforderung richte; —
U! (von viz} siehe), sagt er fortwährend, wenn er die Aufmerk-
samkeit von jemandem auf irgend etwas lenken will, 591); —
bögo (= sbögom! adieu! 615); — gogom (= sbögom! 683, 698); —
mai (= mari! marsch!) sagt er zu seiner Mama, wenn er auf sie
böse wird, und zeigt ihr dabei die TUr, 624; — ma'S! (= mar$!
672); — fa! (pfui! 637); — Ddnko, ka (er will hiermit sagen: so
werde ich sagen, wenn ich machen will, 641); — cee tarn! (he!
dort! 751, 765); — ee tarn kdöach (= xakadieh) ax kui&vete
28*
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I. A. Gheorgov,
(= kljutövete, he! dort habe ich die Schlüssel aufgehängt, 780); —
ja kolko e p&goktna! (siehe! wie groß sie ist! 882); — ja kolko
mnögo! (siehe! wie viel! 894); — xeml go de! (nimm es doch, du
Kerl! *) 921); — xalupi (= zacMupfi de! (decke doch zu, Kerl! ») 947).
XV.
Zar Syntax übergehend, wollen wir auch hier hervorheben,
daß die Frage auch bei diesem Kinde sehr viel angewandt wird:
sie taucht bei ihm sogar um IVa Monate früher auf als bei meinem
ersten Kinde; nämlich am 633. Tage sagt das Kind: da tekäm
(= vodd (skam, ich will Wasser), und als ich ihm daraufhin sage:
voddta e fa (das Wasser ist pfui), sagt er mit einem Frageton:
dtita fa? (= voddta fai das Wasser — ist — pfui?); — die nächste
Frage war: 'Lddo de/ {=Vl. de ef wo ist VL? 675) ; — ddte (= Übe)
kniga? (dir Buch? d. h. ist das dein Buch? 678); — ne e — {Ii)
— kon [=konj)? (ist es nicht ein Pferd? 681): — gotfino de?
(=de c gol/moto? wo ist das große? 683); — tovd Übe i tovd
Vbe? (das — ist — dir und das — ist auch — dir? 684); —
pdpe, tovd mtm? (Papa, das mir? 693); — de dinai (*= edinijaf)?
(w0 — ist — der eine? 694); —de nt (wo bist du? 705); — ptiei -
{&•)? (schreibst du? 705); — papd, de? gösti? (= papd, de bechtef
7ia gösti? Papa, wo wäret ihr? zu Gaste? 706); — de e koikata
(= kokötkata)? (wo ist die Henne? 706); — ko (= koj) e tovdf
(wer ist das? 708); — pdk dddei gUdam? (= &te — mi go —
dad££ pak da — go — gUdam? wirst du — es mir — wieder
geben, um — es — zu schauen? 710); — de e tovd piiam [=za
da ptia)? (wo ist das, nämlich der Bleistift, damit ich schreibe?
711) ; — de go yLov (= Stambol&v)? (wo ist St.? 711); — papä de —
{('':? (wo — ist — Papa? 714); — de — {e) — Mjaf (wo — ist — die
Tante? 715) : — de ctönam? (= kddt da sMna? wohin soll ich mich
setzen? 715); — ti ttvei? (= &te ixtfxes Ii ti? wirst du ausgeben?
743] ; — papd} ito e tovd tarn gole (= göre)? (Papa, was ist das dort
oben? 744); — papd, de bei klak? (= de e Mlijat krak? Papa, wo
ist der weiße Fuß? 744); — ito n' döde döftohit? (= ito ne dojde
doktordt? warum kommt nicht der Arzt? 752) ; — tarn vdjo Wja*
(= Wja tarn v stolordjata Ii ef ist die Tante dort im Speisezimmer?
756 1 : — mdj tija? (= mui Ii sd tija? sind diese meine? 760); -
1 Siehe oben S.328. Dort beim ersten Sohne ist diese Interjektion in
der ebenfalls gebräuchlichen Form bc.
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 423
ito Übe nfga? {= xahtö tr&a knigata? wozu ist nötig das Buch?
761); — de go oite edin dxidj {= fasül)? (wo ist noch eine Bohne?
766); — de go? (wo ist er? 770); — fa ax? (= fa Ii sam ax?
bin ich pfui? 779); — Hja xad tüiam? (= i tija U da twrja naxdd?
soll ich auch diese hinten stellen? 782). — Wie ich schon oben
bemerkt habe, wird die Fragepartikel Ii in Sätzen, wo kein be-
sonderes Fragewort da ist, lange nicht angewandt; sie taucht erst
am 846. Tage auf und wird von da an immer angewandt; so ist
interessant die ganz richtige Frage: t ax Ii? (auch ich? 900). —
Von späteren Fragen mit besonderen Fragewörtern sind die folgen-
den interessant: ito e tovd titka, dSka ti xemdf (was ist das hier,
was du genommen hast? 864) : — xastö vf6e ne voll ddx (= diixd)
tüka? (warum regnet es nicht mehr hier? 887); — xa&tö nSma
tüka edin stlenin da vödi konj? (warum gibt es hier nicht einen
Bauern, der — das — Pferd fuhrt? 894); — kadt {■= kädt)
H e 'Kvät (= möUvät) da piieif (wo ist dein Bleistift, damit du
schreibst? 901); — aml Vlddo xahtö go xe? (und VI. warum hast du
genommen? nämlich auf den Schoß, 932).
Auch bei diesem Kinde ist die Wortfolge, und zwar nicht
bloß im Anfang, nicht die der gewöhnlichen Sprache. So kommt
manchmal Verstellung des Subjekts und des Prädikats: pldde beU
(Bebe weint, 675); — bie Udo {= Uco ste bie, der Onkel wird
schlagen, 700). — Es kommt auch Voranstellung des Objekts vor:
vü4ko — btnce (= bebtnce) — Iska (Milch Bebchen* will, 677); —
diese Verstellung kann sogar manchmal Anlaß zu Mißverständ-
nissen geben, wie z. B. in folgendem Satz: Vddo bie dito (statt:
tiöo ite bie Vlddo, der Onkel wird VI. schlagen, da VI. hier das
Objekt darstellt, 700); dagegen sagt das Kind richtig am selben
Tage: 6f6o bie konj, der Onkel, d. h. der Bauer, schlägt — das —
Pferd, 700); — von derselben Art sind auch folgende Sätze: pdpe,
te%e mamd gUda (dich schaut Mama, d. h. in dein Buch schaut
Mama, 766); — papdt pddat gätüte (Papa, fallen die Hosen,
756); — tarn väjo Uljaf (= Wja tarn v stobväjata Ii e? ist die Tante
dort im Speisezimmer? 756). — Dieselbe Art von Versetzung
kommt oft vor bei Sätzen, wo das Kind von sich irgend etwas
aussagt, und wo die Versetzung noch ungewöhnlicher klingt:
öupich ax Ujka (= ax sdüpich kiitijka, ich habe eine Schachtel
zerbrochen, 708); — bttam ax pa (= ax obiöam papd, ich liebe
Papa, 751); — cipal ax (= ax ix&ipacli, ich habe ausgeschüttet,
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I. A. Gheorgov,
758); — pich ax (= ax pich, ich trank, 764); — bick ax (ich
schlag, 766); — kldtam ax (= ax kldtja, ich schaukle, 770); —
ndvam ax pa (= ax pozndvam papd, ich erkenne Papa, nämlich
auf dem Bilde, 782); — ebenso bei Sätzen, wo das Pronomen
der zweiten Person als Subjekt steht: ntmai tixe dve {= ti nernat
die, du hast nicht zwei, 771); — 'ga pUel ti si (= segd ti si
— vtte — pfsal, jetzt hast du — schon — geschrieben, — darum
gib mir den Bleistift, 778); — tiM ti si (= ti si türü, du hast
gelegt, 781). — Die Personalpronomina stehen gewöhnlich im Bul-
garischen vor dem Verbum finitum oder bei zusammengesetzten
Zeiten vor dem Partizip; das Kind liebt jedoch in solchen Fällen
das Pronomen nach dem Verb zu gebrauchen; so sagt es: ?ie iskai
go, lax (= i ax) ne fskam (statt: ne go iskaä, du willst es nicht,
ich will auch nicht, 765); — ax mich te (statt: ax te mich, ich
wusch dich, 779); — ax mdlich go (= ax go namerich, ich fand
es oder ihn, 789); — de fdli gof {= kädt go chvdrlif wohin warfst
du ihn? 808); — tüka nfima gi, dügata tdja {= tüka gi ntma,
v dnigata stdja — (sd)} hier gibt es sie nicht, im anderen Zimmer —
sind sie, 811). — Manchmal wird das Bestimmungswort vom Snb-
stantiv durch ein anderes Wort getrennt, dessen Stelle anderswo
ist: goUmite dpat konß (= gotfmite konjd cJidpjat, die großen
Pferde beißen, 764); — papd, edm'i tüka mUka ixUxnala, ax ja
vidcch (statt: ednä mtika ixUxnala tüka. . ., eine Maus ist hier
herausgekommen, ich sah sie, 806). — Bei diesem Kinde kommen
selten Phrasen vor, wo das Substantiv im Genitiv steht; dessen
Platz ist natürlich hinter dem Substantiv, welches es näher be-
stimmt; das Kind stellt jedoch einmal in einem solchen Falle den
Genitiv vor das betreffende Substantiv: t/ja Vddo citi, ax dx/docli
(= tija sä biskvltite na Wido, ax ixMoch — svöite, diese sind die
Biskuits Viados, ich habe — meine — aufgegessen, 762).
Interessant ist es, daß das Kind sehr oft die Verneinung ne
zu Anfang des Satzes stellt; diese sonderbare Ausdrucksweise
scheint ihm zu gefallen: goUmoto ktUe Ape {— chdpe), ne —
mdlkoto — kiide — dpe (= chiipe, der große Hund beißt, der
kleine Hund beißt nicht; das Kind sagt: nicht der kleine Hund
beißt; 751); — ne mencka bicas" (= mene ne me obtöas, mich liebst
du nicht, 758); — ne toj pi {= toj ne spi, er schläft nicht,
760); — ne ax goMmite biöam, dpat (= ax ne ob'tfoim qottmilc,
— [xaitöto) — chäpjat, ich liebe nicht die großen, nämlich Hunde,
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Ein Beitrag zur grammatiachen Entwicklung der Kindereprache. 425
— denn — sie beißen, 762); — ne mamd bidam (= mamd ne
obföam, die Mama liebe ich nicht, 778); — Übe bell gaväta? ne
Übe boll gaväta (= boli Ii Übe glavdtaf telw ne holt glaväta, tut
dir der Kopf weh? dir tut der Kopf nicht weh, 788). — Interessant
sind noch die Versetzungen der Wörter in folgenden Phrasen:
ne säm lep xtmal (= ne säm xtmal chleb, ich habe nicht Brot ge-
nommen, 711); — ne säm sidkoto dxSdäch {=ne säm ixjiil stfkoto,
ich habe nicht alles gegessen, 767); — ti tekam Mies {= tskam
ti da säberti, ich will du sollst sammeln, 758); — tavä ax pa
nävach (= ax tovd poxndch papä, ich habe das erkannt — als —
Papa, 782); — Vädovite goUmi sä (= VI. sä gotfmi, Viados sind
groß, 850); — mdlki sä Ii tija? {= mdUci Ii sä tija? sind diese klein?
846); — da rtdam, täpki mlogo sä Ii (= da vidja, mnögo töpki Ii
sä, ich will sehen, ob viel Bälle sind, 898). — Endlich sind
als interessante Fälle von richtiger Inversion folgende Sätzchen
anzuführen, welche schon zeigen, wie das Kind nach und nach
die richtige Ausdrucksweise sich aneignet: vidii, koldär säm ax
(siehst du, wie groß ich bin; bulg.: bin ich, 751); — ax —
(säm) — mdldk, 'ga {= segä) viz, goUm — (säm) — ax (ich bin
klein, jetzt sieh, groß — bin — ich, 779); — liv (= möliv) imam
ax, ax imam Uv (Bleistift habe ich, ich habe Bleistift, 763); —
katö süina goUm, ste imam knizka i ax (wenn ich groß werde,
werde auch ich ein Büchlein haben; die Wortfolge ganz richtig,
921); — Ub ti ddde Vlddo b&nboni (dir hat VI. Bonbons ge-
geben, 921).
Ich habe noch zu Anfang Uber das Auftreten der ersten Sätzchen
berichtet. Hier wäre noch hervorzuheben, daß während die ersten
Sätzchen mehr Wunsch- und Befehlsätze waren, das erste Sätzchen,
in welchem ein Substantiv als Subjekt mit einem verbalen Prädikat
verbunden ist, am 645. Tage ausgesprochen wurde: denceto pdöe
(= bebenceto place, das Bebchen weint); — dann folgen ähnliche
Sätzchen: knigaia miße (= miriie, das Buch riecht, 669); —
pläöe Übe (Beb6 weint, mit Inversion, 675); — kompliziertere
Sätzchen mit drei Wörtern, wenn man den Satz dam ci (=ne
£ia bishrtti, ich will nicht Zwieback, 640, 656) nicht in Betracht
nimmt, treten am 672. Tage auf: ntma — tuka — pall (= pari,
es gibt hier nicht Geld), ferner, — wenn man Sätzchen wie: ne
e gotemo (ist nicht groß, 675) und 6to go mdUcoto (hier ist daB
kleine, 675) ausschließt, — noch folgende: tuka — ntma — kän
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I. A. GheorjjfOT,
,{= konj. , hier gibt's kein Pferd , 676) ind am 677. Tage : mlSio
— bince (= bebtnce) — fska (Milch Bebchen will) ; bei allen diesen
Sätzeben spricht das Kind anch die einzelnen Wörter langsam
nnd getrennt voneinander ans, als ob ihm solche längere Sätzchen
noch Mühe machen; — dann am 684. Tage: ntma tebe 'ce (=jajcty
es gibt — flir — dich nicht Ei).
Ein eigentlich anch grammatisch richtig ausgesprochener zu-
sammengezogener Satz kommt bei diesem Kinde gar
nicht vor.
Gedanken, welche eigentlich dnreh den zusammengesetzten
Satz ausgesprochen werden mußten, kommen schon ziemlich früh
bei diesem Kinde vor, so sagte es am 641. Tage: Ddnko, ka, womit
es sagen wollte: wenn ich werde machen wollen, werde ich so
rnfen: Ddnko, ka (Danka, ich will ka machen); — dann am
046. Tage: opf ddnam, womit er sagen wollte: digni me (hebe
mich anf, was er mit der Interjektion hopt ansdrückt), 6e tekam
da stmia (denn ich will aufstehen); — H fa, papd edea (du
— bist — pfui, Papa — ist — lieb, gut, 669); — vi-, ntma
— tüka — pall {= pari, siehe, es gibt hier nicht Geld, 672); —
rii mdljko (= ntdlko, siehe — ein — kleines, nämlich Steinchen,
wobei er mir ein solches zeigt, und dann gleich darauf mir ein
großes zeigend, hinzufügt:) Hz goMirito {— goUmoto, siehe das
große, 675). — Während bisher diese Satzverbindungen lose
waren, taucht am 680. Tage auch die satzbindende Konjunktion
>und« (t) auf: pik — n/hna — gönam {= da gönja) i köika
(= koköska) n/ma gönam (= da gönja, das Huhn werde ich nicht
jagen und die Henne werde ich nicht jagen); — tovd Übe % Und
Übe? (dieses dir und dieses dir? 684); — von mit >und< ver-
bundenen Sätzen sind noch folgende hervorzuheben: viz, Vado pi
i ax pam (= VI. spi i ax spja, siehe, VI. schläft und ich schlafe,
697); — ti si, pö-goiem, i mamd e pö-golema (du bist größer, und
Mama ist größer, 874). — Von anderen Satzverbindungen, wo
die Sätze lose nebeneinander gereiht werden, seien noch folgende
angeführt: Ddnko, viz, vdfe müchi (= vätre — ima — muclii,
Danka, siehe, drinnen — gibt's — Fliegen, 687) ; — rifam (= tu
Sta), mtne bie [— ite bie) tarn Mo (ich will nicht, mich wird dort
der Onkel schlagen, 700); — papd, rii, ax bittach Uxite (== btltnach
ielexdta, Papa, siehe, ich habe die Eisenstangen umgeworfen,
703); — äma böni tarn vidim, pak dödem (— da vidim, ima Ii
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 427
tarn bonbani, pak die dödem (wir wollen sehen, gibt es dort Bon-
bons, dann werden wir wieder kommen, 706) ; — C6n6o (— Senöo)
pkUe, iska mUko (S. weint, will Milch, 733); — nesi (= donesi)
caj, iskam pljam {=dapija, bringe Tee, ich will trinken, 737); —
cftftf, tovd UM (= türieh, siehst dn, ich habe das hingelegt,
750); — pdpe, pipnl, goUsto {= gortito) e; da? got&to e? (Papa,
rühre an, es ist heiß; ja? ist es heiß? 764); — ne fskas go, lax
(= i ax) ne iskam (du willst es nicht, ich will es auch nicht,
765); — ti mtneka bicai (= obiiai), ax ne sdm kdvach kevdtie
möklo (= naprdvü v krerdtteto 7nökro, da liebst mich, ich habe
im Bett nicht naß gemacht, 768); — vdn ima nek (= sneg),
mözam tfxam (= ne möga da ixtäta), ti sdmo mozeh Uxeh (= da
ixUxek, draußen gibt es Schnee, — darum — kann ich nicht aus-
gehen, nur du kannst ausgehen, 779); — pi (= spi).' Iskam budam
(=da — te — säbildja, schlafe! ich will — dich — wecken, 785) ; —
öste mdlko ptfam {—da piio), pösle dam (= tte) da?n, noch ein
wenig will ich schreiben, dann werde ich geben — nämlich den
Bleistift, 795); — ti 'de* (=jMW), pösle tarn — {Sie) — idei (du
issest, dann wirst du dorthin gehen 795); — xemi mUkoto, glej
{—sgrej go)\ (nimm die Milch, erwärme sie! 804); — vMe papd
faipi, segd rna küpi (— mamd kte küpi, schon hat Papa gekauft,
jetzt wird Mama kaufen, 809); — tüka nema gi, diigata tdja
= v drügata stdja sd} hier gibt es sie nicht, im anderen Zimmer —
sind sie, 811); — ima tuka Umpa, ne e pitiena (es gibt hier eine
Lampe, sie ist nicht angezündet; hier ist interessant das Auslassen
der Konjunktion no (aber), welche nicht ein einziges Mal gebraucht
wird, 818); — segd ubavo Ii e Urne (= wtme)? segd tdne (= die
stdne) Uso Urne (= vrtmey ist jetzt schönes Wetter? jetzt wird
schlechtes Wetter werden, 858); — Vddo sk'ij (= skrij) gi H,
— (da) — ne gi vidi papd (VI. verstecke du sie, — damit — Papa sie
nicht sieht, 864) ; — da' zi (= draz) ja ti da ti pokdzam (== pokdza),
nerna da ja xtmam (— xtma, halte du sie, daß ich dir zeige, ich
werde sie nicht nehmen, nämlich ein Bilderbuch, 895); — xaktö
ne pfe*, ixpl go! (warum trinkst du nicht, trinke ihn aus! 895); —
möeto kevdtde (= krevdttc) e laxvaleno (= razvaleno), Iskam da mi
Mpü cTtigo xdldvo (= drugo xdrävo, mein Bettchen ist verdorben,
ich will, du sollst mir ein anderes unversehrtes kaufen, 901).
Auch der Kontrast zwischen zwei Gedanken wird von diesem
Kinde ebenfalls, und zwar bei ihm nicht bloß in der ersten Zeit,
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I. A. Gheorgov,
ohne jede Konjunktion ausgedrückt1); so sagt das Kind: ti fa, papd
cdca (dn pfui, Papa lieb, gut, 669); — ne c mdlko — goUmo (es
ist nicht klein — groß, 682), antwortet er, als ich ihm gesagt
hatte: das ist klein; — Vddo pldte, ax ne (VI. weint, ich nicht,
702); — ne säm, tovtk (ich bin nicht, Mensch, 705), antwortet er, als
ich ihm gesagt hatte: du bist eine Schildkröte; — mich az, ne ti
(ich wusch, nicht du, nämlich ich wusch micht selbst, nicht du
hast mich gewaschen, 706); — ne iskam goUmy malle' (= mdldk,
ich will nicht — einen — großen, — einen — kleinen, nämlich
Nagel, will ich, 706); — mdta {= na xemjata) iitkame, ne na
tolnji-ete (= stoldvete, auf dem Boden klopfen wir, nicht auf den
Stühlen, 706); bulg. müßte der zweite Teil durch ein entgegen-
setzendes a (= nicht aber) eingeleitet werden; — na ti tovd, daj
mi tovd (da hast du dieses, gib mir dieses, 712); — golemoto kuie
dpe {= chdpe)} ne — mdlkoto — kü6e — dpe (— chdpe, der große
Hund beißt, nicht der kleine Hund beißt, 751); — ax goUmija, ti
mdlkija (ich den großen, du den kleinen, nämlich Nagel, werden
wir nehmen, 751); — Vddo edmo {= sdmo) dural (= düchnal},
ax ne sdm dural (= ixduclinal, VI. nur hat ausgeblasen, ich habe
nicht ausgeblasen, nämlich das Licht, 764); — [na) — Vddo t&ja,
mftieka dug (= drug, dem VI. diesen, mir — einen — anderen,
nämlich Zwieback, 765) ; — ax ifeach (= se vdesach) chübaro, H
ne si desal {= si se vdöml, ich habe mich gut gekämmt, du hast
dich nicht gekämmt, 767); — ax toja tarn mdlkija kovdch (= xako-
vdck), ti goUmija (ich habe diesen dort kleinen, nämlich Nagel,
eingeschlagen, du den großen, 767); — ax} ti pdsle (ich — nämlich:
werde jetzt das tun — , du später, 769); — ctdnei t&ja toi, ax
toj (= ti sednt na töja stol, ax na toja, du setze dich auf diesen
Stuhl, ich auf diesen, 778); — ax ne säm cupich (= siüpil) mdläk
Ur (= möliv), ax iüpich (= sdüpich) göUm liv (= molii\ ich habe
nicht kleinen Bleistift zerbrochen, ich zerbrach großen Bleistift,
779) ; — d/ivfchj Vddo ne ddvöl {= ax oxdrave'ch, VI. ne e ozdrartl,
ich bin gesund geworden, VI. ist nicht gesund geworden, 779); —
[na] — Vddo iskam — [da) — vidi gdloto (= gdrbto), ax nemam
gdloto {= gdrloto, dem VI., will ich, soll er — der Arzt — sehen
in den Hals, ich habe nicht den Hals, d. h. mir tut der Hals nicht
weh, 779); — Vddo ne kdvi (= prdvi)} ax sdmo kdvam {= prdtya,
1) Siehe oben S. 332.
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kinderaprache. 429
VI. macht nicht, ich nur mache, 779) ; — ruhna kon (= konj), ima
sdmo ddiin (= solddtin, es gibt kein Pferd, es gibt nur einen
Soldaten, 780); — Vddo Mpe (== VI. se kdpe), pösle ax (VI. badet,
später ich, 782) ; — ti ne si böten, Vddo sdmo bölen (du bist nicht
krank, VI. nur krank, 789): — papd moj, mamd Ubeka (Papa
mein, Mama dir, 789); — ttika ax Iveja (= zivfja), ti tarn ivte&
(= zivtei, hier wohne ich, du wohnst dort, 809); — segd tovd e
möe, ne e töe (= tröe, jetzt das ist mein, ist nicht dein, 860); —
möjata e pö-golema, tvöjata e pö-malka (meine ist größer, deine ist
kleiner, nämlich das Bauhäuschen, 882); — sbell {— säberi) ti,
sickite ne mözam {= möga, sammle du, alle kann ich nicht, nämlich
sammeln, 898). — Das entgegensetzende a (und — dagegen, hin-
gegen) kommt erst spät zum Gebrauch: öovdcite Imat iapki, a ax
nömam, 875); — nie ite ixUxem, a S&nöo n4ma, de düva vttäl
[=ducka vttär), 915 1).
Auch dieses Kind drückt selbstverständlich anfangs die Unter-
ordnung eines Satzes ohne jede Konjunktion aus; so sagt
das Kind:
a) bei Fi n aisätzen: daj dxlnam (= daj da — go — celüna, gib,
ich soll — es — küssen, damit ich es küsse, 629, 641); — Plödiv
ti — tide — mfne — könie — MpU (= v Pl&vdiv ti otide da mi
hipii könte, nach Philippopel bist da gefahren, um mir Pferdchen
zu kaufen, 694); — daj glädam (= da gUdam, gib, ich soll sehen,
damit ich sehe, 706); — pak dddei gUdami {— ste mi go dade's
pak da go gUdami du wirst es mir wieder geben, damit ich es
schaue? 710); — de e tovd pUam (= xa da ptäa)? (wo ist dieses,
— nämlich der Bleistift, — damit ich schreibe? 711); — daj mi
go klfjam {= da go skrtja, gib mir ihn, damit ich es verstecke,
746) ; — iikite köpdeta käsam, 'nemas (= sldkite köpdeta ste skdsam,
xa da n4ma&, ich werde alle Knöpfe abreißen, damit du nicht
hast, 762); — daj mi ptiam {—da pisa, gib mir, damit ich
schreibe, 769); — ki st mtla?n {= skrij se da — te — namerja,
verstecke dich, damit ich — dich — finde, 771); — tdvi Vddo
kdvdtceto, dddes mene caj [= ostanl VI. v krevdUeto, da mi dad&
mens 6aj, setze VI. ins Bettchen, damit du mir Tee gibst, 797); —
Vddo, sk'ij (= skrij) gi ti — (da) — ne gi vidi papd (VI. ver-
stecke du sie, damit der Papa sie nicht sieht, 864);
1) Siehe oben S. 419.
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I. A. Gheorgov.
b) bei Objektsätzen: kaJtt V<ido tüjdt fskam {— kazi na FZ.,
ie fskam petMt, sage dem VI., daß ich den Hahn will, 748); —
fskam — {da) — p'M (ich will, daß du schreibst, 779):
c) bei Kausalsätzen: opf dänam (= digni ?nc, ie fskam da
stdna, hebe mich auf, weil ich aufstehen will, 646): — n' tarn
(= ne ito), — (ce) — m&ne — {«te) — bie tarn ttto (ich will nicht,
— denn — dort wird mich der Onkel schlagen, 700); — Ctnto
(= Sfinio) pldie, — {xastöto) — iska mUko (S. weint, — weil —
er Milch will, 733): — nesf (= donesf) iaj, — {de) — fskam pfjam
(=z da pfja, bringe Tee, — denn — ich will trinken, 737): —
ne ax goUmite bikam (=? obfiam), dpat {—xastöto chdpjat, ich
liebe nicht die großen, nämlich Hunde, weil sie beißen, 762); —
ti mfneka bix-aA {= obitat) — xaitöto — ax ne sfim kdvack kevdtie
tnökh (= naprdril v krevdtieto mökro, du liebst mich, — denn —
ich habe nicht im Bett naß gemacht, 768); — ax se ujAdiich,
— {xaitoto) — mdldk sam ax (ich bin erschrooken, — weil —
ich klein bin, 800):
d) bei Adjektivsätzen: vünka dx/mam pilön (= ite xtma
piröna, kujto e rdnka, ich werde den Nagel nehmen, der draußen
ist, 751):
e) bei Temporale ätze u: üinam gottm, dam te (= kogdto stdna
gotfm, stc jam kjuftf, wenn ich groß werde, werde ich Kotelette
essen, 803): — Vddo xdarrc, pöslc tfxncm vfdim küienea {= kogdto
VI. oxdrav/e, stc ixlvxcm pöslc da vidim küiencata, wenn VI. ge-
sund werden wird, Werden wir dann ausgehen, um die Hündchen
zu sehen, 818); — tdnck jyö-golem, i tja tdm pö-golema {— kogdto
stdnes jxj-gokm, i tja hte stdnc ]?6-golema, wenn du größer werden
wirst, wird sie auch größer werden, nämlich das Bauhäuschen, 882):
f; bei Konsekutivsätzen (von denen nur ein einziger ziemlich
spät im Verhältnis mit den anderen erscheint): ti si datfko, — {h
oder tdj stotö) — ne mözes da go xSme* ;du bist weit, — so
daß — du es nicht nehmen kannst, 821).
Natürlich ist bei vielen dieser Fälle die Unterordnung auch in
der gewöhnlichen Sprache durchaus nicht durch besondere Kon-
junktionen ausgedrückt, sondern die Unterordnung ist nur im
Sinne des Ausgesagten enthalten, während grammatisch eigentlich
eine Ncbeneinnndersetzung von Sätzen stattfindet, wie bei wirk-
lichen Satzverbindungen.
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Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache. 431
Die eigentlich anch grammatisch erkenntlichen Satz-
gefüge sind in folgenden Fällen beobachtet worden, wobei wir
die verschiedenen Gruppen von Satzgefügen nach der Reihe ihres
Auftretens ordnen:
a) Objektsätze: dinnes, mtie Ii tox {—da me dlgnei , da
ridja, doli mvri&e tox, du sollst mich aufheben, damit ich sehe, ob
dieser — Zitronenstrauch — riecht, 703) ; — vtdis", kolcdv adm ax
(siehst du, wie groß ich bin, 751); — da vidam (= tfdja), t&pki
mlögo sd Ii {= mnögo Ii sä topki, ich will sehen, ob viel Bälle
sind, 898); — segd da vUlam (= vidja), kakrö tnia tuk (jetzt will
ich sehen, was es hier gibt, 898); — takd ste gUdame, kak naedz-
duvat {— prec/zdat) mMkoto (so werden wir schauen, wie man die
Milch durchseiht, 947).
b) Finalsätze: nhnam noz d'Szam (= da otr&a, ich habe
kein Messer, um abzuschneiden, 762); — ax — {ste) — dam slikite
dnes da küpU mtso {ich werde alles — nämlich Geld — heute
geben, damit . du Fleisch kaufst, 874); — xeml da vidi Vddo moHte
(nimm, damit VI. die meinigen sieht, 875): — gdle tidim da ne
namttü Ii (= ste — go — türim göre, da ne — go — namens
Hy wir werden — ihn — hinauflegen, damit du — ihn — nicht
findest, 876) ; — ste stdnam (— stdna) da si napldvam [— naprdvja,
ich werde aufstehen, um mir za machen, 893); — kat-l se da vfdis
(steige hinauf, um zu sehen , 894) ; — kade (= Mdt) Ü e 'Uvdt
{= moüvat) da plies? (wo ist dir der Bleistift, damit duschreibst?
901); — imas Ii ce'ven {— öervihi) möliv da pisek ceyv6no {— cer-
vfrio)? (hast du einen roten Bleistift, um rot zu schreiben? 901); —
iskam da idam [= -Ida) v tolovuja (= stoloväjata) , ce iskam vodd
(ich will ins Speisezimmer gehen, denn ich will Wasser, 941).
c) Temporalsätze: kogd sdkam {= svärsa, wenn ich endige,
767); — kogd tdnam (= stdna) goU.m, cdtam (= ste cetd, wenn ich
groß werde, werde ich lesen, 779); — lax ga tdnam gottm, gära
püam dnes (= i ax kogd stdna goUm, togdva ste ptia dnes, wenn
ich auch groß werde, werde ich dann heute schreiben1), 807); —
katu idem na DagaUvci (— Dragaltvci), ste xfmem pajton (wenn
wir nach Dr. fahren werden, werden wir einen Wagen nehmen,
901); — segd ne plade, katö ddvas d'ug (= dmg) pdt, pldöe (jetzt
weint er nicht, wenn du ein anderes Mal gibst, nämlich Arznei,
1) Siehe oben S. 408.
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I
I
432 I. A. Gheorgor, Ein Beitrag zur gramm. Entwicklung der Kinderaprache.
weint er, 901); — katö stdjia gottm, ste imam knizka i ax (wenn
ich groß werde, werde ich auch ein Büchlein haben, 921); —
I r
i ax katö bädam {= bäda) böten, katö xfmam (= xtma) edin pät
öaj, hte ot'tdam (= otfda) na DagaUvci (= Dr — , wenn ich auch
krank sein werde, wenn ich einmal Tee nehmen werde, um nämlich
gesund zu werden, werde ich nach Dr. fahren, 961); — ax katö
bädam (= bdda) geil/m, ste si kupam (= küpja) ednd xältidka i
ntma da ti ja dam (wenn ich auch groß sein werde, werde ich mir
eine goldene Münze kaufen und werde sie dir nicht geben, 968); —
ax katö sfdna u Ininjata, ti rnözei da si idei u stolovdja (wenn
ich mich in die Wanne setzen werde, kannst du ins Speisezimmer
fortgehen, 971).
d) Kausalsätze: nie He ixUxem, a SMo n£ma, 6c dura vStäl
{=dwha rttdr, wir werden ausgehen, S. aber nicht, weil Wind
weht, 915); — xertu goUmija kamäk, de ste go fd'la i hte uddlam
{= uddrja) Vlddo (nimm den großen Stein, weil ich ihn werfen
und VI. treffen werde, 918); — xeml toja pik'm —pirön), 6e toj
c xa mdjxtotite (= mäjstorite, nimm diesen Nagel, denn er ist ftir
die Baumeister, 960); — nie f&a (= treta) da se da' Um {= därzim),
ie sme mdlki (wir müssen uns halten, denn wir sind klein, 986).
e) Nur einmal kommt ein ganz richtig gebildeter und ausge-
sagter Subjektsatz: Ho e tovd tüka, dtka ti xettid? (was ist das
hier, was du genommen? 864).
(Eingegangen am 14. Januar 1908.)
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Hielt Descartes die Tiere für bewufstlos?
Von
Christian Ernst (Metz).
Unter dieser Überschrift hat y. Berger in den Sitzungs-
berichten der Wiener Akademie der Wissenschaften im Jahr 1892
eine Abhandlung veröffentlicht, die sich gegen den allgemein ver-
breiteten glauben wendet; daß Descartes die Tiere fUr bewußt-
los, seelenlos erklärt habe. Der Gedankengang v. Bergers, der
sich bei Prüfung der Frage an die vier Hauptwerke Descartes',
Discours de la Methode, Meditationes de prima philosophia,
Principia philosophiae und Les passions de Tarne hält, ist im
wesentlichen folgender.
Descartes hat, darüber ist kein Streit, vom Tierleib wie
Menschcnleib gesagt, daß sie wie Maschinen arbeiten. Man könnte
beide auch für wirkliche Maschinen halten, wenn nicht dem
Menschen zwei Eigenschaften zukämen, die ihn von einer Maschine
wesentlich und notwendig unterscheiden, er besitzt eine wirkliche,
ausgebildete Sprache, durch die er seine Gedanken mitteilt, und
er kann sein Verhalten jeder besonderen Sachlage in vernünftiger
Weise anpassen. >Gäbe es aber Maschinen, die die Organe und
das äußere Aussehen eines vernunftlosen Tieres besäßen, so hätten
wir kein Mittel zu erkennen, daß Maschinen und Tiere nicht in
allem von derselben Wesenheit wären c (Discours). Treffend
weist v. Berger darauf hin, daß es unlogisch sei, aus diesen
Worten die Wesensgleichheit von Tier und Maschine herauszulesen,
während doch nur gesagt ist, daß wir nicht imstande seien, eine
Wesensverschiedenheit zu erkennen. Die Verwirrung ist nach ihm
dadurch entstanden, daß Descartes den Tieren die Vernunft ab-
gesprochen, dann aber Vernunft und Bewußtsein nicht streng aus-
einander gehalten hat, und daß er, in Ermangelung einer syste-
matisch ausgearbeiteten Psychologie, sich nicht deutlich darüber
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434
Christian Ernst,
ausgesprochen hat, ob er ein vernunftloses Bewußtsein flir denk-
bar hält.
Es wird deshalb geprüft, ob der Satz >ohne Vernunft kein
Bewußtsein« aas den Grundsätzen der kartesianischen Philosophie
folgt, und zu dem Ende auf den Bewußtseinsbegriff näher einge-
gangen, der abgeleitet wird aus der Stelle: »Unter dem Namen
cogitatio verstehe ich alles, was in uns, uns bewußt, geschieht,
insofern wir uns dessen bewußt sind. Deshalb gehört nicht bloß
das Erkennen, Wollen und bildlich -Vorstellen, sondern auch das
Empfinden (sentire) zum Denken« (Principia. I. 9). Auf diese
cogitatio kommt alles an, es ist die innere Wahrnehmung der
psychischen Akte, und zwar der Willensakte wie der Vorstellungen,
in die nach Descartes alle Seelenfunktionen zerfallen. Nun
kann die Wahrnehmung Schmerz mit Schmerzgefühl selbst »zu
einem und demselben Ding« verschmolzen sein, wie Descartes
in >Les passions« sagt, das Denken an den Schmerz kann sich aber
auch außerhalb, Uber das Gefllhl, stellen, kann statt des unmittel-
baren Bewußtseins von einem psychischen Akt ein Denken an
einen psychischen Akt sein, so daß das denkende Subjekt den
psychischen Vorgang als ein unterschiedenes Objekt vor sich sieht
Während letzteres eine Tätigkeit der Vernunft voraussetzt, kann
Descartes das erstere, wo der psychische Vorgang und das innere
Gewahren »ein und dasselbe Ding« sind, nicht für eine Leistung
der Vernunft gehalten haben. Hieraus ergibt sich, daß Descartes,
indem er dem Tier die Vernunft absprach, es nicht ohne weiteres
auch fttr bewußtlos, seelenlos, erklärte.
Diese Folgerung stützt v. Berg er weiter durch eine wichtige
Stelle aus »Les passions«, wo es von den Tieren heißt, qu'elles
n'aient point de raison, ni peut-ßtre aussi aucune pensee. Nach
v. Bergers Übersetzung, daß sie gewiß keine Vernunft und viel-
leicht »keine Seele« haben, oder, wie Kirchraann Ubersetzt, daß
sie »keine Gedanken« haben.
Nicht ohne Grund hebt v. Berger sodann noch hervor, die
. Unbestimmtheit des großen Denkers über diesen Gegenstand
wurzele nicht nur in dem bis an die Tiefen des Ich reichenden
Descartes sehen Zweifeln, sondern werde auch begünstigt durch
sein unbeirrtes Festhalten am Glanben der Kirche, die von einer
Tierseele nichts weiß, und daß er deshalb Fragen und Folgerungen
gern ans dem Wege ging, die an die Festsetzung irgendwelchen
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Hielt Descartes die Tiere für bewußtlos? 435
Bewußtseins im Tier geknüpft werden konnten. Um so mehr, als
er schon bei der menschlichen Seele in der Vereinigung nnd
wechselseitigen Einwirkung von Leib nnd Seele in die größten
Nöte geraten war, Nöte, ans denen er nie herausgekommen ist
nnd anch nicht herauskommen konnte.
So genau die Untersuchung v. Bergers in der Problemstellung
ist, so hat doch das Ergebnis, daß Descartes die Sache unent-
schieden gelassen und die Bewußtlosigkeit der- Tiere nicht wirk-
lich behauptet, sondern nur nicht für unmöglich gehalten habe,
wenig Befriedigendes. Wie mir scheinen will, weil sich die
Prüfung der Frage auf ein zu geringes Material erstreckt nnd die
verschiedenen Zeiten, in die die gelegentlichen Bemerkungen Uber
die Tierseele fallen, zuwenig berücksichtigt.
Es ist eine interessante und dankbare Aufgabe, was aus
Descartes' Werken über die Tierseele erschlossen werden kann,
zu vergleichen mit dem, was er über denselben Gegenstand in
seinen Briefen gesagt hat Seit 1903 sind wir im Besitze der
1897 begonnenen kritischen Sammlung der Briefe Descartes',
die unter Aufsicht des französischen Unterrichtsministeriums von
Ch. Adam und P. Tannery in fünf prachtvollen Quartbänden
herausgegeben worden ist Sie hat vor der älteren, nach Stoffen
geordneten lateinischen Ausgabe, die 1678 bei Daniel Elzevir er-
schienen ist, den großen Vorzug, daß sie alle Texte in der fran-
zösischen oder lateinischen Ursprache mit Angabe der Daten in
chronologischer Reihenfolge bringt und so vollständig ist, wie das
überhaupt möglich ist Unsere Zitate sind der Pariser Ausgabe
entnommen.
Für unsere Untersuchung ist zunächst die Frage zu stellen,
ob cogitatio und pensee der Quellen dasselbe sind, und ob der
Begriff cogitatio zeitlich immer derselbe gewesen ist
Man kann im allgemeinen erwarten, daß der mathematisch
geschulte Descartes, der wie wenige in die Tiefe gegangen ist,
dem Erforschung der Wahrheit wichtigste, ja einzige Lebens-
aufgabe war und der nur das sicher und klar Erkannte als wahr
annahm, daß dieser einsame und tiefe Denker in der Regel bei
dem stehen bleiben konnte, was er einmal erdacht und ausge-
sprochen hatte. Ne recevoir jamais aucune chose pour vraie que
je ne la conusse evidemment €tre teile . . . ne comprendre rien
de plus en mes jugemens, que ce qui se presentoit si clairement
AtcMt Ar Piyekologi«. XI. 29
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436
Christian Ernst,
et si distinctement a mon esprit, que je n'eusse aucune occasion
de le mettre en doute, war sein erster und oberster Grundsatz.
So sehen wir ihn im Ausbau des Systems im großen, so in
einem fast starren Festhalten an Meinungen und ihren Begrün-
dungen im einzelnen. Im > Discours« hören wir zum erstenmal, daß
wir glauben müßten, in der Welt von lauter Automaten umgeben
zu sein, wenn wir ohne Vorurteil aufgewachsen wären, und daß
nur die Menschen durch die oben erwähnten zwei Merkmale ihre
Beseelung offenbarten. Auf diesen Gedanken und diese Begrün-
dung kommt Descartes in den Briefen mit einer gewissen Ein-
tönigkeit immer wieder zurück, wenn auch Ausführung und Be-
leuchtung des Gedankens wechseln. So beispielsweise in dem
Briefe CDLX an den Marquis de Newcastle und DXXXVH
an H. Morus. Von kleinen Wandelungen, die Begriff bestim-
mungen dabei erleiden, wenn das Bedürfnis nach größerer Be-
stimmtheit dazu treibt, wird noch die Rede sein.
Daß cogitatio und pensee bei Descartes begrifflich gleich-
zusetzen sind, was nicht ohne weiteres zugegeben werden muß,
dafür berufe ich mich auf eine Übersetzung der Principia ins
Französische, die auf dem ersten Titelblatt als Übersetzer »einen
von Descartes' Freunden« angibt und auf dem zweiten die Be-
merkung trägt: Reveue" et corrigee fort exactement par M. CLR.
Dies kann nur Clerselier sein, dem Descartes in einem Briefe
vom 23. Februar 1646 dafür dankt, »de vouloir bien etre tout a
la fois son Traducteur, son Apologiste et son Mediateur« (Baillet,
II. 280). Dasselbe bezeugen die lateinischen Ubersetzungen der
französischen Briefe in der Elzevirausgabe, die von Freunden und
Anhängern unseres Philosophen stammen.
Nun spricht Descartes im »Discours« von den Funktionen, die
sich unbewußt, also »ohne Mitwirkung der Seele« in uns voll-
ziehen, und stellt diese in Gegensatz zu pensee. Damit wird der
Begriffumfang von pensee schon deutlich bestimmt. Genauer
heißt es dann von der cogitatio in den Meditationes: Quod sie in
nobis est, ut ejus immediate conscii simns, omnes voluntates, in-
tellectus, imaginationes et sensuum operationes. Ferner in einem
Briefe vom März 1633 (CXHI): »En prenant le mot de pensee
comme je fais, pour toutes les Operations de Vame, en sorte qne
non seulement les meditations et les volontez, mais mesme les
fonetions de voir, d'ouir . . . en tant qu'elles dependent d'elle,
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Hielt Descartes die Tiere für bewußtlos?
437
sont des pensöes.« Fast gleichlautend mit den Meditationes defi-
nieren die Principia, nnr heißt es bemerkenswert, das immediate
der Meditationes erläuternd: omnia quae nobis consciis in nobis
sunt, quatenus eoruni in nobis conscientia est Besondere Auf-
merksamkeit beanspruchen in den letzten drei Definitionen die
einschränkenden Bestimmungen immediate conscii, quatenus eorum
in nobis conscientia est und en tant qu'elles dependent d'elle.
Aus ihnen ergibt sich der für unsere Untersuchung wichtige Satz,
daß zu den pensees auch die Sinnesempfindungen gehören, inso-
fern sie Bewußtseinsakte sind. Das bestätigen auch die »Passions«,
nach denen die pensees unser Wollen und Wissen umfassen
(Art. 17). Und da nach Art. 19 das Wollen nur ein bewußtes
sein kann, umfassen auch hier die pensees den Descart esschen
Bewußtseinsinhalt.
Wir sind jetzt in der Lage, an die uns beschäftigende Haupt-
frage heranzutreten: Hat Descartes die Tiere für bewußtlos
gehalten? Wie die obigen Zitate zeigen, kann es sich dabei nur
um die Sinnesempfindungen, die sensuum operationes handeln,
und zwar um die zum Bewußtsein gelangenden. Denn daß er
die, das Zentrum umgehenden und in dem Bewegungsapparat zum
Ausdruck kommenden Reizempfindungen dem Tier zuerkennt, be-
darf bei Descartes ebensowenig eines Nachweises, wie, daß er
ihm die Vernunft abspricht.
Wir greifen auf die oben erwähnte wichtige Stelle aus den
> Passions« zurück, auf die v. Berger in seiner Beweisführung
großen Wert legt: Qu'elles n'aient point de raison, ni peut-etre
aussi aucune pensee, und wollen an Hand der Briefe den Nach-
weis versuchen, daß sie die eigentliche Meinung des Descartes
nicht wiedergibt. Mit den Werken steht der Satz noch einiger-
maßen im Einklang, wiewohl Descartes an keiner anderen
Stelle die Möglichkeit des Bewußtseins bei den Tieren so weit
zugelassen hat wie hier. Mit verschiedenen Auslassungen der
Briefe ist der Ausspruch aber schlechterdings unvereinbar. Das
wird uns Veranlassung geben, auch die Entstehung dieses auf-
fallenden Satzes einer besonderen Beurteilung zu unterziehen.
In den Briefen beginnen die Erörterungen Uber die Tierseele
und das Bewußtsein der Tiere unmittelbar nach dem Erscheinen
des »Discours« im Jahre 1637, und zwar in dem Briefe vom
3. Oktober 1637 (LXXXVHI), der einzigen Korrespondenz, die
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438
Christian Ernst,
Descartes durch Vermittelung von Plempius mit dem Löwener
Fromond geführt hat. Zeitlich folgt ein Briefwechsel mit einem
Unbekannten , wahrscheinlich einem Jesuiten aus Löwen, vom
Februar und März 1638 (CIV und CXIII). Mit Mersenne, dem
einzigen Vertrauten des einsamen Denkers, mit dem er, wie keinem
anderen, alles bespricht und an den eine außerordentlich große
Zahl von Briefen aus der Zeit von 1629 bis 1648 vorliegt, ver-
handelt er, der Geschmacksrichtung Mersennes Rechnung tragend,
Tierpsychologisches nnr in drei Briefen aus dem Jahre 1640
(CXCII, CXCDC und CCX). Kurz berührt wird der Gegenstand
in den Briefen CCXXXIX und CCXL vom Mai 1641 an den
Utrechter Professor Regius. Desgleichen in dem Briefe CCLXII
vom 19. Januar 1642 an den Oratorianerpater Gibieuf und in
dem Briefe CCCXXXn, wahrscheinlich von 1643, an Buitendijck,
den Kurator des Kollegs in Dortrecht. Eine kurze Bemerkung
über die Freiheit bei den Tieren enthält Brief CCCXLVH vom
2. Mai 1644 (?) an den Jesuiten MSland. Am wichtigsten sind
für uns der ausführliche Brief CDLX an den Marquis de New-
castle vom 23. November 1646 und die Korrespondenz mit dem
englischen Philosophen H. Morus, die in die letzten Lebensjahre
des Descartes fällt und die Briefe DXXXI, DXXXVII, DXLIY
und DLIV umfaßt. Wenn ich endlich den Brief CX AD Domi-
num * * * des ersten Bandes der Elzevirausgabe mit dem Abschnitt
»De perfectione brutorum« nenne, glaube ich das für das Seelen-
leben der Tiere in Betracht kommende Material der Briefe voll-
ständig aufgezählt zu haben.
An die vorsichtige Fassung des > Discours«, daß wir kein Mittel
hätten, das Vorhandensein einer Tierseele nachzuweisen, knüpft
der Brief vom März 1638 an. Dort sagt Descartes: Wir sind
mit dem Vorurteil aufgewachsen, daß die Tiere, die uns in so
vielem gleichen, eine Seele wie wir haben. Wenn wir uns von
diesem Vorurteil freimachen wollen, müssen wir uns einen Menschen
denken, der außer Menschen nur sehr kunstvolle, die Tiere nach-
ahmende Maschinen gesehen hat. Ein solcher wird beim Anblick
wirklicher Tiere diese ganz gewiß für Automaten halten, die die
Natur nnr sehr viel kunstvoller gestaltet hat, als die von Menschen
angefertigten sind. Und dann wird es nur darauf ankommen, ob
sein durch kein Vorurteil getrübtes Urteil weniger Glanben ver-
dient, als unsere von der Gewohnheit festgehaltene Meinung, die
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Hielt Descartes die Tiere für bewußtlos? 439
sich lediglich auf Ähnlichkeit der äuBeren Organe und Bewegungen
stützt, n ne reate qu'a conaiderer ai le jugement qu'il feroit ainsi
avec connoiaaance de cause est moina croyable que celuy que noua
avona fait deslora que noua eationa enfana, et que noua n'avons
retenu depuia que par coustame, le fondant aeulement aur la
ressemblance qui est entre quelquea actione exterieurea dea ani-
maux et lea noatrea.
Dieaer Schlußsatz ist recht bezeichnend. Der Gedanke fehlt
im »Diacoura«, der nur die Tatsache feststellt, daß wir kein Mittel
zur Erkennung einer Tierseele haben. Hier, im Briefe, kommt
die persönliche Meinung des Philosophen stärker zum Ausdruck.
Noch immer in der vorsichtigen Weiae, daß der beiden entgegen-
stehenden Meinungen beizumessende Glaube noch zu prüfen sei.
Aber da Descartes sagt, daß der ohne Vorurteile aufgewachsene
Mensch die Tiere für Automaten halten würde, während unser
»Glaube« an die Tierseele auf Vorurteile zurückzuführen sei, so
ist nicht zu zweifeln, auf welcher Seite Deacartea innerlich ateht.
Noch deutlicher apricht aich der Brief CDLX an Newcaatle
aus. Der den Schluß dea Briefea bildende wichtige Abschnitt
über die Tierseele beginnt mit der Erklärung, daß Descartes
nicht die Meinung von Montagne und anderen teile, die den
Tieren Verstand oder Denken zuschreiben. Pour ce qui est de
l'entendement ou de la pens6e que Montagne et quelques autres
attribuent aux bestes, je ne puis estre de leur ad vis.
Was schließt Descartes mit diesen Worten vom Tier alles
aus? Entendement ist nicht dasselbe wie pensee. Denn mit
entendement sind auch die Gefühle ausgeschlossen, wie aus Brief
CXCII an Mersenne hervorgeht: Je n'explique pas Sans ame le
sentiment de la douleur; car selon moy la douleur n'est que
dans l'entendement; mais j'explique tous les mouvemens exterieurs
qui accompagnent en noua ce aentiment, lesquels seuls se trouvent
aux beatea, et non la douleur proprement dite. Aber penaee um-
faßt, wie wir wiasen, les meditations et lea volontez, mesme lea
fonctiona de voir, d'ouir etc. So wird auch weiterhin auageführt,
daß die Tiere una nur nachahmen oder übertreflfen in 8olchen
Handlungen, die nicht von Bewußtsein begleitet aind, also auto-
matiachen Bewegungen, wie Gehen und Essen, wenn wir nicht an
diese8 Tun denken, die im Augenblick der Ausübung von uns
also gar nicht gewußt werden, oder reinen Reflexbewegungen, die
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Christian Ernst,
ohne Zutun des bewußten Willens zustande kommen. II arriye
souvent que nous marchons et que nous mangeons, sans penser
en aucune facon a ce que nous faisons; et c'est tellement sans
user de notre raison que nous repoussons les choses qui nons
nuissent, et parons les coups que Ton nous porte.
Denselben Gedanken führt Descartes schon in einem früheren
Briefe an Plempius aus. Die Tiere, sagt er da, sähen nicht
gerade wie wir, nämlich so, daß sie in Empfinden und Denken
sich sehen, sondern sie empfunden nur, wie wir es tun, wenn
unser Geist abwesend ist, während die Sinnesreize uns zu den
verschiedensten zweckmäßigen Handlungen anregen, von deren
Verursachung wir zur Zeit der Ausübung aber kein Bewußtsein
haben. ». . . supponit me putare bruta videre plane ut nos, hoc
est sentiendo sive cogitando sc videre ... cum tarnen expresse
ostendam me non putare bruta videre sicut nos, dum sentimus
nos videre; sed tantummodo sicut nos, dum mente alio avocata,
licet objectorum externorum imagines in retinis oculorum nostro-
rum pingantur, et forte etiam illarum impressiones in nervis opticis
factae ad divereos motus membra nostra determinent, nihil tarnen
prorsus eornm sentimus.«
Auch der Mangel der Sprache wird, wie schon erwähnt, in
dem Briefe an Newcastle als Beweis für das Pehlen eines denken-
den Bewußtseins angeführt, und gerade diesen Mangel, obschon
die Organe vorhanden sind, nennt Descartes ein starkes Argu-
ment. Ce qui me semble un tres-fort argument, pour prouver
que ce qui fait que les bestes ne parlent point, comme nous, est
qu'elles n'ont aucune pensee.
Im weiteren beruft sich Descartes dann auf die wunderbaren
Leistungen des tierischen Instinktes, der das Tier viel sicherer
leitet als unsere Überlegung, wie eine Uhr viel besser die Zeit
angibt, als unser Urteil es vermag. Er zweifelt nicht, daß ein
Zugvogel bei seinen Wanderungen sich wie ein Uhrwerk verhält,
und daß alle Instinkthandlungen ausgeübt werden »sans y penser«.
Nicht auf das Berechtigte dieser Auffassung kommt es hier an,
sondern darauf, daß Descartes diese Tatsache dazu verwendet,
um die pensee beim Tier Überhaupt zu bestreiten. Denn, fahrt
er fort, wenn wir diese Handlungen und die Organe der Tiere
mit unseren vergleichen, könnte man nach Analogie mutmaßen,
daß mit diesen Organen irgendein, wenn auch unvollkommenes
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Hielt Descartes die Tiere für bewußtlos? 441
Seelenleben, ein Bewußtsein, verbunden sei. On pent conjecturer
qn'il y a quelque pensee jointe ä ces organes. Dann müßten die
Tiere aber, so schließt er, anch eine unsterbliche Seele haben,
und was von den höheren Tieren gälte, das müßte im großen Zu-
sammenhang des tierischen Lebens auch von den niedrigsten Tier-
formen Geltung haben, was ihm absurd erscheint D y en a
plnsieurs trop imparfaits pour pouvoir croire cela d'eux, eomme
sont les huistres, les eponges etc.
Am interessantesten wird die Behandlung unserer Frage mit
Beginn der Korrespondenz zwischen Descartes und dem eng-
lischen Philosophen H. Morus. In dem einleitenden Briefe vom
11. Dezember 1648 (DXXXI) weist Morus mit Geschick auf Emp-
findung, Aufmerksamkeit, Schlauheit, Gedächtnis und selbst eine
Art Gewissen der Tiere hin. Wie ist das ohne Bewußtsein mög-
lich? Quomodo ista fieri possunt sine interna facti conscientia?
Da doch ein Körper nicht zu denken vermag, kann cogitatio nur
da sein, wo eine vom Körper verschiedene, also von seiner Exi-
stenz unabhängige Seelensubstanz vorhanden ist Für die Tiere
müsse also auch eine unsterbliche Seele eingeräumt werden.
Hierin liege der Grund, weshalb Descartes die Tiere für Ma-
schinen halte. Wenn aber alle jene Äußerungen geistigen Lebens
zugegeben und aus der cogitatio auch eine Unsterblichkeit der
Tierseele gefolgert werden müsse, sei es ungereimt, lieber die
Prämisse 'zu verwerfen, als die Folgerung aus ihr anzunehmen.
In der Antwort vom 5. Februar 1649 (DXXXVII) fällt vor
allem auf, daß Descartes den Vorwurf, er halte die Tiere für
seelenlose Maschinen »sine interna facti conscientiac gar nicht
von sich abweist. Das ist ungemein bezeichnend. Er hätte sich
mit Recht darauf berufen können, daß er ein solches positives
Urteil in den Werken, die Morus im Auge hat, nirgends abgegeben
habe. Das wäre die einfachste und wirksamste Form der Abwehr
gewesen. Statt dessen geht er auf den Streit ein in der bei ihm
üblichen Weise, daß er dem Gegner die Unbeweisbarkeit einer
wirklichen Tierseele vorhält.
Mit einem Unterschied nur. Der leidenschaftliche und selbst
spöttische Angriff des Morus drängt ihn stärker znr Bekennung
des eigenen Standpunktes, als er es irgendwo in dem ruhigen
Gedankenfluß der Werke getan hat. Beweisen läßt sich, wie er
sagt, auch die Seelenlosigkeit der Tiere nicht. Aber bei Prüfung
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Christian Ernst,
der Gründe für nnd wider spricht nur der Schein für eine cogi-
tatio, wie wir sie mit unseren Empfind ungen verbinden. Wenn
Menschen mit Kunst vorzügliche Automaten herstellen können,
dann scheint es vernunftgemäß, daß die viel vollkommenere Natur
noch weit kunstvollere Automaten herstellt, nämlich die Tiere . . .
ut natura etiam sua automata, sed arte factis longe praestantiora,
nempe bruta omnia, producat. Der Grund, daß das Fehlen einer
Sprache gegen die cogitatio spreche, wird bezeichnend eingeleitet
durch die Worte: Sed rationum omnium quae bestias cogitatione
destitutas esse persuadent, meo judicio praecipua est, quod . . .
Am Schlüsse heißt es dann: Reliquas rationes cogitationem brutig
adimentes brevitatis causa hio omitto. Und damit kein Zweifel
Uber die Bedeutung der cogitatio entstehe, unterscheidet er die
cogitatio von dem, was dem Tier allein zukomme, der in der
Wärme des Herzens bestehenden Lebenskraft und den nur von
den Körperorganen abhängenden Sinnesempfindungen.
Auf die Antwort des Morus, der seine Gegengründe mit einer
gewissen Überlegenheit vorträgt, entgegnet Descartes am 15. April
(DLIV) mit sichtlicher Resignation und Kürze, er wisse nicht, ob
er die versprochene Ergänzung seiner Philosophie werde veröffent-
lichen können (es war die Zeit, wo er sich zur Reise nach Stock-
holm entschloß), denn das hänge von vielen, ihm vielleicht nicht
möglichen Versuchen ab. Im Sommer werde er aber eine kurze
Abhandlung herausgeben, die zeigen werde, wie in uns selbst alle
Ausdrucksbewegungen der Affekte nicht durch die Seele, sondern
nur durch den Mechanismus der körperlichen Organe hervor-
gebracht würden. Quo pacto in nobis ipsis omnes motus mem-
brorum, qui affectus nostros comitantur, non ab animä, sed a sola
corporis machinatione peragi existimem.
In dieser Abhandlung, Les passions, steht nun der merkwürdige
Satz, auf den v. Berger so viel Wert legt, daß die Tiere >point
de raison ni peut-e'tre aucune pens£e< haben. Die Abhandlung
ist geschrieben im Jahre 1646 und veröffentlicht am 25. Dezember
1649. Wenn wir die Briefe des Descartes vergleichen, müssen
wir zu dem Schlüsse kommen, daß er allenfalls zur Zeit des »Dis-
cours«, aber nicht mehr in den Jahren 1646 bis 1649 so schreiben
konnte. In dieser Zeit hieß es bei Descartes: Point de raison
ni aucune pensee. Das peut-Stre kann deshalb in der Urschrift
von 1646 nicht gestanden haben und ist ein mildernder Zusatz,
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Hielt Descartes die Tiere fllr bewußtlos? 443
der nur durch den Brief DLIV an Morus vom 15. April 1649
erklärbar wird.
Descartes hatte, wie wir sahen, Uber die Existenz oder Nicht-
existenz einer bewußten Tierseele keine Überzeugung, die uner-
schütterlich war wie ein mathematischer Beweis. Er war nur
gewiß, daß das Vorhandensein der Tierseele sich nicht beweisen
lasse, wie er auch das Gegenteil zugab. Aber bei der Abwägung
der Wahrscheinlichkeitsgrttnde, die fllr oder gegen sprachen, hat
er kein Hehl daraus gemacht, daß er die Tiere für bewußtlos
hielt.
Wie Descartes zu dieser Auffassung gekommen ist und nach
seiner dualistischen Weltvorstellung notwendigerweise kommen
mußte, gehört nicht zu unserem Thema. Nur das mag angedeutet
werden, daß ihn dieses Ergebnis befriedigte, weil eine Einbeziehung
des tierischen Lebens in einen großen Zusammenhang psychischen
Geschehens die Grundlagen seiner Philosophie erschüttert hätte.
Deshalb soll ihm auch nicht vorgehalten werden, daß dem Tier
nicht gerecht wird, wer seine psychischen Fähigkeiten an der
menschlichen Seele als absolutem Maßstab mißt, und daß es ganz
irreleitend ist, für die Untersuchung des tierischen Bewußtseins
gerade die Erscheinungen ins Auge zu fassen, bei denen kein
richtiges Urteil Uber die Fähigkeitsgrenzen der Tierseele gewonnen
werden kann, wenn Geist da gesucht wird, wo kein Geist vor-
handen ist, sondern nur vorgetäuscht wird, nämlich bei den durch
Abrichtung äußerlich angelernten Fertigkeiten des einzelnen Indi-
viduums und den mechanisch erworbenen und durch Vererbung
befestigten Fähigkeiten der Art.
Zum Schluß mag als Bestätigung fllr das Ergebnis unserer
Untersuchung das Urteil eines Zeitgenossen des Descartes hier
Platz finden, und zwar eines solchen, der ein Recht hat, gehört
zu werden. Der Oratorianer Poisson, der im Jahre 1670 die
Remarques sur la Methode de Descartes herausgab, sagt in der
Vorrede, Descartes habe über die Tierseele nichts Entscheiden-
des sagen wollen, obschon seine Ansichten darüber im übrigen
bekannt seien. »... que M. Descartes n'a rien voulu döcider
sur ce sujet, quoiqu'on sache assez d'ailleurs ce qu'il en pense.«
Dieser Poisson ist aber derselbe, den die Königin Christine
für eine Biographie des Descartes gewinnen wollte, dessen Ge-
lehrsamkeit und Pietät für Descartes Baillet rühmt, und von
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444 Christian Ernst, Hielt Descartes die Tiere für bewußtlos?
dem Clerselier sagt »que personne n'etoit plus capable ni mieux
intentionne qne ce Pere poar M. Descartes«.
Der Wunsch, über das Tier etwas Abschließendes zu sagen,
hat Descartes dauernd begleitet, nicht derer wegen, die auf seine
Werke warteten, sondern um innerlich selbst zur Klarheit zu ge-
langen. Wir können dies in den Briefen verfolgen von der Zeit
des Amsterdamer Aufenthaltes im Jahre 1629 an, wo er am Tier-
körper eingehende anatomische Studien machte (CLXXVII}. Um
1630 beginnt er dann einen Traite des animaux, von dem er im
Jahre 1645 schreibt (CDX), daß er seit 15 Jahren daran arbeite,
ohne ihn zu Ende bringen zu können. Ein Jahr später beklagt
er sich darüber, daß ein Konzept, das er früher einmal einem
Freunde geliehen hat, in die Hände von Unberufenen gelangt ist,
und am 31. Januar 1648 teilt er der Prinzessin Elisabeth mit,
daß er mit der Durchsicht und Überarbeitung eines älteren Kon-
zeptes über die »Formation« des Tieres beschäftigt sei. Eine
letzte Nachricht finden wir in dem Briefe DXXV, der zur Zeit der
Korrespondenz mit Morus geschrieben ist. Wir erfahren daraus,
daß er die »Beschreibung« des Tieres lange liegen gelassen hat,
weil er die Hoffnung verloren hatte, die Ursachen der Bildung des
Tieres aufzufinden. Jetzt habe er aber so viel neues entdeckt, daß
er bei hinreichender Muße das Ganze nach Wunsch werde vollenden
können, wenn er zuvor noch Gelegenheit zu einigen Experi-
menten finde.
Die Reise des Philosophen nach Schweden und sein früher
Tod bereiteten diesen Plänen ein unverhofftes Ende.
(Eingegangen am 19. Jannar 1908.)
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Kritische Nachlese zur Ausfragemethode.
Von
W. Wundt.
In dem »Würzburger Heft« des »Archivs für die gesamte Psycho-
logie« (Bd. XII, Heft 1/3) hat K. Btihler auf die von mir gegen
die Ausfrageexperimente in Bd. IH, S. 301 ff. der »Psychologischen
Studien« erhobenen Einwände eine »Antwort« veröffentlicht, die
ich meinerseits nicht ganz ohne eine kurze Erwiderung lassen
möchte1). Ich gedenke zwar nicht auf alle Einzelheiten einzu-
gehen, die Bühler in seinem ziemlich umfangreichen Artikel er-
örtert. Aber ich glaube auch, daß eine kurze Beleuchtung seiner
1) Ein weiterer Artikel in der gleichen Frage, der K. Marbe zu seinem
Verfasser bat, ist in Ebbinghaus' Zeitschrift für Psychologie Bd. 46,
Heft 6 (S. 342 ff.) erschienen. Er enthält aber nichts irgendwie Neues und
beschäftigt sich überdies hauptsächlich mit den stroboskopischen Erschei-
nungen, die mit der Ausfragemethode nicht das geringste zu tun haben.
Wenn sich Marbe hier darüber beschwert, seine »Theorie« der strobosko-
pischen Erscheinungen sei von mir nicht beachtet worden, so kann ich
darauf kurz entgegnen, daß eine solche von ihm herrührende Theorie nach
meiner Meinung überhaupt nicht existiert, weil ein Interpretationsversuch,
der die Erscheinungen, die er erklären soll, als nicht vorhanden ansieht,
selbst bei der weitherzigsten Ausdehnung des Begriffs auf den Namen einer
Theorie keinen Anspruch erheben kann. Will Marbe das näher nach-
gewiesen finden, so kann er auf die Bemerkungen Wirths in Heft 6 der
Ebbinghausachen Zeitschrift (S. 429 ff.) und vor allem auf die gründliche
Untersuchung dieses Gegenstandes in Bd. IH, S. 393 ff. der »Psychologischen
Studien« von > einem Herrn P. Linke« — wie Marbe diesen Autor zitiert —
verwiesen werden. Die Anmaßung, mit der, wie dieses Zitat erkennen läßt,
der wohlbestallte Frankfurter Institutsdirektor auf den bescheidenen Jenenser
Privatdozenten herabsieht, ist übrigens für den Ton seiner Polemik ebenso
charakteristisch wie die Dreistigkeit, mit der er den wissenschaftlichen
Charakter derer verdächtigt, die nicht seiner Meinung sind.
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446
W. Wundt,
wesentlichsten Entgegnungen genügen wird, da nach der Beseitigung
der in ihnen enthaltenen Mißdeutungen und Mißverständnisse die
sonstigen Auslassungen des Verfassers sich für den aufmerk-
samen Leser meiner früheren Arbeit wohl von selbst erledigen
werden.
K. Buhler mißbilligt es, daß ich die Ausfragemethode kriti-
siere, ohne jemals selbst Versuche nach dieser Methode angestellt
zu haben. Er versichert, alle von mir erhobenen Bedenken, wie
z. B. die störende Einwirkung der Anwesenheit anderer Personen
auf den Beobachter, die Überraschung, die ihm die Vorlegung
einer gänzlich unvermuteten Frage bereite, die komplizierte Be-
schaffenheit dieser Frage selbst, verschwänden gegenüber den
Aussagen der Vp.: diese haben sich durch den neben ihnen
stehenden Experimentator und Protokollanten nie im allergeringsten
in ihrer Gedankentätigkeit gestört gefunden; sie sind nie durch
eine dem Leser noch so verblüffend erscheinende Frage über-
rascht worden, und was die Lösung komplizierter Probleme durch
den Befragten betrifft, so hat sich merkwürdigerweise sogar
herausgestellt, daß im allgemeinen die Gedankenarbeit ihnen um
so einfacher erschien, je schwieriger die gestellte Aufgabe war.
Btthler wirft mir daher vor, vom Schreibtisch aus über Dinge
zu urteilen, über die mir jede eigene Erfahrung abgehe. In
anderem Zusammenhang hat er den gleichen Vorwurf schon in
seiner, Erstlingsschrift gegen mich erhoben. Dort sollte ich die
in meiner Logik formulierten Gesetze über den Vorstellungsverlauf
bei den Prozessen des Denkens am Schreibtisch ersonnen haben.
Auch in der vorliegenden Entgegnung kehrt der Schreibtisch noch
zwei- oder dreimal wieder. Ich habe daraus den Eindruck ge-
wonnen, daß sich Bühler das Leipziger Laboratorium im wesent-
lichen als eine Ansammlung von Schreibtischen vorstellt, an denen
die verschiedenen Mitarbeiter sitzen, um sich Experimente auszu-
denken, die sie nicht machen, oder um über solche zu reflektieren,
die andere gemacht haben. Ich kann Bühler versichern, daß
wir uns ganz so leicht, wie er es sich denkt, unsere Aufgabe nicht
stellen. Allerdings, Ausfrageexperimente nach der Würzburger
Methode habe ich niemals unternommen. Auch werde ich dem
Rat B Uhlers, das zu tun, weder selbst Folge leisten noch meine
Schüler und Mitarbeiter zu einem solchen Unternehmen ermutigen.
Denn man kann wohl einmal Versuche machen, von denen zweifei-
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Kritische Nachlese zur Ausfragemethode.
447
haft ißt, ob bei ihnen etwas herauskommt. Aber Versnche zn
machen, von denen man von vornherein ans gnten Gründen über-
zeugt ist, daß sie vergeblich sind — eine solche Entsagung über-
steigt wohl das erlaubte Maß. Trotzdem urteile ich über diese
Fragen keineswegs, wie Bühl er glaubt, auf Grund von Reflexionen
am Schreibtisch, sondern ich stütze mich auf Erfahrungen, die
ich, und die mit mir meine Mitarbeiter und Schüler seit vielen
Jahren bei Versuchen gesammelt haben, bei denen alle jene Be-
dingungen, die in den Ausfrageexperimenten eine Rolle spielen,
als mitwirkende in Betracht kommen, die aber gegenüber diesen
den eminenten Vorzug besitzen, eine objektive Eontrolle Uber Art
und Grad solcher Nebenbedingungen zuzulassen: das Bind die
Reaktionsversuche. Seit vielen Jahren bin ich bemüht gewesen,
die gerade bei diesen Versuchen überaus störenden Nebeneinflüsse
zu beseitigen, die das Zusammenarbeiten im gleichen Raum, das
Geräusch der Straße, die wechselnden Bedingungen der Erwar-
tung, der Spannung der Aufmerksamkeit u. a. mit sich führen;
und immer und immer wieder haben sich dabei als die wo irgend
möglich vor anderen zu erfüllenden Forderungen die der Isolierung
des reagierenden Beobachters in einem von den Instrumenten und
dem Experimentator getrennten Raum, und die Beseitigung aller
der Einflüsse herausgestellt, die durch willkürliche Variationen
der Reize und ihrer Einwirkungsweise den ruhigen Ablauf der
Apperzeption und ihrer Vorbereitung hindern können. Speziell
zur Arbeit in getrennten Räumen hat uns dabei nicht etwa eine
kleinliche Pedanterie oder ein besonderes Wohlgefallen an kompli-
zierten Versuchsanordnungen, auch da wo sich diese als über-
flüssig herausstellen, geführt, sondern wir sind lediglich dem von
den Versuchen selbst ausgeübten Zwang gefolgt, und als sicheres
objektives Kriterium hat dabei vor allem der schwankende Ver-
lauf der Versuche gedient, wie er in der aus einer größeren Zahl
von Beobachtungen zu gewinnenden Streuungskurve der Einzel-
werte auf das schärfste sich darstellt. Die Ausfragemethode ver-
zichtet natürlich auf solche objektive Kriterien für die Sicherheit
der Beobachtungen, weil sie auf objektive Kontrollmittel überhaupt
grundsätzlich verzichtet und wohl oder übel auf Bie verzichten
muß. Sie stutzt sich demgegenüber allein auf die subjektiven An-
gaben der Beobachter. Nun zweifle ich keinen Augenblick, daß
diese Beobachter, wie Bühler versichert, vortreffliche Psychologen
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448
W. Wundt,
waren, and ich lege darum dem Umstand, daß ich meiner-
seits bekennen muß, mich einer solchen Unempfindlichkeit gegen
die Anwesenheit Dritter bei meinen geistigen Beschäftigungen
nicht zu erfreuen, kein besonderes Gewicht bei. Da ich, wie
Btihler wiederholt andeutet, in psychologischen Beobachtungen
offenbar nicht die in Würzburg erreichte Übung besitze, so muß
ich meinen jüngeren, erfahreneren Kollegen gegenüber meine
psychologische Inferiorität ruhig einräumen. Bedenklicher macht
es mich schon, daß in dieser Beziehung die subjektive Erfahrung
der Mehrheit der Gelehrten, bei denen ich über diese Frage ge-
legentlich Erkundigungen einziehen konnte, mit meinen eigenen
und nicht mit der der Würzburger Psychologen Ubereinstimmt.
Immerhin ist auf Grund dieser praktischen Erfahrungen zuzugeben,
daß es einige wenige Ausnahmemenschen gibt, die gegen der-
artige Störungen unempfindlich sind oder es wenigstens zu sein
glauben. Ich räume daher bereitwillig ein, daß die Würzburger
Psychologen samt und sonders zu diesen Ausnahraemenschen ge-
hören mögen. Aber ich würde es dann doch an Bühlers Stelle
bedenklich finden, eine Methode zu allgemeiner Anwendung zu
empfehlen, bei der man nur unter der Vorausssetzung einer ex-
zeptionellen geistigen Konstitution derer, die sie anwenden, unge-
trübter Resultate sicher sein kann. Dazu kommt nun aber noch
ein anderes, schwerer wiegendes Moment. Ich glaube, unbe-
schadet der Vortrefflichkeit der Beobachter sagen zu dürfen, daß
störende Einflüsse auf den Zustand des Bewußtseins der Selbst-
wahrnehmung entgehen können, die sich gleichwohl durch ob-
jektive Hilfsmittel mit voller Schärfe nachweisen lassen und die
man schließlich doch auch, wenn man erst einmal durch solche
objektive Merkmale auf sie aufmerksam geworden ist, subjektiv
auffinden kann. Ein solches objektives Hilfsmittel ist aber eben
in diesem Fall der Grad der Streuung der Beobachtungen. Das
ist ja begreiflich genug. Die subjektive Beobachtung ist immer
nur auf den einzelnen Fall beschränkt; in der Streuungskurve
summieren sich nun diese subjektiv unter der Schwelle bleibenden
Einflüsse zu einem deutlichen Ausdruck der Gesetzmäßigkeit, der
auch solche Störungen folgen.
Dies führt mich auf das zweite störende Moment, dessen Exi-
stenz Bühl er nicht minder leugnet: auf den Einfluß der Uber-
raschung. Von einer solchen konnte nach seiner Meinung von
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Kritische Nachlese zur AuBfragemethode.
449
vornherein schon deshalb keine Rede sein, weil jeder Versuch
von einem »Bitte« des Versnchsleiters eingeleitet war, das die
nachfolgende Frage signalisierte. Nun ist es richtig, daß ein
solches Vorsignal, wie man es ja auch in den Reaktions versuchen,
wenn anch nicht gerade in der Form einer Bitte, sondern häutiger
in der eines präzisen, in einem exakt bestimmten Vorintervall an-
gegebenen Klingelschlags anwendet, die vorbereitende Spannung
der Aufmerksamkeit bei bekannten Eindrucken begünstigt. Sogar
das ist zuzugeben, daß sie zu einer solchen selbst bei unbe-
kannten, wie sie ja bei den Ausfrageversuchen immer angewandt
werden, beitragen kann. Aber daß für den, der durch irgendein
Signal aufmerksam gemacht ist, daß nun irgend etwas kommen
werde, eine Überraschung überhaupt nicht mehr existiere, diese
Behauptung ist entschieden unrichtig, und ich vermute fast, daß
sich Bühler diese Ausrede nun seinerseits bloß am Schreibtisch
ausgedacht hat. Jedenfalls hat ihn auch hier die unbillige Ver-
nachlässigung der objektiven Kontrollmittel diese Überraschung
durch den qualitativen Inhalt des unerwarteten Eindrucks über-
sehen lassen. Darum wäre es jedenfalls wieder zweckmäßig ge-
wesen, wenn er durch Versuche von verwandter, aber einfacherer
Beschaffenheit, bei denen solche objektive Kontrollmittel möglich
sind, sich auf seine so viel komplizierteren Gedankenexperimente
vorbereitet hätte. Wir beschäftigen uns hier in Leipzig seit Jahren
mit der Untersuchung der Ausdruckssymptome der Gefühle und
Affekte in Puls und Atmung. Wenn Bühl er jemals einem solchen
Versuch beigewohnt hat, so muß er sich Uberzeugt haben, daß
überhaupt jede Frage an die Vp., die irgendwie deren Aufmerk-
samkeit in Anspruch nimmt, von Symptomen der Überraschung
begleitet ist, und daß diese Symptome zunehmen mit der uner-
warteten Beschaffenheit der Frage und mit der Intensität der Ge-
dankenarbeit, die dem Befragten zugemutet wird. Auch hier muß
ich aber betonen, daß diese objektive Symptomatik ein vortreff-
liches Mittel ist, um auch die subjektive Wahrnehmung für solche
Gemütsbewegungen zu schärfen, die ihr sonst leicht entgehen
können. Individuelle Verschiedenheiten in dieser Beeinflussung
der Gemütslage durch die Frage und ihre Nachwirkungen kom-
men freilich auch hier vor. Dagegen sind wirkliche Ausnahmen
im Sinne einer völligen Unzugänglichkeit gegen solche Einflüsse
noch niemals beobachtet worden. So lange nicht durch wirklich
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450
W. Wundt,
exakte sphygmographische und pneumographische Versuche der
Gegenbeweis gefuhrt ist, muß ich daher leugnen, daß in diesem
Fall Ausnahmemenschen Überhaupt existieren, und ich kann die
Berufung auf die bloße Selbstbeobachtung im Hinblick auf die
unter so komplizierten Bedingungen gesteigerte Unzuverlässigkeit
dieses Hilfsmittels unmöglich als einen solchen Gegenbeweis gelten
lassen.
Nun sind alle diese Störungen der Selbstbeobachtung, wie sie
die Ausfrageexperimente unvermeidlich begleiten, um so bedenk-
licher, als es sich ja bei diesen Versuchen nicht um die unmittel-
bare Wiedergabe der in der inneren Wahrnehmung gegebenen Er-
scheinungen handelt , sondern um den Versuch, sie, nachdem sie
abgelaufen sind, aus der Erinnerung zu rekonstruieren. Hier
wirft mir allerdings B Uhler vor, eben dies, daß die Ausfrage-
experimente im wesentlichen Erinnerungsversuche waren, sei von
mir übersehen worden, als ich sie mit der »mehr als merkwürdigen
Anschauung Uber die Natur der Selbstbeobachtung« in VerbinduDg
brachte, nach der man einen Gedankenprozeß im Bewußtsein ab-
laufen lassen und gleichzeitig mit der Selbstbeobachtung verfolgen
könne. Doch wenn ich auch solche Gedankenexperimente nicht
angestellt habe, ganz so »tatsachenfremd«, wie Bühl er es sich
vorstellt, bin ich nicht, daß ich etwa der Meinung sein konnte,
die Beobachter hätten wirklich während ihrer Gedankenbildungen
diese unmittelbar festhalten oder gar zu Protokoll geben können.
Natürlich konnten sie nur ans der Erinnerung festzustellen suchen,
was sie innerlich erlebt hatten oder erlebt zu haben glaubten.
Das war ja übrigens auch bei der alten »introspektiven« Methode
nicht anders, bei der man eine planmäßige Selbstbeobachtung kulti-
vierte, ohne sie mit dem äußeren Schein des Experimentes zu um-
kleiden. Aber ich wünschte doch von Bühler zu erfahren, wie
man denn überhaupt an etwas sich erinnern kann, was man nicht
zuvor beobachtet hat. Die Beobachter hätten in diesem Fall mehr
als Ausnahmemenschen, sie hätten Übermenschen sein müssen,
hätten sie so ganz und gar der Bestimmung vergessen können,
die sie an ihren Beobachtungsstuhl gefesselt hielt, der Bestimmung,
zu beobachten, was in ihnen vor sich ging, um dann darüber
Rechenschaft zu geben. Aber sie sollten doch auch gleichzeitig
über die an sie gestellte Frage nachdenken und sie beantworten.
Eine gleichzeitige Aufmerksamkeit auf den logischen Inhalt dieser
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Kritische Nachlese zur Ausfragemethode.
451
Frage und auf die einzelnen Worte oder auf sonstige begleitende
Vorstellungen war also unbedingt von ihnen gefordert. Daneben
wurde dann allerdings die Unsicherheit einer solchen zwiespältigen
Beobachtung noch durch die Unsicherheit der Erinnerung beträcht-
lich erhobt. Gerade um dieser letzteren möglichst zu steuern,
mußten sie daher um so mehr ihre Aufmerksamkeit auf die das
Denken begleitenden einzelnen Bewußtseinsinhalte richten, wenn
sie nicht sicher sein wollten, diese sofort nach dem Ablauf des
Prozesses bereits gänzlich der Erinnerung entschwunden zu sehen
oder irgendwelchen Erinnernngstäuschungen anheimzufallen. Ich
kann darum auch hier dem Verfasser den Vorwurf nicht ersparen,
daß er an seine komplizierten Gedankenexperimente herangetreten
ist, ohne sich im geringsten darum zu kümmern, was die experi-
mentelle Psychologie über die Bewußtseins- und Erinnerungsvor-
gänge bereits ermittelt hat. Sonst würde ihm nicht entgangen
sein, daß eine einigermaßen sichere Reproduktion vorangegangener
Inhalte nur unter zwei Bedingungen möglich ist: erstens müssen
die Inhalte vollkommen deutlich und womöglich sogar mit der
Absicht, sie zu reproduzieren, von der Aufmerksamkeit erfaßt
worden sein , und zweitens dürfen nicht zu viele verschiedenartige
Eindrücke, sei es neben-, sei es nacheinander, eingewirkt haben,
wenn nicht trotzdem eine Verdrängung der einzelnen stattfinden
soll. Dadurch ist bei den Versuchen nach der Ausfragemethode
eine irgend vollständige und zuverlässige Erinnerung von vorn-
herein ausgeschlossen. Denn indem hier die gestellte Frage selbst
schon die äußerste Konzentration der Aufmerksamkeit fordert, ist
es unvermeidlich, daß zahlreiche der einzelnen Inhalte, die den
Gedankenprozeß begleiten und möglicherweise selbst an ihm teil-
nehmen, nur dunkel bewußt sind. Nun stellt freilich Bühl er die
»mehr als merkwürdige« Behauptung auf, gerade bei den Erinne-
rungsvorgängen sei es »in hohem Grade wahrscheinlich«, daß sich
der dunklere Hintergrund des Bewußtseins geltend machen werde
(S. 115). Hier bedaure ich wirklich, sagen zu müssen, daß er
der Psychologie der Erinnerungsvorgänge ziemlich »tatsachen-
fremd« gegenüberzustehen scheint. Wie rasch solche dunkler be-
wußte Erlebnisse der Erinnerung entschwinden, davon würde er
sich leicht überzeugen können, wenn ihm einmal seine Gedanken-
experimente Zeit ließen, sich mit so einfachen Reproduktions-
versuchen zu beschäftigen, wie sie Scripture und Cordes im
Arehiv ffcr Psychologie. IL 30
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452
W. Wandt,
Leipziger Laboratorium ausgeführt haben1). Bei ihnen, wo es sich
jedesmal nur um einen einzelnen verhältnismäßig einfachen Ein-
druck und um die unmittelbare und sofortige Reproduktion des
dabei innerlich Erlebten handelte, konnte man sich sehr deutlich
von der großen Flüchtigkeit solcher Erinnerungen, die nicht durch
die willkürliche Aufmerksamkeit festgehalten wurden, überzeugen.
Führt man nun aber vollends solche Erinnerungsversuche nach
der Wiedererkennungsmethode aus, wie sie von F. Reuther im
ersten Band der »Psychologischen Studien« beschrieben worden
Bind, so bemerkt man außerdem, daß, sobald jene enge Zeitgrenze
schärfster Reproduktion überschritten wird oder komplizierende
Einflüsse einwirken, den Erinnerungstäuschungen Tür und Tor
geöffnet ist. Nun pflegen allerdings die Protokolle bei den Aus-
frageexperimenten unmittelbar nach erteilter Antwort aufgenommen
zu werden. Um so länger ist die Zeit, die vermöge der Natur
der an die Vp. gerichteten Frage die Gedankenarbeit selbst in
1) Die Assoziationsversuche von Trautscholdt, die B Uhler als Beleg
dafür anführt, ich müsse wohl selbst dereinst einmal der Meinung geweseo
sein, man könne am Schluß einer Versuchsreihe über seine inneren Erleb-
nisse Rechenschaft geben, sind von ihm in einer sehr merkwürdigen Weise
mißverstanden worden. In ihnen wurden lediglich bei jedem Assoziation^-
versuch die assoziierten Worte aufgezeichnet Nachdem diese Versuche
wochenlang gedauert hatten, wurden dann die Ergebnisse nach den in den
Worten zum Ausdruck kommenden Begriffsverhältnissen in Gruppen ge-
ordnet, wie z. B. in innere, äußere, Ähnlichkeit, Kontrast, bloße Klangasso-
ziationen usw. Ich habe anderwärts nachdrücklich betont, daß eine solche
Statistik der Assoziationsergebnisse selbstverständlich auf die elementaren
Prozesse der Assoziation kein Licht werfen könne, daß sie aber für die in-
dividuelle Charakteristik einen gewissen Wert besitze (Physiol. Psych.* III
S. 544 ff.). Bühl er meint nun, von mir und den anderen Beobachtern seien
nach den von uns beobachteten inneren Erlebnissen sofort die einzelnen As-
soziationen als innere, äußere usw. bezeichnet worden. Er deutet also diese
Statistik direkt in Ausfrageexperimente um. Damit gibt er in der Tat ein
treffendes Beispiel für die Macht der Erinnerungstäuschungen, denen man
bei seinen experimentellen Selbstbeobachtungen natürlich doch wohl in noch
höherem Grade als bei der Lektüre einer wissenschaftlichen Abhandlung unter-
worfen ist. Wenn der Verfasser infolge seiner Beschäftigung mit Ausfrage
experimenten diese Methode in beliebige ganz anders geartete Versuche
hineinliest, wer bürgt uns dafür, daß die Würzburger Teilnehmer der Ge-
dankenexperimente nicht Uberhaupt ein allzu geschärftes Auge für das be-
sitzen, was sie vermöge ihrer theoretischen Vorurteile erwarten, und dagegen
keines für das, was in ihre Theorien nicht paßt? Das nennt man bekanntlich
> fromme Selbsttäuschung«, weil es mit dem höchsten Grad ehrlicher Über-
zeugung verbunden sein kann.
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Kritische Nachlese zur Atufragemethode. 453
Anspruch nimmt, nnd am so eingreifender müssen natürlich die
wechselseitigen Störungen sein, die die verschiedenen Teile der
Gedankenkette aufeinander ausüben. Welche Fülle ineinander
und in andere Vorstellungsgebiete übergreifender Gedankenbezie-
hungen wird z. 6. angeregt werden, wenn die folgende von mir
früher in etwas gekürzter Form angeführte Frage gestellt wird,
die ich, da Bühl er Wert darauf legt, noch einmal wörtlich wieder-
holen will, obgleich mir allerdings nicht klar ist, inwiefern diese
Amplifikation das Problem vereinfachen soll. Der Versuchsleiter
fragt also: >Wenn Eucken von einer weltgeschichtlichen Apper-
zeption spricht, wissen Sie, was er darunter meint ?* Hier ist es
ja unvermeidlich, daß neben diesem eigentümlichen geschichts-
philosophischen Begriff selbst auch noch der allgemeine Begriff
der Apperzeption eventuell in der Fülle Beiner psychologischen
und philosophischen Anwendungen, daneben der der Weltgeschichte,
endlich Reminiszenzen an das Kolleg von Professor Eucken nebst
allen den weiteren Erinnerungen, die diese anregen können, durch
das Bewußtsein schwirren, und es ist mir daher vollkommen un-
verständlich, wie jemand auf eine solche tausenderlei Fäden der
Assoziation in Bewegung setzende Frage überhaupt eine präzise
Antwort erwarten kann. Wer sich aber mit jenen unter so viel
einfacheren Bedingungen ausgeführten Versuchen über Erinnerung
und Wiedererkennung beschäftigt hat, der weiß, daß hier das Ver-
hältnis der Aussagen des Beobachters zu seinen wirklichen Erleb-
nissen notwendig in dreifacher Weise verändert erscheinen muß.
Erstens wird eine Fülle wirklicher Erlebnisse, namentlich alle
einigermaßen dunkler bewußte, gänzlich und spurlos der Erinne-
rung entschwunden sein; zweitens müssen Erinnerungstäuschungen
die Beobachtung in einem mit der Dauer der Gedankenarbeit zu-
nehmenden Maße fälschen; und endlich drittens wird, da unter
diesen beiden Faktoren besonders der erste, das völlige Ver-
schwinden der Bewußtseinsinhalte, mit der Dauer und der Ver-
wicklung der Prozesse nach den allgemeinen Reproduktionsgesetzen
in immer stärkerem Maße wächst, ein komplizierterer und länger
dauernder Gedanke relativ inhaltsärmer erscheinen müssen im
Vergleich mit einem einfacheren von kürzerer Dauer.
Um alle diese Dinge, die jedem geläufig sind, der sich jemals
mit den einfacheren Fragen der Aufmerksamkeit und des Ge-
dächtnisses beschäftigt hat, kümmert sich nun Bühler nicht im
30*
454
W. Wandt,
geringsten. Bewußtsein ist ihm Bewußtsein. Daß es in diesem
dunklere und klarere Inhalte gibt, scheint ihm ebenso fremd ge-
blieben zu sein, wie die Tatsache, daß die Erinnerungsfähigkeit
für beide enorm verschieden ist. Ebensowenig existieren für ihn
Erinnerungstäuschungen oder gibt es ein Schwinden solcher zu
erinnernder Inhalte oder eine Störung in der Auffassung der die
Denkprozesse begleitenden Vorgänge durch die Konzentration der
Aufmerksamkeit auf das gestellte Problem. Die Voraussetzungen,
die bei diesen Gedankenexperimenten Uber die Eigenschaften des
Bewußtseins gemacht werden, sind, wie man sieht, merkwürdig
einfach. Irgendwelche Verschiedenheiten in der Klarheit und
Deutlichkeit seiner Inhalte und in der Fähigkeit, diese fest-
zuhalten, scheinen überhaupt nicht zu existieren. Worüber der
Beobachter nach Absolvierung seiner Frage keine Auskunft zu
geben weiß, das ist überhaupt nicht vorhanden; und umgekehrt:
alles was während einer noch so verwickelten Gedankenarbeit im
Bewußtsein vor sich gegangen ist, das muß dem, der die Ge-
dankenarbeit geleistet hat, auch gegenwärtig geblieben sein.
Und doch ist Bühl er in seinen eigenen Beobachtungen auf
Tatsachen gestoßen, die ihm, hätte er sich einer etwas geringeren
selbstgewissen Zuversicht und einer etwas größeren kritischen Vor-
sicht befleißigt, die Verkehrtheit der Voraussetzungen, unter denen
diese Scheinexperimente stehen, vor Augen führen mußten. Er
hat nämlich das oben bemerkte Resultat, daß eine längere und
kompliziertere Gedankenreihe infolge der Häufung der Erinnerungs-
störungen voraussichtlich inhaltsärmer erscheinen wird als eine
relativ kürzere und einfachere, nicht selten beobachtet. Aber
statt sich durch diese Erfahrung, die die Fehlerhaftigkeit der
Voraussetzungen und die Untauglichkeit der Methode förmlich mit
Händen greifen läßt, beirren zu lassen, sieht er darin umgekehrt
eine Bestätigung seiner Anschauung, daß der Gedankenprozeß
etwas ganz Besonderes, von den einzelnen Gedankeninhalten völlig
Unabhängiges Bei, dessen spezifische Qualität eben auch darin
zum Ausdruck kommen könne, daß das Verwickelte gelegentlich
einfach und das Einfache verwickelt erscheine. Hätte sich zufällig
das Umgekehrte ergeben, so würde er vermutlich in einem solchen
Resultat erst recht eine Bestätigung seiner Annahme gesehen haben.
Denn Hypothesen nach den Tatsachen zu korrigieren, das kann
ja unter Umständen bekanntlich recht schwer sein; aber Tat-
Digitized by Google
Kritische Nachlese eur Außfragemethode. 455
Bachen nach den einmal gemachten Hypothesen zu deuten, das ist
im allgemeinen um so leichter, je weniger man sein Gewiesen mit
den mehr abseits liegenden Instanzen, wie z. B. im vorliegenden
Fall mit den allgemeinen Gesetzen der Erinnerung und mit den
Beobachtungen Uber das Verhältnis der klaren zu den dunkleren
Bewußtseinsinhalten belastet.
BUhler hat Übrigens diese hinreichend bekannten Dinge nicht
bloß bei der Beurteilung seiner eigenen »Ergebnisse« aus dem
Fokus seiner Aufmerksamkeit ausgeschaltet, — er befleißigt sich
des gleichen Verfahrens, Tatsachen, die zu seinen Voraussetzungen
nicht passen, unbeachtet zu lassen oder irgendwie umzudeuten,
auch da, wo er sich mit der Wiedergabe fremder Versuche und
der aus ihnen gezogenen Folgerungen beschäftigt. Nachdem ich
Uber die Verwertung der Rhythmusuntersuchungen zu Maßbestim-
mungen Uber den relativen Umfang des Bewußtseins und der
Aufmerksamkeit und Uber die Prozesse der Wiedererkennung zu-
sammengesetzter Vorstellungsreihen schon mehrfach gehandelt und
die daraus zu entnehmenden Folgerungen speziell für die Denk-
vorgänge auch in meiner vorangegangenen Abhandlung mit zu-
reichender Klarheit dargelegt zu haben glaube, muß ich mich fast
scheuen, auf diesen Gegenstand noch einmal einzugehen. Aber
Bühler hat, wie ich annehmen muß, unter dem suggestiven Ein-
fluß seiner Ausfrageexperimeute ein so verkehrtes Bild von mei-
nem Gedankengang entworfen, daß ich doch nicht umhin kann,
die wesentlichen Punkte hier nochmals zu wiederholen.
Der Tatbestand ist kurz folgender. Eine rhythmische Taktreihe
vermag man auch bei konzentriertester Aufmerksamkeit bei ihrer
Wiederholung nur dann wiederzuerkennen, wenn ihre Zusammen-
setzung einen ganz bestimmten Grenzwert, der deutlich durch das
rhythmische Gefühl befriedigter Erwartung gekennzeichnet ist,
• nicht Überschreitet. Nun befindet sich am Ende einer solchen
Reihe nur der letzte Taktschlag im Blickpunkt des Bewußtseins.
Nichtsdestoweniger können auch die vorangegangenen Taktschläge
der gleichen Reihe nicht aus dem Bewußtsein verschwunden sein:
sonst wurde jenes plötzliche Abbrechen des Zusammenhangs nicht
entstehen können. Daraus ziehe ich den Schluß, daß auch bei
der Bildung eines logischen Gedankenzusammenhangs das Ganze
des letzteren ganz oder zum größten Teil als dunklerer Inhalt im
Bewußtsein anwesend sein muß, wie es mir denn auch tatsächlich
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456
W. Wandt,
von einem jenem rhythmischen Totalgeftlhl analogen einheitlichen
Gefühl begleitet zn sein scheint. Was macht nun Buhler ans
dieser, wie ich glaube, kaum mißzuverstehenden und außerdem
anderwärts (Physiol. Psychol. III.» S. 366) von mir schematisch
wohl genugsam verdeutlichten Ausfuhrung? Er läßt die Haupt-
sache, die Beziehung auf den Umfang des Bewußtseins und damit
den Nerv des Argumentes, daß Vorstellungsinhalte dunkler be-
wußt und dennoch bewußt sein können, völlig unter den Tisch
fallen. Das von der rhythmischen Reihe erweckte TotalgefUhl
soll, wie er die Sache darstellt, nicht ein Symptom für die im
Bewußtsein vereinigten Vorstellungselemente, sondern es soll über-
haupt allein im Bewußtsein anwesend sein. Die Gefühle sollen
also bei diesem »anschauungslosen Denken« die »Bedeutungstr<öger«,
das Denken überhaupt aber nichts als ein Gefühlsverlauf sein.
Bühler fragt mich, wie ich mich zu diesen »Eonsequenzen« ver-
halte und wie ich diese Auffassung mit dem in meinem »Grund-
riß der Psychologie« ausgesprochenen Satze vereinbar finde, daß
Gefühle immer an Vorstellungen gebunden seien. Meine Antwort
auf beide Fragen ist sehr einfach. Absurde Konsequenzen aus
absurden Voraussetzungen zu ziehen Uberlasse ich dem, der die
Voraussetzungen gemacht und die Konsequenzen gezogen hat: das
ist Btthler, nicht ich. Was aber die zweite Frage betrifft, so
betrachte ich das die Zusammenfassung einer rhythmischen Reihe
begleitende rhythmische Gefühl als eine besonders einleuchtende
Veranschaulichung jenes Satzes, daß Gefühle an Vorstellungen ge-
bunden sind und in ihrer Qualität durch den Inhalt dieser Vor-
stellungen bestimmt werden.
Zum Schlüsse richtet Btthler noch eine Vexierfrage an mich.
Herbart habe »irgendwo« gesagt: »Denken heißt sich in seinem
Vorstellen nach den Gegenständen richten.« Btthler wünscht zu
wissen, wie ich mich zu dieser Frage stelle. Darauf antworte
ich zunächst: das »irgendwo« ist, wie ich stark vermute, die Meta-
physik Herbarts. Wenn man aber Herbart zugemutet hätte,
diesen Satz flir eine psychologische Schilderung der Denkprozesse
anzusehen, so wurde er dagegen, wie ich nicht bloß vermute, son-
dern nach meiner Kenntnis der Herbartschen Philosophie zu
wissen glaube, sehr energisch protestiert haben. Und noch mehr
härte er Einspruch erhoben, hätte sich jemand beigehen lassen,
seine psychologischen Anschauungen seiner Logik zu entnehmen.
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Kritische Nachlese zur Aasfragemethode.
457
Denn auf reinliche Scheidung der Gebiete waren wenige Philo-
sophen so sorgsam bedacht wie gerade Herbart Ich kann darum
Bühl er als Antwort auf seine Frage nur den Rat geben, sich in
dieser vorsichtigen Sonderung der Probleme Herbart ein wenig
zum Vorbild zu nehmen. Ich gehe in der Trennung von Logik
und Psychologie nicht so weit wie Herbart. Immerhin bin auch
ich der Meinung, daß eine Logik nicht Uber alle die Erschei-
nungen Rechenschaft zu geben hat, mit denen sich die Psycho-
logie der Denkvorgänge beschäftigen muß. Vielmehr soll, wie ich
glaube, die Logik aus dem psychologischen Tatbestand das heraus-
greifen, was sie auf möglichst direktem Wege zu einer Erkenntnis
der Entstehung der Formen und der Normen des logischen Denkens
fuhrt. Das zeigt sich besonders deutlich bei den zwei Fragen,
die hier im Vordergrund stehen: bei der Frage nach der Ent-
stehung der Begriffe und bei der anderen nach den Gesetzen des
logischen Vorstellungsverlaufs. An der Entstehung der Begriffe
ist die Logik vornehmlich insofern interessiert, als sie darüber
Rechenschaft zu geben hat, wie aus den uns zunächst gegebenen
Einzelvorstellungen überhaupt Begriffe entstehen können, wie es
also z. B. geschehe, daß ich mir ein einzelnes sinnlich vorstell-
bares Dreieck nicht mehr als bloße Einzelvorstellung, sondern als
ein Zeichen für den allgemeinen Begriff des Dreiecks Überhaupt
denke. Für die Beantwortung dieser Frage ist auch die Art und
Weise, wie ich mir einen solchen Begriff bei der willkürlichen
Richtung der Aufmerksamkeit auf ihn im Bewußtsein vergegen-
wärtige, von Bedeutung. Wie aber, nachdem einmal Begriffe ge-
bildet sind, diese im psychologischen Verlauf des Denkens bald
mehr oder minder fragmentarisch, bald dunkler, bald klarer be-
wußt durch unser Bewußtsein eilen, das zu untersuchen Uberläßt
die Logik der Psychologie. Ähnlich hat jene die Gesetze des
logischen Vorstellungsverlaufs in ihrer Eigenart da zu untersuchen,
wo sie sich am klarsten in unserem Bewußtsein entwickeln, an
den im Blickpunkt der Aufmerksamkeit sich vorbeibewegenden
Gedankenreihen, wie sie vornehmlich in den Formen des sprach-
lichen Denkens sich ausprägen. Wie aber diese bei den psycho-
logischen Vorgängen des Denkens verdunkelt oder durch rasch
vorübergehende Gedankenfragmente in einem größeren Gedanken-
zusammenhang vertreten werden könne, — dies und anderes sind
Fragen, die die Logik nichts angehen, sondern die sie der Psycho-
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458
W. Wandt,
logie überlassen muß, wenn sie eine die logischen wie die psycho-
logischen Aufgaben gleicherweise schädigende Vermengnng der Ge-
biete vermeiden will. Wenn trotzdem B Uhler die von dem Ver-
lauf der logischen Denkprozesse in meiner Logik gegebene Dar-
stellung als meine Ansicht von der Psychologie der Denkprozesse
hinstellt, so hatte ich darum wohl ein Recht, zu sagen, es sei ihm
mit Hilfe dieser heillosen Vermengung der Gebiete nahezu gelungen,
mich als den Vertreter der alten Lehre hinzustellen, nach der in
einem Gedankeninhalt »die Begriffe als abgeblaßte Erinnerungs-
bilder nacheinander aufmarschieren«. Wenn er die Schemata des
logischen Vorstellungsverlaufs, wie ich sie in meiner Logik ge-
geben habe, ohne weiteres für eine Schilderung der psychologischen
Denkprozesse ansah, so lag ja darin von selbst jene Voraussetzung
eingeschlossen. Wenn er mich gleichwohl daneben auch noch mit
anderen »ernst zu nehmenden Forschern« dem Rechnung tragen ließ,
was er in den Ausfrageexperimenten einen »Gedanken« nennt, so
weiß ich mich zwar von einer solchen auch nur entfernten Mit-
urheberschaft an jenen Gedankeninhalten, die eigentlich keinen
Inhalt haben, frei. Doch so gut er mir die Meinung eines in
bloßen GefUhlen bestehenden logischen Gedankenverlaufs zuschreibt,
ebenso schien es mir keine allzu große »Albernheit« zu sein, wenn
ich annahm, daß er mich der friedlichen Vereinigung zweier Mei-
nungen fähig hält, die sich widersprechen, und die ich, nebenbei
bemerkt, beide, das inhaltsleere Denken so gut wie die hinter-
einander aufmarschierenden Vorstellungen, für falsch halte.
Ein weiterer Protest Bühlers gegen meine Richtigstellang
seiner kritischen Exkurse ist, wie er selbst sagt, »harmloser«.
Sachlich ist er das in der Tat, denn es kommt ja nicht viel darauf
an, was er über meine Psychologie der Satzformen denkt oder
nicht denkt. Um so charakteristischer für die Flüchtigkeit seiner
kritischen Ausstellungen ist die Sache gleichwohl. Bühler hatte
mir vorgeworfen, ich geneneralisierte zu schnell, wenn ich die
Gliederung der Gesamtvorstellung »zum Schema xar l^nx^v der
psychologischen Vorgänge bei der Satzbildung mache«. Ich habe
darauf bemerkt, daß das unrichtig sei, und ich habe ihn anf die
zahlreichen attributiven Sätze hingewiesen, bei denen das Gegen-
teil zutreffe. Darauf entgegnet er, von ihm sei nur die prädikative
Satzform gemeint gewesen. Demnach hat ihn sogar meine Be-
richtigung noch nicht einmal veranlaßt, sich meine Psychologie
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Kritische Nachlese zur Ansfragemethode.
459
der Satzbildung etwas näher anzusehen. Sonst wurde ihm nicht
entgangen sein, daß ich gerade bei den prädikativen Sätzen auf
den vielfach stattfindenden Ubergang geschlossener in offene Satz-
verbindungen und das hierin sich spiegelnde Ineinandergreifen
apperzeptiver und assoziativer Gedankenprozesse hingewiesen habe.
Also, es bleibt dabei: »Man muß nicht jeden Autor, der Uber
einen Gegenstand geschrieben hat, lesen; aber wenn man ihn
kritisiert, so sollte man ihn immerhin auch gelesen haben.«
Doch, wie es auch andere mit diesem probaten Sprüchlein
halten mögen, ich gedenke es zu befolgen. Nach den Aufschlüssen,
die ich aus den seitherigen Ausfrageexperimenten geschöpft habe,
werde ich mir die Lektüre künftiger Arbeiten dieser Gattung er-
lassen; ich glaube mich aber auch fernerer kritischer Erörterungen
Uber diesen Gegenstand enthalten zu können.
Eingegangen am 6. Mai 1908.)
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VI™ Congrös internat. de Psychologie (Genöve 1909).
(Circulaire N° 7, mars 1908.)
Le VIme Congres de Psychologie, conformement ü la decision
prise a Rome par le demier Congres, aura Heu ä Geneve Tan
prochain. Le Comite d'organisation constitue a cet effet en a fixe
la date du 31 aoüt au 4 septembre 1909.
Les Boussignes, desirant que cette reunion du Congres soit
aussi profitable que possible, se proposent d'en modifier legere-
ment l'organisation interieure accoutumee. On se rappelle que
nos pr6cedentes seaaions ont attire une affluence toujours plus
cousiderable de visiteurs, de sorte que les Communications annon-
cees ont fini par atteindre un chiffre exorbitant (270 au Congres
de Rome, sans compter les 12 Conferences des säances generales).
Cette pletbore n'est pas sans danger pour la vie d'un congres.
Elle occasionne un veritable desarroi. Le temps faisant materielle-
ment defaut pour qoe tous les orateurs inscrits puissent convenable-
ment exposer leors idees, les presidents sont constamment Obligos
de les presser et de supprimer ou d'ecourter les discussions; de
la, trop souvent, un sourd mecontentement et un malaise general.
Les plaintes relatives ä ces defectuosites d'organisation de nos
derniers congres, ont laisse leur echo dans plusieurs des comptes
rendus auxquels ils ont donne lieu. Nous ne citerons comme
exemple que Tarticle dü ä la plume autorisee du professeur Ferrari
de Bologne qui, en sa qualite de secretaire du Congres de Rome,
a ete" mieux place* que personne pour se rendre compte des in-
conyenients du mode de faire habituel.
M. Ferrari, apres avoir constate la »d6cadence« de nos
grandes assises internationales, s'exprime ainsi: »La loi de la yie:
se renouyeler ou perir, pourrait 8'appliquer aux congres d'une
science aassi complexe et aussi incompletement differenci^e que la
Psychologie . . . L'utilite des congres internationaux pour le savants
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VI»« Congres Internat, de Psychologie (Geneve 1909). 461
et pour le progres de la science elle-nieme, n'est pas grande. IIa
persistent gräce a des lois que les psychologues connaissent fort
bien; mais c'est jostement cette connaissance qui devrait leur
snggerer le moyen de se soustraire ä l'avenir ä une agreable
routine, et de mettre ä profit de meilleure facon le temps et
l'energie qu'ils ont l'amabilite de consacrer ä ces reunions perio-
diques ... Le Congres de Rome a montre clairemcnt que Ton
commence a sentir la necessite de rajeunir l'organisation vieillie
et inutile des oongres international . . .* (Bull. Instit. gen. psychol.
V. p. 497-8.)
Nous sommes certains que Topinion exprimee ici parM. Ferrari
re*pond aux sentiments de TimmenBe majorite des psychologues
qui ont frequente nos derniers congres.
Force nous parait, donc de prendre des mesures nouvelles, daiis
Vinteret mcme de 1'institution dont le sort a ete remis momentane-
ment entre nos mains. Mais quelles reformes apporter ä Vetat
de cboses dont tont le monde se plaint?
Sans vouloir rien arrßter de definitif des maintenant, noos
desirons esquisser brievement dans quelle direction nous croyons
devoir nous orienter a cet egard, esperant que cela engagera nos
collegues de tous pays a y refleehir de leur cöte et ä nous faire
part des idees qui leur viendraient relativement ä la meilleure
Organisation possible du procbain congres:
1° Aujourd'hui que les periodiques scientifiques se sont telle-
ment multiplies et offrent les plus grandes facilites de publication
a tont travail de quelque valeur, le vrai but d'un congres inter-
national ne saurait plus etre la lecture forcement ecourtee et hätive
d'innombrables Communications isolees sur les sujets les plus dispa-
rates, mais Berait bien plutöt de permettre l'etude et la discussion,
un peu approfondies, d'un choix restreint de questions particu-
lierement interessantes ou vitales. Notre premier desir est donc
de mettre a l'ordre du jour du Congres certaines questions
(VactualiU, snr lesquelles seraient prcsentes des rapports et contre-
rapports, qui devraient etre pnblies d'avance afin que les personnes
se proposant d'assister au Congres puissent preparer leurs ob-
jections ou leurs Communications sur ces thcmes de discussion.
2° Nous voudrions en particulier consacrer quelques seances
du Congres de Genere ä la question de la terminologie psycho-
logique, dont le Congres de Paris de 1900 avait deja emis le vceu
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462 VI"»e Congres internat de Psychologie (Geneve 1909).
qae Ton s'occupät dans une prochaine Session. Notre intention
est de presenter an Congres un projet d'equivalents termino-
logiques entre nos principales langues, afin de fixer an certain
nombre de termes techniqnes, chaque jonr plus indispensables,
relatifs a des dispositifs experimentaux et peut-Stre anssi a quel-
ques phenomenes ou processns psychologiques. II va sans dire
qu'il s'agit la d'une oeuvre de longue haieine, et que notre futur
congres ne ponrrait planter qae les premiers jalons de ce travail.
3° Nous desirons enfin organiser une Reposition dappareüs,
comme cela s'est d'ailleurs dejä fait aux prec^dents congres. Hais
nous voudrions que plus de temps f&t reserve a l'examen et a la
demonstration de ces appareils; car c'est la un genre de communi-
cation qui ne peut que difncilement et tres imparfaitement se faire
par l'intermediaire des memoircs imprimes, tandis qu'il rentrerait
admirablement dans le röle d'un congres.
Nous serons reconnaissants a tous ceux de nos collegues qui
youdront bien, le plus tot possible, nous envoyer leurs observations
sur les points que nous venone de toucher, nous suggerer 6ven-
tuellement d'autres innoTations encore, et nous faire des proposi-
tions quant au choix des sujets de discussion a mettre ä Tordre
du jour du prochain Congres.
Le Comite du YIme Congres:
Th, Floumoy, prteident. P. Ladame, vice-presideiü.
Ed» Claparkde* secretaire general (Champel, 11, Geneve;.
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:: TER LAG VON WILHELM ENUELMANN IN LEIPZIG ::
Geschichte der Blindenanstalt
zu Illzach-Mülhausen i. E.
während der ersten fünfzig Jahre ihrer Tätigkeit (1856—1906),
ferner deutsche, französische und italienische Kongreßvorträge
und Abhandlungen über das Blindenwesen.
Von
Prof M. Kunz
Direktor der Anstalt.
Mit einem Situationsplan der Anstalt,
143 Abbildungen und Figuren im Text und 5 Hochdruckproben.
IV, 346 und 15 Seiten g»4. M 10.—, gebunden Jt 12.—.
Im März 1906 hat der Verwaltungsrat der Blindenanstalt zu Illzach-Mülhausen i. Eis. be-
schlossen, im Juli desselben Jahres das fünfzigjährige Jubiläum dieser Anstalt zu feiern und bei
diesem Aolasse auch der fUufundzwanxigjithrigen Tätigkeit ihres Vorstehers zu gedenken. Es
wurde ferner beschlossen, eine Anstaltsgeschichte zu veröffentlichen, und ihr einen Neudruck
der Kongreßvorträge und Abhandlungen des Direktors Ober das Blindenwesen folgen zu lassen,
— einerseits um so ein Bild dessen zu geben, was hier erstrebt und teilweise erreicht worden
ist, anderseits aber auch, um die Schriften eines erfahrenen Lehrers und Anstaltsleiters weiteren
Kreisen zugänglich zu machen. Infolge des Verlustes dreier Mitglieder des Kuratoriums mußte
auf eine öffentliche Feier im Jahre 1906 verzichtet werden, wodurch sich die Herausgabe der
»Festschrift« zwar sehr verzögerte, dafür aber noch zwei neue KongreBvorträge des Direktors
(Rom, Dez. 1906) und eine gröüere Arbeit Uber das Orientierungsvermögen und das Ferugefuhl
der Blinden und Taubblindcn Berücksichtigung findet» konnten. Viele von diesen Abhandlungen
und Vorträgen sind als »Begleitschreiben« zu seinen Lehrmitteln zu betrachten, die durch die
ganze Welt gehen. Deshalb sind hier auch seine fremdsprachlichen Arbeiten aufgenommen
worden. So liegt denn ein Werk vor, aus dem Menschenfreunde jeden Standes. Schul«
und Verwaltungsbehörden, Geistliche, Arzte und Lehrer, besonders Blinden-
lehrer, Anregung und Belehrung Ober das heutige Blindenwesen schöpfen können.
Vorlesungen zur Einführung in die
Experimentelle Pädagogik
und ihre psychologischen Grundlagen
von
Ernst Meiuiiann
o. Professor der Philosophie in Munster i. W.
Zwei Bände in gr. 8
Bd. L Geh. Jt 7.—, in Leinen geb. Jt 8.2Ö.
Bd. II. Mit 14 Textfigureu, sowie Sach- und Namenregister zu beiden Bänden.
Geh. Jt 6—, in Leinen geb. Jt 7.25.
[Eine Ankündigung mit genauer Inhaltsangabe steht zu Diensten)
Mit diesen »Vorlesungen« will Verfasser in gemeinverständlicher Form
eine Einführung in die pädagogischen Untersuchungen und ihre Methodik
eben, durch die man gegenwärtig allgemein-pädagogische und didaktische Pro-
leme mittels der Anwendung experimenteller Forschung zu entscheiden sucht
Es handelt sich also hier nicht um eine systematische Pädagogik, nicht um
das System der Erkenntnisse, die man aus der gegenwärtigen pädagogischeu For-
schung gewinnen kann, sondern um eine Einführung in die empirisch-
pädagogische Forschung selbst.
Inhalt des 3. und 4. Heftes.
Abhandlungen:
Seite
Lucka, Emil, Das Problem einer Charakterologie 211
Gheorgov, 1. A., Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kinder-
sprache 242
Ernst, Christian. Hielt Descartes die Tiere für bewußtlos? 433
Wundt, W., Kritische Nachlese zur Ausfragcraethode 445
VIme Congres iuteruat. de Psychologie Genevc 1909 460
Literaturbericht:
F. M. Urban. Die Psychologie in Amerika. Zweiter Bericht 113
Einzelbesprechung:
Gustav Störring. Ethische Grundfragen. I. und II. Teil. (A. Konaletcski.) 14ö
Referate:
Albert Thumb, Die experimentelle Psychologie im Dienste der Sprach-
wissenschaft. (Menzerath.). 150
Hanns Örtel und Edward P.Morris, Au examiuation of the theories regar-
ding the naturc and origin of Indo-European inflection. (E. Kretschmer.) 152
Alexander F. Chamberlain, Acquisitum of written language by primitive
peoples. (E. Kreisch mer.) 1Ö6
Karl L. Schäfer, Die psychologische Deutung der ersten Sprachäußerungen
des Kindes. (E. Heitmann.) . 158
Herdis Krarup. Die Mctanhysiologie Alfred Lehmanns, kritisch er-
läutert (E. Meumann.) ' 159
Arthur Mac Donald, A plan for the study of man. JE. Meumann.) . . . 161
Adalbert Gregor. Ein einfacher Apparat tur Exposition optischer Beize.
(E. Meutnann.) 161
Dr. A. Gregor und Dr. A. Zaloziccki. Diagnose psychischer Prozesse
im Stupor. (E. Meumann) 162
Hans Groß, Mnemotechnik im Unterbewußtsein. (E. Meumann.) .... 165
B in s wa nger, Die Hysterie. (Weygandt.) 167
Die Briefe der heiligen Catarina von Siena. Ausgewählt, eingeleitet
und deutsch herausgegeben von Annete Kolb. (K. Oesterreich.) . . 170
G. Hahn, S. J., Die Probleme der Hysterie und die Offenbarungen der
heiligen Therese. (K. Oesterreich.) 170
E. B. Bax, The roots of realitv, being suggestions for a philosophical recon-
struetion. (H. J. Watt.) ' 172
Edmund Moutgomerv. Philosophical Problems in the light of vital Or-
ganization. (H. f. Watt) 173
J. Woodbridge Itilcy. American Philosopby. The early schools. (H.J.Watt.) 174
Dr. Theodor Lessing, Theatcrseele. (Frttx. Rose.' 175
G. von Bunge. Wider den Alkohol. (E. Meumann.) 177
R. B&rany, Physiologie und Pathologie des Bogengangapparates beim
Menschen. (Ii. Höber.) 177
Erich Wasmann, S. J., Die moderne Biologie und die Entwicklungstheorie.
(E. Meumann.) 179
Theodor Kapp stein, Eduard von Hartmann. Einführung in seine Ge-
dankenwelt (K. Oesterreich.) 180
F. Kuypers, Volksschule und Lehrerbildung in den Vereinigten Staaten.
(k. Meumann.) 181
K. Remus, Der dvnaraoloeische Lehrgang. (Oskar Messmer.) 182
J. F. W. von Sendlings Werke. (E. Meumann.) 188
Fried r. Nietzsches Werke. Taschenausgabe. (E. Meumann.) 193
Diesem Doppelheft liegt ein Prospekt von J. C. B. Mohr in Tübingen über
Heinrich Maier, Psychologie des emotionalen Denkens, sowie eine Ankfln*
digong von B. G. Teubner in Leipzig über Zor Strassen, Neuere Tierpsy-
chologie bei.
~
Druck von Breitkopf Sc Härtel in Leipzig
Psychologie
des
otionalen Denkens
Von
Dr. Heinrich Maier
Professor 4er Philosophie an der Unirersit&t Tablopen
Tübingen
Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck)
1908
XXVI. 826 SS. Preis M. 18.—.
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Alle Rechte vorbehalten.
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Vorwort.
Von der Aufgabe, die sich das vorliegende Buch gestellt hat, handelt
der einleitende Abschnitt Dagegen muß ich über den Titel eine erläu-
ternde und rechtfertigende Bemerkung vorausschicken.
Im Mittelpunkt der folgenden Untersuchung steht das Denken, das
sich aus der emotional-praktischen Seite des Geistes, aus dem Gefühls-
und Willensleben entwickelt, dasjenige also, das in den Vorstellungs-
gebilden der affektiven Phantasie wie in der Welt der Zwecke, Normen
Werte und Güter wirksam ist und uns am markantesten in der ästhe-
tischen Kontemplation, im religiösen Glauben, in Sitte, Recht und Moral
entgegentritt. Ich glaube zeigen zu können, daß dieses Denken, dessen
elementare Betätigungen in den Gefühls- und Begehrungsvorstellungen
aufzusuchen sind, sich dem urteilenden, das mit dem erkennenden Denken
zusammenfällt, als ein eigenartiger, selbständiger, in sich einheitlicher
Typus logischer Funktionen zur Seite stellt. Aber wie sollte ich es nennen ?
Die bisherige Wissenschaft hat von ihm terminologisch wie sachlich so
gut wie keine Notiz genommen. Bei ihr war darum kein Rat zu holen.
Am Wege lag die Bezeichnung „ praktisches Denken.* Allein sie ist
nicht bloß zu eng, sie würde auch, was schlimmer ist, irreführend wirken.
Unter ^praktischem^ Denken pflegen wir ja etwas wesentlich Anderes
zu verstehen. Wenn ich schließlich zu dem Wort „emotionalu griff, so
war ich mir der Gewaltsamkeit wohl bewußt, die in dieser Erweiterung
des Sprachgebrauchs liegt. Indessen hat die Wahl doch auch eine ge-
wisse sachliche Berechtigung. Zwar darf aus dem Namen keinerlei Be-
kenntnis zu einer psychologischen Theorie über das Verhältnis von Fühlen
und Wollen herausgelesen werden. Fem liegt es mir auch, den Terminus
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„Emotionen" als Bezeichnung für den allgemeinen Begriff, unter den
Gefühle und Willensakte fallen würden, in Vorschlag zu bringen. Wer
aber der im Nachstehenden durchgeführten Analyse der volitiven Vor-
stellungen aufmerksam folgt, dem wird nicht entgehen, wie nahe die-
selben nach ihrer präsentativ-logischen Seite an die aus Gefühlen und
„Gemütsbewegungen" entsprungenen Vorstellungserlebnisse herantreten.
Und es ist kein Zweifel, daß der Typus des Vorstellens und Denkens,
den volitive und affektive Vorstellungs- und Denkprozesse mit einander
gemein haben, ohne allzu großen Zwang als „emotional" bezeichnet
werden kann. Wie man sich nun aber auch zum Namen stellen mag:
über etwaigen terminologischen Bedenken bitte ich die Sache nicht aus
dem Auge zu verlieren.
Tübingen, im Januar 1908.
Der Verfasser.
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Inhaltsübersicht,
Seit«
Erster Abschnitt. l
Einleitung: Aufgabe und Untersuchungsmethode.
Erstes Kapitel.
Das emotionale Denken. 1
Das Problem 1. Der Urteilstypus des grammatisch vollständigen Aus-
sagesatzes und das elementare Urteil 1. Die logischen Denkakte in
den emotionalen Vorstellungen 3.
Zweites Kapitel.
Das bisherige Schicksal des Problems. 5
Terminologisches. Die emotionalen Vorstellungen als Phantasievorstel-
lungen 5. Die emotionalen Vorstellungen in der Literatur. Ribot,
Wundt 6. Ihr logisches Element insbesondere. Ribot 8. Das Pro-
blem der emotionalen Sätze 9. Satz und Satzarten in der antiken
Logik und Grammatik. Aristoteles, Stoiker, Peripatetiker, Dionysios
Thrax 9. Die weitere Entwicklung. Chr. Wolpf, G. Hermann,
K. F. Becker 11. Der Satz in der neueren Sprachwissenschaft und
Sprachpsychologie. Steinthal, Paul, Delbrück. Wundt 12. Die
emotionalen Sätze in der allgemeinen Psychologie 16, in der Logik:
Sigwart, B. Erdmann, Husserl 17, in der Rechtswissenschaft und
Ethik 21. Zusammenfassung 23. Das Problem des emotionalen
Denkens in der Religionswissenschaft und Ästhetik 23. Der gegen-
wärtige Stand der Frage 25.
Drittes Kapitel.
Die Psychologie des emotionalen Denkens. 26
Aufgabe 26. Allgemeine Psychologie des emotionalen Denkens 26.
Spezielle 27. Psychologie und Geisteswissenschaften 27. Psychologie
und Geschichte. Windelband, Rickert 27. Psychologie und historische
Theorien (Prinzipien Wissenschaften). H. Paul 29. Die Psychologie
des emotionalen Denkens und die historischen Wissenschaften 32.
Methode 33. Völkerpsychologie. Wundt 34. Drei Gruppen von psy-
chologischen Methoden 35. Die experimentellen Methoden 36. Die
komparativen 36. Die historisch-psychologische Methode nach ihren
beiden Seiten 37. Der Weg der Psychologie des emotionalen Denkens 39.
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VI Inhaltsübersicht.
Seit«
Viertes Kapitel.
Die Psychologie des emotionalen Denkens und die Logik. 40
Ist das emotionale Denken ein Untersuchungsobjekt der
Logik? 40. Negativ-kritisches Interesse der Urteilslogik an dem-
selben 40. Die Logik nicht ausschließlich die Lehre vom wahren
Denken 41. Die Kriterien logischer Geltung im urteilenden und im
emotionalen Denken gleichartig 41. Hypothetischer Charakter der
logischen Notwendigkeit 43. Die Logik als die normative Lehre vom
denknotwendigen und allgemeingültigen Denken in allen seinen For-
men 43. Einwand und Bestätigung 44. Die Logik als Wissenschafts-
lehre hätte auch die Geisteswissenschaften 45, und zwar neben der
historischen und psychologisch-theoretischen auch die normative Arbeit
derselben zu umfassen 45, also auch das volitive Denken zu nor-
mieren 47. Das logische Ideal selbst in einem volitiven Denkakt
gedacht 47. Wenn aber das volitive, dann auch das emotionale
Denken überhaupt Gegenstand der Logik. Die Logik nicht Wissen-
schaftslehre 49. Kognitive und emotionale Logik 49. Die psycho-
logische Untersuchung und die Logik 49. „Psychologisten"
und „Antipsychologisten44 49. Vorläufige Entscheidung 50. Kritische
Methode der Logik 50. Psychologische Vorbereitung 51. Einwände 51.
Ersatz der Psychologie durch „Deskription" oder „Phänomenologie.4
Dilthey, Husberl, Lipps 52. Husserl's Idee der reinen Logik und
Lipps' phänomenologisches Programm 53. Unrichtige Vorstellungen
von Psychologie und psychologischer Methode 55. Die Psychologie
im Dienst der Logik 56: die psychologische Analyse 56, die erklä-
rende Psychologie 57. Husserl's Phänomenologie als sprachliche Er-
örterung 57. Seine Idee einer „reinen" Grammatik 58. Logik und
syntaktische Bedeutungslehre 60. Erweiterung der „phänomeno-
logischen44 zur historisch-psychologischen Methode 61. Psychologie
und Logik des emotionalen Denkens 61.
Zweiter Abschnitt.
Das emotionale Vorstellen. 62
Erstes Kapitel.
Phantasie und Phantasievorstellungen. 62
Der Begriff der Phantasievorstellung in der bisherigen Psychologie 62.
Identifizierung von Phantasievorstellungen und reproduzierten Vorstel-
lungen. Aristoteles, Chr. Wolff, D. Hume 63. Unterscheidung
einer reproduktiven und einer produktiven Phantasie. Kant, Joh.
Müller 64. Weitere Entwicklung 66. Der Phantasiebegriff das
Haupthemmnis für die Psychologie der Phantasievorstellungen 67.
Die reproduzierten Vorstellungen keine psychisch selbständigen Vor-
stellungen 67, sondern ebenso, wie die Empfindungen, blolie Vorstel-
lungsdaten 69. Weg der Analyse der Phantasievorstellungen 72.
Zweites Kapitel.
Die Merkmale der Phantasievorstellungen. 72
Die drei Merkmale der vulgären Psychologie 72. Das erste, Anschau-
lichkeit, fällt weg 72. Die beiden anderen: Originalität und Spon-
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Inhaltsübersicht. VII
Soite
taneität. Ihr genetischer Sinn 75. Rechtfertigung der vulgären An-
sicht durch Meixono 76. Der Widerspruch der modernen Psychologie
und seine beiden Voraussetzungen 77. Die erste Voraussetzung:
jede Vorstellung schöpft ihren Stoff aus Empfindung oder Repro-
duktion 77. Ursprung und Begründung des Satzes 77. Kritik 79.
Denkbarkeit einer Vorstellungsproduktion Sl. Entscheidend die psy-
chischen Tatsachen 82. Die zweite Voraussetzung: Vorstellungen
können nur durch auslösende Vorstellungen ins Bewußtsein gerufen
werden 83. Kritik 83. Methodische Bedeutung der beiden Voraus-
setzungen 85. Originalität und Spontaneität jedenfalls deskriptive
Merkmale der Phantasievorstellungen 86.
Drittes Kapitel.
Reproduktion und Assoziation. 86
Reproduktion und Bewußtsein 86. Primäres und sekundäres Gedächt-
nis 87. Das primäre Gedächtnis. Uneigentliche Reproduktion SS.
Die eigentliche Reproduktion 89. Die Bildung von Vorstellungsdis-
positionen 90. Die Reproduktionstätigkeit und das allgemeine Repro-
duktionsgesetz 91. Die sog. mittelbaren Assoziationen 92. Das Wesen
der Voretellungsassoziatton 94. Vier Assoziationsgesetze 95. Ihr Ver-
hältnis zu einander 98. Sie betreffen Verhältnisse der Vorstellungs-
inhalte 99. Nicht bloß Vorstellungsganze, auch Vorstellungsbestand-
teile stehen in Assoziation 99. Der Sinn der Assoziationsgesetze und
das allgemeine Assoziationsgesetz 100. Reproduktionsauswahl und In-
teresse 101. Schluß 102.
Viertes Kapitel.
Vorstellungsabänderung und Vorstellungsverschmeliung. 102
Die Vorstellungsabänderung 102. Zwei Formen. Dilthey's Ge-
setze 103. Abänderung der Vorstellungsdispositiönen 104. Abände-
rung der reproduzierten Vorstellungen 107, einfache 107, gemischte 108.
Die Vorstellungsverschmelzung 108. Vorstellungsverschmel-
zung und Vorstellungskomplexion 1 08. Wundt's Lehre von den Asso-
ziationen 109. Simultane und successive Komplexionen 112. Die
simultanen 112. Verschmelzung und Assimilation 112. Ver-
schmelzung und Komplikation 113. Simultane Komplexionen und
logische Synthesen 115. Die successiven Vorstellungskomplexionen
117. Kombinationen von simultaner und successiver Komplexion 121.
Ergebnis 122.
Fünftes Kapitel.
Die Inhaltselemente der Phantasie-, insbesondere der
Emotional Vorstellungen. 122
Die Phantasieelemente teils reproduzierte Vorstellungen 122, teils Daten
des primären Gedächtnisses 124. teils Empfindungen und Wahrneh-
mungen. Wundt 124. Grenze der Phantasietätigkeit gegenüber der
Wahrnehmung und Erinnerung 126. Keine objektive Scheidung
möglich 129. Entscheidend die besondere Art des Vorstellungs-
interesses 129.
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VIII Inhaltsübersicht.
Seite
Sechstes Kapitel.
Die Phantasieprozesse und das Reproduktionsgesetz. 131
Die Spontaneität der Phantasievorstellungen und ihr reproduktiver Ein-
tritt ins Bewußtsein 131. Letzterer häufig nachweisbar 131. Zwei
Arten, die Spontaneität vorzustellen 131. Zwei Arten von Spontaneität:
aktive und passive 132. Spontaneität und mittelbare Assoziationen 132.
Bedeutung des emotionalen Vorstellungsfaktors 132.
Siebentes Kapitel.
Kognitive und emotionale Phantasievorstellungen. 134
Der emotionale Faktor der Phantasievorstellungen Oberhaupt 134. Ein-
teilung der Phantasievorstellungen. Ribot 134. Kognitive (intellektuelle)
135. Emotionale 137, affektiv-emotionale 137, volitiv-emotionale 13S.
Verhältnis der affektiven und der volitiven Vorstellungen 13S.
Verhältnis der kognitiven und der emotionalen Vorstellungen. Das
emotionale Vorstellen 139. Das emotionale Denken 139.
Dritter Abschnitt.
Urteilendes und emotionales Denken. 140
Erstes Kapitel.
Das Wesen des Urteilsaktes. 140
Einleitung 140. Der Urteilstypus des grammatisch vollständigen Aus-
sagesatzes in der Geschichte der Logik 141. Das Urteilsproblem in
den Anfängen der Logik 142. Vier Gruppen von Urteilstheorien in
der modernen Logik 142. Das Vorurteil, daß nur Vorstellungsver-
bindungen Urteile sein können, und das elementare Urteil 145. Typus
des elementaren Urteilsakts 149. Zwei Seiten des Urteilsakts 149:
die interpretierende Gleichsetzung 149, und die Objektivierung 150.
Verhältnis von Gleichsetzung und Objektivierung 153. Eine dritte
Seite: der sprachliche Ausdruck 153. Alle Urteile Erkenntniß-
urteile 154. Die analytischen Urteile Kaxt's. Sigwabt, Riehl 154.
Die Unterscheidung subjektiver und objektiver Urteile 155. Urteile
mit unwirklichen „Subjekten" 157. Das kognitive Interesse im Urteil
und das Wahrheitsbewußtsein und Wahrheitsgefühl 158. Urteilsakte
und assoziative Prozesse. Das rationalistische und das assoziationistische
Vorurteil 159. Unwillkürliche Urteilsakte 161. Rückblick 162. Das
elementare Urteil „subjektlos". Subjekt und Prädikat 163. Substrat-
urteil (Subjekturteil) und komplexes Elementarurteil 164.
Zweites Kapitel.
Einfache und komplexe Elementarurteile. 165
1. Das einfache Wahrnehmungsurteil 165 — 176. Wahrnehmung
ist Empnndungsauffassung 165. Das elementare Wahrnehmungp-
urteil 166. Gleichsetzung. Zwei Typen 166. Begriffliche Auf-
fassung 166. Anschauliche 168. Verhältnis der beiden Typen 169.
Objektivierung 170. Ihr kategorialer Apparat 170. Lokali-
sation 170. Temporalisation 171. Die subjektiv - logischen Syn-
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Inhaltsübersicht. IX
Seit»
theaen 172. Die Realkategorien 173. Vorgangs- und Zustandaauf-
fassungen 174. Dingauffassungen 17 1. Kategoriale Synthesen und
Objektivierung 175. Wahrnehmungs- und Satzvorstellung 176.
2. Das einfache Erinnerungsurteil 176 — 179. Zwei Typen 176.
Der primäre und seine Formen 177. Der sekundäre Typus 178.
3. Einfache Begriffsurteile ISO— 190. Erinnerongs- und Erfah-
rungsbegriffe 180. Realbegriffe. Dieselben sind Urteile 181. Ihr
Verhältnis zu den „logischen" Begriffen 181. Wesen der Abstraktion
und der allgemeinen Vorstellungen. Die Kontroverse 182. Die Ent-
scheidung 184. Abstraktion und natürliche Induktion 185. Begriffe
von Tätigkeiten, Affektionen und Eigenschaften 185. Begriff und
Vorstellung. Begriffsvorstellung 186. Der Urteilsakt in dem Erinne-
rungsbegriff. Das Begriffsurteil 187. Insbesondere die Objektivierung
der Begriffe 1 88. Die einfachen Begriffsurteile im faktischen Denken
189. Begriffsurteil und Satzvorstellong 189.
4. Komplexe Elementarurteile 190—192. Verbindung von zwei
(oder mehr) Urteilen zu einem komplexen Elementarurteil 1 90. Kom-
plexe elementare Wahrnehmungsurteile 191. Die Urteilsverbindnng
im Gebiet der Erinnerongs- und Begriffsurteile 192.
Drittes Kapitel.
Die psychologischen Urteile. 193
1. Bewußtsein und innere Erfahrung 193 — 196. Seelische Er-
lebnisse als Objekte von Urteilen 193. Es gibt keine innere Wahr-
nehmung. Intellektualistische Psychologie 193. Die Bewußtheit der
Erlebnisse überhaupt kein Vorstellen 194. Unmittelbares (immanentes)
und mittelbares (reflektierendes) Bewußtsein 194. Das mittelbare Be-
wußtsein erinnerndes Vorstellen psychischer Erlebnisse 194. Innere
Erfahrung 195. Innere Erfahrung und psychologische Urteile U>6.
2. Die Struktur der psychologischen Urteile 196 — 200. Die
psychologischen Urteile als Erinnerungsurtcile 196. Kein Analogou
zu den einfachen Vorgangs- und Zustandsauffassungen der Wahr-
nehmung. Die psychologischen Impersonalien 197. Komplexe psy-
chologische Urteile 199. Einfache 200.
3. Selbstbewußtsein und Ichurteil 200—213. Das Selbst-
bewußtsein als Funktion: unmittelbares und mittelbares 200. Der
Inhalt der Selbstvorstellung. Drei Schichten 201. Das formale
Seibatbewußtsein: das Ich als formales Subjekt der Erlebnisse 201.
Der Inhalt dieses Subjekts: der Wille zur Selbstbehauptung (Ich-
wille) 201. Voluntarismus 205. Die Ichwahrnehmung: das phy-
sische Ich 205. Das Verhältnis des psychischen und des physischen
Ich 206. Die Seelentheorien 207. Entscheidung 209. Struktur des
Ichurteils 211. Die Objektivierung insbesondere 212.
4. Die Erlebnisurteile 213 — 217. Psychologische und psycho-
physische Urteile 213. Die Ichvorstellung in den Erlebnisurteilen 213.
Die Vorstellung der Bewußtseinsinhalte 214. Der kategoriale Apparat,
insbesondere die Realkategorien 214. Die Objektivierung der psy-
chischen Inhalte 215. Die „geistige Wirklichkeit" 216.
Viertes Kapitel.
Die Relationsurteile. 218
1. Elementare Relationsurteile und Relationen 21S 226.
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Seit*
Struktur des elementaren Relationsurteils 218. Drei Gestalten 2 IS.
Die beiden Bestandteile der Relationsurteile 219. Kognitive und
emotionale Relationsvorstellungen 219. Die Relationsurteile Objekt-
vorstellungen höherer Ordnung 220. Die beziehende Denktätigkeit
und die Relationsauffassungsdaten 222. Die immanent gedachten
Relationen und die Relationsurteile 223. Vorgänge, Zustände, Dinge
zweiter Ordnung 225.
2. Die Hau ptgruppen der Relationsurteile 226 — 262. Leiten-
der Gesichtspunkt 226. Die subjektiv-logischen Relationen
226. Relationen des vergleichenden 227, und des zusammenfassenden
und sondernden Denkens 229. Räumliche und zeitliche Re-
lationen 231. GrölJenurteile (über Dauer und Ausgedehntheit) 231.
Lageurteile 232, räumliche 232, zeitliche 234. Räumliche und zeit-
liche Gestalturteile 234. Auffassungsdaten der räumlichen und zeit-
lichen Relationsurteile 236. Die Beziehungen der realen De-
pendenz 236. Verschiedene Arten realer Abhängigkeit 236. Im
besonderen: Relationen transeunter Kausalität. Kausalurteile 237.
Relationen von Mittel und Zweck. Finalurteile 240. Relationen von
Zweckvorstellungen und Mittelhandlungen. Teleologische Naturdeu-
tnng 244. Beziehungen von Realgründen und Folgen 245. Die
Kxistentialrelatiou en 246. Existentialurteil und Objektivierungs-
tätigkeit im einfachen Urteil 246. Zwei Typen von Existential-
urteilen 248. Semantische Relationen 248. Verschiedene Arten
semantischer Beziehungen 24 S. Im besonderen: Relationen von Wort
und Sache 249. Zwei Haupttypen solcher Relationsurteile 249.
Immanent gedachte Beziehungen zwischen Objekt und Satz und das
Relationsurteil 249. Erster Typus 250. Zweiter 251. Die funk-
tionellen Relationen 253. Funktionelle Relationen und Re-
lationsurteile 253. Die Relationen 253: kognitive 253, präsenta-
tive 254, emotional-funktionelle 254, und zwar Beziehungen zwischen
Gefühl und Geftlhlsobjekt 254, zwischen Begehrung und Begehrungs-
objekt 257. Die Relationsurteile. Zwei Typen 257. Der erste stellt
Relationen der Funktionen zu den Funktionsobjekten vor 257, der
zweite Relationen der Funktion9objekte zu den Funktionen 257, und
zwar kognitive Relationen (insbesondere Wahrheits-, Notwendigkeits-,
Mögliehkeitsurteile u.s. f.) 257, präsentative 25S, emotional-volitive 25S,
affektive. Werturteile im weiteren und engeren Sinn 258. Relationen
zwischen logischen Gründen und Folgen 260. Die im-
manent gedachten Beziehungen dieser Art und das Gesetz des logischen
Grundes 261. Urteile über Beziehungen von Erkenntnisgrund und
Folge 261, über Relationen von Grund und Folge in emotionalen
Denkakten 262.
3. -Der logische Charakter des Relationsurteils 262— 26S.
Gleichartigkeit der verschiedenen Klassen von Relationsurteilen 262.
Die hypothetischen Urteile 263. „Annahmen" 265. Objektivierung
und Gleichsetzung in den Relationsbestandteilen der Relationsurteile
266. Anknüpfung au eine Satzvorstellung 267.
4. Die Relatiousbegriffsurteile 26S — 272. Relationsvorstel-
lungen und Relationsbegritlsurteilc 26S. Verschiedene Abstraktions-
stufen (an den Kausalurkilen aufgezeigt) 268. Kognitive und emo-
tionale RelationsbegritVc 270. Die Objektivierung in den Relations-
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Inhaltsübersicht.
XI
Seite
begriflsurteilen 271. Die Vorstellung der Relationsbegriffe 27 1. Ab-
schluß 272.
5. Das negative Urteil 272 — 282. Das verneinende Urteil logisch
später als das ^positive" 272. Das verneinende Urteil weder dem
Existential- noch dem Wahrheitsurteil parallel 273. Verhältnis der
Verneinung zur Frage. Wixdei-band 273. Zwei Klassen von Fragen
und Fragesätzen 274. Die Ergänzungsfrage 274. Die Entscheidungs-
frage und das Urteil. Problematische Urteile 275. Das negative Ur-
teil ein Relationsurteil, in welchem Substratvorstellung die Voratelhing
einer Frage, Beziehungsvorstellung der Verneinungsakt ist 277. Das
Wesen des Verneinungsakts 277. Verschiedene Nuancen des Ver-
neiuung8akts 278. Verneinung und Bejahung 279. Problematische
Verneinungen und Bejahungen und ihr Verhältnis zu den Möglich-
keitsurteilen 279. Ergebnis. Verhältnis der Bejahung und Verneinung
zum Wahrheit«-, Möglichkeits- und Notwendigkeitsurteil. ^Modalitäts-
unterschied« der Urteile 279.
Fünftes Kapitel.
Kognitive Phantasietätigkeit und Phantasieurteile. 2S2
1. Der Charakter und die verschiedenen Erscheinungs-
formen der Phantasieurteile 282 — 29t. Die kognitiven Phan-
tasievorstellungen abgeleitete Urteile 282, in denen Objekte niederer
und höherer Ordnung gedacht werden 282. Relationsphantasie-
urteile 283. Die kognitiven Phantasieprozesse. Ihr ursprünglicher
Typus 283. Beispiele: Zukunftsurteile 284. Eine zweite Gruppe von
Znkunftsurtcilen 2S6. Zukunftsurteile und andere Phantasieurteile 2SG.
Die Ausgangspunkte der kognitiven Phantasieprozesse Erkenntui.s-
vorstelluugen 287. Komplexe Erfahrungsbegriffe als Mittelglieder 287.
Komplexe Individualvorstellungen als Mittelglieder 28S. Die resul-
tierenden Urteile 289. Begriffliche Phantasieurteile 289. Phantasie-
urteile und unmittelbare Urteile 290.
2. Die s yllogisti sehe Struktur der kognitiven Phantasie-
prozesse 29 1 — -301. Analyse des ursprünglichen Typus: Gestaltung
und Auffassung in einander 291. Der zweite Typus: Gestaltung und
Auffassung getrennt 292. Der dritte Typus: Begrtindungsprozesse 293.
Der kognitive Nerv der drei Typen: die Deduktion 294. Struktur
der Deduktion: der Syllogismus 295. Der elementare Syllogismus 295.
Seine verschiedenen Erscheinungsformen 296. Der Syllogismus der
traditionellen Logik 298. Zwei Schlußtypen: begrifflicher und an-
schaulicher Syllogismus 299. Die gemeiusame Schlußtendenz 300.
Die einzelnen Schlußformen : Formen der Ableitung und F. der bloßen
Begründung 300.
3. Der elementare Syllogismus als Begrttndungs- und Er-
findungsmethode 301 — 31 1. Einwände gegen den Syllogismus 301.
Seine Begrttndu ngskraft 301. Bedenken gegen den begrifflichen
Syllogismus 302. Die begründende Kraft des Analogieschlusses be-
ruht auf dem Syllogismus 303. Die Induktion kann nicht begründen,
setzt vielmehr das Deduktionsprinzip voraus 303. Logischer Charakter
des Deduktionsprinzips 304. Ergebnis: der begriffliche Syllogismus hat Re-
gründungskraft 307. Der Syllogismus als Erfin d un gsm e t h o d e 307.
Angriffe 307. Die syllogistische Deduktion der einzige We£ der Ableitung
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XII Inhaltsübersicht.
Seit*
neuer Erkenntnisse aus vorhandenen 308. Die Deduktion im Dienst
der empirischen Untersuchung und der Induktion 309. Das Vor-
urteil gegen den Syllogismus 310. Der Syllogismus die logische
Grundform der Forschungsprozesse 311.
4. Der Syllogismus und die Wege der wissenschaftlichen
Forschung 31 1—335. Die kognitive Phantasietätigkeit in der
Erfahrungswissenschaft 311. Deduktive Grundlage der Analogie-
schlüsse 311. Deduktion und analytisches Verfahren 312. Syllo-
gismus und synthetische Methode 312. Der Syllogismus und die
^regellose ' Phautasieiutuition des Forschers 313. Die deduktiven
Ergebnisse Hypothesen. Die Hypothesen der empirischen Wissen-
schaft 314. Die kognitive Phantasietätigkeit in der M a t h e m a t i k 317.
Zwei Forschungswegc. „Intuitive" („Geometer") und „Analytiker"
(Deduktive) 317. Verhältnis der beiden Wege. Syl logistische Struktur
der mathematischen Phantasieprozesse 3 1 S. Natur der mathematischen
Begriffsurteile und die konstruierten Begriffe 319, in der Geometrie 319,
in der Mechanik und Arithmetik 321. Ergebnis 322. Die kognitive
Phantasietätigkeit in der Metaphysik 322. Die metaphysischen
, Spekulationen" 322. Ihr biologisch - kognitives Motiv und der
Charakter der spekulativen Hypothesen 322. Rationale, mystische,
empirische Metaphysik 323. Die metaphysischen Deduktionen. Her-
einwirken emotionaler Faktoren 324. Wissenschaftliche (kritische)
Metaphysik als notwendiger Abschluß der Erkenntniskritik 325. Das
Transsubjektive und seine Erkenntnis 326. Erfahrungswissenschaft
und kritische Metaphysik 329. Geltungswert der kritisch-metaphy-
sischen Hypothesen 330. Die kritisch- metaphysischen Phantasie-
prozesse 330. Die kritische Reflexion auf die kognitiven Relationen 330.
Scheidung apriorisch-subjektiver und empirisch- transsubjektiver Ele-
mente der Erkenntnis 331. Die metaphysischen Schlüsse 333. Das
System metaphysischer Hypothesen 335. Abschluß 335.
5. Vorstel lung fremder Erlebnisse. Mitgeteilte Urteile
335 — 349. Zusammenhang der beiden Probleme 335. Vorstel-
lungen von fremden Erlebnissen 336. Logische und asso-
ziative Deutung derselben. Sie beruhen auf unwillkürlichen Elemen-
tarschlüsscn 336. „Eintragung" eigener Erlebnisse in fremdes Be-
wußtsein 337. „Sichhineinversetzen" in fremde Erlebnisse 338.
Wie stellen wir die Objekte fremder emotionaler Erlebnisse und
Vorstellungen — 340 und fremder Erkenntnisvorstellungen vor? 342.
Die mitgeteilten Urteile 342. Gehörte Aussagesätze 342.
Satzwahmehmung und vorläufige Erkenntnisvorstellung 343. Weitere
Entwicklung. Zwei Wege 34 4: Anregung eigener Erkenntnistätig-
keit 344, oder: Entstehung „mitgeteilter" Urteile 345. Deren Gel-
tungswert 347. Andere Abscblulimöglichkeiten 34 7. Gehörte emo-
tionale, insbesondere Aufforderungssätze 34S.
Sechstes Kapitel.
Die emotionalen Denkakte. 349
Aufgabe des Kapitels 349. Kognitive und emotionale Phantaeiedeuk-
akte 34;». Die Formen des emotionalen Denkeng denen des kognitiv-
urteilenden parallel 351. Logischer Charakter des emotionalen
Denkens 351. Der unmittelbare einfache elementare Akt emotionalen
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Inhaltsübersicht. XIII
Seit«
Denkens 353. Gleichsetzung 353. Emotionale Objektivierung 353.
Deren kategorialer Apparat 355. Sprachlicher Ausdruck 356. Kom-
plexe Emotionaldenkakte 356. Emotionale Relationsdenkakte 356,
Verneinungen 357. Emotionale Begriffe 357. Emotionale Schlüsse.
Vermittelte Emotionalvorstellungen 353. Elementare Substratdenkakte
und ihr Verhältnis zu den komplexen Elementardenkakten 358. Ab-
schluß 359.
Siebentes Kapitel.
Der Satz. 359
1. Das Wesen des Satzes 360 — 308. Der Satz ist Ausdruck eines
logischen Denkakts (einer Objektvorstellung) 360. Verhältnis dieser
Definition zur logischen Satzdeutung K. F. Becker's 360. Innere
und äußere Satzakte 361. Die inneren Satzakte (Satzvorstellungs-
aktc) 362. Inneres Sprechen und wortloses Denken 362. Die Satz-
vorstellung als Ausdruck der Objektvorstellung 362. Sie selbst eine
Individnal Vorstellung der kognitiven Phantasie 363. Ihre Einfügung
in den logischen Gesamtakt 361. Gegenseitiges Sichaffizieren von
Objekt- und Satzvorstellung 365. Die inneren Satzakte als Willens-
handlungen und ihr Zweck 365. Die äußeren Satzakte. Ihre Zwecke:
Verständigung und Affektentladung 365. Satzvorstellungen als Zweck-
vorstellungen in den äußeren Satzakten 366. Die Zwecke der Satz-
akte und die Entwicklung der Sprache 367. Ergebnis: Berichtigung
der Satzdefinition 368.
2. Die untere Grenze des Satzes. Unvollständige und
vollständige Sätze 368 — 377. Die untere Grenze des Satzes
und unser Sprachgefühl 368. Interjektionen und Vokative keine
Sätze 369. Interjektionen 369. Vokative 369. Die Imperative nicht
bloß Sätze, sondern zweigliedrige Sätze 371. Unvollständige und
vollständige Sätze 372. Ellipse 372. Ein- und zweigliedrige Sätze 373.
Der eingliedrige, „subjektlose" Satz 373. Impersonalien 373. Der
zweigliedrige Satz 374. Zug der Sprache zum zweigliedrigen Satz 375.
Dieser wird usuell und normaler Satztypus 376. Der eingliedrige
Satz elliptisch usuell, der zweigliedrige eigentlich usuell 376.
3. Die verschiedenen Satzarten 377 — 381. Verschiedene Satz-
arten 377. Bisherige Einteilungsversuche 378. Sinn und Recht einer
solchen Einteilung 378. Fehler der bisherigen Einteilungen 378.
Zwei Einteilungsgesichtspunkte: Satzbedeutungen und Zwecke der
Ausdrucksakte 378. Beide in der Grammatik vermischt. Der Aus-
rufesatz 379. Einteilung nach den Satzbedeutungen 380: Aussage-
satz 380. Begehrungssatz: Wunsch-, Willens- und Gebotsatz 380.
Fragesatz. Aussagefragen (kognitive) und deliberative Fragen 381.
Verhältnis der Frage- und Begehrungssätze 381. Abschluß 381.
Vierter Abschnitt.
Das affektive Denken. 382
Erstes Kapitel.
Die logischen Akte in den affektiven Emotionalvorstellungen. 382
1. Die affektiven Vorstellungen 382—391. Vorästhetische Phan-
tasievorstellungen 382. Verwandte Erscheinungen 384. Fälle, in
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Seite
denen die anregende Vorstellung nicht in die werdende Affektivvor-
stellung eingeht 384. Zwei Typen 3S4. Stimmungen und Stimmungs-
vorstellangen 386. Phantasievorsteilungen aus einzelnen Gefühlen
und Affekten 388. Analogie der Zwangsvorstellungen 388: An-
näherung des affektiven an das kognitive Vorstellen 389. Einfluß
der Affekte auf die Erkenntnistätigkeit 389. Affektive Vorstellungen
mit dem Bewußtsein objektiver Geltung 390.
2. Das Wesen der Gefühle und Affekte 391—418. Das Ge-
fühl 391. Intellektualistische Theorien 391. Paralleltheorie: Vor-
stellungen und Gefühle parallel 393. Nachwirkung intellektualistischer
Anschauungen auf diesem Boden. Lotze, Lehmann, Jodl 393. Die
„physiologische" Gefühlstheorie. C. Lange, W. James. Ribot's
Fassung der Theorie 394. Fruchtbarer Grundgedanke der letzteren 397.
Kritik 397. Gefühl der erlebte Ausdruck eines im psychophysischen
Organismus sich abspielenden Prozesses 398. Keine Hypothese über
das anatomisch-physiologische Korrelat der Gefühle 39S. Empfindung
und Gefühl 399. Mögliche Einwände 399. Theorien Wundt's und
Lipps' 400. Die voluntaristische Gefühlstheorie 401. Bedenken 402.
Voraussetzung der Gefühlsentstehung nicht ausdrückliches, bestimmtes
Wollen 402. Inwiefern unlustbetonte Erlebnisse Betätigungen des
Ichwillens sein können 403. Die Erlebnisse, abgesehen von den Ge-
fühlsmomenten, teils Vorstellungsfunktionen teils motorische Pro-
zesse 4 04. Unterscheidung der psychischen Erlebnisse und der im
Gefühl erlebten zentralen Vorgänge im psychophysischen Organis-
mus 405. Die Gefühle und die verschiedenen Arten von zentralen
Vorgängen 405. Gefühlserlcbnisse als eine besondere Klasse von
psychischen Tatsachen 407. Es gibt keine vorstellungsfreien Ge-
fühle 4 08, und keine gefühlsfreien Vorstellungen 409. Gefühl und
Wille 409. Keine Willensgefühle 410. Entwicklung von Begehrungen
aus Gefühlen 410. Qualitäten der Gefühle 410. Die Übliche
Einteilung in sinnliche und geistige Gefühle 410. Andere Einteilung
nach den Vorstellungselementen 411. Qualitative Verschiedenheit der
Gefühle. Wlwdt, Lipps 411. Drei formale Gegensätze: Lust- und
Unlust-, Spannungs- und Lösungs-, Aktiv- und Passivgeftthle 412.
Gefühl und Affekt413. Gemütsbewegung, Leidenschaft, A ffekt 413.
Begriff und Kennzeichen des Affekts 414. Die Affektgefühle in den
verschiedenen Affekttypen 4 1 5. Die sekundären Folgen der Affekt-
gefühle als Elemente der Afl'ektbilder 4 IG. Keine prinzipielle Schei-
dung zwischen Gefühlen und Affekten möglich 416. Einzel- und Total-
aflVkte 417. Künstliche („unmotivierte") Affekte 417.
3. Gefühl und affektives Vorstellen 41S— 431. Die affektiven
Vorstellungen in der Psychologie 418. Die wesentliche Voraussetzung
für die Entstehung affektiver Vorstellungen 420. Verhältnis zu den
Ausdrucksbewegungen 420. Einteilung der Ausdrurksbewegungen 421.
Die physiologisch-automatischen 421. Die psychophysischeu 421.
Deren Verhältnis zu anderen aus Gefühlen entspringenden Willens-
handlungen 422. Funktion und Bedeutung der letzteren 423. Funk-
tion und Bedeutung der psychophysischen Aiisdrucksbeweguugen 423.
Deren Verwandtschaft mit den affektiven Vorstellungen 423. Verhältnis
gegenseitigen Ausschlusses 42 1. Andere Hemmungen für das affektive
Vorstellen 424. Ihr (»rund: psychische Lähmung. Die affektive
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Inhaltsübersicht.
XV
Seite
Vorstellungstätigkeit dagegen Gefühlsentladung 426. Funktion und
Bedeutung der affektiven Vorstellungen im Einzelnen 427. Einwände:
wirken sie wirklich überall erregungsberuhigend 428 und unlust-
herabmindernd? 428. Die affektiven Vorstellungen mit kognitivem Ge-
präge 4 30. Affektive Vorstellungen und die ihnen zur Seite gehenden
Gefühle 430. Sämtliche affektiven Vorstellungen Gefühlsentladungen 431.
4. Die affektiven Denkakte 431 — 150. Abgrenzung des Ge-
biets 431: gegenüber den die Gefühle begleitenden Vorstellungen
431, gegenüber den gefühlsauffassenden Urteilen 432, und gegen-
übergewissen elementaren Werturteilen 4 33. Der logische Cha-
rakter der affektiven Vorstellungen 433. Affektive Objekt-
vorstellungen 433. Das affektive Denken 433. Der einfache
affektive Denkakt 434. Gleichsetzung 434. Objektivierung.
Kategorialer Apparat 434. Illusionsobjektivierung 435. Glaubend-
objektivierung 435. Der sprachliche Ausdruck 437. Gibt es einen
affektiven Satz? Der Ausrufesatz 437. Affektive Vorstellungen und
Ausrufesätze. Besteht überhaupt ein Zusammenhang? 439. Inter-
jektionen. Ausrufevokative. Ausrufesätze 4 39. Weshalb die Sprache
für die affektiven Vorstellungen keinen besonderen Ausdruck hat 441.
Weitere Formen des affektiven Denkens 441. Komplexe
Affekt ivdenkakte 441. Affektive Relationsvorstellungen 442. Sub-
stratdenk akte 442. Begriffsdenkakte. Die affektive Abstraktion und
Induktion 442. Affektive Schlüsse 443. Reine 443. Affektive Tat-
sachendeutung 445. Kognitive Schlüsse mit affektiven Mittelgliedern
446. Affektive Schlüsse mit kognitiven Ausgangsvorstellungen 448.
Bedeutung derselben für das geistige Leben 449. Ästhetische und
religiöse Vorstellungen 449.
Zweites Kapitel.
Das ästhetische Denken. 450
1. Das Problem 450 — 454. Ästhetische Werturteile 450 und ästhe-
tische Denkakte 450. Historisch-psychologischer Gesichtspunkt der
Untersuchung 451. Gegenstand der Analyse die ästhetischen Vor-
stellungen des Genießenden 453.
2. Die Faktoren der ästhetischen Vorstellungserlebnisse
454—479. Die ästhetischen Vorstellungen präsentativ affektive Vor-
stellungen 454. Direkter und assoziativer Faktor des ästhe-
tischen Eindrucks 454. Die formale Seite des assoziativen
Faktors 456. Vorstellungsspiel. Gesetz der Einheit in der Mannig-
faltigkeit 456. Das formale Element der Naturkontemplation 156,
des Kunstgenusses 458. Malerei und plastische Künste 45S. Poesie
459. Musikalische Erlebnisse 459. Das Erhabene 459. Charakter
des formal-ästhetischen Elements. H erbaut 160. Die inhaltliche
Seite des assoziativen Faktors 460. Die ästhetischen Vor-
stellungen sind Vorstellungen menschlicher Lebenswerte 40<i.
Ethische Lebenswerte. Menschlich bedeutsame Inhalte 461. Ästhe-
tisches Interesse und ethische Lebenswerte 462. Die Objekte der
musikalischen Vorstellungen 464. Andere Kunstgebiete 466. Poesie
166. Malerei und bildende Künste. Wirklichkeitskontcmplation 461).
Außermcnschlichc ästhetische Objekte 470. Die erhabenen Objekte
472. Einfache Formen und Bildungen. Kunstwerke, die zugleich
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XVI Inhaltsübersicht.
, sein
praktischen Zwecken dienen 473. Das Romische 473. Der Wechsel
des Geschmacks und der Wechsel der Lebensideale 47 7. Verhält-
nis der formalen und der inhaltlichen Seite des asso-
ziativen Faktors 477. Das ästhetische Erleben ein spielendes
Vorstellen ethisch bedeutsamer Inhalte 477. Abhängigkeit der beiden
Momente von einander 478. Das formale Element selbst ethisch be-
deutsam 478.
3. Die Synthese der beiden Faktoren. Die Einschauung
479 — 485. Einfühlung? 479. Das ästhetische Stimmungsbegehren
auf Vorstellen von Gefühlen und Gefühlslagen gerichtet 479. Die
ästhetische „ Anteilnahme", das „persönliche Miterleben" 480 erklärt
sich einerseits daraus, daß die ästhetischen Vorstellungsmittel zuletzt
dem Anschauen eigenen Erlebens entstammen 480, andererseits dar-
aus, daß die ästhetischen Objekte persönlich-menschliche Werte sind
482. Heterogene Nebenwirkungen der ästhetischen Vorgänge 483. Das
ästhetische Interesse rein kontemplativer Natur 483. Die ästhetischen
Phantasiegefühle 484. Ihre qualitative Verschiedenheit 484. Ein-
schauung, nicht Einfühlung 485. Der Einschauungsakt ein Teilakt
des ästhetischen Illusion surteils 4S5.
4. Das ästhetische Illusionsurteil 485 — 409. Die logische
Tätigkeit in den ästhetischen Vorstellungen 485. Ästhetisches „Ver-
ständnisurteil" und Illusionsurteil 486. Das elementare ästhetische
Illusionsurteil. Seine beiden Seiten 488. Die interpretierende Gleich-
setzung 488. Die Illusionsobjektivierung 480. Die kategorialen
Teilfuuktionen 401. Die ästhetische Illusion 491. Die realistische
Kunsttheorie und die sog. Illusionstheorie 491. Die Illusion ein
Moment, aber nicht das Ganze des ästhetischen Erlebnisses 493.
Die Illusion nicht „bewußte Selbsttäuschung" 493. Illusion und
Naturwahrheit (Wirklichkeitstreue). Bedingungen und Mittel der
Illusion 404. Die Illusion im ästhetischen Naturgenuß 407. Die
ästhetische Evidenz 407. Das elementare Illusionsurteil und die
Sprache 497. Die übrigen Formen des ästhetischen Denkens 498.
Ästhetische Substratdenkakte 498. Die ästhetischen Werturteile 499.
Drittes Kapitel.
Das religiöse Denken. 499
1. Das Problem 490 — 50S. Daa logische Gepräge der religiösen
Vorstellungen. Religiöse „Glaubensurteile" 400. Intellektualistische
Deutungen der Glaubens Vorstellungen 500. Emotionale Deutungen
500. Probleme 502. Das Üntersuchungsobjekt 503. Auszuscheiden
die Vorstellungen religiöser Erlebnisse (psychologische Urteile) 503.
Die elementaren Glaubensurteile 503. Die Glaubensvorstellungen
und das religiöse Leben 504. Der Streit um die Glaubensvor-
stellungen zuletzt ein Streit um das Wesen der Religion 505. Drei
Gruppen von Religionstheorien: intellektualistische, Gefühlstheorien,
voluntaristische 505. Unsere Aufgabe 506. Weg der Lösung.
Religionsgeschichte und Psychologie 506. Fernhaltung des normativ-
kritischen Gesichtspunktes 508.
2. Entstehung und Struktur primitiver Glaubensvor-
stellungen 500—516. Der Fetischglaube 509. Unsere Frage-
stellung 509. Motiv des religiösen Handelns des Fetischgläubigen
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Inhaltsübersicht. XVII
Seite
509. Sein Glaube nicht ein praktisches Postulat 510, sondern
affektive Kausaldeutung erfahrener Lebensförderungen 510 und
Lebenshemmungen 511. Das praktische Motiv in der Entstehung
affektiver Glaubensvorstellungen 512. Die religiösen Phantasie-
prozesse affektive Schlosse 512. Ausgangspunkte: Güter- und Übel-
vorstellungen. Werturteile 512. Das religiöse Passivgefühl und
seine Erweiterung 513. Die vermittelnden Affektivbegriffe (Ober-
sätze) 514. Verschmelzung und Schlußergebnisse: die einfachen
Glaubensvorstellungen 514. Formale Struktur dieser Syllogismen 515.
Komplexe Schlußergebnisse 515. Die den Glaubensvorstellungen
zur Seite gehenden Gefühle 515. Anknüpfung der religiösen Phan-
tasieobjekte an sinnliche Gegenstände 515. Fundamentale und
sekundäre Glaubensdenkakte auf dieser Stufe 516.
3. Die Glaubens vorstellun gen der h öheren Stuf en 516 — 520.
Zwei Ausgangspunkte der Differenziierung und Höherbildung 516.
Erstens: es erweitert sich der Kreis der religiös gedeuteten Tat-
sachen 517. Religiöse Deutung der Natur. Anthropogonische
und kosmogonische Spekulationen 517. Der ethische Faktor in der
religiösen Vorstellungsbildung 518. Zweitens : Stufenverschiedenheiten
in der Art, dio religiösen Objekte vorzustellen 519, insbesondere in
der Anknüpfung der religiösen Phantasieprozesse an kognitive
Funktione 519.
4. Glaubeund Wirklichkeit 520—538. ünternatürliche Vor-
stellungsweise: kein inneres Band zwischen Phantasieobjekt und
sinnlichem Gegenstand. Fetisch- und Idolglaube. Zauberei 520.
Natürliche Vorstellungsweise 521. Anknüpfung der religiösen
Kausaldeutung an eine natürlich empirische 521. Übergang von der
unternatürlichen zur natürlichen Stufe. Fetischismus und Naturver-
götterung 522. Animistische und totemistische Vorstellungen 522. Die
Göttterwelten der natürlichen Stufe 523. Übergang von der natür-
lichen zur übernatürlichen Vorstellungsweise 521. Diettbernatürliche
Vorstellungsweise 525. Anlehnung der Glaubensprozesse an
kognitive Kausalschlüsse. Übernatürliche Wesen 525. Kosmogonische
und koBmologische Mythen in dieser Sphäre. Einfluß des Welter-
kennens 526. Die Göttergestalten auf dieser Stufe. Polytheismus
und Monotheismus 527. Übernatürlich ist nicht übersinnlich. Der
religiöse Anthropomorphismus 527. Gott als „Geist" 52$. Gott als
übergeistiges Wesen. Der Glaube denkt theistisch 523. Die
metaphysische Vorstellungsweise 530. Unterordnung der
religiösen Phantasie unter die kognitive Kontrolle 530. Die meta-
physische Vorstellungsweise im Verhältnis zu den drei früheren
Stufen 530. Kritische Wirksamkeit des metaphysischen Erkennens
im Rahmen positiver Religionen 531. Pantheistische und deistische
Tendenzen in religiösen Anschauungskreisen 532. Metaphysische
„Systeme" mit religiösem Einschlag 533. Religiöse Phantasie und
metaphysische Spekulation 533. Religiöser Glaube und kritische
Metaphysik 534. Befriedigung des Wahrheitsbedürfnisses des
Glaubens 535, aber Verkümmerung des religiösen Lebens auf dieser
Stufe 536.
5. Die religiösen Denkakte 538—555. Unterscheidung funda-
mentaler und sekundärer Glaubensdenkakte 538. Die grund-
Hkimeich JLukb, Psychologie des emotionalen Denkens. b
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XVIII
Inhaltsübersicht.
legenden einfachen Glaubensdenkakte 539 sind die Er-
gebnisse affektiver Schlüsse 539. Die Tatsachen der religiösen
Kausalinterpretation 540, in religiöser Beleuchtung 541. GeftihU-
grundlage der religiösen Denkakte 541: erstens die Wertungen und
Wertorteile 541, zweitens die spezifisch religiösen Gefühle und die
religiösen Eausalschlüsse 541. Beispiel: fundamentales Glaubensurteil
eines Christen 543. Entscheidung zwischen Gefühls- und voluntari-
stischer Deutung des Glaubens 544. Affektive Gewißheit der
Glaubensdenkakte und ihr kognitiver Faktor 544. Entscheidung
zwischen den intellektualistischen und den emotional-praktischen
Glanbenstheorien. Das sog. religiöse Erkennen 545. Antinomie
zwischen dem emotionalen Interesse des Glaubens und seinem Wahr-
heitsbedtirfnis 545. Formale Struktur der Glaubensdenkakte und
ihrer syllogistischen Vermittlung 548. Gleichsetzung 548. Objek-
tivierung 548. Benennungsteilakt 549. Die fundamentalen
komplexen Glaubensdenkakte 550. Vorstellungen von Be-
tätigungen, Affektionen, Eigenschaften der religiösen Substratobjekte
550. Deutung der Güter- und Übeltatsachen 550. Heraussetzung
immanenter Momente der Substratobjekte 550. Religiöse Abstraktion
551. Logische Beschaffenheit der Bestimmtheitsvorstellungen 551.
Mannigfache Nuancen 551. Bedeutung dieser Glaubensakte für das
Glaubensleben 551. Die sekundären Glaubensdenkakte 552.
Einfache 552. Ihr Verhältnis zu den grundlegenden 553. Komplexe
553. Glaubens- und Begehrungsvorstellungen 554. Die religiösen
Substratdenkakte 554. Ihr Verhältnis zu den komplexen
elementaren. Die dogmatischen Sätze 555. Abschluß 555.
Fünfter Abschnitt.
Das volitive Denken. 556
Begehrnngsvorstellungen 556. Volitive Denkakte 556. Begehrungs-
sätze 556. Willens-, Wunsch- und Gebotdenkakte 557.
Erstes Kapitel.
Die Willensdenkakte. 557
1. Willensvorgänge und Wille 557 — 563. Äußere und innere
Willenshandlungen 557. Unwillkürliche und willkürliche 558. Das
Wesen deB Wollens 559. Ältere intellektualistische und sentimen-
talistische Theorien 559. Sensualistische und andere intellektualistische
Theorien der modernen Willenspsychologie 560. „Emotionale"
Theorie. Wuxdt, Lipps 561. Voluntaristische Auffassung des
Willens 561.
2. Die Triebhandlungen 564—577. Verlauf der Triebhand-
lungen 564. Motiv und Reiz 565. Reizvorstellungen nicht Motive
565. Reizgefühle nicht Motive 566. Reizvorstellungen und Reizge-
ftlhle nicht Motive 567. Motiv und Zweck Vorstellung 567.
Versuche, beides zu trennen 567. Zwei Gründe 568. Erstens:
Motive = Ursachen der Zwecksetzung? 568. Nähere und entferntere
Zwecke 569. Irrige Vorstellungen vom Wesen der Motivierung.
Zitei-mann 569. Zu unterscheiden: Ursachen der Einleitung von
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Inhaltsübersicht. IXX
Seit«
Willensprozessen und Ursachen der Handlangen 570. Erstere sind
Reize 570, letztere Motive. Gesetz der Motivation 571. Zweitens:
gibt es Motive ohne oder ohne bewußte Zweckvorstellungen? 571.
Instinktbandinngen 572. Andere Fälle 573. Alle Willensakte ent-
halten Zweckvorstellungen 573. Motive = Zweck Vorstellungen 4-
Spannungslustgefühle 574, sind bereits Bestandteile der Begehrungs-
prozesse 574. Die Entstehung der Triebhandlungen nnd
die Zweck Vorstellungen 574. Willensakte durch Reize aus
Willensdispositionen ausgelöst 574. Zusammenhang zwischen Heiz
und Aktualisierung einer Willensdisposition 575. Grundgesetz der .
Begehrungsassoziation 576. Stellang der Zweckvorstellangen in den
Willensprozessen 577.
3. Die volitiven Vorstellungen and Denkakte in den Trieb-
handlangen 577 — SSO. Das Vorstellungsmaterial 577. Reproduzierte
Elemente 577. Vorstellungselemente anderer Herkunft. Verschmelzung
578. Das Material in den einfachen und den reinen komplexen
Zweckvorstellungen 579, in den komplexen Zweckvorstellungen mit
kognitiver Komponente (Wahrnchmungs-, Erinnerung»- oder kognitiver
Phantasievorstellung) 579. Die volitiven Denkakte 582 Ein-
fache Triebdenkakte 582. Gleichsetzung und Objektivierung 582.
Volitive Satzvorstellung 583. Bewußtsein logischer Geltung und
Anspruch auf Allgeroeingültigkeit. Volitive Evidenz 584. Rein
volitive komplexe Denkakte 584. Komplexe volitive Denkakte mit
kognitiver Substratkomponente 585. Charakter des volitiven — 585,
des kognitiven Bestandteils 585.
4. Die Willkurhandlungen und ihre volitiven Vorstellungen
589—608. Die Überlegung. Zwei Fragen 589. Die Über-
legung des Sollens (Wollens) 5S9. Zwei Formen. Die erste
Form 589. Ansgangspunkt: eine volitive Entscheidungsfrage 589.
Charakter der Überlegung 590. Drei Typen 590. Der Weg zu der
bejahenden Entscheidung von der praktischen 591, von der präsen-
tativen Seite 592. Ablehnende Entscheidung. Volitive Verneinung 593.
Die zweite Form 593. Kampf verschiedener Motive 593. Charakter
dieser Überlegung 593. Die „Wahlhandlung" 594. Dreifache Mög-
lichkeit der Entscheidung 595. Präsentative Seite dieser Überlegungs-
form 595. Die Überlegung des Könnens 595. Aufgabe dieser
Überlegung 595. Charakter der Frage. Weg zur Entscheidung. Die
drei Typen 596. Bejahende Entscheidung. Ihre logische Form 597.
Andere Möglichkeiten. Negatives Ergebnis. Versuch 597. Die
Willensentscheidung 598. Verschiedene Möglichketten 598.
Beschluß und Entschluß 598. Die Willensentscheidung und die Frage
der Willensfreiheit 599. Beschluß, Entschluß und Willensentschei-
dung 600. Wille nsim puls und Handlung 600. Willensimpuls
und Willensentscheidung 600. Zeitliche Koincidenz von Willensent-
scheidung und Willensimpuls 601. Willensimpuls Anstoß zur Gesamt-
handlang 601. Handlungen ohne Mittelaberlegung 601. Der Willens-
impuls erstreckt sich über die ganze Handlung 602. Primärer
Willensimpuls und sekundäre Impulse 602. Die volitiven Vorstel-
lungen während dieser Handlungen 603. Handlungen mit Mittel-
überlegung 603. Umbildung der Zweckvorstellungen während der-
selben 604. Fälle angeblichen Auseinanderfallens von Willens-
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XX Inhaltsübersicht.
Seit»
entscheidung und Willensimpuls 605. Hypothetische Entschlüsse 606.
Grundsätze 606.
5. Die logischen Funktionen der Willkürvorstellungen
608— 6 t 6. Verhältnis der Willkür- zu den Triebvorstellungen 608.
Die logischen Akte in den Willkürvorstellungen 609. Grundlegend
der volitive Denkakt der Willensentscheidung 609. Komplexe und
Substratdenkakte. Zweigliedrige Willenssätze 610. Volitive Frage.
Entscheidungs- und Ergänzungsfrage 610. Volitive Bejahung und
Verneinung 61t. Die kognitiven Funktionen in den Willkürpro-
zessen 611. Volitive Umgestaltung der Mittelvorstellungen (An-
nahmen). Bedingt volitive Denkakte 612. Hypothetische Volitiv-
denkakte 613. Grundsatzdenkakte. Zweckbegriffe 613. Negative
Grundsätze und ihre logische Form 614. Volitive Schlüsse 615.
Zweites Kapitel.
Wunschvorstellungen und Wunschsätze. 616
Der Wunsch ein Begehren ohne Handlungstendenz 616. Siowarts
Definition und ihre Ergänzung 616. Elementare Formen des Wun-
sches 617. Höhere Formen 618. Wünsche, auf die Gegenwart
oder Vergangenheit gerichtet 618. Wunsch Vorstellungen und die be-
gleitenden Gefühle 619. Einfache und zusammengesetzte Wunsch-
vorstellungen 619. Die rein volitiven Wunschvorstellungen ohne die
Erkenntniselemente der Willensvorstellungen 619. Das Erkenntnis-
element in den Wunsch Vorstellungen 620. Schranke der Wunsch-
phantasie 620. Der Wunschdenkakt 620. Der Wunschsatz 621.
Logischer Grund und Evidenz der Wunschdenkakte 622.
Drittes Kapitel.
Gebotvorstellungen und Gebotsätze. 622
Gebotvorstellungen 622. Die Gruppe der Gebotvorstellungen. Gebot-
sätze 622.
1. Konkrete Gebotvorstellungen 623 — 633. Gebotvorstellungen
des G ebo täte Hers 623. Die Gebothandlung 623. Gesamtver-
lauf derselben 623. Der Gebotsprechakt und sein letzter Zweck 624.
Sein nächster Zweck: Erzeugung einer Gebotvorstellung im Ange-
redeten 625. Mittel hiezu erstens: der physische Ausdruck der Be-
gehrungsvorstellung des Gebotstellers 625, zweitens: die spezifische
Gebotform. Der Imperativ 626. Die beiden Mittel 627. Zweckvor-
stellung des Gebotsprechakts 627. Weiterer Verlauf 628. Die Ge-
botvorstellungen des Adressaten 628. Kognitive Gebotvor-
stellung desselben 628. Diese wirkt als Reiz 628. Die Vorstellung
einer Beziehung zwischen Adressaten und Gebotsteller der Gebot-
vorstellung eingefügt 629. Die entsprechenden Geftlhlselemente 630.
Gebotmotiv und praktische Gebotvorstellung 630. Der weitere Ver-
lauf des Prozesses 631. Drei Arten von Gebotvorstel-
lungen 632.
2. Konkrete Verbotvorstellungen 633—635. Verbote Gebote,
sich gegen einen Zweck zu entscheiden 633. Gebotvorstellungen
und - denkakte des Gebotstellers 634. Kognitive und praktische
Gebotvorstellungen des Adressaten 634.
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Inhaltsübersicht. XXI
Seite
3. Allgemeine Gebote und Verbote 635 — 640. Sie Bind den
Grundsätzen parallel 635. Gebote, Grundsätze zu fassen, nicht all-
gemein 635. Gebote, konstante Eigenschaften zu erwerben, gleich-
falls nicht allgemein 635. Wirklich allgemeine Gebote 636. Ihre
hypothetische Struktur. Gebotbegriffe 636. Kognitive Gebotvorstel-
lungen des Adressaten 637. Der weitere Verlauf auf Seiten des
Adressaten 637. Das praktische Gebotmotiv des Adressaten, der
entsprechende Grundsatzakt und die Geboterfüllung 63 S. Die allge-
meinen Gebotvorstellungen des Gebotstellers in neuer Beleuchtung 639.
Die allgemeinen Verbote 640.
Viertes Kapitel.
Wertungen und Werturteile. Werte und Güter. 640
1. Die Wertungen 641 — 644. Gefühlswertungen von den Wertvor-
stellungen zu unterscheiden 641. Was wird ge wertet? 641. Objekte
begleitender Erkenntnisvorstellungen 641. Erlebte Erkenntnisprozesse
und ihre Objekte 642. Affektive Vorstellungen und ihre Objekte 643.
Objekte begleitender Begehrungsvorstellungen 644. Ergebnis 644.
2. Wertvorstellungen und Werturteile 644— 650. Werturteile
im weiteren Sinn 644. Eigentliche Werturteile. Gefühls- und Willens-
theorien des Werts 645. Verschiedene Formen von Werturteilen.
Kategorische 646, hypothetische 647, Wertbegriffsurteile 648, mittel-
bare Werturteile 648. Sekundäre Wertvorstellungen 649. Ihr Ver-
hältnis zu den primären 650.
3. Subjektive und objektive Werturteile 650—654. Sub-
jektive 650. Eigen-, Fremd-, Kollektivwertvorstellungen 650.
Charakter dieser Subjektivität 651. Subjektive Wertvorstellungen
sekundärer Art 651. Objektiv-generelle 652. Sie sind induktiv-
allgemeine Urteile 652. Konkrete Objekte als Gegenstände Boicher
Urteile 652. Generelle Nebenurteile neben subjektiven Hauptnrteilen
653. Hypothetische Form 654. Objektive Wertvorstellungen sekun-
därer Art 654.
4. Unbedingte Werturteile 654—662. Ästhetische 655. Logische
(und nicht-logisch kognitive) 657. Ethische 659. Zusammenhang
der unbedingten Werturteile mit den subjektiven 660. Die drei
Klassen unbedingter Werturteile 661. Unbedingte Werturteile und
sekundäre Wertvorstellungen 661. Es gibt keine unbedingten sekun-
dären Wertvorstellungen 661.
5. Werte und Güter 662—670. Werte 663. Primäre 663.
Wertung und Wert 663. Wertvorstellung und Wert 664. Subjektive
uud objektive, faktische und hypothetische, unmittelbare und mittel-
bare Werte 665. Unbedingte 665. Sekundäre Werte 666. Wert-
attribut und Wertvorstellung 666. Generell-objektive und subjektive
sekundäre Werte 668. Güter 668. Primäre. Ihr Begriff 668.
Einteilung 669. Sekundäre 669.
Fünftes Kapitel.
Die Normen der Religion und der Sitte. 670
1. Religiöse Gebote und Verbote 670 — 672. Der religiöse Glaube
und die religiösen Gebote 670. Verschiedene Kategorien religiöser
Gebote 671. Ihre Struktur 671.
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XXII Inhaltsübersicht
2. Die Normen der Sitte 672—677. Ihr formaler Aufbau 672.
Verschiedene Arten von Sitte 672. Abgrenzung der Sitte 672. Gebot-
vorstellungen der Normierten 673. Gebotvorstellungen der sozialen
Gebotsteller der 8itte 674. Der Zweck in den Sittennormen. Jhbrino
675. Das historisch-psychologische Problem 676.
Sechstes Kapitel.
Die Rechtssitze. 677
1. Charakter der Rechtsnormen 677 — 684. Die Rechtsnormen
Gebote? 677. Intellektualistische Auffassung. Naturrecht und histo-
rische Rechtsschule 677. Der modifizierte Intellektualismus der „Be-
grifTsjurisprudenz" 678. Sind die Rechtsnormen hypothetische Ur-
teile? 679. Kritik dieser Theorie. Die Rechtsnormen sind hypo-
thetische Imperative 680, nach ihrer logischen Struktur hypothetische
Volitivdenkakte 6S3.
2. Die Rechtsnormen und die rechtsetzenden Subjekte
684—688. Der organisierte soziale Machtwille als Gebotsteller der
Rechtsnormen 684. Das Gewohnheitsrecht und der soziale Macht-
wille 685. Die Umbildung der Sittennormen zu Rechtsnormen ein
unwillkürlicher Prozeß 687. Formaler Charakter der rechtsbildenden
sozialen Subjekte 6S7.
3. Normen und Rechtssätze 688 — 712. Die Normen im positiven
Recht und ihre Adresse. Das Problem 688. Normen und Rechts-
sätze im Strafrecht 689. Kriminelle Normen? 689. Bikdixo's
Normentheorie 6S9. Bedenken gegen dieselbe 690. M. E. Mayer s
Kulturnormen 691. Die kriminellen Normen liegen in den Straf-
gesetzen 694, und zwar anch formell 694. Die kriminellen Rechts-
normen und die Form der heutigen Strafgesetze 697. Adressat ist
das „Volk" 698. Kriminelle Normen und subjektives Recht 698.
Die Strafandrohungen 699. Zweck der Strafinstitution 699.
Zweck der strafgesetzlichen Strafandrohungen 699. Diese sind An-
kündigungen an das „Volk" 699. Ihre logische Struktur 700. Der
„Gesetzesbefehl" 700. Die Strafandrohungen und die Form der heu-
tigen Strafgesetze 701. Ergebnis 701. Normen und Rechts-
sätze im Privatreoht 701. Rechtsnormen im Privatrecht 701.
Subjektives Recht im Privatrecht und objektives Recht 702. Da«
rechtliche Erlauben (» Einräumen) 702. Das subjektive Recht
gründet sich zuletzt auf Rechtsnormen 703. Subjektives Recht und
Interesse 704. Privatrechtliche Rechtsnormen und sittliche Interessen 705.
Die Rechtssätze des Staats-, Verwaltungs- und Prozeß-
rechts 706. Staatsrecht. Auch hier Gebote und Verbote das
Fundament 706. Aber deren Adressaten: die verschiedenen Faktoren
des Staatslebens 707, und die Gebot- und Verbotakte sind zugleich
Ankündigungen an das „Volk" 708. Der Staatswille als der Rechte-
gebotsteller 709. Ergebnis 711. Verwaltungsrecht 711. Pro-
zeßrecht 711.
4. Verschiedene Klassen von Rechtssätzen 712 — 719. Die
THÖL'sche Einteilung 712. Unselbständige und aufhebende Rechts-
sätze 712. Ihre logische Natur 713. Die selbständigen 715. In-
dividuelle Rechtssätze 716. Klassifikation der Rechtssätze vom
logischen Gesichtspunkt 716: Aussagerechtssätze 717, Rechtsnormen
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Inhaltsübersicht.
XXIII
(and individuelle Rechtsgebote) zweiter Ordnung 718, Rechtsnormen
(und individuelle Rechtsgebote) erster Ordnung 719.
5. Die Rechtssfttze und ihr Zweck 719 — 727, Die Frage nach
dem Zweck im Recht 719. Der Zweck des „Rechts im engeren
Sinn" 720. Verhältnis des Rechts im engeren Sinn zu den sittlichen
Zwecken 721. Die einzelnen Rechtssitze und der allgemeine Zweck
des Rechts 722. Die Rechtssitze der verschiedenen Klassen und
ihre Zwecke 722. Die Normen des „Rechts im engeren
Sinn" und ihre Zwecke 723. Ihre Endzwecke 723. Wirksamkeit
der Endzweckvorstellungen in den schöpferischen Prozessen der hi-
storischen Rechtsbildung 724. Die direkten Zwecke 725. Die
Norm Vorstellungen und ihre logische Struktur 725. Die nächsten
Zwecke 726.
6. Das rechtliche Vorstellen 728 — 740. Die Rechtsnormen im
Bewußtsein der Rechtsunterworfenen 728. Die kognitiven Gebotvor-
stellungen und ihre nächste Wirkung 728. Rechtspflichten und Pflicht-
motive 729. Rechtsbewußtsein und Rechtsgefühl 729. Das
Rechtsbewußtsein und sein Inhalt 729. Dispositionelles Rechts-
bewußtsein und Rechtsinstinkt 730. Rechtsbewußtsein der Völker 730.
Rechtsgefuhle und rechtliche Werturteile 731. Rechtsgefühl und
„Rechtstrieb" 731. Rechtsbewußtsein und Rechtsgefühl im Verhältnis
zum sittlichen Bewußtsein und Gefühl 731. Die Rechtsvorstel-
lungen und ihre Geltung 732. Rechtsvorstellungen, entsprechend
den Rechtsnormen erster Ordnung 732. Logische und rechtliche
GUltigkeit7 32. Logische Geltung (Wahrheit) der Rechtsvorstellungen 732.
Rechtliche Gültigkeit (Verbindlichkeit) der Rechtsverpflichtungen 733.
Die Gültigkeit der Rechtsnormen selbst 733. Zu unterscheiden:
erstens die logische Geltung (emotionale Evidenz) der Begehrungs-
denkakte des Gebotstellers 733, zweitens die rechtliche Gültigkeit
der Normen 734, drittens die Wahrheit der Kechtsvorstellungen des
Gebotstellers 734. Rechtsvorstellungen, entsprechend den Aussage-
rechtssätzen 735. Rechtsvorstellungen entsprechend den Rechtsnormen
zweiter Ordnung 735. R. subjektiver Rechte 736. Die Rechts-
begriffe 736. Begriffe von Rechtssatzhandlungen und Rechts-
satzobjekten. Letztere besonders wichtig 736. Die Abstraktions-
arbeit in den Rechtssätzen und die juristische Begriffsbüdung 736.
Begriffe aus Rechtsnormen erster Ordnung. Gebotbegriffe und Rechts-
begriffe 737. Allgemeinere und allgemeinste Rechtsbegriffe. Unselb-
ständige Recbtsbegriffe 737. Rechtsbegriffe aus den Aussagerechtssätzen
und den Rechtsnormen zweiter Ordnung 738. Die „Grundbegriffe"
des Rechts und ihre objektive Geltung 738.
Siebentes Kapitel.
Das ethische Denken. 740
1. Ethische Streitfragen 741—757. Die vier Probleme 741.
Wert- und Gernhlsethik 741. Gebot- und Güter- (Zweck-)
theorien 742. Gebottheorien 742: theologische (positivistische
und intuitionistische) 743, rationale (rationalistische und romantische)
744, „geschichtlich-gesellschaftliche" 745, die autonome Gebottheorie
Kant'b 745. Güter-(Zweck-)theorien 746. Autogenetische
und heterogenetische 747. Hedonismus und Perfektionis-
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I
XXIV Inhaltsübersicht,
Sette
mus 747. Hedonistische Gfltertheorien 747. Individualist:sche 747:
egoistischer Hedonismus 747, altruistischer und moralischer 748.
Sozialer Hedonismus 749. Perfektionistische Gfltertheorien 749.
Individualistische 749: egoistischer Perfektionismus 749, und moralischer
Individualismus 750. Socialer Perfektionismus 750. Religiös oder
metaphysisch transzendenter Perfektionismus 751. Hedonistische und
perfektionistiache Wert- und Gebottheorien 751. Eudämonismus
und Idealismus 752. Streit um das psychologische Grund-
element des Sittlichen 752. Vernunft-, Gefühls- und Willens-
moral 753. Verstandesmoral 754. Theorien über die Entstehung
des Sittlichen 755. Psychologisch- und historisch-empiristische 755.
Psychologisch- und historisch - aphoristische (intuitionistische) 756.
Evolutionistische 756.
2. Die Entscheidung: die sittlichen Tatsachen und ihre
Deutung 757 — 777. Ausgangspunkt: das sittliche Pflichtbewußt-
sein 757. Pflicht und Pflichten 75S. Die sittlichen Motive als
„imperative" Motive 759. Erklärung des imperativen Moments durch
die Gebottheorien 759. Kants Deutung insbesondere 760. Die
sittlichen Motive keine Gebotmotive 761, und in keiner Weise aus
Gebotmetiven ableitbar 762. Zweckbegehrungen das Ursprüngliche
im Sittichen Leben 763. Der sittliche Zweck nicht Lust 763.
Widerlegung der hedonistischen Voraussetzungen 764. Psychologische
Begründung des Eudämonismus 765. Das Endziel des sittlich-
eudämonistischen Strebens 766 ist nicht das „allgemeine Beste" 766,
sondern ideale Ausgestaltung des persönlichen Lebens 767. Ichwille
und Persönlichkeitswille. Das Ideal persönlicher Vollkommenheit
768. Woher stammt der Inhalt dieses Ideals? 76S. Nicht oder
nicht ganz aus individueller und gesellschaftlicher Erfahrung 76S.
Vorauszusetzen ein ursprünglicher moralischer Trieb 769. Evolu-
tionistische Ergänzung dieser intuitionistischen Annahme 770. Der
Inhalt des Vollkommenheitsideals. Ausgleichung individueller und
sozialer Interessen 771. Das soziale Interesse befriedigt sich in der
Arbeit im Dienst der humanen Menschheitsaufgabe. Human-kulturelles
Ideal 772. Individualistische Tendenz des sittlichen Vollkommen-
heitsideals 772. Dieselbe schließt aber die unbedingte Allgemein-
gültigkeit des sittlichen Ideals nicht aus. Individuell-persönliche und
generell-allgemeine Pflichten 773. Die Allgemeingültigkeit der sitt-
lichen Ideale und die individuellen Differenzen der sittlichen An-
schauungen 775. Abschließende Deutung der sittlichen Pflicht-
motive 776. Der Schein ihres Gebotcharakters 776.
3. Die sittlichen Vorstellungen und Denkakte 777—790. Die
Entwicklung der sittlichen Endzw eck Vorstellung und
des Normensystems 777. Die Endzweckvorstellung in ihren An-
fängen 778. Weitere Entwicklung. Zwei Linien 778. Einfluß der
gesellschaftlichen Einwirkung 779 und der eigenen Überlegung 780.
Der Abschluß 7 SO. Das Endzweckobjekt formal und inhaltlich be-
trachtet 7S1. Verhältnis seiner aktuellen und seiner dispositionellen
Seite 781. Die Struktur der sittlichen Zweckvorstellungen
7i>2. Die Endzweckvorstelluug 782. Die oberste Norm 783. Die
spezielleren Normen 7S4. Die konkreten Zweckvorstellungen 785.
Vorstellungen von Mittelzwecken 785. Vorstellungen konkreter un-
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Inhaltsiiberefcht. XXV
Soit.
mittelbarer Zwecke 786. Diese Zwecke als Teilzwecke des End-
zwecks 786. Sittliche Gebote und Verbote 787. Bloß versuchte
(unterliegende) sittliche Motive 788. Das „gesetzgebende" Gewissen.
Der praktisch - ethische Syllogismus 788. Die ethische Evi-
denz 789.
4. Sittliche Werturteile, Werte und Güter 790—795. Beurteilung
eigener Handlungen. Das „werturteilende" und das „richtende" Ge-
wissen 790. Beurteilung fremder Handlungen 791. Grund der Be-
sonderheit der sittlichen Werturteile 792. Der Zusammenhang der
übrigen unbedingten Werturteile mit den sittlichen Wertungen 792.
Die sittlichen Werturteile 793. Sittliche Werte 793. Sittliche
Güter. Das höchste Gut und das Gute 791.
5. Sittliches Erkennen 795—804. Das sittliche „Erkennen" 795.
Die ethisch bestimmten Spekulationen 795. Die praktischen Postulate.
Kant, Fichte 795. Nicht Postulate, sondern Phantasieprodukte des
sittlichen Affektgefühls 796. Die ethischen Weltinterpretationen als
affektive Tatsachendeutungen 796. Der ethische Unsterblichkeit-
glaube 798. Die Grenze zwischen sittlicher und religiöser Welt*
deutung 798. Die logische Struktur der sittlichen „Erkenntnisvor-
stellungen" 799. Ethisches Erkennen 800. Das natürliche
sittliche Vorstellen kein Erkennen 800. Die wissenschaftliche Arbeit
der Ethik 800. Die historische, psychologische und entwicklungs-
geschichtliche Untersuchung der sittlichen Tatsachen 800. Die Ethik
als fundamentale Normwissenschaft 801. Ihre Aufgabe ideale Aus-
gestaltung des sittlichen Zwecksystems 801. Kognitive Arbeit im
Dienst dieser Aufgabe 802. Die Ergebnisse der ethischen Reflexion
keine Urteile, sondern volitive Denkakte 802. Ethik und Logik 803.
Bestellzettel
An die Huchhandlung
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zur Ansieht*) — in feste Rechnung*)
Maier, Psychologie des emotionalen Denkens.
Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) in Tübingen.
"1 Dan NichtgewünscJito bitte tu durchstreichen.
Druck run J. Ii. Uirschfeld in Leipzig.
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Literaturbericht
Einzelbesprechung.
1) C. Stampf, Erscheinungen und psychische Funktionen. Abh. der Berl.
Akad., phil.-hist. Kl. 1906.
Zu den in neuerer Zeit lebhaft erörterten Fragen auf dem Gebiet der
Denkpsychologie hat Stumpf hier Stellung genommen. Was er uns bietet,
sind fein abgewogene und zu einem Ganzen sich zusammenschließende Ge-
danken, die geeignet sind, klärend und Richtung gebend in die Forschung
einzugreifen. Ihr Schwerpunkt liegt in der Unterscheidung des unmittelbar
Gegebenen der psychischen Wirklichkeit in Erscheinungen und Funktionen.
Zu den Erscheinungen rechnet Stumpf einmal die Inhalte der Sinnes-
empfindungen mit Einschluß der räumlichen Ausdehnung und räumlichen
Verteilung, der Dauer und Sukzession (das Lust- und Schmerzmoment der
Empfindungen wird nicht bindend den Erscheinungen zugerechnet), und
dann die Gedächtnisbilder dieser Inhalte. Unter Funktionen versteht er
die psychischen Tätigkeiten oder Akte, von denen er ohne Anspruch auf
Vollständigkeit aufzählt: >das Bemerken von Erscheinungen und ihren Ver-
hältnissen, das Zusammenfassen von Erscheinungen zu Komplexen, die Be-
griffsbildung, das Auffassen und Urteilen, die Gemütsbewegungen, das Be-
gehren und Wollen«. Und als unmittelbar gegeben sieht er an, »was
als Tatsache unmittelbar einleuchtet«. Die Funktionen sind darnach ebenso
unmittelbar Objekte der Selbstwahrnehmung wie die Erscheinungen und
bilden geradesogut Teile der Bewußtseins Wirklichkeit wie jene.
In welchem Verhältnis stehen nun die Erscheinungen zu den Funktionen?
Jedenfalls stehen die Begriffe beider in keiner logischen Abhängig-
keit voneinander; Erscheinungen künnen ohne Funktionen, Funktionen ohne
Erscheinungen gedacht, d. h. gedanklich bestimmt werden. Die Prädikate
dieser Bestimmungen weisen unter sich den höchsten Grad von Disparation
auf, den wir Überhaupt kennen. »Kein Prädikat der Erscheinungswelt (es
sei denn die Zeit) kommt den psychischen Funktionen zu.« »Ebenso weisen
die psychischen Funktionen eigenartige Verhältnisse mannigfaltigster Art
unter sich auf, verschieden von allen Gattungen der Verhältnisse, die sich
zwischen den Erscheinungen finden.« Dieser Unterschied bezeichnet in letzter
Linie dasselbe, was die unüberbrückbare Kluft zwischen den D esc arte fi-
schen Substanzen oder zwischen den Attributen im Sinne Spinozas ausmacht.
Aber nicht nur begrifflich, sondern auch realiter sind Erschei-
nungen und Funktionen »in gewissen Grenzen gegenseitig un-
abhängig veränderlich«1). Stumpf beleuchtet den Doppelinhalt dieses
1) Von mir gesperrt.
Archiv ftr P«ychologie. IL Literatur. 1
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2
Literaturbericht,
Satzes von beiden Seiten and bringt eine stattliche Reihe von anerkannten
Tatsachen als Belege für ihn auf. Ans der FUlle seiner eigenen Arbeiten
schöpft er, wo er zeigt, daß die Wahrnehmung (= das Bemerken) sich
ändern kann, trotzdem die sinnlichen Inhalte, an denen es sich vollzieht, die
gleichen bleiben: Der plötzlich herausgehörte Ton lag auch vorher schon in
dem Akkord; die Empfindungen, die wir nachträglich als »süß«, >sauer<,
»warm« bezeichnen können, lagen auch in dem unanalysierten Erscheinungs-
komplex, der durch die genossene Speise hervorgerufen wird; die Höbe
eines Tones, die ich jetzt besonders beachte, kam auch vorher schon
dem Tone zu. Kurz: Quantitative, qualitative und attributive Teile sind in
den Erscheinungen, ehe sie wahrgenommen werden und brauchen sich nicht
zu ändern, wenn sie es werden. Am klarsten wird das bei der Übertragung
auf die Wahrnehmung von Verhältnissen: das Verhältnis, die Beziehung be-
steht schon, ehe und ohne daß ich sie eigens wahrnehme und es leuchtet
ein, >daß alles Vergleichen sinnlos wäre, wenn es eo ipso eine Veränderung
des zu Vergleichenden bewirkte« (S. 22). Und ähnlich verhält es sich mit allen
anderen Funktionen: ein Zusammenfassen kann demselben sinnlichen
Material gegenüber in verschiedener Weise erfolgen oder auch ganz unter-
bleiben, ohne es selbst zu ändern; auch dasbegrifflicheDenken und das
Urteilen erweist sich, wie vor allem die neuere experimentelle Forschung
gezeigt hat, in hohem Maße als unabhängig von dem Vorstellnngsmaterial.
an dem es sich vollzieht. Und bei den emotionellen Funktionen ist es nicht
anders; Freude und Trauer, Wollen und Verwerfen können wenigstens prin-
zipiell an dieselben vorstellungsmäßig bewußten Gegenstände sich anschließen.
Freilich liegen die Verhältnisse hier komplizierter, weil zu den zwei Variabein
(Erscheinung und emotionelle Funktion) noch eine dritte kommt, nämlich die
intellektuelle Funktion, auf welche die emotionelle sich erst aufbaut, z. B.
das dem Affekt immanente Urteil.
Daß auch die Erscheinungen sich ändern können, während die zuge-
hörigen Funktionen dieselben bleiben, wird bewiesen aus den Tatsachen der
unbemerkten und unmerklichen Empfindungsänderungen. »Unsere eigenen
Empfindungsinhalte sind uns [eben] auf direktem Wege nicht bis zu den
letzten Feinheiten durchsichtig. Wir müssen die Scheidung zwischen Ding
an sich und Erscheinung in gewissem Sinne ein zweites Mal machen be-
züglich der Erscheinungen selbst« (S. 36). Auch »die bloßen Vorstellungen
führen in weiten Grenzen ein unabhängiges Dasein; nämlich in allen Fällen
des sogenannten mechanischen Gedächtnisses oder der gewöhnlichen Asso-
ziation, wo Vorstellungen abrollen genau wie Eindrücke äußerer Ereignisse,
die vor unseren Augen unabhängig von uns verlaufen« (S. 36). Und auf dem
Gebiet des Gemüts- und Willenslebens wird eine genauere psychologische
Analyse die Erkenntnis der gewöhnlichen Erfahrung, »daß Neigung und Ab-
neigung, Begehren und Verabscheuen und ein fester Wille unverändert
auf einen Gegenstand gerichtet bleiben können, während die Erscheinungen,
die die Anschauungsgrundlagen im Bewußtsein ausmachen, ebenso wie die
sonstigen, dem Gefühl zugrunde liegenden oder beigesellten Sinnesempfin-
dungen sich bedeutend verändern«, nur bestätigen und genauer fassen können.
Es wird sich nun die Frage erheben: Ist die psychische Wirklichkeit
vollständig unter die Begriffe Erscheinungen und psychische Funktionen
unterzubringen? Stumpf antwortet mit nein; es fehlen noch zwei Gruppen
von Bestandstücken : die Verhältnisse und die Gebilde psychischer Funktionen.
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Literaturbericht.
3
Verhältnisse bestehen zwischen Erscheinungen und zwischen Funktionen
und zwischen Repräsentanten der einen und der anderen Gattung und wir
können hinzufügen: doch wohl auch zwischen den Gebilden psychischer
Funktionen, unter sich und zwischen diesen einerseits und den anderen Be-
standstUcken andererseits; ja sogar zwischen zwei Verhältnissen selbst, oder
einem Verhältnis und einem anderen BestandBtück kann wieder ein Ver-
hältnis bestehen. Was ist ein Verhältnis als Bestandstück der psychischen
Wirklichkeit? Das was uns bewußt ist, wenn wir Gleichheit, Ähnlichkeit,
Verschiedenheit usw. konstatieren. Und was sind die Gebilde? Unter
Gebilden psychischer Funktionen versteht Stumpf ein Mittleres
zwischen Erscheinungen und Funktionen. Er geht von den bekannten
> Gestaltqualitäten« aus, dem, was beim Zusammenfassen von Erscheinungs-
elementen im Bewußtsein zu diesen hinzukommt und weder als Er-
scheinung noch als Funktion angesprochen werden kann. Von Einheits-
momenten hat Husserl gesprochen, Stumpf schlägt für die spezielleren
Gebilde des Zusammenfassens, bei denen eine gewisse sachliche Zusammen-
gehörigkeit der Elemente obwaltet, den natürlicheren und, wie ich meine,
treffenderen Namen Formen vor. Die Formen sind Arten der Gattung,
Inbegriff > des notwendigen Korrelats der zusammenfassenden Funktion«.
»Ein solches drittes außer Erscheinung und Funktion ist nun auch bei allen
anderen intellektuellen Funktionen zu unterscheiden« außer bei dem Wahr-
nehmen, das sich direkt an den Erscheinungen betätigt ; bei der Begriffs-
funktion ist es etwas, was man als Begriff bezeichnen kann, beim Urteilen
der Sachverhalt. Die Gebilde der emotionellen Funktionen sind das, was
wir Werte oder Güter nennen, (»Erfreuliches, Erwünschtes, Fürchterliches,
Wohlgefälliges, Mittel und Zweck, Vorzuziehendes und Verwerfliches usw.«).
Diese Gebilde nun stehen in einem viel engeren Verhältnis zu den Funktionen
als die Erscheinungen, sie können nicht ohne sie gedacht werden. So oft
z. B. ein Sachverhalt mir bewußt wird (wenn ich an ihn denke, mich an ihn
erinnere usw.), muß die Funktion des Urteilens mitgedacht werden. Mein
jetziges Denken an ihn braucht kein Urteilen zu sein, ich muß das ur-
sprüngliche Urteil des Sachverhalts jetzt nicht noch einmal fällen, aber
es wird als zu dem Sachverhalt gehörig seinem Allgemeinbegriff nach jetzt
wieder mitgedacht
Damit dürften die wesentlichen Gedanken der Arbeit Stumpfs wieder-
gegeben sein. Was sie uns bieten, ist weniger als eine, ein feststehendes Tat-
sachenmaterial erläuternde Theorie, sondern vielmehr als ein Programm an-
zusehen, das seiner Ausführung harrt Eine glückliche Vereinigung scharfer
begrifflicher Überlegungen mit der Verwertung des wenigen, was die Einzel-
forschung zu diesen Fragen an Ergebnissen schon zutage gefördert hat machen
es zu einem, wie ich glauben möchte, aussichtsreichen Programm. Es wäre
ein unfruchtbares Unternehmen, wenn man an allen untergeordneten Stellen
andere Auffassungen neben der von Stumpf vertretenen als möglich er-
weisen wollte. Nur zwei wichtigere Punkte sollen hier herausgegriffen wer-
den, die zu einer kritischen Bemerkung Veranlassung geben können. An
dem einen mul3, wie mir scheint, eine nähere Begründung, an dem anderen
eine Ausgestaltung der Stumpfschen Ausführungen gefordert werden.
Wenn wir Stumpf nach der Quelle seiner Anschauung fragen, so weist er
uns auf die Selbstwahrnehmung hin. Da erfassen wir die Bestandstücke der
Bewußtseiuswirklichkeit »anmittelbar«; d. h. die Urteile, die wir auf
1*
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Literatlirbericht.
Grund der Selbstbeobachtung fällen, sind Wahrnehmungsurteile, wir sprechen
in ihnen nicht von etwas Erschlossenem oder sonstwie gedanklich Ver-
ändertem, sondern von etwa», das zu gedanklich konstruierten Gegenständen
in ahnlichem Verhältnis steht, wie die unmittelbar einleuchtenden logischen
Gesetze zu irgendwelchen anderen, begründungsbedttrftigen Gesetzen. Wie
bei den logischen Gesetzen die Geltung, so leuchtet bei den Gegenständen
der Selbstwahrnehmung ihr Vorhandensein, ihre Wirklichkeit unmittelbar
ein. Das ist doch wohl der Sinn der Stumpf sehen Wendung, sie leuchten
»als Tatsachen« unmittelbar ein. Selbstverständlich ist die Richtigkeit dieser
Behauptung ganz unabhängig von und nicht zu prüfen an der individuell
verschiedenen Fähigkeit, sich die Bedingungen für die Entstehung jenes
Evidenzbewußtseins zu schaffen. Es könnte ja sein, daß manche Menschen
seelenblind sind für derartige Dinge- Auch ist Stumpf so weit entfernt
davon zu behaupten, die Psychologie habe es nur mit solch unmittelbar ge-
gebenen Gegenständen zu tun, daß er vielmehr erklärt, im strengen Sinn
können sie Uberhaupt niemals Objekt irgendeiner Wissenschaft werden.
Aber selbst nach dieser Einschränkung, nach der auch in der Psychologie
das unmittelbar Gegebene nur als Ausgangspunkt der Begriffsbildung anzu-
sehen ist, scheint mir die These von dem unmittelbaren Gegebensein
der Erscheinungen und Funktionen noch nicht über jeden Zweifel er-
haben zu sein. Wenn wir von dem grundlegenden und einfachsten Fall der
Selbstwahrnehmung ausgehen: ich habe eben etwas erlebt und berichte dann
darüber imir oder anderen, mit oder ohne Worte, das ist hier gleichgiltig!,
so können wir uns doch von vornherein verschiedene gleich mögliche An-
nahmen Uber das Wesen jener »Reflexion« machen. Man kann erstens an-
nehmen, sie sei eine einfache Aufmerksamkeitserscheinung: das tu
Beschreibende blieb entweder überhaupt bewußt oder wurde gleich wieder
reproduziert und es findet nichts als eine (vielleicht nach dem Ziel der Aus-
sage verschiedene) Aufmerksamkeitswanderung statt Man kann zweitens
aber auch annehmen, das zu beschreibende Erlebnis, das logisch gesprochen
zum Gegenstand der Aussage wird, werde anch in einem psychologischen
Sinne Gegenstand in dem nachfolgenden Reflektionsakt. Was damit ge-
sagt werden soll, kann wiederum verschiedenes sein; eine mögliche Konse-
quenz daraus wäre jedenfalls die, daß das ans dem Bewußtsein bereits Ge-
schwundene nicht mehr notwendig reproduziert zu werden brauchte, und eine
andere, die, daß z. B. die Erscheinungen im Stumpfschen Sinne oder Ge-
fühle in dem zweiten Akt nicht mehr als Erscheinungen oder Gefühle ent-
halten sein müßten. Und man kann sich endlich drittens denken, der
Reflexionsakt bedeute eine »Auffassung« des vorher Erlebten, sei es mit
oder ohne Vergegenständlichung, und in dieser Auffassung kamen wie
bei der Auffassung eines äußeren Gegenstandes frühere Erfahrungen außer
dem jetzigen Erlebnis znr Geltung. Wie das im einzelnen ausgedacht wer-
den mag, braucht nns hier wieder nicht zu interessieren.
Alle drei Annahmen sind, wenn ich recht sehe, von modernen Psycho-
logen vertreten worden nnd keine kann vorderhand als endgiltig widerlegt
angesehen werden, vielleicht kann anch keine den Anspruch erheben, allen
Fällen von Reflexion allein gerecht zu werden. Wir fragen hier nur, wie sie
sich zur Stumpfschen These von dem unmittelbar Gegebenen verhalten.
Da können, meine ich, insbesondere aus der dritten doch einige Bedenken
abgeleitet werden. Denn wenn frühere Erfahrungen bei der Bestimmung
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Literaturbericht.
5
meines eben gehabten Erlebnisses mit im Spiele sind, dann wird es zum
wenigsten recht schwer sein, reinlich zu scheiden, was nur dem jetzigen
angehört, und es ist die Möglichkeit nicht ohne weiteres von der Hand zn
weisen, daß durch die AuffaBsung allerhand gedankliche Verarbeitung in
den zu bestimmenden Gegenstand hineingetragen wird. Ob man ihn trotz-
dem noch als unmittelbar gegeben in 4em Stumpf sehen Sinne ansehen
kann, das müßte erst klar gelegt werden. Selbstverständlich ist die Unter-
scheidung von Erscheinungen und Funktionen unabhängig von diesem
speziellen Ausgangspunkt der Untersuchung. Man könnte sie auch vertreten,
wenn man etwa mit Kant die Unterscheidung von Erscheinung und Ding
an sich auch auf dem Gebiete des inneren Sinnes durchfuhren wollte. Er-
scheinungen und Funktionen im Stumpfschen Sinne würden dann zunächst
einen kategorialen Unterschied innerhalb der Erscheinungen
(im Kantschen Sinne) des inneren Sinnes ausdrücken, aber begründet könnte
er ja in dem zu formenden Material selbst sein. Wir würden in diesem Falle
etwa sagen: Zur gedanklichen Bewältigung der Tatsachen, die wir der Seibat-
beobachtung verdanken, stehen uns zwei letzte Denkformen zur Verfügung,
die der Funktion (des Aktes, letzthin vielleicht des Geschehens) und eine
andere, die wir dann zur Vermeidung von Mißverständnissen mit KUlpe1)
lieber Inhalt als Erscheinung nennen würden (der Begriff Erscheinung scheint
mir deshalb ungeeignet, weil wir als Korrelativum zu ihm stets ,Ding an
sich* erwarten, die Unterscheidung von Erscheinungen und Funktionen aber
gar nichts mit jener Kantschen Distinktion zu tun hat).
Als Inhalte wären von diesem Standpunkt aus nicht nur Empfindungen
und Vorstellungen, sondern auch das, was Stumpf Gebilde psychischer
Funktionen genannt hat, und die Verhältnisse zu bezeichnen. Die beiden
letzteren könnte man dann etwa als gedankliche Inhalte von den
ersteren, den sinnlichen Inhalten, scheiden. Damit wäre auch der
Punkt, an dem man, wie ich oben sagte, eine Ausgestaltung der Einteilung
Stumpfs unmittelbar als notwendig empfindet, erledigt; was bei ihm noch
unverbunden nebeneinander steht, wäre unter dem gemeinsamen Oberbegriff
Inhalt vereinigt und die gedanklichen Inhalte in die Orientierung nach dem
grundlegenden Unterschied, der unsere Bestimmungsmittel der Bewußtseins-
wirklichkeit durchzieht, mit einbezogen. Ob die Dualität der gedanklichen
Inhalte als irreduzibel anzusehen ist, oder ob man etwa die Gebilde psychi-
scher Funktionen nur als Beziehungskomplexe oder umgekehrt die bewußten
Beziehungen als Gebilde einer beziehenden Funktion auffassen könne *), kann
hier ebenso unentschieden bleiben, wie die Frage, wie denn nun die sinn-
lichen zu den gedanklichen Inhalten sich verhalten.
Es wird interessant sein, zu sehen, wie diese Aufstellungen Stumpfs,
nach denen die sinnlichen Bewußtseinsinhalte »samt allem
Strecken und Beugen nur die Schale« (S. 39) des psychischen
Lebens ausmachen, von denen aufgenommen werden, die immer noch
glauben, sie könnten auB Empfindungen und Gefühlen unsere ganze Be-
wußtseinswirklichkeit aufbauen. Karl Bühler (Würzburg).
1) Vgl. Göttinger Gel. Anz. 1907. Nr. 8. S. 603.
2) Beide Auffassungen werden von Stumpf abgelehnt, die letztere aus-
drücklich aber ohne nähere Begründung.
Referate.
2) C. Stumpf, Einleitung zu dem Werke: Oskar Pfungst, Das Pferd des
Herrn von Osten. Leipzig, Joh. Ambros. Barth, 1907.
Der Referent berichtet hier nur über die Einleitung zu dem obigen
Werke, da ihm nur diese vorliegt. In dieser gibt Stumpf eine kurze Zu-
sammenfassung der Ergebnisse der sorgfaltigen, oft auch durch äußere
Schwierigkeiten gestörten Untersuchung des Pferdes des Herrn von Osten
in Berlin. Der »kluge Hans« ist durch die Zeitungsnachrichten jedem Leser
dieser Zeitschrift bekannt. Die fabelhaften Leistungen der vermeintlich
hohen Intelligenz dieses Pferdes haben die Verf. durch mühsame, originell aus-
gedachte Experimente psychologischer und sinnesphysiologischer Art auf-
geklärt Man muß den Scharfsinn, die Mühe und auch den Mut der Berliner
Psychologen bewundern, die mit dem temperamentvollen und ungeberdigen.
oft durch Bisse und Hufschläge seine Experimentatoren belohnenden Hengst
so lange experimentiert haben, um ein tierpsychologisches Rätsel zu lösen.
Da» Hauptergebnis ist dies, daß sich die Leistungen des Pferdes dadurch
erklären, daß ihm teils Herr von Osten selbst, teils die Experimentatoren
durch »minimale, unabsichtliche Bewegungen« Zeichen gaben, wenn es die
richtige Lösung der gestellten Aufgabe fand. So einfach diese Lösung
scheint, so enthält sie doch viel psychologisch Interessantes. Wir habeu
durch diese Versuche aufs neue erfahren, daß der Mensch, ohne es zu
wissen, zahlreiche innere Vorgänge, insbesondere wohl die Spannung und
Lösung seiner Aufmerksamkeit, durch schwache Bewegungen an der Körper-
peripherie ankündigt. Wunderbar bleibt es dabei immer, daß ein Pferd mit
so erstaunlicher Sicherheit auf so minimale Zeichen in dem Gesichtsausdruck
und der Kürperhaltung des Menschen reagieren kann. Freilich mußte die
Grundtatsuche selbst schon aus den Vorgängen beim »Gedankenlesen« und
aus Experimenten, wie denen von Alfred Lehmann über »unwillkürliches
Flüstern« hervorgehen. Der kluge Hans hat übrigens Vorgänger und — na-
türlich auch — Nachfolger. Der Referent sah vor etwa 14 Jahren auf der
Leipziger Messe einen kleinen Hund, der auf einem Tische hin und her
laufend genau dieselben Leistungen ausführte wie der kluge Hans, und im
Panoptikum in Berlin wurde vor kurzem die »kluge Rosa« vorgeführt, der
durch besondere kleine Zeichen des Dresseurs die gleichen Leistungen mög-
lich waren. Freilich scheint der kluge Hans die Eigenheit zu zeigen, daß
er auf die minimalsten unabsichtlichen Bewegungen zu reagieren ver-
steht. E. Meumann (Münster i. W.).
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Literaturbericht.
7
3) Erich Becher, Das Gesetz von der Erhaltung der Energie und die An-
nahme einer Wechselwirkung zwischen Leib und Seele. Sonder-
abdruck aus »Zeitschrift für Psychologie«. Bd. 46. 1907. S. 81— 122.
Leipzig, Johann Ambrosius Barth.
Schon oft ist die Frage untersucht worden, wie das Konstanzprinzip
der Naturwissenschaft mit der Annahme einer Wechselwirkung zwischen
Leib und Seele zu vereinbaren sei. Es sind auch bereits Zweifel darüber
laut geworden, ob das genannte Prinzip ohne weiteres von der leblosen
Materie auf die organische Welt übertragen werden könne, ob nicht viel-
mehr hier jenes Prinzip seine Gültigkeit verlieren und ein ganz neues Prinzip,
das sowohl Physisches wie Psychisches umspanne, Platz greifen müsse, so
daß eine Umwandlung physischer Energie in psychische und umgekehrt anzu-
nehmen wäre. Der Verfasser sucht nun, gestützt auf die kalorimetrischen
Versuche von Rubner*), Bunge5} und Atwater3), diese Annahme zurück-
zuweisen und darzutun, daß der Zusammenhang des physischen Geschehens
ein in sich geschlossener sei, und daß auch nicht das geringste Quantum
physischer Energie aus diesem Zusammenhang verschwinde. Die Versuche
selbst erscheinen so wichtig, daß ein kurzer Hinweis darauf gerechtfertigt
sein dürfte. Rubner brachte ein Tier für die Dauer von mehreren Tagen
in das Luftkalorimeter, verfütterte währenddessen ein bestimmtes Nahrungs-
quantum und stellte dann fest, welche Wärmemenge durch Verbrauch dieser
Nahrung entwickelt wurde. Damit ein Wärmeverlust dnrch Wärmeabgabe
an die Nahrungsmittel möglichst verhütet wurde, erhielten die Tiere er-
wärmte Speisen; ebenso wurde durch die Art der Versuchsanordnung
Sorge getragen, daß kein Energieverlust nach außen, etwa durch Erschütte-
rung des ganzen kalorimetrischen Apparates, eintrat. Die Versuchsergebnisse
sind Uberraschend günstig ausgefallen, fast ebenso genau wie an anorgani-
schen Systemen, Maschinen usw. Es ist bei den Versuchsreihen, welche eine
Gesamtzeit von 46 Tagen umfaßten, im Kalorimeter nur 0,47 % an Wärme
weniger gefunden worden, als nach der Berechnung der Verbrennungswärme
der zersetzten Körper- und Nahrungsstoffe zu erwarten war. Die Versuche
Atwaters erstreckten sich Uber einen Zeitraum von 12 Jahren und hatten
die Untersuchung des Energieverbrauchs beim Menschen zum Gegenstand.
Sie brachten eine Bestätigung der Rubn ersehen Ergebnisse in allen Teilen
und mit solcher Genauigkeit, daß At water daraus den Schluß ziehen konnte,
daß das Gesetz von der Erhaltung der Energie auch für die physischen Vor-
gänge bei Personen seine volle Gültigkeit behalte. Sollten die angeführten
Resultate noch weitere Bestätigung erfahren, so dürfte damit der unumstöß-
liche Beweis geliefert sein, daß tatsächlich eine Umsetzung von physischer
Energie in psychische nicht stattfindet, daß also bei angenommener Wechsel-
wirkung zwischen Leib und Seele weder Energie erzeugt noch vernichtet
werden kann.
1) Rubner, Zeitschr. für Biologie. 12 (30). 1894. S. 73—142.
2) Bunge, Lehrbuch der Psychologie des Menschen. IL Bd. S. 34— 37.
Leipzig 1901.
3) In deutscher Bearbeitung von F. Friedländer und L. As her. Er-
gebnisse der Physiologie. I. 1904. S. 497-622.
8
Literatlirbericht.
Wenn der Verf. nnn weiter den Versuch macht, an einem Beispiel zu
zeigen, wie die Richtung einer Kraft geändert werden könne, ohne daß da-
durch Arbeit geleistet werde and daraus auf die Möglichkeit einer Erklärung
der psychophysischen Wechselwirkung schließt, so ist dem entgegenzuhalten,
daß von einer Einwirkung des Psychischen auf physische Vorgänge — hier
Bewegungsvorgänge — nur dann die Rede sein kann, wenn die psychischen
Kräfte nach Analogie der physischen Kräfte gedacht werden, eine Annahme,
die aber durch die Erfahrung keineswegs gerechtfertigt ist, weil beide Arten
von Kräften ganz inkommensurable Begriffe darstellen und ihre gemein-
same Bezeichnung als Kräfte bzw. Energien nur zufälligen und untergeord-
neten Umständen verdanken. Zum Schluß seiner Abhandlung teilt der Verf.
noch mit, daß vor kurzem Ebbinghaus bereits auf die Experimente
Rubners und Atwaters aufmerksam gemacht habe (Psychologie. S. 192.
1907. Aus dem Sammelwerk: Kultur der Gegenwart), und daß B. Erd-
mann in einem demnächst erscheinenden Werk ebenfalls auf die Versuche
der beiden Forscher hinweisen werde. J. Kühler (Lauterbach).
4) Erich Becher, Kritik der Widerlegung des Parallelieunua auf Grund
einer »naturwissenschaftlichen« Analyse der Handlung durch Hans
Driesch. Zeitschrift für Psychologie. I.Abt. 4ö. Bd. S. 401 — 440.
Daß Drieschs neuartige Anschauungen nicht mit einem Schlag alle Tra-
ditionen der mechanistischen Naturwissenschaftlichkeit durchbrechen, muß teil-
weise aus der Schwierigkeit eines erkenntnistheoretischen Übergangs zum
Vitaliamus begreiflich werden. Darum kann da» Gleichsetzen der Natur mit
räumlicher Wirklichkeit oder die psychomonistische Ablehnung alles fremden
Bewußtseins nur vorläufig bestehen; und sofern bei der rein naturwissenschaft-
lichen Analyse des Handelns notwendig psychoide Faktoren und vergangene
Erlebnisse beim eigenen Bewußtsein anerkannt sein müssen, drangen sich in
jeder neuen Arbeit Drieschs andere Fassungen mit schwierigster Termino-
logie hervor. Besonders klar wird dieses Schwanken erkennbar, wenn die
allgemeinen Charakteristika des naturwissenschaftlich analysierten Geschehens
zur Entscheidung psychophyBischer Beziehungen verwendet werden sollen.
Hier geht die Frage zunächst darauf: wie mit letztanalysierter Form die
Gesetzlichkeit derjenigen Bewegungsvorgänge auszudrücken sei, welche wir
menschliche Handlungen nennen. Dies führt Driesch zur Problematik einer
maschinellen Auffassung im bisherigen Sinn des Parallelismus und damit setzt
die mechanistische Kritik durch den Bonner Philosophen Becher ein.
Für die naturwissenschaftliche Gesetzlichkeit der Handlung waren von
Driesch zwei Hauptkennzeichen: der historischen Reaktionsbasis und einer
Individualität der Zuordnung aufgestellt worden. Mit dem ersten Kriterium
sollte die Bestimmtheit jeder Handlung durch früher erfahrene und ge-
sammelte Reize festgesetzt sein, deren historische Basis alle späteren Reak-
tionen wesentlich mitbestimmt. Dagegen fragt Becher, ob der Inhalt diese?
Kriteriums derart ist, daß die Auffassung der Handlung als einer maschinellen
Leistung ausgeschlossen wird. Er weist auf die allmähliche Abschleifung
von Maschinen hin, die ganz und gar dem Eingefahrensein einer funktionellen
Adaptation einzelner Leitungsbahnen entspricht Allein damit wäre der
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Literaturbericht.
9
später and erweitert vorliegende Ausdruck des Kriteriums noch nicht berück-
sichtigt: daß unbestimmt viele Reize mitwirken, um bei ihrer Verkettung zur
Reaktionsbasis eine elementare Prädisposition flir nachfolgende freie Kombi-
nation von Effekten zu erzeugen. Sobald demnach durch äußere Reize nichts
als Spezifität für Elemente späterer Reaktionen geliefert wird, während die
Folge der Effekte davon unabhängig vor sich geht, muß ihre Kombination
frei genannt werden. Statt dessen sucht nnn Becher an der Konstruktion
eines Phonographen zu zeigen, daß mit entsprechender Vermehrung und
Variation der Membranen beim Berühren der Walze unabhängige Kombi-
nationen der Musikstücke oder Effekte mechanisch wohl zu erreichen sind.
Aber auch diese maschinelle Andeutung wird durch eine dritte Fassung des
Kriteriums wieder umgestoßen. Danach soll die Maschine geradezu als Ein-
richtung für Festes und Bestimmtes definiert werden, sei dieseB auch in eben-
falls festem Rahmen einer Regulation fähig: während die Basis für Reak-
tionen geradezu mit Rücksicht auf freie Zerlegbarkeit und Kombinierbarkeit
der Elemente geschaffen wird. Obwohl vorher selbst Phonographen kon-
struiert worden waren, findet dennoch Becher daran eine logisch fehler-
hafte Verdrängung des Begriffs physikaliBch-chemischer Kräftekombinationen
durch den engeren Inhalt einer technischen und von Menschen konstruierten
Maschine zu tadeln. Und trotz des festen Rahmens brauchen die Membranen
nur parallel der Walzenachse verschiebbar gedacht zu sein, um das Phono-
gramm durch unendlich variable Weise zerlegbar und frei kombinierbar
werden zu lassen. Gegen alle letzten Bedenken bliebe noch jene Erwägung
übrig, daß ja auch für die Handlungen des Individuums Schranken durch
Skelett und Skelettmuskulatur gezogen sind, innerhalb deren erst kombinierte
Effekte eintreten können.
Nachdem diese Anzeichen für eine autonome Selbständigkeit vitaler
Vorgänge abzuweisen waren, soll zur Betrachtung des zweiten Kriteriums
für Bewegungsvorgänge: einer Individualität der Zuordnung, übergegangen
werden. Nach ihrer Kategorie kann es keine anorganischen Reaktionen
geben, die mit der Spezifität von Ursachen derart bestimmt sind, daß jeder
beliebigen individuellen Kombination dieser Ursachen eine ebenso typisch
individuelle Kombination der Reaktionen entspricht. Gerade der Um-
stand, daß Ursache und Effekt trotz ihres Kombinationscharakters hier
Einheiten darstellen, während doch die einzelnen Elemente der Ursachs-
kombination durchaus nicht als Einzelursachen entsprechender Einzelelemente
der Effektkombination angesehen werden dürfen, schließt für Driesch
chemisch-physikalische Auflösung aus. Deshalb treten die Kombinationen
nicht wie bei mechanischer Effektbestimmung im eigentlichsten Sinn als bloße
Abdrücke der Reize hervor, sondern kehren sozusagen integriert und mit
ganzen Formen wieder. Allein Becher glaubt auch für dieses Gesetzes-
kriterium mechanische Erfüllungen in den komplizierten Effekten der Aus-
lösnngsvorgänge mittelst eines ingeniös variierten Morseapparats nachweisen
zu können. Nur bei den Konsequenzen dieser Automatenlehre werden neue
Schwierigkeiten sichtbar: ob nicht gleich der eingerichteten Struktur einer
Maschine auch beim Menschen für alle Reiz - Reaktionszusammenhänge be-
stimmt passende Strukturen präformiert sein müßten. Oder wirkt vielleicht
bei beliebigem Reiz nur ein Teil als Ganzes auf der präformierten Bahn,
wahrend andere Stücke bloß als Einzelelemente den präformierten Effekt
modifizieren? Darnach bliebe lediglich eine begrenzte Präformation anzn-
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Literaturbericht.
nehmen, die als Reaktionsbasis zur Kombination der durchgenommenen Kri-
terien führen könnte. Jedoch die maschinelle Grundlegung dieser Basis als
der Summe ron Präformationen zur individuellen Zuordnung müßte dunkel
bleiben, wenn jeder kombinierte Reiz im strengsten Sinn umfassend oder
total wirkte. Daß wir aber vor glühenden Körpern ohne Rücksicht auf
die sonstige Beschaffenheit ihres Komplexes in einer durch die Temperatur
graduell veränderten Weise zurückfahren, zeigt die Parallelität der Reizver-
iinderung zur Variation der Effekte nach ganz anderer Richtung an: sobald
nur für die ganze Reihe der Reiz- Reaktionszusammenhänge eine einzige Prä-
formation des Empfangs vorhanden ist Wenn nun endliche Summen dieser
prästabilierten Harmonie genügen, dann steht auch hier der Möglichkeit
maschineller Deutung nichts entgegen. Und Becher sucht durch zehn variiert
ablaufende und zusammengestellte Phonographen die unbestimmt vielen Zu-
sammenhänge trotz maschinell begrenzter Anpassungen mechanisch zu ver-
deutlichen.
Was endlich die Begriffe der Erhaltung angeht, so kann allein schon
die Tätigkeit des Sicherheitsventils auf die mechanische Konstruktion dieser
Stabilität hindeuten. Nicht minder werden zufällige Änderungen und Neu-
gestaltungen der Maschinenteile meistens parallel dem Kampf ums Dasein
aufzuweisen sein. Und erst recht müssen technische Einrichtungen nach
Drieschs eigener Definition zweckmäßig erscheinen: sofern das Ziel von
Handlungen, d. h. ihr spezifischer oder konstruktiver Effekt auch unser
Ziel zu sein vermöchte. Nur wäre ein derart stark kompliziertes Ge-
schehen maschineller Art zum Auflösen der Handlungen anzunehmen, daß
Becher außer den intrazellulären Gehirnprozessen noch chemische oder
mikrophysikalische Vorgänge innerhalb der Moleküle und Atome einführen
will. So wird in der mechanistischen Konsequenz nach wie vor eine gründ-
lichere Arbeitsmaxime als im vitalistischen Dogmatismus zu erblicken sein,
der die Gefahr vorzeitiger Resignation notwendig in sich birgt. Trotzdem
soll zwischen Vitalismus und psychophysischer Wechselwirkungslehre ein
außerordentlich interessanter Zusammenhang bestehen — die großen und
physikalisch schwer analysierbaren Komplexe der Vererbung, Ontogenie oder
Restitution ebenso wie die zentral nervösen Vorgänge geben viele Indizien
autonomen Geschehens an, das zwischen Kausalreihen und Erlebnisreihen ein-
geschoben werden müßte. Aber mit solchen wenig tief dringenden Betrach-
tungen läßt sich der nach Becher unbeweisbare Vitalisraus durchaus nicht
als unerschütterliches und naturwissenschaftliches Fundament der Wechsel-
wirkungslehre verwerten.
Gegen die mit großem Scharfsinn erhobenen Bedenken dieser Arbeit
wäre vor allem zu betonen, daß mit der Dialektik maschineller Gleichnisse
nur die zufälligen Ausdrucksweisen Drieschs in ihren Formwandlungen ge-
troffen sind. Und sofern Becher seine kombinatorische Phantasie über
Maschinen spielen läßt, werden bloße Worte umgestoßen, während die
* eigentlich zu diskutierenden Gesetzmäßigkeiten unerledigt bestehen bleiben.
Dazu kommt, daß selbst mit dem Nachweis eines maschinellen Verlaufs der
Lebensvorgänge noch nichts Uber die führende Ursache bestimmt wäre;
immerhin mußten von uns her die Faktoren des komplexen Selbstbewußtseins
physiologisch einbezogen werden. Ferner liegt die Form aller technischen
Anpassungen doch derart im Gang der Maschine niedergelegt, daß ihre Vari-
ationen auf unsere erst zu erklärenden Eingriffe zurückweisen. Damit ist
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Literaturbericht.
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das Problem nur eine Stufe weiter geschoben. Wenn also mit dieser Frage-
stellung der Entwicklungslehre ein Aufrollen psychoider Wirksamkeiten nicht
umgangen werden kann, dann sollte in den Theorien einer idiotropen Reiz-
ablenkung bei Organismen durch innerlich formende Dominanten viel mehr
als leere Resignation gesucht werden. Gegen jenes allzulange Anhalten be-
stimmter Elemente oder Beziehungsbegriffe der physikalischen Wissenschaft-
lichkeit, die in entwicklungsgeschichtlichen Auffassungen nur einen totalen
Mechanismus anzulegen vermag, müßte unbedingt zur Verwendung historischer
Tatbestände und Kategorien fortgeschritten werden. Durch diese allein
mögliche Erklärung organischer Vorgänge: im Sinn einer fortschreitenden
Überwindung des Milieus durch die finale Steigerung des eigenen Bewußt-
seins in den Reaktionen wäre der gesuchte Übergang zum Gebiet psychischer
Vorgänge leichter erreichbar geworden. Daß hier gerade die psycho-
pbysischen Fragen lebhafte Diskussion finden, scheint an einem darin be-
sonders erkennbaren Zusammenstoß von Naturbetrachtung mit Selbst-
erkenntnis zu liegen. FUr die wechselnden Alternativen dieses Auf und
Nieder besteht im psychophysischen Problem ein feinster Ausschlag — und
auch das transmissive Begreifen der Gehirnvorgänge als eines geschlossen
verlaufenden Durchgangs zu qualitativen Umsetzungen, Verdichtungen oder
Spontaneitäten würde in einem mehr historischen Stil des Begreifens glück-
licher erledigt werden. Ernst Bloch (Würzburg.)
5} Constantin Gutberiet, Psychophysik. Historisch -kritische Studien
über experimentelle Psychologie. 664 Seiten. Mainz, Verlag von
Kircheim & Co., 1906. M. 9— .
Das vorliegende, umfangreiche Werk von Gut beriet enthält eine sehr
detaillierte Zusammenfassung der Methoden und Ergebnisse des eigentlichen
experimentellen Teils der neueren Psychologie. Der Titel »Psychophysik«
ist also nicht in dem engeren Sinne zu verstehen, in dem man ihn meist ge-
braucht (als Lehre von den Beziehungen zwischen Reiz und Empfindung),
sondern er umfaßt den experimentellen Teil der gesamten Psychologie.
Der Verf. bietet keine eigenen Forschungen, dagegen verzichtet er
keineswegs auf Kritik, er entscheidet vielmehr von seinem Standpunkt aus
sehr entschieden Uber das, was er für annehmbar und nicht annehmbar hält
Dieser Standpunkt ist ein streng katholischer. Das tritt namentlich in solchen
Kapiteln hervor wie in dem dritten: »Mißbrauch der Psychophysik< und in
der Besprechung Fechners. Dabei muß man nicht selten die Sachlichkeit
der Darstellung vermissen, und zwar auch in dem Ausdruck. So wird
Fechners Weltanschauung als eine materialistische genannt, und zwar auf
Grund von Überlegungen, die jeden, der nicht dem kirchlichen Dualismus
anhängt, zum Materialisten stempeln müssen.
Das Buch enthält eine außerordentlich detaillierte Zusammenstellung des
experimentellen Materials. Dabei merkt man aber anf Schritt und Tritt, daß
der Verf. sich seine Kenntnis lediglich durch theoretische Studien erworben
hat, es fehlt ihm die Unterscheidung des Wesentlichen und des Neben-
sächlichen, und wenig wertvolle Arbeiten werden oft über Gebühr berück-
sichtigt. E. Meumann (Münster i. W.).
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Literaturbericht.
6) Dr. med. et phil. Willy Hellpach, Nervenleben und Weltanschauung;
ihre Wechselbeziehungen im deutschen Leben von heute. — Grenz-
fragen des Nerven- und Seelenlebens. 41. Heft 78 S. Wiesbaden,
Verlag von J. F. Bergmann, 1906. M. 2.—.
Daß das Nervenleben eines Menschen in Wechselbeziehungen zur Welt-
anschauung stehe, leuchtet jedem ein, der imstande ist, in Bezeichnungen
wie Idealismus, Pessimismus, Optimismus u. a. die psychologischen Mo-
mente herauszufinden, sie sind auch verständlich für die Weltanschauung
eines ganzen Zeitalters. Wie sie sich für unsere Zeit gestalten, dem geht
Hellpach in dem vorliegenden kleinen Werke nach. Wir brauchen ihm
auf den einzelnen Wegen, die er in seinen Gedankengängen geht, nicht
immer zu folgen, um doch im wesentlichen ihm beistimmen zu können.
Den ersten Teil der Broschüre kann ich beim Referate in seinen Einzel-
heiten Ubergehen, da er sich mit der Definition des Begriffs »Welt-
auschauung< befaßt und nur die Einleitung zu den interessanten Erläuterungen
und Theorien der folgenden Hanptkapitel darstellt
Auch der zweite Teil, »Proletariers Nervenleben und Weltanschauung«,
erscheint nur eingeschoben, um an > einem klassischen Fall« die teilweise be-
stehende Abhängigkeit der Weltanschauung von dem Nervenleben der Zeit
darzutun. Die ziemlich scharf begrenzte proletarische Masse bietet für die
psychologische Untersuchung ein ergiebiges Gebiet Was liefert uns diese
Untersuchung? Das Leben des Proletariers charakterisiert sich durch einige
Besonderheiten, die von Marx und seinen Jüngern im wesentlichen folgender-
maßen begriffen worden sind: Trennung von den Arbeitsmitteln, wirtschaft-
liche Abhängigkeit, lebenslängliche Dauer dieses Zustandes, Begrenztheit der
sozialen Laufbahn. Unter diesen Dingen ist für die Gestaltung des prole-
tarischen Nervenlebens am wichtigsten die lebenslängliche Dauer einer an
sich gänzlich unbefriedigenden Lebensführung. Aus sich selbst vermag der
Proletarier keine Möglichkeit zu schöpfen, sein Dasein, dessen quälende Ge-
stalt ihm täglich in vielen Kleinigkeiten fühlbar wird, zu ändern. Aus dieser
Hoffnungslosigkeit wird die Apathie erzeugt, der HauptgefÜhlston des Prole-
tarierlebens Daß sie aber nicht der wesenswichtige Bestandteil des prole-
tarischen Nervenlebens sei, sondern nur eine Basis, auf der sich eine Welt-
anschauung aufbaut, wird bewiesen durch die fabelhaft umfassende Aus-
breitung der marxistischen Lehre. Diese aber gründet sich auf die Lenk-
samkeit der proletarischen Psyche, die weder innere lebendige Kraft noch
umfassende und zur Kritik fähige Bildung befähigt, die Grenzen marxistischer
Theorien zu fixieren. Widerstandslos fällt das Proletariat den Zukunftsver-
heißungen ihres Lehrherrn anheim, getrieben allein durch die Sehnsucht
nach ihrer Erfüllung, nicht gehemmt durch kritisches Selbstbewußtsein. Es
wird klar, wie der Boden, in dem die marxistische Theorie Wurzel schlug, die
Lenksamkeit des Proletariers ist, also eine ausgesprochen nervöse Eigen-
schaft Ohne Lenksamkeit würde die Masse das nur wiederholte, aber nicht
bewiesene Dogm a vom Kapitalismus und seinen Wirkungen einfach nicht
glauben. Als der Marxismus die Stimme seiner Lehre erhob, fand er eine
Zeit vor, die »erfüllet war«, die Menschenklasse, der er predigen wollte,
wartete auf ein Wort, das ihr Erlösung brachte oder verhieß, und glaubte
der neuen Verheißung, daß die Zeit der proletarischen Herrschaft mit fata-
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Literaturbericht.
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listißcher Notwendigkeit kommen werde, mit einer Kraft, die an die religiöse
Begeisterung von Völkern erinnerte, deren Sehnsucht durch einen Messias
erfüllt wurde. Gefühlswerte fehlten dem Marxismus, dagegen suchte er nach
einem wissenschaftlichen Halt und fand diesen in dem damals in die Blüte
schießenden Materialismus, aber nicht in dem bürgerlichen atomistischen,
sondern in dem atheistischen Zweig.
Indessen, um die Betrachtung des Nervenlebens des Proletariats handelt
es sich hier nicht in erster Linie. Hier liegt nur ein klassisches« Beispiel
vor, wie eine Weltanschauung geknüpft ist an das Nervenleben, wie sie er-
zeugt und geformt wird durch die Einwirkungen der wirtschaftlichen Lage
auf dieses Nervenleben. Viel wichtiger und für unser Thema allein in Be-
tracht kommend sind die Beziehungen, die diese beiden psychophysiologischen
Faktoren auf dem Gebtete des bürgerlichen Lebens untereinander verknüpfen.
Denn mag das Proletariat ein großes Menschheitsgebiet umfassen, mochte
es durch das laute Erheben seiner Stimme seine faktische Bedeutung noch
besonders aufdringlich und so stark zum Bewußtsein der Welt bringen, daß
man vor diesem lauten Schall oft erschrak, im Grunde genommen tritt es an
politischer Kraft und Macht völlig zurück hinter dem unsere ganze Zeit beherr-
schenden Bürgertum. Denn diesem gehört ohne Zweifel unsere Zeit, keine
andere Epoche der Weltgeschichte hat es in so vollem Besitze gehabt, wie
gerade unser Zeitalter. Es beherrscht eben die Welt, wie diese in anderen
Epochen von seinen Vorgängern, dem Adel und der Dynastie, beherrscht wurden.
Denn die vom BUrgertume vertretene Gesamtweltanschauung ist heute die
maßgebende in Politik, Recht, Religion. Dies Bürgertum aber hat gerade
im letzten Jahrhundert eine innere Umwandlung erfahren wie zu keiner anderen
Zeit. Es scheidet sich grundsätzlich und scharf von seinem Vorgänger im
Mittelalter. Denn aus diesem, welches seinen charakteristischen Stempel
durch die Zünfte erhielt, ist es zum Träger des Kapitalismus geworden.
Dieser Kapitalismus unserer Zeit trägt aber ein anderes Kleid als der des
Mittelalters und der folgenden Jahrhunderte, wo er seine Vertreter im städti-
schen Patriziat hatte. Er besteht aus dem Stoff, welchen der Aufschwung
der Industrie lieferte, und erscheint in der Farbe, die ihm der Aufschwung
der Naturwissenschaften gab. Der moderne HochkapitaliBmus hat nur
noch wenig gemein mit dem Frühkapitalismus. Denn während dieser
sich aufbaute auf dem Kalkül mit all seinen unvermuteten und daher oft
nicht verstopfbaren Fehlerquellen, gründet jener sich auf die Maschine,
die im gleichen Maße berechenbar und einer noch nicht begrenzbaren
Vervollkomnung fähig ist. Diese Beherrschung des Mittels, mit dem der
moderne Kapitalist, der Fabrikant, seinen Profit erzielt, bringt es mit
sich, daß er eher als sein kalkulierender Vorgänger geneigt ist, auf göttliche
Hilfe und auf Gefühlswerte zu verzichten, die jenem nie entbehrlich waren.
Er braucht sie nicht, um in Beinern Geschäft zu prosperieren und befriedigt zu
sein. So kam es, daß der moderne Kapitalist und seine Berufsgenossen
gleichzeitig auch geneigt wurden, das religiöse Gefühl und Bewußtsein für
etwas zu halten, dessen sie in ihrem Leben gänzlich entraten könnten, sie
wurden die typischen Anfänger der rationalen Weltanschauung. Diese
aber erhielt ihre bestimmte Gestalt durch die gleichzeitige Entwicklung der
auf die Lehre des Atomismus gegründeten Naturwissenschaften, die philo-
sophische Höhepunkte erreichte im Darwinismus und im Materialismus. Kein
Wunder, daß der rationelle und dem Gefühlsleben mehr und mehr ent-
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Literaturbericht.
fremdete moderne Bürger sich dem Materialismus in die Arme warf, eine
Weltanschauung, die der ganzen Richtung innerlichen Lebens, wie es den
Bürger erfüllte, am meisten adäquat war. Gilt dies schon von allen modernen
Staaten überhaupt, so trifft es doch für kein Volk vollkommener zu wie ge-
rade für das deutsche, Uber welches die Hochflut des Hochkapitelismus mit
der Gründung des Reiches und der damit verbundenen Konsolidierung der
persönlichen, geschäftlichen, politischen Verhältnisse mit noch viel elemen-
tarerer Gewalt hereinbrach als Uber Völker, die sich in ihrem ganzen bürger-
lichen Leben, zu dem ja vor allem auch das politische gehört, einer viel all-
mählicheren und organischeren Entwicklung erfreuen durften als eben das
deutsche. Am deutlichsten wird die einseitige Entwicklung des bürgerlichen
Lebens durch einen Blick auf den Niedergang und den derzeitigen Tiefstand
der modernen Kunst, die von der Seite des Bürgertums nur insofern eine
praktische Förderung erfährt, als sie ihm in seinem täglichen Leben Bequem-
lichkeiten und Annehmlichkeiten zu liefern vermag, zur wirklichen mäcena-
tischen Förderung der Kunst gebricht es dem Bürger an Zeit und Verständ-
nis. Das aber hat in letzter Linie die Schematisierung des kapitalistischen
Geschäftsbetriebes verschuldet, wie sie ihr typisches Symbol findet in der
Maschine. Hier sehen wir denn auch, wie die Maschine zwei Gesellschafts-
klassen völlig, aber nach verschiedenen Richtungen vereinseitigt. Auf der
einen Seite der atheistische marxistische Proletarier, dessen Knechtschaft von
der Beherrschung der Arbeit durch die Maschine heraufgeführt ist, auf der
anderen, der atomistisebe, materialistische Bürger, der durch die Maschine
Uber den Proletarier und die Welt herrscht. — Hinübergeleitet zur Erfor-
schung des bürgerlichen Nervenlebens werden wir durch die Erkenntnis der
Tatsache, daß sich keine Weltanschauung ihrer Wesensart je so klar bewußt
gewesen ist, wie gerade die materialistisch-bürgerliche, keine auch so selbst-
bewußt und selbstzufrieden sein konnte in der Erkenntnis ihrer Einseitig-
keit, da sie alles, dessen ihre kollossale Oberflächlichkeit bedurfte, fand in
den rationalen Werten ihrer Zeit, keine aber auch je über die Machtmittel
ihrer Zeit so verfügte, wie das moderne Bürgertum. Indes wie diese Welt-
anschauung ihren Anhängern damals bis ins einzelne bewußt wurde, so stand
auf einmal auch ihre ganze Einseitigkeit und Leerheit im grellsten Lichte des
Bewußtseins da, als man an ihrer Unfehlbarkeit zu zweifeln beginnen mußte.
Im Abschnitt »das neue bürgerliche Nervenleben« schildert uns Verfasser
die Erschütterungen, welche jener Weltanschauung von einigen Mächten der
letzten 30 Jahre des 19. Jahrhunderts erfuhr, aber nicht aushielt; die stärkste
war die Entwicklung und Herrschaft einer spezifisch bürgerlich-hochkapita-
listischen Berufskrankheit, der Neurasthenie, die, wohl in anderen
Schichten nicht ganz fehlend, doch das ganze bürgerliche Leben mit ihren
Wurzeln durchsetzte, in ihm ihre Nahrung fand und durch ihre Allgegenwart
wiederum die Form des bürgerlichen Nervenlebens bedingte. Das für die
Gestaltung der Weltanschauung wesenswichtige Moment der Neurasthenie
liegt nach Hellpach auf rein psychologischem Gebiet. Es sind das die als
typisches Symptom der Neurasthenie bekannten Stimmungsschwankungen
und im besonderen die vorwiegend depressiven Stimmungen. Hiermit taucht
der Boden auf, auf dem eine neue Weltanschauung, feindlich dem Materi-
alismus, sich entwickeln konnte. Denn da das Wesen des Materialismus
das absolut Rationelle ist, so muß er sich da, wo Stimmungen anfangen,
das Bewußtseinsfeld zu beherrschen, nicht lange halten können. Je mehr
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Literaturbericht.
15
die Stimmungen ihre Macht Uber den Bürgerlichen bekamen, umso leerer
erschien ihm der Materialismus, der garnichts bot, die Stimmungen zu be-
friedigen. War vorher der Materialistische sich seiner Rationalität aufs
völligste und stolzeste bewußt, so mußte der > Katzenjammer c ein umso
stärkerer sein, als der Materialismus den Stimmungen gegenüber versagte.
Wie aber wurde er, der nun seine Rolle ausgespielt hatte, ersetzt? Eine Zeit-
lang wurde der innere Zwiespalt mit Gewalt übersehen durch doppelte Toll-
heiten des Geschäfts- und des Vergnügungslebens, aber dann kam sein Ende.
Der Materialismus hatte nunmehr — Ende des 19. Jahrhunderts — bei dem
Bürgerlichen Bankrott gemacht, er konnte der »nervösen Psyche« keine
ganze Befriedigung bringen.
Was aber tritt nun als » Weltan schauung der nervösen Psyche«
IV. Kapitel) an seine Stelle? Darauf vermag Hellpach jetzt keine bestimmte
Antwort zu geben, wenngleich gewisse Richtungslinien der psychischen Ent-
wicklung auch heute bereits erkennbar werden. — Es ist selbstverständlich,
daß diese Entwicklung Zeit beansprucht Ehe sich aus den Trümmern des
Materialismus neue philosophische Gebäude erheben können, müssen
verschiedene Entwicklungsstadien absolviert sein. Einstweilen leben wir in
einer Zeit, in der die Sehnsucht nach wirklichen irrationalen Werten stark,
wenn auch nicht mit voller Klarheit bemerkbar wird. Das Beliebtwerden
zalreicher irrationaler Schriftsteller (Frenssen, die Romantiker u.a., selbst
der nur scheinbar rationale Bölsche) beweisen diese Sehnsucht, aber wie sie
sich schließlich erfüllen wird, darüber ist ein prophetisches Wort jetzt noch
nicht gestattet Sicher ist, daß die künftige Weltanschauung des Bürger-
tums gewisse unübersehliche Bedürfnisse des Bürgerlebens befriedigen muß.
Vor allem muß sie dem starken Ruhebedürftig, der Reaktion der Seele auf
die Hast und Ruhelosigkeit des modernen Geschäftslebens, Rechnung tragen.
Wird die Ruhe aber der Gefühlston der neuen Weltanschauung sein, so
bleiben die philosophischen Bestandteile noch ganz in Dunkel gehüllt. Aber
man muß erwarten, daß einige Fehler vermieden werden, die dem Materialis-
mus anhafteten. Vor allem haben wir voraussichtlich auf eine starke skep-
tische Komponente zu rechnen, die das hypertrophische Selbstbewußtsein
des bürgerlichen Materialismus ablösen wird. Damit ist nicht gesagt, daß
das starke Persönlichkeitsbewußtsein, das ans dem bürgerlichen Leben
des Jahrhundertendes entwickelt wurde, verloren gebe, im Gegenteil wird es
als wichtigste Errungenschaft jener Zeit erhalten bleiben. Aus ihm und aus
den Grundlagen, die es erzeugten, vor allem dem bürgerlichen Berufsleben,
wird voraussichtlich eine neue Form des Idealismus entstehen, der Stolz
auf die Berufsarbeit Wir haben daher mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit
einen skeptischen Idealismus als wichtigen Bildner der künftigen bür-
gerlichen Weltanschauung zu erwarten.
Dr. Dannenberger (Gardelegen).
7) Th. Ribot, Essai sur les Passions. 192 S. Paris, Felix Alcan, 1907.
Fr. 3.75.
Ribots EsBai Über die Leidenschaften bildet eine Ergänzung zu seiner
»Psychologie der Gefühle« und der »Logik der Gefühle«. Ribot hält es
für falsch, den Terminus Leidenschaft aus der Psychologie als wesenlos zu
16
Literaturbericht.
verbannen, oder die Leidenschaften mit den Affekten (emotion) zn identifi-
zieren. Neben den Gefühlen and Affekten nehmen die Leidenschaften eine
selbständige Stellang ein; trotz des gemeinsamen BodenB, auf dem Affekte
aud Leidenschaften erwachsen, sind sie verschieden, ja einander entgegen-
gesetzt Ribot stellt sich die Aufgabe, die Leidenschaften in ihren wesent-
lichen Zügen zu charakterisieren, die sie konstituierenden Elemente namhaft
zu machen, durch Zurückführung der Leidenschaften auf primitive Tendenzen
ihre Genealogie zu fixieren und ihre Mannigfaltigkeit durch die wechselnde
Kombination der Elemente zu erklären; schließlich will er untersuchen,
warum und auf welche Weise sie zum Abschluß gelangen.
Bezüglich der bei der Untersuchung zu befolgenden Methode bemerkt
Ribot, daß bei der Behandlung der genannten Fragen nicht allein die
Selbstbeobachtung und das Experiment herangezogen werden müssen,
sondern auch biographisches Material und die Ergebnisse psychopatho-
logischer Forschung.
Die Analyse einer vollentwickelten Leidenschaft ergibt, daß sie durch
das Vorhandensein einer dominierenden Vorstellung (idee fixe), durch — im
Vergleich zum Affekt — lange Dauer und Stärke gekennzeichnet ist Das
Vorhandensein einer herrschenden Vorstellung stellt das wesentliche Merk-
mal der Leidenschaft dar. Da sowohl intellektuelle als auch emotionelle
Elemente in der fixen Idee wirksam werden, ist sie als ein komplexes Phä-
nomen zu betrachten. Damit eine Leidenschaft zustande komme, müssen der
Assoziationsapparat, die schöpferische Phantasie und die logischen Funktionen
in Wirksamkeit treten. Sie alle stehen im Dienste der fixen Idee. Diese
ruft solche Reproduktionen wach, die sie zu stützen geeignet sind, alle
anderen werden zurückgedrängt Die Assoziation und Dissoziation bereiten
der Phantasietätigkeit den Boden, und zwar ist es das affektive Gedächtnis,
das der Leidenschaft das Material zur Konstruktion ihres Ideals liefert Bei
den logischen Funktionen, die in den Leidenschaften eine Rolle spielen,
muß man unterscheiden zwischen solchen, die den Leidenschaften inhärieren
und solchen, die ihnen äußerlich anhaften. Im ersteren Fall handelt es sich
um Werturteile, die gewissermaßen das intellektuelle Gerüst der Leiden-
schaften ausmachen. Sie beziehen sich auf Wahrnehmungen, Vorstellungen
usw., sofern sie gefallen oder mißfallen. Mehr oder weniger ausführliche
Überlegungen, die in einer Schlußfolgerung gipfeln, bilden kein konstituierendes
Element der Leidenschaft sondern setzen, wenn sie stattfinden, die Leiden-
schaft voraus.
Das zweite Kapitel, das die Genealogie der Leidenschaften behandelt,
wird mit der Feststellung eingeleitet daß die anatomisch -physiologischen
Grundlagen der Leidenschaften nicht genauer bekannt sind. Das Grund-
phänomen der Leidenschaften ist eine motorische Tendenz oder ihre Hem-
mung (Begierde, Spannung, Anziehung, Abstoßung), die in einer fixen Idee
zum Ausdruck kommt Die inneren und äußeren Reize, die jene Tendenzen
aus dem Stadium der Latenz in Bandlungen Uberführen, sind nur als aus-
lösende Ursachen zu betrachten. Aus praktischen Gründen unterscheidet
Verf. Tendenzen, die der Selbsterhaltung dienen, ferner Tendenzen, die auf
die Erhaltung der Art abzielen und solche, die die Bejahung des Willens
zur Macht zum Gegenstände haben.
Obgleich die der physischen Erhaltung des Individuums dienenden Be-
dürfnisse zahlreich sind, können sich nur aus dem Hunger und dem Durst
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Literaturbericht.
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Leidenschaften entwickeln. Diese sind ihrer Struktur nach homogen, und
da sie auf die Persönlichkeit beschränkt sind und von der Phantasietätigkeit
nicht unterstützt werden, psychologisch betrachtet, armselig.
Die der Erhaltung der Art dienende Leidenschaft hat, nach Ribot,
eine rein mechanische, bewußt oder unbewußt wirkende Anziehung zwischen
zwei Individuen zur physischen Grundlage. Die normale Form der Liebe ist
eine Synthese homogener Tendenzen, die im Sinne der Anziehung wirken
und von angenehmen Zuständen begleitet sind. Daher ist diese Form der
Liebe einheitlich und dauernd. Zu denjenigen Formen der Liebe, welche
heterogene Elemente enthalten, gehört die eifersüchtige Liebe, die sich mit
Verachtung oder mit Haß paart usw.
Die Leidenschaften, die aus dem Drange nach Ausdehnung der Macht-
sphäre des Individuums entspringen, werden eingeteilt in Leidenschaften,
deren Expansionstendenz Sympathie zugrunde liegt, in solche, die Er-
oberung bezwecken, und in solche, bei welchen der Drang nach Ausdehnung
eine destruktive Tendenz hat, also Antipathie den Ausgangspunkt der Ent-
wicklung bildet. Während die erste Gruppe kurz erörtert wird, da hier
selten so hohe Intensitätsgrade des Gefühls erreicht werden, daß Leiden-
schaften daraus erwachsen könnten, finden gewisse, zur zweiten Gruppe ge-
hörige Leidenschaften eine eingehende Behandlung, unter anderen die Leiden-
schaft des Spiels, der Ehrgeiz und der Geiz. Den Ausführungen über die
dritte Gruppe sei entnommen, daß das erste Stadium der Antipathie ein
organisches, unterbewußtes sein soll, das zweite ein instinktives oder intui-
tives und daß erst das dritte einen klar bewußten Zustand der Abneigung
darstellt, der in Haß übergehen kann. Dieser ist ein Aggregat homogener
Tendenzen, nämlich statischer Abwehrtendenzen und dynamischer Zerstörungs-
tendenzen.
Es gibt ferner noch Leidenschaften, die nicht allen Menschen zugänglich
sind, sich aber nicht wesentlich von den allgemein menschlichen unter-
scheiden. Von diesen Leidenschaften untersucht Verf. in einem dritten
Kapitel die ästhetische, die religiöse und die politische Leidenschaft.
Behufs Charakterisierung der ästhetischen Leidenschaft knüpft Verf. an
die Untersuchungen von Groos über den Ursprung der ästhetischen Ge-
fühle an. Die ästhetische Leidenschaft ist gegeben, sobald die Kunst als
ein absolutes Gut erkannt wird. Die ästhetische Leidenschaft ist, nach
Ribot, im schaffenden Künstler weniger stark ausgeprägt, als im kunst-
begeisterten Dilettanten, denn sie wird in diesem Falle durch die Arbeit, die
der Künstler zu leisten hat, nicht beeinträchtigt, wobei Verf. Ubersieht, daß
beim schaffenden Künstler noch andere Momente in Frage kommen, die
beim rezeptiven ästhetischen Verhalten keine Rolle spielen, aber geeignet
sind, dem Schaffenden den höheren Genuß zu Bichern.
Der religiösen Leidenschaft in ihrer kontemplativen und aktiven Form
wird eine eingehende Besprechung gewidmet. Die kontemplative religiöse
Leidenschaft äußert sich im Mystizismus und in der Askese, die aktive reli-
giöse Leidenschaft sucht entweder zu Uberzeugen oder treibt zu Verfolgungen.
Im ersteren Fall liegen ihr altruistische Tendenzen, die Sympathie mit den
Ungläubigen und Überfluß von Energie, der nach außen drängt, zugrunde
Im zweiten Fall besteht Antipathie gegen die Ungläubigen.
Die politische Leidenschaft entspringt ans dem sozialen Instinkt. Beim
Realisten verbindet sich die politische Leidenschaft mit persönlichem Ehr-
Archiv für Psychologie. XI. Literatur. 2
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Literaturbericbt
geiz, dessen Ziel mit demjenigen der politischen Leidenschaft zusammen-
fällt. Beim Idealisten kommen egoistische Tendenzen in Wegfall. Auch
der Patriotismus ist eine Leidenschaft, die im sozialen Instinkt wurzelt
Außer diesen Leidenschaften gibt es noch andere, die um des Objektes
willen, auf das sie gerichtet sind, als geringfügig bezeichnet werden können.
Von solchen Leidenschaften sind z. B. die Sammler von Medaillen, Marken.
Insekten nsw. beseelt. Hier besteht immer eine Disproportion zwischen dem
Wert deB Objekts und der Intensität der Leidenschaft Ihrem Wesen nach
sind diese Leidenschaften meistens Abarten des Geizes, nur daß bei ihnen in
der Regel auch ästhetische Motive eine Rolle spielen, sie entstehen daher
nur dann, wenn eine gewisse Höhe der Geisteskultur erreicht ist
Am Schluß dieses Abschnittes wirft Verf. die Frage auf, ob ans Affekten
Leidenschaften entstehen können? Im allgemeinen ist diese Frage zu ver-
neinen. Affekte können Vorläufer einer Leidenschaft sein oder sie einleiten,
jedoch sich ebensowenig in eine Leidenschaft umwandeln, als akute Krisen
zu chronischen Leiden führen. Chronische Krankheitszustände entstammen
tiefer liegenden Ursachen, deren Vorhandensein sich zuerst in akuten An-
fällen ankündet Dasselbe gilt von den Leidenschaften und ihrem Ver-
hältnis zu den Affekten.
Das vierte und letzte Kapitel behandelt die Frage, in welcher Weise
Leidenschaften ihren Abschluß finden. Zunächst versucht Verf. die allge-
meinen Züge der Entwicklung der Leidenschaften aufzuzeigen. Meistens ist
die Leidenschaft virtuell vorhanden, ehe sie bewußt wird. Abgesehen von
der im Unbewußten und Unterbewußten sich wahrscheinlich vollziehenden
Arbeit, kommen die die Leidenschaft vorbereitenden Prozesse in fragmen-
tarischen, momentanen Tendenzen, die alle im gleichen Sinne auf dieselbe
Person oder Sache gerichtet sind, zum Ausdruck. Diese attraktiven und
repulaiven Tendenzen sind dem Gesetze der Summation nervöser Erregrungen
unterworfen. Durch Assimilierung aller Werturteile wird die Leidenschaft
gefestigt Sobald eine herrschende Vorstellung auftaucht, die bewußt als
solche erkannt wird, ist die Leidenschaft gegeben. Spricht man von plötz-
lich auftretenden Leidenschaften, so handelt es sich im Grunde zunächst um
die Auslosung eines Affektes, um die fast reflektorische Reaktion eines prä-
disponierten Mechanismus.
Eine Leidenschaft erlischt: 1) wenn Erschöpfung eintritt, 2) wenn sie
sich in eine andere umwandelt, 3) wenn sie durch eine andere ersetzt wird,
4) wenn Geisteskrankheit eintritt, 5) wenn der Tod eintritt
Dem Gesamtphänomen der Leidenschaft liegen physiologische Erregungs-
vorgänge zugrunde. Diese sind, nach der Auffassung des Verfassers, auch
dann vorhanden, wenn die Leidenschaft durch die Vorgänge des täglichen
Lebens Unterbrechungen erfährt. Wenn das Bewußtsein auch nicht von der
Leidenschaft beherrscht wird, so kann sie doch im Unbewußten fortbestehen.
Ohne diese Annahme läßt sich die Stabilität der Leidenschaft und das er-
neute Auftauchen der fixen Idee schwer erklären. Je intensiver die physio-
logische Erregung ist, desto schneller kann Erschöpfung eintreten. Erlischt
eine Leidenschaft infolge von Erschöpfung, so bedeutet es, daß die physio-
logische Erregbarkeit nicht mehr besteht.
An dieser Stelle wird ein Abschnitt Uber die Beziehung zwischen Leiden-
schaft und Gewohnheit eingeschaltet Die Gewohnheit bildet, wie Verf be-
hauptet kein konstituierendes Element der Leidenschaft Als akzessorischer
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Literaturbericht.
19
Faktor kann sie für das Bestehen der Leidenschaft unnütz, nützlich und
schädlich sein. In der wahren Leidenschaft macht sich die Gewohnheit nur
scheinbar geltend, da die Stabilität der Leidenschaft in den ihr zugrunde
liegenden anziehenden und abstoßenden Tendenzen ihre Quelle hat. Die
Leidenschaft bleibt nicht deshalb lebendig, weil ihr eine Gewohnheit zu-
grunde liegt, sondern sie erscheint wie eine Gewohnheit, weil sie lebendig
ist Handelt es sich um eine nicht echte Leidenschaft, so kann sie durch
Gewöhnung unterstützt werden. Die Erfahrung, ob eine Leidenschaft be-
stehen bleibt oder erlischt, wenn mit der Möglichkeit ihrer Betätigung ge-
brochen wird, ist ein Prüfstein für die Tiefe der Leidenschaft. Die Gewohn-
heit kann auch schädigend wirken, indem sie die Leidenschaft abstumpft
Wenn eine Leidenschaft dadurch ihr Ende erreicht daß sie sich in eine
andere umwandelt, so muß das Individuum Uber einen Energievorrat ver-
fügen, der zur Entladung drängt nnd eine neue Vorstellung imstande sein,
die Herrschaft zu behaupten. Verwandelt sich eine Leidenschaft in ihr Gegen-
teil, so erleidet die dominierende Vorstellung keine Änderung, nur ihre Be-
wertung ändert mathematisch gesprochen, ihr Vorzeichen. Daß eine Leiden-
schaft durch eine völlig andere ersetzt wird, kommt selten vor.
Da eine Leidenschaft gelegentlich im Irrsinn endigt wirft Verf. die alte
Frage auf, ob Leidenschaften Uberhaupt als pathologische Zustände zu be-
trachten seien ? Seine Überlegungen führen zum Schluß, daß es kein Merk-
mal gibt, welches gestattet, jederzeit Leidenschaften und Geisteskrankheit
mit völliger Sicherheit voneinander zu unterscheiden. Sie scheinen, wie Verf.
sagt, aus demselben Stoff geschnitten zu sein, dennoch ist ihre völlige Identi-
fizierung nicht statthaft
Findet eine Leidenschaft ihren Abschluß im Tode, so kann dies in der
Weise geschehen, daß der von der Leidenschaft Beherrschte ihr frönt, ohne
zu beachten, daß sie zum Tode führen kann (wie z. B. der Trunk) oder so,
daß das betreffende Individuum wissend und freiwillig in den Tod geht.
Dies ist in Kürze der wesentliche Inhalt des Buches. Dafür, daß sich
in ihm manche feine Beobachtung findet, bürgt der Name des Verfassers.
Es vermag aber den Leser in mancherlei Beziehung nicht zu befriedigen. Dies
liegt zum Teil au der Schwierigkeit des Stoffes, zum Teil aber auch daran,
daß Verf. die von ihm selbst vorgeschlagenen methodologischen Grundsätze
nicht genügend befolgt Wir vermissen z. B. eine wirklich eingehende Be-
rücksichtigung des vorliegenden psychopathologischen Materials, auch wird
das biographische Material mehr zur Illustration irgendeines Falles heran-
gezogen, als daß es für die Untersuchung selbst irgendwie maßgebend würde.
Gerade die grundlegenden Probleme werden nicht erschöpfend behandelt, so
z. B. die Frage, wie die Fixierung der Vorstellung in der Leidenschaft zu-
stande kommt Der Hinweis, daß die der Leidenschaft zugrunde liegende
Tendenz in der fixierten Vorstellung ihren bewußten Ausdruck findet ist
nicht geeignet, Klarheit zu schaffen, ebensowenig wird man sich damit be-
gnügen können, das Beharren einer Leidenschaft durch das Beharren der
ihr zugrunde liegenden Tendenzen und ihr erneutes Hervorbrechen nach
zeitweiligem Verschwinden durch unbewußtes Vorhandensein während dieser
Zeit zu erklären. Das Zurückgreifen auf unbewußte Tendenzen ist Uber-
haupt nicht geeignet, die psychologische Erkenntnis zu fördern. Erkennt
man an, daß die affektive Stimmung auf bestimmte Vorstellungen reprodu-
zierend zu wirken vermag, daß gerade hierdurch die Fixierung einer Vor-
2*
20
Literaturbericht.
Stellung: eingeleitet wird, so wird man wohl dazu kommen, das Verhältnis
zwischen Affekt und Leidenschaft anders zu fassen, als Eibot. Ob Leiden-
schaften überhaupt mehr sind als Dispositionen zu bestimmten Affekten und
Willenshandlungren, wir also tatsächlich nie Leidenschaften, sondern immer
nur Affekte erleben, muß eine tiefer gehende Analyse, als Ri bot in seinem
Essai bietet, feststellen. Vielleicht hätten die Ausführungen Ribots an
Klarheit gewonnen, wenn er eine andere Stoffeinteilung gewählt hätte. Nahe
▼erwandte Probleme, wie z. B. das Verhältnis zwischen Affekt und Leiden-
schaft, die Entwicklung der Leidenschaft im allgemeinen und die Bedeutung
der Gewöhnung für die Entstehung der Leidenschaft werden an weit aus-
einander liegenden Stellen behandelt, ohne daß dies Vorgehen durch den
Gedankengang der Arbeit bedingt erscheint.
M. Kelchner (Berlin-Halensee).
8) J.W. Nahlowsky, Das Gefühlsleben in seinen wesentlichen Erscheinungen
und Beziehungen. Dritte Uberarbeitete Auflage, herausgegeben von
Chr. Ufer. Leipzig, Veit & Comp., 1907. M. 3.— ; geb. M. 4.—.
Die erste Auflage des vorliegenden, 205 Seiten umfassenden Buches er-
schien im Jahre 18(52, die zweite im Jahre 1884. Der Verf. starb 1885. Eb
muß dem Herausgeber wie der Verlagsbuchhandlung als Verdienst angerechnet
werden, das sympathische Werkchen nunmehr in dritter Auflage erscheinen
zu lassen und es so der psychologischen Literatur erhalten zu haben, und
das umsomebr, als es, wie auch der Herausgeber in einem Vorwort bemerkt,
immer noch die einzige umfassendere Darstellung des Gefühlslebens sein
dürfte, welche die Herbartsche Schule gezeitigt hat Auch wer, wie der
Ref., die psychologischen Grundanschauungen Herbarts und seiner Schule
nicht teilen kann, wird das Buch nicht ohne Anregung lesen. Die Über-
arbeitung von seiten des Herausgebers betrifft Verbesserungen im sprach-
lichen Ausdruck und namentlich die Ausmerzung so vieler Fremdwörter, an
denen die früheren Auflagen litten. Im Vorwort versucht der Herausgeber u. a.
eine Charakterisierung der Hauptrichtungen auf dem Gebiete des Gefühls.
Indem er auch auf Herbarts Pädagogik zu sprechen kommt, bestreitet er,
daß sie mit seiner Psychologie stehe und falle, hebt aber andererseits gegen
W.James hervor, daß zum vollen Verständnis der ersteren auch die
Kenntnis der psychologischen Grundanschauungen Herbarts nötig sei.
Das Buch selbst zerfällt nach einer Einleitung (»Zur Unterscheidung von Emp-
findung und GeflihN) in zwei Hauptteile und einen Anhang. Der erste Teil
behandelt das Gefühlsleben im allgemeinen, der zweite im besonderen. Im
Anhang folgen nach einigen Vorbemerkungen in einer ersten Abteilung die
»Gemütszustände, die mit dem Streben (Verlangen und Verabscheuen) innigst
zusammenhängen« und in einer zweiten diejenigen, welche »wesentlich auf
körperlicher Grundlage beruhen.« Kiesow (Turin).
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Literaturbericht.
21
9) N. Alechsieff, Die Grundformen der Gefühle. Psychologische Studien.
UI. Bd. 2. und 3. Heft 1907. 116 Seiten.
Die GefUhlslehre Wundts hat zu zahlreichen mehr oder weniger gründ-
lichen Arbeiten Veranlassung gegeben. Man hat sie zu beweisen und zu
widerlegen gesucht Aus den Untersuchungen Alechsieffs, die er im
Psychologischen Laboratorium der Universität Sofia angestellt und in vor-
liegender Abhandlung beschrieben hat, scheint, nach Ansicht des Verfassers,
die Richtigkeit der Annahmen Wundts hervorzugehen. In methodologischer
Beziehung bietet A. nichts Neues: er untersucht den Puls und die thorakale
Atmung in der üblichen Weise und bringt die bei den Gefühlsuntersuchungen
gebrauchlichen Reize in Anwendung. Die Erlebnisse der Versuchspersonen
während des Versuchs werden sorgfältig notiert. Einen weiten Raum nehmen
in der Arbeit A.s Auseinandersetzungen mit anderen Experimentatoren ein.
Er sucht einerseits Übereinstimmungen mit seinen Ergebnissen festzustellen,
andererseits Abweichungen zu erklären. Da Verfasser sich auch mit meiner
Arbeit öfters auseinandersetzt, kann ich nicht umhin, wenigstens einige Ent-
gegnungen in das Referat einfließen zu lassen.
Bezüglich der Ausmessung seines Materials bemerkt Verfasser, daß er
die Kurven je nach ihren Veränderungen, die den besonderen Veränderungen
in den parallelgehenden psychischen Erlebnissen entsprachen, in Fraktionen
teilte und hierbei in den Pulskurven die Atmungsperioden berücksichtigte,
so daß die Pulse von einer bestimmten Phase der Atmung bis zur entspre-
chenden Phase des folgenden Atemzuges verrechnet wurden. In der zahlen-
mäßigen Wiedergabe der einzelnen Versuche finden sich Angaben Uber die
Höhe und Länge der einzelnen Atemzuge und die Durchschnittswerte der
Pulslängen und Pulshöhen innerhalb jeder einzelnen Atmungsperiode.
Aus den Angaben des Verfassers geht nicht hervor, wie eine Fraktio-
nierung der Kurven nach den parallelgehenden psychischen Erlebnissen der
Versuchspersonen möglich war. Es wird nicht gesagt, daß die Versuchs-
person Änderungen ihres Bewußtseinszustandes stets markierte, wenn auch
von einem Gummiball für die Markierung der Roizeinwirkung sowie der be-
sonderen Erlebnisse, die sich während des Versuchs ereigneten, die Rede ist
Aus den der Arbeit beigegebenen Kurven scheint hervorzugehen, daß der
Moment des Wechsels im subjektiven Erleben oft aus den Kurven erschlossen
wurde. Zuweilen bietet ja die Kurve gewisse untrügliche Anhaltspunkte,
wie zum Beispiel Figur 3 für den Moment des Eintritts der Lösung (vgl. die
Aussagen der Vp. auf S. 187), wie lange aber die nach der Lösung ein-
tretende, von der Vp. beobachtete Erregung währt, erschließt Verfasser
offenbar ohne ersichtlichen Grund aus der Kurve. Ein Signal ist hier nicht
vorhanden. Ebenso ist nicht ersichtlich, wie Verfasser dazu kommt in Figur 5
die Fraktion e—f oder in Figur 7 die Fraktion d— e als Normalzustand zu
bezeichnen; im Versuch, der Figur 9 entspricht, heißt es, daß die Vp. mit
dem Beginn des Versuchs schwache Erwartung beobachtete, nichtsdesto-
weniger wird die Strecke bis b in der Tabelle als Normalzustand und b — e
als Erwartung angegeben. Auch hier ist bei b kein Signal sichtbar. Uns
will es scheinen, daß diese Art der Fraktionierung viel willkürlicher und
irreführender ist als die Benutzung eines konstanten Zeitmaßes. Verfasser
spricht sich gegen die Bestimmung namentlich der Pulsfrequenz innerhalb
r
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Litcraturbericht.
eines konstanten Zeitmaßes aus. weil die durch die Atmung bedingten Ver-
änderungen in der Pulskurve auf diese Weise leicht Ubersehen werden können.
Nun scheinen aber die Beschleunigung des Pulses im Inspirium und die Ver-
langsamung im Exspirium unter der Einwirkung des Reizes sich mindestens
abzuschwächen, wenn nicht ganz zu verschwinden, auch sagt A. selbst, daß
die Variation der Atmung keine so großen und ausdrucksvollen Pulsver-
änderungen erzeugt, daß man sie mit den Gefühlssymptomen verwechseln
konnte. Deshalb ist es nicht durchaus unzulässig, die Pulskurve natürlich
mit Vorsicht und unter steter Kontrolle, in Fraktionen zu verrechnen, die
auf die einzelnen Atemphasen keine besondere Rücksicht nehmen. Läge
hierin eine erhebliche Fehlerquelle, so ließen sich bei dieser Art der Aus-
messung schwerlich übereinstimmende Resultate erzielen, da die Zeitfraktionen
die Atmungsperiode in den einzelnen Versuchen an verschiedenen Stellen
durchbrechen. Die durch den Reiz bedingten Modifikationen übertönen offen-
bar die rein physiologisch bedingten Veränderungen. Ist diese Art der
Berechnung auch keine ideale, so muß zu ihren Gunsten gesagt werden, daß
die Benutzung eines konstanten Zeitmaßes den Vorzug hat, die Ausmessung
der Kurven vom Gang des Kymographions, der nie absolut gleichmäßig
ist — mit einer Verlangsamnng der Umdrehungsgeschwindigkeit muß man
immer rechnen — unabhängig zu machen, vorausgesetzt, daß man sich einer
Kontaktuhr bedient und die Sekundenmarken bei der Ausmessung verwendet.
Wie A. die Durchschnittslänge der Pulse innerhalb einer Fraktion bestimmt
hat, sagt er nicht. Die Bestimmung der Pulshöhe erhebt, wie Verfasser
bemerkt, keinen Anspruch auf große Genauigkeit wegen der oftmals vor-
kommenden Schleuderung der Schreibbebel. Inwieweit die Höhenänderungen
der Pulse überhaupt den Modifikationen des Blutdrucks entsprachen, muß
dahingestellt bleiben. Lehmann hat eingehend auseinandergesetzt, in welcher
Weise die Veränderungen der Pulshöhen, dank der Konstruktion des Sphyg-
mographen, eine direkte Folge der Volumänderungen des Armes sein können,
ohne mit den Veränderungen des arteriellen Blutdrucks viel zu schaffen zu
haben. Es ist kein »Nichtbeachten« sondern Vorsicht, wenn man vermeidet,
die vieldeutigen Höhenänderungen des Pulses als Symptome für das Vor-
handensein bestimmter Bewußtseinszuständc zu verwenden.
Verfasser gewährt zu wenig Einblick in sein Material. Seine Unter-
suchungen führt er nur beispielsweise an. Wir finden immer zwei oder drei
Aussagen der Vp. Uber einen zu beobachtenden Zustand in aller Ausführlich-
keit wiedergegeben und die Berechnungen der ihnen entsprechenden Kurven,
dann heißt es weiter, daß so und so viele ähnliche Versuche dieselben
Resultate ergaben. Im Interesse der Forschung müssen doch wenigstens
tabellarische Übersichten über sämtliche experimentellen Befunde eines Autors,
aus denen er seine Schlüsse zieht, gefordert werden.
Für irreführend halte ich es, wenn Verfasser in den von ihm reprodu-
zierten Tabellen den Zustand der Vp. als »Normalzustand« bezeichnet, wenn
aus den entsprechenden Selbstbeobachtungen hervorgeht, daß die Vp. gespannt,
erregt usw. gewesen ist. Verfasser sagt gelegentlich, daß man den Zustand,
in dem sich der Beobachter außer der Reizphase befindet, Normal- oder
Indifferenzzustand nenne und führt weiterhin aus, daß die Untersuchung
dieses Zustandes notwendig sei, da die bisherigen Untersuchungen sich
hauptsächlich nur mit der Bestimmung der Eigenschaften der Normalkurve
beschäftigt haben. Diese Ausführungen sind in doppelter Beziehung un-
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Literaturbericht.
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zutreffend. Man bezeichnet den Zustand der Vp. natürlich nur dann als
indifferent, wenn sie ihn selbst auf Grund sorgfältiger Selbstbeobachtung als
solchen bezeichnet und die objektiven Befunde diese Angabe zu bestätigen
scheinen. Wie die Angaben der Vp., namentlich durch die Beobachtung
der Atemkurve, kontrolliert und unterstützt werden können, beschreibt Ver-
fasser übrigens ganz in Übereinstimmung mit meinen Angaben Uber diesen
Gegenstand. Es ist deshalb nicht einzusehen, warum Verfasser sagt, daß
dem Normalzustand bisher nicht genügend Beachtung geschenkt worden sei.
Daß es Zustände gibt, die mit Recht Indifferenzzustände genannt werden,
weil die Vp. sich ruhig verhält, keiner Erwartung hingibt, nicht erregt ist,
auch keine Lust oder Unlust erlebt, scheint Verfasser anzuerkennen, denn
in den Selbstbeobachtungen seiner Vp. finden sich gelegentlich derartige
Angaben. Diese Zustände nilisßen den Ausgangspunkt solcher Experimente
bilden, die dazu bestimmt sind, den durch den Keiz hervorgerufenen Bewußt-
seinszustand und seine körperlichen Begleiterscheinungen kennen zu lehren.
As. irrtümliche Auffassung von der Bedeutung der Angaben anderer Ex-
perimentatoren Uber das Vorhandensein eines Indifferenzzustandes bei ihrer
Vp. verleitet aber A., nicht den wahren Normalzustand zum Ausgangspunkt
seiner Untersuchungen zu machen. A. sagt fast bei jedem Versuch, daß die
Vp. den Reiz erwartete, gespannt war und dgl. mehr. Dieser Umstand läßt
es »ehr möglich erscheinen, daß Verfasser oft keine reinen Resultate erhalten
hat. Die Abweichungen fremder Versuchsergebnisse von den seinigen, die
A. oft durch Vernachlässigung der Selbstbeobachtung seitens der anderen
Experimentatoren erklärt, sind deshalb vielleicht anders zu deuten. Die von
A. »planmäßig« untersuchten Normalzustände sind nichts weniger alB Normal-
zustände.
Von den psychischen Zuständen, die durch'Reizeinwirkung hervorgerufen
wurden, wird zunächst der Thätigkeitszustand beschrieben, der wie bei
Gent auch als Konzentration der Aufmerksamkeit bezeichnet wird. Er soll
besonders deutlich hervortreten, wenn die Vp. geistige Arbeit, die meistens
in Kopfrechnen bestand, zu erwarten oder zu leisten hatte. In Übereinstimmung
mit Gent wird dieser Zustand als eine Kombination von Spannung und
Erregung beschrieben. Gewöhnlich ist die Erregung der dominierende Zu-
stand. Objektiv kennzeichnet sich der Tätigkeitszustand durch oberfläch-
liche, manchmal unregelmäßige und gedehnte Atmung und im ganzen ver-
kürzten Puls.
Reine Spannungszustände zu erhalten erwies sich, wie Verfasser sagt,
als unmöglich, denn diese sind, ebenso wie die Erregungszustände, immer
nur Grenzfälle des Tätigkeitszustandes. Am reinBten trat Spannung im Zeit-
raum zvischen zwei Metronomschlägen zutage oder wenn Licht oderTaßt-
eindrticke erwartet wurden. Die objektiven Symptome waren: gehemmte,
oberflächliche, manchmal auch verlangsamte Atmung und verringerte Puls-
frequenz. Die Vp. beobachteten einerseits Spannungsempfindungen, anderer-
seits charakterisierten sie die Spannnng als ein rein subjektives Erlebnis,
das auf den Zustand des ganzen Bewußtseins bezogen wird. Die Lösung
ist objektiv und subjektiv das Gegenbild der Spannung.
Da sich in meinen Versuchen eine Pulsbeschleunigung als Begleit-
erscheinung der Spannung ergab, nimmt Verfasser an, daß es sich bei mir
um Tütigkeitszustände und nicht um Spannungszustände gehandelt habe. Es
hieße aber die Selbstbeobachtung der Vp. völlig mißachten, wenn man die
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Literaturbericht.
Deutung A.s akzeptieren wollte. Wenn in der Selbstbeobachtung geübte
Vp. lediglich Spannung zu Protokoll geben, so muß dieser Zustand als der
herrschende betrachtet werden und kann man seine körperlichen Begleit-
erscheinungen nur auf Grund dieser Angabe zu bestimmen suchen. Meine
Vp. hatten sich übrigens durchaus nicht immer auf die Ausführung einer
Tätigkeit vorzubereiten, in einer Reihe von Versuchen erwarteten sie gespannt
einen Gesichts- oder Gehörsreiz oder wußten überhaupt nicht, was ihnen
bevorstand. Ebenso ist es nicht richtig, daß ich die Spannung in Organ-
empfindungen aufgelöst habe, denn ich habe sie auf Grund der Aussagen
meiner Vp. als einen Aufmerksamkeitszustand beschrieben, der durch die
Eigenart seiner Empfindungsgrundlage seine eigentümliche Färbung erhält
Diesen Aufmerksamkeitszustand habe ich weder in Organempfindungen auf-
gelöst, noch habe ich mich veranlaßt gesehen, ihn als Gefühl zu bezeichnen.
Die Erregung hat A. in der WeiBe hervorgerufen, daß er der Vp. den
Befehl erteilte, sich in diesen Zustand zu versetzen. Es wird nicht gesagt,
wie es die Vp. anstellte, diesem Befehle nachzukommen. Jedenfalls hat es
sich bei diesen Versuchen immer um recht komplizierte Zustände gehandelt,
die nicht ohne weiteres mit der durch einfache Sinnesreize erzeugten Lust
oder Unlust verglichen werden können. Als objektive Symptome der Er-
regung werden angegeben : beschleunigte, etwas unregelmäßige und vertiefte
Atmung, verkürzte und erhöhte Pulse; die Höbe der Pulse wies ebenfalls
Unregelmäßigkeiten auf. Das Ergebnis der subjektiven Beobachtungen war,
daß die Erregung ein allgemeiner psychischer Zustand ist, der von Organ-
empfindungen begleitet wird und ebenso wie die Spannung weder analysiert
noch lokalisiert werden kann. Die Beruhigung wurde oft, wie Verfasser
sagt, als ein negativer Zustand im Verhältnis zur Erregung bezeichnet, also als
>ein Zustand, bei dem alles in unserem Bewußtsein fehlt, was den Erregungs-
zustand kennzeichnet«, d.h. — so müssen wir schließen — es fehlt alles das. was
den Erregungszustand vom Normalzustand unterscheidet, mithin wäre die Be-
ruhigung der Normalzustand. Dies ist offenbar nicht die Meinung des Verf.,
doch scheint er durch diese Beschreibung unfreiwillig der Wahrheit nahe zu
kommen, denn der Zustand der Beruhigung ist, wie aus den Aussagen seiner
Vp. hervorgeht, wenn keine Erregung vorangegangen ist, mit beginnender
Schläfrigkeit identisch, also einem Zustand, der sich vom Indifferenzznstande,
abgesehen von veränderten Körperempfindungen, nur graduell, durch einen
geringeren Aufmerksamkeitsgrad unterscheidet, wenn nicht ein Wohlgeftthl
hinzutritt Man vergleiche die Aussagen auf S. 221. Auch die objektiven
Symptome der Beruhigung, namentlich die oberflächliche, langsame Atmung
sind für den Schlaf charakteristisch.
Bei der Untersuchung der Lust und Unlust wird an die bekannte, von
Lehmann bei der Beurteilung seiner Kurven ganz besonders berücksichtigte
Tatsache erinnert, daß jeder Eindruck, der eine Gefühlsreaktion hervorrnfen
soll, gleichzeitig eine Konzentration der Aufmerksamkeit bewirkt, so daß
die Begleiterscheinungen der Lust und Unlust durch die Symptome der Auf-
merksamkeit entstellt werden können. Verfasser richtet deshalb zweierlei
Versuchsreihen ein: einmal war die Reizeinwirkung von starker Konzentration
der Aufmerksamkeit vorbereitet und begleitet, das andere Mal wurden die
Vp. angewiesen, sich der Reizwirkung möglichst passiv hinzugeben. Die Vp.
berichteten in der ersten Versuchsreihe, daß, wenn die Applikation eines
gefühlsbetonten Reizes durch eine starke Konzentration der Aufmerksamkeit
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Literaturbericht.
25
vorbereitet ist, jene eine Lösung oder Beruhigung bewirkt, es kann aber
auch eine Verstärkung des Tätigkeitszustandes eintreten. Ist dies der Fall,
so macht sich die durch den Reiz ausgeloste LuBt oder Unlust nur schwach
geltend, tritt aber eine Lösung oder Beruhigung ein, so treten die Lust und
Unlustgefühle deutlicher hervor. In den Puls- und Atemkurven kommt, wie
Verfasser sagt, nur der herrschende psychische Zustand zum Ausdruck. Die
Symptome der anderen psychischen Komponenten machen sich nur dann
geltend, wenn sie die herrschenden Symptome verstärken und ergänzen.
Auch an dieser Stelle zieht Verfasser eine Gruppe von mir ausgeführter
Versuche heran, und sucht sie mit seinen Ergebnissen in Einklang zu bringen.
Ich muß aber bemerken, daß Verf. nur unter Umgehung der Selbstbeobachtungen
meiner Vp., wie er sagt, auch nach Betrachtung meiner Versuche den Satz auf-
stellen kann, daß die Unabhängigkeit der Lust und Unlust von den Modifi-
kationen der Ausdruckskurve nur dann zum Ausdruck kommt, wenn es sich
um Komplexe von psychischen Erscheinungen handelt, in denen Lust oder
Unlust nicht der herrschende subjektive Vorgang ist. In meinen von A.
zitierten Versuchen waren Lust und Unlust laut Aussage die dominierenden
Bewußtseinszustände und dennoch machten sich nicht die für sie charakte-
ristischen Symptome geltend, selbst wenn man annehmen wollte, daß es sich
in den Kurven nicht, wie ich glaube, um die Symptome der Lösung sondern,
wie A. meint, namentlich bei den Unlustvereuchen, um diejenigen der Be-
ruhigung handelt. Die Bedeutung der Aussagen der Vp. bleibt doch dieselbe,
ob man nun die ausführlichen Protokolle veröffentlicht oder den subjektiven
Befund in Stichwörtern wiedergibt, an ihnen sollte nicht gedeutelt werden.
Selbst wenn meine Vp. der Selbstbeobachtung nicht genügend obgelegen
hätten, wie A. anzunehmen scheint, so werden sie doch wenigstens den
dominierenden Bewußtseinszustand richtig erkannt haben und auf den kommt
es ja nach A. bei der Beurteilung der Kurven in erster Reihe an.
In der zweiten Versuchsreihe A.s, als die Vp. sich der Gefühlewirkung
des Reizes, der nicht vorher angekündigt wurde, passiv hingaben, waren,
wenn Lust ausgelöst wurde, folgende Resultate zu verzeichnen: die Pulse
waren verlängert und erhöht, in der Atmnng machte sich eine Verflachung
und Beschleunigung geltend. Diese Symptome traten auf, gleichviel durch
welchen Sinnesreiz die Lust hervorgerufen worden war. Nur wenn Geschmacks-
reize in Anwendung kamen, waren die FrequenzUnderungen des Pulses nicht
eindeutig, was A. im wesentlichen darauf zurückführt, daß die Versuchs-
bedingungen bei den Geschmack Brei zen nicht gUnstig sind, da die Vp. meistens
das Verlangen haben, die applizierte Flüssigkeit zu verschlucken. Warum
diesem Verlangen nicht nachgegeben wurde, wird nicht gesagt Ganz auf-
geklärt erscheinen diese Abweichungen dem Verfasser nicht. Die Annahme,
daß eine Abhängigkeit der sogenannten Ausdrucksvorgänge vom Reiz be-
stehen könnte, hält Verfasser für gewagt, auch dann, wenn sich die Puls-
verkürzung bei der Anwendung von Geschmacksreizen stets zeigen sollte.
Diese Ablehnung wird aber nicht genügend begründet, in Anbetracht dessen,
daß sich in der Literatur doch beachtenswerte Angaben Uber die Bedeutung
des Reizes für die körperlichen Modifikationen finden (z. B. bei Stevens)
und die von Lehmann unternommenen Versuche, den Nachweis völliger
• Unabhängigkeit der Reaktion vom Reiz zu erbringen, nicht als beweisend
angesehen werden können. Die Behauptung des Verfassers, daß bei mir auch
hier wieder Selbstbeobachtungen fehlen, erscheint mir um so merkwürdiger,
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Literaturbericht.
als ich gerade bei den Geschmacksversuchen eine Parallelität zwischen den
Intensitätsschwankungen des Gefühls und den Schwankungen der Puls-
frequenz feststellen konnte, was sicher nur bei sehr genauer Selbstbeobachtung
der Vp. möglich war, und ich die hierhergehörigen Versuche ausführlich
beschrieben habe.
Die Unlust wurde von A. in ähnlicher Weise untersucht wie die Lust.
Als ihre objektiven Symptome wurden von A. verkürzte und erniedrigte
Pulse festgestellt, die Atmung war verschieden modifiziert, je nachdem sich
die Vp. den Schmerze hingab oder ihm widerstrebte. Im enteren Fall war
die Atmung vertieft und verlangsamt, im letzteren gehemmt und oberflächlich-
Die individuell verschiedene Verhaltungsweise der Vp., wie sie eich in
der Atmungskurve geltend macht, scheint mir nicht nur und nicht vornehm-
lich bei den Unlustgefühlen zur Geltung zu kommen, ich fand sie bei anderen
Bewußtseinszuständen ebenfalls deutlich ausgeprägt, u. a. auch in der Spannung.
Wichtiger ist folgendes : Verfasser sieht in seiner Beobachtung, daß die Puls-
und Atemveränderungen bei Rosen- und Valerianageruch auf dieselbe Weise
erfolgen, wenn die beiden Reize als von Unlust begleitet angegeben werden
und bei zwei Rosenöleinwirkungen verschieden ausfallen, wenn man bei der
einen Lust und bei der anderen Unlust als begleitenden subjektiven Zustand
angibt, ein schwerwiegendes Beispiel dafür, daß die Ausdruckssymptome
nicht mit der Art der Reize, sondern mit den von ihnen ausgelösten Ge-
fühlen in Zusammenhang stehen. Nun wird ja der Zusammenhang der Aus-
druckssymptome und der Gefühle im allgemeinen nicht bestritten, es fragt
sich nur, welcher Art dieser Zusammenhang ist. Die Unabhängigkeit der
Reaktion vom Reiz wird durch jene Beobachtungen in keiner Weise dar-
getan. Daß die Art der Reaktion nicht ausschließlich von der Art des
Reizes bestimmt wird, sondern daß auch der Gesamtzugtand des psycho-
physischen Organismus hierbei sehr wesentlich in Betracht kommt, wird all-
gemein zugegeben und diese Abhängigkeit der Reaktion von der jeweiligen
psychophysischen Disposition des Individiums würde die Beobachtung A.8
zu erklären imstande sein. Daß bei allen von A. angewandten Unlustreizen
Pulsbeschleunigung zutage trat, beweist natürlich auch nichts gegen die
Unabhängigkeit der Reaktion vom Reiz, ganz ebensowenig wie der Umstand,
daß ich in meinen Versuchen einige Fälle, in denen sich keine Pulsbe-
schleunigung geltend machte, keiner bestimmten Reizart zugeordnet fand.
Um festzustellen, ob ein gleichzeitiges Erleben von Lust und Unlust
möglich ist, hat A. gleichzeitig mit Reizen aus zwei verschiedenen Sinnes-
gebieten, die geeignet waren, Lust und Unlust hervorzurufen, auf die Vp.
eingewirkt. Es ergab sich, daß die Vp. Lust und Unlust nie gleichzeitig
erlebten, sondern zwischen diesen Gefühlen hin und herschwankten. In den
Pulskurven sollen abwechselnd einerseits verkürzte und erniedrigte, anderer-
seits verlängerte und erhöhte Pulse zu beobachten gewesen sein.
Um zu entscheiden, ob Luat, Spannung, Erregung und ihre Gegensätze
Individual- oder Kollektivbegriffe sind, ließ A. seine Vp. durch verschiedene
Reize hervorgerufene Bewußtseinszustände derselben Gattung miteinander
vergleichen. In den objektiven Symptomen ließen sich qualitative Unter-
schiede nicht nachweisen, die Mehrzahl der Vp. sprach sich aber auf Grund
ihrer Selbstbeobachtungen dahin aus, daß es qualitative Unterschiede gibt
die im Wesen dieser Zustände selbst begründet sind.
In Anbetracht der vorstehenden Ergebnisse, kommt A. zu dem Schluß,
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Literaturbericht.
27
daß Wundt mit seiner Annahme dreier GefÜhlsdimensionen offenbar Recht
hat Alle untersuchten psychischen Erscheinungen sind, wie A. sagt, von
bestimmten Sinnesorganen oder Reizarten unabhängig und drücken die Ver-
änderungen in dem Zustande des Bewußtseins aus, die durch den Reiz hervor-
gerufen werden. Sie lassen sich, laut Aussage der Vp. nicht lokalisieren
oder objektivieren, sind undefinierbar und unzerlegbar und werden demnach
als elementare psychische Vorgänge bezeichnet.
Wollte man die Experimente A.s als unanfechtbar gelten lassen, so dürfte
man doch dem Schluß auf die Wesensgleichheit der Spannungs- und Er-
regungszustände samt ihren Gegensätzen einerseits und der Lust und Unlust
andererseits nicht ohne weiteres beipflichten. Die registrierten körperlichen
Veränderungen vermögen auf die psychische Gleichartigkeit der untersuchten
Bewußtseinszustände keinen wesentlichen Hinweis zu liefern, da über den
Zusammenhang jener Zustände und ihrer Begleiterscheinungen noch nichts
Genaueres bekannt ist. Das von A. beigebrachte Material an Selbstbe-
obachtungen vermag zwar gewisse flbereinstimmende Merkmale an den ver-
schiedenen Erlebnissen festzustellen, ihre Klassifizierung wird aber nur von
Erwägungen geleistet werden können, die das psychische Tatsachengebiet
in allen seinen Beziehungen Uberschauen. Gegen die Bogenannten Kriterien
der Gefühle, namentlich auch gegen den Wert des Kriteriums der Subjek-
tivität für die Einteilung des Elementaren sind gewichtige Einwände erhoben
worden (Ebbinghans, Stumpf). Eine prinzipielle Widerlegung haben sie
durch A. nicht erfahren. Ein näheres Eingehen hierauf erübrigt sich im
Rahmen dieses Referats. M. Kelchner [Berlin -Halensee).
10} G. R. d'AUonnes, L'explication physiologique de Temotion. Journal de
Psychologie normale et pathologique. Troisieme annee. Parts 1906.
36 S.
Nach einer kurzen Darlegung der GefUhlstheorien von James, Lange
und Sergi und einer kritischen Auseinandersetzung mit Franc, ois-Franck
und So liier, deren Angriffe den richtigen Grundgedanken jener Theorien
nicht widerlegt haben, sucht Verf. durch Heranziehung einiger Forschungs-
ergebnisse auf dem Gebiete der Physiologie und Pathologie die zentrifugalen
und zentripetalen Vorgänge, die den Gemütsbewegungen zugrunde liegen,
näher zu bestimmen.
Die Arbeiten von Bechterew und Sherrington beweisen, daß die in
der mimischen Muskulatur ausgelösten Empfindungen nicht zu den die Ge-
mütsbewegungen konstituierenden Faktoren gehören. Bechterew hat fest-
gestellt, daß im Thalamus opticus und auch in gewissen Partien des Nucleus
caudatus und des Nucleus lentiformis automatische Zentren für das Zustande-
kommen koordinierter mimischer Bewegungen vorhanden sind. Wenn Tieren
die Hirnrinde abgetragen worden ist, sie also ihrer Intelligenz völlig beraubt
sind und keine Gemütsbewegungen zu erleben imstande sind, so können
dennoch, dank des Vorhandenseins jener automatischen Zentren, durch innere
und äußere Reize mimische Reaktionen hervorgerufen werden. Sherrington1)
1] Referat im Archiv f. d. ges. Psych. Bd. VH. Heft 1 u. 2. (Kelchner.)
28
Literaturbericht.
bat seinerseits durch viviflektorische Versuche darzutun versucht, daß Hunde
eine Reihe von Affekten in unveränderter Intensität zu erleben imstande sind,
auch wenn die nervöse Verbindung des größten Teils ihres Körpers mit dem
Gehirn, infolge einer Durchtrennung des Rückenmarks in der Zervikalregion
und der beiden Nervi vagi, aufgehoben ist Demnach hätten also die körper-
lichen Veränderungen, welche die Gemütsbewegungen zu begleiten pflegen,
keine fundamentale Bedeutung für das Zustandekommen der letzteren. D'Al-
lones weist nun darauf hin, daß bei der psychologischen Ausbeute der Ver-
suche von Sherrington die oben erwähnten Befunde Bechterews Berück-
sichtigung finden müssen. Können den Reizen angepaßte Ausdrucksbewe-
gungen reflektorisch ausgelöst werden, so ist es sehr wohl möglich, daß den
scheinbar emotionellen Reaktionen der von Sherrington beobachteten
Hunde, die fast sämtliche somatische Empfindungen eingebüßt hatten, gar
kein Affekt zugrunde lag. Die Schlußfolgerung wird nahe gelegt durch
d'Allonnes' Beobachtungen an einer Frau, die an einer innerkörperlichen
Empfindungslosigkeit litt und gleichzeitig die Fähigkeit emotionelle Zustünde
zu erleben eingebüßt hatte, obgleich sie keinen Intelligenzdefekt aufwies und
ihre mimischen Reaktionen in normaler Weise abliefen1). Wenn diese Frau
ihre Unfähigkeit, GefÜhlszustände zu erleben, nicht ausdrücklich behauptet hätte
— eine Aussage die seitens des Beobachters nachgeprüft werden konnte — ,
so hatte Sherrington wahrscheinlich auf Grund der Ausdrocksbewegungeii
wie bei seinen Hunden anf das Vorhandensein eines Affekts geschlossen.
Offenbar sind nur die viszeralen Empfindungen Träger der Gemütsbewegungen,
die mimischen Bewegungen dagegen dienen bloß als Ausdrucksbewegungen.
Verf. unterscheidet den emotionellen Shock (l'emotion choc), emotionelle
Neigungen (l'emotion-inclination} und nicht emotionelle Neigungen (Hnclination
inemotive).
Dem emotionellen Shock liegen innere somatische Empfindungen zu-
grunde. Er weist verschiedene Modalitäten auf, die ihrerseits in verschiedener
Weise modifiziert erscheinen können. Die emotionelle Neigung ist die Ge-
mütsbewegung im gewöhnlichen Sinne des Worts. Sie ist dann gegeben,
wenn mit einem Komplex viszeraler Empfindungen gleichzeitig Vorstellungen
und Bewegungstendenzen, die sich durch motorische Entladungen kund tun,
auftreten. Von nicht emotionellen Neigungen spricht Verf., wenn der affektive
Kern der Gemütsbewegung aus irgendeiner Ursache verschwindet, während
die zur Gemütsbewegung gehörigen Vorstellungen und Ausdrucksbewegungen
weiter bestehen bleiben und sowohl intellektuelle Vorgänge als Handlungen
einleiten. Es gibt auch Neigungen, die überhaupt keinen emotionellen Ur-
sprung haben.
Zum Schluß wendet sich Verf. mit Recht gegen Solliers Versuch,
hypnotisierten Versuchspersonen viszerale Anästhesie zu suggerieren, um auf
diese Weise über die Bedeutung der viszeralen Empfindungen für die emotio-
nellen Phänomene Klarheit zu gewinnen, da man unter solchen Umständen
nie wissen kann, wie die Versuchspersonen einen derartigen Befehl auffassen
und ausführen. Beobachtungen an Hysterischen können hingegen, wenn die
bestehende viszerale Anästhesie kontrollierbar ist, zu brauchbaren Ergebnissen
führen.
Die Behauptung des Vorf., daß Lange und James die Gefühle auf
1) Referat im Archiv f. d. ges. Psych. Bd. VH. Heft 1/2. (Meumann.)
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Literatlirbericht.
29
Relationen von Empfindungen zurückführen, wodurch eine gewisse Verwandt-
schaft dieser Theorien mit Herbarts intellektnalistischer Auffassung gegeben
wäre, beruht offenbar auf einem Mißverständnis.
JA. Kel ebner (Berlin-HalenBee .
11) Dr. Oskar Röhn stamm, Die biologische Sonderstellung der Ausdrucks-
bewegungen. Journal für Psychologie und Neurologie. Band VII.
18 S. Leipzig 1906.
Verf. unterscheidet zwei Gruppen von Lebenstätigkeiten: Zwecktätig-
keiten und Ausdruckstätigkeiten. Die Zwecktätigkeiten bedeuten eine Er-
ledigung des Reizes im Interesse des gereizten Organismus, sie sind zweck-
mäßig in bezng auf den auslösenden Reiz; die Ausdruckstätigkeiten sind
lediglich eine expressive Reaktion, Äußerungen einer inneren gefühlsmäßigen
Znständlichkeit, die ohne ersichtlichen Schaden für den Organismus fort-
bleiben könnten. Der Unterschied zwischen Zwecktätigkeit und Ausdrucks-
tätigkeit ist, wie Verf. sagt, noch nicht ideal scharf definiert, da ja auch die
Ausdruckstätigkeiten im Maschinenbetrieb des Organismus ihre Stelle haben
werden. Wären die Ausdruckstätigkeiten schlechtbin unzweckmäßig, so wären
sie nicht >erhaltungsgemäß«. Die Zweckmäßigkeit der Ausdrucksbewegungen
liegt einmal darin, daß in ihnen überschüssige Mengen ausgelöster Nerven-
energie zur Entladung kommen — sie wirken wie Ventile — , dann aber auch
darin, daß sie als Ausdruck des zugrunde liegenden Gefühls verstanden
werden. Nicht alle Ausdrucktätigkeiten sind Ausdrucksbewegungen. So sind
z. B. die Gefühle oder ihre physiologischen Äquivalente als Ausdruckstätig-
keiten zu betrachten. Die Ausdrucksbewegungen sind zu unterscheiden von
Mittcilungs- oder Verständigungsbewegungen. Von Ausdrucksbewegungen
spricht Verf. nur dann, wenn es sich tatsächlich um den Ausdruck von Ge-
fühlen niederer oder höherer Ordnung handelt und nicht um konventionelle
Akte, die dem willkürlichen Verkehr mit der Außenwelt dienen. Die charakte-
ristischen Merkmale der Ausdrucksbewegungen sind : sie sind gefühlsmäßigen
Zuständigkeiten derartig fest und notwendig zugeordnet, daß sie als Aus-
druck eben dieser Zuständlichkeiten unmittelbar, auf dem Wege des Ein-
fühlens, verstanden werden und sie erfolgen unwillkürlich, jeder einge-
schobene Willkürakt vernichtet das innerste Wesen der Ausdrucks-
bewegung.
Die Hauptfrage, die K. zu entscheiden sucht, lautet: Wodurch wird die
spezielle Form der einzelnen Ausdrucksbewegung bestimmt? Verf. ist der
Meinung, daß für alle Ausdrucksbewegungen, ob sie sich in der querge-
streiften Muskulatur oder in den Viszeralorganen abspielen, ein einheitliches
Erklärungsprinzip gefunden werden muß. K. findet die gesuchte Erklärung
im Assoziationsprinzip in dem Sinne, daß ein primäres Gefühl oder ein Ge-
fühlskomplex sich unter den Zweckbewegungen diejenige als Ausdrucksbe-
wegung aussucht, die mit einem dem primären Gefühl möglichst ähnlichen
Gefühlston verbunden ist Die Ausdrucksbewegungen haben also Zweckbe-
wegungen zur Voraussetzung, ihr Verhältnis zueinander ist aber ein asso-
ziatives und nicht etwa ein evolutionistisches, sie sind nicht »irrtümlich liegen-
gebliebene Reste von Zweckbewegungeu«, wie Darwin behauptet. Die
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Literaturbericht.
Erlebnisse, welche die Form der AusdruekBtiitigkeiten bestimmen, brauchen
sich nicht im individuellen Dasein abgespielt zu haben, sondern können in
der phylogenetischen Vergangenheit zurückliegen.
Bezüglich der flir die Ausdrucksbewegungen maßgebenden anatomischen
Verhältnisse im Zentralorgan bemerkt Verf., daß der rohe Kern der Haube
und der Kern des dorsalen Längsbündels die am weitesten frontal gelegenen
Koordinationskerne sind. Der Sehhügel kommt für die Ausdrucksbewegungen
nur insofern in Betracht, als er eine bevorzugte Ablagerungsstätte für
Unästhetische und sonstige erinnerungsmäßige Rückstände ist, die infolge
von Ausdrucksbewegungen entstehen. Diese Rückstände bilden die Aus-
drucksdeterminanten, d. h. die im Nervensystem deponierten strukturellen Be-
dingungen für die Eigenart einer Ausdrucksbewegung. Die Gefühlsrema-
nenzen, d. h. die erinnerungsmäßigen Rückstände der Gefühle, bilden mit den
Ausdrucksdeterminanten eine unzertrennliche Einheit, so daß, wenn das
Unästhetische Bild einer Ausdrucksbewegung in uns entsteht und die zuge-
hörige Ausdrucksdeterminante erregt wird, die mit ihr verbundene GefÜhls-
remanenz ebenfalls lebendig wird. Daher verstehen wir die Ausdrucksbe-
wegungen anderer.
Eine kritische Betrachtung der Ausführungen des Verf. lassen die Ver-
wendung des Zweckbegriffs zur Einteilung der körperlichen Reaktionen auf
Reize auB methodologischen Gründen anfechtbar erscheinen. Abgesehen da-
von, daß das Verhältnis zwischen Reiz und Reaktion sich im einzelnen Fall
z. T. noch gar nicht bestimmen läßt und die Grenze der zweckmäßigen Re-
aktion infolgedessen immer wieder verschoben wird, ist in gewissen Zweck-
tätigkeiten bereits der Ausdruck einer inneren gefühlsmäßigen Zuständig-
keit gegeben, was Verf. ja selbst zugibt Eine den Umständen angepaßte
Abwehrbewegung deutet z. B. auf Unlust, Abneigung oder dergleichen mehr
hin. Wundt hat daher mit Recht den symptomatischen Charakter als das
wesentliche Kriterium der Ausdrucksbewegung bezeichnet und sowohl Re-
flex- als Willensbewegung unter sie befaßt. Nach Wundt ist nicht jede
Willensbewegung Willkürbewegung. Sondert man nach dem Vorschlage Ks
die zum Verkehr mit der Außenwelt dienenden konventionellen Bewegungen
als willkürliche Bewegungen von den eigentlichen Ausdrucksbewegungen ab,
so gilt zu bedenken, daß auch die willkürlichen Mitteilungsbewegungen aus
Affekten bzw. Triebbewegungen hervorgegangen sind. Vernichtet ein WiU-
kürakt das innerste Wesen der Ausdrucksbewegung, wie Verf. behauptet, so
kann es sich immer nur um eine der gefühlsmäßigen Zuständigkeit inadäquate
Bewegung handeln. Will K. den Bereich der Ausdrucksbewegungen nach
der Seite der Mitteilungsbewegungen hin einengen, so glaubt er ihn Uber die
von Wundt gezogene Grenze zu erweitern, indem er die Veränderungen der
Tätigkeit des Herzens, der Vasomotoren, des Verdauungskanals usw. zu den
Ausdruckbewegungen rechnet. K. befindet sich aber im Irrtum, wenn er
glaubt, daß Wundt diese viszeralen Vorgänge nicht als Ausdrucksbewegungen
betrachtet. Sein Prinzip der direkten Innervationsänderung macht er ja ge-
rade für sie geltend.
Auch das vom Verf. vertretene Assoziationsprinzip zur Erklärung der
einzelnen Ausdrucksbewegung ist nach Piderit von Wundt weiter ent-
wickelt worden, allerdings nicht in so ausschließlicher Weise wie von K.
Eine Untersuchung, die den Grenzen seiner Brauchbarkeit gelten würde, wäre
lohnend. Die Methode der > physiologischen Transponierung<, der zufolge
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Literaturbericht.
31
an Stelle eines psychischen Geschehens ein zerebral eB gesetzt wird, müßte
dabei einige Einschränkungen erfahren, um den Geltungsbereich der Hypothese
nicht ins Unbegrenzte wachsen zu lassen.
M. Kelchner (Berlin-Halensee).
12: Cohn und W. Gent, Aussage und Aufmerksamkeit Zeitschrift für
angewandte Psychologie. Bd. 1. 1907. S. 129-266.
Unter Benutzung der Bildmethode suchten die Verfasser festzustellen,
wie eine Ablenkung der Aufmerksamkeit auf die Aussage einwirke. Sie
benutzten zwei in kräftigen Farben ausgeführte Wandtafeln, welche March en-
stoffe darstellten (Aschenbrödel, gestiefelter Kater). Die Vorversuche waren
Massenversuche, welche teils an den Hörern von Cohns Vorlesungen, teils an
Schulkindern angestellt wurden. Zugleich sollte auf diese Weise ermittelt
werden, wie weit Massenversuche auf diesem Gebiete zulässig seien. Die
Versuchsergebnisse waren nicht sehr ermutigend, immerhin aber fanden die
Verfasser, daß solche Hassenversuche im allgemeinen als Vorbereitung und
Bestätigungsmaterial von Wert sein können. Die Ablenkung geschah bei
diesen Vorversuchen durch Additionen. Die Verfasser gingen dann zu
Einzelversuchen über, die sie als Hauptversuche bezeichnen und die gleich-
falls an Studenten angestellt wurden. Der Vp. wurde eines der beiden Bilder
genau eine Minute lang vorgezeigt und sie hatte dann sogleich einen ersten
Bericht darüber niederzuschreiben. Danach wurde das zweite Bild mit gleich-
zeitiger Nebentätigkeit (Niederschrift der Zahlenreihe 1 2 3 4...) zur Be-
trachtung dargeboten. Auch von diesem Bilde wnrde sofort nach Ent-
fernung ein erster Bericht angefertigt. Den Vp. wurde abwechselnd das
Katerbild und das Aschenbrödelbild ohne Ablenkung vorgelegt. Nach Ab-
lauf von acht Tagen hatten die einzelnen Vp. für jedes Bild einen zweiten
Bericht abzugeben und wurden dann einem Verhör unterzogen, dessen Grund-
schema für eines der Bilder (gestiefelter Kater) der Abhandlnng angefügt ist.
In der Zwischenzeit durften die Teilnehmer nicht miteinander über die Ver-
suche sprechen. Bei dem Verhör wurden absichtlich auch Suggestionsfragen
benutzt, die aber in ihrer äußeren Form von den übrigen Fragen nicht verschieden
waren. Die Verfasser wichen hierin von dem W res chn ersehen Verfahren
ab und folgten mehr Stern und Borst Sie heben gegen Wreschner
hervor, daß er hier die Suggestion, die lin jeder Frage liege, unterschätze
und bestreiten, daß er das richterliche Verfahren genau abbilde, da der Unter-
suchungsrichter seine Fragen den Antworten sicherlich anpasse und häufig
den Zeugen zuerst auffordern werde zu berichten und ihn erst dann
frage. — Parallel den Aussageversuchen liefen Kontroll- und Verglelchs-
versuche, Schreib-Lese versuche nach Binet und Sharp. Sie sollten zu-
gleich zur Ermittelung individueller Unterschiede und so zur Feststellung
von Typen dienen. Hierzu wurden kurze Texte benutzt, die von der Vp.
laut und mit der ihr geläufigen Geschwindigkeit gelesen wurden. Der erste
Text wurde mit, die anderen wurden ohne Ablenkung der Aufmerksamkeit
gelesen. Als ablenkende Nebentätigkeit dienten: fortlaufende Niederschrift
der Ziffer 2, Niederschrift der Zahlenreihe, des Alphabets und fortlaufendes
Addieren (4 + 3+ 3. ..,6 + 3 + 3...). Das Maß für die Ablenkung wurde
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Literaturbericht.
aus der in Sekunden festgestellten Lesezeit abgeleitet. Ebenso wurde die
Menge der Ablenkung »arbeit nnd die Anzabl der dabei vorgekommenen
Fehler bestimmt Die Verarbeitung des gesammelten Materials geschah so.
daß der Gesamtinhalt der Berichte und Verhöre im Anschluß an Stern in
Kategorien geteilt ward, wobei die Antworten auf Suggestionsfragen be-
sonders berechnet wurden. Ebenso wurden die unbeantworteten Fragen
besonders ausgezählt. Die Verfasser gingen somit in der Analyse der Vor-
gänge über Stern hinaus, besonders wichtig erschien ihnen die Trennung
der absoluten Raumangaben von den relativen.
In zwei besonderen Abschnitten sind dann sowohl die allgemeinen
Resultate wie die individuellen Unterschiede besprochen. Über Einzelheiten
geben zahlreiche, dem Texto eingefügte Versuchstabellen näheren Aufschluß.
Wir müssen hier auf eine Wiedergabe der Einzelheiten des Dargebotenen
verzichten und uns auf die der Hauptresultate beschränken, deren Bedeutung
im Zusammenhang mit den Ergebnissen, zu denen Stern, Wolfskehl und
andere kamen, in einem letzten, von Cohn allein verfaßten Abschnitt noch-
mals hervorgehoben wird. >Unter den Ergebnissen ist weitaus das sicherste,
daß Ablenkung der Aufmerksamkeit durch Nebenbeschäftigungen den Umfang
der Aussage herabsetzt, dagegen die Fehlerhaftigkeit und Suggestibilität
nicht merklich verändert.« >Eb gibt Personen, die, wenn sie gleichzeitig z. B.
lesen und die Zahlenreihe niederschreiben sollen, beide Tätigkeiten gleich-
mäßig nebeneinander vollziehen. Bei ihnen zeigt sich entweder keine oder
eine mehr oder minder große Verlängerung der Lesezeit. Andere Personen
lesen und schreiben deutlich abwechselnd. Zwischen diesen extremen Fällen
gibt es Übergänge.« Praktisch glauben die Verfasser aus ihren Ergebnissen
schließen zu können, >daß Zeugen, die während der Wahrnehmung des Tat-
bestandes eine Berufstätigkeit ausübten, darum allein noch nicht für weniger
zuverlässig zu halten wären«. Bei sonstiger guter Übereinstimmung mit
Stern, bestreitet Cohn hier die Allgemeingültigkeit von Sterns Behauptung:
»erschwerende Leistungsbedingungen bewirken nicht so sehr Herabsetzung
der Quantität, sondern der Qualität der Leistung«. Er betont, daß auch die
unlängst von Wolfskehl veröffentlichten Resultate hierzu im Gegensatz
stehen. »Nicht jede Erschwerung erhöht die Fehlerhaftigkeit, sondern diese
Folge hat nur Herabsetzung der Aufmerksamkeitsspannung, nicht erhöhte
Anforderungen an gleichgespannte Aufmerksamkeit.« »Die Aufmerksamkeits-
ablenkung wirkt auf die, wenn man bo sagen darf, weniger substanziellen.
weniger aufdringlichen Kategorien stärker ein, sie verwischt gleichsam die
feineren Züge, während sie die gröberen bestehen läßt.«
Weniger eindeutig waren die Ergebnisse flir die Typenlehre. Bei der
Behandlung der Frage, ob sich die DilatationsfUhigkeit der Aufmerksamkeit
für dasselbe Individium auf verschiedenen Gebieten ähnlich vethalte, ergab
sich, daß die Ablenkung sehr stark von der unabgelenkten Aussagemenge
abhing. »Da die Ablenkung wesentlich die feineren Züge verwischt, wirkt
sie stärker, wo mehr feine Züge da sind.« — Mit Hilfe der von Bravais.
Galton und Pearson herrührenden, von Spearman in die Psychologie
eingeführten Korrelationsrechnung sucht Cohn dann weiter die Korrelationen
der Aussagemengen ohne Ablenkung zu dem prozentualen Verhältnis der ab-
gelenkten Aussagemenge im Vergleich zur unabgelenkten (dieses Verhältnis
wird kurz die prozentuale abgelenkte Menge genannt) festzustellen, und ebenso
die Korrelation der prozentualen Zeitverlängerung der Schreib- Leseversuche
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Literaturbericht.
33
zn der prozentualen abgelenkten Aussagemenge. Die Ergebnisse sind in
einer letzten Tabelle Übersichtlich zusammengestellt.
Schließlich bespricht Cohn noch die mit Kindern angestellten Versuche
und hebt nochmals hervor, wie innig die Fragen der allgemeinen Psychologie
und der Psychologie der individuellen Unterschiede zusammenhangen. Ab-
weichendes individuelles Variieren zweier Werte weist, sofern wirklich be-
wiesen, mit Sicherheit auf ihre Abhängigkeit von verschiedenen psychischen
Funktionen hin.« Kiesow (Turin).
13} V. Urbantschits ch, Über subjektive optische Anschauungsbilder. Mit
3 Tabellen und 3 Bildern als Beilagen. Leipzig und Wien, Franz
Deuticke, 1907. M. 6.—.
Die Anregung zu der vorliegenden Studie erhielt der Verfasser durch
Untersuchungen, die schon im Jahre 1903 von ihm in Pflüger s Archiv
veröffentlicht wurden, Urbantschitsch unterscheidet zwei Arten optischer
Gedächtnisbilder, solche der einfachen Erinnerung an Geschehenes und solche
der subjektiven Anschauung. Hit den letzteren, den von ihm auch als an-
schauliche Gedächtnisbilder bezeichneten Erscheinungen, beschäftigt sich der
erste Teil der gegenwartigen Untersuchung. — Das anschauliche Gedächtnis-
bild ist nach Urbantschitsch dadnrch charakterisiert, daß es »bei Ver-
schluß der Augen, oder im dunkeln Räume, zuweilen auch bei offenen Augen,
den früheren Gesichtseindruck als solchen in einer sogar halluzinatorischen
Deutlichkeit wiedergibt«. Die Veranlagung dazu unterliegt nach Verf. großen
persönlichen Unterschieden; namentlich bei jugendlichen nnd leicht erreg-
baren Personen auftretend, kann die Erscheinung doch auch im späteren
Leben beobachtet werden. »Manche Personen, die nach Verschluß der
Augen kein anschauliches Gedächtnisbild des unmittelbar vorher betrachteten
Gesichtsobjektes bemerken, beobachten dessen Gedächtnisbild einige Sekunden
später, oder erst nach wiederholten Versuchen, wobei sich im Verlaufe solcher
Übungen immer lebhaftere und vollständigere Gedächtnisbilder einstellen
können. Vorhandene anschauliche Gedächtnisbilder scheinen manchmal un-
beachtet zu bleiben und werden dann erst bei einer darauf hingelenkten Auf-
merksamkeit wahrgenommen.« »Gesichtsobjekte, die unmittelbar nach ihrem
Betrachten kein Gedächtnisbild aufweisen, können nach längerer Zeit, zu-
weilen sogar nach vielen Jahren, plötzlich ins Gedächtnis treten.« Der Verf.
konnte dies wiederholt an sich selbst beobachten. Andererseits können die
anschaulichen Gedächtnisbilder, wie Urbantschitsch weiter zeigt, bei Per-
sonen fehlen, die sonst GesichtseindrUcke lebhaft erinnern. So berichtet er
von einem hervorragenden Porträtmaler, der einen Kopf naturgetreu ans der
Erinnerung darzustellen vermöge, ohne daß er imstande sei, denselben ins
Anschauungsbild zu bringen. Interessant ist weiter die Mitteilung, daß die
Erscheinung wie durch Assoziationswirkungen, so auch nicht selten willkür-
lich hervorgerufen werden könne. »Die einfache Erinnerung an Gesehenes
und das betreffende anschauliche Gedächtnisbild können sich gegenseitig be-
einflussen, ein Einfluß, der wahrscheinlicherweise zumeist unbewußt verläuft,
zuweilen aber deutlich nachweisbar ist.« »Andererseits zeigt sich das an-
schauliche Gedächtnisbild nioht selten vollständig unabhängig von der ein-
Archir fftr Psychologie. XL Literatur. 3
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Literaturbericht.
fachen Erinnerung. So kann das anschauliche Gedächtnisbild Eindrücke be-
wahren, die dem übrigen Gedächtnisse entfallen sind, ferner vermag das Ge-
dächtnisbild falsche Erinnerungsvorstellungen richtig zu stellen. c Der Verf.
fand weiter, daß das anschauliche Gedächtnisbild eines Gegenstandes sich
für gewöhnlich allmählich abschwächt, aber nach Jahren wieder in früherer
Schärfe auftreten kann, daß jedoch diese Abschwächung oder auch der völlige
Ausfall zuweilen nur einen Teil des Gedächtnisbildes betrifft
Urbantschit seh studierte ferner die Beeinflußbarkeit des anschau-
lichen Gedächtnisbildes durch äußere Reizeinwirkungen. Bei der Schilderung
der Resultate bezieht sich der Verfasser zum Teil auf dreifarbige Reproduk-
tionen von Gemälden, die dem Buche als Beilagen zugefügt sind. »Bei den
Prüfungen über die Beeinflußbarkeit der anschaulichen Gedächtnisbilder
hatte die Vp. nach kürzerem oder längerem Betrachten der Vorlage von
Gemälden, Abbildungen, Zeichnungen, Wörtern, Ziffern usw. die Augen zu
schließen oder zu bedecken und, zumeist dem Lichte abgewandt, auf das
Gedächtnisbild zu achten und dabei anzugeben, was dieses enthalte. Bei
einer allmählichen Entwicklung des Gedächtnisbildes wurde mit den äußeren
Einwirkungen solange gewartet, bis die Vp. am Gedächtnisbilde keine Ver-
änderungen bemerkte. Als äußere Einwirkungen benutzte ich die ver-
schiedenen Stimmgabeltöne, mechanische und thermische Reize, Kompression
der großen Halsgefäße, zuweilen auch den galvanischen Strom und für ein-
zelne Versuche eine Belichtung der geschlossenen Augen. Die Einwirkung
fand, bei fortwährend geschlossenen Augen, meistens nur durch einige Se-
kunden statt, wobei die Vp. den Eintritt und wieder das Schwinden etwaiger
Veränderungen am Gedächtnisbilde anzugeben hatte. Bei der gewöhnlich
längeren Dauer der Gedächtnisbilder lassen sich etwaige dadurch ausgelöste
Erscheinungen, besonders nach vorausgegangenen Vorübungen, leicht be-
obachten und verfolgen.« Je nachdem an der rechten oder der linken
Körperhälfte gereizt wurde, traten sowohl bei einer und derselben Person als
auch bei verschiedenen Personen verschiedene Wirkungen auf. »Betreffs der
Töne zeigte es sich, daß nicht nur jeder einzelne Ton seinen eigenartigen
Einfluß auf das Gedächtnisbild zu nehmen vermag, und daß dieser vom
rechten Ohre aus ein anderer sein kann, wie vom linken aus, sondern es
weist auch derselbe Ton von derselben Seite aus ungleiche Veränderungen
am Gedächtnisbilde auf, je nach der Stärke seiner Einwirkung. Bei gleich-
zeitiger Einwirkung zweier Töne a und b kann der Einfluß auf das Ge-
dächtnisbild ganz verschieden ausfallen, je nachdem beide Teile dem rechten
oder linken Ohre, oder a dem rechten, b dem linken oder aber o dem
linken und b dem rechten Ohre zugeleitet werden.« Bei gleichzeitiger Ein-
wirkung verschiedener Gesichtsobjekte auf je eines der Augen entstanden
zwei verschiedene und übereinander gelagerte Gedächtnisbilder. Andere
Veränderungen, die infolge äußerer Reizzuflüsse beobachtet werden konnten,
betrafen die Größe der im anschaulichen Gedächtnisbilde hervortretenden
Einzelheiten, ferner Bewegungserscheinungen, Helligkeit* • wie Farben-
änderungen usf.
Im zweiten Teile seiner Arbeit behandelt ürbantschitsch die durch
Denkvorgänge beeinflußten Erscheinungen im subjektiven Gesichtsfelde. Der
Verf. hat gefunden, daß bei vielen Personen außer den durch äußere Eindrücke
hervorgerufenen optischen Anschauungsbildern, auch solche gefunden werden,
die nur durch einen Denkprozeß ausgelöst werden. Er bezeichnet diese
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Literaturbericht.
85
letzteren im Gegensatz zn den enteren als subjektive optische Anschauungs-
bilder. Sie bestehen in dem Erscheinen von Buchstaben, Wörtern, Zahlen
und Anschau ungsgegenständen im subjektiven Gesichtsfelde. > Die betreffenden
Versuche bezogen sich anf eine Korrektur und Ergänzung von den im an-
schaulichen Gedächtnisbilde befindlichen Wörtern und Sätzen, auf das Auf-
tauchen der in der Vorlage nicht enthaltenen Resultate der Rechnungs-
aufgaben ins subjektive Gesichtsfeld, Übersetzungen aus einer Sprache in
die andere und auf die Beantwortung von Fragen, die der Vp. entweder
vorgelegt, oder ohne Vorlage an die Vp. direkt gestellt werden.« Der Verf.
spricht die Überzeugung aus, daß aus dem Verhalten dieser subjektiven
optischen Anschauungsbilder Schlußfolgerungen auf die Art des Denkvor-
ganges selbst möglich sind, daß einzelne Vorgänge im unbewußten Denk-
prozeß im subjektiven optischen Anschauungsbilde gewissermaßen abgelesen
werden könnten. Er betont daneben, daß zu solchen Versuchen nicht nur
geeignete Personen sondern auch eine längere Einübung nötig seien. — Wie
durch Denkvorgänge verändert, können die oben besprochenen optischen
Anschanungsbilder dadurch nach ürbantschitsch auch vollständig um-
gestaltet werden.
Auch diese interessante und inhaltreiche Schrift des Verf. regt, wie
schon so manche seiner Ubrigon Arbeiten getan hat, zn weitgehenden Unter-
suchungen an. Ürbantschitsch vergleicht diese Studien mit der Tiefsee-
forschung: »Viele schöne Schätze sind voraussichtlich noch zn heben. Es
handelt sich nur, die Netze in passender Weise auszuwerfen und sich durch
die zuweilen auftretenden verschiedenen Schwierigkeiten sowie durch man-
chen Fehlzug nicht entmutigen zu lassen.« Kiesow (Turin).
14) Edouard Claparede, Experiences sur le Temoignage. Arch. de Psych.
Bd. V. Nr. 20. Mai 1906.
Die vorliegende Arbeit bringt in drei Abschnitten einige wertvolle Bei-
träge zur Psychologie der Aussage. In dem ersten dieser Abschnitte handelt
es sich um Versuche, die in der Weise angestellt wurden, daß der Verfasser
während einer Vorlesung seine Hörer aufforderte, auf eine Reihe mündlich
an sie gestellter Fragen sofort schriftlich zu antworten. Die in Rede stehen-
den Fragen bezogen sich anf Ränmlichkeiten in der Universität, die den Vp.
bekannt waren.
Die wichtigsten der auf diesem Weg gewonnenen Ergebnisse sind folgende
Der durchschnittliche Umfang der Aussagen betrug 90 %, während die
Treue 28 % im Mittel betrug.
Hinsichtlich des Umfangs stehen sich die Leistungen von Männern und
Frauen gleich (90 %); aber die Treue der weiblichen Aussagen erweist sich
um 6,7 % geringer als die der männlichen.
Von den verschiedenen Nationalitäten boten die Deutschen die Meist-
leistungen in bezug auf den Umfang ihrer Aussagen (97 #), während ihre
Treue nur 27,9 % betrug. Die treuesten Aussagen lieferten die Romanen
(32,8 *), nach ihnen die Slaven (29,5 %).
Verf. legt sich ferner die Frage vor, ob eine größere Vertrautheit mit
dem Gegenstand der Aussage von Einfluß sei auf die Gttto derselben? Zu
3*
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Literaturbericht.
diesem Zweck werden die Aussagen der seit kurzem immatrikulierten Stu-
denten verglichen mit den Aussagen derer, die schon mehrere Semester an
der Universität Genf studierten. Das Resultat ergab, daß die Letztgenannten
nicht nur weniger Uber die Räumlichkeiten der Universität auszusagen wußten
(88 % Umfang gegen 92 %), sondern daß auch die Treue ihrer Aussagen um
2,4 yi geringer war!
Aus der Anzahl der Treffer, die eine Vp. im Verlauf einer Reihe von
Aussagen jeweils macht, will Verf. auf die vermutliche Güte ihrer Aussage-
fthigkeit Uberhaupt schließen. Dabei findet er, daß es eine natürliche Grenze
in der Fähigkeit auszusagen gibt, die der Durcbschnittszeuge nicht zu Über-
schreiten vermag; jenseits dieser Grenze trifft man auf die Kategorie der
hervorragenden Zeugen.
Eine nicht genügende Würdigung fand bisher — nach der Meinung
unseres Autors — die objektive Seite des Aussageproblems. Die Objekte
sind in verschiedenem Grade geeignet Aussagen anzuregen. Der Verf. versteht
unter »Testabilität« die Fähigkeit eines Objekts (oder einer Kategorie), Aus-
sagen hervorzurufen; unter »Memorabilität« die Fähigkeit eines Objekts,
richtige Aussagen zu verursachen. Die diesbezügliche Untersuchung ergab,
daß ein gewisser Antagonismus zwischen diesen beiden Faktoren besteht,
indem mit der größeren Testabilität eines Objekts eine geringe Memorabilität
Hand in Hand geht.
Der zweite Abschnitt handelt von Schätzungsversuchen, die im Sinne der
Sternschen Versuche gehandhabt sind. Verf. konstatiert hier eine gewisse
nahezu konstante Tendenz zur Überschätzung oder zur Unterschätzung, je
nach der Größe des Schätzungsobjekts. Die größere Suggestibilität der Frauen
soll sich in ihrer geringeren Fähigkeit zu richtiger Schätzung dokumentieren.
Der dritte Abschnitt berichtet über ein Vorgangsexperiment Ein verklei-
detes Individuum tritt, eine Maske vor dem GeBicht während der Vorlesung
plötzlich ein und verläßt nach ganz kurzem Aufenthalt wieder den Saal
Nach einiger (verschieden langer] Zeit erfolgt Beschreibung des in Rede
stehenden Individuums und Konfrontation der Aussagenden mit einer Reihe von
Masken, unter denen sich die während des Versuchs getragene Maske befindet.
Der Versuch ergab zunächst eine Bestätigung des Jaffaschen Befundes,
wonach die Zeit nicht fälschend auf die Aussage einwirken soll.
Die Frauenaussagen übertreffen diesmal die Männeraussagen an Umfang
und Treue. In bezug auf die Art ihrer Fehler verhalten sich die beiden
Geschlechter verschieden. Während die Männer Dinge, die tatsächlich vor-
handen waren, gerne verneinen, oder andererseits Dinge, die in der Tat nicht
da waren, häufig aus der Phantasie hinzudichten, irren eich die Frauen vor-
zugsweise, indem ihre Erinnerungsbilder Umgestaltungen erfahren.
Die Zuverlässigkeit des Wiedererkennens erwies sich bei der Konfron-
tation als recht mäßig. Die richtige Maske wurde in 23 Fällen nur fünf mal
wiedererkannt und selbst da verhielten sich die Aussagenden noch unschlüssig
genug. Häufig blieben die Vp. in der Wahl zwischen zwei Masken stecken,
und zehnmal konnte Uberhaupt kein Urteil abgegeben werden.
Alle diese Ergebnisse führen den Verfasser zu dem Schluß, daß bei der
Konfrontation gerade so wie bei Bericht oder Verhör, die richtige, von Täu-
schung und Fehlern freie Aussage nicht die Regel, sondern die Ausnahme
darstellt Marie DUrr-Borst (Bern).
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Literaturbericht.
37
16) G. Aschaffenburg, Das Verbrechen und seine Bekämpfung. Einleitung
in die Kriminalpsychologie für Mediziner, Juristen und Soziologen.
Ein Beitrag zur Reform der Strafgesetzgebung. 377 8eiten. Heidel-
berg, Carl Winters Universitätabuchh., 1906. M. 6.—; geb. M. 7.—.
Ohne Zweifel darf das vorliegende Bach den Anspruch erheben, einen
außerordentlich wertvollen Beitrag zur Strafprozeßreform zu bedeuten. Seinen
Wert erhält es weniger durch theoretische Abhandinngen Uber strittige
Fragen, als vielmehr durch ausgedehnte Heranziehung der Statistik als eines
praktischen und beweiskräftigen Hilfsmittels, um den objektiven Nachweis
der Notwendigkeit der Reform zu erbringen und die Richtung festzulegen,
in der sich ihre Entwicklang zu bewegen hat Nicht weniger als 61 statisti-
sche Tabellen decken die Beziehungen innerer und äußerer Ursachen zum
Verbrechen auf, aus denen sich die Vorschläge zur Besserung unserer ganzen
«trafrechtlichen Lage ergeben. Wenn sich schon der gesunde Verstand mo-
derner Menschen gegen die vielen bekannten Ungerechtigkeiten unseres ganz
anmodernen Strafrechtes wendet, so erhellt aus der Statistik mit Deutlichkeit
die Tatsache, daß unser Strafrecht im ganzen genommen völlig verzagt.
Denn die Kriminalität unserer Zeit nimmt nicht etwa im Laufe der Jahre
ab, sondern im Gegenteil in erschreckendem Umfang zu, nicht etwa nur
relativ im Maßstabe der Bevölkerungszunahme, sondern auch absolut. Das
hat seinen Grund darin, daß unser Strafrecht seine Aufgabe noch nicht er-
kannt hat Es gründet sich vorwiegend auf die Vorstellung von der Strafe
als Rache für das Vergehen, in geringem Maße auch als Abschreckungs-
mittel für weitere Vergehen. Dieser als obsolet zu bezeichnende Standpunkt
muß im Zeitalter der Naturwissenschaften, wo kein Gebiet des öffentlichen
Lebens der Befruchtung durch die Naturforschung entraten kann, verlassen
werden. An seine Stelle muß die objektive Erforschung des Wesens des
Verbrechens treten, aus derem Ergebnis die Art seiner zweckmäßigsten Be-
kämpfung erschlossen werden. Diesen Gedankengang wählt Aschaffen-
burgs Buch. Seine beiden ersten Teile behandeln die sozialen und die indi-
viduellen Ursachen des Verbrechens, sein dritter Teil die Betrachtung und
Beurteilung der Mittel, die uns für seine Bekämpfung zur Verfügung stehen.
I. Die sozialen Ursachen des Verbrechens. — Hier werden eine
Reihe von Faktoren in ihren Beziehungen zur Kriminalität besprochen, die
in ihrer Gesamtheit als das Milieu, welches eine mehr oder weniger starke,
Verbrechen auslösende Wirkung auf die Gesellschaft ausübt zu verstehen
sind. Der Einfluß dieser Faktoren auf den rechtbrechenden Menschen re-
guliert sich begreiflicherweise nach dem Typus, dessen Vertreter ein Krimi-
neller ist Es ist daher verständlich, daß vor allem Beziehungen zwischen
bestimmten verbrecherischen Individualitäten und bestimmten äußeren Ver-
hältnissen mit Deutlichkeit erkannt werden künnen. — Solche Zusammen-
hänge finden sich zwischen Jahreszeit und einzelnen Verbrechen, vor
allem den auf dem Geschlechtstrieb basierenden. Die Notzuchtsver-
brechen erreichen ihren Höhepunkt im Juli, also in der wärmsten Jahreszeit.
Eine einwandfreie überzeugende Erklärung für dies Phänomen fehlt uns bis
jetzt, doch sprechen manche Tatsachen dafür, daß hier das Symptom einer
dem Menschen in ähnlicher Weise wie dem Tiere eigenen periodischen
Schwankung des Geschlechtstriebes zutage tritt, denn homologe Schwankungen
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38
Literaturbericht.
beobachten wir in dem Verteilangemodus der Schwängerangen auf die ein-
zelnen Monate unter denen der Mai den Kulminationspunkt bringt. In die
warme Jahreszeit auch, nämlich in den Juli fällt die relative Mehrheit der
Selbstmorde, ein Beweis, wie sehr der Mensch psychischen Schwankungen
unterworfen ist, wenngleich eine befriedigende Erklärung für diese letztere
Erscheinung noch fehlt. Übrigens entspricht der Kulmination der Schwänge-
rung im Frühling eine solche des Kindsmordes im Frühjahr. — Koch
ein anderer Typus von Verbrechen tritt in der wärmeren Jahreszeit am
häufigsten auf, nämlich alle, welche das psychologische Merkmal der
Gewalttätigkeit und Unbotmäßigkeit tragen (Körperverletzung,
Nötigung, Bedrohung, Beleidigung, speziell gegen Beamte, Hausfriedens-
bruch). Es scheint dies durch die größere Gelegenheit zu Konflikten
während der Sommermonate, vor allem bei den zahlreichen Festlichkeiten
und ihren Trinkausschreitungen, bedingt zu sein. — Dagegen sind für alle
Formen von Eigentumsvergehen, die kalten Monate, in denen
die wirtschaftliche Not am stärksten wird, die bevorzugten. — Den Ein-
fluß von Rasse und Religion in weitem, sich Uber ganz Europa er-
streckendem Umfang zu untersuchen, dieser Versuch scheitert in erster
Linie an der Verschiedenheit der in den einzelnen Staaten gültigen Be-
griffe von Verbrechen, der Straf bestimmungen für die einzelnen Ver-
brechen, der Handhabung des Strafrechtes und des Wertes der Statistiken.
Man kann Untersuchungen, die den Anspruch auf einige wissenschaftliche
Verwertbarkeit erheben wollen, mit Fug nur auf einzelne Staaten ansdehnen,
bei denen in allen ihren Gebietsteilen alle statistischen Faktoren gleich sind
und nur die rassenhafte und religiöse Zusammensetzung ihrer Bewohner
schwankt. Die unter diesen Bedingungen in Osterreich ausgeführten statisti-
schen Forschungen ergeben auf allen kriminellen Gebieten ein deutliches,
wenn auch mit Rücksicht auf die kurze Zeit der Forschungen nicht ganz
einwandsfrei verwertbares Überwiegen der Kriminalität nichtdeutscher
Gegenden Uber vorwiegend deutsche. In Deutschland selbst kann, bei Zu-
grundelegung der Tabellen Aschaffenburgs, die statistische Forschung
nicht behaupten, eine ausschlaggebende Einwirkung der Rasse auf Häufig-
keit und Art der Verbrechen dargetan zu haben. Allerdings kann ich selbst
diese Meinung Aschaffenburgs in dieser Form und in diesem Umfang
nicht ganz teilen. Bei der Besprechung der religiösen Faktoren findet er
nämlich später, daß einzelne kriminelle Gebiete unter den in Deutsch-
land lebenden Juden ihre relativ zahlreichsten Vertreter finden. Es ist aber
heute nicht mehr angängig, das Judentum nur als Religionsgemeinschaft an-
zusehen, sondern die exzeptionelle Stellung, die es einnimmt, ist nicht nur
auch, sondern sogar vorwiegend durch seine Rasseneigenschaften bedingt
Dies gilt auch von seinen psychischen Eigenschaften im allgemeinen und
von seinen kriminellen im besonderen. Was A schaff enburg also von den
kriminellen Neigungen der Juden eruiert, dürfte mindestens zu einem Teile
auf Rechnung der Rasse zu setzen sein. Vor allem sind die Juden stark an
den Beleidigungen und dem betrügerischen Bankrott beteiligt Dagegen sinkt
ihre Zahl bei den gefährlichen Kürperverletzungen; wohl deshalb, weil der
Jude Wirtshausbesuch und Alkohol nicht liebt. Seine starke Beteiligung am
Zweikampfe erklärt Bich ans dem hohen Prozentsatz jüdischer Studenten und
den vielen Anfechtungen, die sie wegen ihrer Religion und — Rasse ! — zu
erdulden haben. Ferner kommen auf 1300 Wucherfälle bei Juden nur 100
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Literaturbericht.
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bei Nichtjuden. Indessen kann hier das Symptom einer Rasseneigentümlich-
keit deshalb nicht mit Sicherhett gefunden werden, weil der Handel, der ja
die Vorbedingung fUr den berufsmäßigen Wucher bildet, von Juden relativ
sehr viel umfangreicher getrieben wird, als von Nichtjnden. — Im übrigen
ist die Ausbeute einet Suche nach rassenhaften Wurzeln der Kriminalität
wie erwähnt sehr gering. Zwar kann nicht verkannt werden, daß Roheits-
delikte einige Hauptzentren in Deutschland haben, Bromberg und Sttddeutsch-
land, indessen sind dies gleichzeitig auch die Gegenden, wo der Alkohol-
genuß besonders starke Formen angenommen hat; so daß man der
.Stanimesangehörigkeit wohl kaum einen deutlich erkennbaren Einfluß zu-
sprechen kann. Einzig auffallend ist nur der auf andere Weise bis jetzt
nicht erklärbare Umstand, daß der Betrug seine zahlreichsten Vertreter in
Sachsen, Thüringen, Pfalz, Baden, Württemberg und Bayern findet — Sind
demnach die im Volksschlag wurzelnden kriminellen Neigungen nur gering,
so ist um so auffallender das Überwiegen der Kriminalität der Katholiken
Uber die der Evangelischen auf den allermeisten Gebieten. Nur bei
4" Gruppen von Delikten unter 19 sind die Katholiken in der Hinderzahl
(Verbrechen und Vergehen gegen Staat, Ordnung, Religion, Sonntagsruhe,
einfacher und betrügerischer Bankerott), bei allen übrigen lassen sie die
Evangelischen oft in weitem Abstand hinter sich zurück. Aus den ethischen
Eigentümlichkeiten der beiden Bekenntnisse erklärt sich diese Differenz nicht
befriedigend, viel eher aus der Tatsache, daß die wirtschaftliche Lage
der Protestanten auch in konfessionell gemischten Gegenden die wesentlich
bessere ist. — Daß bei der Nebeneinanderstellung von Stadt und Land
das letztere, indessen abgesehen von der gefährlichen Körperverletzung, am
besten abschneidet, kann nicht Wunder nehmen, wenn man bedenkt, daß die
Stadt der Zufluchtsort alles licht- und arbeitsscheuen Gesindels ist, und daß
hier die Versuchung in viel mannigfaltigerer Gestalt an den Haltlosen heran-
tritt Den Kindsmord findet man in der Stadt seltener, weil hier mehr Ge-
legenheit zum Abtreiben gegeben ist. — Der Beruf aber übt begreiflicher-
weise eine erhebliche Wirkung auf die Verteilung der Delikte aus. Darauf
weisen schon die eigens für einzelne Berufe geschaffenen Strafbestimmungen
hin. Aber auch abgesehen von diesen bringen die einzelnen Berufe in durch-
aus verschieden hohem Grade Gelegenheiten zu Verstößen gegen die Gesetze
mit sich. Hier spielen Faktoren, wie die wirtschaftliche Sicherheit der Be-
amten, die große Zahl Jagendlicher unter den Arbeitern, die Abhängigkeit
von Jahreszeit und Witterung bei der landwirtschaftlichen Bevölkerung u. a.
ausschlaggebende Rollen. Die Berufswahl selbst ist nicht unabhängig von
der psychologischen, oft psychopathischen und kriminellen Eigentümlichkeit
des Individuums. Wir kommen hier indessen bereits in das Gebiet der indi-
viduellen Ursachen des Verbrechens, da ja ain Ende jeder einen wirklichen
oder scheinbaren Beruf haben muß und die Art, wie er auf die Fährlichkeiten
dieses Berufes rangiert, durchaus eine Frage seiner individuellen Veranlagung
und Erziehung ist. — Die allergrößte Aufmerksamkeit beanspruchen die
Volkssitten, weil hier Aschaffenburg Gelegenheit nimmt, die Delikte
erzeugende Wirkung des Alkohols wissenschaftlich zu beleuchten. Es ist
bekannt, daß der Einfluß dieses Genußmittels auf die Kriminalilät eine zwie-
fache ist, indem er einmal auf das Individuum selbst, noch mehr aber auf
die Nachkommenschaft der Trinker wirkt Statistische Untersuchungen tun
den Zusammenhang zwischen den beiden Faktoren dar. Nicht nur findet
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40
Literaturbericht.
sich in der Aszendent der Gewohnheitsverbrecher eine außerordentlich große
Verhältniszahl von Trinkern, sondern die Verbrechen and Vergehen — wenig-
stens gilt dies im Gebiete des Deutschen Reiches — verdanken such, wie
nicht mehr bezweifelt werden darf, der Alkoholintoxikation in weitem Um-
fang ihre direkte Entstehung. Aus der Verteilung der Delikte auf die ein-
zelnen Wochentage entnehmen wir die Tatsache, daß an den Samstagen,
Sonntagen, Montagen, d. i. an den Tagen, an denen die Arbeiter ihren Lohn
empfangen bzw. in Alkohol umsetzen, bis fünfmal soviel Roheitsdelikte be-
gangen werden, als an den übrigen Wochentagen, und unter den Tatorten ist
das Wirtshaus so sehr bevorzugt, daß es alle anderen Gelegenheiten weit
hinter sich zurückläßt Auch aus der Art der Delikte, die dem Alkohol in
erster Linie zur Last gelegt werden müssen, erhellt der Znsammenhang
zwischen beiden, denn sie sind so geartet, daß sie direkt den Ergebnissen
entsprechen, die die wissenschaftliche Forschung Uber die Wirkung der
Alkoholintoxikation eruiert hat Während alle in irgendwelcher Art an
die Überlegung gebundenen Delikte unter den Berauschten nur eine auf-
fallend geringe Anzahl von Vertretern finden (Betrug, Diebstahl), steigt die
Beteiligung der letzteren an allen Vergehen, deren psychologisches Wesen
in einer motorischen Entladung besteht, in außerordentlich starkem Maße.
Dies zeigt sich vor allem in der Kriminalität der Studenten. Deren soziale
Bedingungen sind an sich die günstigsten, die man sich denken kann, die
Vergehen, die auf eine minderwertige Gesinnung, Erziehung oder Wider-
standskraft schließen lassen, sind an Zahl kaum erwähnenswert die Be-
teiligung der Studenten an den durch motorische Entladungen charakterisierten
Vergehen ist aber eine sehr große. — Gegenüber der verbrechensUchtenden
Wirkung des Alkohols kommen gelegentliche Exzesse in anderen Genuß*
mitteln (Kaffee, Tee, Morphium) kaum in Betracht — Die Prostitution
gehürt aus verschiedenen Gründen unter die Ursachen des Verbrechens.
Einmal sehen viele Kriminalanthropologen in der Prostituierten das weib-
liche Pendant zum männlichen Verbrechertypus. Indessen kann das wohl
nicht in diesem Umfange anerkannt werden, sondern gerade wie beim Ver-
brecher helfen rein äußere, soziale Umstünde zum Entstehen dieses Phä-
nomens mit und es ist ebenso wichtig, die Prostitution als eine Volkskrank-
heit zu behandeln, als das Verbrechertum. Indessen sie nun einmal als ge-
gegebene Größe vorhanden ist bedarf es der Untersuchung, welche sichtbaren
Beziehungen zwischen ihr und dem Verbrechen bestehen. Als solche er-
kannt und mit Strafe belegt hat das Gesetz die Kuppelei und das Zuhältertum.
Aus Gründen, die wohl bekannt sein «dürften, treten diese beiden direkten
Produkte der Prostitution sehr zurück gegenüber den Einflüssen, welche
die letztere indirekt in ihrer Eigenschaft als Milieu, in dem ein Teil der heran-
wachsenden Jugend lebt, entfaltet In dieser Hinsicht wirkt sie zweifellos
vergiftend und ihre, nach modernen Anschauungen durchgeführte üngefähr-
lichmachung, erscheint eine dankbare volkserzieherische Aufgabe. — Spiel
und Abergaube haben für unsere Zeit und für Deutschland zu wenig
praktische Bedeutung, als daß sie hier mehr als eine Erwähnung beanspruchen
dürften. — Umsoweniger gilt dies von der allgemeinen wirtschaftlichen
und sozialen Lage. Im wesentlichen nimmt in den letzten Jahrzehnten
mit Ausnahme nur weniger Gebiete die Straffälligkeit im Deutschen Reiche
konstant zu, und vor allem gilt dies für die Roheits- und Gewalttätigkeits-
vergeben. Es erklärt sich diese Erscheinung offenbar aus dem gleichzeitig
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Literaturbericht.
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stetig wachsenden Alkoholkonsum des Beiches und der zunehmenden Be-
teiligung der Jugendlichen. Noch sehr viel wichtiger erscheinen die
Schwankungen, welchen die Eigentumsvergehen im Parallelismus mit der
wirtschaftlichen Gesamtlage unterliegen. Nicht nur der Winter mit seinen
erschwerten Lebensbedingungen, sondern auch sonstige Zeiten ungunstiger
wirtschaftlicher Konjunktur erzeugen eine Zunahme der Diebstähle, weniger
des Betruges. Es ist auffallend, wie genau sich die Httufigkeitskurve des
Diebstahles der Kurve der Getreidepreise anschmiegt Selbstverständlich
verwahrt sich Aschaffenburg gegen den etwaigen Verdacht, daß er etwa
jeden Diebstahl als die Verzweiflungstat eines Hungernden oder Frierenden
ansehe, die ungünstige Lage stellt nur ein neues Milieu vor, auf das von
vielen Schwachen kriminell reagiert wird.
II. Die individuellen Ursachen des Verbrechens. — Auf das
Gesamtmilieu, wie es in seinen einzelnen Gebieten bisher geschildert wurde,
reagiert nun jeder Mensch entsprechend seiner Individualität. Während
selbst bei ungünstigem Milieu die eine Gruppe von Menschen unbedingt auf
dem Pfade des Rechtes bleibt, vermögen selbst die günstigsten Lebens-
bedingungen die andern nicht vorm Fall zu bewahren. Das Verhalten des
Individuums im einzelnen Fall regelt sich nach seiner Eigenart im weitesten
Sinne, die selbst sich wieder zusammensetzt aus mehreren einzelnen Kom-
ponenten. Die moderne Psychologie hat die Summe all der vielen Ein-
flüsse, welche das charakteristische Handeln eines Individuums bestimmen,
zusammengefaßt in die Grundbegriffe der Anlage und der Erziehung. Der
zweite TeU des vorliegenden Buches befaßt sich mit der Analyse dos Ver-
brechens unter dem Gesichtswinkel der erwähnten Faktoren.
Abstammung und Erziehung bestimmen in weitem Umfang die Krimi-
nalität Wenn sich in der Aszendent von Kriminellen eine so große Anzahl
von Verbrechern, Geisteskranken, Trinkern findet wie dies maßgebende Stati-
stiken dartun, so liegt die Ursache für das Verbrechertum der Nachkommen-
schaft nach Aschaffenburgs Ansieht nicht in einer direkten Vererbung
der verbrecherischen Anlage, vielmehr in der Einwirkung des ungünstigen
Milieus auf die Entwicklung der zweifellos zum großen Teil minderwertigen
Kinder. Von einer planmäßigen Erziehung von Verbrecherkindern durch die
Eltern kann wohl überhaupt nicht gesprochen werden. Zu diesem negativen
Faktor gesellt sich der positive des schlechten Beispiels der Umgebung, der
Wohnungsverhältnisse, der Not Bei Ausschaltung dieser äußeren Einflüsse
wäre trotz der notorischen psychischen Minderwertigkeit der Verbrecher-
nachkommen offenbar ein im Sinne der Reduktion der Kriminalität günstiger
Erfolg zu erwarten. — Durch die allgemeine Bildung wird nach Aschaffen-
burgs Ansicht die verbrecherische Neigung offenbar nicht herabgedrückt,
sondern nur die Form ihrer Betätigung modifiziert.
Bei der Wahl einer bestimmten Form des Deliktes ist das Alter des
Individuums von großer Wichtigkeit Als spezifisch jugendliche Vergehen
lernen wir die Eigentums-, die Koheits- und die sozialen Delikte kennen.
Die psychologische Wurzel der einzelnen Gruppen ist verschieden. Die
Eigentumsdelikte können wir als einen Überrest des kindlichen Mangels an
altruistischen Vorstellungen und Selbstbeherrschung ansehen. Diese beiden
Leistungen der vollkommen erwachsenen Seele entwickeln sich erst ganz
allmählich und bei den einzelnen Individuen verschieden rasch. Die Er-
kenntnis dieser Tatsache findet ihren allerdings zurzeit noch ungenügenden
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Literatlirbericht.
Ausdruck im Strafgesetz durch den Begriff der völligen und der relativen
Strafmündigkeit, welche von der Einsicht in die Strafbarkeit eines Vergehens
abhängig gemacht ist. Der individuellen und graduellen Verschiedenheit
dieser »Einsicht« wird aber noch nicht genügend Rechnung getragen, und
mancher verliert seine Unbescholtenheit, der einige Jahre später nicht mehr
zur Kriminalität geneigt hätte. — Sozial- und Roheitsdelikte aber verdanken
ihr Entstehen zum Teil dem Auftauchen ganz neuer Antriebe, die mit der kör-
perlichen und sozialen Entwicklung der Pubertätszeit verbunden sind. —
In ähnlicher Weise reagiert das herangewachsene und wieder abwelkende
Individuum auf die psychischen Reize der Umgebung entsprechend seinem
Alter. — Sehr verschieden wirkt der Famiii enstand auf die Geschlechter.
Bei Männern ist der Einfluß der Ehe auf die Kriminalität ein günstiger, wohl
weil durch ein glückliches Eheleben das Aufsuchen der Kneipe mit ihren
Konflikten gehemmt wird. Indessen gilt dieser Satz nicht von den vor dem
25. Jahre in die Ehe Tretenden, denn diese beteiligen sich ganz besondere
stark an der Kriminalität, offenbar weil viele vorzeitig geschlossene Ehen
die junge Familie in Not bringen und diese den Boden zu Eigentums-
vergehen bildet. — Dagegen steigt die Kriminalität der Frauen mit dem
verheirateten Stande, und zwar trifft dies vor allem die Vergehen der Körper-
verletzung, der Beleidigung und des Hausfriedensbruches. Es ist dies Ver-
halten offenbar auf das Zusammenwohnen mit anderen Familien zurück-
zuführen, wie es die Ehe oftmals mit sich bringt. — Die vier folgenden Kapitel
fassen wir beim Referate am besten zusammen. Sie behandeln die körper-
lichen und geistigen Eigenschaften, die Geistesstörungen und
die Einteilung der Verbrecher. Hierbei kommt Aschaffenburg
auch zur Diskussion über den vielumstrittenen Typus des geborenen Ver-
brechers. Er erkennt seine Existenz mindestens in der Form, an der Lom-
broso auch jetzt noch festhält, nicht an und glaubt nicht, daß man
einen durch körperliche und geistige Eigenschaften stigmatisierten »Ver-
brecher« mit genügender Deutlichkeit charakterisieren könne, um diesen
Typus als einwandsfrei feststehend bezeichnen zu können. Dagegen muß
zugegeben werden, daß die Gesamtmasse der Verbrecher Eigenschaften be-
sitzt, welche sie psychologisch von den übrigen Gliedern der Gesellschaft
differenzieren. In außerordentlich viel stärkerem Grade als bei jenen kommen
bei ihnen geistige Abnormitäten in allen graduellen Abstufungen vor; Trunk-
sucht, Epilepsie, Imbezillität, Neuropathie, ausgesprochene Geisteskrank-
heiten sind bei ihnen in auffallend hohem Maße vertreten. Doch genügt
diese Tatsache nur dazu, um als Basis des Verbrechens eine gewisse geistige
Minderwertigkeit anzunehmen, welche die mit ihr Behafteten nicht befähigt
im Kampfe nms Dasein so sicher den Weg des Rechtes innezuhalten, wie
der glückliche Besitzer einer vollwertigen Psyche. Des Begriffes des »ge-
borenen Verbrechers« bedürfen wir aber auch gar nicht, um unserer auf die
möglichst erfolgreiche Bekämpfung des Verbrechens gerichteten Aufgabe
gerecht zu werden. Gerade die Erkenntnis einer in allgemeiner Form auf-
tretenden, sehr vielseitigen Minderwertigkeit der Mehrzahl der Verbrecheri-
schen bietet zugleich eine aussichtsvollo Handhabe, um zu einer wissen-
schaftlich einwandfreien Einteilung und damit psychologischen Erkenntnis
des Verbrechertums zu gelangen. Dies aber ist die Vorbedingung, um den
richtigen Weg zur Bekämpfung eines so vielköpfigen Ungeheuers zu finden,
wie es die Verbrecherwelt darstellt. Unter weitgehender Zergliederung der
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Literaturbericht.
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1897 von der internationalen kriminalistischen Vereinigung aufgestellten
Gruppen gelangt Aschaffenburg zu folgender Einteilung: 1) Zufalls-,
2) Affekt-, 3} Gelegenheits-, 4] Vorbedachts-, 5} Rückfalls-, 6} Gewohnheits-,
7) Berufsverbrecher. Die Festhaltung [dieser untereinander sehr wesens-
verschiedenen Gruppen erleichtert die Überlegung, wie das Verbrechen zu
bekämpfen sei.
III. Der Kampf gegen das Verbrechen. — Die allgemeine Zu-
nahme der Kriminalität in unserer Zeit lehrt unzweifelhaft, daß die Be-
kämpfung des Verbrechens, wie sie vom augenblicklich bestehenden Straf-
recht geübt wird, ihrer Aufgabe, das Verbrechen einzudämmen, nicht ge-
recht wird. Die kriminelle Physiognomie der Gegenwart ist eine
für den Kriminalisten so traurige, daß sie gebieterisch verlangt, nach den
Ursachen dieser Unzulänglichkeit unserer heutigen Bekämpfungsmethoden zu
forschen. Diese ist begründet in der mangelhaften'Kenntnis vom Wesen des
Verbrechens, welche die Gesetzgeberin unseres derzeitigen Strafrechtes ge-
wesen ist Die wissenschaftliche Analyse des psychologischen Phänomens,
das man mit dem Sammelnamen des »Verbrechens« bezeichnet, läßt erkennen,
wie dieses ans einer Menge von Einzelphänomenen zusammengesetzt ist,
denen das moderne Strafrecht noch ohne geeignete Kampfmittel gegenüber-
steht Viel aussichtsvoller erscheint der vom modernen Kriminalpsycho-
logen geforderte Versuch, affektfrei den vielen Wurzeln des Verbrechens das
Wasser abzugraben. Eine ganze Reihe von Delikten wird in Zukunft ver-
hindert werden, wenn eine verständige und konsequente Vorbeugung die
sozialen Grundlagen des Verbrechens nach Möglichkeit beseitigt. Dies ist
Aufgabe der sozialen Hygiene. Es handelt sich hierbei um den Kampf gegen
den Alkohol und die Wirtshausmisere durch ein wandsfreie Ersatzmittel, durch
Gründung von Volkslesehallen, Volkskonzerte, bildende Abendunterhaltung,
durch Turn- und Bewegungsspiele, durch Besserung der Wohnungsverhält-
nisse. Vertiefung des Familiensinns. Wichtiger noch ist die Bekämpfung der
sozialen Not durch Fürsorge für Kranke, Invalide und Arme, fUr Unfall-
verletzte, Arbeitslose, durch Versicherung der von meteorologischen Er-
eignissen Gefährdeten, schließlich durch Fürsorgeerziehung gefährdeter Kinder.
Der entlassene Sträfling muß in eine Lage gebracht werden, welche die Ge-
fahr des Rückfalls auf ein Minimum verringert, es muß ihm Arbeitsgelegen-
heit geschaffen werden. Schließlich aber müssen alle erzieherischen Fak-
toren, Haus und Schule, Kirche und Presse zusammenwirken in der Stärkung
des Rechtsbewußtseins und des Verantwortlichkeitsgefühls im Volke. —
Aber auch dem vollendeten Delikte gegenüber muß das Bestreben, ihm sach-
lich gerecht zu werden, lebendig bleiben. Denn jedes Verbrechen hat eine
ganze Summe von Ursachen, die eine sorgfaltige Untersuchung und Be-
urteilung erfordern. Hier ist der Ort, um über den Zweck der Strafe ins
klare zu kommen. Auf diesem Gebiete prallen alte und neue Strafrechts-
theorie aufeinander. Es ist bekannt, daß unserem Strafgesetzbuch im wesent-
lichen der Stthnebegriff zugrunde liegt, welcher für jedes Delikt eine Sühne
fordert Dieser Standpunkt kann aber in Zukunft von dem naturwissen-
schaftlich denkenden Strafgesetzgeber nicht gewahrt werden, nachdem er in
seiner praktischen Unhaltbarkeit nunmehr bloßgestellt ist. An seine Stelle
müssen Gesichtspunkte treten, welche dein Strafgesetze die Möglichkeit garan-
tieren, den Zweck der Strafe auch wirklich zu erfüllen. Dieser Zweck aber
kann nur der sein, die Gesellschaft zu schützen vor ihren unsozialen Mit-
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44
Literaturbericht.
gliedern, und es kann zweifellos überhaupt nicht nur auf dem alleinigen Wege
des Strafens erreicht werden, sondern es stehen ihm andere, unter be-
stimmten Umständen sehr viel wirksamere Mittel ebenbürtig zur Seite. Einst-
weilen allerdings ist das souveräne Kampfmittel gegen das Verbrechen die
Strafe. Wie wenig unsere Straf mittel aber geeignet sind, unsern Kampf
zu einem wirksamen zu machen, geht hervor aus der Gesamtzunahme der
Kriminalität und wird verständlich bei der schon oben skizzierten Analyse
des Verbrechens. Man erwartet von der Strafe abgesehen von ihrem Sühne-
zweck, daß sie den Verbrecher von der Wiederholung abschrecken und den
noch Unbescholtenen vor der Begehung eines Deliktes bewahren soll. Keines
unserer Strafmittel aber erfüllt diese Aufgabe in einem nennenswerten Um-
fange. Selbst die Todesstrafe hindert nicht das Vorkommen von Morden,
denn das Strafgesetz läßt den sehr wichtigen psychologischen Faktor ganz
aus dem Ange, welcher für den Attentäter in der Hoffnung, nicht entdeckt
zu werden, liegt; auf der anderen Seite sogar besitzt das Erleiden der Todes-
strafe ein heroisches Moment, welches gewisse Naturen eher reizt als lähmt.
Die Deportation wird heute nicht mehr in großem Umfang, und vor allem
von Deutschland Uberhaupt nicht, angewandt; ihr Wert kann aber wohl nicht
ohne weiteres bestritten werden, und in modifizierter Form wäre sie zweifel-
los auch in unserer Zeit durchaus zu billigen. Dies letztere gilt umso-
weniger von der von manchen Seiten geforderten und in Dänemark leider
wieder eingeführten Prügel strafe, die unseren modernen Anschauungen aufs
stärkste widerstreitet Die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte bleibt
ganz unwirksam, die Stellung unter Polizeiaufsicht wird noch gant
unzweckmäßig gehandhabt, wäre aber ebenso wie die Überweisung an die
Landespolizeibehörden in genügendem Umfang nnd der richtigen Weise an-
gewandt, durchaus zu empfehlen. Gänzlich verfehlt ist unser Geld-
strafensystem, welches den Minderbegüterten so empfindlich, den Reichen
so linde trifft Im Verweise haben wir einen leider nur zu wenig aus-
gebildeten Versuch vor uns, durch eine Strafe bessernd zu wirken. Waa
aber schließlich das Hauptstrafmittel, die Freiheitsentziehung, angeht,
so wird sie hinsichtlich ihrer Art, ihrer Dauer, ihres Vollzugs in einer Weise
gehandhabt die nur wenig Billigung hinsichtlich ihrer Zweckmäßigkeit findet
Hier vor allem müssen Reformen Platz greifen. — Aschaffenburg ver-
spricht sich einen großen Erfolg von der Schadloshaltung des durch ein
Verbrechen Geschädigten durch den Attentäter, desgleichen von einer um-
fangreichen Anwendung der bedingten Verurteilung und der vor-
läufigen Entlassung. Durch diese drei Grundsätze werden Gefühls- und
intellektuelle Werte in der Seele des Rechtbrechers erzeugt, welche einem
Verharren in krimineller Tendenz aufs intensivste entgegenkämpft. Durch
die Abschaffung des Strafmaßes würde eine Btarke, Bürgschaft dafür
geboten, daß in die Gesellschaft nicht Leute, die von ausgesprochen ver-
brecherischen Potenzen beherrscht sind, zurückkehren, der Individualität des
Täters aber würde durch diese Bestimmung in weitestem Umfange Rechnung
getragen. — Am wirksamsten aber wird die Behandlung der Jugend-
lichen, deren erst in der Entwicklung begriffene Psyche bei der Be-
urteilung eines Deliktes, noch mehr aber bei der Beurteilung einer Straf-
wirkung, eine ganz besondere Berücksichtigung erfordert. Waa an den
jugendlichen Kriminellen verkehrt gemacht wird, das rächt sich in dem
Wachsen der Gesamtkriminalität. Eine wirkliche Strafe für eine aus dem
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Literaturbericht.
45
noch anreifen Geiste des Jagendlichen heraus geborene Straftat ist etwas
Grandfalsches und mehr als bei anderen Straffälligen hat das Gesetz hier die
wirksamen Ersatzmittel für die kalt treffende Strafe heranzuziehen: vor allem
die Fürsorgeerziehung. Dr. Dannenberger (Gardelegen).
16) Em st Siefert, Über die unverbesserlichen Gewohnheitsverbrecher und
die Mittel zu ihrer Bekämpfung. Juristisch •psychiatrische Grenz-
fragen. III. Bd. Heftö. 26 S. Halle, Verlag von C. Marhold. M. — .80.
Die Tatsache, daß bei einer großen Anzahl von Straffälligen die gericht-
liche Bestrafung den wiederholten Rückfall ins Verbrechen keineswegs ver-
hindert, ist bekannt, die Theorien über die Ursachen dieses Phänomens des-
gleichen, nicht minder schließlich die Vorschläge und Versuche, die man zur
Beseitigung dieses Phänomens gemacht hat Mit diesen Fragen beschäftigt
sich auch die vorliegende kleine Broschüre. Bezüglich der Ursachen legt
der Verf. den geringeren Wert auf das Milieu, in dem der Verbrecher auf-
wächst, lebt und sündigt, den ausschlaggebenden auf die Anlage. Der un-
verbesserliche Gewohnheitsverbrecher sündigt infolge einer krankhaften An-
lage, die teils den Intellekt, mehr noch den Affekt betrifft. Jedenfalls aber
handelt es sich um etwas Krankhaftes. Neben vielen anderen Beziehungen, die
man zwischen dem gewohnheitsmäßigen Verbrechen und Geisteskrankheiten
finden kann, weisen noch einige besondere Phänomene auf diesen Zusammen-
hang hin, nämlich der Verteilungsmodus des Verbrechens, die Ursachen
seines Anwachsens, das Wesen des jugendlichen Verbrechers. Verbrecher-
charaktere kommen in Familien, die auch sonst von degenerativen Zuständen
heimgesucht sind, ferner im Proletariat, welches ein verbreehenzOchtendes
Milien darstellt, besonders häufig vor. Andererseits teilt das gewohnheits-
mäßige Verbrechen mit Geisteskrankheiten die Eigenschaft, daß es in anderen
Fällen absolut unabhängig vom Milieu auftritt. Schließlich weist die Erschei-
nung des jugendlichen Gewohnheitsverbrechers, der vom Milieu im allge-
meinen wenig beeinflußt wird, darauf hin, daß es vor allem die erworbene
verbrecherische, d. i. krankhafte Anlage ist, die sein Handeln bestimmt, und
es entwickelt sich aus ihm dann der erwachsene Gewohnheitsverbrecher.
Über die Mittel, welche man gegen diese Krankheit mit Erfolg an-
wenden kann, äußert der Verf. sich im zweiten Teil des Heftes. Nichts zu
erreichen ist mit allen Versuchen, den Gewohnheitsverbrecher direkt zu
bessern, z. B. durch Strafen, Moralisieren, Zureden usw., denn er folgt ja
seinem krankhaften Triebe — oder mit Versuchen, das Milieu zu ändern, in
dem er lebt, denn dieses ist ein unvermeidliches Produkt der modernen
Kultur. Dagegen kann man das züchtende Milieu bestimmen, in dem
zu Gewohnheitsverbrechen Neigende von Jugend auf leben sollen, und aus
dem alle Reize entfernt sind, auf die er im Milieu deB öffentlichen Lebens
im Sinne eines Verbrechens reagiert. Beim Aufsuchen dieses künstlichen
Milieus werden wir unterstützt durch die Erfahrungen, die wir mit einigen
zurzeit schon existierenden künstlichen Milieus machen, diese sind:
1) Da» militärische; es ist im Sinne unserer Betrachtungen dadurch
charakterisiert, daß der Minderwertige gewöhnlich an ihm scheitert.
2) Das der Irrenanstalten; es ist für eine große Anzahl der hier in Be-
tracht Kommenden durchaus das einzig richtige, aber nicht für alle,
46
Literaturbericht.
und kann anch nur in sehr beschränktem Umfange angewendet
werden.
3) Das der Strafanstalten; es ist ganz und gar unbrauchbar für unsere
Kranken aus vielen, allgemein bekannten Gründen.
4) Das der Fürsorge und Zwangserziehung; es ist im allgemeinen ein
sehr gutes, leidet aber an dem Mangel, daß seine Wirkung in einem
zu frühem Alter des Kranken aufhört
Aus diesen Überlegungen kommt Verf. zum Schloß, daß ein allen in Be-
tracht kommenden Forderungen genügendes Milieu für die zum Gewohnheits-
verbrechen tendierenden Minderwertigen bis jetzt nicht existiert Als Leit-
linien für alle künftigen Bemühungen, die sich in der skizzierten Richtung
bewegen, gibt es folgende Grundsätze:
1J Im allgemeinen wird das Aussehen dieser Zukunftsinstitutionen sich
von dem der .Gefängnisse grundsätzlich fernhalten müssen. Er-
fahrungen, die man bei ähnlichen Versuchen gemacht bat ermutigen
zur Fortsetzung solcher.
2) Vielmehr eignet sich das System von Anstalten, die sich an die Ein-
richtungen der Irrenpflege anlehnen (Anstalten mit Arbeiterkolonien;.
3) Die Fürsorge muß beim einzelnen Individunm schon frühzeitig ein-
setzen. Dadurch wird das jugendliche Verbrechertum und mit ihm
die Entwicklung des jugendlichen zum erwachsenen Gewohnheits-
verbrecher gehemmt Selbstverständlich können die hier sich zeigen-
den Ziele nur durch eine Fürsorgegesetzgebung größten Stile« er-
reicht werden.
Um die hier vorhandenen Probleme lösen zu können, werden sich indessen
die verschiedensten Weltanschauungen einigen müssen, was wohl am leichtesten
möglich ist, wenn man das gewohnheitsmäßige Verbrechertum als etwas
Krankhaftes zu erkennen vermag. Dr. Dannenberger (Gardelegen}.
17) C. G. Jung, Über die Psychologie der Dementia praecox. Halle, Marhold,
1907. M.2.Ö0.
Das Büchlein zerfällt in fünf Kapitel, deren erstes: »Kritische Darstellung
theoretischer Ansichten Uber die Psychologie der Dementia praecox« betitelt
ist. In diesem Kapitel stellt der Verf. das Wesentliche, was bisher Uber dieses
Thema in der Literatur veröffentlicht wurde, zusammen. Die folgenden Ka-
pitel handeln vom »gefühlsbetonten Komplex und seinen allgemeinen Wir-
kungen auf die Psyche«, und vom »Einfluß des gefühlsbetonten Komplexes
auf die Assoziation«. Das vierte Kapitel bringt eine Parallele zwischen
Dementia praecox und Hysterie (man vermißt hier eine genaue Begriffsbe-
stimmung alles dessen, was der Verf. unter »Hysterie« verstanden wissen will;;
und das letzte Kapitel die Analyse eines Falles von paranoider Demenz.
Ich beschränke mich auf diese kurze, in den Überschriften der einzelnen
Kapitel ausgedrückte, Inhaltsübersicht Eine eingehendere Inhaltsangabe und
Stellungnahme würde den Umfang einer größeren Broschüre erreichen müssen.
Wer sich mit den Jungschen Ideen ernsthafter befassen will, der muß ohne-
hin zum Original greifen. Wer aber diesen Ideen ferner steht dem nützt
auch ein seitenlanges Referat nichts.
Jungs Arbeit steht und fällt mit der Richtigkeit oder Unrichtigkeit
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Literaturbericht.
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Freudschen Hypothesen. Wer an letztere glaubt, der wird anch an dem
Jung sehen Buche seine helle Freude haben. Jung selbst spricht von den
»genialen Konzeptionen Freuds<, denen er soviel zu danken habe. Nun
wird kein Mensch die große Begabung Freuds verkennen; vieles zeugt von
scharfer Beobachtung und regt an. Aber das Prinzipielle in Freuds Lehren
muß ich durchaus ablehnen; und damit fallt für mich auch die Jungsche Arbeit
in sich zusammen. Jung kommt z. B. auf Seite 33 und 84 eingehender auf
Freud und auf eine »klassische Analyse« von ihm zu sprechen: >Schon
1893 zeigte Freud präliminarisch, wie ein halluzinatorisches Delir ans einem
dem Bewußtsein unerträglichen Affekt hervorgeht, wie dieses Delir eine Kom-
pensation ist für nicht befriedigte Wünsche, wie der Mensch gewissermaßen
in die Psychose flüchtet, um dort im Traumdelir der Krankheit das zu finden,
was die Wirklichkeit ihm versagte . . . Freud sagte damals, daß auch die
Paranoia, oder Gruppen von Fällen, die zur Paranoia gehören, eine Abwehr-
neuropsychose ist, d. h. daß sie wie Hysterie und Zwangsvorstellungen her-
vorgeht aus der Verdrängung peinlicher Erinnerungen und daß ihre Symptome
durch den Inhalt des Verdrängten in ihrer Form determiniert werden . . .«
Derartige Sätze sind für mich — man verzeihe mir den Ausdruck — hohle
Phrasen; weiter nichts. Sie widersprechen den allereinfachsten und banalsten
psychiatrischen Erfahrungen. Woher will — um nur dieses zu erwähnen —
Freud wissen, daß (Seite 34) das Ereignis aus dem sechsten Lebensjahr der
Paranoischen sich auch nun in Wirklichkeit ereignet bat und nicht bloß in
ihrer Einbildung; oder daß — die Tatsächlichkeit dieses Ereignisses wirklich
zugegeben — letzteres nicht etwas absolut Zufälliges und durchaus Neben-
sächliches war? —
Ein viel größeres psychologisches Rätsel, als alle jene Probleme, welche
das Jungsche Buch berührt, ist mir dieses: Wie es möglich sein kann, daß
Lehren, wie die Freudschen eine so diametral entgegengesetzte Beurteilung
erfahren können! Ich habe immer und immer wieder mit redlichem Bemühen
mich bestrebt, in die Freudschen Schriften einzudringen. Aber stets stoße
ich auf Ansichten, welche von meinen Anschauungen derartig prinzipiell ver-
schieden sind, daß eine Einigung, ein Eingehen auf die Freudschen Lebren
mir unmöglich ist. Für mich sind die Freudschen Hypothesen genau so
abgetan und unmöglich, wie etwa die Gal Ische Phrenologie. Eine nähere
Darlegung meiner Gründe hierfür kann ich. vielleicht in einer größeren klini-
schen Arbeit Uber Paranoia geben, welche ich in den nächsten Jahren zu
veröffentlichen gedenke. —
Jung sagt (Seite 4): > Leider sind nur unsere Kenntnisse der gesunden
Psyche noch auf einem sehr primitiven Standpunkt . . ..< Hiermit stimme
ich durchaus Uberein. Unsere Kenntnisse von der normalen Psyche sind noch
so minimale, daß es einfach verfrüht ist, Uber die Psychologie der Dementia
praecox zu schreiben. Wer den Versuch trotzdem wagt, der kommt in Ge-
fahr, zu umschreiben, statt zu erklären, — ähnlich jenem Menschen, welcher
das Spiegelbild eines Gegenstandes beschrieb, den er erklären sollte. So sind
für mich viele der Termini technici, welche Jung verwendet, Spiegelbilder
von etwas Bekanntem. Der ganze Versuch Jungs ist meiner Ansicht nach
derjenige eines Mannes, welcher (um ein Gleichnis Riegers zu gebrauchen)
ein Gebäude zu bauen beginnt nicht mit dem Unterbau, sondern mit dem
ersten Stockwerk. M. Reichardt (Würzburg;.
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48
Literaturbericht.
18) Dr. med. L. M. Kötscher, Das Erwachen dee Geschlechtsbewußtseini
und seine Anomalien. Eine psychologisch -pychlatrische Studie.
Grenzfragen des Nerven* und Seelenlebens. LH. 82 S. Wiesbaden,
Verlag von J. F. Bergmann, 1907.
Im ersten Kapitel des vorliegenden kleinen Werkes, Seite 5, setzt der
Verfasser auseinander, wie angesichts der Trübungen, welche das Bild des
Geschlechtslebens in der modernen Literatur durch pseudowissenschaftliche
und übertreibende Behandlung erfährt, es notwendig sei, die Erforschung
dieses Themas vom wissenschaftlichen und ethischen Standpunkte aus immer
aufs neue zu unternehmen. Namentlich die Verteidiger und manchmal auch
Vorkämpfer der homosexuellen Menßchengruppe haben es auf dem Gewissen,
daß auf dem in Bede stehenden Gebiet eine fast unbegreifliche Verwirrung
der Begriffe eingerissen ist Hier hilft es nur, durch wissenschaftliche Unter*
suchung die Begriffe zu fixieren und klarzustellen und dafür zu sorgen, daß
ein hypertropisches Verstehenwollen abnormer oder pathologischer Hand-
lungen und Neigungen nicht am letzten Ende der Gesellschaft mehr schade
als nütze.
Ab ovo beginnt die Darstellung des Gegenstandes, von der einzelnen
Zelle. Bereits dort liegen die Wurzeln der Ähnlichkeiten und Unähnlich*
keiten, die zwischen den Geschlechtern gefunden werden. Es gibt einen
absolut und ganz männlichen Hann ebensowenig als ein ganz weibliches Weib.
Geschlechtseigentümlichkeiten, die nur bei dem einen Geschlecht eine voll*
kommene und typische Ausbildung erfahren, können gleichwohl nie ganz
vermißt werden bei dem andern. Dies hat seinen ontogenetischen und phy-
logenetischen Grund. Denn männliche Determinanten gelangen mit dem Samen
in das Ei und vereinigen sich mit denen des letzteren, die Resultante ist die
physische und psychische Art des neuen Individuums, und ebenso bat ein
jedes Organ, also auch das Seelenorgan, Teil an diesen Determinanten. Die
phylogenetischen Erzeuger dieses Phänomens sind jene einzelligen Lebewesen,
die, in der Regel sich durch Teilung vermehrend, gleichwohl doch nach einer
Reihe solcher Teilungen, die sie allmählich zu einer kaum noch Leben ge-
währenden Kleinheit gelangen lassen, sich eine größere Zelle ihrer Art suchen,
mit der sie sich vereinigen und aus der sie sich neue Lebens- und Teilungs-
kraft erwerben: der erste Fall, wo zwei differente Zellen sich
suchen und finden, um einem neuen Organismus Leben zu geben. In dem
Suchen einer zur Vereinigung geeigneten Zelle haben wir die primitive Form
der Libido sexualis zu erblicken, aus der sich durch unendliche Zwischen-
stufen das komplizierte Phänomen der edelsten menschlichen Gescblechtsliebe
entwickelt. Bei dieser Überlegung wird es verständlich, daß Körper und
Seele des menschlichen Geschlechtswesens ein aus den Eigenschaften des
Samens und des Eies Zusammengesetztes enthalten müssen. Ein moralisches
Postulat, das aber eben in dem phylogenetischen Heranwachsen dieser Kom-
position bedingt ist, bleibt es, daß die Form der letzteren der Erhaltung der
Art dienlich sein müsse. Dieser Faktor muß vor allem nicht aus dem Auge
verloren werden bei der Frage der Homosexualität, die ganz entschieden
etwas Abnormes ist, wenn auch ihre Keime in der bisexuellen Anlage
ruhen, welche für jeden Menschen angenommen werden muß. Es kommt
hier indessen ein Moment hinzu, welches mit dem Zweck der sexuellen Dif-
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Literaturbencht.
49
ferenzierung, der Fortpflanzung der Art grundsätzlich nichts zu tun hat, die
Grenzen des normalen Geschlechtsbewußtseins überschreitet und unter allen
Umstanden einen Ausnahmezustand und in vielen Fällen etwas Krankhaftes
bedeutet. Alle Verherrlichungen der Homosexualität, wie sie von vielen
Wissenschaftlern heute geleistet werden, sind Überspannungen, die mit ob-
jektiver Würdigung naturgeschichtlicher Erkenntnis nicht verwechselt werden
dürfen (Kap. 1, 3).
Die Faktoren, aus denen sich der gesamte Geschlechtsvorgang zusammen-
setzt, sind von Moll und Ellis gründlich untersucht und behandelt worden.
Sich dem enteren anschließend, faßt Verf. die psychischen Erscheinungen
zusammen in die Begriffe des Detumeszenztriebes und des Kontrak-
tati ons trieb es. Er entfernt sich bei dem enteren damit zugleich von
Ellis, der, mehr von der historischen Entwicklung eines Liebesfalls beim
einzelnen Individuum ausgehend, die Detumeszenz als zweite Phase der
Turne szenz erkennt; KOtsoher aber bevorzugt die biologische Betrach-
tungsweise und setzt dem Detumeszenztrieb — von einem Triebe redet meines
Wissens Ellis hier überhaupt nicht — den Kontraktationstrieb gegenüber.
Der Detumeszenztrieb ist der Trieb >die Geschlechtaprodukte auszustoßen«, der
KontraktionBtrieb der Trieb, dies im Verkehr mit einem Weibe zu tun, beim
normalen Menschen und bei der normalen Liebe sind diese beiden Triebe
vereinigt, sie müssen es aber nicht sein (Masturbation, Päderastie u. a. auf
der einen Seite, psychische Erotismen, erotische Symbolismen auf der anderen).
Sekundäre Faktoren des Geschlechtslebens, indessen doch von bedeutender
Wichtigkeit, bleiben die einzelnen Sinnes gebiete , welche die Beziehungen
zwischen den beiden Parteien des Liebeslebens regulieren.
Die Entwicklung der sexuellen Psyche nimmt bei den einzelnen Indi-
viduen in verschiedenen Epochen ihren Anfang. Primäre sexuelle Phänomene
treten häufig schon sehr frühzeitig auf, ohne daß deren sexueller Charakter
bewußt zu werden braucht Das güt namentlich von der Tatsache, daß oft
schon im zartesten Alter masturbatorische Handlungen vorkommen. Deren
Verknüpfung mit sexuellen Vorstellungen bleibt dann einer späteren Epoche
vorbehalten, ein Hinweis darauf, daß man zwischen physischer und psychischer
Sexualität zu unterscheiden hat. Selbst die psychisch-sexuelle Entwicklung
eines Individuums kann bereits eine recht vollkommene sein, ohne daß sie
ins Bewußtsein tritt. Wenn das Mädchen sich mit derselben Leidenschaft-
lichkeit dem Spiel mit der Puppe hingibt, wie der Junge seinen kindlich-
kriegerischen Wettspielen mit seinen Altersgenossen, so liegt hier das Bei-
spiel eines Entwicklungsmodus sekundär-sexueller psychischer Eigenschaften
vor. Hinneigungen eines Kindes zu den typischen Spielen und Beschäfti-
gungsweisen der Kinder des anderen Geschlechts aber künden das Vorhanden-
sein homosexueller Geistesrichtung an, und oft findet man bei Homosexuellen
des erwachsenen Alters in die Kindheit zurückreichende Abweichungen von
der Norm sexuell-psychischer Entwicklung. Deutlich wird diese Anlage aller-
dings erst mit dem Eintritt in die Pubertät, und mit diesem Zeitpunkt nimmt
auch oft die Tragödie solcher Abnormen ihren Anfang. — Wir finden aber
noch andere Wurzeln sexueller Abnormitäten bereits in der Kindheit Liegen
ene mehr auf dem Gebiete der Anlage, so sind es die letzteren, die in un-
zweckmäßiger Erziehung ihren Nährboden haben. Bereits die unvernünftige,
übertriebene Kultivierung des Schamgefühls, wie sie die moderne Er-
xiehungspraktik liebt lenkt die erwachsende Psyche ab von der Ehrfurcht,
ArchiT für Psychologie. XI. Literatur. *
50
Literaturbcriclit.
die dem Geschlechtsleben zu zollen ist, and züchtet an deren Stelle eine
geheimniserforschende Lüsternheit, die bei nicht ganz normalen Erwachsenden
den Boden für spätere deutliche Entwicklungsabnormitäten bildet Weiterhin
aber müssen die pädagogischen Prügel, die noch ein wichtiges Kapitel
unseres heutigen Erziehungsprogramms bedeuten, vom Standpunkte des psy-
chopathologischen Forschers ans einer strengen Kritik unterworfen werden.
Die nervöse Verbindung der Analgegend und demnach auch der Nates, auf
die gewöhnlich die Prügel appliziert werden, mit den Sexualorganen ist eine
feststehende Tatsache, und es darf daher nicht Wunder nehmen, daß mit der
erwähnten Form der körperlichen Züchtigung sexuelle Empfindungen und im
Anschluß daran von Anfang an oder erst allmählich auch sexuelle Vorstel-
lungen verbunden sind. Auch ohne primäre sexuelle Empfindungen können
auf solche Weise Bexuelle Vorstellungen erzeugt werden. Denn im Erdulden
wie im Applizieren körperlicher Strafen können bei Abnormen sowohl maso-
chistische wie sadistische Anlagen zur Entfaltung gedrängt werden.
Gar oft gehen derartige Perversionen Erwachsener auf Prügelerziehung zurück.
Der Fall Dippold lehrt, wieweit sadistische Gefühle bei der aktiven Prüge-
lung an Macht gewinnen, viele andere, wie masochistische Neigungen späterer
Jahre entstanden aus dem mit sexuellen Empfindungen verbundenen Erdulden
von körperlichen Züchtigungen.
Der Eintritt in die Pubertätszeit (Kap. 5— 7) bringt nun die mäch-
tige Woge jener Empfindungen und Ideen mit sich, deren Anprall zu wider-
stehen oder zu unterliegen das Schicksal jedes Menschen ist. Wohl dem,
dem Anlage und Erziehung die Kraft zu dieser'Aufgabe schenkten und stählten.
Es ist hier noch einmal die letzte Gelegenheit geboten, der nach Vollendung
ringenden Seele die Wege der Erkenntnis zu weisen. Leider wird diese Ge-
legenheit öfter versäumt als genützt. — Zum ersten Male mit vollkommener
Macht erwacht das Geschlechtsbewußtsein, mit ihm eine enorme Empfäng-
lichkeit der Seele für Gefühle und Ideen, die den Gang des Menschenlebens
bestimmen. Unklar nur erfüllen sie und noch nicht geordnet, geschweige
denn gekräftigt, den jungen Menschen, ein jeder reagiert auf sie nach seiner
und seiner Lebenssituation individueller Eigenart Drängen sie zum Bösen
oder zum Guten und welches der beiden siegt zuletzt? Das ist die Frasre,
die an jeden einzelnen Erzieher herantritt Wie wenige dieser aber werden
sich des Ernstes und des Umfange ihrer Aufgabe bewußt! Hier wird noch
viel gesündigt — Über die verschiedenen Bahnen, in die das sexuelle Leben
im weitesten Sinne geleitet wird, äußert sich Verf. in folgenden Meinungen.
In manchen Fällen entwickelt sich der Körper, ohne daß ein Voranschreiten
auch der geistigen Fähigkeiten im ganzen oder doch einzelner von ihnen
erfolgt Solches Zurückbleiben der seelischen Eigenschaften imponiert dann
als psychische Hemmung, als Demenz. Besonders häufig betroffen ist von
diesem Zurückbleiben der Entwicklung das Gefühlsleben, hier redet man
dann von moralischem Schwachsinn, der sich natürlich auch auf dem
sexuellen Gebiete zeigen muß. Zu ihm gehören ein Teil der Algolagnisten.
vor allem die Sadisten. — Bei andern entwickeln sich einzelne Seelengebiete
besonders stark, vor allem wiederum das Gefühlsleben. Sentimentale Schwäch-
lichkeit charakterisiert die Lebensführung eines Teils der Hierhergehörenden
Sind sie aber gleichzeitig mit einem starken Temperament von der Natur
beschenkt worden, so vermag die Kraft und Fülle der Gefühle solcher Menschen
zu hoher Begeisterung, zu starker Tat fortzureißen. Sie sind die fest in der
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Literaturbericht.
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Zeit stehenden Familienväter and Stützen der Gesellschaft Die Schwachen
aber werden, was ihr sexuelles Leben anlangt, zu Werthern, Himmelsbräuten,
asketischen Jünglingen; wenn sie perverse Anlagen besitzen, zu Masochisten
und Masturbanten. — Die sozial gefährlichste Form aber erzeugt die Ab-
weichung von der gesunden Norm, wenn die Pubertät den jungen Menschen
zum Verbrechen treibt. Harmlos noch ist die phantastische Sehnsucht
des Jünglings nach der Ferne, schlimmer wird sie, wenn sie ihn zur krimi-
nellen Betätigung dieses Dranges bringt (Robinsonaden, Indianerreisen).
Sind das aber mehr Krankheiten des Knaben, so erzeugt auch beim ge-
schlechtsreifen Jüngling das unklare Drängen und Treiben der Brust aus-
gesprochen kriminelle Handlungen. Eine traurige Bolle als agent provocateur
spielt hier noch mehr als sonst der Alkohol; seine Eigenschaft, die moto-
rischen Spannungen von ihren Hemmungen zu befreien, vereinigt sich mit
dem jugendlichen Kraftbewußtsein und Tatendrang oft zu einer verhängnis-
vollen Macht (Rowdytum, Bramarbastum bei Studenten und Fabrikarbeitern).
Darüber ist schon zu viel geschrieben worden, als daß hier noch einmal die
Aufgabe der Darstellung der Alkoholwirkung auf die Kriminalität gelöst
werden müßte. Auch eine genauere Besprechung der jugendlichen Geistes-
störungen dürfte sich erübrigen, vor allem deshalb, weil die typische juvenile
Geistesstörung, die Dementia praecox, in ihrer Entstehungsgeschichte nicht
durch Tatsachen, sondern nur durch Theorien bekannt ist.
Der Prophylaxe und Behandlung der Gefahren der »Pubertätszeit« ist das
letzte Kapitel gewidmet Die wirksamste Vorbeugung verspricht sich Verf.
ebenso wie eine überaus große Anzahl spezifisch pädagogischer Köpfe von
der Koedukation und der sexuellen Aufklärung, welche geeignet
sind, das Mysterium des Geschlechtslebens aus dem geheimnisvollen unklaren
Dunkel der Lüsternheit in das helle Licht einer gesunden Sinnlichkeit zu
rücken. Dr. Dannenberger (Gardelegen).
19) M euni er, Des reves stereotypes. Journal de Psychologie, dir. p. P. Jan et
et Georges Dumas. II. Annee. Nr. 5. 1905.
Der Verf. weist zuerst mit Recht darauf hin, daß es merkwürdig ist, daß
•die Träume sich nicht Öfter wiederholen. Sind doch die Reize, durch welche
Träume entstehen, sehr einförmige, und die feineren Nuancen der Reizungen
kommen in ihnen gar nicht zur Wirkung auf das Bewußtsein. Es muß
also wohl die Summe der inneren phychischen Mitursachen, welche der äußere
Reiz auBlOst, eine sehr mannigfaltige sein.
Im allgemeinen besteht das Substrat des Traumes in einem bestimmten
Zustande des Gemeingefühls oder einem emotiven Zustande, und die intellek-
tuellen Operationen, welche auf Grund dieser Zustände im Bewußtsein des
Schläfers auftreten, machen den Traum aus. Die Frage ist nun: wie inter-
pretiert der Traum einen solchen Zustand des Gemeingefühls oder einen
emotiven Zustand.
Zunächst die erste Unterfrage. Da ist zu unterscheiden, ob der Träu-
mende eine charakteristische Gemeinempfindung zum ersten Male erlebt oder
ob er sie schon früher erlebt hat Im letzteren Falle kann ein ähnlicher
Traum (wie früher) auftreten, wenn das erste Erlebnis stark genug war. Oder
eine solche Erinnerung an einen früheren charakteristischen Zustand existiert
4»
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Literaturbericht.
nicht, und was im Gedächtnis auftritt, Bind die begleitenden Umstände, die
ganze Atmosphäre der charakteristischen Gemeinempfindung, nicht diese
selbst. Es ist übrigens die Ansicht des Verf., daß man nicht eigentlich ein
Gefühl reproduziert, vielmehr wenn ich mich an einen Zahnschmerz erinnere,
so weiß ich, daß ich ihn gehabt habe, es taucht dieser abstrakte Gedanke
auf, nichts von dem Schmerze selbst.
Eine Erinnerung an ein äußeres Ereignis und das Bewußtsein, daß man
es gehabt hat, kommt nach der Ansicht des Verf. nicht zustande, ohne daß
irgend ein Gefühlselement dabei mitwirkt Denn ohne das würde die
Aufmerksamkeit gar nicht auf den betreffenden Inhalt hingelenkt worden sein.
Das abstrakte Wissen des »Daß« ist die am wenigsten sichere Gedächtnishilfe.
Der Gefühlston eines Ereignisses (einer Vorstellung oder Wahrnehmung: ist
dagegen das Sicherste. Nun sind z. B. körperliche Schmerzen und im all-
gemeinen Gefühle selbst nicht reproduzierbar, erinnere ich mich an einen
früheren Schmerz, so wird die Erinnerung an die Nebenumstände zu dem
assoziativen Vermittler des Bewußtseins, daß ich Schmerz gehabt habe. Und
es kann ein UnlustgefUhl dabei entstehen, aber nicht der organische Schmerz
kann reproduziert werden.
So erklärt sich der folgende Traum eines französischen Reisenden: Dieser
war in Ägypten von einem Augenleiden befallen worden. Mehrere Jahre
nachher träumte er in seiner Heimat auf einmal wiederholt von seinen ägyp-
tischen ReiaeeindrUcken und kurz darauf stellte sich ein Rückfall des Augen-
leidens ein. Hier hat offenbar die wiederauflebende Lokalempfindung von
dem Augenleiden, die dem Ausbrauch der Krankheit voranging, die Re-
produktion der mit ihr früher assozierten ägyptischen Eindrücke bewirkt
Auffallend ist an diesem Beispiel daB weite Zurückliegen der im Traum re-
produzierten Ereignisse. Sieht man von diesem Merkmale ab, so kommen
solche Träume nach der Ansicht des Verfassers sehr oft vor.
Wenn nun ein solches Erlebnis (wie schmerzhafte Gemeinempfindung) von
dem Träumenden zum ersten Male durchgemacht wird, so kann der Traum
die Deutung der Empfindung natürlich nicht aus den eigenen früheren Er-
lebnissen entnehmen, weil solche noch nicht da sind, dann lehnt er sich an,
an Erfahrungen, die man mit anderen Personen gemacht hat, oder an die
Lektüre, an Erzählungen usw.
Wie interpretiert der Traum den Gefühlszustand, an den er anknüpft^
Im allgemeinen kann man sagen, indem er in der Außenwelt ein Ereignis
oder eine Kette von Ereignissen annimmt, welche das Hervortreten eines
ähnlichen Gefühls zum Resultate haben mÜBsen. Nun gibt es aber unendlich
viele Möglichkeiten, einen Gefühlszustand durch eine Geschichte zu inter-
pretieren, warum finden wir bei einem und demselben Menschen keineswegs
eine unendliche Verschiedenheit der Interpretation? Dieses erklärt sieb
hauptsächlich daraus, daß im Traum ein bestimmter gegenwärtiger Gefühls-
und Empfindungszustand alle ähnlichen früher erlebten Zustände des Indi-
viduums wieder anregt und da im Traume das Gedächtnis seine Tätigkeit
der des Urteils substituiert, so kommen alle diese analogen Zustände zum
Bewußtsein, und leben wieder auf, ala wenn sie aktuell wären. Der Verfasser
vergleicht das mit den Erscheinungen der physikalischen Resonanz und daher
kommt es auch nach seiner Ansicht, daß man sich streitet, ob die Träume
solche Ereignisse reproduzieren, die uns besonderen Eindruck gemacht haben,
oder ob gerade das reproduziert wird, was wir nicht besonders beachtet
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Literaturbericht.
53
haben, es ist eben bald das eine, bald das andere der Fälle, je nach dem Maß
von Gewöhnung, von dem der Träumende ein gewisses besitzt Eines
unter den Erlebnissen der Vergangenheit kann aber immer nur jeweils für
den gegenwärtigen Traumzustand die Bedeutung einer Dominante gewinnen
und wird die meiste Aussicht für die Reproduktion haben. Für die Auswahl
dieser Dominante kommt in Betracht die Eindrucksfähigkeit, die Intensität
und die Häufigkeit eines Ereignisses, die Erregbarkeit des Nervensystems in
dem Moment, in dem es eintritt, nnd endlich die Neuheit desselben.
Die sogenannten Wiederholungs träume gehen nun meist aus von Gemein-
empfindungen oder Gefühlen, die für ein bestimmtes Individuum charakteris-
tisch sind; z. B, Störungen der Zirkulation der Verdauung, der Atmung oder
Alkoholgenuß und dergl. mehr. Die Empfindungsgrundlage der Träume bei
demselben Individuum ist dann die gleiche, die zur Deutung herbeieilenden
Vorstellungen variieren aber in den meisten Fällen. Immerhin kommt es vor,
wenn auch sehr selten, daß in gewissen Fällen die Träume sich vollkommen
identisch wiederholen. Damit identische Träume wiederkehren, muß natürlich
nicht nur die Empfindungsgrandlage die gleiche bleiben, sondern eine be-
stimmte Empfindungsgrundlage muß eine so feste Assoziation mit einem
bestimmten Vorstellungskreis eingegangen haben, daß das Bewußtsein keinen
anderen Weg einschlagen kann. Das ist nun nach der Ansicht des Verfassers
nur in ganz bestimmten Fällen möglich, nämlich einerseits in der Jugend,
in welcher sich Ereignisse bisweilen außerordentlich fest einprägen, sodann
bei epileptischen und hysterischen Kranken. In der Epilepsie liegt immer
die gleiche Verstimmung der Gemeingefühle und der stereotype Charakter
der Anfälle bedingt hier die Gleichförmigkeit der Träume. Während bei dem
Epileptiker die Träume immer stereotype Form annehmen, findet er sich
bei dem Hysteriker nur in gewissen Fällen, der stereotype Traum erscheint
nämlich bei manchen Hysterischen als eine einfache Übertragung ihrer fixen
Ideen in die Traumzustände, und das Auftreten dieser Ideen beruht im
Schlaf und im Wachen auf dem gleichen Mechanismus. Das Auftreten ge-
wisser Gemeinempfindungen ist bekanntlich bei den Hysterischen Ursache
zum Auftreten bestimmter fixer Ideen und das macht sich sowohl im Schlafe
wie im Wachen geltend.
Hierauf bringt der Verfasser eine Anzahl interessanter Beispiele von
Wiederholungsträumen aus den klinischen Erfahrungen.
Sodann stellt Meunier einige sonderbare Überlegungen an. Er meint
nämlich, wahrscheinlich sei es nur die Hysterie, die zu bestimmten organischen
Reizen konstante Träume hinzugeselle. Auszunehmen seien allenfalls
solche Wiederholungsträume, bei denen die Assoziation zwischen der Emp-
findungsgrundlage und den interpretierenden Vorstellungen schon in der
Jugend erworben sei, hierfür wird ein Beispiel von Azam angeführt Ein
anderes Beispiel von dem stereotypen Traum einer Dame, der sich einstellte,
wenn sie auf dem Rücken schlief; zeigt, daß die Auffassung des Verfassers
von der Ursache der Wiederholungsträume eine viel zu beschränkte ist denn
diese Dame scheint nicht hysterisch zu sein, sondern einfach an Herzneurose
zu leiden. Sodann werden weitere Fälle von stereotypen Träumen mitgeteilt,
die mir ebenfalls alle keine hysterischen Grundlagen zu haben scheinen.
Wenn die stereotypen Träume keine Empfindungsgrundlage haben, son-
dern rein aus den Vorstellungen zu stammen scheinen, so sind sie nach
der Annahme des Verfassers die Vorläufer und Ankündiger irgendeiner Form
■
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Literaturbericht.
der »Besessenheit« oder der Zwangsvorstellungen. Bei einem Kranken, der
an zirkulärem Irresein litt, beobachtete Chaslin, daß die Träume, welche
der heiteren Periode vorangingen, keine rechte konstante Form annahmen,
dagegen der Traum, welcher der melancholischen Periode voranging, war
ganz stereotyp. Der Kranke träumte dann regelmäßig von dem Tode seines
Vaters. Dazu bemerke ich, daß dieses doch keineswegs der gewöhnliche
Fall von Wiederholungsträumen ist, weil hier nicht etwa nur die gleiche Art
von Ereignissen geträumt wird, sondern immer dasselbe konkrete Er-
eignis.
Die Deutung der Wiederholungsträume durch den Verfasser ist ganz
offenbar eine zn einseitig pathologische und seine eigenen Beispiele be-
rechtigen ihn nicht zu dieser Art der Erklärung. Es ist durchaus nicht ein-
zusehen, warum nicht auch ohne irgendeine krankhafte Grundlage eine be-
stimmte Gruppe von Ereignissen sich mit gewissen Organempfindungen so
fest assoziieren kann, daß das Auftreten dieser Organempfindungen im Schlaf
immer wieder den gleichen Vorstellungskreis reproduziert Dann entstehen
aber Wiederholungsträume auch bei vollkommen normaler Verfassung des
Bewußtseins. E. Heumann (Münster LW.|.
20 Henry Phipps Institute. For the Study, Treatment and Provention
of Tuberculosis. Philadelphia, Verlag des Henry Phipps Insti-
tuts, 1906/6/7.
Das in großartigem Stil organisierte Henry Phipps Institut zur
Forschung und Behandlung der Tuberkulose versendet seit einigen Jahren
umfangreiche Jahresberichte, die auch manches psychologisch Interessante
enthalten. So ist es z. B. für den Psychologen von Interesse, daß der Be-
richt auch die Mental Attidude in Tuberculosis behandelt Dabei
wird der Einfluß der Erziehung, der Familie, der Erblichkeit und des Tem-
peraments betrachtet die Stimmungen der Kranken werden untersucht ihre
Gedächtnisleistung, ihr Schlaf, ihr Traum und ihr Geschlechtsleben. Der
übrige Teil der Berichte ist mehr von pathologischer und hygienischer Be-
deutung. E. Meumann (Münster i. W.)
21) M. Ettlinger, Sind die spiritistischen Erscheinungen natürlich er-
klärbar? 12 S. gr. 8°. Separatabdruck aus »Hochland«, Monats-
schrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst.
Herausgeg. von Karl Muth. V. Jahrg. 1. Heft Kempten und
München, Jos. Köselsche Buchh.
Der Verfasser beantwortet die gestellte Frage an der Hand mehrerer
Beispiele im allgemeinen bejahend, warnt aber davor, die über sogenannte
okkulte Phänomene verbreiteten Berichte ohne weiteres als unwahr oder be-
trügerisch hinzustellen. Er verlangt vielmehr ernste Prüfung durch wissen-
schaftlich gebildete Männer, die zugleich Uber eine scharfe Beobachtungs-
gabe verfügen. J. Kühler (Lauterbach).
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Literaturbericht.
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22} HansFreimark, Moderne Geisterbeschwörer and Wahrheitssucher. Groß-
stadtdokumente, herausgegeben von Haus Ostwald. XXXVI. Bd.
104 S. Berlin und Leipzig, Herrn. Seemann Nachf. M. 1.—.
Es ist schade, daß der an und für sich zn billigende Grandgedanke der
Großstadtdokumente, als einer Sammlang von sozial- ethisch interessanten
Schilderangen der Nachtseiten großstädtischen Lebens und Treibens, durch
eine naheliegende Verquickung mit Sensationswirkungen den abschussigen
Bahnen der Schundliteratur sich bedenklich angenähert hat Der beigegebene
Waschzettel eines betriebsamen Verlegers rühmt der vorliegenden Arbeit ge-
naue Kenntnis der einschlägigen Verhältnisse, unterhaltsame Schreibart, so-
gar Bedeutung für die Psychologie der Gegenwart zu. Nichts von alledem
habe ich gefanden. Dagegen ist mir der Hinweis auf hochaktuelle Skandal-
affären und ähnliche Menschlichkeiten nicht entgangen. Der Verf., der es
offenbar mit niemand verderben möchte, nimmt dem Spiritismus, Okkultismus
and der Theosophie gegenüber eine völlig anklare Stellung ein; er gibt sich
auf der einen Seite das Ansehen eines verkappten Satirenschreibers, am dann
auf der andern nicht zu verkennen, >daß diesen Bestrebungen im Grunde ein
ehrlicher Wissensdrang entspricht, dessen Berechtigung anzuerkennen die
zeitgenössische Wissenschaft auf bestem Wege ist«. Auch für die Kenntnis
der tatsächlichen Vorkommnisse in den Kreisen der Theosophen und Spiri-
tisten ist ans den belletristisch gehaltenen Darstellungen der Broschüre wenig
zu entnehmen. Das S. 94 erwähnte, auf theosophischen Prinzipien beruhende
Erziehungsinstitut Theosophinum Dr. Friedrich Hafts in Jena ist dem
Ref. zufälligerweise näher bekannt: — man muß dergleichen gesehen haben,
um die Leichtgläubigkeit und Urteilslosigkeit derer in ihrem ganzen Umfang
zu würdigen, die es fertig bringen, hierbei Ernst und wissenschaftlichen Sinn
zu entdecken. Vom sozialen Standpunkt aus sind gewiß die stets heiteren
betrogenen Betrüger weniger als die armen Opfer ihrer Unwissenheit zu be-
dauern, die ihr Schicksal mit den Kreisen der Menschenbeglücker in Be-
rührung bringt Dr. Fritz Rose (Weimar).
23) Camille Flammarion, Unbekannte Naturkräfte. Mit 18 Abbildungen
im Text und 10 Tafeln. 380 Seiten. Stuttgart, Verlag von Julius
Hoffmann, 1908. M. 6.—.
In dem vorliegenden Werke teilt der französische Astronom Flammarion,
der durch seine phantasievollen Ausführungen über den Planeten Mars nnd
seine Bewohner in weitesten Kreisen bekannt geworden ist, eine Anzahl
Experimente mit aaf Grund deren er sich selbst Uber spiritistische und okkul-
tistische Erscheinungen zu orientieren gesucht hat F. steht allen diesen
Erscheinungen nicht so skeptisch gegenüber, wie das meist bei wissenschaft-
lichen Forschern der Fall ist und er ist geneigt viele Experimente, die er
mit spiritistischen Medien ausgeführt hat, als Tatsache anzuerkennen, auch
wenn Bie bis jetzt nach der Auffassung unserer heutigen Wissenschaft als
völlig unerklärlich erscheinen müssen. Er gibt die Möglichkeit zu, daß bei
den mediumistischen Experimenten uns noch unbekannte Naturkräfte ins
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Literaturbericht
Spiel treten und glaubt z. B. an eine Fernwirkung der Medien, auf Grund
deren sie imstande eind, aus der Ferne schwere Gegenstände durch die An-
ziehungskraft zu heben u. dgl. mehr. Diese Wirkung faßt er als eine gleich-
zeitige Äußerung einer physischen und psychischen Kraft auf. Das Buch
behandelt nacheinander zunächst die Möglichkeit der Annahme unbekannter
Naturkräfte anf Grund zahlreicher Beobachtungen, sodann die ersten Experi-
mente in dem Kreise von Allan Kadec, dann später Experimente mit dem
italienischen Medium Eusapia Paladina, die zum Teil sehr merkwürdiger
Natur Bind, so konnte z. B. die Paladina Abdrücke von Fingerspitzen und
den Abdruck eines Gesichts aus der Entfernung in weichen Kitt ausführen.
Ferner werden auch zahlreiche Betrügereien, Taschenspielerkünste und Kunst-
griffe der falschen Spiritisten erörtert dann die Experimente des Grafen
Gasparin und die »Forschung des Professors Thury< erläutert, dann
werden die Versuche der Dialectical Society in London besprochen und die
Experimente von William Grookes, endlich wird eine Umfrage über die
Beobachtung unerklärter Erscheinungen mitgeteilt
Am wichtigsten Bind in dem Werke die zahlreichen Beobachtungen des
Verfassers über außergewöhnliche Leistungen der einzelnen Medien, die auch
einigermaßen genau wissenschaftlich kontrolliert wurden. So ließ F. z. B.
genau feststellen, daß das Aufheben eines Tisches ausschließlich durch die
Haltung der Hand und der oberen Tischplatte möglich ist, indem Photo-
graphien von dem aufgehobenen Tisch bei Blitzlicht angefertigt worden.
Mehrere von diesen Photographien sind in dem Werk abgebildet. Man kann
jedoch in keinem Falle wirklich deutlich sehen, daß der Tisch nicht an
irgendeiner Seite gehoben worden ist. Es Bollte zu solchen Versuchen ein
Tisch mit erner Platte benutzt werden, die Uberhaupt nicht vorspringt da
es bei der üblichen Anordnung des Versuchs leicht möglich ist, daß eine
Hand unter den Vorsprang der Tischplatte greift. Interessanter sind die
Versuche, die Crookes gemacht hat, um durch das Experiment die An-
ziehungskraft der menschlichen Hand auf einen Hebel aus der Entfernung
nachzuweisen. Hierzu benutzte er einen langen Hebel mit zwei ungleichen
Schenkeln, bei welchem die Bewegung des einen Schenkels auf die Trommel
eines Kymographions oder eine Glasplatte Ubertragen werden konnte. Es
gelang hierbei, eine Anzahl Kurven zu gewinnen, daraus dann die anziehende
Kraft der Hand eines Mediums aus der Ferne deutlich ersichtlich ist Wie
weit nun diese Versuche, die in mannichfaltiger Weise variiert wurden, durch
•in zuverlässiges Verfahren zustande gekommen sind, das ist nach der Be-
schreibung nicht mit Sicherheit zu unterscheiden.
Nachdem der Verfasser außerordentlich zahlreiche spiritistische Beob-
achtungen dargestellt hat, kommt er endlich zu der Entwicklang seiner
eigenen Ansicht über die unbekannten Naturkräfte. Eb ist so charakteristisch,
daß ein bekannter Naturforscher in nnsrer Zeit Ansichten vertreten kann,
die dem Spiritismus sehr nahe stehen, daß wir einige von seinen Schluß-
folgerungen wörtlich mitteilen wollen: Eine erste Schlußfolgerung steht fest,
nämlich die, daß das menschliche Wesen eine fluidische und psychische Kraft
in sich hat deren Natur uns noch unbekannt ist, die aber imstande ist an.»
der Entfernung auf die Materie zu wirken und sie zu bewegen. »Diese Kraft
ist der Ausdruck unseres Willens und unserer Wünsche«, für gewisse andere
Fälle kommt noch das Unbewußte, Unvorhergesehene und die Willensäuße-
rung hinzu, die nichts mit unserem bewußten Willen zu tun hat »Diese Kraft
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Literaturbericht.
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ist gleichzeitig physisch and psychisch. Wenn das Medium eine Anstrengung
macht, um ein 5 — 6 kg schweres Möbel zn heben, so nimmt sein Gewicht in
demselben Verhältnis zn. Die Hand, die wir in seiner Nähe Gestalt annehmen
sehen, kann einen Gegenstand ergreifen, sie ist wirklich vorhanden und ver-
schwindet dann wieder.« »Die Einmischung von Geistern dabei anzunehmen,
ist durchaus nicht notwendig«, aber der Verfasser fügt hinzu, daß bei den
Experimenten, die er mit den Medien gemacht hat, sich Dinge ereignen, »als
ob ein unsichtbares Wesen dabei mitwirkte, das imstande ist, verschiedene
Gegenstände durch die Luft zu befördern, ohne im allgemeinen die Köpfe
der Anwesenden trotz der ziemlich großen Dunkelheit zu verletzen, das weiter
. wie ein heftiger Wind auf den Vorhang wirkt, der ihnen auf die Köpfe weht,
ihm wie mit zwei kräftigen Händen fest gegen das Gesicht drückt und das
schließlich uns wie mit einer lebenswarmen Hand anfassen kann. Ich habe
solche Hände mit unumstößlicher Sicherheit gefühlt. Dieses ansichtbare
Wesen kann sich genügend verdichten, um sichtbar zu werden und ich habe
es durch die Luft gleiten sehen. < Mit aller Entschiedenheit verwahrt sich F.
dagegen, daß er einer Sinnestäuschung zum Opfer gefallen sei. Er behauptet
vielmehr, daß er sich in vielen Fällen in den günstigsten Bedingungen befand,
die man für die Beobachtung und für die Untersuchung einer Erscheinung
verlangen kann. Die Annahmen, zn denen der Verfasser über die Art der
Fernwirkung der Medien gelangt, sind allerdings höchst sonderbarer Natur.
Er nimmt eine Art von »Verlängerung der Muskel- und Nervenkräfte des
Mediums« an. »Diese Verlängerung ist wirklich vorhanden, sie erstreckt sich
aber nur bis auf eine gewisse Entfernung von dem Medium, eine Entfernung,
die meßbar und den Umständen nach verschieden ist.« Hierauf folgen dann
Spekulationen des Verfassers Uber das Wesen der Materie, die aber besser
von allen denjenigen, welche sich für das Werk F. interessieren, in der
Originalschrift nachgelesen werden. E. Meumann (Münster i.W.).
24) E. W asm annn, Menschen- und Tierseele. 4. Aufl.' 16 S. gr. 8». Köln,
J. P. Bachem, 1907. M. —.60.
Das Büchlein steht auf dem Boden der Thomistischen Philosophie,
scheint jedoch seine llanptqnelle — ohne es auszusprechen — in der
Wundtschen Psychologie zu haben. Es wendet sich vor allem gegen die
sogenannte »Vulgärpsychologie«, welche das menschliche Geistesleben ohne
kritische Prüfung schlechthin auf das tierische Seelenleben übertrage. Der
wesentliche Unterschied zwischen Mensch und Tier sei die Intelligenz, welche
dem Menschen allein eigen sei, während die Tätigkeiten der Tiere auf In-
stinkte and sinnlichem Gedächtnis (Assoziation) beruhen.
J. Köhler (Lauterbach; .
26) M. Wagner, Psychobiologische Untersuchungen an Hummeln. I. Teil.
Mit 1 Tafel und 60 Textfiguren (Zoologica, Originalabhandlungen aus
dem Gebiet der Zoologie. Herausgegeben von Professor Dr. Carl
Chun in Leipzig. Heft*46I. 19. Band. 2. Lieferung). Stuttgart,
E. Schweizerbartsche Verlagsbuchhandlung, 1906.
Die vorliegende Schrift enthält eine Anzahl außerordentlich sorgfältiger
und scharfsinniger Untersuchungen über die solitären und sozialen Instinkte
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Literaturbericht
der Hummeln. Da es dem Verfasser gelungen ist, eine Anzahl Fragen über
das Seelenleben der Insekten, insbesondere gewisser Spinnenarten und der
Hummeln zn beantworten, Uber welche bisher große Meinungsverschieden-
heiten geherrscht haben, und da mir seine Antworten von großer Bedeutung
für die Psychologie der niederen Tiere überhaupt zu sein scheinen, so mag
es gerechtfertigt sein, wenn wir auf den Inhalt der Schrift etwas genauer
eingehen.
In der Einleitung formuliert der Verfasser seine Aufgaben und seine
Stellung zu den verschiedenen Möglichkeiten ihrer Lösung: »Die Naturge-
schichte der gesellig lebenden Insekten umschließt Fragen der Biologie und
Psychologie, die das Interesse für diese Gruppe von Tieren weit über die
Grenze der rein zoologischen Sphäre« hinausfuhrt Einerseits gibt es eine
Anzahl Naturforscher, die diesen Insekten die höchsten geistigen Leistungen
zuschreiben, andererseits gibt es nicht wenig maßgebende Forscher, welche die
Berechtigung der Annahme so großer geistiger Leistungen von vornherein
nicht anerkennen, weil sie den allgemeinen Angaben der Entwicklungs-
theorie widersprechen. Eine der vielen Ursachen, welche die Lösung dieser
Frage erschweren, erblickt der Verfasser in der mangelhaften Untersuchungs-
methode: Man hat viel zu sehr die Frage des Seelenlebens der Insekten mit
Hilfe einer subjektiven, die Handlungen dieser Tiere nach dem Maßstab des
Menschen deutenden Methode behandelt und zu wenig die Eigenart der
tierischen Handlungen und der ihnen zugrunde liegendes
geistigen Leistungen objektiv zu erforschen gesucht Richtiger
als von Menschen auf die Tiere zu schließen ist das umgekehrte Verfahren,
von den Tieren auf den Menschen zu schließen, denn die Tiere bezeichnen
uns vollkommen eigenartige Stufen einer niederen Entwicklungereihe, als
deren höchster Abschluß der Mensch erscheint Diese Methode zur Erforschung
der vergleichenden Psychologie nennt der Verfasser die evolutionäre
Methode.
Wir werden sehen, daß der Verfasser diese Methode in der vorliegenden
Abhandlung mit Erfolg anwendet Der Verfasser sagt selbst: »Um meine
Aufgabe erfüllen zu können, hatte ich erst die Eigentümlichkeiten der Psy-
chologie festzustellen und abzuschätzen, dnreh welche die »sozialen Insekten«
sich von den solitären Arthropoden Uberhaupt unterscheiden und zweitens
die wahre Natur des Zusammenlebens der sogenannten sozialen Insekten klar-
zulegen, welches je nach der Auffassung verschiedener Autoren einer Familie,
einer Gesellschaft, einer Herde oder endlich einem Staate entspricht« Als
Gegenstand für seine Untersuchungen wählte der Verfasser die Hummeln,
weil diese Insekten meist für die einfacheren gehalten werden und die evo-
lutionäre Methode es verlangt, daß man vom Einfachen zum Komplizierten
fortschreitet
Zuerst stellt der Verfasser in einigen allgemeinen Bemerkungen fest
welche Arten von Hnmmeln für seine Untersuchungen in Betracht gekommen
sind und er zeigt, daß die Bestimmung der verschiedenen Arten schwierig
ist, sie zeigen eine große Vielgestaltigkeit in ihrer morphologischen Eigen-
schaft Auch die Instinkte, die sich sonst nach den Untersuchungen des
Verfassers zur Klassifikation der gesellig lebenden Insekten benutzen lassen,
zeigen bei den Hummeln denselben vielgestaltigen Charakter. Dieses wird
erläutert an dem Nestbau, der sich entweder mehr oder weniger tief unter
dem Erdboden oder in einer natürlichen Vertiefung oder auf dem Boden be-
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Literaturbericht.
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finden kann und diese und andere Formen kommen bei derselben Art,
Bombus lapidarius, vor. Auch andere Instinkte der H. zeigen diese Mannig-
faltigkeit der Ausbildung, doch können wir auf diese Fragen nicht näher
eingehen. Nachdem der Verfasser sodann erklärt hat, daß für seinen vor-
liegenden Zweck die genauere Bestimmung der Art keine wesentliche Rolle
spielt, gibt er an, daß seine Untersuchungen hauptsächlich ausgeführt worden
sind an Bombus terestris, lapidarius, muscorum und sylvarum Walck.
Der erste Teil des Werkes behandelt nun die solitären Instinkte
der Hummeln und in Kapitel I wird das Überwintern genauer unter-
sucht Kurz vor dem beginnenden Winter verläßt das Hummelweibchen das
Nest und beginnt ein unabhängiges Leben. Die Ursache dafür liegt in dem
winterlichen Zustande des Hummelnestes, in dem die meisten Tiere um-
kommen, indem sie durch die Kälte oder durch Parasiten vernichtet werden.
Das Aufbrechen der Weibchen aus dem Nest im Herbst beruht jedenfalls
auf einem, dem Tiere fest eingewurzelten komplizierten Instinkt. Schon mit
dem Ende des Sommers zeigen die Weibchen, die bis dahin ruhig im Neste
gelebt haben, eine außerordentliche Unruhe und das Bestreben, davon zu
fliegen. Was ist die Ursache hierfür? Das Herbstwetter kann höchstens als
eine der vielen Ursachen betrachtet werden. Der Verfasser vergleicht dieses
Verhalten der Weibchen mit den Beobachtungen an einem jungen Strand-
lauf er, der aus dem Neste genommen war und den Wanderflug der anderen
Vögel nicht aus der Erfahrung kennen konnte. Trotzdem zeigte er sowohl
im Herbste bei dem Wegzug wie im Frühjahr bei der Wiederkehr der übrigen
Vögel lebhafte Unruhe und Aufregung.
Die Weibchen gehen alsbald darauf aus, Nachforschungen nach einem
geeigneten Ort zum Überwintern anzustellen. Sie beginnen damit gewöhn-
lich schon Ende Juli oder Anfang August. Diese Nachforschungen dauern
oft recht lange. Bis das Weibchen einen geeigneten Platz gefunden hat
(der oft in einem Erdhttgel oder bei Baumwurzeln oder auch in Mäuselöchern
gesucht wird), kehrt es abends wieder in das gemeinsame Nest zurück. Auch
die »Arbeitshummeln« suchen nach einem Winterquartier, sie begnügen sich
aber mit einem leicht zugänglichen Schlupfwinkel, z. B. zwischen trockenem
Laub, wo sie im Winter sämtlich zugrunde gehen. Diese Tätigkeit der
»Arbeiter« betrachtet der Verfasser als die Nachwirkung eines früheren In-
stinktes, der sich entwickelt hat, als die H. noch nicht gesellig lebten und
alle Individuen in zweckmäßiger Weise überwinterten. Erst die Kälte und
der Kampf ums Dasein bat dann allmählich die Gattung zum geselligen
Leben gebracht Die Arbeiter betreiben dabei das Suchen des Nestes auch
viel nachlässiger als die Weibchen, sie lassen sich z. B. bei dieser Tätigkeit
durch Blumen auf dem Wege jedesmal ablenken, was bei den, ein Winter-
quartier suchenden Weibchen niemals der Fall ist Diese wissen also,
daß sie abends im Neste wieder Nahrung finden werden, was
natürlich große Bedeutung hat. Es weist auf die Wichtigkeit einer solchen
Geselligkeit hin, wie wir sie bei den H. sehen und welche es ermöglicht, daß
einige wenige auf Kosten vieler ihre Existenz verlängern können.
Nachdem das Weibchen einen passenden Platz gefunden hat, beginnt es
ein Loch zu graben, was sehr langsam vorwärts geht. Die Art des Grabens
und das Wegschaffen der Erde beschreibt der Verfasser nach eigenen Beob-
achtungen ausführlich. Im ganzen wird hierbei eine Menge überflüssigen
Arbeitsaufwandes verbraucht weil das Insekt das Resultat seiner Arbeit nicht
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Literaturbericht.
voraussieht, sondern, indem es den unerbittlichen Forderungen seines In-
stinktes nachgeht, bei der Lösung seiner Aufgabe auf jene äußeren Beize
reagiert, welche mit . dem Fortschreiten in deren Erfüllung zutage treten.
Bei der Übernachtung außerhalb des Nestes wählen Männchen und Weibchen
nie einen Schlupfwinkel in der Erde, dieses tun nur die Weibchen, wenn sie
eine Stätte für ihr Nest suchen und bisweilen benutzen sie dabei Mäuse-
löcher. In einem solchen fand der Verfasser einmal mehrere tote Hummel-
weibchen, die den Winter nicht Uberstanden hatten. Bemerkenswert ist ferner,
daß die Weibchen bei der Suche nach einem Nachtlager sich ganz anders
verhalten, als beim Suchen nach einem Nest, sie fliegen bei der enteren
Tätigkeit langsamer und setzen sich auf Blüten, sie werden nicht leicht durch
einen Beobachter verscheucht, während ein Weibchen bei der Nestsuche
schwierig zu beobachten ist, weil es bei jeder Bewegung des Beobachters
schnell davon fliegt Aus dieser Beobachtung folgert der Verfasser, 1] »daß
die Weibchen noch einen Instinkt haben, welcher den übrigen Kasten nicht
zukommt und der offenbar früheren Ursprungs ist und 2) daß dieser In-
stinkt durchaus den Charakter eines völlig solitären Instinktes auf-
weist«
Im zweiten Kapitel behandelt der Verfasser den Bau des Nestes. »Die
gesamte, mit dem Bau des Nestes verbundene Tätigkeit ist einzig und
allein das Werk des Weibchens.« Dieses arbeitet während des Nest-
baus also wie ein solitäres Insekt Innerhalb dieser Tätigkeit unterscheidet
der Verfasser (ebenso wie in einer früheren Untersuchung Uber die Spinnen
drei Tätigkeiten, die Platzwahl, die Vorbereitung der Baumaterialien und
den eigentlichen Bau des Nestes, dessen Architektur. Die Wahl des Platzes
ist eine sehr wechselnde, einige Arten legen ihre Nester nie in der Erde an,
andere nie auf der Erdoberfläche, wieder andere sowohl unter und Über der
Erde und selbst innerhalb derselben Art kommen Abweichungen in der An-
lage vor. Darin erblickt Wagner keine Defekte, sondern nur Abweich-
ungen des Instinktes und in einer Anmerkung gibt er eine nähere Er-
klärung des Unterschiedes von Aberration und Defekt des Instinkts. Bei der
Anlage läßt sich erkennen, daß die Arbeit auf die größtmögliche Erleichte-
rung angelegt ist Das Weibchen baut nicht nach oben, sondern nach unten
oder horizontal, verfaultes Stroh wird dem frischen unbedingt vorgezogen.
Die Lage des Nestes ist ebenfalls bei einzelnen Arten verschieden. Einige
bevorzugen den Wald, andere scheuen auch nicht die Gegenwart von Men-
schen, im allgemeinen besteht aber immer ein Zusammenhang zwischen der
Lage des Nestes und den Orten, an denen die Nahrung gesammelt wird. Die
näheren Bestimmungen des »Winkels« innerhalb der allgemein bevorzugten
Lage wird bestimmt 1) durch Umstände, »welche die Vornahme der ersten
grundlegenden Arbeiten bei der Anlage des Nestes erleichtern«, 2) »durch
die Zugänglichkeit und die Menge des zum Bau notwendigen Materials«.
Unter 1} ist zn beachten, daß die Hummeln möglichst die natürlichen Ver-
tiefungen der Erde benutzen. Einige Arten benutzen auch Mauselöcher oder
es werden die Bauten Uber der Öffnung eines Mauseloches angelegt, so daß
die H. dieses als Schlupfwinkel benutzen können.
An dieser Stelle widerspricht der Verfasser mit Entschieden-
heit der bekannten Behauptung Darwinscher die Beziehungen
der Mäuse zu den H. Die verbreitete Ansicht daß die Mäuse Hummel-
nester zerstören und mit besonderer Vorliebe H. fressen, ist zweifellos eine
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Literaturbericht.
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irrtümliche. Nicht selten findet man die MäuBenester in alten Hammelnestern
ungelegt, aber immer nnr in Bolchen, die schon früher verlassen waren. Beide
Teile helfen sich gegenseitig ans, ohne sich jemals anzugreifen. Unterirdisch
bauende H. benutzen sogar, wie es scheint, fast regelmäßig MäuBenester.
Auch hierbei leitet die Weibchen der Instinkt, möglichst geringe Arbeit auf-
zuwenden.
Die zweite Bedingung wird aus verschiedenen Verhältnissen deutlich,
so finden sich die Nester nie in Nadelwäldern, in denen der Boden völlig
mit Nadeln bedeckt ist, und mit Recht widerspricht der Verfasser manchen
Beobachtern, die behauptet haben, daß die Nester der H. an besonders »auf-
fallenden« Stellen gefunden werden (z.B. Perez, der berichtet, daß H. in
einem alten Pelzmantel ein Nest angelegt hatten) ; natürlich ist das eine Be-
hauptung vom Standpunkt des Menschen aus, für die H. ist der Pelzmantel
nicht auffallender als irgendein brauchbares Material, das sie in der freien
Natur finden, da sie natürlich nicht wissen, daß sie es mit einem Mantel zn
tun haben. Zusammenfassend schließt der Verfasser seine Überlegungen über
den Nestbau der H. mit folgenden Sätzen: 1) Eine Station für die Nester
existiert bei den H., ihre Grenzen sind für die verschiedenen Arten zwar
verschieden, stimmen aber, wie es scheint, stets und bei allen Arten mit den
Grenzen der Tracht Uberein. 2} Als Platz für das zu erbauende Nest im
direkten Sinne dieses Wortes erscheint ein sehr beschränkter Winkel auf
der Oberfläche der Erde oder unter der Erde, welcher den fundamentalen
Anforderungen des Instinktes entsprechen muß, und zwar, a) der größtmög-
lichen Erleichterung der Arbeit und b) dem Vorhandensein von Baumaterial.
Nunmehr wirft Wagner die psychologische Frage auf, ob diese »Wahl«
zwischen verschiedenen Winkeln für das Nest eine Sache des Instinktes ist,
oder ob auch Fähigkeiten des Verstandes dabei in Betracht kommen? Der
Verfasser antwortet mit Recht, daß dabei ausschließlich der Instinkt der Tiere
in Betracht kommt und er begründet diese Behauptung ausfuhrlich an der
Hand seiner Beobachtungen. Vor allem spricht dafür, daß die H. kein
klares Bewußtsein von ihren Handlungen haben, daß für die »Wahl« viel
mehr der Charakter der Art entscheidend ist als das Individuum, daß also
die Handlung eine ganz schematische, dnreh den Charakter der Art be-
stimmte ist.
Bezüglich des Baumaterials wird unterschieden zwischen pflanzlichen und
den selteneren tierischen Stoffen, die gesammelt werden und demjenigen Ma-
terial, das von den H. selbst ausgeschieden wird. Aus dem ersteren Material
werden die äußeren Teile des Nestes, auB dem zweiten einige Teile der
inneren Räume hergestellt Die benutzten Pflanzenreste werden teils in der
Nähe des NeBtes vorgefunden, teils (seltener) hinzugetragen. Das Nest »be-
steht fast ausschließlich aus dünnen, zarten, kurzen Hälmchen von kraut-
artigen Gewächsen, welche die H. von dem den Neste zunächst liegenden
Orte in ihren Kiefern nach dem Bestimmungeort schaffen. Die Wahl dieses
Materials beruht auf dessen Transportfähigkeit, welche in diesem Falle von
ganz besonderer Wichtigkeit ist, da dasselbe in einen unterirdischen Gang
gebracht werden muß«. Daß gerade die an Ort und Stelle vorgefundenen
Materialien bevorzugt werden, namentlich für den oberen Teil des Nestes
ist eine Art Schutzfärbung des Nestes, denn es wird infolgedessen natürlich
in der Umgebung nicht so leicht sichtbar, als wenn es aus andersartigem
Material bestände als diese.
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Literaturbericht.
Auch hierbei weist der Verfasser wieder auf die Einfachheit der Organi-
sation solcher Instinkte hin. Er macht es wahrscheinlich, daß die Wahl des
oberen Materials einem älteren Instinkte entspricht, der aus der Zeit stammt,
in der die H. ihre Nester noch ohne Auswahl des Materials ausführten. Ein
solches Material schützt natürlich das Nest von oben vor Feinden, aber für
den Schutz nach unten war es ungenügend und so ist die Differenzierung
des Materials das Resultat einer allmählichen Vervollkommnung der Instinkte,
die bei seiner Auswahl tütig sind.
Auch hier wendet sich der Verfasser gegen eine Dentung der Arbeit der
H., die eine größere Überlegung voraussetzt, wie diejenigen von Wallace
und Romanes. Romanos hatte sogar daraus, daß die H. in der Nähe
menschlicher Bauten auch gelegentlich Baumwollfaden verwenden, irrtümlich
geschlossen, daß der Nestbau in bewußter Weise Fortschritte macht Mit
Recht widerspricht der Verfasser dieser Ansicht, denn wenn die H. wirklich
nach der Überlegung bauten, welche Rom an es ihnen zuschreibt, so würden
sie ihre Nester dadurch gerade verschlechtern. Die einfachere und deshalb
richtigere Deutung dieser Erscheinung ist die, daß die H. eben jedes beliebig
vorgefundene Material benutzen, wenn es irgend benutzbar ist Auch wenn
der Verfasser den von ihm beobachteten H. beliebig ausgewühltes Material
vorlegte, wurde dieses ohne Wahl benutzt
Was nun die psychologische Bedeutung dieser >Wahl< des Materials an-
langt, so beweist der Verfasser auch hier wieder, daß von einer zweckbe-
wußten Auswahl dabei keine Rede sein kann nnd er schließt deshalb, daß
der Instinkt in der vermeintlichen Auswahl des Materials zum Nestbau nichts
anderes ist, als die Reaktionsfähigkeit der H. — nicht etwa auf solche Ge-
genstünde der Umgebung, welche bestimmte Eigenschaften, ein bestimmtes
Aussehen oder eine gewisse Form besitzen — , sondern auf solche, welche
sich an einem bestimmten Orte vorfinden und einer bestimmten Arbeit
bestimmter Organe jeder betreffenden Hummelspezies ent-
sprechen.
Im nächsten Abschnitt wird die Architektur des Nestes behandelt.
Da uns diese nicht so unmittelbar psychologisch interessieren kann, so be-
gnügen wir uns mit denjenigen Angaben, die zum Verständnis der psycho-
logischen Seite der Einrichtung des Nestes unerläßlich sind. Die verschie-
denen Formen und Stufen der Kompliziertheit des Nestes werden von dem Ver-
fasser sorgfältig an der Hand von Zeichnungen erläutert Das komplizierteste
Nest haben die über der Erde bauenden Hummeln, das unvollkommenste die
unter der Erde bauenden. Bemerkenswert ist dabei, daß die H. (ebenso wie
manche Spinnen), die obere Deckwand des Nestes bald dichter, bald dünner
ausführen nnd daß sie sich dabei bestimmen lassen, durch die Stärke des
einfallenden Lichtes. Bei beiden Tierarten ist diese Anlage daher eine ein-
fache Reaktion auf die Lichtwirkung. Besonderen Wert legt der Verfasser
hier wie auch an anderen Stellen darauf, daß das bauende Weibchen keine
Erfahrung Uber den Nestbau gesammelt haben kann, weil die Generation
den Nestbau der früheren Generation nicht mitgemacht hat Es muß also
einfach dabei einem angeborenen Gattungsiustinkte folgen.
Im dritten Kapitel wird die »Psychologie der Tracht« behandelt
(d. h. die Nahrung und ihre Gewinnung). Dieses Kapitel gehört in mancher
Beziehung zu den psychologisch interessantesten, nächst den noch wichtigeren
Untersuchungen über das Ab- und Zufliegen vom Neste. Der Verfasser geht
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Literaturbericht
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hierbei auf viel erörterte Fragen über die Sinnestätigkeit der Insekten bei
dem Aufaachen und Einholen der Nahrung ein. Die Hauptfrage ist dabei
die: Wonach richten sich die H. beim Aufsuchen der BiUten, nach der Farbe
oder nach dem Geruch? Plateau hatte noch angenommen, der Geruch leite
die H., weil sie niemals auf künstliche Blumen gingen, die er ihnen hinstellte ;
selbst wenn man sie mit Honig benetzte, wurden sie nicht aufgesucht. Forel,
der Übrigens in seinen Schlüssen über die psychischen Tätigkeiten der In-
sekten viel zu weit geht, nahm an, daß das Gesicht sie leite, weil auch solche
H., denen er die Geruchsorgane (die Fühler) amputiert hatte, trotzdem die
Blüten aufsuchten; gleichzeitig soll jedoch in großer Nähe der Blumen der
Geruch mitwirken. Der Verfasser untersucht zur Entscheidung dieser Frage
drei Punkte besonders: Die Rolle des Sehorgans, der Geruchsorgane und
dann den psychischen Charakter der Nahrungssuche. Mit Recht geht er
davon aus, zunächst einmal die Farben der von den H. aufgesuchten BiUten
festzustellen. Es sind gelb, rosa, violett, rot und weiß, dann wird darauf
hingewiesen, daß die H. die Blumen nicht beliebig aufsuchen. Vielmehr
vermeiden sie zu gewissen Zeiten einzelne Arten, selbst wenn sie in Blüte
stehen. Versucht man, die Ursache dafür festzustellen, so ergibt sich, daß die
H. eine Blumenart besuchen während der Zeit, in welcher sie in großen
Massen blühen. Wie bestimmt diese »Auswähle eintritt, das möge folgende
von dem Verfasser mitgeteilte Beobachtung beweisen. >1) Bombus lapidarius.
Weibchen, sammelte Honig, indem es auf eine große, mit den verschiedensten
Blumen Ende Mai bedeckte Wiese flog. Die ganze Zeit, solange ich es be-
obachten konnte, flog dieses Weibchen von einer Vica sepium zur anderen,
indem es 31 mal die bei dem Hinüberfliegen angetroffenen Gewächse aller
anderen Arten vermied. 2) Ein anderes Exemplar machte dasselbe 28 mal,
ein drittes Exemplar dasselbe 34 mal, ein viertes Exemplar dasselbe 20 mal
usw.« Der Verfasser zeichnet hierbei auch genau den Weg mehrerer Tiere
und die Blüten, welche sie aufsuchen beziehungsweise nicht benutzten, oder
Ubergingen. Bisweilen besuchte eine H. auch zwei oder nur drei Pflanzen-
arten von gleicher Blütenfarbe, während sie alle anderen Uberging. Wenn
die H. nämlich mit den Pflanzen wechseln, so beginnen sie bei der ersten
passenden Gelegenheit, sich bis zu einem Wechsel an irgendeines dieser
Gewächse zu halten. Eb fragt sich nun, was man daraus folgern muß?
Der Verfasser deutet diese Erscheinung so: 1) wird durch diese Tatsachen
bewiesen, daß die H. imstande sind, Blüten von den verschiedensten
Farben ohne Unterschied zu besuchen, 2) daß sie sich jedoch während
jeder gegebenen Zeitperiode an diejenigen Pflanzen halten, welche ihnen in
dieser Periode (z. B. im Verlauf eines Tages] die beste Ausbeute gegeben
haben und 3) daß die H. bei dem Aufsuchen ausschließlich von ihren
Sehorganen geleitet werden. Wenn nämlich nur eine oder zwei oder
auch drei Arten von Gewächsen an einem Tage eine befriedigende Ausbeute
geliefert haben, so hält sich die H. eben an diese Gewächse: »Da nun zu
solchen Gewächsen natürlicherweise diejenigen Arten gehören, deren Maasen-
blüte eben in der Periode der gegebenen Tracht stattfindet, so fällt die
Massenblüte der Honiggewächse meistenteils auch mit ihrer
Wahl durch die H. zusammen. »Man sieht hieraus ohne weiteres, wes-
halb die H. an manchen Tagen gewisse Blüten garnicht besuchen, z. B. den
Klee nicht, ebenso sieht man daraus die Fehlerhaftigkeit solcher Schluß-
folgerungen, wie sie bei den Versuchen von Plateau gemacht wurden: Die
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Literaturbericht.
künstlichen Blumen von Plateau entsprachen wahrscheinlich in ihrer Farbe
nicht der Farbe solcher Blüten, welche die H. gerade in dieser Zeit auf-
suchen.
Sodann wird die Frage behandelt: Aufweiche Entfernung können
die H. Bltiten mit ihren Sehorganen bemerken? Die Beantwortung dieser
Frage gibt dem Verfasser Anlaß zu sehr scharfsinnigen und einleuchtenden
Untersuchungen Uber die Eigenart des Sehens der H. überhaupt Zunächst
stellt er fest, daß die Hummeln sehr langsame Bewegungen Überhaupt
nicht bemerken, schnelle dagegen sehr wohl Man kann daher mit vor-
sichtigen langsamen Bewegungen ein Hummelnest zerstören, ohne daß die
Tiere zum Angriff Ubergehen. Das bestätigt auch eine andere Beobachtung:
Wenn die H. den Standort der gesuchten Blüten nicht kennt und diese nicht
in unmittelbarer Nähe sind, so fliegt sie zunächst steil in die Höhe und findet
die Blüten dadurch auf größere Entfernung. Die Flugbewegang stellt hier-
bei offenbar die entsprechende Bewegung des Bildes im Auge her, welche
zum Erkennen der Blüte nötig ist Wichtig ist ferner, daß die H. nur auf
eine Entfernung von rund 70 cm die Blüten erkennen. Hierbei spielt aber
natürlich die Größe der Blüten eine entscheidende Bolle. Je größer sie sind,
auf desto größere Entfernungen werden sie erkannt Daraus ergibt sich zu-
nächst eine Eigentümlichkeit des Sehens der H., die später noch genauer
erläutert wird. An dieser Stelle faßt der Verfasser sie dahin zusammen:
»Bei dem Aufsuchen eines bestimmten Gewächses auf gewisse Entfer-
nung hin lassen sich die H. ausschließlich durch ihr Sehvermögen leiten,
während die Entfernung, auf welche sie imstande sind, ein Gewächs zu unter-
scheiden, von der Größe der Blüte, des Blutenstandes oder des Beetes ab-
hängig ist«
Es ist nun die Frage, ob dabei der Geruchssinn nicht ebenfalls mit-
wirkt? Um das zu entscheiden, stellt der Verfasser zunächst fest, daß Blüten,
welche kurz zuvor von anderen H. abgesucht worden sind, von einer Nahrung
suchenden H. nicht aufgesucht werden, aber die H. muß, um daB zu erkennen,
ganz dicht an die Blüte herankommen. Wie bemerkt sie nun, daß
die Blttten abgesucht sind? Da solche Blüten keine äußerlichen und
eindeutigen optischen Kennzeichen haben, so muß es spezifischer Geruchssinn
sein, der die H. belehrt ein spezifischer, denn es wird s. B. Honig, welcher
die Wespen anzieht von den H. nicht durch den Geruch bemerkt der Geruch
leitet also jedenfalls die H. auf ganz geringe Entfernung. Zusammen-
fassend sagt daher der Verfasser, die H. lassen sich bei dem Besuch von
Blüten von zwei Sinnesorganen leiten, 1) durch das Sehen, welches es ihnen
ermöglicht, die Farbe der Blüten zu unterscheiden, 2) durch ein sehr feines
spezifisches Geruchsvermögen, welches ihnen die Möglichkeit bietet zu er-
fahren, ob eine Blüte Honig enthält oder nicht, eine außerordentlich wichtige
Fähigkeit, »wenn man den großen Wert der Zeit berücksichtigt, an welcher
so viel als möglich gespart werden muß«. Der Verfasser bestätigt dann diese
Deutung auch noch durch andere Beobachtungen, insbesondere durch das
Annagen der Blutenkelche. Wie ist dieses zu deuten? Auch hier widerspricht
der Verfasser wieder mit Recht der menschlichen Deutung, welche Perez
gewählt hatte und die auf eine hohe Intelligenz der H. folgerte. Vor allem
weist Wagner darauf hin, daß nur eine Hummelart das Benagen der Blüten
ausführt ferner werden auch solche Blüten angenagt die noch gar keinen
Saft fuhren, ein Beweis, daß sich dabei wieder ein ganz mechanischer, auf
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Literaturbericht.
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den Reiz reagierender Instinkt bestätigt. Das Benagen selbst hält Wagner
für eine Nenbildnng des Instinktes bei einer gewissen Hummelart.
Das vierte Kapitel behandelt die Psychologie des Ausflugs aus
dem Neste und der Rückkehr. Auch an diese Probleme knüpfen sich
tierpsychologisch interessante Fragen. Der Verf. teilt diese in drei Gruppen,
lj Probleme, die das Sehorgan der H. und seine Funktionen beim Ausflug
und bei der Rückkehr zum Neste betreffen, 2) Probleme betreffs des allge-
meinen psychischen Charakters der Vorgänge beim Wegfliegen und der Rück-
kehr und endlich 3) die Fähigkeit der H. ihr Nest als einen die Summe der
ihm eigentümlichen Merkmale umfassenden Gegenstand zu erkennen«.
Es gibt bekanntlich eine ganze Literatur Uber die Psychologie dieses Weg-
fliegens und Wiederkehrens der Insekten, die in zwei Gruppen geordnet
werden kann: Die einen Autoren erblicken in diesen Tätigkeiten eine Leistung
des Sehens und einer hochentwickelten Intelligenz, die anderen dagegen be-
haupten, diese Leistung habe überhaupt keine psychologische Bedeutung. Zu
den ersteren gehüren G. W. und El. Peekham, P. Marchai, E. Marchand
and Bouvier, die alle aus den Erscheinungen, wie dem zickzackförmigen
Hin- und Herfliegen der Insekten beim Verlassen des Nestes gefolgert haben,
die Tiere müßten Bich durch Sehen die Lage des Nestes einprägen. Ganz
anders haben die Sache andere Autoren aufgefaßt, wie Fabre, der statt
dessen einen instinktartig funktionierenden »Richtungssinn« annimmt. Fabre
trug verschiedene Hymenopteren weit von ihrem Neste weg, z. B. so weit,
daß sie durch eine ganze Stadt, durch Hügel und Wälder von dem Neste
getrennt waren. Nachdem sie einige Kreise beschrieben hatten, flogen sie
direkt auf das Nest wieder zu, »als hätten sie sich nach einem Kompaß
gerichtet«. Unter vielen anderen Forschern kommt auch Bethe zu derselben
Auffassung, er erklärt die Fähigkeit der Bienen, zu ihrem Stock zurückzu-
kehren dadurch, daß jeder Stock eine eigentümliche flüssige Substanz ab-
scheidet, welche imstande ist, die Bienen auf größere Entfernungen anzu-
locken. In diesem Falle ist die Rückkehr der Bienen eine besondere Form
von ChemotropismuB. Eine genauere Erklärung dieser Erscheinung ist je-
doch von Bethe nicht gegeben worden, sondern seine Erklärung weist
auf die Wirksamkeit einer uns noch gänzlich unbekannten Kraft hin, welche
jedoch nicht psychischen Charakter trägt.
Der Verfasser selbst ist der Ansicht, daß die Wahrheit in der Mitte
zwischen diesen Gegensätzen zu suchen ist, und Beine Ansicht wird von ihm
auf das genaueste an einzelnen Beobachtungen begründet Unter A) wird
zuerst die Rückkehr in das Nest durch Laufen festgestellt. Dieses wurde
dadurch beobachtet, daß der Verfasser einer H. die Flügel abschnitt und sie
in einiger Entfernung vom Neste niedersetzte. Schon durch diesen ersten
Versuch kommt Wagner zu dem Schluß, daß die H. einen besonderen
Richtnngssinn »in Gestalt eines besonderen, den uns bekannten Organen nicht
entsprechenden Sinnes nicht besitzen«. Die H. finden nämlich in diesem
Falle den Weg nach Hause überhaupt nicht, erst nach vielen Tagen lernen
sie die Lage des Nestes oder einer Wabe kennen. Unter B) werden Beob-
achtungen mitgeteilt über den Abflug der H. vom Neste und über ihre Rück-
kehr. Zunächst wird unter a) eine Anzahl Beobachtungen zusammengestellt
über den Flug der H. von den Waben zum Honig in einem Zimmer. Der
wichtigste Punkt dieser Beobachtung ist der, daß die H. in der Gefangen-
schaft den Weg von einer Wabe zum Honig erst auf vielen Umwegen finden,
ArchiT ftr Psychologie. XL Literatur. 6
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Literaturbericht.
dann auf direkterem Wege zurückkehren. Das Merkwürdigste ist hierbei, daß
diese beiden Wege dauernd in verschiedener Weise ausgeführt
werden. Es folgt unter b) eine Anzahl Beobachtungen über den Abflug der
H. aus dem Neste im Freien und Uber ihre Rückkehr. Hier beschreibt der
Verfasser an der Hand von Zeichnungen das Abfliegen der H. vom Neste
oder von einer Futterstelle, das bekanntlich eine äußerst charakteristische
Form hat. Meist wenden die H. der Futterstelle bei dem Abflug das Ge-
sicht zu, fliegen also rückwärts, sie machen hierbei mehrere Schleifen, stehen
wiederholt ein wenig still, so daß der ganze Vorgang darauf hingedeutet
werden muß, daß sie sich verschiedene Gesichtsbilder der Abflugstelle einprägen.
Zieht man das Nest ins Zimmer hinein, so setzen die H. ihren Schleifenflug
auch noch weiter fort, nachdem sie zum Fenster hinausgelangt sind, indem
sie sich auch die Lage des Fensters und der ihm naheliegenden Gegenstände
in almlicher Weise einprägen. Ja es kommt vor, daß eine H. wieder ins Zimmer
zurückkehrt und die genaue Besichtigung von neuem beginnt Es fragt sich
nun: Was wird hierbei eingeprägt oder besichtigt? Wagner antwortet auf
diese Frage folgendermaßen. Wenn man beachtet, daß die H. sich die Lage
des Nestes stets so einprägen, daß sie ihm den Kopf zuwenden und dann
rückwärts davonfliegen, so liegt die Annahme nahe, daß dabei ein doppelter
psychologischer Prozeß sich abspielt: >offenbar können die H. Gegenstände
(und zugleich auch die Lage des Nestes) nicht bei jeder beliebigen Stellung
des Kopfes . . . dem Gedächtnis einprägen«. Mit anderen Worten: die Ein-
drücke, welche die H. von der Betrachtung der Gegenstände a and b auf-
nehmen, wenn der erste von ihnen sich rechts der zweite dagegen links be-
findet, sind nicht identisch mit den von denselben Gegenständen erhaltenen
Eindrücken, wenn diese Gegenstände sich den Augen in der umgekehrten
Lage darbieten, d. h. wenn sich der Gegenstand o links und der Gegenstand h
rechts befindet. Diese eigentümliche Art der optischen Wahrnehmung der H.
sucht der Verfasser durch vier Gruppen von Tatsachen zu beweisen, es »ei
davon z. B. erwähnt, daß, wenn der Beobachter sich bei den Ausflügen der
H. ans dem Nest rechts von dem Fenster aufstellt und dann, wenn der Aus-
flug vor sich gegangen ist, auf die linke Seite hinübergeht, so bemerkt er
sogleich, daß die H. unsicher wird ; einige revidieren den Weg, indem sie
das Fenster von neuem besichtigen und erst dann in das Zimmer hinein-
fliegen, bis sie sich davon überzeugt haben, daß der Weg richtig zurück-
gelegt worden ist, andere dagegen fliegen wieder fort Verhindert man ferner
eine H. bei ihrem ersten Ausäug ans dem an einer neuen Stelle befindlichen
Nest, die Gegenstände in der gewohnten Weise zu besichtigen, so nämlich,
daß sie den Kopf dem Neste zuwendet, so kehrt sie niemals zurOck.
Besonders wichtig scheint noch die folgende Beobachtung zu sein. Nachdem
ein Nest aus dem Kasten, in welchem es aus dem Walde gebracht worden
war, in das Zimmer gesetzt wurde, flog eine H. um 10 Uhr vormittags aas.
Zuerst flog sie rasch, fast gradlinig weg und bemerkte erst als sie am Fenster
angekommen war, daß die Umgebung ihr unbekannt war, sie machte deshalb
mit einem Schleifenflug eine Besichtigung der Stelle. Darauf wurde das Nest
verdeckt, so daß keine weitere H. herausfliegen konnte, >die bereits heraus-
geflogene H. flog nun noch immer in der Nähe des Fensters bis zu dem
Punkte herum (B, von welchem sie das Einprägen des Weges begonnen hatte ,
indem sie das Nest suchte, gelangte aber nicht weiter. Mit anderen Worten :
sie erkannte den Weg nur bis zu derjenigen Stelle, von welcher aus sie
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Literatlirbericht.
67
ihre Besichtigung begonnen hatte«. Am Morgen des nächsten Tages setzte
die H. noch immer an dem Fenster ihre fruchtlosen Nachforschungen fort.
Hieraas sieht man deutlich, daß die H. beim Abflug die Gegenstände in der
Form ihrem Gedächtnis einprägen, wie sie sich ihnen bei der Rückkehr dar-
bieten müssen.
Trotzdem stellen nun der Weg des Ausfluges und der Weg der Rück-
kehr zwei vollständig getrennte psychologische Akte dar, die
dem Gedächtnis unabhängig voneinander eingeprägt werden.
Diese wichtige und für das Seelenleben der Insekten äußerst charakteristische
Tatsache wurde von dem Verfasser durch zahlreiche Experimente bewiesen.
Von diesen sei das folgende Experiment erwähnt. In einem Zimmer befand
sich ein Hummelnest gerade gegenüber dem einen der beiden Fenster des
Zimmers. Nachdem einige H. aus dem Fenster herausgeflogen waren, schloß
der Verfasser es zu. Bei ihrer Rückkehr flogen die II. zunächst an das ge-
schlossene Fenster heran und sodann, nachdem sie sich mehreremale an
der Scheibe gestoßen hatten, suchten sie den Eingang durch das benachbarte
offene Fenster. In das Zimmer hineingelangt, begannen sie das Nest zu suchen
und fanden es auch nach vielen Bemühungen. Nun öffnete der Verfasser wieder
das dicht bei dem Nest gelegene Fenster und von jetzt an flogen die H. stets
durch dieses Fenster heraus, kehrten aber nur durch das andere
Fenster zurück, durch das sie zum erstenmale den Rückweg genommen
hatten. Aus dieser und ähnlichen Beobachtungen folgt, daß die H. nicht
imstande sind, eine Synthese oder Zusammenfassung der beiden Wege zu
einem einheitlichen Bilde von der räumlichen Lage der beiden Fenster und
des NeBtes zu bilden. (Ich bemerke dazu, daß ich dieselbe Beobachtung
auch bei viel höher organisierten Tieren, z. B. bei zwei halberwachsenen
Katzen und einem sehr intelligenten Hunde, gemacht habe. Diese drei Tiere
konnten lange Zeit die räumliche Beziehung, die zwischen zwei Ausgängen
meines Hauses herrschte, nicht begreifen.)
Diese Erscheinung ist nun biologisch und psychologisch gleich wichtig.
Uns interessiert hier besonders ihre psychologische Seite. Diese besteht
hauptsächlich darin, daß die H. nicht soviel Intelligenz besitzen, um die op-
tischen Eindrücke der beiden Wege der Rückkehr und des Abflugs zu einer
einheitlichen Gruppe von Raumvorstellungen zu verarbeiten. Beides behält
für sie dauernd die Bedeutung von zwei gesonderten Reihen verschiedener
optischer Eindrücke, die einfach als solche ihrem Gedächtnis eingeprägt
werden.
Besonders wichtig sind nun die Beobachtungen Wagners über das
Sehen der H. Die H. arbeitet bei ihrem Wegflug und bei der Rückkehr
mit verschiedenen optischen Mitteln. Deutlich lassen sich zunächst zwei
Gruppen unterscheiden, die schon äußerlich durch die Art des Fluges ge-
kennzeichnet werden: In der unmittelbaren Nähe des Nestes beschreibt die
H. die schon erwähnten Schleifen beim Wegfliegen, durch die sie sich die
Lage des Nestes, vor allem aber seine Umgebung, einprägt. DieBe Schleifen
(auch das Linienziehen genannt) Uberschreiten aber nie eine mittlere Entfer-
nung, die der Verfasser die Sehgrenze der H. nennt. (Sie beträgt 140 bis
170 cm.) Sobald diese Sehgrenze überschritten ist, ändert sich der Flug:
gradlinig geht das Tier sehr schnell auf die Fluren zu, in denen es seine
Nahrung sucht. Ebenso bei der Rückkehr bis in die unmittelbare Nähe des
Nestes kehrt die H. in gradlinigem (nur wenige Abweichungen von der
6*
68
Literatlirbericht.
Hauptrichtnng zeigendem] Flug zurück, in der Nähe des Nestes dagegen beginnt
wieder das »Aufsuchen«, bei welchem wieder Zickzacklinien oder Schleifen
beschrieben werden, wenn die Lage des Nestes der H. noch wenig bekannt
ist. Eine besonders wichtige Frage ist nun die, was die H dabei leitet. Ist
es ein spezifischer Richtungsinn oder ist es das Sehen und was wird hierbei
gesehen? Der Verfasser zeigt nun, daß einerseits es nicht sowohl der An-
blick des Nestes selbst ist, sondern vielmehr der auffallendste, das Nest um-
gebende Gegenstand, der als »leitender Punkt« von der H. eingeprägt wird.
Auch bei dem weiteren gradlinigen Flug scheinen gewisse optische Haupt-
eindrttcke auf dem Wege die H. zu leiten. Also ist es im wesentlichen der
Gesichtssinn, der sie führt, kein spezifischer Richtungssinn, der nicht zu den
uns bekannten Sinnesorganen zu rechnen wäre. Von den unzähligen Gegen-
ständen, die die H. auf dem Wege nach der Stelle ihrer Nahrung antrifft, braucht
daher nur ein ganz geringer Teil (nämlich die leitenden Punkte oder die
Orientierungspunkte) dem Gedächtnis eingeprägt zu werden. Im ganzen laßt
sich dabei der Weg der H. in drei sehr ungleichmäßige Etappen zerlegen,
d. h. erstens in den Bereich des Sehens, zweitens den der Unterscheidung
von Gegenständen und drittens den sehr großen Uber diese beiden ersten
Etappen hinausliegenden Teil des Weges. Da der Bereich des Sehens schon
durch den Begriff der Sehgrenze erklärt ist, so bedarf der Begriff der Unter-
scheidung von Gegenständen noch einer Erklärung. Von dieser Unterschei-
dung spricht der Verfasser bei denjenigen Entfernungen vom Neste, in welchen
zwar die leitenden Punkte noch nicht im einzelnen erkannt werden, bei
welcher jedoch schon eine Korrektur der Flugrichtung eintritt, wenn die H.
bei der Rückkehr zum Neste die Richtung des Nestes nicht genau getroffen
hat In einer Entfernung nämlich bis zu 10 m und vielleicht auch etwas
darüber, also noch bevor die H. an die Sebgrenze herangekommen ist, korre-
giert sie bisweilen die Richtung ihres Fluges plötzlich, wenn diese nicht
genau auf das Nest zuging. In dieser Entfernung muß also schon eine Unter-
scheidung gewisser Hauptmerkmale an den Gegenständen in der Umgebung
stattfinden. Daher kann diese Entfernung als die Unterscheidungsgrenze
bezeichnet werden. Sehr genau untersucht der Verfasser nuu, was die H.
eigentlich von den Dingen sehen, die in den Bereich ihrer Sehgrenze fallen.
Sie scheinen mit beiden Augen von den Gegenständen verschiedene Gegen-
stände zu erhalten und sich diese einzuprägen, eine Synthese oder Ver-
schmelzung der Bilder beider Augen findet wahrscheinlich nicht statt Durch
die Beobachtung, daß die H., wenn sie ihr Nest an dem unteren Fenster
eines Hauses nicht finden können (hinter dem sich das Nest wirklich befindet .
daß sie dann, wenn dieses geschlossen ist, senkrecht in die Höhe steigen und
an dem vertikal darüber gelegenen Fenster ihr Suchen fortsetzen, kommt der
Verfasser zu dem Schluß, daß die Augen der linken und rechten Kopfhälfte
bei dem Abflug besondere Bilder behalten, während die Kombination dieser
Bilder den Flug leitet. »Durch diese Kombination geleitet können die H.
höher und tiefor fliegen, in diesem Sinne verfallen sie daher in große Irr-
tümer.« Viel seltener dagegen kommen Abweichungen nach rechts und links
von der Flugebene vor.
Die Form der Gegenstände scheinen die H. im großen und ganzen zo
erkennen, und zwar ans um so größerer Entfernung, je größer die Gegenstände
sind. Sodann wird noch die Frage behandelt, was die psychologische Be-
deutung der Einprägung der leitenden Punkte ist. Da der Verfasser diesen
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Literaturbericht.
69
Akt besonders deutlich bei künstlich hergestellten Bedingungen z. B. Ver-
schiebung eines Nestes im Zimmer) beobachtete, so konnte man vielleicht
geneigt sein, zu vermuten, daß diese Ein prügung eine besondere Anpassung
an die veränderten Lebensbedingungen innerhalb der Gefangenschaft sei.
Allein der Verfasser zeigt, daß diese Deutung nicht zutrifft, die Besichtigung
der Umgebung des Nestes, das Einprägen der leitenden Paukte und die Auf-
bewahrung ihrer Bilder im Gedächtnis ist eine all gerne ine, auch beim Leben
im Freien sich beständig betätigende Leistung der H. Die Psychologie
dieses Aktes is>t, wie der Verfasser mit Recht annimmt, sehr »anspruchslos«
»und setzt sich zusammen aus den Elementen eines Gedächtnisses, welches
befähigt ist, eine sehr geringe Anzahl von Gegenständen innerhalb der Sphäre
des Sehens und des Unterscheidens zu behalten«. Zum Schluß faßt der Ver-
fasser noch einmal alle Ergebnisse Uber die Psychologie des Abfluges und
die Rückkehr der H. in einer Reihe von Thesen zusammen.
In einem Anhang teilt Wagner noch einige interessante Beobachtungen
Uber eine eich gegenwärtig vollziehende Abänderung des Instinktes einer
Hummelart mit (Bombus muscorum), die ihre Nester allmählich an immer
höher gelegenen Orten anlegt, wobei sie aber gewisse früher erworbene In-
stinkte beibehält. E. Heumann (Münster i. W. .
26 Dr. med. Emil Villiger. Gehirn und Rückenmark. Leitfaden für das
Studium der Morphologie und des Faserverlaufs. Mit 122 zum Teil
farbigen Textabbildungen. Leipzig, Wilhelm Engelmann. 0. B.
M. 9. — .
Dies Studium der Morphologie und des Faserverlaufs unseres Zentral-
nervensystems ist für den Psychologen unentbehrlich. Es fehlte aber bisher
neben den großen Werken mit detaillierter Darstellung aller Einzelverhält-
nisse des Nervensystems an kürzeren, die Hauptpunkte zusammenfassenden
Handbüchern. Die Lehma n n sehen Atlanten kommen allerdings auch diesem
Bedürfnis entgegen, sie haben aber zu wenig Text und sind deshalb mehr
für den Mediziner von Fach geeignet als für den Psychologen. Das vor-
liegende Handbuch entwickelt auf 187 Seiten in sehr klarer Darstellung und
Ubersichtlicher Form alle wichtigeren Punkte der Histologie des Zentral-
nervensystems und geht dabei von einer ausführlichen Behandlung der Morpho-
logie aus. Dem Zweck der Ein führung (insbesondere für den Studierenden)
ist damit Rechnung getragen, daß der Verf. auch die Grundbegriffe be-
handelt Von der Einteilung des Nervensystems geht er aus und behandelt
zuerst die Entwicklung des Gehirns und des Rückenmarks. Es folgen
vergleichende Erörterungen Uber Gestalt, Größe und Gewicht des Gehirns.
Aus diesen sei das psychologisch interessante Ergebnis hervorgehoben, daß
nach den bisherigen Untersuchungen die Annahme berechtigt ist, daß das
Gehirngewicht einen gewissen Minimalwert überschritten haben muß, damit
die psychischen Funktionen in normaler Weise ablaufen können. Als unterste
Grenze, unter welche das Gehirngewicht nicht herabsinken darf, ohne daß
eine merkliche Abweichung der geistigen Fähigkeiten damit verbunden
wäre, kann nach Obersteiner für das männliche Gehirn 1000g, für das
weibliche 900 g angenommen werden.
Zu beachten ist, daß die Wägung des ganzen Gehirns nur einen
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Literatlirbericht
unsicheren Auedrnck für die psychische Leistungsfähigkeit
gibt, ans dem Grunde, weil die schon in ihrem Bau und ihrer Funktion so
verschiedenen einzelnen Teile des Gehirns nicht gleichmäßig miteinander an
Größe und Gewicht zu- oder abnehmen ; von großer Bedeutung wäre also eine
Kenntnis des Gewichtes der einzelnen Hirnteile, insbesondere aber eine ge-
naue Wägung der grauen Substanz des Endhirns, der Hirnrinde, an die ja
die höheren psychischen Funktionen vor allem gebunden sind. Aber auch
dann kommen wir zu keinem sicheren Resultat; denn außer dem Gewicht
sind noch andere Verhältnisse, so vor allem der feinere Bau und die chemi-
schen Verhältnisse, zu berücksichtigen. «
Nachdem dann der Verf. eine »Betrachtung des Gehirns im allgemeinen«
gegeben hat, wird die Morphologie seiner einzelnen Teile entwickelt, und
dann das RUckenmark morphologisch dargestellt.
Der zweite Teil behandelt dann den Faserverlauf des Zentralnerven-
systems. Er beginnt mit einer Übersicht Uber die Methoden zur Er-
forschung des Faserverlaufs. Hierauf folgt eine Histogenese des
Nervensystems, in der die Entwicklung der Ependym- und Neurogli&zeUen
behandelt wird, die Entwicklung der Nervenzellen und die Entwicklung der
Zellen der Cerebrospinalganglien und der sympathischen Ganglien. Daran
schließt sich die Behandlung der Formelemente des Nervensystems, in der
u. a. auch die Neuronentheorie in den Hauptpunkten entwickelt wird. Hier-
bei hätten doch vielleicht auch die Gegner der Neuronentheorie mit ein paar
Worten erwähnt werden können, und der Ausdruck: »Die Nerveneinheiten
oder Neuronen stehon also miteinander nicht in direkter Verbindung,
sie wirken aufeinander lediglich durch Berührung oder Eontakt« ist zwar ein-
gebürgert aber doch nicht korrekt, er entspricht nicht dem Begriff des Kon-
taktes.
Das Werk ist vorzüglich ausgestattet, die zum Teil farbigen Abbildungen
sind nach ausgezeichnet klaren Originalzeichnungen ausgeführt Auch ein
ausführliches Sachregister erleichtert den Gebrauch des Buches.
E. Meumann (Münster i. W.;.
27) Albert Thumb, Psychologische Studien Uber die sprachlichen Analogie-
bildungen. Sonderabzug aus: Indogermanische Forschungen,
Zeitschrift für indogermanische Sprach- und Altertumskunde.
XXH. Band. Erstes und zweites Heft. 56 Seiten. Straßburg 1907.
Die Abhandlung, deren Inhalt ich im folgenden wiederzugeben beab-
sichtige, wendet sich zwar nach Aussage des Verfassers in erster Linie an
die Sprachwissenschaftler, nichtsdestoweniger aber bietet sie für die Psycho-
logie hohes Interesse, einmal wegen des behandelten Problems selbst,
andererseits wegen der Schwierigkeiten, die sich seiner psychologischen Be-
handlung entgegenstellen.
Der erste Teil der vorliegenden Schrift enthält fast nur Polemisches im
Anschluß an die frühere Arbeit, die Thumb in Gemeinschaft mit Marbe
verfaßt hatte. (A. Thumb und K. Marbe, Experimentelle Untersuchungen
über die psychologischen Grundlagen der sprachlichen Analogiebildung.
Leipzig 1901.) Psychologen, z. B. Wundt, wie Linguisten haben über
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Literaturbericht.
71
diese Untersuchung referiert, und es sei gleich gesagt, sie als Ganzes Bkmt-
lich abgelehnt, wenn auch einige wenige, wie Kinkel und von Recken-
dorf, ihnen einen bedingten Wert nicht absprechen. Sehr ungleichmäßig
sind diese Besprechungen ausgefallen, und zum Teil sehr ungerecht — dabei
bringt Thumb den Psychologen das Lob entgegen, daß sie sich wenigstens
von einer Kritik sprachwissenschaftlicher Dinge freigehalten haben, während
umgekehrt die Linguisten Urteile über psychologische Fragen zu fällen sich
gar nicht scheuen, Urteile aber, die uns beweisen, daß sie von diesen Dingen
nichts oder nicht viel verstehen, daß ihnen vielmehr eine Psychologie in
usum delphini eignet, die heutzutage mehr als mißlich ist. So fragt
Schlich ar dt, ob man nicht besser von »psychischen« Grundlagen der
Analogiebildung reden sollte (Literaturblatt für german. und roman. Philo-
logie. 1902. S. 333), eine Frage, die im Grunde überflüssig ist; denn das, was
untersucht werden soll, ist zwar psychischer Natur, es wird aber untersucht
nach psychologischen Bestimmungsmethoden; und im übrigen gehen beide
Bedeutungen sowieso durcheinander. Endlich war man sich Uber den Ter-
minus »Beobachter« nicht klar geworden; und tatsächlich, wenn etwas nötig
ist, so muß dies er Terminus ersetzt werden, weil eine derartige falsche und
irreleitende Bezeichnung das Verständnis dem Nichtpsychologen ungeheuer
erschwert. Eine nicht mißzuverstehende Terminologie ist aber schließlich
Uberall eine Lebensfrage.
Doch waren das immerhin noch Dinge, die man im Hinblick auf die
Tatsachen verstehen kann, anders steht es mit den groben Mißverständnissen,
die die Arbeit erlebte. So wenn z. B. Herzog fragt, ob die Häufigkeit und
Geläufigkeit von Assoziationen Uberhaupt, streng genommen, meßbar sei, so
ist das eine Verkennung aller Voraussetzungen des Experimentes, an die
ruan kaum glauben möchte. Gleichfalls war man sich nicht klar geworden
Uber die den Vp. gegebene Instruktion; man interpretierte Dinge heraus,
die nicht darinlagen, nnd schrieb so tatsächlich gegen die eigene falsche
Auffassung, während man den an und für sich nicht mißzuverstehenden Tat-
sachen durchaus nicht gerecht wurde.
Eine »Nachprüfung« der Versuche war dann von dem amerikanischen
Philologen Heinrich Oertel mit Zahlen angestellt worden, die auf weißes
Papier geschrieben waren und dem Beobachter 6 Sekunden lang geboten
wurden; nach weiteren 16 Sekunden war die Assoziationsreihe anzugeben,
die sich angeschlossen hatte. Ich erwähne diese Anordnung deshalb, um zu
/eigen, auf welche Art und Weise mau in der Nachbarwissenschaft vermeint-
liche Fehler »abzustellen« versuchte. Selbstredend mußten die Resultate
Gert eis gänzlich von denen verschieden sein, die Thumb und Marbe er-
halten hatten. »These figures differ so materially from those obtained by
Thumb and Marbe, that a renewed examination of the associations with
numerals seems advisable.« (American Journal of Philology. XXII. 1902.
S. 261—267.) Das Resultat aber konnte auch durch die abweichende — bei
Thumb-Marbe akustische, bei Oertel optische — Methode begründet
sein. Die Versuche von Henry J.Watt (Ȇber Assoziationsreaktionen, die
auf optische Reizworte erfolgen«. Zeitschr. für Psychologie uud Physio-
logie der Sinnesorgane. 36. Bd. 1904. S. 417-430} haben aber gezeigt,
daß das nicht der Fall ist; andererseits wurden Thumb- Marbes Resultate
an Zahlen durch erneute Untersuchungen des Referenten — die Tabelle ist
abgedruckt a. a. 0. S. 23 — vollauf bestätigt. Im übrigen hat auch Oertel
72
Literaturbericht.
mittlerweile Beinen Irrtum eingegeben (American Jonrn. of Philol. XXVI.
S. 9ö).
Eine nicht uninteressante Frage wirft Kinkel noch auf, ob es nämlich
gestattet sei, aus Resultaten, die an einer Sprache gewonnen sind, Schlüsse
su ziehen auf andere Sprachen. Da antwortet Thumb aus vollstem Recht
bejahend; selbstredend ist das aber nicht so zu verstehen, als ob jedesmal
die hier am meisten bevorzugte Assoziation das auch anderswo sein müßte.
Jede Sprache, und man kann erweiternd Bagen, jeder Dialekt hat seine be-
stimmte »Assoziationsbasis«, die prinzipiell gleich ist, im einzelnen aber
recht verschieden sein kann. Schon hieraus leuchtet die Schwierigkeit der
Übertragung auf einzelne Wörter ein. Diese Frage kann eben nur prinzipiell
erledigt werden, soweit es sich nämlich um tote Sprachen handelt, und bei
lebenden ist meines Wissens der Thumb- Mar besehe Versuch bisher leider
noch nicht wiederholt worden.
Ein ganz absprechendes Urteil aber fällte von den Psychologen der-
jenige, der als einziger ein ausführliches Referat über die Arbeit erstattet
hatte, Wundt (vgl. Indogermanische Forschungen. Anzeiger XII. S. 17 ff.
Ferner: Physiologische Psychologie. III. 6. S. 672 f. und neuerdings: »Die
Assoziationsexperimente und die Psychologie des Denkens.« Leipzig 1907.
Dieser hält das Aesoziationsexperiment nicht für geeignet, uns Aufschlüsse
zu geben Uber den Vorgang der Analogiebildung, deren Herkunft aas der
Assoziation er natürlich selbst auch zugibt Aber es sei beim Experiment
die Bewußtseinskonstellation eine andere wie beim natürlichen Sprechen.
Thumb versucht, diesen Einwand, den jüngst Max Levy (Zeitschr. für
Psych, und Physiol. der Sinnesorg. 42. 1906. S. 128 f.) wieder erhoben
hat, zu widerlegen, mir scheint er aber hier zu optimistisch zu sein; denn
auch ich glaube, daß die Verhältnisse im Sprechen ganz andere sind, und
daneben ist doch immerhin zu berücksichtigen, daß diejenigen Wörter, die
Thumb ausgewählt hat, und von denen er a priori gegenseitige Einwirkungen
annahm, zum großen Teil stehenden Redensarten angehören. Ich denke
hier an »Vater« — »Mutter«, jung — alt, dick — dünn usw. Da hat natürlich
die psychologische Untersuchung einzusetzen und zunächst festzustellen, wie
diese Verbindungen stehend werden konnten. Thumb weiß das auch ganz
gut, will sich aber mit dieser Frage nicht eher auseinandersetzen, als bis
hierher gehörende Untersuchungen publiziert sind. Bei dieser Gelegenheit
weist er auf eine bald zu erwartende Schrift des Referenten hin. Schon
die Tatsache aber, daß gerade stehende Wortverbindungen am meisten zu
gegenseitiger Beeinflussung neigen, hätte den Autor stutzig machen und ihn
auf die psychologische Bedeutung der häufigsten Reaktion in diesem
Falle aufmerksam machen sollen. Ihr Auftreten hat eben bestimmte Gründe,
die der allgemeinen Erfahrung entstammen.
Dabei stellt Thumb weiter Analogiebildung und Kontamination auf eine
Stufe. Mir scheint das nicht berechtigt zu sein, höchstens dürfte man tob
einer Ähnlichkeit der Kontamination mit der begrifflichen Analogie reden.
Aber psychologisch sind Analogie und Kontamination zwei verschiedene
Dinge, wie ich an anderer Stelle noch ausführlicher zu zeigen gedenke.
Dabei bedarf es der Frage überhaupt nicht, daß beide Vorgänge stets un-
gewollt Bind.
Um nun zu zeigen, daß die beim Experiment vorwaltenden Bedingungen
denen des natürlichen Sprechens zum mindesten sehr nahe kommen, ver-
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Literaturbericht.
73
weißt Thum b auf das in Mering er und Mayers Buch: Versprechen und
Verlesen (Stuttgart 1895. S. 69) mitgeteilte Beispiel:
( verdampft ]
Das Wasser — ► j \ — ► verdumpft
l verdunstet j
Wir wollen hier davon absehen, daß es sich um eine Kontamination
handelt, und eben nicht um eine Analogie. Thumb bemerkt dazu: »Wäh-
rend der Satz gesprochen wurde, rief die im Bewußtsein auftretende Wort-
vorstellung »verdampft« die Wortvorstellung ,verdunstet4 hervor, und dieses
automatische Auftreten einer zweiten, an sich nicht gewollten Wortvorstel-
lung beeinflußte die ursprünglich gewollte Fora. Das Vorhandensein
eines ganzen Satzes scheint mir dabei irrelevant, weilder Vor-
gang sich unmittelbar und nur an das eine Wort anknüpft.«
(Von mir gesperrt!) Ich glaube im Gegensatz zu Thumb, wie übrigens be-
reits Schuchardt bemerkt hat, daß der Satz unter allen Umständen das
Wesentliche ist; und ich denke mir danach das Schema so gezeichnet:
Das Wasser > verdumpft,
d. h. also erst aus dem Sinn des Ganzen heraus, des Satzes, werden beide
Formen reproduziert; ich wüßte wenigstens nicht, was für einen plausiblen
Grand man haben sollte, bei »verdampfen« auch gleichzeitig an »verdunsten«
zu denken. Daß dabei beide sich gegenseitig trotzdem am meisten reprodu-
zieren, verschlägt durchaus nichts; das folgt eben aus der partiellen Gleich-
heit, die im Satze öfter gegeben war. Nicht also die eine Wortvorstellung
ist zuerst da und reproduziert nun die andere, um von ihr wieder eine Be-
einflussung zu erfahren, sondern der Sinn des Satzes reproduziert beide
auf einmal, gleichzeitig, und nur so ist die Kontamination verständlich ge-
worden.
Das anders geartete Experiment löst daher auch nach meiner Ansicht
die Frage nicht; es sei denn, daß man eben andere Bedingungen herbeizu-
führen vermag. Thumb gibt übrigens Wundts Bedenken auch als im
Prinzip berechtigt zu.
So interessant und gewiß wertvoll es auch wäre, näher auf diese Dinge
hier einzugehen, so muß ich es mir leider versagen, weil ich in anderem
Zusammenhang die Frage erschöpfend behandeln möchte. Wir kommen
endlich noch zum letzten Einwurf, denWresohner (Zeitschrift für Psychiatrie.
LIX. 1902. S. 66) erhoben hat, zur wenig genauen Zeitmessung nämlich.
Thumb-Harbe benutzten seinerzeit für Zeitregistrierung eine Arretier-
uhr und erhielten damit auch tatsächlich vorzügliche Resultate. Da Thumb
auch heute noch der Meinung ist, eine solche Zeitmessung genüge für unsere
Zwecke, so muß ich das Gegenteil bekennen, weil ein für allemal der Grund-
satz möglichster Exaktheit gelten muß. Zwar ist diese an sich äußerst
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Literaturbericht.
bequeme Art einfach und leicht Überall anzuwenden, z. B. bei Dialektunter-
suchungen, zu denen Thnmb mit Recht des öfteren ausdrücklich anspornt
ideal aber ist sie keinesfalls. Man kann selbstredend nicht überallhin ein
Hipp sches Chronoskop mitnehmen, mnß aber trotzdem stets sich dessen
bewußt bleiben, daß exakte Messungen womöglich mehr leisten und die zu
untersuchenden Vorgange besser beleuchten können als ungenaue, und daß
sie das wirklich tun, hoffe ich noch zu beweisen.
Hiernach kommen wir zum zweiten Teile der Abhandlung. Hatte uns
die erste Arbeit als besonders wertvolles Resultat das sogenannte »Ge-
läufigkeitsgesetz« gebracht, nach dem Reproduktionen um so schneller ver-
laufen, d. h. um so weniger Reproduktionszeit benötigen, je häufiger sie
sind, so handelt es sich jetzt darum, ob sich fdr das Wesen des Assoziations-
vorganges noch andere charakteristische Merkmale finden lassen.
n.
Da die ersten Versuche vonThumb und Marbe bereits gezeigt hatten,
daß die einzelnen Reaktionen auf verschiedene Art gegeben werden, je nachdem
sich nämlich Zwischenvorstellungen zwischen Reiz- und Reaktionswort ein-
schieben, so untersuchten auf Marbes Veranlassung dessen Schüler A. Mayer
und J. Orth die psychischen Erlebnisse dieser Vorgänge näher. Daraus ergab
eich die bekannte Einteilung der Assoziationen nach psychologischen Ge-
sichtspunkten und danach die Bestimmung von Reproduktionstypen, nämlich
Reproduktionstypus a (Äoj, bei dem sich zwischen Reiz und Reaktion keine
Bewußtseinsvorgänge zwischenschieben — Thum b nennt diese auch »spon-
tane« Reaktionen — ; Rb, wo Begleitvorstellungen parallel gehen; Re, bei
dem Vorstellungen zwischentreten, Thumb nennt sie »vermittelte« Reaktio-
nen; endlich ein Typus R[bc), in den solche Reaktionen eingeordnet wer-
den, die unter Rb und Rc nicht mit völliger Sicherheit zu klassifizieren sind.
Hier handelt es sich nun darum, welcher Typus für sprachliche Vor-
gänge in Betracht kommt Ohne Zweifel nur Ra; denn »man kann a priori
annehmen, daß Assoziationen, die durch besondere Bewußtseinsvorgänge
vermittelt sind, auf Assoziationstendenzen beruhen, die schon deshalb nicht
sprachlich wirksam werden, weil die fraglichen Assoziationen zu langsam
eintreten, um im Verlauf des Sprechens die Innervation bzw. die Lautforn
eines Wortes zu beeinflussen. Nur eine solche Wortvorstellung, die durch
ein gegebenes Wort ohne Zwischenglied ausgelöst wird, wird induzierend
(störend) auf das primäre Wort wirken können« {Th umb, S. 19). Letztere
verlaufen bekanntlich am schnellsten, und diejenigen Assoziationen, die
Thumb als analogiebildend in seiner ersten Schrift angesprochen hatte, ver-
liefen am schnellsten und gehörten daher wohl dem Typ J?o an. Doch hat
Thumb in Verbindung mit N.Ach diese Frage näher geprüft, und zwar an
denselben Reizworten, die er schon mit Marbe benutzt hatte. (NB. Mit
Chronoskop-Zeitmessung.)
Das Resultat war so, daß Ra und Rb sich zeitlich nicht unterschiede!
und zudem beide viel kürzere Zeiten aufweisen als Re. Thumb schneidet
die Frage an, ob man nun nicht Ra und Rb zusammen dem Re gegenüber-
stellen sollte. Er selbst tut das nicht und hat damit meines Erachtens wohl
Recht; denn Rb ist durchaus nicht spontan wie Ra, sondern von Vor-
stellungen begleitet, die, obgleich sie keine nachweisbare Wirkung auf den
Zeitablauf haben, jedenfalls doch vorhanden sind. Nach meiner Erfahrung
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Literaturbericht.
75
handelt es sich dabei um ganz dunkle, undeutliche, meist visuelle Vor-
stellungen.
Dabei merkt Thumb gegen Mayer und Orth mit Recht an, daß die
bei ihm größere Zahl spontaner Reaktionen nicht von den Vp., sondern vom
gewählten Wortmaterial abhänge.
Ferner ergibt sich, daß die einzelnen Wortkategorien sich hinsichtlich
des Auftretens von .4- Reaktionen unterscheiden, so daß nämlich die Zahl-
wörter mehr Ra- Antworten bieten als die anderen Wortgruppen (Tabelle IX,
S. 26). Andererseits zeigte sich, daß Ra für die bevorzugtesten Reaktionen
in erster Linie in Betracht kommt War in der ersten Abhandlung fest-
gestellt worden, daß die geläufigsten Reaktionen durchweg auch die schnellsten
sind, so haben wir jetzt als neue Bestimmung die gefunden, daß sie Uber-
wiegend spontane, an das Reizwort sich also unmittelbar anschließende Re-
aktionen sind, d. h. »reine Wortassoziationen«. Oben sahen wir diese aber
an als Grundlage der Analogiebildung, und daher darf die Tendenz einer
Sprachgemeinschaft zur Analogie definiert werden als eine »Funktion von
Geläufigkeit, Zeitdauer und TyPus der Assoziationen, welche eine Sprach-
form hervorzurufen imstande ist. Thumb führt das näher in folgenden
vier Sätzen aus:
1) »Je geläufiger (häufiger) eine Assoziation ist, desto größer ist ihre
analogiebildende Kraft.«
2) »Je schneller eine Assoziation im Durchschnitt eintritt, desto leichter
kann sie das induzierende Wort beeinflussen.«
3) »Die analogiebildende Kraft ist abhängig von dem Auftreten des
Typus Ra.*
4) Verbinden wir Nr. 3 mit Nr. 2, so erhalten wir folgendes: »Wir dllrfen
annehmen, daß eine Störung des induzierenden Wortes um so leichter ein-
tritt, je schneller dasselbe eine reine Wortassoziation hervorruft«
Für die Analogiebildung Bind natürlich 3 und 4 am wichtigsten; ich
bemerke hier noch, daß Thumb die vier Formeln mathematisch zu fixieren
versucht hat
Die Wirksamkeit dieser vier Formeln ließ sich empirisch prüfen mit
Hilfe der Dialektgeographie, falls nur das nötige Material zusammen wäre,
andererseits mit Hilfe des Experimentes , das künstlich Analogiebildungen
herzustellen sucht
III.
Herzog hatte Thumb-Marbe vorgeworfen (Zeitschrift für französ.
Sprache und Literatur. 25. S. 126), daß alle ihre Vp. »Doktoren und Stu-
denten« gewesen seien, während sicherlich Versuche an Kindern und Un-
gebildeten zu richtigerem Ergebnisse gekommen wären. Diese Frage iat
seitdem für Ungebildete durch Jung und Ricklin, und zuletzt durch
A. Wreschner, nachgeholt worden, und andererseits an Kindern (10 Knaben
der Würzburger Stadtschule) auf Marbes Veranlassung durch Friedrich
Schmidt in dessen Abhandlung: Experimentelle Untersuchungen zur
Assoziationslehre. (Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnes-
organe. 28. Bd. 1902. S. 65—94). Die Linguisten haben diese Arbeit
überhaupt nicht beachtet darum geht Thumb des näheren auf die Dar-
legung der Schmidt sehen Ergebnisse ein, die im allgemeinen die
früheren Thumb-Marbe sehen Resultate bestätigen oder sie in einzelnen
Punkten — bei den Verbalreaktionen z. B. — ergänzen. So fand Schmidt
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Literaturbericht.
ein Überwiegen der ersten Person Sing. Praesentis für alle Verbalformen;
und die erste Person selbst bevorzugte die zweite Person Praes. Sing. Darin
zeigt Bich ein wichtiger Unterschied gegenüber den Erwachsenen, die meist
die nächstfolgende Person bevorzugen. Thumb erklärt letzteres aus der
Gewohnheit des »Durchkonjugierens« ans der Schule; m. E. werden aber
noch andere Faktoren mitspielen. Andererseits kommt in Betracht die gleiche
Person eines anderen Verbs, und gerade diese Assoziationen sind sprach-
psychologisch die interessantesten deshalb, weil erst von hier aus die for-
malen Angleichungen, die besonders im Verbalsystem eine Rolle spielen,
eine Deutung erfahren können. Wundt spricht in diesem Falle bekanntlich
von einer »Totalkraft der Assoziation«, Thumb möchte lieber von einer
»Perseveration« geredet wissen ; doch ist das wohl im Grunde nur eine termino-
logische Frage; denn was gemeint ist, drückt das eine so gut aus wie das
andere, nur daß sie gegenseitig im Verhältnis von Ursache zu Wirkung
stehen.
Besonders das Rindesalter steht unter dem Einfluß dieser »Totalkraft«, und
gerade die Kindheit ist formalen Angleichungen am' meisten ausgesetzt Nach
Formen wie: ich lebe — du lebst bildet das Kind: ich gebe — du gebst
d. h. rein nach formalen Gesichtspunkten, ja, ich betone daa ausdrücklich,
nach Klangverwandtschaft
Trotzdem nun solche Analogiebildungen in der Sprache des Kindes zahl-
reich sind, so fragt sich dennoch, ob auch die Fortentwicklung der Sprache
dem Kindesalter zuzusprechen ist Diese Anschauung war früher recht weit
verbreitet, doch ist sie jetzt so ziemlich von allen aufgegeben; denn die
kindlichen Sprachneubildungen bleiben ja nicht bestehen, sondern müsseo
wieder aufgegeben werden gegen die von Erwachsenen gebrauchten Formen.
Also liegt die Sprachveränderung vorzüglich beim Erwachsenen. Trotzdem
ist hier eine Einschränkung hinzuzufügen. Selbstredend sind die Analogie-
bildungen nicht mit einem Schlage, sozusagen Uber Nacht, da. sondern sie
sind allmählich entstanden, geworden. So haben wir also eine Schwankung
Periode anzunehmen zwischen der alten Form und der andrängenden neuen.
Gemäß der bekannten Tatsache nun, daß die Tendenzen, die beim Erwachse-
nen wirksam sind, vom Kinde Ubertrieben werden, haben wir uns vorzu-
stellen, daß das Kind die neue Form sich eher aneignen wird als die alte,
zumal die Richtung ja Überhaupt nach Formangleichung besteht, bo daß. wie
bekannt, die Formen der sog. starken Konjugation, die dem Kinde (und dem
Ausländer) ganz enorme Lernschwierigkeiten bieten, am liebsten und
leichtesten ausgeglichen werden. Ich möchte aus diesem Grunde der Kinder-
sprache eine die Umbildung beschleunigende Wirkung zuschreiben.
Da wir sahen, daß Schulkinder in den formalen Assoziationen mir
den Erwachsenen teilweise Ubereinstimmen, und da andererseits in der
Jngend zahlreiche Analogiebildungen vorkommen, so haben wir daraus zu
schließen, daß in beiden Altersstufen hier gleiche Tendenzen wirksam werden.
Anders ist es bei den stofflichen Assoziationen, bei denen ein großer
Unterschied zwischen dem Kinde und dem Erwachsenen besteht, wie bereits
Ziehen bemerkt hat
Hieraus könnte man eventuell den Schluß ziehen, daß dem Kindesalter vor-
wiegend formale, dem Mannesalter vorwiegend stoffliche Analogiebildungen
eigen seien. Doch tut das Thumb nicht, und ich glaube, er hat Recht da-
mit, insofern die formale Angleichung Überhaupt stets die wichtigste ist
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Literatlirbericht.
77
Nicht allein, daß sich »geben« nach »nehmen« und »leicht« nach »schwer«,
»Vater« nach »Matter«, oder umgekehrt, verändert; hier ist auch zu be-
achten, daß in jeder grammatischen Kategorie durchaus ein Zng nach Uni-
formierung steckt, gleichviel ob man ihn »Totalkraft« oder »Perseveration«
nennen will.
Zum Schlüsse noch einiges weitere! Natürlich darf man nun nicht
die Verhältnisse der einen Sprache unmittelbar auf die andere Ubertragen,
wenn auch zufallig einmal die geläufigste Reaktion »geben« auf »nehmen«
mit der tatsächlichen Analogiebildung reddere — rendre nach prendere
iprendre) im Französischen übereinstimmt. In jeder Sprache gibt es andere
Angleichungen, und ich bin versucht, der Thumbschen Formel: »andere
Zeiten — andere Analogiebildungen« eine zweite hinzuzufügen: »andere
Länder — andere Analogiebildungen«, die sich natürlich auf die Tatsache
gründet, daß die »Assoziationslage« (Assoziationsbasis) Uberall eine ver-
schiedeneist. Die Gründe hierfür aufzusuchen, ist jeweils Sache der Psycho-
logie, die in diesem Falle mit Vorteil das Experiment benutzen wird.
Endlich schneidet Thumb noch einmal die Frage an, ob es vielleicht
möglich sei, künstlich im Experiment Analogiebildungen hervorzurufen. Er
glaubt, eine Versuchsanordnung gefunden zu haben, die dieses Ziel zu er-
reichen gestattete; doch teilt er sie uns leider nicht mit.
Den angehängten Exkurs, der sich weiter mit der Frage befaßt, ob die
beim Experiment stattfindenden Bewußtseinserlebnisse denen des gewöhnlichen
Sprechens ähnlich sind oder nicht, will ich hier Ubergehen. Im übrigen
finden sich da treffliche Auseinandersetzungen über die Versuche von Jung
und Ricklin.
Aus diesem Referat, das ich mit Absicht so weitläufig erstattet habe,
weU die, zwar annoch spärlichen, Arbeiten auf dem psychologischen Grenz-
gebiete bisher nicht genügend beachtet und gewürdigt worden sind, wird
man sich nach dem Angeführten schon ein Bild von der sehr verdienstvollen
Leistung machen können, und ich wünsche dieser zweiten Schrift ein
größeres Verständnis als der ersten und daneben die Anerkennung, die ihr
zukommt Paul Menzerath (Düren, Rhld.).
28; Ottmar Dittrich, Die Grenzen der Sprachwissenschaft. Ein program-
matischer Versuch. Sonderabdruck aus den Neuen Jahrbüchern
für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur.
XV. Band. 20 S. Leipzig und Berlin, Teubner, 1905. M. —.80.
Die vorliegende Abhandlung ist dem Verfasser zufolge eine neue Be-
handlung derselben Frage, die er vor mehreren Jahren in seinen »Grund-
zügen der Sprachgeschichte« (Halle 1903. Band I. § 9ff.) ausführlicher
darlegte.
Manchem mag Hermann Pauls Formulierung der Grenzen der Sprach-
wissenschaft zusagen, der behauptete : »Sprachwissenschaft ist gleich Sprach-
geschichte«. Tut man das, so hat man natürlich Rechenschaft zu geben
über das, was unter »Geschichte« und speziell unter »Geschichte der Sprache«
verstanden sein soll. Das tut auch Dittrich, und er führt aus, was ihm
die geschichtliche Erscheinung charakterisiert, nämlich »die außenbezür1!< !>
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78
Literatlirbericht.
räumlich-seitliche Bestimmtheit«, d. h. daß ein bestimmtes Ereignis an einem
bestimmten Ort der Erde zu einer bestimmten Zeit auf eine festgelegte Er-
scheinung — bei uns das Jahr von Christi Geburt, beim Araber die Hegra —
bezogen wird. Das kann man, Windelband und Rickert verfahren be-
kanntlich auch so; dann ist natürlich »Sprachwissenschaft nicht gleich
Sprachgeschichte«, und insofern hat man dann auch ein Recht zu behaupten,
Pauls Buch (Die Prinzipien der Sprachwissenschaft) sei »ein flammender
Protest gegen seine eigene These«. Doch es gibt noch eine andere Ge-
schichtsauffassung, die mir Übrigens berechtigter erscheint als jene, die ich
die statistische nennen möchte; ich denke hier an Karl Lamprecht usw.
Doch genug hiervon; hören wir den Verfasser: »Dem Historiker ist
es im letzten Grunde immer darum zu tun, die Erscheinungen als außen-
bezüglich nach Zeit und Raum bestimmt darzustellen. Zwar muß er dabei
auch immer so viel als möglich auf deren kausal- und finalgtsetzliche Ver-
knüpfung bedacht sein. Aber er hat die elementaren Gesetze dieser Ver-
knüpfung selbst nicht zu vermitteln. Dies muß er dem Nichthistoriker
überlassen. Denn diesem ist seinerseits im letzten Grunde immer darum zu
tun, die Erscheinungen als kausal- und finalgeeetzlich miteinander zusammen-
hängend oder zusammenhängen sollend darzustellen. Wozu er sie dann
freilich auch zuvor innenbezüglich (nicht außenbezüglich) nach Raum und
Zeit bestimmen muß.« Fragen wir uns nun: »Wie verhält Bich zu alle dem
die Sprachwissenschaft? Ist sie eine historische oder eine nichthistoriscbe
Wissenschaft?«
Nach unserer Einleitung muß sie natürlich das letztere sein. »Sprach-
wissenschaft ist also nicht gleich Sprachgeschichte«.
Hier gilt es nun, die Sprachwissenschaft gegen andere Disziplinen abzu-
grenzen, und wir kommen damit gleichzeitig zu einer »Systematik der sprach-
wissenschaftlichen Disziplinen« , andererseits zur Ergänzung der »Sprach-
geschichte« (im Sinne Dittrichs}. Selbstredend können nur die Wissen-
schaften in Betracht gezogen werden, die mit dem Objekte, der Sprache,
irgendetwas zu tun haben. »Sprache ist aber die Gesamtheit aller jemals
aktuell gewordenen, beziehungsweise aktuell werden könnenden Ausdrucks-
leistungen der menschlichen und tierischen Individuen, insoweit sie von
mindestens einem anderen Individuum zu verstehen gesucht werden
(können).«
Danach ergibt sich zunächst:
1) ein morphologischer Teil der Sprachwissenschaft, d. h. eine
Disziplin, die die Ausdrucksmittel rein nach ihrer Form und ihrer Bedeutung
ordnet. Damit erhalten wir einmal gleiche Formen für verschiedene Be-
deutungen (Romae z. B. kann Genitiv und Lokativ sein, für älteres Romai.
andererseits verschiedene »Lautungsformen« für die gleiche Bedeutung (z. B.
kann die Objektsbeziehung angedeutet werden durch den Kasus, durch Prä-
positionen, Wortstellung u. a.). So mündet dies Verfahren in eine »allge-
meine Formenlehre der Zeichenbedeutungen« und in »eine allgemeine
Formenlehre der Bedeutungszeichen«.
2) Ein » chronologisch-topologischer Teil der Sprachwissen-
schaft«, d. h. einmal die »Sprachgeschichte«, wenn das chronologische Ord-
nungsprinzip in den Vordergrund tritt, darunter die sogenannte »historische
Grammatik« und ihre wichtigste Form »die vergleichende Grammatik«,
und auf der anderen Seite die »Sprachgeographie«, wenn die Verbreitung
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Literaturbericht.
79
einer Sprache oder Sprachform nachgewiesen werden soll. Weiter gehört
hierher die »Sprachstatistik«.
Sieht man die sprachlichen Erscheinungen als »autonom« an, d. h. spricht
man ihnen ein Eigenleben zu, so verfahrt man eben im Sinne der gewöhn-
lichen deskriptiven Grammatik, tut man das aber nicht und berücksichtigt
die Abhängigkeit der Sprachbildung von den sprechenden Individuen, m. a.
W. : fragt man nach dem Kausalproblem in der Sprache, so kommen wir zu
einem weiteren Teile, der
3) aU rationeller Teil zu bezeichnen ist.
Selbstredend fallt dieser Teil einmal unter den Bereich der Anthro-
pologie im weitesten Sinne, weil es sich eben um menschliche Eigen-
schaften handelt. (Die tierischen bleiben hier außer Betracht; sie fielen iu
diesem Sinne in die Zoologie.) Damit ist also erstens eine ätiologisch-
anthropologische Disziplin gewonnen.
Da nun das Individuum einerseits als Vertreter, andererseits als ein
Teil der Menschheit bzw. einer Gruppe zu halten hat, so findet auch
hier die allgemeine Physiologie ein Arbeitsfeld, andererseits die Psycho-
logie.
Sodann aber kommen in Betracht: die psychologische Entwicklungs-
theorie, die Anthropogeographie, die Kulturatiologie mit der Soziologie, die
Völkerpsychologie und endlich die Völkerkunde.
Aus der Übersicht der ätiologisch - anthropologischen Disziplinen folgt
unmittelbar die der ätiologischen Teile der Sprachwissenschaft, nämlich die
Sprachphysiologie, die Sprachpsychologie, die Sprachentwicklungstheorie,
Sprachanthropogeographie, Sprachkulturätiologie mit Sprachsoziologie, schließ-
lich die Sprachethnologie.
Daneben treten Erscheinungen auf, die rein teleologischen Charakter
tragen, z. B. Versuche von Einheitsbestrebungen, Sprachreinigungen, ortho-
graphische Festsetzungen der Regierung, medizinische Bestrebungen zur Hei-
lung von Krankheiten der Sprachorgane, hygienisch - prophylaktische Vor-
schriften zur Verhütung von Kehlkopf leiden usw.
Daher sind den früheren als teleologische Disziplinen noch beizufügen:
die Sprachtechnik, Hygiene, Therapie, Pädagogik und Poetik.
Endlich haben wir noch die Sprachlogik — Ethik — und Ästhetik, da-
neben die Sprachkritik als speziell sprachphilosophische Gebiete,
und damit schließt sich der Kreis der sprachwissenschaftlichen Diszi-
plinen, und wir haben gleichzeitig die Grenzen der Sprachwissenschaft fest-
gelegt
Es ist eine äußerst klar und Ubersichtlich geschriebene Abhandlung, die
ch im Vorstehenden in ihren Grundzttgen wiederzugeben versucht habe.
Man kann ja darüber streiten, wie weit man den Begriff »Geschichte« ab-
gesteckt wissen will; dem Ganzen tut es keinen Abbruch, und ich kann das
lesenswerte Schriftchen nur empfehlen.
Paul Menzerath (Düren, Rhld).
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HO
Literaturbericht.
29j Prof. Dr. Max W entscher, Ethik. I.Teil: Kritische Grundlegung:.
Xn und 368 S. — II. Teil: System der Ethik. XII und 396 S.
Leipzig, Joh. A. Barth, 1902/5. Geb. M. 8.60 u. M. 10.50.
Ein philosophisches Werk bewegt uns nicht nur intellektuell durch seinen
begrifflichen Inhalt, sondern auch persönlich: es spricht zu uns eine Indivi-
dualität und diese hat dem Ganzen ihr Gepräge aufgedrückt So können
wir unter den Büchern, die uns beschäftigen, stets sympathische und unsym-
pathische scheiden. Man hat seine guten Freunde unter den Büchern wie
unter Menschen, seinen lieben Gefährten, die einem treu beistehen, bei denen
man sich immer Rat holen kann. Man verkehrt gemütlich mit ihnen, nimmt
sie immer wieder vor und hat seine Freude an ihnen. Andere wieder
sind einem unsympathisch, man hat nicht gerne mit ihnen zu tun, holt sie
nur gezwungen herbei; man kann sich nicht für sie erwärmen, wenn sie auch
noch so klug sind. Der Grundton, die persönliche Note, will einem nun ein-
mal nicht behagen.
So ein guter Freund unter meinen Büchern ist mir Wentschers Ethik:
ich kenne nicht allzuviel Bücher, die mir so sympathisch sind! So warm
spricht es einen an, so herzlich und gut Als ich es zum ersten Male las.
da wußte ich schon — auch ohne den Verf. näher zu kennen — hinter ihm
steht eine ganze, harmonische Persönlichkeit Und dieses Gefühl ist stets
geblieben. Man merkt überall, daß diese Ethik erlebt ist nicht nur aus-
geklügelt am Schreibtisch! Und das ist bei einer Ethik, die es ja mit dem
innerlichsten, wahrsten Leben zu tun hat von höchster Wichtigkeit Um eine
Ethik zu schreiben, muß man neben der intellektuellen Beanlagung ein großes
Teil Gemütstiefe besitzen. Denn ein Ausdruck des ganzen Menschen ist die
Ethik und der Grundquell aller Gestaltung des Intellektuellen ist das Gemüt
So ist eine Ethik auch nicht nur mit dem Verstände zu beurteilen ; denn sie
wendet sich nicht nur an den theoretischen Menschen, sondern will auf das
Leben wirken. So betont auch Wentscher ausdrücklich, daß sein Werk
nicht nur als eine wissenschaftlich vielleicht mögliche Ansicht der Dinpe
hingenommen, aber dann ad acta gelegt werden soll. Bei aller Wissen-
schaftlichkeit will diese Ethik vor allem »umstimmen und Uberzeugen, will
neues Leben und Wollen entzünden (8. 4}.«
Ein Weckruf kann diese Ethik sein für alle, die ohne eigenes Nach-
denken sich den Anschauungen des Tages hingeben und sich von dem
breiten, aber flachen Strom der allgemeinen Meinung bequem dahin tragen
lassen. Denn Wentscher wirft kühn den Fehdehandschuh allen Mode-
ideen hin, er wagt es, unmodern zu sein. Seine Ethik ist idealistisch, in-
deterministisch und individualistisch — alles Prinzipien, die ans der Mode
sind. Aber Wentscher hat ganz recht, wenn er sagt: »Vielleicht ist der
Geist des Zeitalters doch reicher und tiefer angelegt, als es in den vor-
herrschenden Modeströmungen zutage tritt (S. VIII). « Nicht das, was an der
Oberfläche treibt, ist ja eine wesentliche Schöpfung des Volksgeistes, son-
dern gerade die in der Tiefe sich regenden Keime sind sein Eigenstes. Und
da können und müssen wir hoffen, daß das deutsche Volk sich abwenden
wird von dem Leben für das Äußere und einer wahrhaften Kultur und Ver-
innerlichnng sich wieder zuwendet. Nun gilt es, sich Uber den Zweck des
ganzen Lebens klar zu werden, ein klares Bewußtsein des Zieles zu haben:
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Literaturbericht.
81
Das ist die Vorbedingung für allen Fortschritt. Und dieses Ziel muß die
Ethik weisen, sie soll nicht abbilden, was ist, sondern soll Forderungen auf-
stellen und Ideale vorhalten. »Sie soll Führerin, nicht der Spielball des
Zeitgeistes sein; sonst bedürfen wir ihrer überhaupt nicht« Die Ethik ist
Ideal Wissenschaft, sie soll uns — wie Wen ts eher sagt — die möglichen
Ziele menschlichen Wollens und Handelns zeigen, uns für ihren Wert oder
Unwert Maßstäbe an die Iland geben. Den Ausgangspunkt der Untersuchung
müssen wir von der Tatache nehmen, daß wir uns als wollensfähige Wesen
auf einem bestimmt begrenzten Schauplatze vorfinden. Nun 'gilt es fest-
zustellen: Was können wir wollen? Das ist das eigentliche Thema der Ethik.
Unter diesem »wir« ist aber etwas Bestimmtes zu verstehen. Es handelt
sich um höchste Ziele unseres Willens: Diese werden aber erzeugt von un-
serem wahrsten, innersten Wesen, unserem wahren Selbst, dem Atman der
Inder. So müssen wir also die Grundfrage der Ethik so verstehen: Was
können wir in Übereinstimmung mit unserem eigensten Wesen wollen.
Wenn unser Wille sich mit den Motiven unserer Innerlichkeit erfüllt,
dann ist er ein »freier« Wille. »Es ist nun der leitende Grundgedanke der
vorliegenden Ethik, dessen konsequente Durchführung sie sich zur obersten
Aufgabe stellt: daß unser Wollen, wo es sich in diesem Sinne zu vollendet
freiem, in sich selbst gerechtfertigtem, unser wahres innerstes Selbst zum
Ausdruck bringendem Wollen zu erheben vermag, eben als solches zugleich
idealisch, unbedingt wertvoll, sittlich gut ist . . . Der Wille in seiner
vollen , Autonomie', in seiner höchsten Freiheit: das ist zugleich der
gute Wille . . .« (S. 13). Wentscher weist also die Begründung der Ethik
aus irgendeinem Verpflichtungsbewußtsein ab. Dieses ist aber doch tatsäch-
lich in den Erscheinungen des Gewissens vorhanden. So hält es Went-
scher denn für sehr wichtig, sich mit diesen Erscheinungen auseinander-
zusetzen. Er widmet dieser Untersuchung das erste Buch: »DaB Gewissen
in seiner Entwicklung und Bedeutung.« Es enthält eine genaue und ein-
gehende psychologische Analyse der Erscheinungen des Gewissens. Ge-
wissensvorgänge und Gewissensinhalte werden unterschieden. Nach Ent-
stehung dieser Inhalte werden individuelles, soziales und intellektuelles
Gewissen geschieden. Die Inhalte des letzteren sind durch intellektuelle Re-
flexion entstanden, die zu absolut gültigen Einsichten führt und den Men-
schen von aller Tradition unabhängig macht. »Von den beiden anderen
Arten des Gewissens unterscheidet sich ferner das intellektuelle prin-
zipiell dadurch, daß es aus dem Charakter des naiv Gefühlsmäßigen, des
Sichtreiben-lassens von zufällig Gegebenem entscheidend heraustritt, daß es
auf allseitige, umfassende Orientierung hindrängt, um zielbewußt und mit
voller Einsetzung eigener Verantwortung wählen zu können« (S. 133). »In-
dem nun unsere Vernunfttätigkeit Uberall uns selbst zu Richtern macht, unser
selbständiges, eigenes Urteil ausschließlich als maßgebende Instanz an-
erkennt, kommt es von selbst immer mehr dahin, daß wir in ihr recht eigent-
lich unser wahres, eigenstes Wesen erblicken« (S. 186). Den psycho-
logischen Vorgang beim »bösen Gewissen« — um das hier noch einzufügen —
schildert Wentscher etwa folgendermaßen: in Zeiten ruhiger Überlegung
haben wir uns dauernde Willensentscheidungen gebildet, unserem Leben ein
Ziel gesetzt, uns eine Lebensidee geschaffen. Diese ist in jedem Augen-
blick — wenn auch verblaßt — uns gegenwärtig und tritt scharf uns vors
Bewußtsein, wenn nach VerÜbung der Tat das auf ihre Vollendung gerichtete
AxchiT fftr Psychologie. XI Literatur. 6
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82
Literatur bericht.
Interesse erschöpft ist. Hat nun die Tat nicht übereingestimmt mit de
idealischen Zielsetzung und damit mit unserem wahren Selbst, so empfinden
wir eine Verletzung dieses innersten Wesen durch die Reize des Augen-
olickes. »Das lebhafte Gefühl der verlorenen Einhelligkeit unseres Wesens
and das damit Hand in Hand gehende Streben nach Wiederabstoßung dei
fremd hereingetretenen, störenden Elementes: das würde die innere Ver-
fassung sein, welche den Vorgang des bösen Gewissens charakterisiert« 'S. 37.
Als ungeheuer wichtig für die Herausbildung des eigenen Charakters hebt
Wentscher sehr treffend den ästhetischen Reiz hervor, den gewisse
Persönlichkeiten auf uns ausüben. Jede »Schwärmerei für einen »Helden«
hat ihr Berechtigtes und kann bei der Jugend durch die Hand eineB ver-
ständigen Erziehers zur Wesensbildung abgeklärt werden. Doch wird diese
Art der Selbsterziehung nur gewissen Individualitäten entsprechen. Andere
werden etwa dadurch zur Durchbildung ihres Wesens kommen, daß ein an-
derer Mensch mit grenzenlosem Vertrauen zu ihnen aufschaut Um diese;
Vertrauens würdig zu sein, wird bei innerlichen Menschen alle Mühe ange-
wandt werden. Auf diesem Wege können Idealvorstellungen, die im Herzen
anderer entstanden sind, zu den meinigen werden.
Es folgt eine Kritik der eudämonistischen, evolutionistischen und aphoristi-
schen Prinzipien als ethischer Axiome. Zu seinen eigenen Axiomen gelangt
Wentscher, indem er von dem oben bewußten Grundsatze ausgeht: sie
müssen sich darstellen als selbstverständliche Ideale eines freien Willens der
Persönlichkeit. Hier findet er nun, daß jeder Wille seiner Natur nach be-
strebt ist, sich immer mehr zu einem eigenen, freien Willen zu entwickeln,
und daß jedes Wesen von seiner Willensfähigkeit den ausgedehntesten Ge-
brauch zu machen sich bemüht [S. 229 u. 252). Daraus ergeben sich folgende
Axiome :
»Erstes Axiom: Strebe nach höchster Ausprägung wahrhaft eigenen
Wesens und fester Grundsätze eines vollendet eigenen, freien Willens!
Zweites Axiom: Mache von dieser Fähigkeit freier Betätigung eigenen
Wesens den kraftvollsten und umfassendsten Gebrauch.«
Hier tritt uns der subjektivistisch -individualistische Grundzug dieser
Ethik am klarsten entgegen. Wentscher geht von dem Individuum ans
und bleibt auch bei ihm stehen in seiner Grundlegung. Da müssen wir
denn bei aller Sympathie für das Unternehmen doch unsere Bedenken äußern
Wentscher hofft um die verderblichen Konsequenzen des Individualismu§
herumzukommen, indem er sich auf den bei allen Menschen gleichen In-
tellekt beruft. Das wäre ja allenfalls noch zulässig — wenn ich auch da-
gegen einige Bedenken habe. Ganz Bchlimm aber wird es, wenn wir an*
die Frage vorhalten: Welchen inhaltlichen Zielen kann mein wahres Wesen
nur dienen? Hier muß eben der Gedanke einer absoluten Teleologie er-
gänzend eintreten und damit eine Metaphysik, die Wentscher leider ab-
lehnt. Und doch erhält erst durch sie unser ganzes Leben Halt und Sinn,
denn nur als Teilhaber einer Überwelt Bind wir nicht gleichgültige Bestand-
teile des Alls, deren Wirken ins Leere geht.
Das zweite Buch ist betitelt: Die Willenshandlung und das Problem der
Willensfreiheit. Wentschers interessante Ausführungen kann ich hier nur
kurz skizzieren. Durch intellektuelle Reflexion kommt Charakterbildung zu-
stande. Dieser Charakter kann durch weitere Arbeit stets vervollkommnet
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Litoraturberickt.
83
-werden. Der Freiheitebegriff hält die Mitte zwischen der Zusammenhangs-
losigkeit and der Konstanz mechanischen Rangierens. Kontinuität des
Wesens muß gefordert werden, aber die Möglichkeit der Wesensbildung darf
nicht vernachlässigt werden. Das Wichtigste für unser Leben ist es, daß
wir mit aller Energie den von uns selbst entworfenen Lebensplan durch-
führten. Nur so kann wahre Befriedigung entstehen, nur so kann unser
Leben einen Erfolg haben.
Wentscher bespricht sehr eingehend die Angriffe der Naturwissen-
schaft auf einen Freiheitsbegriff, er diskutiert die Frage des psycho-physi-
schen Parallelismus usw., kurz, der Band ist äußerst reichhaltig und Uberall
durchdacht.
Wenden wir uns zu dem II. Bande, so möchte ich noch einmal aus-
sprechen, wie ungemein sympatisch wieder das persönliche Gepräge dabei
berührt. Dieser Band enthält die Anwendung des Grundgedankens auf die
verschiedenen Lebensgebiete und bei ihm zeigt es sich demgemäß besonders,
daß diese Ethik von einer hevo Tragenden Persönlichkeit gelebt ist. Diesen
Band hat Wentscher seiner Gattin gewidmet, — ein bedeutender Finger-
zeig für uns!
Dieser Band soll den Beweis liefern, daß das Freiheitsprinzip geeignet
ist, ein System der Ethik zu begründen. Die geforderte Freiheit ist ja ein
Ideal, kein fertiger Besitz; es gilt in den Einzelheiten der Lebensgestaltung
die Möglichkeiten aufzuweisen, der Freiheit nachzustreben.
»Die Gestaltung des individuellen Lebens« macht den Anfang, Erziehung
und Bildung, Ehe und Familie, Beruf und Lebensgestaltung, Lebens- und
Weltauffassung werden besprochen. Ich kann mich hier kurz fassen, da
ja die Bedeutung der Arbeit in der näheren Ausführung liegt und ich davon
in dieser Kürze kein Bild geben kann. Nur einige besonders schöne Stellen
ans dem herrlichen Kapitel Uber Ehe nnd Familie möchte ich anführen: Die
hohe Schönheit der Liebe beruht vor allem auf dem ästhetisch-intuitiven
Charakter des Erfassens der Zusammenhänge mit dem geliebten Wesen.
»Dieses gefühlsmäßige Erahnen einer Zusammengehörigkeit mit dem anderen
gerade in dem Besten und Höchsten, das in uns selbst sich regt und Wirk-
lichkeit werden will, vermag mit einem Schlage unserem inneren Wesen
Festigung zu verleihen in diesem Höchsten, das bisher nur wie aus weiter,
kaum erreichbarer Ferne hier oder dort einmal als Ideal vor uns aufleuchtete«
'S. 86;. »Wo wirkliche Liebe . . . zwei Wesen zusammenschließt, da ist es
das Gefühl der innigsten Zusammengehörigkeit in allem von beiden ersehnten
menschlich Idealischen, was die Führung hat. Nichts geschieht hier auf
Kosten des anderen oder in eigener Unfreiheit« (S. 87;. Scharf und offen-
herzig werden auch die geschlechtlichen Fragen besprochen, die Verderbnis
unserer Zeit in dieser Beziehung, die allmählich zur öffentlichen Kalamität
wird, geißelt Wentscher aufs schärfste. Dieser dunkle Punkt im mo-
dernen Gesellschaftsleben wird ja im allgemeinen mit Stillschweigen über-
gangen. Und doch ist es Vorbedingung für eine tiefere Kultur, daß die sitt-
liche Verrohung in allen Volksschichten gehoben wird. Nur wenige sind
es, die die Wichtigkeit dieses Punktes begriffen haben.
»Wer das, was nur der weitgehendsten, innigsten Liebe geziemt, auch
ohne diese in flüchtiger Lust sieh rauben zu können glaubt, um dann das
dazu mißbrauchte Wesen sich selbst und seinem Schicksal zu Uberlassen, der
tötet etwas in sich, das er nie wieder zum Leben erwecken kann, den
6*
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84
Literaturbericht.
Glauben an die eigene Fähigkeit zu unbedingter Treue, zu hingebender Liebe —
an die Hochhaltung des ewig Menschlichen in sich selbst, und darum auch
in anderen« (8. 91).
Ganz kurz sei nur noch der Inhalt der Übrigen Kapitel des 2. Bandes
angegeben. Die Gestaltung des historisch-nationalen Lebens hat das 2. Buch
zum Gegenstände; auch die Politik kommt dabei zur Sprache, ebenso wie
Schulwesen, Kunst und öffentliche Meinung. Das letzte Buch behandelt die
Gestaltung des Kulturlebens. Der Band schließt mit dem Goethewort:
Höchstes Glück der Erdenkinder
Ist nur die Persönlichkeit.
Ein schünes Buch, echt deutsch in seiner innersten Art, das Gegenteil
jeder undeutschen Geistreichigkeit, wie wir sie bei Nietzsche finden, keine
blendende Fassung der Gedanken, aber desto mehr Gehalt, schlicht, jeder
Effekthascherei abhold, nur auf die Sache sehend. Wentscher kämpft
nicht mit kunstvoller Dialektik, einfach und gehalten trägt er seine Ansicht
vor. Ein so ernstes und tiefes Buch verdient von recht, recht vielen ge-
lesen und beherzigt zn werden. Mögen diese Zeilen dazu beitragen. Freunde
für das echt deutsche Werk zu werben. Ich habe absichtlich auf fast jede
Kritik verzichtet: hier sollte Wentscher reden, und nicht ich. Man kann
ein Buch ja schätzen, wenn man auch nicht mit allem einverstanden ist!
So geht es mir mit Wentscher: ich glaube nicht, daß wir bei seiner
ethischen Theorie stehen bleiben können. Und trotzdem schreibe ich
diese Zeilen! Mögen sie wirken! Dr. 0. Braun (Hamburg).
30, Martin Meyer, Aphorismen zur Moralphilosophie. 297 S. Berlin und
Leipzig, H. Seemann. M. 3.—.
So verschieden die Menschen sind, so verschieden ist auch ihre Art, zu
arbeiten und zu schreiben. Diese Tatsache kann man voll anerkennen, ohne
dabei die Forderung einer für ihren Wert maßgebenden Norm fallen zu
lassen. Wir müssen ja einen absoluten Weltzweck annehmen, ein Ziel der
ganzen Entwicklung. Daraus ergibt sich eine absolute Teleologie, eine sitt-
liche Weltordnung; diese gibt uns den Maßstab zur Wertbeurteilung allen
Dingen und Erscheinungen der Wirklichkeit gegenüber an die Hand. So
muß man doch bei aller Anerkennung von Individualität zwischen wertlosen
und wertvollen Menschen und menschlichen Erzeugnissen scheiden. So hat
mir nie der Wert von bloß hingeworfenen einzelnen Ideen einleuchten wollen,
wenn sie nicht in ihren Konsequenzen verfolgt und zu Teilen eines Ganzen
werden. Abgerissene Ideen sind Äußerungen eines chaotischen, ungeordneten
Innern. — Es ist natürlich etwas anderes, wenn ein Denker zunächst Ideen
notiert, wie sie ihm gerade kommen — aber das darf doch nicht das Ende
der Arbeit sein, sondern der Anfang! Zum mindesten ist ein solches Kon-
glomerat von Gedankenspähnen in höchstem Maße undeutsch, das gilt auch
von den Erzeugnissen unseres größten Aphoristen Nietzsche. Bei diesem
so hochbegabten Menschen erklärt sich ja seine Schreibweise aus seiner
Krankheit, außerdem sind die einzelnen Aphorismen häufig recht umfang-
reich und ein Zusammenhang mit den vorangehenden und folgenden ist recht
deutlich. Bei Rochefoucauld z.B. haben wir dagegen ganz abgerissene
Sentenzen. Ein solches Buch ist geeignet, lasche Gemüter aufzustacheln und
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Literaturbericht.
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frische Bewegung in die Geister zu bringen — und das ist das^ Gute an
solchen Maximensammlungen, die von genialen Menschen geschrieben sind.
Daher wirkten denn auch Nietzsches BUoher so aufrüttelnd, weil er seine
Gedanken in so paradoxer Form vortrug. Wären es zusammenhängende Ab-
handlungen gewesen, so hätten sie langsamer gewirkt, aber — auch nach-
haltiger! So sind sie ein Strohfeuer, das mit herrlichem FunkensprUhen bald
verlischt. Der Gewinn für die Geisteswelt ist jedenfalls stets nur ein in-
direkter — die Schriften reizen zum Widerspruch und treiben die Entwick-
lung weiter. Ihr eigener, prinzipieller Wert ist aber ein geringer.
Ganz schlimm aber ist es, wenn hinter solchen abgerissenen Gedanken
nicht einmal eine einheitliche, starke, geniale Persönlichkeit steht. Dann
sind sie die Druckerschwärze nicht wert, mit deren Hilfe sie in der Welt
verbreitet werden sollen. So steht es nun mit Martin Meyer, der uns einen
dickleibigen Band Aphorismen vorlegt. An sich ist ja jedes mutvolle Unter-
nehmen anzuerkennen, so auch dieses, nach Nietzsche moralsplnlosophische
Aphorismen vorzulegen. Aber man muß sich doch eines gewissen Könnens
bewußt sein, wenn man so etwas wagt Ich bin noch immer milde bei der
Beurteilung der Bücher anderer gewesen — hier aber muß ich doch er-
klären: das Buch ist wertlos. Der Verf. sagt zwar: »Vielleicht nur ein Gold-
korn unter tausend Sandkörnern; dann sollte es um deB einen Goldkorns
. willen gesagt werden . . . .« (S. 1). Ich muß aber erklären, daß er nicht
verlangen kann, daß man unter solchem Sande das eine Goldkorn heraus-
sucht! Wenn er von der Existenz dieses einen Überzeugt ist, es doch wohl
auch kennt und demnach auch den »Sand« kennt, warum erspart er uns
nicht die unnütze Mühe, legt uns das Gold vor und läßt uns nicht durch
Wüsten wandern? Er hätte ja von der Goldidee aus ein zusammenhängendes
Buch schreiben können, das gewiß ganz tüchtig ausgefallen wäre, dann
hätten wir doch etwas; aber so?? Mir ist es jedenfalls nicht gelungen, die
Wüste zu durchwandern, ich bin schon vor dem Goldkorn verschmachtet!
Und ich kann nur damit zufrieden sein, denn unnützer Zeitverlust ist stets
sehr ärgerlich.
Wenn man die »Methode« — man kann ja eigentlich von keiner solchen
reden! — des Verf. anwendet, dann ist es leicht, ein Buch zu »machen«.
Da wird alles Mögliche hingeworfen, zum Teil nicht einmal in vollständigem
Satze, man schreibt auf, was einem durch den Sinn geht, prüft nicht weiter,
ob es mit anderen Ideen stimmt — und wenn ein Haufen Papier so gefüllt
ist, dann ordnet man die losen Blätter nach irgendeinem Gesichtspunkte,
schickt's in die Druckerei, und das Opus ist fertig. So kommen wir aber
nicht weiter! Da muß denn doch ganz anders gearbeitet werden ! Mag sein,
daß für den Verf. das Buch eine Bedeutung hat — für die Mitwelt hat es
keine, da es nicht einmal zum Widerspruch reizt. Ich glaube auch, daß
gute Gedanken darin sind — sie sind aber wohl meistens alt, in der Form
keineswegs verbessert, und wenn sie neu sind, so sind sie eben unfruchtbar,
da sie nur so hingeworfen sind. Es ist so, als wenn ein Maler eine große
Leinwand mit lauter separaten Farbenklexen bedeckt und dann von dem Be-
schauer verlangt, er solle sich ein Ganzes daraus selbst bilden und sich
noch für die Zusammenstellung interessieren — aber im Künstler selbst ist
es nie ein Ganzes gewesen, höchstens eine hinhuschende Augenblicks-
konstellation.
Also — es ist nichts mit Martin Meyer! Hören wir einige Proben.
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Literaturberieht.
»Die Erregung Maeterlinck acher Unterschwingungen ißt es auch, worauf
es mir vornehmlich ankommt . . .« (Nun denk1 dir was dabei!) >Das philo-
sophische Methodenproblem: eine Methode für das Unendliche? . . . Zum
Tenfel ist der Spiritus!« »Eine Ethik konnte nnr im Alter von 14 Jahren
geschrieben werden, da aber da noch niemand die nötige literarische Technik
besitzt, so wird nie eine geschrieben.« Ich nehme an. daß einem mit
14 Jahren noch mehr fehlt zu einer Ethik, als die literarische Technik!
»Dualismus, einiges Überwiegen der positiven Seite — « . . . voila tont!
Daneben allerdings die gute, aber alte Bemerkung: »Die Welt ist dualistisch
dem Gegebenen, monistisch dem in der Unendlichkeit liegenden Ziel
nach — . . .«
»Das Wesen der Welt ist die ungläubige Gläubigkeit.« Soll das Tief-
sinn sein?
»Sittlichkeit ist ein pflanzenhafter Standpunkt . . .< »Das Absolute braucht
keine Leibwache . . .« »Das Spontane das Absolute . . .«
»Einladung zum Diner der modernen Jugend:
Ich lade Sie ergebenst ein
Zu einer Portion Elternklein.«
Was sollen solche simple Scherze bei der Moralphilosophie?
»Idealismus — Stauung des natürlichen Bewußtseins.«
»Religion hat immer etwas Pflanzenhaftes.«
»Ich werde ein Diner geben. Ich lade ein: den Papst, den Zar. den
Sultan, den Kaiser von China und den Präsidenten Krüger. .Gesprochen
wird bei Tisch von Moralphilosophie4 steht auf der Einladung . . .«
Unglaublich geschmacklos !
»Lage gar nichts, Fahne alles!«
»Marschieren, bis man umfällt !«
»Alles ist richtig, alleB ist falsch, man kann nur sagen tralala!«
»Fortschritte machen in der Wurschtigkeit!« —
»Mit dem Monokle im Auge sterben.« (Auch ein Lebensziel!)
»Das Weitere wird sich finden . . .« (Um Gotteswillon nicht!)
»Die Darumigkeit ist die Dummigkeit!«
»Ich weiß nicht, warum man sich anständig benehmen soll — nun ja. es
wird ja wohl notwendig sein ... ja ... ja .. . ja.«
»Man will nicht — nun ja, das imponiert mir gar nicht!«
Es mag genug sein! Ich habe absichtlich, um nicht ungerecht zu sein,
nur Stellen ausgewählt, deren Zusammenhang mit der Umgebung ich nicht
erkennen kann. Es wäre ja unbillig, etwas, das im ganzen Sinn hat, heraus-
zureißen und dadurch sinnlos zu machen.
Es ist zum mindesten doch sehr unbescheiden und aufdringlich, wenn
man so abgerissene Gedankenfetzen dem Publikum vorlegt und von ihm ver-
langt, es solle selbst die Hauptarbeit leisten! Meyer hätte sich hinsetzen
sollen und aus diesen Fetzen ein Ganzes gestalten — das wäre vielleicht
noch etwas geworden. So ist es nichts! Oder doch etwas: es hat mir sehr
heitere Augenblicke mit seiner ungewollten Komik bereitet!
Dr. 0. Braun (Hamburg).
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Literaturbericht.
87
31} Heinrich Kochendörfer, Wie bewahrt sich ein Volk die Herrschaft
Uber seine Zeit? Leipzig, Schnurpfeil.
Das Büchlein von Heinrich Kochendörfer behandelt eine äußerst
wichtige und aktuelle Frage: >Wie bewahrt sich ein Volk die Herrschaft
Uber seine Zeit?« —
Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet verfährt es leider
zu dogmatisch und zu einseitig. Aueh dürfte die praktische Durchführung
der darin aufgestellten Religion, die übrigens stark an Fichte erinnert,
n Erfassung und Befolgung ihre gewaltigen Schwierigkeiten haben. Es wird
da verlangt, daß alle Menschen zu Philosophen werden, die aber — im Gegen-
satz hiezu — durchaus nicht radikal Bein dürfen. Man verweist uns auf das
Christentum und die einfachsten Lehren des alten und neuen Testaments als
Basis neuer Entwicklung, und es müßte doch erst untersucht werden, ob
jenes in seiner Weltmüdigkeit zu einer Religion des Kampfes paßt und ob
diese Lehren mit ihren zahlreichen Unrichtigkeiten und Widersprüchen wirk-
lich ein wissenschaftliches Fundament geben können. Noch schlimmer ist der
Hinweis auf das Johannisevangelium, dem deutlich die christliche Interpretation
wie ein Schleier angeklebt ist und das in seiner Grundtendenz einer völlig
andern Richtung und Zeit angehört wie die drei ersten Evangelien, die selbst
Bearbeitungen und Übersetzungen verloren gegangener Originale sein dürften.
Es ist Luthers Tat, die Bibel auf einen möglichst einheitlichen Ton gestimmt
zu haben. Aber es war durchaus nicht nötig, daß er den Ausdruck Beiner
gewaltigen sittlichen Persönlichkeit mit wackligen historischen Daten stützte.
Aber auch mit der Ethik der Bibel, soweit sie einheitlich ist, ist es —
im modernen Licht betrachtet — eine mißliche Sache. Ich verweise auf die
ganz wundervollen >Briefe über Religion« von Dr. Fr. Naumann. 80 sagt
z. B. Jesus: »Wende dich nicht von dem, der abborgen will!« und Naumann
entgegnet sehr richtig; »Über dieses Wort können nur solche aus Erfahrung
mitreden, die wirklich versucht haben, ihm wörtlich zu folgen!« — Ebenso
heißt es, daß kein Sperling ohne Gottes Willen vom Dache fällt und man
fragt sich vergeblich, wie dies zum Kampf ums Dasein paßt, der erbarmungs-
los ganze Generationen verschlingt. Man denke sich ferner den Satz befolgt :
»Verkaufe deine Habe und gib sie den Armen!« — Das konnte man in
Galiläe tun, weil man noch das Leben fristen konnte; bei uns wäre dies die
sichere Einleitung zum völligen Untergang. — Ferner sah Christus das Weltende
vor sich. Naumann fragte seinen Begleiter, ob er wünsche, daß der deutsche
Kaiser dieselbe Ansicht habe und seine Politik auf das Weltende richte, ob
er wünsche, daß wir die Schulen schließen usw.
Wir sehen also, daß es für uns viele ernste Pflichten gibt, die außer-
halb dieser an sich köstlichen Lehre stehen.
Zum Schlüsse möchte ich mich doch gegen die kühnen Geschichtskorrek-
turen des Verfassers wenden.
Zwei Hauptfaktoren sind es durchgehend, die die Blüte eines Landes
geschichtlich stets herbeigeführt haben — nämlich der Welthandel als
Quelle der Existenzmöglichkeit für den Kulturmenschen und Bereicherung,
sowie die auf Geld Wirtschaft beruhende zentrale Verwaltung des Landes
als Macht. Mit England ist es genau nicht anders als mit den übrigen
Ländern. — Es klingt recht abscheulich und prosaisch — aber ohne die be-
scheidenste Existenzmöglichkeit taugt alle Ethik nichts — wenigstens nicht
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Literaturbericht.
i
solange wir auf Erden leben; die wachsenden Bedürfnisse drängen von
selbst zum Handel.
Was zeigt denn die Geschichte? Sie zeigt uns den Untergang aller
auf lediglich geistiger Basis begründeten Reiche und Herrschaften. {Alles
geht zugrunde, dem nicht von Anfang an oder doch bald nach dem Ent-
stehen ein wirtschaftliches Fundament verliehen wird,) Sie zeigt uns da-
gegen z. B. Italiens Blüte, als die Kreuzzüge es in den Mittelpunkt des
Welthandels rückten, als seine Naturalwirtschaft von der Geldwirtschaft ab-
gelöst war und das Papsttum es zu einer Art Zentrale des europäischen
StaatensyBtems machte. Die Blüte endete, als Konstantinopel von den Türken
erobert und Amerika entdeckt wurde. Da zog sich der Welthandel zur Pyre-
näischen Halbinsel. — Spanien war ^damals das erste Land mit richtiger
Zentral Verwaltung und es ging hauptsächlich an wirtschaftlicher Torheit und
Machtverfall zugrunde. — Auf Spanien hinauf wird Holland groß, indem es
sich freimacht und alle portugiesischen Kolonien an sich reißt, bis Frank-
reich durch den klugen Colbert sich zur höchsten Blüte erhebt und unter
den sittlich recht zweifelhaften Ludwigs durch unerhörten Glanz alle blendet
England blieb lange Zeit vom Kriege verschont und konnte somit seine
Industrie entwickeln, was ihm die Herrschaft im Welthandel und die Macht
nach außen und innen verschaffte.
Was war es mit Deutschland? Hier herrschte unselige Zerrissenheit und
ein steter Kampf zwischen der Krone, den unbotmäßigen Vasallen und dem
aufblühenden Bürgertum. Es regnete Zoll- und Handelskriege. Hier hatte
die Krone versäumt, sich mit dem aufstrebenden Bürgertum zu verbinden,
um eine wirksame Macht gegen alle Nebenregierungen ins Feld zu führen.
Dazu kommt noch die geographisch höchst ungünstige Lage Deutschlands. —
Der erste Aufschwung geschah, als durch den Zollverein zuerst ein einheit-
liches Wirtschaftsgebiet geschaffen wurde. — Ob es machtvoll an die Spitze •
des Welthandels treten wird, mag die Zukunft lehren.
Der ethische Standpunkt ist ein sehr schöner, er ist aber leider bei der
Mangelhaftigkeit unseres Daseins nicht der allein ausschlaggebende
und kann es nicht sein, weil wir an unbarmherzige Tatsachen gebunden sind1 .
Dr. L. v. Benauld (München).
32) Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler, Religionshygiene. 65 S. Halle a. S.,
Marhold, 1907. M. 1.— .
Es ist sehr anzuerkennen, wenn sich denkende Menschen über den engen
Kreis ihrer SpezialWissenschaft zu erheben streben. Bresler sucht so von
der Medizin aus zur Religion zu kommen. Das Büchlein fängt sehr interes-
sant an: Verfasser erzählt andeutungsweise persönliche Beobachtungen an
dem Gesichtsausdruck Betender in verschiedenen berühmten Gotteshäusern.
Sehr ansprechend wirken auch die letzten Seiten des Buches, auf denen
Bresler der ReligionBhygiene vornehmlich zwei Ziele steckt: »1} Die An-
erkennung der Naturwissenschaft durch die Religionswissenschaft. 2) Die
1) Siehe den Artikel »Kant und Ricardo« in Nr. 712 von Handel und
Industrie, Jahrg. XIV. von der gleichen Verf. (Siehe auch die geistvolle
Wirtschaftsgeschichte Brentanos.)
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Litcraturbericht.
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Beseitigung der Religionspfuscherei.« Damit schränkt Bresler die Trag-
weite der Religionshygiene sehr besonnen ein, sie soll eben weder Gottes-
häuser stUrzen, noch den historischen Glauben durch einen anderen ersetzen.
Sie soll daraufhin wirken, den Zwiespalt zwischen Wissen und Glauben zu
beseitigen, der zerrüttend auf das Seelenleben wirkt, und sie soll das ihrige
dazu beitragen, die Mißbrauchung der Religion zu egoistischen Zwecken und
die Bemäntelung krassen Aberglaubens unter dem Namen »Religion« aus der
Welt zu schaffen. »Wir Arzte werden uns immer bewußt sein, daß unsere
Mitwirkung auf die Bekämpfung des Ungesunden in der Religionspflege be-
schränkt bleiben muß . . . Gemeinsam mit den Theologen, nicht im Gegen-
satz zu ihnen müssen die strittigen Punkte erörtert, die Vorschläge geprüft
werden.«
Weniger einverstanden bin ich mit dem übrigen Inhalte der Broschüre.
»Die Religion muß aufhören, eine Dogmenlehre zu sein, sie muß unter ärzt-
lich-psychologischen Auspizien neu erstehen und gepflegt werden« (S. 12).
In dieser Fassung verlangt Bresler offenbar sehr viel mehr, als er am
Schluß will! Hier sollen ja die Ärzte auf die Entstehung der Religion Ein-
fluß haben. Eine derartige Überspannung müssen wir aber ablehnen. Es
kann eich doch nur um folgendes handeln: Der Arzt hat auch ein Wort
mitzureden, wenn es sich um die Wirkung der Religion auf unser Seelen-
leben handelt; namentlich in Zeiten des religiösen Verfalles ist das eine ganz
vernünftige Forderung. Vorausgesetzt ist dabei aber immer doch das Vor-
handensein einer Religion, und bis zu dem inneren Werden und Wandeln
einer solchen reicht nicht der Einfluß des Psychiaters. Die übrigen 40 Seiten
des Heftchens sind mit Zitaten aller möglichen psychiatrischen Autoren er-
füllt, an deren Stelle ich lieber eine deutliche Durchführung der Grundideen
— anschließend an das verheißungsvolle Vorwort — gehabt hätte! Schade,
daß Bresler von seinen oben erwähnten Beobachtungen weiterhin ganz
schweigt Dr. 0. Braun (Hamburg).
33) K. Raumer, Pflanze, Tier, Mensch. Ein naturwissenschaftliches Glaubens-
bekenntnis. 123 S. gr. 80. München, Verlagsbuchhandlung Seitz
& Schauer, 1907. M. 3.—., geb. M. 4.—.
Der Titel ist vielversprechend. Ein Glaubensbekenntnis! Man denkt
dabei unwillkürlich an etwas Nervenprickelndes, Aufregendes, an einen
Bruch mit den Anschauungen der modernen Naturphilosophie, oder doch
zum wenigsten an eine Faustische Resignation: Ich sehe, daß wir nichts
wissen können. Aber nichts von alledem. Der Verf. bringt vielmehr eine
ziemlich trockene Beschreibung bekannter physiologischer und psychologi-
scher Vorgänge bei Pflanzen, Tieren und Menschen und sucht durch Ana-
logieschlüsse die Lebensfunktionen der höher organisierten Wesen aus denen
der einfacher organisierten und die Lebenstätigkeit überhaupt aus Vor-
gängen in der leblosen Materie abzuleiten. Doch ist diese Ableitung in den
meisten Fällen begrifflicher Art und daher für die empirische Psychologie
ohne Bedeutung. Was der Verf. Uber die Instinkte sagt, ist sehr anfecht-
bar, ebenso Beine Auffassung vom Raumbegriffe Kants. Direkt falsch ist
z. B. die Behauptung: »Das Menschenkind bringt längere Zeit im Mutter-
leibe zu als alle Jungen der Säugetiere« (S. 75;. Weiß der Verf. nicht, daß
90
Litcraturbcricht.
die Tragzeit bei Tieren wie Rind, Pferd und Elefant ebensolang oder noch
beträchtlich länger dauert als die Schwangerschaft beim Menschen? — Und
das soll ein »naturwissenschaftliches« Glaubensbekenntnis sein?
J.Kühler (Lauterbach).
94) Hippolyte Taine, Philosophie der Kunst, Autorisierte deutsche Aus-
gabe. Aus dem Französischen Übertragen von Ernst Hardt
2. Auflage. Jena, Verlag von Eugen Diederichs, 1907. Geh. M. 8.—,
geb. M. 9.50.
Tain es Philosophie der Kunst ist in Deutschland sehr bekannt und
doch nicht genug bekannt, man hat sich zu sehr daran gewöhnt, die allge-
meinen von Taine angeführten Schlagworte vom Milieu und von der Ab-
leitung des Kunstwerks und des Künstlers, aus der Familie, der Kunst-
schule, der Zeit, der Rasse, der Sitte und des Klimas zu verwenden, aber
man hat bisher zu wenig die eindringende Beweisführung gewürdigt, die
Taine für seine Theorie zu geben versucht hat. Die vorliegende nene
Übersetzung der Philosophie der Kunst ist besonders dazu geeignet, den
Leser mit dieser Seite der Forschung Tain es bekannt zu machen, weil sie
da» Originalwerk unverkürzt und in einer sehr getreuen Ubersetzung wieder-
gibt.
Freilich scheint der Übersetzer Tainos Philosophie der Kunst weit in
Uberschätzen, wenn er in der Vorrede behauptet »die Kunstphilosophie des
Hippolyte Taine bedeutet den tiefsten Vorstoß und die sicherste Er-
oberung, welche bisher die Wissenschaft auf dem Gebiete der Kunst hat
machen dürfen«. »Seine Lehre vom Wesen des Kunstwerks, welche den
ersten Teil dieser Philosophie ausmacht, ist eine geniale Tat, zu der die
vielen vorangegangenen Jahrhunderte voller ästhetischer Betrachtungen und
Untersuchungen kaum den Weg eingeschlagen hatten. Sie ist in die Gefilde
der Kunst wie ein Marmorblock gefallen, den das Rollen der Zeiten nicht
wird verrücken können.« (!) »Der zweite Teil, seine Lehre von der Er-
zeugung des Kunstwerks, welche dem Geist den Weg zum Verständnis aller
Werke weisen will, wird ewige Geltung haben, soweit es sich um histori-
sches Erfassen handelt.«
Der Verf. scheint zu Ubersehen, daß der Versuch, Künstler und Kunst-
werke aus den Einflüssen der Umgebung zu verstehen, bei Taine durchaas
nicht zum erstenmal auftritt und daß er mit weit größerem Kunstverständnis
schon von anderen Ästhetikern, insbesondere von Gottfried Semper unter-
nommen worden ist, ferner daß es unmöglich ist, den Künstler und sein
Werk in der Weise aus den Umgebungseinflüssen abzuleiten, wie du
Taine versucht hat. Das Verdienst des französischen Autors liegt über-
haupt nicht in der Aufstellung dieser Idee als solcher, sondern in dem um-
fassenden Versuch und der eigenartigen Weise der Begründung dieser
Behauptung und in ihrer Durchführung mit einem großen Aufwand an
historischen und vergleichenden Betrachtungen Uber die Entstehung der
Kunstwerke.
Die Ausstattung des Buches ist, wie immer bei den Werken aus dem
Diederichs8chen Verlag, eine sehr gute und sie ist auch in ihrem äußeres
Gewände dem Charakter des Buches entsprechend. Glücklicherweise trägt
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Literaturbericht.
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der Titel die Bemerkung »ornamentaler Schmuck von Walter Tiemann«
und verwendet nicht das häßliche, allen Anforderungen an die Klangschön-
heit widerstreitende Wort »Buchschmuck«, das mit Recht von Möbius
seinerzeit in derber Weise verspottet worden ist
E. Meura ann (Münster i. W.).
35 Dr. Franz Jahn, Oberlehrer am Friedrichsrealgymnasium zu Berlin,
Das Problem des Komischen in seiner geschichtlichen Entwicklung.
Potsdam, A.Stein, Verlagsbuchhandlung, 1906. M. 2.—; geb. M. 3.—.
Die vorliegende Schrift von Jahn enthält eine sehr eingehende Dar-
stellung der historischen Entwicklung des Problems des Komischen und der
verschiedenen Versuche zu seiner Lösung.
In diesem Beitrag zur Geschichte eines ästhetischen oder wenigstens der
Ästhetik naheliegenden Problems (des Komischen) liegt der Hauptwert des
Buches. Die kritischen Betrachtungen und systematischen Ausführungen des
Verf. können dagegen nicht den gleichen Wert beanspruchen. Dieses tritt
insbesondere bei seiner Übersicht Uber den heutigen Stand des Problems
hervor. Diese Übersicht zeigt zugleich, daß eine erstaunlich große Anzahl
von Gelehrten und Schriftstellern sich in der Gegenwart mit dem Problem
des Komischen und verwandten Fragen beschäftigt haben. Die eigenen Aus-
führungen des Verf. leiden, soweit sie systematischer Natur sind, vor allen
Dingen daran, daß der Verf. in der Psychologie des Gefühls nicht sicher ist,
er unterscheidet nicht einmal immer klar zwischen Gefühl und Empfindung
und seine Kritik der gegenwärtig herrschenden Anschauungen macht einen
etwas prinziplosen Eindruck. Zu beachten ist die in dem Anhang mitgeteilte
»Literatur zur Geschichte der komischen Gattungen«.
E. Meumann [Münster i. W.}.
36 Rob. F. Arnold, Das moderne Drama. 388 S. Straßburg, Karl J. Trübner,
1908. M. 6.— .
In diesen zwölf Vorlesungen Uber die Entwicklung des deutschen und
anßerdcutschcn Dramas im 19. Jahrhundert bis auf die jüngste Gegenwart
entrollt der Wiener Literarhistoriker das buntfarbige Bild des zeitgenössi-
schen dramatischen Schaffens und sucht auf historischem Wege Verständnis
dafür anzubahnen. Es kam ihm darauf an »die im allgemeinen parallele Ent-
wicklung des im engeren Sinne modern genannten Dramas bei den ver-
schiedenen Kulturvölkern aufzuzeigen, im besonderen das moderne Drama
der Deutschen aus seinen nationalen und internationalen Voraussetzungen
abzuleiten und gleichzeitig zu beschreiben«. Vergleicht man die gleich-
namigen Arbeiten von Kerr, Witkowski u. a. mit dem vorliegenden
Buche, so fällt zunächst die Fülle des verarbeiteten Materials ins Auge. Un-
gefähr 800 Dramen von insgesamt 600 Autoren werden namentlich an-
geführt. Daß bei dieser Reichhaltigkeit in Hinsicht auf Titel und Namen
auch manches minder belangreiche Detail erwähnt wird, wohin ich die Be-
merkungen Uber Theatergeschichtliches rechne, kann bei der Verschiedenheit
der Ansprüche nicht ins Gewicht fallen — Vollständigkeit wäre mehr ein
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Literaturbericht.
Mangel als ein Vorzug. Was ferner die gerechte Verteilung von Licht und
Schatten anseht, so wird der einsichtige Beurteiler nicht voraussetzen, daß
seine und des Autors Auffassung sich in allen Punkten decken. Auf einem
von den Parteien des Tages heftig umstrittenen Kampfgebiet, wie es das
moderne Drama ist, muß der bloße gute Wille zur Objektivität für die Tat
gelten. Genug, wenn Uber der Scylla der Einseitigkeit die Charybdis der
Temperamentlosigkeit, also ein farbloses Aufzählen, vermieden wird. Darf
man dem Verf. dafür zu Dank verpflichtet sein, daß er ein lesbares Buch
geschrieben hat, so muß es befremden, wenn er mit deutlichem Seitenblick
auf die TagesschriftsteUerei der wissenschaftlichen Theater- und Literatur-
kritik von vornherein ein größeres Maß von Objektivität und Gültigkeit
vindiziert Es ist schließlich nicht die »Vornehmheit«, sondern sachlich und
historisch gerechtfertigte Einsicht gewesen, die die wissenschaftlich literarische
Forschung abgehalten hat, in die Arena der Tagesmeinungen hinabzusteigen;
verschmäht sie dies nicht länger, so hat sie vor einer methodisch geschulten
und in den literarischen Kämpfen mitten inne stehenden Kritik offenbar nichts
voraus. Wenigstens sind der wissenschaftlichen literarischen Kritik in der
Praxis noch keine großen Erfolge beschieden gewesen — noraina sunt
odiosa! Umsoweniger hat der Verf. mit seiner Polemik recht, als er sein
eigenes Urteil häu6g an der Ansicht der Journalisten Fontane, Schienther,
Kerr u. a. orientiert hat. Von gegensätzlichen Auffassungen im einzelnen
zu schweigen, scheint mir die Gesamtansicht, die Arnold vom zeitgenössi-
schen Drama entwickelt, weit weniger tiefgehend und wertvoll als die, die
der Vertreter einer bestimmten literarischen Richtung, Paul Ernst, in seinem
Weg zur Form (Berlin 1906; dargelegt hat. Auch in das Uberwiegend gün-
stige Urteil, das unser Verf. über die bisherige Entwicklung fällt, vermag
ich keineswegs einzustimmen. Davon abgesehen bietet das Buch einen
guten Uberblick über die dramatische Ernte unserer Zeit, ein Vorzug, der
durch ein ausführliches Sach- und Namenregister noch erhöht wird.
Dr. Fritz Rose (Weimar).
37) Wilhelm Bölsche, Hinter der Weltstadt Friedrichehagener Gedanken
zur ästhetischen Kultur. 4. u. 5. Tausend. Jena und Leipzig, Eugen
Diederichs, 1904. M. 5. — ; geb. M. 6.—.
Wilhelm Bölsche hat sich mit den 13 Essays des vorliegenden
Werkes auf das Gebiet literarisch-ästhetischer Studien begeben. Die ästhe-
tischen Probleme weiß er mit derselben geistreichen und originellen Art zu
behandelu, durch die er mit seinen populär-naturwissenschaftlichen Schriften in
den weitesten Kreisen bekannt geworden ist.
In dem Vorwort gibt Bölsche eine öffentliche und radikale Absage
an das Großstadtleben, insbesondere der Berliner, und erzählt uns von seiner
Friedrichshagener Einsamkeit. Daher der Untertitel des Buches »Friedrichs-
hagener Gedanken zur ästhetischen Kultur«. »Gerade das« — nämlich echte,
innere ästhetische Kultur — »ist es, was die Großstadt mit all ihrer Kunst
tot tritt wie einen armen Käfer, und ohne das doch all unsere Weisheit bis
zu den fernsten Sternen der Naturwissenschaft banale Nichtigkeit wird —
ohne das unser Leben verödet bis zum Selbstmord.«
Beiträge zu einer »Weltkunstanschauung« will Bölsche geben: »Das
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Literaturberieht.
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wird den Philosophen einen mit dem Ethiker nnd dem Naturforscher and
alle drei mit dem Künstler.«
Aus dem Inhalt der einzelnen Essays heben wir hervor die Studie Uber
Novalis nnd über Fontane. Weniger kann der Referent den Ausführungen
über die sehr Uberschätzten Gebrüder Hart beistimmen. Von bleibendem
Werte aber sind die persönlichen Erinnerungen, die B öl sehe hier wie in
den Studien über Fontane und Gerhard Hauptmann einflicht. »An der
Mumie von Georg Ebers« enthält eine sehr objektive, die Schwächen
und Vorzüge dieses einst so viel gelesenen und so schnell der Geringschätzung
anheimgefallenen Romanschriftstellers und Gelehrten. In dem Aufsatz »Kunst
und Natur« spricht der zugleich mit dem scharfen Blick und der nüchternen
Beobachtung des Naturforschers ausgerüstete wie zur poetischen Natur-
auffassung geneigte Verf. Uber den vermeintlichen Gegensatz und die Ver-
söhnung von naturalistischer und künstlerischer Weltauffassung. B Öls che
selbst ist in der glücklichen Lage, diese Versöhnung gefunden zu haben und
sein Schlußnatz lautet: »Meine Natur ist einig mit meiner Kunst«
Es folgt eine ästhetische Würdigung der Ebner-Eschenbach. Dann
eine Abhandlung: »Freie Universitäten, ein Weckruf«, in der der Verf. sehr
entschieden, aber doch sehr maßvoll und mit weitherziger Erwägung der
historisch gewordenen Verhältnisse an unseren staatlichen Hochschulen für
die freien Universitäten eintritt Mit Recht geht der Verf. aus von dem
Doppelcharakter unserer Universitäten, den jeder Hochschullehrer zugleich
als einen inneren persönlichen Konflikt empfindet: »Auf der einen Seite ist
die Universität eine Hochburg der Forschung. Sie schafft dieser Forschung
die möglichst günstigen Bedingungen unter den augenblicklich Mitarbeitenden.
Und sie pflanzt gleichzeitig ihre Methode fort, hilft die Praxis des Forschens
auf neue Kräfte Ubertragen, erzieht immer frische Generationen von Forschern,
die ein einheitliches Werk ohne Unterschied der Person fortzuführen be-
strebt sind.
Auf der anderen Seite dient die Universität dem Brotstudium einer An-
zahl junger Leute; sie vermittelt gegen Bezahlung eine gewisse Summe von
Kenntnissen, Uber die bei einem Examen quittiert wird; die Quittung er-
möglicht dem Betreffenden, eine gewisse wirtschaftliche Versorgung zu er-
langen oder wenigstens ins Auge zu fassen; von einer einheitlichen Idee,
die über den Personen stände, ist nach dieser Seite keine Rede, es wird ein-
fach etwas verkauft und jeder macht damit, was er für sich braucht im
allgemeinen wirtschaftlichen Konkurrenzkampfe.
Es ist klar, daß diese beiden fundamental verschiedenen Zwecke zu
sehr fühlbaren Schwierigkeiten drängen müssen, und in der Tat bewegt sich
unser offizielles Universitätsleben innerhalb der Unruhen und Unzuträglich-
keiten von jener Seite immer mühsamer vorwärts. Bisweilen glaubt man
bereits eine Zukunft aufdämmern zu sehen, wo das einheitliche Institut zu-
gunsten seiner zwei Motive sich in zwei gesonderte Körper auflöst.«
Auch darin kann man dem Verf. beistimmen, daß diese Verknüpfung so
heterogener Motive der Arbeit »sich mehr und mehr zum Schaden der
Forschung selbst entwickelt«. Wir sehen das u. a. auch daran bestätigt daß
die bedeutendsten Gelehrten es oft als ihr höchstes Ziel betrachtet haben, sich
von der Verquickung ihrer Forscherarbeit mit der Lehrtätigkeit] loszumachen
(G. Th. Fechner, und in unseren Tagen Robert Koch; der Ref.).
Da die Forschung innere Freiheit und Unabhängigkeit von aller staat-
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Literaturbericht.
i
liehen Kontrolle als ihr Lebenselement ansehen muß, »so ist die Universität
in ihrer Doppelrolle zugleich ein freies und ein staatliches Institut — eine
Unmöglichkeit, die sich einfach darin rächt, daß auch die Freiheit der
Forschung bei den verschiedensten Gelegenheiten praktisch unter Staats-
kontrolle gerät und damit naturgemäß eine schwere Einbuße erleidet*. In
seinen weiteren Ausführungen entwickelt nun der Verf. die Idee einer freien
Hochschule, einer Volksuniversität, die einem dritten Bedürfnis zu
dienen hätte, der eigentlichen Verbreitung einer nichtfach wissenschaftlichen
und nicht dem zukünftigen angestellten Staatsbeamten dienenden Bildung.
Sie müßte insbesondere der Ausbildung des Schriftstellers (des Journalisten:
dienen und eine Schriftstellerhochschule sein; sie konnte ferner mehr a's
die alte Universität dem Frauenstudium, besser vielleicht: der FrauenbilduD?
dienen und sie wäre drittens der geeignete Mittelpunkt aller Bestrebungen
der Arbeiterbildung. Es sind wichtige, für unser ganzes Kulturleben be»
deutungsvolle Gedanken, die der Verf. in diesem Zusammenhange entwickelt,
wir müssen jeden, der sich für solche Fragen interessiert, bitten, sie im
Original nachzulesen, ein kurzes Referat könnte sie nicht in ihrem ganzen
Werte wiedergeben.
Die letzte Abhandlung des Buches enthält eine sehr eingehende Be-
trachtung Uber G. Th. Fechners Persönlichkeit, sein Lebenswerk und seine
Weltanschauung. Bö Ische ist mehr als mancher Fachgenosse berufen, Über
Fechner zu urteilen. Irren wir nicht, so besteht eine tiefe Geistesver-
wandtschaft zwischen beiden Denkern. Beide beherrschen die naturwissen-
schaftlichen Kenntnisse ihrer Zeit und haben mit der Forschung eine tief
poetische Naturanschauung zu vereinigen gewußt. Die Studie Über Fechner
gehört daher auch zu dem Besten, was der vorliegende Band bietet.
E. Meumann (Münster i. W.}
38) Fr. Hashagen, Der »moderne« Roman und die Volkserziehung. Ein
Protest. Wismar i. M., Hans Bartholdi, 1907.
Die vorliegende Schrift des Rostocker Theologieprofessors Hashagen
enthält eine ganz einseitigo Beurteilung des Romans der Gegenwart vom
orthodox-theologischen Standpunkt aus. An ästhetischem Verständnis der
literarischen Bewegung der Gegenwart fehlt es dem Verf. gänzlich.
E. Meumann (Münster i. W.j.
39; Henry Herbert Goddard, Die Ideale der Kinder. Zeitschrift für Ex-
perimentelle Pädagogik. Bd. V. Heft 3/4. 1907.
In der vorliegenden Abhandlung bietet der Verfasser ein Beispiel, wie
man vorgehen könnte, um einerseits festzustellen, wie die Ideale beschaffen
sind, welche dem kindlichen Geiste vom schulpflichtigen Alter an bis zum
14. Lebensjahre als bewunderungswert bzw. der Nacheiferung würdig oder
begehrenswert erscheinen, andererseits um auf Grund der gewonnenen Re-
sultate gegebenenfalls die Erziehungsgrundsätze zu ändern.
Und wer Uberhaupt anerkennt, daß es zu den höchsten Pflichten der Er-
wachsenen gehört, die ethischen und intellektuellen Anlagen der nachfolgen-
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Literaturbericbt.
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den Generationen — abgesehen von der Förderung ihrer physischen Gesund-
heit — zur großmöglichsten Entwicklung zu bringen, der wird auch dem
Erziehungsgrundsatz beipflichten, daß dem kindlichen Geiste die Ideale mög-
lichst nahe gebracht werden müssen, welchen nachzueifern um ihrer selbst
willen im besonderen, ebenso wie zum Wohle der Menschheit im allgemeinen,
notwendig und wünschenswert erscheint.
»Muster sind bei dem Formen der kindlichen Natnr von entscheidender
Bedeutung«, sagt Smiles in seinem »Der Charakter«, »und wollen wir schöne
Charaktere haben, dann müssen wir ihr unbedingt Bchöne Muster bieten«.
Im gleichen Sinne äußert sich der Verfasser, indem er hinzufügt, daß
je nach der geringeren oder höheren Art des Ideals, das man dem Kinde
vorführt, sich auch die Seele desselben zum höchsten Fluge angespornt
sehen oder in den gegebenen engeren Grenzen verharren wird, wenn man
hier auch einschalten möchte, daß trotz alledem kein Kind über die jedem
einzelnen von der Natur gesetzten Grenzen der geistigen Entwicklungs-
möglichkeit hinaus kann.
Alsdann aber will der Verfasser — Earl Barnes in seinen Ansichten fol-
gend — auf Grund seiner Untersuchungen zu einem klaren Schluß darüber
gelangen, ob die Entwicklung der Persönlichkeit des Kindes zu schnell vor
aich geht — was zu einer Halbheit, zur Oberflächlichkeit der Charakter-
bildung führen könnte — oder zu langsam, wodurch die Entwicklung ver-
zögert und ein günstiger Boden geschaffen würde zu einem beschränkten
Sichgenügen, zur Förderung von Roheit und Lastern.
Das vorgeschlagene Verfahren hat der Kritik nicht durchgehends stand-
gehalten, wie der Verfasser offen zugibt, indessen muß sein Plan dennoch
die Aufmerksamkeit fesseln, zumal er zur Rechtfertigung desselben darauf
hinweist, daß die Kurven auf den Tafeln, die zur Beweisführung seiner
Untersuchungen dem Text beigegeben sind und von den Beobachtern ver-
schiedener Kindergruppen in verschiedenen Ländern und Staaten entworfen
wurden, in gewisser Hinsicht eine auffallende Übereinstimmung zeigen, so
daß man sich tatsächlich zu der Annahme berechtigt fühlen könnte, daß bei
allen zur Probe herangezogenen Kindern — auf die deutsche Schule ent-
fielen 1690 Antworten von 749 Mädchen und 841 Knaben — infolge der
heutigen Erziehungsmethode der Gang der seelischen Entwicklung in seinen
Grundzügen der gleiche ist. Denjenigen, welche einer solchen Beweisführung
wie der hier gegebenen trotzdem einen reellen Nutzen absprechen, tritt der
Verfasser mit den Worten Earl Barnes entgegen, der in diesem Experi-
ment einen wichtigen Faktor erkennt, um sowohl in bezug auf Erwägungen
geschichtlicher, soziologischer, ökonomischer, politischer und rassiger Art
zu einem richtigen Schluß zu kommen, wie gleichfalls hinsichtlich der Frage,
wann die Kinder unter den vernünftigsten und gesundesten Bedingungen
leben.
Die Antworten der Kinder geben jedoch auch Anregung zu einigen be-
sonderen Bemerkungen.
Vor allem muß es ganz natürlich erscheinen, daß Kinder einer republi-
kanischen Verfassung bei der Wahl ihrer Ideale eine größere Unabhängig-
keit, einen freieren Geistesflug zeigen wie jene, welche in der Schule dahin-
gehend belehrt werden, daß sie in der Monarchie die beste Staatsform und
in dem jeweiligen Fürsten den Uber den gesamten staatlichen Einrichtungen
stehenden Herrscher zu sehen haben. Alsdann aber fällt auch ins Gewicht,
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I
96 Literatnrbericht. j
daß die Zöglinge der amerikanischen Schulen verschiedenen Ständen ange-
hören, indem das Kind des Fabrikarbeiters neben dem Kinde des Fabrik-
besitzers seinen Platz hat, während die Kinder der deutschen Schule, die
hier in Betracht kommt — da unsere Schulen Uberhaupt Standesschnlen
sind — den untersten Standen, dem Volke, angehören.
Eigentümlich — aber leicht erklärlich — ist allen Kindern, daß sie im
jugendlichen Alter ihre Ideale aus ihrer nächsten Umgebung, unter Eltern.
Verwandten und Bekannten wühlen, während sie sich, je mehr sie geistig
heranreifen, von diesem — wie mir scheint — instinktivem, häuslichem Zwange
auch immer mehr befreien. Und es sind besonders dia deutseben Kinder,
die auf dieser Stufe weit länger verharren, wie die kleinen Amerikaner, die
in dem stolzen Gefühl ihrer schrankenlosen Freiheit sich auch dem Familien-
zwange leicht und früh entziehen.
Goddard fragt, ob es als wünschenswert angesehen werden könne;
wenn Kinder in dieser engen Begrenzung der Familienbande aufwachsen?
Jedenfalls würde man einem deutschen Kinde, das sich frühzeitig von
diesem Zwange frei macht, Mangel an Familiensinn vorwerfen und das gilt
immer noch für einen moralischen Vorwurf, obwohl man doch durchaus be-
rechtigt wäre zu sagen, daß starke Anhänglichkeit an Familienangehörige
keineswegs immer einen idealen Grund bat, sondern auch sehr oft auf Cha-
rakterschwäche, um nicht zu sagen : Feigheit, beruht Bei dieser Art Familien-
sinn pflegen oft auch die Erwachsenen in so hohem Maße voneinander ein-
genommen zu sein, daß ein anderer Mensch — und er mag Tugenden haben,
welche er will — gar nicht dagegen aufkommen kann. Und Goddard sagt mit
Recht, daß der Familienkultus notwendig stagnierend wirken müsse. Ein Bei-
spiel hierfür seien die Chinesen. Ein starkes Verlangen nach persönlicher Unab-
hängigkeit braucht deshalb des Familiensinnes noch nicht völlig bar zu sein.
Ein übermäßiger Familienkultus gehört indessen auch keineswegs zu
den ursprünglich germanischen Charakterzügen, und wenn wir G ob ine au1
glauben dürfen, litten unsere Vorfahren an verwandtschaftlichen Gefühlen
sogar so sehr Mangel, daß sie entschieden weit mehr in Feindschaft gegen-
einander standen, denn einträchtiglich beisammen lebten. Erst das Christen-
tum stutzte dem stolzen und freien Germanengeist die Flügel und band ihn
mit seinen ständigen Ermahnungen zur Unterwürfigkeit, Demut und Zu-
friedenheit ebenso an die Satzungen der Kirche, wie an die Enge des Hauses.
Man künnte sich darum nach den vorliegenden Tafeln wohl veranlaßt
fühlen zu sagen, daß sich an den amerikanischen Kindern die ursprüngliche
germanische Eigenart im höheren Maße bemerkbar macht, wie an den deut-
schen, und uns somit nur zu wünschen übrig bleibt, daß auch unsere Kinder
wieder mehr germanisch empfinden lernten.
Des weiteren tritt hervor, daß die deutsche Jugend im zartesten Alter
zu hohem Prozentsatz ihr Ideal in materiellem Besitz erkennt. Indessen ent-
spricht dem auch der Londoner Bericht.
Aber was ist natürlicher als dieses?! Das kleine Kind, das eben mit
dem Schulbesuch beginnt, kann einerseits bei Beinern unentwickelten Geiste
überhaupt noch keine höheren Ideale haben, andererseits aber gehören die
Eltern dieser Probekinder alle zu den ärmeren Ständen und die Kleinen
1) Ungleichheit der Menschenrassen von Graf v. Gobineau. Stutt-
gart, Frommanns Verlag.
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Literaturbericht.
97
haben Not und Entbehrung zumeist alltäglich am eigenen Leibe gespürt
Bei den amerikanischen Schulen kann dies begreiflicherweise nicht in dem-
selben Maße hervortreten, da hier die Kinder reicher und armer Eltern ge-
meinsam am Unterricht teilnehmen. Barnes hat aber, wie allein schon
diese Beispiele erkennen lassen, durchaus recht, wenn er diesen Fragen an
die Rinder nach ihren Idealen eine hohe Bedeutung in geschichtlicher, sozio-
logischer, Ökonomischer Hinsicht und selbst vom Rassenstandpunkt aus bei-
mißt. Es ist z. B. kaum anzunehmen, daß Rinder gleichen Alters aus höheren
Ständen, die Not und Entbehrung gar nicht kennen, ein so stark ausgeprägtes
materialistisches Verlangen offenbaren würden, wie nach diesen Tafeln die
Kinder unserer Volksschule.
Das aber gibt zweifellos ebenfalls zu denken, daß unsere deutschen
Mädchen — die amerikanischen weniger, die Londoner am wenigsten — ihre
Ideale mehr unter dem anderen Geschlecht suchen, als die Knaben, wie
ebenso auch, daß unter den Mädchen zweimal mehr als Rnaben biblische
Personen (einschließlich der Gottheiten) wählten.
Barnes wirft hier, wie Goddard anführt, die Frage auf, ob die Er-
ziehung richtig sei, wenn Mädchen ihre Ideale vorwiegend unter den Männern
suchen? Und wenn man den Standpunkt der Gleichberechtigung der Ge-
schlechter einnimmt, dann muß man unbedingt der Ansicht sein, daß eine
solche Erziehung sich auf verkehrtem Wege befindet, und zwar in doppelter
Ilinsicht Einerseits wird durch die starke Bewunderung, dieses Anschwärmen
des anderen Geschlechts seitens der Mädchen, das ohnehin schon so hoch-
gradige Selbstbewußtsein der Männer, ihr Egoismus und ihre Neigung zur
Herrschsucht immer mehr gefördert und damit sinkt der moralische
Wert des Mannes; andererseits aber kann die Frau nie zu jener höheren
Menschenwürde gelangen, die für sie gleicherweise wie für den Mann wün-
schenswert erscheinen muß, ihr Charakter kann sich nicht wie bei jenem ver-
edeln, so lange sie beständig gewaltsam in dem Glauben an die Minder-
wertigkeit ihres Geschlechts und ihrer angeblich von Gott und der Natur
gewollten Unterwürfigkeit unter den Mann erhalten bleibt, indem man
ihr zugleich zu verstehen gibt, daß die höchsten Ziele nur für den Mann da
seien, die Ziele der Frau dagegen immer erst in zweiter Reihe kommen
dürfen. So aber war die Erziehung bisher und dieser Druck, der dadurch
auf die weibliche Psyche ausgeübt wird, muß notwendig große und edle,
die Menschheit erlösende Regungen, unterdrücken und ersticken. Und so-
mit erwächst für niemand ein Gewinn aus einer Erziehung, welche immer nur
dem Manne eine Ruhmeskrone flicht
Dieselben Worte, die Goddard für das Kind im allgemeinen als Richt-
schnur aufstellt: >Gebt ihm weite und edle Ideale und es wird Sorge tragen,
sich nach ihnen zu richten«, sollten speziell für das weibliche Geschlecht
Geltung haben, um die Versündigungen wieder gut zu machen, an welchen
die Jahrhunderte diesen gegenüber schuldig wurden. Dann wird die Ge-
schichte in späterer Zeit auch mehr von großen Frauen zu erzählen wissen,
während heute immer noch allgemein die Ansicht die herrschende ist, daß
die besten Frauen jene seien, von welchen man nichts weiß und über
welche niemand spricht, und leider läuft auch noch die gesamte Erziehung
vom frühesten Alter an darauf hinaus, den Knaben in jeder Hinsicht ein
Vorrecht vor den Mädchen einzuräumen, wsb auch schon durch die Tren-
nung der Geschlechter in der Schule bewirkt wird.
Archiv für Psychologie. XI. Litprator. 7
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Literaturbericht.
Wenn nun aber Goddard glaubt, den Frauen eine stärkere religiöse
Veranlagung zuschreiben zu müssen wie den Männern, weil doppelt so
viele Mädchen als Knaben religiöse Vorbilder wählten, so muß man eine
definitive Entscheidung in diesem Sinne doch heute noch als durchaus ver-
früht bezeichnen.
Um dem Urgrund der natürlichen Veranlagung auf die Spur zu kom-
men, müßte man nicht nur die gesamte Erziehung der Kinder gerade in re-
ligiöser Hinsicht völlig ändern, sie müßte auch für Knaben und Mädchen
durch die ganze Schulzeit die gleiche bleiben und — ein paar Jahrhunderte
gewährt haben. Denn das Resultat, das sich aus den vorliegenden Tafeln
und Antworten der Kinder ergibt, ist ja eben die Folge einer jahrhunderte-
langen Zucht. Ich brauche bloß daran zu erinnern, was Kirche und Schule
bisher gemeinsam und vor allen Dingen aus dem Mädchenkind zu machen
strebten: eine fromme, einfältige Magd; für die Knaben war ein Ziel im
ähnlichen Sinne nicht gegeben. Scheint damit nicht das Rätsel bezüglich
der religiösen Veranlagung der Mädchen bereits gelöst zu sein? Außerdem
aber könnte die Tatsache, daß die amerikanischen Kinder sich ganz andere
zu den religiösen Idealen stellen, wie die deutschen, als ein Beweis dafür
gelten, daß die verschiedenen Resultate aus der verschiedenartigen Er-
ziehung hervorgegangen sind. Und wenn Goddard glaubt, den Unter-
schied zwischen Knaben und Mädchen auf diesem Gebiet als »fundamental*
ansprechen zu müssen — wo bleibt denn dieses angebliche Fundament mit
dem heranreifenden Alter? Schon während des Aufstiegs in die oberen
Klassen zeigt sich dieses Fundament bedeutend erschüttert
Wären die Frauen von Natur religiöser veranlagt als der Mann, dann
sollte man doch wohl annehmen können, daß gerade die Amerikanerin, da
ihr das unumschränkte Recht, ihre natürlichen Anlagen zu entwickeln und
für sich nutzbar zu machen, gewährleistet ist, sich mit Vorliebe dem
Studium der Theologie widmen müßte, um Kanzelrednerin zu werden. Ist
dies aber in Amerika der Fall? Ich glaube nicht Und doch kann man alle
Tage und an allen Menschen die Beobachtung machen, daß es gerade die
Naturanlagen, die sogenannte >Neigung< ist, welche sie veranlaßt sich
nach dieser oder jener Richtung hin zu entwickeln.
Eine weitere Erklärung bezüglich der Wahl religiöser Ideale, vor allem
der jüngsten unter unseren deutschen Kindern, wird man finden, wenn
man sich dessen erinnert, daß gerade in den untersten KlaBBen die Bibel
und das, was als »Religion« bezeichnet wird, in so hervorragender Weiße
zur Denkschulung der Kinder dient. Demzufolge fußt denn auch all ihr
selbständiges Denken auf dieser Unterlage. Und es wäre zu wünschen, daß
gerade in den untersten Klassen dieser Erziehungsmethode ein Ziel gesetzt
würde, schon allein aus dem Grunde, weil das Urteilsvermögen der Kinder
meistenteils auch nicht im entferntesten an den Sinn dessen heranreicht,
was sie auswendig lernen müssen. Die Religion, die das Gemüt in seiner
ganzen Tiefe erfassen sollte, wird dadurch zu einem Lippenwerk, was man
schon daraus erkennt, daß die Kinder nach der Konfirmation mit dieser
»Schulreligion« meistens sehr schnell aufräumen, indem sie sie beiseite
schieben.
Ganz ähnlich so verhält es sich mit der Vorliebe der Mädchen für Hand-
arbeit »Religion und Handarbeit« — damit wurde seit Jahrhunderten fast
der ganze Schulplan ausgefüllt, gerade in den Volksschulen. Schreiben,
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Literaturbericht.
99
Lesen, Rechnen liefen nur so nebenher, und als äußerst knapp bemessener
Nachtisch wurde bei etwas vorgeschrittener Kultur noch ein wenig Ge-
schichte — vaterländische — und Geographie verabreicht. Alles andere
war vom Übel. Die Neigung zur Handarbeit erscheint demnach ebenfalls
als ein Produkt der Erziehung, zumal wenn man bei Volksschülern, die
hier hauptsächlich in Betracht kommen, die spätere Entwicklung derselben,
die das Leben selbst gibt, einer Prüfung unterzieht Man wird alsdann er-
kennen, daß eine verhältnismäßig große Zahl der Knaben aus freier Wahl,
also auf Grund ihrer Natur anlagen sich für die >Handarbeit< entscheiden,
d. h. Schneider werden oder auch Schuhmacher, denn die Tätigkeit des
letzteren gehört mit ihrem Nähen und Flicken unstreitig ebenfalls ins Be-
reich der Handarbeit.
Wollte man mal das Experiment machen und die Mädchen ein paar Jahr-
hunderte lang genau so erziehen, wie bisher die Knaben erzogen wurden
und diese dagegen wie die Mädchen, dann, glaube ich, würden wir ein Re-
sultat erzielt haben, das vollkommen dem heutigen entspricht, nur unter
Verkehrung der Geschlechter. Und wäre es nach all diesem nicht ange-
messen, den Standpunkt der gewaltsamen Scheidung zwischen dem, was bei
der geistigen Heranbildung der Jugend speziell als >männlich< und was
speziell als »weiblich« anzusehen sei, zu verlassen und einfach die Bi-
sexualität gelten zu lassen?
Aber nach welcher Richtung hin man es nun auch für zweckmäßig
erkennen sollte, um den Einfluß auf die Jugend zu gewinnen, der zur groß-
möglichsten Veredelung der Menschheit dienen und ihr ein möglichst reines
Erdenglück sichern könnte — man wird dem Plane Earl Barnes, mit dem
uns Goddard in seiner Schrift näher bekannt macht, und den er darin zu-
sammenfaßt, daß dieses erste probeweise vorgenommene Experiment an
hundert Orten in verschiedenen Ländern wiederholt werden sollte, Beachtung
schenken müssen. H.Plack (Friedrichshagen).
40) Ladislaus Nagy (Budapest), Die Entwicklung des Interesses des Kindes.
Zeitschrift für Experimentelle Pädagogik. Herausg. von E. Meu-
mann. V. Bd. Heft 3/4. 1907.
Der Verfasser bemüht sich in seiner Schrift, auf Grund eigener Wahr-
nehmungen und derjenigen anderer Forscher den Stufengang des sich ent-
wickelnden Interesses der Kinder an allem, was ihre Sinne nach und nach
erfassen, vom frühesten Alter an, nachzuweisen, und man folgt mit Span-
nung seinen Ausführungen, indem er darlegt, wie das kleine Kind von der
untersten Stufe geistiger Regungen, die noch ausschließlich dem Bereich des
rein sinnlich-instinktiven Empfindens angehören, allmählich zu jener Ver-
vollkommnung heranreift, die ihn zu einem Wesen stempelt, das kraft seines
Geistes dazu gelangt, sich zum Herrn seiner selbst und der Welt zu machen.
Als eine ganz natürliche Folge des Wachstums muß es erscheinen, wenn
Nagy angibt, daß das früheste Kindesalter vor allem körperliche Be-
wegung verlangt. Dieses Begehren verliert sich allmählich, je .mehr der
Geist heranreift
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Literatarbericht.
Die verschiedenen Sinne werden, einer nach dem anderen nnd ver-
hältnismäßig langsam empfänglich für die Eindrücke von außen. Beim
Säugling ist es zuerst das Sehen, durch welches sein Interesse geweckt
wird. Darauf folgen, nach Nagy, Gehör nnd Gefühl, dann erst der Ge-
schmack nnd ganz zuletzt der Geruch.
Indessen mögen doch wohl einige Zweifel gestattet sein, wenn Nagy
annimmt, daß sich bei einem Kinde der Geschmack erst mit dem 20. Monat
so weit entwickelt hat, daß es ein entschiedenes Interesse ftlr das offenbart,
was es zu essen bekommt Nein, ganz besonders das Interesse für Süßig-
keiten weiß ein Kind unbedingt, sofern es intellektuell nur einigermaßen
günstig veranlagt ist, schon um und vor dem sechsten Monat zu erkennen
zu geben, denn das ganze Dasein des kleinen Kindes konzentriert sich, mit
all seinen instinktiven und geistigen Kegungen, ja gerade und fast aus-
schließlich auf das, was es in Mund und Magen bekommt. Bei einem
Wochenkind muß man allerdings ein wirkliches > Interesse« — ein Wort, dai
doch schon eine beträchtliche Erweckung des Intellekts voraussetzt — aus-
schließen, doch wird ein halbjähriges Kind, wenn es Uberhaupt schon einen
Bonbon oder ein Stück Zucker gesehen und geschmeckt hat, unfraglicb durch
sein Mienenspiel, wie durch Laute und Bewegungen der Hände sein Ver-
langen nach diesen guten Dingen verständlich machen und damit sein »In-
teresse« daran offenbaren. Ich möchte darum wohl den Geschmack, wenc
nicht in die erste — denn das Erkennen des betreffenden Gegenstandes
durch das Gesicht muß doch wohl mitwirken — so doch in die zweite Reihe
setzen. Dagegen wird sich dem kaum widersprechen lassen, daß das In-
teresse für den Geruch sich am allerspätestcn entwickelt; Ausnahme natür-
lich zugegeben.
Wenn, wie Nagy anführt, ein anderer Beobachter, Skinn, eine
Dame, die Behauptung aufstellt, daß das Gefühl — nächst dem Gehör —
beim Kinde von Anfang an die Hauptrolle spielt, dann möchte ich dem doch
widersprechen. Man denke doch nur an das Durchstechen der Ohrläppchen
bei kleinen Mädchen zum Einhängen der Ringe. Es gilt hier doch gerade
als Regel, daß die Kinder den Schmerz um so weniger empfinden, je
jünger sie noch sind und man darum gut tut, diese Operation so früh wie
möglich auszuführen. Wenn man aber wirklich glaubt, eine Schmerzen*-
üußerung wahrzunehmen — wie schwach ist diese durchgängig, und da die
Kinder das Schreien an sich doch schon sehr gut verstehen, so muß es doch
wunder nehmen, daß sie bei solch einer Verwundung, die einem Erwachsenen
sicherlich einen heftigen Schmerzenslaut abnötigen wird, verhältnismäßig so
ruhig sind. Alsdann zeigen sich die kleinsten Kinder doch auch im allge-
meinen weit weniger empfindlich für die Einflüsse der Witterung, wie die
größeren, welche bereits schulpflichtig sind. Aber noch ein Beispiel für das
schwach entwickelte Gefühlsleben kleinster Kinder: Eine junge Mutter
klemmte einmal in meiner Gegenwart den Finger ihrer kleinen 1 »/4 Jahr
alten Tochter, indem sie das Fenster zu schließen suchte, zwischen dem
Flügel desselben und der Hauswand. Sie wunderte sich, daß sich das
Fenster beim Andrücken gar nicht schließen lassen wollte, probierte dies
ein paarmal vergeblich und erkannte dann erst die Ursache. Die Kleine
hatte aber gar keinen Laut von sich gegeben und nur das MUndchen ein
wenig verzogen, zeigte aber auch nachträglich keinerlei Schmerzempfindung,
sondern lachte wieder, sobald der Druck auf den Finger aulhörte. Das mag
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Literaturbericht.
101
ja bei manch einem Rinde anders aein, aber mir ist es immer bo vorge-
kommen, als ob das Gefühl selbst bei zweijährigen Kindern noch sehr
stampf sei.
Dieses Erwachen der Sinne bezeichnet der Verfasser als die erste
Stufe, und zwar die des sinnlichen Interesses, die etwa bis zum
20. Monat reicht, indem er aber das Interesse für Geruch erst für das dritte
Lebensjahr annimmt.
Die zweite Stufe ist die des subjektiven Interesses, die etwa bis
zum 7. Jahre währt. Darauf folgen: das objektive Interesse, das be-
ständige und das logische Interesse. Es sind also fünf Stufen der
geistigen Entwicklung, die Nagy bis zum Eintritt der Pubertät annimmt.
Innerhalb der zweiten Stufe beginnt das Kind, sich mehr für die Gegen-
stände selbst zu interessieren, durch welche es seine Sinne angeregt
fühlt, jedoch nur wegen ihrer Verhältnisse zu seinem eigenen Bewußtsein.
Nagy führt verschiedene Beispiele dafür an, wie das kleine Ich ganz un-
bewußt immer zum Mittelpunkt wird, zu welchem es die Gegenstände um
sich her in Beziehung bringt Es überträgt seine subjektiven Vorstellungen
und Gefühle auf die Gegenstände, und die Gefühle sind meistens sehr heftiger
Art, sowohl im positiven wie negativen Sinne, indem sie zugleich zu einer
gesteigerten Tätigkeit drängen. Dies hat zur Folge, daß das Kind in diesem
Alter die Abwechselung liebt.
Mit dem Erwachen des objektiven Interesses — dritte Stufe, die
etwa zwischen dem 7. und 10. Lebensjahr liegt — beginnt die Zeit der
realen Tätigkeit Das Kind lernt die Gegenstände nach ihrem prakti-
schen Wert schätzen; aus seinen Handlungen erkennt man, daß sich auch
das Verständnis für soziale Beziehungen bereits zu regen beginnt Den
Mittelpunkt seines Interesses bilden jene Gegenstände , »welche im Dienste
seiner persönlichen, gesellschaftlichen, praktischen Tätigkeit
stehen«. Zugleich zeigt es ein großes Verlangen »objektive Er-
fahr nngen zu sammeln«, während sich seine Aufmerksamkeit zuerst auf
Zweck und Ursprung des Gegenstandes und in zweiter Beihe erst auf
das Material richtet Das Kind gelangt zu der Fähigkeit, seine sämtlichen
Eindrücke wiederzuerwecken und damit verliert sich allmählich das herum-
schweifende Interesse der vorgänglichen Stufe. Unterstützt von der Willens-
kraft wird die Aufmerksamkeit eine selbstbewußte und aus dem be-
wußten Betrachten eines Gegenstandes, gebt das ständige Interesse
an einem solchen hervor. Damit aber beginnt die vierte Stufe. Sie liegt
zwischen dem 10. bis 16. Lebensjahr.
Auf dem ständigen Interesse beruht die Entwicklung des individnel len
Charakters. »Die Aufmerksamkeit des Kindes bezieht sich teils auf die
eingehende Erkenntnis der äußeren Gegenstände, sie wirkt also nach außen,
teils aber bezweckt sie, daß das Kind durch die in der Vergangenheit ge-
sammelten Erfahrungen seine Handlungen regelt Das ist die nach innen
wirkende Tätigkeit des Interesses.« Hiermit gelangt das Kind zur Selbst-
zucht. Das ständige Interesse beeinflußt den Willen desselben jedoch nicht
in so entschiedener Weise wie bei den Erwachsenen, die damit also auch
leichter ein Opfer ihrer Leidenschaften werden.
Nun ist die höchste Stufe, die des logischen Interesses, erreicht;
sie umfaßt das Jünglingsalter. Das Interesse äußert sich in Patriotismus,
ästhetischem, religiösem Gefühl und in der Vorliebe für Wissenschaften.
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Literaturbericht.
Das Pubertätaalter ist zugleich die Zeit des starken Gefühlslebens. Die Ob-
jektivität des KindesaltcrB schwindet mehr und macht einem neuen subjek-
tiven Leben Platz, das mächtig auf die Phantasie einwirkt Der Jüngling
hängt sich in schwärmender Begeisterung an die Ideale, die er in her-
vorragenden geschichtlichen Personen oder auch unter lebenden Menschen
findet, und durch seine Ideale werden die praktischen Umstände seines
Lebens bestimmt Indem der Jüngling dann eine bestimmte Idee sum
Mittelpunkt seines ganzen zeitigen Lebens macht, welche, seine gesamten
körperlichen und geistigen Kräfte beherrschend, ihn zu neuen Schöpfungen
anspornt, gelangt er zur stabilen Stufe des logischen Interesses.
Dieser Übersicht des geistigen Entwicklungsganges der Menschen wird
kaum jemand — falls man hier das durchschnittliche Verhalten der
Kinder annimmt — widersprechen können. Ebenso wird man dem Verfasser
zustimmen müssen, wenn er sagt daß man vor allem zwei Wege zu be-
achten habe, falls seine Anschauung geteilt wird, daß »die Erziehung dazu
dient, um mit künstlichen Mitteln das Kind gewissen gesellschaftlichen Ideen
zuzuführen« — und was für ein Grundziel könnte man denn sonst wohl noch
im Auge haben? »1) Wir müssen die Stadien der Entwicklung des Kindes
beobachten und nach diesen Stadien die Maßregeln der einzelnen päda-
gogischen Tätigkeiten bestimmen; 2) wir müssen die natürlichen Einflüsse,
welche die Entwicklung des Kindes bestimmen, beobachten, denn nur inner-
halb dieser können wir erst unser pädagogisches Einwirken zur Geltung
bringen.«
Der letzte Satz gibt Veranlassung auf die Forschungen Goddards, in
seiner Schrift: »Die Ideale der Kinder«, aus: »Meumann, Experimentelle
Pädagogik«, zu verweisen, indem dieser die Worte Karl Barnes anführt,
daß die nach dessen Vorschlag angestellten Rundfragen unter Schulkindern
sowohl Jn geschichtlicher, soziologischer, ökonomischer wie politischer und
selbst rassiger Beziehung von hervorragender Bedeutung sein können.
Und wer vermöchte Nagy zn widersprechen, wenn er sagt, daß das
Kind auf jeder Stufe, welche es gerade einnimmt, anderer pädagogischer
Förderungsmittel bedarf, mögen sich auch immerhin, wie der Verfasser selbst
zugibt, die verschiedenen Stufen durch ein gewisses Alter nicht definitiv
begrenzen lassen, denn das erwachte Interesse einer jeden vorgängigen Stufe
greift immer in die nächste hinüber, und je größer die Fortschritte auf der
einen Stufe waren, je leichter und schneller durcheilt es die nächste.
Man braucht beispielsweise nur des Religionsunterrichts zu gedenken,
wie er heute noch in den Schulen betrieben wird, um zu der Erkenntnis ra
kommen, daß es ein tadelnswertes Verfahren darstellt Kindern etwas einzu-
pauken, was Uber die Verständniskraft hinausgeht die dem jeweiligen Alter
desselben eigen ist
Eine genaue Altersgrenze bezüglich der verschiedenen Stufen zu be-
stimmen, ist schlechterdings unmöglich, denn jedes Kind ist im Grunde ge-
nommen ein Original für sich, und das ist gerade der Hauptfehler aller
Schulen, daß sie infolge der Unterrichtspraxis schablonisieren, ja, schabloui-
sieren müssen, da es für den Lehrer bei einer Kinderschar von 20 bis
40 Häuptern durchaus unmöglich ist die besonderen Anlagen jedes einzelnen
Kindes zu berücksichtigen und demzufolge sogenannte »Charaktere« gar
nicht aufkommen können.
Wenn aber Nagy sagt: »Je mehr und je vielseitiger das Kind sich mit
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Literaturbericht.
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einem Gegenstände befaßt, desto intensiver ist sein ständiges Interesse«,
dann scheint mir doch, daß es sich gerade umgekehrt verhält und man dem-
nach sagen müßte: >Je intensiver das Interesse an einem Gegenstände ist.
je andauernder beschäftigt es sich mit demselben.«
Ein Kind zeigt doch erst dann ein intensives Interesse an einem
Gegenstände, wenn dieser durch seine Form oder Farbe oder dnrch einen
anderen äußeren Eindruck auf einen seiner Sinne, einen besonders starken
Reiz ausgeübt hat, indem es diesen letzteren als hervorragend angenehm
empfindet. Hier ist dann eben durch den ersten Eindruck die angeborene
Neigung berührt worden und aus dieser geht dann das intensive, das
ständige Interesse hervor.
Dort aber, wo solch eine angeborene Neigung nicht vorhanden ist, da
kann man dem Kinde einen bestimmten Gegenstand immerfort vorlegen, sein
Interesse wird sich nicht steigern, nicht ständig werden. Im Gegenteil: es
wird nicht nur seine Gleichgültigkeit, sondern allenfalls selbst seine direkte
Abneigung dagegen zu erkennen geben, und daB sehr oft in recht energi-
scher Weise, wenn eben der betreffende Gegenstand keinen angenehmen
Reiz — welcher eine besondere angeborene Empfänglichkeit für denselben
zur Voraussetzung hat — auf seine Sinne ausübt. Gibt man z. B. einem
Kinde eine Puppe und diese Erscheinung berührt sein Geistesleben ange-
nehm, dann behält es die Puppe nicht nur gern, es kämpft sogar um deren
Besitz. Habe ich nun aber wahrgenommen, daß ein Bilderbuch oder ein
Baukasten einen größeren Reiz für das Kind hat, d. h. durch ihre Erschei-
nung die bereits vorhandene geistige Veranlagung anregt, bzw. das
Interesse dafür auslöst und gerade hierdurch angenehm wirkt, dann wird es
sich dagegen wehren, wenn ich ihm die Puppe aufzudrängen suche und da-
gegen nach den anderen Gegenständen verlangen, die in ihrer Erscheinung
den als hervorragend angenehm empfundenen Reiz anf ihn ausübten, und
sich sofort befriedigt zeigen, wenn es sie erhalten hat. Das zum erstenmal
sich zeigende intensive Interesse eines kleinen Kindes für einen bestimmten
Gegenstand, beruht auf dem unbewußten, von innen treibenden dunklen
Drange, der aus der natürlichen Anlage hervorgeht und in der Folge
das ständige Interesse förmlich erzwingt. Das Intereese, die Seelen-
regung, wirkt also nicht von außen nach innen — mag auch von außen der
erste Anstoß kommen — sondern von innen nach außen, und dieses im
Innern ruhende Interesse bestimmt also die Form des Gegenstandes, oder
wie N agy auch sagt: »Mit der Veränderung des Gegenstandes des Interesses
ändert sich auch dessen Form«, d. h. in der Seele des Kindes schlummern
vielfältige Interessen und je nachdem sie durch eine konkrete Erscheinung
geweckt worden sind, geben sie sich in der Form zu erkennen.
Die Art des Interesses ist jedoch keineswegs an ein bestimmtes Alter
gebunden und wenn Nagy z.B. das ständige Interesse erst mit dem
10. Lebensjahre beginnen lassen will, dann scheint mir das doch etwas spät
zu sein, ohne daß man gerade frühreife Kinder im Auge zu haben braucht.
Der Beginn des ständigen Interesses kann ganz von äußeren Umständen
abhängen und richtet sich auch danach, je nachdem die natürliche Ver-
anlagung, welche dieses Interesse veranlaßt, sich als besonders schwach oder
kräftig erweist. Ich brauche nur an die musikalischen Wunderkinder zu er-
innern. Das ständige Interesse beginnt hier sehr oft schon mit dem vierten
Lebensjahre, wie sich denn Uberhaupt gerade bei den Musikern, die sich
104
Literaturbericht.
einen Namen gemacht haben, dieses Interesse fast dorchgehends schon im
zartesten Kindesalter offenbart hat. Dies scheint mir der beste Beweis dafür zu
sein, daß das Interesse von innen nach außen wirkt, d. h. auf einer von innen
heraus treibenden Kraft beruht Aber ich führe noch ein Beispiel aus dem
Leben an: einem Mädchen fehlte vom zartesten Alter an das Interesse für
die Puppe, das man doch sonst allgemein für eine spezifisch >weibliche
Neigung« hält. Es warf die Puppe immer mit sehr ärgerlicher Miene bei-
seite. Als es laufen und sich sein Spielzeug selbst suchen konnte, wählte
es sich Hammer, Nägel, Steine nnd Holzklötze und hämmerte und klopfte
dann mit großem Eifer im Hause herum, Bchlug mit dem Hammer auf die
Steine der Straße und trieb die kleinen Holzklötze in den Sand. Als das
Mädchen grüßer wurde, begann es zu schnitzen und zu zimmern und stellte
für die Puppenstube der jüngeren Schwester Tische und Stühle, ja selbst
Bettstellen her, ohne sich aber jemals um die Puppen selbst zu bekümmern.
Das erwachsene Mädchen zeigte sich, ohne irgendeine Anleitung gehabt zu
haben, als äußerst geschickter Kunsttischler, und wenn bei Umzügen in der
Familie am Mobiliar etwas zerbrochen war, heilte sie auch die kompli-
ziertesten Brüche, so daß selbst der Tischler sagte, besser hätte er es auch
nicht machen können.
Bei diesem Mädchen begann also das »ständige Interesse« auch bereits
im zartesten Alter, außerdem aber, und so oft man ihm auch die Puppe vor-
legte, ward doch nie ein eigentliches Interesse dafür geweckt. Die bloße
Beschäftigung mit dieser war also nicht geeignet, ihr Interesse für diese
zu fördern, und demnach sieht man sich gezwungen, anzunehmen, daß dem
eigentlichen Interesse eines Kindes für einen Gegenstand, und vor allem
dem ständigen Interesse, stets eine von der Naturgegebene Veranlagung
zugrunde liegen muß.
Alsdann meint Nagy, daß das erste Interesse für die Natur sich
zwischen dem 8. — 12. Lebensjahre bemerkbar macht. Und doch kann man
meistenteils sogar schon bei vierjährigen Kindern die Beobachtung machen,
daß sie ein sehr lebhaftes Interesse für bunte Steine, für Muscheln und
selbst für Blumen und Schmetterlinge haben. Es müßte denn sein, daß
Nagy mit dem Wort > Natur« die Landschaft, den Himmel, das Weltall ge-
meint hat. Daß in dieser Hinsicht das Interesse erst auf der dritten Stufe
beginnt, ist wohl glaubhaft, wenn auch vielleicht des öfteren fälschlich an-
genommen wird, daß Kinder vor dem 7. Lebensjahre kein Interesse für die
Natur hätten, und weil man dieses annimmt, auch vermeidet mit ihnen
darüber zu sprechen. Das etwaige, in ihnen schlummernde Interesse erhält
darum oft erst spät den ersten Anstoß. Der Sternenhimmel ist es nach
meiner Erfahrung indessen jedenfalls, der auch sechsjährige Kinder schon zu
Beobachtungen veranlaßt und sie zu Fragen antreibt.
Sich der Erforschung der Kinderseele eingehend gewidmet zu haben,
indem er zugleich den Stufengang der Entwicklung derselben systematisch
festzulegen suchte, dürfte Nagy unstreitig als ein besonderes Verdienst an-
zurechnen sein. H. Plack (Friedrichshagen}.
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Literaturbericht.
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41) Karl Marbe, Objektive Bestimmung der Schwingungszablen Königschcr
Flammen ohne Photographie. Physikalische Zeitschrift 7. Jahrg.
Nr. 15. S. 543-546. 4 Tafeln.
Erzeugung schwingender Flammen mittels LuftUbertragung. Ebenda.
8. Jahrg. Nr. 3. S. 92-93. 1 Tafel.
Registrierung der Herztöne mittels rußender Flammen. Arch. f. d.
ges. Physiologie. Bd. 120. S. 206-209. 1 Tafel.
In der ersten Abhandlung gibt der Verf. eine Methode, die Schwingungen
Königscher Flammen ohne Zuhilfenahme photographischer Methodik zu regi-
strieren. Zu diesem Zwecke läßt er die Flamme auf einen Papieratreifen
rußen, der durch ihre Spitze hindurchbewegt wird. Bei einer 60 mm hohen
Flamme werden z. B. die oberen 30 mm zur Rußerzeugung verwendet. Ist
die Flamme nicht erregt, so wird auf dem Papierstreifen ein einfacher grauer
Streifen erzeugt; wird die Flamme durch eine Stimmgabel erregt, so erzeugen
die Schwankungen des leuchtenden Flammenmantels zungenförmige Streifen
auf dem Papier, deren Abstand durch die Frequenz der Stimmgabelschwin-
gungen gegeben ist. Auch die Schwingungen einer Telephonmembran
konnte Verf. auf diese Weise registrieren. Wie Verf. bemerkt, zeigen die
Rußkurven die Schwingungsfrequenzen getreu; inwieweit man aus dem Ruß-
bild auf die Amplituden der Flammenschwingungen und auf die Wiedergabe
von Partialschwingungen Schlüsse machen kann, teilt der Verf. nicht mit.
In der zweiten Abhandlung bringt Verf. weitere Rußkurven von Stimm-
gabelschwingungen und von einem gesungenen Klang. Ferner findet er, daß
es möglich ist, die Schwingungen einer direkt erregten Flamme auf eine
zweite nicht direkt erregte zu Ubertragen und von diesen Rußbilder zu regi-
strieren.
In der dritten Abhandlung beschreibt der Verf. die Anwendung seiner
Methode auf die Registrierung von menschlichen Herztönen. Die Vorrichtung
besteht aus einer Messingplatte, die in zwei Durchbohrungen zwei Röhren
trägt, eine von V* mm Durchmesser, die dem Gaszufluß dient, eine von 3 mm
Durchmesser, die zu einem Brenner führt Die freie Fläche der Messingplatte
ist mit einer Gummimembran bezogen, die an der Peripherie der Scheibe
von einem Messingring festgehalten wird. Auf diesem liegt ein Gummiring,
der auf die Brustwand aufgelegt wird, so daß Gummimembran, Messingring,
Gummiring und Brustwand ein geschlossenes System bilden. Durch den
Gasdruck wird die Gummimembran ein wenig in dieses System eingebaucht.
Bewegt sie sich, so folgen daraus Schwankungen der Flamme, die im Ruß-
bild sichtbar sind. Verf. hat nun gefunden, daß beim Aufsetzen der Vor-
richtung in die Gegend des dritten Interkostalraumes am linken Brustbein-
rand- das Rußbild zwei periodisch wiederkehrende Rußringgruppen zeigt
deren eine durch die Schwingungen des ersten Herztones, deren andere
durch die des zweiten erzeugt werden soll. Nur diese Schwingungen sind
vom Verf. verzeichnet worden. Über die Schwinguugsdauer der Einzel-
schwingungen , über die Lagebeziehung der »Töne« zur Herz- oder Puls-
bewegung. Uber ihren zeitlichen Abstand voneinander und der beiden Ton-
paare unter sich, enthalt die Arbeit nichts. Ref. hat selber sich mit der
Registrierung der Herztöne beschäftigt und vermißt vor allem in der vor-
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106 Literaturbericht
liegenden Arbeit Sicherheitsmaßpegeln gegen mechanische Erschütterungen der
Bchallanfhehmenden Vorrichtung, Vorkehrungen, die nach den Erfahrungen des
Ref. unbedingt nötig sind. Ferner fehlt den Tönen sozusagen die Beglaubigung,
daß sie wirklich durch die Herztonschwingungen erzeugt werden. Der Zweifel
ist daher berechtigt, ob es sich bei den Registrierungen nicht um mechanische
Erschütterungswirkungen handelt, die gegeben sein konnten durch den Spitzen-
stoß, durch den Volumpuls der Muskulatur der Brustwand und endlich durch
den Volumpuls des Gliedes, das die Vorrichtung auf die Brust der Vp. an-
drückt. Hoffentlich schließt der Verf. diese Möglichkeiten durch weitere
Versuche aus und liefert den Beweis, daß die Schwingungszahlen Tonhöhen
ergeben, die wohl den Herztönen gleichen können.
Otto Weiß (Königsberg i. Pr.).
42) Dr. Ernst Jentsch, Zum Andenken an Paul Julius Möbius
Halle a. S., Karl Marhold, Verlagsbuchhandlung, 1907. M. —.75.
In dieser kleinen, mit einem guten Bildnis von P. J. Möb ins ausgestatteten
Schrift versucht der Verfasser ein zusammenfassendes Bild von dem literari-
schen Schaffen des kürzlich verstorbenen Mediziners zu geben. Es mag au*
dem Inhalt dieser Schrift hervorgehoben werden, daß Möbius nicht von
Hause aus Arzt war, vielmehr zunächst Theologie und Philosophie studiert
hat. Offenbar haben diese Vorstudien die eigentümliche Richtung seiner
medizinischen Forschung, namentlich in den späteren Lebensjahren, bestimmt
Was der Verfasser Uber die rein medizinischen Schriften von Möbius sagt,
kann uns hier nicht interessieren. Nachdem Möbius in zahlreichen Gebieten
der medizinischen Forschung selbständig gearbeitet hatte, ging er besonders
zu Studien Uber Nervenheilkunde und zur Behandlung pathologischer und
psychiatrischer Probleme Uber, durch die er in weiteren Kreisen am meisten
bekannt geworden ist Wir erfahren aus der Schrift, daß er dabei seinen
Ausgangspunkt von seinem Lehrer Fechner und dessen Lehren vom psycho-
physischen Parallelismus nahm. Auf seine Anschauungen hatte ferner das
Studium Schopenhauers Einfluß, das seine Vorliebe für die Theorie des
Voluntarismus bestimmt Den Schopenhauerschen Begriff eines irratio-
nalen metaphysischen Willens bildete Möbius auf Grund seiner biologischen
Kenntnisse zu der Lehre von einem Bewußtsein der in allen organischen Wesen
wirksamen zielstrebigen Triebe um. In den psychopathischen Erscheinungen
interessierte ihn deshalb auch besonders die Erforschung der krankhaften Ver-
änderung des Triebes und des WillenlebenB und diese lenkten seine Auf-
merksamkeit wieder besonders auf die Entartungserscheinungen hin. Be-
kannt ist dann ferner, daß Möbius sich viel mit der Wiederbelebung der
Phrenologie beschäftigt hat, was wohl in den letzten Lebensjahren sogar der
Gegenstand seines eifrigsten Studiums wurde. Aus der Schrift erfahren wir,
daß die Untersuchung des Schädels seines Großvaters (Uber welche Möbius
in einer besonderen Schrift berichtet hat, in der dieser Schädel mit anderen.
z.B. demjenigen Beethovens verglichen wird) den Anstoß sn seinen
phrenologischen Untersuchungen gegeben hat Die Phrenologie bestärkte bei
ihm die Überzeugung von der Macht angeborener Triebe, die in der Anlage
des Gehirns der Menschen ursprünglich begründet sind. In seiner Schrift
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Literaturbericbt.
107
Über Kunst und Künstler wird diese Idee besonders verwertet. Eine besondere
Klasse seiner Werke bilden nach der Angabe des Verfassers die großen
Pathographien über Goethe, Schopenhauer, Nietzsche, Rousseau,
die den ersten bis fünften Band der gesammelten Werke von Möbius füllen.
Später interessierte ihn namentlich die Psychologie und Physiologie der Ge-
schlechtsunterschiede und die Bedeutung der physiatrischen und psycho-
logischen Forschung im allgemeinen. Seine Schrift über die Hoffnungs-
losigkeit der Psychologie hat in weiteren Kreisen Aufsehen erregt.
Es ist schade, daß der Verfasser nicht eine vollständige chronologisch
geordnete Zusammenstellung der Schriften Möbius' gegeben hat. In dem
Anzeigenteil des Buches gibt der Verlag die in seinem Verlag erschienenen
Schriften von Möbius an. E. Meumann (Münster i. W.).
43) Herbert Spencer, Eine Autobiographie. I. Bd. Autorisierte deutsche
Ausgabe von Dr. Ludwig und Helene Stein. Stuttgart, Verlag
von Robert Lutz, 1905. Beide Bände M. 14.—; geb. M. 16.—.
Auf Grund von Briefen und Notizen, wie sie von Eltern, Verwandten
und Freunden des Autors — gleichsam in Vorahnung seiner künftigen Größe —
von seiner Kindheit an gesammelt worden waren, versucht Herbert Spencer
sein Leben Strich für Strich zu rekonstruieren. Die peinliche Exaktheit und
beflissene Umständlichkeit, mit der sogar die unbedeutendsten Vorgänge
erörtert und dokumentiert werden, stellt die Geduld des Lesers zuweilen auf
die Probe. Allein es muß zugestanden werden, daß gerade diese nüchterne,
von aller dichterischen Gestaltung absehende Tatsachenkonstatierung den
psychologischen und pädagogischen Wert dieser Selbstbiographie erhöht und
sie von Konzeptionen ähnlicher Art aufs vorteilhaftete unterscheidet. Hier
werden nicht auf Kosten der Zuverlässigkeit des Inhalts Konzessionen an
die Form gemacht, hier besieht sich nicht eine selbstgefällige Seele in dem
trügerischen Spiegel unzuverlässiger Erinnerung — an einem geraden, schmuck-
losen Faden reiht Herbert Spencer alle die Begebnisse auf, für die er die
hinreichende Beglaubigung hat, und die ihm für das psychologische Verständ-
ständiiis seiner selbst und dessen, was er geschaffen hat, nützlich erscheinen.
Die Übersetzer haben sich noch den besonderen Dank des Publikums
dadurch erworben, daß sie den englischen Text, der sich noch weit mehr
ins detaillierte ergeht, soweit als zulässig kürzten und die Lektüre somit
erfreulicher gestalteten. Marie Dürr-Borst (Bern).
44} A. Hansen, Häckels »Welträtsel« und Herders »Weltanschauung«.
40 S. gr. 8«. Gießen, Alfred Töpelmann (vorm. J. Ricker), 1907.
M. 1.20.
Das Buch will den Nachweis führen, daß Herder als Vorläufer der
D ar win sehen Abstammungslehre zu betrachten sei, ja, daß eine überraschende
Ubereinstimmung bestehe zwischen den Ansichten Herders und dem Mo-
nismus Häckels, nur mit dem Unterschied, daß Herder an philosophischer
108 Literaturbericht.
Tiefe and Konsequenz II ä c k e 1 übertreffe. Die ganze moderne Deszendenz-
theorie soll bereits fertig in den »Ideen zur Philosophie der Geschichte der
Menschheit« enthalten sein. Auffallend sogar erscheint es Hansen, daß
außer Bärenbach bis jetzt kein Autor auf diese Vorläuferschaft Herder»
aufmerksam gemacht habe. Bei fluchtiger Lektüre der »Ideen« konnte man
in der Tat leicht versucht sein, Hansen zuzustimmen, besonders dann, wenn
man nicht bloß mit dem Rüstzeug, sondern auch der Befangenheit des
Naturforschers an das Herdersche Buch herantritt. Sieht man aber näher
zu. so wird man bald erkennen, daß ein fundamentaler Unterschied besteht
zwischen der Auffassung und Absicht Herders und der Darwin-Häckel-
seben Lehre. Dort finden wir eine rein logische Betrachtung über die Ver-
wandtachaft und die Übereinstimmung in den natürlichen Merkmalen der
Dinge, eine einfache Registrierung der Tatsachen, daß übereinstimmende
Merkmale existieren; hier finden wir die Behauptung, daß die Verwandtschaft
aus der Entwicklung des einen Dinges aus dem anderen entspringe; dort
wird durch das übereinstimmende Walten des Naturganzen die Verwandtschaft
erzeugt, hier durch die Abstammung des einen vom anderen. Nach Herder
entwickeln sich die Dinge nur in beschränkter Weise nach Maßgabe der ihnen
von der Natur ursprunglich verliehenen Anlagen und Kräfte; nachDarwin-
Häckel werden diese Anlagen und Kräfte von Geschlecht zu Geschlecht
fortdauernd erweitert nnd verändert, so daß ganz neue Arten und Gattungen
entstehen. Nirgends finden wir bei Herder auch nur die geringste An-
deutung, daß eine Gattung aus einer anderen hervorgegangen sei. Wenn
er von einem Fortschreiten der Natur von niederen zu höheren Wesen
spricht, so bat er stets ein logisches Fortschreiten im Auge, nicht aber ein
wirkliches Fortpflanzen zu höheren Formen. Das geht auch aus einigen
Stellen seines mehrfach genannten Buches unzweideutig hervor; z. B.
H. Buch, 2. Kap. »niemals aber kommt er« — der Mensch, in Analogie
zum Baum — »von der Stelle, auf die ihn die Natur gestellt hat, und er
kann sich keine einzige der Kräfte, die nicht in ihn gelegt sind, nehmen«. —
Oder: III. Buch, 6. Kap. »Kein Geschöpf, das wir kennen, ist aus seiner
ursprünglichen Organisation gegangen und hat sich ihr zuwider eine andere
bereitet, da es ja nur mit den Kräften wirkte, die in seiner Organisation
lagen und die Natur Wege genug wußte, ein jedes der Lebendigen auf dem
Standpunkte festzuhalten, den sie ihm anwies.« So würde doch wohl
ein Darwinianer nicht sprechen. J. Köhler (Lauterbach}.
46] C. Wenzig, Die Weltanschauungen der Gegenwart in Gegensatz nnd
Ausgleich. 162 S. 8» Leipzig, Quelle & Meyer, 1907. M. 1.— ;
geb. M. 1.26.
Ein vortreffliches, inhaltreiches Büchlein, mit wissenschaftlich -philo-
sophischer Strenge geschrieben, das infolge seiner leichtverständlichen Dar-
stellungsweise von einem größeren Publikum mit Erfolg gelesen werden
kann- Der Verf. stellt sich die Aufgabe, die Entwicklung der verschiedenen
Weltanschauungen historisch-kritisch zu beleuchten und zu zeigen, wie die
Gegensätze in ihnen durch falsche Anwendung an sich richtiger Prinzipien
entstanden sind, oder mit anderen Worten: nachzuweisen, daß die Wider-
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Literaturbericht.
109
sprUche, die zwischen den verschiedenen Weltauffassungen der einzelnen
Wissenschaften hervortreten, in Wirklichkeit gar nicht miteinander kon-
kurrieren, weil ihre ursprüngliche Bedeutung eine ganz verschiedene ist. Es
werden als üanptrichtungen in den Theorien zur Welterklärung unter-
schieden:
1) Der Evolutionismus, von Thaies bis zur Darwin-Häckcl-
schen Deszendenztheorie. Er geht von der Ansicht aus, daß von der tätigen
Weltsubstanz nicht bloß alle Einzeldinge abstammen, sondern daß sie zu-
gleich in die Dinge eingehe, das Lebendige, Tätige in ihnen sei und darum
gleiche Wesenheit mit ihnen besitze. Sind nun die Einzeldinge nach natur-
wissenschaftlicher Auffassung von materieller Beschaffenheit, so ist es auch
das Weltprinzip; ist aber nach theologischer Auffassungsweise die Welt-
ursache ein geistiges Wesen, das dem Lehmkloß »Mensche seinen Odem ein-
gehaucht hat, so muß auch der Mensch seinem Gotte wesensgleich, ein
geistiges Wesen, sein. Der Fehler des Evolutionismus wie der aller folgenden
metaphysischen Richtungen besteht darin, daß er glaubt, das »Ding an sich«
in der Erscheinung zu erkennen. An den Evolutionismus schließt sich
2) Der Begriff srealismus, repräsentiert durch die Skepsis der
Sophisten, die Dialektik des Sokrates, die Ideenlehre des Plato, den Realis-
mus der Scholastik und den Rationalismus. Er betrachtet die logische Be-
weisführung als das Mittel, die Wahrheit zu finden und substituiert den als
allgemein gUltig anerkannten Begriffen wirkliche Wesenheiten, aus denen die
Welt der erlebten gegenständlichen Bewußtseinsinhalte entspringt Der Verf.
sieht in den Kräften der Naturwissenschaft, sofern sie nicht als bloße Regeln,
sondern als unveränderlich waltende Urprinzipien gedacht werden, nichts
anderes als Gedankendinge im Sinne der Platonischen Ideen, welche die
Sinnenwelt hervorbringen und gestalten. Nahe verwandt mit dem Begriffs-
realismus ist
3} der mathematische Realismus, hauptsächlich vertreten durch
Descartes, Spinoza und Leibniz. Ein mathematisches Konstruktions-
bild der im Bewußtsein gegebenen Wirklichkeitswelt, ein Denkbild also, das
aus Symbolen des Wirklichen durch bloße Konstruktion entstanden ist,
bildet den Inhalt dieser Weltanschauung. So wie die mathematischen Wahr-
heiten ihre Denkgewißheit auf nicht mehr ableitbare, sondern unmittelbar
gewisse Grundsätze und Definitionen stutzen, so glaubt auch der mathema-
tische Realismus in den Prinzipien seines Systems von Wahrheiten den Grund
des Weltganzen, das tätige Weltprinzip oder die Substanz, zu erkennen. Er
mündet ein in
4) den naturwissenschaftlichen Materialismus, der ein auf
quantitativen Beziehungen, also mathematischen Verhältnissen beruhendes Er-
klärungsprinzip zur Grundlage seiner Weltanschauung macht Er ist zugleich
BegriffsrealisraiiB insofern, als er seine zur zusammenfassenden Betrachtung
der Wirklichkeitsvorgänge gemachten Annahmen unberechtigterweise auf die
extramentale Welt Uberträgt, also bloßen hypothetischen Begriffen trans-
zendente Realität zuschreibt Die letzte und zugleich neueste Welt-
anschauung bildet
5) der Psychologismus in seinen verschiedenen Formen, der seinen
Ausgangspunkt von dem Erleben des Bewußtseins, dem Selbstbewußtsein,
nimmt. So wie der Bewußtseinsinhalt auf mein Selbst als Bewirkendes hin-
weist, so weist er auch nicht minder auf ein anderes Selbst als tätige Ur-
110
Literaturbericht.
sache hin, da unser Ich nicht allein aktiv, sondern auch reaktiv, d. h. auf
Einwirkung von außen hin tätig ist Da ferner das Wesen unseres Ich im
Willensvorgang gesehen und der Willensakt an die Stelle der transzendenten
tätigen Ursache gesetzt wird, so tritt auch an die Stelle der Weltsubstani
ein als Willensvorgang aufgefaßter Weltwille. Je nachdem dieser Weltwille
nach bloßen Ursachen wirkend oder nach einem bestimmten Ziel hinstrebend
gedacht wird, entspringt der Gegensatz zwischen der mechanistischen und
der teleologischen Weltanschauung, ein Gegensatz, der gerade in den natur-
wissenschaftlichen und naturphilosophischen Schriften der neuesten Zeit be-
sonders scharf hervortritt. Diese Schriften zeigen auch, wie sehr die Natur-
wissenschaft trotz aller gegenteiligen Behauptungen auf die Metaphysik an-
gewiesen ist; denn wenn sie ihre Lehren als feststehende unveränderliche
Wahrheiten ausgeben will, so muß sie unter allen Umständen mindestens
die eine metaphysische Annahme machen, daß die Offenbarungen des Welt-
willens konstant oder unveränderlich seien, mit anderen Worten, daß der
Weltwille mechanistisch sei.
Zusammenfassend macht der Verf. sämtlichen metaphysischen Richtungen
den Vorwurf, daß sie den Boden der Wirklichkeit verlassen, indem sie In-
halte des Bewußtseins auf die uns unzugängliche extramentale Welt über-
tragen. Das Ziel aller Wissenschaft aber könne allein dieses sein, »das, was
im Bewußtsein gegeben ist, uns zu größerer Bewußtheit zu bringen, uns ge-
wissermaßen das, was wir unmittelbar nur dunkel sehen, mittelbar in hellere
Beleuchtung zu rücken«. J. Köhler (Lauterbach].
46) Philosophische Bibliothek Bd. 114. Georg Wilhelm Friedrich
Hegels Phänomenologie des Geistes. Jubiläumsausgabe. In revi-
diertem Text herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von
Georg Lasson. Leipzig, DUrrsche Buchhandlung, 1907. Ungeb.M.ö.
Georg Lasson hat Hegels Phänomenologie des Geistes neu heraus-
gegeben. Die vorliegende Ausgabe der Philo». Bibliothek erscheint als eine
Jubiläumsausgabe, hundert Jahre nach dem ersten Erscheinen von Hegels
erstem größerem Werk. Der Herausgeber gibt in der ausführlichen »Ein-
leitung« einen Überblick über den Entwicklungsgang Hegels »bis zu dem
Punkte, zu dem wir ihn in der Phänomenologie gelangt sehen«, in diesem
behandelt er die Bildungseinflüsse seiner Jugend, die Jugendarbeiten nnd
die ersten Veröffentlichungen bis zum Erscheinen der Phänomenologie. Daran
schließt sich eine Einführung in den Inhalt des Werkes, in der zunächst die
Stellung der Phänomenologie »in der philosophischen Situation der Zeit«
behandelt wird, dann Thema und Methode, hierauf Inhalt und Anlage des
Werkes entwickelt wird.
Nach des Herausgebers Ansicht liegt der Phänomenologie das Problem
zugrunde: »daß alle Erkenntnis zwar mit der Erfahrung anhebt, aber doch
nicht aus ihr entspringt«, oder in nicht-kantischen Ausdrücken : »Das Wissen
in der Form des erfahrungsmäßigen Bewußtseins soll von dem philosophischen
Wissen untersucht werden, das sich bereits als wahres Wissen begriffen hat
Der Gedanke der Wissenschaftslehre Fichte s erneuert sich hier in anderer
Form.« Zugleich bezeichnet Lasson als »den großen Fortschritt den Hegel
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Literaturbericht.
über die K an tische Theorie der Erfahrung hinaus gemacht hat« den, daß
Hegel nirgends »einen absoluten Gegensetz von Sinnlichkeit nnd Verstand,
von Begriff nnd Anschauung anerkennt«. »Wo er das Bewußtsein aufnimmt,
sieht er es nie als eine leere Form, die mit einem Inhalte von anderswoher
gefüllt werden müßte, sondern er weiß von einem Bewußtsein nur, wo es
sich eines Gegenstandes bewußt ist, und findet zwischen dem Bewußtsein
und seinem Gegenstande diese Beziehung, daß wie das Bewußtsein seineu
Gegenstand bestimmt, so es sich selber bestimmt hat und wie es sich seiner
selbst bewußt ist, so auch seinen Gegenstand gestaltet. In diesem Sinne . .
ist die Phänomenologie die Wissenschaft von der Erfahrung, die das Bewußt-
sein an Bich selber oder noch genauer, die der denkende Geist an seinem
Bewußtsein macht.«
Der Herausgeber hat einzelne erläuternde Anmerkungen zum Text in den
Fußnoten beigegeben, zu einem eigentlichen Kommentar zu dem ganzen Werke
hat er sich nicht entschließen können, weil, so zitiert er selbst, »diesem Be-
dürfnis nicht die Arbeitsleistung eines gewöhnlichen Menschenlebens, sondern
nur das Zusammenwirken mehrerer genügen kann«.
Bd. 42. Immanuel Kants Metaphysik der Sitten. 2. Aufl.
Herausgegeben und mit Einleitung sowie einem Personen- und
Sachregister verseben von Karl Vorländer. Derselbe Verlag, 1907.
M. 2,50.
Die vorliegende Ausgabe von Kants Metaphysik der Sitten entspricht
den frühren Kantausgaben Vorländers in der Philos. Bibliothek (Bd. 88, 41,
45 und 46). Auch bei dem Text dieses Bandes konnte der Herausgeber schon
die Akademieausgabe benutzen, deren Aushänge- und Korrekturbogen ihm
schon vor ihrem Erscheinen vorgelegen haben.
Das Werk ist mit einer einführenden Einleitung, vollständigem text-
kritischem Apparat und Personen- und Sachregister versehen.
E. Meumann (Münster 1. W.).
47) M. Fürst und E. Pfeiffer, Schulhygienisches Taschenbuch. Mit Bei-
trägen von zahlreichen Fachgelehrten. Mit 9 Abbildungen im Text
und einer Tafel. Hamburg und Leipzig, Leopold Voß, 1907. M. 4.—.
Durch ein Zusammenwirken zahlreicher Vertreter der verschiedenen Ge-
biete der Schulhygiene ist hier unter der Redaktion von Dr. med. Moritz
Fürst und Dr. med. Ernst Pfeiffer (beide in Hamburg) ein ausgezeichnetes
kleines Werk geschaffen worden, das wir allen für das Wohl des Kindes in-
teressierten Kreisen aufs beste empfehlen können. Das »Taschenbuch der
Schulhygiene« gibt in kurzer, Ubersichtlicher, gemeinverständlicher Form eine
Orientierung über alle mit der Hygiene des Schulkindes zusammenhängende
Fragen. Natürlich ist die Bearbeitung der einzelnen Kapitel bei der Mit-
wirkung so vieler Autoren (37 Namen zählt der Titel neben den .Heraus-
gebern auf) manchmal etwas verschiedenartig ausgefallen, einige Kapitel
scheinen dem Referenten zu kurz zu sein; im ganzen ist aber der einheit-
liche Charakter einer sachlichen, klaren, fachmännischen und doch populären
Einführung in alle Fragen gewahrt worden. Auch die psychologische Seite
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112
Literaturbericht.
der Schalhygiene, die Geisteshygiene fehlt nicht ganz, doch möchte der
Referent für spätere Auflagen den Wunsch äußern, daß vielleicht die Be-
ziehungen zwischen der geistigen und körperlichen Entwicklung des Kindes
in einem besonderen Kapitel bearbeitet würden. Gestreift wird die Geistes-
hygiene des Kindes besonders in den Kapiteln: Grundziige der allgemeinen
Untersuchung der Schulkinder von Dr. med. E. Pfeiffer; Körpergröße und
Gewichtsverhältnisse der Schulkinder von Dr. med. Samosch in Breslau.
Ernährung der Schulkinder von Dr. Karl Stamm, Kinderarzt in Hamburg:
Augenuntersuchung von Dr. med. W. Feilchenfeld in Charlottenburg; die
Untersuchung der Hörorgaue von Prof. Dr. Arthur Hartmann in Berlin;
Nervöse Zustände, ihre Ursache und Verhütung von Dr. med. H. Stadelmann
in Dresden; Schulärztliche Untersuchung sprachgestörter Kinder; Hygiene
des Sprach- und Geuanguuterrichts von Dr. med. Hermann Gutzmann in
Berlin; Fürsorge für geistesschwache taube und blinde Kinder von Franz
Frenzel in Stolp; Die Kriminalität der Schulkinder von Prof. Zürcher in
Zürich; Sexuelle Aufklärung von Dr. med. Moses in Mannheim; Geteilte
und ungeteilte Schulzeit, Stundenplan, häusliche Arbeiten von Oberlehrer
Karl Poller in Darmstadt; Anleitung zur Beobachtung der Schüler von
Dr. med. Samosch in Breslau.
Einigen Kapiteln sind mehr oder weniger zahlreiche Literaturnachweise
beigegeben. Unter diesen vermißte der Referent bei dem Thema: Körper-
größe und Gewichtsverhältnisse der Schulkinder das Werk von Frau
Dr. Hösch-Ernst, Anthropometrische Untersuchungen von Schulkindern.
Leipzig, Otto Nemnich, 1905.
Im übrigen kann man dem schulhygienischen Taschenbuch nur die
größte Verbreitung unter Eltern und Lehrern wünschen.
E. Meumann (Münster i. W. .
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Literaturbericht.
Die Psychologie in Amerika.
Zweiter Bericht
von Dr. F. M. Urban (Philadelphia).
Peychophysische Maßmethoden.
Die ersten hier zn erwähnenden Untersuchungen über die Methoden zur
Bestimmung der Empfindlichkeit der Sinne wurden von C. S. Peirce und
J. Jastrow1) unternommen. Die Kritik dieser Forscher richtete sich gegen
den Begriff der Schwelle, welcher der Methode der ebenmerklichen Unter-
schiede unterliegt, und nach welchem zwei Reize nur dann unterscheid bare
Empfindungen hervorbringen, falls sie um eine gewisse Größe voneinander
verschieden sind. Die Reizung der Sinne nimmt offenbar mit der Intensität
des Reizes stetig zu, und wenn das Phänomen der Schwelle tatsächlich statt-
findet, so müßte es in den psychologischen Prozessen der Vergleichung zweier
Empfindungen und Dicht in den Eigenschaften der Empfindung selbst be-
gründet sein. Um die Ungenauigkeit unserer Empfindungen zu erklären, ist
der Begriff der Schwelle nicht notwendig. Die Fehler der Wahrnehmung
werden dadurch verursacht, daß die Reizung auf dem Wege zum Gehirn
mannigfachen Störungen zufälliger Natur ausgesetzt ist. Die hieraus resul-
tierenden Fehler zeigen eine Verteilung, die der Wahrscheinlichkeitskurve
entspricht, welche eine Wirkung darstellt, die von unendlich vielen, unend-
lich kleinen Ursachen abhängt. Diese Auffassung läßt den Begriff der Unter-
schiedsschwelle nicht zu, sondern führt zu den Voraussetzungen der Methode
der kleinsten Quadrate, nach welchen zwei verschiedene Größen, wie klein
auch ihr Unterschied sein möge, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit als
verschieden erkannt werden können. Man muß also für jede Differenz eine
Anzahl richtiger Urteile erwarten, wenn die Untersuchung nur lange genug
fortgesetzt wird, und ebenso wird in jeder hinreichend langen Reihe von
Versuchen eine gewisse Zahl falscher Urteile auftreten, wie groß auch der
Unterschied in der Intensität der Reize ist Diese Sätze folgen aus den
Voraussetzungen der Methode der kleinsten Quadrate. Falls diese Voraus-
setzungen nicht zutreffend sind und es wirklich eine Schwelle gibt, so muß
es ein Intervall geben, in welchem richtige und falsche Urteile ungefähr
gleich häufig sind.
Zur Entscheidung dieser Frage wurde eine ziemlich ausgedehnte Reihe
1) C. S. Peirce and J. JaBtrow, On Small Differences of Sensation.
Memoire of the National Academy of Sciences. Vol. 3. 1884. p. 76—83.
Archiv für Psychologie. XI. Lit«r»tnr. 8
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114
Literaturbericht.
von Versuchen angestellt. Es wurde mit Druckempfindungen gearbeitet, wo-
bei eine Art Druckwage zur Verwendung kam. Das experimentelle Arrange-
ment hat heute kaum mehr Interesse und es ist nur erwähnenswert, daß eine
Anordnung getroffen wurde, um die Einflüsse, die durch die Reihenfolge der
Experimente verursacht werden, zu zufälligen Einflüssen zu machen. Dies
wurde dadurch erreicht, daß ein zufälliges Ereignis (Erscheinen von schwarzen
und weißen Karten in einer bestimmten Reihenfolge; darüber entschied, in
welcher Reihenfolge die Experimente vorgenommen wurden. Es ist zu be-
merken, daß bei einem solchen Verfahren das Erscheinen von Serien unver-
meidlich ist, wie es tatsächlich von den Verfassern bemerkt wurde, und des-
halb das Verfahren, systematisch die Anordnungen zu wechseln, als dz*
Sicherere den Vorzug verdient. In dieser Weise wurde eine Reihe von Re-
sultaten für verschiedene Intensitäten des Vergleichsreizes gewonnen und die
beobachtete Verteilung der Fehler mit der theoretischen Verteilung verglichen.
Die Resultate für einen Beobachter (Peirce) geben eine recht gute Überein-
stimmung, während die Resultate Jastrows minder befriedigend sind, wefl
in den Daten der Einfluß der fortschreitenden Übung merklich sein soll.
Die Resultate des letzteren Beobachters werden fraktioniert, jedoch sind die
Motive für die Wahl der verschiedenen Gruppen nicht klsr.
Von einigem Interesse ist das Verfahren der Verfasser, um einen Maß-
stab für das subjektive Zutrauen der Vp. in das abgegebene Urteil zu ge-
winnen. Die Vp. drückte den Grad des Zutrauens in das Urteil durch eine
der Zahlen 0, 1, 2, 3 aus. In dieser Skala bedeutet 0 das Fehlen jedes Hin-
weises zugunsten eines Urteiles in der einen oder anderen Richtung und 3
ein so starkes Zutrauen, wie man es in solchen Versuchen erwarten kann,
während mit 1 eine entschiedene Hinneigung zu einem bestimmten Urteil
und mit 2 ein gewisses Vertrauen in dessen Richtigkeit bezeichnet wird.
Wenn das Urteil mit dem Grade des Zutrauens 0 abgegeben wurde, so be-
deutet dies nicht, daß tatsächlich kein Grund für die Wahl des einen oder
des anderen Urteiles vorlag, sondern nur, daß die Vp. keinen Grund hierfür
angeben konnte. Es stellte sich heraus, daß das subjektive Zutrauen von
der Größe des objektiven Unterschiedes zwischen den beiden Reizen abhing
und daß bei Versuchen mit kleinen Differenzen das Vertrauen in die Richtig-
keit des Urteiles nur sehr gering war, wenn vorher mit großen Differenzen
gearbeitet worden war, trotzdem die Unterschiedsempfindlichkeit zugenommen
hatte. Das Mittel der auf Grund der angegebenen Skala gemachten Aus-
sagen über den Grad des subjektiven Zutrauens ist angenähert durch die
Formel
m - c log
dargestellt, worin m den Grad des subjektiven Zutrauens und p die Wahr-
scheinlichkeit eines richtigen Urteiles bedeutet und mit c eine Konstante be-
zeichnet ist, die von den Autoren als index of confidence bezeichnet wird1.
In dem Titel des besprochenen Memoire erscheint der Name Peirces
an erster Stelle, was darauf hindeutet, daß die Grundidee für die Behand-
lung des Problems von ihm ausging. Es ist wahrscheinlich, daß die Be-
merkung des Widerspruchs der Voraussetzungen der Methode der kleinsten
1) Vgl. hierzu J. Jastrow, The Perception of Space by Disparate
Sennes. Mind. Vol. 11. 1886 S. 661, 662.
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Literatarbericht.
115
Quadrate mit dem Begriffe eines ebm. U. von Peirce gemacht wurde, da
ihm als Mathematiker die Prüfung der Voraussetzungen der Methode der
ebm. U. mit dem Gesetze der Fehlerverteilung nahe liegen mußte. Jastrow
hat die begonnenen Untersuchungen in interessanter Weise fortgeführt und
vier Jahre später veröffentlicht1). Seine Untersuchungen erstrecken sich auf
drei psychophysische Methoden : die Methode der ebm. U., die Methode der
r. und f. F. und die Methode des mittleren Fehlers. Die Besprechung der
Methode der mittleren Abstufung wurde auf später verschoben. Jastrow
führt die Kritik des Begriffes der Schwelle weiter fort. Er bemerkt, daß
der Begriff eines ebm. U. in vier verschiedenen Bedeutungen gebraucht werden
kann und tatsächlich gebraucht wurde. Zunächst kann man darunter einen
Unterschied verstehen, der manchmal bemerkt wird. Zweitens kann man
unter einem ebm. U. eine solche Differenz verstehen, die stets wahrgenommen
wird2}. Die dritte Bedeutung bezieht sich auf einen Unterschied, der nur
manchmal (zufällig) nicht wahrgenommen wird, und in der vierten Bedeutung
dieses Wortes versteht man unter einem ebm. U. einen Unterschied des
Normalreizes und des Vergleich sreizes, der in irgendeiner bestimmten für
charakteristisch angesehenen Anzahl von Fällen richtig beurteilt wird; welche
Anzahl von Fällen man als charakteristisch ansieht, hängt vom Belieben des
Beobachters ab. In der ersten Bedeutung wird das Wort nur selten ge-
braucht, und bei tatsächlicher Anwendung geht sie fast stets in die dritte
Uber. In der vierten Bedeutung wurde der Begriff eines ebm. U. nur von
wenigen Forschern verwendet Jastrow sieht in diesen Unklarheiten, die
dem Begriffe der Schwelle anhängen, den Grund der vielfachen Kontroversen
und Dunkelheiten der Psychophysik.
Für die Anwendung der Methode der r. und f. F. wird die Tatsache, daß
die Anzahl der falschen Fälle abnimmt, wenn die Differenz zwischen den zu
vergleichenden Reizen zunimmt, und daß diese Anzahl zunimmt, wenn die
Differenz zwischen den Reizen abnimmt, als grundlegend angesehen. Dieser
Satz kann auch in folgender Weise ausgedruckt werden. Bezeichnet man
das Verhältnis zweier Reize mit 1 + x, wobei der größere Reiz als Ver-
gleichsreiz angesehen wird, so nimmt die Anzahl der falschen Fälle zu, wenn x
abnimmt, und sie nimmt ab, wenn x wächst Dieser Satz gilt, welchen Wert
auch immer x haben möge, also nicht nur fUr mäßige Werte von x, sondern
auch fUr beträchtliche und für solche Werte, die von Null nur wenig ver-
schieden sind. Um Urteile zu haben, die sich immer in eine der Kategorien
richtiger oder falscher Fälle einordnen lassen, schließt Jastrow die
1) Joseph Jastrow, A Critique of Psycho-Physic Methods. American
Journal of Psychology. Vol. 1. 1888. S. 271—309.
2) In dieser Bedeutung wurde der Begriff der Schwelle, soweit Referent
bekannt ist, nur von B. 0. Peirce verwendet (On the Sensitiveness of the
Eye to Slight Differences of Color. American Journal of Science [SiUimaus
Journal]. 3 Series. Vol. 26. 1883. S. 299—302). Dieser Forscher benutzte
als Maß der Empfindlichkeit »den kleinsten Unterschied, den der Beobachter
unfehlbar bemerken und benennen konnten Diese Definition der Schwelle
empfiehlt sich nicht, wenn man von den Voraussetzungen der Fehlertheorie
ausgeht, denn diesen zufolge hängt der größte Fehler, der in einer Versuchs-
reihe gemacht wird, von der Zahl der Beobachtungen ab und wächst mit der
Länge der Versuchsreihe.
8*
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116
Literaturbericht.
Gleichheitsurteile and die zweifelhaften Fälle aus. Die Gleichheitsfälle werden
ausgeschlossen , weil sie eine einfache Scheidung zwischen r. und f. F. un-
möglich machen, und die zweifelhaften Urteile werden nicht zugelassen, weil
sie sich bei Benutzung kleiner Unterschiede in großer Anzahl einstellen und
deshalb dem Sammeln der notwendigen Zahl von Versuchen hinderlich sind.
Läßt man diese Fälle zu und schließt sie bei der Berechnung der Resultate
aus, so gibt man den Experimenten einen höheren Grad von Genauigkeit,
als ihnen zukommt, da man nicht alle tatsächlich abgegebenen Urteile, son-
dern nur die besten beibehält Diese Ausschließung der zweifelhaften Ur-
teile und der Gleichbeitsfälle führte bekanntlich zu einer Diskussion, in der
die bestehenden Meinungsverschiedenheiten nicht ausgeglichen werden konnten.
Kraepelin, Jastrow, Sanford, Fullerton und Cattell sprechen sich
riir die vereinfachten Urteile aus, die von Ebbinghaus, Wundtund Hüller
bekämpft werden, während Merkel sie zuerst zu begünstigen schien, später
aber verwarf. Eine Darstellung der verschiedenen Ansichten und der Gründe,
mit denen sie verteidigt wurden, wurde von Titchener1) gegeben. Seine
eigenen Anschauungen präzisiert Titchener dahin, daß bei der Beurteilung
der abgekürzten Methode folgende Fragen zu beantworten sind: 1) Welche
Motive führten zur Einführung dieser Methode und: 2} Welches Ziel setzt sie
sich? Es scheint nun, daß für die Einführung der Vereinfachung der Wunsch
entscheidend war, zwischen den Fechnerschen und MU 11er scheu Formeln
nicht wählen zu müssen. Die unentschiedenen Urteile scheinen eine unüber-
windliche Schwierigkeit für die mathematische Behandlung zu sein. Da es
sich aber herausgestellt hat, daß die untere und obere Schwelle ohne Rück-
sichtnahme auf die unentschiedenen Urteile bestimmt werden kann, so fällt
das Motiv für die Ausschließung der unentschiedenen Fälle fort. Der Zweck
der neuen Methode ist offenbar der, die Methode der r. und f. F. zu ersetzen,
Dies kann aber nicht geschehen, denn die zweifelhaften und die Gleichheite-
fälle sind durch Experimente verläßlicher Vp. als regelmäßiger Bestandteil
der Versuchsergebnisse festgestellt, und man darf sie nicht durch eine Fest-
setzung entfernen, die im wesentlichen ebenso willkürlieh ist, wie z. B. die
Erklärung der Assoziationspsychologen, eine Erkennung bestehe in der Wieder-
kehr eines Gedächtnisbildes, welches mit einem Datum der Erfahrung ver-
glichen werde.
Für die Ausarbeitung solcher mit Ausschluß der unentschiedenen Urteile
und der Gleichheitsfälle gewonnenen Versuchsresultate stellt und löst Jastrow
folgende Probleme.
1) Es ist jenes Verhältnis der Reize zu finden, für welches V4 »Her ab-
gegebenen Urteile falsch ist, wenn die Anzahl der r. und f. F. für irgendein
Verhältnis gegeben ist. Es sei das bekannte Verhältnis der Reize, für welche
die Beobachtung ausgeführt wurde, 1 + x, das beobachtete Verhältnis der
falschen zu den richtigen Fällen n und das gesuchte Verhältnis der Reize 1 +p.
Es besteht dann die Beziehung
y
wobei y bestimmt ist durch
</> iy) «1-2 W.
1) E. B. Titchener, Experiments! Psychology. U, 2. S. 286—291.
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Literaturbericht.
117
2) Nach Berechnung von log (1 -j- p) kann man die Frage lösen , für
welches Verhältnis der Reize \ -\~ x ein gegebenes Verhältnis der falschen
zu *den richtigen Fällen stattfinde. Man findet zuerst y ans der Gleichung
<P(y) = l — 2n
und löst die obige Gleichung nach log (1 ■+■ x) auf :
3) Man kann die Frage beantworten, welches die Verhältniszahl der fal-
schen zu den richtigen Fällen für irgendein gegebenes Verhältnis der Reize
1 -f- x sei. Man löst nach y auf und erhält
= 0,^77 log (1 + x)
Y log(l+p}
und bestimmt n durch Einsetzen dieseB Wertes in
* = \ [1 - * (y)).
Zu diesen Ausführungen ist zunächst zu bemerken, daß in den Formeln
die Bezeichnungen eingeführt sind, die in Czubers > Wahrscheinlichkeits-
rechnung« verwendet sind und die auch von Bruns, Lipps u. a. gebraucht
werden. Jastrow verwendet die Bezeichnung ö t für 0 (l) und 0~x t für y,
welches der Gleichung 0 (;') = t genügt; diese in älteren Publikationen Uber
Wahrscheinlichkeitsrechnung gebräuchliche Bezeichnungsweise ist umständ-
licher und weniger klar. Es ist ferner zu bemerken, daß in den numerischen
Beispielen Jastrows die Werte von y und von </>(;') nicht mit denen über-
einstimmen, die man bei Benutzung der von Kämpfe berechneten Tabelle
erhält. Der Grund liegt darin, daß Jastrow die kleine Tafel der Encyclo-
pedia Britannica benutzt und nur mit Hilfe der ersten Differenzen interpoliert;
die Differenz zwischen den genauen und den von Jastrow angegebenen
Werten ist recht beträchtlich. Außerdem ist es wichtig, daß die Formeln
Jastrows die Gültigkeit des Weberschen Gesetzes voraussetzen, da nicht
die Intensitäten, sondern nur das Verhältnis 1 + x der beiden Reize in den
Formeln vorkommen und Uber die Grüßen, mit welchen dieser Quotient multi-
pliziert werden darf, keine Einschränkung gemacht ist. Falls man die Gültig-
keit des Weberschen Gesetzes nicht anerkennen will, gegen die Voraus-
setzungen, aus welchen Jastrows Formeln abgeleitet sind, aber keinen Ein-
spruch erhebt, so muß man seine Formeln nicht verwerfen, wenn man sich
darauf beschränkt, die Resultate als nur für eine bestimmte Intensität des
Normalreizes gültig anzusehen. Eine solche Einschränkung ist aber nicht im
Sinne des Verf., der im Weberseben Gesetze eine Voraussetzung für die
Vergleichung der Genauigkeit der Sinneswahrnehmung sieht.
Als dritte und wichtigste Methode beschreibt Jastrow die Methode des
mittleren Fehlers, die aber nach der von ihm gegebenen Beschreibung besser
als Methode des wahrscheinlichen Fehlers bezeichnet werden müßte >). Diese
Methode wird als Herstellungsmethode beschrieben. Der Vp. wird die Auf-
gabe gestellt, einen variabeln Reiz einem konstanten Reiz, dem Normalreiz,
1) Die Resultate, die der Verf. in der Arbeit »The Perception of Space etc.«,
Mind, Vol. 11, 1886, S. 639—652 veröffentlicht, sind auf die bei einer Her-
stellungsmethode begangenen Fehler gestützt
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118
Literaturbericht.
gleich zu machen. Es wird der Fehler einer jeden solchen Bestimmung ge-
messen und für die Verteilung dieser Fehler das Gaußsche Verteilungs-
gesetz vorausgesetzt. Die gewonnenen Resultate werden nach der Methode
der kleinsten Quadrate bearbeitet; der konstante Fehler gibt ein Maß der
Unter- oder Überschätzung, während der wahrscheinliche Fehler ein Maß der
Empfindlichkeit gibt. Zu diesen Ausführungen ist zu bemerken, daß es selbst-
verständlich gleichgültig ist, ob man die Vergleichung der Genauigkeit der
Empfindung auf den wahrscheinlichen oder auf den mittleren Fehler oder auf
sonst eine aus dem PräzisionBinaß abgeleitete Größe stutzt. Ordnet man
eine Reihe von Personen nach der Größe ihrer wahrscheinlichen Fehler, so
ist diese Ordnung identisch mit jeder Ordnung, in welcher diese Personen
nach einer dem Präzisionsmaß verkehrt proportionalen Größe geordnet werden.
Ordnet man dieselben Personen auf Grund des Präzisionsmaßes, so ist diese
Ordnung identisch mit der Anordnung derselben Individuen auf Grund irgend-
einer dem Präzisionsmaß direkt proportionalen Größe, und jede solche Ord-
nung ist entgegengesetzt der Anordnung der Personen auf Grund einer dem
Präzisionsmaß verkehrt proportionalen Größe.
Jastrow faßt seine Anschauungen dahin zusammen, daß die Methode
der ebm. U. entweder Uberhaupt ungeeignet ist, ein Maß der Genauigkeit der
Sinnesempfindnng zu geben, oder in einer versteckten Anwendung der Me-
tbode der r. und f. F. besteht Der Begriff der Schwelle ist widerspruchs-
voll und entsteht durch die Anwendung des Begriffes der Diskontinuität auf
kontinuierliche Erscheinungen. Die Methode der r. und f. F. ist gerecht-
fertigt, wenn man sich beim Sammeln der Urteile auf zwei Arten, auf die
Urteile »größer« und »kleiner«, beschränkt. Die Methode des wahrschein-
lichen Fehlers ist die natürlichste der psychophysischen Methoden. Die Me-
thode der r. und f. F. und die Methode des wahrscheinlichen Fehlers setzen
die Verteilung der Fehler nach der Wahrscheinlichkeitskurve voraus. Jastrow
sah, daß die Methode des wahrscheinlichen Fehlers nicht auf allen Sinnes-
gebieten angewendet werden kann und ihrer Natur nach auf solche Unter-
suchungen beschränkt ist, in denen sich eine Herstellungsmethode anwenden
läßt Er unternahm es nicht, nach dem Zusammenhang der Methode des
wahrscheinlichen Fehlers mit den Resultaten jener Methoden zu fragen, die
sich auf die wiederholte Beobachtung gegebener Differenzen der Reize stützen.
— ein Problem, das Lipps behandelte — , und er sah deshalb nicht die
Wichtigkeit der Gleichheitsurteile, was wohl auf seine Beschreibung der
Methode der r. und f. F. von Einfluß gewesen wäre. Jastrow») unternahm
es später, das Verfahren der Methode der ebm. U. in solcher Weise umzu-
gestalten, daß die Methode der Herstellung anwendbar ist Dies wurde er-
reicht, indem der Vp. die Aufgabe gestellt wurde, einen variabeln Reiz eben-
merklich größer oder ebenmerklich kleiner als den Normalreiz zu machen.
Jastrow und Lee führten solche Versuche mit Strecken aus, deren Längen
aus dem Gedächtnis oder auf Grund des unmittelbaren Vergleiches eben-
merklich kleiner oder größer hergestellt werden sollten. Es ergab sich neben
anderen Resultaten, die hier nicht in Betracht kommen, daß der ebm. U. für
negative Differenzen gTößer ist als für positive Differenzen und daß die so
1) J. Jastrow and A. A. Lee, On Just Observable Differences. Amer.
Journ. of Psychology. Vol. 3. 1891. Ö. 57 f.
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Literaturbericht.
119
gewonnenen Resultate beträchtlich größere Werte ergeben als die von frü-
heren Forschern gewonnenen.
Gedanken, die wesentlich den hier dargestellten Ausführungen von Jastro w
ähnlich sind, leiteten Gatt eil nnd Fnllerton») bei ihrer Darstellung der
psychophysischen Maßmethoden. Die Verfasser besprechen in der Einleitung
ihreB Buches vier verschiedene psychopbysische Methoden: die Methode der
ebm. U., die Methode der r. und f. F., die Methode des mittleren Fehlers nnd
die Methode der mittleren Abstufungen, welche als ein von den übrigen
Methoden wesentlich verschiedenes Verfahren angesehen wird. Die Bespre-
chung der Methode der ebm. U. geht ebenfalls von der Kritik des Schwellen-
begriffes aus, wobei die Definition von Lotze unterlegt wird, der zufolge es
ein Intervall gibt, durch welches der Reiz sich verstärkt, ohne eine merklich
verschiedene Empfindung hervorzubringen; der Unterschied wird nur wahr-
genommen, wenn die Differenz der Reize einen gewissen Betrag, die Schwelle,
Übersteigt. Die beiden Autoren argumentieren in eigentümlicher Weise gegen
diesen Begriff2). Der Unterschied zwischen den beiden Reizen wird nicht
auf einmal wahrnehmbar, wie es nach der Definition der Fall sein müßte,
sondern >die Klarheit, mit welcher der Unterschied wahrgenommen wird,
wächst von völliger Ungewißheit bis zu völliger Bestimmtheit. Diese Zu-
nahme ist stetig und es kann kein Punkt gefunden werden, der einen ebm. U.
darstellt, der für verschiedene Beobachter, oder auch nur für denselben Be-
obachter zu verschiedenen Zeiten, konstant bleibt«. Das Wort, das hier mit
»Klarheit« übersetzt ist, ist clearness, was sich offenbar auf die Klarheit oder
Deutlichkeit bezieht, mit welcher eine Differenz der Intensitäten erkannt wird.
Es wäre demnach möglich, jeden Unterschied zu erkennen, und nur der Grad
der Deutlichkeit wäre von der Größe dieses Unterschiedes abhängig. DieBe
Erklärung reicht nicht aus, um die fehlerhaften Urteile bei geringen Unter-
schieden der Intensitäten zu erklären, denn jeder Unterschied, wie klein er
auch sein möge, müßte wahrgenommen werden, und nur die Deutlichkeit
dieser Wahrnehmung könnte von der Größe des Unterschiedes der Reize ab-
hängen. Es ist also den Ausführungen der Autoren hinzuzufügen, daß nicht
nur die Deutlichkeit der Wahrnehmung eines Unterschiedes, sondern auch
diese Wahrnehmung selbst Schwankungen unterworfen ist Die Verf. be-
schreiben ein Verfahren, nach welchem einzig und allein die Methode der
ebm. U. brauchbare Resultate geben könne. Dieses Verfahren besteht darin,
daß die Reize bei unwissentlichem Verfahren dargeboten werden und daß
die Vp. aus zusagen hat, wann sie einen ebm. U. wahrnimmt. Wenn in einer
langen Reihe von Versuchen mit einer gewissen Differenz keine Fehler ge-
macht werden, so kann man annehmen, daß die Vp. diesen Unterschied wirk-
lich erkennen kann. Man darf aber nicht schließen, daß kleinere Differenzen
nicht wahrgenommen werden können, und mau hat keine Möglichkeit für einen
Vergleich der Empfindlichkeit verschiedener Vp. oder derselben Vp. zu ver-
schiedenen Zeiten. Nimmt man einen Unterschied, welcher manchmal richtig
und manchmal falsch beurteilt wird, so erhält man die Methode der r. und f. F.
Bei der Ableitung der für die Methode der r. und f. F. notwendigen
1) G. S. Fnllerton and J. McKeen Cattell, On the Perception of Small
Differences, 1892; ähnliche Gedanken finden sich in J. McKeen Cattell,
On Errors of Observation. Amer. Journ.of Psychol. Vol. 5. 1893. S. 286— 293.
2) G. S. Fnllerton and J. McKeen Cattell, a. a. 0. S. 11.
120
Literaturbericht.
Hegriffe wird darauf hingewiesen, daß der Prozeß der Empfindung mannig-
fachen Störungen unterworfen ist, für deren Wirkungen, d. h. für die daraus
resultierenden Fehler, man das Gaußsche Gesetz voraussetzen kann. Diese
Verteilungsfunktion hängt nur von einer Konstante ab. so daß man alle
Werte berechnen kann, wenn ein Wert gegeben ist Die Berechnung der
relativen Häufigkeiten der richtigen Fälle wird nicht auf das Präzis ionsmaß
direkt, sondern auf den wahrscheinlichen Fehler gestützt. Diese Berechnung
geschieht nach der Formel
0
worin r die Anzahl der richtigen und n die Anzahl aller Fälle bedeutet,
während J für die Differenz der Intensitäten und P E für den wahrschein-
lichen Fehler (probable error) steht. Es wird eine Tabelle gegeben (a. a. 0.,
S. 16), welche zur Berechnung des wahrscheinlichen Fehlers dient In diesen
Ausführungen sehen die Verfasser ein weiteres Argument gegen den Begriff
eines ebni. U.s. Man lernt durch Erfahrung, welche Differenz von Intensi-
täten man gewöhnlich richtig 'beurteilt und betrachtet diese Größe als den
ebm. U. Welche Differenz man aber dafür hält, hängt nicht nur von den Er-
fahrungen, sondern auch von dem Charakter des Beobachters ab, da manche
Vp. ein großes Vertrauen in die Richtigkeit ihrer Urteile haben, selbst wenn
nicht hinreichend Data zur Bildung eines solchen vorliegen, während andere
nur langsam zu einem Urteile kommen.
Von methodologischem Interesse ist in dieser Beschreibung der Methode
der r. und f. F. die Tabelle, die zur Bestimmung des wahrscheinlichen Feh-
lers aus der beobachteten relativen Häufigkeit der richtigen Urteile für eine
gegebene Differenz zwischen Vergleichs- und Normalreiz dient Da die Ver-
fasser die Zahlen der Tabelle ohne weitere Erklärung geben, so ist es nicht
ohne Interesse, eine Erklärung1] zu geben. Diese Tabelle gibt in der ersten
Kolonne die perzentuellen Zahlen der richtigen Fälle in Intervallen von \%.
und die entsprechenden Zahlen in der Kolonne geben den Wert des
Verhältnisses der Differenz der Intensitäten, für welche die Beobachtung ge-
macht wurde, zum wahrscheinlichen Fehler. Man findet also den wahrschein-
lichen Fehler auf Grund einer einfachen Division. Es steht nun der wahr-
scheinliche Fehler q mit dem Präzisionsmaße h in der Beziehung
0,4769
h
woraus folgt:
D _Dh
q ~~ 0,4769 '
Die Fechne reche Fundamentaltabelle2) für die Methode der r. und f. F. gibt
die Werte von D h für die verschiedenen relativen Häufigkeiten der richtigen
• .
1) E. B. Titchener, Experimental Psychology. Vol. II, 2. S. 287 ff.;
E. C. Sanford, Course in Experimental Psychology. 1892. S. 354.
2j G. Th. Fechner, Elemente der Psychophysik. Vol. 1. S. 108;
W. Wundt, Physiologische Psychologie. 6. Aufl. Vol. 1. S. 484.
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Literaturbericht.
121
Fälle in Intervallen von 0,01. Die von den beiden Verfassern gegebene
Tabelle geht demnach daran* hervor, daß die Zahlen Dh der Fechner-
echen Tabelle durch 0,4769 dividiert und die Zahlen ^ mit 100 multipliziert
werden. In der Tafel von Fullerton und Cattell Bind die Zahlen auf
zwei Dezimalstellen genau angegeben und man kann die Tafel an Brauch-
barkeit etwa mit einer dreistelligen Tabelle der Werte von 0 (y) in Inter-
vallen von 0,01 vergleichen1).
Die Methode des mittleren Fehlers wird als Herstellungsuiethode be-
schrieben. Diese Methode wird für klinische und anthropometrische Zwecke
empfohlen, da sich schon mit wenigen Beobachtungen ein hinreichend ge-
naues Resultat erreichen lasse. Wichtig ist die Behauptung, daß der aus
den beobachteten Fehlern bestimmte durchschnittliche Fehler dem durch die
Methode der r. und f. F. bestimmten wahrscheinlichen Fehler proportional
sein soll, so daß die Ergebnisse der Methode des durchschnittlichen Fehlers
ohne weiteres mit denen der Methode der r. und f. F. verglichen werden
können. Bemerkenswert ist ferner, daß die Möglichkeit der Bestimmung des
konstanten Fehlers als ein Vorzug der Methode des durchschnittlichen Feh-
lers angesehen wird.
Die Methode der mittleren Abstufungen wird unter dem Namen der Me-
thode des geschützten Betrages der Differenz beschrieben. Beim Verfahren
nach dieser Methode wird der Vp. die Aufgabe gestellt, einen variabeln Reiz
zwischen zwei gegebene Reize so einzustellen, daß er von dem stärkeren
Reize ebensoweit entfernt zu sein scheint wie von dem schwächeren, oder
wenn die Aufgabe gestellt wird, ein gegebenes Vielfaches (oder einen Bruch-
teil) eines Reizes herzustellen. Diese Methode wird als wesentlich verschieden
von den anderen Methoden, die auf den wahrscheinlichen Fehler gegründet
sind, angesehen, weil die Vp. bestimmte quantitative Differenzen der Emp-
findung schätzen soll. Wenn sich in der Tat quantitative Unterschiede der
Empfindung ohne Hilfe von Assoziationen mit bekannten Unterschieden der
Reize messen ließen, so könnte eine Relation zwischen physischen und psy-
chischen Intensitäten hergestellt werden, jedoch glauben die Verfasser, daß
sich eine solche Vergleichung nur in wenig befriedigender Weise durch-
führen läßt. Man kann z. B. bei Gewichten verhältnismäßig leicht angeben,
wann ein Reiz doppelt so groß ist als ein gegebener, findet aber bei opti-
schen Reizen Schwierigkeiten. Der Grund liegt darin, daß wir häufig Ge-
legenheit haben, ein Gewicht mit einem doppelt so großen zu vergleichen,
während Licht- und Schallintensitäten selten oder nie gemessen werden, so
daß wir keine Gelegenheit haben, Assoziationen der Empfindung mit der
Größe der diese Empfindung hervorrufenden Reize zu bilden.
1) E. L. Thorndike, An Introduction to the Theory of Mental and
Social Measurements, 1904, S. 164, reproduziert diese Tabelle, ohne die ge-
ringste Anweisung für den Gebrauch zu geben, ja ohne die Bedeutung der
Buchstaben zu erklären, so daß man aus dem Texte unmöglich ersehen kann,
worum es sich handelt Dieser Mangel an Klarheit ist um so überraschender,
als dieses Buch scheinbar für Anfänger bestimmt ist, denen die elementarsten
Dinge auseinandergesetzt werden müssen. Thorndike nennt das in Rede
stehende Buch die beste Einführung in die Probleme der pBychophysik, ein
Urteil über den Wert dieser Publikation, dem man kaum beistimmen wird.
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122
Literaturbericht.
Man kann sagen, daß Peirce, Jastrow, Fallerton und Cattell eine
Stufe der Entwicklung der psychophysischen Methoden repräsentieren. Diese
Autoren stimmen darin tiberein, daß die Methode der ebm. U. unzulässig ist
weil der Begriff der Schwelle mit den Grundlagen der Fehlertheorie unver-
einbar ist. Es ist anzunehmen, daß diese Bemerkung auf Peirce zurück-
geht Jastrow, Fullerton und Cattell stimmen ferner in der Hoch-
schätzung der Methode der mittleren Fehler Uberein. Die Methode der r. und
f. F. wird von Jastrow anders beschrieben als von Fullerton nnd Cattell.
allein die Grundvoraussetzung der Anwendbarkeit des G au ß sehen Vertei-
lnngsgcsetzes wird von allen diesen Forschern gemacht, sei es, weil sie sie
überhaupt nicht bezweifeln, sei es, weil sie die Richtigkeit dieses Gesetzes
durch gewisse Beobachtungen anderer Forscher für erwiesen betrachten*).
Der nächste Autor, dessen Anschauungen Uber die psychophysischen
Maßmethoden hier zu beschreiben sind, ist Scripture. Die Darstellung der
Ansichten dieses Forschers ist insofern schwierig, als er keine zusammen-
fassende Beschreibung der psychophysischen Methoden gegeben hat, trotz-
dem er offenbar zu bestimmten Anschauungen gekommen ist. Selbst in
der umfangreichsten Darstellung seiner psychologischen Anschauungen gibt
Scripture2) mehr zufällig eine Beschreibung der Methode der ebm. U.. die
er als Methode der kleinsten Veränderungen bezeichnet (method of minimum
variations) und der Methode der r. und f. F. Bei der Methode der r. und
f. F. folgt Scripture der Darstellung Fechners und verteilt die Gleich-
heitsfälle gleichmäßig auf die richtigen und auf die falschen Fälle. Die Be-
schreibung der Methode der ebm. U. ist insofern bemerkenswert, als Scrip-
tare und Sanford unter den amerikanischen Psychologen zuerst auf die
Notwendigkeit hingewiesen haben, alle vier ebenmerklichen und ebenunmerk-
lichen Unterschiede zu bestimmen. Diese Festsetzung ist wichtig, da da*
Bedenken, der ebm. U. sei eine nicht genau definierte Grüße, weil verschie-
dene Vp. oder dieselbe Vp. zu verschiedenen Zeiten unter einem ebm. U.
etwas anderes verstehen können, diese Darstellung der Methode nicht trifft
Die Vp. hat gar nicht die Aufgabe, eine Aussage darüber zu machen, wann
sie einen ebm. U. wahrnimmt, sondern sie gibt nur Urteile auf Paare voi
1] Cat teils Stellung ist nicht ganz klar. In »The Peremption of Small
Differences« (S. 1(>) wird in einer Anmerkung gesagt, daß es beabsichtigt
war, die Formel flir die Verteilung der richtigen Fälle auf ihre Richtigkeit
zu prüfen, daß dies aber unterlassen wurde, weil diese Prüfung von Feeh-
ner, Peirce, Jastrow und Higier ausgeführt worden ist. Da Cattell
ein besonderes Verfahren auf diese Formel stützt, so bedeutet dies offenbar,
daß das Verteilungsgesetz als richtig anerkannt wird. In dem Aufsatz »On
Errors of Observation < (Am. Jotirn. of Psychol., Vol. ö, 1893, S. 292) heißt es:
»Ich stelle die Anwendbarkeit der Theorie der Beobachtungsfehler auf die
Messung der Intensität der Empfindung völlig in Frage.« Da für die Theorie
der Beobachtungsfehler die Voraussetzung des FehlergeBetzes wesentlich ist
Cattell aber die auf diese Voraussetzung gestutzte Methode zur Bestimmung
eines Maßes der Empfindlichkeit nicht zurückzieht, so ist die Bedeutung
dieses Satzes nicht klar.
2} E. W. Scripture, The New Psychology, 1898. Für die Beschrei-
bung der Methode der r. und f. F. kommen in Betracht S. 268—270, 489 f.;
für die Methode der ebm. U. und die Schwelle S. 285—301.
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Literaturbericht.
123
Reizen, die in einer gewissen Reihenfolge dargeboten werden, nnd man leitet
nach einer bestimmten Rechenvorachrift den Schwellenwert ans den erhal-
tenen Daten ab. Scripture sieht in der Methode der ebm. U. nur eine
Modifizierung des Verfahrens zur Bestimmung der Genauigkeit eines Instru-
mentes. Die Methode der mittleren Abstufungen ist nicht eigentlich eine
Methode, sondern sie dient nur zur Auffindung des Punktes in der Mitte
zwischen zwei Elementen einer Reihe von Größen. Die Methode der r. und
f. F. ist ein Problem der Wahrscheinlichkeitsrechnung und die Methode des
mittleren Fehlers ist eine Anwendung der Fehlerrechnung. Tatsächlich finden
nur die Methode der ebm. U. und die Methode der r. und f. F. eine eingehende
Beschreibung und Scripture scheint diese Methoden nicht in ausgedehn-
terer Weise benutzt zu haben. Scriptures eigentümliche Definition der
Schwelle wurde schon früher1) dargelegt, so daß auf die Ausführungen der
>New Psychology« nicht weiter eingegangen zu werden braucht.
Um einen Überblick über Scriptures Anschauungen zu bekommen,
werfen wir einen Blick auf die Beispiele von Schwellenbestimmungen, die er
in einer Sammlung von Experimenten für einen einleitenden Kurs *) gibt Es
werden drei Beispiele gegeben. Das erste Beispiel bezieht sich auf den
kleinsten wahrnehmbaren Druck. Es wird eine Reihe von schwachen Druck-
reizen hergestellt, die der Größe nach appliziert werden. Der erste Reiz,
der wahrgenommen wird, entspricht der Schwelle; außerdem wird jene In-
tensität bestimmt, die in allen Versuchen richtig erkannt wird. Die erhal-
tenen Resultate für die Bestimmung der Schwelle werden als empirische Be-
obachtungen dieser Größe angesehen und behufs Elimination der zufälligen
Fehler nach der Methode der kleinsten Quadrate behandelt Es wird außer-
dem verlangt eine Kurve y = f{x) zu konstruieren, welche die Abhängigkeit
der Wahrscheinlichkeit eines richtigen Urteiles von der Größe des Reizes
darstellt. Zwei weitere Experimente beziehen sich auf Schwellenbestimmungen
für BerUhrungscmpfindungen und sind der Methode nach mit dem eben be-
schriebenen Beispiele identisch. Experiment VI beschreibt die Bestimmung
der Schwelle für Schallempfindungen, mit Hilfe einer Telephonvorrichtung,
in welcher durch einen induzierten Strom, dessen Stärke willkürlich verändert
werden kann, Schälle von wechselnder Stärke erzengt werden können. Es
wird 1) bei Ausgehen von Wahrscheinlichkeit jene Intensität der Stromstärke
bestimmt, bei der der Schall aufhört, wahrgenommen zu werden, und 2) wird
bei Ausgehen von unmerklichen Intensitäten die Stromstärke bestimmt, bei
der zuerst ein Schall wahrgenommen wird. Es wird in diesem Verfahren
demnach der ebenmerkliche und der ebenunraerkliebe Reiz bestimmt. Be-
merkenswert ist, daß die Regel gegeben wird, jene Fälle außer acht zu lassen,
in welchen ein Schall wahrgenommen wird, nachdem in derselben Versuchs-
reihe eine größere Intensität nicht bemerkt wurde. Es scheint diese Regel
mit der im ersten Beispiele vorgeschriebenen Bestimmung des Reizes, der
ebenso wie alle stärkeren Reize stets wahrgenommen wird, in Widerspruch
zu stehen. Es werden in dieser Versuchssammlung keine Schwellenbestim-
1) Siehe den ersten Bericht. Dieses Archiv. Bd. III. 1904. S. 161-163
des Literatnrberichtes.
2) E.W. Scripture, Elementary Course in Psychological Measurement.
Studies from the Yale Laboratory. Vol. 4. 1896. S. 89—139.
124
Litoratarbericht.
mungen nach der Methode der r. and f. F. oder nach der Methode des mitt-
leren Fehlers angegeben.
In den Untersuchungen Uber die höchsten wahrnehmbaren Töne haben
wir ein Betspiel, in welcher Art Scripture die Methode der ebm. U. für
wissenschaftliche Zwecke angewendet sehen will. Es wurden mit Hilfe einer
Vorrichtung, die nicht weiter von Interesse ist, Töne von hoher Schwingungs-
zahl und beliebig variabler Intensität erzeugt Es wurde zunächst bei Aus-
gehen von einer Frequenz der Schwingungen, die nicht als Ton wahrge-
nommen wurde1), jene Schwingungszahl bestimmt, bei der ein Ton gehört
wurde, und dann bei Ausgehen von einer als Ton wahrgenommenen Fre-
quenz der Schwingungen der Punkt gesucht, wo keine Tonempfindung be-
obachtet wurde. Es wurden demnach die ebenmerkliche und die ebenun-
merkliche höchste Schwingungszahl bestimmt. Solche Bestimmungen wurden
in Gruppen von fünf gemacht und in jeder solchen Gruppe der Zentralwert
und die Summe der Quadrate der Abweichungen von demselben bestimmt
Das Ergebnis jeder solchen Gruppe erhielt ein Gewicht, das der Wurzel aas
der Summe der Quadrate der Abweichungen verkehrt proportional war. Aus
den mit diesen Gewichten genommenen Zentralwerten der einzelnen Gruppen
wurde das arithmetische Mittel gebildet. An den so gewonnenen Zahlen
wurde die Abhängigkeit der oberen Grenze der Schwingungszahlen von der
Intensität des Schalles untersucht Die erhaltenen Resultate sind hier nicht
von Interesse; in methodologischer Beziehung ist die Beobachtung wichtig,
daß in aufsteigenden und absteigenden Reihen nicht dasselbe Resultat er-
halten wurde2).
Das Motiv, das Scripture bei der Wahl dieses eigentümlichen Ver-
fahrens leitete, bestand ohne Zweifel darin, daß er sich von der Gültigkeit
des G au ß sehen Verteilungsgesetzes freimachen wollte. Dies gelingt freilich
nicht ganz, da für die von den einzelnen Gruppen gewonnenen Zentralwene
doch das arithmetische Mittel genommen wird. Auf jeden Fall macht diese
Berechnungsweise den Eindruck des Willkürlichen, da sich ja kein Grund
angeben läßt, warum der Zentralwert von gerade fünf Beobachtungen ge-
nommen werden soll. Jedenfalls zeigt diese Arbeit klar, daß Scripture
das gewöhnliche Verteilungsgesetz als eine Voraussetzung, deren Gültigkeit
nicht unbedingt feststeht — oder vielleicht sogar sehr zweifelhaft ist — , an-
sah ; diese Oberzeugung hatte der Verfasser durch seine Untersuchungen über
Mittelwerte3) gewonnen.
Resultate von Beobachtungen sind in der Regel als Gruppen von Werten
gegeben, die man durch eine oder doch durch nur wenige Zahlen darzustellen
sucht. Stützt man sich bei dieser Auswahl repräsentativer Werte auf die
1) Man kann nicht sagen >beim Ausgehen von Stille <, weil es sich bei
dem gewählten Arrangement eher darum handelte, in einem durch das Aus-
strömen eines starken Luftstromes erzeugten Geräusch einen Ton wabnn-
nehmen.
2) E.W. Scripture and H. F. Smith, Experiments on the Highest
Audible Tone. Studies from the Yale Laboratory. Vol. 2. WM.
S. 106—113.
3) E. W. Scripture, On Mean Values for Direct Measurements. Studies
from the Yale Psychological Laboratory. Vol. 2. 1894. S. 1—39.
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Literatlirbericht. 125
Verteilungsfunktion <jp (x), bo kann man entweder den Wert der mittleren
Wahrscheinlichkeit xm , für den
J<p (x) rf i [x)dz — l
ist, oder den Mittelwert
GO
| *=>j x <p («) dx ,
— 00
oder schließlich den wahrscheinlichsten Wert, für den <p (x) ein Maximum
hat, als repräsentativen Wert wählen. Geht man von algebraischen Gesichts-
punkten ans, so kommen zunächst die kombinatorischen Mittel in Betracht
Diese sind
i
Fi (*) = V „
2
l/ 1 • 2 v
n (w — 1)
l/ 1 -2 ... r 2' , xa xß . . . xQ »)
u ,
Fn (x) <= ]/x, X, ... X„ .
Von praktischer Bedeutung ist nur Fi (x), das arithmetische Mittel, und
Fn (x), das geometrische Mittel. Von größerer Bedeutung sind die Potenz-
mittelwerte
Pi =
P*
Pn =
n
Nach Analogie wird noch p0 eingeführt durch
1) Im Texte Scriptures ist das Produkt deB Nenners bis [n — r) fort-
gesetzt, enthält also ein Glied zu viel, wie sich aus der Vergleichung mit
Ft {») und Fn (x) ergibt.
126
Literaturbericht.
woraus p„ als eine unbestimmte Größe definiert wird. Dies wird dahin inter-
pretiert, daß der Zentralwert M=> p0{x) nicht von den numerischen Werten
x,, xt, . .. xn abhängt. Als weiteres Prinzip für die Auswahl eines repräsen-
tativen Wertes wird die Eigenschaft eingeführt, eine bestimmte Funktion der
Abweichungen zu einem Minimum zu machen.
Es mag zn dieser Einteilung der flir die Auswahl eines repräsentativen
Wertes maßgebenden Gesichtspunkte folgende Bemerkung gemacht werden.
Der Mittelwert, der wahrscheinlichste Wert und der Wert der mittleren Wahr-
scheinlichkeit hängen offenbar von der Verteilungsfunktion ab. Das von
Scripture an letzter Stelle erwähnte Prinzip ist nicht ganz richtig ausge-
drückt, da es sich in den Fallen, wo man es anwendet, ursprünglich nicht
darum handelt, eine bestimmte Abweichungsfnnktion an einem Minimnm,
sondern die Wahrscheinlichkeit des Zugleichbestehens einer gegebenen Reihe
von Abweichungen zu einem Maximum zu machen. Dieses Problem läßt sich
aber nur lösen, wenn man die Verteilungsfunktion kennt, aber man kann
umgekehrt die Natur der Verteilungsfunktion erschließen, wenn der wahr-
scheinlichste Wert gegeben ist. So setzt man für Beobachtungen einer
empirischen Konstante das gewöhnliche Fehlerverteilungsgesetz voraas and
findet, daß das Zusammenbestehen jener Fehler am wahrscheinlichsten ist
die ein gewisses Produkt zu einem Maximum machen. Es stellt sich ferner
heraus, daß das Produkt ein Maximum hat, wenn die Summe der Quadrate
der Abweichungen ein Minimum ist, und hieraus folgt, daß die wahrschein-
lichste Bestimmung einer empirischen Konstante durch das arithmetieche
Mittel der Beobachtungen gegeben ist Umgekehrt kann man aus der Tat-
sache, daß für eine Reihe von Beobachtungen einer Größe das arithmetische
Mittel als wahrscheinlichster Wert angesehen wird, das Fehlerverteilungsge-
setz erschließen. Falls man aber weder die Natur der Verteilungsfunktion
kennt, noch einen Grund hat, irgendeinen bestimmten Wert als wahrschein-
lichsten Wert anzusehen, so hat es keinen besonderen Sinn, irgendeine Funk-
tion der Abweichungen zu einem Minimum zu machen. Die Auswahl eine«
Wertes, der eine bestimmte Funktion der Abweichungen zu einem Minimum
macht, stützt sich also auch auf die Verteilungsfunktion, so daß für die Aus-
wahl von repräsentativen Werten nur algebraische Gesichtspunkte und Voraus-
setzungen über die Verteilungsfunktion in Betracht kommen. Bei Scrip-
tures Besprechung der Potenzmittel vermißt man den Satz, daß sich alle
symmetrischen Funktionen durch die elementar -symmetrischen Funktionen
ausdrücken lassen, durch welchen der Zusammenhang der verschiedenen
Potenzmittel sehr an Klarheit gewinnt. Es scheint also, daß man die Aus-
wahl eines für eine Gruppe von Beobachtungen charakteristischen Wertes
nur nach algebraischen Gesichtspunkten oder auf Grund der Verteilungs-
funktion treffen kann. Die Abhandlung Scriptures, Uber die hier kurx
berichtet wurde, macht insofern einen eigentümlichen Eindruck, als die Zita-
tionen einen unverhältnismäßig großen Raum einnehmen.
Eine zusammenfassende, aber kurze Darstellung der psychophysischen
Methoden wurde von Sanford1) gegeben. Der Verfasser unterscheidet vier
Probleme, die eine quantitative Behandlung zulassen. 1) Welches ist die ge-
ringste Intensität des Reizes, die eine Empfindung hervorbringt? 2) Welches
1) E. C. Sanford, A Course in Experimental Psychology. 1898. Part. L
S. 341-362.
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Literaturbericht.
127
ist der Reiz, der an einer Stelle des Körpers, oder unter gegebenen Bedin-
gungen, einem Reize von gegebener Intensität an einer anderen Körperstelle,
oder unter anderen Bedingungen, gleich ist? 3) Welches ist die kleinste
wahrnehmbare Differenz zwischen zwei Reizen? 4) Welches ist das Verhält*
nie mehrerer Reize, deren Unterschiede gleich zu sein scheinen? Zur Lösung
dieser Aufgaben dienen drei Methoden : die Methode der Minimaländerungen,
die Methode der r. und f. F. und die Methode des durchschnittlichen Fehlers.
Bei der Methode der Minimaländerungen verlangt der Verfasser die Bestim-
mung des ebm. pos. U., des ebenunm. pos. U., des ebm. neg. U. und des
ebenunm. neg. U. Der ebm. pos. U. und der ebenunm. neg. U. werden in auf-
steigenden und die beiden anderen Größen in absteigenden Reihen bestimmt.
Das Endresultat der Bestimmung der Unterschiedsschwelle ist das arithme-
tische Mittel aus diesen vier Größen. Die Konstanz der erhaltenen Resultate
wird durch die durchschnittliche Abweichung vom Mittel angegeben. Es
folgen Bemerkungen Uber den Zeit- und Raumfehler und Uber die Notwendig-
keit, den Einfluß der Erwartung zu vermeiden. Die Hauptschwierigkeit der
Methode der Minimaländerungen besteht darin, daß die Ebenmerklichkeit
eines Reizes oder eines Unterschiedes ausschließlich subjektiv ist und not-
wendig von der Neigung der Vp., einen Fehler zu riskieren, abhängt. Dieser
Umstand wird aber nicht als eine wesentliche Beeinträchtigung der Methode
angesehen.
In der Methode der r. und f. F. unterscheidet Verfasser zwischen dem
klassischen Verfahren und dem von Jastrow, Fullerton und Gatteil
empfohlenen abgekürzten Verfahren. Nach dem ersten Verfahren macht man
Versuche in beiden Raumlagen mit positiven und negativen gleichen Diffe-
renzen für denselben Normalreiz. Man bestimmt h und S, die wahrschein-
liche Schwelle«, nach folgenden Formeln, in denen /, die Zahl / in der
Fechnerschen Tabelle bezeichnet, die der beobachteten relativen Häufig-
keit der richtigen Fälle entspricht, und ls die der verhältnismäßigen Anzahl
der richtigen und Gleichheitafälle entsprechende Zahl t der Tabelle ist, wäh-
rend D die verwendete Differenz der Intensitäten bezeichnet.
Da die einzelnen Bestimmungen durch zufällige Fehler beeinflußt sind,
so muß das Mittel der in den vier verschiedenen Raum- und Zeitlagen ge-
wonnenen Resultate genommen werden, wofür sich ergibt
Tt + Tt 4- T, -f Tx
wenn T-a-'-T^ 1 für eine bestimmte Raum- und Zeitlage ist. In ähnlicher
u
Weise können die Zeit- und Raumfehler ausgedrückt werden. Ist C der
Fehler, wenn der Normalreiz rechts liegt, und C" der Fehler, wenn der
Normalreiz mit einem größeren Reiz verglichen wird, so hat man in den
eingeführten Bezeichnungen
C — Tl.TTt.+J'a — T% D
" ~ Tt + Tt + 7' + T4 '
C" — -H -^l ~~ ffi + ^4 75
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128
Literaturbericht.
In dieser Beschreibung der Methode ist die Behandlung der Gleichheits-
fälle insofern wichtig, als diese Fälle nicht geteilt werden. Als abgekürzte
Methode der r. und f. F. wird die Methode der Bestimmung des wahrschein-
lichen Fehlers gegeben, wobei sich Verfasser an Fullerton und Cattell
anschließt. Sanford gelingt es auch hier, den Wert der Zeit- und Raum-
fehler zu bestimmen. Ist der C- Betrag des konstanten Fehlers in einer be-
stimmten Raum- oder Zeitlage, so ist die wirksame Differenz nicht />, son-
dern D 4- C in dem einen Falle und D — C im zweiten Falle. Bezeichnet
man den wahrscheinlichen Fehler mit P E, so ist
D -f- C _ D — C f 2_C
PE PE ™ P E '
Man kann solche Erwägungen auch zur Elimination der konstanten Fehler
benutzen.
Die Methode des mittleren Fehlers wird als Herstellungsmethode be-
schrieben und es wird die durchschnittliche Abweichung als Maß der Emp-
findlichkeit genommen. Verfasser meint, daß die Resultate der Methode der
r. und f. F. und des durchschnittlichen Fehlers Ubereinstimmen müssen, weil
beide Methoden sich auf die Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung
stützen. In einem vom Verfasser im Texte mitgeteilten numerischen Bei-
spiele wurde für h der Wert 0,20 gefunden, was für den wahrscheinlichen
Fehler 2,38 gibt, während bei Anwendung der Methode des durchschnittlichen
Fehlers h = 0,26 ist und für den wahrscheinlichen Fehler 1,81 gefunden wird.
Verfasser glaubt hieraus schließen zu können, daß die Vp. in den nach der
letzteren Methode angestellten Versuchen empfindlicher war, ein Schluß, der
allerdings hinfällig wird, wenn die beiden Methoden nicht dieselbe Größe be-
stimmen sollten.
Eine logische Analyse der psychophysischen Methoden wurde von Holt*:
versucht Die üblichen Einteilungen der Maßmethoden sieht der Verfasser
als nicht stichhaltig an, weil es tatsächlich Verfahrungsweisen gibt, welche
die Eigenschaften verschiedener Methoden haben, ohne doch Kombinationen
dieser zu sein, weil ihnen wesentliche Züge fehlen. Zur Erläuterung dient
folgendes Beispiel. Es kann geschehen, daß man mit einer Vp. nicht die
große Zahl von Versuchen, die zur Anwendung der Methode der r. und f. F.
erforderlich ist, mit einem Paare von Reizen machen kann, daß man aber
doch mit verschiedenen Vergleichsreizen eine beträchtliche Anzahl von Ver-
suchen auszuführen imstande ist. Verfasser schlägt vor, die Voraussetzungen
der Methode der r. und f. F. zu machen und aus den Daten das Präzision**
maß nach der Methode der kleinsten Quadrate zu bestimmen. Ein solches
Verfahren habe den Ausgangspunkt mit der Methode der r. und f. F. gemein,
komme aber mit der Methode der Minimaländerungen in der Form der ge-
wonnenen Daten Uberein. Ähnlich ist der von W u n d t angeführte Fall, daß
Resultate, die bei der Methode der mittleren Abstufungen gewonnen werden,
auch nach der Methode der r. und f. F. behandelt werden können. Die Me-
thode der r. und f. F. ist demnach kein Verfahren , um Daten zu sammeln,
sondern nur, um sie auszuwerten. Die Unklarheiten der gebräuchlichen Ein-
teilungen der psychophysischen Maßmethoden erklären sich daraus, daß diese
1 E B. Holt, The Classification of Psychophysic Methods. Psycho-
logical Review. Vol. 11. 1904. S. 343-369.
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Literaturbericht,
129
Methoden Produkte einer historischen Entwicklung sind und in der Form,
in welcher sie vorliegen, noch die Spuren ihres Wachstums an sich tragen.
Verfasser kritisiert zunächst Wund ts Einteilung. Bei der Besprechung der
Methode der Minimaländerungen wird gefunden, daß für diese Methode nur
die Aufgabe der Bestimmung eines ebm. U. wesentlich ist; die Reihenfolge,
in welcher die VergleichBreize dargeboten werden, ist für dieses Verfahren
nicht wesentlich, wie aus der Tatsache hervorgeht, daß Wund t die Methode
der unregelmäßigen Änderung des Vergleichsreizes als Abart der Methode
der Minimaländerungen beschreibt. Ebensowenig ist die Methode der mitt-
leren Abstufungen eine Methode im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern
sie ist nur die Stellung der Aufgabe, den ebm. U. zwischen zwei Distanzen
der Empfindung zu finden. Für die Lösung dieser Aufgaben ist erstens ein
experimentelles Verfahren erforderlich, durch das man Urteile der drei
Klassen »größer«, »kleiner« und »gleich« für verschiedene Intensitäten des
Vergleichsreizes erhält. Verfasser erläutert diese Verteilung durch eine Zeich-
nung, die der, welche Klilpe fUr die Verteilung der drei Urteilsarten gibt,
ähnlich ist. Ein Unterschied zwischen den Kurven Holts und Kiilpes
liegt darin, daß in der Zeichnung Holts das Maximum der relativen Häutig-
keit der Gleichheitsurteile bedeutend größer ist. was ein rascheres Ansteigen
und Abfallen der Kurven zur Folge hat. Das zweite Erfordernis einer
psychophysischen Methode besteht darin, daß eine Vorschrift für die Ab-
leitung eines Maßes der Empfindlichkeit aus den gewonnenen Resultaten
gegeben wird. Die Methode des mittleren Fehlers hat beide Eigenschaften
und wird deshalb nicht nur als Stellung eines Problems, sondern auch als
eigentliche Methode angesehen , während die Methode der r. und f. F. nur
als Rechnungsverfahren zur Verwertung gewonnener Daten gelten kann.
Das Wesen der letzteren Methode besteht darin, daß ein Maß für das An-
steigen und Abfallen der Verteilungsfunktionen für solche Versuchsresultate
abgeleitet wird, in denen nur mit einem Paare von Reizen gearbeitet wurde.
Es ist schwer, mit dem Verf. übereinzustimmen. Falls bei der Methode
des mittleren Fehlers das Vorhandensein einer Vorschrift nicht nur für die
Gewinnung, sondern auch für die Verwertung von Versuchsresultaten zuge-
standen wird, so kann man es kaum in Abrede stellen, daß Wundts Be-
schreibung der Methode der ebm. U. ebenfalls die Stellung eines Problems
und ein Rechenverfahren für die Bearbeitung der Resultate gibt und deshalb
eine Methode im eigentlichen Sinne des Wortes ist. Wundts Beschreibung
dieser Methode läßt keinen Zweifel, wie die Experimente anzustellen sind,
und die von ihm geforderte Anwendung des Algorithmus der Methode der
kleinsten Quadrate gibt für jede Gruppe von Versuchsergebnissen ein be-
stimmtes Resultat Die Tatsache, daß Wundt die Methode der unregel-
mäßigen Änderung des Vergleichsreizes als Abart der Methode der ebm. U.
beschreibt, ändert den Sachverhalt nicht wesentlich, da man auf so gewon-
nene Resultate die Metbode der Minimaländerungen direkt gar nicht an-
wenden kann. Ähnliche Erwägungen gelten für die Methode der r. und f. F.,
einerlei ob man sie in der klassischen Form, in der sie von Fechner und
Wundt beschrieben wurde, oder in der Form nimmt, in der Müller und
Titchener diese Methode dargestellt haben. Wir können uns auf die
entere Form der Methode der r. und f. F. beschränken, da der Verfasser zur
Zeit der Niederschrift des Artikels noch nicht mit der letzteren Methode be-
kannt war. Die Methode in ihrer klassischen Form gibt eine Anweisung für
AicWt für Psychologie. XI. LiUnrtur. 9
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Literaturbericht.
die Herstellung einer Versuchsreihe, indem sie die Forderung aufstellt, nnr
mit einem Vergleichsreize zu arbeiten. Diese Forderung ist für die klassische
Form der Methode so unerläßlich, daß Resultate von Experimenten mit meh-
reren Vergleichereizen gar nicht verwertet werden können. Das Problem
der Methode besteht demnach in der Feststellung der relativen Häufigkeit
gewisser Urteilsformen. Über das Vorhandensein eines bestimmten Algorith-
mus für die Verwertung der gewonnenen Daten besteht kein Zweifel, d»
Verfasser diese Methode nur als eine Bechen Vorschrift ansieht Die Methode
stellt auch nicht, wie Verfasser meint, einen Ausweg zur Behandlung von
Resultaten vor, bei deren Gewinnung man aus irgendeinem Grunde nur mit
einem Vergleichsreiz arbeiten konnte, sondern mau arbeitet nur mit einem
Vergleichsreiz, weil nach den Voraussetzungen der Methode die Verteilungs-
funktionen der verschiedenen Urteile nur von einem Parameter abhängen, zu
dessen Bestimmung eine Beobachtung hinreicht.
Nach einer kürzeren Besprechung der von Kttlpe und Ebbinghau»
gegebenen Einteilungen der psychophysischen Methoden zieht der Verfasser
aus seinen Erwägungen folgende Schlüsse. Es gibt vier Probleme der
Psychophysik , welche quantitativ behandelt werden können: 1} die Reiz-
schwelle, 2) der ebm. U., 3) der e benimm. U. und 4) Gleichheit des übermerk-
lichen Unterschiedes der Reize. Es gibt eine beträchtliche Zahl verschie-
dener Verfahrungsweisen zur Lösung dieser Aufgaben, die alle darin Uberein-
kommen, den Verlauf der Verteilungsfunktionen der verschiedenen Urteile
ganz oder zum Teil zu bestimmen, so daß man die Steilheit wenigstens einer
Kurve bestimmen kann. Die Verschiedenheit der Verfahrungsweisen hat nicht
so sehr ihren Grund in der Willkür des Experimentators, als vielmehr in zu-
fälligen Umständen, die sich einer logisch strengen Einteilung entziehen.
Es gibt nur zwei Methoden für die Auswertung der erhaltenen Daten, wenn
man darunter ein Rechnungsverfahren versteht, das es gestattet, das An-
steigen und Abfallen der Verteilungsfunktionen angenähert oder genau zu
bestimmen. Dies sind die Methode des mittleren Fehlers und die Methode
der r. und f. F. Der Unterschied zwischen diesen beiden Methoden liegt nur
in ihrer Genauigkeit. Die erste Methode stützt sich auf die Berechnung des
Mittels und des mittleren Fehlers oder des wahrscheinlichen Fehlers, während
die zweite Methode die Gleichung von Gauß zur Bestimmung des Präzisions-
maßes benutzt.
Eine ausgezeichnete Darstellung des gegenwärtigen Standes der psycho-
physischen Methoden wurde von Titchener1) im zweiten Bande seiner
>Experimental Psychology« gegeben. Das Werk besteht aus zwei Teilen,
deren erster die Beschreibung der Methoden gibt, während der zweite histo-
rische und kritische Bemerkungen sowie solche theoretische Betrachtungen
enthält, die wohl für ein genaueres Verständnis der Methoden, nicht aber
flir deren Anwendung unentbehrlich sind. Wir beschränken uns in diesem
Berichte auf die Ausführungen des ersten Teiles, während die historischen
und kritischen Betrachtungen des zweiten Teiles nur soweit in Betracht ge-
zogen wurden , als es erforderlich schien. Beim ersten Anblick des Textes
fällt zunächst der durchgängige Gebrauch von Abkürzungen auf, die sich
1) E. B. Titchener, Experimental Psychology. A Manual of Labora-
tory Practice. Vol. 2. Quantitative Experiments. Part. 1, S. 38—119; Part. 2,
S. 93-318.
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Literaturbericht.
131
auf gewisse ständig wiederkehrende Ausdrücke wie Reiz, Empfindung,
Schwelle usf. beziehen. Man muß sich also vor dem Lesen des Buches mit
diesen Abkürzungen vertraut machen, was aber keine besonderen Schwierig-
keiten macht, da die Zeichen mit Rücksicht auf leichte Merklichkeit gewählt
sind. Die konsequente Anwendung solcher Abkürzungen wurde von Tit-
chener schon früher gefordert1).
Im ersten Kapitel wird der Begriff der qualitativen und intensiven Reiz-
schwelle und der Begriff der Reizhühe eingeführt. Das zweite Kapitel, das
die Beschreibung der metrischen Methoden enthält, beginnt mit einer elemen-
taren Darstellung des Fehle rgesetzes. Bei der Beschreibung der Methode der
ebin. U. wird zwischen konstanten, variabeln und zufälligen Fehlern unter-
schieden. Als konstanter Fehler wird der Raumfehler augesehen; dieser
wird dadurch eliminiert, daß Normalreiz und Vergleichsreiz in beiden Raum-
lagen dargeboten werden. Als variable Fehler werden Übung, Ermüdung,
Erwartung und Gewöhnung angeführt. Der Einfluß der Erwartung ist zwei-
fach. Zunächst wird die Vp. in Reihen, die von Unmerklichkeit des Unter-
schiedes ausgehen, umso geneigter eine Veränderung wahrzunehmen, je länger
die Reihe fortschreitet. Andererseits kann es aber auch geschehen, daß die
Vp. in einer solchen Reihe glaubt, von dem zu erwartenden Unterschiede
noch entfernt zu sein, und die Erwartung nicht auf Verschiedenheit, sondern
auf Gleichheit der Reize eingestellt ist Ebenso wird die Gewöhnung, das
Wort »gleich« auszusprechen, der Wiederholung desselben Wortes eine ge-
wisse Wahrscheinlichkeit geben. Diese Fehler sind unvermeidlich und man
muß trachten, sie durch ein geeignetes Versuchsarrangement zu vermeiden
oder doch ihren Einfluß auf ein Minimum zu beschränken. Jede einzelne
Bestimmung der Schwelle steht nicht nur unter dem Einflüsse der konstanten,
sondern auch der variablen und zufälligen Fehler, deren Betrag man nicht
abschätzen kann. Die Schwelle ist demnach nur ein idealer Wert und be-
deutet jene Intensität des Vergleichsreizes, die nach Elimination aller kon-
stanten, variablen und zufälligen Fehler von einer genauen Vp. als eben-
merklich verschieden beurteilt werden würde. Der berechnete Wert iBt nur
eine Annäherung an diesen idealen Wert und gilt nur für die Bedingungen,
unter denen er bestimmt wurde. Man findet für die Schwelle jenen Wert,
der in 60 % aller Fälle richtig erkannt wird, während er in den übrigen
Füllen entweder nur undentlich erkannt oder falsch beurteilt wird.
Für die Bestimmung der Schwelle selbst werden folgende Vorschriften
gegeben. Man bestimmt zuerst bei Ausgehen von Unmerklichkeit den ebm.
pos. U. und hierauf bei Ausgehen von Ungleichheit den ebenunm. pos. U.
und nimmt von beiden Werten das Mittel. Die ungefähre Lage der Schwelle
muß durch Vorversuche bestimmt werden, und die Schritte, mit denen man
sich der Schwelle nähert, müssen klein sein. Falls bei objektiver Gleichheit
der Reize einer der* Reize als grüßer erscheint, muß man von subjektiver
Gleichheit ausgehen. Falls es nicht möglich ist, einen Vergleichsreiz zu finden,
der der subjektiven Gleichheit entspricht, so muß man von einem Reize aus-
gehen, der als kleiner beurteilt wird, wenn die Schwelle in der Richtung der
Zunahme bestimmt werden soll, und von einem als größer beurteilten Unter-
schiede, wenn man die Schwelle in der Richtung der Abnahme bestimmen
1) E. B. Titchener, The English of the Psychophysical Meaaurement
Methods. Amer. Journ. of Psychology. Vol. 9. 1898. S. 327—331.
9«
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132
Literaturbericht.
will. Aufsteigende und absteigende Reihen müssen in abwechselnder Reihen-
folge angewandt werden, und außerdem sollen kurze, mittlere und lange
Versuchsreihen in ungefähr gleicher Anzahl vorkommen. Von der Vp. mu.£
gefordert werden, daß sie die Aufmerksamkeit ganz anf die Wahrnehmung
der Reize richtet Die Vp. muß trachten, vom Einflüsse der Erwartung frei
zu sein, sie darf es aber nicht unternehmen, etwaige Fehler selbst zn korri-
gieren, indem sie ein Urteil abgibt, das diesem Einflüsse Rechnung trägt
Außerdem muß sich die Vp. gegen den Fehler der Voreingenommenheit (error
of bias) hüten. Falls nämlich nicht zwischen Versuchsreihen verschiedener
Lunge abgewechselt wird, kann es geschehen, daß die Vp. bei einem be-
stimmten Vergleichsreiz, z. B. dem vierten oder fünften einer gewissen Reihe,
eine Veränderung erwartet Falls der Verdacht dieses Fehlers aufsteigt, soll
entweder eine kurze oder eine sehr lange Versuchsreihe eingeschoben werden.
Aus den gewonnenen Daten werden folgende Größen abgeleitet: die abso-
luten Schwellen in der Richtung der Zunahme J r0 ■= r0 — r und in der
Richtung der Abnahme J ru = r — r„ ; die relativen Schwellen und
Jr" und die Verhältnisse der Schwellenwerte — und — . Die Ge-
r — Jru r ru
nanigkeit der Resultate wird nach der Methode der kleinsten Quadrate be-
stimmt Bezeichnet man mit v die Abweichungen der Resultate von ihrem
1/ v f *
arithmetischen Mittel, so ist PEX=* 0,6746 f ^ der wahrscheinliche
y. iv
Fehler einer Bestimmung und P Em = 0,6745 \ — r- der wahrschein-
» {n — 1)
liehe Fehler des arithmetischen Mittels. Eine weniger genaue, aber kür-
0,8463 Vp
zere Berechnung dieser Großen ist gegeben durch P Et = - und
V n (n — lj
0,8463 2* r
P Em = . Bezeichnet man die in den beiden Raumlagen ge-
w } (« — 1)
wonnenen Schwellenwerte mit J r, und Jru, so ergibt sich daraus der
Raumfehler q = ~ {J rt — J rn). Die Anwendung der Methode der ebm. U.
wird an Experimenten zur Bestimmung der Unterschiedsschwellen für Hellig-
keiten und für Tonhöhen erklärt Anhangsweise wird im zweiten Teile noch
die Anwendung der Methode der ebm. U. bei kontinuierlicher Veränderung
des Vergleichsreizes besprochen. Es wird jedoch auf die praktischen und
theoretischen Schwierigkeiten dieser Untersuchungen hingewiesen und der
Verfasser beschränkt sich mehr auf die Beschreibung der bei solchen Unter-
suchungen zur Anwendung kommenden Apparate.
Man kann den dieser Beschreibung der Methode der ebm. U. zugrunde
liegenden Gedanken kurz in folgender Weise charakterisieren. Der Schwellen-
wert ist eine Größe, die direkt beobachtet werden kann und deren Beobach-
tung einer Anzahl von Fehlern unterworfen ist. Die konstanten Fehler müssen
eliminiert und der Einfluß der variabeln Fehler muß auf alle Resultate in
gleicherweise verteilt werden. Unter solchen Versuchsbedingungen sind die
Bestimmungen nur zufalligen Fehlern unterworfen, die sich darin äußern,
daß die einzelnen Beobachtungen nicht dasselbe Resultat geben und es werden
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Literaturbericht.
133
deshalb die Beobachtungsresultate nach der Methode der kleinsten Quadrate
ausgeglichen. Diese Ausgleichung setzt voraus, daß es sich um Beobach-
tungen einer Größe handelt, die selbst keinen Schwankungen unterworfen
ist. Diese Bemerkung ist nicht unwichtig, da bei den anderen Methoden die
Schwelle als eine zufälligen Schwankungen unterworfene Größe eingeführt
wird, so daß die Voraussetzungen der beiden Methoden nicht ganz identisch
sind. Folgende Details der Methode der ebm. U. nach der Darstellung
Titcheners sind bemerkenswert Zunächst wird die relative Schwelle in
d T
der Richtung der Abnahme definiert durch " - , was identisch ist mit
d r
, da Jru « r — ru. Außerdem ist hervorzuheben, daß kein allgemeiner
Schwellenwert durch das arithmetische Mittel der beiden Schwellen bestimmt
wird, so daß der Schwellenwert ausschließlich auf die Differenz vom Punkte
subjektiver Gleichheit gestützt wird. Das Mittel -^ Ur0 + 4ru) wird als
>Di8kriminationskon8tante« bezeichnet, der nicht die Bedeutung einer allge-
meinen Schwelle zugeschrieben wird, weil eine solche Interpretation des arith-
metischen Mittels Gleichheit der Schwellen in der Richtung der Zu- und Ab-
nahme vor.msaetzt
Das Wesen der Methode des durchschnittlichen Fehlers besteht in der
Erzeugung eines dem Normalreize gleichen Vergleichsreizes durch die Vp. ;
die Vp. hat den Reiz zu finden, der in bezug auf Gleichheit mit dem Normal-
reize am besten befriedigt. Aufsteigende und absteigende Reihen werden in
beiden Raumlagen in gleicher Anzahl ausgeführt, wobei durch ein geeignetes
Arrangement der Versuche der Einfluß der variabeln Fehler gleichmäßig auf
alle Resultate verteilt werden muß. Das arithmetische Mittel der Resultate
ist der Schätzungswert des Reizes und die Abweichungen hiervon sind die
Beobachtungsfehler der Vp. Bezeichnet man die einzelnen Fehler mit ck und
ist n die Anzahl der Versuche, so iBt e„t = - - der durchschnittliche
n
variable Fehler. Unter den Einflüssen, die das Schwanken der einzelnen
Versuchsresultate erzeugen, wird die Größe und Veränderlichkeit der Unter-
schiedsschwelle erwähnt. Der durchschnittliche Fehler steht in keiner direkten
Beziehung zu der nach der Methode der ebm. U. bestimmten Schwelle, 1) weil
der ebm. U. die Intensität jenes Reizes ist, bei welcher sich das Urteil ändert,
und der durchschnittliche Fehler jenen Punkt angibt, an dem sich die Vp.
für Gleichheit der Reize entscheidet, und 2) weil die Grüße * in der
n
Methode der ebm. U. die Genauigkeit der Beobachtung darstellt, während em
ein Maß der Genauigkeit der Einstellung des Vergleichsreizes ist. Für die
Auswertung der gewonnenen Resultate ist es wichtig, die Resultate zu frak-
tionieren und in jeder Gruppe, in der der Einfluß der variablen Fehler als
konstant vorausgesetzt werden kann, den durchschnittlichen Fehler zu finden,
worauf schließlich aus den Ergebnissen der einzelnen Gruppen das Mittel
genommen wird. Der konstante Fehler c besteht zum Teil aus dem Rauin-
1) Die Diskussion des Volkmannschen Schwellenbegriffes gibt Tit-
chener, a. a. 0. 2. Teil. S. 112ff.
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134
Literaturbericht.
fehler 9, der in den verschiedenen Raumlagen entgegengesetzt und gleich
ist. Wäre der Schätzungswert in den beiden Raumlagen gleich, so mößte
stete e 0 sein. Du dies nicht der Fall ist, so hingt e noch von einem
anderen Faktor « ab, der Ton der Raumlage unabhängig ist Es ist also
rmi — r — q + s und rma — r «= q + «,
woraus sich ergibt:
* = 2 UQd * " 2 r-
Die Entscheidung, ob die Differenz des Mittels von der Intensität des
Noruialreizes einen konstanten Fehler darstellt, kann entweder in der Weise
geschehen, indem man die Resultate fraktioniert nnd das Vorzeichen der
Differenz in den einzelnen Gruppen untersucht, oder indem man sich auf den
wahrscheinlichen Fehler stützt. Übereinstimmendes Vorzeichen in den ver-
schiedeneu Gruppen oder eine den wahrscheinlichen Fehler beträchtlich über-
steigende Differenz sind charakteristisch für das Vorhandensein eines kon-
stanten Fehlers. Die Methode wird an Experimenten über Herstellung gleicher
visueller Eindrücke erläutert.
Ein spezieller Fall der Methode des durchschnittlichen Fehlers wird aU
Methode der Äquivalente beschrieben. Wird der Normalreiz an einem Sinnes-
organ appliziert, das — wie die Haut — an verschiedenen Stellen eine ver-
schiedene Empfindlichkeit hat, so kann man die Frage stellen, welche Inten-
sitäten gleich erscheinen, wenn sie an Stellen verschiedener Empfindlichkeit
appliziert werden. Wegen der bei einem solchen Arrangement unvermeid-
lichen experimentellen Schwierigkeiten empfiehlt der Verfasser im allgemeinen,
das Prinzip der SelbsteinBtellung aufzugeben und die Methode der ebm. ü
anzuwenden.
Die Methode der mittleren Abstufungen stellt das Problem, zwischei
zwei feste Reize einen variabeln Reiz so einzuschalten, daß er von beiden
Reizen gleich weit entfernt zu sein scheint Zur Lösung dieser Aufgabe kann
man in verschiedener Weise verfahren. Zunächst ist es ein naheliegender
Gedanke, das Prinzip der Methode der ebm. U. anzuwenden und in aufzei-
genden und absteigenden Reihen den Punkt zu bestimmen, wo zum ersten
Male das Urteil auf Gleichheit der Intervalle abgegeben wird und hierauf die
Reihe so weit fortzusetzen, bis wieder ein Unterschied wahrgenommen wird
Man erhält so vier verschiedene Werte, deren arithmetisches Mittel die wahr-
scheinlichste Bestimmung des Reizes ist, der für die Empfindung das Inter-
vall zwischen den beiden gegebenen Reizen halbiert. Eliminiert man noch
den Zeitfehler, so ist das schließliche Ergebnis so genau, als man es mit der
verfügbaren Zahl von Versuchen erbalton kann.
Zweitens kann man die Methode der unregelmäßigen Variation des Ver-
gleichsreizes anwenden. Die Vergleichsreize folgen nicht in abnehmender
oder zunehmender Intensität sondern bald erscheint die Entfernung des Ver-
gleichsreizes vom oberen, bald vom unteren Normalreize größer zu sein. Die
Urteile, die die Vp. abgibt, sind »zu groß«, »zu klein« und »Mitte«; das Ur-
teil »unentschieden« ist auch zuzulassen. Bei der Auswahl der Intensitäten
des Vergleichsreizes hat man darauf zu achten, daß die Zeitlagen häufig ge-
wechselt werden und daß in aufeinander folgenden Versuchen die Intensitäts-
differenzen der Vergleichsreize nicht zu klein sind, und schließlich muß für
jeden Versuch, der in einer bestimmten Raum- und Zeitlage gemacht
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Literaturbericht.
135
ein anderer vorgesehen werden, bei dem diese Bedingungen gerade entgegen-
gesetzt sind. Durch solche Versuche bestimmt man die Häufigkeit, mit welcher
sich bei einer gegebenen Intensität des Vergleichsreizes die verschiedenen
Urteile einstellen; wir bezeichnen die Anzahl der auf einen bestimmten Ver-
gleichsreiz abgegebenen Urteile >zu große, >zu klein« und »Mitte« der Reihe
nach mit h, l und m. Es werden zunächst die m zwischen die l und h ver-
teilt und so die korrigierten Zahlen der absoluten Häufigkeiten V = 1 +
und h' = h + g gewonnen. Als Rechtfertigung für dieses Verfahren wird
angegeben, daß der Unterschied zwischen den m-Urteilen einerseits und den
h- und /-Urteilen andererseits nur quantitativ ist; die eben unterscheidbaren
A- und /-Fälle sind weniger von den wi-Fällen als voneinander verschieden.
Aus den korrigierten Zahlen der absoluten Häufigkeiten bestimmt man die
relativen Häufigkeiten und findet durch Interpolation die Intensität des Ver-
1
gleichsreizes , fUr welche /' = h' « g . Titchener gibt eine Formel für
die Interpolation auf einer geraden Linie. Allgemein muß bemerkt werden,
daß die Auswahl der Vergleichsreize bei diesem Verfahren von Wichtigkeit
ist Man wird selbstverständlich soweit als möglich die Beobachtungen über
das ganze Intervall erstrecken, in dem Bich die relativen Häufigkeiten raech
verändern, wobei man aber auch dem Umstände Rechnung tragen muß, daß
man nur eine beschränkte Zahl von Versuchen ausfuhren kann, weshalb man
sich auf eine nicht zu große Zahl von Vergleichsreizen beschränken muß.
Es wird nun häufig geschehen, daß die gewählten Intervalle so groß sind,
daß man nicht gern auf einer geraden Linie interpoliert, um nicht bei der
Rechnung an Genauigkeit zu verlieren, was man durch die Zahl der Experi-
mente mit zahlreicheren Vergleichsreizen gewonnen hat. Interpoliert man
nämlich auf einer geraden Linie, so kommen für die Bestimmung des End-
resultates nur die Experimente mit jenen Vergleichsreizen in Betracht , die
das Intervall, in dem der Wert ^ liegt, begrenzen, während man offenbar
diese Bestimmung auf alle Beobachtungen in gleicher Weise stützen möchte.
Es ist hier nun der Umstand wichtig, daß die Wahrscheinlichkeiten in dem
Intervalle, in dem sich der Wert findet, rasch wachsen, in kleineren Inter-
vallen aber sich von geraden Linien nicht viel unterscheiden. Es empfiehlt
sich, in dem zu untersuchenden Intervalle mit Hilfe der Lagrangeschen
Interpolationsformel oder mit Newtons Methode der Differenzen genau zu
interpolieren und den Verlauf der Änderungen graphisch darzustellen. Liegt
die Kurve gezeichnet vor, so kann man mit Hilfe des Verfahrens, das Perry
die Probe des gespannten Fadens nennt, leicht die Länge des Intervalle«
bestimmen, in welchem man die Kurve als gerade Linie ansehen kann. Man
braucht also mit der genauen Interpolation nicht weiter zu gehen und kann
dann auf einer geraden Linie interpolieren.
Titchener bemerkt, daß dieses zweite Verfahren der Methode der
mittleren Abstufungen den Nachteil hat, kein Maß für die Genauigkeit der
ausgeführten Bestimmung zu geben. Hierzu kommt noch ein weiterer Übel-
stand, dem nicht leicht abzuhelfen ist Die Rechnung stützt sich auf Be-
obachtungen gewisser relativer Häufigkeiten, welche als empirische Bestim-
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136
Literaturbericht.
mungen der den Ereignissen unterliegenden Wahrscheinlichkeiten anzusehen
sind. Die Genauigkeit empirischer Bestimmungen von Wahrscheinlichkeiten
hängt in der Weise von den zu bestimmenden Wahrscheinlichkeiten ab, daß
sie um so kleiner ist, je mehr sich die Werte der Wahrscheinlichkeit dem
Werte ~- nähern, und daß die Bestimmungen umso genauer werden, je
näher die fraglichen Wahrscheinlichkeiten an 0 oder 1 heranrücken. Das
Resultat der beschriebenen Methode hängt nun bei Interpolation auf einer
geraden Linie ausschließlich und bei vollständiger Interpolation hauptsäch-
lieh von den Werte» »b, die dem Werte 1 »m nüeh.ten kommen, und «
sind also gerade die Beobachtungen geringster Genauigkeit, welche für das
Resultat entscheidend sind. Dieser Übelstand läßt sich nicht vermeiden,
wenn man nicht die Resultate einer Ausgleichsrechnung unterwerfen will
Unter den Abarten der Methode der mittleren Abstufungen wird eine
Herstellungsmethode erwähnt, deren Resultate jedoch sehr ungenau sind.
Ferner wird die Methode der r. und f. F. beschrieben . welche den Vorzug
hat, ein Genauigkeitsmaß der ausgeführten Bestimmung zu liefern. An Ver-
suchen mit Schallintensitäten und an De Iboeufs Experimenten über Hellig-
keitsgrade wird dieses Verfahren illustriert.
Bei der Methode der konstanten Vergleichsreize (Methode der r. und f. F.'t
zur Bestimmung der Reizschwelle läßt man die Vp. auf dieselben Intensitäts-
differenzen wiederholt Urteile abgeben und berechnet aus den beobachteten
Zahlen der relativen Häufigkeit der verschiedenen Urteile die Reizdifferenx,
die der Schwelle entspricht. Das Verfahren wird an ästhesiometrischen Ver-
suchen erklärt : es soll die Entfernung zweier Zirkelspitzen gefunden werden,
in der die Spitzen als verschiedene Punkte empfunden werden. Gegeben
aind die Resultate einer Versuchsreihe, in der die Vp. die Urteile »Zwei
Punkte«, »Ein Punkt« und »Zweifelhaft« abgeben konnte. Die verwendeten
Distanzen waren 0, 0,6, 1, 1,5, 2, 3, 4, 5 und 6 Pariser Linien; die relativen
Häufigkeiten des Urteiles »Zwei Punkte« waren 0,30, 0,10, 0,14, 0,40, 0.66,
0,80, 0,87, 0,96 und 1,00. Die Schwelle ist eine unter dem Einflüsse variabler
und zufälliger Fehler veränderliche Größe, deren Abweichungen von dem
wahrscheinlichsten Werte jedoch um so unwahrscheinlicher werden, je größer
sie sind. Die Wahrscheinlichkeit einer Abweichung ist demnach eine Funk-
tion der Größe dieser Abweichung, die auf beiden Seiten eines gewissen
Maximums stets abnimmt. Hierauf und auf die Tatsache, daß alle erst-
klassigen Versuchsresultate diese Regelmäßigkeit zeigen, gründet der Ver-
fasser die Vorschrift, alle Inversionen erster Ordnung und die größeren In-
versionen zweiter Ordnung auszuschließen. Es scheint nicht, daß die Gründe
für die Ausschließung der Inversionen völlig stichhaltig sind. Wir wollen
zwei aufeinander folgende Intensitäten der Vergleichsreize rk und rk ( und
die für Bie bestehenden Wahrscheinlichkeiten für ein »Zwei Punkte «»Urteil
p. und v. nennen, wobei p, > p, . Macht man mit jedem der beiden
* k + 1 • k i rk J
Vergleichsreize * Versuche, so besteht in beiden Gruppen für jede beliebige
Abweichung von den wahrscheinlichsten Ergebnissen s pk und spk eine
gewisse angebbare Wahrscheinlichkeit, und es besteht darum auch eine be-
stimmte Wahrscheinlichkeit für das Eintreten des Ereignisses, daß die be-
obachtete relative Häufigkeit dieser Urteile für rk größer ist als für rk ^ (-
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Literaturbericht.
137
Die Wahrscheinlichkeit dieses Ereignisses ist um so geringer, je größer der
Unterschied zwischen pk und ph + ist; diese Tatsache ist eine weitere
Stütze für die oben gemachte Bemerkung, daß man in der Wahl der Ver-
gleichsreize vorsichtig sein muß, und daß eine gewisse Gefahr darin liegt,
das Intervall der Vergleichsreize zu klein zu machen, ohne für eine ent-
sprechende Anzahl von Versuchen zu sorgen. Die Ausschließung von Resul-
taten wegen Inversionen sollte eigentlich nur auf Grund einer wahrschein-
lichkeitstheoretischen Untersuchung erfolgen, welche man allerdings nur
anstellen wird, wenn das Versuchsmaterial die Mühe lohnt. Im allgemeinen
aber kann man sagen, daß Inversionen erster Ordnung und größere Inver-
sionen zweiter Ordnung verdächtig sind und zur Ausschließung der Resultate
berechtigen, falls sie nahe dem Anfang oder Ende der Tafel vorkommen.
In diesen Intervallen ist die den Resultaten zugrunde liegende Wahrschein-
lichkeit von Null oder der Einheit nur wenig verschieden, so daß es sich
um Beobachtungen hoher Präzision handelt. Außerdem hat die Ausschließung
eines Resultates an den Enden der Tabelle keinen oder nur geringen Ein-
fluß auf die Werte in der Mitte der Tabelle, so daß daß Resultat durch
Elimination einer solchen Beobachtung nicht wesentlich beeinflußt wird.
Man kann nach Titchener zunächst die Schwelle direkt finden, indem
man in der Tafel durch Interpolation den Wert findet, für welchen die Wahr-
1 •
scheinlichkeit eines >Zwei Punkte« -Urteiles -g- ist Nach der vom Verfasser
gegebenen Formel findet man in obigem Beispiele 1,7. Verfasser empfiehlt,
die Resultate darauf zu prüfen, ob die Verteilung symmetrisch oder unsym-
metrisch um den Wert * ist. Zu diesem Zwecke kann man entweder die
zu Punkten, die von dem berechneten Werte gleich weit abstehen, gehörigen
Wahrscheinlichkeiten untersuchen, oder man kann von gleichen absoluten
Unterschieden der Wahrscheinlichkeiten ausgehen und die zugehörigen Diffe-
renzen von der Schwelle betrachten. In dem angeführten Beispiele ergeben
beide Verfahrungsweisen , daß die Verteilungskurve langsamer ansteigt als
abfällt.
Die zweite Methode der Bestimmung der Schwelle stützt sich auf das
Gaußsche Verteilungsgesetz. Bezeichnen wir den Schwellenwert mit S und
den Wert einer zufälligen Schwankung mit <f, so wird in allen den Fällen
das Urteil >Zwei Punkte« gegeben werden, in denen die Differenz der Reize D
größer ist als S ± cf. Ist D größer als S, so ist D größer als S ± <f, wenn <f
negativ oder positiv und dem absoluten Betrage nach kleiner als D — S ist.
Die Wahrscheinlichkeit eines negativen Wertes von <f ist -g-, und die eines
iD-S)
Wertes, der dem absoluten Betrage nach unter S—D liegt, ist Jf (± J) d d,
o
wenn /*{<?) die Wahrscheinlichkeit einer Abweichung als Funktion ihrer Größe
gibt. Die Wahrscheinlichkeit, daß entweder eines oder das andere Ereignis
eintrete, ist daher
(Zt-S)
o
138
Literaturbe rieht.
Ist D kleiner als S, so wird das Urteil »Zwei Punkte< nur gegeben werden,
wenn cf negativ und dem absoluten Betrage nach grüßer ala S — D ist. Die*e
Wahrscheinlichkeit ist gegeben durch
n**^—ff(±d)d<f.
iD-S)
Macht man die Voraussetzung, daß die Schwelle eine nach dem Zufall
veränderliche Größe sei, so ist
und allgemein
(D-S)k
0
Aus den Resultaten einer Versuchsreibe entfernt man zunächst die Werte,
die Inversionen erster Ordnung zeigen (in dem obigen Beispiel den Wert 030
für D «= 0) und außerdem solche Werte, die außerhalb des Bereiches liege*,
in dem Schwankungen der Schwelle vorkommen. Man schlägt dann die Werte
von {D— S) h in Fechners Fundamentaltabelle für die Methode der r. und
f. F. auf und erhält so ein System von »-Gleichungen:
tt r= [Dx — S) h
L> = <J\ - S) h
da jede Beobachtung eine solche Gleichung liefert. Jede Gleichung wird
mit einem Gewichte versehen, das gleich ist dem Produkte aus dem Ge-
wichte, das die Gleichung auf Grund der Zahl der gemachten Beobachtungen
hat, multipliziert mit dem entsprechenden MU lierschen Gewichte. Es Ut
darauf zu achten, daß die beiden Unbekannten h und 5 in der Verbindung h S
vorkommen, weshalb man eiue neue Variable x = h S einführt und dann dai
Gleichungssystem nach der Methode der kleinsten Quadrate auflöst In dem
oben angeführten Beispiele ergibt sich h = 0,49 und S = 1,88, gegen S = 1.7
als Resultat der direkten Interpolation.
Bei Bestimmung der Reizschwelle sind Gleichheitsurteile der Natur der
Versuche nach ausgeschlossen. Man kann die hier von Titchener ange-
gebene Methode dahin charakterisieren, daß durch Experimente die relative
Häufigkeit der verschiedenen Urteile bestimmt wird. Solche Versuche zeigen,
daß die Urteile »Zwei Punkte« mit sehr geringen relativen Häufigkeiten ein-
setzen und erst langsam, dann aber sehr rasch wachsen und sich schließlich
der Einheit nähern. Es wird angenommen, daß die relativen Häufigkeiten
dieser Urteile einer bestimmten Verteilungsfunktion folgen, die mit sehr
kleinen Werten einsetzt, erst langsam, später rascher wächst und sich der
Einheit schließlich asymptotisch nähert. Der Verlauf dieser Funktion ist der
beobachteten Verteilung ähnlich, und die Beobachtungsresultate werden der
vorausgesetzten Verteilungsfunktion nach der Methode der kleinsten Quadrate
angepaßt.
Bei der Methode der r. und f. F. zur Bestimmung der Unterachiedaschwelle
hat man den Normalreiz mit einer Reihe von Vergleichsreizen zu vergleichen.
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Literaturbericht.
Diese liegen teils unter, teils über dem Vergleichsreiz ; einer der Vergleichs-
reize ist dem Normalreize gleich. Die Urteile »größer«, »gleich« nnd »kleiner«
werden zugelassen und man bestimmt durch Versuche, mit welchen relativen
Häufigkeiten die Urteile sich bei den verschiedenen Vergleichsreizen ein-
stellen. Die erhaltenen Resultate sind daraufhin zu untersuchen, ob sie In-
versionen erster oder zweiter Ordnung zeigen. Es kann vorkommen, daß die
relative Häufigkeit der Urteile »größer« oder »kleiner« am unteren oder
oberen Ende der Tafel für zwei aufeinander folgende Vergleichsreize Null
ist, ohne daß eine Inversion zweiter Ordnung vorliegt. Es liegt keine In-
version vor, wenn die Verteilung einem der folgenden Schemata folgt:
größer kleiner gleich
1,00 0,00 0.00
1,00 0,00 0,00
größer kleiner gleich
1,00 0,00 0,00
0,99 0,00 0,01
größer kleiner gleich
0,99 0,00 0,01
0,98 0,00 0,02
Sind in der Tafel der Resultate die notwendigen Korrekturen vorge-
nommen worden, so kann man die Schwellen durch Interpolation direkt be-
stimmen. Der Schwellenwert in der Richtung der Znnahme ist durch jene
Intensität des Vergleichsreizes bestimmt, die dem Urteile »größer« die Wahr-
scheinlichkeit * gibt Die untere Schwelle ist jener Wert des Vergleichs-
reises, für den die Wahrscheinlichkeit i für das Urteil »kleiner« besteht.
Ein anderes Verfahren zur Bestimmung der Schwelle besteht darin, daß man
für die Wahrscheinlichkeiten der verschiedenen Urteile bestimmte Verteilungs-
funktionen voraussetzt und nach ihnen die Beobachtungercsultate auf Grund
der Methode der kleinsten Quadrate ausgleicht. Bezeichnet man die Wahr-
scheinlichkeiten der Urteile »größer«, »kleiner« und »gleich« der Reihe nach
mit g, l und w, die untere Schwelle mit L, die obere mit U, so werden fol-
gende Verteilungsfunktionen angenommen:
0
0
(±D-Ü)h
Es ist bemerkenswert, daß in diesen Formeln für die Werte von g und l
verschiedene Präzisionsmaße angenommen werden. Da jeder Vergleichsreiz
eine Qleichung für g und l liefert, so erhält man im allgemeinen ein tiber-
bestimmtes 8ystem von Gleichungen fUr die Berechnung von L, U und der h' *,
aus dem man die wahrscheinlichsten Werte der Unbekannten nach der Me-
thode der kleinsten Quadrate bestimmt. Es wird schließlich gezeigt, daß
dieses Verfahren auf Grund verhältnismäßig weniger Versuche gestattet, eine
ungefähre Bestätigung des Weber sehen Gesetzes und eine Bestimmung des
Fechnerschen Zeitfehlers zu geben. Titchener folgt in seiner Darstellung
dieser Methode den Ausführungen Müllers. Man sieht auch leicht, daß diese
140
Literaturberieht.
Methode das von Holt gestellte Problem löst, aus Beobachtungen mit meh-
reren Vergleichpreisen ein Präzisionsmaß zn berechnen. Zugleich aber ist
ersichtlich, daß llolts Formulierung des Problems nicht zureichend ist, wenn
der Zweck psychophysischer Messungen dahin beschränkt wird, ein Maß für
die Schnelligkeit des Ansteigens und Abfallens der Verteilungsfunktionen zn
finden. Selbst wenn man eine symmetrische Verteilung annimmt, hängen die
Verteilungsfunktionen von mehr als einem Parameter ab, was sich geometrisch
dahin ausdrücken läßt, daß nicht nur die Form, sondern auch die Lage der
Kurven, die die Wahrscheinlichkeiten der Urteile > größer« und »kleiner«
geben, bestimmt werden muß. Die Gestalt der Kurven hängt vom Präzisions-
maß, ihre Lagen aber von den Schwellen ab.
Die Schwierigkeiten, die Jastrow, Peirce, Fullerton und Cattell
in dem Begriffe der Schwelle gefunden hatten, veranlaßten Henmon1', ein
Maß der Empfindung, das unabhängig von dem Begriffe eines ebm. U. ist.
zu suchen. Henmon verwendet das Verfahren der psychologischen Zeit-
messung, wobei er wesentlich den Gedanken Cattells und Münsterbergs
folgt. Der Ausgangspunkt ist der Satz: Unterschiede der Empfindung werden
durch die Zeit, die zu ihrer Wahrnehmung erforderlich ist, gemessen und
Unterschiede sind gleich, wenn die Zeiten ihrer Wahrnehmung gleich sind.
Ungleiche Empfindungen brauchen verschiedene Zeiten, und zwar sind die
Zeiten um so kürzer, je größer die Unterschiede sind und umgekehrt, wobei
es gleichgültig ist. ob es sich um quantitative oder qualitative Unterschiede
handelt Um z.B. das Webersche Gesetz zu prüfen, kann man entweder
von absolut gleichen Unterschieden ausgehen und untersuchen, ob die zur
Wahrnehmung der Unterschiede notwendige Zeit schneller oder langsamer
wächst als der Unterschied, oder man kann von relativ gleichen Unterschieden
ausgehen und untersuchen, ob die Zeiten konstant bleiben. Zur Ausführung
dieser Bestimmungen ist ob nicht notwendig, die Wahrnehmungszeiten wirk-
lich zu bestimmen, wenn man die Elemente, die in eine Reaktionszeit ein-
gehen, konstant hält und nur den Unterschied der Reize variiert Henmon
hat zur Prüfung dieser Voraussetzungen ein sehr umfangreiches Versuche-
material gesammelt und allgemein gefunden, daß bei Zunehmen des objek-
tiven Unterschiedes die Reaktionszeiten abnehmen und umgekehrt. Es wur-
den Versuche über die Wahrnehmung verschiedener Farben, Uber die Wahr-
nehmung des Unterschiedes zwischen Schwarz und verschiedenen Farben
gemacht, und außerdem mit horizontalen Linien und mit Tönen verschiedener
Höhe gearbeitet. Bei den Versuchen mit Linien wurde gefunden, daß die
Reaktionszeiten ungefähr in geometrischer Progression wachsen, wenn die
Unterschiede der Reize in arithmetischer Progression zunehmen, waB als Beleg
des Web er sehen Gesetzes angesehen wird. Den Untersuchungen Henmon s
unterliegt ein Gedanke, der die große auf die Versuche verwendete Mühe
wohl lohnt Die gewonnenen Resultate sind viel interessanter als die theore-
tischen Ausführungen des Verfassers über die psychophysischen Maßmethoden,
da sich derselbe ganz auf dem Standpunkte Cattells und Jastrows be-
findet Da diese Resultate aber sich nur indirekt auf das Problem der
1) Vivian A. C. Henmon, The Time of Perception as a Measure of
Differences in Sensation. Archives of Philosophy, Psychology and Scientific
Methods. 1906. (Columbia University Contributions to Philosophy and
Psychology. Vol. 14. Nr. 4.)
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Literaturbericht.
141
psychophysischen Maßbestimmung beziehen, so kann auf dieselben hier nicht
eingegangen werden.
Es sind in diesem Znsammenhange schließlich noch die Untersuchungen
des Referenten ») zu erwähnen. Das Material, an welchem die theoretischen
Untersuchungen durchgeführt wurden, stammt aus einer Reihe von Experi-
menten, die man kurz als Gewichtsversuche mit konstantem Zeitfehler und
Vermeidung des Raumfehlers bezeichnen kann. Es wurde nur mit einem
Normalgewichte von 100 g und sieben Vergleichsgewichten gearbeitet Gegen-
stand der Beobachtung waren die relativen Häufigkeiten der Urteile »größere,
»kleiner« und »gleich« bei verschiedener Intensität des Vergleichsgewichtes.
Als Vergleichsgewichte wurden die Intensitäten 84, 88, 92, 96, 100, 104 und
108 g benutzt, wobei das Vergleichsgewicht stets nach dem Normalgewicht
gehoben wurde. Die Tatsache, daß bei wiederholter Darbietung eines Paares
von Reizen die Urteile der Vp. wechseln, ohne daß man angeben könnte, in
welchem Urteile ein gegebenes Experiment resultieren werde, veranlaßte die
Einführung des Begriffes der Wahrscheinlichkeit eines Urteiles einer be-
stimmten Klasse. Hiermit ist gemeint, daß es für eine gewisse Vp. unter •
genan bestimmten Versuchsbedingungen und für eine gegebene Differenz des
Vergleichsreizes vom Normalreize bestimmte Wahrscheinlichkeiten gibt, mit
welchen die Urteile »größer«, »kleiner« oder »gleich« erwartet werden können.
Diese Wahrscheinlichkelten mögen für verschiedene Vp. unter denselben Be-
dingungen und für dieselbe Vp. zu verschiedenen Zeiten verschieden sein.
Es entsteht zunächst die Frage, ob die beobachteten Zahlen der relativen
Häufigkeiten der verschiedenen Urteile auch den materialen Charakter von
mathematischen Wahrscheinlichkeiten besitzen. Die Antwort dieser Frage
wird auf den Divergenzkoeffizienten von Lexis gestützt Es findet sich,
daß bei einigen Vp. die Bedingungen für eine normale Dispersion in hohem
Grade erfüllt sind, so daß der Schluß gerechtfertigt ist, daß die Zahlen der
relativen Häufigkeit für die verschiedenen Urteile wenigstens bei einigen Vp.
nicht nur den formalen, sondern auch den materialen Charakter von mathe-
matischen Wahrscheinlichkeiten besitzen, was auf eine gewisse Stabilität der
den Urteilen unterliegenden Bedingungen hindeutet
Es wird hierauf versucht, den Begriff der Wahrscheinlichkeit der Urteile
für die Lösung des Problems der psychophysischen Maßbestimmung zu ver-
werten, wobei von der Analyse der Methode der ebm. U. ausgegangen wird.
In dieser Methode geht man zunächst von Gleichheit der Reize aus und ver-
größert nach und nach den Unterschied zwischen Normal- und Vergleichs-
reiz, bis die Vp. den Vergleichsreiz für größer erklärt. Bezeichnen wir die
Reize, die bei einer solchen Bestimmung des ebm. U. mit dem Normalreiz
verglichen wurden, mit r,, r2, . . . r„, wobei r, < r, < . . . < rM, so ist jener
Reiz das Resultat einer Bestimmung des ebm. U., bei dessen Vergleich das
Urteil »größer« abgegeben wurde, während alle vorhergehenden Reize als
kleiner oder gleich beurteilt wurden. Bezeichnen wir die Wahrscheinlichkeit,
daß ein Vergleich des Normalrcizes mit einem der Reize r, , r3, . . . r„ in das
Urteil »größer« resultieren werde, der Reihe nach mit plt j>a, . . . pni so ist
1) F. M. Urban, On the Method of Just Perceptible Differences. Psycho-
logical Review. Vol. 14. 1907. S. 244—263. The Application of Statistical
Methods to the Problems of Psychophysics. 1908
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142
Literatorbericht.
die Wahrscheinlichkeit, daß der Reia rk als Resultat der Bestimmung de»
ebm. U. zur Beobachtung kommen werde, gegeben durch
i = k - 1
pk = (i -/>,) (i — Pi) ... a — pk_t) pk=*pk jjit,
i iss 1
weil dieser Ausdruck die Wahrscheinlichkeit des zusammengesetzten Ereig-
nisses gibt, daß das Urteil »großer« auf rk, aber auf keinen der vorher-
gehenden Reize gegeben werde. Es hat demnach jeder Vergleichpreis eise
bestimmte Wahrscheinlichkeit, als ebm. U. zur Beobachtung zu kommen.
Führt man mit einer Reihe Ton Vergleichereizen eine Anzahl von Bestim-
mungen aus und nimmt ihr Mittel, so wird das Endresultat dargestellt durch
T=rxPi+r2Pt + ... + rnPn.
Es wird gezeigt, daß unter verschiedenen Bedingungen, unter denen die
Regel, möglichst viele verschiedene Reihen von Vergleichsreizen zu benutzen,
die wichtigste ist, dieser Mittelwert den wahrscheinlichsten Wert darstellt
Der Beweis stützt sich auf den Bruns sehen Satz von der Erhaltung des <P y -
Typus. Es werden ferner Erwägungen Uber den wahrscheinlichsten Wert
angestellt, welche ergeben, daß die Pk mindestens ein Maximum haben, dessen
Lage aber nur dann unabhängig von der Wahl des Vergleichsreizes r
1 1
ist, wenn pk weder größer noch kleiner als ist. Der wahrscheinlichste
Wert des ebm. U. ist der Vergleichsreiz, flir den p = -| . Der zweite Schritt
bei der Anwendung der Methode der ebm. U. ist die Bestimmung des ebenunm.
pos. U. Dieser Wert ist definiert als jener Vergleichsreiz, der nicht als größer
beurteilt wird, während alle größeren das Urteil »größer« ergaben. Die
Wahrscheinlichkeit, daß der Reiz r als ebenunm. U. zur Beobachtung
kommen werde, ist demnach gegeben durch
P'k^PnPn-x •■• Pk + t^-P^Vk'/J Pi>
. = * + !
weil dies die Wahrscheinlichkeit des zusammengesetzten Ereignisses ist, daß
der Vergleichsreiz rh nicht als größer beurteilt wird, während auf alle grö-
ßeren Reize das Urteil »größer« gegeben wurde. Diese Formel ist der
ersten völlig analog und man schließt daraus in derselben Weise, daß die
Werte i* ein Maximum haben, das unabhängig von der Wahl der Vergleichp-
reise ist, wenn q = * - . Da p und q durch die Gleichung p + q = 1 ver-
bunden sind, so folgt daraus p « q = , d. h. der ebm. und der ebenunm
pos. U. sind verschiedene Bestimmungen jenes Vergleichsreizes , für den die
Wahrscheinlichkeit * für das Urteil »größer« besteht. Als Schwellenwert
in der Richtung der Zunahme wird der Mittelwert des ebm. U. und des
ebenunm. U. genommen, und dieser Wert stellt demnach eine genauere Be-
stimmung des Vergleichsreizes dar, für welchen die Wahrscheinlichkeit j
für das Urteil »größer« besteht. In ähnlicher Weise wird der Begriff der
Schwelle in der Richtung der Abnahme analysiert. Bezeichnet man die Wahr-
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Literaturbericht.
143
Bcheinlichkeit des Urteiles »kleiner« mit /, 80 ist die Wahrscheinlichkeit Uk,
daß der Reiz rk als ebm. neg. ü. zur Beobachtung kommt, gegeben durch
Uk - (1 - ln) (1 - ln-t) ... (1 - /* = /* Jy'mi ,
i=* + l
weil der ebm. neg. U. als der größte Vergleichsreiz definiert ist, anf den
das Urteil »kleiner« abgegeben wird, während alle Vergleichsreize von grö-
ßerer Intensität als größer oder gleich beurteilt werden. Die Wahrschein-
lichkeit U'k, daß ein Vergleichsreiz rk als ebenunm. neg. ü. zur Beobachtung
kommen werde, ist gegeben durch
« = *-i
Vk = h h • • • 1 m k — m JJ ,
i= i
weil dies die Wahrscheinlichkeit ist, daß auf den Reiz rk das Urteil »größer«
oder »gleich« abgegeben wird, während alle Reize von kleinerer Intensität
als rk als »kleiner« beurteilt werden. Es ergibt sich in identischer Weise,
daß der ebm. neg. U. und der ebenunm. neg. U. verschiedene Bestimmungs-
weisen derselben Größe darstellen, nämlich jenes Vergleichsreizes , für den
das Urteil »kleiner« die Wahrscheinlichkeit ^ nat Aus den Formeln er-
geben sich gewisse Regeln für die Anwendung der Methode der Minimal-
änderungen, von denen die oben erwähnte Notwendigkeit der Benutzung ver-
schiedener Reihen von Vergleichsreizen und die Bemerkung, daß man nicht
an eine bestimmte Reihenfolge der Vergleichsreize gebunden ist, falls man
dafür Sorge trägt, alle gegebenen Urteile zu protokollieren, die wichtigsten sind.
Der nächste Abschnitt beschäftigt sich mit den Gleichheitsfällen. Als
Grundlage für die Vergleichung der Empfindlichkeit wird eine bestimmte, mit
Gewichten gewonnene Quadratsumme gefunden. Diese Größe steht mit der
von G. Fr. Lipps für die Definition der Schwelle gebrauchten Quantität in
engem Zusammenhange, wird aber durch ganz andere Erwägungen abgeleitet
und es wird an dem tatsächlich vorliegenden Versuchsmaterial gezeigt, daß
die auf Grund dieser Größe vorgenommene Vergleichung der Empfindlichkeit
verschiedener Personen dieselben Resultate gibt wie eine auf die Resultate
der Methode der ebm. U. gestützte Vergleichung.
Im weiteren Verlaufe werden unter dem Namen »psychometrische Funk-
tionen« gewisse Funktionen eingeführt, die die Wahrscheinlichkeiten der ver-
schiedenen Urteile als Punktionen der Intensität des Vergleichsreizes geben.
Da es vermieden werden sollte, irgendeine Hypothese Uber die Natur dieser
Abhängigkeiten einzuführen, so wurden die empirischen Resultate durch
Lagrange» Interpolationsformel dargestellt. Die psychometrische Funktion
für die Urteile »kleiner« nimmt im allgemeinen mit znnehmender Intensität
des Vergleichsreizes ab, während die psychometrische Funktion der Urteile
»größer« im allgemeinen eine zunehmende Funktion Ist. Die psychometrische
Funktion der Gleichheitsurteile nimmt anfangs zu und fällt nach Erreichung
eines Maximums wieder ab. Das wichtigste Ergebnis dieses Teiles der Arbeit
ist, daß das Maximum der psychometrischen Funktion der Gleichheitsurteile
in derselben Art ein Maß der Sinnesempfindlichkeit liefert wie das Resultat
der Methode der ebm. U. und deshalb auch wie die oben erwähnte Quadrat-
Bumme.
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144 Literaturbericht
Verzeichnis der besprochenen Artikel und Bücher.
J. McKeen Cattell, On Errors of Observation. American Journal of
Psychology. Vol. 5. 1893. S. 286—293.
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Über die AnderungBempfindlichkeit. Zeitschrift für Psychologie und
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Elementary Course in Psychological Measurement Studies from the
Yale Laboratory. Vol. 4. 1896. S. 89—139.
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E. B. Titchener, The English of the Psychophysical Measurement Method»-
American Journal of Psychology. Vol. 9. 1898. S. 327-331.
Experimental Psychology. A Manual of Laboratory Practice. VoL i
Quantitative Experiments, Part. I, Students Manual; Part. II. I*
structors Manual.
E. L. Thorndike, An Introduction to the Theory of Mental and Social
Measureraents. 1904.
F. M. Urban, On the Method of Just Perceptible Differences. Psychologie^
Review. Vol. 14. 1907. S. 244—263.
The Application of Statistical Methods to the Problem of Psychophysic*.
1908.
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Einzelbesprechung.
1) GuBtav Störring, Ethische Grundfragen. I. Teil: Darstellung und
kritische Würdigung der moralphilosophischen Systeme der Gegen-
wart. Eigenes Moralprinzip. — II. Teil: Rechtfertigung der For-
derung sittlichen Lebens. 324 S. Leipzig, Verlag von Wilhelm
Engelmann, 1906. M. 6.—.
In dem ersten Teil seines Werkes charakterisiert und kritisiert Stör-
ring fünf verschiedene moralphilosophische Systeme. Eine sehr ausführ-
liche Behandlung erfahrt besonders der Eudämonismus. Hierbei unter-
scheidet St. zwei Typen, einen > vorwiegend induktiven« Typus und einen
»vorwiegend deduktiven«.
Als Repräsentant des vorwiegend induktiven Eudämonismus
gilt ihm John Stuart Mill. Es zeigt sich, daß bei einer genaueren Kennt-
nisnahme der Hill sehen Gedankengänge manche Einwände, die man gegen
diesen Standpunkt erhebt, von selbst wegfallen. Mill hat eben sein Prinzip
der allgemeinen Glückseligkeit nicht dogmatisch aufgestellt, sondern ihm
eine kritische Fundierung durch sorgfältige Argumentationen zu geben ver-
sucht. Neben den psychologischen Argumentationen kommt auch eine Art
von objektiver Betrachtungsweise vor, worauf St. besonders aufmerksam
macht. Mill konstatiert nämlich, daß die »als gerecht geschätzten Hand-
lungen« inhaltlich mit den Konsequenzen des Glückseligkeiteprinzips über-
einstimmen. Eine umfassendere Verwertung dieser objektiven Betrachtungs-
weise findet man schon bei Hume, dessen einschlägige Reflexionen daher
St. näher entwickelt (S. 27—34). Diese Reflexionen bieten in der Tat eine
beachtenswerte Ergänzung zu Mills Darlegung. Mit Recht wird S. 42 f.
E. v. Hartmanns Vorwurf zurückgewiesen, daß Mill mit der Forderung
des Einheitsgefühls aller Menschen >das Gebiet der Metaphysik betreten
habe«. Das Einheitsbewußtsein muß nämlich, wie St. hervorhebt, als ein
»Entwicklungsprodukt« gedacht werden, »welches mit fortschreitender Zivili-
sation sich herausbildet«. Ebenso wichtig für das richtige Verständnis des
fraglichen ethischen Systems ist die Bemerkung, daß Mill selbst den Eudä-
monismuB keineswegs an eine empiristischo Grundlage gebunden wissen
wollte. Bondern auch einen aprioristischen Ausbau für möglich hielt.
Mit gleicher Gründlichkeit stellt St. sodann die Spencersche Ethik
dar, die dem Typus dea vorwiegend deduktiven Eudämonismus ent-
spricht. Wir erhalten hier einen Überblick über das ganze verwickelte Ge-
fllge dieses Systems. Jeder, der die weitschweifige, agglutinierende, jeder
strafferen Systematik bare Art Spencers aus eigener Lektüre mit Schmerzen
kennen gelernt hat, wird für die klare, präzise Orientierung dankbar sein.
St. analysiert der Reihe nach Spencers: allgemeine Charakteristik des guten
und bösen Handelns {S. 46— 62), dessen rationale Methode (S. 62— 65), die
ArchiT Ar Piyeholofie. XL Litontar. 10
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146
Literaturbericht.
Anwendung der rationalen Methode in der allgemeinen Ethik ,S. 66—90 , die
induktiven Entwicklungen (S. 90 ff.) nnd die Anwendung der rationalen
Methode in der speziellen Ethik 8. 92—101).
Nun kommt die Kritik des Eudänionismue (8. 101 ff.]. An erster Stelle
werden diejenigen Anschauungen geprüft, die dem Eudämonismus als solchen
nicht wesentlich sind. Dabin gehören bei Mi 11 die psychologischen Argu-
mente, an denen St einerseits eine prinaipielle Unklarheit infolge von Ver-
mengung heterogener Gesichtspunkte zu tadeln hat, andererseits die Außer-
achtlassung der Tatsache, >daß wir nicht bloß Freude wünschen können,
sondern jedenfalls auch eine bestimmte Art von Betätigung* (S. 102 . In
bezug auf den letzteren Punkt wird noch besonders bemerkt, »daß mit stei-
gender Entwicklung des Individuums das Wollen einer bestimmten Art vos
Betätigung zur Prävalenz gelangt Uber das Wollen einer bestimmten An
von Lust — und zwar deshalb, weil beim Wollen der Betätigung günstigere
Bedingungen für kräftigeren Vollzug des Wollens vorliegen« (8. 109). Du
ist eine wichtige psychogenetische Instanz, die in der Tat schwerlich ent-
kräftet werden kann. Spencer» Polemik gegen Mill wehrt indessen St
ab, indem er zeigt, daß sie auf mangelhafter Interpretation beruht. Sehr
treffend kennzeichnet er diese schwache Seite des großen Entwicklung*-
philosophen mit den Worten: »Er ist offenbar ein einseitiger Systematiker.
der wenig historisch-philosophisches Interesse und keine Geduld hat. die
Explikationen anderer Philosophen bis zu Ende anzuhören« (S. 105). Bei der
hierauf folgenden Besprechung der nicht spezifisch eudü monistischen Ele-
mente in Spencers Ethik wird u. a. die Vererbbarkeit komplexer sittlicher
Vorstellungsweisen ausdrücklich bestritten. Doch »können die Fähigkeiten
zum Vollzug von elementaren Faktoren, von denen die sittliche Wert-
schätzung abhängig ist, vererbt werden« (S. 106). Ob aber nicht die elemen-
taren Faktoren auch in ganz bestimmten Konstellationen übertragbar
sind, die eben komplexe Phänomene bis zu einem gewissen Grade eindeutig
bedingen? Dann durften die komplexen Phänomene selbst als angeboren
gelten. Indessen beweist die Möglichkeit einer solchen Konstruktion noei
nichts. Nur durch sorgfältige Empirie läßt sich die Frage entscheiden.
S. 120 ff. findet sich Gelegenheit, die scharfsinnige Kritik des Eudämonisnns
zu erörtern, die in den »Ethischen Grundfragen« von Th. Lipps vorkommt
St nimmt den Eudämonismus gegen diese Kritik in Schutz. In seiner
selbständigen Würdigung des fraglichen Standpunktes erkennt er an, daß
sich wohl gewisse Formen des sittlichen Lebens »in endämonistischem Sinai*
eindeutig charakterisieren« lassen. Stelle man aber »jenem Wollen, welches
auf Förderung geistiger Freude in anderen gerichtet ist und kurz gesagt aas
selbstlosen Motiven entspringt, ein Wollen gegenüber, das auf Förderung
dieses Wollens selbst ausgeht, auf Förderung dieses sittlichen Wollens«, so
werde damit ein Zweck bezeichnet, »der mit Lustmaßstäben nicht zu messen
ist« (S. 126). Noch unfaßbarer für das eudämonistische Prinzip ist ei«
»Wollon, welches auf Förderung der verschiedenen Arten von sittlicher
Selbstachtung gerichtet ist« (S. 127). Also gerade die »höheren Gestai-
tungsformen des sittlichen Lebens« sprechen gegen die eudämonistiscof
Ethik.
Jetzt wird die energistische Moralphilosophie (S. 128 ff.) in Augen-
schein genommen. Der Hauptvertreter dieser Richtung ist P au Isen, des
daher St. als Modell für seine Darstellung und Kritik benutzt. Die scharfe
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Literaturbericht.
147
Polemik Paulsens gegen die hedonistische Anschauung, »daß der letzte
Zweck lustvolle Betätigung sei«, wird nur teilweise gebilligt (S. 142). Wich-
tig für eine gerechte Würdigung des Hedonismns ist namentlich Sts. auf
eine eigene frühere psychogenetieche Analyse (Moralphil. Streitfragen, S. 60ff.)
gestützte Bemerkung, »daß man die Bevorzugung der geistigen Lust vor der
sinnlichen von den Voraussetzungen aus, mit denen der Hedonist operiert,
verständlich machen kann« (S. 145). Im übrigen bemängelt St, daß Paul-
sen sein durchaus »heteronom bedingtes Pflichtbewußtsein« für »das
Pflichtbewußtsein« erklärt, nnd weist demgegenüber auf das aus der sitt-
lichen Selbstachtung entspringende Pflichtbewußtsein hin, bei dessen Wertung
»der Effekt eine ganz untergeordnete Rolle spielt« (S. 160). Ebenso findet
er das Operieren mit der »Idee des höchsten Gutes« unfruchtbar, da »für die
Ableitung von Einzelbestimmungen Uber Sittlichkeit oder Unsittlichkeit von
Handlungen durch diese Idee nichts gewonnen wird« (3. 153). Schließlich
sei noch gegen die energistisohe Ethik — ähnlich wie gegen die eudämo-
nistische — einzuwenden, daß sie »nicht zwischen einfachem sittlichen
Wollen und den höheren Formen sittlichen Wollens, so dem Wollen der
Forderung einfachen sittlichen Wollens, unterscheidet« (S. 164).
Der Charakteristik der Persönlichkeitsethik (S.156ff.) hat St. die
Lehre von Lipps (»Die ethischen Grundfragen«) zugrunde gelegt Die Fort-
spinnung K ah t scher Gedanken ist bei diesem moralphilosophischen Typus
besonders interessant Sts Kritik hebt vor allem sehr treffend hervor, daß
hier das niedere, sittliche Wollen nicht zu seinem Rechte kommt d**
von »Persönlichkeitswertgefühlen« unabhängig ist Der Hauptfehler der Per-
eönlichkeitsethik steht somit in merkwürdigem Gegensatz zu dem gemein-
samen Fehler der eudämonistischen und energistischen Systeme: denn die
letzteren Systeme vernachlässigten ja gerade die höheren Formen des sitt-
lichen Wollens. Außerdem wird noch Lipps1 Postulat einer »absoluten
Intelligenz« zur Bestimmung des Sittlichen abgelehnt, weil es mit dem fak-
tischen sittlichen Bewußtsein nicht in Einklang steht Denn »nur in relativ
wenigen Fällen sind wir darüber im Zweifel, was sittlich geboten ist«
(S. 178).
Der folgende Abschnitt bringt eine sehr eingehende Darstellung der von
Wnndt ausgebildeten Ethik der objektiven geistigen Erzeugnisse.
In seiner kritischen Würdigung widerlegt St eine ganze Reihe von unge-
rechtfertigten Vorwürfen, die dieses System erfahren hat Doch hält er
gegenüber der sozialistischen Zuspitzung der Selbstvervollkommnung bei
Wundt den selbständigen Wert einer individualistischen Zwecksetzung
aufrecht glaubt die tatsächlichen Variationen der sittlichen Vorschriften
aus einem allgemeinen Moralprinzip und den jeweiligen Lebensbedingungen
deduzieren zu können und deutet eine abweichende indirekte Wertung deB
Gemeinschaftslebens und seiner Erzeugnisse an.
Endlich werden noch kurz die Lehren Schopenhauers und E. von
Hartmanns als Beispiele der metaphysischen Ethik besprochen, Der
Hauptgrund für die Verwerfung dieser Lehren ist bei St der, daß hier über-
flüssige metaphysische Hypothesen benutzt werden. Was übrigens die »in-
dividuellen Faktoren« des Schopenhauerschen Pessimismus anlangt, die
S. 228 gestreift werden, so ist vielleicht eine höchst sonderbare Zwangsvor-
stellung bedeutsam, durch die Johanna Schopenhauer vor der Geburt
ihres Sohnes belästigt wurde. Ich habe auf diese bisher vollkommen unbe-
10*
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148
Literaturbericht.
achtete Tatsache in meinem soeben erschienenen Schopenhauer- Buche*}
hingewiesen nnd empfehle die dort mitgeteilten authentischen Details der
Prüfung der Medianer.
Nunmehr entwickelt St sein eigenes Moralprinzip (S. 233 ff.)- Als
allgemeine Richtschnur betrachtet er hierbei die Forderung, daß aus der auf-
gestellten Charakteristik des Sittlichen »eine Stufenordnnng des sittliches
Wollens abiuleiten ist, welche au Vorschriften für das Handeln im Sinne de?
sittlichen Tatbestandes dienen kann« (S. 236). Demgemäß stellt nun auch
Sts Moralprinaip ein System von Bestimmungen dar, in dem eine Bestim-
mung der anderen dem Werte nach untergeordnet ist und die Übergeordnete
die dem Werte nach untergeordnete voraussetzt. Das Entwicklung sgeset:
für diesen Stufenbau beruht darauf, daß zu dem Komplex sittlicher Zweck-
vorstellungen der niederen Stufe das Wollen dieser niederen Zwecke selb*:
als neues, höheres Zweckmoment hinzutritt Das einfachste, niederste sitt-
liche Wollen charakterisiert St. in wesentlicher Übereinstimmung mit den
eudämonistischen und energistisehen Anschauungen. Dann kommt aber lb
nächsthöhere Stufe ein Wollen, das anf die möglichst große Forderung dieses
einfachsten sittlichen Wollens abzielt Noch höher ist ein Wollen, das über
die Forderung des primären sittlichen Wollens hinausgehend die eigene
Selbstachtung oder die Selbstachtung in anderen zu fordern sucht Die
höchste Stufe wird durch ein Wollen repräsentiert, dem die Forderung auto-
nomer Achtung vor dem Sittengesetz in der Menschheit als unmittelbarer
Zweck gilt. Diese hier nur flüchtig angedeutete Stufenordnnng hat St nun
noch durch viele spezielle Erläuterungen nnd modifizierende Zusätze weiter
ausgebaut. Er stützt sieh großenteils anf die in seiner früheren moralpklo-
sophischen Schrift niedergelegten psychogenetischen Analysen. Schon wegei
dieser sorgfältigen psychologischen Fnndamentierung darf seine Moraltheorie
wohl ein größeres Gewicht beanspruchen, als die frei sehwebenden dialekti-
schen Konstruktionen der gewöhnlichen Kthiker. Ausdrücklich wird betont
daß die höheren Werte die niederen nicht aufheben, sondern nur eis-
schränken. St. will eben allen typischen Formen des sittlichen Bewußt-
seins gerecht werden. Dieser gesunde Liberalismus sticht vorteilhaft von
der rigoristischen Pointierung ab, wie sie besonders in der Persönlichkeits-
ethik üblich ist Andererseits erhebt sich 8ts Moralprinzip in seiner letzten
Stufe noch über die ethische Höhe selbst eines Kant Tatsächlich hat der
Königsberger Denker, wie S. 272 richtig bemerkt wird, »die Achtung tot
dem Sittengesetz nur als Triebfeder aufgefaßt, ihre Förderung bei
anderen nieht als möglichen Zweck sittlichen Wollens gesetzt«. Ich
glaube, daß St in seiner objektiv-altruistischen Wendung (Förderung auto-
nomer Achtung vor dem Sittengesetz in der Menschheit) das wichtig?
Wertmoment der autonomen Achtung vor dem .Sittengesetz erst zur ab-
schließenden Entfaltung gebracht hat
Der zweite Teil des Werkes, der die »Rechtfertigung der Forderung
sittlichen Lebens« zum Thema hat, bringt zunächst eine Widerlegung der
wichtigsten Moralskeptiker. Dabei wird aneh auf das klassische Altertum
zurückgegriffen nnd u. a. der platonische Ksllikles eingehend behandelt
(S. 276 ff), der vor allem unsere Nietzschean er interessieren muß. Aus der
1) Arthur Schopenhauer und seine Weltanschauung. Halle s.S..
Carl Marhold, 1908.
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Literaturbericht 149
■
neueren Zeit hat St die markanten Gestalten eines Mandeville, Stirner
and Nietzsche anagewählt Die sehr Ubersichtliche Darstellung der
Stirn er sehen Lehre S. 298 ff. ist ganz besonders dankenswert In den
hierauf folgenden »positiven Entwicklungen legt St auf Grund seiner
psychogenetischen Untersuchungen die wichtigsten Abhängigkeitsbeziehungen
des sittlichen Bewußtseins dar. Sein allgemeines Schlußvotum in der Recht-
fertigungsfrage lautet dahin, daß die sittlichen Wertschätzungen »bleibende
Gültigkeit haben, solange die allgemeinen psychischen Funk-
tionen des Menschen dieselben bleiben« (S. 323 f.). Damit knüpft
S t zugleich an die S. 2j)4 treffend hervorgehobene Voraussetzung der antiken
Moralskepsis an: »Die Vorschriften für das Handeln, welche mit der mensch-
lichen Natur Ubereinstimmen, sind anzuerkennen, sind gültig!«
Das Werk verbindet sorgfältige historisch -kritische Orientierung mit
gründlicher psychologischer Analyse und besonnener Systematik. Seine
streng wissenschaftliche, jeden Schmuck und Umsohweif vermeidende Dar-
ßtellungsform gewährt einen eigenen ästhetischen sowie ethischen Keiz, wenn
man daneben an die fenilletonistische Degeneration denkt, die in unserer
philosophischen Literatur Platz zu greifen scheint.
A. Kowalewski (Königsberg).
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Referate.
1) Albert Thumb, Die experimentelle Psychologie im Dienste der Sprach-
wissenschaft. (Sonderabdrack ans den Sitzungsberichten der Ge-
sellschaft zur Beförderung für die gesamten Naturwissenschaften
zu Marburg. Nr. 2. 13. Februar 1907.) 13 Seiten.
Das vorliegende Schriftchen enthält die Hauptresultate der im vorigen
Hefte dieser Zeitschrift besprochenen Abhandlung desselben Verfassers
> Psychologische Studien Uber die sprachlichen Analogiebildungen« (Indo-
germanische Forschungen. Bd. XXII. Straßburg 1907); es verlohnt sich
aber wohl naher darauf einzugehen.
Ein Zweig der allgemeinen Linguistik hat sich laugst der Arbeitsweise
der Naturforschung genähert, jener Zweig nämlich, der es mit dem > physio-
logisch« bedingten Moment in der Sprachentwicklung, dem Lautwandel, sn
tun hat — die experimentelle Phonetik, aus deren weitem Gebiet nur
Scriptures, Heinrichs und Krügers Arbeiten genannt seien. Dem-
gegenüber war die experimentelle Behandlung des vorwiegend psycho-
logischen« Faktors der Sprachentwicklung im Rückstand, d. h. die sogenannte
> Analogiebildung« war bisher vernachlässigt worden. Da fragte denn
Thumb mit Hecht, ob nicht so vereinzelte individuelle Erscheinungen, wie
Versprechen, Verlesen usw. — Kravallerist für Kavallerist, Kravierlehrer
für Klavierlehrer — Aufschluß geben könnten Uber allgemeinere Sprach-
erscheinungen. Wenn dann aber Thumb fortfährt: »wer z. B. einen Satz
aussprechen will das Wasser verdampft, statt dessen aber sagt das
Wasser verdampft, weil beim Innervieren des Wortes verdampft sich
die Wortvorstellung verdunstet ins Bewußtsein drängt, der erzeugt eine
sprachliche Neuerung, die der Umbildung von lateinischem gravis zu vulglir-
Iat. grevis nachdem Huster von levis oder von lat. reddere zu rendere
itaL rendere, franz. rendre) nach prendere (prehendere, franz. prendre)
oder von deutschem elf zu öl f nach zwölf aufs genaueste entspricht«, so
kann ich ihm nur bedingt beistimmen. Es »entspricht« nur der Effekt, die
psychologischen Vorgänge sind verschieden. Thumb glaubt ja auch, daß
>erst im Momente des Aussprechens von verdampft die Assoziation ver-
dunstet die Innervierung des gewollten Wortes störe«. Daß das aber nicht
zutrifft, habe ich schon früher gezeigt »Verdampfen« und »verdunsten« sind
Synonyma, »gravis« und »levis« Contraria; also ganz wesentlich verschieden,
»reddere« und »prendere« stehen im Verhältnis eines zeitlichen Nacheinander,
»elf« und »zwölf« sind verbunden durch ein Nebeneinander in der Zahlen-
reihe — von Synonymnm oder Gegensatz ist hier also nicht die Bede.
Im Falle des »verdumpft« haben wir es mit einem individuellen Ver-
sprechen zu tun, bei »grevis« mit einer generellen Störung einer Wort-
form durch die andere. Diesen letzteren Vorgang pflegen wir eben als
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Literaturbericht.
151
Analogiebildung zu bezeichnen. Es handelt sich dabei also, wie Hermann
Paul sagt, um ein generell gewordenes Versprechen, oder »um ein Zu-
sammentreffen vieler Individuen in einer Störung«. Bildungen wie gravis
oder rendre usw. bezeichnete mau sonst als »stoffliche Analogien« ; Thumb
zieht den Namen Kontamination vor, im Gegensatz zu den sogenannten
> grammatischen Angleichungen«, die die Vereinheitlichung des grammatischen
Paradigmas, bei Verb und Substantiv z. B., zur Folge haben, eine Er-
scheinung, die sich bei sämtlichen indogermanischen Sprachen, noch besser
bei den semitischen (ich erinnere nur an das Arabische) nachweisen läßt
Bei Kindern spielt diese Formenbildung gleichfalls eine große Rolle, wie
sich überhaupt jedes psychologisch bedingte Phänomen der Sprache in der
Richtung der Analogie bewegt.
Hier sei eine prinzipielle Bemerkung gestattet! Schon öfter habe ich
im Gegensatz zu Thumb versucht, die Kontaminationen als einen engeren
Bezirk innerhalb der stofflichen Analogiebildungen abzugrenzen. Das ist
nur eine Frage, Uber die man sich zu einigen hätte, aber ich sehe nunmehr
ein, daß sich diese Abgrenzung nur sehr schwer durchführen ließe; ich be-
tone trotzdem noch einmal, daß sie wohl möglich, und vielleicht nicht ganz
unnütz ist. Drum ziehe ich es vor, überhaupt nicht mehr von »stofflicher
und grammatischer Analogie zu reden, sondern nur noch von Kontami-
nation und Analogie«. Damit glaube ich zum mindesten den Vorteil
zu erreichen, daß die Terminologie trotz ihrer Weite nicht mißzuverstebeu
ist, und weiter ist die Frage deshalb von prinzipieller Bedeutung, als
man meiner Ansicht nach »Kontamination und Analogiebildung« (im oben
dargelegten Sinne) nicht auf eine Stufe stellen darf, denn psychologisch
sind es tatsächlich ganz verschiedene Dinge, wie ich an anderer Stelle weiter
ausführen würde. Für jetzt wollen wir zu den Thnmbschen Ausführungen
zurückkehren.
Kontaminationen und Analogiebildungen beruhen auf assoziativen Ver-
knüpfungen. (Dabei sage ich Uber die Natur dieser Assoziationen vorläu6g
gar nichts aus.) Aber diese Verknüpfungen sind eigentümlicher Natur; denn
nicht Geruchs- oder Geschmacks-, Gesichts- oder Tastvorstellungen wirken
induzierend, sondern nur Wort Vorstellungen. Für uns lautet nun das
Problem: wie müssen die Wortassoziationen beschaffen sein, denen die Fähig-
keit zukommt, Umbildungen zu bewirken?
Dies zu untersuchen, hatten bereits im Jahre 1900 Thumb und Marbe
unternommen; sie fanden damals das »Geliiufigkeitsgesetz« und eine Art von
»Allgemeingültigkeit gewisser Assoziationen«. Mayer-Orth stellten drei
Assoziationstypen auf. Thumb nennt sie 1) spontane Wortassoziationen
[Ra); es ist die Gruppe, die Jung undRicklin als »sprachlich-motorische
Formen« bezeichnen, 2) Wortassoziationen mit begleitenden Vorstellungen
[Rb) und 3; vermittelte Assoziationen [R c).
Die dritte Gruppe ist die am langsamsten verlaufende, R a die schnellste.
Wie verhalten sich nun die sprachlich wirksamen, d. h. die geläufigen
Assoziationen, wie wir sagen dürfen, da ja nur diese in Betracht kommen,
zu diesen drei genannten Typen? »A priori ist zu erwarten, daß nur reine
Wortassoziationen ( R o), die sich unmittelbar und automatisch an das Reiz-
wort anschließen, eine störende Wirkung auf das innervierte Wort ausüben«,
d. h. die Assoziation muß geläufig sein, sich spontan ergeben, d. h. unge-
sucht sein, und ferner schnell verlaufen.
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152
Literaturbericht.
Sonach können wir die analogiebildende Kraft in Beziehung setzen zur
Geläufigkeit, Schnelligkeit und Spontaneität Bezeichnen wir die Diapoaition
oder Neigung eines Wortes zur Analogiebildung als A, in einer Gesellschaft
von n Individuen (also A n) so können wir diese mit den oben genannten
drei Faktoren auf folgende Weise zusammenbringen:
1) wobei // die Anzahl der geläufigsten Assoziationen unter
TO
n Individuen bedeutet. Je großer also üwird, desto mehr Individuen neigen
zur Umbildung. Wird endlich H—n, so ist die Umbildung endgültig voll-
zogen und die alte Form verdrängt.
2) An «= , Z bedeutet die Durchschnittsdauer der geläufigsten Asso-
ziation. Setzen wir statt y den Bruch ein' 80 nSaert 8icD der ßreBZ-
wert von A n mit dem Kleinerwerden von Z dem Werte 1 , d. h. der ab-
soluten Umbildung.
R a
3) A n «« „ • R a ist der Reaktionstyp, H wieder die Anzahl der ge-
läufigsten Assoziation. Je mehr H sich zu Ra finden, desto eher tritt die
Umbildung ein.
4} A n = j^^j • Z ist die durchschnittliche Zeitdauer der Ra- Reak-
tionen. Nimmt Z ab und wächst R a, so nähert sich der Bruch wieder den
•
Werte 1.
Thumb fuhrt eine Berechnung aus.
Nun fragt es sich, ob sich vielleicht eine Versuchsanordnung finden
ließe zur Erzeugung künstlicher Umbildungen. Thumb glaubt das und läßt
sich dabei von der Tatsache leiten, daß gelegentlich bei anderen Assoziation»-
versnehen derartige Wortgebilde zur Beobachtung kamen. So bei Henry
Watt, dessen Vp. zu einem genannten Begriff einen untergeordneten
nennen mußten (diese Zeitschrift. IV. S. 289 flf.j, z. B-.
Zimmer: Tusch -» Tisch x Stuhl
Haus: Stür = Türe x Stuhl,
ea sind also Parallelbildungen zum obengenannten » verdampft < und »grevw*.
Wegen seiner Kürze sei das Schriftchen, das die wesentlichen Resultate
mit zwar knappen, aber deutlichen Beweisen belegt, denen empfohlen, die
sich mit dem Gebiete nicht weiter zu befassen gedenken.
Paul Menzerath (Düren, Rhld.!.
2] Hanns Örtel und Edward P. Morris, An examination of the
theories regarding the nature and origin of Indo-European inflec-
tion. Abgedruckt in der Klassischen Philologie. Bd. XVI. S.63ff.
Schon Delbrüok in seiner erwähnenswerten Schrift »Einleitung in das
Sprachstudium« (1880) S. 100 bemerkt, daß die Versuche, die Sprachionnen
zu zerlegen, nicht auf willkürlichen Entschlüssen und Einfällen der Gelehrten
beruhen, sondern sprachliche Tatsachen zur Grundlage haben. Es ist die
Aufgabe der vergleichenden Sprachforschung nachzuweisen, welches die
-
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Literaturbericht.
153
Formen der Ursprache sind and auf welche Weise die Einzelsprachen ent-
standen sind. Die Abhandlung bezieht sich nur auf die indogermanischen
Sprachen. Die einzelnen Sprachen zeigen, obwohl sie von einer Ursprache
abstammen — darauf sei an dieser Stelle hingewiesen — in ihrer Entwick-
lung wesentliche Unterschiede.
Ludwig in den Sitzungsberichten der Wiener Akademie im Jahre 1867,
S. 134, unterscheidet die Periode von Wurzeln; die Periode, wenn eine oder
mehrere Wurzeln zusammengezogen und als Fürwörter gebraucht werden,
die Vereinigung dieser mit Wurzeln ist die Schöpfung von Wörtern. Es er-
folgte durch diesen Prozeß der Verlust der pronominalen Kraft in diesen
Elementen. Spuren davon finden sich in der Flexion. Hierauf ist eine Über-
sicht Uber die Entwicklung des indogermanischen Flexionssystems nach
Ludwig angegeben.
Der Gelehrte unterscheidet zwei große Perioden: eine prähistorische
(vorgrammatische) und eine historische (grammatische). Die prähistorische
oder auch prägrammatische Periode zerfällt wiederum in drei Teile: in die
Wurzelperiode, die Periode der Wortschöpfung und die Periode der wort-
bildenden Suffixe.
Jespersen im Gegensatz zu Ludwig stellt die ursprüngliche Unab-
hängigkeit jener Bildungen, die später als Suffixe erscheinen, in Abrede. Er
unterscheidet zwei Perioden: 1) die InbegrifTsperiode, 2) die auflösende
Periode. Es ist schwer, sich für eine der Theorien auf Grund irgend einer
historischen oder vergleichenden Grammatik zu entscheiden.
Wandt ist der Meinung, daß, wenn das Wort dem Satze vorangegangen
ist, wenn der Satz eine Synthesis von Wörtern ist, dann wären die »Wurzeln«
das primitive Material der Sprache. Wenn andererseits der Satz das Primi-
tive ist, und daß Wort durch eine Trennung des Satzganzen in kleinere
Einzelheiten entstanden ist , dann sind die Elemente eines Wortes nicht als
ursprünglich isoliert anzusehen. An Kindern gemachte Beobachtungen er-
gaben kein befriedigendes Resultat
Die Kraft, die alle Suffixe in den indogermanischen Sprachen haben,
scheint von sekundärem Charakter zu sein. Ob mal, sai, tai von mami, sasi.
tati oder von maki, saki, taki oder von sonst einer Wurzel abgeleitet ist, ist
von geringer Bedeutung, verglichen mit der Frage: »Sind mai. sai, tai iden-
tisch mit ihrer Bedeutung oder bloß Träger derselben?«
Einige wesentliche Züge sind in Verbindung mit mehreren neuen Strö-
mungen und Theorien der vergleichenden Grammatik zu bringen; sie sprechen
gegen die Agglutmationatheorie. Ein positiver Beweis gegen die Aggluti-
nationstheorie kann von zwei Quellen abgeleitet werden. Erstens zeigt die
etymologische Analyse der primitiven indogermanischen Bildungen ihre ur-
sprüngliche Unabhängigkeit Zweitens gibt Bopp eine Anzahl von Fällen
in den neueren Perioden der indogermanischen Sprachen an, um die Be-
hauptung, die gegen die Agglutinationstheorie spräche, zu rechtfertigen.
Jedoch muß berücksichtigt werden, daß die Bopp sehen Theorien nicht das
Ergebnis seiner grammatischen Analyse sind, sondern auf älteren Anschau-
ungen fußen. Einige vereinzelte Fälle können nicht als Beweismaterial für
eine so wichtige Theorie angesehen werden. Immer jedoch muß zwischen
der Agglutinations- und der Adaptationstheorie gewählt worden; eine dritte
Möglichkeit gibt es nicht.
Die Frage nach dem Ursprung der Adaptationstheorie ist schwer zu
154
Literatlirbericht.
beantworten; denn es ist nicht immer festzustellen, ob die Flexionsendungen
verschieden von den Wortbildungsendungen find, Ludwig betont, daß es
keine absolute und ursprüngliche Verschiedenheit zwischen der Wortbildung
und Flexion gibt; die Flexion ist eine Entwicklung aus der Wortbildung.
Die Beweise, die Ludwig*) bringt, sind allerdings zum Teil irrig und wenig
überzeugend. Aber seither sind verschiedene sehr wertvolle Versuche ge-
macht worden, die seine Hypothese unterstützen. Die wichtigsten Bespre-
chungen sind von Van Wijk*) und von Hirt8).
.laberg4) bespricht den Prozeß, in welchem durch den Hörer Suffixe
gebildet werden, die von dem Sprecher nicht beabsichtigt waren, von dem
Hörer aber aus verschiedenen anderen Quellen abgeleitet werden, ein Fall,
der von Ludwig unberücksichtigt bleibt; als Beispiel mag dienen »wahrendes
Krieges« für »während des Krieges«. Wunderlich, Der deutsche Satzbau.
(1901.) I. 8. 393. II. S. 194.
Ferner sei erwähnt, daß im Indogermanischen ein Reichtum von Wurzel-
verschiedenheiten und von Stämmen entstanden ist, eine Erscheinung, die
wir noch jetzt im Englischen und Persischen beobachten können. Während
nun andere Sprachtypen grammatische Kategorien bilden, kennt der indo-
germanische Typus kein bestimmtes System; er verwandelt fortwährend.
Daher kann ein wirklicher Unterschied zwischen flektierenden und aggluti-
nierenden Sprachen nicht aufrecht erhalten werden, wie schon Ludwig5)
erkannt hat G. v. d. Gabelentz") betrachtet im Anschluß an die Hypo-
these von Bopp die indogermanische Flexion als eine sehr vorgeschrittene
Stufe der Agglutination. Er sagt: »So sind wir wieder um einen Dualismus
ärmer, d. h. um eine wissenschaftliche Einsicht reicher.«
Ferner gehen die Verfasser Örtel und Morris auf die Erklärung der
Ausdrücke »Grundbegriff und Grundbedeutung« ein, Ausdrücke, die sie
Delbrück7) verdanken. Er führt aus, daß unter »indogermanischer Mutter-
sprache« die Sprache verstanden wird, welche unmittelbar vor der Tren*
nung der Völker gesprochen wurde; unglücklicherweise ist es schwer, zu
bestimmen, wann diese Trennung eintrat.
Im Jahre 1871 erklärt D.8) den Unterschied zwischen dem absoluten und
dem relativen Grundbegriff. Unter »absolutem Grundbegriff« versteht er des
Begriff, den ein Wort hatte, als es zuerst entstand; unter »relativem Grund-
begriff« ist nach Delbrücks Meinung der älteste historische Gebrauch des
Konjunktivs oder Optativs zu verstehen, nachgewiesen nach dem Gebrauch
dieser Modi im Griechischen und Sanskrit.
Gegen den »absoluten Grundbegriff« sind folgende drei Gründe anzu-
führen: I. Die Annahme der agglutinierenden Hypothese, nach welcher die
1) Agglut. oder Adapt S. 113—118.
2) Der nominale Genetivsingular im Indogerm. in seinem Verhältnil
zum Nominativ.
3; Indogerm. Forschungen. XVII (1904)- S. 36—84.
4) Die pejorative Bedeutungsentwicklung im Französischen in Zeitschr.
f. roman. Philol. XXVII (1903). S. 37.
5) Agglut oder Adapt. S. 24.
6) Die Sprachwissenschaften. S. 345 ff.
7) Kuhns Zeitschrift XVIII. 1869. S. 74.
8) Der Gebrauch des Konjunktivs und Optativs. 1871. S. 11.
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Literaturbericht.
155
relativen Grundbegriffe nnd die wirkliche Anwendung in den historischen
Sprachen als direkte Abkommen solcher absoluten Begriffe gehalten werden.
II. Die Annahme der Adaptationstheorie von Ludwig, welcher die Suffixe
als Bedeutungsumbildung der Demonstrativbedeutung erklärt. >Die Suffixe
modifizieren ursprünglich die Bedeutung von Wurzel und Stamm garnicht.
Sie geben Beziehungen nach außen«1). III. Jespersens Hypothese von
dem Satzwort, nach welcher die »absoluten Grundbegriffe« selbstverständlich
verneint werden.
Diese drei Gegengründe sind auf zwei zu reduzieren; denn Ludwig,
welcher, wie er in seiner AdaptationBtheorie ausspricht, die Suffixe nicht als
partizipielle Bildungen ansieht, Btimmt darin mit Jespersen tiberein.
In dem Konjunktiv nnd Optativ (Wille, Wunsch) sind die beiden Arten
von Grundbegriffen zu vereinigen. Der Konjunktiv geht von dem Willen
ans; er entwickelt Bedeutungsschattierungen, deren er in den historischen
Zeiten fähig ist
Dieser Prozeß ist zu vergleichen mit der Verzweigung eines Familien-
baumes; die Gebrauchsarten einer Form sind als die Mitglieder einer großen
Familie verknüpft durch einen Ahnherrn.
Wenn man die früheren Perioden der indogermanischen Sprache unter-
sucht, beobachtet man, daß die allmähliche Größe und die ursprünglich
lokalen Verschiedenheiten von erster Bedeutung sind. Darauf basiert die
Adaptationstheorie Ludwigs2). Die Flexion ist nicht die Schöpfung eines
Moments; sie muß von kleinen Anfängen ausgegangen sein, und ihre Ent-
wicklung muß eine allmähliche gewesen sein, bis die Flexionssyntax endlich
von einem Flexionssystem verdrängt wurde. Wenn die Konjunktivfunktion
von sekundärem Ursprung ist und sich von einer älteren Indikativfunktion
abzweigt, so bedarf es keines Beweises dafür, daß solche Bedeutungsum-
bildungen sich im ganzen indogermanischen Gebiet verbreiteten.
Im allgemeinen besteht die Annahme, daß das indogermanische Volk
ein kleines und ziemlich homogenes war. Jedoch die neueren Untersuchungen
von Ratzel9) haben orgeben, daß die Indogermanen über ein großes Gebiet
verbreitet waren. Je weiter und ausgedehnter das Gebiet ist, das ein Volk
bewohnt, desto weniger Berührung haben die einzelnen Stämme miteinander
und desto verschiedenartiger sind sie. Es ist daher unmöglich, eine voll-
kommen entwickelte Verschiedenheit der Kategorien von Modus, Zeit und
Fall anzunehmen. Mit Rücksicht auf die große Ausdehnung des Volkes
ist es richtiger, von einem indogermanischen wirtschaftlichen Vokularium als
von einem Optativmodus zu sprechen.
Während einerseits die Möglichkeit einer Verschmelzung in der Geschichte
des indogermanischen Flexionssystems nicht weggeleugnet werden darf, muß
andererseits angenommen werden, daß mancherlei scheinbare Verschmelzungen
tatsächlich primitive Formen sind.
Indogermanische uns überlieferte Formen lassen verschiedene Arten der
Übersetzung zu; wir können sie ebensowohl im Futurum als im Präsens
wiedergeben. Die Form darf naoh ihrer Bedeutung zergliedert werden; aber
1) Agglut oder Adapt. S. 27.
2) Agglut oder Adapt. S. 39.
3) Berichte der sächsischen Gesellschaft der Wiss. (1898), S. 1 und (1900),
S. 26.
156
Literaturbericht.
diese Bedeutung war zu jener Zeit nicht mit solcher Bestimmtheit in der
Form ausgedruckt. Der Fehler besteht darin, daß die Interpretation der
Form auf einer Analyse beruht, welche in Wirklichkeit nicht bestand1.
Die Anpassungstheorie setzt in der Periode, bevor die historischen
Sprachen Gestalt angenommen haben, einen Zustand voraus, in dem etwas
ähnliches wie Grundbegriff unbegreiflich ist Die Kräfte der Analogie und
Assimilation hatten noch nicht genügend Wirkung, um etwas so Systema-
tisches wie ein Modus- oder Kasussystem hervorzubringen. In jene Zeit
wird die Agglutinationstheorie verlegt.
Ein anderer Punkt als Illustration für die beiden Theorien verdient Er-
wähnung. Delbrück (S. 107) sagt, daß zwei Dinge in einem Gebrauchs-
typus vereinigt sind: eine Flexionsform (z. B. wäre) und ein Komplex von
Begriffen und Bewegungen, ausgedrückt in den anderen Worten eines Satzes
(z. B. wäre ich nur erst zu Hause). Die einen legen den meisten Nachdruck
auf die Flexionsform, die anderen vielleicht auf den Modus; die Verschieden-
heit der Auffassung liegt im Nachdruck.
Ein Grund für die Annahme der beiden Theorien kann durch den Kaans
gegeben werden, wofür viele Beispiele, besonders aus dem Griechischen
herangezogen werden können.
Ein anderer Beweis der Verschiedenheit in der syntaktischen Methode
kann aus den angenommenen Beispielen der Verschmelzung der Modi und
Fälle hergeleitet werden. Das Sanskrit, das Griechische, das Zend und Alt-
persische haben die Geschiedenheit der beiden Modi gewahrt; in den übrigen
Sprachen sind die Modi zusammengeflossen * .
E. Kretschmer (Berlin).
3} Alexander F. Chamberlain, Acquieition of written language by
primitive peoples. Reprinted from the commemorative number of
the American Journal of Psychology. Vol. XIV. S. 146—153. Juli-
September 1903.
Der Verfasser gibt uns eine Übersicht dessen, was ihm Uber die Sprache
der primitiven amerikanischen Völker durch Missionare mitgeteilt wurde.
I. Algonkin. Pere Le Clercq machte im Jahre 1666 den ersten Ver-
such, den algonkischen Indianern eine indische und europäische Sprache bei-
zubringen. Der Geistliche berichtet, daß es ihm vermittels eines eelbstge-
bildeten Silbenalphabets leicht geworden sei, seine Absicht durchzuführen.
Im zweiten Jahre seiner Mission brachte er seinen Zöglingen ohne jegliche
Schwierigkeit das Beten bei.
Im Jahre 1866 veröffentlichte Bev. C. Kander aus Wien als Resultat
seiner Forschungsreisen das »Buch das gut, enthaltend den Katechismus.
Betrachtung, Gesang«.
Bev. James Evans erfand selbst 1840 ein System, um die indianischen
Stämme der Hndson-Bayregion seine Gebete zu lehren und schon 1841 er-
schienen gedruckte Bücher. Über den Erfolg von Evans' Methode schreibt
Ballantyne (London 1848) in seiner »Hudson Bay«. Äußerst günstig Uber
1) Vgl. Meu mann, Die Sprache des Kindes. (1903.) S. 60 ff.
2) Der Gebrauch des Konjunktivs und Optativs. (1871.) S. 102—103.
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Literaturbericht.
157
das leicht faßliche System spricht sich auch Rev. JohnMaclean in seinem
Buch »The Indiana* (Toronto 1889) aus. Protestantische und katholische
Geistliche gebrauchen jetzt das Buch.
II. Athapasken. Rev. A. G. Morice, ein katholischer Missionar, ver-
öffentlichte 1890 »The new methodical, easy and complete Den6 Syllabary«.
In einem Briefe, der in »Bull. Soc. Neuchät. de Geogr.« (Vol. XV. 1904.
S. 74) erschienen ist, schreibt Morice, daß die Indianer ihre Sprache mit
wunderbarer Leichtigkeit lesen und schreiben lernen ohne regulären Schul-
unterricht durch die neu erfundene SUbenmethode. Morices Metbode basiert
auf der von Evans und wurde im Jahre 1889 vervollkommnet.
Andere Arbeiten Uber die Atbapasken sind von W. W. Kirkby 1870—79,
von Perrault 1867—65 und von Legoff 1890.
HI. Chinooks. Ein SyBtem stammt von Le Jeune her, einem Mis-
sionär, der seit 1880 unter den Indianern von Britisch-Columbia weilt.
IV. Eskimos. Rev. E. J. Beck, später Little Whale River und
Blackhcad Island benutzten die Methode Evans1, übertragen in die
Sprache der Eskimos. Mit wundervoller Leichtigkeit lernten die Einge-
borenen lesen.
V. Iroquois. Das Alphabet wurde erfunden von George Guess; die
frühesten Kenntnisse datieren von 1826. G. drückte alle Silben durch ge-
trennte Bemerkungen aus. Er fand 82 Silben, die mit Hilfe der Buchstaben
unseres Alphabets und verschiedener Veränderungen unserer Buchstaben
wiedergegeben wurden. Vermittels dieser Zeichen wurde bald eine Ver-
ständigung der Stämme der verschiedenen Gegenden erzielt. Später wurden
noch vier Silben entdeckt, so daß die ganze Sprache nunmehr 86 Silben
zählte.
VI. Salishen. Als verdienstvoller Obersetzer kommt wiederum Le Jeune
in Betracht. Ein Faksimile einer Seite der Gebete in der Sprache der Thomp-
son-Indianer ist von Pilling in seiner Salishan Blbliography (S. 40) und
von Maclean in »Canadian Savage Folk« (S. 639) gegeben.
VII. Sioux. Hier ist die Methode von Evans eingeführt. Lord Sou-
th esk in »Saskatchewan and Rocky Mountainsc (London 1875) schreibt:
»Our Stony meseenger met us on the road, bringing me a letter from his
people written in the Cree syllabic characters.« Es liegen uns noch mehrere
günstige Berichte über die Fortechritte der Sioux im Lesen und Schreiben
vor, n. a. von Miss Alice C. Fletcher 1890.
Aus dem ihm vorliegenden Material zieht Chamberlain den Schluß,
daß die Erfolge, die die primitiven Völker in der Erlernung des Lesens und
Schreibens aufzuweisen haben, ein interessantes Kapitel der Pädagogik und
Psychologie sind.
Außerdem gibt uns noch Ch. eine Übersicht über die primitiven Ge-
schmackswörter. Die Prefixe uri, mino, miyo , wuli bezeichnen gut z. B. uri-
puguat — die Prefixe matsi, mangi, matchi usw. bezeichnen schlecht z. B
matsipuguat. Ferner kommen als Prefixe vor: wishko süß, wisa bitter, un-
angenehm, wingi ausgezeichnet, für geschmacklos findet sich das
Prefix insipid. Für sauer und süß hat die primitive Sprache einen
Stamm «= acid. Bitter wird ausgedrückt durch wesogkon, wisackgan,
w£skük und schließlich durch wisak. Trum bull (Natick Dict S. 186) ver-
sucht wesogkon bitter mit weeswe = gall (Englisch yellow — gall) in Ver-
bindung zu bringen.
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Literaturbericht.
Ein anderes Wort für bitter ist äkusiw, abgeleitet von äk; hierher ge-
hört u. a. die Verbindung äkwatiaiw er ist grausam.
Für kalt, kühl findet sich da» Prefix tak(a) i. B. tekasBing.
Das Wort dipweban oder tipweban ist abgeleitet von du poivre (im Fran-
zösischen Canadiern du pwevre).
Für salzig findet sich das Wort salawa (abgeleitet vom französischen
Wort sei). Band (in Micmac. Dict 1888. S. 224) äußert sich über das Wort
folgendermaßen: Here is evidence that the Indiana used no salt bevore
they obtained it from the white», since they had no name for the article.<
Ein weitverbreitetes algonkisches Prefix für sauer ist siw, shiw.
Für süß kommt die Bezeichnung wingan oder anch wikw vor.
Hiermit schließt der Verfasser seine Betrachtungen, nachdem er uns die
hauptsächlichsten Bezeichnungen für die Geschmackewürter gegeben hat.
E. Kretschmer (Berlin).
4) Karl L. Schäfer, Die psychologische Deutung der ersten Sprach-
äußerungen des Kindes. Mediziniach-pädagogiBcho Monatsschrift für
die gesamte Sprachheilkunde, herausgeg. von A. und H. Gntzmann.
Berlin. XVII. Heft 11-12. 1907.
Der Verfasser berichtet Über die verschiedenen bisherigen Deutungen der
ersten Sprachäußerungen des Kindes, Dabei geht er nicht auf die nur
physiologisch interessanten ersten Sprechbewegungen überhaupt ein, sondern
nur auf die Periode in der die gesprochenen Silben oder Worte anfangen
als Ausdruck solcher seelischen Vorgänge aufzutreten, die sich bereits über
die erste Stufe dunkler psychischer Regungen erheben.
Das Charakteristische der ersten Worte des Kindes liegt in ihrer dem
Erwachsenen oft unbegreiflich erscheinenden vielseitigen Verwendung.
Gegen meine Deutung dieser Erscheinung bemerkt der Verfasser, daß die
Kinder doch wohl manchmal nicht bloß die emotionelle Seite der Dinge be-
zeichnen, sondern die Gegenstandsvorstellung selbst »Nicht so selten wird
wohl beides zugleich stattfinden, und schließlich kann man sich auch ganz
gut vorstellen, daß gelegentlich ein weder lust- noch unlustbetonter Sinnes-
eindruck allein durch seine Lebhaftigkeit unwillkürlich, gleichsam reflektorisch-
explosiv, das zugehörige Wort auslöst <
Hit Recht beschäftigt der Verfasser sich genauer mit der Deutung der
Beobachtungen Idelbergers, dessen Kind u. a. mit \rauwau die allerver-
schiedenartigsten Dinge bezeichnete, und weist darauf hin, daß eine solche
Ausdehnung des Wortes auch durch zufällig wirksame assoziative Binde-
glieder erfolgen kann. Nicht ganz beistimmen kann ich der Ansicht
Schäfers, daß das Kind in den ersten Stadien der Sprachentwicklung »be-
reits dieselben Fähigkeiten besitzt und benutzt, mit denen nach und nach
alle Begriffe auch die kompliziertesten und abstraktesten erworben werden
es ist imstande, aus einer Anzahl gleichzeitiger Eindrücke, einzelne besonders
eindringliche, mittels der Aufmerksamkeit herauszuheben, zu abstrahieren und
unter diesen wieder einerseits die ähnlichen, andrerseits die gleichzeitigen zu
einer spezifischen Einheit zusammenzufassen«. Wie weit wirklich die abstra-
hierenden Fähigkeiten des Kindes gehen, das wissen wir noch nicht In dem
Abstraktionsprozeß gibt es Grade und Stufen, und ich möchte annehmen.
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Literaturbericht.
159
daß das Kind nur die niedere psychologische Abstraktion besitzt, ver-
möge deren einzelne Wahrnehmungsinhalte »betont«, aus ihrer Umgebung
herausgehoben, dann isoliert vorgestellt werden und infolgedessen nun selb-
ständig assoziative Beziehungen mit anderen Bewußtseinsinhalten eingehen
können. Von diesen Prozessen haben wir die beziehende und generalisierende
Abstraktion und einige weitere Arten zu unterscheiden, die jedenfalls erst im
Lauf des späteren Lebens eintreten. E. Heumann (Münster i. W.).
5) Herdis Erarup, Die Metaphysiologie Alfred Lehmanns, kritisch
erläutert. Berlin, Hermann Walter, 1907. M. 1.20.
Die vorliegende Schrift enthält eine recht absprechende Kritik der Grund-
anschaunngen Alfred Lehmanns und der Art ihrer Gewinnung. Mag
vieles an den Beanstandungen K rar ups richtig sein, im großen macht die
Schrift doch den Eindruck, daß der Verf. die positive Bedeutung der Ar-
beiten Lehmanns nicht erkennt, und zwar wegen des einseitigen — nicht-
psychologischen — Gesichtspunktes seiner Kritik.
>Zwanzig Jahre hindurch«, so beginnt K. — hat Dr. AI fr. Lehmann
eine Reihe psycho-physischer Arbeiten veröffentlicht, welche bis zur neuesten
Zeit mit einer immer steigenden Aufmerksamkeit und Anerkennung aufge-
nommen worden sind«. Nach 1901 aber, d. h. nach dem Erscheinen des zweiten
und dritten Teils von Lehmanns »körperlichen Äußerungen psychischer
Zustände« sei dann plötzlich die Beurteilung umgeschlagen, indem die spä-
teren Arbeiten von Dr. Lehmann fast vollständig ignoriert werden, inso-
fern sie nicht einer scharten Kritik unterworfen worden Bind. Der Verf.
meint nun, hierfür müßten doch wesentliche Gründe bestehen. L. selbst habe
als Grund angegeben, daß er herrschenden Schulmeinungen entgegentrete. Der
Verf. ist dagegen der Ansicht, daß diese Erklärung nicht zutreffe. »Die
herrschenden Schulen« vertreten vielmehr so viele Standpunkte, daß es merk-
würdig wäre, wenn sie . . . darüber einig sein sollten, nach einer ober-
flächlichen Kritik die Arbeiten Lehmanns totzuschweigen.
Der Verf. will nun in der vorliegenden Schrift »die Aufmerksamkeit auf
einige wesentliche Mißverständnisse und Unrichtigkeiten im zweiten und dritten
Teil des Werkes, die körperlichen Äußerungen psychischer Zustände lenken«,
um die Psychologen auf die in L.s Ausführungen steckenden Fehler hinzuweisen.
Zuerst versucht Kr. unter dem Titel »Rationell oder empirisch« zu zeigen,
daß L. im dritten Bande seiner Schrift manche Einsichten des ersten Bandes
aufgegeben oder geändert habe, ohne das selbst hervorzuheben. Ganz be-
sonders fühlbar werde dieser Übelstand gegenüber der Frage, ob die von L.
aufgestellten Formeln »rationell oder empirisch« seien. Nach dem zweiten
Teil seines Werkes mußte man sie für »rationell abgeleitet« halten, da ihre
komplizierte Form sonst sinnlos wäre, im dritten Teil dagegen erkläre L.
selbst diese Formeln für empirisch, denen er jetzt erst eine rationelle Ab-
leitung gegeben habe.
Sodann spricht der Verf. eine Anzahl Formeln L.s durch, und zwar zu-
erst die »Periodenkonstante /«. Sie ist eine der Formeln, die unverändert
vom zweiten in den dritten Band hinübergenommen sind. Dies ist nach der
Ansicht des Verf. höchst erstaunlich, da Marbe nachgewiesen habe, »daß
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160
L i 1 6 r& t ur t) 6 ri c Ii t <
überhaupt keine Periodenkonstante existiert« (vgl. Pflttgers Archiv. Bd. 97.
1903). Die Kritik Marbes wird dann vollständig zitiert M. hat in einer
Tabelle die Werte angeführt, die naeh L. konstant sein sollen (und zwar
zum Teil erat aus L.s Resultaten berechnet). Es ergab sich dabei, daß sie
eine MV von 70,92 und 17,49;; des AM aeigen. Auch die Art der
mathematischen Definition der Periodenkonstante ist von M. als unzulässig
bezeichnet worden.
In den weiteren Ausführungen werden nun zahlreiche weitere Ansichten
und Formeln L.s einer Kritik unterzogen. Alle diese Ausführungen hier zu
entwickeln und ihre Begründung kritisch zu prüfen, das würde einen Bericht
nötig machen, der an Umfang der Originalschrift gleich käme. Wir müssen
uns daher damit begnügen, auf einige Hauptpunkte hinzuweisen. Nachdem
der Verf. darauf hingewiesen hat, daß L., wie es scheint, sein im zweiten
Bande aufgestelltes »Kontrastgesetz« selbst aufgegeben habe, versucht er
nachzuweisen, daß die Kontrastformeln L.s zum Teil unrichtig berechnet sind,
insbesondere sei die von L. angenommene Konstrastkonstante <* , auf keinen
Fall, wie L. selbst angibt gleich Null, sondern sie müsse einen positiven
Wert geben ; da nun sowohl diese unrichtige Kontrastkonstante, wie die vor-
her als unrichtig nachgewiesene Periodenkonstante in zahlreiche spätere
Formeln L.s eingehen, so müssen auch diese unrichtig sein.
Es folgen zwei kurze Abschnitte Uber L.s Versuche einer rationellen
Ableitung des Unterscheidungsgesetzes und Uber die Allgemeingültigkeit dieses
Gesetzes, und sodann wichtige Ausführungen über das Arbeitsgesetz, das
L. für ergograpbisehe Arbeit entwickelt hatte. Auch für dieses wird ge-
zeigt, daß L.s Berechnungen ungenau sind, und der Verf. schließt: »Das so-
genannte Arbeitsgesetz ist offenbar allzu schwach begründet, um den Namen
eines Gesetzes verdienen zu können«.
In den folgenden Abschnitten setzt sich Krarup mit L.s physiologi-
schen Ansichten auseinander, insbesondere mit seiner > Nerventheorie«. Schon
im zweiten Bande des erwähnten Werkes hatte L. zu zeigen versucht, daß
durch Reizung der Nerven ein elektrolytischer Prozeß entsteht und auf
Grund dieser Ansicht eine Theorie der Nerventätigkeit entwickelt; diese be-
zeichnet der Verf. als willkürlich und ungenau durchgeführt, namentlich be-
trachtet er L.s Formel für den Stoffwechsel als unberechtigt
Wichtiger sind die Ausführungen gegen L.s definitive Theorie der Nerven-
erregung (entwickelt im dritten Bande des Hauptwerkes und in einer Ab-
handlung in Pflügers Archiv. Bd. 97. 1903;. Hier hatte L. einen Vergleich
zwischen einem »künstlichen« und einem natürlichen Nerven angestellt und
zu zeigen gesucht, daß dieselben Gesetze, die für die Nervenwirksamkeit
gelten, auch für den künstlichen Nerven Gültigkeit haben. L. habe nun aus
dieser partiellen Identität auf absolute Identität beider geschlossen und habe
bei diesem »außergewöhnlich weit reichenden Analogieschluß« Ubersehen,
daß in einem entscheidenden Punkte nur sehr geringe Ähnlichkeit zwischen
seinem künstlichen und einem natürlichen Nerven stattfindet Die Leitungs-
geschwindigkeit in L.s Nerven war nämlich 6 cm in der Stunde, während sie
im wirklichen Nerven etwa SO m in der Sekunde ist Diese enorme Ge-
schwindigkeitsdifferenz macht nach des Verf. Ansicht »den Analogieschluß
Lehmanns« überhaupt unwahrscheinlich. »Ferner«, so fügt Kr. noch als
Haupteinwand gegen L.s elektrolytische Nerventheorie hinza, »ist es sehr
unwahrscheinlich, daß eine Konzentrationsänderung in einem wirklichen
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Literaturbericht.
161
lebendigen Nerven mit einer Geschwindigkeit von etwa 30 m in der Sekunde
sich verpflanzen sollte.«
In den weiteren Ausführungen werden Lehmanns Formeln für die Be-
siehungen zwischen Reiz und Nervenerregung angefochten, und endlich ganz
besonders seine Theorie der Hemmung und Bahnung und sein > Hemmungs-
und Bahnungsgesetz«, ferner sein Versuch über Bahnung von Schallemptin-
dungen, das Unterscheidungsgesetz flir Schallempfindungen und seine defi-
nitive Formel für den »Lichtkontrast«. Zuletzt weist der Verf. (wie auch
schon üfter vorher) noch einmal darauf hin, daß L. allzuviel Wert lege auf
die Obereinstimmung seiner berechneten Formeln mit den beobachteten
Werten, indem er mit Recht darauf hinweist, daß man eine solche Über-
einstimmung durch Einführung von Konstanten, insbesondere bei logarithmi-
schen und Exponentialformeln, leicht herbeiführen kann, »welche, als
Beweis betrachtet, ganz illusorisch ist«.
Hierauf kommt der Verf. zu dem Schlüsse: »Durch einen unkritischen
Gebrauch der Methode der kleinsten Quadrate, ferner durch ebenso un-
kritische physiologische Spekulation, die offenbar in keinem wirklichen,
sicheren, physiologischen Wissen fußt, hat Dr. Alfr. Lehmann ein meta-
physiologisches System aufgestellt, das für den Leser eine Täuschung ge-
worden ist, für den Verf. eine Täuschung werden wird, und für die Nachwelt
zu einem warnenden Beispiel dafür dienen kann, zu welchen Irrtümern man
kommen kann, wenn man den Unterschied zwischen dem Möglichen und dem
Wirklichen ignoriert, wenn man den alten logischen Satz (dessen Berechti-
gung und Bedeutung hoffentlich nicht wie ein gewisser andererer logischer
Terminus Dr. L.s »ein Rätsel« ist) vergißt: a posse ad esse consequentia
non valet«. '
Man kann gespannt darauf sein, was L. selbst gegen die Ausführungen
des Verfassers erwidern wird. E. Meumann Münster i. W.).
6) Arthur MacDonald, A plan for the study of man. Washington,
Gouvernements-Druckerei, 1902.
Das vorliegende Werk, dem wir in deutscher Sprache leider nichts Ähn-
liches an die Seite stellen können, entwickelt mit Ausführlichkeit und Exakt-
heit einen vollständigen Plan zum wissenschaftlichen Studium des
Menschen, insbesondere des Kindes, auf physiologischer und namentlich
auf anthropologischer Grundlage. Besonders wertvoll sind die Abbil-
dungen und Beschreibungen zahlreicher Instrumente und Apparate, mit denen
die verschiedenen Zwecke der Untersuchung erreicht werden können. Ein
sehr ausfuhrliches Verzeichnis der Literatur der Kinderforschung ist am
Schluß deB Werkes beigegeben. E. Meumann (Münster i. W.).
7) Adalbert Gregor, Ein einfacher Apparat zur Exposition optischer
Reize. Klinik für psychische und nervöse Krankheiten. Herausg.
von Rob. Sommer. 1907.
Herr Dr. Gregor beschreibt einen Apparat, den er für seine Unter-
suchungen Uber Störungen der Apperzeption konstruiert hat, und der
Archiv fftx Psychologie. XL Literatur. 11
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162
Literaturbericht.
dazu bestimmt ist, kompliziertere optische Beize eine bestimmte, exakt zu
bemessende Zeit hindurch zu exponieren«. »Handelt es sich darum, die Auf-
fassung komplizierterer optischer Reize zu untersuchen, dann wird die von
den Reaktionsversuchen genommene Methodik nicht mehr ausreichen können.
In diesem Falle wird zweckmäßigerweise die Abhängigkeit der Auf-
fassung von der Daner der Reizeinwirkung zu untersuchen sein.« Der
Apparat des Verfassers besteht »aus einem elektrisch zu regulierenden photo-
graphischen Vorhangverschluß«. »Nach meinen Angaben wurde von Herrn
Mechaniker Zimmermann bei einem derartigen Verechluß der Außenteil der
Feder, welcher bei Zeitaufnahmen durch Druck des Gummiballon 8 abgehoben
wird, mit einem Eisenplättchen versehen, in der Nähe ein kräftiger Elektro-
magnet angebracht, die für das Objekt bestimmte runde Öffnung in eine
quadratische verwandelt, eine Vorrichtung zum Einschieben der Karten her-
gestellt und der Apparat auf einem Brette montiert, welches seine Bestand-
teile der Versuchsperson verdeckt Durch Druck auf einen Taster wird der
Elektromagnet in Tätigkeit versetzt und der Verschluß geöffnet, durch Nach-
lassen des Druckes der Strom unterbrochen und damit der Verschluß ge-
schlossen. Die ExpositionBzeit wird in diesem Falle mittels der
Sekundenuhr gemessen. Zn ihrer exakten Regulierung kann ein Zeitsinn-
apparat— ich verwende Wundts Universalkontaktapparat mit Meura annt
Drehkontakten — dienen. Das etwas laute Geräusch beim Anziehen dei
Eiaenteiles durch den Elektromagneten kann durch eine ähnliche Vorrichtung
wie bei Wirths Gedächtnisapparat abgedampft werden.«
E. Meumann (Münster f. W.).
8) Dr. A. Gregor und Dr. A. Zaloziecki, Diagnose psychischer Prozesse
im Stupor. (Aus der psychiatrischen- und Nervenklinik von
Flechsig in Leipzig.) Klinik für psychische und nervöse Krank-
heiten, herausgeg. von Rob. Sommer. 1907.
Die Verfasser haben an einer hochgradig stuporösen Patientin pneumo-
graphische Versuche ausgeführt, die verschiedene interessante Resultate
hatten.
Die Patientin hatte kurze Zeit vor der Aufnahme in die Klinik Beein-
trächtigungsideen, »glaubte, als eine Börse verloren ging, man halte sie für
die Diebin«. Sie machte sich plötzlich Selbstvorwürfe, begab sich auf die
Staatsanwaltschaft, wo sie sich selbst der Veruntreuung anklagte. Bei der
Aufnahme war sie leicht stuporös; es entwickelte sich aber bald ein voll-
kommener Stupor. »Patientin lag ganz passiv da, zeigte keinerlei Reaktion
auf Ansprechen oder auf Schmerzreize; nie wurden aktive Bewegungen be-
obachtet, passive stießen auf keinerlei Widerstand; sie ließ Urin und Kot ins
Bett, wenn sie nicht morgens und abends für längere Zeit auf den Nachtstuhl
gesetzt wurde. Patientin mußte täglich zweimal mit der Sonde gefuttert
werden und zeigte auch hierbei keine Reaktion.« Es ist klar, daß eine
solche Kranke für Versuche über den Ausdruck der Gefühle ein besonders
interessantes Objekt ist. Es fallen bei ihr zahlreiche Komplikationen weg,
die bei dem normalen Menschen die Deutung der Ausdrucksbewegungen er-
schweren, wie willkürliche motorische Reaktionen, Einmischung von Über-
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Literaturbericht 163
legungen und so fort. Ebenso müssen die Gefühle in ihrem Einfluß in ge-
wissem Maße ausgeschaltet sein, wie das auch die Versuche ergaben.
Die Verfasser besprechen zuerst die zahlreichen Diskussionen über die
Verwendung und Deutung der Versuchstechnik der Gefühlsausdrucksmethoden
und schlugen dann nach einigen Vorversuchen mit dem Plethysmographen einen
von dem gewöhnlichen Verfahren abweichenden Weg ein. Sie wollen nämlich
gerade die — sonst als störende Einmischung auftretende — willkürliche
Beeinflussung der Atemkurve beobachten. Sie fragten daher: »Treten will-
kürliche Veränderungen der Atmung bei Einwirkung von
Reizen auf? Aus jenen wäre denn auf die Apperzeption der Reize zu
schließen. Von einer willkürlichen Beeinflussung der Atmung wird dann die
Rede sein dürfen, wenn nach Einwirkung von Reizen Veränderungen der
Atemkurve auftreten, die nicht als Reflexe anzusprechen sind : wenn sich
z. B. bei Wortreizen Wirkungen einstellen, die von den durch einfache Schall-
reize erzeugten abweichen, oder gar, wenn sich Beziehungen feststellen lassen
zwischen den Veränderungen der Atemkurve und dem Inhalte des Zuge-
rufenen; denn in diesem Falle ist die Apperzeption des Inhaltes
evident.«
Leider ist diese psychologische Überlegung nicht ganz richtig. Die Ver-
fasser drücken sich so aus, als wenn jede nichtreflektorische Verän-
derung der Atemkurve eine willkürliche sein müßte. Warum sollen nicht
Empfindungen, Gefühle, ja selbst die Apperzeption eines Vorstellungsin-
haltes auch »unwillkürliche« Veränderungen der Atemkurve hervorbringen
können?
Der Patientin wurden nun 164 Einzelreize appliziert, darunter 49 Haut-
reize (43 Schmerz- und 6 Temperaturreize), 21 Reizungen der Zungenschleim-
haut (9 Berührungs- 12 Geschmacksreize), 68 Reizungen der Nasenschleimhaut
(47 Geruchsreize, 11 Ammoniakreize}, 36 akustische Reize (9 einfache Schall-,
27 Wortreize) ; »unter den letzteren waren 6 Suggestivreize, die im Anschluß
an Geruchsreize unternommen wurden«.
»Die Atembewegung wurde mittels eines Lehmannschen Pneumo-
graphen aufgenommen.« Geschwindigkeit des Kymograpbions 0,69 cm in der
Sekunde. Auf der etwa 2 m langen Papierschleife wurden außerdem die Zeit
in Sekunden registriert und Reizsignale markiert.
Vier verschiedene Reaktionsarten des Atems wurden beobachtet:
1] Verkürzte Respiration, vorwiegend bei Unlustreizen »und zwar
bei kurzer oder monentaner Reizung (Stich) in der dem Reiz unmittelbar
folgenden Atmung; bei längerer Einwirkung des Reizes während seiner
ganzen Dauer; ,häufig werden dabei die Atempausen kleiner und die Respi-
ration unregelmäßig'«.
2} Vollständiges Innehalten der Atmung bei Ammoniak, »ferner bei ent-
sprechenden Suggestivreizen«; ein ähnliches Kurvenbild entstand »bei Appli-
kation von Reizen auf die Zunge (Bestreichen, Geschmacksreize)«. Die
erste Reaktion deuten die Verfasser selbst als »eine manchmal vielleicht
unwillkürliche, in einzelnen Fällen jedoch sicher willkürliche Abwehr-
reaktion«.
3) »Eine in der Kurve sich als kleine Zacke geltend machende Atem-
bewegung, die bei momentanen Reizen (Stich, Kältereiz) und unmittelbar nach
diesen auftritt. Sie wird als ,Schreckreaktion( aufgefaßt. Sie war im all-
gemeinen der Intensität des Reizes proportional.«
11*
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164
Literaturbericht
4) »Vertiefte Respiration während der Reizeinwirkungsdauer, vor-
wiegend bei Reizen mit ätherischen Gerüchen«; »dabei trat auch häufig Be>
schleunigung der Respiration ein. Die anmittelbar auf Kältereize folgende
tiefe Respiration ist als reflektorische Wirkung wohlbekannt«.
Im einzelnen machten die Verfasser noch manche interessante Beob-
achtungen, so z. B. die, daß auf Stichreize eine »Schreckreaktion« stets nur
beim ersten Stich einer Reibe erfolgte; »die später folgenden erzeugten
entweder Uberhaupt keine Atemänderung oder verkürzte Inspiration, wenn
sie von größerer Stärke waren oder an empfindlichen Haotstellen (Lippe)
beigebracht wurden«.
Von psychologischem Interesse ist besonders die Wirkung »verbaler
Reize«, durch diese suchten die Verfasser bestimmte Gefühle zu erregen.
»Neben Anrufen (,Emma', ,guten Tag* und anderen indifferenten Wortreiien;
verwendeten wir Zurufe wie die folgenden: ,Sie haben gestohlen, kommen ins
Zuchthaus' (unangenehm) und ,die Mutter ist hier, nimmt sie nach Hanse
angenehm).« »Entsprechend der geringen Intensität dieser Reizart sind nur
47 % der Versuche positiv ausgefallen ; die verkürzte und unregelmäßige
Atmung, die in sieben Fällen eintrat, ist mit den Versuchsergebnisgen
Zoneffs und Meumanns zu vergleichen (Wandt, Philos. Stud. 18. 1903],
die eine ähnliche Reaktion an Normalen bei Aufmerksamkeitsspannun^
fanden.« Bei diesen Versuchen machte sich (wie auch schon vorher öfter!
die verschiedene Disposition der Vp. in verschiedener Stärke der
Atemreaktionen sehr bemerkbar. Nicht richtig ist es, wenn die Verfasser
hier von einer »geringeren Intensität« der Reize sprechen, bei normalen
Vp. würden sie mit solchen Zurufen sehr intensive GefÜhlsreaktioneo er-
reicht haben, es ist doch wohl das daniederliegende Gefühlsleben der stnpo-
rtfsen Patientin, was die Schwäche der Atemreaktion bei diesen verbalen
Reizen bedingt. Sehr zartfühlend sind übrigens diese Reize nicht!
Wichtig sind ferner noch die Suggestivreize. Diese wurden an zwei
Tagen im Anschluß an Geruchsreize ausgeführt »Arn 7. Mai hatten Veilchen-
duft und Asa foetida Vertiefung und Beschleunigung der Atmung zur Folge;
nun hielten wir mit den Worten: ,Hier ist etwas sehr Angenehmes zum
Riechen* eine leere Flasche hin; es folgt eine stark vertiefte Inspiration
(etwa zweimal tiefer als die vorangegangenen). Nach etwa 32 Sek. erfolgt
der Zuruf: ,Es kommt nun ein sehr unangenehmer Geruch', der eine Reihe
von verkürzten und ungleichmäßigen Atemzügen bewirkt; nach weiteren zwei
Minuten wiederholen wir den ersten Zuruf und reichen gleichzeitig Veilchen-
parfüm; die nun auftretende Inspiration ist ca. viermal tiefer als die voran-
gegangene und sehr rasch {Figur 7). Ebenso eindeutig war der Suggeativ-
versuch des folgenden Tages; auf die ersten zwei Geruchsreize erfolgt
Anhalten der Atmung, die weiteren sechs bewirken vertiefte und beschleunigte
Respiration. Nun reichten wir Ammoniak; die Kurve zeigt einen heftigen
Atemstoß und daran schließend langes Innehalten der Atmung. Jetzt die
leere Flasche mit dem Zuruf: ,Das riecht sehr unangenehm'; die Atmung
wird niedriger und längere Zeit hindurch unregelmäßig; der Zuruf, ein
zweites Mal wiederholt, bewirkt Innehalten der Atmung {Figur 6).«
Zu beachten ist ferner, daß manchmal BelbBt intensive Reize keine
Reaktion auslosten. Dies deuten die Verfasser darauf, »daß bei unserem
Individuum vorübergehend tiefere Störungen bestanden, in denen znm min-
desten keine Perzeption von Reizen in der von uns verwendeten Intensität
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165
erfolgte. Da wir für die Annahme einer Störung in der Funktion des Atem-
zentromfl keine Anhaltspunkte haben, müssen wir diese Erscheinungen auf
kortikale Störungen zurückführen, wodurch sich eine Stütze für die An-
schauung ergibt, daß das Auftreten der gewöhnlichen Reaktionen
an die Tätigkeit kortikaler Zentren gebunden ist«.
Die Verfasser fanden ferner bei ihrer Vp. eine Tendenz zur Perse-
veration der Reaktionen, »indem auf Reize, welche für sich bestimmte
Reaktionen auslösten, öfters in gleicher Weise wie auf den unmittelbar vor-
angegangen Reiz reagiert wurde. Daraus ergab sich auch an einzelnen Tagen
eine gewisse Konstanz der Reaktionen«. »Endlich wäre auf die vielleicht
zunächst befremdende Tatsache einzugehen, daß willkürliche Innervationen
der Atemmuskulatur zu einer Zeit erfolgten, wo andere Willkürbewegungen
noch nicht vollzogen wurden; es ist darauf hinzuweisen, daß wir auch die
mimische Muskulatur in Fällen starker motorischer Gebundenheit relativ frei
sehen. Es scheinen demnach da Innervationswege für den Willen
leichter gangbar zu werden, wo Innervation von subkortikalen
Zentren geläufig sind. Diese Erscheinung wird verständlich, wenn man
berücksichtigt, daß zentripetale Erregungen eine Voraussetzung der Willkür-
handlungen bilden und solche für die automatisch durch subkortikale Zentren
innervierten Muskeln stets gegeben sind.«
Die Verfasser fanden die Deutung mancher Beobachtungen später be-
stätigt, indem die Kranke sich so weit erholte, daß sie ihnen aus der Erinne-
rung Auskunft Uber die psychischen Antezedenzien der Atemreaktionen
geben konnte.
Man sieht jedenfalls auch aus diesen Versuchen, daß die Atemreaktionen
sich — trotz mancher neueren Anfechtungen — als sehr empfindliche und
recht bestimmt zu gewissen Reizen zugeordnete Ausdruckssymptome erweisen.
(Proben der typischen Atemreaktionen sind auf einer Kurventafel beigegeben.;
E. Meumann (Münster i. W.).
9) Hans Groß, Mnemotechnik im Unterbewußtsein. Archiv für Kriminal-
anthropologie. Bd. 29. Heftl. 1907. S. 63 fT.
Groß berichtet zuerst Uber einige Fälle von »unbewußter Mnemotechnik«,
die er an sich selbst beobachtet hat. Sie bestehen darin, daß beim Ein-
prägen irgendeines Namens ein mnemotechnisches Hilfsmittel gebraucht
wird, bei der späteren Reproduktion des Namens wird dann dieses Hilfs-
mittel in sehr merkwürdiger Form, jedenfalls in sehr verkürzten Prozessen
von niederem Bewußtseinsgrade, unrichtig wieder verwendet, und es kommt
dadurch eine eigentümliche Verfälschung der Erinnerung zustande.
Diese ist um so gefährlicher, als der Reproduzierende bestimmt glaubt,
auf Grund des mnemotechnischen Merkmals die Erinnerung ganz genau und
sicher zu haben. ErsteB Beispiel : G. hatte sich den Namen eines Studenten,
von Scheure, gemerkt, er dachte dabei (mnemotechnisch) an die Ähnlichkeit
dieses Namens mit dem des Romanisten von Scheurl und daran, daß der
Name des letzteren das diminutive »1« hatte, jener Name nicht. Später sich
auf den Namen des Studenten besinnend, glaubte er, dieser hieße »von Puchtel«.
Dies erklärt G. so : er hatte dunkel empfunden 1) Die Ähnlichkeit des Namens
des Studierenden mit dem jenes Romanisten; 2) daß dieser Name sich von
166
Literaturbericht.
dem des Romaniaten durch das diminutive >N unterscheidet »Im Laufe des
Tages«, so erklärt 6. den Fall weiter, »blieb mir nur etwa« mehr allgemeines
im Gedächtnis, und zwar: 1) der Student heißt annlich wie ein (ganz allge-
mein) berühmter Romanist; 2) mit dem anhängenden Diminutiv ist es aber
anders (ich habe mir nicht gemerkt, ob der Romanist oder der Student am
Namensende ein ,1* trägt); 3) der Student hat einen adeligen Namen. Als
es sich nun darum handelte, den Studenten zn nennen, erwischte ich vor
allem statt des berühmten Romanisten Scheurl den berühmten Romanisten
Puchta, und da ich (unbewußt) empfand, der Unterschied der Namen liege
im Diminutiv, so glaubte ich der Sache Geniige geleistet zu haben, wenn ich
aus ,Puchta' ein ,Puchtel' machte . . . Das Ganse hat sich so lebendig er-
halten, daß ich nötigenfalls bei Gericht unter Eid versichert hätte: der
Student heiße ,von Puchtel'«.
Einen ähnlichen Fall teilt G. mit, bei dem er den Namen einer Wasser-
pflanze als >Tartuffia« bezeichnete, ein Name, der ebenfalls auf Grund einer
unrichtig nachwirkenden Mnemotechnik mit dem Bewußtsein voller Sicherheit
angegeben wurde. »Die Pflanze trägt nämlich, um schwimmen zu können,
am Stengel große knollige Auftreibungen. Offenbar haben mich seinerzeit
diese Knollen an Kartoffel, der Name (der Pflanze) Pontederia an
pomme de terre erinnert, und als ich jetzt den Namen sagen sollte, ging —
alles im Unterbewußtsein — die Assoziation so vor sich: .Die knolligen
Auftreibungen des Stengels erinnern an Kartoffeln, und auch der Name der
Pflanze klingt ähnlich, wie der Name der Kartoffel in einer fremden
Sprache.' Dies benutzte ich korrekt zur Herstellung des Namens, ver-
wechselte aber das französische pomme de terre mit dem italieni-
schen tartufoli und die Tartuffia war fertig; auch die Richtigkeit dieses
Namens hätte ich erforderlichenfalls vor Gericht beeidet«
G. teilt sodann zwei Beispiele aus der gerichtlichen Praxis mit, bei denen
durch absichtliches mnemotechnisches Merken Irrtümer entstanden, und er
macht darauf aufmerksam, daß eine Zeugenaussage eines sonst völlig zuver-
lässigen Zeugen ganz besonders dann verdachtig erscheinen muß, wenn sie die
bestimmte Angabe Uber Dinge enthält die nicht leicht merkbar sind.
Wenn dann mnemotechnisches Merken nachgewiesen wird, so beweist dieses
keineswegs die Zuverlässigkeit der Aussage. Hier die Beispiele: Ein Bauer
gab bei einer Zeugenaussage vor Gericht ein bestimmtes Datum an. Gefragt,
woher er das wisse, antwortete er: das ist zufällig mein Geburtstag. Tat-
sächlich aber hatte sich das Ereignis an seinem Namenstage zugetragen
In einem anderen Falle hatte ein Bauer sich den Namen eines Gastwirts als
»Joseph Kaspar« gemerkt und begründete diese Aussage damit, daß er an
den Namen des einen der heiligen drei Könige gedacht habe (Kaspar, Mel-
chior und Balthasar). Nnn hieß der Fremde aber Joseph Melchior, das
mnemotechnische Hilfsmittel hatte den Bauern irre geführt
G. schließt: »beweisend ist also die Begründung mit Mnemotechnik nur
selten«.
Die Ausführungen des Herrn Verf. legen, nach der Ansicht des Refe-
renten, noch weitere Überlegungen nahe. Einmal scheinen seine Beispiele
eine gute Illustration zu dem Auftreten »assoziativer (reproduktiver) Misch -
Wirkungen« zu sein, wie sie von G. E. Müller und Pilzecker nachge-
wiesen wurden. Es bildete sich z. B. aus pomme de terre und tartufoli
unter Mitwirkung des Namens Pontederia und unter dem Einfluß der »11-
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Literaturbericht.
167
gemeinen mnemotechnischen Überlegung das assoziative Mischprodukt Tar-
tuffia. Sodann zeigen solche Erfahrungen wieder die Wertlosigkeit der
Mnemotechnik: die psychischen Zwischenglieder, die wir beim mnemotech-
nischen Merken einfuhren, bringen stets die Gefahr mit sich, in anderer
Weise reproduktiv zu wirken, als sie wirken sollen, nämlich nicht nur als
Vermittlungsprozesse, sie drängen sich vielmehr als assoziative Misch Wir-
kungen in die Hauptassoziationen ein. Meumann (Münster i. W.).
10) Binswangen Die Hysterie. (VH und 954 Seiten.) Wien, Hölders Ver-
lag, 1904. Brosch. M. 22.—.
Während wir hinsichtlich der Epilepsie schon seit Hippokrates treff-
liche Beschreibungen der einzelnen Zustandsbilder besitzen, bestehen auch
heute noch lebhafte Divergenzen hinsichtlich der Frage, ob dieser oder jener
psychisch auffallende Zustand als hysterisch zu bezeichnen ist oder nicht
Um so lebhafter muß eine monographische Darstellung dieses Gebietes die
Leser des Archivs berühren, als es sich gerade um diejenige psychische
Alteration handelt, deren Erscheinungsweisen ihre Erklärung im wesentlichen
durch Vorgänge der psychischen Parallelreihe finden, im Gegensatz zu den
meisten übrigen Psychosen, bei denen das ätiologisch herrschende Moment
durch Veränderungen der Hirnrinde auf Grund von Stoffwechselstörungen,
Blutgefäßerkranknng, exogenen Giften usw. vertreten ist.
Gegenüber den alten Erklärungsversuchen, die immer noch auf dem an
die Sexualorgane erinnernden Wortsinn fußten, hatte Sydenham bereits die
Hysterie als Erkrankung des Nervensystems dargestellt, und Briquet be-
seitigte gründlich die uterine Theorie. Möbius hatte bisher die am meisten
befriedigende Definition aufgestellt, indem er als hysterisch alle diejenigen
krankhaften Veränderungen des Körpers bezeichnete, die durch Vorstellungen
und, wie er ergänzend hinzusetzte, durch die mit ihnen verbundenen Gemüts-
bewegungen verursacht sind; vielleicht läßt sich mit dieser Auffassung auch
der Versuch machen, die Vorstellung des Nichtkönnens bei Aphonie,
Abasie usw. als im Bewußtseinsinhalt des Kranken vorhanden anzunehmen,
und somit etwas weiter vorrücken, als Binswanger zugeben möchte, der
seinerseits die hysterische Veränderung in geistvoll hypothesierender Weise
darin sieht, daß die gesetzmäßigen Wechselbeziehungen zwischen der psychi-
schen und der materiellen Reihe gestört sind, und zwar in doppelter Rich-
tung: auf der einen Seite fallen für bestimmte Reihen materieller Rinden-
erregungen die psychischen Parallelprozesse aus oder werden nur unvoll-
ständig durch jene geweckt; auf der anderen Seite entspricht einer materiellen
Rindenerregung ein Übermaß psychischer Leistung, das die verschiedenartig-
sten Rückwirkungen auf die gesamten Innervationsvorgänge , die in der
Rinde entstehen oder von ihr beherrscht werden, hervorruft Hinsichtlich
der Abgrenzung namentlich des großen Anfalles von dem epileptischen In-
sult gibt das Werk für eine kleine Gruppe zu, daß auf dem Boden der erb-
lichen Degeneration eigentümliche Milchfarmen zustande kommen, bei welchen
von Beginn des Leidens an epileptische und hysterische Krankheitserschei-
nungen neben- und durcheinander sowohl die paroxysmellen als auch die
interparoxysmellen Zustände beherrschen, so daß man dann tatsächlich von
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168
Literaturbericht.
einer Hysteroepilepsie sprechen maß und eine Trennaug in zwei bestimmte
Krankheitstypen nicht mehr durchführbar ist.
In den ausführlichen ursächlichen Darlegungen sind die vorbereitenden
nnd auslösenden Ursachen für das hysterische Gesamtleiden, die hysterische
Veränderung, sowohl, wie auch für die einzelnen Krankheitsäußerungen schart
auseinander gehalten. Wesentlich tut die Hysterie ist die neuropathische
Belastung. Neben der ursprünglich pathologischen Keimesanlage der Eltern
kommt die Keimesschädigung durch chronische Vergiftung, Infektion, kon-
stitutionelle Leiden und lokale Erkrankungen der keimbildenden Apparate
in Betracht. Auf erworbener Basis können neuropathische Zustände um *o
leichter eintreten, je frühzeitiger in der extra-uterinen Entwicklung eine
schädigende Einwirkung auf die gesamte Ernährung, insbesondere das
Nervensystem, stattfand. Vielfach sind krankhafte Züge schon in der Kind-
heit nachweisbar. Nur vereinaelt sind die Degenerationszeichen der Ausdruck
lokaler Entwicklungsstörnng. Hinsichtlich der Annahme von Hysterie auf
Grund einer Vergiftung ist Vorsicht angebracht, da cb sich wohl meist um
die Entstehung symptomatischer, toxischer Konvulsionen oder um Entwick-
lung solcher hysterischer Veränderungen handelt, die charakteristische Er-
scheinungen unter dem Einfluß mannigfacher Gelegenheitsursachen provo-
zieren können, ohne daß gerade das prädisponierende Moment, wie der
Alkoholismus, zum Fortbestand des Leidens notwendig ist. In den Fällen,
in denen eine Genitalerkrankung den einzigen, direkten Anstoß zur Entfal-
tung der Hysterie gegeben zu haben scheint, läßt sich durchweg eine ange-
borene neuropathische Veranlagung nachweisen.
Das Trauma kann wohl als eine sehr häufige Ursache der Hysterie be-
zeichnet werden, doch wirkt es durch die mit ihm verbundene Affekt-
erschütterung und besonders bei den sogenannten lokalisierten Störungen
durch bestimmte, vom Trauma ausgelöste Vorstellungen (traumatische Sug-
gestion) oder durch die mit vielen Traumen verknüpfte Molekularerschütterung
des Zentralnervensystems (Commotio), wobei die Molekularschädigung der
Gehirnrinde die Hauptsache ist, oder schließlich, indem beide schädigende
Faktoren zusammenwirken, oder auch, indem der psychische Faktor allein
bei bereits prädisponierenden Individuen die Hysterie auslöst.
Mit Recht ist gegenüber den vielfach in den Bereich der Hypothese
führenden ätiologischen Darlegungen der Nachdruck des ganzen Werkes anf
die Beschreibung der Erscheinungsformen gelegt, denen nicht weniger als
649 Seiten gewidmet sind, wozu noch ein beträchtlicher Abschnitt Uber die
Anfälle hinzutritt.
Treffend geht die Darstellung der psychischen Krankheitserscheinungen
aus von den Störungen der Gefühlsreaktionen, hinsichtlich deren sich B ins-
wanger mit Wandt gegen die Zweiteilung der Lust- und Unlustgefiihie
wendet; doch glaubt er, daß angesichts der klinischen Erfahrungen über
pathologische Gefühlsreaktionen bei der Entstehung von Erregungs-, Sp&n-
nungs-, Hemmungs- und LösungsgefUhlen nicht allein die gegenseitigen Be-
ziehungen der Empfindungen und Vorstellungen maßgebend sind, sondern
daß eine bestimmte spezifische Färbung der Gefühle, insbesondere im Sinn
von Spannungs- und ErregungsgefUhlen, ebensowohl von der Intensität der
Empfindungsreize bzw. dem Erregbarkeitszustande der zentralen Nerven-
substanz abhängig ist Die Gefühlsreaktionen sind ein Gradmesser für das
Maß und die Ausdehnung der der Hirnrinde zufließenden und in ihr ver-
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Literaturbericht.
169
arbeiteten Erregungen, ferner aber auch für den Erregbarkeitszustand der
zentralen Nervensubstanz; die Stärke der Geftihlsreaktion wird, von indivi-
duellen Verschiedenheiten abgesehen, um so größer sein, je mannigfacher,
gehäufter und intensiver die zufließenden Reize sind oder aber je erregbarer
die Hirnrinde ist
Die Ausführungen Uber intellektuelle Störungen legen besonderen Nach-
druck auf die Empfindungen, bei denen ja die hysterischen Symptome In der
allermannigfachsten Weise zur Geltung kommen, auf jedem Sinnesgebiet und
in der mannigfaltigsten Art einer Steigerung, Herabsetzung, Aufhebung und
Perversion der Empfindungen. Nach einer Darstellung der Sinnestäuschungen
und Assoziation »Störungen werden die körperlichen Krankheitserscheinungen
eingehend abgehandelt, vor allem die mannigfachen Formen der Motilitäts-
störungen: Lähmungen, Aphonie und Mutismus, Pseudotabes, Stottern, Kon-
trakturen, Muskelkrämpfe und Zittern auf hysterischer Basis. Weitere Stö-
rungen troffen den Atmungs- und Verdauungsapparat, das Urogenitalsystem,
die Gefäße, die Sekretionsvorgänge, den Stoffwechsel, die verschiedenartigen
Reflexe und schließlich den Sehapparat auch in seinen Binnenmuskeln.
Eingehend werden die Krampfan fälle, die Äquivalente, der große klas-
sische Anfall und anhangsweise die hysterischen Psychosen besprochen.
Photographische Abbildungen, Skizzen, Schriftproben, Zitterkurven usw.
heben die Anschaulichkeit der Darstellung. Durchweg tritt eine scharfe
Nachprüfung und strenge kritische Beurteilung an den Tag, so hinsichtlich
des hysterischen Fiebers, von dem Binswanger bei seiner reichen Erfah-
rung selbst nie einen unzweideutigen Fall beobachten konnte. Auch die
modernen Forschungen von Freud und seiner Schule, die die Hysterie aus
gewissen Erinnerungsvorstellungen erklären möchten, die nach der früheren
Formulierung sämtlich, nach neuerlicher Fassung wenigstens in den meisten
Fällen von einem psychischen Trauma der sexuellen Sphäre in früher Jugend
herrühren, können nicht die Zustimmung Binswangers finden, so sehr er
auch die eingehende Detailanalyse anerkennt.
Die symptomatologischen Ausführungen leiten zu einer Darlegung der
allgemeinen Psychopathologie der Hysterie. > Pathologische Verschiebungen
der Erregbarkeitszustände des Zentralnervensystems und vornehmlich der
Großhirnrinde, Störungen des Gleichgewichts zwischen den erregenden und
hemmenden Vorgängen innerhalb der Zentralnervensubstanz sind auch hier
Grundlage der gesamten Krankheitsäußerungen.« Als das kennzeichendste
Merkmal der hysterischen Veränderung wird die Beeinflußbarkeit aller Inner-
vationsvorgänge, durch psychische Einwirkungen bezeichnet. Nur für eine
beschränkte Gruppe von Fällen können die pathogenetischen Erwägungen
von Breuer und Freud ausschlaggebend sein.
Nach den Erörterungen über Verlauf, Prognose und Diagnose der
Hysterie widmet sich der letzte Abschnitt den Fragen der Behandlung, die
ja dem Interesse der Leser des Archivs etwas ferner stehen.
Es bedarf keiner Hervorhebung, daß auch ein so umfassendes, kritisches
und inhaltreiches Werk auf alle Fragen, die bei einer Berührung mit dem
proteusartigen Begriff der Hysterie auftauchen, nicht restlos Antwort und
Aufschluß zu geben vermag. Wer aber heutzutage eine eindringliche Orien-
tierung auf diesem dunklen, verwickelten Gebiet sucht, wird sich am zweck-
mäßigsten bei dieser bedeutsamen Monographie Rats erholen.
' Wey g an dt (Wttraburg).
170
Literaturbericht.
11) Die Briefe der heiligen Catarina von Sie na. Ausgewählt, einge-
leitet und deutsch herausgegeben von Annete Kolb. 210 S.
Leipzig, Julius Zeitler, 1906. M. 4.50.
FUr die Psychologie der mystischen Zustünde enthalten diese Briefe nicht
viel; doch sind besonders der leider nicht mehr vollständig vorhandene vier*
7,igste (an Urban VI.) und der zweiundvierzigste Brief wichtig wegen ihrer
Nachrichten über lange andauernde Ekstasen, in denen die Heilige von der
Umgebung wegen der volligen körperlichen Bewegungslosigkeit und An-
ästhesie für tot angesehen wurde. Im übrigen kommen nur noch einige zer-
streute Bemerkungen in Betracht
Dagegen bieten die Briefe rechtes Interesse für die Psychologie der
Mystiker als Ganzes, nicht bloß hinsichtlich ihrer ekstatischen Zustände.
Sie werden wichtig werden für die Frage nach den Willenseigenschaften
dieser Personen: sind sie abulisch oder sind sie es nicht? In welchen Be-
ziehungen und in welchem Grade sind sie es? — Fragen, mit deren näherer
Erörterung Muri si er in seinen Maladies du sentiment religious begonnen
hat. — Die Briefe Catarinas sind größtenteils an in wichtigen politischen
Stellungen befindliche Personen Italiens aus den letzten Jahrzehnten des
Trecento gerichtet, und es handelt sieb um Eingriffe Catarinas in den
Gang der Ereignisse.
Die Übersetzerin hat in ihrer stimmungsvollen Einleitung diese Seite in
Catarinas Leben besonders hervorgehoben. Sie kommt zu dem Urteü:
»Catarina wäre uns heute so stumm wie viele ihrer heiligen Genossen, die
im Kalender stehen, wäre sie nicht als Frau so unvergänglich! — modern
bis in die Fingerspitzen — als Frauenrechtlerin, vielleicht die einzige, die
ganz unserem Geschmack entspricht, wie sie mit der Sitte, mit allen Kon-
ventionen bricht, wie diese Jungfrau, die Mönche und junge Bitter ihres
Alters in ihrem Gefolge hat, frei und königlich einherschreitet und wie leicht
und wie von selbst sich ihre Ausnahmestellung in der Welt ergibt, und wie
hochgebildete Männer den Bat der Färberstochter einholen und der Spott
der Bauhen vor ihr verstummt« »Alles, was Dianenhaftes in einer Frauen-
seele schlummert, griff sie leuchtenden Armes hervor.«
Dr. K. Oesterreich (Berlin.
12) G. Hahn, S. J., Die Probleme der Hysterie und die Offenbarungen der
heiligen Therese. Deutsch von Paul Prina. 195 S. Leipzig,
Verlag von J. Zeitler, 1906. M. 2.50.
Die dem sechzehnten Jahrhundert angehörenden Werke der spanischen
Heiligen Teresa de Jesu werden unter den Werken, die eine Wiedergabe
der religiösen Erlebnisse darstellen, stete eine der hervorragendsten Stellen
einnehmen. Die neue, im letzten Jahrzehnt entstandene Beligionspsycho-
logie hat ihre Bekenntnisse denn auch mit besonderem Vorteil benutzt Die
Heilige ist im allgemeinen als hysterisch angesehen worden. Charcots
und seiner Schüler Bourneville, Richer usw. grundlegende Studien über
die Hysterie haben bald auf sie das Augenmerk gelenkt Insbesondere hat
sie P. Janet vor langen Jahren als hysterisch in Anspruch genommen, und
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Literaturbericht.
171
seine Bezeichnung der Heiligen als der > Patronin alter hysterischer Frauen« ist
halbtraditionell geworden. An diesem Aussprach wurde heftiger Anstoß ge-
nommen, man hat sich auf katholischer Seite auch in diesem Fall, ebenso
wie in allen irgendwie bedeutenderen anderen seit jeher gesträubt, alle ab-
normalen Erlebnisse Theresens als Ergebnisse ihres Krankheitszustandes
gelten zu lassen.
Der Bekämpfung einer solchen Auffassung ist auch das vorliegende Buch
gewidmet. Es gibt zunächst nach den klassischen Werken von Bourne-
ville und Regnard (Bd. I— III der Nouvelle Ikonographie de la Salpßtriere,
Paris 1876 — 1880) einerseits und Richer (Etudes cliniques sur l'Hystene-
Epilepsie ou Grande Hysterie, Paris 1881) andererseits eine gute und kurze
Übersicht der in Betracht kommenden Zustände der Hysterischen (S. 13—41).
Alsdann wird eine Darstellung der Lebensgeschichte und der Wirksamkeit
der heiligen Therese gegeben, oft mit langen Anführungen ihres eigenen
Berichtes, hauptsächlich aus ihrer Selbstbiographie und der dieselbe ergän-
zenden Schrift Uber die Klostergrttndungen sowie aus ihren Briefen (S. 42
bis 109). So gewinnt der Leser ein recht ausführliches Bild Uber das Maß
von Tätigkeitsdrang und Wirkungskraft, die in dieser Frau enthalten ge-
wesen sind. Ihrem speziellen Nachweis und der Durchprüfung der gesamten
Gesundheit»- und Krankheitsgeschichte der Heiligen ist noch ein eigener
großer Abschnitt gewidmet (S. 110 — 143). Das Ergebnis, wie es Verf. dar-
steUt, ist: Therese war wirklich eine hysterische Kranke; aber sie sei nur
in bezug auf den »Organismus« krank gewesen. In bezug auf den »Geist«,
den Charakter sei sie von ganz anderer Beschaffenheit gewesen als die
wankelmütigen, leichtfertigen, haltlosen, zänkischen und überreizten Geschöpfe
der Pariser Kliniken, wie sie in den genannten Werken beschrieben sind und
wie sie Verf. durch die Güte Charcots selbst in der Salpätriere studieren
konnte. Ganz im Gegensatz zu diesen zeigt Therese ein sicheres Urteil
und große stetige Willenskraft in der Durchführung der von ihr unternom-
menen Reformierung des Karmeliterordens und der zahllosen Neugrün-
dungen von KICstern — alles Unternehmungen, bei denen sie mit starken
Widerständen zu ringen hatte. Nach dieser Grundlegung geht Verf. an die
Betrachtung der Angaben, die Therese Uber ihre Visionen hinterlassen hat.
Auf der einen Seite handelt es sich um Visionen des Teufels unter verschie-
denen Formen: Therese schreibt sie (in Übereinstimmung mit den Ansichten
der Zeit) dem Teufel zu, Verf. hält sie für den Ausfluß der Hysterie. Auf
der anderen Seite stehen die gottlichen Visionen. Sie zerfallen in zwei
Gruppen: 1) imaginäre Visionen: ihr Gegenstand ist mit sinnlichen oder
doch wenigstens »geistigen« Augen sichtbar (Halluzinationen — Vorstel-
lungen); 2) intellektuelle »Visionen«. Bei ihnen ist nichts mit den Augen
oder Vorstellungen) äßig wahrnehmbar, und trotzdem behauptet Therese
eine unmittelbare Gewißheit der Gegenwart z. B. Jesu gehabt zu haben, ein-
mal sogar ein ganzes Jahr hindurch ohne Unterbrechung. Verf. behauptet
nun und versucht es im einzelnen erkenntnistheoretisch plausibel zu machen,
daß wir der Heiligen, die Bich ja auf unmittelbare Erfahrung berufe, zu
glauben hätten, daß es sich in solchen Fällen um wirklich güttliche, trans-
zendente Offenbarungen handle, nicht aber um hysterische Krankheitszustände,
von denen sich die Erlebnisse der heiligen Therese wesentlich unter-
schieden: sie sind nicht inkohärent, in jeder Weise sinnvoll und setzen sich
niemals wie die Delirien mit den realen Ereignissen in Widerspruch.
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172
Literaturbericht.
Wenn das Bach — es hat im Original schon längere Zeit vorgelegen —
erst heute geschrieben wäre, so würde sich Verf. wohl noch auf James
(The varieties of religio» ezperience) berufen, der ebenfalls eine direkte Kom-
munikation des endlichen Geistes mit dem göttlichen annimmt, die im
»subconscions« stattfinde und in der religiösen Ekstase voll ins Bewußtsein
rückt. Es ist hier nicht der Ort, auf diese Theorien näher einzugehen- —
Dankenswert ist, daß der Verf. eine Berufung auf die Autorität der Kirche
(Kanonisationsakten der hl. Therese usw.) ausdrücklich unterlassen hat
Wenn er sie persönlich für ausreichend zu erachten scheint, so ist das unter-
wissenschaftlich. Dergleichen hinterläßt auch stets ein gewisses Mißtrauen
gegen die Arbeiten solcher Forscher.
Allgemein ist zu sagen, daß die Visionen, zumal wir so vorzügliche Be-
richte in diesem Punkte besitzen, großes psychologisches Interesse haben.
Für die theoretischen Grundanschauungen Uber Empfindung und Vorstellung
sind sie von prinzipieller Bedeutung. Man wird gut tun, noch weit über
die klassischen Hauptmyetiker zurückzugehen. Schon die Klassifikationen
Augustins sind wichtig. — Die vom Verf. besonders hervorgehobenen
»intellektuellen Visionen« sind noch nach anderer Richtung bedeutsam.
James' Annahme eines besonderen »Realitätssinnes« (ebenfalls a. a. 0.) ist
abzulehnen, die neueren logischen Untersuchungen, insbesondere Husserls
großes Werk, eröffnen andere Wege. Ich hoffe in spätestens zwei Jahren für
alle diese Dinge den Nachweis erbringen zu können. — Schließlich sei noch
bemerkt, daß in der Tat Schwierigkeiten vorhanden sind, den Zustand der
heiligen Therese zur Hysterie zu rechnen. So ist denn auch schon (eben-
falls von katholischer, dogmatisch interessierter Seite) der Versuch gemacht
worden, ihn als die Wirkungen eines Sumpffiebers zu erweisen, das m den
betreffenden Gegenden Spaniens häufig sein soll. Von besonderer Wichtig-
keit ist, daß auch Jan et seine einstige Diagnose auf Hysterie zurückge-
zogen hat: in dem in Deutschland fast unbekannten Bulletin de Tlnstiftit
general psychologique. Bd. IV. S. 237 (Paris 1904). Der Fall der heiligen
Therese gehört — wie noch andere Mystiker — einem noch wenig oder
im Grunde Uberhaupt nicht untersuchten, höchst eigentümlichen psycho-
logischen Typus an. Dr. K. Oesterreich (Berlin).
13) E. B. Bax, The roots of reality, being suggestions for a philosophical
reconstruetion. X und 331 S. London, Grant Richards, 1907.
7 sb. 6 pence netto.
Diese Ideen zu einer philosophischen Rekonstruktion erwachsen ans der
Ansicht, daß die neuere Philosophie in der Metaphysik zur Aufstellung von
vier Grundprinzipien angelangt ist, die als felsenfest betrachtet werden dürfen:
1) daß die Realität nichts anderes als mögliche oder wirkliche bewußte Er-
fahrung ist, 2) daß die Widerspruchslosigkeit des Bewußtseins als einet
Ganzen das letzte Kriterium der Wahrheit ist, 3) daß jede wirkliche Erfah-
rung oder Realität in mindestens zwei Elemente — ein Empfindendes und
ein Empfundenes — analysiert werden kann, welche sodann mit dem Logi-
schen und Alogischen identifiziert werden, und 4) daß die Realität im eigent-
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Literaturbericht.
173
liehen Sinne eine Totalität sämtlicher Erfahrungsrelationen bedeutet (S. 77).
Das seien die bisherigen Errungenschaften der Philosophie, gering an Zahl
gegenüber denen der Naturwissenschaften, aber dafür auch um so sicherer.
Die angestrebte Rekonstruktion besteht darin, daß mehrere Begriffe und
Probleme im Lichte dieser Weisheit und in loser, etwas populärer Form er-
klärt und diskutiert werden, wobei vier Formen der gegensätzlichen Erfah-
rungselemente — das Individuelle und das Allgemeine, das Sein und die
Erscheinung, das Unendliche und das Endliche, der Zufall und das Gesetz
— etwas ausführlicher behandelt werden. Das Buch ist in gutem, lebhaften
Stile geschrieben und wird wohl als populäre Lektüre anregend wirken.
H. J. Watt (Glasgow).
14) Edmund Montgomery, Philosophical Problems in the light ot vital
Organization. 462 S. New York und London, Putnam, 1907.
Im Gegensatz zum vorhergehenden Werke haben wir hier das Produkt
und die Äußerung einer starken realistischen Überzeugung vor uns, die mit
unermüdlichem Eifer und unzähligen Wiederholungen auf die Sinnlosigkeit
und Unbrauchbarkeit des Idealismus hindeutet Der Verf. erzählt uns in
einem besonderen Kapitel, das die Überschrift »Biologische Tatsachen« trägt,
wie er schon 1866 auf Grund eigener experimenteller Untersuchungen die
Zellentheorie verworfen, 1870 im Zentralblatt f. d. med. Wiss. die Ansichten
von R. Mayer über die Muskeltätigkeit bekämpft und 1871 in einem Buche
in deutscher Sprache die Kant sehe Erkenntnistheorie widerlegt hat Diese
Schriften entwickeln im allgemeinen vitalistische und realistische Anschau-
ungen.
Das vorliegende Werk besteht aus zwei Teilen, von denen der erste
eigentlich schon alles enthält, was uns der Verf. zu sagen hat während der
zweite — »Biologische Losungen« — nur geschichtliche Kritik und einige
Anwendungen bietet.
Als Kern der Diskussion dient die Behauptung, daß wir im Bewußtsein
nur höchst vergängliche, sehr labile Zustände vorfinden, auf denen kein Er-
kenntnisbau errichtet werden kann. Deswegen ist der Idealismus vom Stand-
punkt des naturwissenschaftlichen Erkennens wie auch in jeder anderen Hin-
sicht ganz verfehlt Er führt auch unvermeidlich zum absoluten Solipsismus.
»Entweder der reine idealistische Solipsismus oder der naturalistische Rea-
lismus« (S. 123). »Es kann kein größerer Gegensatz bestehen als der zwischen
den vergänglichen Erscheinungen, die unseren alles offenbarenden Bewußt-
seins-Inhalt bilden, und der dauernden, alles enthaltenden außerbewußten
Matrix, aus der uns die Naturoffenbarung ununterbrochen in wirkliche Be-
wußtheit übergeht getragen durch immer wechselnde kaleidoskopische Kom-
binationen von Empfindungen, Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühlen, Be-
gierden und Affekten. Solch eine Matrix muß eine echte Substanz sein und
aü die wesentlichen Eigenschaften besitzen, die das philosophische Denken
dem ganz unvermeidlichen Begriff der Substantialität immer zugeschrieben
hat, welcher Begriff allein unsere Weltanschaung vor dem vollständigen Ver-
schwinden in den Abgrund des idealistischen Nihilismus verwahrt. Innerhalb der
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174
Literaturbericht.
substantiellen Matrix der bewußten Inhalte muß das ganze System der Erkennt-
nis, die sich in der Form der vorübergehenden bewußten Erscheinungen explizite
offenbart, implizite eingeschlossen sein. Und weil diese wieder und wieder
in festen Kombinationen hervortreten und als ehemalige Erfahrung erkannt
werden, muß ihre Quelle trots der dauernden überfließung und Verausgabung
ihres latenten Inhaltes doch noch ihre identische Seinstotalität unbeschädigt
erhalten. Diese bleibende Identität unter unerschöpflichem Wechsel und Ab-
fluß bildet das höchste ungelöste Rätsel der philosophischen Deutung der
Natur € ;S. 109 — 110). Diese Matrix, der menschliche Organismus, muß in sich
sowohl das Sein wie auch das Werden und Wechseln enthalten, kurz und
gut, muß für den Verf. eigentlich alles leisten, was das Absolute für den
Idealisten leistet Von systematischen Beweisführungen, Erschöpfung und
Erwägung aller lugischen Möglichkeiten ist in dem Werke kaum die Rede.
Die psychologischen Ausführungen sind auch leider etwas mangelhaft. Trotz-
dem ist das Werk in gewissen Hinsichten anziehend und anregend und in
einem guten klaren Stil geschrieben, wenn auch dieser meistens durch die
häufigen Wiederholungen der Einwände gegen den Idealismus und durch
ihre Breite schon kraftlos geworden ist. H. J. Watt (Glasgow .
15) J. Woodbridge Riley, American Philosophy. The early schools.
X und 696 S. New York, Dodd, Mead and Co., 1907.
Dies ist der erste einer Serie von Bänden, die sich eingehend mit der
Geschichte der Philosophie in Amerika befassen und das noch ganz unge-
ordnete Material derselben zusammenstellen sollen. Es lassen sich fünf
Richtungen des philosophischen Interesses, von einem früheren Kulturstand -
punkt herrührend, unterscheiden: 1) der Puritanismus, wie er den englischen
Quellen entsprang, 2) der Deismus oder das Freidenken, das sich einem
engen Kalvinismus entgegensetzte und mit dem revolutionären französischen
Skeptizismus endete, 3) der Idealismus, wie er bei Jonathan Edwards
spontan entstand und von dem Anhänger des irischen Bischoffs Beckeley
— Samuel Johnson — gepflegt wurde, 4) der anglo-französische Materia-
lismus, wie ermitJosefPriestley (nach Amerika] hinüberkam und sich
in Philadelphia und dem Süden entwickelte, 6) der Realismus oder die Philo-
sophie des »common sense«, wie er direkt aus Schottland eingeführt wurde
und das Land bis zur Ankunft des deutschen Transzendentalismus beherrschte.
Diese fünf Bewegungen, die sich Uber die zweihundert Jahre, 1620 — 1820,
erstreckten, bilden die frühen Schulen (S. 10). Man darf jedoch sagen, »daG.
während es keine wichtige philosophische Bewegung in Europa gab, die
nicht in gewissem Grade in gedankenvolleren Gemütern in Amerika reflek-
tiert wurde, es auch keine wichtige Bewegung gab, die nicht doch entweder
lokale Färbung oder eine lokale Heimstätte fände (S. 13). Das verdienstliche
und sorgfältige Werk von Riley bemüht sich um die Ausführung der beiden
in diesen Zitaten angedeuteten Aufgaben und kann nur allen Interessenten
als Hauptquelle des einschlägigen geschichtlichen Materials warm empfohlen
werden. H. J. Watt [Glasgow!.
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«
Literaturbericht 175
16) Dr. Theodor Leasing, Theaterseele. Studie Uber Bühnenäethetik und
Schauspielkunst 2. Aufl. 176 S. Berlin, Priber & Lammen, 1907.
M. 2.60.
Wenngleich der Titel des vorliegenden Buches etwas romanhaft anmutet
und oberflächliches Durchblättern ein buntscheckiges Allerlei aus der und
Uber die Bretterwelt in Aussicht zu steUen scheint, so wird der ernsthafte
Leser sich angenehm enttäuscht finden. Wir haben es mit einer achtungs-
werten Leistung zu tun, trotz ihres eingestandenermaßen fragmentarischen
Charakters. Unsere dramaturgische und buhnenästhetische Literatur ist
keineswegs reich; man merkt es aber den Ausfuhrungen des Verf. an, daß er
gründliche Studien gemacht hat, wenn er der vorhandenen Literatur auch
wenig Erwähnung tut Was mehr wiegt: er hat sich eigene Gedanken ge-
macht, denen es bei aller UnauBgeglichenheit und Sprunghaftigkeit doch
letzten Endes an dialektischer Geschlossenheit nicht gebricht. Bei seiner
praktischen Tätigkeit als Theaterrezensent ergab sich die Nötigung, den
psychologisch-ästhetischen Problemen der BUhnenkunst tiefer auf den Grund
zn kommen; die Ergehnisse dieser Beschäftigung liegen hier vor. Hit Bedacht,
aber ohne Vollständigkeit prätendieren zu wollen, die dem einzelnen über-
haupt unerreichbar ist, hat er den Kreis der zum Thema gehörigen Probleme
möglichst weit- gezogen. Darunter mußte dann natürlich die Behandlung des
einzelnen zurückstehen: der Fehler eines Vorzugs! Bleiben Bausteine zu
einer Psychologie und Ästhetik der BUhnenkunst Ob damit, wie der Verf.
meint, ein neuer Zweig psychologisch-ästhetischer Forschung aufgewiesen
ist, lasse ich billig dahingestellt, da vorläufig die Rubriken der Be-
gabungs- und Berufspsychologie hinreichend leeren Raum aufweisen; vor
voreiliger Spezialisierung sollte schon der Umstand warnen, daß manche dem
Btthnenleben angehörige interessante Erscheinung sich als Spezialfall eines
allgemeinen psychologischen oder ästhetischen Gesetzes oder Tatsachenzu-
aammenhanges herausstellt Damit soll jedoch keineswegs das Recht be-
stritten werden, alle mit dem Theater in Berührung stehenden Probleme und
Besonderheiten abgelöst von ihrem anderweitigen Vorkommen zu betrachten.
Kann man doch nur wünschen, daß recht zahlreiche Beiträge zur Psycho-
logie der Individuen, Berufe, Stände usf. ans Licht treten, da es hier
Uberall an verwendbarem Material noch empfindlich mangelt. Seitdem man
angefangen hat, der Begabungslehre die gebührende Beachtung zu schenken,
also etwa seit Erscheinen von R.Bacrwalds Theorie der Begabung (1896),
ist auch das Wesen des schauspielerischen Talentes von verschiedenen Seiten
her zum Gegenstand der Untersuchung gemacht worden. Da dies aber meist
mit ganz unzureichender Vorbildung und ungenügenden methodischen Mitteln
geschah, so läßt das bisherige Ergebnis noch sehr zu wünschen übrig. Von
allen mir bekannt gewordenen Erklärungsversuchen dürfte derjenige von
Max Martersteig, in seiner Schrift: Der Schauspieler (1900), den tatsäch-
lichen Bedingungen der schauspielerischen Leistung am nächsten gekommen
sein. M. kennzeichnet das theatralische Schaffen als auf Autohypnose,
oder — richtiger — Autosuggestion beruhend. Unter Anerkennung dieses
Sachverhaltes verweist Lessing mit Recht auf die im Verlauf der schau-
spielerischen Produktion auftretende Spaltung der Persönlichkeit, wobei stets
eine Verengerung oder Beschränkung der aktiv beteiligten Seelenkräfte im
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176
Literaturbericht.
Spiele ist. In mancher Hinsicht ist der Vergleich mit der psychischen Tätig-
keit im Traume aufklärend. Dagegen scheint mir in Dessoirs Auffassung
(Ästhetik, S. 341), die als das Wesentliche der schauspielerischen Kunstübung
die Ausdrucksfähigkeit des körperlichen Gestus hervorhebt, wieder ein Rück-
schritt vorzuliegen, da diese sich aus der Analyse eines überwundenen Ent-
wicklungsstadiums der Bühnenkunst, nämlich von der orientalisch-antiken
Kult- und Tanzbühne, herleitet In der Praxis verführt diese Ansicht zu
übertriebener Geberdenmalerei und ausdeutender körperlicher Beredsamkeit.
»Wenn ein Schauspieler sagt: Die Blume duftet, so schnuppert er mit der
Nase.«) Die germanische Schauspielkunst stellt demgegenüber die Charak-
teristik durch das Mittel der Rede (Organ, Modulation usf.) als präva-
lierendes Merkmal der BUhnenkunst auf. Eine noch so vortrefflich gespielte
Pantomime darf nicht als Schauspielkunst angesprochen werden. Die auf
Nietzsches Vorgang zurückgehende Hypothese vom dionysischen Ursprung
des Dramas wird ihre Geltung in dem Maße einbüßen, als die Schaubühne
sich zur Hörbühne entwickelt (Vgl. J. Savits, Die Absicht des Dramas.
1907.) Nicht in der Annäherung der ästhetischen Gefühle an reale, sondern
in der Entfernung (Distanzierung) von aller Gefühlsekstase und mystischen
Schwärmerei muß der Fortschritt in der ästhetischen Kultur gesucht werden;
es ist der farbige Abglanz, an dem wir auch das Leben der Bühne haben.
Von hier aus lassen sich zahlreiche Einzelfragen des Bühnenwesens ohne
Schwierigkeit zum Austrag bringen , worauf hier nicht näher einzugehen ist
Das heutige Theater begegnet selbt in den Kreisen der ästhetisch Gebildeten
und der Ästhetiker von Fach noch manchem unbegründeten Vorurteil; so
weit aber die ästhetische Abneigung gegen das Theater als Kunststätte be-
rechtigt ist (und dies ist sie in hohem Grade), richtet sie sich gegen die Ver-
kehrtheiten einer ungesunden historischen Entwicklung. Wo die Aufgabe
der Bühnenkunst richtig gefaßt und gelöst wird, kann der echte Kunst-
charakter des Theaters nicht in Zweifel gezogen werden, um so weniger, je
besser es gelingt, das von unserem Autor gezeichnete Ideal einer Versöhnung
der statuarischen, symbolischen Bildhaftigkeit der Szene mit der Bewegüch-
keit der dramatischen Vorgänge der Verwirklichung näher zu führen. Das
hohe Drama, als feinstes Destillat aller anderen Künste, bleibt die höchste
Kunstgattung.
Die spezielle Berufsbegabung des Schauspielers besteht in seiner Trans-
figurationsfähigkeit (Fähigkeit der Um-, besser Abwandlung, da ein gleich-
bleibender Kern überall bemerkbar bleibt). Während die bürgerlichen Berufe
die Verfestigung der Charaktere, eine einseitige Reaktionsweise und damit
allmähliche psychische Verknöcherung begünstigen, liegt für den Bühnen-
künstler die entgegengesetzte Gefahr nahe, bei der ihm eigentümlichen und
notwendigen psychischen Spannweite und Versatilität, das feste Gefüge
eigener Pereonlickeit einzubüßen und zum leeren Schauplatz für fremdes
Leben zu werden. Gehört dies zur Berufstragik, von der kein Beruf ganz
frei ist, so hängen die zahlreichen Schauspieleruntugenden: Eitelkeit Prah-
lerei, Untreue, Launen, Unzuverlässigkeit ebenfalls damit zusammen; die Un-
sicherheit und Zufälligkeit des Erfolges machen den Bühnenaberglauben ver-
ständlich. Die Lichtseite des Berufes besteht in der Berührung mit vielseitiger
Menschlichkeit, die den einzelnen über seine eng umschriebene Sonder-
ezistenz emporträgt. Wenn ein Gott dem Dichter zu sagen gab, was er
leidet, so gab er dem Schauspieler zu sagen, wie er leidet
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Literaturbericht.
177
Neben die Psychologie des Bühnenkünstlers stellt sich die Psychologie
des Zuschauers. Die Analyse des ästhetischen Genusses im Theater, das
Verhältnis von Podium und Publikum führt auf zahlreiche interessante Einzel-
heiten. So erklärt sich, um nur ein Beispiel anzuführen, der starke Eindruck
der Auftritteszenen oder des verfehlten »Abganges« ans dem bekannten Ge-
setz der Initial- und Schlußbetonung. Mit Recht wendet sieh der Verf.
gegen die Langesche Theorie der bewußten Selbsttäuschung, die gerade
an der theatralischen Wirkung ihre Hauptstütze zu haben schien. Ob der
eigene Erklärungsversuch des Verf., durch Unterscheidung einer Symbol»
und Snjetsphäre den Vorgang verständlich zu machen, zum Ziele führt,
müßte eine eingehendere Untersuchung nachweisen. Vielleicht kehrt Les-
sing, der in einem zweiten Bande mehr theatralische Fragen diskutieren
will, zu dem bebandelten Tatsachengebiet noch einmal zurück.
Dr. Fritz Rose (Weimar.
17) G. von Bunge, Wider den Alkohol. Gesammelte Reden und Ab-
handlungen. Basel und Leopoldsche in Baden, Verlag der Schrift-
steile des Alkoholgegnerbundes. M. —.20.
Die vorliegende kleine Schrift enthält 17 Reden und kleinere Abhand-
lungen Bunge s zur Alkoholfrage, die von größter praktischer Bedeutung
sind, weil der Verfasser nicht nur als Vertreter seiner Fachwissenschaft,
sondern auch als populärer Schriftsteller zu den ersten und berufenen Vor-
kämpfern der Alkoholgegner gehört. Mancher Leser wird vielleicht die Ab-
lehnung deB Alkohols, wie sie von Bunge vertreten wird, zu radikal finden,
allein der außerordentliche Ernst der Frage fordert Entschiedenheit, mit
halben Maßregeln ist in einer solchen Sache nichts getan. Der Verfasser
gibt auch positive Vorschläge für die alkoholfreie Lebensweise und stellt
zusammen, was sieh an alkoholfreien Getränken nach seinem physiologischen
Wissen und seiner persönlichen Erfahrung empfehlen läßt.
Es wäre sehr zu wünschen, daß der Alkoholgegnerbund einmal eine
recht populär gehaltene Schrift herausgäbe, die sich ausschließlich mit den
psychischen Wirkungen alkoholischer Getränke beschäftigte.
E. Meumann (Münster i.W.).
18] R. Bäräny, Physiologie und Pathologie des Bogengangapparates beim
Menschen. Klinische Studien. 68 Seiten. 15 Figuren. Leipzig
und Wien, Deuticke, 1907. M. 2.60.
Die kleine Monographie richtet sich zwar in erster Linie an den Arzt,
dem sie in einer ausgezeichneten Darstellung die für die Diagnose von
Bogengangserkrankungen beim Menschen zur Verfügung stehenden Merkmale
und Methoden an die Hand gibt, welche zum Teil neu vom Verf. in der
Klinik von Politzer erfunden und ausprobiert sind; aber Uber diesen Leser-
kreis hinaus beansprucht die Publikation auch das volle Interesse des Physio-
logen und des Psychologen.
ArclÜY für Psychologie. XI. Literatur. 12
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178 Literaturbericht
Nach einer Einleitung, in der Anatomie und Physiologie des Bogengang-
apparate« in knappster Form besprochen werden, wendet sich der Verf. dem
klinisch Wesentlichen zu. Dieses besteht vor allem in der Untersuchung
der verschiedenen Formen des Nystagmus.
Der Drehnystagmus wird durch Drehung der auf dem Drehstuhl
sitzenden Vp. erzeugt, welcher zur Aufhebung des Einflusses der Fixation
die Augen mit einer undurchsichtigen Brille verdeckt sind. Zehnmalige Um«
drehung innerhalb von etwa 20 Sekunden erzeugt bei Normalen nach dem
Anhalten einen »Nachnystagmus« in der Horizontalebene, welcher bei Richtung
nach rechts im Mittel 41, bei Richtung nach links im Mittel 39 Sekunden
andauert Aber die Zeiten variieren von Individuum zu Individiuum und bei
einem Individuum von Tag zu Tag stark; dabei Uberwiegt bei einem und
demselben bald der Nystagmus nach rechts, bald der nach links. Wird
mehr oder weniger als zehnmal gedreht, so nimmt die Dauer des Nach-
nystagmus in beiden Fällen ab. Nach 20 und mehr Umdrehungen folgt
manchmal dem Nachnystagmus noch ein diesem entgegengesetzter »Nach-
nachnystagmus«. Die große Variation sowie das Phänomen des Nachnachny-
stsgmus glaubt der Verf. nicht mit Breuers Theorie von der vom Endo-
lymphstoß bewirkten Durchbiegung und allmählichen elastischen Wieder-
aufrichtung der die Cupula tragenden Haarfortsätze (.siehe dieses Archiv,
Literaturbericht 1904, S. 93) erklären zu können; er fuhrt vielmehr diese
Erscheinungen auf Verschiedenheiten in der Erregbarkeit der nervösen Ap-
parate (Deiters-Kern) zurück.
Bei einseitiger Labyrintherkrankung ändert sich nun der Drehnystagmus
insofern, als der Nachnystagmus nach der kranken Seite kürzere Zeit dauert,
als nach der gesunden. Das hängt nach Ewalds Experimenten damit zu-
sammen, daß bei Normalen der Nachnystagmus nach links im Gefolge von
Rechtsdrehung hauptsächlich vom linken Labyrinth herrührt und der Nach-
nystagmus nach rechts im Gefolge von Linksdrehung hauptsächlich vom
rechten Labyrinth. Daher ist z. B. bei einem Defekt auf der rechten Seite
nach Rechtsdrehung der Nachnystagmus nach links stärker, als nach Links-
drehung der Nachnystagmus nach rechts.
Der »Kalorische Nystagmus« kommt zustande, wenn man einem
Gesunden kaltes oder warmes Wasser in den äußeren Gehörgang spritzt,
während Wasser von Körpertemperatur reizlos ist Kaltes Wasser bewirkt
im rechten Ohr horizontalen und rotatorischen Nystagmus nach links, warmes
Nystagmus nach rechts. Die Erscheinung versucht der Verf. mit der An-
nahme zu erklären, daß der unten und außen gelegene Teil des vorderen
vertikalen Bogenganges dnrch seine Lage der durch das Wasser erzeugten
Temperaturänderung besonders exponiert ist, und daß durch lokale Erwär-
mung oder Abkühlung der Endolymphe an dieser Stelle infolge entsprechender
Änderung des spezifischen Gewichtes kleine Endolymphströmungen zustande
kommen, welche dann bei Abkühlung entgegengesetzte Richtung haben
müssen wie bei Erwärmung.
Die Erscheinung des kalorischen Nystagmus kann man bei defektem
Trommelfell ebensogut beobachten, wie bei intaktem, dagegen fällt sie aus
bei Erkrankung der betreffenden Bogengänge oder des Nervus vestibulär^,
bei starken Paukenhöhlenentzttndungen sowie bei Vorlagerung von Chole-
steatommassen.
Ferner kann Nystagmus durch Verdichtung oder Verdünnung
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Literaturbericht.
179
der Luft im äußeren Gehörgang entstehen, und zwar vor allem dann,
wenn in der lateralen Labyrinthwand eine Usur vorhanden ist. Die Erschei-
nung entspricht dann ganz der künstlichen Endolymphbewegung beim plom-
bierten Bogengang nach Ewald.
Der galvanische Nystagmus endlich kommt bei galvanischer Durch-
strttmung der Warzenfortsätze zustande; ist bei unipolarer Reizung der Fort-
satz Kathode, so erfolgt Nystagmus nach der Seite des gereizten Fortsatzes,
bei Anodenwirkung erfolgt die Gegenbewegung. Der Verf. erklärt die Be-
wegungen als Folgen einseitiger katelektrotonischer bzw. anelektrotonischer
Änderungen des normalerweise symmetrisch wirkenden Labyrinthtonus der
Augenmuskeln.
Da der galvanische Nystagmus gelegentlich auch nach Labyrinthexstir-
pation vorkommt, so beruht er oder kann wenigstens beruhen auf primärer
Nerven- oder Zentralreizung.
Von weiteren klinisch verwertbaren Symptomen der Labyrinthfunktion
kommt noch die Gegenrollung der Augen bei Kopfneigung in Be-
tracht. Diese kann mit einem von dem Verf. angegebenen Apparat genau
gemessen werden. Sie beträgt für Normale bei Neigung des Kopfes um 60°
4-16°, im Mittel 8°, bei doppelseitiger Labyrintherkrankung 1—8°, im
Mittel 4°. Bei Patienten, die an Schwindel leiden, findet man 1) große
Unterschiede zwischen Rechts- und Linksrollung , während sie sonst nur
klein sind, 2) an verschiedenen Tagen sehr verschiedene Werte, S) auch
ohne Neigung des Kopfes bei ruhiger Haltung eventuell beträchtliche Kol-
lungen, welche oft mit dem Schwindel zusammenfallen. Nystagmus fehlt
dabei häufig. —
Der übrige Inhalt des Werkes hat vorwiegend medizinisches Interesse.
Beigefllgt ist noch ein Fragebogen, der der Feststellung eines etwaigen Zu-
sammenhangs zwischen Vestibularfunktion und Seekrankheit dienen soll, ein
Vorwort enthält eine warme Empfehlung von seiten Politzers.
Daß das Werk einerseits einen wichtigen Beitrag zu unseren Kenntnissen
von der menschlichen Bogengangsfunktion, andererseits eine gute Stütze
für die G o Hz -Mach -Breuer sehe Auffassung der Bogengänge bedeutet,
braucht kaum noch gesagt zu werden. R. Höber (Zürich).
19} Erich Was mann, S. J., Die moderne Biologie und die Entwicklungs-
theorie. 2. venn. Aufl. Mit 40 Abb. im Text und 4 Tafeln in Far-
bendruck und Autotypie. Freiburg i. Br., Herdersche Verlagsbuch-
handlung, 1904. M. 6.—.
Was mann hat in der vorliegenden Schrift fast alle wichtigeren Probleme
der gegenwärtigen Biologie und Entwicklungslehre behandelt, und zwar in
einer wissenschaftlichen, aber doch populären, auch für weitere Kreise ver-
ständlichen Form. Er spricht die Überzeugung aus, daß es »heute für jeden
Gebildeten zur unabweisbaren Notwendigkeit geworden ist«, »daß er sich mit
den Fortschritten und den Errungenschaften der modernen Naturwissenschaft,
insbesondere der Biologie, einigermaßen vertraut mache. Nur so wird es
ihnen möglich sein, sich zu orientieren im Kampf der Geister, der entbrannt
ist Uber die wichtigsten, aus der Biologie hervorgewachsenen philosophischen
12*
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Literaturbericht.
Probleme, namentlich Uber die vergleichende Psychologie des Men-
schen und der Tiere and Uber die Entwicklungstheorie.« Nach-
dem Wasmann früher seinen psychologischen Standpunkt in den bekannten
Schriften Instinkt and Intelligenz im Tierreich (1899) and Vergleichende
Studien Uber das Seelenleben der Ameisen and der höheren Tiere (1900;
niedergelegt hatte, widmete er die vorliegende Schrift der Biologie and Des-
zendenztheorie. Diese »Skizzen« erschienen ursprünglich als eine Reihe von
Abhandlungen in der Zeitschrift »Stimmen aus Maria Laach« (1901 — 031, sie
sind aber in dem vorliegenden Werke wesentlich erweitert worden. Sie sollen
aar ersten Orientierung Uber die Probleme der Biologie und Entwicklungs-
lehre dienen. Was den Standpunkt des Verfassers angeht, so ist dieser ja
aus den früheren Schriften und insbesondere aus der Berliner Diskussion be-
kannt. Es ist der Standpunkt eines »christlichen Naturforschers« katholischer
Konfession, der &1b solcher natürlich eine gebundene Marschroute hat und
der »fest davon Uberzeugt ist, daß die natürliche Wahrheit niemals in wirk-
lichem Widerspruch mit der natürlichen Offenbarung stehen kann«. Inhaltlieh
sind besonders wertvoll die zahlreichen historischen Ausführungen, in
denen die Entwicklung der einzelnen Probleme and ihrer Lösungen and die
Fortachritte der biologischen Untersuchungstechnik behandelt werden (Fär-
bungs- und Schnittmethoden, mikroskopische Methoden , ferner die sehr aus-
führliche Darstellung der Lehre von der Zelle uud dem Zellenleben, die
Aasführungen Uber Befruchtung and Vererbung. Weniger wertvoll sind für
den vorurteilslosen Leser die Ausführungen über die Entwicklungslehre, m denen
die einseitig konfessionelle Betrachtungsweise des Verfassers besonders in
den Vordergrund tritt und ihn nicht zu einer unbefangenen Würdigung der
Tatsachen kommen läßt E. Meumann Münster i. W.).
iO) Theodor Kappstein, Eduard von Hartmann. Einführung in seine
Gedankenwelt. Vorlesungen, gehalten an der Freien Hochschule
Berlin. Mit Porträt und Faksimile (eine Seite eines Manuskripts).
VIII und 178 S. Gotha, Friedrich Andreas Perthes, 1907. M.3.— .
In neun Kapiteln werden nacheinander behandelt: der Lebensgang und
die Persönlichkeit, die Metaphysik, Ethik, der Pessimismus, die Ästhetik.
Keligionsphilosophie, Psychologie and Naturphilosophie; endlich wird noch
eine Parallele zwischen E. v. Hartmann and Nietzsche gezogen. Zum
Schluß folgt eine Übersicht Uber die wichtigeren Werke and Abhandlungen
E. v. Hartmanns
Die DarsteUuug ist klar und vielfach durch geschickt gewühlte Zitate
mit des Philosophen eigenen Worten gegeben. Es liegt ihr offensichtlich
eine gründliche Kenntnis seiner Werke zugrunde- Einen besonderen Reiz
gewinnt alles durch die. wie es scheint, ziemlich nahe persönliche Bekannt-
schaft des Verfassers mit dem behandelten Denker, der besonders den ersten
Abschnitt belebt. Anzuerkennen ist noch, daß Verfasser das ganze Buch
hindnroh durchaus hinter den surUcktritt, »den er aus seinen Werken dem
und jenem unter den Zeitgenossen verdeutlichen will«.
Das Bach, da« nach dem Wunsche de« Verf. für einen größeren Kreis
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Literaturbericht.
181
bestimmt ist, erscheint mir such für zur Philosophie in engerer Beziehung
Stehende als Einführung in die Werke E. v. Hartmanns, der doch wohl oft
unterschätzt worden ist, als durchaus geeignet.
Dr. K. Oesterreich (Berlin).
21} F. Euy pers, Volksschule und Lehrerbildung in den Vereinigten Staaten.
Aus Natur und Geisteswelt. Mit 48 Abbildungen im Text und einem
Titelbilde. Leipzig, B. 6. Teubner, 1907. Geh. M. 1.—.
Der Verfasser hat die Vereinigten Staaten selbst bereist und ihr Schul-
wesen eingehend studiert, und gibt die Eindrücke seiner zu diesem Zwecke
unternommenen Reise wieder, doch stützen sich manche Ausführungen auch
auf theoretische Studien. Er behandelt nacheinander den Kindergarten, die
eigentliche Volksschule, die Lehrerbildung; es folgt eine Beurteilung des
amerikanischen Schulwesens, und »Einiges Über Schulbauten«. Das gut aus-
gestattete Büchlein kann vortrefflich zur ersten Orientierung dienen. Es sei
nur gestattet, hier den Gesamteindruck, den Kuypers von dem Schul-
wesen der Vereinigten Staaten im Vergleich zu dem Deutschlands gewonnen
hat, mit seinen eigenen Worten wiederzugeben. »Vergleicht man das Ganze
des deutschen und des amerikanischen Volksschulwesens miteinander, so
mOchte man sagen, daß das erste eine Schulmonarchie, das andere eine
Schuldemokratie darstellt. Unsere Schulbehörden haben darüber zu
wachen, daß »alles in Ordnung< ist Einheitlichkeit ist Hauptgrundsatz, was
keineswegs getadelt werden soll; aber die nachgeordneten »Dienststellen«
bleiben nun pflichtgemäß in dem vorgeschriebenen Geleise, bis eine Ver-
fügung sie in ein anderes hineinlenkt. Drüben aber verfügt man nicht von
oben nach unten, sondern gleichsam von unten nach oben. Das Leben geht
mehr als bei uns von den peripheren Kräften aus, von den Schul vorstünden
der Städte, den reichbeschenkten Privatanstalten, den Konferenzen erfindungs-
reicher Seminarlehrer, den Vereinen neuerungslustiger Volksschulpiidagogen,
der bildungsfrohen Presse und der lebhaft interessierten Bevölkerung. Dort
sproßt freudige Initiative, dort entstehen die neuen Gedanken, dort, im
kleinen, genau vertrauten Kreise werden sie zuerst verwirklicht mit allen
Mängeln eines Experiments, aber auch mit allen Vorzügen persönlichster
Schaffensfreude. Man macht Fortschritte, weil man Fehler machen darf.
Und die Behörden? Sie lassen sich von den neuen Dingen berichten, um
diese Berichte jährlich in vielen Tausenden von Exemplaren über das Land
auszustreuen, wie einen ganzen Erntewagen voll von Samenkörnern, wenig
besorgt darum, ob auch wohl ein Körnlein Unkraut dazwischen stecken müge.
Sie wenden sich ja an vernünftige Menschen. — Will man die ans diesen
Grundunterschieden im großen und im kleinen sich ergebenden Eigenarten
— Vorzüge und Mängel auf beiden Seiten — mit zwei unschönen Schlag-
wörtern kurz bezeichnen, so kann man sagen: hier Uniformierung, dort Indi-
vidualisierung.«
Als besondere Vorzüge des amerikanischen SchulwoBens hebt der Ver-
fasser noch hervor: »Die vorzügliche Ausbildung des Kindergartens; die aus-
schließliche Beachtung der pädagogischen Zwecke bei der Schulorgani-
sation, die nicht durch soziale oder politische Rücksichten ge-
stört wird; insbesondere auch die weitgehende Möglichkeit, die Volksschuler
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182
Literaturbericht.
geeigneten Befähigungsstufen zuzuweisen.« ^Die Schulgeld- und die bei
günstiger Finanzlage eingeführte Lernmittelfreiheit an Volksschulen und höheren
Schulen.« >Das ungehinderte Aufsteigen von auserlesenen Kräften ans der
Maate des Volkes in die gebildeten und führenden Kreise ist für das ganze
Staatsleben von außerordentlichem Nutzen.«
E. Meuraann (Münster i. W.).
22) K. Remus (Ostrowo), Der dynamologische Lehrgang. Versuch einer
geschlossenen Naturkunde. Mit 36 Textabbildungen. Sammlung
naturwissenschaftlich-pädagogischer Abhandlungen, herausgeg. von
0. Schmeil und W. B. Schmidt Band II. Heft 4. (X und 132 S.)
Leipzig und Berlin, B. G. Teubner, 1906. Preis etwa M. 2.^.
Der von Remus entwickelte Lehrgang des naturwissenschaftlichen Unter-
richtes hat meine volle Zustimmung gefunden. Dabei sehe ich mich in der
Lage, die Anerkennung auch aus eigener, d. h. ans mir selbst quellender
Überzeugung zu erteilen. In meinen in demselben Verlag erschienenen
methodischen Schriften hatte ich auf die Doppelseite der Begründung metho-
discher Verfahrungsweisen hingewiesen, auf die objektiv-wissenschaftliche
nnd die subjektiv-psychologische Seite der Begründung. Unter der objektiv-
wissenschaftlichen Form der Methode verstehe ich einen Gang, der nichts
anderes darstellt, als die pädagogische Verwendung der Prinzipien der wissen-
schaftlichen Forschung. Während ich nun die Anwendung dieser Prinzipien
auf dem zeitlich beschränktere« Gebiet der einzelnen Lektionen zeigte, hat
Remus eine wissenschaftlich begründete Methode für die Anwendung des
gesamten Lehrstoffes (also einen wissenschaftlichen Lehrplan! durchgeführt.
Es gibt Pädagogen, die können sich unter einem wissenschaftlich zurecht-
gelegten Plan nichts von pädagogischer Bedeutung denken; sie sehen in der
Wissenschaft immer nur die deduktiv-abstrakte Form des Systems. Es ge-
währt nun gerade einen besonderen Reiz, zn sehen, wie Remus ganz
systematisch vorgeht und doch im höchsten Grade pädagogisch. Sein
System ist zugleich von methodischem und wissenschaftlichem Charakter,
ein Beweis, wie wenig sich die Begriffe wissenschaftliches System« und
pädagogische Methode« auszuschließen brauchen. Allerdings ist das wissen-
schaftliche System, wie es bei Remus auftritt, kein lebloser, starrer Klumpen,
kein bloß Aneinanderreihen, das den Tief blick mehr verhindert als erleichtert
Sondern sein System hat im höchsten Grade philosophischen Charakter.
Philosophie aber bedeute uns ein Erfassen alles Geschehens von großen ein-
heitlichen Gesichtspunkten aus, ein ordnendes, begreifendes, erläuterndes
Denken in der Fülle der natürlichen Prozesse, nicht ein abstraktes. > Uber-
zeitliches« Denken, das in hohler Erhabenheit über den Tatsachen schwebt,
zu vornehm, um sich damit abzugeben. Sein System aber erringt Remus
in der Weise, daß er vom Unbedingten zum stets mehr Bedingten
fortschreitet Doch müßte dieser Gedanke völlig mißverstanden werden,
wenn man nicht gleich zufügen wollte, daß das im Anfang stehende Unbe-
dingte nicht eine Abstraktion ist wie etwa eine allgemeinste philo-
sophisch-logische Kategorie. Sondern dieses Unbedingte ist die wirkende
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Literaturbericht
183
Kraft. Kraft aber leistet Arbeit Arbeit bedeutet die Überwindung eines
Widerstandes auf bestimmter Strecke. Aus den verschiedenen Formen der
Arbeit kann also der wissenschaftlich reine Begriff der Arbeit, aus und mit
diesem der Kraftbegriff gewonnen werden, und dies alles ist im Rahmen
größter Anschaulichkeit möglich. Remus benutzt daher glücklich die Tat-
sache, daß das Unbedingte, die Basis aller naturwissenschaftlichen Betrach-
tung, zugleich etwas Konkretes bedeutet Man kann natürlich nicht be-
haupten, daß die Anwendung des Kraftbegriffes in Unterricht und Wissen-
schaft etwas Neues darstelle. Des Verfassers eigenes Verdienst aber ist es,
das Prinzip der Kraftwirkungen im Anfang, in der Mitte und am Ende alles
naturwissenschaftlichen Unterrichtes durchzuführen. Darin besteht eben seine
Methode. Mit Recht nennt er daher seinen Lehrgang den dynamologischen
oder kräftekundlichen. Diese grundlegende, prinzipiell durchgeführte Auf-
fasBung führt notwendig eine Transformation der Begriffe herbei, die
sich aber dem Schüler ungezwungen, wie von selbst ergibt Die Begriffe
von beharrenden Substanzen, starren Dingen, verwandeln sich in Begriffe
von Prozessen. Das ist der eine große Erfolg dieser Methode. >Die gesamte
Natur besteht aus Prozessen. Sie streckt sich nicht nur durch den Raum,
sondern auch durch die Zeit Dieser Umstand wird heute noch zuwenig
beachtet. Wenn man den sich ergebenden Mangel des jetzigen naturkund-
lichen Unterrichts in wenigen Worten kennzeichnen wollte, so konnte man
etwa sagen : »Der naturkundliche Unterricht muß weit mehr Sorgfalt auf die
Erklärung von zeitwörtlichen (besser wäre zeitlichen) Begriffen vorwenden.«
Der zweite große Vorteil der Methode besteht darin, daß durch sie gerade
das in den Vordergrund tritt, dem auch tatsächlich, und namentlich für die
Schule, der größte Wert zukommt So ist der Verfasser zu einem Begriff
der »Lehrwürdigkeit« gelangt. Es sind weniger empirisch aufzulesende prak-
tische Rücksichten, welche die Auswahl des Stoffes bestimmen, als vielmehr
die Konsequenzen des zugrunde liegenden Prinzips. Die Möglichkeit der
Gestaltung eines Lehrplans von »innen heraus« hat aber an und für sich
schon einen hohen bildenden Wert Der dritte nicht unbeträchtliche Vor-
teil der Methode ist schon im Titel der Schrift angedeutet: »Versuch einer
geschlossenen Naturkunde.« Die Geschlossenheit bedeutet hier die »gesetz-
mäßige Zusammenfassung jener Prozesse, in ihrer Unifizierung zu einem ge-
schlossenen Ganzen«. Oder: »Der einheitliche naturkundliche Unterricht
kann nichts anderes zum Gegenstände haben als einen großen Organismus
von Prozessen. Die ganze Natur iBt ein Prozeß; sie ist einzig und allein
vom Standpunkte der prozeßmäßigen Auffassung als etwas in sich Geschlos-
senes zu erblicken.« Daß sich in der praktischen Durchführung des Prinzips
mancherlei Abweichungen von üblichen Darstellungen und Auffassungen er-
geben, ist selbstverständlich. Diese Abweichungen aber lassen gerade den
Wert des Prinzips in hellerem Lichte erscheinen. Das zeigt sich sowohl in
der Stoffgruppierung im allgemeinen, wie in einzelnen Versuchen im beson-
deren. Es muß nämlich bemerkt werden, daß die Schrift nicht nur eine
methodische Abhandlung mit gelegentlich eingestreuten Beispielen ist, son-
dern zugleich eine methodische Skizze des Lehrstoffes von großer Bedeutung
flir die Hand des Praktikers darstellt Dem dynamologischen Prinzip gemäß
ordnen sich die Aufgaben des naturkundlichen Unterrichtes in dem Nachweis
des gesetzmäßigen Waltens der Naturkräfte auf folgenden Gebieten und in
der aufgestellten Reihenfolge:
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184
Literaturbericht.
s) im allgemeinen (Dynamologt e),
b) in der Lufthülle (Meteorologie),
o) in den Organismen (Biologie),
d) in den Knnsterzeugnissen (Technologie).
Wir wollen bei jedem der genannten Gebiete ein wenig verweilen.
Dynamologie. An zu hebenden Gewalten wird der Begriff der Arbeit
veranschaulicht. Jede Hebung ist eine Arbeit Später zeigt sich, daß es
nicht notwendig gerade eine Hebung sein muß, Arbeit kann in jeder Richtung
geleistet werden. Verschiedene Arbeitsformen: Aufladen von Ziegelsteinen,
Heben der Axt, Bergsteigen, Wasser aus dem Brunnen heben, »Die Häuser,
Kirchen, Pyramiden, Dämme erzählen von gewaltigen menschlichen Ar-
beiten« usw. Man erkennt hieraus, wie der Verfasser bemüht ist, alltäg-
liche Erscheinungen in den Reiz des Merkwürdigen zu erheben. Das
tut er im Laufe der Darstellung noch oft Aber gerade diese an und
für sich wertvolle methodische Absicht ist nur auf der höheren Stufe
der Volksschule mit Gewinn zu verwirklichen. In der Tat empfiehlt Remns
seinen Lehrgang für Schüler vom 11. — 14. Altersjahr. Alle die Einzel-
heiten, die uns alltäglich werden können, gewinnen ihren Reiz nur dadurch
zurück, daß man sie in das Weben größerer Zusammenhänge oinfUgt. Aber
alle umfassenden Zusammenhänge muß man denken können. Der große
wertvolle Lehrplanentwurf müßte da in seiner wesentlichen methodischen
Stärke versagen, wo noch nicht mit dem Umstände zu rechnen ist, daß die
Schüler nicht nur alle näheren, sondern auch alle entfernteren Glieder, alle
früheren Gedanken mit den gegenwartigen stets in Verbindung bringen
können. Unter der von Remus angenommenen Altersgrenze ist mehr die
bloße Beobachtung möglich. Beobachtung ist, auf das Ganze bezogen,
Analyse, Denken dagegen Synthese. — Nun wird gezeigt, in wie verschie-
denen Formen Arbeit geleistet wird: Von der Wärme bei Verdampfung, bei
der Ausdehnung der Körper; von der chemischen Kraft durch Anhäufung
gasförmiger Stoffe (Wegschleudern des Pfropfens); von der Kohäsion, der
Adhäsion, der Reibungselektrizität, dem Magnetismus, der Schwerkraft, von
bewegten Körpern, der Schallstrahlung, der Wärmestrahlung, der Licht-
strahlung. In jedem Fall muß also nachzuweisen sein, daß Körper oder
Körperteile bewegt werden mit Überwindung von Widerständen. Das ist
der einheitliche Zug in allen Versuchen. Was sich nicht einheitlich anfügen
läßt, wird in geschickter Ergänzung angefügt. Ein Beispiel von der Arbeit
der Schwerkraft. »Anschauung. — Ein Gewicht, welches an einem dünnen
Faden befestigt ist, zerreißt beim Loslassen den (am anderen Ende festge-
haltenen) Faden und fällt. Beim Herabfallen des Gewichtes war eine Kraft
tätig. Diese war so groß, daß die Kohäsion des Fadens an einer Stelle ver-
nichtet wurde. Befestigen wir das Gewicht an einem hinreichend starken
Faden, so wird derselbe nicht zerrissen, sondern nur gespannt
Was unsere Gegenfüßler als ein Fallen bezeichnen, würde von unserem
Standpunkte aus als ein Steigen gelten und somit als eine Arbeitsleistung zu
betrachten sein. Wir dürfen das Fallen in der Tat als eine Arbeit ansehen
Die Magnete und die elektrischen Körper äußern ihre Anziehungskraft ja
auch nicht nur beim Heben, sondern auch dann, wenn sie dieselben von oben
her oder von links, rechts zu eich heranziehen. Auch dazu gehört Kraft!
Jedes Bewegen eines Körpers erfordert Kraft und ist somit eine Arbeit«
(Schwerkraft.)
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Literaturbericht.
185
Meteorologie. Es werden behandelt: Die Oberfläche der Erde, der
Luftdruck, der Wind, die Verdunstung, die Niederschlüge. R. setzt an die
Stelle einer üblichen einseitig thermischen Meteorologie die allgemein-dyna-
mologische. »Neben der (allerdings die Hauptrolle spielenden) Wanne müssen
die Elektrizität, die Kohäsion, die Adhäsion und die Schwerkraft zur Geltung
kommen.« Jedes Glied des Lehrplanes hat für das folgende propädeuti-
schen Wert »Ist die Dynamologie der Schlüssel zu allem Naturverständnis,
so ist eine allgemein-dynamologische Meteorologie das mittels dieses Schlüssels
zuerst zu öffnende Tor. — Hinter diesem Tore zeigen sich dann geebnete
Wege, gangbare Gedankenpfade, welche zu den anthropologischen (tier- und
pöanzenkundlichen und technologischen) Erkenntnissen führen.« Der Ver-
fasser hebt den praktischen Wert eines gesteigerten Verständnisses der
Meteorologie für die Technik, Hygiene, den Gartenbau, die Viehzucht, die
Schiffahrt usw. hervor. Gegen die allgemein zu niedrige Einschätzung der
Witterungskunde wird darauf hingewiesen, daß bei einer festen Verknüpfung
dieses Stoffes mit. den dynamologischen Voraussetzungen die Ergebnisse
nicht unsicherer erscheinen als auf anderen Gebieten.
Anthropologie. Es werden skizziert: Die Ernährung, die Bewegung,
die Empfindung. Der anthropologische Teil der Biologie wird also an die
Spitze der letzteren gestellt. Das wird so begründet: Wie sich die mensch-
lichen Organe in dem Kräftespiel der Lufthülle bewähren, so (im allge-
meinen) anch die Organe der Tiere und mehrfach auch die der Pflanzen! —
Vieles Biologische verstehen wir überhaupt nur auf Grund der direkten
Beziehungen, welche zwischen unserem Körper und den übrigen Organis-
men obwalten.« Und : »Man darf also mit vollem Rechte behaupten, daß der
meteorologische Lehrstoff mit einem gesteigerten propädeutischen Lehr-
gehalte in die Biologie des Tier- und Pflanzenreiches einmündet, nachdem
er vorher die Anthropologie durchlaufen hat« Als »besonders lehrwUrdige
Momente« werden »die mit den Körperfunktionen verbundenen Energieauf-
nahmen und -ausgaben« dargestellt. Nämlich:
1) Mit der Nahrung (Speise, Trank, Atemluft) wird chemische Energie
aufgenommen.
2) Durch den Genuß warmer Speisen wird dem Körper Kraft (als
Wärme!) zugeführt
3) Die Körpertemperatur wird durch die Aufnahme von Sonnenwärme
'Bestrahlung, Aufenthalt in der durch die Sonne erwärmten Luft) erhöht,
wenn auch zumeist nur in der Form einer Verminderung des Wärme-
verlustes.
4) Das Auge nimmt Lichtenergie auf, die sich im Körper durch die Aus-
lösung einer Nervenströmung dynamisch betätigt.
5) Das Ohr ist zur Aufnahme der (mechanischen) Kraft der Schallwellen
befähigt.
6) Zunge und Nasen Schleimhaut werden chemisch erregt.
Diesen zentral gerichteten Kraftströmungen lassen sich folgende nach
außen bin verlaufende dynamische Prozesse (als die wichtigsten Ausgaben)
gegenüberstellen:
1) Durch die Tätigkeit der Muskeln (und Nerven) werden große Kral't-
mengen verbraucht (Muskelarbeit beim Gehen, Stehen, Steigen, Heben,
Singen, Sprechen usw.
2) Der menschliche Körper besitzt ein Wärmegefälle gegen seine
18«
Literaturbericht.
Umgebung Er erleidet in der Regel an seiner gesamten Oberfläche einen
Warmeverlust durch Strömung, Strahlung und Leitung. Der Grad dieser
Abgabe wird durch die Temperatur der Umgebung, also gewöhnlich durch
die »Witterung« (und im Jahresmittel durch das »Klima«) bestimmt
3) Die Denktätigkeit erfordert eine große Betriebsenergie.
Ich möchte nur bemerken, daß die Vertreter der Naturwissenschaften,
wenn sie psychologisches Gebiet streifen, sich doch auch ein wenig über
deren Ergebnisse orientieren dürften. Unter »Gefühl« spricht der Verfasser
vom Temperatursinn der Haut In einer Fußnote bemerkt er: »Außer dem
Temperaturgefühl und dem Tastsinn gibt es noch andere Formen des Gefühls-
sinnes: Schmerz, Hunger, Durst, Müdigkeit Das Wesen derselben ist aber
noch so wenig erforscht, daß man sie nicht in obiger Weise zum Gegen-
stande einer dynamologischen Darstellung machen kann.« Die Termi-
nologie schon verrät <*»ß der Verfasser die psychologischen Ergebnisse dieser
Forschung nicht kennt Er mag sich etwa in der Psychologie bei Ebbing -
haus orientieren. Bedenklich ist der Satz: »Je grüßer die Muskelleistung
desto hoher die nach dem Nervenzentrum gerichtete, dort empfundene
(und nach Möglichkeit bewilligte) Forderung. — Die Bewegungsnerven sind
in diesem Sinne zugleich Empfindungsnerven.«
Aus der »Biologie der Pflanzen und Tiere« hebe ich hervor, daß Bemus
den Stoff in Lebensgemeinschaften zerlegt Er unterscheidet zwei
große »Lebensbuhnen«, Wasser und Land. »Beide Wohnorte bieten un-
endliche Differenzierungsmöglichkeiten; die Luft aber gehört zu beiden
und scheidet, obwohl sie das .unentbehrlichste aller Nahrungsmittel ist, als
biologischer Sammelplatz aus. Sie erscheint mehr als die Wohnstätte de»
anorganischen ,Lebens', des meteorologischen Geschehens. Die Orga-
nismen hausen auf dem Grunde des Lüftmeeres und beziehen aus diesem
Meere einen zur Erhaltung ihres Lebenschemismus unentbehrlichen Stoff «
Die zwei Lebensbühnen zerlegt der Verfasser dann in je drei Lebensgemein-
schaften :
Am Schluß der viel praktisches Geschick verratenden Stoffskizze hebt der
Verfasser folgende Punkte des Lehrganges hervor:
1) Bei der Darstellung der Lebensgemeinschaften werden die für die
Systematik wichtigen (dynamologischen!) Punkte besonders hervorgehoben.
2) Im Anschlüsse an die Lebensgemeinschaften werden die wichtigsten
Merkmale — möglichst unter steter Bezugnahme auf einen besonders an-
schaulichen Typus — geordnet und eingeprägt.
3) Die bereits behandelten Glieder der Systemgruppen werden nach er-
folgter Charakterisierung jeder einzelnen Klasse, Ordnung . . . kurz wieder-
holt und zusammengestellt
4) Hierbei werden wichtige Arten, welche bei der Darstellung der sechs
Lebensgemeinschaften nicht gut besprochen werden konnten (einige Baus-
tiere und manche ausländische Organismen), neu behandelt.
Technologie. Die hier skizzierten Lehrstoffe enthalten oft die Aue-
drücke »Fabrikation« oder »Verwertung«, worin sich ihre technologische
Bedeutung verrät. Einen geordneten Chemieunterricht möchte der Verfasser
A. Land.
1) Laubwald.
2) Nadelwald.
3) Feld.
B. Wasser.
1) Sumpf.
2) Fluß.
3) Meer.
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Literaturbericht
187
nicht anerkennen. »In der gehobenen Volksschule nnd der Mehrzahl der
höheren Lehranstalten wird bei einer vergleichsweisen Wertung aller Lehr-
ßtoffe von der chemischen Kraft nicht mehr zu bieten sein, als etwa vom
Lichte oder von der Elektrizität.« R. weist in geschickter Weise den pro-
pädeutischen Wert des meteorologischen und anthropologischen Lehrstoffes
für technologische Zwecke nach. Von dem letzteren sagt er :
»Eine geschlossene organische Naturkunde wird die Maschinen und Ap-
parate nicht anders darstellen, als in ihren anthropologischen Beziehungen
(Arbeitskunde nach Seyfert!), sehr häufig sogar als Vervollkommnungen
menschlicher Körperorgane: das »Handwerkszeug« vervollständigt die natür-
lichen Werkzeuge, aus denen die Hand besteht, das Fernrohr und das
Mikroskop steigern unser Sehvermögen . . .« Es werden zwei Stoff-
gruppen gebildet, wovon die zweite Gruppe den schwierigeren Stoff enthält:
I. Gruppe. n. Gruppe.
Wärme. Schall.
Chemische Kraft. Licht
Kohiision. Elektrizität und
Adhäsion. Magnetismus.
Schwerkraft.
Noch sei vermerkt, daß dieser Lehrgang den Unterschied zwischen »einfachen
Maschinen« und Werkseugen nicht kennt Alle »einfachen Maschinen« finden
als »Werkzeuge« Verwendung, und zwar bald in diesem, bald in jenem Sinne,
bald in ihrer einfachsten Form, bald als Zusammensetzungen. In einem
»Schlußwort« wird noch ein Vorschlag Uber die zeitliche Verteilung des
Stoffes gemacht, auch einige weitere praktische Ratschläge werden gegeben
(Wanderungen auf der Unterstufe, als Vorkurs; Behandlung fremder Lebens-
gemeinschaften); das Verhältnis des dynamologischen Prinzipes zu anderen
Gruppierungsgründen wird erörtert. Interessant ist auch ein kleiner kriti-
scher Ausfall gegen die Sprache (Seite 126, Fußnote). Es sei keine poetische
Lizenz mehr, wenn der Dichter singe:
»Und des Auges dunklen Strahl
Läßt er rasch wie einen Falken
Abwärts fliegen in das Tal.«
Die Aussetzung ist sehr berechtigt.
Schlußbemerkungen. R. wird gelegentlich, so namentlich am Schluß,
zum Poeten. Es gibt, meint er, eine Heiligkeit der Natur für den tiefer
in ihre Einheit blickenden Menschen. Solcher Naturbetrachtung entspringen
ästhetische, religiöse und ethische Werte. Die ästhetische Wirkung lasse ich
gelten, die religiöse ist wohl nur damit verwechselt, die ethische bestreite
ich. Das Bewußtsein unserer Ohnmacht gegenüber dem Naturganzen ist
Passivität, vielleicht sogar Depression. Im ethischen Handeln aber wollen
nnd Bollen wir die Fülle unserer Kraft erleben und wirksam machen.
Auch geht das Sittliche in erster Linie auf den Menschen; ich kann mir
die Fähigkeit einer Kontemplation gegenüber der Natur denken ohne jede
sittliche Tatkraft gegenüber Mitmenschen. Und endlich sei auch noch etwas
Äußerliches erwähnt Der Verfasser setzt sehr häufig das Ausrufzeichen (!).
Das kann bei kontinuierlichem Lesen geradezu aufregen. Man darf nicht
vergessen, daß alle Interpunktionszeichen musikalische Bedeutung haben
(Punkt, Komma, Fragezeichen ubw.), sie bestimmen die Tonstärke und Melodie
der vorausgehenden Worte. Indem ich den Ausruf im Lesefeld vorauß
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188
Literaturbericht.
erhasche, hebe ich innerlich unwillkürlich die Stimme and verstärke den Ton.
Ähnlich wirkt gesperrter Druck. Kehrt nun dasselbe Zeichen häufig wieder,
so kommt mau fast außer Atem. Die Darstellung gewinnt, wenn sie ruhiger
erscheint.
Im übrigen sei nochmals die Vorzüglichkeit der pädagogischen Leistung
in dieser Schrift hervorgehoben. Dr. Oskar Mesamer (Rorschach).
23) J.F.W, von Schöllings Werke, Auswahl in drei Blinden mit drei
Portraits Schöllings und einem Geleitwort von Professor Dr. Ar-
thur Drews, herausgegeben und eingeleitet von Otto Weiss.
Leipzig, Fritz Eckards Verlag, 1907. M. 20.— ; geb. M. 26.—.
Herausgeber und Verleger haben mit dieser Neuausgabe der Hauptwerke
Sc he Hinge ein gewisses Wagnis unternommen, denn sie umfaßt drei sehr
stattliche Bände und ist vorzüglich ausgestattet. Der Herauageber ist sich
dessen auch bewußt; in seinem Geleitwort bemerkt er, daß diese Neuaue-
gabe. > nicht leicht auf ein allgemeines Entgegenkommen und Verständnis
rechnen könne«. Denn wenn überhaupt die Nachkantsche spekulative
Philosophie aas dem Bewußtsein des letzten Menschenalters so gut wie gäna-
lieh ausgeschaltet war, so war Schölling vollends der Vergessenheit, ja der
Verachtung anheimgefallen. Der Grand hierfür lag vor allem in seiner
Naturphilosophie. Einer von den Erfolgen der modernen Naturwissenschaft
berauschten und unter der Herrschaft naturwissenschaftlicher Ideen befind-
lichen Zeit mußte sie als der Gipfel des Aberwitzes, als eine Verhöhnung
and das Gegenteil alles dasjenigen erscheinen, was diese selbst als Wissen-
schaft betrachtete. War ea doch nicht zuletzt gerade der Protest der
triumphierenden Naturwissenschaft gegen die Überhebung der spekulativen
Philosophie gewesen, was die Abwendung von dieser herbeigeführt hatte
Dieser Protest hatte die Philosophie seit der Mitte des vergangenen Jahr-
hunderts zu einem näheren Anschluß an die exakten Wissenschaften ge-
drängt und mit der bisherigen Methode zugleich auch deren Geist verändert
Mit entsagungsvollem Verzicht auf ihre einstigen hoben Ansprüche hatte
jene alle Brücken, die sie mit der klassischen deutschen Spekulation ver-
banden, hinter sich abgebrochen. Die Philosophie ging wieder auf den Aus-
gangspunkt der spekulativen Metaphysik zurück, auf den Kant sehen Kriti-
zismus, wobei man unter Kritik verstand: »die gänzliche Enthaltung von
allen metaphysischen Gedankengängen, die Beschränkung der Philosophie
auf Erkenntnistheorie, Psychologie and Logik und das ängstliche Fernhalten
solcher Ideenverbindungen, die etwa zu einem Konflikt mit der herrechenden
naturwissenschaftlichen Geistesrichtang hätten führen können«.
Das war die Zeit der tiefsten Gesunkenheit von Schöllings Ansehen
>Der Urheber der Naturphilosophie galt als der typische Repräsentant jenes
Geistes der Unwiasenschaftlichkeit nnd Phantastik, der die Philosophie vom
rechten Wege abgelenkt nnd die fruchtbaren Ergebnisse der Kant sehen
Vernunftkritik zur Sinnlosigkeit nnd Unvernunft entstellt habe.«
Es ist interessant, das Bild, das Drews sieh von dem Werdegang und
dem Stande der gegenwärtigen nichtspekulativen Philosophie macht, noch
etwas weiter zu verfolgen und die Frage aufzuwerfen, ob wirklich die An-
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Literatlirbericht.
189
zeichen einer »Wendung der Philosophie«, insbesondere einer Wendung im
Sinne einer spekulativen Metaphysik vorhanden sind. Wir erfahren zunächst,
daß sich nach der Auflösung der spekulativen Metaphysik >die Philosophen
mit den Naturforschern vereinigten, am den Denker in Qrnnd and Boden zu
verdammen und seine gesarate Lebensarbeit als einen einzigen großen Irrtum
«hinweisen«. Diese Verurteilung sei weniger ans wirklicher Kenntnis der
Schriften Schöllings heraus erfolgt, als vielmehr »aus einer gewissen vagen
Stimmung heraus«; insbesondere tadelt D. das Verfahren mancher Profes-
soren, einzelne Sätze aus der Naturphilosophie Schöllings herauszugreifen
and sie dem Gelächter der Zuhörer preiszugeben. So wuchs eine Generation
heran, »für welche Fichte, Schölling und Hegel fast zu mythischen
Figuren wurden«. »Inzwischen hat sich mehr und mehr ein Umschwung in
der philosophischen Stimmung unserer Zeit vollzogen«, man ist, nach Drews
Meinung, unter den Philosophen selbst der einseitigen Beschränkung auf er-
kenntnistheoretische, logische, methodologische und verwandte Unter-
suchungen müde geworden und hat sich auf die metaphysische Unterströ-
mung besonnen, die Kant mit seinen Nachfolgern verbindet Man wendet
sich ab von der Beschränkung auf das Bewußtsein und die unmittelbare Er-
fahrung, »die bisherige Verwerfung der Metaphysik weicht einem verständ-
nisvolleren Eingehen anf metaphysische Gedankengänge«, die Beschränkung
auf den Kritizismus oder gar auf den Positivismus und Hnme entsprang
nicht einer unbefangenen Untersuchung des menschlichen Erkenntnisver-
mögens, »Bondern lediglich dem Willen einer Zeit, die den Glauben an ihre
eigene Erkenntniskraft verloren, nnd die es sich ausdrücklich als Ziel gesetzt
hatte, mit einer gewissen wollüstigen Empfindung im Bewußtsein der eigenen
Unzulänglichkeit und Ohnmacht des Erkennens zu schwelgen«. Man beginnt
aber jetzt, nach Drews, einzusehen, daß die aufgewandte Arbeit »zum min-
desten in keinem Verhältnis steht zu dem, was man sich hiervon versprochen
hat«. Die gleiche Wendung sieht Drews anf dem Gebiete der Psychologie,
oder wie er sagt, der physiologischen Psychologie eintreten. Auch hier be-
ginnt man, sich »auf das Mißverhältnis zwischen Anspruch und Leistung zu
besinnen, und die Überschätzung der psychischen Wissensehaft auf das rich-
tige Maß zurückzuführen«. Man fühlt sich nicht befriedigt »durch die Zurück-
fuhrung aller seelischen Innerlichkeit auf bloße passive Bewußtseinszustände«
und vor allem vor dem Problem der Individualität »erstirbt der Anspruch
der bisherigen Psychologie auf rechnungsmäßige Exaktheit«, und das »mensch-
liche Selbst« wirft allen Zwang der wissenschaftlichen Methodik ab »und
schickt sioh mit dem Anspruch auf seine Unabhängigkeit, Ursprttnglichkeit
nnd Selbstherrlichkeit dazu au. die ganze bisherige Denkweise in praktischer
wie in theoretischer Beziehung umzuwerten«. »Die Ungebundenheit der per-
sönlichen Willkür erklärt sich für den letzten Bestimmungsgrund und das
Endziel aller menschlichen Außerungsweise.« (!)
Diese Situation soll ähnlich der am Ende des vergangenen (d. h. des
achtzehnten) Jahrhunderts sein, als die Romantiker der Aufklärung den
Krieg erklärten, nur mit dem Unterschiede, daß damals die Philosophie den-
selben Weg ging, während »die heutige Romantik im Widerspruch mit der
herrschenden Philosophie und Geisteerichtung auf die selbständige Bedeutung
des Seelenwesens pocht und die unbeschränkte Autonomie des eigenen Den-
kens nnd Handelns fordert«.
Machen wir hier einen Augenblick Halt in der Entwicklung der Gedanken
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190
Literaturbericht.
von Drews. Jeder, der mit der Forschung der Gegenwart vertraut
ist, wird mir wohl darin beistimmen, daß das Bild, das sich Drews von
der philosophischen Forschung der Gegenwart macht, eine stark subjektiv-
romantische Färbung trigt. Es ist nicht richtig, daß die »gegenwärtige
Philosophie« sich jemals auf die unmittelbaren Daten des Bewußtseins be-
schränkt und Erfahrung gleichbedeutend mit innerer Erfahrung genommen
hat; das trifft bekanntlich nur für einen kleinen Zweig der gegenwärtigen
Philosophie zu, während gerade die Führer der gegenwärtigen physiologi-
schen Psychologie — ich nenne nur Wundt und Fechner — sich fortge-
setzt mit Metaphysik beschäftigt haben; allerdings mit einer etwas anderen
Metaphysik als der der romantischen Spekulation. Ebenso unrichtig ist es,
daß die Psychologie vor dem Problem der Individualität Halt machen müsse,
oder daß die Persönlichkeit außerhalb aller psychischen Gesetzmäßigkeit stehe,
und mit dem autonomen Individuum gewissermaßen die Gesetzlosigkeit über-
haupt beginne. An das Problem der Individualität hat sich sogar die ex-
perimentelle Psychologie neuerdings mit Erfolg heran gewagt, und ebenso
macht die Erforschung der komplexeren geistigen Vorgänge gerade in der
Gegenwart immer größere Fortschritte. Und daß die Psychologen selbst
einzusehen beginnen, daß > Anspruch und Leistung« sich in ihrer Forschung
nicht entsprochen, durfte eine unrichtige Deutung mancher Einschränkungen
sein, welche einige Psychologen mit der Psychologie zugunsten einiger
objektiven Methoden, keineswegs aber zugunsten der Metaphysik ge-
fordert haben (so z. B. Wundt bei der Erforschung des Denkens durch die
linguistischen Methoden). Das Hinausgehen Uber die empirische Psychologie
wird in der Gegenwart charakteristischerweise hauptsächlich von Kreisen
gefordert, die außerhalb der wissenschaftlichen Psychologie stehen, so
namentlich von okkultistischer und spiritistischer Seite, ferner von manchen
medizinischen Kreisen (Möbius), die aber alle einen gewissen Hang zum
Okkultismus verraten.
Hören wir weiter, wie Drews die von ihm vermutete Wendung der
gegenwärtigen Philosophie beschreibt.
Noch von anderer Seite kam der Abwendung der Empirie eine Hilfe.
Die Naturwissenschaft selbst, mit der die Philosophie in der zweiten Hälfte
des neunzehnten Jahrhunderts vor allem in Übereinstimmung bleiben wollte,
erkannte zuerst innerhalb der Biologie die Unzulänglichkeit des Mechanismus.
Man begann, sich wieder auf die Seite der Teleologie zu schlagen, ja »der
verpönte Ausdruck« Naturphilosophie »kommt wieder in Annahme«.
Nun ist es ja richtig, daß wir heutzutage einen Neovitalismns in der
Biologie kennen, aber auch dieser ist weit entfernt von einer Rückkehr zu
der Denkweise der S c hell in g sehen Naturphilosophie ; er erstrebt eine
Ergänzung der mechanistischen Naturerklärung durch vitalistische Hypo-
thesen, keineswegs aber eine aprioristische Konstruktion der Lebenserschei-
nungen.
Drews fährt fort, »es ist selbstverständlich, daß vor allem dieser Um-
schwung in der bisherigen Auffassung der Naturphilosophie Schölling
zugute kommen muß. Denn dieser zuerst hat die Naturphilosophie als eine
besondere philosophische Disziplin begründet«, deshalb »erscheint es jetzt als
ein einfacher Akt der Gerechtigkeit die Schellingsche Naturphilosophie
nicht einfach mehr nach ungeprüften Stimmungen und Vorurteilen a priori
zu verwerfen, sondern sich eingehend mit ihr bekannt zu machen, ihr histo-
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Literaturbericht.
191
risches Verständnis anzustreben , ihren wissenschaftlichen Wert zu unter-
suchen und ihren etwaigen bleibenden Gehalt aus dem unzulänglichen und
verkehrten klar herauszuheben.«
Nunmehr gibt Drews eine Ausscheidung des Wertvollen und des Über-
wundenen in Schöllings Naturphilosophie, die als eine etwas bedenkliche
Empfehlung seines Philosophen erscheint Unsere Zeit hat sich, nach Dr.,
»Übersättigt an der rein verstandesmäßigen Zergliederung der Wirklichkeit
und strebt nach einer lebensvolleren und anschaulicheren Betrachtung des
Natur- und Menschenlebens«. Diesem Zuge soll Schell ing entgegen-
kommen, indem er »mit den Augen des Künstlers in die Welt schaut«.
»Der Gedanke, die Philosophie als Kunst zu üben und die Wirklichkeit als
ein großes Reich ästhetischer Ideen darzustellen, schwebt ihm als höchstes
Ideal vor Augen, befeuert seinen Sinn und spiegelt sich schon in dem be-
geisterten Schwünge des Stils mancher seiner Jugendschriften.«
Ferner soll Schölling »auch in religiöser Hinsicht unserer Zeit nicht
mehr so fremd« sein, »wie. er einem in materialistischen Vorurteilen be-
fangenen, skeptischen und atheistischen oder doch jedenfalls religiös
indifferenten Geschlechte vorher erscheinen mußte«. Und worin soll dieser
uns sympathische Zag des religiösen Schölling bestehen? Hören wir, wie
Drews ihn empfiehlt: »Zwar seine Bemühungen, die Philosophie nach der
Weise der Scholastiker wieder in den Dienst der positiven Religion
zu stellen1) (! der Ref.), die auf philosophischem Wege gewonnenen Resul-
tate zu Stützen der Orthodoxie zu verwenden (! der Ref.), und nach
dem zweifelhaften Ruhme eines »christlichen Philosophon« zu geizen, diese
»Schrullen« des alternden Philosophen werden schwerlich dazu dienen können,
uns den Denker wieder sympathisch zu machen«, ja dieses Streben wird von
Drews selbst als »prinzipiell verfehlt« bezeichnet, aber »die reli*
giöse Mystik des Romantikers Schölling liegt den Heutigen, denen
die Romantik wieder mehr als ein bloßes Wort geworden ist, doch jeden-
falls so nahe, daß auch diese Seite der Sehe 11 ing schon Philosophie wieder
auf Verständnis rechnen« kann.
Sodann soll »ein erneutes Studium Schöllings« anch schon deshalb
unerläßlich sein, »weil ohne eine genauere Kenntnis dieses Philosophen auch
die Entwicklung der nachfolgenden Spekulation nicht verständlich ist«.
Unsere Zeit soll gewissermaßen in einem »Wiederholungskurs« begriffen
sein, der von Kant über Fichte und Schölling zu Hegel führt Und
der Grund dafür, daß es trotz der Bemühungen Kuno Fischers »mit
Hegel noch immer nicht vorwärts gehen will«, liegt nach Dr. vor allem
darin, daß man dem historischen Zwischengliede, der Schellingschen Philo-
sophie, noch immer nicht genug Verständnis entgegen bringt. Weiter ver-
langt Dr. zum Behuf des Verständnisses für Schölling auch eine andere
Auffassung Kants als sie gegenwärtig üblich ist. »Man hat um sich für
seine Gegnerschaft gegen die Metaphysik auf K a n t berufen zu können, seit
einem Menschenalter die Ansicht vertreten, daß dieser Philosoph in seiner
Vernunftkritik die Grenzen der menschlichen Erkenntnis habe untersuchen
wollen«, man hat dabei geflissentlich übersehen, daß Kant in Wahrheit gar
nicht die Erkenntnis Uberhaupt, sondern nur die apodiktische Erkenntnis
zum Gegenstände seiner Untersuchungen gemacht hat, und daß sein ganzes
1) Von mir gesperrt; der Referent
192
Literaturbericht.
»kritisches« Untersuchen nichts anderes ist, als der rationalistische Versuch,
die Wirklichkeit in einer solchen Weise aaszudenken, daß es möglich wird,
sie mit zweifelloser Gewißheit zu erkennen. Es gehört zu den romantischen
Eigentümlichkeiten von Drews, daß er seinen Gegnern mit Vorliebe den
guten Willen zur Erkenntnis abspricht — eine Eigenschaft, die ich sonst
nur bei den orthodoxesten Theologen gefunden habe. In seinem Stile ließe
sich sn dieser Auffassung Kants sagen: Drews hat »geflissentlich Uber-
sehen«, daß für Kant diese apodiktische Erkenntnis sich nnr auf die phäno-
menale Wirklichkeit erstreckt, daß wir Uber sie hinaas nnr mit einigen spär-
lichen Rückschlüssen aus unserer moralischen Natur gelangen können, und
daß Kant durch diese Auffassung wie durch eine Mauer von der speku-
lativen Romantik mit ihrer rationalistischen »Erkenntnis« des Absoluten ge-
trennt ist Es heißt doch die Entwicklung der neueren Philosophie völlig
verkennen, wenn man »nicht sehen will«, daß die romantische Philosophie
Schritt für Schritt eine völlige metaphysische Umdentung der erkenntnis-
theoretischen Probleme Kants vornimmt
Endlich, ist es eine Empfehlung Schöllings, wenn der Verf. zeigt, daß
sich bei ihm in einer Person die ganze »Tragödie des Rationalismus«, ihr
Aufsteigen zu den höchsten Ansprüchen und ihr Verfall vollzieht? ist das
nicht die gleiche Erkenntnis von dem Mißverhältnis zwischen Anspruch und
Leistung, den Drews der heutigen Philosophie vorhält? Ein erneutes Stu-
dium Schöllings kann nach meiner Ansicht nnr die Bedeutung für unsere
Zeit haben, uns jenes Mißverhältnis zwischen Anspruch und Leistung der
romantischen Metaphysik recht klar zum Bewußtsein zu bringen, und uns
vor romantischen Illusionen und dem unerbittlich auf sie folgenden Nieder-
gang der philosophischen Methode .und der »philosophischen Entmutigung«
zu bewahren.
Man wird nun vor allem an Drews die Frage richten müssen: wodurch
soll denn nun die von ihm gewünschte Wiederaufnahme der romantischen
Metaphysik vor dem gleichen »tragischen« Schicksal bewahrt werden? Denn
man kann uns doch nicht eine Philosophie empfehlen, die sich selbst ad ab-
surdum geführt hat! Dafür gibt Drews leider keine Anweisung, oder sollen
wir diese etwa in seiner Empfehlung der Metaphysik des Unbewußten sehen,
die siob jetzt schon überlebt hat? So sehr man daher die Wiederbelebung
des historischen Verständnisses der spekulativen Philosophie des neun-
zehnten Jahrhunderts begrüßen kann, die von guten Neuausgaben ihrer Haupt-
vertreter ausgehen kann, so wenig wird man dem Wunsche Drews bei-
stimmen können, daß das erneute Studium Schell ings »der deutschen
Spekulation wieder Mut zu neuen Taten« einflößen werde, wenigstens
müßten diese neuen Taten die alten an wissenschaftlichem Werte bedeutend
Uberragen.
Auf die Geleitworte von DrewB folgt nun das Vorwort des Heraus-
gebers Otto Weiss. Als Vorbild für die Neuausgabe hat W. die alte Aus-
gabe in 14 Bänden benutzt. Die Reihenfolge der ausgewählten Schriften ist
nach chronologischen Gesichtspunkten gegeben worden, wovon nur bei den
kleineren naturphilosophischen Abhandlungen abgewichen wird.
Die Seiteneinteilung der alten Originalausgabe wird wieder mit ange-
geben. Zitate Schöllings wurden mit Recht nach den heute im Gebrauch
befindlichen Ausgaben geändert diejenigen aus Kant zumeist nach der
Kehrbachschen Ausgabe, ferner nach Hartenstein und Kirchmann.
Digitized by Google
Literaturberieht.
193
Es folgt nun eine Einleitung, in welcher Weiss in begeisterter Sprache
in Schöllings Philosophie einführt, hierauf eine ausführliche Biographie
Schöllings, in der die Entwicklung seiner Persönlichkeit eingehend dar-
gestellt und beurteilt wird. Daran schließt sich eine Darstellung von
»Schöllings Lehre«, in der insbesondere die Ableitung seiner Philosophie
aus Kant über Fichte lehrreich ist. Sehr zu beachten ist dabei das Be-
streben des Herausgebers (Weiss), die Naturphilosophie Schöllings von
dem Standpunkte der damaligen Naturforschung aus verständlich zu machen.
Die Auswahl der Hauptwerke und Schriften bringt im ersten Bande:
»Vom Ich als Prinzip der Philosophie«, »Ideen zu einer Philosophie der
Natur«, »Von der Weltseele«, »Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der
Naturphilosophie«, »Allgemeine Deduktion des dynamischen Prozesses«.
Der zweite Band enthält die Schriften zur Identitätsphilosophie:
»System des transzendentalen Idealismus«, »Darstellung eines Systems der
Philosophie«, »Bruno oder über das göttliche und natürliche Prinzip der
Dinge«, »Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums«.
Der dritte Band enthält die »Philosophie der Kunst« (aus dem hand-
schriftlichen Nachlaß), »Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der
Natur«, »über das Wesen der menschlichen Freiheit«, »Darstellung des
philosophischen Empirismus«, »Philosophie der Mythologie und Offenbarung«
(in Auswahl).
Wir wollen noch hervorheben, daß die Ausstattung der drei Bände eine
sehr gute ist. Vortrefflich sind die Bildnisse Sehe Iii ngs, Druck, Papier
und Format und die Beigaben (»Chronologisches Verzeichnis der sachlichen
Schriften Schöllings«, Schelling-Literatur, Sach- und Namenregister)
erhöhen den Wert des Werkes. E. Meumann Münster i. W.).
24) Fried r. Nietzsches Werke. Taschen- Ausgabe. Leipzig, C. G. Nau-
manns Verlag, 1906. Preis f. d. Bd. ungebd. M. 5— .
Die Taschenausgabe der Werke Nietzsches ist jetzt vollständig erschienen
(vgl. die Besprechung der ersten Bände in Bd. X dies. Archivs, Literaturber. S. 213).
Die letzten Bände enthalten besondere viele psychologisch und erkennt-
nistheoretisch wichtige Ideen N s. Band VII bringt den Zarathustra,
ferner aus dem Nachlaß: Aufzeichnungen zur Erklärung von »Also sprach Z.«,
aus den Jahren 1882—1885; ferner einen »Nacbbericht« mit Bemerkungen
von Frau Förster-Nietzsche über die Entstehungszeiten der einzelnen
Teile des Zarathustra. In dem Nachbericht gibt die Herausgeberin eine
interessante Notiz über den Ursprung jener von N. zum Zarathustra ver-
faßton Erläuterungen, nachdem sie mitgeteilt hat, daß ihr Bruder wahrschein-
lich noch einen fünften und sechsten Teil des Z. schreiben wollte: »Ich habe
dieser Taschenausgabe von ,Also sprach Z.' noch eine Reihe von Aufzeich-
nungen . . . angefügt, die zur Erklärung und zum besseren Verständnis der
Hauptgedanken dieses Werkes dienen können. Es scheint, daß der Autor
selbst hie und da flüchtig den Gedanken gehabt hat, eine Art Glossarium
zum Zarathustra zu schreiben; manche der angefügten Gedanken mögen zu
diesem Zweck niedergeschrieben worden sein. Im allgemeinen sind es aber
Aufzeichnungen, worin er sich selbst den Inhalt der verschiedenen Teile
ArchiY flkr Psycholog«. XL Literatur. 13
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Literaturbericht.
des Z. festzustellen sucht, und zwar einiges noch vor ihrer endgültigen
Niederschrift, so daß sich manches nachher in der Ausführung verändert hat«.
In der Tat Bind diese erläuternden Bemerkungen bisweilen ein willkommener
Kommentar zu den Gedanken des Hauptwerkes.
Der VIII. Band enthält > Jenseits von Gut und Böse« und >Zur Genealogie
der Moral«, ferner wieder einiges aus dem Nachlaß und einen Nachbericht
der Herausgeberin.
Weitaus die wichtigste Veröffentlichung dieser Taschenausgabe ist der
Inhalt des IX. und X. Bandes; beide Bünde werden durch den »Willen zur
Macht« gefüllt. »Der Wille zur Macht, Versuch einer Umwertung aller Werte«,
erscheint hier in einer »zweiten, völlig neugestalteten Ausgabe«. In der
»Einleitung« zu dieser Schrift, die N. selbst seiner Schwester gegenüber als
sein »theoretisch-philosophisches Hauptwerk« (als Parallele zum Zarathnstra,
dem poetisch-philosophischen Hauptwerk} bezeichnete, bemerkt die Heraua-
geberin, daß die erBten Ideen zu diesem Werke sehr weit zurückreichen.
Die erste Anregung empfing N. vielleicht schon während seiner Tätigkeit ah
Krankenpfleger im Kriege 1870/71, als er einmal das Vorüberziehen eines
Regimentes Soldaten sah, das zur Schlacht ausrückte. »Da fühlte ich«, so
äußerte N. später zu seiner Schwester, »daß der stärkste und höchste Wille
zum Leben nicht in einem elenden Ringen ums Dasein zum Ausdruck kommt,
sondern als Wille zum Kampf, als Wille zur Macht und Übermacht«. Ein-
drücke dieser Art waren es, die N. zuerst an Schopenhauers Mitleids-
moral irre machten. In dem Zarathnstra kommen dann schon die Haupt-
ideen des Willens zur Macht zum poetischen Ausdruck. Im Frühjahr 1886,
nach Vollendung des ersten Teiles des Z. scheint N. schon entschlossen ge-
wesen zu sein, den »Willen zur Macht als Lebensprinzip« zum Thema seines
philosophischen Hauptwerkes zu machen. Der Plan selbst erschien ihm un-
geheuer groß nnd schwierig, denn es galt zu zeigen, wie der Wille zur
Macht in der Natur, im Leben und in der Gesellschaft wirkt, als Wille zur
Wahrheit, Religion, Kunst und Moral. Natürlich war das eine kolossale Auf-
gabe, N. hatte unter diesem neuen Gesichtspunkte alle Teile der Philosophie
zu bearbeiten. Deshalb blickte er sich lange Zeit nach Mitarbeitern um,
aber nur mit dem Erfolge, daß er sich enttäuscht immer wieder anf seine
eigene Kraft beschränkt sah. Das Werk blieb bekanntlich im Entwurf.
Es galt nun, für diese Neuausgabe, den vielen, relativ unzusanimen-
hängenden Entwürfen der einzelnen Teile des Werkes einen bestimmten
Plan zugrunde zu legen. Dafür wählte die Herausgeberin einen Plan {vom
17. März 1887], den N. in Nizza (kurz nach dem großen Erdbeben) ausführte,
nnd mit Datum versah. Dieser Plan wurde gewählt, »weil er der einzige ist,
der eine ziemlich deutliche Anweisung zur Zusammenstellung des Werke«
gibt«. »Außerdem bietet er durch die großen allgemeinen Gesichtspunkte
der Einteilung den weitesten Spielraum, das reiche Material, das zu anderen
Plänen vorhanden ist, sinngemäß einzuordnen. Der Plan hat sich gerade
bei der neuen, hier vorliegenden Ausgabe als besonders günstig erwiesen,
so daß viele Kapitel einen fortlaufenden Gedankengang zeigen.«
Es ist kein Zweifel, daß durch diese Neuordnung das Hauptwerk N.a
bedeutend gewonnen hat, und mit Recht kann die Herausgeberin sagen:
»Das vorliegende Werk . . . gewährt in viel höherem Grade als die erste Aus-
gabe einen Einblick in des Autors Geisteswerkstatt Wir sehen gleichsam
die Gedanken unseres Autors vor unseren Augen entstehen nnd können
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LiteraturberichL
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zugleich beobachten, wie anbelangen mein Bruder seine eigenen Gedanken
prüft und eich nie zu verhehlen sucht, welche schlimmen oder unbeweisbaren
Seiten diese Probleme haben könnten.« In der Tat ist es die unerbittliche
Ehrlichkeit N.s gegen sich selbst, die als ein Grundzug seiner Persönlichkeit
aus dem >W. z. M.< zu uns spricht — sie war es auch, die ihn zu der radi-
kalen Kritik aller bestehenden Wertschätzungen befähigte. Zugleich ist in
der vorliegenden Ausgabe die Anzahl der Aphorismen »um ungefähr 570
Nummern vermehrt«. So wie der W. z. M. jetzt vorliegt, enthält er eine Fülle
von anregenden, weit blickenden Ideen zur Psychologie, Erkenntnistheorie,
Ethik, Ästhetik, Religionspsychologie und anderen Grenzgebieten unserer
Forschung.
Der X. Band bringt außer dem Schluß des Willens zur Macht noch die
»Götzendiimmerung«, den »Antichrist«, »Dionysos-Dithyramben«, einen Nach-
bericht der Herausgeberin und ein Titelregister zu sämtlichen zehn Bänden.
E. Heumann Münster i. W.).
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